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Georg Wilhelm Friedrich Hegel's

Vorleſungen
über die

Philoſophie der Geſchichte .

Herausgegeben
von

Dr. Eduard G an s.

Dritte Auflage
beſorgt
bon

Dr. Karl Hegel.


Die Weltgeſdigte iſt nicht ohne eine
Weltregierung verſtändlid).
Wilhelm von Humboldt.

Mit Königl. Würtembergiſchem , Großherzogl. Beffiſchem und ber freien Stadt Frankfurt
Privilegium gegen den Nadbrud und Nachbruce Verkauf: . .

Berlin, 1848.
Verlag von Dunder und Humblot.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel's

W e r k e.

Vollſtändige Ausgabe
. durd

einen Verein von Freunden des Verewigten :

D . P h . M a rheineke, D . 7. Schulze, D . Ed. Gans,


. D. H . Hotho, D . C . Michelet, D . F. Förſt e r.

Ταληθές αεί πλείστον ισχύει λόγου .


Sophocles.

Neunter B a n d .

Dritte Auflage.
Mit Königl. Würtembergiſgem , Großherzogl. Seffiſdem und der freien Stadt Frankfurt
Privilegium gegen den Radbrud unb Navbruds - Verlauf.

Berlin , 1848.
Verlag von Dunder und Humblot. .
Inbalts : Verzeichniß .
Seite
Einleitung . . . . . . . . . ·. ·. 3
:. ·. .· . . ·.
Geographiſche Grundlage der Weltgeſdichte . . . . .
Die neue Welt . . . . . . . . . . . .. .
Die alte Welt . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Afrita · · · · · · · · · · · · · · · · · 113
Afien und Europa . . . . . . . . . . . . . . . 123
Eintheilung . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Erſter Theil.
Die orientaliſche Welt . . . . . . . . . . . . . . 136
Erſter Abſchnitt. China . . . . . . . . . . . . 141
Zweiter Abſchnitt. Indien . . . . . . . . . . . 169
Der Buddhaismus . . . . . . . . . . . . . . 205
Dritter Abſchnitt. Perſien . . . . . . . . . . . 211
Erſtes Capitel. Das Zendvoll . . . . . . . . . . 215
Zweites Capitel. Die Aſſyrier , Babylonier , Meder und Perſer 222
Drittes Capitel. Das Perſiſche Reich und ſeine Beſtandthelle 229
Perſien . . . . . . . . . . . . . . i . 230
Syrien und das ſemitiſche Vorderaſien . . . . . . . 233
Subäa . . . . . . . . . . . . . . . . .
Negypten . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
Uebergang zur griechiſchen Welt . . . . . . . . . 268
Bweiter Theil.
Die e ft er mub peab tunnitt. Die Gelibe Kunft
Die gried ifde Welt . . . . . . . . . . . . . . . 273
Erſter Abſchnitt. Die Elemente des griechiſchen Geiſtes . . 275
3weiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität 294
Erſtes Capitel. Das ſubjective Kunſtwerk . . . . . . 294
XXVI Inhalt
Seite
Zweites Capitel. Das objective Kunſtwerk . . . . . . 297
Drittes Capitel. Das politiſche Kunſtwerk . . . . . . . 305
Die Kriege mit den Perſern . . . . . . . . . 312

. . . . .
· · · · ·
Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Sparta · · · · · · · · · · · · · · · · · 319
Der peloponneſiſche Krieg . . . . . . . . . . . 323
Das macedoniſche Reich . . . . . . . 330
Dritter Abſchnitt. Der Untergang des griechiſchen Geiſtes . 335
Dritter Theil.
Die römiſde Welt . . . . . . . . . . . . . . . . 339
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege . 344
Erſtes Capitel. Die Elemente des römiſden Geiſtes . . . 344
Zweites Capitel. Die Geſchichte Noms bis zum zweiten
puniſchen Kriege · · · · · · · · ·
Zweiter Abſchnitt. Rom vom zweiten puniſchen Kriege
bis zum Kaiſerthum . . . . . . . 372
Dritter Abſchnitt.
Erſtes Capitel. Rom in der Kaiſerperiode . . . . . . . 382
Zweites Capitel. Das Chriſtenthum . . . . . . . . . 387
Drittes Capitel. Das byzantiniſche Reich . . . . . . . 408
Vierter Theil.
Die germaniſche Welt . . . . . . . . . . . . . . 415
Erſter Abſchnitt. Die Elemente der driſtlich germaniſchen Welt 421
Erſtes Capitel. Die Völkerwanderungen . . . . . . 421
Zweites Capitel. Der Muhamedanismus . . . . . . . 431
Drittes Capitel. Das Reidy Karl des Großen . . . . . 437
3 weiter Abſchnitt. Das Mittelalter . . . . . . . . 444
Erſtes Capitel. Die Feudalität und die Hierarchie . . . .
Zweites Capitel. Die Kreuzzüge . . . . . . . . . . 472
Drittes Capitel. Der Uebergang der Feudalherrſchaft
in die Monarchie . . . . . . . . . 482
Kunſt und Wiſſenſchaft als Auflöſung des Mittelalters 493
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit . . . . . . . . . 497
Erſtes Capitel. Die Reformation . . . . . . . . . . 497
Zweites Capitel. Wirkung der Reformation auf die Staats
bildung . . . . . . . . · 514
Drittes Capitel. Die Aufklärung und Revolution . . . . 526
Vorrede des Herausgebers .

Die Publication einer neuen Philoſophie der Geſchichte


verlangt zuvörderſt eine Rechenſdaft darüber, daß unter
allen Theilen der ſogenannten praktiſchen Philoſophie gerade
dieſer der am ſpäteſten angebaute und am dürftigſten bes
bandelte iſt. Denn erſt mit dem Anfange des adytzehnten
Jahrhunderts beginnt in Vico das Beſtreben , der bis
dahin theils als eine Aufeinanderfolge zufälliger Begeben
heiten , theils als ein geglaubtes , aber unerkanntes Werk
Gottes betrachteten Geſchichte , den Gedanken urſprüng=
licher Geſetze und einer Vernunft unterzulegen , der die
Freiheit des Menſchengeſchlechts ſo weit entfernt iſt zu
widerſprechen , daß ſie vielmehr den Boden ausmacht, auf
dem jene ſich erſt bervorthun kann. ..
Dieſe Auseinanderſeßung kann aber in wenigen und
kurzen Angaben gefaßt werden. Die Geſetze des Seyns
und Denkens, die Einrichtungen der Natur, die Erſcheis
nungen der menſchlichen Seele, ſelbſt die Rechts - und
Staatsformen ; nicht minder die Geſtalten der Kunſt, und
Gottes in dieſer oder in jener Weiſe anerkanntes Daſeyn
haben von jeher den Menſdhen als etwas, wenn auch nicht
in der Anſicht darüber , doch m Objecte, Feſtes und
Unwandelbares gegolten . Anders verhält es ſich mit den
Bewegungen der Geſchichte. Die äußere Zufälligkeit des .
Vorrede.

Emporkommens, oder Unterganges , die Siege, welche oft


das Laſter über die Tugend feiert, das abgedrungene Ge
ſtändniß : Verbrechen ſeven bisweilen der Menſdybeit von
den erſprießlichſten Folgen geweſen , die Veränderlichkeit
überhaupt, welche als die Hauptbegleiterin der Menſchen
ſchickſale betrachtet werden muß, laſſen die Geſchichte lange
auf einem ſolchen Boden wechſelvoller Widfür erbaut
glauben, auf einem ſolchen unſicheren und feuerſpeienden
Vulkane, daß man jede Bemühung, bier Regeln , Gedan
ken , Göttliches und Ewiges zu finden , für hineingetragene
Spitfindigkeit, für Seifenblaſen aprioriſder Conſtruction ,
oder für ein Spiel der Phantaſie wird halten dürfen .
Während man nicht anſtelt Gott in den natürlichen Ge
genſtänden zu bewundern , bält man es faſt für eine Läfte
rung, ihn in Menſchenſchöpfungen und Menſchenwerken zu
erkennen ; man glaubt Einzelnes und Willkürliches , das ja
bei anderer Willkür ganz anders hätte fallen können ,über die
Gebühr zu erheben , wenn man ihm einen Sinn zu Grunde
legt, den es in der Leidenſchaft ſeiner Urheber nicht hätte
haben ſollen , kurz man (chaudert davor zurück, Werke der
Freiheit und des menſchlichen Geiſtes für Ewiges zu erklä
ren , weil ſie nur dieſe Feſtigkeit beſigen , in ihrer beſtän
digen Veränderlichkeit reicher und entwickelter zu werden .
Es gehört ſchon ein bedeutender Fortſdritt des Denkens
dazu , eine Ausfüllung des „,breiten Grabens “ zwiſchen
Nothwendigkeit und Freibeit , ebe man daran geben konnte,
in dem härteſten Elemente, weil es eben kein ftebendes
iſt, ein Lenken nicht bloß auszuſprechen , ſondern aufzuzeigen ,
eine Weltregierung in der Weltgeſchichte nicht bloß zu be
haupten , ſondern anſchaulich zu machen , und den Geiſt als
eben ſo unverlaſſen von Gott anzuſehen , wie die Natur.
Dann aber muß auch in der That eine Reihe von Jahr
auſetnden vorübergezogen ſeyn : das Werk des Menſchen
Vorrede. VI

geiſtes muß einen hohen Grad von Vollendung erreicht


haben , ehe man den Standpunkt gewinnen kann , der eine
Ueberſicht dieſes Verlaufes gewährt. Erſt heute , wo das
Chriſtenthum ſeine Innerlichkeit zur Neußerlichkeit gebildes
ter und freier Staaten ausgearbeitet hat , iſt die Zeit nicht
bloß der Geſdichte aus Philoſophie , ſondern der Philo
ſophie der Geſchichte gekommen.
- Noch eine Bemerkung darf nicht vorenthalten werden ,
welche vielleicht geeignet iſt auch Gegner der Philoſophie
zu verſöhnen , und ſie wenigſtens davon zu überzeugen , daß
in der Faſſung der Geſchichte in Gedanken weder die ur
ſprünglichen Thatſachen verändert, noch ihnen irgend Ges
walt angethan werden ſolle. Es bezielt ſich dieſes eben
auf dasjenige, was als Philoſophiſches in den Begeben
beiten erkannt wird. Nicht jede geringe Thatſache, nicht
jede mehr der Sphäre des Einzellebens als dem Gange
des Weltgeiſtes angehörige Erſcheinung ſoll ſogenannter
Weiſe conſtruirt und durch die tödtende Formel ihrem
lebensvollen Gehalte entzogen werden . Es giebt nichts
Geiſtloſeres , und dadurds auch lächerlicheres als jenes
Herabſteigen in die Mikrologie des Gleichgültigen , als das
Vernothwendigen deſſen , was ſo oder ſo hätte entſchieden
werden können , und was der Conſtructor auch ſo oder ſo
würde ausgelegt haben . Die Philoſophie wird durch die
ſen Handwerksgebrauch ihrer edelſten Organe entwürdigt
und ein Friede mit den Bearbeitern der Empirie wird da
durch unmöglich. Was der Philoſophie als ein ihr Ge
höriges nachzuweiſen bleibt, beſteht nicht in dem Aufzeigen
der Nothwendigkeit aller Ereigniſſe , bei welchen ſie viel
mehr oft einer bloß erzählenden Darſtellung ſich befleißigen
darf, ſondern vielmehr in der enthüllenden Offenbarung,
daß keine große Völkergruppe, daß kein wichtiges Sta
dium der Geſchichte ohne den zu Grunde liegenden Ges
VIII Vorrede.

danken iſt, daß alle Hebergänge und Entwickelungen aus


den vorangegangenen Thatſachen ſich nachweiſen laſſen .
In dieſer künſtleriſchen Verbindung des bloß beſchreibens
den , und dann wieder , des in die Speculation ſich era
bebenden Moments wird der Werth einer Philoſophie
der Geſchichte liegen.
Die ſeit nunmehr hundert Jahren erfolgten Bearbeis
tungen der Philoſophie der Geſchichte ſind aber wieder je
nach dem Standpunkte verſchieden , je nach dem nationa
len Charakter der Autoren von einander abweichend , und
ſind endlich oft mehr bloße Andeutungen zur Philoſophie
der Geſchichte , als wirkliche Ausführungen derſelben gewes
ſen . Denn es ſind zuvörderſt von den Philoſophien
die Theoſophien abzuſcheiden , welche die Begebenheiten
in Gott zurücknelmen , während die erſteren Gott in der
Wirklichkeit erpliciren ; es iſt nicht zu verkennen , daß bei
den Italienern und Franzoſen die Philoſophien der Ge
ſchidyte weniger mit einem allgemeinen Denkſyſteme, deren
Theil jene nur ausmachten , zuſammenhängen , und daß die
Anſichten , wenn auch oft richtig und ſchlagend, ſich doch
über die Nothwendigkeit ihrer Eriſtenz nicht ausweiſen kön
nen ; es iſt endlids oft Vieles in die Philoſophie der Ge
ſchichte hineingezogen worden , was mehr myſtiſch, rhapſos
diſch, eine flüchtige Andeutung, ein unausgeführter Grunds
gedanke geblieben iſt, und wenn ihm auch großes Verdienſt
oft nicht abgeſprochen werden kann, dennoch nur in die
Vorhalle unſerer Wiſſenſchaft zu ſeben wäre. Wir wollen
gewiß nicht beſtreiten , daß unter den Deutſchen Leibniß ,
Leſſing, Weguelin , Iſelin , Kant, Fichte, Schel
ling, Schiller, Wilhelm von Humboldt, 1 Gör
. In der ſtyliſtiſch ebenſo meiſterhaften , als dem Inhalte nad ties
fen akademiſchen Abhandlung über die Aufgabe des Geſchichts
ſchreiber s .“
Vorrede. IX

res , Steffens, Roſenkranz ? Tiefes, Geiſtreiches und


Nachhaltiges theils über den geſchichtlichen Grund, theils
über das Band, in welchem die Thatſache mit dem darin
nachzuweiſenden Geiſte ſteht , geſagt haben ; wer könnte bei
den Franzoſen in Boſſuet die elegante kirchliche und teleo
logiſdye Nichtung, die die Weltgeſchichte wie eine große Land
karte betrachtet, in Montesquieu das ungeheure Talent
nicht bewundern wollen , daß ihm die Thatſachen ſofort zu
Gedanken anwachſen , oder in Balanche und Michelet
die Seberkraft durd die Oberfläche der Begebenheiten ,
nach den verborgenen Kräften derſelben zu ſchauen ? Wenn
man aber von wirklich ausgearbeiteten Philoſophien der
Geſchichte ſprechen will , ſo kommen nur vier Männer zum
Vorſdyein , Vico , Herder, Fr. v . Schlegel, und end
lich der Philoſoph , deſſen Werk wir hier zu bevorwors
ten haben .
Vico 's Leben und ſchriftſtelleriſche Arbeiten fallen
in eine Zeit, wo die alten Philoſophien von der carteſiani
ſchen verdrängt werden ; aber dieſe iſt noch nicht über die
Grundlagen des Seyns und Denkens hinausgekommen , fic
iſt noch nicht dazu angethan , in die concrete Welt der
Geſchichte niederzuſteigen und ſich ihrer zu bemächtigen .
Vico , wenn er in der scienza nuova die Principien der
Geſchichte aufweiſen möchte , kann dieß nur an der Hand
der Alten thun , nur durch die klaſſiſchen Philoſopheme der
Vorzeit; er wird daber in ſeinen Unterſuchungen mehr an
die alten Vorgänge als an die neuen gewieſen ſeyn ; die
Feudalität und ihre Geſchichte iſt mehr eine Beilage zu
der Entwickelung Griechenlands und Noms, als ein ſich
ſpecifiſch davon Unterſcheidendes. Wenn er von der chriſt
lichen Neligion am Ende ſeines Buches behauptet, daß fie
1 In der warmen und lebendig geiſtreichen Abhandlung „ das
Verdienſt der Deutſchen um die Philoſophie der Geſchichte.“
Vorrede.

auch in Beziehung auf menſchliche Abſichten die vorzüg


lichſte unter allen Religionen der Welt ſex , ſo gelangt er
nicht dazu dieſer Behauptung irgend eine Ausführung zu
geben . Wie ſich das Mittelalter von der neuen Zeit ſcheis
det und unterſcheidet kann gar nicht hervortreten , da der
Reformation und ihren Wirkungen keine Stelle gegönnt
werden darf. Dann aber hat er ſich auch noch mit den
Grundlagen des menſchlichen Geiſtes , mit der Sprache,
mit der Dichtkunſt, mit Homer zu beſchäftigen , er hat als
Juriſt in die Tiefen des römiſchen Rechts zu ſteigen und
dieſe zu betrachten , und alles dieſes , Urgedanke, Epiſode,
Ausführung und Zurüdkommen auf das Princip , iſt mit
einer Luſt zu Etymologien und zu Worterklärungen ver
brämt, die ſich oftmehr hemmend und ſtörend den wahr
ſten Sachentwickelungen entgegenſeßen. Die Meiſten wer
den ſo durch Neußerlichkeiten von Tiefen abgehalten , weil
ſie nicht reinlich genug auf der Oberfläche ausgelegt ſind,
und die Golderze werden mit den Schlacken weggewor
fen , die ſie umhüllen .
In Herder treten nun große Vorzüge auf, deren
Vico entbehrt. Es iſt ſelbſt ein Dichter und dichteriſch
für die Geſchichte geſtimmt; er hat ferner ſich nicht erſt
um die Gründe und Vorhallen der Hiſtorie, die Dichtkunſt,
die Sprache, das Recht zu befümmern : er fängt gleid
mit Klimatiſchem und Geographiſchem an; dann liegt die
ganze Geſchichte vor ihm aufgedeckt: ſeine allgemeine pro
teſtantiſche Weltbildung giebt ihm Zutritt zu allen Natio
nen und Anſichten , und macht ihn zu jeder Erhebung über
das Hergebrachte fähig. Bisweilen trifft er auch ſchlagend
das rechte Wort, ſein teleologiſcher Grundgedanke bält ihn
nicht von der Würdigung der Verſchiedenheiten ab , und in
der Vergleichung der Zeiten entgeht ihm ibre Aehnlichkeit
mit den Menſchenaltern nicht. Aber dieſc Ideen zur Phi
Vorrede. XI

loſophie der Geſchichte der Menſchheit widerſprechen ihrem


Titel ſchon dadurch , daß nicht bloß alle metaphyſiſchen Ka
tegorien abgeſchnitten ſind, ſondern daß ſie ſich ſogar im
Haß gegen die Metaphyſik bewegen . Die Philoſophie der
Geſchichte wird ſomit, losgeriſſen von ihrer Begründung,
ein geiſtreiches , oft treffendes , oft auch fehlendes Näſon
nement, eine Theodicee melr des Gemüthes und Verſtan
des als der Vernunft. Dieſe Verlegung der eigentlichen
Wurzel führt alsdann zu einer oft ſtörenden Begeiſterung,
zu Interjectionen der Bewunderung, ſtatt zu dem Rin
gen der Begründung. Der Theolog , der geiſtreiche Pre
diger , der Anſtauner der Thaten Gottes erſcheint mit ſeis
nen ſubjectiven Eigenſchaften ſehr oft inmitten der Ob
jectivität der Geſchichte.
In Friedrich von Schlegels Philoſophie der
Geſchichte finden wir , wenn wir wollen , einen Grundge
danken , den man einen philoſophiſchen nennen kann. Es
iſt nämlid der , daß der Menſch frei erſchaffen geweſen
ſex , daß zwei Wege vor ihm gelegen hätten , von denen
er den einen oder den anderen hätte wählen können , den
in die Höhe, und den in die niedere Tiefe. Wäre er
dem erſten von Gott ausgegangenen Willen feſt und treu
geblieben , ſo wäre ſeine Freiheit die der ſeligen Geiſter
geweſen , wobei es denn ganz irrig ſexy, wenn man ſich
dieſen paradieſiſdhen Zuſtand als den des ſeligen Müßig
ganges vorſtellt. Da der Mend , aber den zweiten Weg
unglücklicher Weiſe gewählt habe, ſo ſexy nunmehr ein gött
licher und ein natürlicher Wille in ihm , und die Aufgabe
ſen für das einzelne Menſchenleben wie für das ganze
Menſchengeſchlecht den niederen , irdiſch natürlichen Willen
immer mehr in den höheren göttlichen umzuwenden und
umzuwandeln . Dieſe Philoſophie der Geſchichte fängt alſo
ganz eigentlich mit dem ungeheuren Bebauern an, daß es
XII Borrebe.

überhaupt eine Geſchichte gebe, und daß es nicht vielmehr


bei dem ungeſchichtlichen Zuſtande der ſeligen Geiſter ver
blieben fen. Die Geſchichte iſt Abfall, Verdunkelung des
reinen und göttlichen Seyns , und ſtatt daß Gott darin
crkannt werden ſoll, iſt es vielmehr das Negative Gottes,
was ſich darin ſpiegelt. Ob es dem Menſchengeſchlecht
endlich gelingen werde, ſich ganz und vollſtändig zu Gott
zurückzuwenden , iſt ſomit eigentlich nur eine Erwartung
und Hoffnung, die, nachdem ſich daſſelbige nochmals durch
den Proteſtantismus verbunkelt hat, Friedrich von Schle
gel wenigſtens zweifelhaft erſcheinen mußte. In den Aus
führungen der einzelnen Völkerbegriffe und Völkergeſchich
ten findet ſich überall, wo dieſer Grundgedanke ein wenig
in den Hintergrund geſtellt iſt, eine geiſtreichflache Ent
wickelung, die in einer glatten Sprache Erſatz für den oft
ausgehenden Gedanken ſucht. Ein Wunſch ſich zu beru
bigen , ſich zu rechtfertigen und den katholiſchen Stand
punkt gegen die Forderungen der neuen Welt feſtzuhal
ten , giebt der Behandlung etwas Geſuchtes und Präme
ditirtes , das die Facta nicht in ihrer Weſenbeit läßt,
ſondern ihnen den Beigeſchmack deſſen , wozu ſie eigentlich
dienen ſollen , verleiht.
Die Hegelſden Vorleſungen über die Philoſophie
der Geſchichte, zu denen wir nunmehr kommen , haben vor
den Arbeiten der Vorgänger zuvörderſt, und ohne daß wir
uns hier unterfangen wollen von ihrem Inhalt zu ſprechen,
einen gewaltigen Vorſprung. Sie hängen vor allen Dingen
mit einem logiſchen und bis in die einzelſten Glieder aus
geführten Gedankenſyſteme zuſammen : ſie machen Anſpruch
darauf den Logos der Geſchichte darzuſtellen , grade wie es
einen Logos der Natur, der Seele , des Rechts , der Kunſt
u.ſ.w . giebt. Es iſt alſo hier nicht von Einfällen und Räſon
nement, von geiſtreichen oder ungeiſtreichen Anſchauungen ,
Vorrede. XIII

ſondern vielmehr von einem Suchen der logiſchen Philoſophie


innerhalb des Stoffes der Menſchenwerke die Nede. Die
Kategorien ſind bereits in anderen Theilen der Philoſophie
erwieſen , und es kommt nur darauf an, ob ſie ſich auch in
dem anſcheinend widerſtrebenden Elementemenſchlicher Will
kür bewairheiten . Damit dieſes Verfahren aber eine Be
währung ſeiner Richtigkeit, und ich möchte zugleich ſagen
ſeiner Ehrlichkeit in ſich trage , werden die Begebenheiten
ſelber nicht durch den Gedanken umgeſtellt, anders als ſie
ſind aufgewieſen , oder überhauptverändert. Die Thatſachen
bleiben wie ſie waren , wie ſie durch die geſchichtliche Tradi
tion der Jahrhunderteerſcheinen : die Idee iſt ihr Erläuterer,
aber nicht ihr Umſeter. Soll nun aber auf dieſe Weiſe die
Philoſophie der Geſchichte das bloße Verinwendigen des
äußerlich Erſcheinenden enthalten , ſo wird die philoſophiſche
Kunſt eben darin beſtehen , zu wiſſen , in welchem Theile
dieſer Aeußerlichkeit ein Nervengeflecht von Ideen liegt,
wasman als ſolches angeben und aufzeigen müſſe, ſie wird ,
wie man in der Natur nicht jeden Halm , jedes Thier und
jeden Stein conſtruiren kann , auch erkennen , wo ſie ſich
in die ſpeculative Höhe, oder wo, wie dieß don oben
geſagt worden iſt, ſie ſich in die Oberfläche der daran
grenzenden Erſcheinung verlieren darf; ſie wird wiſſen ,was
demonſtrirbar iſt, und was ſich als Gemälde und Charak
teriſtik bloß an die Demonſtration anzulehnen hat, ſie wird,
ihrer Würde und ihrer Macht ſich bewußt, nicht an gleich
gültige Umſtände ihre Arbeit verſchwenden wollen .
Dieß eben iſt ein Hauptverdienſt der gegenwärtigen
Vorleſungen , daß ſie bei aller ſpeculativen Kraft doch der
Empirie und Erſcheinung ihr Recht widerfahren laſſen , daß
ſie ſich gleich entfernt halten von einem bloß ſubjectiven
Raiſonnement, wie von einem Einthun alles Geſchichtlichen
in die Formelbüchſe, daß ſie die Idee ebenſo in der logi
XIV Vorrede.

ſchen Entwickelung wie in der loſe ſcheinenden Geſchichts


erzählung ergreifen , aber ohne daß dieſes in der letzte
ren bemerklich werde. Das ſogenannte Aprioriſme, von
dem man in der That annimmt, es beſtele darin auch
obne alle Hülfe von den Begebenheiten die Geſchichte zu
maden , iſt ſo von dem bier Vorgetragenen durchaus ver
ſchieden : der Autor wollte nicht ein Gott ſeyn , der die
Geſchichte ſchafft, ſondern ein Menſch , der die geſchaffene,
vernünftige, ideenreiche betrachtet.
Der Charakter der Vorleſungen verleiht dem Buche
nun außerdem einen Vorzug, den es vielleicht nidyt hätte
wenn es von Vorne herein in buchlicher Abſicht und mit
der ganzen Energie und Gediegenheit dieſer Abſicht ge
ſchrieben wäre. Als Vorleſungen muß es das Beſtreben
haben an das unmittelbare Verſtändniß ſich zu wenden ,
junge Zuhörer zu bewegen und das zu Sagende mit dem
was ſie ſchon wiſſen in Verbindung zu ſeßen . Da nun
unter allen Stoffen , die etwa philoſophiſch zu behandeln
ſind, die Geſchichte derjenige bleibt, deſſen Gegenſtand am
früheſten mehr oder minder jungen Männern mitgetheilt
iſt, ſo wird audy die Philoſophie der Geſchichte dazu kom
men müſſen , an das Bekannte anzuknüpfen , und nicht ſo
wohl den Stoff und ſeine Gedanken zu lehren , wie dieß
z. B . in der Aeſthetik der Fall iſt, als vielmehr das Werk
zu unternehmen , an dem vorausgeſekten Inhalt die Bes
wegung der Idee aufzuweiſen . Geſchieht dieſes nun auf
eine theils conſtruirende , theils bloß charakteriſirende Weiſe,
ſo wird zugleich der Vortheil errungen ſeyn , daß man ein
lesbares , dem gewöhnlichen Bewußtſeyn ſich anſchließendes ,
oder wenigſtens ein nicht ſehr davon entfernt liegendes
Werk gefördert hat. Dieſe Vorleſungen dürften ſomit,
und wir können , ohne Furcht widerſprochen zu werden ,
dieß bemerken , der leichteſte Anknüpfungspunkt an die Hes
Vorrede. XY

gelſche Philoſophie werden , vielleicht nod mehr wie die


Rechtsphiloſophie, die doch gewiſſe Rechtsbegriffe ſchon als
ihre Vorausſegung verlangt. Wie aber das Werk den
Vortheil der Vorleſungen mit ſich führt, ſo iſt zugleich
auch dadurch ihr Nachtheil gegeben . Das Bedürfniß zu
entwickeln , und dabei ebenſo das Andere, vollſtändig zu
ſeyn und fertig zu werden , müſſen eine Incongruenz zwi
ſchen den erſten und letzteren Theilen der Arbeit verur
fachen . Der Sachreichthum des Mittelalters und der
Ideenreichthum der neueren Zeit könnten ſich vielleicht in
dem vorliegenden Buche über die Aufmerkſamkeit beſchwe
ren , die z. B ., weil es der Anfang iſt, dem Oriente zu
gewendet wird.
Dieß führt nun von ſelbſt zu den Grundſätzen , welche
die Bearbeitung geleitet haben , und zwar werde id ; erſt
von der Sache , und dann von der Form ſprechen . In
einer Vorleſung ſucht der Lehrer das, was er weiß und
beſigt, zu individualiſiren : er haucht ihm durch das Mo
ment des Vortrags ein Leben ein , das ein bloßes Buch
nicht in ſich tragen kann. Abſchweifungen , Ausführungen ,
Zurückkommen auf ſchon Geſagtes , Hineinziehungen von
Aehnlichem , das aber zu dem eigentlichen Gegenſtande
weniger gehört, ſind in jeder Vorleſung nicht allein an
ihrem Plaß , ſondern ohne dieſe Ingredienzien würde ein
Vortrag todt und leblos werden . Daß Hegel dieſe Gabe
des Lehrens, troß allen Vorurtheilen die dagegen gebegt
wurden , beſeſſen hat, dürfte ſchon allein durch ſeine Ma
nuſcripte bewieſen werden können , in denen nicht der ganze
Inhalt des Mitgetheilten enthalten iſt, dann aber auch
durch die zahlreichen Veränderungen und Umgeſtaltungen ,
die ſich bei jedem nochmaligen Vornehmen des alten Vor
trags finden . Oft aber war in einer Lection das Erzählte
in gar keinem Verhältniſſe zur Speculation : oft war der
* *
XVI Vorrede.

Anfang (und bloß weil es dieſer war) ſo weit ausgeführt,


daß wenn man alle Erzählungen , Beſchreibungen , Anek
doten mit hätte aufnehmen wollen , dem Eindrucke des
Buches ein weſentlicher Schade wäre zugefügt worden.
In dem erſten Vortrage , den Hegel über Philoſophie der
Geſchichte hielt , wandte er ein gutes Drittel ſeiner Zeit
auf die Einleitung und auf China, das mit einer ermü
denden Weitläuftigkeit ausgeführt wurde. Wenn er auch
in ſpäteren Vorträgen etwas weniger umſtändlich in Be
ziehung auf dieſes Reich wurde, ſo mußte die Darſtellung
doch von dem Bearbeiter zu dem Maaße zurückgeführt
werden , daß der dineſiſche Theil nicht als ein übergrei
fender , und eben dadurch ſtörender, ſich zu den übrigen
Ausführungen verhalte. Was im höchſten Grade von die
ſem Theile geſagt werden muß, gilt auch in geringerer
Weiſe von allen übrigen . Der Bearbeiter hatte hier Vor
leſungen als ein Buch zu übergeben ; er mußte aus Ge
ſprochenem Lesbares machen , er hatte Hefte aus verſchie
denen Jahren , ſowie Manuſcripte vor ſich , er hatte die
Pflicht, die Längen der Vorträge abzukürzen , die Erzäh
lungen in Einklang mit den ſpeculativen Betrachtungen
des Urhebers zu ſeßen , dafür zu ſorgen , daß die leşte
ren von den erſteren nicht gedrückt würden , und daß
dieſen erſteren wiederum der Charakter der Selbſtſtändig
feit und des Fürſichſeyns genommen werde; andererſeits
durfte er nicht einen Augenblick vergeſſen , daß das Buch
Vorleſungen enthalte; die Naivität, das ſich Hingeben,
die Unbekümmertheit um eigentliche Vollendung mußten ,
wie ſie ſich fanden , gelaſſen werden , und ſogar öftere
Wiederholungen , da wo ſie nicht allzu ſtörend und er
müdend waren , konnte man nicht ganz ausmerzen . Trok
allen dieſen der Bearbeitung durch die Natur der Sache
zufallenden Rechten und Pflichten darf sod die Verſiche
Vorrede. XVII

rung gegeben werden , daß den Hegelſchen Gedanken keine


eigenen des Herausgebers untergeſchoben worden ſind, daß
der Leſer hier ein cigenes durchaus unverfälſchtes Werk
des großen Philoſophen erhält, und daß, wenn der Bears
beiter anders verfahren wäre, er eben nur die Wahl ges
babt hätte , etwas als Buch ganz Ungenießbares zu pro
buciren , oder andererſeits zuviel Eigenes an die Stelle
des Vorgefundenen zu ſeben .
Was nun die Styliſirung des Werkes betrifft, ſo
war der Bearbeiter genöthigt, es vom Anfange bis zum
Ende niederzuſchreiben. Indeſſen fand er von Vorne ber
ein für einen Theil der Einleitung (bis zu Seite 73 des
Buches ) eine von Hegel im Jahre 1830 begonnene Aus
arbeitung, die , wenn ſie aud nicht gerade zum Drucke
beſtimmt war, doch augenſcheinlich an die Stelle der frü
heren Einleitungen treten ſollte. Der Herausgeber , hier
nicht gerade im Einverſtändniß mit allen ſeinen Freunden ,
glaubte da, wo ſich ein Hegelſcher Torſo vorfand, aller
eigenmächtigen Einſchaltungen und aller Bearbeitung ſelbſt
ſich enthalten zu müſſen . Er wollte die geſchloſſene Phas
lanr des Hegelſchen Styles nicht durch Aufſtellungen an
derer Natur und Art corrumpiren , ſelbſt auf die Gefahr
hin , hierdurch einer gewiſſen Einheit des Ausdrucks entſa
gen zu müſſen. Er dachte , daß es dem Leſer nicht un
angenehm ſeyn könne, durds einen Theil des Buches dem
ftarken , markigen und bisweilen knorrigen Støle des Urs
bebers zu begegnen ; er wollte ihm die Freude gönnen , an
ſeiner manchmal nicht gelenken , aber immer ſicheren und
energiſchen Hand ſich durch die Gedankenkrümmungen
durchzuwinden. Von dem Augenblicke an, wo dieſe aus
gearbeiteten Bruchſtücke aufhörten , trat nun freilich die
Aufgabe ein , ein Ganzes abzufaſſen , doch wurde dieſe im »
mer mit Rüdſicht auf die eigenthümlichen Wendungen,
XVIII Vorrede.

welche ſich in den Manuſcripten und in den Heften vor


fanden , vollführt; der Herausgeber entſagte gern den Wor
ten , die ſich ſeiner Feder darboten , wenn er andere , die
er vielleicht nicht würde gewählt haben , die ihm aber für
den Urheber charakteriſtiſcher ſchienen , vorfand ; er wollte
nur da , wo es abſolut nothwendig wäre, ergänzen , aus
füllen , nachhelfen , er wollte wo möglich den eigenthüm
lichen Typus der Abfajung auf keine Weiſe verändern ,
und nicht ſein Buch, ſondern das eines Anderen dem
Publikum vorlegen . Deswegen kann der Herausgeber
auch nicht für den Ausdruck, wie für ſeinen eigenen , ver
antwortlich gemacht werden ; es handelte ſich darum ein
fremdes Material darzuſtellen , fremde Ideenzüge mitzu
theilen , dabei ſich auch wo möglich nicht aus den Krei
ſen der eigenthümlichen Bezeichnung zu entfernen . Nur
innerhalb dieſer gegebenen und vorausgeſetzten Bedingun
gen , die für einen freien Styl zugleich Hemmungen ſind,
kann man von dem Herausgeber eine Rechenſchaft vers
langen .
Als Quellen bei der Bearbeitung dienten zunächſt
die Hegelſchen Manuſcripte. Oft enthalten dieſe nur
einzelne bisweilen burd Striche verbundene Worte und
Namen , augenſcheinlich um dem Gedächtniſſe beim Leh
ren nachzuhelfen ; dann aber wieder längere Säße, bis
weilen Ausarbeitungen von der Länge einer Seite oder
mehr. Dieſem letzteren Theile des Manuſcripts konnte
mancher ſchlagende Ausdruck, manche energiſche Bezeich
nung entnommen werden : die Hefte empfingen in die
ſem ihre Rectification , und man muß ſich wundern , mit
welcher nachhaltigen Ausdauer hier immer wieder auf
ſchon länger Gedachtes zurückgekommen wurde. Hegel
erſcheint in ihnen als der fleißigſte, forgſamſte Docent,
Vorrede. XIX

der immer bedacht iſt Flüchtiges zu vertiefen , und das ,


was ſich verlaufen möchte, mit den Klammern der Idee
zu befeſtigen . Was nun den zweiten Beſtandtheil der
Quellen , die Hefte, betrifft, ſo habe id , welche aus al
len fünf Jahrgängen dieſer Vorleſung, aus den Jahren
1823, 1834 , 1834, 1838, 1831, vor mir gehabt, und
zwar in den Nadſchriften des Herrn Geh . Ober - Regie
rungsrath Sdulze, des Herrn Hauptmanns von Griess
beim , des Herrn Profeſſors Hotho, des Herrn Dr.
Werder, des Herrn Dr. Heimann , und des Sohnes
des Philoſophen , des Herrn Carl Hegel. Erſt in dem
Jahrgange 18xi kam Hegel dazu , etwas weitläufiger
von dem Mittelalter und der neueren Zeit zu handeln ,
und die Darſtellung im Buche iſt meiſt dieſem leşteren
Vortrage entlehnt. Vielen meiner Herren Collegen und
Freunde, die ich gern namhaft machte, wenn ich anneh
men dürfte, daß ſie es mir geſtatteten , bin ich für Ver
beſſerungen , Zuſätze und Hülfe jeder Art verbunden . Ohne
ſie würde das Buch im Thatſächlichen weit unvollkom
mener ſeyn, als es jetzt vielleicht iſt.
Mit dieſer bier erſcheinenden Philoſophie der Ge
ſchichte , mit der in wenigen Monaten vollendeten Aeſthe
tik , und mit der Encyklopädie , die ebenfalls in ihrer
neuen Geſtalt und Weiſe nidyt mehr lange auf ſichwarten
laſſen wird, iſt alsdann das ganze Werk der Heraus
gabe Hegelſcher Schriften abgeſchloſſen. Für unſeren
Freund und Lehrer wird es ein Denkmal des Ruhms,
für die Herausgeber ein Denkmal der Pietät ſeyn, deren
Ehre und Wahrheit nidit in weibiſchen Bebauern , ſon
dern in dem wieder zu Thaten ſich erhebenden Sdmerze
liegt. Dafür hat ſie aber auch keine andere Anerkennung
zu verlangen , als welche jeder ſchon in dem vollendeten
XX Vorrede.

Pflichtgefühle ſelber beſißt, und wenn Lebenoverſtorbene


uns wegen der Geringheit unſerer Mittel bezüchtigen zu
können glauben , ſo dürfen wir , wegen der Fülle unſerer
Geſinnung, einen Ablaß verhoffen . Die Hegelſchen vier
Weltalter ſind wenigſtens erſchienen .
Berlin , den 8 . Juni 1837.
Eduard Gans.

Vorrede zur zweiten Auflage.

Die veränderte Geſtalt, in welcher Hegels Vorleſungen


über die Philoſophie der Geſdichte aufs Neue erſcheinen ,
macht eine Erklärung nöthig , über das Verhältniß dieſer
zweiten Auflage ſowohl zu dem vorhandenen Material der
Vorleſungen ſelbſt als zur erſten Redaction derſelben .
Der verewigte Profeſſor Gans, der Herausgeber der
Philoſophie der Geſchichte, hat mit geiſtreichem Geſchick
Vorleſungen zu einem Buche gemacht; er hat ſich dabei
hauptſächlich an die legten Vorträge Hegel's gehalten ,
weil ſie die populärſten waren und für den Zweck die
geeignetſten ſchienen .
Seiner Bemühung iſt es gelungen die Vorleſungen im
Ganzen ſo herzuſtellen , wie ſie im Winter 18 i gehalten
wurden , und dieſes Reſultat könnte vollkommen genügen ,
wenn die verſchiedenen Vorträge Hegels gleichmäßiger und
übereinſtimmender , wenn ſie nicht überhaupt von der Be
ſchaffenheitwären , daß ſie ſich weſentlich unter einander er
gänzen. Denn wie mächtig auch Hegel die Ausdehnung der
Vorrede. XXI

Erſcheinungswelt durch den Gedanken zuſammenfðrängte, ſo


konnte er doch unmöglich im Laufe eines Semeſters den uns
ermeßlichen Stoff der Geſchichte ganz bewältigen und gleich
mäßig darſtellen . Bei dem erſten Vortrage im Winter
183; war es ihm hauptſächlich um die Entwickelung des
philoſophiſchen Begriffs zu thun , um zu zeigen , wie dieſer
den eigentlichen Kern der Geſchichte und die bewegende
Seele der welthiſtoriſchen Völker ausmache. An China
und Indien wollte er dann , ſeiner eigenen Neußerung nach,
nur Beiſpielsweiſe ausführen , wie ein Nationalcharakter
philoſophiſch aufzufaſſen ſei; das konnte leichter bei dieſen
ſtatariſchen Nationen des Orients geſchehen , als bei ſol
chen Völkern , die eine wirkliche Geſchichte und hiſtoris
ſche Entwickelung ihres Charakters haben . Mit Vors
liebe verweilte er noch bei den Griechen , für welche er
eine jugendliche Begeiſterung immer bewahrte , und nach
kurzer Betrachtung der römiſchen Welt ſuchte er zulegt
Mittelalter und neue Zeit in wenigen Vorleſungen zu
umfaſſen , denn die Zeit drängte und wo, wie in der
chriſtlichen Welt, der Gedanke nicht mehr in der Fülle
der Erſcheinungen verborgen liegt , ſondern ſich ſelbſt an
kündigt und offenbar wird in der Geſchichte, da kann
der Philoſoph ſeinen Vortrag eher zuſammenziehn , indem
er die forttreibende Idee nur anzubeuten nöthig hat. –
In den ſpäteren Vorträgen hingegen wurde China und
Indien , der Orient überhaupt, kürzer durchgenommen und
der germaniſchen Welt mehr Zeit und Aufmerkſamkeit
zugewendet. Des Philoſophiſchen und Allgemeinen wurde
allmälig weniger , der hiſtoriſche Stoff machte ſich breis
ter , das Ganze wurde populärer.
Man ficht leicht , wie die verſchiedenen Vorträge ein
ander ergänzen , und wie man ihren ganzen Stoff nur
dann beiſammen hat, wenn man das eigenthümlich Phi
XXII Vorrebe.

loſophiſche der erſten Vorträge , welches das Fundamen


tale bei dem Werke ausmachen muß , mit der hiſtoriſchen
Breite der letzten verbindet.
Hätte Hegel ſeine Hefte ſo gehalten , wie Univer
ſitätslehrer ſonſt wohl zu thun pflegen , daß ſie zum er
ſten Entwurf ſpätere Verbeſſerungen und Bereicherungen
nur hinzufügen , ſo wäre die Vorſtellung richtig , daß
ſeine lekten Vorträge auch die gereifteſten ſeyn müßten .
Da aber vielmehr eine jede Vorleſung bei ihm eine
neue That des Gedankens war , ſo giebt aud jede nur
den Ausdruck derjenigen philoſophiſden Kraft, welche den
Geiſt zur Zeit belebte; und ſo zeigt ſich wirklich in den
beiden erſten Vorträgen von 18 } } und 182} eine weit
ergreifendere Energie der Idee und des Ausdrucks, eine
viel reichere Ausſtattung an ſchlagenden Gedanken und
treffenden Bildern , als in den ſpäteren zu finden iſt , wo
jene erſte Begeiſterung, welche die Gedanken bei ihrer
Entdeckung begleitet, durch die Wiederholung an leben
diger Friſche nur verlieren konnte.
Aus dem Geſagten gelt hinlänglich hervor , welche
Aufgabe der neuen Bearbeitung geſtellt war. Aus den er
ften Vorträgen war eine nicht geringe Gedankenfülle nach
zuholen und dem Ganzen der Ton der Urſprünglichkeit
wiederzugeben . Es wurde demnach der gedruckte Tert zu
Grunde gelegtund mit möglichſter Schonung darin einge
ſchaltet, ergänzt, erſeßt, umgeſtellt, wie es die Sache zu er
fordern ſchien . Der ſubjectiven Anſicht war dabei kaum
ein Spielraum gelaſſen , da bei allen ſolchen Veränderun
gen Hegels Manuſcripte zur alleinigen Norm dienten .
Denn hatte die erſte Redaction dieſer Vorleſungen , mit
Ausnahme eines Theils der Einleitung, ſich nur an die
nachgeſchriebenen Hefte der Zuhörer gehalten , ſo ſuchte .
die neue ſie audy darin zu ergänzen , daß ſie durchaus von
Vorrede. XXIII

den eigenhändigen Manuſcripten ausging und ſich jener


Hefte nur bediente, um ſich in dieſen zu orientiren und ſie
zu ordnen . Gleichmäßigkeit des Tons für das ganze Werk
wollte der Bearbeiter allein dadurch erhalten , daß er überall
den Xutor in ſeinen eigenen Worten reden ließ ; weßhalb
nicht nur die neuen Einſchaltungen wörtlich aus den Manu
ſcripten genommen ſind, ſondern auch in dem beibehalte
nen Tert der eigenthümliche Ausdruck , wo der nachſchrei
bende Zuhörer ihn verloren hatte, wiederhergeſtellt wurde.
Für diejenigen , welche die Strenge des Denkens in
einen formellen Schematismus ſeßen , und dieſen ſogar
polemiſch gegen eine andre Weiſe des Philoſophirens
kehren , kann noch bemerkt werden , daß Hegel ſo wenig
an den einmal gemachten Unterabtheilungen feſthielt, daß
er bei jedem Vortrag daran änderte und z. B . den
Buddhaismus und Lamaismus bald vor bald nach In
dien abhandelte , die chriſtliche Welt bald enger auf die
germaniſchen Völker beſchränkte , bald das byzantiniſche
Kaiſerthum mit hineinzog, u . A . m . Die neue Redaction
hat ſich nur zu wenigen Veränderungen in dieſer Bezie
bung veranlaßt geſehen .
Als der Verein für die Herausgabe von Hegels Wers
ken mich mit dem Auftrag einer neuen Bearbeitung der
Philoſophie der Geſchichte meines Vaters beehrte , ernannte
er zugleich als Sachwalter der erſten Redaction und als
Stellvertreter des durch den Tod aus ſeiner Mitte geſchie
denen Freundes Gans, drei ſeiner Mitglieder , die Herren
Gel. Ober - Regierungsrath Dr. Schulze, Profeſſor von
Henning , Profeſſor Hotho, welchen die neue Bearbei
tung zur Durchſicht vorgelegt werden ſollte. Bei dieſer
Reviſion hatte ich mich nicht nur beiden gemachten Verän
derungen der Zuſtimmung der verehrten Herren und hoch
geſchäßten Freunde zu erfreuen , ſondern bin ihnen audi
XXIV Vorrede

noch den Dank für viele neue Berichtigungen ſchuldig ge


worden , welchen ich ihnen mit Freuden auch öffentlich
abſtatte.
Schließlich fühle ich mich zu dem Bekenntniß gebruns
gen , daß meine Dankbarkeit gegen den hochverehrten Ver
ein für die ruhmwürdige That der Liebe zur Wiſſenſchaft,
der Freundſchaft und Uneigennüßigkeit, welche ihm das
Entſtehen gab und ihn nod ; zuſammenhält, allein dadurch
noch erhöhet werden konnte, daß er auch mir eine Theil
nahme an der Herausgabe der Werke meines geliebten
Vaters vergönnt hat.
Berlin , den 16 . Mai 1840.

Karl Hegel.
Philoſophie der Geſchichte.

Philoſophie d. Geldichte 3te Aufl.


Einleitung.

M . H. H .
Der Gegenſtand dieſer Vorleſung iſt die philoſophiſche Welt
geſchichte, das heißt , es ſind nicht allgemeine Reflerionen über
dieſelbe , welche wir aus ihr gezogen hätten , und aus ihrem In
byalte als dem Beiſpiele erläutern wollten , ſondern es iſt die
Weltgeſchichte ſelbſt * ). Damit nun zuvörderſt klar werde, was
ſie ſely, ſcheint es vor allen Dingen nöthig , die andern Weiſen
der Geſchichtsbehandlung durchzugehen . Der Arten die Geſchichte
zu betrachten , giebt es überhaupt drei :
a ) die urſprüngliche Geſchichte ,
b ) die reflectirte Geſchichte ,
c ) die philoſophiſche.
a ) Was die erſte betrifft , ſo meine ich dabei , um durch
Nennung von Namen ſogleich ein beſtimmtes Bild zu geben ,
z. B . Herodot, Thucydides und andere ähnliche Geſchichts
ſchreiber , welche vornehmlich die Thaten , Begebenheiten und Zus
ſtände beſchrieben , die ſie vor ſich gehabt, deren Geiſte fie ſelbſt
zugehört haben , und das, was äußerlich vorhanden war, in das

*) Id kann kein Compendium dabei zu Grunde legen ; in meinen


Grundlinien der Philoſophie des Nechts S . 341 – 360. habe ich übrigens
bereits den näheren Begriff ſolcher Weltgeſchichte angegeben , wie auch die
Principien oder Perioden , in welde deren Betrachtung zerfällt.
1 *
Einleitung.

Reich der geiſtigen Vorſtellung übertrugen . Die äußerliche Er:


ſcheinung wird ſo in die innerliche Vorſtellung überſeßt. So
arbeitet auch der Dichter den Stoff , den er in ſeiner Empfindung
hat, für die Vorſtellung heraus. Freilich haben auch dieſe un
mittelbaren Geſchichtsſchreiber Berichte und Erzählungen anderer
vorgefunden (es iſt nicht möglich , daß ein Menſch alles allein
ſehe) ; aber doch nur , wie der Dichter auch die gebildete Sprache,
der er ſo vieles verdankt, als Ingrediens beſigt. Die Geſchichts
ſchreiber binden zuſammen , was flüchtig vorüberrauſcht und legen
es im Tempel der Mnemoſyne nieder, zur Unſterblichkeit. Sagen ,
Volkslieder , Ueberlieferungen ſind von ſolcher urſprünglichen Ge
ſchichte auszuſchließen , denn ſie ſind noch trübe Weiſen , und da
her den Vorſtellungen trüber Völker eigen . Hier haben wir es
mit Völkern zu thun , welche wußten , was ſie waren und woll
ten . Der Boden angeſchauter oder anſchaubarer Wirklichkeit
giebt einen feſteren Grund, als der der Vergänglichkeit, auf dem
jene Sagen und Dichtungen gewachſen ſind, welche nicht mehr
das Hiſtoriſche von Völfern machen , die zu feſter Individualität
gediehen ſind.
Solche urſprüngliche Geſchichtsſchreiber nun ſchaffen die ihnen
gegenwärtigen Begebenheiten , Thaten und Zuſtände in ein Werf
der Vorſtellung um . Der Inhalt ſolcher Geſchichten kann daher
nicht von großem äußeren Umfange ſeyn (man betrachte He
rodot, Thucydides , Guicciardini) ;was gegenwärtig und
lebendig in ihrer Ilmgebung iſt, iſt ihr weſentlicher Stoff: die
Bildung des Autors und die der Begebenheiten , welche er zum
Werfe erſchafft, der Geiſt des Verfaſſers und der Geiſt der
Handlungen , von denen er erzählt, iſt einer und derſelbe.
Er beſchreibt, was er mehr oder weniger mitgemacht, wenigſtens
mitgelebt hat. Es ſind kurze Zeiträume, individuelle Geſtaltun
gen von Menſchen und Begebenheiten : es ſind die einzelnen un
reflectirten Züge, aus denen er ſein Gemälde ſammelt, um das
Bild ſo beſtimmt, als er es in der Anſchauung oder in anſchau
Einleitung.

lichen Erzählungen vor ſich hatte, vor die Vorſtellung der Nach
welt zu bringen . Er hat es nicht mit Reflerionen zu thun,
denn er lebt im Geiſte der Sache , und iſt noch nicht über ſie
hinaus ; gehört er ſogar, wie Cäfar dem Stande der Heerführer
oder Staatsmänner an, ſo ſind ſeine Zwecke es jelbſt, die als
geſchichtliche auftreten. Wenn hier geſagt wird, daß ein ſolcher
Geſchichtsſchreiber nicht reflectire , ſondern daß die Perſonen und
Völfer ſelbſt vorkommen , ſo ſcheinen die Reden dagegen zu
ſprechen , welche zum Beiſpiel bei Thucydides geleſen werden ,
und von denen man behaupten kann , daß ſie ſicherlich nicht ſo
gehalten worden ſind. Reden aber ſind Handlungen unter
Menſchen , und zwar ſehr weſentlich wirkſame Handlungen . Frei
lich ſagen die Menſchen oft , es jeyen nur Reden geweſen , und
wollen inſofern die Unſchuld derſelben darthun. Solches Reden
iſt lediglich Geſchwäß, und Geſchwäß hat den wichtigen Vortheil
unſchuldig zu ſeyn. Aber Neden von Völkern zu Völkern , oder
an Völker und Fürſten ſind integrirende Beſtandtheile der Ge
ſchichte. Wären nun ſolche Reden , wie z. B . die des Perifles ,
des tiefgebildetſten , ächteſten , edelſten Staatsmannes , auch von
Thucydides ausgearbeitet, ſo ſind ſie dem Perifles doch nicht
fremd. In dieſen Reden ſprechen dieſe Menſchen die Marimen
ihres Volfes , ihrer eigenen Perſönlicykeit, das Bewußtſeyn ihrer
politiſchen Verhältniſſe , wie ihrer ſittlichen und geiſtigen Natur,
die Grundſäße ihrer Zwecke und Handlungsweiſen aus. Was
der Geſchichtsſchreiber ſprechen läßt, iſt nicht ein geliehenes Be
wußtſeyn, ſondern der Sprechenden eigene Bildung.
Dieſer Geſchichtsſchreiber , in welche man ſich hincinſtudiren
und bei denen man verweilen muß , wenn man mit den Na
tionen leben , und ſich in ſie verſenken möchte , dieſer Hiſtoriker ,
in denen man nicht bloß Gelehrſamkeit , ſondern tiefen und achten
Genuß zu ſuchen hat, giebt es nicht ſo viele , als man viel
leicht denken möchte ; Herodot , der Vater , das heißt der Urhe
ber der Geſchichte , und Thucydides ſind ſchon genannt worden .
Einleitung.

Xenophon 's Rückzug der Zehntauſend iſt ein eben ſo urſprüng


liches Buch : Cäſar's Commentare ſind das einfache Meiſterwerk
cines großen Geiſtes . Im Alterthume waren dieſe Geſchichts
ſchreiber nothwendig große Capitaine und Staatsmänner ; im
Mittelalter , wenn wir die Biſchöfe ausnehmen , die im Mittel
punkte der Staatshandlungen ſtanden , gehören hierher die Mönche
als naive Chronikenſchreiber , welche ebenſo iſolirt waren , als
jene Männer des Alterthums im Zuſammenhange ſich befanden .
In neuerer Zeit haben ſich alle Verhältniſſe geändert. Unſere
Bildung iſt weſentlich auffaſſend , und verwandelt ſogleich alle
Begebenheiten für die Vorſtellung in Berichte. Deren haben wir
vortreffliche , einfache, beſtimmte , über Kriegsvorfälle namentlich ,
die denen Cäfär's wohl an die Seite geſetzt werden können , und
wegen des Reichthums ihres Inhalts , und der Angabe der Mit
tel und Bedingungen noch belehrender ſind. Auch gehören hier
her die franzöſiſchen Memoires . Sie ſind oft von geiſtreichen
Köpfen über kleine Zuſammenhänge geſchrieben , und enthalten
häufig viel Anekdotiſches , ſo daß ihnen ein dürftiger Boden zu
Grunde liegt, aber oft ſind es auch wahre hiſtoriſche Meiſter
werke , wie die des Cardinals von Reg ; dieſe zeigen ein größe
res geſchichtliches Feld. In Deutſchland finden ſich ſolche Mei
ſter ſelten ; Friedrich der Große (histoire de mon temps)
macht hiervon eine rühmliche Ausnahme. Hoch geſtellt müſſen
eigentlich ſolche Männer ſeyn . Nur, wenn man oben ſteht, kann
man die Sachen recht überſehen und jegliches crblicken , nicht
wenn man von unten hera 'if durch eine dürftige Deffnung ge
ſchaut hat.
b ) Die zweite Art der Geſchichte können wir die reflecti
rende nennen . Es iſt die Geſchichte , deren Darſtellung, nicht
in Beziehung auf die Zeit, ſondern rückſichtlich des Geiſtes über
die Gegenwart hinaus iſt. In dieſer zweiten Gattung find ganz
verſchiedene Arten zu unterſcheiden .
aa) Man verlangt überhaupt die Ueberſicht der ganzen Ge
Einleitung .

ſchichte eines Volkes oder eines Landes , oder der Welt, kurz
das, was wir allgemeine Geſchichte ſchreiben nennen. Hier
bei iſt die Verarbeitung des hiſtoriſchen Stoffes die Hauptſache,
an den der Arbeiter mit ſeinem Geiſte kommt, der rerſchieden
iſt von dem Geiſte des Inhalts. Dazu werden beſonders die
Principien wichtig ſeyn , die ſich der Verfaſſer theils von dem
Inhalte und Zwecke der Handlungen und Begebenheiten ſelbſt
macht, die er beſchreibt, theils von der Art, wie er die Geſchichte
anfertigen will. Bei uns Deutſchen iſt die Reflerion und Ges
ſcheidtheit dabei ſehr mannigfach, jeder Geſchichtsſchreiber hat hier
ſeine eigene Art und Weiſe beſonders ſich in den Kopf geſeßt.
Die (Engländer nnd Franzoſen wiſſen im Allgemeinen , mie man
(Heſchichte ſchreiben müſſe : ſie ſtehen mehr auf der Stufe allge
meiner und nationeller Bildung ; bei uns flügelt ſich jeder eine
Eigenthümlichkeit aus, und ſtatt Geſchichte zu ſchreiben , beſtreben
wir uns immer zu ſuchen , wie Geſchichte geſchrieben werden
müſſe . Dieſe erſte Art der reflectirten Geſchichte ſchließt ſich zu
nächſt an die vorhergegangene an , wenn ſie weiter feinen Zweck
hat, als das Ganze der Geſchichte eines Landes darzuſtellen .
Solche Compilationen (es gehören dahin die Geſchichten des lis
vius, Diodor' g von Sicilien , Joh. von Müller' s Schwei
zergeſchichte ) ſind, wenn ſie gut gemacht ſind, höchſt verdienſtlich .
Am beſten iſt es freilich , wenn ſich die Hiſtoriker denen der erſten
Gattung nähern , und ſo anſchaulich ſchreiben , daß der Leſer die
Vorſtellung haben kann , er höre Zeitgenoſſen und Augenzeugen
die Begebenheiten erzählen . Aber der Eine Ton, den ein Indivi
duum , das einer beſtimmten Bildung angehört, haben muß, wird
häufig nicht nach den Zeiten , welche eine ſolche Geſchichte durch
läuft, modificirt, und der Geiſt, der aus dem Schriftſteller ſpricht,
iſt ein anderer, als der Geiſt dieſer Zeiten . So läßt Livius die
alten Könige Roms, die Conſuln und Heerführer Neden halten ,
wie ſie nur einem gewandten Advokaten der Livianiſchen Zeit
zukommen , und welche wieder auf's ſtärfſte mit ächten aus dem
Einleitung.

Alterthum erhaltenen Sagen , z. B . der Fabel des Menenius


Agrippa, contraſtiren . So giebt uns derſelbe Beſchreibungen von
On

Schlachten , als ob er ſie mit angeſehen hätte, deren Züge man


aber für die Schlachten aller Zeiten gebrauchen kann , und deren
Beſtimmtheit wieder mit dem Mangel an Zuſammenhang und
mit der Inconſequenz contraſtirt , welche in andren Stücken oft
über Hauptverhältniſſe herrſcht. Was der Unterſchied eines ſolchen
Compilators und eines urſprünglichen Hiſtorikers iſt, erkennt
man am beſten , wenn man den Polybius mit der Art vergleicht,
wie Livius deſſen Geſchichte in den Perioden , in welchen des
Polybius Werk aufbehalten iſt, benußt , auszieht und abkürzt.
Johannes von Müller hat ſeiner Geſchichte in dem Beſtre
ben den Zeiten , die er beſchreibt, treu in ſeiner Schilderung zu
ſeyn, ein hölzernes , hohlfeierliches , pedantiſches Ausſehen gegeben .
Man lieft in dem alten Tſchudy dergleichen viel lieber : alles
iſt naiver und natürlicher , als in einer ſolchen bloß gemachten
affectirten Alterthümlichkeit.
Eine Geſchichte der Art, welche lange Perioden , oder die
ganze Weltgeſchichte überſchauen will, muß die individuelle Dar
ſtellung des Wirklichen in der That aufgeben, und ſich mit Ab
ſtractionen abkürzen , nicht bloß in dem Sinne, daß Begebenhei
ten und Handlungen wegzulaſſen ſind , ſondern in dem anderen ,
daß der Gedanke der mächtigſte Epitomator bleibt. Eine Schlacht,
ein großer Sieg , eine Belagerung ſind nicht mehr ſie ſelbſt,
ſondern werden in einfache Beſtimmungen zuſammengezogen .
Wenn Livius von den Kriegen mit den Volstern erzählt, ſo ſagt
er bisweilen kurz genug: Dieſes Jahr iſt mit den Volskern
Krieg geführt worden .
bb) Eine zweite Art der reflectirten Geſchichte iſt alsdann
die pragmatiſche. Wenn wir mit der Vergangenheit zu thun
haben , und wir uns mit einer entfernten Welt beſchäftigen , ſo
thut fich eine Gegenwart für den Geiſt auf, die dieſer aus ſei
ner eigenen Thätigkeit zum Lohn für ſeine Bemühung hat. Die
Einleitung.

Begebenheiten ſind verſchieden , aber das Augemeine undInnere,


der Zuſammenhang Einer. Dies hebt die Vergangenheit auf,
und macht die Begebenheit gegenwärtig. Pragmatiſche Reflerio
nen, ſo ſehr ſie abſtract ſind, ſind ſo in der That das Gegen
wärtige, und die Erzählungen der Vergangenheit beleben zu heu
tigem Leben . Ob nun folche Reflerionen wirklich intereſſant und
belebend ſeyen , das fommt auf den eigenen Geiſt des Schrift
ſtellers an . Es iſt hier auch beſonders der moraliſchen Reflerio
nen Erwähnung zu thun , und der durch die Geſchichte zu ge
winnenden moraliſchen Belehrung, auf welche hin dieſelbe oft
bearbeitet wurde. Wenn auch zu ſagen iſt, daß Beiſpiele des
Guten das Gemüth erheben und beim moraliſchen Unterricht der
Kinder, um ihnen das Vortreffliche eindringlich zu machen , an
zuwenden wären , ſo ſind doch die Schickſale der Völker und
Staaten , deren Intereſſen , Zuſtände und Verwickelungen ein an
deres Feld. Man verweiſt Regenten , Staatsmänner , Völfer
vornehmlich an die Belehrung durch die Erfahrung der Geſchichte.
Was die Erfahrung aber und die Geſchichte lehren , iſt dieſes ,
daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geſchichte
gelernt und nach Lehren , die aus derſelben zu ziehen geweſen
wären , gehandelt haben. Jede Zeit hat ſo eigenthümliche Um
ſtände, iſt ein ſo individueller Zuſtand, daß in ihm aus ihm
ſelbſt entſchieden werden muß , und allein entſchieden werden
kann . Im Gedränge der Weltbegebenheiten hilft nicht ein all
gemeiner Grundſaß, nicht das Erinnern an ähnliche Verhältniſſe,
denn ſo etwas, wie eine fahle Erinnerung, hat keine Kraft ge
gen die Lebendigkeit und Freiheit der Gegenwart. Nichts iſt in
dieſer Rückſicht ſchaaler, als die oft wiederkehrende Berufung auf
griechiſche und römiſche Beiſpiele , wie dieſe in der Revolutions
zeit bei den Franzoſen ſo häufig vorgekommen iſt. Nichts iſt
verſchiedener, als die Natur dieſer Völker und die Natur unſerer
Zeiten . Johannes von Müller, der bei ſeiner allgemeinen , wie
bei ſeiner Schweizergeſchichte ſolche moraliſche Abſichten hatte,
tung
10 Einlei .

für die Fürſten , Regierungen und Völker , beſonders für das


Schweizervolk ſolche Lehren zuzubereiten (er hat eine eigene Leh
ren - und Reflerionen -Sammlung gemacht, und giebt öfters in
ſeinem Briefwechſel die genaue Anzahl von Reflerionen an , die
er in der Woche verfertigt hat), darf dieſes nicht zit dem Beſten ,
was er geleiſtet hat, rechnen . Es iſt nur die gründliche, freie,
umfaſſende Anſchauung der Situationen und der tiefe Sinn der
Idee (wie z. B . bei Montesquieu 's Geiſt der Geſeke) , der den
Reflerionen Wahrheit und Intereſſe geben kann. Deswegen löſ't
auch eine reflectirende Geſchichte die andere ab ; jedem Schrei
ber ſtehen die Materialien offen , jeder kann ſich leicht für fähig ,
fie zu ordnen und zu verarbeiten , halten , und ſeinen Geiſt als
den Geiſt der Zeiten in ihnen geltend machen . Im Ueberdruß
an ſolchen reflectirenden Geſchichten iſt man häufig zurückgegan
gen nach dem aus allen Geſichtspunkten umſchriebenen Bilde
einer Begebenheit. Dieſe ſind allerdings etwas werth , aber ſie
bieten meiſtens nur Material dar. Wir Deutſche ſind damit
zufrieden ; die Franzoſen bilden dagegen geiſtreich ſich eine Ge
genwart, und beziehen die Vergangenheit auf den gegenwärtigen
Zuſtand.
ce) Die dritte Weiſe der reflectirten Geſchichte iſt die Fri:
tiſche: ſie iſt anzuführen , weil ſie beſonders die Art iſt,wie in
unſren Zeiten in Deutſchland die Geſchichte behandelt wird. Es
iſt nicht die Geſchichte felbft, welche hier vorgetragen wird, ſon
dern eine Geſchichte der Geſchichte und eine Beurtheilung der ge
ſchichtlichen Erzählungen und Unterſuchung ihrer Wahrheit und
Glaubwürdigkeit. Das Außerordentliche, das hierin liegt und
namentlich liegen ſoll, beſteht in dem Scharfſinn des Schrift
ſtellers, der den Erzählungen etwas abdingt, nicht in den Sachen .
Die Franzoſen haben hierin viel Gründliches und Beſonnenes ge
liefert. Sie haben jedoch ſolch ' kritiſches Verfahren nicht ſelbſt '
als ein geſchichtliches geltend machen wollen , ſondern ihre Beur
theilungen in der Form kritiſcher Abhandlungen verfaßt. Bei
Einleitung
uns hat ſich die ſogenannte höhere Kritif , wie der Philologie
überhaupt, ſo auch der Geſchichtsbücher bemächtigt. Dieſe höhere
Kritik hat dann die Berechtigung abgeben ſollen , allen möglichen
unhiſtoriſchen Ausgeburten einer eitlen Einbildungskraft Eingang
zu verſchaffen . Dies iſt die andre Weiſe , Gegenwart in der
Geſchichte zu gewinnen , indem man ſubjektive Einfälle an die
Stelle geſchichtlicher Daten ſeßt – Einfälle, die für um ſo vor
trefflicher gelten , je fühner ſie ſind, das iſt, auf je dürftigeren
Umſtändchen ſie beruhen und je mehr ſie dem Entſchiedenſten in
der Geſchichte widerſprechen. --
dd) Die lezte Art der reflectirten Geſchichte iſt nun die,
welche ſich ſogleich als etwas Theilweiſes ausgiebt. Sie iſt
zwar abſtrahirend, bildet aber, weil ſie allgemeine Geſichtspunkte
(3. B . die Geſchichte der Kunſt, des Rechts, der Religion ) nimmt,
einen Uebergang zur philoſophiſchen Weltgeſchichte. In unſerer
Zeit iſt dieſe Weiſe der Begriffsgeſchichte mehr ausgebildet und
hervorgehoben worden. Solche Zweige ſtehen in einem Verhält
niß zum Ganzen einer Volksgeſchichte , und es kommt nur dar
auf an, ob der Zuſammenhang des Ganzen aufgezeigt, oder bloß
in äußerlichen Verhältniſſen geſucht wird. Im legtern Falle er- >
ſcheinen ſie als ganz zufällige Einzelnheiten der Völker. Wenn
nun die reflectirende Geſchichte dazu gekommen iſt, allgemeine
Geſichtspunkte zu verfolgen , ſo iſt zu bemerken , daß, wenn ſolche,
Geſichtspunkte wahrhafter Natur ſind , ſie nicht bloß der äußere
Faden , eine äußere Ordnung , ſondern die innere leitende Seeled
der Begebenheiten und Thaten ſelbſt ſind. Denn gleich dem
Seelenführer Mercur, iſt die Idee in Wahrheit der Völker- und
Weltführer , und der Geiſt, ſein vernünftiger und nothwendiger
Wille iſt es , der die Weltbegebenheiten geführt hat und führt:
ihn in dieſer Führung kennen zu lernen , iſt hier unſer Zweck.
Das führt auf
c) die dritte Gattung der Geſchichte, die philoſophiſche.
Wenn wir rückſichtlich der beiden vorangegangenen Arten nichts
Einleitung .

erſt aufzuklären hatten , weil ſich ihr Begriff von ſelbſt verſtand,
ſo iſt es anders mit dieſer lekten, denn dieſe ſcheint in der That
einer Erläuterung oder Rechtfertigung zu bedürfen . Das Auge
meine iſt jedoch , daß die Philoſophie der Geſchichte nichts An
deres , als die denkende Betrachtung derſelben bedeutet. Das
Denken können wir aber einmal nicht unterlaſſen ; dadurch unter
ſcheiden wir uns von dem Thier , und in der Empfindung, in
der Kenntniß und Erkenntniß , in den Trieben und im Willen,
ſofern ſie menſchlich ſind , iſt ein Denken . Dieſe Berufung auf
das Denken kann aber deswegen hier als ungenügend erſcheinen ,
weil in der Geſchichte das Denken dem Gegebenen und Seven
den untergeordnet iſt, daſſelbe zu ſeiner Grundlage hat und das
von geleitet wird, der Philoſophie im Gegentheil aber eigene Ge
danken zugeſchrieben werden , welche die Speculation aus ſich
ohne Rückſicht auf das, was iſt, hervorbringe. Gehe ſie mit
ſolchen an die Geſchichte , ſo behandle ſie ſie wie ein Material,
laſſe ſie nicht wie ſie iſt, ſondern richte ſie nach dem Gedanken
ein , conſtruire ſie daher, wie man ſagt, a priori. Da die Ge
ſchichte nun aber bloß aufzufaſſen hat, was iſt und geweſen iſt,
die Begebenheiten und Thaten , und um ſo wahrer bleibt, je mehr
ſie ſich an das Gegebene hält, ſo ſcheint mit dieſem Treiben das
Geſchäft der Philoſophie in Widerſpruch zu ſtehen , und dieſer
Widerſpruch und der daraus für die Speculation entſpringende
Vorwurf ſoll hier erklärt und widerlegt werden , ohne daß wir
uns deswegen in Berichtigungen der unendlich vielen und ſpe
ciellen ſchiefen Vorſtellungen einlaſſen wollen , die über den Zweck,
die Intereſſen und die Behandlungen des Geſchichtlichen und ſei
nes Verhältniſſes zur Philoſophie im Gange find , oder immer
wieder neu erfunden werden.
Der einzige Gedanke, den die Philoſophie mitbringt, iſt aber
der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt
beherrſche, daß es alſo auch in der Weltgeſchichte vernünftig zu :
gegangen ſey. Dieſe Ueberzeugung und Einſicht iſt eine Vor
Einleitung

ausſeßung in Anſehung der Geſchichte als ſolcher überhaupt ;


in der Philoſophie ſelbſt iſt dieß keine Vorausſeßung. Durch die
ſpeculative Erkenntniß in ihr wird es erwieſen , daß die Vernunft
- bei dieſem Ausdrucke können wir hier ſtehen bleiben , ohne
die Beziehung und das Verhältniß zu Gott näher zu erörtern -
die Subſtanz wie die unendliche Macht, ſich ſelbſt der un
endliche Stoff alles natürlichen und geiſtigen Lebens, wie die
unendliche Form , die Bethätigung dieſes ihres Inhalts iſt.
Die Subſtanz iſt ſie, nämlich das , wodurch und worin alle
Wirklichkeit ihr Seyn und Beſtehen hat – die unendliche
Macht, indem die Vernunft nicht ſo ohnmächtig iſt, es nur bis
zum Ideal, bis zum Sollen zu bringen, und nur außerhalb der
Wirklichkeit, wer weiß wo, als etwas Beſonderes in den Köpfen
einiger Menſchen vorhanden zu ſeyn ; der unendliche Inhalt,
alle Weſenheit und Wahrheit, und ihr ſelbſt ihr Stoff, den ſie
ihrer Thätigkeit zu verarbeiten giebt, denn ſie bedarf nicht, wie
endliches Thun , der Bedingungen eines äußerlichen Materials
gegebener Mittel, aus denen ſie Nahrung und Gegenſtände ihrer
Thätigkeit empfinge; ſie zehrt aus ſich und iſt ſich ſelbſt das
Material, das ſie verarbeitet; wie ſie ſich nur ihre eigene Vor
ausſegung und der abſolute Endzweck iſt , ſo iſt ſie ſelbſt deſſen
Bethätigung und Hervorbringung aus dem Inneren in die Er
ſcheinung, nicht nur des natürlichen Univerſums, ſondern auch
des geiſtigen - in der Weltgeſchichte. Daß nun ſolche Idee
das Wahre, das Gwige, daß ſchlechthin Mächtige iſt , daß fie
ſich in der Welt offenbart, und nichts in ihr fich offenbart als
fie, ihre Ehre und Herrlichkeit, das iſt es , was, wie geſagt, in
der Philoſophie bewieſen , und hier ſo als bewieſen vorausge
ſeßt wird.
Diejenigen unter Ihnen , meine Herren , welche mit der
Philoſophie noch nicht bekannt ſind, könnte ich nun etwa darum
anſprechen , mit dem Glauben an die Vernunft, mit dem Ver
langen , mit dem Durſte nach ihrer Erkenntniß zu dieſem Vor
14 Einleitung.

trag der Weltgeſchichte hinzuzutreten : und es iſt allerdings das


Verlangen nach vernünftiger Einſicht, nach Erkenntniß , nicht
bloß nach einer Sammlung von Kenntniſſen , was als ſubjecti
ves Bedürfniß bei dem Studium der Wiſſenſchaften vorausges
reßt werden müßte. Wenn man nämlich nicht den Gedanken ,
die Erkenntniß der Vernunft, ſchon mit zur Weltgeſchichte bringt,
ſo ſollte man wenigſtens den feſten , unüberwindlichen Glauben
haben , daß Vernunft in derſelben iſt, und auch den , daß
die Welt der Intelligenz und des ſelbſtbewußten Wollens nicht
dem Zufalle anheimgegeben ſey , ſondern im Lichte der ſich wiſſen
den Idee ſich zeigen müſſe. In der That aber habe ich ſolchen
Glauben nicht zum voraus in Anſpruch zu nehmen . Was ich
vorläufig geſagt habe, und noch ſagen werde, iſt nicht bloß ,
auch in Rückſicht unſerer Wiſſenſchaft , als Vorausſeßung, ſon
dern als Ueberſicht des Ganzen zu nehmen , als das Reſultat
der von uns aufzuſtellenden Betrachtung, ein Reſultat, das mir
bekannt iſt, weil ich bereits das Ganze kenne. Es hat ſich alſo
erſt aus der Betrachtung der Weltgeſchichte ſelbſt zu ergeben ,
daß es vernünftig in ihr zugegangen ſey , daß fie der vernünf
tige, nothwendige Gang des Weltgeiſtes geweſen , des Geiſtes,
deſſen Natur zwar immer eine und dieſelbe iſt, aber in dem
Weltdaſeyn dieſe ſeine eine Natur erplicirt. Dieß muß, wie ge
ſagt, das Ergebniß der Geſchichte feyn. Die Geſchichte aber
haben wir zu nehmen , wie ſie iſt: wir haben hiſtoriſch, empiriſch
zu verfahren ; unter anderem müſſen wir uns nicht durch die
Hiſtoriker vom Fach verführen laſſen , denn dieſe, namentlich
Deutſche, welche eine große Autorität beſitzen , machen das , was
fie den Philoſophen vorwerfen , nämlich a prioriſche Erdichtun
gen in der Geſchichte. Es iſt z. B . eine weit verbreitete Er
dichtung , daß ein erſtes und älteſtes Volk geweſen ſey , unmittel
bar von Gott belehrt , in vollkommener Einſicht und Weisheit,
in durchdringender Senntniß aller Naturgeſeße und geiſtiger
Wahrheit, oder daß es dieſe und jene Prieſtervölker gegeben ,
Einleitung. 15
oder um etwas Specielles anzuführen , daß es ein römiſches
Epos gegeben , aus welchem die römiſchen Geſchichtsſchreiber die
älteſte Geſchichte geſchöpft haben u . f. F. Dergleichen Autoritä
ten wollen wir den geiſtreichen Hiſtorikern von Fach überlaſſen ,
unter denen ſie bei uns nicht ungewöhnlich ſind. Als die erſte
Bedingung könnten wir ſomit ausſprechen , daß wir das Hiſto
riſche getreu auffaſſen ; allein in ſolchen algemeinen Ausdrücken ,
wie treu und auffaſſen , liegt die Zweideutigkeit. Auch der ge
wöhnliche und mittelmäßige Geſchichtsſchreiber , der etwa meint
und vorgiebt, er verhalte ſich nur aufnehmend, nur dem Gegebe
nen ſich hingebend, iſt nicht paſſiv mit ſeinem Denken , und bringt
ſeine Kategorien mit , und ſieht durch fie das Vorhandene: bei
allem insbeſondere, was wiſſenſchaftlich ſeyn ſoll, darf die Ver
nunft nicht ſchlafen , und muß Nachdenken angewandt werden ;
wer die Welt vernünftig anſieht, den ſieht ſie auch vernünftig
an : Beides iſt in Wechſelbeſtimmung. Aber die unterſchiedenen
Weiſen des Nachdenkens, der Geſichtspunkte, der Beurtheilung
ſchon über bloße Wichtigkeit und Unwichtigkeit der Thatſachen ,
welches die am nächſten liegende Kategorie iſt , gehören nicht
hierher.
Nur an zwei Formen und Geſichtspunkte über die allge
meine Ueberzeugung, daß Vernunft in der Welt und ebenſo in
der Weltgeſchichte geherrſcht habe, und herrſche, will ich erinnern ,
weil ſie uns zugleich Veranlaſſung geben , den Hauptpunkt, der
die Schwierigkeit ausmacht, näher zu berühren , und auf das
hinzudeuten , was wir weiter zu erwähnen haben .
A . Das Eine iſt das Geſchichtliche, daß der Grieche Anara
goras zuerſt geſagt hat, der voūs, der Verſtand überhaupt, oder
die Vernunft, regiere die Welt, – nicht eine Intelligenz als
ſelbſtbewußte Vernunft – nicht ein Geiſt als ſolcher — Beides
müſſen wir ſehr wohl von einander unterſcheiden. Die Bewe
gung des Sonnenſyſtems erfolgt nach unveränderlichen Geſeßen :
dieſe Gefeße ſind die Vernunft deſſelben , aber weder die Sonne,
16 Einleitung.

noch die Planeten , die in dieſen Gefeßen um ſie freiſen , haben


ein Bewußtſeyn darüber. So ein Gedanke, daß Vernunft in
der Natur iſt, daß fie von allgemeinen Geſeßen unabänderlich
regiert wird , frappirt uns nicht: wir ſind dergleichen gewohnt
und machen nicht viel daraus: ich habe auch darum jenes ges
ſchichtlichen Umſtandes erwähnt, um bemerklich zu machen , daß
die Geſchichte lehrt, daß dergleichen , was uns trivial ſcheinen
kann , nicht immer in der Welt geweſen , daß ſolcher Gedanke
vielmehr Epoche in der Geſchichte des menſchlichen Geiſtes macht.
Ariſtoteles ſagt von Anaragoras , als vom Urheber jenes Ge
dankens: er ſey wie ein Nüchterner unter Trunkenen erſchienen .
Von Anarogoras hat Sokrates dieſen Gedanken aufgenommen ,
und er iſt zunächſt in der Philoſophie mit Ausnahme Epikur's,
der dem Zufall alle Ereigniſſe zuſchrieb , der herrſchende gewur
den . „ Ich freute mich deſſelben , läßt Plato ihn ſagen , und hoffte
einen Lehrer gefunden zu haben , der mir die Natur nach der
Vernunft auslegen , in dem Beſonderen ſeinen beſonderen Zweck,
in dem Ganzen den allgemeinen Zweck aufzeigen würde: ich
hätte dieſe Hoffnung um Vieles nicht aufgegeben . Aber wie
ſehr wurde ich getäuſcht , als ich nun die Schriften des Anara
goras ſelbſt eifrig vornahm , und fand, daß er nur äußerliche
Urſachen , als Luft, Aether, Waſſer und dergleichen ſtatt der Ver
nunft aufführt.“ Man ſieht, das Ungenügende, welches Sokrates
an dem Princip des Anaragoras fand , betrifft nicht das Prin
cip ſelbſt , ſondern den Mangel an Anwendung deſſelben auf die
concrete Natur, daß dieſe nicht aus jenem Princip verſtanden,
begriffen iſt, daß überhaupt jenes Princip abſtract gehalten blieb,
daß die Natur nicht als eine Entwickelung deſſelben , nicht als
eine aus der Vernunft hervorgebrachte Organiſation gefaßt iſt.
Ich mache auf dieſen Unterſchied hier gleich von Anfang an
aufmerkſam , ob eine Beſtimmung , ein Grundſaß, eine Wahrheit
nur abſtract feſtgehalten , oder aber zur näheren Determination
nu

und zur concreten Entwicelung fortgegangen wird. Dieſer


Einleitung.

Unterſchied iſt durchgreifend, und unter Anderem werden wir


vornehmlich auf dieſen Umſtand am Schluſſe unſerer Weltge
ſchichte in dem Erfaſſen des neueſten Politiſchen Zuſtandes zu
rückkommen .
Das Weitere iſt, daß dieſe Erſcheinung des Gedankens,
daß die Vernunft die Welt regiere, mit einer weiteren Anwen
dung zuſammenhängt, die uns wohl bekannt iſt —- in der Form
der religiöſen Wahrheit nämlich , daß die Welt nicht dem Zufall ,
und äußerlichen zufälligen Urſachen preisgegeben ſey , ſondern
eine Vorſehung die Welt regiere. Ich erklärte vorhin , daß
ich nicht auf Ihren Glauben an das angegebene Princip An
ſpruch machen wolle , jedoch an den Glauben daran , in die:
ſer religiöſen Form , dürfte ich appelliren , wenn überhaupt
die Eigenthümlichkeit der Wiſſenſchaft der Philoſophie es zuließe,
daß Vorausſeßungen gelten , oder von einer anderen Seite ge
ſprochen , weil die Wimpenſchaft, welche wir abhandeln wollen ,
felbſt erſt den Beweis , obzwar nicht der Wahrheit, aber der
Richtigkeit jenes Grundſabes geben ſoll. Die Wahrheit nun ,
daß eine , und zwar die göttliche Vorſehung den Begebenheiten
der Welt vorſtehe, entſpricht dem angegebenen Principe, denn
die göttliche Vorſehung iſt die Weisheit nach unendlicher Macht,
welche ihre Zwecke, das iſt, den abſoluten , vernünftigen End
zweck der Welt verwirklicht: die Vernunft iſt das ganz frei ſich
ſelbſt beſtimmende Denken . Aber weiterhin thut ſich nun auch
die Verſchiedenheit , ja der Gegenſaß dieſes Glaubens und un
ſeres Princips gerade auf dieſelbe Weiſe hervor, wie die Forde
rung des Sokrates bei dem Grundſaße des Anaragoras. Jener
Glaube iſt nämlich gleichfalls unbeſtimmt, iſt was man Glaube
an die Vorſehung überhaupt nennt, und geht nicht zum Beſtimm
ten , zur Anwendung auf das Ganze, auf den umfaſſenden Ver
lauf der Weltgeſchichte fort. Die Geſchichte erklären aber heißt,
die Leidenſchaften des Menſchen , ihr Genie, ihre wirkenden Kräfte
enthüllen , und dieſe Beſtimmtheit der Vorſehung nennt man ge
Philoſophie 8. Geldsidste. 3. Aufl.
tung
18 Einlei .

wöhnlich ihren Plan. Dieſer Plan aber iſt es , welcher vor


unſeren Augen verborgen ſeyn ſoll, ja welchen es Vermeſſenheit
eyn ſoll, erkennen zu wollen . Die Unwiſſenheit des Anaragoras
darüber, wie der Verſtand ſich in der Wirklichkeit offenbare, war
unbefangen ; das Bewußtſeyn des Gedankens war in ihm , und
überhaupt in Griechenland, noch nicht weiter gekommen ; er ver
mochte noch nicht ſein allgemeines Princip auf das Concrete an
zuwenden , dieſes aus jenem zu erkennen , denn Sokrates hat erſt
einen Schritt darin , die Vereinigung des Concreten mit dem All
gemeinen zu erfaſſen , gethan. Anaragoras war ſomit nicht po
Temiſch gegen ſolche Anwendung ; jener Glaube an die Vorſehung
aber iſt es wenigſtens gegen die Anwendung im Großen , oder
gegen die Erkenntniß des Plans der Vorſehung. Denn im Be
ſonderen läßt man es hie und da wohl gelten , wenn fromme
Gemüther in einzelnen Vorfallenheiten nicht blos Zufälliges, ſon
dern Gottes Schickungen erkennen , wenn z. B . einem Indivi
duum in großer Verlegenheit und Noth unerwartet eine Hülfe
gekommen iſt, aber dieſe Zwecke ſelbſt ſind beſchränkter Art, find
nur die beſonderen Zwecke dieſes Individuums. Wir haben es
aber in der Weltgeſchichte mit Individuen zu thun , welche Völ
ker , mit Ganzen , welche Staaten ſind : wir können alſo nicht bei
jener , ſo zu ſagen , Kleinkrämerei des Glaubens an die Vorſe
hung ſtehen bleiben , und eben ſo wenig bei dem bloß abſtracten ,
unbeſtimmten Glauben , der nur zu dem Allgemeinen , daß es eine
Vorſehung gebe, fortgehen will, aber nicht zu den beſtimmteren
Thaten derſelben. Wir haben vielmehr Ernſt damit zu machen ,
die Wege der Vorſehung, die Mittel und Erſcheinungen in der
Geſchichte zu erkennen , und wir haben dieſe auf jenes allgemeine
Princip zu beziehen . Aber ich habe mit der Erwähnung der
Erkenntniß des Plans der göttlichen Vorſehung überhaupt an
eine in unſeren Zeiten an Wichtigkeit obenanſtehende Frage er
innert, an die nämlich , über die Möglichkeit Gott zu erkennen,
oder vielmehr, indem es aufgehört hat eine Frage zu ſeyn , an
Einleitung. 19
die zum Vorurtheil gewordene Lehre, daß es unmöglich ſey , Gott
zu erkennen . Dem geradezu entgegengeſeßt, was in der heiligen
Schrift als höchſte Pflicht geboten wird , nicht bloß Gott zu lie
ben , ſondern auch zu erkennen , herrſcht ießt das Geläugne deſſen
vor, was ebendaſelbſt geſagt iſt, daß der Geiſt es ſey, der in die
Wahrheit einführe , daß er alle Dinge erkenne, ſelbſt die Tiefen
der Gottheit durchdringe. Indem man das göttliche Weſen jen
ſeits unſerer Erkenntniß und der menſchlichen Dinge überhaupt
ſtellt, ſo erlangt man damit die Bequemlichkeit , ſich in ſeinen
eigenen Vorſtellungen zu ergehen . Man iſt davon befreit, ſeiner
Erkenntniß eine Beziehung auf das Göttliche und Wahre zu ge
ben ; im Gegentheil hat dann die Eitelkeit derſelben und das ſub
jective Gefühl für ſich vollkommene Berechtigung ; und die fromme
Demuth , indem ſie ſich die Erkenntniß Gottes vom Leibe hält,
weiß ſehr wohl, was ſie für ihre Willkür und eitles Treiben
damit gewinnt. Ich habe deßhalb die Erwähnung , daß unſer
Saß, die Vernunft regiere die Welt und habe ſie regiert, mit der
Frage von der Möglichkeit der Erkenntniß Gottes zuſammen
hängt, nicht unterlaſſen wollen , um nicht den Verdacht zu ver
meiden , als ob die Philoſophie ſich ſcheue, oder zu ſcheuen habe,
an die religiöſen Wahrheiten zu erinnern, und denſelben aus dem
Wege ginge, und zwar, weil ſie gegen dieſelben , ſo zu ſagen ,
kein gutes Gewiſſen habe. Vielmehr iſt es in neueren Zeiten ſo
weit gekommen , daß die Philoſophie ſich des religiöſen Inhalts
gegen manche Art von Theologie anzunehmen hat. In der chrift
lichen Religion hat Gott ſich geoffenbart, das heißt, er hat dem
Menſchen zu erkennen gegeben , was er iſt, ſo daß er nicht mehr
ein Verſchloſſenes, Geheimes iſt; es iſt uns mit dieſer Möglichkeit,
Gott zu erkennen , die Pflicht dazu auferlegt. Gott will nicht
engherzige Gemüther und legre Köpfe zu ſeinen Kindern , ſon
dern ſolche, deren Geiſt von ſich ſelbſt arm , aber reich an Er
kenntniß ſeiner iſt, und die in dieſe Erkenntniß Gottes allein
allen Werth feßen . Die Entwickelung deß denkenden Geiſtes ,
2 *
20 Einleitung.

welche aus dieſer Grundlage der Offenbarung des göttlichen We


ſens ausgegangen iſt, muß dazu endlich gedeihen, das, was dem
fühlenden und vorſtellenden Geiſte zunächſt vorgelegt worden , auch
mit dem Gedanken zu erfaſſen ; es muß endlich an der Zeit ſeyn,
auch dieſe reiche Production der ſchöpferiſchen Vernunft zu begreifen ,
melche die Weltgeſchichte iſt. Es war eine Zeit lang Mode, Gottes
Weisheit in Thieren , Pflanzen , einzelnen Schickſalen zu bewun
dern . Wenn zugegeben wird , daß die Vorſehung ſich in ſolchen
Gegenſtänden und Stoffen offenbare, warum nicht auch in der
Weltgeſchichte ? Dieſer Stoff ſcheint zu groß. Aber die gött
liche Weisheit, 8 . i. die Vernunft, iſt eine und dieſelbe im Gro
ßen , wie im Kleinen , und wir müſſen Gott nicht für zu ſchwach
halten , ſeine Weisheit auf's Große anzuwenden . Unſere Erkennt
niß geht darauf, die Einſicht zu gewinnen , daß das von der
cwigen Weisheit Bezweckte , wie auf dem Boden der Natur, ſo
auf dem Boden des in der Welt wirklichen und thätigen Geiſtes ,
herausgekommen iſt. Unſere Betrachtung iſt inſofern eine Theo
dicee , eine Rechtfertigung Gottes , welche Leibnitz metaphyſiſch
auf ſeine Weiſe in noch unbeſtimmten , abſtracten Kategorien ver
ſucht hat, ſo daß das Uebel in der Welt begriffen , der denkende
Geiſt mit dem Böſen verſöhnt werden ſollte. In der That liegt
nirgend eine größere Aufforderung zu ſolcher verſöhnenden Ers
kenntniß als in der Weltgeſchichte. Dieſe Ausſöhnung kann nur
durch die Erkenntniß des Affirmativen erreicht werden , in welchem
jenes Negative zu einem Untergeordneten und Ueberwundenen
verſchwindet, durch das Bewußtſeyn, theils was in Wahrheit der
Endzweck der Welt fey , theils daß derſelbe in ihr verwirklicht
worden ſey , und nicht das Böſe neben ihm ſich leßlich geltend
gemacht habe. Hiefür aber genügt der bloße Glaube an den
voũs und die Vorſehung noch keineswegs. Die Vernunft, von
der geſagt worden , daß ſie in der Welt regiere , iſt ein eben ſo
unbeſtimmtes Wort , als die Vorſehung – man ſpricht immer
von der Vernunft, ohne eben angeben zu können , was denn ihre
Einleitung. 21
Beſtimmung, ihr Inhalt iſt, wonach wir beurtheilen können , ob
etwas vernünftig iſt, ob unvernünftig . Die Vernunft in ihrer
Beſtimmung gefaßt, dieß iſt erſt die Sache ; das Andere, wenn
man ebenſo bei der Vernunft überhaupt ſtehen bleibt, das ſind
nur Worte. Mit dieſen Angaben gehen wir zu dem zweiten Ge
ſichtspunkte über, den wir in dieſer Einleitung betrachten wollen .
B. Die Frage , was die Beſtimmung der Vernunft an
ihr ſelbſt ſey , fällt , inſofern die Vernunft in Beziehung auf die
Welt genommen wird , mit der Frage zuſammen ,was der Ends
zweck der Welt ſev ; näher liegt in dieſem Ausdruck, daß der
ſelbe realiſirt, verwirklicht werden ſoll. Es iſt daran zweierlei zu
erwägen , der Inhalt dieſes Endzwecks, die Beſtimmung ſelbſt als
ſolche, und die Verwirklichung derſelben .
Zuerſt müſſen wir beachten , daß unſer Gegenſtand , die
Weltgeſchichte, auf dem geiſtigen Boden vorgeht. Welt be
greift die phyſiſche und pſychiſche Natur in ſich ; die phyſiſche
Natur greift gleichfals in die Weltgeſchichte ein , und wir wer :
den ſchon im Anfange auf dieſe Grundverhältniſſe der Naturbes
ſtimmung aufmerkſam machen . Aber der Geiſt und der Verlauf
ſeiner Entwicelung iſt das Subſtantielle. Die Natur haben wir
hier nicht zu betrachten , wie ſie an ihr ſelbſt gleichfalls ein Syſtem
der Vernunft iſt, in einem beſonderen , eigenthümlichen Elemente,
ſondern nur relativ auf den Geiſt. Der Geiſt iſt aber auf dem
Theater , auf dem wir ihn betrachten , in der Weltgeſchichte , in
ſeiner concreteſten Wirklichkeit; deſſenungeachtet aber , oder viel
mehr um von dieſer Weiſe ſeiner concreten Wirklichkeit auch das
Allgemeine zu faſſen , müſſen wir von der Natur des Geiſtes
zuvörderſt einige abſtracte Beſtimmungen vorausſchicken . Doch kann
dies hier mehr nur behauptungsweiſe geſchehen und iſt hier nicht
der Ort die Idee des Geiſtes ſpeculativ zu entwickeln , denn was
in einer Einleitung geſagt werden kann, iſt überhaupt als hiſto
riſch , wie ſchon bemerkt, als eine Vorausſeßung zu nehmen , die
entweder anderwärts ihre Ausführung und ihren Erweis erhal
22 Einleitun .
g

ten hat, oder in der Folge der Abhandlung der Wiſſenſchaft der
Geſchichte erſt ſeine Beglaubigung empfangen ſoll.
Wir haben alſo hier anzugeben :
a ) die abſtracten Beſtimmungen der Natur des Geiſtes ;
b ) welche Mittel der Geiſt braucht, um ſeine Idee zu rea
lifiren ;
c) endlich iſt die Geſtalt zu betrachten , welche die vollſtän
dige Realiſirung des Geiſtes im Daſeyn iſt — der Staat.
a) Die Natur des Geiſtes läßt ſich durch den vollfomme
nen Gegenſaß deſſelben erkennen . Wie die Subſtanz der Ma
terie die Schwere iſt, ſo , müſſen wir ſagen , iſt die Subſtanz, das
Weſen des Geiſtes die Freiheit. Jedem iſt es unmittelbar glaub
lich , daß der Geiſt auch unter anderen Eigenſchaften die Frei
heit beſike; die Philoſophie aber lehrt uns, daß alle Eigenſchaf
ten des Geiſtes nur durch die Freiheit beſtehen , alle nur Mittel
für die Freiheit ſind, alle nur dieſe ſuchen und hervorbringen ; es
iſt dieß eine Erkenntniß der ſpeculativen Philoſophie , daß die
Freiheit das einzige Wahrhafte des Geiſtes ſey. Die Materie
iſt inſofern ſchwer, als ſie nach einem Mittelpunkte treibt: fie iſt
weſentlich zuſammengeſeßt, fie beſteht außer einander, fie ſucht ihre
Einheit und ſucht alſo fich ſelbſt aufzuheben , ſucht ihr Gegen
theil; wenn ſie dieſes erreichte , ſo wäre ſie keine Materie mehr,
ſondern ſie wäre untergegangen ; ſie ſtrebt nach Idealität, denn
in der Einheit iſt ſie ideellt. Der Geiſt im Gegentheil iſt eben
das, in fich den Mittelpunkt zu haben , er hat nicht die Einheit
außer fich , ſondern er hat ſie gefunden ; er iſt in fich felbſt und
bei ſich ſelbſt. Die Materie hat ihre Subſtanz außer ihr ; der
Geiſt iſt das Bei- fi ch = ſelbft -feyn . Dieß eben iſt die Frei
heit, denn wenn ich abhängig bin , ſo beziehe ich mich auf ein
Anderes , das ich nicht bin ; ich kann nicht ſeyn ohne ein Aeuße
res ; frei bin ich , wenn ich bei mir ſelbſt bin . Dieſes Beiſich
ſelbſtſeyn des Geiſtes iſt Selbſtbewußtſeyn, das Bewußtſeyn von
fich ſelbſt. Zweierlei iſt zu unterſcheiden im Bewußtſeyn , erſtens,
Einleitung . 23

daß ich weiß , und zweitens , was ich weiß . Beim Selbſtbe
wußtſeyn fält Beides zuſammen , denn der Geiſt weiß ſich ſelbſt:
er iſt das Beurtheilen ſeiner eigenen Natur, und er iſt zugleich
die Thätigkeit zu ſich zu kommen , und ſo ſich hervorzubringen ,
ſich zu dem zu machen , was er an ſich iſt. Nach dieſer ab
ſtracten Beſtimmung kann von der Weltgeſchichte geſagt wer
den , daß ſie die Darſtellung des Geiſtes ſey , wie er ſich das
Wiſſen deſſen , was er an ſich iſt, erarbeitet, und wie der Reim
die ganze Natur des Baumes , den Geſchmad , die Form der
Früchte in ſich trägt, ſo enthalten auch ſchon die erſten Spuren
des Geiſtes virtualiter die ganze Geſchichte. Die Orientalen
wiſſen es noch nicht, daß der Geiſt, oder der Menſch als ſolcher
an ſich frei iſt; weil ſie es nicht wiſſen , ſind ſie es nicht; fie
wiſſen nur, daß Einer frei iſt, aber ebendarum iſt ſolche Frei
heit nur Widfür , Wildheit, Dumpfheit der Leidenſchaft, oder
auch eine Milde, Zahmheit derſelben , die ſelbſt nur ein Naturzu
fall, oder eine Willkür iſt. — Dieſer Eine iſt darum nur ein
Despot, nicht ein freier Mann. In den Griechen iſt erſt das
Bewußtſeyn der Freiheit aufgegangen , und darum ſind ſie frei
geweſen , aber ſie, wie auch die Römer,wußten nur, daß Einige
frei ſind, nicht der Menſch, als ſolcher. Dieß wußte ſelbſt Plato
und Ariſtoteles nicht. Darum haben die Griechen nicht nur Skla
ven gehabt , und iſt ihr Leben , und der Beſtand ihrer ſchönen
Freiheit daran gebunden geweſen , ſondern auch ihre Freiheitwar
ſelbſt theils nur eine zufällige, vergängliche und beſchränkte Blume,
theils zugleich eine harte Knechtſchaft des Menſchlichen, des Hu
manen . – Erſt die germaniſchen Nationen ſind im Chriſten
thume zum Bewußtſeyn gekommen , daß der Menſch als Menſch
frei, die Freiheit des Geiſtes ſeine eigenſte Natur ausmacht; dieß
Bewußtſeyn iſt zuerſt in der Religion , in der innerſten Region
des Geiſtes aufgegangen ; aber dieſes Princip auch in das welt
liche Weſen einzubilden , das war eine weitere Aufgabe , welche
zu löſen und auszuführen eine ſchmere lange Arbeit der Bildung
24 Einleitung.

erfordert. Mit der Annahme der chriſtlichen Religion hat 3. B .


nicht unmittelbar die Sklaverei aufgehört, noch weniger iſt das
mit ſogleich in den Staaten die Freiheit herrſchend, ſind die Re
gierungen und Verfaſſungen auf eine vernünftige Weiſe organi
firt oder gar auf das Princip der Freiheit gegründet worden .
Dieſe Anwendung des Princips auf die Weltlichkeit: die Durch
bildung und Durchdringung des weltlichen Zuſtandes durch daf
ſelbe iſt der lange Verlauf, welcher die Geſchichte ſelbſt ausmacht.
Auf dieſen Unterſchied des Princips als eines ſolchen , und ſeiner
Anwendung, das iſt, Einführung und Durchführung in der Wirf
lichkeit des Geiſtes und Lebens, habe ich ſchon aufmerkſam ge
macht; er iſt eine Grundbeſtimmung in unſerer Wiſſenſchaft, und
weſentlich im Gedanken feſtzuhalten . Wie nun dieſer Unterſchied
in Anſehung des chriſtlichen Princips des Selbſtbewußtſevns, der
Freiheit, hier vorläufig herausgehoben worden , ſo findet er auch
weſentlich Statt in Anſehung des Princips der Freiheit über
haupt. Die Weltgeſchichte iſt der Fortſchritt im Bewußtſeyn der
Freiheit, - ein Fortſchritt, den wir in ſeiner Nothwendigkeit zu
erkennen haben .
Mit dem , was ich im Allgemeinen über den Unterſchied
des Wiſſens von der Freiheit geſagt habe , und zwar zunächſt in
der Form , daß die Orientalen nur gewußt haben , daß Einer
frei , die griechiſche und römiſche Welt aber, daß Einige frei
find, daß wir aber wiſſen , alle Menſchen an ſich, das heißt der
Menſch als Menſch ſey frei, iſt auch zugleich die Eintheilung der
Weltgeſchichte, und die Art, in der wir ſie abhandeln werden ,
angegeben . Dieß iſt jedoch nur im Vorbeigehen vorläufig bez
merkt; wir haben vorher noch einige Begriffe zu erpliciren .
Es iſt alſo , als die Beſtimmung der geiſtigen Welt, und
indem dieſe die ſubſtantielle Welt iſt , und die phyſiſche ihr un
tergeordnet bleibt, oder im ſpeculativen Ausdruck, keine Wahrheit
gegen die erſte hat – als der End3w e ck der Welt , das Bes
wußtſeyn des Geiſtes von ſeiner Freiheit, und ebendamit die
Einleitung.
Wirklichkeit ſeiner Freiheit überhaupt angegeben worden . Daß
aber dieſe Freiheit, wie ſie angegeben wurde, ſelbſt noch unbe
ſtimmt, und ein unendlich vieldeutiges Wort iſt, daß ſie, indem
ſie das Höchſte iſt, unendlich viele Mißverſtändniſſe, Verwirrun
gen und Irrthümer mit ſich führt, und alle möglichen Ausſchwei
fungen in ſich begreift, dieß iſt etwas , was man nie beſſer ge
wußt und erfahren hat, als in jeßiger Zeit ; aber wir laſſen es
hier zunächſt bei jener allgemeinen Beſtimmung bewenden . Fer
ner wurde auf die Wichtigkeit des unendlichen Unterſchieds zwi
ſchen dem Princip, zwiſchen dem , was nur erſt an ſich, und zwi
ſchen dem , was wirklich iſt, aufmerkſam gemacht. Zugleich iſt es
die Freiheit in ihr ſelbſt, welche die unendliche Nothwendigkeit in
ſich ſchließt, eben ſich zum Bewußtſeyn , – denn ſie iſt, ihrem
Begriff nach , Wiſſen von ſich , – und damit zur Wirklichkeit
zu bringen : fie iſt ſich der Zweck , den ſie ausführt, und der
einzige Zweck des Geiſtes. Dieſer Endzweck iſt das, worauf in
der Weltgeſchichte hingearbeitet worden , dem alle Opfer auf dem
weiten Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit ge
brachtworden. Dieſer iſt es allein , der ſich durchführt und voll
bringt, das allein Ständige in dem Wechſel aller Begebenheiten
und Zuſtände, ſo wie das wahrhaft Wirkſame in ihnen . Dieſer
Endzweck iſt das, was Gott mit der Welt will , Gott aber iſt
das Vollkommenſte, und kann darum nichts als ſich ſelbſt, ſeinen
eigenen Willen wollen . Was aber die Natur ſeines Willens ,
d. h. ſeine Natur überhaupt iſt, dieß iſt es, was wir, indem wir
die religiöſe Vorſtellung in Gedanken faſſen , hier die Idee der
Freiheit nennen . Die jeßt aufzuwerfende unmittelbare Frage kann
nun die ſeyn : welche Mittel gebraucht ſie zu ihrer Realiſation ?
Dieß iſt das Zweite, was hier zu betrachten iſt.
b ) Dieſe Frage nach den Mitteln , wodurch ſich die Frei
heit zu einer Welt hervorbringt , führt uns in die Erſcheinung
der Geſchichte ſelbſt. Wenn die Freiheit als ſolche zunächſt der
innere Begriff iſt, ſo ſind die Mittel dagegen ein Aeußerliches,
26 Einleitung

das Erſcheinende, das in der Geſchichte unmittelbar vor die Augen


tritt und ſich darſtellt. Die nächſte Anſicht der Geſchichte über
zeugt uns, daß die Handlungen der Menſchen von ihren Be
dürfniſſen , ihren Leidenſchaften , ihren Intereſſen , ihren Charakteren
und Talenten ausgehen , und zwar ſo, daß es in dieſem Schau
ſpiel der Thätigkeit nur dieſe Bedürfniſſe, Leidenſchaften , Intereſ
ſen ſind , welche als die Triebfedern erſcheinen , und als das
Hauptwirkſame vorkommen . Wohl liegen darin auch allgemeine
Zwecke, ein Guteswollen , edle Vaterlandsliebe; aber dieſe Tu
genden und dieſes Augemeine ſtehen in einem unbedeutenden Ver
hältniſſe zur Welt und zu dem , was ſie erſchafft. Wir können
wohl die Vernunftbeſtimmung in dieſen Subjecten ſelbſt und in
den Kreiſen ihrer Wirkſamkeit realiſirt ſehen , aber ſie ſind in
einem geringen Verhältniß zu der Maſſe des Menſchengeſchlechts ;
ebenſo iſt der Umfang des Daſeyns, den ihre Tugenden ha
ben , relativ von geringer Ausdehnung. Die Leidenſchaften dage.
gen , die Zwecke des particularen Intereſſes , die Befriedigung der
Selbſtſucht, ſind das Gewaltigſte; ſie haben ihre Macht darin,
daß ſie keine der Schranken achten , welche das Recht und die
Moralität ihnen feßen wollen , und daß dieſe Naturgewalten dem
Menſchen unmittelbar näher liegen , als die fünſtliche und lang
wierige Zucht zur Ordnung und Mäßigung, zum Rechte und
zur Moralität. Wenn wir dieſes Schauſpiel der Leidenſchaften
betrachten , und die Folgen ihrer Gewaltthätigkeit, des Unverſtan
des erblicken , der ſich nicht nur zu ihnen , ſondern ſelbſt auch ,
und ſogar vornehmlich zu dem , was gute Abſichten , recht
liche Zwecke ſind, geſellt, wenn wir daraus das Uebel, das Böſe,
den Untergang der blühendſten Reiche, die der Menſchengeiſt her
vorgebracht hat, ſehen ; ſo können wir nur mit Trauer über dieſe
Vergänglichkeit überhaupt erfüllt werden , und indem dieſes Unter
gehen nicht nur ein Werk der Natur, ſondern des Willens der
Menſchen iſt, mit einer moraliſchen Betrübniß, mit einer Empös
rung des guten Geiſtes , wenn ein ſolcher in uns iſt, über ſolches
Einleitung. 27
Schauſpiel enden . Man kann jene Erfolge ohne redneriſche Ueber
treibung, bloß mit richtiger Zuſammenſtellung des Unglücks , das
das Herrlichſte an Völkern und Staatengeſtaltungen , wie an
Privattugenden erlitten hat , zu dem furchtbarſten Gemälde erhes
ben , und ebenſo damit die Empfindung zur tiefſten , rathloſeſten
Trauer ſteigern , welcher kein verſöhnendes Reſultat das Gegen
gewicht hält, und gegen die wir uns etwa nur dadurch befeſtigen ,
oder dadurch aus ihr heraustreten , indem wir denken : es iſt nun
einmal ſo geweſen ; es iſt ein Schickſal; es iſt nichts daran zu
ändern ; und dann, daß wir aus der Langenweile, welche uns jene
Reflerion der Trauer machen könnte , zurück in unſer Lebensge
fühl , in die Gegenwart unſerer Zwecke und Intereſſen , kurz in
die Selbſtſucht zurüctreten , welche am ruhigen Ufer ſteht, und
von da aus ſicher des fernen Anblicks der verworrenen Trüm .
mermaſſe genießt. Aber auch indem wir die Geſchichte als dieſe
Schlachtbank betrachten , auf welcher das Glück der Völker , die
Weisheit der Staaten , und die Tugend der Individuen zum
Opfer gebracht worden , ſo entſteht dem Gedanken nothwendig
auch die Frage, wem , welchem Endzwede dieſe ungeheuerſten
Dpfer gebracht worden ſind. Von hier aus geht gewöhnlich die
Frage nach dem , was wir zum allgemeinen Anfange unſerer
Betrachtung gemacht; von demſelben aus haben wir die Beges
benheiten , die uns jenes Gemälde für die trübe Empfindung und
für die darüber ſinnende Reflerion darbieten , ſogleich als das
Feld beſtimmt, in welchem wir nur die Mittel ſehen wollen für
das , was wir behaupten , daß es die ſubſtantielle Beſtimmung,
der abſolute Endzweck, oder was daſſelbe iſt, daß es das wahr
hafte Reſultat der Weltgeſchichte fen . Wir haben es von An
fang an überhaupt verſchmäht, den Weg der Reflerionen einzu
ſchlagen , von jenem Bilde des Beſonderen zum Allgemeinen auf
zuſteigen ; ohnehin iſt es auch nicht das Intereſſe jener gefühl
vollen Reflerionen ſelbft , ſich wahrhaft über dieſe Empfindungen
zu erheben , und die Räthſel der Vorſehung, welche in jenen Be
28 Einleitung.

trachtungen aufgegeben worden ſind , zu löſen . Es iſt vielmehr


das Weſen derſelben , ſich in den leeren , unfruchtbaren Erhaben
heiten jenes negativen Reſultats trübſelig zu gefallen . Wir feh
ren alſo zum Standpunkte , den wir genommen , zurück, und die
Momente , die wir darüber anführen wollen , werden auch die
weſentlichen Beſtimmungen für die Beantwortung der Fragen ,
die aus jenem Gemälde hervorgehen können , enthalten.
Das Erfte , was wir bemerken , iſt das , was wir ſchon
oft geſagt haben , was aber, ſobald es auf die Sache ankommt,
nicht oft genug wiederholt werden kann, daß das, was wir Prin
cip , Endzweck, Beſtimmung, oder die Natur und den Begriff des
Geiſtes genannt haben , nur ein Allgemeines, Abſtractes iſt. Prin
cip , ſo auch Grundſaß, Geſeß iſt ein Inneres , das als ſolches ,
ſo wahr es auch in ihm iſt, nicht vollſtändig wirklich iſt. Zwecke,
Grundſäße u . . f. ſind in unſeren Gedanken , erſt in unſerer in
neren Abſicht, aber noch nicht in der Wirklichkeit. Was an fich
iſt, iſt eine Möglichkeit, ein Vermögen , aber noch nicht aus fei
nem Inneren zur Eriſtenz gekommen . Es muß ein zweites Mo
ment für ihre Wirklichkeit hinzukommen und dieß iſt die Bethä
tigung, Verwirklichung, und deren Princip iſt der Wille, die
Thätigkeit des Menſchen überhaupt. Es iſt nur durch dieſe Thä
tigkeit, daß jener Begriff ſowie die an ſich ſeyenden Beſtimmun
gen realiſirt, verwirklichtwerden , denn ſie gelten nicht unmittelbar
durch ſich ſelbſt. Die Thätigkeit, welche ſie in 's Werk und Da
ſeyn (eßt, iſt des Menſchen Bedürfniß , Trieb, Neigung und Lei
denſchaft. Daran , daß ich etwas zur That und zum Daſeyn
bringe, iſt mir viel gelegen : ich muß dabei ſeyn ; ich will durch
die Vollführung befriedigt werden . Ein Zweck , für welchen ich
thätig ſeyn ſoll, muß auf irgend eine Weiſe auch mein Zweck
ſeyn ; ich muß meinen Zweck zugleich dabei befriedigen, wenn der
Zweck, für welchen ich thätig bin, auch noch viele andere Seiten
hat, nach denen er mich nichts angeht. Dieß iſt das unendliche
Recht des Subjects , daß es ſich ſelbſt in ſeiner Thätigkeit und
Einleitung . 29
Arbeit befriedigt findet. Wenn die Menſchen ſich für etwas in
tereſſiren ſollen , ſo müſſen ſie ſich ſelbſt darin haben , und ihr
eigenes Selbſtgefühl darin befriedigt finden . Man muß einen
Mißverſtand hierbei vermeiden : man tadelt es , und ſagt in einem
übeln Sinne mit Recht von einem Individuum : es ſey überhaupt
intereſſirt, das heißt, es ſuche nur ſeinen Privatvortheil. Wenn
wir dieſes tadeln , ſo meinen wir, es ſuche dieſen Privatvortheil
ohne Geſinnung für den allgemeinen Zweck , bei deſſen Gelegen
heit es ſich um jenen abmüht, oder gar , indem es das Auge
meine aufopfert; aber wer thätig für eine Sache iſt, der iſt nicht
nur intereſſirt überhaupt, ſondern intereſſirt dabei. Die Sprache
drückt dieſen Unterſchied richtig aus. Es geſchieht daher nichts,
wird nichts vollbracht, ohne daß die Individuen , die dabei thä
tig ſind, auch fich befriedigen ; ſie ſind particulare Menſchen , das
heißt, ſie haben beſondere, ihnen eigenthümliche Bedürfniſſe, Triebe,
Intereſſen überhaupt : unter dieſen Bedürfniſſen iſt nicht nur das
des eigenen Bedürfniſſes und Willens, ſondern auch der eigenen
Einſicht , Ueberzeugung, oder wenigſtens des Dafürhaltens der
Meinung, wenn anders ſchon das Bedürfniß des Raiſonnements,
des Verſtandes , der Vernunft erwacht iſt. Dann verlangen die
Menſchen auch , wenn ſie für eine Sache thätig ſeyn ſollen ,
daß die Sache ihnen überhaupt zuſage , daß ſie mit ihrer Mei
nung, es ſey von der Güte derſelben , ihrem Rechte, Vortheil,
ihrer Nüßlichkeit, dabei ſeyn können . Dieß iſt beſonders ein we
ſentliches Moment unſerer Zeit, wo die Menſchen wenig mehr
durch Zutrauen und Autorität zu etwas herbeigezogen werden ,
ſondern mit ihrem eigenen Verſtande, ſelbſtſtändiger Ueberzeugung
und Dafürhalten den Antheil ihrer Thätigkeit einer Sache wid
men wollen .
So ſagen wir alſo , daß überhaupt nichts ohne das Inter
eſſe derer, welche durch ihre Thätigkeit mitwirkten , zu Stande ge
kommen iſt , und indem wir ein Intereſſe eine Leidenſchaft nen
nen , inſofern die ganze Individualität mit Hintenanſeßung aller
ung
30 Einleit .

anderen Intereſſen und Zwecke , die man auch hat und haben
kann , mit allen ihr inwohnenden Adern von Wollen ſich in einen
Gegenſtand legt, in dieſen Zwed alle ihre Bedürfniſſe und Kräfte
concentrirt, ſo müſſen wir überhaupt ſagen , daß nichts Großes
in der Welt ohne Leidenſchaft vollbracht worden iſt. Es ſind
zwei Momente, die in unſern Gegenſtand eintreten : das eine iſt
die Idee, das andere ſind die menſchlichen Leidenſchaften ; das
eine iſt der Zettel , das andere der Einſchlag des großen Tep
piches der vor uns ausgebreiteten Weltgeſchichte. Die concrete
Mitte und Vereinigung beider iſt die ſittliche Freiheit im Staate.
Von der Idee der Freiheit, als der Natur des Geiſtes und dem
abſoluten Endzweck der Geſchichte iſt die Rede geweſen. Leiden
ſchaft wird als etwas angeſehen , das nicht recht iſt, das mehr
oder weniger ſchlecht iſt : der Menſch ſoll keine Leidenſchaften
haben . Leidenſchaft iſt auch nicht ganz das paſſende Wort für
das , was ich hier ausdrücken will. Ich verſtehe hier nämlich
überhaupt die Thätigkeit des Menſchen aus particularen Inter
eſſen , aus ſpeciellen Zwecken , oder wenn man will, ſelbſtſüchti
gen Abſichten , und zwar ſo , daß ſie in dieſe Zwecke die ganze
Energie ihres Wollens und Charakters legen , ihnen Anderes,
das auch Zweck ſeyn kann , oder vielmelír alles Andere aufopfern .
Dieſer particulare Inhalt iſt ſo Eins mit dem Willen des Men
ſchen , daß er die ganze Beſtimmtheit deſſelben ausmacht und un
trennbar von ihm iſt; er iſt dadurch das , was er iſt. Denn
das Individuum iſt ein ſolches , das da iſt, nicht Menſch über
haupt, denn der eriſtirt nicht, ſondern ein beſtimmter. Charak
ter drückt gleichfals dieſe Beſtimmtheit des Willens und der In
telligenz aus. Aber Charakter begreift überhaupt alle Particu
laritäten in fich , die Weiſe des Benehmens in Privatverhält
niſſen u . f. f., und iſt nicht dieſe Beſtimmtheit als in Wirkſam
keit und Thätigkeit gefegt. Ich werde alſo Leidenſchaft ſagen ,
und ſomit die particulare Beſtimmtheit des Charakters verſtehen ,
inſofern dieſe Beſtimmtheiten des Wollens nicht einen privaten
Einleitung. 31
Inhalt nur haben , ſondern das Treibende und Wirkende allge
meiner Thaten ſind. Leidenſchaft iſt zunächſt die ſubjective, ins
ſofern formelle Seite der Energie, des Willens und der Thätigs
keit,wobei der Inhalt oder Zweck noch unbeſtimmt bleibt; ebenſo
iſt es bei dem eigenen Ueberzeugtſeyn , bei der eigenen Einſicht
und bei dem eigenen Gewiſſen . Es kommt immer darauf an ,
welchen Inhalt meine Ueberzeugung hat, welchen Zweck meine
Leidenſchaft , ob der eine oder der andere wahrhafter Natur iſt.
Aber umgekehrt, wenn er dieß iſt, ſo gehört dazu , daß er in die
Eriſtenz trete, wirklich ſey .
Aus dieſer Erläuterung über das zweite weſentliche Mo
ment geſchichtlicher Wirklichkeit eines Zweds überhaupt geht
hervor, indem wir im Vorbeigehen Rücſicht auf den Staat nehs
men , daß nach dieſer Seite ein Staat wohlbeſtellt und fraftvoll
in ſich ſelbſt iſt, wenn mit ſeinem allgemeinen Zwecke das Pri
vatintereſſe der Bürger vereinigt, eins in dem andern ſeine Be
friedigung und Verwirklichung findet – ein für ſich höchſtwich
tiger Saß. Aber im Staate bedarf es vieler Veranſtaltungen ,
Erfindungen , von zweckgemäßen Einrichtungen , und zwar von
langen Kämpfen des Verſtandes begleitet , bis er zum Bewußts
ſeyn bringt, was das Zweckgemäße fen , ſowie Kämpfe mit dem
particularen Intereſſe und den Leidenſchaften , eine ſchwere und
langwierige Zucht derſelben , bis jene Vereinigung zu Stande ge
bracht wird. Der Zeitpunkt ſolcher Vereinigung macht die Pes
riode ſeiner Blüthe, ſeiner Tugend, ſeiner Kraft und ſeines Glüces
aus. Aber die Weltgeſchichte beginnt nicht mit irgend einem be
wußten Zwecke , wie bei den beſonderen Kreiſen der Menſchen .
Der einfache Trieb des Zuſammenlebens derſelben hat ſchon den
bewußten Zweck der Sicherung ihres Lebens und Eigenthums,
und indem dieſes Zuſammenleben zu Stande gekommen iſt, er
weitect ſich dieſer Zweck. Die Weltgeſchichte fängt mit ihrem
allgemeinen Zwecke, daß der Begriff des Geiſtes befriedigt werde,
nur an ſich an, das heißt, als Natur; er iſt der innnere, der in
Einleitung.

nerfte bewußtloſe Trieb , und das ganze Geſchäft der Weltge


ſchichte iſt, wie ſchon überhaupt erinnert, die Arbeit ihn zum Be
wußtſeyn zu bringen . So in Geſtalt des Naturweſens, des
Naturwillens auftretend, iſt das , was die ſubjective Seite ge
nannt worden iſt, das Bedürfniß , der Trieb , die Leidenſchaft,
das particulare Intereſſe, wie die Meinung und ſubjective Vor
ſtellung ſogleich für ſich ſelbſt vorhanden . Dieſe unermeßliche
Maſſe von Wollen , Intereſſen und Thätigkeiten ſind die Werk
zeuge und Mittel des Weltgeiſtes , ſeinen Zweck zu volbringen ,
ihn zum Bewußtſeyn zu erheben und zu verwirklichen : und diejer
iſt nur fich zu finden , zu ſich ſelbſt zu kommen , und ſich als
Wirklichkeit anzuſchauen . Daß aber jene Lebendigkeiten der In
dividuen und der Völker, indem ſie das Ihrige ſuchen und befrie
digen , zugleich die Mittel und Werfzeuge eines Höheren und
Weiteren ſind , von dem ſie nichts wiſſen , das ſie bewußtlog
volbringen , das iſt es , was zur Frage gemacht werden könnte,
auch gemacht worden , und was ebenſo vielfältig geläugnet,
wie als Träumerei und Philoſophie verſchrieen und verachtet
worden iſt. Darüber aber habe ich gleich von Anfang an
mich erklärt, und unſere Vorausſeßung (die ſich aber am Ende
erſt als Reſultat ergeben ſollte) und unſern Glauben behauptet,
daß die Vernunft die Welt regiert, und ſo auch die Weltgeſchichte
regiert hat. Gegen dieſes an und für ſich Allgemeine und Sub
ſtantielle iſt alles andere untergeordnet, ihm dienend, und Mittel
für daſſelbe. Aber ferner iſt dieſe Vernunft immanent in dem
geſchichtlichen Daſeyn, und volbringt ſich in demſelben , und durch
daſſelbe. Die Vereinigung des Allgemeinen , an und für ſich
Seyenden überhaupt , und des Einzelnen , des Subjectiven , daß
ſte allein die Wahrheit ſey, dieß iſt ſpeculativer Natur, und wird
in dieſer allgemeinen Form in der Logik abgehandelt. Aber im
Gange der Weltgeſchichte ſelbſt, als noch im Fortſchreiten begrif
fenen Gange, iſt der reine legte Zweck der Geſchichte noch nicht
der Inhalt des Bedürfniſſes und Intereſſes , und indem dieſes
Einleitung. 33

bewußtlos darüber iſt, iſt das Augemeine dennoch in den beſon


deren Zwecken , und vollbringt ſich durch dieſelben . Jene Frage
nimmt auch die Form an , von der Vereinigung der Freiheit
und Nothwendigkeit, indem wir den inneren , an und für ſich
ſeyenden Gang des Geiſtes als das Nuthwendige betrachten , das
gegen das, was im bewußten Willen der Menſchen als ihr In
tereſſe erſcheint, der Freiheit zuſchreiben . Da der metaphyſiſche
Zuſammenhang, d . i. der Zuſammenhang im Begriff, dieſer Bes
ſtimmungen in die Logit gehört, ſo können wir ihn hier nicht
auseinanderlegen . Nur die Hauptmomente , auf die es ankommt,
ſind zu erwähnen .
In der Philoſophie wird gezeigt, daß die Idee zum unend
lichen Gegenſaße fortgeht. Dieſer iſt der, von der Idee in ihrer
freien allgemeinen Weiſe, worin fie bei fich bleibt, und von ihr
als rein abſtracter Reflerion in ſich, welche formelles Fürſichſeyn
iſt, Ich , die formelle Freiheit, die nur dem Geiſte zukommt. Die
allgemeine Idee iſt ſo als ſubſtantielle Fülle einerſeits und als
das Abſtracte der freien Willkür andrerſeits. Dieſe Reflerion
in fich iſt das einzelne Selbſtbewußtſeyn , das Andere gegen die
Idee überhaupt, und damit in abſoluter Endlichkeit. Dieſes An
dere iſt eben damit die Endlichkeit, die Beſtimmtheit, für das all
gemeine Abſolute : es iſt die Seite ſeines Daſeyns, der Boden
ſeiner formellen Realität und der Boden der Ehre Gottes . -
Den abſoluten Zuſammenhang dieſes Gegenſaßes zu faſſen , iſt
die tiefe Aufgabe der Metaphyſik. Ferner iſt mit dieſer Endlich
keit überhaupt alle Particularität geſeßt. Der formelle Wille will
ſich , dieſes Ich fol in Allem ſeyn , was er bezweckt und thut.
Auch das fromme Individuum will gerettet und ſelig ſeyn. Dieſes
Ertrem für ſich eriſtirend im Unterſchied von dem abſoluten , all
gemeinen Weſen iſt ein Beſonderes , weiß die Beſonderheit und
wil dieſelbe; es iſt überhaupt auf dem Standpunkt der Erſchei
nung. Hieher fallen die beſonderen Zwecke , indem die Indivi
duen ſich in ihre Particularität legen , ſie ausfüllen und verwirf
Philoſophie d. Geſchichte. 3. Aufl.
34 Einleitung .

lichen . Dieſer Standpunkt iſt denn auch der des Glücks oder
Unglüds. Glücklich iſt derjenige, welcher ſein Daſeyn ſeinem be
ſonderen Charakter, Wollen und Willkür angemeſſen hat und ſo
in ſeinem Daſeyn ſich ſelbſt genießt. Die Weltgeſchichte iſt nicht
der Boden des Glücks . Die Perioden des Glücks ſind leere
Blätter in ihr ; denn ſie ſind die Perioden der Zuſammenſtim
mung , des fehlenden Gegenſages. Die Reflerion in fich , dieſe
Freiheit iſt überhaupt abſtract das formelle Moment der Thätig
keit der abſoluten Idee. Die Thätigkeit iſt die Mitte des Schluſ
ſes , deſſen eines Ertrem das Allgemeine, die Idee iſt, die im
inneren Schacht des Geiſtes ruht, das andere iſt die Aeußer
lichkeit überhaupt , die gegenſtändliche Materie. Die Thätigkeit
iſt die Mitte, welche das Allgemeine und Innere überſeßt in die
Objectivität.
Ich wil verſuchen das Geſagte durch Beiſpiele vorſtelliger
und deutlicher zu machen .
Ein Hausbau iſt zunächſt ein innerer Zweck und Abſicht.
Dem gegenüber ſtehen als Mittel die beſonderen Elemente , als
Material Eiſen , Holz, Steine. Die Elemente werden angewen
det, dieſes zu bearbeiten : Feuer, um das Eiſen zu ſchmelzen , Luft,
um das Feuer anzublaſen , Waſſer , um die Räder in Bewe
gung zu ſeßen , das Holz zu ſchneiden u . f. f. Das Product iſt,
daß die Luft, die geholfen , durch das Haus abgehalten wird,
ebenſo die Waſſerfluthen des Regens, und die Verderblichkeit des
Feuers, inſoweit es feuerfeſt ift. Die Steine und Balfen gehor
chen der Schwere , drängen hinunter in die Tiefe, und durch ſie
find hohe Wände aufgeführt. So werden die Elemente ihrer
Natur gemäß gebraucht und wirken zuſammen zu einem Product,
wodurch ſie beſchränkt werden . In ähnlicher Weiſe befriedigen
fich die Leidenſchaften , ſie führen ſich ſelbſt und ihre Zwecke
aus nach ihrer Naturbeſtimmung, und bringen das Gebäude der
menſchlichen Geſellſchaft hervor, worin fie dem Rechte, der Ord
nung die Gewalt gegen ſich verſchafft haben . - Der oben ange
Einleitung. 35
deutete Zuſammenhang enthält ferner dieß , daß in der Weltge
ſchichte durch die Handlungen der Menſchen noch etwas Anderes
überhaupt herauskomme, als ſie bezwecken und erreichen , als ſie
unmittelbar wiſſen und wollen ; ſie volbringen ihr Intereſſe, aber
es wird noch ein Ferneres damit zu Stande gebracht, das auch
innerlich darin liegt , aber das nicht in ihrem Bewußtſeyn und
in ihrer Abſicht lag. Als ein analoges Beiſpiel führen wir
einen Menſchen an, der aus Rache, die vielleicht gerecht iſt, das
heißt , wegen einer ungerechten Verlegung, einem Anderen das
Haus anzündet ; hiebei ſchon thut ſich ein Zuſammenhang der
unmittelbaren That mit weiteren , jedoch ſelbſt äußerlichen Um
ſtänden hervor , die nicht zu jener ganz für ſich unmittelbar ge
nommenen That gehören. Dieſe iſt als ſolche, das Hinhalten
etwa einer kleinen Flamme an eine kleine Stelle eines Balkens.
Was damit noch nicht gethan worden , macht ſich weiter durch
ſich ſelbſt; die angezündete Stelle des Balkens hängt mit den
ferneren Stellen deſſelben , dieſer mit dem Gebälke des ganzen
Hauſes, und dieſes mit anderen Häuſern zuſammen , und eine
weite Feuersbrunſt entſteht, die vieler anderer Menſchen , als ge
gen die die Rache gerichtet war, Eigenthum und Habe verzehrt,
ja vielen Menſchen das Leben koſtet. Dieß lag weder in der
allgemeinen That, noch in der Abſicht deſſen , der ſolches anfing.
Aber Ferner enthält die Handlung noch eine weitere allgemeine
Beſtimmung: in dem Zwecke des Handelnden war ſie nur eine
Rache gegen ein Individuum durch Zerſtörung ſeines Eigen
thums; aber ſie iſt noch weiter ein Verbrechen , und dieß ent
hält ferner die Strafe deſſelben . Dieß mag nicht im Bewußt=
ſeyn , noch weniger im Willen des Thäters gelegen haben , aber
dieß iſt ſeine That an ſich , das Algemeine, Subſtantielle der
ſelben , das durch fie ſelbſt vollbracht wird. Es iſt an dieſem
Beiſpiel eben nur dieß feſtzuhalten , daß in der unmittelbaren
Handlung etwas Weiteres liegen kann , als in dem Willen und
Bewußtſeyn des Thäters. Diefes Beiſpiel hat jedoch noch das
3*
36 Einleitung.

Weitere an ihm , daß die Subſtanz der Handlung, und damit


überhaupt die Handlung ſelbſt, ſich umkehrt gegen den , der ſie
vollbracht, ſie wird ein Rückſchlag gegen ihn , der ihn zertrüm
mert. Dieſe Bereinigung der beiden Ertreme, die Realiſirung
der allgemeinen Idee zur unmittelbaren Wirklichkeit und das Er
heben der Einzelnheit in die allgemeine Wahrheit geſchieht zu
nächſt unter der Vorausſeßung der Verſchiedenheit und Gleich
gültigkeit der beiden Seiten gegeneinander. Die Handelnden
haben in ihrer Thätigkeit endliche Zwecke , beſondere Intereſſen ,
aber ſie ſind Wiſſende , Denkende. Der Inhalt ihrer Zwecke iſt
durchzogen mit allgemeinen , weſenhaften Beſtimmungen des Rechts ,
des Guten , der Pflict 11. P. F. Denn die bloße Begierde , die
Wildheit und Rohheit des Wollens fällt außerhalb des Thea
ters und der Sphäre der Weltgeſchichte. Dieſe allgemeinen Be:
ſtimmungen , welche zugleich Richtlinien für die Zwecke und Hand
lungen ſind, ſind von beſtimmtem Inhalte. Denn ſo etwas Lee
res , wie das Gute um des Guten willen , hat überhaupt in der
lebendigen Wirklichkeit nicht Platz. Wenn man handeln will,
muß man nicht nur das Gute wollen , ſondern man muß wiſſen ,
ob dieſes oder jenes das Gute iſt. Welcher Inhalt aber gut
oder nicht gut, recht oder unrecht ſey , dies iſt für die gewöhn
lichen Fälle des Privatlebens in den Gefeßen und Sitten eines
Staats gegeben . Das hat keine große Schwierigkeit es zu
wiſſen . Jedes Individuum hat ſeinen Stand, es weiß , was
rechtliche, chrliche Handlungoweiſe überhaupt iſt. Für die ge
wöhnlichen Privatverhältniſſe, wenn man es da für jo ſchwierig
erklärt , das Nechte und Gute zu wählen , und wenn man für
eine vorzügliche Moralität hält, darin viele Schwierigkeit 311
finden und Scrupel zu machen , ſo iſt dies vielmehr dem üblen
oder böſen Willen zuzuſchreiben , der Ausflüchte gegen ſeine Pflich
ten ſucht, die zu kennen eben nicht ſchwer iſt, oder wenigſtens
für ein Müßiggehen des reflectirenden Gemüths 311 halten , dem
ein kleinlicher Wille nicht viel zu thun gibt, und das ſich alſo
Einleitung 37
ſonſt in ſich zu thun macht und ſich in der moraliſchen Wohl
gefälligkeit ergeht.
Ein Anderes iſt es in den großen geſchichtlichen Verhält
niſjen . Hier iſt es gerade , wo die großen Colliſionen zwiſchen
den beſtehenden , anerkannten Pflichten , Geſeßen und Rechten und
zwiſchen Möglichkeiten entſtehen , welche dieſem Syſtem entgegen
geſeßt ſind, es verlegen , ja ſeine Grundlage und Wirklichkeit zer
ſtören , und zugleich einen Inhalt haben , der auch gut, im Gro
ßen vortheilhaft, weſentlich und nothwendig ſcheinen kann . Dieſe
Möglichkeiten nun werden geſchichtlich ; ſie ſchließen ein Auge
meines anderer Art in fich , als das Allgemeine, das in dem
Beſtehen eines Volkes oder Staates die Baſis ausmacht. Dies
Augemeine iſt ein Moment der producirenden Idee, ein Moment
der nach ſich ſelbſt ſtrebenden und treibenden Wahrheit. Die
geſchichtlichen Menſchen , die welthiſtoriſchen Individuen
ſind diejenigen , in deren Zwecken ein ſolches Allgemeine liegt.
Cäfar in Gefahr, die Stellung, wenn auch etwa noch nicht
des. Uebergewichts , doch wenigſtens der Gleichheit, zu der er ſich
neben den Anderen , die an der Spiße des Staates ſtanden , er
hoben hatte, zu verlieren, und denen , die im Uebergange fich be
fanden ſeine Feinde zu werden , zu unterliegen , gehört weſentlich
hieher. Dieſe Feinde, welche zugleich die Seite ihrer perſönlichen
Zwecke beabſichtigten , hatten die formelle Staatsverfaſſung und
die Macht des rechtlichen Scheins für ſich. Cäfar fämpfte im
Intereſſe, ſich ſeine Stellung, Ehre und Sicherheit zu erhalten
und der Sieg über ſeine Gegner, indem ihre Macht die Herrſchaft
über die Provinzen des römiſchen Reichs war, wurde zugleich
die Eroberung des ganzen Reichs : ſo wurde er mit Belaſſung
der Form der Staatsverfaſſung der individuelle Gewalthaber im
Staate. Was ihm ſo die Ausführung ſeines zunächſt negativen
Zwecks erwarb, die Alleinherrſchaft Rom 's , war aber zugleich an
ſich nothwendige Beſtimmung in Rom 's und in der Welt Ge
ſchichte, ſo daß ſie nicht nur ſein particularer Gewinn , ſondern
Einleitung.

ein Inſtinkt war, der das vollbrachte , was an und für fich an
der Zeit war. Dieß ſind die großen Menſchen in der Geſchichte,
deren eigene particulare Zwecke das Subſtantielle enthalten , wel
ches Wille des Weltgeiſtes iſt. Sie ſind inſofern Heroen zu
nennen , als ſie ihre Zwecke und ihren Beruf nicht bloß aus dem
ruhigen , angeordneten , durch das beſtehende Syſtem geheiligten
Lauf der Dinge geſchöpft haben , ſondern aus einer Quelle, deren
Inhalt verborgen und nicht zu einem gegenwärtigen Daſeyn ge
diehen iſt, aus dem innern Geiſte, der noch unterirdiſch iſt, der
an die Außenwelt wie an die Schale pocht, und ſie ſprengt,
weil er ein andrer Kern als der Kern dieſer Schale iſt, – die
alſo aus ſich zu ſchöpfen ſcheinen , und deren Thaten einen Zu
ſtand und Weltverhältniſſe hervorgebracht haben , welche nur ihre
Sache und ihr Werk zu ſeyn ſcheinen .
Solche Individuen hatten in dieſen ihren Zwecken nicht das
Bewußtſeyn der Idee überhaupt; fondern ſie waren praktiſche
X , und politiſche Menſchen . Aber zugleich waren ſie denkende, die
1 die Einſicht hatten von dem , was Noth und was an der Zeit
iſt. Das iſt eben die Wahrheit ihrer Zeit und ihrer Welt, ſo
1 zu ſagen die nächſte Gattung , die im Innern bereits vorhanden
war. Ihre Sache war es, dies Allgemeine, die nothwendige,
nächſte Stufe ihrer Welt zu wiſſen , dieſe fich zum Zwede zu
machen und ihre Energie in dieſelbe zu legen . Die welthifto
riſchen Menſchen , die Heroen einer Zeit, ſind darum als die Ein
ſichtigen anzuerkennen ; ihre Handlungen , ihre Reden ſind das
Beſte der Zeit. Große Menſchen haben gewollt um ſich zu be
friedigen , nicht um Andere. Was ſie von Anderen erfahren
hätten an wohlgemeinten Abſichten und Rathſchlägen , das wäre
vielmehr das Bornirtere und Schiefere geweſen , denn ſie ſind
die, die es am beſten verſtanden haben , und von denen es dann
vielmehr Ade gelernt und gut gefunden oder ſich wenigſtens
darin gefügt haben . Denn der weitergeſchrittene Geiſt iſt die
innerliche Seele aller Individuen , aber die bewußtloſe Innerlichkeit,
Einleitung.

welche ihnen die großen Männer zum Bewußtſeyn bringen. Deß


halb folgen die Anderen dieſen Seelenführern , denn ſie fühlen die
unwiderſtehliche Gewalt ihres eigenen inneren Geiſtes , der ihnen
entgegentritt. Werfen wir weiter einen Blick auf das Schickſal
dieſer welthiſtoriſchen Individuen , welche den Beruf hatten , die
Geſchäftsführer des Weltgeiſtes zu ſeyn, ſo iſt es fein glückliches
geweſen . Zum ruhigen Genuſſe kamen ſie nicht, ihr ganzes Les
ben war Arbeit und Mühe, ihre ganze Natur war nur ihre
Leidenſchaft. Iſt der Zweck erreicht, ſo fallen fie , die leeren
Hülſen des Kernes , ab. Sie ſterben früh wie Alerander , fie
werden wie Cäfar ermordet, wie Napoleon nach St. Helena
transportirt. Dieſen ſchauberhaften Troſt, daß die geſchichtlichen
Menſchen nicht das geweſen ſind, was man glücklich nennt und
deſſen das Privatleben , das unter ſehr verſchiedenen , äußerlichen
Umſtänden Statt finden kann , nur fähig iſt, — dieſen Troſt
fönnen die ſich aus der Geſchichte nehmen , die deſſen bedürftig
ſind. Bedürftig aber deſſelben iſt der Neid, den das Große,
Emporragende verdrießt, der ſich beſtrebt es klein zu machen und
einen Schaden an ihm zu finden . So iſt es auch in neueren
Zeiten zur Genüge demonſtrirt worden , daß die Fürſten über
haupt auf ihrem Throne nicht glücklich ſeyen , daher man denſelben
ihnen dann gönnt, und es erträglich findet, daß man nichtſelbſt,
ſondern ſie auf dem Throne ſißen . — Der freie Menſch iſt übri
gens nicht neidiſch, ſondern anerkennt das gern , was groß und
erhaben iſt, und freut ſich, daß es iſt.
Nach dieſen allgemeinen Momenten alſo, welche das Inter
eſſe und damit die Leidenſchaften der Individuen ausmachen ,
ſind dieſe geſchichtlichen Menſchen zu betrachten . Es ſind große
Menſchen , eben weil ſie ein Großes , und zwar nicht ein Einge
bildetes , Vermeintes , ſondern ein Richtiges und Nothwendiges
gewollt und vollbracht haben . Dieſe Betrachtungsweiſe ſchließt
auch die ſogenannte pſychologiſche Betrachtung aus, welche, dem
Neide am beſten dienend, alle Handlungen in 's Herz hinein ſo
40 Einleitung.

zu erklären und in die ſubjective Geſtalt zu bringen weiß , daß


ihre Urheber Alles aus irgend einer kleinen oder großen Leiden
ſchaft, aus einer Sucht gethan haben , und, um dieſer Leiden
ſchaften und Suchten willen , keine moraliſchen Menſchen geweſen
ſeyen . Alerander von Macedonien hat zum Theil Griechenland,
dann Aſien erobert, alſo iſt er eroberungsſüchtig geweſen . Er
hat aus Nuhmſucht, Eroberungsſucht gehandelt; und der Beweis ,
daß ſie ihn getrieben haben , iſt , daß er Solches , das Ruhm
brachte, gethan habe. Welcher Schulmeiſter hat nicht von Aleran
der dem Großen , von Julius Cäſar vordemonſtrirt, daß dieſe
Menſchen von ſolchen Leidenſchaften getrieben , und daher un
moraliſche Menſchen geweſen ſeyen ? woraus ſogleich folgt, daß
er, der Schulmeiſter , ein vortrefflicherer Menſch ſey , als jene,
weil er ſolche Leidenſchaften nicht befäße, und den Beweis das
durch gebe, daß er Aſien nicht erobere, den Darius, Porus nicht
beſiege, ſondern freilich wohl lebe, aber auch leben laſſe. — Dieſe
Pſychologen hängen ſich dann vornehmlich auch an die Betrach
tung von den Particularitäten der großen , hiſtoriſchen Figuren ,
welche ihnen als Privatperſonen zukommen . Der Menſch muß
eſſen und trinfen , ſteht in Beziehung zu Freunden und Bekann
ten , hat Empfindungen und Aufwalungen des Augenblics. Für
einen Kammerdiener giebt es keinen Helden , iſt ein bekanntes
Sprüchwort ; ich habe hinzugeſeßt – und Göthe hat es zehn
Jahre ſpäter wiederholt – nicht aber darum , weil dieſer kein
Held , ſondern weil jener der Kammerdiener iſt. Dieſer zieht
dem Helden die Stiefel aus, hilft ihm zu Bette, weiß , daß er
lieber Champagner trinkt u . f. f. – Die geſchichtlichen Perſonen ,
von ſolchen pſychologiſchen Kammerdienern in der Geſchichtſchrei
bung bedient, kommen ſchlecht weg ; ſie werden von dieſen ihren
Sammerdienern nivellirt, auf gleiche Linie oder vielmehr ein Paar
Stufen unter die Moralität ſolcher feinen Menſchenfenner geſtellt.
Der Therſites des Homer, der die Könige tadelt, iſt eine ſtehende
Figur aller Zeiten . Schläge , d. h. Prügel mit einem ſoliden
Einleitung. 41

Stabe , bekommt er zwar nicht zu allen Zeiten , wie in den ho


meriſchen , aber ſein Neid , ſeine Eigenſinnigkeit iſt der Pfahl, den
er im Fleiſche trägt ; und der unſterbliche Wurm , der ihn nagt,
iſt die Qual, daß ſeine vortrefflichen Abſichten und Tadeleien in
der Welt doch ganz erfolglos bleiben . Man kann auch eine
Schadenfreude am Schicfal des Therſitismus haben .
Ein welthiſtoriſches Individuum hat nicht die Nüchternheit
dies und jenes zu wollen , viel Rückſichten zu nehmen , ſondern
es gehört ganz rückſichtslos dem Einen Zwecke an. So iſt es
auch der Fall , daß fie andre große, ja heilige Intereſſen leicht
ſinnig behandeln , welches Benehmen ſich freilich dem moraliſchen
Tadel unterwirft. Aber ſolche große Geſtalt muß manche un
ſchuldige Blume zertreten , Manches zertrümmern aufihrem Wege.
Das beſondere Intereſſe der Leidenſchaft iſt alſo unzertrenn
lich von der Bethätigung des Allgemeinen ; denn es iſt aus dem
beſonderen und beſtimmten und aus deſſen Negation , daß das
Augemeine reſultirt. Es iſt das Beſondere , das ſich an einan
der abfämpft und wovon ein Theil zu Grunde gerichtet wird. )
Nicht die allgemeine Idee iſt es, welche ſich in Gegenſaß und
Kampf, welche ſich in Gefahr begiebt; ſie hält ſich unangegriffen
und unbeſchädigt im Hintergrund. Das iſt die Liſt der Ver:
nunft zu nennen , daß ſie die Leidenſchaften für ſich wirken läßt,
wobei das, was durch ſie ſich in Eriſtenz jeßt, einbüßt und Scha
den leidet. Denn es iſt die Erſcheinung, von der ein Theil nich
tig , ein Theil affirmativ iſt. Das Particulare iſt meiſtens zu
gering gegen das Algemeine: die Judividuen werden aufgeopfert
und preisgegeben . Die Idee bezahlt den Tribut des Daſeyns
und der Vergänglichkeit nicht aus ſich, ſondern aus den Leiden
ſchaften der Individuen .
Wenn wir es uns nun gefallen laſſen , die Individualitäten ,
ihre Zwecke und deren Befriedigung aufgeopfert, ihr Glück über
haupt dem Reiche der Zufälligkeit, dem es angehört, preisgegeben
zu ſehen , und die Individuen überhaupt unter der Kategorie der
42 Einleitung

Mittel zu betrachten , ſo iſt doch eine Seite in ihnen , die wir


Anſtand nehmen, auch gegen das Höchſte nur in dieſem Geſichts
punkte zu faſſen , weil es ein ſchlechthin nicht Untergeordnetes ,
ſondern ein in ihnen an ihm ſelbft Ewiges , Göttliches iſt. Dieß
iſt die Moralität, Sittlichkeit , Religioſität. Schon in
dem von der Bethätigung des Vernunftzwecks durch die Individuen
überhaupt geſprochen worden iſt, iſt die ſubjective Seite derſelben ,
ihr Intereſſe, das ihrer Bedürfniſſe und Triebe, ihres Dafürhal
tens und ihrer Einſicht, als die formelle Seite zwar angegeben
worden , aber welche ſelbſt ein unendliches Recht habe, befriedigt
werden zu müſſen . Wenn wir von einem Mittel ſprechen , ſo
ſtellen wir uns daſſelbe zunächſt als ein dem Zweck nur äußer
liches vor, das keinen Theil an ihm habe. In der That aber
müſſen ſchon die natürlichen Dinge überhaupt, ſelbſt die gemeinſte
lebloſe Sache, die als Mittel gebraucht wird, von der Beſchaffen=
heit ſeyn , daß fie dem Zwecke entſprechen , in ihnen etwas
haben , das ihnen mit dieſem gemein iſt. In jenem ganz äußers
lichen Sinne verhalten ſich die Menſchen am wenigſten als
Mittel zum Vernunftzwecke; nicht nur befriedigen ſie zugleich mit
dieſem , und bei Gelegenheit deſſelben, die dem Inhalt nach von
ihm verſchiedenen Zwecke ihrer Particularität, ſondern ſie haben
Theil an jenem Vernunftzweck ſelbſt , und ſind eben dadurch
Selbſtzwecke, - Selbſtzweck nicht nur formell, wie das Leben
dige überhaupt, deſſen individuelles Leben ſelbſt , ſeinem Gehalte
nach , ein ſchon dem menſchlichen Leben Untergeordnetes iſt , und
mit Rechtals Mittel verbraucht wird, ſondern die Menſchen ſind
auch Selbſtzwecke dem Inhalte des Zweckes nach. In dieſe
Beſtimmung fält eben Jenes , was wir der Kategorie eines Mit
teló entnommen zu ſeyn verlangen , Moralität, Sittlichkeit, Reli
gioſität. Zweck in ihm ſelbſt nämlich iſt der Menſch nur durch
das Göttliche, das in ihın iſt, durch das, was von Anfang
an Vernunft , und , inſofern ſie thätig und ſelbſtbeſtimmend iſt,
Freiheit genannt wurde; und wir ſagen , ohne hier in weitere
Einleitung. 43
-
Entwicelung eingehen zu können , daß eben Religioſität, Sittlich
keit u . f. f. hierin ihren Boden und ihre Quelle haben , und
hiermit ſelbſt über die äußere Nothwendigkeit und Zufälligkeit an
ſich erhoben find. Aber es iſt hier zu ſagen , daß die Indivi
duen , inſofern ſie ihrer Freiheit anheimgegeben ſind, Schuld an
dem ſittlichen und religiöſen Verderben und an der Schwächung
der Sittlichkeit und Religion haben . Dieß iſt das Siegel der
abſoluten hohen Beſtimmung des Menſchen , daß er wiſſe, was
gut und was böſe iſt, und daß eben ſie das Wollen ſey , ent
weder des Guten , oder des Böſen , - mit einem Wort, daß er
Schuld haben kann , Schuld nicht nur am Böſen , ſondern auch
am Guten , und Schuld nicht bloß an Dieſem , Jenem und Alem ,
ſondern Schuld an dem ſeiner individuellen Freiheit angehörigen
Guten und Böſen . Nur das Thier allein iſt wahrhaft unſchul
dig . Aber es erfordert eine weitläufige Auseinanderſebung, eine
ſo weitläufige als die über die Freiheit ſelbſt, um alle Mißver
ſtändniſſe, die fich hierüber zu ergeben pflegen , daß das , was
Unſchuld genannt wird, die Unwiſſenheit ſelbſt des Böſen bedeute,
abzuſchneiden oder zu beſeitigen .
Bei der Betrachtung des Schickſals, welches die Tugend,
Sittlichkeit, auch Religioſität in der Geſchichte haben , müſſen
wir nicht in die Litanei der Klagen verfallen , daß es den Guten
und Frommen in der Welt oft, oder gar meiſt ſchlecht, den Bö
ſen und Schlechten dagegen gut gehe. Unter dem Gutgehen
pflegt man ſehr Mancherlei zu verſtehen , auch Neichthum , äußer
liche Ehre und dergleichen . Aber wenn von Solchem die Rede
iſt, was an und für ſich Feyender Zweck wäre , kann ſolches ſo
genanntes Gut- oder Schlechtgehen von dieſen oder jenen einzel
nen Individuen nicht zu einem Momente der vernünftigen Welt
ordnung gemacht werden ſollen. Mit mehr Recht, als nur Glück,
Glücksumſtände von Individuen , wird an den Weltzweck gefor:
dert, daß gute, fittliche, rechtliche Zwecke unter ihm , und in ihm ,
ihre Ausführung und Sicherung ſuchen . Was die Menſchen
44 Einleitung.

moraliſch unzufrieden macht (und dieß iſt eine Unzufriedenheit,


auf die ſie ſich was zu Gute thun ), iſt, daß ſie für Zwece,
welche ſie für das Rechte und Gute halten ( insbeſondere heut
zu Tage Ideale von Staatseinrichtungen ), die Gegenwart nicht
entſprechend finden ; ſie ſeßen ſolchem Daſeyn ihr Sollen deſſen ,
was das Recht der Sache ſey, entgegen . Hier iſt es nicht das
particulare Intereſſe, nicht die leidenſchaft, welche Befriedigung
verlangt, ſondern die Vernunft, das Recht, die Freiheit, und mit
dieſem Titel ausgerüſtet trägt dieſe Forderung das Haupt hoch,
und iſt leicht nicht nur unzufrieden über den Weltzuſtand, ſondern
empört dagegen . Um ſolches Gefühl und ſolche Anſichten zu
würdigen , müßte in Unterſuchung der aufgeſtellten Forderungen ,
der ſehr aſſertoriſchen Meinungen eingegangen werden . Zu feiner
Zeit, wie in der unſrigen , ſind hierüber allgemeine Säße und
Gedanken mit größerer Prätenſion aufgeſtellt worden . Wenn
die Geſchichte ſonſt ſich als ein Kampf der Leidenſchaften darzu
ſtellen ſcheint, ſo zeigt ſie in unſerer Zeit, obgleich die Leiden
ſchaften nicht fehlen , theils überwiegend den Kampf berechtigender
Gedanken unter einander , theils den Kampf der Leidenſchaften
und ſubjectiven Intereſſen , weſentlich nur unter dem Titel ſolcher
höheren Berechtigungen . Dieſe im Namen deſſen , was als die
Beſtimmung der Vernunft angegeben worden iſt, beſtehen ſollen
den Rechtsforderungen gelten eben damit als abſolute Zwecke,
ebenſo wie Religion , Sittlichkeit, Moralität. Nichts iſt, wie ge
ſagt, jeßt häufiger als die Slage, daß die Ideale, welche die
Phantaſie aufſtellt, nicht realiſirt , daß dieſe herrlichen Träume
von der falten Wirklichkeit zerſtört werden . Dieſe Ideale, welche
an der Klippe der harten Wirklichkeit, auf der Lebensfahrt, ſchei
ternd zu Grunde gehen , können zunächſt nur ſubjective ſeyn und
der ſich für das Höchſte und Klügſte haltenden Individualität
des Einzelnen angehören . Die gehören cigentlich nicht hieher.
Denn was das Individuum für ſich in ſeiner Einzelheit ſich aus
ſpinnt, kann für 'die allgemeine Wirklichkeit nicht Geſek ſeyn ,
Einleitung . 43

ebenſo wie das Weltgeſeß nicht für die einzelnen Individuen


allein iſt, die dabei ſehr können zu kurz kommen . Man verſteht
unter Ideal aber ebenſo auch das Ideal der Vernunft, des Guls
ten , des Wahren . Dichter, wie Schiller, haben dergleichen ſehr
rührend und empfindungsvoll dargeſtellt, im Gefühltiefer Trauer,
daß folche Jdeale ihre Verwirklichung nicht zu finden vermöchten .
Sagen wir nun dagegen , die allgemeine Vernunft vollführe fich ,
ſo iſt es um das empiriſch Einzelne freilich nicht zu thun; denn
das fann beſſer und ſchlechter ſeyn, weil hier der Zufall, die Be
ſonderheit ihr ungeheures Recht auszuüben vom Begriff die Macht
erhält. So wäre denn an den Einzelheiten der Erſcheinung
Vieles zu tadeln . Dieß ſubjective Tadeln , das aber nur das
Einzelne und ſeinen Mangel vor ſich hat, ohne die allgemeine
Vernunft darin zu erkennen , iſt leicht, und kann , indern es die
Verſicherung guter Abſicht für das Wohl des Ganzen herbei
bringt und ſich den Schein des guten Herzens giebt , gewaltig
groß thun und ſich aufſpreizen . Es iſt leichter, den Mangel an
Individuen , an Staaten , an der Weltleitung einzuſehen , als
ihren wahrhaften Gehalt. Denn beim negativen Tadeln ſteht
man vornehm und mit hoher Miene über der Sache, ohne in ſie
eingedrungen zu ſeyn , d. h. ſie ſelbſt, ihr Poſitives erfaßt zu
haben . Das Alter im Augemeinen macht milder ; die Jugend
iſt immer unzufrieden ; das macht beim Alter die Reife des Ur
theils , das nicht nur aus Intereſſeloſigkeit auch das Schlechte
ſich gefallen läßt, ſondern , durch den Ernſt des Lebens tiefer be
lehrt, auf das Subſtantielle , Gediegene der Sache iſt geführt
worden . — Die Einſicht nun, zu der, im Gegenſaß jener Ideale,
die Philoſophie führen ſoll, iſt, daß die wirkliche Welt iſt, wie
ſie ſeyn ſoll, daß das wahrhafte Gute , die allgemeine göttliche
Vernunft auch die Macht iſt, ſich ſelbſt zu volbringen . Dieſes
Gute , dieſe Vernunft in ihrer concreteſten Vorſtellung iſt Gott.
Gott regiert die Welt: der Inhalt ſeiner Regierung, die Voll
führung ſeines Plans iſt die Weltgeſchichte. Dieſen will die
46 Einleitung

Philoſophie erfaſſen ; denn nur was aus ihm vollführt iſt, hat
Wirklichkeit : was ihm nicht gemäß iſt, iſt nur faule Eriſtenz.
Vor dem reinen Licht dieſer göttlichen Idee, die kein bloßes Ideal
iſt, verſchwindet der Schein , als ob die Welt ein verrücktes,
thörichtes Geſchehen ſey . Die Philoſophie wil den Inhalt, die
Wirklichkeit der göttlichen Idee erkennen und die verſchmähte
Wirklichkeit rechtfertigen . Denn die Vernunft iſt das Vernehmen
des göttlichen Werkes. . Was aber die Verkümmerung, Verlegung
und den Untergang von religiöſen , ſittlichen und moraliſchen
Zwecken und Zuſtänden überhaupt betrifft, ſo muß geſagt werden ,
daß dieſe zwar ihrem Innerlichen nach unendlich und ewig ſind,
daß aber ihre Geſtaltungen beſchränkter Art ſeyn können , damit
im Naturzuſammenhange und unter dem Gebote der Zufälligkeit
ſtehen . Darum ſind ſie vergänglich und der Verkümmerung und
Verlegung ausgeſeßt. Die Religion und Sittlichkeit haben eben
als die in fich allgemeinen Weſenheiten , die Eigenſchaft, ihrem
Begriffe gemäß, ſomit wahrhaftig, in der individuellen Seele vor
handen zu ſeyn, wenn ſie in derſelben auch nicht die Ausdehnung
der Bildung , nicht die Anwendung auf entwickelte Verhältniſſe
haben . Die Religioſität, die Sittlichkeit eines beſchränkten Lebens
– eines Hirten, eines Bauern , in ihrer concentrirten Innigkeit,
und Beſchränktheit auf wenige und ganz einfache Verhältniſſe
des Lebens , hat unendlichen Werth , und denſelben Werth als
die Religioſität und Sittlichkeit einer ausgebildeten Erkenntniß ,
und eines an Umfang der Beziehungen und Handlungen reichen
Daſeyns. Dieſer innere Mittelpunkt, dieſe einfache Negion des
Rechts der ſubjectiven Freiheit , der Heerd des Wollens , Ent
ſchließens und Thung, der abſtracte Inhalt des Gewiſſens, das,
worin Schuld und Werth des Individuums eingeſchloſſen iſt,
bleibt unangetaſtet , und iſt dem lauten Lärm der Weltgeſchichte
und den nicht nur äußerlichen und zeitlichen Veränderungen , ſon
dern auch denjenigen , welche die abſolute Nothwendigkeit des
Freiheitsbegriffes ſelbſt mit ſich bringt, ganz entnommen . Im
Einleitung

Allgemeinen iſt aber dieß feſtzuhalten , daß was in der Welt als
Edles und Herrliches berechtigt iſt, auch ein Höheres über ſich
hat. Das Recht des Weltgeiſtes geht über alle beſonderen Be
rechtigungen .
Dieß mag genug ſeyn über dieſen Geſichtspunkt der Mittel,
deren der Weltgeiſt ſich zur Realiſirung ſeines Begriffes bedient.
Einfach und abſtract iſt es die Thätigkeit der Subjecte, in welchen
die Vernunft als ihr an ſich ſeyendes ſubſtantielles Weſen vor
handen , aber ihr zunächſt noch dunkler, ihnen verborgener Grund
iſt. Aber der Gegenſtand wird verwickelter und ſchwieriger,
wenn wir die Individuen nicht bloß als thätig , ſondern concreter
mit beſtimmtem Inhalt ihrer Religion und Sittlichkeit nehmen ,
Beſtimmungen , welche Antheil an der Vernunft, damit auch an
ihrer abſoluten Berechtigung haben . Hier fällt das Verhältniß
eines bloßen Mittels zum Zwecke hinweg, und die Hauptgeſichts
punkte, die dabei über das Verhältniß des abſoluten Zweckes
des Geiſtes angeregt werden , ſind kurz in Betracht gezogen.
worden .
c ) Das Dritte nun aber iſt, welches der durch dieſe Mittel
auszuführende Zwed ſey , das iſt, ſeine Geſtaltung in der Wirt
lichkeit. Es iſt von Mitteln die Rede geweſen , aber bei der
Ausführung eines ſubjectiven endlichen Zweckes haben wir auch
noch das Moment eines Materials , was für die Verwirk
lichung derſelben vorhanden oder herbeigeſchafft werden muß . So
wäre die Frage : welches iſt das Material, in welchem der ver
nünftige Endzweck ausgeführt wird ? Es iſt zunächſt das Sub
ject wiederum ſelbſt, die Bedürfniſſe des Menſchen , die Subjec
tivität überhaupt. Im menſchlichen Wiſſen und Wollen , als im
Material, kommt das Vernünftige zu ſeiner Eriſtenz. Der ſub
jective Wille iſt betrachtet worden , wie er einen Zweck hat,
welcher die Wahrheit einer Wirklichkeit iſt, und zwar, inſofern er
eine große welthiſtoriſche Leidenſchaft iſt. Als ſubjectiver Wille
in beſchränkten Leidenſchaften iſt er abhängig und ſeine beſonderen
48 Einleitung.

Zwecke findet er nur innerhalb dieſer Abhängigkeit zu befriedigen .


Aber der ſubjective Wille hat auch ein ſubſtantielles Leben , eine
Wirklichkeit, in der er ſich im Weſentlichen bewegt , und das
Weſentliche ſelbſt zum Zwede ſeines Daſeyns hat. Dieſes We
fentliche iſt ſelbſt die Vereinigung des ſubiectiven und des ver
nünftigen Willens: es iſt das ſittliche Ganze – der Staat,
welcher die Wirklichkeit iſt, worin das Individuum ſeine Freiheit
hat und genießt, aber indem es das Wiſſen , Glauben und Wollen
des Augemeinen iſt; doch iſt dies nicht ſo zu nehmen , als ob der
ſubjective Wille des Einzelnen zu ſeiner Ausführung und ſeinem
Genuſſe durch den allgemeinen Willen käme, und dieſer ein Mit
tel für ihn wäre; als ob das Subject neben den andern Sub
jecten ſeine Freiheit ſo beſchränkte , daß dieſe gemeinſame Be
ſchränkung, das Geniren Aller gegeneinander Jedem einen kleinen
Plaß ließe, worin er fich ergehen könne; vielmehr find Recht,
Sittlichkeit, Staat, und nur fie ; die poſitive Wirklichkeit und
Befriedigung der Freiheit. Die Freiheit, welche beſchränkt wird,
iſt die Wilfür, die ſich auf das Beſondere der Bedürfniſſe be
zieht.
Der ſubjective Wille, die Leidenſchaft iſt das Bethätigende,
Verwirklichende; die Idee iſt das Innere ; der Staat iſt das
vorhandene, wirklich fittliche Leben . Denn er iſt die Einheit
des allgemeinen , weſentlichen Wollens und des ſubjectiven , und
das iſt die Sittlichkeit. Das Individuum , das in dieſer Einheit
lebt, hat ein ſittliches Leben , hat einen Werth , der allein in dies
jer Subſtantialität beſteht. Antigone beim Sophokles ſagt : die
göttlichen Gebote ſind nicht von geſtern , noch von heute , nein ,
fie leben ohne Ende, und Niemand wüßte zu ſagen , von wannen
fie famen . Die Geſeße der Sittlichkeit ſind nicht zufällig , ſon
dern das Vernünftige ſelbſt. Daß nun das Subſtantielle im
wirklichen Thun der Menſchen , und in ihrer Geſinnung gelte,
vorhanden ſey und ſich ſelbſt erhalte , das iſt der Zweck des
Staates. Es iſt das abſolute Intereſſe der Vernunft, daß dieſes
Einleitung. 49
fittliche Ganze vorhanden ſey ; und hierin liegt das Recht und
Verdienſt der Heroen , welche Staaten , ſie ſeyen auch noch fu
unausgebildet geweſen , gegründet haben . In der Weltgeſdichte
kann nur von Völkern die Nede ſeyn , welche einen Staat bilden .
Denn man muß wiſſen , daß ein ſolcher die Realiſation der Frei
heit, d. i. des abſoluten Endzweds iſt, daß er um ſein ſelbſt
willen iſt ; man muß ferner wiſſen , daß aller Werth , den der
Menſch hat, alle geiſtige Wirklichkeit, er allein durch den Staat
hat. Denn ſeine geiſtige Wirklichkeit iſt, daß ihm als Wiffenden
ſein Weſen , das Vernünftige gegenſtändlich ſey , daß es objecti
ves , unmittelbares Daſeyn für ihn habe ; ſo nur ift er Bewufit
ſeyn , ſo nur iſt er in der Sitte , dem rechtlichen und fittlichen
Staatsleben . Denn das Wahre iſt die Einheit des allgemeinen
und ſubjectiven Willens; und das Augemeine iſt im Staate in
den Geſeßen , in allgemeinen und vernünftigen Beſtimmungen .
Der Staat iſt die göttliche Idee , wie ſie auf Erden vorhanden
iſt. Er iſt ſo der näher beſtimmte Gegenſtand der Weltgeſchichte
überhaupt, worin die Freiheit ihre Objectivität erhält und in
dem Genuſſe dieſer Objectivität lebt. Denn das Geſeß iſt die
Objectivität des Geiſtes und der Wille in ſeiner Wahrheit; und
nur der Wille, der dem Geſeke gehorcht, iſt frei, denn er gehorcht
ſich ſelbſt und iſt bei ſich ſelbſt und frei. Indem der Staat,
das Vaterland, eine Gemeinſamkeit des Daſeyns ausmacht, indem
fich der ſubjective Wille des Menſchen den Geſeßen unterwirft,
verſchwindet der Gegenſatz von Freiheit und Nothwendigkeit.
Nothwendig iſt das Vernünftige als das Subſtantielle, und frei
ſind wir, indem wir es als Geſeß anerkennen und ihm als der
Subſtanz unſeres eigenen Weſens folgen : der objective und der
fubjective Wille ſind dann ausgeföhnt und ein und daſſelbe un
getrübte Ganze. Denn die Sittlichkeit des Staats iſt nicht die
moraliſche, die reflectirte, wobei die eigne Ueberzeugung waltet.
dieſe iſt mehr der modernen Welt zugänglich , während die wahre
und antike darin wurzelt, daß Jeder in ſeiner Pflicht ſteht. Ein
Philoſophie d. Geldichte. 3. Aufl.
50 Einleitung.

athenienſiſcher Bürger that gleichſam aus Inſtinct dasjenige, was


ihm zufam ; reflectire ich aber über den Gegenſtand meines Thuns ,
ſo muß ich das Bewußtſeyn haben , daß mein Wille hinzuge
kommen ſey. Die Sittlichkeit aber iſt die Pflicht, das ſubſtan
tielle Recht , die zweite Natur, wie man ſie mit Recht genannt
hat, denn die erſte Natur des Menſchen iſt ſein unmittelbares ,
thieriſches Seyn.
Die ausführliche Entwickelung des Staats iſt in der Rechts
philoſophie zu geben ; doch muß hier erinnert werden , daß in den
Theorien unſerer Zeit mannigfaltige Irrthümer über denſelben im
Umlauf ſind ,welche für ausgemachte Wahrheiten gelten , und zu
Vorurtheilen geworden ſind; wir wollen nur wenige derſelben
anführen , und vornehmlich ſolche, die in Beziehung auf den Zweck
unſerer Geſchichte ſtehen .
Was uns zuerſt begegnet iſt das directe Gegentheil unſeres
Begriffes , daß der Staat die Verwirklichung der Freiheit ſey ,
die Anſicht nämlich, daß der Menſch von Natur frei ſey , in der
Geſellſchaft aber , und in dem Staate , worin er zugleich noth
wendig trete, dieſe natürliche Freiheit beſchränken müſſe. Daß der
Menſch von Natur frei iſt, iſt in dem Sinne ganz richtig , daß
er dieß ſeinem Begriffe, aber eben damit nur ſeiner Beſtimmung
nach , das iſt nur an ſich iſt ; die Natur eines Gegenſtandes
heißt allerdings ſoviel als ſein Begriff. Aber zugleich wird da
mit auch die Weiſe verſtanden und in jenen Begriff hineinge
nommen , wie der Menſch in ſeiner nur natürlichen unmittelba
ren Eriſtenz iſt. In dieſem Sinne wird ein Naturzuſtand über
haupt angenommen , in welchem der Menſch , als in dem Beſike
ſeiner natürlichen Rechte in der unbeſchränkten Ausübung und in
dem Genuſſe ſeiner Freiheit vorgeſtellt wird. Dieſe Annahme
gilt nicht gerade dafür, daß ſie etwas Geſchichtliches ſen , es
würde auch , wenn man Ernſt mit ihr machen wollte , ſchwer
ſeyn , ſolchen Zuſtand nachzuweiſen , daß er in gegenwärtiger Zeit
eriſtire, oder in der Vergangenheit irgendwo eriſtirt habe. Zu
Einleitung. 51
ſtände der Wildheit kann man freilich nachweiſen , aber ſie zeigen
ſich mit den Leidenſchaften der Rohheit und Gewaltthaten ver
knüpft, und ſelbſt ſogleich , wenn ſie auch noch ſo unausgebildet
ſind, mit geſellſchaftlichen, für die Freiheit ſogenannten beſchrän
kenden Einrichtungen verknüpft. Jene Annahme iſt eines von
folchen nebuloſen Gebilden , wie die Theorie ſie hervorbringt, eine
aus ihr fließende nothwendige Vorſtellung, welcher ſie dann auch
eine Eriftenz unterſchiebt, ohne ſich jedoch hierüber auf geſchicht
liche Art zu rechtfertigen .
Wie wir ſolchen Naturzuſtand in der Eriſtenz empiriſch
finden , ſo iſt er auch ſeinem Begriffe nach . Die Freiheit als
Idealität des Unmittelbaren und Natürlichen iſt nicht als ein
Unmittelbares und Natürliches, ſondern muß vielmehr erworben
und erſt gewonnen werden , und zwar durch eine unendliche Ver
mittelung der Zucht des Wiſſens und des Wollens. Daher iſt
der Naturzuſtand vielmehr der Zuſtand des Unrechts , der Ge
walt, des ungebändigten Naturtriebs unmenſchlicher Thaten und
Empfindungen . Es findet allerdings Beſchränkung durch die
Geſellſchaft und den Staat ſtatt, aber eine Beſchränkung jener
ſtumpfen Empfindungen und rohen Triebe , wie weiterhin auch
des reflectirten Beliebens der Willkür und Leidenſchaft. Dieſes
Beſchränken fällt in die Vermittelung, durch welche das Bewußt
ſern und das Wollen der Freiheit, wie ſie wahrhaft, 8. i. ver
nünftig und ihrem Begriffe nach iſt, erſt hervorgebracht wird.
Nach ihrem Begriffe gehört ihr das Recht und die Sittlichkeit
an, und dieſe ſind an und für ſich allgemeine Weſenheiten , Ge
genſtände und Zwecke, welche nur von der Thätigkeit des von
der Sinnlichkeit ſich unterſcheidenden und ihr gegenüber fich ent
wickelnden Denkens gefunden , und wieder dem zunächſt ſinnlichen
Willen und zwar gegen ihn ſelbſt eingebildet und einverleibt
werden müſſen. Das iſt der ewige Mißverſtand der Freiheit,
ſie nur in formellem , ſubjectivem Sinne zu wiſſen , abſtrahirt von
ihren weſentlichen Gegenſtänden und Zwecken ; ſo wird die Be
4 *
ng
52 Einleitu .

ſchränkung des Triebes, der Begierde, der Leidenſchaft, welche nur


dem particularen Individuum als ſolchem angehörig iſt, der Wil
für und des Beliebens für eine Beſchränkung der Freiheit ge
nommen . Vielmehr iſt ſolche Beſchränkung ſchlechthin die Bedin
gung, aus welcher die Befreiung hervorgeht, und Geſellſchaft und
Staat ſind die Zuſtände , in welchen die Freiheit vielmehr ver
wirklicht wird.
Zweitens iſt eine andere Vorſtellung zu erwähnen , welche
gegen die Ausbildung überhaupt des Nechts zur geſeblichen Forin
geht. Der patriarchaliſche Zuſtand wird entweder für das
Ganze, oder wenigſtens für einige einzelne Zweige, als das Ver
hältniß angeſehen , in welchem mit dem Nechtlichen zugleich das
ſittliche und gemüthliche Element ſeine Befriedigung finde, und
die Gerechtigkeit ſelbſt nur in Verbindung mit dieſen auch ihrem
Inhalte nach wahrhaft ausgeübt werde. Dem patriarchaliſchen
Zuſtande liegt das Familienverhältniß zu Grunde, welches die
allererſte Sittlichkeit, zu der der Staat , als die zweite , kommt,
mit Bewußtſeyn entwickelt. Das patriarchaliſche Verhältniß ift
der Zuſtand eines Uebergangs, in welchem die Familie bereits
zu einem Stamme oder Volke gediehen , und das Band daher
bereits aufgehört hat, nur ein Band der Liebe und des Zutrauens
zu ſeyn , und zu einem Zuſammenhange des Dienſtes geworden
iſt. Es iſt hier zunächſt von der Familienſittlichkeit zu ſprechen .
Die Familie iſt nur eine Perſon , die Mitglieder derſelben haben
ihre Perſönlichkeit (damit das Rechtsverhältniß, wie auch die fer
neren particularen Intereſſen und Selbſtſüchtigkeiten ) entweder
gegen einander aufgegeben (die Eltern ), oder dieſelbe noch nicht
erreicht (die Kinder, die zunächſt in dem vorhin angeführten Na
turzuſtande ſind). Sie ſind damit in einer Einheit des Gefühls ,
der Liebe, dem Zutrauen , Glauben gegen einander ; in der Liebe
hat ein Individuum das Bewußtſeyn ſeiner in dem Bewußtſeyn
des Anderen , iſt ſich entäußert, und in dieſer gegenſeitigen Ent
äußerung hat es ſich (ebenſoſehr das Andere wie ſich ſelbſt
Einleitung. 53

als mit dem Anderen eines ) gewonnen . Die weiteren Intereſſen


der Bedürfniſſe, der äußeren Angelegenheiten des Lebens, wie die
Ausbildung innerhalb ihrer ſelbſt, in Anſehung der Kinder, ma
chen einen gemeinſamen Zweck aus . Der Geiſt der Familie, die
Penaten ſind ebenſo Ein ſubſtantielles Weſen , als der Geiſt
eines Volkes im Staate, und die Sittlichkeit beſteht in beiden
in dem Gefühle, dem Bewußtſeyn und dem Wollen nicht der in
dividuellen Perſönlichkeit und Intereſſen , ſondern der allgemeinen
aller Glieder derſelben . Aber dieſe Einheit iſt in der Familie
weſentlich eine empfundene, innerhalb der Naturweiſe ſtehen blei
bende; die Pietät der Familie iſt von dem Staate auf's höchſte
zu reſpectiren ; durch ſie hat er zu ſeinen Angehörigen folche In
dividuen , die ſchon als ſolche für fich fittlich ſind (denn als Per
ſonen ſind ſie dieß nicht) und die für den Staat die gediegene
Grundlage, fich als eines mit einem Ganzen zu empfinden, mit:
bringen. Die Erweiterung der Familie aber zu einem patriar
chaliſchen Ganzen geht über das Band der Blutsverwandſchaft,
die Naturſeiten der Grundlage hinaus, und jenſeits dieſer müſſen
die Individuen in den Stand der Perſönlichkeit treten . Das pa
triarchaliſche Verhältniß in ſeinem weiteren Umfang zu betrach
ten , würde namentlich auch dahin führen , die Form der Theo- '
fratie zu erwägen ; das Haupt des patriarchaliſchen Stammes
iſt auch der Prieſter deſſelben . Wenn die Familie noch über
haupt nicht von der bürgerlichen Geſellſchaft und dem Staate
geſchieden iſt, ſo iſt auch die Abtrennung der Religion von ihr
noch nicht geſchehen , und um ſo weniger , als ihre Pietät ſelbſt
eine Innerlichkeit des Gefühls ift.
Wir haben zwei Seiten der Freiheit betrachtet,die objective und
die ſubjective; wenn nun als Freiheit geſeßt wird , daß die Einzelnen
ihre Einwilligung geben , ſo iſt leicht zu erſehen ,daß hier nur das ſub
jective Moment gemeint iſt. Was aus dieſem Grundſaße natürlich
folgt, iſt, daß kein Geſek gelten könne, außer wenn Aűe übereinſtim
men . Hier kommtman ſogleich auf die Beſtimmung, daß die Mino
54 Einleitung .

rität der Majorität weichen müſſe ; die Mehrheit alſo entſcheidet.


