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Alienne Laval

Magistra Dr. Rabea Alienne Uchtmann

Was ist Kultur?


Beiträge zur Kultursemiotik
Alienne Laval
Inhalt

Was ist Kultur?______________________________________________________________________3


Der Begriff 'Kultur'________________________________________________________________3
Der Begriff 'Zeichen'_______________________________________________________________5
Der Begriff 'Text'___________________________________________________________________6
Der Begriff 'Code'__________________________________________________________________7
Kulturemergenz und Kulturevolution___________________________________________9
Die Struktur der Kultur__________________________________________________________12
Die Vermittlung von Operationen auf den tertiären Codes__________________13

Wer war Jesus?____________________________________________________________________22

Vision, Prophezeiung und Prognose_________________________________________32

Das Kreuz und die Quadratur des Weltkreises_____________________________41

Wie entsteht Religion?___________________________________________________________51


Alienne Laval
Fundamentalismus und Synkretismus_______________________________________62

Ansätze zu einer Meeresanthropologie______________________________________72

Die Geschichte vom Erlöschen der Lampen________________________________88


Die saisonale Polarisierung arktischer Gemeinschaften______________________89
Kulturkontakt und Depolarisierung____________________________________________95
Codewandel: Technologie versus Adaption und saisonalem Rhythmus___101
Ubi natura definit, ibi ars incipit (Wo die Natur aufhört, hebt die Kunst
an)__________________________________________________________________________________105

Meereskulte________________________________________________________________________111

Die Inversionsoperation als initiales semiotisches Geschehen im


Kulturprozeß_______________________________________________________________________134
Semiose und Semiosphäre: Die zwei Dimensionen der Kultur_____________134
Der Kulturprozeß oder die Semiose als Differenzprinzip___________________138
Störungen der Semiosphäre als Katastrophen und Anastrophen__________144
Die zweite Wirklichkeit des Geistes und die Semiose________________________149
Ränder, Reste und unscharfe Mengen_________________________________________156
Differenz ist Transformation____________________________________________________159

Verwandlung und Entwandlung_____________________________________________165

Wunschmaschine und Offene Codierung__________________________________182


Regreß und Pädomorphose_____________________________________________________182
Information und Redundanz____________________________________________________185
Der projektive Gehalt der biologischen Funktionen_________________________188
Bipolare oder offene Codifikation______________________________________________189
Synchronisation____________________________________________________________________192
Alienne Laval
Was ist Kultur?

Der Begriff 'Kultur'

Tylor definierte 1871 Kultur als jenes komplexe Ganze, welches Wissen,
Glauben, Kunst, Moral, Recht, Sitte, Brauch und alle anderen Fähigkeiten und
Gewohnheiten einschließt, die der Mensch als Mitglied der Gesellschaft
erworben hat.
Tylor ging hierbei vom Vorhandensein einer Gesellschaft aus, die in
verschiedene Bereiche gegliedert ist und sich aus Mitgliedern zusammensetzt.
Angenommene erwerbbare kulturelle Fähigkeiten und Gewohnheiten werden
dabei von der Gesellschaft auf die Mitglieder übertragen. Das komplexe Ganze,
von dem Tylor spricht, setzt sich also aus erkennbaren, unterscheidbaren Teilen
zusammen, die zueinander in Funktion stehen und durch den Verbund der
Funktionen dieses Ganze ergeben.
Tylor nimmt hier die Kategorien seiner eigenen Gesellschaft (bzw. seiner
Interpretation davon) und setzt sie als 'allgemeinmenschlich'. Die dabei
verwendeten Begriffe werden wie 'objektive' (etische, absolute) Gegenstände
behandelt und auf jede mögliche 'Kulturform' (emisch) in einer
allgemeingültigen Formel angewendet.
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In der strukturalen Analyse dieser kurzen Definition zeigt sich schon, dass Tylor
hier eine idealtypische Aussage über seine eigene Gesellschaft macht.
Vor dem Hintergrund von Firth' Konzeption der 'social organization', das in den
1950er Jahren erarbeitet wurde, läßt sich dingfest machen, welcher
'Strukturebene' der sozialen Organisation Tylors Definition zugehört. Firth
(1964) unterscheidet drei Ebenen der sozialen Organisation: die
Handlungsstruktur (structure of action), die Erwartungsstruktur (structure of
expectation) und die Idealstruktur (structure of ideals). Die Handlungsstruktur
zeigt eine gegebene Ethnie (soziale Gruppe, Gesellschaft etc.) in Aktion. Die
Erwartungsstruktur gibt Auskunft über die Erwartungen dieser Gruppe, was die
Gestaltung der unmittelbaren Zukunft angeht. Z.B.: früher war es die Regel,
dass der älteste Sohn den Hof erbte. Vor der Industrialisierung konnte er davon
ausgehen, dieses 'Recht' auch wahrzunehmen, da es seinen und den Erwartungen
seiner sozialen Gruppe entsprach. Industrialisierung und Verstädterung änderten
aber zumindest Teile seiner Erwartungen und dann auch die Handlungspraxis.
Die Idealstruktur wird aber durch die Verschiebung des Erwartungshorizontes
noch lange nicht angetastet. Man kann sagen, dass es sich hier um eine Ebene
besonders 'schwerer Zeichen' handelt. Der Bauer vom Lande, um bei diesem
Beispiel zu bleiben, war als Bauer in seiner Idealstruktur Christ und ist es auch
als Fabrikarbeiter geblieben. Selbst die Bürger in den Industrienationen sind
ihren Erwartungen (Monogamie, Mann dominiert Frau, ethnisches Dünkel usw.)
und Idealen nach Christen oder Muslime geblieben.
Das Verbot und die Aufweichung von tradierten Handlungsmustern änderte
nichts an den Erwartungen und Idealen.
Tylors Aussage läßt sich auf folgenden Inhalt reduzieren: in jeder 'Kultur'
werden die kulturellen Interna sozialisiert und konditioniert.
Bei Cohens Kulturdefinition (1974:46) treten materialistische und
produktivistische Kategorien in den Vordergrund. Er spricht von Artefakten,
Institutionen, Ideologien und der gesamten Breite gebräuchlicher
Verhaltensweisen, mit denen die Gesellschaft für die Ausbeutung ihrer
besonderen Umwelt ausgestattet ist. 'Verhalten' und 'Ausbeutung' werden bei
Levine (1975:213) zu 'Energiesystemen'. Er bringt damit in seine Definition die
Idee des Fließgleichgewichtes ein und weist in eine ökologische bzw.
kybernetische Richtung der Kulturinterpretation. Für ihn besteht Kultur aus den
Energiesystemen einer Bevölkerungsgruppe und deren Methoden bei ihrer
Verwertung, aus der Organisation der sozialen, politischen und wirtschaftlichen
Beziehungen, aus Sprache, Sitte und Bräuchen, Glaubensvorstellungen,
Verhaltens- und Kunstregeln - aus allem, was von anderen Menschen oder deren
Werken gelernt ist.

In diesen beispielhaft herausgegriffenen Kulturdefinitionen wird fast der


gesamte Bereich menschlicher Artefakte und Tätigkeiten bzw. Handlungen
unter dem Begriff Kultur subsumiert. (s.a. Bystrina u. Kuper 1990:650). Vom
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ethnozentrischen Standpunkt der Probleme in den industriellen Gesellschaften
her sind die Protagonisten obiger Definitionen zu begreifen. (s.a. ebd.)

Posner (1989:250) versucht daher materielle und geistige Kultur voneinander zu


unterscheiden, meint aber die Differenz zwischen Technik und Kultur.
Eine solche Trennung hat wissenschaftsgeschichtliche Tradition: zu Beginn des
20. Jahrhunderts wurde im deutschen Sprachraum, durch den amerikanischen
Evolutionismus (L.H.Morgan) beeinflußt, zwischen Kultur und Zivilisation
unterschieden. Max Weber (1927) verstand unter Kultur die geistige, emotionale
und ideale Seite menschlicher Lebenstätigkeit, wobei er mit Zivilisation die
technologische und materiell-utilaristische Seite der Entwicklung bezeichnete.

"Das bei Marx entlehnte 'Reich der Notwendigkeit' wurde für die
Zivilisation charakteristisch, das ebenfalls Marxsche 'Reich der Freiheit'
wurde mit dem Einzugsbereich der Kultur identifiziert. Diese
Gegenüberstellung erstreckt sich bis zu den Schriften von H.Marcuse, für
den zu dem Bereich Kultur die authentischen Werke der Literatur, Kunst,
Musik und Philosophie gehören, die durch die Zivilisation 'übernommen,
organisiert und verkauft' werden." (Bystrina u. Kuper ebd.)

Diese Trennung ist theoretisch und handlungspraktisch relevant. Kulturelle


Äußerungen haben, im Gegensatz zu denen, die dem Objektbereich der
Zivilisation/Technik (z.B. Gebrauchs- und Verbrauchsgegenstände, Werkzeuge,
Maschinen, Waffen) zuzuordnen sind, zeichen- und insbesondere texthaften
Charakter.
Nach Lotman (1981) ist der Mensch dadurch an zwei existentiellen Prozessen
beteiligt. Auf der einen Seite ist er Verbraucher materieller Dinge und
Sachwerte; auf der anderen agiert er als Akkumulator von Information und vor
allem als Interpret. Lotman definierte Kultur als die 'Gesamtheit der Texte',
womit er gleichzeitig die 'Gesamtheit der Funktionen' dieser Texte meinte. Das
umschließt die systemisch-statische (synchrone) ebenso wie die dynamische
(diachrone) Perspektive von Kultur.

"Bei synchroner Betrachtung stellt so die menschliche Kultur ein System


von Texten dar, aus diachroner Sicht kommt dazu auch die Herstellung,
Übermittlung, Speicherung, Rezeption, Interpretation und Wirkung der
Texte: also die Kultur als eine funktionierende Semiose." (Bystrina u.
Kuper :651)

Wesentlich an diesem Kulturbegriff ist der implizite Prozeßcharakter, der ein


Fortschreiben, einen Zeichenprozeß (Semiose) annimmt, der unter referentieller
Zugrundelegung von u.a. Kontext, kultureller, sozialer, historischer Situation
und allen Phänomenen der sogenannten 'Umwelt' sich beständig entwickelt.
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Eigentlicher Zweck kultureller Handlungen sind Zeichengebung und -
interpretation, die sich in Zeichen- und Textprozessen darstellen.

"Welchen zeichenhaften Sinn oder welches Ziel haben...: die Produktion,


der Gebrauch und Verbrauch z.B. von Werkzeugen, Nahrungsmitteln oder
Waffen oder der Transport von Gütern?", fragen dann auch Bystrina u.
Kuper (:653).

Der Begriff 'Zeichen'

Wesentlich in dieser Diskussion des Kulturbegriffes ist die Explikation des


Zeichenbegriffes. Wenn die Kultur- und Kommunikationswissenschaften
versuchen, sich mit dem uralten, mythisch-magischen Wort 'Geist' in seinem
tatsächlichen kulturevolutionären Sinn zu befassen, benötigen sie einen anderen
Zeichenbegriff als die Geistes- oder Sozialwissenschaften:

"Im Einklang mit... einer realistischen Weltauffassung verstehen wir unter


dem (semiotischen) Terminus 'Zeichen' ein materiell-energetisches,
sinnlich wahrnehmbares Objekt (System), das eine vom Zeichengeber
intendierte Information über ein Bezeichnetes enthält. Dies ist die
Zeichenfunktion eines Objekts als eines Zeichenträgers." (Bystrina u.
Kuper :654)

Eine 'Realistische Weltauffassung' impliziert hierbei, vor einer


kulurevolutionären Folie gedeutet, einen 'existentiellen Zeichengebrauch', der
für das jeweilige Sein konstitutiv und unabdingbar ist. Erforderlich bei diesem
Zeichenbegriff ist die Annahme einer Intendiertheit des Zeichenproduzenten.
Inwieweit hierbei eine Unterscheidung, gerade an den Punkten kultureller
Emergenz, bewußt/unbewuß sinnvoll ist, wird später ersichtlich werden.

Gedanken und andere psychische Ereignisse müssen aber, um Zeichen zu


werden, erst materiell-energetisch in der Außenwelt manifestiert werden, wobei
aber die An- oder Abwesenheit eines Rezipienten der Zeichenfunktion eines
Textes keinen Abbruch tut; der Text muß lediglich potentiell rezipierbar sein.
Gebrauchsobjekte, soziale Systeme oder 'natürliche Objekte' sind demnach
primär keine Zeichen, sondern sie können eine sekundäre Zeichenfunktion
annehmen, wenn sie per Interpretation oder Inversion in die kulturelle Sphäre
transformiert werden. Die meisten Gegenstände dieser Menge der Anzeichen
sind potentiell Objekte semiotischer Aktualisation, auch wenn niemand sie
aktuell in dieser Form benutzt.
Der Ansatz, der diesen Ausführungen zugrunde liegt, geht also von einer
existentiellen Zeichenfunktion aus: Zeichen sind keine esoterischen und quasi-
magischen Relationen, sondern materiell-energetische, intendierte Objekte. Es
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sind keine konsensuellen Auffassungen gemeint, die selbst nicht frei von
magischer Relationalität sind. Die durch die üblichen sozialen Konstrukte
bedingten Wahrnehmungsweisen sind als selbstverständlich unterstellte
Relationen und meinen, bzw. glauben, keine Objekte zu produzieren, solche zu
sein, geschweige denn, diese als derartige zu sehen. In diesem Kontext wird das
'menschliche Sein und Handeln' in der Welt als nicht entfremdet, d.h. als mit ihr
identisch, begriffen.
Erst Intention und existentielle Produktion von Texten setzen diesen
Automatismus außer Kraft und zeigen Kultur als ein Ensemble von Texten.

Der Begriff 'Text'

Unter einem Text wird deshalb ein sinnvoller Komplex von Zeichen verstanden.

"Nach Lotman ist ein Text an sich relativ geschlossen, durch Anfang und
Ende begrenzt und enthält eine potentiell rezipierbare Botschaft." (Bystrina
u. Kuper :656)

Jeder kohärente, intendierte Zeichenkomplex kann prinzipiell als Text aufgefaßt


werden. Michael Titzmann (1977:9) formuliert das so:

"...alle menschlichen aber auch tierischen Äußerungen..., die als


'zeichenhaft' und 'bedeutungstragend' fungieren: normalsprachliche Texte
der Alltagskommunikation; religiöse, philosophische, wissenschaftliche,
'hohe' und 'triviale' literarische Texte; epische, dramatische, lyrische Texte;
Produkte der Malerei, Plastik, Architektur; Comic Strips, Filme, Werbung:
im Prinzip auch gestische oder mimische Äußerungen."

Dabei muß aber eingeräumt werden, dass materiell-energetische Objekte ihren


Zeichen- und Textcharakter in dem Maße verlieren, wie ihre ursprünglich
dominante Zeichenfunktion zu einer Nebenfunktion wird. Das ist im
Alltagsverhalten und der sozialen Organisation der Fall; genauso können
Gebrauchsgegenstände ihre Gebrauchsfunktion verlieren.
Gebrauchsverhalten, Technik, soziale Organisation etc. haben sich in der
Humanevolution solange nicht entscheidend entwickelt, bis bis die dominante
Funktion auf die kulturellen Texte überging. Bis heute haben sich diese Bereiche
jedoch so weit verselbständigt, dass dieses entscheidende Merkmal außerhalb
ihrer Wahrnehmung liegt, da die dominante Textfunktion nun die rationale bzw.
die instrumentale, also die Gebrauchsfunktion zu sein scheint und die kulturellen
Texte als ihr Beiwerk erscheinen.

Es ist aber gerade der


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"...hohe Grad an Verselbständigung dieser Tätigkeiten, der Verlust eines
erkennbaren Zusammenhangs mit den unmittelbaren
Lebensnotwendigkeiten, die Redundanz dieser Tätigkeiten, ihre scheinbare
Überflüssigkeit (vom Standpunkt des einfachen physischen Überlebens),
ihr l'Art pour l'Art, was sie zum kulturellen Phänomen ummünzt. Für das
Imaginativ-Kreative, das Phantastische, Narrative und Poetische, Ironische,
Groteske und Absurde, das irgendwo am Anfang der menschlichen Kultur
steht, gilt das, was Huizinga (1938:17) über das Spiel schrieb: es 'steht
außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von
Notwendigkeiten und Begierden, ja es unterbricht diesen Prozeß'."
(Bystrina u. Kuper :659)

Der Begriff 'Code'

Wie eben angedeutet, gibt es verschiedene Textsorten und Textstrukturen, die


durch die dominierende Funktion des Textes ersichtlich werden.
Grundlage für diese Interpretation des Kulturellen ist das 'Drei-Schichten-
Modell der Codes', wie es Bystrina (1989) vorgeführt hat. Es wird dabei davon
ausgegangen, dass 'Mensch' in drei unterschiedlichen Codeebenen existiert.
Ähnliche Modelle wurden von Leroi-Gourhan (1964), Jakobson und Morris
(1988) vorgeschlagen.
Bystrina unterscheidet primäre, sekundäre und tertiäre Codes, wobei die
primären einfache, syntaktische Codes sind, die wir z.B. als genetische Codes
bezeichnen. Ihr Kennzeichen ist eine hohe Codegebundenheit (Stringenz) und
eine daraus resultierende relativ starke Invarianz. Sie strukturieren die primären
Lebensformen und bezeichnen eigentlich Leben und darüberhinaus gar nichts.
Auf den sekundären Codes sind semantische Operationen möglich; sie
regulieren ethologische Systeme, die verschiedenen Spielarten des Sozialen im
Tierreich (auch Mimikry, Tarnungen und Täuschungen), soziale Syteme und
Phänomene der menschlichen Alltagssprache. Das Moment der Tradierung von
Verhaltensrepertoires ist auch hier festzumachen (das 'ethnische Gedächtnis'
Leroi-Gourhans). Die Stringenz der Codes nimmt zu den 'kulturellen Codes',
den tertiären Codes, hin ab, so dass sie diejenigen sind, die die größte Freiheit
erlauben. Die Varianz, also Beweglichkeit auf dieser Codeebene ist es, die das
menschliche Leben durch die Jahrhunderttausende gesichert hat. Genetische und
ethnische Codes beispielsweise sind aufgrund von relativ langer Amplitude in
der Generationenfolge des Menschen und dem zur Stasis tendierenden
ethnischen und sozialen Gedächtnis dazu viel zu schwerfällig und zu langsam.1

1 deswegen konnte beispielweise das Soziale durch die Industrialisierung so leicht


ausgehebelt und zweckentfremdet werden. Der hohen 'Geschwindigkeit' (s.a. Virilio 1992)
dieser neuen Systeme war das Soziale schutzlos preisgegeben. Die Warnungen aus der
kulturellen Sphäre konnten aus dem gleichen Grund weder verstanden, noch befürwortet
werden (s.a. Surrealisten, Dadaisten und die frühen Strukturalisten). Es viel dem Sozialen
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Begrenzt werden die Möglichkeiten auf den tertiären Codes durch Setzungen,
die die kulturellen Äußerungen durch Bedrohung, Semantisierung und
Marginalisierung einschränken. D.h.: Ethnie, Gesellschaft oder
Dogma/Ideologie können kulturelle Äußerungen kontrollieren, verbieten,
zensieren und/oder über sie richten.
Die Macht eines Systems in dieser Richtung wächst mit den Möglichkeiten der
genetischen und sozialen Kontrolle. Wie wir heute wissen, ist das u.a. eine
technische Option.
Mit dem kulturellen Code aber erst gelingt dem Menschen die bahnbrechende
Erfindung eines originär menschlichen Seins, das im subhumanen Bereich nur
als Disposition, aber nicht als tragende Kraft, angelegt ist.
Diese Ebene des tertiären Codes ist es, die zunächst auf der Ebene der
sekundären Codes das Gebrauchsverhalten verändert und schließlich über die
Annahme einer empirischen Ebene primärer Codes syntaktisch-instrumentale
Systeme wie den Computer erfindet.

Dass der Mensch ab dem Zeitpunkt der Kulturemergenz, der ihn der Natur
gegenüberstellte, zumindest in zwei Bereichen existierte, läßt sich schon von
den Erkenntnissen Saussures (1916) ableiten, der zwischen langue und parole
differenzierte. Lévi-Strauss (1958) stellte bei der Untersuchung von
südamerikanischen Indigenen fest, dass die Alltagssprache dieselben
Gegenstände wie die mythische Sprache, nur auf einer anderen Ebene,
bezeichnet. Nach Bystrinas Modell liegt die Interpretation nahe, dass Lévi-
Strauss herausgefunden hat, dass das Soziale wiederum auf einer Ebene der
sekundären Codes agiert, während die mythische Sprache, die dem Sozialen
zugrunde liegende 'langue' also, einen tertiären Code meint. Der Mythos aber
wird erst auf dem tertiären Code aktualisiert; er ist dem Sozialen verschlossen.
Übergänge vom einen Bereich in den anderen sind bei sogenannten
Stammesgesellschaften häufig mit besonderen Festen und Handlungen
verbunden.
Kultur bedeutet demnach das 'signifikante Operieren in einer zweiten
Wirklichkeit' (Bystrina 1989, Bystrina u. Kuper 1990).

"Die hinter der physischen Welt anzusiedelnde zweite Wirklichkeit


existiert - in den menschlichen Gehirnen und in Texten - parallel neben der

bezeichnenderweise leichter, sich insgesamt an die Industrie anzukoppeln (s.a. die Utopien
des Karl Marx), als den individuellen Sprung in das kulturelle Sein zu wagen. Der
Bodenlosigkeit des kulturellen Anspruches gegenüber versprach die Industrie die Wahrung
von Heimat (auch einer internationalen, wenn gerade angesagt), Werten und Tradition. So
lassen sich heute so heterogene Ansprüche und strukturelle Unvereinbarkeiten wie 'High
Tech' und 'Blut und Boden' problemlos in einer gemeinsamen Menge vereinen.
Bayernschrankwand, Trachtenrock etc. schließen nicht Videorekorder, Mikrowelle, Computer
etc. aus. Eine solche 'menschliche' und d.h. ideologische Industrie, muß dem kulturellen
Schaffen zuwider sein
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ersten und wird aus dem Material der ersten Wirklichkeit durch vielfältige
Umstrukturierung aufgebaut." (Bystrina u. Kuper :659)

