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Vorleſungen
über die
Herausgegeben
von
Dr. Eduard G an s.
Dritte Auflage
beſorgt
bon
Mit Königl. Würtembergiſchem , Großherzogl. Beffiſchem und ber freien Stadt Frankfurt
Privilegium gegen den Nadbrud und Nachbruce Verkauf: . .
Berlin, 1848.
Verlag von Dunder und Humblot.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel's
W e r k e.
Vollſtändige Ausgabe
. durd
Neunter B a n d .
Dritte Auflage.
Mit Königl. Würtembergiſgem , Großherzogl. Seffiſdem und der freien Stadt Frankfurt
Privilegium gegen den Radbrud unb Navbruds - Verlauf.
Berlin , 1848.
Verlag von Dunder und Humblot. .
Inbalts : Verzeichniß .
Seite
Einleitung . . . . . . . . . ·. ·. 3
:. ·. .· . . ·.
Geographiſche Grundlage der Weltgeſdichte . . . . .
Die neue Welt . . . . . . . . . . . .. .
Die alte Welt . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Afrita · · · · · · · · · · · · · · · · · 113
Afien und Europa . . . . . . . . . . . . . . . 123
Eintheilung . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Erſter Theil.
Die orientaliſche Welt . . . . . . . . . . . . . . 136
Erſter Abſchnitt. China . . . . . . . . . . . . 141
Zweiter Abſchnitt. Indien . . . . . . . . . . . 169
Der Buddhaismus . . . . . . . . . . . . . . 205
Dritter Abſchnitt. Perſien . . . . . . . . . . . 211
Erſtes Capitel. Das Zendvoll . . . . . . . . . . 215
Zweites Capitel. Die Aſſyrier , Babylonier , Meder und Perſer 222
Drittes Capitel. Das Perſiſche Reich und ſeine Beſtandthelle 229
Perſien . . . . . . . . . . . . . . i . 230
Syrien und das ſemitiſche Vorderaſien . . . . . . . 233
Subäa . . . . . . . . . . . . . . . . .
Negypten . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
Uebergang zur griechiſchen Welt . . . . . . . . . 268
Bweiter Theil.
Die e ft er mub peab tunnitt. Die Gelibe Kunft
Die gried ifde Welt . . . . . . . . . . . . . . . 273
Erſter Abſchnitt. Die Elemente des griechiſchen Geiſtes . . 275
3weiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität 294
Erſtes Capitel. Das ſubjective Kunſtwerk . . . . . . 294
XXVI Inhalt
Seite
Zweites Capitel. Das objective Kunſtwerk . . . . . . 297
Drittes Capitel. Das politiſche Kunſtwerk . . . . . . . 305
Die Kriege mit den Perſern . . . . . . . . . 312
. . . . .
· · · · ·
Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Sparta · · · · · · · · · · · · · · · · · 319
Der peloponneſiſche Krieg . . . . . . . . . . . 323
Das macedoniſche Reich . . . . . . . 330
Dritter Abſchnitt. Der Untergang des griechiſchen Geiſtes . 335
Dritter Theil.
Die römiſde Welt . . . . . . . . . . . . . . . . 339
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege . 344
Erſtes Capitel. Die Elemente des römiſden Geiſtes . . . 344
Zweites Capitel. Die Geſchichte Noms bis zum zweiten
puniſchen Kriege · · · · · · · · ·
Zweiter Abſchnitt. Rom vom zweiten puniſchen Kriege
bis zum Kaiſerthum . . . . . . . 372
Dritter Abſchnitt.
Erſtes Capitel. Rom in der Kaiſerperiode . . . . . . . 382
Zweites Capitel. Das Chriſtenthum . . . . . . . . . 387
Drittes Capitel. Das byzantiniſche Reich . . . . . . . 408
Vierter Theil.
Die germaniſche Welt . . . . . . . . . . . . . . 415
Erſter Abſchnitt. Die Elemente der driſtlich germaniſchen Welt 421
Erſtes Capitel. Die Völkerwanderungen . . . . . . 421
Zweites Capitel. Der Muhamedanismus . . . . . . . 431
Drittes Capitel. Das Reidy Karl des Großen . . . . . 437
3 weiter Abſchnitt. Das Mittelalter . . . . . . . . 444
Erſtes Capitel. Die Feudalität und die Hierarchie . . . .
Zweites Capitel. Die Kreuzzüge . . . . . . . . . . 472
Drittes Capitel. Der Uebergang der Feudalherrſchaft
in die Monarchie . . . . . . . . . 482
Kunſt und Wiſſenſchaft als Auflöſung des Mittelalters 493
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit . . . . . . . . . 497
Erſtes Capitel. Die Reformation . . . . . . . . . . 497
Zweites Capitel. Wirkung der Reformation auf die Staats
bildung . . . . . . . . · 514
Drittes Capitel. Die Aufklärung und Revolution . . . . 526
Vorrede des Herausgebers .
Karl Hegel.
Philoſophie der Geſchichte.
M . H. H .
Der Gegenſtand dieſer Vorleſung iſt die philoſophiſche Welt
geſchichte, das heißt , es ſind nicht allgemeine Reflerionen über
dieſelbe , welche wir aus ihr gezogen hätten , und aus ihrem In
byalte als dem Beiſpiele erläutern wollten , ſondern es iſt die
Weltgeſchichte ſelbſt * ). Damit nun zuvörderſt klar werde, was
ſie ſely, ſcheint es vor allen Dingen nöthig , die andern Weiſen
der Geſchichtsbehandlung durchzugehen . Der Arten die Geſchichte
zu betrachten , giebt es überhaupt drei :
a ) die urſprüngliche Geſchichte ,
b ) die reflectirte Geſchichte ,
c ) die philoſophiſche.
a ) Was die erſte betrifft , ſo meine ich dabei , um durch
Nennung von Namen ſogleich ein beſtimmtes Bild zu geben ,
z. B . Herodot, Thucydides und andere ähnliche Geſchichts
ſchreiber , welche vornehmlich die Thaten , Begebenheiten und Zus
ſtände beſchrieben , die ſie vor ſich gehabt, deren Geiſte fie ſelbſt
zugehört haben , und das, was äußerlich vorhanden war, in das
lichen Erzählungen vor ſich hatte, vor die Vorſtellung der Nach
welt zu bringen . Er hat es nicht mit Reflerionen zu thun,
denn er lebt im Geiſte der Sache , und iſt noch nicht über ſie
hinaus ; gehört er ſogar, wie Cäfar dem Stande der Heerführer
oder Staatsmänner an, ſo ſind ſeine Zwecke es jelbſt, die als
geſchichtliche auftreten. Wenn hier geſagt wird, daß ein ſolcher
Geſchichtsſchreiber nicht reflectire , ſondern daß die Perſonen und
Völfer ſelbſt vorkommen , ſo ſcheinen die Reden dagegen zu
ſprechen , welche zum Beiſpiel bei Thucydides geleſen werden ,
und von denen man behaupten kann , daß ſie ſicherlich nicht ſo
gehalten worden ſind. Reden aber ſind Handlungen unter
Menſchen , und zwar ſehr weſentlich wirkſame Handlungen . Frei
lich ſagen die Menſchen oft , es jeyen nur Reden geweſen , und
wollen inſofern die Unſchuld derſelben darthun. Solches Reden
iſt lediglich Geſchwäß, und Geſchwäß hat den wichtigen Vortheil
unſchuldig zu ſeyn. Aber Neden von Völkern zu Völkern , oder
an Völker und Fürſten ſind integrirende Beſtandtheile der Ge
ſchichte. Wären nun ſolche Reden , wie z. B . die des Perifles ,
des tiefgebildetſten , ächteſten , edelſten Staatsmannes , auch von
Thucydides ausgearbeitet, ſo ſind ſie dem Perifles doch nicht
fremd. In dieſen Reden ſprechen dieſe Menſchen die Marimen
ihres Volfes , ihrer eigenen Perſönlicykeit, das Bewußtſeyn ihrer
politiſchen Verhältniſſe , wie ihrer ſittlichen und geiſtigen Natur,
die Grundſäße ihrer Zwecke und Handlungsweiſen aus. Was
der Geſchichtsſchreiber ſprechen läßt, iſt nicht ein geliehenes Be
wußtſeyn, ſondern der Sprechenden eigene Bildung.
Dieſer Geſchichtsſchreiber , in welche man ſich hincinſtudiren
und bei denen man verweilen muß , wenn man mit den Na
tionen leben , und ſich in ſie verſenken möchte , dieſer Hiſtoriker ,
in denen man nicht bloß Gelehrſamkeit , ſondern tiefen und achten
Genuß zu ſuchen hat, giebt es nicht ſo viele , als man viel
leicht denken möchte ; Herodot , der Vater , das heißt der Urhe
ber der Geſchichte , und Thucydides ſind ſchon genannt worden .
Einleitung.
ſchichte eines Volkes oder eines Landes , oder der Welt, kurz
das, was wir allgemeine Geſchichte ſchreiben nennen. Hier
bei iſt die Verarbeitung des hiſtoriſchen Stoffes die Hauptſache,
an den der Arbeiter mit ſeinem Geiſte kommt, der rerſchieden
iſt von dem Geiſte des Inhalts. Dazu werden beſonders die
Principien wichtig ſeyn , die ſich der Verfaſſer theils von dem
Inhalte und Zwecke der Handlungen und Begebenheiten ſelbſt
macht, die er beſchreibt, theils von der Art, wie er die Geſchichte
anfertigen will. Bei uns Deutſchen iſt die Reflerion und Ges
ſcheidtheit dabei ſehr mannigfach, jeder Geſchichtsſchreiber hat hier
ſeine eigene Art und Weiſe beſonders ſich in den Kopf geſeßt.
Die (Engländer nnd Franzoſen wiſſen im Allgemeinen , mie man
(Heſchichte ſchreiben müſſe : ſie ſtehen mehr auf der Stufe allge
meiner und nationeller Bildung ; bei uns flügelt ſich jeder eine
Eigenthümlichkeit aus, und ſtatt Geſchichte zu ſchreiben , beſtreben
wir uns immer zu ſuchen , wie Geſchichte geſchrieben werden
müſſe . Dieſe erſte Art der reflectirten Geſchichte ſchließt ſich zu
nächſt an die vorhergegangene an , wenn ſie weiter feinen Zweck
hat, als das Ganze der Geſchichte eines Landes darzuſtellen .
Solche Compilationen (es gehören dahin die Geſchichten des lis
vius, Diodor' g von Sicilien , Joh. von Müller' s Schwei
zergeſchichte ) ſind, wenn ſie gut gemacht ſind, höchſt verdienſtlich .
Am beſten iſt es freilich , wenn ſich die Hiſtoriker denen der erſten
Gattung nähern , und ſo anſchaulich ſchreiben , daß der Leſer die
Vorſtellung haben kann , er höre Zeitgenoſſen und Augenzeugen
die Begebenheiten erzählen . Aber der Eine Ton, den ein Indivi
duum , das einer beſtimmten Bildung angehört, haben muß, wird
häufig nicht nach den Zeiten , welche eine ſolche Geſchichte durch
läuft, modificirt, und der Geiſt, der aus dem Schriftſteller ſpricht,
iſt ein anderer, als der Geiſt dieſer Zeiten . So läßt Livius die
alten Könige Roms, die Conſuln und Heerführer Neden halten ,
wie ſie nur einem gewandten Advokaten der Livianiſchen Zeit
zukommen , und welche wieder auf's ſtärfſte mit ächten aus dem
Einleitung.
erſt aufzuklären hatten , weil ſich ihr Begriff von ſelbſt verſtand,
ſo iſt es anders mit dieſer lekten, denn dieſe ſcheint in der That
einer Erläuterung oder Rechtfertigung zu bedürfen . Das Auge
meine iſt jedoch , daß die Philoſophie der Geſchichte nichts An
deres , als die denkende Betrachtung derſelben bedeutet. Das
Denken können wir aber einmal nicht unterlaſſen ; dadurch unter
ſcheiden wir uns von dem Thier , und in der Empfindung, in
der Kenntniß und Erkenntniß , in den Trieben und im Willen,
ſofern ſie menſchlich ſind , iſt ein Denken . Dieſe Berufung auf
das Denken kann aber deswegen hier als ungenügend erſcheinen ,
weil in der Geſchichte das Denken dem Gegebenen und Seven
den untergeordnet iſt, daſſelbe zu ſeiner Grundlage hat und das
von geleitet wird, der Philoſophie im Gegentheil aber eigene Ge
danken zugeſchrieben werden , welche die Speculation aus ſich
ohne Rückſicht auf das, was iſt, hervorbringe. Gehe ſie mit
ſolchen an die Geſchichte , ſo behandle ſie ſie wie ein Material,
laſſe ſie nicht wie ſie iſt, ſondern richte ſie nach dem Gedanken
ein , conſtruire ſie daher, wie man ſagt, a priori. Da die Ge
ſchichte nun aber bloß aufzufaſſen hat, was iſt und geweſen iſt,
die Begebenheiten und Thaten , und um ſo wahrer bleibt, je mehr
ſie ſich an das Gegebene hält, ſo ſcheint mit dieſem Treiben das
Geſchäft der Philoſophie in Widerſpruch zu ſtehen , und dieſer
Widerſpruch und der daraus für die Speculation entſpringende
Vorwurf ſoll hier erklärt und widerlegt werden , ohne daß wir
uns deswegen in Berichtigungen der unendlich vielen und ſpe
ciellen ſchiefen Vorſtellungen einlaſſen wollen , die über den Zweck,
die Intereſſen und die Behandlungen des Geſchichtlichen und ſei
nes Verhältniſſes zur Philoſophie im Gange find , oder immer
wieder neu erfunden werden.
Der einzige Gedanke, den die Philoſophie mitbringt, iſt aber
der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt
beherrſche, daß es alſo auch in der Weltgeſchichte vernünftig zu :
gegangen ſey. Dieſe Ueberzeugung und Einſicht iſt eine Vor
Einleitung
ten hat, oder in der Folge der Abhandlung der Wiſſenſchaft der
Geſchichte erſt ſeine Beglaubigung empfangen ſoll.
Wir haben alſo hier anzugeben :
a ) die abſtracten Beſtimmungen der Natur des Geiſtes ;
b ) welche Mittel der Geiſt braucht, um ſeine Idee zu rea
lifiren ;
c) endlich iſt die Geſtalt zu betrachten , welche die vollſtän
dige Realiſirung des Geiſtes im Daſeyn iſt — der Staat.
a) Die Natur des Geiſtes läßt ſich durch den vollfomme
nen Gegenſaß deſſelben erkennen . Wie die Subſtanz der Ma
terie die Schwere iſt, ſo , müſſen wir ſagen , iſt die Subſtanz, das
Weſen des Geiſtes die Freiheit. Jedem iſt es unmittelbar glaub
lich , daß der Geiſt auch unter anderen Eigenſchaften die Frei
heit beſike; die Philoſophie aber lehrt uns, daß alle Eigenſchaf
ten des Geiſtes nur durch die Freiheit beſtehen , alle nur Mittel
für die Freiheit ſind, alle nur dieſe ſuchen und hervorbringen ; es
iſt dieß eine Erkenntniß der ſpeculativen Philoſophie , daß die
Freiheit das einzige Wahrhafte des Geiſtes ſey. Die Materie
iſt inſofern ſchwer, als ſie nach einem Mittelpunkte treibt: fie iſt
weſentlich zuſammengeſeßt, fie beſteht außer einander, fie ſucht ihre
Einheit und ſucht alſo fich ſelbſt aufzuheben , ſucht ihr Gegen
theil; wenn ſie dieſes erreichte , ſo wäre ſie keine Materie mehr,
ſondern ſie wäre untergegangen ; ſie ſtrebt nach Idealität, denn
in der Einheit iſt ſie ideellt. Der Geiſt im Gegentheil iſt eben
das, in fich den Mittelpunkt zu haben , er hat nicht die Einheit
außer fich , ſondern er hat ſie gefunden ; er iſt in fich felbſt und
bei ſich ſelbſt. Die Materie hat ihre Subſtanz außer ihr ; der
Geiſt iſt das Bei- fi ch = ſelbft -feyn . Dieß eben iſt die Frei
heit, denn wenn ich abhängig bin , ſo beziehe ich mich auf ein
Anderes , das ich nicht bin ; ich kann nicht ſeyn ohne ein Aeuße
res ; frei bin ich , wenn ich bei mir ſelbſt bin . Dieſes Beiſich
ſelbſtſeyn des Geiſtes iſt Selbſtbewußtſeyn, das Bewußtſeyn von
fich ſelbſt. Zweierlei iſt zu unterſcheiden im Bewußtſeyn , erſtens,
Einleitung . 23
daß ich weiß , und zweitens , was ich weiß . Beim Selbſtbe
wußtſeyn fält Beides zuſammen , denn der Geiſt weiß ſich ſelbſt:
er iſt das Beurtheilen ſeiner eigenen Natur, und er iſt zugleich
die Thätigkeit zu ſich zu kommen , und ſo ſich hervorzubringen ,
ſich zu dem zu machen , was er an ſich iſt. Nach dieſer ab
ſtracten Beſtimmung kann von der Weltgeſchichte geſagt wer
den , daß ſie die Darſtellung des Geiſtes ſey , wie er ſich das
Wiſſen deſſen , was er an ſich iſt, erarbeitet, und wie der Reim
die ganze Natur des Baumes , den Geſchmad , die Form der
Früchte in ſich trägt, ſo enthalten auch ſchon die erſten Spuren
des Geiſtes virtualiter die ganze Geſchichte. Die Orientalen
wiſſen es noch nicht, daß der Geiſt, oder der Menſch als ſolcher
an ſich frei iſt; weil ſie es nicht wiſſen , ſind ſie es nicht; fie
wiſſen nur, daß Einer frei iſt, aber ebendarum iſt ſolche Frei
heit nur Widfür , Wildheit, Dumpfheit der Leidenſchaft, oder
auch eine Milde, Zahmheit derſelben , die ſelbſt nur ein Naturzu
fall, oder eine Willkür iſt. — Dieſer Eine iſt darum nur ein
Despot, nicht ein freier Mann. In den Griechen iſt erſt das
Bewußtſeyn der Freiheit aufgegangen , und darum ſind ſie frei
geweſen , aber ſie, wie auch die Römer,wußten nur, daß Einige
frei ſind, nicht der Menſch, als ſolcher. Dieß wußte ſelbſt Plato
und Ariſtoteles nicht. Darum haben die Griechen nicht nur Skla
ven gehabt , und iſt ihr Leben , und der Beſtand ihrer ſchönen
Freiheit daran gebunden geweſen , ſondern auch ihre Freiheitwar
ſelbſt theils nur eine zufällige, vergängliche und beſchränkte Blume,
theils zugleich eine harte Knechtſchaft des Menſchlichen, des Hu
manen . – Erſt die germaniſchen Nationen ſind im Chriſten
thume zum Bewußtſeyn gekommen , daß der Menſch als Menſch
frei, die Freiheit des Geiſtes ſeine eigenſte Natur ausmacht; dieß
Bewußtſeyn iſt zuerſt in der Religion , in der innerſten Region
des Geiſtes aufgegangen ; aber dieſes Princip auch in das welt
liche Weſen einzubilden , das war eine weitere Aufgabe , welche
zu löſen und auszuführen eine ſchmere lange Arbeit der Bildung
24 Einleitung.
anderen Intereſſen und Zwecke , die man auch hat und haben
kann , mit allen ihr inwohnenden Adern von Wollen ſich in einen
Gegenſtand legt, in dieſen Zwed alle ihre Bedürfniſſe und Kräfte
concentrirt, ſo müſſen wir überhaupt ſagen , daß nichts Großes
in der Welt ohne Leidenſchaft vollbracht worden iſt. Es ſind
zwei Momente, die in unſern Gegenſtand eintreten : das eine iſt
die Idee, das andere ſind die menſchlichen Leidenſchaften ; das
eine iſt der Zettel , das andere der Einſchlag des großen Tep
piches der vor uns ausgebreiteten Weltgeſchichte. Die concrete
Mitte und Vereinigung beider iſt die ſittliche Freiheit im Staate.
Von der Idee der Freiheit, als der Natur des Geiſtes und dem
abſoluten Endzweck der Geſchichte iſt die Rede geweſen. Leiden
ſchaft wird als etwas angeſehen , das nicht recht iſt, das mehr
oder weniger ſchlecht iſt : der Menſch ſoll keine Leidenſchaften
haben . Leidenſchaft iſt auch nicht ganz das paſſende Wort für
das , was ich hier ausdrücken will. Ich verſtehe hier nämlich
überhaupt die Thätigkeit des Menſchen aus particularen Inter
eſſen , aus ſpeciellen Zwecken , oder wenn man will, ſelbſtſüchti
gen Abſichten , und zwar ſo , daß ſie in dieſe Zwecke die ganze
Energie ihres Wollens und Charakters legen , ihnen Anderes,
das auch Zweck ſeyn kann , oder vielmelír alles Andere aufopfern .
Dieſer particulare Inhalt iſt ſo Eins mit dem Willen des Men
ſchen , daß er die ganze Beſtimmtheit deſſelben ausmacht und un
trennbar von ihm iſt; er iſt dadurch das , was er iſt. Denn
das Individuum iſt ein ſolches , das da iſt, nicht Menſch über
haupt, denn der eriſtirt nicht, ſondern ein beſtimmter. Charak
ter drückt gleichfals dieſe Beſtimmtheit des Willens und der In
telligenz aus. Aber Charakter begreift überhaupt alle Particu
laritäten in fich , die Weiſe des Benehmens in Privatverhält
niſſen u . f. f., und iſt nicht dieſe Beſtimmtheit als in Wirkſam
keit und Thätigkeit gefegt. Ich werde alſo Leidenſchaft ſagen ,
und ſomit die particulare Beſtimmtheit des Charakters verſtehen ,
inſofern dieſe Beſtimmtheiten des Wollens nicht einen privaten
Einleitung. 31
Inhalt nur haben , ſondern das Treibende und Wirkende allge
meiner Thaten ſind. Leidenſchaft iſt zunächſt die ſubjective, ins
ſofern formelle Seite der Energie, des Willens und der Thätigs
keit,wobei der Inhalt oder Zweck noch unbeſtimmt bleibt; ebenſo
iſt es bei dem eigenen Ueberzeugtſeyn , bei der eigenen Einſicht
und bei dem eigenen Gewiſſen . Es kommt immer darauf an ,
welchen Inhalt meine Ueberzeugung hat, welchen Zweck meine
Leidenſchaft , ob der eine oder der andere wahrhafter Natur iſt.
Aber umgekehrt, wenn er dieß iſt, ſo gehört dazu , daß er in die
Eriſtenz trete, wirklich ſey .
Aus dieſer Erläuterung über das zweite weſentliche Mo
ment geſchichtlicher Wirklichkeit eines Zweds überhaupt geht
hervor, indem wir im Vorbeigehen Rücſicht auf den Staat nehs
men , daß nach dieſer Seite ein Staat wohlbeſtellt und fraftvoll
in ſich ſelbſt iſt, wenn mit ſeinem allgemeinen Zwecke das Pri
vatintereſſe der Bürger vereinigt, eins in dem andern ſeine Be
friedigung und Verwirklichung findet – ein für ſich höchſtwich
tiger Saß. Aber im Staate bedarf es vieler Veranſtaltungen ,
Erfindungen , von zweckgemäßen Einrichtungen , und zwar von
langen Kämpfen des Verſtandes begleitet , bis er zum Bewußts
ſeyn bringt, was das Zweckgemäße fen , ſowie Kämpfe mit dem
particularen Intereſſe und den Leidenſchaften , eine ſchwere und
langwierige Zucht derſelben , bis jene Vereinigung zu Stande ge
bracht wird. Der Zeitpunkt ſolcher Vereinigung macht die Pes
riode ſeiner Blüthe, ſeiner Tugend, ſeiner Kraft und ſeines Glüces
aus. Aber die Weltgeſchichte beginnt nicht mit irgend einem be
wußten Zwecke , wie bei den beſonderen Kreiſen der Menſchen .
Der einfache Trieb des Zuſammenlebens derſelben hat ſchon den
bewußten Zweck der Sicherung ihres Lebens und Eigenthums,
und indem dieſes Zuſammenleben zu Stande gekommen iſt, er
weitect ſich dieſer Zweck. Die Weltgeſchichte fängt mit ihrem
allgemeinen Zwecke, daß der Begriff des Geiſtes befriedigt werde,
nur an ſich an, das heißt, als Natur; er iſt der innnere, der in
Einleitung.
lichen . Dieſer Standpunkt iſt denn auch der des Glücks oder
Unglüds. Glücklich iſt derjenige, welcher ſein Daſeyn ſeinem be
ſonderen Charakter, Wollen und Willkür angemeſſen hat und ſo
in ſeinem Daſeyn ſich ſelbſt genießt. Die Weltgeſchichte iſt nicht
der Boden des Glücks . Die Perioden des Glücks ſind leere
Blätter in ihr ; denn ſie ſind die Perioden der Zuſammenſtim
mung , des fehlenden Gegenſages. Die Reflerion in fich , dieſe
Freiheit iſt überhaupt abſtract das formelle Moment der Thätig
keit der abſoluten Idee. Die Thätigkeit iſt die Mitte des Schluſ
ſes , deſſen eines Ertrem das Allgemeine, die Idee iſt, die im
inneren Schacht des Geiſtes ruht, das andere iſt die Aeußer
lichkeit überhaupt , die gegenſtändliche Materie. Die Thätigkeit
iſt die Mitte, welche das Allgemeine und Innere überſeßt in die
Objectivität.
Ich wil verſuchen das Geſagte durch Beiſpiele vorſtelliger
und deutlicher zu machen .
Ein Hausbau iſt zunächſt ein innerer Zweck und Abſicht.
Dem gegenüber ſtehen als Mittel die beſonderen Elemente , als
Material Eiſen , Holz, Steine. Die Elemente werden angewen
det, dieſes zu bearbeiten : Feuer, um das Eiſen zu ſchmelzen , Luft,
um das Feuer anzublaſen , Waſſer , um die Räder in Bewe
gung zu ſeßen , das Holz zu ſchneiden u . f. f. Das Product iſt,
daß die Luft, die geholfen , durch das Haus abgehalten wird,
ebenſo die Waſſerfluthen des Regens, und die Verderblichkeit des
Feuers, inſoweit es feuerfeſt ift. Die Steine und Balfen gehor
chen der Schwere , drängen hinunter in die Tiefe, und durch ſie
find hohe Wände aufgeführt. So werden die Elemente ihrer
Natur gemäß gebraucht und wirken zuſammen zu einem Product,
wodurch ſie beſchränkt werden . In ähnlicher Weiſe befriedigen
fich die Leidenſchaften , ſie führen ſich ſelbſt und ihre Zwecke
aus nach ihrer Naturbeſtimmung, und bringen das Gebäude der
menſchlichen Geſellſchaft hervor, worin fie dem Rechte, der Ord
nung die Gewalt gegen ſich verſchafft haben . - Der oben ange
Einleitung. 35
deutete Zuſammenhang enthält ferner dieß , daß in der Weltge
ſchichte durch die Handlungen der Menſchen noch etwas Anderes
überhaupt herauskomme, als ſie bezwecken und erreichen , als ſie
unmittelbar wiſſen und wollen ; ſie volbringen ihr Intereſſe, aber
es wird noch ein Ferneres damit zu Stande gebracht, das auch
innerlich darin liegt , aber das nicht in ihrem Bewußtſeyn und
in ihrer Abſicht lag. Als ein analoges Beiſpiel führen wir
einen Menſchen an, der aus Rache, die vielleicht gerecht iſt, das
heißt , wegen einer ungerechten Verlegung, einem Anderen das
Haus anzündet ; hiebei ſchon thut ſich ein Zuſammenhang der
unmittelbaren That mit weiteren , jedoch ſelbſt äußerlichen Um
ſtänden hervor , die nicht zu jener ganz für ſich unmittelbar ge
nommenen That gehören. Dieſe iſt als ſolche, das Hinhalten
etwa einer kleinen Flamme an eine kleine Stelle eines Balkens.
Was damit noch nicht gethan worden , macht ſich weiter durch
ſich ſelbſt; die angezündete Stelle des Balkens hängt mit den
ferneren Stellen deſſelben , dieſer mit dem Gebälke des ganzen
Hauſes, und dieſes mit anderen Häuſern zuſammen , und eine
weite Feuersbrunſt entſteht, die vieler anderer Menſchen , als ge
gen die die Rache gerichtet war, Eigenthum und Habe verzehrt,
ja vielen Menſchen das Leben koſtet. Dieß lag weder in der
allgemeinen That, noch in der Abſicht deſſen , der ſolches anfing.
Aber Ferner enthält die Handlung noch eine weitere allgemeine
Beſtimmung: in dem Zwecke des Handelnden war ſie nur eine
Rache gegen ein Individuum durch Zerſtörung ſeines Eigen
thums; aber ſie iſt noch weiter ein Verbrechen , und dieß ent
hält ferner die Strafe deſſelben . Dieß mag nicht im Bewußt=
ſeyn , noch weniger im Willen des Thäters gelegen haben , aber
dieß iſt ſeine That an ſich , das Algemeine, Subſtantielle der
ſelben , das durch fie ſelbſt vollbracht wird. Es iſt an dieſem
Beiſpiel eben nur dieß feſtzuhalten , daß in der unmittelbaren
Handlung etwas Weiteres liegen kann , als in dem Willen und
Bewußtſeyn des Thäters. Diefes Beiſpiel hat jedoch noch das
3*
36 Einleitung.
ein Inſtinkt war, der das vollbrachte , was an und für fich an
der Zeit war. Dieß ſind die großen Menſchen in der Geſchichte,
deren eigene particulare Zwecke das Subſtantielle enthalten , wel
ches Wille des Weltgeiſtes iſt. Sie ſind inſofern Heroen zu
nennen , als ſie ihre Zwecke und ihren Beruf nicht bloß aus dem
ruhigen , angeordneten , durch das beſtehende Syſtem geheiligten
Lauf der Dinge geſchöpft haben , ſondern aus einer Quelle, deren
Inhalt verborgen und nicht zu einem gegenwärtigen Daſeyn ge
diehen iſt, aus dem innern Geiſte, der noch unterirdiſch iſt, der
an die Außenwelt wie an die Schale pocht, und ſie ſprengt,
weil er ein andrer Kern als der Kern dieſer Schale iſt, – die
alſo aus ſich zu ſchöpfen ſcheinen , und deren Thaten einen Zu
ſtand und Weltverhältniſſe hervorgebracht haben , welche nur ihre
Sache und ihr Werk zu ſeyn ſcheinen .
Solche Individuen hatten in dieſen ihren Zwecken nicht das
Bewußtſeyn der Idee überhaupt; fondern ſie waren praktiſche
X , und politiſche Menſchen . Aber zugleich waren ſie denkende, die
1 die Einſicht hatten von dem , was Noth und was an der Zeit
iſt. Das iſt eben die Wahrheit ihrer Zeit und ihrer Welt, ſo
1 zu ſagen die nächſte Gattung , die im Innern bereits vorhanden
war. Ihre Sache war es, dies Allgemeine, die nothwendige,
nächſte Stufe ihrer Welt zu wiſſen , dieſe fich zum Zwede zu
machen und ihre Energie in dieſelbe zu legen . Die welthifto
riſchen Menſchen , die Heroen einer Zeit, ſind darum als die Ein
ſichtigen anzuerkennen ; ihre Handlungen , ihre Reden ſind das
Beſte der Zeit. Große Menſchen haben gewollt um ſich zu be
friedigen , nicht um Andere. Was ſie von Anderen erfahren
hätten an wohlgemeinten Abſichten und Rathſchlägen , das wäre
vielmehr das Bornirtere und Schiefere geweſen , denn ſie ſind
die, die es am beſten verſtanden haben , und von denen es dann
vielmehr Ade gelernt und gut gefunden oder ſich wenigſtens
darin gefügt haben . Denn der weitergeſchrittene Geiſt iſt die
innerliche Seele aller Individuen , aber die bewußtloſe Innerlichkeit,
Einleitung.
Philoſophie erfaſſen ; denn nur was aus ihm vollführt iſt, hat
Wirklichkeit : was ihm nicht gemäß iſt, iſt nur faule Eriſtenz.
Vor dem reinen Licht dieſer göttlichen Idee, die kein bloßes Ideal
iſt, verſchwindet der Schein , als ob die Welt ein verrücktes,
thörichtes Geſchehen ſey . Die Philoſophie wil den Inhalt, die
Wirklichkeit der göttlichen Idee erkennen und die verſchmähte
Wirklichkeit rechtfertigen . Denn die Vernunft iſt das Vernehmen
des göttlichen Werkes. . Was aber die Verkümmerung, Verlegung
und den Untergang von religiöſen , ſittlichen und moraliſchen
Zwecken und Zuſtänden überhaupt betrifft, ſo muß geſagt werden ,
daß dieſe zwar ihrem Innerlichen nach unendlich und ewig ſind,
daß aber ihre Geſtaltungen beſchränkter Art ſeyn können , damit
im Naturzuſammenhange und unter dem Gebote der Zufälligkeit
ſtehen . Darum ſind ſie vergänglich und der Verkümmerung und
Verlegung ausgeſeßt. Die Religion und Sittlichkeit haben eben
als die in fich allgemeinen Weſenheiten , die Eigenſchaft, ihrem
Begriffe gemäß, ſomit wahrhaftig, in der individuellen Seele vor
handen zu ſeyn, wenn ſie in derſelben auch nicht die Ausdehnung
der Bildung , nicht die Anwendung auf entwickelte Verhältniſſe
haben . Die Religioſität, die Sittlichkeit eines beſchränkten Lebens
– eines Hirten, eines Bauern , in ihrer concentrirten Innigkeit,
und Beſchränktheit auf wenige und ganz einfache Verhältniſſe
des Lebens , hat unendlichen Werth , und denſelben Werth als
die Religioſität und Sittlichkeit einer ausgebildeten Erkenntniß ,
und eines an Umfang der Beziehungen und Handlungen reichen
Daſeyns. Dieſer innere Mittelpunkt, dieſe einfache Negion des
Rechts der ſubjectiven Freiheit , der Heerd des Wollens , Ent
ſchließens und Thung, der abſtracte Inhalt des Gewiſſens, das,
worin Schuld und Werth des Individuums eingeſchloſſen iſt,
bleibt unangetaſtet , und iſt dem lauten Lärm der Weltgeſchichte
und den nicht nur äußerlichen und zeitlichen Veränderungen , ſon
dern auch denjenigen , welche die abſolute Nothwendigkeit des
Freiheitsbegriffes ſelbſt mit ſich bringt, ganz entnommen . Im
Einleitung
Allgemeinen iſt aber dieß feſtzuhalten , daß was in der Welt als
Edles und Herrliches berechtigt iſt, auch ein Höheres über ſich
hat. Das Recht des Weltgeiſtes geht über alle beſonderen Be
rechtigungen .
Dieß mag genug ſeyn über dieſen Geſichtspunkt der Mittel,
deren der Weltgeiſt ſich zur Realiſirung ſeines Begriffes bedient.
Einfach und abſtract iſt es die Thätigkeit der Subjecte, in welchen
die Vernunft als ihr an ſich ſeyendes ſubſtantielles Weſen vor
handen , aber ihr zunächſt noch dunkler, ihnen verborgener Grund
iſt. Aber der Gegenſtand wird verwickelter und ſchwieriger,
wenn wir die Individuen nicht bloß als thätig , ſondern concreter
mit beſtimmtem Inhalt ihrer Religion und Sittlichkeit nehmen ,
Beſtimmungen , welche Antheil an der Vernunft, damit auch an
ihrer abſoluten Berechtigung haben . Hier fällt das Verhältniß
eines bloßen Mittels zum Zwecke hinweg, und die Hauptgeſichts
punkte, die dabei über das Verhältniß des abſoluten Zweckes
des Geiſtes angeregt werden , ſind kurz in Betracht gezogen.
worden .
c ) Das Dritte nun aber iſt, welches der durch dieſe Mittel
auszuführende Zwed ſey , das iſt, ſeine Geſtaltung in der Wirt
lichkeit. Es iſt von Mitteln die Rede geweſen , aber bei der
Ausführung eines ſubjectiven endlichen Zweckes haben wir auch
noch das Moment eines Materials , was für die Verwirk
lichung derſelben vorhanden oder herbeigeſchafft werden muß . So
wäre die Frage : welches iſt das Material, in welchem der ver
nünftige Endzweck ausgeführt wird ? Es iſt zunächſt das Sub
ject wiederum ſelbſt, die Bedürfniſſe des Menſchen , die Subjec
tivität überhaupt. Im menſchlichen Wiſſen und Wollen , als im
Material, kommt das Vernünftige zu ſeiner Eriſtenz. Der ſub
jective Wille iſt betrachtet worden , wie er einen Zweck hat,
welcher die Wahrheit einer Wirklichkeit iſt, und zwar, inſofern er
eine große welthiſtoriſche Leidenſchaft iſt. Als ſubjectiver Wille
in beſchränkten Leidenſchaften iſt er abhängig und ſeine beſonderen
48 Einleitung.
der beſondere Wille der Individuen nicht gilt, daß auf die Par
ticularität Verzicht gethan wird , daß der allgemeine Wille das
Weſentliche iſt. Dieſe Einheit des Allgemeinen und Einzelnen
iſt die Idee ſelbſt, die als Staat vorhanden iſt, und die ſich
dann weiter in ſich ausbildet. Der abſtracte, jedoch nothwendige,
Gang in der Entwickelung wahrhaft ſelbſtſtändiger Staaten iſt
dann dieſer, daß ſie mit dem Königthum anfangen , es ſey dieſes
ein patriarchaliſches oder kriegeriſches . Darauf hat die Beſon
derheit und Einzelnheit ſich hervorthun müſſen , – in Ariſtokratie
und Demokratie. Den Schluß macht die Unterwerfung dieſer
Beſonderheit unter Eine Macht, welche ſchlechthin keine andere
ſeyn kann, als eine ſolche, außerhalb welcher die beſonderen Sphä
ren ihre Selbſtſtändigkeit haben , das iſt die monarchiſche. Es
iſt ſo ein erſtes und ein zweites Königthum zu unterſcheiden . -
Dieſer Gang iſt ein nothwendiger , ſo daß in ihm jedesmal die
beſtimmte Verfaſſung eintreten muß , die nicht Sache der Wahl,
ſondern nur diejenige iſt, welche gerade dem Geiſte des Volfs
angemeſſen iſt.
Bei einer Verfaſſung kommt es auf die Ausbildung des
vernünftigen , d. i. des politiſchen Zuſtandes in fich an , auf die
Freiwerdung der Momente des Begriffs, daß die beſonderen Ge
walten ſich unterſcheiden , fich für ſich vervollſtändigen , aber ebenſo
in ihrer Freiheit zu Einem Zweck zuſammenarbeiten , und von
ihm gehalten werden , d. i. ein organiſches Ganze bilden . So
iſt der Staat die vernünftige und ſich objectiv wiſſende und für
ſich ſeyende Freiheit. Denn ihre Objectivität iſt eben dieß, daß
ihre Momente nicht ideell, ſondern in eigenthümlicher Realität
vorhanden ſind, und in ihrer fich auf ſie ſelbſt beziehenden Wirk
ſamkeit ſchlechthin übergehen in die Wirkſamkeit, wodurch das
Ganze, die Seele , die individuelle Einheit hervorgebracht wird
und Reſultat iſt.
Der Staat iſt die geiſtige Idee in der Neußerlichkeit des
menſchlichen Willens und ſeiner Freiheit. In denſelben fält da
Einleitung. . 59
her überhaupt weſentlich die Veränderung der Geſchichte, und die
Momente der Idee ſind an demſelben als verſchiedene Princi
pien . Die Verfaſſungen , worin die welthiſtoriſchen Völker ihre
Blüthe erreicht haben , ſind ihnen eigenthümlich, alſo nicht eine
allgemeine Grundlage, ſo daß die Verſchiedenheit nur in beſtimm
ter Weiſe der Ausbildung und Entwicklung beſtände, ſondern ſie
beſteht in der Verſchiedenheit der Principien . Es iſt daher in
Anſehung der Vergleichung der Verfaſſungen der früheren welt
hiſtoriſchen Völker der Fall, daß ſich für das legte Princip der
Verfaſſung, für das Princip unſerer Zeiten , ſo zu ſagen , Nichts
aus denſelben lernen läßt. Mit Wiſſenſchaft und Kunſt iſt das
ganz anders ; 3. B . die Philoſophie der Alten iſt ſo die Grund
lage der neueren, daß fie ſchlechthin in dieſer enthalten ſeyn muß
und den Boden derſelben ausmacht. Das Verhältniß erſcheint
hier als eine ununterbrochene Ausbildung deſſelben Gebäudes,
deſſen Grundſtein , Mauern und Dach noch dieſelben geblieben
ſind. In der Kunſt iſt ſogar die griechiſche, ſo wie ſie iſt, ſelbſt
das höchſte Muſter. Aber in Anſehung der Verfaſſung iſt es
ganz anders : hier haben Altes und Neues dasweſentliche Princip
nicht gemein . Abſtracte Beſtimmungen und Lehren von gerechter
Regierung, daß Einſicht und Tugend die Herrſchaft führen müſſe,
ſind freilich gemeinſchaftlich . Aber es iſt nichts ſo ungeſchickt,
als für Verfaſſungseinrichtungen unſerer Zeit Beiſpiele von Grie
chen und Nömern oder Orientalen aufnehmen zu wollen . Aus
dem Orient laſſen ſich ſchöne Gemälde von patriarchaliſchem Zu
ſtande , väterlicher Regierung , von Ergebenheit der Völker her
nehmen ; von Griechen und Römern Schilderungen von Volks
freiheit. Denn bei dieſen finden wir den Begriff von einer freien
Verfaſſung ſo gefaßt , daß alle Bürger Antheil an den Bera
thungen und Beſchlüſſen über die allgemeinen Angelegenheiten
und Geſepe nehmen ſollen . Auch in unſeren Zeiten iſt dieß die
allgemeineMeinung, nur mit der Modification , daß, weil unſere
Staaten ſo groß, der Vielen ſo viele ſeyen , dieſe nicht direct, ſon
60 Einleitung .
gleich der einfache Begriff der Vernunft , und ebenſo das , was
wir Subject genannt haben , das Selbſtbewußtſeyn , der in der
Welt eriſtirende Geiſt. Betrachten wir nun andrerſeits die Sub
jectivität, ſo finden wir, daß das ſubjective Wiſſen und Wollen
das Denken iſt. Indem ich aber denkend weiß und will, wil
ich den allgemeinen Gegenſtand , das Subſtantielle des an
und für ſich Vernünftigen . Wir ſehen ſomit eine Vereinigung,
die an ſich iſt, zwiſchen der objectiven Seite, dem Begriffe, und
der ſubjectiven Seite. Die objective Eriſtenz dieſer Vereinigung
iſt der Staat, welcher ſomit die Grundlage und der Mittelpunkt
der andern concreten Seiten des Volkslebens iſt, der Kunſt,
des Rechts , der Sitten , der Religion , der Wiſſenſchaft. Alles
geiſtige Thun hat nur den Zweck, fich d eſer Vereinigung bewußt
zu werden, d . h. ſeiner Freiheit. Unter den Geſtalten dieſer ge
wußten Vereinigung ſteht die Religion an der Spiße. In ihr
wird der eriſtirende, der weltliche Geiſt ſich des abſoluten Geiſtes
bewußt, und in dieſem Bewußtſeyn des an und für ſich ſeyenden
Weſens entſagt der Wille des Menſchen ſeinem beſonderen In
tereſſe; er legt dieſes auf die Seite in der Andacht , in wel
cher es ihm nicht mehr um Particulares , zu thun ſeyn kann.
Durch das Opfer drückt der Menſch aus , daß er ſeines Eigen
thums, feines Willens, ſeiner beſonderen Empfindungen fich ent
äußere. Die religiöſe Concentration des Gemüths erſcheint als
Gefühl, jedoch tritt ſie auch in das Nachdenken über : der Cultus
iſt eine Aeußerung des Nachdenkens. Die zweite Geſtalt der Ver
einigung des Objectiven und Subjectiven im Geiſte iſtdie Kunſt :
ſte tritt mehr in die Wirklichkeit und Sinnlichkeit, als die Reli
gion ; in ihrer würdigſten Haltung hat ſie darzuſtellen , zwar nicht
den Geiſt Gottes , aber die Geſtalt des Gottes ; dann Göttliches
und Geiſtiges überhaupt. Das Göttliche ſoll durch ſie anſchau
lich werden : ſie ſtellt es der Phantaſie und der Anſchauung dar.
- Das Wahre gelangt aber nicht nur zur Vorſtellung und
zum Gefühl, wie in der Religion , und zur Anſchauung wie in
62 Einleitung
wenn zu ſagen iſt, daß der Staat ſich gründet auf die Religion ,
daß er ſeine Wurzeln in ihr hat, ſo heißt das weſentlich , daß er
aus ihr hervorgegangen iſt und jeßt und immer aus ihr hers
vorgeht, d. h . die Principien des Staates müſſen als an und
für fich geltend betrachtet werden , und ſie werden dieß nur, in
ſofern ſie als Beſtimmungen der göttlichen Natur ſelbſt gewußt
ſind. Wie daher die Religion beſchaffen iſt, fo der Staat und
ſeine Verfaſſung; er iſt wirklich aus der Religion hervorgegangen
und zwar ſo, daß der atheniſche, der römiſche Staat nur in dem
ſpecifiſchen Heidenthum dieſer Völker möglich war, wie eben ein
katholiſcher Staat einen andern Geiſt und andre Verfaſſung hat,
als ein proteſtantiſcher.
Sollte jenes Aufrufen , jenes Treiben und Drängen danach ,
die Religion einzupflanzen , ein Angſt- und Nothgeſchrei ſeyn,
wie es oft ſo ausſteht , worin ſich die Gefahr ausdrüßt, daß
die Religion bereits aus dem Staate verſchwunden oder vollends
zu verſchwinden im Begriff ſtehe, ſo wäre das ſchlimm , und
ſchlimmer ſelbſt als jener Angſtruf meint: denn dieſer glaubt noch
an ſeinem Einpflanzen und Inculfiren ein Mittel gegen das Uebel
zu haben ; aber ein ſo zu Machendes iſt die Religion überhaupt
nicht; ihr fich Machen ſtegt viel tiefer.