Aber ſchon 7. J. Rouſſeau hat bemerkt, daß dann keine Frei
heit mehr ſey , denn der Wille der Minorität wird nicht mehr ge
achtet. Auf dem polniſchen Reichstage mußte jeder Einzelne ſeine
Einwilligung geben , und um dieſer Freiheit willen iſt der Staat
zu Grunde gegangen . Außerdem iſt es eine gefährliche und fal
ſche Vorausſeßung, daß das Volk allein Vernunft und Einſicht
habe und das Rechte wiſſe; denn jede Faction des Volkes kann
ſich als Volf aufwerfen , und was den Staat ausmacht, iſt die
Sache der gebildeten Erkenntniß und nicht des Volkes .
Wenn das Princip des einzelnen Willens als einzige Be
ſtimmung der Staatsfreiheit zu Grunde gelegt wird , daß zu
Allem , was vom Staat und für ihn geſchehe, alle Einzelnen
ihre Zuſtimmung geben ſollen , ſo iſt eigentlich gar keine Ver
faſſung vorhanden . Die einzige Einrichtung, der es bedürfte,
wäre nur ein willenloſer Mittelpunkt, der, was ihm Bedürfniſſe
des Staates zu ſeyn ſchienen , beachtete und ſeine Meinung be
kannt machte, und dann der Mechanismus der Zuſammenberu
fung der Einzelnen , ihres Stimmgebens, und der arithmetiſchen
Operation des Abzählens und Vergleichens derMengevon Stimmen
für die verſchiedenen Propoſitionen, womit die Entſcheidung ſchon
beſtimmt wäre. Der Staat iſt ein Abſtractum , der ſeine ielbſt
nur allgemeine Realität in den Bürgern hat , aber er iſt wirk
lich , und die nur allgemeine Eriſtenz muß fich zu individuellem
Willen und Thätigkeit beſtimmen . Es tritt das Bedürfniß von
Regierung und Staatsverwaltung überhaupt ein ; eine Vereinze
lung und Ausſonderung ſolcher , welche das Ruder der Staats
angelegenheiten zu führen haben , darüber beſchließen , die Art der
Ausführung beſtimmen , und Bürgern , welche folche in 's Werk
feßen ſollen , befehlen . Beſchließt z. B . auch in Demokratien das
Volf einen Krieg, ſo muß doch ein General an die Spiße ge
ſtellt werden , welcher das Heer anführe. Die Staatsverfaſ
ſung iſt es erſt, wodurch das Abſtractum des Staates zu
Einleitung.

Leben und Wirklichkeit kommt, aber damit tritt auch der Un


terſchied von Befehlenden und Gehorchenden ein . Gehorchen aber
ſcheint der Freiheit nicht gemäß zu ſeyn, und die befehlen , ſcheinen
ſelbſt das Gegentheil von dem zu thun , was der Grundlage des
Staates , dem Freiheitsbegriffe entſpreche. Wenn nun einmal
der Unterſchied von Befehlen und Gehorchen nothwendig ſey ,
ſagt man, weil die Sache ſonſt nicht gehen könne, — und zwar
ſcheint dieſes nur eine Noth, eine der Freiheit, wenn dieſe ab
ſtract feſtgehalten wird , äußerliche, und ſelbſt ihr zuwiderlaufende
Nothwendigkeit zu ſeyn , — ſo müſſe die Einrichtung wenigſtens
ſo getroffen werden, daß ſo wenig als möglich von den Bürgern
bloß gehorcht, und den Befehlen ſo wenig Widfür als möglich
überlaſſen werde, der Inhalt deſſen , wofür das Befehlen noth
wendig wird, ſelbſt der Hauptſache nach vom Volfe, dem Willen
vieler oder aller Einzelnen beſtimmt und beſchloſſen ſey , wobei
aber doch wieder der Staat als Wirklichkeit, als individuelle Ein
heit , Kraft und Stärke haben ſoll. Die allererſte Beſtimmung
iſt überhaupt: der Unterſchied von Regierenden und Regierten ;
und mit Necht hat man die Verfaſſungen im Allgemeinen in
Monarchie , Ariſtokratie und Demokratie eingetheilt, wobei nur
bemerkt werden muß , daß die Monarchie ſelbſt wieder in Des
potismus und in die Monarchie als ſolche unterſchieden werden
muß, daß bei allen aus dem Begriffe geſchöpften Eintheilungen nur
die Grundbeſtimmung herausgehoben , und damit nicht gemeint iſt,
daß dieſelbe als eine Geſtalt, Gattung oder Art in ihrer concre
ten Ausführung erſchöpft ſeyn ſolle, vornehmlich aber auch , daß
jene Arten eine Menge von beſonderen Modificationen , nicht nur
jener allgemeinen Ordnungen an ihnen ſelber, ſondern auch ſolche
zulaſſen , welche Vermiſchungen mehrerer dieſer weſentlichen Ord
nungen , damit aber unförmliche, in ſich unhaltbare, inconſequente
Geſtaltungen ſind. Die Frage in dieſer Colliſion iſt daher , wel
ches die beſte Verfaſſung ſey , das iſt, durch welche Einrichs
tung , Organiſation oder Mechanismus der Staatsgewalt der
56 Einleitung.

Zweck des Staates am ſicherſten erreicht werde. Dieſer Zweck


kann nun freilich auf verſchiedene Weiſe gefaßt werden , zum Bei
ſpiel als ruhiger Genuß des bürgerlichen Lebens, als allgemeine
Glückſeligkeit. Solche Zwecke haben die ſogenannten Ideale von
Staatsregierungen , und dabei namentlich Ideale von Erziehung
der Fürſten ( Fenelon ) oder der Regierenden , überhaupt der
Ariſtokratie ( Plato) veranlaßt, denn die Hauptſache iſt dabei
auf die Beſchaffenheit der Subjecte, die an der Spiße ſtehen ,
geſeßt worden , und bei dieſen Idealen an den Inhalt der orga
niſchen Staatseinrichtungen gar nicht gedacht worden . Die
Frage nach der beſten Verfaſſung wird häufig in dem Sinne ge
macht, als ob nicht nur die Theorie hierüber eine Sache der
ſubjectiven freien Ueberzeugung, ſondern auch die wirkliche Ein
führung einer nun als die beſte , oder die beſſere erkannten Vers
faſſung die Folge eines ſo ganz theoretiſch gefaßten Entſchluſſes ,
die Art der Verfaſſung eine Sache ganz freier und weiter nicht
als durch die Weberlegung beſtimmter Wahl feyn könne. In
dieſem ganz naiven Sinne berathſchlagten zwar nicht das perſis
ſche Volk, aber die perſiſchen Großen , die ſich zum Sturz des
falſchen Smerdis und der Magier verſchworen hatten , nach der
gelungenen Unternehmung , und da von der Königsfamilie kein
Sprößling mehr vorhanden war, welche Verfaſſung ſie in Perſien
einführen wollten ; und Herodot erzählt eben ſo naiv dieſe Be
rathſchlagung.
So ganz der freien Wahl anheimgegeben , wird heutiges
Tages die Verfaſſung eines Landes und Volkes nicht dargeſtellt.
Die zu Grunde liegende aber abſtract gehaltene Beſtimmung der
Freiheit hat zur Folge, daß ſehr allgemein in der Theorie die
Republik für die einzig gerechte und wahrhafte Verfaſſung
gilt, und ſelbſt eine Menge von Männern , welche in monarchi
ſchen Verfaſſungen hohe Stellen der Staatsverwaltung einneh
men, ſolcher Anſicht nicht widerſtehen, ſondern ihr zugethan ſind ;
nur ſehen ſie ein , daß ſolche Verfaſſung, To ſehr ſie die beſte
Einleitung .

wäre, in der Wirklichkeit nicht allenthalben eingeführt werden


könne, und wie die Menſchen einmal ſeyen , man mit weniger
Freiheit vorlieb nehmen müſſe, ſo ſehr, daß die monarchiſche Ver
faſſung unter dieſen gegebenen Umſtänden , und dem moraliſchen
Zuſtande des Volfs nach die nüßlichſte ſen . Auch in dieſer Ans
ſicht wird die Nothwendigkeit einer beſtimmten Staatsverfaſſung
von dem Zuſtande, als einer nur äußeren Zufälligkeit, abhängig
gemacht. Solche Vorſtellung gründet ſich auf die Trennung,
welche die Verſtandesreflerion zwiſchen dem Begriffe und der
Realität deſſelben macht , indem ſie ſich nur an einen abſtracten
und damit unwahren Begriff hält , die Idee nicht erfaßt, oder,
was dem Inhalt, wenn auch nicht der Form nach, daſſelbe, nicht
eine concrete Anſchauung von einem Volfe und einem Staate
hat. Es iſt noch ſpäterhin zu zeigen , daß die Verfaſſung eines
Volks mit ſeiner Religion , mit ſeiner Kunſt und Philoſophie,
oder wenigſtens mit ſeinen Vorſtellungen und Gedanken , ſeiner
Bildung überhaupt (um die weiteren äußerlichen Mächte , ſowie
das Klima , die Nachbarn , die Weltſtellung nicht weiter zu er
wähnen ) , Eine Subſtanz, Einen Geiſt ausmache. Ein Staat
iſt eine individuelle Totalität, von der nicht eine beſondere, ob
gleich höchſt wichtige Seite , wie die Staatsverfaſſung , für ſich
allein herausgenommen , darüber nach einer nur ſie betreffenden
Betrachtung iſolirt berathſchlagt und gewählt werden kann . Nicht
nur iſt die Verfaſſung ein mit jenen anderen geiſtigen Mächten
ſo innig zuſammen Seyendes und von ihnen Abhängiges , ſon
dern die Beſtimmtheit der ganzen geiſtigen Individualität, mit
Inbegriff aller Mächte derſelben , iſt nur ein Moment in der Ge
ſchichte des Ganzen , und in deſſen Gange vorherbeſtimmt, was
die höchſte Sanction der Verfaſſung , ſowie deren höchſte Noth
wendigkeit ausmacht. Die erſte Production eines Staats ift
herriſch und inſtinctartig. Aber auch Gehorſam und Gewalt,
Furcht gegen einen Herrſcher iſt ſchon ein Zuſammenhang
des Willens. Schon in rohen Staaten findet dieß ſtatt, daß
58 Einleitung

der beſondere Wille der Individuen nicht gilt, daß auf die Par
ticularität Verzicht gethan wird , daß der allgemeine Wille das
Weſentliche iſt. Dieſe Einheit des Allgemeinen und Einzelnen
iſt die Idee ſelbſt, die als Staat vorhanden iſt, und die ſich
dann weiter in ſich ausbildet. Der abſtracte, jedoch nothwendige,
Gang in der Entwickelung wahrhaft ſelbſtſtändiger Staaten iſt
dann dieſer, daß ſie mit dem Königthum anfangen , es ſey dieſes
ein patriarchaliſches oder kriegeriſches . Darauf hat die Beſon
derheit und Einzelnheit ſich hervorthun müſſen , – in Ariſtokratie
und Demokratie. Den Schluß macht die Unterwerfung dieſer
Beſonderheit unter Eine Macht, welche ſchlechthin keine andere
ſeyn kann, als eine ſolche, außerhalb welcher die beſonderen Sphä
ren ihre Selbſtſtändigkeit haben , das iſt die monarchiſche. Es
iſt ſo ein erſtes und ein zweites Königthum zu unterſcheiden . -
Dieſer Gang iſt ein nothwendiger , ſo daß in ihm jedesmal die
beſtimmte Verfaſſung eintreten muß , die nicht Sache der Wahl,
ſondern nur diejenige iſt, welche gerade dem Geiſte des Volfs
angemeſſen iſt.
Bei einer Verfaſſung kommt es auf die Ausbildung des
vernünftigen , d. i. des politiſchen Zuſtandes in fich an , auf die
Freiwerdung der Momente des Begriffs, daß die beſonderen Ge
walten ſich unterſcheiden , fich für ſich vervollſtändigen , aber ebenſo
in ihrer Freiheit zu Einem Zweck zuſammenarbeiten , und von
ihm gehalten werden , d. i. ein organiſches Ganze bilden . So
iſt der Staat die vernünftige und ſich objectiv wiſſende und für
ſich ſeyende Freiheit. Denn ihre Objectivität iſt eben dieß, daß
ihre Momente nicht ideell, ſondern in eigenthümlicher Realität
vorhanden ſind, und in ihrer fich auf ſie ſelbſt beziehenden Wirk
ſamkeit ſchlechthin übergehen in die Wirkſamkeit, wodurch das
Ganze, die Seele , die individuelle Einheit hervorgebracht wird
und Reſultat iſt.
Der Staat iſt die geiſtige Idee in der Neußerlichkeit des
menſchlichen Willens und ſeiner Freiheit. In denſelben fält da
Einleitung. . 59
her überhaupt weſentlich die Veränderung der Geſchichte, und die
Momente der Idee ſind an demſelben als verſchiedene Princi
pien . Die Verfaſſungen , worin die welthiſtoriſchen Völker ihre
Blüthe erreicht haben , ſind ihnen eigenthümlich, alſo nicht eine
allgemeine Grundlage, ſo daß die Verſchiedenheit nur in beſtimm
ter Weiſe der Ausbildung und Entwicklung beſtände, ſondern ſie
beſteht in der Verſchiedenheit der Principien . Es iſt daher in
Anſehung der Vergleichung der Verfaſſungen der früheren welt
hiſtoriſchen Völker der Fall, daß ſich für das legte Princip der
Verfaſſung, für das Princip unſerer Zeiten , ſo zu ſagen , Nichts
aus denſelben lernen läßt. Mit Wiſſenſchaft und Kunſt iſt das
ganz anders ; 3. B . die Philoſophie der Alten iſt ſo die Grund
lage der neueren, daß fie ſchlechthin in dieſer enthalten ſeyn muß
und den Boden derſelben ausmacht. Das Verhältniß erſcheint
hier als eine ununterbrochene Ausbildung deſſelben Gebäudes,
deſſen Grundſtein , Mauern und Dach noch dieſelben geblieben
ſind. In der Kunſt iſt ſogar die griechiſche, ſo wie ſie iſt, ſelbſt
das höchſte Muſter. Aber in Anſehung der Verfaſſung iſt es
ganz anders : hier haben Altes und Neues dasweſentliche Princip
nicht gemein . Abſtracte Beſtimmungen und Lehren von gerechter
Regierung, daß Einſicht und Tugend die Herrſchaft führen müſſe,
ſind freilich gemeinſchaftlich . Aber es iſt nichts ſo ungeſchickt,
als für Verfaſſungseinrichtungen unſerer Zeit Beiſpiele von Grie
chen und Nömern oder Orientalen aufnehmen zu wollen . Aus
dem Orient laſſen ſich ſchöne Gemälde von patriarchaliſchem Zu
ſtande , väterlicher Regierung , von Ergebenheit der Völker her
nehmen ; von Griechen und Römern Schilderungen von Volks
freiheit. Denn bei dieſen finden wir den Begriff von einer freien
Verfaſſung ſo gefaßt , daß alle Bürger Antheil an den Bera
thungen und Beſchlüſſen über die allgemeinen Angelegenheiten
und Geſepe nehmen ſollen . Auch in unſeren Zeiten iſt dieß die
allgemeineMeinung, nur mit der Modification , daß, weil unſere
Staaten ſo groß, der Vielen ſo viele ſeyen , dieſe nicht direct, ſon
60 Einleitung .

dern indirect durch Stellvertreter ihren Willen zu dem Beſchluß


über die öffentlichen Angelegenheiten zu geben haben , das heißt,
daß für die Geſeße überhaupt das Volk durch Abgeordnete re
präſentirt werden ſolle. Die ſogenannte Repräſentativverfaſſung
iſt die Beſtimmung, an welche wir die Vorſtellung einer freien
Verfaſſung knüpfen , ſo daß dieß feſtes Vorurtheil geworden iſt.
Man trennt dabei Volf und Regierung. Es liegt aber eine
Bosheit in dieſem Gegenſaße, der ein Kunſtgriff des böſen Wil
lens iſt, als ob das Volk das Ganze wäre. Ferner liegt dieſer
Vorſtellung das Princip der Einzelnheit, der Abſolutheit des ſub
jectiven Willens zu Grunde , von dem oben die Rede geweſen .
- Die Hauptſache iſt, daß die Freiheit wie ſie durch den Be
griff beſtimmt wird , nicht den ſubjectiven Willen und die Will
für zum Princip hat, ſondern die Einſicht des allgemeinen Wil
lens , und daß das Syſtem der Freiheit freie Entwicklung ihrer
Momente ift. Der ſubjective Wille iſt eine ganz formelle Be
ſtimmung, in der gar nicht liegt, was er will. Nur der ver
nünftige Wille iſt dieß Allgemeine, das ſich in ſich ſelbſt beſtimmt
und entwickelt, und ſeine Momente als organiſche Glieder aus
legt. Von folchem gothiſchen Dombau haben die Alten nichts
gewußt.
Wir haben früher die zwei Momente aufgeſtellt, das eine:
die Idee der Freiheit als der abſolute Endzweck , das andre : das
Mittel derſelben ,die ſubjective Seite des Wiſſens und des Wollens
mit ihrer Lebendigkeit, Bewegung und Thätigkeit. Wir haben
dann den Staat als das fittliche Ganze und die Realität der
Freiheit und damit als die objective Einheit dieſer beiden Mo
mente erkannt. Denn wenn wir auch für die Betrachtung beide
Seiten unterſcheiden , ſo iſt wohl zu bemerken , daß ſie genau zu
ſammenhängen , und daß dieſer Zuſammenhang in jeder von beiden
liegt, wenn wir ſie einzeln unterſuchen . Die Idee haben wir
einerſeits in ihrer Beſtimmtheit erkannt, als die ſich wiſſende und
ſich wollende Freiheit, die nur ſich zum Zweck hat: das iſt zu
Einleitung. 61

gleich der einfache Begriff der Vernunft , und ebenſo das , was
wir Subject genannt haben , das Selbſtbewußtſeyn , der in der
Welt eriſtirende Geiſt. Betrachten wir nun andrerſeits die Sub
jectivität, ſo finden wir, daß das ſubjective Wiſſen und Wollen
das Denken iſt. Indem ich aber denkend weiß und will, wil
ich den allgemeinen Gegenſtand , das Subſtantielle des an
und für ſich Vernünftigen . Wir ſehen ſomit eine Vereinigung,
die an ſich iſt, zwiſchen der objectiven Seite, dem Begriffe, und
der ſubjectiven Seite. Die objective Eriſtenz dieſer Vereinigung
iſt der Staat, welcher ſomit die Grundlage und der Mittelpunkt
der andern concreten Seiten des Volkslebens iſt, der Kunſt,
des Rechts , der Sitten , der Religion , der Wiſſenſchaft. Alles
geiſtige Thun hat nur den Zweck, fich d eſer Vereinigung bewußt
zu werden, d . h. ſeiner Freiheit. Unter den Geſtalten dieſer ge
wußten Vereinigung ſteht die Religion an der Spiße. In ihr
wird der eriſtirende, der weltliche Geiſt ſich des abſoluten Geiſtes
bewußt, und in dieſem Bewußtſeyn des an und für ſich ſeyenden
Weſens entſagt der Wille des Menſchen ſeinem beſonderen In
tereſſe; er legt dieſes auf die Seite in der Andacht , in wel
cher es ihm nicht mehr um Particulares , zu thun ſeyn kann.
Durch das Opfer drückt der Menſch aus , daß er ſeines Eigen
thums, feines Willens, ſeiner beſonderen Empfindungen fich ent
äußere. Die religiöſe Concentration des Gemüths erſcheint als
Gefühl, jedoch tritt ſie auch in das Nachdenken über : der Cultus
iſt eine Aeußerung des Nachdenkens. Die zweite Geſtalt der Ver
einigung des Objectiven und Subjectiven im Geiſte iſtdie Kunſt :
ſte tritt mehr in die Wirklichkeit und Sinnlichkeit, als die Reli
gion ; in ihrer würdigſten Haltung hat ſie darzuſtellen , zwar nicht
den Geiſt Gottes , aber die Geſtalt des Gottes ; dann Göttliches
und Geiſtiges überhaupt. Das Göttliche ſoll durch ſie anſchau
lich werden : ſie ſtellt es der Phantaſie und der Anſchauung dar.
- Das Wahre gelangt aber nicht nur zur Vorſtellung und
zum Gefühl, wie in der Religion , und zur Anſchauung wie in
62 Einleitung

der Kunſt, ſondern auch zum denkenden Geiſt; dadurch erhalten


wir die dritte Geſtalt der Vereinigung – die Philoſophie.
Dieſe iſt inſofern die höchſte , freieſte und weiſeſte Geſtaltung.
Wir können nicht die Abſicht haben , dieſe drei Geſtaltungen hier
näher zu betrachten ; ſie haben nur genannt werden müſſen , weil
fie fich auf demſelben Boden befinden , als der Gegenſtand, den
wir hier behandeln - der Staat.
Das Algemeine, das im Staate ſich hervorthut und gewußt
wird, die Form , unter welche Alles, was iſt, gebracht wird, iſt
dasjenige überhaupt, was die Bildung einer Nation ausmacht.
Der beſtimmte Inhalt aber, der die Form der Allgemeinheit er
hält und in der concreten Wirklichkeit, welche der Staat iſt,
liegt, iſt der Geiſt des Volkes ſelbſt. Derwirkliche Staat iſt be
feelt von dieſem Geiſt in allen ſeinen beſonderen Angelegenheiten ,
Kriegen , Inſtitutionen u . . f. Aber der Menſch muß auch
wiſſen von dieſem ſeinen Geiſt und Weſen ſelbſt , und ſich das
Bewußtſeyn der Einheit mit demſelben , die urſprünglich iſt, geben .
Denn wir haben geſagt, daß das Sittliche die Einheit iſt des
ſubjectiven und allgemeinen Willens. Der Geiſt aber hat ſich
ein ausdrüdliches Bewußtſeyn davon zu geben , und der Mittel
punkt dieſes Wiſſens iſt die Religion. Kunſt und Wiſſenſchaft
ſind nur verſchiedene Seiten und Formen eben deſſelben Inhalts.
– Bei der Betrachtung der Religion kommt es darauf an , ob
ſie das Wahre, die Idee nur in ihrer Trennung, oder ſie in
ihrer wahren Einheit kenne, – in ihrer Trennung: wenn Gott
als abſtract höchſtes Weſen , Herr des Himmels und der Erde,
der drüben jenſeits iſt und aus dem die menſchliche Wirklichkeit
ausgeſchloſſen iſt, – in ihrer Einheit : Gott als Einheit des
Allgemeinen und Einzelnen , indem in ihm auch das Einzelne
poſitiv angeſchaut wird , in der Idee der Menſchwerdung. Die
Religion iſt der Ort, wo ein Volt ſich die Definition deſſen
giebt, was es für das Wahre hält. Definition enthält Alles ,
was zur Weſentlichkeit des Gegenſtandes gehört, worin ſeine
Einleitung .

Natur auf eine einfache Grundbeſtimmtheit zurückgebracht iſt als


Spiegel für alle Beſtimmtheit, die allgemeine Seele alles Beſon
deren . Die Vorſtellung von Gott macht ſomit die allgemeine
Grundlage eines Volkes aus.
Nach dieſer Seite ſteht die Religion im engſten Zuſammen
hang mit dem Staatsprincip . Freiheit kann nur da ſeyn , wo
die Individualität als poſitiv im göttlichen Weſen gewußt wird .
Der Zuſammenhang iſt weiter dieſer, daß das weltliche Seyn ,
als ein zeitliches , in einzelnen Intereſſen ſich bewegendes , hiemit
ein relatives und unberechtigtes iſt, daß es Berechtigung erhält,
nur inſofern die allgemeine Seele deſſelben , das Princip abſolut
berechtigt iſt: und dieß wird es nur ſo, daß es als Beſtimmt
heit und Daſeyn des Weſens Gottes gewußt wird. Deßwegen
iſt es, daß der Staat auf Religion beruht. Das hören wir in
unſeren Zeiten oft wiederholen , und es wird meiſt nichts weiter
damit gemeint, als daß die Individuen , als gottesfürchtige, um
ſo geneigter und bereitwilliger ſeyen , ihre Pflicht zu thun , weil
Gehorſam gegen Fürſt und Geſeß ſich ſo leicht anknüpfen läßt
an die Gottesfurcht. Freilich kann die Gottesfurcht, weil ſie
das Allgemeine über das Beſondere erhebt , ſich auch gegen das
legtere kehren , fanatiſch werden und gegen den Staat, ſeine Ge
bäulichkeiten und Einrichtungen verbrennend und zerſtörend wirken .
Die Gottesfurcht ſoll darum auch , meintman , beſonnen ſeyn und in
einer gewiſſen Kühle gehalten werden , daß ſie nicht gegen das,
was durch ſie beſchüßt und erhalten werden ſoll , aufſtürmt und
es wegfluthet. Die Möglichkeit dazu hat ſie wenigſtens in ſich .
Indem man nun die richtige Uleberzeugung gewonnen , daß
der Staat auf der Religion beruhe, ſo giebt man der Religion
die Stellung, als ob ein Staat vorhanden fey , und nunmehr,
um denſelben zu halten , die Religion in ihn hineinzutragen ſey ,
in Eimern und Scheffeln , um ſie den Gemüthern einzuprägen .
Es iſt ganz richtig, daß die Menſchen zur Religion erzogen wer
den müſſen , aber nicht als zu Etwas, das noch nicht iſt. Denn,
64 Einleitu .
ng

wenn zu ſagen iſt, daß der Staat ſich gründet auf die Religion ,
daß er ſeine Wurzeln in ihr hat, ſo heißt das weſentlich , daß er
aus ihr hervorgegangen iſt und jeßt und immer aus ihr hers
vorgeht, d. h . die Principien des Staates müſſen als an und
für fich geltend betrachtet werden , und ſie werden dieß nur, in
ſofern ſie als Beſtimmungen der göttlichen Natur ſelbſt gewußt
ſind. Wie daher die Religion beſchaffen iſt, fo der Staat und
ſeine Verfaſſung; er iſt wirklich aus der Religion hervorgegangen
und zwar ſo, daß der atheniſche, der römiſche Staat nur in dem
ſpecifiſchen Heidenthum dieſer Völker möglich war, wie eben ein
katholiſcher Staat einen andern Geiſt und andre Verfaſſung hat,
als ein proteſtantiſcher.
Sollte jenes Aufrufen , jenes Treiben und Drängen danach ,
die Religion einzupflanzen , ein Angſt- und Nothgeſchrei ſeyn,
wie es oft ſo ausſteht , worin ſich die Gefahr ausdrüßt, daß
die Religion bereits aus dem Staate verſchwunden oder vollends
zu verſchwinden im Begriff ſtehe, ſo wäre das ſchlimm , und
ſchlimmer ſelbſt als jener Angſtruf meint: denn dieſer glaubt noch
an ſeinem Einpflanzen und Inculfiren ein Mittel gegen das Uebel
zu haben ; aber ein ſo zu Machendes iſt die Religion überhaupt
nicht; ihr fich Machen ſtegt viel tiefer.
Eine andre und entgegengeſepte Thorheit, der wir in unſerer
Zeit begegnen , iſt die, Staatsverfaſſungen unabhängig von der
Religion erfinden und ausführen zu wollen . Die katholiſche
Confeſſion , obgleich mit der proteſtantiſchen gemeinſchaftlich inner
halb der chriſtlichen Religion , läßt die innere Gerechtigkeit und
Sittlichkeit des Staates nicht zu , die in der Innigkeit des pro
teſtantiſchen Princips liegt. Jenes Losreißen des Staatsrechtli
chen , der Verfaſſung, iſt um der Eigenthümlichkeit jener Religion
willen , die das Recht und die Sittlichkeit nicht als an ſich ſeyend,
als ſubſtantiell anerkennt, nothwendig , aber ſo losgeriſſen von
der Innerlichkeit, von dem leßten Heiligthum des Gewiſſens
von dem ſtillen Ort , wo die Religion ihren Siß hat, kommen
Einleitung. 65
die ſtaatsrechtlichen Principien und Einrichtungen eben ſowohl
nicht zu einem wirklichen Mittelpunkte, als ſie in der Abſtraction
und Unbeſtimmtheit bleiben .
Faſſen wir das bisher über den Staat Geſagte im Reſul
tat zuſammen , ſo iſt die Lebendigkeit des Staats in den Indivi
duen die Sittlichkeit genannt worden . Der Staat, ſeine Geſebe,
ſeine Einrichtungen ſind der Staatsindividuen Rechte ; ſeine Na
tur, ſein Boden , ſeine Berge, Luft und Gewäſſer ſind ihr Land,
ihr Vaterland, ihr äußerliches Eigenthum ; die Geſchichte dieſes
Staats , ihre Thaten , und das was ihre Vorfahren hervorbrach .
ten gehört ihnen , und lebt in ihrer Erinnerung. Alles iſt ihr
Beſik ebenſo , wie ſie von ihm beſeſſen werden , denn es macht
ihre Subſtanz, ihr Seyn aus.
Ihre Vorſtellung iſt damit erfüllt und ihr Wille iſt das
Wollen dieſer Gefeße und dieſes Vaterlandes. Es iſt dieſe zei
tige Geſammtheit, welche Ein Weſen , der Geiſt Eines Volkes
ift. Ihm gehören die Individuen an ; jeder Einzelne iſt der
Sohn ſeines Volfes und zugleich , inſofern ſein Staat in Ent
wifelung begriffen iſt, der Sohn ſeiner Zeit; feiner bleibt hin :
ter derſelben zurück , noch weniger überſpringt er dieſelbe. Dies
geiſtige Weſen iſt das ſeinige, er iſt ein Repräſentant deſſelben ;
es iſt das , woraus er hervorgeht und worin er ſteht. Bei den
Athenern hatte Athen eine doppelte Bedeutung ; zuerſt bezeichnete
ſie die Geſammtheit der Einrichtungen , dann aber die Göttin '
welche den Geiſt des Volfes , die Einheit darſtellte.
Dieſer Geiſt eines Volkes iſt ein beſtimmter Geiſt, und,
wie ſo eben geſagt, auch nach der geſchichtlichen Stufe ſeiner
Entwickelung beſtimmt. Dieſer Geiſt macht dann die Grundlage
und den Inhalt in den anderen Formen des Bewußtſeyns ſeiner
aus , die angeführt worden ſind. Denn der Geiſt in ſeinem
Bewußtſeyn von fich muß ſich gegenſtändlich ſein , und die Ob
jectivität enthält unmittelbar das Hervortreten von Unterſchieden ,
die als Totalität der unterſchiedenen Sphären des objectiven
Philoſophie 8 . Geſchichte. 3 . Aufl.
66 Einleitung.

Geiſtes überhaupt find , ſo wie die Seele nur iſt, inſofern fie
als Syſtem ihrer Glieder iſt, welche in ihre einfache Einheit ſich
zuſammennehmend die Seele produciren . Es iſt ſo Eine Indivi
dualität, die in ihrer Weſentlichkeit , als der Gott , vorgeſtellt,
verehrt und genoſſen wird , in der Religion , – als Bild und
Anſchauung dargeſtellt wird, in der Kunſt, – erkannt und als
Gedanken begriffen wird, in der Philoſophie. Um der urſprüng
lichen Dieſelbigkeit ihrer Subſtanz , ihres Inhalts und Gegen
ſtandes willen , ſind die Geſtaltungen in unzertrennlicher Einheit
mit dem Geiſte des Staats ; nur mit dieſer Religion kann dieſe
Staatsform vorhanden ſeyn, ſo wie in dieſem Staate nur dieſe
Philoſophie und dieſe Kunſt
Das Andere und Weitere iſt, daß der beſtimmte Volksgeiſt
ſelbſt nur Ein Individuum iſt im Gange der Weltgeſchichte. .
Denn die Weltgeſchichte iſt die Darſtellung des göttlichen , abſo
luten Proceſſes des Geiſtes in ſeinen höchſten Geſtalten , dieſes
Stufenganges , wodurch er ſeine Wahrheit , das Selbſtbewußtſeyn
über ſich erlangt. Die Geſtaltungen dieſer Stufen ſind die welt
hiſtoriſchen Volksgeiſter , die Beſtimmtheit ihres fittlichen Lebens,
ihrer Verfaſſung, ihrer Kunſt, Religion und Wiſſenſchaft. Dieſe
Stufen zu realiſiren iſt der unendliche Trieb des Weltgeiſtes ,
fein unwiderſtehlicher Drang, denn dieſe Gliederung , ſo wie ihre
Verwirklichung iſt ſein Begriff. — Die Weltgeſchichte zeigt nur,
wie der Geiſt allmählig zum Bewußtſeyn und zum Wollen der
Wahrheit kommt; es dämmert in ihm , er findet Hauptpunkte,
am Ende gelangt er zum vollen Bewußtſeyn .
Nachdem wir alſo die abſtracten Beſtimmungen der Natur
des Geiſtes , die Mittel, welche der Geiſt braucht , um ſeine
Idee zu realiſiren , und die Geſtalt kennen gelernt haben , welche
die vollſtändige Realiſirung des Geiſtes im Daſeyn iſt , nämlich
den Staat, bleibt uns nur für dieſe Einleitung übrig
C. den Gang der Weltgeſchichte zu betrachten . Die ab
ſtracte Veränderung überhaupt,welche in der Geſchichte vorgeht, iſt
Einleitung. 67
längſt in einer allgemeinen Weiſe gefaßt worden , ſo daß ſie zu
gleich einen Fortgang zum Beſſeren , Vollkommneren enthalte. Die
Veränderungen in der Natur, ſo unendlich mannigfach ſie ſind,
zeigen nur einen Kreislauf, der ſich immer wiederholt; in der
Natur geſchieht nichts Neues unter der Sonne, und inſofern führt
das vielförmige Spiel ihrer Geſtaltungen eine Langeweile mit
ſich . Nur in den Veränderungen , die auf dem geiſtigen Boden
vorgehen , kommt Neues hervor. Dieſe Erſcheinung am Geiſti:
gen ließ in dem Menſchen eine andere Beſtimmung überhaupt
ſehen , als in den bloß natürlichen Dingen , -- in welchen ſich
immer ein und derſelbe ſtabile Charakter kund giebt, in den alle
Veränderung zurückgeht , – nämlich eine wirkliche Verände
rungsfähigkeit und zwar zum Beſſern – ein Trieb der Per
fectibilität. Dieſes Princip , welches die Veränderung ſelbſt
zu einer geſeblichen macht, iſt von Religionen , wie von der ka
tholiſchen , ingleichen von Staaten , als welche ſtatariſch oder
wenigſtens ſtabil zu ſein , als ihr wahrhaftes Necht behaupten ,
übel aufgenommen worden. Wenn im Allgemeinen die Verän
derlichkeit weltlicher Dinge , wie der Staaten , zugegeben wird ,
ſo wird theils die Religion , als die Religion der Wahrheit da
von ausgenommen , theils bleibt es offen , Veränderungen , Um
wälzungen und Zerſtörungen berechtigter Zuſtände den Zufällig
keiten , Ungeſchidlichkeiten , vornehmlich aber dem Leichtſinn und
den böſen Leidenſchaften der Menſchen zuzuſchreiben . In der
That iſt die Perfectibilität beinahe etwas ſo Beſtimmungsloſes
als die Veränderlichkeit überhaupt; fie iſt ohne Zweck und Ziel,
wie ohne Maaßſtab für die Veränderung : das Beſſere , das
Vollkommnere, worauf fie gehen ſoll, iſt ein ganz Unbeſtimmtes.
Das Princip der Entwickelung enthält das Weitere, daß
eine innere Beſtimmung , eine an ſich vorhandene Vorausſegung
zu Grunde liege, die ſich zur Eriſtenz bringe. Dieſe formelle
Beſtimmung iſt weſentlich der Geiſt, welcher die Weltgeſchichte
zu ſeinem Schauplaße, Eigenthum und Felde ſeiner Verwirk
5 *
itung
68 Einle .

lichung hat. Er iſt nicht ein ſolcher, der ſich in dem äußer
lichen Spiel von Zufälligkeiten herumtriebe, ſondern er iſt viel
mehr das abſolut Beſtimmende und ſchlechthin feft gegen die Zu
fälligkeiten , die er zu ſeinem Gebrauch verwendet und beherrſcht.
Den organiſchen Naturdingen kommt aber gleichfalls die Ent
wickelung zu : ihre Eriſtenz ſtellt ſich nicht als eine nur mittel
bare, von außen veränderliche dar, ſondern als eine, die aus
ſich von einem inneren unveränderlichen Princip ausgeht , aus
einer einfachen Weſenheit, deren Eriſtenz als Reim zunächſt ein
fach iſt, dann aber Unterſchiede aus ſich zum Daſeyn bringt,
welche ſich mit anderen Dingen einlaſſen , und damit einen fort
dauernden Proceß von Veränderungen leben , welcher aber eben
ſo in das Gegentheil verkehrt, und vielmehr in die Erhaltung
des organiſchen Princips und ſeiner Geſtaltung umgewandelt
wird . So producirt das organiſche Individuum ſich ſelbſt: es
macht ſich zu dem , was es an ſich iſt; ebenſo iſt der Geiſt
nur das, zu was er ſich ſelbſt macht, und er macht ſich zu
dem , was er an ſich iſt. Dieſe Entwickelung macht ſich auf
eine unmittelbare, gegenſatzloſe , ungehinderte Weiſe. Zwiſchen
den Begriff und deſſen Realiſirung, die an ſich beſtimmte Na
tur des Reimes , und die Angemeſſenheit der Eriſtenz zu der
ſelben kann ſich nichts eindrängen . Im Geiſte aber iſt es an
ders. Der Uebergang ſeiner Beſtimmung in ihre Verwirk
lichung iſt vermittelt durch Bewußtſeyn und Willen : dieſe ſelbſt
ſind zunächſt in ihr unmittelbares natürliches Leben verſenkt,
Gegenſtand und Zweck ift ihnen zunächſt felbft die natürliche
Beſtimmung als ſolche, die dadurch , daß es der Geiſt iſt, der
fie beſeelt, felbſt von unendlichem Anſpruche, Stärke und Reich
thum iſt. So iſt der Geiſt in ihm ſelbſt ſich entgegen ; er hat
ſich ſelbſt als das wahre Feindſelige Hinderniß ſeiner ſelbſt zu
überwinden ; die Entwickelung , die in der Natur ein ruhiges
Hervorgehen iſt, iſt im Geiſt ein harter unendlicher Kampf ge
gen ſich ſelbſt. Was der Geiſt wil , iſt, ſeinen eigenen Be
Einleitung. 69

griff zu erreichen , aber er ſelbſt verdeckt ſich denſelben , iſt ſtolz


und voll von Genuß, in dieſer Entfremdung ſeiner ſelbſt.
Die Entwickelung iſt auf dieſe Weiſe nicht das harm - und
kampfloſe bloße Hervorgehen , wie die des organiſchen Lebens,
ſondern die harte unwillige Arbeit gegen ſich ſelbſt: und ferner
iſt ſie nicht das bloß Formelle des fich Entwickelns überhaupt,
ſondern das Hervorbringen eines Zwecks von beſtimmtem In
halte. Dieſen Zweck haben wir von Anfang an feſtgeſtellt; es
iſt der Geiſt, und zwar nach ſeinem Weſen , dem Begriff der
Freiheit. Dieß iſt der Grundgegenſtand, und darum auch das
leitende Princip der Entwicelung , das , wodurch dieſe ihren
Sinn und ihre Bedeutung erhält ( ſowie in der römiſchen Ge
ſchichte Nom der Gegenſtand, und damit das die Betrachtung
des Geſchehenen Leitende ift) ; wie umgekehrt das Geſchehene
nur aus dieſem Gegenſtande hervorgegangen iſt, und nur in der
Beziehung auf denſelben einen Sinn und an ihm ſeinen Ge
halt hat. Es giebt in der Weltgeſchichte mehrere große Perio :
den , die vorübergegangen ſind, ohne daß die Entwicelung ſich
fortgeſeßt zu haben ſcheint, in welchen vielmehr der ganze unge
heure Gewinn der Bildung vernichtet worden , und nach welchen
unglücklicher Weiſe wieder von vorne angefangen werden mußte,
um mit einiger Beihülfe , etwa von geretteten Trümmern jener
Schäße, mit erneuertem unermeßlichen Aufwand von Kräften und
Zeit , von Verbrechen und von Leiden , wieder eine der längſt
gewonnenen Regionen jener Bildung zu erreichen. Ebenſo giebt
es fortbeſtehende Entwickelungen , reiche, nach allen Seiten hin
ausgebaute, Gebäude und Syſteme von Bildung in eigenthüm .
lichen Elementen . Die bloß formelle Anſicht von Entwickelung
überhaupt kann weder der einen Weiſe einen Vorzug vor der
anderen zuſprechen , noch den Zweck jenes Unterganges älterer
Entwicelungsperioden begreiflich machen , ſondern muß ſolche
Vorgänge oder insbeſondere darin die Rückgänge als äußerliche
Zufälligkeiten betrachten , und kann die Vorzüge nur nach unbe:
70 Einleitung.

ſtimmten Geſichtspunkten beurtheilen , welche eben damit, daß die


Entwickelung als ſolche das Einzige ſeyn ſoll, worauf es an
komme, relative und nicht abſolute Zwecke ſind.
Die Weltgeſchichte ſtellt nun den Stufen gang der Ent
wickelung des Princips , deſſen Gehalt das Bewußtſeyn der
Freiheit iſt, dar. Die nähere Beſtimmung dieſer Stufen iſt in
ihrer allgemeinen Natur logiſch , in ihrer concreten aber in der
Philoſophie des Geiſtes anzugeben . Es iſt hier nur anzuführen ,
daß die erſte Stufe das ſchon vorhin angegebene Verſenktſeyn
des Geiſtes in die Natürlichkeit , die zweite das Heraustreten
deſſelben in das Bewußtſeyn ſeiner Freiheit iſt. Dieſes erſte
Losreißen iſt aber unvollkommen und partiel , indem es von der
unmittelbaren Natürlichkeit herkommt, hiermit auf ſie bezo
gen , und mit ihr, als einem Momente, noch behaftet iſt. Die
dritte Stufe iſt die Erhebung aus dieſer noch beſondern Freiheit
in die reine Augemeinheit derſelben , in das Selbſtbewußtſeyn,
und Selbſtgefühl des Weſens der Geiſtigkeit. Dieſe Stufen find
die Grundprincipien des allgemeinen Proceſſes ; wie aber jede
innerhalb ihrer ſelbſt wieder ein Proceß ihres Geſtaltens und
die Dialektik ihres Ueberganges iſt: dieß Nähere iſt der Ausfüh
rung vorzubehalten .
Hier iſt nur anzudeuten , daß der Geiſt von ſeiner unend
lichen Möglichkeit , aber nur Möglichkeit anfängt, die ſeinen ab.
ſoluten Gehalt als Anſich enthält, als den Zweck und das Ziel,
das er nur erſt in ſeinem Reſultate erreicht, welches dann erſt
feine Wirklichkeit iſt. So erſcheint in der Eriſtenz der Fortgang,
als ein Fortſchreiten von dem Unvollkommnen zum Vollkomm
neren , wobei jenes nicht in der Abſtraction nur als das Un
vollkommene zu faſſen iſt, ſondern als ein Solches, das zugleich
das Gegentheil ſeiner ſelbſt, das ſogenannte Vollkommene als
Reim , als Trieb in ſich hat.. Ebenſo weiſt wenigſtens reflectir
ter Weiſe die Möglichkeit auf ein Solches hin , das wirklich
werden ſoll, und näher iſt die ariſtoteliſche dynamis auch po
Einleitung. . 71
tentia , Kraft und Macht. Das Unvollkommene ſo als das
Gegentheil ſeiner in ihm ſelbſt iſt der Widerſpruch , der wohl
eriſtirt , aber ebenſoſehr aufgehoben und gelöſt wird , der Trieb ,
der Impuls des geiſtigen Lebens in fich ſelbſt, die Rinde der
Natürlichkeit, Sinnlichkeit und Fremdheit ſeiner ſelbſt zu durch
brechen , und zum Lichte des Bewußtſeyns , d. i. zu ſich ſelbſt zu
kommen .
Im Augemeinen iſt die Bemerkung, wie der Anfang der
Geſchichte des Geiſtes dem Begriffe nach aufgefaßt werden müſſe,
bereits in Beziehung auf die Vorſtellung eines Naturzuſtandes
gemacht worden , in welchem Freiheit und Recht in vollkomme
les

ner Weiſe vorhanden ſey , oder geweſen ſey . Jedoch war dieß
nur eine im Dämmerlicht der hypotheſirenden Reflerion gemachte
Annahme einer geſchichtlichen Eriſtenz. Eine Prätenſion ganz
anderer Art, nämlich nicht eines aus Gedanken hervorgehenden
Annehmens , ſondern eines geſchichtlichen Factums, und zugleich
einer höheren Beglaubigung deſſelben , macht eine andere , von
einer gewiſſen Seite her heutzutage viel in Umlauf geſepte Vor
ſtellung. Es iſt in derſelben der erſte paradieſiſche Zuſtand des
Menſchen , der ſchon früher von den Theologen nach ihrer Weiſe,
3. B . daß Gott mit Adam hebräiſch geſprochen habe, ausgebildet
wurde, wieder aufgenommen , aber anderen Bedürfniſſen ent
ſprechend geſtaltet worden . Die hohe Autorität , welche hiebei
zunächſt in Anſpruch genommen wird , iſt die bibliſche Erzählung.
Dieſe aber ſtellt den primitiven Zuſtand , theils nur in den we
nigen bekannten Zügen , theils aber denſelben entweder in dem
Menſchen überhaupt - dies wäre die allgemein menſchliche Na
tur — oder, inſofern Adam als individuelle und damit als Eine
Perſon zu nehmen iſt, in dieſem Einen oder nur in finem
Menſchenpaare vorhanden und vollendet dar. Weder liegt darin
die Berechtigung zur Vorſtellung eines Volkes und eines ge
ſchichtlichen Zuſtandes deſſelben , welcher in jener primitiven Ge
ſtalt eriſtirt habe, noch weniger der Ausbildung einer reinen Er
Einleitung.

fenntniß Gottes und der Natur. Die Natur , wird erdichtet


habe Anfangs wie ein heller Spiegel der Schöpfung Gottes
offen und durchſtchtig vor dem 'Flaren Auge des Menſchen ge
ſtanden *), und die göttliche Wahrheit fey ihm ebenſo offen ge
weſen ; es wird zwar darauf hingedeutet, aber doch zugleich in
einem unbeſtimmten Dunkel gelaſſen , daß dieſer erſte Zuſtand
ſich im Beſtße einer unbeſtimmten in ſich ſchon ausgedehnten Er
kenntniß religiöſer und zwar von Gott unmittelbar geoffenbarter
Wahrheiten befunden habe. Von dieſem Zuſtande aus feyen

gen , ſo aber , daß ſie zugleich jene erſte Wahrheit mit Ausge
burten des Irrthums und der Verkehrtheit verunreinigt und ver
deckt haben . In allen den Mythologien des Irrthums aber
Feyen Spuren jenes Urſprungs und jener erſten Religionslehren
der Wahrheit vorhanden und zu erkennen . Der Erforſchung der
alten Völfergeſchichte wird daher weſentlich dieſ Intereſſe gege
ben , in ihnen ſoweit aufzuſteigen , um bis zu einem Punkte zu
gelangen , wo ſolche Fragmente der erſten geoffenbarten Erkennt
niß noch in größerer Reinheit anzutreffen ſeyen * * ). Wir ha

*) Fr. v . Schlegel's Philoſophie der Geſchichte, I., S .44.


* *) Wir haben dieſem Intereſſe viel Schäßenswerthes an Entdedungen
über orientaliſche Literatur , und ein erneuertes Studium der früher ſchon
aufgezeichneten Schäße über altaſiatiſche Zuſtände, Mythologie , Religionen
und Geſchichte zu danken . Die Regierung hat ſich in gebildeten katholi
ſchen Ländern den Anforderungen des Gedankens nicht länger entſHlagen ,
und das Bedürfniß gefühlt, ſich in einen Bund mit Gelehrſamkeit und
Philoſophie zu reßen. Beredt und impoſant hat der Abbé Lamenais
unter den Kriterien der wahrhaften Religion aufgezählt, daß ſie die allge
meine, das heißt katholiſche, und die älteſte ſeyn müſſe , und die Congre
gation hat in Frankreid eifrig und fleißig dahin gearbeitet , daß dergleichen
Behauptungen nicht mehr, wie es wohl ſonſt genügte , für Kanzeltiraden
und Autoritätsverſicherungen gelten ſollten . Insbeſondere hat die ſo unge.
beuer ausgebreitete Religion des Buddha , eines Gottmenſchen , die Auf
merkſamkeit auf ſich gezogen. Der indiſche Timûrtis , wie die chineſiſche
Abſtraction der Dreibeit war ihrem Inhalte nad für fid klarer. Die Ges
lehrten , Herr Abel Remuſat und Herr Saint Martin , haben in der
chineſiſchen , und von dieſer aus dann in der mongoliſden , und wenn es
Einleitung. 73
ben dem Intereſſe dieſer Forſchungen ſehr viel Schäßenswerthes
zu danken , aber dieſes Forſchen zeugt unmittelbar gegen ſich
ſelbft , denn es geht darauf, dasjenige erſt geſchichtlich zu be
währen , was von ihm als ein Geſchichtliches vorausgeſeßt wird .
Sowohl jener Zuſtand der Gotteserkenntniß , auch ſonſtiger wiſ
ſenſchaftlicher, 3. B . aſtronomiſcher Kenntniſſe (wie ſie den In
dern angefabelt worden ſind), als auch , daß ein ſolcher Zuſtand
an der Spiße der Weltgeſchichte geſtanden habe , oder daß von
einem ſolchen die Religionen der Völfer einen traditionellen Aus
gangspunkt genommen hätten , und durch Ausartung und Ver
ſchlechterung (wie in dem roh aufgefaßten ſogenannten Emana
tionsſyſtem vorgeſtellt wird) in der Ausbildung fortgeſchritten
ſeyen, — alles dieſes ſind Vorausſeßungen, die weder eine hiſto
riſche Begründung haben , noch , indem wir ihrem beliebigen ,
aus dem ſubjectiven Meinen hervorgegangenen Urſprung den
Begriff entgegenſtellen dürfen , je eine ſolche erlangen können .
Der philoſophiſchen Betrachtung iſt es nur angemeſſen und
würdig, die Geſchichte da aufzunehmen , wo die Vernünftigkeit
in weltliche Eriſtenz zu treten Beginnt, nicht wo ſie noch erſt
eine Möglichkeit nur an fich iſt, wo ein Zuſtand vorhanden , in
dem fie in Bewußtſeyn, Willen und That auftritt. Die unorga
niſche Eriſtenz des Geiſtes, die der Freiheit , das iſt des Guten

ſeyn könnte, in der tibetaniſchen Literatur ihrer Seits die verdienſtvollſten


Unterſuchungen angeſtellt, wie Baron von E & ſtein, ſeiner Seits auf
ſeine Weiſe , das iſt mit oberflächlichen aus Deutſchland geſchöpften na
turphiloſophiſchen Vorſtellungen und Manieren in Art und Nachahmung
Fr. von Schlegels , doch geiſtreicher als dieſer , in ſeinem Journal le Ca
tholique jenem primitiven Natholicismus Vorſchub that, insbeſondere aber
die Unterſtüßung der Regierung auch auf die gelehrte Seite der Congre
gation hinleitete , daß ſie ſogar Reiſen in den Orient veranſtaltete , um da
ſelbſt noch verborgene Schäße aufzufinden , aus welchen man ſich über die
tieferen Lehren , insbeſondere das höhere Alterthum und die Quellen des
Buddhismus weitere Aufſchlüſſe verſpracy, und die Sache des Katholiciós
mus durch dieſen weiten , aber für die Gelehrten intereſſanten Umweg zu
befördern .
74 Einleitung.

und des Böſen und damit der Gefeße unbewußte Stumpfheit,


oder wenn man will, Vortrefflichkeit iſt ſelbſt nicht Gegenſtand
der Geſchichte. Die natürliche und zugleich religiöſe Sittlichkeit
iſt die Familienpietät. Das Sittliche beſteht in dieſer Geſellſchaft
eben darin , daß die Mitglieder nicht als Individuen von freiem
Willen gegen einander , nicht als Perſonen ſich verhalten ; eben
darum iſt die Familie in ſich dieſer Entwickelung entnommen ,
aus welcher die Geſchichte erſt entſteht. Tritt die geiſtige Ein
heit aber über dieſen Kreis der Empfindung und natürlichen
Liebe heraus, und gelangt ſie zum Bewußtſeyn der Perſönlichkeit,
ſo iſt dieſer finſtere ſpröde Mittelpunkt vorhanden , in welchem
weder Natur noch Geiſt offen und durchſichtig iſt, und für wel
chen Natur und Geiſt nur erſt durch die Arbeit fernerer und
einer in der Zeit ſehr fernen Bildung jenes ſelbſtbewußt gewor
denen Willens, offen und durchſichtig werden können . Das Be
wußtſeyn allein iſt ja das Offene und das , für welches Gott
und irgend Etwas fich offenbaren kann , und in feiner Wahr
heit, in ſeiner an und für ſich ſeyenden Augemeinheit, kann es
fich nur dem kund gewordenen Bewußtſeyn offenbaren . Die
Freiheit iſt nur das , ſolche allgemeine ſubſtantielle Gegenſtände,
wie das Recht und das Geſeß zu wiſſen und zu wollen , und eine
Wirklichkeit hervorzubringen , die ihnen gemäß iſt, – den Staat.
Völker können ohne Staat ein langes Leben fortgeführt
haben , ehe ſie dazu kommen, dieſe ihre Beſtimmung zu erreichen ,
und darin ſelbſt eine bedeutende Ausbildung nach gewiſſen Rich
tungen hin erlangt haben . Dieſe Vorgeſchichte liegt nach
dem Angegebenen ohnehin außer unſerem Zwecf ; es mag darauf
eine wirkliche Geſchichte gefolgt , oder die Völker gar nicht zu
einer Staatsbildung gekommen ſeyn . Es iſt eine große Ent
degung, wie einer neuen Welt, in der Geſchichte, die feit etlichen
und zwanzig Jahren über die Sanskritſprache und den Zuſam
menhang der europäiſchen Sprachen mit derſelben gemacht wor
den iſt. Dieſe hat insbeſondere eine Anſicht über die Verbin
Einleitung.

dung der germaniſchen Völkerſchaften mit den indiſchen gegeben ,


eine Anſicht, die ſo große Sicherheit mit ſich führt , als in fol
chen Materien nur gefordert werden kann . Noch gegenwärtig
wiſſen wir von Völkerſchaften , welche kaum eine Geſellſchaft,
viel weniger einen Staat bilden , aber ſchon lange als eriſtirend
bekannt find ; von anderen , deren gebildeter Zuſtand uns vor
nehmlich intereſſiren muß, reicht die Tradition über die Stif
tungsgeſchichte ihres Staates hinaus, und viele Veränderungen
ſind jenſeits dieſer Epoche mit ihnen vorgegangen . In dem an
geführten Zuſammenhange der Sprachen ſo weit auseinander
liegender Völker haben wir ein Reſultat vor uns , welches uns
die Verbreitung dieſer Nationen von Aften aus, und die zugleich
ſo disparate Ausbildung einer uranfänglichen Verwandtſchaft als
ein unwiderſprechliches Factum zeigt, das nicht aus der belieb
ten raiſonnirenden Combination von Umſtänden und Umſtänd
chen hervorgeht, welche die Geſchichte mit ſo vielen für Facta
ausgegebenen Erdichtungen bereichert hat , und immerfort berei
chern wird. Jenes in fich ſo weitläuftig ſcheinende Geſchehene
aber fällt außerhalb der Geſchichte: es iſt derſelben vorange
gangen .
Geſchichte vereinigt in unſerer Sprache die objective ſo
wohl , als ſubjective Seite, und bedeutet ebenſogut, die histo
riam rerum gestarum , als die res gestas ſelbſt; ſie iſt das
Geſchehene nicht minder , wie die Geſchichtserzählung. Dieſe
Vereinigung der beiden Bedeutungen müſſen wir für höherer
Art , als für eine bloß äußerliche Zufälligkeit anſehen : es iſt
dafür zu halten , daß Geſchichtserzählung mit eigentlich geſchicht
lichen Thaten und Begebenheiten gleichzeitig erſcheine; es iſt eine
innerliche gemeinſame Grundlage, welche ſie zuſammen hervor
treibt. Familienandenken , patriarchaliſche Traditionen haben ein
Intereſſe innerhalb der Familie und des Stammes ; der gleich
förmige Verlauf ihres Zuſtandes iſt kein Gegenſtand für die Er
innerung, aber ſich unterſcheidende Thaten oder Wendungen des
76 Einleitung .

Schidſals mögen die Mnemoſyne zur Faſſung ſolcher Bilder er


regen , wie Liebe und religiöſe Empfindungen die Phantaſie zum
Geſtalten ſolchen geſtaltlos beginnenden Dranges auffordern .
Aber der Staat erſt führt einen Inhalt herbei, der für die Proſa
der Geſchichte nicht nur geeignet iſt, ſondern ſie ſelbſt mit er
zeugt. Statt nur ſubjectiver , für das Bedürfniß des Augen
blicks genügender Befehle des Regierens erfordert ein feſtwerden =
deg , zum Staate ſich erhebendes Gemeinweſen Gebote , Gefeße,
allgemeine und allgemeingültige Beſtimmungen , und erzeugt da
mit ſowohl einen Vortrag als ein Intereſſe von verſtändigen , in
fich beſtimmten und in ihren Reſultaten dauernden Thaten und
Begebenheiten , welchen die Mnemoſyne, zum Behuf des peren
nirenden Zweckes dieſer Geſtaltung und Beſchaffenheit des Staa
tes, die Dauer des Andenkens hinzuzufügen getrieben iſt. Die
tiefere Empfindung überhaupt , wie die der Liebe , und dann die
religiöſe Anſchauung und deren Gebilde ſind an ihnen ſelbſt
ganz gegenwärtig und befriedigend, aber die bei ihren ver
nünftigen Geſeßen und Sitten zugleich äußerliche Eriſtenz des
Staates iſt eine unvollſtändige Gegenwart, deren Verſtand zu
ihrer Integrirung des Bewußtſeyns der Vergangenheit bedarf.
Die Zeiträume, wir mögen ſie uns von Fahrhunderten
oder Jahrtauſenden vorſtellen , welche den Völkern vor der Ges
fchichtſchreibung verfloſſen ſind, und mit Revolutionen , mitWan
derungen , mit den wildeſten Veränderungen mögen angefüllt ge
weſen ſeyn, ſind darum ohne objective Geſchichte , weil ſie keine
ſubjective, keine Geſchichtserzählung aufweiſen . Nicht wäre dieſe
nur zufällig über ſolche Zeiträume untergegangen , ſondern weil
ſie nicht hat vorhanden ſeyn können , haben wir keine darüber.
Erſt im Staate mit dem Bewußtſeyn von Geſeßen ſind klare
Thaten vorhanden , und mit ihnen die Klarheit eines Bewußt
feyns über ſie, welche die Fähigkeit und das Bedürfniß giebt,
ſie ſo aufzubewahren . Auffallend iſt es jedem , der mit den
Schäßen der indiſchen Literatur bekannt zu werden anfängt, daß
Einleitung.

dieſes an geiſtigen und zwar in das Tiefſte gehenden Productio


nen ſo reiche Land keine Geſchichte hat, und darin auf's ſtärkfte
ſogleich gegen China contraſtirt, welches Reich eine ſo ausge
zeichnete, auf die älteſten Zeiten zurücgehende Geſchichte beſigt.
Indien hat nicht allein alte Religionsbücher und glänzende
Werke der Dichtkunſt, ſondern auch alte Gefeßbücher, was vor
hin als eine Bedingung der Geſchichtsbildung gefordert wurde,
und doch keine Geſchichte. Aber in dieſem Lande iſt die zu Un
terſchieden der Geſellſchaft beginnende Organiſation ſogleich zu
Naturbeſtimmungen in den Kaſten verſteinert, ſo daß die Gefeße
zwar die Civilrechte betreffen , aber dieſe ſelbſt von den natür
lichen Unterſchieden abhängig machen , und vornehmlich Zu
fitändigkeiten (nicht ſowohl Rechte als Unrechte) dieſer Stände
gegen einander , d . i. der höheren gegen die niederen beſtimmen .
Damit iſt aus der Pracht des indiſchen Lebens und aus ſeinen
Reichen das Element der Sittlichkeit verbannt. Ueber jener Un
freiheit der naturfeſten Ständigkeit von Ordnung iſt aller Zu
ſammenhang der Geſellſchaft wilde Willkür, vergängliches Trei
ben , oder vielmehr Wüthen ohne einen Endzweck des Fortſchrei
tens und der Entwickelung : ſo iſt kein denkendes Andenken , kein
Gegenſtand für die Mnemoſyne vorhanden , und eine, wenn auch
tiefere , doch nur wüſte Phantaſie treibt ſich auf dem Boden
herum , welcher um ſich der Geſchichte fähig zu machen , einen
der Wirklichkeit und zugleich der ſubſtantiellen Freiheit angehöri
gen Zweck hätte haben müſſen.
Um ſolcher Bedingung einer Geſchichte willen iſt es auch
geſchehen , daß jenes ſo reiche , ja unermeßliche Werf der Zu
nahme von Familien zu Stämmen , der Stämme zu Völkern ,
und deren durch dieſe Ausdehnung herbeigeführte Ausbreitung,
welche ſelbſt ſo viele Verwickelungen , Kriege, Umſturze , Unter
gänge vermuthen läßt, ohne Geſchichte ſich nur zugetragen hat ;
noch mehr, daß die damit verbundene Verbreitung und Ausbil
dung des Reichs der Laute ſelbſt lautlos und ſtumm geblieben , und
78 Einleitung .

ſchleichend geſchehen iſt. Es iſt ein Factum der Monumente, daß


die Sprachen im ungebildeten Zuſtande der Völker , die ſte ge
ſprochen , höchſt ausgebildet worden ſind , daß der Verſtand
ſich ſinnvol entwickelnd ausführlich in dieſen theoretiſchen Boden
geworfen hatte. Die ausgedehnte conſequente Grammatik iſt das
Werk des Denkens, das ſeine Kategorien darin bemerklich macht.
Es iſt ferner ein Factum , daß mit fortſchreitender Civiliſation
der Geſellſchaft und des Staats dieſe ſyſtematiſche Ausführung
des Verſtandes fich abſchleift und die Sprache hieran ärmer und
ungebildeter wird – ein eigenthümliches Phänomen , daß das in
ſich geiſtiger werdende, die Vernünftigkeit heraustreibende und
bildende Fortſchreiten , jene verſtändige Ausführlichkeit und Ver
ſtändigkeit vernachläſſigt, hemmend findet und entbehrlich macht.
Die Sprache iſt die That der theoretiſchen Intelligenz im eigent
lichen Sinne, denn ſie iſt die äußerliche Aeußerung derſelben.
Die Thätigkeiten der Erinnerungen und der Phantaſie ſind ohne
die Sprache unmittelbare Aeußerungen . Aber dieſe theoretiſche
That überhaupt, wie deren weitere Entwickelung , und das da
mit verbundene Concretere der Völkerverbreitung , ihrer Abtren
nung von einander , Verwickelung , Wanderung bleibt in das
Trübe einer ſtummen Vergangenheit eingehüllt ; es ſind nicht
Thaten des ſelbſtbewußtwerdenden Willens, nicht der ſich andere
Aeußerlichkeit, eigentliche Wirklichkeit, gebenden Freiheit. Dieſem
wahrhaften Elemente nicht angehörend haben jene Völker ihrer
Sprachentwickelung ungeachtet keine Geſchichte erlangt. Die Vor
eiligkeit der Sprache, und das Vorwärts- und Auseinandertrei
ben der Nationen hat erſt theils in Berührung mit Staaten ,
theils durch eigenen Beginn der Staatsbildung Bedeutung und
Intereſſe für die concrete Vernunft gewonnen .
Nach dieſen Bemerkungen , welche die Form des Anfan
ges der Weltgeſchichte und das aus ihr auszuſchließende Vor
geſchichtliche betroffen haben , iſt die Art des Ganges derſelben
näher anzugeben ; doch hier nur von der formellen Seite. Die
Einleitung . 79

Fortbeſtimmung des concreten Inhalts ift Angabe der Ein


theilung.
Die Weltgeſchichte ſtellt , wie früher beſtimmt worden iſt,
die Entwickelung des Bewußtſeyns, des Geiſtes von ſeiner Frei
heit , und der von ſolchem Bewußtſeyn hervorgebrachten Verwirkli
chung dar. Die Entwickelung führt es mit ſich, daß fie ein Stu
fengang, eine Reihe weiterer Beſtimmungen der Freiheit iſt, welche
durch den Begriff der Sache hervorgehen . Die logiſche, und nocy
mehr die dialectiſche Natur des Begriffes überhaupt, daß er ſich
ſelbſt beſtimmt, Beſtimmungen in fich ſeßt und dieſelben wieder
aufhebt, und durch dieſes Aufheben ſelbſt eine affirmative und
zwar reichere, concretere Beſtimmung gewinnt, — dieſe Noth
wendigkeit, und die nothwendige Neihe der reinen abſtracten
Begriffsbeſtimmungen wird in der Logik erkannt. Hier haben
wir nur dieſes qufzunehmen , daß jede Stufe als verſchieden von
der anderen ihr beſtimmtes eigenthümliches Princip hat. Sol
ches Princip iſt in der Geſchichte Beſtimmtheit des Geiſtes —
ein beſonderer Volksgeift. In dieſer drückt er als concret alle
Seiten ſeines Bewußtſeyns und Wollens , ſeiner ganzen Wirk
lichkeit aus; ſie iſt das gemeinſchaftliche Gepräge ſeiner Religion,
ſeiner politiſchen Verfaſſung, ſeiner Sittlichkeit, feines Rechtsſy
ſtems, ſeiner Sitten , auch ſeiner Wiſſenſchaft, Kunſt und tech
niſchen Geſchicklichkeit. Dieſe ſpeciellen Eigenthümlichkeiten find
aus jener allgemeinen Eigenthümlichkeit, dem beſonderen Principe
eines Volkes zu verſtehen , ſowie umgekehrt aus dem in der Ge
fchichte vorliegenden factiſchen Detail jenes Augemeine der Be
ſonderheit herauszufinden iſt. Daß eine beſtimmte Beſonderheit
in der That das eigenthümliche Princip eines Volkes ausmacht,
dieß iſt die Seite , welche empiriſch aufgenommen und auf ge
ſchichtliche Weiſe erwieſen werden muß. Dieß zu leiſten fegt
nicht nur eine geübte Abſtraction , ſondern auch ſchon eine ver
traute Bekanntſchaft mit der Idee voraus ; man muß mit dem
Kreiſe deſſen , worin die Principien fallen , wenn man es ſo
80 Einleitung.

nennen will, a priori vertraut ſeyn , ſo gut als , um den größ


ten Mann in dieſer Erkennungsweiſe zu nennen , Seppler mit
den Ellipſen , mit Kuben und Quadraten , und mit den Gedan:
ken von Verhältniſſen derſelben a priori ſchon vorher bekannt
ſeyn mußte, ehe er aus den empiriſchen Daten ſeine unſterbli
chen Geſeße, welche aus Beſtimmungen jener Kreiſe von Vor
ſtellungen beſtehen , erfinden konnte. Derjenige , der in dieſen
Kenntniſſen der allgemeinen Elementarbeſtimmungen unwiſſend
iſt, kann jene Geſeße , und wenn er den Himmel und die Be
wegungen ſeiner Geſtirne noch ſo lange anſchaut, ebenſowenig
verſtehen , als er ſie hätte erfinden können . Von dieſer Unbe
kanntſchaft mit den Gedanken des fich entwickelnden Geſtaltens
der Freiheit rührt ein Theil der Vorwürfe her, welche einer phi
loſophiſchen Betrachtung über eine ſonſt ſich empiriſch haltende
Wiſſenſchaft, wegen der ſogenannten Apriorität, und des Hin
eintragens von Ideen in jenen Stoff gemacht werden . Solche
Gedankenbeſtimmungen erſcheinen dann als etwas Fremdartiges ,
nicht in dem Gegenſtande Liegendes. Der ſubjectiven Bildung,
welche nicht die Bekanntſchaft und Gewohnheit von Gedanken
hat, ſind ſie wohl etwas Fremdartiges , und liegen nicht in der
Vorſtellung und dem Verſtande , den ſolcher Mangel ſich von
dem Gegenſtande macht. Es folgt daraus der Ausdruck , daß
die Philoſophie ſolche Wiſſenſchaften nicht verſtehe. Sie muß
in der That zugeben , daß ſie den Verſtand, der in jenen Wiſ
ſenſchaften herrſchend iſt, nicht habe, nicht nach den Kategorien
ſolchen Verſtandes verfahre , ſondern nach Kategorien der Ver
nunft , wobei ſte jenen Verſtand aber , auch deſſen Werth und
Stellung fennt. Es gilt in ſolchem Verfahren des wiſſenſchaft
lichen Verſtandes gleichfalls , daß das Weſentliche von dem ſu
genannten Unweſentlichen geſchieden und herausgehoben werden
müſſe. Um dieß aber zu vermögen , muß man das Weſentliche
kennen , und dieſes, wenn die Weltgeſchichte im Ganzen betrach
tet werden ſoll, iſt, wie früher angegeben worden , das Bewußt
Einleitung. 81

feyn der Freiheit , und in den Entwickelungen deſſelben die Bes


ſtimmtheiten dieſes Bewußtſeyns. Die Richtung auf dieſe Kas
tegorie iſt die Richtung auf das wahrhaft Weſentliche.
Von den Inſtanzen und von dem Widerſpruch gegen eine
in ihrer Augemeinheit aufgefaßte Beſtimmtheit kommt gewöhnlich
auch ein Theil auf den Mangel, Ideen zu faſſen und zu ver
ſtehen . Wenn in der Naturgeſchichte gegen die entſchieden ſich
ergebenden Gattungen und Claſſen , ein monſtröſes , verunglücktes
Eremplar oder Miſchlingsgeſchöpf als Inſtanz vorgewieſen wird,
ſo kann man mit Recht das anwenden , was oft ins Unbe
ſtimmte hin geſagt wird , daß die Ausnahme die Regel beſtätige,
das heißt , daß an ihr es ſen , die Bedingungen , unter denen
fie Statt findet, oder das Mangelhafte, Zwitterhafte , das in
der Abweichung von dem Normalen liegt, zu zeigen . Die Ohn
macht der Natur vermag ihre allgemeinen Claſſen und Gattun
gen nicht gegen andere elementariſche Momente feſtzuhalten .
Aber z. B . wenn die Organiſation des Menſchen in ihrer con
creten Geſtaltung aufgefaßt wird , und zu ſeinem organiſchen
Leben Gehirn , Herz und dergleichen als weſentlich gehörig an
gegeben werden , ſo kann etwa eine traurige Mißgeburt vorges
zeigt werden , welche eine menſchliche Geſtalt im Augemeinen ,
oder Theile derſelben in fich hat, auch in einem menſchlichen
Leibe erzeugt worden , darin gelebt und aus ihr geboren geathmet
habe, in der ſich aber kein Gehirn und kein Herz befinde. Ge:
braucht man eine ſolche Inſtanz gegen die allgemeine Beſchaffenheit
des Menſchen , bei deſſen Namen und deſſen oberflächlicher Beſtim
mung man etwa ſtehen bleibt, ſo zeigt ſich , daß ein wirklicher,
concreter Menſch freilich etwas Anderes iſt: ein folcher muß
Gehirn im Kopfe und Herz in der Bruſt haben .
Auf ähnliche Weiſe wird verfahren , wenn richtig geſagt
wird, daß Genie, Talent, moraliſche Tugenden und Empfindun
gen , Frömmigkeit unter allen Zonen , Verfaſſungen und politi
ſchen Zuſtänden Statt finden können , wovon es an beliebiger
Philoſophie d. Gedichte 3te Aufl.
82 Einleitung.
Menge von Beiſpielen nicht fehlen kann. Wenn mit ſolcher
Acußerung der Unterſchied in denſelben als unwichtig oder als
unweſentlich verworfen werden ſoll, ſo bleibt die Reflerion bei
abſtracten Kategorien ſtehen , und thut auf den beſtimmten Inhalt
Verzicht, für welchen in ſolchen Kategorien allerdings kein Prin
cip vorhanden iſt. Der Standpunkt der Bildung, der ſich in
ſolchen formellen Geſichtspunkten bewegt, gewährt ein unermeß
liches Feld für ſcharfſinnige Fragen , gelehrte Anſichten und auf
fallende Vergleichungen , tiefſcheinende Reflerionen und Declama
tionen , die um ſo glänzender werden können , je mehr ihnen das
Unbeſtimmte zu Gebote ſteht , und um ſo mehr immer erneuert
und abgeändert werden können , je weniger in ihren Bemühun
gen große Reſultate zu gewinnen ſind, und es zu etwas Feſtem
und Vernünftigem kommen kann. In dieſem Sinne können die
bekannten indiſchen Epopõen mit den homeriſchen veralichen , und
etwa, weil die Größe der Phantaſie das ſey , wodurch ſich das
dichteriſche Genie beweiſe, über ſie geſtellt werden , wie man ſich
durch die Aehnlichkeit einzelner phantaſtiſcher Züge der Attribute
der Göttergeſtalten für berechtigt gehalten hat, Figuren der grie
chiſchen Mythologie in indiſchen zu erkennen . In ähnlichem
Sinne iſt chineſiſche Philoſophie, inſofern ſie das Eine zu Grunde
legt, für daſſelbe ausgegeben worden , was ſpäter als eleatiſche
Philoſophie und als ſpinoziſtiſches Syſtem erſchienen fey ; weil
ſie ſich auch in abſtracten Zahlen und Linien ausdrückt, hat man
Pythagoräiſches und Chriſtliches in ihr geſehen . Beiſpiele von
Tapferkeit, ausharrendem Muthe, Züge des Edelmuths , der
Selbſtverläugnung und Selbſtaufopferung, die ſich unter den
wildeſten , wie unter den ſchwachmüthigſten Nationen finden ,
werden für hinreichend angeſehen , um dafür zu halten , daß in
denſelben ebenſoſehr und leicht auch mehr Sittlichkeit und Mora
lität ſich finde, als in den gebildetſten chriſtlichen Staaten u . f. f.
Man hat in dieſer Rückſicht die Frage des Zweifels aufgewor
fen , ob die Menſchen im Fortſchreiten der Geſchichte und der
Einleitung. 83

Bildung aller Art beſſer geworden ſeyen , ob ihre Moralität zu


genommen habe , indem dieſe nur auf der ſubjectiven Abſicht
und Einſicht beruhe , auf dem , was der Handelnde für Recht
oder für Verbrechen , für gut und böſe anſehe , nicht auf einem
ſolchen , das an und für ſich , oder in einer beſonderen , für
wahrhaft geltenden Religion für recht und gut, oder für Vers
brechen und böſe angeſehen werde.
Wir können hier überhoben ſeyn , den Formalismus und
Jrrthum ſolcher Betrachtungsweiſe zu beleuchten , und die wahr
haften Grundſäße der Moralität oder vielmehr der Sittlichkeit
gegen die falſche Moralität feſtzuſeßen . Denn die Weltgeſchichte
bewegt ſich auf einem höheren Boden , als der iſt, auf dem die
Moralität ihre eigentliche Stätte hat , welche die Privatgeſin
nung , das Gewiſſen der Individuen , ihr eigenthümlicher Wille
und ihre Handlungsweiſe iſt; dieſe haben ihren Werth , Impu
tation , lohn oder Beſtrafung für ſich. Was der an und für
ſich ſeyende Endzweck des Geiſtes fordert und vollbringt, was
die Vorſehung thut, liegt über den Verpflichtungen und der Im
putationsfähigkeit und Zumuthung, welche auf die Individuali
tät in Rückſicht ihrer Sittlichkeit fält. Die, welche demjenigen ,
was der Fortſchritt der Idee des Geiſtes nothwendig macht, in
ſittlicher Beſtimmung und damit edler Geſinnung widerſtanden
haben , ſtehen in moraliſchem Werthe höher als diejenigen , de
ren Verbrechen in einer höheren Ordnung zu Mitteln verkehrt
worden ſind , den Willen dieſer Drdnung ins Werk zu ſepen .
Aber bei Umwälzungen dieſer Art ſtehen überhaupt beide Par
teien nur innerhalb deſſelben Kreiſes des Verderbens, und es
iſt damit nur ein formelles , vom lebendigen Geiſt und von Gott
verlaſſenes Recht, was die ſich für berechtigt haltenden Auftre
tenden vertheidigen . Die Thaten der großen Menſchen , welche
Individuen der Weltgeſchichte ſind, erſcheinen ſo 'nicht nur in
ihrer inneren bewußtloſen Bedeutung gerechtfertigt , ſondern auch
auf dem weltlichen Standpunkte. Aber von dieſem aus müſſen
6 *
84 Einleitung .

gegen welthiſtoriſche Thaten und deren Vollbringen ſich nicht


moraliſche Anſprüche erheben , denen ſie nicht angehören . Die
Litanei von Privattugenden der Beſcheidenheit , Demuth , Men
ſchenliebe und Mildthätigkeit muß nicht gegen ſie erhoben wer
den . Die Weltgeſchichte fönnte überhaupt dem Kreiſe, worein
Moralität und der ſo oft ſchon beſprochene Unterſchied zwiſchen
Moral und Politik fält, ganz ſich entheben , nicht nur ſo , daß
ſie ſich der Urtheile enthielte – ihre Principien aber, und die
nothwendige Beziehung der Handlungen auf dieſelben , ſind ſchon
für ſich ſelbſt das Urtheil, – ſondern indem ſie die Indivi
duen ganz aus dem Spiele und unerwähnt ließe, denn was fte
zu berichten hat, ſind die Thaten des Geiſtes der Völker; die
individuellen Geſtaltungen , welche derſelbe auf dem äußerlichen
Boden der Wirklichkeit angezogen , könnten der eigentlichen Ge
ſchichtſchreibung überlaſſen bleiben .
Derſelbe Formalismus treibt ſich mit den Unbeſtimmtheiten
von Genie, Poeſie , auch Philoſophie herum , und findet dieſe
auf gleiche Weiſe allenthalben ; es ſind dieſes Producte der den
kenden Reflerion , und in ſolchen Allgemeinheiten , welche weſent
liche Unterſchiede herausheben und bezeichnen , ſich mit Fertigkeit
bewegen , ohne in die wahre Tiefe des Inhalts hinabzuſteigen ,
iſt Bildung überhaupt; ſte iſt etwas Formelles, inſofern ſie nur
darauf geht, den Inhalt, ſey er welcher er wolle, in Be
ſtandtheile zu zergliedern , und dieſelben in ihren Denkbeſtim
mungen und Denkgeſtaltungen zu faſſen ; es iſt nicht freie Auge
meinheit, welche für ſich zum Gegenſtand des Bewußtſeyns zu
machen erforderlich iſt. Solches Bewußtſeyn über das Denken
felbſt, und ſeine von einem Stoffe iſolirten Formen , iſt die Phi
loſophie , die freilich die Bedingung ihrer Eriſtenz in der Bil
dung hat; dieſe aber iſt das, den vorhandenen Inhalt mit der
Form der Augemeinheit zugleich zu bekleiden , ſo daß ihr Beſit
Beides ungetrennt enthält, und ſo ſehr ungetrennt, daß fie fol
chen Inhalt, der durch die Analyſe einer Vorſtellung in eine
Einleitung. 85

Menge von Vorſtellungen zn einem unberechenbaren Reichthum


erweitert wird , für bloß empiriſchen Inhalt nimmt, an dem das
Denken keinen Theil habe. Es iſt aber ebenſowohl That des
Denkens, und zwar des Verſtandes , einen Gegenſtand, der in
fich ein concreter, reicher Inhalt iſt, zu einer einfachen Vorſtel
lung (wie Erde, Menſch , oder Alerander und Cäſar) zu ma
chen und mit einem Worte zu bezeichnen , als dieſelbe aufzulö
ſen , die darin enthaltenen Beſtimmungen ebenſo in der Vorſtel
lung zu iſoliren , und ihnen beſondere Namen zu geben . In
Beziehung aber auf die Anſicht, von der die Veranlaſſung zu
dem eben Geſagten ausging, wird ſo viel erhellen , daß , ſowie
die Reflerion die Algemeinheiten von Genie , Talent , Kunſt,
Wiſſenſchaft hervorbringt, die formelle Bildung auf jeder Stufe
der geiſtigen Geſtaltungen nicht nur gedeihen und zu einer hohen
Blüthe gelangen kann , ſondern auch muß, indem ſolche Stufe
ſich zu einem Staate ausbildet , und in dieſer Grundlage der
Civiliſation zu der Verſtandesreflerion und, wie zu Geſeßen , ſo
für Alles zu Formen der Algemeinheit fortgeht. Im Staats
leben als ſolchem liegt die Nothwendigkeit der formellen Bildung,
und damit der Entſtehung der Wiſſenſchaften , ſowie einer gebil
deten Poeſie und Kunſt überhaupt. Die unter dem Namen der
bildenden Künſte begriffenen Künſte erfordern ohnehin ſchon von
der techniſchen Seite das civiliſirte Zuſammenleben der Menſchen .
Die Dichtkunſt, die die äußerlichen Bedürfniſſe und Mittel weni
ger nöthig hat, und das Element unmittelbaren Daſeyns, die
Stimme, zu ihrem Material hat, tritt in hoher Kühnheit und
mit gebildetem Ausdruck ſchon in Zuſtänden eines nicht zu ei
nem rechtlichen Leben vereinten Volkes hervor , da , wie früher
bemerkt worden , die Sprache für fich jenſeits der Civiliſation
eine hohe Verſtandesbildung erreicht.
Auch die Philoſophie muß in dem Staatsleben zum Vor
ſchein kommen , indem das , wodurch ein Inhalt Sache der
Bildung wird , wie ſo eben angeführt wurde, die dem Denfen
ung
86 Einleit

angehörige Form iſt, und der Philoſophie, welche nur das Bewußt=
ſeyn dieſer Form ſelbſt, das Denken des Denkens ift , hiermit
das eigenthümliche Material für ihr Gebäude ſchon in der all
gemeinen Bildung zubereitet wird. Wenn in der Entwickelung
des Staates ſelbſt Perioden eintreten müſſen , durch welche der
Geiſt edlerer Naturen zur Flucht aus der Gegenwart in die idea
len Regionen getrieben wird , um in denſelben die Verſöhnung
mit ſich zu finden , welche er in der entzweiten Wirklichkeit nicht
mehr genießen kann , indem der reflectirende Verſtand alles Hei
lige und Tiefe, das auf unbefangene Weiſe in die Religion , Ge
ſeße und Sitten der Völker gelegt war, angreift und in abſtracte
götterloſe Allgemeinheiten verflacht und verflüchtigt; ſo wird das
Denken zu denkender Vernunft hingenöthigt werden , um in ſeis
nem eigenen Elemente die Wiederherſtellung aus dem Verderben
zu verſuchen , zu dem es gebracht worden iſt.
Es giebt alſo freilich in allen welthiſtoriſchen Völfern Dicht
kunſt, bildende Kunſt, Wiſſenſchaft, auch Philoſophie, aber nicht
nur iſt Styl und Richtung überhaupt, ſondern noch vielmehr
der Gehalt verſchieden , und dieſer Gehalt betrifft den höchſten
lInterſchied , den der Vernünftigkeit. Es hilft nichts , daß eine
ſich hochſtellende äſthetiſche Kritik fordert, daß das Stoffartige,
das iſt , das Subſtantielle des Inhalts , unſer Gefallen nicht
beſtimmen folle ; ſondern die ſchöne Form als ſolche, die Größe
der Phantaſie und dergleichen rey es , was die ſchöne Kunſt be
zwecke und von einem liberalen Gemüthe und gebildeten Geiſte
beachtet und genoſſen werden müſſe. Der geſunde Menſchenſinn
geſtattet doch ſolche Abſtractionen nicht, und eignet fich die
Werke der genannten Gattung nicht an . Möchte man ſo die
indiſchen Epopõen den homeriſchen um einer Menge jener for
mellen Eigenſchaften , Größe der Erfindung und Einbildungs
fraft, lebhaftigkeit der Bilder und Empfindungen , Schönheit
der Diction willen gleichſeßen wollen , ſo bleibt der unendliche
Unterſchied des Gehalts und ſomit das Subſtantielle, und das
Einleitung. 87

Intereſſe der Vernunft, das ſchlechthin auf das Bewußtſeyn


des Freiheitė begriffes und deſſen Ausprägung in den Individuen
geht. Es giebt nicht nur eine claſſiſche Form , ſondern auch
einen claſſiſchen Inhalt, und ferner ſind Form und Inhalt im
Kunſtwerke ſo eng verbunden , daß jene nur claffiſch ſeyn kann ,
inſofern es dieſer iſt. Mit phantaſtiſchem , ſich nicht in fich bes
gränzendem Inhalte , - und das Vernünftige iſt eben , was
Maaß und Ziel in ſich hat, — wird die Form zugleich maaß
und formlos, oder kleinlich und peinlich. Ebenſo in der Verglei
chung der verſchiedenen Philoſopheme, von der wir früher ſchon
geſprochen haben , wird das überſehen , worauf es allein an
kommt, nämlich die Beſtimmtheit der Einheit, die man zuſam
men in der chineſiſchen , eleatiſchen , ſpinoziſtiſchen Philoſophie
findet, und der Unterſchied , ob jene Einheit abſtract oder con
cret und zwar concret bis zur Einheit in ſich, die Geiſt iſt, ge :
faßt wird. Jenes Gleichſtellen aber beweiſt eben , daß es nur
ſo die abſtracte Einheit kennt, und indem es über Philoſophie
urtheilt, in demjenigen unwiſſend iſt, was das Intereſſe der
Philoſophie ausmacht.
Es giebt aber auch Kreiſe, welche, in aller Verſchiedenheit
des ſubſtantiellen Inhalts einer Bildung, dieſelben bleiben . Die
genannte Verſchiedenheit betrifft die denkende Vernunft und die
Freiheit, deren Selbſtbewußtſeyn dieſe iſt, und welche dieſelbe Eine
Wurzel mit dem Denken hat. Wie nicht das Thier , ſondern
nur der Menſch denkt, ſo hat auch nur er , und nur, weil er
denkend iſt, Freiheit. Sein Bewußtſeyn enthält dieß , daß das
Individuum fich als Perſon , das iſt, in ſeiner Einzelheit ſich
als in fich Allgemeines , der Abſtraction , des Aufgebens von
allem Beſonderen , Fähiges , fich ſomit als in ſich Unendliches
erfaßt. Kreiſe ſomit, die außerhalb dieſer Erfaſſung liegen , ſind
ein Gemeinſchaftliches jener ſubſtantiellen Unterſchiede. Selbſt
die Moral, welche mit dem Freiheitsbewußtſeyn ſo nahe zuſam
menhängt, kann bei dem noch vorhandenen Mangel deſſelben
Einleitung.

ſehr rein ſeyn , inſofern ſie nämlich nur die algemeinen Pflich
ten und Rechte als objective Gebote ausſpricht, oder auch in
ſofern ſie bei der formellen Erhebung, dem Aufgeben des Sinn
lichen und aller finnlichen Motive , als einem bloß Negativen
ſtehen bleibt. Die chineſiſche Moral hat, ſeitdem die Euro
päer mit derſelben und den Schriften des Confucius bekannt
wurden , das größte Lob und ruhmwürdige Anerkennung ihrer
Vortrefflichkeit von denen , die mit der chriſtlichen Moral ver
traut ſind, erlangt. Ebenſo iſt die Erhabenheit anerkannt, mit
welcher die indiſche Religion und Poeſie (wozu man jedoch bei
feßen muß , die höhere), und insbeſondere ihre Philoſophie, die
Entfernung und Aufopferung des Sinnlichen ausſprechen und
fordern . Dieſe beiden Nationen ermangeln jedoch , man muß
ſagen : gänzlich , des weſentlichen Bewußtſeyns des Freiheits
begriffes . Den Chineſen ſind ihre moraliſchen Gefeße wie Na
turgeſege, äußerliche poſitive Gebote, Zwangsrechte und Zwangs
pflichten oder Regeln der Höflichkeit gegen einander. Die Frei
heit, durch welche die ſubſtantiellen Vernunftbeſtimmungen erſt
zu fittlicher Geſinnung werden , fehlt ; die Moraliſt Staats
fache und wird durch Regierungsbeamte und die Gerichte ge
handhabt. Ihre Werke darüber , welche nicht Staatsgeſebbű
cher ſind, ſondern allerdings an den ſubjectiven Willen und die
Geſinnung gerichtet werden , leſen fich , wie die moraliſchen
Schriften der Stoiker , als eine Reihe von Geboten , welche
zum Ziele der Glückſeligkeit nothwendig ſeyen , ſo daß die Wil
für ihnen gegenüber ſtehend erſcheint, welche ſich zu ſolchen Ge
boten entſchließen , ſie befolgen kann, oder auch nicht; wie denn
die Vorſtellung eines abſtracten Subjects , des Weiſen bei den
chineſiſchen wie bei den ſtoiſchen Moraliſten die Spige ſolcher Leh
ren ausmacht. Auch in der indiſchen Lehre des Aufgebens der
Sinnlichkeit,der Begierden und irdiſchen Intereſſen iſt nicht die affir
mative, fittliche Freiheit das Ziel und Ende, ſondern das Nichts
des Bewußtſeyns, die geiſtige und ſelbſt phyſiſche Lebloſigkeit.
Einleitung. 89

Der concrete Geiſt eines Volkes iſt es , den wir beſtimmt


zu erkennen haben , und weil er Geiſt iſt , läßt er ſich nur
geiſtig , durch den Gedanken , erfaſſen . Er allein iſt es , der in
allen Thaten und Richtungen des Volks ſich hervortreibt , der
ſich zu ſeiner Verwirklichung, zum Selbſtgenuß und Selbſter
faſſen bringt ; denn es iſt ihm um die Production ſeiner ſelbſt
zu thun. Das Höchſte aber für den Geiſt iſt, fich zu wiſſen ,
ſich zur Anſchauung nicht nur, ſondern zum Gedanken ſeiner
ſelbſt zu bringen . Dieß muß und wird er auch vollbringen ,
aber dieſe Volbringung iſt zugleich ſein Untergang und das
Hervortreten eines andern Geiſtes, eines andern welthiſtoriſchen
Volks , einer andern Epoche der Weltgeſchichte. Dieſer Ueber
gang und Zuſammenhang führt uns zum Zuſammenhange des
Ganzen , zum Begriff der Weltgeſchichte als ſolcher , den wir
nun näher zu betrachten , von dem wir eine Vorſtellung zu ges
ben haben .
Die Weltgeſchichte, wiſſen wir, iſt alſo überhaupt die Aus
legung des Geiſtes in der Zeit, wie die Idee als Natur ſich
im Raume auslegt.
Wenn wir nun einen Blick auf die Weltgeſchichte über
haupt werfen , ſo ſehen wir ein ungeheures Gemälde von Ver
änderungen und Thaten , von unendlich mannigfaltigen Geſtal
tungen von Völkern , Staaten , Individuen , in raſtloſer Aufein
anderfolge. Alles was in das Gemüth des Menſchen eintreten
und ihn intereſſiren fann , alle Empfindung des Guten , Schö
nen , Großen , wird in Anſpruch genommen , allenthalben werden
Zwecke gefaßt, betrieben , die wir anerkennen , deren Ausführung
wir wünſchen ; wir hoffen und fürchten für fte. In allen die
ſen Begebenheiten und Zufällen ſehen wir menſchliches Thun
und Leiden oben auf, überall Unſriges und darum überall Nei
gung unſres Intereſſes dafür und dawider. Bald zieht es durch
Schönheit, Freiheit und Reichthum an , bald durch Energie, wo
durch ſelbſt das Laſter fich bedeutend zu machen weiß. Bald
90 Einleitung.

ſehen wir die umfaſſendere Maſſe eines allgemeinen Intereſſes


ſich ſchwerer fortbewegen und einer unendlichen Complerion klei
ner Verhältniſſe preisgegeben und zerſtäuben , dann aus unge
heurem Aufgebot von Kräften Kleines hervorgebracht werden ,
aus unbedeutend Scheinendem Ungeheures hervorgehen – überall
das bunteſte Gedränge, das uns in ſein Intereſſe hineinzieht,
und wenn das Eine entflieht, tritt das Andre ſogleich an ſeine
Stelle.
Der allgemeine Gedanke, die Kategorie, die ſich bei dieſem
ruheloſen Wechſel der Individuen und Völker, die eine Zeit lang
ſind und dann verſchwinden , zunächſt darbietet, iſt die Verän
derung überhaupt. Dieſe Veränderung von ihrer negativen Seite
aufzufaſſen , dazu führt näher der Anblick von den Ruinen einer
vormaligen Herrlichkeit. Welcher Reiſende iſt nicht unter den
Ruinen von Carthago, Palmyra , Perſepolis , Rom zu Betrach
tungen über die Vergänglichkeit der Reiche und Menſchen , zur
Trauer über ein ehemaliges , kraftvolles und reiches Leben ver
anlaßt worden ? – eine Trauer , die nicht bei perſönlichen Ver
luften und der Vergänglichkeit der eigenen Zwecke verweilt , ſon
dern unintereſſirte Trauer über den Untergang glänzenden und
gebildeten Menſchenlebens iſt. – Die nächſte Beſtimmung aber,
welche ſich an die Veränderung anknüpft, iſt, daß die Verän
derung, welche Untergang iſt, zugleich Hervorgehen eines neuen
Lebens iſt, daß aus dem Leben Tod, aber aus dem Tod Leben
hervorgeht. Es iſt dieß ein großer Gedanke, den die Drientalen
erfaßt haben und wohl der höchſte ihrer Metaphyſit. In der
Vorſtellung von der Seelenwanderung iſt er in Beziehung auf
das Individuelle enthalten ; allgemeiner bekannt iſt aber das
Bild des Phönir, von dem Naturleben , das ewig ſich ſelbſt
ſeinen Scheithaufen bereitet und ſich darauf verzehrt , ſo daß
aus ſeiner Aſche ewig das neue, verjüngte, friſche Leben her
vorgeht. Dieß Bild iſt aber nur aſiatiſch , morgenländiſch , nicht
abendländiſch. Der Geiſt,die Hülle ſeiner Eriſtenzverzehrend,wan
Einleitung. 91

dert nicht bloß in eine andere Hülle über , noch fteht er nur
verjüngt aus der Aſche ſeiner Geſtaltung auf, ſondern er geht
erhoben , verklärt, ein reinerer Geiſt aus derſelben hervor. Er
tritt allerdings gegen ſich auf, verzehrt ſein Daſeyn, aber indem
er es verzehrt, verarbeitet er daffelbe , und was ſeine Bildung
iſt, wird zum Material , an dem ſeine Arbeit ihn zu neuer Bil
dung erhebt.
Betrachten wir den Geiſt nach dieſer Seite, daß ſeine Ver
änderungen nicht bloß Uebergänge als Verjüngungen , d. h. Rüd
gänge zu derſelben Geſtalt ſind, ſondern vielmehr Verarbeitun
gen ſeiner ſelbſt, durch welche er den Stoff für ſeine Verſuche
vervielfältigt; ſo ſehen wir ihn nach einer Menge von Seiten
und Richtungen hin fich verſuchen , fich ergehen und genießen ,
in einer Menge, die unerſchöpflich iſt, weil jede ſeiner Schöpfun
gen , in der er ſich befriedigt hat, ihm von neuem als Stoff
gegenübertritt und eine neue Anforderung der Verarbeitung ift.
Der abſtracte Gedanke bloßer Veränderung verwandelt ſich in
den Gedanken des ſeine Kräfte nach allen Seiten ſeiner Fülle
kundgebenden , entwickelnden und ausbildenden Geiſtes. Welche
Kräfte er in ſich beſize, erfahren wir aus der Mannigfaltigkeit
ſeiner Producte und Bildungen . Er hat es in dieſer Luft ſeis
ner Thätigkeit nur mit ſich zu thun. Zwar verwickelt mit der
Naturbedingung , der innern und äußern , wird er an ihr nicht
nur Widerſtand und Hinderniſſe antreffen , ſondern durch ſie auch
ſeine Verſuche oft mißlingen ſehen und den Verwicklungen , in die
er durch ſie oder durch ſich verſeßt wird , oft unterliegen . Aber
er geht ſo in ſeinem Berufe und in ſeiner Wirkſamkeit unter,
und gewährt auch ſo noch das Schauſpiel, als geiſtige Thätig
keit ſich bewieſen zu haben .
Der Geiſt handelt weſentlich, er macht ſich zu dem , was
er an fich iſt, zu ſeiner That, zu ſeinem Werk ; ſo wird er ſich
Gegenſtand, ſo hat er ſich als ein Daſeyn vor ſich. So der
Geiſt eines Volks : er iſt ein beſtimmter Geiſt, der ſich zu einer
92 Einleitung .

vorhandenen Welt erbaut, die feft ſteht und beſteht, in ſeiner


Religion , in ſeinem Cultus, in ſeinen Gebräuchen , ſeiner Verfaf
fung und ſeinen politiſchen Gefeßen , im ganzen Umfang ſeiner
Einrichtungen , in ſeinen Begebenheiten und Thaten . Das iſt
ſein Werk – das iſt dieß Volk. Was ihre Thaten ſind , das
find die Völker. Ein jeder Engländer wird ſagen : Wir find
die, welche den Ocean beſchiffen , und den Welthandel beſigen ,
denen Oſtindien gehört und ſeine Reichthümer , welche Parla
ment und Geſchwornengerichte. haben u. f. F. – Das Verhält
niß des Individuums dazu iſt, daß es ſich dieſes ſubſtantielle
Seyn aneigne , daß dieſes ſeine Sinnesart und Geſchicklichkeit
werde, auf daß es Etwas ſen . Denn es findet das Seyn des
Volks als eine bereits fertige, feſte Welt vor fich , der es fich
einzuverleiben hat. In dieſem ſeinem Werke , feiner Welt ge
nießt ſich nun der Geiſt des Volfs und iſt befriedigt. — Das
Volk iſt fittlich , tugendhaft, kräftig , indem es das hervorbringt.
was es will , und es vertheidigt ſein Werk gegen äußere Ge
walt in der Arbeit ſeiner Objectivirung. Der Zwieſpalt deſſen ,
was es an fich iſt, ſubjectiv , in ſeinem innern Zweck und We
ſen , und was es wirklich iſt, iſt gehoben ; es iſt bei fich , es
hat fich gegenſtändlich vor ſich. Aber ſo iſt dieſe Thätigkeit
des Geiſtes nicht mehr nöthig ; er hat , was er will. Das
Volk kann noch viel thun in Krieg und Frieden , im Innern
und Aeußern ; aber es iſt gleichſam die lebendige, ſubſtantielle
Seele ſelbſt nicht mehr in Thätigkeit. Das gründliche , höchſte
Intereſſe hat ſich darum aus dem Leben verloren ; denn Intereſſe
iſt nur vorhanden , wo Gegenſaß iſt. Das Volk lebt ſo , wie
das vom Manne zum Greiſenalter übergehende Individuum , im
Genuſſe ſeiner ſelbſt, das gerade zu ſeyn , was es wollte und
erreichen konnte. Wenn ſeine Einbildung auch darüber hinaus
ging, ſo hat es dieſelbe als Zweck aufgegeben , wenn die Wirk
lichkeit ſich nicht dazu darbot, und den Zweck nach dieſer be
ſchränkt. Dieſe Gewohnheit (die Uhr iſt aufgezogen und geht
Einleitung. 93
von ſelbſt fort) iſt, was den natürlichen Tod herbeiführt. Die
Gewohnheit iſt ein gegenſaßloſes Thun , dem nur die formelle
Dauer übrig ſeyn kann und in der die Fülle und Tiefe des
Zweds nicht mehr zur Sprache zu kommen braucht – eine
gleichſam äußerliche, ſinnliche Eriſtenz, die ſich nicht mehr in die
Sache vertieft. So ſterben Individuen , ſo ſterben Völker eines
natürlichen Todes ; wenn leştere auch fortdauern , ſo iſt eine in
terefſeloſe, unlebendige Eriſtenz, die ohne das Bedürfniß ihrer
Inſtitutionen iſt, eben weil das Bedürfniß befriedigt iſt -
eine politiſche Nullität und Langeweile. Wenn ein wahrhaft
allgemeines Intereſſe entſtehen ſollte , ſo müßte der Geiſt
eines Volkes dazu fommen , etwas Neues zu wollen , – aber
woher dieſes Neue? es wäre eine höhere, allgemeinere Vor
ſtellung ſeiner felbft, ein Hinausgegangenſeyn über ſein Prin
cip , – aber eben damit iſt ein weiter beſtimmtes Princip , ein
neuer Geiſt vorhanden .
Ein ſolches Neues kommt dann allerdings auch in den
Geiſt eines Volkes, der zu ſeiner Vollendung und Verwirklichung
gekommen iſt; er ſtirbt nicht bloß natürlichen Todes , denn er iſt
nicht bloß einzelnes Individuum , ſondern geiſtiges , allgemeines
Leben ; an ihm erſcheint vielmehr der natürliche Tod als Töd
tung ſeiner durch ſich ſelbſt. Der Grund, warum dies verſchie
den iſt vom einzelnen , natürlichen Individuum , iſt, weil der
Volksgeiſt als eine Gattung eriſtirt, daher das Negative ſeiner
in ihm ſelbſt, in ſeiner Augemeinheit zur Eriſtenz kommt. Ge
waltſamen Todes kann ein Volk nur ſterben , wenn es natür
lich todt in fich geworden , wie 8. B . die deutſchen Reichsſtädte,
die deutſche Reichsverfaſſung.
Der allgemeine Geiſt ſtirbt überhaupt nicht bloß natürlichen
Todes , er geht nicht nur in die Gewohnheit ſeines Lebens ein ,
ſondern inſofern er ein Volksgeiſt iſt, welcher der Weltgeſchichte
angehört, ſo kommt er auch dazu zu wiſſen , was ſein Werk iſt und
dazu , ſich zu denken . Er iſt überhaupt nur welthiſtoriſch , inſo
94 Einleitung

fern in ſeinem Grundelemente, in ſeinem Grundzweck ein allges


meines Princip gelegen hat; nur inſofern iſt das Werf , wels
ches ein ſolcher Geiſt hervorbringt – eine ſittliche , politiſche
Organiſation . Sind eg Begierden , welche Völker zu Handluns
gen treiben , ſo gehen ſolche Thaten ſpurlos vorüber , oder ihre
Spuren ſind vielmehr nur Verderben und Zerſtörung. So hat
zuerſt Chronos, die Zeit geherrſcht, – das goldene Zeitalter,
ohne ſittliche Werke, und was erzeugt worden iſt, die Kinder
dieſer Zeit, ſind von ihr ſelbſt aufgezehrt worden . Erſt Jupiter,
der aus ſeinem Haupt die Minerva geboren , und zu deſſen
Kreiſe Apollo nebſt den Muſen gehört , hat die Zeit bezwungen
und ihrem Vergehen ein Ziel geſeßt. Er iſt der politiſche Gott,
der ein ſittliches Werk, den Staat, hervorgebracht hat.
: Im Elemente eines Werks iſt ſelbſt die Beſtimmung der
Algemeinheit, des Denkens enthalten ; ohne den Gedanken hat
es keine Objectivität, er iſt die Baſis . Der höchſte Punkt der
Bildung eines Volks iſt nun dieſer, auch den Gedanken ſeines
Lebens und Zuſtandes , die Wiſſenſchaft ſeiner Gefeße, ſeines
Rechts und Sittlichkeit zu faſſen ; denn in dieſer Einheit liegt
die innerſte Einheit, in der der Geiſt mit fich feyn kann. Es
ift ihm in ſeinem Werke darum zu thun , ſich als Gegenſtand
zu haben ; fich aber als Gegenſtand in ſeiner Weſenhaftigkeit
hat der Geiſt nur, indem er ſich denkt.
Auf dieſem Punkt weiß alſo der Geiſt ſeine Grundfäße,
das Allgemeine feiner Handlungen . Dieſes Werk des Denkens
aber iſt als das Augemeine verſchieden zugleich der Form nach
von dem wirklichen Werk und von dem wirkſamen leben , wo
durch dieſes Werf zu Stande gekommen . Es giebt jeßt ein rea
les Daſeyn und ein ideales . Wenn wir die allgemeine Vor
ſtellung und den Gedanken deſſen , was die Griechen geweſen
ſind , gewinnen wollen , ſo finden wir dieß im Sophokles und
Ariſtophanes, im Thucydides und Plato. In dieſen Individuen
hat der griechiſche Geiſt ſich ſelbſt vorſtellend und denkend ge
Einleitung . 95
faßt. Dies iſt die tiefere Befriedigung ; aber ſie iſt zugleich
ideell und unterſchieden von der reellen Wirkſamkeit.
Wir ſehen darum nothwendig in ſolcher Zeit ein Volf
eine Befriedigung in der Vorſtellung von der Tugend finden ,
und das Gerede von der Tugend fich theils neben die wirkliche
Tugend, theils aber auch an die Stelle von deren Wirklichkeit
feßen . Der einfache , allgemeine Gedanke weiß aber , weil er,
das Augemeine iſt, das Beſondre und Unreflectirte, – den
Glauben , das Zutrauen , die Sitte – zur Reflerion über ſich
und über ſeine Unmittelbarkeit zu bringen , und zeigt daſſelbe
dem Inhalte nach in ſeiner Beſchränktheit auf, indem er theils
Gründe an die Hand giebt , ſich von den Pflichten loszuſagen ,
theils überhaupt nach Gründen und nach dem Zuſammenhang
mit dem allgemeinen Gedanken fragt, und ſolchen nicht fin
dend, die Pflicht überhaupt als unbegründet wankend zu machen
ſucht.
Damit tritt zugleich die Iſolirung der Individuen von ein
ander und vom Ganzen ein , die einbrechende Eigenſucht derſel
ben und Eitelkeit, das Suchen des eigenen Vortheils und Befrie
digung deſſelben auf Koſten des Ganzen : nämlich , jenes fich
abſondernde Innere iſt auch in Form der Subjectivität, - die
Eigenſucht und das Verderben in den losgebundenen Leidenſchaf
ten und eigenen Intereſſen der Menſchen .
So iſt denn auch Zeus, der dem Verſchlingen der Zeit ein
Ziel geſegt und dieß Vorübergehen fiſtirt hat, indem er ein in
ſich Feſtes begründet hat – Zeus und ſein Geſchlecht ſelbſt
verſchlungen worden und zwar ebenſo von dem Erzeugenden ,
nämlich dem Principe des Gedankens, der Erkenntniß, des Rai
ſonnement, der Einſicht aus Gründen und der Forderung von
Gründen .
Die Zeit iſt das Negative im Sinnlichen : der Gedanke ift
dieſelbe Negativität, aber die innerſte, die unendliche Form ſelbſt,
in welcher daher alles Seyende überhaupt aufgelöſt wird, -
96 Einleitung .

zunächſt das endliche Seyn , die beſtimmte Geſtalt ; aber das


Seyende überhaupt iſt als Gegenſtändliches beſtimmt, erſcheint
darum als Gegebenes , Unmittelbares , Autorität , und iſt ent
weder dem Inhalte nach als endlich und beſchränkt, oder als
Schranke für das denkende Subject und die unendliche Reflerion
deſſelben in fich.
Zunächſt aber iſt bemerklich zu machen , wie das Leben ,
das aus dem Tode hervorgeht , ſelbſt nur wieder ein einzelnes
Leben iſt, und wenn die Gattung als das Subſtantielle in dies
ſem Weihſel angeſehen wird , ſo iſt der Untergang des Einzel
nen ein Wiederabfallen der Gattung in die Einzelheit. Die Er
haltung der Gattung iſt ſo nur als die gleichförmige Wiederho
lung derſelben Weiſe der Eriſtenz. Ferner iſt zu bemerken , wie
die Erkenntniß, die denkende Auffaſſung des Seyns, die Quelle
und Geburtsſtätte einer neuen Geſtalt iſt, und zwar einer hö
heren Geſtalt in einem theils erhaltenden , theils verklärenden
Princip. Denn der Gedanke iſt das Augemeine, die Gattung,
die nicht ſtirbt, die ſich ſelbſt gleichbleibt. Die beſtimmte Geſtalt '
des Geiftes geht nicht bloß natürlich in der Zeit vorüber , ſon
dern wird in der ſelbſtwirkenden , ſelbſtbewußten Thätigkeit des
Selbſtbewußtſeyns aufgehoben . Weil dieß Aufheben Thätigkeit
des Gedankens iſt, iſt es zugleich Erhalten und Verklären . –
Indem ſomit der Geiſt einerſeits die Realität, das Beſtehen def
ſen , was er iſt,beaufhebt,
r r n gewinnt erterzugleich
t s Beren ,, den
das Weſen
r
su Augemeine
Das ,Redas
Gedanken unmi, was er
das netdeſſen u war. Sein
er nnur
Princip iſt nicht mehr dieſer unmittelbare Inhalt und Zweck,
wie er war , ſondern das Weſen deſſelben .
Das Reſultat dieſes Ganges iſt alſo , daß der Geiſt, in
dem er fich objectivirt und dieſes ſein Seyn denkt, einerſeits die
Beſtimmtheit ſeines Seyns zerſtört, andrerſeits das Augemeine
deſſelben erfaßt, und dadurch ſeinem Princip eine neue Beſtim
mung giebt. Hiermit hat ſich die ſubſtantielle Beſtimmtheit die
Einleitung. 97

res Volksgeiſtes geändert , d. i. ſein Princip iſt in ein anderes


und zwar höheres Princip aufgegangen .
Es iſt das Wichtigſte im Auffaſſen und Begreifen der Ge
ſchichte , den Gedanken dieſes Uebergangs zu haben und zu fen
nen . Ein Individuum durchläuft als Eines verſchiedene Bil
dungsſtufen und bleibt daſſelbe Individuum ; ebenſo auch ein
Volf, bis zu der Stufe, welche die allgemeine Stufe ſeines Gei
ſtes iſt. In dieſem Punkt liegt die innere, die Begriffs - Noth
wendigkeit der Veränderung. Das iſt die Seele, das Ausge
zeichnete in dem philoſophiſchen Auffaſſen der Geſchichte.
Der Geiſt iſt weſentlich Reſultat ſeiner Thätigkeit: ſeine
Thätigkeit iſt Hinausgehen über die Unmittelbarkeit, das Negiren
derſelben und Rückkehr in fich . Wir können ihn mit dem Sa
men vergleichen ; denn mit dieſem fängt die Pflanze an, aber er.
iſt auch Reſultat des ganzen Lebens derſelben . Die Ohnmacht
des Lebens zeigt ſich aber darin , daß, was anfängt und was
Reſultat iſt , auseinanderfallen . So auch im Leben der Indi
viduien und Völker. Das Leben eines Volks bringt eine Frucht
zur Reife ; denn ſeine Thätigkeit geht dahin , fein Princip zu
vollführen . Dieſe Frucht fällt aber nicht in den Schooß des
Volfs zurück , das ſie ausgeboren und gezeitigt hat ; im Gegen
theil ſie wird ihm ein bittrer Trank. Laſſen kann es nicht von
ihm , denn es hat den unendlichen Durſt nach demſelben , aber
das Koſten des Tranks iſt ſeine Vernichtung, doch zugleich das
Aufgehen eines neuen Princips.
Ueber den Endzweck dieſes Fortſchreitens haben wir uns
oben erklärt. Die Principien der Volksgeiſter in einer noth
wendigen Stufenfolge ſind ſelbſt nur Momente des Einen allge
meinen Geiſtes, der durch ſie in der Geſchichte ſich zu einer ſich .
erfaſſenden Totalität erhebt und abſchließt.
Indem wir es alſo nur mit der Idee des Geiftes zu thun
haben , und in der Weltgeſchichte Alles nur als ſeine Erſchei
nung betrachten , ſo haben wir , wenn wir die Vergangenheit,
Philoſophie d. Geſwidte. 3. Aufl.
98 Einleitun .
g
wie groß ſie auch immer fer , durchlaufen , es nur mit Gegen
wärtigem zu thun ; denn die Philoſophie, als ſich mit dem
Wahren beſchäftigend, hat es mit ewig Gegenwärtigem zu thun .
Alles iſt ihr in der Vergangenheit unverloren , denn die Idee
iſt präſent, der Geiſt unſterblich d . h. er iſt nicht vorbei und
iſt nicht noch nicht, ſondern iſt weſentlich ißt. So iſt hiemit
ſchon geſagt, daß die gegenwärtige Geſtalt des Geiſtes alle frü
heren Stufen in fich begreift. Dieſe haben ſich zwar als ſelbſt
ſtändig nach einander ausgebildet; was aber der Geiſt iſt , iſt
er an ſich immer geweſen , der Unterſchied iſt nur die Entwicke
lung dieſes Anſich . Das Leben des gegenwärtigen Geiſtes iſt
ein Kreislauf von Stufen , die einerſeits noch nebeneinander be
ſtehen , und nur andrerſeits als vergangen erſcheinen . Die Mo
mente, die der Geiſt hinter ſich zu haben ſcheint, hat er auch in
ſeiner gegenwärtigen Tiefe. —

Geographiſche Grundlage der Weltgeſchichte.


Gegen die Algemeinheit des ſittlichen Ganzen und ſeine
einzelne handelnde Individualität gehalten iſt der Naturzuſam
menhang des Volksgeiſtes ein Aeußerliches , aber inſofern wir
ihn als Boden , auf welchem fich der Geiſt bewegt, betrachten
müſſen , iſt er weſentlich und nothwendig eine Grundlage. Wir
gingen von der Behauptung aus , daß in der Weltgeſchichte die
Idee des Geiſtes in der Wirklichkeit, als eine Reihe äußerlicher
Geſtalten erſcheint, deren jede fich als wirklich exiſtirendes Volk
kund giebt. Die Seite dieſer Eriſtenz fällt aber ſowohl in die
Zeit als in den Raum , in der Weiſe natürlichen Seyns , und
das beſondere Princip , das jedes welthiſtoriſche Volk an fich
trägt, hat es zugleich als Naturbeſtimmtheit in fich. Der Geiſt,
Geographiſche Grundlage der Weltgeſchichte. 99

der ſich in dieſe Weiſe der Natürlichkeit kleidet, läßt ſeine beſons
deren Geſtaltungen auseinander fallen , denn das Auseinander
iſt die Form der Natürlichkeit. Dieſe Naturunterſchiede müflen
nun zuvörderſt auch als beſondere Möglichkeiten angeſehen wer
den , aus welchen ſich der Geiſt hervortreibt , und geben ſo die
geographiſche Grundlage. Es iſt uns nicht darum zu thun , den
Boden als äußeres Local kennen zu lernen , ſondern den Natur
typus der Localität, welcher genau zuſammenhängt mit dem
Typus und Charakter des Volfs , das der Sohn ſolchen Bo
dens iſt. Dieſer Charakter iſt eben die Art und Weiſe, wie die
Völker in der Weltgeſchichte auftreten , und Stellung und Plaß
in derſelben einnehmen. – Die Natur darf nicht zu hoch und
nicht zu niedrig angeſchlagen werden ; der milde joniſche Him
mel hat ſicherlich viel zur Anmuth der homeriſchen Gedichte beis :
getragen , doch kann er allein keine Homere erzeugen ; auch er
zeugt er ſie nicht immer; unter türkiſcher Botmäßigkeit erhoben
ſich keine Sänger. Zunächſt iſt hier nun auf die Natürlichkeiten
Rüdſicht zu nehmen , die ein für allemal von der weltgeſchicht
lichen Bewegung auszuſchließen wären : in der kalten und in der
heißen Zone fann der Boden weltgeſchichtlicher Völker nicht ſeyn.
Denn das erwachende Bewußtſeyn iſt anfänglich nur in der Na
tur, und jede Entwiclung deſſelben iſt die Reflerion des Gei
ftes in ſich , gegen die natürliche Unmittelbarkeit. In dieſe Be:
ſonderung fällt nun das Moment der Natur mit hinein ; fie iſt
der erſte Standpunkt, aus dem der Menſch eine Freiheit in fich
gewinnen kann , und dieſe Befreiung muß nicht durch die natür
liche Macht erſchwert werden . Die Natur iſt gegen den Geiſt
gehalten ein Quantitatives , deſſen Gewalt nicht ſo groß ſeyn
muß, fich allein als allmächtig zu feßen . In den äußerſten Z0
nen kann der Menſch zu keiner freien Bewegung kommen , Kälte
und Hiße ſind hier zu mächtige Gewalten , als daß ſie dem Geiſt
erlaubten , für ſich eine Welt zu erbauen . Ariſtoteles ſagt ſchon :
wenn die Noth des Bedürfniſſes befriedigt iſt, wendet ſich der
7 *
100 Einleitung.

Menſch zum Augemeinen und Höheren . Aber in jenem Ertrem


der Zonen kann die Noth wohl nie aufhören , und niemals ab
gewendet werden : der Menſch iſt beſtändig darauf angewieſen ,
ſeine Aufmerkſamkeit auf die Natur zu richten , auf die glühenden
Strahlen der Sonne, und den eiſigen Froſt. Der wahre Schau
plaß für die Weltgeſchichte iſt daher die gemäßigte Zone, und
zwar iſt es der nördliche Theil derſelben , weil die Erde ſich hier
continental verhält, und eine breite Bruſt hat, wie die Griechen
ſagen . Im Süden dagegen vertheilt ſie ſich und läuft in man :
nigfache Spißen auseinander. Daſſelbe Moment zeigt ſich in
den Naturproduften . Der Norden hat ſehr viele Gattungen von
Thieren und Pflanzen gemeinſchaftlich ; im Süden , wo das Land
fich in Spißen theilt, da individualiſiren ſich auch die Naturges
ſtalten gegen einander.
Die Welt wird in die alte und neue getheilt, und zwar
iſt der Namen der neuen daher gekommen , weil Amerika und
Auſtralien uns erſt ſpåt bekannt geworden ſind. Aber dieſe Welt
theile ſind nicht nur relativ neu , ſondern überhaupt neu , in An
ſehung ihrer ganzen phyſiſchen und geiſtigen Beſchaffenheit. Ihr
geologiſches Alterthum geht uns nichts an. Ich will ihr die
Ehre nicht abſprechen , daß ſie nicht auch gleich bei Erſchaffung
der Welt dem Meere enthoben worden ſey. Doch zeigt das In
felmeer zwiſchen Südamerika und Aſien eine phyſiſche Unreife ;
der größte Theil der Inſeln iſt ſo beſchaffen , daß ſie gleichſam
nur eine Erdbedeckung für Felſen ſind , die aus der bodenloſen
Tiefe heraustauchen und den Charakter eines ſpät Entſtandenen
tragen . Eine nicht mindere geographiſche Unreife zeigt Neuhols
land ; denn wenn man hier von den Beſißungen der Engländer
aus tiefer ins Land geht, ſo entdeckt man ungeheure Ströme, die
noch nicht dazu gekommen ſind, fich ein Bett zu graben, ſondern
in Schilfebenen ausgehen . Von Amerika und ſeiner Cultur, na
mentlich in Merifo und Peru , haben wir zwar Nachrichten , aber
bloß die, daß dieſelbe eine ganz natürliche war, die untergehen
Geographiſche Grundlage der Weltgeſõidute. 101
mußte , ſowie der Geiſt ſich ihr näherte. Phyſiſch und geiſtig
ohnmächtig hat ſich Amerika immer gezeigt und zeigt ſich noch
ſo. Denn die Eingebornen ſind, nachdem die Europäer in Ame
rifa landeten , allmälig an dem Hauche der europäiſchen Tha
tigkeit untergegangen . In den nordamerikaniſchen Freiſtaaten
ſind alle Bürger europäiſche Abkömmlinge , mit denen ſich die
alten Einwohner nichtvermiſchen konnten , ſondern zurücgedrängt
wurden . Einige Künſte haben die Eingebornen allerdings von
den Europäern angenommen , unter anderen die des Branntwein
trinkens, die eine zerſtörende Wirkung auf ſie hervorbrachte. Im
Süden wurden die Eingebornen viel gewaltthätiger behandelt,
und zu harten Dienſten verwendet, denen ihre Kräfte wenig ge
wachſen waren . Sanftmuth und Triebloſigkeit, Demuth und
friechende Unterwürfigkeit gegen einen Creolen und mehr noch
gegen einen Europäer ſind dort der Hauptcharakter der Ameri
kaner, und es wird noch lange dauern , bis die Europäer dahin
kommen , einiges Selbſtgefühl in ſie zu bringen . Die Inferiori
tät dieſer Individuen in jeder Rückſicht, ſelbſt in Hinſicht der
Größe, giebt ſich in Alem zu erkennen ; nur die ganz ſüdlichen
Stämme in Patagonien ſind fräftigere Naturen , aber noch ganz
in dem natürlichen Zuſtande der Rohheit und Wildheit. Als
die Jeſuiten und die katholiſche Geiſtlichkeit die Indianer an eu
ropäiſche Cultur und Sitten gewöhnen wollten (bekanntlich ha
ben ſie einen Staat in Paraguay, Klöſter in Merifo und Ca
lifornien gegründet), begaben ſie ſich unter ſie, und ſchrieben ihnen ,
wie Unmündigen , die Geſchäfte des Tages vor, die ſie fich auch ,
wie träge ſie auch ſonſt waren , von der Autorität der Väter
gefallen ließen . Dieſe Vorſchriften (Mitternachts mußte eine
Glocke ſie ſogar an-ihre ehelichen Pflichten erinnern ) haben ganz
richtig zunächſt zur Erweđung von Bedürfniſſen geführt, den
Triebfedern der Thätigkeit des Menſchen überhaupt. Die
Schwäche des amerikaniſchen Naturells war ein Hauptgrund
dazu , die Neger nach Amerika zu bringen , um durch deren Kräfte
102 Einleitung.

die Arbeiten verrichten zu laſſen ; denn die Neger ſind weit em


pfänglicher für europäiſche Cultur, als die Indianer , und ein
engliſcher Reiſender hat Beiſpiele angeführt, daß Neger geſchickte
Geiſtliche, Aerzte u . ſ. w . geworden ſind (ein Neger hat zuerſt
die Anwendung der Chinarinde gefunden ), während ihm nur ein
einziger Eingeborner bekannt iſt, der es dahin brachte, zu ftudis
ren , aber bald am Uebergenufle des Branntweins geſtorben war.
Zu der Schwäche der amerikaniſchen Menſchenorganiſation geſellt
fich dann noch der Mangel der abſoluten Organe, wodurch eine
gegründete Macht herbeizuführen iſt, der Mangel nämlich des
Pferdes und des Eiſens, Mittel, wodurch beſonders die Ames
rikaner beſiegt wurden .
Da nun die urſprüngliche Nation geſchwunden, oder ſo gui
wie geſchwunden iſt, ſo kommt die wirkſame Bevölkerung meiſt
von Europa her, und was in Amerika geſchieht, geht von Eu
ropa aus. Europa warf ſeinen Ueberfluß nach Amerika hinüber,
ungefähr, wie aus den Reichsſtädten , wo das Gewerbe vor
herrſchend war und fich verſteinerte , Viele in andere Städte
entflohen , die einen ſolchen Zwang nicht hatten , und wo die Laft
der Abgaben nicht ſo ſchwer war. So entſtand neben Ham
burg Altona , neben Frankfurt Offenbach , Fürth bei Nürnberg ,
Carouge neben Genf. In gleicher Weiſe verhält ſich Nordames
rifa zu Europa. Viele Engländer haben ſich daſelbſt feſtgeſeßt,
wo Laſten und Abgaben fortfallen , und wo die Anhäufung eu
ropäiſcher Mittel und europäiſcher Geſchidlichkeit fähig waren ,
dem großen noch brach liegenden Boden etwas abzugewinnen .
In der That bietet dieſe Auswanderung viele Vortheile dar, denn
die Auswandernden haben Vieles abgeſtreift, was ihnen in der
Heimath beengend ſeyn konnte, und bringen den Schaß des eu
ropäiſchen Selbſtgefühles und der Geſchidlichkeiten mit; und für
die , welche anſtrengend arbeiten wollen , und in Europa die
Quellen dazu nicht fanden , iſt in Amerika allerdings ein Schau:
plaß eröffnet.
Geographiſche Grundlage der Weltgeſchichte. 103

Amerika iſt bekanntlich in zwei Cheile getrennt, die zwar


durch eine Landenge zuſammenhängen , doch, ohne daß dieſe auch
einen Zuſammenhang des Verkehrs vermittelte. Beide Theile
ſind vielmehr aufs beſtimmteſte geſchieden . — Nordamerika
zeigt uns zuerſt längs ſeiner öſtlichen Küſte einen breiten Küſten
ſaum , hinter dem ein Gebirgszug – die bļauen Gebirge oder
die Apalachen , nördlicher die Alleganen — ſich erſtreckt. Ströme,
die von da ausgehen , bewäſſern die Küſtenländer , welche von
der vortheilhafteſten Beſchaffenheit ſind für die Nordamerikaniſchen
Freiſtaaten , die ſich hier urſprünglich gebildet haben . Hinter
jenem Gebirgszug fließt im Zuſammenhang mit ungeheuren
Seen der Lorenzſtrom von Süden nach Norden , an welchem die
nördlichen Colonien von Canada liegen . Weiter weſtlich treffen
wir auf das Baſſin des ungeheuren Miſſiſſipi mit den Strom
gebieten des Miſſuri und des Ohio, die er aufnimmt und ſich
dann in den Merikaniſchen Meerbuſen ergießt. Auf der weſt
lichen Seite dieſes Gebietes iſt ebenſo wieder ein langer Gebirgs
zug, der ſich durch Merito und die Meerenge von Panama hin
durchzieht und unter dem Namen der Andes oder Cordillera die
ganze Weſtſeite von Südamerika abſcheidet. Der dadurch ge.
bildete Küſtenſaum iſt ſchmaler und bietet weniger Vortheile dar,
als jener von Nordamerika. Es liegen da Peru und Chili.
Auf der Oſtſeite fließen gen Often die ungeheuren Ströme des
Orinoko und des Amazonenſtroms : ſie bilden große Thäler, die
aber nicht zu Culturländern geeignet ſind, da ſie vielmehr nur
weite Steppen ſind. Gegen Süden fließt der Nio de la Plata,
deſſen Zuflüſſe ihren Urſprung zum Theil in den Cordilleren ,
zum Theil in dem nördlichen Gebirgsrüden haben, der das Ge
biet des Amazonenſtroms von dem ſeinigen ſcheidet. - Zum Ge
biete des Rio de la Plata gehört Braſilien , und die ſpaniſchen
Republiken . Columbien iſt das nördliche Küſtenland von Süd
amerika, in deſſen Weſten längs der Anden der Magdalenenſtrom
ſich in das Caraibiſche Meer ergießt. –
104 Einleitung .

Mit Ausnahme von Braſilien find in Südamerika allge


mein Republifen , wie in Nordamerika entſtanden . Vergleichen
wir nun Südamerika, indem wir dazu auch Merifo rechnen , mit
Nordamerika , ſo werden wir einen erſtaunlichen Contraſt wahr
nehmen .
Jn Nordamerika ſehen wir das Gedeihen , ſowohl durch ein
Zunehmen von Induſtrie und Bevölkerung, durch bürgerliche
Ordnung und eine feſte Freiheit: die ganze Föderation macht nur
einen Staat aus, und hat ihre politiſchen Mittelpunkte. Dages
gen beruhen in Südamerifa die Republiken nur auf militäriſcher
Gewalt, die ganze Geſchichte iſt ein fortdauernder Umſturz: fö
dericte Staaten fallen auseinander , andere verbinden ſich wieder,
und alle dieſe Veränderungen werden durch militäriſche Revolu :
tionen begründet. Die näheren Unterſchiede beider Theile Ames
rifa’s zeigen uns zwei entgegengeſepte Richtungen : der eine Punkt
iſt der politiſche, der andere die Religion . Südamerika ,wo die
Spanier fich niederließen und die Oberherrſchaft behaupteten , iſt
katholiſch, Nordamerika , obgleich ein Land der Sekten überhaupt,
doch den Grundzügen nach proteſtantiſch . Eine weitere Abwei
chung iſt die, daß Südamerika erobert, Nordamerika aber colo- .
niſirt worden iſt. Die Spanier bemächtigten ſich Südamerika 's ,
um zu herrſchen und reich , ſowohl durch politiſche Aemter als
Erpreſſungen , zu werden . Von einem ſehr entfernten Mutter
lande abhängend fand ihre Wilfür einen größeren Spielraum ,
und durch Macht, Geſchicklichkeit und Selbſtgefühl gewannen ſie
ein großes Uebergewicht über die Indianer.' Die nordamerifa
niſchen Freiſtaaten ſind dagegen ganz von Europäern coloni
firt worden . Da in England Puritaner, Episkopalen und Ka
tholifen in beſtändigem Widerſtreit begriffen waren , und bald die
Einen , bald die Anderen die Oberhand hatten , wanderten Viele
aus, um in einem fremden Welttheile die Freiheit der Religion
zu ſuchen . Es waren induſtriöſe Europäer, die ſich des Ader :
baus , des Tabaks und Baumwollenbaus u . ſ. w . befleißigten .
Geographiſche Grundlage der Weltgeſchichte. 105
Bald trat eine allgemeine Richtung auf die Arbeit ein, und die
Subſtanz des Ganzen waren die Bedürfniſſe , die Ruhe, die
bürgerliche Gerechtigkeit, Sicherheit, Freiheit , und ein Gemeins
weſen , das von den Atomen der Individuen ausging, ſo daß
der Staatnur ein Aeußerliches zum Schuße des Eigenthums war.
Von der proteſtantiſchen Religion ging das Zutrauen der Indis
viduen gegen einander aus, das Vertrauen auf ihre Geſinnung,
denn in der proteſtantiſchen Kirche ſind die religiöſen Werke das
ganze Leben , die Thätigkeit deſſelben überhaupt. Dagegen kann
bei den Katholiken die Grundlage eines ſolchen Zutrauens nicht
Statt finden , denn in weltlichen Angelegenheiten herrſcht nur
die Gewalt und freiwillige Unterworfenheit, und die Formen , die
man hier Conſtitutionen nennt, ſind nur eine Nothhülfe und
ſchüßen gegen Mißtrauen nicht.
Vergleichen wir Nordamerika noch mit Europa , ſo finden
wir dort das perennirende Beiſpiel einer republifaniſchen Verfaſ
ſung. Die ſubjective Einheit iſt vorhanden , denn es ſteht ein
Präſident an der Spiße des Staates, der zur Sicherheit gegen
etwaigen monarchiſchen Ehrgeiz nur auf vier Jahre gewählt wird .
Allgemeiner Schuß des Eigenthums und beinahe Abgabenloſigkeit
find Thatſachen , die beſtändig angeprieſen werden . Damit iſt
zugleich der Grundcharakter angegeben , welcher in der Richtung
des Privatmanns auf Erwerb und Gewinn beſteht, in dem
Ueberwiegen des particularen Intereſſes, das ſich dem Allgemei
nen nur zum Behufe des eigenen Genuſſes zuwendet. Es finden
allerdings rechtliche Zuſtände, ein formelles Rechtsgeſeß Statt,
aber dieſe Rechtlichkeit iſt ohne Rechtſchaffenheit, und ſo ſtehen
denn die amerikaniſchen Kaufleute in dem üblen Rufe, durch das
Recht geſchüßt zu betrügen . Wenn einerſeits die proteſtanti
ſche Kirche das Weſentliche des Zutrauens hervorruft, wie wir
ſchon geſagt haben , ſo enthält ſie andererſeits eben dadurch
das Gelten des Gefühlsmoments , das in das mannigfaltigſte
Belieben übergehen darf. Jeder, ſagt man von dieſem Stands
106 Einleitung
punkte, könne eine eigene Weltanſchauung, alſo auch eine eigene
Religion haben . Daher das Zerfallen in ſo viele Sekten , die
fich bis zum Ertreme der Verrücktheit ſteigern , und deren viele
einen Gottesdienft haben, der fich in Verzückungen und mitunter
in den ſinnlichften Ausgelaſſenheiten fund giebt. Dieſes gänzliche
Belieben iſt ſo ausgebildet, daß die verſchiedenen Gemeinden fich
Geiſtliche annehmen , und ebenſo wieder fortſchicken , wie es ihnen
gefällt: denn die Kirche iſt nicht ein an und für ſich Beſtehen
des , die eine ſubſtantielle Geiſtigkeit und äußere Einrichtung
hätte , ſondern das Religiöſe wird nach beſonderem Gutdünken
zurecht gemacht. In Nordamerika herrſcht die ungebändigtſte
Wildheit aller Einbildungen , und es fehlt jene religiöſe Einheit,
die fich in den europäiſchen Staaten erhalten hat, wo die Ab
weichungen ſich nur auf wenige Confeffionen beſchränken . Was
nun das Politiſche in Nordamerika betrifft, ſo iſt der allgemeine
Zweck noch nicht als etwas Feſtes für ſich gefeßt, und das Be
dürfniß eines feſten Zuſammenhaltens iſt noch nicht vorhanden ,
denn ein wirklicher Staat und eine wirkliche Staatsregierung ent
ſtehen nur, wenn bereits ein Unterſchied der Stände da iſt, wenn
Reichthum und Armuth ſehr groß werden und ein ſolches Ver
hältniß eintritt, daß eine große Menge ihre Bedürfniſſe nicht
mehr auf eine Weiſe, wie ſie es gewohnt iſt, befriedigen kann .
Aber Amerika geht dieſer Spannung noch nicht entgegen , denn
es hat unaufhörlich den Ausweg der Coloniſation in hohem
Grade offen , und es ſtrömen beſtändig eine Menge Menſchen in
die Ebenen des Miſſiſſippi. Durch dieſes Mittel iſt die Haupt
quelle der Unzufriedenheit geſchwunden , und das Fortbeſtehen des
jebigen bürgerlichen Zuſtandes wird verbürgt. Eine Vergleichung
der nordamerikaniſchen Freiſtaaten mit europäiſchen Ländern iſt
daher unmöglich , denn in Europa iſt ein ſolcher natürlicher Ab
fluß der Bevölkerung, troß aller Auswanderungen , nicht vorhan
den : hätten die Wälder Germaniens noch eriſtirt , ſo wäre frei
lich die franzöfiſche Revolution nicht ins Leben getreten. Mit
Geographiſche Grundlage der Weltgeſdichte. 107

Europa fönnte Nordamerika erſt verglichen werden , wenn der


unermeßliche Raum , den dieſer Staat darbietet, ausgefüllt und
die bürgerliche Geſellſchaft in fich zurückgedrängt wäre. Nord
amerika iſt noch auf dem Standpunkt, das Land anzubauen .
Erſt wenn wie in Europa die bloße Vermehrung der Ackerbauer
gehemmt iſt, werden ſich die Bewohner, ſtatt hinaus nach Aek
fern zu drängen , zu ſtädtiſchen Gewerben und Verkehr in fich
hineindrängen , ein compactes Syſtem bürgerlicher Geſellſchaft
bilden und zu dem Bedürfniß eines organiſchen Staates koms
men. Die nordamerikaniſchen Freiſtaaaten haben keinen Nachs
barſtaat, gegen den ſie in einem Verhältniß wären , wie es die
europäiſchen Staaten unter fich find , den ſie mit Mißtrauen zu
beobachten , und gegen welchen ſie ein ſtehendes Heer zu halten
hätten . Canada und Meriko find für daſſelbige nicht furchtbar,
und England hat ſeit funfzig Jahren in Erfahrung gebracht, daß
das freie Amerika ihm nüßlicher iſt, als das abhängige. Die
Milizen des nordamerikaniſchen Freiſtaats haben ſich allerdings
im Befreiungskriege ſo tapfer erwieſen , als die Holländer unter
Philipp II., aber überall, wo nicht die zu erringende Selbſtſtän
digkeit auf dem Spiele iſt, zeigt ſich weniger Kraft, und ſo ha
ben im Jahre 1814 die Milizen ſchlecht gegen die Engländer
beſtanden .
Amerika iſt ſomit das Land der Zukunft , in welchem fich
in vor uns liegenden Zeiten , etwa im Streite von Nord - und
Südamerika die weltgeſchichtliche Wichtigkeit offenbaren ſoll : es
iſt ein land der Sehnſucht für alle die, welche die hiſtoriſche
Nüftkammer des alten Europa langweilt. Napoleon ſoll geſagt
haben : Cette vieille Europe m 'ennuie . Amerika hat von
dem Boden auszuſcheiden , auf welchem ſich bis heute die Welt
geſchichte begab . Was bis ießt ſich hier ereignet, iſt nur der
Wiederhau der alten Welt, und der Ausdruck fremder Lebendig
feit, und als ein Land der Zukunft geht es uns überhaupt hier
nichts an : denn wir haben es nach der Seite der Geſchichte mit
108 Einleitung.
dem zu thun, was geweſen iſt und mit dem , was ift, - in der
Philoſophie aber mit dem , was weder nur geweſen iſt, noch erſt
nur ſeyn wird , ſondern mit dem was iſt und ewig iſt – mit
der Vernunft, und damit haben wir zur Genüge zu thun . —
Nachdem wir die neue Welt und die Träume, die ſich an
ſie knüpfen können , abgethan , gehen wir nun zur alten Welt
über , das heißt zum Schauplaße der Weltgeſchichte , und haben
zuvörderſt aufdie Naturmomente und die Naturbeſtimmungen auf
merkſam zu machen . Amerika iſt in zwei Theile getheilt, welche
zwar durch eine Landenge zuſammenhängen , die aber nur einen
ganz äußerlichen Zuſammenhang bildet. Die alte Welt dagegen ,
welche Amerika gegenüberliegt, und von demſelben durch den at
lantiſchen Dcean getrennt iſt, iſt durch eine tiefe Bucht, das mit
telländiſche Meer , durchbrochen . Die drei Welttheile derſelben
haben ein weſentliches Verhältniß zu einander und machen eine
Totalität aus. Ihr Ausgezeichnetes iſt, daß fie um das Meer
herumgelagert ſind, und darum ein leichtes Mittel der Commu
nication haben . Denn Ströme und Meere ſind nicht als diri
mirend zu betrachten , ſondern als vereinend. England und
Bretagne, Norwegen und Dänemark , Schweden und Livland
waren verbunden . Für die drei Welttheile iſt alſo das Mittel
meer das Vereinende, und der Mittelpunkt der Weltgeſchichte.
Griechenland liegt hier, der Lichtpunkt in der Geſchichte. Dann
in Syrien iſt Jeruſalem der Mittelpunkt des Judenthums und
des Chriſtenthums, ſüdöſtlich davon liegt Meffa und Medina,
der Urſiß des muſelmänniſchen Glaubens, gegen Weſten liegt .
Delphi, Athen , und weſtlicher noch Rom ; dann liegen noch am
mittelländiſchen Meere Alerandria und Carthago. Das Mittel
meer iſt ſo das Herz der alten Welt , denn es iſt das Bedin
gende und Belebende derſelben . Ohne daſſelbe ließe ſich die
Weltgeſchichte nicht vorſtellen , ſie wäre wie das alte Rom oder
Athen ohne das Forum , wo Alles zuſammenfam . – Das weite
öſtliche Aften iſt vom Proceſſe der Weltgeſchichte entfernt und
Geographiſche Grundlage der Weltgeſchichte. 109

greift nicht in dieſelbige ein ; ebenſo das nördliche Europa, wel


ches erſt ſpäter in die Weltgeſchichte eintrat, und im Alterthume
keinen Antheil an derſelben hatte ; denn dieſes beſchränkte ſich durchs
aus auf die um das mittelländiſche Meer herumliegenden Länder.
Julius Cäſar’s Weberſchreiten der Alpen , die Eroberung Gal
liens, und die Beziehung, in welche die Germanen dadurch mit
dem römiſchen Reiche kamen , macht daher Epoche in der Welt
geſchichte, denn hiemit überſchreitet dieſelbe nunmehr auch die Al
pen . Das öſtliche Aſien und das jenſeitige Alpenland find die
Ertreme jener bewegten Mitte um das Mittelmeer – Anfang
und Ende der Weltgeſchichte, ihr Aufgang und Niedergang.
Die näheren geographiſchen Unterſchiede ſind nunmehr feſt
zuhalten , und zwar als weſentliche des Gedankens gegen das
vielfach Zufällige betrachtet. Dieſer charakteriſtiſchen Unterſchiede
giebt es namentlich drei:
1) das waſſerloſe Hochland mit ſeinen großen Steppen
und Ebenen ,
2 ) die Thalebenen , das Land des Ueberganges, welche von
großen Strömen durchſchnitten und bewäſſert werden ,
3 ) das Uferland , das in unmittelbarem Verhältniſſe mit
dem Meere ſteht.
Dieſe drei Momente find die weſentlichen , und nach ihnen wer
ren wir jeden Welttheil ſich in drei Theile theilen ſehen . Das
eine iſt das gediegene, indifferente, metalliſche Hochland, unbild
ſam in ſich abgeſchloſſen , aber wohl fähig Impulſe von ſich
auszuſchicken ; das zweite bildet Mittelpunkte der Cultur, iſt die
noch unaufgeſchloſſene Selbſtſtändigkeit; das dritte hat den Welt
zuſammenhang darzuſtellen und zu erhalten .
1 ) Das Hochland. Wir ſehen ſolches Hochland in dem
von den Mongolen (das Wort im allgemeinen Sinne genom
men ) bewohnten Mittelaſten ; vom caspiſchen Meere aus ziehen
fich ſolche Steppen nördlich gegen das ſchwarze Meer herüber ;
desgleichen ſind hier anzuführen die Wüſten in Arabien , die Wü
110 Einleitung.

ften der Berberei in Afrika , in Südamerika um den Drinoko


herum und in Paraguay. Das Eigenthümliche der Bewohner
ſolchen Hochlandes , das bisweilen nur durch Regen , oder durch
Austreten eines Fluſſes (wie die Ebenen des Drinoko) bewäf
ſert wird , iſt das patriarchaliſche Leben , das Zerfallen in eins
zelne Familien . Der Boden , auf dem ſie ſich beſinden , iſt uns
fruchtbar, oder nur momentan fruchtbar ; die Bewohner haben
ihr Vermögen nicht im Acer , aus dem ſie nur einen geringen
Ertrag ziehen , ſondern in den Thieren , die mit ihnen wandern .
Eine Zeit lang finder dieſe ihre Weide in den Ebenen , und
wenn dieſe abgeweidet ſind, zieht man in andere Gegenden .
Man iſt ſorglos und ſammelt nicht für den Winter , weswegen
dann auch oft die Hälfte der Heerde zu Grunde geht. Unter
dieſen Bewohnern des Hochlandes giebt es kein Rechtsverhälts
niß , und es zeigen ſich daher bei ihnen die Ertreme von Gaſts
freundſchaft und Räuberei, die lettere namentlich , wenn ſie von
Culturländern umgeben ſind, wie die Araber, die darin von ih
ren Pferden und Rameelen unterſtüßt werden . Die Mongolen
nähren fick von Pferdemilch, und ſo iſt ihnen das Pferd zugleich
Nahrung und Waffe. Wenn dieſes die Geſtalt ihres patriarcha
liſchen Lebens iſt, ſo geſchieht es doch aber oft, daß ſie ſich in
großen Maſſen zuſammenhalten , und durch irgend einen Impuls
in eine äußere Bewegung gerathen . Früher friedlich geſtimmt
fallen fie alsdann wie ein verwüſtender Strom über Culturlän
der , und die Revolution , die jest hereinbricht, hat kein anderes
Reſultat , als Zerſtörung und Einöde. In ſolche Bewegung
geriethen die Völker unter Tſchengiskhan und Tamerlan : fie
zertraten Alles, verſchwanden dann wieder , wie ein verheerender
Waldſtrom abläuft, weil er kein eigentliches Princip der Leben
digkeit beſikt. Von den Hochländern herab geht es in die Eng
thäler : da wohnen ruhige Gebirgsvölker, Hirten , die auch ne
benbei Aderbau treiben , wie die Schweizer. Aften hat deren
auch , ſie ſind aber im Ganzen unbedeutender.
Geographiſche Grundlage der Weltgeſchichte. 111

2) Die Thalebenen . Es ſind dieſes Ebenen , von Flüf


ſen durchſchnitten , und die ihre ganze Fruchtbarkeit den Strömen ,
von denen ſie gebildet ſind, verdanken. Eine ſolche Thalebene
iſt China, Indien , welches der Indus und Ganges durchſchnei
det, Babylonien , wo der Euphrat und Tigris fließt, Egypten ,
das der Nil bewäſſert. In dieſen Ländern entſtehen große Reiche,
und die Stiftung großer Staaten beginnt. Denn der Ackerbau ,
der hier als erſtes Princip der Subſiſtenz der Individuen vor
waltet, iſt an die Regelmäßigkeit der Jahreszeit, an die demge
mäß geordneten Geſchäfte gewieſen : es beginnt das Grundeigen
thum und die ſich darauf beziehenden Rechtsverhältniſſe; das
heißt , die Baſen und Unterlagen des Staates , der erſt in ſol
chen Verhältniſſen möglich wird .
3) Das Uferland. Der Fluß theilt Landſtriche von eins
ander , noch mehr aber das Meer , und man iſt gewohnt, das
Waſſer als das Trennende anzuſehen ; beſonders hat man in den
legten Zeiten behaupten wollen , daß die Staaten nothwendig
durch Naturelemente getrennt ſeyn müßten ; dagegen iſt weſent
lich zu ſagen , daß nichts ſo ſehr vereinigt als das Waſſer, denn
die Länder ſind nichts als Gebiete von Strömen . So iſt Schle
ſien das Oberthal, Böhmen und Sachſen das Elbthal, Egypten
das Nilthal. Mit dem Meere iſt dieß nicht minder der Fall,
wie dieß ſchon oben angedeutet wurde. Nur Gebirge trennen .
So ſcheiden die Pyrenäen Spanien ganz beſtimmt von Frank
reich . Mit Amerika und Oſtindien haben die Europäer ſeit des
ren Entdeckung in fortwährender Verbindung geſtanden , aber ins
Innere von Afrika und Aſien ſind ſie kaum eingedrungen , weil
das Zuſammenkommen zu Land viel ſchwieriger iſt, als zu Waſ
ſer. Nur dadurch , daß es Meer iſt, hat das mittelländiſche
Meer Mittelpunkt zu ſeyn vermocht. Sehen wir jeßt auf den
Charakter der Völker dieſes dritten Moments.
Das Meer giebt uns die Vorſtellung des Unbeſtimmten ,
Unbeſchränkten und Unendlichen , und indem der Menſch ſich in
112 Elnleitung .

dieſem Unendlichen fühlt, ſo ermuthigt dieß ihn zum Hinaus


über das Beſchränkte ; das Meer ladet den Menſchen zur Ero
berung, zum Raub, aber ebenſo zum Gewinn und zum Erwerbe
ein ; das Land, die Thalebene firirt den Menſchen an den Bo
den ; er kommt dadurch in eine unendliche Menge von Abhän
gigkeiten , aber das Meer führt ihn über dieſe beſchränkten Kreiſe
hinaus. Die das Meer befahren , wollen auch gewinnen , erwer
ben ; aber ihr Mittel iſt in der Weiſe verkehrt, daß ſie ihr Ei
genthum und Leben ſelbſt in Gefahr des Verluſtes feßen . Das
Mittel iſt alſo das Gegentheil deſſen , was ſie bezwecken . Dieß
iſt es eben , was den Erwerb und das Gewerbe über ſich erhebt
und ihn zu etwas Tapferem und Edlen macht. Muth muß
nun innerhalb des Gewerbes eintreten , und Tapferkeit iſt zugleich
mit der Klugheit verbunden . Denn die Tapferkeit gegen das
Meer muß zugleich Lift ſeyn , da ſie es mit dem Liſtigen , dem
unſicherſten und lügenhafteſten Element, zu thun hat. Dieſe un
endliche Fläche iſt abſolutweich, denn ſte widerſteht keinem Druce,
felbſt dem Hauche nicht: ſie ſieht unendlich unſchuldig , nachge
bend, freundlich und anſchmiegend aus; und gerade dieſe Nach :
giebigkeit iſt es , die das Meer in das gefahrvollſte und gewal
tigſte Element verkehrt. Solcher Täuſchung und Gewalt ſegt der
Menſch lediglich ein einfaches Stück Holz entgegen , verläßt ſich
bloß auf ſeinen Muth und ſeine Geiſtesgegenwart, und geht ſo
vom Feſten auf ein Haltungsloſes über , ſeinen gemachten Bos
den felbft mit ſich führend. Das Schiff, dieſer Schwan der
See, der in behenden und runden Bewegungen die Wellenebene
durchſchneidet oder Kreiſe in ihr zieht , iſt ein Werkzeug, deſſen
Erfindung ebenſo der Kühnheit des Menſchen , als ſeinem Ver
ſtande die größte Ehre macht. Dieſes Hinaus des Meeres aus
der Beſchränktheit des Erdbodens fehlt den aſiatiſchen Prachtge
bäuden von Staaten , obgleich ſie ſelbſt an das Meer angren
zen , wie zum Beiſpiel China. Für ſie iſt das Meer nur das
Aufhören des Landes ; ſie haben kein poſitives Verhältniß zu
Geographiſche Grundlage der Weltgeſchichte . 113

demſelben . Die Thätigkeit, zu welcher das Meer einladet , iſt


eine ganz eigenthümliche: daher findet es ſich dann , daß die
Küſtenländer meiſt immer von den Binnenländern ſich abſondern ,
wenn ſie auch durch einen Strom mit dieſen zuſammenhängen .
Holland hat ſich ſo von Deutſchland , Portugal von Spanien
abgeſondert.
Nach dieſen Angaben ſind nunmehr die drei Welttheile zu
betrachten , und zwar kommen hier die drei Momente auf bedeu
tendere oder mindere Weiſe zum Vorſchein : Afrika hat zum
Hauptprincip das Hochland, Aſien den Gegenſaß der Flußge
biete zum Hochland, Europa die Vermiſchung dieſer Unterſchiede.
Afrika iſt in drei Theile zu unterſcheiden : der eine iſt der
ſüdlich von der Wüſte Sahara gelegene, das eigentliche Afrika ,
das uns faſt ganz unbekannte Hochland mit ſchmalen Küſten
ſtrecken am Meere; der andre iſt der nördliche von der Wüſte,
ſo zu ſagen das europäiſche Afrika , ein Küſtenland; der dritte
iſt das Stromgebiet des Nil, das einzige Thalland von Afrika ,
das ſich an Aſien anſchließt. –
Jenes eigentliche Afrika iſt, ſoweit die Geſchichte zurückgeht,
für den Zuſammenhang mit der übrigen Welt verſchloſſen geblie:
ben ; es iſt das in ſich gedrungene Goldland , das Kinderland,
das jenſeits des Tages der ſelbſtbewußten Geſchichte in die
ſchwarze Farbe der Nacht gehüllt iſt. Seine Verſchloſſenheit liegt
nicht nur in ſeiner tropiſchen Natur, ſondern weſentlich in ſeiner
geographiſchen Beſchaffenheit. Das Dreieck deſſelben (wenn wir
die Weſtküſte, die in dem Meerbuſen von Guinea einen ſehr
ſtarf einwärtsgehenden Winkel macht, für eine Seite nehmen
wollen , und ebenſo die Oſtküſte bis zum Cap Gardafu für eine
andre) iſt von zwei Seiten überall ſo beſchaffen , daß es einen
ſehr ſchmalen , an wenigen einzelnen Stellen bewohnbaren Kü
ſtenſtrich hat. Hierauf folgt nach innen faſt ebenſo allgemein
ein ſumpfiger Gürtel von der allerüppigſten Vegetation , die vor
zügliche Heimath von reißenden Thieren , Schlangen aller Art,
Philoſophie d . Geſchidyte. 3. Aufl.
114 Einleitung .

- ein Saum , deſſen Atmoſphäre für die Europäer giftig iſt.


Dieſer Saum macht den Fuß eines Gürtels von hohen Gebir
gen aus, die nur ſelten von Strömen durchſchnitten werden , und
ſo, daß auch durch ſie kein Zuſammenhang mit dem Innern ge
bildet wird ; denn der Durchbruch geſchieht nur wenig unter der
Oberfläche der Gebirge und nur an einzelnen ſchmalen Stellen ,
wo ſich häufig unfahrbare Waſſerfälle und wild ſich durchfreu
zende Strömungen formiren . Ueber dieſe Gebirge ſind die Eu
ropäer ſeit den drei bis viertehalb Jahrhunderten , daß ſie dieſen
Saum kennen und Stellen deſſelben in Beſitz genommen haben ,
kaum hie und da , und nur auf kurze Zeit , geſtiegen und haben
fich dort nirgends feſtgeſetzt. Das von dieſen Gebirgen um
ſchloſſene Land iſt ein unbekanntes Hochland , von dem ebenſo
die Neger felten herabgedrungen ſind. Im ſechszehnten Jahr
hundert ſind aus dem Innern an mehreren , ſehr entfernten Stel
len Ausbrüche von gräulichen Schaaren erfolgt, die ſich auf die
ruhigeren Bewohner der Abhänge geſtürzt haben . Ob eine und
welche innere Bewegung vorgefallen , welche dieſen Sturm ver
anlaßt, iſt unbekannt. Was von dieſen Schaaren bekannt ge
worden , iſt der Contraſt, daß ihr Benehmen , in dieſen Kriegen
und Zügen ſelbſt, die gedankenloſeſte Unmenſchlichkeit und ekelhaf
teſte Rohheit bewies , und daß ſie nachher , als ſie ſich ausge
tobt hatten , in ruhiger Friedenszeit, ſich ſanftmüthig , gutmüthig
gegen die Europäer, da ſie mit ihnen befannt wurden , zeigten .
Das gilt von den Fullah’s , von den Mandingo, die in den
Gebirgsterraſſen des Senegal und Gambia wohnen . Der zweite
Theil von Afrika iſt das Stromgebiet des Niis , Egypten , wel
ches dazu beſtimmt war , ein großer Mittelpunkt ſelbſtſtändiger
Cultur zu werden , und daher ebenſo iſolirt und vereinzelt in
Afrika daſteht , als Afrika ſelbſt im Verhältniß zu den anderen
Welttheilen erſcheint. Der nördliche Theil von Afrika, der vor
zugsweiſe der des Ufergebietes genannt werden kann , denn Egyp
ten iſt häufig vom Mittelmeer in ſich zurückgedrängtworden , liegt
Afrika. 115
am Mittel- und atlantiſchen Meer , ein herrlicher Erdſtrich , auf
dem einſt Carthago lag, wo jeßt Maroffo , Algier, Tunis und
Tripolis find. Dieſen Theil ſollte und mußte man zu Europa
herüber ziehen , wie dieß die Franzoſen jeßt eben glücklich ver
ſucht haben : er iſt wie Vorderaſien zu Europa hingewendet;
hier haben wechſelweiſe Carthager, Römer und Byzantiner, Mu
felmänner, Araber gehauſt, und die Intereſſen Europa's haben
immer hinüberzugreifen geſtrebt.
Der eigenthümlich afrikaniſche Charakter iſt darum ſchwer
zu faſſen , weil wir dabei ganz auf das Verzicht leiſten müſſen ,
was bei uns in jeder Vorſtellung mitunter läuft , die Kategorie
der Augemeinheit. Bei den Negern iſt nämlich das Charakte
riſtiſche grade, daß ihr Bewußtſeyn noch nicht zur Anſchauung
irgend einer feſten Objectivität gekommen iſt, wie zum Beiſpiel
Gott, Geſek, bei welcher der Menſch mit ſeinem Willen wäre,
und darin die Anſchauung ſeines Weſens hätte. Zu dieſer Un
terſcheidung ſeiner als des Einzelnen , und ſeiner weſentlichen Au
gemeinheit iſt der Afrikaner in ſeiner unterſchiedsloſen gedrunge
nen Einheit noch nicht gekommen , wodurch das Wiſſen von einem
abſoluten Weſen , das ein Anderes , Höheres gegen das Selbſt
wäre , ganz fehlt. Der Neger ſtellt , wie ſchon geſagt worden
iſt, den natürlichen Menſchen in ſeiner ganzen Wildheit und Un
bändigkeit dar: von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit , von dem
was Gefühl heißt muß man abſtrahiren , wenn man ihn richtig
auffaſſen wil; es iſt nichts an das Menſchliche Anklingende in
dieſem Charakter zu finden . Die weitläufigen Berichte der Mif
fionare beſtätigen dieſes vollkommen , und nur der Mohamme
danismus ſcheint das Einzige zu ſeyn, was die Neger noch eini
. germaßen der Bildung annähert. Die Mohammebaner verſtehen
es auch beſſer, wie die Europäer, ins Innere des Landes einzu
dringen . Dieſe Stufe der Cultur läßt ſich dann auch näher in
der Religion erkennen . Das Erſte , was wir uns bei dieſer
vorſtellen , iſt das Bewußtſeyn des Menſchen von einer höheren
8*
116 Einleitung .

Macht (wenn dieſe auch nur als Naturmadyt gefaßt wird ), ge


gen die der Menſch ſich als ein Schwächeres , Niedrigeres ſtellt.
Die Religion beginnt mit dem Bewußtſein , daß es etwas Hö
heres gebe als der Menſch. Dic Neger aber hat ſchon Herodot
Zauberer genannt; in der Zauberei liegt nun nicht die Vor
ſtellung von einem Gott , von einem ſittlichen Glauben , ſondern
fie ſtellt dar, daß der Menſch die höchſte Macht iſt, daß er ſich
allein befehlend gegen die Naturmacht verhält. Es iſt alſo nicht
von einer geiſtigen Verehrung Gottes , noch von einem Reiche
des Rechts die Rede. Gott donnert und wird nicht erkannt: für
den Geiſt des Menſchen muß Gott mehr als ein Donnerer ſeyn;
bei den Negern aber iſt dieß nicht der Fall. Obgleich ſie ſich
der Abhängigkeit vom Natürlichen bewußt ſeyn müſſen , denn ſie
bedürfen des Gewitters , des Regens, des Aufhörens der Regen
zeit , ſo führt ſie dieſes doch nicht zum Bewußtſeyn eines Hö
heren ; ſie ſind es , die den Elementen Befehle ertheilen , und dieß
eben nennt man Zauberei. Die Könige haben eine Klaſſe von
Miniſtern , durch welche ſie die Naturveränderungen anbefehlen
laſſen , und jeder Ort beſikt auf eben dieſe Weiſe ſeine Zauberer,
die beſondere Ceremonien , mit allerhand Bewegungen , Tänzen ,
Lärm und Geſchrei ausführen , und inmitten dieſer Betäubung
ihre Anordnungen treffen . Das zweite Moment ihrer Religion
iſt alsdann , daß fie fich dieſe ihre Macht zur Anſchauung brin
gen , ſich äußerlich ſeßen , und fich Bilder davon machen . Das,
was ſie ſich als ihre Macht vorſtellen , iſt ſomit nichts Objectives ,
in ſich Feſtes und von ihnen Verſchiedenes , fondern ganz gleich
gültig der erſte beſte Gegenſtand , den ſie zum Genius erheben ;
ſey es ein Thier , ein Baum , ein Stein , ein Bild von Holz.
Dieß iſt der Fetiſch , ein Wort, welches die Portugieſen zuerſt
in Umlauf gebracht , und welches von feitizo , Zauberei, ab
ſtammt. Hier im Fetiſche ſcheint nun zwar die Selbſtſtändig
keit gegen die Wilfür des Individuums aufzutreten , aber da
eben dieſe Gegenſtändlichkeit nichts Anderes iſt, als die zur Selbſt
Afrifa. 117

anſchauung ſich bringende individuelle Wilfür, ſo bleibt dieſe


auch Meiſter ihres Bildes. Begegnet nämlich etwas Unange
nehmes , was der Fetiſch nicht abgewendet hat, bleibt der Re
gen aus , entſteht Mißwachs ; ſo binden und prügeln ſie ihn oder
zerſtören ihn , und ſchaffen ihn ab , indem ſie ſich zugleich einen
anderen creiren , ſie haben ihn alſo in ihrer Gewalt. Es hat
ein ſolcher Fetiſch weder die religiöſe Selbſtſtändigkeit, noch we
niger die künſtleriſche; er bleibt lediglich ein Geſchöpf, das die
Wilfür des Schaffenden ausdrückt und das immer in ſeinen
Händen verharrt. Kurz, es iſt kein Verhältniß der Abhängig
keit in dieſer Religion . Was aber auf etwas Höheres bei den
Negern hinweiſt , iſt der Todtendienſt , in welchem ihre ver
ſtorbenen Voreltern und ihre Vorfahren ihnen als eine Macht
gegen die Lebendigen gelten ; ſie haben dabei die Vorſtellung,
daß dieſe ſich rächen und dem Menſchen dieſes oder jenes Un
heil zufügen könnten , in eben dem Sinne, wie dieß im Mit
telalter von den Heren geglaubt wurde: doch iſt die Macht der
Todten nicht über die der Lebendigen geachtet, denn die Neger
befehlen ihren Todten und bezaubern ſie ; auf dieſe Weiſe bleibt
das Subſtantielle immer in der Gewalt des Subjets. Der Tod
ſelbſt iſt den Negern kein allgemeines Naturgeſet ; auch dieſer,
meinen ſie, komme von übelgeſtimmten Zauberern her. Es liegt
allerdings darin die Hoheitdes Menſchen über die Natur; ebenſo,
daß der zufällige Wille des Menſchen höher ſteht als das Na
türliche, daß er dieſes als das Mittel anſieht, dem er nicht
die Ehre anthut, es nach ſeiner Weiſe zu behandeln , ſondern dem
er befiehlt* ).
: Daraus aber , daß der Menſch als das Höchſte ge
ſegt iſt, folgt, daß er feine Achtung vor ſich ſelber hat, denn
erſt mit dem Bewußtſeyn eines höheren Weſens erlangt der
Menſch einen Standpunkt, der ihm einewahre Achtung gewährt.
* ) S . Hegels Vorleſungen über die Philoſophie der Religion I. 284 u .
289. 2 . Aufl.
118 Einleitung .