Kulturemergenz und Kulturevolution

Die Geschichte des menschlichen Gebrauchsverhaltens (Gebrauchsgegenstände,


Technik) ist, beginnend mit den ältesten Artefakten der Steinzeit, weitestgehend
gut dokumentuert und bewertet. Exemplarische Belege lassen die Technik-
Evolution plausibel rekonstruieren und als Adaptionen an die Erfordernisse der
unmittelbaren Umwelt der Hominiden erscheinen. Die Veränderungen in der
sozialen Organisation im Laufe der Humanevolution lassen sich vor diesem
Hintergrund scheinbar sinnvoll erklären.
Leroi-Gourhans (1964:139) Ausführungen legen die Vermutung nahe, dass die
frühen Techniken dem Rhythmus der biologischen Evolution folgten, denn
Chopper und Faustkeil erscheinen eher als Teile des Skeletts, als dessen
Verlängerungen. Dass diese Form des 'Werkzeuggebrauchs' auch bei anderen
biologischen - nicht nur plazentalen - Arten auftaucht, scheint diese Annahme zu
bestätigen. Erst mit - vage formuliert - 'neuen Möglichkeiten des Gehirns'
beginnen die Techniken einen rasanten Aufstieg.
Diese Möglichkeiten sind auch schon im Tierreich - als subhumane
Dispositionen - angelegt. Diese zeigen sich in Traum, Spiel und deviantem
Verhalten, wie Bystrina (1989:225ff) in seinem Aufsatz 'Die Wurzeln der
Kultur' darlegt. In dieser Sphäre, die im Verlaufe der Humanevolution durch
bewußte 'Entregelungen' (Rausch, ekstatische oder asketische Techniken,
Visionen, Prophetien) weiter angereichert wird, bilden sich die prozessualen
Archetypen oder Invarianten, die die Kulturemergenz und die weitere
Kulturevolution ermöglichen und bestimmen. Den Hintergrund, auf den diese
neue Form zeichenhafter und symbolischer Aktualisierung sich wirft, die
augenscheinlich mit Verlängerungen des Skeletts nichts mehr zu tun hat, bildet
die sich nun abzeichnende 'erste Wirklichkeit' der die Menschen umgebenden
Phänomene mitsamt den Erscheinungen der belebten und unbelebten 'Umwelt'.
Die Phänomene der 'Außenwelt' werden hierbei in einem Prozeß der Inversion
zu Phänomenen der 'Innenwelt' und erfahren dadurch tiefgreifende
Veränderungen, die wiederum, zunächst als 'Höhlenmalereien' und dann als
verschiedenste zeichenhafte Systeme (materiell-energetische Objekte; Texte), in
der Außenwelt kondensieren, die aber auch in der individuell-psychischen,
inneren Auseinandersetzung (Holensteins (198-) Introspektion; von mir 1991 als
'auditiver Modus' bezeichnet) und mit anderen Personen kommuniziert werden.
Die, wenn auch nicht intendierten, Rezipienten solcher Texte sind nicht
zwangsläufig Zeitgenossen, also Teilnehmer derselben Semiosphäre (Lotman
19--), sondern sie können auch diachron versetzt (z.B. erst in der Zukunft;
andere, parallel - kulturrelativ - existierende Gruppen) auftreten. Prinzipiell ist
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aber jeder in-formierende Zeichenprozeß (Semiose), auch zwischen Individuen,
auf dieses diachrone 'Gefälle' - die Asymmetrie - angewiesen.
Wenn Gruppen sich durch Konsensbildungen (auch durch Macht) formieren,
dann können Symmetriesationen stattfinden (Uchtmann 1990), die aus der
Diachronie entkoppeln. Flusser hat das für die Wirkungsweise der modernen
Massenmedien angenommen, Baudrillard (1982) in seiner Analyse auf die
Industriegesellschaften beschränkt, doch zieht sich diese Möglichkeit durch die
gesamte Humanevolution.
Synchronie an sich, als jeweiliger individueller und sozialer Begriff von
Gegenwart verstanden, ist als kulturrelativer Ausgangs- und Bezugspunkt
notwendiges Konstituens jeder Möglichkeit diachroner Information. Dennoch
scheint es Erwartungen im Repertoire menschlichen Verhaltens zu geben, die
versucht sind, die Diachronie auszuhebeln. Diese Erwartungen sind als
Heilserwartungen in den Religionen formuliert, bedeuten eigentlich aber den
Wunsch nach einer 'Rückkehr' in den homöostatischen Zustand der Indifferenz,
der zwischen allen Individuen gleichen Abstände, der kontingenten
Adaptiertheit an Gott und Natur, um das 'Unheil' der Information auszuschalten.
Information stellte immer eine Herausforderung an die Synchronie dar, denn sie
ist genetisch gekoppelt an den Zeit- und Raumpunkt der Kulturemergenz.
Die initiale Leistung des heraufdämmernden menschlichen Bewußtseins war die
Kognition des Todeswissens und die damit verbundene Selbstbewußtheit (s.a.
Bystrina 1989). Zu den Erfordernissen des physischen Überlebens gesellten sich
nun die des psychischen Überlebens und damit die existentielle
Zeichenproduktion. Einerseits entstehen hier neue Strukturmuster, (kognitive)
Codes, die über Schamanismus, Mythenbildungen, Philosophien, den
verschiedenen Spielarten der Kunst bis hin zu den Theorienbildungen der
Wissenschaften führen, in denen Bewegung und Struktur dominieren.
Andererseits entstanden nun neue Formen des Sozialen (Systeme), die in ihrem
Bestand durch Rituale, Initiationszeremonien und kollektiven Zeichengebrauch
gesichert wurden, in denen Form und Funktion dominieren und die damit
sekundäre Codes ausbilden.
Die neuen Strukturmuster sind die 'tertiären Codes', die sich, wie gesagt, den
vorangegangenen beiden Codeebenen impizit aufschichten. Explizit bilden sich
auf der Basis dieser Codes quasi-statische soziale Systeme, die mit ihren Regel-
und Kompensationsmechanismen den 'Angriff' des Todes zu erwehren und
seinen Sinn in eine 'höhere Ordnung' zu überführen suchen (s.a. Bystrinas
(1989) Ausführungen zu 'triadischen Lösungen'). Sie kreieren auf diese Weise
den Bereich der 'zweiten Wirklichkeit', der seitdem neben der 'ersten
Wirklichkeit' gültiges Faktum menschlichen Seins ist. Während die erste
Wirklichkeit durch Wechselwirkungen reguliert ist, werden in der zweiten
Gesetze formuliert, die aber genauso bindend sind.
Die Möglichkeit eines 'fremdartigen' impliziten Codes am Punkt der
Kulturemergenz zeigt doch schon, dass die 'Ordnung' der Natur hintergehbar
war. Als genauso hintergehbar zeigten sich aber die menschlichen Ordnungen
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und Sprachen; der tertiäre Code wurde damit zum Träger und Mittler der
Kulturevolution.
Die Introspektion, die beispielsweise Schamanen und manchen Wissenschaftler
und Künstler zum Erlebnis des tertiären, kognitiven Codes führt, ist an sich ein
pädomorphes Eintauchen in den Urgrund menschlichen Seins.
Am Anfang der Kultur standen besonders schwere 'Zeichen', die uns noch heute
beschäftigen und die wir zu bewältigen suchen, sozusagen eine Meta-
Idealstruktur im Sinne Firth, die die Invarianten der folgenden Kulturevolution
bildeten und noch heute wirken.
Die hier entworfenen Welten, die das Soziale in seiner jeweiligen Gegenwart
wie selbstverständlich okkupiert und unreflektiert reproduziert, sind originär
keines sozialen Ursprunges. Daher ist auch die Einheitlichkeit, Geschlossenheit
und Abbildhaftigkeit (Isomorphie/Homomorphie mit einer 'realen' Welt) des
Sozialen irrational. Die Intention des Sozialen ist auf seine Erhaltung und
Perpetuierung beschränkt. Um das zu leisten, muß es die Mittel des Kulturellen
für seine Zwecke gebrauchen.
Kultur entsteht aus der Erkenntnis einer Spaltung, eines unlösbaren
Widerspruches, der kritisches Denken ermöglicht sowie auslöst. Das Soziale ist
die Leugnung und Aufhebung dieses Widerspruches durch Installation eines
Dritten (früher: Gott; heute: das Soziale selbst). Diese passiv gelebte und aktiv
von anderen geforderte Widerspruchslosigkeit bedeutet die Überfrachtung der
Möglichkeiten durch das Nichts.
Dass dieser harte Satz wahr ist, läßt sich belegen:
Soziale Funktionen und Systeme werden schnellstens aufgegeben, sobald innere
oder äußere Gefahr im Verzuge ist. Das Soziale hat dem nichts
entgegenzusetzen außer einer hohlen, haltlosen, lediglich verbrieften, aber nicht
vertieften, Ethik. Wenn das Dritte versagt, liegen die Widersprüche so offen dar,
dass sich nur Fassungslosigkeit und Unverständnis breitmachen, die wiederum
nur nach Gegengewalt verlangen oder sich in dem platten Ruf "Ruhe bewahren"
Gehör verschaffen. Der Umgang mit den Widersprüchen wurde im Sozialen
weder gelehrt, gelernt, noch war er erwünscht. Folter, Krieg und Gewalt werden
als Randphänomene einer 'zivilisierten' Welt und eines 'kultivierten' Verstandes
markiert und in das Ausland verdrängt, da wo die Verrückten sind (Barbaren
und Menschenfresser - da hilft auch keine Toleranzhudelei). Die größte
Platitude aller Scheinlösungen ist dabei die Forderung nach der ultimaten,
paradiesischen Ideologie.
Lösungen auf den kulturellen Codes versprechen keine Programme, dazu sind
sie zu komplex. Was sie aber bringen, ist die Akkzeptanz und Aufklärung des
Widerspruches, ohne dass dieser sich explosiv - wie beim Versagen des Sozialen
- entladen muß oder mit der Ohnmacht und Kontrollmacke des Genetikers
kaschiert und unterdrückt werden braucht. Im Übrigen: auch die genetische
Lösung ist eine Scheinlösung.
Alienne Laval
Die Struktur der Kultur

Kultur ist daher

"Dialektik in einem mehrpolaren Kraftfeld (und) bedeutet ständiges


Ausbalancieren verschiedener 'Anstöße' einzelner Elemente,
Umgruppierung ihrer dominanten Positionen, Veränderung von Vektoren
usw. Es ist eine Interaktion von strukturell verschiedenen Entitäten", wie
Karbusicky (1973:102) schreibt.

Die 'strukturell unterschiedlichen Entitäten' Karbusickys sind die erörterten


Codes Bystrinas.

"Sobald im Augenblick der Belebung des Kraftfeldes durch einen kreativen


Akt oder durch das Hinzukommen neuer Elemente die Entitäten (hier:
Codes) in Interaktion treten, fangen sie an, sich in ihren gegenseitigen
Potenzen zu befragen, sich ihre Strukturen einzuprägen und sich
umzugruppieren." (ebd.)

Dem Subjekt können im Anschluß an Karbusicky die psychologischen,


assoziativen und sensualistischen Eigenschaften zugeschrieben werden und dem
Material die formalen Eigenschaften.
Beschränkt sich die Interaktion auf diese beiden Pole, entsteht die auf dem
Kantischen 'interesselosen Wohlgefallen' beruhende Auffassung von der Kunst
oder Kultur als Spiel, auch wenn das Spiel zu den kulturkonstituierenden,
subhumanen Dispositionen gehört.
Zwischen dem Material und dem Objekt erstreckt sich der Bereich der
aristetolischen Mimesis, in dem sich nur die Frage nach richtiger oder falscher
Adaptiertheit stellen läßt.
Erst die kultursemiotische Betrachtung nimmt den 'Austritt' des Artefaktes aus
dem kreativen Subjekt zur Grundlage, da sich hier die ontischen Kräfte der
Kultur wie aus dem Urchaos hervorquellend bekunden. Ein sogenannter
Realismus in der Kuturanalyse würde die mimetisch-ikonische Komponente in
den Vordergrund stellen, die nur noch richtig-falsch Entscheidungen zuläßt.
Neben der Achse Material-Objekt, die durch die semantischen Regeln der
Adaption geregelt ist, gibt es noch solche, die zwischen Subjekt, der
Gesellschaft und dem Material polarisiert sind. Kernpunkt der
kultursemiotischen Analyse ist die Zugrundelegung der Subjekt-Objekt-Achse;
von hier aus werden alle anderen Bezüge problematisiert.
Der einzige nicht-codierte Pol in diesem Interaktionsfeld ist der des Objektes; es
wird durch den potentiellen, tertiären Code repräsentiert, der aktuell aber erst im
Subjekt wirkt.
Wenn das Objekt codiert wäre, wie es beispielsweise noch Cantor mit seinem
Begriff des Transfiniten annahm, dann hätten wir damit das Absolute und d.h.:
Alienne Laval
Gott, vor uns. Die sich als kontingent (homomorph, isomorph) in die Welt
projezierende Gesellschaft oder das Subjekt in seinem Selbstverständnis vom
Sein erreichen durch die Verweigerung des tertiären Codes aber genau diesen
Effekt: sie simulieren das Absolute, wie aus den Ausführungen Baudrillards
(1976) zu schließen ist und kontrollieren die zweite Wirklichkeit durch mächtige
Moral-, Normen- und Regelsysteme die konsensuell und durch Setzungen
reguliert sind. Dem freien, grenzüberschreitende Austausch mit Geistern und
Kräften wird ein Ende gesetzt.
Mit Luhmann (1990) kann man also mit einer gewissen Berechtigung sagen,
dass es sich bei psychischen und sozialen Systemen um tote Systeme handelt.
Wenn man davon ausgeht, dass zumindest noch auf der phylogenetisch jüngsten,
der tertiären Codeebene, die aristetolische Logik ausgehebelt wird, dann geht es
hier nicht um kontingente Adaptiertheit, sondern um die Schaffung neuer,
narrativer Formen. Das Leben wird ja gerade dadurch intentional und
irreduzibel, indem es die Welt nicht richtig abbildet, sondern interpretierend
aktualisiert und so die Wechselwirkungen des unbelebten Universums hintergeht
und partiell - zumindest bis zum Tod - unwirksam macht. In einem bipolaren,
aristetolischen System wäre damit das Leben und erst recht die Kultur, nicht bei
dem mit 'richtig' markierten Pol, sondern bei dem mit 'falsch' markierten,
angesiedelt.
Gerade auf den tertiären Codes steht das Subjekt direkt dem Objekt gegenüber.
Die einzige, tatsächliche Information, die vom Objekt ausgeht, sobald dieses
aktualisiert wird, ist zunächst die Erkenntnis des Todes. Dieser Raum wird dann
mit kulturellen Texten angefüllt.
Wenn spätestens auf den sekundären Codes so etwas wie Bewußtsein, das wohl
mit dem Verlassen rein ikonischer Repräsentationen entsteht, möglich ist, dann
bildet sich hier das Selbst-Bewußtsein aus, dessen Bildung mit dem
Todeswissen einhergeht.

Die Vermittlung von Operationen auf den tertiären Codes

Voraussetzung für die kulturelle Handlungspraxis und die Vermittlung einer


solchen Praxis, die sich sowohl in methodischer als auch in thematischer
Hinsicht abgrenzen soll von dem, was bislang im Bereich der 'Kulturarbeit'
geleistet wurde, ist ein theoretischer Anspruch und Ansatz, der auf den im
vorangegeangenen Teil zugrunde gelegten Annahmen basiert.

Da Kultur und kulturelle Handlungsoperationen für das physische Überleben des


Menschen nicht notwendig sind, entfallen sie der Sphäre des
Gebrauchsverhaltens, der Überlebens-Technik und damit auch der Arbeit. Selbst
das Freizeit-Verhalten, das sich in einem 'interesselosen Wohlgefallen'
begründet, ist nicht kulturelles Tun und kann - wenn es das unbedingt soll und
das überhaupt geht - den Druck der physischen Sphäre nur unvollkommen
Alienne Laval
kompensieren. (Hierzu zählen das Squash-Spielen, Bowling, Freizeitparks etc.
ebenso wie die Herstellung von Makramee-Eulen, Holzenten, Schüttelreimen im
offenen Radio usw.: also 'Beschäftigungen' und die vielfachen sich hieraus
ableitenden sog. 'Therapien').

Nach dem vorhin formulierten kuturevolutionären Anspruch ist offensichtlich,


weshalb kulturelles Tun nicht mit dem psychologischen und pädagogischen
Instrumentarium des Sozialen vermittelt werden kann, dass das Überleben in
einem gegebenen Kontext und dieses Kontextes ermöglichen soll.
Eine 'Kulturpädagogik' im Sinne eines kultursemiotischen Ansatzes kann
Anregungen vermitteln und auf Prozesse verweisen, die sich in der
Humanevolution bewährt haben. Eine solche Pädagogik muß verzichten auf den
partikularisierenden, akkumulativen Anspruch des Sozialen. Sie muß vielmehr
Ängste nehmen durch theoretische sowie kulturhistorische und -psychologische
Abpufferung und Begleitung des individuellen Erkenntnisprozesses. Sie muß
neuerlich dazu ermutigen, initiatorische Wege zu beschreiten, um auf der Basis
individueller Reflektion und Reduktion kritische Zustände zu induzieren, die
kulturelles Schaffen erst ermöglichen.
Dies meint keine entfremdeten Konstruktionen, die als rationale Folie dem sog.
Unbewußten aufzulegen wären, sondern eine strukturgenetische Eruierung und
Anwendung des humanen Zeichenprozesses, der ebenso bewußt wie unbewußt -
aber dennoch intendiert - vonstatten geht, da er existentiell ist.
Ein großer Stellenwert kommt hierbei den 'symbolischen Formen' zu, die die
Emergenz und die Evolution der Kultur bis heute begleitet haben und als
Variablen und Axiome relativ invariante Muster (patterns) der Kognition bilden.
Mythen, Märchen und Kunstwerke sind voll davon; Religion, Politik,
Ökonomie, soziale Organisation etc. sind aus ihnen hervorgegangen. Sie bilden
die individuellen und kollektiven Grundlagen, auch wenn es letztlich um die
Produktion zufällig auftretender Texte geht.

Im Vorangehenden wurde ein Oppositionspaar, Kultur - Soziales, expliziert.


Der kultursemiotische Ansatz legt, wie begründet, daher nahe, zwischen
'sozialem' und 'kulturellem' Verhalten zu differenzieren. Eine angebliche
Identität der durch beide Termen bezeichneten Mengen von Objekten und
Relationen wurde als nichtig erwiesen, da die jeweiligen Verfahrensweisen
verschiedenen Sphären der Evolution entstammen und zuzuordnen sind, auch
wenn die Evolutionen des Sozialen und des Kulturellen auf weiten Strecken
parallel und interdependent verlaufen sind. Es ist doch sinnvoller, sie aus
pragmatischen und analytischen Gründen in Untersuchung und Praxis
auseinander zu halten.
Das Soziale meint immer das in einer jeweiligen Gegenwart und Gesellschaft
internalisierte Repertoire, das über seinen Raum und seine Zeit nicht
hinausweist. Daher tautologisieren, 'skorpionisieren' (Baudrillard 1976), sich die
Alienne Laval
Systeme, die sich auf das Soziale und soziale Kontrolle ( Horizontalität)
verlassen.

Die Interdependenzen der sozialen, wie auch der natürlichen Systeme werden im
Kulturellen verlassen. Auch wenn Utopien - vor allen Dingen, wenn im Sozialen
umgesetzt - die Tendenz zur Inversion und Perversion aufweisen, kommt der
Mensch, wenn er auch psychisch als Mensch überleben will, um sie nicht
umhin. Eine 'soziale' Kontrolle der Utopien kann einen neuen Faschismus
religiöser und/oder ökologisch-kybernetischer Art erzeugen.

Kulturelle Interpretationsleistungen und Produkte sind durch hohe Ambivalenz


ausgezeichnet und eben dadurch kreativ, indem sie die Neugier gegen die Angst
ausspielen. Otto (1917) wies darauf hin mit den Bezeichnungen 'mysterium
tremendum' und 'mysterium fascinans'. Kultur durchbricht damit die linear
scheinende Stringenz der homöostatischen Abläufe (Konditionierung,
Sozialisierung) des Sozialen und durch ihre Redundanz vom Standpunkt des rein
physischen Überlebens den Mythos der ewigen Wiederkehr.

Kulturschaffen erfüllt primär keinen sozialen Zweck; es meint eine dritte


Codeebene, einen tertiären Code, der die Objekte der Außenwelt in eine innere
Dimension überschreitet und diese in narrativen Texten interpretiert. Narrative,
also kulturelle, Texte sind in diesem Zusammenhang - wie gesagt - alle aus den
kulturkonstituierenden subhumanen Dispositionen (i.e. Traum, Spiel, psychische
Devianz, Drogen) sich ableitenden Zeichenprozesse (Semiosen) und ihre
materiell-energetischen Produkte (Zeichensysteme).
Sorten derartiger Texte sind Malerei, Plastik, Literatur, Musik, bestimmte
wissenschaftliche Theorienbildungen, Ursprungsmythen, Märchen, Tanz,
Maskenspiele usw. Gebrauchs-, so auch Designobjekte, haben keine innere
Textstruktur, sie sind nicht Träger von Geschichten, also keine Texte im
angeführten Sinn. D.h.: die Texthaftigkeit des Kulturobjektes muß durch seinen
Schöpfer intendiert sein, setzt also intellektuelle Tätigkeit voraus, die sich in der
Produktion eines materiell-energetischen Systems (Text) äußert.
Dieser Text wiederum kann Ausgangspunkt für andere Texte - nicht
zwangsläufig gleicher Sorte - sein. Die Semiose umfaßt daher nicht nur die
Produktion, sondern auch die Vermittlung, Speicherung, Tradierung,
Aufführung solcher Texte.
Sicherlich haben auch 'tote Gegenstände' wie Sterne, Blitz, Hagel, Erdbeben,
Atombombe, Schraubenschlüssel, gekachelte Wände, Autos, Kaffeetassen,
Formen sozialer Organisation etc. einen potentiellen Textcharakter; im
eigentlichen Sinne aber handelt es sich bei solchen Objekten um Anzeichen,
deren Zeichenhaftigkeit erst in einem intendierten, intellektuellen Prozeß
aktualisiert werden kann.
In einem wesentlichen Aspekt sind kulturelle Handlungsoperationen ihrem
Ursprung nach - und sie sind dies auch heute noch - Mittel der Bannung, der
Alienne Laval
Versicherung gegen übermächtige Geister (heute wohl nicht mehr so sehr die
Naturkräfte, als vielmehr die durch Technologie und konzertierte Aktion
entfesselten Gewalten und der individuelle Tod), ihre Handhabbarmachung
durch Beschwörung, der Inversion unliebsamer Vertikalität (z.B. im alten
Karneval), schlichtweg die Veröffentlichung und Auflösung fataler Symmetrien,
die sich durch Gewöhnung und Wiederholung eingeschlichen haben (z.B.:
früher die Gewöhnung an die ständige Bedrohung des Menschen durch die
'Natur'; heute Gewöhnung an Klassengesellschaft, menschliche Dummheit,
massenhaftes Verhalten, Macht, Ohnmacht, Kapital, Übermacht der Technik
etc.).

"...so stark ist der Druck des Realitätsprinzips der industriellen


Massengesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern geworden, deren relative,
empirische Freiheit auch in der Normierung der Kunst auf ihre realistische
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit sich niederschlägt." (Gorsen
1981:224)

Die durch Kultur dargelegten und entregelten Gegensätze werden so oft durch
beliebte Scheinlösungen ( die Letzten werden die Ersten sein, Diktatur des
Proletariats, der 'gute' Diktator, Tod für das Kollektiv, seelig sind die geistig
Armen usw.) im Sozialen wieder eingeregelt und ertragbar gemacht. Durch
Sozialisation, Tradition ( auch die Ritualisierung der Arbeit als
Lebenswirklichkeit zählt dazu), Wiederholung und Gewöhnung nehmen diese
Systeme 'Wirklichkeitsstatus' an. Deswegen erscheinen sie auch so starr,
unreflektierbar und invariant (eine übliche Meinung: "es war schon immer so"),
dass eine 'Lösung' unmöglich scheint. Gerade heute wird diese Behäbigkeit und
die dadurch implizierte Gefahr des Sozialen im Angesicht einer
wahrscheinlichen Katastrophe offensichtlich. In autopoietischer
Selbstgefälligkeit konstruiert das Soziale unter Zuhilfenahme kultureller, also
poetischer Inputs, als Rettungs- und Rechtfertigungsversuch Kybernetik,
Ökologie und Netzwerke. Diese 'neuen' Inhalte sollen auf bekanntem Wege
vermittelt werden, also lehr- und lernbar sein. In die möglichen neuen Schläuche
rinnt auf diese Weise der längst umgekippte Wein alter Schule und Didaktik.
Explorationstrieb (Koestler 1978) und Verstand werden zum Rieselfeld des
Bildungsapparates, der schulmeisterlichen Langeweile preisgegeben.

Eine Verschulung der Vermittlung kultureller Praxis steht daher in


methodischem Widerspruch zu den Möglichkeiten dieser hochflexiblen
Codeebene.
Im verschulten, programmatischen Ablauf stehen quantitative, die Kreativität
hemmende Verfahren im Vordergund. Die gemeinschaftliche 'Ideensammlung'
und 'Problematisierung' unter Anleitung eines Lehrers ersetzt die individuelle
Introspektion und Audition. Hierbei wird eine all-gültige Systematik und eine
Form der Kategorialität (Rahmen) vorausgesetzt, die von vornherein eine
Alienne Laval
stillschweigend als gemeinschaftlich akzeptierte Form der Versprachlichung
unterstellt und sofortige und unmittelbare Stellungnahme fordert (das ganze
Schulsystem funktioniert so).
Dieses Reiz-Reaktions-Schema unterstellt ein ethologisch-behavioristisches
Muster, das nur den systeminherenten Informationsfluß (Kybernetik) in Gang
hält. Eine tatsächliche Kommunikation individueller Erkenntnisse und
Erkenntniswege kann so nicht stattfinden; sie würde auf 'offene' Kommunikation
angewiesen sein, deren Mittel und Regeln sich im jeweiligen Prozeß neu
formulieren würden. Das kybernetische Modell hingegen simuliert
Kommunikation.
Dieses didaktische Mittel zwingt jede Auseinandersetzung zur
Oberflächlichkeit, da es die Hintergehbarkeit der konsensuellen Sprachebene
(Holenstein 1980) verwehrt. Erst durch das Eintauchen in den Ozean der
Introspektion kann sich qualitativ was tun, weil erst hier die Kreativität und der
eigene Ausdruck (die eigene Sprache) gefunden werden können (Therre 1979;
Uchtmann 1991).
Der Konsens hypostasiert und erzwingt ein nicht entfremdetes Empfinden zu
einer gemeinschaftlichen Sprache und Handlungspraxis; er fordert ein
einheitliches, stets mit sich selbst identisches Alltags-Subjekt als Teilnehmer.
Eine Entwicklung der Persönlichkeit ist nur akkumulativ und zirkumbulativ
denkbar.
Kulturelles Schaffen jedoch lebt gerade von der Erkenntnis der Entfremdung
(bislang hat glücklicherweise noch jedes System neue Möglichkeiten der
Entfremdungen geschaffen!). Das In-sich-sein des geschlossenen,
kontextualisierten Subjekts wird im kulturellen Prozeß zu einem mindestens
teilweisen Außer-sich-sein.
Neben seiner profanen Existenz in der Sphäre des Gebrauchsverhaltens schafft
es sich so eine zweite Existenz, die es mit den Ur-Sprüngen des Menschlichen
verbindet, aber auch fortschreiten läßt.
Nun ist die Idee von einer anderen Kulturpraxis schon sehr alt und erscheint
überdies abgeschmackt und nicht notwendig. Von de Sades Anspruch einer
hedonistischen Kulturpraxis, die sich gleichermaßen gegen Natur und
Zivilisation richtet, spannt sich der Bogen über die psychoanalytisch-
kulturtheoretischen Ansätze Freuds, die 'revolutionären' Versuche in der
Anfangszeit der Sowjetunion und den Surrealismus bis hin zur 68er-Bewegung
in West- und Osteuropa. Gerade durch die ökologische Krise, Anfang der 70er
Jahre vom 'Club of Rome' beschworen, wurde dem ein Ende gesetzt, verlangte
sie doch nach Umkehr, Einkehr, neuer Religiosität und dadurch nach
systemtheoretischen, kybernetischen Modellen der 'Krisenbeherrschung'. Die
zügellose Kreativität, die ja auch schreckliche Waffen hervorbrachte, müßte, so
wurde angenommen, durch neue Regelsysteme 'gebannt' werden. Verbeeks
(1990) Analyse zur Anthropologie der Umweltzerstörung problematisiert erneut
vor dieser Folie die Evolution der menschlichen Gesellschaften und
rationalisiert als Lösungsvorschlag noch einmal die Einrichtung von neuen
Alienne Laval
Kontroll- und Regelmechanismen. Problematisch ist dabei die offensichtliche
Repressivität, die zu Gunsten eines höheren Zieles in Kauf genommen wird.
Kultursemiotisch betrachtet ist das wiederum eine triadische, die Widersprüche
hinwegzwingende Scheinlösung quasi-religiöser Konnotation, sie lautet:
individueller Verzicht für das Kollektiv, für ein besseres Leben in einer
kommenden, friedlichen Welt (Paradiesvorstellung).
Die Grenzen des Systems markieren gleichzeitig die Grenzen der Erkenntnis
und der Welt, deren Überschreitung verboten ist bzw. wird.2
Diese Möglichkeiten, wenn auch häufig verteufelt (s.a. Verbeek), sind es aber,
die, im Gegensatz zum jeweilg synchron Systemimmanenten, seit der
Kulturemergenz die entscheidenden Innovationen in der Kulturevolution
gebracht haben.