Eine andre und entgegengeſepte Thorheit, der wir in unſerer
Zeit begegnen , iſt die, Staatsverfaſſungen unabhängig von der
Religion erfinden und ausführen zu wollen . Die katholiſche
Confeſſion , obgleich mit der proteſtantiſchen gemeinſchaftlich inner
halb der chriſtlichen Religion , läßt die innere Gerechtigkeit und
Sittlichkeit des Staates nicht zu , die in der Innigkeit des pro
teſtantiſchen Princips liegt. Jenes Losreißen des Staatsrechtli
chen , der Verfaſſung, iſt um der Eigenthümlichkeit jener Religion
willen , die das Recht und die Sittlichkeit nicht als an ſich ſeyend,
als ſubſtantiell anerkennt, nothwendig , aber ſo losgeriſſen von
der Innerlichkeit, von dem leßten Heiligthum des Gewiſſens
von dem ſtillen Ort , wo die Religion ihren Siß hat, kommen
Einleitung. 65
die ſtaatsrechtlichen Principien und Einrichtungen eben ſowohl
nicht zu einem wirklichen Mittelpunkte, als ſie in der Abſtraction
und Unbeſtimmtheit bleiben .
Faſſen wir das bisher über den Staat Geſagte im Reſul
tat zuſammen , ſo iſt die Lebendigkeit des Staats in den Indivi
duen die Sittlichkeit genannt worden . Der Staat, ſeine Geſebe,
ſeine Einrichtungen ſind der Staatsindividuen Rechte ; ſeine Na
tur, ſein Boden , ſeine Berge, Luft und Gewäſſer ſind ihr Land,
ihr Vaterland, ihr äußerliches Eigenthum ; die Geſchichte dieſes
Staats , ihre Thaten , und das was ihre Vorfahren hervorbrach .
ten gehört ihnen , und lebt in ihrer Erinnerung. Alles iſt ihr
Beſik ebenſo , wie ſie von ihm beſeſſen werden , denn es macht
ihre Subſtanz, ihr Seyn aus.
Ihre Vorſtellung iſt damit erfüllt und ihr Wille iſt das
Wollen dieſer Gefeße und dieſes Vaterlandes. Es iſt dieſe zei
tige Geſammtheit, welche Ein Weſen , der Geiſt Eines Volkes
ift. Ihm gehören die Individuen an ; jeder Einzelne iſt der
Sohn ſeines Volfes und zugleich , inſofern ſein Staat in Ent
wifelung begriffen iſt, der Sohn ſeiner Zeit; feiner bleibt hin :
ter derſelben zurück , noch weniger überſpringt er dieſelbe. Dies
geiſtige Weſen iſt das ſeinige, er iſt ein Repräſentant deſſelben ;
es iſt das , woraus er hervorgeht und worin er ſteht. Bei den
Athenern hatte Athen eine doppelte Bedeutung ; zuerſt bezeichnete
ſie die Geſammtheit der Einrichtungen , dann aber die Göttin '
welche den Geiſt des Volfes , die Einheit darſtellte.
Dieſer Geiſt eines Volkes iſt ein beſtimmter Geiſt, und,
wie ſo eben geſagt, auch nach der geſchichtlichen Stufe ſeiner
Entwickelung beſtimmt. Dieſer Geiſt macht dann die Grundlage
und den Inhalt in den anderen Formen des Bewußtſeyns ſeiner
aus , die angeführt worden ſind. Denn der Geiſt in ſeinem
Bewußtſeyn von fich muß ſich gegenſtändlich ſein , und die Ob
jectivität enthält unmittelbar das Hervortreten von Unterſchieden ,
die als Totalität der unterſchiedenen Sphären des objectiven
Philoſophie 8 . Geſchichte. 3 . Aufl.
66 Einleitung.
Geiſtes überhaupt find , ſo wie die Seele nur iſt, inſofern fie
als Syſtem ihrer Glieder iſt, welche in ihre einfache Einheit ſich
zuſammennehmend die Seele produciren . Es iſt ſo Eine Indivi
dualität, die in ihrer Weſentlichkeit , als der Gott , vorgeſtellt,
verehrt und genoſſen wird , in der Religion , – als Bild und
Anſchauung dargeſtellt wird, in der Kunſt, – erkannt und als
Gedanken begriffen wird, in der Philoſophie. Um der urſprüng
lichen Dieſelbigkeit ihrer Subſtanz , ihres Inhalts und Gegen
ſtandes willen , ſind die Geſtaltungen in unzertrennlicher Einheit
mit dem Geiſte des Staats ; nur mit dieſer Religion kann dieſe
Staatsform vorhanden ſeyn, ſo wie in dieſem Staate nur dieſe
Philoſophie und dieſe Kunſt
Das Andere und Weitere iſt, daß der beſtimmte Volksgeiſt
ſelbſt nur Ein Individuum iſt im Gange der Weltgeſchichte. .
Denn die Weltgeſchichte iſt die Darſtellung des göttlichen , abſo
luten Proceſſes des Geiſtes in ſeinen höchſten Geſtalten , dieſes
Stufenganges , wodurch er ſeine Wahrheit , das Selbſtbewußtſeyn
über ſich erlangt. Die Geſtaltungen dieſer Stufen ſind die welt
hiſtoriſchen Volksgeiſter , die Beſtimmtheit ihres fittlichen Lebens,
ihrer Verfaſſung, ihrer Kunſt, Religion und Wiſſenſchaft. Dieſe
Stufen zu realiſiren iſt der unendliche Trieb des Weltgeiſtes ,
fein unwiderſtehlicher Drang, denn dieſe Gliederung , ſo wie ihre
Verwirklichung iſt ſein Begriff. — Die Weltgeſchichte zeigt nur,
wie der Geiſt allmählig zum Bewußtſeyn und zum Wollen der
Wahrheit kommt; es dämmert in ihm , er findet Hauptpunkte,
am Ende gelangt er zum vollen Bewußtſeyn .
Nachdem wir alſo die abſtracten Beſtimmungen der Natur
des Geiſtes , die Mittel, welche der Geiſt braucht , um ſeine
Idee zu realiſiren , und die Geſtalt kennen gelernt haben , welche
die vollſtändige Realiſirung des Geiſtes im Daſeyn iſt , nämlich
den Staat, bleibt uns nur für dieſe Einleitung übrig
C. den Gang der Weltgeſchichte zu betrachten . Die ab
ſtracte Veränderung überhaupt,welche in der Geſchichte vorgeht, iſt
Einleitung. 67
längſt in einer allgemeinen Weiſe gefaßt worden , ſo daß ſie zu
gleich einen Fortgang zum Beſſeren , Vollkommneren enthalte. Die
Veränderungen in der Natur, ſo unendlich mannigfach ſie ſind,
zeigen nur einen Kreislauf, der ſich immer wiederholt; in der
Natur geſchieht nichts Neues unter der Sonne, und inſofern führt
das vielförmige Spiel ihrer Geſtaltungen eine Langeweile mit
ſich . Nur in den Veränderungen , die auf dem geiſtigen Boden
vorgehen , kommt Neues hervor. Dieſe Erſcheinung am Geiſti:
gen ließ in dem Menſchen eine andere Beſtimmung überhaupt
ſehen , als in den bloß natürlichen Dingen , -- in welchen ſich
immer ein und derſelbe ſtabile Charakter kund giebt, in den alle
Veränderung zurückgeht , – nämlich eine wirkliche Verände
rungsfähigkeit und zwar zum Beſſern – ein Trieb der Per
fectibilität. Dieſes Princip , welches die Veränderung ſelbſt
zu einer geſeblichen macht, iſt von Religionen , wie von der ka
tholiſchen , ingleichen von Staaten , als welche ſtatariſch oder
wenigſtens ſtabil zu ſein , als ihr wahrhaftes Necht behaupten ,
übel aufgenommen worden. Wenn im Allgemeinen die Verän
derlichkeit weltlicher Dinge , wie der Staaten , zugegeben wird ,
ſo wird theils die Religion , als die Religion der Wahrheit da
von ausgenommen , theils bleibt es offen , Veränderungen , Um
wälzungen und Zerſtörungen berechtigter Zuſtände den Zufällig
keiten , Ungeſchidlichkeiten , vornehmlich aber dem Leichtſinn und
den böſen Leidenſchaften der Menſchen zuzuſchreiben . In der
That iſt die Perfectibilität beinahe etwas ſo Beſtimmungsloſes
als die Veränderlichkeit überhaupt; fie iſt ohne Zweck und Ziel,
wie ohne Maaßſtab für die Veränderung : das Beſſere , das
Vollkommnere, worauf fie gehen ſoll, iſt ein ganz Unbeſtimmtes.
Das Princip der Entwickelung enthält das Weitere, daß
eine innere Beſtimmung , eine an ſich vorhandene Vorausſegung
zu Grunde liege, die ſich zur Eriſtenz bringe. Dieſe formelle
Beſtimmung iſt weſentlich der Geiſt, welcher die Weltgeſchichte
zu ſeinem Schauplaße, Eigenthum und Felde ſeiner Verwirk
5 *
itung
68 Einle .
lichung hat. Er iſt nicht ein ſolcher, der ſich in dem äußer
lichen Spiel von Zufälligkeiten herumtriebe, ſondern er iſt viel
mehr das abſolut Beſtimmende und ſchlechthin feft gegen die Zu
fälligkeiten , die er zu ſeinem Gebrauch verwendet und beherrſcht.
Den organiſchen Naturdingen kommt aber gleichfalls die Ent
wickelung zu : ihre Eriſtenz ſtellt ſich nicht als eine nur mittel
bare, von außen veränderliche dar, ſondern als eine, die aus
ſich von einem inneren unveränderlichen Princip ausgeht , aus
einer einfachen Weſenheit, deren Eriſtenz als Reim zunächſt ein
fach iſt, dann aber Unterſchiede aus ſich zum Daſeyn bringt,
welche ſich mit anderen Dingen einlaſſen , und damit einen fort
dauernden Proceß von Veränderungen leben , welcher aber eben
ſo in das Gegentheil verkehrt, und vielmehr in die Erhaltung
des organiſchen Princips und ſeiner Geſtaltung umgewandelt
wird . So producirt das organiſche Individuum ſich ſelbſt: es
macht ſich zu dem , was es an ſich iſt; ebenſo iſt der Geiſt
nur das, zu was er ſich ſelbſt macht, und er macht ſich zu
dem , was er an ſich iſt. Dieſe Entwickelung macht ſich auf
eine unmittelbare, gegenſatzloſe , ungehinderte Weiſe. Zwiſchen
den Begriff und deſſen Realiſirung, die an ſich beſtimmte Na
tur des Reimes , und die Angemeſſenheit der Eriſtenz zu der
ſelben kann ſich nichts eindrängen . Im Geiſte aber iſt es an
ders. Der Uebergang ſeiner Beſtimmung in ihre Verwirk
lichung iſt vermittelt durch Bewußtſeyn und Willen : dieſe ſelbſt
ſind zunächſt in ihr unmittelbares natürliches Leben verſenkt,
Gegenſtand und Zweck ift ihnen zunächſt felbft die natürliche
Beſtimmung als ſolche, die dadurch , daß es der Geiſt iſt, der
fie beſeelt, felbſt von unendlichem Anſpruche, Stärke und Reich
thum iſt. So iſt der Geiſt in ihm ſelbſt ſich entgegen ; er hat
ſich ſelbſt als das wahre Feindſelige Hinderniß ſeiner ſelbſt zu
überwinden ; die Entwickelung , die in der Natur ein ruhiges
Hervorgehen iſt, iſt im Geiſt ein harter unendlicher Kampf ge
gen ſich ſelbſt. Was der Geiſt wil , iſt, ſeinen eigenen Be
Einleitung. 69
ner Weiſe vorhanden ſey , oder geweſen ſey . Jedoch war dieß
nur eine im Dämmerlicht der hypotheſirenden Reflerion gemachte
Annahme einer geſchichtlichen Eriſtenz. Eine Prätenſion ganz
anderer Art, nämlich nicht eines aus Gedanken hervorgehenden
Annehmens , ſondern eines geſchichtlichen Factums, und zugleich
einer höheren Beglaubigung deſſelben , macht eine andere , von
einer gewiſſen Seite her heutzutage viel in Umlauf geſepte Vor
ſtellung. Es iſt in derſelben der erſte paradieſiſche Zuſtand des
Menſchen , der ſchon früher von den Theologen nach ihrer Weiſe,
3. B . daß Gott mit Adam hebräiſch geſprochen habe, ausgebildet
wurde, wieder aufgenommen , aber anderen Bedürfniſſen ent
ſprechend geſtaltet worden . Die hohe Autorität , welche hiebei
zunächſt in Anſpruch genommen wird , iſt die bibliſche Erzählung.
Dieſe aber ſtellt den primitiven Zuſtand , theils nur in den we
nigen bekannten Zügen , theils aber denſelben entweder in dem
Menſchen überhaupt - dies wäre die allgemein menſchliche Na
tur — oder, inſofern Adam als individuelle und damit als Eine
Perſon zu nehmen iſt, in dieſem Einen oder nur in finem
Menſchenpaare vorhanden und vollendet dar. Weder liegt darin
die Berechtigung zur Vorſtellung eines Volkes und eines ge
ſchichtlichen Zuſtandes deſſelben , welcher in jener primitiven Ge
ſtalt eriſtirt habe, noch weniger der Ausbildung einer reinen Er
Einleitung.
gen , ſo aber , daß ſie zugleich jene erſte Wahrheit mit Ausge
burten des Irrthums und der Verkehrtheit verunreinigt und ver
deckt haben . In allen den Mythologien des Irrthums aber
Feyen Spuren jenes Urſprungs und jener erſten Religionslehren
der Wahrheit vorhanden und zu erkennen . Der Erforſchung der
alten Völfergeſchichte wird daher weſentlich dieſ Intereſſe gege
ben , in ihnen ſoweit aufzuſteigen , um bis zu einem Punkte zu
gelangen , wo ſolche Fragmente der erſten geoffenbarten Erkennt
niß noch in größerer Reinheit anzutreffen ſeyen * * ). Wir ha
angehörige Form iſt, und der Philoſophie, welche nur das Bewußt=
ſeyn dieſer Form ſelbſt, das Denken des Denkens ift , hiermit
das eigenthümliche Material für ihr Gebäude ſchon in der all
gemeinen Bildung zubereitet wird. Wenn in der Entwickelung
des Staates ſelbſt Perioden eintreten müſſen , durch welche der
Geiſt edlerer Naturen zur Flucht aus der Gegenwart in die idea
len Regionen getrieben wird , um in denſelben die Verſöhnung
mit ſich zu finden , welche er in der entzweiten Wirklichkeit nicht
mehr genießen kann , indem der reflectirende Verſtand alles Hei
lige und Tiefe, das auf unbefangene Weiſe in die Religion , Ge
ſeße und Sitten der Völker gelegt war, angreift und in abſtracte
götterloſe Allgemeinheiten verflacht und verflüchtigt; ſo wird das
Denken zu denkender Vernunft hingenöthigt werden , um in ſeis
nem eigenen Elemente die Wiederherſtellung aus dem Verderben
zu verſuchen , zu dem es gebracht worden iſt.
Es giebt alſo freilich in allen welthiſtoriſchen Völfern Dicht
kunſt, bildende Kunſt, Wiſſenſchaft, auch Philoſophie, aber nicht
nur iſt Styl und Richtung überhaupt, ſondern noch vielmehr
der Gehalt verſchieden , und dieſer Gehalt betrifft den höchſten
lInterſchied , den der Vernünftigkeit. Es hilft nichts , daß eine
ſich hochſtellende äſthetiſche Kritik fordert, daß das Stoffartige,
das iſt , das Subſtantielle des Inhalts , unſer Gefallen nicht
beſtimmen folle ; ſondern die ſchöne Form als ſolche, die Größe
der Phantaſie und dergleichen rey es , was die ſchöne Kunſt be
zwecke und von einem liberalen Gemüthe und gebildeten Geiſte
beachtet und genoſſen werden müſſe. Der geſunde Menſchenſinn
geſtattet doch ſolche Abſtractionen nicht, und eignet fich die
Werke der genannten Gattung nicht an . Möchte man ſo die
indiſchen Epopõen den homeriſchen um einer Menge jener for
mellen Eigenſchaften , Größe der Erfindung und Einbildungs
fraft, lebhaftigkeit der Bilder und Empfindungen , Schönheit
der Diction willen gleichſeßen wollen , ſo bleibt der unendliche
Unterſchied des Gehalts und ſomit das Subſtantielle, und das
Einleitung. 87
ſehr rein ſeyn , inſofern ſie nämlich nur die algemeinen Pflich
ten und Rechte als objective Gebote ausſpricht, oder auch in
ſofern ſie bei der formellen Erhebung, dem Aufgeben des Sinn
lichen und aller finnlichen Motive , als einem bloß Negativen
ſtehen bleibt. Die chineſiſche Moral hat, ſeitdem die Euro
päer mit derſelben und den Schriften des Confucius bekannt
wurden , das größte Lob und ruhmwürdige Anerkennung ihrer
Vortrefflichkeit von denen , die mit der chriſtlichen Moral ver
traut ſind, erlangt. Ebenſo iſt die Erhabenheit anerkannt, mit
welcher die indiſche Religion und Poeſie (wozu man jedoch bei
feßen muß , die höhere), und insbeſondere ihre Philoſophie, die
Entfernung und Aufopferung des Sinnlichen ausſprechen und
fordern . Dieſe beiden Nationen ermangeln jedoch , man muß
ſagen : gänzlich , des weſentlichen Bewußtſeyns des Freiheits
begriffes . Den Chineſen ſind ihre moraliſchen Gefeße wie Na
turgeſege, äußerliche poſitive Gebote, Zwangsrechte und Zwangs
pflichten oder Regeln der Höflichkeit gegen einander. Die Frei
heit, durch welche die ſubſtantiellen Vernunftbeſtimmungen erſt
zu fittlicher Geſinnung werden , fehlt ; die Moraliſt Staats
fache und wird durch Regierungsbeamte und die Gerichte ge
handhabt. Ihre Werke darüber , welche nicht Staatsgeſebbű
cher ſind, ſondern allerdings an den ſubjectiven Willen und die
Geſinnung gerichtet werden , leſen fich , wie die moraliſchen
Schriften der Stoiker , als eine Reihe von Geboten , welche
zum Ziele der Glückſeligkeit nothwendig ſeyen , ſo daß die Wil
für ihnen gegenüber ſtehend erſcheint, welche ſich zu ſolchen Ge
boten entſchließen , ſie befolgen kann, oder auch nicht; wie denn
die Vorſtellung eines abſtracten Subjects , des Weiſen bei den
chineſiſchen wie bei den ſtoiſchen Moraliſten die Spige ſolcher Leh
ren ausmacht. Auch in der indiſchen Lehre des Aufgebens der
Sinnlichkeit,der Begierden und irdiſchen Intereſſen iſt nicht die affir
mative, fittliche Freiheit das Ziel und Ende, ſondern das Nichts
des Bewußtſeyns, die geiſtige und ſelbſt phyſiſche Lebloſigkeit.
Einleitung. 89
dert nicht bloß in eine andere Hülle über , noch fteht er nur
verjüngt aus der Aſche ſeiner Geſtaltung auf, ſondern er geht
erhoben , verklärt, ein reinerer Geiſt aus derſelben hervor. Er
tritt allerdings gegen ſich auf, verzehrt ſein Daſeyn, aber indem
er es verzehrt, verarbeitet er daffelbe , und was ſeine Bildung
iſt, wird zum Material , an dem ſeine Arbeit ihn zu neuer Bil
dung erhebt.
Betrachten wir den Geiſt nach dieſer Seite, daß ſeine Ver
änderungen nicht bloß Uebergänge als Verjüngungen , d. h. Rüd
gänge zu derſelben Geſtalt ſind, ſondern vielmehr Verarbeitun
gen ſeiner ſelbſt, durch welche er den Stoff für ſeine Verſuche
vervielfältigt; ſo ſehen wir ihn nach einer Menge von Seiten
und Richtungen hin fich verſuchen , fich ergehen und genießen ,
in einer Menge, die unerſchöpflich iſt, weil jede ſeiner Schöpfun
gen , in der er ſich befriedigt hat, ihm von neuem als Stoff
gegenübertritt und eine neue Anforderung der Verarbeitung ift.
Der abſtracte Gedanke bloßer Veränderung verwandelt ſich in
den Gedanken des ſeine Kräfte nach allen Seiten ſeiner Fülle
kundgebenden , entwickelnden und ausbildenden Geiſtes. Welche
Kräfte er in ſich beſize, erfahren wir aus der Mannigfaltigkeit
ſeiner Producte und Bildungen . Er hat es in dieſer Luft ſeis
ner Thätigkeit nur mit ſich zu thun. Zwar verwickelt mit der
Naturbedingung , der innern und äußern , wird er an ihr nicht
nur Widerſtand und Hinderniſſe antreffen , ſondern durch ſie auch
ſeine Verſuche oft mißlingen ſehen und den Verwicklungen , in die
er durch ſie oder durch ſich verſeßt wird , oft unterliegen . Aber
er geht ſo in ſeinem Berufe und in ſeiner Wirkſamkeit unter,
und gewährt auch ſo noch das Schauſpiel, als geiſtige Thätig
keit ſich bewieſen zu haben .
Der Geiſt handelt weſentlich, er macht ſich zu dem , was
er an fich iſt, zu ſeiner That, zu ſeinem Werk ; ſo wird er ſich
Gegenſtand, ſo hat er ſich als ein Daſeyn vor ſich. So der
Geiſt eines Volks : er iſt ein beſtimmter Geiſt, der ſich zu einer
92 Einleitung .
der ſich in dieſe Weiſe der Natürlichkeit kleidet, läßt ſeine beſons
deren Geſtaltungen auseinander fallen , denn das Auseinander
iſt die Form der Natürlichkeit. Dieſe Naturunterſchiede müflen
nun zuvörderſt auch als beſondere Möglichkeiten angeſehen wer
den , aus welchen ſich der Geiſt hervortreibt , und geben ſo die
geographiſche Grundlage. Es iſt uns nicht darum zu thun , den
Boden als äußeres Local kennen zu lernen , ſondern den Natur
typus der Localität, welcher genau zuſammenhängt mit dem
Typus und Charakter des Volfs , das der Sohn ſolchen Bo
dens iſt. Dieſer Charakter iſt eben die Art und Weiſe, wie die
Völker in der Weltgeſchichte auftreten , und Stellung und Plaß
in derſelben einnehmen. – Die Natur darf nicht zu hoch und
nicht zu niedrig angeſchlagen werden ; der milde joniſche Him
mel hat ſicherlich viel zur Anmuth der homeriſchen Gedichte beis :
getragen , doch kann er allein keine Homere erzeugen ; auch er
zeugt er ſie nicht immer; unter türkiſcher Botmäßigkeit erhoben
ſich keine Sänger. Zunächſt iſt hier nun auf die Natürlichkeiten
Rüdſicht zu nehmen , die ein für allemal von der weltgeſchicht
lichen Bewegung auszuſchließen wären : in der kalten und in der
heißen Zone fann der Boden weltgeſchichtlicher Völker nicht ſeyn.
Denn das erwachende Bewußtſeyn iſt anfänglich nur in der Na
tur, und jede Entwiclung deſſelben iſt die Reflerion des Gei
ftes in ſich , gegen die natürliche Unmittelbarkeit. In dieſe Be:
ſonderung fällt nun das Moment der Natur mit hinein ; fie iſt
der erſte Standpunkt, aus dem der Menſch eine Freiheit in fich
gewinnen kann , und dieſe Befreiung muß nicht durch die natür
liche Macht erſchwert werden . Die Natur iſt gegen den Geiſt
gehalten ein Quantitatives , deſſen Gewalt nicht ſo groß ſeyn
muß, fich allein als allmächtig zu feßen . In den äußerſten Z0
nen kann der Menſch zu keiner freien Bewegung kommen , Kälte
und Hiße ſind hier zu mächtige Gewalten , als daß ſie dem Geiſt
erlaubten , für ſich eine Welt zu erbauen . Ariſtoteles ſagt ſchon :
wenn die Noth des Bedürfniſſes befriedigt iſt, wendet ſich der
7 *
100 Einleitung.
Denn wenn die Wilfür das Abſolute iſt , die einzige feſte Ob
jectivität, die zur Anſchauung kommt, ſo kann der Geiſt auf
dieſer Stufe von keiner Allgemeinheit wiſſen . Die Neger beſitzen
daher dieſe vollkommene Verachiung der Menſchen , welche ei
gentlich nach der Seite des Rechts und der Sittlichkeit hin die
Grundbeſtimmung bildet. Es iſt auch kein Wiſſen von Unſterb
lichkeit der Seele vorhanden , obwohl Todtengeſpenſter vorkoms
men . Die Werthloſigkeit der Menſchen geht ins Unglaubliche;
die Tyrannei gilt für fein Unrecht, und es iſt als etwas ganz
Verbreitetes und Erlaubtes betrachtet , Menſchenfleiſch zu eſſen .
Bei uns hält der Inſtinct davon ab, wenn man überhaupt beim
Menſchen vom Inſtincte ſprechen kann . Aber bei dem Neger iſt
dieß nicht der Fall, und den Menſchen zu verzehren hängt mit
dem afrikaniſchen Princip überhaupt zuſammen ; für den finnlichen
Neger iſt das Menſchenfleiſch nur Sinnliches, Fleiſch überhaupt.
Bei dem Tode eines Königs werden wohl Hunderte geſchlachtet
und verzehrt ; Gefangene werden gemordet und ihr Fleiſch auf
den Märkten verkauft ; der Sieger frißt in der Regel das Herz
des getödteten Feindes. Bei den Zaubereien geſchieht es gar
häufig , daß der Zauberer den erſten Beſten ermordet und ihn
zum Fraße an die Menge vertheilt. Etwas anderes Charaktes
riſtiſches in der Betrachtung der Neger iſt die Sclaverei. Die
Neger werden von den Europäern in die Sclaverei geführt und
nach Amerika hin verkauft. Troß dem iſt ihr Loos im eigenen
Lande faſt noch ſchlimmer, wo ebenſo abſolute Sclaverei vorhan
den iſt; denn es iſt die Grundlage der Sclaverei überhaupt, daß .
der Menſch das Bewußtſeyn ſeiner Freiheit noch nicht hat, und
ſomit zu einer Sache, zu einem Werthloſen herabſinkt. Bei den
Negern ſind aber die fittlichen Empfindungen vollkommen ſchwach ,
oder beſſer geſagt , gar nicht vorhanden . Die Eltern verkaufen
ihre Kinder , und umgekehrt ebenſo dieſe jene, je nachdem man
einander habhaft werden kann. Durch das Durchgreifende der
Sclaverei ſind alle Bande ſittlicher Achtung, die wir vor einan
Afrika. 119
der haben , geſchwunden , und es fällt den Negern nicht ein , ſich
zuzimuthen , was wir von einander Fordern dürfen . Die Poly
gamie der Neger hat häufig den Zweck, viel Kinder zu erzielen ,
die ſammt und ſonders zu Sclaven verkauftwerden könnten , und
ſehr oft hört man naive Klagen , wie z. B . die eines Negers
in London , der darüber wehklagte, daß er nun ein ganz armer
Menſch ſey, weil er alle ſeine Verwandten bereits verkauft habe.
In der Menſchenverachtung der Neger iſt es nicht ſowohl die
Verachtung des Todes als die Nichtachtung des Lebens, die das
Charakteriſtiſche ausmacht. Dieſer Nichtachtung des Lebens iſt
auch die große von ungeheurer Körperſtärke unterſtüzte Tapfer
keit der Neger zuzuſchreiben , die ſich zu Tauſenden niederſchießen
laſſen im Kriege gegen die Europäer. Das Leben hat nämlich
nur da einen Werth, wo es ein Würdiges zu ſeinem Zwecke hat.
Gehen wir nun zu den Grundzügen der Verfaſſung über,
ſo geht eigentlich aus der Natur des Ganzen hervor , daß es
keine ſolche geben kann . Der Standpunkt dieſer Stufe iſt ſinn
liche Willkür mit Energie des Willens; denn die allgemeinen
Beſtimmungen des Geiſtes , z. B . Familienſittlichkeit, können hier
noch keine Geltung gewinnen , da alle Algemeinheit hier nur
als Innerlichkeit der Willfür iſt. Der politiſche Zuſammenhalt
kann daher auch nicht den Charakter haben , daß freie Geſeze
den Staat zuſammenfaſſen . Es giebt überhaupt kein Band,
keine Feſſel für dieſe Widfür. Was den Staat einen Augen
blick beſtehen laſſen kann , iſt daher lediglich die äußere Gewalt.
Es ſteht ein Herr an der Spiße; denn ſinnliche Rohheit kann
nur durch despotiſche Gewalt gebändigt werden . Weil nun
aber die Untergebenen Menſchen von ebenſo wildem Sinne ſind,
ſo halten ſie den Herrn wiederum in Schranken . Unter dem
Häuptling ſtehen viele andere Häuptlinge , mit denen ſich der
erſte, den wir König nennen wollen , berathet, und er muß,will
er einen Krieg unternehmen , oder einen Tribut auferlegen , ihre
Einwilligung zu gewinnen ſuchen. Dabei kann er mehr oder
120 Einleitung.
charakteriſirt ; aber fte ſelbſt ſind nicht die concret hiſtoriſchen Eles
mente , ſondern jener Gegenſatz ſteht ſchlechthin in Beziehung :
das Einwurzeln der Menſchen in die Fruchtbarkeit der Ebene iſt
für die Unſtätheit , die Unruhe und das Schweifende der Ge
birgs- und Hochlandsbewohner das beſtändige Object des Hin
ausſtrebens . Was natürlich auseinanderliegt, tritt weſentlich
in geſchichtliche Beziehung. – Beide Momente in einem hat
Vorderaſien und bezieht ſich deshalb auf Europa, denn was darin
hervorragend iſt, hat dieſes Land nicht bei fich behalten , ſondern
nach Europa entſendet. Den Aufgang aller religiöſen und aller
ſtaatlichen Principien ſtellt es dar, aber in Europa iſt erſt die
Entwicelung derſelben geſchehen .
Europa, zu dem wir nunmehr gelangen , hat die terreſtri
ſchen Unterſchiede nicht, wie wir ſie bei Aſien und Afrika aus
zeichneten . Der europäiſche Charakter iſt der , daß die früheren
Unterſchiede ihren Gegenſaß auslöſchend , oder denſelben doch
nicht ſcharf feſthaltend, die mildere Natur des Uebergangs ans
nehmen. Wir haben in Europa keine Hochländer den Ebenen
gegenüberſtehend. Die drei Theile Europa's haben daher einen
anderen Beſtimmungsgrund.
Der erſte Theil iſt das füdliche Europa , gegen das Mit
telmeer gekehrt. Nördlich von den Pyrenäen ziehen ſich durch
Frankreich Gebirge, die in Zuſammenhang mit den Alpen ſte
hen , welche Italien von Frankreich und Deutſchland trennen
und abſchließen . Auch Griechenland gehört zu dieſem Theile
von Europa. In Griechenland und Italien iſt lange das Thea
ter der Weltgeſchichte geweſen , und als die Mitte und der Nor
den von Europa uncultivirt waren , hat hier der Weltgeiſt ſeine
Heimath gefunden .
Der zweite Theil iſt das Herz Europa 's , das Cäſar, Gal
lien erobernd , aufſchloß. Dieſe That iſt die Mannesthat des
römiſchen Feldherrn ,welche erfolgreicher war als die Jünglingos
that Aleranders , der den Orient zu griechiſchem Leben zu erheben
Eintheilung. 127
unternahm , deſſen That, zwar dem Gehalte nach das Größte
und Schönſte für die Einbildungskraft , aber der Folge nach
gleich wie ein Ideal bald wieder verſchwunden iſt. — In dieſem
Mittelpunkte Europa's ſind Frankreich , Deutſchland und Eng
land die Hauptländer.
Den dritten Theil endlich bilden die nordöſtlichen Staaten
Europa's , Polen , Rußland, die ſlaviſchen Reiche. Sie kommen
erſt ſpät in die Reihe der geſchichtlichen Staaten , und bilden und
unterhalten beſtändig den Zuſammenhang mit Aſien . Was das
Phyſikaliſche der früheren Unterſchiede betrifft, ſo ſind ſie, wie
ſchon geſagt, nicht auffallend vorhanden , ſondern verſchwinden
gegen einander.
Eintheilung.
Reiche nichts anhaben . Auch die Welt des Ganges und Ins
dus iſt erhalten : ſolche Gedankenloſigkeit iſt gleichfalls unvergäng
lich; aber ſie iſt weſentlich dazu beſtimmt, vermiſcht, bezwungen ,
und unterdrückt zu werden . Wie dieſe zwei Reiche , nach der
zeitlichen Gegenwart , auf Erden geblieben , ſo iſt dagegen
von den Reichen des Tigris und Euphrat nichts mehr übrig,
als höchſtens ein Haufen von Backſteinen ; denn das perftſche
Reich als das des Uebergangs iſt das vergängliche , und die
Reiche des Caspiſchen Meeres ſind dem alten Kampf von Iran
und Turan preisgegeben . Das Reich des Einen Nil aber iſt
nur unter der Erde vorhanden , in ſeinen ſtummen Todten , die ieşti
in alle Welt verſchleppt werden , und in deren majeſtätiſchen Be
hauſingen ; – denn was über der Erde noch ſteht, ſind ſelbſt
nur ſolche prächtige Gräber. –
Erſter Abſchnitt.
China.
Mit dem Reiche China hat die Geſchichte zu beginnen
denn es iſt das älteſte, ſo weit die Geſchichte Nachricht giebt,
und zwar iſt ſein Princip von ſolcher Subſtantialität , daß es
zugleich das älteſte und neueſte für dieſes Reich iſt. Früh
fchon ſehen wir China zu dem Zuſtande heranwachſen , in wels
chem es ſich heute befindet, denn da der Gegenſaß von objecti
vem Seyn und ſubjectiver Daranbewegung noch fehlt, ſo iſt jede
Veränderlichkeit ausgeſchloſſen , und das Statariſche , das ewig
wieder erſcheint, erſeßt das , was wir das Geſchichtliche nennen
würden . China und Indien liegen gleichſam noch außer der
Weltgeſchichte , als die Vorausſeßung der Momente , deren Zus
142 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
ſammenſchließung erft ihr lebendiger Fortgang wird. Die Einheit
von Subftantialität und ſubjectiver Freiheit iſt ſo ohne Unter
fchied und Gegenſaß beider Seiten , daß eben dadurch die Sub
ſtanz nicht vermag zur Reflerion in fich , zur Subjectivität zu
gelangen . Das Subſtantielle , das als Sittliches erſcheint,
herrſcht ſomit nicht als Geſinnung des Subjects , ſondern als
Despotie des Oberhauptes .
Rein Volk hat eine ſo beſtimmt zuſammenhängende Zahl
von Geſchichtſchreibern , wie das chineſiſche. Auch andere aſtati
ſche Völfer haben uralte Traditionen , aber keine Geſchichte. Die
Veda's der Inder ſind eine ſolche nicht ; die leberlieferungen
der Araber ſind uralt , aber ſie beruhen nicht auf einem Staat
und ſeiner Entwickelung. Dieſer beſteht aber in China und hat
ſich hier eigenthümlich herausgeſtellt. Die chineſiſche Tradition
ſteigt bis auf 3000 Jahre vor Chriſti Geburt hinauf; und der
Schu - king , das Grundbuch derſelben , welches mit der Regies
rung des Yao beginnt, feßt dieſe 2357 Jahre vor Chriſti
Geburt. Beiläufig mag hier bemerkt werden , daß auch die ans
deren aſiatiſchen Reiche in der Zeitrechnung weit hinauf führen .
Nach der Berechnung eines Engländers 'geht die ägyptiſche Gear
fchichte z. B . bis auf 2207 Jahre vor Chriſtus, die affyriſche
bis auf 2221, die indiſche bis auf 2204 hinauf. Alſo bis auf
ungefähr 2300 Jahre vor Chriſti Geburt ſteigen die Sagen in
Anſehung der Hauptreiche des Orients. Wenn wir dieß mit
der Geſchichte des alten Teſtaments vergleichen , ſo ſind , nach
der gewöhnlichen Annahme, von der noachiſchen Sündfluth bis
auf Chriſtus 2400 Jahre verfloſſen . Johannes von Müller
hat aber gegen dieſe Zahl bedeutende Einwendungen gemacht.
Er feßt die Sündfluth in das Jahr 3473 vor Chriſtus, alſo
ungefähr um 1000 Jahre früher, indem er ſich dabei nach der
alerandriniſchen Ueberſeßung der moſaiſchen Bücher richtet. Ich
bemerke dieß nur darum , daß, wenn wir Daten von höherem
Alter als 2400 Jahre vor Chr. begegnen und doch nichts von
Erſter Abſchnitt. China. 143
der Fluth hören , uns das in Bezug auf die Chronologie nicht
weiter geniren darf.
Die Chineſen haben Ur- und Grundbücher, aus denen ihre
Geſchichte , ihre Verfaſſung und Religion erkannt werden kann .
Die Veda 's , die moſaiſchen Urkunden ſind ähnliche Bücher ;
wie auch die homeriſchen Gefänge. Bei den Chineſen führen
dieſe Bücher den Namen der King's und machen die Grundlage
aller ihrer Studien aus. Der Schu - king enthält die Ge
ſchichte, handelt von der Regierung der alten Könige, und giebt
die Befehle, die von dieſem oder jenem Könige ausgegangen ſind.
Der Y - king beſteht aus Figuren , die man als Grundlagen
der chineſiſchen Schrift angeſehen hat, ſowie man auch dieſes
Buch als Grundlage der chineſiſchen Meditation betrachtet.
Denn es fängt mit den Abſtractionen der Einheit und Zweiheit
an , und handelt dann von concreten Eriſtenzen ſolcher abſtrac
ten Gedankenformen . Der Schi-king endlich iſt das Buch der
älteſten Lieder der verſchiedenſten Art. Alle hohen Beamten
hatten früher den Auftrag, bei dem Jahresfeſte alle in ihrer
• Provinz im Jahre gemachten Gedichte mitzubringen . Der Kais
ſer inmitten ſeines Tribunals war der Richter dieſer Gedichte,
und die für gut erkannten erhielten öffentliche Sanction . Außer
dieſen drei Grundbüchern , die beſonders verehrt und ſtudiertwer
den , giebt es noch zwei andere, weniger wichtige , nämlich den
li - fi ( auch Li - king ) , welcher die Gebräuche und das Cere
monial gegen den Kaiſer und die Beamten enthält, mit einem
Anhang Yo - king, welcher von der Muſik handelt, und den
Tſchun - tſin , die Chronik des Reiches Lu , wo Confucius
auftrat. Dieſe Bücher ſind die Grundlage der Geſchichte, der
Sitten und der Gefeße China's .
Dieſes Reich hat ſchon früh die Aufmerkſamkeit der Euro
päer auf ſich gezogen , wenngleich nur unbeſtimmte Sagen da
von vorhanden waren . Man bewunderte es immer als ein
144 Erſter Theil. Die orientaliſớe Welt.
Land, das, aus ſich ſelbſt entſtanden , gar keinen Zuſammenhang
mit dem Auslande zu haben ſchien .
Im dreizehnten Jahrhunderte ergründete es ein Venetianer
(Marco Polo ) zum erſten Male, allein man hielt ſeine Auss
ſagen für fabelhaft. Späterhin fand ſich Alles , was er über
ſeine Ausdehnung und Größe ausgeſagt hatte , volkommen be
ſtätigt. Nach der geringſten Annahme nämlich würde China
150 Millionen Menſchen enthalten ; nach einer andern 200,
und nach der höchſten fogar 300 Millionen . Vom hohen Nor
den erſtreckt es ſich gegen Süden bis nach Indien , im Often
wird es durch das große Weltmeer begrenzt, und gegen Weſten
verbreitet es ſich bis nach Perſien nach dem caspiſchen Meere
zu . Das eigentliche China ift . übervölkert. An den beiden
Strömen Hoang -ho und Yang -tſe - kiang halten fich mehrere
Millionen Menſchen auf, die auf Flößen , ganz nach ihrer Bes
quemlichkeit eingerichtet, leben . Die Bevölkerung , die durchaus
organiſirte und bis in die kleinſten Details hineingearbeitete
Staatsverwaltung hat die Europäer in Erſtaunen geſeßt, und
hauptſächlich verwunderte die Genauigkeit, mit der die Geſchichts
werke ausgeführt waren . In China gehören nämlich die Ge
ſchichtsſchreiber zu den höchſten Beamten . Zwei ſich beſtändig in
der Umgebung des Kaiſers befindende Miniſter haben den Auf
trag, Alles, was der Kaiſer thut, befiehlt und ſpricht, auf Zettel
zu ſchreiben , die dann von den Geſchichtsſchreibern verarbeitet
und benußt werden . Wir können uns freilich in die Einzelnheis
ten dieſer Geſchichte weiter nicht einlaſſen , die, da ſie ſelbſt nichts
entwickelt , uns in unſerer Entwickelung hemmen würde. Sie
geht in die ganz alten Zeiten hinauf, wo als Culturſpender
Fohi genannt wird, der zuerſt eine Civiliſation über China ver
breitete. Er ſoll im 29ſten Jahrhundert vor Chriſtus gelebt
haben , alſo vor der Zeit , in welcher der Schu - king anfängt ;
aber das Mythiſche und Vorgeſchichtliche wird von den chineſiſchen
Geſchichtsſchreibern ganzwie etwas Geſchichtliches behandelt. Der
Erſter Abſchnitt. China . 145
tielle Einheit, in welcher ſie ſich darin befinden , iſt die Einheit
des Bluto und der Natürlichkeit. Im Staate ſind fic es ebenſo
wenig; denn es iſt darin das patriarchaliſche Verhältniß vor
herrſchend, und die Regierung beruht auf der Ausübung der vä
terlichen Vorſorge des Kaiſers, der Alles in Ordnung hält. Als
hochgechrte und unwandelbare Grundverhältniſſewerden im Schu
king fünf Pflichten angegeben : 1) die des Kaiſers und des Vol
kes gegen einander, 2 ) des Vaters und der Kinder , 3) des äl
teren und des jüngeren Bruders, 4 ) des Mannes und der Frau ,
5 ) des Freundes gegen den Freund. Es mag hier gelegentlicy
bemerkt werden , daß die Zahl fünf überhaupt bei den Chineſen
etwas Feſtes iſt, und ebenſo oft wie bei uns die Zahl drei vor
kommt: fie haben fünf Naturelemente, Luft, Waſſer, Erde, Me
tall und Holz ; fie nehmen vier Himmelsgegenden und die
Mitte an : heilige Orte , wo Altäre errichtet ſind , beſtehen aus
vier Hügein und einem in der Mitte.
Die Pflichten der Familie gelten ſchlechthin , und es wird
geſeßlich auf dieſelben gehalten . Der Sohn darf den Vater nicht
anreden , wenn er in den Saal tritt; er muß ſich an der Seite
der Thüre gleichſam eindrücken , und kann die Stube nicht ohne
Erlaubniß des Vaters verlaſſen . Wenn der Vater ſtirbt, ſo muß
der Sohn drei Jahre lang trauern , ohne Fleiſchfpeiſe und Wein
zu ſich zu nehmen ; die Geſchäfte, denen er ſich widmete , ſelbſt
die Staatsgeſchäfte ſtocken , denn er muß ſich von denſelben ent
fernen ; der eben zur Regierung kommende Kaiſer felbft widmet
fich während dieſer Zeit ſeinen Regierungsarbeiten nicht. Keine
Heirath darf während der Trauerzeit in der Familie geſchloſſen
werden . Erſt das funfzigſte Lebensjahr befreit von der überaus
großen Strenge der Trauer , damit der Leiðtragende nicht ma
ger werde; das fechzigſte mildert ſie noch mehr , und das fieb
zigſte beịchränkt fte gänzlich auf die Farbe der Kleider. Die
Mutter wird ebenſoſehr wie der Vater verehrt. Als Lord Ma
cartney den Kaiſer ſah, war dieſer acht und ſechzig Jahre alt
Erſter Abſchnitt. China. . 149
(ſechzig Jahre iſt bei den Chineſen eine feſte runde Zahl, wie bei
uns hundert), deſſen ungeachtet beſuchte er ſeine Mutter alle Mor
gen zu Fuß , um ihr ſeine Ehrfurcht zu beweiſen . Die Neujahrs
gratulationen finden ſogar bei der Mutter des Kaiſers ftatt ; und
der Kaiſer kann die Huldigungen der Großen des Hofs erſt ems
pfangen , nachdem er die feinigen ſeiner Mutter gebracht. Die
Mutter bleibt ſtets die erſte und beſtändige Rathgeberin des Kai
ſers , und Alles , was die Familie betrifft, wird in ihrem Namen
bekannt gemacht. Die Verdienſte des Sohnes werden nicht die
ſem , ſondern dem Vater zugerechnet. Als ein Premierminiſter
einſt den Kaiſer bat, feinem verſtorbenen Vater Ehrentitel zu ge
ben , ſo ließ der Kaiſer eine Urkunde ausſtellen , worin es hieß :
„ Eine Hungersnoth verwüſtete das Reich : Dein Vater gab Reis
den Bedürftigen . Welche Wohlthätigkeit ! Das Reich war am
Rande des Verderbens: Dein Vater vertheidigte es mit Gefahr
ſeines Lebens. Welche Treue! Die Verwaltung des Reichs war
Deinem Vater anvertraut: er machte vortreffliche Geſeße, erhielt
Friede und Eintracht mit den benachbarten Fürſten und behaup
tete die Rechte meiner Krone. Welche Weisheit! Alſo der Eh
rentitel, den ich ihm verleihe, iſt: Wohlthätig, treu und weiſe."
Der Sohn hatte alles das gethan , was hier dem Vater zuge
ſchrieben wird . Auf dieſe Weiſe gelangen die Voreltern (umge
kehrt wie bei uns) durch ihre Nachkommen zu Ehrentiteln . Da
für iſt aber auch jeder Familienvater für die Vergehen ſeiner
Descendenten verantwortlich ; es giebt Pflichten von unten nach
oben , aber keine eigentlich von oben nach unten .
Ein Hauptbeſtreben der Chineſen iſt es , Kinder zu haben ,
die ihnen die Ehre des Begräbniſſes erweiſen können , das Ge
dächtniß nach dem Tode ehren und das Grab ſchmücken . Wenn
auch ein Chineſe mehrere Frauen haben darf, ſo iſt doch nur
Eine die Hausfrau, und die Kinder der Nebenfrauen haben dieſe
durchaus als Mutter zu ehren . In dem Falle, daß ein Chineſe
von allen ſeinen Frauen keine Kinder erzielte , würde er zur Adop
150 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
tion ſchreiten können , eben wegen der Ehre nach dem Tode.