Denn wenn die Wilfür das Abſolute iſt , die einzige feſte Ob
jectivität, die zur Anſchauung kommt, ſo kann der Geiſt auf
dieſer Stufe von keiner Allgemeinheit wiſſen . Die Neger beſitzen
daher dieſe vollkommene Verachiung der Menſchen , welche ei
gentlich nach der Seite des Rechts und der Sittlichkeit hin die
Grundbeſtimmung bildet. Es iſt auch kein Wiſſen von Unſterb
lichkeit der Seele vorhanden , obwohl Todtengeſpenſter vorkoms
men . Die Werthloſigkeit der Menſchen geht ins Unglaubliche;
die Tyrannei gilt für fein Unrecht, und es iſt als etwas ganz
Verbreitetes und Erlaubtes betrachtet , Menſchenfleiſch zu eſſen .
Bei uns hält der Inſtinct davon ab, wenn man überhaupt beim
Menſchen vom Inſtincte ſprechen kann . Aber bei dem Neger iſt
dieß nicht der Fall, und den Menſchen zu verzehren hängt mit
dem afrikaniſchen Princip überhaupt zuſammen ; für den finnlichen
Neger iſt das Menſchenfleiſch nur Sinnliches, Fleiſch überhaupt.
Bei dem Tode eines Königs werden wohl Hunderte geſchlachtet
und verzehrt ; Gefangene werden gemordet und ihr Fleiſch auf
den Märkten verkauft ; der Sieger frißt in der Regel das Herz
des getödteten Feindes. Bei den Zaubereien geſchieht es gar
häufig , daß der Zauberer den erſten Beſten ermordet und ihn
zum Fraße an die Menge vertheilt. Etwas anderes Charaktes
riſtiſches in der Betrachtung der Neger iſt die Sclaverei. Die
Neger werden von den Europäern in die Sclaverei geführt und
nach Amerika hin verkauft. Troß dem iſt ihr Loos im eigenen
Lande faſt noch ſchlimmer, wo ebenſo abſolute Sclaverei vorhan
den iſt; denn es iſt die Grundlage der Sclaverei überhaupt, daß .
der Menſch das Bewußtſeyn ſeiner Freiheit noch nicht hat, und
ſomit zu einer Sache, zu einem Werthloſen herabſinkt. Bei den
Negern ſind aber die fittlichen Empfindungen vollkommen ſchwach ,
oder beſſer geſagt , gar nicht vorhanden . Die Eltern verkaufen
ihre Kinder , und umgekehrt ebenſo dieſe jene, je nachdem man
einander habhaft werden kann. Durch das Durchgreifende der
Sclaverei ſind alle Bande ſittlicher Achtung, die wir vor einan
Afrika. 119

der haben , geſchwunden , und es fällt den Negern nicht ein , ſich
zuzimuthen , was wir von einander Fordern dürfen . Die Poly
gamie der Neger hat häufig den Zweck, viel Kinder zu erzielen ,
die ſammt und ſonders zu Sclaven verkauftwerden könnten , und
ſehr oft hört man naive Klagen , wie z. B . die eines Negers
in London , der darüber wehklagte, daß er nun ein ganz armer
Menſch ſey, weil er alle ſeine Verwandten bereits verkauft habe.
In der Menſchenverachtung der Neger iſt es nicht ſowohl die
Verachtung des Todes als die Nichtachtung des Lebens, die das
Charakteriſtiſche ausmacht. Dieſer Nichtachtung des Lebens iſt
auch die große von ungeheurer Körperſtärke unterſtüzte Tapfer
keit der Neger zuzuſchreiben , die ſich zu Tauſenden niederſchießen
laſſen im Kriege gegen die Europäer. Das Leben hat nämlich
nur da einen Werth, wo es ein Würdiges zu ſeinem Zwecke hat.
Gehen wir nun zu den Grundzügen der Verfaſſung über,
ſo geht eigentlich aus der Natur des Ganzen hervor , daß es
keine ſolche geben kann . Der Standpunkt dieſer Stufe iſt ſinn
liche Willkür mit Energie des Willens; denn die allgemeinen
Beſtimmungen des Geiſtes , z. B . Familienſittlichkeit, können hier
noch keine Geltung gewinnen , da alle Algemeinheit hier nur
als Innerlichkeit der Willfür iſt. Der politiſche Zuſammenhalt
kann daher auch nicht den Charakter haben , daß freie Geſeze
den Staat zuſammenfaſſen . Es giebt überhaupt kein Band,
keine Feſſel für dieſe Widfür. Was den Staat einen Augen
blick beſtehen laſſen kann , iſt daher lediglich die äußere Gewalt.
Es ſteht ein Herr an der Spiße; denn ſinnliche Rohheit kann
nur durch despotiſche Gewalt gebändigt werden . Weil nun
aber die Untergebenen Menſchen von ebenſo wildem Sinne ſind,
ſo halten ſie den Herrn wiederum in Schranken . Unter dem
Häuptling ſtehen viele andere Häuptlinge , mit denen ſich der
erſte, den wir König nennen wollen , berathet, und er muß,will
er einen Krieg unternehmen , oder einen Tribut auferlegen , ihre
Einwilligung zu gewinnen ſuchen. Dabei kann er mehr oder
120 Einleitung.

weniger Autorität entwickeln und dieſen oder jenen Häuptling


bei Gelegenheit mit Liſt oder Gewalt aus dem Wege ſchaffen .
Außerdem beſigen die Könige noch gewiſſe Vorrechte. Bei den
Aſchantees erbt der König alles hinterlaſſene Gut ſeiner Unter
thanen , in anderen Orten gehören alle Mädchen dem Könige,
und wer eine Frau haben will , muß ſie demſelben abkaufen .
Sind die Neger mit ihrem König unzufrieden , ſo feßen ſie ihn
ab und bringen ihn um . In Dahomey iſt die Sitte, daß die
Neger, wenn ſie nicht mehr zufrieden ſind, ihrem Könige Papa
geyeneier zuſchicken , was ein Zeichen ihres lleberdruſſes an ſei
ner Regierung iſt. Bisweilen wird ihm auch eine Deputation
zugefertigt , welche ihm ſagt : die Laſt der Regierung müſſe ihn
ſehr befchwert haben , er möge ein wenig ausruhen . Der König
dankt dann den Unterthanen , geht in ſeine Gemächer , und läßt
ſich von den Weibern erdroſſeln. In früherer Zeit hat ſich ein
Weiberſtaat beſonders durch ſeine Eroberungen berühmt gemacht:
es war ein Staat, an deſſen Spiße eine Frau ſtand. Sie hat
ihren eigenen Sohn in einem Mörſer zerſtoßen , ſich mit dem
Blute beſtrichen , und veranſtaltet, daß das Blut zerſtampfter Kin
der ſtets vorräthig ſei. Die Männer hat ſie verjagt oder um
gebracht und befohlen , alle männlichen Kinder zu tödten . Dieſe
Furien zerſtörten Alles in der Nachbarſchaft und waren , weil
ſie das Land nicht bauten , zu ſteten Plünderungen getrieben .
Die Kriegsgefangenen wurden als Männer gebraucht: die fchwan
geren Frauen mußten ſich außerhalb des Lagers begeben , und ,
hatten ſie einen Sohn geboren , dieſen entfernen . Dieſer berüch
tigte Staat hat ſich ſpäterhin verloren . Neben dem Könige be
findet ſich in den Negerſtaaten beſtändig der Scharfrichter, deſſen
Amt für höchſt wichtig gehalten wird , und durch welchen der
König ebenſoſehr die Verdächtigen aus dem Wege räumen läßt,
als er ſelbſt wiederum von ihm umgebracht werden kann , wenn
die Großen es verlangen . Der Fanatismus , der überhaupt
unter den Negern , troß ihrer ſonſtigen Sanftmüthigkeit, rege ge
Afrika . 121
macht werden kann , überſteigt allen Glauben . Ein engliſcher
Reiſender erzählt : wenn in Aſchantee ein Krieg beſchloſſen iſt,
ſo werden erſt feierliche Ceremonien vorausgeſchickt : zu dieſen
gehört, daß die Gebeine der Mutter des Königs mit Menſchenblut
abgewaſchen werden . Als Vorſpiel des Krieges beſchließt der
König einen Ausfall auf ſeine eigene Hauptſtadt, um ſich gleich
ſam in Wuth zu ſeßen . Der König ließ dem Engländer Hut
chinſon ſagen : „ Chriſt , hab' Acht , und wache über deine Fas
milie. Der Bote des Todes hat ſein Schwerdt gezogen und
wird den Nacken vieler Aſchantees treffen ; wenn die Trommel ges
rührt wird , ſo iſt es das Todesſignal für Viele. Komm zum
Könige, wenn du kannſt, und fürchte nichts für dich.“ Die
Trommel ward geſchlagen und ein furchtbares Blutbad begann :
Alles , was den durch die Straßen wüthenden Negern aufſtieß,
wurde durchbohrt. Bei ſolchen Gelegenheiten läßt nun der Rö
nig Alles ermorden , was ihm verdächtig iſt, und dieſe That
nimmt alsdann noch den Charakter einer heiligen Handlung an.
Jede Vorſtellung, die in die Neger geworfen wird, wird mit der
ganzen Energie des Willens ergriffen und verwirklicht, Alles
aber zugleich in dieſer Verwirklichung zertrümmert. Dieſe Völ
fer ſind lange Zeit ruhig , aber plöblich gähren ſie auf, und dann
ſind ſie ganz außer fich geſeßt. Die Zertrümmerung, welche
eine Folge ihres Aufbrauſens iſt, hat darin ihren Grund, daß
es kein Inhalt und kein Gedanke iſt , der dieſe Bewegungen
hervorruft , ſondern mehr ein phyſiſcher als ein geiſtiger Fana
tismus.
Wenn der König ſtirbt in Dahomey , ſo ſind gleich die
Bande der Geſellſchaft zerriſſen ; in ſeinem Palaſte fängt die
allgemeine Zerſtörung und Auflöſung an : ſämmtliche Weiber des
Königs (in Dahomey iſt ihre beſtimmte Zahl 3333) werden
ermordet, und in der ganzen Stadt beginnt nun eine allgemeine
Plünderung und ein durchgängiges Gemebel. Die Weiber des
Königs ſehen in dieſem ihrem Tode eine Nothwendigkeit, denn
122 Einleitung.
ſie gehen geſchmückt zu demſelben . Die hohen Beamten müſſen
ſich aufs höchſte beeilen , den neuen Regenten auszurufen , damit
nur den Meßeleien ein Ende gemacht werde.
Aus allen dieſen verſchiedentlich angeführten Zügen geht
hervor, daß es die Unbändigkeit iſt, welche den Charakter der
Neger bezeichnet. Dieſer Zuſtand iſt keiner Entwickelung und
Bildung fähig , und wie wir ſie heut ſehen , ſo ſind ſie immer
geweſen . Der einzige weſentliche Zuſammenhang, den die Ne
ger mit den Europäern gehabt haben und noch haben , iſt der
der Sclaverei. In dieſer ſehen die Neger nichts ihnen Unange
meſſenes , und grade die Engländer , welche das Meiſte zur Ab
ſchaffung des Sclavenhandels und der Sclaverei gethan haben ,
werden von ihnen ſelbſt als Feinde behandelt. Denn es iſt ein
Hauptmoment für die Könige, ihre gefangenen Feinde oder auch
ihre eigenen Unterthanen zu verkaufen , und die Sclaverei hat
inſofern mehr Menſchliches unter den Negern geweckt. Die
Lehre , die wir aus dieſem Zuſtande der Sclaverei bei den Ne
gern ziehen , und welche die allein für uns intereſſante Seite
daran ausmacht, iſt die , welche wir aus der Idee kennen , daß
der Naturzuſtand felbft der Zuſtand abſoluten und durchgängigen
Unrechts iſt. Jede Zwiſchenſtufe zwiſchen ihm und der Wirk
lichkeit des vernünftigen Staats hat ebenſo noch Momente und
Seiten der Ungerechtigkeit ; daher finden wir Sclaverei ſelbſt im
griechiſchen und römiſchen Staate, wie Leibeigenſchaft bis auf
die neuſten Zeiten hinein . So aber als im Staate vorhanden ,
iſt fie ſelbſt ein Moment des Fortſchreitens von der bloß verein
zelten , ſinnlichen Eriſtenz, ein Moment der Erziehung, eine Weiſe
des Theilhaftigwerdens höherer Sittlichkeit und mit ihr zuſammen
hängender Bildung. Die Sclaverei iſt an und für ſich Unrecht,
denn das Weſen des Menſchen iſt die Freiheit, doch zu dieſer
muß er erſt reif werden . Es iſt alſo die aumälige Abſchaffung
der Sclaverei etwas Angemeſſeneres und Nichtigeres , als ihre
plößliche Aufhebung.
Geographiſche Grundlage der Weltgeſdichte. 123
Wir verlaſſen hiermit Afrika , um ſpäterhin ſeiner feine Er
wähnung mehr zu thun. Denn es iſt kein geſchichtlicher Welt
theil, er hat keine Bewegung und Entwickelung aufzuweiſen, und
was etwa in ihm , das heißt in ſeinem Norden geſchehen iſt,
gehört der aſiatiſchen und europäiſchen Welt zu Carthago war
dort ein wichtiges und vorübergehendes Moment, aber als phö
niciſche Colonie fällt es Aſien zu. Egypten wird im Ueber
gange des Menſchengeiſtes von Dſten nach Weſten betrachtet
werden , aber es iſt nicht dem afrikaniſchen Geiſte zugehörig ;
was wir eigentlich unter Afrika verſtehen , das iſt das Geſchichte
loſe und Unaufgeſchloſſene, das noch ganz im natürlichen Geiſte
befangen iſt , und das hier bloß an der Schwelle der Weltges
ſchichte vorgeführt werden mußte.
Wir befinden uns ießt erſt, nachdem wir dieſes von uns
geſchoben haben , auf dem wirklichen Theater der Weltgeſchichte.
Es bleibt uns nur noch übrig , die geographiſche Grundlage
Afiens und Europa's vorläufig anzugeben . Afien iſt der Welt
theil des Aufgangs überhaupt. Es iſt zwar ein Weſten für
Amerika ; aber wie Europa überhaupt das Centrum und das
Ende der alten Welt iſt, und abſolut der Weſten iſt, fo Aſten
abſolut der Oſten .
In Aſien iſt das Licht des Geiſtes und damit die Welt=
geſchichte aufgegangen .
Es ſind nun die verſchiedenen Localitäten von Aſten zu be
trachten . Die phyſiſche Beſchaffenheit deſſelben ſtellt ſchlechthin
Gegenſäße auf und die weſentliche Beziehung dieſer Gegenſäße.
Die verſchiedenen geographiſchen Principien ſind in ſich ent
wickelte und ausgebildete Geſtaltungen .
Zuerſt iſt die nördliche Abdachung, Sibirien , wegzuſchnei
den . Dieſe Abdachung vom Altaiſchen Gebirgszuge aus mit
ihren ſchönen Strömen , die ſich in den nördlichen Ocean ergie
ßen , geht uns hier überhaupt nichts an ; weil die nördliche Zone,
124 Einleitung.
wie ſchon geſagt, außerhalb der Geſchichte liegt. – Aber das
Uebrige ſchließt drei ſchlechthin intereſſante Localitäten in fich .
Die erſte iſt, wie in Afrika, gediegenes Hochland, mit einem
Gebirgsgurt , der die höchſten Gebirge in der Welt enthält.
Begrenzt iſt dieſes Hochland im Süden und Südoſten durch
den Muſtag oder Imaus , mit dem dann weiter ſüdlich das
Himmalajagebirge parallel läuft. Gegen Oſten ſcheidet eine von
Süden nach Norden gehende Gebirgskette das Baſſin des Amur
ab. Im Norden liegt das Altaiſche und Songariſche Gebirge ;
im Zuſammenhange mit dem leßtern im Nordweſten der Muſſart
und im Weſten der Belurtag, welcher durch das Hindufuhge
birge wieder mit dem Muſtag verbunden iſt.
Dieſer hohe Gebirgsgurt iſt durchbrochen durch Ströme,
welche eingedämmt ſind und große Thalebenen bilden . Dieſe,
mehr oder weniger überſchwemmt, geben Mittelpunkte ungeheurer
Ueppigkeit und Fruchtbarkeit ab, und unterſcheiden ſich von den
europäiſchen Stromgebieten auf die Weiſe, daß ſie nichtwie dieſe
eigentliche Thäler mit Verzweigungen von Thälern formiren ,
ſondern Stromebenen . Dergleichen ſind nun : die chineſiſche Thal
ebene, gebildet durch den Hvang - ho und Jang - tſe - kiang,
den gelben und blauen Strom ; dann die von Indien durch den
Ganges ; weniger bedeutend iſt der Indus, der im Norden das
Land des Penjab beſtimmt und im Süden durch Sandebenen
fließt. Ferner die Länder des Tigris und Euphrat, die aus
Armenien herkommen und längs der perſiſchen Gebirge ſtrömen .
Das caspiſche Meer hat im Oſten und Weſten dergleichen Fluß
thäler , im Oſten durch den Drus und Farartes (Gihon und
Sihon ) , die ſich in den Aralſee ergießen , im Weſten durch den
Cyrus und Arares (Rur und Aras). - Das Hochland und
die Ebenen ſind von einander zu unterſcheiden ; das Dritte aber
iſt ihre Vermiſchung, welche in Vorderaſien auftritt. Dazu ge
hört Arabien , das Land der Wüſte , das Hochland der Fläche,
das Reich des Fanatismus : dazu gehört Syrien und Kleinaſien
Geographiſche Grundlage der Weltgeſchichte. 125

das mit dem Meere in Verbindung iſt, und in immerwährendem


Zuſammenhang mit Europa ſich befindet.
Für Aſien gilt nun hauptſächlich , was oben im Augemei
nen von den geographiſchen Unterſchieden bemerkt worden iſt,
daß nämlich die Viehzucht die Beſchäftigung des Hochlandes ,
der Ackerbau und die Bildung zum Gewerbe die Arbeit der
Thalebenen iſt, der Handel aber endlich und die Schiffahrt das
dritte Princip ausmacht. Patriarchaliſche Selbſtſtändigkeit iſt
mit dem erſten Princip , Eigenthum und Verhältniß von Herr
ſchaft und Knechtſchaft mit dem zweiten , und bürgerliche Freis
heit mit dem dritten Princip eng verbunden. Im Hochlande iſt
neben der Viehzucht, der Zucht der Pferde, Kameele und Schafe,
(weniger des Rindviehs), wiederum das ruhige Nomadenleben ſo
wohl, als auch das Schweifende und Unſtäte ihrer Eroberungen
zu unterſcheiden . Dieſe Völker, ohne ſich ſelbſt zur Geſchichte zu
entwickeln , befißen doch ſchon einen mächtigen Impuls zur Ver
änderung ihrer Geſtalt, und wenn ſie auch noch nicht einen hiſtos
riſchen Inhalt haben , ſo iſt doch der Anfang der Geſchichte aus
ihnen zu nehmen . Intereſſanter freilich ſind die Völker der
Thalebenen . In dem Ackerbau allein liegt ſchon das Aufhören
der Unſtätigkeit : er verlangt Vorſorge und Bekümmerniß um die
Zukunft. Somit iſt die Reflerion auf ein Allgemeines erwacht,
und hierin liegt ſchon das Princip des Eigenthums und des
Gewerbes. Zu Culturländern dieſer Art erheben ſich China,
Indien , Babylonien. Aber da ſich die Völker , die in dieſen
Ländern wohnten , in ſich beſchloſſen haben , und das Princip
des Meeres ſich nicht zu eigen machten , oder doch nur in der
Periode ihrer eben werdenden Bildung , und wenn ſie es be
ſchifften , dieß ohne Wirkung auf ihre Cultur blieb , ſo konnte
von ihnen nur inſofern ein Zuſammenhang mit der weiteren Ge:
ſchichte vorhanden ſeyn , als ſie ſelbſt aufgeſucht und erforſcht
wurden. Der Gebirgsgurt des Hochlands, das Hochland ſelbſt
und die Stromebenen find was Aften phyſikaliſch und geiſtig
126 Einleitung.

charakteriſirt ; aber fte ſelbſt ſind nicht die concret hiſtoriſchen Eles
mente , ſondern jener Gegenſatz ſteht ſchlechthin in Beziehung :
das Einwurzeln der Menſchen in die Fruchtbarkeit der Ebene iſt
für die Unſtätheit , die Unruhe und das Schweifende der Ge
birgs- und Hochlandsbewohner das beſtändige Object des Hin
ausſtrebens . Was natürlich auseinanderliegt, tritt weſentlich
in geſchichtliche Beziehung. – Beide Momente in einem hat
Vorderaſien und bezieht ſich deshalb auf Europa, denn was darin
hervorragend iſt, hat dieſes Land nicht bei fich behalten , ſondern
nach Europa entſendet. Den Aufgang aller religiöſen und aller
ſtaatlichen Principien ſtellt es dar, aber in Europa iſt erſt die
Entwicelung derſelben geſchehen .
Europa, zu dem wir nunmehr gelangen , hat die terreſtri
ſchen Unterſchiede nicht, wie wir ſie bei Aſien und Afrika aus
zeichneten . Der europäiſche Charakter iſt der , daß die früheren
Unterſchiede ihren Gegenſaß auslöſchend , oder denſelben doch
nicht ſcharf feſthaltend, die mildere Natur des Uebergangs ans
nehmen. Wir haben in Europa keine Hochländer den Ebenen
gegenüberſtehend. Die drei Theile Europa's haben daher einen
anderen Beſtimmungsgrund.
Der erſte Theil iſt das füdliche Europa , gegen das Mit
telmeer gekehrt. Nördlich von den Pyrenäen ziehen ſich durch
Frankreich Gebirge, die in Zuſammenhang mit den Alpen ſte
hen , welche Italien von Frankreich und Deutſchland trennen
und abſchließen . Auch Griechenland gehört zu dieſem Theile
von Europa. In Griechenland und Italien iſt lange das Thea
ter der Weltgeſchichte geweſen , und als die Mitte und der Nor
den von Europa uncultivirt waren , hat hier der Weltgeiſt ſeine
Heimath gefunden .
Der zweite Theil iſt das Herz Europa 's , das Cäſar, Gal
lien erobernd , aufſchloß. Dieſe That iſt die Mannesthat des
römiſchen Feldherrn ,welche erfolgreicher war als die Jünglingos
that Aleranders , der den Orient zu griechiſchem Leben zu erheben
Eintheilung. 127
unternahm , deſſen That, zwar dem Gehalte nach das Größte
und Schönſte für die Einbildungskraft , aber der Folge nach
gleich wie ein Ideal bald wieder verſchwunden iſt. — In dieſem
Mittelpunkte Europa's ſind Frankreich , Deutſchland und Eng
land die Hauptländer.
Den dritten Theil endlich bilden die nordöſtlichen Staaten
Europa's , Polen , Rußland, die ſlaviſchen Reiche. Sie kommen
erſt ſpät in die Reihe der geſchichtlichen Staaten , und bilden und
unterhalten beſtändig den Zuſammenhang mit Aſien . Was das
Phyſikaliſche der früheren Unterſchiede betrifft, ſo ſind ſie, wie
ſchon geſagt, nicht auffallend vorhanden , ſondern verſchwinden
gegen einander.

Eintheilung.

In der geographiſchen Ueberſicht iſt im Allgemeinen der


Zug der Weltgeſchichte angegeben worden . Die Sonne, das Licht
geht im Morgenlande auf. Das Licht iſt aber die einfache Bes
ziehung auf ſich : das in ſich jelbſt allgemeine Licht iſt zugleich
als Subject, in der Sonne. Man hat oft die Scene geſchildert,
wenn ein Blinder plößlich ſehend würde, die Morgendämmes
rung ſchaute, das werdende Licht, und die aufflammende Sonne.
Das unendliche Vergeſſen ſeiner ſelbſt in dieſer reinen Klarheit
iſt das Erſte, die vollendete Bewunderung. Doch iſt die Sonne
heraufgeſtiegen , dann wird dieſe Bewunderung geringer; die
Gegenſtände umher werden erſchaut, und von ihnen wird in 's
eigene Innere geſtiegen , und dadurch der Fortſchritt zum Ver
hältniß beider gemacht. Da geht der Menſch dann aus that
loſem Beſchauen zur Thätigkeit heraus, und hat am Abend ein
Gebäude erbaut, das er aus ſeiner innern Sonne bildete; und
128 Einleitung .
wenn er dieſes am Abend nun anſchaut, ſo achtet er es höher,
als die erſte äußerliche Sonne. Denn ießt ſteht er im Verhält
niß zu ſeinem Geiſte, und deshalb in freiem Verhältniß. Hal
ten wir dieß Bild feſt, ſo liegt ſchon darin der Gang der Welt
geſchichte, das große Tagewerk des Geiſtes .
Die Weltgeſchichte geht von Oſten nach Weſten , denn Eu
ropa iſt ſchlechthin das Ende der Weltgeſchichte, Aſien der An
fang. Für die Weltgeſchichte iſt ein Dſten rai žoxnv vor
handen , da der Oſten für ſich etwas ganz Relatives iſt; denn
obgleich die Erde eine Kugel bildet, ſo macht die Geſchichte doch
keinen Kreis um ſie herum , ſondern ſie hat vielmehr einen bes
ſtimmten Oſten und das iſt Aſien . Hier geht die äußerliche
phyſiſche Sonne auf, und im Weſten geht ſie unter : dafür ſteigt
aber hier die innere Sonne des Selbſtbewußtſeyns auf, die einen
höheren Glanz verbreitet. Die Weltgeſchichte iſt die Zucht von
der Unbändigkeit des natürlichen Willens zum Allgemeinen und
zur ſubjectiven Freiheit. Der Orient wußte und weiß nur, daß
Einer frei iſt, die griechiſche und römiſche Welt, daß Einige
frei ſeyen , die germaniſche Welt weiß, daß Alle frei ſind. Die
erſte Form , die wir daher in der Weltgeſchichte ſehen , iſt der
Despotismus , die zweite iſt die Demokratie und Ariſto
fratie, die dritte iſt die Monarchie.
In Nückſicht auf das Verſtändniß dieſer Eintheilung iſt zu
bemerken , daß, da der Staat das allgemeine geiſtige Leben iſt,
zu dem die Individuen durch die Geburt ſich mit Zutrauen und
Gewohnheit verhalten und in dem ſie ihr Weſen und ihre Wirk
lichkeit haben , es zunächſt darauf ankommt, ob ihr wirkliches les
ben die reflerionsloſe Gewohnheit und Sitte dieſer Einheit iſt,
oder ob die Individuen reflectirende und perſönliche, für fich
ſeyende Subjecte ſind. In dieſer Beziehung iſt es, daß die ſub
ſtantielle Freiheit von der ſubjectiven Freiheit zu unterſcheiden
iſt. Die ſubſtantielle Freiheit iſt die an ſich ſeyende Vernunft
des Willens, welche ſich dann im Staate entwickelt. Bei dieſer
Eintheilung. 129
Beſtimmung der Vernunft iſt aber noch nicht die eigene Einſicht
und das eigene Wollen , das heißt , die ſubjective Freiheit vor
handen , welche erſt in dem Individuum ſich ſelbſt beſtimmt, und.
das Reflectiren des Individuums in ſeinem Gewiſſen ausmacht.
Bei der bloß ſubſtantiellen Freiheit ſind die Gebote und Geſeße
ein an und für ſich Feſtes , wogegen ſich die Subjecte in voll
kommener Dienſtbarkeit verhalten . Dieſe Gefeße brauchen nun
dem eigenen Willen gar nicht zu entſprechen , und es finden ſich
die Subjecte ſomit den Kindern gleich , die ohne eigenen Willen
und ohne eigene Einſicht den Eltern gehorchen . Wie aber die
ſubjective Freiheit aufkommt, und der Menſch aus der äußeren
Wirklichkeit in ſeinen Geiſt herunterſteigt , ſo tritt der Gegenſatz
der Reflerion ein , welcher in ſich die Negation der Wirklichkeit
enthält. Das Zurücziehen nämlich von der Gegenwart bildet
ſchon in ſich einen Gegenſaß, deſſen eine Seite Gott, das Gött
liche, die andere aber das Subject, als Beſonderes iſt. Im un
mittelbaren Bewußtſeyn des Orients iſt Beides ungetrennt. Das
Subſtantielle unterſcheidet ſich auch gegen das Einzelne, aber der
Gegenſaß iſt noch nicht in den Geiſt gelegt.
Das Erſte, womit wir anzufangen haben , iſt daher der
Drient. Dieſer Welt liegt das unmittelbare Bewußtſeyn , die
ſubſtantielle Geiſtigkeit zu Grunde, zu welcher ſich der ſubjective
Wille zunächſt als Glaube , Zutrauen , Gehorſam verhält. Im
Staatsleben finden wir daſelbſt die realiſirte vernünftige Freiheit,
welche ſich entwickelt, ohne in ſich zur ſubjectiven Freiheit fort
zugehen. Es iſt das Kindesalter der Geſchichte. Subſtantielle
Geſtaltungen bilden die Prachtgebäude der orientaliſchen Reiche,
in welchen alle vernünftigen Beſtimmungen vorhanden ſind, aber
ſo , daß die Subjecte nur Accidenzien bleiben . Dieſe drehen ſich
um einen Mittelpunkt, um den Herrſcher, der als Patriarch, nicht
aber als Despot im Sinne des römiſchen Kaiſerreiches an der
Spiße ſteht. Denn er hat das Sittliche und Subſtantielle gels
tend zu machen : er hat die weſentlichen Gebote, welche ſchon
Philoſophie d. Geldiğte. 3. Aufl.
130 Einleitung .
vorhanden ſind , aufrecht zu erhalten , und was bei uns durch
aus zur ſubjectiven Freiheit gehört, das geht hier von dem Gan
zen und Allgemeinen aus. Die Pracht orientaliſcher Anſchauung
iſt das Eine Subject als Subſtanz, der Alles angehört, ſo daß
fein anderes Subject ſich abſcheidet, und in feine fubjective Frei
heit fich reflectirt. Aller Reichthum der Phantaſie und Natur
iſt dieſer Subſtanz angeeignet , in welcher die ſubjective Frei
heit weſentlich verſenkt iſt, und ihre Ehre nicht in ſich ſelbſt,
ſondern in dieſem abſoluten Gegenſtande hat. Ade Momente des
Staates , auch das der Subjectivität ſind wohl da, aber noch un
verſöhnt mit der Subſtanz. Denn außerhalb der Einen Macht,
vor der nichts ſelbſtſtändig fich geſtalten kann, iſt nichts vorhan
den , als gräuliche Wilfür, die außer derſelben ungedeihlich um
herſchweift. Wir finden daher , die wilden Schwärme aus dem
Hochlande hervorbrechend, in die Länder einfallen , fie verwüften ,
oder in ihrem Inneren ſich einhauſend die Wildheit aufgeben ,
überhaupt aber reſultatlos in der Subſtanz verſtäuben . Dieſe
· Beſtimmung der Subſtantialität zerfällt überhaupt gleich, eben
darum , weil ſie den Gegenſaß nicht in fich aufgenommen und
überwunden hat, in zwei Momente. Auf der einen Seite fehen
wir die Dauer , das Stabile — Reiche gleichſam des Raumes ,
eine ungeſchichtliche Geſchichte, wie z. B . in China den auf das
Familienverhältniß gegründeten Staat und eine väterliche Regie:
rung, welche die Einrichtung des Ganzen durch ihre Vorſorge,
Ermahnungen , Strafen oder mehr Züchtigungen zuſammenhält -
ein proſaiſches Reich , weil der Gegenſaß der Form , die Unend
lichkeit und Idealität noch nicht aufgegangen iſt. Auf der an
dern Seite ſteht dieſer räumlichen Dauer die Form der Zeit ge
genüber. Die Staaten , ohne fich in fich , oder im Princip , zu
verändern , find in unendlicher Veränderung gegen einander, in
unaufhaltſamem Conflicte, der ihnen ſchnellen Untergang bereitet.
In dieſes Gekehrtſein nach außen , den Streit und Kampf, tritt
das Anden des individuellen Princips ein , aber noch ſelbſt in
Eintheilung. 131

bewußtloſer, nur natürlicher Allgemeinheit - das Licht, welches


noch nicht das Licht der perſönlichen Seele iſt. Auch dieſe Ge
ſchichte iſt ſelbſt noch überwiegend geſchichtlos , denn ſie iſt nur
die Wiederholung deſſelben majeſtätiſchen Untergangs. Das
Neue, das durch Tapferkeit, Kraft, Edelmuth an die Stelle der
vorherigen Pracht tritt , geht denſelben Kreis des Verfalls und
Untergangs durch. Dieſer Untergang iſt alſo kein wahrhafter ,
denn es wird durch alle dieſe raſtloſe Veränderung kein Fort
ſchritt gemacht. Die Geſchichte geht hiemit und zwar nur äu
Berlich d. h. ohne Zuſammenhang mit dem Vorhergehenden , —
nach Mittelaſien überhaupt über. Wenn wir den Vergleich
mit den Menſchenaltern fortſeßen wollen , ſo wäre dieß das Kna
benalter, welches ſich nicht mehr in der Ruhe und dem Zutrauen
des Kindes , ſondern ſich raufend und herumſchlagend verhält.
Dem Jünglingsalter iſt dann die griechiſche Welt zu verglei
chen , denn hier ſind es Individualitäten , die ſich bilden . Dieß
iſt das zweite Hauptprincip der Weltgeſchichte. Das Sittliche
iſt wie in Aſien Princip, aber es iſt die Sittlichkeit, welche der
Individualität eingeprägt iſt , und ſomit das freie Wollen der
Individuen bedeutet. Hier iſt alſo die Vereinigung des Sittli
chen und des ſubjectiven Willens, oder das Reich der ſchönen
Freiheit , denn die Idee iſt mit einer plaſtiſchen Geſtalt verei
nigt : fte iſt noch nicht abſtract für ſich auf der einen Seite, ſon
dern unmittelbar mit dem Wirklichen verbunden , wie in einem
ſchönen Kunſtwerke das Sinnliche das Gepräge und den Aus
druck des Geiſtigen trägt. Dieſes Reich iſt demnach wahre Har
monie, die Welt der anmuthigſten , aber vergänglichen oder ſchnell
vorübergehenden Blüthe: es iſt die unbefangene Sittlichkeit, noch
nicht Moralität , ſondern der individuelle Wille des Subjects
ſteht in der unmittelbaren Sitte und Gewohnheit des Rechten
und der Geſeße. Das Individuum iſt daher in unbefangener
Einheit mit dem allgemeinen Zwed . Wag im Orient in zwei
Ertreme vertheilt iſt , in das Subſtantielle als ſolches und die
9*
132 Einleitung.

gegen daſſelbe zerſtäubende Einzelheit, kommt hier zuſammen .


Aber die getrennten Principe ſind nur unmittelbar in Einheit
und deßhalb zugleich der höchſte Widerſpruch an ſich ſelbſt.
Denn die ſchöne Sittlichkeit iſt noch nicht durch den Kampf der
ſubjectiven Freiheit, die ſich wiedergeboren hätte, herausgerungen ,
fie iſt noch nicht zur freien Subjectivität der Sittlichkeit herauf
gereinigt.
Das dritte Moment iſt das Reich der abſtracten Allgemein
heit: es iſt das römiſche Reich , die ſaure Arbeit des Mans
nesalters der Geſchichte. Denn das Mannesalter bewegt ſich
weder in der Widfür des Herrn , noch in der eignen ſchönen Will
für, ſondern dient dem allgemeinen Zweck, worin das Individuum
untergeht, und ſeinen eigenen Zweck nur in dem allgemeinen er
reicht. Der Staat fängt an fich abſtract herauszuheben , und
zu einem Zwecke zu bilden , an dem die Individuen auch Antheil
haben , aber nicht einen durchgehenden und concreten . Die freien
Individuen werden nämlich der Härte des Zwecks aufgeopfert,
dem ſie in dieſem Dienſte für das ſelbſt abſtract Allgemeine fich
hingeben müſſen . Das römiſche Reich iſt nicht mehr das Reich
der Individuen , wie es die Stadt Athen war. Hier iſt keine
Frohheit und Freudigkeit mehr, ſondern harte und ſaure Arbeit.
Das Intereſſe löft fich ab von den Individuen , dieſe aber ge
winnen an ihnen ſelbſt die abſtracte formelle Augemeinheit. Das
Allgemeine unterjocht die Individuen , ſie haben ſich in demſelben
aufzugeben , aber dafür erhalten ſie die Augemeinheit ihrer ſelbſt,
das heißt , die Perſönlichkeit: ſie werden rechtliche Perſonen als
Privaten . In eben dem Sinne, wie die Individuen dem ab
ſtracten Begriffe der Perſon einverleibt werden , haben auch die
Völferindividuen dieß Schickſal zu erfahren ; unter dieſer Auges
meinheit werden ihre concreten Geſtalten zerdrückt und derſelben
als Maſſe einverleibt. Rom wird ein Pantheon aller Götter,
und alles Geiſtigen , aber ohne daß dieſe Götter und dieſer Geiſt
ihre eigenthümliche Lebendigkeit behalten . – Die Entwidlung
Eintheilung. 133

dieſes Reiches geht nach zweien Seiten hin . Einerſeits hat es


als auf der Reflerion, der abſtracten Allgemeinheit , ruhend den
ausdrücklichen , ausgeſprochenen Gegenſaß in ſich ſelbſt: es ſtellt
alſo weſentlich den Kampf deſſelben innerhalb feiner dar , mit
dem nothwendigen Ausgang, daß über die abſtracte Allgemein
heit die wilfürliche Individualität, die vollkommen zufällige und
durchaus weltliche Gewalt Eines Herrn , die Oberhand erhält.
Urſprünglich iſt der Gegenſaß zwiſchen dem Zwecke des Staats
als der abſtracten Allgemeinheit und zwiſchen der abſtracten Per
ſon vorhanden ; als aber dann im Verlaufe der Geſchichte die
Perſönlichkeit das Ueberwiegendewird, und ihr Zerfallen in Atome
nur äußerlich zuſammengehalten werden kann, da tritt die ſubjec
tive Gewalt der Herrſchaft als zu dieſer Aufgabe berufen hervor.
Denn die abſtracte Geſezmäßigkeit iſt dieß , nicht concret in fich
ſelbſt zu ſeyn , ſich nicht in ſich organiſirt zu haben , und dieſe,
indem ſie zur Macht geworden , hat nur eine willkürliche Macht
als zufällige Subjectivität zum Bewegenden und zum Herrſchen
den ; und der Einzelne ſucht in entwickeltem Privatrecht den Troſt
für die verlorne Freiheit. Dieß iſt die rein weltliche Verſöh
nung des Gegenſaßes . Aber nun wird auch der Schmerz über
den Despotismus fühlbar, und der Geiſt in ſeine innerſten Tie
Fen zurückgetrieben verläßt die götterloſe Welt, ſucht in ſich ſelber
die Verſöhnung und beginnt nun das Leben ſeiner Innerlichkeit,
einer erfüllten concreten Innerlichkeit, die zugleich eine Subſtan
tialität beſißt, welche nicht allein im äußerlichen Daſeyn wurzelt.
So erzeugt ſich im Innern die geiſtige Verſöhnung , nämlich
dadurch, daß die individuelle Perſönlichkeit vielmehr zur Allgemein
heit gereinigt und verklärt wird, zur an und für ſich allgemeinen
Subjectivität, zur göttlichen Perſönlichkeit. Jenem nur weltlichen
Reich wird ſo vielmehr das geiſtige gegenübergeſtellt, das Reich
der ſich wiſſenden , und zwar in ihrem Weſen ſich wiſſenden
Subjectivität, des wirklichen Geiſtes.
Hiemit tritt dann das Germaniſche Reich , das vierte
134 Einleitung.

Moment der Weltgeſchichte ein : dieſes entſprache nun in der Ver


gleichung mit den Menſchenaltern dem Greiſenalter. Das
natürliche Greiſenalter iſt Schwäche: das Greiſenalter des Gei:
ftes aber iſt ſeine vollkommene Reife , in welcher er zurückgeht
zur Einheit, aber als Geiſt. — Dieſes Reich beginnt mit der
im Chriſtenthume geſchehenen Verſöhnung, aber ſie iſt nur an
ſich volbracht, und deßwegen beginnt es vielmehr mit dem unge
heuren Gegenſatz des geiſtigen , religiöſen Princips und der bar
bariſchen Wirklichkeit ſelbſt. Denn der Geiſt als Bewußtſeyn
einer innerlichen Welt iſt im Anfange felber noch abſtract: die
Weltlichkeit iſt dadurch der Rohheit und Widfür überlaſſen .
Dieſer Rohheit und Wilfür tritt zuerſt das mohamedaniſche
Princip , die Verklärung der orientaliſchen Welt entgegen . Es
iſt ſpäter und raſcher ausgebildet, wie das Chriſtenthum , denn
dieſes bedarf acht Jahrhunderte, um ſich zu einer Weltgeſtalt
emporzubilden . Doch zur concreten Wirklichkeit iſt das Princip
der germaniſchen Welt nur durch die germaniſchen Nationen aus
gebildet worden . Der Gegenſaß des geiſtigen Princips im geiſt
lichen Reich und der rohen und wilden Barbarei im weltlichen
iſt hier ebenſo vorhanden . Die Weltlichkeit ſoll dem geiſtigen
Princip angemeſſen ſeyn , aber ſoll es nur : die geiſtesverlaſſene
weltliche Macht muß zunächſt gegen die geiſtliche verſchwinden ;
indem ſich aber dieſe legtere in die erſte verſenkt, verliert ſie mit
ihrer Beſtimmung auch ihre Macht. Aus dieſem Verderben der
geiſtlichen Seite, das heißt, der Kirche, geht die höhere Form des
vernünftigen Gedankens hervor: der in ſich abermals zurückge
drängte Geiſt producirt ſein Werk in denkender Geſtalt , und iſt
fähig geworden , aus dem Princip der Weltlichkeit allein das
Vernünftige zu realiſiren . So geſchieht es , daß durch die Wirk
ſamkeit allgemeiner Beſtimmungen , die das Princip des Geiſtes
zur Grundlage haben , das Reich des Gedankens zur Wirklich
keit herausgeboren wird. Die Gegenfäße von Staat und Kirche
verſchwinden ; der Geiſt findet ſich in die Weltlichkeit und bildet
Eintheilung. 135
dieſe, als ein in ſich organiſches Daſeyn aus. Der Staat ſteht
der Kirche nicht mehr nach , und iſt ihr nicht mehr untergeord
net; dieſe legtere behält kein Vorrecht, und das Geiſtige iſt dem
Staate nicht mehr fremd. Die Freiheit hat die Handhabe ge
funden , ihren Begriff, wie ihre Wahrheit zu realiſiren . Dieſes
iſt das Ziel der Weltgeſchichte, und wir haben den langen Weg
zu machen , der eben überſichtlich angegeben iſt. Doch Länge der
Zeit iſt etwas durchaus Relatives und der Geiſt gehört der Ewig
keit an . Eine eigentliche Länge giebt es für ihn nicht.
Erſter Theil.
Die orientaliſche Welt.

W ir haben die Aufgabe, mit der orientaliſchen Welt zu begin


nen , und zwar inſofern wir Staaten in derſelben ſehen . Die
Verbreitung der Sprache und die Ausbildung der Völkerſchaften
liegt jenſeits der Geſchichte. Die Geſchichte iſt proſaiſch , und
Mythen enthalten noch keine Geſchichte. Das Bewußtſeyn des
äußerlichen Daſeyns tritt erſt ein mit abſtracten Beſtimmungen ,
und ſowie die Fähigkeit vorhanden iſt Geſeße auszudrücken , ſo
tritt auch die Möglichkeit ein die Gegenſtände proſaiſch aufzu
faſſen . Indem das Vorgeſchichtliche das iſt, was dem Staats
leben vorangeht, liegt es jertſeits des felbſtbewußten Lebens, und
wenn Ahnungen und Vermuthungen hier aufgeſtellt werden , ſo
ſind dieſes noch keine Facta . Die orientaliſche Welt hat als ihr
näheres Princip die Subſtantialität des Sittlichen . Es iſt die
erſte Bemächtigung der Willkür, die in dieſer Subſtantialität
verſinkt. Die fittlichen Beſtimmungen ſind als Gefeße ausges
ſprochen , aber ſo, daß der ſubjective Wille von den Gefeßen als
von einer äußerlichen Macht regiert wird , daß alles Innerliche,
Geſinnung, Gewiſſen , formelle Freiheit nicht vorhanden iſt, und
daß inſofern die Geſeße nur auf eine äußerliche Weiſe ausgeübt
werden , und nur als Zwangsrecht beſtehen . Unſer Civilrecht
enthält zwar auch Zwangspflichten : ich kann zum Herausge
ben eines fremden Eigenthums, zum Halten eines geſchloſſes
nen Vertrages angehalten werden ; aber das Sittliche liegt doch
bei uns nicht allein im Zwange , ſondern im Gemüthe und in
Erſter Theil. Die orientaliſche Welt. 137

der Mitempfindung. Dieſes wird im Oriente ebenfalls äußerlich


anbefohlen , und wenn auch der Inhalt der Sittlichkeit ganz rich
tig angeordnet iſt , ſo iſt doch das Innerliche äußerlich gemacht.
Es fehlt nicht an dem Willen , der es befiehlt, wohl aber an
dem , welcher es darum thut, weil es innerlich geboten iſt. Weil
der Geiſt die Innerlichkeit noch nicht erlangt hat, ſo zeigt er ſich
überhaupt nur als natürliche Geiſtigkeit. Wie Heußerliches
und Innerliches , Gefeß und Einſicht noch eins find, ſo iſt es
auch die Religion und der Staat. Die Verfaſſung iſt im Gan
zen Theokratie, und das Reich Gottes iſt ebenſo weltliches Reich ,
als das weltliche Reich nicht minder göttlich iſt. Was wir
Gott nennen iſt im Drient noch nicht zum Bewußtſeyn gekom
men, denn unſer Gott tritt erſt in der Erhebung zum Ueberſinns
lichen ein , und wenn wir gehorchen , weil wir das , was wir
thun , aus uns felbft nehmen , ſo iſt dort das Gefeß das Gel
tende an fich , ohne dieſes ſubjectiven Dazutretens zu bedürfen .
Der Menſch hat darin nicht die Anſchauung ſeines eigenen , ſons
dern eines ihm durchaus fremden Wollens.
Von den einzelnen Theilen Aſtens haben wir ſchon als un
geſchichtliche ausgeſchieden : Hochaften , ſo weit und ſo lange die
Nomaden deſſelben nicht auf den geſchichtlichen Boden heraus
treten , und Sibirien . Die übrige aſiatiſche Welt theilt ſich in
vier Terrain 's , erſtens : die Stromebenen , gebildet durch den
gelben und blauen Strom , und das Hochland Hinteraſtens, –
China und die Mongolen . Zweitens : das Thal des Ganges
und das des Indus. Das dritte Theater der Geſchichte ſind die
Stromebenen des Drus und Farartes , das Hochland von Per
fien und die andren Thalebenen des Euphrat und Tigris , woran
fich Vorderaſten anſchließt. Viertens: die Stromebene des Nil.
Mit China und den Mongolen , dem Reiche der theo
fratiſchen Herrſchaft, beginnt die Geſchichte. Beide haben das
Patriarchaliſche zu ihrem Princip , und zwar auf die Weiſe, daß
es in China zu einem organiſirten Syſteme weltlichen Staats
138 Erſter Theil .

lebens entwickelt iſt, während es bei den Mongolen ſich in die


Einfachheit eines geiſtigen , religiöſen Reichs zuſammennimmt. In
China iſt der Monarch Chef als Patriarch : die Staatsgeſepe
find theils rechtliche, theils moraliſche, ſo daß das innerliche Ge
ſeß, das Wiſſen des Subjects vom Inhalte ſeines Wollens, als
ſeiner eigenen Innerlichkeit, ſelbſt als ein äußerliches Rechtsge
bot vorhanden iſt. Die Sphäre der Innerlichkeit kommt daher
hier nicht zur Reife , da die moraliſchen Gefeße wie Staatsge
ſeße behandelt werden , und das Rechtliche ſeinerſeits den Schein
des Moraliſchen erhält. Alles was wir Subjectivität nennen ,
iſt in dem Staatsoberhaupt zuſammengenommen , der , was er
beſtimmt, zum Beſten , Heil und Frommen des Ganzen thut.
Dieſem weltlichen Reiche ſteht nun als Geiſtliches das Mongo
liſche gegenüber , deſſen Oberhaupt der Lama iſt, der als Gott,
verehrt wird. In dieſem Reiche des Geiſtigen kommt es zu kei
nem weltlichen Staatsleben .
In der zweiten Geſtalt, dem indiſchen Reiche, ſehen wir
die Einheit des Staatsorganismus , die vollendete Maſchinerie,
wie ſie in China beſteht, zunächſt aufgelöſt: die beſonderen Mächte
erſcheinen als losgebunden und frei gegen einander. Die ver
ſchiedenen Caften find freilich firirt, aber durch die Religion,
welche ſie reßt, werden ſie zu natürlichen Unterſchieden . Dadurch
werden die Individuen noch ſelbſtloſer, obgleich es ſcheinen könnte,
als wenn ſte durch das Freiwerden der Unterſchiede gewönnen ,
denn indem der Organismus des Staates nicht mehr, wie in
China , von dem einem ſubſtantiellen Subject beſtimmt und ge
gliedert wird , fallen die Unterſchiede der Natur anheim , und
werden Caſtenunterſchiede. Die Einheit, in welche dieſe Abthei
lungen am Ende zuſammenkommen müſſen , iſt eine religiöſe,
und ſo entſteht theokratiſche Ariſtokratie und ihr Despotismus.
Es beginnt hier nun zwar ebenſo der Unterſchied des geiſtigen
Bewußtſeyns gegen weltliche Zuſtände , aber wie die Loggebun
denheit der Unterſchiede die Hauptſache iſt , ſo findet ſich auch
Die orientaliſche Welt. 139
in der Religion das Princip der Zſolirung der Momente der
Idee, welches die höchſten Ertreme, nämlich die Vorſtellung des
abſtract Einen und einfachen Gottes und der allgemein ſinnlichen
Naturmächte enthält. Der Zuſammenhang beider ift nur ein
ſteter Wechſel, ' ein nie beruhigtes Schweifen von einem Ertrem
zu dem anderen hinüber, ein wilder conſequenzloſer Taumel, der
einem geregelten verſtändigen Bewußtſeyn als Verrücktheit er
ſcheinen muß.
Die dritte große Geſtalt, die nun gegen das bewegungsloſe
Eine China's , und die ſchweifende ungebundene indiſche Unruhe
auftritt, iſt das perſiſche Reich . China iſt ganz eigenthüimlich
orientaliſch ; Indien könnten wir mit Griechenland, Perſten
dagegen mit Nom paralleliſtren . In Perſien nämlich tritt das
Theokratiſche als Monarchie auf. - Nun iſt die Monarchie eine
ſolche Verfaſſung, die ihre Gliederung wohl in der Spiße eines
Oberhauptes zuſammennimmt, aber dieſes weder als das ſchlecht
hin allgemein Beſtimmende, noch als das willkürlich Herrſchende
auf dem Throne ſtehen fieht, ſondern ſo, daß ſein Wille als
Gefeßlichkeit vorhanden iſt, die es mit ſeinen Unterthanen theilt.
So haben wir ein allgemeines Princip , ein Gefeß, das Allem
zu Grunde liegt, aber das ſelbſt noch als natürlich mit dem
Gegenſaße behaftet iſt. Daher iſt die Vorſtellung, die der
Geiſt von ſich ſelbſt hat, auf dieſer Stufe noch eine ganz na
türliche , das Licht. Dieſes allgemeine Princip iſt ebenſo die
Beſtimmung für den Monarchen , als für jeden der Untertha
nen , und der perſiſche Geiſt iſt ſo der reine, gelichtete, die Idee
eines Volkes in reiner Sittlichkeit , wie in einer heiligen Ge
meine lebend. Dieſe aber hat theils als natürliche Gemeine
den Gegenſaß unüberwunden an ihr, und ihre Heiligkeit erhält
dieſe Beſtimmung des Sollens , theils aber zeigt ſich in Perſien
dieſer Gegenſaß als das Reich feindlicher Völker , ſowie als der
Zuſammenhang der verſchiedenſten Nationen . Die perſiſche Ein
heit iſt nicht die abſtracte des chineſiſchen Reiches , ſondern ſie
140 Erſter Theil.

iſt beſtimmt, über viele unterſchiedene Völkerſchaften , die ſie uns


ter der milden Gewalt ihrer Augemeinheit vereinigt , zu herr
ſchen und wie eine ſegnende Sonne über alle hinwegzuleuchten ,
erwedend und wärmend. Alles Beſondere läßt dieſe Augemein
heit , die nur die Wurzel iſt, frei aus ſich herausſchlagen , und
fich, wie es mag, ausbreiten und verzweigen . Im Syſteme das
her dieſer beſonderen Völker ſind auch alle verſchiedenen Prin
cipien vollſtändig auseinandergelegt , und eriſtiren nebeneinander
fort. Wir finden in dieſer Völkerzahl ſchweifende Nomaden ;
dann ſehen wir in Babylonien und Syrien Handel und Ge
werbe ausgebildet, die tollfte Sinnlichkeit , den ausgelaſſenſten
Taumel. Durch die Küſten kommt die Beziehung nach außen .
Mitten in dieſem Pfuhl tritt uns der geiſtige Gott der Fuden
entgegen , der nur wie Bram für den Gedanken iſt, doch eifrig,
und alle Beſonderheit des Unterſchiedes , die in anderen Reli
gionen freigelaſſen iſt, aus ſich ausſchließend und aufhebend.
Dieſes perſiſche Reich alſo , weil es die beſonderen Principien
frei für ſich kann gewähren laſſen , hat den Gegenſaß lebendig
in ſich ſelbſt, und nicht abſtract und ruhig , wie China und
Indien , in ſich beharrend, macht es einen wirklichen Uebergang
in der Weltgeſchichte.
Wenn Perſien den äußerlichen Uebergang in das griechiſche
Leben macht , ſo iſt der innerliche durch Aegypten vermittelt.
Hier werden die abſtracten Gegenfäße durchdrungen ; eine Durch
dringung, die eine Auflöſung derſelben iſt. Dieſe nur an fich
ſeyende Verſöhnung ſtellt vielmehr den Kampf der widerſprechende
ſten Beſtimmungen dar, die ihre Vereinigung noch nicht heraus
zugebären vermögen , ſondern , dieſe Geburt fich als Aufgabe
feßend, ſich für ſich ſelbſt und Andere zum Räthſel machen , deſſen
Löſung erſt die griechiſche Welt iſt.
Vergleichen wir dieſe Reiche nach ihren verſchiedenen Schic
ſalen : ſo iſt das Reich des chineſiſchen Strompaares das einzige
Reich der Dauer in der Welt. Eroberungen fönnen ſolchem
Die orientaliſche Welt. 141

Reiche nichts anhaben . Auch die Welt des Ganges und Ins
dus iſt erhalten : ſolche Gedankenloſigkeit iſt gleichfalls unvergäng
lich; aber ſie iſt weſentlich dazu beſtimmt, vermiſcht, bezwungen ,
und unterdrückt zu werden . Wie dieſe zwei Reiche , nach der
zeitlichen Gegenwart , auf Erden geblieben , ſo iſt dagegen
von den Reichen des Tigris und Euphrat nichts mehr übrig,
als höchſtens ein Haufen von Backſteinen ; denn das perftſche
Reich als das des Uebergangs iſt das vergängliche , und die
Reiche des Caspiſchen Meeres ſind dem alten Kampf von Iran
und Turan preisgegeben . Das Reich des Einen Nil aber iſt
nur unter der Erde vorhanden , in ſeinen ſtummen Todten , die ieşti
in alle Welt verſchleppt werden , und in deren majeſtätiſchen Be
hauſingen ; – denn was über der Erde noch ſteht, ſind ſelbſt
nur ſolche prächtige Gräber. –

Erſter Abſchnitt.
China.
Mit dem Reiche China hat die Geſchichte zu beginnen
denn es iſt das älteſte, ſo weit die Geſchichte Nachricht giebt,
und zwar iſt ſein Princip von ſolcher Subſtantialität , daß es
zugleich das älteſte und neueſte für dieſes Reich iſt. Früh
fchon ſehen wir China zu dem Zuſtande heranwachſen , in wels
chem es ſich heute befindet, denn da der Gegenſaß von objecti
vem Seyn und ſubjectiver Daranbewegung noch fehlt, ſo iſt jede
Veränderlichkeit ausgeſchloſſen , und das Statariſche , das ewig
wieder erſcheint, erſeßt das , was wir das Geſchichtliche nennen
würden . China und Indien liegen gleichſam noch außer der
Weltgeſchichte , als die Vorausſeßung der Momente , deren Zus
142 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
ſammenſchließung erft ihr lebendiger Fortgang wird. Die Einheit
von Subftantialität und ſubjectiver Freiheit iſt ſo ohne Unter
fchied und Gegenſaß beider Seiten , daß eben dadurch die Sub
ſtanz nicht vermag zur Reflerion in fich , zur Subjectivität zu
gelangen . Das Subſtantielle , das als Sittliches erſcheint,
herrſcht ſomit nicht als Geſinnung des Subjects , ſondern als
Despotie des Oberhauptes .
Rein Volk hat eine ſo beſtimmt zuſammenhängende Zahl
von Geſchichtſchreibern , wie das chineſiſche. Auch andere aſtati
ſche Völfer haben uralte Traditionen , aber keine Geſchichte. Die
Veda's der Inder ſind eine ſolche nicht ; die leberlieferungen
der Araber ſind uralt , aber ſie beruhen nicht auf einem Staat
und ſeiner Entwickelung. Dieſer beſteht aber in China und hat
ſich hier eigenthümlich herausgeſtellt. Die chineſiſche Tradition
ſteigt bis auf 3000 Jahre vor Chriſti Geburt hinauf; und der
Schu - king , das Grundbuch derſelben , welches mit der Regies
rung des Yao beginnt, feßt dieſe 2357 Jahre vor Chriſti
Geburt. Beiläufig mag hier bemerkt werden , daß auch die ans
deren aſiatiſchen Reiche in der Zeitrechnung weit hinauf führen .
Nach der Berechnung eines Engländers 'geht die ägyptiſche Gear
fchichte z. B . bis auf 2207 Jahre vor Chriſtus, die affyriſche
bis auf 2221, die indiſche bis auf 2204 hinauf. Alſo bis auf
ungefähr 2300 Jahre vor Chriſti Geburt ſteigen die Sagen in
Anſehung der Hauptreiche des Orients. Wenn wir dieß mit
der Geſchichte des alten Teſtaments vergleichen , ſo ſind , nach
der gewöhnlichen Annahme, von der noachiſchen Sündfluth bis
auf Chriſtus 2400 Jahre verfloſſen . Johannes von Müller
hat aber gegen dieſe Zahl bedeutende Einwendungen gemacht.
Er feßt die Sündfluth in das Jahr 3473 vor Chriſtus, alſo
ungefähr um 1000 Jahre früher, indem er ſich dabei nach der
alerandriniſchen Ueberſeßung der moſaiſchen Bücher richtet. Ich
bemerke dieß nur darum , daß, wenn wir Daten von höherem
Alter als 2400 Jahre vor Chr. begegnen und doch nichts von
Erſter Abſchnitt. China. 143

der Fluth hören , uns das in Bezug auf die Chronologie nicht
weiter geniren darf.
Die Chineſen haben Ur- und Grundbücher, aus denen ihre
Geſchichte , ihre Verfaſſung und Religion erkannt werden kann .
Die Veda 's , die moſaiſchen Urkunden ſind ähnliche Bücher ;
wie auch die homeriſchen Gefänge. Bei den Chineſen führen
dieſe Bücher den Namen der King's und machen die Grundlage
aller ihrer Studien aus. Der Schu - king enthält die Ge
ſchichte, handelt von der Regierung der alten Könige, und giebt
die Befehle, die von dieſem oder jenem Könige ausgegangen ſind.
Der Y - king beſteht aus Figuren , die man als Grundlagen
der chineſiſchen Schrift angeſehen hat, ſowie man auch dieſes
Buch als Grundlage der chineſiſchen Meditation betrachtet.
Denn es fängt mit den Abſtractionen der Einheit und Zweiheit
an , und handelt dann von concreten Eriſtenzen ſolcher abſtrac
ten Gedankenformen . Der Schi-king endlich iſt das Buch der
älteſten Lieder der verſchiedenſten Art. Alle hohen Beamten
hatten früher den Auftrag, bei dem Jahresfeſte alle in ihrer
• Provinz im Jahre gemachten Gedichte mitzubringen . Der Kais
ſer inmitten ſeines Tribunals war der Richter dieſer Gedichte,
und die für gut erkannten erhielten öffentliche Sanction . Außer
dieſen drei Grundbüchern , die beſonders verehrt und ſtudiertwer
den , giebt es noch zwei andere, weniger wichtige , nämlich den
li - fi ( auch Li - king ) , welcher die Gebräuche und das Cere
monial gegen den Kaiſer und die Beamten enthält, mit einem
Anhang Yo - king, welcher von der Muſik handelt, und den
Tſchun - tſin , die Chronik des Reiches Lu , wo Confucius
auftrat. Dieſe Bücher ſind die Grundlage der Geſchichte, der
Sitten und der Gefeße China's .
Dieſes Reich hat ſchon früh die Aufmerkſamkeit der Euro
päer auf ſich gezogen , wenngleich nur unbeſtimmte Sagen da
von vorhanden waren . Man bewunderte es immer als ein
144 Erſter Theil. Die orientaliſớe Welt.
Land, das, aus ſich ſelbſt entſtanden , gar keinen Zuſammenhang
mit dem Auslande zu haben ſchien .
Im dreizehnten Jahrhunderte ergründete es ein Venetianer
(Marco Polo ) zum erſten Male, allein man hielt ſeine Auss
ſagen für fabelhaft. Späterhin fand ſich Alles , was er über
ſeine Ausdehnung und Größe ausgeſagt hatte , volkommen be
ſtätigt. Nach der geringſten Annahme nämlich würde China
150 Millionen Menſchen enthalten ; nach einer andern 200,
und nach der höchſten fogar 300 Millionen . Vom hohen Nor
den erſtreckt es ſich gegen Süden bis nach Indien , im Often
wird es durch das große Weltmeer begrenzt, und gegen Weſten
verbreitet es ſich bis nach Perſien nach dem caspiſchen Meere
zu . Das eigentliche China ift . übervölkert. An den beiden
Strömen Hoang -ho und Yang -tſe - kiang halten fich mehrere
Millionen Menſchen auf, die auf Flößen , ganz nach ihrer Bes
quemlichkeit eingerichtet, leben . Die Bevölkerung , die durchaus
organiſirte und bis in die kleinſten Details hineingearbeitete
Staatsverwaltung hat die Europäer in Erſtaunen geſeßt, und
hauptſächlich verwunderte die Genauigkeit, mit der die Geſchichts
werke ausgeführt waren . In China gehören nämlich die Ge
ſchichtsſchreiber zu den höchſten Beamten . Zwei ſich beſtändig in
der Umgebung des Kaiſers befindende Miniſter haben den Auf
trag, Alles, was der Kaiſer thut, befiehlt und ſpricht, auf Zettel
zu ſchreiben , die dann von den Geſchichtsſchreibern verarbeitet
und benußt werden . Wir können uns freilich in die Einzelnheis
ten dieſer Geſchichte weiter nicht einlaſſen , die, da ſie ſelbſt nichts
entwickelt , uns in unſerer Entwickelung hemmen würde. Sie
geht in die ganz alten Zeiten hinauf, wo als Culturſpender
Fohi genannt wird, der zuerſt eine Civiliſation über China ver
breitete. Er ſoll im 29ſten Jahrhundert vor Chriſtus gelebt
haben , alſo vor der Zeit , in welcher der Schu - king anfängt ;
aber das Mythiſche und Vorgeſchichtliche wird von den chineſiſchen
Geſchichtsſchreibern ganzwie etwas Geſchichtliches behandelt. Der
Erſter Abſchnitt. China . 145

erſte Boden der chineſiſchen Geſchichte iſt der nordweſtliche Win


kel, das eigentliche China, gegen den Punkt hin , wo der Ho
ang -ho von dem Gebirge herunterkommt; denn erſt ſpäterhin
erweiterte fich das chineſiſche Reich gegen Süden , nach dem
Yang -tſe - kiang zu. Die Erzählung beginnt mit dem Zuſtande,
wo die Menſchen in der Wildheit , das heißt in den Wäldern
gelebt, ſich von den Früchten der Erde genährt und mit den
Fellen wilder Thiere bekleidet haben . Keine Kenntniß von be
ſtimmten Geſeßen war unter ihnen . Dem Fohi (wohl zu unters
fcheiden von Fo, dem Stifter einer neuen Religion ) wird es zu
geſchrieben , daß er den Menſchen gelehrt habe, fich Hütten zu
bauen und Wohnungen zu machen ; er habe ihre Aufmerkſamkeit
auf den Wechſel und die Wiederkehr der Jahreszeiten gelenkt,
Tauſch und Handel eingeführt, das Ehegeſeß begründet; er habe
gelehrt , daß die Vernunft vom Himmel komme , und Unterricht
in der Seidenzucht, im Brückenbau, und in dem Gebrauch von
Laſtthieren ertheilt. Ueber alle dieſe Anfänge laſſen ſich die chi
neſiſchen Geſchichtsſchreiber ſehr weitläufig aus. Die weitere Ge
ſchichte iſt dann die Ausbreitung der entſtandenen Geſittung nach
Süden zu , und das Beginnen eines Staates und einer Regie
rung. Das große Reich , das ſich ſo nach und nach gebildet
hatte , zerfiel bald in mehrere Provinzen , die lange Kriege mit
einander führten , und ſich dann wieder zu einem Ganzen ver
einigten . Die Dynaſtien haben in China oft gewechſelt, und die
jeßt herrſchende wird in der Regel als die 22ſte bezeichnet. Im
Zuſammenhang mit dem Auf- und Abgehen dieſer Herrſcherge
ſchlechter wechſelten auch die verſchiedenen Hauptſtädte, die ſich
in dieſem Reiche finden . Lange Zeit war Nanking die Haupt
ſtadt , jeßt iſt es Peking. früher waren es noch andere Städte.
Viele Kriege hat China mit den Tartaren führen müſſen , die
weit ins Land eindrangen . Den Einfällen der nördlichen No
maden wurde die von Schi- hoang - ti erbaute lange Mauer ent
gegengeſeßt,welche immer als Wunderwerf betrachtet worden iſt.
Philoſophie 0. Geſõidyte. 3. Aufl. 10
146 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
Dieſer Fürſt hat das ganze Reich in 36 Provinzen getheilt, und
iſt auch dadurch beſonders merkwürdig, daß er die alte Literatur
und namentlich die Geſchichtsbücher und die geſchichtlichen Be
ſtrebungen überhaupt verfolgte. Es geſchah dieſes in der Ab
ſicht , die eigene Dynaſtie zu befeſtigen , durch die Vernichtung
des Andenkens der früheren . Nachdem die Geſchichtsbücher zu
fammengehäuft und verbrannt waren , flüchteten ſich mehrere
hundert Gelehrte auf die Berge, um das, was ihnen an Wer
ken noch übrig blieb, zu erhalten . Jeder von ihnen , der aufge
griffen wurde, hatte ein gleiches Schickſal, wie die Bücher. Die
ſes Bücherverbrennen iſt ein ſehr wichtiger Umſtand, denn troß
demſelben haben ſich die eigentlichen kanoniſchen Bücher dennoch
erhalten , wie dieß überall der Fall iſt. Die Verbindung China's
mit dem Abendlande fällt ungefähr in das Jahr 64 nach Chriſti
Geburt. Damals ſandte, ſo heißt es, ein chineſiſcher Kaiſer Ge
ſandte ab , die Weiſen des Abendlandes zu beſuchen . Zwanzig
Jahre ſpäter ſoll ein chineſiſcher General bis Judäa vorgedrungen
ſeyn ; im Anfange des achten Jahrhunderts nach Chriſti Geburt
ſeyen die erſten Chriſten nach China gekommen , wovon ſpätere
Ankömmlinge noch Spuren und Denkmale gefunden haben wol
len . Ein im Norden China's beſtehendes tartariſches Königreich
Lyau - tong fey mit Hülfe der weſtlichen Tartaren um 1100 von
den Chineſen zerſtört und überwunden worden , was jedoch eben
dieſen Tartaren die Gelegenheit gab , feſten Fuß in China zu
faſſen . Auf gleiche Weiſe habe man den Mandſchu's Wohnſiße
eingeräumt, mit denen man im fechszehnten und ſiebzehnten Jahr
hundert in Kriege gerieth , in Folge welcher ſich die jeßige Dy
naſtie des Thrones bemächtigte. Eine weitere Veränderung hat
jedoch dieſe neue Herrſcherfamilie, ſo wenig als die frühere Ero
berung der Mongolen im J. 1281, im Lande nicht hervorgebracht.
Die Mandſchu's , die in China leben , müſſen ſich genau in die
chineſiſchen Geſeße und Wiſſenſchaften einſtudiren .
Wir gehen nunmehr von dieſen wenigen Daten der chine
Erſter Abſơnitt. China. 147
fiſchen Geſchichte zur Betrachtung des Geiſtes der immer gleich
gebliebenen Verfaſſung über. Er ergiebt ſich aus dem allgemeis
nen Principe. Dieſes iſt nämlich die unmittelbare Einheit des
ſubſtantiellen Geiſtes und des Individuellen ; das aber iſt der
Familiengeiſt, welcher hier auf das volfreichſte Land ausgedehnt
iſt. Das Moment der Subjectivität, das will ſagen , das ſich
in ſich Reflectiren des einzelnen Willens gegen die Subſtanz,
als die ihn verzehrende Macht, oder das Gefeßtſeyn dieſer Macht
als ſeiner eigenen Weſenheit , in der er ſich frei weiß , iſt hier
noch nicht vorhanden . Der allgemeine Wille bethätigt ſich un
mittelbar durch den einzelnen : dieſer hat gar kein Wiſſen ſeiner
gegen die Subſtanz, die er ſich noch nicht als Macht gegen ſich
ſeßt, wie ſ. B . im Judenthum der eifrige Gott als die Negation
des Einzelnen gewußt wird. Der allgemeine Wille ſagt hier in
China unmittelbar, was der Einzelne thun ſolle, und dieſer folgt
und gehorcht ebenſo reflerions- und ſelbſtlos. Gehorcht er nicht,
tritt er ſomit aus der Subſtanz heraus, ſo wird er , da dieſes
Heraustreten nicht durch ein Inſichgehen vermittelt iſt, auch nicht
in der Strafe an der Innerlichkeit erfaßt, ſondern an der äußer
lichen Eriſtenz. Das Moment der Subjectivität fehlt daher
dieſem Staatsganzen ebenſoſehr, als dieſes auch andererſeits gar
nicht auf Geſinnung baſirt iſt. Denn die Subſtanz iſt unmittel
bar ein Subject , der Kaiſer , deſſen Gefeß die Geſinnung aus
macht. Troß dem iſt dieſer Mangel an Geſinnung nicht Will
für, welche ſelber ſchon wieder geſinnungsvoll, das heißt ſubjectiv
und beweglich wäre, ſondern es iſt hier das Augemeine geltend,
die Subſtanz, die noch undurchweicht ſich ſelber allein gleich iſt.
Dieſes Verhältniß nun näher und der Vorſtellung gemäßer
ausgedrückt iſt die Familie. Auf dieſer ſittlichen Verbindung
allein beruht der chineſiſche Staat, und die objective Familien
pietät iſt es , welche ihn bezeichnet. Die Chineſen wiſſen ſich als
zu ihrer Familie gehörig und zugleich als Söhne des Staats.
In der Familie ſelbſt ſind ſie keine Perſonen , denn die ſubſtan
10 *
148 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

tielle Einheit, in welcher ſie ſich darin befinden , iſt die Einheit
des Bluto und der Natürlichkeit. Im Staate ſind fic es ebenſo
wenig; denn es iſt darin das patriarchaliſche Verhältniß vor
herrſchend, und die Regierung beruht auf der Ausübung der vä
terlichen Vorſorge des Kaiſers, der Alles in Ordnung hält. Als
hochgechrte und unwandelbare Grundverhältniſſewerden im Schu
king fünf Pflichten angegeben : 1) die des Kaiſers und des Vol
kes gegen einander, 2 ) des Vaters und der Kinder , 3) des äl
teren und des jüngeren Bruders, 4 ) des Mannes und der Frau ,
5 ) des Freundes gegen den Freund. Es mag hier gelegentlicy
bemerkt werden , daß die Zahl fünf überhaupt bei den Chineſen
etwas Feſtes iſt, und ebenſo oft wie bei uns die Zahl drei vor
kommt: fie haben fünf Naturelemente, Luft, Waſſer, Erde, Me
tall und Holz ; fie nehmen vier Himmelsgegenden und die
Mitte an : heilige Orte , wo Altäre errichtet ſind , beſtehen aus
vier Hügein und einem in der Mitte.
Die Pflichten der Familie gelten ſchlechthin , und es wird
geſeßlich auf dieſelben gehalten . Der Sohn darf den Vater nicht
anreden , wenn er in den Saal tritt; er muß ſich an der Seite
der Thüre gleichſam eindrücken , und kann die Stube nicht ohne
Erlaubniß des Vaters verlaſſen . Wenn der Vater ſtirbt, ſo muß
der Sohn drei Jahre lang trauern , ohne Fleiſchfpeiſe und Wein
zu ſich zu nehmen ; die Geſchäfte, denen er ſich widmete , ſelbſt
die Staatsgeſchäfte ſtocken , denn er muß ſich von denſelben ent
fernen ; der eben zur Regierung kommende Kaiſer felbft widmet
fich während dieſer Zeit ſeinen Regierungsarbeiten nicht. Keine
Heirath darf während der Trauerzeit in der Familie geſchloſſen
werden . Erſt das funfzigſte Lebensjahr befreit von der überaus
großen Strenge der Trauer , damit der Leiðtragende nicht ma
ger werde; das fechzigſte mildert ſie noch mehr , und das fieb
zigſte beịchränkt fte gänzlich auf die Farbe der Kleider. Die
Mutter wird ebenſoſehr wie der Vater verehrt. Als Lord Ma
cartney den Kaiſer ſah, war dieſer acht und ſechzig Jahre alt
Erſter Abſchnitt. China. . 149
(ſechzig Jahre iſt bei den Chineſen eine feſte runde Zahl, wie bei
uns hundert), deſſen ungeachtet beſuchte er ſeine Mutter alle Mor
gen zu Fuß , um ihr ſeine Ehrfurcht zu beweiſen . Die Neujahrs
gratulationen finden ſogar bei der Mutter des Kaiſers ftatt ; und
der Kaiſer kann die Huldigungen der Großen des Hofs erſt ems
pfangen , nachdem er die feinigen ſeiner Mutter gebracht. Die
Mutter bleibt ſtets die erſte und beſtändige Rathgeberin des Kai
ſers , und Alles , was die Familie betrifft, wird in ihrem Namen
bekannt gemacht. Die Verdienſte des Sohnes werden nicht die
ſem , ſondern dem Vater zugerechnet. Als ein Premierminiſter
einſt den Kaiſer bat, feinem verſtorbenen Vater Ehrentitel zu ge
ben , ſo ließ der Kaiſer eine Urkunde ausſtellen , worin es hieß :
„ Eine Hungersnoth verwüſtete das Reich : Dein Vater gab Reis
den Bedürftigen . Welche Wohlthätigkeit ! Das Reich war am
Rande des Verderbens: Dein Vater vertheidigte es mit Gefahr
ſeines Lebens. Welche Treue! Die Verwaltung des Reichs war
Deinem Vater anvertraut: er machte vortreffliche Geſeße, erhielt
Friede und Eintracht mit den benachbarten Fürſten und behaup
tete die Rechte meiner Krone. Welche Weisheit! Alſo der Eh
rentitel, den ich ihm verleihe, iſt: Wohlthätig, treu und weiſe."
Der Sohn hatte alles das gethan , was hier dem Vater zuge
ſchrieben wird . Auf dieſe Weiſe gelangen die Voreltern (umge
kehrt wie bei uns) durch ihre Nachkommen zu Ehrentiteln . Da
für iſt aber auch jeder Familienvater für die Vergehen ſeiner
Descendenten verantwortlich ; es giebt Pflichten von unten nach
oben , aber keine eigentlich von oben nach unten .
Ein Hauptbeſtreben der Chineſen iſt es , Kinder zu haben ,
die ihnen die Ehre des Begräbniſſes erweiſen können , das Ge
dächtniß nach dem Tode ehren und das Grab ſchmücken . Wenn
auch ein Chineſe mehrere Frauen haben darf, ſo iſt doch nur
Eine die Hausfrau, und die Kinder der Nebenfrauen haben dieſe
durchaus als Mutter zu ehren . In dem Falle, daß ein Chineſe
von allen ſeinen Frauen keine Kinder erzielte , würde er zur Adop
150 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
tion ſchreiten können , eben wegen der Ehre nach dem Tode.
Denn es iſt eine unerläßliche Bedingung, daß das Grab der
Eltern jährlich beſucht werde. Hier werden alljährig die Weh
klagen erneut, und Manche , um ihren Schmerz vollen Lauf zu
laſſen , verweilen bisweilen ein bis zwei Monate daſelbſt. Der
Leichnam des eben verſtorbenen Vaters wird oft drei bis vier
Monate im Hauſe behalten , und während dieſer Zeit darf keiner
fich auf einen Stuhl ſeßen und im Bette ſchlafen . Jede Familie
in China hat einen Saal der Vorfahren , wo ſich alle Mitglie
der derſelben alle Jahre verſammeln ; daſelbſt ſind die Bildniſſe
derer aufgeſtellt, die hohe Würden bekleidet haben , und die Na
men der Männer und Frauen , welche weniger wichtig für die
Familie waren, ſind auf Täfelchen geſchrieben ; die ganze Familie
ſpeiſt dann zuſammen , und die Aermeren werden von den Reiche
ren bewirthet. Man erzählt, daß als ein Mandarin , der Chriſt
geworden war, ſeine Voreltern auf dieſe Weiſe zu ehren aufges
hört hatte, er ſich großen Verfolgungen von Seiten ſeiner Fa
milie ausſeşte. Ebenſo genau wie die Verhältniſſe zwiſchen dem
Vater und den Kindern , ſind auch die zwiſchen dem älteren Bru
der und den jüngeren Brüdern beſtimmt. Die erſteren haben ,
obgleich im minderen Grade, doch Anſprüche auf Verehrung.
Dieſe Familiengrundlage iſt auch die Grundlage der Ver
faſſung, wenn man von einer ſolchen ſprechen wil . Denn ob
ſchon der Kaiſer das Recht eines Monarchen hat, der an der
Spiße eines Staatsganzen ſteht, ſo übt er es doch in der Weiſe
eines Vaters über ſeine Kinder aus. Er iſt Patriarch , und auf
ihn gehäuft iſt Alles , was im Staate auf Ehrfurcht Anſpruch
machen kann . Denn der Kaiſer iſt ebenſo Chef der Religion
und der Wiſſenſchaft, wovon ſpäter noch ausführlich die Rede
ſein wird. - Dieſe väterliche Fürſorge des Raiſers und der
Geiſt ſeiner Unterthanen , als Kinder, die aus dem moraliſchen
Familienkreiſe nicht heraustreten und feine ſelbſtſtändige und bür
gerliche Freiheit für ſich gewinnen können , macht das Ganze zu
Erſter Abidnitt. China. 151

einem Reiche, Regierung und Benehmen , das zugleich moraliſch


und ſchlechthin proſaiſch iſt, d. h . verſtändig ohne freie Vernunft
und Phantaſie.
Die höchſte Ehrfurcht muß dem Kaiſer erwieſen werden .
Durch ſein Verhältniß iſt er perſönlich zu regieren genöthigt, und
muß ſelbſt die Geſeße und Angelegenheiten des Reiches kennen
und leiten , wenn auch die Tribunale die Geſchäfte erleichtern .
Troß dem hat ſeine bloße Willkür wenig Spielraum , denn Alles
geſchieht auf Grund alter Reichsmarimen , und ſeine fortwährend
zügelnde Aufſicht iſt nicht minder nothwendig. Die kaiſerlichen
Prinzen werden daher aufs ſtrengſte erzogen , ihr Körper wird
abgehärtet, und die Wiſſenſchaften ſind von früh auf ihre Be
ſchäftigung . Unter der Aufſicht des Kaiſers wird ihre Erziehung
geleitet, und früh wird ihnen gezeigt, daß der Kaiſer das Haupt
des Reiches ſey , und in Allem auch als der Erſte und Beſte
erſcheinen müſſe. Jährlich werden die Prinzen geprüft, und dar
über eine weitläufige Declaration an das ganze Reich erlaſſen ,
welches den ungemeinſten Antheil an dieſen Angelegenheiten
nimmt. So iſt China dazu gekommen , die größten und beſten
Regenten zu erhalten , auf welche der Ausdruck: ſalomoniſche
Weisheit, anwendbar wäre; und beſonders die jebige Mand
ſchudynaſtie hat ſich durch Geiſt und körperliche Geſchiclichkeit
ausgezeichnet. Alle Ideale von Fürſten und von Fürſtenerziehung,
dergleichen ſeit dem Télemaque von Fénélon fo vielfach aufge
ſtellt worden , haben hier ihre Stelle. In Europa fann's keine
Salomo's geben . Hier aber iſt der Boden und die Nothwendigkeit
von ſolchen Regierungen , inſofern als die Gerechtigkeit,der Wohl
ſtand , die Sicherheit des Ganzen auf dem Einen Impuls des
oberſten Gliedes der ganzen Kette der Hierarchie beruht. Das
Benehmen des Kaiſers wird uns als höchſt einfach , natürlich,
edel und verſtändig geſchildert; ohne ſtummen Stolz, Widrigkeit
der Aeußerungen und Vornehmthun, lebt er im Bewußtſeyn ſeiner
Würde und in der Ausübung ſeiner Pflichten , wozu er von Ju
152 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

gend auf iſt angehalten worden . Außer dem Kaiſer giebt es


eigentlich keinen ausgezeichneten Stand, keinen Adel bei den Chi
neſen. Nur die Prinzen vom Hauſe und die Söhne der Mini
ſter haben einigen Vorrang, mehr durch ihre Stellung, als durch
ihre Geburt. Sonſt gelten Alle gleich, und nur diejenigen haben
Antheil an der Verwaltung, die die Geſchicklichkeit dazu beſigen .
Die Würden werden ſo von den wiſſenſchaftlich Gebildetſten be
kleidet. Daher iſt oft der chineſiſche Staat als ein Ideal auf
geſtellt worden , das uns ſogar zum Muſter dienen ſollte .
Das Weitere iſt die Reichsverwaltung. Von einer Ver
faſſung kann hier nicht geſprochen werden , denn darunter wäre
zu verſtehen , daß Individuen und Corporationen ſelbſtſtändige
Rechte hätten , theils in Beziehung auf ihre beſonderen Intereſs
ſen , theils in Beziehung auf den ganzen Staat. Dieſes Mo
ment muß hier fehlen , und es kann nur von einer Reichsver
waltung die Rede ſeyn. In China iſt das Reich der abſoluten
Gleichheit, und alle Unterſchiede, die beſtehen , ſind nur vermittelſt
der Neichsverwaltung möglich und durch die Würdigkeit, die ſich
jeder giebt, in dieſer Verwaltung eine hohe Stufe zu erreichen .
Weil in China Gleichheit, aber keine Freiheit herrſcht, iſt der Des
potismus die nothwendig gegebene Regierungsweiſe. Bei uns
ſind die Menſchen nur vor dem Gefeß und in der Beziehung
gleichy, daß fie Eigenthum haben ; außerdem haben ſie noch viele
Intereſſen und viele Beſonderheiten , die garantirt ſeyn müſſen ,
wenn Freiheit für uns vorhanden ſeyn ſoll . Im chineſiſchen
Reiche ſind aber dieſe beſonderen Intereſſen nicht für ſich berech
tigt, und die Regierung geht lediglich vom Kaiſer aus , der fie
als eine Hierarchie von Beamten oder Mandarinen bethätigt.
Von dieſen giebt es zweierlei Arten , gelehrte und Kriegsmanda
rinen , welche legtere unſere Offiziere ſind. Die gelehrten Man
darinen ſind die höhern , denn der Civilſtand überragt in China
den Militàirſtand. Die Beamten werden auf den Schulen ges
bildet ; es ſind Elementarſchulen für die Erlangung von Elemen
Erſter Abſchnitt. China. 153
tarkenntniſſen eingerichtet. Anſtalten für die höhere Bildung, wie
bei uns die Univerſitäten , ſind wohl nicht vorhanden . Die,welche
zu hohen Staatsämtern gelangen wollen , müſſen mehrere Prü
fungen beſtehen , in der Regel drei. Zum dritten und legten Era
men , bei dem der Kaiſer ſelbſt gegenwärtig iſt , kann nur zuge
laſſen werden , wer das erſte und zweite gut beſtanden hat, und
die Belohnung , wenn man daſſelbe glücklich abſolvirt hat, iſt die
ſofortige Zulaſſung in das höchſte Reichscollegium . Die Wiſſen
ſchaften , deren Kenntniß beſonders verlangtwird, ſind die Reichs
geſchichte, die Rechtswiſſenſchaft, und die Kenntniß der Sitten
und Gebräuche, ſowie der Organiſation und Adminiſtration .
Außerdem ſollen die Mandarine das Talent der Dichtkunſt in
äußerſter Feinheit beſißen . Man kann dieß beſonders aus dem
von Abel Remüſat überſeßten Romane Ju - fiao- li, die beiden
Couſinen , erſehen ; es wird hier ein junger Menſch vorgeführt,
der feine Studien abſolvirt hat , und ſich nun anſtrengt , um zu
hohen Würden zu gelangen . Auch die Offiziere in der Armee
müfſen Kenntniſſe beſigen ; auch ſie werden geprüft ; aber die
Civilbeamten ſtehen , wie ſchon geſagt worden iſt, in weit höhes
rem Anſehen . Bei den großen Feſten erſcheint der Kaiſer mit
einer Begleitung von zweitauſend Doctoren , das heißt, Civilman
darinen , und ebenſoviel Kriegsmandarinen . (Im ganzen chineſis
ſchen Staate ſind nämlich gegen 15000 Civil- und 20000 Kriegs
mandarine.) Die Mandarine, die noch keine Anſtellung erhalten
haben , gehören dennoch zum Hofe , und bei den großen Feſten ,
im Frühjahr und im Herbſt, wo der Kaiſer ſelbſt die Furche
zieht, müſſen ſie erſcheinen . Dieſe Beamten ſind in acht Claſſen
getheilt. Die erſten ſind die um den Kaiſer ſtehenden : dann fol
gen die Vicefönige, und ſo weiter. Der Kaiſer regiert durch die
Behörden , welche meiſt aus Mandarinen zuſammengefegt ſind.
Das Reichscollegium iſt die oberſte Behörde: es beſteht aus den
gelehrteſten und geiſtreichſten Männern . Daraus werden die Prä
fidenten der anderen Collegia gewählt. In den Regierungsan
154 Erſter Theil. Die orientaliſde Welt.

gelegenheiten herrſcht die größte Deffentlichkeit: die Beamten be


richten an das Reichscollegium , und dieſes legt dem Kaiſer die
Sache vor, deſſen Entſcheidung alsdann in der Hofzeitung be
kannt gemacht wird. Oft klagt ſich auch der Kaiſer ſelbſt wegen
der Fehler an , die er begangen hat; und wenn ſeine Prinzen
ſchlecht im Eramen beſtanden haben , ſo tadelt er fie laut. In
jedem Miniſterium , und in den verſchiedenen Theilen des Reichs
iſt ein Cenſor Rio- tao, der an den Kaiſer über Alles Bericht
erſtatten muß : dieſe Cenſoren werden nicht abgeſeßt, und ſind ſehr
gefürchtet : ſie führen über Alles , was die Regierung betrifft, über
die Geſchäftsführung und das Privatbenehmen der Mandarinen
eine ſtrenge Aufſicht und berichten darüber unmittelbar an den
Kaiſer ; auch haben ſie das Recht, dem Kaiſer Vorſtellungen zu
machen und ihn zu tadeln . Die chineſiſche Geſchichte liefert viele
Beiſpiele von dem Adel der Geſinnung und dem Muthe dieſer
Ro - tao . So hatte ein Cenſor einem tyranniſchen Kaiſer Vor
ſtellungen gemacht, war aber hart zurückgewieſen worden . Er
ließ ſich indeſſen nicht irre machen , ſondern verfügte ſich abermals
zum Kaiſer, um ſeine Vorſtellungen zu erneuern . Seinen Tod
vorausſehend, ließ er ſich zugleich den Sarg mit hintragen ,
in dem er begraben ſein wollte. Von anderen Cenſoren wird
erzählt, daß fie von den Henkersknechten ganz zerfleiſcht, unver
mögend einen Laut hervorzubringen , noch mit Blut ihre Bemer
kungen in den Sand ſchrieben . Dieſe Cenſoren bilden ſelbſt wie
der ein Tribunal, das die Aufſicht über das ganze Reich hat.
Die Mandarinen ſind verantwortlich auch für Alles , was ſte
im Nothfall unterlaſſen haben . Wenn eine Hungersnoth , Krank
heit, Verſchwörung, religiöſe Unruhe ausbricht, ſo haben ſie zu
berichten , aber nicht auf weitere Befehle der Regiernng zu war
ten , ſondern ſogleich thätig einzugreifen . Das Ganze dieſer Ver
waltung iſt alſo mit einem Neß von Beamten überſpannt. Für
die Aufſicht der Landſtraßen , der Flüſſe , der Meeresufer ſind
Beamte angeſtellt. Alles iſt auf's genaueſte angeordnet; beſon
Erſter Abſchnitt. China. 155
ders wird auf die Flüſſe große Sorgfalt verwendet ; im Schu
king finden ſich viele Verordnungen der Kaiſer in dieſer Hinſicht,
um das Land vor Ueberſchwemmungen zu ſichern. Die Thore
jeder Stadt ſind mit Wachen beſeft, und die Straßen werden
alle Nacht geſperrt. Die Beamten ſind immer dem höheren
Collegium Rechenſchaft ſchuldig . Jeder Mandarin hat ohnehin
die Pflicht, alle fünf Jahre ſeine begangenen Fehler anzuzeigen ,
und die Treue ſeiner Darftellung wird durch das controllirende
Inſtitut der Cenſoren verbürgt. Bei jedem groben unangegebes
nen Vergehen werden die Mandarine mit ihrer Familie auf
das härteſte beſtraft.
Aus allem dieſem erhellt , daß der Kaiſer der Mittelpunkt
iſt, um den fich Alles dreht und zu dem Alles zurückkehrt, und
von dem Kaiſer hängt ſomit das Wohl des Landes und des
Volkes ab. Die ganze Hierarchie der Verwaltung iſt mehr oder
weniger nach einer Routine thätig, die im ruhigen Zuſtande eine
bequeme Gewohnheit wird . Einförmig und gleichmäßig , wie
der Gang der Natur, geht ſie ihren Weg Ein wie alle Mal ;
nur der Kaiſer ſoll die rege, immer wache und ſelbſtthätige Seele
ſeyn. Wenn nun die Perſönlichkeit des Raiſers nicht von der
geſchilderten Beſchaffenheit iſt,nämlich durchaus moraliſch , arbeit
ſam und, bei gehaltener Würde, voller Energie ; ſo läßt Alles nach ,
und der Zuſtand der Regierung iſt von oben bis unten gelähmt
und der Nachläſſigkeit und Widfür preisgegeben . Denn es iſt
keine andere rechtliche Macht oder Ordnung vorhanden , als dieſe
von oben ſpannende und beaufſichtigende Macht des Kaiſers .
Es iſt nicht das eigene Gewiſſen , die eigene Ehre, die die Beam
ten zur Rechenſchaft anhielte, ſondern das äußerliche Gebot und
die ſtrenge Aufrechthaltung deſſelben . Bei der Revolution in der
Mitte des fiebzehnten Jahrhunderts war der lebte Kaiſer der
damals herrſchenden Dynaſtie ſehr ſanftmüthig und edel, aber bei
ſeinem milden Charakter erſchlafften die Zügel der Regierung,
und es entſtanden nothwendiger Weiſe Empörungen . Die Aufs
156 Erſter Theil. Die orientalijde Welt.
rührer riefen die Mandſchu in 's Land. Der Kaiſer ſelbſt ent
leibte fich um den Feinden nicht in die Hände zu fallen , und
mit ſeinem Blute ſchrieb er noch auf den Saum des Kleides
feiner Tochter einige Worte, in welchen er ſich über das Unrecht
ſeiner Unterthanen tief beklagte. Ein Mandarin , der bei ihm
war, begrub ihn , und brachte ſich dann auf ſeinem Grabe um .
Daſſelbe thaten die Kaiſerin und ihr Gefolge; der lebte Prinz
des faiſerlichen Hauſes , welcher in einer entfernten Provinz be
lagert wurde, fiel in die Hände der Feinde und wurde hingerich
tet. Alle noch um ihn ſeyenden Mandarine ſtarben einen frei
willigen Tod.
Gehen wir nun von der Reichsverwaltung zum Recht § -
zuſtande über, ſo ſind durch das Princip der patriarchaliſchen
Regierung die Unterthanen für unmündig erklärt. Keine ſelbſt
ſtändigen Claſſen oder Stände, wie in Indien , haben für ſich
Intereſſen zu beſchüren , denn Alles wird von obenher geleitet
und beaufſichtigt. Alle Verhältniſſe ſind durch rechtliche Normen
feſt befohlen : die freie Empfindung , der moraliſche Standpunkt
überhaupt iſt dadurch gründlich getilgt *). Wie die Familienglie
der in ihren Empfindungen zu einander zu ſtehen haben , iſt förm
lich durch Geſeke beſtimmt, und die Uebertretung zieht zum Theil
ſchwere Strafen nach ſich . Das zweite hier zu berückſichtigende
Moment iſt die Aeußerlichkeit des Familienverhältniſſes , welches
faft Sclaverei wird . Jeder kann ſich und ſeine Kinder verkau
fen , jeder Chineſe kauft ſeine Frau. Nur die erſte Frau iſt eine

*) Anm . Man ſieht, daß der moraliſche Standpunkt hier in dem


ſtrengen Sinne gemeint iſt , wie ihn Hegel in der Rechtsphiloſophie be
ſtimmt hat, als der der Selbſtbeſtimmung der Subjectivität, als freier Ue
berzeugung vom Guten . Der Leſer laſſe ſich daher nidyt irre maden ,wenn
doch fortwährend von der Moral, der moraliſden Regierung u . ſ. f. der
Chineſen geſprochen wird, wo dann das Moraliſdenur, im weiten und ge
wöhnlichen Sinne des Wortes , die Vorſchrift oder das Gebot für das gute
Benehmen und Handeln bezeichnet, ohne das Moment der innern Ueber
zeugung hervorzuheben .
Erſter Abſchnitt. China. 157
Freie , die Concubinen dagegen ſind Sclavinnen , und können,
wie die Kinder , wie jede andere Sache bei der Confiskation in
Beſchlag genommen werden .
Ein drittes Moment iſt , daß die Strafen meiſt körperliche
Züchtigungen ſind. Bei uns wäre dieß entehrend , aber nicht
ſo in China, wo das Gefühl der Ehre noch nicht iſt. Eine
Tracht Schläge iſt am leichteſten verſchmerzt, und doch das
Härteſte für den Mann von Ehre , der nicht für einen ſinn
lich Berührbaren gehalten werden will, ſondern andere Seiten
feinerer Empfindlichkeit hat. Die Chineſen aber kennen die Sub
jectivität der Ehre nicht ; ſie unterliegen mehr der Zucht als der
Strafe, wie bei uns die Kinder : denn Zucht geht auf Beſſerung,
Strafe involvirt eine eigentliche Imputabilität. Bei der Züch
tigung iſt der Abhaltungsgrund nur Furcht vor der Strafe, nicht
die Innerlichkeit des Unrechts , denn es iſt hier noch nicht die
Reflerion über die Natur der Handlung ſelbſt vorauszuſeßen .
Bei den Chineſen nun werden alle Vergehen , ſowohl die in der
Familie, als die im Staate auf äußerliche Weiſe beſtraft. Die
Söhne, die es gegen den Vater oder die Mutter, die jüngeren
Brüder , die es gegen die älteren an Ehrerbietung fehlen laſſen ,
bekommen Stockprügel, und wenn ſich ein Sohn beſchweren wollte,
daß ihm von ſeinem Vater, oder ein jüngerer Bruder , daß ihm
von ſeinem älteren Unrecht widerfahren ſey , ſo erhält er hundert
Bambushiebe und wird auf drei Jahre verbannt, wenn das Recht
auf ſeiner Seite iſt ; hat er aber Unrecht, ſo wird er ſtrangulirt.
Würde ein Sohn die Hand gegen ſeinen Vater aufheben , ſo iſt
er dazu verurtheilt, daß ihm das Fleiſch mit glühenden Zangen
vom Leibe geriſſen wird. Das Verhältniß zwiſchen Mann und
Frau iſt, wie alle andren Familienverhältniffe, ſehr hoch geachtet,
und die Untreue, die jedoch wegen der Abgeſchloſſenheit der Wei
ber nur ſehr ſelten vorkommen kann , wird hart gerügt. Eine
ähnliche Rüge findet Statt , wenn der Chineſe zu einer ſeiner
Nebenfrauen mehr Zuneigung als zu ſeiner eigenen Hausfrau
158 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt .

zeigt , und dieſe ihn darob verklagt. – Jeder Mandarin kann


in China Bambusſchläge austheilen , und ſelbſt die Höchſten und
Vornehmſten , die Miniſter, Vicekönige, ja die Lieblinge des Kai
ſers ſelbſt werden mit Bambusſchlägen gezüchtigt. Hinterher iſt
der Kaiſer ebenjoſehr wie früher ihr Freund, und ſie ſelbſt ſchei
nen davon gar nicht ergriffen zu feyn. Als einſt die legte eng
liſche Geſandtſchaft in China von den Prinzen und ihrem Ge
folge vom Palaſte aus nach Hauſe geführt wurde, ſo hieb der
Ceremonienmeiſter , um ſich Plaß zu machen , ohne Weiteres auf
alle Prinzen und Vornehme mit Peitſchenhieben ein . – Was
die Imputation betrifft, ſo findet der Unterſchied von Vorſaß bei
der That , und culpoſem oder zufälligem Geſchehen nicht Statt,
denn der Zufall iſt ebenſo imputabel als der Vorſaß , und der
Tod wird verhängt, wenn man die zufällige Urſache des Todes
eines Menſchen iſt. Dieſes Nichtunterſcheiden des Zufälligen und
Vorſäßlichen veranlaßt die meiſten Zwiſtigkeiten zwiſchen Eng
ländern und Chineſen , denn wenn die Engländer von Chineſen
angegriffen werden , wenn ein Kriegsſchiff, das ſich angegriffen
glaubt, ſich vertheidigt und ein Chineſe umkommt, ſo verlangen
die Chineſen in der Regel, daß der Engländer der geſchoſſen hat,
das Leben verlieren ſolle. Jeder , der mit dem Verbrecher auf
irgend eine Weiſe zuſammenhängt , wird , zumal bei Verbrechen
gegen den Kaiſer , mit ins Verderben geriſſen : die ganze nähere
Familie wird zu Tode gemartert. Die Drucker einer verwerfli
chen Schrift , wie die , welche ſie leſen , unterliegen auf gleiche
Weiſe der Rache des Geſekes . Es iſt eigenthümlich , welche
Wendung aus ſolchem Verhältniß die Privatrachſucht nimmt.
Von den Chineſen kann geſagt werden , daß ſie gegen Beleidi
gungen höchſt empfindlich und rachſüchtig ſeyen . Um ſeine Rache
zu befriedigen , fann nun der Beleidigte ſeinen Gegner nicht er
morden , weil ſonſt die ganze Familie des Verbrechers hingerich
tet würde; er thut ſich alſo ſelbſt ein leið an , um dadurch den
Anderen ins Verderben zu ſtürzen . Man hat in vielen Städten
Erſter Abſchnitt. China. 159
die Brunnenöffnungen verengen müſſen , damit die Menſchen ſich
nicht mehr darin erſäufen . Denn wenn Jemand ſich umgebracht
hat, ſo befehlen die Geſeke , daß die ſtrengſte Unterſuchung dar
über angeſtellt werde, was die Urſache fey . Ale Feinde des
Selbſtmörders werden eingezogen und torquirt, und wird endlich
der Beleidiger ausgemittelt, ſo wird er und ſeine ganze Familie
hingerichtet. Der Chineſe tödtet in ſolchem Falle lieber ſich als
ſeinen Gegner, da er doch ſterben muß, in dem erſten Falle aber
noch die Ehre des Begräbniſſes hat und die Hoffnung hegen
darf, daß ſeine Familie das Vermögen des Gegners erhalten
wird . Dieß iſt das fürchterliche Verhältniß bei der Imputation
oder Nichtimputation, daß alle ſubjective Freiheit und moraliſche
Gegenwart bei einer Handlung negirt wird. In den moſaiſchen
Gefeßen , wo auch dolus, culpa und casus noch nicht genau
unterſchieden werden , iſt doch für den culpoſen Todſchläger eine
Freiſtatt eröffnet, in welche er ſich begeben könne. Dabei gilt
in China fein Anſehen des hohen oder niedrigen Ranges. Ein
Feldherr des Reiches , der ſich ſehr ausgezeichnet hatte, wurde
beim Kaiſer verleumdet, und er bekam zur Strafe des Vergehens,
deſſen man ihn beſchuldigte, das Amt aufzupaſſen , wer den Schnee
in den Gaſſen nicht wegfehre. – Bei den Rechtsverhältniſſen
ſind auch noch die Veränderungen im Eigenthumsrecht und die
Einführung der Sclaverei, welche damit verbunden iſt, zu erwäh
nen . Der Grund und Boden , worin das Hauptvermögen der
Chineſen beſteht, wurde erſt ſpät als Staatseigenthum betrachtet.
Seit dieſer Zeit wurde es feſtgeſeßt, daß der neunte Theil alles
Güterertrags dem Kaiſer zukomme. Später entſtand auch die
Leibeigenſchaft, deren Einſeßung man dem Kaiſer Schi -hoang- ti
zugeſchrieben hat , demſelben , der im Jahre 213 v. Chr. Geb .
die Mauer erbaute, der alle Schriften verbrennen ließ , welche
die alten Rechte der Chineſen enthielten , und der viele unabhän
gige Fürſtenthümer von China unter ſeine Botmäßigkeit brachte.
Seine Kriege eben machten , daß die eroberten Länder Privateis
160 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

genthum wurden , und deren Einwohner leibeigen. Doch iſt noth


wendig in China der Unterſchied zwiſchen der Sclaverei und
Freiheit nicht groß , da vor dem Kaiſer Alle gleich , das heißt,
Alle gleich degradirt find. Indem keine Ehre vorhanden iſt,
und keiner ein beſonderes Recht vor dem Anderen hat, ſo wird
das Bewußtſeyn der Erniedrigung vorherrſchend, das ſelbſt leicht
in ein Bewußtſeyn der Verworfenheit übergeht. Mit dieſer Ver
worfenheit hängt die große Immoralität der Chineſen zuſammen ;
ſie ſind dafür bekannt, zu betrügen , wo ſie nur irgend können :
der Freund betrügt den Freund , und keiner nimmt es dem An
dern übel, wenn etwa der Betrug nicht gelang, oder zu ſeiner
Kenntniß kommt. Sie verfahren dabei auf eine liſtige und ab
gefeimte Weiſe, ſo daß ſich die Europäer im Verkehr mit ihnen
gewaltig in Acht zu nehmen haben . Das Bewußtſeyn der mo
raliſchen Verworfenheit zeigt ſich auch darin , daß die Religion
des Fo ſo ſehr verbreitet iſt, welche als das Höchfte und Abro
lute , als Gott , das Nichts anſieht , und die Verachtung des
Individuums als die höchſte Vollendung aufſtellt.
Wir kommen nun zur Betrachtung der religiöſen Seite
des chineſiſchen Staates. Im patriarchaliſchen Zuſtand iſt die
religiöſe Erhebung des Menſchen für ſich , einfache Moralität
und Rechtthun. Das Abſolute iſt ſelbſt theils die abſtracte ein
fache Regel dieſes Rechtthuns, die ewige Gerechtigkeit, theils die
Macht derſelben . Außer dieſen einfachen Beſtimmungen fallen
nun alle weiteren Beziehungen der natürlichen Welt zum Men
ſchen , alle Forderungen des ſubjectiven Gemüthes weg. Die
Chineſen in ihrem patriarchaliſchen Despotismus bedürfen keiner
ſolchen Vermittlung mit dem höchſten Weſen ; denn die Erzie
hung, die Geſeße der Moralität und Höflichkeit, und dann die
Befehle und Regierung des Kaiſers enthalten dieſelbe. Der Kai
ſer iſt, wie das Staatsoberhaupt , ſo auch Chef der Religion .
Dadurch iſt hier die Religion weſentlich Staatsreligion . Von
ihr muß man den Lamaismus unterſcheiden , indem dieſer nicht
Erſter Abſchnitt. China. 161
zum Staate ausgebildet iſt, ſondern die Religion als freies , gei
ſtiges , unintereſſirtes Bewußtſeyn enthält. Jene chineſiſche Reli
gion fann daher das nicht ſeyn , was wir Religion nennen .
Denn uns iſt dieſelbe die Innerlichkeit des Geiſtes in fich , indem
er ſich in fich , was ſein innerſtes Weſen iſt, vorſtellt. In die
Ten Sphären iſt alſo der Menſch auch dem Staatsverhältniß entzo
gen , und vermag in die Innerlichkeit hineinflüchtend fich der Ge
walt weltlichen Regiments zu entwinden . Auf dieſer Stufe aber
ſteht die Religion in China nicht, denn der wahre Glaube wird
erſt da möglich, wo die Individuen in ſich ſelbſt, für ſich unab
hängig von einer äußeren treibenden Gewalt ſind. In China
hat das Individuum keine Seite dieſer Unabhängigkeit: es iſt
daher auch in der Religion abhängig , und zwar von Naturwe
ſen , von welchen das Höchſte der Himmel iſt. Von dieſen hängt
Erndte, Jahreszeit, Gedeihen, Mißwachs ab. Der Kaiſer, als
die Spiße, als die Macht, nähert ſich allein dem Himmel, nicht
die Individuen als ſolche. Er iſt es , der an den vier Feſten
die Opfer darbringt, an der Spige des Hofes für die Erndte
dankt, und Segen für die Saaten herabfleht. Dieſer Himmel
nun könnte im Sinne unſeres Gottes in der Bedeutung des
Herrn der Natur genommen werden (wir ſagen z. B . der Himmel
behüte uns), aber ſo iſt das Verhältniß in China noch nicht, denn
hier iſt das einzelne Selbſtbewußtſeyn als ſubſtantielles , der Kai
ſer felbft, die Macht. Der Himmel hatdaher nur die Bedeutung der
Natur. Die Jeſuiten gaben zwar in China nach , den chriſtlichen
Gott Himmel, Tien , zu nennen , ſie wurden aber deshalb beim Pabſt
von anderen chriſtlichen Orden verklagt, und der Pabſt ſandte einen
Cardinalhin,derdort ſtarb ; ein Biſchof,dernachgeſchicktwurde,ver
ordnete : ſtatt Himmel folle Herr des Himmels geſagt werden . Das
Verhältniß zum Tien wird nun auch ſo vorgeſtellt, als bringe das
Wohlverhalten der Individuen und des Kaiſers den Segen , ihre
Vergehungen aber Noth und alles Uebel herbei. Es liegt in
der chineſiſchen Religion inſofern noch das Moment der Zauberei
Philoſophie d. Geldjidhte 3te Aufl. 11
162 . Erſter Theil. Die orientaliſde Welt.
als das Benehmen des Menſchen das abſolut Determinirende
iſt. Verhält ſich der Kaiſer gut, ſo kann es nicht anders als
gut gehen : der Himmel muß Gutes geſchehen laſſen . Eine zweite
Seite dieſer Religion iſt, daß wie im Kaiſer die allgemeine Seite
des Verhältniſſes zum Himmel liegt, derſelbe auch die beſondere
Beziehung ganz in ſeinen Händen hat. Dieß iſt die particulare
Wohlfahrt der Individuen und Provinzen . Dieſe haben Genien
(Chen), welche dem Kaiſer unterworfen ſind, der nur die alge
meine Macht des Himmels verehrt, während die einzelnen Gei
ſter des Naturreichs ſeinen Geſeßen folgen . Sowird er alſo auch zu
gleich der eigentliche Geſeßgeber fürden Himmel. Fürdie Genien ,von
denen jeder auf ſeine Weiſe verehrtwird, ſind Sculpturbilder feſtge
ſegt. Es ſind ſcheußliche Gößenbilder, die noch nicht Gegenſtand der
Kunſt find , weil nichts Geiſtiges darin fich darſtellt. Sie ſind
daher nur erſchreckend, furchtbar , negativ , und wachen , wie bei
den Griechen die Flußgötter , die Nymphen und Dryaden , über
die einzelnen Elemente und Naturgegenſtände. Jedes der fünf
Elemente hat ſeinen Genius, und dieſer iſt durch eine beſondere
Farbe unterſchieden . Auch die Herrſchaft der den Thron von
China behauptenden Dynaſtie hängt von einem Genius ab, und
zwar hat dieſer die gelbe Farbe. Aber nicht minder beſikt jede
Provinz und Stadt, jeder Berg und Fluß einen beſtimmten Ge
nius. Alle dieſe Geiſter ſtehen unter dem Kaiſer, und in dem
jährlich erſcheinenden Reichsadreßbuche ſind die Beamten , wie die
Genien verzeichnet, denen dieſer Bach , dieſer Fluß u . ſ. w . an
vertraut worden iſt. Geſchieht ein Unglück, ſo wird der Genius
wie ein Mandarin abgeſeßt. Die Genien haben unzählige Tem
pel (in Peking ſind deren gegen 10000) mit einer Menge von
Prieſtern und Klöſtern . Dieſe Bonzen leben unverheirathet, und
werden in allen Nöthen von den Chineſen um Rath gefragt.
Außerdem aber werden weder ſie , noch die Tempel ſehr geehrt.
Die engliſche Geſandtſchaft des Lord Macartney wurde ſogar in
die Tempel einquartiert, da man dieſelben wie Wirthshäuſer braucht.
Erſter Abſdhnitt. China. 163

Ein Kaiſer hat viele Tauſende folcher Klöfter ſeculariſirt, die


Bonzen ins bürgerliche Leben zurückzukehren genöthigt, und die
Güter mit Abgaben belegt. Die Bonzen ſagen wahr und be
ſchwören ; denn die Chineſen ſind einem unendlichen Aberglauben
ergeben ; dieſer beruht eben auf der Unſelbſtſtändigkeit des Innern ,
und feßt das Gegentheil von der Freiheit des Geiſtes voraus.
Bei jedem Unternehmen , – iſt z. B . die Stelle eines Hauſes
oder eines Begräbnißplaßes und dergl. zu beſtimmen , — wer
den die Wahrſager um Rath gefragt. Im Y - king ſind gewiſſe
Linien angegeben , die die Grundformen und Grundkategorien be
zeichnen , weßhalb dieſes Buch auch das Buch der Schickſale
genannt wird . Der Combination von ſolchen Linien wird eine
gewiſſe Bedeutung zugeſchrieben und die Prophezeiung dieſer Grund
lage entnommen . Oder eine Anzahl von Stäbchen wird in die
luft geworfen und aus der Art, wie ſie fallen , das Schickſal
vorherbeſtimmt. Was uns als zufällig gilt, als natürlicher Zu
ſammenhang , das ſuchen die Chineſen durch Zauberei abzulei
ten oder zu erreichen , und ſo ſpricht ſich auch hier ihre Geiſtloſig
Feit aus.
Mit dieſem Mangel eigenthümlicher Innerlichkeit hängt auch
die Bildung der chineſiſchen Wiſſenſchaft zuſammen . Wenn
wir von den chineſiſchen Wiſſenſchaften ſprechen , ſo tritt
uns ein großer Ruf hinſichilich der Ausbildung und des Alter
thums derſelben entgegen . Treten wir näher, ſo ſehen wir, daß
die Wiſſenſchaften in ſehr großer Verehrung und zwar öffentli
cher von der Regierung ausgehender Hochſchäzung und Beförde
rung ſtehen . Der Kaiſer ſelbſt ſteht an der Spiße der Literatur.
Ein eigenes Collegium redigirt die Decrete des Kaiſers , damit
ſie im beſten Style verfaßt feyen , und ſo iſt dieſes denn auch
eine wichtige Staatsſache. Dieſelbe Vollkommenheit des Styls
müſſen die Mandarine bei Bekanntmachungen beobachten , denn
der Vortrefflichkeit des Inhalts ſoll auch die Form entſprechen .
Eine der höchſten Staatsbehörden iſt die Akademie der Wiſſen :
11 *
164 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
ſchaften . Die Mitglieder prüft der Kaiſer ſelbſt; ſie wohnen im
Palafte , ſind theils Secretaire , theils Reichsgeſchichtſchreiber ,
Phyſiker , Geographen . Wird irgend ein Vorſchlag zu einem
neuen Geſeß gemacht, ſo muß die Akademie ihre Berichte einreis
chen . Sie muß die Geſchichte der alten Einrichtungen einleitend
geben , oder wenn die Sache mit dem Auslande in Verbindung
ſteht, ſo wird eine Beſchreibung dieſer Länder erfordert. Zu den
Werken , die hier verfaßt werden , macht der Kaiſer ſelbſt die Vor
reden . Unter den legten Kaiſern hat ſich beſonders Rien -long
durch wiſſenſchaftliche Kenntniſſe ausgezeichnet : er ſelbſt hat viel
geſchrieben , ſich aber bei weitem mehr noch durch die Heraus
gabe der Hauptwerke China’ hervorgethan . An der Spiße der
Commiſſion , welche die Druckfehler verbeſſern mußte , ſtand ein
kaiſerlicher Prinz, und wenn das Werk durch alle Hände gegans
gen war , ſo kam es nochmals an den Kaiſer zurück , der jeden
Fehler, der begangen wurde, hart beſtrafte.
Wenn ſo einerſeits die Wiſſenſchaften auf's höchſte geehrt
und gepflegt ſcheinen , ſo fehlt ihnen auf der andern Seite gerade
jener freie Boden der Innerlichkeit und das eigentliche wiſſen
fchaftliche Intereſſe , das ſie zu einer theoretiſchen Beſchäftigung
macht. Ein freies , ideelles Reich des Geiſtes hat hier nicht
Plaß , und das, was hier wiſſenſchaftlich heißen kann , iſt empi
riſcher Natur und ſteht weſentlich im Dienſte des Nüßlichen für
den Staat und für ſeine und der Individuen Bedürfniſſe.
Schon die Art der Schriftſprache iſt ein großes Hinderniß
für die Ausbildung der Wiſſenſchaften ; oder vielmehr umgekehrt, :
weil das wahre wiſſenſchaftliche Intereſſe nicht vorhanden iſt, ſo
haben die Chineſen kein beſſeres Inſtrument für die Darſtellung
und Mittheilung des Gedankens. Bekanntlich haben ſie neben
der Tonſprache eine ſolche Schriftſprache, welche nicht wie bei
uns die einzelnen Töne bezeichnet, nicht die geſprochenen Worte
vor das Auge hinſtellt, ſondern die Vorſtellungen ſelbſt durch
Zeichen . Dieß ſcheint nun zunächſt ein großer Vorzug zu ſeyn
Erſter Abidnitt. China. 165

und hat vielen großen Männern , unter Anderen auch Leibniz,


imponirt; es iſt aber gerade das Gegentheil von einem Vorzug.
Denn betrachtet man zuerſt die Wirkung ſolcher Schriftweiſe auf
die Tonſprache, ſo iſt dieſe bei den Chineſen , eben um jener
Trennung willen , ſehr unvollkommen . Denn unſre Tonſprache
bildet fich vornehmlich dadurch zur Beſtimmtheit aus , daß die
Schrift für die einzelnen Laute Zeichen finden muß , die wir
durch 's Leſen beſtimmtausſprechen lernen . Die Chineſen , welchen
ein ſolches Bildungsmittel der Tonſprache fehlt, bilden deßhalb
die Modificationen der Laute nicht zu beſtimmten , durch Buch
ſtaben und Sylben darſtellbaren Tönen aus. Ihre Tonſprache
beſteht aus einer nicht beträchtlichen Menge von einſylbigen Wor
ten , welche für mehr als Eine Bedeutung gebraucht werden . Der
Unterſchied nun der Bedeutung wird allein , theils durch den Zu
ſammenhang, theils durch den Accent , ſchnelles oder langſames ,
leiſeres oder lauteres Ausſprechen bewirkt. Die Ohren der Chi
neſen ſind hierfür ſehr fein gebildet. So finde ich, daß Þo, je
nach dem Ton eilf verſchiedene Bedeutungen hat: Glas; fieden ;
Getreide worfeln ; zerſpalten ; wäſſern ; zubereiten ; ein alt Weib ;
Sclave; freigebiger Menſch ; kluge Perſon ; ein wenig . — Was
nun die Schriftſprache betrifft, ſo will ich nur das Hinderniß
hervorheben , das in ihr für die Beförderung der Wiſſenſchaften
liegt. Unſere Schriftſprache iſt ſehr einfach zu lernen , indem wir
die Tonſprache in etwa 25 Töne analyſiren , (und durch dieſe
Analyſe wird die Tonſprache beſtimmt, die Menge möglicher
Töne beſchränkt, die unklaren Zwiſchentöne entfernt); wir haben
nur dieſe Zeichen und ihre Zuſammenſeßung zu erlernen . Statt
ſolcher 25 Zeichen haben die Chineſen viele Tauſende zu lernen ;
man giebt die für den Gebrauch nöthige Anzahl auf 9353 an ,
ja bis auf 10316 , wenn man die neueingeführten hinzurechnet;
und die Anzahl der Charaktere überhaupt, für die Vorſtellungen
und deren Verbindungen , ſo weit ſie in den Büchern vorkommen ,
beläuft ſich auf 80 bis 90 ,000. –
166 Erſter Theil. Die orientaliſde Welt.
Was nun die Wiſſenſchaften ſelbſt angeht, ſo begreift die
Geſchichte der Chineſen nur die ganz beſtimmten Facta in fich,
ohne alles Urtheil und Raiſonnement. Die Rechtswiſſen
[ chaft giebt ebenſo nur die beſtimmten Geſebe, und die Moral
die beſtimmten Pflichten an , ohne daß es um eine innere Be
gründung derſelben zu thun wäre. Die Chineſen haben jedoch
auch eine Philoſophie, deren Grundbeſtimmungen ſehr alt ſind ,
wie denn ſchon der Y - king, das Buch der Schickſale, von dem
Entſtehen und Vergehen handelt. In dieſem Buche finden ſich
die ganz abſtracten Ideen der Einheit und Zweiheit, und ſomit
ſcheint die Philoſophie der Chineſen von denſelben Grundgedan
ken , wie die pythagoräiſche Lehre, auszugehen * ). Das Prin
cip iſt die Vernunft, Tao, dieſe Allem zu Grunde liegende We
ſenheit , die Alles bewirkt. Ihre Formen kennen zu lernen , gilt
auch bei den Chineſen als die höchſte Wiſſenſchaft; doch hat dieſe
keinen Zuſammenhang mit den Disciplinen , die den Staat näher
betreffen . Die Werke des Lao- tſe und namentlich ſein Werk
Tao -te -king ſind berühmt. Confucius beſuchte im ſechſten Jahr
hundert vor Chriſtus dieſen Philoſophen , um ihm ſeine Ehrer
bietung zu bezeugen . Wenn es nun auch jedem Chineſen frei
ſteht , dieſe philoſophiſchen Werke zu ſtudiren , ſo giebt es doch
dazu eine beſondere Sekte , die ſich Tao - tſe nennt, oder Vereh
rer der Vernunft. Dieſe ſondern ſich von dem bürgerlichen Les
ben aus, und es miſcht ſich viel Schwärmeriſches und Myſtiſches
in ihre Vorſtellungsweiſe. Sie glauben nämlich , wer die Ver
nunft kenne, der beſige ein allgemeines Mittel, das ſchlechthin
für mächtig angeſehen werden könne und eine übernatürliche
Macht ertheile, ſo daß man dadurch fähig wäre, fich zum Him
mel zu erheben , und niemals dem Tode unterliege (ungefährwie
man bei uns einmal von einer Univerſallebenstinctur ſprach ).

* ) S . Hegel's Vorleſungen über die Geſchichte der Philoſophie I. S .


138 u . fg .
Erſter Abſanitt. China. 167
Mit den Werken des Confucius ſind wir nun auch näher be
kannt geworden ; ihm verdankt China die Nedaction der King's ;
außerdem aber viele eigene Werke über Moral, die die Grund
lage für die Lebensweiſe und das Betragen der Chineſen bilden .
In dem Hauptwerke des Confucius, welches ins Engliſche über
ſegt wurde, finden ſich zwar richtige, moraliſche Ausſprüche, aber
es iſt ein Herumreden , eine Reflerion und ein ſich Herumwen
den darin , welches ſich nicht über das Gewöhnliche erhebt. —
Was die übrigen Wiſſenſchaften anbelangt , ſo werden ſie nicht
als ſolche, ſondern vielmehr als Kenntniſſe zum Behufe von nüz
lichen Zwecken angeſehen . Die Chineſen ſind weit in der Ma
thematik, Phyſik und Aſtronomie zurück, ſo groß auch ihr Ruhm
früher darin war. Sie haben Vieles gekannt, als die Europäer
es noch nicht entdeckt hatten , aber ſie haben keine Anwendung
davon zu machen verſtanden : ſo z. B . den Magnet, ſo die Buch
druckerkunſt. Allein namentlich in Beziehung auf die leştere blei
ben ſie dabei ſtehen , die Buchſtaben in hölzerne Tafeln zu gra
viren und dann abzudrucken ; von den beweglichen Lettern wiſſen
ſie nichts. Auch das Pulver wollten ſie früher wie die Euro
päer erfunden haben , aber die Jeſuiten mußten ihnen die erſten
Kanonen gießen . Was die Mathematik anbetrifft , ſo verſtehen
fie ſehr wohl zu rechnen , aber die höhere Seite der Wiſſenſchaft
iſt ihnen unbekannt. Auch als große Aſtronomen haben die Chi
neſen lange gegolten . la Place hat ihre Kenntniſſe darin un
terſucht, und gefunden , daß fie einige alte Nachrichten und No
tizen von Mond- und Sonnenfinſterniſſen beſitzen , was freilich,
die Wiſſenſchaft noch nicht conſtituirt. Auch ſind die Notizen ſo
unbeſtimmt, daß ſie eigentlich gar nicht als Kenntniſſe gelten
fönnen ; im Schu-king ſind nämlich in einem Zeitraum von 1500
Jahren zwei Sonnenfinſterniſſe erwähnt. Der beſte Beweis , wie
es mit der Wiſſenſchaft der Aſtronomie bei den Chineſen ſteht,
iſt, daß ſchon ſeit mehreren hundert Jahren die Kalender dort
von den Europäern gemacht werden. In früheren Zeiten , als
168 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

noch chineſiſche Aſtronomen den Kalender verfaßten , kam es oft


vor , daß falſche Angaben von Mond- und Sonnenfinſterniſſen
gemacht wurden , und die Hinrichtung der Verfertiger nach ſich
zogen . Die Fernröhre, welche die Chineſen von den Europäern
zum Geſchenk erhielten , ſind zwar zum Schmucke aufgeſtellt, aber
ſie wiſſen weiter feinen Gebrauch davon zu machen . Auch die
Medicin wird von den Chineſen getrieben , aber als etwas bloß
Empiriſches , woran ſich der größte Aberglaube knüpft. Ueber
haupt hat dieſes Volk eine ungemeine Geſchicklichkeit in der Nach
ahmung , welche nicht bloß im täglichen Leben , ſondern auch in
der Kunſt ausgeübt wird. Das Schöne als Schönes darzuſtels
len iſt ihm noch nicht gelungen , denn in der Malerei fehlt ihm
die Perſpective und der Schatten , und wenn auch der chineſiſche
Maler europäiſche Bilder wie Alles überhaupt gut copirt, wenn
er auch genau weiß , wieviel Schuppen ein Karpfen hat , wie
viel Einſchnitte in den Blättern ſind , wie die Geſtalt der ver
ſchiedenen Bäume, und die Biegung ihrer Zweige beſchaffen iſt,
ſo iſt doch das Erhabene, Ideale und Schöne nicht der Boden
ſeiner Kunſt und Geſchicklichkeit. Die Chineſen ſind andererſeits
zu ſtolz , um Etwas von Den Europäern zu lernen , obgleich fie
oft deren Vorzüge anerkennen müſſen . So ließ ein Kaufmann
in Canton ein europäiſches Schiff bauen , aber auf Befehl des
Statthalters wurde es ſofort zerſtört. Die Europäer werden als
Bettler behandelt, da ſie genöthigt feyen ihre Heimath zu verlaſ
ſen , und ſich ihren Unterhalt anderswo als im eigenen Lande
zu ſuchen . Dagegen haben wohl auch die Europäer, eben weil :
fie Geiſt haben , noch nicht vermocht, die äußerliche und vollkom
men natürliche Geſchicklichkeit der Chineſen nachzuahmen . Denn
ihre Firniſſe, die Bearbeitung ihrer Metalle, und namentlich die
Kunſt, dieſelben beim Gießen äußerſt dünn zu halten , die Berei
tung der Porcellane nebſt vielem Anderen ſind noch unerreicht
geblieben . –
Dieß iſt der Charakter des chineſiſchen Volks nach allen
Zweiter Abſchnitt. Indien . 169

Seiten hin. Das Ausgezeichnete deſſelben iſt, daß Alles , was


zum Geiſt gehört, freie Sittlichfeit, Moralität, Gemüth , innere
Religion , Wiſſenſchaft und eigentliche Kunſt entfernt iſt. Der
Kaiſer ſpricht immer mit Majeſtät und väterlicher Güte und
Zartheit zum Volfe, das jedoch nur das ſchlechteſte Selbſtgefühl
über ſich ſelber hat , und nur geboren zu ſeyn glaubt, den Wa
gen der Macht der kaiſerlichen Majeſtät zu ziehen . Die Laft,
die es zu Boden drückt, ſcheint ihm fein nothwendiges Schickſal
zu ſeyn , und es iſt ihm nicht ſchrecklich , ſich als Sclaven zu
verkaufen und das ſaure Brod der Knechtſchaft zu eſſen . Der
Selbſtmord als Werk der Nache, die Ausſeßung der Kinder, als
gewöhnliche und tägliche Begebenheit, zeigt von der geringen Ach
tung, die man vor ſich ſelbſt, wie vor dem Menſchen hat, und
wenn kein Unterſchied der Geburt vorhanden iſt und jeder zur
höchſten Würde gelangen kann, ſo iſt eben dieſe Gleichheit nicht
die durchgekämpfte Bedeutung des inneren Menſchen , ſondern das
niedrige, noch nicht zu Unterſchieden gelangte Selbſtgefühl.

Zweiter Abſchnitt.
I nd i e n .

Indien , wie China, iſt ebenſo eine frühe, wie eine noch ge
genwärtige Geſtalt, die ſtatariſch und feſt geblieben iſt, und in
der vollſtändigſten Ausbildung nach innen fich vollendet hat.
Es iſt immer das Land der Sehnſucht geweſen , und erſcheint
uns noch als ein Wunderreich , als eine verzauberte Welt. Im
Gegenſaß zum chineſiſchen Staate , der voll des proſaiſchſten
Verſtandes in allen ſeinen Einrichtungen iſt, iſt Indien das Land
der Phantaſie und Empfindung. Das Moment des Fortgangs
im Princip iſt im Augemeinen folgendes : In China beherrſcht
170 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

das patriarchaliſche Princip die Unmündigen , für deren mora


liſchen Entſchluß das regelnde Geſeß und die moraliſche Aufſicht
des Kaiſers eintritt. Das Intereſſe des Geiſtes iſt nun, daß
die als äußerlich geſeßte Beſtimmung als eine innerliche ſen , daß
natürliche und geiſtige Welt als innere , der Intelligenz ange
hörige , beſtimmt werden , wodurch überhaupt die Einheit der
Subjectivität und des Seyns oder der Idealismus des Daſeyns,
gefert wird. Dieſer Idealismus iſt nun in Indien vorhanden ,
aber nur als ein begriffloſer Idealismus der Einbildung, welche
zwar Anfang und Material vom Daſeyn entnimint, aber Alles
nur in Eingebildetes verwandelt; denn wenn das Eingebildete
zwar auch vom Begriff durchzogen erſcheint und der Gedanke als
hineinſpielend vorkommt, ſo geſchieht dieß nur in einer zufälligen
Vereinigung. Indem nun aber doch in dieſe Träume der ab
ſtracte und abſolute Gedanke ſelbſt als Inhalt eintritt, ſo kann
man ſagen : es iſt Gott im Taumel ſeines Träumens, was wir
hier vorgeſtellt ſehen . Denn es iſt nicht das Träumen eines
empiriſchen Subjects, das ſeine beſtimmte Perſönlichkeit hat und
eigentlich nur dieſe aufſchließt, ſondern es iſt das Träumen des
unbeſchränkten Geiſtes ſelbſt.
Es gibt eine eigenthümliche Schönheit der Frauen , wobei
ihr Geſicht mit reiner Haut, mit leichter lieblicher Röthe, die
nicht bloß wie die Röthe der Geſundheit und Lebendigkeit, ſondern
eine feinere Röthe iſt, gleichſam ein geiſtiger Anhauch von
innen heraus, überzogen iſt, und wobei die Züge, mit dem Blick
des Auges und der Haltung des Mundes, ſanft,weich und un
geſpannt erſcheinen , – dieſe faſt nicht irdiſche Schönheit ſieht
man an den Frauen in den Tagen nach der Niederkunft, wenn
fie , befreit von der beſchwerlichen Laſt des Kindes und von der
Arbeit des Gebärens, zugleich in der Seelenfreude find über das
Geſchenk eines lieben Kindes ; man ſieht ſolchen Ton der Schön=
heit auch an Frauen , die im magiſchen , ſomnambulen Schlafe
liegen , und dadurch mit einer ſchöneren Welt in Beziehung ſtehen ;
Zweiter Abſchnitt. Indien . 171

ein großer Künſtler (Schoreel) hat ihn auch der ſterbenden Maria
gegeben , deren Geiſt ſich ſchon zu den ſeligen Räumen emporhebtund
noch einmal ihr ſterbendes Antliß gleichſam zum Abſchiedskuſſe
belebt. Solche Schönheit finden wir auch in der lieblichſten Ges
ftalt bei der indiſchen Welt — eine Schönheit der Nervenſchwäche,
in welcher alles Unebene, Starre und Widerſtrebende aufgelöſt iſt
und nur die empfindende Seele erſcheint, aber eine Seele , in
welcher der Tod des freien und in ſich gegründeten Geiſtes er
fennbar iſt. — Denn würden wir die phantaſie - und geiſtvolle
Anmuth dieſes Blumenlebens , worin alle Umgebung, alle Ver
hältniſſe vom Roſenhauch der Seele durchzogen ſind, und die
Welt zu einem Garten der Liebe umgeſtaltet iſt, näher ins Auge
faſſen und mit dem Begriff der Würdigkeit des Menſchen und
der Freiheit daran treten , ſo dürften wir, je mehr uns der erſte
Anblick beſtochen hat, deſto größere Verworfenheit nach allen
Seiten hin finden . —
Der Charakter des träumenden Geiſtes als das allge
meine Princip der indiſchen Natur iſt noch näher zu beſtimmen .
In dem Traume hört das Individuum auf fich als dieſes ,
ausſchließend gegen die Gegenſtände, zu wiſſen . Wachend bin
ich für mich, und das Andere iſt ein Aeußerliches und feſt gegen
mich , wie Ich gegen daſſelbe. Als Aeußerliches breitet ſich das
Andere zu einem verſtändigen Zuſammenhang und einem Syſtem
von Verhältniſſen aus, worin meine Einzelheit ſelbſt ein Glied,
eine damit zuſammenhängende Einzelheit iſt; – dieß iſt die
Sphäre des Verſtandes . Im Traume dagegen iſt dieſe Trennung
nicht. Der Geiſt hat aufgehört für ſich gegen Anderes zu ſeyn ,
und ſo hört überhaupt die Trennung des Aeußerlichen und Einzelnen
gegen ſeine Allgemeinheit und ſein Weſen auf. Der träumende
Inder iſt daher Alles , was wir Endliches und Einzelnes nennen ,
und zugleich als ein unendlich Allgemeines und Unbeſchränktes
an ihm ſelbſt ein Göttliches . Die indiſche Anſchauung iſt
ganz allgemeiner Pantheismus und zwar ein Pantheismus der
172 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

Einbildungskraft, nicht des Gedankens. Es iſt eine Subſtanz,


und alle Individualiſirungen ſind unmittelbar belebt und beſeelt
zu eigenthümlichen Mächten . Der ſinnliche Stoff und Inhalt
iſt in das Allgemeine und Unermeßliche nur aufgenommen und
roh hineingetragen und nicht durch die freie Kraft des Geiſtes
zur ſchönen Geſtalt befreit und im Geiſte idealiſirt, ſo daß das
Sinnliche nur dienend und ſich anſchmiegender Ausdruck des Geis
ſtigen wäre ; ſondern es iſt zum Unermeßlichen und Maaßloſen
erweitert und das Göttliche dadurch bizarr, verworren und läppiſch
gemacht. Dieſe Träume ſind nicht leere Mährchen , ein Spiel der
Einbildungskraft, ſo daß der Geiſt darin nur umhergaukelte,
ſondern er iſt darin verloren und von dieſen Träumereien als
von ſeiner Realität und ſeinem Ernſte hin und hergeworfen , er
iſt dieſen Endlichkeiten preisgegeben , als ſeinen Herrn und Göttern .
So iſt alſo Ales, Sonne, Mond, Sterne, der Ganges , Indus ,
Thiere, Blumen , Alles iſt ihm ein Gott, und indem eben in
dieſer Göttlichkeit das Endliche ſeinen Beſtand und ſeine Feſtig
keit verliert, ſo verſchwindet aller Verſtand deſſelben ; und umges
kehrt das Göttliche, weil es für ſich veränderlich und unſtet iſt,
ſo iſt es durch dieſe niedrige Geſtalt völlig verunreinigt und ab
furd. – Bei dieſer allgemeinen Vergöttlichung alles Endlichen
und ebendamit Herabwürdigung des Göttlichen iſt die Vorſtellung
der Menſchwerdung, der Incarnation Gottes nicht ein beſonders
wichtiger Gedanke. Der Papagey , die Stuh , der Affe u . f. f.
find ebenfalls Incarnationen Gottes und nicht erhoben über ihr
Weſen . Das Göttliche iſt nicht zum Subjecte , zum concreten
Geiſt individualiſirt , ſondern zur Gemeinheit und Sinnloſigkeit
herabgewürdigt. — Dieß iſt im Augemeinen das Verhältniß der
indiſchen Weltanſchauung. Die Dinge entbehren ebenſo des Ver
ſtandes, des endlichen zuſammenhängenden Beſtehens von Urſache
und Wirkung, als der Menſch der Feſtigkeit des freien Fürſich
ſeynø, der Perſönlichkeit und der Freiheit.
Indien hat äußerlich welthiſtoriſche Beziehungen nach man
Zweiter Abſchnitt. Indien . 173

chen Seiten hin . Man hat in neueren Zeiten die Entdeckung


gemacht, daß die Sanskritſprache allen weiteren Entwickelungen
europäiſcher Sprachen zu Grunde liege, zum Beiſpiel dem
Griechiſchen , Lateiniſchen , Deutſchen . Indien iſt ferner der
Ausgangspunkt für die ganze weſtliche Welt, aber dieſe äußere
welthiſtoriſche Beziehung iſt mehr nur ein natürliches Ausbreiten
der Völfer von hier aus. Wenn auch in Indien die Elemente
weiterer Entwickelungen zu finden wären , und, wenn wir auch
Spuren hätten , daß ſie nach Weſten herübergekommen ſind , ſo
iſt dieſe Ueberſiedelung doch ſo abſtract, daß das, was für uns
bei ſpäteren Völkern Intereſſe haben kann , nicht mehr das iſt,
was ſie von Indien erhielten , ſondern vielmehr ein Concretes ,
das ſie ſich ſelbſt gebildet haben , und wobei ſie am beſten thaten ,
die indiſchen Elemente zu vergeſſen . Das ſich Verbreiten des
Indiſchen iſt vorgeſchichtlichy, denn Geſchichte iſt nur das , was
in der Entwickelung des Geiſtes eine weſentliche Epoche aus
macht. Das Hinausgehen Indiens überhaupt iſt nur eine
ſtumme, thatloſe Verbreitung, d . h. ohne politiſche Handlung.
Die Inder haben keine Eroberungen nach außen gemacht, ſondern
ſind felbft immer erobert worden. Und ſowie ſtummer Weiſe
Nordindien ein Ausgangspunkt natürlicher Verbreitung iſt , ſo
iſt Indien überhaupt als geſuchtes Land ein weſentliches Mo
ment der ganzen Geſchichte. Seit den älteſten Zeiten haben alle
Völker ihre Wünſche und Gelüſte dahin gerichtet, einen Zugang
zu den Schäßen dieſes Wunderlandes zu finden , die das Köft
lichſte ſind , was es auf Erden giebt , – Schäße der Natur,
Perlen , Diamanten , Wohlgerüche, Roſenöle, Elephanten , Löwen ,
u . 1. f., wie Schäße der Weisheit. Der Weg, welchen dieſe
Schäße zu dem Abendlande genommen , iſt zu allen Zeiten ein
welthiſtoriſcher Umſtand geweſen , der mit dem Schickſale von
Nationen verfluchten war. Auch iſt es den Nationen gelungen ,
zu dieſem Lande ihrer Wünſche zu dringen : es iſt faſt keine große
Nation des Oſtens , noch des neueuropäiſchen Weſtens geweſen ,
174 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

die ſich nicht dort einen kleineren oder größeren Fleck erworben
hätte. In der alten Welt gelang es erſt Alerander dem Großen ,
zu Lande nach Indien vorzubringen , aber auch er hat es nur
berührt. Die Europäer der neuen Welt haben nur dadurch ver
mocht in den directen Zuſammenhang mit dieſem Wunderland zu
treten , daß fie hinten herum gekommen ſind , und zwar auf dem
Meere , das , wie geſagt, überhaupt das Verbindende iſt. Die
Engländer , oder vielmehr die oſtindiſche Compagnie find die
Herren des Landes , denn es iſt das nothwendige Schickſal der
aſiatiſchen Reiche, den Europäern unterworfen zu ſeyn, und China
wird auch einmal dieſem Schickſale fich fügen müſſen . Die An
zahl der Einwohner iſt gegen 200 Millionen , wovon 100 bis
112 Millionen den Engländern direct unterworfen ſind. Die
nicht direct untergebenen Fürſten haben an ihren Höfen engliſche
Agenten , und engliſche Truppen befinden ſich in ihrem Sold.
Seitdem das Land der Maratten von den Engländern bezwungen
worden iſt, wird ſich nichts mehr ſelbſtſtändig gegen ihre Macht
erhalten , die ſchon im birmaniſchen Reiche Fuß gefaßt und den
Buramputr, der Indien im Oſten begrenzt, überſchritten hat.
Das eigentliche Indien iſt das Land, welches die Engländer
in zwei große Theile zerlegen : in Dekan , die große Halbinſel,
die öſtlich den Meerbuſen von Bengalen und weſtlich das indiſche
Meer hat, und in Hindoftan , das vom Gangesthal gebildet
wird und ſich gegen Perſien hinzieht. Gegen Nordoſten wird
Hindoſtan vom Himalaya begrenzt, welches von den Europäern
als das höchſte Gebirge der Erde anerkannt worden iſt, denn
ſeine Gipfel liegen gegen 26000 Fuß über der Meeresfläche.
Jenſeits dieſer Berge fällt das Land wieder ab ; die Herrſchaft
der Chineſen erſtreckt ſich bis dahin , und als die Engländer zu
dem Dalai-lama in Hlaſſa wollten , wurden ſie von den Chi
neſen aufgehalten. Gegen Weſten in Indien fließt der Indus,
in dem ſich die fünf Flüſſe vereinigen , die das Pentjåb genannt
werden , bis zu welchen Alerander der Große vorgedrungen
Zweiter Abſchnitt. Indien . 175

ift. Die Herrſchaft der Engländer dehnt ſich nicht bis an den
Indus aus ; es hält ſich dort die Sekte der Seiks auf, deren
Verfaſſung durchaus demokratiſch iſt, und die ſich ſowohl von
der indiſchen als von der muhamedaniſchen Religion losgeriſſen
haben , und die Mitte zwiſchen beiden halten , indem ſie nur ein
höchſtes Weſen anerkennen . Sie ſind ein mächtiges Volk und
haben ſich Kabul und Kaſchmir unterworfen . Außer dieſen
wohnen dem Indus entlang echt indiſche Stämme aus der Caſte
der Krieger. Zwiſchen dem Indus und ſeinem Zwillingsbruder,
dem Ganges, find große Ebenen , und der Ganges bildet wieder
große Reiche um ſich her, in welchen die Wiſſenſchaften ſich bis
auf einen ſo hohen Grad ausgebildet haben , daß die Länder um
den Ganges noch in höherem Rufe ſtehen , als die um den
Indus. Beſonders blühend iſt das Reich Bengalen . Der Ner
buda macht die Grenzſcheide zwiſchen Dekan und Hindoftan .
Die Halbinſel Dekan bietet eine weit größere Mannigfaltigkeit
als Hindoſtan dar, und ihre Flüſſe haben faſt eine ebenſo große
Heiligkeit als der Indus und der Ganges , der ein ganz auge
meiner Name für alle Flüſſe in Indien geworden iſt , als der
Fluß xai goynu. Wir nennen die Bewohner des großen
Landes , das wir jetzt zu betrachten haben , vom Fluſſe Indus
her Inder (die Engländer heißen ſie Hindu ). Sie ſelbſt haben
dem Ganzen nie einen Namen gegeben , denn es iſt nie Ein
Reich geweſen , und doch betrachten wir es als ſolches .
Was nun das politiſche Leben der Inder betrifft, ſo iſt
zunächſt der Fortſchritt in dieſer Beziehung gegen China zu be
trachten . In China war die Gleichheit aller Individuen vor
herrſchend , und deshalb das Regiment im Mittelpunkte , dem
Kaiſer , ſo daß das Beſondere zu keiner Selbſtſtändigkeit und
ſubjectiven Freiheit gelangte. Der nächſte Fortgang dieſer Ein
heit iſt , daß der Unterſchied ſich hervorthut und in ſeiner Be
ſonderheit ſelbſtſtändig gegen die Alles beherrſchende Einheit wird.
Zu einem organiſchen Leben gehört einerſeits die Eine Seele,
176 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt .

andererſeits das Ausgebreitetſeyn in die Unterſchiede, welche fich


gliedern und in ihrer Particularität zu einem ganzen Syſtem ſich
ausbilden , ſo aber , daß ihre Thätigkeit die Eine Seele recon
ſtruirt. Dieſe Freiheit der Beſonderung fehlt in China , denn
der Mangel iſt eben, daß die Unterſchiede nicht zur Selbſtſtändig
keit gelangen können . In dieſer Rückſicht macht ſich in Indien
der weſentliche Fortſchritt, daß ſich aus der Einheit des Dess
poten ſelbſtſtändige Glieder bilden . Doch dieſe Unterſchiede fallen
in die Natur zurüc ; ſtatt wie im organiſchen Leben die Seele
als das Eine zu bethätigen , und frei dieſelbe hervorzubringen ,
verſteinern und erſtarren ſte, und verdammen durch ihre Feſtig
keit das indiſche Volk zur entwürdigendſten Knechtſchaft des
Geiſtes. Dieſe Unterſchiede ſind die Caſten. In jedem ver
nünftigen Staate ſind Unterſchiede , die hervortreten müſſen : die
Individuen müſſen zur ſubjectiven Freiheit kommen , und dieſe
Unterſchiede aus ſich ſeßen . In Indien iſt aber von Freiheit
und innerer Sittlichkeit noch nicht die Rede , ſondern die Unter
ſchiede, die ſich hervorthun , ſind nur die der Beſchäftigungen ,
der Stände. Auch im freien Staate bilden ſie beſondere Kreiſe,
welche in ihrer Bethätigung fich ſo verſammeln , daß die Indi
viduen darin ihre beſondere Freiheit erhalten , doch in Indien
kommt es nur zum Unterſchied der Maſſen , welcher aber das
ganze politiſche Leben und das religiöſe Bewußtſeyn ergreift.
Die Standesunterſchiede bleiben dadurch , wie in China die Ein
heit , auf der gleichen urſprünglichen Stufe der Subſtantialität,
d. h . ſie ſind nicht aus der freien Subjectivität der Individuen
hervorgegangen . – Wenn wir nach dem Begriffe des Staates
und deſſen verſchiedenen Geſchäften fragen , ſo iſt das erſte weſente
liche Geſchäft dasjenige, deſſen Zweck das ganz Augemeine iſt,
deſſen ſich der Menſch zunächſt in der Religion , dann in der
Wiſſenſchaft, bewußt wird . Gott, das Göttliche iſt das ſchlecht
hin Allgemeine. Der erſte Stand wird daher der ſeyn, wodurch
das Göttliche hervorgebracht und bethätigt wird, der Stand der
Zweiter Abſơnitt. Indien . 177 .

Brahmanen. Das zweite Moment, oder der zweite Stand,


wird die ſubjective Kraft und Tapferkeit darſtellen . Die Kraft
muß fich nämlich geltend machen , damit das Ganze beſtehen
fönne und gegen andre Ganze oder Staaten zuſammengehalten
werde. Dieſer Stand iſt der der Krieger und Regenten , Richa
triya , obgleich auch oft Brahmanen zur Regierung gelangen .
Das dritte Geſchäft hat zum Zweck die Beſonderheit des Lebens,
die Befriedigung der Bedürfniſſe, und begreift in ſich Ackerbau , Ge
werbe und Handel, die Claſſe der Waiſyas. Das vierte Moment
endlich iſt der Stand des Dienens, der des Mittels , deſſen Ge.
ſchäft iſt, für Andre um einen Lohn zu kurzer Subſiſtenz 311
arbeiten , der Stand der Sudras , (dieſe dienende Claſſe kann
eigentlich keinen beſonderen organiſchen Stand im Staate aus
machen , weil ſie nur den Einzelnen dient, ihre Geſchäfte alſo
zerſtreute Geſchäfte der Einzelheit ſind , die ſich an die vorigen
anſchließen ). – Gegen ſolche Stände regt ſich namentlich in
neuerer Zeit der Gedanke, daß man den Staat lediglich von der
abſtract rechtlichen Seite betrachtet, und daraus folgert: es müſſe
kein Unterſchied der Stände ſtattfinden . Aber Gleichheit im
Staatsleben iſt etwas völlig Unmögliches ; denn es tritt zu jeder
Zeit der individuelle Unterſchied des Geſchlechts und Alters ein ,
und ſelbſt wenn man ſagt: alle Bürger ſollen gleichen Antheil
an der Regierung haben , ſo übergeht man ſofort die Weiber
und Kinder, welche ausgeſchloſſen bleiben . Der Unterſchied von
Armuth und Reichthum , der Einfluß von Geſchicklichkeit und
Talent iſt eben ſo wenig abzuweiſen , und widerlegt von Hauſe
aus jene abſtracten Behauptungen . Wenn wir aber aus dieſem
Princip heraus die Verſchiedenheit der Beſchäftigungen und der
damit beauftragten Stände uns gefallen laſſen , ſo ſtoßen wir
hier in Indien auf die Eigenthümlichkeit , daß das Individuum
weſentlich durch Geburt einem Stande angehört und daran ge
bunden bleibt. Dadurch fällt eben hier die concrete Lebendigkeit,
die wir entſtehen ſehen , in den Tod zurück , und die Feſſel hemmt
Philoſophie D. Geſchichte, 3. Aufl. 12
178 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
das Leben , das eben hervorbrechen möchte ; der Anſchein von
der Realiſation der Freiheit in dieſen Unterſchieden wird damit
vollkommen vernichtet. Was die Geburt geſchieden hat, ſoll die
Willkür nicht wieder an einander bringen : deswegen ſollen ſich
die Caſten urſprünglich nicht mit einander vermiſchen und ver
heirathen . Doch zählt Arrian ( Ind. 11 ) ſchon fieben Caſten ,
und in neueren Zeiten hat man über dreißig herausgebracht, die
dennoch alſo durch die Verbindung der verſchiedenen Stände ent
ſtanden ſind. Die Vielmeiberei muß nothwendig dazu führen .
Einem Brahmanen werden 3. B . drei Weiber aus den drei
andern Caften geſtattet, wenn er nur eine Frau zuvörderſt aus
ſeiner eigenen nahm . Die Kinder , die aus ſolcher Vermiſchung
der Caſten hervorgingen , gehörten urſprünglich keiner an , aber
ein König ſuchte ein Mittel, um dieſe Caſtenloſen einzurangiren ,
und fand ein ſolches , welches zugleich der Anfang der Künſte
und Manufacturen ward . Die Kinder wurden nämlich zu be
ſtimmten Gewerben zugelaſſen : eine Abtheilung ward Weber,
eine andre arbeitete in Eiſen , und ſo traten aus den verſchiedenen
Beſchäftigungen verſchiedene Stände hervor. Die vornehmſte
dieſer Miſchlingscaften iſt die, welche aus der Verbindung eines
Brahmanen mit einer Frau aus der Kriegerclaſſe entſteht; die
niedrigſte iſt die der Chandalas, welche Leichnamewegſchleppen ,
Verbrecher hinrichten , überhaupt alles Unreine beſorgen müſſen .
Dieſe Caſte iſt ausgeſchloſſen und verhaßt, muß abgeſchieden
wohnen und fern von der Gemeinſchaft mit Anderen . Einem
Höheren müſſen die Chandalas aus dem Wege gehen , und jedem
Brahmanen iſt es erlaubt, den nicht ſich Entfernenden nieder
zuſtoßen . Trinkt ein Chandâla aus einem Teich , ſo iſt dieſer
verunreinigt und muß von Neuem eine Weihe empfangen .
Das Verhältniß dieſer Caften iſt es , was wir zunächſt zu
betrachten haben . Fragen wir nach ihrer Entſtehung, ſo iſt zu
erwähnen , wie ſie der Mythos erzählt. Dieſer nämlich ſagt,
die Brahmanencaſte ſey aus dem Munde des Brahma, die
Zweiter Abſchnitt. Indien. 179

Kriegercaſte aus ſeinen Armen , die Gewerbtreibenden aus ſeiner


Hüfte, die Dienenden aus ſeinem Fuße entſprungen . Manche
Hiſtoriker haben die Hypotheſe aufgeſtellt, die Brahmanen hätten
ein eigenes Prieſtervolt ausgemacht, und dieſe Erdichtung kommt
vornehmlich von den Brahmanen ſelbſt her. Ein Volk von rei
nen Prieſtern iſt ſicherlich die größte Abſurdität, denn a priori
erkennen wir , daß ein Unterſchied von Ständen nur innerhalb
eines Volkes ſtatthaben kann ; in jedem Volk müſſen ſich die
verſchiedenen Beſchäftigungen finden , denn ſie gehören der Ob
jectivität des Geiftes an , und es iſt weſentlich , daß ein Stand
den andern vorausſeßt, und daß die Entſtehung der Caſten über
haupt erſt Reſultat des Zuſammenlebens iſt. Ein Prieſtervolk
kann nicht ohne Landbauer und Krieger beſtehn . Stände können
ſich nicht äußerlich zuſammenfinden , ſondern nur aus dem In
nern heraus gliedern ; ſie kommen von innen heraus, aber nicht
von außen herein . Daß aber dieſe Unterſchiede hier der Natur
anheimfallen , dieß geht aus dem Begriff des Orients überhaupt
hervor. Denn wenn eigentlich die Subjectivität dazu berechtigt
ſeyn ſollte, ſich ihre Beſchäftigung zu wählen , ſo iſt im Orient
die innere Subjectivität überhaupt noch nicht als ſelbſtſtändig
anerkannt, und, treten die Unterſchiede hervor, ſo iſt damit ver
bunden , daß nicht das Individuum fie aus ſich wählt, ſondern
durch die Natur erhält. In China hängt das Volk ohne Unter
ſchied der Stände von den Gefeßen und dem moraliſchen Willen
des Kaiſers ab, alſo doch von einem menſchlichen Willen . Plato
in ſeinem Staate läßt die Unterſchiede für die Beſchäftigungen
durch die Wahl der Vorſteher machen ; alſo auch hier iſt ein
Sittliches , ein Geiſtiges das Beſtimmende. In Indien iſt die
Natur dieſer Vorſteher. Aber die Naturbeſtimmung brauchte noch
nicht zu dem Grade der Entwürdigung zu führen, den wir hier
erblicken , wenn die Unterſchiede lediglich auf die Beſchäftigung
mit Irdiſchem , auf Geſtaltungen des objectiven Geiſtes beſchränkt
wären . Im Feudalweſen des Mittelalters waren die Individuen
12 *
180 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
auch an einen beſtimmten Stand geknüpft, aber es ſtand für
Alle ein Höheres darüber und Allen kam die Freiheit zu , in den
geiſtlichen Stand überzugehen . Dieß iſt der hohe Interſchied,
daß die Religion für Ade ein Gleiches iſt, und daß, wenn auch
der Sohn des Handwerkers Handwerker , der Sohn des Land
manns landmann wird , und die freie Wahl oft von manchen
zwingenden Umſtänden abhängt, das religiöſe Moment zu Alen
in demſelben Verhältniß ſteht, und Alle durch die Religion ab
ſoluten Werth haben . Hiervon iſt aber in Indien das baare
Gegentheil der Fall. Ein andrer Unterſchied zwiſchen den Stän
den der chriſtlichen Welt und denen der indiſchen wäre nun
freilich die ſittliche Würdigkeit, welche bei uns in jedem Stande
iſt, und das ausmacht, was der Menſch in und durch ſich ſelbſt
haben ſoll. Die Oberen ſind darin den Unteren gleich , und in
dem die Neligion die höhere Sphäre iſt, in der ſich Ade ſonnen ,
iſt die Gleichheit vor dem Geſeß, Recht der Perſon und des
Eigenthums jedem Stande erworben. Dadurch daß in Indien
aber, wie ſchon geſagt worden iſt, die Unterſchiede fich nicht nur
auf die Objectivität des Geiſtes, ſondern auch auf ſeine abſolute
Innerlichkeit erſtrecken und ſo alle Verhältniſſe deſſelben erſchöpfen ,
iſt weder Sittlichkeit , noch Gerechtigkeit , noch Religioſität ver
handen .
Jede Caſte hat ihre beſonderen Pflichten und Rechte; die
Pflichten und Rechte ſind daher nicht die des Menſchen über
haupt, ſondern die einer beſtimmten Caſte. Wenn wir ſagen
würden , Tapferkeit iſt eine Tugend, ſo ſagen die Inder dagegen :
Tapferkeit iſt die Tugend der Kſchatriyas. Menſchlichkeit über
haupt, menſchliche Pflicht und menſchliches Gefühl iſt nicht vor
handen , ſondern es giebt nur Pflichten der beſonderen Caſten .
Alles iſt in die Unterſchiede verſteinert, und über dieſer Verſtei
nerung herrſcht die Widfür. Sittlichkeit und menſchliche Würde
iſt nicht vorhanden , die böſen Leidenſchaften gehen darüber; der
Zweiter Abſchnitt. Indien . 181
Geiſt wandert in die Welt des Traumes , und das Höchſte iſt
die Vernichtung.
Um näher zu verſtehen , was Brahmanen ſind , und was
ſie gelten , ſo müſſen wir uns auf die Religion und ihre Vor
ſtellungen einlaſſen , auf die wir noch ſpäter zurückkommen , denn
der Zuſtand der Rechte der Caften gegen einander hat ſeinen
Grund im religiöſen Verhältniſſe. Brahmă (neutr.) iſt das
Höchfte in der Religion , außerdem ſind aber noch Hauptgott
heiten Brahmâ(masc.), Wiſch nu oder Striſch na, in unendlich
vielen Geſtalten , und Siwa; dieſe Dreiheit gehört zuſammen .
Brahmâ iſt das Oberſte, aber Wiſchnu oder Kriſchna, Siwa,
ſowie Sonne, Luft u. ſ. w . ſind auch Brahm , d.i. ſubſtantielle
Einheit. Dem Brahm ſelbſt werden feine Opfer gebracht, es
wird nicht verehrt ; aber zu allen andern Idolen wird gebetet.
Brahm ſelbſt iſt die ſubſtantielle Einheit von Allem . Das höchſte
religiöſe Verhältniß des Menſchen nun iſt, daß er ſich zum
Brahm erhebe. Fragt man einen Brahmanen , was iſt Brahm ,
ſo antwortet er: Wenn ich mich in mich zurücfziehe und alle
äußeren Sinne verſchließe , umd in mir Öm ſpreche, ſo iſt dieß
Brahm . Die abſtracte Einheit mit Gott wird in dieſer Ab
ſtraction des Menſchen zur Eriſtenz gebracht. Eine Abſtraction
kann Alles unverändert laſſen , wie die Andacht, die momentan
in Jemandem hervorgerufen wird ; bei den Indern aber iſt die
felbe negativ gegen alles Concrete gerichtet und das Höchſte dieſe
Erhebung, durch welche der Inder ſich ſelbſt zur Gottheit macht.
Die Brahmanen ſind ſchon durch die Geburt im Beſit des Gött
lichen . Somit enthält der Caſtenunterſchied auch den Unterſchied
von gegenwärtigen Götternt und von endlichen Menſchen . Die
anderen Caſten fönnen zwar ebenfalls der Wiedergeburt theil
haftig werden ; aber ſie müſſen ſich unendlichen Entſagungen ,
Qualen und Büßungen unterwerfen . Die Verachtung des Lebens
und des lebendigen Menſchen , iſt darin der Grundzug. Ein
großer Theil der Nichtbrahmanen trachtet nach der Wiedergeburt,
182 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt .

Man nennt ſie Yogi. Ein Engländer , der auf der Reiſe nach
Tibet zum Dalai-lama einem ſolchen Yogi begegnete , erzählt
Folgendes : der Yogi befand ſich ſchon auf der zweiten Stufe,
um zu der Macht eines Brahmanen zu gelangen . Die erſte
Stufe hatte er durchgemacht, indem er fich zwölf Jahre fort
während auf den Beinen gehalten , ohne ſich je niederzuſeßen
oder zu liegen . Anfangs hatte er ſich mit einem Strick an einen
Baum feſtgebunden , bis er ſich daran gewöhnt hatte, ftehend zu
ſchlafen . Die zweite Stufe machte er ſo durch , daß er zwölf
Jahre beſtändig die Hände über dem Kopf zuſammenfaltete, und
ſchon waren ihm die Nägel faſt in die Hände hineingewachſen .
Die dritte Stufe wird nicht immer auf gleiche Weiſe volbracht;
gewöhnlich muß der Yogi einen Tag zwiſchen fünf Feuern zu
bringen , das heißt, zwiſchen vier Feuern nach allen Himmels
gegenden und der Sonne; dazu kommt dann das Schwenken
über dem Feuer , welches drei und dreiviertel Stunden dauert.
Engländer , welche dieſem Act einmal beiwohnten , erzählen , daß
dem Individuum nach einer halben Stunde das Blut aus allen
Theilen des Körpers herausſtrömte ; es wurde abgenommen und
ſtarb gleich darauf. Hat aber einer auch dieſe Prüfung über
ſtanden , ſo wird er zulegt noch lebendig begraben , das heißt,
ſtehend in die Erde geſenkt und ganz zugeſchüttet; nach drei und
dreiviertel Stunden wird er herausgezogen , und nun endlich hat
er, wenn er noch lebt, die innere Macht des Brahmanen erlangt.
Alſo nur durch ſolche Negation ſeiner Eriſtenz kommt man
zur Macht eines Brahmanen ; dieſe Negation beſteht aber auf
ihrer höchſten Stufe in dem dumpfen Bewußtſeyn , es zu einer
volkommenen Regungsloſigkeit, zur Vernichtung aller Empfindung
und alles Wollens gebracht zu haben , ein Zuſtand, der auch bei
den Buddhiſten als das Höchſte gilt. So feige und ſchwächlich
die Inder ſonſt ſind, ſo wenig koſtet es ſie , ſich dem Höchſten ,
der Vernichtung aufzuopfern , und die Sitte zum Beiſpiel, daß
die Weiber ſich nach dem Tode ihres Mannes verbrennen , hängt
Zweiter Abſchnitt. Indien . 183

mit dieſer Anſicht zuſammen . Würde ein Weib ſich dieſer her
gebrachten Ordnung widerſeßen , ſo ſchiede man ſie aus aller
Geſellſchaft aus und ließe ſie in der Einſamkeit verkommen . Ein
Engländer erzählt , daß er auch eine Frau fich verbrennen fah,
weil fie ihr Kind verloren hatte ; er that alles Mögliche, um ſie
von ihrem Vorſaße abzubringen ; er wendete ſich endlich an den
dabeiſtehenden Mann , aber dieſer zeigte ſich vollkommen gleich
gültig und meinte , er habe noch mehr Frauen zu Hauſe. So
ſteht man denn bisweilen zwanzig Weiber ſich auf einmal in
den Ganges ſtürzen , und auf dem Himalayagebirge fand ein
Engländer drei Frauen , die die Quelle des Ganges aufſuchten ,
um ihrem Leben in dieſem heiligen Fluſſe ein Ende zu machen .
Beim Gottesdienſt in dem berühmten Tempel des Fagernaut am
bengaliſchen Meerbuſen in Oriffa , wo Millionen von Indern
zuſammenkommen , wird das Bild des Gottes Wiſchnu auf einem
Wagen herumgefahren ; gegen fünfhundert Menſchen feßen den
ſelben in Bewegung, und Viele ſchmeißen ſich vor die Räder
deſſelben hin und laſſen ſich zerquetſchen . Der ganze Strand des
Meeres iſt ſchon mit Gebeinen von ſo Geopferten bedeckt. Auch
der Kindermord iſt in Indien ſehr häufig. Die Mütter werfen
ihre Kinder in den Ganges oder laſſen ſie an den Strahlen der
Sonne verſchmachten . Das Moraliſche, das in der Achtung
eines Menſchenlebens liegt , iſt bei den Indern nicht vorhanden .
Solcher Lebensweiſen , die auf die Vernichtung hingehen , giebt
es nun noch unendliche Modificationen. Dahin gehören z. B .
die Gymnoſophiſten , wie ſie die Griechen nannten . Nackte Fa
fir's laufen ohne irgend eine Beſchäftigung gleich den katholiſchen
Bettelmönchen herum , leben von den Gaben Anderer, und haben
den Zweck, die Hoheit der Abſtraction zu erreichen , die voll
kommene Verbumpfung des Bewußtſeyns, von wo aus der
Uebergang zum phyſiſchen Tode nicht mehr ſehr groß iſt.
Dieſe von Anderen erſt mühſam zu erwerbende Hoheit be
ſißen nun die Brahmanen , wie ſchon geſagt worden iſt , durch
184 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
die Geburt. Der Inder einer anderen Caſte hat daher den
Brahmanen als einen Gott zu verehren , vor ihm niederzufallen
und zu ſprechen : du biſt Gott. Und zwar kann die Würdigkeit
nicht in fittlichen Handlungen beſtehen , ſondern vielmehr, da alle
Innerlichkeit fehlt , in einem Wuft von Gebräuchen , welche auch
für das äußerliche unbedeutendſte Thun Vorſchriften ertheilen .
Das Leben des Menſchen , fagt man , ſoll ein beſtändiger Gottega
dienſt ſeyn. Man ſieht , wie hohl dergleichen allgemeine Säße
ſind , wenn man die concreten Geſtaltungen betrachtet , die ſie
annehmen können . Sie bedürfen noch eine ganz andere, weitere
Beſtimmung, wenn ſie Sinn haben ſollen . Die Brahmanen
ſind der gegenwärtige Gott, aber ihre Geiſtigkeit iſt noch nicht
in ſich gegen die Natürlichkeit reflectirt, und ſo hat das Gleich
gültige abſolute Wichtigkeit. Die Geſchäfte des Brahmanen bes
ſtehen hauptſächlich im Leſen der Vêda's : nur ſie dürfen ſie ei
gentlich leſen. Wenn ein Sudra die Vêda's läſe, oder ſie leſen
hörte , fo würde er hart beſtraft werden , und glühendes Del
müßte ihm in die Dhren gegoſſen werden . Deſſen , was die
Brahmanen äußerlich zu beobachten haben , iſt ungeheuer viel
und die Geſeße des Manu handeln davon wie von dem weſent
lichſten Theile des Rechts. Der Brahmane muß mit einem be
ſtimmten Fuße aufſtehn , ſich dann in einem Fluß waſchen , Haar
und Nägel müſſen rund geſchnitten , der ganze Leib gereinigt, das
Gewand muß weiß , in der Hand ein beſtimmter Stab , in den
Ohren ein goldenes Ohrgehänge ſeyn. Begegnet der Brahmane
einem Mann aus einer niederen Caſte , ſo muß er wieder um
kehren , ſich zu reinigen . Dann muß er in den Veda 's leſen ,
und zwar auf verſchiedene Weiſe : jedes Wort einfach , oder eins
um 's andere doppelt , oder rüdwärts. Weder in den Aufgang
der Sonne darf er blicken , noch in den Niedergang, auch nicht
wenn die Sonne von Wolken überzogen iſt, oder ihr Widerſchein
im Waſſer leuchtet. Ihm iſt verwehrt über einen Strick zu ſtei
gen , woran ein Kalb gebunden iſt , oder auszugehen , wenn es
Zweiter Abſchnitt. Indien . 185
regnet. Seiner Frau zuzuſehen , wenn ſie ißt, nieſet, gähnt oder
behaglich dafißt , iſt ihm verboten . Beim Mittagsmahl darf er
nur Ein Gewand anhaben , beim Baden nie ganz nackt ſeyn .
Wie weit dieſe Vorſchriften gehen , läßt ſich insbeſondere aus den
Anordnungen beurtheilen , welche die Brahmanen bei der Ver
richtung ihrer Nothdurft zu beobachten haben . Sie dürfen ſich
ihrer nicht entledigen auf einer großen Straße, auf Aſche, auf
gepflügtem Grunde, noch auf einem Berge, auf einem Neft von
weißen Ameiſen , auf Holz , das zum Verbrennen beſtimmt iſt,
auf einem Graben , im Gehen und Stehen , am Ufer eines Fluſſes
u . ſ. w . Bei der Verrichtung dürfen ſie nicht nach der Sonne,
nach dem Waſſer und nach Thieren ſehen . Sie müſſen überhaupt
das Geſicht bei Tage gegen Norden kehren , bei Nacht aber ge
gen Süden ; nur im Schatten ſteht es in ihrem Belieben , wohin
ſie ſich wenden wollen . Einem Jeden , der ſich ein langes Leben
wünſcht, iſt es verboten , auf Scherben , Samen von Baumwolle,
Aſche , Korngarben , oder auf ſeinen Urin zu treten. In der
Epiſode Nala aus dem Gedichte Mahabharata wird erzählt, wie
eine Jungfrau in ihrem 21ſten Jahre, in dem Alter, in welchem
die Mädchen ſelbſt das Recht haben einen Mann zu wählen ,
unter ihren Freiern ſich einen ausſucht. Es ſind ihrer fünf; die
Jungfrau bemerkt aber, daß vier nicht feſt aufihren Füßen ſtehen ,
und ſchließt ganz richtig daraus , daß es Götter ſeyen . Sie
wählt alſo den fünften , der ein wirklicher Menſch iſt. Außer
den vier verſchmähten Göttern ſind aber noch zwei boshafte,
welche die Wahl verſäumt hatten , und ſich deshalb rächen wollen ;
fie paſſen daher dem Gemahl ihrer Geliebten bei allen ſeinen
Schritten und Handlungen auf, in der Abſicht, ihm Schaden
zuzufügen , wenn er in irgend etwas fehlen ſollte. Der ver
folgte Gemahl begeht nichts , was ihm zur Laſt fallen könnte,
bis er endlich aus Unvorſichtigkeit auf ſeinen Urin tritt. Nun
hat der Genius das Recht in ihn hineinzufahren ; er plagt ihn
mit der Spielſucht und ſtürzt ihn ſomit in den Abgrund.
186 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
Wenn nun die Brahmanen dergleichen Beſtimmungen und Vor
ſchriften unterworfen ſind , ſo iſt ihr Leben dagegen geheiligt;
für Verbrechen haftet es nicht: ebenſowenig fann ihr Gut in
Beſchlag genommen werden . Alles , was der Fürſt gegen ſie
verhängen kann, läuft auf die Landesverweiſung hinaus. Die
Engländer wollten ein Geſchwornengericht in Indien einſeßen ,
das zur Hälfte aus Europäern , zur Hälfte aus Indern zuſam
mengeſeßt ſeyn ſollte , und legten den Indern , die darüber ein
Gutachten abgeben ſollten , die den Geſchwornen zu ertheilenden
Vollmachten vor. Die Inder machten nun eine Menge von
Ausnahmen und Bedingungen , und ſagten unter Anderein , ſie
könnten nicht ihre Zuſtimmung dazu ertheilen , daß ein Brahmane
zum Tode verurtheilt werden dürfe, anderer Einwendungen , zum
Beiſpiel, daß ſie einen todten Körper nicht ſehen und unterſuchen
dürften , nicht zu gedenken . Wenn der Zinsfuß bei einem Krieger
drei Procent, bei einem Waiſya vier Procent, bei einem Sudra
fünf Procent hoch ſeyn darf, ſo überſteigt er bei einem Brah
manen nie die Höhe von zwei Procenten . Der Brahmane be
fißt eine ſolche Macht, daß den König der Bliß des Himmels
treffen würde, der Hand an denſelben oder an ſeine Güter zu
legen wagte, denn der geringſte Brahmane ſteht ſo hoch über
dem König, daß er ſich verunreinigen würde, wenn er mit ihm
ſpräche, und daß er entehrt wäre, wenn ſeine Tochter ſich einen
Fürſten erwählte. In Manu's Geſeßbuch heißt es : Wil Je
mand den Brahmanen in Anſehung ſeiner Pflicht belehren , ſo
ſoll der König befehlen, daß dem Belehrenden heißes Del in die
Dhren und in den Mund gegoſſen werde; wenn ein nur einmal
Geborner einen zweimal Gebornen mit Schmähungen überhäuft,
ſo ſoll jenem ein glühender Eiſenſtab von zehn Zoll Länge in
den Mund geſtoßen werden . Dagegen wird einem Sudra glü
hendes Eiſen in den Hintern angebracht, wenn er ſich auf den
Stuhl eines Brahmanen ſeßt, und der Fuß oder die Hand ab
gehauen , wenn er einen Brahmanen mit den Händen oder mit
Zweiter Abſgnitt. Indien . 187
den Füßen ſtößt. Es iſt ſogar falſches Zeugniß abzulegen und
vor Gericht zu lügen geſtattet, fals nur dadurch ein Brahmane
von der Verurtheilung gerettet wird .
Sowie die Brahmanen Vorzüge vor den anderen Caſten ha
ben , ſo haben auch die folgenden einen Schritt über die voraus,
welche ihnen untergeordnet ſind. Wenn ein Sudra von einem
Paria durch Berührung verunreinigt würde, ſo hat er das Recht
ihn auf der Stelle niederzuſtoßen . Die Menſchenliebe einer hör
heren Caſte gegen eine niedere iſt durchaus verboten , und einem
Brahmanen wird es nimmermehr einfallen , dem Mitgliede einer
anderen Caſte, ſelbſt wenn es in Gefahr wäre, beizuſtehen . Die
anderen Caften halten es für eine große Ehre, wenn ein Brah
mane ihre Töchter zu Weibern nimmt,was ihm aber, wie ſchon
geſagt worden , nur dann geſtattet iſt, wenn er ſchon ein Weib
aus der eigenen Caſte beſigt. Daher die Freiheit der Brahma
nen ſich Frauen zu nehmen . Bei den großen religiöſen Feſten
gehen ſie unter das Volk und wählen ſich die Weiber, die ihnen
am beſten gefallen ; ſie ſchicken ſie aber auch wieder weg, wie
es ihnen beliebt.
Wenn ein Brahmane oder ein Mitglied irgend einer andes
ren Caſte die oben angedeuteten Gefeße und Vorſchriften über
tritt , ſo iſt er auch von ſelbſt aus ſeiner Caſte ausgeſchloſſen ,
und um wieder aufgenommen zu werden , muß er ſich einen Ha
fen durch die Hüfte bohren und daran mehremale in der Luft
herumſchwenken laſſen . Auch andre Formen der Wiederzulaſſung
finden ſtatt. Ein Raja , der ſich von einem engliſchen Statt
halter beeinträchtigt glaubte, ſchickte zwei Brahmanen nach Eng
land , um ſeine Beſchwerden auseinanderzuſeßen . Den Indern
· iſt es aber verboten über das Meer zu gehen ; und daher wur
den dieſe Geſandten , als ſie zurückkamen , als aus ihrer Cafte
geſtoßen erklärt, und ſollten, um wieder eintreten zu können , noch
einmal aus einer goldenen Kuh geboren werden . Die Totalität
der Aufgabe wurde ihnen inſoweit erlaſſen , daß nur die Theile
188 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

der Kuh golden zu ſeyn brauchten , aus welchen ſie herauskrie


chen mußten ; das lebrige durfte aus Holz beſtehen . Dieſe viel
fachen Gebräuche und religiöſen Angewöhnungen , denen jede
Cafte unterworfen iſt, haben den Engländern , namentlich bei der
Anwerbung ihrer Soldaten , große Noth verurſacht. Anfänglich
nahm man ſie aus der Sudracaſte, die nicht ſo vielen Verrich
tungen unterworfen iſt: mit dieſen war aber nichts zu machen ,
daher ging man zu der Claſſe der Aſchatriya über ; aber dieſe
hat unendlich viel zu beſorgen : fie darf kein Fleiſch eſſen , keinen
todten Körper berühren , aus einem Teiche nicht trinken , aus dem
Vieh oder Europäer getrunken haben , das nicht effen , was An
tre kochten u . f. w . Jeder Inder thut nur ein Beſtimmtes , ſo
daß man unendlich viele Bedienten haben muß , und ein Lieutes
nant dreißig , ein Major ſechzig befißt. Jede Caſte hat alſo ihre
eigenen Pflichten ; je niedriger die Caſte, deſto weniger iſt für
fte zu beobachten , und wenn jedem Individuum durch die Ge
burt ſein Standpunkt angewieſen iſt, ſo iſt außer dieſem feft Be
ſtimmten alles Andre nur Willkür und Gewaltthat. Im Gefeß
buch des Manu ſteigen die Strafen mit der Niedrigkeit der Ca
ſten , und der Unterſchied kommt auch in anderen Rückſichten vor .
Verklagt ein Mann aus einer höheren Claſſe einen Niedrigen
ohne Beweis , ſo wird der Höhere nicht beſtraft; im umgekehrten
Fale iſt die Strafe ſehr hart. Nur beim Diebſtahl findet die
Ausnahme ftatt, daß die höhere Caſte ſchwerer büßen muß.
In Anſehung des Eigenthums ſind die Brahmanen ſehr im
Vortheil , denn ſie zahlen keine Abgaben. Vom übrigen Lande
erhält der Fürſt die Hälfte des Ertrags, die andre Hälfte muß
für die Koſten der Bebauung und für den Unterhalt der Bauern
hinreichen . Der Punkt iſt äußerſt wichtig , ob in Indien über
haupt das bebaute Land Eigenthum des Bebauers , oder eines
ſogenannten Lehnsherrn iſt, und die Engländer haben darüber
felbſt ſchwer ins Reine kommen können . Als ſie Bengalen er
oberten , hatten ſie nämlich ein großes Intereſſe, die Art der Ab
Zweiter Abſchnitt. Indien . 189
gaben vom Eigenthum zu beſtimmen , und mußten erfahren , ob
fte dieſe den Bauern oder den Oberherren aufzulegen hätten.
Sie thaten das Lebtere ; aber nun erlaubten ſich die Herren die
größten Willkürlichkeiten : ſie jagten die Bauern weg , und er
langten unter der Angabe, daß ſo und ſo viel Land unbebaut
fen , eine Verminderung des Tributs. Die fortgejagten Bauern
nahmen ſie dann wieder für ein Geringes als Tagelöhner an ,
und ließen das Land für ſich ſelbſt cultiviren. Der ganze Er
trag eines jeden Dorfes wird wie geſagt in zwei Theile getheilt,
wovon der eine dem Raja , der andere den Bauern zukommt;
dann aber erhalten noch außerdem verhältnißmäßige Portionen
der Ortsvorſteher , der Richter , der Aufſeher über das Waſſer,
der Brahmane für den Gottesdienſt , der Aſtrolog (der auch ein
Brahmane iſt, und die glücklichen und unglücklichen Tage an
giebt), der Schmidt, der Zimmermann, der Töpfer, der Wäſcher,
der Barbier, der Arzt, die Tänzerinnen , der Muſikus, der Poet.
Dieß iſt feſt und unveränderlich und unterliegt keiner Wilfür.
Ale politiſchen Revolutionen gehen daher gleichgültig an dem ge
meinen Inder vorüber, denn ſein Loos verändert ſich nicht.
Die Darſtellung des Caſtenverhältniſſes führt nun unmit
telbar zur Betrachtung der Religion . Denn die Feſſeln der Ca
ſten ſind, wie ſchon bemerkt worden , nicht bloß weltlich , ſondern
weſentlich religiös , und die Brahmanen in ihrer Hoheit find
ſelbſt die Götter in leiblicher Gegenwart. In den Gefeßen des
Manu heißt es : Laßt den König auch in höchſter Noth nicht
die Brahmanen gegen ſich aufregen ; denn dieſe können ihn mit
ihrer Macht zerſtören , fte , welche das Feuer , die Sonne, den
Mond erzeugen u. f. f. Sie ſind weder Diener Gottes noch ſeiner
Gemeine, ſondern den übrigen Caften ſelber der Gott,welches Ver
hältniß eben die Verkehrtheit des indiſchen Geiſtes ausmacht.
Die träumende Einheit des Geiſtes und der Natur, welche einen
ungeheuern Taumel in allen Geſtaltungen und Verhältniſſen mit
fich bringt, haben wir ſchon früher als das Princip des indi.
190 Erſter Theil. Die orientaliſde Welt.