"Während ich an seinen (van Goghs) unglaublich 'psychedelischen' Bildern


vorbeischlenderte, dachte ich über den einzigartigen Realitätstunnel dieses
Malers nach, seine erstaunlichen Visionen, seine Poesie, sein kreatives
Sehen. Wieder einmal wurde mir bewußt, dass van Gogh gerade deshalb so
wunderbar ist, weil er eben Rembrandts Realitätstunnel nicht nachahmte.
Picasso ist ein bedeutender Maler, weil er van Gogh nicht nachahmte, und
Mondrian ist großartig, weil er Picasso nicht nachahmte. Bedeutende Kunst
ist immer eine neue Synergie, eine neue Transaktion zwischen Beobachter
und Beobachtetem. Plötzlich fiel mir Adolf Hitler ein, der gesagt hatte,
jeder, der den Himmel grün malt, sollte auf der Stelle sterilisiert werden.
Und ich verstand den Rechthaber ein wenig besser. Ein Rechthaber ist an
seinen Realitätstunnel gekettet, denn auf die Konfrontation mit den
Realitätstunneln anderer, kreativer Wesen reagiert er mit Angst und
Schrecken", schreibt Wilson (1992:225f).

Es waren die Lösungen auf den tertiären Codes, die das (Über-)Leben der
Menschen ermöglicht und ausschlaggebend beeinflußt haben. Dass eine solche
Praxis mit unabsehbaren Risiken für Indivduum und Spezies verbunden ist, kann
nicht bestritten werden. Koestler (1978) sieht in der Sprachentstehung u.a. das
entscheidende Generativum für Kriege und Waffentechnologie. Als fatale
Lösung empfahl er entweder die Abschaffung der Sprache oder einen
neurochemischen Eingriff ins Gehirn. Auch Skinner (1971) strebte eine
Änderung der 'Kontingenzen' an, durch Anpassung der menschlichen Umwelt an
2 siehe dazu z.B. John Norman's Trivialroman-Epos 'Gor - die Gegenerde' (Heyne-Verlag).
Mächtige Satellitensysteme kontrollieren hier die Herstellung von Waffen, die über Hieb- und
Stichwaffen hinausgehen. Erfindet jemand eine Feuerwaffe, so wird er per Satellitenstrahl
exterminiert. Bezeichnend ist, dass diese Waffen in diesem Szenario dauerend neu erfunden
werden und nur eine exteriorisierte Kontrollinstanz dieses ungezügelte, innere Schaffen
unterbinden kann.
Eine solche Vorstellung läßt sich leicht auf den intellektuellen Bereich übertragen.
SittenwächterInnen, wie derzeit im Iran, könnten die Überwachung erlaubten Denkens
garantieren.
Alienne Laval
Laborbedingungen. Er stellt sich dann eine Kunst und Literatur vor, die ohne
Tod, Mord, Macht, Ohnmacht und Tragödie/Komödie auskommt. Nach seinem
Ideal würde sich zu guter Letzt der Kontrolleur selbst in die Laborbedingungen
einbringen.

"Daher häufig der Ruf nach Allgemeinverständlichkeit um jeden Preis,


nach Durchsichtigkeit, die für Rationalität ausgegeben wird, nach
Leichtvertäglichkeit und Unkompliziertheit des Ästhetischen anstelle von
Hermetismus." (Gorsen :223)

An dieser Stelle entsteht ein unkritischer Realismus, wie Gorsen (ebd.) ausführt:

"Der Kunstbeschauer wird zum Abnehmer von sozialen Tasachen und


Ideologien, die auf eine einprägsame ästhetische Form gebracht wurden.
Die unkritische Seite dieses Realismus ist, dass er alles so beläßt, wie er es
vorfindet, im zitierenden Abbilden und Ideologisieren, im Montieren und
Umgruppieren von Wirklichkeitsstücken das Bestehende nachahmt..."
Die ästhetische Qualität von Kunstwerken wird dabei allein danach
beurteilt, "...ob sich diese überindividueller Mitteilungsweisen und sozial
anpassungsfähiger Konzeptionen bedienen oder dem als kultisch,
rückschrittlich, esoterisch, privilegiert geschmähten Bereich traditioneller
Kunstherstellung verhaftet bleiben." (ebd.:222f)

Offensichtlich ist dabei nach Gorsen die 'domestizierende Sicht auf die reine
Gebrauchsfunktion der Kunst für die Gesellschaft'. Das eben Gesagte betrifft
daher nicht nur den Kunstbeschauer, der sich, sie letztlich auch verteidigend, in
diese Realität einbringen soll, sondern auch den Künstler, der gezwungen ist,
sich in sie einbringen zu müssen.

"Entweder werden die Künstler zu politischen Phantasten und


Propagandisten einer Einheit von Wirklichkeit und Kunst, deren
Versöhnung in der Praxis aussteht und die objektiv erst zu leisten wäre,
oder sie neigen zu bloßer Rezeption und zum Nachbeten dessen, was
gesellschaftlich vorgegeben ist, das sie unwesentlich verändern oder so
belassen, wie es geworden ist." (Gorsen a.a.O.:223)

Im gleichen Maße, wie durch diesen Vorgang Kunst und Kultur zur Ware
werden, zwingt die Masse die Herstellung jeder Kunst auf ihr Verständnisniveau
als Konsumenten herunter.

"Diese Barbarei werden sie als neue Freiheit, als Emanzipation des
Genusses missverstehen." (Gorsen a.a.O.:224)
Alienne Laval
Das bedeutet im Kontext dieser Konzeption eine Kybernetisierung und
Symmetrisierung der Kultur auf einem systemimmanenten Informationsniveau.
Kultur kann nur noch als Gebrauchs- bzw. Freizeitverhalten geduldet werden.
Das Innovative wird gänzlich den Regelkreisen (u.a. dem Sozialen) überlassen,
die es aber nicht leisten können und immer weitergehende Simulationsformen
produzieren. (s.a. Baudrillard 1976)

"Für die wirkliche Befreiung der Massen zum Kunstverständnis und damit
für die Chance aller, einen ähnlich hohen oder vielmehr höheren, qualitativ
anderen Status ästhetischer Bildung und Sensibilität zu erreichen,...wird
heute...(nichts) Entscheidendes getan."

Gorsen (:236) führt weiter aus, dass es 'die marxistische Psychoanalyse Reichs
und der surrealistische Marxismus Marcuses waren, die dem Gedanken zum
Zuge verholfen haben, dass Regressionen den Boden für Politisierung und
Revolutionierung (wider den verkehrten Fortschritt und wider eine vernunftlose
Vernunft) bereiten können,

"...dass sie nicht nur als Weltverlust, Autismus, als Rückschritt, Krankheit
und psychische Mangelerscheinung verstanden werden können, sondern,
dass sie - aus dem konservativen und repressive Ordnung stabilisierenden
Rahmen der heilmedizinischen Betrachtung gesprengt - Möglichkeiten
darstellen, jene Erlebnis- und Erfahrungsqualitäten, nun freilich verwandelt
und auf der Stufe der Selbstaufklärung ins Bewußtsein zurücktreten zu
lassen, die als deren Nachtseite verdrängt und zu sozial 'wertlosen'
Leistungen 'kultiviert' worden sind."

Solche Regressionen, bzw. die 'Nachtseite', sind dann als 'Pädomorphosen'


(Koestler 1978) anzusehen, die eine Hinwendung zum 'Medium der kognitiven
Kompetenz' (Holenstein 1980) bedeuten:

"Die biologische Evolution ist weitgehend eine Geschichte gelungener


Fluchtversuche aus den Sackgassen der übermäßigen Spezialisierung und
die Geschichte der Ideen ist eine Reihe gelungener Fluchtversuche aus der
Tyrannei geistiger Gewohnheiten und erstarrter Routinemäßigkeiten. In der
biologischen Evolution ist die Flucht ein Rückschritt vom Erwachsenen-
ins Kindheitsstadium, das anschließend als Ausgangspunkt für eine neue
Entwicklungslinie genutzt wird; bei der geistigen Evolution ist sie ein
vorübergehender Rückschritt zu primitiveren, ungehemmteren Arten der
Vorstellungskraft, gefolgt von einem schöpferischen Sprung nach vorn..."
(Koestler 1978:255)

Gefährlich wird es nur, wenn diese Prozesse ins Private gedrängt verbleiben.
Gerade rigorose und faschistische Systeme haben immer die Tendenz, das
Alienne Laval
Öffentliche bzw. die Öffentlichkeit zu verhindern und - da fremd und bedrohlich
- zu zerstören.
Kulturelles Schaffen ist, wie oben gesagt, auf den große Variabilität zulassenden
tertiären Codes angesiedelt. Es erhöht damit die Geschwindigkeit der
Modifikationen in der Humanevolution.3
Kennzeichnend ist die Reversibilität (s.a. Kramer 1987; Baudrillard 1983) aller
Prozesse auf dieser Ebene. Das bedeutet demnach Vorläufigkeit und ein
Ablassen von den auf das Finale fixierten Ideologien. Diese Einsicht fällt in
Europa, wo wir über Jahrhunderte das Leben in und das Bezogen-Sein auf starre
Muster gelernt haben, schwer:

"Auf die negativ entropisch wirkende Entregelung, die den Regress ins
Chaos wagt und ihre Autorität aus dem vom sozialen Kosmos als
Übermacht begriffenen Bereich bezieht, folgt der entropische Wunsch nach
Ordnung und der Homogenität eines von einer Macht - und sei sie auch nur
strukturales Prinzip - kontrollierten Paradieses." (Uchtmann 1991:169)

Eine wirkungsvolle Kulturpädagogik muss aber gerade hier ansetzen. Sie kann
nicht umhin, von der Prämisse auszugehen, dass 'Kultur' die treibende Kraft im
Prozeß der Humanevolution war und ist. Genau diesen Inhalt müßte sie
vermitteln. Die Vorgabe eines Ergebnisses wäre wiederum eine finale Fixierung.
Das Individuum ist anzusprechen, das bereit ist Intention/Intellekt zu
entwickeln. Eine Quantifizierung der Teilnahme durch großangelegte Entwürfe
und Raster schadet dabei der Qualität.

3 z.B.: das Efe/Gelede-Fest der Yoruba hat keinen anderen Sinn, als Geschehnisse der ersten
Wirklichkeit mit Hilfe der zweiten reversibel zu machen. Zu Beginn des Festes, das in der
Nacht beginnt, wird der Platz durch bestimmte, jenseitige (innere) Kräfte verkörpernde
Maskenträger gereinigt und auf die Ankunft der Wesen aus der anderen Welt vorbereitet. Es
wird dabei angenommen, dass diese Wesen mit dem Wind kommen und am Ende des Festes
mit dem Wind auch wieder gehen. Genauso wird aber davon ausgegangen, dass die realen
Unbilden mit dem Wind gekommen sind und am Ende des Festes von den Wesen der anderen
Welt mit dem Wind hinfortgenommen werden. Das Ganze ist profanerer Natur als man
zunächst denkt: Der 'Wind' bringt Veränderungen ins Land, die verstanden werden müssen,
damit mit ihnen umgegangen, damit auf sie reagiert werden kann. Dies sind nicht nur
Krankheiten, Mißernten usw., sondern auch die Einfuhr neuartiger Güter, Ideen, Kleidung,
Techniken und Arbeitsweisen.
Nach der das Fest eröffnenden Efe-Nacht tragen die Tänzer des nächsten Tages (Gelede) auf
ihren stereotypen, das Gesicht bedeckenden, Maskenunterteilen Aufbauten, die in
symbolischer oder realistischer Manier das Fremde und Neuartige darstellen (so können dort
neben traditionellen Motiven der Polizist, die Nähmaschine, der weiße Händler, das Auto, der
Heimcomputer etc. auftauchen).
Diese Form der Auseinandersetzung ist auf Reversibilität angelegt, die durch den Wind
symbolisiert wird. Das Skulpturelle dient der Anschauung, ist aber nicht Mittelpunkt. Der
Tanz ist dabei analog dem Wind. Es ist diese hohe Flexibilität, die das Überleben des Sozialen
bei gleichzeitiger Transformabliität sichert.
Alienne Laval
"Ob und wie es möglich wird, kulturelle Repressionen bloß dadurch, dass
man sie den Regressionen provokatorisch konfrontiert, rückgängig zu
machen, ist keine leichte Frage. Die konkrete Utopie sinnlicher und
geistiger Freiheit kann für den Künstler in der unfreien Gesellschaft nur
wie in einem Zerrspiegel erscheinen: eben in der häßlichen, negativen
Gestalt von Neurosen, Perversionen, von Unfreiheit und Versagung, von
Unrecht und Gewalt, die Gegenstand von Konsensaufkündigungen sind."
(Gorsen :236f)

Kultur meint eben keine reine Ästhetik, keine 'reine Schönheit ohne Wert'
(Bataille), sondern ein existentielles Tun, das auf Veränderung ausgerichtet ist.
Das Individuum muß hierbei zunächst einen kritischen Zustand durchlaufen, der
es außerhalb des Normativen stellt, ihm die 'Kunst' vermittelt, den Sinn von
Regeln zu hinterfragen. (s.a. Uchtmann 1991)
Selbst eine effektive Gruppendynamik ist auf Individuen, Kritik und
Widerspruch, nicht aber auf Allgemeinheit angewiesen; das gemeinsame,
soziale Werkeln darf nicht im Vordergrund stehen, nicht zum Inhalt werden.
Eine solche Kulturpädagogik setzt bei Betreibern und Teilnehmern die
Bereitschaft voraus, grundsätzliche kognitive und damit auch soziale
Veränderungen in Kauf zu nehmen.
Ein solches Unterfangen wird zwangsläufig den Charakter eines Experiments haben müssen. Experiment
bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, von außen steuernd in den Prozeß einzugreifen, sondern gemeinsam zu
lernen und zu erfahren, dass existentielle Realitäten gleichzeitig experimentelle Realitäten sind, denn: ohne den
Zeichengebrauch auf den tertiären Codes ist das psychische Überleben nicht gesichert.

Wer war Jesus?


Zur Kultursemiotik eines religiösen Phänomens

Die Kultursemiotik ist die Wissenschaft, die sich mit den von den Menschen in
der Entwicklung der Kulturen erfundenen Zeichenprozessen - den Semiosen -
und Zeichenräumen - den Semiosphären - beschäftigt.
Die semiotischen Wurzeln der Kultur finden sich in den Träumen und Spielen,
die man bei allen höheren Säugetieren nachweisen kann. Spätestens mit dem
Auftauchen der Kultur als originär menschlichem Phänomen kommen
psychische Devianzen, Drogengebrauch, Askese, Ekstase und symbolschaffende
Aktivitäten, also zeichenhafte Handlungsoperationen, hinzu.
Dieses Auftreten des Menschen als Kulturwesen übersteigt die Anforderungen,
die eine Organisation des bloß Lebensnotwendigen an das Mensch-Sein stellt.

Die ursprüngliche Kultur war die Gesellschaftsformation der Wildbeuter, jener


frühen, nur zeitweilig seßhaften Menschengruppen, die vom Jagen und
Sammeln lebten.
Alienne Laval
Die Forschung geht heute davon aus, dass sich hier Schamanen herausbildeten.
Die Schamanen machten die Wanderbewegungen ihrer Gruppen nicht nur mit,
sondern sie begaben sich darüber hinaus auch auf die Seelenwanderung.
Im Zustand der Trance konnten sie so an weit entfernte Orte reisen, die Zukunft
erkunden, sich in Himmel und Unterwelt begeben und auch in das Meer
hinabtauchen.

Die Doppelexistenz, die eigentlich jeder Mensch führt - indem er gleichzeitig


Teil der Natur und Teil der Kultur ist -, wird erst mit der zwillingshaften
Wahrnehmungsweise der Schamanen offenbar. Der Schamane kann von seinen
in der Trance gewonnenen Einsichten ausgehend aber auch gesellschaftliche
Ungerechtigkeiten, Asymmetrien und Hierarchien erkennen, kritisieren und
versuchen, Veränderungen durchzusetzen.

Dem Schamanen ist dabei klar, dass Welt und Mensch nicht statisch auf
bestimmte Formen festgelegt, sondern veränderlich sind.
Auch dann, wenn Nahrung gesammelt, gejagt, zerlegt, geteilt, gegessen, verdaut
und ausgeschieden oder ein verfallendes Lebewesen bei der Auflösung
beobachtet wird, wird eine Metamorphose offenbar, die auch vice versa, als
Entfaltung, als Umkehrung - Inversion - des Zerfallsprozesses, denkbar sein
müßte. Das Geschehen des Verfalls, der Zerstückelung, wird zur synthetischen
Leistung invertiert, die das Zerlegte vor dem Hintergrund einer besonderen
Situation in einem Mythos vereinigt und somit den Verfall aufhebt und
zumindest partiell - in einer Semiose - umkehrt. Mit dieser Inversion haben wir
den kulturgenerierenden Übergang von den rein zergliedernden und zerlegenden
Leistungen und Verfahren zur allein synthetisch begründbaren Dimension der
Kultur vorliegen.

Diese Wahrnehmungsweise wurde als mit den Naturkräften in Verbindung


stehend gedacht. Schamanische Fähigkeiten wurden in den Mythen häufig
dadurch dargestellt, dass man ihre Erlebnisse als die Abenteuer von
Zwillingspaaren tradierte.
Claude Lévi-Strauss schreibt, dass Zwillinge neben anderen Gaben über

"...die Fähigkeiten verfügten, Kranke zu heilen, günstige Winde zu wecken


und über Regen und Wind zu gebieten..."

Der eine Zwilling wird in den Mythen häufig als häuslich und sozial gedacht
und mit gekochten Nahrungsmitteln ernährt, während der andere in der Wildnis
lebt, der Natur nahe ist, sich von rohen Beeren, Bohnen und ähnlichem ernährt
und von den Tieren aufgezogen wird.
Der wilde Zwilling ist schelmischer und intelligenter als der häusliche und
verführt diesen dazu, das eingefriedete Terrain zu verlassen. Nach einigem Hin
und Her - unter anderem erlernen die Zwillinge die Kunst, sich gegenseitig
Alienne Laval
wieder zum Leben zu erwecken - beginnen sie gemeinsame Sache zu machen
und begründen neue Verfahrensweisen im Umgang mit den Menschen und den
Phänomenen der Welt.

Der Religionshistoriker Mircea Eliade gesteht dem Schamanen die Fähigkeiten


zu,

"...im Dunkeln zu sehen,...mit geschlossenen Augen Finsternisse zu


durchschauen und künftige Dinge und Ereignisse, die den anderen
Menschen verborgen sind, wahrzunehmen; so kann (...) (der Schamane)
ebenso die Zukunft erkennen wie die Geheimnisse der Mitmenschen."

Zu dieser Einsichtsfähigkeit und dem vorausschauenden, schlußfolgernden


Denken und Handeln gelangt der Schamane, indem er eine Initiation durchläuft,
wobei er seine imaginäre Zerstückelung, sein Sterben, die Auferstehung, die
Himmelsreise und eine magische Neugestaltung seines Körpers erlebt.
Der Ethnologe Joachim Sterly behauptet, dass der Schamane die Gewißheit des
Todes als eigenste äußerste Seinsmöglichkeit erfährt, deren verstehende
Übernahme in das eigene Dasein die Wurzel des Selbst- und Weltverständnisses
der Schamenenexistenz bildet. Das Phänomen der Geisterwelt zeigt sich ihm
nicht als ein vorhandenes Jenseits, sondern eher als eine Welt gewesener, zum
Dasein gehörender Möglichkeiten. Mit den Geistern kann der Schamane nur
verkehren, wenn er - vorlaufend in den Tod - die Freiheit und Macht erlangt, alle
vorher gewesenen Möglichkeiten eigens zu erschließen.

Für den Kultursemiotiker Ivan Bystrina werden die 'Todesbewußtheit' und damit
in ihrer Folge die 'Selbstbewußtheit' zu den die Kultur und damit das
Menschsein konstituierenden Faktoren schlechthin.

Was bei der Initiation tatsächlich stirbt, ist demnach die alte Weltauffassung des
Schamanen, die allein durch sein in Erziehung, Sozialisation und Anpassung
geformtes 'Ich' bestimmt war.
Forschende und kreative Zugänge zur Welt, wie wir sie noch heute in den
Künsten und Wissenschaften finden, haben ihren Ursprung in dem komplexen
Zusammenspiel der Zwillinge, das der der Linearität des sozialen Schicksals
entgegengesetzt wird.
Nach Sigmund Freud soll es daher zwei Formen von Sublimierung geben, die
das Wesen eines Menschen verfeinern können, wobei eine das Werk der
Erziehung ist und eine andere, 'niedere Form', die selbständig entsteht und deren
Beginn in die sexuelle Latenzperiode der Kindheit zu verlegen ist. Im
günstigsten Fall bleibt diese Form das ganze Leben hindurch erhalten.
Diese niedere Form ist es, die nicht in den Bereich des Sozialen paßt, da sie
vom Sozialen aus gesehen zufällig entsteht und nicht kontrollierbar ist. Da diese
Alienne Laval
Form der Sublimierung aber auch nicht in die Natur gehört, obwohl sie eine
wilde Form ist, gilt sie als gefährlich, aber auch als heilig.

Die Freuden am Schaffen, die Künstler und Forscher empfinden, sagt Sigmund
Freud in seinem Werk Das Unbehagen in der Kultur, erscheinen uns feiner und
höher, da sie diese besondere Qualität haben.

Die Initiation, in der der Schamane lernt, seinen wilden Aspekt oder Zwilling
mit dem sozialen Aspekt oder Zwilling zusammen zu bringen, vollzieht sich in
drei Schritten, deren erster die Trennung vom Sozialen, die Separation, bedeutet.
Auf diesen folgt eine Zeit der Absonderung, der Marginalität, die der Initiand
alleine in der Wildnis verbringt. Der letzte Schritt, der auch die Initiation
öffentlich macht, ist das Auftreten in der neuen Rolle, die Aggregation.
Im Falle des Jesus von Nazaret waren dies die Taufe durch Johannes im Jordan,
sein Wüstenaufenthalt und die Aufnahme seiner Tätigkeit als Wanderprediger

Nach der Darstellung des zeitgenössischen Historikers Josephus verstand


Johannes die Taufe nicht als magischen Ritus. Für ihn hatte die Taufe nichts mit
der Vergebung der Sünden zu tun, sondern war physisches Symbol einer bereits
hergestellten Realität, auf deren Einbruch man nur zu warten brauchte.

Diese Realität war für Johannes das Kommen des von den Propheten
angekündigten wahren Messias im Verbund mit einem rächenden,
apokalyptischen Gott. Die Taufe des Johannes bereitete die Getauften passiv auf
das apokalyptisch erwartete und herbeigesehnte Reich Gottes vor, war also kein
Initiationsgeschehen.
Es befreite die Getauften nicht von ihrem Unwissen, sondern beließ sie in einer
passiven Abhängigkeit, wobei hier allerdings die Abhängigkeit von den
römischen Besatzern auf das kommende himmlische Reich übertragen wurde.

Jesus, der aber als Handelnder auftreten und aktiv in das Geschehen eingreifen
wollte, stand gegen die Apokalyptik des Johannes. Im Gegensatz zu ihm, der mit
Wasser taufte, wurde die Taufe durch Jesus mit dem Feuer in Verbindung
gebracht.
Bei dem Taufgeschehen zeigte sich der Geist, der aus dem Himmel kommt, als
Taube.

In einem Mythos der siberischen Burjaten war es der Adler, der ausgeschickt
wurde, um dem ersten Menschen, dem er begegnete, egal welchen Geschlechts,
Lebenskraft und Allweisheit zu übermitteln. In diesem Mythos war es eine Frau,
der der Adler begegnete und die damit zur ersten Schamanin wurde.
Der Adler spielt in vielen Kulturen des nordasiatischen Raumes und
Nordamerikas die Rolle des Kulturbringers. Außerdem ist er Beschützer und
Leitwesen der in Trance reisenden Schamanen.
Alienne Laval
Der Adler gilt aber auch als Symbol Christi und es gibt die Vorstellung vom
Kampf des Adlers mit der Schlange, als Symbol des Kampfes Christus mit dem
Satan, des Lichtes mit der Finsternis.

Der Kulturphilosoph Jean Baudrillard hat treffend zusammengefasst, was Jesus


in der Wüste durchlebte oder - was ganz allgemein - ein Asket in seiner
Abgeschiedenheit eigentlich treibt. Der Initiand, der selber noch nicht frei ist
von den gesellschaftlichen und symbolischen Zwängen, versucht dabei, das
herrschende Äquivalenzsystem der jenseitigen und diesseitigen Bedrohungen,
Strafen und Belohnungen samt seiner Machtverteilung und den geltenden
Gottheiten außer Kraft zu setzen. Erst dann kann der Initiierte als Individuum
und damit störend in dem auf Ausgleich angelegten Getriebe des Systems
wirken.

Baudrillard schreibt:

"So fordert der Asket, der sich abtötet, Gott heraus, ihm stets das
Äquivalent zu geben. Gott tut, was er kann, um es ihm 'hundertfach'
zurückzuerstatten, in der Form des Prestiges, der spirituellen Macht und gar
der weltlichen Herrschaft. Aber der geheime Traum des Asketen ist der, an
einen solchen Punkt der Abtötung zu gelangen, dass sogar Gott die
Herausforderung nicht mehr annehmen und seine Schuld tilgen kann. Er
wird dann über Gott selbst triumphiert haben, und er wird Gott sein.
Deshalb ist der Asket nie weit von der Häresie und dem Sakrileg entfernt
und wird als solcher von der Kirche verdammt, die nur dazu da ist, Gott vor
diesem symbolischen 'Auge in Auge' zu bewahren, vor dieser tödlichen
Herausforderung, in der Gott genötigt wird, zu sterben, sich zu opfern, um
die Herausforderung des Sichabtötenden anzunehmen. Zu allen Zeiten wird
die Kirche die Aufgabe gehabt haben, diese Art einer (zuerst für sie)
katastrophischen Konfrontation zu vermeiden und durch einen geregelten
Austausch von Bußen und Belohnungen zu ersetzen, durch ein
Äquivalentensystem zwischen Gott und den Menschen, das sie selbst
verwalten würde."