Denn es iſt eine unerläßliche Bedingung, daß das Grab der
Eltern jährlich beſucht werde. Hier werden alljährig die Weh
klagen erneut, und Manche , um ihren Schmerz vollen Lauf zu
laſſen , verweilen bisweilen ein bis zwei Monate daſelbſt. Der
Leichnam des eben verſtorbenen Vaters wird oft drei bis vier
Monate im Hauſe behalten , und während dieſer Zeit darf keiner
fich auf einen Stuhl ſeßen und im Bette ſchlafen . Jede Familie
in China hat einen Saal der Vorfahren , wo ſich alle Mitglie
der derſelben alle Jahre verſammeln ; daſelbſt ſind die Bildniſſe
derer aufgeſtellt, die hohe Würden bekleidet haben , und die Na
men der Männer und Frauen , welche weniger wichtig für die
Familie waren, ſind auf Täfelchen geſchrieben ; die ganze Familie
ſpeiſt dann zuſammen , und die Aermeren werden von den Reiche
ren bewirthet. Man erzählt, daß als ein Mandarin , der Chriſt
geworden war, ſeine Voreltern auf dieſe Weiſe zu ehren aufges
hört hatte, er ſich großen Verfolgungen von Seiten ſeiner Fa
milie ausſeşte. Ebenſo genau wie die Verhältniſſe zwiſchen dem
Vater und den Kindern , ſind auch die zwiſchen dem älteren Bru
der und den jüngeren Brüdern beſtimmt. Die erſteren haben ,
obgleich im minderen Grade, doch Anſprüche auf Verehrung.
Dieſe Familiengrundlage iſt auch die Grundlage der Ver
faſſung, wenn man von einer ſolchen ſprechen wil . Denn ob
ſchon der Kaiſer das Recht eines Monarchen hat, der an der
Spiße eines Staatsganzen ſteht, ſo übt er es doch in der Weiſe
eines Vaters über ſeine Kinder aus. Er iſt Patriarch , und auf
ihn gehäuft iſt Alles , was im Staate auf Ehrfurcht Anſpruch
machen kann . Denn der Kaiſer iſt ebenſo Chef der Religion
und der Wiſſenſchaft, wovon ſpäter noch ausführlich die Rede
ſein wird. - Dieſe väterliche Fürſorge des Raiſers und der
Geiſt ſeiner Unterthanen , als Kinder, die aus dem moraliſchen
Familienkreiſe nicht heraustreten und feine ſelbſtſtändige und bür
gerliche Freiheit für ſich gewinnen können , macht das Ganze zu
Erſter Abidnitt. China. 151
Zweiter Abſchnitt.
I nd i e n .
Indien , wie China, iſt ebenſo eine frühe, wie eine noch ge
genwärtige Geſtalt, die ſtatariſch und feſt geblieben iſt, und in
der vollſtändigſten Ausbildung nach innen fich vollendet hat.
Es iſt immer das Land der Sehnſucht geweſen , und erſcheint
uns noch als ein Wunderreich , als eine verzauberte Welt. Im
Gegenſaß zum chineſiſchen Staate , der voll des proſaiſchſten
Verſtandes in allen ſeinen Einrichtungen iſt, iſt Indien das Land
der Phantaſie und Empfindung. Das Moment des Fortgangs
im Princip iſt im Augemeinen folgendes : In China beherrſcht
170 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
ein großer Künſtler (Schoreel) hat ihn auch der ſterbenden Maria
gegeben , deren Geiſt ſich ſchon zu den ſeligen Räumen emporhebtund
noch einmal ihr ſterbendes Antliß gleichſam zum Abſchiedskuſſe
belebt. Solche Schönheit finden wir auch in der lieblichſten Ges
ftalt bei der indiſchen Welt — eine Schönheit der Nervenſchwäche,
in welcher alles Unebene, Starre und Widerſtrebende aufgelöſt iſt
und nur die empfindende Seele erſcheint, aber eine Seele , in
welcher der Tod des freien und in ſich gegründeten Geiſtes er
fennbar iſt. — Denn würden wir die phantaſie - und geiſtvolle
Anmuth dieſes Blumenlebens , worin alle Umgebung, alle Ver
hältniſſe vom Roſenhauch der Seele durchzogen ſind, und die
Welt zu einem Garten der Liebe umgeſtaltet iſt, näher ins Auge
faſſen und mit dem Begriff der Würdigkeit des Menſchen und
der Freiheit daran treten , ſo dürften wir, je mehr uns der erſte
Anblick beſtochen hat, deſto größere Verworfenheit nach allen
Seiten hin finden . —
Der Charakter des träumenden Geiſtes als das allge
meine Princip der indiſchen Natur iſt noch näher zu beſtimmen .
In dem Traume hört das Individuum auf fich als dieſes ,
ausſchließend gegen die Gegenſtände, zu wiſſen . Wachend bin
ich für mich, und das Andere iſt ein Aeußerliches und feſt gegen
mich , wie Ich gegen daſſelbe. Als Aeußerliches breitet ſich das
Andere zu einem verſtändigen Zuſammenhang und einem Syſtem
von Verhältniſſen aus, worin meine Einzelheit ſelbſt ein Glied,
eine damit zuſammenhängende Einzelheit iſt; – dieß iſt die
Sphäre des Verſtandes . Im Traume dagegen iſt dieſe Trennung
nicht. Der Geiſt hat aufgehört für ſich gegen Anderes zu ſeyn ,
und ſo hört überhaupt die Trennung des Aeußerlichen und Einzelnen
gegen ſeine Allgemeinheit und ſein Weſen auf. Der träumende
Inder iſt daher Alles , was wir Endliches und Einzelnes nennen ,
und zugleich als ein unendlich Allgemeines und Unbeſchränktes
an ihm ſelbſt ein Göttliches . Die indiſche Anſchauung iſt
ganz allgemeiner Pantheismus und zwar ein Pantheismus der
172 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
die ſich nicht dort einen kleineren oder größeren Fleck erworben
hätte. In der alten Welt gelang es erſt Alerander dem Großen ,
zu Lande nach Indien vorzubringen , aber auch er hat es nur
berührt. Die Europäer der neuen Welt haben nur dadurch ver
mocht in den directen Zuſammenhang mit dieſem Wunderland zu
treten , daß fie hinten herum gekommen ſind , und zwar auf dem
Meere , das , wie geſagt, überhaupt das Verbindende iſt. Die
Engländer , oder vielmehr die oſtindiſche Compagnie find die
Herren des Landes , denn es iſt das nothwendige Schickſal der
aſiatiſchen Reiche, den Europäern unterworfen zu ſeyn, und China
wird auch einmal dieſem Schickſale fich fügen müſſen . Die An
zahl der Einwohner iſt gegen 200 Millionen , wovon 100 bis
112 Millionen den Engländern direct unterworfen ſind. Die
nicht direct untergebenen Fürſten haben an ihren Höfen engliſche
Agenten , und engliſche Truppen befinden ſich in ihrem Sold.
Seitdem das Land der Maratten von den Engländern bezwungen
worden iſt, wird ſich nichts mehr ſelbſtſtändig gegen ihre Macht
erhalten , die ſchon im birmaniſchen Reiche Fuß gefaßt und den
Buramputr, der Indien im Oſten begrenzt, überſchritten hat.
Das eigentliche Indien iſt das Land, welches die Engländer
in zwei große Theile zerlegen : in Dekan , die große Halbinſel,
die öſtlich den Meerbuſen von Bengalen und weſtlich das indiſche
Meer hat, und in Hindoftan , das vom Gangesthal gebildet
wird und ſich gegen Perſien hinzieht. Gegen Nordoſten wird
Hindoſtan vom Himalaya begrenzt, welches von den Europäern
als das höchſte Gebirge der Erde anerkannt worden iſt, denn
ſeine Gipfel liegen gegen 26000 Fuß über der Meeresfläche.
Jenſeits dieſer Berge fällt das Land wieder ab ; die Herrſchaft
der Chineſen erſtreckt ſich bis dahin , und als die Engländer zu
dem Dalai-lama in Hlaſſa wollten , wurden ſie von den Chi
neſen aufgehalten. Gegen Weſten in Indien fließt der Indus,
in dem ſich die fünf Flüſſe vereinigen , die das Pentjåb genannt
werden , bis zu welchen Alerander der Große vorgedrungen
Zweiter Abſchnitt. Indien . 175
ift. Die Herrſchaft der Engländer dehnt ſich nicht bis an den
Indus aus ; es hält ſich dort die Sekte der Seiks auf, deren
Verfaſſung durchaus demokratiſch iſt, und die ſich ſowohl von
der indiſchen als von der muhamedaniſchen Religion losgeriſſen
haben , und die Mitte zwiſchen beiden halten , indem ſie nur ein
höchſtes Weſen anerkennen . Sie ſind ein mächtiges Volk und
haben ſich Kabul und Kaſchmir unterworfen . Außer dieſen
wohnen dem Indus entlang echt indiſche Stämme aus der Caſte
der Krieger. Zwiſchen dem Indus und ſeinem Zwillingsbruder,
dem Ganges, find große Ebenen , und der Ganges bildet wieder
große Reiche um ſich her, in welchen die Wiſſenſchaften ſich bis
auf einen ſo hohen Grad ausgebildet haben , daß die Länder um
den Ganges noch in höherem Rufe ſtehen , als die um den
Indus. Beſonders blühend iſt das Reich Bengalen . Der Ner
buda macht die Grenzſcheide zwiſchen Dekan und Hindoftan .
Die Halbinſel Dekan bietet eine weit größere Mannigfaltigkeit
als Hindoſtan dar, und ihre Flüſſe haben faſt eine ebenſo große
Heiligkeit als der Indus und der Ganges , der ein ganz auge
meiner Name für alle Flüſſe in Indien geworden iſt , als der
Fluß xai goynu. Wir nennen die Bewohner des großen
Landes , das wir jetzt zu betrachten haben , vom Fluſſe Indus
her Inder (die Engländer heißen ſie Hindu ). Sie ſelbſt haben
dem Ganzen nie einen Namen gegeben , denn es iſt nie Ein
Reich geweſen , und doch betrachten wir es als ſolches .
Was nun das politiſche Leben der Inder betrifft, ſo iſt
zunächſt der Fortſchritt in dieſer Beziehung gegen China zu be
trachten . In China war die Gleichheit aller Individuen vor
herrſchend , und deshalb das Regiment im Mittelpunkte , dem
Kaiſer , ſo daß das Beſondere zu keiner Selbſtſtändigkeit und
ſubjectiven Freiheit gelangte. Der nächſte Fortgang dieſer Ein
heit iſt , daß der Unterſchied ſich hervorthut und in ſeiner Be
ſonderheit ſelbſtſtändig gegen die Alles beherrſchende Einheit wird.
Zu einem organiſchen Leben gehört einerſeits die Eine Seele,
176 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt .
Man nennt ſie Yogi. Ein Engländer , der auf der Reiſe nach
Tibet zum Dalai-lama einem ſolchen Yogi begegnete , erzählt
Folgendes : der Yogi befand ſich ſchon auf der zweiten Stufe,
um zu der Macht eines Brahmanen zu gelangen . Die erſte
Stufe hatte er durchgemacht, indem er fich zwölf Jahre fort
während auf den Beinen gehalten , ohne ſich je niederzuſeßen
oder zu liegen . Anfangs hatte er ſich mit einem Strick an einen
Baum feſtgebunden , bis er ſich daran gewöhnt hatte, ftehend zu
ſchlafen . Die zweite Stufe machte er ſo durch , daß er zwölf
Jahre beſtändig die Hände über dem Kopf zuſammenfaltete, und
ſchon waren ihm die Nägel faſt in die Hände hineingewachſen .
Die dritte Stufe wird nicht immer auf gleiche Weiſe volbracht;
gewöhnlich muß der Yogi einen Tag zwiſchen fünf Feuern zu
bringen , das heißt, zwiſchen vier Feuern nach allen Himmels
gegenden und der Sonne; dazu kommt dann das Schwenken
über dem Feuer , welches drei und dreiviertel Stunden dauert.
Engländer , welche dieſem Act einmal beiwohnten , erzählen , daß
dem Individuum nach einer halben Stunde das Blut aus allen
Theilen des Körpers herausſtrömte ; es wurde abgenommen und
ſtarb gleich darauf. Hat aber einer auch dieſe Prüfung über
ſtanden , ſo wird er zulegt noch lebendig begraben , das heißt,
ſtehend in die Erde geſenkt und ganz zugeſchüttet; nach drei und
dreiviertel Stunden wird er herausgezogen , und nun endlich hat
er, wenn er noch lebt, die innere Macht des Brahmanen erlangt.
Alſo nur durch ſolche Negation ſeiner Eriſtenz kommt man
zur Macht eines Brahmanen ; dieſe Negation beſteht aber auf
ihrer höchſten Stufe in dem dumpfen Bewußtſeyn , es zu einer
volkommenen Regungsloſigkeit, zur Vernichtung aller Empfindung
und alles Wollens gebracht zu haben , ein Zuſtand, der auch bei
den Buddhiſten als das Höchſte gilt. So feige und ſchwächlich
die Inder ſonſt ſind, ſo wenig koſtet es ſie , ſich dem Höchſten ,
der Vernichtung aufzuopfern , und die Sitte zum Beiſpiel, daß
die Weiber ſich nach dem Tode ihres Mannes verbrennen , hängt
Zweiter Abſchnitt. Indien . 183
mit dieſer Anſicht zuſammen . Würde ein Weib ſich dieſer her
gebrachten Ordnung widerſeßen , ſo ſchiede man ſie aus aller
Geſellſchaft aus und ließe ſie in der Einſamkeit verkommen . Ein
Engländer erzählt , daß er auch eine Frau fich verbrennen fah,
weil fie ihr Kind verloren hatte ; er that alles Mögliche, um ſie
von ihrem Vorſaße abzubringen ; er wendete ſich endlich an den
dabeiſtehenden Mann , aber dieſer zeigte ſich vollkommen gleich
gültig und meinte , er habe noch mehr Frauen zu Hauſe. So
ſteht man denn bisweilen zwanzig Weiber ſich auf einmal in
den Ganges ſtürzen , und auf dem Himalayagebirge fand ein
Engländer drei Frauen , die die Quelle des Ganges aufſuchten ,
um ihrem Leben in dieſem heiligen Fluſſe ein Ende zu machen .
Beim Gottesdienſt in dem berühmten Tempel des Fagernaut am
bengaliſchen Meerbuſen in Oriffa , wo Millionen von Indern
zuſammenkommen , wird das Bild des Gottes Wiſchnu auf einem
Wagen herumgefahren ; gegen fünfhundert Menſchen feßen den
ſelben in Bewegung, und Viele ſchmeißen ſich vor die Räder
deſſelben hin und laſſen ſich zerquetſchen . Der ganze Strand des
Meeres iſt ſchon mit Gebeinen von ſo Geopferten bedeckt. Auch
der Kindermord iſt in Indien ſehr häufig. Die Mütter werfen
ihre Kinder in den Ganges oder laſſen ſie an den Strahlen der
Sonne verſchmachten . Das Moraliſche, das in der Achtung
eines Menſchenlebens liegt , iſt bei den Indern nicht vorhanden .
Solcher Lebensweiſen , die auf die Vernichtung hingehen , giebt
es nun noch unendliche Modificationen. Dahin gehören z. B .
die Gymnoſophiſten , wie ſie die Griechen nannten . Nackte Fa
fir's laufen ohne irgend eine Beſchäftigung gleich den katholiſchen
Bettelmönchen herum , leben von den Gaben Anderer, und haben
den Zweck, die Hoheit der Abſtraction zu erreichen , die voll
kommene Verbumpfung des Bewußtſeyns, von wo aus der
Uebergang zum phyſiſchen Tode nicht mehr ſehr groß iſt.
Dieſe von Anderen erſt mühſam zu erwerbende Hoheit be
ſißen nun die Brahmanen , wie ſchon geſagt worden iſt , durch
184 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
die Geburt. Der Inder einer anderen Caſte hat daher den
Brahmanen als einen Gott zu verehren , vor ihm niederzufallen
und zu ſprechen : du biſt Gott. Und zwar kann die Würdigkeit
nicht in fittlichen Handlungen beſtehen , ſondern vielmehr, da alle
Innerlichkeit fehlt , in einem Wuft von Gebräuchen , welche auch
für das äußerliche unbedeutendſte Thun Vorſchriften ertheilen .
Das Leben des Menſchen , fagt man , ſoll ein beſtändiger Gottega
dienſt ſeyn. Man ſieht , wie hohl dergleichen allgemeine Säße
ſind , wenn man die concreten Geſtaltungen betrachtet , die ſie
annehmen können . Sie bedürfen noch eine ganz andere, weitere
Beſtimmung, wenn ſie Sinn haben ſollen . Die Brahmanen
ſind der gegenwärtige Gott, aber ihre Geiſtigkeit iſt noch nicht
in ſich gegen die Natürlichkeit reflectirt, und ſo hat das Gleich
gültige abſolute Wichtigkeit. Die Geſchäfte des Brahmanen bes
ſtehen hauptſächlich im Leſen der Vêda's : nur ſie dürfen ſie ei
gentlich leſen. Wenn ein Sudra die Vêda's läſe, oder ſie leſen
hörte , fo würde er hart beſtraft werden , und glühendes Del
müßte ihm in die Dhren gegoſſen werden . Deſſen , was die
Brahmanen äußerlich zu beobachten haben , iſt ungeheuer viel
und die Geſeße des Manu handeln davon wie von dem weſent
lichſten Theile des Rechts. Der Brahmane muß mit einem be
ſtimmten Fuße aufſtehn , ſich dann in einem Fluß waſchen , Haar
und Nägel müſſen rund geſchnitten , der ganze Leib gereinigt, das
Gewand muß weiß , in der Hand ein beſtimmter Stab , in den
Ohren ein goldenes Ohrgehänge ſeyn. Begegnet der Brahmane
einem Mann aus einer niederen Caſte , ſo muß er wieder um
kehren , ſich zu reinigen . Dann muß er in den Veda 's leſen ,
und zwar auf verſchiedene Weiſe : jedes Wort einfach , oder eins
um 's andere doppelt , oder rüdwärts. Weder in den Aufgang
der Sonne darf er blicken , noch in den Niedergang, auch nicht
wenn die Sonne von Wolken überzogen iſt, oder ihr Widerſchein
im Waſſer leuchtet. Ihm iſt verwehrt über einen Strick zu ſtei
gen , woran ein Kalb gebunden iſt , oder auszugehen , wenn es
Zweiter Abſchnitt. Indien . 185
regnet. Seiner Frau zuzuſehen , wenn ſie ißt, nieſet, gähnt oder
behaglich dafißt , iſt ihm verboten . Beim Mittagsmahl darf er
nur Ein Gewand anhaben , beim Baden nie ganz nackt ſeyn .
Wie weit dieſe Vorſchriften gehen , läßt ſich insbeſondere aus den
Anordnungen beurtheilen , welche die Brahmanen bei der Ver
richtung ihrer Nothdurft zu beobachten haben . Sie dürfen ſich
ihrer nicht entledigen auf einer großen Straße, auf Aſche, auf
gepflügtem Grunde, noch auf einem Berge, auf einem Neft von
weißen Ameiſen , auf Holz , das zum Verbrennen beſtimmt iſt,
auf einem Graben , im Gehen und Stehen , am Ufer eines Fluſſes
u . ſ. w . Bei der Verrichtung dürfen ſie nicht nach der Sonne,
nach dem Waſſer und nach Thieren ſehen . Sie müſſen überhaupt
das Geſicht bei Tage gegen Norden kehren , bei Nacht aber ge
gen Süden ; nur im Schatten ſteht es in ihrem Belieben , wohin
ſie ſich wenden wollen . Einem Jeden , der ſich ein langes Leben
wünſcht, iſt es verboten , auf Scherben , Samen von Baumwolle,
Aſche , Korngarben , oder auf ſeinen Urin zu treten. In der
Epiſode Nala aus dem Gedichte Mahabharata wird erzählt, wie
eine Jungfrau in ihrem 21ſten Jahre, in dem Alter, in welchem
die Mädchen ſelbſt das Recht haben einen Mann zu wählen ,
unter ihren Freiern ſich einen ausſucht. Es ſind ihrer fünf; die
Jungfrau bemerkt aber, daß vier nicht feſt aufihren Füßen ſtehen ,
und ſchließt ganz richtig daraus , daß es Götter ſeyen . Sie
wählt alſo den fünften , der ein wirklicher Menſch iſt. Außer
den vier verſchmähten Göttern ſind aber noch zwei boshafte,
welche die Wahl verſäumt hatten , und ſich deshalb rächen wollen ;
fie paſſen daher dem Gemahl ihrer Geliebten bei allen ſeinen
Schritten und Handlungen auf, in der Abſicht, ihm Schaden
zuzufügen , wenn er in irgend etwas fehlen ſollte. Der ver
folgte Gemahl begeht nichts , was ihm zur Laſt fallen könnte,
bis er endlich aus Unvorſichtigkeit auf ſeinen Urin tritt. Nun
hat der Genius das Recht in ihn hineinzufahren ; er plagt ihn
mit der Spielſucht und ſtürzt ihn ſomit in den Abgrund.
186 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
Wenn nun die Brahmanen dergleichen Beſtimmungen und Vor
ſchriften unterworfen ſind , ſo iſt ihr Leben dagegen geheiligt;
für Verbrechen haftet es nicht: ebenſowenig fann ihr Gut in
Beſchlag genommen werden . Alles , was der Fürſt gegen ſie
verhängen kann, läuft auf die Landesverweiſung hinaus. Die
Engländer wollten ein Geſchwornengericht in Indien einſeßen ,
das zur Hälfte aus Europäern , zur Hälfte aus Indern zuſam
mengeſeßt ſeyn ſollte , und legten den Indern , die darüber ein
Gutachten abgeben ſollten , die den Geſchwornen zu ertheilenden
Vollmachten vor. Die Inder machten nun eine Menge von
Ausnahmen und Bedingungen , und ſagten unter Anderein , ſie
könnten nicht ihre Zuſtimmung dazu ertheilen , daß ein Brahmane
zum Tode verurtheilt werden dürfe, anderer Einwendungen , zum
Beiſpiel, daß ſie einen todten Körper nicht ſehen und unterſuchen
dürften , nicht zu gedenken . Wenn der Zinsfuß bei einem Krieger
drei Procent, bei einem Waiſya vier Procent, bei einem Sudra
fünf Procent hoch ſeyn darf, ſo überſteigt er bei einem Brah
manen nie die Höhe von zwei Procenten . Der Brahmane be
fißt eine ſolche Macht, daß den König der Bliß des Himmels
treffen würde, der Hand an denſelben oder an ſeine Güter zu
legen wagte, denn der geringſte Brahmane ſteht ſo hoch über
dem König, daß er ſich verunreinigen würde, wenn er mit ihm
ſpräche, und daß er entehrt wäre, wenn ſeine Tochter ſich einen
Fürſten erwählte. In Manu's Geſeßbuch heißt es : Wil Je
mand den Brahmanen in Anſehung ſeiner Pflicht belehren , ſo
ſoll der König befehlen, daß dem Belehrenden heißes Del in die
Dhren und in den Mund gegoſſen werde; wenn ein nur einmal
Geborner einen zweimal Gebornen mit Schmähungen überhäuft,
ſo ſoll jenem ein glühender Eiſenſtab von zehn Zoll Länge in
den Mund geſtoßen werden . Dagegen wird einem Sudra glü
hendes Eiſen in den Hintern angebracht, wenn er ſich auf den
Stuhl eines Brahmanen ſeßt, und der Fuß oder die Hand ab
gehauen , wenn er einen Brahmanen mit den Händen oder mit
Zweiter Abſgnitt. Indien . 187
den Füßen ſtößt. Es iſt ſogar falſches Zeugniß abzulegen und
vor Gericht zu lügen geſtattet, fals nur dadurch ein Brahmane
von der Verurtheilung gerettet wird .
Sowie die Brahmanen Vorzüge vor den anderen Caſten ha
ben , ſo haben auch die folgenden einen Schritt über die voraus,
welche ihnen untergeordnet ſind. Wenn ein Sudra von einem
Paria durch Berührung verunreinigt würde, ſo hat er das Recht
ihn auf der Stelle niederzuſtoßen . Die Menſchenliebe einer hör
heren Caſte gegen eine niedere iſt durchaus verboten , und einem
Brahmanen wird es nimmermehr einfallen , dem Mitgliede einer
anderen Caſte, ſelbſt wenn es in Gefahr wäre, beizuſtehen . Die
anderen Caften halten es für eine große Ehre, wenn ein Brah
mane ihre Töchter zu Weibern nimmt,was ihm aber, wie ſchon
geſagt worden , nur dann geſtattet iſt, wenn er ſchon ein Weib
aus der eigenen Caſte beſigt. Daher die Freiheit der Brahma
nen ſich Frauen zu nehmen . Bei den großen religiöſen Feſten
gehen ſie unter das Volk und wählen ſich die Weiber, die ihnen
am beſten gefallen ; ſie ſchicken ſie aber auch wieder weg, wie
es ihnen beliebt.
Wenn ein Brahmane oder ein Mitglied irgend einer andes
ren Caſte die oben angedeuteten Gefeße und Vorſchriften über
tritt , ſo iſt er auch von ſelbſt aus ſeiner Caſte ausgeſchloſſen ,
und um wieder aufgenommen zu werden , muß er ſich einen Ha
fen durch die Hüfte bohren und daran mehremale in der Luft
herumſchwenken laſſen . Auch andre Formen der Wiederzulaſſung
finden ſtatt. Ein Raja , der ſich von einem engliſchen Statt
halter beeinträchtigt glaubte, ſchickte zwei Brahmanen nach Eng
land , um ſeine Beſchwerden auseinanderzuſeßen . Den Indern
· iſt es aber verboten über das Meer zu gehen ; und daher wur
den dieſe Geſandten , als ſie zurückkamen , als aus ihrer Cafte
geſtoßen erklärt, und ſollten, um wieder eintreten zu können , noch
einmal aus einer goldenen Kuh geboren werden . Die Totalität
der Aufgabe wurde ihnen inſoweit erlaſſen , daß nur die Theile
188 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
* ) Erſt jeßt hat ſich Profeſſor Roſen in London ganz in die Sache
hineinſtudirt und fürzlich ein Specimen des Tertes mit einer Ueberſeßung
gegeben , Rig - Vedae Specimen ed. Fr. Rosen. Lond. 1830. (Später
iſt nach dem Tode Roſen’s aus ſeinem Nachlaß der ganze Rig - Veda Lon
don 1839 erſchienen .)
** ) Anm . des Herausgeb. A . W . v . Schlegel hat den erſten und
zweiten Band herausgegeben ; von Mahabharata ſind die wichtigſten Epiſo
13 *
196 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
find noch beſonders die Puranas zu bemerken . Die Puranas
enthalten die Geſchichte eines Gottes, oder eines Tempels. Dieſe
ſind vollkommen phantaſtiſch . Ein Grundbuch der Inder iſt fer
ner das Geſebbuck des Manu. Man hat dieſen indiſchen Ge
reßgeber mit dem kretiſchen Minos, welcher Name auch bei den
Aegyptern vorkommt, verglichen , und gewiß iſt es merkwürdig
und nicht zufällig , daß dieſer Name ſo durchgeht. Manu 's Sit
tenbuch (herausgegeben zu Calcutta mit engliſcher Ueberſekung des
Sh W . Jones ) macht die Grundlage der indiſchen Gefeßgebung
aus. Es fängt mit einer Theogonie an, die nicht nur, wie na
türlich, von den mythologiſchen Vorſtellungen anderer Völker ganz
verſchieden iſt, ſondern auch weſentlich von den indiſchen Tradi
tionen ſelbſtabweicht. Denn auch in dieſen ſind nur einige Grund
züge durchgreifend, ſonſt iſt Alles der Willkür und dem Belieben
eines Jeden überlaſſen , daherman immer wiederdie verſchiedenartig
ſten Traditionen , Geſtaltungen und Namen vorfindet. Auch die Zeit,
in welcher Manu's Gefeßbuch entſtanden iſt, iſt völlig unbekannt
und unbeſtimmt. Die Traditionen gehen bis über drei und zwan
zig Jahrhunderte vor Chriſti Geburt : es wird von einer Dynaſtie
der Sonnenkinder, auf die eine ſolche der Mondskinder folgte,
geſprochen . Soviel iſt aber gewiß , daß das Geſeßbuch aus ho
hem Alterthum iſt; und ſeine Kenntniß iſt für die Engländer von
der größten Wichtigkeit , da ihre Einſicht in das Recht davon
abhängt.
Nachdem nun das indiſche Princip in den Caſtenunterſchie
den , in der Religion und Literatur iſt nachgewieſen worden , ſo
iſt nun auch die Art und Weiſe des politiſchen Daſeyns d .i.
der Grundſaß des indiſchen Staats anzugeben . – Der Staat
iſt dieſe geiſtige Wirklichkeit, daß das ſelbſtbewußte Seyn des
Geiſtes , die Freiheit des Willens als Geſeß verwirklicht werde.
den von F. Bopp bekannt gemacht ; jeħt iſt eine Geſammtausgabe zu Cal
cutta erſchienen .
Zweiter Abſchnitt. Indien . 197
Dieß feßt ſchlechthin das Bewußtſeyn des freien Willens über
haupt voraus. Im chineſiſchen Staate iſt der moraliſche Wille
des Kaiſers das Gefeß ; aber ſo , daß die ſubjective , innerliche
Freiheit dabei zurückgedrängt iſt, und das Geſeß der Freiheit nur
als außerhalb der Individuen ſie regiert. In Indien iſt dieſe
erſte Innerlichkeit der Einbildung, eine Einheit des Natürlichen
und Geiſtigen , worin weder die Natur als eine verſtändige Welt,
noch das Geiſtige als das der Natur ſich gegenüberſtellende Selbſt
bewußtſeyn iſt. Hier fehlt der Gegenſaß im Princip ; es fehlt
die Freiheit ſowohl als an ſich ſeyender Wille,wie auch als ſub
jective Freiheit. Es iſt hiemit der eigenthümliche Boden des
Staats , das Princip der Freiheit gar nicht vorhanden : es kann
alſo kein eigentlicher Staat vorhanden ſeyn. Dieß iſt das Erſte ;
wenn China ganz Staat iſt, ſo iſt das indiſche politiſche Weſen
nur ein Volk , kein Staat. Ferner , wenn in China ein mora
liſcher Despotism war, ſo iſt das, was in Indien noch poli
tiſches Leben genannt werden kann , ein Despotism ohne irgend
einen Grundſaß, ohne Regel der Sittlichkeit und der Religioſität;
denn Sittlichkeit, Religion , in ſofern die legtere ſich auf das Han
deln der Menſchen bezieht , haben ſchlechthin zu ihrer Bedingung
und Baſis die Freiheit des Willens. In Indien iſt daher der
willkürlichſte , ſchlechteſte , entehrendſte Despotism zu Hauſe.
China , Perſien , die Türkei, Aſien überhaupt iſt der Boden des
Despotism , und , im böſen Charakter , der Tyrannei; aber die
lektere gilt als etwas, das nicht in der Ordnung iſt und das
an der Religion , an dem moraliſchen Bewußtſeyn der Individuen
ſeine Mißbilligung findet; die Tyrannei empört hier die Indivi
duen , ſie verabſcheuen und empfinden ſie als Druck : ſie iſt darum
zufällig und außer der Ordnung : ſie ſoll nicht ſeyn. Aber in
Indien iſt ſie in der Ordnung , denn hier iſt kein Selbſtgefühl
vorhanden , mit dem die Tyrannei vergleichbar wäre, und wo
durch das Gemüth ſich in Empörung ſebte ; es bleibt nur der
198 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
Die Geſchichte iſt aber immer für ein Volk von großer
Wichtigkeit, denn dadurch kommt es zum Bewußtſeyn des Gan :
ges feines Geiſtes , der ſich in Geſeßen , Sitten und Thaten aus
ſpricht. Geſeße als Sitten und Einrichtungen ſind das Blei
bende überhaupt. Aber die Geſchichte giebt dem Volfe ſein Bild
in einem Zuſtande, der ihm dadurch objectiv wird. Dhne Ge
ſchichte iſt ſein zeitliches Daſeyn nur in fich blind und ein ſich
wiederholendes Spiel der Wilfür in mannigfaltigen Formen .
Die Geſchichte firirt dieſe Zufälligkeit, ſie macht ſie ſtehend, giebt
ihr die Form der Augemeinheit, und ſtellt eben damit die Regel
für und gegen ſie auf. Sie iſt ein weſentliches Mittelglied in
der Entwicklung und Beſtimmung der Verfaſſung , d. h . eines
vernünftigen , politiſchen Zuſtandes ; denn ſie iſt die empiriſche
Weiſe , das Algemeine hervorzubringen , da ſie ein Dauerndes
für die Vorſtellung aufſtellt. — Weil die Inder keine Geſchichte ,
als Hiſtorie, haben , um deswillen haben ſie keine Geſchichte als
Thaten (res gestae) d . i. keine Herausbildung zu einem wahr
haft politiſchen Zuſtande. –
200 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
Es werden in den indiſchen Schriften Zeitalter angegeben
und große Zahlen , die oft von aſtronomiſcher Bedeutung und
noch öfter ganz willkürlich gemacht ſind. So heißt es von Kö
nigen , ſie hätten ſiebzigtauſend Jahre oder mehr regiert. Brahma,
die erſte Figur in der Rosmogonie, die ſich ſelbſt erzeugt hat,
hat zwanzig tauſend Millionen Iahre gelebt u . ſ. w . Es wer
den unzählige Namen von Königen angeführt, darunter die In
carnationen des Viſchnu. Es würde lächerlich ſeyn dergleichen
für etwas Geſchichtliches zu nehmen . In den Gedichten iſt häufig
die Rede von Königen : es ſind dieß wohl hiſtoriſche Figuren
geweſen , aber ſie verſchwinden ganzlich in Fabel; ſie ziehen ſich
3. B . ganz von der Welt zurück und erſcheinen dann wieder,
nachdem ſie zehntauſend Jahre in der Einſamkeit zugebracht ha
ben . Die Zahlen haben alſo nicht den Werth und verſtändigen
Sinn , den ſie bei uns beſißen .
Die älteſten und ſicherſten Quellen der indiſchen Geſchichte
ſind daher die Notizen der griechiſchen Schriftſteller, nachdem
Alerander der Große den Weg nach Indien eröffnet hatte. Dar
aus wiſſen wir , daß ſchon damals alle Einrichtungen , wie ſie
heute ſind , vorhanden waren : Santaracottus (Chandragupta )
wird als ein ausgezeichneter Herrſcher im nördlichen Theile von
Indien hervorgehoben , bis wohin ſich das baktriſche Reich er
ſtreckte. Eine andere Quelle bieten die mahomedaniſchen Ge
ſchichtsſchreiber dar, denn ſchon im zehnten Jahrhundert begannen
die Mahomedaner ihre Einfälle. Ein türkiſcher Sclave iſt der
Stammvater der Ghaznawiden ; ſein Sohn Mahmud brach in Hin
doſtan ein und eroberte faſt das ganze Land. Die Reſidenz ſchlug
er weſtlich von Cabul auf, und an ſeinem Hofe lebte der Dichter
Ferduſi. Die ghaznawidiſche Dynaſtie wurde bald durch die
Afghanen , und ſpäter durch die Mongolen völlig ļausgerottet.
In neueren Zeiten iſt faſt ganz Indien den Europäern unter:
worfen worden . Was man alſo von der indiſchen Geſchichte
weiß , iſt meiſt durch Fremde bekannt geworden , und die einhei
Zweiter Abſchnitt. Indien . 201
Der Buddhaismus * ).
Es iſt Zeit, die Traumgeſtalt des indiſchen Geiſtes zu
verlaſſen , welche in der ausſchweifendſten Irre fich in allen
Natur- und Geiſtesgeſtalten herumwirft , die roheſte Sinnlichkeit
und die Ahnung der tiefſten Gedanken in ſich ſchließt, und
welche eben deßwegen , was freie und vernünftige Wirklichkeit
betrifft , in der entäußerteſten , rathloſeſten Knechtſchaft liegt , -
einer Rechtſchaft , in welcher die abſtracten Weiſen , in die ſich
das concrete menſchliche Leben unterſcheidet, feſt geworden und
Rechte und Bildung nur von dieſen Unterſchieden abhängig ge
macht ſind. Dieſem taumelnden , in der Wirklichkeit in Feſſeln
geſchlagenen Traumleben ſteht nun das unbefangene Traumleben
gegenüber, welches einerſeits roher und nicht zu jener Unter
ſcheidung der Lebensweiſen fortgegangen , aber eben darum auch
nicht der damit herbeigeführten Knechtſchaft verfallen iſt ; es hält
ſich freier , ſelbſtſtändiger in ſich firirt, und ſeine Vorſtellungswelt
iſt daher auch in einfachere Punkte zuſammengezogen .
Der Geiſt der eben angedeuteten Geſtalt ruht in demſelben
Grundprincipe der indiſchen Anſchauung ; aber er iſt concentrirter
in fich , ſeine Religion iſt einfacher und der politiſche Zuſtand
ruhiger und gehaltener. Höchſt verſchiedenartige Völker und
Länder ſind hierunter zuſammengefaßt : Ceylon , Hinterindien mit
dem Birmanenreich , Siam , Anam , nördlich davon Thibet, dann
das chineſiſche Hochland mit ſeinen verſchiedenen Völferſchaften
von Mongolen und Tataren . Es ſind hier nicht die beſonderen
Dritter Abſchnitt.
perſie n .
mente des perſiſchen Reichs ſind das Zendvolf, die alten Parſen ,
und dann das aſſyriſche, mediſche und babyloniſche Reich auf
dem angegebenen Boden ; dann nimmt aber das perſiſche Reich
auch noch Kleinaſien , Aegypten , Syrien mit ſeinem Küſtenſtrich
in fich auf. und vereinigt ſo das Hochland, die Stromebenen und
das Küſtenland in ſich.
Erſtes Capitel.
Das Zendvolk .
Das Zendvolk wird von ſeiner Sprache ſo genannt, in
welcher die Zendbücher geſchrieben ſind, die Grundbücher näm
lich , auf welchen die Religion der alten Parſen beruht. Von
dieſer Religion der Parſen oder Feueranbeter ſind noch Spuren
vorhanden . In Bombay eriſtirt eine Colonie derſelben , und am
caspiſchen Meere befinden ſich einige zerſtreute Familien , die die
ſen Cultus beibehalten haben . Im Ganzen ſind ſie durch die
Mahomedaner vernichtet worden . Der große Zerduſcht, von den
Griechen Zoroaſter genannt, ſchrieb ſeine Religionsbücher in der
Zendſprache. Bis gegen das legte Drittel des vorigen Jahr
hunderts war dieſe Sprache , und mithin auch alle Bücher, die
darin verfaßt ſind, den Europäern völlig unbekannt, bis endlich
der berühmte Franzoſe Anquetil du Perron uns dieſe reichen
Schäße eröffnete. Erfült von Enthuſiasmus für die orientaliſche
Natur ließ er ſich , da er arm an Vermögen war , unter ein
franzöſiſches Corps anwerben , das nach Indien verſchifft werden
ſollte. So gelangte er nach Bombay , wo er auf die Parſen
ſtieß , und ſich auf ihre Religionsideen einließ . Mit unſäglicher
Mühe gelang es ihm , ſich ihre Religionsbücher zu verſchaffen ;
er drang in dieſe Literatur ein und eröffnete ein ganz neues und
216 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
side
Zerſtörer der Weltübel und Erhalter des AU'S , Fülle der Se
ligkeit, reiner Wille u . ſ. w . Was von Drmuzd kommt iſt le
bendig, ſelbſtſtändig und dauernd, das Wort iſt ein Zeugniß def= V
ſelben ; die Gebete ſind ſeine Productionen . Finſterniß iſt dage
gen der Körper des Ahriman , aber ein ewiges Feuer vertreibt
ihn aus den Tempeln . Der Zweck eines Jeden iſt, ſich rein zu
halten und dieſe Reinheit um ſich zu verbreiten . Die Vorſchriften
hiezu ſind ſehr weitläufig , die moraliſchen Beſtimmungen jedoch
mild ; es heißt: wenn ein Menſch dich mit Schmähungen über
häuft, dich beſchimpft, und ſich dann demüthigt, ſo nenne ihn
Freund. Wir leſen im Vendidad , daß die Opfer vorzüglich in
Fleiſch von reinen Thieren beſtehen , in Blumen und Früchten ,
Milch und Wohlgerüchen . Es heißt darin : Wie der Menſch
rein und des Himmels würdig erſchaffen worden , ſo wird er
wieder rein durch das Geſeß der Ormuzddiener , das die Reinig
keit ſelbſt iſt; wenn er ſich reinigt durch Heiligkeit des Gedan
kens , des Worts und der That. Was iſt reiner Gedanke ? der,
welcher auf der Dinge Anfang geht. Was iſt reines Wort ?
das Wort Ormuzd, (das Wort iſt ſo perſonificirt und bedeutet den
lebendigen Geiſt der ganzen Offenbarung des Ormuzd). Was
iſt reine That? das ehrfürchtige Anrufen der himmliſchen Heer
ſchaaren , welche im Anbeginn geſchaffen ſind. Es wird ſomit
220 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
hier erfordert, daß der Menſch gut fey : der eigene Wille , die
ſubjective Freiheit wird vorausgeſeßt. Ormuzd iſt nicht auf die
Einzelheit eingeſchränkt. Sonne, Mond und noch fünf andere
Geſtirne, die uns an die Planeten erinnern , dieſe Leuchtenden
und Erleuchteten ſind die zunächſt verehrten Bilder des Drmuzd ,
die Amſchaspand ſeine erſten Söhne. Unter dieſen iſt auch
Mitra genannt: man kann aber ebenſowenig, wie bei den ande
ren Namen , angeben , welcher Stern damit bezeichnet fen . Der
Mitra ſteht in den Zendbüchern unter den anderen Sternen ,
und hat keinen Vorzug ; doch werden ſchon in der Strafordnung
die moraliſchen Sünden als Mitraſünden aufgeführt, wie der
Wortbruch , der mit 300 Riemenſteichen beſtraft werden ſoll,
wozu beim Diebſtahl noch 300 Jahre Höllenſtrafe hinzukommen .
Mitra erſcheint hier als der Vorſteher des Innern , Höheren im
Menſchen . Später hat der Mitra eine große Bedeutung als
Mittler zwiſchen Ormuzd und den Menſchen bekommen . Schon
Herodot erwähnt den Mitradienſt; in Nom wurde er ſpäter als
ein geheimer ſehr allgemein , und ſelbſt bis weit ins Mittelalter
finden ſich Spuren davon . Außer den angeführten giebt es fer
ner noch andere Schußgeiſter , die unter den Amſchaspand,
als ihren Oberhäuptern ſtehen , und die Regierer und Erhalter
der Welt find. Der Rath der ſieben Großen , welche der
Perſiſche Monarch um fich hatte , iſt ebenſo in Nachahmung der
Umgebung des Ormuzd veranſtaltet. Von den Geſchöpfen der
irdiſchen Welt werden unterſchieden Ferver's , eine Art von Gei
ſterwelt. Ferver’s ſind nicht Geiſter nach unſerm Begriffe, denn ſie
ſind in jedem Körper , es ſey Feuer, Waſſer , Erde; ſie ſind von
Urbeginn da, ſind an aữen Orten , in den Straßen , Städten
u . ſ. F.; ſte ſind gerüſtet Jedem Hülfe zu bringen , der fie anruft.
Ihr Aufenthalt iſt in Gorodman , dem Siße der Seligen , über
dem feſten Gewölbe des Himmels . — Als Sohn des Ormuzd
kommt der Name Dſchemſchid vor ; es ſcheint dieß derſelbe zu
ſeyn , den die Griechen Achämenes nennen , deſſen Nachkommen
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Das Zendvolk. 221
Zweites Capitel.
Die Affyrier , Babylonier, Meder und Perſer.
Sowie das Zendvolk das höhere geiſtige Element des per
fiſchen Reiches war, ſo iſt in Aſſyrien und Babylonien das Ele
ment des äußeren Reichthums, der Ueppigkeit und des Handels .
Die Sagen gehen bis in die älteſten Zeiten der Geſchichte hin
auf; ſie ſind aber an und für ſich dunkel und zum Theil wider
ſprechend, und dieſer Widerſpruch iſt um ſo weniger aufzuhellen ,
als dem Volke Grundbücher und einheimiſche Werke abgehen.
Der griechiſche Hiſtoriker Kteſias ſoll aus den Archiven der per
fiſchen Könige ſelbſt geſchöpft haben ; indeſſen ſind nur noch we
nige Bruchſtücke vorhanden . Herodot giebt viele Nachrichten ;
außerdem ſind auch die Erzählungen in der Bibel höchſt wichtig
und merkwürdig , denn die Hebräer ſtanden in unmittelbarer Be
ziehung mitden Babyloniern . Es kann hier noch namentlich in Be
ziehung auf die Perſer überhaupt die Epopõe, Schah-nameh von
Ferduſi , erwähnt werden , ein Heldenbuch in 60000 Strophen ,
wovon Görres einen weitläufigen Auszug gegeben hat. Ferduſi
lebte im Anfange des eilften Jahrhunderts nach Chr. Geb . am
Hofe Mahmud des Großen zu Ghasna, öſtlich von Kabul und
Kandahar. Die berühmte eben genannte Epopõe hat die alten
Heldenſagen Frans (das iſt des eigentlichen Weſtperſiens) zu
ihrem Gegenſtande , kann aber nicht für eine hiſtoriſche Quelle
gelten , da ihr Inhalt poetiſch und ihr Verfaſſer ein Mahome
daner iſt. Der Kampf von Iran und Turan wird in dem Hel
dengedicht beſchrieben . Fran iſt das eigentliche Perſien , das
Gebirgsland im Süden vom Drus, Turan bezeichnet die Ebenen
des Drus , und die zwiſchen demſelben und dem alten Jarartes
liegenden . Ein Held, Nuſtan , macht die Hauptfigur im Ge
dichte, aber die Erzählungen ſind ganz fabelhaft, oder vollkom
men entſtellt. Aleranders geſchieht Erwähnung, und er wird
Iſchkander oder Skandervon Rum genannt. Rum iſt das türkiſche
Dritter Abſan. Perſien . -- Die Aſſyrier, Babylonier,Meder u . Perſer. 223
Neich (noch ießt heißt eine Provinz deſſelben Rumelien ), aber
ebenſo das römiſche, und im Gedichte wird nicht minder Ales
randers Reich Rum geheißen . Dergleichen Vermiſchungen ge
hören ganz der mahomedaniſchen Anſchauung an. Es wird in
dem Gedichte erzählt, der König von Jran habe Krieg geführt
mit Philipp, und dieſer lettere ſey geſchlagen worden . Der König
habe ihm , dem Philipp , dann ſeine Tochter zur Frau abgefordert ;
nachdem er aber eine Zeit lang mit ihr gelebt , habe er ſie fort
geſchickt, weil ſie übel aus dem Munde gerochen habe. Als ſie
nun zu ihrein Vater zurückgekommen ſey , habe ſie dort einen
Sohn Skander geboren , der nach Iran geeilt wäre, um nach
dem Todeſeines Vaters den Thron in Beſitz zu nehmen . Nimmt
man dazu , daß im ganzen Gedichte keine Geſtalt oder Geſchichte
vorkommt, die ſich auf Cyrus bezieht, ſo läßt ſich aus dieſem
Wenigen ſchon abnehmen , was von dem Geſchichtlichen des Ge
dichts zu halten ſey . Wichtig bleibt es aber inſofern , als uns
Ferduſi darin den Geiſt ſeiner Zeit und den Charakter und das
Intereſſe der neuperſiſchen Weltanſchauung darſtellt. –
Was nun Affyrien anbetrifft, ſo iſt das mehr ein unbe
ſtimmter Name. Das eigentliche Aſſyrien iſt ein Theil von Me
ſopotamien , im Norden von Babylon . Als Hauptſtädte dieſes
Reiches werden angegeben , Atur oder Affur ain Tigris , ſpäter
Ninive, das vom Ninus , dem Stifter des aſſyriſchen Reiches ,
begründet und erbaut worden ſeyn ſol . In jenen Zeiten machte
eine Stadt das ganze Reich aus : ſo Ninive, ſo auch Ekbatana
in Medien , das ſieben Mauern gehabt haben ſoll, zwiſchen des
ren Umſchließungen Ackerbau getrieben wurde; innerhalb der mit
- telſten Mauer befand ſich der Palaſt des Herrſchers . So ſoll
nun auch Ninive, nach Diodor, 480 Stadien (ungefähr 12 deut
fche Meilen ) im Umfange gehabt haben ; auf den Mauern von
hundert Fuß Höhe waren funfzehnhundert Thürme, innerhalb
welcher ſich eine ungeheuere Volksmaſſe aufhielt. Einenicht min
der unermeßliche Population ſchloß Babylon in ſich. Dieſe Städte
224 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
entſtanden aus dem doppelten Bedürfniß , einmal das Nomaden
leben aufzugeben und in feſten Siken Ackerbau, Gewerbe und Han
del zu betreiben , dann ſich gegen die herumſchweifenden Bergvölker
und die räuberiſchen Araber zu ſchüßen . Aeltere Sagen deuten
darauf, daß dieß ganze Thalland von Nomaden durchzogen wor
den iſt und daß das ſtädtiſche Leben dieſe dann verdrängt hat.