ſchen Geiſtes erkannt. Die indiſche Mythologie iſt daher nur


eine wilde Ausſchweifung der Phantaſte, in der ſich nichts feſt
geſtaltet, in der vom Gemeinſten zum Höchſten, vom Erhaben
ſten zum Scheußlichſten und Trivialften übergegangen wird. So
iſt es auch ſchwer aufzufinden , was die Inder unter Brahm ver
ſtehen . Wir bringen die Vorſtellung des höchſten Gottes , des
Einen , des Schöpfers des Himmels und der Erden , mit , und
laffen dieſe Gedanken dem indiſchen Brahm zufließen . Von Brahm
unterſchieden iſt nun Brahma , der eine Perſon gegen Wiſchnu
und Siwa bildet. Deswegen nennen Viele das höchſte Weſen
über jenen Parabrahma. Die Engländer haben ſich viele Mühe
gegeben herauszubringen , was eigentlich Brahm ſey . Es iſt von
Wilford behauptet worden , es gebe zwei Himmel in der indiſchen
Vorſtellung: der erſte fey das irdiſche Paradies , der zweite der
Himmel, in geiſtiger Bedeutung. Um dieſe zu erreichen gebe es
zwei Weiſen des Cultus. Die eine enthalte äußerliche Gebräuche,
Gößendienſt; die andere erfordere , daß man das höchſte Weſen
im Geiſte verehre. Opfer, Abwaſchungen , Wallfahrten ſeyen hier
nicht mehr nöthig. Man finde wenig Inder, welche den zwei
ten Weg zu gehen bereit ſeyen , weil ſie nicht faſſen können ,worin
das Vergnügen des zweiten Himmels beſtehe. Frage man einen
Hindu, ob er Idole verehre, ſo ſage Feder : ja ; auf die Frage aber,
betet ihr zum höchſten Weſen ? antworte Jeder : nein. Wenn
man nun weiter fragt : was thut ihr denn , was bedeutet das
ſchweigende Meditiren , deſſen einige Gelehrte Erwähnung thun ?
ſo iſt die Erwiderung : wenn ich zur Ehre eines der Götter bete,
ſo ſeße ich mich nieder, die Füße wechſelsweis üler die Schenkel
geſchlagen , ſchaue gen Himmel, ruhig die Gedanken erhebend und
ſprachlos die Hände gefalten ; dann ſage ich , ich bin Brahm ,
das höchſte Weſen . Brahm zu ſeyn , werden wir durch die Maya
(die weltliche Täuſchung) uns nicht bewußt ; es iſt verboten , zu
ihm zu beten , und ihm felbft Dpfer zu bringen , denn dieß hieße
uns ſelbſt anbeten. Alſo fönnen es immer nur Emanationen
Zweiter Abſchnitt. Indien . 191

Brahms ſeyn ,welche wir anflehen . Nach der Ueberſeßung in


unſern Gedankengang iſt alſo Brahm die reine Einheit des Ge
dankens in ſich ſelbſt, der in ſich einfache Gott. Ihm find keine
Tempel geweiht , und er hat keinen Cultus. Gleichartig ſind
auch in der katholiſchen Religion die Kirchen nicht Gott zuge
ſchrieben , ſondern den Heiligen . Andere Engländer , welche ſich
der Erforſchung des Gedankens Brahms hingaben , meinten ,
Brahm ſey ein nichtsſagendes Epitheton , das auf alle Götter
angewendet werde : Wiſchnu ſage: ich bin Brahm ; auch die
Sonne, die Luft, die Meere werden Brahm genannt. Brahm
ſey ſo die einfache Subſtanz, welche ſich weſentlich in das Wilde
der Verſchiedenheit auseinanderſchlägt. Denn dieſe Abſtraction ,
dieſe reine Einheit iſt das Allem zu Grunde liegende, die Wur
zel aller Beſtimmtheit. Beim Wiſſen dieſer Einheit fällt alle
Gegenſtändlichkeit weg , denn das rein Abſtracte iſt eben das
Wiffen ſelbſt in ſeiner äußerſten Leerheit. Dieſen Tod des Le
bens ſchon im Leben zu erreichen , dieſe Abſtraction zu feßen ,
dazu iſt das Verſchwinden alles ſittlichen Thuns und Wollens,
wie auch des Wiſſens nöthig, wie in der Religion des Fo ; und
dazu werden die Büßungen unternommen , von welchen früher
geſprochen worden .
Das Weitere zu der Abſtraction Brahms wäre nun der
concrete Inhalt, denn das Princip der indiſchen Religion iſt das
Hervortreten der Unterſchiede. Dieſe nun fallen außer jener ab
ſtracten Gedankeneinheit, und ſind als das von ihr Abweichende
ſinnliche Unterſchiede, oder die Gedankenunterſchiede in unmittel
barer ſinnlicher Geſtalt. Auf dieſe Weiſe iſt der concrete Inhalt
geiſtlos und wild zerſtreut, ohne in die reine Idealität Brahms
zurückgenommen zu ſeyn. So ſind die übrigen Götter die
ſinnlichen Dinge: Berge,Ströme, Thiere, die Sonne, der Mond,
der Ganges. Dieſe wilde Mannigfaltigkeit iſt dann auch zu
ſubſtantiellen Unterſchieden zuſammengefaßt , und als göttliche
Subjecte aufgefaßt. Wiſchnu , Siwa , Mahadewa unterſcheiden
192 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
fich auf dieſe Weiſe von Brahma. In der Geſtalt des Wiſchnu
treten die Incarnationen auf, worin Gott als Menſch erſchien ,
und dieſe Menſchwerdungen ſind immer geſchichtliche Perſonen ,
die Veränderungen und neue Epochen bewirkten . Die Zeugungs
kraft iſt ebenſo eine ſubſtantielle Geſtalt, und in den Ercavatio
nen , den Grotten , den Pagoden der Inder findet man immer
das Lingam , als die männliche, und den Lotos als weibliche
Zeugungskraft.
Dieſem Gedoppelten , der abſtracten Einheit und abſtracten
ſinnlichen Beſonderheit entſpricht eben der gedoppelte Cultus ,
in dem Verhalten des Selbſt zum Gott. Die eine Seite dieſes
Cultus beſteht in der Abſtraction des reinen fich Aufhebens, in
dem Vernichten des realen Selbſtbewußtſeyns , welche Negativi
tät alſo in der ſtumpfen Bewußtloſigkeit einerſeits , in dem Selbſt
morde, und dem Vernichten der Lebendigkeit durch ſelbſtauferlegte
Qualen andererſeits zur Erſcheinung kommt. Die andere Seite
des Cultus beſteht in dem wilden Taumel der Ausſchweifung,
in der Selbſtloſigkeit des Bewußtſeyns durch Verſenkung in die
Natürlichkeit , mit der das Selbſt fich auf dieſe Weiſe identiſch
feßt, indem es das Bewußtſeyn des fich Unterſcheidens von der
Natürlichkeit aufhebt. Bei allen Pagoden werden daher Buhle
rinnen und Tänzerinnen gehalten , welche die Brahmanen aufs
ſorgfältigſte im Tanzen , in den ſchönen Stellungen und Ge
behrden unterrichten , und die um einen beſtimmten Preis ſich
jedem Wollenden ergeben müſſen . Von einer Lehre, von Bezie
hung der Religion auf Sittlichkeit kann hier im Entfernteſten
nicht mehr die Rede ſeyn . Liebe, Himmel, genug alles Geiſtige
wird von der Phantaſie des Inders einerſeits vorgeſtellt , aber
andererſeits iſt ihm das Gedachte ebenſo ſinnlich da, und er ver
ſenkt ſich durch Betäubung in dieſes Natürliche. Die religiöſen
Gegenſtände find ſo entweder von der Kunſt hervorgebrachte
ſcheußliche Geſtalten vder natürliche Dinge. Jeder Vogel, jeder
Affe iſt der gegenwärtige Gott, ein ganz allgemeines Weſen.
Zweiter Abſchnitt. Indien . 193
Die Inder ſind nämlich unfähig, einen Gegenſtand in verſtän
digen Beſtimmungen feſtzuhalten , denn dazu gehört fchon Re
flerion. Indem das Augemeine zu ſinnlicher Gegenſtändlichkeit
verkehrt wird , wird dieſe auch aus ihrer Beſtimmtheit zur Auge
meirheit herausgetrieben , wodurch ſie ſich haltungslos zur Maaß
loſigkeit erweitert.
Fragen wir nun weiter, in wie weit die Religion die Sitt
lichkeit der Inder erſcheinen laſſe, ſo iſt zu antworten , die erſtere
fey ebenſo weit von der leşteren abgeſchnitten , wie Brahm von
ſeinem concreten Inhalt. Die Religion iſt uns das Wiſſen des
Weſens , das eigentlich unſer Weſen iſt, und daher die Sub
ſtanz unſeres Wiſſens und Wollens, das die Beſtimmung erhält,
ein Spiegel dieſer Grundſubſtanz zu ſeyn. Aber dazu gehört,
daß dieſes Weſen ſelbſt Subject mit göttlichen Zwecken ſey,welche
der Inhalt des menſchlichen Handelns werden können . Solcher
Begriff aber einer Beziehung des Weſens Gottes als allgemei
ner Subſtanz menſchlichen Handelns, ſolche Sittlichkeit kann ſich
bei den Indern nicht finden , denn ſie haben nicht das Geiſtige
zum Inhalt ihres Bewußtſeyns. Einerſeits beſteht ihre Tugend
in dem Abſtrahiren von allem Thun im Brahmſeyn ; andererſeits
iſt jedes Thun bei ihnen vorgeſchriebener äußerlicher Gebrauch ,
nicht freies Thun durch die Vermittelung innerlicher Selbſtigkeit,
und ſo zeigt ſich denn der ſittliche Zuſtand der Inder, wie ſchon
geſagt worden iſt, als der verworfenſte. Darin ſtimmen alle
Engländer überein . Man kann ſich in ſeinem Urtheile über die
Moralität der Inder leicht durch die Beſchreibung der Milde, der
Zartheit, der ſchönen und empfindungsvollen Phantaſie beſtechen
laſſen , doch müſſen wir bedenken , daß es in ganz verdorbenen
Nationen Seiten giebt, die man zart und edel nennen dürfte.
Wir haben chineſiſche Gedichte, worin die zarteſten Verhältniſſe
der Liebe geſchildert werden , worin ſich Zeichnungen von tiefer
Empfindung, Demuth, Schaam , Beſcheidenheit befinden , und die
man mit dem , was vom Beſten in der europäiſchen. Literatur
Philoſophie o. Geſdichte. 3. Aufl. 13
194 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
vorkommt, vergleichen kann. Daſſelbe begegnet uns in vielen
indiſchen Poeften ; aber Sittlichkeit, Moralität, Freiheit des Gei
ſtes , Bewußtſeyn des eigenen Rechts ſind ganz davon getrennt.
Die Vernichtung der geiſtigen und phyſiſchen Eriſtenz hat nichts
Concretes in fich, und das Verſenken in die abſtracte Allgemein
heit hat keinen Zuſammenhang mit dem Wirklichen . Lift und
Verſchlagenheit iſt der Grundcharakter des Inders ; Betrügen ,
Stehlen , Rauben , Morden liegt in ſeinen Sitten ; demüthig frie
chend und niederträchtig zeigt er ſich dem Sieger und Herrn,
vollkommen rückſichtslos und grauſam dem Ueberwundenen und
Untergebenen . Die Menſchlichkeit des Inders charakteriſirend iſt
es, daß er kein Thier tödtet , reiche Hospitäler für Thiere , be
ſonders für alte Kühe und Affen , ſtiftet und unterhält, daß aber
im ganzen Lande feine einzige Anſtalt für franke und alters
ſchwache Menſchen zu finden iſt. Auf Ameiſen treten die Inder
nicht, aber arme Wandrer laſſen ſie gleichgültig verſchmachten .
Beſonders unſittlich ſind die Brahmanen . Sie eſſen und ſchlafen
nur , erzählen die Engländer. Wenn ihnen etwas nicht durch
ihre Gebräuche verboten iſt, ſo laſſen ſie fich ganz durch ihre
Triebe leiten ; wo ſie ins öffentliche Leben eingreifen , zeigen ſie
fich habſüchtig , betrügeriſch , wollüſtig ; fie behandeln die mit De
muth , welche ſte zu fürchten haben , und laſſen es ihre Unterge
benen entgelten . Ein rechtſchaffener Mann, ſagt ein Engländer,
iſt mir unter ihnen nicht bekannt. Die Kinder haben vor den
Eltern keine Achtung : der Sohn mißhandelt die Mutter.
Die Kunſt und Wiſſenſchaft der Inder hier ausführlich
zu erwähnen, würde zu weit führen . Es iſt aber im Allgemei
nen zu ſagen , daß bei genauerer Kenntniß des Werthes derſelben
das viele Gerede von indiſcher Weisheit um ein Bedeutendes iſt
verringert worden . Nach dem indiſchen Principe der reinen ſelbſt=
loſen Idealität und des Unterſchiedes , der ebenſo ſinnlich iſt, zeigt
eg fich , wie nur abſtractes Denken und Phantaſie können aus
gebildet ſeyn . So iſt . B . die Grammatik zu großer Feſtigkeit
Zweiter Abſchnitt. Indien . 195
gediehen ; aber ſobald es in den Wiſſenſchaften und Kunſtwerken
auf ſubſtantiellen Stoff ankommt, iſt derſelbe hier nicht zu ſuchen .
Nachdem die Engländer Herren des Landes wurden , hat man
die Entdeckung indiſcher Bildung wieder zu machen angefangen ,
und William Jones hat zuerſt die Gedichte des goldenen Zeit
alters aufgeſucht. Die Engländer führten in Calcutta Schau
ſpiele auf: da zeigten die Brahmanen auch Dramen vor, 3. B .
die Sakuntala von Calidaſa u . ſ. w . In dieſer Freude der
Entdeckung ſchlug man nun die Bildung der Inder ſehr hoch an ,
und wie man gewöhnlich bei neu aufgefundenen Schäßen auf
die, welche man befißt, verachtend herabſieht, ſo ſollte indiſche
Dichtkunſt und Philoſophie die griechiſche weit überragen . Am
wichtigſten ſind für uns die Ur- und Grundbücher der Inder,
beſonders die Vêda's ; ſie enthalten mehrere Abtheilungen ,wovon
die vierte ſpäteren Urſprungs iſt. Der Inhalt derſelben beſteht
theils aus religiöſen Gebeten , theils aus Vorſchriften , was die
Menſchen zu beobachten haben . EinigeHandſchriften dieſer Veda's
ſind nach Europa gekommen , doch vollſtändig ſind ſie außeror
dentlich ſelten . Die Schrift iſt auf Palmblätter mit einer Nadel
eingefragt. Die Veda's ſind ſehr ſchwer zu verſtehen , da ſie ſich
aus dem höchſten Alterthum herſchreiben , und die Sprache ein
viel älteres Sanskrit iſt. Nur Colebrooke hat einen Theil
überſeßt, aber dieſer ſelbſt iſt vielleicht aus einem Commentar
genommen , deren es ſehr viele giebt * ). Auch zwei große epiſche
Gedichte, Namayana und Mahabharata , ſind nach Europa ge
kommen . Drei Quartbände von erſterem ſind gedruckt worden ,
der zweite Band iſt äußerſt ſelten * * ). Außer dieſen Werken

* ) Erſt jeßt hat ſich Profeſſor Roſen in London ganz in die Sache
hineinſtudirt und fürzlich ein Specimen des Tertes mit einer Ueberſeßung
gegeben , Rig - Vedae Specimen ed. Fr. Rosen. Lond. 1830. (Später
iſt nach dem Tode Roſen’s aus ſeinem Nachlaß der ganze Rig - Veda Lon
don 1839 erſchienen .)
** ) Anm . des Herausgeb. A . W . v . Schlegel hat den erſten und
zweiten Band herausgegeben ; von Mahabharata ſind die wichtigſten Epiſo
13 *
196 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
find noch beſonders die Puranas zu bemerken . Die Puranas
enthalten die Geſchichte eines Gottes, oder eines Tempels. Dieſe
ſind vollkommen phantaſtiſch . Ein Grundbuch der Inder iſt fer
ner das Geſebbuck des Manu. Man hat dieſen indiſchen Ge
reßgeber mit dem kretiſchen Minos, welcher Name auch bei den
Aegyptern vorkommt, verglichen , und gewiß iſt es merkwürdig
und nicht zufällig , daß dieſer Name ſo durchgeht. Manu 's Sit
tenbuch (herausgegeben zu Calcutta mit engliſcher Ueberſekung des
Sh W . Jones ) macht die Grundlage der indiſchen Gefeßgebung
aus. Es fängt mit einer Theogonie an, die nicht nur, wie na
türlich, von den mythologiſchen Vorſtellungen anderer Völker ganz
verſchieden iſt, ſondern auch weſentlich von den indiſchen Tradi
tionen ſelbſtabweicht. Denn auch in dieſen ſind nur einige Grund
züge durchgreifend, ſonſt iſt Alles der Willkür und dem Belieben
eines Jeden überlaſſen , daherman immer wiederdie verſchiedenartig
ſten Traditionen , Geſtaltungen und Namen vorfindet. Auch die Zeit,
in welcher Manu's Gefeßbuch entſtanden iſt, iſt völlig unbekannt
und unbeſtimmt. Die Traditionen gehen bis über drei und zwan
zig Jahrhunderte vor Chriſti Geburt : es wird von einer Dynaſtie
der Sonnenkinder, auf die eine ſolche der Mondskinder folgte,
geſprochen . Soviel iſt aber gewiß , daß das Geſeßbuch aus ho
hem Alterthum iſt; und ſeine Kenntniß iſt für die Engländer von
der größten Wichtigkeit , da ihre Einſicht in das Recht davon
abhängt.
Nachdem nun das indiſche Princip in den Caſtenunterſchie
den , in der Religion und Literatur iſt nachgewieſen worden , ſo
iſt nun auch die Art und Weiſe des politiſchen Daſeyns d .i.
der Grundſaß des indiſchen Staats anzugeben . – Der Staat
iſt dieſe geiſtige Wirklichkeit, daß das ſelbſtbewußte Seyn des
Geiſtes , die Freiheit des Willens als Geſeß verwirklicht werde.

den von F. Bopp bekannt gemacht ; jeħt iſt eine Geſammtausgabe zu Cal
cutta erſchienen .
Zweiter Abſchnitt. Indien . 197
Dieß feßt ſchlechthin das Bewußtſeyn des freien Willens über
haupt voraus. Im chineſiſchen Staate iſt der moraliſche Wille
des Kaiſers das Gefeß ; aber ſo , daß die ſubjective , innerliche
Freiheit dabei zurückgedrängt iſt, und das Geſeß der Freiheit nur
als außerhalb der Individuen ſie regiert. In Indien iſt dieſe
erſte Innerlichkeit der Einbildung, eine Einheit des Natürlichen
und Geiſtigen , worin weder die Natur als eine verſtändige Welt,
noch das Geiſtige als das der Natur ſich gegenüberſtellende Selbſt
bewußtſeyn iſt. Hier fehlt der Gegenſaß im Princip ; es fehlt
die Freiheit ſowohl als an ſich ſeyender Wille,wie auch als ſub
jective Freiheit. Es iſt hiemit der eigenthümliche Boden des
Staats , das Princip der Freiheit gar nicht vorhanden : es kann
alſo kein eigentlicher Staat vorhanden ſeyn. Dieß iſt das Erſte ;
wenn China ganz Staat iſt, ſo iſt das indiſche politiſche Weſen
nur ein Volk , kein Staat. Ferner , wenn in China ein mora
liſcher Despotism war, ſo iſt das, was in Indien noch poli
tiſches Leben genannt werden kann , ein Despotism ohne irgend
einen Grundſaß, ohne Regel der Sittlichkeit und der Religioſität;
denn Sittlichkeit, Religion , in ſofern die legtere ſich auf das Han
deln der Menſchen bezieht , haben ſchlechthin zu ihrer Bedingung
und Baſis die Freiheit des Willens. In Indien iſt daher der
willkürlichſte , ſchlechteſte , entehrendſte Despotism zu Hauſe.
China , Perſien , die Türkei, Aſien überhaupt iſt der Boden des
Despotism , und , im böſen Charakter , der Tyrannei; aber die
lektere gilt als etwas, das nicht in der Ordnung iſt und das
an der Religion , an dem moraliſchen Bewußtſeyn der Individuen
ſeine Mißbilligung findet; die Tyrannei empört hier die Indivi
duen , ſie verabſcheuen und empfinden ſie als Druck : ſie iſt darum
zufällig und außer der Ordnung : ſie ſoll nicht ſeyn. Aber in
Indien iſt ſie in der Ordnung , denn hier iſt kein Selbſtgefühl
vorhanden , mit dem die Tyrannei vergleichbar wäre, und wo
durch das Gemüth ſich in Empörung ſebte ; es bleibt nur der
198 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

körperliche Schmerz , die Entbehrung der nöthigſten Bedürfniſſe


und der Luſt, welche eine negative Empfindung dagegen enthalten .
Bei einem ſolchen Volke iſt denn das , was wir im dop
pelten Sinne Geſchichte heißen , nicht zu ſuchen , und hier tritt
der Unterſchied zwiſchen China und Indien am deutlichſten und
am auffallendſten hervor. Die Chineſen haben die genaueſte
Geſchichte ihres Landes, und es iſt ſchon bemerkt worden , welche
Anſtalten in China getroffen werden , daß Alles genau in die
Geſchichtsbücher verzeichnet werde. Das Gegentheil iſt in In
dien der Fall. Wenn wir in der neueren Zeit, als wir init den
Schäßen der indiſchen Literatur bekannt wurden , gefunden ha
ben , daß die Inder großen Nuhm in der Geometrie, Aſtronomie
und Algebra erlangten , daß ſie es in der Philoſophieweit brach
ten , und daß das grammatiſche Studium ſo angebaut worden
iſt, daß keine Sprache als ausgebildeter zu betrachten iſt, als
das Sanskrit, fo finden wir die Seite der Geſchichte ganz ver
nachläſſigt oder vielmehr gar nicht vorhanden. Denn die Ge
ſchichte erfordert Verſtand, die Kraft, den Gegenſtand für ſich frei
zulaſſen und ihn in ſeinem verſtändigen Zuſammenhange aufzufaſſen .
Der Geſchichte, wie der Proſa überhaupt, find daher nur Völker
fähig , die dazu gekommen ſind und davon ausgehen , daß die In
dividuen ſich als für ſich ſeiend, mit Selbſtbewußtſeyn , erfaſſen .
Die Chineſen gelten nach dem , wozu ſte ſich im großen Gan
zen des Staats gemacht haben . Indem ſie auf dieſe Weiſe zu
einem Infichſeyn gelangen , laſſen ſie auch die Gegenſtände frei,
und faffen dieſelben auf, wie ſie vorliegen , in ihrer Beſtimmtheit
und in ihrem Zuſammenhange. Die Inder dagegen ſind durch
Geburt einer ſubſtantiellen Beſtimmtheit zugetheilt, und zugleich
iſt ihr Geiſt zur Idealität erhoben , ſo daß fie der Widerſpruch
ſind, die feſte verſtändige Beſtimmtheit in ihre Idealität aufzulö
ſen , und andererſeits dieſe zur finnlichen Unterſchiedenheit herab
zuſeßen . Dieß macht ſie zur Geſchichtſchreibung unfähig. Alles
Geſchehene verflüchtigt ſich bei ihnen zu verworrenen Träumen .
Zweiter Abſchnitt. Indien . 199
Was wir geſchichtliche Wahrheit und Wahrhaftigkeit,verſtändiges ,
ſinnvolles Auffaſſen der Begebenheiten und Treue in der Dar
ſtellung nennen – nach allem dieſen iſt bei den Indern gar
nicht zu fragen . Es iſt theils eine Gereiztheit und Schwäche
der Nerven , die ihnen nicht geſtattet, ein Daſeyn zu ertragen und
feſt aufzufaſſen , — wie ſie es auffaſſen , hat es ihre Empfindlichkeit
und Phantaſie zum Fiebertraum verkehrt; theils iſt Wahrhaftiga
keit das Gegentheil ihrer Natur, ſie lügen ſogar wiſſentlich und
vorſäßlich , wo ſie es beſſer wiſſen . Wie der indiſche Geift ein
Träumen und Verſchweben , ein felbſtloſes Aufgelöſtſeyn iſt, ſo
verſchweben ihm auch die Gegenſtände zu wirklichkeitsloſen Bil
dern und zu einem Maaßloſen . Dieſer Zug iſt abſolut charak
teriſtiſch , und durch ihn allein ließe ſich der indiſche Geiſt in ſei
ner Beſtimmtheit auffaſſen , und aus ihm alles Bisherige ent
wickeln
woulull.,

Die Geſchichte iſt aber immer für ein Volk von großer
Wichtigkeit, denn dadurch kommt es zum Bewußtſeyn des Gan :
ges feines Geiſtes , der ſich in Geſeßen , Sitten und Thaten aus
ſpricht. Geſeße als Sitten und Einrichtungen ſind das Blei
bende überhaupt. Aber die Geſchichte giebt dem Volfe ſein Bild
in einem Zuſtande, der ihm dadurch objectiv wird. Dhne Ge
ſchichte iſt ſein zeitliches Daſeyn nur in fich blind und ein ſich
wiederholendes Spiel der Wilfür in mannigfaltigen Formen .
Die Geſchichte firirt dieſe Zufälligkeit, ſie macht ſie ſtehend, giebt
ihr die Form der Augemeinheit, und ſtellt eben damit die Regel
für und gegen ſie auf. Sie iſt ein weſentliches Mittelglied in
der Entwicklung und Beſtimmung der Verfaſſung , d. h . eines
vernünftigen , politiſchen Zuſtandes ; denn ſie iſt die empiriſche
Weiſe , das Algemeine hervorzubringen , da ſie ein Dauerndes
für die Vorſtellung aufſtellt. — Weil die Inder keine Geſchichte ,
als Hiſtorie, haben , um deswillen haben ſie keine Geſchichte als
Thaten (res gestae) d . i. keine Herausbildung zu einem wahr
haft politiſchen Zuſtande. –
200 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
Es werden in den indiſchen Schriften Zeitalter angegeben
und große Zahlen , die oft von aſtronomiſcher Bedeutung und
noch öfter ganz willkürlich gemacht ſind. So heißt es von Kö
nigen , ſie hätten ſiebzigtauſend Jahre oder mehr regiert. Brahma,
die erſte Figur in der Rosmogonie, die ſich ſelbſt erzeugt hat,
hat zwanzig tauſend Millionen Iahre gelebt u . ſ. w . Es wer
den unzählige Namen von Königen angeführt, darunter die In
carnationen des Viſchnu. Es würde lächerlich ſeyn dergleichen
für etwas Geſchichtliches zu nehmen . In den Gedichten iſt häufig
die Rede von Königen : es ſind dieß wohl hiſtoriſche Figuren
geweſen , aber ſie verſchwinden ganzlich in Fabel; ſie ziehen ſich
3. B . ganz von der Welt zurück und erſcheinen dann wieder,
nachdem ſie zehntauſend Jahre in der Einſamkeit zugebracht ha
ben . Die Zahlen haben alſo nicht den Werth und verſtändigen
Sinn , den ſie bei uns beſißen .
Die älteſten und ſicherſten Quellen der indiſchen Geſchichte
ſind daher die Notizen der griechiſchen Schriftſteller, nachdem
Alerander der Große den Weg nach Indien eröffnet hatte. Dar
aus wiſſen wir , daß ſchon damals alle Einrichtungen , wie ſie
heute ſind , vorhanden waren : Santaracottus (Chandragupta )
wird als ein ausgezeichneter Herrſcher im nördlichen Theile von
Indien hervorgehoben , bis wohin ſich das baktriſche Reich er
ſtreckte. Eine andere Quelle bieten die mahomedaniſchen Ge
ſchichtsſchreiber dar, denn ſchon im zehnten Jahrhundert begannen
die Mahomedaner ihre Einfälle. Ein türkiſcher Sclave iſt der
Stammvater der Ghaznawiden ; ſein Sohn Mahmud brach in Hin
doſtan ein und eroberte faſt das ganze Land. Die Reſidenz ſchlug
er weſtlich von Cabul auf, und an ſeinem Hofe lebte der Dichter
Ferduſi. Die ghaznawidiſche Dynaſtie wurde bald durch die
Afghanen , und ſpäter durch die Mongolen völlig ļausgerottet.
In neueren Zeiten iſt faſt ganz Indien den Europäern unter:
worfen worden . Was man alſo von der indiſchen Geſchichte
weiß , iſt meiſt durch Fremde bekannt geworden , und die einhei
Zweiter Abſchnitt. Indien . 201

miſche Literatur giebt nur unbeſtimmte Data an. Die Europäer


verſichern die Unmöglichkeit, den Moraſt indiſcher Nachrichten zu
durchwaten . Das Beſtimmtere wäre aus Inſchriften und Docu
menten zu nelimen , beſonders aus den ſchriftlichen Schenkungen
von einem Stück Land an Pagoden , und an Gottheiten , aber
dieſe Auskunft gewährt auch nur bloße Namen . Eine andere
Quelle wären die aſtronomiſchen Schriften , die von hohem Alter
thum ſind. Colebrooke hat dieſe Schriften genau ſtudirt, doch
iſt es ſehr ſchwierig , Manuſcripte zu bekommen , da die Brah
manen ſehr geheim damit thun , und überdieß ſind die Hand
ſchriften durch die größten Interpolationen entſtelt. Es ergiebt
fich, daß die Angaben von Conſtellationen ſich oft widerſprechen ,
und daß die Brahmanen Umſtände ihrer Zeit in dieſe alten
Werke einſchieben . Die Inder beſiken zwar Liſten und Auf
zählungen ihrer Könige, aber hier iſt auch die größte Wilfür
ſichtbar, weil man oft in einer Liſte zwanzig Könige mehr, als
in der anderen findet; und ſelbſt in dem Falle, wo dieſe Liſten
richtig wären , könnten ſie noch keine Geſchichte conſtituiren. Die
Brahmanen find ganz gewiſſenlos in Anſehung der Wahrheit.
Capitain Wilford hatte mit großer Mühe und vielem Aufwand
ſich von allen Seiten her Manuſcripte verſchafft ; er verſammelte
mehrere Brahmanen um ſich und gab ihnen auf, Auszüge aus
dieſen Werken zu machen , und Nachforſchungen über gewiſſe be
rühmte Begebenheiten , über Adam und Eva , die Sündfluth u .
1. w . anzuſtellen . Die Brahmanen , um ihrem Herrn zu ge
fallen , brauten ihm dergleichen zuſammen , was aber gar nicht
in den Handſchriften ſtand. Wilford ſchrieb nun mehrere Ab
handlungen darüber, bis er endlich den Betrug merkte und ſeine
Mühe als vergeblich erkannte. Die Inder haben allerdings eine
beſtimmte Aera : fie zählen von Wikramaditya an , an deſſen
glänzendem Hofe Calidaſa , der Verfaſſer der Sacuntala , lebte.
Um dieſelbe Zeit lebten überhaupt die vorzüglichſten Dichter. Es
ſeyen neun Perlen am Hofe des Wikramaditya geweſen , ſagen
202 Erſter Theil. Die orientaliſde Welt.
die Brahmanen , es iſt aber nicht zu erforſchen , wann dieſer
Glanz eriftirt hat. Aus verſchiedenen Angaben hat man das
Jahr 1491 vor Chr. Geb. erhalten , Andere nehmen das Jahr
50 vor Chr. an , und dieß iſt das Gewöhnliche. Bentley end
lich hat durch ſeine Unterſuchungen den Wikramaditya in das
zwölfte Jahrhundert vor Chr. geſegt. Zulegt iſt noch entdeckt
worden , daß es fünf, ja acht bis neun Könige dieſes Namens
in Indien gegeben hat, daher iſt man auch hier wieder in voll
kommener Ungewißheit.
Als die Europäer mit Indien bekannt wurden , fanden ſie
eine Menge von kleinen Reichen , an deren Spiße mahomedaniſche
und indiſche Fürſten ſtanden . Der Zuſtand war beinahe lehns
mäßig organiſirt, und die Reiche zerfielen in Diſtricte , die zu
Vorſtehern Mahomedaner oder Leute aus der Kriegercaſte hatten .
Das Geſchäft dieſer Vorſteher beſtand darin , Abgaben einzus
ziehen und Kriege zu führen , und ſie bildeten ſo gleichſam eine
Ariſtokratie , einen Rath des Fürſten . Aber nur inſofern die
Fürſten gefürchtet werden und Furcht erregen , haben ſie Macht,
und nichts wird ihnen ohne Gewalt geleiſtet. So lange es dem
Fürſten nicht an Geld fehlt , ſo lange hat er Truppen , und die
benachbarten Fürſten , wenn ſie ihm an Gewalt nachſtehen , müſſen
oft Abgaben leiſten , die ſie jedoch nur , inſofern ſie eingetrieben
werden können , bezahlen . So iſt der ganze Zuſtand nicht der
der Ruhe, ſondern eines ſteten Stampfes , ohne daß jedoch durch
dieſen etwas entwickelt oder gefördert wird. Es iſt der Kampf
eines energiſchen Fürſtenwillens gegen einen ohnmächtigern , die
Geſchichte der Herrſcherdynaſtien , aber nicht der Völker , eine
Reihe immer wechſelnder Intriguen und Empörungen , und zwar
nicht der Unterthanen gegen ihre Beherrſcher , ſondern des fürſt:
lichen Sohnes gegen den Vater , der Brüder , der Onkel und
Neffen unter einander , und der Beamten gegen ihren Herrn . Man
könnte nun glauben , daß, wenn die Europäer einen ſolchen Zu=
ſtand vorfanden , dieß ein Reſultat der Auflöſung früherer beſſerer
Zweiter Abidnitt. Indien . 203
Organiſationen geweſen ſey , man könnte namentlich annehmen, daß
die Zeiten der mongoliſchen Oberherrſchaft eine Periode des
Glücks und des Glanzes und eines politiſchen Zuſtandes geweſen
ſeven , wo Indien nicht durch fremde Eroberer in ſeinem religiöſen
und politiſchen Seyn zerriſſen , unterdrückt und aufgelöſt war.
Was aber davon an geſchichtlichen Spuren und Zügen beiläufig
in dichteriſchen Beſchreibungen und Sagen vorkommt, deutet
immer auf denſelben Zuſtand der Getheiltheit durch Krieg und
der Unſtetheit der politiſchen Verhältniſſe; und das Gegentheil iſt
leicht als Traum und leere Einbildung zu erkennen. Dieſer
Zuſtand geht aus dem angegebenen Begriffe des indiſchen Lebens
und ſeiner Nothwendigkeit hervor. Die Kriege der Sekten , der
Brahmanen und Buddhiſten , der Anhänger des Wiſchnu und
Siwa trugen zu dieſer Verwirrung noch bei. – Ein gemein
ſchaftlicher Charakter zieht ſich zwar durch ganz Indien hindurch :
daneben beſteht aber die größte Verſchiedenheit der einzelnen
Staaten Indiens ; ſo daß man in dem Einen indiſchen Staate
der größten Weichlichkeit begegnet , in dem anderen dagegen auf
ungeheure Kraft und Grauſamkeit trifft.
Vergleichen wir nun zum Schluß noch einmal überſichtlich
Indien mit China ; ſo fanden wir alſo in China einen durchaus
phantaſieloſen Verſtand, ein proſaiſches Leben in feſtbeſtimmter
Wirklichkeit: in der indiſchen Welt giebt es ſo zu ſagen keinen
Gegenſtand, der ein wirklicher , feſt begrenzter wäre, der nicht
von der Einbildungskraft ſogleich zum Gegentheil deſſen verkehrt
würde, was er für ein verſtändiges Bewußtſeyn iſt. In China
iſt es das Moraliſche , was den Inhalt der Geſeße ausmacht,
und zu äußeren feſtbeſtiınmten Verhältniſſen gemacht iſt, und über
Allem ſchwebt die patriarchaliſche Vorſorge des Kaiſers , der als
Vater für ſeine Unterthanen auf gleiche Weiſe ſorgt. Bei den
Indern dagegen iſt nicht dieſe Einheit , ſondern die Unterſchieden
heitderſelben das Subſtantielle : Religion, Krieg, Gewerbe, Handel,
ja die geringſten Beſchäftigungen werden zu einer feſten Unter
204 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

ſcheidung, welche die Subſtanz des unter ſie ſubſumirten einzelneir


Willens ausmachen und das Erſchöpfende für ihn ſind. Damit
iſt verbunden eine ungeheure, vernunftloſe Einbildung,welche den
Werth und das Verhalten der Menſchen in eine unendliche
Menge von ebenſo geiſt- als gemüthloſen Handlungen legt, alle
Rückſicht auf das Wohl der Menſchen bei Seite ſeßt und ſogar
die grauſamſte und härteſte Verlegung deſſelben zur Pflichtmacht.
Bei der Feſtigkeit jener Unterſchiede bleibt für den allgemeinen
Einen Staatswillen nichts übrig als die reine Wilfür, gegen
deren Augewalt nur die Subſtantialität des Caſtenunterſchiedes
in Etwas zu ſchüßen vermag . Die Chineſen bei ihrer proſaiſchen
Verſtändigkeit verehren als das Höchſte nur den abſtracten ober
ſten Herrn , und für das Beſtimmte haben ſie einen ſchmählichen
Aberglauben. Bei den Indern giebt es inſofern keinen ſolchen
Aberglauben , als dieſer der Gegenſaß gegen den Verſtand iſt;
ſondern vielmehr ihr ganzes Leben und Vorſtellen iſt nur Ein
Aberglauben , weil Alles bei ihnen Träumerei und Sclaverei der=
ſelben iſt. Die Vernichtung, Wegwerfung aller Vernunft, Mo
ralität und Subjectivität kann nur zu einem poſitiven Gefühle
und Bewußtſeyn ihrer ſelbſt kommen , indem ſiemaaßlos in wil
der Einbildungskraft ausſchweift, darin als ein wüfter Geiſt
keine Ruhe findet und ſich nicht faſſen kann , aber nur auf dieſe
Weiſe Genüſſe findet ; – wie ein an Körper und Geiſt ganz
heruntergekommener Menſch ſeine Eriſtenz verdumpft und unleidlich
findet , und nur durch Opium ſich eine träumende Welt und ein
Glück des Wahnſinns verſchafft.
Zweiter Abſchnitt. Indien . 205

Der Buddhaismus * ).
Es iſt Zeit, die Traumgeſtalt des indiſchen Geiſtes zu
verlaſſen , welche in der ausſchweifendſten Irre fich in allen
Natur- und Geiſtesgeſtalten herumwirft , die roheſte Sinnlichkeit
und die Ahnung der tiefſten Gedanken in ſich ſchließt, und
welche eben deßwegen , was freie und vernünftige Wirklichkeit
betrifft , in der entäußerteſten , rathloſeſten Knechtſchaft liegt , -
einer Rechtſchaft , in welcher die abſtracten Weiſen , in die ſich
das concrete menſchliche Leben unterſcheidet, feſt geworden und
Rechte und Bildung nur von dieſen Unterſchieden abhängig ge
macht ſind. Dieſem taumelnden , in der Wirklichkeit in Feſſeln
geſchlagenen Traumleben ſteht nun das unbefangene Traumleben
gegenüber, welches einerſeits roher und nicht zu jener Unter
ſcheidung der Lebensweiſen fortgegangen , aber eben darum auch
nicht der damit herbeigeführten Knechtſchaft verfallen iſt ; es hält
ſich freier , ſelbſtſtändiger in ſich firirt, und ſeine Vorſtellungswelt
iſt daher auch in einfachere Punkte zuſammengezogen .
Der Geiſt der eben angedeuteten Geſtalt ruht in demſelben
Grundprincipe der indiſchen Anſchauung ; aber er iſt concentrirter
in fich , ſeine Religion iſt einfacher und der politiſche Zuſtand
ruhiger und gehaltener. Höchſt verſchiedenartige Völker und
Länder ſind hierunter zuſammengefaßt : Ceylon , Hinterindien mit
dem Birmanenreich , Siam , Anam , nördlich davon Thibet, dann
das chineſiſche Hochland mit ſeinen verſchiedenen Völferſchaften
von Mongolen und Tataren . Es ſind hier nicht die beſonderen

* ) Da der Uebergang vom indiſchen Brahmaismus zum Buddhaismus


ſich in dem erſten Entwurfe Hegel' s und in der erſten Vorleſung ſo findet,
wie er hier gegeben iſt, und dieſe Stellung des Buddhaismus mit den
neuern Forſchungen über denſelben mehr übereinſtimmt; ſo wird die Ver
ſeßung des folgenden Anhangs von der Stelle , welche er früher einnahm ,
hinlänglich gerechtfertigt erſcheinen .
206 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

Individualitäten dieſer Völker zu betrachten, ſondern es ſoll nur


kurz ihre Religion , welche die intereſſanteſte Seite an ihnen
ausmacht, charakteriſirt werden . Die Religion dieſer Völker iſt
der Buddhaismus, welcher die am weiteſten verbreitete Religion
auf unſerer Erde iſt. In China wird Buddha als Foe verehrt,
in Ceylon als Gautama; in Thibet und bei den Mongolen
hat dieſe Religion die Schattirung des Lamais mus erhalten .
In China , wo die Religion des Foe ſchon früh eine große Aus
breitung gefunden und das Kloſterleben herbeigeführt hat, erhält
dieſelbe die Stellung eines integrirenden Moments zum chineſiſchen
Princip . Wie der ſubſtantielle Geiſt in China ſich nur zu einer
Einheit des weltlichen Staatslebens ausbildet , welches die
Individuen nur im Verhältniß ſteter Abhängigkeit läßt, ſo bleibt
auch die Religion bei der Abhängigkeit ſtehen . Ihr fehlt das
Moment der Befreiung, denn ihr Gegenſtand iſt das Natur
princip überhaupt , der Himmel, die allgemeine Materie. Die
Wahrheit dieſes Außerſichſeyns des Geiſtes aber iſt die ideelle
Einheit, die Erhebung über die Endlichkeit der Natur und des
Daſeyns überhaupt, die Rückkehr des Bewußtſeyns in das In
nere. Dieſes Moment, welches im Buddhaismus enthalten iſt,
hat in China inſoweit Eingang gefunden , als die Chineſen dazu
gelangten , die Geiſtloſigkeit ihres Zuſtands und die Unfreiheit
ihres Bewußtſeyns zu empfinden . — In dieſer Religion , welche
überhaupt als die Religion des Inſichſeyns zu bezeichnen iſt* ),
geſchiehtdie Erhebung der Geiſtloſigkeit zum Innern auf gedoppelte
Weiſe, wovon die eine negativer, die andere affirmativer Art iſt.
Was die negative Erhebung anbetrifft, ſo iſt dieſe die
Sammlung des Geiſtes zum Unendlichen , und muß zuerſt in
religiöſen Beſtimmungen vorkommen . Sie liegt in dem Grund
dogma, daß das Nichts das Princip aller Dinge ſey , daß Alles

*) Vergl. die Vorleſungen über die Religionsphiloſophie 2te Ausgabe


Th. I. S . 384.
Zweiter Abſchnitt. Indien . 207
aus dem Nichts hervorgegangen und auch dahin zurückgehe. Die
Unterſchiede der Welt ſind nur Modificationen des Hervorgehens .
Verſuchte Jemand die verſchiedenen Geſtalten zu zerlegen , ſo
würden ſie ihre Qualität verlieren , denn an fich ſind alle Dinge
ein und daſſelbe, untrennbar, und dieſe Subſtanz iſt das nichts.
Der Zuſammenhang mit der Metempſychoſe iſt hieraus zu erklären :
Alles iſt nur eine Aenderung der Form . Die Unendlichkeit des
Geiſtes in ſich , die unendliche concrete Selbſtſtändigkeit iſt hier
von ganz entfernt. Das abſtracte Nichts iſt eben das Jenſeits
der Endlichkeit, was wir wohl auch das höchſte Weſen nennen .
Dieſes wahre Princip , heißt es , ſey in ewiger Ruhe und in fich
unveränderlich : ſein Weſen beſtehe eben darin , ohne Thätigkeit
und Willen zu ſeyn. Denn das Nichts iſt das abſtract mit ſich
Eine. Um glücklich zu ſeyn , muß der Menſch durch beſtändige
Siege über ſich dieſem Principe fich gleichzumachen ſuchen , und
deswegen nichts thun , nichts wollen , nichts verlangen ; es kann
daher in dieſem glückſeligen Zuſtande weder von Laſter noch von
Tugend die Rede ſeyn , denn die eigentliche Seligkeit iſt die Ein
heit mit dem Nichts. Je mehr der Menſch zur Beſtimmungs
loſigkeit kommt, deſto mehr vervollkommnet er ſich , und in der
Vernichtung aller Thätigkeit, in der reinen Paſſivität iſt er eben
dem Foe gleich. Die leere Einheit iſt nicht bloß das Zukünftige,
das Jenſeits des Geiftes , ſondern auch das Heutige, die Wahr
heit, die für den Menſchen iſt, und in ihm zur Eriſtenz kommen
ſoll. In Ceylon und im birmaniſchen Reiche , wo dieſer bud
dhiſtiſche Glaube wurzelt , herrſcht die Anſchauung , daß der
Menſch durch Meditation dazu gelangen könne , der Krankheit,
dem Alter , dem Tode nicht mehr unterworfen zu ſeyn.
Wenn dieſes aber die negative Weiſe der Erhebung des
Geiſtes aus ſeiner Aeußerlichkeit zu ſich ſelbſt iſt, ſo geht dieſe
Religion auch zum Bewußtſeyn eines Affirmativen fort. Das
Abſolute iſt der Geiſt. Doch bei der Auffaſſung des Geiſtes
kommt es weſentlich auf die beſtimmte Form an , in welcher der
208 Erſter Theil. Die orientaliſde Welt.
Geift vorgeſtellt wird. Sprechen wir vom Geiſte als allgemei
nem , ſo wiſſen wir , daß er für uns nur in der innerlichen
Vorſtellung iſt; daß es aber dahin komme, ihn nur in der In
nerlichkeit des Denkens und Vorſtellens zu haben , iſt ſelbſt erſt
in Folge eines weiteren Weges der Bildung geſchehen . Wowir
jeßt in der Geſchichte ſtehen , iſt die Form des Geiſtes noch die
Unmittelbarkeit. Gott iſt in unmittelbarer Form , nicht in der
Form des Gedankens gegenſtändlich . Dieſe unmittelbare Form
iſt aber die menſchliche Geſtalt. Die Sonne, die Sterne ſind
noch nicht der Geiſt, wohl aber der Menſch , welcher hier als
Buddha, Gautama, Foe , in der Weiſe eines verſtorbenen
Lehrers, und in der lebendigen Geſtalt des Ober-lama gött
licher Verehrung tleilhaftig wird . Der abſtracte Verſtand wen
det fich gewöhnlich gegen ſolche Vorſtellung eines Gottmenſchen ,
deren Mangelhaftes das ſeyn ſoll, daß die Form des Geiſtes
ein Unmittelbares , und zwar der Menſch , als dieſer, ſen . Mit
dieſer religiöſen Richtung iſt hier der Charakter eines ganzen Volks
verbunden . Die Mongolen , welche ſich durch ganz Mittelaſien
bis nach Sibirien hin erſtrecken ,wo ſie den Ruſſen unterworfen ſind,
verehren den Lama, und mit dieſer Anbetung iſt ein einfacher
politiſcher Zuſtand, ein patriarchaliſches Leben verbunden ; denn
ſie ſind eigentlich Nomaden , und nur zuweilen gähren ſie auf,
kommen wie außer ſich und verurſachen Völkerausbrüche und
Ueberſchwemmungen . Der Lama's giebt es überhaupt drei: der
bekannteſte iſt der Dalai-lama , welcher ſeinen Sitz in Hlaſſa im
Neiche Thibet hat, der andere iſt der Tiſchu-lama , der unter
dem Titel Bantſchen Rinbotſchi zu Tiſchu-Lombu reſidirt; ein
dritter iſt noch im ſüdlichen Sibirien . Die beiden erſten Lamen .
ſtehen an der Spiße zweier verſchiedener Sekten , von denen die
Prieſter der einen gelbe Kappen tragen , die der andern aber rothe.
Die gelben Kappenträger , an deren Spiße der Dalai-lama ſteht
und zu denen ſich der Kaiſer von China hält, haben bei den
Geiſtlichen das Cölibat eingeführt , während die rothfarbigen die
Zweiter Abſchnitt. Indien. – Der Buddhaismus. 209
Ehe der Prieſter erlauben . Beſonders mit dem Tiſchu -lama
haben die Engländer eine Bekanntſchaft angeknüpft und uns
Schilderungen von ihm entworfen .
Die Form überhaupt, in welcher das Geiſtige der lamaiſchen
Entwickelung des Buddhaismus ſteht, iſt die eines gegenwärtigen
Menſchen , während es im urſprünglichen Buddhaismus ein ver
ſtorbener iſt. Gemeinſchaftlich haben beide das Verhältniß zu
einem Menſchen überhaupt. Daß nun ein Menſch als Gott
verehrt wird , namentlich ein lebendiger , hat in ſich etwas Wi
Derſtreitendes und Empörendes , man muß aber dabei näher Fol
gendes vor Augen haben . Es liegt im Begriffe des Geiſtes ein
Allgemeines in ſich ſelbſt zu ſeyn. Dieſe Beſtimmung muß her
vorgehoben werden , und in der Anſchauung der Völker ſich zeis
gen , daß dieſe Allgemeinheit ihnen vorſchwebt. Nicht eben die
Einzelnheit des Subjects iſt das Verehrte , ſondern das Auge
meine in ihm , welches bei den Thibetanern , Indern und den
Aſiaten überhaupt , als das Alles Durchwandernde betrachtet
wird . Dieſe ſubſtantielle Einheit des Geiſtes kommt im Lama
zur Anſchauung, welcher nichts als die Geſtalt iſt, in der ſich
der Geiſt manifeſtirt , und dieſe Geiſtigkeit nicht als ſein beſon
deres Eigenthum hat , ſondern nur als theilnehmend an derſelben
gedacht wird , um ſie für die Anderen zur Darſtellung zu brin
gen , auf daß dieſe die Anſchauung der Geiſtigkeit erhalten und
zur Frömmigkeit und Seligkeit geführt werden . Die Individua
lität als ſolche, die ausſchließende Einzelheit iſt hier alſo über
haupt gegen jene Subſtantialität untergeordnet. Das Zweite,
was in dieſer Vorſtellung weſentlich hervortritt, iſt die Unter
ſcheidung von der Natur. Der chineſiſche Kaiſer war die Macht
über die Naturkräfte , die er beherrſcht , während hier gerade die
geiſtige Macht unterſchieden von der Naturmacht iſt. Den la
madienern fällt nicht ein , vom Lama zu verlangen , daß er ſich
als Herr der Natur beweiſe, zaubere und Wunder thue, denn
von dem , was ſie Gott nennen , wollen ſie nur geiſtiges Thun
Philoſophie d . Geldichte 3te Aufl. 14
210 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
und Spenden geiſtiger Wohlthaten . Auch Buddha heißt der
Heiland der Seelen , das Meer der Tugend , der große Lehrer.
Die den Tiſchu -lama kannten , ſchildern ihn als den vortreff
lichſten , ruhigſten und der Meditation ergebenſten Mann. So
ſehen ihn auch die lamadiener an. Sie finden in ihm einen
Mann , der beſtändig mit der Religion beſchäftigt iſt, und der,
wenn er ſeine Aufmerkſamkeit auf das Menſchliche wendet, nur
dazu da iſt, Troſt und Erhebung durch ſeinen Segen , durch
Ausübung der Barmherzigkeit und Verzeihung auszutheilen .
Dieſe Lamen führen ein durchaus iſolirtes Leben , und haben faſt
mehr weibliche als männliche Bildung. Früh aus den Armen
der Eltern geriſſen , iſt der Lama in der Regel ein wohlgebil
detes und ſchönes Kind. In vollkommener Stille und Einſam
keit, in einer Art von Gefängnißwird er erzogen : er wird wohl
genährt, bleibt ohne Bewegung und Kinderſpiel, und ſo iſt es
kein Wunder , daß die ſtille empfangende weibliche Richtung in
ihm vorherrſchend iſt. Die großen Lama’s haben unter fich , als
Vorſteher der großen Genoſſenſchaften , die niederen Lama's.
Jeder Vater , der in Thibet vier Söhne hat, muß einen dem
Kloſterleben widmen . Die Mongolen , die hauptſächlich vom
Lamaismus , dieſer Modification des Buddhaismus ergriffen ſind,
haben großen Reſpect vor allem Lebendigen . Sie leben vor
nehmlich von Vegetabilien und ſcheuen ſich vor der Tödtung des
Thieriſchen , ſogar einer Laus. Dieſer Dienſt der Lama's hat
das Schamanenthum verdrängt , das heißt , die Religion der
Zauberei. Die Schamanen , Prieſter dieſer Religion , betäuben
fich durch Getränke und Tanz, zaubern in Folge dieſer Betäu
bung, fallen erſchöpft nieder und ſprechen Worte aus , die für
Orakel gelten . Seitdem der Buddhaismus und Lamaismus an
die Stelle der ſchamaniſchen Neligion getreten iſt, iſt das Leben
der Mongolen einfach , ſubſtantiell und patriarchaliſch geweſen ,
und wo ſie in die Geſchichte eingreifen , da haben ſie nur hiſto
riſch elementariſche Anſtöße verurſacht. Daher iſt auch von der
Dritter Abſchnitt. Perſien . 211
politiſchen Staatsführung der Lamen wenig zu ſagen . Ein Vezier
führt die weltliche Herrſchaft und berichtet Alles an den Lama :
die Regierung iſt einfach und milde , und die Verehrung, welche
die Mongolen dem Lama darbringen , äußert ſich hauptſächlich
darin , daß ſie ihn in politiſchen Angelegenheiten um Rath fragen .

Dritter Abſchnitt.
perſie n .

Aſien zerfällt in zwei Theile : in Vorder- und Hinteraſien ,


die weſentlich von einander verſchieden ſind. Während die Chi
neſen und Inder, die beiden großen Nationen von Hinteraſien ,
welche wir betrachtet haben , zur eigentlich aſiatiſchen , nämlich
zur mongoliſchen Raçe gehören , und ſomit einen ganz eigen
thümlichen , von uns abweichenden Charakter haben , gehören die
Nationen Vorderaſtens zum caucaſiſchen , das heißt, zum euro
päiſchen Stamme. Sie ſtehen in Beziehung zum Weſten , wäh
rend die hinteraſiatiſchen Völker ganz allein für ſich ſind. Der
Europäer , der von Perſien nach Indien kommt, bemerkt daher
einen ungeheuern Contraſt, und während er ſich im erſteren
Lande noch einheimiſch findet, daſelbſt auf europäiſche Geſinnun
gen , menſchliche Tugenden und menſchliche Leidenſchaften ſtößt,
begegnet er, ſowie er den Indus überſchreitet, im lekteren Reiche
dem höchſten Widerſpruch , der durch alle einzelnen Züge hin =
durch geht.
Mit dem perſiſchen Reiche treten wir erſt in den Zuſam
menhang der Geſchichte. Die Perſer ſind das erſte geſchichtliche
Volf , Perſien iſt das erſte Reich , das vergangen iſt. Während
14 *
212 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
China und Indien ſtatariſch bleiben und ein natürliches vegeta -
tives Daſeyn bis in die Gegenwart friſten , iſt dieſes Land den
Entwickelungen und Umwälzungen unterworfen , welche allein ei
nen geſchichtlichen Zuſtand verrathen . Das chineſiſche und indi
ſche Reich fönnen nur an ſich und für uns in den Zuſammens
hang der Geſchichte kommen . Hier aber in Perſien geht zuerſt
das Licht auf, welches ſcheint und Anderes beleuchtet, denn erſt
Zoroaſters Licht gehört der Welt des Bewußtſeyns an , dem
Geiſt als Beziehung auf Anderes . Wir ſehen im perſiſchen
Reich eine reine erhabene Einheit , als die Subſtanz, welche das
Beſondere in ihr frei läßt , als das Licht, das nur manifeſtirt,
was die Körper für ſich find , eine Einheit, welche die Indivi
duen nur beherrſcht , um ſie zu erregen , kräftig für ſich zu wer
den , ihre Particularität zu entwickeln und geltend zu machen .
Das Licht macht keinen lInterſchied : die Sonne ſcheint über Ges
rechte und Ungerechte, über Hohe und Niedere und ertheilt Allen
die gleiche Wohlthat und Gedeihlichkeit. Das Licht iſt nur bes
lebend, inſofern es ſich auf das Andere ſeiner ſelbſt bezieht, dar
auf einwirkt und es entwickelt. Es iſt mit dem Gegenſatz ge
gen die Finſterniß begabt: damit iſt das Princip der Thätigkeit
und des Lebens aufgethan . Das Princip der Entwicklung be
ginnt mit der Geſchichte Perſiens und darum macht dieſe den
eigentlichen Anfang der Weltgeſchichte; denn das allgemeine In
tereſſe des Geiſtes in der Geſchichte iſt, zum unendlichen Inſich
ſeyn der Subjectivität zu gelangen , durch den abſoluten Gegen
ſaß zur Verſöhnung zu kommen . –
Der Uebergang, den wir zu machen haben , iſt alſo nur im
Begriffe,nicht im äußerlichen geſchichtlichen Zuſammenhang. Das
Princip deſſelben iſt dieſes, daß das Augemeine, welches wir in
Brahm geſehen haben , nun zum Bewußtſeyn kommt, ein Gegens
ſtand wird , und eine affirmative Bedeutung für den Menſchen
gewinnt. Brahm wird von den Indern nicht verehrt, ſondern
er iſt nur ein Zuſtand des Individuums , ein religiöſes Gefühl,
Dritter Abſchnitt. Perſien . 213
eine ungegenſtändliche Eriſtenz, ein Verhältniß, das für die con
crete Lebendigkeit nur Vernichtung iſt. Indem nun aber dieſes
Algemeine etwas Gegenſtändliches wird , bekommt es eine affir
mative Natur: der Menſch wird frei und tritt ſo dem Höchſten ,
das ihm ein Objectives iſt, gegenüber. Dieſe Allgemeinheit ſe
hen wir in Perſien hervortreten , und damit ein fich Unterſchei
den von dem Augemeinen und zugleich ein ſich identiſch Machen
des Individuums mit demſelben . Im chineſiſchen und indiſchen
Princip iſt dieſes Unterſcheiden nicht vorhanden , ſondern nur Ein
heit des Geiſtigen und Natürlichen. Der Geiſt aber , der noch
im Natürlichen iſt , hat die Aufgabe, fich von demſelben zu be
freien . Rechte und Pflichten ſind in Indien an Stände gebun
den , und damit nur etwas Particulares, dem der Menſch durch
die Natur angehört; in China iſt dieſe Einheit in der Form der
Väterlichkeit vorhanden : der Menſch iſt da nicht frei, er iſt ohne
moraliſches Moment, indem er identiſch mit dem äußerlichen Be
fehle iſt. In dem perſiſchen Principe hebt ſich zuerſt die Einheit
zum Unterſchiede von dem bloß Natürlichen hervor ; es iſt die
Negirung dieſes nur unmittelbaren , den Willen nicht vermitteln
den Verhältniffes. Die Einheit kommt im perſiſchen Principe
als das Licht zur Anſchauung , das hier nicht bloß Licht als
ſolches , dieß allgemeinſte Phyſikaliſche, ſondern zugleich auch das
Reine des Geiſtes , das Gute iſt. Damit iſt aber das Beſon
dere, das Gebundenſeyn an die beſchränkte Natur abgethan .
Das Licht im phyſiſchen und geiſtigen Sinne gilt alſo als die
Erhebung, die Freiheit von dem Natürlichen , der Menſch verhält
ſich zu dem Licht, dem Guten , als zu einem Objectiven , das aus
ſeinem Willen anerkannt, verehrt und bethätigt wird. Blicken
wir nun noch einmal, und es fann nicht zu oft wiederholt wer :
den , auf die Geſtalten zurück, die wir bis zu dieſer , welche wir
vor uns haben , durchliefen ; ſo ſahen wir in China die Totali
tät eines fittlichen Ganzen , aber ohne Subjectivität, dieſes
Ganze gegliedert, aber ohne Selbſtſtändigkeit der Seiten . Nur
214 Erſter Theil. Die orientaliſme Welt.
eine äußerliche Ordnung dieſes Einen fanden wir vor. Im
Indiſchen dagegen trat die Trennung hervor , aber ſelbſt als
geiſtlos , als das beginnende Inſichſeyn , mit der Beſtimmung, daß
der Unterſchied ſelbſt unüberwindlich , und der Geiſt in der Be
ſchränktheit der Natürlichkeit gebunden bleibe , daher als das Ver
fehrte feiner ſelbſt. Ueber dieſer Trennung der Caften ſteht nun
in Perſien die Reinheit des Lichts, das Gute, dem ſich alle auf
gleiche Weiſe zu nähern , in dem ſich Aűe gleich zu heiligen ver
mögen . Die Einheit iſt daher zum erſtenmale ein Princip , nicht
ein äußeres Band geiſtloſer Ordnung. Dadurch daß Jeder Theil
an dem Principe hat , erwirbt dieſes ihm einen Werth für
fich ſelbſt.
Was zuerſt das Geographiſche betrifft, ſo ſehen wir
China und Indien , als dumpfe Ausbrütung des Geiſtes , in
fruchtbaren Ebenen , davon getrennt aber die hohen Gebirgsgurte
und die ſchweifenden Horden derſelben . Die Völfer der Höhen
veränderten bei ihrer Eroberung den Geiſt der Ebenen nicht, ſon
dern befehrten ſich zu demſelben . Aber in Perſien ſind dieſe
Principien in ihrer Unterſchiedenheit vereinigt und die Gebirgs
völfer wurden mit dem ihrigen das Ueberwiegende. Die beiden
Haupttheile , die hier zu erwähnen , ſind : das perſiſche Hoch
land ſelbſt und die Thalebenen , die ſich den Völfern der Höhen
unterwerfen . Jenes Hochland iſt im Oſten begränzt durch das
Solimaniſche Gebirge, welches nach Norden zu durch den Hin
dukuh und den Belurtag fortgeſeßt wird. Leştere Gebirge ſchnei
den das Vorland, Bactrien , Sogdiana in den Ebenen des Drus,
vom chineſiſchen Hochland ab, welches ſich bis Raſchgar erſtreckt.
Dieſe Ebene des Drus liegt ſelbſt nördlich vom perſiſchen Hoch
land, welches dann im Süden gegen den perſiſchen Meerbuſen
hin ſich verläuft. Dieß iſt die geographiſche Lage Fran ’s . Am
weſtlichen Abhang deſſelben liegt Perſien (Farſiſtan), höher nörd
lich Kurdiſtan, dann Armenien . Von da ſüdweſtlich erſtrecken
fich die Flußgebiete des Tigris und des Euphrat. – Die Eles
Dritter Abſanitt. Perſien . – Das Zendvolk. 215

mente des perſiſchen Reichs ſind das Zendvolf, die alten Parſen ,
und dann das aſſyriſche, mediſche und babyloniſche Reich auf
dem angegebenen Boden ; dann nimmt aber das perſiſche Reich
auch noch Kleinaſien , Aegypten , Syrien mit ſeinem Küſtenſtrich
in fich auf. und vereinigt ſo das Hochland, die Stromebenen und
das Küſtenland in ſich.

Erſtes Capitel.
Das Zendvolk .
Das Zendvolk wird von ſeiner Sprache ſo genannt, in
welcher die Zendbücher geſchrieben ſind, die Grundbücher näm
lich , auf welchen die Religion der alten Parſen beruht. Von
dieſer Religion der Parſen oder Feueranbeter ſind noch Spuren
vorhanden . In Bombay eriſtirt eine Colonie derſelben , und am
caspiſchen Meere befinden ſich einige zerſtreute Familien , die die
ſen Cultus beibehalten haben . Im Ganzen ſind ſie durch die
Mahomedaner vernichtet worden . Der große Zerduſcht, von den
Griechen Zoroaſter genannt, ſchrieb ſeine Religionsbücher in der
Zendſprache. Bis gegen das legte Drittel des vorigen Jahr
hunderts war dieſe Sprache , und mithin auch alle Bücher, die
darin verfaßt ſind, den Europäern völlig unbekannt, bis endlich
der berühmte Franzoſe Anquetil du Perron uns dieſe reichen
Schäße eröffnete. Erfült von Enthuſiasmus für die orientaliſche
Natur ließ er ſich , da er arm an Vermögen war , unter ein
franzöſiſches Corps anwerben , das nach Indien verſchifft werden
ſollte. So gelangte er nach Bombay , wo er auf die Parſen
ſtieß , und ſich auf ihre Religionsideen einließ . Mit unſäglicher
Mühe gelang es ihm , ſich ihre Religionsbücher zu verſchaffen ;
er drang in dieſe Literatur ein und eröffnete ein ganz neues und
216 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

weites Feld , das aber bei ſeiner eigenen mangelhaften Kenntniß


der Sprache noch einer gründlichen Bearbeitung bedarf.
Wo das Zendvolf , von dem in den Neligionsbüchern des
Zoroaſter die Rede iſt, gewohnt habe , iſt ſchwer zu beſtim
men . In Medien und in Perſien war die Religion des Zo
roafter herrſchend , und Xenophon erzählt, Cyrus habe ſie ange
nommen , aber keines dieſer Länder war der eigentliche Wohnſit
des Zendvolks . Zoroafter ſelbſt nennt ihn dag reine Ariene;
einen ähnlichen Namen finden wir bei Herodot , denn er ſagt,
die Meder hätten früher Arier geheißen , ein Name, womit
auch die Bezeichnung von Iran zuſammenhängt. Südlich vom
Drus zieht ſich im alten Bactrien ein Gebirgszug hin , mit wels
chem die Hochebenen anfangen , welche von Medern , Parthern ,
Hyrcaniern bewohnt waren . In der Gegend des oberſten Drus
fol Bactra , wahrſcheinlich das heutige Balf, gelegen haben , von
welchem ſüdlich Kabul und Kaſchmir nur etwa acht Tagereiſen
entfernt ſind. Hier in Bactrien ſcheint der Wohnſig des Zend
volks geweſen zu feyn. In der Zeit des Cyrus finden wir den
reinen und urſprünglichen Glauben , und die alten , in den Zend
büchern uns beſchriebenen Zuſtände nicht mehr vollkommen vor.
Soviel ſcheint gewiß zu ſeyn , daß die Zendſprache, die mit dem
Sanskrit in Verbindung ſteht, die Sprache der Perſer , Meder
und Bactrer geweſen iſt. Aus den Gefeßen und Einrichtungen
des Volkes ſelbſt , wie ſie in den Zendbüchern angegeben ſind,
geht hervor , daß dieſelben höchſt einfach waren . Vier Stände
werden genannt: Prieſter , Krieger , Ackerbauer und Gewerbtrei
bende. Vom Handel allein wird nicht geſprochen , woraus her
vorzugehen ſcheint, daß das Volk noch iſolirt für ſich war. Vor
fteher von Bezirken , Städten , Straßen kommen vor, ſo daß Ales
fich noch auf bürgerliche Geſeke, nicht auf politiſche bezieht, und
daß Nichts auf einen Zuſammenhang mit andern Staaten deutet.
Weſentlich iſt gleich , daß wir hier keine Caſten , ſondern nur
Stände finden , daß keine Verbote der Verheirathung unter dieſen
Dritter Abídnitt. Perſien . – Das Zenbvolk. 217

verſchiedenen Ständen vorkommen , obgleich die Zendſchriften bürs


gerliche Geſeke und Strafen neben den religiöſen Vorſchriften
mittheilen .
Die Hauptſache, die uns hier beſonders angeht, iſt die Lehre
des Zoroaſter. Gegen die unglückſelige Verdumpfung des Geiſtes
der Inder kommt uns in der perſiſchen Vorſtellung ein reiner
Athem entgegen , ein Hauch des Geiſtes. Der Geiſt erhebt fich
in ihr aus der ſubſtantiellen Einheit der Natur, aus dieſer ſub
ſtantiellen Inhaltsloſigkeit, wo noch nicht der Bruch geſchehen iſt,
der Geiſt noch nicht für ſich , dem Object gegenüber , beſteht. Dies
ſem Volke nämlich kam zum Bewußtſeyn , daß die abſolute
Wahrheit die Form der Allgemeinheit, der Einheit haben müſſe.
Dieß Augemeine, Ewige, Unendliche enthält zunächſt keine Bes
ſtimmung, als die ſchrankenloſe Identität. Eigentlich iſt dieſes ,
und wir haben es ſchon mehreremale wiederholt , auch die Be
ſtimmung Brahms. Aber den Perſern wurde dieſes Allgemeine
zum Gegenſtande und ihr Geiſt wurde das Bewußtſeyn dieſes
ſeines Weſens, wogegen bei den Indern dieſe Gegenſtändlichkeit
nur die natürliche der Brahmanen iſt und als reine Augemein
heit nur durch Vernichtung des Bewußtſeyns für daſſelbe wird .
Dieſes negative Verhalten iſt bei den Perſern zum poſitiven ge
worden , und der Menſch hat eine Beziehung zum Allgemeinen
auf die Weiſe, daß er ſich darin poſitiv bleibt. Dieſes Eine,
Allgemeine iſt freilich noch nicht das freie Eine des Gedankens,
noch nicht im Geiſt und in der Wahrheit angebetet, ſondern iſt
noch mit der Geſtalt des Lichts angethan . Aber das Licht iſt
nicht lama , nicht Brahmane, nicht Berg, nicht Thier , nicht
dieſe oder jene beſondere Eriſtenz, ſondern es iſt die ſinnliche
Allgemeinheit ſelbſt, die einfache Manifeſtation . Die perſiſche
Religion iſt ſomit kein Gößendienſt, verehrt nicht einzelne Natur
dinge , ſondern das Augemeine ſelbſt. Das Licht hat die Be
deutung zugleich des Geiſtigen ; es iſt die Geſtalt des Guten
und Wahren , die Subſtantialität des Wiſſens und Wollens ſo
218 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
wohl, wie auch aller natürlichen Dinge. Das Licht feßt den
Menſchen in den Stand, daß er wählen könne, und wählen
kann er nur, wenn er aus der Verſenktheit heraus iſt. Das
Licht hat aber in ſich ſogleich einen Gegenſaß, nämlich die Fin
ſterniß , gleichwie dem Guten das Böſe gegenüberſteht. Wie das
Gute für den Menſchen nicht vorhanden iſt, wenn das Böſe
nicht da wäre , und wie er nur wahrhaft gut ſeyn kann , wenn
er das Böſe kennt , ſo iſt auch das Licht nicht ohne die Finſter
niß. Drmuzd und Ahriman bilden bei den Perſern dieſen
Gegenſaß. Drmuzd iſt der Herr des Lichtreiches , des Guten ,
Ahriman der der Finſterniß , des Böſen . Dann giebt es aber
noch ein Höheres , woraus beide hervorgegangen ſind : ein gegen
ſaßloſes Allgemeines genannt Zeruane- A kerene, das unbe
grenzte Ad. Das au iſt nämlich etwas ganz Abſtractes , es
eriſtirt nicht für ſich , und Ormuzd und Ahriman ſind daraus
entſtanden . Dieſer Dualismus wird gewöhnlich dem Orient als
Mangel angerechnet , und inſofern bei den Gegenſäßen , als ab
ſoluten verharrt wird , iſt es allerdings der irreligiöſe Verſtand,
der ſie feſthält. Aber der Geiſt muß den Gegenſaß haben , das
Princip des Dualismus gehört daher zum Begriff des Geiſtes,
der , als concret , den Unterſchied zu ſeinem Weſen hat. Bei den
Perſern iſt das Reine zum Bewußtſeyn gekommen , wie das Unt
reine, und der Geiſt, damit er ſich ſelber erfaſſe, muß weſentlich
dem allgemeinen Poſitiven das beſondere Negative gegenüber :
ſtellen : erſt durch die Ueberwindung dieſes Gegenſages iſt der
Geiſt der zweimal geborene. Der Mangel des perfiſchen Prin
cips iſt nur, daß die Einheit des Gegenſaßes nicht in vollende:
ter Geſtalt gewußtwird ; denn in jener unbeſtimmten Vorſtellung
von dem unerſchaffnen Ad , woraus Ormuzd und Ahriman her
vorgegangen ſind, iſt die Einheit nur das ſchlechthin Erſte, und
fie bringt den Unterſchied nicht zu ſich zurück. Drmuzd ſchafft
ſelbſtbeſtimmend , aber auch nach dem Rathſchluß des Zeruane
Aferene (die Darſtellung iſt ſchwankend) , und die Verſöhnung
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Das Zendvolf. 219

des Gegenſages beſteht nur darin , daß Ormuzd mit Ahriman


kämpfen und ihn leftlich überwinden ſolle. Ormuzd iſt Herr
des Lichts und ſchafft alles Schöne und Herrliche der Welt, die
ein Reich der Sonne ift. Er iſt das Vortreffliche, das Gute,
das Poſitive in allem natürlichen und geiſtigen Daſeyn. Das
Licht iſt der Körper des Drmuzd : daher entſteht der Feuerdienſt,
weil Drmuzd in allem Licht gegenwärtig iſt, aber er iſt nicht dic
Sonne, der Mond ſelber , ſondern in dieſen verehren die Perſer
nur das Licht, welches Ormuzd iſt. Zoroaſter fragt den Or
muzd , wer er fey ; er antwortet: Mein Name iſt Grund und
Mittelpunkt aller Weſen , höchſte Weisheit und Wiſſenſchaft,

side
Zerſtörer der Weltübel und Erhalter des AU'S , Fülle der Se
ligkeit, reiner Wille u . ſ. w . Was von Drmuzd kommt iſt le
bendig, ſelbſtſtändig und dauernd, das Wort iſt ein Zeugniß def= V
ſelben ; die Gebete ſind ſeine Productionen . Finſterniß iſt dage
gen der Körper des Ahriman , aber ein ewiges Feuer vertreibt
ihn aus den Tempeln . Der Zweck eines Jeden iſt, ſich rein zu
halten und dieſe Reinheit um ſich zu verbreiten . Die Vorſchriften
hiezu ſind ſehr weitläufig , die moraliſchen Beſtimmungen jedoch
mild ; es heißt: wenn ein Menſch dich mit Schmähungen über
häuft, dich beſchimpft, und ſich dann demüthigt, ſo nenne ihn
Freund. Wir leſen im Vendidad , daß die Opfer vorzüglich in
Fleiſch von reinen Thieren beſtehen , in Blumen und Früchten ,
Milch und Wohlgerüchen . Es heißt darin : Wie der Menſch
rein und des Himmels würdig erſchaffen worden , ſo wird er
wieder rein durch das Geſeß der Ormuzddiener , das die Reinig
keit ſelbſt iſt; wenn er ſich reinigt durch Heiligkeit des Gedan
kens , des Worts und der That. Was iſt reiner Gedanke ? der,
welcher auf der Dinge Anfang geht. Was iſt reines Wort ?
das Wort Ormuzd, (das Wort iſt ſo perſonificirt und bedeutet den
lebendigen Geiſt der ganzen Offenbarung des Ormuzd). Was
iſt reine That? das ehrfürchtige Anrufen der himmliſchen Heer
ſchaaren , welche im Anbeginn geſchaffen ſind. Es wird ſomit
220 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
hier erfordert, daß der Menſch gut fey : der eigene Wille , die
ſubjective Freiheit wird vorausgeſeßt. Ormuzd iſt nicht auf die
Einzelheit eingeſchränkt. Sonne, Mond und noch fünf andere
Geſtirne, die uns an die Planeten erinnern , dieſe Leuchtenden
und Erleuchteten ſind die zunächſt verehrten Bilder des Drmuzd ,
die Amſchaspand ſeine erſten Söhne. Unter dieſen iſt auch
Mitra genannt: man kann aber ebenſowenig, wie bei den ande
ren Namen , angeben , welcher Stern damit bezeichnet fen . Der
Mitra ſteht in den Zendbüchern unter den anderen Sternen ,
und hat keinen Vorzug ; doch werden ſchon in der Strafordnung
die moraliſchen Sünden als Mitraſünden aufgeführt, wie der
Wortbruch , der mit 300 Riemenſteichen beſtraft werden ſoll,
wozu beim Diebſtahl noch 300 Jahre Höllenſtrafe hinzukommen .
Mitra erſcheint hier als der Vorſteher des Innern , Höheren im
Menſchen . Später hat der Mitra eine große Bedeutung als
Mittler zwiſchen Ormuzd und den Menſchen bekommen . Schon
Herodot erwähnt den Mitradienſt; in Nom wurde er ſpäter als
ein geheimer ſehr allgemein , und ſelbſt bis weit ins Mittelalter
finden ſich Spuren davon . Außer den angeführten giebt es fer
ner noch andere Schußgeiſter , die unter den Amſchaspand,
als ihren Oberhäuptern ſtehen , und die Regierer und Erhalter
der Welt find. Der Rath der ſieben Großen , welche der
Perſiſche Monarch um fich hatte , iſt ebenſo in Nachahmung der
Umgebung des Ormuzd veranſtaltet. Von den Geſchöpfen der
irdiſchen Welt werden unterſchieden Ferver's , eine Art von Gei
ſterwelt. Ferver’s ſind nicht Geiſter nach unſerm Begriffe, denn ſie
ſind in jedem Körper , es ſey Feuer, Waſſer , Erde; ſie ſind von
Urbeginn da, ſind an aữen Orten , in den Straßen , Städten
u . ſ. F.; ſte ſind gerüſtet Jedem Hülfe zu bringen , der fie anruft.
Ihr Aufenthalt iſt in Gorodman , dem Siße der Seligen , über
dem feſten Gewölbe des Himmels . — Als Sohn des Ormuzd
kommt der Name Dſchemſchid vor ; es ſcheint dieß derſelbe zu
ſeyn , den die Griechen Achämenes nennen , deſſen Nachkommen
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Das Zendvolk. 221

Piſchdadier heißen , zu denen auch Cyrus gezählt wurde. Noch


in den ſpäteren Zeiten ſcheinen die Perſer von den Römern mit
dem Namen der Achämeneer bezeichnet worden zu ſeyn. (Horatii
carm . III. 1 . 44.) Jener Dichemſchid, heißt es , habe mit dem
goldenen Dolche die Erde durchftochen , was weiter nichts be
deutet, als daß er den Akerbau eingeführt habe; er ſey dann
die Länder durchzogen , habe Quellen und Flüſſen den Urſprung
gegeben , dadurch Länderſtriche fruchtbar gemacht, die Thäler mit
Thieren bevölkert u . f. w . In dem Zendaveſta wird auch oft der
Name Guſtasp erwähnt, den manche Neuere mit Darius Hy
ſtaspes haben zuſammenſtellen wollen , was ſich aber von Hauſe
aus als verwerflich zeigt, denn ohne Zweifel gehört dieſer Gu
ftasp dem alten Zendvolke, den Zeiten vor Cyrus an. Auch der
Turanier , das heißt der Nomaden im Norden , und der Inder
geſchieht in den Zendbüchern Erwähnung , ohne daß fich etwas
Hiſtoriſches daraus abnehmen ließe.
Die Religion des Drmuzd als Cultus iſt, daß die Men
ſchen ſich dem Lichtreich gemäß verhalten ſollen ; die allge
meine Vorſchrift iſt daher , wie ſchon geſagt, geiſtige und körper
liche Reinheit, welche in vielen Gebeten zum Ormuzd beſteht.
Den Perſern iſt beſonders zur Pflicht gemacht, das Lebendige zu
erhalten , Bäume zu pflanzen , Quellen zu graben , Wüſten zu
befruchten , damit überall Leben , Poſitives , Reines fich ergehe,
und des Ormuzd Reich nach allen Seiten hin verl reitet werde.
Der äußeren Reinheit iſt es zuwider , ein todtes Thier zu be
rühren , und es giebt viele Vorſchriften , wie man ſich davon zu
reinigen habe. Vom Cyrus erzählt Herodot, daß als er gegen
Babylon zog, und der Fluß Gyndes ein Roß des Sonnenwa
gens verſchlang, er dieſen ein Jahr lang zu beſtrafen beſchäftigt
war , indem er ihn , um ihn ſeiner Gewalt zu berauben , in kleine
Canäle ableiten ließ. Xerres ließ ſo , als ihm das Meer ſeine
* Brücken zertrümmerte , dieſem als dem Böſen und Verderblichen ,
dem Ahriman , Ketten anlegen .
222 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

Zweites Capitel.
Die Affyrier , Babylonier, Meder und Perſer.
Sowie das Zendvolk das höhere geiſtige Element des per
fiſchen Reiches war, ſo iſt in Aſſyrien und Babylonien das Ele
ment des äußeren Reichthums, der Ueppigkeit und des Handels .
Die Sagen gehen bis in die älteſten Zeiten der Geſchichte hin
auf; ſie ſind aber an und für ſich dunkel und zum Theil wider
ſprechend, und dieſer Widerſpruch iſt um ſo weniger aufzuhellen ,
als dem Volke Grundbücher und einheimiſche Werke abgehen.
Der griechiſche Hiſtoriker Kteſias ſoll aus den Archiven der per
fiſchen Könige ſelbſt geſchöpft haben ; indeſſen ſind nur noch we
nige Bruchſtücke vorhanden . Herodot giebt viele Nachrichten ;
außerdem ſind auch die Erzählungen in der Bibel höchſt wichtig
und merkwürdig , denn die Hebräer ſtanden in unmittelbarer Be
ziehung mitden Babyloniern . Es kann hier noch namentlich in Be
ziehung auf die Perſer überhaupt die Epopõe, Schah-nameh von
Ferduſi , erwähnt werden , ein Heldenbuch in 60000 Strophen ,
wovon Görres einen weitläufigen Auszug gegeben hat. Ferduſi
lebte im Anfange des eilften Jahrhunderts nach Chr. Geb . am
Hofe Mahmud des Großen zu Ghasna, öſtlich von Kabul und
Kandahar. Die berühmte eben genannte Epopõe hat die alten
Heldenſagen Frans (das iſt des eigentlichen Weſtperſiens) zu
ihrem Gegenſtande , kann aber nicht für eine hiſtoriſche Quelle
gelten , da ihr Inhalt poetiſch und ihr Verfaſſer ein Mahome
daner iſt. Der Kampf von Iran und Turan wird in dem Hel
dengedicht beſchrieben . Fran iſt das eigentliche Perſien , das
Gebirgsland im Süden vom Drus, Turan bezeichnet die Ebenen
des Drus , und die zwiſchen demſelben und dem alten Jarartes
liegenden . Ein Held, Nuſtan , macht die Hauptfigur im Ge
dichte, aber die Erzählungen ſind ganz fabelhaft, oder vollkom
men entſtellt. Aleranders geſchieht Erwähnung, und er wird
Iſchkander oder Skandervon Rum genannt. Rum iſt das türkiſche
Dritter Abſan. Perſien . -- Die Aſſyrier, Babylonier,Meder u . Perſer. 223
Neich (noch ießt heißt eine Provinz deſſelben Rumelien ), aber
ebenſo das römiſche, und im Gedichte wird nicht minder Ales
randers Reich Rum geheißen . Dergleichen Vermiſchungen ge
hören ganz der mahomedaniſchen Anſchauung an. Es wird in
dem Gedichte erzählt, der König von Jran habe Krieg geführt
mit Philipp, und dieſer lettere ſey geſchlagen worden . Der König
habe ihm , dem Philipp , dann ſeine Tochter zur Frau abgefordert ;
nachdem er aber eine Zeit lang mit ihr gelebt , habe er ſie fort
geſchickt, weil ſie übel aus dem Munde gerochen habe. Als ſie
nun zu ihrein Vater zurückgekommen ſey , habe ſie dort einen
Sohn Skander geboren , der nach Iran geeilt wäre, um nach
dem Todeſeines Vaters den Thron in Beſitz zu nehmen . Nimmt
man dazu , daß im ganzen Gedichte keine Geſtalt oder Geſchichte
vorkommt, die ſich auf Cyrus bezieht, ſo läßt ſich aus dieſem
Wenigen ſchon abnehmen , was von dem Geſchichtlichen des Ge
dichts zu halten ſey . Wichtig bleibt es aber inſofern , als uns
Ferduſi darin den Geiſt ſeiner Zeit und den Charakter und das
Intereſſe der neuperſiſchen Weltanſchauung darſtellt. –
Was nun Affyrien anbetrifft, ſo iſt das mehr ein unbe
ſtimmter Name. Das eigentliche Aſſyrien iſt ein Theil von Me
ſopotamien , im Norden von Babylon . Als Hauptſtädte dieſes
Reiches werden angegeben , Atur oder Affur ain Tigris , ſpäter
Ninive, das vom Ninus , dem Stifter des aſſyriſchen Reiches ,
begründet und erbaut worden ſeyn ſol . In jenen Zeiten machte
eine Stadt das ganze Reich aus : ſo Ninive, ſo auch Ekbatana
in Medien , das ſieben Mauern gehabt haben ſoll, zwiſchen des
ren Umſchließungen Ackerbau getrieben wurde; innerhalb der mit
- telſten Mauer befand ſich der Palaſt des Herrſchers . So ſoll
nun auch Ninive, nach Diodor, 480 Stadien (ungefähr 12 deut
fche Meilen ) im Umfange gehabt haben ; auf den Mauern von
hundert Fuß Höhe waren funfzehnhundert Thürme, innerhalb
welcher ſich eine ungeheuere Volksmaſſe aufhielt. Einenicht min
der unermeßliche Population ſchloß Babylon in ſich. Dieſe Städte
224 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
entſtanden aus dem doppelten Bedürfniß , einmal das Nomaden
leben aufzugeben und in feſten Siken Ackerbau, Gewerbe und Han
del zu betreiben , dann ſich gegen die herumſchweifenden Bergvölker
und die räuberiſchen Araber zu ſchüßen . Aeltere Sagen deuten
darauf, daß dieß ganze Thalland von Nomaden durchzogen wor
den iſt und daß das ſtädtiſche Leben dieſe dann verdrängt hat.
So wanderte Abraham mit ſeiner Familie aus Meſopotamien
gegen Weſten in das gebirgige Paläſtina. Noch heute wird auf
dieſe Weiſe Bagdad von ſtreifenden Nomaden umſchwärmt. Ni
nive foll 2050 Jahre v. Chr. Geb. erbaut worden ſeyn , und
ſoweit hinauf alſo wird die Begründung des aſſyriſchen Reis
ches geſtellt. Ninus unterwarf ſich alsdann Babylonien , Me
dien und Bactrien , und insbeſondere wird die Erwerbung des
lekteren Landes als eine Aeußerung der größten Anſtrengung an
gegeben, denn Kteſtas ſchäßt die Truppenzahl, die Ninus mit ſich
geführt haben ſoll , auf eine Million und 700,000 Fußgänger
und eine verhältnißmäßige Anzahl von Reitern . Bactra wurde
ſehr lange belagert, und die Eroberung deſſelben wird der Semi
ramis zugeſchrieben , die mit einer muthigen Schaar den ſteilen
Abhang eines Berges erſtiegen haben ſoll. Die Perſon der Semi
ramis ſchwankt überhaupt zwiſchen mythologiſchen und hiſtoriſchen
Vorſtellungen ; ihr wird auch der Thurmbau Babels zugeſchrie
ben , von dem wir in der Bibel eine der älteſten Sagen haben .
- Babylon lag ſüdlich am Euphrat in einer höchſt fruchtba
ren und für Ackerbau ſehr geeigneten Ebene. Auf dem Euphrat
und Tigris wurde große Schifffahrt getrieben : theils kamen die
Schiffe von Armenien , theils vom Süden nach Babylon , und
führten in dieſe Stadt einen unermeßlichen Reichthum zuſammen .
Das Land um Babylon herum war von unzähligen Canälen
durchſchnitten , mehr im Intereſſe des Ackerbaus , um das Land
zu bewäſſern und die Ueberſchwemmungen zu hindern , als im
Intereſſe der Schifffahrt. Die Prachtgebäude der Semiramis in
Babylon felbft ſind berühmt; doch wieviel davon in die alte Zeit
Dritter Abſchn . Perften . – Die Affyrier, Babylonier, Meder u . Perſer. 225

gehört , iſt unbeſtimmt und ungewiß. Es wird angegeben , daß


Babylon ein Vierec geweſen ſey , mittendurch von dem Euphrat
getheilt; auf der einen Seite des Stromes ſey der Tempel des
Bel geſtanden , auf der anderen die großen Paläſte der Monar
chen ; die Stadt habe hundert eherne (b. i. fupferne) Thore ge
habt, ihre Mauern ſeyen hundert Fuß hoch und verhältnißmäßig
breit geweſen , mit zweihundert und funfzig Thürmen verſehen .
Die Straßen in der Stadt , die auf den Strom zugingen , wur
den jede Nacht mit ehernen Thoren geſchloſſen . Ker Porter ,
ein Engländer, bereiſte vor ungefähr zwölf Jahren (ſeine ganze
Reiſe dauerte von 1817 – 1820) die Gegenden , wo das alte
Babylon gelegen war; auf einer Erhöhung glaubte er noch Neſte
des alten Thurms zu Babel zu entdecken ; er wollte Spuren von
den vielen Gängen finden , die ſich um den Thurm herumwan
den und in deren höchſtem Geſchoſſe das Bild des Bel aufge
ſtellt war; außerdem finden ſich noch viele Hügel mit Reſten von
alten Gebäulichkeiten . Die Backſteine zeigen ſich ſo , wie ſie in
der Bibel beim Thurmbau beſchrieben ſind; eine ungeheure Ebene
iſt von einer unzähligen Menge ſolcher Backſteine bedeckt, obgleich
ſchon ſeit mehreren tauſend Jahren beſtändig von dort welche ge
holt werden , und die ganze Stadt Hila , die in der Nähe des
alten Babylon liegt, von denſelben gebaut wurde. Herodot giebt
einige merkwürdige Sittenzüge der Babylonier an , woraus her
vorzugehen ſcheint, daß fie ein friedliches, gut nachbarliches Volf
geweſen ſind. Wenn einer in Babylon frank wurde , fo brachte
man ihn auf einen freien Plaß , damit jeder Vorübergehende ihm
ſeinen Rath ertheilen könne. Die Töchter wurden in den Jahren
der Mannbarkeit verſteigert , und der hohe Preis , der für die
Schöne geboten ward , wurde zum Heirathsgut der Häßlichen
beſtimmt. Dieß hinderte nicht , daß jede Frau einmal in ihrem
Leben im Tempel der Mylitta fich preisgegeben haben mußte.
Wie dieß mit den Religionsbegriffen zuſammengehängt habe, iſt
ſchwer zu ermitteln ; ſonſt ſagt Herodot , daß Sittenloſigkeit erſt
Philoſophie d. Geldichte. 3. Aufl. 15
226 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
ſpät eingeriſſen ſey , als Babylon ärmer geworden . Auch deutet
der Umſtand, daß die Schönen die Häßlichen dotirten , auf die
Vorſorge für Alle hin , ſowie das öffentliche Ausſtellen der Kran
ken auf eine gewiſſe Gemeinſamkeit.
Es iſt hier noch der Meder Erwähnung zu thun. Sie
waren , wie die Perſer, ein Bergvolk , deſſen Wohnſiße ſich füd
lich und füdweſtlich vom caspiſchen Meere befanden und ſich bis
nach Armenien herüberzogen. Unter dieſen Medern werden dann
auch die Magier aufgeführt , als einer der rechs Stämme, die
das mediſche Volk bildeten , deſſen Haupteigenſchaften Wildheit,
Rohheit und friegeriſcher Muth waren . Die Hauptſtadt Eiba
tana wurde erſt vom Dejoces erbaut; er ſoll die Stämme,nachdem
fie ſich zum zweiten Mal von der aſſyriſchen Herrſchaft frei ge
macht hatten , als König vereinigt und ſie bewogen haben , ihm
eine anſtändige Reſidenz zu bauen und zu befeſtigen . — Was die
Religion der Meder betrifft, ſo nennen die Griechen alle orientali
ſchen Prieſter überhaupt Magier und ebendeswegen iſt dieſer
Name völlig unbeſtimmt. Soviel geht aber aus Alem hervor,
daß bei den Magiern ein näherer Zuſammenhang mit der Zend
religion zu ſuchen iſt, aber daß, wenn auch die Magier Bewah
rer und Verbreiter derſelben waren , dieſe doch große Modifica
tionen durch den Uebergang auf die verſchiedenen Völker erlitt.
Xenophon ſagt, daß Cyrus zuerſt in der Weiſe der Magier Gott
opferte; die Meder waren ſomit ein Mittelvolk zur Fortpflanzung
der Zendreligion . —
Das aſſyriſch -babyloniſche Reich nun , das ſo viele Völker
unter ſich hatte , fol tauſend oder anderthalb tauſend Jahre be
ſtanden haben . Der leßte Herrſcher war Sardanapal, ein gro .
ßer Wolüſtling, wie er beſchrieben wird. Arbaces , der Satrap
von Medien , regte die übrigen Satrapen gegen ihn auf,und führte
mit denſelben die Truppen , welche ſich alle Jahre zu Ninive zur
Zählung verſammelten , gegen Sardanapal. Dieſer , wenn er
auch mehrere Siege erfocht, wurde doch endlich genöthigt, der
Dritter Abſchn . Perſien . – Die Affyrier, Babylonier, Meder u. Perſer. 227

Uebermacht zu weichen , ſich in Ninive einzuſchließen , und, als er


zulegt keinen Widerſtand mehr leiſten konnte, ſich mit allen ſei
nen Schäßen daſelbſt zu verbrennen . Nach Einigen fol dieſes
888 Jahre v . Chr. Geb. , nach Anderen am Ausgang des fie
benten Jahrhunderts geſchehen ſeyn. Nach dieſer Kataſtrophe
löſte fich das ganze Reich auf: es zerfiel in ein aſſyriſches , ein
mediſches, und in ein babyloniſches Reich , wozu auch die Chaldäer ,
ein Bergvolk aus dem Norden , das ſich mit den Babyloniern
vermiſcht hatte , gehörten . Dieſe einzelnen Reiche hatten wieder
verſchiedene Schickſale , doch herrſcht hier eine noch nicht aufge
löfte Verwirrung in den Nachrichten . In dieſen Zeiten beginnen
die Berührungen mit den Juden und Aegyptern . Das jüdiſche
Reich unterlag der überwiegenden Macht; die Juden wurden nach
Babylon geführt , und von ihnen haben wir nun genaue Nachs
richten über den Zuſtand dieſes Reiches . Nach den Angaben
des Daniel war in Babylon eine ſorgfältige Geſchäftsorganiſation
vorhanden . Er ſpricht von Magiern , von denen die Erklärer der
Schriften , die Wahrſager, Aſtrologen , Gelehrten und die Chaldäer,
die die Träume auslegten , unterſchieden werden . Die Propheten
überhaupt erzählen viel von dem großen Handel in Babylon,
entwerfen aber auch ein ſchreckliches Bild von der dort herrſchen
den Sittenloſigkeit.
Die wahre Spiße des perſiſchen Reiches iſt nun das eigent
liche Perſervolk , das ganz Vorderaſien in ſich vereinend mit
den Griechen in Berührung trat. Die Perſer ſind im nächſten
und früheſten Zuſammenhang mit den Medern , und der Ueber
gang der Herrſchaft an die Perſer macht keinen weſentlichen
Unterſchied , denn Cyrus war ſelbſt ein Verwandter des mediſchen
Königs , und der Name Perſien und Medien verſchmilzt. An
der Spiße der Perſer und Meder bekriegte Cyrus Lydien und
deſſen König Kröſus. Herodot erzählt, daß ſchon vordem
Kriege zwiſchen Lydien und Medien geweſen ſeyen , die aber durch
die Vermittelung des babyloniſchen Königs beigelegt worden
15 *
228 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
wären . Wir erkennen darin ein Staatenſyſtem von Lydien , Me
dien und Babylonien ; leşteres war überwiegend geworden , und
ſeine Herrſchaft erſtreckte ſich ſchon bis an das mittelländiſche
Meer. Lydien erſtreckte ſich öſtlich bis an den Halys; auch der
Saum der Weftfüfte von Kleinaſien , die ſchönen griechiſchen Co
lonien , waren ihm unterworfen ; es war alſo ſchon ein hoher
Grad von Bildung im lydiſchen Reiche vorhanden . Kunſt und
Poeſie blühten daſelbſt durch die Griechen . Auch dieſe Colonien
wurden den Perſern unterworfen . Weiſe Männer , wie Bias,
und früher ſchon Thales , riethen ihnen fich zu einem feſten
Bunde zu vereinigen , oder ihre Städte mit ihren Habſeligkeiten
zu verlaſſen , und fich andere Wohnſiße (Bias meinte Sardinien )
zu ſuchen . Aber zu dieſer Verbindung konnte es unter Städten ,
die von der höchſten Eiferſucht beſeelt waren und in beſtändigem
Zwiſte lebten , nicht kommen , und zu jenem heroiſchen Entſchluſſe,
für die Freiheit ihren Heerd zu verlaſſen , waren ſie im Taumel
des Ueberfluſſes nicht fähig . Erſt als ſie auf dem Punkte ſtan
den , von den Perſern unterworfen zu werden , gaben einige
Städte für das höchſte Gut, die Freiheit, das Gewiſſe für das
Ungewiſſe preis. Von dem Kriege gegen die Lydier ſagt He
rodot, daß er die Perſer , welche vorher nur arm und roh
waren , die Bequemlichkeit des Lebens und der Bildung kennen
lehrte. Darauf unterjochte Cyrus Babylon , und mit demſelben
kam er in Beſik von Syrien und Paläſtina , entließ die Juden
aus der Gefangenſchaft und geſtattete ihnen , ihren Tempel wieder
aufzubauen . Zuleßt zog er gegen die Maſſageten , bekriegte dieſe
Völker in den Steppen zwiſchen dem Drus und Farartes, unter:
lag ihnen aber, indem er den Tod des Kriegers und Eroberers
fand. Der Tod der Heroen , die Epoche in der Weltgeſchichte
gemacht haben , charakteriſirt ſich nach ihrem Berufe. Cyrus
ſtarb fu in ſeinem Beruf, welcher die Vereinigung Vorderaſiens
in eine Herrſchaft ohne weiteren Zwed war.
Dritter Abjūn. Perſien. – Das perfiſche Reich u. ſeine Beſtandtheile. 229

Drittes Capitel.
Das perſiſche Reich und ſeine Beſtandtheile.
Das perſiſche Reich iſt ein Reich im modernen Sinne, wie
das ehemalige deutſche Reich , und das große Kaiſerreich unter
Napoleon , denn es beſteht aus einer Menge Staaten , die zwar
in Abhängigkeit ſind, die aber ihre eigene Individualität, ihre
Sitten und Rechte beibehalten haben . Die allgemeinen Geſebe,
denen ſie alle unterworfen ſind, haben ihren beſonderen Zuſtän
den keinen Eintrag gethan , ſondern ſie ſogar beſchüßt und er
halten , und ſo hat jedes dieſer Völfer , die das Ganze aus
machen , ſeine eigene Form der Verfaſſung. Wie das Licht Alles
erleuchtet, Jedem eine eigenthümliche Lebendigkeit ertheilt, ſo
dehnt ſich die perfiſche Herrſchaft über eine Menge von Natio
nen aus, und läßt jeder ihr Beſonderes . Einige haben ſogar
eigene Könige , jede eine verſchiedene Sprache, Bewaffnung, le
bensweiſe, Sitte. Dieß Alles beſteht ruhig unter dem allgemei
nen Lichte. Das perfiſche Reich hat alle drei geographiſche
Momente in fich , die wir früher von einander geſchieden haben .
Zuerſt die Hochlande von Perſien und Medien , dann die Thal
ebenen des Euphrat und Tigris , deren Bewohner ſich zu einem
gebildeten Culturleben vereinigt haben , ſowie Aegypten , die
Thalebene des Nils , wo Acerbau , Gewerbe und Wiſſenſchaften
blühten , endlich das dritte Element, nämlich die Nationen ,
welche fich in die Gefahr des Meeres begeben , die Syrier, Pyö
nicier , die Einwohner der griechiſchen Colonien und griechiſchen
Uferſtaaten in Kleinaſien . Perſien vereinigte alſo die drei na
türlichen Principien in fich , während China und Indien der
See fremd geblieben ſind. Wir finden hier weder das ſubſtan
tielle Ganze von China , noch das indiſche Weſen , wo eine und
230 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

dieſelbe Anarchie der Widfür herrſcht, ſondern die Regierung in


Perſien iſt nur in ihrer allgemeinen Einheit ein Völferverein ,
der die zuſammengefaßten Völker frei beſtehen läßt. Dadurch
iſt der Grauſamkeit, der Wildheit Einhalt gethan , mit welcher
ſonſt die Völker ſich zerſtörten , und wovon das Buch der Könige
und das Buch Samuel hinreichendes Zeugniß geben . Das
Wehklagen und die Verwünſchungen der Propheten über den
Zuſtand vor der Eroberung geben das Elend, die Bosheit und
das Wüſte deſſelben zu erkennen , zugleich mit dem Glück, welches
Cyrus über die vorderaſiatiſche Welt brachte. Es iſt den Aſiaten
nicht gegeben , Selbſtſtändigkeit , Freiheit, gediegene Kraft des
Geiſtes mit Bildung, dem Intereſſe für mannigfaltige Beſchäf
tigung und der Bekanntſchaft mit den Bequemlichkeiten zu ver
einigen ; kriegeriſcher Muth beſteht nur in Wildheit der Sitten ,
er iſt nicht der ruhige Muth der Ordnung, und wenn der Geiſt
ſich mannigfaltigen Intereſſen eröffnet , ſo geht er ſogleich zur
Verweichlichung über , läßt ſich ſinfen , und macht die Menſchen
zu Knechten einer ſchwachen Sinnlichkeit.

Per fi e n .

Die Perſer, ein freies Berg - und Nomadenvolk, über reichere,


gebildetere und üppigere Länder herrſchend, behielten doch im
Ganzen die Grundzüge ihrer alten Lebensweiſe bei, fie ſtanden
mit einem Fuß in ihrem Stammlande, mit dem anderen im
Auslande. In dem Stammlande war der König Freund unter
Freunden und wie unter Seinesgleichen ; außer demſelben der Herr,
dem Ale unterworfen ſind und ſich durch Tribut ihm angehörend
beweiſen . Der Zendreligion treu , üben ſich die Perſer in der
Reinheit , und in dem reinen Dienſt des Ormuzd . Die
Gräber der Könige waren im eigentlichen Perſien , und dort
beſuchte bisweilen der König ſeine Landsleute , mit denen er in
einem ganz einfachen Verhältniß lebte. Er brachte ihnen Ge
Dritter Abſchnitt. Perſien . 231
ſchenke mit, während bei allen andern Nationen dieſe dem Könige
Geſchenke geben mußten . Am Hofe des Monarchen befand ſich
eine Abtheilung perſiſcher Reiterei, welche den Kern der ganzen
Armee ausmachte , init einander ſpeiſte und überhaupt ſehr gut
disciplinirt war. Sie zeichnete ſich durch Tapferkeit rühmlich
aus , und auch die Griechen erkannten in den mediſchen Kriegen
ihren Muih mit Achtung an . Wenn das ganze perſiſche Heer,
zu dem dieſe Abtheilung gehörte, ausziehen ſollte , ſo wurde zu
vörderſt ein Aufgebot an alle aſiatiſche Völkerſchaften erlaſſen .
Fanden ſich die Krieger zuſammen , ſo wurde der Zug alsdann
mit jenem Charakter der Unruhe und ſchweifenden Lebensweiſe
unternommen , der das Eigenthümliche der Perſer ausmacyte.
So ging man nach Aegypten , nach Scythien , nach Thracien ,
ſo endlich nach Griechenland , wo dieſe ungeheure Macht ge
brochen werden ſollte. Ein ſolcher Aufbruch erſchien faſt wie
eine Völkerwanderung , die Familien zogen mit: die Völker ers
ſchienen in ihrer Beſonderheit mit ihrer Bewaffnung und wälzten
ſich haufenweiſe fort ; jedes hatte eine andere Drdnung und eine
andere Art zu kämpfen . Herodot entwirft uns bei dem großen
Völkermarſch des Xerres (es ſollen zwei Millionen Menſchen mit
ihm gezogen ſeyn ) ein glänzendes Bild von dieſer Mannigfaltig
feit ; doch da dieſe Völkerſchaften ſo ungleich disciplinirt waren ,
ſo verſchieden an Kraft und Tapferkeit, ſo wird es leicht be
greiflich , daß die kleinen , disciplinirten , von Einem Muth be
ſeelten Heere der Griechen , unter trefflicher Anführung, jenen
unermeßlichen aber ungeordneten Streitkräften Widerſtand leiſten
konnten . Die Provinzen hatten für den Unterhalt der perſiſchen
Reiterei, die ſich im Mittelpunkte des Reiches aufhielt, zu ſorgen .
Babylon hatte von dieſem Unterhalt den dritten Theil zu geben ,
und erſcheint ſomit als die bei weitem reichſte Provinz. Sonſt
mußte jedes Volk nach der Eigenthümlichkeit ſeiner Produkte da
von das Vorzüglichſte liefern . So gab Arabien den Weihrauch ,
Syrien den Purpur u . f. w .
232 Erſter Theil . Die orientaliſche Welt.

Die Erziehung der Prinzen , beſonders aber des Thronerben ,


war äußerſt ſorgfältig. Bis zu ihrem ſiebenten Jahre bleiben
die Söhne des Königs unter den Frauen , und kommen nicht
vor das Angeſicht des Herrſchers. Von dem ſiebenten Jahre
an werden ſie in der Jagd, im Reiten , im Bogenſchießen u. f. w .
unterrichtet , ſowie im Sprechen der Wahrheit. Einmal wird
auch angegeben , daß der Prinz in der Magie des Zoroaſter
Unterricht empfangen habe. Vier der edelſten Perſer erziehen
den Prinzen . Die Großen überhaupt bilden eine Art von Reichs
tag. Unter ihnen befanden ſich auch Magier. Sie ſind freie
Männer , vol edler Treue und Patriotismus. So erſcheinen
die ſieben Großen , das Abbild der Amſchaspand, die um den
Ormuzd ſtehen , nachdem der falſche Smerdis , der ſich nach dem
Tode des Königs Cambyſes als deſſen Bruder ausgab , entlarvt
worden war , um zu berathſchlagen , welche Regierungsform ei
gentlich die beſte fey . Ganz leidenſchaftslos , und ohne einen
Ehrgeiz zu beweiſen , kommen ſie dahin überein , daß die Mo
narchie für das perſiſche Reich allein paſſend ſey. Die Sonne
und das Pferd , das ſie durch Wiehern zuerſt begrüßt, beſtimmen
dann den Nachfolger Darius. – Bei der Größe des perſiſchen
Reichs mußten die Provinzen durch Statthalter , Satrapen , bes
herrſcht werden , und dieſe zeigten oft ſehr viele Willkür gegen
die ihnen untergebenen Provinzen , und Haß und Neid gegen
einander, woraus freilich viel Unheil entſprang. Dieſe Satrapen
waren nur Oberaufſeher und ließen gewöhnlich die unterworfenen
Könige der Länder in ihrer Eigenthümlichkeit. Dem großen Kö
nige der Perſer gehörte alles Land und alles Waſſer; Land und
Waſſer forderten Darius Hyſtaspeg und Xerres von den Griechen .
Aber der König war nur der abſtracte Herr : der Genuß verblieb
den Völkern , deren Leiſtungen darin beſtanden , den Hof und die
Satrapen zu unterhalten , und von dem Köſtlichſten , was fie
beſaßen , zu liefern. Gleichförmige Abgaben kommen erſt unter
der Regierung des Darius Hyftaspes vor. Wenn der König
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Syrien und das ſemitiſche Vorderaſien. 233
im Reiche herumreifte, ſo mußten ebenfalls Geſchenke geliefert
werden , und aus der Größe dieſer Gaben ſieht man den Reich
thum der nicht ausgeſogenen Provinzen . So iſt die Herrſchaft
der Perſer auf keine Weiſe unterdrückend , weder in Anſehung
des Weltlichen noch des Religiöſen . Die Perſer , ſagt Herodot,
hätten zwar keine Gößenbilder , indem ſie die anthropomorphiſti
ſchen Darſtellungen der Götter verlachten , aber ſie duldeten jede
Religion , obgleich einzelne Ausbrüche des Zorns gegen die Ab
göttereien ſich finden . Griechiſche Tempelwurden zerſtört und die
Bilder der Götter zertrümmert.

Syrien und das ſemitiſche Vorderaſten .


Ein Element, das Küſtenland, das dem Perſiſchen Reiche
auch angehörte , ſtellt ſich beſonders in Syrien dar. Es war
beſonders wichtig für das perſiſche Reich , denn wenn der Con
tinent von Perſien zu einer großen Unternehmung aufbrach , ſo
wurde er von phöniciſchen wie auch von griechiſchen Kriegsflotten
begleitet. Die phöniciſche Küſte iſt nur ein ſehr ſchmaler Saum ,
oft nur zwei Stunden breit, der im Oſten das hohe Gebirge
des Libanon hat. An der Meeresküfte lag eine Knotenreihe von
herrlichen und reichen Städten , wie Tyrus , Sidon , Byblus,
Berytus, die großen Handel und große Schifffahrt trieben , welche
jedoch mehr iſolirt und im Intereſſe des eigenen Landes war ,
als daß ſie in den ganzen perſiſchen Staat eingegriffen hätte.
Die Hauptrichtung des Handels ging in das mitteländiſche
Meer , und von hier reichte er weit in den Weſten hinüber.
Durch den Verkehr mit ſo vielen Nationen erreichte Syrien bald
eine hohe Bildung : die ſchönſten Arbeiten in Metallen und Edel
ſteinen wurden daſelbſt verfertigt, die wichtigſten Erfindungen , wie
die des Glafes und Purpurs , dort gemacht. Die Schriftſprache
empfing hier ihre erſte Ausbildung, denn bei dem Verkehr mit
verſchiedenen Völkern tritt fehr bald das Bedürfniß derſelben ein .
234 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
(So hat z. B . Lord Macartney bemerkt , daß in Canton ſelbſt
die Chineſen das Bedürfniß einer leichteren Schriftſprache gefühlt
hätten ). Die Phönicier entdeckten und beſchifften zuerſt den at
lantiſchen Ocean ; auf Cypern und Creta ſiedelten ſie ſich an ;
auf Thaſos , einer weit von ihnen gelegenen Inſel, bebauten ſie
Goldbergwerke; im ſüdlichen und ſüdweſtlichen Spanien legten
fie Silberbergwerke an ; in Afrika gründeten ſie die Colonien
Utica und Carthago; von Gades aus ſchifften ſie weit an der
afrikaniſchen Küſte herunter, und follen nach Einigen ſogar ganz
Afrika umſegelt haben ; aus Britannien holten ſie ſich Zinn und
aus der Oſtſee den preußiſchen Bernſtein . Auf dieſe Weiſe er
giebt ſich ein ganz neues Princip . Die Unthätigkeit hört auf,
ſo 'wie die bloß rohe Tapferkeit: an ihre Stellen treten die Thä
tigkeit der Induſtrie und der beſonnene Muth , der bei der Kühn
heit, die See zu befahren , auch auf die Mittel verſtändig be
dacht iſt. Hier iſt Alles auf die Thätigkeit des Menſchen ge
feßt, auf ſeine Külnheit, ſeinen Verſtand; ſo wie auch die Zwecke
für ihn ſind. Menſchlicher Wille und Thätigkeit ſind hier das
Erſte, nicht die Natur und ihre Gütigkeit. Babylonien hatte
ſeinen beſtimmten Boden , und die Subſiſtenzwar durch den Lauf
der Sonne und durch den Naturgang überhaupt bedingt. Aber
der Seemann vertraut auf ſich ſelbſt im Wechſel der Wellen ,
und Auge und Herz müſſen immer offen ſeyn . Ebenſo enthält
das Princip der Induſtrie das Entgegengeſepte deſſen , was man
von der Natur erhält ; denn die Naturgegenſtände werden zum
Gebrauche und zum Schmuce verarbeitet. In der Induſtrie iſt
der Menſch ſich ſelber Zweck , und behandelt die Natur als ein
ihm Unterworfenes , dem er das Siegel ſeiner Thätigkeit auf
drückt. Der Verſtand iſt hier die Tapferkeit , und die Geſchic
lichkeit iſt beſſer als der nur natürliche Muth. Wir ſehen die
Völfer hier befreit von der Furcht der Natur und ihrem ſclavis
ſchen Dienſte.
Vergleichen wir hiermit die religiöſen Vorſtellungen , ſo
Dritter Abſchnitt. Perſien. – Syrien und das ſemitiſde Vorderaſien. 235
ſehen wir in Babylon , in den ſyriſchen Völkerſchaften , in
Phrygien zunächſt einen rohen , gemeinen , ſinnlichen Gößen
dienſt, deſſen Beſchreibung uns hauptſächlich in den Propheten
gegeben wird. Es wird freilich hier nur von Gößendienſt ge
ſprochen , und dieß iſt etwas Unbeſtimmtes . Die Chineſen , die
Inder , die Griechen haben Gößendienſt , auch die Katholiken ver
ehren die Bilder der Heiligen. Aber in dem Kreiſe, in welchem
wir uns jebt befinden , ſind die Mächte der Natur und der Er
zeugung überhaupt das Verehrte , und der Cultus iſt Ueppigkeit
und Wohlleben . Die Propheten geben davon die gräulichſten
Schilderungen , deren Schrecklichkeit jedoch zum Theil auf den
Haß der Juden gegen die Nachbarvölker muß geſchoben werden .
Beſonders im Buche der Weisheit ſind die Darſtellungen auss
führlich . Nicht nur die Verehrung der natürlichen Dinge fand
ſtatt, ſondern auch die der allgemeinen Naturmacht, der Aſtarte,
Cybele , der Diana von Epheſus. Der Cultus war ſinnlicher
Taumel , Ausſchweifung und Ueppigkeit: Sinnlichkeit und Grau
ſamkeit ſind die beiden charakteriſtiſchen Züge. „ Halten ſie Feier
tage, ſo thun ſie wie wüthend,“ ſagt das Buch der Weisheit
(14 ,28.). Mit dem ſinnlichen Leben , als einem Bewußtſeyn ,
das zum Augemeinen nicht kommt, iſt die Grauſamkeit verknüpft,
weil die Natur als ſolche das Höchſte iſt, ſo daß der Menſch
keinen , oder nur den geringſten Werth hat. In ſolchem Götter
dienſt liegt ferner, daß der Geiſt, inſofern er ſich mit der Natur
zu identificiren ſtrebt, ſein Bewußtſeyn und überhaupt das Gei
ſtige aufhebt. So ſehen wir Kinder opfern , die Prieſter der Cy
bele ſich ſelber verſtümmeln , die Männer ſich zu Eunuchen machen ,
die Weiber ſich im Tempel preisgeben . Als ein Zug des babys
loniſchen Hofes verdient bemerkt zu werden , daß, als Daniel
am Hofe erzogen ward , nicht von ihm gefordert wurde, an den
Religionsübungen Theil zu nehmen , und ferner , daß ihm reine
Speiſen gereichtwurden ; er wurde beſonders dazu gebraucht, die
Träume des Königs zu deuten , weil er den Geiſt der heiligen
236 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
Götter habe. Ueber das ſinnliche Leben will der König durch
Träume, als Deutungen des Höheren , ſich erheben . Es zeigt
fich alſo überhaupt, daß das Band der Religion locker war , und
daß hier keine Einheit zu finden iſt. Wir ſehen nämlich auch
Anbetungen von Bildern der Könige; die Naturmacht und der
König als geiſtige Macht ſind das Höchſte , und ſo zeigt ſich in
dieſem Gößendienſt der vollkommene Gegenſaß gegen die perfiſche
Reinheit.
Dagegen finden wir bei den Phöniciern , jenem fühnen
Seevolke, etwas Anderes . Herodot erzählt uns , daß zu Tyrus
der Hercules verehrt worden ſey . Iſt dieſes auch nicht die gries
chiſche Gottheit , ſo muß doch darunter eine verſtanden werden ,
die mit den Begriffen jener ungefähr übereinſtimmt. Dieſe Ver
ehrung iſt außerordentlich bezeichnend für den Charakter des
Volkes , denn Hercules iſt es ja , von dem die Griechen ſagen ,
daß er fich durch menſchliche Tapferkeit und Kühnheit in den
Olymp geſchwungen habe. Dem Hercules liegt wohl in ſeinen
zwölf Arbeiten die Vorſtellung der Sonne zu Grunde, doch be
zeichnet dieſe Grundlage nicht die Hauptbeſtimmung, welche viel
mehr bleibt , daß Hercules der Götterſohn iſt , der durch ſeine
Tugend und Arbeit fich zum Gott durch menſchlichen Muth und
Tapferkeit emporſchwingt, und, ſtatt in Unthätigkeit, in Mühle
ligkeit und Arbeit ſein Leben verbringt. Ein zweites religiöſes
Moment iſt der Dienſt des Adonis , der fich in den Küſten
ftädten findet (auch in Aegypten wurde er von den Ptolemäern
mit Pracht gefeiert), worüber eine Hauptſtelle in dem Buche der
Weisheit (14,13 fg.), in welcher es heißt: „die Gößen waren
nicht von Anfang an , - ſondern ſind durch die eitle Ehre der
Menſchen darum erdacht, daß dieſe kurzen Lebens ſind. Denn
ein Vater , ſo er über ſeinen Sohn , der ihm alzufrüh dahin
genommen ward ( - Adonis), Leid und Schmerzen trug, ließ
er ein Bild machen , und fing an , den , ſo ein todter Menſch
war , nun für Gott zu halten ; und ſtiftete für die Seinen einen
Dritter Abſchnitt. Perſien . - Syrien und das femitiſche Vorderaften . 237

Gottesdienſt und Opfer.“ Das Feſt des Adonis war, ungefähr


wie der Dienſt des Oſiris , die Feier ſeines Todes , ein Leichen
feſt , bei dem die Frauen in die ausſchweifendſten Klagen über
den verlornen Gott ausbrachen . In Indien verſtummt die
Klage im Heroismus der Stumpfheit; flaglos ſtürzen ſich dort
die Weiber in den Strom , und die Männer, ſinnreich in Peini
gungen , legen ſich die ſchrecklichſten Qualen auf ; denn fte ergeben
fich nur der Lebloſigkeit, um das Bewußtſeyn in leerer , abſtracter
Anſchauung zu vertilgen ; hier aber wird der menſchliche Schmerz
ein Moment des Cultus, ein Moment der Verehrung; im
Schmerz empfindet der Menſch ſeine Subjectivität: er foll, er
darf hier als er ſelbſt ſich wiſſen und ſich gegenwärtig 'ſeyn.
Das Leben erhält hier wieder Werth . Es wird ein allgemeiner
Schmerz veranſtaltet; denn der Tod wird dem Göttlichen imma
nent, und der Gott ſtirbt. Bei den Perſern ſahen wir Licht und
Finſterniß mit einander im Kampf; hier aber ſind beide Princi-.
pien in Einem , dem Abſoluten , geeint. Das Negative iſt hier
auch nur das Natürliche , aber als Tod des Gottes nicht nur
das Beſchränkte eines Beſtimmten , ſondern die reine Negativität
ſelbſt. Dieſer Punkt iſt nämlich wichtig , weil das Göttliche
überhaupt als Geiſt gefaßt werden ſoll, worin liegt, daß es
concret ſeyn und das Moment der Negativität in fich haben
muß. Die Beſtimmungen der Weisheit , der Macht find auch
concrete Beſtimmungen , aber nur als Prädikate , ſo daß Gott
die abſtracte ſubſtantielle Einheit bleibt, worin die Unterſchiede
ſelber verſchwinden und nicht Momente dieſer Einheit werden.
Hier aber iſt das Negative ſelbſt Moment des Gottes, das Na
türliche, der Tod, deſſen Cultus der Schmerz iſt. In der Feier
alſo des Todes des Adonis , und ſeines Auferſtehens iſt es , daß
das Concrete zum Bewußtſeyn kommt. Adonis iſt ein Jüngling,
der den Eltern entriſſen wird , und zu früh ſtirbt. In China,
im Dienſte der Voreltern , genießen dieſe lepteren göttliche Ehre ;
aber Eltern bezahlen im Tode nur die Schuld der Natur. Den
238 Erſter Theil . Die orientaliſche Welt .

Jüngling rafft der Tod dagegen als ein Nichtſeynſollen hin , und
während der Schmerz über den Tod der Eltern kein gerechter
Schmerz iſt , iſt im Jüngling der Tod ein Widerſpruch . Und
dieß eben iſt daß Tiefe , das im Gott das Negative, der Wider
ſpruch zur Anſchauung kommt, und daß der Cultus beide Mo
mente, den Schmerz über den dahingerafften , und die Freude
über den wiedergefundenen Gott enthält.

J ud ä a .

Das andere zum perſiſchen Reiche im weiteren Perbande


gehörende Volk dieſer Küſte, iſt das jüdiſche. Wir finden bei
demſelben wieder ein Grundbuch , das alte Teſtament, in wel
chem die Anſchauungen dieſes Volkes , deſſen Princip dem eben
dargeſtellten geradezu gegenüberſteht, hervortreten . Wenn das
Geiſtige im phöniciſchen Volke noch durch die Naturſeite beſchränkt
war , ſo zeigt es ſich dagegen bei den Juden vollkommen gerei
nigt; das reine Product des Denkens , das Sichdenken kommt
zum Bewußtſeyn, und das Geiſtige entwickelt ſich in ſeiner ertre
men Beſtimmtheit gegen die Natur und gegen die Einheit mit
derſelben . Wir ſahen früher wohl den reinen Brahm , aber nur
als das allgemeine Naturſeyn , und zwar ſo , daß Brahm nicht
ſelbſt Gegenſtand des Bewußtſeyns wird ; wir fahen ihn bei den
Perſern zum Gegenſtand deſſelben werden , jedoch in ſinnlicher
Anſchauung, als das Licht. Das Licht aber iſt nunmehr Jeho
vah, das reine Eine. Dadurch geſchieht der Bruch zwiſchen dem
Oſten und dem Weſten ; der Geiſt geht in ſich nieder und erfaßt
das abſtracte Grundprincip für das Geiſtige. Die Natur, die
im Orient das Erſte und die Grundlage iſt, wird jeßt herab
gedrückt zum Geſchöpf; und der Geiſt iſt nun das Erſte. Von
Gott wird gewußt , er ſey der Schöpfer aller Menſchen , wie der
ganzen Natur, ſo wie die abſolute Wirkſainkeit überhaupt. Dieſes
große Princip iſt aber in ſeiner weiteren Beſtimmtheit das aus-
Dritter Abſchnitt. Perſien . — Judäa. 239

ſchließende Eine. Dieſe Religion muß nothwendig das Mo


ment der Ausſchließung gewinnen , welches weſentlich darin be
ſteht , daß nur das Eine Volf den Einen erkennt , und von ihm
anerkannt wird. Der Gott des jüdiſchen Volks iſt nur der
Gott Abrahams und ſeines Saamens; die nationelle Individua
lität und ein beſonderer localdienſt ſind in die Vorſtellung deſ
ſelben verflochten . Gegen dieſen Gott ſind alle anderen Götter
falſche: und zwar iſt der Unterſchied von wahr und falſch ganz
abſtract ; denn bei den falſchen Göttern iſt nicht anerkannt, daß
ein Schein des Göttlichen in ſie hineinblicke. Nun iſt aber jede
geiſtige Wirkſamkeit, und um ſo mehr jede Religion ſo beſchaffen ,
daß, wie ſie auch ſey , ein affirmatives Moment in ihr enthalten
iſt. So ſehr eine Religion irrt , hatſie doch die Wahrheit, wenn
auch auf verkümmerte Weiſe. In jeder Religion iſt. göttliche
Gegenwart , ein göttliches Verhältniß , und eine Philoſophie der
Geſchichte hat in den verkümmertſten Geſtalten das Moment des
Geiſtigen aufzuſuchen . Darum aber, weil ſie Religion iſt, iſt
ſie als ſolche noch nicht gut; man muß nicht in die Schlaffheit
verfallen , zu ſagen , daß es auf den Inhalt nicht ankomme,
ſondern lediglich auf die Form . Dieſe ſchlaffe Gutmüthigkeit hat
die jüdiſche Religion nicht, indem ſie abſolut ausſchließt.
Das Geiſtige ſagt ſich hier vom Sinnlichen unmittelbar los,
und die Natur wird zu einem Neußerlichen und Ingöttlichen
herabgeſeßt. Dieß iſt eigentlich die Wahrheit der Natur, denn
erſt ſpäter kann die Idee in dieſer ihrer Aeußerlichkeit zur Ver
föhnung gelangen : ihr erſter Ausſpruch wird gegen die Natur
ſeyn ; denn der Geiſt, welcher bisher entwürdigt war, erhält erſt
hier ſeine Würde , ſowie die Natur ihre rechte Stellung wieder.
Die Natur iſt ſich ſelbſt äußerlich , ſie iſt das Geſeşte , ſie iſt er
ſchaffen , und dieſe Vorſtellung , daß Gott Herr und Schöpfer
der Natur ſeyy , bringt die Stellung Gottes als des Erhabenen
herbei , indem die ganze Natur Gottes Schmuck , und gleichſam
zu ſeinem Dienſte verwendet iſt. Gegen dieſe Erhabenheit ge
240 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
halten , iſt die indiſche nur die des Maaßloſen . Durch die Geis
ſtigkeit überhaupt wird nun das Sinnliche und Unſittliche nicht
mehr privilegirt , ſondern als das Ungöttliche herabgeſeßt. Nur
das Eine , der Geiſt , das Unſinnliche iſt die Wahrheit ; der Ge
danke iſt frei für ſich , und wahrhafte Moralität und Rechtlichkeit
kann nunmehr auftreten ; denn es wird Gott durch Rechtlichkeit
verehrt , und Rechtthun iſt Wandeln im Wege des Herrn . Das
mit iſt verbunden das Glück, Leben und zeitliches Wohlergehen
als Belohnung; denn es heißt : auf daß du lang lebeſt auf
Erden . - Auch die Möglichkeit einer geſchichtlichen Anſicht
iſt hier vorhanden ; denn es iſt hier der proſaiſche Verſtand , der
das Beſchränkte und Umſchriebene an ſeinen Plaz ſtellt und es
als eigenthümliche Geſtalt der Endlichkeit auffaßt : Menſchen
werden als Individuen , nicht als Incarnationen Gottes , Sonne
als Sonne, Berge als Berge, nicht als in ihnen ſelbſt Geiſt
und Willen habend, genommen . —
Wir ſehen bei dieſem Volke den harten Dienſt , als Ver
hältniß zum reinen Gedanken . Das Subject als concretes wird
nicht frei, weil das Abſolute ſelbſt nicht als der concrete Geiſt
aufgefaßt iſt, weil der Geiſt noch als geiſtlos geſeßt erſcheint.
Die Innerlichkeit haben wir wohl vor uns, das reine Herz, die
Büßung , die Andacht; aber es iſt nicht auch das beſondere con
crete Subject ſich gegenſtändlich im Abſoluten geworden , und es
bleibt daher ſtreng an den Dienſt der Ceremonie und des Rechtes
gebunden , deſſen Grund eben die reine Freiheit als abſtracte iſt.
Die Juden haben , was ſie ſind, durch den Einen : dadurch hat
das Subject keine Freiheit für fich ſelbſt. Spinoza fieht das
Gefeßbuch Moſie ſo an , als habe es Gott den Juden zur Strafe,
zur Zuchtruthe gegeben . Das Subject fommt nie zum Bewußt
ſeyn ſeiner Selbſtſtändigkeit: deswegen finden wir bei den Juden
keinen Glauben an die Unſterblichkeit der Seele, denn das Sub
ject iſt nicht an und für ſich ſeyend. Wenn das Subject aber
im Judenthume werthlos iſt , ſo iſt dagegen die Familie ſelbſt
Dritter Abſohnitt. Perſien . – Judäa. 241

ſtändig, denn an die Familie iſt der Dienft Jehovah's gebunden ,


und ſie ſomit das Subſtantielle. Der Staat aber iſt das dem jüdi
ſchen Princip Unangemeſſene, und der Gefeßgebung Moſis fremd.
In der Vorſtellung der Juden iſt Jehovah der Gott Abraham 's ,
Iſaak’s und Jakob 's , der ſie aus Aegypten ausziehn hieß , und
ihnen das Land Ranaan gab. Die Erzählungen von den Erz
vätern ziehen uns an. Wir ſehen in dieſer Geſchichte den Ueber
gang aus dem patriarchaliſchen Nomadenzuſtand zum Aberbau.
Ueberhaupt hat die jüdiſche Geſchichte große Züge ; nur iſt ſite
verunreinigt durch das geheiligte Ausſchließen der anderen Volfs
geiſter (die Vertilgung der Einwohner Kanaan 's wird ſogar ge
boten ) , durch Mangel an Bildung überhaupt , und durch den
Aberglauben ,der durch die Vorſtellung von dem hohen Werthe der
Eigenthümlichkeit der Nation herbeigeführt wird . Auch Wunder
ſtören uns in dieſer Geſchichte als Geſchichte, denn inſofern das
concrete Bewußtſeyn nicht frei iſt, iſt auch das Concrete der
Einſicht nicht frei; die Natur iſt entgöttert, aber ihr Verſtändniß
iſt noch nicht da.
Die Familie iſt durch die Eroberung Kanaan's zu einem
Volke herangewachſen , hat ein Land in Beſitz genommen und
in Jeruſalem einen allgemeinen Tempel errichtet. Ein eigentliches
Staatsband war aber nicht vorhanden . Bei einer Gefahr er
hoben fich Helden , die ſich an die Spiße der Heereshaufen ftell
ten , doch war das Volf meiſt unterjocht. Später wurden Könige
erwählt , und erſt dieſe machten die Juden ſelbſtſtändig. David
ging ſogar zu Eroberungen über. In ihrer Urſprünglichkeit geht
die Geſeßgebung nur auf die Familie, doch iſt in den Moſaiſchen
Büchern ſchon der Wunſch nach einem Könige voraus geſehen .
Die Prieſter ſollen ihn wählen ; er fol nicht Ausländer ſeyn,
nicht Reiterei in großen Haufen und wenig Weiber haben . Nach
kurzem Glanze zerfiel das Reich in ſich ſelbſt und theilte fich .
Da es nur Einen Stamm Leviten und nur Einen Tempel in
Jeruſalem gab, ſo mußte bei Theilung des Reichs ſogleich Ab
Philoſophie d . Geldichte. 3. Aufl. 16
242 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

götterei eintreten ; denn es fonnte der Eine Gott nicht in ver


fchiedenen Tempeln verehrt werden , und nicht zwei Reiche von Einer
Religion geben . So rein geiſtig der objective Gott gedacht wird ,
ſo gebunden und ungeiſtig iſt noch die ſubjective Seite der Ver
ehrung deſſelben . Die beiden Reiche, gleich unglücklich in äußeren
und inneren Kriegen , wurden zulegt den Affyriern und Baby
loniern unterworfen . Durch Cyrus wurde den Israeliten erlaubt,
heimzukehren und nach eigenen Geſeßen zu leben .

A e g p p te n .

Das perfiſche Reich iſt ein vorübergegangenes , und nur


traurige Reſte ſind von ſeiner Blüthe geblieben . Die ſchönſten
und reichſten Städte deſſelben , wie Babylon , Suſa , Perſepolis ,
find gänzlich zerfallen , und nur wenige Ruinen zeigen uns ihre
alte Stelle. Selbſt in den neueren großen Städten Perſiens,
Ispahan , Schiras , iſt die Hälfte zur Ruine geworden , und
keine neue Lebendigkeit iſt wie im alten Rom aus denſelben her
vorgetreten , ſondern ſie ſind faſt ganz in dem Andenken der ſie
umgebenden Völker verſchwunden . Außer den übrigen zum per
fiſchen Reiche bereits gezählten Ländern tritt nun aber Aegyp
ten auf, das Land der Ruinen überhaupt, das von Alters her als
ganz wunderbar gegolten , und auch in neueren Zeiten das größte
Intereſſe auf fich gezogen hat. Seine Ruinen , das endliche Re
ſultat einer unermeßlichen Arbeit, überbieten im Rieſenhaften und
Ungeheuren Alles, was uns aus dem Alterthum geblieben iſt.
In Aegypten ſehen wir die Momente , welche in der perſi
ſchen Monarchie als einzelne auftraten , zuſammengefaßt. Wir
fanden bei den Perſern die Verehrung des Lichts , als des au
gemeinen Naturweſens. Dieſes Princip entfaltet ſich dann zu
Momenten , die ſich gegeneinander als gleichgültig verhalten : das
Eine Moment iſt das Verſenktfein ins Sinnliche bei den Ba
byloniern , Syriern ; das andre iſt das Geiſtige, in zwiefacher
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Aegypten. 243
Form : einmal als beginnendes Bewußtſeyn des concreten Geiſtes
im Adonisdienſt , und dann als der reine und abſtracte Gedanke
bei den Juden ; dort fehlt die Einheit des Concreten , hier das
Concrete ſelbſt. Dieſe widerſtrebenden Elemente zu vereinen iſt
die Aufgabe, und als Aufgabe in Aegypten vorhanden . Aus
den Darſtellungen , die wir im ägyptiſchen Alterthume finden ,
muß beſonders eine Figur herausgehoben werden , nämlich die
Sphinr , an und für ſich ein Näthfel , ein Doppelſinniges Ge
bilde, halb Thier, halb Menſch . Man kann die Sphinr als
ein Symbol für den ägyptiſchen Geiſt anſehen : der menſchliche
Ropf, der aus dem thieriſchen Leibe herausblickt, ſtelt den Geiſt
vor , wie er anfängt ſich aus dem Natürlichen zu erheben , ſich
dieſem zu entreißen , und ſchon freier um ſich zu blicken , ohne ſich
jedoch ganz von den Feſſeln zu befreien . Die unendlichen Bau
werke der Aegypter ſind halb unter der Erde , halb ſteigen ſte
über ihr in die Lüfte. Das ganze land iſt in ein Reich des
Lebens und in ein Reich des Todes eingetheilt. Die coloſſale
Bildſäule des Memnon erklingt vom erſten Blick der jungen
Morgenſonne; doch es iſt noch nicht das freie Licht des Geiſtes ,
das in ihm ertönt. Die Schriftſprache iſt noch Hieroglyphe, und
die Grundlage deſſelben nur das ſinnliche Bild , nicht der Buch
ſtabe ſelbſt. - So liefern uns die Erinnerungen Aegyptens
ſelbſt eine Menge von Geſtalten und Bildern , die ſeinen Cha
rakter ausſprechen ; wir erkennen darin einen Geiſt, der ſich ge
drängt fühlt, ſich äußert, aber nur auf ſinnliche Weiſe.
Aegypten iſt von jeher das Land der Wunder geweſen , und
es auch noch geblieben . Beſonders von den Griechen erhalten
wir über daſſelbige Nachricht, und vor allen Anderen von Hero
dot. Dieſer ſinnige Geſchichtsſchreiber beſuchte ſelbſt das Land,
von dem er Nachricht geben wollte , und ſegte ſich an den Haupt
orten in Bekanntſchaft mit den ägyptiſchen Prieſtern . Alles , was
er geſehen und gehört hat, berichtet er genau; aber das Tiefere
über die Bedeutung der Götter hat er ſich zu ſagen geſcheut:
16 *
244 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

es ſey dieſes ein Heiliges , und er könne nicht davon , wie von
einem Aeußerlichen , fprechen . Außer ihm iſt noch Diodorus Si
culus von großer Wichtigkeit, und unter den jüdiſchen Geſchichts
ſchreibern Joſephus.
Durch die Bauwerke und die Hieroglyphen hat ſich das
Denken und Vorſtellen der Aegypter ausgedrückt. Es fehlt ein
Nationalwerk der Sprache ; es fehlt nicht nur unø , es fehlte auch
den Aegyptern ſelbſt; ſie konnten keines haben , weil ſie es nicht
zum Verſtändniß ihrer ſelbſt gebracht haben . Es war auch keine
ägyptiſche Geſchichte vorhanden , bis endlich Ptolemäus Phila
delphus , derſelbe , der die heiligen Bücher der Juden ins Grie
chiſche überſeßen ließ, den Oberprieſter Manetho veranlaßte, eine
ägyptiſche Geſchichte zu ſchreiben . Von dieſer haben wir nur
Auszüge, Neihen von Königen , die jedoch die allergrößten Schwie
rigkeiten und Widerſprüche veranlaßt haben . Um Aegypten fen
nen zu lernen , ſind wir überhaupt nur auf die Nachrichten der
Alten und auf die ungeheuren Monumente, die uns übrig ge
blieben ſind, angewieſen . Man findet eine Menge Granitwände,
in die Hieroglyphen eingegraben ſind , und die Alten haben uns
Aufſchlüſſe über einige derſelben gegeben , welche aber vollkommen
unzureichend ſind. In neuerer Zeit iſt man beſonders wieder darauf
aufmerkſam geworden , und auch nach vielen Bemühungen dahin
gelangt, von der hieroglyphiſchen Schrift wenigſtens Einiges ent
ziffern zu können. Der berühmte Engländer Thomas Young
hat zuerſt den Gedanken dazu gefaßt , und darauf aufmerkſam
gemacht, daß ſich nämlich kleine Flächen finden , die abgeſchnitten
von den anderen Hieroglyphen find, und wobei die griechiſche
Ueberſegung bemerkt iſt. Durch Vergleichung hat nun Young
drei Namen , Berenice, Kleopatra und Ptolemäus, herausbekom
men , und ſo den erſten Anfang zur Entzifferung gemacht. Man
hat ſpäterhin gefunden , daß ein großer Theil der Hieroglyphen
phonetiſch iſt , das heißt Laute angiebt. So bedeutet die Figur
des Auges zuerſt das Auge ſelbſt, dann aber auch den Anfangs
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Aegypten . 245

buchſtaben des ägyptiſchen Wortes , das Auge heißt (wie im


Hebräiſchen die Figur eines Hauſes , s , den Buchſtaben b be:
zeichnet,womit das Wortna, Haus, anfängt). Der berühmte
Champollion der Jüngere hat zunächſt darauf aufmerkſam ge
macht , daß die phonetiſchen Hieroglyphen mit ſolchen , die Vor
ſtellungen bezeichnen , untermiſcht ſind, ſodann die verſchiedenen
Arten der Hieroglyphen geordnet und beſtimmte Principien zu
ihrer Entzifferung aufgeſtellt.
Die Geſchichte von Aegypten , wie ſie vor uns liegt, iſt
voll von den größten Widerſprüchen . Mythiſches und Hiſto
riſches iſt unter einander gemiſcht, und die Angaben ſind im höch
ſten Grade verſchieden . Die europäiſchen Gelehrten haben begie
rig die Verzeichniſſe des Manetho aufgeſucht und ſind dieſen
gefolgt ; auch ſind durch die neueren Entdeckungen eine Menge
Namen von Königen beſtätigt worden . Herodot ſagt, nach der
Erzählung der Prieſter hätten früher Götter über Aegypten ge
herrſcht, und vom erſten menſchlichen Könige bis zum Könige
Setho ſeyen 341 Menſchenalter oder 11340 Jahre verfloſſen
geweſen ; der erſte menſchliche Herrſcher aber wäre Menes gewe
ſen (die Aehnlichkeit des Namens mit dem griechiſchen Minos
und dem indiſchen Manu iſt hier auffallend). Aegypten habe
außer Thebais, dem ſüdlichſten Theile deſſelben , einen See gebil
det ; vom Delta ſcheint es gewiß zu ſeyn , daß es ein aus dem
Schlamm des Nils hervorgebrachtes Gebilde iſt. Wie die Hol
länder ihren Boden von dem Meere erobert haben und ſich darauf
zu erhalten wußten ; ſo haben die Aegypter ebenfalls ihr Land
erſt gewonnen , und die Fruchtbarkeit deſſelben durch Kanäle und
Seen unterſtüzt. Ein wichtiges Moment für die Geſchichte Ae
gyptens iſt das Herabdrücken derſelben vom oberen nach dem un
tern Aegypten , vom Süden nach Norden . Damit hängt nun
zuſammen , daß Aegypten von Aethiopien aus wohl ſeine Bil
dung erhalten hat, hauptſächlich von der Inſel Meroe, auf wel
cher nach neueren Hypotheſen ein Prieſtervolk gehauft haben ſoll.
246 Erſter Theil. Die orientaliſdhe Welt.

Theben in Oberägypten war die älteſte Reſidenz der ägyptiſchen


Könige. Schon zu Herodot's Zeiten war ſie in Verfall. Die
Ruinen dieſer Start ſind das Ungeheuerſte der ägyptiſchen Archi
tectur, was wir kennen ; ſie ſind für die Länge der Zeit noch
vortrefflich erhalten , wozu der immer wolfenloſe Himmel des
Landes beiträgt. Der Mittelpunkt des Reiches wurde dann nach
Memphis verlegt, nicht weit von dem heutigen Kairo, und zuleşt
nach Sais , in dem eigentlichen Delta ; die Gebäulichkeiten , welche
ſich in der Gegend dieſer Stadt befinden , find von ſehr ſpäter Zeit
und wenig erhalten . Herodot ſagt uns, daß ſchon Menes Mem
phis erbaut habe. Unter den ſpäteren Königen iſt beſonders
Seſoſtris hervorzuheben , der nach Champollion für Rhamſes den
Großen gehalten werden muß. Von dieſem ſchreiben ſich beſon
ders eine Menge Denkmäler und Gemälde her, auf welchen ſeine
Siegeszüge und Triumphe, die Gefangenen , die er machte,und zwar
von den verſchiedenſten Nationen , dargeſtellt ſind. Herodot erzählt
von ſeinen Eroberungen in Syrien , bis nachKolchis hin , und bringt
damit zuſammen die große Aehnlichkeit zwiſchen den Sitten der
Solchier und denen der Aegypter : dieſe beiden Völker und die
Aethiopier hätten allein von jeher die Beſchneidung eingeführt
gehabt. Herodot ſagt ferner, Seſoſtris habe durch ganz Aegyp
ten ungeheure Ranäle graben laſſen , die dazu dienten , das Waſ
ſer des Nils überall hinzuverbreiten . Ueberhaupt je ſorgfältiger
die Regierung in Aegypten war, deſto mehr ſah ſie auf die Gr=
haltung der Kanäle,während bei nachläſſigen Regierungen die Wüſte
die Oberhand gewann ; denn Aegypten ſtand in dem beſtändigen
Kampf mit der Gluth der Hiße und dem Waſſer des Nils.
Aus Herodot geht hervor, daß das Land durch die Kanäle für
die Reiterei unbrauchbar geworden iſt; dagegen erſehen wir aus
den Büchern Moſis , wie berühmt Aegypten einſt in dieſer Be
ziehung geweſen iſt. Moſes ſagt, wenn die Juden einen König
verlangten , ſo ſollte dieſer nicht zu viele Frauen heirathen , und
feine Pferde aus Aegypten holen laſſen .
Dritter Abſchnitt. Perſien . - Aegypten . 247
Nach Seſoſtris ſind noch die Könige Cheops und Chephren
hervorzuheben . Dieſe haben ungeheure Pyramiden erbaut und
die Tempel der Prieſter geſchloffen ; ein Sohn des Cheops, My
kerinos , ſou ſie wieder eröffnet haben ; nach dieſem fielen die
Aethiopier ins Land , und ihr König Sabako machte ſich zum
König in Aegypten . Anyſis aber , der Nachfolger des Mykeri
nos , floh in dieMoräſte, dem Ausfluſſe des Nils zu ; erſt nach
dem Abzug der Aethiopier erſchien er wieder. Auf ihn folgte
Setho , der ein Prieſter des Phtha (den man als Hephäſtos an
ſieht) geweſen war ; unter ſeiner Regierung fiel Sanherib , Kö
nig der Aſſyrier , ins Land ein . Setho hatte die Kriegercaſte
immer mit großer Geringſchäßung behandelt, und ſie jelbſt ihrer
Aecker beraubt; als er ſie nunmehr aufrief, ſtand ſie ihm nicht
bei. Er mußte daher einen allgemeinen Aufruf an die Aegypter
erlaſſen , und brachte ein Heer aus Krämern , Handwerkern und
Marktvolk zuſammen . In der Bibel heißt es , die Feinde feven
geflohen und die Engel hätten ſie aufs Haupt geſchlagen ; aber
Herodot erzählt, die Feldmäuſe wären in der Nacht gekommen
und hätten die Köcher und Bogen der Feinde zernagt, ſo daß
dieſe , keine Waffen mehr habend , zur Flucht genöthigt wurden .
Nach dem Tode des Setho hielten ſich die Aegypter, wie Hero
dot ſagt, für frei, und erwählten ſich zwölf Könige, die in Ver
bindung mit einander ſtanden , als Zeichen für welche ſie das
Labyrinth bauten , das aus einer ungeheuern Anzahl von Zim
mern und Hallen , ſowohl über als unter der Erde, beſtand. Ei
ner dieſer Könige, Pſammitichos, vertrieb dann im Jahre 650 vor
Chr. Geb . mit Hülfe der Jonier und Karier, denen er Land im
unteren Aegypten verſprach , die eilf übrigen Könige. Aegypten
war bis dahin nach außen abgeſchloſſen geblieben ; auch zur See
hatte es keine Verbindungmit andern Völkern angeknüpft. Píam
mitich eröffnete dieſe Verbindung und bereitete dadurch Aegypten
den Untergang. Die Geſchichte wird von nun an beſtimmter,
weil ſie auf griechiſchen Berichten beruht. Auf Pſammitich folgte
248 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

Neko, welcher einen Kanal zu graben begann , der den Nil mit
dem rothen Meere verbinden ſollte, und der erſt unter Darius
Nothus ſeine Vollendung erhielt. Das Unternehmen , dasmittel
ländiſche Meer mit dem arabiſchen Meerbuſen und dem großen
Ocean zu vereinigen , iſt nicht von ſolchem Nußen , als man wohl
glauben möchte, weil in dem ohnehin ſehr ſchwer zu beſchiffenden
rothen Meere ungefähr neun Monate lang ein beſtändiger Nord
wind herrſcht, und ſomit nnr drei Monate von Süden nach Nor
den gereiſt werden kann. Auf den Nefo folgte Pſammis und auf
dieſen Apries ; lekterer führte ein Heer gegen Sidon und hatte
eine Seeſchlacht mit den Tyriern ; auch gegen Cyrene ſandte er
ein Heer , welches von den Cyrenäern faſt vernichtet wurde. Die
Aegypter empörten ſich gegen ihn , und gaben ihm Schuld , er
wolle ſie ins Verderben führen ; wahrſcheinlich war aber der Auf
ſtand durch die Begünſtigung hervorgebracht , die die Karier und
Jonier erfuhren . Amaſis ſtellte ſich an die Spiße der Em
pörer, beſiegte den König , und ſeşte ſich an deſſen Stelle auf
den Thron . Von Herodot wird er als ein humoriſtiſcher Monarch
geſchildert, der aber nicht immer die Würde des Thrones behaup
tet habe. Von einem ſehr geringen Stande hatte er ſich durch
ſeine Geſchicklichkeit , ſeine Verſchlagenheit und ſeinen Geiſt auf
den Thron geſchwungen , und den ſcharfen Verſtand, der ihm zu
Gebote ſtand , hat er nach Herodot auch bei allen ferneren Ge
legenheiten bewieſen . Des Morgens habe er zu Gericht geſeſſen
und die Klagen des Volkes angehört; des Nachmittags aber habe er
geſchmauſet und ſich einem luftigen Leben überlaſſen . Den Freuns
den , die ihm darüber Vorwürfe machten , und ihm bemerkten , daß
er ſich den ganzen Tag den Geſchäften widmen müſſe, antwortete
er : Wenn der Bogen immerfort geſpannt bleibt , ſo wird er un
tauglich werden oder zerbrechen. Als ihn die Aegypter ſeiner
niedrigen Abkunft wegen nicht ſehr hoch hielten , ließ er aus ei
nem goldenen Fußbeden ein Götterbild formen , welchem die Aes
gypter große Verehrung bewieſen ; daran zeigte er ihnen dann
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Aegypten . 249

ſein eigenes Beiſpiel. Herodot erzählt ferner , er habe als Pri


vatmann ſehr luſtig gelebt und ſein ganzes Vermögen durchgebracht,
dann aber geſtohlen . Dieſer Contraſt von gemeinem Sinn und
treffendem Verſtand iſt charakteriſtiſch an einem ägyptiſchen Könige.
Amaſis zog den Unwillen des Königs Cambyſes auf ſich .
Cyrus hatte nämlich von den Aegyptern einen Augenarzt ver
langt, denn damals ſchon waren die ägyptiſchen Augenärzte hocha
berühmt, die wegen der vielen ägyptiſchen Augenkrankheiten noth
wendig waren . Dieſer Augenarzt, um ſich dafür zu rächen , daß
man ihn außer Landes geſchickt hatte , gab dem Cambyſes den
Rath , die Tochter des Amaſis zu verlangen , wohl wiſſend, daß
Amaſis entweder unglüdlich ſeyn würde, indem er ſie gäbe, oder
den Zorn des Cambyſes auf ſich zöge, indem er ſie verweigerte.
Amaſis wollte dem Cambyſes feine Tochter nicht geben , weil ſie
dieſer zur Nebenfrau verlangte (denn die rechtmäßige Gemahlin
mußte eine Perſerin ſeyn ), ſchickte ihm aber unter dem Namen
ſeiner Tochter die des Apries , welche ſich ſpäter dem Cambyſes
entdeckte. Dieſer war über den Betrug ſo entrüſtet, daß er ge
gen Aegypten , als nach dem Tode des Amaſis Pſammenitos
herrſchte , 30g , das Land eroberte und mit dem perſiſchen Reiche
verband .
Was den ägyptiſchen Geiſt betrifft, ſo iſt hier anzuführen ,
daß die Eleer bei Herodot die Aegypter die weiſeften der Men
ſchen nennen . Auch uns überraſcht dort, neben afrikaniſcher Stu
pidität, einen reflectirenden Verſtand, eine durchaus verſtändige An
ordnung aller Einrichtungen , und die erſtaunlichſten Werke der Kunſt
zu ſehen . – Die Aegypter waren in Caften wie die Inder ge
theilt, und die Kinder übernahmen immer das Gewerbe und das
Geſchäft der Eltern . Deswegen hat ſich auch das Handwerks
mäßige und das Techniſche in den Künſten hier ſo ſehr ausgebildet,
und die Erblichkeit bewirkte bei der Art und Weiſe der Aegypter
nicht denſelben Nachtheil wie in Indien . Herodot giebt folgende
ſteben Caften an , die Prieſter , die Krieger, die Rinderhirten ,
250 Erſter Theil. Die orientaliſdhe Welt.

die Schweinehirten , die Kaufleute oder Gewerbtreibenden über


haupt , die Dollmetſcher, welche erſt ſpäter einen eigenen Stand
ausgemacht zu haben ſcheinen , endlich die Schiffsleute. Acker
baner ſind hier nicht genannt, wahrſcheinlich , weil der Ackerbau
mehrere Caſten beſchäftigte, wie z. B . die Krieger, denen eine
Portion Landes zugetheilt war. Diodor und Strabo geben dieſe
Caſtenabtheilungen verſchieden an. Es werden nur Prieſter,
Krieger, Hirten , Ackerbautreibende und Künſtler genannt, zu wel
chen leşteren denn wohl auch die Gewerbtreibenden gehören .
Herodot ſagt von den Prieſtern , daß fie vorzüglich Ackerland er
hielten , und es auf Zins bebauen ließen , denn das Land über:
haupt war im Beſiße der Prieſter , Krieger und Könige. Joſeph
war nach der heiligen Schrift Miniſter des Königs , und führte
ſein Geſchäft ſo, daß der König Herr alles Grundeigenthums
ward. Die Beſchäftigungen überhaupt aber blieben nicht ſo feſt,
wie bei den Indern , da wir die Israeliten , die urſprünglid ,
Hirten waren , auch als Handwerker gebraucht finden , und da
ein König, wie ſchon geſagt wurde, ein Heer aus lauter Hand
werkern bildete. Die Caſten ſind nicht ſtarr, ſondern im Kampf
und in Berührung mit einander : wir finden oft eine Auflöſung
und ein Widerſtreben derſelben . Die Kriegercaſte , einmal unzu
frieden , aus ihren Wohnſitzen gegen Nubien hin nicht abgelöſt 311
werden , und in Verzweiflung darüber, ihre Aeder nicht benußen
zu können , flüchtet ſich nach Meroe, und fremde Miethſoldaten
wurden ins Land gezogen .
Ueber die Lebensweiſe der Aegypter giebt uns Herudot
ſehr ausführliche Nachricht, und erzählt hauptſächlich Ales , was
ihm abweichend von den griechiſchen Sitten erſcheint. Su ģ. B .
daß die Aegypter beſondere Aerzte für beſondere Krankheiten hät
ten , daß die Weiber die Geſchäfte außer dem Hauſe beſorgten ,
die Männer aber zu Hauſe blieben und webten . In einem
Theile Aegyptens herrſchte Vielweiberei, in einem anderen Mono
gamie; die Weiber haben ein Kleid , die Männer zwei; ſie was
Dritter Abſchnitt. Perſien. — Aegypten. . 251
ſchen und baden fich viel, und purgiren monatlich. Alles dieſes
deutet auf Verſunkenheit in friedliche Zuſtände. Was die Ein
richtungen der Polizei anbetrifft, ſo war feſtgeſeßt, daß jeder Ae
gypter fich zu einer gewiſſen Zeit bei ſeinem Vorſteher melden
ſollte, und anzugeben hatte,woher er ſeinen Lebensunterhalt ziehe;
konnte er dieſes nicht , ſo wurde er mit dem Tode beſtraft; je
doch iſt dieſes Gefeß erſt ſpät in der Zeit des Amaſis gegeben .
Es wurde ferner die größte Sorgfalt bei Vertheilung des Saat
landes beobachtet , ſowie bei Anlegung von Kanälen und Däm
men ; unter Sabako , dem äthiopiſchen Könige, ſagt Herodot,
ſeyen viele Städte durch Dämme erhöht worden .
Die Gerichte wurden ſehr ſorgfältig gehalten , und beſtan
den aus dreißig von der Gemeinde ernannten Richtern , die ſich
ihren Präſidenten ſelber erwählten . Die Proceſſe wurden ſchrift
lich verhandelt und gingen bis zur Duplik. Diodor hat dieß
gegen die Beredſamkeit der Advocaten und das Mitleid der Rich
ter ſehr gut gefunden . Die Richter ſprachen ihr Urtheil auf eine
ſtumme und hieroglyphiſche Weiſe aus. Herodot ſagt, ſie hätten
das Zeichen der Wahrheit auf der Bruſt gehabt, und daſſelbe
nach der Seite hingekehrt, welcher der Sieg zugeſprochen werden
ſollte , oder auch ſie hätten es der ſiegenden Partei umgehängt.
Der König ſelbſt mußte ſich täglich mit richterlichen Geſchäften
befaſſen . Vom Diebſtahle wird gemeldet, daß er zwar verboten
geweſen ſey , doch lautete das Geſeß , die Diebe follten ſich ſelbſt
angeben . Gab der Dieb den Diebſtahl an , ſo wurde, er nicht
beſtraft, ſondern behielt vielmehr ein Viertel des Geſtohlenen ;
vielleicht ſollte dieſes die Liſt, wegen welcher die Aegypter ſo be
rühmt waren , noch mehr in Anregung und Uebung erhalten .
Die Verſtändigkeit der geſeßlichen Einrichtungen erſcheint
überwiegend bei den Aegyptern ; dieſe Verſtändigkeit, die ſich im
Praktiſchen zeigt , erkennen wir denn auch in den Erzeugniſſen
• der Kunſt und Wiſſenſchaft. Die Aegypter haben das Jahr in
zwölf Monate getheilt und jeden Monat in dreißig Tage. Am
252 Erſter Theil. Die orientaliſde Welt.
Ende des Jahres ſchalteten ſie noch 5 Tage ein , und Herodot
ſagt , fie machten es darin beſſer wie die Griechen . Wir haben
die Verſtändigkeit der Aegypter beſonders in der Mechanik zu be
wundern : die mächtigen Bauten , wie ſie kein anderes Volf aufzu=
weiſen hat, und die Alles an Feſtigkeit und an Größe übertreffen ,
beweiſen hinlänglich ihre Kunſtfertigkeit, der ſie ſich überhaupt
hingeben konnten , weil die unteren Caſten ſich um Politik nicht
bekümmerten . Diodor von Sicilien ſagt, Aegypten ſey das ein
zige Land, wo die Bürger ſich nicht um den Staat, ſondern nur
um ihre Geſchäfte bekümmerten . Griechen und Römer mußten
beſonders über ſolchen Zuſtand erſtaunt ſein .
Wegen ſeiner verſtändigen Einrichtungen iſt nun Aegypten von
den Alten als Muſter eines ſittlich geregelten Zuſtandes betrachtet
worden , in der Weiſe eines Ideals , wie Pythagoras eines in einge:
ſchränkter, außerleſener Geſellſchaftausgeführt,und Plato in mehrum
faſſender Vorſtellung aufgeſtellt hat. Aberbei ſolchen Idealen iſt auf
die Leidenſchaft nicht gerechnet. Ein Zuſtand , der als ſchlecht
hin fertig angenommen und genoſſen werden ſoll, in dem Alles
berechnet iſt, beſonders die Erziehung und Angewöhnung an ihn ,
damit er zur andern Natur werde, iſt überhaupt der Natur des
Geiſtes zuwider, der das vorhandene Leben zu ſeinem Objecte
macht, und der unendliche Trieb der Thätigkeit iſt, daſſelbe zu
verändern . Dieſer Trieb hat ſich auch in Aegypten auf eine ei
genthümliche Weiſe geäußert. Es ſcheint zwar zunächſt dieſer
geordnete, in allen Particularitäten beſtimmte, Zuſtand nichts für
ſich ſchlechthin Eigenthümliches zu enthalten ; die Religion ſcheint
auf dieſe oder jene Weiſe hinzukommen zu können , damit auch
das höhere Bedürfniß des Menſchen befriedigt werde, und zwar
auf eine gleichfalls ruhige und jener ſittlichen Ordnung angemeſ
ſene Weiſe. Aber wenn wir nun die Religion der Aegypter
betrachten , ſo werden wir überraſcht durch die ſonderbarſten wie
wundervollſten Erſcheinungen , und erkennen , daß jene ruhige ·
polizeilich regulirte Ordnung nicht eine chineſiſche iſt, und daß
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Aegypten . 233

wir es hier mit einem ganz anders in ſich bewegten Trieb - umd
drangvollen Geiſte zu thun haben . — Wir haben hier das afri
kaniſche Element zugleich mit der orientaliſchen Gediegenheit an
das mittelländiſche Meer, das Local der Völker-Ausſtellung, ver :
ſept; und zwar ſo , daß hier keine Verwickelung mit Auswärti
gem vorhanden iſt, indem dieſe Weiſe von Erregung ſich als über
flüſſig zeigt; denn es iſt hier ein ungeheures drängendes Streben
auf ſich ſelbſt gerichtet, das innerhalb ſeines Kreiſes in die Db
jectivirung ſeiner ſelbſt durch die ungeheuerſten Productionen aus
ſchlägt. Dieſe afrikaniſche Gedrungenheit mit dem unendlichen
Drang der Objectivirung in ſich iſt, was wir hier finden . Noch
aber iſt wie ein eiſernes Band um die Stirne des Geiſtes ge
wunden , daß er nicht zum freien Selbſtbewußtſeyn ſeines Weſens
im Gedanken kommen kann, ſondern dieß nur als die Aufgabe, als
das Räthſel ſeiner ſelbſt herausgebiert. –
Die Grundanſchauung deſſen , was den Aegyptern als das
Weſen gilt, ruht auf der natürlich beſchloſſenen Welt, in der ſie
leben und näher auf dem geſchloſſenen phyſiſchen Naturkreis,
welchen der Nil mit der Sonne beſtimmt. Beides iſt Ein Zu
ſammenhang, der Stand der Sonne mit dem Stand des Nils ;
dieß iſt dem Aegypter Alles in Aűem . Der Nil iſt die Grund
beſtimmung des Landes überhaupt; außerhalb des Nilthals be
ginnt die Wüſte ; gegen Norden wird es vom Meer und im
Süden von Gluthhiße eingeſchloſſen . Der erſte arabiſche Feld
herr, welcher Aegypten eroberte , ſchreibt an den Kalifen Omar:
Aegypten iſt zuerſt ein ungeheures Staubmeer, dann ein ſüßes
Waſſermeer, und zulegt ein großes Blumenmeer ;, es regnet daſelbſt
nie ; gegen Ende Juli fält Thau , und dann fängt der Nil zu
überſchwemmen an und Aegypten gleicht einem Inſelmeer. (Hes
rodot vergleicht Aegypten in dieſem Zeitraum mit den Inſeln im
ägeiſchen Meere.) Der Nil läßt eine unendliche Menge von Ge
thier zurüc : es iſt dann ein unermeßliches Gerege und Gefrieche ;
bald darauf fängt der Menſch zu fäen an , und die Erndte iſt
254 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

alsdann ſehr ergiebig. Die Eriſtenz des Aegypters hängt alſo


nicht von der Sonnenhelle oder vom Regen ab , ſondern es find
für ihn nur dieſe ganz einfachen Bedingungen , welche die Grund
lage der Lebensweiſe und Lebensthätigkeit bilden . Es iſt ein ge
ſchloſſener phyſiſcher Verlauf, den der Nil annimmt und der mit
dem Lauf der Sonne zuſammenhängt: dieſe geht auf , tritt auf
ihre Höhe und weicht dann wieder zurück. So auch der Nil.
Dieſe Grundlage des Lebens der Aegypter macht auch den
beſtimmten Inhalt ihrer Religion aus . Es iſt ein alter Streit
über den Sinn und die Bedeutung der ägyptiſchen Religion.
Schon der Stoiker Chäremon , zu Tibers Zeiten , der in Agyp
ten geweſen , hat fie bloß materialiſtiſch erklärt; den Gegenſaß
davon bilden die Neu -Platoniker, welche Alles als Symbole ei
ner geiſtigen Bedeutung nahmen , und ſo dieſe Religion zu einem
reinen Idealismus machten . Jede dieſer Vorſtellungen für ſich
iſt einſeitig . Die natürlichen und geiſtigen Mächte ſind aufs
engſte verbunden angeſchaut, aber noch nicht ſo , daß die freie,
geiſtige Bedeutung hervorgetreten wäre, fondern auf die Weiſe,
daß die Gegenſäße im härteſten Widerſpruche zuſammengebunden
waren. Wir haben von dem Nil, von der Sonne und von der
davon abhängenden Vegetation geſprochen . Dieſe particulariſirte
Naturanſchauung giebt das Princip für die Religion , und der
Inhalt derſelben iſt zuvörderſt eine Geſchichte. Der Nil und die
Sonne ſind die als menſchlich vorgeſtellten Gottheiten , und der
natürliche Verlauf und die göttliche Geſchichte iſt daſſelbige. Im
Winterſolſtitium hat die Kraft der Sonne am meiſten abgenom
men und muß aufs neue geboren werden . So erſcheint auch
Dſiris als geboren , wird aber vom Typhon , vom Bruder und
Feinde, dem Gluthwind der Wüſte, getödtet. Iſis , die Erde, der
die Kraft der Sonne und des Nils entzogen iſt, ſehnt ſich nach
ihm ; ſte ſammelt die zerſtückelten Gebeine des Oſiris und klagt
um ihn, und ganz Aegypten beweint mit ihr den Tod des Dſiris
durch einen Geſang, den Herodot Maneros heißt: Maneros,
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Aegypten. . *** 255
ſagt er, ſer der einzige Sohn des erſten Königs der Aegypter
geweſen und frühzeitig geſtorben ; der Geſang ſey ganz wie der
Linosgeſang der Griechen, und das einzige Lied , welches die Ae
gypter haben . Es wird hier wieder der Schmerz als etwas
Göttliches angeſehen , und es widerfährt ihm hier dieſelbige Ehre,
welche ihin bei den Phöniciern angethan wird. Hermes balſa
mirt dann den Oſiris ein , und an verſchiedenen Orten wird das
Grab deſſelben aufgezeigt. Oſiris iſt jeßt Todtenrichter und Herr
des Reiches der Unſichtbaren . Dieß ſind die Grundvorſtellungen .
Oſiris, die Sonne, der Nil, dieſes Dreifache iſt in einem Knoten
vereinigt. Die Sonne iſt das Symbol, in dem Dſiris und die
Geſchichte des Gottes gewußt wird , und ebenſo iſt der Nil die
fes Symbol. Die concrete ägyptiſche Einbildungskraft ſchreibt
Ferner dem Oſiris und der Iſis die Einführung des Ackerbaues,
die Erfindung des Pfluges , des Karſtes u . f. f. zu ; denn Dſiris
giebt nicht nur das Nüßliche, die Befruchtung der Erde, ſondern
auch die Mittel zur Benußung. Aber er giebt den Menſchen
auch Gefeße, eine bürgerliche Ordnung und den Gottesdienſt; er
legt alſo die Mittel zur Arbeit den Menſchen in die Hand und
ſichert dieſelbe. Dſiris iſt auch das Bild der Saat, die in die
Erde gelegt wird , und dann aufgeht , wie das Bild des Ver
laufs des Lebens. So iſt dieſes Heterogene, die Naturerſchei
nung und das Geiſtige , in Einen Knoten verwebt.
Die Zuſammenſtellung des menſchlichen Lebenslaufes mit
dem Nil , der Sonne, dem Oſiris iſt nicht etwa als Gleichniſ
aufzufaſſen , als ob das Geborenwerden , das Zunehmen der Kraft,
die höchſte Kräftigkeit und Fruchtbarkeit, die Abnahme und
Schwäche fich in dieſem Verſchiedenen auf gleiche oder ähnliche
Weiſe darſtelle, ſondern die Phantaſie hat in dieſem Verſchiedes
nen Ein Subject, Eine Lebendigkeit geſehen ; dieſe Einheit iſt
jedoch ganz abſtract: das Heterogene geigt ſich darin als drän
gend und treibend, und in einer Unklarheit, die von der griechi
ſchen Klarheit ſehr abſticht. Dſiris ſtellt den Nil vor und die
256 Erſter Theil. Die orientaliſde Welt.

Sonne: Sonne und Nil wieder ſind Symbole des menſchlichen


Lebens , jedes iſt Bedeutung , jedes Symbol , das Symbol ver
kehrt ſich zur Bedeutung und dieſe iſt Symbol des Symbols ,
das Bedeutung wird . Reine Beſtimmung iſt Bild ohne nicht
zugleich Bedeutung zu ſeyn , jede iſt jedes : aus einer erflärt ſich die
andere. Es entſteht ſo Eine reiche Vorſtellung , die aus vielen
Vorſtellungen zuſammengeknüpft iſt, worin die Individualität
der Grundknoten bleibt, und nicht in das Augemeine aufgelöft
wird. Die allgemeine Vorſtellung oder der Gedanke ſelbſt, der
das Band der Analogie ausmacht, tritt nicht als Gedanke für
das Bewußtſeyn frei heraus ; ſondern bleibt verſteckt als innerer
Zuſammenhang. Es iſt eine feſtgebundene Individualität, welche
unterſchiedene Weiſen der Erſcheinung zuſammenhält, und zwar
einerſeits phantaſtiſch iſt,wegen des Zuſammenhalts disparat er
fcheinenden Inhalts, aber anderſeits innerlich der Sache nach zu
ſammenhängend, weil dieſe verſchiedenen Erſcheinungen ein parti
cularer proſaiſcher Inhalt der Wirklichkeit ſind.
Außer dieſer Grundvorſtellung nun finden wir mehrere be
ſondere Götter , von denen Herodot drei Clafſen zählt. In der
erſten nennt er acht Götter, in der zweiten zwölf, in der dritten
unbeſtimmt viele, welche ſich zu der Einheit des Oſiris als Be:
ſonderheiten verhalten . In der erſten Claſſe kommt das Feuer
und deſſen Benußung vor als Phtha, ſowie Knef, welcher auch
als der gute Dämon vorgeſtellt wird ; aber der Nil ſelbſt gilt
als dieſer Dämon, und ſo verkehren ſich die Abſtractionen zu den
concreten Vorſtellungen . Eine große Gottheit iſt der Ammon ,
worin die Beſtimmung der Tag- und Nachtgleiche liegt; er iſt
dann auch der Drakel gebende. Aber Oſiris wird ebenſo wieder
als der Gründer des Orakels angeführt. So iſt die Zeugungs
fraft , von Dſiris vertrieben , als beſonderer Gott darſtellt.
Dſiris iſt aber ebenſo felbſt dieſe Zeugungskraft. Die Iſis iſt
die Erde, der Mond, das Befruchtetwerden der Natur. Als ein
wichtiges Moment des Oſiris iſt der Anubis. ( Thoth ) , der
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Aegypten. 237
ägyptiſche Hermes herauszuheben . In der menſhlichen Tha
tigkeit und Erfindung und in der geſeblichen Ordnung erhält das
Geiſtige als ſolches eine Eriſtenz, und wird in dieſer ſelbſt bes
ſtimmten und beſchränkten Weiſe Gegenſtand des Bewußtſeyno.
Es iſt dieß das Geiſtige nicht als Eine unendliche, freie Herr
ſchaft der Natur , ſondern als ein Beſonderes neben den Natur
gewalten und ein Beſonderes auch nach ſeinem Inhalte. So
haben denn die Aegypter auch Götter gehabt, als geiſtige Thä
tigkeiten und Wirkſamkeiten , aber dieſe theils ſelbſt beſchränkt
ihrem Inhalte nach , theils angeſchaut in natürlichen Symbolen . —
Als Seite der göttlichen Geiſtigkeit iſt der ägyptiſche Hermes
Lerühmt. Nach Jamblich haben die ägyptiſchen Prieſter allen
ihren Erfindungen von Alters her den Namen Hermes vorge
feßt; daher hat Eratoſthenes fein Buch , welches von der ge
fammten ägyptiſchen Wiſſenſchaft handelte, Hermes betitelt.
Anubis wird Freund und Begleiter des Dſiris genannt. Ihm
wird die Erfindung der Schrift , dann der Wiſſenſchaft überhaupt,
der Grammatik , Aſtronomie , Meßkunſt, Muſik , Medizin zuges
ſchrieben ; er hat zuerſt den Tag in zwölf Stunden eingetheilt;
er iſt ferner der erſte Gefeßgeber, der erſte Lehrer der Religions
gebräuche und Heiligthümer , der Gymnaſtik und Drcheſtik; er
hat den Delbaum entdeckt. Aber ungeachtet aller dieſer geiſtigen
Attribute, iſt dieſe Gottheit etwas ganz Anderes , als der Gott
des Gedankens : es ſind nur die beſonderen menſchlichen Künſte
und Erfindungen in ihr zuſammengefaßt; ferner iſt dieſer Gott
wieder ganz mit Natureriſtenz verbunden , und in Naturſymbole
herabgezogen : er iſt mit dem Hundskopf vorgeſtellt, als ein ver
thierter Gott, und außer dieſer Maske iſt ebenſo eine Natur
eriſtenz in ihn hineingedacht, denn er iſt zugleich der Sirius , der
Hundsſtern . Er iſt alſo ebenſo beſchränkt nach ſeinem Inhalte,
als finnlich nach ſeinem Daſeyn. -- Es kann gelegentlich gleich
bemerkt werden , daß, wie die Ideen und das Natürliche hier nicht
auseinanderkommen , ebenſo die Künſte und Geſchicklichkeiten des
Philoſophie B. Geſchichte 3te Aufl. 17
258 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
menſchlichen Lebens fich nicht zu einem verſtändigen Kreis von
Zwecken und Mitteln geſtalten und beſtimmen . So iſt die Me
dizin , das Berathen über körperliche Krankheit, wie überhaupt
der Kreis des Berathens und Beſchließens über Unternehmungen
im Leben , dem mannigfaltigſten Aberglauben von Drakeln und
magiſchen Künſten unterworfen geweſen . Die Aſtronomie war
zugleich weſentlich Aſtrologie, nnd die Medizin magiſch und vor
nehmlich aſtrologiſch. Aller aſtrologiſcher und fympathetiſcher
Aberglaube ſchreibt ſich aus Aegypten her.
Der Cultus iſt vornehmlich Thierdienſt. Wir haben die
Verbindung des Geiſtigen und Natürlichen geſehen : das Weitere
und Höhere iſt, daß die Aegypter, ſowie fie im Nil, in der
Sonne, in der Saat die geiſtige Anſchauung gehabt haben , ſie
ſo auch in dem Thierleben befißen . Für uns iſt der Thierdienſt
widrig ; wir können uns an die Anbetung des Himmels gewöh
nen , aber die Verehrung der Thiere iſt uns fremd, denn die Ab
ſtraction des Naturelements erſcheint uns allgemeiner , und daher
verehrlicher. Dennoch iſt es gewiß , daß die Völker, welche die
Sonne und die Geſtirne verehrt haben , auf keine Weiſe höher
zu achten ſind, als die, welche das Thier anbeten , ſondern um
gekehrt, denn die Aegypter haben in der Thierwelt das Innere
und Unbegreifliche angeſchaut. Auch uns, wenn wir das Leben
und Thun der Thiere betrachten , feßt ihr Inſtinct , ihre zweck
mäßige Thätigkeit, Unruhe, Beweglichkeit und Lebhaftigkeit in
Verwunderung ; denn ſie ſind höchſt regſam und ſehr geſcheut für
ihre Lebenszwecke und zugleich ſtumm und verſchloſſen . Man
weiß nicht, was in dieſen Beſtien ſteckt und kann ihnen nicht
trauen . Ein ſchwarzer Kater mit ſeinen glühenden Augen und
bald ſchleichender Bewegung, bald raſchen Sprüngen galt ſonſt als
die Gegenwart eines böſens Weſens, als ein unverſtandenes fich
verſchließendes Geſpenſt; dagegen der Hund,der Kanarienvogel als
ein freundlich ſympathiſirendes Leben erſcheint. Die Thiere ſind
in der That das Unbegreifliche : 18 kann ſich ein Menſch nicht
Dritter Abſchnitt. Perſien. — Aegypten. 259
in eine Hundsnatur, ſo viel er ſonſt Aehnlichkeit mit ihr haben
möchte,hineinphantaſiren oder vorſtellen ; ſie bleibt ihm ein ſchlecht
hin Fremdartiges . — Es iſt auf zwei Wegen , daß dem Menſchen
das ſogenannte Unbegreifliche begegnet, in der lebendigen Natur
und im Geiſte. Aber nur in der Natur iſt es in Wahrheit,
daß der Menſch das Unbegreifliche anzutreffen hat; denn der
Geiſt iſt eben dieß , ſich ſelbſt offenbar zu ſeyn , der Geiſt ver
ſteht und begreift den Geiſt. – Das dumpfe Selbſtbewußtſeyn
der Aegypter alſo , dem der Gedanke der menſchlichen Freiheit
noch verſchloſſen bleibt, verehrt die noch in das bloße Leben ein
geſchloſſene, verðumpfte Seele und ſympathiſirt mit dem Thierleben .
Die Verehrung der bloßen Lebendigkeit finden wir auch bei an
deren Nationen , theils ausdrücklich wie bei den Indern und
bei allen Mongolen , theils in Spuren , wie bei den Juden :
„ Du ſollſt das Blut der Thiere nicht eſſen , denn in ihm iſt das
Leben des Thiers ." Auch die Griechen und Römer haben in
den Vögeln die Wiſſenden geſehn , in dem Glauben , daß , was
dem Menſchen im Geiſte nicht aufgeſchloſſen , das Unbegreifliche
und Höhere , in ihnen vorhanden ſey . Aber bei den Aegyptern
iſt dieſe Verehrung der Thiere allerdings bis zum ſtumpfeſten und
unmenſchlichſten Aberglauben fortgegangen. Die Verehrung der
Thiere war bei ihnen durchaus etwas Particulariſirtes : jeder
Bezirk hatte ſein eigenes Thier , die Kaße , den Ibis , das Kro
kodil u . 1. w . ; große Stiftungen waren für dieſelben eingerichtet,
man gab ihnen ſchöne Weibchen , und ſie wurden , wie die Men
ſchen , nach dem Tode einbalſamirt. Die Stiere wurden begraben ,
aber ſo , daß die Hörner aus den Gräbern herausſchauten . Der
Apis hatte prächtige Grabmäler , und einige Pyramiden find als
ſolche zu betrachten ; in einer der geöffneten Pyramiden fand man
im mittelſten Gemach einen ſchönen alabaſternen Sarg ; bei nä
herer Unterſuchung fand es fich, daß die eingeſchloſſenen Gebeine
Ochſenknochen waren . Dieſe Anbetung der Thiere iſt oft zur
ſtumpfſinnigſten Härte übergegangen . Wenn ein Menſch ein
17 *
260 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
Thier abſichtlich tödtete , ſo wurde er mit dem Tode beſtraft , aber
ſelbſt eine unabſichtliche Tödtung gewiſſer Thiere konnte den Tod
nach ſich ziehen . Es wird erzählt, daß als einſt ein Römer in
Alerandrien eine Kaße todtſchlug, darauf ein Aufſtand erfolgte,
in dem die Aegypter jenen Römer ermordeten. So ließ man
Menſchen bei einer Hungersnoth lieber umkommen , als daß man
die heiligen Thiere getödtet oder ihre Vorräthe angegriffen hätte.
Noch mehr als die bloße Lebendigkeit wurde dann die allgemeine
Lebenskraft der erzeugenden Natur verehrt, in einem Phalus
dienſt, den die Griechen auch in ihren Dienſt des Dionyſos mit
aufgenommen haben . Mit dieſem Dienſt waren die größten
Ausſchweifungen verbunden .
Ferner wird nun auch die Thiergeſtalt wieder zum Symbol
verkehrt, zum Theil auch zum bloßen Zeichen hieroglyphiſch herab
geſeßt. Ich erinnere hier an die unzählige Menge von Figuren
auf den ägyptiſchen Denkmälern , von Sperbern oder Falken ,
Roßkäfern , Skarabäen u . f. f. Man weiß nicht , von welchen
Vorſtellungen ſolche Figuren die Symbole geweſen ſind, und darf
auch nicht glauben , daß man es in dieſer von Hauſe aus trüben
Sache zur Klarheit bringen könne. So z. B . fou der Miſtfäfer
das Symbol der Zeugung, der Sonne und des Sonnenlaufs
ſeyn , der Ibis das Symbol der Nilfluth , der Geier das der
Weiſſagung, des Jahres , der Erbarmung. Das Seltſame dieſer
Verknüpfungen kommt daher, daß nicht, wie wir uns das Dichten
vorſtellen , eine allgemeine Vorſtellung in ein Bild übertragen
wird , ſondern umgekehrt wird von der finnlichen Anſchauung an
gefangen und ſich in dieſelbe hinein imaginirt.
Weiter aber ſehen wir auch die Vorſtellung aus der un
mittelbaren Thiergeſtalt und dem Verweilen bei ihrer Anſchauung
ſich herauswinden , und das in ihr nur Geahnte und Geſuchte
ſich zur Begreiflichkeit und Faßlichkeit hervorwagen . Das Ver
ſchloſſene, das Geiſtige bricht als menſchliches Geſicht aus dem
Thierweſen heraus. Die vielfach geſtalteten Sphinre, Löwenleiber
Dritter Abſchnitt. Perſien. – Aegypten . 261

mit Jungfrauenköpfen ,oder auch als Mannſphinre (åvdpoopiyyes)


mit Bärten , ſind es eben , die uns dieß darſtellen , daß die Bes
deutung des Geiſtigen die zu löſende Aufgabe iſt; wie das Räthſel
überhaupt nicht das Sprechen von einem Unbekannten , ſondern
die Forderung iſt, es herauszubringen , das Wollen , daß es fich
offenbaren ſolle. — Umgekehrt iſt aber die Menſchengeſtalt auch
wieder verunſtaltet durch das Thiergeſicht , um ſie zu einem be
ſtimmten Ausdruc zu particulariſiren . Die ſchöne Kunſt der
Griechen weiß den beſonderen Ausdrud durch den geiſtigen Cha
rakter in der Form der Schönheit zu erreichen , und braucht
nicht das menſchliche Antliß zum Behufe des Verſtehens zu ver
unſtalten. Die Aegypter haben ſelbſt auch den menſchlichen Ge
ſtaltungen der Götter die Erklärung durch Thierköpfe und Thier
masken hinzugefügt; der Anubis 3. B . hat einen Hundskopf,
die Iſis den Löwenkopf mit Stierhörnern u . ſ. f. Auch die
Prieſter ſind bei ihren Functionen in Falken , Schakals , Stieren
u . f. f. maskirt; ebenſo der Chirurg , der dem Todten die Ein
geweide herausgenommen (als fliehend vorgeſtellt , denn er hat
fich am lebendigen verſündigt), ſowie die Einbalſamirer, die
Schreiber. Der Sperber mit Menſchenfopf und ausgebreiteten
Flügeln bedeutet die Seele, welche die ſinnlichen Räume durch
fliegt, um einen neuen Körper zu beſeelen. – Auch ſchuf die
ägyptiſche Einbildungskraft wieder Gebilde aus der Zuſammen
feßung von verſchiedenen Thieren : Schlangen mit Stier- und
Widderköpfen, Löwenleiber mit Widdertöpfen u . f. f.
Wir ſehen ſo Aegypten in gedrungener, verſchloſſener Natur
anſchauung verðumpft, dieſe auch durchbrechen , ſie zum Wider
ſpruch in fich treiben , und die Aufgabe deſſelben aufſtellen . Das
Princip bleibt nicht im Unmittelbaren ſtehen , ſondern deutet auf
den anderen Sinn und Geiſt, der im Innern verborgen liegt.
In dem Bisherigen haben wir den ägyptiſchen Geiſt ſich
aus den Naturgebilden herausarbeiten geſehen. Dieſer Hartdrän
gende, gewaltige Geiſt hat aber nicht bei dem ſubjectiven Vor
262 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

ſtellen des Inhalts ,den wir bisher betrachtet haben , ſtehen bleiben
können , ſondern er hat ſich auch zum äußeren Bewußtſeyn und
zur äußeren Anſchauung durch die Kunſt bringen müſſen . -
Für die Religion des ewig Einen , Geſtaltloſen iſt die Kunſt
nicht nur ein Ungenügendes , ſondern , weil ſie weſentlich und aus
ſchließend ihren Gegenſtand im Gedanken hat, ein Sündliches .
Aber der Geiſt, der in der Anſchauung der particularen Natür
lichkeit ſteht , und darin ein drängender und bildender Geiſt iſt,
verkehrt ſich die unmittelbare , natürliche Anſchauung 8. B . des
Nils , der Sonne u.f. f. zu Gebilden , an denen der Geiſt Theil
hat; er iſt, wie wir geſehen haben , der ſymboliſtrende Geiſt, und,
indem er dieß iſt, drängt er danach , ſich dieſer Symboliſtrungen
zu bemächtigen , und ſie vor fich zu bringen . Je mehr er ſich
ſelbſt räthſelhaft und dunkel iſt, deſto mehr hat er den Drang in
fich zu arbeiten , aus der Beklommenheit heraus ſich zur gegen
ſtändlichen Vorſtellung zu befreien .
Es iſt das Ausgezeichnete des ägyptiſchen Geiſtes , daß er
als dieſer ungeheure Werkmeiſter vor uns ſteht. Es iſt nicht
Pracht, noch Spiel , noch Vergnügen u . f. f., was er ſucht,
ſondern es iſt der Drang fich zu verſtehen , der ihn treibt , und
er hat kein anderes Material und Boden , ſich über das zu be
lehren , was er iſt, und ſich für ſich zu verwirklichen , als dieſes
Hineinarbeiten in den Stein , und was er in den Stein hinein
ſchreibt, ſind ſeine Räthſel, dieſe Hieroglyphen . Die Hierogly
phen ſind zweierlei , die eigentlichen , die mehr die Beſtimmung
für die Neußerung in der Sprache und die Beziehung auf die
ſubjective Vorſtellung haben ; die anderen Hieroglyphen ſind dieſe
ungeheuern Maſſen von Werken der Architectur und Sculptur,
womit Aegypten bedeckt iſt. Wenn bei anderen Völkern die Ge
ſchichte aus einer Reihe von Begebenheiten beſteht, wie z. B .
die Römer in mehreren Jahrhunderten nur dem Zweck der Erobe
rung gelebt, und das Werk der Unterwerfung der Völker vor
fich gebracht haben , ſo ſind es die Aegypter , die ein ebenſo
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Aegypten. 263
mächtiges Reich von Thaten in Kunſtwerken ausgeführt haben ,
deren Trümmer ihre Unzerſtörbarkeit beweiſen , und größer und er
ſtaunenswürdiger find , als alle Werke der ſonſtigen alten und
der neuen Zeit.
Ich will von dieſen Werfen keine anderen erwähnen , als
die den Todten gewidmeten , welche unſere Aufmerkſamkeit vor
nehmlich auf ſich ziehen . Es ſind dieß die ungeheuren Aushöh
lungen in den Hügeln längs dem Nil bei Theben , welche in
Gängen und Kammern ganz mit Mumien angefüllt ſind, unters
irdiſche Behauſungen , ſo groß als die größten Bergwerke neuerer
Zeit; dann das große Todtenfeld in der Ebene bei Sais mit
Mauern und Gewölben ; ferner die Wunder der Welt , die Py
ramiden , deren Beſtimmung erſt in neueren Zeiten , obgleich von
Herodot und Diodor fchon angegeben , förmlich wieder beſtätigt
worden iſt , daß nämlich dieſe ungeheuren Cryſtalle , in geometris
ſcher Regelmäßigkeit, Leichen einſchließen ; endlich das Staunens
würdigſte, die Königsgräber, deren eines in neuerer Zeit Belzoni
aufgeſchloſſen hat.
Es iſt weſentlich zu ſehen , welche Bedeutung dieſes Todtent
reich für den Aegypter gehabt hat; es iſt daraus zu erkennen ,
welche Vorſtellung fich derſelbe vom Menſchen gemacht hat.
Denn im Todten ſtellt ſich der Menſch den Menſchen vor, als
entfleidet von aller Zufälligkeit, nur nach ſeinem Weſen . Wie
ein Volk aber ſich den weſentlichen Menſchen vorſtellt, ſo iſt es
ſelbſt, ſo iſt ſein Charakter. -
Vor's Erſte iſt hier das Wunderbare, das uns Herodot er
zählt , anzuführen , daß nämlich die Aegypter die erſten geweſen
ſeyen , welche den Gedanken ausgeſprochen , daß die Seele des
Menſchen unſterblich fey . Dieß aber, daß die Seele unſterb
lich iſt, ſoll heißen : ſte iſt ein Anderes als die Natur, der Geiſt
iſt ſelbſtſtändig für ſich . Das Höchſte bei den Indern war das
Uebergehen in die abſtracte Einheit, in das Nichts ; hingegen iſt
das Subject, wenn es frei iſt, unendlich in fich : das Reich des
264 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.

freien Geiſtes iſt dann das Reich des Unſichtbaren , wie bei
den Griechen der Hades. Dieſes ſtellt ſich den Menſchen zu
nächſt als das Reich der Verſtorbenheit , den Aegyptern als das
Todtenreich dar.
Die Vorſtellung , daß der Geiſt unſterblich iſt , enthält dieß ,
daß das menſchliche Individuum einen unendlichen Werth in
ſich hat. Das bloß Natürliche erſcheint vereinzelt, iſt ſchlechthin
abhängig von Anderem und hat ſeine Eriſtenz in Anderem : mit
der Unſterblichkeit aber iſt es ausgeſprochen , daß der Geiſt in
ſich ſelbſt unendlich iſt. Dieſe Vorſtellung wird zuerſt bei den
Aegyptern gefunden . Wir müſſen aber hinzufügen , daß die Seele
von den Aegyptern nur vorerſt als ein Atom 8 . h . als ein con
cret Particulariſirtes gewußt wurde. Denn es knüpft ſich ſofort
die Vorſtellung der Metempſychoſe daran an , die Vorſtellung,
daß diemenſchliche Seele auch einem Thierförper inwohnen könne.
Ariſtoteles ſpricht auch von jener Vorſtellung , und thut fie mit
wenigen Worten ab. Jedes Subject , ſagt er , habe ſeine eigen
thümlichen Organe für ſeine Thätigkeit : ſo der Schmidt, der
Zimmermann für ſein Handwerk; ebenſo habe auch die menſch
liche Seele ihre eigenthümlichen Organe, und ein thieriſcher Leib
könne nicht der ihrige ſeyn. Pythagoras hat die Seelenwandes
rung in ſeine Lehre mit aufgenommen ; ſie hat aber wenig Bei
fall bei den Griechen , die ſich an das Concrete hielten , finden
können . Die Inder haben nicht minder eine trübe Vorſtellung
davon, indem das Leşte der Nebergang in die allgemeine Sub
ſtanz ift. Bei den Aegyptern iſt aber wenigſtens die Seele, der
Geift ein Affirmatives , wenn auch abſtract Affirmatives. Die
Periode der Wanderung war auf dreitauſend Jahre beſtimmt;
fie fagen jedoch : eine Seele, die dem Dſiris treu geblieben , ſey
einer ſolchen Degradation (denn dafür halten ſie es ) nicht unters
worfen .
Es iſt bekannt , daß die Aegypter ihre Todten einbalſamir
ten , und ihnen dadurch eine ſolche Dauer gaben , daß fie fich
Dritter Abſchnitt. Perſien . — Aegypten . 265

bis zum heutigen Tage erhalten haben und noch mehrere Jahr
tauſende ſo beſtehen fönnen . Dieß nun ſcheint ihrer Vorſtellung
von der Unſterblichkeit nicht entſprechend zu ſeyn , denn wenn die
Seele für ſich beſteht, ſo iſt die Erhaltung des Körpers etwas
Gleichgültiges. Dagegen nun fann man wiederum ſagen , daß,
wenn die Seele als fortdauernd gewußt wird , dem Körper , als
ihrem alten Wohnſiße , Ehre erwieſen werden müſſe. Die Parſen
ſeßen die Körper der Todten an freie Orte, damit ſie von den
Vögeln verzehrt werden : bei ihnen wird aber die Seele als ins
Allgemeine zerfließend vorgeſtellt. Wo ſte fortdauert , da muß
gleichſam auch der Körper als dieſer Fortdauer angehörig bes
trachtet werden . Bei uns iſt freilich die IInſterblichkeit der Seele
das Höhere : der Geiſt iſt an und für ſich ewig , ſeine Beſtim
mung iſt die ewige Seligkeit. – Die Aegypter machten ihre
Todten zu Mumien ; damit find denn die Todten abgefertigt,
und es wird ihnen weiter keine Verehrung bewieſen . Herodot
erzählt von den Aegyptern , daß bei dem Tode eines Menſchen
die Weiber heulend umherlaufen , aber die Vorſtellung einer Un
ſterblichkeit, wie bei uns , kommt nicht als Troft hervor.
Aus dem , was früher über die Werke für die Todten ges
ſagt worden , ſteht man , daß die Aegypter , beſonders aber ihre
Könige, fich's zum Geſchäft des Lebens gemacht haben , ſich ihr
Grab zu bauen und ihrem Körper eine bleibende Stätte zu geben .
Merkwürdig iſt es, daß dem Todten das, was er für die Ge
ſchäfte ſeines Lebens nöthig hatte , mitgegeben wurde: ſo dem
Handwerker z. B . ſeine Inſtrumente ; Gemälde auf dem Sarge
ſtellen das Geſchäft dar , dem ſich der Todte gewidmet hatte, ſo
daß man dieſen in der ganzen Particularität ſeines Standes und
ſeiner Beſchäftigung kennen lernt. Man hat ferner vieleMumien
mit einer Papyrusrolle unter dem Arme gefunden , und dieſes
wurde früher als ein beſonderer Schaß angeſehen. Dieſe Rol
len enthalten aber nur vielfache Darſtellungen von Geſchäften des
Lebens , auch mitunter Schriften , die in der Demotiſchen Sprache
266 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
verfaßt ſind; man hat ſie entziffert und dann gefunden , daß es
ſämmtlich Kaufbriefe über Grundſtücke und dergleichen ſind,
worin Alles auf das Genaueſte angegeben iſt, ſelbſt die Abgaben
bei der Kanzlei, die dabei entrichtet werden mußten . Was alſo
ein Individuum in ſeinem Leben erkauft hat , das wird ihm bei
ſeinem Tode in einer Urkunde mitgegeben . Auf dieſe monumen
tale Weiſe ſind wir in den Stand geſeßt , das Privatleben der
Aegypter , wie das der Römer durch die Ruinen von Pompeji
und Herculanum , kennen zu lernen .
Nach dem Tode eines Aegypters wurde über ihn Gericht
gehalten . – Eine Hauptdarſtellung auf Särgen iſt das Gericht
im Todtenreich : Dſtris, hinter ihm Iſis, wird mit der Wage
dargeſtellt, während vor ihm die Seele des Verſtorbenen ſteht.
Aber das Todtengericht wurde von den Lebenden ſelbſt beſtellt,
und nicht bloß bei Privatperſonen , ſondern ſogar bei Königen .
Man hat ein Königsgrab entdeckt, ſehr groß und ſorgfältig ein
gerichtet: in den Hieroglyphen iſt der Name der Hauptperſon
ausgelöſcht, in den Basreliefs und den Gemälden die Haupt
figur ausgemerzt , und man hat dieß ebenſo erklärt, daß dem
Könige im Todtengerichte die Ehre abgeſprochen worden iſt, auf
dieſe Weiſe verewigt zu werden .
Wenn der Tod die Aegypter im Leben ſo ſehr beläftigte,
ſo könnte man glauben , daß ihre Stimmung traurig geweſen
ſey . Aber der Gedanke an den Tod hat keineswegs Trauer
unter fie verbreitet. Bei Gaſtmahlen hatten ſie Abbildungen von
Todten , wie Herodot erzählt , mit der Ermahnung : iß und trink,
ein ſolcher wirſt du werden , wenn du todt biſt. Der Tod war
alſo für ſte vielmehr eine Aufforderung das Leben zu genießen . —
Dſtris felbſt ſtirbt und geht in das Todtenreich hinab , nach der
früher erwähnten ägyptiſchen Mythe; an mehreren Orten in Ae
gypten wurde das heilige Grab des Oſiris gezeigt. Er wurde
dann aber auch als Vorſteher des Reichs des Unſichtbaren und
als Todtenrichter in demſelben vorgeſtellt; ſpäter trat Serapis in
Dritter Abſchnitt. Perſien . – Aegypten . 267
dieſer Function an feine Stelle. Von Anubis-Hermes ſagt die
Mythe, daß er den leichnam des Dſtris einbalſamirt habe;
dieſer Anubis iſt dann auch als Seelenführer der Todten be
fchäftigt, und auf den bildlichen Darſtellungen ſteht er , mit der
Schreibtafel in der Hand, dem Todtenrichter Dfiris zur Seite.
Die Aufnahme der Verſtorbenen in das Neich des Oſiris hat
dann den tieferen Sinn gehabt, daß das Individuum mit dem
Oſiris vereinigt werde; daher fieht man auch auf den Sarg
deckeln die Vorſtellung, daß der Todte felbft Oſiris geworden iſt,
und nachdem man angefangen , die Hieroglyphen zu entziffern ,
hat man zu finden geglaubt , daß die Könige Götter genannt
werden. Das Menſchliche und Göttliche wird ſo als vereinigt
dargeſtellt.
Nehmen wir nun ſchließlich zuſammen , was hier über die
Eigenthümlichkeiten des ägyptiſchen Geiſtes nach allen Seiten
hin geſagt worden iſt, ſo iſtdie Grundanſchauung, daß die bei
den Elemente der Wirklichkeit, der in die Natur verſunkene Geift
und der Trieb zu ſeiner Befreiung, hier im Widerſtreite zuſammen
gezwungen ſind. Wir ſehen den Widerſpruch der Natur und
des Geiſtes , nicht die unmittelbare Einheit, auch nicht die con
crete , wo die Natur nur als Boden für die Manifeſtation des
Geiftes geſeßt iſt ; gegen die erſte und die zweite dieſer Einheiten
ſteht die ägyptiſche als widerſprechende in der Mitte. Die Seiten
dieſer Einheit find in abſtracter Selbſtſtändigkeit, und ihre Einheit
nur als Aufgabe vorgeſtellt. Wir haben daher auf der einen
Seite eine ungeheure Befangenheit und Gebundenheit an die
Particularität, wilde Sinnlichkeit mit afrikaniſcher Härte, Thier
dienſt, Genuß des Lebens. Es wird erzählt , eine Frau habe
auf öffentlichem Markte mit einem Bocke Sodomiterei getrieben ;
Menſchenfleiſch und Blut, erzählt Juvenal, ſey aus Rache ge
geſſen und getrunken worden . Die andere Seite iſt das Ringen
des Geiſtes nach ſeiner Befreiung, die Phantafterei der Gebilde
neben dem abſtracten Verſtande der mechaniſchen Arbeiten zur
268 Erſter Theil. Die orientaliſche Welt.
Production dieſer Gebilde. Dieſelbe Verſtändigkeit , Kraft der
Verwandlung des Particularen und feſte Beſonnenheit , die über
der unmittelbaren Erſcheinung ſteht, zeigt ſich in der Staats
polizei und dem Staatsmechanismus, in der Benußung des
Landes u. f. f.; und der Gegenſaß dazu iſt die harte Gebun
denheit an die Sitten und der Aberglaube , dem der Menſch un
erbittlich unterworfen iſt. Mit dem Verſtande des gegenwärtigen
Lebens hängt das Ertrem des Dranges , der Kredheit , der Gäh
rung zuſammen . Die Züge zeigen ſich zuſammen in den Ges
ſchichten , welche Herodot von den Aegyptern erzählt. Sie haben
viele Aehnlichkeit mit den Mährchen von Tauſend und eine Nacht,
und wenn gleich dieſe zum Ort der Erzählung Bagdad haben ,
ſo ift ihr Urſprung doch eben ſo wenig allein an dieſem üppigen
Hof, als nur bei den Arabern zu finden , ſondern vielmehr auch
in Aegypten , wie auch Herr von Hammer meint. Die Welt
der Araber iſt eine ganz andere, als dieſe Phantaſterei und Zau
berei; ſie hat viel einfachere Leidenſchaften und Intereſſen : Liebe,
Kriegsmuth , das Pferd , das Schwert ſind die Gegenſtände in
ihren eigenthümlichen Liedern .