Baudrillard ist hier misszuverstehen, denn der Asket fordert immer die jeweils
herrschende Gottheit, also den Zeitgeist heraus. An anderer Stelle wird
deutlicher, was er meint:

"Alle Institutionen, alle gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und


psychologischen Vermittlungsinstanzen sind nur dazu da, dass nie jemand
mehr Geglegenheit bekommt zu dieser symbolischen Herausforderung zum
Tode, dieser irreversiblen Gabe, die wie die absolute Selbstabtötung des
Asketen über jede Macht triumphieren läßt, wie stark ihr Einfluß auch
Alienne Laval
wäre. Diese direkte Konfrontation darf niemals...stattfinden. Alles muß
ausgehandelt werden."

Aus der vor der Initiation unkontrollierten und von außen beeinflußten oder
gelenkten Dissoziiertheit, einer Art geistiger Apartheid der zwillingshaften
Komponenten, wird in der Initiation die bewußte Bisoziation oder
Zusammenschau dieser beiden, vorher getrennten Kontexte.
Den Begriff der Bisoziation leitete der Kulturphilosoph Arthur Koestler von
dem psychologischen Ausdruck der Assoziation ab, der ihm als zu linear
erschien, um das Komplexe des menschlichen Seins zu erfassen.

Diese Fertigkeit dient vornehmlich nicht der Einübung von Anpassungen,


sondern sie gestattet die Entdeckung und Einführung neuer Praktiken im
Umgang mit dem Sozialen und der Umwelt.

Um die Zeit von Jesus' Geburt hatte es bereits eine Reihe von Bauernaufständen
gegen die römischen Besatzer gegeben. Die Bauern wehrten sich gegen die
hohen Steuern und die Schuldknechtschaft, die sie in zunehmende Armut und
schließlich zum Verlust ihres Ackerlandes führte.

Drei Viertel der Einwohner der Stadt Rom waren Sklaven oder Nachkommen
von Sklaven. Nach römischem Recht waren diese Menschen Sachen, die weder
das Recht zur Eheschließung, noch das Recht hatten, vor Gericht zu klagen.
Das Dorf Nazaret, in dem Jesus aufwuchs, lag an einer der verkehrsreichsten
Handelsstraßen Palästinas, sieben Kilometer von der römischen
Provinzhauptstadt Sepphoris (Sefforis) entfernt.
Sepphoris - mit seinen 30 000 Einwohnern - eine Großstadt, war Gerichtssitz,
hatte ein Theater mit 4000 Sitzplätzen, Paläste, Märkte, Archive, eine königliche
Bank, ein Zeughaus.

Das Weltbild der Bevölkerung Palästinas im ersten Jahrhundert unserer


Zeitrechnung war aber nicht nur von solchen Faktoren geprägt. Der
Religionswissenschaftler Morton Smith schreibt:

"Über der Erde gab es Himmel, bewohnt von Dämonen, Engeln und
Göttern verschiedener Art (die 'vielen Götter', deren Existenz Paulus in
1.Kor.8.5 einräumte und zu denen er den 'Gott dieses Zeitalters' rechnete
2.Kor.4.4). Im höchsten Himmel thronte der oberste Gott, Jahwe, 'Gott' par
excellence, der lange zuvor den ganzen Kosmos erschaffen hatte und der
im Begriff war, ihn umzuformen oder zu zerstören und zu ersetzen. Unter
der Erde existierte eine Unterwelt, zu welcher die meisten der Toten
hinabstiegen. Auch dort gab es Dämonen. Zwischen Unterwelt, Erde und
Himmel herrschte ein ständiges Kommen und Gehen übernatürlicher
Wesen, die sich auf vielerlei Weise in menschliche Angelegenheiten
Alienne Laval
einmischten. Krankheit, vornehmlich Wahnsinn, Seuchen, Hungersnöte,
Erdbeben, Kriege und Katastrophen aller Art hielt man allgemein für das
Werk von Dämonen. Wie mit üblen Menschen, besonders mit
ausländischen Unterdrückern, lebbten die Bauern Palästinas mit diesen
Dämonen in ständiger Feindschaft und gelegentlichem Konflikt, doch die
Beziehungen waren komplex. Wie die römische Regierung ihre jüdischen
Agenten hatte, von denen einige, vornehmlich die Herodes, lokale
Herrscher waren, so hatten die Dämonen ihre menschlichen Agenten, die
Wunder verrichten und dadurch viele irreführen konnten. Die niedrigeren
Götter waren die Herrscher dieses Zeitalters, und Menschen, die sich
darauf verstanden, sie anzurufen, konnten ihre Hilfe für Zwecke aller Art
erlangen. So etwa Frauen, deren Gunst sie dadurch belohnt hatten, dass sie
ihnen Magie und andere Künste des höheren Lebens beibrachten.
Andererseits war oftmals Jahwe, wie die Dämonen, die Ursache von
Katastrophen, Krankheiten und dergleichen, die er als Strafen
herabschickte. Zuweilen setzte er Engel, zuweilen Dämonen als Agenten
seines Zornes ein, und seine menschlichen Agenten, die Propheten,
konnten ebenso Schaden zufügen, wie sie helfen konnten. Die meisten
Juden waren überzeugt, dass er zuletzt die Welt vernichten oder die
gegenwärtige Welt umformen und eine neue Ordnung schaffen werde, in
der die Juden oder zumindest diejenigen, die sein Gesetz befolgt hatten, ein
besseres Leben hätten. Allerdings herrschte tiefe Uneinigkeit über den
Gang der Ereignisse und über die Akteure in der kommenden Katastrophe;
eine reichliche Anzahl widersprüchlicher Programme war in Umlauf: mit
verschiedenen Rollen für einen oder mehrere 'Messiasse' - Sondervertreter
Jahwes -, Antimessiasse und verschiedenartige mythologische Ungeheuer.
Wir dürfen vermuten, dass nahezu alle palästinensischen Juden der Zeit
Jesu von sich annahmen, sie seien in das mythologische kosmische Drama
verwickelt."

Jesus wuchs auf in diesem Spannungsfeld zwischen den Herrschenden in den


Metropolen, die die Symmetrie und damit Macht und Recht für sich
reklamierten und den Beherrschten, die ausgeschlossen von der Teilhabe waren.

Nach der Ansicht Morton Smith' hatte Jesus schon früh soziale Schwierigkeiten
und zeigte Verhaltensauffälligkeiten.

Während die Kunst der Stadtzivilisationen immer weiter zum Statischen,


Soliden und Symmetrischen tendierte, zeigte das politische, soziale,
mythologische und kosmische Drama Züge, die immer asymmetrischer wurden.

Diese Entwicklung deutete sich früh in der Kulturgeschichte mit der Gründung
fester Siedlungsplätze und Dörfer an, die häufig in eine untere und eine obere
Hälfte unterteilt waren. Die obere Hälfte wurde dann mit den herrschaftlichen
Alienne Laval
Elementen Himmel und Feuer in Verbindung gesehen, die untere mit den
Elementen Erde und Wasser, die auf körperliche Arbeiten, wie Ackerbau und
Fischfang, hinwiesen.

Bis in die gesellschaftlichen Vorstellungen des dritten Reiches, in der


Vernichtung der Juden, Andersdenkender- und empfindender und in den
architektonischen Utopien Hitlers, die in dem monumentalen Entwurf eines
neuen Berlin, das dann Germania heißen sollte, gipfelten, findet sich diese
Aufteilung wieder.

Der Religionswissenschaftler John Dominic Crossan hat das Palästina vor und
zu der Zeit Jesu als Reich der Mittler beschrieben.
Die Mittler waren Anwälte, Günstlinge der Mächtigen, Personen mit
gesellschaftlichem oder wirtschaftlichem Ansehen.
Die Bevölkerung des römischen Reiches - das galt auch für Palästina - ließ sich
in zwei Hauptklassen einteilen: die Ehrwürdigen und die Demütigen. Während
die obere Klasse der Herrschenden und Besitzenden sehr klein war, war die
untere Klasse der Beherrschten und Besitzlosen außerordentlich groß und wuchs
durch die zunehmende Verarmung noch weiter an.
Ein direkter Kontakt zwischen beiden Klassen war nicht möglich, sondern
mußte von einem Dritten vermittelt werden.
Dieses Patronats- und Klientenwesen wirkte aber nicht nur in der Sphäre der
sozialen Beziehungen und der politischen Organisation.
Auch Himmel, Erde, Unterwelt und ihre Verpflechtungen und Übergänge waren
in dieser Weise organisiert.
Jeder, der in dieses System eingebunden war, von den Reichen bis hin zu den
Armen und Sklaven war auf das symmetrisierende Zentrum bezogen.

Freiheit konnte daher theoretisch nur erlangt werden in der bewußten Abkehr
und Abwendung von den Verflechtungen, Beziehungen und gesellschaftlichen
Hierarchien.

Es war das Versagen der realen Vermittler , welches in der Bevölkerung


Palästinas ein Vakuum erzeugte, das virtuelle Vermittler, Orakeldeuter,
Bezeichner und Interpreten wie Zauberpriester, Wahrsager, Propheten,
Apokalyptiker und Messiasse füllen konnten.
Diese virtuellen Vermittler nutzten die Gegebenheiten aus und waren in der
Regel nicht an der Freiheit ihrer Klienten interessiert. Stattdessen erzeugten sie
neue Abhängigkeiten.
Jesus hingegen - und das war wohl das Neue - ging es zunächst um die
Vermittlung von Würde.
Alienne Laval
Der entscheidende Widerspruch, den Jesus und seine Anhänger den römischen
Zentralisierungs- und Symmetrisierungsbestrebungen entgegensetzten, bestand
in ihrer geographischen und demographischen Beweglichkeit.
Das entstehende Christentum reagierte auf die Statik mit einer
Hirtenmetaphorik, die der früheren bewegungsgebundenen Lebensform der
Hirtennomaden wieder näherkam und der jüdischen Religion entlehnt war.
Hierdurch kommt der Faktor der Narration - der Erzählung - der für kulturelle
Entwicklung besonders wichtig ist, wiederum zum Tragen.
Gehen und Schaffen, Wandern und Erzählen sind Formen, die Gemeinsamkeiten
haben. Beide finden in der Zeit statt. Im Verlauf der Zeit verändern sich die
Landschaften und Geschichten entwickeln sich. Ernst Bloch hat einmal von der
Reiseform des Wissens und vom Prozeßcharakter der Materie gesprochen.
Auch die Bundeslade, die die Gesetzestafeln mit den zehn Geboten enthielt und
den mosaischen Bund mit Gott repräsentierte, war tragbar. Sie wurde bei der
Migration mitgeführt und bei Bedarf in einem speziellen Zelt aufgestellt.
Diese 'Reiseform' wird mit der Gründung fester Siedlungen und der
Verstädterung einerseits zu einem Moment der Ausgegrenzten und der bis in die
Besitzlosigkeit verarmten Unterschichten, andererseits aber auch zum Modus
des Wissens und damit der Flexibilität, den sich die in den Städten
Herrschenden bewahren, während sie sich hinter den Monumentalbauten
verschanzt halten.

Die Beweglichkeit der Ausgegrenzten ist aber nur geduldet, so lange sie sich
von oben bewegen lassen. Auch die Arbeitsmigration, die im Palästina der
römischen Zeit üblich war, gehört zu den erwünschten oder geduldeten
Bewegungen.
Irregulär und tabuisiert ist die Beweglichkeit dann, wenn die Menschen
beginnen, sich selbständig zu bewegen und eine neue Ausdifferenzierung der
Gesellschaft fordern. Damit maßen sie sich Wissen an, das ihnen nicht gestattet
ist.
Aber auch in den großen Religionen - der jüdischen, christlichen, islamischen,
zoroastrischen und buddhistischen - die unter seßhaften Völkern gepredigt
wurden, die von wandernden Gruppen abstammten und später Hirten-Nomaden
waren, blieb dieses Gedankengut erhalten. Ihr Zeremoniell ist immer noch reich
an Hirtenmetaphern, ihre Prozessionen und Pilgerreisen sind Nachahmungen
von Hirtenwanderungen.

Der Reiseschriftsteller Bruce Chatwin sagte über die nomadischen Kunst, dass
sie dazu tendiere, tragbar, asymmetrisch, dissonant, rastlos, entkörperlicht und
intuitiv zu sein.

Die nomadische Kunst oder nomadisierende, oral vermittelte Texte offenbaren


dadurch ein dynamisches Potential, das eine Sprengkraft entwickelt, die auch
den Metropolen gefährlich werden kann.
Alienne Laval
Was Jesus und seine Anhänger machten, kann daher als ein Rückgriff in
kulturevolutionär ältere Schichten gesehen werden. Sie bedienten sich
archaischer Verfahrensweisen, da nur diese Regression imstande schien, den
römischen Staatsapparat auszuhebeln und zu entregeln.
Hierbei hatten sie kein Interesse daran, den Machtapparat zu übernehmen. Sie
wollten lediglich den Geist aus ihm herausziehen, ihn dazu zwingen, den Geist
aufzugeben, um ihn auf diese Weise subversiv auszuhöhlen.
Das Leben des wandernden Predigers nahm das Motiv der schamanischen
Seelenreisen wieder auf, und die bewegungsgebundene Lebensweise
reaktivierte die alte, nomadische, zur Metaphorik gewordene, Weltsicht als
selbstbesimmte Lebensmöglichkeit.

Hinzu kam eine Wertumkehr, in der er die herrschende Wertehierarchie


vollkommen auf den Kopf gestellt und invertiert wurde. Das Verbot von
Eheschließungen, das für Sklaven galt, wurde von Jesus als positiv gesetzt.
Familienbindungen, die Sklaven sowieso nicht hatten, wurden von ihm als
unsinnig erklärt.

Die Revolte für das Leben, für welche die frühen Christen Folter und Tod in
Kauf nahmen, ist ein jenseitiger Akt, der von Mächten, die außerhalb der
Verwaltung stehen, legitimiert wird.
Jesus von Nazaret war zu Lebzeiten jenseitig orientiert und konnte erst durch
seine Kreuzuigung diesseitig und bildhaft festgesetzt werden. Als nun seßhafter
Vermittler sitzt er zur Rechten Gottes, da das, was er einst tat, niemals wieder
stattfinden darf.
Aber sein anderer Aspekt ersteht mit jedem Menschen wieder auf, der sich
gegen Ungerechtigkeiten stemmt, die Gegebenheiten nicht einfach fraglos
hinnimmt und sich neugierig und forschend auf das Angebot des wilden
Zwillings einläßt.

Gerade in individuellen oder kollektiven Krisenzeiten werden die archaischen


Verfahren reaktiviert, um Freiheiten wiederzuerlangen, die vorher genommen
waren. Eine ausweglose Situation kann so umgangen werden, die Eingleisigkeit
des vorherbestimmten Schicksals beseitigt werden.
Das schamanische Erleben, das einer statisch und unflexibel gewordenen
Ordnung entgegengesetzt wird, die die Menschen an der Entfaltung ihrer
Möglichkeiten hindert, wird zeitgemäß bleiben, so lange der dynamische, wilde
Aspekt des Menschseins als unerwünscht gilt.
Statische Systeme entwickeln sich nicht, haben keine Evolution. Das
Dynamische ist unausrottbar, da es eine kardinale Eigenschaft des Lebens ist,
die immer wieder auf das Statische einwirken und versuchen wird, es zu
verändern.
Alienne Laval
Wenn diese Einwirkung - sei es nun durch sozialen Druck, mediale
Beeinflussung oder Unterdrückung von oben - nicht zugelassen wird, wird sich
die Dynamik immer wieder revolutionär entladen.

Vision, Prophezeiung und Prognose


Von der Utopie zur Zukunft

Was das Unerschlossene - wir Modernen sagen: die Zukunft - bringen mag,
darüber haben sich die Menschen schon zu allen Zeiten Gedanken gemacht.
Dieser Bereich muß sich aber nicht grundsätzlich vor uns in der Zeit, im Morgen
oder Übermorgen befinden, es kann sich auch um ein glorifiziertes Gestern, eine
goldene Zeit, handeln. Er kann aber auch als weit entfernter Ort im Raum
gelegen sein, der nur durch mühselige Reisen und Fahrten zu erreichen ist.

Für den Helden Gilgamesch des gleichnamigen sumerisch-babylonischen Epos,


dessen älteste Spuren bis in das Jahr 2000 vor unserer Zeitrechnung
zurückreichen, lag dieser Ort weit zurück in der Vergangenheit, im Zeitalter der
unsterblichen Götter. Gilgamesch hoffte, an diesem Ort Unsterblichkeit für sich
und seinen verstorbenen Freund Enkidu zu erlangen, dessen Tod ihn mit
Schmerz und Trauer erfüllte.
Alienne Laval
Enkidu war der wilde, unberechenbare und behaarte Mensch, der noch in
Eintracht mit dem Göttlichen in den Wäldern lebte und von der Endlichkeit des
Lebens nicht viel wußte. Das Zeitalter dieser Menschen ging mit der Gründung
der ersten Stadtzivilisationen im Zweistromland und dem massiven Aufschwung
von Ackerbau und Technik zu Ende. Diese Städte waren von Mauern umgeben,
die sie wie Inseln vom Umland abgrenzten.
Der Preis für diese Änderung des Lebensstils war aber auch die Erkenntnis der
Begrenztheit des 'Ich' und damit der eigenen Sterblichkeit.
Gilgamesch war ein Mensch dieses neuen Typs und sich deshalb des Todes
seines Freundes und der Möglichkeit des eigenen Todes bewußt. Das
aufkommende Selbstbewußtsein aber stellte sich mit Gilgamesch gegen das
Todesbewußtsein und verlangte das ewige Leben zurück.

Hilfe versprach er sich von dem Sintfluthelden Utnapischtim. Utnapishtim


entspricht dem Noah der Bibel und hat, ebenso wie dieser, eine Arche gebaut,
um die Sintflut zu überleben, als die Mehrzahl der Götter beschlossen hatte, das
Menschengeschlecht zu vernichten. Doch ein neuer Himmel tat sich auf, eine
neue Welt war im Begriff sich zu bilden und mit ihr kamen neue Götter, denn
einige Götter hielten sich nicht an diesen Beschluß und warnten Utnapishtim:

"Reiß ab das Haus, erbau ein Schiff,


Laß fahren Reichtum, dem Leben jag nach!
Besitz gib auf, der Seele erhalt das Leben!
Heb hinein allerlei beseelten Samen ins Schiff!"

Die Arche, die Utnapishtim baute, war aber kein gewöhnliches Schiff: sie war
ein perfekter Würfel mit sieben Ebenen. Der Würfel ist die Arche - also der
Ursprung - eines neuen Zeitalters, das unter dem Primat der Berechnung steht
und zunächst die Architektur, den Städtebau, die Landvermessung, die
Grenzziehung und stehende Heere hervorgebracht hat.
Auch unsere Gegenwart steht unter dem Zeichen des Würfels, denn auch die
Mathematik und die Technik haben hier ihren Ursprung.

Für diese Tat verliehen die Götter Utnapischtim das ewige Leben. Eine weit im
Osten gelegene Insel gaben sie ihm und seiner Frau zum Wohnsitz.
Um dorthin zu gelangen, mußte Gilgamesch die Wasser der Sintflut, die
gleichzeitig die Wasser des Todes sind, durchqueren.
Als er angekommen war, gab Utnapishtim Gilgamesch die Empfehlung, sich mit
der neuen Zeit zu arrangieren und zum Leben zurückzukehren.
Im Gilgamesch-Epos heißt es:

"Utnapischtim sprach zu ihm, zu Gilgamesch:


'Warum, Gilgamesch, vermehrst du die Klage,
Der du aus Fleisch der Götter und Menschen
Alienne Laval
herrlich gestaltet bist?'"

Utnapischtim erläuterte Gilgamesch, dass er gleichermaßen aus göttlichen und


menschlichen Anteilen gemacht sei, dass er genauso physisch wie psychisch
existiere. Keinen der beiden Aspekte dürfe er vernachlässigen, da er sonst sein
Leben einbüße.

Der Geschichtsphilosoph Giambattista Vico, der am Übergang des 17. zum 18.
Jahrhundert in Italien lebte, hat versucht den Verlauf der Geschichte anhand
derartiger Mythen zu systematisieren und zu bestimmen.
Vico nahm die alte, ägyptische Vorstellung von den drei aufeinanderfolgenden
Zeitaltern auf - dem der Götter, dem der Helden und dem der Menschen - und
erweiterte sie um ein viertes Zeitalter, das des Chaos, in dem wir uns auch heute
wieder befinden.
Mit der Entwicklung vom göttlichen Zeitalter zu dem des Chaos geht nach Vico
ein Verlust der Sprache einher, die sich von der hieroglyphischen oder heiligen
Sprache über die symbolische oder figurative Sprache bis hin zur vulgären
Sprache verändert, die nur noch Zeichen benutzt, um die alltäglichen
Bedürfnisse des Lebens mitzuteilen. Nach Vicos Ansicht werden sich die
Verwirrungen des chaotischen Zeitalters, das unter dem Merkmal der Spirale
steht, erst in einem neuen Zeitalter der Götter auflösen. Dieses wird als
Kennzeichen die Gerade haben, also die Richtungslosigkeit aufheben.

Vico begreift die geschichtliche Entwicklung als ein System, das er durch die
Wirkungsweise des Menschen zu begründen versucht, dessen Leben als
zwischen zwei Polen - Materie und Geist - aufgespannt erscheint.
Die Menschwerdung wird Vico zu einem Abstieg in die Materie, der nur in einer
Entmenschlichung - also im Chaos - enden kann.
Auf die größtmögliche Annäherung an die Materie im Zeitalter des Chaos muß
nach der Auffassung Vicos aber der Wiederaufstieg des Geistes im Zeitalter der
Götter folgen.

Diese Mythen und ihre Interpretationen thematisieren die Angst des Menschen
vor dem Verlust der Seele und ihrer möglichen Auflösung in der Materie.

Jeder Art von Prophezeiung, vom Johannes der biblischen Offenbarung über
Nostradamus bis hin zu Karl Marx, liegt ein derartiges oder ähnliches System
der Seelenrettung zugrunde, in das die Wahrnehmungen eingeordnet und in dem
sie bewertet werden, denn das Unerschlossene selbst ist für den Menschen
unaushaltbar.
Der Mensch hat daher immer gehofft, dass dort irgendwo in der Ferne ein Ort
sein müsse, der die Widersprüche und Ungerechtigkeiten, die ihm das Leben
schon so beschert - vor allem aber den Fluch des Geboren-Seins und die mit
Alienne Laval
ihm verbundenen Verwicklungen und Komplexe bis hin zum unabwendbaren
Sterben -, außer Kraft setzen müsse.
Früher gehörte der Umgang mit Leben und Tod in den Bereich der Religion;
inzwischen hat sich aber die Wissenschafts-Technik dieser Thematik
bemächtigt.
Ein wirkungsmächtiger Umgang mit dem Bereich des Unerschlossenen war
daher oft ergriffenen und entschlossenen Personen oder religiösen Spezialisten
vorbehalten. Von den schamanischen Visionären und den Propheten der
Religionen bis hin zu den astrologischen Berechnungen und den modernen
Prognosen der Zukunftsforscher läßt sich der Stammbaum der Zukunftsdeuter
rekonstruieren.

Die Entwicklung von der Vision zur Prognose ist aber verbunden mit einer
anderen, nämlich der von der Utopie zur Zukunft, die sich mit der
würfelförmigen Arche des Utnapischtim bereits andeutet. Es sind dabei nicht
nur alte Begriffe durch moderne ersetzt worden, sondern die neuen Begriffe
beschreiben auch ganz andere Haltungen und Erwartungen als die alten.

Die Utopie hat zu tun mit den Märchen, Mythen und den Hoffnungen, die sie
seit grauer Vorzeit veranschaulichen. Sie ist in Visionen und Träumen
entstanden und erlebt worden und hat die Entwicklung des Menschen lange
begleitet.
In der Regel machen die Helden der Märchen und Mythen lange Reisen, auf
denen sie gegen Ungeheuer zu kämpfen und schwere Rätsel zu lösen haben.
Diese Reisen finden aber mehr in einem inneren und geistigen Bereich statt als
in der realen Außenwelt.
Zu diesen Seelenreisen zählen die Fahrten des Gilgamesch und des Odyseeus,
die zu den Grundlagen der abendländischen Kultur wurden. Das Epos, das von
den Abenteuern des Gilgamesch handelt, beeinflußte die Entwicklung der
Kunstform der Literatur bis in unsere Gegenwart. Homers Epos Die Odyssee
zählt zu den Gründungsmythen der athenischen Demokratie.

Während es sich bei den utopischen Seelenreisen um Visionen handelt, so


systematisiert die Prophezeiung das Gesehene, fügt es zu Zyklen und versucht,
es berechenbar zu machen und bildet den Übergang von der Vision zu den
modernen Verfahren der Zukunftsbestimmung.

Die Prognostik, die sich aus der naturwissenschaftlichen Methodik ableitet,


wurde im Laufe der Zeit zunehmend auch auf Phänomene der sozialen und
ökonomischen Entwicklung angewendet. Die Prognostik will empirisch arbeiten
und kommt daher, im Gegensatz zur Vision oder Prophezeiung, ohne die
Begriffe 'Geist' oder 'Seele' aus.
Alienne Laval
Entscheidend ist, dass beide Wahrnehmungsweisen - die visionäre und die
prognostische - unterschiedlichen Bereichen des menschlichen Seins
entstammen. Während die erstere ihre Begründung in den Träumen und der
Introspektion findet, läßt sich die letztere ableiten von dem Umgang der
Menschen mit den Gegebenheiten der Umwelt.