So wanderte Abraham mit ſeiner Familie aus Meſopotamien
gegen Weſten in das gebirgige Paläſtina. Noch heute wird auf
dieſe Weiſe Bagdad von ſtreifenden Nomaden umſchwärmt. Ni
nive foll 2050 Jahre v. Chr. Geb. erbaut worden ſeyn , und
ſoweit hinauf alſo wird die Begründung des aſſyriſchen Reis
ches geſtellt. Ninus unterwarf ſich alsdann Babylonien , Me
dien und Bactrien , und insbeſondere wird die Erwerbung des
lekteren Landes als eine Aeußerung der größten Anſtrengung an
gegeben, denn Kteſtas ſchäßt die Truppenzahl, die Ninus mit ſich
geführt haben ſoll , auf eine Million und 700,000 Fußgänger
und eine verhältnißmäßige Anzahl von Reitern . Bactra wurde
ſehr lange belagert, und die Eroberung deſſelben wird der Semi
ramis zugeſchrieben , die mit einer muthigen Schaar den ſteilen
Abhang eines Berges erſtiegen haben ſoll. Die Perſon der Semi
ramis ſchwankt überhaupt zwiſchen mythologiſchen und hiſtoriſchen
Vorſtellungen ; ihr wird auch der Thurmbau Babels zugeſchrie
ben , von dem wir in der Bibel eine der älteſten Sagen haben .
- Babylon lag ſüdlich am Euphrat in einer höchſt fruchtba
ren und für Ackerbau ſehr geeigneten Ebene. Auf dem Euphrat
und Tigris wurde große Schifffahrt getrieben : theils kamen die
Schiffe von Armenien , theils vom Süden nach Babylon , und
führten in dieſe Stadt einen unermeßlichen Reichthum zuſammen .
Das Land um Babylon herum war von unzähligen Canälen
durchſchnitten , mehr im Intereſſe des Ackerbaus , um das Land
zu bewäſſern und die Ueberſchwemmungen zu hindern , als im
Intereſſe der Schifffahrt. Die Prachtgebäude der Semiramis in
Babylon felbft ſind berühmt; doch wieviel davon in die alte Zeit
Dritter Abſchn . Perften . – Die Affyrier, Babylonier, Meder u . Perſer. 225
Drittes Capitel.
Das perſiſche Reich und ſeine Beſtandtheile.
Das perſiſche Reich iſt ein Reich im modernen Sinne, wie
das ehemalige deutſche Reich , und das große Kaiſerreich unter
Napoleon , denn es beſteht aus einer Menge Staaten , die zwar
in Abhängigkeit ſind, die aber ihre eigene Individualität, ihre
Sitten und Rechte beibehalten haben . Die allgemeinen Geſebe,
denen ſie alle unterworfen ſind, haben ihren beſonderen Zuſtän
den keinen Eintrag gethan , ſondern ſie ſogar beſchüßt und er
halten , und ſo hat jedes dieſer Völfer , die das Ganze aus
machen , ſeine eigene Form der Verfaſſung. Wie das Licht Alles
erleuchtet, Jedem eine eigenthümliche Lebendigkeit ertheilt, ſo
dehnt ſich die perfiſche Herrſchaft über eine Menge von Natio
nen aus, und läßt jeder ihr Beſonderes . Einige haben ſogar
eigene Könige , jede eine verſchiedene Sprache, Bewaffnung, le
bensweiſe, Sitte. Dieß Alles beſteht ruhig unter dem allgemei
nen Lichte. Das perfiſche Reich hat alle drei geographiſche
Momente in fich , die wir früher von einander geſchieden haben .
Zuerſt die Hochlande von Perſien und Medien , dann die Thal
ebenen des Euphrat und Tigris , deren Bewohner ſich zu einem
gebildeten Culturleben vereinigt haben , ſowie Aegypten , die
Thalebene des Nils , wo Acerbau , Gewerbe und Wiſſenſchaften
blühten , endlich das dritte Element, nämlich die Nationen ,
welche fich in die Gefahr des Meeres begeben , die Syrier, Pyö
nicier , die Einwohner der griechiſchen Colonien und griechiſchen
Uferſtaaten in Kleinaſien . Perſien vereinigte alſo die drei na
türlichen Principien in fich , während China und Indien der
See fremd geblieben ſind. Wir finden hier weder das ſubſtan
tielle Ganze von China , noch das indiſche Weſen , wo eine und
230 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
Per fi e n .
Jüngling rafft der Tod dagegen als ein Nichtſeynſollen hin , und
während der Schmerz über den Tod der Eltern kein gerechter
Schmerz iſt , iſt im Jüngling der Tod ein Widerſpruch . Und
dieß eben iſt daß Tiefe , das im Gott das Negative, der Wider
ſpruch zur Anſchauung kommt, und daß der Cultus beide Mo
mente, den Schmerz über den dahingerafften , und die Freude
über den wiedergefundenen Gott enthält.
J ud ä a .
A e g p p te n .
es ſey dieſes ein Heiliges , und er könne nicht davon , wie von
einem Aeußerlichen , fprechen . Außer ihm iſt noch Diodorus Si
culus von großer Wichtigkeit, und unter den jüdiſchen Geſchichts
ſchreibern Joſephus.
Durch die Bauwerke und die Hieroglyphen hat ſich das
Denken und Vorſtellen der Aegypter ausgedrückt. Es fehlt ein
Nationalwerk der Sprache ; es fehlt nicht nur unø , es fehlte auch
den Aegyptern ſelbſt; ſie konnten keines haben , weil ſie es nicht
zum Verſtändniß ihrer ſelbſt gebracht haben . Es war auch keine
ägyptiſche Geſchichte vorhanden , bis endlich Ptolemäus Phila
delphus , derſelbe , der die heiligen Bücher der Juden ins Grie
chiſche überſeßen ließ, den Oberprieſter Manetho veranlaßte, eine
ägyptiſche Geſchichte zu ſchreiben . Von dieſer haben wir nur
Auszüge, Neihen von Königen , die jedoch die allergrößten Schwie
rigkeiten und Widerſprüche veranlaßt haben . Um Aegypten fen
nen zu lernen , ſind wir überhaupt nur auf die Nachrichten der
Alten und auf die ungeheuren Monumente, die uns übrig ge
blieben ſind, angewieſen . Man findet eine Menge Granitwände,
in die Hieroglyphen eingegraben ſind , und die Alten haben uns
Aufſchlüſſe über einige derſelben gegeben , welche aber vollkommen
unzureichend ſind. In neuerer Zeit iſt man beſonders wieder darauf
aufmerkſam geworden , und auch nach vielen Bemühungen dahin
gelangt, von der hieroglyphiſchen Schrift wenigſtens Einiges ent
ziffern zu können. Der berühmte Engländer Thomas Young
hat zuerſt den Gedanken dazu gefaßt , und darauf aufmerkſam
gemacht, daß ſich nämlich kleine Flächen finden , die abgeſchnitten
von den anderen Hieroglyphen find, und wobei die griechiſche
Ueberſegung bemerkt iſt. Durch Vergleichung hat nun Young
drei Namen , Berenice, Kleopatra und Ptolemäus, herausbekom
men , und ſo den erſten Anfang zur Entzifferung gemacht. Man
hat ſpäterhin gefunden , daß ein großer Theil der Hieroglyphen
phonetiſch iſt , das heißt Laute angiebt. So bedeutet die Figur
des Auges zuerſt das Auge ſelbſt, dann aber auch den Anfangs
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Aegypten . 245
Neko, welcher einen Kanal zu graben begann , der den Nil mit
dem rothen Meere verbinden ſollte, und der erſt unter Darius
Nothus ſeine Vollendung erhielt. Das Unternehmen , dasmittel
ländiſche Meer mit dem arabiſchen Meerbuſen und dem großen
Ocean zu vereinigen , iſt nicht von ſolchem Nußen , als man wohl
glauben möchte, weil in dem ohnehin ſehr ſchwer zu beſchiffenden
rothen Meere ungefähr neun Monate lang ein beſtändiger Nord
wind herrſcht, und ſomit nnr drei Monate von Süden nach Nor
den gereiſt werden kann. Auf den Nefo folgte Pſammis und auf
dieſen Apries ; lekterer führte ein Heer gegen Sidon und hatte
eine Seeſchlacht mit den Tyriern ; auch gegen Cyrene ſandte er
ein Heer , welches von den Cyrenäern faſt vernichtet wurde. Die
Aegypter empörten ſich gegen ihn , und gaben ihm Schuld , er
wolle ſie ins Verderben führen ; wahrſcheinlich war aber der Auf
ſtand durch die Begünſtigung hervorgebracht , die die Karier und
Jonier erfuhren . Amaſis ſtellte ſich an die Spiße der Em
pörer, beſiegte den König , und ſeşte ſich an deſſen Stelle auf
den Thron . Von Herodot wird er als ein humoriſtiſcher Monarch
geſchildert, der aber nicht immer die Würde des Thrones behaup
tet habe. Von einem ſehr geringen Stande hatte er ſich durch
ſeine Geſchicklichkeit , ſeine Verſchlagenheit und ſeinen Geiſt auf
den Thron geſchwungen , und den ſcharfen Verſtand, der ihm zu
Gebote ſtand , hat er nach Herodot auch bei allen ferneren Ge
legenheiten bewieſen . Des Morgens habe er zu Gericht geſeſſen
und die Klagen des Volkes angehört; des Nachmittags aber habe er
geſchmauſet und ſich einem luftigen Leben überlaſſen . Den Freuns
den , die ihm darüber Vorwürfe machten , und ihm bemerkten , daß
er ſich den ganzen Tag den Geſchäften widmen müſſe, antwortete
er : Wenn der Bogen immerfort geſpannt bleibt , ſo wird er un
tauglich werden oder zerbrechen. Als ihn die Aegypter ſeiner
niedrigen Abkunft wegen nicht ſehr hoch hielten , ließ er aus ei
nem goldenen Fußbeden ein Götterbild formen , welchem die Aes
gypter große Verehrung bewieſen ; daran zeigte er ihnen dann
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Aegypten . 249
wir es hier mit einem ganz anders in ſich bewegten Trieb - umd
drangvollen Geiſte zu thun haben . — Wir haben hier das afri
kaniſche Element zugleich mit der orientaliſchen Gediegenheit an
das mittelländiſche Meer, das Local der Völker-Ausſtellung, ver :
ſept; und zwar ſo , daß hier keine Verwickelung mit Auswärti
gem vorhanden iſt, indem dieſe Weiſe von Erregung ſich als über
flüſſig zeigt; denn es iſt hier ein ungeheures drängendes Streben
auf ſich ſelbſt gerichtet, das innerhalb ſeines Kreiſes in die Db
jectivirung ſeiner ſelbſt durch die ungeheuerſten Productionen aus
ſchlägt. Dieſe afrikaniſche Gedrungenheit mit dem unendlichen
Drang der Objectivirung in ſich iſt, was wir hier finden . Noch
aber iſt wie ein eiſernes Band um die Stirne des Geiſtes ge
wunden , daß er nicht zum freien Selbſtbewußtſeyn ſeines Weſens
im Gedanken kommen kann, ſondern dieß nur als die Aufgabe, als
das Räthſel ſeiner ſelbſt herausgebiert. –
Die Grundanſchauung deſſen , was den Aegyptern als das
Weſen gilt, ruht auf der natürlich beſchloſſenen Welt, in der ſie
leben und näher auf dem geſchloſſenen phyſiſchen Naturkreis,
welchen der Nil mit der Sonne beſtimmt. Beides iſt Ein Zu
ſammenhang, der Stand der Sonne mit dem Stand des Nils ;
dieß iſt dem Aegypter Alles in Aűem . Der Nil iſt die Grund
beſtimmung des Landes überhaupt; außerhalb des Nilthals be
ginnt die Wüſte ; gegen Norden wird es vom Meer und im
Süden von Gluthhiße eingeſchloſſen . Der erſte arabiſche Feld
herr, welcher Aegypten eroberte , ſchreibt an den Kalifen Omar:
Aegypten iſt zuerſt ein ungeheures Staubmeer, dann ein ſüßes
Waſſermeer, und zulegt ein großes Blumenmeer ;, es regnet daſelbſt
nie ; gegen Ende Juli fält Thau , und dann fängt der Nil zu
überſchwemmen an und Aegypten gleicht einem Inſelmeer. (Hes
rodot vergleicht Aegypten in dieſem Zeitraum mit den Inſeln im
ägeiſchen Meere.) Der Nil läßt eine unendliche Menge von Ge
thier zurüc : es iſt dann ein unermeßliches Gerege und Gefrieche ;
bald darauf fängt der Menſch zu fäen an , und die Erndte iſt
254 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
ſtellen des Inhalts ,den wir bisher betrachtet haben , ſtehen bleiben
können , ſondern er hat ſich auch zum äußeren Bewußtſeyn und
zur äußeren Anſchauung durch die Kunſt bringen müſſen . -
Für die Religion des ewig Einen , Geſtaltloſen iſt die Kunſt
nicht nur ein Ungenügendes , ſondern , weil ſie weſentlich und aus
ſchließend ihren Gegenſtand im Gedanken hat, ein Sündliches .
Aber der Geiſt, der in der Anſchauung der particularen Natür
lichkeit ſteht , und darin ein drängender und bildender Geiſt iſt,
verkehrt ſich die unmittelbare , natürliche Anſchauung 8. B . des
Nils , der Sonne u.f. f. zu Gebilden , an denen der Geiſt Theil
hat; er iſt, wie wir geſehen haben , der ſymboliſtrende Geiſt, und,
indem er dieß iſt, drängt er danach , ſich dieſer Symboliſtrungen
zu bemächtigen , und ſie vor fich zu bringen . Je mehr er ſich
ſelbſt räthſelhaft und dunkel iſt, deſto mehr hat er den Drang in
fich zu arbeiten , aus der Beklommenheit heraus ſich zur gegen
ſtändlichen Vorſtellung zu befreien .
Es iſt das Ausgezeichnete des ägyptiſchen Geiſtes , daß er
als dieſer ungeheure Werkmeiſter vor uns ſteht. Es iſt nicht
Pracht, noch Spiel , noch Vergnügen u . f. f., was er ſucht,
ſondern es iſt der Drang fich zu verſtehen , der ihn treibt , und
er hat kein anderes Material und Boden , ſich über das zu be
lehren , was er iſt, und ſich für ſich zu verwirklichen , als dieſes
Hineinarbeiten in den Stein , und was er in den Stein hinein
ſchreibt, ſind ſeine Räthſel, dieſe Hieroglyphen . Die Hierogly
phen ſind zweierlei , die eigentlichen , die mehr die Beſtimmung
für die Neußerung in der Sprache und die Beziehung auf die
ſubjective Vorſtellung haben ; die anderen Hieroglyphen ſind dieſe
ungeheuern Maſſen von Werken der Architectur und Sculptur,
womit Aegypten bedeckt iſt. Wenn bei anderen Völkern die Ge
ſchichte aus einer Reihe von Begebenheiten beſteht, wie z. B .
die Römer in mehreren Jahrhunderten nur dem Zweck der Erobe
rung gelebt, und das Werk der Unterwerfung der Völker vor
fich gebracht haben , ſo ſind es die Aegypter , die ein ebenſo
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Aegypten. 263
mächtiges Reich von Thaten in Kunſtwerken ausgeführt haben ,
deren Trümmer ihre Unzerſtörbarkeit beweiſen , und größer und er
ſtaunenswürdiger find , als alle Werke der ſonſtigen alten und
der neuen Zeit.
Ich will von dieſen Werfen keine anderen erwähnen , als
die den Todten gewidmeten , welche unſere Aufmerkſamkeit vor
nehmlich auf ſich ziehen . Es ſind dieß die ungeheuren Aushöh
lungen in den Hügeln längs dem Nil bei Theben , welche in
Gängen und Kammern ganz mit Mumien angefüllt ſind, unters
irdiſche Behauſungen , ſo groß als die größten Bergwerke neuerer
Zeit; dann das große Todtenfeld in der Ebene bei Sais mit
Mauern und Gewölben ; ferner die Wunder der Welt , die Py
ramiden , deren Beſtimmung erſt in neueren Zeiten , obgleich von
Herodot und Diodor fchon angegeben , förmlich wieder beſtätigt
worden iſt , daß nämlich dieſe ungeheuren Cryſtalle , in geometris
ſcher Regelmäßigkeit, Leichen einſchließen ; endlich das Staunens
würdigſte, die Königsgräber, deren eines in neuerer Zeit Belzoni
aufgeſchloſſen hat.
Es iſt weſentlich zu ſehen , welche Bedeutung dieſes Todtent
reich für den Aegypter gehabt hat; es iſt daraus zu erkennen ,
welche Vorſtellung fich derſelbe vom Menſchen gemacht hat.
Denn im Todten ſtellt ſich der Menſch den Menſchen vor, als
entfleidet von aller Zufälligkeit, nur nach ſeinem Weſen . Wie
ein Volk aber ſich den weſentlichen Menſchen vorſtellt, ſo iſt es
ſelbſt, ſo iſt ſein Charakter. -
Vor's Erſte iſt hier das Wunderbare, das uns Herodot er
zählt , anzuführen , daß nämlich die Aegypter die erſten geweſen
ſeyen , welche den Gedanken ausgeſprochen , daß die Seele des
Menſchen unſterblich fey . Dieß aber, daß die Seele unſterb
lich iſt, ſoll heißen : ſte iſt ein Anderes als die Natur, der Geiſt
iſt ſelbſtſtändig für ſich . Das Höchſte bei den Indern war das
Uebergehen in die abſtracte Einheit, in das Nichts ; hingegen iſt
das Subject, wenn es frei iſt, unendlich in fich : das Reich des
264 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
freien Geiſtes iſt dann das Reich des Unſichtbaren , wie bei
den Griechen der Hades. Dieſes ſtellt ſich den Menſchen zu
nächſt als das Reich der Verſtorbenheit , den Aegyptern als das
Todtenreich dar.
Die Vorſtellung , daß der Geiſt unſterblich iſt , enthält dieß ,
daß das menſchliche Individuum einen unendlichen Werth in
ſich hat. Das bloß Natürliche erſcheint vereinzelt, iſt ſchlechthin
abhängig von Anderem und hat ſeine Eriſtenz in Anderem : mit
der Unſterblichkeit aber iſt es ausgeſprochen , daß der Geiſt in
ſich ſelbſt unendlich iſt. Dieſe Vorſtellung wird zuerſt bei den
Aegyptern gefunden . Wir müſſen aber hinzufügen , daß die Seele
von den Aegyptern nur vorerſt als ein Atom 8 . h . als ein con
cret Particulariſirtes gewußt wurde. Denn es knüpft ſich ſofort
die Vorſtellung der Metempſychoſe daran an , die Vorſtellung,
daß diemenſchliche Seele auch einem Thierförper inwohnen könne.
Ariſtoteles ſpricht auch von jener Vorſtellung , und thut fie mit
wenigen Worten ab. Jedes Subject , ſagt er , habe ſeine eigen
thümlichen Organe für ſeine Thätigkeit : ſo der Schmidt, der
Zimmermann für ſein Handwerk; ebenſo habe auch die menſch
liche Seele ihre eigenthümlichen Organe, und ein thieriſcher Leib
könne nicht der ihrige ſeyn. Pythagoras hat die Seelenwandes
rung in ſeine Lehre mit aufgenommen ; ſie hat aber wenig Bei
fall bei den Griechen , die ſich an das Concrete hielten , finden
können . Die Inder haben nicht minder eine trübe Vorſtellung
davon, indem das Leşte der Nebergang in die allgemeine Sub
ſtanz ift. Bei den Aegyptern iſt aber wenigſtens die Seele, der
Geift ein Affirmatives , wenn auch abſtract Affirmatives. Die
Periode der Wanderung war auf dreitauſend Jahre beſtimmt;
fie fagen jedoch : eine Seele, die dem Dſiris treu geblieben , ſey
einer ſolchen Degradation (denn dafür halten ſie es ) nicht unters
worfen .
Es iſt bekannt , daß die Aegypter ihre Todten einbalſamir
ten , und ihnen dadurch eine ſolche Dauer gaben , daß fie fich
Dritter Abſchnitt. Perſien . — Aegypten . 265
bis zum heutigen Tage erhalten haben und noch mehrere Jahr
tauſende ſo beſtehen fönnen . Dieß nun ſcheint ihrer Vorſtellung
von der Unſterblichkeit nicht entſprechend zu ſeyn , denn wenn die
Seele für ſich beſteht, ſo iſt die Erhaltung des Körpers etwas
Gleichgültiges. Dagegen nun fann man wiederum ſagen , daß,
wenn die Seele als fortdauernd gewußt wird , dem Körper , als
ihrem alten Wohnſiße , Ehre erwieſen werden müſſe. Die Parſen
ſeßen die Körper der Todten an freie Orte, damit ſie von den
Vögeln verzehrt werden : bei ihnen wird aber die Seele als ins
Allgemeine zerfließend vorgeſtellt. Wo ſte fortdauert , da muß
gleichſam auch der Körper als dieſer Fortdauer angehörig bes
trachtet werden . Bei uns iſt freilich die IInſterblichkeit der Seele
das Höhere : der Geiſt iſt an und für ſich ewig , ſeine Beſtim
mung iſt die ewige Seligkeit. – Die Aegypter machten ihre
Todten zu Mumien ; damit find denn die Todten abgefertigt,
und es wird ihnen weiter keine Verehrung bewieſen . Herodot
erzählt von den Aegyptern , daß bei dem Tode eines Menſchen
die Weiber heulend umherlaufen , aber die Vorſtellung einer Un
ſterblichkeit, wie bei uns , kommt nicht als Troft hervor.
Aus dem , was früher über die Werke für die Todten ges
ſagt worden , ſteht man , daß die Aegypter , beſonders aber ihre
Könige, fich's zum Geſchäft des Lebens gemacht haben , ſich ihr
Grab zu bauen und ihrem Körper eine bleibende Stätte zu geben .
Merkwürdig iſt es, daß dem Todten das, was er für die Ge
ſchäfte ſeines Lebens nöthig hatte , mitgegeben wurde: ſo dem
Handwerker z. B . ſeine Inſtrumente ; Gemälde auf dem Sarge
ſtellen das Geſchäft dar , dem ſich der Todte gewidmet hatte, ſo
daß man dieſen in der ganzen Particularität ſeines Standes und
ſeiner Beſchäftigung kennen lernt. Man hat ferner vieleMumien
mit einer Papyrusrolle unter dem Arme gefunden , und dieſes
wurde früher als ein beſonderer Schaß angeſehen. Dieſe Rol
len enthalten aber nur vielfache Darſtellungen von Geſchäften des
Lebens , auch mitunter Schriften , die in der Demotiſchen Sprache
266 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
verfaßt ſind; man hat ſie entziffert und dann gefunden , daß es
ſämmtlich Kaufbriefe über Grundſtücke und dergleichen ſind,
worin Alles auf das Genaueſte angegeben iſt, ſelbſt die Abgaben
bei der Kanzlei, die dabei entrichtet werden mußten . Was alſo
ein Individuum in ſeinem Leben erkauft hat , das wird ihm bei
ſeinem Tode in einer Urkunde mitgegeben . Auf dieſe monumen
tale Weiſe ſind wir in den Stand geſeßt , das Privatleben der
Aegypter , wie das der Römer durch die Ruinen von Pompeji
und Herculanum , kennen zu lernen .
Nach dem Tode eines Aegypters wurde über ihn Gericht
gehalten . – Eine Hauptdarſtellung auf Särgen iſt das Gericht
im Todtenreich : Dſtris, hinter ihm Iſis, wird mit der Wage
dargeſtellt, während vor ihm die Seele des Verſtorbenen ſteht.
Aber das Todtengericht wurde von den Lebenden ſelbſt beſtellt,
und nicht bloß bei Privatperſonen , ſondern ſogar bei Königen .
Man hat ein Königsgrab entdeckt, ſehr groß und ſorgfältig ein
gerichtet: in den Hieroglyphen iſt der Name der Hauptperſon
ausgelöſcht, in den Basreliefs und den Gemälden die Haupt
figur ausgemerzt , und man hat dieß ebenſo erklärt, daß dem
Könige im Todtengerichte die Ehre abgeſprochen worden iſt, auf
dieſe Weiſe verewigt zu werden .
Wenn der Tod die Aegypter im Leben ſo ſehr beläftigte,
ſo könnte man glauben , daß ihre Stimmung traurig geweſen
ſey . Aber der Gedanke an den Tod hat keineswegs Trauer
unter fie verbreitet. Bei Gaſtmahlen hatten ſie Abbildungen von
Todten , wie Herodot erzählt , mit der Ermahnung : iß und trink,
ein ſolcher wirſt du werden , wenn du todt biſt. Der Tod war
alſo für ſte vielmehr eine Aufforderung das Leben zu genießen . —
Dſtris felbſt ſtirbt und geht in das Todtenreich hinab , nach der
früher erwähnten ägyptiſchen Mythe; an mehreren Orten in Ae
gypten wurde das heilige Grab des Oſiris gezeigt. Er wurde
dann aber auch als Vorſteher des Reichs des Unſichtbaren und
als Todtenrichter in demſelben vorgeſtellt; ſpäter trat Serapis in
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Aegypten . 267
dieſer Function an feine Stelle. Von Anubis-Hermes ſagt die
Mythe, daß er den leichnam des Dſtris einbalſamirt habe;
dieſer Anubis iſt dann auch als Seelenführer der Todten be
fchäftigt, und auf den bildlichen Darſtellungen ſteht er , mit der
Schreibtafel in der Hand, dem Todtenrichter Dfiris zur Seite.
Die Aufnahme der Verſtorbenen in das Neich des Oſiris hat
dann den tieferen Sinn gehabt, daß das Individuum mit dem
Oſiris vereinigt werde; daher fieht man auch auf den Sarg
deckeln die Vorſtellung, daß der Todte felbft Oſiris geworden iſt,
und nachdem man angefangen , die Hieroglyphen zu entziffern ,
hat man zu finden geglaubt , daß die Könige Götter genannt
werden. Das Menſchliche und Göttliche wird ſo als vereinigt
dargeſtellt.
Nehmen wir nun ſchließlich zuſammen , was hier über die
Eigenthümlichkeiten des ägyptiſchen Geiſtes nach allen Seiten
hin geſagt worden iſt, ſo iſtdie Grundanſchauung, daß die bei
den Elemente der Wirklichkeit, der in die Natur verſunkene Geift
und der Trieb zu ſeiner Befreiung, hier im Widerſtreite zuſammen
gezwungen ſind. Wir ſehen den Widerſpruch der Natur und
des Geiſtes , nicht die unmittelbare Einheit, auch nicht die con
crete , wo die Natur nur als Boden für die Manifeſtation des
Geiftes geſeßt iſt ; gegen die erſte und die zweite dieſer Einheiten
ſteht die ägyptiſche als widerſprechende in der Mitte. Die Seiten
dieſer Einheit find in abſtracter Selbſtſtändigkeit, und ihre Einheit
nur als Aufgabe vorgeſtellt. Wir haben daher auf der einen
Seite eine ungeheure Befangenheit und Gebundenheit an die
Particularität, wilde Sinnlichkeit mit afrikaniſcher Härte, Thier
dienſt, Genuß des Lebens. Es wird erzählt , eine Frau habe
auf öffentlichem Markte mit einem Bocke Sodomiterei getrieben ;
Menſchenfleiſch und Blut, erzählt Juvenal, ſey aus Rache ge
geſſen und getrunken worden . Die andere Seite iſt das Ringen
des Geiſtes nach ſeiner Befreiung, die Phantafterei der Gebilde
neben dem abſtracten Verſtande der mechaniſchen Arbeiten zur
268 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
Production dieſer Gebilde. Dieſelbe Verſtändigkeit , Kraft der
Verwandlung des Particularen und feſte Beſonnenheit , die über
der unmittelbaren Erſcheinung ſteht, zeigt ſich in der Staats
polizei und dem Staatsmechanismus, in der Benußung des
Landes u. f. f.; und der Gegenſaß dazu iſt die harte Gebun
denheit an die Sitten und der Aberglaube , dem der Menſch un
erbittlich unterworfen iſt. Mit dem Verſtande des gegenwärtigen
Lebens hängt das Ertrem des Dranges , der Kredheit , der Gäh
rung zuſammen . Die Züge zeigen ſich zuſammen in den Ges
ſchichten , welche Herodot von den Aegyptern erzählt. Sie haben
viele Aehnlichkeit mit den Mährchen von Tauſend und eine Nacht,
und wenn gleich dieſe zum Ort der Erzählung Bagdad haben ,
ſo ift ihr Urſprung doch eben ſo wenig allein an dieſem üppigen
Hof, als nur bei den Arabern zu finden , ſondern vielmehr auch
in Aegypten , wie auch Herr von Hammer meint. Die Welt
der Araber iſt eine ganz andere, als dieſe Phantaſterei und Zau
berei; ſie hat viel einfachere Leidenſchaften und Intereſſen : Liebe,
Kriegsmuth , das Pferd , das Schwert ſind die Gegenſtände in
ihren eigenthümlichen Liedern .
Erſter Abſchnitt.
Die Elemente des griechiſchen Geiſtes.
Griechenland iſt die Subſtanz, welche zugleich individuell ift:
das Allgemeine als ſolches iſt überwunden , das Verſenktfenn in
die Natur iſt aufgehoben ,und ſo iſtdenn auch das Maſſenhafte der
geographiſchen Verhältniſſe verſchwunden . Das Land beſteht
aus einem Erdreich , das auf vielfache Weiſe im Meere zerſtreut
iſt, aus einer Menge von Infeln und einem feſten Lande, wel
ches felbft inſelartig iſt. Nur durch eine ſchmale Erdzunge iſt
der Peloponnes mit demſelben verbunden ; ganz Griechenland
wird durch Buchten vielfach zerklüftet. Alles iſt in kleine Par
tien zertheilt und zugleich in leichter Beziehung und Verbindung
durch das Meer. Berge, ſchmale Ebenen , kleine Thäler und
Flüſſe treffen wir in dieſem Lande an ; es giebt dort keinen gro
18 *
276 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt .
ßen Strom und feine einfache Thalebene, ſondern der Boden iſt
durch Berge und Flüſſe verſchieden geſtaltet, ohne daß eine ein
zige großartige Maſſe hervortritt. Wir finden nicht dieſe orien
taliſche phyſiſche Macht , nicht einen Strom , wie den Ganges ,
den Indus u. ſ. w ., in deren Ebenen ein einförmiges Geſchlecht
zu feiner Veränderung eingeladen wird , weil ſein Horizont im
mer nur dieſelbe Geſtalt zeigt, ſondern durchaus jene Vertheiltheitund
Vielfältigkeit , die der mannigfachen Art griechiſcher Völkerſchaften
und der Beweglichkeit des griechiſchen Geiſtes vollkommen entſpricht.
Dieß iſt der elementariſche Charakter des griechiſchen
Geiſtes , welcher es ſchon mit fich bringt, daß die Bildung von
ſelbſtſtändigen Individualitäten ausgeht, von einem Zuſtand, in
dem die Einzelnen auf ſich ſtehen , und nicht ſchon durch das Na
turband patriarchaliſch von Hauſe aus vereint ſind, ſondern fich
erſt in einem andern Medium , in Gefeß und geiſtiger Sitte, zu =
ſammenthun. Denn das griechiſche Volk iſt vornehmlich erſt zu
dem , was es war , geworden. Bei der Urſprünglichkeit der
nationalen Einheit iſt die Zertheilung überhaupt, die Fremd
artigkeit in ſich ſelbſt , das Hauptmoment, das zu betrachten
iſt. Die erſte Ueberwindung derſelben macht die erſte Periode
der griechiſchen Bildung aus; und nur durch ſolche Fremdartig
keit und durch ſolche Ueberwindung iſt der ſchöne, freie griechiſche
Geiſt geworden . Ueber dieſes Princip müſſen wir ein Bewußtſeyn
haben. Es iſt eine oberflächliche Thorheit fich vorzuſtellen , daß
ein ſchönes und wahrhaft freies Leben ſo aus der einfachen Ent
widelung eines in ſeiner Blutsverwandtſchaft und Freundſchaft
bleibenden Geſchlechts hervorgehen könne. Selbſt die Pflanze,
die das nächſte Bild ſolcher ruhigen , in ſich nicht entfremdeten
Entfaltung abgiebt, lebt und wird nur durch die gegenfäßliche
Thätigkeit von Licht, Luft und Waſſer. Der wahrhafte Gegenſaß ,
den der Geiſt haben kann , iſt geiſtig ; es iſt ſeine Fremdartigkeit
in ſich ſelbſt, durch welche allein er die Straft, als Geiſt zu ſeyn,
gewinnt. Die Geſchichte Griechenlands zeigt in ihrem Anfange
Erſter Abſchnitt. Die Elemente des griechiſchen Geiſtes . 277
Zweiter Abſchnitt.
Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität
Erſtes Capitel.
Das ſubjective Kunſtwerk.
Der Menſch verhält ſich mit ſeinen Bedürfniſſen zur äußer
lichen Natur auf praktiſche Weiſe, und geht dabei, indem er ſich
durch dieſelbe befriedigt, und ſie aufreibt, vermittelnd zu Werke.
Die Naturgegenſtände nämlich ſind mächtig und leiſten mannig
fachen Widerſtand. Um ſte zu bezwingen , ſchiebt der Menſch an
dere Naturdinge ein , kehrt ſomit die Natur gegen die Natur ſelbſt,
und erfindet Werkzeuge zu dieſem Zwede. Dieſe menſchlichen
Erfindungen gehören dem Geiſte an , und ſolches Werkzeug iſt
höher zu achten , als der Naturgegenſtand. Auch ſehen wir, daß
die Griechen fte beſonders zu ſchäßen wiſſen , denn im Homer er
ſcheint recht auffallend die Freude des Menſchen über dieſelben .
Beim Scepter des Agamemnon wird weitläufig ſeine Entſtehung
erzählt; der Thüren , die ſich in Angeln drehen , der Rüſtungen
und Geräthſchaften wird mit Behaglichkeit Erwähnung gethan.
Die Ehre der menſchlichen Erfindung zur Bezwingung der Natur
wird den Göttern zugeſchrieben .
Der Menſch gebraucht aber nun die Natur andererſeits zum
Schmuck , welcher den Sinn hat, nur ein Zeichen des Reich
thums und deſſen zu ſeyn , was der Menſch aus fich gemacht
hat. Solch Intereſſe des Schmuckes ſehen wir bei den homeri
ſchen Griechen ſchon ſehr ausgebildet. Barbaren und geſittete
Völfer pußen fich ; aber die Barbaren bleiben dabei ſtehen , ſich
zu pußen , d . h. ihr Körper ſoll durch ein Reußerliches gefallen .
Zweiter Abſơnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 295
Der Schmuck aber hat nur die Beſtimmung Schmud eines An
dern zu ſeyn , welches der menſchliche Leib iſt , in welchem ſich
der Menſch unmittelbar findet, und welchen er, wie das Natür
liche überhaupt, umzubilden hat. Das nächſte geiſtige Intereſſe
iſt daher, den Körper zum volfоmmenen Organ für den Willen
auszubilden , welche Geſchidlichkeit einerſeits wieder Mittel für
andere Zwede ſeyn , andererſeits ſelbſt als Zweck erſcheinen fann.
Bei den Griechen nun finden wir dieſen unendlichen Trieb der
Individuen ſich zu zeigen und ſo zu genießen . Der ſinnliche
Genuß wird nicht die Baſis ihres friedlichen Zuſtandes , ſo we
nig als die daran ſich knüpfende Abhängigkeit und Stumpfheit
des Aberglaubens. Sie ſind zu kräftig erregt, zu ſehr auf ihre
Individualität geſtellt , um die Natur, wie ſie ſich in ihrer Macht
und Güte giebt, ſchlechthin zu verehren . Der friedliche Zuſtand ,
nachdem das Raubleben aufgehoben und bei freigebiger Natur
auch Sicherheit und Muße gewährt war, verwies ſie auf ihr
Selbſtgefühl, fich zu ehren . So wie ſie aber einerſeits zu ſelbſt
ſtändige Individualitäten ſind, um durch Aberglauben unterjocht
zu werden , ſo ſind ſie auch nicht ſchon eitel. Das Weſentliche
muß vielmehr erſt herausgebrachtwerden , als daß es ihnen ſchon
eitel geworden wäre. Das frohe Selbſtgefühl gegen die finnliche
Natürlichkeit, und das Bedürfniß , nicht nur fich zu vergnügen ,
ſondern ſich zu zeigen , dadurch vornehmlich zu gelten und ſich zu
genießen , macht nun die Hauptbeſtimmung und das Hauptge
ſchäft der Griechen aus. Frei wie der Vogel in der Luft ſingt,
To äußert hier nur der Menſch , was in ſeiner unverfümmerten
menſchlichen Natur liegt, um ſich durch ſolche Aeußerung zu be
weiſen , und Anerkennung zu erwerben . – Dieß iſt der ſub
jective Anfang der griechiſchen Kunſt, worin der Menſch ſeine
Körperlichkeit , in freier ſchöner Bewegung und in kräftiger Ge
ſchidlichkeit, zu einem Kunſtwerke ausarbeitet. Die Griechen
machten fich ſelbſt erſt zu ſchönen Geſtaltungen , ehe ſie folche
objectiv im Marmor und in Gemälden ausdrüdten . Der harm
296 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
loſe Wettkampf in Spielen , worin ein Jeder zeigt, was er iſt,
iſt ſehr alt. Homer beſchreibt auf eine herrliche Weiſe die Spiele
Achil's zu Ehren des Patroklus , aber in allen ſeinen Dichtun
gen findet ſich keine Angabe von Bildſäulen der Götter , ohner
achtet er das Heiligthum zu Dodona und das Schafhaus des
Apollo zu Delphi erwähnt. Die Spiele beſtehen beim Homer '
im Ringen und Fauftkampf , im lauf, im Lenken der Roſſe
und Wagen , im Wurf des Diskus over des Wurfſpie
Bes , und im Bogenſchießen . – Mit dieſen Uebungen verbin
det ſich Tanz und Geſang zur Aeußerung und zum Genuß froher,
geſelliger Heiterkeit, welche Künſte gleichfalls zur Schönheit er
blühten . Auf dem Schilde des Achill wird von Hephäftos unter
Anderem vorgeſtellt, wie ſchöne Jünglinge und Mädchen ſich mit
gelehrigen Füßen ſo ſchnell bewegen , als der Töpfer ſeine Scheibe
herumtreibt. Die Menge ſteht umher ſich daran ergößend , der
göttliche Sänger begleitet den Geſang mit der Harfe und zwei
Haupttänzer drehen ſich in der Mitte des Reigens.
Dieſe Spiele und Künſte mit ihrem Genuß und ihrer Ehre
waren anfangs nur Privatſache und bei beſonderen Gelegenhet
ten veranſtaltet; in der Folge wurden ſie aber eine Nationalan
gelegenheit, und auf beſtimmte Zeiten an beſtimmten Orten feft
geſeßt. Außer den olympiſchen Spielen in der heiligen land
ſchaft Elis wurden noch die iſthmiſchen , pythiſchen und nemeiſchen
an andern Orten gefeiert.
Betrachten wir nun die innere Natur dieſer Spiele , ſo iſt
zuvörderſt das Spiel dem Ernſte, der Abhängigkeit und Noth
entgegengeſeßt. Mit ſolchem Ringen , Laufen , Kämpfen war es
fein Ernſt ; es lag darin Feine Noth des fich Wehrens, fein Be
dürfniß des Kampfes. Ernſt iſt die Arbeit in Beziehung auf
das Bedürfniß : ich oder die Naturmuß zu Grunde gehen ; wenn
das Eine beſtehen ſoll, muß das Andere fallen . Gegen dieſen
Ernſt nun gehalten iſt aber das Spiel dennoch der höhere Ernſt,
denn die Natur iſt darin dem Geiſte eingebildet, und wenn auch
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 297
Zweites Capitel.
Das objective Kunſtwerk.
der neiten Götter , die geiftige Bedeutung haben und ſelbſt Geiſt
find * ). Es iſt nicht möglich , dieſen Uebergang beſtimmter und
naiver auszuſprechen , als hier geſchieht ; das neue Reich der
Götter verkündet , daß die eigenthümliche Natur derſelben geiſtis
ger Art iſt.
Das Zweite iſt, daß die neuen Götter die Naturinomente
und damit das beſtimmte Verhältniß zu den Naturmächten , wie
ſchon oben angedeutet worden iſt, in ſich aufbewahren . Zeus
hat ſeine Bliße und Wolfen , und Here iſt die Erzeugerin des
Natürlichen , die Gebärerin der werdenden Lebendigkeit ; Zeus ift
aber dann der politiſche Gott, der Beſchüßer des Sittlichen und
der Gaſtfreundſchaft. Dfeanos iſt als ſolcher nur die Natur
macht; Poſeidon aber hat zwar noch die Wildheit des Elements
an ihm , iſt jedoch auch eine ſittliche Figur: er hat Mauern ge
baut und das Pferd geſchaffen . Helios iſt die Sonne als Na
turelement. Dieſes Licht iſt, in der Analogie des Geiſtigen , zum
Selbſtbewußtſeyn umgewandelt und Apollo iſt aus dem Helios
hervorgegangen. Der Name Lúxelos deutet auf den Zuſam
menhang mit dem Licht ; Apoll war Hirte bei Admet , die freien
Rinder waren aber dem Helios heilig; ſeine Strahlen , als Pfeile
vorgeſtellt, tödten den Python . Die Idee des Lichts wird man
als die zu Grunde liegende Naturmacht aus dieſer Gottheit nicht
fortbringen können , zumal da ſich die andern Prädicate derſelben
leicht damit verbinden laſſen , und die Erklärungen Müler's und
Anderer , welche jene Grundlage läugnen , viel willkürlicher und
entfernter find. Denn Apoll iſt der Weifſagende und Wiſſende,
das Alles hellmachende Licht; ferner der Heilende und Bekräfti
gende, wie auch der Verderbende , denn er tödtet die Männer ;
er iſt der Sühnende und Reinigende, 3. B . gegen die Eumeni
den , die alten unterirdiſchen Gottheiten , welche das harte , ftrenge
Recht verfolgen ; er felber iſt rein , er hat keine Gattin , ſondern
nur eine Schweſter , und iſt nicht in viele häßliche Geſchichten ,
*) S . Hegels Vorlef.über die Philoſ.der Relig . II. 2. Aufl. S . 102. fg.
300 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
wie Zeus , verwickelt ; er iſt ferner der Wiffende und Ausſpre
chende, der Sänger und Führer der Muſen , wie die Sonne den
harmoniſchen Reigen der Geſtirne anführt. – Ebenſo find die
Najaden zu den Muſen geworden . Die Göttermutter Cybele,
noch zu Epheſus als Artemis verehrt , iſt bei den Griechen als
Artemis , die keuſche Jägerin und Wildtödterin , kaum wiederzu
erkennen . Würde nun geſagt , daß dieſe Verwandlung des Na
türlichen in Geiſtiges unſerem oder ſpäterem griechiſchen Allegori
firen angehöre, ſo iſt dagegen anzuführen , daß dieß Herüberwen :
den des Natürlichen zum Geiſtigen gerade der griechiſche Geiſt
iſt. Die Epigramme der Griechen enthalten ſolche Fortgänge
vom Sinnlichen zum Geiſtigen . Nur der abſtracte Verſtand
weiß dieſe Einheit des Natürlichen und Geiſtigen nicht zu faſſen .
· Das Weitere iſt, daß die Götter als Individualitäten , nicht
als Abſtractionen 311 faſſen ſind, wie z. B . das Wiſſen , der
Eine , die Zeit, der Himmel, die Nothwendigkeit. Solche Abs
ſtractionen ſind nicht der Inhalt dieſer Götter; ſie ſind keine
Alegorien , keine abſtracten mit vielfachen Attributen behängten
Weſen , wie die Horaziſche necessitas clavis trabalibus. Eben
Towenig ſind die Götter Symbole , denn das Symbol iſt nur ein
Zeichen , eine Bedeutung von etwas Anderem . Die griechiſchen
Götter drücken an ihnen ſelbſt aus, was ſie ſind. Die ewige
Ruhe und ſinnende Klarheit im Kopfe Apollo's iſt nicht ein
Symbol, ſondern der Ausdruck, in welchem der Geiſt erſcheint
und ſich gegenwärtig zeigt. Die Götter ſind Subjecte , concrete
Individualitäten ; ein allegoriſches Weſen hat keine Eigenſchaften ,
ſondern iſt ſelbſt nur Eine Eigenſchaft. Die Götter ſind ferner
beſondere Charaktere , indem in jedem von ihnen Eine Beſtim
mung als die charakteriſtiſche überwiegend iſt; es wäre aber ver
gebens, dieſen Kreis von Charakteren in ein Syſtem bringen zu
wollen. Zeus Herrſcht wohl über die andern Götter , aber nicht
in wahrhafter Kraft, ſo daß ſie in ihrer Beſonderheit frei gelaſſen
bleiben . Weil aller geiſtige und fittliche Inhalt den Göttern an
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 301
gehörte, ſo mußte die Einheit, welche über fte geſtellt wurde,
nothwendig abſtract bleiben ; fte war alſo das geſtalt- und in =
haltloſe Factum , die Nothwendigkeit, deren Trauer darin ihren
Grund hat, daß fie das Geiſtloſe iſt, während die Götter fich
in freundlichem Verhältniß zu den Menſchen befinden , denn ſie
find geiſtige Naturen . Das Höhere , daß die Einheit als Gott,
der Eine Geiſt, gewußtwird ,war den Griechen noch nicht bekannt.