Uebergang zur griechiſchen Welt.


Nach allen Seiten hin hat ſich der ägyptiſche Geiſt als be
ſchloſſen in ſeinen Particularitäten , als gleichſam thieriſch feſt darin
gezeigt, aber ebenſo im unendlichen Drange ſich darin bewegend und
herumwerfend von der einen in die andere. Es geſchieht nicht,
daß dieſer Geiſt ſich zum Adgemeinen und Höheren erhebe, denn
er iſt gleichſam erblindet für daſſelbe , auch nicht, daß er in ſein
Inneres zurückgehe, aber er ſymboliſirt frei und fed mitdem Par
ticularen , und iſt deſſelben ſchon mächtig. Es kommt nun bloß
darauf an, die Particularität, die an ſich ſchon ideel iſt, auch
als ideell zu ſeßen , und das Allgemeine, das an ſich ſchon frei
iſt, ſelbſt zu faſſen . Der freie heitere Geiſt Griechenlands iſt es,
Dritter Abſýnitt. Uebergang zur griechiſchen Welt. 269
welcher dieſes vollbringt und daraus hervorgeht. – Ein ägyp
tiſcher Prieſter hat geſagt, daß die Griechen ewig nur Kinder
bleiben ; umgekehrt können wir ſagen , die Aegypter ſeien die Fräf
tigen , in fich drängenden Knaben , welche nichts als der Klar
heit über ſich , der ideellen Form nach , bedürfen , um Jünglinge
zu werden . Im orientaliſchen Geifte bleibt als Grundlage die
gediegene Subſtantialität des in die Natur verſenkten Geiſtes ;
dem ägyptiſchen Geiſte iſt, obzwar ebenſo noch in unendlicher Be
fangenheit, doch die Unmöglichkeit geworden , es in ihr auszu
halten . Die derbe afrikaniſche Natur hat jene Einheit aus einan
der getrieben , und hat die Aufgabe gefunden , deren Löſung der
freie Geift ift.
Daß aber vor dem Bewußtſeyn der Aegypter ihr Geiſt ſelbſt
in Form einer Aufgabe geweſen iſt, darüber können wir uns
auf die berühmte Inſchrift des Allerheiligſten der Göttin Neith
zu Sais berufen : „ Ich bin , was da iſt, was war, und
feyn wird: niemand hatmeine Hülle gelüftet.“ Hierin
iſt ausgeſprochen , was der ägyptiſche Geiſt ſey, obgleich man oft
die Meinung gehabt hat, es gelte dieſer Saß für alle Zeiten .
Vom Proklus wird hier noch der Zuſaß angegeben : ,,die Frucht,
die ich gebar, iſt Helios.“ Das fich felbft Klare alſo ift
bas Reſultat jener Aufgabe und die Löſung. Dieſes Klare ift
ber Geiſt, der Sohn der Neith, der verborgenen nächtlichen Gott
heit. In der ägyptiſchen Neïth iſt die Wahrheit noch verſchloſſen :
der griechiſche Apoll iſt die Löſung; ſein Ausſpruch iſt: Menſch
erkenne dich ſelbſt. In dieſem Spruche iſt nicht etwa die
Selbſterkenntniß der Particularitäten ſeiner Schwächen und Fehler
gemeint: es iſt nicht der particulare Menſch ,der ſeine Beſonderheit
erkennen fou , ſondern der Menſch überhaupt fou fich felbft er
kennen . Dieſes Gebot iſt für die Griechen gegeben , und im grie
chiſchen Geiſt ſtellt ſich das Menſchliche in ſeiner Klarheit und
in der Herausbildung deſſelben dar. Wunderbar muß uns nun die
griechiſche Erzählung überraſchen ,welche berichtet, daß die Sphinr,
270 Erſter Theil. Die orientaliſde Welt.

das ägyptiſche Gebilde, in Theben erſchienen ſey , und zwar mit


den Worten : „Was iſt das, was Morgens aufvier Beinen geht,
Mittags auf zweien , und Abends auf dreien ?" Dedipus mit
der Löſung, daß dieß der Menſch ſen , ſtürzte die Sphinr vom
Felſen . Die Löſung und Befreiung des orientaliſchen Geiſtes,
der ſich in Aegypten bis zur Aufgabe geſteigert hat, iſt aller
dings dieß : daß das Innere der Natur der Gedanke iſt, der nur
im menſchlichen Bewußtſeyn ſeine Eriſtenz hat. Aber dieſe alte
Löſung durch Dedip , der ſich ſo als wiſſenden zeigt , iſt mit un
geheurer Unwiſſenheit verknüpft, über das , was er ſelbſt thut.
Der Aufgang geiſtiger Klarheit in dem alten Königshauſe iſt
noch mit Gräueln aus Unwiſſenheit gepaart, und dieſe erſte Herr
ſchaft der Könige muß ſich erſt, um zu wahrem Wiſſen und ſitt
licher Klarheit zu werden , durch bürgerliche Gefeße und politiſche
Freiheit geſtalten und zum ſchönen Geiſte verſöhnen .
Der innere llebergang zu Griechenland oder der nach dem Bes
griffe macht ſich ſo vom ägyptiſchen Geiſte aus ; Aegypten aber
iſt eine Provinz des großen perſiſchen Reichs geworden , und der
geſchichtliche Uebergang tritt bei der Berührung der perſiſchen
und griechiſchen Welt ein . Wir ſind hier zum erſten Male bei
einem geſchichtlichen Lebergang, das heißt, bei einem untergegan
genen Reich . China und Indien ſind, wie wir ſchon geſagt ha
ben , geblieben , Perſien nicht; der Uebergang zu Griechenland iſt
zwar innerlich, hier aber wird er auch äußerlich , als Uebergang
der Herrſchaft, eine Thatſache, die von nun an immer wieder
eintritt. Denn die Griechen übergeben den Römern den Herrſcher
ſtab und die Cultur, und die Römer werden von den Germanen
unterworfen . Betrachten wir dieſes Uebergehen näher , ſo frägt
ſich zum Beiſpiel ſogleich bei Perſten , warum es ſank, während
China und Indien dauern . Zuvörderſt muß hier das Vorurtheil
entfernt werden , als wenn die Dauer gegen das Vergehen ge
halten , etwas Vortrefflicheres wäre: die unvergänglichen Berge
ſind nicht vorzüglicher als die ſchnell entblätterte Noſe in ihrem
Dritter Abſchnitt. Uebergang zur griechiſchen Welt. 271
verduftenden Leben . In Perften beginnt das Princip des freien
Geiſtes gegen die Natürlichkeit, und dieſe natürliche Eriſtenz alſo
blüht ab, finkt hin ; das Princip der Trennung von der Natur
liegt im Perſiſchen Reiche, und es ſteht daher höher, als jene im
Natürlichen verſenkten Welten . Die Nothwendigkeit des Fort
ſchreitens hat fich dadurch aufgethan : der Geiſt hat fich erſchlot
fen und muß ſich volbringen . Der Chineſe hat erſt als Ver
ſtorbener Geltung; der Inder tödtet fich ſelbſt, verſenkt ſich in
Brahm , iſt lebendig todt im Zuſtande vollendeter Bewußtloſigkeit,
oder iſt gegenwärtiger Gott durch die Geburt; da iſt keine Ver
änderung , kein Fortſchreiten geſeßt, denn der Fortgang iſt nur
möglich durch das Hinſtellen der Selbſtſtändigkeit des Geiſtes.
Mit dem Lichte der Perſer beginnt die geiſtige Anſchauung, und
in derſelben nimmt der Geiſt Abſchied von der Natur. Daher
finden wir auch hier zuerſt , was ſchon oben bemerkt werden
mußte, daß die Gegenſtändlichkeit frei bleibt, das heißt, daß die
Völker nicht unterjocht, ſondern in ihrem Reichthum , ihrer Ver
faſſung , ihrer Religion belaſſen werden . Und zwar iſt dieß die
Seite , in welcher eben Perſien gegen Griechenland ſich ſchwach
erweiſt. Denn wir ſehen , daß die Perſer kein Reich mit vollen
deter Organiſation errichten konnten , daß ſie ihr Princip nicht in
die eroberten Länder einbildeten , und daraus fein Ganzes , ſon
dern nur ein Aggregat der verſchiedenſten Individualitäten hervor
brachten . Die Perſer haben bei dieſen Völkern keine innerliche
Legitimität erhalten ; ſie haben ihre Rechte und Geſeße nicht gel
tend gemacht, und als fte ſich ſelbſt eine Ordnung gaben , fahen
fie nur auf fich , und nicht auf die Größe ihres Reiches. Indem
auf dieſe Weiſe Perſien nicht politiſch ein Geiſt war, erſchien es
gegen Griechenland ſchwach . Nicht die Weichlichkeit der Perſer
(obgleich fie Babylon wohl ſchwächte) ließ ſie ſinken , ſondern das
Maſſenhafte, Unorganiſirte ihres Heeres gegen die griechiſche Or
ganiſation , das heißt, das höhere Princip überwand das unter
geordnete. Das abſtracte Princip der Perſer erſchien in ſeinem
272 Erſter Theil. Die orientaliſcje Welt.
Mangel als unorganiſtrte, nicht concrete Einheit diſparater Gegen
fäße, worin die perſiſche Lichtanſchauung neben fyriſchem Genuß
und Wohlleben, neben der Betriebſamkeit und dem Muth der erwer
benden und den Gefahren der Seetroßenden Phönizier,neben der Ab
ſtraction des reinen Gedankens der jüdiſchen Religion und dem inne
ren Drange Aegyptens beſtand, - ein Aggregatvon Elementen , die
ihre Idealität erwarteten, und dieſe nurin der freien Individua
lität erhalten konnten . Die Griechen ſind als das Volf anzu
ſehen , in welchem dieſe Elemente ihre Durchdringung erhielten ,
indem der Geiſt ſich in ſich vertiefte , über die Particularitäten
ſtegte und dadurch ſich felbft befreite.
Zweiter Theil.
Die griechiſch e welt.

Bei den Griechen fühlen wir uns ſogleich Heimathlich, denn


wir ſind auf dem Boden des Geiſtes , und wenn der nationale
Urſprung, ſowie der Unterſchied der Sprachen , ſich weiter hin nach
Indien verfolgen läßt, ſo iſt doch das eigentliche Aufſteigen und die
wahre Wiedergeburt des Geiſtes erſt in Griechenland zu ſuchen .
Ich habe früher bereits die griechiſche Welt mit dem Jugend
alter verglichen und zwar nicht in dem Sinne, wie die Jugend
eine ernſthafte, künftige Beſtimmung in fich trägt und ſomit noth
wendig zur Bildung für einen weiteren Zweck hindrängt, wie ſie
alſo eine für fich durchaus unvollendete und unreife Geſtalt und
gerade dann am meiſten verkehrt iſt, wenn ſie ſich für fertig an
ſehen wollte; ſondern in dem Sinne, daß die Jugend noch nicht
die Thätigkeit der Arbeit, noch nicht das Bemühen um einen be
ſchränkten Verſtandeszwecf , ſondern vielmehr die concrete Lebens
friſche des Geiſtes iſt; fie' tritt in der ſinnlichen Gegenwart auf,
als der verkörperte Geiſt und die vergeiſtigte Sinnlichkeit , – in
einer Einheit, die aus dem Geiſte hervorgebracht iſt. Griechen
land bietet uns den heitren Anblick der Jugendfriſche des geiſti
gen Lebens. Hier iſt es zuerſt, wo der Geiſt herangereift ſich
felbft zum Inhalt feines Wollens und ſeines Wiſſens erhält, aber
Philoſophie d. Geſchichte. 3. Aufl. 18
274 Zweiter Theil. Die griechiſde Welt.
auf die Weiſe , daß Staat, Familie , Recht, Religion zugleich
Zwecke der Individualität ſind , und dieſe nur durch jene Zwecke
Individualität iſt. Der Mann dagegen lebt in der Arbeit ei
nes objectiven Zwecks , den er conſequent verfolgt, auch gegen
ſeine Individualität.
Die höchſte Geſtalt, die der griechiſchen Vorſtellung vorge
ſchwebt hat , iſt Achil , der Sohn des Dichters , der homeriſche
Jüngling aus dem trojaniſchen Krieg. Homer iſt das Element,
worin die griechiſche Welt lebt, wie der Menſch in der Luft. -
Das griechiſche Leben iſt eine wahre Jünglingsthat. Achill , der
poetiſche Jüngling, hat es eröffnet , und Alerander der Große,
der wirkliche Jüngling , hat es zu Ende geführt. Beide er
ſcheinen im Kampf gegen Aſien. Achil als Hauptfigur im Na
tionalunternehmen der Griechen gegen Troja , ſtehtnicht an der Spiße
deſſelben , ſondern iſt dem König der Könige unterthan ; er kann nicht
Führer ſeyn , ohne phantaſtiſch zu werden . Dagegen der zweite
Jüngling, Alerander, die freieſte und ſchönſte Individualität,
welche die Wirklichkeit je getragen , tritt an die Spiße des in fich
reifen Jugendlebens und vollführt die Nache gegen Aften .
Wir haben nun in der griechiſchen Geſchichte drei Abſchnitte
zu unterſcheiden : der erſte iſt der des Werdens der realen India
vidualität, der zweite der ihrer Selbſtſtändigkeit und ihres Glückes
im Siege nach außen , durch die Berührung mit dem Früheren
weltgeſchichtlichen Volke, der dritte endlich die Periode des Sin
kens und des Verfalles , bei dem Zuſammentreffen mit dem (på
teren Drgane der Weltgeſchichte. Die Periode des Anfangs bis
zur inneren Vollendung, wodurch es einem Volfe möglich wird,
es mit dem früheren aufzunehmen , enthält die erſte Bildung der
felben . Hat das Volk eine Vorausſeßung , wie die griechiſche
Welt an der orientaliſchen , ſo tritt in ſeinen Anfang eine fremde
Cultur hinein , und es hat eine doppelte Bildung, einerſeits aus
fich, andrerſeits aus fremder Anregung. Dieß Doppelte zur Ver
einigung zu bringen , iſt ſeine Erziehung, und die erſte Periode
Erſter Abjūnitt. Die Elemente des griechiſchen Geiſtes. 275

endigt mit dem Zuſammenfaſſen zur realen, eigenthümlichen Kräf


tigkeit, welche fich dann ſelbſt gegen ihre Vorausſeßung wendet.
Die zweite Periode iſt die des Sieges und des Glüds. Indem
aber das Volf nach außen gefehrt iſt, läßt es ſeine Beſtimmuns
gen im Innern los , und es bildet ſich Zwietracht im Innern ,wenn
die Spannung nach außen aufgehört hat. Auch in Kunſt und
Wiffenſchaft zeigt fich dieß an der Trennung des Idealen von
dem Realen . Hier iſt der Punkt des Sinkens . Die dritte
Periode iſt die des Untergangs durch die Berührung mit dem
Volfe, aus welchem der höhere Geift hervorgeht. Demſelben
Gang, wir können es ein für allemal ſagen , werden wir über
hauptin dem Leben eines jeden weltgeſchichtlichen Volfes begegnen .

Erſter Abſchnitt.
Die Elemente des griechiſchen Geiſtes.
Griechenland iſt die Subſtanz, welche zugleich individuell ift:
das Allgemeine als ſolches iſt überwunden , das Verſenktfenn in
die Natur iſt aufgehoben ,und ſo iſtdenn auch das Maſſenhafte der
geographiſchen Verhältniſſe verſchwunden . Das Land beſteht
aus einem Erdreich , das auf vielfache Weiſe im Meere zerſtreut
iſt, aus einer Menge von Infeln und einem feſten Lande, wel
ches felbft inſelartig iſt. Nur durch eine ſchmale Erdzunge iſt
der Peloponnes mit demſelben verbunden ; ganz Griechenland
wird durch Buchten vielfach zerklüftet. Alles iſt in kleine Par
tien zertheilt und zugleich in leichter Beziehung und Verbindung
durch das Meer. Berge, ſchmale Ebenen , kleine Thäler und
Flüſſe treffen wir in dieſem Lande an ; es giebt dort keinen gro
18 *
276 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt .
ßen Strom und feine einfache Thalebene, ſondern der Boden iſt
durch Berge und Flüſſe verſchieden geſtaltet, ohne daß eine ein
zige großartige Maſſe hervortritt. Wir finden nicht dieſe orien
taliſche phyſiſche Macht , nicht einen Strom , wie den Ganges ,
den Indus u. ſ. w ., in deren Ebenen ein einförmiges Geſchlecht
zu feiner Veränderung eingeladen wird , weil ſein Horizont im
mer nur dieſelbe Geſtalt zeigt, ſondern durchaus jene Vertheiltheitund
Vielfältigkeit , die der mannigfachen Art griechiſcher Völkerſchaften
und der Beweglichkeit des griechiſchen Geiſtes vollkommen entſpricht.
Dieß iſt der elementariſche Charakter des griechiſchen
Geiſtes , welcher es ſchon mit fich bringt, daß die Bildung von
ſelbſtſtändigen Individualitäten ausgeht, von einem Zuſtand, in
dem die Einzelnen auf ſich ſtehen , und nicht ſchon durch das Na
turband patriarchaliſch von Hauſe aus vereint ſind, ſondern fich
erſt in einem andern Medium , in Gefeß und geiſtiger Sitte, zu =
ſammenthun. Denn das griechiſche Volk iſt vornehmlich erſt zu
dem , was es war , geworden. Bei der Urſprünglichkeit der
nationalen Einheit iſt die Zertheilung überhaupt, die Fremd
artigkeit in ſich ſelbſt , das Hauptmoment, das zu betrachten
iſt. Die erſte Ueberwindung derſelben macht die erſte Periode
der griechiſchen Bildung aus; und nur durch ſolche Fremdartig
keit und durch ſolche Ueberwindung iſt der ſchöne, freie griechiſche
Geiſt geworden . Ueber dieſes Princip müſſen wir ein Bewußtſeyn
haben. Es iſt eine oberflächliche Thorheit fich vorzuſtellen , daß
ein ſchönes und wahrhaft freies Leben ſo aus der einfachen Ent
widelung eines in ſeiner Blutsverwandtſchaft und Freundſchaft
bleibenden Geſchlechts hervorgehen könne. Selbſt die Pflanze,
die das nächſte Bild ſolcher ruhigen , in ſich nicht entfremdeten
Entfaltung abgiebt, lebt und wird nur durch die gegenfäßliche
Thätigkeit von Licht, Luft und Waſſer. Der wahrhafte Gegenſaß ,
den der Geiſt haben kann , iſt geiſtig ; es iſt ſeine Fremdartigkeit
in ſich ſelbſt, durch welche allein er die Straft, als Geiſt zu ſeyn,
gewinnt. Die Geſchichte Griechenlands zeigt in ihrem Anfange
Erſter Abſchnitt. Die Elemente des griechiſchen Geiſtes . 277

dieſe Wanderung und Vermiſchungvon zum Theil einheimiſchen ,zum


Theil ganz fremdartigen Stämmen ; und gerade Attifa , deſſen Volk
den höchſten Gipfel griechiſcher Blüthe erreichen ſollte,war der Zu
fluchtsort der verſchiedenſten Stämmeund Familien . Jedes welt
hiſtoriſche Volk , außer den aſtatiſchen Reichen , die außer dem Zu
ſammenhange der Weltgeſchichte ſtehen , hat ſich auf dieſe Weiſe
gebildet. So haben ſich die Griechen , wie die Römer, aus einer
colluvies , aus einem Zuſammenfluß der verſchiedenſten Natio
nen entwickelt. Von der Menge von Völferſchaften , welche wir
in Griechenland antreffen , iſt nicht anzugeben , welche eigentlich
die urſprünglich griechiſchen geweſen , und welche aus fremden
Ländern und Welttheilen eingewandert ſeyen , denn die Zeit, von
der wir hier ſprechen , iſt überhaupt eine Zeit des Ungeſchichtlichen
und Trüben . Ein Hauptvolk in Griechenland waren damals die
Pelasger; die verwirrten und ſich widerſprechenden Nachrichten,
welche wir von ihnen haben , ſind von den Gelehrten auf die
mannigfaltigſte Weiſe in Einklang zu bringen verſucht worden ,
da eben eine trübe und dunkle Zeit ein beſondrer Gegenſtand und
Anſpornung der Gelehrſamkeit iſt. Als früheſte Puncte einer an
gehenden Cultur machen ſich Thracien , das Vaterland des Or
pheus, und dann Theſſalien - Landſchaften , die ſpäter mehr oder
weniger zurücktreten , bemerklich . Von Phthiotis, dem Vaterlande
Achill's , geht der gemeinſchaftliche Name der Hellenen aus,
ein Name, der nach Thucydides Bemerkung in dieſem zuſammen
faſſenden Sinn ebenſo wenig beim Homer vorkommt, als der Name
Barbaren , von denen ſich die Griechen noch nicht beſtimmtunter
ſchieden. Es muß der Specialgeſchichte überlaſſen bleiben , die
einzelnen Stämme und ihre Umwandlungen zu verfolgen . Im
Allgemeinen iſt anzunehmen , daß die Stämme und Individuen
leicht ihr Land verließen , wenn eine zu große Menge von Ein
wohnern daſſelbe überfüllte, und daß in Folge deſſen die Stämme
fich im Zuſtande des Wanderns und der gegenſeitigen Beraubung
befanden . Noch bis ießt, ſagt der ſinnige Thucydides , haben die
278 Zweiter Theil. Die griediſche Welt.
Dzoliſchen Lofrer, Aetolier und Akarnanen die alte lebensart :
auch hat ſich bei ihnen die Sitte, Waffen zu tragen , aus dem
alten Naubweſen erhalten . Von den Athenienſern ſagt er, daß
fie die Erften waren , welche die Waffen im Frieden ablegten .
Bei ſolchem Zuſtande wurde fein Ackerbau getrieben ; die Ein
wohner hatten ſich nicht nur gegen Räuber zu vertheidigen , fon
dern auch den Kampf mit wilden Thieren zu beſtehen (noch zu
Herodot's Zeit hauſten viele Löwen am Neſtus und am Ache
lous) ; ſpäter wurde beſonders zahmes Vieh der Gegenſtand der
Plünderung , und felbft nachdem der Ackerbau ſchon allgemeiner
geworden war , wurden noch Menſchen geraubt und als Sclaven
verkauft. Dieſer griechiſche Urzuſtand wird uns von Thucydides
noch weiter ausgemalt.
Griechenland war alſo in dieſem Zuſtand der Unruhe, der
Inſicherheit , der Räuberei, und ſeine Völkerſchaften fortwährend
auf der Wanderung.
Das andere Element, aufwelchem das Volk der Hellenen lebte,
war das Meer. Die Natur ihres Landes brachte ſie zu dieſer Am
phibieneriſtenz,und ließ ſie frei aufden Wellen ſchweben ,wie ſie ſich
frei aufdem Lande ausbreiteten ,weder gleich den nomadiſchen Völ
kerſchaften umherſchweifend,noch wie die Völker der Flußgebiete ver
dumpfend. Die Seeräubereien ,nicht der Handelmachten den Haupt
inhalt der Schifffahrt aus, und wiewir aus Homer ſehen , galten dieſe
überhaupt noch gar nicht für eine Schande. Dem Minos wird
die Unterdrüdung der Seeräuberei zugeſchrieben , und Kreta als
das Land gerühmt, wo zuerſt die Verhältniſſe feſt wurden ; es
trat nämlich daſelbſt früh der Zuſtand ein , welchen wir nachher in
Sparta wiederfinden , daß eineherrſchende Parteiwar, und eine an
dere,die ihr zu dienen und die Arbeiten zu verrichten gezwungen war.
Wir haben ſo eben von der Fremdartigkeit als von einem
Elemente des griechiſchen Geiftes geſprochen , und es iſt bekannt,
daß die Anfänge der Bildung mit der Ankunft der Fremden in
Griechenland zuſammenhängen . Dieſen Urſprung des fittlichen
Erſter Abſchnitt. Die Elemente des griechiſchen Geiſtes. 279

Lebens haben die Griechen mit dankbarem Andenken in einem


Bewußtſeyn , das wir mythologiſch nennen können , bewahrt: in
der Mythologie hat ſich die beſtimmte Erinnerung der Einführung
des Ackerbaues durch Triptolemus, der von der Ceres unterrich
tet war, erhalten , ſowie die der Stiftung der Ehe u . ſ. w . Dem
Prometheus, deſſen Vaterland nach dem Kaukaſus hin verlegt
wird , iſt es zugeſchrieben , daß er die Menſchen zuerſt gelehrt
habe, das Feuer zu erzeugen und von demſelben Gebrauch zu
machen . Die Einführung des Eiſens war den Griechen ebenfalls
ſehr wichtig , und während Homer nur von Erz ſpricht, nennt
Aeſchylus das Eiſen ſcythiſch. Auch die Einführung des Del
baumes , die Kunſt des Spinnens und Webens, die Erſchaffung
des Pferdes durch Poſeidon gehören hierher.
Geſchichtlicher als dieſe Anfänge iſt dann die Ankunft der
Fremden ; es wird angegeben , wie die verſchiedenen Staaten
von Fremden geſtiftet worden ſind. So wird Athen vom Ce
krops gegründet, einem Aegypter, deſſen Geſchichte aber in Dun
kel gehüllt iſt. Das Geſchlecht des Deukalion , des Sohnes
des Prometheus, wird mit den unterſchiedenen Stämmen in Zu
ſammenhang gebracht. Ferner wird Pelops aus Phrygien , Sohn
des Tantalus , erwähnt; dann Danaus aus Aegypten : von ihm
ſtammen Akriſius , Danae und Perſeus ab. Pelops ſoll mit gro
ßem Reichthum nach dem Peloponnes gekommen ſeyn, und ſich dort
großes Anſehn und Macht verſchafft haben . Danaus fiedelte
ſich in Argos an . Beſonders wichtig iſt die Ankunft des Kad
mus, phöniciſchen Urſprungs , mit dem die Buchſtabenſchrift nachy
Griechenland gekommen ſeyn ſoll; von ihr ſagt Herodot , daß
ſte phöniciſch geweſen ſey , und alte, damals noch vorhandene In - .
ſchriften werden angeführt, um die Behauptung zu unterſtüßen .
Kadmus ſoll , der Sage nach , Theben gegründet haben .
Wir ſehen alſo eine Coloniſation von gebildeten Völkern ,
die den Griechen in der Bildung ſchon voraus waren ; doch fann
man dieſe Coloniſation nicht mit der der Engländer in Nord
280 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
amerika vergleichen , denn dieſe haben ſich nicht mit den Einwoh
nern vermiſcht, ſondern dieſelben verdrängt, während fich durch
die Coloniſten Griechenlands Eingeführtes und Autochthoniſches
zuſammenmiſchte. Die Zeit , in welche die Ankunft dieſer Colo
nien geſeßt wird , ſteigt ſehr weit hinauf und fällt in das vier
zehnte und funfzehnte Jahrhundert vor Chr. Geb . Kadmus ſoll
Theben gegen das Jahr 1490 gegründet haben , eine Zeit, die
mit dem Auszug Moſis aus Aegypten (1500 Jahre v. Chr. Geb.)
ungefähr zuſammenfält. Auch Amphiftyon wird unter den Stif
tern in Hellas genannt: er fou in Thermopylä einen Bund
zwiſchen mehreren kleinen Völkerſchaften des eigentlichen Hellas
und Theſſaliens geſtiftet haben , woraus ſpäter der große Am
phiftyonenbund entſtanden iſt.
Dieſe Fremdlinge haben nun feſte Mittelpunkte in Grie
chenland durch die Errichtung von Burgen und die Stiftung von
Rönigshäuſern gebildet. Die Mauerwerke , aus denen die alten
Burgen beſtanden , wurden in Argolis cyflopiſche genannt; man
hat dergleichen auch noch in neueren Zeiten gefunden , da fie
wegen ihrer Feſtigkeit unzerſtörbar ſind . Dieſe Mauern ſind zum
Theil aus unregelmäßigen Blöcken , deren Zwiſchenräume mit
kleinen Steinen ausgefüllt wurden , zum Theil aus ſorgfältig in
einandergefugten Steinmaſſen conſtruirt. Solche Mauern find
die von Tiryns und von Mycenä. Noch gegenwärtig erkennt
man das Thor mit den Löwen von Mycenä nach der Beſchrei
bung des Pauſanias. Von Þrötus, der in Argos herrſchte,
wird angegeben , daß er die Cyklopen , welche dieſe Mauern ge
baut, aus Lycien mitgebracht habe. Man nimmt jedoch an , daß
fie von den alten Pelasgern errichtet worden ſeyen . Auf den von
ſolchen Mauern geſchüßten Burgen legten die Fürſten der Heroen
zeit meiſt ihre Wohnungen an . Beſonders merkwürdig ſind die
von ihnen gebauten Schafhäuſer, dergleichen das Schaşhaus des
Minyas zu Orchomenus , des Atreus zu Mycenä ſind. Dieſe
Burgen wurden nun die Mittelpunkte für kleine Staaten : fie
Erſter Abſchnitt. Die Elemente des griediſden Geiſtes. 281
gaben eine größere Sicherheit für den Aderbau , ſte ſchüßten den
Verkehr gegen Räuberei. Dennoch wurden ſte, wie Thucydides
berichtet, wegen der allgemeinen Seeräuberei, nicht unmittelbar
am Meere angelegt , an welchem erſt ſpäterhin Städte erſcheinen .
Von jenen Königshäuſern ging alſo die erſte Feſtigkeit eines Zu
ſammenlebens aus . Das Verhältniß der Fürſten zu den Unter
thanen, und zu einander ſelbſt, erkennen wir am beſten aus dem
Homer: es beruhte nicht auf einem geſeblichen Zuſtand, ſondern
auf der liebermacht des Reichthums, des Beſiges , der Bewaff
nung , der perſönlichen Tapferkeit, auf dem Vorzug der Einſicht
und Weisheit, und endlich der Abſtammung und der Ahnen ;
denn die Fürſten als Heroen wurden für höheren Geſchlechts
angeſehen. Die Völker waren ihnen untergeben , nicht als durch
ein Caſtenverhältniß von ihnen unterſchieden , noch als unter
drüdt, noch im patriarchaliſchen Verhältniſſe, wonach das Ober
haupt nur Vorſteher des gemeinſchaftlichen Stammes oder der
Familie iſt , noch auch in dem ausdrücklichen Bedürfniſſe einer
geſeblichen Regierung, ſondern nur in dem allgemeinen Bedürf
niſſe zuſammengehalten zu werden und dem Herrſcher, der die Ge
wohnheit zu befehlen hat,zu gehorchen , ohne Neid und üblen Willen
gegen denſelben . Der Fürſt hat die perſönliche Autorität, die er
fich zu geben und die er zu behaupten weiß ; da aber dieſe Ueber
legenheit nur die individuell heroiſche iſt durch das perſönliche Ver
dienſt, ſo hält ſienicht lange aus . So ſehen wir im Homerdie Freier
der Penelope ſich in Beſik der Habe des abweſenden Odyſſeus
ſeßen , ohne deſſen Sohn im geringſten zu achten . Achilles er
fundigt ſich nach ſeinem Vater, als Odyſſeus nach der Unterwelt
kommt, und meint, da er alt ſen , würden ſie ihn wohl nicht mehr
ehren . Die Sitten ſind noch ſehr einfach : die Fürſten bereiten
fich ſelbſt das Eſſen 311, und Odyſſeus zimmert ſich ſelber ſein
Haus. In Homers Iliade ſehen wir einen König der Könige,
einen Chef der großen Nationalunternehmung, aber die anderen
Mächtigen umgeben ihn als freier Rath ; der Fürſt wird geehrt,
282 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.

aber er muß Ades ſo einrichten , daß es den Anderen gefalle ; er


erlaubt ſich Gewaltthätigkeit gegen den Achilles, aber dieſer zieht ſich
dafür auch vom Kampfe zurück. Ebenſo loſe iſt das Ver
hältniß der einzelnen Fürſten zur Menge, unter welcher ſich im
mer Einzelne finden , welche Gehör und Achtung in Anſpruch
nehmen . Die Völker fechten nicht als Söldner des Fürſten in
feinen Schlachten , noch als eine ſtumpfe leibeigene Heerde, die
nur hineingetrieben wird , noch in ihrem eigenen Intereſſe, ſondern
als Begleiter ihres geehrten Vorſtandes , als Zeugen ſeiner Tha
ten und feines Ruhms und als ſeine Vertheidiger, wenn er in
Noth käme. Eine vollfommene Aehnlichkeit mit dieſen Verhält=
niſſen bietet auch die Götterwelt dar. Zeus iſt der Vater der
Götter , aber jeder von ihnen hat ſeinen eigenen Willen , Zeus
reſpectirt fie und dieſe ihn; er zankt ſie wohl bisweilen aus und
droht ihnen, und ſie laſſen ihm dann ſeinen Willen , oder ziehen
ſich fchmollend zurück; aber ſie laſſen es nicht auf's Aeußerſte an
kommen , und Zeus macht es im Ganzen fo , dem Einen dieß,
dem Andern jenes gewährend, daß ſie zufrieden ſeyn können . Es
iſt alſo auf der irdiſchen wie auf der olympiſchen Welt nur ein
loderes Band der Einheit beſtehend ; das Königthum iſt noch
keine Monarchie , denn das Bedürfniß derſelben findet ſich erſt
in einer weiteren Geſellſchaft.
In dieſem Zuſtande, bei dieſen Verhältniſſen iſt das Auf
fallende und Große geſchehen , daß ganz Griechenland zu einer
Nationalunternehmung, nämlich zum trojaniſchen Krieg , zu
ſammenkam , und daß damit eine weitere Verbindung mit Aften
begann, die für die Griechen ſehr folgereich war. (Der Zug
des Jaſon nach Kolchis , deſſen die Dichter ebenfalls Erwähnung
thun , und der dieſem Unternehmen voranging, iſt dagegen gehal
ten etwas ſehr Vereinzeltes geweſen.) Als Veranlaſſung dieſer
gemeinſamen Angelegenheit wird angegeben , daß ein Fürſtenſohn
aus Aften ſich der Verlegung des Gaſtrechts durch Raub der
Frau des Gaſtfreundes ſchuldig gemacht habe. Agamemnon ver
Erſter Abſchnitt. Die Elemente des griechiſchen Geiſtes. 283
ſammelt die Fürſten Griechenlands durch ſeine Macht und ſein
Anſehen ; Thucydides ſchreibt ſeine Autorität ſowohl feiner ange
erbten Herrſchaft, als auch der Seemacht zu (Hom . Jl. 2, 108.),
worin er den Andern weit überlegen war; doch ſcheint es , daß
die Vereinigung ohne äußere Gewalt zu Stande kam , und daß
das Ganze ſich auf einfache perſönliche Weiſe zuſammengefunden
hatte. Die Hellenen ſind dazu gekommen , in einer Geſammtheit
aufzutreten , wie nachher nie wieder. Der Erfolg ihrer Anſtren
gungen war die Eroberung und Zerſtörung von Troja , ohne daß
ſie die Abſicht hatten , daſſelbe zu einem bleibenden Beſtße zu ma
chen . Ein äußerliches Reſultat der Niederlaſſung in dieſen Ge
genden iſt alſo nicht erfolgt; ebenſo wenig als die Vereinigung
der Nation zu dieſer einzelnen That eine dauernde politiſche Ver :
einigung geworden iſt. Aber der Dichter hat der Vorſtellung
des griechiſchen Volfs ein ewiges Bild ihrer Jugend und ihres
Geiftes gegeben , und das Bild dieſes ſchönen menſchlichen Hel
denthums hat dann ihrer ganzen Entwicklung und Bildung vor
geſchwebt. So ſehen wir auch im Mittelalter die ganze Chri
ſtenheit fich zu Einem Zwede, der Eroberung des heiligen Gra
bes verbinden , aber troß allen Siegen am Ende eben ſo erfolg
los . Die Kreuzzüge find der trojaniſche Strieg der eben erwa
chenden Chriſtenheit gegen die einfache ſich ſelbſt gleiche Klarheit
des Muhamedanismus.
Die Königshäuſer gingen theils durch individuelle Gräuel
zu Grunde, theils erloſchen ſie nach und nach ; es war keine
eigentliche fittliche Verbindung zwiſchen ihnen und den Völkern
vorhanden . Dieſe Stellung haben das Volk und die Königs
häuſer auch in der Tragödie: das Volk iſt der Chor , paſſiv ,
thatlos , die Heroen verrichten die Thaten und tragen die Schuld .
Es iſt nichts Gemeinſchaftliches zwiſchen ihnen ; das Volk hat
keine richtende Gewalt, ſondern appellirt nur an die Götter.
Solche heroiſche Individualitäten ,wie die der Fürſten , ſind deßhalb
ſo ausgezeichnet fähig , Gegenſtände der dramatiſchen Kunſt zu
284 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
ſeyn , da ſie ſelbſtſtändig und individuell fich entſchließen , und
nicht durch allgemeine Gefeße, die für jeden Bürger gelten , ge
leitet werden ; ihre That und ihr Untergang iſt individuell. Das
Volk erſcheint getrennt von den Königshäuſern , und dieſe gelten
als etwas Fremdartiges, als etwas Höheres , das ſeine Schick
ſale in ſich auskämpft und ausleidet. Die Königswürde, nach
dem ſie das geleiſtet , was ſie zu leiſten hatte , hat eben damit
fich überflüffig gemacht. Die Königsgeſchlechter zerſtören fich in
fich , oder verkommen , ohne Haß, ohne Kampf von Seiten der
Völker ; man läßt die Familien der Herrſcher vielmehr im ruhi
gen Genuß ihres Vermögens, ein Zeichen , daß die darauf fol
gende Volksherrſchaft nicht als etwas abſolut Verſchiedenes be
trachtet wird. Wie ſehr ſtechen dagegen die Geſchichten anderer
Zeiten ab !
Dieſer Fall der Königshäuſer tritt nach dem trojaniſchen
Ariege ein , und manche Veränderungen kommen nunmehr vor.
Der Peloponnes wurde durch die Herakliden erobert, die einen
beruhigteren Zuſtand. herbeiführten , der nun nicht mehr durch die
unaufhörlichen Wanderungen der Völkerſchaften unterbrochen wurde.
Die Geſchichte tritt wieder mehr ins Dunkel zurück, und wenn
die einzelnen Begebenheiten des trojaniſchen Krieges uns ſehr
genau bekannt ſind, ſo ſind wir über diewichtigen Angelegenhei
ten der nächſtfolgenden Zeit um mehrere Jahrhunderte ungewiß.
Kein gemeinſchaftliches Unternehmen zeichnet dieſelben aus, wenn
wir nicht als ſolches anſehen wollen , wovon Thucydides erzählt,
daß nämlich am Kriege der Chalcidier in Euböa mit den Eres
triern mehrere Völkerſchaften Theil genommen haben . Die Städte
vegetiren für ſich und zeichnen ſich höchſtens durch den Krieg mit
den Nachbarn aus. Doch gedeihen dieſelben in dieſer Iſolirtheit
beſonders durch den Handel: ein Fortſchritt, dem ihr Zerriffenſeyn
durch manche Parteikämpfe nicht entgegentritt. Auf gleiche Weiſe
ſehen wir im Mittelalter die Städte Italiens, die ſowohl inner
halb, als nach außen zu im beſtändigen Kampfe begriffen waren ,
Erſter Abſchnitt. Die Elemente des griechiſchen Geiſtes. 285
zu einem ſo hohen Flore gelangen . Das große Gedeihen der
griechiſchen Städte in damaliger Zeit beweiſen auch , nach Thu
cydides , die nach allen Seiten hin verſchicten Colonien : ſo be
ſepte Athen mit ſeinen Colonien Ionien und eine Menge Inſeln ;
vom Peloponnes aus ließen ſich Colonien in Italien und Sicia
lien nieder. Colonien wurden dann wieder relative Mutterſtädte,
wie z. B . Milet , das viele Städte an der Propontis und am
ſchwarzen Meere gründete. Dieſe Ausſchidung von Colonien ,
beſonders im Zeitraum nach dem trojaniſchen Kriege bis auf
Cyrus , iſt hier eine eigenthümliche Erſcheinung. Man kann ſie
alſo erklären . In den einzelnen Städten hatte das Volk die Re
gierungsgewalt in Händen , indem es die Staatsangelegenheiten
in höchſter Inſtanz entſchied . Durch die lange Ruhe nun nahm
die Bevölkerung und Entwickelung fehr zu, und ihre nächſte Folge
war die Anhäufung eines großen Reichthums , mit welchem fich
zugleich immer die Erſcheinung von großer Noth und Armuth
verbindet. Induſtrie war in unſerem Sinne nicht vorhanden ,
und die Ländereien waren bald beſeßt. Troß dem ließ fich ein
Theil der ärmeren Klaſſe nicht zur Lebensweiſe der Noth herab
drücken , denn Jeder fühlte ſich als freier Bürger. Das einzige
Auskunftmittelblieb alſo die Coloniſation ; in einem anderen Lande
konnten ſich die im Mutterlande Nothleidenden einen freien Bo
den ſuchen und als freie Bürger durch den Ackerbau beſtehen .
Die Coloniſation war ſomit ein Mittel , einigermaßen die Gleich
heit unter den Bürgern zu erhalten ; aber dieſes Mittel iſt nur
ein Palliativ , indem die urſprüngliche Ungleichheit, welche auf
der Verſchiedenheit des Vermögens begründet iſt, ſofort wieder
zum Vorſchein kommt. Die alten Leidenſchaften erſtanden mit
erneuter Kraft, und der Reichthum wurde bald zur Herrſchaft bes
nußt: ſo erhoben ſich in den Städten Griechenlands Tyrannen .
Thucydides fagt : Als Griechenland an Reichthum zunahm , ſind
Tyrannen in den Städten entſtanden und die Griechen haben
ſich eifriger auf das Seeweſen gelegt. Zur Zeit des Cyrus ges
286 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
winnt die Geſchichte Griechenlands ihr eigentliches Intereſſe; wir
ſehen die Staaten nun in ihrer particularen Beſtimmtheit : in dieſe
Zeit fällt auch die Ausbildung des unterſchiedenen griechiſchen
Geiſtes ; Religion und Staatsverfaſſung entwickeln ſich mit ihm ,
und dieſe wichtigen Momente find es , welche uns ießt beſchäfs
tigen müſſen .
Wenn wir den Anfängen griechiſcher Bildung nachges
hen , ſo bemerken wir zunächſt wieder , daß die phyſiſche Beſchaf
fenheit ihres Landes nicht eine ſolche charakteriſtiſche Einheit hat,
nicht eine ſolche einförmige Maſſe bildet, die einegewaltige Macht
über die Bewohner ausübt, ſondern ſte iſt verſchiedenartig , und
es fehlt ihr an entſcheidendem Einfluß. Damit iſt auch die maf
ſenhafte Einheit von einem Familienzuſammenhalt und National
verbindung nicht vorhanden , ſondern gegen die zerſtückelte Natur
und ihre Mächte ſind die Menſchen mehr auf ſich ſelbft und auf
die Ertenſion threr geringen Kräfte angewieſen . Wir ſehen ſo
die Griechen getheilt und abgeſchnitten , auf den innern Geiſt und
den perſönlichen Muth zurückgedrängt, dabei auf's mannigfal
tigſte angeregt und ſcheu nach allen Seiten , völlig unſtät und
zerſtreut gegen die Natur, von den Zufällen derſelben abhängig,
und beſorgt nach außen hinhorchend ; aber ebenſo andrerſeits dieß
Aeußere geiſtig vernehmend und ſich aneignend, und muthig und
ſelbſtkräftig gegen daſſelbe. Dieß ſind die einfachen Elemente
ihrer Bildung und ihrer Religion. Gehen wir ihren mythologi
fchen Vorſtellungen nach, ſo liegen denſelben Naturgegenſtände zu
Grunde, aber nicht in ihrer Maſſe, ſondern in ihrer Vereinzelung.
Die Diana zu Epheſus (das iſt die Natur, als die allgemeine
Mutter), die Cybele und Aſtarte in Syrien , dergleichen allge
meine Vorſtellungen ſind aſiatiſch geblieben und nicht nach Gries
chenland herübergekommen . Denn die Griechen lauſchen nur
auf die Naturgegenſtände und ahnen ſie mit der innerlichen
Frage nach ihrer Bedeutung. Wie Ariſtoteles ſagt, daß die Phi
loſophie von der Verwunderung ausgehe, ſo geht auch die gries
Erſter Abſchnitt. Die Elemente des griechiſchen Geiſtes. 287
chiſche Naturanſchauung von dieſer Verwunderung aus. Damit
iſt nicht gemeint, daß der Geiſt einem Außerordentlichen begegne,
das er mit dem Gewöhnlichen vergleicht ; denn die Verſtandes
anſteht von einem regelmäßigen Naturlauf und die vergleichende
Reflerion damit iſt noch nicht vorhanden , ſondern der aufgeregte
griechiſche Geiſt verwundert ſich vielmehr über das Natürliche
der Natur; er verhält ſich nicht ſtumpf zu ihr als zu einem
Gegebenen , ſondern als zu einem dem Geiſte zunächſt Fremden ,
zu welchem er jedoch die ahnende Zuverſicht und den Glauben
hat, als trage es etwas in fich , das ihm freundlich ſey, zu dem
er fich poſitiv zu verhalten vermöge. Dieſe Verwunderung
und dieſes Ahnen ſind hier die Grundkategorieen ; doch blieben
die Hellenen bei dieſen Weiſen nicht ſtehen , ſondern ſtellten das
- Innere, nach welchem das Ahnen frägt , zu beſtimmter Vorſtel
lung, als Gegenſtand des Bewußtſeyns heraus . Das Natür
liche gilt als durch den Geiſt durchgehend, der es vermittelt, nicht
' unmittelbar ; der Menſch hat das Natürliche nur als anregend,
und nur das, was er aus ihm Geiſtiges gemacht hat, kann ihm
gelten . Dieſer geiſtige Anfang iſt denn auch nicht bloß als eine
Erklärung zu faſſen , die wir nur machen , ſondern er iſt in einer
Menge griechiſcher Vorſtellungen ſelbſt vorhanden . Das ahnungs
volle, lauſchende, auf die Bedeutung begierige Verhalten wird uns
im Geſammtbilde des Pan vorgeſtellt. Pan iſt in Griechenland
nicht das objective Ganze, ſondern das Unbeſtimmte, das zugleich
mit dem Momente des Subjectiven verbunden iſt: er iſt der all
gemeine Schauer in der Stille der Wälder ; daher iſt er beſon
ders in dem waldreichen Arkadien verehrt worden (ein paniſcher
Schrecken iſt der gewöhnliche Ausdruck für einen grundloſen
Schrec .) Pan , dieſer Schauererweckende, wird dann als Flöten
ſpieler vorgeführt: es bleibt nicht bloß bei der inneren Ahnung,
fondern Pan läßt ſich auf der ſiebenrohrigen Pfeife vernehmen .
In dieſem Angegebenen haben wir einerſeits das Unbeſtimmte,
das fich aber vernehmen läßt, und andrerſeits iſt das, was ver
288 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
nommen wird , eigenes ſubjectives Einbilden und Erklären
des Vernehmenden . Ebenſo horchten die Griechen auf das
Gemurmel der Quellen , und fragten , was das zu bedeu
ten habe, die Bedeutung aber iſt nicht die objective Sin
nigkeit der Quelle, ſondern die ſubjective des Subjects ſelbſt,
welches dann weiter die Najade zur Muſe erhebt. Die Na
jaden oder Quellen ſind der äußerliche Anfang der Muſen .
Doch der Muſen unſterbliche Geſänge ſind nicht das, was
man hört, wenn man die Quellen murmeln hört , ſondern
fie find die Productionen des finnig horchenden Geiſtes , der
in ſeinem Hinauslauſchen in fich ſelbſt producirt. Die Auslegung
und Erklärung der Natur und der natürlichen Veränderungen , das
Nachweiſen des Sinnes und der Bedeutung darin , das iſt das
Thun des ſubjectiven Geiftes , was die Griechen mit dem Namen
Mavtala belegten . Wir können dieſe überhaupt als die Art der
Bezüglichkeit des Menſchen zur Natur faffen. Zur uavtela ge
hört der Stoff und der Erklärer, welcher das Sinnvolle herauð- -
bringt. Plato ſpricht davon in Beziehung auf die Träumeund
den Wahnſinn, in den der Menſch in der Krankheit verfält; es
bedürfe eines Auslegers , uáttis , um dieſe Träume und dieſen
Wahnſinn zu erklären . Die Natur hat dem Griechen auf ſeine
Fragen geantwortet : das iſt in dem Sinne wahr, daß der Menſch
aus ſeinem Geiſte die Fragen der Natur beantwortet hat. Die
Anſchauung wird dadurch rein poetiſch , denn der Geiſt macht
darin den Sinn , den das natürliche Gebilde ausdrückt. Ueberall
verlangten die Griechen nach einer Auslegung und Deutung des
Natürlichen . Homer erzählt im legten Buche der Odyffee , daß
als die Griechen um den Achiù ganz in Trauer verſenkt waren ,
ein großes Toſen über das Meer her entſtanden ſey : die Grie
chen ſeyen ſchon im Begriff geweſen , auseinander zu fliehen , da
ſtand der erfahrene Neſtor auf und erklärte ihnen dieſe Erſchei
nung. Die Thetis , fagte er , komme mit ihren Nymphen , um
den Tod ihres Sohnes zu beklagen . Als eine Peſt im Lager
Erſter Abſchnitt. Die Elemente des griechiſchen Geiſtes. 289
der Griechen ausbrach , gab der Prieſter Ralchas ihnen die Aus
legung: Apoll ſey erzärnt, daß man ſeinem Prieſter Chryſes die
Tochter für das Löſegeld nicht zurückgegeben habe. Das Drakel
hatte urſprünglich auch ganz dieſe Form der Auslegung. Das
älteſte Drakel war zu Dodona (in der Gegend des heutigen
Janina ). Herodot ſagt, die erſten Prieſterinnen des Tempels
daſelbſt ſehen aus Aegypten geweſen , und doch wird dieſer Tem
pel als ein altgriechiſcher angegeben. Das Geſäuſel der Blätter
von den heiligen Eichen war dort die Weifſagung. Es waren
daſelbſt auch metallene Becken aufgehängt. Die Töne der zu
ſammenſchlagenden Becken waren aber ganz unbeſtimmt und hat
ten keinen objectiven Sinn , ſondern der Sinn , die Bedeutung
kam erſt durch die auffaſſenden Menſchen hinein . So gaben auch
die delphiſchen Prieſterinnen , bewußtlos , beſinnungslos , im
Taumel der Begeiſterung (uavia ) unvernehmliche Töne von fich,
und erſt der udvtis legte eine beſtimmte Bedeutung hinein . In
der Höhle des Trophonius hörte man das Geräuſch von unter
irdiſchen Gewäſſern , es ſtellten ſich Geſichte dar: dieß Unbeſtimmte
gewann aber auch erſt eine Bedeutung durch den auslegenden
auffaſſenden Geiſt. Es iſt noch zu bemerken , daß die Anregun
gen des Geiſtes zunächſt äußerliche natürliche Regſamkeiten ſind,
dann aber eben ſo innere Veränderungen , die im Menſchen ſelbſt
vorgehen , wie die Träume, oder der Wahnſinn
du der Delphiſchen
n
a ſinnvoll
ein Schmerſt gegen ausgelegt
ser elegt wer
wer
Prieſterin , welche durch den luóvtis
den . Im Anfang der Iliade brauft Achill gegen den Agamem
non auf und iſt im Begriff ſein Schwert zu ziehen , aber ſchnell
hemmt er die Bewegung feines Armes und faßt ſich im Zorn ,
indem er ſein Verhältniß zu Agamemnon bedenkt. Der Dichter
legt dieſes aus , indem er ſagt: das fesy die Palas Athene (die
Weisheit , die Beſinnung) geweſen , die ihn aufgehalten habe.
Als Odyſſeus bei den Phäafen ſeinen Diskus weiter als die
Andern geworfen hatte und einer der Phäafen ſich ihm freund
lich geſinnt zeigt, ſo erkennt der Dichter in ihm die Pallas Athene.
Philoſophie d. Geſchichte. 3. Aufl. 19
290 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
Dieſe Bedeutung iſt fo das Innere, der Sinn , das Wahrhafte,
was gewußt wird, und die Dichter ſind auf dieſe Weiſe die Leh
rer der Griechen geweſen : vor Allem aber war es Homer. Die
javteią überhaupt iſt Poeſie , nicht willkürliches Phantaſiren ,
ſondern eine Phantaſie, die das Geiſtige in das Natürliche hinein
legt und ſinnvolles Wiſſen iſt. Der griechiſche Geiſt iſt daher
im Ganzen ohne Aberglauben , indem er das Sinnliche in Sin
niges verwandelt, ſo daß die Beſtimmungen aus dem Geiſte
herkommen ; obgleid, der Aberglaube von einer andern Seite
wieder hineinkommt, wie bemerkt werden wird , wenn Beſtimmungen
für das Dafürhalten und Handeln aus einer andern Quelle, als
aus dem Geiſtigen geſchöpft werden .
Die Anregungen des griechiſchen Geiſtes find aber nicht
bloß auf äußerliche und innerliche zu beſchränken , ſondern das
Traditionelle aus der Fremde, die ſchon gegebene Bildung , Götter
und Gottesdienſte ſind mit hierher zu rechnen . Es iſt ſchon lange
eine große Streitfrage geweſen , ob die Künſte und die Religion der
Griechen ſich ſelbſtſtändig entwickelt haben oder durch Anregung
von außen . Wenn der einſeitige Verſtand dieſen Streit führt,
ſo iſt er unauflöslich ; denn es iſt ebenſo geſchichtlich , daß die
Griechen aus Indien , Syrien , Aegypten Vorſtellungen herüber
bekommen haben , wie, daß die griechiſchen Vorſtellungen eigen
thümlich und jene andern fremd ſind. Herodot ſagt ebenſo :
Homer und Heſiod haben den Griechen ihr Götterges
ſchlecht gemacht, und den Göttern die Beinamen gegeben , —
ein großer Ausſpruch , mit dem ſich beſonders Creuzer viel zu
thun gemacht hat; als er andrerſeits wieder ſagt, Griechenland
habe die Namen ſeiner Götter aus Aegypten bekommen , und die
Griechen hätten in Dodona angefragt, ob ſie dieſe Namen an
nehmen ſollten . Dieſes ſcheint ſich zu widerſprechen , iſt aber
dennoch ganz im Einklange, denn aus dem Empfangenen haben
die Griechen das Geiſtige bereitet. Das Natürliche, das von
den Menſchen erklärt wird , das Innere , Weſentliche deſſelben
Erſter Abſchnitt. Die Elemente des griechiſchen Geiſtes. 291
iſt der Anfang des Göttlichen überhaupt. Ebenſo wie in der
Kunſt die Griechen techniſcheGeſchicklichkeiten beſonders von den Ae
gyptern herbekommen haben mögen , ebenſo konnte ihnen auch der
Anfang ihrer Religion von außen her kommen , aber durch ihren
ſelbſtſtändigen Geiſt haben ſie das Einewie das Andere umges
bildet.
Spuren ſolcher fremden Anfänge der Religion fann man
überall entdecken (Creuzer in ſeiner Symbolik geht beſonders dar
auf aus). Die Liebſchaften des Zeus erſcheinen zwar als et
was Einzelnes , Aeußerliches , Zufälliges , aber es läßt ſich nachs
weiſen ,daß fremdartigetheogoniſche Vorſtellungen dabei zu Grunde
liegen . Hercules iſt bei den Hellenen dieß geiſtig Menſchliche,
das ſich durch eigene Thatfraft , durch die zwölf Arbeiten den
Olymp erringt: die fremde zu Grunde liegende Idee iſt aber die
Sonne, welche die Wanderung durch die zwölf Zeichen des Thiers
kreiſes vollbringt. Die Myſterien waren nur ſolche alte Anfänge,
und enthielten ſicherlich keine größere Weisheit, als ſchon im Bes
wußtſeyn der Griechen lag. Alle Athener waren in die Myftes
rien eingeweiht , und nur Sokrates ließ ſich nicht initiiren ,weil
er wohl wußte, daß Wiſſenſchaft und Kunſt nicht aus den My
ſterien hervorgehen , und niemals im Geheimniß die Weisheit
liegt. Die wahre Wiſſenſchaft iſt vielmehr auf dem offenen Felde
des Bewußtſeyns. .
Wollen wir nun das, was der griechiſche Geiſt iſt, zu
ſammenfaſſen , ſo macht dieß die Grundbeſtimmung aus , daß die
Freiheit des Geiſtes bedingt und in weſentlicher Beziehung auf
eine Naturerregung iſt. Die griechiſche Freiheit iſt durch Anderes
erregt, und dadurch frei, daß ſte die Anregung aus fich verän
dert und producirt. Dieſe Beſtimmung iſt die Mitte zwiſchen
der Selbſtloſigkeit des Menſchen , (wie wir ſie im aſiatiſchen Prin
cipe erbliden , wo das Geiſtige und Göttliche nur auf natürliche
Weiſe beſteht), und der unendlichen Subjectivität als reiner Ge
wißheit ihrer ſelbſt, dem Gedanken , daß das Ich der Boden für
19 *
292 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
Alles ſey , was gelten ſoll. Der griechiſche Geiſt als Mitte geht
von der Natur aus und verkehrt ſie zum Gefeßtſeyn ſeiner aus
fich ; die Geiſtigkeit iſt daher noch nicht abſolut frei und noch
nicht vollkommen aus ſich ſelbſt, Anregung ihrer ſelbſt. Von
Ahnung und Verwunderung geht der griechiſche Geift aus,
und geht dann weiter zum Seßen der Bedeutung fort. Auch
am Subjecte, ſelbſt wird dieſe Einheit hervorgebracht. Am Men
fchen iſt die natürliche Seite das Herz, die Neigung, die Leiden
ſchaft , die Temperamente ; dieſe wird nun geiſtig ausgebildet zur
freien Individualität, ſo daß der Charakter nicht im Verhältniß
zu den allgemeinen ſittlichen Mächten , als Pflichten , ſteht, ſon
dern daß das Sittliche, als eigenthümliches Seyn und Wollen
des Sinnes und der beſonderen Subjectivität iſt. Dieß macht
eben den griechiſchen Charakter zur ſchönen Individualität,
welche durch den Geiſt hervorgebracht iſt, indem er das Natür
liche zu ſeinem Ausdruck umbildet. Die Thätigkeit des Geiſtes
hat hier noch nicht an ihm ſelbſt das Material und das Organ
der Aeußerung , ſondern ſie bedarf der natürlichen Anregung und
des natürlichen Stoffes ; ſie iſt nicht freie ſich ſelbſt beſtim
mende Geiſtigkeit, ſondern zur Geiſtigkeit gebildete Natürlichkeit,
- geiſtige Individualität. Der griechiſche Geiſt iſt der plaſtiſche
Künſtler , welcher den Stein zum Kunſtwerke bildet. Bei dieſem
Bilden bleibt der Stein nicht bloß Stein und die Form nur
äußerlich an ihn gebracht, ſondern er wird auch gegen ſeine Na
tur zum Ausdruck des Geiſtigen gemacht , und ſo um gebildet.
Umgekehrt bedarf der Künſtler für ſeine geiſtigen Conceptionen
des Steines , der Farben , der finnlichen Formen zum Ausdruck
ſeiner Idee ; ohne ſolches Element kann er ſelbſt ſowohl der Idee
nicht bewußt werden , als auch ſie Andern nicht gegenſtändlich
machen , denn ſie kann ihm nicht im Denken Gegenſtand werden .
- Auch der ägyptiſche Geiſt war dieſer Arbeiter im Stoff, aber
das Natürliche war dem Geiſtigen noch nicht unterworfen ; es
blieb beim Ringen und Kämpfen mit ihm ; das Natürliche blieb
Erſter Abſnitt. Die Elemente des griechiſchen Geiſtes. 293
noch für ſich und Eine Seite des Gebildes , wie im Leibe der
Sphinr. In der griechiſchen Schönheit iſt das Sinnliche nur
Zeichen, Ausdrud , Hülle, worin der Geiſt fich manifeſtirt.
Es muß noch hinzugefügtwerden , daß, indem der griechiſche
Geift dieſer umbildende Bildner iſt, er ſich in ſeinen Bildungen
frei weiß ; denn er iſt ihr Schöpfer , und fie ſind ſogenanntes
Menſchenwerf. Sie ſind aber nicht nur dieß, ſondern die ewige
Wahrheit und die Mächte des Geiſtes an und für ſich , und
ebenſo vom Menſchen nicht geſchaffen , als geſchaffen . Er hat
Achtung und Verehrung vor dieſen Anſchauungen und Bildern ,
vor dieſem Zeus zu Olympia und dieſer Pallas auf der Burg,
ebenſo vor dieſen Geſeßen des Staates und der Sitte; aber Er,
der Menſch , iſt der Mutterleib , der ſie concipirt , er die Bruſt,
die ſie geſaugt, er das Geiſtige , das ſie groß und rein gezogen
hat. So iſt er heiter in ihnen , und nicht nur an fich frei, ſon
dern mit dem Bewußtſeyn ſeiner Freiheit ; ſo iſt die Ehre des
Menſchlichen verſchlungen in die Ehre des Göttlichen. Die Men
ſchen ehren das Göttliche an und für ſich , aber zugleich als ihre
That , ihr Erzeugniß und ihr Daſeyn : ſo erhält das Göttliche
ſeine Ehre vermittelft der Ehre des Menſchlichen ,und das Menſch
liche vermittelſt der Ehre des Göttlichen .
So beſtimmt iſt es die ſchöne Individualität, welche
den Mittelpunkt des griechiſchen Charakters ausmacht. Es
find nun die beſonderen Strahlen , in denen ſich dieſer Begriff
realiſirt, näher zu betrachten . Alle bilden Kunſtwerke; wir fön =
nen ſie als ein dreifaches Gebilde faſſen : als das ſubjective
Kunſtwerk, das heißt, als die Bildung des Menſchen ſelbſt ; als
das objective Kunſtwerk , das heißt, als die Geſtaltung der
Götterwelt; endlich als das politiſche Kunſtwerk, die Weiſe der
Verfaſſung und der Individuen in ihr.
294 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.

Zweiter Abſchnitt.
Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität

Erſtes Capitel.
Das ſubjective Kunſtwerk.
Der Menſch verhält ſich mit ſeinen Bedürfniſſen zur äußer
lichen Natur auf praktiſche Weiſe, und geht dabei, indem er ſich
durch dieſelbe befriedigt, und ſie aufreibt, vermittelnd zu Werke.
Die Naturgegenſtände nämlich ſind mächtig und leiſten mannig
fachen Widerſtand. Um ſte zu bezwingen , ſchiebt der Menſch an
dere Naturdinge ein , kehrt ſomit die Natur gegen die Natur ſelbſt,
und erfindet Werkzeuge zu dieſem Zwede. Dieſe menſchlichen
Erfindungen gehören dem Geiſte an , und ſolches Werkzeug iſt
höher zu achten , als der Naturgegenſtand. Auch ſehen wir, daß
die Griechen fte beſonders zu ſchäßen wiſſen , denn im Homer er
ſcheint recht auffallend die Freude des Menſchen über dieſelben .
Beim Scepter des Agamemnon wird weitläufig ſeine Entſtehung
erzählt; der Thüren , die ſich in Angeln drehen , der Rüſtungen
und Geräthſchaften wird mit Behaglichkeit Erwähnung gethan.
Die Ehre der menſchlichen Erfindung zur Bezwingung der Natur
wird den Göttern zugeſchrieben .
Der Menſch gebraucht aber nun die Natur andererſeits zum
Schmuck , welcher den Sinn hat, nur ein Zeichen des Reich
thums und deſſen zu ſeyn , was der Menſch aus fich gemacht
hat. Solch Intereſſe des Schmuckes ſehen wir bei den homeri
ſchen Griechen ſchon ſehr ausgebildet. Barbaren und geſittete
Völfer pußen fich ; aber die Barbaren bleiben dabei ſtehen , ſich
zu pußen , d . h. ihr Körper ſoll durch ein Reußerliches gefallen .
Zweiter Abſơnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 295
Der Schmuck aber hat nur die Beſtimmung Schmud eines An
dern zu ſeyn , welches der menſchliche Leib iſt , in welchem ſich
der Menſch unmittelbar findet, und welchen er, wie das Natür
liche überhaupt, umzubilden hat. Das nächſte geiſtige Intereſſe
iſt daher, den Körper zum volfоmmenen Organ für den Willen
auszubilden , welche Geſchidlichkeit einerſeits wieder Mittel für
andere Zwede ſeyn , andererſeits ſelbſt als Zweck erſcheinen fann.
Bei den Griechen nun finden wir dieſen unendlichen Trieb der
Individuen ſich zu zeigen und ſo zu genießen . Der ſinnliche
Genuß wird nicht die Baſis ihres friedlichen Zuſtandes , ſo we
nig als die daran ſich knüpfende Abhängigkeit und Stumpfheit
des Aberglaubens. Sie ſind zu kräftig erregt, zu ſehr auf ihre
Individualität geſtellt , um die Natur, wie ſie ſich in ihrer Macht
und Güte giebt, ſchlechthin zu verehren . Der friedliche Zuſtand ,
nachdem das Raubleben aufgehoben und bei freigebiger Natur
auch Sicherheit und Muße gewährt war, verwies ſie auf ihr
Selbſtgefühl, fich zu ehren . So wie ſie aber einerſeits zu ſelbſt
ſtändige Individualitäten ſind, um durch Aberglauben unterjocht
zu werden , ſo ſind ſie auch nicht ſchon eitel. Das Weſentliche
muß vielmehr erſt herausgebrachtwerden , als daß es ihnen ſchon
eitel geworden wäre. Das frohe Selbſtgefühl gegen die finnliche
Natürlichkeit, und das Bedürfniß , nicht nur fich zu vergnügen ,
ſondern ſich zu zeigen , dadurch vornehmlich zu gelten und ſich zu
genießen , macht nun die Hauptbeſtimmung und das Hauptge
ſchäft der Griechen aus. Frei wie der Vogel in der Luft ſingt,
To äußert hier nur der Menſch , was in ſeiner unverfümmerten
menſchlichen Natur liegt, um ſich durch ſolche Aeußerung zu be
weiſen , und Anerkennung zu erwerben . – Dieß iſt der ſub
jective Anfang der griechiſchen Kunſt, worin der Menſch ſeine
Körperlichkeit , in freier ſchöner Bewegung und in kräftiger Ge
ſchidlichkeit, zu einem Kunſtwerke ausarbeitet. Die Griechen
machten fich ſelbſt erſt zu ſchönen Geſtaltungen , ehe ſie folche
objectiv im Marmor und in Gemälden ausdrüdten . Der harm
296 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
loſe Wettkampf in Spielen , worin ein Jeder zeigt, was er iſt,
iſt ſehr alt. Homer beſchreibt auf eine herrliche Weiſe die Spiele
Achil's zu Ehren des Patroklus , aber in allen ſeinen Dichtun
gen findet ſich keine Angabe von Bildſäulen der Götter , ohner
achtet er das Heiligthum zu Dodona und das Schafhaus des
Apollo zu Delphi erwähnt. Die Spiele beſtehen beim Homer '
im Ringen und Fauftkampf , im lauf, im Lenken der Roſſe
und Wagen , im Wurf des Diskus over des Wurfſpie
Bes , und im Bogenſchießen . – Mit dieſen Uebungen verbin
det ſich Tanz und Geſang zur Aeußerung und zum Genuß froher,
geſelliger Heiterkeit, welche Künſte gleichfalls zur Schönheit er
blühten . Auf dem Schilde des Achill wird von Hephäftos unter
Anderem vorgeſtellt, wie ſchöne Jünglinge und Mädchen ſich mit
gelehrigen Füßen ſo ſchnell bewegen , als der Töpfer ſeine Scheibe
herumtreibt. Die Menge ſteht umher ſich daran ergößend , der
göttliche Sänger begleitet den Geſang mit der Harfe und zwei
Haupttänzer drehen ſich in der Mitte des Reigens.
Dieſe Spiele und Künſte mit ihrem Genuß und ihrer Ehre
waren anfangs nur Privatſache und bei beſonderen Gelegenhet
ten veranſtaltet; in der Folge wurden ſie aber eine Nationalan
gelegenheit, und auf beſtimmte Zeiten an beſtimmten Orten feft
geſeßt. Außer den olympiſchen Spielen in der heiligen land
ſchaft Elis wurden noch die iſthmiſchen , pythiſchen und nemeiſchen
an andern Orten gefeiert.
Betrachten wir nun die innere Natur dieſer Spiele , ſo iſt
zuvörderſt das Spiel dem Ernſte, der Abhängigkeit und Noth
entgegengeſeßt. Mit ſolchem Ringen , Laufen , Kämpfen war es
fein Ernſt ; es lag darin Feine Noth des fich Wehrens, fein Be
dürfniß des Kampfes. Ernſt iſt die Arbeit in Beziehung auf
das Bedürfniß : ich oder die Naturmuß zu Grunde gehen ; wenn
das Eine beſtehen ſoll, muß das Andere fallen . Gegen dieſen
Ernſt nun gehalten iſt aber das Spiel dennoch der höhere Ernſt,
denn die Natur iſt darin dem Geiſte eingebildet, und wenn auch
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 297

in dieſen Wettkämpfen das Subject bis zum höchſten Ernſte des


Gedankens nicht fortgegangen iſt, ſo zeigt doch der Menſch in
dieſer Uebung der Körperlichkeit ſeine Freiheit, daß er den Körper
nämlich zum Organ des Geiſtes umgebildet habe.
DerMenſch hat an einem ſeiner Organe,der Stimme, ſelbſt un
mittelbar ein Element, welches einen weiteren Inhalt , als nur die
bloße ſinnliche Gegenwart, zuläßt und fordert. Wir haben geſehen ,
wie der Geſang mit dem Tanz verbunden iſt und ihm dient. Der
Gefang macht ſich dann aber auch ſelbſtſtändig und braucht mu- .
fifaliſche Inſtrumente zu ſeiner Begleitung ; er bleibt dann nicht
inhaltsloſer Geſang, wie die Modulationen eines Vogels , die
zwar die Empfindung anſprechen können , aber keinen objectiven
Inhalt haben ; ſondern er fordert einen Inhalt, der aus der
Vorſtellung und dem Geiſte erzeugt iſt, und der ſich dann weis
ter zum obiectiven Kunſtwerk geſtaltet.

Zweites Capitel.
Das objective Kunſtwerk.

Wenn nach dem Inhalte des Geſanges gefragt wird, ſo ift


zu ſagen , daß der weſentliche und abſolute der religiöſe iſt.
Wir haben den Begriff des griechiſchen Geiſtes geſehen ; die Re
ligion iſt nun nichts anderes , als daß dieſer Begriff als das
Weſentliche zum Gegenſtande gemacht wird. Nach dieſem Be
griff wird auch das Göttliche die Naturmacht'nur als Element
in fich enthalten , welches zur geiſtigen Macht umgebildet wird .
Von dieſem Naturelement, als dem Anfange, wird nur noch ein
analoger Anklang in der Vorſtellung der geiſtigen Macht erhal
ten ; denn die Griechen haben Gott als Geiſtiges verehrt. Wir
können den griechiſchen Gott daher nicht wie den indiſchen ſo
298 Zweiter Theil. Die grieciſdje Welt.
faſſen , daß der Inhalt irgend eine Naturmacht ſeyy, woran die
menſchliche Geſtalt nur die äußerliche Form darſtelle, ſondern der
Inhalt iſt das Geiſtige ſelbſt, und das Natürliche iſt nur der
Ausgangspunkt. Andererſeits müſſen wir aber ſagen , daß der
Gott der Griechen noch nicht der abſolute freie Geiſt iſt, ſon
dern der Geiſt in beſonderer Weiſe , in menſchlicher Beſchrän
fung, noch als eine beſtimmte Individualität von äußeren Be
dingungen abhängend. Die objectiv ſchönen Individualitäten ſind
die Götter der Griechen . Der Geiſt Gottes iſt hier ſo beſchaffen ,
daß er noch nicht ſelbſt als Geiſt für ſich iſt, ſondern da iſt,
fich noch ſinnlich manifeſtirt, ſo aber , daß das Sinnliche nicht
ſeine Subſtanz, ſondern nur Element ſeiner Manifeſtation iſt.
Dieſer Begriff muß für uns der leitende ſeyn bei der Betrach
tung der griechiſchen Mythologie , und wir müſſen um ſo mehr
daran feſthalten , als theils durch die Gelehrſamkeit, welche
einen unendlichen Stoff aufgehäuft hat, theils durch den auf
löſenden abſtracten Verſtand dieſe Mythologie, wie die ältere
griechiſche Geſchichte , zum Felde der größten Verwirrung ge
worden iſt.
Wir haben im Begriff des griechiſchen Geiſtes die zwei
Clemente, Natur und Geiſt, in dem Verhältniß gefunden , daß
pie Natur nur den Ausgangspunkt bildet. Dieſe Herabſeßung
der Natur iſt in der griechiſchen Mythologie als Wendepunkt des
Ganzen , als der Götterkrieg ausgeſprochen , als Sturz der Tita
nen durch das Geſchlecht des Zeus. Der Uebergang vom orien
taliſchen zum occidentaliſchen Geiſt iſt darin vorgeſtellt, denn die
Titanen ſind das Natürliche , Naturweſen , denen die Herrſchaft
entriffen wird. Sie werden zwar nachher noch verehrt , doch
nicht als die Regierenden , denn ſie ſind an den Saum der Erde
gewieſen . Die Titanen ſind Naturmächte ; Uranos, Gia, Dkea
nos , Selene, Helios , u . f. f. Kronos iſt die Herrſchaft der ab:
ſtracten Zeit , welche ihre Kinder verzehrt. Die wilde Erzeu
gungskraft wird gehemmt, und Zeus tritt auf als das Haupt
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 299

der neiten Götter , die geiftige Bedeutung haben und ſelbſt Geiſt
find * ). Es iſt nicht möglich , dieſen Uebergang beſtimmter und
naiver auszuſprechen , als hier geſchieht ; das neue Reich der
Götter verkündet , daß die eigenthümliche Natur derſelben geiſtis
ger Art iſt.
Das Zweite iſt, daß die neuen Götter die Naturinomente
und damit das beſtimmte Verhältniß zu den Naturmächten , wie
ſchon oben angedeutet worden iſt, in ſich aufbewahren . Zeus
hat ſeine Bliße und Wolfen , und Here iſt die Erzeugerin des
Natürlichen , die Gebärerin der werdenden Lebendigkeit ; Zeus ift
aber dann der politiſche Gott, der Beſchüßer des Sittlichen und
der Gaſtfreundſchaft. Dfeanos iſt als ſolcher nur die Natur
macht; Poſeidon aber hat zwar noch die Wildheit des Elements
an ihm , iſt jedoch auch eine ſittliche Figur: er hat Mauern ge
baut und das Pferd geſchaffen . Helios iſt die Sonne als Na
turelement. Dieſes Licht iſt, in der Analogie des Geiſtigen , zum
Selbſtbewußtſeyn umgewandelt und Apollo iſt aus dem Helios
hervorgegangen. Der Name Lúxelos deutet auf den Zuſam
menhang mit dem Licht ; Apoll war Hirte bei Admet , die freien
Rinder waren aber dem Helios heilig; ſeine Strahlen , als Pfeile
vorgeſtellt, tödten den Python . Die Idee des Lichts wird man
als die zu Grunde liegende Naturmacht aus dieſer Gottheit nicht
fortbringen können , zumal da ſich die andern Prädicate derſelben
leicht damit verbinden laſſen , und die Erklärungen Müler's und
Anderer , welche jene Grundlage läugnen , viel willkürlicher und
entfernter find. Denn Apoll iſt der Weifſagende und Wiſſende,
das Alles hellmachende Licht; ferner der Heilende und Bekräfti
gende, wie auch der Verderbende , denn er tödtet die Männer ;
er iſt der Sühnende und Reinigende, 3. B . gegen die Eumeni
den , die alten unterirdiſchen Gottheiten , welche das harte , ftrenge
Recht verfolgen ; er felber iſt rein , er hat keine Gattin , ſondern
nur eine Schweſter , und iſt nicht in viele häßliche Geſchichten ,
*) S . Hegels Vorlef.über die Philoſ.der Relig . II. 2. Aufl. S . 102. fg.
300 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
wie Zeus , verwickelt ; er iſt ferner der Wiffende und Ausſpre
chende, der Sänger und Führer der Muſen , wie die Sonne den
harmoniſchen Reigen der Geſtirne anführt. – Ebenſo find die
Najaden zu den Muſen geworden . Die Göttermutter Cybele,
noch zu Epheſus als Artemis verehrt , iſt bei den Griechen als
Artemis , die keuſche Jägerin und Wildtödterin , kaum wiederzu
erkennen . Würde nun geſagt , daß dieſe Verwandlung des Na
türlichen in Geiſtiges unſerem oder ſpäterem griechiſchen Allegori
firen angehöre, ſo iſt dagegen anzuführen , daß dieß Herüberwen :
den des Natürlichen zum Geiſtigen gerade der griechiſche Geiſt
iſt. Die Epigramme der Griechen enthalten ſolche Fortgänge
vom Sinnlichen zum Geiſtigen . Nur der abſtracte Verſtand
weiß dieſe Einheit des Natürlichen und Geiſtigen nicht zu faſſen .
· Das Weitere iſt, daß die Götter als Individualitäten , nicht
als Abſtractionen 311 faſſen ſind, wie z. B . das Wiſſen , der
Eine , die Zeit, der Himmel, die Nothwendigkeit. Solche Abs
ſtractionen ſind nicht der Inhalt dieſer Götter; ſie ſind keine
Alegorien , keine abſtracten mit vielfachen Attributen behängten
Weſen , wie die Horaziſche necessitas clavis trabalibus. Eben
Towenig ſind die Götter Symbole , denn das Symbol iſt nur ein
Zeichen , eine Bedeutung von etwas Anderem . Die griechiſchen
Götter drücken an ihnen ſelbſt aus, was ſie ſind. Die ewige
Ruhe und ſinnende Klarheit im Kopfe Apollo's iſt nicht ein
Symbol, ſondern der Ausdruck, in welchem der Geiſt erſcheint
und ſich gegenwärtig zeigt. Die Götter ſind Subjecte , concrete
Individualitäten ; ein allegoriſches Weſen hat keine Eigenſchaften ,
ſondern iſt ſelbſt nur Eine Eigenſchaft. Die Götter ſind ferner
beſondere Charaktere , indem in jedem von ihnen Eine Beſtim
mung als die charakteriſtiſche überwiegend iſt; es wäre aber ver
gebens, dieſen Kreis von Charakteren in ein Syſtem bringen zu
wollen. Zeus Herrſcht wohl über die andern Götter , aber nicht
in wahrhafter Kraft, ſo daß ſie in ihrer Beſonderheit frei gelaſſen
bleiben . Weil aller geiſtige und fittliche Inhalt den Göttern an
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 301
gehörte, ſo mußte die Einheit, welche über fte geſtellt wurde,
nothwendig abſtract bleiben ; fte war alſo das geſtalt- und in =
haltloſe Factum , die Nothwendigkeit, deren Trauer darin ihren
Grund hat, daß fie das Geiſtloſe iſt, während die Götter fich
in freundlichem Verhältniß zu den Menſchen befinden , denn ſie
find geiſtige Naturen . Das Höhere , daß die Einheit als Gott,
der Eine Geiſt, gewußtwird ,war den Griechen noch nicht bekannt.
In Anſehung der Zufälligkeit und der Beſonderheit,
welche an den griechiſchen Göttern hängt, entſteht die Frage, wo
der äußerliche Urſprung dieſer Zufälligkeit zu ſuchen ſey . Einer
ſeits kommt ſie durch das Local herein , durch das Zerſtreute des
Anfangs des griechiſchen Lebens, das ſich punctualiſirt, und foa
mit ſogleich Localvorſtellungen herbeiführt. Die Localgötter ſtehen
allein und haben eine viel größere Breite , als da ſte ſpäter in
den Kreis der Götter eintreten und zu einem Beſchränkten herab
geſegt werden ; fie ſind nach dem beſonderen Bewußtſeyn und
den particularen Begebenheiten der Gegenden beſtimmt, in welchen
fie erſcheinen . Es giebt eine Menge von Hercules und Zeus,
die ihre Localgeſchichte haben , ähnlich den indiſchen Göttern , die
auch an verſchiedenen Orten Tempel mit einer eigenthümlichen
Hiſtorie beſigen . Ebenſo iſt es mit den katholiſchen Heiligen und
ihren Legenden , wo aber nicht von dem Localen , ſondern 3. B .
von der Einen Mutter Gottes ausgegangen und dann zu der
vielfältigſten Localität fortgeſchritten wird. Die Griechen erzäh
len von ihren Göttern die heiterſten und anmuthigſten Geſchichten ,
deren Grenze gar nicht zu ziehen iſt , da die Einfälle im lebendigen
Geiſteder Griechen immer neu hervorſprudelten . - Eine zweite Quelle
des Urſprungs der Beſonderheiten iſt die Naturreligion , deren
Darſtellungen ebenſo in den griechiſchen Mythen erhalten , als
auch wiedergeboren und verkehrt ſind. Das Erhalten der an
fänglichen Mythen führt auf das berühmte Capitel der Myſte
rien , deren wir ſchon oben Erwähnung thaten . Dieſe Myſterien
der Griechen ſind etwas , was als Unbekanntes , mit dem Vor
urtheil tiefer Weisheit , die Neugier aller Zeiten auf fich gezogen
hat. Zuvörderſt iſt zu bemerken , daß dieſes Alte und Anfäng
liche eben ſeines Anfangs wegen nicht das Vortreffliche, ſondern
das Untergeordnete iſt, daß die reineren Wahrheiten in dies
ſen Geheimniſſen nicht ausgeſprochen waren , und nicht etwa , wie
Viele meinten , die Einheit Gottes gegen die Vielheit der Götter
darin gelehrt wurde. Die Myſterien waren vielmehr alte Got
tesdienſte, und es iſt eben fo ungeſchichtlich als thöricht, tiefe
Philoſopheme darin finden zu wollen , da im Gegentheil nur Na
turideen , rohere Vorſtellungen von der allgemeinen Umwandlung
in der Natur und von der allgemeinen Lebendigkeit der Inhalt
derſelben waren . Wenn man alles Hiſtoriſche, was hier herein
fällt, zuſammenſtellt, ſo wird das Reſultat nothwendig fern , daß
die Myſterien nicht ein Syſtem von Lehren ausmachten , ſondern
ſinnliche Gebräuche und Darſtellungen waren , die nur in Sym
bolen der allgemeinen Operationen der Natur beſtanden , als 3. B .
von dem Verhältniſſe der Erde zu den himmliſchen Erſcheinun :
gen . Den Vorſtellungen der Ceres und Proſerpina , dem Bacchus
und feinem Zuge lag als Hauptſache das Augemeine der Natur
zu Grunde, und das Weitere waren obſcure Geſchichten und
Darſtellungen , deren Hauptintereſſe die Lebenskraft und ihre Ver
ånderungen ſind. Einen analogen Proceß , wie die Natur, hat
auch der Geiſt zu beſtehen ; denn er muß zweimal geboren ſeyn,
das heißt, ſich in fich felbftnegiren ; und ſo erinnerten die Dar
ſtellungen in den Myſterien , wenn auch nur fchwach , an die
Natur des Geiſtes . Sie hatten für die Griechen etwas Schauer
erwedendes ; denn der Menſch hat eine angeborne Schei , wenn
er ſieht , es ſey eine Bedeutung in einer Form , die als finnlich
dieſe Bedeutung nicht ausſpricht, und daher abſtößt und anzieht,
durch den durchklingenden Sinn Ahnungen erweckt, aber Schau
der zugleich durch die abſchreckende Form . Aeſchylus wurde an
geklagt, in ſeinen Tragödien die Myſterien entweiht zu haben .
Die unbeſtimmten Vorſtellungen und Symbole der Myſterien , wo
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 303
das Bedeutungsvolle nur geahnt iſt, find das den klaren reinen
Geſtalten Heterogene und drohen denſelben den Untergang, wed :
halb die Götter der Kunſt von den Göttern der Myſterien ge
trennt bleiben , und beide Sphären ſtreng auseinandergehalten
werden müffen . Die meiſten Götter haben die Griechen aus der
Fremde her erhalten , wie es Herodot ausdrücklich von Aegypten
erzählt, aber dieſe fremden Mythen ſind von den Griechen um
gebildet und vergeiſtigt worden , und was von den ausländiſchen
Theogonieen mit herüber kam , das wurde in dem Munde der
Hellenen zu einer Geſchichte , die oft eine üble Nachrede für die
Götter war, verarbeitet. So ſind auch die Thiere , die noch bei
den Aegyptern als Götter gelten , bei den Griechen zu äußerlichen
Zeichen herabgeſeßt , die neben den geiſtigen Gott treten . Mit
den Beſonderheiten ihres Charakters zugleich werden die griechi
ſchen Götter als menſchlich vorgeſtellt , und dieſer Anthropomor :
phismus wird für ihren Mangel ausgegeben . Hiergegen iſt nun
ſogleich zu ſagen , daß der Menſch , als das Geiſtige , das Wahr
hafte an den griechiſchen Göttern ausmacht, wodurch ſie über alle
Naturgötter und über alle Abſtractionen des Einen und höchſten
Weſens zu ſtehen kommen . Andererſeits wird es auch als ein
Vorzug der griechiſchen Götter angegeben , daß ſte als Menſchen
vorgeſtellt werden , während dem chriſtlichen Gott dieß fehlen
ſolle. Schiller ſagt :
Da die Götter menſchlicher noch waren ,
Waren Menſchen göttlicher.
Aber die griechiſchen Götter ſind nicht als menſchlicher wie der
chriſtliche Gott anzuſehen . Chriſtus iſt viel mehr Menſch : ér
lebt, ſtirbt, leidet den Tod am Kreuze , was unendlich menſchlicher
iſt , als der Menſch der griechiſchen Schönheit. Was nun aber
die griechiſche und chriſtliche Religion gemeinſchaftlich betrifft , ſo
iſt von beiden zu ſagen , daß wenn Gott erſcheinen ſoll, ſeine
Natürlichkeit die des Geiſtes feyn müſſe, was für die ſinnliche
Vorſtellung weſentlich der Menſch iſt, denn keine andere Geſtalt
304 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt .
vermag es , als Geiſtiges aufzutreten . Gott erſcheint zwar in
der Sonne, in den Bergen , in den Bäumen , in allem Lebendis
gen , aber dieß natürliche Erſcheinen iſt nicht die Geſtalt des
Geiſtes: Gott iſt dann vielmehr nur im Inneren des Subjects
wahrnehmbar. Sol Gott felbft in einem entſprechenden Aus
druck auftreten , ſo kann dieſes nur die menſchliche Geſtalt ſeyn :
denn aus dieſer ſtrahlt das Geiſtige hervor. Wenn man aber
fragen wollte, muß Gott erſcheinen ? ſo würde dieſes nothwendig
bejaht werden müſſen , denn nichts iſt weſentlich , was nicht er
ſcheint. Der wahrhafte Mangel der griechiſchen Religion , gegen
die chriftliche gehalten , iſtnun , daß in ihr die Erſcheinung die
höchſte Weiſe , überhaupt das Ganze des Göttlichen ausmacht,
während in der chriſtlichen Religion das Erſcheinen nur als ein
Moment des Göttlichen angenommen wird. Der erſcheinende
Gott iſt hier geſtorben , iſt als ſich aufhebend geſeßt; erft als ge
ſtorben iſt Chriſtus fißend an der Rechten Gottes dargeſtellt.
Der griechiſche Gott iſt dagegen für die Hellenen in der Erſchei
nung perennirend, nur im Marmor , im Metall oder Holz , oder
in der Vorſtellung als Bild der Phantaſte. Warum aber iſt
Gott ihnen nicht im Fleiſche erſchienen ? Weil der Menſch nur
galt , Ehre und Würde nur hatte , als zur Freiheit der ſchönen
Erſcheinung herausgearbeiteter und gemachter ; die Form und Ges
ſtaltung der Göttlichkeit blieb ſomit eine vom beſonderen Sub
jecte erzeugte. Das iſt das Eine Element im Geiſte, daß er
fich hervorbringt, daß er ſich zu dem macht, was er iſt; das
andere aber iſt, daß er urſprünglich frei und die Freiheit ſeine
Natur und ſein Begriff iſt. Die Griechen aber , weil ſie ſich
noch nicht denkend erfaßten , kannten noch nicht den Geiſt in ſei
ner Algemeinheit, noch nicht den Begriff des Menſchen und die
an ſich ſeyende Einheit der göttlichen und menſchlichen Natur
nach der chriſtlichen Idee. Erſt der in ſich gewiſſe, innere Geiſt
kann es ertragen , die Seite der Erſcheinung frei zu entlaſſen ,
und hat dieſe Sicherheit, einem Dieſen die göttliche Natur anzu
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 305
vertrauen . Er braucht nicht mehr die Natürlichkeit in das Gei
ftige einzubilden , um das Göttliche feſtzuhalten und die Einheit
äußerlich anſchaubar zu haben , ſondern indem der freie Gedanke
das Aeußerliche denkt, fann er es laſſen wie es iſt; denn er denkt
dieſe Vereinigung des Endlichen und Unendlichen , und weiß fie
nicht als zufällige Vereinigung, ſondern als das Abſolute, die
ewige Idee ſelbſt. Weil die Subjectivität vom griechiſchen Geiſt
noch nicht in ihrer Tiefe erfaßt iſt, ſo iſt die wahrhafte Verſöh
nung in ihm noch nicht vorhanden , und der menſchliche Geiſt
noch nicht abſolut berechtigt. Dieſer Mangel hat ſich ſchon darin
gezeigt, daß über den Göttern als reine Subjectivität das Fatum
ſteht; er zeigt fich auch darin , daß die Menſchen ihre Entſchlüſſe
noch nicht aus ſich ſelbſt, ſondern von ihren Orakeln hernehmen .
Menſchliche wie göttliche Subjectivität nimmt noch nicht, als
unendliche, die abſolute Entſcheidung aus ſich ſelbſt.

Drittes Capitel.
Das politiſche Kunſtwerk.
: Der Staat vereinigt die beiden eben betrachteten Seiten des
ſubjectiven und objectiven Kunſtwerfs. In dem Staat iſt der
Geiſt nicht nur Gegenſtand als göttlicher , nicht nur zur ſchönen
Körperlichkeit ſubjectiv ausgebildet, ſondern es iſt lebendiger all
gemeiner Geiſt, der zugleich der ſelbſtbewußte Geift der einzelnen
Individuen iſt.
Nur die demokratiſche Verfaſſung war für dieſen Geiſt
und für dieſen Staat geeignet. Wir haben den Despotismus
im Orient in glänzender Ausbildung als eine dem Morgenland
entſprechende Geſtaltung geſehen ; nicht minder iſt die demokratiſche
Form in Griechenland die welthiſtoriſche Beſtimmung. In Grie
Philoſophie o . Geſchichte. 3 . Aufl. 20
306 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
chenland iſt nämlich die Freiheit des Individuums vorhanden , aber
fie iſt noch nicht zu der Abſtraction gefommen , daß das Subject
ſchlechthin vom Subſtantiellen , dem Staate als ſolchen , abhängt,
ſondern in ihr iſt der individuelle Wille in ſeiner ganzen Leben
digkeit frei und nach ſeiner Beſonderheit die Bethätigung des
Subſtantiellen . In Rom werden wir dagegen die ſchroffe Herr
ſchaft über die Individuen fehen , ſowie im germaniſchen Reiche
die Monarchie, in welcher das Individuum nicht nur am Mo
narchen , ſondern an der ganzen monarchiſchen Organiſation Theil
nimmt und mit thätig iſt.
Der demokratiſche Staat iſt nicht patriarchaliſch , ruht nicht
auf dem noc , ungebildeten Vertrauen , ſondern es gehören Ge
ſeße, ſowie das Bewußtſeyn der rechtlichen und ſittlichen Grund
lage dazu , ſowie daß dieſe Gefeße als poſitiv gewußt werden .
Zur Zeit der Könige war in Hellas noch kein politiſches Leben ,
und alſo auch nur geringe Spuren von Geſeßgebung. In dem
Zwiſchenraum aber , vom trojaniſchen Kriege bis gegen die Zeit
des Cyrus , trat das Bedürfniß derſelben ein . Die erſten Geſeka
geber ſind unter dem Namen der ſieben Weiſen bekannt, wor
unter noch keine Sophiften und Lehrer der Weisheit zu verſtehen
find, die mit Bewußtſeyn das Richtige und Wahre vorgetragen
hätten , ſondern nur denkende Menſchen , deren Denken aber nicht
bis zur eigentlichen Wiſſenſchaft fortgeſchritten war. Es find
praktiſch politiſche Männer ; und von den guten Rathſchlägen ,
welche zwei derſelben , Thales von Milet und Bias von Priene,
den joniſchen Städten gaben , iſt ſchon früher geſagt worden .
Solon wurde ſo von den Athenern beauftragt, ihnen Gefeße zu
geben , da die vorhandenen nichtmehr genügten . Solon gab den
Athenern eine Staatsverfaſſung, wodurch Alle gleiche Rechte befa
men , ohne daß jedoch die Demokratie eine ganz abſtracte gewor
den wäre. Das Hauptmoment der Demokratie iſt ſittliche Ges
ſinnung. Die Jugend iſt die Grundlage der Demokratie, ſagt
Montesquieu ; dieſer Ausſpruch iſt eben ſo wichtig als wahr in
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 307

Bezug auf die Vorſtellung , welche man ſich gewöhnlich von der
Demokratie macht. Dem Individuum iſt hier das Subſtantielle
des Rechts , die Staatsangelegenheit, das allgemeine Intereſſe
das Weſentliche ; aber es iſt dieß als Sitte , in der Weiſe des
objectiven Willens, ſo daß die Moralität im eigentlichen Sinne,
die Innerlichkeit der Ueberzeugung und Abſicht noch nicht vor
handen iſt. Das Gefeß iſt da , ſeinem Inhalte nach als Gefeß
der Freiheit und vernünftig, und es gilt, weil es Gefeß ift, nach
ſeiner Unmittelbarkeit. Wie in der Schönheit noch das Natur
element, im Sinnlichen derſelben , vorhanden iſt, ſo auch find in
dieſer Sittlichkeit die Gefeße in der Weiſe der Naturnothwendiga
feit. Die Griechen bleiben in der Mitte der Schönheit und
erreichen noch nicht den höheren Standpunkt der Wahrheit. In
dem Sitte und Gewohnheit die Form iſt , in welcher das Rechte
gewollt und gethan wird, ſo iſt ſie das Feſte und hat den Feind
der Unmittelbarkeit, die Reflerion und Subjectivität des Willens
noch nicht in fich . Es fann daher das Intereſſe des Gemein
weſens in den Willen und Beſchluß der Bürger gelegt bleiben ,
- und dieß muß die Grundlage der griechiſchen Verfaſſung ſeyn ;
denn es iſt noch kein Princip vorhanden , welches der wollenden
Sittlichkeit entgegenſtreben und ſie in ihrer Verwirklichung hin
dern könnte. Die demokratiſche Verfaſſung iſt hier die einzig
mögliche : die Bürger ſind ſich des Particularen , hiemit auch des
Böſen , noch nicht bewußt; der objective Wille iſt ungebrochen in
ihnen . Athene die Göttin iſt Athen ſelbſt, d. h. der wirkliche
und concrete Geiſt der Bürger. Der Gott hört nur auf in ih
nen zu ſeyn , wenn der Wille in fich , in ſein Adyton des Wiſſens
und Gewiffens zurückgegangen iſt und die unendliche Trennung
des Subjectiven und Objectiven geſeßt hat. Dieß iſt die wahr
hafte Stellung der demokratiſchen Verfaffung: ihre Berechtigung
und abſolute Nothwendigkeit beruht auf dieſer noch immanenten
objectiven Sittlichkeit. In den modernen Vorſtellungen von der
Demokratie liegt dieſe Berechtigung nicht : die Intereſſen der Ge:
20 *
308 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
meine, die öffentlichen Angelegenheiten ſollen von dem Volfe be
rathichlagt und beſchloſſen werden ; die Einzelnen ſollen Rath
ſchlagen , ihre Meinung vortragen , ihre Stimmen abgeben ; und
zwar darum , weil das Staatsintereſſe und die öffentlichen An
gelegenheiten die ihrigen ſeyen . Alles dieß iſt ganz richtig ; aber
der weſentliche Umſtand und Unterſchied liegt darin , wer dieſe
Einzelnen ſind. Abſolute Berechtigung haben ſie nur, inſofern
ihr Wille noch der objective Wille iſt, nicht dieſes oder jenes
will , nicht bloß guter Wille. Denn der gute Wille iſt etwas
Particulares , ruht auf der Moralität der Individuen , auf ihrer
Ueberzeugung und Innerlichkeit. Gerade die ſubjective Freiheit,
welche das Princip und die eigenthümliche Geſtalt der Freiheit
in unſrer Welt, welche die abſolute Grundlage unſeres Staats
und unſereg religiöſen Lebens ausmacht , konnte für Griechenland
nur als das Verderben auftreten . Die Innerlichkeit lag dem
griechiſchen Geiſt nahe, er mußte bald dazu kommen ; aber fie
ſtürzte ſeine Welt ins Verderben , denn die Verfaſſung war nicht
auf dieſe Seite berechnet, und kannte dieſe Beſtimmung nicht,
weil ſie nicht in ihr vorhanden war. Von den Griechen in der
erſten und wahrhaften Geſtalt ihrer Freiheit können wir behaup
ten , daß ſie kein Gewiſſen hatten : bei ihnen herrſchte die Ge
wohnheit für das Vaterland zu leben , ohne weitere Reflerion.
Die Abſtraction eines Staates , der für unſeren Verſtand das
Weſentliche iſt, kannten ſie nicht , ſondern ihnen war der Zweck
das lebendige Vaterland : dieſes Athen , dieſes Sparta , dieſe Tem
pel, dieſe Altäre, dieſe Weiſe des Zuſammenlebens, dieſer Kreis
von Mitbürgern , dieſe Sitten und Gewohnheiten . Dem Grie
chen war das Vaterland eine Nothwendigkeit, ohne die er nicht
leben konnte. Die Sophiſten , die Lehrer der Weisheit, waren
es erſt, welche die ſubjective Reflerion und die neue Lehre auf
brachten , die Lehre, daß Jeder nach ſeiner eigenen Ueberzeugung
handeln müſſe. Sobald die Reflerion eintritt , ſo hat Jeder feine
eigene Meinung , man unterſucht, ob das Recht nicht verbeſſert
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 309

werden könne,man findet, anſtatt ſich ans Beſtehende zu halten , die


Ueberzeugung in fich , und ſo beginnt eine ſubjective unabhängige
Freiheit, wo das Individuum im Stande iſt, ſelbſt gegen die
beſtehende Verfaſſung Alles an ſein Gewiſſen zu ſeßen . Jeder
hat ſeine Principien , und wie er dafür hält, ſo iſt er auch übers
zeugt , daß dieſes das Beſte fey und in die Wirklichkeit eingebil
det werden müſſe. Von dieſem Verfalle ſchon ſpricht Thucydi
des , wenn er ſagt, daß jeder meine, es gehe ſchlecht zu , wenn er
nicht dabei ſey.
Dieſem Umſtande, daß jeder ſich ein Urtheil zumuthet , iſt
das Vertrauen in große Individuen zuwider. Wenn die Athener
in früheren Zeiten dem Solon ihnen Geſeße zu geben auftragen ,
wenn Lyfurg in Sparta als Gefeßgeber und Ordner erſcheint,
To liegt darin nicht , daß das Volk meint, das Reche am beſten
zu wiſſen. Auch ſpäter waren es große plaſtiſche Geſtalten , in
die das Volk ſein Zutrauen ſepte: Kliſthenes , der die Verfaſſung
noch demokratiſcher machte , Miltiades , Themiſtokles , Ariſtides ,
Cimon , die in den mediſchen Kriegen an der Spiße der Athener
ſtehen , und Perikles , der große Glanzpunkt von Athen ; aber
ſobald einer dieſer großen Männer volbracht hatte , was Noth
that, trat der Neid , das heißt das Gefühl der Gleichheit in An
ſehung des beſonderen Talents ein , und er wurde entweder ins
Gefängniß geworfen oder verbannt. Endlich ſind dann die Sy
kophanten im Volke aufgeſtanden , die alles Große von Indivi
dualität, und die Perſonen , die an der Spiße der Verwaltung
ſtanden , verunglimpften .
Es ſind aber in den griechiſchen Republiken noch drei Ulm
ſtände beſonders hervorzuheben .
1 . Mit der Demokratie , wie ſie nur in Griechenland gewe
ſen iſt, ſind die Orakel verbunden . Zu dem aus ſich ſelbſt
Beſchließen gehört eine feſtgewordene Subjectivität des Willens,
den überwiegende Gründe beſtimmen ; die Griechen aber hatten
dieſe Kraft und Stärke deſſelben noch nicht. Bei Gelegenheit
310 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.

einer Coloniſation , bei der Aufnahmevon fremden Göttern , wenn


ein Feldherr eine Schlacht liefern wollte , befragte man die Ora
fel. Vor der Schlacht bei Platää ließ Pauſanias die Opfer
thiere befragen und erhielt vom Wahrſager Tiſamenos den Be
ſcheid , daß die Opfer den Griechen günſtig ſeyen , wenn ſie dief
feits des Aſopus blieben , aber nicht, wenn ſie über den Fluß
gingen und die Schlacht anfingen . Deßhalb erwartete Pauſanias
den Angriff. Die Griechen haben ebenſo in ihren Privatangele
genheiten nicht ſowohl durch ſich ſelbſt entſchieden , als die Ents
ſcheidung von etwas Anderem hergenommen . Mit dem Fort
gange der Demokratie ſehen wir freilich , wie in den wichtigſten
Angelegenheiten die Drakel nicht mehr befragt, ſondern die beſon
deren Anſichten der Volfsredner geltend gemacht werden und das
Entſcheidende find. Wie zu dieſer Zeit Sokrates aus ſeinem
Dämon geſchöpft hat, ſo haben die Volksführer und das Volf
aus ſich die Beſchlüſſe genommen . Zugleich iſt aber damit das
Verderben, die Zerrüttung und die fortwährende Abänderung der
Verfaſſung eingetreten .
2. Ein anderer Umſtand, welcher hier hervorzuheben iſt, iſt
die Sclaverei. Dieſe war nothwendige Bedingung einer ſchö
nen Demokratie, wo jeder Bürger das Recht und die Pflicht
hatte , auf öffentlichem Plaße Vorträge über die Staatsverwal
tung zu halten und anzuhören , in den Gymnaſten ſich zu üben ,
Feſte mitzumachen. Die Bedingung dieſer Beſchäftigungen war
nothwendig , daß der Bürger den Handwerksarbeiten entnommen
ſey , und daß alſo , was bei uns den freien Bürgern zufällt, die
Arbeit des täglichen Lebens von den Sclaven verrichtet werde.
Die Gleichheit der Bürger brachte das Ausgeſchloſſenſeyn der
Sclaven mit ſich. Die Sclaverei hört erſt auf, wenn der Wille
unendlich in ſich reflectirt iſt, wenn das Recht gedacht iſt als
dem Freien zukommend, der Freie aber der Menſch iſt nach ſei
ner allgemeinen Natur, als mit Vernunft begabt. Hier aber
ſtehen wir noch auf dem Standpunkt der Sittlichkeit, welche
Zweiter Abſgnitt. Die Geſtaltungen der ſchönen Individualität. 311
nur Gewohnheit und Sitte iſt und damit noch eine Particula
rität im Daſeyn.
3. Es muß noch drittens bemerkt werden , daß ſolche demo
fratiſche Verfaſſungen nur in kleinen Staaten möglich ſind , in
Staaten , die den Umfang von Städten nicht viel überſteigen .
Der ganze Staat der Athenienſer iſt in der einen Stadt vereinigt:
vom Theſeus wird erzählt, er habe die zerſtreuten Flecken zu einem
Ganzen verbunden ; zur Zeit des Perikles im Amfang des pelo
' ponneſiſchen Krieges flüchtete ſich beim Anrücken der Spartaner
die fämmtliche Bevölkerung des atheniſchen Gebiets in die Stadt.
In ſolchen Städten nur kann das Intereſſe im Ganzen gleich
ſeyn , wogegen in großen Reichen verſchiedene Intereſſen , die ſich
widerſtreiten , zu finden ſind. Das Zuſammenleben in einer Stadt,
der Umſtand, daß man ſich täglich ſteht , machen eine gemeinſame
Bildung und eine lebendige Demokratie möglich. In der Demo
fratie iſt die Hauptſache, daß der Charakter des Bürgers plaſtiſch ,
aus Einem Stück fen . Er muß bei der Hauptverhandlung ge
genwärtig ſeyn ; er muß an der Entſcheidung als ſolcher Theil
nehmen , nicht durch die einzelne Stimme bloß , ſondern im Drang
des Bewegens und Bewegtwerdens , indem die Leidenſchaft und
das Intereſſe des ganzen Mannes darein gelegt, und auch im
Vorgang die Wärme der ganzen Entſcheidung gegenwärtig iſt.
Die Einſicht, zu der ſich Ade befehren ſollen , muß durch Erwär
mung der Individuen vermittelſt der Rede hervorgebracht wer
den . Geſchähe dieſe durch die Schrift auf abſtracte , unleben
dige Weiſe, ſo würden die Individuen nicht zur Wärme der Au
gemeinheit angefeuert , und je größer die Menge wäre, deſto we
niger würde die Einzelheit der Stimme Gewicht haben . Man
kann in einem großen Reiche wohl herumfragen , Stimmen ſam
meln laſſen in allen Gemeinden und die Reſultate zählen , wie
das durch den franzöſiſchen Convent geſchehen iſt. Dieſ iſt aber
ein todtes Weſen und die Welt iſt da ſchon in eine Papierwelt
aus einander gegangen und abgeſchieden . In der franzöſiſchen
312 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.

Revolution iſt deshalb niemals die republikaniſche Verfaſſung


als eine Demokratie zu Stande gekommen , und die Tyrannei,
der Despotismus erhob unter der Maske der Freiheit und Gleich
heit ſeine Stimme. -
Wir kommen nun zur zweiten Periode der griechiſchen
Geſchichte. Die erſte Periode ließ den griechiſchen Geiſt zu ſeiner
Kunſt und Reife gelangen , — daß er ſo iſt; die zweite enthält,
wie er ſich zeigt, in ſeinem Glanze erſcheint , fich zu einem
Werke für die Welt hervorbringt und fein Princip im Kampfe
rechtfertigt und gegen den Angriff fiegreich behauptet.

Die Kriege mit den Perſern .


Die Periode der Berührung mit dem vorangegangenen
welthiſtoriſchen Volfe ift überhaupt als die zweite in der Ges
ſchichte jeder Nation zu betrachten . Die welthiſtoriſche Berüh
rung der Griechen war die mit den Perſern ; Griechenland hat
fich darin auf's herrlichſte dargeſtellt. Die Veranlaſſung der
mediſchen Kriege war der Aufſtand der ioniſchen Städte gegen
die Perſer, indem die Athener und Eretrier denſelben Hülfe lei
ſteten . Was die Athener namentlich dazu beſtimmte war der
Umſtand, daß der Sohn des Piſiſtratus , nachdem ſeine Verſuche
in Griechenland , ſich der Herrſchaft über Athen wieder zu be
mächtigen , fehlgeſchlagen waren , ſich an den König der Perfer
gewendet hatte. Der Vater der Geſchichte hat uns nun von
dieſen mediſchen Kriegen eine glänzende Beſchreibung gegeben ,
und für den Zweck , den wir hier verfolgen , brauchen wir darüber
nicht weitläufig zu ſeyn .
Lacedämon war zu Anfang der mediſchen Kriege im Befiß
der Hegemonie und hatte beſonders im Peloponnes großes An
ſehn erlangt, theils dadurch , daß es das freie Volf der Meſſes
nier unterjocht und zu Sclaven gemacht hatte , theils weil es
mehreren griechiſchen Staaten geholfen hatte ſeine Tyrannen zu
Zweiter Abſchn . Die Geſt. d. fchön. Indiv. – Kriege m . d. Perſern. 313
vertreiben . Dadurch gereizt , daß die Griechen den Joniern gegen
ihn beigeſtanden hatten , fandte der Perſerkönig Herolde an die
griechiſchen Städte , um ſie aufzufordern , ihm Waſſer und Erde
zu geben , das heißt , feine Oberherrſchaft anzuerkennen . Die
Geſandten wurden mit Verachtung zurückgewieſen , und die Lace
dämonier ließen ſie ſogar in einen Brunnen werfen , was ſie
aber ſpäter ſo gereute, daß fie zur Sühne zwei Lacedämonier
nach Suſa ſchickten. Der Berſerkönig ſandte darauf ein Heer
gegen Griechenland. Gegen dieſe große Uebermacht fochten die
Athener mit den Platäern allein bei Marathon unter Führung
des Miltiades , und errangen den Sieg. Später iſt dann Xerres
mit ſeinen ungeheuren Völkermaffen gegen Griechenland herange
zogen (Herodot beſchreibt dieſen Zug ausführlich) ; zu der furcht
baren Landarmee geſellte fich noch die nicht minder bedeutende
Flotte. Thracien , Macedonien , Theſſalien wurden bald unter
worfen , aber den Eingang ins eigentliche Griechenland , den Paß
von Thermopylä vertheidigten dreihundert Spartaner und ſieben
hundert Thespier , deren Schickſal bekannt iſt. Das freiwillig
verlaſſene Athen wurde verwüſtet , und die Götterbilder waren
den Perſern , die das Geſtaltloſe und Ungeformte verehrten , ein
Gräuel. Troß der Uneinigkeit der Griechen wurde die perfiſche
Flotte bei Salamis geſchlagen ; an dem hohen Tage dieſes Sie
ges treffen die drei größten Tragiker Griechenlands merkwürdiger
Weiſe zuſammen : denn Aeſchylus kämpfte mit und half den
Sieg erringen , Sophokles tanzte beim Siegesfeſte und Euripides
wurde geboren . Nachher wurde das Heer, welches unter dem
Mardonius in Griechenland zurückblieb , bei Platäå von Pau
ſanias geſchlagen und darauf die perſiſche Macht an verſchiedenen
Punkten gebrochen .
So wurde Griechenland von der Laſt, welche es zu er
drücken drohte , befreit. Es ſind unſtreitig größere Schlachten
geſchlagen worden : dieſe aber leben unſterblich im Angedenken
der Geſchichte der Völfer nicht allein , ſondern auch der Wiffen
314 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
fchaft und der Kunſt, des Edlen und Sittlichen überhaupt.
Denn es ſind welthiſtoriſche Siege: fie haben die Bildung und
die geiſtige Macht gerettet und dem aſtatiſchen Principe alle
Kraft entzogen . Wie oft haben nicht ſonſt Menſchen für einen
Zwed Alles hingegeben , wie oft find nicht Krieger für Pflicht
und Vaterland geſtorben ? Hier iſt aber nicht nur Tapferkeit,
Genie und Muth zu bewundern , ſondern hier iſt es der
Inhalt, die Wirkung, der Erfolg , die einzig in ihrer Art
find. Alle andern Schlachten haben ein mehr particulares
Intereſſe ; der unſterbliche Ruhm der Griechen aber ift gerecht,
wegen der hohen Sache, welche gerettet worden iſt. In der
Weltgeſchichte hat nicht die formelle Tapferkeit, nicht das ſoge
nannte Verdienſt, ſondern der Werth der Sache über den Ruhm
zu entſcheiden . Das Intereſſe der Weltgeſchichte hat hier auf
der Waagſchale gelegen . Es ſtanden gegen einander der orien
taliſche Despotismus, alſo eine unter Einem Herrn vereinigte
Welt, und auf der andern Seite getheilte und an Umfang und
Mitteln geringe Staaten , welche aber von freier Individualität
belebt waren. Niemals iſt in der Geſchichte die Ueberlegenheit
der geiſtigen Kraft über die Maſſe , und zwar über eine nicht
verächtliche Maſſe, in ſolchem Glanze erſchienen . – Dieſer Krieg
und dann die Entwicklung der an der Spiße ſtehenden Staaten
nach dieſem Kriege iſt die glänzendſte Periode Griechenlands :
Alles , was im griechiſchen Principe gelegen , hat ſich nun voll
kommen entfaltet und zur Anſchauung gebracht.
Die Athener ſeßten ihre Eroberungsfriege noch lange fortund
. find dadurch zu Wohlhabenheit gelangt,während ſich die Lacedämo
nier , die keine Seemacht hatten , ruhig verhielten . Der Gegen
ſaß von Athen und Sparta beginnt nunmehr, ein beliebtes Thema
der hiſtoriſchen Behandlung. Man kann ſagen , das Urtheil,
welchem dieſer beiden Staaten der Vorzug gebühre, ſey müßig,
und man müſſe zeigen , wie jede für ſich eine nothwendige wür
dige Geſtalt wäre. Man kann . B . viele Kategorien für
Zweiter Abſýnitt. Die Geſtalt. D. ſchönen Individualität. – Athen. 315
Sparta anführen , man kann von Strenge der Sitten , von Ge
horſam u . ſ. w . ſprechen , aber die Hauptidee in dieſem Staate
iſt die politiſche Jugend , welche zwar Athen und Sparta ge
mein haben , welche aber in dem einen Staate ſich zu dem Kunſt
werke freier Individualität ausbildete, in dem anderen in der Sub
ſtantialität fic erhalten hat. Shewir vom peloponneſiſchen Kriege
reden , worin die Eiferſucht Spartas und Athens zum Ausbruch
kam , haben wir den Grundcharakter beider Staaten näher zu zei
gen , wie ſie ſich, in politiſcher und fittlicher Hinſicht, unterſchieden .

| 4 t 3 : At.
Wir haben Athen ſchon als eine Freiſtätte für die Einwohs
ner der anderen Gegenden Griechenlands kennen gelernt, in der
ſich ein ſehr vermiſchtes Volk zuſammenfand. Die unterſchiede
nen Richtungen der menſchlichen Betriebſamkeit , Aderbau , Ge
werbe , Handel, vornehmlich zur See , vereinigten ſich in Athen ,
gaben aber zu vielem Zwieſpalte Anlaß. Ein Gegenſaß von
alten und reichen Geſchlechtern und von ärmeren hatte ſich früh
zeitig gebildet. Drei Partheien , deren Unterſchied auf die Loca
lität und damit zuſammenhängende Lebensweiſe gegründet war,
ſtellten ſich dann feſt: Die Pediäer, die Ebenenbewohner , die
Reichen und Ariſtokraten ; die Diafrier, Bergbewohner , Wein
und Delbauer und Hirten , — die Zahlreichſten ; zwiſchen Beiden
ſtanden die Paraler , die Küſtenbewohner , die Gemäßigten . Der
politiſche Zuſtand ſchwankte zwiſchen Ariſtokratie und Demokratie,
Solon bewirkte durch ſeine Eintheilung in vier Vermögensklaſſen
ein Temperament zwiſchen dieſen Gegenfäßen ; ſte alle zuſam - ·
men machten die Volksverſammlung zur Berathung und zum
Beſchluß der öffentlichen Angelegenheiten aus ; den drei oberen
Klaſſen aber waren die obrigkeitlichen Aemter vorbehalten . Merk
würdig iſt es , daß noch zu Solons Lebzeiten , ſogar bei ſeiner
Anweſenheit und troß ſeines Widerſpruchs Piſiſtratus fich der
Oberherrſchaft bemächtigte; die Verfaſſung war gleichſam noch
316 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
nicht in Blut und Leben übergegangen , ſie war noch nicht die
Gewohnheit der fittlichen und bürgerlichen Eriſtenz geworden .
Noch merkwürdiger aber iſt, daß Piſiſtratus nichts an der Ge
reßgebung änderte , daß er , angeklagt , ſich ſelber vor den
Areopag ſtellte. Die Herrſchaft des Piſiſtratus und ſeiner Söhne
ſcheint nothwendig geweſen zu ſeyn, um die Macht der Familien
und Factionen zu unterdrücken , um ſie an Ordnung und Frieden ,
die Bürger aber an die ſoloniſche Gefeßgebung zu gewöhnen .
Als dieſes erreicht war, mußte die Herrſchaft für überflüſſig gel
ten und die Geſeße der Freiheit in Widerſpruch mit der Macht
der Piſiſtratiden treten . Die Piſiſtratiden wurden vertrieben ,
Hipparch getödtet und Hippias verbannt. Nun ftanden aber
wieder Partheien auf: die Alkmäoniden , welche an der Spiße
der Inſurrection ſtanden , begünſtigten die Demokratie ; die Spar
taner dagegen unterſtüzten die Gegenparthei des Iſagoras, welche
eine ariſtokratiſche Richtung verfolgte. Die Alkmäoniden , an ihs
rer Spiße Kliſthenes , behielten die Oberhand. Dieſer machte
die Verfaſſung noch demokratiſcher als ſie war ; die gulai, deren
bisher nur vier geweſen , wurden auf zehn vermehrt, und dieß hatte
die Wirkung, daß der Einfluß der Geſchlechter vermindert wurde.
Endlich hat Perikles die Staatsverfaſſung noch demokratiſcher
gemacht, indem er den Areopag in ſeiner weſentlichen Bedeu
tung ſchmälerte, und die Geſchäfte , welche demſelben bisher an
gehört hatten , an das Volk und an die Gerichte brachte. Pe
rifles war ein Staatsmann von plaſtiſchem antiken Charakter :
als er ſich dem Staatsleben widmete , that er auf das Privat
leben Verzicht, von allen Feſten und Gelagen -zog er ſich zurück,
und verfolgte unaufhörlich ſeinen Zweck, dem Staate nüßlich zu
ſeyn , wodurch er zu ſo großem Anſehn gelangte, daß ihu Ariſto
phanes den Zeus von Athen nennt. Wir können nicht umhin
ihn aufs höchſte zu bewundern : er ſtand an der Spiße eines
leichtſinnigen , aber höchſt feinen und durchaus gebildeten Volfes ;
das einzige Mittel, Macht und Autorität über daſſelbige zu er
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtalt. der ſchönen Individualität. — Athen. 317
langen , war ſeine Perſönlichkeit und die Ueberzeugung , die er
von fich gab, daß er ein durchaus edler, allein auf das Wohl
des Staates bedachter Mann ſey , ſowie daß er den übrigen durch
Geiſt und Kenntniſſe überlegen wäre. Nach der Seite der Macht der
Individualität hin können wir keinen Staatsmann ihm gleichſtellen .
In der demokratiſchen Verfaſſung iſt überhaupt der Entwicke
lung großer politiſcher Charaktere am meiſten Raum gegeben ; denn
fie vornehmlich läßt die Individuen nicht nur zu , ſondern fordert
fte auf, ihr Talent geltend zu machen ; zugleich aber kann der
Einzelne fich nur geltend machen , wenn er den Geiſt und die
Anſicht, ſo wie die Leidenſchaft und den Leichtſinn eines gebilde
ten Volfs zu befriedigen weiß.
In Athen war eine lebendige Freiheit vorhanden ,und eine le
bendige Gleichheit der Sitte und der geiſtigen Bildung, undwenn
Ungleichheit des Vermögens nicht ausbleiben konnte , ſo ging die
ſelbe nicht zum Ertreme über. Neben dieſer Gleichheit und in
nerhalb dieſer Freiheit konnte ſich alle Ungleichheit des Charaf
ters und des Talents , alle Verſchiedenheit der Individualität
auf's freieſte geltend machen und aus der Umgebung die reichſte
Anregung zur Entwickelung finden ; denn im Ganzen waren die
Momente des atheniſchen Weſens Unabhängigkeit der Einzelnen
und Bildung beſeelt vom Geifte der Schönheit. Auf die Ver
anſtaltung des Perikles hin ſind dieſe ewigen Denkmäler der
Sculptur hervorgebracht worden , deren geringe Ueberreſte die
Nachwelt in Erſtaunen ſeßen ; vor dieſem Volfe find die Dra
men des Aeſchylus und Sophokles vorgeſtellt worden , ſowie
ſpäter die des Euripides, welche aber nicht mehr denſelben pla
ſtiſchen fittlichen Charakter an ſich tragen , und in denen ſich
ſchon mehr das Princip des Verderbens zu erkennen giebt. An
dieſes Volk waren die Reden des Perikles gerichtet, aus ihm
erwuchs ein Kreis von Männern , die klaſſiſche Naturen für alle
Jahrhunderte geworden ſind, denn zu ihnen gehören außer den
genannten , Thucydides, Sokrates , Plato , ferner Ariſtophanes,
318 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
der den ganzen politiſchen Ernſt feines Volkes zur Zeit des
Verderbens in fich bewahrte, und durchaus in dieſem Ernſt für
das Wohl des Vaterlandes geſchrieben und gedichtet hat. Wir
erkennen in den Athenern eine große Betriebſamkeit, Regſamkeit,
Ausbildung der Individualität innerhalb des Kreiſes eines ſittli
chen Geiſtes . Der Tadel, der ſich bei Xenophon und Plato
über dieſelben vorfindet , geht mehr auf die ſpäteren Zeiten , wo
das Unglück und Verderben der Demokratie ſchon gegenwärtig
war. Wenn wir aber ein Urtheil der Alten über das politiſche

nophon , ſelbſt nicht an Plato wenden , ſondern an die , welche fich


ausdrücklich auf den beſtehenden Staat verſtehen , welche deſſen
Angelegenheiten geführt und als die größten Führer deſſelben
gegolten haben , – an die Staatsmänner. Unter dieſen iſt Þe
rifles aus dem Götterfreiſe der Individuen Athens der Zeus
derſelben . Thucydides legt ihm die gründlichſte Schilderung von
Athen in den Mund , bei Gelegenheit der Todtenfeier der im
zweiten Jahre des peloponneſiſchen Krieges gefallenen Krieger.
Er ſagt, er wolle zeigen , für welche Stadt ſie geſtorben ſeyen ,
und für welches Intereſſe (auf dieſe Weiſe wendet ſich der Red
ner ſogleich auf das Weſentliche). Nun ſchildert er den Cha
rafter Athens , und was er ſagt, iſt ſowohl vom Tiefſinnigſten
als auch vom Richtigſten und Wahrſten . Wir lieben das Schöne,
ſagt er, aber ohne Prunk, ohne Verſchwendung; wir philoſophi
ren , ohne uns darum zur Weichlichkeit und Unthätigkeit verleiten
zu laſſen (Denn wenn die Menſchen ihren Gedanken nachhängen ,
ſo entfernen ſte ſich vom Praktiſchen , von der Thätigkeit fürs
Deffentliche , fürs Augemeine). Wir ſind fühn und fecf, und bei
dieſem Muthe geben wir uns doch aber Rechenſchaft von dem ,
was wir unternehmen (wir haben ein Bewußtſeyn darüber) ;
bei Anderen dagegen hat der Muth ſeinen Grund in dem Man
gel an Bildung; wir wiſſen am beſten zu beurtheilen , was das
Angenehme und was das Schwere fey , deſſenungeachtet entzie
Zweiter Abſchnitt. Die Geſtalt d. ſchönen Individualität. – Sparta . 319
hen wir uns den Gefahren nicht. So gab Athen das Schau
ſpiel eines Staates , der weſentlich zum Zwecke des Schönen
lebte , der ein durchgebildetes Bewußtſeyn über den Ernſt der
öffentlichen Angelegenheiten und die Intereſſen des menſchlichen
Geiſtes und Lebens hatte und damit fühne Tapferkeit und prak
tiſch tüchtigen Sinn verband. -

S p a r t a.
Hier ſehen wir dagegen die ſtarre abſtracte Tugend , das
Leben für den Staat, aber ſo , daß die Regſamkeit , die Freiheit
der Individualität zurückgeſeßt iſt. Die Staatsbildung Spar
tas beruht auf Anſtalten , welche vollkommen das Intereſſe des
Staates ſind, die aber nur die geiſtloſe Gleichheit und nicht
die freie Bewegung zum Ziel haben. Schon die Anfänge
Sparta 's find ſehr verſchieden von denen Athens. Die Spar
taner waren Dorer , die Athenienſer Jonier , und dieſer nationale
Unterſchied macht ſich auch rückſichtlich der Verfaſſung geltend.
Was die Entſtehungsweiſe von Sparta betrifft , ſo drangen die
Dorer mit den Herakliden in den Peloponnes ein , unterjochten
die einheimiſchen Völkerſchaften und verdammten ſie zur Scla :
verei , denn die Heloten waren ohne Zweifel Eingeborne. Was
den Heloten widerfahren war, widerfuhr ſpäter den Meſſeniern ,
denn eine ſo unmenſchliche Härte lag in dem Charakter der
Spartaner . Während die Athener ein Familienleben hatten ,
während die Sclaven bei ihnen Hausgenoſſen waren , war das
Verhältniß der Spartaner zu den Unterjochten noch härter , als
das der Türken gegen die Griechen ; es war ein beſtändiger
Kriegszuſtand in Lacedämon . Beim Antritt ihres Amtes gaben
die Ephoren eine völlige Kriegserklärung gegen die Heloten , und
dieſe waren fortivährend zu Kriegsübungen für die jüngeren
Spartaner preisgegeben . Die Heloten wurde einige Male frei
gelaſſen und kämpften gegen die Feinde: es hielten fich auch
dieſelben in den Reihen der Spartaner außerordentlich tapfer ;
320 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
als ſie aber zurückfehrten , wurden fte auf die feigſte und hinter
liſtigſte Weiſe niedergemeßelt. Wie auf einem Sclavenſchiff die
Befaßung beſtändig bewaffnet iſt, und die größte Vorſicht ges
braucht wird , um eine Empörung zu verhindern , ſo waren die
Spartaner auf die Heloten immer aufmerkſam , ſtets in dem Zu
ſtande des Krieges , wie gegen Feinde.
Das Grundeigenthum wurde ſchon von Lykurg , wie Plu
tarch erzählt, in gleiche Theile getheilt, wovon 9000 allein auf
die Spartaner , das heißt die Einwohner der Stadt, und 30000
auf die Lacedämonier oder Periöken kamen . Zu gleicher Zeit wurde
zum Behuf der Erhaltung der Gleichheit feſtgeſeßt, daß die
Grundſtücke nicht verkauft werden durften . Aber wie geringe
Erfolge eine ſolche Veranſtaltung hat, beweiſt der Umſtand , daß
Lacedämon in der Folge beſonders wegen der Ungleichheit des
Beſißes herunterkam . Da die Töchter erbten , ſo waren
durch Heirathen viele Güter in den Beſitz weniger Familien ge
langt, und zuleßt befand ſich alles Grundeigenthum in den
Händen Einiger , gleichſam um zu zeigen , wie thöricht es ſey ,
eine Gleichheit auf gezwungene Weiſe veranſtalten zu wollen ,
welche, ſo wenig fie eine Wirkſamkeit hat, noch dazu die we
ſentlichſte Freiheit, nämlich die Dispoſition über das Eigenthum ,
vernichtet. Ein anderes merkwürdiges Moment der lykurgis
ſchen Geſebgebung iſt, daß Lykurg alles andere Geld , als das
VD
von Eiſen , verbot, was nothwendig eine Aufhebung alles Be
triebes und Handels nach außen hin nach ſich zog. Ebenſo hat
ten die Spartaner keine Seemacht, die allein den Handel unter
ſtüßen und begünſtigen konnte , und wenn ſie einer ſolchen be
- durften , ſo wandten ſie ſich an die Perſer.
Zur Gleichheit der Sitten und zur näheren Bekanntſchaft
der Bürger unter einander ſollte beſonders beitragen , daß die
Spartaner gemeinſchaftlich ſpeiſten , durch welche Gemeinſamkeit
aber das Familienleben hintenan geſeßt war; denn Eſſen und
Trinken iſt eine Privatſache und gehört damit dem Inneren des
Zweiter Abjūnitt. Die Geſt. D. ſchönen Individual. – Sparta. 321
Hauſes an . So war es bei den Athenern : bei ihnen war der
Verkehr nicht materiell, ſondern geiſtig , und ſelbſt die Gaſtmahle,
wie wir aus Xenophon und Plato ſehen , waren geiſtiger Art.
Bei den Spartanern dagegen wurden die Koſten des gemeine
ſchaftlichen Eſſens durch die Beiträge der Einzelnen gedeckt, und
wer zu arm war einen Beitrag zu liefern , war dadurch aus
geſchloſſen .
Was nun die politiſche Verfaffung Spartas betrifft, ſo war
die Grundlage wohl demokratiſch, aber mit ſtarken Modificationen ,
die fie faſt zur Ariſtokratie und Dligarchie machten . An der
Spiße des Staates ſtanden zwei Könige, neben ihnen beſtand
ein Senat (yepovola ), der aus den Beſten gewählt wurde und
auch die Functionen eines Gerichtshofes verſah , wobei er mehr
nach fittlichen und rechtlichen Gewohnheiten , als nach geſchriebes
nen Geſeßen entſchied * ). Außerdem war die yepovola auch
noch die oberſte Regierungsbehörde, der Rath Der Könige, dem
die wichtigſten Angelegenheiten unterlagen . Endlich war eine der
höchſten Magiſtraturen die der Ephoren , über deren Wahl wir
feine beſtimmten Nachrichten erhalten haben ; Ariſtoteles ſagt,
die Art der Wahl fey gar zu findiſch . Durch Áriſtoteles ſind
wir davon unterrichtet, daß auch Leute ohne Adel, ohne Vermös
gen zu dieſer Magiſtratur gelangen konnten . Die Ephoren bes
faßen die Vollmacht Volksverſammlungen zuſammenzuberufen , ab
ſtimmen zu laſſen , Geſeße vorzuſchlagen , ungefähr wie die tri
buni plebis in Rom . Ihre Gewalt wurde tyranniſch , der ähn
lich , welche Robespierre und ſeine Anhänger eine Zeit lang in
Frankreich ausgeübt haben .
Indem die Lacedämonier durchaus ihren Geiſt auf den

* ) Otfried Müller in ſeiner Geſchichte der Dorer ſtellt dieſes zu


hoch ; er ſagt: das Recht ſey im Inneren gleichſam eingeprägt geweſen .
Doch ſolche Einprägung iſt immer etwas ſehr Unbeſtimmtes ; es iſt noth
wendig, daß die Geſeße geſchrieben ſeyen , damit beſtimmt gewußt werde,
was verboten und was erlaubt iſt.
Philoſophie D . Geſchichte 3te Aufl.
322 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
Staat richteten , war Geiſtesbildung, Kunſt und Wiſſenſchaft bei
ihnen nicht einheimiſch. Die Spartaner erſchienen den übrigen
Griechen als ſtarre, plumpe und ungeſchickte Menſchen, die ſchon
ein wenig verwickelte Geſchäfte nicht durchführen konnten , oder
ſich wenigſtens dabei fehr unbehülflich nahmen . Thucydides
läßt die Athener zu den Spartanern ſagen : „ Ihr habt Gefeße
und Sitten , die mit andern Nichts gemein haben ; und dazu
verfahrt ihr , wenn ihr ins Ausland kommt, weder nach jenen
noch nach dem , was ſonſt in Hellas herkömmlich iſt.“ Im ein
heimiſchen Verkehr waren fie im Ganzen rechtlich ;'was aber das
Verfahren gegen auswärtige Nationen anbetrifft, ſo erklärten fie
ſelbſt unverholen , daß ſie das Beliebige für löblich und das
Nüßliche für recht hielten . Es iſt bekannt, daß in Sparta
(ähnlich wie in Aegypten ) das Wegnehmen von Lebensbedürf
niſſen in gewiſſen Beziehungen erlaubt war , nur durfte der Dieb
fich nicht entdecken laſſen . So ſtehen ſich beide Staaten , Athen
und Sparta , gegenüber. Die Sittlichkeit des einen iſt eine ſtarre
Richtung auf den Staat, in dem andern iſt eben ſolche fittliche
Beziehung zu finden , aber mit ausgebildetem Bewußtſern und
mit unendlicher Thätigkeit im Hervorbringen des Schönen und
dann auch des Wahren .
Dieſe griechiſche Sittlichkeit, ſo höchft ſchön ,liebenswürdig und
intereſſant ſie iſt in ihrer Erſcheinung, iſt dennoch nicht der höchſte
Standpunkt des geiſtigen Selbſtbewußtſeyns ; es fehlt ihr die un
endliche Form , eben jene Reflerion des Denkens in fich , die Be
freiung von dem natürlichen Momente , dem Sinnlichen , das in
dem Charakter der Schönheit und der Göttlichkeit liegt, ſo wie
von der Unmittelbarkeit, in welcher die Sittlichkeit iſt ; es fehlt
das ſich ſelbſt Erfaſſen des Gedankens, die Unendlichkeit des
Selbſtbewußtſeyns , daß , was mir als Necht und Sittlichkeit gel
ten ſoll, ſich in mir , aus dem Zeugniſſe meines Geiſtes beſtätige,
daß das Schöne, die Idee nur in ſinnlicher Anſchauung oder
Vorſtellung, auch zum Wahren werde, zu einer innerlichen , über
Zweiter Abſchnitt. Die Geſt. 6. dhön. Indiv . – Der pelopon. Krieg. 323

ſinnlichen Welt. Auf dem Standpunkte der ſchönen geiſtigen


Einheit, wie wir ſie ſo eben bezeichnet haben , konnte der Geiſt
nur kurze Zeit ſtehen bleiben , und die Quelle des weiteren Fort
ſchrittes und des Verderbens war das Element der Subjectivi
tät , der Moralität , der eigenen Reflerion und der Innerlichkeit.
Die ſchönſte Blüthe des griechiſchen Lebens dauerte ungefähr
nur ſechzig Jahre , von den mediſchen Kriegen 492 v . Chr.
Geb . bis zum peloponneſtſchen 431 v . Chr. Geb. Das
Princip der Moralität , das eintreten mußte , wurde der An
fang des Verderbens; es zeigte fich aber in Athen und
Sparta in einer verſchiedenen Geſtalt : in Athen , als offener
Leichtſinn , in Sparta als Privatverderben . Die Athener erwie
ſen fich bei ihrem Untergange nicht nur liebenswürdig , ſondern
groß, edel, auf eine Weiſe, daß wir denſelben bedauern müſſen ,
wogegen bei den Spartanern das Princip der Subjectivität zu
einer gemeinen Habſucht und zu einem gemeinen Verderben fortgeht.

Wer peloponneſiſche Krieg .


Das Princip des Verderbens offenbarte ſich zunächſt in der
äußern politiſchen Entwickelung, ſowohl in dem Kriege der grie
chiſchen Staaten gegen einander, als im Kampfe der Factionen
innerhalb der Städte. Die griechiſche Sittlichkeit hatte Grie
chenland unfähig gemacht einen gemeinſamen Staat zu bilden ;
denn die Abſonderung kleiner Staaten gegen einander , die Con
centration in Städten , wo das Intereſſe , die geiſtige Ausbildung
im Ganzen dieſelbe feyn konnte, war nothwendige Bedingung
dieſer Freiheit. Nur eine momentane Vereinigung iſt im troja
niſchen Kriege vorhanden geweſen , und ſogar in den mediſchen
Kriegen konnte dieſe Einheit nicht zu Stande kommen . Wenn
auch eine Richtung nach derſelben zu erkennen iſt , ſo war ſie
theils ſchwach , theils der Eiferſucht ausgeſeßt, und der Kampf
wegen der Hegemonie brachte die Staaten gegen einander auf.
Der allgemeine Ausbruch der Feindſeligkeiten erfolgte endlich im
21 *
324 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.

peloponneſiſchen Kriege. Vor demſelben und noch zu Anfang des


Krieges ſtand Perifles an der Spiße der Athenienſer, des aufſeine
Freiheit eiferſüchtigſten Volfs ; nur feine hohe Perſönlichkeit und
ſein großes Genie erhielt ihm feinen Standpunkt. Athen hatte
ſeit den mediſchen Kriegen die Hegemonie: eine Menge von
Bundesgenoſſen , theils Inſeln , theils Städte, mußte einen Bei
trag zur Fortſeßung des Krieges gegen die Perſer liefern , und ,
anſtatt in Flotten , oder in Truppen , wurde dieſe Beiſteuer in
Gelbe ausgezahlt. Dadurch concentrirte ſich eine ungeheure
Macht in Athen ; ein Theil des Geldes wurde auf große Archi
tecturwerke verwendet, wovon die Bundesgenoſſen , als von Wer
ken des Geiſtes , ebenſo einen Genuß hatten . Daß aber Peri
kles das Geld nicht allein in Kunſtwerken erſchöpfte, ſondern
auch ſonſt für das Volk ſorgte , konnte man nach ſeinem Tode
aus der Menge von Vorräthen bemerken , welche in vielen Ma
gazinen , beſonders aber im Seearſenale aufgehäuft waren. —
Xenophon ſagt : wer bedarf nicht Athens ? bedürfen ſeiner nicht
alle Länder, die reich find an Korn und Heerden , Del und
Wein , nicht Alle, die mit Geld oder mit ihrem Verſtande
wuchern wollen ? Handwerker, Suphiften , Philoſophen , Dichter
und Adle, welche nach Sehens- oder Hörenswerthem im Heili
gen und im Deffentlichen Verlangen haben ?
Der Kampf des peloponneſiſchen Krieges war nun weſent
lich zwiſchen Athen und Sparta . Thucydides hat uns die Ge
ſchichte des größten Theils deſſelben hinterlaſſen , und dieſes un
fterbliche Werk iſt der abſolute Gewinn , welchen die Menſchheit
von jenem Kampfe hat. Athen ließ ſich zu den ſchwindelhaf
ten Unternehmungen des Alcibiades hinreißen , und dadurch
ſchon ſehr geſchwächt unterlag es den Spartanern , die die Vers
rätherei begingen , ſich an Perſien zu wenden , und von dem Kö
nige Geld und eine Seemacht erlangten . Sie haben fich dann
ferner einer weiteren Verrätherei ſchuldig gemacht, indem ſie in
Athen und in den Städten Griechenlands überhaupt die Demo
Zweiter Abſchnitt. Die Geſt. d. ſchön . Indiv. - Der pelopon . Krieg. 325
fratie aufhoben , und Factionen das Uebergewicht gaben ,welche
die Oligarchie verlangten , aber nicht ſtark genug waren , ſich
durch ſich ſelber zu halten . Im antalcidiſchen Frieden beging
endlich Sparta den Hauptverrath , daß es die griechiſchen Städte
in Kleinaſten der perſiſchen Herrſchaft überließ .
Lacedämon hatte nun , ſowohl durch die in den Ländern
eingeſekten Oligarchien , als durch Beſaßungen , welche es in
einigen Städten , wie in Theben , unterhielt, ein großes Ueber
gewicht in Griechenland erlangt. Aber die griechiſchen Staa
ten waren weit empörter über die ſpartaniſche Unterdrücung,
als ſie es vorher über die atheniſche Herrſchaft geweſen waren :
ſte warfen das Joch ab , Theben ſtand an ihrer Spiße und
wurde auf einen Moment das ausgezeichnetſte Volf in Griechen
land. Sparta's Herrſchaft wurde aufgelöſt, und durch die
Wiederherſtellung des meſſeniſchen Staates Lacedämon eine blei
bende Macht gegenübergeſtellt. Zwei Männer aber waren es
namentlich , denen Theben ſeine ganze Macht verdankte, Pelopi
das und Epaminondas; ſowie denn überhaupt in jenem Staate
das Subjective das Ueberwiegende war. Daher blühte hier bes
ſonders die Lyrik , die Dichtfunft des Subjectiven ; eine Art von
ſubjectiver Gemüthlichkeit zeigt ſich auch darin , daß die ſoge
nannte heilige Schaar , welche den Kern des thebaniſchen Heeres
bildete , als aus Liebhabern und Lieblingen beſtehend angeſehen
wurde, wie denn auch die Kraft der Subjectivität fich haupt
ſächlich dadurch bewährte, daß nach dem Tode des Epaminon
das Theben in ſeine alte Stellung zurücffiel. Das geſchwächte
und zerrüttete Griechenland fonnte nun keine Rettung mehr in
ſich ſelbſt finden , und bedurfte einer Autorität. In den Städ
ten gab es unaufhörliche Kämpfe, und die Bürger theilten ſich
in Factionen , wie in den italieniſchen Städten des Mittelalters.
Der Sieg der einen zog die Verbannung der anderen nach fich ,
und dieſe wandte fich dann gemeiniglich an die Feinde ihrer
Vaterſtadt, um dieſelbige zu befriegen . Ein ruhiges Beſtehen
326 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
- der Staaten neben einander war nicht mehr möglich , ſie bereites .
ten ſich ſowohl gegenſeitig als in fich ſelbſt den Intergang vor.
Wir haben nun das Verderben der griechiſchen Welt in
feiner tieferen Bedeutung aufzufafſen , und das Princip derſelben
auszuſprechen als die für ſich freiwerdende Innerlichkeit.
Die Innerlichkeit ſehen wir auf eine mehrfache Weiſe entſtehen ;
der griechiſchen ſchönen Religion droht der Gedanke , das inner
lich Allgemeine; den Staatsverfaſſungen und Gefeßen drohen die
Leidenſchaften der Individuen und die Widfür , und dem ganzen
unmittelbaren Beſtehen die in Allem fich erfaſſende und ſich zei
gende Subjectivität. Das Denken erſcheint alſo hier als das
Princip des Verderbens, und zwar des Verderbens der ſubſtans
tiellen Sittlichkeit ; denn es ſtellt einen Gegenſaß auf und macht
weſentlich Vernunftprincipe geltend. In den orientaliſchen Staa
ten , in welchen die Gegenſaßloſigkeit vorhanden iſt, kann es
nicht zu einer moraliſchen Freiheit kommen , da das höchſte Prin
cip die Abſtraction ift. Indem aber das Denken fich affirma
tiv weiß , wie in Griechenland , ſo ſtellt es Principe auf, und
dieſe ſtehen in einem weſentlichen Verhältniſſe zur vorhandenen
Wirklichkeit. Denn die concrete Lebendigkeit bei den Griechen
iſt Sittlichkeit, Leben für die Religion , den Staat , ohneweiteres
Nachdenken , ohne allgemeine Beſtimmungen , die ſich ſogleich von
der concreten Geſtaltung entfernen und fich ihr gegenüberſtellen
müffen . Das Geſeß iſt vorhanden und der Geiſt in ihm . So
bald aber der Gedanke aufſteht, unterſucht er die Verfaſſungen :
er bringt heraus , was das Beſſere fey , und verlangt, daß das,
was er dafür anerkennt, an die Stelle des Vorhandenen trete.
In dem Princip der griechiſchen Freiheit, weil fte Freiheit
ift, liegt es , daß der Gedanke für ſich frei werden muß. Auf
gehen fahen wir ihn zuerſt im Kreiſe der ſteben Weiſen , deren
wir ſchon Erwähnung thaten . Dieſe fingen zuvörderſt an , alls
gemeine Säße auszuſprechen , doch wurde zu jener Zeit die Weis
heit noch mehr in die concrete Einſicht geſeßt. Parallel mit dem
Zweiter Abſýnitt. Die Geſt. d. fchön . Indiv. - Der pelopon.Arieg. 327
Fortgange der Ausbildung der religiöſen Kunſt und des politi
ſchen Zuſtandes geht die Erftarkung des Gedankens, ihres Fein
des und Zerſtörers , fort, und zur Zeit des peloponneſiſchen Krie
ges war die Wiſſenſchaft ſchon ausgebildet. Mit den Sophiften
hat das Reflectiren über das Vorhandene und das Näſonniren
ſeinen Anfang genommen . Eben dieſe Betriebſamkeit und Thä
tigkeit, die wir bei den Griechen im praktiſchen Leben und in
der Kunſtausübung ſahen , zeigte ſich bei ihnen in dem Hins und
Hergehen und Wenden in den Vorſtellungen , ſo daß, wie die
ſinnlichen Dinge von der menſchlichen Thätigkeit verändert,
verarbeitet, verkehrt werden , ebenſo der Inhalt des Geiſtes,
das Gemeinte , das Gewußte hins und herbewegt , Object
der Beſchäftigung und dieſe Beſchäftigung ein Intereſſe für ſich
wird. Die Bewegung des Gedankens , und das innerliche Er
gehen darin , dieß intereſſeloſe Spiel wird nun ſelbſt zum Intereſſe.
Die gebildeten Sophiften , nicht Gelehrte oder wiſſenſchaftliche
Männer , ſondern Meiſter der Gedankenwendung ſeşten die- Grie
chen in Erſtaunen . Auf alle Fragen hatten ſie eine Antwort,
für alle Intereſſen politiſchen und religiöſen Inhalts hatten fie
allgemeine Geſichtspunkte , und die weitere Ausbildung beſtand
darin , Alles beweiſen zu können , in Adem eine zu rechtfertigende
Seite aufzufinden . In der Demokratie iſt es das beſondere
Bedürfniß , vor dem Volfe zu ſprechen , ihm etwas vorſtellig zu
machen , und dazu gehört, daß ihm der Geſichtspunkt, den es
als weſentlichen anſehen ſoll, gehörig vor die Augen geführt
werde. Hier iſt die Bildung des Geiſtes nothwendig , und dieſe
Gymnaſtik haben die Griechen ſich bei ihren Sophiſten erwor
ben . Es wurde aber nun dieſe Gedankenbildung das Mittel,
ſeine Abſichten und Intereſſen bei dem Volfe durchzuſeßen : der
geübte Sophiſt wußte den Gegenſtand nach dieſer und jener
Seite hin zu wenden , und ſo war den Leidenſchaften Thür und
Thor geöffnet. Ein Hauptprincip der Sophiften hieß : „ der
Menſch iſt das Maaß aller Dinge;" hierin , wie in allen Auo
328 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
ſprüchen derſelben , liegt aber die Zweideutigkeit, daß der Menſch
der Geiſt in ſeiner Tiefe und Wahrhaftigkeit , oder auch in fei
nem Belieben und beſonderen Intereſſen ſeyn kann. Die So
phiften meinten den bloß ſubjectiven Menſchen , und erklärten
hiemit das Belieben für das Princip deſſen , was recht iſt , und
das dem Subjecte Nüßliche für den legten Beſtimmungsgrund.
Dieſe Sophiſtik fehrt zu allen Zeiten nur in verſchiedenen Ge
ſtalten wieder ; ſo auch in unſeren Zeiten macht fte das ſubjective
Dafürhalten von dem , was recht iſt, das Gefühl , zum Beſtim
mungsgrund.
In der Schönheit, als dem Principe der Griechen , war die
concrete Einheit des Geiſtes mit der Realität , mit Vaterland
und Familie u. f. w . verbunden . Bei dieſer Einheit war noch
fein feſter Standpunkt innerhalb des Geiſtes ſelbſt gefaßt , und
der Gedanke, der fich über die Einheit erhob, hatte noch das
| Belieben zu ſeinem Entſcheidenden . Aber ſchon Anaragoras
hatte gelehrt, daß der Gedanke ſelbſt das abſolute Weſen der
Welt rey. In Sofrates ift es dann , daß zu Anfang des
peloponneſiſchen Krieges das Princip der Innerlichkeit, der abſos
luten Unabhängigkeit des Gedankens in fich , zum freien Aus
ſprechen gelangt ift. Er lehrte, daß der Menſch in fich zu fin
den und zu erkennen habe, was das Rechte und Gute iſt, und
daß dies Rechte und Gute ſeiner Natur nach allgemein ſey.
Sokrates ift als moraliſcher Lehrer berühmt; vielmehr aber ift
er der Erfinder der Moral. Sittlichkeit haben die Griechen
gehabt; aber welche moraliſche Tugenden , Pflichten u . f. w ., das
wollte ſie Sokrates lehren . Der moraliſche Menſch iſt nicht der,
welcher bloß das Rechte wil und thut, nicht der unſchuldige
Menſch , ſondern der, welcher das Bewußtſeyn ſeines Thund hat.
Sokrates , indem er es der Einſicht, der Ueberzeugung an
heimgeſtellt hat, den Menſchen zum Handeln zu beſtimmen , hat
das Subject als entſcheidend gegen Vaterland und Sitte geſeßt,
und ſich ſomit zum Drakel im griechiſchen Sinne gemacht. Er
Zweiter Abſchnitt. Die Geſt. b. ſchön. Indiv. – Der pelopon. Krieg. 329
ſagte , daß er ein daluóvlov in fich habe , das ihm rathe, was
er thun folle, und ihm offenbare , was ſeinen Freunden nüßlich
ſey . Durch die aufgehende innere Welt der Subjectivität iſt der
Bruch mit der Wirklichkeit eingetreten . Wenn Sofrates ſelbft
zwar noch ſeine Pflichten als Bürger erfüllte , ſo war ihm doch
nicht dieſer beſtehende Staat und deſſen Religion , ſondern die
Gedankenwelt die wahre Heimath . Nun wurde die Frage auf
geworfen , ob Götter ſind und was fte find ? Der Schüler des
Sokrates , Plato , verbannte aus ſeinem Staate den Homer und
Heſtod , die Urheber der religiöſen Vorſtellungsart der Griechen ,
denn er verlangte eine höhere, dem Gedanken zuſagende Vorſtel
lung von dem , was als Gott verehrt werden ſoll . Viele Bürs
ger ſchieden jeßt vom praktiſchen Leben , von Staatsgeſchäften ab ,
um in der idealen Welt zu leben. Das Princip des Sokrates
erweiſt ſich als revolutionär gegen den atheniſchen Staat ; denn
das Eigenthümliche dieſes Staates iſt , daß die Sitte die Form
iſt, worin er beſteht, nämlich die Untrennbarkeit des Gedankens
von dem wirklichen Leben . Wenn Sokrates ſeine Freunde zum
Nachdenken bringen will, ſo iſt die Unterhaltung immer negativ,
das heißt, er bringt ſie zum Bewußtſeyn , daß ſie nicht wiffen ,
was das Rechte ſey . Wenn er nun aber , weil er das Princip,
das nunmehr herankommen muß, ausſpricht, zum Tode verur
theilt wird , ſo liegt darin ebenſoſehr die hohe Gerechtigkeit, daß
das atheniſche Volf ſeinen abſoluten Feind verurtheilt, als auch
das Hochtragiſche , daß die Athener erfahren mußten , daß das,
was ſte im Sokrates verdammten , bei ihnen ſchon feſte Wurzel
gefaßt hatte , daß fie alſo ebenſo mitſchuldig oder ebenſo freizu
ſprechen reyen . In dieſem Gefühle haben ſie die Ankläger des
Sofrates verdammt und dieſen für unſchuldig erklärt. In Athen
entwickelte ſich nunmehr das höhere Princip , welches das Ver
derben des ſubſtantiellen Beſtehens des atheniſchen Staates war,
immer mehr und mehr: der Geiſt hatte den Hang, fich felbft zu
befriedigen , nachzudenken , gewonnen . Auch im Verderben er
330 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
ſcheint der Geift Athen 's herrlich , weil er ſich als der freie zeigt,
als der liberale , der ſeine Momente in ihrer reinen Eigenthüm
lichkeit, in der Geſtalt, wie ſie ſind , darſtellt. Liebenswürdig
und ſelbſt im Tragiſchen heiter iſt die Munterfeit und der Leicht
finn , mit der die Athener ihre Sittlichkeit zu Grabe begleiten .
Wir erkennen darin das höhere Intereſſe der neuen Bildung,
daß fich das Volk über ſeine eigenen Thorheiten luſtig machte
und großes Vergnügen an den Komödien des Ariftophanes fand,
die eben die bitterſte Verſpottung zu ihrem Inhalte haben , und zu
gleich das Gepräge der ausgelaſſenſten Luſtigkeit an fich tragen .
In Sparta tritt daſſelbe Verderben ein , daß das Subject
fich für ſich gegen das allgemeine fittliche Leben geltend zu ma
chen ſucht: aber da zeigt ſich uns bloß die einzelne Seite der
particularen Subjectivität, das Verderben als ſolches , die blanke
Immoralität, die platte Selbſtſucht, Habſucht, Beſtechlichkeit.
Alle dieſe Leidenſchaften thun ſich innerhalb Sparta ’s und bes
ſonders in den Perſonen ſeiner Feldherrn hervor , die, meiſtens
vom Vaterlande entfernt, die Gelegenheit erhalten , auf Koſten
des eigenen Staates ſowohl, als derer, welchen fie zum Bei
ſtande geſchickt ſind , Vortheile zu erlangen .

Das macedoniſche Reich.