Der Mensch existiert demnach in zwei Wirklichkeitsbereichen. Das sind zum


einen der Bereich des Alltagsbewußtseins und des Gebrauchsverhaltens - der das
physische Überleben sichert - und zum anderen der Bereich des
Kulturverhaltens, der das psychische und seelische Überleben garantiert.

Die Gegensätzlichkeit dieser Wirklichkeitsbereiche - und das wußte schon


Utnapischtim - macht den Effekt aus, den wir Realität nennen. Bei allem was
wir tun, müssen wir also immer beide Wirklichkeitsbereiche mitberücksichtigen.

Doch hierbei ergibt sich ein Problem, denn Vision und Prophezeiung haben, wie
auch die Prognose, die Tendenz, diesen Effekt einseitig aufzuheben. Während
Vision und Prophezeiung Utopien entwerfen, die letztendlich die physische
Realität negieren und zur Verleugnung alles Körperlichen führen können,
versucht die Prognose das Kulturelle und Psychische außer Kraft zu setzen, um
die Zukunft in eine bestehende Gegenwart einzugemeinden.

Beide Absichten führen in ihren extremen Ausprägungen zur Bildung von


Ideologien, formulieren also Machtansprüche und gehen - im individuellen oder
kollektiven Fall - der Realität verlustig.

Wir vertrauen heute eher den Prognosen als den Visionen und Prophezeiungen,
da wir an ein naturwissenschaftliches Weltbild gewöhnt sind. Unsere Zukunft
erscheint uns als allein mit unserem Gebrauchsverhalten und Alltagsbewußtsein
angehbar und machbar.
Die Schlüssel zur Zukunft sind - so glauben wir - nüchterne Überlegung und
Planung, die uns einen geregelten Übergang ermöglichen werden. Diese
Planung ist nicht nur das Kennzeichen technologischer oder ökonomischer
Ansätze, sondern auch von fortschrittlich-ökologischen Bemühungen, die zwar
der klassischen Ökonomie entgegenstehen, sich aber dennoch von ihr ableiten
und eine Gegenrechung aufmachen.

Bislang ist es nicht gelungen, Seele oder Psyche im Labor zu isolieren, und das
bedeutet, dass sie u-topisch - also nicht-örtlich - und keineswegs empirisch sind:
sie zeigen sich uns nur in Form von Wirkungen. Die Wirkungen haben
Textcharakter: hierzu gehören Märchen, Mythen, Kunstwerke, Literatur, Tanz,
Theater, wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwürfe, Religionen und
Philosophien. Umgekehrt sind es diese Texte, die Menschen zur Seelenhaftigkeit
anregen oder ihre Seelen beflügeln.
Alienne Laval
Die Ortlosigkeit der Seele wird in der empirischen und quantitativen Forschung
durch ihre Nicht-Existenz begründet. In den einschlägigen Erklärungen wird die
Seele zur Funktion und durch biologische und psycho-soziale Zusammenhänge
ersetzt, die gestört oder ungestört ablaufen können.

Die Entindividualisierung und der Seelenverlust, die sich im Geleit dieser


Entwicklung ergeben, führen zu Verhaltensunsicherheit, Mißtrauen, Angst und
zu einem Verlust charakterlicher Merkmale, der deshalb so unauffällig ist, da er
heute fast alle Menschen betrifft. In der Regel ist nicht Kritikfähigkeit die Folge
dieses Geschehens, sondern die Konkurrenz unter Gleichen und die gegenseitige
Kontrolle des Lebensstils, der Einstellungen und des Verhaltens.
Obwohl die Menschen unter dieser Art der Gestaltung des Lebens leiden,
müssen die Selbstkritik und die Kritik von außen ausgeschaltet bleiben, damit
sie ungestört an diesem Rausch teilhaben können.

Da die Psyche eine Utopie ist, kann sie in diesen Systemen, die nichts anderes
als ihre Unterdrückung und Austreibung im Schilde führen, auch nicht mehr
auftauchen; ebenso ergeht es den Texten, in denen sie sich entäußert. Kulturelle
Texte werden zunehmend abgelöst durch Bedienungsanleitungen und reine
Gebrauchstexte, die an der sozialen Realität kleben und niemanden mehr dazu
erheben, über den Tellerrand zu gucken.
Das Tagesgeschehen und die Gespräche handeln hauptsächlich von der
Organisation des Banalen. Die Verrichtungen, um die sich alles dreht, sind
Essen, Trinken, Fernsehen, Bekleidung, Kinderaufzucht, Sport und Arbeit. Es
gibt keinen Sinn mehr hinter diesen Funktionen; sie finden ihre Begründung nur
noch in sich selbst. Ihr Ziel ist der reine Selbsterhalt dieser Tätigkeiten und ihre
Vererbung von der einen Generation auf die nächste; es gibt keine Utopie mehr.

Jede Leistung oder Handlung, die wir erbringen, bleibt jedoch auf die Utopie
geworfen, wenn sie einen Sinn haben soll.

Wie ein System beschaffen ist, das beiden Wirklichkeiten Rechnung trägt, kann
am Beispiel des Kula-Ring-Tausches der Bewohner der melanesischen
Trobriand-Inseln verdeutlicht werden.
Das Kula war eine Form des symbolischen Tauschhandels zwischen den
Bevölkerungen eines großen Gebietes, die einen weiten Ring von Inseln im
Norden und Osten der Ostspitze Neuguineas und auch Dörfer am Ostkap
Neuguineas bewohnten.

Die Trobriander veranstalteten noch in diesem Jahrhundert alljährliche


Seefahrten, bei denen werttragende Halsketten aus roten Muschelscheiben im
Ring der Kula-Inseln in der einen Richtung fortgegeben wurden, um sie dann
aus der anderen Richtung im Tausch gegen ebenso wertvolle Armreifen aus
weißen Muscheln wieder zurückzubekommen.
Alienne Laval
Während die Muschelketten im Urzeigersinn im Ring der Inseln weitergegeben
wurden, wanderten die Armreifen in entgegengesetzter Richtung, so dass jeder
dieser Gegenstände auf seiner Reise in dem geschlossenen Kreislauf auf
Gegenstände der anderen Art traf und ständig gegen diese getauscht wurde.

Bei den Fahrten ging es aber in erster Linie nicht um den materiellen Wert der
Gegenstände, die getauscht wurden. Ihr Wert war ideeller Natur, denn sie waren
Ausdruck und Überbringer einer bestimmten Seelenhaftigkeit, die in Form von
Geschichten, Mythen und Ritualen weitergegeben wurde.

Es gibt Indizien dafür, dass die Kula-Unternehmungen die Kopfjagd abgelöst


und in ihrer Funktion ersetzt haben.
Mit den Kula-Unternehmungen wurde der Kopfjagd ein utopisches Bild des
Mensch-Seins als alternatives Projekt entgegengesetzt, das als eine durch die
Seefahrten aufrechterhaltene Beziehung gelebt wurde. Durch die alljährliche
Wiederholung der Reisen entstand daher eine neue Tradition, die das alte
Verfahren allmählich überlagerte.
Die in diesem Kula-Bündnis zusammengeschlossenen Inseln hatten sich damit
gegenseitig auf ein Menschenbild verpflichtet, in dem die Kopfjagd abgelehnt
wurde.
Die Muschelketten und Armreifen waren im Kula so etwas wie permanente
Archen, deren Weitergabe das Bündnis erneuerte.

Die riskanten Seereisen zwangen die Teilnehmer nicht nur zur


Auseinandersetzung mit den Elementen Wasser und Wind, sondern auch zur
Beschäftigung mit ihren Vorstellungswelten.
Die Vorstellungen und Gedanken, die die Teilnehmer das ganze Jahr über
beschäftigt hatten, wurden nun vor dem Hintergrund dieser besonderen Situation
in Geschichten, in die auch die Erzählungen früherer Reisen einflossen,
bewältigt.

Dabei konnten die Reisenden Kannibalen, Zauberern, fliegenden Hexen,


springenden Steinen, Inseln männerloser Frauen und fliegenden Kanus
begegnen; jedoch konnte keiner der Teilnehmer von vornherein wissen, welchen
Erscheinungen sie im Einzelnen begegnen würden. Die Kula-Unternehmungen
waren nur grob skizziert und im Voraus nicht genau planbar; hierin
unterschieden sie sich von den Tätigkeiten, die mit dem Gebrauchsverhalten zu
tun hatten.

Der Ethnologe Bronislav Malinowski hat seine Monographie über die Bewohner
der Trobriand-Inseln auf drei Bände angelegt. Den ersten Band, der sich mit
dem Kula-Ring und dem symbolischen Tausch beschäftigt, nannte er - in
Anlehnung an die Argofahrt des Odysseus - Argonauten des westlichen Pazifik.
Alienne Laval
Es folgten die Bände Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwestmelanesien
und Korallengärten und ihre Magie.

Die Argonauten des westlichen Pazifik machen den Leser vertraut mit dem
Kulturverhalten der Bewohner der Inseln, die am Kula teilnehmen, während die
beiden folgenden Bände ihn in die Organisation des Sozialen und des
Gebrauchsverhaltens einführen.

Die Teilnehmer am Kula hatten eine Harmonie zwischen den Polen Geist und
Materie, Kultur- und Gebrauchsverhalten zustande gebracht, die sich beide als
nicht ineinander auflösbar darstellten.

Das, was sozial gelebt wurde oder als heimatlicher Ort bestimmt werden konnte,
wurde als durch die Utopie begründet gesehen, welche die am Kula
teilnehmenden melanesischen Gesellschaften von sich entwarfen. Diese Utopie
konnte aber nicht im Sozialen selbst, sondern nur in der sozialen Aus-Zeit der
Reisen erschlossen, aufrechterhalten und gefestigt werden.

Diese Tauschbeziehungen wurden in Melanesien durch das Auftauchen weißer


Händler und Siedler unterbrochen, die vor allem ab dem 19. Jahrhundert
Handelsstützpunkte einrichteten. Es waren nicht nur diese Stützpunkte, sondern
auch die Missionsstationen, die die eingeborenen Bevölkerungen davon
abhielten ihren eigentlichen Unternehmungen nachzugehen.
Der entscheidende Bruch vollzog sich allerdings während des zweiten
Weltkriegs, in dem die Amerikaner und die Japaner sich im Pazifik erbitterte
Seeschlachten lieferten. Nun wurden verschiedene Inseln Melanesiens zu
militärischen Stützpunkten ausgebaut, die mit Waren aller Art versorgt werden
mußten.

Diese Fremden, die mit ihren eigenartigen Sprachen, Gewohnheiten und


Gerätschaften auf die Inseln kamen, legten Hafenanlagen an und bauten
Flugplätze. Dort wurden Schiffs- und Flugzeugsladungen an Waffen,
Gebrauchsgütern und Waren aller Art, im Englischen Cargo genannt,
angeliefert.
Auf das Eintreffen der Fremden reagierte die Bevölkerung mit den sogenannten
Cargo-Kulten: das waren Kulte, mit denen die Melanesier versuchten, in den
Besitz der Waren der Amerikaner und Japaner zu kommen, die diese mit ihren
Flugzeugen und Schiffen auf die Inseln transportierten.
Um das Cargo für sich zu gewinnen, bauten die Eingeborenen die Flughäfen
und Hafenanlagen und das zu ihnen gehörende technische Gerät aus Holz und
Bambus einfach nach. Ihre Absicht war es, die Schiffe und Flugzeuge dorthin
umzuleiten.
Alienne Laval
Das grundsätzlich Andere, das die Cargo-Kulte vom Kula-Ring-Tausch
unterscheidet, ist, dass nun ein feststehendes System vorausgesetzt wird, das
nicht mehr erst durch Fahrten erschlossen werden muß, sondern von außen
herangetragen wird.
Das Wechselspiel von Utopie und Sozialem, das den Kula-Tausch bestimmte,
wird aufgegeben, und die Zukunft erscheint wie ein bereits existierender Raum,
den man betreten kann, sobald man die richtige Formel kennt.

Die richtige Formel schien den Melanesiern die stereotype Massenhaftigkeit der
uniformierten Eindringlinge zu sein, die auf Befehl und Gehorsam in
organisierten Verbänden auftraten.
Zur Vorbereitung auf das Cargo und die Teilnahme an diesem zukünftigen
Raum bildeten sich streng organisierte Kulte, in denen das Befehlen und
Exerzieren geübt wurde.

Groß war dann die Enttäuschung, als später gesehen wurde, dass die aus Holz
und Bambus gefertigten Anlagen der Landeplätze nicht magisch funktionierten,
keine Modelle für die Zukunfstbewältigung waren, kein Cargo herbei
beförderten.

Es ist genau diese Form des geordneten und planvollen Übergangs oder Zugangs
zur Zukunft, die auch von Europäern, Japanern, Amerikanern und anderen geübt
wird, so, als ließe sich allein anhand der ins Hyperdimensionale und
Perspektivlose aufgeblasenen Technik festmachen, was Zukunft wirklich sei.
Neuerdings ist die Rede von neuen Fertigkeiten, Qualifikationen und
Verhaltensweisen, die erlernt werden müssen, damit man auch in die Zukunft
hinein kann, deren Beschaffenheit schon längst feststeht.
Trotz aller Mühen, die die Melanesier auf sich nahmen, um mündige Teilnehmer
an der Zukunft zu werden, wurden sie dennoch erst einmal von der Zukunft der
Fremden ausgeschlossen.

Inzwischen aber teilen die Melanesier mit uns denselben Cargo-Kult, der in
einer Linie vom Fernsehen zum Cyberspace führt.
Der direkte Zugang zur Welt und eine Einflußnahme ist verwehrt; das was
bleibt, sind die Fernsehgeräte und die auf das Weltall ausgerichteten
Satellitenschüsseln, die genauso hilflos und verzweifelt wirken, wie die
hölzernen Flughafenanlagen und Exerzierplätze der Melanesier.

Die heile Welt der abgeschotteten und ruhigen Häuser, Vorgärten und
Kleinfamilien, die in einer chaotischen Welt glücklich und ohne Seele
zurechtkommen, gibt es nur in den Fernsehstudios und der bunten Warenwelt
der Werbung. Der Versuch, diese Botschaften aus dem All in das Leben
umzusetzen, ist ebenfalls ein Cargo-Kult.
Alienne Laval
Die Verzweiflung darüber, dass die Umsetzung nicht klappt, kann sich aber
auch gewalttätig Bahn brechen - so wie es in Melanesien häufig passierte -,
indem irgendwann ein Kulminationsspunkt erreicht war, an dem die
herrschenden Autoritäten offen abgelehnt und auch bekämpft wurden.
Der Verlust der Utopie und die vorenthaltene Teilnahme an der Zukunft können
sich dann explosiv entladen. Die aufgestauten Gedanken und Vorstellungen, die
keine Chance mehr hatten auf den Reisen und in Tausch- und
Kommunikationsbeziehungen zu Geschichten zu werden, wandten sich nach
außen und trafen die Händler, Priester, Landbesitzer und Verwalter.
Diese Aufstände waren aber Revolten für etwas, nämlich für die
Wiedererlangung der Seelenhaftigkeit.

Nur, anders als im Kula-Ring-Tausch, waren die Revolten hierarchisch


ausgerichtet und hatten prophetische Persönlichkeiten als Führer, deren
Anhänger vor Morden und ekstatischen Selbstmorden nicht zurückschreckten.
Das Zeitalter der Kopfjagden war also wiedergekommen und ließ keine
Tauschbeziehungen mehr zu.

Utopie und Zukunft befriedigen unterschiedliche Grundbedürfnisse des Mensch-


Seins, die beide nicht unterdrückt werden können, ohne dass es zu Verzerrungen
kommt.
Seelenhaftigkeit ist jedoch kein Konsumgut, das von einer Zentrale aus verteilt
werden kann, sondern aktiv errungen werden will. Ihre Erlangung erfordert den
Mut, sich physischen und psychischen Realitäten auszusetzen, um ihnen einen
menschenwürdigen Lebensraum abzutrotzen.
Alienne Laval
Das Kreuz und die Quadratur des Weltkreises
Anmerkungen zur Ideen- und Kulturgeschichte eines Symbols

Christoph Kolumbus und seine Mannschaft waren die ersten Abgesandten des
christlich-abendländischen Kulturkreises, die über den Atlantik segelten, dort
auf einen unbekannten Kontinent stießen und fremde Menschen trafen, die sie
Indianer nannten.
Im Gepäck hatten sie nicht nur Waffen, Geschenke und Tauschobjekte, die sie je
nach Bedarf einsetzten, sondern auch das zentrale Symbol des christlichen
Glaubens, das Kreuz.

Als Kolumbus und seine Nachfolger sich entschlossen, die Welt zu entdecken
und zu erobern, stand die Kirche diesem Unterfangen zunächst äußerst skeptisch
gegenüber. Sie schien von der Universalität ihres Symbols nicht sonderlich
überzeugt gewesen zu sein.
Tüftler, Ketzer und Wissenschaftler waren es, die bald eine
Anwendungsmöglichkeit des Kreuzes fanden, die mit Hilfe von Seekarten und
technischen Meßgeräten die Fahrten auf den Weltmeeren erleichterte: sie teilten
den Gobus in Längen- und Breitengrade ein und versahen ihn auf diese Art mit
einem Koordinatensystem. Dieses System machte ein planvolles Reisen und
Alienne Laval
Missionieren erst möglich, da jeder Punkt - ob zu Lande oder zu Wasser -
markierbar und wiederauffindbar wurde.

Es war der Gebrauch von Zeichen und Symbolen, der aus unseren
stammesgeschichtlichen Urahnen Menschen machte. Zeichen und Symbole
dienten schon den frühen Menschen dazu, sich miteinander zu verständigen oder
während der Jagd zu orientieren, Gruppenzugehörigkeiten und
Machtverhältnisse auszudrücken, Grenzen zu markieren und die Wahrnehmung
der Umwelt zu steuern.

Der Begriff Symbol entstammt dem Griechischen und bedeutet im


ursprünglichen Wortsinn das Zusammengeworfene. Symbole waren zunächst
Beziehungsbündel, die Gedanken und natürliche Objekte wie Steine, Federn,
Tiergerippe und vieles andere vereinten und ihre durch den Menschen
beobachteten und konstruierten Beziehungen bündelten.

Die nordamerikanischen Indianer kannten derartige Objekte insbesondere als


Kriegsbündel und Medizinbündel, Symbolen des Krieges oder der Zerstörung
und Symbolen des Friedens und der Heilung.

Symbole und Zeichen erweitern die Erkenntnisfähigkeit des Menschen um eine


neue, theoretische Dimension, die mit dem Nachdenken verbunden ist. Das
Denken, Träumen und Spielen des Menschen trifft auf Objekte der Außenwelt,
die für ihn Werte als Werkzeuge oder Symbole haben, die deren ursprünglichen,
materiellen Gehalt übersteigen. Der Mensch gibt diesen Dingen Bedeutungen.
Der Philosoph Ronald Harry Wettstein bemerkt:

"Gewöhnlich wird bei der geographischen Entdeckung ein neuer


Wirklichkeitsbezug hergestellt, bei der theoretischen jedoch vermengen
sich neue Wirklichkeitsbezüge mit theoretisch Konstruiertem..."

Die symbolischen Beziehungsbündel werden in der Kulturgeschichte schon früh


durch abstrakte Symbole ergänzt. Die Hauptursache dieser Entwicklung kann
darin gesehen werden, dass mit der Ausdehnung des Lebensraumes eine
Inflation der Gegenstände, Möglichkeiten und Gedanken eintreten würde, die in
das Bündel aufgenommen werden müßten. Das Bündel würde immer
unüberschaubarer und müßte irgendwann selbst die Größe der Welt haben, um
gültig und wirksam zu bleiben.

Das abstrakte Symbol ist die Umkehrung dieses Prozesses und schafft einen
Plan oder eine universelle Karte der Welt, die auf alle möglichen Beziehungen
angewendet werden kann und die Welt steuerbar machen soll.
Alienne Laval
In ihrem Buch Am Anfang der Kultur geht die Kulturanthropologin Marie König
davon aus, dass die Menschen schon früh damit begannen, in Gegensätzen zu
denken. Die Welt bestand für sie aus zwei gegensätzlichen, aber
zusammengehörenden Teilen, die ihre symbolische Darstellung in der
hantelförmigen Doppelkugel, dem sogenannten Sphäroid, fanden.

Auf solche Formen, die die Natur durch Zufall schuf, bevor der Mensch sie
handelnd nachempfand, sind die frühen Menschen auch in Europa auf ihren
Wanderungen gestoßen.

In Frankreich kann ein solcher Sphäroid, ein Härtling aus Felsgestein, in einer
Höhle bei Noisy-sur-École auf dem Mont des Sabots noch heute betrachtet
werden. Diese Doppelkugel ist von zahlreichen Ritzungen und eingeritzten
Schälchen umgeben, die, immer wieder überlagert, den ganzen Höhlenraum, den
Boden und die Decke überziehen. Die Ritzungen zeigen, wie sehr die Form
dieses Sphäroids die Menschen der Vorzeit beschäftigt haben muß.

In den benachbarten Grotten wurden ebenfalls Zeichen eingeritzt und es hat den
Anschein, als sei hier einst ein Kult um die zentrale Höhle herum entstanden.

Die Doppelkugel kann als ein abstraktes Symbol verstanden werden, welches
das Denken in Gegensätzen auf eine erste Formel brachte.
Der für die Menschen zunächst wichtigste Gegensatz war derjenige zwischen
den Zeichen gebrauchenden und symbolschaffenden Menschen und ihrer
Umgebung, also der von Nicht-Natur und Natur. Zur Nicht-Natur gehörten die
Ritzungen und Zeichnungen, die die Menschen auf Steinen und Felsen
anbrachten und die zukünftig zur Ausbildung eines ganzen Kosmos von Zeichen
- der Kultur - führen sollten.
Diese Abgrenzung des Eigenen vom Andersartigen, die der Mensch an dieser
frühen Stelle beginnt, sich anhand zeichenhafter Darstellungen bewußt zu
machen, wird später als die Opposition von Kultur und Natur ausformuliert.

Schon anhand des einfachen Modells der Doppelkugel konnten die Gegensätze
von Natur und Kultur, rechts und links, Mann und Frau und später auch der
Gegensatz von oben und unten, von Himmel und Unterwelt, dargestellt werden.
Doch erst im Baum mit seinen Verästelungen fand sich ein Modell mit dem die
groben Gegensätze aufgelöst, feiner hierarchisiert und unauffälliger dargestellt
werden konnten.

Der Baum diente in vielen Kulturen als Muster für die Gliederung der
natürlichen und die Organisation der sozialen Welt sowie der Regelung ihrer
Beziehungen und Zusammenhänge. Der Baum drückte nicht nur die
Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der menschlichen Gemeinschaften aus,
Alienne Laval
denn sein dicker Stamm markierte auch den mythischen Ursprung der jeweilgen
Gruppe.
Die nordamerikanischen Indianer hatten diesen Baum häufig auf seine Achse,
den sogenannten Totempfahl, reduziert.
Noch heute sprechen wir von Stammbäumen, die wir erstellen lassen, um unsere
Verwandtschaft mit bestimmten Vorfahren nachzuweisen.

Der Baum mit seinen Verästelungen funktionierte aber auch als Vorlage für die
optische Gliederung der Landschaft.
Der Weltenbaum diente bei diesen Aktionen als eine Art Koordinatensystem,
das die Wahrnehmung und die Gedanken ordnete.

Schon früh in der Kulturgeschichte wurde deshalb die Form der Doppelkugel
weiter reduziert und der Mensch begann, mit Netzmustern und Linienkreuzen zu
experimentieren, die in die runden Formen der Schalen und Sphäroide und auch
in Felsplatten hineingeritzt wurden.
Bekannt sind die steinzeitlichen Muster, die wie Bretter des Mühlespiels oder
des Schachspiels wirken. Diese Modelle und die Linienkreuze lassen sich
genetisch aufschlüsseln, wenn man sie als Abstraktionen des Baummotivs
begreift. Der beobachtete Baum wird dabei in seine grundlegenden
Strukturelemente, das sind letztendlich senkrechte und waagerechte Linien,
zerlegt.
Das Baummotiv und seine Abstraktionen führen auf diese Weise immer weiter
von den ursprünglichen Gegensätzen weg und lösen sie auf.

Mit der Übertragung der den Bäumen und vielleicht auch den Spinnennetzen
nachempfundenen Gitternetze - worauf einige indianische Mythen hinweisen -
auf die Schalen, Sphäroide und Felsplatten, die schließlich zum Linienkreuz
führte, hatten die Menschen eine wichtige Entdeckung gemacht.
Die Reduktion des Kreuzmotivs auf das Linienkreuz, auf zwei sich im rechten
Winkel und in einem Punkt überschneidende Geraden, war für die weitere
Entwicklung der Menschheit von fundamentaler Bedeutung.
Marie König stellt fest:

"(Die Menschheit) hatte den festen Punkt im All gefunden, den


Schnittpunkt der Achsen, den Mittelpunkt des Kosmos, den Zentralpunkt
der Kulturwelt. Von diesem Punkt ausgehend trennen sich die vier
Richtungen, die in der Bibel als die vier Ströme symbolisiert wurden. Sie
markieren die vier Hauptgegenden des Horizontes, die vier
Kardinalpunkte... Dadurch hat die als Sphäroid noch diffus gedachte Welt
eine steigende Gliederung erfahren."

Der Mensch hatte mit dem Kreuz aber nicht die Mitte der ihm bis dahin
bekannten und vertrauten Lebenswelt gefunden, sondern einen ganz anderen
Alienne Laval
Zugang zur Welt und mit ihm ein einfaches, transportables und überall
andwendbares System der Bestimmung entdeckt, das dem Unbekannten und
dem unerschlossenen Raum an jeder Stelle der Welt aufgelegt werden konnte.