In Anſehung der Zufälligkeit und der Beſonderheit,
welche an den griechiſchen Göttern hängt, entſteht die Frage, wo
der äußerliche Urſprung dieſer Zufälligkeit zu ſuchen ſey . Einer
ſeits kommt ſie durch das Local herein , durch das Zerſtreute des
Anfangs des griechiſchen Lebens, das ſich punctualiſirt, und foa
mit ſogleich Localvorſtellungen herbeiführt. Die Localgötter ſtehen
allein und haben eine viel größere Breite , als da ſte ſpäter in
den Kreis der Götter eintreten und zu einem Beſchränkten herab
geſegt werden ; fie ſind nach dem beſonderen Bewußtſeyn und
den particularen Begebenheiten der Gegenden beſtimmt, in welchen
fie erſcheinen . Es giebt eine Menge von Hercules und Zeus,
die ihre Localgeſchichte haben , ähnlich den indiſchen Göttern , die
auch an verſchiedenen Orten Tempel mit einer eigenthümlichen
Hiſtorie beſigen . Ebenſo iſt es mit den katholiſchen Heiligen und
ihren Legenden , wo aber nicht von dem Localen , ſondern 3. B .
von der Einen Mutter Gottes ausgegangen und dann zu der
vielfältigſten Localität fortgeſchritten wird. Die Griechen erzäh
len von ihren Göttern die heiterſten und anmuthigſten Geſchichten ,
deren Grenze gar nicht zu ziehen iſt , da die Einfälle im lebendigen
Geiſteder Griechen immer neu hervorſprudelten . - Eine zweite Quelle
des Urſprungs der Beſonderheiten iſt die Naturreligion , deren
Darſtellungen ebenſo in den griechiſchen Mythen erhalten , als
auch wiedergeboren und verkehrt ſind. Das Erhalten der an
fänglichen Mythen führt auf das berühmte Capitel der Myſte
rien , deren wir ſchon oben Erwähnung thaten . Dieſe Myſterien
der Griechen ſind etwas , was als Unbekanntes , mit dem Vor
urtheil tiefer Weisheit , die Neugier aller Zeiten auf fich gezogen
hat. Zuvörderſt iſt zu bemerken , daß dieſes Alte und Anfäng
liche eben ſeines Anfangs wegen nicht das Vortreffliche, ſondern
das Untergeordnete iſt, daß die reineren Wahrheiten in dies
ſen Geheimniſſen nicht ausgeſprochen waren , und nicht etwa , wie
Viele meinten , die Einheit Gottes gegen die Vielheit der Götter
darin gelehrt wurde. Die Myſterien waren vielmehr alte Got
tesdienſte, und es iſt eben fo ungeſchichtlich als thöricht, tiefe
Philoſopheme darin finden zu wollen , da im Gegentheil nur Na
turideen , rohere Vorſtellungen von der allgemeinen Umwandlung
in der Natur und von der allgemeinen Lebendigkeit der Inhalt
derſelben waren . Wenn man alles Hiſtoriſche, was hier herein
fällt, zuſammenſtellt, ſo wird das Reſultat nothwendig fern , daß
die Myſterien nicht ein Syſtem von Lehren ausmachten , ſondern
ſinnliche Gebräuche und Darſtellungen waren , die nur in Sym
bolen der allgemeinen Operationen der Natur beſtanden , als 3. B .
von dem Verhältniſſe der Erde zu den himmliſchen Erſcheinun :
gen . Den Vorſtellungen der Ceres und Proſerpina , dem Bacchus
und feinem Zuge lag als Hauptſache das Augemeine der Natur
zu Grunde, und das Weitere waren obſcure Geſchichten und
Darſtellungen , deren Hauptintereſſe die Lebenskraft und ihre Ver
ånderungen ſind. Einen analogen Proceß , wie die Natur, hat
auch der Geiſt zu beſtehen ; denn er muß zweimal geboren ſeyn,
das heißt, ſich in fich felbftnegiren ; und ſo erinnerten die Dar
ſtellungen in den Myſterien , wenn auch nur fchwach , an die
Natur des Geiſtes . Sie hatten für die Griechen etwas Schauer
erwedendes ; denn der Menſch hat eine angeborne Schei , wenn
er ſieht , es ſey eine Bedeutung in einer Form , die als finnlich
dieſe Bedeutung nicht ausſpricht, und daher abſtößt und anzieht,
durch den durchklingenden Sinn Ahnungen erweckt, aber Schau
der zugleich durch die abſchreckende Form . Aeſchylus wurde an
geklagt, in ſeinen Tragödien die Myſterien entweiht zu haben .
Die unbeſtimmten Vorſtellungen und Symbole der Myſterien , wo
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 303
das Bedeutungsvolle nur geahnt iſt, find das den klaren reinen
Geſtalten Heterogene und drohen denſelben den Untergang, wed :
halb die Götter der Kunſt von den Göttern der Myſterien ge
trennt bleiben , und beide Sphären ſtreng auseinandergehalten
werden müffen . Die meiſten Götter haben die Griechen aus der
Fremde her erhalten , wie es Herodot ausdrücklich von Aegypten
erzählt, aber dieſe fremden Mythen ſind von den Griechen um
gebildet und vergeiſtigt worden , und was von den ausländiſchen
Theogonieen mit herüber kam , das wurde in dem Munde der
Hellenen zu einer Geſchichte , die oft eine üble Nachrede für die
Götter war, verarbeitet. So ſind auch die Thiere , die noch bei
den Aegyptern als Götter gelten , bei den Griechen zu äußerlichen
Zeichen herabgeſeßt , die neben den geiſtigen Gott treten . Mit
den Beſonderheiten ihres Charakters zugleich werden die griechi
ſchen Götter als menſchlich vorgeſtellt , und dieſer Anthropomor :
phismus wird für ihren Mangel ausgegeben . Hiergegen iſt nun
ſogleich zu ſagen , daß der Menſch , als das Geiſtige , das Wahr
hafte an den griechiſchen Göttern ausmacht, wodurch ſie über alle
Naturgötter und über alle Abſtractionen des Einen und höchſten
Weſens zu ſtehen kommen . Andererſeits wird es auch als ein
Vorzug der griechiſchen Götter angegeben , daß ſte als Menſchen
vorgeſtellt werden , während dem chriſtlichen Gott dieß fehlen
ſolle. Schiller ſagt :
Da die Götter menſchlicher noch waren ,
Waren Menſchen göttlicher.
Aber die griechiſchen Götter ſind nicht als menſchlicher wie der
chriſtliche Gott anzuſehen . Chriſtus iſt viel mehr Menſch : ér
lebt, ſtirbt, leidet den Tod am Kreuze , was unendlich menſchlicher
iſt , als der Menſch der griechiſchen Schönheit. Was nun aber
die griechiſche und chriſtliche Religion gemeinſchaftlich betrifft , ſo
iſt von beiden zu ſagen , daß wenn Gott erſcheinen ſoll, ſeine
Natürlichkeit die des Geiſtes feyn müſſe, was für die ſinnliche
Vorſtellung weſentlich der Menſch iſt, denn keine andere Geſtalt
304 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt .
vermag es , als Geiſtiges aufzutreten . Gott erſcheint zwar in
der Sonne, in den Bergen , in den Bäumen , in allem Lebendis
gen , aber dieß natürliche Erſcheinen iſt nicht die Geſtalt des
Geiſtes: Gott iſt dann vielmehr nur im Inneren des Subjects
wahrnehmbar. Sol Gott felbft in einem entſprechenden Aus
druck auftreten , ſo kann dieſes nur die menſchliche Geſtalt ſeyn :
denn aus dieſer ſtrahlt das Geiſtige hervor. Wenn man aber
fragen wollte, muß Gott erſcheinen ? ſo würde dieſes nothwendig
bejaht werden müſſen , denn nichts iſt weſentlich , was nicht er
ſcheint. Der wahrhafte Mangel der griechiſchen Religion , gegen
die chriftliche gehalten , iſtnun , daß in ihr die Erſcheinung die
höchſte Weiſe , überhaupt das Ganze des Göttlichen ausmacht,
während in der chriſtlichen Religion das Erſcheinen nur als ein
Moment des Göttlichen angenommen wird. Der erſcheinende
Gott iſt hier geſtorben , iſt als ſich aufhebend geſeßt; erft als ge
ſtorben iſt Chriſtus fißend an der Rechten Gottes dargeſtellt.
Der griechiſche Gott iſt dagegen für die Hellenen in der Erſchei
nung perennirend, nur im Marmor , im Metall oder Holz , oder
in der Vorſtellung als Bild der Phantaſte. Warum aber iſt
Gott ihnen nicht im Fleiſche erſchienen ? Weil der Menſch nur
galt , Ehre und Würde nur hatte , als zur Freiheit der ſchönen
Erſcheinung herausgearbeiteter und gemachter ; die Form und Ges
ſtaltung der Göttlichkeit blieb ſomit eine vom beſonderen Sub
jecte erzeugte. Das iſt das Eine Element im Geiſte, daß er
fich hervorbringt, daß er ſich zu dem macht, was er iſt; das
andere aber iſt, daß er urſprünglich frei und die Freiheit ſeine
Natur und ſein Begriff iſt. Die Griechen aber , weil ſie ſich
noch nicht denkend erfaßten , kannten noch nicht den Geiſt in ſei
ner Algemeinheit, noch nicht den Begriff des Menſchen und die
an ſich ſeyende Einheit der göttlichen und menſchlichen Natur
nach der chriſtlichen Idee. Erſt der in ſich gewiſſe, innere Geiſt
kann es ertragen , die Seite der Erſcheinung frei zu entlaſſen ,
und hat dieſe Sicherheit, einem Dieſen die göttliche Natur anzu
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 305
vertrauen . Er braucht nicht mehr die Natürlichkeit in das Gei
ftige einzubilden , um das Göttliche feſtzuhalten und die Einheit
äußerlich anſchaubar zu haben , ſondern indem der freie Gedanke
das Aeußerliche denkt, fann er es laſſen wie es iſt; denn er denkt
dieſe Vereinigung des Endlichen und Unendlichen , und weiß fie
nicht als zufällige Vereinigung, ſondern als das Abſolute, die
ewige Idee ſelbſt. Weil die Subjectivität vom griechiſchen Geiſt
noch nicht in ihrer Tiefe erfaßt iſt, ſo iſt die wahrhafte Verſöh
nung in ihm noch nicht vorhanden , und der menſchliche Geiſt
noch nicht abſolut berechtigt. Dieſer Mangel hat ſich ſchon darin
gezeigt, daß über den Göttern als reine Subjectivität das Fatum
ſteht; er zeigt fich auch darin , daß die Menſchen ihre Entſchlüſſe
noch nicht aus ſich ſelbſt, ſondern von ihren Orakeln hernehmen .
Menſchliche wie göttliche Subjectivität nimmt noch nicht, als
unendliche, die abſolute Entſcheidung aus ſich ſelbſt.
Drittes Capitel.
Das politiſche Kunſtwerk.
: Der Staat vereinigt die beiden eben betrachteten Seiten des
ſubjectiven und objectiven Kunſtwerfs. In dem Staat iſt der
Geiſt nicht nur Gegenſtand als göttlicher , nicht nur zur ſchönen
Körperlichkeit ſubjectiv ausgebildet, ſondern es iſt lebendiger all
gemeiner Geiſt, der zugleich der ſelbſtbewußte Geift der einzelnen
Individuen iſt.
Nur die demokratiſche Verfaſſung war für dieſen Geiſt
und für dieſen Staat geeignet. Wir haben den Despotismus
im Orient in glänzender Ausbildung als eine dem Morgenland
entſprechende Geſtaltung geſehen ; nicht minder iſt die demokratiſche
Form in Griechenland die welthiſtoriſche Beſtimmung. In Grie
Philoſophie o . Geſchichte. 3 . Aufl. 20
306 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
chenland iſt nämlich die Freiheit des Individuums vorhanden , aber
fie iſt noch nicht zu der Abſtraction gefommen , daß das Subject
ſchlechthin vom Subſtantiellen , dem Staate als ſolchen , abhängt,
ſondern in ihr iſt der individuelle Wille in ſeiner ganzen Leben
digkeit frei und nach ſeiner Beſonderheit die Bethätigung des
Subſtantiellen . In Rom werden wir dagegen die ſchroffe Herr
ſchaft über die Individuen fehen , ſowie im germaniſchen Reiche
die Monarchie, in welcher das Individuum nicht nur am Mo
narchen , ſondern an der ganzen monarchiſchen Organiſation Theil
nimmt und mit thätig iſt.
Der demokratiſche Staat iſt nicht patriarchaliſch , ruht nicht
auf dem noc , ungebildeten Vertrauen , ſondern es gehören Ge
ſeße, ſowie das Bewußtſeyn der rechtlichen und ſittlichen Grund
lage dazu , ſowie daß dieſe Gefeße als poſitiv gewußt werden .
Zur Zeit der Könige war in Hellas noch kein politiſches Leben ,
und alſo auch nur geringe Spuren von Geſeßgebung. In dem
Zwiſchenraum aber , vom trojaniſchen Kriege bis gegen die Zeit
des Cyrus , trat das Bedürfniß derſelben ein . Die erſten Geſeka
geber ſind unter dem Namen der ſieben Weiſen bekannt, wor
unter noch keine Sophiften und Lehrer der Weisheit zu verſtehen
find, die mit Bewußtſeyn das Richtige und Wahre vorgetragen
hätten , ſondern nur denkende Menſchen , deren Denken aber nicht
bis zur eigentlichen Wiſſenſchaft fortgeſchritten war. Es find
praktiſch politiſche Männer ; und von den guten Rathſchlägen ,
welche zwei derſelben , Thales von Milet und Bias von Priene,
den joniſchen Städten gaben , iſt ſchon früher geſagt worden .
Solon wurde ſo von den Athenern beauftragt, ihnen Gefeße zu
geben , da die vorhandenen nichtmehr genügten . Solon gab den
Athenern eine Staatsverfaſſung, wodurch Alle gleiche Rechte befa
men , ohne daß jedoch die Demokratie eine ganz abſtracte gewor
den wäre. Das Hauptmoment der Demokratie iſt ſittliche Ges
ſinnung. Die Jugend iſt die Grundlage der Demokratie, ſagt
Montesquieu ; dieſer Ausſpruch iſt eben ſo wichtig als wahr in
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 307
Bezug auf die Vorſtellung , welche man ſich gewöhnlich von der
Demokratie macht. Dem Individuum iſt hier das Subſtantielle
des Rechts , die Staatsangelegenheit, das allgemeine Intereſſe
das Weſentliche ; aber es iſt dieß als Sitte , in der Weiſe des
objectiven Willens, ſo daß die Moralität im eigentlichen Sinne,
die Innerlichkeit der Ueberzeugung und Abſicht noch nicht vor
handen iſt. Das Gefeß iſt da , ſeinem Inhalte nach als Gefeß
der Freiheit und vernünftig, und es gilt, weil es Gefeß ift, nach
ſeiner Unmittelbarkeit. Wie in der Schönheit noch das Natur
element, im Sinnlichen derſelben , vorhanden iſt, ſo auch find in
dieſer Sittlichkeit die Gefeße in der Weiſe der Naturnothwendiga
feit. Die Griechen bleiben in der Mitte der Schönheit und
erreichen noch nicht den höheren Standpunkt der Wahrheit. In
dem Sitte und Gewohnheit die Form iſt , in welcher das Rechte
gewollt und gethan wird, ſo iſt ſie das Feſte und hat den Feind
der Unmittelbarkeit, die Reflerion und Subjectivität des Willens
noch nicht in fich . Es fann daher das Intereſſe des Gemein
weſens in den Willen und Beſchluß der Bürger gelegt bleiben ,
- und dieß muß die Grundlage der griechiſchen Verfaſſung ſeyn ;
denn es iſt noch kein Princip vorhanden , welches der wollenden
Sittlichkeit entgegenſtreben und ſie in ihrer Verwirklichung hin
dern könnte. Die demokratiſche Verfaſſung iſt hier die einzig
mögliche : die Bürger ſind ſich des Particularen , hiemit auch des
Böſen , noch nicht bewußt; der objective Wille iſt ungebrochen in
ihnen . Athene die Göttin iſt Athen ſelbſt, d. h. der wirkliche
und concrete Geiſt der Bürger. Der Gott hört nur auf in ih
nen zu ſeyn , wenn der Wille in fich , in ſein Adyton des Wiſſens
und Gewiffens zurückgegangen iſt und die unendliche Trennung
des Subjectiven und Objectiven geſeßt hat. Dieß iſt die wahr
hafte Stellung der demokratiſchen Verfaffung: ihre Berechtigung
und abſolute Nothwendigkeit beruht auf dieſer noch immanenten
objectiven Sittlichkeit. In den modernen Vorſtellungen von der
Demokratie liegt dieſe Berechtigung nicht : die Intereſſen der Ge:
20 *
308 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
meine, die öffentlichen Angelegenheiten ſollen von dem Volfe be
rathichlagt und beſchloſſen werden ; die Einzelnen ſollen Rath
ſchlagen , ihre Meinung vortragen , ihre Stimmen abgeben ; und
zwar darum , weil das Staatsintereſſe und die öffentlichen An
gelegenheiten die ihrigen ſeyen . Alles dieß iſt ganz richtig ; aber
der weſentliche Umſtand und Unterſchied liegt darin , wer dieſe
Einzelnen ſind. Abſolute Berechtigung haben ſie nur, inſofern
ihr Wille noch der objective Wille iſt, nicht dieſes oder jenes
will , nicht bloß guter Wille. Denn der gute Wille iſt etwas
Particulares , ruht auf der Moralität der Individuen , auf ihrer
Ueberzeugung und Innerlichkeit. Gerade die ſubjective Freiheit,
welche das Princip und die eigenthümliche Geſtalt der Freiheit
in unſrer Welt, welche die abſolute Grundlage unſeres Staats
und unſereg religiöſen Lebens ausmacht , konnte für Griechenland
nur als das Verderben auftreten . Die Innerlichkeit lag dem
griechiſchen Geiſt nahe, er mußte bald dazu kommen ; aber fie
ſtürzte ſeine Welt ins Verderben , denn die Verfaſſung war nicht
auf dieſe Seite berechnet, und kannte dieſe Beſtimmung nicht,
weil ſie nicht in ihr vorhanden war. Von den Griechen in der
erſten und wahrhaften Geſtalt ihrer Freiheit können wir behaup
ten , daß ſie kein Gewiſſen hatten : bei ihnen herrſchte die Ge
wohnheit für das Vaterland zu leben , ohne weitere Reflerion.
Die Abſtraction eines Staates , der für unſeren Verſtand das
Weſentliche iſt, kannten ſie nicht , ſondern ihnen war der Zweck
das lebendige Vaterland : dieſes Athen , dieſes Sparta , dieſe Tem
pel, dieſe Altäre, dieſe Weiſe des Zuſammenlebens, dieſer Kreis
von Mitbürgern , dieſe Sitten und Gewohnheiten . Dem Grie
chen war das Vaterland eine Nothwendigkeit, ohne die er nicht
leben konnte. Die Sophiſten , die Lehrer der Weisheit, waren
es erſt, welche die ſubjective Reflerion und die neue Lehre auf
brachten , die Lehre, daß Jeder nach ſeiner eigenen Ueberzeugung
handeln müſſe. Sobald die Reflerion eintritt , ſo hat Jeder feine
eigene Meinung , man unterſucht, ob das Recht nicht verbeſſert
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 309
| 4 t 3 : At.
Wir haben Athen ſchon als eine Freiſtätte für die Einwohs
ner der anderen Gegenden Griechenlands kennen gelernt, in der
ſich ein ſehr vermiſchtes Volk zuſammenfand. Die unterſchiede
nen Richtungen der menſchlichen Betriebſamkeit , Aderbau , Ge
werbe , Handel, vornehmlich zur See , vereinigten ſich in Athen ,
gaben aber zu vielem Zwieſpalte Anlaß. Ein Gegenſaß von
alten und reichen Geſchlechtern und von ärmeren hatte ſich früh
zeitig gebildet. Drei Partheien , deren Unterſchied auf die Loca
lität und damit zuſammenhängende Lebensweiſe gegründet war,
ſtellten ſich dann feſt: Die Pediäer, die Ebenenbewohner , die
Reichen und Ariſtokraten ; die Diafrier, Bergbewohner , Wein
und Delbauer und Hirten , — die Zahlreichſten ; zwiſchen Beiden
ſtanden die Paraler , die Küſtenbewohner , die Gemäßigten . Der
politiſche Zuſtand ſchwankte zwiſchen Ariſtokratie und Demokratie,
Solon bewirkte durch ſeine Eintheilung in vier Vermögensklaſſen
ein Temperament zwiſchen dieſen Gegenfäßen ; ſte alle zuſam - ·
men machten die Volksverſammlung zur Berathung und zum
Beſchluß der öffentlichen Angelegenheiten aus ; den drei oberen
Klaſſen aber waren die obrigkeitlichen Aemter vorbehalten . Merk
würdig iſt es , daß noch zu Solons Lebzeiten , ſogar bei ſeiner
Anweſenheit und troß ſeines Widerſpruchs Piſiſtratus fich der
Oberherrſchaft bemächtigte; die Verfaſſung war gleichſam noch
316 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
nicht in Blut und Leben übergegangen , ſie war noch nicht die
Gewohnheit der fittlichen und bürgerlichen Eriſtenz geworden .
Noch merkwürdiger aber iſt, daß Piſiſtratus nichts an der Ge
reßgebung änderte , daß er , angeklagt , ſich ſelber vor den
Areopag ſtellte. Die Herrſchaft des Piſiſtratus und ſeiner Söhne
ſcheint nothwendig geweſen zu ſeyn, um die Macht der Familien
und Factionen zu unterdrücken , um ſie an Ordnung und Frieden ,
die Bürger aber an die ſoloniſche Gefeßgebung zu gewöhnen .
Als dieſes erreicht war, mußte die Herrſchaft für überflüſſig gel
ten und die Geſeße der Freiheit in Widerſpruch mit der Macht
der Piſiſtratiden treten . Die Piſiſtratiden wurden vertrieben ,
Hipparch getödtet und Hippias verbannt. Nun ftanden aber
wieder Partheien auf: die Alkmäoniden , welche an der Spiße
der Inſurrection ſtanden , begünſtigten die Demokratie ; die Spar
taner dagegen unterſtüzten die Gegenparthei des Iſagoras, welche
eine ariſtokratiſche Richtung verfolgte. Die Alkmäoniden , an ihs
rer Spiße Kliſthenes , behielten die Oberhand. Dieſer machte
die Verfaſſung noch demokratiſcher als ſie war ; die gulai, deren
bisher nur vier geweſen , wurden auf zehn vermehrt, und dieß hatte
die Wirkung, daß der Einfluß der Geſchlechter vermindert wurde.
Endlich hat Perikles die Staatsverfaſſung noch demokratiſcher
gemacht, indem er den Areopag in ſeiner weſentlichen Bedeu
tung ſchmälerte, und die Geſchäfte , welche demſelben bisher an
gehört hatten , an das Volk und an die Gerichte brachte. Pe
rifles war ein Staatsmann von plaſtiſchem antiken Charakter :
als er ſich dem Staatsleben widmete , that er auf das Privat
leben Verzicht, von allen Feſten und Gelagen -zog er ſich zurück,
und verfolgte unaufhörlich ſeinen Zweck, dem Staate nüßlich zu
ſeyn , wodurch er zu ſo großem Anſehn gelangte, daß ihu Ariſto
phanes den Zeus von Athen nennt. Wir können nicht umhin
ihn aufs höchſte zu bewundern : er ſtand an der Spiße eines
leichtſinnigen , aber höchſt feinen und durchaus gebildeten Volfes ;
das einzige Mittel, Macht und Autorität über daſſelbige zu er
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtalt. der ſchönen Individualität. — Athen. 317
langen , war ſeine Perſönlichkeit und die Ueberzeugung , die er
von fich gab, daß er ein durchaus edler, allein auf das Wohl
des Staates bedachter Mann ſey , ſowie daß er den übrigen durch
Geiſt und Kenntniſſe überlegen wäre. Nach der Seite der Macht der
Individualität hin können wir keinen Staatsmann ihm gleichſtellen .
In der demokratiſchen Verfaſſung iſt überhaupt der Entwicke
lung großer politiſcher Charaktere am meiſten Raum gegeben ; denn
fie vornehmlich läßt die Individuen nicht nur zu , ſondern fordert
fte auf, ihr Talent geltend zu machen ; zugleich aber kann der
Einzelne fich nur geltend machen , wenn er den Geiſt und die
Anſicht, ſo wie die Leidenſchaft und den Leichtſinn eines gebilde
ten Volfs zu befriedigen weiß.
In Athen war eine lebendige Freiheit vorhanden ,und eine le
bendige Gleichheit der Sitte und der geiſtigen Bildung, undwenn
Ungleichheit des Vermögens nicht ausbleiben konnte , ſo ging die
ſelbe nicht zum Ertreme über. Neben dieſer Gleichheit und in
nerhalb dieſer Freiheit konnte ſich alle Ungleichheit des Charaf
ters und des Talents , alle Verſchiedenheit der Individualität
auf's freieſte geltend machen und aus der Umgebung die reichſte
Anregung zur Entwickelung finden ; denn im Ganzen waren die
Momente des atheniſchen Weſens Unabhängigkeit der Einzelnen
und Bildung beſeelt vom Geifte der Schönheit. Auf die Ver
anſtaltung des Perikles hin ſind dieſe ewigen Denkmäler der
Sculptur hervorgebracht worden , deren geringe Ueberreſte die
Nachwelt in Erſtaunen ſeßen ; vor dieſem Volfe find die Dra
men des Aeſchylus und Sophokles vorgeſtellt worden , ſowie
ſpäter die des Euripides, welche aber nicht mehr denſelben pla
ſtiſchen fittlichen Charakter an ſich tragen , und in denen ſich
ſchon mehr das Princip des Verderbens zu erkennen giebt. An
dieſes Volk waren die Reden des Perikles gerichtet, aus ihm
erwuchs ein Kreis von Männern , die klaſſiſche Naturen für alle
Jahrhunderte geworden ſind, denn zu ihnen gehören außer den
genannten , Thucydides, Sokrates , Plato , ferner Ariſtophanes,
318 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
der den ganzen politiſchen Ernſt feines Volkes zur Zeit des
Verderbens in fich bewahrte, und durchaus in dieſem Ernſt für
das Wohl des Vaterlandes geſchrieben und gedichtet hat. Wir
erkennen in den Athenern eine große Betriebſamkeit, Regſamkeit,
Ausbildung der Individualität innerhalb des Kreiſes eines ſittli
chen Geiſtes . Der Tadel, der ſich bei Xenophon und Plato
über dieſelben vorfindet , geht mehr auf die ſpäteren Zeiten , wo
das Unglück und Verderben der Demokratie ſchon gegenwärtig
war. Wenn wir aber ein Urtheil der Alten über das politiſche
S p a r t a.
Hier ſehen wir dagegen die ſtarre abſtracte Tugend , das
Leben für den Staat, aber ſo , daß die Regſamkeit , die Freiheit
der Individualität zurückgeſeßt iſt. Die Staatsbildung Spar
tas beruht auf Anſtalten , welche vollkommen das Intereſſe des
Staates ſind, die aber nur die geiſtloſe Gleichheit und nicht
die freie Bewegung zum Ziel haben. Schon die Anfänge
Sparta 's find ſehr verſchieden von denen Athens. Die Spar
taner waren Dorer , die Athenienſer Jonier , und dieſer nationale
Unterſchied macht ſich auch rückſichtlich der Verfaſſung geltend.
Was die Entſtehungsweiſe von Sparta betrifft , ſo drangen die
Dorer mit den Herakliden in den Peloponnes ein , unterjochten
die einheimiſchen Völkerſchaften und verdammten ſie zur Scla :
verei , denn die Heloten waren ohne Zweifel Eingeborne. Was
den Heloten widerfahren war, widerfuhr ſpäter den Meſſeniern ,
denn eine ſo unmenſchliche Härte lag in dem Charakter der
Spartaner . Während die Athener ein Familienleben hatten ,
während die Sclaven bei ihnen Hausgenoſſen waren , war das
Verhältniß der Spartaner zu den Unterjochten noch härter , als
das der Türken gegen die Griechen ; es war ein beſtändiger
Kriegszuſtand in Lacedämon . Beim Antritt ihres Amtes gaben
die Ephoren eine völlige Kriegserklärung gegen die Heloten , und
dieſe waren fortivährend zu Kriegsübungen für die jüngeren
Spartaner preisgegeben . Die Heloten wurde einige Male frei
gelaſſen und kämpften gegen die Feinde: es hielten fich auch
dieſelben in den Reihen der Spartaner außerordentlich tapfer ;
320 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
als ſie aber zurückfehrten , wurden fte auf die feigſte und hinter
liſtigſte Weiſe niedergemeßelt. Wie auf einem Sclavenſchiff die
Befaßung beſtändig bewaffnet iſt, und die größte Vorſicht ges
braucht wird , um eine Empörung zu verhindern , ſo waren die
Spartaner auf die Heloten immer aufmerkſam , ſtets in dem Zu
ſtande des Krieges , wie gegen Feinde.
Das Grundeigenthum wurde ſchon von Lykurg , wie Plu
tarch erzählt, in gleiche Theile getheilt, wovon 9000 allein auf
die Spartaner , das heißt die Einwohner der Stadt, und 30000
auf die Lacedämonier oder Periöken kamen . Zu gleicher Zeit wurde
zum Behuf der Erhaltung der Gleichheit feſtgeſeßt, daß die
Grundſtücke nicht verkauft werden durften . Aber wie geringe
Erfolge eine ſolche Veranſtaltung hat, beweiſt der Umſtand , daß
Lacedämon in der Folge beſonders wegen der Ungleichheit des
Beſißes herunterkam . Da die Töchter erbten , ſo waren
durch Heirathen viele Güter in den Beſitz weniger Familien ge
langt, und zuleßt befand ſich alles Grundeigenthum in den
Händen Einiger , gleichſam um zu zeigen , wie thöricht es ſey ,
eine Gleichheit auf gezwungene Weiſe veranſtalten zu wollen ,
welche, ſo wenig fie eine Wirkſamkeit hat, noch dazu die we
ſentlichſte Freiheit, nämlich die Dispoſition über das Eigenthum ,
vernichtet. Ein anderes merkwürdiges Moment der lykurgis
ſchen Geſebgebung iſt, daß Lykurg alles andere Geld , als das
VD
von Eiſen , verbot, was nothwendig eine Aufhebung alles Be
triebes und Handels nach außen hin nach ſich zog. Ebenſo hat
ten die Spartaner keine Seemacht, die allein den Handel unter
ſtüßen und begünſtigen konnte , und wenn ſie einer ſolchen be
- durften , ſo wandten ſie ſich an die Perſer.
Zur Gleichheit der Sitten und zur näheren Bekanntſchaft
der Bürger unter einander ſollte beſonders beitragen , daß die
Spartaner gemeinſchaftlich ſpeiſten , durch welche Gemeinſamkeit
aber das Familienleben hintenan geſeßt war; denn Eſſen und
Trinken iſt eine Privatſache und gehört damit dem Inneren des
Zweiter Abjūnitt. Die Geſt. D. ſchönen Individual. – Sparta. 321
Hauſes an . So war es bei den Athenern : bei ihnen war der
Verkehr nicht materiell, ſondern geiſtig , und ſelbſt die Gaſtmahle,
wie wir aus Xenophon und Plato ſehen , waren geiſtiger Art.
Bei den Spartanern dagegen wurden die Koſten des gemeine
ſchaftlichen Eſſens durch die Beiträge der Einzelnen gedeckt, und
wer zu arm war einen Beitrag zu liefern , war dadurch aus
geſchloſſen .
Was nun die politiſche Verfaffung Spartas betrifft, ſo war
die Grundlage wohl demokratiſch, aber mit ſtarken Modificationen ,
die fie faſt zur Ariſtokratie und Dligarchie machten . An der
Spiße des Staates ſtanden zwei Könige, neben ihnen beſtand
ein Senat (yepovola ), der aus den Beſten gewählt wurde und
auch die Functionen eines Gerichtshofes verſah , wobei er mehr
nach fittlichen und rechtlichen Gewohnheiten , als nach geſchriebes
nen Geſeßen entſchied * ). Außerdem war die yepovola auch
noch die oberſte Regierungsbehörde, der Rath Der Könige, dem
die wichtigſten Angelegenheiten unterlagen . Endlich war eine der
höchſten Magiſtraturen die der Ephoren , über deren Wahl wir
feine beſtimmten Nachrichten erhalten haben ; Ariſtoteles ſagt,
die Art der Wahl fey gar zu findiſch . Durch Áriſtoteles ſind
wir davon unterrichtet, daß auch Leute ohne Adel, ohne Vermös
gen zu dieſer Magiſtratur gelangen konnten . Die Ephoren bes
faßen die Vollmacht Volksverſammlungen zuſammenzuberufen , ab
ſtimmen zu laſſen , Geſeße vorzuſchlagen , ungefähr wie die tri
buni plebis in Rom . Ihre Gewalt wurde tyranniſch , der ähn
lich , welche Robespierre und ſeine Anhänger eine Zeit lang in
Frankreich ausgeübt haben .
Indem die Lacedämonier durchaus ihren Geiſt auf den
Dritter Abſchnitt.
Der Untergang des griechiſchen Geiſtes.
Dieſe dritte Periode der Geſchichte der helleniſchen Welt,
welche die ausführliche Entwickelung des Unglücks Griechen
lands enthält, intereſſirt uns weniger. Die ehemaligen Feld
herrn Alerander's , nunmehr als Könige ſelbſtſtändig auftretend,
führten lange Kriege gegen einander und erfuhren faſt alle die
abentheuerlichſten Umwälzungen des Schickſals. Namentlich aus
gezeichnet und hervorſtechend iſt in dieſer Hinſicht das Leben des
Demetrius Poliorcetes.
In Griechenland waren die Staaten in ihrem Beſtehen ge
blieben : von Philipp und Alerander zum Bewußtſeyn ihrer
Schwäche gebracht, friſteten ſte noch ein ſcheinbares Leben und
brüſteten ſich mit einer unwahren Selbſtſtändigkeit. Das Selbſt
gefühl, das die Unabhängigkeit giebt, fonnten ſie nicht haben ,
und es traten diplomatiſche Staatsmänner an die Spiße der
Staaten , Redner , die nicht mehr zugleich Feldherrn , wie z. B .
Perikles , waren . Die griechiſchen Länder ſtehen nunmehr in eis
nem mannigfachen Verhältniß zu den verſchiedenen Königen , die
ſich noch immer um den Befiß der Herrſchaft in den griechiſchen
Staaten , zum Theil auch um ihre Gunft, beſonders um die .
Athen’s bewarben ; denn Athen imponirte immer noch, wenn auch
nicht als Macht , doch als Mittelpunkt der höheren Künſte und
Wiſſenſchaften , beſonders der Philoſophie und der Beredſamkeit.
Es erhielt ſich auch mehr außerhalb der Schwelgerei, der Roh
heit und der Leidenſchaften , die in den anderen Staaten herrſchs
ten und ſie verächtlich machten , und die fyriſchen und ägypti
fchen Könige rechneten es ſich zur Ehre , Athen große Geſchenke
an Rorn und ſonſtigen nüßlichen Vorräthen zu machen . Zum
336 Zweiter Theil. Die griechiſớe Welt.
Theil fekten auch die Könige ihren vornehmſten Ruhm darein ,
die griechiſchen Städte und Staaten unabhängig zu machen und . .
zu erhalten . Die Befreiung Oriechenlands war gleichſam
das allgemeine Schlagwort geworden , und für einen hohen Titel
des Ruhms galt es , Befreier Griechenlands zu heißen . Geht
man auf den inneren politiſchen Sinn dieſes Wortes ein , ſo
war damit gemeint, daß kein einheimiſcher griechiſcher Staat zu
einer bedeutenden Herrſchaft gelangen ſollte, und daß man ſie
insgeſammt durch Trennung und Auflöſung in Ohnmacht erhals
ten wollte.
Die beſondere Eigenthümlichkeit, wodurch ſich die griechiſchen
Staaten unterſchieden , war eine verſchiedene, wie die der ſchönen
Götter , deren Jeder ſeinen beſonderen Charakter und beſonderes
Daſeyn hat, doch ſo , daß dieſe Beſonderheit ihrer gemeinſamen
Göttlichkeit keinen Eintrag thut. Indem nun dieſe Göttlichkeit
ſchwach geworden und aus den Staaten entwichen iſt, ſo bleibt
nur die trockene Particularität übrig , die häßliche Beſonderheit,
die ſich hartnädig und eigenſinnig auf fich hält, und die eben
damit ſchlechthin in die Abhängigkeit und den Conflict mit an
dern geſtellt iſt. Doch führte das Gefühl der Schwäche und
des Elends zu vereinzelten Verbindungen . Die Aetolier und ihr
Bund, als ein Räubervolf, machten Ungerechtigkeit, Gewaltthätig
keit, Betrug und Anmaßung gegen Andere zu ihrem Staatsrecht.
Sparta wurde von ſchändlichen Tyrannen und gehäſſigen Lei
denſchaften beherrſcht und war dabei von den macedoniſchen Kö
nigen abhängig. Die böotiſche Subjectivität war nach Erlö
ſchung des Thebaniſchen Glanzes zur Trägheit und gemeinen
Sucht des rohen ſinnlichen Genuſſes herabgeſunken . Der achåi
ſche Bund zeichnete ſich durch den Zweck ſeiner Verbindung
( Vertreibung der Tyrannen ) , durch Rechtlichkeit und den Sinn ·
. der Gemeinſamkeit aus. Aber auch er mußte zu der verwickelt
ften Politik feine Zuflucht nehmen . Was wir hier im Ganzen
ſehen , iſt ein diplomatiſcher Zuſtand , eine unendliche Verwick
Dritter Abſchnitt. Der Untergang des griechiſchen Geiſtes. 337
lung mit den mannichfaltigften auswärtigen Intereſſen , ein fünft
liches Gewebe und Spiel , deſſen Fäden immer neu combinirt
werden .
Bei dem inneren Zuſtande der Staaten , welche,durch Selbft
ſucht und Schwelgerei entkräftet, in Factionen zerriſſen ſind, deren
jede fich wieder nach außen wendet und mit Verrath des Vas
terlandes um die Gunſt der Könige bettelt, iſt das Intereſſante
nicht mehr das Schickſal dieſer Staaten , ſondern die großen
Individuen , die bei der allgemeinen Verdorbenheit aufſtehen
und edel fich ihrem Vaterlandeweihen ; ſie erſcheinen als große
tragiſche Charaktere, die durch ihr Genie und die angeſtrengteſte
Bemühung die Uebel doch nicht auszurotten vermögen , und gehen
im Kampfe unter, ohne die Befriedigung gehabt zu haben , dem
Vaterlande Nuhe, Drdnung und Freiheit wiederzugeben , auch
ohne ihr Andenken rein für die Nachwelt erhalten zu haben .
Livius ſagt in ſeiner Vorrede: „ In unſeren Zeiten können wir
weder unſere Fehler , noch die Mittel gegen dieſelben ertragen ."
Dieß iſt aber ebenſowohl auf dieſe Legten der Griechen anzu
wenden , welche ein Unternehmen begannen , das ebenſo rühmlich
und ebel war, als es die Gewißheit des Scheiterns in ſich trug.
Agis und Kleomenes , Aratus und Philopömen ſind ſo ihrem
Beſtreben für das Beſte ihrer Nation unterlegen . Plutarch ent
wirft uns ein höchſt charakteriſtiſches Gemälde dieſer Zeiten , in
dem er eine Vorſtellung von der Bedeutung der Individuen in
denſelben giebt.
Die dritte Periode der griechiſchen Geſchichte enthält aber
weiter noch die Berührung mit dem Volfe , welches nach den
Griechen das welthiſtoriſche ſeyn ſollte, und der Haupttitel dieſer
Berührung war wie früher die Befreiung Griechenlands. Nach
dem Perſeus, der lebte macedoniſche König, im Jahre 168 vor
Chr. Geb . von den Römern beſiegt und im Triumph in Rom
eingebracht worden war , wurde der achäiſche Bund angegriffen
und vernichtet , und endlich Korinth im Jahre 146 v . Chr. Geb .
Philoſophie d. Gejwidte. 3. Aufl. 22
338 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
Napoleon , als er einſt mit Göthe über die Natur der Tra
gödie ſprach , meinte , daß ſich die neuere von der alten weſent
lich dadurch unterſcheide , daß wir kein Schickſal mehr hätten ,
dem die Menſchen unterlägen , und daß an die Stelle des alten
Fatums die Politik getreten ſey. Dieſe müſſe fomit als das
neuere Schidjal für die Tragödie gebraucht werden , als die un
widerſtehliche Gewalt der Umſtände, der die Individualität ſich
zu beugen habe. Eine ſolche Gewalt iſt die römiſche Welt ,
dazu auserkoren , die ſittlichen Individuen in Banden zu ſchla
gen , ſowie alle Götter und aưe Geiſter in das Pantheon der
Weltherrſchaft zu verſammeln , um daraus ein abſtract Algemei
nes zu machen . Das eben iſt der Unterſchied des römiſchen
und des perſiſchen Princips, daß das erſtere alle Lebendigkeit
erſtickt, während das leştere dieſelbe im vollſten Maaße beſtehen
ließ . Dadurch daß es der Zweck des Staates iſt, daß ihm die
Individuen in ihrem ſittlichen Leben aufgeopfert werden , iſt die
Welt in Trauer verſenkt: es iſt ihr das Herz gebrochen , und es
iſt aus mit der Natürlichkeit des Geiſtes , die zum Gefühle der
Unſeligkeit gelangt iſt. Doch nur aus dieſem Gefühle konnte.
der überſinnliche, der freie Geiſt im Chriſtenthum hervorgehen .
Im griechiſchen Princip haben wir die Geiſtigkeit in ihrer
Freude, in ihrer Heiterkeit und in ihrem Genuſſe geſehen : der
Geift hatte ſich noch nicht in die Abſtraction zurüdgezogen , er
22 *
340 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
trat ein , indem der Gegenſaß fich zum Widerſpruch in fich und
zur völligen Unverträglichkeit entwickelte ; ſie endigtmit dem Dega
potismus , der die dritte Periode bezeichnet. Die römiſche
Macht erſcheint hier prächtig, glänzend, zugleich aber iſt ſie tief
in fich gebrochen , und die chriftliche Religion , die mit dem Kai
ſerreiche beginnt, erhält eine große Ausdehnung. In die dritte
Periode fällt zuleßt noch die Berührung mit dem Norden und
den germaniſchen Völkern , welche nun welthiſtoriſch werden ſollen .
Erſter Abſchnitt.
Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege.
Erſtes Capitel.
Die Elemente des römiſchen Geiſtes.
wird . Eine andere Weiſe der Erweiterung iſt die , daß die Ein
wohner benachbarter und eroberter Städte nach Rom geſchleppt
wurden . Auch ſpäter noch famen Fremde freiwillig nach Rom ,
wie die ſo berühint gewordene Familie der Claudier mit ihrer
ganzen Clientel. Der Korinther Demaratus aus einer anſehn
lichen Familie hatte ſich in Etrurien niedergelaſſen , wurde aber
da als Verbannter und Fremder wenig geachtet; ſein Sohn
Lucumo konnte dieſe Unwürdigkeit nicht länger ertragen : er be
gab ſich nach Rom , ſagt Livius , weil da ein neues Volk und
eine repentina atque ex virtute nobilitas wäre. Lu
cumo gelangte auch ſogleich zu ſolchem Anſehn , daß er nachher
König wurde.
Dieſe Stiftung des Staates iſt es , welche als die weſent
liche Grundlage für die Eigenthümlichkeit Rom 's angeſehen wer
den muß. Denn ſie führt unınittelbar die härteſte Disciplin
mit fich , ſowie die Aufopferung für den Zweck des Bundes.
Ein Staat, der ſich ſelbſt erſt gebildet hat und auf Gewalt be
ruht , muß mit Gewalt zuſammengehalten werden . Es iſt da
nicht ein fittlicher , liberaler Zuſammenhang, ſondern ein gezwun
gener Zuſtand der Subordination , der ſich aus ſolchem Ur
ſprunge herleitet. Die römiſche virtus iſt die Tapferkeit , aber
nicht bloß die perſönliche, ſondern die ſich weſentlich im Zuſam
menhang der Genoſſen zeigt , welcher Zuſammenhang für das
Höchſte gilt, und mit aller Gewaltthätigkeit verknüpft ſeyn kann .
Wenn nun die Römer ſo einen geſchloſſenen Bund bildeten , ſo
waren ſie zwar nicht, wie die Lacedämonier im inneren Gegen
ſaß mit einem eroberten und unterdrückten Volk ; aber es that
ſich in ihnen der Unterſchied und der Kampf der Patricier
und Plebejer hervor. Dieſer Gegenſaß iſt ſchon mythiſch an
gedeutet in den feindlichen Brüdern , Romulus und Remus. Res
mus iſt auf dem aventiniſchen Berg begraben ; dieſer iſt den üblen
Genien geweiht und dorthin gehen die Seceſſionen der Plebs.
Es iſt nun die Frage, wie ſich dieſer Unterſchied gemacht habe ?
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege. 347
Es iſt ſchon geſagt worden , daß Rom fich durch räuberiſche Hir
ten und den Zuſammenlauf von allerlei Geſindel bildete: ſpäter
wurden auch noch dieBewohner genommener und zerſtörter Städte
dahin geſchleppt. Die Schwächeren , Aermeren , die ſpäter Hin
zugekommenen ſind nothwendig im Verhältniß der Geringſchäßung
und Abhängigkeit gegen die, welche urſprünglich den Staat be
gründet hatten , und die, welche ſich durch Tapferkeit und auch
durch Reichthum auszeichneten . Man hat alſo nicht nöthig , zu
einer in neuerer Zeit beliebten Hypotheſe ſeine Zuflucht zu
nehmen daß die Patricier ein eigener Stamm geweſen ſeyen .
Die Abhängigkeit der Plebejer von den Patriciern wird oft
als eine vollkommen geſebliche dargeſtellt , ia als eine heilige, weil
die Patricier die sacra in den Händen gehabt hätten , die Plebs
aber gleichſam götterlos geweſen wäre. Die Plebejer haben den
Patriciern ihren heuchleriſchen Kram (ad decipiendam plebem .