Nach Athens Unglück übernahm Sparta die Hegemonie,
mißbrauchte aber , wie ſchon geſagt worden iſt, dieſelbe auf eine
ſo felbſtſüchtige Weiſe, daß es allgemein verhaßtwurde. Theben
konnte die Rolle , Sparta zu demüthigen , nicht lange behaupten ,
und erſchöpfte ſich am Ende in dem Kriege mit den Phocenſern .
Die Spartaner und Phocenſer waren nämlich , jene weil ſie die
Burg von Theben überfallen , dieſe weil ſie ein dem delphiſchen .
Apoll gehöriges Landſtück beadert hatten , zu namhaften Geld
ſtrafen verurtheilt worden . Beide Stmaten verweigerten aber die
Bezahlung , denn das Amphiftyonengericht hatte eben nicht viel
mehr Autorität, als der alte deutſche Reichstag , dem die deuts
Zweiter Abſchnitt. Die Geft. b. ſchön . Indiv. - Dasmacedon . Reich. 331

ſchen Fürſten gehorchten , ſoviel fie eben wollten . Die Phocen


ſer ſollten nun von den Thebanern beſtraft werden , jene gelang
ten aber durch eine eigenthümliche Gewaltthat, nämlich durch Ents
weihung und Plünderung des Tempels zu Delphi, zu einer aus
genblicklichen Macht. Dieſe That vollendete den Untergang
Griechenlands, das Heiligthum war entweiht, der Gott, ſo zu
ſagen , getödtet; der lebte Haltpunkt der Einheit wurde damit
vernichtet, die Ehrfurcht für das, was in Griechenland gleichſam
immer der legte Wille , das monarchiſche Princip geweſen war,
außer Augen geſeßt , verhöhnt und mit Füßen getreten .
Der weitere Fortgang iſt nun der ganz naive, daß nämlich
an die Stelle des herabgeſeßten Drafels ein anderer entſcheidens
der Wille, ein wirkliches gewalthabendes Königthum auf
tritt. Der fremde macedoniſche König Philipp übernahm es ,
die Verlegung des Drafels zu rächen , und trat nun an die
Stelle deſſelben , indem er ſich zum Herrn von Griechenland
machte. Philipp unterwarf ſich die helleniſchen Staaten , und
brachte ſte zu dem Bewußtſeyn , daß es mit ihrer Unabhängigs
Feit aus fen , und daß fie fich nicht mehr felbſtſtändig erhalten
könnten . Die Kleinfrämerei, das Harte , Gewaltſame, politiſch
Betrügeriſche – dieß Gehäffige, das dem Philipp ſo oft zum
Vorwurf gemacht worden iſt, fiel nicht mehr auf den Jüngling
Alerander, als fich dieſer an die Spiße der Griechen ſtellte.
Dieſer hatte es nicht nöthig , ſich dergleichen zu Schulden kom
men zu laſſen ; er brauchte ſich nicht damit abzugeben , ſich erſt
ein Heer zu bilden , denn er fand es ſchon vor. Gleichwie
er den Bucephalus nur zu beſteigen , denſelben zu zügeln
und ſeinem Willen folgſam zu machen brauchte, ebenſo fand er
jene macedoniſche Phalanr, jene ſtarre geordnete Eiſenmaſſe vor,
deren kräftige Wirkung ſich ſchon unter Philipp , der ſie dem
Epaminondas nachgebildet , geltend gemacht hatte.
Von dem tiefften und auch umfangreichſten Denker des Al
terthums, von Ariftoteles, war Alerander erzogen worden ,
332 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
und die Erziehung war des Mannes würdig , der ſie übernom
men hatte. Alerander wurde in die tiefſte Metaphyſit einge
führt: dadurch wurde ſein Naturell vollkommen gereinigt und
von den ſonſtigen Banden der Meinung, der Rohheit, des lee
ren Vorſtellens befreit. Ariſtoteles hat dieſe große Natur ſo
unbefangen gelaſſen , als fie war, ihr aber das tiefe Bewußtſeyn
von dem , was das Wahrhafte iſt, eingeprägt, und den genie
vollen Geiſt , der er war , zu einem plaſtiſchen , gleich wie eine
frei in ihrem Aether ſchwebende Kugel, gebildet.
So ausgebildet ſtellte fich Alerander an die Spiße der
Hellenen , um Griechenland nach Aſten hinüberzuführen . Ein
zwanzigjähriger Jüngling führte er eine durch und durch erfah
rene Armee , deren Feldherrn lauter bejahrte und in der Kriegs
funft wohl bewanderte Männer waren. Aleranders Zwed war
es , Griechenland für Alles , was ihin von Aſien ſeit langer Zeit
angethan worden war, zu rächen , und den alten Zwieſpalt und
Kampf zwiſchen dem Oſten und Weſten endlich auszufämpfen .
Wenn er dem Drient in dieſem Kampfe das Uebel vergalt , das
Griechenland von ihm erfahren , ſo gab er ihm auch für die An
fänge der Bildung , welche von daher gekommen , das Gute zu
rück , indem er die Reife und Hoheit der Bildung über den Dſten
verbreitete und das von ihm beſegte Afien gleichſam zu einem
helleniſchen Lande umſtempelte. Die Größe und das Intereffe
dieſes Werkes ſtand im Gleichgewicht mit ſeinem Genie, mit fei
ner eigenthümlichen jugendlichen Individualität, die wir in dieſer
Schönheit nicht wieder an der Spiße eines ſolchen Unternehmens
geſehen haben . Denn in ihm waren nicht allein Feldherrngenie,
der größte Muth und die größte Tapferkeit vereinigt, ſondern
alle dieſe Eigenſchaften wurden durch ſchöne Menſchlichkeit und
Individualität erhöht. Obfchon ſeine Feldherrn ihm ergeben ſind,
ſo waren ſie doch die alten Diener feines Vaters geweſen , und
dieß machte ſeine Lage ſchwierig : denn ſeine Größe und ſeine
Jugend iſt eine Demüthigung für ſie , die ſich und was geſche
Zweiter Abſchnitt. Die Geſt. d. ſchön. Indiv. – Das macedon .Reich. 333
hen , für fertig hielten ; und wenn ihr Neid , wie bei Clitus , zur
blinden Wuth überging, ſo wurde auch Alerander zu großer
Heftigkeit gezwungen .
Alerander's Zug nach Aſien war zugleich ein Entdeckungs
zug, denn er zuerſt hat den Europäern die orientaliſche Welt
eröffnet , und iſt in Länder , wie Baktrien , Sogdiana , das nörd
liche Indien , die ſeitdem kaum wieder von den Europäern be
rührt worden ſind, vorgedrungen . Die Art der Verfolgung des
Zuges , nicht minder das militäriſche Genie in der Anordnung
der Schlachten , in der Taftif überhaupt, wird immer ein Ge
genſtand der Bewunderung bleiben . Er war groß als Feldherr
in den Schlachten , weiſe in den Zügen und Anordnungen , und
der tapferſte Soldat im Gewühl des Kampfes . Der Tod
Aleranders , der im drei und dreißigſten Jahre ſeines Lebens zu
Babylon erfolgte, giebt uns noch ein ſchönes Schauſpiel ſeiner
Größe und den Beweis von ſeinem Verhältniſſe zum Heere:
denn er nimmt von demſelben mit dem vollkommenen Bewußt
feyn ſeiner Würde Abſchied .
Alerander hat das Glück gehabt zur gehörigen Zeit zu ſter
ben ; man kann es zwar ein Glück nennen , aber es iſt vielmehr
eine Nothwendigkeit. Damit er als Jüngling für die Nachwelt
daſtehe, mußte ihn ein frühzeitiger Tod wegraffen . Sowie Achill ,
was ſchon oben bemerkt wurde , die griechiſche Welt beginnt, ſo
beſchließt fie Alerander , und dieſe Jünglinge geben nicht nur
die ſchönſte Anſchauung von ſich ſelbſt, ſondern liefern zu glei
cher Zeit ein ganz vollendetes fertiges Bild des griechiſchen We
ſens. Alerander hat ſein Werk vollendet und ſein Bild abge
ſchloſſen , ſo daß er der Welt eine der größten und ſchönſten An
ſchauungen darin hinterlaſſen hat, welche wir nur mit unſern
ſchlechten Reflerionen trüben können . Es würde zu der großen
weltgeſchichtlichen Geſtalt Alerander's nicht heranreichen , wenn
man ihn , wie die neueren Philiſter unter den Hiſtorikern thun,
nach einem modernen Maaßſtab, dem der Tugend oder Mora
334 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.
lität , meſſen wollte. Und wenn man , etwa um ſein Verdienſt
zu verringern , anführte , er habe keinen Nachfolger gehabt und
feine Dynaſtie hinterlaſſen , ſo ſind eben die nach ihm in Aſien
ſich bildenden griechiſchen Reiche ſeine Dynaſtie. Zwei Jahre
hat er in Baktrien Feldzüge gemacht, von wo aus er mit den
Maſſageten und Scythen in Berührung kam ; dort iſt das grie
chiſch-baftriſche Reich entſtanden , welches zwei Jahrhunderte
beſtanden hat. Von hier aus famen die Griechen in Verbins
dung mit Indien und ſelbſt mit China. Die griechiſche Herr- .
ſchaft hat fich über das nördliche Indien ausgebreitet, und Sans
drofottus (Chandraguptas) wird als derjenige genannt, welcher
ſich zuerſt davon befreit habe. Derſelbe Name fommt zwar bei
den Indern vor, aber aus Gründen , welche ſchon angeführt
worden ſind , kann man ſich ſehr wenig darauf verlaſſen . An
dere griechiſche Reiche find in Kleinaſten , in Armenien , in Sy
rien und Babylonien entſtanden . Beſonders Aegypten iſt aber
unter den Reichen der Nachfolger Alerander's ein großer Mit
telpunkt für Wiſſenſchaft und Kunſt geworden , denn eine große
Menge von Architecturwerken fällt in die Zeit der Ptolemäer,
wie man aus den entzifferten Inſchriften herausgebracht hat.
Alerandria wurde der Hauptmittelpunkt des Handels , der Ver
einigungsort morgenländiſcher Sitte und Tradition und weſtlicher
Bildung. Außerdem blühten das macedoniſche Reich , das thra
ciſche bis über die Donau , ein illyriſches und Epirus unter
der. Herrſchaft griechiſcher Fürſten .
Auch den Wiſſenſchaften war Alerander außerordentlich zu
gethan , und er wird nächſt Perikles als der freigebigfte Gönner
der Künſte gerühmt. Meier ſagt in ſeiner Kunſtgeſchichte , daß
dem Alerander nicht weniger ſeine verſtändige Kunſtliebe, als
ſeine Eroberungen das ewige Andenken erhalten hätten .
Dritter Abſänitt. Der Untergang des griechiſchen Geiſtes. 335

Dritter Abſchnitt.
Der Untergang des griechiſchen Geiſtes.
Dieſe dritte Periode der Geſchichte der helleniſchen Welt,
welche die ausführliche Entwickelung des Unglücks Griechen
lands enthält, intereſſirt uns weniger. Die ehemaligen Feld
herrn Alerander's , nunmehr als Könige ſelbſtſtändig auftretend,
führten lange Kriege gegen einander und erfuhren faſt alle die
abentheuerlichſten Umwälzungen des Schickſals. Namentlich aus
gezeichnet und hervorſtechend iſt in dieſer Hinſicht das Leben des
Demetrius Poliorcetes.
In Griechenland waren die Staaten in ihrem Beſtehen ge
blieben : von Philipp und Alerander zum Bewußtſeyn ihrer
Schwäche gebracht, friſteten ſte noch ein ſcheinbares Leben und
brüſteten ſich mit einer unwahren Selbſtſtändigkeit. Das Selbſt
gefühl, das die Unabhängigkeit giebt, fonnten ſie nicht haben ,
und es traten diplomatiſche Staatsmänner an die Spiße der
Staaten , Redner , die nicht mehr zugleich Feldherrn , wie z. B .
Perikles , waren . Die griechiſchen Länder ſtehen nunmehr in eis
nem mannigfachen Verhältniß zu den verſchiedenen Königen , die
ſich noch immer um den Befiß der Herrſchaft in den griechiſchen
Staaten , zum Theil auch um ihre Gunft, beſonders um die .
Athen’s bewarben ; denn Athen imponirte immer noch, wenn auch
nicht als Macht , doch als Mittelpunkt der höheren Künſte und
Wiſſenſchaften , beſonders der Philoſophie und der Beredſamkeit.
Es erhielt ſich auch mehr außerhalb der Schwelgerei, der Roh
heit und der Leidenſchaften , die in den anderen Staaten herrſchs
ten und ſie verächtlich machten , und die fyriſchen und ägypti
fchen Könige rechneten es ſich zur Ehre , Athen große Geſchenke
an Rorn und ſonſtigen nüßlichen Vorräthen zu machen . Zum
336 Zweiter Theil. Die griechiſớe Welt.
Theil fekten auch die Könige ihren vornehmſten Ruhm darein ,
die griechiſchen Städte und Staaten unabhängig zu machen und . .
zu erhalten . Die Befreiung Oriechenlands war gleichſam
das allgemeine Schlagwort geworden , und für einen hohen Titel
des Ruhms galt es , Befreier Griechenlands zu heißen . Geht
man auf den inneren politiſchen Sinn dieſes Wortes ein , ſo
war damit gemeint, daß kein einheimiſcher griechiſcher Staat zu
einer bedeutenden Herrſchaft gelangen ſollte, und daß man ſie
insgeſammt durch Trennung und Auflöſung in Ohnmacht erhals
ten wollte.
Die beſondere Eigenthümlichkeit, wodurch ſich die griechiſchen
Staaten unterſchieden , war eine verſchiedene, wie die der ſchönen
Götter , deren Jeder ſeinen beſonderen Charakter und beſonderes
Daſeyn hat, doch ſo , daß dieſe Beſonderheit ihrer gemeinſamen
Göttlichkeit keinen Eintrag thut. Indem nun dieſe Göttlichkeit
ſchwach geworden und aus den Staaten entwichen iſt, ſo bleibt
nur die trockene Particularität übrig , die häßliche Beſonderheit,
die ſich hartnädig und eigenſinnig auf fich hält, und die eben
damit ſchlechthin in die Abhängigkeit und den Conflict mit an
dern geſtellt iſt. Doch führte das Gefühl der Schwäche und
des Elends zu vereinzelten Verbindungen . Die Aetolier und ihr
Bund, als ein Räubervolf, machten Ungerechtigkeit, Gewaltthätig
keit, Betrug und Anmaßung gegen Andere zu ihrem Staatsrecht.
Sparta wurde von ſchändlichen Tyrannen und gehäſſigen Lei
denſchaften beherrſcht und war dabei von den macedoniſchen Kö
nigen abhängig. Die böotiſche Subjectivität war nach Erlö
ſchung des Thebaniſchen Glanzes zur Trägheit und gemeinen
Sucht des rohen ſinnlichen Genuſſes herabgeſunken . Der achåi
ſche Bund zeichnete ſich durch den Zweck ſeiner Verbindung
( Vertreibung der Tyrannen ) , durch Rechtlichkeit und den Sinn ·
. der Gemeinſamkeit aus. Aber auch er mußte zu der verwickelt
ften Politik feine Zuflucht nehmen . Was wir hier im Ganzen
ſehen , iſt ein diplomatiſcher Zuſtand , eine unendliche Verwick
Dritter Abſchnitt. Der Untergang des griechiſchen Geiſtes. 337
lung mit den mannichfaltigften auswärtigen Intereſſen , ein fünft
liches Gewebe und Spiel , deſſen Fäden immer neu combinirt
werden .
Bei dem inneren Zuſtande der Staaten , welche,durch Selbft
ſucht und Schwelgerei entkräftet, in Factionen zerriſſen ſind, deren
jede fich wieder nach außen wendet und mit Verrath des Vas
terlandes um die Gunſt der Könige bettelt, iſt das Intereſſante
nicht mehr das Schickſal dieſer Staaten , ſondern die großen
Individuen , die bei der allgemeinen Verdorbenheit aufſtehen
und edel fich ihrem Vaterlandeweihen ; ſie erſcheinen als große
tragiſche Charaktere, die durch ihr Genie und die angeſtrengteſte
Bemühung die Uebel doch nicht auszurotten vermögen , und gehen
im Kampfe unter, ohne die Befriedigung gehabt zu haben , dem
Vaterlande Nuhe, Drdnung und Freiheit wiederzugeben , auch
ohne ihr Andenken rein für die Nachwelt erhalten zu haben .
Livius ſagt in ſeiner Vorrede: „ In unſeren Zeiten können wir
weder unſere Fehler , noch die Mittel gegen dieſelben ertragen ."
Dieß iſt aber ebenſowohl auf dieſe Legten der Griechen anzu
wenden , welche ein Unternehmen begannen , das ebenſo rühmlich
und ebel war, als es die Gewißheit des Scheiterns in ſich trug.
Agis und Kleomenes , Aratus und Philopömen ſind ſo ihrem
Beſtreben für das Beſte ihrer Nation unterlegen . Plutarch ent
wirft uns ein höchſt charakteriſtiſches Gemälde dieſer Zeiten , in
dem er eine Vorſtellung von der Bedeutung der Individuen in
denſelben giebt.
Die dritte Periode der griechiſchen Geſchichte enthält aber
weiter noch die Berührung mit dem Volfe , welches nach den
Griechen das welthiſtoriſche ſeyn ſollte, und der Haupttitel dieſer
Berührung war wie früher die Befreiung Griechenlands. Nach
dem Perſeus, der lebte macedoniſche König, im Jahre 168 vor
Chr. Geb . von den Römern beſiegt und im Triumph in Rom
eingebracht worden war , wurde der achäiſche Bund angegriffen
und vernichtet , und endlich Korinth im Jahre 146 v . Chr. Geb .
Philoſophie d. Gejwidte. 3. Aufl. 22
338 Zweiter Theil. Die griechiſche Welt.

zerſtört. Wenn man Griechenland , wie Polybius es ſchildert,


vor Augen hat, ſieht man , wie eine edle Individualität über die
ſen Zuſtand nur verzweifeln und in die Philoſophie ſich zurück
ziehn oder dafür handelnd nur ſterben kann. Dieſer Particula
rität der Leidenſchaft , dieſer Zerriſſenheit , die Gutes und Böſes
niederwirft, ſteht ein blindes Schickſal , eine eiſerne Gewalt ge
genüber, um den ehrloſen Zuſtand in ſeiner Ohnmacht zu offen
baren und jammervoll zu zertrümmern, denn Heilung, Beſſerung
und Troſt iſt unmöglich . Dieſes zertrümmernde Schickſal ſind
aber die Römer.
Dritter Theil.
Diė römiſche Welt.

Napoleon , als er einſt mit Göthe über die Natur der Tra
gödie ſprach , meinte , daß ſich die neuere von der alten weſent
lich dadurch unterſcheide , daß wir kein Schickſal mehr hätten ,
dem die Menſchen unterlägen , und daß an die Stelle des alten
Fatums die Politik getreten ſey. Dieſe müſſe fomit als das
neuere Schidjal für die Tragödie gebraucht werden , als die un
widerſtehliche Gewalt der Umſtände, der die Individualität ſich
zu beugen habe. Eine ſolche Gewalt iſt die römiſche Welt ,
dazu auserkoren , die ſittlichen Individuen in Banden zu ſchla
gen , ſowie alle Götter und aưe Geiſter in das Pantheon der
Weltherrſchaft zu verſammeln , um daraus ein abſtract Algemei
nes zu machen . Das eben iſt der Unterſchied des römiſchen
und des perſiſchen Princips, daß das erſtere alle Lebendigkeit
erſtickt, während das leştere dieſelbe im vollſten Maaße beſtehen
ließ . Dadurch daß es der Zweck des Staates iſt, daß ihm die
Individuen in ihrem ſittlichen Leben aufgeopfert werden , iſt die
Welt in Trauer verſenkt: es iſt ihr das Herz gebrochen , und es
iſt aus mit der Natürlichkeit des Geiſtes , die zum Gefühle der
Unſeligkeit gelangt iſt. Doch nur aus dieſem Gefühle konnte.
der überſinnliche, der freie Geiſt im Chriſtenthum hervorgehen .
Im griechiſchen Princip haben wir die Geiſtigkeit in ihrer
Freude, in ihrer Heiterkeit und in ihrem Genuſſe geſehen : der
Geift hatte ſich noch nicht in die Abſtraction zurüdgezogen , er
22 *
340 Dritter Theil. Die römiſche Welt.

war noch mit dem Naturelemente, mit der Particularität der


Individuen behaftet, weswegen die Tugenden der Individuen
ſelbſt fittliche Kunſtwerke wurden . Die abſtracte allgemeine Per
ſönlichkeit war noch nicht vorhanden , denn der Geiſt mußte fich
erſt zu dieſer Form der abſtracten Allgemeinheit, welche die harte
Zucht über die Menſchheit ausgeübt hat, bilden . Hier in Rom
finden wir nunmehr dieſe freie Allgemeinheit, dieſe abſtracte Frei
heit, welche einerſeits den abſtracten Staat, die Politik und die
Gewalt über die concrete Individualität reßt und dieſe durchaus
unterordnet , andererſeits dieſer Allgemeinheit gegenüber die Per
fönlichkeit erſchafft, - die Freiheit des Ichs in fich , welche wohl
von der Individualität unterſchieden werden muß. Denn die
Perſönlichkeit macht die Grundbeſtimmung des Rechts aus : fie
tritt hauptſächlich im Eigenthum ins Daſeyn , iſt aber gleichgül
tig gegen die concreten Beſtimmungen des lebendigen Geiſtes ,
mit denen es die Individualität zu thun hat. Dieſe beiden Mo
mente, welche Rom bilden , die politiſche Allgemeinheit für ſich
und die abſtracte Freiheit des Individuums in ſich ſelbſt , ſind
zunächſt in der Form der Innerlichkeit ſelbſt befaßt. Dieſe In
nerlichkeit, dieſes Zurückgehen in ſich ſelbſt, welches wir als das
Verderben des griechiſchen Geiſtes geſehen, wird hier der Boden,
auf welchem eine neue Seite der Weltgeſchichte aufgeht. Es iſt
bei der Betrachtung der römiſchen Welt nicht um ein concret gei
ſtiges , in ſich reiches Leben zu thun ; ſondern das weltgeſchicht:
liche Moment darin iſt das Abſtractum der Augemeinheit, und
der Zweck, der mit geiſt- und herzloſer Härte verfolgt wird , iſt
die bloße Herrſchaft, um jenes Abſtractum geltend zu machen .
In Griechenland war die Demokratie die Grundbeſtim : *
mung des politiſchen Lebens, wie im Orient der Despotis :
mus; hier iſt es nun die Ariſtokratie, und zwar eine ſtarre,
die dem Volfe gegenüberſteht. Auch in Griechenland hat ſich
die Demokratie, aber nur in Weiſe der Factionen entzweit; in
Rom find es Principien , die das Ganze getheilt halten , ſte ftes
Dritter Theil. Die römiſche Welt. 341

hen einander feindſelig gegenüber und kämpfen mit einander : erſt


die Ariſtokratie mit den Königen , dann die Plebs mit der Ari
ſtokratie, bis die Demokratie die Oberhand gewinnt; da erſt ent
ſtehen Factionen , aus welchen jene ſpätere Ariſtokratie großer
Individuen hervorging , welche die Welt bezwungen hat. Dieſer
Dualismus iſt es , der eigentlich Roms innerſtes Weſen bedeutet.
Die Gelehrſamkeit hat die römiſche Geſchichte von vielerlei
Geſichtspunkten aus betrachtet und ſehr verſchiedene und entge
gengeſeßte Anſichten aufgeſtellt: namentlich gilt dieſes von der
älteren römiſchen Geſchichte, die von drei verſchiedenen Claſſen
von Gelehrten bearbeitet worden iſt, von Geſchichtsſchreibern ,
Philologen und Juriſten . Die Geſchichtsſchreiber halten ſich an
die großen Züge , und achten die Geſchichte als ſolche, ſo daß
man ſich bei ihnen noch am beſten zurecht findet , da ſte entſchie
dene Begebenheiten gelten laſſen . Ein Anderes iſt es mit den
Philologen , bei denen die allgemeinen Traditionen weniger bedeu
ten und die mehr auf Einzelnheiten , welche auf mannigfache
Weiſe combinirt werden können , gehen . Dieſe Combinationen
gelten zuerſt als hiſtoriſche Hypotheſen und bald darauf als aus
gemachte Facta . In nicht geringerem Grade , wie die Philolo
gen , haben die Juriſten bei Gelegenheit des römiſchen Rechts
das Kleinlichfte unterſucht und mit Hypotheſen vermiſcht. Das
Reſultat war , daß man die älteſte römiſche Geſchichte ganz und
gar für Fabel erklärte, wodurch dieſes Gebiet nun durchaus der
Gelehrſamkeit anheimfiel, die da immer am breiteſten ſich aus
dehnt, wo am wenigſten zu holen iſt. Wenn einerſeits die
Poeſie und die Mythen der Griechen tiefe geſchichtliche Wahrhei
ten enthalten ſollen und in Geſchichte überſeßt werden , ſo zwingt
man dagegen die Römer Mythen , poetiſche Anſchauungen zu
haben , und dem bisher als proſaiſch und geſchichtlich Angenom
menen ſollen Epopõen zu Grunde liegen .
Wir gehen nach dieſen Vorerinnerungen zur Beſchreibung
der localität über.
342 Dritter Theil. Die römiſche Welt.

Die römiſche Welt hat ihren Mittelpunkt in Italien , wel


ches Griechenland ganz ähnlich iſt, eine Halbinſel wie dieſes
ausmacht, nur nicht ſo eingeſchnitten fich darſtellt. In dieſem
lande bildete die Stadt Rom ſelber den Mittelpunkt des Mit
telpunkts . Napoleon kommt in ſeinen Memoiren auf die Frage,
welche Stadt , wenn Italien ſelbſtſtändig wäre und ein Ganzes
ausmachte , fich am beſten zur Hauptſtadt eigne. Rom , Vene
dig , Mailand können Anſprüche machen ; aber es zeigt ſich fo
gleich , daß keine dieſer Städte einen Mittelpunkt abgeben würde.
Das nördliche Jialien bildet einen Baffin des Po und iſt ganz
verſchieden von der eigentlichen Halbinſel; Venedig greift nur
in Oberitalien , nicht in den Süden ein , und Rom fann ante
rerſeits wohl für Mittel - und Unteritalien ein Mittelpunkt
ſeyn, aber nur fünſtlich und gewaltſam für die Länder , die ihm
in Oberitalien unterworfen waren . Der römiſche Staat beruht
geographiſch wie auch hiſtoriſch auf dem Momente der Gewalt
ſamkeit.
Die Localität von Italten ſtellt alſo keine Einheit der Na
tur, wie das Nilthal vor; die Einheit war eine ſolche, wie ſie
etwa Macedonien durch ſeine Herrſchaft Griechenland gegeben
hat, doch ermangelte Italien jener geiſtigen Durchdringung, die
Griechenland durch Gleichheit der Bildung beſaß , denn es wurde
von ſehr verſchiedenen Völkern bewohnt. Niebuhr hat ſeiner rö
miſchen Geſchichte eine ſehr gelehrte Abhandlung über die Völ
fer Italiens vorangeſchickt , woraus aber kein Zuſammenhang
derſelben mit der römiſchen Geſchichte erſichtlich iſt. Ueberhaupt
muß Niebuhr's Geſchichte nur als eine Kritik der römiſchen Ge
ſchichte betrachtet werden , denn ſie beſteht aus einer Reihe von
Abhandlungen , die keineswegen die Einheit der Geſchichte haben .
Wir haben als allgemeines Princip der römiſchen Welt die
ſubjective Innerlichkeit geſehen . Der Gang der römiſchen Ge
ſchichte iſt daher , daß die innere Verſchloſſenheit , die Gewißheit
ſeiner in ſich ſelbſt, zur Aeußerlichkeit der Realität gedeiht. Das
Dritter Theil. Die römiſche Welt. 343

Princip der ſubjectiven Innerlichkeit hat Erfüllung und Inhalt


zunächſt nur von außen , durch den particularen Willen der Herr
ſchaft, der Regierung u . ſ. f. Die Entwicklung beſteht in der
Reinigung der Innerlichkeit zur abſtracten Perſönlichkeit , welche
im Privateigenthum ſich die Realität giebt, und die ſpröden Per
ſonen können dann nur durch despotiſche Gewalt zuſammenge
halten werden . Dieß iſt der allgemeine Gang der römiſchen
Welt: der Uebergang vom heiligen Innern zum Entgegengeſeks
ten . Die Entwickelung iſt hier nicht der Art, wie in Griechen
land, daß das Princip nur feinen Inhalt entfalte und aus ein
ander breite ; ſondern ſte iſt Uebergang zum Entgegengeſepten ,
welchen nicht als Verderben eintritt, ſondern durch das Princip
ſelbſt gefordert und geſeßt iſt. -- Was nun die beſtimmten Un
terſchiede der römiſchen Geſchichte betrifft, ſo iſt die gewöhnliche
Eintheilung die von Königthum , Republik und Raiſerreich , als
ob in dieſen Formen verſchiedene Principien hervorträten ; aber
dieſen Formen der Entwickelung liegt daſſelbe Princip des rö
miſchen Geiſtes zu Grunde. Wir müſſen vielmehr bei der Einthei
lung den welthiſtoriſchen Gang in 's Auge faſſen . Es ſind ſchon frü
her die Geſchichten jedes welthiſtoriſchen Volfes in drei Perioden ab
getheilt worden , und dieſe Angabemuß ſich auch hier bewahrheiten .
Die erſte Periode begreift die Anfänge Roms,worin die im We
ſen entgegengeſepten Beſtimmungen noch in ruhiger Einheit ſchlafen ,
bis die Gegenſäße in ſich erſtarken und die Einheit des Staats da
durch die kräftige wird, daß fie den Gegenſaß in ſich geboren
und als beſtehend hat. Mit dieſer Straft wendet ſich der Staat
nach außen , in der zweiten Periode, und betritt das welthi
ſtoriſche Theater ; hier liegt die ſchönſte Zeit Noms, die puniſchen
Kriege und die Berührungmit dem früheren welthiſtoriſchen Volk.
E8 thut ſich ein weiterer Schauplaß gegen Oſten auf; die Ge
ſchichte zur Zeit dieſer Berührung hat der edle Polybius behandelt.
Das römiſche Reich bekam nunmehr die welterobernde Ausdeh
nung, welche ſeinen Verfall vorbereitete. Die innere Zerrüttung
344 Dritter Theil. Die römiſche Welt.

trat ein , indem der Gegenſaß fich zum Widerſpruch in fich und
zur völligen Unverträglichkeit entwickelte ; ſie endigtmit dem Dega
potismus , der die dritte Periode bezeichnet. Die römiſche
Macht erſcheint hier prächtig, glänzend, zugleich aber iſt ſie tief
in fich gebrochen , und die chriftliche Religion , die mit dem Kai
ſerreiche beginnt, erhält eine große Ausdehnung. In die dritte
Periode fällt zuleßt noch die Berührung mit dem Norden und
den germaniſchen Völkern , welche nun welthiſtoriſch werden ſollen .

Erſter Abſchnitt.
Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege.
Erſtes Capitel.
Die Elemente des römiſchen Geiſtes.

Ehe wir an die römiſche Geſchichte gehen , haben wir die


Elemente des römiſchen Geiſtes im Augemeinen zu betrach :
ten , und in dieſer Beziehung zuvörderſt von der Entſtehung
Rom 's zu ſprechen und dieſelbe zu unterſuchen . Rom iſt außer
landes entſtanden , nämlich in einem Winkel, wo drei verſchie
dene Gebiete , das der Lateiner, Sabiner und Etrusker, zuſam
menſtießen ; es hat ſich nicht aus einem alten Stamme, einem
natürlich patriarchaliſch zuſammen gehörenden , deſſen Urſprung
fich in alte Zeiten verliefe, gebildet (wie es etwa bei den Per
ſern der Fall geweſen , die doch auch dann über ein großes Reich
geherrſcht haben ); ſondern Rom war vom Hauſe aus etwas
Gemachtes, Gewaltſames , nichts urſprüngliches. Es wird er
zählt, die Abkömmlinge der von Aeneas nach Italien geführten
Trojaner hätten Rom gegründet, denn der Zuſammenhang mit
Aſten iſt etwas ſehr Beliebtes geweſen , und es giebt in Italien ,
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſden Ariege. 345

Frankreich und Deutſchland ſelbſt (Xanten ) manche Städte, die


ihren Urſprung oder Namen auf die geflüchteten Trojaner zu
rüdleiten . Livius ſpricht von den alten Tribus in Rom , den
Ramnenses, Titienses und Luceres; wenn man nun dieſe
als verſchiedene Nationen anſehen und behaupten will, daß fte
eigentlich die Elemente ſeven , aus denen Rom gebildet wäre, —
eine Anſicht, die in neueren Zeiten ſich ſehr oft hat geltend ma
chen wollen ; ſo wirft man geradezu um , was durch die Ge
ſchichte überliefert iſt. Alle Geſchichtsſireiber ſtimmen darin
überein , daß fchon früh auf den Hügeln Roms Hirten unter
Oberhäuptern herumgeſtreift ſeven , daß das erſte Zuſammenſeyn
Roms ſich als Räuberſtaat conſtituirt habe, und daß mit Mühe
die zerſtreuten Bewohner der Umgegend zu einem gemeinſamen
Leben ſeyen vereinigt worden . Es wird auch das Nähere aller
dieſer Umſtände angegeben . Jene räuberiſchen Hirten nahmen
Alles auf, was ſich zu ihnen ſchlagen wollte (livius nennt es
eine colluvies ); aus allen drei Gebieten , zwiſchen welchen Rom
lag, hat ſich das Geſindel in der neuen Stadt verſammelt. Die
Geſchichtsſchreiber geben an , daß dieſer Punft auf einein Hügel
am Fluſſe ſehr wohl gewählt war, und ſehr geeignet, ihn zum
Aſyl für alle Verbrecher zu machen . Ebenſo geſchichtlich iſt es ,
daß in dem neugebildeten Staate keine Weiber vorhanden waren ,
und daß die benachbarten Staaten keine connubia mit ihm ein
gehen wollten : beide Umſtände charakteriſiren ihn als eine Räu
berverbindung , mit der die anderen Staaten keine Gemeinſchaft
haben mochten . Auch ſchlugen ſie die Einladung zu den gottes
dienſtlichen Feften aus, und nur die Sabiner , ein einfaches lands
bauendes Volf , bei denen , wie livius ſagt, eine tristis atque
tetrica superstitio herrſchte, haben ſich theils aus Aberglau
ben , theils aus Furcht dabei eingefunden . Der Raub der Sa
binerinnen iſt dann ein allgemein angenommenes geſchichtliches
Factum . Es liegt darin ſchon der ſehr charakteriſtiſche Zug, daß
die Religion als Mittel zum Zweck des jungen Staats gebraucht
· 346 Dritter Theil. Die römiſche Welt.

wird . Eine andere Weiſe der Erweiterung iſt die , daß die Ein
wohner benachbarter und eroberter Städte nach Rom geſchleppt
wurden . Auch ſpäter noch famen Fremde freiwillig nach Rom ,
wie die ſo berühint gewordene Familie der Claudier mit ihrer
ganzen Clientel. Der Korinther Demaratus aus einer anſehn
lichen Familie hatte ſich in Etrurien niedergelaſſen , wurde aber
da als Verbannter und Fremder wenig geachtet; ſein Sohn
Lucumo konnte dieſe Unwürdigkeit nicht länger ertragen : er be
gab ſich nach Rom , ſagt Livius , weil da ein neues Volk und
eine repentina atque ex virtute nobilitas wäre. Lu
cumo gelangte auch ſogleich zu ſolchem Anſehn , daß er nachher
König wurde.
Dieſe Stiftung des Staates iſt es , welche als die weſent
liche Grundlage für die Eigenthümlichkeit Rom 's angeſehen wer
den muß. Denn ſie führt unınittelbar die härteſte Disciplin
mit fich , ſowie die Aufopferung für den Zweck des Bundes.
Ein Staat, der ſich ſelbſt erſt gebildet hat und auf Gewalt be
ruht , muß mit Gewalt zuſammengehalten werden . Es iſt da
nicht ein fittlicher , liberaler Zuſammenhang, ſondern ein gezwun
gener Zuſtand der Subordination , der ſich aus ſolchem Ur
ſprunge herleitet. Die römiſche virtus iſt die Tapferkeit , aber
nicht bloß die perſönliche, ſondern die ſich weſentlich im Zuſam
menhang der Genoſſen zeigt , welcher Zuſammenhang für das
Höchſte gilt, und mit aller Gewaltthätigkeit verknüpft ſeyn kann .
Wenn nun die Römer ſo einen geſchloſſenen Bund bildeten , ſo
waren ſie zwar nicht, wie die Lacedämonier im inneren Gegen
ſaß mit einem eroberten und unterdrückten Volk ; aber es that
ſich in ihnen der Unterſchied und der Kampf der Patricier
und Plebejer hervor. Dieſer Gegenſaß iſt ſchon mythiſch an
gedeutet in den feindlichen Brüdern , Romulus und Remus. Res
mus iſt auf dem aventiniſchen Berg begraben ; dieſer iſt den üblen
Genien geweiht und dorthin gehen die Seceſſionen der Plebs.
Es iſt nun die Frage, wie ſich dieſer Unterſchied gemacht habe ?
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege. 347

Es iſt ſchon geſagt worden , daß Rom fich durch räuberiſche Hir
ten und den Zuſammenlauf von allerlei Geſindel bildete: ſpäter
wurden auch noch dieBewohner genommener und zerſtörter Städte
dahin geſchleppt. Die Schwächeren , Aermeren , die ſpäter Hin
zugekommenen ſind nothwendig im Verhältniß der Geringſchäßung
und Abhängigkeit gegen die, welche urſprünglich den Staat be
gründet hatten , und die, welche ſich durch Tapferkeit und auch
durch Reichthum auszeichneten . Man hat alſo nicht nöthig , zu
einer in neuerer Zeit beliebten Hypotheſe ſeine Zuflucht zu
nehmen daß die Patricier ein eigener Stamm geweſen ſeyen .
Die Abhängigkeit der Plebejer von den Patriciern wird oft
als eine vollkommen geſebliche dargeſtellt , ia als eine heilige, weil
die Patricier die sacra in den Händen gehabt hätten , die Plebs
aber gleichſam götterlos geweſen wäre. Die Plebejer haben den
Patriciern ihren heuchleriſchen Kram (ad decipiendam plebem .
Cic.) gelaſſen , und ſich nichts aus ihren sacris und Augurien
gemacht ; wenn ſie aber die politiſchen Rechte von denſelben ab
trennten und an ſich riffen , ſo haben ſie ſich damit ebenſo wenig
einer frevelhaften Verlegung des Heiligen ſchuldig gemacht, als
die Proteſtanten , da ſie die politiſche Staatsgewalt befreiten und
die Gewiſſensfreiheit behaupteten . Man muß, wie geſagt, das
Verhältniß der Patricier und Plebejer ſo anſehen , daß die Ar
men und darum Hülfloſen gezwungen waren , ſich an die Reiches
ren und Angeſehneren anzuſchließen und ihr patrocinium nachzu
ſuchen : in dieſem Schußverhältniß der Reicheren heißen die Ge
ſchüßten Clienten. Man findet aber ſehr bald auch wieder die
plebs von den Clienten unterſchieden . Bei den Zwiſtigkeiten
zwiſchen den Patriciern und Plebejern hielten ſich die Clienten
an ihre Patrone, obgleich ſie ebenſogut zur plebs gehörten .
Daß dieſes Verhältniß der Clienten kein rechtliches , geſebliches
Verhältniß war, das geht daraus hervor, daß mit der Einfüh
rung und Renntniß der Geſeße durch alle Stände das Clientel
verhältniß allmählig verſchwand , denn ſobald die Individuen
348 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
Schuß am Gefeße fanden , mußte jene augenblickliche Noth auf
hören .
In dem Räuberanfang des Staates war nothwendig jeder
Bürger Soldat, denn der Staat beruhte auf dem Krieg : dieſe
Laſt war drüdend, da jeder Bürger ſich im Kriege ſelber unter
halten mußte. Es führte dieſer Umſtand nun eine ungeheure
Verſchuldung herbei, in welche die Plebs gegen die Patricier ver
fiel. Mit der Einführung der Geſeße mußte auch dieſes will
kürliche Verhältniß nach und nach aufhören ; denn es fehlte viel,
daß die Patricier ſogleich geneigt geweſen wären , die Plebs
aus dem Verhältniſſe der Hörigkeit zu entlaffen , vielmehr ſollte
noch immer die Abhängigkeit zu ihren Gunſten beſtehen . Die
Gefeße der zwölf Tafeln enthielten noch viel Unbeſtimmtes, der
Wilfür des Richters war noch ſehr viel überlaſſen ; Richter aber
waren nurdie Patricier ; und ſo dauert denn der Gegenſaß zwiſchen
Patriciern und Plebejern noch lange fort. Allmählig erſt erſteigen
die Plebejer alle Höhen und gelangen zu den Befugniſſen , die
früher allein den Patriciern zuſtanden .
Im griechiſchen Leben , wenn es auch nicht aus dem pas
triarchaliſchen Verhältniß hervorgegangen iſt, war doch Fami
lien - Liebe und Familien - Band in ſeinem erſten Urſprung vor
handen , und der friedliche Zweck des Zuſammenſeyns hatte die
Austilgung der Räuber zur See und zu land zur Bedingung.
Die Stifter Rom 's dagegen , Romulus und Remus, find, nach
der Sage, ſelbſt Räuber und von Anfang aus der Familie aus
geſtoßen und nicht in der Familienliebe groß geworden . Ebenſo
haben die erſten Römer ihre Frauen nicht durch freies Werben
und Zuneigung, ſondern durch Gewalt erlangt. Dieſer Anfang des
römiſchen Lebens in verwilderter Rohheit, mit Ausſchluß der Em
pfindungen der natürlichen Sittlichkeit, bringt das Eine Element
deſſelben mit ſich, die Härte gegen das Familienverhältniß , eine
ſelbſtiſche Härte,welche die Grundbeſtimmung der römiſchen Sitten
und Geſeße für die Folge ausmachte. Wir finden alſo beiden Römern
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege. 349
das Familienverhältniß nicht als ein ſchönes freies Verhältniß
der Liebe und der Empfindung, ſondern an die Stelle des Zu
trauens tritt das Princip der Hårte , der Abhängigkeit und der
Unterordnung. Die Ehe hatte eigentlich in ihrer ſtrengen und
förmlichen Geſtalt ganz die Art und Weiſe eines dinglichen Ver:
hältniſſes : die Frau gehörte in den Beſitz des Mannes (in ma
num conventio ) , und die Heirathsceremonie beruhte auf einer
coemtio , in der Form , wie ſie auch bei jedem andern Kaufe
vorkommen konnte. Der Mann bekam ein Recht über jeine Frau,
wie über ſeine Tochter , nicht minder über ihr Vermögen , und
Alles , was ſie erwarb , erwarb ſie ihrem Mann. In den guten
Zeiten der Republikwurden dieEhen auch durch einereligiöſe Ceres
monie, die confarreatio , geſchloſſen , die aber ſpäter unterlaſſen
wurde. Nicht mindere Gewalt als durch die coemtio erlangte
der Mann , wenn er auf dem Wege des usus heirathete , das
heißt , wenn die Frau im Hauſe des Mannes blieb , ohne in
einem Jahre ein trinoctium abweſend zu ſeyn. Hatte der
Mann nicht in einer der Formen der in manum conventio ges
heirathet, ſo blieb die Frau entweder in der väterlichen Gewalt,
oder unter der Vormundſchaft ihrer Agnaten , und ſie war dem
Manne gegenüber frei. Ehre und Würde erlangte alſo die rö
miſche Matrone nur durch die Unabhängigkeit vom Manne, ſtatt
daß durch den Mann und durch die Ehe ſelbſt die Frau ihre
Ehre haben ſoll. Wollte der Mann nach dem freieren Rechte,
wenn nämlich die Ehe nicht durch die confarreatio geheiligt
war , fich von der Frau ſcheiden laſſen , ſo ſchicte er ſie eben
fort. - Das Verhältniß der Söhne war ganz ähnlich : ſie wa
ren einerſeits der väterlichen Gewalt ungefähr ebenſo unterwor
fen , wie die Frau der ehelichen ; ſte konnten kein Eigenthum ha
ben , und es machte keinen Unterſchied , ob ſie im Staate ein
hohes Amt bekleideten oder nicht (nur die peculia castrensia
und adventitia begründen hier einen Unterſchied), andererſeits
aber waren fte , wenn ſte emancipirt wurden , außer allem Zu
350 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
ſammenhang mit ihrem Vater und ihrer Familie. Als Zeichen ,
wie hier das kindliche Verhältniß mit dem ſclaviſchen zuſammen
geſtelltwurde, fann wohl die imaginaria servitus (mancipium )
dienen , durch welche die emancipirten Kinder zu paſſiren hatten .
- In Beziehung auf die Erbſchaft wäre eigentlich das Sitt
liche , daß die Kinder die Erbſchaft auf gleiche Weiſe theilen .
Bei den Römern tritt aber dagegen die Wilfür des Teſtirens
in ſchrofffter Geſtalt hervor.
So entartet und entſittlicht ſehen wir hier die Grundver
hältniſſe der Sittlichkeit. Der unſittlichen activen Härte der Rö
mer nach dieſer Privat Seite entſpricht nothwendig die paſſive
Härte ihres Verbandes zum Staatszwed . Für die Härte, welche
der Römer im Staate erlitt, war er entſchädigt durch dieſelbe
Härte, welche er nach Seiten ſeiner Familie genoß , — Knecht
auf der Einen Seite , Despot auf der andern . Dieß macht die
römiſche Größe aus, deren Eigenthümlichkeit die harte Starrheit
in der Einheit der Individuen mit dem Staate, mit dem
Staatsgeſeß und Staatsbefehl war. Um von dieſem Geiſt eine
nähere Anſchauung zu erhalten , muß man nicht nur die Hand
lungen der römiſchen Helden , wenn ſie als Soldaten oder Feld
herren gegen den Feind ſtehen , oder als Geſandte auftreten , vor
Augen haben , wie ſie hier mit ganzem Sinn und Gedanken nur
dem Staat und ſeinem Befehle , ohne Wanken und Weichen , an
- gehören , ſondern vornehmlich auch das Betragen der Plebs in
Zeiten der Aufſtände gegen die Patricier. Wie oft iſt die Plebs
im Aufſtande und in der Auflöſung der geſeßlichen Ordnung
durch das bloß Formelle wieder zur Ruhe gebracht und um die
Erfüllung ihrer gerechten nnd ungerechten Forderungen getäuſcht
worden ! Wie oft iſt vom Senat z. B . ein Dictator gewählt
worden , woweder Krieg noch Feindesnoth war, um die Plebejer zu
Soldaten auszuheben und ſie durch den militäriſchen Eid zum ftren
gen Gehorſam zu verpflichten ! Licinius hat zehn Jahre gebraucht,um
Gefeße, die der Plebs günſtig waren ,durchzuſeßen ; durch das Fors
Erſter Abíšnitt. Rom bis zum zweiten puniſøen Kriege. 351
melle des Widerſpruchs anderer Tribunen hat ſie ſich zurückhalten laſ
fen , und noch geduldiger hat ſie die verzögerte Ausführung dieſer
Gefeße erwartet. Man kann fragen, wodurch iſt ſolcher Sinn und
Charakter hervorgebracht worden ? Hervorbringen läßt er ſich
nicht, ſondern er liegt, ſeinem Grundmoment nach , in jener Ent
ftehung aus der erſten Räubergeſellſchaft , und dann in der mit
gebrachten Natur der darin vereinigten Völfer , endlich in der
Beſtimmtheit des Weltgeiſtes , der an der Zeit war. Die Ele:
mente des römiſchen Volfswaren etrusfiſche, lateiniſche, ſabiniſche ;
dieſe mußten die innere natürliche Befähigung zum römiſchen
Geiſte enthalten. Von dem Geiſte, dem Charakter und Leben der
altitaliſchen Völfer wiſſen wir ſehr wenig , — Dank ſeu es der
Geiſtloſigkeit der römiſchen Geſchichtſchreibung ! und das Wenige
zumeiſt durch die Griechen , welche über die römiſche Geſchichte
geſchrieben haben . Von dem allgemeinen Charakter der Römer
aber können wir ſagen , daß gegen jene erſte wilde Poeſie und
Verkehrung alles Endlichen im Orient, gegen die ſchöne harmo
niſche Poeſie und gleichſchwebende Freiheit des Geiſtes der Grie
chen , hier bei den Römern die Profa des Lebens eintritt, das
Bewußtſeyn der Endlichkeit für ſich , die Abſtraction des Verſtan
des und die Härte der Perſönlichkeit, welche ihre Sprödigkeit
ſelbſt nicht in der Familie zu natürlicher Sittlichkeit ausweitet,
ſondern das gemüth - und geiſtloſe Eins bleibt und in abſtracter
Augemeinheit die Einheit dieſer Eins leßt.
Dieſe äußerſte Profa des Geiſtes finden wir in der etruski
ſchen Kunſt, welche bei vollkommener Technik und naturgetreuer
Ausführung aller griechiſchen Idealitätund Schönheit ermangelt;
wir ſehen ſie dann weiter in der Ausbildung des römiſchen
Rechts und in der römiſchen Religion .
Dem unfreien , geiſt- und gemüthloſen Verſtand der römi
ſchen Welt haben wir den Urſprung und die Ausbildung des
· poſitiven Rechts zu verdanken . Wir haben nämlich früher
geſehen , wie im Drient an fich fittliche und moraliſche Verhält
352 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
niffe zu Rechtsgeboten gemacht wurden ; ſelbſt bei den Griechen
war die Sitte zugleich juriſtiſches Recht, und ebendarum war die
Verfaſſung von Sitte und Geſinnung ganz abhängig, und hatte
noch nicht die Feſtigkeit in fich gegen das wandelbare Innere
und die particulare Subjectivität. Die Römer haben nun dieſe
große Trennung vollbracht und ein Rechtsprincip erfunden , das
äußerlich d . H. geſinnungslos und gemüthloß iſt. Wenn ſie uns
damit ein großes Geſchenk, der Form nach , gemacht haben ; ſo
können wir uns deſſen bedienen und es genießen , ohne zum
Opfer dieſes dürren Verſtandes zu werden , ohne es für ſich als
ein Leftes der Weisheit und der Vernunft anzuſehen . Sie ſind
die Opfer geweſen , die darin gelebt, aber für Andere haben ſie
eben damit die Freiheit des Geiſtes gewonnen , nämlich die innere
Freiheit, die dadurch von jenem Gebiete des Endlichen und des
Neußerlichen frei geworden iſt. Geiſt, Gemüth, Geſinnung, Reli
gion haben nun nicht mehr zu befürchten , mit jenem abſtract
juriſtiſchen Verſtande verwickelt zu werden . Auch die Runft hat
ihre äußerliche Seite ; wenn in der Kunſt das mechaniſche Hand:
werk ganz für ſich fertig geworden , ſo kann die freie Kunſt er
ſtehen und ſich ausüben . Aber die ſind zu beklagen , welche von
Nichts als dem Handwerk gewußt und Nichts weiter gewollt
haben ; ſo wie die zu beklagen waren , welche, wenn die Kunſt
erſtanden , noch immer das Handwerk als das Höchſte anſehen
würden .
Wir ſehen die Römer Tu gebunden im abftracten Verſtande
der Endlichkeit. Dieß iſt ihre höchſte Beſtimmung und daher
auch ihr höchſtes Bewußtſeyn, in der Religion . In der That
war die Gebundenheit die Religion der Römer, da ſie hingegen
bei den Griechen Heiterkeit der freien Phantaſte war. Wir ſind
gewohnt griechiſche und römiſche Religion als daſſelbe anzuſehen
und brauchen die Namen Jupiter , Minerva u. f. f. oft ohne
Unterſchied von den griechiſchen , wie römiſchen Gottheiten . Dieß
geht in ſofern an , als die griechiſchen Götter mehr oder weniger
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege. 353
bei den Römern eingeführt waren ; aber ſo wenig die ägyptiſche
Religion darum die griechiſche geweſen iſt, weil Herodot und die
Griechen fich die ägyptiſchen Gottheiten unter den Namen La
tona, Pallas u . f. f. fenntlich machen ; ſo wenig iſt die römiſche
Religion die griechiſche. Es iſt geſagt worden , daß in der grie
chiſchen Religion der Schauer der Natur zu etwas Geiſtigem , zu
einer freien Anſchauung und zu einer geiſtigen Phantaſiegeſtalt
herausgebildet worden iſt, daß der griechiſche Geiſt nicht bei der
inneren Furcht ſtehen geblieben iſt, ſondern das Verhältniß der
Natur zu einem Verhältniß der Freiheit und Heiterkeit gemacht
hat. Die Römer dagegen ſind bei einer ſtummen und ſtumpfen
Innerlichkeit geblieben , und damit war das Aeußerliche ein Ob
ject, ein Anderes , ein Geheimes. Der ſo bei der Innerlichkeit
ftehen gebliebene römiſche Geiſt fam in das Verhältniß der Ges
bundenheit und Abhängigkeit, wohin ſchon der Urſprung des
Wortes religio (lig -are) deutet. Der Römer hatte immer mit
einem Geheimen zu thun , in Allem glaubte und ſuchte er ein
Verhülltes, und während in der griechiſchen Religion Alles
offen, klar, gegenwärtig für Sinn und Anſchauung, nicht ein Jen
ſeits , ſondern ein Freundliches , ein Diesſeits iſt, ſtellt ſich bei
den Römern Alles als ein Myſteriöſes und Gedoppeltes bar :
ſie ſahen in dem Gegenſtand zuerft ihn ſelbſt , und dann auch
noch das , was in ihm verborgen liegt: ihre ganze Geſchichte
kommt aus dieſem Gedoppelten nicht heraus. Die Römerſtadt
hatte außer ihrem eigentlichen Namen noch einen geheimen , den
- nur Wenige fannten . Man glaubt es ſey Valentia , die latei
niſche Ueberſeßung von Roma, geweſen , Andere meinen , es fer
Amor (Roma rückwärts geleſen ). Romulus, der Begründer
des Staates , hatte auch noch einen heiligen Namen : Quiris
nus, unter dem er verehrt wurde ; die Römer hießen ſo auch
noch Quiriten . ( Dieſer Name hängt mit dem Worte curia zu :
ſammen : in der Ableitung iſtman ſogar auf die ſabiniſche Stadt -
Cures gekommen .)
Philoſophie 0. Gedichte. 3 . Aufl. 23
354 Dritter Theil. Die römiſche Welt.

Bei den Römern blieb der religiöſe Schauer unentwickelt, iſt


in die ſubjective Gewißheit ſeiner ſelbſt eingeſchloſſen . Das Bes
wußtſein hat ſich daher keine geiſtige Gegenſtändlichkeit gegeben
und ſich nicht zur theoretiſchen Anſchauung der ewig göttlichen
Natur und zur Befreiung in ihr erhoben ; es hat keinen religiö
ſen Inhalt für ſich aus dem Geiſte gewonnen . Die leere Sub
jectivität des Gewiſſens legt ſich bei dem Römer in Alles, was
er thut und vornimmt, in ſeine Verträge , Staatsverhältniffe,
Pflichten , Familienverhältniſſe u . f. F.; und alle dieſe Verhältniſſe
erhalten dadurch nicht bloß die Sanction des Geſeglichen , ſondern
gleichſam die Feierlichkeit des Eidlichen . Die unendliche Menge
von Ceremonien bei den Comitien, bei Antritt der Aemter u . f. For
find die Reußerungen und Erklärungen über dieſes feſte Band. Ueber
au ſpielen die sacra eine höchft wichtige Rolle. Das Unbes
fangenſte bildete ſich alſobald zu einem sacrum und verſteinerte
gleichſam zu demſelben . Dahin gehört z. B . bei den ſtrengen
Ehen die confarreatio , ferner die Augurien und Auſpicien . Die
Kenntniß dieſer sacra iſt ohne Intereſſe und langweilig und
giebt neuen Stoff zu gelehrten Unterſuchungen , ob ſie etruskiſchen ,
ſabiniſchen oder ſonſtigen Urſprungs feljen. Man hat um ihret
willen das römiſche Volk in ſeinem Thun und laſſen für höchft
fromm angeſehen ; doch iſt es lächerlich , wenn Neuere mit Sal
bung und Reſpect von dieſen sacris ſprechen . Beſonders wiffen
fich die Patricier viel damit; man hat ſie darum zu Prieſterfa
milien erhoben und als die heiligen Geſchlechter, die Inhaber und
Bewahrer der Religion angeſehen , und die Plebejer werden dann .
zum gottloſen Element. Darüber iſt früher ſchon das Nöthige
geſagt worden . Die alten Könige waren zugleich auch reges
sacrorum . Nachdem die Königswürde abgeſchafft war, blieb
doch noch ein rex sacrorum ; er war aber wie alle übrigen Prieſter
dem pontifex maximus untergeben , der alle sacra leitete, und ih
nen dieſe Starrheit und Feſtigkeitgab, daß es den Patriciern möglich
wurde, ſich eben in dieſer religiöſen Gewalt ſo lange zu behaupten .
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege. 355

Worauf es aber bei der Frömmigkeit weſentlich anfommt, iſt


der Inhalt derſelben ,wogegen zwar heutiges Tages oft behauptet
wird ,wenn nur fromme Gefühle da ſeyen , ſo feys es gleichgültig ,
welcher Inhalt ſie erfülle. Von den Römern iſt ſchon bemerkt
worden , daß ihre religiöſe Innerlichkeit nicht aus ſich zu freiem
geiſtigen und fittlichen Inhalte hervorgegangen iſt. Man kann
ſagen , ihre Frömmigkeit habe ſich nicht zur Religion herausge
bildet, denn ſie blieb weſentlich formell und dieſer Formalismus
hat ſich ſeinen Inhalt anderswoher verſchafft. Schon aus der
angegebenen Beſtimmung folgt, daß er nur endlicher , unheiliger
Art ſeyn kann, weil er außerhalb des geheimen Orts der Reli
gion entſtanden iſt. Der Hauptcharakter der römiſchen Religion
iſt daher eine Feſtigkeit beſtimmter Willenszwecke , die fie als
abſolut in ihren Göttern ſehen und von ihnen als der abſoluten
Macht verlangen . Dieſe Zwecke ſind eben dasjenige, um derent
willen ſie die Götter verehren , und wodurch ſie beſchränkter Weiſe
an dieſelben gebunden ſind. Die römiſche Neligion iſt deßwegen
die ganz profaiſche der Beſchränktheit,der Zweđmäßigkeit, des
Nußens. Thre eigenthümlichen Gottheiten find ganz proſaiſche;
es ſind Zuſtände, Empfindungen , nüßliche Künfte , welche ihre
trocene Phantaſte zur ſelbſtſtändigen Macht erhoben und ſich
gegenüber geſtellt hat; es find theils Abſtracta , die nur zu fal
ten Allegorien werden konnten , theils Zuſtände, die als Nußen
oder Schaden bringend erſcheinen und für die Verehrung in ihrer
ganzen Bornirtheit geradezit gelaſſen ſind. Davon ſind nur wes
nige Beiſpiele furz anzuführen . Die Römer verehrten Pax ,
Tranquillitas, Vacuna (Ruhe) , Angeronia (Sorge und Runt:
mer) als Gottheiten ; ſie weiheten der Peft Altäre, dem Hunger,
dem Getreidebrand (Robigo ), dem Fieber und der Dea Cloacina.
Die Juno erſcheintbeiden Römern nicht bloß als Lucina, Geburts
Helferin , ſondern auch als Juno Ossipagina, als die Gottheit,welche
die Knochen des Kindes bildet,als JunoUnxia,welchedie Thürangeln
bei den Heirathen einſalbt (was auch zu den sacris gehörte). Wie
23 *
356 . Dritter Theil. Die römiſche Welt.
wenig haben dieſe proſaiſchen Vorſtellungen mit der Schönheit
der geiſtigen Mächte und Gottheiten der Griechen gemein ! Da
gegen iſt Jupiter als Jupiter Capitolinus das allgemeine
Weſen des römiſchen Reichs , welches auch in den Gottheiten
Roma und Fortuna publica perſonificirt wird.
Die Römer vornehmlich haben es angefangen , die Götter in
der Noth nicht nur anzuflehen und Lectiſternien zu veranſtalten ,
ſondern ihnen auch Verſprechungen und Gelübde zu weihen . Zur
Hülfe in der Noth haben ſie auch ins Ausland geſchict und
fremde Gottheiten und Gottesdienſte fich holen laſſen . Die Ein
führung der Götter und die meiſten römiſchen Tempel find ſo
aus einer Noth entſtanden , aus einem Gelübde und einer ver
pflichteten , nicht unintereſſirten Dankbarkeit. Die Griechen das
gegen haben ihre ſchönen Tempel und Statuen und Gottesdienſte
aus Liebe zur Schönheit und zur Göttlichkeit als ſolcher hinge
ſtellt und angeordnet.
Nur eine Seite der römiſchen Religion hat etwas Anziehen
des , und zwar ſind es die Feſte , die ſich auf das ländliche Les
ben beziehen und ſich aus den früheſten Zeiten erhalten haben .
Es liegt ihnen theils die Vorſtellung der Saturniſchen Zeit
zu Grunde, von einem Zuſtand, der vor und außerhalb der bür
gerlichen Geſellſchaft und des politiſchen Zuſammenhanges liegt,
theils ein Naturinhalt überhaupt, die Sonne, der Jahreslauf,
die Jahreszeiten , Monate u . f. f. mit aſtronomiſchen Anſpielun
gen , theils die beſonderen Momente des Naturverlaufs , wie er
ſich auf Hirtenleben und Ackerbau bezieht, - es waren Feſte
der Ausſaat, der Erndte , der Jahreszeiten , das Hauptfeſt die
Saturnalien u . f. f. – Es erſcheint nach dieſer Seite manches
Naive und Sinnvolle in der Tradition . Doch hat dieſer Kreis
insgeſammtein ſehr bornirtes und proſaiſches Ausſehen ; tiefereAn
ſchauungen von den großen Naturmächten und allgemeinen Pro
ceſſen derſelben gehen daraus nicht hervor ; denn es war dabei
überau auf den äußeren gemeinen Nußen abgeſehen und die Lus
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Ariege. 357
ftigkeit hat ſich dabei nicht eben geiſtreich, in Poffenreißerei ergan
gen . Wenn bei den Griechen aus ähnlichen Anfängen ſich die
Kunft der griechiſchen Tragödie entwickelt hat, ſo iſt es dagegen
merkwürdig, daß bei den Römern jene fcurrilen Tänze und Ge
fänge der Landfeſte fich bis in die ſpäteſten Zeiten erhalten ha
ben , ohne daß aus dieſer zwar naiven aber rohen Form zu einer
gründlichen Kunſtweiſe wäre fortgegangen worden .
Es iſt ſchon geſagt worden , daß die Römer die griechis
Ichen Götter angenommen haben (die Mythologie der römiſchen
Dichter iſt gänzlich von den Griechen entnommen );. aber die
Verehrung dieſer ſchönen Götter der Phantaſte ſcheint bei ihnen
etwas ſehr Kaltes und Aeußerliches geweſen zu ſeyn. Uns iſt
bei ihrem Reden von Jupiter , Juno, Minerva zu Muthe, als
wenn wir dergleichen auf dem Theater hören . Die Griechen
haben ihre Götterwelt mit tiefem und geiſtreichem Inhalt erfüllt,
mit heiteren Einfällen geſchmückt; ſie war ihnen Gegenſtand fort
dauernder Erfindung und gedankenvollen Bewußtſeins, und es
iſt dadurch ein weitläufiger, unerſchöpflicher Schaß für Empfin
dung, Gemüth und Sinn in ihrer Mythologie erzeugt worden .
Der römiſche Geift hat ſich nicht in dieſen Spielen einer finnis
gen Phantaſte mit eigener Seele bewegt und darin gefallen ; ſon
dern die griechiſche Mythologie erſcheinttodt und fremd bei ihnen .
Bei den römiſchen Dichtern, beſonders Virgil, iſt die Einführung
der Götter das Erzeugniß eines kalten Verſtandes und der Nach
ahmung geweſen . Die Götter werden darin gleichſam zu Mas
ſchinerien und ſind auf ganz äußerliche Weiſe gebraucht; wie
auch wohl in unſern Lehrbüchern der ſchönen Wiſſenſchaften unter
andern Vorſchriften ſich die findet, daß in Epopõen ſolche Mas
(chinerien nothwendig feyen , um in Erſtaunen zu ſeßen .
Ebenſo weſentlich waren die Römer von den Griechen in
Anſehung der Spiele verſchieden . Die Römer waren dabei
weſentlich nur Zuſchauer. Die mimiſche und theatraliſche Dar
ſtellung, das Tanzen , Wettrennen , Kämpfen haben ſie den Frei
358 Dritter Theil. Die römiſche Welt,
gelaffenen , den Gladiatoren , den zum Tode verurtheilten Verbre:
chern überlaſſen. Das Schimpflichfte, was Nero gethan , war,
daß er auf öffentlichem Theater als Sänger, Citherſpieler, Käm
pfer aufgetreten iſt. Indem die Römer nur Zuſchauer waren ,
ſo war ihnen das Spiel ein fremdes , ſie waren nicht ſelbſt mit
dem Geiſte dabei. Mit dem zunehmenden lurus nahm haupt
fächlich der Geſchmack an Thier- und Menſchenheßen zu . Hun
dertevon Bären ,Löwen , Tigern , Elephanten , Crocodillen , Strau
fen wurden aufgeführt und zur Schauluft gemeßelt. Hundert
und tauſend von Gladiatoren , da ſte zur Seeſchlacht an einem
Feſte aufführen, riefen dem Kaiſer zu : „ Die zum Tode Geweih
ten grüßen dich,“ um ihn etwa zu rühren . Umſonſt ! fie mußten
ſich alle unter einander ſchlachten . Statt menſchlicher Leiden in
den Tiefen des Gemüths und des Geiftes , welche durch die
Widerſprüche des Lebens herbeigeführt werden und im Schickſal
ihre Auflöſung finden , veranſtalteten die Römer eine grauſame
Wirklichkeit von körperlichen Leiden , und das Blut in Strömen ,
das Röcheln des Todes und das Aushauchen der Seele waren
die Anſchauungen , die ſie intereſſirten . - Dieſe kalte Negativität
des bloßen Mordensſtellt zugleich den inneren Mord eines geiſtigen
objectiven Zwecfes dar. Ich brauche nur noch die Augurien ,
Auſpicien , Sibylliniſchen Bücher zu erwähnen , um daran zu er
innern , wie die Römer im Aberglauben aller Art gebunden wa
ren , und daß es ihnen dabei nur um ihre Zwecke zu thun war.
Die Eingeweide der Thiere, die Blige, der Vögelflug, die Sibyl
liniſchen Ausſprüche beſtimmten die Geſchäfte und Unternehmun
gen des Staats . Das Alles war in den Händen der Patricier,
welche es bewußt für ihre Zwecke und gegen das Volk als bloß
äußeres Band brauchten . -
Die unterſchiedenen Elemente der römiſchen Religion ſind
nach dem Geſagten : Die innerliche Religioſität und eine voll
kommen äußerliche Zweckmäßigkeit. Die weltlichen Zwecke find
ganz freigelaſſen , nicht durch die Religion beſchränft , ſondern
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege. 359

vielmehr durch dieſelbe berechtigt. Die Römer ſind überall fromm


geweſen , der Gehalt der Handlungen mochte ſeyn , welcher er
wollte. Weil aber das Heilige hier nur eine inhaltsloſe Form
ift, ſo iſt es von der Art, daß es in der Gewalt gehabt werden
fann ; es wird in Beſiß genommen von dem Subject, das ſeine
particularen Zwecke und Intereſſen will, während das wahrhaft
Göttliche die concrete Gewalt an ihm ſelber hat. Ueber der bloß
ohnmächtigen Form aber ſteht das Subject, der für ſich concrete
Wille , der ſie beſißen kann und ſeine particularen Zwecke als
Meiſter über die Form feßen darf. Dieß iſt in Rom durch die
Patricier geſchehen . Der Beſitz der Herrſchaft der Patricier iſt
dadurch ein feſter,heiliger, unmittheilbarund ungemeinſchaftlich ge
machter ; die Regierung und die politiſchen Rechte erhalten den
Charakter eines geheiligten Privatbeſiges . Es iſt alſo da nicht eine
ſubſtantielle Einheit der Nationalität, nicht das ſchöne und fittliche
Bedürfniß des Zuſammenlebens in der Polis ; ſondern jede gens iſt
ein feſter Stamm für ſich, der ſeine eigenen Penaten und sacra für
fich hat, jede hat ihren eigenen politiſchen Charakter, den ſie immer
behält. Strenge, ariſtokratiſche Härte zeichnete die Claudier aus,
Wohlwollen für das Volk die Valerier, Adel des Geiſtes die
Cornelier. Sogar bis auf das Verheirathen erſtreckte fich die
Unterſcheidung und die Beſchränkung , denn die connubia der
Patricier mit Plebejern galten für unheilig. Aber eben in jener
Innerlichkeit der Religion iſt zugleich das Princip der Wilfür
gegeben ; und gegen die Wilfür des geheiligten Beſiges lehnt ſich
die Widfür gegen das Heilige auf. Denn derſelbe Inhalt kann
einerſeits durch die religiöſe Form privilegirt ſerin , andrerſeits die
Geſtalt haben , nur überhaupt gewollt zu werden , Inhalt menſch
licher Wilfür zu ſeyn . Als die Zeit gekommen war, daß das
Heilige zur Form herabgeſeßt wurde, ſo ſollte es auch als Form
gewußt, behandelt, mit Füßen getreten , — als Formalismus dar
geſtellt werden . - Die Ungleichheit, weldje in das Heilige her
eintritt, macht den Uebergang der Religion zur Wirklichkeit des
360 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
Staatslebens. Die geheiligte Ungleichheit des Willens und des
beſonderen Beſißes macht darin die Grundbeſtimmung aus . Das
römiſche Princip läßt nur die Ariſtokratie zu , als die ihm
eigenthümliche Verfaſſung , die aber ſogleich nur als Gegenſaß,
als Ungleichheit in ſich ſelbſt iſt. Nur durch Noth und Unglück
wird dieſer Gegenſaß momentan ausgeglichen ; denn er enthält
eine doppelte Gewalt in ſich , deren Härte und böſë Sprödigkeit
nur durch eine noch größere Härte zur gewaltthätigen Einheit
übermannt und gebunden werden fann .

Zweites Capitel.
Die Geſchichte Roms bis zum zweiten puniſchen Kriege.

Im erſten Zeitraum unterſcheiden ſich von ſelbſt mehrere


Momente. Der römiſche Staat bekommt hier ſeine erſte Auss
bildung unter Königen , dann erhält er eine republikaniſche Ver
faſſung, an deren Spiße Conſuln ſtehen . Es tritt der Kampf
der Patricier und Plebejer ein , und nachdem dieſer durch die
Befriedigung der plebejiſchen Anforderungen geſchlichtet worden ,
zeigt ſich eine Zufriedenheit im Innern , und Rom bekommt die
Stärke, daß es ſiegreich ſich in den Kampf init dem früheren
weltgeſchichtlichen Volfe einlaſſen kann. - Was die Nachrichten
über die erſten römiſchen Könige anbetrifft, ſo iſt kein Datum
darin , welches nicht den höchſten Widerſpruch durch die Kritik
erfahren hätte ; doch iſt man zu weit gegangen , wenn man ihnen
alle Glaubwürdigkeit hat abſprechen wollen . Im Ganzen wer:
den ſieben Könige angegeben und ſelbſt die höhere Kritif muß
zugeſtehen , daß die leßten derſelben vollkommen geſchichtlich ſind.
Romulus wird der Stifter dieſes Vereins von Räubern genannt:
er organiſirte denſelben zu einem Kriegsſtaat. Wenn die Sagen
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Ariege. 361
über ihn auch als fabelhaft erſteinen , ſo enthalten ſie doch nur,
was dem angegebenen römiſchen Geiſt entſpricht. Vom zweiten
Könige Numa wird erzählt, er habe die religiöſen Ceremonien
eingeführt. Dieſer Zug iſt dadurch ſehr merkwürdig , daß die
Religion ſpäter als die Staatsverbindung auftritt, während bei
anderen Völfern die religiöſen Traditionen ſchon in den älteſten
Zeiten und vor allen bürgerlichen Einrichtungen erſcheinen . Der
König war zugleich Prieſter (rex wird von Ở ételv opfern abge
leitet.) Wie bei allen Anfängen der Staaten iſt das Politiſche
mit dem Prieſterlichen verbunden und der Zuſtand eine Theo
fratie. Der König ſtand hier an der Spiße der durch die
sacra Bevorrechtigten .
Die Abſonderung der ausgezeichneten und mächtigen Bür
ger als Senatoren und Patricier geſchah ſchon unter den erſten
Königen . Romulus ſoll 100 patres eingeſeßt haben , woran
jedoch die höhere Kritik zweifelt. In der Religion wurden zu
fällige Ceremonien , die sacra, zu feſten Unterſcheidungsmerkma
len und Eigenthümlichkeiten der Gentes und der Stände. Die
innere Organiſation des Staats kam allmählig zu Stande. Li
vius ſagt, wie Numa alles Göttliche feſtgeſeßt habe , ſo habe
Servius Tullius die verſchiedenen Claſſen und den census ein
geführt, nach welchem der Antheil an den öffentlichen Angeles
genheiten beſtimmt wurde. Die Patricier waren deswegen un
zufrieden , beſonders aber darum , weil Servius Tullius einen
Theil der Schuldent der Plebejer tilgte und den Aermeren Staats
ländereien ſchenkte, wodurch ſie zu Grundeigenthümern wurden .
Er theilte das Volf in ſechs Claſſen , wovon die erſte zuſammen
mit den Rittern 98 Centurien ausmachte, die folgenden aber verhält
nißmäßig weniger. Da nun nach Centurien abgeſtimmtwurde, ſo er
hielt die erſte Claſſe auch das größte Gewicht. Nun ſcheint es , daß
in der früheren Zeit die Patricier die Gewalt allein in Händen
hatten , nach der Eintheilung des Servius aber bloß das Ueber
gewicht behielten , was ihre Unzufriedenheit mit den Einrichtuns
362 Dritter Theil. Die römiſche Welt .
gen des Servius erklärt. Mit Servius wird die Geſchichte bes
ſtimmter, und unter ihm und ſeinem Vorgänger,dem älteren Tar
quinius, zeigen ſich Spuren von Blüthe. Niebuhr verwundert
fich , daß nach Dionyſius und Livius die älteſte Verfaſſung des
mokratiſch war, weil die Stimme jedes Bürgers in der Volfs
verſammlung gleichgegolten habe. Aber Livius ſagt nur, Ser
vius habe das suffragium viritim abgeſchafft. In den co
mitiis curiatis hatten aber bei der Verallgemeinerung des Clien
telverhältniſſes , welches die Plebs abſorbirte , nur die Patricier
Stimme und populus bezeichnet zur Zeit nur die Patricier. Dio
nyſius widerſpricht ſich alſo nicht, wenn er ſagt, die Verfaſſung
nach Romulus Gefeßen ſey ſtreng ariſtokratiſch geweſen .
Faſt alle Könige waren Fremde, was gewiß den Urſprung
Rom 's ſehr charakteriſirt. Numa, der dem Stifter Rom 's nach
folgte, war der Erzählung nach ein Sabiner, welches Volf fich
ſchon unter Romulus vom Tatius geführt auf einem der römis
ſchen Hügel niedergelaſſen haben ſoll. Späterhin erſcheint jedoch
das Sabinerland noch als ein vom römiſchen Staat durchaus
getrenntes Gebiet. Auf Numa folgte Tullus Hoftilius, und
ſchon der Name dieſes Königs weiſt auf den fremden Urſprung
hin . Ancus Martius , der vierte König , war der Enkel des
Numa; Tarquinius Priscus ſtammte aus einem forinthiſchen
Geſchlechte , wie ſchon früher bei einer anderen Gelegenheit ges
ſagt worden iſt. Servius Tullius war aus Corniculum ,
einer eroberten lateiniſchen Stadt; Tarquinius Superbus
ftammte vom älteren Tarquinius ab. Unter dieſem legten Könige
iſt Rom zu einem großen Flor gediehen : ſchon damals ſoll ein
Tractat mit den Carthagern über den Handel abgeſchloſſen wor
den ſeyn , und wenn man dieſes als mythiſch verwerfen wollte ,
ſo vergißt man den Zuſammenhang, in dem Rom mit Etrurien
und anderen angrenzenden Völkern , welche durch Handel und
Seefahrt blühten , ſchon in jener Zeit ſtand. Die Römer kann
ten damals ſchon ſehr wohl die Schreibkunſt und hatten bereits
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege. 363
jene verſtändige Auffaſſungsweiſe, die fie ſehr auszeichnete und
zu jener klaren Geſchichtsſchreibung führte, die an den Römern
geprieſen wird .
Bei der Ausbildung des inneren Staatslebens waren die
Patricier ſehr herabgeſeßtworden , und die Könige ſuchten , wie
dieß auch in der mittleren europäiſchen Geſchichte häufig vor
kommt, öfters einen Anhaltungspunkt am Volke, um gegen die
Patricier vorzuſchreiten . Von Servius Tullius iſt dieß ſchon
geſagt worden . Der leßte König, Tarquinius Superbus, fragte
den Senat wenig in den Angelegenheiten des Staates um Rath,
anch ergänzte er ihn nicht, wenn ein Mitglied ſtarb , und that
überhaupt , als wenn er ihn gänzlich zuſammenſchmelzen laſſen
wollte. Da trat eine Spannung ein , welche nur einer Veran
laſſung, um zum Ausbruch zu fommen , bedurfte. Die Verlegung
der Ehre einer Frau , das Eindringen in dieſes innerſte Heilig
thum , deffen ſich der Sohn des Königs ſchuldig machte , war
dieſe Veranlaſſung. Die Könige wurden im Jahre 244 nach
Erbauung Roms und 510 vor Chr. Geb. (wenn nämlich die
Erbauung Roms in das Jahr 753 v . Chr. Geb. fält ) ver
trieben, und die Königswürde für immer abgeſchafft.
Von den Patriciern , nicht von den Plebejern , wurden die
Könige vertrieben ; wenn man alſo die Patricier als das heilige
Geſchlecht legitimiren will , ſo handelten ſte gegen die Legitimität,
denn der König war ihr Hoheprieſter. Die Heiligkeit der Ehe
ſehen wir bei dieſer Gelegenheit als etwas Hohes bei den Rö
mern gelten . Das Princip der Innerlichkeit und Pietät (pudor )
war das Religiöſe und Unantaſtbare; und ſeine Verlegung wird
die Veranlaſſung zur Vertreibung der Könige und ſpäter auch
der Decemviren . Wir finden deßhalb bei den Römern auch ſo
gleich die Monogamie, als ſich von ſelbſt verſtehend. Sie war
nicht durch ein ausdrückliches Geſeß eingeführt; nur beiläufig
iſt davon in den Inſtitutionen die Rede , wo es heißt, daß ge
wiſſe verwandtſchaftliche Ehen nicht zuläſſig find, weil der Mann
364 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
nicht zwei Frauen haben darf. Erft in einem Gefeß des Dios
cletian wird ausdrüdlich beſtimmt, daß Reiner, der zum römiſchen
Reich gehört, zwei Frauen haben darf, da auch nach einem prå
toriſchen Edict Infamie darauf geſeßt ſey ( cum etiam in
edicto praetoris hujusmodi viri infamia notati sunt).
Die Monogamie gilt alſo an und für ſich und iſt im Princip
der Innerlichkeit gegründet. – Endlich iſt noch zu bemerken ,
daß das Königthum hier nicht wie in Griechenland dadurch ver
ſchwand, daß die Königsgeſchlechter fich in fich aufzehrten , ſon
dern es iſt mit Haß vertrieben worden . Der König , felber
· Oberprieſter,hatte das Unheiligſtebegangen ; das Princip der In
nerlichkeit lehnte ſich dagegen auf, und die Patricier , zum Ge
fühl der Selbſtſtändigkeit dadurch gediehen , warfen das König
thum ab. In demſelben Gefühl erhob ſich ſpäter die Plebs ges
gen die Patricier , erhoben ſich die Lateiner und die Bundesges
noſſen gegen die Römer, bis die Gleichheit der Privatperſonen
im ganzen römiſchen Gebiet hergeſtellt (auch eine Unzahl von
Sclaven wurde freigelaſſen ) und durch einfachen Despotismus
zuſammengehalten wurde.
Livius macht die Bemerkung, Brutus habe den rechten Zeit:
punkt für die Vertreibung der Könige gefunden , denn wenn ſie
früher ſtattgefunden hätte, ſo würde der Staat zerfallen ſeyn .
Was würde geſchehen ſeyn , fragt er , wenn dieſer heimathloſe
Haufe früher losgelaſſen worden wäre, wo das Zuſammenleben
die Gemüther noch nicht an einander gewöhnt hatte ? Die
Staatsverfaſſung wurde nun dem Namen nach republikaniſch.
Betrachten wir die Sache genauer, ſo zeigt ſich'8 (Livius II. 1.),
daß im Grunde feine andere Veränderung vorgegangen iſt, als
daß die Macht, welche vorher dem Könige als bleibende zu :
ſtand, auf zwei einjährige Conſuln überging. Beide beſorg
ten mit gleicher Macht ſowohl die Kriegøs, als die Rechts - und
Verwaltungsgeſchäfte ; denn die Prätoren , als oberſte Richter,
treten erſt ſpäter auf.
Erſter Abſänitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege. 365
Zunächſt waren noch alle Gewalten in den Händen der
Conſuln ; fowohl nach außen als nach innen ging es im An
fange ſehr ſchlecht. Es tritt nämlich in der römiſchen Geſchichte
eine ebenſo trübe Zeit ein , wie in der griechiſchen nach Unter
gang der königlichen Geſchlechter. Die Römer Hatten zuerſt
einen ſchweren Kampf mit ihrem vertriebenen Könige, der bei
den Etruskern Hülfe geſucht und gefunden hatte, zu beſtehen .
In dem Kriege gegen den Porſena verloren die Römer alle ihre
Eroberungen , ja ſogar ihre Selbſtſtändigkeit: ſie wurden gezwun
gen , ihre Waffen abzulegen und Geißeln zu geben ; nach einem
Ausdruck des Tacitus (Hist. 3, 72.) ſcheint es ſogar , als habe
Porſena Rom genommen . Nach der Vertreibung der Könige
beginnt auch bald der Kampf der Patricier und Plebejer; denn
die Abſchaffung des Königthums war ganz nur zum Vortheil
der Ariſtokratie geſchehen , an welche die fönigliche Gewalt über
ging, und die Plebs verlor den Schuß, den ſie bei den Königen
gefunden hatte. Ale obrigkeitliche und richterliche Gewalt und alles
Grundeigenthum des Staats befand ſich um dieſe Zeit in den Hän
den der Patricier, das Volf aber, unaufhörlich in den Krieg hin
ausgeriſſen , konnte ſich nicht mit friedlichen Beſchäftigungen ab
geben : die Gewerbe konnten nicht blühen , und der einzige Er
werb der Plebejer war der Antheil , den ſie an der Beute hats
ten . Die Patricier ließen ihren Grund und Boden durch Scla
ven bebauen, und gaben von ihrem Ackerbefiß an ihre Clienten ,
welche gegen Abgaben und Beiſteuern , alſo als Pächter,den Nieg
brauch derſelben hatten . Dieſes Verhältniß war durch die Art
der Beiſteuer der Clienten dem Lehnsverhältniß ſehr ähnlich :
fie mußten Beiſteuer geben zur Verheirathung der Töchter des
Patronus, um den gefangenen Patron oder deſſen Söhne loszu
kaufen , um ihnen zu obrigkeitlichen Aemtern zu verhelfen , oder
das in Prozeſſen Verlorne zu erſeßen . In den Händen der
Patricier war auch die Rechtspflege, und zwar ohne beſtimmte
und geſchriebene Gefeße; welchem Mangel dann ſpäter dur
366 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
die Decemviren abgeholfen werden ſollte. Den Patriciern ge
hörte auch alle Regierungsgewalt, denn ſie waren im Beſik aller
Aemter, des Conſulats , nachher des Kriegøtribunats und der
Cenſur (errichtet u . c. 311), wodurch das praktiſche Regiment
ſowohl, als auch die Aufſicht ihnen allein überlaſſen war. Die
Patricier bildeten endlich auch den Senat. Sehr wichtig er
fcheint die Frage, auf weldje Weiſe derſelbe ergänzt wurde.
Darin war aber eine große Unbeſtimmtheit. Vom Romulus
wird erzählt , daß er den Senat, aus hundert Mitgliedern be
ſtehend, geſtiftet habe; die folgenden Könige vermehrten dieſe An
zahl, und Tarquinius Priscus repte fie auf dreihundert feſt.
Junius Brutus ergänzte den Senat , welcher ſehr zuſammenges
ſchmolzen war , aufs Neue. In der Folgezeit ſcheint es , daß die
Cenſoren , und bisweilen die Dictatoren , den Senat ergänzthaben .
Im zweiten puniſchen Kriege, im Jahre 538 u . c., wurde ein
Dictator erwählt, welcher 177 neue Senatoren ernannte : er
nahm dazu die , welithe curuliſche Würden bekleidet hatten , die
. plebejiſchen Aedilen , Volkstribunen und Quäſtoren , Bürger, welche
die spolia opima oder die corona civica davongetragen hatten .
Unter Cäſar war die Anzahl der Senatoren auf achthundert ges
ſtiegen , Auguſtus reducirte ſie auf ſechshundert. Man hat es
als eine große Nachläſſigkeit der römiſchen Geſchichtsſchreiber an
geſehen , daß fie über die Zuſammenſeßung und Ergänzung des
Senats ſo wenig Nachricht geben ; aber dieſer Punft, der für
uns eine unendliche Wichtigkeit zu haben ſcheint, war den Rö
mern überhaupt nicht ſo wichtig ; ſie haben überhauptnicht ſolche
Bedeutung auf formelle Beſtimmungen gelegt, ſondern es kam
ihnen am meiſten darauf an , wie regiert werde. Wie wil man
überhaupt annehmen , daß die Verfaſſungsrechte der alten Römer
ſo beſtimmt geweſen ſeyen , und das zu einer Zeit, die man ſelbſt
für mythiſch , und deren Tradition man für epiſch anſteht? -
Das Volk befand ſich in dieſem Zuſtand der Unterdrüdung,
wie, z. B . die Frländer noch vor wenigen Jahren in Großbri
Erſter Abſduitt. Rom bis zum zweiten puniſden Kriege. 367

tannien waren, indem es zugleich ganz von der Regierung aus


geſchloſſen blieb . Mehrere Male hat es fich empört und iſt aus
der Stadt ausgezogen . Zuweilen hat es auch den Kriegsdienſt
verweigert; doch bleibt es immer äußerſt auffallend, daß der Se
nat ſo lange einer durch Unterdrückung gereizten und im Kriege
geübten Mehrzahl habe Widerſtand leiſten können , denn der
Hauptkampf hat über hundert Jahre gedauert. In dem Um
ftande, daß das Volk ſo lange im Zaum gehalten werden fonnte,
offenbart fich eben die Achtung deſſelben vor der geſeßlichen Ord
nung und den sacris. Endlich aber mußte es dennoch eintre
ten , daß den Plebejern ihre rechtmäßigen Forderungen zugeſtan
den und öfter ihre Schulden erlaſſen wurden . Die Härte der
Patricier, ihrer Gläubiger , denen ſie ihre Schulden durch Scla
venarbeit abtragen mußten , zwang die Plebs zu Aufſtänden .
Sie forderte und erhielt zunächſt nur, was ſie unter den Köni
gen ſchon gehabt hatte , nämlich Grundbeſiß und Schuß gegen
die Mächtigen . Sie erhielt Landaſſignationen und Volkstribus
nen , Beamte nämlich , welche die Macht hatten , jeden Senats
beſchluß zu verhindern . Die Anzahl der Tribunen beſchränkte
fich anfangs nur auf zwei, ſpåter waren es zehn ; was indeffen
der Plebs eher ſchädlich war , da es nur darauf ankam , daß
der Senat einen der Tribunen gewann , um durch den Wider
ſpruch eines Einzigen den Beſchluß aller Uebrigen aufzuheben .
Die Plebs erlangte damit zugleich die Provocation ans Volf :
bei jedem obrigkeitlichen Zwange nämlich konnte der Verurtheilte
an die Entſcheidung des Volfs appelliren , ein unendlich wichti
ges Vorrecht für die Plebs, welches die Patricier beſonders auf
brachte. Auf das wiederholte Verlangen des Volfs wurden
ſpäter die Decemviren mit Aufhebung der Volfstribunen er
nannt, um dem Mangel einer beſtimmten Gefeßgebung abzuhelfen ;
fie mißbrauchten bekanntlich die unumſchränkte Gewalt zur Tyran
nei und wurden auf eine ähnliche ſchändliche Veranlaſſung wie die
Rönige vertrieben . Die Abhängigkeit der Clientel war indeffen ges
368 Dritter Theil. Die römiſche Welt.

ſchwächt; nach den Decemviren verſchwinden die Clienten mehr


und mehr und gehen in die Plebs ein , welche in eigenen Volks
verſammlungen unter ihren Tribunen , ſelbſt über Staatsangelegen
heiten , Beſchlüſſe (plebiscita ) faßt ; der Senat konnte für
ſich nur senatus consulta ausgehen laſſen , und die Tribunen
konnten jeßt ſo gut wie der Senat die Comitien und Wahlen
verhindern . Nach und nach erreichten es die Plebejer , daß ih
nen der Weg zu allen Würden und Reintern geöffnet wurde,
aber anfangs war ein plebejiſcher Conſul, Aedil, Cenſor u . f.w .
dem patriciſchen nicht gleich, wegen der sacra, welche dieſer in
Händen behielt ; auch dauerte es ſehr lange nach dieſem Zuges
ftändniß , bis ein Plebejer wirklich dazu fam , Conſul zu werden .
Die Geſammtheit dieſer Beſtimmungen hat der Volfstribun Lici
nius feſtgeſtellt, und zwar in der zweiten Hälfte des vierten
Jahrhunderts 387 u . c. Derſelbe brachte hauptſächlich auch die
lex agraria in Anregung, worüber ſo viel unter den neueren
Gelehrten geſchrieben und geſtritten worden iſt. Die Urheber
dieſes Geſeßes haben zu jeder Zeit die größten Bewegungen
in Rom verurſacht. Die Plebejer waren factiſch faſt von
allem Grundbeſiß ausgeſchloſſen , und die agrariſchen Geſeße
gingen darauf hin , ihnen Aecer theils in der Nähe von
Rom , theils in den eroberten Gegenden einzuräumen , wo
hin dann Colonien ausgeführt werden ſollten. Zur Zeit der
Republif ſehen wir häufig , daß Feldherrn dem Volfe Aecker
anwieſen , aber jedesmal wurden ſie dann beſchuldigt, nach
dem Königthume zu ſtreben , weil eben die Könige die Plebs
gehoben hatten . Das agrariſche Geſek verlangte , es ſollte kein
Bürger über fünfhundert Morgen beſißen : die Patricier mußten
demnach einen großen Theil ihres Eigenthums herausgeben .
Niebuhr hat beſonders weitläufige Unterſuchungen über die
agrariſchen Geſeße angeſtellt und große und wichtige Entdedun
gen zu machen geglaubt; er ſagt nämlich : man habe niemals
daran gedacht, das heilige Recht des Eigenthums zu verleßen ,
Erſter Abſchnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege. 369

ſondern der Staat habe nur einen Theil der von den Patriciern
uſurpirten Staatsländereien der Plebs zur Benußung angewieſen ,
indem er darüber immer noch als über ſein Eigenthum disponiren
konnte. Ich bemerke nur beiläufig, daß Hegewiſch dieſe Entdek
kung ſchon vor Niebuhr gemacht hatte, und daß Niebuhr diewei
teren Data zu ſeiner Behauptung aus dem Appian und Plutarch ,
das heißt, griechiſchen Geſchichtſchreibern entlehnt, von denen er
ſelbſt zugiebt, daß man nur im äußerſten Falle feine Zuflucht zu
ihnen nehmen dürfe. Wie oft ſpricht nicht Livius über die agrari
ſchen Geſeße, wie oft nicht Cicero und Andere, und doch läßt ſich aus
ihnen nichts Beſtimmtes darüber entnehmen ! – Dieß iſt wie
der ein Beweis von der Ungenauigkeit der römiſchen Schrift:
ſteller. Die ganze Sache geht am Ende auf eine unnüße Rechts
frage hinaus. Das Land , welches die Patricier in Beſiz ge
nommen , oder wo ſich die Colonien niederließen , war urſprünge
lich Staatsland; es gehörte aber ſicherlich auch den Beſißern ,
und es führt gar nicht weiter, wenn man behaupten will, es
fey immer Staatsland geblieben . Bei dieſer Entdeckung Nies
buhr's handelt es ſich nur um einen ſehr unweſentlichen Unters
ſchied , der wohl in ſeinen Gedanken , aber nicht in der Wirklich
keit vorhanden iſt. — Das liciniſche Geſeß wurde zwar durch
geſept , bald aber übertreten und gar nicht geachtet. Licinius
Stolo felbft, der das Gefeß in Anregung gebracht hatte, wurde
beſtraft, weil er mehr Grundeigenthum beſaß als erlaubt war,
und die Patricier widerſeşten ſich der Ausführung des Geſebes
mit der größten Hartnäckigkeit. Wir müſſen hier überhaupt auf
den Unterſchied, der zwiſchen den römiſchen , den griechiſchen und
unſern Verhältniſſen ſtattfindet, aufmerkſam machen . Unſere bür
gerliche Geſellſchaft beruht auf andern Grundſäßen und ſolche
Maaßregeln ſind in ihr nicht nöthig . Den Spartanern und
Athenern , welche die Abſtraction noch nicht ſo , wie die Römer,
feſtgehalten haben , war es nicht um das Recht als folches zu
thun , ſondern ſie verlangten , daß die Bürger die Subſiſtenz
Philoſophie d . Geldid te. 3. Aufl. 24
370 Dritter Theil. Die römiſche Welt.

mittel hätten , und vom Staate fordertenfte , daß er dafür


ſorgte.
Es iſt dies das Hauptmoment in der erſten Periode der
römiſchen Geſchichte , daß die Plebs zum Rechte, die höheren
Staatswürden bekleiden zu können , gelangt iſt, und daß durch
einen Antheil, den auch fie an Grund und Boden bekam , die
Subſiſtenz der Bürger geſichert war. Durch dieſe Vereinigung
des Patriciats und der Plebs gelangte Rom erſt zur wahren
inneren Conſiſtenz, und erſt von da ab hat ſich die römiſche
Macht riach außen entwickeln können . Es tritt ein Zeitpunft
der Befriedigung in dem gemeinſamen Intereſſe ein und der Er
müdung an den innern Kämpfen . Wenn die Völfer nach bür
gerlichen Unruhen ſich nach außen wenden , ſo erſcheinen fie am
ſtärkſten ; denn es bleibt die vorhergehende Erregung, welche nun
fein Object mehr im Innern hat, und daſſelbe nach außen hin
ſucht. Dieſer Trieb der Römer konnte das Mangelhafte, was in
der Vereinbarung ſelbſt lag, für einen Augenblick verdeden ; das
Gleichgewicht war hergeſtellt, aber ohne eine weſentliche Mitte
und den Unterſtüßungôpunkt. Der Gegenſaß mußte ſpäter fürch
terlich wieder hervorbrechen ; aber zuvor hatte ſich die Römer
größe in Krieg und Welteroberung zu zeigen . Die Macht,
der Reichthum , der Ruhm , aus dieſen Kriegen , ſo wie die
Noth , welche durch ſte herbeigeführt wurde, hielt die Römer
im Innern zuſammen . Ihre Tapferkeit und Kriegszucht verlieh
ihnen den Sieg. Die römiſche Kriegskunft hat gegen die grie
chiſche odermacedoniſche beſondere Eigenthümlichkeiten . Die Stärke
der Phalanx lag in der Maſſe und im Maſſenhaften . Die rös
miſchen Legionen waren auch geſchloſſen , zugleich aber in fich ge
gliedert: ſie verbanden die beiden Ertremedes Maſſenhaften und
des Zerſplitterns in leichte Truppen , indem ſie ſich feſt zuſam
menhielten und zugleich fich leicht entwickelten . Bogenſchüßen
und Schleuderer gingen beim Angriffe dem römiſchen Heere voran ,
um hernach dem Schwerdte die Entſcheidung zu laſſen .
Erſter Abfbnitt. Rom bis zum zweiten puniſchen Kriege. 371
langweilig wäre es , die Kriege der Römer in Italien zu
verfolgen ; theils weil ſie für fich einzeln unbedeutend find, -
auch die oft leere Rhetorit der Feldherrn bei Livius fann das
Intereſſe nicht fehr erhöhen — , theils wegen der Geiſtloſtgkeit
der römiſchen Geſchichtſchreiber , bei denen man die Römer nur
mit Feinden überhaupt Krieg führen ſteht, ohne daß wir von
den Individualitäten derſelben 3. B . der Etrusker, Samniter, lis
gurier, mit denen ſie mehrere hundert Jahre lang kriegten , etwas
Weiteres erfahren . Eigenthümlich iſt es dabei, daß die Nömer,
die das große Recht der Weltgeſchichte für ſich haben , auch das
kleine Recht der Manifefte, Tractate bei kleinen Verlegungen für
fich in Anſpruch nehmen und daſſelbe gleichſam advocatenmä
ßig vertheidigen . Bei politiſchen Verwicklungen der Art fann
aber Jeder dem Andern Etwas übel nehmen , wenn er wil , wenn
er für nüblich hält , es übel zu nehmen . Lange und ſchwierige
Kämpfe hatten die Römer mit den Samnitern , den Etruskern ,
den Galiern , den Marſern , Umbrern , Bruttiern zu beſtehen , ehe
fte ſich zu Herren von ganz Italien machen konnten . Von da
aus wandte ſich ihre Herrſchaft nach Süden : fie faßten feſten
Fuß in Sicilien , wo die Carthager ſchon ſehr lange Krieg führ
ten ; dann breiteten ſie ſich nach Weſten aus: von Sardinien
und Corſika gingen ſie nach Spanien . Sie kamen dann bald in
häufige Berührung mit den Carthagern , und wurden gezwungen ,
gegen dieſelben eine Seemacht zu bilden . Dieſer Uebergang war
in älteren Zeiten leichter, als er jeßtwohl ſeyn würde, wo viel
jährige Uebung und höhere Kenntniſſe zum Seedienft gefordert
werden . Die Art des Seefrieges war damals nicht ſehr ver
ſchieden vom Landfriege.
Wir haben hiermit die erſte Epoche der römiſchen Geſchichte
beendigt , worin die Römer durch die Kleinkrämerei der Kriege
zu den Capitaliſten der eigenthümlichen Stärke geworden waren ,
mit welcher ſie auf dem Welttheater auftreten ſollten . Die rö
miſche Herrſchaft war im Ganzen noch nicht ſehr ausgedehnt:
24 *
372 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
erſt wenige Colonien hatten ſich jenſeits des Po niedergelaſſen ,
und im Süden ſtand eine große Macht der römiſchen gegenüber.
Der zweite puniſche Krieg iſt es dann, welcher den Anſtoß giebt
zu der ungeheuren Berührung mit den mächtigſten vorhandenen
Staaten ; durch ihn famen die Römer in Berührung mit Mace
donien , Aſien , Syrien und dann auch mit Aegypten . Des gro
ßen , weithinausreichenden Reiches Mittelpunkt blieb Italien und
Rom , aber dieſer Mittelpunkt war, wie ſchon geſagt worden iſt,
nicht weniger gewaltſam und erzwungen . Dieſe große Periode
der Berührung Nom ' mit anderen Staaten , und der daraus
entſtehenden mannigfachen Verwickelungen hat der edle Achäer
Polybius beſchrieben , der zuſehen mußte , wie ſein Vaterland
durch die Schändlichkeit der Leidenſchaften der Griechen und die
Niederträchtigkeit und unerbittliche Conſequenz der Römer zu
Grunde ging.

Zweiter Abſchnitt.
Kom vom zweiten puniſchen Kriege bis zum
Kaiſerthum .
Die zweite Periode, nach unſerer Eintheilung , beginnt mit
dem zweiten puniſchen Kriege , mit dieſem Punkte der Entſchei
dung und Beſtimmung der römiſchen Herrſchaft. Im erſten
puniſchen Kriege hatten die Römer gezeigt, daß ſie dem mächti
gen Carthago , das einen großen Theil der Küſte von Afrika
und das ſüdliche Spanien beſaß und in Sicilien und Sardinien
feften Fuß gefaßt hatte, gewachſen Feyen . Der zweite puniſche
Krieg warf Carthago's Macht darnieder. Das Element dieſes
Staates war das Meer ; er hatte aber kein urſprüngliches Ge
biet, bildete feine Nation , und hat keine Nationalarmee , ſon
Zweiter Abſdn. Nom vom zweit. puniſd . Ariege bis zum Kaiſerthum . 373
dern fein Heer war aus den Truppen unterworfener und verbün
deter Nationen zuſammengeſeßt. Troß dem brachte mit einem
ſolchen , aus den verſchiedenſten Nationen gebildeten Heere der
große Hannibal Rom dem Untergange nahe. Ohne irgend eine
Unterſtüßung hielt er ſich allein durch ſein Genie ſechszehn Jahre
in Italien gegen die römiſche Ausdauer und Beharrlichkeit, wäh
rend welcher Zeit freilich die Scipionen Spanien eroberten und
mit den afrikaniſchen Fürſten Verbindungen eingingen . Endlich
wurde Hannibal genöthigt , ſeinem bedrängten Vaterlande zu
Hülfe zu eilen , er verlor die Schlacht von Zama im Jahre
532 u. c. und ſah nach ſechs und dreißig Jahren ſeine Vaterſtadt
, wieder, welcher er ießt ſelbſt zum Frieden rathen mußte. Der
zweite puniſche Krieg begründete ſo in ſeinem Reſultate die un
beſtrittene Macht Nom 's über Carthago ; durch ihn famen die
Römer in feindliche Berührung mit dem Könige von Macedo
nien , der fünf Jahre ſpäter beſiegt wurde. Nun kam die Reihe
an den Antiochus, König von Syrien . Dieſer ſtellte den Rö
mern eine ungeheure Macht entgegen , wurde bei Thermopylä
und bei Magneſia geſchlagen und den Römern Kleinaſien bis
an den Taurus abzutreten gezwungen . Nach der Eroberung
von Macedonien wurde dieſes und Griechenland von den Rös
mern für frei erklärt, eine Erklärung, über deren Bedeutung wir
bei dem vorangegangenen weltgeſchichtlichen Volke ſchon gehan
delt haben . Nun erſt kam es zum dritten puniſchen Kriege, denn
Carthago hatte ſich von Neuem gehoben und die Eiferſucht der
Römer rege gemacht. Es wurde nach langem Widerſtande ge
nommen und in Aſche gelegt. Nicht lange aber konnte nunmehr
der achäiſche Bund neben der römiſchen Herrſchſucht beſtehen : die
Römer ſuchten den Krieg , zerſtörten Korinth in demſelben Jahre
als Carthago , und machten Griechenland zur Provinz. Car
thago’s Fall und Griechenlands Unterwerfung waren die ent
ſcheidenden Momente , von welchen aus die Römer ihre Herr
ſchaft ausdehnten .
374 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
Rom ſchien ießt ganz geſichert zu ſeyn , feine auswärtige
Macht ſtand ihm gegenüber : Es war die Beherrſcherin des
Mittelmeers , d . i. des Mittellandes aller Bildung geworden .
In dieſer Periode des Siegs ziehen die ſittlich großen und glück
lichen Individuen , – vornehmlich die Scipionen unſern Blick
auf fich. Sittlich glüdlich waren fte, wenn ſchon der größte
der Scipionen äußerlich unglücklich endete , weil ſie in einem ge
ſunden und ganzen Zuſtand ihres Vaterlands für daſſelbe thätig
waren . Nachdem aber der Sinn des Vaterlandes , der herr
fchende Trieb Rom 's befriedigt war, bricht auch gleich das Vers
derben in Maſſen in den römiſchen Staat ; die Größe der Ins
dividualität wird darin durch contraſtirende Ereigniſſe ſtärker an
Intenſität und Mitteln . Wir ſehen von jeßt an den Gegenſa
Rom 's in fich wieder in anderer Form hervortreten , und die
Epoche, welche die zweite Periode ſchließt, iſt dann auch die
zweite Vermittelung des Gegenſages . Wir ſahen früher den
Gegenſaß in dem Rampfe der Patricier gegen die Plebejer : jeßt
giebt er ſich die Form particularer Intereſſen gegen die patriotis
ſche Geſinnung, und der Sinn für den Staat hält dieſen Ge
genſaß nicht mehr im nothwendigen Gleichgewicht. Es erſcheint
vielmehr ießt neben den Kriegen um Eroberung , Beute und
Ruhm das fürchterliche Schauſpiel der bürgerlichen Unruhen in
Rom und der einheimiſchen Kriege. Es erfolgt nicht wie bei
den Griechen auf die mediſchen Kriege der ſchöne Glanz in Bils
dung, Kunſt und Wiſſenſchaft , worin der Geiſt innerlich und
idealiſch genießt , was er vorher praktiſch vollführt hat. Wenn
auf die Periode des äußeren Glückes der Waffen eine innere Bes
friedigung hätte folgen ſollen , ſo hätte auch das Princip des
Lebens der Römer concreter ſeyn müffen . Was wäre aber das
Concrete, das ſie aus dem Innern durch Phantaſte und Denken
ſich zum Bewußtſeyn bringen konnten ? Ihre Hauptſchauſpiele
waren die Triumphe, die Schäße der Siegesbeute und die Ges
fangenen aller Nationen , welche ſchonungslos unter das Joch
Zweiter Abſan. Rom vom zweit. puniſas. Kriege bis zum Kaiſerthum . 375

der abſtracten Herrſchaft gezwungen wurden . Das Concrete,


das die Römer in fich finden , iſt nur dieſe geiftloſe Einheit, und
der beſtimmte Inhalt fann nur in der Particularität der Indi
viduen liegen . Die Anſpannung der Tugend hat nachgelaſſen ,
weil die Gefahr vorüber iſt. Zur Zeit der erſten puniſchen
Kriege vereinigte die Noth die Geſinnung Ader zur Rettung
Rom 's. Auch in den folgenden Kriegen mit Macedonien , Sy
rien , mit den Galiern in Oberitalien handelte es ſich noch um
die Eriſtenz des Ganzen . Doch nachdem die Gefahr von Car
thago und Macedonien vorüber war, wurden die folgenden Kriege
immer mehr die Conſequenz der Siege, und es galt nur die
Früchte derſelben einzuſammeln . Die Heere wurden für die be
ſonderen Unternehmungen der Politik und der particularen In
dividuen gebraucht, zur Erwerbung des Reichthums, des Ruhms,
der abſtracten Herrſchaft. Das Verhältniß zu andern Natio
nen war das reine Verhältniß der Gewalt. Die nationale In
dividualität der Völker forderte die Römer noch nicht zum Re
ſpecte auf, wie dieß heutiges Tages der Fall iſt. Die Völker
galten noch nicht als legitim , die Staaten waren gegenſeitig
noch nicht als weſentlich eriſtirend anerkannt. Das gleiche Recht
des Beſtehens führt einen Staatenbund mit ſich , wie im neuen
Europa, oder einen Zuſtand wie in Griechenland, wo die Staa
ten unter dem delphiſchen Gott gleich berechtigt waren . Ein
folches Verhältniß gehen die Römer nicht zu den andern Völ
fern ein , denn ihr Gott iſt nur der Jupiter Capitolinus, und ſie
reſpectiren die sacra der andern Völfern nicht, (ſo wenig als die
Plebejer die der Patricier ), ſondern als Eroberer im eigentlichen
Sinne plündern ſie die Palladien der Nationen . — Rom hielt
ſtehende Heere in den eroberten Provinzen und Proconſuln und
Proprätoren wurden in dieſelben als Statthalter geſchickt. Die
Ritter trieben die Zölle und Tribute ein , die ſie vom Staate ges
pachtet hatten . Ein Neß von ſolchen Pächtern (publicani) jog
ſich auf dieſe Weiſe über die ganze römiſche Welt. - Cato
376 Dritter Theil. Die römiſche Welt.

ſagte nach jeder Berathung des Senats : Ceterum censeo


Carthaginem esse delendam , und Cato war ein echter Römer.
Das römiſche Princip ſtellt ſich dadurch als die falte Abſtrac
tion der Herrſchaft und Gewalt heraus, als die reine Selbſt:
ſucht des Willens gegen Andere, welche keine ſittliche Erfüllung
in ſich hat, ſondern nur durch die particularen Intereſſen Inhalt
gewinnt. Der Zuwachs an Provinzen ſchlug um in eine Ver
mehrung der inneren Particulariſation und in das daraus her
vorgehende Verderben . Aus Aſien ward Lurus und Schwelge
rei nach Rom gebracht. Der Reichthum wurde als Beute em
pfangen , und war nicht Frucht der Induſtrie und rechtſchaffe
ner Thätigkeit ; ſo wie die Marine nicht aus dem Bedürfniß
des Handels ſondern zum Zweck des Krieges entſtanden war.
Der römiſche Staat, auf Raub ſeine Mittel gründend, hat da
her auch um den Antheil an der Beute ſich entzweit. Denn
die erſte Veranlaſſung zur ausbrechenden Zwiſtigkeit im Inneren
war die Erbſchaft des Attalus, Königs von Pergamus, der
ſeine Schäße dem römiſchen Staate vermacht hatte. Tiberius
Grachus trat mit dem Vorſchlage auf, fie unter die römis
ſchen Bürger zu vertheilen ; ebenſo erneuerte er die licini
fchen Ackergeſeße , die bei der herrſchenden Uebermacht einzelner
Individuen ganz und gar vernachläſſigt worden waren . Sein
Hauptaugenmerk war , den freien Bürgern zu einem Ei
genthum zu verhelfen , und Italien , ſtatt mit Sclaven , mit
Bürgern zu bevölkern. Dieſer edle Römer unterlag indeſſen
der habſüchtigen Nobilität , denn die römiſche Verfaſſung fonnte
nicht mehr durch die Verfaſſung ſelbſt gerettet werden . Cajus
Grachus , der Bruder des Tiberius, verfolgte denſelben edlen
Zweck , welchen ſein Bruder gehabt hatte , theilte aber daſſelbe
Schickſal. Das Verderben brach nun ungehemmt ein , und da
kein allgemeiner und in fich weſentlicher Zweck für das Vater
land mehr vorhanden war, ſo mußten die Individualitäten und
die Gewalt herrſchend werden . Die ungeheure Verborbenheit
Zweiter Abſchn . Rom vom zweit. puniſch. Kriege bis zum Kaiſerthum . 377
Rom 's offenbart fich im Kriege mit Jugurtha , der durch ſeine
Beſtechungen den Senat gewonnen hatte , und ſo ungeſtraft ſich
die größten Gewaltthätigkeiten und Verbrechen erlaubte. Eine
allgemeine Aufregung erhielt Rom durch den Kampf gegen die
den Staat bedrohenden Cimbrer und Teutonen . Mit großer
Anſtrengung wurden die legtern in der Provence bei Air , die
andern in der Lombardei an der Etſch , durch Marius, den Sie:
ger des Jugurtha, vernichtet. Es empörten ſich dann die Bun
desgenoſſen in Italien , denen man auf ihr Verlangen das ró
miſche Bürgerrecht nicht einräumen wollte; und während die
Römer in Italien ſelbſt den Kampf gegen eine ungeheure Macht
zu beſtehen hatten , erhielten ſie die Nachricht, daß auf den Bes
fehl des Mithridates achtzigtauſend Römer in Kleinaſten den Tod
gefunden hatten . Mithridates war König von Pontus, be
herrſchte Rolchis und die Länder des ſchwarzen Meers bis zur
Tauriſchen Halbinſel, und konnte auch die Völferſchaften des
Raufaſus, von Armenien , Meſopotamien , und einem Theil von
Syrien , durch ſeinen Schwiegerſohn Tigranes, gegen Rom auf
bieten . Sula, der ſchon im Bundesgenoſſenkriege das römiſche
Heer angeführt hatte , beſiegte ihn. Athen , das bis jeßt ver
ſchont geblieben war, wurde belagert und eingenommen , aber der
Väter wegen , wie Sulla ſich ausdrückte , nicht zerſtört. Dieſer
kehrte dann nach Rom zurück , bezwang die Volkspartei unter
Marius und Cinna , eroberte die Stadt und ordnete methodiſche
Ermordungen angeſehener Römer an . Vierzig Senatoren und
ſechzehnhundert Ritter opferte er ſeinem Ehrgeize und ſeiner
Herrſchſucht.
Mithridates war zwar beſiegt, aber nicht überwunden , und
konnte den Krieg von Neuem begimnen . Zu gleicher Zeit ſtand
Sertorius, ein vertriebener Römer in Spanien auf, kämpfte dort
acht Jahre hindurch und kam nur durch Verrätherei um . Der
Krieg gegen Mithridates wurde durch Pompejus beendigt; der
König von Pontus ermordete ſich , nachdem feine Hülføquellen
378 Dritter Cheil. Die römiſche Welt.
erſchöpft waren . Gleichzeitig iſt der Sclavenkrieg in Italien .
Eine große Menge Gladiatoren und Bergbewohner hatten ſich
unter Spartacus verſammelt , erlagen aber dem Craſſus. Zu
dieſer Verwirrung kam noch die allgemeine Seeräuberei , welche
Pompejus durch große Anſtalten ſchnell unterdrückte.
Wir ſehen ſo die fürchterlichſten , gefährlichſten Mächte ges
gen Rom auftreten , aber die Militärmacht dieſes Staats trägt
über alle den Sieg davon . Es treten nun große Individuen
auf, wie zu den Zeiten des Verfalls von Griechenland. Die
plutarchiſchen Lebensbeſchreibungen find auch hier wieder vom
größten Intereſſe. Aus der Zerrüttung des Staats, welcher feis
nen Halt noch Feſtigkeit mehr in fich hatte, find dieſe coloſſalen
Individualitäten hervorgegangen , mit dem Bedürfniß die Einheit
des Staates herzuſtellen , welche in der Geſinnung nicht mehr
vorhanden war. Ihr llnglück iſt, daß fie das Sittliche nicht
rein bewahren können , denn was ſie thun iſt gegen das Vors
handene gerichtet und Verbrechen. Selbſt die Edelſten , die Gra
chen , ſind nicht bloß der äußeren Ungerechtigkeit und Gewalt un
terlegen , ſondern waren ſelber in das allgemeine Verderben und
Unrecht verwickelt. Aber was dieſe Individuen wollen und
thun , hat die höhere Berechtigung des Weltgeiſtes für ſich und
muß endlich den Sieg davon tragen . Bei dem gänzlichen Man
gel an der Idee einer Organiſation des großen Reichs konnte
der Senat die Autorität der Regierung nicht behaupten . Die
Herrſchaft war abhängig gemacht vom Volk, welches jegt nur
Pöbel war und mit Korn aus den römiſchen Provinzen ernährt
werden mußte. Man muß im Cicero leſen , wie alle Staatsan
gelegenheiten tumultuariſch mit den Waffen in der Hand, durch
den Reichthum und die Macht der Vornehmen auf der einen
Seite und durch einen Haufen Geſindels auf der andern , ent
ſchieden wurden . Die römiſchen Bürger ſchließen ſich an India
viduen an , die ihnen ſchmeicheln , und welche dann in Factionen
auftreten , um die Herrſchaft von Rom zu erringen . So ſehen
Zweiter Abſdn. Rom vom zweit. puniſch. Kriege bis zum Kaiſerthum . 379
wir in Pompejus und Cäfar die beiden Glanzpunkte Rom 's ein
ander gegenübertreten , auf der einen Seite Pompejus mit dem
Senat, und darum ſcheinbar als Vertheidiger der Republif, auf
der anderen Cäfar mit feinen Legionen , und der Ueberlegenheit
des Genies . Dieſer Kampf zwiſchen den zwei mächtigſten Ins
dividualitäten konnte ſich nicht zu Rom auf dem Forum entſcheis
den. Cäfar bemächtigte ſich nach einander Italiens, Spaniens,
Griechenlands, ſchlug ſeinen Feind bei Pharſalus, acht und vier
zig Jahre vor Chr. Geb ., aufs Haupt , verſicherte ſich Aſtens,
und kehrte ſo als Sieger nach Rom zurüd .
Die römiſche Weltherrſchaft wurde ſo einem Einzigen zu
Theil. Dieſe wichtige Veränderung muß nicht als etwas Zus
fälliges angeſehen werden , ſondern ſie war nothwendig und
durch die Umſtände bedingt. Die demokratiſche Verfaffung konnte
in Rom nicht mehr bewahrt, ſondern nur ſcheinbar gehalten wer
den . Cicero , der ſich durch ſein großes Rednertalent viel Ans
ſehn verſchafft hatte, durch ſeine Gelehrſamkeit viel galt, ſeßt den
Zuſtand des Verderbens der Republik immer in die Individuen
und ihre Leidenſchaften . Plato , dem Cicero nachahmen wollte,
hatte das vollkommene Bewußtſeyn , daß der atheniſche Staat,
wie er ſich ihm darſtellte , nicht beſtehen konnte , und entwarf ſo .
nach ſeinen Anſichten eine vollkommene Staatsverfaſſung; Cicero
hingegen denkt nicht daran , daß es unmöglich fey , die römiſche
Republik länger zu erhalten und ſucht für ſie immer nur eine
momentane Nachhülfe ; über die Natur des Staates und nas
mentlich des rômiſchen hat er fein Bewußtſeyn. Auch Cato ſagt
von Cäſar: „ Seine Tugenden ſollen verflucht ſeyn, denn ſte ha
ben mein Vaterland ins Verderben geſtürzt." Aber es iſt nicht
die Zufälligkeit Cäfars , welche die Republik 'geſtürzt hat, ſon
dern die Nothwendigkeit. Das römiſche Princip war ganz
auf die Herrſchaft und Militärgewalt geſtellt: es hatte feinen
geiſtigen Mittelpunkt in fich zum Zwec , zur Beſchäftigung und
zum Genuſſe des Geiſtes . Der patriotiſche Zweck , den Staat
380 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
zu erhalten , hört auf, wenn der ſubjective Trieb der Herrſchaft
zur treibenden Leidenſchaft wird. Die Bürger wurden dem Staate
fremd , denn ſie fanden feine objective Befriedigung darin , und
auch die beſonderen Intereſſen nahmen nicht die Richtung wie
bei den Griechen , welche dem beginnenden Verderben der Wirk
lichkeit gegenüber noch die größten Kunſtwerke in der Malerei,
Plaſtik und Dichtkunſt hervorbrachten und beſonders die Philo
ſophie ausbildeten . Die Kunſtwerke, welche die Römer aus Grie
chenland von allen Seiten herbeiſchleppten , waren nicht ihre eige
nen Erzeugniſſe, der Reichthum war nicht Frucht ihrer Induſtrie,
wie in Athen , ſondern er war zuſammengeraubt. Eleganz, Bils
dung war den Römern als ſolchen fremd; von den Griechen
ſuchten ſie dieſelbe zu erhalten, und zu dieſem Zweckewurde eine
große Maſſe von griechiſchen Sclaven nach Rom geführt. De
los war der Mittelpunkt dieſes Sclavenhandels , und an einem
Tage ſollen daſelbft bisweilen zehntauſend Sclaven gekauft wor
den feyn. Griechiſche Sclaven waren die Dichter , die Schrift
ſteller der Römer, die Vorſteher ihrer Fabriken , die Erzieher ihrer
Kinder.
Unmöglich konnte die Republik in Rom länger beſtehen .
Beſonders aus Cicero 's Schriften kommt man zu dieſer An
ſchauung, wie alle öffentlichen Angelegenheiten durch die Privats
autorität der Vornehmen , durch ihre Macht, ihren Reichthum ent
ſchieden wurden , wie Alles tumultuariſch geſchehen iſt. In der
Republik war ſomit kein Halt mehr, welcher nur noch im Willen
eines einzigen Individuums konnte gefunden werden . Cäſar,
der als ein Muſter römiſcher Zweckmäßigkeit aufgeſtellt werden
kann , der mit richtigſtem Verſtande ſeine Entſchlüſſe faßte , und
ſte aufs thätigſte und praktiſchſte, ohne weitere Leidenſchaft, zur
Ausführung brachte, Cäſar hat weltgeſchichtlich das Rechte ges
than , indem er die Vermittelung und die Art und Weiſe des
Zuſammenhalts , der nothwendig war, hervorbrachte. Cäſar hat
Zweierlei gethan : er hat den inneren Gegenſaß beſchwichtigt, und
Zweiter Abſchn. Rom vom zweit. puniſcs. Ariege bis zum Kaiſerthum. 381
zugleich einen neuen nach außen hin aufgeſchloſſen . Denn die
Weltherrſchaft war bisher nur bis an den Kranz der Alpen ge
drungen , Cäſar aber eröffnete einen neuen Schauplaş : er grün
dete das Theater , das ießt der Mittelpunkt der Weltgeſchichte
werden ſollte. Dann hat er ſich zum Herrſcher der Welt ge
macht, durch einen Kampf, der nicht in Rom ſelbſt ſich entſchied ,
ſondern dadurch , daß er die ganze römiſche Welt eroberte. Er
ſtand freilich der Republik gegenüber , aber eigentlich nur ihrem
Schatten , denn machtlos war Alles , was von der Republik noch
übrig war. Pompejus, und alle die, welche auf Seiten des Ses
nats waren , haben ihre dignitas auctoritas, die particulare
Herrſchaft, als Macht der Republik emporgehalten , und die Mit
telmäßigkeit, welche des Schußes bedurfte , hat ſich unter dieſen
Titel geflüchtet. Cäfar hat dem leeren Formalismus dieſes Ti
tels ein Ende gemacht, ſich zum Herrn erhoben , und den Zuſam
menhalt der römiſchen Welt durch die Gewalt gegen die Parti
cularität durchgeſeßt. Troß dem ſehen wir, daß die edelſten
Männer Rom 's dafür halten , die Herrſchaft Cäſar’s ſey etwas
Zufälliges , und der ganze Zuſtand deſſelben ſeyy an ſeine Indi
vidualität gebunden : ſo Cicero, ſo Brutus und Caſſius: ſie glaubs
ten , wenn dieß Eine Individuum entfernt ſen , fo fey auch von
ſelbſt die Republik wieder da. Durch dieſen merkwürdigen Jrr--
thum befangen ermordeten Brutus, ein höchſt edles Individuum ,
und Caſſius, thatfräftiger als Cicero , den Mann , deſſen Tugen
den ſie ſchäßten . Unmittelbar darauf aber zeigte es ſich , daß
nur Einer den römiſchen Staat leiten könne, und nun mußten
die Römer daran glauben ; wie denn überhaupt eine Staatsum
wälzung gleichſam im Dafürhalten der Menſchen ſanctionirtwird,
wenn ſie ſich wiederholt. So iſt Napoleon zweimal unterlegen ,
und zweimal vertrieb man die Bourbonen . Durch die Wieder
holung wird das, was im Anfang nur als zufällig und möglich
erſchien , zu einem Wirklichen und Beſtätigten .
382 Dritter Theil. Die römiſche Welt.

Dritter Abſchuitt.
Erſtes Capitel.
Hom in der Kaiſer periode.
In dieſer Periode fommen die Römer in Berührung mit
dem Volfe, welches dazu beſtimmt iſt, nach ihnen das welthiſto
riſche zu werden , und wir haben dieſelbe nach zwei weſentlichen
Seiten hin zu betrachten , nach der weltlichen und geiſtigen .
In der weltlichen Seite ſind wiederum zwei Hauptmomente her
auszuheben : zuerſt das des Herrſchers , und dann die Beſtims
mung der Individuen als ſolcher zu Perſonen , die Rechtswelt.
Was nim zunächſt das Kaiſerthum betrifft, ſo iſt zu bes
merken , daß die römiſche Herrſchaft ſo intereſſelos war, daß der
große Uebergang in das Kaiſerthum an der Verfaſſung faſt
nichts änderte. Nur die Volksverſammlungen paßten nicht mehr
und verſchwanden. Der Kaiſer war princeps senatus, Cenſor,
Conſul, Tribun : er vereinigte alle dieſe dem Namen nach noch
bleibenden Würden in fich , und die militäriſche Macht, worauf
es hier hauptſächlich anfam , war allein in ſeinen Händen . Die
Verfaſſung war die ganz ſubſtanzloſe Form , aus der alle Leben
digkeit und damit die Macht und Gewalt entwichen war ; und
das einfache Mittel, fie als ſolche zu erhalten , waren die Legios
nen , die der Kaiſer beſtändig in der Nähe von Rom hielt. Die
Staatsangelegenheiten wurden freilich vor den Senat gebracht,
und der Kaiſer erſchien nur wie ein anderes Mitglied , aber der
Senat mußte gehorchen , und wer widerſprach , wurde mit dem
Tode beſtraft und ſein Vermögen confiscirt. Es geſchah daher,
daß die , welche ſchon dem gewiſſen Tode entgegenſahen , fich
ſelbft tödteten , um der Familie doch wenigſtens das Vermögen
zu erhalten . Am meiſten war Tiberius den Römern , und zwar
Dritter Åbídnitt. Nom in der Kaiſerperiode. 383
wegen ſeiner Verſtellungskunſt, verhaßt : er wußte die Schlech
tigkeit des Senats ſehr gut zu benußen , um aus der Mitte deſ
ſelben die, welche er fürchtete , zu verderben . Die Macht des
Imperators beruhte , wie geſagt , auf der Armee und auf der
prätorianiſchen Leibwache, die ihn umgab. Es dauerte aber nicht
lange, ſo kamen die Legionen und beſonders die Prätorianer
zum Bewußtſeyn ihrer Wichtigkeit, und maaßten ſich an , den
Thron zu befeßen . Im Anfang bewieſen ſie noch einige Ehr:
furcht vor der Familie des Cäſar Auguſtus, ſpäter aber wählten
die Legionen ihre Feldherrn , und zwar ſolche, die ſich ihre Zu
neigung und Gunſt theils durch Tapferkeit und Verſtand, theils
auch durch Geſchenke und Nachſicht in Hinſicht der Disciplin er :
worben hatten .
Die Kaiſer haben ſich bei ihrer Macht ganz naiv verhalten
und ſich nicht auf orientaliſche Weiſe mit Macht und Glanz
umgeben . Wir finden bei ihnen Züge der Einfachheit, die er
ſtaunen machen . So 3: B . ſchreibt Auguſtus an Horaz einen
Brief, worin er ihm den Vorwurf macht, daß er noch kein Ge
dicht an ihn gerichtet habe , und ihn fragt, ob er denn glaube,
daß ihm das bei der Nachwelt Schande machen würde. Einige
Male wollte der Senat ſich wiederum Anſehn verſchaffen , indem
er Kaiſer ernannte : aber dieſe fonnten ſich entweder gar nicht
halten , oder nur dadurch, daß ſie die Prätorianer durch Ges
ſchenke gewannen . Die Wahl der Senatoren und die Bildung
des Senats war ohnehin ganz der Wiüfür des Raiſers über
laſſen . Die politiſchen Inſtitutionen waren in der Perſon des
Kaiſers vereinigt, fein fittlicher Zuſammenhalt war mehr vors
handen , der Wille des Kaiſers ſtand über Adem , vor ihm war
Alles gleich . Die Freigelaſſenen , welche den Kaiſer umgaben ,
waren oft die Mächtigſten des Neichs; denn die Widfür läßt
feinen Unterſchied gelten . In dem Individuum des Imperator
iſt die particulare Subjectivität zur völlig maafloſen Wirklichkeit
gekommen . Der Geiſt iſt ganz außer fich gekommen , indem die
384 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
Endlichkeit des Seyns und des Wollens zu einem Unbeſchränk
ten gemacht iſt. Nur eine Grenze hat auch dieſe Willfür, die
Grenze alles Menſchlichen , den Tod ; und ſelbſt der Tod iſt zu
einem Schauſpielſtück geworden . So iſt Nero einen Tod geſtor
ben , der für den edelſten Helden , wie für den reſignirteſten Mens
ſchen ein Beiſpiel ſeyn kann . Die particulare Subjectivität in
ihrer völligen Losgebundenheit hat keine Innerlichkeit, kein Vor
noch Rückwärts , keine Reue, noch Hoffnung, noch Furcht, keinen
Gedanken , – denn alles dieſes enthält feſte Beſtimmungen und
Zwecke ; hier aber iſt alle Beſtimmung völlig zufällig. Sie iſt
die Begierde, die Luſt, die Leidenſchaft , der Einfall, kurz die
Wilfür in ihrer gänzlichen Unbeſchränktheit. An dein Willen
Andrer hat ſie ſo wenig eine Schranke , daß vielmehr das Ver
hältniß von Willen zu Willen das der unbeſchränkten Herrſchaft
und Knechtſchaft iſt. So weit die Menſchen wiſſen auf der be
fannten Erde iſt kein Wille, der außer dem Willen des Impe
rator läge. Unter der Herrſchaft dieſes Einen aber ift Alles in
Ordnung; denn wie es iſt, ſo iſt es in Drdnung, und die
Herrſchaft beſteht eben darin , daß Alles in Harmonie mit dem
Einen ſtehe. Das Concrete der Charaktere der Imperatoren iſt
darum ſelbſt von keinem Intereſſe , weil es eben nicht das Con
crete iſt, worauf es ankommt. So hat es Kaiſer von edlem
Charakter und edlem Naturell gegeben , die ſich durch ihre Bila
dung beſonders auszeichneten . Titus , Trajanus , die Antonine
find als ſolche, gegen ſich ſelbſt höchft ſtrenge, Charaktere bekannt;
aber auch ſie haben keine Veränderung im Staate hervorgebracht;
nie iſt bei ihnen die Rede davon geweſen, dem römiſchen Volfe
eine Organiſation des freien Zuſammenlebens zu geben : fie wa
ren nur wie ein glücklicher Zufall , der ſpurlos vorübergeht und
den Zuſtand läßt, wie er iſt. Denn die Individuen befinden ſich
hier auf einem Standpunkte, wo ſie gleichſam nicht handeln , weil
fein Gegenſtand als Widerſtand ihnen entgegentritt ; fte haben
nur zu wollen , gut oder ſchlecht, und ſo iſt es. Auf die ruhm
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode. 385
würdigen Kaiſer Veſpaſian und Titus folgte der rohefte und
verabſcheuungswürdigſte Tyrann Domitianus: dennoch heißt es
bei den römiſchen Geſchichtsſchreibern , daß die römiſche Welt un
ter ihm ausgeruht habe. Jene einzelnen Lichtpunkte haben alſo
nichts geändert ; das ganze Reich unterlag dem Drucke der Ab
gaben wie der Plünderung, Italien wurde entvölfert, die frucht
barſten Länder lagen unbebaut: dieſer Zuſtand lag wie ein Fa
tum über der römiſchen Welt.
Das zweite Moment, welches wir hervorzuheben haben , iſt
die Beſtimmung der Individuen als Perſonen. Die Individuen
waren durchaus gleich die Sclaverei machte nur einen geringen
Unterſchied) und ohne irgend ein politiſches Recht. Schon nach
dem Bundesgenoſſenkriege wurden die Bewohner von ganz Ita
lien den römiſchen Bürgern gleichgeſeßt , und unter Caracala
wurde aller Unterſchied zwiſchen den Unterthanen des ganzen
römiſchen Reichs aufgehoben . Das Privatrecht entwickelte und
vollendete dieſe Gleichheit. Das Recht des Eigenthums war
ſonſt durch vielfache Unterſchiede gebunden , welche ſich nun auf
gelöſt haben . Wir ſahen die Römer vom Princip der abſtracten
Innerlichkeit ausgehen, welche ſich nun als Perſönlichkeit im Pri
vatrecht realiſirt. Das Privatrecht nämlich iſt dieß , daß die
Perſon als ſolche gilt, in der Realität, welche ſie ſich giebt, -
im Eigenthum . Der lebendige Staatskörper und die römiſche
Geſinnung, die als Seele in ihm lebte, iſt nun auf die Verein
zelung des todten Privatrechts zurückgebracht. Wie , wenn der
phyſiſche Körper verweſt , jeder Punkt ein eignes Leben für ſich
gewinnt, welches aber nur das elende Leben der Würmer iſt; ſo
hat ſich hier der Staatsorganismus in die Atome der Privat
perſonen aufgelöſt. Solcher Zuſtand iſt jeßt das römiſche les
ben : auf der einen Seite das Fatum und die abſtracte All
gemeinheit der Herrſchaft , auf der anderen die individuelle Ab
ſtraction , die Perſon , welche die Beſtimmung enthält, daß das
Individuum an ſich etwas ſen , nicht nach ſeiner Lebendigkeit,
Philoſophie d. Geldiďte 3te Aufl. 25
386 Dritter Theil. Die römiſche Welt.

nach einer erfüllten Individualität, ſondern als abſtractes 311


dividuum .
Es iſt der Stolz der Einzelnen abſolut zu gelten als Pris
vatperſonen ; denn das Ich erhält unendliche Berechtigung; aber
der Inhalt derſelben und das Meinige iſt nur eine äußerliche
Sache, und die Ausbildung des Privatrechts , welches dieſes
hohe Princip einführte , war mit der Verweſung des politiſchen
Lebens verbunden . – Der Kaiſer herrſchte nur und regierte nicht;
denn es fehlte die rechtliche und fittliche Mitte zwiſchen dem
Herrſcher und den Beherrſchten , es fehlte das Band einer Ver
faſſung und Organiſation des Staats , worin eine Ordnung für
fich berechtigter Kreiſe des Lebens in den Gemeinden und Pro
vinzen beſteht, welche, für das allgemeine Intereſſe thätig , auf
die allgemeine Staatsverwaltung einwirken . Es beſtehen zwar
Curien in den Städten , aber bedeutungslos oder werden nur als
Mittel gebraucht, die Einzelnen zu drücken und ordnungsmäßig
auszuplündern . Was alſo vor dem Bewußtſeyn der Menſchen
ſtand, war nicht das Vaterland, oder eine ſolche fittliche Einheit,
ſondern ſie waren einzig und allein darauf verwieſen , ſich in das
Fatum zu ergeben , und eine vollkommene Gleichgültigkeit des
Lebens zu erringen , welche ſie denn entweder in der Freiheit des
Gedankens oder in dem unmittelbaren ſinnlichen Genuß ſuchs
ten . So war der Menſch entweder im Bruch mit dem Daſeyn,
oder ganz dein ſinnlichen Daſeyn hingegeben . Er fand entwes
der ſeine Beſtimmung in der Bemühung fich die Mittel des Ges
nuffes durch die Erwerbung der Gunſt des Raiſers oder durch
Gewaltthätigkeit, Erbſchleicherei und Lift zu verſchaffen ; oder er
ſuchte ſeine Beruhigung in der Philoſophie , welche allein noch
etwas Feſtes und Anundfürſichſeyendes zu geben vermochte; denn
die Syſteme jener Zeit, der Stoicismus, Epifureismus und Step
ticismus, obgleich in ſich entgegengeſeßt, gingen doch auf daſſelbe
hinaus, nämlich, den Geiſt in fich gleichgültig zu machen gegen
Alles , was die Wirklichkeit darbietet. Jene Philoſophien wa
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode. - Das Chriſtenthum . 387
ren daher unter den Gebildeten ſehr ausgebreitet: fie bewirften
die Unerſchütterlichkeit des Menſchen in ſich ſelbſt, durch das
Denken , die Thätigkeit,welche das Augemeine hervorbringt. Aber
dieſe innerliche Verſöhnung durch die Philoſophie war ſelbſt nur
eine abſtracte, in dem reinen Princip der Perſönlichkeit; denn
das Denken , welches als reines fich ſelbſt zum Gegenſtand machte
und fich verſöhnte, war vollkommen gegenſtandslos , und die
Unerſchütterlichkeit des Skepticismus machte zum Zwec des Wil
lens die Zwedkloſigkeit ſelbſt. Dieſe Philoſophie hat nur die Nes
gativität alles Inhalts gewußt und iſt der Rath der Verzweifs
lung geweſen für eine Welt , die nichts Feſtes mehr hatte. Sie
konnte den lebendigen Geiſt nicht befriedigen , der nach einer hös
heren Verſöhnung verlangte. -

Zweites Capitel.
Das Chriſtenthum .

Es iſt bemerkt worden , daß Caſar die neue Welt nach ih


rer realen Seite eröffnete ; nach ihrer geiſtigen und inneren Eri
ftenz that ſie ſich unter Auguſtus auf. Beim Beginn des Rais
ſerthums, deſſen Princip wir als die zur Unendlichkeit geſteigerte
Endlichkeit und particulare Subjectivität erkannt haben , iſt in
demſelben Princip der Subjectivität das Heil der Welt geboren
worden ; nämlich als ein dieſer Menſch , in abſtracter Sub
jectivität, aber ſo, daß umgekehrt die Endlichkeit nur die Form
ſeiner Erſcheinung iſt, deren Weſen und Inhalt vielmehr die Un
endlichkeit,das abſolute Fürſichfeyn ausmacht. Die römiſche Welt,
wie fte beſchrieben worden , in ihrer Rathloſigkeit und in dem
Schmerz des von Gott Verlaffenſeyn hat den Bruch mit der Wirk
lichkeit und die gemeinſame Sehnſucht nach einer Befriedigung,
25 *
388 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
die nur im Geiſte innerlich erreichtwerden kann, hervorgetrieben , und
den Boden für eine höhere geiſtige Welt bereitet. Sie war das
Fatum , welches die Götter und das heitere Leben in ihrem Dienſt
erdrückte, und die Macht, welche das menſchliche Gemüth von
aller Beſonderheit reinigte. Ihr ganzer Zuſtand gleicht daher
. der Geburtsſtätte und ihr Schmerz den Geburtswehen von einem
andern höheren Geiſt, der mit der chriſtlichen Religion geof
fenbart worden . Dieſer höhere Geift enthält die Verſöhnung und
die Befreiung des Geiſtes ; indem der Menſch das Bewußtſeyn
vom Geiſte in ſeiner Algemeinheit und Unendlichkeit erhält. Das
abſolute Object, die Wahrheit, iſt der Geiſt, und weil der Menſch
ſeibſt Geiſt iſt, ſo iſt er ſich in dieſem Dbjecte gegenwärtig und
hat ſo in ſeinem abſoluten Gegenſtande das Weſen und ſein
Weſen gefunden . Damit aber die Gegenſtändlichkeit des Weſens
aufgehoben werde , und der Geiſt bei ſich ſelber ſey , muß die
Natürlichkeit des Geiſtes, worin der Menſch ein beſonderer und
empiriſcher iſt, negirt werden , damit das Fremdartige getilgt
werde und die Verſöhnung des Geiftes fich volbringe.
Gott wird nur ſo als Geiſt erkannt, indem er als der
Dreieinige gewußt wird . Dieſes neue Princip iſt die Angel, um
welche ſich die Weltgeſchichte dreht. Bis hieher und von da
her geht die Geſchichte. „ Als die Zeit erfüllet war,
fandte Gott ſeinen Sohn“ heißt es in der Bibel. Das
heißt nichts Anderes als : das Selbſtbewußtſeyn hatte ſich zu
denjenigen Momenten erhoben , welche zum Begriff des Geiſtes
gehören , und zum Bedürfniß , dieſe Momente auf eine abſolute
Weiſe zu faſſen . Dieſ iſt jeßt näher zu zeigen . Wir ſagten
von den Griechen , daß das Gefeß für ihren Geiſt war: „ Menſch
erkenne dich .“ Der griechiſche Geiſt war Bewußtſeyn des Gei
ſtes, aber des beſchränkten , welcher das Naturelement als we
ſentliches Ingrediens hatte. Der Geiſt herrſchte wohl darüber,
aber die Einheit des Herrſchenden und Beherrſchten war felbft
noch natürlic ); der Geiſt erſchien als beſtimmter in einer Menge
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode. – Das Chriſtenthum . 389

von Individualitäten der Volksgeiſter und der Götter, und war


vorgeſtellt durch die Kunſt , worin das Sinnliche nur bis zur
Mitte der ſchönen Form und Geſtalt , nicht aber zum reinen
Denken erhoben wird. - Das den Griechen fehlende Moment
der Innerlichkeit fanden wir bei den Römern ; aber weil es fors
mell und unbeſtimmt in fich war, nahm es ſeinen Inhalt aus
der Leidenſchaft und Wiüfür, ia das Verruchteſte konnte ſich
hier mit dem Schauer der Göttlichkeit verbinden (Man fehe die
Ausſage der Hiſpala über die Bacchanalien bei Livius 39, 13).
Dieß Element der Innerlichkeit iſt dann weiter realiſirt als Pers
ſönlichkeit der Individuen ,welche Realiſirung dem Principe adäquat
und ſo abſtract und formell wie dieſes iſt. Als dieſes Ich bin
ich für mich unendlich, und das Daſeyn meiner iſt mein Eigen
thum und meine Anerkennung als Perſon . Weiter geht dieſe
Innerlichkeit nicht; aller weitere Inhalt iſt darin verſchwunden .
Dadurch ſind die Individuen als Atome gejeßt; zugleich aber
ſtehen ſie unter der harten Herrſchaft des Einen , welche als mo
nas monadum die Macht über die Privatperſonen iſt. Dieß
Privatrecht iſt daher ebenſo ein Nichtdaſeyn , ein Nichtanerkennen
der Perſon , und dieſer Zuſtand des Rechts iſt vollendete Rechts
loſigkeit. Dieſer Widerſpruch iſt das Elend der römniſchen Welt.
Das Subject iſt nach dem Principe ſeiner Perſönlichkeit nur zu
dem Beſiße berechtigt, und die Perſon der Perſonen zum Beſit
Aller, ſo daß das einzelne Recht zugleich aufgehoben und rechtlos
iſt. Das Elend dieſes Widerſpruchs iſt aber die Zucht der
Welt. Zucht kommt her von ziehen , zu etwas hin , und es iſt
irgend eine feſte Einheit im Hintergrunde, wohin gezogen und
wozu erzogen werden ſoll, damitman dem Ziele adäquat werde.
Es iſt ein Abthun, ein Abgewöhnen als Mittel der Hinführung
zu einer abſoluten Grundlage. Jener Widerſpruch der römiſchen
Welt iſt das Verhältniß ſolcher Zucht ; er iſt die Zucht der Bil
dung, durch welche die Perſon zugleich ihre Nichtigkeit manifeſtirt.
, Aber zunächſt erſcheint dieß nur uns als Zucht, und dieſe iſt
390 Dritter Theil. Die römiſde Welt.

für die Gezogenen ein blindes Schidſal, dem fte ſich im ſtumpfen
Leiden ergeben ; es fehlt noch die höhere Beſtimmung, daß das
Innere ſelbſt zum Schmerz und zur Sehnſucht komme, daß der
Menſch nicht nur gezogen werde, ſondern daß dieß Ziehen ſich
als ein Ziehen in fich hinein zeige. Was nur unſere Reflexion
war, muß dem Subiecte ſelbſt als eigene ſo aufgehen , daß es fich
in ſich ſelbſt als elend und nichtig wiffe. Das äußerliche Uns
glüc muß, wie ſchon geſagt, zum Schmerze des Menſchen in
ſich ſelbſt werden : er muß ſich als das Negative ſeiner ſelbſt
fühlen , er muß einſehen , daß ſein Unglüc das Unglück ſeiner
Natur ſey , daß er in fich ſelbſt das Getrennte und Entzweite
ſen . Dieſe Beſtimmung der Zucht in fich felbft, des Schmerzes
ſeiner eigenen Nichtigkeit, des eigenen Elendes, der Sehnſucht
über dieſen Zuſtand des Innern hinaus iſt anderwärts als in
der eigentlichen römiſchen Welt zu ſuchen ; fie giebt dem jüdis
ſchen Volfe ſeine welthiſtoriſche Bedeutung und Wichtigkeit,
denn aus ihr iſt das Höhere aufgegangen , daß der Geiſt zum
abſoluten Selbſtbewußtſeyn gekommen iſt, indem er ſich aus dem
Andersſeyn,welches ſeine Entzweiung und Schmerz iſt, in fich
felbft reflectirt. Am reinſten und ſchönſten finden wir die anges
gebene Beſtimmung des jüdiſchen Volfs in den Davidiſchen
Pſalmen und in den Propheten ausgeſprochen , wo der Durſt der
Seele nach Gott, der tieffte Schmerz derſelben über ihre Fehler,
das Verlangen nach Gerechtigkeit und Frömmigkeit den Inhalt
ausmachen . Von dieſem Geiſt findet ſich die mythiſche Darſtel
lung gleich im Anfang der jüdiſchen Bücher , in der Geſchichte
des Sündenfalls. Der Menſch, nach dem Ebenbilde Gottes
geſchaffen , wird erzählt,habe ſein abſolutes Befriedigtſeyn dadurch
verloren , daß er von dem Baume des Erkenntniffes des Guten
und Böſen gegeſſen habe. Die Sünde beſteht hier nur in der
Erkenntniß : dieſe iſt das Sündhafte,und durch ſie hat der Menſch
ſein natürliches Glüd verſcherzt. Es iſt dieſes eine tiefe Wahr
heit, daß das Böſe im Bewußtſeyn liegt, denn die Thiere find
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode. – Das Chriſtenthum . 391
weder böſe nach gut: ebenſowenig der bloß natürliche Menſch .
Erſt das Bewußtſeyn giebt die Trennung des Ich, nach ſeiner
unendlichen Freiheit als Wilfür, und des reinen Inhalts des
Willens , des Guten . Das Erkennen als Aufhebung der natür:
lichen Einheit iſt der Sündenfall, der keine zufällige, ſondern die
ewige Geſchichte des Geiſtes ift. Denn der Zuſtand der Unſchuld ,
dieſer paradieſiſche Zuſtand iſt der thieriſche. Das Paradies ift
ein Park, wo nur die Thiere und nicht die Menſchen bleiben
fönnen . Denn das Thier iſt mit Gott eins, aber nur an ſich.
Nur der Menſch iſt Geiſt, das heißt für ſich ſelbſt. Dieſes Für
fichſeyn, dieſes Bewußtſeyn iſt aber zugleich die Trennung von
dem allgemeinen göttlichen Geiſt. Halte ich mich in meiner ab
ſtracten Freiheit gegen das Gute, ſo iſt dieß eben der Stand
punkt des Böſen . Der Sündenfall iſt daher der ewige Mythus
des Menſchen , wodurch er eben Menſch wird. Das Bleiben auf
dieſem Standpunkte iſt jedoch das Böſe, und dieſe Empfindung
des Schmerzes über ſich und der Sehnſucht finden wir bei Das
vid , wenn er ſingt: Herr, ſchaffe mir ein reines Herz, einen
neuen gewiſſen Geiſt. Dieſe Empfindung ſehen wir ſchon im
Sündenfall vorhanden , wo jedoch noch nicht die Verſöhnung,
ſondern das Verbleiben im Unglück ausgeſprochen wird. Doch
iſt darin zugleich die Prophezeiung der Verſöhnung enthalten ,
namentlich in dem Saße: „ Der Schlange ſoll der Kopf zertre
ten werden ;" aber noch tiefer darin , daß als Gott ſah, daß
Adam von jenem Baume gegeſſen hatte, ſagte : „ Siehe Adam
iſt worden wie unſer einer, wiſſend das Gute und das Böſe." Gott
beſtätigt die Worte der Schlange. An und für ſich iſt alſo die
Wahrheit, daß der Menſch durch den Geiſt, durch die Erkennt
niß des Augemeinen und Einzelnen Gott ſelbſt erfaßt. Aber
dieß ſpricht Gott erſt, nicht der Menſch , welcher vielmehr in der
Entzweiung bleibt. Die Befriedigung der Verſöhnung iſt für
den Menſchen noch nicht vorhanden , die abſolute leßte Befriedis
gung des ganzen Weſens des Menſchen iſt noch nicht gefunden ,
392 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
ſondern nur erſt für Gott. Vor der Hand bleibt das Gefühl
des Schmerzes über ſich das Leste des Menſchen . Die Befries
digung des Menſchen ſind zunächſt endliche Befriedigungen in
der Familie und im Beſiße des Landes Ranaan . Jn Gott iſt
er nicht befriedigt. Gott werden wohl im Tempel Opfer gebracht,
ihm wird gebüßt durch äußerliche Opfer und innere Reue. Dieſe
äußerliche Befriedigung in der Familie und im Beſize aber iſt
dem jüdiſchen Volfe in der Zucht des römiſchen Reichs genome
men worden. Die ſyriſchen Könige unterdrüdten es zwar ſchon ,
aber erſt die Römer haben ſeine Individualität negirt. Der
Tempel Zion's iſt zerſtört, das Gott dienende Volt iſt zerſtäubt.
Hier iſt alſo jede Befriedigung genommen und das Volk auf
den Standpunkt des erſten Mythus zurüdgeworfen , auf den
Standpunkt des Schmerzes der menſchlichen Natur in ihr ſelbſt.
Dem allgemeinen Fatum der römiſchen Welt ſteht hier gegenüber
das Bewußtſeyn des Böſen und die Richtung auf den Herrn .
Es kommt nur darauf an, daß dieſe Grundidee zu einem objectis
ven allgemeinen Sinne erweitert und als das concrete Weſen
des Menſchen , als die Erfüllung ſeiner Natur, genommen werde.
Früher galt den Juden als dieß Concrete das land Canaan
und ſie ſelbſt, als das Volf Gottes . Dieſer Inhalt iſt aber
ießt verloren und es entſteht daraus das Gefühl des Unglücks
und des Verzweifelns an Gott, an den jene Realität weſentlich
geknüpft war. Das Elend iſt alſo hier nicht Stumpfheit in
einem blinden Fatum , ſondern unendliche Energie der Sehnſucht.
Der Stoicismus lehrte nur: das Negative iſt nicht, und es giebt
feinen Schmerz; aber die jüdiſche Empfindung beharrt vielmehr
in der Realität und verlangt darin die Verſöhnung; denn ſie ruht
auf der orientaliſchen Einheit der Natur d. i. der Realität, der
Subjectivität und der Subſtanz des Einen . Durch den Verluſt
der bloß äußerlichen Realität wird der Geiſt in fich zurückgetrie:
ben ; die Seite der Realität wird ſo gereinigt zum Allgemeinen ,
durch die Beziehung auf den Einen . Der orientaliſche Gegenſaß
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode. – Das Chriſtenthum . 393
von Licht und Finſterniß iſt hier in den Geiſt verlegt, und die
Finſterniß iſt hier die Sünde. Es bleibt nun für die negirte
Realität nichts übrig, als die Subjectivität ſelbſt, der menſchliche
Wille in fit als allgemeiner; und dadurch allein wird die Ver
ſöhnung möglich . Sünde iſt Erkennen des Guten und Böſen ,
als Trennung; das Erkennen heilt aber ebenſo den alten Schas
den und iſt der Quel der unendlichen Verſöhnung. Nämlich
Erkennen heißt eben das Aeußerliche, Fremde des Bewußtſeyns
vernichten und iſt ſo Rückkehr der Subjectivität in fich. Dieß
nun im realen Selbſtbewußtſeyn der Welt geſeßt iſt die Ver :
ſöhnung der Welt. Aus der Unruhe des unendlichen Schmers
zes , in welcher die beiden Seiten des Gegenſaßes ſich auf einans
der beziehen , geht die Einheit Gottes und der als negativ geſeß
ten Realität, d . i. der von ihm getrennten Subjectivität hervor
Der unendliche Verluſt wird nur durch ſeine Unendlichkeit augs
geglichen , und dadurch unendlicher Gewinn. Die Identität des
Subjects und Gottes kommtin die Welt als die Zeit erfüllt
war: das Bewußtſeyn dieſer Identität iſt das Erkennen Gottes
in ſeiner Wahrheit. Der Inhalt der Wahrheit iſt der Geiſt
ſelbſt, die lebendige Bewegung in ſich ſelbſt. Die Natur Gottes ,
reiner Geiſt zu ſeyn, wird dem Menſchen in der chriſtlichen Res
ligion offenbar. Was iſt aber der Geiſt ? Er iſt das Eine,
ſich ſelbſt gleiche Unendliche, die reine Identität, welche zweitens
ſich von ſich trennt, als das Andere ihrer ſelbſt, als das Fürſich
und Inſichſeyn gegen das Augemeine. Dieſe Trennung iſt aber
dadurch aufgehoben , daß die atomiſtiſche Subjectivität, als die
einfache Beziehung auf fich, ſelbſt das Augemeine, mit ſich Iden
tiſche iſt. Sagen wir ſo , daß der Geiſt die abſolute Reflerion
in ſich ſelbſt durch ſeine abſolute Unterſcheidung iſt, die Liebe als
Empfindung, das Wiffen als der Geiſt, ſo iſt er als der drei
einige aufgefaßt : der Vater und der Sohn , und dieſer Unter
ſchied in ſeiner Einheit als der Geiſt. Weiter iſt nun zu bemer
ken , daß in dieſer Wahrheit die Beziehung des Menſchen auf
394 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
dieſe Wahrheit ſelbſt geſeßt iſt. Denn der Geiſt ſtellt ſich als
ſein Anderes gegenüber, find iſt ausdieſem linterſchiede Rückfehr
in fich felbft. Das andere in der reinen Idee aufgefaßt iſt der
Sohn Gottes , aber dieß Andere in ſeiner Beſonderung iſt die
Welt, die Natur und der endliche Geift : der endliche Geiſt iſt
ſomit ſelbſt als ein Moment Gottes geſetzt. So iſt der Menſch
alſo ſelbſt in dem Begriffe Gottes enthalten , und dieß Enthals
tenſeyn fann ſo ausgedrückt werden , daß die Einheit des Meno
ſchen und Gottes in der chriſtlichen Religion geſeßt fey. Dieſe
Einheit darf nicht flach aufgefaßt werden , als ob Gott nur
Menſch , und der Menſch ebenſo Gott ſey , ſondern der Menſch
iſt nur inſofern Gott, als er die Natürlichkeit und Endlichkeit
ſeines Geiſtes aufhebt und ſich zu Gott erhebt. Für den Men
fchen nämlich , der der Wahrheit theilhaftig iſt , und das weiß ,
daß er ſelbſt Moment der göttlichen Idee iſt, iſt zugleich das
Aufgeben ſeiner Natürlichkeit geſeßt, denn das Natürliche iſt das
Unfreie und ungeiſtige. In dieſer Idee Gottes liegt nun auch
die Verſöhnung des Schmerzes und des Unglücks des Men
ſchen in ſich . Denn das Unglück iſt ſelbſt nunmehr als ein
nothwendiges gewußt, zur Vermittlung der Einheit des Menſchen
mit Gott. Dieſe anſichſeyende Einheit iſt zunächſt nur für das
denkende, ſpeculative Bewußtſeyn ; ſie muß aber auch für das
ſinnliche, vorſtellende Bewußtſeyn ſeyn , ſie muß Gegenſtand für
die Welt werden , fie muß erſcheinen , und zwar in der finn :
lichen Geſtalt des Geiſtes , welche die menſchliche iſt. Chriſtus
iſt erſchienen , ein Menſch, der Gott iſt, und Gotto der Menſch
iſt; damit iſt der Welt Friede und Verſöhnung geworden . Es
iſt hier an den griechiſchen Anthropomorphismus zu erinnern ,
von dem geſagt worden , daß er nicht weit genug gegangen ſey .
Denn die griechiſche natürliche Heiterkeit iſt noch nicht fortgegan
gen bis zur ſubjectiven Freiheit des Ich ſelbſt , noch nicht zu
dieſer Innerlichkeit, noch nicht bis zur Beſtimmung des Geiſtes
als eines Dieſen. - Zu der Erſcheinung des criſtlichen Gottes
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode. – Das Chriſtenthum . 395
gehört ferner , daß ſie einzig in ihrer Art ſey ; ſte fann nur
Einmal geſchehen , denn Gott iſt Subject und als erſcheinende
Subjectivität nur ausſchließend Ein Individuum . Die lama
werden immer neu erwählt, weil Gott im Orient nur als Subs
ſtanz gewußt iſt, welcher deshalb die unendliche Form in einer
Vielheit der Beſonderung nur äußerlich iſt. Aber die Subjectis
vität als unendliche Beziehung auf ſich hat die Form an ihr
ſelbſt, und iſt als erſcheinende nur Eine, ausſchließend gegen alle
Andere. — Weiter aber iſt das ſinnliche Daſeyn, worin der
Geiſt iſt, nur ein vorübergehendes Moment. Chriſtus iſt geſtor
ben ; nur als geſtorben iſt er aufgehoben gen Himmel und fißend
zur Rechten Gottes , und nur ſo iſt er Geiſt. Er ſelbſt ſagt:
Wenn ich nichtmehr bei euch bin , wird euch der Geift
in alle Wahrheit leiten. Erſt am Pfingſtfeſte wurden die
Apoſtel des heiligen Geiſtes volt. Für die Apoſtel war Chriſtus
als lebend nicht das , was er ihnen ſpäter als Geiſt der Ge.
meinde war, worin er erft für ihr wahrhaft geiſtiges Bewußtſeyn
wurde. Ebenſo wenig iſt es das rechte Verhältniß , wenn wir
uns Chriſti nur als einer geweſenen hiſtoriſchen Perſon erinnern .
Man fragt dann : Was hat es mit ſeiner Geburt, mit ſeinem
Vater und ſeiner Mutter , mit ſeiner häuslichen Erziehung, mit
ſeinen Wundern n. f. f. für eine Bewandniß ? d . K . was iſt er
geiſtlos betrachtet ? Betrachtet man ihn auch nur nach ſeinen
Talenten , Charakter und Moralität, als Lehrer u . f. F., To ſtellt
man ihn auf gleiche Linie mit Sofrates und Andern , wenn man
auch ſeine Moral höher ſtellt. Vortrefflichkeit des Charakters
aber, Moral u . f. f., dieß Alles iſt nicht das leßte Bedürfniß des
Geiſtes , daß nämlich der Menſch den ſpeculativen Begriff des
Geiſtes in ſeine Vorſtellung bekomme. Wenn Chriftus nur ein
vortreffliches, ſogar unſündliches Individuum und nur dieß reyn
ſoll; ſo iſt die Vorſtellung der ſpeculativen Idee , der abſoluten
Wahrheit geleugnet. Um dieſe aber iſt es zu thun , und von die
ſer iſt auszugehen. Macht eregetiſch, fritiſch, hiſtoriſch aus Chris
396 Dritter Theil. Die römiſche Welt.

ſtus, was ihr wollt, eben ſo zeigt, wie ihr wollt, daß die Lehren
der Kirche auf den Concilien durch dieſes und jenes Intereſſe
und Leidenſchaft der Biſchöfe zu Stande gekommen , oder von
da oder dorther floſſen , - alle ſolche Umſtände mögen beſchaffen
ſeyn, wie ſie wollen ; es fragt ſich allein , was die Idee oder die
Wahrheit an und für ſich iſt.
Die Beglaubigung der Göttlichkeit Chriſti iſt ferner das
Zeugniß des eignen Geiſtes, nicht die Wunder; denn nur der
Geift erkennt den Geiſt. Die Wunder können der Weg zur Er
kenntniß feyn. Wunder heißt, daß der natürliche Lauf der Dinge
unterbrochen wird ; es iſt aber ſehr relativ , was man den natür
lichen Lauf nennt, und die Wirkung des Magnets z. B . iſt ſo
ein Wunder. Auch das Wunder der göttlichen Sendung beweiſt
Nichts ; denn auch Sokrates brachte ein neues Selbſtbewußtſeyn
des Geiftes gegen den gewöhnlichen Lauf der Vorſtellung auf.
Die Hauptfrage iſt nicht die göttliche Sendung, ſondern die Offen
barung und der Inhalt dieſer Sendung. Chriſtus ſelbft tadelt
die Phariſäer , welche Wunder von ihm verlangen , und ſpricht
von den falſchen Propheten , welche Wunder thun werden .
Was wir nun weiter zu betrachten haben , iſt die Bildung
der chriſtlichen Vorſtellung zur Kirche. Dieſe Bildung aus dem
Begriff des Chriſtenthums zu entwickeln , würde zu weit führen ,
und es ſind hier nur die allgemeinen Momente anzugeben . Das
erſte Moment iſt die Stiftung der chriſtlichen Religion , worin
das Princip derſelben mit unendlicher Energie, aber zuerſt ab
ſtract, ausgeſprochen wird . Dieß finden wir in den Evangelien ,
wo die Unendlichkeit des Geiſtes , ſeine Erhebung in die geiſtige
Welt als das allein Wahrhafte , mit Zurückſeßung aller Bande
der Welt das Grundthema iſt. Mit einer unendlichen Parrheſte
ſteht Chriſtus im jüdiſchen Volfe auf. „ Selig ſind, die rei
nen Herzens ſind, denn ſie werden Gott ſchauen ,"
ſagt er in ſeiner Bergpredigt, ein Spruch der höchſten Einfachheit
und Elaſticität gegen Alles , was dem menſchlichen Gemüthe von
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode. – Das Chriſtenthum . 397 . '
Aeußerlichen aufgebürdet werden kann. Das reine Herz iſt der
Boden , auf dem Gott dem Menſchen gegenwärtig iſt: wer von
dieſem Spruch durchdrungen iſt, iſt gegen alle fremde Bande und
Aberglauben gewappnet. Dazu treten nun die anderen Sprüche:
„ Selig find die Friedfertigen , denn ſie werden Gots
tes Kinder heißen; " und „, Selig ſind, die um Gerech -
tigkeit willen verfolgtwerden , denn das Himmelreich
iſt ihnen ;“ und „ Ihr ſollt vollkommen ſeyn , gleichwie
euer Vater im Himmel vollkommen iſt.“ Wir haben hier
eine ganz beſtimmte Forderung von Chriſtus. Die unendliche
Erhebung des Geiftes zur einfachen Reinheit iſt an die Spiße
als Grundlage geſtellt. Die Form der Vermittelung iſt noch
nicht gegeben , ſondern es iſt das Ziel, als ein abſolutes Gebot,
aufgeſtellt. Was nun ferner die Beziehung dieſes Standpunktes
des Geiſtes auf das weltliche Daſeyn anbetrifft, ſo iſt auch da
dieſe Reinheit als die ſubſtantielle Grundlage vorgetragen . ,,Trach
tet am erſten nach dem Reiche Gottes und nach ſeiner
Gerechtigkeit, ſo wird euch Alles zufallen ;" und „ Die
Leiden dieſer Zeit ſind nichtwerth iener Herrlichkeit."
Hier ſagt Chriſtus, daß die äußerlichen Leiden als ſolche nicht
zu fürchten und zu fliehen ſind , denn ſie ſind nichts gegen jene
Herrlichkeit. Weiter wird dann dieſe Lehre , eben weil ſie ab
ſtract erſcheint, polemiſch. „ Aergert dich dein rechtes Auge, ſo
reiß es aus und wirf es von dir; ärgert dich deine rechte Hand,
To haue fie ab und wirf ſie von dir. Es iſt beſſer , daß eines
deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle
geworfen werde.“ Was die Reinheit der Seele trüben könnte,
ſoll vernichtet werden . In Beziehung auf das Eigenthum und .
den Erwerb heißt es ebenſo : „ Sorget nicht für euer Leben , was
ihr eſſen und trinken werdet, auch nicht für euren Leib , was
ihr anziehen werdet. Iſt nicht das Leben mehr denn die
Speiſe , und der Leib mehr denn die Kleidung? Sehet die
Vögel unter dem Himmel an , ſie fäen nicht, ſie erndten nicht, ſie
398 . Dritter Theil. Die römiſche Welt.
ſammeln nicht in die Scheunen , und euer himmliſcher Vater
nähret ſie doch. Seyd ihr denn nicht viel mehr denn fte ?"
Die Arbeit für die Subſiſtenz iſt ſo verworfen . „ Willſt du voll
koinmen ſeyn , ſo gehe hin , verkaufe , was du haft, und gieb's -
den Armen , ſo wirſt du einen Schaß im Himmel haben , und
komm und folge mir nach ." Würde dieß ſo unmittelbar befolgt,
ſo müßte eine Umkehrung entſtehen : die Armen würden die Reis
chen werden . So hoch ſteht nämlich die Lehre Chriſti, daß alle
Pflichten und fittlichen Bande dagegen gleichgültig ſind. Zu
einem Jüngling, der noch ſeinen Vater begraben will, ſagt Chri
ſtus: „ laß die Todten ihre Todten begraben und folge mir
nach.“ „ Wer Vater und Mutter mehr liebet, denn mich , der
iſt mein nichtwerth.“ Er ſprach : „ Wer iſt meineMutter, und wer
find meine Brüder ? Und reckte die Hand aus über ſeine Jünger
und ſprach : Siehe da , das iſt meine Mutter und meine Brüder.
Denn wer den Willen thut meines Vaters im Himmel , derſels
bige iſt mein Bruder , Schweſter und Mutter.“ Ja es heißt
ſogar : „ Ihr ſollt nicht wähnen , daß ich kommen ſey,
Frieden zu ſenden auf Erden . Ich bin nicht kommen ,
Frieden zu ſenden , ſondern das Schwerdt. Denn ich
bin kommen , den Menſchen zu erregen wider ſeinen
Vater, und die Tochter wider ihre Mutter, und die
Schnur wider ihre Schwieger." Hierin liegt eine Abſtrac
tion von Adem , was zur Wirklichkeit gehört, felbft von den
ſittlichen Banden . Man kann ſagen , nirgend ſey ſo revolutionär
geſprochen , als in den Evangelien , denn alles ſonſt Geltende ift
als ein Gleichgültiges , nicht zu Achtendes geſeßt.
• Das Weitere iſt dann , daß dieſes Princip fich entwickelt
hat, und die ganze folgende Geſchichte iſt die Geſchichte ſeiner
Entwicelung. Die nächſte Realität iſt dieſe , daß die Freunde
Chriſti eine Geſellſchaft, eine Gemeinde bilden . Es iſt ſchon bes
merkt worden , daß erſt nach dem Tode Chriſti der Geiſt über
ſeine Freunde kommen konnte ; daß ſie da erſt die wahrhafte Idee
Dritter Abjauniit. Nom in der Kaiſerperiode. — Das Chriſtenthum . 399

Gottes zu faſſen vermochten , daß nämlich in Chriſtus der Menſch


erlöſt und verſöhnt iſt; denn in ihm iſt der Begriff der ewigen
Wahrheit erfannt, daß das Weſen des Menſchen der Geiſt iſt,
und daß er nur, indem er ſich ſeiner Endlichfeit entäußert und
ſich dem reinen Selbſtbewußtſeyn hingiebt, die Wahrheit erreicht.
Chriſtus , der Menſch als Menſch , in dem die Einheit Gottes
und des Menſchen erſchienen iſt, hat an ſeinem Tode, ſeiner Ges
ſchichte überhaupt, ſelbſt die ewige Geſchichte des Geiſtes gezeigt,
- eine Geſchichte, die jeder Menſch an ihm ſelbſt zu volbringen
hat, um als Geiſt zu ſeyn , oder um Kind Gottes , Bürger ſeines
Reiches zu werden . Die Anhänger Chriſti, die ſich in dieſem
Sinne verbinden , und in dem geiſtigen Leben als ihrem Zwede
leben , bilden die Gemeinde, die das Reich Gottes ift. „Wo
zwei oder drei verſammelt find in meinem Namen (d . 1. in der
Beſtimmung deſſen , was ich bin ),“ ſagt Chriſtus, ,,da bin ich
mitten unter ihnen .“ Die Gemeinde iſt ein wirkliches, gegen :
wärtiges Leben im Geiſte Chriſti.
: Die chriſtliche Religion muß durchaus nicht bloß auf die
Ausſprüche Chriſti ſelbſt zurückgeführt werden : in den Apoſteln
ſtellt ſich erſt die geſeßte, entwickelte Wahrheit dar. Dieſer Ins
halt hat ſich in der chriſtlichen Gemeinde entwickelt. Die Ge
meinde befand ſich nun zunächſt in einem doppelten Verhältniſſe,
einmal im Verhältniſſe zur römiſchen Welt, und dann zur Wahr
heit, deren Entwicelung ihr Ziel war. Wir wollen dieſe ver
ſchiedenen Beziehungen einzeln durchgehen .
Die Gemeinde befand ſich in der römiſchen Welt, und die
Ausbreitung der chriſtlichen Religion ſollte in dieſer vor fich ges
hen . Es mußte ſich nun die Gemeinde zunächſt von aller Thäs
tigkeit im Staate entfernt halten , für ſich eine getrennte Geſell:
ſchaft ausmachen , und gegen die Staatsbeſchlüſſe, Anſichten und
Handlungen nicht reagiren . Da ſie aber vom Staate abgeſchloſ
ſen war, und ebenſo den Kaiſer nicht für ihren unumſchränkten
Oberherrn hielt, ſo war ſie der Gegenſtand der Verfolgung und
400 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
des Haſſes . Da offenbarte ſich nun dieſe unendliche innere Frei
heit durch die große Standhaftigkeit, womit Leiden und Schmers
zen um der höchſten Wahrheit willen geduldig ertragen wurden .
Weniger ſind es die Wunder der Apoſtel, welche dem Chriſten
thum dieſe äußere Ausbreitung und innere Stärfe gegeben haben ,
als der Inhalt, die Wahrheit der Lehre ſelbſt. Chriſtus ſelbſt
ſagt : „ Es werden Viel zu mir ſagen an jenem Tage : Herr,
Herr ! haben wir nicht in deinem Namen geweifſaget, haben wir
nicht in deinem Namen Teufel ausgetrieben , haben wir nicht in deis
nem Namen viele Thaten gethan ? Dann werde ich ihnen bekennen :
ich habe euch noch nie erfannt,weichet alle von mir, ihrUebelthäter.“
Was nun die andere Beziehung zur Wahrheit betrifft, ſo
iſt es beſonders wichtig zu bemerken , daß das Dogma, das
Theoretiſche, ſchon in der römiſchen Welt ausgebildet worden iſt,
wogegen die Entwicelung des Staates aus dieſem Principe viel
ſpäter iſt. Die Kirchenväter und die Concilien haben das Dogma
feſtgeſeßt, aber zu diefer Aufſtellung war ein Hauptmoment die
vorhergegangene Ausbildung der Philoſophie. Sehen wir
näher , wie ſich die Philoſophie der Zeit zur Religion verhielt.
Es iſt ſchon bemerkt worden , daß die römiſche Innerlichkeit und
Subjectivität, welche ſich nur abſtract als geiſtloſe Perſönlichkeit
in der Sprödigkeit des Ich zeigte, durch die Philoſophie des
Stoicismus und Skepticismus zur Form der Allgemeinheit ge
reinigt wurde. Es war damit der Boden des Gedankens ge
wonnen und Gott wurde als der Eine, Unendliche im Gedanken
gewußt. Das Allgemeine iſt hier nur als unwichtiges Prädicat,
das hiemit nicht Subject an ſich iſt, ſondern dafür des concreten
beſondern Inhaltes bedarf. Das Eine und Augemeine aber,
als das Weite der Phantaſie, iſt überhaupt morgenländiſch ; denn
dem Morgenlande gehören die maaßloſen Anſchauungen an, die
alles Begrenzte über ſich ſelbſt hinauftreiben . Auf dem Boden
des Gedankens ſelbſt vorgeſtellt, iſt das orientaliſch Eine der
unſichtbare und unſinnliche Gott des iſraelitiſchen Vulfs , der
Dritter Abſốnitt. Nom in der Kaiſerperiode. – Das Chriſtenthum . 401
aber zugleich für die Vorſtellung als Subject iſt. Dieſes Print
cip iſt nunmehr welthiſtoriſch geworden . – In der römiſchen
Welt war die Vereinigung des Morgen - und Abendlandes zu
nächſt auf äußerliche Weiſe durch Eroberung geſchehen ; ſie geſchah
nun auch innerlich , indem der Geiſt des Morgenlandes fich über
das Abendland zog . Die Gottesdienſte der Iſis und des Mi
thra waren über die ganze römiſche Welt verbreitet; der ins
Aeußerliche und in die endlichen Zwecke verlorene Geiſt hat ſich
nach einem Unendlichen geſehnt. Das Abendland verlangte aber
nach einer tieferen , rein innerlichen Augemeinheit, nach einem
Unendlichen , das zugleich die Beſtimmtheit in ſich hätte. Wies
derum war es in Aegypten und zwar in Alerandrien , in dem
Mittelpunkt der Communication zwiſchen dem Orient und dem
Dccident, wo das Problem der Zeit für den Gedanken aufges
ſtellt wurde, und die Löſung war jeßt – der Geiſt. Dort ſind
fich die beiden Principien wiſſenſchaftlich begegnet und find wiſs
ſenſchaftlich verarbeitet worden . Es iſt beſonders merkwürdig ,
dort gelehrte Juden , wie Philo, abſtracte Formen des Concreten ,
die ſie von Plato und Ariſtoteles erhalten haben , mit ihrer Vor
ſtellung des Unendlichen verbinden und Gott nach dem concres
teren Begriffe des Geiſtes , mit der Beſtimmung des Móyos, er
kennen zu ſehen . So haben auch die tiefen Denfer zu Aleran
dria die Einheit der platoniſchen und ariſtoteliſchen Philoſophie
begriffen , und ihr ſpeculativer Gedanke gelangte zu den abſtracten
Ideen ,welche ebenſo der Grundinhalt der chriſtlichen Religion ſind.
Die Philoſophie hatte bei den Heiden ſchon die Nichtung genom
men , daß die Ideen , welche man als die wahren erfannte, als
Forderungen an die heidniſche Religion gebrachtwurden . Plato
hatte die Mythologie gänzlich verworfen , und wurde mit ſeinen
Anhängern des Atheismus angeklagt. Die Alerandriner dages
gen verſuchten in den griechiſchen Götterbildern eine ſpeculative
Wahrheit aufzuweiſen , und der Kaiſer Julianus Apoſtata hat
dieſe Seite dann wieder aufgenommen , indem er behauptete, die
Philoſophie D. Geldiote. 3. Aufl. 26
402 Dritter Theil. Die römiſche Welt.

heidniſchen Gottesdienſte ſeyen mit der Vernünftigkeit eng ver


bunden . Die Heiden wurden gleichſam dazu gezwungen , auch
ihre Götter nicht bloß als ſinnliche Vorſtellungen anſehen zu
laſſen , und ſo haben ſie es verſucht, dieſelben zu vergeiſtigen .
Auch iſt ſoviel gewiß , daß die griechiſche Religion eine Vernunft
enthält , denn die Subſtanz des Geiſtes iſt die Vernunft , und
fein Erzeugniß muß ein Vernünftiges Feyn : nur iſt ein Unter
ſchied, ob die Vernunft in der Religion erplicirt, oder ob ſie nur
dunkel und als Grundlage darin vorhanden iſt. Wenn nun
die Griechen ihre ſinnlichen Götter ſo vergeiſtigt haben , ſo ſuch
ten die Chriſten ihrerſeits auch in dem Geſchichtlichen ihrer Ne
ligion einen tieferen Sinn . Ebenſo wie Philo in der moſaiſchen
Urkunde ein Tieferes angedeutet fand, und das Heußerliche der
Erzählung idealiſirte, thaten auch die Chriſten daſſelbe, einerſeits
in polemiſder Rückſicht , andererſeits noch mehr um der Sache
felbft willen . Weil aber die Dogmen in die chriſtliche Religion
durch die Philoſophie hineingekommen ſind , darf man nicht bes
haupten , ſie ſeven dem Chriſtenthume fremd und gingen daſſelbige
nichts an . Wo etwas hergekommen iſt , das iſt vollkommen
gleichgültig ; die Frage iſt nur: iſt es wahr an und für ſich ?
Viele glauben genug gethan zu haben , wenn ſie ſagen , etwas
Fey neuplatoniſch , um es aus dem Chriſtenthume zu verweiſen .
Ob eine chriſtliche Lehre gerade ſo in der Bibel ſteht, worauf in
neueren Zeiten die eregetiſchen Gelehrten Alles ſeßen , darauf
kommt es nicht allein an. Der Buchſtabe tödtet, der Geiſtmacht
lebendig, das ſagen ſie ſelbſt und verdrehen es doch, indem ſte
ven Verſtand für den Geiſt nehmen . Es iſt die Kirche , welche
jene Lehren erkannt und feſtgeſtellt hat, der Geiſt der Gemeinde,
und es iſt ſelbſt ein Artikel der Lehre : Ich glaube an eine hei
lige Kirche; wie audy Chriſtus ſelbſt geſagt hat : „ Der Geift
wird euch in alle Wahrheit leiten .“ Im nicäiſchen Concilium
wurde endlich (im Jahre 325 nach Chr. Geb.) ein feſtes Glau
bensbekenntniß , an das wir uns jeßt noch halten , aufgeſtellt :
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode . - Das Chriſtenthum . 403

dieſes Bekenntniß hatte zwar keine ſpeculative Geſtalt, aber das


tief Speculative iſt aufs innigſte verwebt mit der Erſcheinung
Chriſti ſelbſt. Schon bei Johannes (ềv dgxñ ñv ó kóyos,
και ο λόγος ήν προς τον θεόν, και θεός ην ο λόγος) fes
hen wir den Anfang einer tieferen Auffaſſung: der tiefſte Ge
danke iſt mit der Geſtalt Chriſti , mit dem Geſchichtlichen und
Neußerlichen vereinigt, und das iſt eben das Große der chriſt
lichen Religion , daß ſie bei aller dieſer Tiefe leicht vom Bewußt
ſeyn in äußerlicher Hinſicht aufzufaſſen iſt, und zugleich zum tie
feren Eindringen auffordert. . Sie iſt ſo für jede Stufe der Bil
dung, und befriedigt zugleich die höchſten Anforderungen .
* Wenn wir ſo von dem Verhältniß der Gemeinde einerſeits
zur römiſchen Welt, andererſeits zu der in dem Dogma enthalte
nen Wahrheit geſprochen haben , ſo kommen wir nunmehr zu
dem Dritten , welches ſowohl Lehre als äußerliche Welt iſt, näm
lich zur Kirche. Die Gemeinde iſt das Reich Chriſti, deſſen
wirkender gegenwärtiger Geiſt Chriſtus iſt , denn dieſes Reich
hat eine wirkliche Gegenwart, keine nur zukünftige. Deshalb
hat dieſe geiſtige Gegenwart auch eine äußerliche Eriſtenz nicht
nur neben dem Heidenthum , ſondern neben der weltlichen Eri
ſtenz überhaupt. Denn die Kirche als dieſes äußerliche Daſeyn
iſt nicht nur Religion einer anderen Religion gegenüber, ſondern
zugleich weltliches Daſeyn neben weltlichem Daſeyn. Das reli
giöſe Daſeyn wird von Chriſtus , das weltliche Reich von der
Wilfür der Individuen ſelbſt regiert. In dieſes Reich Gottes
nun muß eine Organiſation eintreten . Zunächſt wiſſen alle In
dividuen ſich vom Geiſte erfüllt; die ganze Gemeinde erkennt die
Wahrheit und ſpricht ſie aus; doch neben dieſer Gemeinſchaft
lichkeit tritt die Nothwendigkeit einer Vorſteherſchaft des Leitens
und Lehrens ein, die unterſchieden von der Menge der Gemeinde
ift. Zu Vorſtehern werden die gewählt, die ſich durch Talente,
Charakter, Energie der Frömmigkeit, heiligen Lebenswandel, Ges
lehrſamkeit und Bildung überhaupt auszeichnen. Die Vorſteher,
26 *
404 - Dritter Theil. Die römiſdhe Welt.
die Wiſſenden des allgemeinen ſubſtantiellen Lebens, die Lehren
den dieſes Lebens , die Feſtſtellenden deſſen , was die Wahrheit
iſt, und die Spender des Genuffes deſſelben unterſcheiden ſich
von der Gemeinde als ſolcher , wie die Wiſſenden und Regies
renden von den Regierten . Der wiſſenden Vorſteherſchaft kommt
der Geiſt als ſolcher zu : in der Gemeinde iſt der Geiſt nur als
Anſichſeyn. Indem nun in der Vorſteherſchaft der Geiſt als
für ſich ſeyender und ſelbſtbewußt iſt, ſo iſt ſie eine Autorität
für das Geiſtige ſowohl, wie für das Weltliche, eine Autorität
für die Wahrheit und für das Verhältniß des Subjects in Bez
ziehung auf die Wahrheit, daß nämlich das Individuum fich
der Wahrheit gemäß betrage. Durch dieſen Unterſchied entſteht
im Reich Gottes ein geiſtliches Reich. Derſelbe iſt weſents
lich nothwendig , aber daß für das Geiſtige ein Regiment der
Autorität beſteht, hat näher darin ſeinen Grund, daß ſich die
menſchliche Subjectivität als ſolche noch nicht ausgebildet hat.
Im Herzen iſt der böſe Wille zwar aufgegeben, aber der Wile
iſt noch nicht als menſchlicher von der Göttlichkeit durchgebildet
und der menſchliche Wille iſt nur abſtract befreit, nicht in ſeiner
concreten Wirklichkeit ; denn die ganze folgende Geſchichte iſt erſt
die Realiſation dieſer concreten Freiheit. Bisher iſt die endliche
Freiheit nur aufgehoben , um die unendliche zu erreichen , und das
Licht der unendlichen Freiheit hat noch nicht das Weltliche durch
ſchienen . Die ſubjecte Freiheit gilt noch nicht als ſolche: die
Einſicht ſteht nicht auf ihren Füßen , ſondern beſteht nur im
Geiſte einer fremden Autorität. So hat ſich denn dieß geiſtige
Reich zu einem geiſtlichen fortbeſtimmt, als das Verhältniß
der Subſtanz des Geiſtes zur menſchlichen Freiheit. Zu dieſer
inneren Organiſation fommt noch, daß die Gemeinde auch eine
beſtimmte Aeußerlichkeit und einen eigenen weltlichen Befiß
erhält. Als Befiß der geiſtlichen Welt ſteht derſelbe unter bes
ſonderer Obhut, und die nächſte Folge davon iſt, daß die Kirche
keine Staatsabgaben zu bezahlen hat, und daß die geiſtlichen
Dritter Abſchnitt. Rom in der Kaiſerperiode. — Das Chriſtenthum . 405

Individuen der weltlichen Gerichtsbarkeit entzogen werden . Das


mit hängt zuſammen , daß die Kirche ihr Regiment in Anſehung
ihres Vermögens und ihrer Individuen ſelbſt beſorgt. So ent
ſteht in der Kirche das contraſtirende Schauſpiel, daß nur Pris
vatperſonen und die Macht des Raiſers auf der weltlichen Seite
ſtehen , auf der anderen die vollkommene Demokratie der Ges
meinde, welche ſich ihre Vorſteher wählt. Dieſe Demofratie geht
jedoch bald durch die Prieſterweihe in Ariſtokratie über; doch die
weitere Ausbildung der Kirche hat hier ihren Ort nicht, ſondern
gehört erſt der ſpäteren Welt an.
Durch die chriſtliche Religion iſt alſo die abſolute Idee
Gottes in ihrer Wahrheit zum Bewußtſeyn gekommen , worin
ebenſo der Menſch nach ſeiner wahrhaften Natur, die in der bes
ſtimmten Anſchauung des Sohnes gegeben iſt, ſich ſelbſt aufge
nommen findet. Der Menſch , als endlicher für ſich betrachtet,
iſt zugleich auch Ebenbild Gottes und Quell der Unendlichkeit
in ihm ſelbſt ; er iſt Selbſtzweck, hat in ihm ſelbſt unendlichen
Werth und die Beſtimmung zur Ewigkeit. Er hat ſeine Hei
math ſomit in einer überſinnlichen Welt, in einer unendlichen
Innerlichkeit, welche er nur gewinnt durch den Bruch mit dem
· natürlichen Daſeyn und Wollen und durch ſeine Arbeit, dieſes
in ſich zu brechen . Dieß iſt das religiöſe Selbſtbewußtſeyn.
Aber um in den Kreis und in die Bewegung des religiöſen les
bens einzutreten , muß die menſchliche Natur deſſelben fähig ſeyn.
Dieſe Fähigkeit iſt die dúvauls für jene žvéoyala . Was wir
daher ießt noch zu betrachten haben , ſind die Beſtimmungen ,
welche ſich für den Menſchen nach der Seite ergeben , daß er
Selbſtbewußtſeyn überhaupt iſt, inſofern ſeine geiſtige Natur als
Ausgangspunkt und Vorausſeßung iſt. Dieſe Beſtimmungen
find ſelbſt noch nicht concreter Art, ſondern nur die erſten ab
ſtracten Principien , welche durch die chriſtliche Religion für -
das weltliche Reich gewonnen find . Erſtens die Sclaverei
iſt im Chriſtenthum unmöglich , denn der Menſch iſt jeßt als
406 Dritter Theil. Die römiſcje Welt. . ..
Menſch nach ſeiner allgemeinen Natur in Gott angeſchaut ; jeder
Einzelne iſt ein Gegenſtand der Gnaðe Gottes und des göttli
chen Endzwecks: Gott will, daß alle Menſchen ſelig werden .
Ganz ohne alle Particularität, an und für fich hat alſo der
Menſch , und zwar ſchon als Menſch , unendlichen Werth , und
eben dieſer unendliche Werth hebt alle Particularität der Geburt
und des Vaterlandes auf. - Das andere, zweite Princip ift
die Innerlichkeit des Menſchen in Beziehung auf das Zufällige.
Die Menſchheit hat dieſen Boden freier Geiſtigkeit an und für
ſich, und von ihm aus hat alles Andere auszugehen Der Ort,
wo der göttliche Geiſt inwohnend und gegenwärtig feyn ſoll,
dieſer Boden iſt die geiſtige Innerlichkeit, und wird der Ort der
Entſcheidung für alle Zufälligkeit: Hieraus folgt , daß , was
wir früher bei den Griechen als Form der Sittlichkeit betrach
teten , nicht mehr in derſelben Beſtimmung in der chriftlichen
Welt ſeinen Standpunkt hat, denn jene Sittlichkeit iſt die Unre
flectitte Gewohnheit, Baš chriſtliche Princip iſt aber die für ſich
ſtehende Innerlichkeit, der Boden; auf dem das Wahrhafte auf
wächſt. Eine unreflectirte Sittlichkeit kann nunmehr gegen das
Princip der ſubjectiven Freiheit nicht ſtatt finden . Die griechi
fche Freiheit war die des Glüds und des Genie's ; fie war noch
durch Seladen und durch Orakel beðingt; jeßt aber tritt das
Princip det abſoluten Freiheit in Gott auf. Der Menſch iſt
jeßt nicht mehr im Verhältniß der Abhängigkeit, ſondern der
Liebe, in dem Bewußtſeyn , daß er dem göttlichen Weſen anges
hört. In Anſehung der particularen Zwede beſtimmt jeßt der
Menſch ſich ſelber und weiß ſich als allgemeine Macht alles
Endlichen. Alles Beſondere tritt gegen den geiſtigen Boden der
Innerlichkeit zurück , welche ſich nur gegen den göttlichen Geift
aufhebt. Dadurch fält aller Aberglaube der Orakel und des
Vögelfluges fort : der Menſch iſt als die unendliche Macht des
Entſchließens anerkannt.
Dieſe beiden eben abgehandelten Principien ſind es, welche
Dritter Abſchnitt. Rom in d. Naiſerperiode. – Das Chriſtenthum . 407
dem Anfichreyn des Geiſtes ießt zukommen . Der innere Drt hat
einerſeits die Beſtimmung den Bürger des religiöſen Lebens zu bil
den , Gottes Geifte ſich angemeſſen zu machen , andererſeits ift
dieſer Ort der Ausgangspunkt für das weltliche Verhältniß und
die Aufgabe für die chriſtliche Geſchichte. Die fromme Befeh
rung darf nicht im Inneren des Gemüthes bleiben , ſondern
muß zu einer wirklichen gegenwärtigen Welt werden , die ſich
nach der Beſtimmung jenes abſoluten Geiſtes verhalte. Die
Frömmigkeit des Gemüths ſchließt noch nicht in fich , daß der
ſubjective Wille , in ſeiner Beziehung nach außen , dieſer Fröm
migkeit unterworfen fen , ſondern wir ſehen noch alle Leidenſchaf
ten in die Wirklichkeit um ſo mehr hineinwüthen , weil dieſelbe
als rechtlos und werthlos von der Höhe der intelligibeln Welt
herab beſtimmt iſt. Die Aufgabe iſt daher die , daß die ydee
des Geiſtes auch in die Welt der geiſtigen unmittelbaren Gegen
wart eingebildet werde. Darüber iſt noch eine allgemeine Bes
merkung zu machen . Man hat von jeher einen Gegenſaß zwis
ſchen Vernunft und Religion , wie zwiſchen Religion und
Welt aufſtellen wollen ; aber näher betrachtet iſt er nur ein
Unterſchied. Die Vernunft überhaupt iſt das Weſen des Geis
ftes , des göttlichen wie des menſchlichen . Der Unterſchied von
Religion und Welt iſt nur der, daß die Religion als ſolche Ver
nunft im Gemüth und Herzen iſt, daß ſie ein Tempel vorgeſtell
ter Wahrheit und Freiheit in Gott iſt; der Staat dagegen nach
derſelben Vernunft ein Tempel menſchlicher Freiheit im Wiſſen
und Wollen der Wirklichkeit iſt, deren Inhalt ſelbſt der göttliche
genannt werden kann. So iſt die Freiheit im Staate bewährt
und beſtätigt durch die Religion , indem das ſittliche Recht im
Staate nur die Ausführung deſſen iſt, was das Grundprincip
der Religion ausmacht. Das Geſchäft der Geſchichte iſt nur,
daß die Religion als menſchliche Vernunft erſcheine, daß das re
ligiöſe Princip , das dem Herzen der Menſchen inwohnt, auch als
weltliche Freiheithervorgebrachtwerde. Sowird die Entzweiung
408 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
zwiſchen dem Innern des Herzens und dem Daſeyn aufgehoben .
Für dieſe Verwirklichung iſt jedoch ein anderes Volf, oder find
andere Völker berufen , nämlich die germaniſchen. Innerhalb
des alten Rom 's felbft fann das Chriſtenthum nicht ſeinen wirf
lichen Boden finden und ein Reich daraus geſtalten .