Darüberhinaus bot das Kreuz die Möglichkeit, die Differenz von Kultur und
Natur auszuhebeln. Der Mensch hatte nun die theoretische Möglichkeit,
mächtiger als die Natur zu werden und sie nach seinen Bedürfnissen zu ordnen
und zu gestalten.
Der erste Mensch des jüdisch-christlichen Mythenkreises, der ein derartiges
Projekt durchzusetzen versuchte, war, wenn man der biblischen Geschichte
folgt, der älteste Sohn Adam und Evas, der Bauer Kain.
Die Schilderung des Paradieses, wie das erste Buch Moses sie gibt, kennt den
Garten Eden mit den beiden wesentlichen Bäumen und den vier Flüssen, die in
ihm ihren Ursprung haben.
Adam und Eva verließen, wenn man dem mythischen Bericht der Bibel folgt,
den paradiesischen Bereich, der unter dem Zeichen des Baumes des Lebens
stand, um in den Bereich des Ackerbaues, der unter den Zeichen des Kreuzes
und des Quadrats steht, zu gelangen. Kreuz und Quadrat sind Formen, die der
Mensch kennen muß, wenn er Ackerbau und Architektur betreiben und
geographische Grenzen ziehen möchte.

Adam und Eva verloren das Paradies, weil sie nicht vom Baum des Lebens,
jedoch vom Baum der Erkenntnis aßen. Es war ihnen ja nicht verboten, von
allen Bäumen des Gartens, einschließlich des Baumes des Lebens zu essen, aber
der Genuß der verbotenen Frucht hatte ihre Verbannung zur Folge.

Anders als die übrigen Bäume und den Baum der Erkenntnis hatte Gott den
Baum des Lebens genau in der Mitte des Garten Eden plaziert.
Dieser Baum wird damit als der Kern einer ursprünglichen Ordnung vorgestellt,
während die Erkenntnis kein zentrales Phänomen dieser Ordnung war und in
ihrer Mitte keinen Platz hatte.

Die Hinwendung zum Baum der Erkenntnis wird im alten Testament als das von
späteren Schuldgefühlen begleitete freiwillige Verspielen einer
Seinsmöglichkeit, die weder Schuld noch Berechnung oder Arbeit kannte,
dargestellt. Es bestand für Adam und Eva keine ersichtliche, sich aus dem Text
erschließende Notwendigkeit, von dem einzigen, ihnen verbotenen, Baum zu
essen. Die Bibel gibt an, dass sie sich von der Schlange verführen ließen,
obwohl sie zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden konnten. Es entsteht der
Eindruck, als sei Adam und Eva das Leben im Garten Eden zu langweilig
geworden, so dass sie nun nach neuen Lüsten, Schwierigkeiten und Aufgaben
dürsteten.
Alienne Laval
Doch die Wissenschaft ist da anderer Ansicht: die Populationsgenetiker meinen,
dass es sich bei dem biblischen Paradies um die afrikanischen Urwälder
gehandelt hat, in denen die ersten Hominiden ein nahezu sorgenfreies Leben
führten.

Es gilt heute als gesichert, dass diese Urwälder in der Vorzeit eine viel größere
Fläche des afrikanischen Kontinents bedeckten.
Es wird davon ausgegangen, dass es der Verlust dieses Lebensraumes war, der
die frühen Menschen dazu zwang, sich neue Methoden des Überlebens, wie den
Ackerbau, auszudenken. Mit dem Ackerbau begannen die Menschen vor ca. 12
000 Jahren im Gebiet zwischen Euphrat und Tigris, im sogenannten
Zweistromland. Schon bald entstanden auch städtische Siedlungen, deren
berühmteste wohl Catal Hüyük (Schatal Hüjük) ist. Auch das um 8000 v. Chr.
entstandene Jericho der Bibel ist eine dieser frühen Städte.

Vor dieser Deutungsgrundlage betrachtet war die Erkenntnis, die Adam und Eva
machten, in erster Linie die Erkenntnis des durch die Veränderung der
Lebensbedingungen herannahenden Todes. In dem Maße, in dem die Wälder
abstarben, verschwanden auch die Nahrungsmittel, von denen unsere frühen
Vorfahren lebten. Ihre besondere, kognitive Leistung war es, diesen
Zusammenhang zu erkennen und nicht einfach mit den Wäldern auszusterben.
In der ursprünglichen Ordnung des paradiesischen Überflusses brauchten die
Menschen dieses Bewußtsein nicht. Erst der drohende Verlust des Urwald-
Paradieses führte zum Todes-Bewußtsein, das im Gefolge das Selbst-Bewußtsein
mit sich brachte, welches für die Änderung der Lebensweise notwendig war.

Vor diesem Hintergrund braucht die Schlange nicht mehr als Verführerin
interpretiert zu werden, sondern wird zur Überbringerin des Todes- und des
Selbstbewußtseins, die ein Überleben überhaupt erst ermöglichten.

Der vorbiblische Bund mit Gott wird in der Bibel durch den Baum des Lebens
symbolisiert, während der biblische Bund durch den Baum der Erkenntnis
symbolisiert wird. Das erste Buch Moses handelt von dem Ringen, den äußeren
Kämpfen und den inneren Krämpfen der Menschen, die bei dem Übergang von
einer Ordnung in eine andere auftreten. Das bedeuteut, dass nicht nur die
Beziehungen der Menschen zur Umwelt und dem Sozialen neu bedacht,
interpretiert und bestimmt werden mußten. Auch die Verhältnisse zum
Göttlichen hatten sich geändert und die gesamte Religiosität, die Mythen und die
Rituale wurden auf eine neue Basis gestellt.

Das Alte Testament thematisiert einen derartigen Übergang und die damit
verbundenen Brüche und Schwierigkeiten. Es werden zwei konkurrierende
Systeme und Bewältigungsmuster, - das des Hirten Abel und das des Bauern
Kain -, vorgestellt, von denen das des Kain sich letztendlich durchsetzen wird.
Alienne Laval
In der Bibel ist der Hirte Abel der jüngere Bruder des Bauern Kain, obwohl er
kulturgeschichtlich der älteren Formation der wandernden Hirtennomaden
angehört, die jedoch durch eine neue Ordnung abgelöst werden soll.

Das alte Testament will ein neues Modell, - das des Acker- und Städtebaus -,
einführen, gleichzeitig aber die Macht des alten Modells bewahren. Obwohl die
Epoche, die es beschreibt, materiell bereits unter dem Regiment des Bauern
Kain steht, steht sie symbolisch noch unter dem Zeichen des Hirten Abel, dessen
Opfer Gott noch immer höher achtet, als das des Bauern Kain.
Mit der Tötung Abels wollte Kain daher eine einheitliche, neue symbolische
Ordnung unter dem Zeichen des Ackerbaus durchsetzen und gleichzeitig die
Rechtmäßigkeit des alten Opfers abschaffen.

In diesem Moment hätten die alten religiösen und gesellschaftlichen Autoritäten


abdanken und neuen, die im Sinne Kains handelten, Platz machen müssen. Doch
die Verfasser des Alten Testaments lassen Eva einen dritten Sohn, den Seth,
empfangen, den Gott ihr als Ersatz für Abel gibt.
Durch diesen Kunstgriff der Verfasser wurde es möglich, die Autorität der alten
symbolischen Ordnung in der Welt des Ackerbaus und der entstehenden Städte
aufrechtzuerhalten.

Alle im weiteren Handlungsverlauf der Bibel entscheidenden Personen stammen


von Seth ab. Die mythologische Genealogie der Bibel beginnt daher auch nicht
mit Kain, sondern mit Seth als Urvater, zu dessen Nachkommen nach den
Büchern des Moses als die Bekanntesten Methusalem, Noah, Abraham und
Jakob, der spätere Israel, gehören. Das Evangelium des Matthäus führt diese
Genealogie von Abraham und vom König David ausgehend weiter bis hin zu
Jesus.

Doch nun geschieht etwas Seltsames: das Kreuzsymbol, das alle Ackerbau,
Architektur, Schriftkultur und Stoffherstellung betreibenden Kulturen kennen,
rückte mit der Kreuzigung des Jesus Christus in den Mittelpunkt der
Religiosität.
Ein profanes, geläufiges, übliches und deshalb unaufälliges Zeichen des
täglichen Lebens wurde zum Zentrum der Anbetung.

War es nur der Zufall der Kreuzigung, dass allein für die Christen das Kreuz
zum zentralen Symbol ihres Glaubens wurde?

Das Kreuz drückte nie Kultur aus, sondern war ein technisches Symbol, das für
technische Verrichtungen stand. Man benutzte es, um das Land zu ordnen, urbar
zu machen und zu kultivieren, damit es die Kultur speisen könne. Die Idee, ein
so profanes und technisches, dem Gebrauchsverhalten vorbehaltenes Symbol
wie das Kreuz als heilig anzusehen, war unseren Vorfahren unvorstellbar.
Alienne Laval
In ihrem Kern, das heißt: in den Ansiedlungen und frühen Städten, blieb die
Kultur noch lange Zeit das, was sie schon in ihren Anfängen war. Sie war der
besondere, menschliche Lebensraum mit ihren Spielen, Sprachen, Träumen,
Liedern, Geschichten, Mythen und Ritualen. Ihr Motor war die Differenz von
Natur und Kultur.

Indem der Mensch sich aber mit von Mauern umgebenen Städten künstlich
gebaute und umbaute Räume schaffte, in die die Natur nicht ohne Weiteres
hinein konnte, fühlte er sich der Natur überlegen. Die Tore in den Stadtmauern
kontrollierten nicht nur den Zugang von Menschen. Sie waren auch
Transformatoren, die Menschen und Produkte der Natur in Ware verwandelten,
nach Nützlichkeitskriterien passieren ließen und zu in Stückzahlen zählbaren
und speicherbaren Rohstoffen machten.

Die Menschen in diesen Städten sind, wie der Romanist Robert Harrison in
seinem Buch Wälder schreibt,

"...zu einer sonderbaren Ungewißheit über das Leben verdammt, denn da


sie nie ihr eigenes Leben in einer Wirklichkeitsprüfung versucht haben,
hören sie nur vage und widersprüchliche Berichte darüber, wie über ein
fremdes Land."

Dennoch findet diese Wirklichkeitsprüfung statt, indem sie sie an der Natur, an
Fremden und Andersartigen durchführen.
Sie schaffen sich die fehlende Gewißheit dadurch, dass sie die Landschaften
parzellieren und den in der Wildnis und in den Wäldern außerhalb der
Siedlungen und Städte lebenden Hirten, Nomaden, Ausgestoßenen, Geächteten,
Helden, Wanderer, Liebenden, Heiligen, Verfolgten, Außenseiter, Verirrten,
Verwirrten, Ekstatischen und Eingeborenen ihren Maßstab aufzwingen und
ihnen den Lebensnerv abschneiden.

Kain war nach der biblischen Überlieferung wohl der erste Mensch, der die
Frage nach der Nützlichkeit der Kultur stellte und die Prinzipien des Ackerbaus
und der Landwirtschaft auf sie anwenden wollte. Bis dahin wurde unter Kultur
nichts anderes verstanden, als das menschliche So-Sein schlechthin. Die Tiere,
die Pflanzen und alle übrigen Erscheinungen hatten ihre je eigene Seins-Form,
die sich von derjenigen des Menschen unterschied.
Doch mit Kains Ansinnen kam zum ersten Mal in der Entwicklungsgeschichte
des Menschen der Gedanke an eine Allmacht des Menschen auf. Aus moderner,
psychologischer Sicht gehören derartige Allmachtsphantasien in die frühen
Phasen der Kindheit.

Die wachsenden mathematischen und technischen Fähigkeiten des Menschen


entwickelten die Kultur denn auch nicht weiter. Im Gegenteil, sie führten zu
Alienne Laval
einer Omnipotenzgefühle weckenden geistigen Regression, von der wir uns bis
heute nicht erholt haben.
Die moderene Technik, die scheinbar so friedlich wirkt, schafft hinter ihrer
funktionalen Fassade jedoch auch mörderische Bedingungen für Mensch und
Umwelt.

Die religiösen Praktiken des Bauern Kain waren sicherlich friedlicher als die des
Hirten Abel, die ohne das Tieropfer nicht auskamen. Diese Gewaltlosigkeit im
rituellen Handeln konnte aber nur durch den initialen Mord an Abel, dem
weitere Morde folgen sollten, erkauft werden.
Die klugen Verfasser der biblischen Genealogie, Moses und Matthäus, haben
diese Gefahr wohl geahnt. Der kulturelle Stammbaum, der uns mit dem Garten
Eden verbindet, beginnt mit Adam und Seth und endet mit Jesus. Der Agro-
Techniker Kain ist ausgeklammert.

Gesiegt hat das Prinzip des Kain dennoch: mit der Kreuzigung Jesu haben sich
die Nützlichkeitskriterien vollends durchgesetzt. Jesus war ein Außenseiter, der
stellvertretend für alle Außenseiter auf das Raster der Nützlichkeit geschlagen
wurde. Auf der anderen Seite aber ist dieses Kreuz eine Warnung, die uns zeigt,
an welcher Stelle Schluß mit dem Nützlichkeitsdenken sein sollte.

Das Kreuz wurde zunächst nur den Landschaften, fremden Menschen und
Außenseitern auferlegt, das Abstrakte also am Fremden exerziert. Erst dann traf
es in einer Rückprojektion auf die Ansiedlung selbst, die in dieser Quadratur zur
modernen, sich in das Land ergießenden und es verstädternden Stadt wurde.
Mit dieser Selbst-Kreuzigung verliert die Stadt ihre Mauern und damit ihre
Grenzen. Sie verflüchtigt sich aber nicht in die Landschaft hinein, sondern löst
diese auf.

Das Mensch-Sein, das sich im dialektischen Verhältnis mit der Natur erst
ausdifferenzierte, wird nun zurückgenommen, indem der Mensch die nun
fehlende Stelle der Natur ausfüllen und selbst zur Natur, zur zweiten Natur
werden muß, die mit immer feineren Methoden zerlegt und gekreuzigt wird.

So gesehen ist der gekreuzigte und noch immer und permanent am Kreuz
hängende Jesus gleichzeitig der erste moderne und der letzte der frühen
Menschen. Am Kreuz wurden Natur und Kultur gleichermaßen geopfert und
ihre Differenz annulliert.

Der natürliche Mensch dagegen ist die Erfindung einer Zivilisation, die die
Natur zurückgedrängt und überwältigt hat
Gerade die Universalisierung in den Bereich der Natur hinein führt letzten
Endes zur Auflösung der Kultur.
Alienne Laval
Die beiden Jahrtausende, die unter dem Zeichen des Kreuzes stehen, haben uns
nicht nur die Einteilung der Welt und des Kosmos in Längen- und Breitengrade
beschert. Sie haben uns auch mit der präzisen, durch Koordinaten bestimmten
Lokalisierung der Gene auf den Chromosomen und der Gentechnik beglückt.
Sie haben uns gelehrt, Tiere und Pflanzen zu quälen, auseinanderzunehmen und
nach Wunsch und Dünken wieder zusammenzubasteln. Sie haben uns auch bis
zum Computer und der computergenerierten Simulation von Realitäten
gebracht, die wie die Entdeckung neuer Kontinente gefeiert werden.

Die Computerwelten führen das kognitive Modell des Linienkreuzes weiter.


Doch im Computer stehen die Koordinaten fest, bevor sich überhaupt
irgendetwas tut oder sichtbar wird. Es sind primär Zahlenkolonnen, die
Positionen, Farben, Bewegungen und Eigenschaften der erscheinenden Objekte
definieren.
Kreuz und Koordinatensystem sind dabei, zu einem allgemeinen Code zu
werden, der alles trifft und betrifft, was in den Computer hineingelangt und von
hier aus als Szenario wieder in die Welt projeziert und als Handlungsanweisung
formuliert wird.

Jede Person wird zu einem mikroskopischen Punkt auf dem Feld zwischen
Ordinate und Koordinate, zwischen Ordnung und Zuordnung. Ordnen bedeutet,
etwas in Reihen aufzustellen. In der Reihe, in der Ordnung, wird alles
gewöhnlich und ordinär. Das Außerordentliche und Außergewöhnliche, die
Natur und die Kultur, haben hier keinen Platz mehr.

Die technische Simulation tritt an die Stelle der Kultur und der Mensch nimmt
als zweite Natur*, als Ersatz für die ursprüngliche Natur, die Stelle ein, die der
Natur einst zukam. Vor der präzise rechnenden Eleganz der Apparate kann auch
seine ganze Kultur nur noch Ausdruck seiner fehlbaren Naturhaftigkeit sein.
Jeder Mensch, so einfach gestrickt er auch sein mag, wird in diesem Spiel über
kurz oder lang zum Außergewöhnlichen. Wenn er nicht zum kulturell
Ausgestoßenen gemacht werden kann, dann wird er eben genetisch ausgestoßen.
Er kann nur noch auf seine Kreuzigung, seine finale Bestimmung, warten.

Religion bedeutet, wie Kultur auch, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die
Angst machen. Die Angst des Menschen begründete Religion und Kultur
gleichermaßen. Diese Angst kann uns niemand nehmen, denn sie ist eine
kreatürliche Eigenschaft des Mensch-Seins. Wir können aber lernen, mit ihr
umzugehen. Doch das ist nur möglich, wenn wir uns auf die Wurzeln der Kultur
besinnen.
Alienne Laval
Wie entsteht Religion?
Zur Semiotik religiösen Bewußtseins

Die Frage Wie entsteht Religion? kann von zwei Seiten angegangen werden.
Einmal können wir untersuchen, wann und wie Religion in der Kulturgeschichte
des Menschen entstanden ist; andererseits kann es unser Interesse sein,
herauszufinden, weshalb es in unserer Zeit zu einem Verlust an Religion
gekommen ist, ob Religion eine Chance hat, neu zu entstehen und ob sie diese
Chance überhaupt erhalten sollte. Die Geschichte der Religionen ist ja nicht nur
mit den Begriffen Mitmenschlichkeit, transzendente Erfahrung, Liebe und
Seelsorge verbunden, sondern für uns auch unlösbar verknüpft mit Inquisition,
Denunziation, Folter, Mord und Macht. In seinem Brief an die Kardinäle schrieb
Papst Johannes Paul II. im Jahre 1994:

"Wie kann man die vielen Formen von Gewalt verschweigen, die auch im
Namen des Glaubens verübt wurde? Die Religionskriege, die Tribunale der
Inquisition und andere Formen von Verletzung der Menschenrechte. Es ist
Alienne Laval
bezeichnend, dass diese Zwangsmethoden dann von den totalitären
Ideologien des 20. Jahrhunderts angewendet wurden."

Religion und Totalitarismus, die sich, wie gezeigt werden soll, in ihrer Herkunft
und Weltsicht eigentlich diametral gegenüberstehen, sind in der Geschichte oft
genug verhängnisvolle Bündnisse eingegangen. Religion und Totalitarismus
entstammen ganz unterschiedlichen Bereichen der menschlichen Wahrnehmung,
die sich typologisch und semiotisch, also in ihrer zeichen- und texthaften
Begründung, unterscheiden. Die Wurzel dieses Gegensatzes hat George Orwell
in seinem Roman 1984 durch eine einfache Opposition ausgedrückt.

Die geschichtslose, außerhalb der Zeit stehende Welt, die Orwell uns in seinem
Roman vorstellt, kennzeichnet Bestreben und Endziel aller totalitären
Weltanschauungen. In seiner totalen Utopie wird fleißig an einer Reform der
Sprache gearbeitet. Das Englische - Verkehrssprache in dem imaginierten Land
Ozeanien - soll auf eine minimale Anzahl von Wörtern begrenzt werden.
Dadurch soll den Menschen die Möglichkeit genommen werden, über die
Grund- und Staatsbedürfnisse hinausgehende Aussagen machen zu können.
Diese neue Sprache, Neu-Sprech genannt, soll das Denken und damit das
Entstehen von Bewußtsein verhindern, das im Jargon des Neu-Sprech als
Doppel-Denk bezeichnet wird.
Der Kulturphilosoph Arthur Koestler hat die Fähigkeit des Doppel-Denk
präzisiert, indem er den Begriff der Bisoziation erfand. Er erklärt ihn so:

"Ich habe den Begriff Bisoziation geprägt, um zwischen den


Routinetätigkeiten des disziplinierten Denkens in einer einzigen
Begriffswelt - gleichsam auf einer einzigen Ebene - und den kreativen
Arten der geistigen Aktivität zu unterscheiden, die mehr als eine Ebene
beanspruchen."

Die Assoziation verbindet Gegenstände und Gedanken miteinander, die einem


einzigen Begriffsrahmen entstammen, während im Zustand der Bisoziation in
mehr als nur einem Begriffsrahmen assoziert wird. Eine Situation wird in zwei
eigenständigen, aber unvereinbaren Bezugsrahmen gleichzeitig wahrgenommen.
Diese Fähigkeit kommt in der Erfindung subtiler Witze ebenso zum Tragen, wie
im Verstehen von Scherzen, das sich im erfreuten, geistigen Sprung von einer
Ebene zur anderen, von einem assoziativen Kontext zum anderen zeigt. Der
Witz ist sprach- und kulturhistorisch mit Gewissen, Weisheit, Weissagung,
Vorwitz, Wissen und Bewußtsein verwandt.
Arthur Koestler hat drei Bereiche unterschieden, die sich mit verschiedenen
Ausrufen des freudigen Entdeckens in Verbindung bringen lassen.

Das "Haha" kennzeichnet den Witz und seine Varianten, den komischen
Vergleich, die Karikatur, die Darstellung, den Wortwitz, die Kollision und die
Alienne Laval
Koinzidenz. Der erkennende Ausruf "Aha" steht für das Entdecken einer
verborgenen Analogie, das Verstehen eines Diagramms, das Einfühlen in einen
unbekannten Zusammenhang, für Wortspiele, für die Fähigkeit zur Synthese und
die Zufallsentdeckung. Das gedehnte "Ah...." hingegen begleitet das Verstehen
einer Metapher, die Stilisierung, die Illusion, den Reim, die Konfrontation, aber
auch musikalischen Genuß und religiöses Erleben.

Die bewußten und unbewußten kreativen Prozesse, die diesen drei Bereichen
und damit auch der künstlerischen Originalität, der wissenschaftlichen
Entdeckung und der kosmischen Inspiration zugrunde liegen, haben ein
gemeinsames Grundschema: Der Witz, die Entdeckung, die Kunst, die Kritik
und die Inspiration stören die eingefahrenen, routinierten Abläufe des
Alltäglichen, indem sie Bewußtsein schaffen. Bewußtsein ist für Koestler daher
gleichbedeutend mit der Fähigkeit zum bisoziativen Doppel-Denk. In der Welt
des Neu-Sprech ist diese Fähigkeit strafbar. Diese Welt ist total geregelt und auf
reines, nur auf sich selbst bezogenes Funktionieren ausgerichtet.

Das heißt jedoch nicht, dass die Welt von 1984 gänzlich ohne gläubiges Erleben
sei. Die Bevölkerung glaubt an den großen Bruder, der von überdimensionalen
Plakatwänden, Übertragungsleinwänden und von Bildschirmen aus seine
Bevölkerung im Auge hat, die bespitzelt, belauscht und überwacht wird.
Ob dieser große Bruder tatsächlich existiert, weiß niemand, denn keiner hat ihn
jemals leibhaftig gesehen. Aber es gibt ein Bild von ihm, das man auf den
Plakaten und den Bildschirmen sehen kann. Die Bevölkerung glaubt auch, dass
sich Ozeanien im ständigen Krieg mit Eurasien befindet. Ob der Krieg gegen
Eurasien tatsächlich geführt wird, weiß ebenfalls niemand. Er ist, ebenso wie der
große Bruder, ein Spektakel der Medien.
Doch dieses Wissen ist gefährlich, denn es erfordert die Fähigkeit der
Bisoziation. Der eigentliche Krieg findet daher im Inneren gegen die
Bevölkerung statt, er gilt dem Verrat des die gläubige Illusion durchschauenden
Doppel-Denk.

Diese Art von Gläubigkeit ist sehr alt und läßt sich bis in die frühen Phasen der
Menschheit zurückverfolgen. Darüber hinaus verbindet sie uns über unser
stammesgeschichtliches und genetisches Erbe mit dem Tierreich und den
Anfängen des Lebens.
Schon die frühen Jäger und Sammler fertigten jene Abbildungen ihrer Umwelt
und des Jagdwildes an, die uns als Höhlenzeichnungen bekannt sind. Diese
Darstellungen sind realistisch und bilden die Anfänge der Darstellungstradition,
die wir als Realismus kennen.
Die Wirklichkeit wird in diesen Malereien mimetisch nachgeahmt und
nachempfunden. Die realistischen Höhlenzeichenungen hatten magische
Funktionen und waren keine freien Erfindungen. Die dargestellten Tiere sollten
ihren Vorbildern aus der Umwelt so ähnlich wie möglich sein. Die Bilder sollten
Alienne Laval
ihre Vorbilder abbilden und diese aufgrund ihrer Ähnlichkeit magisch
repräsentieren und anziehen. Die Menschen hofften, auf diese Weise in den
Besitz der Vorbilder zu kommen, die sie dann verspeisen und in sich
aufnehmen, also verschlingen konnten.

Auch wenn die Jagdbeute sich so nicht anlocken ließ und sich kein Jagdglück
einstellte, so blieben doch die Abbilder an den Höhlenwänden bestehen und
heizten die Gier nach der Beute weiter an. Die Unbeständigkeit der
Erscheinungen der Umwelt stand bald in krassem Gegensatz zur Beständigkeit
der Bilder. Unsere Vorfahren waren so von den Bildern besessen, dass sie Kulte
organisierten, die das ersehnte Jagdglück magisch beschwören sollten. Der
mimetische Zugang machte von den Dingen besessen, die man besitzen wollte.
Das frühe Verfahren, in dem sich unsere Vorfahren den dargestellten
Gegenständen annäherten, ist in der Anthropologie als Jagdzauber bekannt, der
zu den Formen der rituellen Besessenheit gehört. In der rituellen Besessenheit
werden Tiere oder andere Dinge aus ihrem Zusammenhang mit der Umwelt
gelöst und isoliert dargestellt. Die tatsächliche Ordnung der Wesen und Dinge
interessiert bei diesem Verfahren nicht. Der Ethnologe Fritz Kramer präzisiert
das Phänomen folgendermaßen:

"Der Blick von außen heftet sich an die Oberfläche der Erscheinungen, an
die Außenhaut der Dinge, ohne sich um die Ordnung zu kümmern, die sie
in sich selbst haben; er isoliert das Detail, das sich unter diesem Blick zum
suggestiven Bild, ja sogar zur eigenständigen Macht steigert. Statt der
Ordnung, der Struktur oder des Systems offenbart sich hier die Gewalt des
Sichtbaren, der Einzelheit."