Cic.) gelaſſen , und ſich nichts aus ihren sacris und Augurien
gemacht ; wenn ſie aber die politiſchen Rechte von denſelben ab
trennten und an ſich riffen , ſo haben ſie ſich damit ebenſo wenig
einer frevelhaften Verlegung des Heiligen ſchuldig gemacht, als
die Proteſtanten , da ſie die politiſche Staatsgewalt befreiten und
die Gewiſſensfreiheit behaupteten . Man muß, wie geſagt, das
Verhältniß der Patricier und Plebejer ſo anſehen , daß die Ar
men und darum Hülfloſen gezwungen waren , ſich an die Reiches
ren und Angeſehneren anzuſchließen und ihr patrocinium nachzu
ſuchen : in dieſem Schußverhältniß der Reicheren heißen die Ge
ſchüßten Clienten. Man findet aber ſehr bald auch wieder die
plebs von den Clienten unterſchieden . Bei den Zwiſtigkeiten
zwiſchen den Patriciern und Plebejern hielten ſich die Clienten
an ihre Patrone, obgleich ſie ebenſogut zur plebs gehörten .
Daß dieſes Verhältniß der Clienten kein rechtliches , geſebliches
Verhältniß war, das geht daraus hervor, daß mit der Einfüh
rung und Renntniß der Geſeße durch alle Stände das Clientel
verhältniß allmählig verſchwand , denn ſobald die Individuen
348 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
Schuß am Gefeße fanden , mußte jene augenblickliche Noth auf
hören .
In dem Räuberanfang des Staates war nothwendig jeder
Bürger Soldat, denn der Staat beruhte auf dem Krieg : dieſe
Laſt war drüdend, da jeder Bürger ſich im Kriege ſelber unter
halten mußte. Es führte dieſer Umſtand nun eine ungeheure
Verſchuldung herbei, in welche die Plebs gegen die Patricier ver
fiel. Mit der Einführung der Geſeße mußte auch dieſes will
kürliche Verhältniß nach und nach aufhören ; denn es fehlte viel,
daß die Patricier ſogleich geneigt geweſen wären , die Plebs
aus dem Verhältniſſe der Hörigkeit zu entlaffen , vielmehr ſollte
noch immer die Abhängigkeit zu ihren Gunſten beſtehen . Die
Gefeße der zwölf Tafeln enthielten noch viel Unbeſtimmtes, der
Wilfür des Richters war noch ſehr viel überlaſſen ; Richter aber
waren nurdie Patricier ; und ſo dauert denn der Gegenſaß zwiſchen
Patriciern und Plebejern noch lange fort. Allmählig erſt erſteigen
die Plebejer alle Höhen und gelangen zu den Befugniſſen , die
früher allein den Patriciern zuſtanden .
Im griechiſchen Leben , wenn es auch nicht aus dem pas
triarchaliſchen Verhältniß hervorgegangen iſt, war doch Fami
lien - Liebe und Familien - Band in ſeinem erſten Urſprung vor
handen , und der friedliche Zweck des Zuſammenſeyns hatte die
Austilgung der Räuber zur See und zu land zur Bedingung.
Die Stifter Rom 's dagegen , Romulus und Remus, find, nach
der Sage, ſelbſt Räuber und von Anfang aus der Familie aus
geſtoßen und nicht in der Familienliebe groß geworden . Ebenſo
haben die erſten Römer ihre Frauen nicht durch freies Werben
und Zuneigung, ſondern durch Gewalt erlangt. Dieſer Anfang des
römiſchen Lebens in verwilderter Rohheit, mit Ausſchluß der Em
pfindungen der natürlichen Sittlichkeit, bringt das Eine Element
deſſelben mit ſich, die Härte gegen das Familienverhältniß , eine
ſelbſtiſche Härte,welche die Grundbeſtimmung der römiſchen Sitten
und Geſeße für die Folge ausmachte. Wir finden alſo beiden Römern
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege. 349
das Familienverhältniß nicht als ein ſchönes freies Verhältniß
der Liebe und der Empfindung, ſondern an die Stelle des Zu
trauens tritt das Princip der Hårte , der Abhängigkeit und der
Unterordnung. Die Ehe hatte eigentlich in ihrer ſtrengen und
förmlichen Geſtalt ganz die Art und Weiſe eines dinglichen Ver:
hältniſſes : die Frau gehörte in den Beſitz des Mannes (in ma
num conventio ) , und die Heirathsceremonie beruhte auf einer
coemtio , in der Form , wie ſie auch bei jedem andern Kaufe
vorkommen konnte. Der Mann bekam ein Recht über jeine Frau,
wie über ſeine Tochter , nicht minder über ihr Vermögen , und
Alles , was ſie erwarb , erwarb ſie ihrem Mann. In den guten
Zeiten der Republikwurden dieEhen auch durch einereligiöſe Ceres
monie, die confarreatio , geſchloſſen , die aber ſpäter unterlaſſen
wurde. Nicht mindere Gewalt als durch die coemtio erlangte
der Mann , wenn er auf dem Wege des usus heirathete , das
heißt , wenn die Frau im Hauſe des Mannes blieb , ohne in
einem Jahre ein trinoctium abweſend zu ſeyn. Hatte der
Mann nicht in einer der Formen der in manum conventio ges
heirathet, ſo blieb die Frau entweder in der väterlichen Gewalt,
oder unter der Vormundſchaft ihrer Agnaten , und ſie war dem
Manne gegenüber frei. Ehre und Würde erlangte alſo die rö
miſche Matrone nur durch die Unabhängigkeit vom Manne, ſtatt
daß durch den Mann und durch die Ehe ſelbſt die Frau ihre
Ehre haben ſoll. Wollte der Mann nach dem freieren Rechte,
wenn nämlich die Ehe nicht durch die confarreatio geheiligt
war , fich von der Frau ſcheiden laſſen , ſo ſchicte er ſie eben
fort. - Das Verhältniß der Söhne war ganz ähnlich : ſie wa
ren einerſeits der väterlichen Gewalt ungefähr ebenſo unterwor
fen , wie die Frau der ehelichen ; ſte konnten kein Eigenthum ha
ben , und es machte keinen Unterſchied , ob ſie im Staate ein
hohes Amt bekleideten oder nicht (nur die peculia castrensia
und adventitia begründen hier einen Unterſchied), andererſeits
aber waren fte , wenn ſte emancipirt wurden , außer allem Zu
350 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
ſammenhang mit ihrem Vater und ihrer Familie. Als Zeichen ,
wie hier das kindliche Verhältniß mit dem ſclaviſchen zuſammen
geſtelltwurde, fann wohl die imaginaria servitus (mancipium )
dienen , durch welche die emancipirten Kinder zu paſſiren hatten .
- In Beziehung auf die Erbſchaft wäre eigentlich das Sitt
liche , daß die Kinder die Erbſchaft auf gleiche Weiſe theilen .
Bei den Römern tritt aber dagegen die Wilfür des Teſtirens
in ſchrofffter Geſtalt hervor.
So entartet und entſittlicht ſehen wir hier die Grundver
hältniſſe der Sittlichkeit. Der unſittlichen activen Härte der Rö
mer nach dieſer Privat Seite entſpricht nothwendig die paſſive
Härte ihres Verbandes zum Staatszwed . Für die Härte, welche
der Römer im Staate erlitt, war er entſchädigt durch dieſelbe
Härte, welche er nach Seiten ſeiner Familie genoß , — Knecht
auf der Einen Seite , Despot auf der andern . Dieß macht die
römiſche Größe aus, deren Eigenthümlichkeit die harte Starrheit
in der Einheit der Individuen mit dem Staate, mit dem
Staatsgeſeß und Staatsbefehl war. Um von dieſem Geiſt eine
nähere Anſchauung zu erhalten , muß man nicht nur die Hand
lungen der römiſchen Helden , wenn ſie als Soldaten oder Feld
herren gegen den Feind ſtehen , oder als Geſandte auftreten , vor
Augen haben , wie ſie hier mit ganzem Sinn und Gedanken nur
dem Staat und ſeinem Befehle , ohne Wanken und Weichen , an
- gehören , ſondern vornehmlich auch das Betragen der Plebs in
Zeiten der Aufſtände gegen die Patricier. Wie oft iſt die Plebs
im Aufſtande und in der Auflöſung der geſeßlichen Ordnung
durch das bloß Formelle wieder zur Ruhe gebracht und um die
Erfüllung ihrer gerechten nnd ungerechten Forderungen getäuſcht
worden ! Wie oft iſt vom Senat z. B . ein Dictator gewählt
worden , woweder Krieg noch Feindesnoth war, um die Plebejer zu
Soldaten auszuheben und ſie durch den militäriſchen Eid zum ftren
gen Gehorſam zu verpflichten ! Licinius hat zehn Jahre gebraucht,um
Gefeße, die der Plebs günſtig waren ,durchzuſeßen ; durch das Fors
Erſter Abíšnitt. Rom bis zum zweiten puniſøen Kriege. 351
melle des Widerſpruchs anderer Tribunen hat ſie ſich zurückhalten laſ
fen , und noch geduldiger hat ſie die verzögerte Ausführung dieſer
Gefeße erwartet. Man kann fragen, wodurch iſt ſolcher Sinn und
Charakter hervorgebracht worden ? Hervorbringen läßt er ſich
nicht, ſondern er liegt, ſeinem Grundmoment nach , in jener Ent
ftehung aus der erſten Räubergeſellſchaft , und dann in der mit
gebrachten Natur der darin vereinigten Völfer , endlich in der
Beſtimmtheit des Weltgeiſtes , der an der Zeit war. Die Ele:
mente des römiſchen Volfswaren etrusfiſche, lateiniſche, ſabiniſche ;
dieſe mußten die innere natürliche Befähigung zum römiſchen
Geiſte enthalten. Von dem Geiſte, dem Charakter und Leben der
altitaliſchen Völfer wiſſen wir ſehr wenig , — Dank ſeu es der
Geiſtloſigkeit der römiſchen Geſchichtſchreibung ! und das Wenige
zumeiſt durch die Griechen , welche über die römiſche Geſchichte
geſchrieben haben . Von dem allgemeinen Charakter der Römer
aber können wir ſagen , daß gegen jene erſte wilde Poeſie und
Verkehrung alles Endlichen im Orient, gegen die ſchöne harmo
niſche Poeſie und gleichſchwebende Freiheit des Geiſtes der Grie
chen , hier bei den Römern die Profa des Lebens eintritt, das
Bewußtſeyn der Endlichkeit für ſich , die Abſtraction des Verſtan
des und die Härte der Perſönlichkeit, welche ihre Sprödigkeit
ſelbſt nicht in der Familie zu natürlicher Sittlichkeit ausweitet,
ſondern das gemüth - und geiſtloſe Eins bleibt und in abſtracter
Augemeinheit die Einheit dieſer Eins leßt.
Dieſe äußerſte Profa des Geiſtes finden wir in der etruski
ſchen Kunſt, welche bei vollkommener Technik und naturgetreuer
Ausführung aller griechiſchen Idealitätund Schönheit ermangelt;
wir ſehen ſie dann weiter in der Ausbildung des römiſchen
Rechts und in der römiſchen Religion .
Dem unfreien , geiſt- und gemüthloſen Verſtand der römi
ſchen Welt haben wir den Urſprung und die Ausbildung des
· poſitiven Rechts zu verdanken . Wir haben nämlich früher
geſehen , wie im Drient an fich fittliche und moraliſche Verhält
352 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
niffe zu Rechtsgeboten gemacht wurden ; ſelbſt bei den Griechen
war die Sitte zugleich juriſtiſches Recht, und ebendarum war die
Verfaſſung von Sitte und Geſinnung ganz abhängig, und hatte
noch nicht die Feſtigkeit in fich gegen das wandelbare Innere
und die particulare Subjectivität. Die Römer haben nun dieſe
große Trennung vollbracht und ein Rechtsprincip erfunden , das
äußerlich d . H. geſinnungslos und gemüthloß iſt. Wenn ſie uns
damit ein großes Geſchenk, der Form nach , gemacht haben ; ſo
können wir uns deſſen bedienen und es genießen , ohne zum
Opfer dieſes dürren Verſtandes zu werden , ohne es für ſich als
ein Leftes der Weisheit und der Vernunft anzuſehen . Sie ſind
die Opfer geweſen , die darin gelebt, aber für Andere haben ſie
eben damit die Freiheit des Geiſtes gewonnen , nämlich die innere
Freiheit, die dadurch von jenem Gebiete des Endlichen und des
Neußerlichen frei geworden iſt. Geiſt, Gemüth, Geſinnung, Reli
gion haben nun nicht mehr zu befürchten , mit jenem abſtract
juriſtiſchen Verſtande verwickelt zu werden . Auch die Runft hat
ihre äußerliche Seite ; wenn in der Kunſt das mechaniſche Hand:
werk ganz für ſich fertig geworden , ſo kann die freie Kunſt er
ſtehen und ſich ausüben . Aber die ſind zu beklagen , welche von
Nichts als dem Handwerk gewußt und Nichts weiter gewollt
haben ; ſo wie die zu beklagen waren , welche, wenn die Kunſt
erſtanden , noch immer das Handwerk als das Höchſte anſehen
würden .
Wir ſehen die Römer Tu gebunden im abftracten Verſtande
der Endlichkeit. Dieß iſt ihre höchſte Beſtimmung und daher
auch ihr höchſtes Bewußtſeyn, in der Religion . In der That
war die Gebundenheit die Religion der Römer, da ſie hingegen
bei den Griechen Heiterkeit der freien Phantaſte war. Wir ſind
gewohnt griechiſche und römiſche Religion als daſſelbe anzuſehen
und brauchen die Namen Jupiter , Minerva u. f. f. oft ohne
Unterſchied von den griechiſchen , wie römiſchen Gottheiten . Dieß
geht in ſofern an , als die griechiſchen Götter mehr oder weniger
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege. 353
bei den Römern eingeführt waren ; aber ſo wenig die ägyptiſche
Religion darum die griechiſche geweſen iſt, weil Herodot und die
Griechen fich die ägyptiſchen Gottheiten unter den Namen La
tona, Pallas u . f. f. fenntlich machen ; ſo wenig iſt die römiſche
Religion die griechiſche. Es iſt geſagt worden , daß in der grie
chiſchen Religion der Schauer der Natur zu etwas Geiſtigem , zu
einer freien Anſchauung und zu einer geiſtigen Phantaſiegeſtalt
herausgebildet worden iſt, daß der griechiſche Geiſt nicht bei der
inneren Furcht ſtehen geblieben iſt, ſondern das Verhältniß der
Natur zu einem Verhältniß der Freiheit und Heiterkeit gemacht
hat. Die Römer dagegen ſind bei einer ſtummen und ſtumpfen
Innerlichkeit geblieben , und damit war das Aeußerliche ein Ob
ject, ein Anderes , ein Geheimes. Der ſo bei der Innerlichkeit
ftehen gebliebene römiſche Geiſt fam in das Verhältniß der Ges
bundenheit und Abhängigkeit, wohin ſchon der Urſprung des
Wortes religio (lig -are) deutet. Der Römer hatte immer mit
einem Geheimen zu thun , in Allem glaubte und ſuchte er ein
Verhülltes, und während in der griechiſchen Religion Alles
offen, klar, gegenwärtig für Sinn und Anſchauung, nicht ein Jen
ſeits , ſondern ein Freundliches , ein Diesſeits iſt, ſtellt ſich bei
den Römern Alles als ein Myſteriöſes und Gedoppeltes bar :
ſie ſahen in dem Gegenſtand zuerft ihn ſelbſt , und dann auch
noch das , was in ihm verborgen liegt: ihre ganze Geſchichte
kommt aus dieſem Gedoppelten nicht heraus. Die Römerſtadt
hatte außer ihrem eigentlichen Namen noch einen geheimen , den
- nur Wenige fannten . Man glaubt es ſey Valentia , die latei
niſche Ueberſeßung von Roma, geweſen , Andere meinen , es fer
Amor (Roma rückwärts geleſen ). Romulus, der Begründer
des Staates , hatte auch noch einen heiligen Namen : Quiris
nus, unter dem er verehrt wurde ; die Römer hießen ſo auch
noch Quiriten . ( Dieſer Name hängt mit dem Worte curia zu :
ſammen : in der Ableitung iſtman ſogar auf die ſabiniſche Stadt -
Cures gekommen .)
Philoſophie 0. Gedichte. 3 . Aufl. 23
354 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
Zweites Capitel.
Die Geſchichte Roms bis zum zweiten puniſchen Kriege.
ſondern der Staat habe nur einen Theil der von den Patriciern
uſurpirten Staatsländereien der Plebs zur Benußung angewieſen ,
indem er darüber immer noch als über ſein Eigenthum disponiren
konnte. Ich bemerke nur beiläufig, daß Hegewiſch dieſe Entdek
kung ſchon vor Niebuhr gemacht hatte, und daß Niebuhr diewei
teren Data zu ſeiner Behauptung aus dem Appian und Plutarch ,
das heißt, griechiſchen Geſchichtſchreibern entlehnt, von denen er
ſelbſt zugiebt, daß man nur im äußerſten Falle feine Zuflucht zu
ihnen nehmen dürfe. Wie oft ſpricht nicht Livius über die agrari
ſchen Geſeße, wie oft nicht Cicero und Andere, und doch läßt ſich aus
ihnen nichts Beſtimmtes darüber entnehmen ! – Dieß iſt wie
der ein Beweis von der Ungenauigkeit der römiſchen Schrift:
ſteller. Die ganze Sache geht am Ende auf eine unnüße Rechts
frage hinaus. Das Land , welches die Patricier in Beſiz ge
nommen , oder wo ſich die Colonien niederließen , war urſprünge
lich Staatsland; es gehörte aber ſicherlich auch den Beſißern ,
und es führt gar nicht weiter, wenn man behaupten will, es
fey immer Staatsland geblieben . Bei dieſer Entdeckung Nies
buhr's handelt es ſich nur um einen ſehr unweſentlichen Unters
ſchied , der wohl in ſeinen Gedanken , aber nicht in der Wirklich
keit vorhanden iſt. — Das liciniſche Geſeß wurde zwar durch
geſept , bald aber übertreten und gar nicht geachtet. Licinius
Stolo felbft, der das Gefeß in Anregung gebracht hatte, wurde
beſtraft, weil er mehr Grundeigenthum beſaß als erlaubt war,
und die Patricier widerſeşten ſich der Ausführung des Geſebes
mit der größten Hartnäckigkeit. Wir müſſen hier überhaupt auf
den Unterſchied, der zwiſchen den römiſchen , den griechiſchen und
unſern Verhältniſſen ſtattfindet, aufmerkſam machen . Unſere bür
gerliche Geſellſchaft beruht auf andern Grundſäßen und ſolche
Maaßregeln ſind in ihr nicht nöthig . Den Spartanern und
Athenern , welche die Abſtraction noch nicht ſo , wie die Römer,
feſtgehalten haben , war es nicht um das Recht als folches zu
thun , ſondern ſie verlangten , daß die Bürger die Subſiſtenz
Philoſophie d . Geldid te. 3. Aufl. 24
370 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
Zweiter Abſchnitt.
Kom vom zweiten puniſchen Kriege bis zum
Kaiſerthum .
Die zweite Periode, nach unſerer Eintheilung , beginnt mit
dem zweiten puniſchen Kriege , mit dieſem Punkte der Entſchei
dung und Beſtimmung der römiſchen Herrſchaft. Im erſten
puniſchen Kriege hatten die Römer gezeigt, daß ſie dem mächti
gen Carthago , das einen großen Theil der Küſte von Afrika
und das ſüdliche Spanien beſaß und in Sicilien und Sardinien
feften Fuß gefaßt hatte, gewachſen Feyen . Der zweite puniſche
Krieg warf Carthago's Macht darnieder. Das Element dieſes
Staates war das Meer ; er hatte aber kein urſprüngliches Ge
biet, bildete feine Nation , und hat keine Nationalarmee , ſon
Zweiter Abſdn. Nom vom zweit. puniſd . Ariege bis zum Kaiſerthum . 373
dern fein Heer war aus den Truppen unterworfener und verbün
deter Nationen zuſammengeſeßt. Troß dem brachte mit einem
ſolchen , aus den verſchiedenſten Nationen gebildeten Heere der
große Hannibal Rom dem Untergange nahe. Ohne irgend eine
Unterſtüßung hielt er ſich allein durch ſein Genie ſechszehn Jahre
in Italien gegen die römiſche Ausdauer und Beharrlichkeit, wäh
rend welcher Zeit freilich die Scipionen Spanien eroberten und
mit den afrikaniſchen Fürſten Verbindungen eingingen . Endlich
wurde Hannibal genöthigt , ſeinem bedrängten Vaterlande zu
Hülfe zu eilen , er verlor die Schlacht von Zama im Jahre
532 u. c. und ſah nach ſechs und dreißig Jahren ſeine Vaterſtadt
, wieder, welcher er ießt ſelbſt zum Frieden rathen mußte. Der
zweite puniſche Krieg begründete ſo in ſeinem Reſultate die un
beſtrittene Macht Nom 's über Carthago ; durch ihn famen die
Römer in feindliche Berührung mit dem Könige von Macedo
nien , der fünf Jahre ſpäter beſiegt wurde. Nun kam die Reihe
an den Antiochus, König von Syrien . Dieſer ſtellte den Rö
mern eine ungeheure Macht entgegen , wurde bei Thermopylä
und bei Magneſia geſchlagen und den Römern Kleinaſien bis
an den Taurus abzutreten gezwungen . Nach der Eroberung
von Macedonien wurde dieſes und Griechenland von den Rös
mern für frei erklärt, eine Erklärung, über deren Bedeutung wir
bei dem vorangegangenen weltgeſchichtlichen Volke ſchon gehan
delt haben . Nun erſt kam es zum dritten puniſchen Kriege, denn
Carthago hatte ſich von Neuem gehoben und die Eiferſucht der
Römer rege gemacht. Es wurde nach langem Widerſtande ge
nommen und in Aſche gelegt. Nicht lange aber konnte nunmehr
der achäiſche Bund neben der römiſchen Herrſchſucht beſtehen : die
Römer ſuchten den Krieg , zerſtörten Korinth in demſelben Jahre
als Carthago , und machten Griechenland zur Provinz. Car
thago’s Fall und Griechenlands Unterwerfung waren die ent
ſcheidenden Momente , von welchen aus die Römer ihre Herr
ſchaft ausdehnten .
374 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
Rom ſchien ießt ganz geſichert zu ſeyn , feine auswärtige
Macht ſtand ihm gegenüber : Es war die Beherrſcherin des
Mittelmeers , d . i. des Mittellandes aller Bildung geworden .
In dieſer Periode des Siegs ziehen die ſittlich großen und glück
lichen Individuen , – vornehmlich die Scipionen unſern Blick
auf fich. Sittlich glüdlich waren fte, wenn ſchon der größte
der Scipionen äußerlich unglücklich endete , weil ſie in einem ge
ſunden und ganzen Zuſtand ihres Vaterlands für daſſelbe thätig
waren . Nachdem aber der Sinn des Vaterlandes , der herr
fchende Trieb Rom 's befriedigt war, bricht auch gleich das Vers
derben in Maſſen in den römiſchen Staat ; die Größe der Ins
dividualität wird darin durch contraſtirende Ereigniſſe ſtärker an
Intenſität und Mitteln . Wir ſehen von jeßt an den Gegenſa
Rom 's in fich wieder in anderer Form hervortreten , und die
Epoche, welche die zweite Periode ſchließt, iſt dann auch die
zweite Vermittelung des Gegenſages . Wir ſahen früher den
Gegenſaß in dem Rampfe der Patricier gegen die Plebejer : jeßt
giebt er ſich die Form particularer Intereſſen gegen die patriotis
ſche Geſinnung, und der Sinn für den Staat hält dieſen Ge
genſaß nicht mehr im nothwendigen Gleichgewicht. Es erſcheint
vielmehr ießt neben den Kriegen um Eroberung , Beute und
Ruhm das fürchterliche Schauſpiel der bürgerlichen Unruhen in
Rom und der einheimiſchen Kriege. Es erfolgt nicht wie bei
den Griechen auf die mediſchen Kriege der ſchöne Glanz in Bils
dung, Kunſt und Wiſſenſchaft , worin der Geiſt innerlich und
idealiſch genießt , was er vorher praktiſch vollführt hat. Wenn
auf die Periode des äußeren Glückes der Waffen eine innere Bes
friedigung hätte folgen ſollen , ſo hätte auch das Princip des
Lebens der Römer concreter ſeyn müffen . Was wäre aber das
Concrete, das ſie aus dem Innern durch Phantaſte und Denken
ſich zum Bewußtſeyn bringen konnten ? Ihre Hauptſchauſpiele
waren die Triumphe, die Schäße der Siegesbeute und die Ges
fangenen aller Nationen , welche ſchonungslos unter das Joch
Zweiter Abſan. Rom vom zweit. puniſas. Kriege bis zum Kaiſerthum . 375
Dritter Abſchuitt.
Erſtes Capitel.
Hom in der Kaiſer periode.
In dieſer Periode fommen die Römer in Berührung mit
dem Volfe, welches dazu beſtimmt iſt, nach ihnen das welthiſto
riſche zu werden , und wir haben dieſelbe nach zwei weſentlichen
Seiten hin zu betrachten , nach der weltlichen und geiſtigen .
In der weltlichen Seite ſind wiederum zwei Hauptmomente her
auszuheben : zuerſt das des Herrſchers , und dann die Beſtims
mung der Individuen als ſolcher zu Perſonen , die Rechtswelt.
Was nim zunächſt das Kaiſerthum betrifft, ſo iſt zu bes
merken , daß die römiſche Herrſchaft ſo intereſſelos war, daß der
große Uebergang in das Kaiſerthum an der Verfaſſung faſt
nichts änderte. Nur die Volksverſammlungen paßten nicht mehr
und verſchwanden. Der Kaiſer war princeps senatus, Cenſor,
Conſul, Tribun : er vereinigte alle dieſe dem Namen nach noch
bleibenden Würden in fich , und die militäriſche Macht, worauf
es hier hauptſächlich anfam , war allein in ſeinen Händen . Die
Verfaſſung war die ganz ſubſtanzloſe Form , aus der alle Leben
digkeit und damit die Macht und Gewalt entwichen war ; und
das einfache Mittel, fie als ſolche zu erhalten , waren die Legios
nen , die der Kaiſer beſtändig in der Nähe von Rom hielt. Die
Staatsangelegenheiten wurden freilich vor den Senat gebracht,
und der Kaiſer erſchien nur wie ein anderes Mitglied , aber der
Senat mußte gehorchen , und wer widerſprach , wurde mit dem
Tode beſtraft und ſein Vermögen confiscirt. Es geſchah daher,
daß die , welche ſchon dem gewiſſen Tode entgegenſahen , fich
ſelbft tödteten , um der Familie doch wenigſtens das Vermögen
zu erhalten . Am meiſten war Tiberius den Römern , und zwar
Dritter Åbídnitt. Nom in der Kaiſerperiode. 383
wegen ſeiner Verſtellungskunſt, verhaßt : er wußte die Schlech
tigkeit des Senats ſehr gut zu benußen , um aus der Mitte deſ
ſelben die, welche er fürchtete , zu verderben . Die Macht des
Imperators beruhte , wie geſagt , auf der Armee und auf der
prätorianiſchen Leibwache, die ihn umgab. Es dauerte aber nicht
lange, ſo kamen die Legionen und beſonders die Prätorianer
zum Bewußtſeyn ihrer Wichtigkeit, und maaßten ſich an , den
Thron zu befeßen . Im Anfang bewieſen ſie noch einige Ehr:
furcht vor der Familie des Cäſar Auguſtus, ſpäter aber wählten
die Legionen ihre Feldherrn , und zwar ſolche, die ſich ihre Zu
neigung und Gunſt theils durch Tapferkeit und Verſtand, theils
auch durch Geſchenke und Nachſicht in Hinſicht der Disciplin er :
worben hatten .
Die Kaiſer haben ſich bei ihrer Macht ganz naiv verhalten
und ſich nicht auf orientaliſche Weiſe mit Macht und Glanz
umgeben . Wir finden bei ihnen Züge der Einfachheit, die er
ſtaunen machen . So 3: B . ſchreibt Auguſtus an Horaz einen
Brief, worin er ihm den Vorwurf macht, daß er noch kein Ge
dicht an ihn gerichtet habe , und ihn fragt, ob er denn glaube,
daß ihm das bei der Nachwelt Schande machen würde. Einige
Male wollte der Senat ſich wiederum Anſehn verſchaffen , indem
er Kaiſer ernannte : aber dieſe fonnten ſich entweder gar nicht
halten , oder nur dadurch, daß ſie die Prätorianer durch Ges
ſchenke gewannen . Die Wahl der Senatoren und die Bildung
des Senats war ohnehin ganz der Wiüfür des Raiſers über
laſſen . Die politiſchen Inſtitutionen waren in der Perſon des
Kaiſers vereinigt, fein fittlicher Zuſammenhalt war mehr vors
handen , der Wille des Kaiſers ſtand über Adem , vor ihm war
Alles gleich . Die Freigelaſſenen , welche den Kaiſer umgaben ,
waren oft die Mächtigſten des Neichs; denn die Widfür läßt
feinen Unterſchied gelten . In dem Individuum des Imperator
iſt die particulare Subjectivität zur völlig maafloſen Wirklichkeit
gekommen . Der Geiſt iſt ganz außer fich gekommen , indem die
384 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
Endlichkeit des Seyns und des Wollens zu einem Unbeſchränk
ten gemacht iſt. Nur eine Grenze hat auch dieſe Willfür, die
Grenze alles Menſchlichen , den Tod ; und ſelbſt der Tod iſt zu
einem Schauſpielſtück geworden . So iſt Nero einen Tod geſtor
ben , der für den edelſten Helden , wie für den reſignirteſten Mens
ſchen ein Beiſpiel ſeyn kann . Die particulare Subjectivität in
ihrer völligen Losgebundenheit hat keine Innerlichkeit, kein Vor
noch Rückwärts , keine Reue, noch Hoffnung, noch Furcht, keinen
Gedanken , – denn alles dieſes enthält feſte Beſtimmungen und
Zwecke ; hier aber iſt alle Beſtimmung völlig zufällig. Sie iſt
die Begierde, die Luſt, die Leidenſchaft , der Einfall, kurz die
Wilfür in ihrer gänzlichen Unbeſchränktheit. An dein Willen
Andrer hat ſie ſo wenig eine Schranke , daß vielmehr das Ver
hältniß von Willen zu Willen das der unbeſchränkten Herrſchaft
und Knechtſchaft iſt. So weit die Menſchen wiſſen auf der be
fannten Erde iſt kein Wille, der außer dem Willen des Impe
rator läge. Unter der Herrſchaft dieſes Einen aber ift Alles in
Ordnung; denn wie es iſt, ſo iſt es in Drdnung, und die
Herrſchaft beſteht eben darin , daß Alles in Harmonie mit dem
Einen ſtehe. Das Concrete der Charaktere der Imperatoren iſt
darum ſelbſt von keinem Intereſſe , weil es eben nicht das Con
crete iſt, worauf es ankommt. So hat es Kaiſer von edlem
Charakter und edlem Naturell gegeben , die ſich durch ihre Bila
dung beſonders auszeichneten . Titus , Trajanus , die Antonine
find als ſolche, gegen ſich ſelbſt höchft ſtrenge, Charaktere bekannt;
aber auch ſie haben keine Veränderung im Staate hervorgebracht;
nie iſt bei ihnen die Rede davon geweſen, dem römiſchen Volfe
eine Organiſation des freien Zuſammenlebens zu geben : fie wa
ren nur wie ein glücklicher Zufall , der ſpurlos vorübergeht und
den Zuſtand läßt, wie er iſt. Denn die Individuen befinden ſich
hier auf einem Standpunkte, wo ſie gleichſam nicht handeln , weil
fein Gegenſtand als Widerſtand ihnen entgegentritt ; fte haben
nur zu wollen , gut oder ſchlecht, und ſo iſt es. Auf die ruhm
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode. 385
würdigen Kaiſer Veſpaſian und Titus folgte der rohefte und
verabſcheuungswürdigſte Tyrann Domitianus: dennoch heißt es
bei den römiſchen Geſchichtsſchreibern , daß die römiſche Welt un
ter ihm ausgeruht habe. Jene einzelnen Lichtpunkte haben alſo
nichts geändert ; das ganze Reich unterlag dem Drucke der Ab
gaben wie der Plünderung, Italien wurde entvölfert, die frucht
barſten Länder lagen unbebaut: dieſer Zuſtand lag wie ein Fa
tum über der römiſchen Welt.
Das zweite Moment, welches wir hervorzuheben haben , iſt
die Beſtimmung der Individuen als Perſonen. Die Individuen
waren durchaus gleich die Sclaverei machte nur einen geringen
Unterſchied) und ohne irgend ein politiſches Recht. Schon nach
dem Bundesgenoſſenkriege wurden die Bewohner von ganz Ita
lien den römiſchen Bürgern gleichgeſeßt , und unter Caracala
wurde aller Unterſchied zwiſchen den Unterthanen des ganzen
römiſchen Reichs aufgehoben . Das Privatrecht entwickelte und
vollendete dieſe Gleichheit. Das Recht des Eigenthums war
ſonſt durch vielfache Unterſchiede gebunden , welche ſich nun auf
gelöſt haben . Wir ſahen die Römer vom Princip der abſtracten
Innerlichkeit ausgehen, welche ſich nun als Perſönlichkeit im Pri
vatrecht realiſirt. Das Privatrecht nämlich iſt dieß , daß die
Perſon als ſolche gilt, in der Realität, welche ſie ſich giebt, -
im Eigenthum . Der lebendige Staatskörper und die römiſche
Geſinnung, die als Seele in ihm lebte, iſt nun auf die Verein
zelung des todten Privatrechts zurückgebracht. Wie , wenn der
phyſiſche Körper verweſt , jeder Punkt ein eignes Leben für ſich
gewinnt, welches aber nur das elende Leben der Würmer iſt; ſo
hat ſich hier der Staatsorganismus in die Atome der Privat
perſonen aufgelöſt. Solcher Zuſtand iſt jeßt das römiſche les
ben : auf der einen Seite das Fatum und die abſtracte All
gemeinheit der Herrſchaft , auf der anderen die individuelle Ab
ſtraction , die Perſon , welche die Beſtimmung enthält, daß das
Individuum an ſich etwas ſen , nicht nach ſeiner Lebendigkeit,
Philoſophie d. Geldiďte 3te Aufl. 25
386 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
Zweites Capitel.
Das Chriſtenthum .
für die Gezogenen ein blindes Schidſal, dem fte ſich im ſtumpfen
Leiden ergeben ; es fehlt noch die höhere Beſtimmung, daß das
Innere ſelbſt zum Schmerz und zur Sehnſucht komme, daß der
Menſch nicht nur gezogen werde, ſondern daß dieß Ziehen ſich
als ein Ziehen in fich hinein zeige. Was nur unſere Reflexion
war, muß dem Subiecte ſelbſt als eigene ſo aufgehen , daß es fich
in ſich ſelbſt als elend und nichtig wiffe. Das äußerliche Uns
glüc muß, wie ſchon geſagt, zum Schmerze des Menſchen in
ſich ſelbſt werden : er muß ſich als das Negative ſeiner ſelbſt
fühlen , er muß einſehen , daß ſein Unglüc das Unglück ſeiner
Natur ſey , daß er in fich ſelbſt das Getrennte und Entzweite
ſen . Dieſe Beſtimmung der Zucht in fich felbft, des Schmerzes
ſeiner eigenen Nichtigkeit, des eigenen Elendes, der Sehnſucht
über dieſen Zuſtand des Innern hinaus iſt anderwärts als in
der eigentlichen römiſchen Welt zu ſuchen ; fie giebt dem jüdis
ſchen Volfe ſeine welthiſtoriſche Bedeutung und Wichtigkeit,
denn aus ihr iſt das Höhere aufgegangen , daß der Geiſt zum
abſoluten Selbſtbewußtſeyn gekommen iſt, indem er ſich aus dem
Andersſeyn,welches ſeine Entzweiung und Schmerz iſt, in fich
felbft reflectirt. Am reinſten und ſchönſten finden wir die anges
gebene Beſtimmung des jüdiſchen Volfs in den Davidiſchen
Pſalmen und in den Propheten ausgeſprochen , wo der Durſt der
Seele nach Gott, der tieffte Schmerz derſelben über ihre Fehler,
das Verlangen nach Gerechtigkeit und Frömmigkeit den Inhalt
ausmachen . Von dieſem Geiſt findet ſich die mythiſche Darſtel
lung gleich im Anfang der jüdiſchen Bücher , in der Geſchichte
des Sündenfalls. Der Menſch, nach dem Ebenbilde Gottes
geſchaffen , wird erzählt,habe ſein abſolutes Befriedigtſeyn dadurch
verloren , daß er von dem Baume des Erkenntniffes des Guten
und Böſen gegeſſen habe. Die Sünde beſteht hier nur in der
Erkenntniß : dieſe iſt das Sündhafte,und durch ſie hat der Menſch
ſein natürliches Glüd verſcherzt. Es iſt dieſes eine tiefe Wahr
heit, daß das Böſe im Bewußtſeyn liegt, denn die Thiere find
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode. – Das Chriſtenthum . 391
weder böſe nach gut: ebenſowenig der bloß natürliche Menſch .
Erſt das Bewußtſeyn giebt die Trennung des Ich, nach ſeiner
unendlichen Freiheit als Wilfür, und des reinen Inhalts des
Willens , des Guten . Das Erkennen als Aufhebung der natür:
lichen Einheit iſt der Sündenfall, der keine zufällige, ſondern die
ewige Geſchichte des Geiſtes ift. Denn der Zuſtand der Unſchuld ,
dieſer paradieſiſche Zuſtand iſt der thieriſche. Das Paradies ift
ein Park, wo nur die Thiere und nicht die Menſchen bleiben
fönnen . Denn das Thier iſt mit Gott eins, aber nur an ſich.
Nur der Menſch iſt Geiſt, das heißt für ſich ſelbſt. Dieſes Für
fichſeyn, dieſes Bewußtſeyn iſt aber zugleich die Trennung von
dem allgemeinen göttlichen Geiſt. Halte ich mich in meiner ab
ſtracten Freiheit gegen das Gute, ſo iſt dieß eben der Stand
punkt des Böſen . Der Sündenfall iſt daher der ewige Mythus
des Menſchen , wodurch er eben Menſch wird. Das Bleiben auf
dieſem Standpunkte iſt jedoch das Böſe, und dieſe Empfindung
des Schmerzes über ſich und der Sehnſucht finden wir bei Das
vid , wenn er ſingt: Herr, ſchaffe mir ein reines Herz, einen
neuen gewiſſen Geiſt. Dieſe Empfindung ſehen wir ſchon im
Sündenfall vorhanden , wo jedoch noch nicht die Verſöhnung,
ſondern das Verbleiben im Unglück ausgeſprochen wird. Doch
iſt darin zugleich die Prophezeiung der Verſöhnung enthalten ,
namentlich in dem Saße: „ Der Schlange ſoll der Kopf zertre
ten werden ;" aber noch tiefer darin , daß als Gott ſah, daß
Adam von jenem Baume gegeſſen hatte, ſagte : „ Siehe Adam
iſt worden wie unſer einer, wiſſend das Gute und das Böſe." Gott
beſtätigt die Worte der Schlange. An und für ſich iſt alſo die
Wahrheit, daß der Menſch durch den Geiſt, durch die Erkennt
niß des Augemeinen und Einzelnen Gott ſelbſt erfaßt. Aber
dieß ſpricht Gott erſt, nicht der Menſch , welcher vielmehr in der
Entzweiung bleibt. Die Befriedigung der Verſöhnung iſt für
den Menſchen noch nicht vorhanden , die abſolute leßte Befriedis
gung des ganzen Weſens des Menſchen iſt noch nicht gefunden ,
392 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
ſondern nur erſt für Gott. Vor der Hand bleibt das Gefühl
des Schmerzes über ſich das Leste des Menſchen . Die Befries
digung des Menſchen ſind zunächſt endliche Befriedigungen in
der Familie und im Beſiße des Landes Ranaan . Jn Gott iſt
er nicht befriedigt. Gott werden wohl im Tempel Opfer gebracht,
ihm wird gebüßt durch äußerliche Opfer und innere Reue. Dieſe
äußerliche Befriedigung in der Familie und im Beſize aber iſt
dem jüdiſchen Volfe in der Zucht des römiſchen Reichs genome
men worden. Die ſyriſchen Könige unterdrüdten es zwar ſchon ,
aber erſt die Römer haben ſeine Individualität negirt. Der
Tempel Zion's iſt zerſtört, das Gott dienende Volt iſt zerſtäubt.
Hier iſt alſo jede Befriedigung genommen und das Volk auf
den Standpunkt des erſten Mythus zurüdgeworfen , auf den
Standpunkt des Schmerzes der menſchlichen Natur in ihr ſelbſt.
Dem allgemeinen Fatum der römiſchen Welt ſteht hier gegenüber
das Bewußtſeyn des Böſen und die Richtung auf den Herrn .
Es kommt nur darauf an, daß dieſe Grundidee zu einem objectis
ven allgemeinen Sinne erweitert und als das concrete Weſen
des Menſchen , als die Erfüllung ſeiner Natur, genommen werde.
Früher galt den Juden als dieß Concrete das land Canaan
und ſie ſelbſt, als das Volf Gottes . Dieſer Inhalt iſt aber
ießt verloren und es entſteht daraus das Gefühl des Unglücks
und des Verzweifelns an Gott, an den jene Realität weſentlich
geknüpft war. Das Elend iſt alſo hier nicht Stumpfheit in
einem blinden Fatum , ſondern unendliche Energie der Sehnſucht.
Der Stoicismus lehrte nur: das Negative iſt nicht, und es giebt
feinen Schmerz; aber die jüdiſche Empfindung beharrt vielmehr
in der Realität und verlangt darin die Verſöhnung; denn ſie ruht
auf der orientaliſchen Einheit der Natur d. i. der Realität, der
Subjectivität und der Subſtanz des Einen . Durch den Verluſt
der bloß äußerlichen Realität wird der Geiſt in fich zurückgetrie:
ben ; die Seite der Realität wird ſo gereinigt zum Allgemeinen ,
durch die Beziehung auf den Einen . Der orientaliſche Gegenſaß
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode. – Das Chriſtenthum . 393
von Licht und Finſterniß iſt hier in den Geiſt verlegt, und die
Finſterniß iſt hier die Sünde. Es bleibt nun für die negirte
Realität nichts übrig, als die Subjectivität ſelbſt, der menſchliche
Wille in fit als allgemeiner; und dadurch allein wird die Ver
ſöhnung möglich . Sünde iſt Erkennen des Guten und Böſen ,
als Trennung; das Erkennen heilt aber ebenſo den alten Schas
den und iſt der Quel der unendlichen Verſöhnung. Nämlich
Erkennen heißt eben das Aeußerliche, Fremde des Bewußtſeyns
vernichten und iſt ſo Rückkehr der Subjectivität in fich. Dieß
nun im realen Selbſtbewußtſeyn der Welt geſeßt iſt die Ver :
ſöhnung der Welt. Aus der Unruhe des unendlichen Schmers
zes , in welcher die beiden Seiten des Gegenſaßes ſich auf einans
der beziehen , geht die Einheit Gottes und der als negativ geſeß
ten Realität, d . i. der von ihm getrennten Subjectivität hervor
Der unendliche Verluſt wird nur durch ſeine Unendlichkeit augs
geglichen , und dadurch unendlicher Gewinn. Die Identität des
Subjects und Gottes kommtin die Welt als die Zeit erfüllt
war: das Bewußtſeyn dieſer Identität iſt das Erkennen Gottes
in ſeiner Wahrheit. Der Inhalt der Wahrheit iſt der Geiſt
ſelbſt, die lebendige Bewegung in ſich ſelbſt. Die Natur Gottes ,
reiner Geiſt zu ſeyn, wird dem Menſchen in der chriſtlichen Res
ligion offenbar. Was iſt aber der Geiſt ? Er iſt das Eine,
ſich ſelbſt gleiche Unendliche, die reine Identität, welche zweitens
ſich von ſich trennt, als das Andere ihrer ſelbſt, als das Fürſich
und Inſichſeyn gegen das Augemeine. Dieſe Trennung iſt aber
dadurch aufgehoben , daß die atomiſtiſche Subjectivität, als die
einfache Beziehung auf fich, ſelbſt das Augemeine, mit ſich Iden
tiſche iſt. Sagen wir ſo , daß der Geiſt die abſolute Reflerion
in ſich ſelbſt durch ſeine abſolute Unterſcheidung iſt, die Liebe als
Empfindung, das Wiffen als der Geiſt, ſo iſt er als der drei
einige aufgefaßt : der Vater und der Sohn , und dieſer Unter
ſchied in ſeiner Einheit als der Geiſt. Weiter iſt nun zu bemer
ken , daß in dieſer Wahrheit die Beziehung des Menſchen auf
394 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
dieſe Wahrheit ſelbſt geſeßt iſt. Denn der Geiſt ſtellt ſich als
ſein Anderes gegenüber, find iſt ausdieſem linterſchiede Rückfehr
in fich felbft. Das andere in der reinen Idee aufgefaßt iſt der
Sohn Gottes , aber dieß Andere in ſeiner Beſonderung iſt die
Welt, die Natur und der endliche Geift : der endliche Geiſt iſt
ſomit ſelbſt als ein Moment Gottes geſetzt. So iſt der Menſch
alſo ſelbſt in dem Begriffe Gottes enthalten , und dieß Enthals
tenſeyn fann ſo ausgedrückt werden , daß die Einheit des Meno
ſchen und Gottes in der chriſtlichen Religion geſeßt fey. Dieſe
Einheit darf nicht flach aufgefaßt werden , als ob Gott nur
Menſch , und der Menſch ebenſo Gott ſey , ſondern der Menſch
iſt nur inſofern Gott, als er die Natürlichkeit und Endlichkeit
ſeines Geiſtes aufhebt und ſich zu Gott erhebt. Für den Men
fchen nämlich , der der Wahrheit theilhaftig iſt , und das weiß ,
daß er ſelbſt Moment der göttlichen Idee iſt, iſt zugleich das
Aufgeben ſeiner Natürlichkeit geſeßt, denn das Natürliche iſt das
Unfreie und ungeiſtige. In dieſer Idee Gottes liegt nun auch
die Verſöhnung des Schmerzes und des Unglücks des Men
ſchen in ſich . Denn das Unglück iſt ſelbſt nunmehr als ein
nothwendiges gewußt, zur Vermittlung der Einheit des Menſchen
mit Gott. Dieſe anſichſeyende Einheit iſt zunächſt nur für das
denkende, ſpeculative Bewußtſeyn ; ſie muß aber auch für das
ſinnliche, vorſtellende Bewußtſeyn ſeyn , ſie muß Gegenſtand für
die Welt werden , fie muß erſcheinen , und zwar in der finn :
lichen Geſtalt des Geiſtes , welche die menſchliche iſt. Chriſtus
iſt erſchienen , ein Menſch, der Gott iſt, und Gotto der Menſch
iſt; damit iſt der Welt Friede und Verſöhnung geworden . Es
iſt hier an den griechiſchen Anthropomorphismus zu erinnern ,
von dem geſagt worden , daß er nicht weit genug gegangen ſey .