Drittes Capitel.
Das by 3antiniſche Reich.
Mit Conſtantin dem Großen kam die chriſtliche Religion
auf den Thron des Kaiſerreichs ; auf dieſen folgt nun eine
Reihe von chriſtlichen Kaiſern , die nur durch Julian unterbrochen
wird, der aber nur wenig für die geſunkene alte Religion thun
konnte. Das römiſche Reich umfaßte die ganze gebildete Erde,
vom weſtlichen Ocean bis an den Tigris , vom Inneren von
Afrika bis an die Donau ( Pannonien , Dacien ). In dieſem
ungeheuren Reiche war bald die chriftliche Religion allgemein
verbreitet. Rom war ſchon lange Zeit nicht mehr die abſolute
Reſidenz der Kaiſer : mehrere Imperatoren vor Conſtantin hatten
in Mailand oder an anderen Orten reſidirt, und dieſer errichtete
eine zweite Reſidenz in dem alten Byzanz , welches den Namen
Conftantinopel annahm . Gleich von Anfang an beſtand hier
die Bevölferung aus Chriſten , und Conſtantin wandte Ades
auf, um ſeine neue Reſidenz der alten an Pracht gleich zu ma
den . Das Reich beſtand noch immer in ſeiner Totalität, bis
Theodofius der Große die ſchon früher auf Zeiten ftattges
habte Trennung bleibend machte und daſſelbe unter ſeine beiden
Söhne vertheilte. Die Herrſchaft des Theodoſius trug den leß
ten Schimmer des Glanzes an ſich , der die römiſche Welt vers
Dritter Abſon. Rom in der Kaiſerperiode. – Das byzantiniſche Reich. 409
herrlicht hatte. Unter ihm wurden die heidniſchen Tempel ges
ſchloſſen , die Opfer und Ceremonien abgeſchafft, und die heidnis
ſche Religion ſelbſt verboten : nach und nach iſt aber dieſe ganz
von ſelbft verſchwunden. Die heidniſihen Redner dieſer Zeit
fönnen ihr Staunen und ihre Verwunderung nicht genug über
den ungeheuren Contraſt früherer und jepiger Zeit ausdrücken .
„ Unſere Tempel find zu Gräbern geworden . Die heiligen Orte,
welche früher mit den heiligen Bildſäulen der Götter geſchmüft
waren, find jeßt mit heiligen Knochen (Reliquien der Märtyrer)
bedeckt, Menſchen , die einen ſchmählichen Tod um ihrer Verbres
chen willen erduldet haben , deren Leiber mit Striemen bedeckt
ſind, und deren Köpfe eingeſalzen worden ſind, ſind der Gegen
ſtand der Verehrung.“ Alles Verächtliche iſt erhaben , und Alles ,
was früher für hoch gehalten worden iſt , in den Staub getres
ten . Dieſen ungeheuren Contraſt ſprechen die legten Heiden mit
tiefer Rlage aus.
Das römiſche Reich wurde unter die beiden Söhne des
Theodoſtus getheilt. Der ältere, Arcadius, erhielt das morgen
ländiſche Reich : das alte Griechenland mit Thracien , Kleinaſien ,
Syrien , Aegypten ; der jüngere, Honorius, das abendländiſche :
Stalien , Afrika , Spanien , Gallien , Britannien . Unmittelbar
nach dem Tode des Theodoſius trat Verwirrung ein , und die rö
miſchen Provinzen wurden von den auswärtigen Nationen über
wältigt. Schon unter dem Kaiſer Valens hatten die Weſtgo
then , von den Hunnen bedrägt, Wohnſiße diebſeits der Donau
verlangt; ſie wurden ihnen zugeſtanden , indem ſie dafür die
Grenzprovinzen des Reichs vertheidigen ſollten . Aber ſchlecht
behandelt, empörten fie fich : Valens wurde geſchlagen und blieb
auf dem Schlachtfelde. Die ſpäteren Kaiſer ſchmeichelten der
Fürften dieſer Gothen. Alarich , der fühne Gothenfürſt, wandte
ſich gegen Italien . Stilicho, der Feldherr und Miniſter des Ho
norius, hielt ihn im Jahre 403 nach Chr. Geb . durch die
Schlacht von Pollentia auf, ſowie er ſpäter auch den Radagai
410 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
ſus, Heerführer der Alanen , Sueven und Anderer, ſchlug. Ala
rich wandte ſich nun gegen Galien und Spanien , und fehrte
dann , als Stilicho geſtürzt war , nach Italien zurück. Rom
wurde von ihm im Jahre 410 geſtürmt und geplündert. Spä
ter näherte ſich Attila mit der furchtbaren Macht der Hunnen , -
eine der rein orientaliſchen Erſcheinungen , die wie ein bloßer Ges
witterſtrom anſchwellen , Alles niederreißen , aber auch nach wes
niger Zeit ſo verflofſen ſind, daß man nur ihre Spuren in den
Ruinen , die fte zurücklaſſen , nicht aber ſte ſelbſt mehr ſieht. At
tila drang in Gallien ein ,wo ihm unter Aëtius, im Jahre 451,
bei Chalons an der Marne ein heftiger Widerſtand entgegenges
feßt wurde. Der Sieg blieb unentſchieden . Attila zog dann
ſpäter nach Italien und ſtarb im Jahre 453. Bald darauf
wurde aber Rom von den Vandalen unter Genſerich genommen
und geplündert. Zuleßt wurde die Würde der weſtrömiſchen
Kaiſer zur Farce, und ihrem leeren Titel machte endlich Ddoafer,
König der Heruler, ein Ende.
Das öftliche Kaiſerreich blieb noch lange beſtehen, und im
weſtlichen bildete ſich ein neues Volf von Chriſten aus den
hereingekommenen barbariſchen Horden . Die chriſtliche Religion
hatte fich anfangs von dem Staate entfernt gehalten , und die
Ausbildung, die ſie bekam , betraf das Dogma und die innere
Organiſation , die Disciplin u . . w . Jeßt aber war ſie herr
ſchend geworden : ſie war nun eine politiſche Macht, ein politis
ſches Motiv . . Wir ſehen nun die chriſtliche Religion in zwei
Formen : auf der einen Seite barbariſche Nationen , die in aller
Bildung von vorne anzufangen haben , die für Wiſſenſchaft,
Rechtszuſtand , Staatsverfaſſung die allererſten Elemente erſt zu
gewinnen hatten , auf der anderen Seite gebildete Völfer, im
Beſiß griechiſcher Wiſſenſchaft und feinerer morgenländiſcher Bils
dung. Die bürgerliche Geſeßgebung war bei ihnen vollendet,
wie ſie die großen römiſchen Rechtsgelehrten aufs vollſtändigſte
ausgebildet hatten , ſo daß die Sammlung , welche der Kaiſer
Dritter Abſchn . Rom in . Katſerperiode. - Das Byzantiſche Reich. 411

Juſtinian davon veranſtaltete , noch heute die Bewunderung der


Welt erregt. Hier wird die chriſtliche Religion in eine fertige
Bildung geſeßt, die nicht von ihr ausgegangen ; dort hingegen
fängt der Bildungsproceß ganz von vorne an , und zwar vom
Chriſtenthume aus.
Dieſe beiden Reiche bilden ſo einen höchſt merkwürdigen
Contraſt, worin wir das große Beiſpiel von der Nothwendigkeit
vor Augen haben , daß ein Volk im Sinne der chriſtlichen Re
ligion ſeine Bildung hervorgebracht haben müſſe. Die Ges
fchichte deß hochgebildeten oſtrömiſchen Reiches , wo , wie inan
glauben ſollte , der Geiſt des Chriſtenthums in feiner Wahrheit
ünd Reinheit aufgefaßt werden konnte , ſtellt uns eine tauſend
jährige Reihe von fortwährenden Verbrechen , Schwächen , Nies
Berträchtigkeiten und Charakterloſigkeit dar, das ſchauderhafteſte
und deswegen unintereſſanteſte Bild . Es zeigt ſich daran, wie die
chriſtliche Religion abſtract ſeyn kann, und als ſolche ſchwach iſt,
eben weil ſie ſo rein und in ſich geiſtig iſt. Sie kann auch
ganz von der Welt getrennt ſeyn , wie Ž. B . im Mönchthum ,
das in Aegypten ſeinen Anfang genommen hat. Es iſt eine
gewöhnliche Vorſtellung und Redensart , wenn man von der
Macht der Religion als ſolcher über die Gemüther der Menſchen
ſpricht, daß wenn die chriſtliche Liebe allgemein wäre, das Pri
vatleben ſowohl als das politiſche vollkommen und der Zuſtand
durchaus rechtlich und ſittlich ſeyn würde. Dergleichen fann ein
frommer Wunſch ſeyn , aber enthält nicht das Wahre; denn die
Religion iſt ein Inneres , das lediglich dem Gewiffen angehört ;
dem ſtehen alle Leidenſchaften und Begierden gegenüber, und das
mit das Herz , der Wille, die Intelligenz wahrhaft werden ,
müſſen fie Gurchgebildet werden , das Rechte muß zur Sitte,
zur Gewohnheit werden , die wirkliche Thätigkeit muß zu einem
vernünftigen Thun erhoben ſeyn, der Staat muß eine vernünf
tige Organiſation haben und dieſe macht erſt den Willen der
Individuen zu einem wirklich rechtlichen . Das Licht in das
412 Dritter Theil. Die römiſche Welt.
Dunkle ſcheinend giebt wohl Farbe, aber nicht ein vom Geifte
beſeeltes Gemälde. Das byzantiniſche Reich iſt ein großes Beis
ſpiel, wie die chriſtliche Religion bei einem gebildeten Volfe ab
ſtract bleiben kann , wenn nicht die ganze Organiſation des
Staates und der Geſeke nach dem Principe derſelben reconſtruirt
wird . Das Chriſtenthum war zu Byzanz in die Hände des
Abſchaums und des ungebändigten Pöbels gelegt. Die pöbel
hafte Wildheit einerſeits und dann die höfiſche Niederträchtigkeit
auf der anderen Seite legitimirt ſich durch die Religion und ents
weiht dieſe zu etwas Scheußlichem . Hinſichtlich der Religion
waren zwei Intereſſen vorwiegend: zuerſt die Beſtimmung des
Lehrbegriffs und dann die Befeßung der geiſtlichen Aemter. Die
Beſtimmung des Lehrbegriffs fiel den Concilien und Gemeindes
vorſtehern anheim , aber das Princip der chriſtlichen Religion ift
Freiheit, ſubjective Einſicht : darum lagen die Streitigkeiten eben
ſo in den Händen des Haufens, es entwickelten fich heftige
Bürgerkriege, und überall traf man auf Scenen von Mord ,
Brand und Raub , um chriſtlicher Dogmen willen . Eine be
rühmte Abweichung in dem Dogma des Toisáylov war zum
Beiſpiel folgende. Die Worte lauten : „ Heilig, heilig, heilig iſt
der Herr Gott Zebaoth.“ Dazu machte nun eine Partei zur
Ehre Chriſti den Zuſaß : „ der für uns gefreuzigt worden,“ eine
andere wollte dieſen nicht gelten laſſen , und es kam zu blutigen
Kämpfen . In dem Streit, ob Chriſtus duooúolos oder óuoloú
olos ſey , das heißt von gleicher oder von ähnlicher Beſchaffen
heit mit Gott , hat der eine Buchſtabe i vielen Tauſenden das
Leben gekoſtet. Berühmt find beſonders die Bilderſtreitigkeiten,bei
denen es oft geſchah, daß der Kaiſer für die Bilder Partei nahm
und der Patriarch dagegen , oder auch umgekehrt. Ströme von
Blut ſind deßhalb vergoſſen worden . Bei Gregor von Nazianz
heißt es irgendwo : „ Dieſe Stadt (Conſtantinopel) iſt voll von
Handwerkern und Sclaven , welche alle tiefe Theologen ſind, und
in ihren Werkſtätten und auf den Straßen predigen . Wenn ihr
Dritter Abſchn . Rom in 8. Kaiſerperiode. - Das byzantiniſche Reich. 413

von einem Manne ein Silberſtück gewechſelt haben wollt, ſo


belehrt er euch , wodurch der Vater vom Sohne unterſthieden
ſey : wenn ihr nach dem Preis eines Laibs Brod fragt, ſo wird
euch zur Antwort , daß der Sohn geringer fey als der Vater,
und wenn ihr fragt, ob das Brod fertig, ſo erwidert man euch,
daß der Sohn aus Nichts geworden .“ Die gdee des Geiſtes ,
welche im Dogma enthalten iſt, wurde ſo völlig geiſtlos behans
delt. Die Beſeßung des Amtes der Patriarchen zu Conſtanti
nopel, Antiochien und Alerandrien , ſowie die Eiferſucht und Ehr
ſucht dieſer Patriarchen untereinander verurſachte ebenfalls viele
Bürgerfriege. Zu allen dieſen religiöſen Streitigkeiten fam noch
das Intereſſe an den Gladiatoren und ihren Kämpfen , an den
Parteien der blauen oder der grünen Farbe, welches ebenfalls zu
den blutigſten Kämpfen führte, ein Zeichen der furchtbarften Ent
würdigung , weil dadurch bewieſen wird , daß aller Sinn für
Wichtiges und Höheres verloren iſt, und daß der Wahnſinn re
ligiöſer Leidenſchaftlichkeit ſich ſehr gut mit der Schauluſt an
unkünſtleriſchen und grauſamen Spielen verträgt.
Die Hauptpunkte der chriſtlichen Religion wurden endlich
nach und nach durch die Concilien feſtgeſeßt. Die Chriſten des
byzantiſchen Reiches blieben in dem Traum des Aberglaubens
verſunken , im blinden Gehorſam gegen die Patriarchen und die
Geiſtlichkeit verharrend. Der ſchon oben erwähnte Bilderdienſt
veranlaßte die heftigſten Kämpfe und Stürme. Der tapfere
Kaiſer Leo der Iſaurier beſonders verfolgte die Bilder mit der
größten Hartnädigkeit , und der Bilderdienſt wurde im J. 754
durch ein Concil für eine Erfindung des Teufels erklärt.
Nichtsdeſtoweniger ließ ihn die Kaiſerin Jrene im Jahre 787
durch ein nicäiſches Concilium wieder einführen , und die Raiſe
rin Theodora ſeßte ihn 842 definitiv durch, indem ſie mit ener
giſchen Strafen gegen die Bilderfeinde verfuhr. Der ikonoklaſti
(che Patriarch befam zweihundert Prügel, die Biſchöfe zitterten ,
die Mönce frohlodten , und das Andenken an dieſe Drthodorie
414 Dritter Theil. Die römiſde Welt.

wurde durch ein kirchliches Feſt jährlich gefeiert. Das Abend:


land verwarf dagegen noch im Jahre 794 den Bilderdienſt in
der Kirchenverſammlung zu Frankfurt, und indem man die Bil
der zwar beibehielt, tadelte man doch auf's jchärfſte den Aber
glauben der Griechen . Erſt im ſpäteren Mittelalter fand der
Bilderdienſt durch ſtille und langſame Fortſchritte allgemeinen
Eingang.
Das byzantiniſche Kaiſerthum war ſo durch alle Leiden
ſchaften in ſich zerriſſen , und von außen her drängten die Bar
baren , denen die Kaiſer wenig entgegenzuſtellen hatten . Das
Reich war in einem fortdauernden Zuſtand von Unſicherheit, und
ſtellt im Ganzen ein efelhaftes Bild der Schwäche dar, worin elende,
ja abſurde Leidenſchaften nichts Großes an Gedanken , Thaten
und Individuen auffommen laſſen . Aufruhr der Feldheren ,
Sturz der Kaiſer durch dieſelben oder durch Intriguen der Hof
leute, Erinordung oder Vergiftung der Kaiſer durch ihre eigenen
Gemahlinnen und Söhne, Weiber, allen Lüften und Schandtha
ten ſich hingebend , - das ſind die Scenen , welche die Ge.
ſchichte uns hier vorüberführt, bis endlich das morſche Gebäude
des oſtrömiſchen Reiches von den kräftigen Türken gegen die
Mitte des funfzehnten Jahrhunderts (1453) zertrümmert ward.
Vierter Theil.
Die germaniſche Welt.

Der germaniſche Geiſt iſt der Geiſt der neuen Welt, deren
Zweck die Realiſirung der abſoluten Wahrheit als der unendli
chen Selbſtbeſtimmung der Freiheit iſt, der Freiheit,dieihreabſolute
Form ſelbſt zum Inhalte hat. Die Beſtimmung der germaniſchen
Völfer iſt, Träger des chriſtlichen Princips abzugeben . Der Grund
faß der geiſtigen Freiheit, das Princip der Verſöhnung , wurde
in die noch unbefangenen ungebildeten Gemüther jener Völfer ges
legt, und es wurde dieſen aufgegeben , im Dienſte des Weltgei
ſtes den Begriff der wahrhaften Freiheit nicht nur zur religiöſen
Subſtanz zu haben , ſondern auch in der Welt aus dem ſubjec
tiven Selbſtbewußtſenn frei zu produciren .
Wenn wir nun zur Eintheilung der germaniſchen Welt in
ihre Perioden übergehen , ſo iſt ſogleich zu bemerken , daß fie
nicht wie bei Griechen und Römern durch die doppelte Beziehung
nach außen , rückwärts zu dem früheren welthiſtoriſchen Volfe und
vorwärts zu dem ſpätern , gemacht werden kann . Die Geſchichte
zeigt , daß der Gang der Entwicelung bei dieſen Völkern ein
ganz verſchiedener war. Die Griechen und Römer waren ge
reift in fich , als ſie ſich nach außen wendeten . Ilmgekehrt ha
ben die Germanen damit angefangen , aus ſich herauszuſtrömen ,
416 Vierter Theil. Die germaniſde Welt.

die Welt zu überſchwemmen und die in fich morſchen und aus


gehöhlten Staaten der gebildeten Völfer fich zu unterwerfen .
Dann erſt hat ihre Entwickelung begonnen , angezündet an einer
fremden Cultur, fremden Religion, Staatsbildung und Geſepges
bung. Sie haben ſich durch das Aufnehmen und Ueberwinden
des Fremden in fich gebildet, und ihre Geſchichte iſt vielmehr ein
Inſichgehen und Beziehen auf ſich ſelbſt. Allerdings hat auch
die Abendwelt in den Kreuzzügen , in der Entdeckung und Erobes
rung von Amerika ſich außerhalb begeben , aber ſie kam da nicht
in Berührung mit einem ihr vorangegangenen welthiſtoriſchen
Volke, ſie verdrängte da nicht ein Princip , das bisher die Welt
beherrſcht hatte. Die Beziehung nach außen begleitet hier nur
die Geſchichte, bringt nicht weſentliche Veränderungen in der Na
tur der Zuſtände mit ſich , ſondern trägt vielmehr das Gepräge
der inneren Evolutionen an ſich . – Das Verhältniß nach au
ßen iſt alſo ein ganz anderes als bei den Griechen und Römern .
Denn die chriſtliche Welt iſt die Welt der Vollendung ; das
Princip iſt erfüllt und damit iſt das Ende der Tage vol ge
worden : die Idee fann im Chriſtenthum nichts Unbefriedigtes
mehr ſehen . Die Kirche iſt zwar einerſeits für die Individuen
Vorbereitung für die Ewigkeit als Zukunft, inſofern die einzelnen
Subjecte als ſolche immer noch in der Particularität ſtehen ;
aber die Kirche hat auch den Geiſt Gottes in ſich gegenwärtig ,
ſie vergiebt dem Sünder und iſt das gegenwärtige Himmelreich.
So hat denn die chriftliche Welt fein abſolutes Außen mehr,
ſondern nur ein relatives , das an ſich überwunden iſt, und in
Anſehung deſſen es nur darum zu thun iſt, auch zur Erſchei
nung zu bringen , daß es überwunden iſt. Hieraus folgt, daß
die Beziehung nach außen nicht mehr das Beſtimmende in Be
treff der Epochen der modernen Welt iſt. Es iſt alſo ein an
deres Princip der Eintheilung aufzuſuchen .
Die germaniſche Welt hat die römiſche Bildung und Reli
gion als fertig aufgenommen . Es war wohl eine deutſche und
Vierter Theil. Die germaniſche Welt. 417
nordiſche Religion vorhanden , aber ſie hatte auf keine Weiſe feſte
Wurzeln im Geiſte gefaßt ; Tacitus nennt daher die Germanen :
Securi adversus Deos. Die chriſtliche Religion nun , welche
fie annahmen , war durdy die Concilien und Kirchenväter, welche
die ganze Bildung, insbeſondere die Philoſophie der griechiſchen
und römiſchen Welt beſaßen , ein fertiges dogmatiſches Syſtem
geworden , ſo wie die Kirche eine ganz ausgebildete Hierarchie.
Der eigenen Volksſprache der Germanen ſeşte ebenſo die Kirche
eine ganz ausgebildete, die lateiniſche, entgegen . In Kunſt und
Philoſophie war dieſelbe Fremdartigkeit. Was an der alerans
driniſchen und formell: ariſtoteliſchen Philoſophie in den Schrif
ten des Boëthius und ſonſt noch aufbewahrt war, das iſt nun
das Bleibende auf viele Jahrhunderte für das Abendland ge
worden . Auch in der Form der weltlichen Herrſchaft war der:
ſelbe Zuſammenhang: gothiſche und andere Fürſten ließen ſich
Patricier von Rom nennen , und ſpäter wurde das römiſche Rai
ſerthum wieder hergeſtellt. So ſcheint die germaniſche Welt äußer
lich nur eine Fortſeßung der römiſchen zu ſeyn. Aber es lebte
in ihr ein vollfommen neuer Geiſt, aus welchem ſich nun die
Welt regeneriren mußte, nämlich der freie Geiſt , der auf fich
ſelbſt beruht, der abſolute Eigenſinn der Subjectivität. Dieſer
Innigkeit ſteht der Inhalt als abſolutes Andersſeyn gegenüber.
Der Unterſchied und Gegenfaß , der ſich aus dieſen Principien
entwickelt , iſt der von Kirche und Staat. Auf der einen
Seite bildet ſich die Kirche aus , als das Daſeyn der abſoluten
Wahrheit; denn ſie iſt das Bewußtſeyn dieſer Wahrheit und
zugleich die Wirkſamkeit, daß das Subject ihr gemäß werde.
Auf der andern Seite ſteht das weltliche Bewußtſeyn , welches mit
ſeinen Zwecken in der Welt der Endlichkeit ſteht - der Staat,
vom Gemüth , der Treue, der Subjectivität überhaupt ausgehend.
Die europäiſche Geſchichte iſt die Darſtellung der Entwickelung
eines jeden dieſer Principien für ſich, in Kirche und Staat, dann
des Gegenſaßes von beiden nicht nur gegen einander, ſondern in
Philoſophie 6. Geſchiøte. 3. Aufl. 27
418 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
jedem derſelben , da jedes ſelbſt die Totalität iſt, und endlich der
Verſöhnung dieſes Gegenſaßes.
Demnach ſind nun die drei Perioden dieſer Welt zu be
ſchreiben.
Die erſte beginnt mit dem Auftreten der germaniſchen Na
tionen im römiſchen Reiche, mit der erſten Entwicelung dieſer
Völfer , welche ſich als chriſtliche nun in den Beſit des Abend
landes geſeßt haben . Ihre Erſcheinung bietet bei der Wildheit
und Unbefangenheit dieſer Völker kein großes Intereſſe dar. Es
tritt dann die chriſtliche Weltals Chriſtenthum auf, als EineMaſſe,
woran das Geiſtliche und das Weltliche nur verſchiedene Seiten
ſind. Dieſe Epoche geht bis auf Karl den Großen .
Die zweite Periode entwickelt die beiden Seiten bis zur
conſequenten Selbſtſtändigkeit und zum Gegenſaße, - der Kirche
für ſich als Theofratie und des Staates für ſich als Feudal
monarchie. Karl der Große hatte ſich mit dem heiligen Stuhl
gegen die Longobarden und die Adelsparteien in Rom verbun
den : es kam ſo eine Verbindung der geiſtlichen und weltlichen
Macht zu Stande , und es ſollte nun , nachdem die Verſöhnung
volbracht war, ſich ein Himmelreich auf Erden aufthun . Aber
gerade in dieſer Zeit erſcheint uns ſtatt des geiſtigen Himmel
reichs die Innerlichkeit des chriſtlichen Princips ſchlechthin als
nach außen gewendet, und außer ſich gekommen . Die chriſtliche
Freiheit iſt zum Gegentheil ihrer ſelbſt verkehrt , ſowohl in reli:
giöſer als in weltlicher Hinſicht , einerſeits zur härteſten Knecht
ſchaft, andererſeits zur unſittlichſten Ausſchweifung, und zur Roh
heit aller Leidenſchaften . In dieſer Periode ſind beſonders zwei
Geſichtspunkte hervorzuheben : der eine iſt die Bildung der Staa
ten , welche ſich in einer Unterordnung des Gehorſams darſtellen ,
ſo daß Alles ein feſtes particulares Recht wird, ohne den Sinn
der Allgemeinheit. Dieſe Unterordnung des Gehorſams erſcheint
im Feudalſyſtem . Der zweite Geſichtspunkt iſt der Gegenſaß
von Kirche und Staat. Dieſer Gegenſaß iſt nur darum vor,
Vierter Theil. Die germaniſche Welt. 419

handen , weil die Kirche, welche das Heilige zu verwalten hatte,


ſelbſt zu aller Weltlichkeit herabſinkt , und die Weltlichkeit nur
um ſo verabſcheuungswürdiger erſcheint, als alle Leidenſchaften
fich die Berechtigung der Religion geben .
Das Ende der zweiten und zugleich den Anfang der drit
ten Periode macht die Zeit der Regierung Karls des Fünften ,
in der erſten Hälfte des ſechszehnten Jahrhunderts . Es er
ſcheint nun die Weltlichkeit als in ſich zum Bewußtſeyn fom
mend , daß auch ſie ein Recht habe in der Sittlichkeit, Recht
lichkeit, Rechtſchaffenheit und Thätigkeit des Menſchen . Es tritt
das Bewußtſeyn der Berechtigung ſeiner ſelbſt durch die Wieder
herſtellung der chriſtlichen Freiheit ein . Das chriſtliche Princip
hat nun die fürchterliche Zucht der Bildung durchgemacht, und
durch die Reformation wird ihm ſeine Wahrheit und Wirklich
keit zuerſt gegeben . Dieſe dritte Periode der germaniſchen Welt
geht von der Reformation bis auf unſere Zeiten . Das Princip
des freien Geiſtes iſt hier zum Panier der Welt gemacht , und
aus dieſem Principe entwideln ſich die allgemeinen Grundfäße
der Vernunft. Das formelle Denken , der Verſtand war ſchon
ausgebildet worden , aber ſeinen wahren Gehalt erhielt das Dens
ken erſt durch die Reformation , durch das wiederauflebende con
crete Bewußtſeyn des freien Geiſtes. Der Gedanke fing erft
von daher an ſeine Bildung zu bekommen : aus ihm heraus wurs
den Grundfäße feſtgeſtellt, aus welchen die Staatsverfaſſung re
conſtruirt werden mußte. Das Staatsleben ſoll nun mit Be
wußtſeyn , der Vernunft gemäß eingerichtet werden . Sitte, Her
kommen gilt nicht mehr, die verſchiedenen Rechte müſſen ſich le
gitimiren als auf vernünftigen Grundfäßen beruhend. So kommt
die Freiheit des Geiſtes erſt zur Realität.
Wir können dieſe Perioden als Reiche des Vaters , des
Sohnes und des Geiſtes unterſcheiden . Das Reich des Vaters
iſt die ſubſtantielle, ungeſchiedene Maffe , in bloßer Veränderung,
wie die Herrſchaft Saturn 's, der feine Kinder verſchlingt. Das
27 * .
420 Vierter Thcil. Die germaniſche Welt.

Reich des Sohnes iſt die Erſcheinung Gottes nur in Beziehung


auf die weltliche Eriſteng, auf ſie als auf ein Fremdes ſcheinend.
Das Reich des Geiſtes iſt die Verſöhnung.
Es laſſen ſich dieſe Epochen auch mit den früheren Welt
reichen vergleichen ; inſofern nämlich das germaniſche Reich das
Reich der Totalität iſt, ſehen wir in demſelben die beſtimmte
Wiederholung der früheren Epochen. Karl's des Großen
Zeit iſt mit dem Perſer-Reiche zu vergleichen ; es iſt die Periode
der ſubſtantiellen Einheit,wodieſe Einheit auf dem Innern ,dem Ge
müthe beruht, und im Geiſtigen und Weltlichen noch unbefangen iſt.
Der griechiſchen Welt und ihrer nur ideellen Einheit entſpricht
die Zeit vor Karl dem Fünften , wo die reale Einheit nicht mehr
vorhanden iſt, weil alle Particularitäten feſt geworden ſind in
den Privilegien und beſonderen Rechten . Wie im Inneren der
Staaten die verſchiedenen Stände in ihren beſonderen Berechti
gungen iſolirt ſind, ſo ſtehen auch die beſonderen Staaten nach
außen nur in äußerlicher Beziehung zu einander.Es tritteinediplo ;
matiſche Politik ein ,welche, im Intereſſe des Gleichgewichts von
Europa, die Staaten mit und gegen einanderverbündet. Esiſtdie
Zeit,wodieWelt ſich klarwird (Entdedung von Amerika ). Auchdas
Bewußtſeyn wird nun klar innerhalb der überſinnlichen Welt und
über ſie : die ſubſtantielle reale Religion bringt ſich zur finnlichen
Klarheit im Elemente des Sinnlichen (die chriſtliche Kunſt. in
Papſt Leo's Zeitalter), und wird fich auch flar im Elemente der
innerſten Wahrheit. - Man kann dieſe Zeit vergleichen mit der
des Perifles. Das in ſich Gehen des Geiſtes beginnt (Sokras
tes — Luther ); doch Perifles fehlt in dieſer Epoche. Karl der
Fünfte hat die ungeheure Möglichkeit an äußeren Mitteln und
ſcheint in ſeiner Macht abſolut, aber ihm fehlt der innere Geiſt
des Periflen und damit das abſolute Mittel freier Herrſchaft.
Dieß iſt die Epoche des ſich ſelbſt klar werdenden Geiſtes in der
realen Trennung; ießt kommen die Unterſchiede der germaniſchen
Welt hervor und zeigen ſich weſentlich.
Vierter Theil. Die germaniſche Welt. 421

Die dritte Epoche iſt zu vergleichen mitder römiſchen Welt.


Die Einheit des Algemeinen iſt in ihr ebenſo vorhanden , aber
nicht als die Einheit der abſtracten Weltherrſchaft, ſondern als
die Hegemonie des felbſtbewußten Gedankens. Verſtändiger
Zwed gilt ießt, und Privilegien und Particularitäten verſchmel
zen vor dem allgemeinen Zweck des Staats. Die Völfer wollen
das Recht an und für,fich ; nicht bloß die beſonderen Tractate
gelten , ſondern zugleich Grundfäße machen den Inhalt der Di
plomatik aug. Ebenſo kann es die Religion nicht aushalten
ohne den Gedanken , und geht theils zum Begriff fort , theils
wird fie , durch -den Gedanken ſelbſt genöthigt, zum intenſiven
Glauben , oder auch aus Verzweiflung über den Gedanken , in
dem fie ganz von ihm zurüfflieht, zum Aberglauben .

Erſter Abſchnitt.
Die Elemente der chriſtlich germaniſchen Welt.
Zweites Capitel.
Die Völkerwanderungen .
Ueber dieſe erſte Periode iſt im Ganzen wenig zu ſagen ,
denn ſie bietet uns geringeren Stoff zum Nachdenken dar. Wir
wollen die Germanen nicht in ihre Wälder zurüdverfolgen , noch
den Urſprung der Völkerwanderung aufſuchen . Fene Wälder
haben immer als die Wohnſiße freier Völfer gegolten , und Ta
citus hat ſein berühmtes Gemälde Germaniens mit einer ges
wiffen Liebe und Sehnſucht, im Gegenſaß zu der Verdorbenheit
und Künſtlichkeit der Welt entworfen , der er ſelbſt angehörte.
Wir können aber deswegen einen ſolchen Zuſtand der Wildheit
nicht für einen hohen halten , und etwa in den Jrrthum Rouf
ſeau'$ verfallen , der den Zuſtand der Wilden Amerika's als ei
422 Bierter Theil. Die germaniſche Welt.
nen ſolchen vorgeſtellt hat, in welchem der Menſch im Beſitz der
wahren Freiheit ſen . Allerdings kennt der Wilde ungeheuer viel
Unglück und Schmerz gar nicht, aber das iſt nur negativ , wäh
rend die Freiheit weſentlich affirmativ ſeyn muß. Die Güter
der affirmativen Freiheit find erſt die Güter des höchſten Bes
wußtſeyns.
Jedes Individuum beſteht bei den Germanen als ein freies
für ſich, und doch iſt eine gewiſſe Gemeinſamkeit vorhanden , wenn
auch noch nichtein politiſcher Zuſtand. Wir ſehen dann die Germanen
das römiſche Reich überſchwemmen . Theils haben fte die frucht
baren Gegenden , theils der Drang, fich andere Wohnfiße zu fu
chen angereizt. Troß den Kriegen , in welchen ſie mit den Rö
mern ſich befinden , nehmen doch Einzelne und ganze Stämme
Kriegsdienſte bei denſelben : ſchon mit Cäfar focht germaniſche
Reiterei auf den pharſaliſchen Feldern . Im Kriegsdienſt und
Verkehr mit gebildeten Völfern lernten ſie die Güter deſſelben
kennen , Güter für den Genuß und die Bequemlichkeit des Lebens,
aber vornehmlich auch Güter der geiſtigen Bildung. Bei den
ſpäteren Auswanderungen blieben manche Nationen , einige ganz,
andere zum Theil, in ihrem Vaterlande zurück.
Wir haben demnach unter den germaniſchen Nationen ſolche
zu unterſcheiden , welche in ihren alten Wohnſißen geblieben ſind,
und ſolche, welche ſich über das römiſche Reich ausbreiteten , und
ſich mit den unterworfenen Nationen vermiſcht haben . Da die
Germanen bei den Zügen nach außen ſich den Anführern auf
freie Weiſe anſchloſſen , fo zeigt ſich das eigenthümliche Ver
hältniß , daß die germaniſchen Völker fich gleichſam verdoppeln
(Oſt und Weſtgothen ; Gothen auf allen Punkten der Welt
und in ihrem Vaterlande ; Scandinavier, Normannen in Norwe
gen und dann als Ritter in der Welt). Wie verſchieden die
Schickſale dieſer Völker auch ſind , ſie hatten doch das gemein
ſame Ziel fich Beſiß zu verſchaffen und ſich dem Staate entges
gen zu bilden . Dieſes Fortbilden kommt allen gleichmäßig zu .
Erſter Abſchn . Elem . der chriſtl. german. Welt. - Völkerwanderungen . 423

Im Weſten , in Spanien und Portugall, laſſen ſich zuerſt die


Sueven und Vandalen nieder , werden aber dann von den Weſt
gothen unterworfen und verdrängt. Es bildete ſich ein großes
weſtgothiſches Reich , zu dem Spanien , Portugall und ein
Theil von Südfrankreich gehörte. Das zweite Reich iſt das
der Franken , mit welchem gemeinſamen Namen die iſtaevoni
ſchen Stämme zwiſchen Rhein und Weſer ſeit dem Ende des
zweiten Jahrhunderts genannt werden ; fie fepten fich zwiſchen
Moſel und Schelde feft , und drangen unter ihrem Heerführer
Chlodwig in Gallien bis an die Loire vor. Derſelbe unterwarf
ſich dann noch die Franken am Niederrhein und die Alemannen
am Oberrhein , und ſeine Söhne die Thüringer und Burgunder.
Das dritte Reich iſt das der Oft gothen in Italien , das von
Theodorich geſtiftet wurde, und unter dieſem beſonders blühte.
Die gelehrten Römer Caſſiodorus und Boëthius waren die
oberſten Staatsbeamten des Theodorich. Aber dieſes oſtgothiſche
Reich beſtand nicht lange: es wurde von den Byzantinern unter
Beliſarius und Narſes zerſtört; in der zweiten Hälfte (568) des ſechs
ten Jahrhunderts rückten dann die Longobarden in Italien ein
und herrſchten zwei Jahrhunderte, bis auch dieſes Reich von Karl
dem Großen dem fränkiſchen Scepter unterworfen wurde. Spä
ter ſepten ſich noch die Normannen in Unteritalien feſt. Dann
find die Burgunder zu erwähnen , die von den Franken be
zwungen wurden , und deren Reich eine Art von Scheidewand
zwiſchen Frankreich und Deutſchland bildet. Nach Britannien
ſind die Anglen und Sachſen gezogen und haben ſich daf
ſelbe unterworfen . Später kommen auch hier die Normannen
herein .
Dieſe Länder , welche früher einen Theil des römiſchen
Reichs bilden , haben ſo das Schickſal gehabt, von den Barba
ren unterworfen zu werden . Augenblicklich ſtellte ſich ein großer
Contraſt zwiſchen den ſchon gebildeten Einwohnern jener Länder
und den Siegern auf, aber dieſer Contraſt endete in der Zwit
424 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

ternatur der nunmehr gebildeten neuen Nationen . Das ganze


geiſtige Daſeyn ſolcher Staaten enthält eine Getheiltheit in fich,
im Innerſten zugleich eine Aeußerlichkeit. Dieſer Unterſchied fällt
äußerlich ſogleich durch die Sprache auf, welche eine Ineinan
derarbeitung des ſelbſt ſchon mit dem Einheimiſchen verknüpften
Altrömiſchen und des Gerinaniſchen iſt. Wir können dieſe Völs
ker als romaniſche zuſammenſtellen und begreifen darunter Ita
lien , Spanien mit Portugal und Frankreich . Dieſen gegenüber
ſtehen drei andere,mehr oder weniger deutſchredende Nationen ,
welche ſich in dem Einen Ton der ungebrochenen Innigkeit ges
halten haben , nämlich Deutſchland ſelbſt, Scandinavien und
England, welches leßtere zwar dem römiſchen Reiche einverleibt,
doch von römiſcher Bildung inehr nur am Saum , wie Deutſch
land ſelbſt, berührt und durch Angeln und Sachſen wieder ger
maniſirt wurde. Das eigentliche Deutſchland erhielt ſich
rein von aller Vermiſchung, nur der ſüdliche und weſtliche Saum
an der Donau und dem Rhein war den Römern unterworfen
geweſen : der Theil zwiſchen Rhein und Elbe blieb durchaus
volksthümlich . Dieſer Theil von Deutſchland wurde von mehres
ren Völkerſchaften bewohnt. Außer den ripuariſchen und den
durch Chlodwig in den Maingegenden angeſiedelten Franken find
noch vier Hauptſtämme, die Alemannen , die Bojoarier, die Thü
ringer und die Sachſen zu nennen . Die Scandinavier ec
hielten ſich ebenſo in ihrem Vaterlande rein von aller Vermis
ſchung : fie machten ſich dann aber auch unter dem Namen der
Normannen durch ihre Heereszüge berühmt. Sie dehnten ihre
Ritterzüge faſt über alle Theile von Europa aus: ein Theil
kam nach Rußland und gründete dort das ruſſiſche Reich , ein
Theil ließ ſich in Nordfrankreich und Britannien nieder ; ein
anderer ſtiftete Fürſtenthümer in Unteritalien und Sicilien .
So hat ein Theil der Scandinavier außerhalb Staaten bea
gründet, ein anderer hat ſeine Nationalität am väterlichen Heerde
bewahrt.
Erſter Abſchn . Elem . D. chriſtl. german. Welt. -- Völkerwanderungen . 425
Wir finden nun außerdem im Often von Europa die große
flaviſche Nation , deren Wohnfiße ſich im Weſten der Elbe ent
lang bis an die Donau erſtrecten ; zwiſchen ſie hinein haben fich
dann die Magyaren (Ungarn ) gelagert; in Moldau und Wal
lachei und dem nördlichen Griechenland find die Bulgaren , Sers
vier und Albaneſen ebenſo aſiatiſchen Urſprungs und in den
Stößen und Gegenſtößen der Völkerſchaften hier als gebrochene
barbariſche Refte geblieben . Es haben zwar dieſe Völkerſchaften
Königreiche gebildet und muthige Kämpfe mit den verſchiedenen
Nationen beſtanden ; ſie haben bisweilen als Vortruppen , als ein
Mittelweſen in den Kampf des chriftlichen Europa und unchriſt
lichen Afien eingegriffen , die Polen haben fogar, das belagerte
Wien von den Türken befreit, und ein Theil der Slaven iſt der
weſtlichen Vernunft erobert worden . Dennoch aber bleibt dieſe
ganze Maſſe aus unſrer Betrachtung ausgeſchloſſen , weil ſie bis
her nicht als ein ſelbſtſtändiges Moment in der Reihe der Ges
ſtaltungen der Vernunft in der Welt aufgetreten iſt. Db dies
in der Folge geſchehen werde, geht uns hier nicht an ; denn in
der Geſchichte haben wir es mit der Vergangenheit zu thun .
Die germaniſche Nation hatte die Empfindung der natür
lichen Totalität in ſich , und wir können dieß Gemüth nennen .
Gemüth iſt dieſe eingehüllte, unbeſtimmte Totalität des Geiſtes ,
in Beziehung auf den Willen , worin der Menſch auf ebenſo all
gemeine und unbeſtimmte Weiſe die Befriedigung in fich hat.
Charakter iſt eine beſtimmte Form des Widens und des Inter
eſſes , die ſich geltend macht ; die Gemüthlichkeit aber hat keinen
beſtimmten Zweck , des Reichthums, der Ehre und dergleichen ,
betrifft überhaupt nicht einen objectiven Zuſtand, ſondern den
ganzen Zuſtand , als der allgemeine Genuß ſeiner felbft Es ift
darin alſo nur der Wille überhaupt als formeller Wille und die
rein ſubjective Freiheit als Eigenſinn. Für die Gemüthlichkeit
wird jede Beſonderheit wichtig , weil das Gemüth fich ganz in
jede hineinlegt; weil es ihm aber wiederum nicht um die Bes
426 Vierter Theil. Die germaniſ.be Welt.
ſtimmtheit des beſonderen Zweckes als ſolche zu thun ift , ſo
kommt es darin auch nicht zum Iſoliren in gewaltthätigen, böſen
Leidenſchaften , nicht zum Böſen überhaupt. Im Gemüth iſt dieſe
Trennung nicht, ſondern es ſteht im Ganzen aus wie ein Wohl
meinen. Charakter iſt das Gegentheil davon.
Dieß iſt das abſtracte Princip der germaniſchen Völker und
die ſubjective Seite gegen die objective im Chriſtenthum . Das
Gemüth hat keinen beſonderen Inhalt; im Chriſtenthum iſt es
dagegen gerade um die Sache, um den Inhalt als Object zu
thun . Aber im Gemüth liegt eben dieß Befriedigtſeynwollen auf
eine ganz allgemeine Weiſe, und dieß iſt ebendaſſelbe , was fich
als Inhalt im Princip des Chriſtenthums ergeben hat. Das
Unbeſtimmte als Subſtanz, objectiv , iſt das ganz Allgemeine,
Gott; daß aber in Gott der einzelne Wille zu Onaden aufge
nommen werde, iſt das andere Moment in der chriſtlichen , con
creten Einheit. Das abſolute Augemeine iſt es , das alle Be
ſtimmungen in fich enthält und inſofern unbeſtimmt iſt; das Sub
ject iſt das ſchlechthin Beſtimmte; beide ſind identiſch. Dieß ift
zuerſt als Inhalt im Chriſtenthum aufgewieſen worden , jeßt aber
auf ſubjective Weiſe als Gemüth . Das Subject muß nun auch
objective Form gewinnen , d. h. fich zum Gegenſtande entfalten .
Es iſt Bedürfniß , daß für die unbeſtimmt empfindende Weiſe des
Gemüths das Abſolute auch als Object werde, damit der Menſch
auch zum Bewußtſeyn ſeiner Einheit mit dieſem Dhjecte gelange.
Dazu gehört die Reinigung des Subjectes an ihm , daß es wirk
liches , concretes Subject werde, daß es als weltliches Subject
allgemeine Intereſſen gewinne, daß es nach allgemeinen Zwecken
handle , vom Gefeße wiſſe und darin befriedigtwerde. – So ift
es denn alſo , daß dieſe beiden Principien einander entſprechen ,
und daß die germaniſchen Völker, wie geſagt wurde, die Fähig
keit in fich haben , die Träger des höheren Princips des Geiſtes
zu ſeyn. –
Das Weitere iſt nun , daß wir das germaniſche Princip in
Erſter Abſon. Elem . B. duriſtl. german.Welt. — Völkerwanderungen. 427
ſeiner unmittelbaren Eriſtenz betrachten , d . h . die erſten geſchicht
lichen Zuſtände der germaniſchen Nationen . Die Gemüthlichkeit
iſt in ihrer erſten Erſcheinung ganz abſtract, ohne Entwicelung,
ohne beſonderen Inhalt; denn die ſubſtantiellen Zwecke liegen nicht
im Gemüthe als ſolchem . Wo das Gemüthliche die ganze Form
des Zuſtandes iſt, da erſcheint es als ein Charakterloſes und
Stumpfes . Gemüth ganz abſtract iſt Stumpfheit, und ſo ſehen
wir im urſprünglichen Zuſtande der Germanen eine barba
riſche Stumpfheit , Verworrenheit und Unbeſtimmtheit in ſich .
Von der Religion der Germanen wiſſen wir wenig. Die Drui
den waren in Gallien zu Hauſe und ſind von den Römern aus
gerottet worden . Es hat zwar eine eigenthümliche nordiſche My
thologie gegeben ; wie wenig tief aber die Religion der Deutſchen
in den Gemüthern wurzelte , iſt ſchon bemerkt worden , und man
ſteht es auch daraus, daß die Deutſchen ſich leicht zur chriftlichen
Religion befehren ließen . Zwar haben die Sachſen Karl dem
Großen bedeutenden Widerſtand geleiſtet , aber dieſer Kampf war
nicht ſowohl gegen die Religion , als gegen die Unterdrückung
überhaupt gerichtet. Die Religion hatte bei ihnen nichts Tiefes ,
ebenſowenig die Rechtsbegriffe. Der Mord iſt nicht als Ver
brechen angeſehen und beſtraft worden ; erwurde mit einer Geld
buße geſühnt. Das zeigt einen Mangel an Tiefe der Empfina
dung in dem Nichtentzweitſeyn des Gemüthes , welches es nur
als eine Beeinträchtigung der Gemeinde anſieht , wenn einer ge
tödtet wird , und als weiter Nichts . Die Blutrache der Araber
beruht auf der Empfindung , daß die Ehre der Famlie verlegt
iſt. Bei den Germanen war die Gemeinde nicht Herr über das
Individuum ; denn das Element der Freiheit iſt das Erſte bei
ihrer Vereinigung zu einem geſellſchaftlichen Verhältniß. Die
alten Deutſchen ſind berühmt durch ihre Freiheitsliebe und die
Römer haben ſie gleich Anfangs ſo ganz richtig aufgefaßt. Die
Freiheit in Deutſchland iſt bis auf die neueſten Zeiten das Pa
nier geweſen , und ſelbſt der Fürſtenbund unter Friedrich II. war
428 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
aus Freiheitsliebe entſtanden . Dieſes Element der Freiheit, ins
dem es zu einem geſellſchaftlichen Verhältniffe übergeht, kann
nichts feßen als Volksgemeinden , ſo daß dieſe Gemeinden das
Ganze ausmachen , und jedes Mitglied der Gemeinde, als ſol
ches , ein freier Mann iſt. Der Todſchlag konnte durch eine
Geldbuße abgethan werden , weil der freie Mann als beſtehend
galt und blieb, er mochte gethan haben , was er wollte. Dieſes
abſolute Gelten des Individuums macht eine Hauptbeſtimmung
aus, wie ſchon Tacitus bemerkt hat. Die Gemeinde oder ihr
Vorſtand mit Zuziehung von Gemeindemitgliedern richtete in An
gelegenheiten des Privatrechts zur Sicherheit der Perſon und des
Eigenthums. Für gemeine Angelegenheiten , Kriege und dergl.
waren gemeinſame Berathſchlagungen und Beſchlüffe erforderlich
Das andere Moment ift, daß fich Mittelpunkte bildeten durch
eine freiwilige Genoſſenſchaft und durch freies Anſchließen an
Heerführer und Fürſten . Der Zuſammenhang iſt hier der der
Treue, und die Treue iſt das zweite Panier der Germanen ,
wie die Freiheit das erſte war. Die Individuen ſchließen ſich mit
freier Wiüfür einem Subjecte an und machen dieſes Verhältniß
aus ſich zu einem unverbrüchlichen . Dieß finden wir weder bei
den Griechen noch bei den Römern . Das Verhältniß Agamems
non's und ſeiner Könige war nicht ein Dienſtgefolge, ſondern
eine freie Afſociation nur zu einem beſonderen Zwede, eine Her
gemonie. Die deutſchen Genoſſenſchaften aber ſtehen nicht in Bes
ziehung der objectiven Sache nur, ſondern in Beziehung des gei
ftigen Selbſt , der ſubjectiven , innerlichſten Perſönlichkeit. Herz,
Gemüth , die ganze concrete Subjectivität, die nicht vom Inhalte
abftrahirt, ſondern dieſen zugleich zur Bedingung macht, indem
ſte fich von der Perſon und von der Sache abhängig ſekt,macht
dieß Verhältniß zu einer Vermiſchung der Treue und des Ges
horfams.
Um die Vereinigung der beiden Verhältniffe, der individuel
len Freiheit in der Gemeinde und des Zuſammenhange der Ges
Erſter Abſdn. Elem . D. chriſtl. german . Welt. – Völkerwanderungen . 429

noſſenſchaft , handelt es fich nun für die Bildung zum Staate,


worin die Pflichten und Rechte nicht mehr der Willkür über
lafſen , ſondern als rechtliche Verhältniſſe firirt find ; - und ſo zwar,
daß der Staat die Seele des Ganzen ſey und der Herr darüber
bleibe, daß von ihm aus die beſtimmten Zwede und die Berecis
tigung ſowohl der Geſchäfte als der Gewalten ausgehen, indem
die allgemeine Beſtimmung die Grundlage darin bleibt. Hier iſt
nun aber das Eigenthümliche in den germaniſchen Staaten , daß
im Gegentheil die geſellſchaftlichen Verhältniſſe nicht den Charak
ter allgemeiner Beſtimmungen und Geſeße erhalten , ſondern durch
aus zu Privatrechten und Privatverpflichtungen zerſplittert wer
den . Es iſt wohl eine gemeinſchaftliche Art und Weiſe darin ,
aber nichts Allgemeines ; die Gefeße ſind ſchlechthin particular
und die Berechtigungen Privilegien . So iſt der Staat aus
Privatrechten zuſammengeſeßt, und mühſelig aus Kämpfen und
Krämpfen iſt erſt ſpät ein verſtändiges Staatsleben zu Stande
gekommen .
Es iſt geſagt wurden , daß die gerinaniſchen Nationen die
Beſtimmung hatten , die Träger des chriſtlichen Princips zu ſeyn,
und die Idee als den abſolut vernünftigen Zwed auszuführen .
Zunächſt iſt nur der trübe Wille, in deffen Hintergrund das
Wahre und Unendliche liegt, vorhanden . Das Wahre iſt nur
als Aufgabe, denn das Gemüth iſt noch nicht gereinigt. Ein
langer Proceß fann die Reinigung zum concreten Geiſte erſt zu
Stande bringen . Die Religion tritt mit einer Forderung gegen
die Gewaltthätigkeit der Leidenſchaften auf, und bringt dieſe bis zur
Wuth ; das Gewaltige der Leidenſchaften wird durch das böſe Gewif
fen erbittert und zur Raſerei gebracht, zu der es vielleicht nicht ſo ge
kommen wäre,wenn es ohne Gegenſaß geblieben wäre. Wir ſehen
nun das ſchreckliche Schauſpiel der furchtbarſten Losgebundenheit
in allen Königshäuſern der damaligen Zeit. Chlodwig, der Stifter
der fränkiſchen Monarchie,macht ſich der ärgſten Verbrechen ſchul
dig. Härte und Grauſamkeit charakteriſirt die ganze folgende Reihe
430 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
der Merovinger ; daſſelbe Schauſpiel wiederholt ſich in dem thü
ringiſchen und in den anderen Königshäuſern. Das chriſtliche
Princip iſt allerdings die Aufgabe in den Gemüthern ; aber dieſe
find unmittelbar noch roh . Der Wille , der an ſich der wahr
hafte iſt, verkennt ſich ſelbſt und trennt ſich von dem wahrhaf
ten Zweck durch particulare, endliche Zwecke ; aber es iſt in die
ſem Kampfe mit ſich ſelbſt, und wider ſeinen Willen , daß er das
hervorbringt, was er will; er bekämpft das, was er wahrhaft
will und ſo bewirkt er es , denn er iſt an ſich verſöhnt. Der
Geiſt Gottes lebt in der Gemeinde ; er iſt der innere treibende
Geiſt; aber es iſt in der Welt , daß der Geiſt realifirt werden
fou, in einem Material, das ihm noch nicht gemäß iſt; dieß Ma
terial aber iſt ſelbſt der ſubjective Wille , welcher ſo den Widers
ſpruch in ſich ſelbſt hat. Nach der religiöſen Seite ſehen wir
oft den Uebergang, daß ein Menſch ſein ganzes Leben hindurch
fich in der Wirklichkeit herumgeſchlagen und zerhauen , mit aller
Kraft des Charakters und der Leidenſchaft in weltlichen Geſchäf
ten gerungen und genoſſen hat, und dann auf einmal Alles ab
wirft, um ſich in religiöſe Einſamkeit zu begeben . Aber in der
Welt wirft fich jenes Geſchäft nicht ab , ſondern es will voll
bracht ſeyn , und es findet ſich zuleßt, daß der Geiſt gerade in
dem , was er zum Gegenſtande ſeines Widerſtandes machte, das
Ende ſeines Kampfes und ſeiner Befriedigung findet, daß das
weltliche Treiben ein geiſtiges Geſchäft iſt.
Wir finden daher , daß Individuen und Völker das , was
ihr Unglück iſt , für ihr größtes Glüc anſehen , und umgekehrt,
was ihr Glück iſt, als ihr größtes Unglück bekämpfen . La vé.
rité, en la repoussant, on l'embrasse . Europa kommt zur
Wahrheit, indem und inſofern es ſte zurückgeſtoßen hat. In dies
ſer Bewegung iſt es , daß die Vorſehung im eigentlichen Sinne
regiert, indem ſie aus Unglück, Leiden , aus particularen Zweden
und dem unbewußten Willen der Völfer ihren abſoluten Zwed
und ihre Ehre vollführt.
Erſter Abſchn . Elem . 8. chriſtl. german . Welt. — Muhamed anismus. 431
.: Wenn alſo im Abendlande dieſer lange Proceß der Welt
geſchichte beginnt, welcher zur Reinigung zum concreten Geiſte
nothwendig iſt , ſo iſt dagegen die Reinigung zum abſtracten
Geiſte , wie wir ſie gleichzeitig im Oſten ſehen , ſchneller voll
bracht. Dieſe bedarf des langen Proceſſes nicht, und wir ſehen
ſie ſchnell und plößlich in der erſten Hälfte des fiebenten Jahr
hunderts im Muhamedanismus erſtehen .

Zweites Capitel.
Der Muhamedanismus.

· Während auf der einen Seite die europäiſche Welt ſich neu
geſtaltet, die Völker fich darin feftſeßen, um eine nach allen Sei
ten hin ausgebildete Welt der freien Wirklichkeit hervorzubringen ,
und ihr Werk damit beginnen , alle Verhältniſſe auf eine parti
culare Weiſe zu beſtimmen und mit trübem gebundenem Sinne ,
was feiner Natur nach allgemein und Regel iſt, zu einer Menge
zufälliger Abhängigkeiten , was einfacher Grundſaß und Geſe
ſeyn ſollte, zu einem verwickelten Zuſammenhang zu machen , kurz
während das Abendland anfängt, fich in Zufälligkeit , Verwick
lung und Particularität einzuhauſen ; ſo mußte die entgegenge
fepte Richtung in der Welt zur Integration des Ganzen auftre
ten , und das geſchah in der Revolution des Drients ,welche
alle Particularität und Abhängigkeit zerſchlug und das Gemüth
vollkommen aufklärte und reinigte , indem ſie nur den abſtract
Einen zum abſoluten Gegenſtande, und ebenſo das reine ſubjective
Bewußtſeyn , das Wiſſen nur dieſes Einen zum einzigen Zwede
der Wirklichkeit, — das Verhältnißlofe zum Verhältniß der Eri
ſtenz – machte.
Wir haben ſchon früher die Natur Des orientaliſchen Prin
432 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

cips fennen gelernt, und geſehen , daß das Höchſte deſſelben nur
negativ iſt, und daß das Affirmative das Herausfallen in die
Natürlichkeit und die reale Knechtſchaft des Geiſtes bedeutet.
Nur bei den Juden haben wir bemerkt, daß fich das Princip
der einfachen Einheit in den Gedanken erhoben hat, denn nur
bei dieſen iſt der Eine, der für den Gedanken iſt, verehrt wors
den . Dieſe Einheit iſt nun in der Reinigung zum abſtracten
Geiſte geblieben , aber ſie iſt von der Particularität, mit der der
Jehovahdienſt behaftet war, befreit worden . Jehovah war nur
der Gott dieſes einzelnen Volfes , der Gott Abrahams, Iſaaks
und Jakobs : nur mit den Juden hat dieſer Gott einen Bund
gemacht, nur dieſem Volke hat er ſich offenbart. Dieſe Particu
larität des Verhältniffes iſt im Muhamedanismus abgeſtreift
worden . In dieſer geiſtigen Augemeinheit , in dieſer Reinheit
ohne Schranken und ohne Beſtimmung hat das Subject feinen
anderen Zweck, als die Verwirklichung dieſer Augemeinheit und
Reinheit. Allah hat den affirmativen beſchränkten Zweck des
jüdiſchen Gottes nicht mehr. Die Verehrung des Einen iſt der
einzige Endzwed des Muhamedanismus, und die Subjectivität
hat nur dieſe Verehrung als Inhalt der Thätigkeit , fowie die
Abſicht, dem Einen die Weltlichkeit zu unterwerfen . Dieſes Eine
hat nun zwar die Beſtimmung des Geiſtes , doch weil die Sub
jectivität ſich in den Gegenſtand aufgehen läßt, fällt aus dieſem
Einen alle concrete Beſtimmung fort, und ſie ſelbſt wird weder
für ſich geiſtig frei, noch iſt ihr Gegenſtand ſelber concret. Aber der
Muhamedanismus iſt nicht die indiſche, nicht die mönchiſche Ver
ſenkung in das Abſolute, ſondern die Subjectivität iſt hier leben
dig und unendlich , eine Thätigkeit, welche ins Weltliche tretend
daſſelbe nur negirt , und nur wirkſam und vermittelnd auf die
Weiſe iſt, daß die reine Verehrung des Einen eriſtiren fol . Der
Gegenſtand des Muhamedanismus iſt rein intellectuell , kein Bild,
keine Vorſtellung von Allah wird geduldet: Muhamed ift Pro
* phet aber Menſch und über des Menſchen Schwächen nicht ers
Erſter Abſchrt. Elem . d. driſtl. german. Welt. - Muhamebanismus. 433
haben . Die Grundzüge des Muhamebanismus enthalten dieß ,
daß in der Wirklichkeit nichts feſt werden kann, ſondern daß
Ales thätig , lebendig in die unendliche Weite der Welt geht, ſo
daß die Verehrung des Einen das einzige Band bleibt, welches
Alles verbinden ſoll. In dieſer Weite, in dieſer Macht verſchwin
den alle Schranken , aller National- und Caſtenunterſchied ; kein
Stamm , kein politiſdhes Recht der Geburt und des Beſiges hat
einen Werth, ſondern der Menſch nur als Glaubender. Den
Einen anzubeten , an ihn zu glauben , zu faſten , das leibliche
Gefühl der Beſonderheit abzuthun, Admoſen zu geben , das heißt,
ſich des particularen Beſiges zu entſchlagen : das ſind die ein
fachen Gebote ; das höchſte Verdienſt aber iſt, für den Glauben
zu ſterben , und wer in der Schlacht dafür umkommt, iſt des
Paradieſes gewiß.
Die muhamedaniſche Religion nahm ihren Urſprung bei den
Arabern : hier iſt der Geiſt ein ganz einfacher, und der Sinn
des Formloſen iſt hier zu Hauſe, denn in dieſen Wüſten iſt
nichts , was gebildet werden könnte. Von der Flucht Muha
meds aus Mekka im Jahre 622 beginnt die Zeitrechnung der
Muhamedaner. Noch bei Lebzeiten Muhameds unter ſeiner ei
genen Führung, und dann beſonders nach ſeinem Tode unter der
Leitung ſeiner Nachfolger haben die Araber dieſe ungeheuren Erobe
rungen gemacht. Sie warfen ſich zunächſt aufSyrien und erober
ten den Hauptort Damaskus im Jahre 634 ; weiter zogen ſie
dann über den Euphrat und Tigris und fehrten ihre Waffen ges
gen Perſien , das ihnen bald unterlag; in Weſten eroberten ſie
Aegypten , das nördliche Afrika , Spanien , und drangen ins ſüda
liche Frankreich bis an die Loire, wo ſie von Karl Martel bei
Tours im Jahre 732 beſiegt wurden . So dehnte ſich die Herr
ſchaft der Araber im Weſten aus, im Oſten unterwarfen ſie ſich,
wie geſagt, Perſien , Samarkand und den ſüdweſtlichen Theil von
Kleinaſten nacheinander. Dieſe Eroberungen , wie die Verbrei
tung der Religion, geſchehen mit einer ungemeinen Schnelligkeit.
Philoſophie 8 . Geldiote. 3 . Aufl. 28
434 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

Wer ſich zum Jslam bekehrte , bekam völlig gleiche Rechte mit
allen Muſelmännern . Was fich nicht bekehrte , wurde in der ers
ften Zeit umgebracht; ſpäter verfuhren jedoch die Araber milder
gegen die Beſiegten , ſo daß dieſe, wenn ſie nicht zum Islam
übergehen wollten , nur ein jährliches Kopfgeld zu entrichten hats
ten . Die Städte , welche ſich ſogleich ergaben , mußten dem Sies
ger ein Zehntel alles Beſiges abgeben ; die , welche erſt genoms
men werden mußten , ein Fünftel.
Die Abſtraction beherrſchte die Muhamedaner : ihr Ziel war,
den abſtracten Dienſt geltend zu machen , und danach haben ſie
mit der größten Begeiſterung geſtrebt. Dieſe Begeiſterung war
Fanatismus , das iſt, eine Begeiſterung für ein Abſtractes , für
einen abſtracten Gedanken , der negirend ſich zum Beſtehenden
verhält. Der Fanatismus iſt weſentlich nur dadurch , daß er
verwüſtend, zerſtörend gegen daß Concrete ftch verhält; aber der
muhamedaniſche war zugleich aller Erhabenheit fähig , und dieſe
Erhabenheit iſt frei von allen kleinlichen Intereſſen und mit allen
Tugenden der Großmuth und Tapferkeit verbunden . La reli
gion et la terreur war hier das Princip , wie bei Robespierre
la liberté et la terreur. Aber das wirkliche Leben iſt den
noch concret, und bringt beſondere Zwecke herbei; es kommtdurch
die Eroberung zu Herrſchaft und Reichthum , zu Rechten der
Herrſcherfamilie, zu einem Bande der Individuen . Aber alles
dieſes iſt nur accidentell und auf Sand gebaut: es iſt heute und
morgen iſt es nicht; der Muhamedaner iſt bei aller Leidenſchaft
gleichgültig dagegen und bewegt ſich im wilden Glüdswechſel.
Viele Reiche und Dynaſtien hat der Muhamedanisinus bei ſeis
ner Ausbreitung begründet. Auf dieſem unendlichen Meere wird
es immer weiter, nichts iſt feſt; was ſich fräufelt zur Geſtalt,
bleibt durchſichtig und iſt ebenſo zerflofſen. Jene Dynaſtien was
ren ohne Band einer organiſchen Feſtigkeit, die Reiche ſind darum
nur ausgeartet, die Individuen darin nur verſchwunden . Wo
aber eine edle Seele fich firirt, wie die Welle in der Kräuſelung
Erſter Abſchn . Elem . 6. chriſtl. german. Welt. — Muhamedanismus. 435

des Meeres ; da tritt ſie in einer Freiheit auf, daß es nichts Ed


leres , Großmüthigeres, Tapferes, Reſignirteres giebt. Das Be
ſondere, Beſtimmte, was das Individuum ergreift, wird von dem
ſelben ganz ergriffen . Während die Europäer eine Menge von
Verhältniſſen haben und ein Convolut derſelben ſind, iſt im Mu
hamedanismus das Individuum nur dieſes und zwar im Su
perlativ , grauſam , liſtig , tapfer , großmüthig im höchſten Grade.
Wo Empfindung der Liebe iſt, da iſt ſie eben ſo rücſichtslos
und Liebe aufs innigſte. Der Herrſcher, der den Sclaven liebt,
verherrlicht den Gegenſtand ſeiner Liebe dadurch , daß er ihm alle
Pracht , Macht, Ehre zu Füßen legt und Scepter und Krone
vergißt; aber umgekehrt opfert er ihn dann ebenſo rückſichtslos
wieder auf. Dieſe rückſichtslope Innigkeit zeigt ſich auch in der
Gluth der Poeſie der Araber und Saracenen. Dieſe Gluth iſt
die vollkommene Freiheit der Phantaſie von Adem , ſo daß fie
ganz nur das Leben ihres Gegenſtandes und dieſer Empfindung
iſt, daß ſie keine Selbſtſucht und Eigenheit für ſich behält.
Nie hat die Begeiſterung als ſolche größere Thaten voll
bracht. Individuien können ſich für das Hohe in vielerlei Ges
ſtalten begeiſtern ; auch die Begeiſterung eines Volkes für ſeine
Unabhängigkeit hat noch ein beſtimmtes Ziel; aber die abſtracte,
darum allumfaſſende , durch nichts aufgehaltene und nirgend fich
begränzende, gar nichts bedürfende Begeiſterung iſt die des mu
hamedaniſchen Drients .
So ſchnell die Araber ihre Eroberungen gemacht hatten , ſo
ſchnell erreichten bei ihnen auch die Künſte und Wiſſenſchaften
ihre höchſte Blüthe. Wir ſehen dieſe Eroberer zuerſt Alles , was
die Kunſt und Wiſſenſchaft angeht, zerſtören : Omar ſoll die herr
liche alerandriniſche Bibliothek zerſtört haben . Entweder enthal
ten dieſe Bücher, ſagte er, was im Koran ſteht, oder ihr Inhalt
iſt ein anderer : in beiden Fällen ſind ſie überflüſſig. Bald dar
auf aber laſſen es fich die Araber angelegen ſeyn , die Künſte
und Wiſſenſchaften zu heben und überall zu verbreiten . Zur
28 *
436 Vierter Theil. Die germanijde Welt.
höchſten Blüthe kam das Reich unter dem Kalifen al - Manſur
und Harun al- Raſchid . Große Städte entſtanden in allen Theis
len des Reiches , wo Handel und Gewerbe blühten , prächtige
Paläſte wurden erbaut und Schulen eingerichtet , die Gelehrten
des Reiches fanden ſich am Hofe des Kalifen zuſammen , und
es glänzte der Hof nicht bloß durch die äußerliche Pracht der
föſtlichſten Edelſteine, Geräthſchaften und Paläſte, ſondern vorzüg
lich durch die Blüthe der Dichtkunſt und aller Wiffenſchaften .
Anfangs behielten die Kalifen aud noch die ganze Einfachheit
und Schlichtheit bei, welche den Arabern der Wüſte eigen war
(beſonders wird der Kalif Abubefr in dieſer Hinſicht ges
rühmt), und keinen Unterſchied von Stand und Bildung kannte.
Der gemeinſte Saracene und das geringſte Weib ging den Ka
lifen wie ſeines Gleichen an. Die rüſichtsloſe Naivität bedarf
der Bildung nicht; und Jeder verhält ſich durch die Freiheit ſeis
nes Geiſtes zu dem Herrſcher als zu ſeines Gleichen .
Das große Reich der Kalifen hat nicht lange beſtanden ,
denn auf dem Boden der Algemeinheit iſt nichts feft. Das große
arabiſche Reich iſt faſt um dieſelbe Zeit zerfallen als das frånfis
ſche: Throne wurden durch Sclaven und neu hereinbrechende
Völfer,die Seldſchucken und Mongolen , geſtürzt und neue Reiche
gegründet, neue Dynaſtien auf den Thron gehoben . Den Doma
nen iſt es endlich gelungen , eine feſte Herrſchaft aufzuſtellen ,
und zwar dadurch, daß ſie ſich in den Janitſcharen einen feſten
Mittelpunkt bildeten . Nachdem der Fanatismus ſich abgefühlt
hatte, war kein ſittliches Princip in den Gemüthern geblieben .
Im Kampfe mit den Saracenen hatte ſich die europäiſche
Tapferkeit zum ſchönen , edlen Ritterthum idealiſirt; Wiſſenſchaft
und Kenntniſſe, insbeſondere der Philoſophie, ſind von den Arabern
ins Abendland gekommen ; eine edle Poeſie und freie Phantaſie
iſt bei den Germanen im Orient angezündet worden , und ſo hat
fich auch Göthe an das Morgenland gewandt und in ſeinem
Divan eine Perlenſchnur geliefert, die an Innigkeit und Glüd:
Erſter Abfón. Elem . d. driſtl. german. Welt. – Reich Karls d. Gr. 437
ſeligkeit der Phantaſie Alles übertrifft. — Der Orient ſelbft aber
ift, nachdem die Begeiſterung allmählig geſchwunden war, in die
größte Laſterhaftigkeit verſunken : die häßlichſten Leidenſchaften
wurden herrſchend, und da der finnliche Genuß fchon in der ers
ften Geſtaltung der muhamedaniſchen Lehre felbft liegt und als
Belohnung im Paradieſe aufgeſtellt wird, fo tratnun derſelbe an
die Stelle des Fanatismus. Gegenwärtig nach Aſten und Afrika
zurückgedrängt und nur in einem Winkel Europa's durch die
Eiferſucht der chriſtlichen Mächte geduldet, iſt der Islam ſchon
längſt von dem Boden der Weltgeſchichte verſchwunden und in
orientaliſche Gemächlichkeit und Ruhe zurückgetreten .

Drittes Capitel.
Das Reid Karls des Groſzen .

Das Reich der Franken wurde , wie ſchon geſagt worden


ift, von Chlodwig geſtiftet. Nach ſeinem Tode wurde es unter
feine Söhne getheilt, ſpäter mit vielen Kämpfen durch Hinterliſt,
Meuchelmord, Gewaltthatwieder vereinigt und abermals getheilt.
Nach innen wurde die Macht der Könige dadurch ſehr vermehrt,
daß fie Fürſten in eroberten Ländern wurden . Dieſe wurden
zwar unter die freien Franken vertheilt; aber dem Könige fielen
höchſt beträchtliche ſtehende Einfünfte zu, nebſt den ehemals fai
ſerlichen und den confiscirten Gütern . Dieſe verlieh nun der
König als perſönliche, D. h . nicht erbliche, Beneficien an ſeine
Krieger , die damit eine perſönliche Verbindlichfeit übernahmen ,
ſeine Leute wurden und ſeine Dienſtmannſchaft bildeten Ihnen
ſchloſſen ſich dann die ſehr begüterten Biſchöfe an und machten
mit ihnen den Rath des Königs aus, der jedoch den König nicht
band. An der Spiße der Dienſtmannſchaft ſtand dermajor domus,
438 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

Dieſemajores domus maaßten ſich bald alle Gewalt an , ſtellten


die königliche Macht in Schatten , indeß die Königė in Dumpf
heit verſanken und bloße Figuranten wurden . Aus ihnen ging
die Dynaſtie der Karolinger hervor. Pipin der Kurze , Karl
Martel's Sohn , wurde im Jahre 752 zum König der Franken
erhoben . Der Pabſt Zacharias entband die Franken ihres Eides
gegen den noch lebenden legten Merovinger Childerich III., wel
cher die Tonſur erhielt, d. h . er wurde Mönch und zugleich der
föniglichen Auszeichnung des langen Haarwuchſes beraubt. Die
legten Merovinger waren durchaus Weichlinge, welche ſich mit
dem Namen ihrer Würde begnügten und ſich faſt nur dem Ge
nuffe hingaben , eine Erſcheinung, welche in den morgenländiſchen
Herrſcherfamilien ganz gewöhnlich iſt , und ſich bei den legten
Karolingern ebenfalls wiederholt. Die majores domus dage
gen waren in der Energie des Emporſteigens, und befanden ſich
in einer ſo engen Verkettung mit der Dienſtmannſchaft , daß es
ihnen zulegt leicht wurde den Thron zu erringen .
Die Päbſte waren aufs ärgſte von den longobardiſchen Kö
nigen bedrängt'und ſuchten Schuß bei den Franken. Pipin über
nahm es aus Dankbarkeit , Stephan II. zu vertheidigen : er zog
zwei Male über die Alpen , und ſchlug zwei Male die Longo
barden . Seine Siege gaben dem neuen Throne Glanz und dem
Stuhle Petri ein anſehnliches Erbe. Im Jahre 800 nach Chr.
Geb. wurde der Sohn Pipin 's , Karl der Große, vom Pabſte
zum Kaiſer gekrönt, und hiermit beginnt die fefte Verbindung der
Karolinger mit dem päbſtlichen Stuhle. Das römiſche Reich hatte
nämlich immer noch bei den Barbaren das Anſehn einer hohen
Macht, und galt ihnen immer noch als der Mittelpunkt, von
dem alle Würde , ebenſo wie die Religion , die Geſeke und alle
Kenntniſſe, von der Buchſtabenſchrift an, zu ihnen gelange. Karl
Martell, nachdem er Europa von der Herrſchaft der Saracenen
befreit hatte, wurde, er ſelbſt und ſeine Nachkommenſchaft, vom
römiſchen Volk und Senat zum Patricier ernannt: Karl der
Erſter Abſchn. Elem . d . chriſtl. german . Welt. - Reid Karls d . Gr. 439

Große aber wurde zum römiſchen Kaiſer gekrönt, und zwar .


vom Papſte.
Es gab nunmehr zwei Kaiſerreiche, und allmählig trennte
fich in dieſen die chriſtliche Religion in zwei Kirchen : in die
griechiſche und römiſche. Der römiſche Kaiſer war der ges
borne Beſchüßer der römiſchen Kirche, und durch dieſe Stellung
des Kaiſers zum Papſte war gleichſam ausgeſprochen : die frän
fiſche Herrſchaft ſey nur eine Fortſegung des römiſchen Reiches .
Das Reich Karls des Großen hatte einen ſehr großen Um
fang. Das eigentliche Franken dehnte fich vom Rhein bis zur
Loire aus. Aquitanien , ſüdlich von der Loire, ward 768 , im
Todesjahre Pipin 's völlig unterworfen . Es gehörten ferner zum
Franfenreiche: Burgund, Alemannien (das ſüdliche Deutſchland
zwiſchen dem Lech , Main und Rhein ), Thüringen , das bis an
die Saale fich ausdehnte, ferner Baiern . Außerdem hat Karl
die Sachſen , welche zwiſchen dem Rhein und der Weſer wohn
ten, beſtegt, und dem longobardiſchen Reiche ein Ende gemacht,
wodurch er Herr Ober- und Mittelitaliens wurde.
Dieſes große Reich hat Karl der Große zu einem ſyſtema
tiſch geordneten Staate gebildet, und dem Frankenreiche fefte Ein
richtungen , die daſſelbe zuſammenhielten , gegeben : doch nicht als
ob er die Verfaſſung ſeines Reichs überall erſt eingeführt habe,
ſondern die zum Theil ſchon früheren Inſtitutionen ſind unter
ihm entwickelt worden und zu einer beſtimmteren , ungehinderten
Wirkſamkeit gekommen . Der König ſtand an der Spiße der
Reichsbeamten , und das Princip der Erblichkeit der Königswürde
trat ſchon hervor. Der König war ebenſo Herr der bewaffneten
Macht,wie der reichſte Eigenthümer an Grund und Boden , und die
höchſte Richtergewalt befand ſich nicht minder in ſeinen Händen .
Die Kriegsverfaſſung beruhte auf dem Heerbann. Jeder Freie
war verpflichtet, fich zur Vertheidigung des Reiches zu bewaff
nen , und jeder hatte auf gewiſſe Zeit für ſeinen Unterhalt zu
ſorgen . Dieſe Landwehr, wie man ſie heute nennen würde, ſtand
440 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
unter dem Befehle von Grafen und Markgrafen , welithe lettere
größeren Bezirken an den Grenzen des Reichs, den Marken ,
vorſtanden . Der allgemeinen Eintheilung nach war das Land
in Gaue getheilt, deren jedem ein Graf vorſtand. Ueber dieſen
ſtanden unter den ſpätern Karolingern wieder Herzöge, deren
Siße großeStädtewieKöln , Regensburg und dergleichen mehrwa
ren . Nach ihnen war das Land in Herzogthümer eingetheilt:
es gab ſo ein Herzogthum Elſaß , Lothringen , Friesland, Thü
ringen , Rhätien . Dieſe Herzöge wurden vom Kaiſer einges
reßt. Völkerſchaften , welche ihre eigenen Stammfürſten nach ih
rer Unterwerfung beibehalten hatten , verloren dieſes Vorrechtund
bekamen Herzöge, ſobald ſie ſich empörten ; ſo ging es Aleman
nien, Thüringen , Baiern und Sachſen . Es gab aber auch eine
Art von ſtehendem Heere zur ſchnelleren Hülfe. Die Dienſtman
nen des Kaiſers nämlich bekamen Güter zur Benußung mit der
Verpflichtung, Kriegsdienſte zu leiſten , wenn ſie Befehl erhielten .
lim dieſe Einrichtungen nun aufrecht zu erhalten , wurden Ge
waltsboten (missi) vom Kaiſer abgeſchickt , welche die Aufſicht
haben und Berichte erſtatten , auch das Gerichtsweſen und die
königlichen Güter inſpiciren ſollten .
Nicht minder merkwürdig iſt die Verwaltung der Staats
einfünfte. Es gab keine directen Steuern, und wenige Zölle
auf Flüffen und Straßen ,von denen mehrere an höhere Reichsbeam
ten verliehen waren . In den Fiscus floſſen theils die gerichtlichen
Strafgelder, theils die Geldbußen derer, die ſich auf den Aufrufdes
Kaiſers nicht zur Armee geſtellt hatten . Auch diejenigen , welche
Beneficien genoſſen , verloren dieſelben , ſobald ſie dieſe Pflicht
verabſäumten . Die Haupteinkünfte famen aus den Kammergü
tern ,deren der Kaiſer eine große Menge beſaß,aufdenen ſich fönig
lichePfalzen befanden .Eswar ſchon langeSitte,daß dieKönige in den
Hauptlandſchaften herumreiſten ,und ſich dann in jeder Pfalzeine Zeit
langaufhielten ; die gehörigen Vorbereitungen für den Unterhalt des
Hofes waren ſchon früher durch Marſchalle, Stämmerer zc. getroffen ,
Erſter Abfcón . Elem . D. drifti. german. Welt. – Reich Karlo d. Gr. 441
Was nun die Gerichts verfaffung betrifft, ſo liegen die
Angelegenheiten , welche Leib und Leben , ſowie das Grundeigen
thum betreffen , in den Händen der Gemeindeverſammlungen un
ter dem Vorſiß eines Grafen ;weniger wichtigewurden unter dem
Vorſiß der Centgrafen von wenigſtens ſieben freien Männern,welche
erwählte Schöffen waren, entſchieden. Die höchſten Gerichtewa
ren die Hofgerichte, wo der König in der Pfalz den Vorſitz
hatte : hierwurde die Dienſtmannſchaft, geiſtliche und weltliche, gea
richtet. Die königlichen Gewaltøboten , von denen ſchon oben ge
ſprochen worden iſt, hatten bei ihren Inſpectionsreiſen auch be
ſonders das Gerichtsweſen zu unterſuchen , alle Klagen anzu
hören und die Ungerechtigkeiten zu beſtrafen . Ein geiſtlicher und
ein weltlicher Bote mußten vier Mal des Jahres ihre Spren
gel bereiſen .
Zur Zeit Karls des Großen hatte die Geiſtlichkeit ſchon eine
große Bedeutung erlangt. Die Biſchöfe hatten große Kathedra
len unter ſich, mit denen zugleich Seminarien und Schulanſtalten
verbunden waren . Karl ſuchte nämlich die faſt ganz unterge
gangene Wiſſenſchaftlichkeit wiederherzuſtellen , indem er verlangte,
daß in Städten und Dörfern Schulen angelegtwürden . Fromme
Gemüther glaubten ein gutes Werk zu thun und die Seligkeit
zu erringen , wenn ſie der Geiſtlichkeit Geſchenke machten ; auf
dieſe Weiſe haben die wildeſten und roheſten Könige ihre Frevel
abbüßen wollen . Die gewöhnlichſte Schenkung der Privatlente
war in der Weiſe , daß ſie ihre Güter an Klöſter vermachten ,
und ſich den Niesbrauch nur für ihr Leben oder auf gewiſſe Zei
ten ausbedungen . Oft geſchah es jedoch auch beim Tode eines
Biſchofs oder Abtes, daß die weltlichen Großen mit ihren Dienſt
mannen über die Güter der Geiſtlichkeit herfielen und darin leb
ten und hauſten , bis Alles verzehrt war; denn die Religion hatte
damals noch nicht die Gewalt über die Gemüther, die Habſucht
der Mächtigen zu zügeln. Zur Verwaltung ihrer Güter mußte
die Geiſtlichkeit Wirthſchafter und Meier anſtellen ; außerdem be
442 Vierter Theil. Die germaniſche Welt .

ſorgten Vögte alle ihre weltlichen Angelegenheiten , führten die


Kriegsmannſchaft ins Feld , und erhielten allmählig von den Kö
nigen auch die landesherrliche Gerichtsbarkeit, als die Geiſtlich
keit eigne Gerichtsbarkeit und Immunität von der der könig
lichen Beamten (Grafen ) erlangte. Es geſchah damit ein gro
ßer Schritt zur Veränderung der Verhältniſſe, da nun die geiſt
lichen Güter mehr und mehr vollkommen ſelbſtſtändige Gebiete
wurden , in einer Art, wie es die weltlichen noch gar nicht wa
ren . Außerdem wußte die Geiſtlichkeit ſich ſpäter von den Staats
laſten zu befreien , und eröffnete die Kirchen und Klöſter als
Aſyle , das heißt unverlegbare Freiftätten für alle Verbrecher.
Dieſe Einrichtung war einerſeits allerdings ſehr wohlthätig gegen
die Gewaltthätigkeiten und Unterdrückungen , welche von dem
Kaiſer und den Großen ausgingen , aber andrerſeits artete ſie
in Ungeſtraftheit der größten Verbrechen vor den Gefeßen aus.
Zu Karls des Großen Zeiten mußte jeder noch von den Klöſtern
ausgeliefert werden . Die Biſchöfe wurden von einer Behörde
gerichtet , die aus Biſchöfen beſtand ; als Dienſtmannen waren
ſie eigentlich dem Hofgerichte unterworfen . Späterhin ſuchten auch
die Klöſter ſich von der biſchöflichen Gerichtsbarkeit zu befreien
und machten ſich ſo ſelbſt von der Kirche unabhängig. Die Bi
ſchöfe wurden von den Geiſtlichen und den Gemeinden gewählt,
allein inſofern ſie auch Dienſtmannen des Königs waren , hatte
auch dieſer jene Würde zu verleihen . Der Streit wurde dahin
ausgeglichen , daß ein Mann gewählt werden mußte, welcher dem
Könige genehm war.
Die Reichsgerichte wurden in der Pfalz gehalten , wo der
Kaiſer ſich aufhielt. Der König felbſt hatte dabei den Vorfiß,
und die Reichshofleute bildeten mit ihm den oberſten Gerichtshof
über die Großen ſelbſt. Die Reichsberathungen über die Ange
legenheiten des Reichs fanden nicht immer zu beſtimmten Zeiten
Statt, ſondern gelegentlich bei Heerſchauen im Frühling, bei Kir
chenverſammlungen und Hoftagen . Beſonders die Hoftage, wozu
Erſter Abſchn . Elem . D. chriſtl.german .Welt. - Reich Karls 6. Gr. 443
die Dienſtmannen eingeladen waren (wenn der König in einer
Landſchaft , zumeiſt am Rhein , dem Mittelpunkte des Franken
reichs , Hof hielt) , gaben Gelegenheit zu ſolchen Berathungen .
Es war die Regel, daß der König zweimal im Jahre einen Aus
ſchuß von den höheren Staats - und Kirchenbeamten berief, aber
auch hier blieb dem Könige alle Entſcheidung. Dieſe Verſamm
lungen ſind daher verſchieden von den ſpäteren Reichstagen , wo
die Großen ſelbſtſtändiger auftreten .
So war das Frankenreich beſchaffen , dieſes erſte fich Zuſam
mennehmen des Chriſtenthums zu einer ſtaatlichen Bildung, die
aus ihin ſelbſt hervorging, während das römiſche Reich von dem
Chriſtenthum verzehrt worden war. Die eben beſchriebene Ver
faſſung ſteht vortrefflich aus, fie gab eine feſte Kriegsorganiſation
und ſorgte für Gerechtigkeit im Innern ; und dennoch erwies ſie
fich nach Karls des Großen Tode als vollkommen unmächtig,
ſowohl nach außen vertheidigungslos gegen die Einfälle der Nors
mannen , Ungarn , Araber, als nach innen unwirkſam gegen Recht
loſigkeit, Beraubung und Unterdrückung jeder Art. Wir ſehen
ſo neben einer vortrefflichen Verfaſſung den ſchlechteſten Zuſtand
und ſomit Widerſpruch nach allen Seiten . Solche Bildun .
gen bedürfen , eben weil ſie plößlich hervorſteigen , noch der Stär- -
kung der Negativität in fich ſelber : ſie bedürfen der Reactionen
in jeder Weiſe,welche in der folgenden Periode hervortreten .
444 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

Zweiter Abſchnitt.
m a % M i ttelalte r .

Wenn die erſte Periode der germaniſchen Welt glänzend


mit einem mächtigen Reiche endet , ſo beginnt mit der zweiten
die Reaction aus dem Widerſpruch der unendlichen Lüge, wel
cher das Mittelalter beherrſcht, und das Leben und den Geift
deſſelben ausmacht. Dieſe Reaction iſt zuerſt die der beſondern
Nationen gegen die allgemeine Herrſchaft des Frankenreichs,
welche ſich in der Theilung des großen Reiches offenbart. Die
zweite Reaction iſt die der Individuen gegen die geſeßliche
Macht und Staatsgewalt, gegen die Subordination , den Heers
bann , die Gerichtsverfaſſung. Sie hat das Iſoliren der Indi
viduen und daher die Schußloſtgkeit derſelben hervorgebracht.
Das Augemeine der Staatsgewalt iſt durch dieſe Reaction vers
ſchwunden : die Individuen haben bei den Gewaltigen Schuß
geſucht, und dieſe ſind die Unterdrücker geworden . So trat al
mählig der Zuſtand einer allgemeinen Abhängigkeit ein , welches
Schußverhältniß fich dann zur Feudalverfaſſung fyſtematiſirt.
Die dritte Reaction iſt die der Kirche als Reaction des Gei
ftigen gegen die vorhandene Wirklichkeit. Die weltliche Wild
heit wurde durch die Kirche unterdrückt und gebändigt, aber dieſe
iſt dadurch ſelbſt verweltlich worden und hat den ihr gebühren
den Standpunkt verlaſſen , von welchem Augenblicke an das In
ſichgehen des weltlichen Princips beginnt. Alle dieſe Verhält
niſſe und Reactionen bilden die Geſchichte des Mittelalters ,
und der Culminationspunkt dieſer Periode ſind die Kreuzzüge,
denn mit ihnen entſteht eine allgemeine Schwankung, wodurch aber
erſt die Staaten zur innern und äußeren Selbſtſtändigkeit gelangen ,
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. 445

Erſtes Capitel.
Die Feudalität und die Hierarchie.
Die erſte Reaction iſt die der beſonderen Nationalität
gegen die allgemeine fränkiſche Herrſchaft. Es ſcheint zwar zus
nächſt, daß das Franfenreich durch die Widfür der Könige ge
theilt worden iſt; das andere Moment aber iſt, daß dieſe Thei
lung populär war und ebenſo durch die Völker behauptet wors
den iſt: ſie war alſo nicht bloß ein Familienact, der unflug er
ſcheinen könnte , indem die Fürſten ihre eigene Macht dadurch
geſchwächt haben , ſondern eine Wiederherſtellung der eigenthüm
lichen Nationalitäten , die durch einen Zuſammenhang übermäch
tiger Gewalt und das Genie eines großen Mannes waren zu
ſammengehalten worden . Ludwig der Fromme, Sohn Karls des
Großen, theilte das Reich unter ſeine drei Söhne. Später aber
erhielt er aus einer zweiten Ehe noch einen Sohn , Karl den
Kahlen. Da er auch dieſem ein Erbtheil geben wollte , ſo ent
ſtanden Kriege und Streitigkeiten mit den andern Söhnen , welche
des ſchon Erhaltenen beraubt werden ſollten . Dieſe Kriege hat
ten ſo zunächſt ein individuelles Intereſſe, aber die Nationen
nehmen auch aus dem ihrigen heraus daran Antheil. Die weſt
lichen Franken hatten ſich bereits mit den Galliern identificirt,
und von ihnen ging eine Reaction gegen die deutſchen Franken
aus, ſowie ſpäter eine von Italien gegen die Deutſchen . Durch
den Verduner Vertrag im Jahre 843 wurde zwar eine Thei
lung unter den Nachkommen Karls des Großen gemacht, aber
dennoch wurde ſpäter das ganze fränkiſche Reich mit Ausnahme
einiger Provinzen auf einen Augenblid unter Karl dem Dicken
wieder vereinigt. Nur furze Zeit indeſſen vermochte dieſer
ſchwache Fürſt das große Reich zuſammenzuhalten ; es wurde in
446 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
viele kleinere Reiche zerſplittert, die ſich ſelbſtſtändig ausbildeten
und erhielten ; in das Königreich Italien , das felbſt in ſich ge
theilt war, die beiden burgundiſchen Reiche, Hochburgund , wovon
die Hauptpunkte Genf und das Kloſter St. Maurice in Wallis
waren , und Niederburgund zwiſchen dem Jura , dem Mittelmeer
und der Rhone, ferner Lothringen , zwiſchen dem Rhein und der
Maas , die Normandie, Bretagne. Zwiſchen dieſen Reichen war
das eigentliche Frankreich eingeſchloſſen , und ſo beſchränkt fand es
Hugo Capet vor, als er den Thron beſtieg. Oſtfranken , Sach
ſen , Thüringen , Baiern , Schwaben blieb dem deutſchen Reiche.
Aljo zerfiel die Einheit der fränkiſchen Monarchie.
Auch die inneren fränkiſchen Einrichtungen verſchwanden
nach und nach gänzlich , beſonders die Drganiſation der Kriegs
macht. Bald nach Karl dem Großen ſehen wir von vielen Sei
ten her die Normannen Einfälle in England , Frankreich und
Deutſchland machen . In England regierten urſprünglich ſieben
Dynaſtien angelſächſiſcher Könige, aber im Jahre 827 vereinigte
Egbert ſämmtliche Herrſchaften in ein einziges Reich. Unter ſei
nem Nachfolger machten die Dänen ſehr häufige Einfälle und
plünderten das Land aus. Tapferen Widerſtand fanden ſie erſt
unter Alfred dem Großen , aber der Dänenkönig Knut eroberte
ſpäter ganz England. Gleichzeitig waren die Einfälle der Nor
mannen in Frankreich. Sie fuhren auf leichten Kähnen die
Seine und die Loire hinauf, plünderten die Städte , verheerten
die Klöſter und zogen mit ihrer gemachten Beute davon ; ſie be
lagerten ſelbſt Paris , und die karolingiſchen Könige mußten
ſchimpflich den Frieden erkaufen . Ebenſo verwüſteten ſie die an
der Elbe liegenden Städte; vom Rhein aus plünderten ſie Aachen
und Cöln , und machten ſich Lothringen zinsbar. Zwar ließ
der Reichstag zu Worms 882 ein allgemeines Aufgebot an alle
Unterthanen ergehen , dennoch mußte man ſich aber zu einem
ſchimpflichen Vergleiche bequemen . Dieſe Stürme kamen von
Norben und Weſten. Im Often brachen die Magyaren her
wrter
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter .. 447

ein . Mit Weib und Kindern zogen dieſe barbariſchen Völker auf
Wagen herum und verwüſteten das ganze ſüdliche Deutſchland.
Durch Baiern , Schwaben , die Schweiz gelangten ſie bis ins
Innere von Frankreich und nach Italien . Von Süden her
drängten die Saracenen. Sicilien befand ſich ſchon längſt in
ihren Händen : von da aus faßten ſie feſten Fuß in Italien , be
drohten Rom , das durch einen Vergleich fie von fich abwendete,
und waren der Schrecken Piemonts und der Provence.
So rückten dieſe drei Völker in großen Maſſen von allen
Seiten in das Reich ein , und ſtießen in ihren Verheerungszü
gen faſt zuſammen . Frankreich wurde von den Normannen bis
an den Jura verwüſtet ; die Ungarn kamen bis nach der Schweiz,
und die Saracenen bis nach Walis. Denken wir an jene Dr:
ganiſation des Heerbannes und betrachten wir dabei dieſen trau
rigen Zuſtand., ſo müſſen wir uns über die Wirkungsloſigkeit
aller dieſer hochgerühmten Einrichtungen verwundern , indem ſie
nun gerade am wirkſamſten ſich hätten zeigen ſollen . Man könnte
geneigt fern, die Schilderung von der ſchönen , vernünftigen Ver
faſſung der fränkiſchen Monarchie unter Karl dem Großen , die
ſich als ſtark , groß und ordnungsvoll nach innen und außen
gezeigt hat, für eine leere Träumerei zu halten ; dennoch hat ſie
beſtanden , aber dieſe ganze Staatseinrichtung war nur durch die
Kraft, die Größe und den edlen Sinn dieſes Individuums ge
halten und war nicht auf den Geiſt des Volkes gegründet, nicht
lebendig in denſelben eingegangen , ſondern nur ein äußerlich
Auferlegtes , eine aprioriſche Conſtitution, wie die, welche Napo
leon Spanien gab , die ſogleich unterging, als fte nicht mehr !
durch die Gewalt aufrecht erhalten wurde. Was vielmehr die
Wirklichkeit einer Verfaſſung ausmacht, iſt, daß ſie als objective
Freiheit, ſubſtantielle Weiſe des Wollens, als Verpflichtung und
Verbindlichkeit in den Subjecten eriſtirt. Aber für den germa
niſchen Geiſt, der nur erſt als Gemüth und ſubjective Widfür
war, war noch keine Verpflichtung vorhanden , noch keine Inner
418 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
lichkeit der Einheit, ſondern nur eine Innerlichkeit des gleichgül
tigen , oberflächlichen Fürſichſeyns überhaupt. Auf dieſe Weiſe
war jene Verfaſſung ohne feſtes Band, ohne den objectiven Halt
in der Subjectivität; denn es war überhaupt noch keine Ver
faſſung möglich.
Dieß führt uns zur zweiten Reaction , welche die der
Individuen gegen die geſebliche Macht iſt. Der Sinn für Ges
ſeßlichkeit und Algemeinheit iſt durchaus nicht vorhanden , iſt in
den Völkern ſelbſt nicht lebendig. Die Verpflichtungen jedes
freien Bürgers , die Befugniſſe des Richters, Recht zu ſprechen ,
die des Gaugrafen , Gericht zu halten , das Intereſſe für die Ges
ſeße als ſolche, zeigen ſich als unkräftig, ſobald die ſtarke Hand
von oben nicht mehr die Zügel ſtraff hält. Die glänzende Staats
verwaltung Karl des Großen war ſpurlos geſchwunden , und die
nächſte Folge davon war die allgemeine Schußbedürftigkeit der
Individuen . Eine gewiſſe Schußbedürftigkeit iſt ſicherlich in je:
dem wohlorganiſirten Staat: jeder Bürger kennt ſeine Rechte,
und weiß auch, daß zur Sicherheit des Beſißes der geſellſchaft
liche Zuſtand überhaupt nothwendig iſt. Barbaren kennen die
fes Bedürfniß , einen Schuß am Anderen zu haben , noch nicht:
ſie ſehen es als eine Beſchränkung ihrer Freiheit an, wenn ihre
Rechte ihnen von Anderen zugeſichert werden ſollen . So war
alſo der Drang nach einer feſten Organiſation nicht vorhanden : die
Menſchen mußten erſt in den Zuſtand der Schußloſigkeit verſeßt
werden , um das nothwendige Erſcheinen des Staates zu empfins
I den . Die Staatsbildung fing wieder von ganz vorne an. Das
Allgemeine hatte durchaus feine Lebendigkeit und Feſtigkeit in fich
und im Volke, und ſeine Schwäche offenbarte ſich darin , daß
es den Individuen keinen Stuß zu geben vermochte. Die Bes
ſtimmung der Verpflichtung war im Geiſte der Germanen , wie
geſagt, nicht vorhanden ; es kam darauf an , ſie herzuſtellen .
Der Wille konnte nun zunächſt nur an dem Aeußerlichen des
Befifthums feſtgehalten werden, und bei der Erfahrung der Wichs
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. 449

tigkeit des Staatsſchaßes ward er gewaltſam aus der Stumpf


heit geriſſen und durch die Noth zum Bedürfniß einer Verbin
dung und einer Geſellſchaftlichkeit getrieben . Die Individuen
mußten daher ſelbſt ihre Zuflucht zu Individuen nehmen und
wurden unter die Macht einiger Gewalthaber geſtellt, welche aus
der Autorität, die früher dem Allgemeinen angehörte, einen Pri
vatbeſit und eine perſönliche Herrſchaft bildeten . Die Grafen
haben als Staatsbeamten bei ihren Untergebenen keinen Gehors
ſam gefunden , aber ebenſowenig verlangt, ſondern nur für ſich
haben ſie denſelben gewollt. Sie haben die Gewalt des Staa
tes für ſich ſelbſt genommen und die ihnen verliehene Macht zu
einem erblichen Beſibe gemacht. Sowie früher der König , oder
andere hohe Perſonen , Lehen zur Belohnung an ihre Dienſtmans
nen gaben , ſo gaben nun umgekehrt die Schwächeren und Aer
meren den Mächtigen ihr Beſikthum , um dadurch einen ſtarken
Schuß zu gewinnen ; ſie übergaben ihre Güter einem Herrn ,
Kloſter, Abt, Biſchof (feudum oblatum ) , und erhielten ſie zu :
rück, belaſtet mit der Verpflichtung einer Leiſtung an dieſe Herren .
Sie wurden aus Freien Vaſallen , Lehnsleute, und ihr Beſikthum
wurde ein geliehenes . Dieß iſt das Verhältniß des Feudalſyſtems.
Feudum iſt mit fides verwandt; die Treue iſt hier eine Ver
bindlichkeit durch Inrecht, ein Verhältniß , das etwas Rechtliches
bezweckt , aber zu ſeinem Inhalt ebenſo ſehr das Unrecht hat;
denn die Treue der Vafallen iſt nicht eine Pflicht gegen das
Algemeine, ſondern eine Privatverpflichtung, welche ebenſo der
Zufälligkeit, Wilſfür und Gewaltthat anheimgeſtellt iſt. Das
allgemeine Unrecht, die allgemeine Rechtsloſtgkeit wird in ein
Syſtem von Privatabhängigkeit und Privatverpflichtung gebracht,
To daß das Formelle des Verpflichtetſeyns allein die rechtliche
Seite davon ausmacht. - Da Jeder ſich ſelbſt zu ſchüßen
hatte, ſo wurde auch der friegeriſche Geiſtwieder erivedt, der in
der Vertheidigung nach außen auf's ſchmählichſte verſchwunden
ſchien ; denn die Stumpfheit wurde theils durch die äußerſte
Philoſophie 8 . Geldichte 3te Aufl. 29
450 Vierter Theil. Die germaniſdhe Welt.

Mißhandlung aufgerüttelt, theils durch die Privathabſucht und


Herrſchjucht. Die Tapferkeit, die ſich jeßt zeigt, galt nicht dem
Staate, ſondern den ſubjectiven Intereſſen . In allen Gegenden
entſtanden Burgen , wurden Befeſtigungen aufgerichtet und zwar
zur Vertheidigung des Beſißes , zum Raub und zur Tyrannei. Auf
die eben angeführte Weiſe verſchwand das Ganze in ſolchen
Punkten der Einzelheit, als welche hauptſächlich die Siße der
Biſchöfe und Erzbiſchöfe zu nennen ſind. Die Bisthümer hatten
die Iminunität von den Gerichten und aller Amtswirkſamkeit
erhalten ; die Biſchöfe hielten ſich Vögte und ließen denſelben
vom Kaiſer die Gerichtsbarkeit übertragen , welche ſonſt die Gra
fen ausgeübt hatten . So gab es abgeſchloſſene geiſtliche Terris
torien , Gemeinden , die einem Heiligen angehörten (Weichbilder).
Ebenſo bildeten ſich ſpäterhin weltliche Herrſchaften aus. Beide
traten an die Stelle der ehemaligen Gaue oder Grafſchaften .
Nur in wenigen Städten , wo die Gemeinden der freien Män
ner für ſich ſtark genug waren , Schuß und Sicherheit auch ohne
des Königs Hülfe zu gewähren , blieben Reſte der alten freien
Verfaſſung. Sonſt verſchwanden überall die freien Gemeinden ,
und wurden den Prälaten oder den Grafen und Herzögen , den
nunmehrigen Landesherrn und Fürſten, unterthan.
Die kaiſerliche Gewalt wurde im Ganzen für etwas ſehr
Großes und Hohes ausgegeben : der Kaiſer galt für das welt
liche Oberhaupt der geſammten Chriſtenheit ; je größer aber dieſe
Vorſtellung war, deſto weniger galt die Macht der Kaiſer in
der Wirklichkeit. Frankreich gewann außerordentlich dadurch , daß
es dieſe hohle Anmaßung von fidy entfernt hielt, während in
Deutſüland das Fortſchreiten der Bildung durch jeneScheinges
walt gehemmt wurde. Die Könige und Kaiſer waren nicht
mehr Oberhäupter des Staats , ſondern der Fürſten , welche zwar
ihre Vaſalen waren , aber eigne Herrſchermacht und Territorials
herrſchaften beſaßen . Indem nun Alles auf particulare Herr
ſchaft gegründet iſt, ſo könnte man glauben , daß eine Fortbils
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. 451

dung zum Staate ſich nur ſo hätte machen können , daß jene
particularen Herrſchaften in ein amtliches Verhältniß zurückgetre
ten wären . Dazu wäre aber eine Uebermacht erforderlich gewe
fen , welche nicht vorhanden war, denn die Dynaſten beſtimmten
ſelbſt, inwiefern ſie noch abhängig ſeven vom Augemeinen. Es
gilt feine Macht des Gefeßes und des Rechts mehr , ſondern
nur die zufällige Gewalt, die eigenſinnige Nohheit des particu
laren Rechts, und dieſe ſtrebt gegen die Gleichheit der Rechte
und der Gefeße. Eine Ingleichheit der Rechte in der ganzen
Zufälligkeit iſt vorhanden , und aus dieſer kann die Entwickelung
der Monarchie nicht ſo geſchehen , daß das Oberhaupt als ſolches
die beſonderen Gewalten unterdrüdt, ſondern es ſind dieſe all
mählig in Fürſtenthümer übergegangen und mit dem Fürſtenthume
des Oberhauptes vereinigtworden , und ſo hat ſich die Macht
des Königs und des Staates geltend gemacht. Während nun
das Band der Einheit im Staate noch nicht vorhanden
war, haben ſich die beſonderen Territorien für fich ausges
bildet.
In Frankreich ging das Haus Karls des Großen wie das
Chludwigs durch die Schwäche der Regenten unter. Ihre Herr
ſchaft war zulegt nur auf die kleine Herrſchaft Laon beſchränkt,
und der legte der Carolinger, Herzog Karl von Lothringen , der
nach Ludwigs V . Tode die Krone in Anſpruch nahm , ward ge
ſchlagen und gefangen . Der mächtige Hugo Capet, Herzog von
Francien , wurde zum Könige ausgerufen . Der Titel König gab
ihm jedoch keine wirkliche Gewalt, denn ſeine Macht war nur
auf ſeinen Beſitz gegründet. Später wurden die Könige durch
Kauf, Heirath , Ausſterben der Familien, Eigenthümer mehrerer
Herrſchaften , und man fing beſonders an, fich an ſie zu wenden ,
um vor den Gewaltthätigkeiten der Fürſten Schuß zu ſuchen .
Die königliche Gewalt wurde in Frankreich früh erblich, weil
die Lehnsherrſchaften erblich waren , doch haben im Anfange die
Könige noch die Vorſicht gebraucht, ihre Söhne bei ihren Leba
29 *
452 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
zeiten frönen zu laſſen . Frankreich war in viele Herrſchaften ge
theilt: in das Herzogthum Guyenne, Grafſchaft Flandern , Her
zogthum Gascogne, Grafſchaft Toulouſe, Herzogthum Burgund,
Grafſchaft Vermandois ; Lothringen hatte auch einige Zeit zu
Frankreich gehört. Die Normandie war von den Königen von
Frankreich den Normannen eingeräumt worden , um auf einige
Zeit Ruhe vor ihnen zu haben . Von der Normandie aus
ging Herzog Wilhelm nach England hinüber und eroberte daſ
felbe im Jahre 1066. Er führte hier durchweg ein ausgebilde
tes Lehnsſyſtem ein , deſſen Neß zum großen Theile noch heute
England umgarnt. Auf dieſe Weiſe ſtanden aber die Herzoge
der Normandie mit einer großen Macht-Den ſchwachen Königen
von Frankreich gegenüber. - Deutſchland war aus den großen
Herzogthümern Sachſen , Schwaben , Baiern , Kärnthen , Lothrin
gen , Burgund , der Markgrafſchaft Thüringen , u . P. F. aus vie
len Bisthümern und Erzbisthümern zuſammengeſeßt. Jedes die
ſer Herzogthümer zerfiel wieder ebenſo in viele,mehr oder weni
ger unabhängige, Herrſchaften . Mehrere Male hatte es den An
ſchein , als vereinigte der Kaiſer mehrere Herzogthümer unter ſeis
ner unmittelbaren Herrſchaft. Kaiſer Heinrich III. war bei ſei
ner Thronbeſteigung Herr mehrerer großer Herzogthümer , aber
er ſchwächte ſelbſt feine Macht, indem er dieſe wieder an An
dere verlieh . Deutſchland war von Hauſe aus eine freie
Nation , und hatte nicht wie Frankreich den Mittelpunkt einer
erobernden Familie; es blieb ein Wahlreich. Die Fürſten lie
Ben ſich das Recht nicht nehmen , ihr Oberhaupt ſelbſt zu wäh
len ; bei jeder neuen Wahl machten ſie neue einſchränkende Bea
dingungen , ſo daß die kaiſerliche Macht zum leeren Schatten her
abſank. - In Italien war daſſelbe Verhältniß : die deutſchen
Kaiſer hatten Anſprüche darauf, ihre Gewalt ging aber nur ſo
weit, als ſie fich durch unmittelbare Kriegsmacht verſchafften ,
und als die italieniſchen Städte und der Adel in der Unterwer
fung einen eigenen Nußen ſahen . Italien war wie Deutſchland
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. 453

in viele größere und kleinere Herzogthümer, Grafſchaften , Bisthü


mer und Herrſchaften getheilt. Der Pabſt vermochte äußerſt we
nig , weder im Norden , noch im Süden , welcher lange Zeit zwi
ſchen Longobarden und Griechen getheiltwar, bis ſpäterhin beide
von den Normannen unterworfen wurden . - Spanien kämpfte
während des ganzen Mittelalters, theils ſich behauptend, theils
ſiegreich mit den Saracenen , bis dieſe endlich der concreteren Macht
chriſtlicher Geſittung unterlagen .
Alles Recht verſchwand ſo vor der particularen Macht,
denn Gleichheit der Rechte, Vernünftigkeit der Geſeße, wo das
Ganze, der Staat, Zweck iſt, war nicht vorhanden .
Die dritte Reaction, deren wir oben Erwähnung thaten ,
war die vom Element der Allgemeinheit aus , gegen die in Par
ticularität geſplitterte Wirklichkeit. Dieſe Neaction fam von un
ten herauf aus dein particularen Beſize ſelbſt , und wurde dann
hauptſächlich durch die Kirche aufgeſtellt. Es iſt durch die
Welt gleichſam ein allgemeines Gefühl der Nichtigkeit ihres
Zuſtandes gegangen . In dem Zuſtande vollfommener Verein
zelung, wo durchaus nur die Gewalt des Machthabers galt,
haben die Menſchen zu keiner Ruhe kommen können , und gleich
ſam ein böſes Gewiſſen hat die Chriſtenheit durchſchauert. Im
eilften Jahrhundert verbreitete ſich allgemein durch ganz Europa
die Furcht vor dem herrannahenden jüngſten Gericht und der
Glaube an den nahen Untergang der Welt. Das innerliche
Grauen trieb die Menſchen zu den widerſinnigſten Handlungen .
Einige haben ihr ganzes Befifthum der Kirche geſchenkt und ihr
Leben in beſtändiger Buße hingebracht, die Meiften haben ſich
der Schwelgerei ergeben und ihr Beſikthum verpraßt. Die Kirche
allein gewann dabei an Reichthum durch Schenkungen und Ver
mächtniffe. — Nicht minder rafften um dieſe Zeit fürchterliche
Hungersnöthe die Menſchen dahin : auf den Märkten wurde öf
fentlich Menſchenfleiſch verkauft. In dieſem Zuſtandewar nichts
als Rechtsloſigkeit, viehiſche Begierde, roheſte Wilfür, Trug und
454 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
Lift bei den Menſchen anzutreffen . Am gräulichſten ſah es in
Italien , dem Mittelpunkte des Chriſtenthums aus. Jede Tu
gend war dieſer Zeit fremd , und ſo hatte virtus ſeine eigen
thümliche Bedeutung verloren : es hieß im Gebrauch nichts An
deres als Gewalt, Zwang, zuweilen fogar Nothzudit. In gleis
cher Verdorbenheit befand ſich die Geiſtlichkeit: ihre eigenen
Vögte hatten ſich zu Herren auf den geiſtlichen Gütern gemacht
und hauſten daſelbſt nach ihrem Belieben , indem ſie den Mön
chen und Geiſtlichen nur einen ſparſamen Unterhalt zukommen
ließen . Klöſter , welche feine Vögte annehmen wollten , wurden
dazu gezwungen , indem die benachbarten Herren ſich ſelbſt oder
ihre Söhne zu Vögten machen ließen . Nur Biſchöfe und Aebte
erhielten ſich im Beſiß , indem ſie ſich theils durch eigene Macht
zu ſchüßen wußten , theils durch ihren Anhang, da ſie meiſt aus
adeligen Familien waren .
Die Bisthümer waren weltliche Territorien , und ſomit auch
zu Reichs- und Lehnsdienſten verpflichtet. Die Könige hatten
die Biſchöfe einzuſeßen, und ihr Intereſſe erheiſchte es, daß dieſe
Geiſtlichen ihnen zugethan ſeven . Wer ein Bisthum wollte,
hatte ſich deshalb an den König zu wenden , und ſo wurde ein
förmlicher Handel mit den Bisthümern und Abteien getrieben .
Wucherer, welche dem Könige Geld vorgeſtredt hatten , ließen
ſich dadurch entſchädigen , und die ſchlechteſten Menſchen kamen
ſo in Beſit von geiſtlichen Stellen . Allerdings ſollten die Geiſt
lichen von der Gemeinde gewählt werden , und es gab immer
mächtige Wahlberechtigte, aber dieſe zwang der König ſeine Be
fehle anzuerkennen . Nicht beſſer ging es mit dem päbſtlichen
Stuhl: eine lange Reihe von Jahren hindurch belegten ihn die
Grafen von Tusculum bei Rom entweder mit Mitgliedern ihrer
Familie , oder mit ſolchen , an welche ſie ihn für theures Geld
verkauft hatten . Dieſer Zuſtand wurde am Ende zu arg , daß
ſich Weltliche ſowohl wie Geiſtliche von energiſchem Charakter
demſelben widerſeßten . Kaiſer Heinrich III, machte dem Streite
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. 455
der Factionen ein Ende , indem er ſelbſt römiſche Pabſte er:
nannte, die er, wenn ſie auch vom römiſchen Adel gehaßt wur
den ,dennoch durch ſeine Autorität hinreichend unterſtüßte. Durch
Pabſt Nicolaus II. wurde beſtimmt, daß die Päbfte von den
Cardinälen gewählt werden ſollten : da dieſe aber zum Theil .
aus herrſchenden Familien waren , ſo treten bei der Wahl im
mer noch ähnliche Zwiſtigkeiten der Factionen ein . Gregor VII,
(ſchon als Cardinal Hildebrand berühmt) ſuchte nun die Unab
hängigkeit der Kirche in dieſem grauenvollen Zuſtande beſonders
durch zwei Maaßregeln zu ſichern . 3 uerſt ſeßte er das Cöli:
bat der Geiſtlichkeit durch. Schon von den früheſten Zeiten
an hatte man nämlich dafür gehalten, daß es gut und angemeſ
ſen wäre , wenn die Geiſtlichen nicht verheirathet Feyen . Doch
melden die Geſchichtsſchreiber und Chroniſten , daß dieſer Anfor
derung wenig Genüge geleiſtet wurde. Nicolaus II. hatte ſchon
die verheiratheten Geiſtlichen für eine neue Secte erklärt ; Gres
gor VII. aber vollendete mit ſeltener Energie dieſe Maaßregel, ins
dem er alle verheiratheten Geiſtlichen und alle laien , die bei
dieſen Meſſe hören würden , in den Bann that. Auf dieſe Weiſe
wurde die Geiſtlichkeit auf ſich angewieſen und von der Sittlich
feit des Staates ausgeſchloſſen . - Die zweite Maaßregel war
gegen die Simonie gerichtet , nämlich gegen den Verkauf oder
die willkürliche Belegung der Bisthümer oder des päbſtlichen
Stuhles ſelbſt. Die geiſtlichen Stellen ſollten fortan nur von
den ſie verdienenden Geiſtlichen beſeftwerden , eine Beſtimmung,
welche die Geiſtlichen in großen Streit mit den weltlichen Herr
fitaften bringen mußte.
Dieſe zwei großen Maaßregeln ſind es, durch welche Gregor
die Kirche vom Zuſtande der Abhängigkeit und Gewaltthätigkeit
befreien wollte. Gregor machte aber noch weitere Anforderungen
an die weltliche Macht: es ſollten nämlich alle Beneficien nur
durch die Ordination des kirchlichen Oberen dem Neueingeſeßten
zufallen , und nur der Pabſt ſollte über das ungeheure Vermö:
456 Vierter Theil. Die germaniſớe Welt.
gen der Geiſtlichkeit zu disponiren haben . Die Kirche wollte
als göttliche Macht die Herrſchaft über die weltliche, von dem
abſtracten Principe ausgehend, daß das Göttliche höher ſtehe
als das Weltliche. Der Kaiſer mußte bei ſeiner Krönung,
welche nur dem Pabſte zufam , einen Eid leiſten , daß er dem
Pabſte und der Kirche immer gehorſam ſeyn wolle. Ganze
tänder und Staaten wie Neapel, Portugal, England, Ir
land famen in ein förmliches Vaſallenverhältniß zum päbſtlichen
Stuhle.
Die Kirche erhielt ſo eine ſelbſtſtändige Stellung : die Bis
ſchöfe verſammelten in den verſchiedenen Ländern Synoden , und
an dieſen Zuſammenberufungen hatte der Klerus einen fort
dauernden Anhaltspunkt. Auf dieſe Weiſe kam die Kirche zum
größten Einfluß in den weltlichen Angelegenheiten : fte maaßte
ſich die Entſcheidung über die Krone der Fürſten an, machte die
Vermittlerin zwiſchen den Mächten in Krieg und Frieden . Die
nähere Veranlaſſung, welche die Kirche zu dieſer Einmiſchung in
die weltlichen Angelegenheiten hatte , war die Ehe der Fürſten .
Es kam nämlich oft vor, daß die Fürſten von ihren Gemah
linnen geſchieden ſeyn wollten , und dazu bedurften ſie der Er
laubniß der Kirche. Dieſe nahm nun die Gelegenheitwahr , auf
ihren ſonſtigen Forderungen zu beſtehen , und ſo ging ſie weiter
und wußte ihren Einfluß auf Alles auszudehnen . Bei der all
gemeinen Unordnung wurde das Dazwiſchentreten der Autorität
der Kirche als Bedürfniß gefühlt. Durch die Einführung des
Gottesfriedens wurde die Unterbrechung der Fehden und der
Privatrache wenigſtens für gewiſſe Wochentage und Wochen er :
langt; und die Kirche behauptete dieſen Waffenſtillſtand mit allen
ihren geiſtlichen Mitteln des Bannes , des Interdicts und an
derer Drohungen und Strafen . Durch die weltlichen Beſißungen
kam aber die Kirche in ein ihr eigentlich fremdes Verhältniß zu
den andern weltlichen Fürſten und Herren , ſie bildete eine furcht
bare weltliche Macht gegen dieſelben , und war zunächft ſo ein
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. 457

Mittelpunkt des Widerſtandes gegen Gewaltthätigkeit und Wil


für. Insbeſondere widerſtand fte den Gewaltthätigkeiten gegen
die Stifter, die weltlichen Herrſchaften der Biſchöfe; und wenn
die Vafallen der Gewalt und Widfür der Fürſten ihre Gewalt
entgegenſekten , ſo wurden ſie dabei vom Pabſte unterſtüßt. So
aber ſeßte ſie ſelbſt nur gleiche Gewalt und Wilfür entgegen und
vermiſchte ihr weltliches Intereſſe mit dem Intereſſe der Kirche
als geiſtlicher, d . h . göttlich ſubſtantieller Macht. Die Dynaſten
und Völfer haben das wohl zu unterſcheiden gewußt und in
der Einmiſchung der Kirche die weltlichen Zwecke erkannt. Sie
haben daher die Kirche unterſtüßt, inſofern es ihr eigener Vor
theil war , ſonſt aber den Bann und die geiſtlichen Mittel we
nig geſcheut. Am wenigſten wurde die Autorität der Päbſte in
Italien geachtet, und die Römer ſind am ſchlechteſten mit ihnen
umgegangen . Was ſo die Päbfte an Land und Gütern und
an directer Herrſchaft gewannen , verloren ſie an Anſehen und
Achtung .
Wir haben nun weſentlich die geiſtige Seite der Kirche,
die Form ihrer Macht zit betrachten . Das Weſen des chriſtli
chen Princips iſt ſchon früher entwickelt worden , es iſt das
Princip der Vermittelung. Der Menſch wird erſt als geiſtiges
Weſen wirklich , wenn er ſeine Natürlichkeit überwindet. Dieſe
Ueberwindung wird nur durch die Vorausſeßung möglich , daß
die menſchliche und göttliche Natur an und für ſich eins ſeyen ,
und daß der Menſch, inſofern er Geiſt iſt, auch die Weſentlich
keit und Subſtantialität hat, die dem Begriffe Gottes angehört.
Die Vermittelung iſt eben durch das Bewußtſeyn dieſer Einheit
bedingt, und die Anſchauung dieſer Einheit iſt dem Menſchen in
Chrifto gegeben wurden . Die Hauptſache nun iſt, daß der
Menſch dieſes Bewußtſeyn ergreife und daß es beſtändig in ihm
geweckt werde. Dieß ſollte in der Meſſe geſchehen : in der
Hoftie wird Chriſtus als gegenwärtig dargeſtellt: das Stück=
chen Brud, durch ģen Prieſter geweiht, iſt der gegenwärtige
458 Vierter Theil. Die germaniſởhe Welt.
Gott, der zur Anſchauung kommt und ewig geopfert wird. Es
iſt darin das Richtige erkannt, daß das Opfer Chriſti ein wirt
liches und ewiges Geſchehen iſt, inſofern Chriſtus nicht bloß
ſinnliches und einzelnes, ſondern ganz allgemeines, d. h. göttli
ches Individuum iſt; aber das Verfehrte iſt, daß das ſinnliche
Moment für ſich iſolirt wird und die Verehrung der Hoftie, auch
inſofern ſie nicht genoſſen wird, bleibt, daß alſo die Gegenwart
Chriſti nicht weſentlich in die Vorſtellung und den Geiſt geſeßt
wird . Mit Recht ging die lutheriſche Reformation beſonders
gegen dieſe Lehre. Luther ſtellte den großen Saß auf, daß die
Hoſtie nur etwas ſey und Chriſtus nur empfangen werde, im
Glauben an ihn ; außerdem ſeyy die Hoſtie nur ein äußerliches
Ding, das keinen größeren Werth habe, als jedes andere. Der
Katholik aber fält vor der Hoſtie nieder, und ſo iſt das Aeußer
liche zu einem Heiligen gemacht. Das Heilige als Ding hat
den Charakter der Aeußerlichkeit, und inſofern iſt es fähig in
Beſitz genommen zu werden von einem Anderen gegen mich : es
kann ſich in fremder Hand befinden , weil der Proceß nicht im
Geiſte vorgeht, ſondern durch die Dingheit ſelbſt vermitteltwird.
Das höchſte Gut des Menſchen iſt in anderen Händen . Hier
tritt nun ſogleich eine Trennung ein zwiſchen Solchen , die dieſes
beſigen , und Solchen , die es von Anderen zu empfangen haben ,
zwiſchen der Geiſtlichkeit und den Laien . Die Laien find dem
Göttlichen fremd. Dieß iſt die abſolute Entzweiung, in welcher.
die Kirche im Mittelalter befangen war : ſie iſt daraus entſtan
den , daß das Heilige als Aeußerliches gewußt wurde. Die
Geiſtlichkeit ſtellte gewiſſe Bedingungen auf, unter welchen die
Laien des Heiligen theilhaftig werden könnten. Die ganze Ent
wiđelung der Lehre, die Einſicht, die Wiſſenſchaft des Göttli
chen iſt durchaus im Beſige Der Kirche: ſie hat zu beſtimmen
und die Laien haben nur ſchlechtweg zu glauben : der Gehorſam
iſt ihre Pflicht, der Gehorſam des Glaubens , ohne eigene Eins
ficht. Dieß Verhältniß hat den Glauben zu einer Sache des
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. 459

äußerlichen Rechts gemacht und iſt fortgegangen bis zu Zwang


und Scheiterhaufen .
. Wie die Menſchen ſo von der Kirche abgeſchnitten ſind, ſo
ſind ſie es von allem Heiligen . Denn da der Klerus überhaupt
das Vermittelnde zwiſchen den Menſchen und zwiſchen Chriſtus
und Gott iſt, ſo kann ſich auch der Laie nicht unmittelbar zu
demſelben in ſeinen Gebeten wenden , ſondern nur durch Mittels
perſonen ,durch verſöhnende Menſchen , Verſtorbene, Vollendete -
die Heiligen. So kam die Verehrung der Heiligen auf, und
zugleich dieſe uinmaſſe von Fabeln und Lügen , die Heiligen und
ihre Geſchichte betreffend. Im Morgenlande war ſchon früh der
Bilderdienſt herrſchend geweſen und hatte ſich nach langen Strei
tigkeiten behauptet; das Bild , das Gemälde gehört noch
mehr der Vorſtellung an , aber die rohere abendländiſche Natur
verlangte etwas inmittelbareres für die Anſchauung , und ſo
entſtand der Reliquiendienſt. Eine förmliche Auferſtehung der
Todten erfolgte in den Zeiten des Mittelalters : jeder fromme
Chriſt wollte im Beſit ſolcher heiligen irdiſchen Ueberreſte ſeyn.
Der Hauptgegenſtand der Verehrung unter den Heiligen war die
Mutter Maria. Sie iſt allerdings das ſchöne Bild der rei
nen Liebe , der Mutterliebe, aber der Geiſt und das Denken iſt
noch höher , und über dem Bilde ging die Anbetung Gottes im
Geiſte verloren und ſelbſt Chriſtus iſt aufdie Seite geſtellt worden .
Das Vermittelnde zwiſchen Gott und dem Menſchen iſt alſo als
etwas Aeußerliches aufgefaßt und gehalten worden : damit wurde
durch die Verkehrung des Princips der Freiheit die abſolute Un
freiheit zum Geſeße. Die weiteren Beſtimmungen und Verhält:
niſſe ſind eine Folge dieſes Princips. Das Wiffen , die Er
kenntniß der Lehre iſt etwas, deſſen der Geiſt unfähig iſt, fie iſt
allein im Beſitz eines Standes , der das Wahre zu beſtimmen
hat. Denn der Menſch iſt zu niedrig , um in einer directen
Beziehung zu Gott zu ſtehen , und, wie ſchon geſagt worden iſt,
wenn er ſich an denſelben wendet, ſo bedarf er einer Mitteld :
460 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

perſon , eines Heiligen . Inſofern wird die an ſich ſeyende Ein


heit des Göttlichen und Menſchlichen geläugnet, indem der
Menſch als ſolcher für unfähig erklärt wird das Göttliche zu
erkennen und ſich demſelben zu nähern . Bei dieſer Trennung,
in der der Menſch ſich vom Guten befindet, wird nicht auf eine
Aenderung des Herzens als ſolche gedrungen , was vorausſeşte,
daß die Einheit des Göttlichen und Menſchlichen im Menſchen
befindlich wäre, ſondern es werden die Schrecken der Hölle mit
den furchtbarſten Farben dem Menſchen gegenübergeſtellt, auf daß
er ihnen , nicht etwa durch Beſſerung, ſondern vielmehr durch ein
Aeußerliches - die Gnaden mittel entgehen ſolle. Dieſe jedoch
ſind den Laien unbekannt, ein Anderer – der Beichtva :
ter muß ſie ihnen an die Hand geben. Das Individuum hat
zu beichten , muß die ganze Particularität ſeines Thuns vor der:
Anſicht des Beichtvaters ausbreiten , und erfährt dann , wie es
fich zu verhalten habe. So hat die Kirche die Stelle des Ge
wiſſens vertreten : ſie hat die Individuen wie Kinder geleitet,
und ihnen geſagt, daß der Menſch von den verdienten Qualen
befreit werden könne, nicht durch ſeine eigene Beſſerung, ſondern
durch äußerliche Handlungen , opera operata – Handlungen
nicht des guten Willens , ſondern die auf Befehl der Diener
der Kirche verrichtet werden , als : Meſſe hören , Büßungen an :
ſtellen , Gebete verrichten, pilgern , Handlungen , die geiſtlos ſind,
den Geiſt ſtumpf machen , und die nicht allein das an fich tra
gen , daß ſie äußerlich verrichtet werden , ſondern man kann ſie
noch dazu von Anderen verrichten laſſen . Man kann ſich ſogar
von dem Ueberfluß der guten Handlungen , welche den Heiligen
zugeſchrieben werden , einige erfaufen , und man erlangt damit
das Heil, das dieſe mit ſich bringen . So iſt eine vollkommene
Verrückung alles deſſen , was als gut und fittlich in der chriſt
lichen Kirche anerkannt wird , geſchehen : nur äußerliche Forbes
rungen werden an den Menſchen gemacht und dieſen wird
auf äußerliche Weiſe genügt. Das Verhältniß der abſoluten
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. 461

Unfreiheit iſt ſo in das Princip der Freiheit ſelbſt hinein


gebracht.
Mit dieſer Verkehrung hängt die abſolute Trennung des
geiſtigen und weltlichen Princips überhaupt zuſammen . Es giebt
zwei göttliche Reiche, das intellectuelle in Gemüth und Erkennt
niß und das ſittliche, deſſen Stoff und Boden die weltliche Eri
ſtenz iſt. Die Wiſſenſchaft iſt es allein , welche das Reich Got
tes und die ſittliche Welt als Eine Idee faſſen kann , und welche
erkennt, daß die Zeit darauf hingearbeitet hat, dieſe Einheit aus
zuführen. Die Frömmigkeit aber als ſolche hat es nicht mit dem
Weltlichen zu thun ; fie tritt darin wohl in der Weiſe der Barm
herzigkeit auf, aber dieſe iſt noch nicht rechtlich fittliche Weiſe, noch
nicht Freiheit. Die Frömmigkeit iſt außer der Geſchichte und
ohne Geſchichte , denn die Geſchichte iſt vielmehr das Reich des
in ſeiner ſubjectiven Freiheit ſich gegenwärtigen Geiſtes , als fitt
liches Reich des Staates . Im Mittelalter nun iſt nicht dieſe
Verwirklichung des Göttlichen , ſondern der Gegenſaß unausge
glichen. Das Sittliche iſt als ein Nichtiges aufgeſtellt worden ,
und zwar in ſeinen wahrhaften drei Hauptpunkten .
Eine Sittlichkeit iſt nämlich die der Liebe, der Empfindung me
in dem ehelichen Verhältniſſe. Man muß nichtſagen , das
Cölibat ſey gegen die Natur, ſondern gegen die Sittlichkeit. Die
Che wurde nun zwar von der Kirche zu den Sacramenten ge
rechnet, troß dieſem Standpunkte aber degradirt, indem die Ehe
loſigkeit als das Heiligere gilt. Eine andere Sittlichkeit liegt
in der Thätigkeit , in der Arbeit des Menſchen für ſeine Sub
fiſtenz. Darin liegt ſeine Ehre, daß er in Nückſicht auf ſeine
Bedürfniſſe nur von ſeinem Fleiße, ſeinem Betragen und ſeinem
Verſtande abhänge. Dieſem gegenüber wurde nun die Armuth ,
die Trägheit und Unthätigkeit als höher geſtellt , und das Un
fittliche lo zum Heiligen geweiht. Ein drittes Moment der
Sittlichkeit iſt, daß der Gehorſam auf das Sittliche und Ver
nünftige gerichtet ſer , als der Gehorſam gegen die Gefeße , die
462 "Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
ich als die rechten weiß, nicht aber der blinde und unbedingte,
der nicht weiß,was er thut, und ohne Bewußtſeyn und Kenntniß
in ſeinem Handeln herumtappt. Dieſer lektere Gehorſam aber
gerade galt als der Gottwohlgefälligſte, wodurch alſo die Obe
dienz der Unfreiheit, welche die Wiüfür der Kirche auferlegt, über
den wahren Gehorſam der Freiheit gelegt iſt.
Alſo find die drei Gelübde der Keuſchheit, der Armuth und
des Gehorſams gerade das ilmgekehrte deſſen , was ſie ſeyn ſoll
I ten , und in ihnen iſt alle Sittlichkeit degradirt worden . Die Kirche
war keine geiſtige Gewalt mehr, ſondern eine geiſtliche, und
die Weltlichkeit hatte zu ihr ein geiſtloſes , willenloſes und ein
ſichtsloſes Verhältniß. Als Folge davon erbliden wir überall
Laſterhaftigkeit, Gewiſſenloſigkeit, Schamloſigkeit, eine Zerriffen
heit, deren weitläufiges Bild die ganze Geſchichte der Zeit giebt.
Nach dem Geſagten zeigt ſich uns die Kirche des Mittelalters
als ein vielfacher Widerſpruch in fich. Der ſubjective Geiſt
nämlich , wenn auch vom Abſoluten zeugend, iſt dennoch auch zu
gleich endlicher und eriſtirender Geiſt, als Intelligenz und Wille.
Seine Endlichkeit beginnt damit, in dieſen Unterſchied herauszu
treten, und hier fångt zugleich der Widerſpruch und das Erſchei
nen der Entfremdung an ; denn die Intelligenz und der Wille
ſind nicht von der Wahrheit durchdrungen , die für ſie nur ein
Gegebenes iſt. Dieſe Aeußerlichkeit des abſoluten Inhalts bes
ſtimmt ſich für das Bewußtſeyn ſo, daß er als finnliches, äußer
liches Ding, als geineine äußerliche Eriſtenz vorkommt, und doch
auch ſo als Abſolutes gelten ſoll: diefe abſolute Zumuthung
wird dem Geiſte hier gemacht. Die andere Form des Wider
ſpruchs betrifft das Verhältniß in der Kirche als ſolcher. Der
wahrhafte Geiſt eriſtirt im Menſchen , iſt ſein Geiſt, und die
Gewißheit dieſer Identität mit dein Abſoluten giebt ſich das In
dividuum im Cultus, während die Kirche nur das Verhältniß
einer Lehrerin und Anordnerin dieſes Cultus einnimmt. Aber hier
iſt vielmehr der geiſtliche Stand, wie die Bramahnen bei den
Zweiter Abidnitt. Das Mittelalter. - 463

Indern , im Beſiße der Wahrheit, zwar nicht durch Geburt, font


dern durch Erkenntniß , Lehren , Uebung, aber ſo, daß dieß allein
nicht hinreichend iſt, ſondern nur eine äußerliche Weiſe, ein geiſt
- loſer Beſißtitel, den Beſiß erſt wirklich conſtituirt. Dieſe äußer
liche Weiſe iſt die Prieſterweihe, ſo daß die Conſecration weſent
lich als ſinnlich am Individuum haftet, ſein Inneres mag be
ſchaffen ſeyn , wie es will, - irreligiös, unmoraliſch , unwiſſend
in jeder Rückſicht. Die dritte Art des Widerſpruchs iſt die
Kirche, inſofern ſie als eine äußerliche Eriſtenz Beſikthümer und
ein ungeheures Vermögen erhielt,was, da ſie eigentlich den Reich
thum verachtet oder verachten ſoll, eine Lüge iſt.
Auf ähnliche Weiſe iſt der Staat des Mittelalters , wie wir
ihn betrachtet, in Widerſprüche verwickelt. Wir haben oben von
einem Kaiſerthum geſprochen , das der Kirche zur Seite ſtehen
und ihr weltlicher Arm ſeyn ſoll. Aber dieſe anerkannte Macht
hat den Widerſpruch in fich , daß dieſes Kaiſerthum eine leere
Ehre iſt, ohne Ernſt für den Kaiſer ſelbſt oder die, welche durch
ihn ihre ehrſüchtigen Zwecke erfüllen wollen , denn die Leidenſchaft
und Gewalt eriſtiren fürſich, ununterworfen durch jene bloß allge:
mein bleibende Vorſtellung. Zweitens iſt aber das Band an
dieſem vorgeſtellten Staat, das wir True nennen , der Willfür
des Gemüths anheimgeſtellt, welches keine objectiven Pflichten
anerkennt. Dadurch aber iſt dieſe Treue das Allerungetreueſte.
Die deutſche Ehrlichkeit des Mittelalters iſt ſprüchwörtlich gewor
den : betrachten wir ſie aber näher in der Geſchichte , ſo ift fie
eine wahre punica fides oder graeca fides zu nennen , denn
freu und redlich ſind die Fürſten und Vaſalen des Kaiſers nur
gegen ihre Selbſtſucht, Eigennuß und Leidenſchaft, durchaus un
treu aber gegen das Reich und den Kaiſer, weil in der Treue
als - ſolcher ihre ſubjective Widfür berechtigt und der Staat nicht
als ein fittliches Ganze organiſirt iſt. Ein dritter Widerſpruch
iſt der der Individuen in fich , der der Frömmigkeit, der ſchönſten
und innigſten Andacht, und dann der Barbarei der Intelligenz
464 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
und des Willens. Es iſt Renntniß der allgemeinen Wahrheit da ,
und doch die ungebildetſte, roheſte Vorſtellung über Weltliches und
Geiſtiges vorhanden : grauſames Wüthen der Leidenſchaft und
chriſtliche Heiligkeit, welche allem Weltlichen entſagt und ganz fich
dem Heiligen weiht. Sowiderſprechend, ſo betrugvoll iſt dieſes
Mittelalter, und es iſt eine Abgeſchmacktheitunſerer Zeit die Vor
trefflichkeit deſſelben zum Schlagwort machen zu wollen. Unbe
fangene Barbarei, Wildheit der Sitte, kindiſche Einbildung iſt
nicht empörend, ſondern nur zu bedauern ; aber die höchſte Rein
heit der Seele durch die gräulichſte Wildheit beſudelt, die gewußte
Wahrheit durch Lüge und Selbſtſucht zuin Mittel gemacht , das
Vernunftwidrigſte, Roheſte, Schmußigſte durch das Religiöſe be
gründet und befräftigt, - dieß iſt das widrigſte und empörendſte
Schauſpiel, das jemals geſehen worden , und das nur die Phi
loſophie begreifen und darum rechtfertigen kann . Denn es iſt
ein nothwendiger Gegenſaß, welcher in das Bewußtſern des Heis "
ligen treten muß, wenn dieß Bewußtſeyn noch erſtes und unmit
telbares Bewußtſeyn iſt; und je tiefer die Wahrheit iſt, zu der
der Geiſt ſich an ſich verhält, indem er zugleich noch nicht ſeine
Gegenwart in dieſer Tiefe erfaßt hat, deſto entfremdeter iſt er
ſich ſelbſt in dieſer ſeiner Gegenwart: aber nur aus dieſer Ent
fremdung gewinnt er ſeine wahrhafte Verſöhnung.
Wir haben nun die Kirche als Reaction des Geiſtigen
gegen die vorhandene Weltlichkeit geſehen , aber dieſe Reaction iſt
in fich ſo beſchaffen , daß ſie das, wogegen ſie reagirt, fich nur
unterthänig macht, nicht aber daſſelbe reformirt. Indem ſich das
Geiſtige, durch ein Princip der Verrüdung ſeines eigenen Inhalts ,
die Gewalt erwirbt, hat ſich auch eine weitliche Herrſchaft con
ſolidirt und ſich zu einem Syſtematiſchen , dem Feudalſyſtem
entwickelt. Da die Menſchen durch ihre Iſolirung auf indivi
duelle Kraft und Macht reducirt find, ſo wird jeder Punkt, auf
welchem ſie ſich in der Welt aufrecht erhalten , ein energiſcher.
Wenn das Individuum noch nicht durch Gefeße, ſondern nur
Zweiter Abſcảnitt. Das Mittelalter. 465
durch ſeine eigene Kraftanſtrengung geſchüßt iſt, ſo iſt eine allge
meine Lebendigkeit, Betriebſamkeit und Erregung vorhanden . Da
die Menſchen durch die Kirche der ewigen Seligkeit gewiß ſind,
und dazu ihr nur geiſtig gehorſam zu ſeyn brauchen , ſo wird
andererſeits ihre Sucht nach weltlichem Genuß um ſo größer , je
weniger daraus für das geiſtige Heil irgend ein Schaden ent
ſteht ; denn für alle Widfür, allen Frevel, alle laſter ertheilt die
Kirche Ablaß, wenn er verlangt wird .
Vom eilften bis zum dreizehnten Jahrhundert entſtand ein
Drang, der ſich auf vielfache Weiſe äußerte. Die Gemeinden fins
gen an , ungeheure Gotteshäuſer zu erbauen , Dome, errichtet zur
Umſchließung der Gemeinde. Die Baukunſt iſt immer die erſte
Kunſt, welche das unorganiſche Moment, die Behauſung des
Gottes , bildet; dann erſt verſucht es die Kunſt, den Gott ſelbſt,
das Objective der Gemeinde darzuſtellen . Von den Städten an
den italieniſchen , ſpaniſchen , flandriſchen Küſten wurde ein lebhaf
ter Seehandel getrieben , welcher wiederum eine große Regſamkeit
der Gewerbe bei ihnen hervorrief. Die Wiſſenſchaften begannen
einigermaßen wieder aufzuleben : die Scholaſtikwar im Schwunge,
Rechtsſchulen wurden zu Bologna und an andern Orten geſtif
tet , ebenſo mediciniſche. Allen dieſen Schöpfungen liegt als
Hauptbedingung die Entſtehung und wachſende Bedeutung
der Städte zu Grunde; ein Thema, das in neueren Zeiten ſehr
beliebt geworden iſt. Für dieſes Entſtehen der Städte war ein
großes Bedürfniß vorhanden . Wie die Kirche ftellen ſich die
Städte nämlich als Reactionen gegen die Gewaltthätigkeit des :
Feudalweſens dar, als erſte in ſich rechtliche Macht. Es ift
ſchon früher des Umſtandes Erwähnung geſchehen , daß die Ge
waltigen Andere zwangen , Schuß bei ihnen zu ſuchen . Solche
Schußpunkte waren Burgen , Kirchen und Klöſter, um welche
herum ſich die Schußbedürftigen , die nunmehr Bürger , Schuß
pflichtige der Burgherrn und Klöfter wurden , verſammelten . So
bildete ſich an vielen Orten ein feſtes Zuſammenſeyn . Aus den
Philoſophie 0. Gedište. 3 . Aufl. 30
466 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
alten Römerzeiten hatten fich noch viele Städte und Caftelle in
Italien , im ſüdlichen Frankreich und in Deutſchland am Rhein ,
erhalten , welche anfänglich Municipalrechte hatten , ſpåterhin aber
dieſelben unter der Herrſchaft der Vögte verloren . Die Städter
waren Leibeigene geworden , wie die Landbewohner.
Aus dem Schußverhältniß erwuchs jedoch nunmehr das
Princip des freien Eigenthums, das heißt, aus der Unfreiheit
die Freiheit. Die Dynaften oder adeligen Herren hatten eigentlich
auch kein freies Eigenthum ; ſie hatten alle Gewalt über ihre
Untergebenen , zugleich waren ſie aber auch Vaſallen von Höhe
ren und Mächtigeren , ſie hatten Verpflichtungen gegen dieſelben ,
die fte freilich nur, wenn ſie gezwungen wurden, erfülten . Die
alten Germanen hatten nur von freiem Eigenthum gewußt, aber
dieſes Princip hatte ſich zur vollkommenen Infreiheit verkehrt,
und erſt jeßt erbligen wir wenige ſchwache Anfänge eines wies
dererwachenden Sinnes für Freiheit. Individuen , welche durch
den Boden , den ſie bebauten , einander nahe gebrachtwaren , bil
deten unter fich eine Art von Bund, Conföderation oder Conju
ration . Sie famen überein für ſich das zu ſeyn und zu leiſten ,
was fie früher allein dem Herrn geleiſtet hatten . Die erſte ges
meinſame Unternehmung war, daß ein Thurm , in dem cine Gloce
aufgehängtwar, erbaut wurde: auf das Läuten der Glocke muß
ten ſich Ade einfinden , und die Beſtimmung des Vereins war,
auf dieſe Weiſe eine Art Miliz zu bilden . Der weitere Fortgang
iſt alsdann , daß eine Obrigfeit von Schöppen , Geſchwornen ,
Conſuln eingeſetzt wird und die Einrichtung einer gemeinſchafts
lichen Kaffe, die Erhebung von Abgaben , Zöllen 11. ſ. w . ſich
findet. Gräben und Mauern werden als gemeinſame Schußmit:
tel gezogen, und dem Einzelnen wird verboten, beſondere Befeſti
gungen für ſich zu haben. In ſolcher Gemeinſamkeit ſind die
Gewerbe, die ſich vom Aderbau unterſcheiden , einheimiſch . Die
Gewerbtreibenden mußten bald einen nothwendigen Vorrang vor
den Ackerbauern gewinnen , denn dieſe wurden mit Gewalt zu
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. 467

Arbeit getrieben ; jene aber hatten eigene Thätigkeit, Fleiß und


Intereſſe am Erwerb. Die Erlaubniß, ihre Arbeit z11 verkaufen ,
und ſich ſo etwas zu verdienen , mußten früher die Gewerbsleute
auch erſt von den Herren einholen : fie mußten ihnen für dieſe
Freiheit des Marktes eine gewiſſe Summe entrichten , und außer
dem bekamen die Herren noch immer einen Theil des Erworbes
nen . Diejenigen , welche eigene Häuſer hatten , mußten einen bes
trächtlichen Erbzins dafür entrichten ; von Allem , was ein - und
ausging, erhoben ,die Herren große Zölle, und für die zugeftan
dene Sicherheit der Wege gaben ſie Geleitsgeld . Als ſpäterhin
dieſe Gemeinheiten erſtarkten , wurden den Herren alle Rechte
abgekauft oder mit Gewalt abgenöthigt: die Städte erkauften
fich allmählig die eigene Gerichtsbarkeit und befreiten fich ebenſo
von allen Abgaben , Zöllen , Zinſen . Am längſten erhielt ſich noch
die Einrichtung, daß die Städte den Kaiſer und ſein ganzes Ges
folge während ſeines Aufenthalts verpflegen mußten , und auf
dieſelbe Weiſe die kleinen Dynaſten . Das Gewerbe theilte
fich ſpäter in 3 ünfte, deren jede beſondere Nechte und Ver
pflichtungen erhielt. Die Factionen , welche ſich bei der Wahl
der Biſchöfe und anderen Gelegenheiten bildeten , haben den
Städten ſehr oft zu dieſen Nechten verholfen. Wenn es nämlich
oft geſah, daß zwei Biſchöfe für einen gewählt wurden , ſo
ſuchte jeder die Bürger in ſein Intereſſe zu ziehen , indem er ih
nen Privilegien und Befreiung von Abgaben zugeſtand. Später
hin treten auch manche Fehden mit der Geiſtlichkeit, den Biſchö
fen und Aebten ein . In einzelnen Städten erhielten ſie ſich als
Herren, in anderen blieben die Bürger Meiſter und inachten fich
frei. So befreite fich zum Beiſpiel Cöln von ſeinem Biſchof,
Mainz jedoch nicht. Nach und nach erſtarften die Städte zu
freien Republiken : in Italien ganz beſonders, dann in den Nie
derlanden , in Deutſchland, Frankreich. Sie treten bald in ein
eigenthümliches Verhältniß zum Adel. Dieſer vereinigte ſich mit
den Corporationen der Städte , und machte ſelbſt , wie z. B . in
30 *
468 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

Bern , eine Zunft aus. Bald maaßte er fich in den Corpora


tionen der Städte eine beſondere Gewalt an und gelangte zur
Herrſchaft: die Bürger lehnten ſich aber dagegen auf und erlang,
ten für fich die Regierung. Die reichen Bürger (populus cras
sus) ſchloſſen nun den Adel aus. Wie dieſer aber in Factio
nen , beſonders in Ghibellinen und Guelfen , wovon jene fich dem
Kaiſer , dieſe dem Pabſte anſchloſſen , getheilt war , ſo zerfielen nun
auch wiederum die Bürger in ſich. Die ſiegende Faction ſchloß
die unterliegende von der Regierung aus. Der patriciſche Adel,
welcher im Gegenſaß des Adels der Dynaſten auftrat, entfernte
das gemeine Vult von der Leitung des Staates , und machte es
ſo nicht beſſer als der eigentliche Adel. Die Geſchichte der Städte
iſt eine beſtändige Abwechſelung von Verfaſſungen , je nachdem
dieſer Theil der Bürgerſchaft oder jener , dieſe oder jene Faction
die Oberhand bekam . Ein Ausſchuß von Bürgern wählte an
fänglich die Magiſtratsperſonen , aber da bei dieſen Wahlen im
mer die ſtegende Faction ſtets den größten Einfluß hatte , fo blieb,
um unpartheiiſche Beamte zu bekommen , fein anderes Mittel
übrig , als daß man Fremde zu Richtern und Poteſtaten wählte.
Häufig geſchah es auch , daß die Städte fremde Fürſten zu Ober
häuptern erwählten und ihnen die Signoria übergaben . Aber
alle dieſe Einrichtungen waren nur von kurzer Dauer ; die Für
ſten mißbrauchten bald ihre Oberherrſchaft zu ehrgeizigen Planen
und zur Befriedigung ihrer Leidenſchaften , und wurden nach we
nigen Jahren ihrer Herrſchaft wieder beraubt. – Die Geſchichte
der Städte bietet ſo einerſeits in der Einzelheit der fürchterlichſten
und ſchönſten Charaktere erſtaunlich viel Intereſſantes dar, an
dererſeits ſtößt die nothwendigerweiſe chronifenartige Abfaſſung
dieſer Geſchichte zurück . Betrachten wir dieſes unruhige und ver
änderliche Treiben im Innern der Städte, die fortwährenden
Kämpfe der Factionen , fo erſtaunen wir , wenn wir auf der an
deren Seite die Induſtrie , den Handel zu Land und zu Waſſer
in der höchſten Blüthe ſehen . Es iſt daſſelbe Princip der les
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. 469
bendigkeit, bas, gerade von dieſer inneren Erregung genährt , dieſe
Erſcheinung hervorbringt.
Wir haben jeßt die Kirche, die ihre Gewalt über alle Neiche
ausdehnte , und die Städte , wo ein rechtlicher Zuſtand zuerſtwie
der begann , als die gegen die Fürſten und Dynaſten reagirenden
Mächte geſehen . Gegen dieſe beiben ſich feſtſtellenden Gewalten
erfolgte nun eine Reaction der Fürſten ; der Kaiſer erſcheint jeßt
im Kampfe gegen den Pabſt und die Städte. Der Kaiſer wird
vorgeſtellt als die Spiße der chriſtlichen , das heißt der weltlichen
Macht, der Pabſt dagegen als die der geiſtlichen Macht, die nun
aber ebenſo eine weltliche geworden war. Es war der Theorie
nach unbeſtritten , daß der römiſche Kaiſer das Haupt der Chri
ſtenheit ſey , daß er das dominium mundi beſiße, daß , da alle
chriſtlichen Staaten zum römiſchen Reiche gehören , alle Fürſten
ihm in ziemlichen und billigen Dingen untergeben ſeyn ſollen.
So wenig die Kaiſer ſelbſt an dieſer Autorität zweifelten , ſo
hatten ſie doch zu viel Verſtand , fie ernſthaft geltend zu machen :
aber die leere Würde eines römiſchen Kaiſers galt ihnen doch
genug, um alle ihre Kräfte daran zu ſeßen , fie in Italien zu
gewinnen und zu behaupten . Die Ottonen beſonders haben den
Gedanken der Fortſeßung des altrömiſchen Kaiſerthums auf
genommen und haben die deutſchen Fürſten immer aufs neue zum
Römerzuge aufgefordert, wobei ſie dann oft von dieſen verlaſſen
wurden und ſchimpflich wieder abziehen mußten. Eben ſolche
Täuſchung haben die Italiener erfahren , welche vom deutſchen
Kaiſer Rettung von der Pöbelherrſchaft in den Städten oder von
der allgemeinen Gewaltthätigkeit des Adels hofften . Die italienis
ſchen Fürſten , welche den Kaiſer herbeigerufen und ihm Hülfe
zugeſagt hatten , ließen ihn wieder in Stich , und die , welche vor
her Rettung für das Vaterland erwartet hatten , erhoben dann
bittre Klagen , daß ihre ſchönen Länder von Barbaren verwüſtet
ihre gebildeteren Sitten mit Füßen getreten würden , und daß
auch Recht und Freiheit, nachdem der Kaiſer ſie verrathen , 24
470 Vierter Theil. Die germaniſớe Welt.
Grunde gehen müßten . Rührend und tief ſind beſonders die
Klagen und Vorwürfe, welche Dante den Kaiſern macht.
Die andere Beziehung zu Italien , welche zugleich mit der er
ften vornehmlich von den großen Schwaben , den Hohenſtau
fen, durchgefämpft wurde, war das Beſtreben , die ſelbſtſtändig
gewordene weltliche Macht der Kirche wieder unter den Staat
zu bringen . Auch der päbſtliche Stuhl war eine weltliche Macht
und Herrſchaft, und der Kaiſer hatte den noch höheren Anſpruch
auf die Wahl und Einſeßung des Pabſtes in die weltliche Herr
ſchaft. Dieſe Rechte des Staats waren es , um welche die Kai
ſer kämpften . Aber der weltlichen Macht, welche ſie bekämpften ,
waren ſie zugleich als geiſtlicher unterworfen : ſo war der Kampf
ein ewiger Widerſpruch . Widerſprechend wie die Handlungen ,
in denen die Ausſöhnung beſtändig mit den wiedererneuten Feind
feligkeiten wechſelte, waren auch die Mittel des Rampfes . Denn
die Macht, mit welcher die Kaiſer ihren Feind bekämpften , die
Fürſten , ihm Diener und Unterthanen ,waren in ſich ſelbſt entzweit,
als zugleich dem Kaiſer und dem Feinde deſſelben mit den höchften
Banden unterthan. Die Fürſten halten zu ihrem Hauptintereffe
eben dieſelbe Anmaaßung der Unabhängigkeit vom Staate, und
ſtanden zwar dem Kaiſer bei, ſo lange es ſich um die leere Ehre
der kaiſerlichen Würde oder um ganz beſondere Angelegenheiten ,
etwa gegen die Städte, handelte, verließen ihn aber, wenn es
ernſtlich um die Autoritätdes Kaiſers gegen die weltliche Macht
der Geiſtlichen oder die andrer Fürſten zu thun war.
Wie die deutſchen Kaiſer in Italien ihren Titel realiſiren
wollten , ſo hatte Italien wiederum ſeinen politiſchen Mittelpunkt
in Deutſchland. Beide Länder waren ſo aneinander gefettet und
keines konnte ſich in fich conſolidiren . In der glänzenden Pe
riode der Hohenſtaufen behaupteten Individuen von großem
Charakter den Thron, wie Friedrich Barbaroſſa , in welchem fick
die kaiſerliche Macht in ihrer größten Herrlichkeit darſtellte, und
welcher durcl ſeine Perſönlichkeit auch die ihm untergebenen Für
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter . 471

ften an ſich zu halten wußte. So glänzend die Geſchichte der


Hohenſtaufen erſcheint, ſo lärmend der Kampf mit der Kirche
war, ro ſtellt jcne doch im Ganzen nur die Tragödie der Fami
lie dieſes Hauſes und Deutſchlands dar, und dieſer hat geiſtig
kein großes Reſultat gehabt. Die Städte wurden zwar zur An
erkennung der kaiſerlichen Autorität gezwungen , und die Abgeord
nieten derſelben beſchworen die Schlüſſe der roncaliſchen Reichs
tags, aber ſie hielten ſie nur ſo lange, als ſie dazu gezwungen
waren. Die Verpflichtung hing nur von dem unmittelbaren Ges
fühle der Uebermacht ab. Als Kaiſer Friedrich I., wie man er
zählt, die Abgeordneten der Städte fragte, ob ſie die Friedens
ſchlüſſe nicht beſchworen hätten , da ſagten ſie: Ja , aber nicht,
daß wir ſie halten wollten . Der Ausgang war, daß Friedrich I.
im Coſtnißer Frieden ( 1183) ihnen die Selbſtſtändigkeit ſo ziem
lich einräumen mußte,wenn er auch die Clauſel hinzufügte : un
beſchadet der Lehnspflichten gegen das deutſche Reich . - Der
Inveſtiturſtreit zwiſchen den Kaiſern und den Påbſten wurde am
Ende im Jahre 1122 von Heinrich V . und dem Pabſte Ca
lirtus II. ſo ausgeglichen , daß der Kaiſer mit dem Scepter , der
Pabſt aber mit Ring und Stab belehnen ſollte ; es ſollten die
Wahlen der Biſchöfe durch die Capitel in Gegenwart des Rai
ſers oder kaiſerlicher Commiſſarien geſchehen ; alsdann follte der
Kaiſer den Biſchof als weltlichen Lehnsträger mit den Tempo
ralien belehnen , die geiſtliche Belehnung aber blieb dem Pabfte
vorbehalten . So wurde dieſer langwierige Streit zwiſchen den
weltlichen und geiſtlichen Fürſten beigelegt.
472 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

3 weites Capitel.
Die Kreuzzüge.
Die Kirche hat in dem erwähnten Kampfe den Sieg errun
gen und dadurch in Deutſchland ihre Herrſchaft ebenſo feftgeſeßt,
wie in den übrigen Staaten auf ruhigere Weiſe. Sie hat fich
zur Herrin aller lebensverhältniſſe, Wiſſenſchaft und Kunſt ges
machtund iſt die ununterbrochene Ausſtellung der geiſtigen Schäße.
Doch in dieſer Fülle und Vollendung iſt es nichts deſto weniger
ein Mangel und ein Bedürfniß, das die Chriſtenheit befällt und
ſie außer fich treibt. Um dieſen Mangel zu faſſen , muß auf die
Natur der chriſtlichen Religion ſelbſt zurückgegangen werden und
zwar auf die Seite derſelben , wonach ſie einen Fuß in der Ges
genwart des Selbſtbewußtſeyns" hat.
qui.