Unsere Vorfahren experimentierten mit den Bildern an den Höhlenwänden und


schufen in einem weiteren Entwicklungsschritt auch solche, die sich immer
weiter von ihren Vorbildern ablösten.
Sie stellten bald Geister, Mächte und Götter dar, die keine Entsprechungen mehr
in tatsächlich existierenden Lebensformen und Gegenständen fanden. Ihre
Funktion war es, die hinter den Erscheinungen wirkenden Natur- und
Geisterkräfte auf einfache Formeln zu bringen.
Der Semiotiker Charles Sanders Peirce (Pörs) legt dar, dass es unerheblich ist,
ob das Ding, auf das sich die Abbildung bezieht - in der Semiotik Ikon genannt
-, tatsächlich existiert oder nicht. Die Wirksamkeit des Ikons wird dadurch nicht
beeinträchtigt.
Die so geschaffenen Realitäten bilden also letzten Endes nichts ab, das sich noch
an der äußeren Wirklichkeit festmachen ließe. Sie führen ein sich immer weiter
von dieser Wirklichkeit entfernendes Eigenleben. Sie schaffen zum Beispiel die
Realität des großen Bruders, in der die Menschen Ozeaniens leben und sterben
sollen. Der große Bruder ist ein solches Ikon.
Alienne Laval
Der große Bruder - wie schon seine Vorläufer, die Geister und Götter - ist kein
Jagdwild mehr, das man tatsächlich erlegen und verspeisen kann. Er ist ein
Phantasieprodukt, eine Vorstellung, die unerreichbar ist. Eine Annäherung kann
nur in kultischem Geschehen stattfinden, das die Menschen in der Anbetung des
Ikons verbindet. Im Kult wird der große Bruder verinnerlicht, den man weder
besitzen noch verschlingen kann. Ihm näher zu kommen bedeutet, die Kritik all
jener auszuschalten, die den gemeinsamen Rausch verweigern, jene zu opfern,
die sich nicht dieser Illusion hingeben. Darin zeigt sich die Wirkungsweise des
Totalitarismus.

Das religiöse Verfahren unterscheidet sich grundsätzlich vom totalitären Prinzip:


Die christlichen Gläubigen haben noch heute die Möglichkeit, ihren Gott zu
essen. Im symbolischen Geschehen des kirchlichen Rituals werden Wein und
Brot in der durch den Priester inszenierten Transsubstantiation in Blut und Leib
Christi umgewandelt.
Diese Symbolisierung ist keine feige Flucht vor dem Menschenopfer, sondern
das Überführen eines urtümlichen Geschehens in einen anderen Kontext, in
welchem es seine Gewaltsamkeit verliert. Das christliche Ritual operiert in zwei
unterschiedlichen Bezugsrahmen, wenn es den wirklichen Wein in der
symbolischen Ebene als Blut gelten läßt. Ein symbolisches Blut erfordert keine
Opfer.
Ein derartiges Ritual ist kein ikonisches Geschehen, denn es setzt bisoziatives
Doppel-Denk voraus und ist mithin eine Leistung des Bewußtseins. Diese
Fähigkeit setzt die Religion, wie eingangs schon erwähnt, in Bezug zu
Wissenschaft und Kunst.

Zu den wesentlichen Aufgaben früher Religionen gehöhrte es, Naturgewalten zu


beschwichtigen, die Götter und Geister der Natur gnädig zu stimmen, die Seelen
getöteter Tiere und die Ahnen zu besänftigen. Besonders wichtig war die
Heilung der von diesen Mächten besessenen Menschen. Der Schwerpunkt der
Religion lag darin, die Besessenheit durch die Ikonen in sozial verträgliches
Handeln umzukehren.
Die Religionen mit ihren Mythen, Ritualen, ihrer Musik und ihren besonderen
Formen künstlerischen Schaffens gehören somit ihrem Ursprung nach zu den
kulturellen Leistungen, die sich in der Bisoziation begründen. Die Welten der
Religionen sind imaginativ und phantastisch und doch stehen sie nicht außerhalb
der normalen Lebenswirklichkeit. Die Religionen sind mit der normalen
Wirklichkeit bisoziativ verbunden. Sie führen eine symbolische Ebene ein, die
das Verlangen nach der Verschlingung in eine andere Ebene überführt. Der
Semiotiker Ivan Bystrina drückt es so aus:

"Beide Tendenzen der Menschheit, der ikonische Realismus als das Alles-
Verschlingen und dennoch An-der-Oberfläche-Bleiben sowie die
symbolischen Verhaltensmodi als Mittel der imaginären Überwindung ...
Alienne Laval
bezeichnen den ganzen Weg der Kulturevolution. Jedoch nur der imaginäre
Weg ist schlechthin human: die Verschlingung ist erkennbar animal."

Für Bystrina ist das Humane nur im Bereich des Imaginären zu finden, während
die Verschlingung in den Bereich des Animalen gehört. Wir Menschen haben
jedoch das Problem, dass wir beiden Bereichen angehören. Die wesentliche
Aufgabe der Religion bestand und besteht folglich darin, zwischen dem
Humanen und dem Animalen zu moderieren. Weshalb diese Moderation
notwendig ist, läßt sich nur erklären, wenn wir die besondere biologische und
kulturelle Evolution, die uns zu Menschen gemacht hat, berücksichtigen.

Für den Semiotiker Thomas Sebeok (Schebock) sind die Ikonen wichtig in der
Umweltwahrnehmung der Tiere und der Verständigung zwischen ihnen.
Visuelle, auditive und chemische Signale, die in Handlungen umgesetzt werden,
gehen von der Umwelt, den Artgenossen und anderen Tieren aus. Auf der
Grundlage dieser einfachen Signalketten entstand im Laufe von Jahrmillionen
unser komplexes Nervensystem.
Der Hirnforscher Detlef Linke, der sich mit der Evolution des Nervensystems
beschäftigt, geht davon aus, dass alle Entwicklungsstufen des Nervensystems -
angefangen bei den ältesten und einfachsten Signalketten - auch im Menschen
erhalten geblieben sind. Von den Würmern haben wir zusätzlich das
Rückenmark geerbt, von den Fischen das Stammhirn, von den Reptilien das
Kleinhirn und von den Säugetieren das Großhirn. Von den Primaten bekamen
wir eine erweiterte Großhirnrinde mit auf den Weg, in der ein großer Teil
unserer neuronalen Aktivitäten abläuft.

Die besonders alten Teile des Nervensystems sind axial angelegt, also auf einer
Achse ausgerichtet. Die zu ihm gehörenden Organe sind nur einmal vorhanden.
Hierzu zählen alle Organe des Verdauungsapparates wie Magen, Darm und
Leber, aber auch die Körperöffnungen Mund und After. Auch das Herz und die
Geschlechtsteile sind nur einmal vorhanden.
Die einfachen, blinden Gehorsam verlangenden Impulse, die das Ikon des
großen Bruders auslöst, finden ihre biologische Ursache in diesen alten Teilen
unseres Nervensystems.
Neuere Organe hingegen sind doppelt vorhanden; so die Kiemen, die Lungen,
die Nieren, die Augen, die Ohren und die Nasenlöcher. Aber auch die
Extremitäten von den Krallen und den Tatzen bis hin zu den Fingern und Zehen
gibt es in zweifacher Ausführung. Im Gegensatz zu den alten, axialen Organen
sind die neuen lateral, also seitlich angelegt. Erst mit der Bilateralität, der
Zweiseitigkeit der neuen Organe, kommt so etwas wie ein Stereoeffekt in die
Schöpfung.

Während die alten Teile des Nervensystems - wie das Rückenmark, das
Stammhirn und das Kleinhirn - axial ausgeführt sind, bestehen das Goßhirn und
Alienne Laval
die Goßhirnrinde aus lateralen Hälften, aus der linken und der rechten
Hirnhemisphäre. Beide Hemisphären wiederum sind durch einen Balken, das
sogenannte corpus callosum, miteinander verbunden, das es uns ermöglicht,
beide Kanäle parallel und miteinander verschaltet zu benutzen.
Doch durch die Einrichtung des neuen Gehirns wurde die Wirksamkeit der alten,
axialen Hirnteile nicht aufgehoben. Sie regulieren nach wie vor die Funktionen
der Nahrungsaufnahme und der Verdauung. Auch die sexuellen Impulse und der
Bemächtigungsdrang sind hier angesiedelt und können die Richtung, in der das
Großhirn tätig werden soll, beeinflussen.

Durch Jahrmillionen hindurch haben sich die Tiere mit Hilfe ihres axialen
Nervensystems erfolgreich gegen das Verschlungenwerden durch die Mächte
der Umwelt behauptet, indem sie selbst das Verschlingen lernten. Dieses
Verhalten hat sich lange bewährt und auch der Mensch steht in der
stammesgeschichtlichen und genetischen Tradition der Verschlinger, die aber
selbst in der ständigen Gefahr lebten, von der Welt und starken Raubtieren
verschlungen zu werden. Die damit verbundenen Hoffnungen und Ängste, die
Versuche der Aneignung und Abwehr der Umweltphänomene, fanden in den
Höhlenmalereien schließlich semiotischen Ausdruck.
Darüberhinaus bieten jedoch das Großhirn - und vor allem die Großhirnrinde -
Möglichkeiten, die die alten Teile des Nervensystems nicht hatten. Zu den
Empfindungen von Angst, Schmerz, Schwindel und Hunger und deren
Überwindung durch Flucht, Abwehr, Sexualität, der Suche nach Nahrung und
ihrer verschlingenden Aufnahme, kommen nun neue Seinszustände hinzu, die
bei den höheren Säugetieren zu einem mehr oder weniger bewußten Erleben des
eigenen Körpers und der Phänomene der Umwelt sowie zu Traum und Spiel
führen. Im Menschen schließlich sind diese Seinszustände so weit entwickelt,
dass sie endlich zu Witz und Bewußtsein führen.

Mit diesen komplexen Bewußtseinszuständen verläßt der Mensch die


biologische Evolution, indem er die Tendenzen zu Werkzeuggebrauch,
Traumerleben und Spiel weiter ausbaut, die schon bei den höheren Primaten
angelegt sind.
Der Mensch verläßt mit diesem Entwicklungsschritt aber nicht nur die
biologische Evolution, sondern gewissermaßen auch sein Gehirn: Schon mit der
ikonischen und realistischen Repräsentation der Jagdtiere an den Höhlenwänden
entsteht ein zweites Zentrum der Bewußtseinsbildung außen in den geritzten
und gemalten bildhaften Texten. Die Höhle kann, wenn wir den Ausführungen
des Psychiaters Ronald D. Laing folgen, noch als ein Äquivalent des Schädels
angesehen werden, in dem sich das Gehirn befindet. Doch bald entstehen
Zeichnungen an Felswänden, auf Papyrus usw., die auf die Gehirne einwirken
und sie in ihrer Entwicklung beeinflussen.
Alienne Laval
Der Anthropologe André Leroi-Gourhan bezeichnet diese Entwicklung als
Auslagerung, als Exteriorisierung des Gedächtnisses. Es wird jedoch nicht nur
Gedächtnis ausgelagert, sondern mit und in den Texten entsteht eine
vollkommen neue, eine zweite Wirklichkeit, die sich parallel zur ersten
Wirklichkeit der biologischen Reaktionen, der Alltags- und Umweltphänomene
bildet. Die Texte der zweiten Wirklichkeit haben eine eigene Entwicklung,
deren Formen tradiert und über Generationen weiterentwickelt werden. Die
Evolution dieser Texte verläuft von den ersten Felsbildern über die Schrift und
die verschiedenen Formen künstlerischen Schaffens und Erlebens bis hin zu
Film, Funk, Fernsehen und den multimedialen Realitäten.

In dieser zweiten Wirklichkeit treffen jedoch zwei Prozesse - der ikonische


Realismus und die symbolischen Verhaltensmodi - aufeinander. Der ikonische
Realismus, der sich in unserer animalen Abstammung begründet und uns bis
heute dazu anhält, die Welt zu verschlingen, hat uns zu hervorragenden
Werkzeugbauern und Technikern gemacht, uns aber auch die totalitären
Ideologien beschert. Erst das symbolische Verhalten machte uns zu Menschen,
die imstande waren, Ordnungen, Strukturen und systematische Zusammenhänge
in der Welt und im Menschen zu entdecken, die der Gewalt des Sichtbaren
entgegengestellt werden konnten. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge machte
uns zu religiösen, kreativen, forschenden und denkenden Wesen, die auch zu
sozialen Handlungen fähig waren.

Die Religionen hatten maßgeblichen Anteil daran, dass sich nicht nur die
ikonische Besessenheit in das werdende Mensch-Sein und die in den Texten
dargestellte, ausgelagerte zweite Wirklichkeit einschleuste, sondern auch ihr
Gegenspieler; das symbolische und kulturelle Verhalten. In dieser Tradition
stehen Humanismus und Aufklärung ebenso, wie die Wissenschaften und die
demokratisch verfaßten Gesellschaften.

Das religiöse Bestreben, das versuchte, den Platz des Menschen in der Welt
durch Ritual, Weisheit und Weissagung zu ergründen, führte im Laufe der
Jahrtausende auch zu den Formen der Kunst und der Wissenschaft. In Orwells
totalitärer Utopie und anderen totalitären Gesellschaftsordnungen ist der Witz -
ebenso wie die Religiosität -, da sie Wissen und Bewußtsein zur Folge haben
könnten, unerwünscht.
Religionen, die sich totalitären Auffassungen zuwenden, arbeiten daher an ihrer
Selbstabschaffung. Diese Selbstabschaffung kann sogar verlockend sein, wenn
die schwindende religiöse Macht durch einen Zugewinn an realer, weltlicher
Macht mehr als kompensiert wird. Das Verhalten der katholischen Kirche im
Mittelater und in der Phase der Inqiusition zeigt das deutlich. Auch im Dritten
Reich waren die katholische wie die evangelische Kirche nicht gänzlich gegen
diese Verlockung gefeit und selbst Intellektuelle waren von der Nazi-Ideologie
begeistert.
Alienne Laval
Die Preisgabe des Bewußtseins ist nicht ohne Reiz, denn sie verspricht die
Rückkehr zu einfacheren Formen des Seins, in denen die individuellen
Unterschiede etwa in einer Volksgemeinschaft aufgehoben sind, die sich zur
Durchsetzung eines gemeinsamen Zieles formiert hat. Alles, was der
Durchsetzung dieses Zieles im Wege steht, seien es Menschen, Gedanken oder
Kunstwerke, gilt als redundant, als überflüssig. Um zum wahren Glauben oder
zur gesellschaftlichen Utopie zu gelangen, muß das Redundante entfernt und
eliminiert werden. Erst in dieser Reduktion, der Rückführung auf das ikonische
Eine, soll sich die Wahrheit zeigen. Diese Wahrheit kann eine Botschaft Gottes,
eine Nachricht, eine Information oder eine Formel sein.
Die Kunstsprache Neu-Sprech, die Orwell in 1984 vorführt, wird niemals fertig
sein, denn sie wird ständig reformiert, um sie immer weiter von der Redundanz
des Bewußtseins zu befreien, um zur reinen Information zu gelangen. Was diese
reine Information ist, haben Dichter wie Raoul Hausmann oder Ernst Jandel mit
ihren lautmalerischen Gedichten eindringlich vorgeführt. Sie haben die
Reduktion so weit getrieben, dass von der Sprache nur noch ein Gestotter und
Gestammel übrigblieb.

Ein ähnliches Gedankengut trieb die mittelalterliche Kirche um, die den Gott,
den sie suchte, gleichzeitig durch eine Art Neu-Denk schützen wollte. Alles, was
ihren Gott bedrohte oder in Frage stellte - Menschen und Texte -, wurde der
Inquisition übergeben. Freies Denken und Sprechen waren verboten; Sprache
und Denken unterlagen der kirchlichen Aufsicht und Kontrolle. Allmählich
rutschte die Kirche aus dem Bereich des Humanen immer weiter in den des
Animalen hinein. Dieser Prozeß beförderte jedoch nicht die Religion; er
mündete in den bewußtlosen Terror von Hexenprozessen, Folter und
Verbrennung.

Eine der Ursachen für diese Entwicklung ist sicherlich in der ikonischen
Realismustradition des Abendlandes zu sehen, die sich in der katholischen
Religion, die Bildnisse des Christus und der Heiligen kennt, erhalten hat. Aber
auch in den kitschträchtigen Bildern des Bürgertums bis hinein in den
faschistisch-arischen und den sozialistischen Realismus hat sich diese Tradition
fortgesetzt. Die Skulpturen, die künstlerischen und filmischen Darstellungen des
fiktiven, arischen Herrenmenschen und des stilisierten Helden der
Arbeiterklasse sind Ikonen im vorhin eräuterten Sinn. Den arischen Ikonen
wurden Millionen von Menschenleben geopfert.

Die Bibel sagt eindeutig, dass sich der Mensch kein Bild von Gott machen, also
ihn nicht ikonisch repräsentieren soll. Der Protestantismus hat dieses biblische
Gebot im Gegensatz zum Katholizismus wieder aufgenommen. Die Protestanten
kennen nur das Kreuz als Symbol, aber nicht den Gekreuzigten als Skulptur.
Alienne Laval
Ebenso kennen sie keine Statuen von Madonnen oder Heiligen, die an
besonderen Tagen weinen oder bluten könnten.
Der Protestantismus ist von seinen Voraussetzungen her also die Form des
Christentums, die das Ikonische hätte überwinden können. Doch auch diese
Variante ist nicht frei von Reduktionen. Der rituelle Gehalt der Gottesdienste ist
auf ein Minimum reduziert, und die Transsubstantiation, die Umwandlung von
Wein und Brot in Blut und Leib während des Abendmahls, wird von den
Gläubigen kaum noch verstanden. Von Vielen wird dieses rituelle und
symbolische Geschehen, das ihnen nur noch als lästiges Beiwerk einer
allgemeinen christlichen Ethik und Moral erscheint, als redundant angesehen.
Ethik und Moral aber sind formelhafte Reduktionen von Religion, die ohne
symbolisches Verhalten und teilnehmende Menschen auskommt. Auch auf diese
Weise bleibt von der Religion und ihrer Botschaft wenig übrig.

Ethik und Moral sind aber nicht nur Reduktionen aus der Religion heraus; sie
sind auch Anpassungsleistungen an eine veränderte, realistische Weltordnung
mit ökonomischen Vorzeichen. Sie passen besser in die ökonomische und
politische Sphäre, als der komplexe Ansatz der Religion. Die Ethik versucht, der
Ökonomie auf ihrer eigenen Ebene mit rationalen Mitteln zu begenen und den
ökonomischen Bemächtigungsdrang soweit zu regulieren, dass er nicht die Welt
verschlingt. Doch im ethischen und moralischen Umgang mit der Ökonomie
bleibt das Humane, das sich nur im symbolischen Modus des Kulturellen
begründen kann, auf der Strecke.
Die Ökonomie, die Religion nur in ihrer auf Moral und Ethik reduzierten Form
dulden kann, ist selbst nicht frei von ikonischen Repräsentationen. Gerade in
den Massenmedien werden ikonische Heiligenverehrung und Ethik geschickt
zusammengeführt. Über einem ethisch abgesicherten Unterbau von
Nachrichten-, Magazin- und Diskussionssendungen befindet sich die Welt der
Medienträume. Denn obwohl "der heutige homo oeconomicus", wie Ivan
Bystrina ausführt,

"(..) im großen und ganzen bestimmt viel nüchterner, 'realistischer' als seine
Vorfahren oder auch die noch Überlebenden aus den Naturvölkern (ist), die
- auch als Erwachsene - dem Vortrag alter Mythen begeistert zuhören, (...)
nimmt die Bedeutung der zweiten Wirklichkeit in unserem Leben ständig
zu: die profane erste Wirklichkeit des Alltags und des Berufs schwimmt auf
den stets steigenden Wellen der Medienträume."

Diese Wellen der Medienträume sind belebt von Gewalten und Wesen, die wie
die urtümlichen Naturgewalten wirken. Die Helden und Heiligen dieser Welt
sind die Sportler, Schauspieler, Models und Manager, die ein ikonisches und
unerreichbares Dasein führen. Zunehmend sind es auch futuristische Helden und
Bösewichte, computeranimierte Kunstfiguren und synthetische Wesen, die den
Alienne Laval
entstehenden Cyberspace auf ähnliche Weise bevölkern werden wie vor
tausenden von Jahren die Geister und Götter die Höhlenwände.
Die aus der Natur abgeleiteten Geister und Götter sind inzwischen zu
technischen Gottheiten mutiert, die aber wie Naturmächte wirken.

Die Trennung zwischen Massenmedium und Zuschauer, zwischen der zweiten


Wirklichkeit der Medien und dem Alltagsleben ist aufgelöst, wenn die
ausgelagerte Wirklichkeit der Medien zum bestimmenden Faktor des
Alltagslebens wird.
Die frühen Religionen hatten die Aufgabe, die Besessenheit durch die Ikonen
durch symbolische Operationen in kulturelles und sozial verträgliches Handeln
umzukehren. Vor dieser Aufgabe stehen die Religionen nach wie vor. Ihre
Aufgabe hat sich seit der Zeit der frühen Höhlenzeichnungen nicht geändert: sie
müssen darauf achten, dass sich nicht nur die ikonische Besessenheit in die
medialen Texte einschleust und von hier aus die Alltagswirklichkeit steuert,
sondern auch ihr Widersacher; das symbolische und kulturelle Verhalten, das
dem Witz und dem Gewissen ebenso verpflichtet ist, wie dem Wissen und dem
Bewußtsein.

Ein erneuertes Bekenntnis der Religion zum bisoziativen Doppel-Denk ist schon
deshalb ein gewagter Schritt, weil er die über Jahrhunderte gewachsene
Wissenschaftssfeindlichkeit der christlichen Religionen, die sich im Ursprung
der Religionen gar nicht begründen läßt, in Frage stellt. Das heißt: Religion kann
ihre Relevanz nur im Verbund mit den anderen bewußtseinsbildenden
Tätigkeiten wiedererlangen. Bewußtsein zu bilden bedeutet, auf die
Verschlingung der Welt zu verzichten. Von der Verschlingung Abstand zu
nehmen meint nicht, dass wir die Dinge der Welt weder besitzen noch genießen
dürfen. Ein vorsichtiger und bewußter Umgang mit diesen Dingen ist jedoch
notwendig, wenn wir human bleiben oder werden wollen. Auch für die Zukunft
des Menschen gilt der Satz des Philosophen Hans Blumenberg, der abschließend
zitiert werden soll:

"(Das) Wir wollen alles! wird nie verstummen, es ist die Bedrohung der
Humanität aus ihrem eigenen Weltverständnis heraus, ihre
anthropologische Antinomie."
Alienne Laval
Fundamentalismus und Synkretismus
Weltreligionen von morgen?

"Bei Versuchen, Veränderungen der religiösen Landschaft zu beschreiben",

führt der Politologe Helmut Zander aus,

"bedient man sich... sinnvollerweise nicht des Säkularisierungsparadigmas:


Feststellbar ist hingegen eine Pluralisierung der Religion, inner- wie
außerchristlich, und deren Individualisierung - die ominöse 'flottierende',
'vagierende' Religiosität. Bei der Neukonstruktion von Religion dominieren
zwei Varianten: Synkretismus zum einen und eine Art fundamentalistischer
Reduktion auf die 'wahre' Konfession zum anderen."

Eine Säkularisierung, eine Verweltlichung von Religion, so Zanders Analyse,


findet nicht statt. Es läßt sich zwar ein Rückgang der Kirchlichkeit feststellen,
aber die Religion befindet sich keineswegs im Niedergang. Während bei den
Jugendlichen ab den 50er Jahren die Bereitschaft zum sonntäglichen Kirchgang
Alienne Laval
kontinuierlich abnahm, glaubten sie jedoch in zunehmendem Maße an ein Leben
nach dem Tod.
Ebenso verhält es sich mit religiöser Literatur: indes die Bibel immer weiter in
Vergessenheit geriet, erlebte die esoterische Literatur gewaltige Zuwächse auf
dem Buchmarkt.

Religion pluralisiert und individualisiert sich heute in eine Vielzahl von


Bereichen und Anschauungen, die sich kaum noch aufeinander zu beziehen und
zurückzuführen scheinen. Das Individuum schwimmt und treibt auf seiner
Suche in diesem religiösen Feld und hat hauptsächlich zwei Möglichkeiten, um
aus diesem Bereich frei flottierender Religiosität herauszukommen und Religion
für sich neu zu entwerfen. Diese Möglichkeiten sind Synkretismus und
Fundamentalismus.
Synkretismus ist eine Vermengung, Verschmelzung oder Vermischung
verschiedener religiöser und weltanschaulicher Inhalte, wogegen
Fundamentalismus die Reduktion oder Beschränkung auf einen einzigen
religiös-weltanschaulichen Inhalt bedeutet.

Beide Verfahren haben eine lange Tradition und haben sich im Verlauf der
Religionsgeschichte oft genug abgewechselt.
Die jüdische Religion war in ihren Anfängen ein Synkretismus, der sich aus dem
Aufeinandertreffen seßhafter und nomadisierender Gruppen bildete; das
Christentum wiederum vermengte jüdische, griechische, römische,
nordeuropäische und sogar indische Elemente; durch den Islam schließlich
gewannen die Synkretismen orientalische, arabische und afrikanische Züge.
Aus diesen Synkretismen entwickelten sich erst später einheitliche Religionen
mit einem Korpus heiliger Texte und Verhaltensregeln. Sie erst konnten zur
Grundlage für fundamentalistische Reduktionen werden.