Denn die griechiſche natürliche Heiterkeit iſt noch nicht fortgegan
gen bis zur ſubjectiven Freiheit des Ich ſelbſt , noch nicht zu
dieſer Innerlichkeit, noch nicht bis zur Beſtimmung des Geiſtes
als eines Dieſen. - Zu der Erſcheinung des criſtlichen Gottes
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode. – Das Chriſtenthum . 395
gehört ferner , daß ſie einzig in ihrer Art ſey ; ſte fann nur
Einmal geſchehen , denn Gott iſt Subject und als erſcheinende
Subjectivität nur ausſchließend Ein Individuum . Die lama
werden immer neu erwählt, weil Gott im Orient nur als Subs
ſtanz gewußt iſt, welcher deshalb die unendliche Form in einer
Vielheit der Beſonderung nur äußerlich iſt. Aber die Subjectis
vität als unendliche Beziehung auf ſich hat die Form an ihr
ſelbſt, und iſt als erſcheinende nur Eine, ausſchließend gegen alle
Andere. — Weiter aber iſt das ſinnliche Daſeyn, worin der
Geiſt iſt, nur ein vorübergehendes Moment. Chriſtus iſt geſtor
ben ; nur als geſtorben iſt er aufgehoben gen Himmel und fißend
zur Rechten Gottes , und nur ſo iſt er Geiſt. Er ſelbſt ſagt:
Wenn ich nichtmehr bei euch bin , wird euch der Geift
in alle Wahrheit leiten. Erſt am Pfingſtfeſte wurden die
Apoſtel des heiligen Geiſtes volt. Für die Apoſtel war Chriſtus
als lebend nicht das , was er ihnen ſpäter als Geiſt der Ge.
meinde war, worin er erft für ihr wahrhaft geiſtiges Bewußtſeyn
wurde. Ebenſo wenig iſt es das rechte Verhältniß , wenn wir
uns Chriſti nur als einer geweſenen hiſtoriſchen Perſon erinnern .
Man fragt dann : Was hat es mit ſeiner Geburt, mit ſeinem
Vater und ſeiner Mutter , mit ſeiner häuslichen Erziehung, mit
ſeinen Wundern n. f. f. für eine Bewandniß ? d . K . was iſt er
geiſtlos betrachtet ? Betrachtet man ihn auch nur nach ſeinen
Talenten , Charakter und Moralität, als Lehrer u . f. F., To ſtellt
man ihn auf gleiche Linie mit Sofrates und Andern , wenn man
auch ſeine Moral höher ſtellt. Vortrefflichkeit des Charakters
aber, Moral u . f. f., dieß Alles iſt nicht das leßte Bedürfniß des
Geiſtes , daß nämlich der Menſch den ſpeculativen Begriff des
Geiſtes in ſeine Vorſtellung bekomme. Wenn Chriftus nur ein
vortreffliches, ſogar unſündliches Individuum und nur dieß reyn
ſoll; ſo iſt die Vorſtellung der ſpeculativen Idee , der abſoluten
Wahrheit geleugnet. Um dieſe aber iſt es zu thun , und von die
ſer iſt auszugehen. Macht eregetiſch, fritiſch, hiſtoriſch aus Chris
396 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
ſtus, was ihr wollt, eben ſo zeigt, wie ihr wollt, daß die Lehren
der Kirche auf den Concilien durch dieſes und jenes Intereſſe
und Leidenſchaft der Biſchöfe zu Stande gekommen , oder von
da oder dorther floſſen , - alle ſolche Umſtände mögen beſchaffen
ſeyn, wie ſie wollen ; es fragt ſich allein , was die Idee oder die
Wahrheit an und für ſich iſt.
Die Beglaubigung der Göttlichkeit Chriſti iſt ferner das
Zeugniß des eignen Geiſtes, nicht die Wunder; denn nur der
Geift erkennt den Geiſt. Die Wunder können der Weg zur Er
kenntniß feyn. Wunder heißt, daß der natürliche Lauf der Dinge
unterbrochen wird ; es iſt aber ſehr relativ , was man den natür
lichen Lauf nennt, und die Wirkung des Magnets z. B . iſt ſo
ein Wunder. Auch das Wunder der göttlichen Sendung beweiſt
Nichts ; denn auch Sokrates brachte ein neues Selbſtbewußtſeyn
des Geiftes gegen den gewöhnlichen Lauf der Vorſtellung auf.
Die Hauptfrage iſt nicht die göttliche Sendung, ſondern die Offen
barung und der Inhalt dieſer Sendung. Chriſtus ſelbft tadelt
die Phariſäer , welche Wunder von ihm verlangen , und ſpricht
von den falſchen Propheten , welche Wunder thun werden .
Was wir nun weiter zu betrachten haben , iſt die Bildung
der chriſtlichen Vorſtellung zur Kirche. Dieſe Bildung aus dem
Begriff des Chriſtenthums zu entwickeln , würde zu weit führen ,
und es ſind hier nur die allgemeinen Momente anzugeben . Das
erſte Moment iſt die Stiftung der chriſtlichen Religion , worin
das Princip derſelben mit unendlicher Energie, aber zuerſt ab
ſtract, ausgeſprochen wird . Dieß finden wir in den Evangelien ,
wo die Unendlichkeit des Geiſtes , ſeine Erhebung in die geiſtige
Welt als das allein Wahrhafte , mit Zurückſeßung aller Bande
der Welt das Grundthema iſt. Mit einer unendlichen Parrheſte
ſteht Chriſtus im jüdiſchen Volfe auf. „ Selig ſind, die rei
nen Herzens ſind, denn ſie werden Gott ſchauen ,"
ſagt er in ſeiner Bergpredigt, ein Spruch der höchſten Einfachheit
und Elaſticität gegen Alles , was dem menſchlichen Gemüthe von
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode. – Das Chriſtenthum . 397 . '
Aeußerlichen aufgebürdet werden kann. Das reine Herz iſt der
Boden , auf dem Gott dem Menſchen gegenwärtig iſt: wer von
dieſem Spruch durchdrungen iſt, iſt gegen alle fremde Bande und
Aberglauben gewappnet. Dazu treten nun die anderen Sprüche:
„ Selig find die Friedfertigen , denn ſie werden Gots
tes Kinder heißen; " und „, Selig ſind, die um Gerech -
tigkeit willen verfolgtwerden , denn das Himmelreich
iſt ihnen ;“ und „ Ihr ſollt vollkommen ſeyn , gleichwie
euer Vater im Himmel vollkommen iſt.“ Wir haben hier
eine ganz beſtimmte Forderung von Chriſtus. Die unendliche
Erhebung des Geiftes zur einfachen Reinheit iſt an die Spiße
als Grundlage geſtellt. Die Form der Vermittelung iſt noch
nicht gegeben , ſondern es iſt das Ziel, als ein abſolutes Gebot,
aufgeſtellt. Was nun ferner die Beziehung dieſes Standpunktes
des Geiſtes auf das weltliche Daſeyn anbetrifft, ſo iſt auch da
dieſe Reinheit als die ſubſtantielle Grundlage vorgetragen . ,,Trach
tet am erſten nach dem Reiche Gottes und nach ſeiner
Gerechtigkeit, ſo wird euch Alles zufallen ;" und „ Die
Leiden dieſer Zeit ſind nichtwerth iener Herrlichkeit."
Hier ſagt Chriſtus, daß die äußerlichen Leiden als ſolche nicht
zu fürchten und zu fliehen ſind , denn ſie ſind nichts gegen jene
Herrlichkeit. Weiter wird dann dieſe Lehre , eben weil ſie ab
ſtract erſcheint, polemiſch. „ Aergert dich dein rechtes Auge, ſo
reiß es aus und wirf es von dir; ärgert dich deine rechte Hand,
To haue fie ab und wirf ſie von dir. Es iſt beſſer , daß eines
deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle
geworfen werde.“ Was die Reinheit der Seele trüben könnte,
ſoll vernichtet werden . In Beziehung auf das Eigenthum und .
den Erwerb heißt es ebenſo : „ Sorget nicht für euer Leben , was
ihr eſſen und trinken werdet, auch nicht für euren Leib , was
ihr anziehen werdet. Iſt nicht das Leben mehr denn die
Speiſe , und der Leib mehr denn die Kleidung? Sehet die
Vögel unter dem Himmel an , ſie fäen nicht, ſie erndten nicht, ſie
398 . Dritter Theil. Die römiſche Welt.
ſammeln nicht in die Scheunen , und euer himmliſcher Vater
nähret ſie doch. Seyd ihr denn nicht viel mehr denn fte ?"
Die Arbeit für die Subſiſtenz iſt ſo verworfen . „ Willſt du voll
koinmen ſeyn , ſo gehe hin , verkaufe , was du haft, und gieb's -
den Armen , ſo wirſt du einen Schaß im Himmel haben , und
komm und folge mir nach ." Würde dieß ſo unmittelbar befolgt,
ſo müßte eine Umkehrung entſtehen : die Armen würden die Reis
chen werden . So hoch ſteht nämlich die Lehre Chriſti, daß alle
Pflichten und fittlichen Bande dagegen gleichgültig ſind. Zu
einem Jüngling, der noch ſeinen Vater begraben will, ſagt Chri
ſtus: „ laß die Todten ihre Todten begraben und folge mir
nach.“ „ Wer Vater und Mutter mehr liebet, denn mich , der
iſt mein nichtwerth.“ Er ſprach : „ Wer iſt meineMutter, und wer
find meine Brüder ? Und reckte die Hand aus über ſeine Jünger
und ſprach : Siehe da , das iſt meine Mutter und meine Brüder.
Denn wer den Willen thut meines Vaters im Himmel , derſels
bige iſt mein Bruder , Schweſter und Mutter.“ Ja es heißt
ſogar : „ Ihr ſollt nicht wähnen , daß ich kommen ſey,
Frieden zu ſenden auf Erden . Ich bin nicht kommen ,
Frieden zu ſenden , ſondern das Schwerdt. Denn ich
bin kommen , den Menſchen zu erregen wider ſeinen
Vater, und die Tochter wider ihre Mutter, und die
Schnur wider ihre Schwieger." Hierin liegt eine Abſtrac
tion von Adem , was zur Wirklichkeit gehört, felbft von den
ſittlichen Banden . Man kann ſagen , nirgend ſey ſo revolutionär
geſprochen , als in den Evangelien , denn alles ſonſt Geltende ift
als ein Gleichgültiges , nicht zu Achtendes geſeßt.
• Das Weitere iſt dann , daß dieſes Princip fich entwickelt
hat, und die ganze folgende Geſchichte iſt die Geſchichte ſeiner
Entwicelung. Die nächſte Realität iſt dieſe , daß die Freunde
Chriſti eine Geſellſchaft, eine Gemeinde bilden . Es iſt ſchon bes
merkt worden , daß erſt nach dem Tode Chriſti der Geiſt über
ſeine Freunde kommen konnte ; daß ſie da erſt die wahrhafte Idee
Dritter Abjauniit. Nom in der Kaiſerperiode. — Das Chriſtenthum . 399
Drittes Capitel.
Das by 3antiniſche Reich.
Mit Conſtantin dem Großen kam die chriſtliche Religion
auf den Thron des Kaiſerreichs ; auf dieſen folgt nun eine
Reihe von chriſtlichen Kaiſern , die nur durch Julian unterbrochen
wird, der aber nur wenig für die geſunkene alte Religion thun
konnte. Das römiſche Reich umfaßte die ganze gebildete Erde,
vom weſtlichen Ocean bis an den Tigris , vom Inneren von
Afrika bis an die Donau ( Pannonien , Dacien ). In dieſem
ungeheuren Reiche war bald die chriftliche Religion allgemein
verbreitet. Rom war ſchon lange Zeit nicht mehr die abſolute
Reſidenz der Kaiſer : mehrere Imperatoren vor Conſtantin hatten
in Mailand oder an anderen Orten reſidirt, und dieſer errichtete
eine zweite Reſidenz in dem alten Byzanz , welches den Namen
Conftantinopel annahm . Gleich von Anfang an beſtand hier
die Bevölferung aus Chriſten , und Conſtantin wandte Ades
auf, um ſeine neue Reſidenz der alten an Pracht gleich zu ma
den . Das Reich beſtand noch immer in ſeiner Totalität, bis
Theodofius der Große die ſchon früher auf Zeiten ftattges
habte Trennung bleibend machte und daſſelbe unter ſeine beiden
Söhne vertheilte. Die Herrſchaft des Theodoſius trug den leß
ten Schimmer des Glanzes an ſich , der die römiſche Welt vers
Dritter Abſon. Rom in der Kaiſerperiode. – Das byzantiniſche Reich. 409
herrlicht hatte. Unter ihm wurden die heidniſchen Tempel ges
ſchloſſen , die Opfer und Ceremonien abgeſchafft, und die heidnis
ſche Religion ſelbſt verboten : nach und nach iſt aber dieſe ganz
von ſelbft verſchwunden. Die heidniſihen Redner dieſer Zeit
fönnen ihr Staunen und ihre Verwunderung nicht genug über
den ungeheuren Contraſt früherer und jepiger Zeit ausdrücken .
„ Unſere Tempel find zu Gräbern geworden . Die heiligen Orte,
welche früher mit den heiligen Bildſäulen der Götter geſchmüft
waren, find jeßt mit heiligen Knochen (Reliquien der Märtyrer)
bedeckt, Menſchen , die einen ſchmählichen Tod um ihrer Verbres
chen willen erduldet haben , deren Leiber mit Striemen bedeckt
ſind, und deren Köpfe eingeſalzen worden ſind, ſind der Gegen
ſtand der Verehrung.“ Alles Verächtliche iſt erhaben , und Alles ,
was früher für hoch gehalten worden iſt , in den Staub getres
ten . Dieſen ungeheuren Contraſt ſprechen die legten Heiden mit
tiefer Rlage aus.
Das römiſche Reich wurde unter die beiden Söhne des
Theodoſtus getheilt. Der ältere, Arcadius, erhielt das morgen
ländiſche Reich : das alte Griechenland mit Thracien , Kleinaſien ,
Syrien , Aegypten ; der jüngere, Honorius, das abendländiſche :
Stalien , Afrika , Spanien , Gallien , Britannien . Unmittelbar
nach dem Tode des Theodoſius trat Verwirrung ein , und die rö
miſchen Provinzen wurden von den auswärtigen Nationen über
wältigt. Schon unter dem Kaiſer Valens hatten die Weſtgo
then , von den Hunnen bedrägt, Wohnſiße diebſeits der Donau
verlangt; ſie wurden ihnen zugeſtanden , indem ſie dafür die
Grenzprovinzen des Reichs vertheidigen ſollten . Aber ſchlecht
behandelt, empörten fie fich : Valens wurde geſchlagen und blieb
auf dem Schlachtfelde. Die ſpäteren Kaiſer ſchmeichelten der
Fürften dieſer Gothen. Alarich , der fühne Gothenfürſt, wandte
ſich gegen Italien . Stilicho, der Feldherr und Miniſter des Ho
norius, hielt ihn im Jahre 403 nach Chr. Geb . durch die
Schlacht von Pollentia auf, ſowie er ſpäter auch den Radagai
410 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
ſus, Heerführer der Alanen , Sueven und Anderer, ſchlug. Ala
rich wandte ſich nun gegen Galien und Spanien , und fehrte
dann , als Stilicho geſtürzt war , nach Italien zurück. Rom
wurde von ihm im Jahre 410 geſtürmt und geplündert. Spä
ter näherte ſich Attila mit der furchtbaren Macht der Hunnen , -
eine der rein orientaliſchen Erſcheinungen , die wie ein bloßer Ges
witterſtrom anſchwellen , Alles niederreißen , aber auch nach wes
niger Zeit ſo verflofſen ſind, daß man nur ihre Spuren in den
Ruinen , die fte zurücklaſſen , nicht aber ſte ſelbſt mehr ſieht. At
tila drang in Gallien ein ,wo ihm unter Aëtius, im Jahre 451,
bei Chalons an der Marne ein heftiger Widerſtand entgegenges
feßt wurde. Der Sieg blieb unentſchieden . Attila zog dann
ſpäter nach Italien und ſtarb im Jahre 453. Bald darauf
wurde aber Rom von den Vandalen unter Genſerich genommen
und geplündert. Zuleßt wurde die Würde der weſtrömiſchen
Kaiſer zur Farce, und ihrem leeren Titel machte endlich Ddoafer,
König der Heruler, ein Ende.
Das öftliche Kaiſerreich blieb noch lange beſtehen, und im
weſtlichen bildete ſich ein neues Volf von Chriſten aus den
hereingekommenen barbariſchen Horden . Die chriſtliche Religion
hatte fich anfangs von dem Staate entfernt gehalten , und die
Ausbildung, die ſie bekam , betraf das Dogma und die innere
Organiſation , die Disciplin u . . w . Jeßt aber war ſie herr
ſchend geworden : ſie war nun eine politiſche Macht, ein politis
ſches Motiv . . Wir ſehen nun die chriſtliche Religion in zwei
Formen : auf der einen Seite barbariſche Nationen , die in aller
Bildung von vorne anzufangen haben , die für Wiſſenſchaft,
Rechtszuſtand , Staatsverfaſſung die allererſten Elemente erſt zu
gewinnen hatten , auf der anderen Seite gebildete Völfer, im
Beſiß griechiſcher Wiſſenſchaft und feinerer morgenländiſcher Bils
dung. Die bürgerliche Geſeßgebung war bei ihnen vollendet,
wie ſie die großen römiſchen Rechtsgelehrten aufs vollſtändigſte
ausgebildet hatten , ſo daß die Sammlung , welche der Kaiſer
Dritter Abſchn . Rom in . Katſerperiode. - Das Byzantiſche Reich. 411
Der germaniſche Geiſt iſt der Geiſt der neuen Welt, deren
Zweck die Realiſirung der abſoluten Wahrheit als der unendli
chen Selbſtbeſtimmung der Freiheit iſt, der Freiheit,dieihreabſolute
Form ſelbſt zum Inhalte hat. Die Beſtimmung der germaniſchen
Völfer iſt, Träger des chriſtlichen Princips abzugeben . Der Grund
faß der geiſtigen Freiheit, das Princip der Verſöhnung , wurde
in die noch unbefangenen ungebildeten Gemüther jener Völfer ges
legt, und es wurde dieſen aufgegeben , im Dienſte des Weltgei
ſtes den Begriff der wahrhaften Freiheit nicht nur zur religiöſen
Subſtanz zu haben , ſondern auch in der Welt aus dem ſubjec
tiven Selbſtbewußtſenn frei zu produciren .
Wenn wir nun zur Eintheilung der germaniſchen Welt in
ihre Perioden übergehen , ſo iſt ſogleich zu bemerken , daß fie
nicht wie bei Griechen und Römern durch die doppelte Beziehung
nach außen , rückwärts zu dem früheren welthiſtoriſchen Volfe und
vorwärts zu dem ſpätern , gemacht werden kann . Die Geſchichte
zeigt , daß der Gang der Entwicelung bei dieſen Völkern ein
ganz verſchiedener war. Die Griechen und Römer waren ge
reift in fich , als ſie ſich nach außen wendeten . Ilmgekehrt ha
ben die Germanen damit angefangen , aus ſich herauszuſtrömen ,
416 Vierter Theil. Die germaniſde Welt.
Erſter Abſchnitt.
Die Elemente der chriſtlich germaniſchen Welt.
Zweites Capitel.
Die Völkerwanderungen .
Ueber dieſe erſte Periode iſt im Ganzen wenig zu ſagen ,
denn ſie bietet uns geringeren Stoff zum Nachdenken dar. Wir
wollen die Germanen nicht in ihre Wälder zurüdverfolgen , noch
den Urſprung der Völkerwanderung aufſuchen . Fene Wälder
haben immer als die Wohnſiße freier Völfer gegolten , und Ta
citus hat ſein berühmtes Gemälde Germaniens mit einer ges
wiffen Liebe und Sehnſucht, im Gegenſaß zu der Verdorbenheit
und Künſtlichkeit der Welt entworfen , der er ſelbſt angehörte.
Wir können aber deswegen einen ſolchen Zuſtand der Wildheit
nicht für einen hohen halten , und etwa in den Jrrthum Rouf
ſeau'$ verfallen , der den Zuſtand der Wilden Amerika's als ei
422 Bierter Theil. Die germaniſche Welt.
nen ſolchen vorgeſtellt hat, in welchem der Menſch im Beſitz der
wahren Freiheit ſen . Allerdings kennt der Wilde ungeheuer viel
Unglück und Schmerz gar nicht, aber das iſt nur negativ , wäh
rend die Freiheit weſentlich affirmativ ſeyn muß. Die Güter
der affirmativen Freiheit find erſt die Güter des höchſten Bes
wußtſeyns.
Jedes Individuum beſteht bei den Germanen als ein freies
für ſich, und doch iſt eine gewiſſe Gemeinſamkeit vorhanden , wenn
auch noch nichtein politiſcher Zuſtand. Wir ſehen dann die Germanen
das römiſche Reich überſchwemmen . Theils haben fte die frucht
baren Gegenden , theils der Drang, fich andere Wohnfiße zu fu
chen angereizt. Troß den Kriegen , in welchen ſie mit den Rö
mern ſich befinden , nehmen doch Einzelne und ganze Stämme
Kriegsdienſte bei denſelben : ſchon mit Cäfar focht germaniſche
Reiterei auf den pharſaliſchen Feldern . Im Kriegsdienſt und
Verkehr mit gebildeten Völfern lernten ſie die Güter deſſelben
kennen , Güter für den Genuß und die Bequemlichkeit des Lebens,
aber vornehmlich auch Güter der geiſtigen Bildung. Bei den
ſpäteren Auswanderungen blieben manche Nationen , einige ganz,
andere zum Theil, in ihrem Vaterlande zurück.
Wir haben demnach unter den germaniſchen Nationen ſolche
zu unterſcheiden , welche in ihren alten Wohnſißen geblieben ſind,
und ſolche, welche ſich über das römiſche Reich ausbreiteten , und
ſich mit den unterworfenen Nationen vermiſcht haben . Da die
Germanen bei den Zügen nach außen ſich den Anführern auf
freie Weiſe anſchloſſen , fo zeigt ſich das eigenthümliche Ver
hältniß , daß die germaniſchen Völker fich gleichſam verdoppeln
(Oſt und Weſtgothen ; Gothen auf allen Punkten der Welt
und in ihrem Vaterlande ; Scandinavier, Normannen in Norwe
gen und dann als Ritter in der Welt). Wie verſchieden die
Schickſale dieſer Völker auch ſind , ſie hatten doch das gemein
ſame Ziel fich Beſiß zu verſchaffen und ſich dem Staate entges
gen zu bilden . Dieſes Fortbilden kommt allen gleichmäßig zu .
Erſter Abſchn . Elem . der chriſtl. german. Welt. - Völkerwanderungen . 423
Zweites Capitel.
Der Muhamedanismus.
· Während auf der einen Seite die europäiſche Welt ſich neu
geſtaltet, die Völker fich darin feftſeßen, um eine nach allen Sei
ten hin ausgebildete Welt der freien Wirklichkeit hervorzubringen ,
und ihr Werk damit beginnen , alle Verhältniſſe auf eine parti
culare Weiſe zu beſtimmen und mit trübem gebundenem Sinne ,
was feiner Natur nach allgemein und Regel iſt, zu einer Menge
zufälliger Abhängigkeiten , was einfacher Grundſaß und Geſe
ſeyn ſollte, zu einem verwickelten Zuſammenhang zu machen , kurz
während das Abendland anfängt, fich in Zufälligkeit , Verwick
lung und Particularität einzuhauſen ; ſo mußte die entgegenge
fepte Richtung in der Welt zur Integration des Ganzen auftre
ten , und das geſchah in der Revolution des Drients ,welche
alle Particularität und Abhängigkeit zerſchlug und das Gemüth
vollkommen aufklärte und reinigte , indem ſie nur den abſtract
Einen zum abſoluten Gegenſtande, und ebenſo das reine ſubjective
Bewußtſeyn , das Wiſſen nur dieſes Einen zum einzigen Zwede
der Wirklichkeit, — das Verhältnißlofe zum Verhältniß der Eri
ſtenz – machte.
Wir haben ſchon früher die Natur Des orientaliſchen Prin
432 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
cips fennen gelernt, und geſehen , daß das Höchſte deſſelben nur
negativ iſt, und daß das Affirmative das Herausfallen in die
Natürlichkeit und die reale Knechtſchaft des Geiſtes bedeutet.
Nur bei den Juden haben wir bemerkt, daß fich das Princip
der einfachen Einheit in den Gedanken erhoben hat, denn nur
bei dieſen iſt der Eine, der für den Gedanken iſt, verehrt wors
den . Dieſe Einheit iſt nun in der Reinigung zum abſtracten
Geiſte geblieben , aber ſie iſt von der Particularität, mit der der
Jehovahdienſt behaftet war, befreit worden . Jehovah war nur
der Gott dieſes einzelnen Volfes , der Gott Abrahams, Iſaaks
und Jakobs : nur mit den Juden hat dieſer Gott einen Bund
gemacht, nur dieſem Volke hat er ſich offenbart. Dieſe Particu
larität des Verhältniffes iſt im Muhamedanismus abgeſtreift
worden . In dieſer geiſtigen Augemeinheit , in dieſer Reinheit
ohne Schranken und ohne Beſtimmung hat das Subject feinen
anderen Zweck, als die Verwirklichung dieſer Augemeinheit und
Reinheit. Allah hat den affirmativen beſchränkten Zweck des
jüdiſchen Gottes nicht mehr. Die Verehrung des Einen iſt der
einzige Endzwed des Muhamedanismus, und die Subjectivität
hat nur dieſe Verehrung als Inhalt der Thätigkeit , fowie die
Abſicht, dem Einen die Weltlichkeit zu unterwerfen . Dieſes Eine
hat nun zwar die Beſtimmung des Geiſtes , doch weil die Sub
jectivität ſich in den Gegenſtand aufgehen läßt, fällt aus dieſem
Einen alle concrete Beſtimmung fort, und ſie ſelbſt wird weder
für ſich geiſtig frei, noch iſt ihr Gegenſtand ſelber concret. Aber der
Muhamedanismus iſt nicht die indiſche, nicht die mönchiſche Ver
ſenkung in das Abſolute, ſondern die Subjectivität iſt hier leben
dig und unendlich , eine Thätigkeit, welche ins Weltliche tretend
daſſelbe nur negirt , und nur wirkſam und vermittelnd auf die
Weiſe iſt, daß die reine Verehrung des Einen eriſtiren fol . Der
Gegenſtand des Muhamedanismus iſt rein intellectuell , kein Bild,
keine Vorſtellung von Allah wird geduldet: Muhamed ift Pro
* phet aber Menſch und über des Menſchen Schwächen nicht ers
Erſter Abſchrt. Elem . d. driſtl. german. Welt. - Muhamebanismus. 433
haben . Die Grundzüge des Muhamebanismus enthalten dieß ,
daß in der Wirklichkeit nichts feſt werden kann, ſondern daß
Ales thätig , lebendig in die unendliche Weite der Welt geht, ſo
daß die Verehrung des Einen das einzige Band bleibt, welches
Alles verbinden ſoll. In dieſer Weite, in dieſer Macht verſchwin
den alle Schranken , aller National- und Caſtenunterſchied ; kein
Stamm , kein politiſdhes Recht der Geburt und des Beſiges hat
einen Werth, ſondern der Menſch nur als Glaubender. Den
Einen anzubeten , an ihn zu glauben , zu faſten , das leibliche
Gefühl der Beſonderheit abzuthun, Admoſen zu geben , das heißt,
ſich des particularen Beſiges zu entſchlagen : das ſind die ein
fachen Gebote ; das höchſte Verdienſt aber iſt, für den Glauben
zu ſterben , und wer in der Schlacht dafür umkommt, iſt des
Paradieſes gewiß.
Die muhamedaniſche Religion nahm ihren Urſprung bei den
Arabern : hier iſt der Geiſt ein ganz einfacher, und der Sinn
des Formloſen iſt hier zu Hauſe, denn in dieſen Wüſten iſt
nichts , was gebildet werden könnte. Von der Flucht Muha
meds aus Mekka im Jahre 622 beginnt die Zeitrechnung der
Muhamedaner. Noch bei Lebzeiten Muhameds unter ſeiner ei
genen Führung, und dann beſonders nach ſeinem Tode unter der
Leitung ſeiner Nachfolger haben die Araber dieſe ungeheuren Erobe
rungen gemacht. Sie warfen ſich zunächſt aufSyrien und erober
ten den Hauptort Damaskus im Jahre 634 ; weiter zogen ſie
dann über den Euphrat und Tigris und fehrten ihre Waffen ges
gen Perſien , das ihnen bald unterlag; in Weſten eroberten ſie
Aegypten , das nördliche Afrika , Spanien , und drangen ins ſüda
liche Frankreich bis an die Loire, wo ſie von Karl Martel bei
Tours im Jahre 732 beſiegt wurden . So dehnte ſich die Herr
ſchaft der Araber im Weſten aus, im Oſten unterwarfen ſie ſich,
wie geſagt, Perſien , Samarkand und den ſüdweſtlichen Theil von
Kleinaſten nacheinander. Dieſe Eroberungen , wie die Verbrei
tung der Religion, geſchehen mit einer ungemeinen Schnelligkeit.
Philoſophie 8 . Geldiote. 3 . Aufl. 28
434 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
Wer ſich zum Jslam bekehrte , bekam völlig gleiche Rechte mit
allen Muſelmännern . Was fich nicht bekehrte , wurde in der ers
ften Zeit umgebracht; ſpäter verfuhren jedoch die Araber milder
gegen die Beſiegten , ſo daß dieſe, wenn ſie nicht zum Islam
übergehen wollten , nur ein jährliches Kopfgeld zu entrichten hats
ten . Die Städte , welche ſich ſogleich ergaben , mußten dem Sies
ger ein Zehntel alles Beſiges abgeben ; die , welche erſt genoms
men werden mußten , ein Fünftel.
Die Abſtraction beherrſchte die Muhamedaner : ihr Ziel war,
den abſtracten Dienſt geltend zu machen , und danach haben ſie
mit der größten Begeiſterung geſtrebt. Dieſe Begeiſterung war
Fanatismus , das iſt, eine Begeiſterung für ein Abſtractes , für
einen abſtracten Gedanken , der negirend ſich zum Beſtehenden
verhält. Der Fanatismus iſt weſentlich nur dadurch , daß er
verwüſtend, zerſtörend gegen daß Concrete ftch verhält; aber der
muhamedaniſche war zugleich aller Erhabenheit fähig , und dieſe
Erhabenheit iſt frei von allen kleinlichen Intereſſen und mit allen
Tugenden der Großmuth und Tapferkeit verbunden . La reli
gion et la terreur war hier das Princip , wie bei Robespierre
la liberté et la terreur. Aber das wirkliche Leben iſt den
noch concret, und bringt beſondere Zwecke herbei; es kommtdurch
die Eroberung zu Herrſchaft und Reichthum , zu Rechten der
Herrſcherfamilie, zu einem Bande der Individuen . Aber alles
dieſes iſt nur accidentell und auf Sand gebaut: es iſt heute und
morgen iſt es nicht; der Muhamedaner iſt bei aller Leidenſchaft
gleichgültig dagegen und bewegt ſich im wilden Glüdswechſel.
Viele Reiche und Dynaſtien hat der Muhamedanisinus bei ſeis
ner Ausbreitung begründet. Auf dieſem unendlichen Meere wird
es immer weiter, nichts iſt feſt; was ſich fräufelt zur Geſtalt,
bleibt durchſichtig und iſt ebenſo zerflofſen. Jene Dynaſtien was
ren ohne Band einer organiſchen Feſtigkeit, die Reiche ſind darum
nur ausgeartet, die Individuen darin nur verſchwunden . Wo
aber eine edle Seele fich firirt, wie die Welle in der Kräuſelung
Erſter Abſchn . Elem . 6. chriſtl. german. Welt. — Muhamedanismus. 435
Drittes Capitel.
Das Reid Karls des Groſzen .
Zweiter Abſchnitt.
m a % M i ttelalte r .
Erſtes Capitel.
Die Feudalität und die Hierarchie.
Die erſte Reaction iſt die der beſonderen Nationalität
gegen die allgemeine fränkiſche Herrſchaft. Es ſcheint zwar zus
nächſt, daß das Franfenreich durch die Widfür der Könige ge
theilt worden iſt; das andere Moment aber iſt, daß dieſe Thei
lung populär war und ebenſo durch die Völker behauptet wors
den iſt: ſie war alſo nicht bloß ein Familienact, der unflug er
ſcheinen könnte , indem die Fürſten ihre eigene Macht dadurch
geſchwächt haben , ſondern eine Wiederherſtellung der eigenthüm
lichen Nationalitäten , die durch einen Zuſammenhang übermäch
tiger Gewalt und das Genie eines großen Mannes waren zu
ſammengehalten worden . Ludwig der Fromme, Sohn Karls des
Großen, theilte das Reich unter ſeine drei Söhne. Später aber
erhielt er aus einer zweiten Ehe noch einen Sohn , Karl den
Kahlen. Da er auch dieſem ein Erbtheil geben wollte , ſo ent
ſtanden Kriege und Streitigkeiten mit den andern Söhnen , welche
des ſchon Erhaltenen beraubt werden ſollten . Dieſe Kriege hat
ten ſo zunächſt ein individuelles Intereſſe, aber die Nationen
nehmen auch aus dem ihrigen heraus daran Antheil. Die weſt
lichen Franken hatten ſich bereits mit den Galliern identificirt,
und von ihnen ging eine Reaction gegen die deutſchen Franken
aus, ſowie ſpäter eine von Italien gegen die Deutſchen . Durch
den Verduner Vertrag im Jahre 843 wurde zwar eine Thei
lung unter den Nachkommen Karls des Großen gemacht, aber
dennoch wurde ſpäter das ganze fränkiſche Reich mit Ausnahme
einiger Provinzen auf einen Augenblid unter Karl dem Dicken
wieder vereinigt. Nur furze Zeit indeſſen vermochte dieſer
ſchwache Fürſt das große Reich zuſammenzuhalten ; es wurde in
446 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
viele kleinere Reiche zerſplittert, die ſich ſelbſtſtändig ausbildeten
und erhielten ; in das Königreich Italien , das felbſt in ſich ge
theilt war, die beiden burgundiſchen Reiche, Hochburgund , wovon
die Hauptpunkte Genf und das Kloſter St. Maurice in Wallis
waren , und Niederburgund zwiſchen dem Jura , dem Mittelmeer
und der Rhone, ferner Lothringen , zwiſchen dem Rhein und der
Maas , die Normandie, Bretagne. Zwiſchen dieſen Reichen war
das eigentliche Frankreich eingeſchloſſen , und ſo beſchränkt fand es
Hugo Capet vor, als er den Thron beſtieg. Oſtfranken , Sach
ſen , Thüringen , Baiern , Schwaben blieb dem deutſchen Reiche.
Aljo zerfiel die Einheit der fränkiſchen Monarchie.
Auch die inneren fränkiſchen Einrichtungen verſchwanden
nach und nach gänzlich , beſonders die Drganiſation der Kriegs
macht. Bald nach Karl dem Großen ſehen wir von vielen Sei
ten her die Normannen Einfälle in England , Frankreich und
Deutſchland machen . In England regierten urſprünglich ſieben
Dynaſtien angelſächſiſcher Könige, aber im Jahre 827 vereinigte
Egbert ſämmtliche Herrſchaften in ein einziges Reich. Unter ſei
nem Nachfolger machten die Dänen ſehr häufige Einfälle und
plünderten das Land aus. Tapferen Widerſtand fanden ſie erſt
unter Alfred dem Großen , aber der Dänenkönig Knut eroberte
ſpäter ganz England. Gleichzeitig waren die Einfälle der Nor
mannen in Frankreich. Sie fuhren auf leichten Kähnen die
Seine und die Loire hinauf, plünderten die Städte , verheerten
die Klöſter und zogen mit ihrer gemachten Beute davon ; ſie be
lagerten ſelbſt Paris , und die karolingiſchen Könige mußten
ſchimpflich den Frieden erkaufen . Ebenſo verwüſteten ſie die an
der Elbe liegenden Städte; vom Rhein aus plünderten ſie Aachen
und Cöln , und machten ſich Lothringen zinsbar. Zwar ließ
der Reichstag zu Worms 882 ein allgemeines Aufgebot an alle
Unterthanen ergehen , dennoch mußte man ſich aber zu einem
ſchimpflichen Vergleiche bequemen . Dieſe Stürme kamen von
Norben und Weſten. Im Often brachen die Magyaren her
wrter
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter .. 447
ein . Mit Weib und Kindern zogen dieſe barbariſchen Völker auf
Wagen herum und verwüſteten das ganze ſüdliche Deutſchland.
Durch Baiern , Schwaben , die Schweiz gelangten ſie bis ins
Innere von Frankreich und nach Italien . Von Süden her
drängten die Saracenen. Sicilien befand ſich ſchon längſt in
ihren Händen : von da aus faßten ſie feſten Fuß in Italien , be
drohten Rom , das durch einen Vergleich fie von fich abwendete,
und waren der Schrecken Piemonts und der Provence.
So rückten dieſe drei Völker in großen Maſſen von allen
Seiten in das Reich ein , und ſtießen in ihren Verheerungszü
gen faſt zuſammen . Frankreich wurde von den Normannen bis
an den Jura verwüſtet ; die Ungarn kamen bis nach der Schweiz,
und die Saracenen bis nach Walis. Denken wir an jene Dr:
ganiſation des Heerbannes und betrachten wir dabei dieſen trau
rigen Zuſtand., ſo müſſen wir uns über die Wirkungsloſigkeit
aller dieſer hochgerühmten Einrichtungen verwundern , indem ſie
nun gerade am wirkſamſten ſich hätten zeigen ſollen . Man könnte
geneigt fern, die Schilderung von der ſchönen , vernünftigen Ver
faſſung der fränkiſchen Monarchie unter Karl dem Großen , die
ſich als ſtark , groß und ordnungsvoll nach innen und außen
gezeigt hat, für eine leere Träumerei zu halten ; dennoch hat ſie
beſtanden , aber dieſe ganze Staatseinrichtung war nur durch die
Kraft, die Größe und den edlen Sinn dieſes Individuums ge
halten und war nicht auf den Geiſt des Volkes gegründet, nicht
lebendig in denſelben eingegangen , ſondern nur ein äußerlich
Auferlegtes , eine aprioriſche Conſtitution, wie die, welche Napo
leon Spanien gab , die ſogleich unterging, als fte nicht mehr !
durch die Gewalt aufrecht erhalten wurde. Was vielmehr die
Wirklichkeit einer Verfaſſung ausmacht, iſt, daß ſie als objective
Freiheit, ſubſtantielle Weiſe des Wollens, als Verpflichtung und
Verbindlichkeit in den Subjecten eriſtirt. Aber für den germa
niſchen Geiſt, der nur erſt als Gemüth und ſubjective Widfür
war, war noch keine Verpflichtung vorhanden , noch keine Inner
418 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
lichkeit der Einheit, ſondern nur eine Innerlichkeit des gleichgül
tigen , oberflächlichen Fürſichſeyns überhaupt. Auf dieſe Weiſe
war jene Verfaſſung ohne feſtes Band, ohne den objectiven Halt
in der Subjectivität; denn es war überhaupt noch keine Ver
faſſung möglich.
Dieß führt uns zur zweiten Reaction , welche die der
Individuen gegen die geſebliche Macht iſt. Der Sinn für Ges
ſeßlichkeit und Algemeinheit iſt durchaus nicht vorhanden , iſt in
den Völkern ſelbſt nicht lebendig. Die Verpflichtungen jedes
freien Bürgers , die Befugniſſe des Richters, Recht zu ſprechen ,
die des Gaugrafen , Gericht zu halten , das Intereſſe für die Ges
ſeße als ſolche, zeigen ſich als unkräftig, ſobald die ſtarke Hand
von oben nicht mehr die Zügel ſtraff hält. Die glänzende Staats
verwaltung Karl des Großen war ſpurlos geſchwunden , und die
nächſte Folge davon war die allgemeine Schußbedürftigkeit der
Individuen . Eine gewiſſe Schußbedürftigkeit iſt ſicherlich in je:
dem wohlorganiſirten Staat: jeder Bürger kennt ſeine Rechte,
und weiß auch, daß zur Sicherheit des Beſißes der geſellſchaft
liche Zuſtand überhaupt nothwendig iſt. Barbaren kennen die
fes Bedürfniß , einen Schuß am Anderen zu haben , noch nicht:
ſie ſehen es als eine Beſchränkung ihrer Freiheit an, wenn ihre
Rechte ihnen von Anderen zugeſichert werden ſollen . So war
alſo der Drang nach einer feſten Organiſation nicht vorhanden : die
Menſchen mußten erſt in den Zuſtand der Schußloſigkeit verſeßt
werden , um das nothwendige Erſcheinen des Staates zu empfins
I den . Die Staatsbildung fing wieder von ganz vorne an. Das
Allgemeine hatte durchaus feine Lebendigkeit und Feſtigkeit in fich
und im Volke, und ſeine Schwäche offenbarte ſich darin , daß
es den Individuen keinen Stuß zu geben vermochte. Die Bes
ſtimmung der Verpflichtung war im Geiſte der Germanen , wie
geſagt, nicht vorhanden ; es kam darauf an , ſie herzuſtellen .
Der Wille konnte nun zunächſt nur an dem Aeußerlichen des
Befifthums feſtgehalten werden, und bei der Erfahrung der Wichs
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. 449
dung zum Staate ſich nur ſo hätte machen können , daß jene
particularen Herrſchaften in ein amtliches Verhältniß zurückgetre
ten wären . Dazu wäre aber eine Uebermacht erforderlich gewe
fen , welche nicht vorhanden war, denn die Dynaſten beſtimmten
ſelbſt, inwiefern ſie noch abhängig ſeven vom Augemeinen. Es
gilt feine Macht des Gefeßes und des Rechts mehr , ſondern
nur die zufällige Gewalt, die eigenſinnige Nohheit des particu
laren Rechts, und dieſe ſtrebt gegen die Gleichheit der Rechte
und der Gefeße. Eine Ingleichheit der Rechte in der ganzen
Zufälligkeit iſt vorhanden , und aus dieſer kann die Entwickelung
der Monarchie nicht ſo geſchehen , daß das Oberhaupt als ſolches
die beſonderen Gewalten unterdrüdt, ſondern es ſind dieſe all
mählig in Fürſtenthümer übergegangen und mit dem Fürſtenthume
des Oberhauptes vereinigtworden , und ſo hat ſich die Macht
des Königs und des Staates geltend gemacht. Während nun
das Band der Einheit im Staate noch nicht vorhanden
war, haben ſich die beſonderen Territorien für fich ausges
bildet.
In Frankreich ging das Haus Karls des Großen wie das
Chludwigs durch die Schwäche der Regenten unter. Ihre Herr
ſchaft war zulegt nur auf die kleine Herrſchaft Laon beſchränkt,
und der legte der Carolinger, Herzog Karl von Lothringen , der
nach Ludwigs V . Tode die Krone in Anſpruch nahm , ward ge
ſchlagen und gefangen . Der mächtige Hugo Capet, Herzog von
Francien , wurde zum Könige ausgerufen . Der Titel König gab
ihm jedoch keine wirkliche Gewalt, denn ſeine Macht war nur
auf ſeinen Beſitz gegründet. Später wurden die Könige durch
Kauf, Heirath , Ausſterben der Familien, Eigenthümer mehrerer
Herrſchaften , und man fing beſonders an, fich an ſie zu wenden ,
um vor den Gewaltthätigkeiten der Fürſten Schuß zu ſuchen .
Die königliche Gewalt wurde in Frankreich früh erblich, weil
die Lehnsherrſchaften erblich waren , doch haben im Anfange die
Könige noch die Vorſicht gebraucht, ihre Söhne bei ihren Leba
29 *
452 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
zeiten frönen zu laſſen . Frankreich war in viele Herrſchaften ge
theilt: in das Herzogthum Guyenne, Grafſchaft Flandern , Her
zogthum Gascogne, Grafſchaft Toulouſe, Herzogthum Burgund,
Grafſchaft Vermandois ; Lothringen hatte auch einige Zeit zu
Frankreich gehört. Die Normandie war von den Königen von
Frankreich den Normannen eingeräumt worden , um auf einige
Zeit Ruhe vor ihnen zu haben . Von der Normandie aus
ging Herzog Wilhelm nach England hinüber und eroberte daſ
felbe im Jahre 1066. Er führte hier durchweg ein ausgebilde
tes Lehnsſyſtem ein , deſſen Neß zum großen Theile noch heute
England umgarnt. Auf dieſe Weiſe ſtanden aber die Herzoge
der Normandie mit einer großen Macht-Den ſchwachen Königen
von Frankreich gegenüber. - Deutſchland war aus den großen
Herzogthümern Sachſen , Schwaben , Baiern , Kärnthen , Lothrin
gen , Burgund , der Markgrafſchaft Thüringen , u . P. F. aus vie
len Bisthümern und Erzbisthümern zuſammengeſeßt. Jedes die
ſer Herzogthümer zerfiel wieder ebenſo in viele,mehr oder weni
ger unabhängige, Herrſchaften . Mehrere Male hatte es den An
ſchein , als vereinigte der Kaiſer mehrere Herzogthümer unter ſeis
ner unmittelbaren Herrſchaft. Kaiſer Heinrich III. war bei ſei
ner Thronbeſteigung Herr mehrerer großer Herzogthümer , aber
er ſchwächte ſelbſt feine Macht, indem er dieſe wieder an An
dere verlieh . Deutſchland war von Hauſe aus eine freie
Nation , und hatte nicht wie Frankreich den Mittelpunkt einer
erobernden Familie; es blieb ein Wahlreich. Die Fürſten lie
Ben ſich das Recht nicht nehmen , ihr Oberhaupt ſelbſt zu wäh
len ; bei jeder neuen Wahl machten ſie neue einſchränkende Bea
dingungen , ſo daß die kaiſerliche Macht zum leeren Schatten her
abſank. - In Italien war daſſelbe Verhältniß : die deutſchen
Kaiſer hatten Anſprüche darauf, ihre Gewalt ging aber nur ſo
weit, als ſie fich durch unmittelbare Kriegsmacht verſchafften ,
und als die italieniſchen Städte und der Adel in der Unterwer
fung einen eigenen Nußen ſahen . Italien war wie Deutſchland
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. 453
3 weites Capitel.
Die Kreuzzüge.