: Die objective Lehre des Chriſtenthums war durch die Con


cilien ſchon ſo feſtgelegtworden , daß weder die Philoſophie des
Mittelalters , noch eine andere mehr daran thun fonnte , als
ſie in den Gedanken zu erheben , um auch die Form des Den
kens in ihr zu befriedigen . Dieſe Lehre nun hat an ihr ſelbſt die
Seite, daß die göttliche Natur gewußt wird, als nicht aufirgend
eine Weiſe ein Jenſeits, ſondern in der Einheit mit der menſch
lichen Natur in der Gegenwart zu ſeyn . Aber dieſe Gegen
wart hat zugleich nur als Gegenwart des Geiſtigen zu retin :
Chriſtus iſt als dieſer Menſch entrügt worden , fein zeitliches
Daſeyn iſt ein vergangenes , d. h. ein nur vorgeſtelltes. Darum
weil das göttliche Dieffeits weſentlich geiſtiges ſeyn ſoll, ſo kann
es nicht in der Weiſe des Dalai-lama erſcheinen . Der Pabſt,
ſo hoch er auch als Haupt der Chriſtenheit und als Vicarius
Chriſti geſtellt iſt, nennt ſich doch nur den Knecht der Knechte.
Wie hat nun doch die Kirche Chriſtus als Dieſen in fich ge
habt? Die Hauptgeſtalt hiervon iſt, wie ſchon geſagt, das
Nachtmahl der Kirche als Meſſe : in ihr iſt das Leben , Leiden
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter - Kreuzzüge. 473

und Sterben des wirklichen Chriſtus vorhanden , als das ewige


und alle Tage geſchehende Dpfer. Chriſtus iſt als Dieſes in
ſinnlicher Gegenwart als die Hoftie, die vom Prieſter conſecrirt
iſt; dagegen iſt nichts zu ſagen : nämlich , es iſt die Kirche, der
Geift Chrifti, der zur unmittelbaren Gewißheit heraustritt. Aber
der Hauptpunkt iſt , daß dieß , wie ſich Gott zur Erſcheinung bringt,
befeſtigt wird als ein Dieſes, daß die Hoftie, dieß Ding , als
Gott angebetet werden ſoll . Die Kirche hätte ſich nun mit die
ſer finnlichen Gegenwart Gottes begnügen können ; wenn aber
einmal zugegeben iſt , daß Gott in äußerlicher Gegenwart iſt, ſo
wird zugleich dieſes Aeußerliche zu einer unendlichen Mannigfal
tigkeit, denn das Bedürfniß dieſer Gegenwart iſt unendlich . Es
wird alſo in der Kirche ein Reichthum von Ereigniſſen ſeyn ,
daß Chriſtus da und dort Dieſem und Jenem erſchienen iſt, noch
mehr aber ſeine göttliche Mutter , welche als dem Menſchen nä
her ſtehend, ſelbſt wieder eine Vermittlerin zwiſchen dem Vermitt
ler und dem Menſchen iſt, (die wunderthätigen Marienbilder ſind
in ihrer Art Hoftien , indem ſie eine gnädige und günſtige Ge
genwart Gottes gewähren ). Aller Orten werden alſo in höher
begnadigten Erſcheinungen , Bluteindrücken von Chriſtus u . . F.
ſich Vergegenwärtigungen des Himmiliſchen begeben , und das
Göttliche wird in Wundern ſich auf einzelne Weiſe ereignen .
Die Kirche iſt daher in dieſen Zeiten eine Welt von Wunder
und für die andächtige , fromme Gemeinde hat das natürliche
Daſeyn keine lebte Gewißheit mehr; vielmehr iſt die abſolute
Gewißheit gegen daſſelbe gekehrt, und das Göttliche ſtellt ſich
ihr nicht in allgemeiner Weiſe als Gefeß und Natur des Gei
ſtes vor, ſondern offenbart ſich auf einzelne Weiſe, worin das
verſtändige Daſeyn verkehrt iſt.
In dieſer Vollendung der Kirche fann für uns ein Man
gel ſeyn : aber was kann ihr darin mangeln ? was nöthigt ſie ,
die in dieſer vollen Befriedigung und Genuß ſteht, innerhalb ih
rer ſelbſt ein Anderes zu wollen , ohne von ſich abzufallen ? Die
474 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
Wunderbilder , die Wunderorte und Wunderzeiten ſind nur ein
zelne Punkte und momentane Erſcheinungen , ſind nicht von der
höchften abſoluten Art. Die Hoſtie, das Höchfte, iſt in unzäh=
ligen Kirchen ; Chriſtus iſt darin wohltransſubſtantiirt zur gegen
wärtigen Einzelheit,aber dieſe iſtſelbſtnurallgemeine,nicht dieſelekte
im Raume particulariſirte Gegenwart. Dieſe Gegenwartiſtin der
Zeit vergangen , aber als räumliche und im Raum concrete, an
dieſer Stelle, dieſem Dorfe u. ſ.f., iſt ſie ein erhaltenes Diefſeits .
Dieß Dieſſeits nun iſt es , was der Chriſtenheit abgeht, was ſie
noch gewinnen muß . Pilgrimme in Menge hatten es zwar
genießen können ; aber der Zugang dazu iſt in den Händen der
Ungläubigen , und es iſt der Chriſtenheit unwürdig, daß die heis
ligen Derter und das Grab Chriſti nicht im Beſiß der Kirche
find. In dieſem Gefühle iſt die Chriſtenheit eins geweſen ;
darum hat ſie die Kreuzzüge unternommen und ſie hatte dabei
nicht dieſen oder jenen , ſondern einen einzigen Zweck , – das
heilige land zu erobern .
Das Abendland iſt wiederum gegen das Morgenland aus
gezogen . Wie in dem Zuge der Griechen nach Troja , ſo waren
es auch hier lauter ſelbſtſtändige Dynaſten und Ritter , die gen
Morgen aufbrachen ; doch waren ſie nicht ſchon unter einer wirf
lichen Individualität , wie die Griechen unter Agamemnon
oder Alerander vereint, ſondern die Chriſtenheit ging vielmehr
darauf aus, das Diefes , die wirkliche Spiße der Individuali
tät, zu holen . Dieſer Zweck hat das Abendland nach dem Mor:
genlande getrieben , und um ihn handelt es rich in den Kreuz
zügen .
Die Kreuzzüge fingen ſogleich unmittelbar im Abendlande
ſelbſt an , viele Tauſende von Juden wurden getödtet und ges
plündert, – und nach dieſem fürchterlichen Anfange zog das
Chriſtenvolf aus. Der Mönch , Peter der Einſtedler aus Amiens,
ſchritt mit einem ungeheuren Haufen von Geſindel voran . Der
Zug ging in der größten Unordnung durch Ungarn ,überall wurde
Zweiter Abſchnitt. Das Mitteľalter. – Kreuzzüge. 475
geraubt und geplündert, der Haufen ſelbſt aber ſchmolz ſehr zu
fammen und nur Wenige erreichten Konſtantinopel. Denn von
Vernunftgründen konnte nicht die Rede ſeyn ; die Menge glaubte,
Gott würde fie unmittelbar führen und bewahren . Daß die
Begeiſterung die Völker faſt zum Wahnwiß gebracht hatte, zeigt
ſich am ineiſten darin , daß ſpäterhin Schaaren von Kindern
ihren Eltern entliefen und nach Marſeille zogen , um ſich dort
nach dem gelobten Lande einſchiffen zu laſſen . Wenige kamen
an , und die anderen wurden von den Kaufleuten den Sarace
nen als Sclaven verkauft.
Endlich haben mit vieler Mühe und ungeheurem Verluſte
geordnetere Heere ihren Zweck erreicht : ſie ſehen ſich im Beſitz
aller berühmten Heiligen Orte, Bethlehems, Gethſemanes, Gol
gathas, ja des Heiligen Grabes. In der ganzen Begeben
heit, in allen Handlungen der Chriſten erſchien dieſer ungeheure
Contraſt, der überhaupt vorhanden war, daß von den größten
Ausſchweifungen und Gewaltthätigkeiten das Chriſtenheer wieder
zur höchſten Zerknirſchung und Niederwerfung überging. Noch
triefend vom Blute der gemordeten Einwohnerſchaft Jeruſalems
fielen die Chriſten am Grabe des Erlöſers auf ihr Angeſicht
und richteten inbrünſtige Gebete an ihn .
So kam die Chriſtenheit in den Beſitz des höchſten Gutes .
Es wurde ein Königreich Jeruſalem geſtiftet und daſelbſt das
ganze Lehnsſyſtem eingeführt,eine Verfaſſung,welche denSaracenen
gegenüber ſicherlich die ſchlechteſte war, die man finden konnte.
Ein andres Kreuzheer hat im Jahre 1204 Konſtantinopel ero
bert und daſelbſt ein lateiniſches Königreich geſtiftet. Die Chri
ſtenheit hatte nun ihr religiöſes Bedürfniß befriedigt", ſie konnte
jekt in der That ungehindert in die Fußtapfen des Heilandes
treten . Ganze Schiffsladungen von Erde wurden aus dem ges
lobten Lande nach Europa gebracht. Von Chriſtus ſelbſt fonnte
man keine Neliquien haben , denn er war auferſtanden : das
Schweißtuch Chrifti,das Kreuz Chriſti, endlich das Grab Chrifti
476 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
wurden die höchſten Neliquien . Aber im Grabe liegt wahrhaft
der eigentliche Punkt der Umkehrung , im Grabe iſt es , wo alle
Eitelkeit des Sinnlichen untergeht. Am heiligen Grabe vergeht
alle Eitelkeit der Meinung : da wird es Ernſt überhaupt. Im
Negativen des Dieſes , des Sinnlichen iſt es , daß die Umkeh
rung geſchieht, und ſich die Worte bewähren : Du läfſeft nicht
zu , daß Dein Heiliger verweſe. Im Grabe ſollte die Chriſten
heit das legte ihrer Wahrheit nicht finden . An dieſem Grabe
iſt der Chriſtenheit noch einmal geantwortet worden , was den
Jüngern , als ſie dort den Leib des Herrn fuchten : „ Was ſu
chet ihr den lebendigen bei den Todten ? Er iſt nicht
hier, er iſt auferſtanden." Das Princip eurer Religion habt
ihr nicht im Sinnlichen , im Grabe bei den Todten zu ſuchen ,
ſondern im lebendigen Geiſt bei euch ſelbſt. Die ungeheure Idee
der Verknüpfung des Endlichen und Unendlichen haben wir zum
Geiſtloſen werden ſehen , daß das Unendliche als Dieſes in ei
nem ganz vereinzelten äußerlichen Dinge geſucht worden iſt.
Die Chriſtenheit hat das leere Grab , nicht aber die Verknüpfung
des Weltlichen und Ewigen gefunden , und das heilige Land des
halb verloren . Sie iſt practiſch enttäuſcht worden , und das Re
ſultat, das ſie mitbrachte , war von negativer Art: es war, daß
nämlich für das Dieſes , welches geſucht wurde , nur das ſubs
jective Bewußtſeyn und kein äußerliches Ding das natürliche
Daſeyn iſt, daß das Dieſes, als das Verknüpfende des Welt
lichen und Ewigen , das geiſtige Fürſichſeyn der Perſon iſt. So
gewinnt die Welt das Bewußtſeyn , daß der Menſch das Die
fes , welches göttlicher Art iſt, in ſich ſelbſt ſuchen müffe: da
durch wird die Subjectivität abſolut berechtigt und hat an fich
ſelbſt die Beſtimmung des Verhältniſſes zum Göttlichen . Dieß
aber war das abſolute Reſultat der Kreuzzüge, und von hier
fängt die Zeit des Selbſtvertrauens, der Selbſtthätigkeit an .
Das Abendland hat vom Morgenlande am heiligen Grabe auf
epig Abſchied genommen , und ſein Princip per ſubjectiven uns
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. - Kreuzzüge. 477

endlichen Freiheit erfaßt. Die Chriſtenheit iſt nie wieder als Ein
Ganzes aufgetreten .
Kreuzzüge andrer Art, mehr Eroberungsfriege, die aber auch
das Moment religiöſer Beſtimmung hatten , waren die Kämpfe
in Spanien gegen die Saracenen auf der Halbinſel ſelbſt. Die
Chriſten waren von den Arabern auf einen Winkel beſchränkt
worden , wurden aber dadurch mächtig , daß die Saracenen in
Spanien und Afrifa in vielfachem Rampf begriffen waren und
unter ſich ſelbſt zerfielen . Die Spanier, verbunden mit fränki
ſchen Rittern , unternahmen häufige Züge gegen die Saracenen ,
und bei dieſem Zuſammentreffen der Chriſten mit dem Ritter
thum des Orients , und mit ſeiner Freiheit und vollkommenen
Unabhängigkeit der Seele, haben auch die Chriſten dieſe Freiheit
angenommen . Das ſchönſte Bild von dem Ritterthum des Mit
telalters giebt Spanien , und der Held deſſelben iſt der Cid .
Mehrere Kreuzzüge, die nur mit Abſcheu erfüllen können , wurden
auch gegen das füdliche Frankreich unternommen. Es hatte ſich
daſelbſt eine ſchöne Bildung entwickelt : durch die Troubadours
war eine Freiheit der Sitte , ähnlich der unter den Hohenſtau
fenſchen Kaiſern in Deutſchland, aufgeblüht , nur mit dem Un
terſchiede , daß jene etwas Affectirtes in fich trug , dieſe aber in
nigerer Art war. Aber wie in Oberitalien , ſo hatten im ſüd
lichen Frankreich ſchwärmeriſche Vorſtellungen von Reinigkeit
Eingang gefunden ; die Päbſte ließen daher gegen dieſes land
das Kreuz predigen . Der heilige Dominicus ging dahin mit
zahlreichen Heeren , die auf die fürchterlichſte Weiſe Schuldige und
Unſchuldige beraubten und ermordeten , und das herrliche Land
gänzlich verwüſteten .
Durch die Kreuzzüge vollendete die Kirche ihre Autorität:
ſie hatte die Verrückung der Religion und des göttlichen Geiſtes
zu Stande gebracht, das Princip der chriſtlichen Freiheit zur
unrechtlichen und unſittlichen Knechtſchaft der Gemüther verkehrt,
und damit die rechtloſe Wiüfür und Gewaltthätigkeit nicht auf
478 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
gehoben und verdrängt, ſondern vielmehr in die Hände der Kir
chenhäupter gebracht. In den Kreuzzügen ſtand der Pabſt an
der Spiße der weltlichen Macht: der Kaiſer erſchien nur, wie
die anderen Fürſten , in untergeordneter Geſtalt und mußte dem
Pabſte, als dem ſichtbaren Oberhaupt der Unternehmung, das
Sprechen und das Handeln überlaſſen . Wir haben ſchon geſes
hen , wie die edlen Hohenſtaufen mit ritterlichem , edlem und ges
bildetem Sinn dieſer Gewalt, gegen welche der Geiſt keinen Wi
derſtand mehr hatte , entgegengetreten und wie ſie der Kirche,
welche, elaſtiſch genug, jeden Widerſtand beſeitigte und von feiner
Ausſöhnung wiſſen wollte, endlich unterlegen ſind. Der Untergang
der Kirche ſollte nicht durch offene Gewalt bewirktwerden ; ſondern
von innen heraus, vom Geiſte aus, und von unten herauf drohte
ihr der Sturz. Daß der hohe Zweck der Befriedigung durch den
Genuß der finnlichen Gegenwart nicht erreichtwurde, mußte das
päbſtliche Anſehn von vorn herein ſchwächen . Die Pabſte er :
reichten ebenſowenig ihren Zweck, das heilige land auf die Dauer
zu beſißen . Der Eifer für die heilige Sache war bei den Fürs
ften ermattet; mit unendlichem Schmerz ließen die Pabſte drin
gende Anforderungen an ſie ergehen, ſo vielmal wurde ihr Herz
durchbohrt durch die Niederlage der Chriſten ; aber vergeblich war
-ihr Wehklagen , und ſie vermochten nichts . Der Geiſt, unbefrie
digt bei jener Sehnſuchtnach der höchſten ſinnlichen Gegenwart,
hat ſich in ſich zurüdgeworfen . Es iſt ein erſter und tiefer Bruch
geſchehen . Von nun an ſehen wir die Regungen , in denen der
Geiſt, hinausgehend über die gräuelhafte und unvernünftige
Eriſtenz, entweder ſich in ſich ergeht und aus ſich die Befriedis
gung zu ſchöpfen ſucht, oder ſich in die Wirklichkeit allgemeiner
und berechtigter Zwecke, welche ebendamit Zwede der Freiheit
find , begiebt. Die Beſtrebungen , die daraus entſtanden , find
nunmehr anzugeben : ſie ſind die Vorbereitungen für den Geift
geweſen , den Zweck ſeiner Freiheit in der höheren Reinheitund
Berechtigung aufzufaſſen .
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. – Kreuzzüge. 479
Es gehören hierher zunächſt die Stiftungen von Mönchs
und Ritterorden , welche eine Ausführung deſſen ſeyn ſollten ,was
die Kirche beſtimmt ausgeſprochen hatte: es ſollte Ernſt gemacht
werden mit dieſer Entſagung des Beſißes , des Reichthums, der
Genüſſe , des freien Willens, welche von der Kirche als das
Höchfte aufgeſtellt worden war. Die Klöſter oder ſonſtigen Stif
tungen , welchen dieſes Gelübde der Entſagung auferlegt war,
waren ganz in das Verderben der Weltlichkeit verſunken . Jeßt
aber ſuchte der Geiſt innerhalb des Princips der Negativität
rein an ſich zu verwirklichen , was die Kirche aufgeſtellt hatte.
Die nähere Veranlaſſung dazu waren die vielen Keßereien in
Südfrankreich und Italien , die eine ſchwärmeriſche Richtung hat:
ten , und der um ſich greifende Unglaube, der aber der Kirche
mit Recht nicht ſo gefährlich zu ſeyn ſchien als jene Refereien .
Gegen dieſe Erſcheinungen erheben ſich nun neue Mönchsor
den , hauptſächlich die Franciscaner, Bettelmönche, deren Stif
ter , Franz von Affifi, von der ungeheuerſten Begeiſterung und
Ertaſe beſeelt, ſein Leben im beſtändigen Ringen nach der höch:
ften Reinheit zubrachte. Dieſelbe Richtung gab er ſeinem Or
den ; die äußerſte Verandächtigung, die Entſagung aller Ge:
nüſſe, im Gegenſaße gegen die einreißende Weltlichkeit der Kirche,
die beſtändigen Bußübungen , die größte Armuth (die Franzisca :
ner lebten von täglichen Almoſen ) waren demſelben daher be
ſonders eigen. Neben ihm erhob ſich faſt gleichzeitig der Dos
minicanerorden , vom heiligen Dominicus geſtiftet; ſein Geſchäft
war beſonders das Predigen . Die Bettelmönche verbreiteten
ſich auf eine ganz unglaubliche Weiſe über die ganze Chriſten
heit; ſie waren einerſeits das ſtehende Apoſtelheer des Pabſtes ,
andrerſeits ſind ſie auch gegen ſeine Weltlichkeit ſtark aufgetreten ;
die Franziscaner waren ein ſtarker Beiſtand Ludivigs des Baiern
gegen die påbftlichen Anmaßungen , auch ſoll von ihnen die Beſtim
mung ausgegangen feyn , daß das allgemeine Kirchenconcilium
über dem Pabſte ſtehe; ſpäter aber ſind auch fie in Stumpfheit
480 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
und Unwiſſenheit verſunken . — Eine ähnliche Richtung des Stre
bens nach Reinheit des Geiſtes hatten die geiſtlichen Ritter:
orden . Es iſt ſchon der eigenthümliche Rittergeiſt, der ſich in
Spanien durch den Kampf mit den Saracenen entwickelt hatte,
bemerkt worden : derſelbe Geiſt hat ſich durch die Kreuzzüge
über ganz Europa verbreitet. Die Wildheit und der Muth des
Raubes, befriedigt und befeſtigt im Beſik , beſchränkt durch Ges
genſeitigkeit, hat ſich durch die Religion in ſich verklärt und dann
durch die Anſchauung des unendlichen Edelmuths orientaliſcher
Tapferkeit entzündet. Denn auch das Chriſtenthum hat das
Moment unendlicher Abſtraction und Freiheit in fich , und der
orientaliſch ritterliche Geiſt fand darum in abendländiſchen Her :
zen einen Anklang, der ſie zur edleren Tugend ausbildete. ES
wurden geiſtliche Ritterorden , gleich den Mönchsorden , geſtiftet.
Den Mitgliedern derſelben wurde dieſelbe mönchifdhe Aufopferung
auferlegt, die Entbehrung alles Weltlichen . Zugleich aber über
nahmen ſie den Schuß der Pilgrimme: ihre Pflicht war dem
nach auch vor Adem ritterliche Tapferkeit; endlich waren ſie auch
zur Verſorgung und Verpflegung der Armen und Kranken ver
pflichtet. Die Ritterorden theilten ſich in dieſe drei: in den Jos
hanniterorden , Tempelorden und deutſchen Orden . Dieſe Affo :
ciationen unterſchieden ſich weſentlich von dem ſelbſtſüchtigen
Princip des Feudalweſens. Mit faſt ſelbſtmörderiſcher Tapfer
feit opferten ſich die Ritter für das Gemeinſame auf. So tre
ten dieſe Orden aus dem Kreiſe des Vorhandenen aus, und bil
den ein Neß der Verbrüderung über ganz Europa . Aber auch
dieſe Ritter ſind zu den gewöhnlichen Intereſſen herabgeſunken ,
und ihre Orden wurden in ſpäterer Zeit mehr eine Verſorgungs
anſtalt für den Adel überhaupt. Dem Tempelorden gab mar
ſogar Schuld, daß er ſich eine eigene Religion gebildet, und an
geregt vom orientaliſchen Geiſte in ſeiner Glaubenslehre Chriftus
geläugnet habe.
Eine weitere Richtung iſt nun aber die auf die Wiſſens
Zweiter Abſchnitt. Das Mittelalter. – Kreuzzüge. 481

fchaft. Die Ausbildung des Denkens, des abſtracten Allgemei


nen nahm ihren Anfang. Schon jene Verbrüderungen zu einem
gemeinſamen Zwede, dem die Glieder untergeordnet ſind , weiſen
darauf hin , daß ein Augemeines zu gelten anfing, welches alla
mählig eben zum Gefühle ſeiner Kraft gelangte. Es wendete
ſich das Denken zuerſt an die Theologie, welche nunmehr Phi
loſophie unter dem Namen der ſcholaſtiſchen Theologie wurde.
Denn die Philoſophie und Theologie haben das Göttliche zum
gemeinſamen Gegenſtand , und wenn die Theologie der Kirche
ein feſtgeſeptes Dogma iſt, ſo iſt nun die Bewegung entſtanden ,
dieſen Inhalt für den Gedanken zu rechtfertigen . Der berühmte
Scholaſtifer Anſelmus ſagt: „ Wenn man zum Glauben gekom
men iſt, ſo iſt es eine Nachläffigkeit, ſich nicht auch durch das
Denken vom Inhalt des Glaubens zu überzeugen .“ Das Dens
fen war aber auf dieſe Weiſe nicht frei, denn der Inhalt war
ein gegebener : dieſen Inhalt zu beweiſen war die Richtung der
Philoſophie. Aber das Denken führte auf eine Menge Beſtim
mungen , die nicht unmittelbar im Dogma ausgebildet waren , und
inſofern die Kirche nichts darüber feſtgeſeßt hatte, war es er
laubt darüber zu ſtreiten . Die Philoſophie hieß zwar eine ancilla
fidei, denn ſie war dem feſten Inhalt des Glaubens unterwor
fen ; aber es fonnte nicht fehlen , daß auch der Gegenſaß zwiſchen
Denken und Glauben ſich aufthun mußte. Wie Europa allge
mein das Schauſpiel von Ritterkämpfen , Fehden und Turnieren
darbot, ſo war es jeßt auch der Schauplaß des Turnierens der
Gedanken . Es iſt nämlich unglaublich , wie weit die abſtracten
Formen des Denkens ausgeführt worden ſind, und wie groß die
Fertigkeit der Individuen war, fich darin zu bewegen . Am mei
ſten wurde dieſes Gedankenturnen zur Schau und zum Spiel
( denn nicht über die dogmatiſchen Lehren ſelbſt , ſondern nur über
die Formen wurde gekämpft) , in Frankreich betrieben und aus
gebildet. Frankreich fing überhaupt damals an , als Mittelpunkt
der Chriſten angeſehen zu werden : von dort gingen die erſten
Philoſophie d. Geldichte. 3. Aufl. 31
482 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
Kreuzzüge aus, und von franzöſiſchen Heeren wurden ſie ausges
führt ; dahin flüchteten ſich die Päbfte aus ihren Kämpfen init
den deutſchen Kaiſern und mit den neapolitaniſchen und ſicilia
niſchen Normannenfürſten , und dort ſchlugen ſie eine Zeit lang
ihren bleibenden Wohnſiß auf. — Wir ſehen in dieſer Zeit nach
den Kreuzzügen auch ſchon Anfänge der Kunſt, der Malerei;
ſchon während derſelben hatte ſich eine eigenthümliche Poeſie her
vorgebracht. Der Geiſt, da er keine Befriedigung finden konnte,
erzeugte ſich durch die Phantaſie ſchönere Gebilde und in einer
ruhigeren freieren Weiſe, als fie die Wirklichkeit darbot.

Drittes Capitel.
Der Uebergang der Feudalherrſchaft in die Monarchie.
Die erwähnten Richtungen auf das Augemeine-waren theils
ſubjectiver, theils theoretiſcher Art. Jeßt aber haben wir die
praktiſchen Bewegungen im Staate näher zu betrachten . Der
Fortſchritt hat die negative Seite, daß er im Brechen der ſub
jectiven Wilfür und der Vereinzelung der Macht beſteht ; die af
firmative iſt das Hervorgehen einer Obergewalt, die ein Gemein
fames iſt, einer Staatsmadit als ſolcher, deren Angehörige gleiche
Rechte erhalten , und worin der beſondere Wille dem ſubſtantiellen
Zweck unterworfen iſt. Das iſt der Fortſchritt der Feudalherr
ſchaft zur Monarchie. Das Princip der Feudalherrſchaft ift
die äußere Gewalt Einzelner, Fürſten , Dynaften ohne Rechts
princip in ſich ſelbſt; fie find Vaſallen eines höheren Fürſten ,
Lehnsherrn , gegen den ſie Verpflichtungen haben : ob fie aber
dieſelben leiſten , kommtdarauf an ,ob er ſie durch Gewalt,durch ſeis
nen Charakter oder durch Vergünſtigungen dazu vermögen kann, -
Zweit. Abſchn . Mittelalter. — Ueberg. D. Feudalherrſch. zur Monarchie. 483
ſo wie auch jene Rechte des Lehnsherrn ſelbſt nur ein Reſultat
ſind, das durch Gewalt abgetroßt iſt, deſſen Erfüllung und Lei
ſtung aber auch nur durch fortdauernde Gewalt aufrecht erhalten
werden kann . Das monarchiſche Princip iſt auch Obergewalt,
aber über Solche, die keine ſelbſtſtändige Macht für ihre Widfür
beſißen , wo nicht mehr Willfür gegen Wiüfür ſteht; denn die
Obergewalt der Monarchie iſt weſentlich eine Staatsgewalt und
hat in ſich den ſubſtantiellen rechtlichen Zweck. Die Feudalherr
ſchaft iſt eine Polyarchie : es ſind lauter Herren und Knechte ;
in der Monarchie dagegen iſt Einer Herr und ſeiner Knecht,
denn die Knechtſchaft iſt durch ſie gebrochen , und in ihr gilt das
Recht und das Gefek ; aus ihr geht die reelle Freiheit hervor.
In der Monarchie wird alſo die Widfür der Einzelnen unter
drückt und ein Geſammtweſen der Herrſchaft aufgeſtellt. Bei der
Unterdrückung dieſer Vereinzelung wie beim Widerſtande iſt es
zweideutig, ob dabei die Abſicht des Rechts oder nur der Wil
für iſt. Der Widerſtand gegen die königliche Obergewalt heißt
Freiheit und wird als rechtmäßig und edel geprieſen , inſofern
man nur die Vorſtellung der Widfür vor ſich hat. Aber durch
die willkürliche Geſammtgewalt eines Einzelnen wird doch ein
Geſammtweſen gebildet; in Vergleichung mit dem Zuſtand, wo
jeder einzelne Punkt ein Ort der gewaltthätigen Widfür iſt , ſind
es nun vielweniger Punkte, die willkürliche Gewalt leiden . Det
große Umfang macht allgemeine Dispoſitionen des Zuſammen
halts nothwendig, und die innerhalb derſelben Regierenden ſind
zugleich weſentlich Gehorchende: die Vafallen werden Staatsbes
amte, welche Gefeße der Staatsordnung auszuführen haben . Da
aber die Monarchie aus dem Feudalismus hervorgeht , ſo trägt
ſie zunächſt noch den Charakter deſſelben an ſich. Die Individuen
gehen aus ihrer Einzelberechtigung in Stände und Corporatio
nen über; die Vafallen ſind nur mächtig durch Zuſammenhalt
als ein Stand ; ihnen gegenüber bilden die Städte Mächte im
Gemeinweſen . Auf dieſe Weiſe fann die Macht des Herrſchers
31 *
484 Vierter Theil. Die germaniſde Welt.

keine bloß willkürliche mehr ſeyn . Es bedarf der Einwilligung


der Stände und Corporationen , und wil der Fürſt dieſe haben ,
ſo muß er nothwendig das Gerechte und Billige wollen .
Wir ſehen jeßt eineStaatenbildung beginnen , während die Feu
dalherrſchaft keine Staaten fennt. Der Uebergang von ihr zur
Monarchie geſchieht auf dreifache Weiſe:
1 ) indem der Lehnsherr Meiſter über ſeine unabhängigen
Vafallen wird , indem er ihre particulare Gewalt unterdrückt,
und fich zum einzigen Gewalthaber erhebt.
2 ) indem die Fürſten ſich ganz vom Lehnsverhältniß freimachen
und ſelbſt Landesherren über einige Staaten werden , oder endlich
3 ) indem der oberſte Lehnsherr auf eine mehr friedliche
Weiſe die beſonderen Herrſchaften mit ſeiner eigenen beſonderen
vereinigt und fo Herrſcher über das Ganze wird .
Die geſchichtlichen llebergänge ſind zwar nicht immer fo
rein , wie ſie hier vorgeſtellt worden ſind: oft kommen mehrere
zugleich vor ; aber der eine oder der andere bildet immer das
Ueberwiegende. Die Hauptſache iſt , daß für ſolche Staatsbil
dung Grundlage und Vorausſegung die particularen Natio
nen ſind. Es ſind particulare Nationen vorhanden , die eine
Einheit von Haus aus ſind und die abſolute Tendenz haben ,
einen Staat zu bilden . Nicht allen iſt es gelungen , zu dieſer
Staatseinheit zu gelangen : wir haben ſie jeßt einzeln in dieſer
Beziehung zu betrachten .
Was zuerſt das römiſche Kaiſerreich betrifft, ſo geht der
Zuſammenhang von Deutſchland und Italien aus der Vor
ſtellung des Kaiſerreichs hervor : die weltliche Herrſchaft ſollte
verbunden mit der geiſtlichen ein Ganzes augmachen , aber dieſe
Formation war immer mehr Kampf, als daß fie wirklich geſches
hen wäre. In Deutſchland und Italien geſchah der Uebergang vom
Feudalverhältniß zur Monarchie ſo , daß das Feudalverhältniß gänz
lich verdrängtwurde; die Vaſallenwurden ſelbſtſtändige Monarchen .
In Deutſchland war ſchon immer eine große Verſchieden
Zweit.Abſøn. Mittelalter - Ueberg. 8. Feudalherrids. zur Monarchie. 485
heit der Stämıne geweſen , von Schwaben , Baiern , Franken ,
Thüringern , Sachſen , Burgundern ; hiezu kamen die Slaven in
Böhmen , germaniſirte Slaven in Meklenburg, Brandenburg , in
einem Theil von Sachſen und Deſterreich ; ſo daß kein folcher
Zuſammenhaltwie im Frankreich fich machen konnte. Ein ähnli
ches Verhältniß war in Italien. Longobarden hatten ſich da
feſtgeſeßt , während die Griechen noch das Erarchat und Unterita
lien inne hatten ; in Unteritalien bildeten dann die Normannen
ein eigenes Reich , und die Saracenen behaupteten eine Zeit lang
Sicilien . Nach dem Untergange der Hohenſtaufen nahm eine
allgemeine Barbarei in Deutſchland überhand, welches in viele
Punkte der Gewaltherrſchaft zerſplittert wurde. Es war Marime
der Kurfürſten , nur ſchwache Fürſten zu Kaiſern zu wählen , ja ſie
haben die Kaiſerwürde an Ausländer verkauft. So verſchwand
die Einheit des Staates der Sache nach. Es bildeten ſich eine
Menge Punkte, deren jeder ein Raubſtaat war: das Feudalrecht
war zur förmlichen Rauferei und Räuberei losgebunden , und die
mächtigen Fürſten haben ſich als Landesherren conſtituirt. Nach
dem Interregnum wurde der Graf von Habsburg zum Kaiſer
gewählt, und das habsburgiſche Geſchlecht behauptete nun mit
wenigen Zwiſchenräumen den Kaiſerthron . Dieſe Kaiſer waren
darauf reducirt , ſich eine Hausmacht anzuſchaffen , da die Fürſten
ihnen keine Staatsmacht einräumen wollten . – Jene vollkom
mene Anarchie wurde aber endlich durch Aſſociationen für all
gemeine Zwede gebrochen . Kleinere Aſſociationen waren ſchon
die Städte ſelbſt; jeßt aber bildeten ſich Städtebündniſſe
im gemeinſchaftlichen Intereſſe gegen die Räuberei: ſo der Han
febund im Norden , der rheiniſche Bund aus den Städten längs
dem Rhein , der ſchwäbiſche Städtebund. Dieſe Bündniſſewa
ren ſämmtlich gegen die Dynaſten gerichtet, und ſelbſt Fürſten
traten den Städten bei , um dem Fehdezuſtand entgegenzuarbeiten
und den allgemeinen Landfrieden herzuſtellen . Welcher Zuſtand
in der Feudalherrſchaft geweſen , erhellt aus jener berüchtigten
486 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

Affociation der Criminaljuſtiz ; es war eine Privatgerichtsbarkeit,


welche unter dem Namen des Fehmgerichts geſchloſſeneSißun
gen hielt ; beſonders im nordweſtlichen Deutſchland war fie' an
fäſſig . Auch eine eigenthümliche Bauerngenoſſenſchaft bil
dete fich. In Deutſchland waren die Bauern Leibeigene; viele von
ihnen flüchteten ſich in die Städte oder ſtedelten ſich als Freie
in der Nähe der Städte an (Pfahlbürger) ; in der Schweiz aber
bildete ſich eine Bauernverbrüderung. Die Bauern von Uri,Schwyz
und Unterwalden ſtanden unter kaiſerlichen Vögten , denn dieſe
Vogteien waren nicht Privateigenthum , ſondern Reichsämter ;
aber die Habsburger ſuchten fie in Hauseigenthum zu verwan
deln . Die Bauern mit Kolben und Morgenſtern gingen ſtegreich
aus dem Kampfe gegen den geharniſchten, mitSpieß undSchwerdt
gerüſteten und in Turnieren ritterlich geübten Adel und deſſen
Anmaaßung hervor. Es iſt alsdann gegen jene Uebermacht der
Bewaffnung noch ein anderes techniſches Mittel gefunden wor
den , – das Schießpulver. Die Menſchheit bedurfte ſeiner
und alſobald war es da. Es war ein Hauptmittel zur Be
freiung von der phyſiſchen Gewalt und zur Gleichmachung der
Stände. Mit dem Unterſchied in den Waffen ſchwand auch der
Unterſchied zwiſchen Herrn und Knechten . Auch die Feſtigkeit
der Burgen hat das Schießpulver gebrochen , und Burgen
und Schlöſſer verlieren nunmehr ihre Wichtigkeit. Man kann
zwar den Untergang oder die Herabſegung des Werths der per
ſönlichen Tapferkeit bedauern (der Tapferſte, Edelſte kann von
einem Schuft aus der Ferne, aus einem Winfel niedergeſchoffen
werden ); aber das Schießpulver hat vielmehr eine vernünftige,
beſonnene Tapferkeit, den geiſtigen Muth zur Hauptſache gemacht.
Nur durch dieſes Mittel konnte die höhere Tapferkeit hervorgehn ,
die Tapferkeit oder perſönliche Leidenſchaft; denn beim Gebrauch
der Schießgewehre wird ins Allgemeine hineingeſchoſſen , gegen
den abſtracten Feind und nicht gegen beſondre Perſonen . Ru
hig geht der Krieger der Todesgefahr entgegen , indem er ſich für
Zweit. Abſchn .Mittelalter. -- Ueberg .D. Feudalherrſch. zur Monarchie. 487
das Augemeine aufopfert und das iſt eben der Muth gebildeter
Nationen , daß er ſeine Stärke nicht in den Arm allein feßt,
ſondern weſentlich in den Verſtand, die Anführung , den Cha
rafter der Anführer , und, wie bei den Alten , in den Zuſam
menhalt und das Bewußtſeyn des Ganzen .
• yn ftalien wiederholt ſich , wie ſchon geſagt iſt, daſſelbe
Schauſpiel, das wir in Deutſchland geſehen , daß nämlich die
einzelnen Punkte zur Selbſtſtändigkeit gelangt ſind. Das Krieg
führen wurde dort durch die Condottieri zu einem förmlichen
Handwerk. Die Städte mußten auf ihr Gewerbe ſehen und
nahmen deshalb Söldner in Dienſt, deren Häupter häufig Dy
naften wurden ; Franz Sforza machte ſich ſogar zum Herzog
von Mailand. In Florenz wurden die Medici, eine Familie
von Raufleuten , herrſchend. Die größeren Städte Italiens un
terwarfen ſich wiederum eine Menge von kleineren und von DY
naſten . Ebenſo bildete fich ein päbftliches Gebiet. Auch hier
hatten ſich eine unzähligeMenge von Dynaſten unabhängig ge
macht; nach und nach wurden ſie fäinmtlich der einen Herr
ſchaft des Pabſtes unterworfen . Wie zu dieſer Unterwerfung im
ſittlichen Sinne durchaus ein Recht vorhanden war, erſtehtman
aus der berühmten Schrift Macchiavelli's „,der Fürft." Oft
hat man dieſes Buch , als mit den Marimen der grauſamſten
Tyrannei erfüllt, mit Abſcheu verworfen , aber in dem hohen
Sinne der Nothwendigkeit einer Staatsbildung hatMacchiavelli
die Grundſäße aufgeſtellt, nach welchen in jenen Uinſtänden die .
Staaten gebildet werden mußten . Die einzelnen Herren und
Herrſchaften mußten durchaus unterdrückt werden , und wenn wir
mit unſerem Begriffe von Freiheit die Mittel, die er uns als die
einzigen und vollkommen berechtigten zu erkennen giebt, nicht vers
einigen können, weil zu ihnen die rückſichtsloſeſte Gewaltthätig
keit, alle Arten von Betrug, Morð u . f. w . gehören , ſo müſſen
wir doch geſtehen, daß die Dynaften , die niederzuwerfen waren ,
nur ſo angegriffen werden konnten , da ihnen unbeugſame Ges
488 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
wiſſenloſigkeit und eine vollfommene Verworfenheit durchaus zu
eigen waren .
In Frankreich iſt der umgekehrte Fall als in Deutſchs
land und Italien eingetreten . Mehrere Jahrhunderte hindurch
beſaßen die Könige von Frankreich nur ein ſehr kleines Territo
rium , ſo daß viele der ihnen untergebenen Vafallen mächtiger
als fte ſelbſt waren : aber ſehr vortheilhaft war es für die för
nigliche Würde in Frankreich , daß ſie als erblich feſtgeſeßt war.
Auch gewann ſie dadurch Anſehn , daß die Corporationen und
Städte von dem Könige ihre Berechtigungen und Privilegien be
ſtätigen ließen , und die Berufungen an den oberſten Lehnshof,
den Pairshof , aus zwölf Pairs beſtehend, immer häufiger wur
den . Es kam dadurch der König in das Anſehn , daß bei ihm
vor den Unterdrückern Schuß zu ſuchen fey . Was aber dem
Könige weſentlich auch bei den mächtigen Vaſallen zu Anſehn
verhalf , war ſeine ſich vermehrende Hausmacht: auf mannigfache
Weiſe durch Beerbung, durch Heirath , durch Gewalt der Waffen
u . f. w . waren die Könige in den Beſitz vieler Grafſchaften und
- mehrerer Herzogthümer gekommen . Die Herzöge der Normandie
waren jedoch Könige von England geworden , und es ſtand fo
eine ſtarke Macht Frankreich gegenüber , welcher durch die Nor
mandie das Innere geöffnet war . Ebenſo blieben mächtige Her
zogthümer übrig ; aber der König war trop dem nicht bloß
Lehnsherr , wie die deutſchen Kaiſer , ſondern auch Landesherr ge
worden : er hatte eine Menge von Baronen und Städten unter
fich , die ſeiner unmittelbaren Gerichtsbarkeit unterworfen waren ,
und Ludwig IX . führte die Apellationen an den föniglichen
Gerichtshof allgemein ein . Die Städte erhoben ſich zu größerer
Bedeutung. Wenn nämlich der König Geld brauchte und alle
Mittel , wie Steuern und gezwungene Contributionen aller Art,
erſchöpftwaren , ſo wandte er ſich an die Städte und unterhandelte
einzeln mit ihnen . Philipp der Schönewar es zuerſt, welcher im
I . 1302 die Städtedeputirten als dritten Stand zur Verſamm
Zweit. Abſchn . Mittelalter. -- Ueberg. d. Feubalherrſch. zur Monarchie. 489

lung der Geiſtlichkeit und der Barone zuſammenberief. Es war


freilich nur um die Autorität des Königs und um Steuern zu
thun , aber die Stände bekamen dennoch eine Bedeutung und
Macht im Staate, und ſo auch einen Einfluß auf die Geſeßge
bung. Beſonders auffallend iſt es , daß die Könige von Frank
reich erklärten , daß die leibeigenen Bauern für ein Geringes in
ihrem Kronlande fich freikaufen könnten . Auf dieſe Weiſe famen
die Könige von Frankreich ſehr bald zu einer großen Macht,
und die Blüthe ber Poeſie durch die Troubadours , ſowie die
Ausbildung der ſcholaſtiſchen Theologie, deren eigentlicher Mit
telpunkt Paris war, gaben Frankreich eine Bildung, welche es
vor den übrigen europäiſchen Staaten voraus hatte , und welche
demſelben im Auslande Achtung verſchaffte.
England wurde, wie ſchon bei Gelegenheit erwähnt wor
den iſt , von Wilhelm dem Eroberer , Herzog der Normandie , uns
terworfen . Wilhelm führte daſelbſt die Lehnsherrſchaft ein , und
theilte das Königreich in Lehnsgüter , die er faſt nur ſeinen Nors
mannen verlieh . Er ſelbſt behielt ſich bedeutende Kronbeſikungen
vor; die Vaſallen waren verpflichtet in Krieg zu ziehen und bei
Gericht zu ſißen : der König war Vormund der Minderjährigen
unter ſeinen Vafallen : ſie durften ſich nur nach erhaltener Zu
ſtimmung verheirathen . Erſt nach und nach kamen die Barone
und die Städte zu einer Bedeutſainfeit. Beſonders bei den
Streitigkeiten und Kämpfen um den Thron erlangten fte ein gros
ßes Gewicht. Als der Druck und die Anforderungen von Sei
ten des Königs zu groß wurden , kam es zu Zwiſtigkeiten , ſelbſt
zum Kriege: die Barone zwangen den König Johann die magna
charta , die Grundlage der engliſchen Freiheit, daß heißt beſons
ders der Privilegien des Adels , zu beſchwören . Unter dieſen
Freiheiten ſtand die richterliche oben an : feinem Engländer ſollte
ohne ein gerichtliches Urtheil von ſeines Gleichen Freiheit der
Perſon , Vermögen oder Leben genommen werden . Jeder ſollte
Ferner die freie Dispoſition über ſein Eigenthum haben . Der
490 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

König ſollte ferner feine Steuern auflegen , ohne Zuſtimmung der


Erzbiſchöfe, Biſchöfe, Grafen und Barone. Auch die Städte er
hoben ſich bald, von den Königen gegen die Barone begünſtigt,
zum dritten Stand und zur Repräſentation der Gemeinen . Dena
noch war derKönig immer ſehrmächtig,wenn er Charakterftärke be
faß: ſeineKrongüter verſchafften ihm ein gehöriges Anſehn ; ſpäter
jedoch wurden dieſelbigen nach und nach veräußert, verſchenkt, ſo
daß der König dazu fam vom ParlamenteSubſidien zu empfangen .
Das Nähere und Geſchichtliche, wie die Fürſtenthümer den
Staaten einverleibt worden find, und die Mißverhältniſſe und
Kämpfe bei ſolchen Einverleibungen berühren wir hier nicht nå
her. Nur das iſt noch zu ſagen , daß die Könige, als ſie durch
die Schwächung der Lehnsverfaſſung zu einer größeren Macht
gelangten , dieſe nun gegeneinander im bloßen Intereſſe ihrer
Herrſchaft gebrauchten . So führten Frankreich und England hun
dertjährige Kriege gegen einander. Immer verſuchten es die
Könige nach außen hin Eroberungen zu machen ; die Städte,
welche meiſt die Beſchwerden und Auflagen zu tragen hatten ,
lehnten ſich dawider auf, und die Könige räumten ihnen , um ſie
zu beſchwichtigen , wichtige Vorrechte ein .
Bei allen dieſen Mißhelligkeiten ſuchten die Päbfte ihre
Autorität einwirken zu laſſen , aber das Intereſſe der Staats
bildung war ſo feft, daß die Pabſte mit ihrem eigenen Intereffe
einer abſoluten Autorität wenig dagegen vermochten . Die Für
ften und Völker ließen die Pabſte ſchreien , wenn ſie ſte zu neuen
Kreuzzügen aufforderten . Kaiſer Ludwig ließ ſich auf Demon
ftrationen aus Ariſtoteles , der Bibel und dem römiſchen Recht
gegen die Anmaaßungen des påbſtlichen Stuhles ein , und die
Kurfürſten erklärten auf dem Tage zu Renſe im J . 1338 , und
dann noch beſtimmter auf dein Reichstag zu Frankfurt, das Reich
bei ſeinen Freiheiten und Herkommen ſchirmen zu wollen , und
daß es keiner päbſtlichen Confirmation bedürfe bei der Wahl eis
nes römiſchen Königs oder Kaiſers. Ebenſo hatte ſchon im
Zweit.Abført.Mittelalter. – Ueberg. der Feubalherrjós. zurMonarcie. 491
Jahre 1302 bei einem Streite des Pabſtes Bonifacius mit
Philipp dem Schönen die Reichsverſammlung, welche legterer
zuſammenberufen hatte, gegen den Pabſt geſtritten . Denn die
Staaten und Gemeinweſen waren zum Bewußtſeyn gekommen ,
ein Selbſtſtändiges zu feyn . - Mannigfache Urſachen hatten
fich vereinigt die påbftliche Autorität zu ſchwächen : das große
Schisma der Kirche, welches die Unfehlbarkeit des Pabſtes in
Zweifel ſtellte , veranlaßte die Beſchlüſſe der Kirchenverſammlun
gen zu Roſtniß und zu Baſel, die ſich über den Pabſt ſtellten ,
und deshalb Pabfte abfeßten und ernannten . Viele Verſuche
gegen das Syſtem der Kirche haben das Bedürfniß einer Res
formation ſanctionirt. Arnold von Breſcia, Wiflef, Huß beſtrit
ten mit Erfolg die päbſtliche Statthalterſchaft Chriſti und die
groben Mißbräuche der Hierarchie . Dieſe Verſuche waren jedoch
immer nur etwas Partielles. Einerſeits war die Zeit noch nicht
reif dazu , andererſeits haben jene Männer die Sache nicht in
ihrem Mittelpunkte angegriffen , ſondern ſich, namentlich die bei
den legteren , mehr auf die Gelehrſamkeit des Dogma's gewendet,
was nicht ſo das Intereſſe des Volfs erweden konnte.
Mehr aber als dieß ſtand, wie geſagt, dem Principe der
Kirche die beginnende Staatenbildung gegenüber : ein allgemei
ner Zwed , ein in fich vollkommen Berechtigtes iſt für die Welt
lichkeit in der Staatenbildung aufgegangen , und dieſem Zwecke
der Gemeinſchaftlichkeit hat ſich der Wille, die Begierde , die
Widfür des Einzelnen unterworfen . Die Härte des felbſtſüchti
gen, auf ſeiner Einzelheit ſtehenden Gemüthes – dieſes knorri:
aen Eichenherzen des germaniſchen Gemüthes , iſt durch die fürch
terliche Zucht des Mittelalters gebrochen und zermürbt worden .
Die zwei eiſernen Ruthen dieſer Zucht waren die Kirche und die
Leibeigenſchaft. Die Kirche hat das Gemüth außer fich gebracht,
den Geiſt durch die härteſte Knechtſchaft hindurchgeführt, ſo daß
die Seele nicht mehr ihr eigen war; aber ſie hat ihn nicht zu
indiſcher Dumpfheit herabgebracht, denn das Chriſtenthum iſt in
492 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
fich geiſtiges Princip und hat als ſolches eine unendliche Elaſti
cität. Ebenſo hat die Leibeigenſchaft, wodurch der Leib nicht
dem Menſchen eigen iſt, ſondern einem Andern gehört , die Menſch
heit durch alle Rohheit der Knechtſchaft und der zügelloſen Bes
gierde hindurchgeſchleppt , und dieſe hat ſich an ihr ſelbſt zer
ſchlagen . Es iſt die Menſchheit nicht ſowohl aus der Knecht
ſchaft befreit worden , als vielmehr durch die Knechtſchaft.
Denn die Rohheit , die Begierde, das Unrecht ſind das Böſe:
der Menſch , als in ihm gefangen , iſt der Sittlichkeit und Reli
gioſität unfähig , und dieſes gewaltthätige Wollen eben iſt es ,
wovon die Zucht ihn befreit hat. Die Kirche hat den Kampf
mit der Wildheit der rohen Sinnlichkeit auf ebenſo wilde, terroris
ſtiſche Weiſe beſtanden : ſie hat ſie durch die Kraft der Schrecken
der Hölle zu Boden geworfen , und ſie fortdauernd unterworfen
gehalten , um den wilden Geiſt zur Abſtumpfung zu bringen und
zur Ruhe zu zähmen . Es wird in der Dogmatik ausgeſprochen ,
daß dieſen Kampf nothwendig jeder Menſch durchgemacht haben
müſſe, denn er iſt von Natur böſe, und erſt durch ſeine innere
Zerriſſenheit hindurchgehend kommt er zur Gewißheit der Verſöh
nung. Wenn wir dieß einerſeits zugeben , ſo muß andererſeits
doch geſagt werden , daß die Form des Kampfes ſehr verändert
iſt, wenn die Grundlage eine andere und die Verſöhnung in der
Wirklichkeit vollbracht iſt. Der Weg der Qual iſt alsdann
hinweggefallen ( er erſcheint zwar auch noch ſpäter , aber in ei
ner ganz andern Geſtalt) , denn wie das Bewußtſeyn erwacht
ift , befindet fich der Menſch in dem Elemente eines fittlichen Zu
ſtandes. Das Moment der Negation iſt freilich ein nothwendi
ges im Menſchen , aber es hat jegt die ruhige Form der Erziehung er
halten ,und ſomit ſchwindet alle Fürchterlichkeitdes inneren Kampfes.
Die Menſchheit hat das Gefühl der wirklichen Verſöhnung
des Geiſtes in ihm ſelbſt und ein gutes Gewiſſen in ihrer Wirk
lichkeit, in der Weltlichkeit, erlangt. Der Menſchengeift hat ſich
auf ſeine Füße geſtellt. In dieſem erlangten Selbſtgefühle des
Zweit. Abſchn . Mittelalter. -- Wiſſenſch. u . Kunſt als Aufl. 8. Mittelalt. 493

Menſchen liegt nicht eine Empörung gegen das Göttliche, ſon


dern es zeigt fich darin die beſſere Subjectivität, welche das
Göttliche in fich empfindet, die vom Aechten durchzogen iſt und
die ihre Thätigkeit auf allgemeine Zwecke der Vernünftigkeit und
der Schönheit richtet.

Kunſt und Wiſſenſdaft als Auflöſung des Mittelalters.


Der Himmel des Geiſtes klärt ſich für die Menſchheit auf.
Mit der Beruhigung der Welt zur Staatsordnung , die wir ge
ſehen , war noch ein weiterer , concreterer Aufſchwung des Geiſtes
zur edleren Menſchlichkeit verbunden . Man hat das Grab , das
Todte des Geiſtes , und das Jenſeits aufgegeben . Das Princip
des Dieſes , welches die Welt zu den Kreuzzügen getrieben ,
hat ſich vielmehr in der Weltlichkeit für ſich entwickelt: der Geiſt
hat es nach außen entfaltet und ſich in dieſer Aeußerlichkeit er
gangen . Die Kirche aber iſt geblieben und hat es an ihr be
halten ; doch auch in ihr iſt geſchehen , daß es nicht als Aeußer
lichkeit in ſeiner Unmittelbarkeit an ihr geblieben , ſondern verklärt
worden iſt durch die Kunſt. Die Kunſt begeiſtet , beſeelt dieſe
Aeußerlichkeit , das bloß Sinnliche , mit der Forin , welche Seele,
Empfindung, Geiſt ausdrückt; ſo daß die Andacht nicht bloß ein
finnliches Dieſes vor fich hat, und nicht gegen ein bloßes Ding
fromm iſt; ſondern gegen das Höhere in ihm , die feelenvolle
Form , welche vom Geiſte hineingetragen iſt. – Es iſt etwas
ganz Anderes ,wenn der Geiſt ein bloßes Ding, wie die Hoſtie als
ſolche, oder irgend einen Stein , Holz , ein ſchlechtes Bild vor ſich
hat , oder ein geiſtvolles Gemälde, ein ſchönes Werk der Sculptur,
wo fich Seele zu Seele und Geiſt zu Geiſt verhält. Dort iſt
der Geiſt außer fich , gebunden an ein ihm ſchlechthin Anderes ,
welches dat. Sinnliche , Ungeiſtige iſt. Hier aber iſt das Sinn
liche ein Schönes , und die geiſtige Form das in ihm Beſee
lende, und ein in fich ſelbſt Wahres . Aber einerſeits iſt dieß
Wahre , wie es erſcheint, nur in der Weiſe eines Sinnlichen ,
494 Vierter Theil. Die germaniſqe Welt.

nicht in ſeiner ihm ſelbſt gemäßen Form ; und anderſeits, wenn


die Religion die Abhängigkeit ſeyn ſoll von einem weſentlich
außerhalb Seyenden , von einem Ding, To findet dieſe Art Res
ligion im Verhältniß zum Schönen nicht ihre Befriedigung,
ſondern für eine ſolche ſind ganz ſchlechte, häßliche, platte Dar
ſtellungen das ebenſo Z w edmäßige, oder das vielmehr Zwed :
mäßigere. Wie man denn auch ſagt, daß diewahrhaften Kunſt
werke, z. B . Raphael's Madonnenbilder, nicht die Verehrung
genießen , nicht die Menge von Gaben empfangen , als vielmehr
die ſchlechten Bilder vornehmlich aufgeſucht werden und Gegen
ſtand der größeren Andacht und Freigebigkeit ſind; wogegen
die Frömmigkeit bei jenen vorbeigeht, indem ſie ſich durch ſie
innerlich aufgefordert und angeſprochen fühlen würde; aber ſolche
Anſprüche ſind da ein Fremdartiges , wo es nur um das Gefühl
ſelbſtloſer Gebundenheit und abhängiger Dumpfheit zu thun iſt. —
So iſt die Kunſt ſchon aus dem Princip der Kirche herausges
treten . Da ſie aber nur ſinnliche Darſtellungen hat, ſo gilt fie
zunächſt als etwas Unbefangenes. Daher iſt die Kirche ihr
noch gefolgt, trennte ſich aber dann von dem freien Geiſte, aus
dem die Kunſt hervorgegangen war, als derſelbe ſich zum Ges
danken und zur Wiſſenſchaft erhob.
Denn unterſtüßt und gehoben wurde die Kunſt zweitens
durch das Studium des Alterthums (der Namehumaniora
iſt ſehr bezeichnend, denn in jenen Werken des Alterthumswird
das Menſchliche und die Menſchenbildung geehrt): das Abends
land wurde durch daſſelbe mit dem Wahrhaften , Ewigen der
menſchlichen Bethätigung bekannt. Aeußerlich iſt dieſes Wieders
aufleben der Wiſſenſchaft durch den Untergang des byzantiniſchen
Kaiſerthums herbeigeführt worden . Eine Menge Griechen haben
ſich nach dem Abendlande geflüchtet und die griechiſche Litteratur
daſelbſt hingebracht; und ſie brachten nicht allein die Kenntniß
der griechiſchen Sprache mit, ſondern auch die griechiſchen Werke
ſelbſt. Sehr wenig war davon in den Klöftern aufbewahrt
Zweit. Abjan.Mittelalter. - Wiſſenſd).1. Kunſt als Aufl.d.Mittelalt. 495
geblieben , und die Kenntniß der griechiſchen Sprache war kaum
vorhanden . Mit der römiſchen Litteratur war es anders, es
herrſchten hier noch alte Traditionen : Virgil galt als ein gro
Ber Zauberer (bei Dante iſt er Führer in der Hölle , und dem
Fegefeuer ). Durch den Einfluß der Griechen nun kam die alte
griechiſche Litteratur wieder auf; das Abendland war fähig ge
worden ſie zu genießen und anzuerkennen ; es erſchienen ganz
andere Geſtalten , eine andere Tugend, als es bisher kannte ; es
erhielt einen ganz anderen Maaßſtab für das , was zu ehren ,
zu loben und nachzuahmen ſey . Ganz andere Gebote der Mo
ral ſtellten die Griechen in ihren Werfen auf, als das Abend
land kannte; an die Stelle des ſcholaſtiſchen Formalismus trat
ein ganz anderer Inhalt: Plato wurde im Abendlande bekannt,
und in dieſem ging eine neue menſchliche Welt auf. Die neuen
Vorſtellungen fanden ein Hauptmittel zu ihrer Verbreitung in
der eben erfundenen Buchdruckerfunſt, welche wie das Mittel
des Schießpulvers dem modernen Charakter entſpricht, und dem
Bedürfniffe, auf eine ideelle Weiſe mit einander in Zuſammen
hang zu ſtehen , entgegengekommen iſt. Inſofern ſich in dem
Studium der Alten die Liebe zu menſchlichen Thaten und Tu
genden fund that, hat die Kirche daran noch kein Arges gehabt,
und ſie hat nicht bemerkt, daß in jenen fremden Werken ihr ein
ganz fremdes Princip entgegentrat.
Eine dritte Haupterſcheinung, die zu erwähnen iſt, wäre
dieſes Hinaus des Geiſtes, dieſe Begierde des Menſchen ſeine
Erde kennen zu lernen . Der Rittergeiſt der portugieſiſchen und
ſpaniſchen Seehelden hat einen neuen Weg nach Oſtindien ges
funden und Amerika entdeckt. Auch dieſer Fortſdyritt iſt noch
innerhalb der Kirche geſchehen . Der Zweck des Columbus war
auch beſonders ein religiöſer : die Schäße der reichen noch zu
entdeckenden indiſchen Länder ſollten , ſeiner Anſicht nach , zu
einein neuen Kreuzzuge verwendet und die heidniſchen Einwohner
derſelben zum Chriſtenthume befehrt werden . Der Menſch er
496 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

kannte , daß die Erde rund, alſo ein für ihn Abgeſchloſſenes ſen,
und der Schifffahrt war das neu erfundene techniſche Mittel der
Magnetnadel zu Gute gekommen , wodurch ſie aufhörte bloß
Küſtenſchifffahrt zu ſeyn ; das Techniſche findet ſich ein , wenn das
Bedürfniß vorhanden iſt.
Dieſe drei Thatſachen der ſogenannten Reſtauration der
Wiſſenſchaften , der Blüthe der ſchönen Künſte und der Entdef
kung Amerika's und des Weges nach Oſtindien ſind der Mor
genröthe zu vergleichen , die nach langen Stürmen zum erſten
Male wieder einen ſchönen Tag verfündet. Dieſer Tag iſt der
Tag der Allgemeinheit, welcher endlich nach der langen folgens
reichen und furchtbaren Nacht des Mittelalters hereinbricht, ein
Tag, der ſich durch Wiſſenſchaft, Kunſt und Entdedungstrieb ,
das heißt durch das Edelſte und Höchſte, bezeichnet, was der
durch das Chriſtenthum frei gewordene und durch die Kirche eman
cipirte Menſchengeiſt als ſeinen ewigen undwahren Inhalt darſtellt.
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. - Die Reformation . 497

Dritter Abſchuitt.
Die neu e 3 e i t.
Wir ſind nunmehr zur dritten Periode des germaniſchen Reis
ches gekommen , und treten hiermit in die Periode des Geiſtes ,
der ſich als freien weiß, indem er das Wahrhafte, Ewige, an
und für ſich Augemeine will.
In dieſer dritten Periode find wieder drei Abtheilungen zu
machen . Zuerſt haben wir die Reformation als ſolche zu
betrachten , die Alles verklärende Sonne, die auf jeneMorgen
röthe am Ende des Mittelalters folgt, dann die Entwickelung
des Zuſtandes nach der Reformation , und endlich die neueren
Zeiten von dem Ende des vorigen Jahrhunderts an.

Erſtes Capitel.
Die Reformati o u .
Die Reformation iſt aus dem Verderben der Kirche hers
vorgegangen . Das Verderben der Kirche iſt nicht zufällig , nicht
nur Mißbrauch der Gewalt und Herrſchaft. Mißbrauch iſt
die ſehr gewöhnliche Weiſe, ein Verderben zu benennen ; es wird
vorausgeſeßt, daß die Grundlage gut, die Sache ſelbſt mangel
los, aber die Leidenſchaften , ſubjectiven Intereſſen , überhaupt der
zufällige Wille der Menſchen jenes Gute als ein Mittel für ſich
gebraucht habe, und daß es um nichts zu thun ſeyy, als dieſe
Zufälligkeiten zu entfernen . In folcher Vorſtellung wird die
Sache gerettet und das Uebel als ein ihr nur Aeußerliches ges
nommen . Aber wenn eine Sache auf eine zufällige Weiſe ges
mißbraucht wird , ſo iſt dieß nur im Einzelnen , aber etwas ganz
Philoſophie o . Geſdidhte. 3. Aufl. 32
498 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
Anderes iſt ein allgemeines großes Uebel in einer ſo großen und
allgemeinen Sache, als eine Kirche iſt. Das Verderben der
Kirche hat ſich aus ihr ſelbſt entwickelt; es hat eben ſein Prin
cip darin , daß das Dieſes als ein Sinnliches in ihr , daß das
Aeußerliche , als ein ſolches , innerhalb ihrer ſelbſt ſich befindet.
( Die Verklärung deſſelben durch die Kunſt iſt nicht hinreichend).
Der höhere , der Welt - Geiſt hat das Geiſtige aus ihr bereits aus
geſchloſſen ; ſie nimmt keinen Theil daran und an der Beſchäftigung
mit demſelben ; ſie behält ſo das Diefes an ihr; – es iſt die
finnliche Subjectivität, die unmittelbare, welche nicht von ihr zur
geiſtigen verklärt iſt. — Von ießt an tritt fie hinter den
Weltgeiſt zurüc ; er iſt ſchon über ſie hinaus , denn er iſt dazu
gekommen , das Sinnliche als Sinnliches , das Aeußerliche als
Aeußerliches zu wiſſen , in dem Endlichen auf endliche Weiſe ſich
zu bethätigen , und eben in dieſer Thätigkeit als eine gültige , bez
rechtigte Subjectivität bei ſich ſelbſt zu ſeyn .
Solche Beſtimmung, die von Hauſe aus in der Kirche iſt,
entfaltet ſich nothwendig erſt als Verderben in ihr, wenn ſie kei
nen Widerſtand mehr hat, wenn ſie feft geworden iſt. Dann
werden die Elemente frei und vollführen ihre Beſtimmung. Dieſe
Aeußerlichkeit innerhalb der Kirche ſelbſt iſt es alſo , welche Uebel
und Verderben wird , und als das Negative innerhalb ihrer ſelbſt
ſich entwickelt. – Die Formen dieſes Verderbens ſind die man
nigfaltigen Beziehungen , in denen ſie ſelbſt ſteht und in welche
daher dieſes Moment fich hineinträgt.
Es iſt in dieſer Frömmigkeit Aberglauben überhaupt , Ge
bundenſeyn an ein Sinnliches , an ein gemeines Ding, -- in den
verſchiedenſten Geſtalten : – Silaverei der Autorität, denn der
Geiſt als in ihm ſelbſt außer ſich , iſt unfrei, außer ſich feſtge
halten ; — Wunderglauben der ungereimteſten und läppiſchſten
Art, denn das Göttliche wird auf eine ganz vereinzelte und ends
liche Weiſe für ganz endliche und beſondere Zwede da zu ſeyn
gemeint; - dann Herrſchſucht, Schwelgerei, alle Verdorbenheit
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. - Die Reformation . 499
der Roheit und Gemeinheit , Heuchelei, Betrug, - alles dieſes
thut ſich in ihr auf; denn das Sinnliche überhaupt iſt in ihr .
nicht durch den Verſtand gebändigt und gebildet; es iſt frei ges
worden und zwar frei nur auf eine rohe, wilde Weiſe. — Auf
der andern Seite iſt die Tugend der Kirche, als negativ ges
gen die Sinnlichkeit , nur abſtract negativ ; ſie weiß nicht ſittlich :
in derſelben zu ſeyn , und iſt daher nur fliehend , entſagend, uns
lebendig in der Wirklichkeit.
Dieſe Contraſte innerhalb ihrer — rohes Laſter und Be
gierde, und die Alles aufopfernde Erhabenheit der Seele — wer :
den noch ſtärker durch die Energie , in welcher der Menſch nun
in ſeiner ſubjectiven Kraft gegen die äußerlichen Dinge, in
der Natur fich fühlt , in welcher er ſich frei weiß , und ſo ein ab
ſolutes Recht nun für ſich gewinnt. - Die Kirche , welche die
Seelen aus dem Verderben retten foll, macht dieſe Rettung felbft
zu einem äußeren Mittel, und iſt jegt dazu herabgeſunken , die
ſelbe auf eine äußerliche Weiſe zu bewerkſtelligen . Der Ablaß
der Sünden , die höchſte Befriedigung, welche die Seele ſucht,
ihrer Einigkeit mit Gott gewiß zu ſeyn, das Tiefſte, Innerſte
wird dem Menſchen auf die äußerlichſte, leichtſinnigſte Weiſe ge
boten , – nämlich mit bloßem Gelde zu kaufen , und zugleich
geſchieht dieſes für die äußerlichſten Zwecke - der Schwelgerei.
Zwar iſt ein Zweck wohl auch der Bau der Peterskirche , des
herrlichen Baues der Chriſtenheit in dem Mittelpunkte der Re
fidenz der Religion . Aber , wie das Kunſtwerk aller Kunſtwerke,
die Athene und ihre Tempelburg zu Athen , von dem Gelde der
Bundesgenoſſen Athens aufgerichtet wird und dieſe Stadt um
ihre Bundesgenoſſen und ihre Macht bringt; ſo wird die Voll
endung dieſer Kirche des h . Petrus und Michel Angelos jüngs
ftes Gericht in der påbſtlichen Rapelle , das jüngſte Gericht und
der Sturz dieſes ſtolzen Baues .
Die alte und durch und durch bewahrte Innigkeit des
Deutſchen Volks hat aus dem einfachen , ſchlichten Herzen die
32 *
500 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
ſen Umſturz zu volbringen . Während die übrige Welt hinaus
iſt nach Oſtindien , Amerika, – aus iſt, Reichthümer zu gewin
nen , eineweltliche Herrſchaft zuſammenzubringen , deren land die
Erde rings umlaufen und wo die Sonne nicht untergehen ſoll;
iſt es ein einfacherMönch , der das Dieſes , das die Chriſtens
heit vormals in einem irdiſchen , ſteinernen Grabe ſuchte , viel
mehr in dem tieferen Grabe der abſoluten Idealität alles Sinns
lichen und Aeußerlichen , in dem Geiſte findet, und in dem Hers
zen zeigt, — dem Herzen , das, unendlich verlegt durch dieſe dem
Bedürfniſſe des Innerſten geſchehene Darbietung des Aeußerlich
ſten , die Verrückung des abſoluten Verhältniſſes der Wahrheit
in allen einzelnen Zügen erfennt, verfolgt und zerſtört. Luther's
einfache Lehre iſt, daß das Dieſes , die unendliche Subjectivität
d . i. die wahrhafte Geiſtigkeit, Chriſtus, auf keine Art in äußer
licher Weiſe gegenwärtig und wirklich iſt, ſondern als Geiſtiges
überhaupt nur in der Verſöhnung mit Gott erlangt wird -
im Glauben und im Genuſſe. Dieſe zwei Worte ſagen
Alles . Es iſt nicht das Bewußtſeyn eines ſinnlichen Dings als
des Gottes , noch auch eines bloß Vorgeſtellten , das nicht wirklich
und gegenwärtig iſt, ſondern von einem Wirklichen , das nicht
ſinnlich iſt. Dieſe Entfernung der Aeußerlichkeit reconſtruirt alle
Lehren und reformirt allen Aberglauben , in den die Kirche con
ſequent auseinander gegangen iſt. Sie betrifft hauptſächlich die
Lehre von den Werken ; denn Werfe ſind das auf irgend eine
Weiſe nicht im Glauben , im eignen Geiſte, ſondern äußerlich auf
Autorität u. f. f. Vollbrachte. Der Glaube aber iſt ebenſo wes
nig nur die Gewißheit von bloß endlichen Dingen – eine Ges
wißheit, die nur dem endlichen Subjecte angehört, wie etwa der
Glaube, daß Dieſer und Jener eriſtirt und dieß und jenes ges
ſagt hat; oder der, daß die Kinder Iſrael trognen Fußes durchs
rothe Meer gegangen , daß vor den Mauern von Jericho die
Poſaunen ſo ſtark gewirkt haben , wie unſere Ranonen ; denn
wenn auch von dieſem Allen nichts gemeldet wäre , ſo wäre
Dritter Abidnitt. Die neue Zeit. – Die Reformation . 501

unſre Kenntniß von Gott darum nicht unvollſtändiger, — er iſt


überhaupt nicht Glauben an Abweſendes, Geſchehenes und Ver
gangenes ; fondern die ſubjective Gewißheit des Ewigen , der an
und für ſich ſeyenden Wahrheit, der Wahrheit von Gott. Von
dieſer Gewißheit fagt die lutheriſche Kirche, daß fie nur der hei
lige Geiſt bewirkt, d. H . eine Gewißheit, die nicht dem Indivis
duum nach ſeiner particularen Beſonderheit, ſondern nach ſeinem
Weſen zukommt. – Die lutheriſche Lehre iſt darum ganz die
fatholiſche, aber ohne das, was alles aus jenem Verhältniſſe
der Aeußerlichkeit fließt, inſofern die katholiſche Kirche dieſes Aeu
ßerliche behauptet. Luther hat darum nicht anders können, als
in der Lehre vom Nachtmahl, worin ſich Adles concentrirt, nichts
nachgeben . Auch der reformirten Kirche konnte er nicht zugeben ,
daß Chriſtus ein bloßes Andenken , eine Erinnerung fey , ſon
dern er ſtimmte darin vielmehr mit der katholiſchen Kirche überein ,
daß Chriſtus ein Gegenwärtiges ſey , aber im Glauben, im Geiſte.
Der Geiſt Chriſti erfülle wirklich das menſchliche Herz, Chriſtus ſeyy
alſo nichtbloß als hiſtoriſche Perſon zu nehmen , ſondern der Menſch
habe zu ihm ein unmittelbares Verhältniß im Geiſte.
Indem das Individuum nun weiß, daß es mit dem göttli
chen Geiſte erfüllt iſt, ſo fallen damit alle Verhältniſſe der Aeus
Berlichkeit weg: es giebt jeßt keinen Unterſchied mehr zwiſchen
Prieſter und Laien , es iſt nicht eine Klaſſe ausſchließlich im Beſit
des Inhalts der Wahrheit, wie aller geiſtigen und zeitlichen
Schäße der Kirche; ſondern es iſt das Herz , die empfindende
Geiſtigkeit des Menſchen , die in den Beſiß der Wahrheit kom
men kann und kommen ſoll, und dieſe Subjectivität iſt die aller
Menſchen. Jeder hat an ſich ſelbſt das Werk der Verſöhnung
zu vollbringen . — Der ſubjective Geiſt ſoll den Geiſt der Wahr
heit in fich aufnehmen und in ſich wohnen laſſen . Hiemit iſt
die abſolute Innigkeit der Seele, die der Religion ſelbſt anges
hört, und die Freiheit in der Kirche gewonnen . Die Subjecti
vität macht ſich nun den objectiven Inhalt, d . h . die Lehre der
502 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
Kirche zi1 eigen . In der lutheriſchen Kirche iſt die Subjectivität
und Gewißheit des Individuum ebenſo nothwendig als die Db
jectivität der Wahrheit. Die Wahrheit iſt den Lutheranern
nicht ein gemachter Gegenſtand, ſondern das Subject ſelbſt ſou
ein wahrhaftes werden , indem es ſeinen particularen Inhalt gegen
die ſubſtantielle Wahrheit aufgiebt und ſich dieſe Wahrheit zu eigen
macht. Sowird der ſubjective Geiſt in der Wahrheit frei, negirt ſeine
Particularitätund kommtzu ſich ſelbſt in ſeiner Wahrheit. So iſt die
chriſtliche Freiheit wirklich geworden . Wenn man die Subjectivität
bloß in das Gefühl feßt ohne dieſen Inhalt, ſo bleibt man bei dem
bloß natürlichen Willen ſtehenW ..
Hiermit iſt das neue, das leßte Panier aufgethan, um welches
die Völker ſich ſammeln , die Fahne des freien Geiſtes, der bei ſich
felbft und zwar in der Wahrheit iſt, und nur in ihr bei ſich ſelbſt iſt.
Dieß iſt die Fahne,unter der wir dienen , unddiewir tragen . Die Zeit
von da bis zu uns hat kein anderes Werf zu thun gehabt und zu thun,
ais dieſes Princip in dieWelt hineinzubilden , indem die Verföhnung
an ſich und die Wahrheit auch objectiv wird , der Form nach. Der
Bildung überhaupt gehört die Form an ; Bildung iſt Bethätigung
der Form des Allgemeinen und das iſt das Denken überhaupt.
Recht, Eigenthum , Sittlichkeit , Regierung , Verfaffung u. f. w .
müſſen nun auf allgemeine Weiſe beſtimmt werden , damit ſie dem
Begriffe des freien Willens gemäß und vernünftig feyen .. Su
nur fann der Geiſt der Wahrheit im ſubjectiven Willen , in der
beſonderen Thätigkeit des Willens erſcheinen ; indem die Inten
fität des ſubjectiven freien Geiſtes fich zur Form der Augemein
heit entſchließt, kann der objective Geift erſcheinen . In dieſem
Sinne muß man es faſſen , daß der Staat auf Religion gegrün
det ſey. Staaten und Geſeße ſind nichts Anderes als das Er
ſcheinende der Religion an den Verhältniſſen der Wirklichkeit.
Dieß iſt der weſentliche Inhalt der Reformation ; der
Menſch iſt durch fich felbft beſtimmt frei zu ſeyn .
Die Reformation hat im Anfang nur einzelne Seiten der
Dritter Abſchnit. Die neue Zeit. – Die Reformation . 503

Verderbniß der katholiſchen Kirche betroffen , Luther wollte in


Gemeinſamkeit mit der ganzen fatholiſchen Welt handeln und
verlangte Kirchenverſammlungen . In allen Ländern fanden ſich
Beiſtimmende für ſeine Behauptungen . Wenn man den Pro
teſtanten und Luthern Uebertreibung oder gar Verläumdung in
ihrer Beſchreibung des Verderbens der Kirche vorgeworfen hat,
ſo braucht man nur die Ratholiken ſelbſt , insbeſondere in den
offiziellen Acten der Kirchenverſammlungen , über denſelben Ges
genſtand zu hören. Der Widerſtreit Luthers aber , der zuerſt nur
beſchränkte Punkte betraf, dehnte fich bald auf die Dogmen aus,
betraf nicht Individuen , ſondern zuſammenhängende Inſtitutionen ,
das Kloſterleben , die weltliche Herrſchaft der Biſchöfe u . f. w . ;
er betraf nicht bloß einzelne Ausſprüche des Pabſtes und der
Concilien , ſondern die ganze Art und Weiſe, ſolchen Entſcheidens
überhaupt, endlich die Autorität der Kirche. Luther hat dieſe
Autorität verworfen und an ihre Stelle die Bibel und das
Zeugniß des menſchlichen Geiſtes geſeßt. Daß nun die Bibel
ſelbſt die Grundlage der chriſtlichen Kirche geworden iſt, iſt von
der größten Wichtigkeit : Jeder ſoll ſich nun ſelbſt daraus be
lehren , Jeder ſein Gewiſſen daraus beſtimmen können. Dieß iſt
die ungeheure Veränderung im Principe: die ganze Tradition
und das Gebäude der Kirche wird problematiſch und das Print
cip der Autorität der Kirche umgeſtoßen . Die Ueberſeßung, welche
Luther von der Bibel gemacht hat, iſt von unſchäßbarem Werthe
für das deutſche Volk geweſen . Dieſes hat dadurch ein Volks
buch erhalten , wie keine Nation der katholiſchen Welt ein ſolches
hat; fie haben wohl eine Unzahl von Gebetbüchlein , aber kein
Grundbuch zur Belehrung des Volks. Troß dem hat man in
neueren Zeiten Streit deshalb erhoben , ob es zweckmäßig fey ,
dem Volfe die Bibel in die Hand zu geben ; die wenigen Nach
theile , die dieſes hat , werden doch bei weitem von den ungeheu
ren Vortheilen überwogen ; die äußerlichen Geſchichten , die dem
Herzen und Verſtande anſtößig ſeyn könnten , weiß der religiöſe
504 Vierter Theil. Die germaniſme Welt.
Sinn ſehr wohl zu unterſcheiden, und ſich an das Subſtantielle
haltend überwindet er ſte. Wenn auch endlich die Bücher,welche
Volfsbücher ſeyn ſollten , nicht ſo oberflächlich wären , als ſie es
ſind, ſo gehört zu einem Volfsbuche doch nothwendig , daß es
das Anſehn des einzigen habe. Dieß iſt aber nicht leicht,
denn wird auch ein ſonſt gutes gemacht, ſo findet doch jeder
Pfarrer dran auszuſeßen und macht ein beſſeres . In Frank
reich hat man ſehr wohl das Bedürfniß eines Volfsbuches ges
fühlt, es ſind große Preiſe darauf gefeßt worden , aber aus dem
eben angegebenen Grunde iſt keines zu Stande gekommen . Daß
es ein Volfsbuch gebe, dazu iſt vor allen Dingen auch nöthig ,
daß das Volk leſen könne, was in den katholiſchen Ländern we
nig der Fall iſt.
Durch die Verläugnung der Autorität der Kirche wurde die
Scheidung nothwendig . Das tridentiniſche Concilium regte
die Grundfäße der katholiſchen Kirche feft, und nach dieſem Con
cilium fonnte von einer Vereinigung nicht mehr die Rede ſeyn.
Leibniß ließ ſich noch mit dem Biſchof Boſſuet über die Verei
nigung der Kirchen ein , aber das tridentiniſche Concilium bleibt
das unüberſteigliche Hinderniß. Die Kirchen wurden Par
teien gegen einander, denn auch in Anſehung der weltlichen
Ordnung trat ein auffallender Unterſchied ein . In den nicht
fatholiſchen Ländern wurden die Klöſter und Bisthümer aufge
hoben und das Eigenthumsrecht derſelben nicht anerkannt; der
Unterricht wurde anders organiſtrt, die Faſten, die Heiligen Tage
abgeſchafft. So war auch eine weltliche Reform in Anſehung
des äußerlichen Zuſtandes : denn auch gegen die weltliche Herr
ſchaft empörte man ſich an vielen Orten . Die Wiedertäufer
verjagten in Münſter den Biſchof und richteten eine eigene Herrs
ſchaft ein , und die Bauern ſtanden in Maſſe auf, um von dem
Druc, der auf ihnen laſtete, befreit zu werden . Doch war zu
einer politiſchen Umgeſtaltung, als Conſequenz der kirchlichen Re
formation , die Welt damals noch nicht reif. - Auch auf die
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. – Die Reformation . 505
katholiſche Kirche hat die Reformation einen weſentlichen Einfluß
gehabt: ſie hat die Zügel feſter angezogen , und hat das, was
ihr am meiſten zur Schande gereichte , das Schreiendſte der
Mißbräuche, abgeſchafft. Vieles, was außerhalb ihres Princips
lag, und worin ſie bisher unbefangen mitgegangen war, verwarf
fie nun , die Kirche machte Halt : bis hieher und nicht weiter ;
ſte trennte ſich von der aufblühenden Wiſſenſchaft, von der Phi
loſophie und humaniſtiſchen Literatur, und hatte bald Gelegen
heit ihren Widerwillen gegen Wiſſenſchaftliches fund zu geben .
Der berühmte Kopernikus hatte gefunden, daß die Erde und die
Planeten ſich um die Sonne drehen , aber gegen dieſen Fort
ſchritt erklärte ſich die Kirche. Galiläi, der in einem Dialoge
die Gründe für und wider die neue Entdedung des Kopernikus
auseinandergelegt hatte (allerdings ſo , daß er ſich für dieſelbe
erklärte) , mußte auf den Knieen für dieſes Verbrechen Abbitte
thun. Die griechiſche Literatur wurde nicht zur Grundlage der
Bildung gemacht; die Erziehung wurde den Jeſuiten übergeben .
So ſinkt der Geiſt der katholiſchen Welt im Ganzen zurüc.
Eine Hauptfrage , welche jeßt zu beantworten iſt , wäre :
warum die Reformation in ihrer Ausbreitung ſich nur auf einige
Nationen beſchränkt hat, und warum ſie nicht die ganze Fas
tholiſche Welt durchdrang. Die Reformation iſt in Deutſch
land aufgegangen und auch nur von den rein germaniſchen Völ
fern erfaßt worden , denn außer Deutſchland reßte ſie ſich auch
in Scandinavien und England feſt. Die romaniſchen und ſlavi:
ſchen Nationen haben ſich aber fern davon gehalten . Selbſt
Süddeutſchland hat die Reform nur theilweiſe aufgenommen ,
ſowie überhaupt der Zuſtand daſelbſt ein gemiſchter war. In
Schwaben, Franken und den Rheinländern waren eine Menge
von Klöſtern und Bisthümern , ſowie viele freie Reichsſtädte,
und an dieſe Eriſtenzen knüpfte ſich die Aufnahme oder die
Verwerfung der Reformation , denn es wurde vorhin ſchon be
merkt, daß die Reform zugleich eine ins politiſche Leben eingreis
506 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

fende Veränderung war. Ferner iſt auch die Autorität viel


wichtiger als man zu glauben geneigt iſt. Es giebt gewiſſe
Vorausſeßungen , die auf Autorität angenommen werden , und
ſo entſchied auch bloß die Autorität oft für und wider die An
nahme der Reformation. In Deſterreich , in Baiern , in Böh
men hatte die Reformation ſchon große Fortſchritte gemacht , und
obgleich man ſagt : wenn die Wahrheit einmal die Gemüther
durchdrungen hat , ſo kann ſie ihnen nicht wieder entriſſen wer
den , ſo iſt ſie doch hier durch die Gewalt der Waffen , durch
Liſt oder Ueberredung wieder erdrückt worden . Die flavifchen
Nationen waren ackerbauende. Dieſes Verhältniß führt
aber das von Herren und Knechten mit ſich. Beim Aderbau
iſt das Treiben der Natur überwiegend; menſchliche Betriebſam
keit und ſubjective Activität findet im Ganzen bei dieſer Arbeit
weniger ſtatt. Die Slaven ſind daher langſamer und ſchwerer
zum Grundgefühl des ſubjectiven Selbſts , zum Bewußtſeyn des
Allgemeinen , zu dem , was wir früher Staatsmacht genannt ha
ben , gekommen , und ſie haben nicht an der aufgehenden Freiheit
Theil nehmen können . — Aber auch die romaniſchen Natio
nen , Italien , Spanien , Portugal und zum Theil auch Frank
reich hat die Reformation nicht durchdrungen . Viel hat wohl
die äußere Geivalt vermocht , doch darauf allein kann man ſich
nicht berufen , denn wenn der Geiſt einer Nation etwas verlangt,
ſo bändigt ihn keine Gewalt; man kann auch von dieſen Natio
nen nicht ſagen , daß es ihnen an Bildung gefehlt habe, im Ges
gentheil, ſie waren darin vielleicht den Deutſchen voraus. Es
lag vielmehr im GrundCharakter dieſer Nationen , daß ſie die Re
formation nicht angenommen haben . Was iſt aber dieſes Ei
genthümliche ihres Charakters , das ein Hinderniß der Freiheit
des Geiſtes geweſen iſt ? Die reine Innigkeit der germaniſchen
Nation war der eigentliche Boden für die Befreiung des Geis
ſtes , die romaniſchen Nationen dagegen haben im innerſten
Grunde der Seele, im Bervußtſeyn des Geiſtes die Entzweiung
Dritter Abſènitt. Die neue Zeit. – Die Neformation . 507
beibehalten : fie find aus der Vermiſchung des römiſchen und
germaniſchen Blutes Hervorgegangen und behalten dieſes Hetero
gene immer noch in ſich. Der Deutſche kann es nicht läugnen ,
daß die Franzoſen , Italiener , Spanier mehr Charakterbeſtimmt
heit befißen , einen feſten Zweck (mag dieſer nun auch eine fire
Vorſtellung zum Gegenſtande haben ) mit vollkommenem Be
wußtſeyn und der größten Aufmerkſamkeit verfolgen , einen Plan
mit großer Beſonnenheit durchführen und die größte Entſchieden
heit in Anſehung beſtimmter Zwecke beweiſen . Die Franzoſin
nennen die Deutſchen entiers , ganz d. h . eigenſinnig ; ſie kennen
auch nicht die närriſche Originalität der Engländer. Der Engs
länder hat das Gefühl der Freiheit im Beſonderen ; er beküm :
mert ſich nicht um den Verſtand, ſondern im Gegentheil fühlt
fich um ſo mehr frei, je mehr das , was er thut oder thun kann,
gegen den Verſtand D . h . gegen allgemeine Beſtimmungen iſt.
Aber dann zeigt ſich ſogleich bei den romaniſchen Völfern dieſe
Trennung, das Feſthalten eines Abſtracten , und damit nicht
dieſe Totalität des Geiſtes , des Empfindens , die wir Gemüth
heißen , nicht dieß Sinnen über den Geiſt ſelbſt in ſich , - ſon
dern ſie ſind im Innerſten außer fich . Das Innere iſt ein Ort,
deſſen Tiefe ihr Gefühl nicht auffaßt, denn es iſt beſtimmten In
tereſſen verfallen , und die linendlichkeit des Geiſtes iſt nicht darin .
Das Innerſte iſt nicht ihr eigen . Sie laſſen es gleichſam drü
ben liegen und find froh , daß es ſonſt abgemacht wird. Das
Anderwärts , dem ſie es überlaſſen , iſt eben die Kirche. Freilich
haben ſie auch ſelbſt damit zu thun , aber weil dieß Thun nicht
ihr ſelbſteignes iſt, ſo machen ſie es auf äußerliche Weiſe ab.
Eh bien , ſagt Napoleon , wir werden wieder in die Meffe gehn ,
und meine Schnurrbärte werden ſagen : das iſt die Parole !
Das iſt der Grundzug dieſer Nativnen , Trennung des religiöſen
Intereſſes und des weltlichen 8. i. des eigenthümlichen Selbſtge
fühls ; und der Grund dieſer Entzweiung iſt im Innerſten ſelbſt,
welches jenes Geſammeltſeyn , jene tiefſte Einheit verloren hat.
508 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

Die katholiſche Religion nimmt nicht weſentlich das Weltliche in


Anſpruc , ſondern die Religion bleibt eine gleichgültige Sache
auf der einen Seite, und die andere Seite iſt verſchieden davon
und für ſich. Gebildete Franzoſen haben daher einen Widerwillen
gegen den Proteſtantismus, denn er erſcheint ihnen als etwas
Pedantiſches , als etwas Trauriges , kleinlich Moraliſches ; weil
der Geiſt und das Denken mit der Religion ſelbſt zu thun ha
ben inüßte : bei der Meſſe hingegen und andern Ceremonien iſt
es nicht nöthig daran zu denken , ſondern man hat eine impo
ſante, ſinnliche Erſcheinung vor Augen , bei welcher man plappern
kann ohne alle Aufmerkſamkeit, und doch das Nöthige abthut.
Es iſt ſchon oben von dem Verhältniß der neuen
Kirche zur Weltlich feit geſprochen worden, und ießt iſt nur
noch das Nähere anzugeben . Die Entwickelung und der Fort
ſchritt des Geiſtes von der Reformation an beſteht darin , daß
der Geiſt, wie er ſich ſeiner Freiheit durch die Vermittelung,
welche zwiſchen dem Menſchen und Gott vorgeht, ießt bewußt
iſt, in der Gewißheit des objectiven Proceſſes als des göttlichen
Weſens ſelbſt, dieſen nun auch ergreift und in der Weiterbildung
des Weltlichen durchmacht. Es iſt durch die errungene Verſöh
nung das Bewußtſeyn gegeben , daß das Weltliche fähig iſt, das
Wahre in ihm zu haben ; wogegen das Weltliche vorher nur
für bös galt, unfähig des Guten , welches ein Jenſeits blieb .
Es wird nun gewußt, daß das Sittliche und Rechte im Staate,
auch das Göttliche und das Gebot Gottes find , und daß es
dem Inhalte nach kein Höheres, Heiligeres giebt. Daraus folgt,
daß die Ehe nicht mehr die Eheloſigkeit über ſich hat Luther
hat eine Frau genommen , um zu zeigen , daß er die Ehe achte,
die Verläumdungen , die ihm daraus entſtehen würden , nicht
fürchtend. Es war ſeine Pflicht es zu thun , ſo wie Freitags
Fleiſch zu eſſen ; um zu beweiſen , daß dergleichen erlaubt und
recht iſt, gegen die vermeintliche höhere Achtung der Entbehrung.
Der Menſch tritt durch die Familie in die Gemeinſamfeit, in die
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. - Die Reformation . 509

Wechſelbeziehung der Abhängigkeit in der Geſellſchaft, und dieſer


Verband iſt ein ſittlicher ; wogegen die Mönche, getrenntaus der
ſittlichen Geſellſchaft, gleichfam das ſtehende Heer des Pabſtes
ausmachten , wie die Janitſcharen die Grundlage der türkis
ſchen Macht. Mit der Prieſterehe verſchwindet nun auch der
äußere Unterſchied zwiſchen Laien und Geiſtlichen . – Die Ar
beitsloſigkeit hat nun auch nicht mehr als ein Heiliges gegolten ,
ſondern es wurde als das Höhere angeſehen , daß der Menſch
in der Abhängigkeit durch I hätigkeit und Verſtand und Fleiß
ſich ſelber unabhängig macht. Es iſt rechtſchaffener , daß wer
Geld hat, kauft, wenn auch für überflüſſige Bedürfniſſe, ſtatt es
an Faullenzer und Bettler zu verſchenken ; denn er giebt es an
eine gleiche Anzahl von Menſchen , und die Bedingung iſt wes
nigſtens, daß ſte thätig gearbeitet haben . Die Induſtrie, die
Gewerbe ſind nunmehr fittlich geworden , und die Hinderniſſe
find verſchwunden , die ihnen von Seiten der Kirche entgegenges
feßt wurden . Die Kirche nämlich hatte es für eine Sünde er
klärt, Geld gegen Intereſſen auszuleihen : die Nothwendigkeit der
Sache aber führte gerade zum Gegentheil. Die Lombarden (da
her auch der franzöſiſche Ausdrud lombard für Leihhaus) und
beſonders die Mediceer haben den Fürſten in ganz Europa Geld
vorgeſtreckt. — Das dritte Moment der Heiligkeit in der fathos
liſchen Kirche, der blinde Gehorſam , iſt ebenſo aufgehoben wor:
den . Es wurde jeßt der Gehorſam gegen die Staatsgeſeße als
die Vernunft des Wollens und des Thuns zum Principe ges
macht. In dieſem Gehorſam iſt der Menſch frei, denn die Bes
ſonderheit gehorcht dem Augemeinen . Der Menſch hat ſelbſt ein
Gewiſſen und daher frei zu gehorchen . Damit iſt die Möglich
keit einer Entwicelung und Einführung der Vernunft und Freiheit
geſeßt,und was die Vernunft iſt, das ſind nun auch die göttlichen
Gebote. Das Vernünftige erfährtkeinen Widerſpruch mehr von Sei
ten des religiöſen Gewiſſens ; es kann ſich auf ſeinem Boden ruhig
entwickeln , ohne Gewalt gegen das Entgegengeſepte gebrauchen
510 Vierter Theil. Die germaniſche Welt .

3u müſſen . Das Entgegengeſepte aber hat in der katholiſchen


Kirche abſolute Berechtigung. Die Fürſten können zwar immer
noch ſchlecht ſeyn , aber ſie werden nicht mehr dazu von Seiten
des religiöſen Gewiſſens berechtigt und aufgefordert. In der
fatholiſchen Kirche dagegen fann das Gewiffen ſehr wohl den
Staatsgelegen entgegengeſegt werden . Königsmorde , Staatsver
ſchwörungen und dergleichen ſind von den Prieſtern oft unters
ſtüßt und ausgeführt worden .
Dieſe Verſöhnung des Staates und der Kirche iſt für ſich
unmittelbar eingetreten . Es iſt noch keine Reconſtruction des
Staats , des Rechtsſyſtems u. f. f., denn was an fich recht iſt,
muß im Gedanken erſt gefunden werden . Die Gefeße der Frei
heit haben fich noch erſt zu einem Syſteme von dem , was an
und für ſich recht iſt , ausbilden müſſen . Der Geiſt tritt nach
der Reformation nicht gleich in dieſer Vollendung auf, denn ſie
beſchränkt ſich zunächſt auf unmittelbare Veränderungen , wie
3. B . das Aufheben der Klöſter , Bisthümer u . f. w . Die Ver
föhnung Gottes mit der Welt war zunächſt noch in abſtracter
Form , noch nicht zu einem Syſteine der ſittlichen Welt entwickelt,
Die Verſöhnung ſoll zunächſt im Subjecte als ſolchem
vorgehen , in ſeiner bewußten Empfindung, das Subject fou fich
deſſen verſichern , daß der Geiſt in ihm wohne, daß es , nach der
kirchlichen Sprache, zum Bruch ſeines Herzens und zum Durch
bruch der göttlichen Gnade in ihm gefommen ſey . Der Menſch
iſt nicht von Natur wie er ſeyn ſoll; er kommt erſt durch den
Proceß der Umbildung zur Wahrheit. Dieß iſt eben das All
gemeine und Speculative, daß das menſchliche Herz nicht iſt was
es feyn roll. Es iſt nun verlangt worden , daß das Subject
deſſen , was es an ſich iſt, ſich bewußt werde, das heißt , die
Dogmatif wollte, daß der Menſch wiſſe, daß er böſe rey . Aber
das Individuum iſt erſt böſe, wenn das Natürlichein der ſinnlichen
Begierde, der Wille des Ungerechten ungebrochen , unerzogen , ge
waltthätig zur Eriſtenz kommt; und dennoch wird verlangt: er
Dritter Abjchnitt. Die neue Zeit. – Die Reformation . 511
ſolle wiſſen , daß er böſe ſev , und daß der gute Geiſt in ihm
wohne; er ſoll ſomit auf unmittelbare Weiſe haben , und durch
machen , was in ſpeculativer Weiſe an ſich iſt. Indem die Ver
ſöhnung nun dieſe abſtracte Form angenommen hat, iſt der
Menſch in dieſe Qual verſekt worden , ſich das Bewußtſeyn ſei
ner Sündhaftigkeit aufzuzwingen und ſich als böſe zu wiſſen .
Die unbefangenſten Gemüther und unſchuldigſten Naturen ſind
grübleriſcher Weiſe den geheimſten Regungen ihres Herzens ge
folgt , um ſie genau zu beobachten . Mit dieſer Pflicht iſt auch
die entgegengeſepte verbunden worden , nämlich der Menſch ſoll
auch wiſſen , daß der gute Geiſt in ihm wohne, daß die göttliche
Gnade in ihm zum Durchbruche gekommen ſey . Man hat eben
den großen Unterſchied nicht berückſichtigt: wiſſen , was an fich
iſt, und wiſſen , was in der Eriſtenz iſt. Es iſt die Qual der
Ungewißheit, ob der gute Geiſt dem Menſchen inwohne, einge
treten , und der ganze Proceß der Umbildung hat im Subjecte
ſelbſt gewußt werden ſollen . Einen Nachklang von dieſer Qual
haben wir noch in vielen geiſtlichen Liedern aus jener Zeit ; die
Pſalmen Davids , welche einen ähnlichen Charakter an fich tra
gen , waren damals auch als Kirchengeſänge eingeführt. Der
Proteſtantismus hat dieſe Wendung eines kleinlichen Grübelns
über den ſubjectiven Seelenzuſtand und der Wichtigkeit der Bee
ſchäftigung damit genommen , und lange Zeit den Charakter ei
ner innerlichen Quälerei und einer Jämmerlichkeit in ſich gehabt ;
was heut zu Tage Viele bewogen hat zum Katholicismus über
zutreten , um gegen dieſe innere Ungewißheit eine förmliche breite
Gewißheit an dem imponirenden Ganzen der Kirche zu erhalten .
Auch in die katholiſche Kirche kam eine gebildete Reflerion über
die Handlungen herein . Die Jeſuiten haben eben ſo grübleriſch
den erſten Anfängen des Wollens (velleitas) nachgedacht; fie
haben aber die Caſuiſtik beſefſen , für Alles einen guten Grund
zu finden , und ſomit das Böſe zu entfernen .
Hiermit hängt auch noch eine weitere wunderbare Erſchei
512 Vierter Theil. Die germaniſche Welt .

nung zuſammen,welche der katholiſchen und proteſtantiſchen Welt


gemeinſchaftlich geweſen . Der Menſch iſt ins Innerliche, Ab
ſtracte getrieben, und das Geiſtliche iſt als vom Weltlichen Ver
ſchieden gehalten worden . Das aufgegangene Bewußtſeyn der
Subjectivität des Menſchen, der Innerlichkeit ſeines Wollens hat
den Glauben an das Böſe, als eine ungeheure Macht der Welt
lichkeit, mitgebracht. Dieſer Glaube iſt dem Ablaß paralel : ſo
wie man ſich für den Preis des Geldes die ewige Seligkeit er:
kaufen konnte, ſo glaubte man nun, man fönne für den Preis
ſeiner Seligkeit durch einen mit dem Teufel gemachten Bund
fich die Reichthümer der Welt und die Macht für ſeine Begier
den und Leidenſchaften erfaufen . So iſt jene berühmte Geſchichte
von Fauſt entſtanden , der ſich aus Ueberdruß der theoretiſchen
Wiſſenſchaft in die Welt geſtürzt und mit Verluft ſeiner Selig
keit alle Herrlichkeit derſelben erkauft habe. Fauſt hätte dafür ,
nach dem Dichter, die Herrlichkeit der Welt genoſſen ; aber jene
armen Weiber, die man Heren nannte, ſollten nur die Befries
digung einer kleinen Rache an ihrer Nachbarin gehabt haben ,
wenn ſie der Ruh die Milch verſeßten oder das Kind frank
- machten . Man hat aber gegen ſie nicht die Größe des Scha
dens beim Verderben der Milch oder Krankwerden des Kindes
u. f. f. in Anſchlag gebracht , ſondern hat abſtract die Macht
des Böſen in ihnen verfolgt. So ſind denn in dem Glauben
an dieſe abgetrennte, beſondre Macht der Weltlichkeit, an den
Teufel und deſſen Liſt in den katholiſchen ſowohl, wie in den
proteſtantiſchen Ländern eine unendliche Menge von Herenpro
cerfen eingeleitet worden . Man konnte den Angeklagten ihre
Schuld nicht beweiſen , man hatte ſie nur in Verdacht: es war
ſomit nur ein unmittelbares Wiſſen , worauf ſich dieſe Wuth ges
gen das Böſe gründete. Man ſah ſich allerdings genöthigt zu
Beweiſen fortzugehen, aber die Grundlage der Proceſſe war nur
eben der Glaube , daß Perſonen die Macht des Böſen haben .
Es war dieß wie eine ungeheure Peſt, welche die Völfer vors
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. Die Reformation. 513
züglich im 16 . Jahrhundert durchraſt hat. Der Hauptgrund
war die Verdächtigkeit. In gleicher Fürchterlichkeit erſcheint die
ſes Princip des Verdachts unter der römiſchen Kaiſerherrſchaft
und unter der Schreckensherrſchaft Robespierre's , wo die Ge
ſinnung als ſolche beſtraft wurde. Bei den Katholiken waren
es die Dominikaner , welchen , wie die Inquiſition überhaupt , ſo
auch die Herenprozeſſe anvertraut waren . Gegen ſie ſchrieb der
Pater Spee, ein edler Jeſuit, eine Schrift (von ihm rührt auch
eine Sammlung herrlicher Gedichte unter dem Titel Trußnachs
tigall her) , aus welcher man in dieſen Fällen die ganze Fürch
terlichkeit der Criminaljuſtiz fennen lernt. Die Tortur, welche
nur einmal angewendet werden ſollte , wurde ſo lange fortgeſeßt,
bis das Geſtändniß erfolgte. Wenn die angeklagte Perſon aus
Schwäche bei der Tortur in Ohnmacht verfiel, ſo hieß es, der
Teufel gebe ihr Schlaf; bekam fie Krämpfe, ſo ſagte man , der
Teufel lache aus ihr ; hielt ſie ſtandhaft aus , der Teufel gebe
ihr Kraft. Wie eine epidemiſche Krankheit haben ſich dieſe Ver
folgungen über Italien , Frankreich , Spanien und Deutſchland
verbreitet. Der ernſte Einſpruch aufgeklärter Männer, als Spee's
und Anderer , bewirkte ſchon ſehr viel. Mit dem größten Erfolg
widerſeßte ſich aber zuerſt Thomaſius, Profeſſor zu Halle, die
fem durchgreifenden Aberglauben . Die ganze Erſcheinung iſt an
und für ſich höchft wunderbar, wenn wir bemerken , wie es noch
gar nicht lange iſt, daß wir aus dieſer furchtbaren Barbarei
heraus ſind noch im Jahre 1780 wurde zu Glarus in der
Schweiz eine Here öffentlich verbrannt). Bei den Ratholifen
war die Verfolgung ebenſowohl gegen die Reßer als gegen
die Heren gerichtet; Beides war ungefähr in eine Kategorie
geſtellt: der Unglaube der Keßer galt ebenſo ſchlechthin für das
Böſe.
Von dieſer abſtracten Form der Innerlichkeit abgehend, ha
ben wir jeßt die weltliche Seite zu betrachten , die Staatsbil
dung und das Aufgehen des Allgemeinen , das Bewußtwerden
Philoſophie d . Geldid te. 3 . Aufl. 33
514 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
allgemeiner Geſeße der Freiheit. Dieß iſt das andere und we
ſentliche Moment.

Zweites Capitet.
Wirkung der Reformation auf die Staatsbildung.
Was die Staatsbildung anbetrifft, ſo ſehen wir zunächſt die
Monardie ſich befeſtigen und den Monarchen mit der Staats
macht angethan ſeyn. Wir haben ſchon früher das beginnende
Hervortreten der Königsmacht und die werdende Einheit der
Staaten geſehen . Dabei beſtand die ganze Maſſe von Privatver
bindlichkeiten und Rechten fort, die aus dem Mittelalter überlies
fert worden . Unendlich wichtig iſt dieſe Form von Privatrechten ,
welche die Momente der Staatsgewalt erlangt haben . An der
oberſten Spiße derſelben iſt nun dieß Poſitive, daß eine aus
ſchließende Familie als die regierende Dynaſtie eriftirt, daß die
Folge der Könige nach Erbrecht und zwar nach der Primogeni
tur beſtimmt iſt. Daran hat der Staat einen unverrüdbaren
Mittelpunkt. Weil Deutſchland ein Wahlreich war, deßwegen
iſt es nicht Ein Staat geworden , und aus demſelben Grunde
iſt Polen aus der Reihe der ſelbſtſtändigen Staaten verſchwun
den . Der Staat muß einen legten entſcheidenden Willen haben ;
ſoll aber ein Individuum das legte entſcheidende ſetin , ſo muß
es auf unmittelbare natürliche Weiſe, nicht nach Wahl, Einſicht
u . dgl. beſtimmt werden . Selbſt bei den freien Griechen war
das Drafel die äußerliche Macht, die ſie in ihren Hauptangele:
genheiten beſtimmte ; hier iſt nun die Geburt das Orakel, ein
Etwas , das unabhängig iſt von aller Widfür. Dadurch aber,
daß die oberſte Spiße einer Monarchie einer Familie angehört,
erſcheint die Herrſchaft als Privateigenthum derſelben . Nun wäre
Dritter Abſchn . Die neue Zeit. — Wirk.0.Reformat.auf 8.Staatsbild . 515

dieſes als ſolches theilbar; da jedoch die Theilbarkeit dem Bes


griffe des Staates widerſpricht, ſo mußten die Rechte des Monar
chen und der Familie deſſelben genauer beſtimmtwerden . Es gehö
ren die Domainen nichtdem einzelnen Oberhaupte, ſondern der Fa
milie als Fideicommiffe, und die Garantie darüber haben die
Stände, denn dieſe haben die Einheit zu bewachen . So geht
nun das fürſtliche Eigenthum aus der Bedeutung von Privat
eigenthum und eines Privatbeſißes von Gütern und Domainen
und Gerichtsbarkeiten u . f. f. in Staatseigenthuin und Staats
geſchäft über.
Ebenſo wichtig und damit zuſammenhängend iſt die Ver
wandlung der Gewalten , Geſchäfte, Pflichten und Rechte , die
dem Begriffe nach dem Staate zugehören und die zu Privat
eigenthum und zu Privatverbindlichkeiten geworden waren — in
Staatsbeſiß . Die Rechte der Dynaſten und Barone ſind unters
drückt worden , indem ſie fich mit Staatsämtern begnügen muß
ten . Dieſe Umwandlung der Rechte der Vafallen in Staats
pflichten hat ſich in den verſchiedenen Reichen auf verſchiedene
Weiſe gemacht. In Frankreich z. B . wurden die großen Bas
rone, welche Gouverneurs von Provinzen waren , die ſolche Stellen
als Rechte anſprechen konnten ,und gleichwie die türkiſchen Paſchas
aus den Mitteln derſelben Truppen hielten , welche ſie jeden Augen
blick gegen den König auftreten laſſen konnten , herabgeſeßt zu
Güterbeſißern, zu Hofadel, und jene Paſohaſchaften wurden zu
Stellen , welche nun als Aemter ertheilt wurden ; oder der Adel
wurde zu Offizieren , Generalen der Armee und zwar der Armee
des Staates verwendet. In dieſer Beziehung iſt das Auffom
men der ſtehenden Heere ſo wichtig, denn ſie geben der Mos
narchie eine unabhängige Macht , und ſind eben ſo nöthig zur
Befeſtigung des Mittelpunkts gegen die Aufſtände der unterwors
fenen Individuen , als ſie nach außen hin den Staat vertheidi
gen . Die Abgaben hatten freilich noch keinen allgemeinen Cha
rafter, ſondern beſtanden in einer unendlichen Menge von Ges
33 *
516 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
fällen , Zinſen und Zöllen , außerdem in Subfidien und Beiträ
gen der Stände, welchen dafür das Necht der Beſchwerden , wie
jeßt noch in Ungarn , zuſtand. — In Spanien hatte der Ritter
geiſt eine höchſt ſchöne und edle Geſtalt gehabt. Dieſer Ritter
geiſt, dieſe Rittergröße , zu einer thatloſen Ehre herabgefunken , ift
hinreichend unter dem Namen der ſpaniſchen Grandezza be
fannt. Die Granden haben für ſich keine eigenen Truppen mehr
unterhalten dürfen und ſind auch von dem Commando der Ar
meen entfernt worden ; ohne Macht haben ſie ſich als Privat
perſonen mit einer leeren Ehre begnügt. Das Mittel aber, wo
durch die fönigliche Macht in Spanien fich befeſtigte , was die
Inquiſition . Dieſe, dazu eingeſeßt , heimliche Juden , Mauren
und Reßer zu verfolgen , nahm bald einen politiſchen Charakter
an , indem ſie gegen die Staatsfeinde fich richtete. Die Inqui
ſition machte ſo die despotiſche Macht der Könige erſtarken : fie
ſtand felbft über Biſchöfen und Erzbiſchöfen , und durfte dieſe
vor ihr Tribunal ziehen . Häufige Confiscation der Güter, eine
der dabei gewöhnlichſten Strafen , bereicherte bei dieſer Gelegen
heit den Staatsſchaß. Die Inquiſition war dazu noch ein Ge
richt des Verdachts , und indem ſie ſomit eine furchtbare Gewalt
gegen die Geiſtlichkeit ausübte , hatte ſie in dem Nationalftolz
ihre eigentliche Stüße. Jeder Spanier wollte nämlich von chrift
lichem Blute ſeyn, und dieſer Stolz fiel mit den Abſichten und
der Richtung der Inquiſition wohl zuſammen . Einzelne Pro
vingen der ſpaniſchen Monarchie, wie 3. B . Aragonien , hat
ten noch viele Einzelrechte und Privilegien , aber die ſpa
niſchen Könige von Philipp H . abwärts unterdrückten dieſel
ben ganz. .
Es würde zu weit führen , den Gang der Depreſſion der
Ariſtokratie in den einzelnen Reichen näher zu verfolgen . Das
Hauptintereſſe war , wie ſchon geſagt, daß die Privatrechte der
Dynaften geſchmälert wurden , und daß ihre Herrſchafts
rechte in Pflichten gegen den Staat ſich umſeßen mußten . Dies
Dritter Abſchnitt.Die neue Zeit. — Wirk. d. Neformat.auft.Staatsbild. 517

ſes Intereſſe war dem Könige und dem Volke gemeinſchaftlich .


Die mächtigen Barone ſchienen die Mitte zu ſeyn , welche die
Freiheit behauptete , aber es waren eigentlich nur ihre Privi
legien gegen die königliche Macht, und gegen die Bürger , welche
fte vertheidigten . Die Barone von England nöthigten dem Kös
nige die magna charta ab , aber die Bürger gewannen durch
dieſelbe nichts , vielmehr blieben ſie in ihrem früheren Zuſtande.
Die polniſche Freiheit war ebenſo nichts Anderes als die Frei
heit der Barone gegen den Monarchen , wobei die Nation zur
abſoluten Knechtſchaft erniedrigt war. Man muß, wenn von
Freiheit geſprochen wird , immer wohl Acht geben , ob es nicht
eigentlich Privatintereſſen ſind, von denen geſprochen wird.
Denn wenn auch dem Adel ſeine ſouveräne Macht genommen
war, ſo blieb das Volf noch durch Hörigkeit , Leibeigenſchaft und
Gerichtsbarkeit von demſelben unterdrückt, und war theils des Ei
genthums gar nicht fähig , theils war es belaſtet mit Dienſtbarkeit
und durfte das Seinige nicht frei verkaufen . Das höchſte Intereſſe
der Befreiung daraus ging ſowohl die Staatsmacht, als die Un
terthanen ſelbſt an , daß ſie als Bürger nun auch wirklich freie
Individuen ſeyen , und daß, was für das Augemeine zu leiſten ,
nach Gerechtigkeit, nichtnach Zufälligkeit gemeſſen ſey . DieAriſto
fratie des Beſißes iſt in dieſem Beſiß gegen beide , gegen die
Staatsmacht und gegen die Individuen . Aber die Ariſtokratie
foll ihre Stellung erfüllen , Stüße des Thrones zu ſeyn , als für
den Staat und das Augemeine beſchäftigt und ſich bethätigend, und
zugleich Stüße der Freiheit der Bürger. Das eben iſt der Vorzug
der verbindenden Mitte , daß ſie das Wiſſen und das Bethätigen
des in fich Vernünftigen und Allgemeinen übernimmt; und dieſes
Wiſſen und dieſes Geſchäft des Allgemeinen hat an die Stelle des
poſitiven perſönlichen Rechts zu treten . Dieſe Unterwerfung der
poſitiven Mitte unter das Staatsoberhaupt war nun geſchehen ;
aber es war damit noch nicht die Befreiung der Hörigen volbracht.
Dieſe iſt erſt ſpäter geſchehen als der Gedanke von dem , was
518 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

Recht an und für ſich ſexy, auftrat. Die Könige haben dann,
auf die Völfer fich ſtüßend, die Cafte der Ungerechtigkeit über
wunden ; wo ſie aber auf die Barone fich ſtüßten , oder dieſe
ihre Freiheit gegen die Könige behaupteten , da ſind die poſitiven
Rechte oder Unrechte geblieben . -
Es tritt ießt auch weſentlich ein Staatenſyſtem und ein
Verhältniß der Staaten gegen einander auf. Sie verwideln
ſich in mannigfaltige Kriege : die Könige, die ihre Staatsmacht
vergrößert haben , wenden ſich nun nach außen , Anſprüche aller
Art geltend machend. Der Zweck und das eigentliche Intereſſe
der Kriege iſt jeßt immer Eroberung. Ein ſolcher Gegenſtand
der Eroberung war beſonders Italien geworden, das den Frans
30ſen , Spaniern und ſpäter auch den Deſterreichern zum Objecte
der Beute dienen mußte. Die abſolute Vereinzelung und Zer
ſplitterung iſt überhaupt immer der Grundcharakter der Bewoh
ner Italiens geweſen , ſowohl im Alterthume, als auch in der
neueren Zeit. Die Starrheit der Individualität iſt unter der
Römerherrſchaft gewaltſam verbunden geweſen ; aber, als dieſes
Band zerſchnitten war, trat auch der urſprüngliche Charakter
ſchroff heraus. Die Italiener find ſpäterhin , gleichſam darin
eine Einheit findend, nachdem die ungeheuerfte, zu allen Verbrechen
ausgeartete Selbſtſucht überwunden worden , zum Genuſſe der
ſchonen Kunſt gekommen : ſo iſt die Bildung, die Milderung der
Selbſtſucht, nur zur Schönheit, nicht aber zur Vernünftigkeit, zur
höheren Einheit des Gedankens gelangt. Deßhalb iſt ſelbſt in
Poeſte und Gefang die italieniſche Natur anders wie die unſrige.
Die Italiener ſind improviſirende Naturen , ganz in Kunſt und
in ſeligem Genuß ergoſſen . Bei ſolchem Kunſtnaturell muß der
Staat zufällig ſeyn. – Aber auch die Kriege, die Deutſch
land führte , waren nicht beſonders ehrenvoll für daſſelbe: es
ließ fich Burgund, Lothringen , Elſaß und Anderes entreißen .
Aus dieſen Kriegen der Staatsmächte entſtanden gemeinſame
Intereſſen , und der Zweck des Gemeinſamen war, das Beſons
Dritter Abſchn. Die neue Zeit. — Wirk. d . Reformat.aufd.Staatsbild. 519

dere feſtzuhalten, die beſonderen Staaten in ihrer Selbſtſtändig


keit zu erhalten , oder das politiſche Gleichgewicht. Hierin
lag ein ſehr reeller Beſtimmungsgrund, nämlich der, die beſon
deren Staaten vor der Eroberung zu ſchüßen . Die Verbindung
der Staaten als das Mittel, die einzelnen Staaten gegen die
Gewaltthätigkeit der Uebermächtigen zu ſchüßen , der Gleichge
wichtszweck , war iegt an die Stelle des früheren allgemeinen
Zwedes , einer Chriſtenheit, deren Mittelpunkt der Pabſt wäre,
getreten. Zu dieſem neuen Zwecke geſellte ſich nothwendig ein
diplomatiſches Verhältniß , worin die entfernteſten Glieder des
Staatenſyſtems Alles , was einer Macht geſchah , mitfühlten .
Die diplomatiſche Politik war in Jtalien zur höchſten Feinheit
ausgebildet worden und von da auf Europa übertragen . Es
ſchienen mehrere Fürſten nach einander das europäiſche Gleich
gewicht ſchwankend zu machen . Gleich im Beginnen des Stad
tenſyſtems ſtrebte Karl V . nach einer Univerſalmonarchie; denn
er war deutſcher Kaiſer und König von Spanien zugleich : die
Niederlande und Italien gehörten ihm , und der ganze Reichthum
Amerika's floß ihm zu . Mit dieſer ungeheuren Macht, welche,
wie die Zufälligkeit eines Privatbeſißes , durch die glüdlichſten
Combinationen der Klugheit, unter Anderem durch Heirathen , zu :
ſammengebracht worden , aber des inneren wahrhaften Zuſammen
hanges entbehrte , vermochte er jedoch nichts gegen Frankreich,
ſelbſt nichts gegen die deutſchen Fürſten, und wurde vielmehr von
Moriß von Sachſen zum Frieden gezwungen . Sein ganzes Les
ben brachte er damit zu , die ausgebrochenen Unruhen in allen
Theilen ſeines Reiches zu dämpfen und die Kriege nach außen
zu leiten . — Eine ähnliche Uebermacht drohte Europa von Lud
wig dem Vierzehnten. Durch die Depreſſion der Großen
ſeines Reiches , welche Richelieu und ſpäter Mazarin vollendet
hatten ,, war er unumſchränkter Herrſcher geworden ; außerdem
hatte auch Frankreich das Bewußtſeyn ſeiner geiſtigen Ueberle
genheit durch ſeine dem übrigen Europa voranſchreitende Bil
520 · Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
dung. Ludwig's Prätenſionen gründeten ſich weniger wie die
Karl's V . auf ſeine ausgedehnte Macht , als auf die Bildung
ſeines Volfes , welche damals mit der franzöſiſchen Sprache all
gemein aufgenommen und bewundert wurde : fomit hatten ſie
allerdings eine höhere Berechtigung, als die Karl's V . Aber
wie ſchon die großen Streitfräfte Philipp 's II. ſich an dem Wi
derſtand der Holländer gebrochen hatten , ſo ſcheiterten auch an
demſelben heldenmüthigen Volfe Ludwig's ehrgeizige Pläne. –
Karl der Zwölfte war dann auch eine fo außerordentliche,
Gefahr drohende Figur: ſein ganzer Ehrgeiz iſt aber mehr aben
theuerlicher Natur , und weniger unterſtüßt durch innere Stärke
geweſen . Durch alle dieſe Stürme hindurch haben die Nationen
ihre Individualität und Selbſtftändigkeit behauptet.
Ein gemeinſames Intereſſe der europäiſchen Staaten nach
außen war das gegen die Türfen , gegen dieſe furchtbare
Macht, die von Oſten her Europa zu überſchwemmen drohte.
Es war damals noch eine ferngeſunde, fraftvolle Nation , deren
Macht auf Eroberung gegründet war, die deßhalb fortdauernd
Krieg führte und nur Waffenſtilſtände einging. Die eroberten
Länder wurden , wie bei den Franken , unter die Krieger vertheilt
· zu Perſönlichem , nicht zu erblichem Befig ; als ſpäter die Erblich
feit eintrat, war die Macht der Nation gebrochen . Die Blüthe
der osmaniſchen Kraft, die Janitſcharen , waren den Euro
päern ein Schreden . Es wurden dazu fchöne und kräftige
Chriſtenknaben , hauptſächlich durch jährliche Conſcriptionen bei
den griechiſchen Unterthanen , zuſammengebracht, im Islam ſtreng
erzogen und von Jugend auf in den Waffen geübt; ohne Eltern ,
ohne Geſchwiſter , ohne Weiber waren ſte wie die Mönche eine
ganz unabhängige und furchtbare Schaar. Die europäiſchen
Mächte im Oſten mußten ſämmtlich den Türfen entgegentreten ,
Deſterreich , Ungarn , Venedig und Polen . Die Schlacht bei
Lepanto rettete Italien , und vielleicht ganz Europa , vor der
Ueberſchwemmung der Barbaren .
Dritter Abſchn . Die neue Zeit. — Wirk.d . Reformat. auf d.Staatsbild. 521
Wichtig aber beſonders in Folge der Reformation iſt der
Kampf der proteſtantiſchen Kirche um eine politiſche
Eriſtenz. Die proteſtantiſche Kirche, auch wie ſie unmittelbar
aufgetreten , griff zu ſehr in das Weltliche ein , als daß ſie nicht
weltliche Verwickelungen und politiſche Streitigkeiten über politiſchen
Beſig hätte veranlaſſen ſollen . Unterthanen katholiſcher Fürſten
werden proteſtantiſch , haben und machen Anſprüche auf Kirchen
güter , verändern die Natur des Beſißes , und entziehen ſich den
Handlungen des Cultus , welche Emolumente abwerfen (jura
stolae). lieberdem iſt die katholiſche Regierung verbunden , der
Kirche das brachium seculare zu ſeyn ; die Inquiſition 3. B .
hat nie einen Menſchen hinrichten laſſen , ſondern nur zum Reger
erklärt, gleichſam als Geſchwornengericht, und nach den bürger
lichen Geſeßen iſt er dann geſtraft worden. Ferner wurden tau
ſend Anſtöße gegeben und Reibungen veranlaßt bei Proceſſionen
und Feſten , beim Tragen der Monſtranz über die Straße, durch
das Austreten aus den Klöſtern u . f. F.; oder gar , wenn ein
Erzbiſchof von Köln ſein Erzbisthum zu einem weltlichen Für
ſtenthum für ſich und ſeine Familie machen wollte. Den katho
liſchen Fürften wurde von den Beichtvätern zur Gewiſſensſache
gemacht, die vormals geiſtlichen Güter aus den Händen der
Keßer zu reißen . Doch waren in Deutſchland die Verhältniſſe
dem Proteſtantismus noch inſofern vortheilhaft , als die beſondern
ehemaligen Reichslehne zu Fürſtenthümern geworden waren . Aber
in Ländern , wie Deſterreich , ſtanden die Proteſtanten theils ohne
die Fürſten , theils hatten ſie dieſelben gegen fich , und in Franf
reich mußten ſie ſich Feſtungen einräumen lafſen zur Sicherheit
ihrer Religionsübung. - Dhne Kriege konnte die Eriſtenz der
Proteſtanten nicht geſichert werden , denn es handelte ſich nicht um
das Gewiſſen als ſolches , ſondern um die politiſchen und Pri
vatbeſişthümer , die gegen die Rechte der Kirche in Beſchlag ge
nommen worden und von derſelben reclamirt wurden. Es trat
ein Verhältniß abſoluten Mißtrauens ein , weil das Mißtrauen
522 Vierter Theil. Die germaniſde Welt.

des religiöſen Gewiffens zu Grunde lag. Die proteſtantiſchen


Fürſten und Städte machten dann einen matten Bund und
führten eine viel mattere Vertheidigung. Nachdem ſie unterlegen ,
erzwang Kurfürſt Moriß von Sachſen durch einen ganz uner
warteten , abentheuerlichen Schlag den ſelbſt zweideutigen Frieden ,
der die ganze Tiefe des Haſſes beſtehen ließ. Die Sache mußte
von Grund aus durchgekämpft werden . Dieß geſchah im
dreißigjährigen Kriege, in welchem zuerſt Dänemark und
dann Schweden die Sache der Freiheit übernahm . Erſteres
war bald genöthigt vom Kampfplaße zu weichen , lekteres ſpielte
aber unter dem ruhmwürdigen Helden aus dem Norden , Guſtav
Adolph , eine um ſo glänzendere Nolle , als es ſelbft ohne die
Hülfe der proteſtantiſchen Reichsſtände Deutſchlands den Krieg
mit der ungeheuern Macht der Katholifen auszufechten begann.
Ade Mächte Europens, mit wenigen Ausnahmen , ſtürzen ſich
nun auf Deutſchland,wohin ſie wie zur Quelle zurückſtrömen , von
der fie ausgegangen waren , und wo jeßt das Recht der nun
mehr religiöſen Innigkeit und das Recht der innerlichen Getrennt
heit ausgefochten werden ſoll. Der Kampf endigt ohne Idee,
ohne einen Grundſaß als Gedanken gewonnen zu haben , mit der
Ermüdung Ader , der gänzlichen Verwüſtung , an der ſich alle
Kräfte zerſchlagen hatten und dem bloßen Geſchehenlaſſen und
Beſtehen der Parteien auf dem Grund der äußeren Macht.
Der Ausgang iſt nur politiſcher Natur. -
Auch in England mußte ſich die proteſtantiſche Kirche
durch den Krieg feſtſeßen : der Kampf war gegen die Könige ges
richtet, denn dieſe hingen insgeheim der katholiſchen Religion an ,
indem ſie darin das Princip der abſoluten Widfür beſtätigt fans
den . Gegen die Behauptung der abſoluten Machtvollkommenheit,
nach welcher die Könige nur Gott (d. h. dem Beichtvater) Re
chenſchaft zu geben ſchuldig ſeyen , ſtand das fanatiſirte Volt auf,
und erreichte dem äußerlichen Katholicismus gegenüber im Puris
tanismus die Spiße der Innerlichkeit , welche in eine objective
Dritter Abſdn. Die neue Zeit. - Wirk. 0.Reformat. aufd. Staatsbild . 523

Welt ausſchlagend, theils fanatiſch erhoben, theils lächerlich er


ſcheint. Dieſe Fanatiker, wie auch die in Münſter, wollten den
Staat unmittelbar aus der Gottesfurcht regieren , wie ebenſo fa
natifirt die Soldaten ihre Sache im Felde betend ausfechten
mußten . Aber ein militäriſcher Anführer hat nun die Gewalt
und damit die Regierung in Händen ; denn es muß regiertwer :
den im Staate ; und Cromwell wußte , was Regieren iſt. Er
hat ſich alſo zum Herrſcher gemacht und jenes betende Parlament
auseinandergejagt. Mit ſeinem Tode jedoch ſchwand ſein Recht,
und die alte Dynaſtie bemächtigte ſich wieder der Herrſchaft. Es
iſt zu bemerken ,daß für die Sicherheit der Regierung den Für.
ften die katholiſche Religion angerühmt wird, - offenbar beſon
ders , wenn die Inquiſition mit der Regierung verbunden iſt,
denn dieſe wird durch jene gewaffnet. Dieſe Sicherheit aber liegt
in dem knechtiſchen religiöſen Gehorſam und iſt nur vorhanden ,
wenn die Staatsverfaſſung und alles Staatsrecht noch auf dem
poſitiven Beſiße beruht; aber wenn die Verfaſſung und die Ges
feße auf wahrhaft ewiges Recht gebaut werden ſollen , dann iſt
Sicherheit allein in der proteſtantiſchen Religion, in deren Prin
cip auch die ſubjective Freiheit der Vernünftigkeit zur Ausbildung
kommt. Das katholiſche Princip wurde noch beſonders von den
Holländern in der ſpaniſchen Herrſchaft bekämpft. Belgien
war der katholiſchen Religion noch zugethan und blieb unter ſpas
niſcher Herrſchaft: der nördliche Theil dagegen , Holland, hat ſich
heldenmüthig gegen ſeine Unterdrücker behauptet. Die gewerb
treibende Klaſſe, die Gilden und Schüßengeſellſchaften haben die
Miliz gebildet und die damals berühmte ſpaniſche Infanterie
durch Heldenmuth überwunden . Wie die ſchweizeriſchen Bauern
der Ritterſchaft Stand gehalten haben , ſo hier die gewerbtreiben
den Städte den disciplinirten Truppen . Während deſſen haben
die holländiſchen Seeſtädte Flotten ausgerüſtet und den Spaniern
ihre Colonien , woher ihnen aller Reichthum floß, zum Theil ges
nommen . Wie Holland durch das proteſtantiſche Princip ſeine
524 Vierter Theil. Die germaniſde Welt.
Selbſtſtändigkeit errang, ſo verlor ſie Polen , als es daſſelbe
in den Diſſidenten unterdrücken wollte.
Durch den weſtphäliſchen Frieden war die proteſtanti
ſche Kirche als eine ſelbſtſtändige anerkanntworden , zur ungeheu
ren Schwach und Demüthigung für die katholiſche. Dieſer Friede
hat häufig für das Palladium Deutſchlands gegolten , weil er
die politiſche Conſtitution Deutſchlands feſtgeſtellt hat. Aber
dieſe Conſtitution war in der That eine Feſtſeßung von den
Privatrechten der Länder , in die es zerfallen war. Vom Zwede
eines Staates iſt dabei fein Gedanke und feine Vorſtellung.
Man muß den Hippolytus a lapide leſen ( ein Buch , das ,
vor dem Friedensſchluſſe geſchrieben , großen Einfluß auf die
Reichsverhältniſſe gehabt hat ), um die deutſche Freiheit, deren
Vorſtellung die Köpfe beherrſcht, fennen zu lernen . In dieſem
Frieden iſt der Zweck der vollkommenen Particularität , und die
privatrechtliche Beſtimmung aller Verhältniſſe ausgeſprochen ; er
iſt die conſtituirte Anarch ie, wie ſie noch nie in der Welt
geſehen worden , d. h. die Feſtſtellung , daß ein Reich Eines , ein
Ganzes ſeyn ſoll, ein Staat, und daß dabei doch alle Verhält
niſſe ſo privatrechtlich beſtimmt werden , daß das Intereſſe der
Theile für fich , gegen das Intereſſe des Ganzen zu handeln , oder
das zu unterlaſſen , was deſſen Intereſſe fordert und ſelbſt geſe
lich beſtimmt iſt - aufs unverbrüchlichſte verwahrt und geſichert .
iſt. Es hat ſich ſogleich nach dieſer Feſtſeßung gezeigt , was das
deutſche Neich als Staat gegen andere war : es hat ſchmäh
liche Kriege gegen die Türken geführt, von denen Wien durch
die Polen befreit werden mußte. Noch ſchmählicher war ſein
Verhältniß zu Frankreich , welches freie Städte, Schußmauern
Deutſchlands , und blühende Provinzen , während des Friedens
geradezu in Beſiß genommen und ohne Mühe behalten hat.
Dieſe Conſtitution , die das Ende von Deutſchland als einem
Reiche vollends bewirkt hat, iſt vornehmlich das Werk Niche
lieu ' s geweſen , durch deſſen Hülfe , eines Römiſchen Cardinals ,
Dritter Abſan. Die neue Zeit. — Wirt. d.Neformat. auf d. Staatsbild. 525
die Religionsfreiheit in Deutſchland gerettet worden iſt. Riches
lieu hat zum Beſten des Staats , dem er vorſtand, das Gegens
theil von dem gethan , was er an deſſen Feinden that; denn
dieſe löfte er auf zur politiſchen Dhnmacht, indem er die politiſche
Selbſtſtändigkeit der Theile begründete , in ſeinem Reiche aber
unterdrückte er die Selbſtſtändigkeit der proteſtantiſchen Partei,
und er hat darüber das Schicſal vieler großen Staatsmänner
gehabt, daß er von ſeinen Mitbürgern verwünſcht worden iſt,
während die Feinde das Werk, wodurch er ſie ruinirt hat , für
das heiligſte Ziel ihrer Wünſche, ihres Rechts und ihrer Freiheit
angeſehen haben .
Das Reſultat des Stampfes alſo war das durch Gewalt
erzwungene und nun politiſch begründete Beſtehen der Religions
parteien nebeneinander , als politiſcher Staaten und nach poſitiven
ftaats - oder privatrechtlichen Verhältniſſen .
Weiter aber und ſpäter hat die proteſtantiſche Kirche ihre
politiſche Garantie darin vollendet , daß einer der ihr angehörigen
Staaten ſich zu einer ſelbſtſtändigen europäiſchen Macht erhoben .
Dieſe Macht mußte mit dem Proteſtantismus neu entſtehen : es
iſt Preußen , das , am Ende des ſtebzehnten Jahrhunderts auf
tretend, in Friedrich dem Großen ſein , wenn nicht begründendes ,
doch feſt - und ſicherſtellendes Individuum , und im ſiebenjährigen
Rriege den Kampf dieſer Feſt- und Sicherſtellung gefunden hat.
Friedrich II. hat die Selbſtſtändigkeit ſeiner Macht dadurch er
wieſen , daß er der Macht von faſt ganz Europa , der Vereini
gung der Hauptmächte deſſelben , widerſtanden hat. Er trat als®
Held des Proteſtantismus auf, nicht nur perſönlich wie Guſtav
Adolph , ſondern als König einer Staatsmacht. Zwar war der
ſiebenjährige Krieg an ſich fein Religionskrieg , aber er war es
dennoch in ſeinem definitiven Ausgange, in der Geſinnung der
Soldaten ſowohl , als der Mächte. Der Pabſt conſecrirte den
Degen des Feldmarſchals Daun , und der Hauptgegenſtand der
coalitionirten Mächte war, den preußiſchen Staat als Schuß der
526 Vierter Theil. Die germaniſche Welt .

proteſtantiſchen Kirche zu unterdrücken . Friedrich der Große hat


aber nicht nur Preußen unter die großen Staatsmächte Europa's
als proteſtantiſche Macht eingeführt, ſondern er iſt auch ein phi
loſophiſcher König geweſen , eine ganz eigenthümliche und einzige
Erſcheinung in der neuern Zeit. Die engliſchen Könige waren
ſpißfindige Theologen geweſen , für das Princip des Abſolutis
mus ſtreitend : Friedrich dagegen faßte das proteſtantiſche Princip
von der weltlichen Seite auf, und indem er den religiöſen Strei
tigkeiten abhold war, und ſich für dieſe und jene Meinung ders
ſelben nicht entſchied , hatte er das Bewußtſeyn von der Adge
meinheit, die die leßte Tiefe des Geiſtes und die ihrer ſelbſt bes
wußte Kraft des Denkens iſt.

Drittes Capitel.
Die Aufklärung und Revolutiou.
In der proteſtantiſchen Religion war das Princip der In
nerlichkeit mit der religiöſen Befreiung und Befriedigung in ſich
ſelbſt eingetreten , und damit auch der Glaube an die Innerlich
feit als das Böſe und an die Macht des Weltlichen. Auch in
der katholiſchen Kirche führte die jeſuitiſche Caſuiſtik unendliche
Unterſuchungen ein , ſo weitläufig und ſpißfindig , als ehemals in
der ſcholaſtiſchen Theologie, über das Innerliche des Willens und
die Beweggründe deſſelben. In dieſer Dialektik, wodurch alles
Beſondere wankend gemacht wurde, indem das Böſe in Gutes
und das Gute in Böſes verkehrtwurde, blieb zuleßtnichts übrig,
als die reine Thätigkeit der Innerlichkeit ſelbſt, das Abſtracte des
Geiſtes, — das Denken . Das Denken betrachtet Alles in der
Form der Adgemeinheit und iſt dadurch die Thätigkeit und Pro
duction des Allgemeinen . In der vormaligen ſcholaſtiſchen Theos
logie blieb der eigentliche Inhalt, die Lehre der Kirche ein Jenſeits ;
Dritter Abſdynitt. Die neue Zeit. – Die Aufklärung u . Revolution . 527

auch in derproteſtantiſchen Theologieblieb die Beziehung des Geiſtes


auf ein Jenſeits ; denn auf der einen Seite bleibt der eigneWille,der
Geiſt des Menſchen, Ich ſelbſt, undaufder andern die Gnade Gottes,
der heilige Geiſt, und ſo im Böſen der Teufel. Aber im Denken
iſt das Selbft fich präſent, ſein Inhalt, ſeine Objecte ſind ihm
ebenſo ſchlechthin gegenwärtig ; denn indem ich denke , muß ich
den Gegenſtand zur Augemeinheit erheben . Das iſt ſchlechthin
die abſolute Freiheit, denn das reine Ich iſt, wie das reine licht,
ſchlechthin bei fich ; alſo iſt ihm das Unterſchiedene, Sinnliches
wie Geiſtiges , nicht mehr furchtbar, denn es iſt dabei in ſich frei
und ſteht demſelben frei gegenüber. Das praktiſche Intereſſe ges
braucht die Gegenſtände, verzehrt ſte : das theoretiſche betrachtet
ſie mit der Sicherheit, daß ſie an ſich nichts Verſchiedenes ſind.
- Alſo : die leßte Spiße der Innerlichkeit iſt das Denken . Der
Menſch iſt nicht frei, wenn er nicht denkt, denn er verhält ſich
dann zu einem Anderen . Dieſes Erfaffen , das Uebergreifen über
das Andre mit der innerſten Selbſtgewißheit, enthält unmittelbar
die Verſöhnung : die Einheit des Denkens mit dem Andern iſt
an ſich vorhanden , denn die Vernunft iſt die ſubſtantielle Grund
lage ebenſowohl des Bewußtſeyns, als des Neußerlichen und Na
türlichen . So iſt das Gegenüber auch nicht mehr ein Jenſeits ,
nicht von andrer ſubſtantieller Natur.
Das Denken iſt jeßt die Stufe, aufwelche der Geiſt ges
langt iſt. Es enthält die Verſöhnung in ihrer ganz reinen Wes
fenheit, indem es an das Aeußerliche mit der Anforderung geht,
daß es dieſelbe Vernunft in fich habe, als das Subject. Der
Geiſt erkennt, daß die Natur, die Welt auch eine Vernunft an
ihr haben müſſe, denn Gott hat ſie vernünftig geſchaffen. Es iſt
nun ein allgemeines Intereſſe, die gegenwärtige Welt zu betrach
ten und kennen zu lernen , entſtanden . Das Allgemeine in der
Natur ſind die Arten , die Gattungen , die Kraft, die Schwere,
reducirt auf ihre Erſcheinungen u . f. w . Es iſt alſo die Erfah
rung die Wiſſenſchaft der Welt geworden , denn die Erfahrung
528 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
iſt einerſeits die Wahrnehmung, dann aber auch Auffinden des
Gefeßes , des Innern , der Kraft, indem ſie das Vorhandene auf
ſeine Einfachheit zurückführt. — Das Bewußtſeyn des Denkens
iſt aus jener Sophiftif des Denkens, die Alles wankend macht,
zuerſt durch Descartes hervorgehoben worden . Wie in den rein
germaniſchen Nationen das Princip des Geiftes aufgegangen
iſt, ſo wurde von den romaniſchen zuerſt die Abſtraction erfaßt,
welche mit ihrem oben angegebenen Charakter der innerlichen Ges
ſchiedenheit zuſammenhängt. Die Erfahrungswiſſenſchaft hat da
her bei ihnen , gemeinſchaftlich mit den proteſtantiſchen Englän
dern , und bei den Italienern vorzugsweiſe ſchnellen Eingang ge
funden . Es war für die Menſchen , als habe Gott jeßt erſt die
Sonne , den Mond , die Geſtirne, die Pflanzen und Thiere ge
ſchaffen , als ob die Geſeße jegt erſt beſtimmt worden wären ,
denn nun erſt haben die Menſchen ein Intereſſe daran gehabt,
als fie ihre Vernunft in jener Vernunft wiedererkannten . Das
Auge des Menſchen wurde klar, der Sinn erregt, das Denken
arbeitend und erklärend. Mit den Naturgeſeßen iſt man dem
ungeheuren Aberglauben der Zeit entgegengetreten , ſowie allen
Vorſtellungen von fremden gewaltigen Mächten , über die man
nur durch Magie fiegreich werden könne. Die Menſchen haben
überau ebenſo geſagt, und zwar Katholiken nicht minder wie
Proteſtanten : das Aeußerliche, woran die Kirche das Höhere
knüpfen will, iſt eben nur äußerlich : die Hoſtie iſt nur Teig, die
Reliquie nur noch en . Gegen den Glauben auf Autorität iſt
die Herrſchaft des Subjects durch ſich ſelbſt geſet worden , und
die Naturgeſeße wurden als das einzig Verbindende des Aeußer
lichen mit Aeußerlichem anerkannt. So wurde allen Wundern
widerſprochen : denn die Natur iſt nun ein Syſtem bekannter und
erkannter Gefeße; der Menſch iſt zu Hauſe darin , und nur das
gilt, worin er zu Hauſe iſt; er iſt frei durch die Erkenntniß der
Natur. Auch auf die geiſtige Seite hat ſich dann das Denken
gerichtet : man hat Necht und Sittlichkeit als auf dem präſenten
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit – Die Aufklärung und Revolution . 529

Boden des Willens des Menſchen gegründet betrachtet, da es


früher nur als Gebot Gottes , äußerlich auferlegt, im alten und
neuen Teſtament geſchrieben , oder in Form beſonderen Rechts in
alten Pergamenen , als Privilegien , oder in Tractaten vorhanden
war. Man hat aus der Erfahrung empiriſch beobachtet, was
die Nationen als Recht gegeneinander gelten laſſen (wie Grotius);
dann hat man als Quelle des vorhandenen bürgerlichen wie
Staats - Rechts , in Cicero 's Weiſe, die Triebe der Menſchen ,
welche die Natur ihnen ins Herz gepflanzt habe, angeſehen , ſo
3. B . den Socialitätstrieb ; ferner das Princip der Sicherheit der
Perſon und des Eigenthums der Bürger , ſowie das Princip des
allgemeinen Beſten , die Staatsraiſon. Aus dieſen Principien
hat man von der einen Seite despotiſch die Privatrechte nicht
reſpectirt, dadurch aber andrerſeits allgemeine Staatszwede gegen
das Poſitive durchgeführt. Friedrich II. fann als der Regent
genannt werden , mit welchem die neue Epoche in die Wirklichkeit
tritt, worin das wirkliche Staatsintereſſe feine Augemeinheit
und ſeine höchſte Berechtigung erhält. Friedrich II. muß beſon
ders deßhalb hervorgehoben werden , daß er den allgemeinen
Zweck des Staats denkend gefaßt hat, und daß er der Erſte un
ter den Regenten war, der das Augemeine im Staate fefthielt,
und das Beſondere, wenn es dem Staatszwecke entgegen war,
nicht weiter gelten ließ . Sein unſterbliches Werk iſt ein einheis
miſches Gefeßbuch , das Landrecht. Wie ein Hausvater für das
Wohl ſeines Haushalts und der ihm Untergebenen mit Energie
ſorgt und regiert, davon hat er ein einziges Beiſpiel aufgeſtellt. .
Dieſe ſo auf das gegenwärtige Bewußtſeyn gegründeten au
gemeinen Beſtimmungen , die Gefeße der Natur und den Inhalt
deſſen , was recht und gut iſt, hat man Vernunft genannt.
Aufklärung hieß man das Gelten dieſer Gefeße. Von Frank
reich kam ſie nach Deutſchland herüber, und eine neue Welt von
Vorſtellungen ging darin auf. Das abſolute Kriterium gegen
alle Autorität des religiöſen Glaubens , der poſitiven Geſeße des
Philoſophie d. Geſdište 3te Aufl. 34
530 Vierter Theil. Die germaniſche Weit.

Rechts , insbeſondere des Staatsrechts war nun , daß der Inhalt


vom Geiſte ſelbſt in freier Gegenwart eingeſehen werde. Luther
hatte die geiſtige Freiheit und die concrete Verſöhnung erworben :
er hat fiegreich feſtgeſtellt , was die ewige Beſtimmung des Men
ſchen ſey , müſſe in ihm ſelber vorgehen. Der Inhalt aber von
dein , was in ihm vorgehen und welche Wahrheit in ihm leben
dig werden müſſe, iſt von Luther angenommen worden ein Ge
gebenes zu ſeyn , ein durch die Religion Offenbartes. Jeßt iſt
das Princip aufgeſtellt worden , daß dieſer Inhalt ein gegenwär
tiger ſey , wovon ich mich innerlich überzeugen könne, und daß
auf dieſen inneren Grund Alles zurückgeführt werden müſſe.
Dieſes Princip des Denkens tritt zunächſt in ſeiner Auge
meinheit noch abſtract auf ; und beruht auf dem Grundfaß des Wi
derſpruchs und der Identität. Der Inhalt wird damit als endlicher
geſeßt, und alles Speculative aus menſchlichen und göttlichen Din
gen hat die Aufflärung verbannt und vertilgt: Wenn es unend
lich wichtig iſt, daß der mannigfaltige Gehalt in ſeine einfache
Beſtimmung, in die Form der Allgemeinheit gebracht wird ; fo
wird mit dieſem noch abſtracten Princip dem lebendigen Geiſt,
dem concreten Gemüth nicht genügt.
Mit dieſem formell abſoluten Princip kommen wir an das
Teßte Stadium der Geſchichte , an unſere Welt, an un
fere Tage.
Die Weltlichkeit iſt das geiſtige Reich im Daſeyn , das Reich
des Willens , der ſich zur Eriſtenz bringt. Empfindung , Sinn
lichkeit, Triebe find auch Weiſen der Realiſirung des Innern ,
aber im Einzelnen vorübergehend; denn ſie ſind der veränderliche
Inhalt des Willens. Was aber gerecht und ſittlich iſt, gehört
dem weſentlichen , an ſich ſeyenden Willen , dem in ſich allgemet
nen Willen an ; und um zu wiſſen , was wahrhaft Recht iſt,
muß man von Neigung, Trieb , Begierde, als von dem Beſonderen ,
abſtrahiren ; man muß alſo wiſſen , was der Wille an ſich iſt.
Denn Triebe des Wohlwollens, der Hülfleiſtung, der Geſelligkeit
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. – Die Aufklärung u. Revolution . 531

bleiben Triebe, denen andere mannigfache Triebe feindlich ſind.


Was der Wille an ſich iſt, muß heraus aus dieſen Beſonderhei
ten und Gegenfäßen . Damit bleibt der Wille als Wile, abſtract.
Der Wille iſt frei nur, inſofern er nichts Anderes, Aeußerliches ,
Fremdes will, denn da wäre er abhängig, ſondern nur fich ſelbſt
- den Willen will. Der abſolute Wile iſt dieß, frei ſeyn zu
woữen . Der fich wollende Wille iſt der Grund alles Rechts
und aller Verpflichtung, und damit aller Rechtsgeſeße, Pflichten
gebote und auferlegten Verbindlichkeiten . Die Freiheit des Wil
lens ſelbſt, als ſolche, iſt Princip und ſubſtantielle Grundlage
alles Rechts, iſt ſelbſt abſolutes , an und für ſich ewiges Recht,
und das höchfte, inſofern andre, beſondere Rechte danebengeſtellt
werden : ſie iſt ſogar das, wodurch der Menſch Menſch wird , alſo
das Grundprincip des Geiſtes. – Die nächſte Frage iſt aber
weiter, wie kommt der Wille zur Beſtimmtheit ? Denn indem er
ſich ſelbſt wil , iſt er nur identiſche Beziehung auf fich ; aber er
wil auch Beſonderes : es giebt, weiß man , unterſchiedene Pflichs
ten und Rechte. Man fordert einen Inhalt, eine Beſtimmtheit
des Willens ; denn der reine Wille iſt ſich ſein Gegenſtand und
ſein eigner Inhalt, der feiner iſt. So überhaupt iſt er nur der
formelle Wille. Wie aber ſpeculativ weiter aus dieſem einfa
chen Willen heraus zur Beſtimmung der Freiheit, damit zu
Rechten und Pflichten fortgegangen werde, iſt hier nicht zu erörs
tern . Nur kann hier gleich bemerkt werden , daß daſſelbe Princip
theoretiſch in Deutſchland durch die Santiſche Philoſophie iſt
aufgeſtellt worden . Denn nach ihr iſt die einfache Einheit des
Selbſtbewußtſeyns, Ich , die undurchbrechbare, Tchlechthin unabs
hängige Freiheit und die Quelle aller allgemeinen , d. i. Denk
Beſtimmungen - die theoretiſche Vernunft, und ebenſo das
Höchſte aller praktiſchen Beſtimmungen - die praktiſche Vernunft,
als freier und reiner Wille; und die Vernunft des Willens
iſt eben , ſich in der reinen Freiheit zu halten , in allem Beſon
dern nur ſie zu wollen , das Recht nur um des Rechts , die
34 *
532 Vierter Theil. Die germaniſche Welt .

Pflicht nur um der Pflicht willen . Das blieb bei den Deutſchen
ruhige Theorie; die Franzoſen aber wollten daſſelbe praktiſch auss
führen . — Es entſteht nun die doppelte Frage: Warum blieb
dieß Freiheitsprincip nur formell ? und warum ſind nur die Fran
3oſen und nicht auch die Deutſchen auf das Realiſiren deſſelben
losgegangen ?
Bei dem formellen Princip wurden wohl inhaltsvollere Kas
tegorieen herbeigebracht: alſo hauptſächlich die Geſellſchaft und was
nüßlich für die Geſellſchaft ſey ; aber der Zweck der Geſellſchaft
iſt ſelbſt politiſch , der des Staats (ſ. Driots de l'homme et du
citoyen 1791. ) , nämlich der die natürlichen Rechte aufrecht
zu halten , das natürliche Recht aber iſt die Freiheit , und die
weitere Beſtimmung derſelben iſt die Gleichheit in den Rechten
por dem Gefeß . Dieß hängt unmittelbar zuſammen , denn die
Gleichheit iſt durch die Vergleichung Vieler , aber eben dieſe Vies
len ſind Menſchen , deren Grundbeſtimmung dieſelbe iſt, die Frei
heit. Forinell bleibt dieß Princip , weil es aus dem abſtracten
Denken , dem Verſtande, hervorgegangen iſt,welches zuerſt Selbft
bewußtſeyn der reinen Vernunft und , als unmittelbar , abſtract
iſt. Es entwickelt noch nichts weiter aus fich , denn es hält ſich
der Neligion überhaupt, dem concreten abſoluten Inhalt, noch
gegenüber.
Was die andere Frage betrifft: warum ſind die Franzoſen
ſogleich vom Theoretiſchen zum Praktiſchen übergegangen , wo
gegen die Deutſchen bei der theoretiſchen Abſtraction ſtehen blie
ben , fu könnte man ſagen : die Franzoſen ſind Higköpfe (ils ont
la tête près du bonnet); der Grund liegt aber tiefer. Dem
formellen Principe der Philoſophie in Deutſchland nämlich ſteht
die concrete Welt und Wirklichkeit mit innerlich befriedigtem Bes
dürfniß des Geiſtes und mit beruhigtem Gewiſſen gegenüber.
Denn es iſt einerſeits die proteſtantiſche Welt ſelbſt, welche
ſo weit im Denken zum Bewußtſeyn der abſoluten Spiße des
Selbſtbewußtſeyns gekommen iſt, und andrerſeits hat der Pro
Dritter Abjanitt. Die neue Zeit. - Die Aufklärung u .Revolution . 533
teſtantismus die Beruhigung über die fittliche und rechtliche Wirk
lichkeit in der Geſinnung , welche ſelbſt, mit der Religion eins,
die Quelle alles rechtlichen Inhalts im Privatrecht und in der
Staatsverfaſſung iſt. In Deutſchland war die Aufklärung auf
Seiten der Theologie : in Frankreich nahm ſie ſogleich eine Rich
tung gegen die Kirche. In Deutſchland war in Anſehung der
Weltlichkeit ſchon Alles durch die Reformation gebeſſert worden ,
jene verderblichen Inſtitute der Eheloſigkeit, der Armuth und Faul
heit waren ſchon abgeſchafft , es war kein todter Reichthum der
Kirche und kein Zwang gegen das Sittliche, welcher die Quelle
und Veranlaſſung von Laftern iſt, nicht jenes unſägliche Un
recht, das aus der Einmiſchung der geiſtlichen Gewalt in das
weltliche Recht entſteht, noch jenes andre der geſalbten legitimi
tät der Könige, d . i. einer Widfür der Fürſten , die als ſolche,
weil fte Widfür der Gefalbten iſt, göttlich, heilig ſeyn ſoll; fon
dern ihr Wille wird nur für ehrwürdig gehalten , inſoweit er mit
Weisheit das Recht , die Gerechtigkeit und das Wohl des Gan
zen will. So war das Princip des Denkens ſchon ſo weit ver
föhnt; auch hatte die proteſtantiſche Welt in ihr das Bewußt
reyn , daß in der früher erplicirten Verſöhnung das Princip zur
weiteren Ausbildung des Rechts vorhanden ſey .
Das abſtract gebildete, verftändige Bewußtſeyn kann die
Religion auf der Seite liegen laſſen ; aber die Religion iſt die
allgemeine Form , in welcher für das nicht abſtracte Bewußtſeyn
die Wahrheit iſt. Die proteſtantiſche Religion nun läßt nicht
zweierlei Gewiſſen zu , aber in der fatholiſchen Welt ſteht das
Heilige auf der einen Seite und auf der andern die Abſtraction
gegen die Religion , d . h. gegen ihren Aberglauben und ihre Wahr
heit. Dieſer formelle, eigene Wille wird nun zur Grundlage ges
macht; Recht in der Geſellſchaft iſt, was das Gefeß will, und
der Wide iſt als einzelner ; alſo der Staat, als Aggregat der
vielen Einzelnen , iſt nicht eine an und für fich ſubſtantielle Ein
heit und die Wahrheit des Rechts an und für fich , welcher fick
534 Vierter Theil. Die germaniſche Welt .

der Wille der Einzelnen angemeſſen machen muß, um wahrhafter,


um freier Wille zu ſeyn ; ſondern es wird nun ausgegangen von
den Willensatomen , und jeder Wille iſt unmittelbar als abſolus ·
ter vorgeſtellt.
. Hiemit iſt alſo ein Gedankenprincip für den Staat ges
funden worden , welches nun nicht mehr irgend ein Princip der
Meinung iſt, wie der Socialitätstrieb, das Bedürfniß der Sichers
heit des Eigenthums u. ſ. f., noch der Frömmigkeit, wie die
göttliche Einſeßung der Obrigkeit, ſondern das Princip der Ges
wißheit, welche die Identität mit meinem Selbſtbewußtſeyn iſt,
noch nicht aber das der Wahrheit, welches wohl davon zu un
terſcheiden iſt. Dieß iſt eine ungeheure Entdeckung über das In:
nerſte und die Freiheit. Das Bewußtſeyn des Geiſtigen iſt jegt
weſentlich das Fundament, und die Herrſchaft iſt dadurch der
Philosophie geworden . Man hat geſagt, die franzöſiſche
Revolution ſey von der Philoſophie ausgegangen , und nicht
ohne Grund hat man die Philoſophie Weltweisheit genannt,
denn ſie iſt nicht nur die Wahrheit an und für ſich , als reine
Weſenheit, ſondern auch die Wahrheit, inſofern ſie in der Welt:
lichkeit lebendig wird. Man muß fich alſo nicht dagegen erflä
ren, wenn geſagt wird , daß die Revolution von der Philoſophie
ihre erſte Anregung erhalten habe. Aber dieſe Philofophie iſt
nur erſt abſtractes Denken , nicht concretes Begreifen der abſo
luten Wahrheit, was ein unermeßlicher Unterſchied ift.
Das Princip der Freiheit des Willens alſo hat fich gegen
das vorhandene Recht geltend gemacht. Vor der franzöſiſchen
Revolution ſind zwar ſchon durch Richelieu die Großen unter
drückt und ihre Privilegien aufgehoben worden , aber wie die
Geiſtlichkeit behielten ſie alle ihre Rechte gegen die untere Claſſe.
Der ganze Zuſtand Frankreichs in der damaligen Zeit iſt ein
wüſtes Aggregat von Privilegien gegen alle Gedanken und Vers
nunft überhaupt, ein unſinniger Zuſtand,womit zugleich die höchſte
Perdorbenheit der Sitten, des Geiſtes verbunden iſt, - ein Reich
Dritter Abſýnitt. Die neue Zeit. – Die Aufklärung u . Revolution . 535
des Unrechts , welches mit dem beginnenden Bewußtſeyn deſſelben
ſchaamloſes Unrecht wird. Der fürchterlich harte Druck, der auf
dem Volfe laftete , die Verlegenheit der Regierung , dem Hofe die
Mittel zur Ueppigkeit und zur Verſchwendung herbeizutreiben, ga
ben den erſten Anlaß zur Unzufriedenheit. Der neue Geiſt wurde
thätig : der Druc trieb zur Unterſuchung. Man ſah, daß die
dem Schweiße des Volkes abgepreßten Summen nicht für den
Staatszweck verwendet, ſondern aufs unſinnigſte verſchwendet
wurden . Das ganze Syſtem des Staats erſchien als Eine Uns
gerechtigkeit. Die Veränderung war nothwendig gewaltſain , weil
die Umgeſtaltung nicht von der Regierung vorgenoinmen wurde.
Von der Regierung aber wurde ſie nicht vorgenommen , weil der
Hof, die Kleriſei, der Adel, die Parlamente ſelbſt ihren Beſit der
Privilegien weder um der Noth, noch um des an und für ſich ſeyen
den Rechtes willen aufgeben wollten , weil die Regierung ferner,
als concreter Mittelpunkt der Staatsmacht, nicht die abſtracten
Einzelwillen zum Princip nehmen und von dieſen aus den Staat
reconſtruiren konnte, und endlich weil ſie eine katholiſche war, alſo
der Begriff der Freiheit; die Vernunft der Gefeße, nicht als legte
abſolute Verbindlichkeit galt, da das Heilige und das religiöſe
Gewiſſen davon getrennt ſind. Der Gedanke , der Begriff des
Rechts machte ſich mit einem male geltend , und dagegen konnte
das alte Gerüſte des Unrechts keinen Widerſtand leiſten . Im
Gedanken des Rechts, iſt alſo ießt eine Verfaſſung errichtet wor
den , und auf dieſem Grunde ſollte nunmehr Alles baſirt ſeyn.
So lange die Sonne am Firmamente ſteht und die Planeten um
fie herum kreiſen , war das nicht geſehen worden , daß der Menſch
fich auf den Kopf, das iſt auf den Gedanken ſtellt , und die
Wirklichkeit nach dieſem erbaut. Anaragoras hatte zuerſt geſagt,
daß der voũs die Welt regiert; nun aber erſt iſt der Menſch
dazu gekommen zu erkennen , daß der Gedanke die geiſtige Wirk
lichkeit regieren ſolle. Es war dieſes ſomit ein herrlicher Sonnen
aufgang. Alle denkenden Weſen haben dieſe Epoche mitgefeiert.
e
536 Vierter Theil. Die germaniſch Welt.
Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrſcht, ein Enthuſias
mus des Geiſtes hat die Welt durchſchauert, als ſey es zur wirk
lichen Verſöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erſt gekommen .
Folgende zwei Momente müſſen uns nunmehr beſchäftigen :
1 ) der Gang der Revolution in Frankreich , 2 ) wie dieſelbe auch
welthiſtoriſch geworden iſt.
1 ) Die Freiheit hat eine doppelte Beſtimmung an ſich : die
eine betrifft den Inhalt der Freiheit, die Objectivität derſelben ,
- die Sache ſelbſt , die andere die Form der Freiheit , worin
das Subject fich thätig weiß ; denn die Forderung der Freiheit
iſt, daß das Subject ſich darin wiſſe und das Seinige dabei
thue, denn ſein iſt das Intereſſe , daß die Sache werde. Da
nach find die drei Elemente und Mächte des lebendigen Staats
zu betrachten , wobei wir das Detail den Vorleſungen über die
Rechtsphiloſophie überlaſſen .
a) Die Gefeße der Vernünftigkeit , des Rechts an ſich , die
objective oder die reelle Freiheit : hierher gehört Freiheit des Ei
genthums und Freiheit der Perſon . Alle Unfreiheit aus dem
Lehnsverband hört hiermit auf, alle jene aus dem Feudalrecht
hergekommenen Beſtimmungen , die Zehnten und Zinſen fallen
hiermit weg. Zur reellen Freiheit gehört ferner die Freiheit der
Gewerbe, daß dem Menſchen erlaubt fey , ſeine Kräfte zu ges
brauchen , wie er wolle, und der freie Zutritt zu allen Staats
ämtern . Dieſes find die Momente der reellen Freiheit, welche
nicht auf dem Gefühl beruhen , denn das Gefühl läßt auch Leib
eigenſchaft und Sclaverei beſtehen ; ſondern auf dem Gedanken
und Selbſtbewußtſeyn des Menſchen von ſeinem geiſtigen Weſen .
b ) Die verwirklichende Thätigkeit der Gefeße iſt aber die '
Regierung überhaupt. Die Regierung iſt zuerſt formelle Aus
übung der Gefeße und Aufrechthaltung derſelben ; nach außen hin
verfolgt ſie den Staatszweck , welcher die Selbſtſtändigkeit der
Nation als einer Individualität gegen andre ift, endlich nach in
nen hat ſie das Wohl des Staates und aller feiner Claſſen zu
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. -- Die Aufflärung u . Revolution . 537

beſorgen und iſt Verwaltung; denn es iſt nicht bloß darum zu


thun , daß der Bürger ein Gewerbe treiben könne , er muß auch
einen Gewinn davon haben ; es iſt nicht genug , daß der Menſch
ſeine Kräfte gebrauchen könne, er muß auch die Gelegenheit fin
den , ſie anzuwenden . Im Staate iſt alſo ein Allgemeines und
eine Bethätigung deſſelben . Die Bethätigung kommt einem fub
jectiven Willen zu , einem Willen , der beſchließt und entſcheidet.
Schon das Machen der Gefeße, - dieſe Beſtimmungen zu fin
den und poſitiv aufzuſtellen iſt eine Bethätigung. Das Weitere
iſt dann das Beſchließen und Ausführen . Hier tritt nun die
Frage ein : welches ſoll der Wille ſeyn , der da entſcheidet? Dem
Monarchen kommt die lebte Entſcheidung zu : iſt aber der Staat
auf Freiheit gegründet, ſo wollen die vielen Willen der Indivi
duen auch Antheil an den Beſchlüſſen haben . Die Vielen find
aber Alle, und es ſcheint ein leeres Auskunftsmittel und eine
ungeheure Inconſequenz, nur wenige am Beſchließen Theil
nehmen zu laſſen , da doch jeder mit ſeinem Willen bei dem da
bei ſeyn will,was ihm Geſeß ſeyn ſoll. DieWenigen ſollen die Vie
len vertreten , aber oft zertreten ſie ſie nur. Nichtminder iſtdie
Herrſchaft derMajoritätüber die Minorität einegroße Inconſequenz.
c ) Dieſe Colliſion der ſubjectiven Willen führt dann noch
auf ein drittes Moment, auf das Moment der Geſinnung,
welche das innere Wollen der Gefeße iſt, nicht nur Sitte, ſondern
die Geſinnung, daß die Geſeße und die Verfaſſung überhaupt das
Feſte ſeyen , und daß es die höchſte Pflicht der Individuen ſey , ihre
beſonderen Willen ihnen zu unterwerfen . Es können vielerlei Mei
nungen und Anſichten über Geſeke, Verfaſſung, Regierung ſeyn,aber
die Geſinnung muß die ſeyn, daß alle dieſe Meinungen gegen das
Subſtantielle des Staats untergeordnet und aufzugeben ſind; ſie
muß ferner die ſeyn, daß es gegen die Geſinnung des Staats nichts
Höheres und Heiligeres gebe, oder daß ,wenn zwar die Religion hö
her und heiliger, in ihrdoch nichts enthalten ſey ,was von der Staats
verfaſſung verſchieden oder ihr entgegengeſeptwäre. Zwar gilt es
538 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

für eine Grundweisheit, Staatsgeſeße und Verfaſſung ganz von


der Religion zu trennen , indem man Bigotterie und Heuchelei
von einer Staatsreligion befürchtet ; aber wenn Religion und
Staat auch dem Inhalt nach verſchieden ſind, ſo ſind ſie doch
in der Wurzel eins ; und die Gefeße haben ihre höchſte Bewäh .
rung in der Religion .
Hier muß nun ſchlechthin ausgeſprochen werden , daß mit
der katholiſchen Religion keine vernünftige Verfaſſung möglich iſt ;
denn Regierung und Volk müſſen gegenſeitig dieſe leßte Garantie
der Geſinnung haben , und können ſie nur haben in einer Reli
gion , die der vernünftigen Staatsverfaſſung nicht entgegenge
feßt iſt.
: Plato in ſeiner Repuplif feßt Alles auf die Regierung und
macht die Geſinnung zum Principe , weshalb er denn das Haupta
gewicht auf die Erziehung legt. Ganz dem entgegengeſeßt iſt die
moderne Theorie , welche Ades dem individuellen Willen anheim
ſtellt. Dabei iſt aber keine Garantie , daß dieſer Wille auch
die rechte Geſinnung habe, bei der der Staat beſtehen kann.
Nach dieſen Hauptbeſtimmungen haben wir nun den Gang
der franzöſiſchen Revolution und die Umbildung des
Staates aus dem Begriffe des Rechts heraus zu verfolgen . Es
wurden zunächſt nur die ganz abſtract philoſophiſchen Grund
fäße aufgeſtellt: auf Geſinnung und Neligion wurde gar nicht
gerechnet. Die erſte Verfaſſung in Frankreich war die Conſti
tuirung des Königsthums: an der Spiße des Staates ſollte
der Monarch ſtehen , dem mit ſeinen Miniſtern die Ausübung
zukommen ſollte ; der geſeßgebende Körper hingegen ſollte die
Gefeße machen . Aber dieſe Verfaſſung war ſogleich ein innerer
Widerſpruch ; denn die ganze Macht der Adminiſtration ward in
die geſeßgebende Gewalt gelegt: – das Budget, Krieg und Frieden ,
die Aushebung der bewaffneten Macht kam der geſeßgebenden
Kammer zu . Unter Geſeß wurde Alles befaßt. Das Budget
aber iſt ſeinem Begriffe nach kein Gefeß , denn es wiederholt ſich
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. - Die Aufklärung und Revolution . 539

alle Jahre , und die Gewalt, die es zu machen hat , iſt Regie
rungsgewalt. Damit hängt weiter zuſammen die indirecte Ers
nennung der Miniſter und der Beamten u . f. f. – Die Regie
rung wurde alſo in die Kaminer verlegt, wie in England in's
Parlament. — Ferner war dieſe Verfaſſung mit dem abſoluten
Mißtrauen behaftet : die Dynaſtie war verdächtig , weil ſie die
vorhergehende Macht verloren , und die Prieſter verweigerten
den Eid. Regierung und Verfaſſung konnten ſo nicht beſtehen ·
und wurden geſtürzt. Aber eine Regierung iſt immer vorhanden .
Die Frage iſt daher , wo kam ſie hin ? ſte ging an das Volf,
der Theorie nach , aber der Sache nach an den Nationalconvent
und Deffen Comités . Es herrſchen nun die abſtracten Prin
cipien – der Freiheit, und wie ſie im ſubjectiven Willen iſt —
der Tugend. Dieſe Tugend hat jegt zu regieren gegen die
Vielen , welche mit ihrer Verdorbenheit und mit ihren alten In
tereſſen , oder auch durch die Erceſſe der Freiheit und Leidenſchaf
ten der Tugend ungetreu find. Die Tugend iſt hier ein ein
faches Princip und unterſcheidet nur ſolche, die in der Geſinnung
ſind und ſolche , die es nicht ſind. Die Geſinnung aber kann
nur von der Geſinnung erfannt und beurtheilt werden . Es
herrſcht ſomit der Verdacht; die Tugend aber, fobald ſie ver
dächtig wird , iſt ſchon verurtheilt. Der Verdacht erhielt eine
fürchterliche Gewalt und brachte den Monarchen aufs Schaffot,
deſſen ſubjectiver Wille eben das katholiſch religiöſe Gewiffen
war. Von Robespierre wurde das Princip der Tugend als
das Höchſte aufgeſtellt, und man kann ſagen , es ſey dieſem Men
fchen mit der Tugend Ernſt geweſen . Es herrſchen jeßt die
Tugend und der Schrecken ; denn die ſubjective Tugend, die
bloß von der Geſinnung aus regiert, bringt die fürchterlichſte
Tyrannei mit ſich . Sie übt ihre Macht ohne gerichtliche For
men , und ihre Strafe iſt ebenſo nur einfach – der Tod. Dieſe
Tyrannei mußte zu Grunde gehen ; denn alle Neigungen , alle
Intereſſen, die Vernünftigkeit felbſt war gegen dieſe fürchterliche,
540 Vierter Theil. Die germanijdje Welt.
conſequente Freiheit, die in ihrer Concentration ſo fanatiſch auftrat.
Es tritt wieder eine organiſirte Regierung ein , wie die frühere,
nur iſt der Chef und Monarch ießt ein veränderliches Directorium
von Fünf, •welche wohl eine moraliſche aber nicht individuelle
Einheit bilden . Der Verdacht herrſchte auch unter ihnen , die
Negierung war in den geſeßgebenden Verſammlungen ; ſie hatte
daher daſſelbe Schickſal des Untergangs , denn es hatte fich das
abſolute Bedürfniß einer Regierungs gewalt dargethan. Napo
leon richtete ſie als Militärgewalt auf und ſtellte ſich dann wie
der als ein individueller Wille an die Spiße des Staates : er
wußte zu herrſchen und wurde im Innern bald fertig . Was
von Advocaten , Ideologen und Principienmännern noch da war,
jagte er auseinander , und es herrſchte nun nichtmehr Mißtrauen ,
ſondern Reſpect und- Furcht. Mit der ungeheuern Macht ſeines
Charakters hat er ſich dann nach außen gewendet, ganz Europa
unterworfen und ſeine liberalen Einrichtungen überall verbreitet.
Keine größeren Siege find je geſiegt, keine genievoleren Züge je
ausgeführt worden ; aber auch nie iſt die Ohnmacht des Sieges
in einem helleren lichte erſchienen , als damals. Die Geſinnung
der Völker D . h . ihre religiöſe und die ihrer Nationalität hat end
lich dieſen Koloß geſtürzt, und in Frankreich iſt wiederum eine
conſtitutionelle Monarchie, mit der Charte zu ihrer Grundlage,
errichtet worden . Hier erſchien aber wieder der Gegenſat
der Geſinnung und des Mißtrauens. Die Franzoſen waren in
der Lüge gegeneinander , wenn ſie Addreſſen voll Ergebenheit und
Liebe zur Monarchie, voll des Segens derſelben erließen . Es
wurde eine funfzehnjährige Farçe geſpielt. Wenn nämlich auch
die Charte das allgemeine Panier war , und beide Theile fie bes
ſchworen hatten , ſo war doch die Geſinnung auf der einen Seite
eine katholiſche , welche es fich zur Gewiſſensſache machte , die
vorhandenen Inſtitutionen zu vernichten . Es iſt ſo wieder ein
Bruch geſchehen , und die Regierung iſt geſtürzt worden . Ends
lich nach vierzig Jahren von Kriegen und unermeßlicher Verwira
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. - Die Aufklärung u. Revolution. 541
rung könnte ein altes Herz fich freuen , ein Ende derſelben und
eine Befriedigung eintreten zu ſehen . Allein , wenn auch jeßt ein
Hauptpunkt ausgeglichen worden , ſo bleibt einerſeits immer noch
dieſer Bruch von Seiten des katholiſchen Princips, andrerſeits
der der ſubjectiven Willen . In der leßtern Beziehung beſteht
die Haupteinſeitigkeit noch , daß der allgemeine Wille auch
der empiriſch allgemeine ſeyn ſoll d. h . daß die Einzelnen
als ſolche regieren , oder am Regimente Theil nehmen ſollen .
Nicht zufrieden , daß vernünftige Rechte, Freiheit der Perſon
und des Eigenthums gelten , daß eine Organiſation des Staa
tes und in ihr Kreiſe des bürgerlichen Lebens ſind , welche
felbft Geſchäfte auszuführen haben , daß die Verſtändigen Ein
fluß haben im Volfe und Zutrauen in demſelben herrſcht; ſeßt
der liberalismus allem dieſen das Princip der Atome, der
Einzelwillen entgegen : Alles ſoll durch ihre ausdrückliche Macht
und ausdrückliche Einwilligung geſchehen . Mit dieſem Formellen
der Freiheit, mit dieſer Abſtraction laſſen ſie nichts Feſtes von
Drganiſation aufkommen . Den beſonderen Verfügungen der
Regierung ſtellt ſich ſogleich die Freiheit entgegen , denn fle
find beſonderer Wille, alſo Wiüfür. Der Wille der Vielen ſtürzt
das Miniſterium , und die bisherige Oppoſition tritt nunmehr
ein ; aber dieſe , inſofern ſie jeßt Regierung iſt, hat wieder die
Vielen gegen ſich . So geht die Bewegung und Unruhe fort.
Dieſe Colliſion , dieſer Knotert, dieſes Problem iſt es , an dem
die Geſchichte ſteht, und den fie in fünftigen Zeiten zu löſen hat.
2 ) Wir haben jeßt die franzöſiſche Revolution als welt
hiſtoriſche zu betrachten , denn dem Gehalte nach iſt dieſe Bes
gebenheit welthiſtoriſch , und der Kampf des Formalismus muß das
von wohl unterſchieden werden . Was die äußere Ausbreitung bes
trifft, ſo ſind faſt alle moderne Staaten durch Eroberung demſelben
Princip geöffnet , oder dieſes ausdrüdlich darin eingeführt worden ;
namentlich hat der Liberalismus alle romaniſche Nationen nämlich
die römiſchkatholiſche Welt -- Frankreich, Italien , Spanien
542 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.
beherrſcht. Aber allenthalben hat er bankrutt gemacht, zuerſt die
große Firina deſſelben in Frankreich, dann in Spanien , in Ita
lien ; und zwar zweimal in den Staaten , wo er eingeführt wors
den . Er war in Spanien , einmal durch die Napoleoniſche Con
ftitution , dann durch die Verfaſſung der Cortes , in Piemont,
einmal als es dem franzöſiſchen Reich einverleibt war , dann
durch eigne Inſurrection , ſo in Rom , in Neapel zweimal. Die
Abſtraction des liberalismus hat ſo von Frankreich aus die ro
maniſche Welt durchlaufen , aber dieſe blieb durch religiöſe Knecht
ſchaft an politiſche Unfreiheit angeſchmiedet. Denn es iſt ein
falſches Princip , daß die Feſſeln des Rechts und der Freiheit
ohne die Befreiung des Gewiffens abgeſtreift werden , daß eine
Revolution ohne Reformation ſeyn könne. — Dieſe Länder ſind
ſo in ihren alten Zuſtand zurückgeſunken , in Italien mit Modis
ficationen des äußerlichen politiſchen Zuſtandes. Venedig, Ge
nua, dieſe alten Ariſtokratien , die wenigſtens gewiß legitim waren ,
find als morſche Despotismen verſchwunden . Außere Uebermacht
vermag nichts auf die Dauer : Napoleon hatSpanien ſo wenig zur
Freiheit, als Philipp II. Holland zur Knechtſchaft zwingen können .
Dieſe romaniſchen ſtehen die andern und beſonders die
proteſtantiſchen Nationen gegenüber. Deſterreich und Engs
land find aus dem Kreiſe der innern Bewegung herausgeblies
ben und haben große, ungeheure Beipeiſe ihrer Feſtigkeit in fich
gegeben . Deſterreich iſt nicht ein Königthum ſondern ein Rai
ſerthum , D. h . ein Aggregat von vielen Staatsorganiſationen .
Die hauptſächlichſten ſeiner Länder ſind nicht germaniſcher Natur
und unberührt von den Ideen geblieben . Weder durch Bildung
noch durch Religion gehoben , find theils die Unterthanen in der
Leibeigenſchaft und die Großen deprimirt geblieben, wie in Böha
men , theils hat ſich, bei demſelben Zuſtand der Unterthanen , die
Freiheit der Barone für ihre Gewaltherrſchaft behauptet, wie in
Ungarn . Deſterreich hat die engere Verbindung mit Deutſchland
durch die kaiſerliche Würde aufgegeben und ſich der vielen Bes
Dritter Abſchnitt. Die neue Zeit. – Die Aufklärung 1 . Revolution . 543

fißungen und Rechte in Deutſchland und in den Niederlanden


entſchlagen . Es iſt nun in Europa als eine politiſche Macht
für ſich. — England hat ſich ebenſo mit großen Anſtrengungen
auf ſeinen alten Grundlagen erhalten ; die engliſche Verfaſſung
hat ſich bei der allgemeinen Erſchütterung behauptet, obwohl dieſe
ihr um ſo näher lag, als in ihr ſelbſt ſchon , durch das öffent
liche Parlament, durch die Gewohnheit öffentlicher Verſammlun
gen von allen Ständen , durch die freie Preſſe, die Möglichkeit
leicht war, den franzöſiſchen Grundſäßen der Freiheit und Gleich
heit bei allen Claſſen des Volkes Eingang zu verſchaffen . Iſt
die engliſche Nation in ihrer Bildung zu ſtumpf geweſen , um
dieſe allgemeinen Grundfäße zu faſſen ? Aber in keinem lande
hat mehr Reflerion und öffentliches Beſprechen über Freiheit ſtatt
gefunden . – Oder iſt die engliſche Verfaſſung ſo ganz eine Ver
faſſung der Freiheit fchon geweſen , waren jene Grundſäße in ihr
ſchon ſo realiſirt, daß fie feinen Widerſtand, ja ſelbſt kein In :
tereſſe mehr erregen konnten ? Die engliſche Nation hat der Be
freiung Frankreichs wohl Beifall gegeben , war aber ihrer eignent
Verfaſſung und ihrer Freiheit mit Stolz gewiß , und ftatt das
Fremde nachzuahmen , hat ſie die eingewohnte feindſelige Haltung
dagegen behauptet und iſt bald in einen populären Arieg mit
Frankreich verwickelt worden .
Englands Verfaſſung iſt aus lauter particularen Rech
ten und beſondern Privilegien zuſammengeſekt: die Regierung
ift weſentlich verwaltend , das iſt, das Intereſſe aller beſon:
deren Stände und Claſſen wahrnehmend ; und dieſe beſondere
Kirche , Gemeinden , Grafſchaften , Geſellſchaften ſorgen für ſich
felbft, fo daß die Regierung eigentlich nirgend weniger zu thun
hat, als in England. Dieß iſt hauptſächlich das, was die Eng
länder ihre Freiheit nennen , und das Gegentheil der Centrali
fation der Verivaltung , wie fie in Frankreich iſt, wo bis auf das
kleinſte Dorf herunter der Maire vom Miniſterium oder deffen Un
terbeamten ernanntwird. Nirgend weniger , als in Franfreich kann
544 Vierter Theil. Die germaniſche Welt.

man es ertragen , Andre etwas thun zu laſſen : das Miniſterium


vereinigt dort alle Verwaltungsgewalt in fich , welche wieder die
Deputirtenkammer in Anſpruch nimmt. In England dagegen hat
jede Gemeinde, jeder untergeordnete Kreis und Afſociation das
Ihrige zu thun. Das allgemeine Intereſſe iſt auf dieſe Weiſe
concret und das particulare wird darin gewußt und gewollt.
Einrichtungen des particularen Intereſſes laſſen durchaus
kein allgemeines Syſtem zu . Daher auch abſtracte und allge
meine Principien den Engländern nichts ſagen und ihnen leer in
den Dhren liegen . - Dieſe particularen Intereſſen haben ihre
poſitiven Rechte, welche aus den alten Zeiten des Feudalrechts
herſtammen und ſich in England mehr als in irgend einem Lande
erhalten haben. Sie ſind , mit der höchſten Inconſequenz , zu =
gleich das höchſte Unrecht, und von Inſtitutionen der reellen Frei
heit iſt nirgends weniger als gerade in England. Im Privat
recht , in Freiheit des Eigenthums ſind ſie auf unglaubliche Weiſe
zurück : man denke nur an die Majorate , wobei den jüngern Söhs
nen Dffiziers - oder geiſtliche Stellen gekauft und verſchafft werden .
Das Parlament regiert, wenn es auch die Engländer
nicht dafür anſehen wollen . Nun iſt zu bemerken , daß , was
man zu allen Zeiten für die Periode der Verdorbenheit eines re
publicaniſchen Volks gehalten hat, hier der Fall iſt ; nämlich , daß
die Wahlen ins Parlament durch Beſtechung erlangt werden .,
Aber auch dieß heißt Freiheit bei ihnen , daß man ſeine Stimme
verkaufen , und daß man einen Siß im Parlament fich kaufen
fönne. — Aber dieſer ganz vollkommen inconſequente und ver
dorbene Zuſtand hat doch den Vortheil , daß er die Möglichkeit
einer Regierung begründet d . i. eine Majorität von Männern
- im Parlament , die Staatsmänner ſind , die von Jugend auf fich
den Staatsgeſchäften gewidmet und in ihnen gearbeitet und ges
lebt haben . Und die Nation hat den richtigen Sinn und Ver
ſtand, zu erkennen , daß eine Regierung ſeyn müſſe, und deshalb
einem Verein von Männern ihr Zutrauen zu geben , die im Re
Dritter Abſønitt. Die neue Zeit. — Die Aufklärung u . Revolution . 545

gieren erfahren ſind; denn der Sinn der Particularität erfennt


auch die allgemeine Particularität der Kenntniß , der Erfahrung,
der Geübtheit an , welche die Ariſtcfratie , die ſich ausſchließlich
folchem Intereſſe widmet , befißt. Dieß iſt dem Sinne der Prin
cipien und der Abſtraction ganz entgegengeſeßt, welche Jeder ſo
gleich in Beſitz nehmen kann , und die ohnehin in allen Conſti
tutionen und Charten ſtehen . — Es iſt die Frage , in wiefern
die jegt vorgeſchlagene Reform , conſequent durchgeführt, die Mög
lichkeit einer Regierung noch zuläßt. -
Englands materielle Eriſtenz iſt auf den Handel und die
Induſtrie begründet , und die Engländer haben die große Beſtim
mung übernommen , die Miſſionarien der Civiliſation in der
ganzen Welt zu feyn ; denn ihr Handelsgeiſt treibt ſie, alle
Meere und alle Länder zu durchſuchen , Verbindungen mit den
barbariſchen Völkern anzuknüpfen , in ihnen Bedürfniſſe und In
duſtrie zu erwecken , und vor Aưem die Bedingungen des Ver
kehrs bei ihnen herzuſtellen , nämlich das Aufgeben von Gewalt
thätigkeiten , den Reſpect vor dem Eigenthum und die Gaſt
freundſchaft. -
Deutſchland wurde von den fiegreichen franzöſiſchen Hee
ren durchzogen , aber die deutſche Nationalität ſchüttelte dieſen
Druck ab. Ein Hauptmoment in Deutſchland ſind die Geſeße
des Rechts , welche allerdings durch die franzöſiſche Unterdrüdung
veranlaßt wurden , indem die Mängel früherer Einrichtungen des
durch beſonders ans Licht kamen . Die Lüge eines Reichs iſt
vollends verſchwunden . Es iſt in ſouveräne Staaten ausein
ander gefallen . Die Lehnsverbindlichkeiten ſind aufgehoben , da
Principien der Freiheit des Eigenthums und der Perſon ſind zu
Grundprincipien gemacht worden . Jeder Bürger hat Zutritt zu
Staatsämtern , doch iſt Geſchicklichkeit und Brauchbarkeit noth
wendige Bedingung. Die Regierung ruht in der Beamtenwelt,
und die perſönliche Entſcheidung des Monarchen ſteht an der
Spiße , denn eine leßte Entſcheidung iſt, wie früher bemerkt wor
Pbiloſophie 6. Gefdichte. 3. Aufl. 35
546 Vierter Theil. Die germaniſche Welt. ..
den ſchlechthin nothwendig . Doch bei feftſtehenden Gefeßen und
beſtimmter Drganiſation des Staats iſt das , was der alleinigen
Entſcheidung des Monarchen anheiingeſtellt worden , in Anſehung
des Subſtantiellen , für wenig zu achten . Allerdings iſt es für
ein großes Glück zu halten , wenn einem Volk ein edler Monarch
zugetheilt iſt; doch auch das hat in einem großen Staat weni
ger auf fich , denn dieſer hat die Stärke in ſeiner Vernunft.
Kleine Staaten ſind in ihrer Eriſtenz und Ruhe mehr oder we
niger durch die andern garantirt; ſie ſind deshalb keine wahrhaft
ſelbſtſtändigen Staaten , und haben nicht die Feuerprobe des
Kriegs zu beſtehen . — Theilhaben an der Regierung kann , wie
geſagt, Jeder, der die Renntniß , Geübtheit und den moraliſchen
Willen dazu hat. Es ſollen die Wiffenden regieren , oi aquotot ,
nicht die Ignoranz und die Eitelkeit des Beſſerwiſſens. – Was
endlich die Geſinnung betrifft , ſo iſt ſchon geſagt worden , daß
durch die proteſtantiſche Kirche die Verſöhnung der Religion mit
dem Rechte zu Stande gekommen iſt. Es giebt kein heiliges,
fein religiöſes Gewiſſen , das vom weltlichen Rechte getrennt oder
ihm gar entgegengeſeßt wäre.
Bis hierher iſt das Bewußtſeyn gekommen , und dieß ſind
die Hauptmomente der Form , in welcher das Princip der Frei
heit fich verwirklicht hat, denn die Weltgeſchichte iſt nichts als
die Entwickelung des Begriffes der Freiheit. Die objective Frei
heit aber , die Geſeße der reellen Freiheit fordern die Unterwer
fung des zufälligen Willens , denn dieſer iſt überhaupt formell.
Wenn das Objective an ſich vernünftig iſt, ſo muß die Einſicht
dieſer Vernunft entſprechend ſeyn , und dann iſt auch das weſent
liche Moment der ſubjectiven Freiheit vorhanden . Wir haben
dieſen Fortgang des Begriffs allein betrachtet, und haben dem
Reiz entſagen müſſen , das Glück , die Perioden der Blüthe der
Völfer, die Schönheit und Größe der Individuen , das Intereſſe
ihres Schidſals in Leið und Freud näher zu ſchildern . Die
Philoſophie hat es nur mit dem Glanze der Idee zu thun , die
Dritter Abſdynitt. Die neue Zeit. – Die Aufklärung u . Revolution . 547

ſich in der Weltgeſchichte ſpiegelt. Aus dem Ueberdruß an den


Bewegungen der unmittelbaren Leidenſchaften in der Wirklichkeit
macht ſich die Philoſophie zur Betrachtung heraus; ihre Intereſſe
iſt, den Entwickelungsgang der ſich verwirklichenden Idee zu er
kennen , und zwar der Idee der Freiheit, welche nur iſt als Bes
wußtſeyn der Freiheit. –
Daß die Weltgeſchichte dieſer Entwickelungsgang und das
wirkliche Werden des Geiſtes iſt , unter dem wechſelnden Schau
ſpiele ihrer Geſchichten , — dieß iſt die wahrhafte Theodicee,
die Rechtfertigung Gottes in der Geſchichte. Nur die Einſicht
fann den Geiſt mit der Weltgeſchichte und der Wirklichkeit vers
föhnen , daß das, was geſchehen iſt und alle Tage geſchieht,
nicht nur nicht ohne Gott, ſondern weſentlich das Werf ſeiner
ſelbſt iſt.

Gedrudt bei den Gebr. Unger in Berlin .

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