Die Kirche hat in dem erwähnten Kampfe den Sieg errun
gen und dadurch in Deutſchland ihre Herrſchaft ebenſo feftgeſeßt,
wie in den übrigen Staaten auf ruhigere Weiſe. Sie hat fich
zur Herrin aller lebensverhältniſſe, Wiſſenſchaft und Kunſt ges
machtund iſt die ununterbrochene Ausſtellung der geiſtigen Schäße.
Doch in dieſer Fülle und Vollendung iſt es nichts deſto weniger
ein Mangel und ein Bedürfniß, das die Chriſtenheit befällt und
ſie außer fich treibt. Um dieſen Mangel zu faſſen , muß auf die
Natur der chriſtlichen Religion ſelbſt zurückgegangen werden und
zwar auf die Seite derſelben , wonach ſie einen Fuß in der Ges
genwart des Selbſtbewußtſeyns" hat.
qui.
endlichen Freiheit erfaßt. Die Chriſtenheit iſt nie wieder als Ein
Ganzes aufgetreten .
Kreuzzüge andrer Art, mehr Eroberungsfriege, die aber auch
das Moment religiöſer Beſtimmung hatten , waren die Kämpfe
in Spanien gegen die Saracenen auf der Halbinſel ſelbſt. Die
Chriſten waren von den Arabern auf einen Winkel beſchränkt
worden , wurden aber dadurch mächtig , daß die Saracenen in
Spanien und Afrifa in vielfachem Rampf begriffen waren und
unter ſich ſelbſt zerfielen . Die Spanier, verbunden mit fränki
ſchen Rittern , unternahmen häufige Züge gegen die Saracenen ,
und bei dieſem Zuſammentreffen der Chriſten mit dem Ritter
thum des Orients , und mit ſeiner Freiheit und vollkommenen
Unabhängigkeit der Seele, haben auch die Chriſten dieſe Freiheit
angenommen . Das ſchönſte Bild von dem Ritterthum des Mit
telalters giebt Spanien , und der Held deſſelben iſt der Cid .
Mehrere Kreuzzüge, die nur mit Abſcheu erfüllen können , wurden
auch gegen das füdliche Frankreich unternommen. Es hatte ſich
daſelbſt eine ſchöne Bildung entwickelt : durch die Troubadours
war eine Freiheit der Sitte , ähnlich der unter den Hohenſtau
fenſchen Kaiſern in Deutſchland, aufgeblüht , nur mit dem Un
terſchiede , daß jene etwas Affectirtes in fich trug , dieſe aber in
nigerer Art war. Aber wie in Oberitalien , ſo hatten im ſüd
lichen Frankreich ſchwärmeriſche Vorſtellungen von Reinigkeit
Eingang gefunden ; die Päbſte ließen daher gegen dieſes land
das Kreuz predigen . Der heilige Dominicus ging dahin mit
zahlreichen Heeren , die auf die fürchterlichſte Weiſe Schuldige und
Unſchuldige beraubten und ermordeten , und das herrliche Land
gänzlich verwüſteten .
Durch die Kreuzzüge vollendete die Kirche ihre Autorität:
ſie hatte die Verrückung der Religion und des göttlichen Geiſtes
zu Stande gebracht, das Princip der chriſtlichen Freiheit zur
unrechtlichen und unſittlichen Knechtſchaft der Gemüther verkehrt,
und damit die rechtloſe Wiüfür und Gewaltthätigkeit nicht auf
478 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
gehoben und verdrängt, ſondern vielmehr in die Hände der Kir
chenhäupter gebracht. In den Kreuzzügen ſtand der Pabſt an
der Spiße der weltlichen Macht: der Kaiſer erſchien nur, wie
die anderen Fürſten , in untergeordneter Geſtalt und mußte dem
Pabſte, als dem ſichtbaren Oberhaupt der Unternehmung, das
Sprechen und das Handeln überlaſſen . Wir haben ſchon geſes
hen , wie die edlen Hohenſtaufen mit ritterlichem , edlem und ges
bildetem Sinn dieſer Gewalt, gegen welche der Geiſt keinen Wi
derſtand mehr hatte , entgegengetreten und wie ſie der Kirche,
welche, elaſtiſch genug, jeden Widerſtand beſeitigte und von feiner
Ausſöhnung wiſſen wollte, endlich unterlegen ſind. Der Untergang
der Kirche ſollte nicht durch offene Gewalt bewirktwerden ; ſondern
von innen heraus, vom Geiſte aus, und von unten herauf drohte
ihr der Sturz. Daß der hohe Zweck der Befriedigung durch den
Genuß der finnlichen Gegenwart nicht erreichtwurde, mußte das
päbſtliche Anſehn von vorn herein ſchwächen . Die Pabſte er :
reichten ebenſowenig ihren Zweck, das heilige land auf die Dauer
zu beſißen . Der Eifer für die heilige Sache war bei den Fürs
ften ermattet; mit unendlichem Schmerz ließen die Pabſte drin
gende Anforderungen an ſie ergehen, ſo vielmal wurde ihr Herz
durchbohrt durch die Niederlage der Chriſten ; aber vergeblich war
-ihr Wehklagen , und ſie vermochten nichts . Der Geiſt, unbefrie
digt bei jener Sehnſuchtnach der höchſten ſinnlichen Gegenwart,
hat ſich in ſich zurüdgeworfen . Es iſt ein erſter und tiefer Bruch
geſchehen . Von nun an ſehen wir die Regungen , in denen der
Geiſt, hinausgehend über die gräuelhafte und unvernünftige
Eriſtenz, entweder ſich in ſich ergeht und aus ſich die Befriedis
gung zu ſchöpfen ſucht, oder ſich in die Wirklichkeit allgemeiner
und berechtigter Zwecke, welche ebendamit Zwede der Freiheit
find , begiebt. Die Beſtrebungen , die daraus entſtanden , find
nunmehr anzugeben : ſie ſind die Vorbereitungen für den Geift
geweſen , den Zweck ſeiner Freiheit in der höheren Reinheitund
Berechtigung aufzufaſſen .
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. – Kreuzzüge. 479
Es gehören hierher zunächſt die Stiftungen von Mönchs
und Ritterorden , welche eine Ausführung deſſen ſeyn ſollten ,was
die Kirche beſtimmt ausgeſprochen hatte: es ſollte Ernſt gemacht
werden mit dieſer Entſagung des Beſißes , des Reichthums, der
Genüſſe , des freien Willens, welche von der Kirche als das
Höchfte aufgeſtellt worden war. Die Klöſter oder ſonſtigen Stif
tungen , welchen dieſes Gelübde der Entſagung auferlegt war,
waren ganz in das Verderben der Weltlichkeit verſunken . Jeßt
aber ſuchte der Geiſt innerhalb des Princips der Negativität
rein an ſich zu verwirklichen , was die Kirche aufgeſtellt hatte.
Die nähere Veranlaſſung dazu waren die vielen Keßereien in
Südfrankreich und Italien , die eine ſchwärmeriſche Richtung hat:
ten , und der um ſich greifende Unglaube, der aber der Kirche
mit Recht nicht ſo gefährlich zu ſeyn ſchien als jene Refereien .
Gegen dieſe Erſcheinungen erheben ſich nun neue Mönchsor
den , hauptſächlich die Franciscaner, Bettelmönche, deren Stif
ter , Franz von Affifi, von der ungeheuerſten Begeiſterung und
Ertaſe beſeelt, ſein Leben im beſtändigen Ringen nach der höch:
ften Reinheit zubrachte. Dieſelbe Richtung gab er ſeinem Or
den ; die äußerſte Verandächtigung, die Entſagung aller Ge:
nüſſe, im Gegenſaße gegen die einreißende Weltlichkeit der Kirche,
die beſtändigen Bußübungen , die größte Armuth (die Franzisca :
ner lebten von täglichen Almoſen ) waren demſelben daher be
ſonders eigen. Neben ihm erhob ſich faſt gleichzeitig der Dos
minicanerorden , vom heiligen Dominicus geſtiftet; ſein Geſchäft
war beſonders das Predigen . Die Bettelmönche verbreiteten
ſich auf eine ganz unglaubliche Weiſe über die ganze Chriſten
heit; ſie waren einerſeits das ſtehende Apoſtelheer des Pabſtes ,
andrerſeits ſind ſie auch gegen ſeine Weltlichkeit ſtark aufgetreten ;
die Franziscaner waren ein ſtarker Beiſtand Ludivigs des Baiern
gegen die påbftlichen Anmaßungen , auch ſoll von ihnen die Beſtim
mung ausgegangen feyn , daß das allgemeine Kirchenconcilium
über dem Pabſte ſtehe; ſpäter aber ſind auch fie in Stumpfheit
480 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
und Unwiſſenheit verſunken . — Eine ähnliche Richtung des Stre
bens nach Reinheit des Geiſtes hatten die geiſtlichen Ritter:
orden . Es iſt ſchon der eigenthümliche Rittergeiſt, der ſich in
Spanien durch den Kampf mit den Saracenen entwickelt hatte,
bemerkt worden : derſelbe Geiſt hat ſich durch die Kreuzzüge
über ganz Europa verbreitet. Die Wildheit und der Muth des
Raubes, befriedigt und befeſtigt im Beſik , beſchränkt durch Ges
genſeitigkeit, hat ſich durch die Religion in ſich verklärt und dann
durch die Anſchauung des unendlichen Edelmuths orientaliſcher
Tapferkeit entzündet. Denn auch das Chriſtenthum hat das
Moment unendlicher Abſtraction und Freiheit in fich , und der
orientaliſch ritterliche Geiſt fand darum in abendländiſchen Her :
zen einen Anklang, der ſie zur edleren Tugend ausbildete. ES
wurden geiſtliche Ritterorden , gleich den Mönchsorden , geſtiftet.
Den Mitgliedern derſelben wurde dieſelbe mönchifdhe Aufopferung
auferlegt, die Entbehrung alles Weltlichen . Zugleich aber über
nahmen ſie den Schuß der Pilgrimme: ihre Pflicht war dem
nach auch vor Adem ritterliche Tapferkeit; endlich waren ſie auch
zur Verſorgung und Verpflegung der Armen und Kranken ver
pflichtet. Die Ritterorden theilten ſich in dieſe drei: in den Jos
hanniterorden , Tempelorden und deutſchen Orden . Dieſe Affo :
ciationen unterſchieden ſich weſentlich von dem ſelbſtſüchtigen
Princip des Feudalweſens. Mit faſt ſelbſtmörderiſcher Tapfer
feit opferten ſich die Ritter für das Gemeinſame auf. So tre
ten dieſe Orden aus dem Kreiſe des Vorhandenen aus, und bil
den ein Neß der Verbrüderung über ganz Europa . Aber auch
dieſe Ritter ſind zu den gewöhnlichen Intereſſen herabgeſunken ,
und ihre Orden wurden in ſpäterer Zeit mehr eine Verſorgungs
anſtalt für den Adel überhaupt. Dem Tempelorden gab mar
ſogar Schuld, daß er ſich eine eigene Religion gebildet, und an
geregt vom orientaliſchen Geiſte in ſeiner Glaubenslehre Chriftus
geläugnet habe.
Eine weitere Richtung iſt nun aber die auf die Wiſſens
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. – Kreuzzüge. 481
Drittes Capitel.
Der Uebergang der Feudalherrſchaft in die Monarchie.
Die erwähnten Richtungen auf das Augemeine-waren theils
ſubjectiver, theils theoretiſcher Art. Jeßt aber haben wir die
praktiſchen Bewegungen im Staate näher zu betrachten . Der
Fortſchritt hat die negative Seite, daß er im Brechen der ſub
jectiven Wilfür und der Vereinzelung der Macht beſteht ; die af
firmative iſt das Hervorgehen einer Obergewalt, die ein Gemein
fames iſt, einer Staatsmadit als ſolcher, deren Angehörige gleiche
Rechte erhalten , und worin der beſondere Wille dem ſubſtantiellen
Zweck unterworfen iſt. Das iſt der Fortſchritt der Feudalherr
ſchaft zur Monarchie. Das Princip der Feudalherrſchaft ift
die äußere Gewalt Einzelner, Fürſten , Dynaften ohne Rechts
princip in ſich ſelbſt; fie find Vaſallen eines höheren Fürſten ,
Lehnsherrn , gegen den ſie Verpflichtungen haben : ob fie aber
dieſelben leiſten , kommtdarauf an ,ob er ſie durch Gewalt,durch ſeis
nen Charakter oder durch Vergünſtigungen dazu vermögen kann, -
Zweit. Abſchn . Mittelalter. — Ueberg. D. Feudalherrſch. zur Monarchie. 483
ſo wie auch jene Rechte des Lehnsherrn ſelbſt nur ein Reſultat
ſind, das durch Gewalt abgetroßt iſt, deſſen Erfüllung und Lei
ſtung aber auch nur durch fortdauernde Gewalt aufrecht erhalten
werden kann . Das monarchiſche Princip iſt auch Obergewalt,
aber über Solche, die keine ſelbſtſtändige Macht für ihre Widfür
beſißen , wo nicht mehr Willfür gegen Wiüfür ſteht; denn die
Obergewalt der Monarchie iſt weſentlich eine Staatsgewalt und
hat in ſich den ſubſtantiellen rechtlichen Zweck. Die Feudalherr
ſchaft iſt eine Polyarchie : es ſind lauter Herren und Knechte ;
in der Monarchie dagegen iſt Einer Herr und ſeiner Knecht,
denn die Knechtſchaft iſt durch ſie gebrochen , und in ihr gilt das
Recht und das Gefek ; aus ihr geht die reelle Freiheit hervor.
In der Monarchie wird alſo die Widfür der Einzelnen unter
drückt und ein Geſammtweſen der Herrſchaft aufgeſtellt. Bei der
Unterdrückung dieſer Vereinzelung wie beim Widerſtande iſt es
zweideutig, ob dabei die Abſicht des Rechts oder nur der Wil
für iſt. Der Widerſtand gegen die königliche Obergewalt heißt
Freiheit und wird als rechtmäßig und edel geprieſen , inſofern
man nur die Vorſtellung der Widfür vor ſich hat. Aber durch
die willkürliche Geſammtgewalt eines Einzelnen wird doch ein
Geſammtweſen gebildet; in Vergleichung mit dem Zuſtand, wo
jeder einzelne Punkt ein Ort der gewaltthätigen Widfür iſt , ſind
es nun vielweniger Punkte, die willkürliche Gewalt leiden . Det
große Umfang macht allgemeine Dispoſitionen des Zuſammen
halts nothwendig, und die innerhalb derſelben Regierenden ſind
zugleich weſentlich Gehorchende: die Vafallen werden Staatsbes
amte, welche Gefeße der Staatsordnung auszuführen haben . Da
aber die Monarchie aus dem Feudalismus hervorgeht , ſo trägt
ſie zunächſt noch den Charakter deſſelben an ſich. Die Individuen
gehen aus ihrer Einzelberechtigung in Stände und Corporatio
nen über; die Vafallen ſind nur mächtig durch Zuſammenhalt
als ein Stand ; ihnen gegenüber bilden die Städte Mächte im
Gemeinweſen . Auf dieſe Weiſe fann die Macht des Herrſchers
31 *
484 Vierter Theil. Die germaniſde Welt.
kannte , daß die Erde rund, alſo ein für ihn Abgeſchloſſenes ſen,
und der Schifffahrt war das neu erfundene techniſche Mittel der
Magnetnadel zu Gute gekommen , wodurch ſie aufhörte bloß
Küſtenſchifffahrt zu ſeyn ; das Techniſche findet ſich ein , wenn das
Bedürfniß vorhanden iſt.
Dieſe drei Thatſachen der ſogenannten Reſtauration der
Wiſſenſchaften , der Blüthe der ſchönen Künſte und der Entdef
kung Amerika's und des Weges nach Oſtindien ſind der Mor
genröthe zu vergleichen , die nach langen Stürmen zum erſten
Male wieder einen ſchönen Tag verfündet. Dieſer Tag iſt der
Tag der Allgemeinheit, welcher endlich nach der langen folgens
reichen und furchtbaren Nacht des Mittelalters hereinbricht, ein
Tag, der ſich durch Wiſſenſchaft, Kunſt und Entdedungstrieb ,
das heißt durch das Edelſte und Höchſte, bezeichnet, was der
durch das Chriſtenthum frei gewordene und durch die Kirche eman
cipirte Menſchengeiſt als ſeinen ewigen undwahren Inhalt darſtellt.
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. - Die Reformation . 497
Dritter Abſchuitt.
Die neu e 3 e i t.
Wir ſind nunmehr zur dritten Periode des germaniſchen Reis
ches gekommen , und treten hiermit in die Periode des Geiſtes ,
der ſich als freien weiß, indem er das Wahrhafte, Ewige, an
und für ſich Augemeine will.
In dieſer dritten Periode find wieder drei Abtheilungen zu
machen . Zuerſt haben wir die Reformation als ſolche zu
betrachten , die Alles verklärende Sonne, die auf jeneMorgen
röthe am Ende des Mittelalters folgt, dann die Entwickelung
des Zuſtandes nach der Reformation , und endlich die neueren
Zeiten von dem Ende des vorigen Jahrhunderts an.
Erſtes Capitel.
Die Reformati o u .
Die Reformation iſt aus dem Verderben der Kirche hers
vorgegangen . Das Verderben der Kirche iſt nicht zufällig , nicht
nur Mißbrauch der Gewalt und Herrſchaft. Mißbrauch iſt
die ſehr gewöhnliche Weiſe, ein Verderben zu benennen ; es wird
vorausgeſeßt, daß die Grundlage gut, die Sache ſelbſt mangel
los, aber die Leidenſchaften , ſubjectiven Intereſſen , überhaupt der
zufällige Wille der Menſchen jenes Gute als ein Mittel für ſich
gebraucht habe, und daß es um nichts zu thun ſeyy, als dieſe
Zufälligkeiten zu entfernen . In folcher Vorſtellung wird die
Sache gerettet und das Uebel als ein ihr nur Aeußerliches ges
nommen . Aber wenn eine Sache auf eine zufällige Weiſe ges
mißbraucht wird , ſo iſt dieß nur im Einzelnen , aber etwas ganz
Philoſophie o . Geſdidhte. 3. Aufl. 32
498 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
Anderes iſt ein allgemeines großes Uebel in einer ſo großen und
allgemeinen Sache, als eine Kirche iſt. Das Verderben der
Kirche hat ſich aus ihr ſelbſt entwickelt; es hat eben ſein Prin
cip darin , daß das Dieſes als ein Sinnliches in ihr , daß das
Aeußerliche , als ein ſolches , innerhalb ihrer ſelbſt ſich befindet.
( Die Verklärung deſſelben durch die Kunſt iſt nicht hinreichend).
Der höhere , der Welt - Geiſt hat das Geiſtige aus ihr bereits aus
geſchloſſen ; ſie nimmt keinen Theil daran und an der Beſchäftigung
mit demſelben ; ſie behält ſo das Diefes an ihr; – es iſt die
finnliche Subjectivität, die unmittelbare, welche nicht von ihr zur
geiſtigen verklärt iſt. — Von ießt an tritt fie hinter den
Weltgeiſt zurüc ; er iſt ſchon über ſie hinaus , denn er iſt dazu
gekommen , das Sinnliche als Sinnliches , das Aeußerliche als
Aeußerliches zu wiſſen , in dem Endlichen auf endliche Weiſe ſich
zu bethätigen , und eben in dieſer Thätigkeit als eine gültige , bez
rechtigte Subjectivität bei ſich ſelbſt zu ſeyn .
Solche Beſtimmung, die von Hauſe aus in der Kirche iſt,
entfaltet ſich nothwendig erſt als Verderben in ihr, wenn ſie kei
nen Widerſtand mehr hat, wenn ſie feft geworden iſt. Dann
werden die Elemente frei und vollführen ihre Beſtimmung. Dieſe
Aeußerlichkeit innerhalb der Kirche ſelbſt iſt es alſo , welche Uebel
und Verderben wird , und als das Negative innerhalb ihrer ſelbſt
ſich entwickelt. – Die Formen dieſes Verderbens ſind die man
nigfaltigen Beziehungen , in denen ſie ſelbſt ſteht und in welche
daher dieſes Moment fich hineinträgt.
Es iſt in dieſer Frömmigkeit Aberglauben überhaupt , Ge
bundenſeyn an ein Sinnliches , an ein gemeines Ding, -- in den
verſchiedenſten Geſtalten : – Silaverei der Autorität, denn der
Geiſt als in ihm ſelbſt außer ſich , iſt unfrei, außer ſich feſtge
halten ; — Wunderglauben der ungereimteſten und läppiſchſten
Art, denn das Göttliche wird auf eine ganz vereinzelte und ends
liche Weiſe für ganz endliche und beſondere Zwede da zu ſeyn
gemeint; - dann Herrſchſucht, Schwelgerei, alle Verdorbenheit
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. - Die Reformation . 499
der Roheit und Gemeinheit , Heuchelei, Betrug, - alles dieſes
thut ſich in ihr auf; denn das Sinnliche überhaupt iſt in ihr .
nicht durch den Verſtand gebändigt und gebildet; es iſt frei ges
worden und zwar frei nur auf eine rohe, wilde Weiſe. — Auf
der andern Seite iſt die Tugend der Kirche, als negativ ges
gen die Sinnlichkeit , nur abſtract negativ ; ſie weiß nicht ſittlich :
in derſelben zu ſeyn , und iſt daher nur fliehend , entſagend, uns
lebendig in der Wirklichkeit.
Dieſe Contraſte innerhalb ihrer — rohes Laſter und Be
gierde, und die Alles aufopfernde Erhabenheit der Seele — wer :
den noch ſtärker durch die Energie , in welcher der Menſch nun
in ſeiner ſubjectiven Kraft gegen die äußerlichen Dinge, in
der Natur fich fühlt , in welcher er ſich frei weiß , und ſo ein ab
ſolutes Recht nun für ſich gewinnt. - Die Kirche , welche die
Seelen aus dem Verderben retten foll, macht dieſe Rettung felbft
zu einem äußeren Mittel, und iſt jegt dazu herabgeſunken , die
ſelbe auf eine äußerliche Weiſe zu bewerkſtelligen . Der Ablaß
der Sünden , die höchſte Befriedigung, welche die Seele ſucht,
ihrer Einigkeit mit Gott gewiß zu ſeyn, das Tiefſte, Innerſte
wird dem Menſchen auf die äußerlichſte, leichtſinnigſte Weiſe ge
boten , – nämlich mit bloßem Gelde zu kaufen , und zugleich
geſchieht dieſes für die äußerlichſten Zwecke - der Schwelgerei.
Zwar iſt ein Zweck wohl auch der Bau der Peterskirche , des
herrlichen Baues der Chriſtenheit in dem Mittelpunkte der Re
fidenz der Religion . Aber , wie das Kunſtwerk aller Kunſtwerke,
die Athene und ihre Tempelburg zu Athen , von dem Gelde der
Bundesgenoſſen Athens aufgerichtet wird und dieſe Stadt um
ihre Bundesgenoſſen und ihre Macht bringt; ſo wird die Voll
endung dieſer Kirche des h . Petrus und Michel Angelos jüngs
ftes Gericht in der påbſtlichen Rapelle , das jüngſte Gericht und
der Sturz dieſes ſtolzen Baues .
Die alte und durch und durch bewahrte Innigkeit des
Deutſchen Volks hat aus dem einfachen , ſchlichten Herzen die
32 *
500 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
ſen Umſturz zu volbringen . Während die übrige Welt hinaus
iſt nach Oſtindien , Amerika, – aus iſt, Reichthümer zu gewin
nen , eineweltliche Herrſchaft zuſammenzubringen , deren land die
Erde rings umlaufen und wo die Sonne nicht untergehen ſoll;
iſt es ein einfacherMönch , der das Dieſes , das die Chriſtens
heit vormals in einem irdiſchen , ſteinernen Grabe ſuchte , viel
mehr in dem tieferen Grabe der abſoluten Idealität alles Sinns
lichen und Aeußerlichen , in dem Geiſte findet, und in dem Hers
zen zeigt, — dem Herzen , das, unendlich verlegt durch dieſe dem
Bedürfniſſe des Innerſten geſchehene Darbietung des Aeußerlich
ſten , die Verrückung des abſoluten Verhältniſſes der Wahrheit
in allen einzelnen Zügen erfennt, verfolgt und zerſtört. Luther's
einfache Lehre iſt, daß das Dieſes , die unendliche Subjectivität
d . i. die wahrhafte Geiſtigkeit, Chriſtus, auf keine Art in äußer
licher Weiſe gegenwärtig und wirklich iſt, ſondern als Geiſtiges
überhaupt nur in der Verſöhnung mit Gott erlangt wird -
im Glauben und im Genuſſe. Dieſe zwei Worte ſagen
Alles . Es iſt nicht das Bewußtſeyn eines ſinnlichen Dings als
des Gottes , noch auch eines bloß Vorgeſtellten , das nicht wirklich
und gegenwärtig iſt, ſondern von einem Wirklichen , das nicht
ſinnlich iſt. Dieſe Entfernung der Aeußerlichkeit reconſtruirt alle
Lehren und reformirt allen Aberglauben , in den die Kirche con
ſequent auseinander gegangen iſt. Sie betrifft hauptſächlich die
Lehre von den Werken ; denn Werfe ſind das auf irgend eine
Weiſe nicht im Glauben , im eignen Geiſte, ſondern äußerlich auf
Autorität u. f. f. Vollbrachte. Der Glaube aber iſt ebenſo wes
nig nur die Gewißheit von bloß endlichen Dingen – eine Ges
wißheit, die nur dem endlichen Subjecte angehört, wie etwa der
Glaube, daß Dieſer und Jener eriſtirt und dieß und jenes ges
ſagt hat; oder der, daß die Kinder Iſrael trognen Fußes durchs
rothe Meer gegangen , daß vor den Mauern von Jericho die
Poſaunen ſo ſtark gewirkt haben , wie unſere Ranonen ; denn
wenn auch von dieſem Allen nichts gemeldet wäre , ſo wäre
Dritter Abidnitt. Die neue Zeit. – Die Reformation . 501
Zweites Capitet.
Wirkung der Reformation auf die Staatsbildung.
Was die Staatsbildung anbetrifft, ſo ſehen wir zunächſt die
Monardie ſich befeſtigen und den Monarchen mit der Staats
macht angethan ſeyn. Wir haben ſchon früher das beginnende
Hervortreten der Königsmacht und die werdende Einheit der
Staaten geſehen . Dabei beſtand die ganze Maſſe von Privatver
bindlichkeiten und Rechten fort, die aus dem Mittelalter überlies
fert worden . Unendlich wichtig iſt dieſe Form von Privatrechten ,
welche die Momente der Staatsgewalt erlangt haben . An der
oberſten Spiße derſelben iſt nun dieß Poſitive, daß eine aus
ſchließende Familie als die regierende Dynaſtie eriftirt, daß die
Folge der Könige nach Erbrecht und zwar nach der Primogeni
tur beſtimmt iſt. Daran hat der Staat einen unverrüdbaren
Mittelpunkt. Weil Deutſchland ein Wahlreich war, deßwegen
iſt es nicht Ein Staat geworden , und aus demſelben Grunde
iſt Polen aus der Reihe der ſelbſtſtändigen Staaten verſchwun
den . Der Staat muß einen legten entſcheidenden Willen haben ;
ſoll aber ein Individuum das legte entſcheidende ſetin , ſo muß
es auf unmittelbare natürliche Weiſe, nicht nach Wahl, Einſicht
u . dgl. beſtimmt werden . Selbſt bei den freien Griechen war
das Drafel die äußerliche Macht, die ſie in ihren Hauptangele:
genheiten beſtimmte ; hier iſt nun die Geburt das Orakel, ein
Etwas , das unabhängig iſt von aller Widfür. Dadurch aber,
daß die oberſte Spiße einer Monarchie einer Familie angehört,
erſcheint die Herrſchaft als Privateigenthum derſelben . Nun wäre
Dritter Abſchn . Die neue Zeit. — Wirk.0.Reformat.auf 8.Staatsbild . 515
Recht an und für ſich ſexy, auftrat. Die Könige haben dann,
auf die Völfer fich ſtüßend, die Cafte der Ungerechtigkeit über
wunden ; wo ſie aber auf die Barone fich ſtüßten , oder dieſe
ihre Freiheit gegen die Könige behaupteten , da ſind die poſitiven
Rechte oder Unrechte geblieben . -
Es tritt ießt auch weſentlich ein Staatenſyſtem und ein
Verhältniß der Staaten gegen einander auf. Sie verwideln
ſich in mannigfaltige Kriege : die Könige, die ihre Staatsmacht
vergrößert haben , wenden ſich nun nach außen , Anſprüche aller
Art geltend machend. Der Zweck und das eigentliche Intereſſe
der Kriege iſt jeßt immer Eroberung. Ein ſolcher Gegenſtand
der Eroberung war beſonders Italien geworden, das den Frans
30ſen , Spaniern und ſpäter auch den Deſterreichern zum Objecte
der Beute dienen mußte. Die abſolute Vereinzelung und Zer
ſplitterung iſt überhaupt immer der Grundcharakter der Bewoh
ner Italiens geweſen , ſowohl im Alterthume, als auch in der
neueren Zeit. Die Starrheit der Individualität iſt unter der
Römerherrſchaft gewaltſam verbunden geweſen ; aber, als dieſes
Band zerſchnitten war, trat auch der urſprüngliche Charakter
ſchroff heraus. Die Italiener find ſpäterhin , gleichſam darin
eine Einheit findend, nachdem die ungeheuerfte, zu allen Verbrechen
ausgeartete Selbſtſucht überwunden worden , zum Genuſſe der
ſchonen Kunſt gekommen : ſo iſt die Bildung, die Milderung der
Selbſtſucht, nur zur Schönheit, nicht aber zur Vernünftigkeit, zur
höheren Einheit des Gedankens gelangt. Deßhalb iſt ſelbſt in
Poeſte und Gefang die italieniſche Natur anders wie die unſrige.
Die Italiener ſind improviſirende Naturen , ganz in Kunſt und
in ſeligem Genuß ergoſſen . Bei ſolchem Kunſtnaturell muß der
Staat zufällig ſeyn. – Aber auch die Kriege, die Deutſch
land führte , waren nicht beſonders ehrenvoll für daſſelbe: es
ließ fich Burgund, Lothringen , Elſaß und Anderes entreißen .
Aus dieſen Kriegen der Staatsmächte entſtanden gemeinſame
Intereſſen , und der Zweck des Gemeinſamen war, das Beſons
Dritter Abſchn. Die neue Zeit. — Wirk. d . Reformat.aufd.Staatsbild. 519
Drittes Capitel.
Die Aufklärung und Revolutiou.
In der proteſtantiſchen Religion war das Princip der In
nerlichkeit mit der religiöſen Befreiung und Befriedigung in ſich
ſelbſt eingetreten , und damit auch der Glaube an die Innerlich
feit als das Böſe und an die Macht des Weltlichen. Auch in
der katholiſchen Kirche führte die jeſuitiſche Caſuiſtik unendliche
Unterſuchungen ein , ſo weitläufig und ſpißfindig , als ehemals in
der ſcholaſtiſchen Theologie, über das Innerliche des Willens und
die Beweggründe deſſelben. In dieſer Dialektik, wodurch alles
Beſondere wankend gemacht wurde, indem das Böſe in Gutes
und das Gute in Böſes verkehrtwurde, blieb zuleßtnichts übrig,
als die reine Thätigkeit der Innerlichkeit ſelbſt, das Abſtracte des
Geiſtes, — das Denken . Das Denken betrachtet Alles in der
Form der Adgemeinheit und iſt dadurch die Thätigkeit und Pro
duction des Allgemeinen . In der vormaligen ſcholaſtiſchen Theos
logie blieb der eigentliche Inhalt, die Lehre der Kirche ein Jenſeits ;
Dritter Abſdynitt. Die neue Zeit. – Die Aufklärung u . Revolution . 527
Pflicht nur um der Pflicht willen . Das blieb bei den Deutſchen
ruhige Theorie; die Franzoſen aber wollten daſſelbe praktiſch auss
führen . — Es entſteht nun die doppelte Frage: Warum blieb
dieß Freiheitsprincip nur formell ? und warum ſind nur die Fran
3oſen und nicht auch die Deutſchen auf das Realiſiren deſſelben
losgegangen ?
Bei dem formellen Princip wurden wohl inhaltsvollere Kas
tegorieen herbeigebracht: alſo hauptſächlich die Geſellſchaft und was
nüßlich für die Geſellſchaft ſey ; aber der Zweck der Geſellſchaft
iſt ſelbſt politiſch , der des Staats (ſ. Driots de l'homme et du
citoyen 1791. ) , nämlich der die natürlichen Rechte aufrecht
zu halten , das natürliche Recht aber iſt die Freiheit , und die
weitere Beſtimmung derſelben iſt die Gleichheit in den Rechten
por dem Gefeß . Dieß hängt unmittelbar zuſammen , denn die
Gleichheit iſt durch die Vergleichung Vieler , aber eben dieſe Vies
len ſind Menſchen , deren Grundbeſtimmung dieſelbe iſt, die Frei
heit. Forinell bleibt dieß Princip , weil es aus dem abſtracten
Denken , dem Verſtande, hervorgegangen iſt,welches zuerſt Selbft
bewußtſeyn der reinen Vernunft und , als unmittelbar , abſtract
iſt. Es entwickelt noch nichts weiter aus fich , denn es hält ſich
der Neligion überhaupt, dem concreten abſoluten Inhalt, noch
gegenüber.
Was die andere Frage betrifft: warum ſind die Franzoſen
ſogleich vom Theoretiſchen zum Praktiſchen übergegangen , wo
gegen die Deutſchen bei der theoretiſchen Abſtraction ſtehen blie
ben , fu könnte man ſagen : die Franzoſen ſind Higköpfe (ils ont
la tête près du bonnet); der Grund liegt aber tiefer. Dem
formellen Principe der Philoſophie in Deutſchland nämlich ſteht
die concrete Welt und Wirklichkeit mit innerlich befriedigtem Bes
dürfniß des Geiſtes und mit beruhigtem Gewiſſen gegenüber.
Denn es iſt einerſeits die proteſtantiſche Welt ſelbſt, welche
ſo weit im Denken zum Bewußtſeyn der abſoluten Spiße des
Selbſtbewußtſeyns gekommen iſt, und andrerſeits hat der Pro
Dritter Abjanitt. Die neue Zeit. - Die Aufklärung u .Revolution . 533
teſtantismus die Beruhigung über die fittliche und rechtliche Wirk
lichkeit in der Geſinnung , welche ſelbſt, mit der Religion eins,
die Quelle alles rechtlichen Inhalts im Privatrecht und in der
Staatsverfaſſung iſt. In Deutſchland war die Aufklärung auf
Seiten der Theologie : in Frankreich nahm ſie ſogleich eine Rich
tung gegen die Kirche. In Deutſchland war in Anſehung der
Weltlichkeit ſchon Alles durch die Reformation gebeſſert worden ,
jene verderblichen Inſtitute der Eheloſigkeit, der Armuth und Faul
heit waren ſchon abgeſchafft , es war kein todter Reichthum der
Kirche und kein Zwang gegen das Sittliche, welcher die Quelle
und Veranlaſſung von Laftern iſt, nicht jenes unſägliche Un
recht, das aus der Einmiſchung der geiſtlichen Gewalt in das
weltliche Recht entſteht, noch jenes andre der geſalbten legitimi
tät der Könige, d . i. einer Widfür der Fürſten , die als ſolche,
weil fte Widfür der Gefalbten iſt, göttlich, heilig ſeyn ſoll; fon
dern ihr Wille wird nur für ehrwürdig gehalten , inſoweit er mit
Weisheit das Recht , die Gerechtigkeit und das Wohl des Gan
zen will. So war das Princip des Denkens ſchon ſo weit ver
föhnt; auch hatte die proteſtantiſche Welt in ihr das Bewußt
reyn , daß in der früher erplicirten Verſöhnung das Princip zur
weiteren Ausbildung des Rechts vorhanden ſey .
Das abſtract gebildete, verftändige Bewußtſeyn kann die
Religion auf der Seite liegen laſſen ; aber die Religion iſt die
allgemeine Form , in welcher für das nicht abſtracte Bewußtſeyn
die Wahrheit iſt. Die proteſtantiſche Religion nun läßt nicht
zweierlei Gewiſſen zu , aber in der fatholiſchen Welt ſteht das
Heilige auf der einen Seite und auf der andern die Abſtraction
gegen die Religion , d . h. gegen ihren Aberglauben und ihre Wahr
heit. Dieſer formelle, eigene Wille wird nun zur Grundlage ges
macht; Recht in der Geſellſchaft iſt, was das Gefeß will, und
der Wide iſt als einzelner ; alſo der Staat, als Aggregat der
vielen Einzelnen , iſt nicht eine an und für fich ſubſtantielle Ein
heit und die Wahrheit des Rechts an und für fich , welcher fick
534 Vierter Theil. Die germaniſche Welt .
alle Jahre , und die Gewalt, die es zu machen hat , iſt Regie
rungsgewalt. Damit hängt weiter zuſammen die indirecte Ers
nennung der Miniſter und der Beamten u . f. f. – Die Regie
rung wurde alſo in die Kaminer verlegt, wie in England in's
Parlament. — Ferner war dieſe Verfaſſung mit dem abſoluten
Mißtrauen behaftet : die Dynaſtie war verdächtig , weil ſie die
vorhergehende Macht verloren , und die Prieſter verweigerten
den Eid. Regierung und Verfaſſung konnten ſo nicht beſtehen ·
und wurden geſtürzt. Aber eine Regierung iſt immer vorhanden .
Die Frage iſt daher , wo kam ſie hin ? ſte ging an das Volf,
der Theorie nach , aber der Sache nach an den Nationalconvent
und Deffen Comités . Es herrſchen nun die abſtracten Prin
cipien – der Freiheit, und wie ſie im ſubjectiven Willen iſt —
der Tugend. Dieſe Tugend hat jegt zu regieren gegen die
Vielen , welche mit ihrer Verdorbenheit und mit ihren alten In
tereſſen , oder auch durch die Erceſſe der Freiheit und Leidenſchaf
ten der Tugend ungetreu find. Die Tugend iſt hier ein ein
faches Princip und unterſcheidet nur ſolche, die in der Geſinnung
ſind und ſolche , die es nicht ſind. Die Geſinnung aber kann
nur von der Geſinnung erfannt und beurtheilt werden . Es
herrſcht ſomit der Verdacht; die Tugend aber, fobald ſie ver
dächtig wird , iſt ſchon verurtheilt. Der Verdacht erhielt eine
fürchterliche Gewalt und brachte den Monarchen aufs Schaffot,
deſſen ſubjectiver Wille eben das katholiſch religiöſe Gewiffen
war. Von Robespierre wurde das Princip der Tugend als
das Höchſte aufgeſtellt, und man kann ſagen , es ſey dieſem Men
fchen mit der Tugend Ernſt geweſen . Es herrſchen jeßt die
Tugend und der Schrecken ; denn die ſubjective Tugend, die
bloß von der Geſinnung aus regiert, bringt die fürchterlichſte
Tyrannei mit ſich . Sie übt ihre Macht ohne gerichtliche For
men , und ihre Strafe iſt ebenſo nur einfach – der Tod. Dieſe
Tyrannei mußte zu Grunde gehen ; denn alle Neigungen , alle
Intereſſen, die Vernünftigkeit felbſt war gegen dieſe fürchterliche,
540 Vierter Theil. Die germanijdje Welt.
conſequente Freiheit, die in ihrer Concentration ſo fanatiſch auftrat.
Es tritt wieder eine organiſirte Regierung ein , wie die frühere,
nur iſt der Chef und Monarch ießt ein veränderliches Directorium
von Fünf, •welche wohl eine moraliſche aber nicht individuelle
Einheit bilden . Der Verdacht herrſchte auch unter ihnen , die
Negierung war in den geſeßgebenden Verſammlungen ; ſie hatte
daher daſſelbe Schickſal des Untergangs , denn es hatte fich das
abſolute Bedürfniß einer Regierungs gewalt dargethan. Napo
leon richtete ſie als Militärgewalt auf und ſtellte ſich dann wie
der als ein individueller Wille an die Spiße des Staates : er
wußte zu herrſchen und wurde im Innern bald fertig . Was
von Advocaten , Ideologen und Principienmännern noch da war,
jagte er auseinander , und es herrſchte nun nichtmehr Mißtrauen ,
ſondern Reſpect und- Furcht. Mit der ungeheuern Macht ſeines
Charakters hat er ſich dann nach außen gewendet, ganz Europa
unterworfen und ſeine liberalen Einrichtungen überall verbreitet.
Keine größeren Siege find je geſiegt, keine genievoleren Züge je
ausgeführt worden ; aber auch nie iſt die Ohnmacht des Sieges
in einem helleren lichte erſchienen , als damals. Die Geſinnung
der Völker D . h . ihre religiöſe und die ihrer Nationalität hat end
lich dieſen Koloß geſtürzt, und in Frankreich iſt wiederum eine
conſtitutionelle Monarchie, mit der Charte zu ihrer Grundlage,
errichtet worden . Hier erſchien aber wieder der Gegenſat
der Geſinnung und des Mißtrauens. Die Franzoſen waren in
der Lüge gegeneinander , wenn ſie Addreſſen voll Ergebenheit und
Liebe zur Monarchie, voll des Segens derſelben erließen . Es
wurde eine funfzehnjährige Farçe geſpielt. Wenn nämlich auch
die Charte das allgemeine Panier war , und beide Theile fie bes
ſchworen hatten , ſo war doch die Geſinnung auf der einen Seite
eine katholiſche , welche es fich zur Gewiſſensſache machte , die
vorhandenen Inſtitutionen zu vernichten . Es iſt ſo wieder ein
Bruch geſchehen , und die Regierung iſt geſtürzt worden . Ends
lich nach vierzig Jahren von Kriegen und unermeßlicher Verwira
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. - Die Aufklärung u. Revolution. 541
rung könnte ein altes Herz fich freuen , ein Ende derſelben und
eine Befriedigung eintreten zu ſehen . Allein , wenn auch jeßt ein
Hauptpunkt ausgeglichen worden , ſo bleibt einerſeits immer noch
dieſer Bruch von Seiten des katholiſchen Princips, andrerſeits
der der ſubjectiven Willen . In der leßtern Beziehung beſteht
die Haupteinſeitigkeit noch , daß der allgemeine Wille auch
der empiriſch allgemeine ſeyn ſoll d. h . daß die Einzelnen
als ſolche regieren , oder am Regimente Theil nehmen ſollen .
Nicht zufrieden , daß vernünftige Rechte, Freiheit der Perſon
und des Eigenthums gelten , daß eine Organiſation des Staa
tes und in ihr Kreiſe des bürgerlichen Lebens ſind , welche
felbft Geſchäfte auszuführen haben , daß die Verſtändigen Ein
fluß haben im Volfe und Zutrauen in demſelben herrſcht; ſeßt
der liberalismus allem dieſen das Princip der Atome, der
Einzelwillen entgegen : Alles ſoll durch ihre ausdrückliche Macht
und ausdrückliche Einwilligung geſchehen . Mit dieſem Formellen
der Freiheit, mit dieſer Abſtraction laſſen ſie nichts Feſtes von
Drganiſation aufkommen . Den beſonderen Verfügungen der
Regierung ſtellt ſich ſogleich die Freiheit entgegen , denn fle
find beſonderer Wille, alſo Wiüfür. Der Wille der Vielen ſtürzt
das Miniſterium , und die bisherige Oppoſition tritt nunmehr
ein ; aber dieſe , inſofern ſie jeßt Regierung iſt, hat wieder die
Vielen gegen ſich . So geht die Bewegung und Unruhe fort.
Dieſe Colliſion , dieſer Knotert, dieſes Problem iſt es , an dem
die Geſchichte ſteht, und den fie in fünftigen Zeiten zu löſen hat.
2 ) Wir haben jeßt die franzöſiſche Revolution als welt
hiſtoriſche zu betrachten , denn dem Gehalte nach iſt dieſe Bes
gebenheit welthiſtoriſch , und der Kampf des Formalismus muß das
von wohl unterſchieden werden . Was die äußere Ausbreitung bes
trifft, ſo ſind faſt alle moderne Staaten durch Eroberung demſelben
Princip geöffnet , oder dieſes ausdrüdlich darin eingeführt worden ;
namentlich hat der Liberalismus alle romaniſche Nationen nämlich
die römiſchkatholiſche Welt -- Frankreich, Italien , Spanien
542 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
beherrſcht. Aber allenthalben hat er bankrutt gemacht, zuerſt die
große Firina deſſelben in Frankreich, dann in Spanien , in Ita
lien ; und zwar zweimal in den Staaten , wo er eingeführt wors
den . Er war in Spanien , einmal durch die Napoleoniſche Con
ftitution , dann durch die Verfaſſung der Cortes , in Piemont,
einmal als es dem franzöſiſchen Reich einverleibt war , dann
durch eigne Inſurrection , ſo in Rom , in Neapel zweimal. Die
Abſtraction des liberalismus hat ſo von Frankreich aus die ro
maniſche Welt durchlaufen , aber dieſe blieb durch religiöſe Knecht
ſchaft an politiſche Unfreiheit angeſchmiedet. Denn es iſt ein
falſches Princip , daß die Feſſeln des Rechts und der Freiheit
ohne die Befreiung des Gewiffens abgeſtreift werden , daß eine
Revolution ohne Reformation ſeyn könne. — Dieſe Länder ſind
ſo in ihren alten Zuſtand zurückgeſunken , in Italien mit Modis
ficationen des äußerlichen politiſchen Zuſtandes. Venedig, Ge
nua, dieſe alten Ariſtokratien , die wenigſtens gewiß legitim waren ,
find als morſche Despotismen verſchwunden . Außere Uebermacht
vermag nichts auf die Dauer : Napoleon hatSpanien ſo wenig zur
Freiheit, als Philipp II. Holland zur Knechtſchaft zwingen können .
Dieſe romaniſchen ſtehen die andern und beſonders die
proteſtantiſchen Nationen gegenüber. Deſterreich und Engs
land find aus dem Kreiſe der innern Bewegung herausgeblies
ben und haben große, ungeheure Beipeiſe ihrer Feſtigkeit in fich
gegeben . Deſterreich iſt nicht ein Königthum ſondern ein Rai
ſerthum , D. h . ein Aggregat von vielen Staatsorganiſationen .
Die hauptſächlichſten ſeiner Länder ſind nicht germaniſcher Natur
und unberührt von den Ideen geblieben . Weder durch Bildung
noch durch Religion gehoben , find theils die Unterthanen in der
Leibeigenſchaft und die Großen deprimirt geblieben, wie in Böha
men , theils hat ſich, bei demſelben Zuſtand der Unterthanen , die
Freiheit der Barone für ihre Gewaltherrſchaft behauptet, wie in
Ungarn . Deſterreich hat die engere Verbindung mit Deutſchland
durch die kaiſerliche Würde aufgegeben und ſich der vielen Bes
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. – Die Aufklärung 1 . Revolution . 543