Inzwischen wird nicht mehr nur von religiösem Fundamentalismus, wie dem
islamischen, gesprochen, sondern auch von fundamentalistischen Staaten. Dazu
gehören Iran und Irak, aber auch China und andere Staaten, die man früher als
Diktaturen bezeichnet hätte.
Auch fundamentalistische Terrorgruppen, wie jene in Afghanistan, Palästina,
Jordanien, Ägypten, Jemen, Algerien, Tunesien und Marokko, sind nicht
ausschließlich islamischen Ursprungs. Vor allem rechter Terror in Nordamerika
und Europa ist ebenfalls oft fundamentalistisch orientiert. Hierzu zählen in den
USA z.B. der Klu-Klux-Klan, die Aryan Nation des sogenannten Weißen
arischen Widerstandes und ähnliche Gruppierungen mit sektoid-christlichem
Hintergrund, die auch in Verbindung zu Gruppen in Europa stehen. Sie sind der
Überzeugung, dass das 21. Jahrhundert, das sie als kommendes Jahrhundert der
weltanschaulich motivierten fundamentalistischen Kämpfe ansehen, ein
Jahrhundert des Terrorkrieges und des elektronischen Krieges sein wird.
Alienne Laval
Synkretistische Staaten gibt es dagegen ebensowenig wie synkretistischen
Terror. Magie, Voodoo und Zauberei, die dem Synkretismus gerade in seinen
afroamerikanischen Varianten nachgesagt werden, sind keine sublimen und
heimlichen Formen des Terrors. Synkretismus in allen Formen ist eher als
kulturelle Leistung unterdrückter Individuen aufzufassen, die erst in
Demokratisierungsprozessen voll zum Tragen kommt.
Dass Synkretismus nicht magisch auf die Politik einwirkt, zeigt sich daran, dass
er nur geringe politische Erfolge erzielt.

Keine Kultur kommt aus ohne das Wechselspiel von Reduktion und
Vermischung, wenn sie Tiefe haben und glaubwürdig sein will. Synkretismus
und Fundamentalismus jedoch sind extreme Reaktionen und Polarisationen
dieser notwendigen Differenzierungen, die sich dann ergeben, wenn eine
Gesellschaft den Bedürfnissen ihrer Mitglieder nach Differenz, Entfaltung und
Identität nicht gerecht wird und sie in ihren Interessen übergeht.
Dies ist insbesondere in Diktaturen der Fall, aber auch die ehemals kolonialen
Bedingungen und die derzeitige postkoloniale Situation in den Ländern der
sogenannten dritten Welt führen zu extremen Reaktionen. Besondere
gesellschaftliche Faktoren, die zur Ausbildung extremer Positionen führen, sind
heute die Ökonomie und in ihrem Gefolge die Arbeitslosigkeit, die die
Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und persönliche Orientierung
verhindern. Aber auch mangelndes Wissen, die Globalisierung der Märkte, die
Zerstörung von Umwelten und Lebensräumen, neue Technologien und
Erkenntnisse der Wissenschaften sind oft die Auslöser.

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts kämpfen beispielsweise christliche


Fundamentalisten vehement gegen die Naturwissenschaften und die
Evolutionstheorie Charles Darwins, die der in fundamentalistischer Auffassung
von Gott inszenierten Schöpfung und dem Offenbarungscharakter der biblischen
Schriften widerspricht.
Für die Evolutionstheorie gilt Gott nicht mehr als der autokratische Schöpfer der
Welt, der sich der Propheten als seiner Sprachrohre, als Erzähler der
Schöpfungsgeschichte bedient, die mit seiner Stimme, mit einer Stimme,
sprechen.
Die fundamentalistische Bibelexegese stellt die Bibel in die Tradition der
epischen, monologischen Erzählungen des Altertums, die keine Vielstimmigkeit,
keine Heteroglossie kennen und zulassen.

Fundamentalismus war daher ursprünglich die Bezeichnung für diese von


Nordamerika ausgehende und in christlichen Laienkreisen stark verbreitete
Bewegung, welche die absolute Gültigkeit der Verbalinspiration der Bibel und
damit die Unfehlbarkeit der biblischen Texte als Grundlage, als Fundament, des
christlichen Glaubens verteidigt.
Alienne Laval
In den 70er Jahren wurde der Begriff Fundamentalismus als islamischer
Fundamentalismus auf die islamistischen Gruppierungen und später auch auf
andere politische und religiöse Parteien und Gemeinschaften übertragen. Allen
diesen Gruppen gemeinsam ist ein reduzierendes Weltbild, das sich an einer
einzigen und unhinterfragbaren Wahrheit orientiert.
Viele Sekten vertreten ähnliche Ansätze und sind im Kern traditionell und
autoritär. Hier spielen jedoch auch esoterische Wahrheits- und
Offenbarungsquellen, die außerhalb der heiligen Texte liegen, eine wesentliche
Rolle.

Wie die christlichen Fundamentalisten lehnen die islamischen es ab, dass


kritische und historische Untersuchungen an den heiligen Texten vorgenommen
werden, da man dort auf die synkretistischen Quellen der Fundamentalismen
stoßen würde. Die Texte dürfen nicht einmal, wie Salman Rushdi es getan hat,
in Romanform verarbeitet werden.
Allen fundamentalistischen Gruppen gemein ist eine Ablehnung von freier
Vernunft und Aufklärung. Da der Mensch in fundamentalistischer Denkweise
kein autonomes Individuum ist, hat er sich dem Gemeinwohl und dem Interesse
der Gruppe unterzuordnen. Dafür ist er aber in soziale Netzwerke und
Selbsthilfeorganisationen integriert, die ihn durch Zuwendung sozialer
Leistungen in seinem Verhalten bestätigen. Besonderes Interesse besteht an der
Kindererziehung, um frühzeitig politische Loyalität zu erzeugen, eine bestimmte
Geschichtlichkeit zu tradieren und sich dadurch politisch zu legitimieren und
eine Basis zu schaffen.
Diesen Zusammenhang haben sich inzwischen auch rechte Gruppierungen in
Ostdeutschland zunutze gemacht, indem sie bedürftige deutsche Familien durch
freiwillige Sozialarbeit unterstützen und so auch Einfluß auf die
Kindererziehung nehmen.

Den Fundamentalisten geht es aber nicht um eine textgetreue Auslegung der


heiligen Schriften, sondern um eine nach ihrem Verständnis diesseitsbezogene,
selektive und pragmatische Ausdeutung.
Die islamischen Fundamentalisten etwa sind besonders an den
Naturwissenschaften und an der schnellen Übernahme moderner Technik
interessiert. Sie wollen, wie die Islamwissenschaftlerin Angelika Hartmann
ausführt,

"Kein ausschließliches Zurück... ins Mittelalter, sondern die Anbindung der


Gegenwart mit ihren naturwissenschaftlichen Entwicklungen an den
Urislam..."

Das Ziel ist es, Technologie und Naturwissenschaft vor einem


traditionalistischen sozialen Wertehintergrund zu funktionalisieren. Islamische
Fundamentalisten sind keine ausgebildeten Theologen, sondern im westlichen
Alienne Laval
Sinne gebildete theologische Laien wie Betriebswirte, Ärzte, Technokraten oder
Ingenieure. Einige von ihnen haben europäische Philosophie studiert und sind
enttäuscht von westlichen Utopien und Systemtheorien, die dem globalen Markt
nichts entgenzusetzen haben und wenden sich dem Islam zu. Dazu kommen
junge Leute aus den traditionellen Familien ländlicher Gegenden oder
Kleinstädte; Aufsteiger, die in erster oder zweiter Generation ihr ländliches
Umfeld verlassen haben oder in den westeuropäischen Staaten leben, wo sie oft
schon aufgewachsen sind.
Für Angelika Hartmann ist der Islamismus daher eine identitätssuchende
Reaktion 'in der Moderne gegen die Moderne' und eine soziale
Protestbewegung, die sich bewußt als 'Gegenmoderne' definiert.

Während sich der ursprüngliche christliche Fundamentalismus noch pauschal


gegen alle Naturwissenschaft und die Evolutionstheorie stemmt, geht der
islamische Fundamentalismus selektiver vor und wendet sich explizit gegen die
Moderne.
Doch auch antimodernistische Bewegungen vor einem fundamentalistisch-
christlichen Wertehintergrund gab es. Hierzu gehörte der italienische
Faschismus mit seiner eindeutig futuristisch-technologischen Ausrichtung, aber
auch der deutsche Nationalsozialismus, wie der Religionspolitologe Claus-
Ekkehard Bärsch zeigen konnte.

Die heutigen europäischen Nationen sind keineswegs antimodernistisch


ausgerichtet, jedoch befinden sie sich in einer postmodernen Phase nationaler
und internationaler Neuorientierung.
Der Druck des globalen Marktes hat nicht nur die Verteilungskämpfe um
Wohlstand und Arbeitsplätze gerade an der gesellschaftlichen Basis verschärft,
sondern erzwingt auch politische Entscheidungen, die keineswegs modern und
aufgeklärt erscheinen. Es ist politisch einfacher, die ethnischen Gegensätze und
Grenzziehungen in den Köpfen zu verstärken, die äußeren Grenzen zu sichern
und mit Ausweisungen zu reagieren, als nach angeblich komplizierten,
intellektuellen Interpretationen und Lösungsansätzen zu suchen.
Auf diese Weise wird die Ausbildung fundamentalistischer Haltungen bei
Ausländern und Inländern durch die Politik geradezu provoziert.

Besonders deutlich und auch staatlich sanktioniert wurde diese Haltungen durch
das sogenannte Kopftuchurteil, das einer islamischen, kopftuchtragenden
Lehrerin untersagte, an staatlichen Schulen zu unterrichten. Auf der anderen
Seite werden islamische Kinder in Süddeutschland gezwungen, am Unterricht in
Klassenzimmern teilzunehmen, in denen das Kruzifix prangt. Auch dieser
unbeugsame Konservatismus, der die derzeitige politische Situation ausnutzt
und Gegensätze auf lächerliche Weise zusätzlich verschärft, kann als eine Form
von Fundamentalismus gesehen werden.
Alienne Laval
Aber auch die oft verlangte und beschworene Integration türkischer Mitbürger
kann nicht gelingen, wenn die islamischen Identitäten nicht erst einmal
akzeptiert werden

Der Politologe Günter Max Behrendt berichtet von einem Moscheeverein, in


dem Türkinnen von anderen Türkinnen mit deutscher Staatsbürgerschaft, Abitur,
Kopftuch und gehobenen Berufen Unterricht in deutscher Sprache gegeben
wird. Handelt es sich hier um 'selbstorganisierte Integrationsbemühungen' und
zugleich um 'Abschottungen', wie Berendt vermutet, oder haben wir es mit
etwas ganz anderem zu tun?
Zumindest schließen sich in diesem Moscheeverein, der seine Nähe zur
islamisch-fundamentalistischen Ideologie nicht verbirgt, deutsche Sprachkultur
und Kopftuch in Kontrast zu dem an süddeutschen Schulen üblichen Brauchtum
keinesfalls gegenseitig aus. Hier zeigen sich synkretistische Tendenzen.

Zu Vermengungen und Verschmelzungen, zu Synkretismen, kommt es meist in


Zeiten kulturellen Umbruchs oder beim Zusammenprall verschiedener Kulturen.
In diesen Phasen fließen Eigenheiten verschiedener Weltanschauungen,
Religionen und Konfessionen zusammen.
Vor allem die lateinamerikanischen Volksreligionen wie Voodoo (Vudu),
Umbanda und Candomblé, die sich aus einem Zusammenfließen christlicher,
afrikanischer und indianischer Elemente ergeben haben, werden heute als
Synkretistische Religionen bezeichnet. Sie entstanden abseits der offiziellen
Religionen im Verborgenen zunächst als Reaktion auf Sklaverei, Unterdrückung
und Christianisierung.
Synkretismen bleiben aber im Gegensatz zu den Fundamentalismen in sich
selbst offen und umkehrbar. Sie halten auch Personen und die ganze Welt für
reversibel, veränderbar. Nichts ist statisch und festgelegt. In ihnen herrscht, wie
der Literaturwissenschaftler David Simo bemerkt, die Logik des Traumes.
Besonders deutlich läßt sich diese Haltung am haitianischen Synkretismus
zeigen, der sich insbesondere unter der Diktatur der Duvalliers ausformte.
Diesen Synkretismus beschreibt der Schriftsteller Hubert Fichte so:

"Steine, Pflanzen, Tiere, in Pflanzen verwandelte Menschen - jeder Mensch


ist ein Baum! - in Tiere verwandelte Menschen, Menschen, Zombies -
lebende Leichname -, Tote, Tote, die in einem Menschen weiterleben, tote
Tote...
Kreolisch sprechende Analphabeten, französisch und kreolisch sprechende
Analphabeten, französisch und kreolisch sprechende Alphabeten,
französisch sprechende Alphabeten, mehrere Sprachen sprechende
Alphabeten und Analphabeten...
Männer, die zu arm sind, eine Familie zu gründen, Männer, die eine
Familie gründen können, Männer, die mehrere Familien unterhalten,
Männer, die Familien und Geliebte unterhalten.
Alienne Laval
Vaudougläubige, vaudougläubige Katholiken, zum Protestantismus
konvertierte Vaudougläubige, zum Vaudou (Vudu) rückkonvertierte
Protestanten, vaudougläubige Marxisten..."

In der Konfrontation mit der modernen Welt wurden diese Religionen weiter
angereichert mit Elementen der Psychoanalyse, des europäischen Spiritismus
und verschiedenen Entdeckungen der Wissenschaften.
Gerade auf europäische Intellektuelle hat der Synkretismus großen Reiz vor
allem deshalb ausgeübt, weil er eine religiöse Form und Möglichkeit
aufzuzeigen schien, die ohne den religiösen und gesellschaftlichen Monolog
auskam und stattdessen vielstimmige Heteroglossie zuließ. Für die
Intellektuellen stand der Synkretismus der avangardistischen Kunst und ihren
Formen und Forderungen nahe. Der Synkretismus wurde damit zu einer
intellektuellen Weltanschauung gerade in einer Phase, in der die kirchlichen,
poltitischen und rein wissenschaftlichen Orientierungshilfen bei der
persönlichen Sinnsuche vor allem ab dem Ende der 60er Jahre zunehmend als
unzureichend angesehen wurden.

Im Synkretismus fand man die mögliche Grundlage jener freiheitlich


orientierten interethnischen und multikulturellen Weltgemeinschaft, die duch die
Versprechen sozialistischer und kommunistischer Theorien nicht eingelöst
wurde. Sie entpuppten sich ebenfalls als zu autoritär und monologisch und
standen in der Tradition religiös-epischer Dichtungen.
Das Modell Synkretismus stellte dem Epos das Karnevaleske globaler Kultur
gegenüber und bot die Hoffnung, Meditation, Naturwissenschaft, Technologie,
Ökologie, Kunst, Esoterik, Religion, Psychologie, Ökonomie und Ethnologie
miteinander verbinden zu können.

Für den Literaturtheoretiker Michail Bakhtin (Bachtin) sind das Epische und das
Karnevaleske die zwei Bewegungen, die den europäischen narrativen Diskurs
maßgeblich bestimmt haben und einander je nach Epochen und Autoren
abwechseln. Gerade aus der karnevalesken Tradition heraus entsteht die Form
des Romans und formiert sich die Aufklärung.
Die Epik ist dagegen eine kanonische monologische Gattung. Ihre monologische
Struktur liegt darin, dass in ihr ein Erzähler agiert, dessen Perspektiven mit
denen der Gemeinschaft oder eines Gottes korrespondieren. Es findet, wie David
Simo ausführt, kein Dialog zwischen verschiedenen Bewußtseinsinhalten und -
ebenen statt. Eine klar verstandene Welt wird hier durch ein allgemein
anerkanntes Bewußtsein erzählt, dessen Hinterfragung tabuisiert ist.
Die Quellen, auf die sich die Fundamentalisten beziehen, sind immer noch die
von Gott inspirierten epischen Dichtungen, die die Welt auf dieses jeweils eine
und exklusive Bewußtsein ausrichten und reduzieren. Alle Fundamentalismen
treten vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Exklusivität gegeneinander an und
Alienne Laval
stehen im Gegensatz zu modernen und demokratischen Auffassungen von
Gesellschaft.

Erst mit dem Roman ergibt sich eine formale Möglichkeit und
Darstellungsweise, mit der die Beschreibung synkretistischer Welten und eine
Heteroglossie, eine Vielstimmigkeit, auch in der schriftlichen Erzählung,
möglich wird. Diese Entwicklung hängt stark zusammen mit der Entwicklung
der Märkte und des Handels.
Hubert Fichte findet bei dem griechischen Historiker Herodot, dem ersten
Geschichtsschreiber des Abendlandes, der um 500 vor Christus lebte, die
Anfänge der Form des Romans. Bakhtin selbst setzt den Raum-Zeit-Punkt, an
dem der epische Monolog allmählich in Heteroglossie umschlägt, später, um
etwa 150 nach Christus an. Zu dieser Zeit lebte der griechische Schriftsteller
Lukian in der strategisch bedeutenden syrischen Stadt Samosata, in der
mesopotamische, persische und indische Einflüsse mit griechisch-römischen
Elementen synkretistisch zusammentrafen. Für Hubert Fichte bleibt es
unfaßlich,

"...dass nach einem so neugierigen Beginn ein so unneugieriges Europa


entstand, für das Wissen selten etwas anderes als Macht (war); die
Kolonialgeschichte Europas bleibt die Geschichte der Unempfindlichkeit,
die Philosophie Europas unneugieriger Idealismus, Scholastik,
Scheuklappen und Gebetsmühlen..."

Die Gattung Roman setzte sich in Europa erst allmählich durch, als sich die
einzelnen Gesellschaften zueinander und zur übrigen Welt öffneten, hatte aber
nie den heiligen Stellenwert episch-religiöser Texte. Im Gegensatz zur Epik, die,
wie David Simo bemerkt, die Gattung einer geschlossenen, auf sich selbst
bezogenen Kultur ist, ist der Roman die Gattung einer multikulturellen Welt, ein
Zeichen dafür, dass fremde Kulturen wahrgenommen und rezipiert werden.

Doch der Roman ist auch eine leichter zu vermarktende Form als das Epos und
zudem massenmediengerecht. Jeder Synkretismus hat in sich selbst schon
Charakterzüge des globalen Marktes, indem er alles und jeden miteinander in
Beziehung bringen und verschmelzen kann. Der Markt hat heute die
Heteroglossie für sich entdeckt und okkupiert.
Dieser auf Wachstum und grenzenlosen Warentausch ausgerichtete Markt, der
die Zen-Mönche längst als Werbeträger für Zigaretten, Bier und
Fluggesellschaften entdeckt hat, fordert auf zum inflationären Gebrauch
religiöser, wissenschaftlicher und spritistischer Versatzstücke und Zeichen und
entintellektualisiert damit den Synkretismus.
Das marktwirtschaftliche Verfahren führt damit zu Ängsten vor einer Inflation
des Bewußtseinsfeldes, wie es der Psychologe Carl Gustav Jung einmal
Alienne Laval
ausgedrückt hat. Hierauf wird dann reagiert mit Traditionalismus,
Fundamentalismus, Rassismus, Ausweisung und Grenzziehung.
Das bedeutet, dass der globale Markt in letzter Wendung jene
identitätswahrende Rückkehr zu epischem Denken und den geschlossenen
Systemen des Mittelalters auf hohem technologischen Niveau erzwingt, wie es
heute z.B. die islamischen Fundamentalismen zeigen.

Der Markt überführt sich nicht selbst in Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit und
so gelten auch für die Religion die Regeln des Konsums, denen sich schließlich
die Fundamentalismen gegenüberstellen.
Der religiöse Konsument hangelt sich von einem Angbot zum nächsten, von
einer Therapie zur anderen, vom Sozialismus zur transpersonalen Psychologie,
von da zur Wiedergeburt, von dort zur Astrologie, dann zur Homöopathie und
weiter zu esoterischer Physik, Ethno-Kult, Chaostheorie, Yoga und Buddhismus
und schließlich zum Fundamentalismus.

Das Bewußtseinsfeld, in dem das Ich sich zu orientieren versucht, ist inzwischen
mit dem globalen Markt der Werbung, Waren und Ideen identisch geworden.
Die marktgerechte Zerfaserung von Religion und Erkenntnis, die oft als
Säkularisierung, als Verweltlichung von Religion und Wissen beschrieben und
mißverstanden worden ist, bedeutet indes keine Säkularisierung. Es geht
vielmehr darum, den Markt und seine Produkte mit einer Aura des Religiösen zu
umgeben, ihnen heilsbringende Kräfte zuzusprechen, den Sinnsuchern
klarzumachen, das der Markt selbst der erlösende Sinn ist.

In der gegenwärtigen Phase des Umbruchs, in der die Bezüge zwischen dem
religiösen Zeichengebrauch, der Technologie und den überlieferten religiösen
Inhalten neu gemischt und hergestellt werden, versuchen Individuen und
Gruppierungen innere und äußere Stabilität dadurch zu erzeugen, dass sie ihre
vertrauten und sozialisierten Verhaltenscodes verstärken und sie in Formen
bringen, die anscheinend gleichzeitig stabil und auch offen, also integrativ und
abschottend sind. Zumindest eine gruppenbezogene Konformität von
Anschauungen, Verhalten und Bewußtsein soll dabei eine gewisse Beständigkeit
gewährleisten.

Während das individuelle Bedürfnis nach Heteroglossie heute von Markt und
Medien okkupiert und befriedigt wird, bleiben Interkulturalität und
Interpretierbarkeit intellektuelle Leistungen. Die sozialen Gruppen hingegen
bleiben der monologischen Epik und damit den religiösen Texten der
Vergangenheit überlassen. Diesen Mangel nutzen die Fundamentalismen, indem
sie auf dieser Basis das menschliche Bedürfnis nach Identität und Stabilität
ausnutzen.
Alienne Laval
Der Synkretismus hingegen ist eine urtümliche Wirklichkeit, die wir erst heute
textuell einigermaßen angemessen darstellen können. Lange waren wir in
unseren Darstellungskünsten dem Epischen verhaftet.
Das synkretistische Potential bezieht seine Kraft aus der menschlichen Fähigkeit
zu Offenheit und Verwandlung, während der Fundamentalismus versucht, das
Gegenteil durch Reduktion zu erreichen.

Der Mensch ist ein wahrnehmendes und denkendes Wesen, das nicht
umhinkommt, seine Wahrnehmungen, Erinnerungen, Überlieferungen und
Erfahrungen zu strukturieren, wenn sie kein Traum, kein Muster suggestiver
Bilder bleiben sollen. Das kann er aber nur, wenn er sie zu Geschichten
verbindet, sie zu narrativen Synthesen verdichtet. Diese Texte bedürfen einer
Struktur, die sich der Mittel der Reduktion und der Vermischung bedient.
Fundamentalismus und Synkretismus bleiben so lange aktuell, bis eine
Teilnahme am gesellschaftlichen Wandlungsprozeß, in dem sich epische und
synkretistische Faktoren als differenzierende Momente einer gemeinsamen
Kultur treffen, nicht mehr verweigert wird.

Nach der eingangs erwähnten Analyse Helmut Zanders hat sich die Religion vor
allem mit den fundamentalistischen Ansätzen als ernstzunehmender politischer
Faktor zurückgemeldet. Das zeigt sich zunächst vor allem daran, dass die
Berichte über Fundamentalismus aus dem Feuilleton-Teil der Zeitungen und
Magazine verschwunden sind und nun in der Rubrik Politik verhandelt werden.
Zander fordert deshalb eine Religionspolitik, die sich speziell mit
fundamentalistischen Entwicklungen befaßt.

Die synkretistischen Versuche haben sich indessen noch nicht wieder vom
Markt emanzipiert, sind auch keine politischen Faktoren und selbst dem
Feuilleton nicht der Rede wert. Die synkretistische Heteroglossie bleibt bis auf
Weiteres dem Markt überlassen. Doch eine weitere Polarisierung oder ein
Zerbrechen gemeinsamer Kultur kann nur verhindert werden, wenn begriffen
wird, dass die Synkretismen nicht im marktkompatiblen New Age-Einerlei der
80er und 90er Jahre verharren können, sondern das in den 70ern aufgegebene
intellektuelle Experiment wieder aufnehmen müssen.
Enlightenment muß also wieder als Aufklärung und nicht mehr nur als
Erleuchtung verstanden werden.

Erlösung ohne Mühsahl, ohne tiefe Meditation, so der Dalai Lama einmal in
einem Interview mit dem ZEIT-Magazin, ist unrealistisch. 'Buddha selbst mußte
sechs Jahre lang fasten und meditieren'.

Mit Meditation meinte der Dalai Lama in diesem Zusammenhang durchaus nicht
das jahrelange und ausschließliche Sitzen, das Warten auf Samuel Becketts
Alienne Laval
Godot oder eine ähnliche Erleuchtung, sondern ein nachdenkendes, aufgeklärtes
Handeln, das sich auch politisch und intellektuell äußert.

Ansätze zu einer Meeresanthropologie

I
Alienne Laval
Eine Anthropologie oder Kulturanthropologie4 des Meeres, eine
Meeresanthropologie, müsste den Menschen und sein Verhältnis zu Meer und
Wasser auf mehreren Ebenen untersuchen und zur Darstellung bringen und zwar
auf wissenschaftlicher, sozialer, technologischer, ökonomischer und kultureller.
Mit diesem Anspruch wäre eine Meeresanthropologie der ausschließlich auf
Mensch und Meer bezogene Teil der allgemeinen Anthropologie, deren
Gegenstand

"...die Erforschung der Gesamtheit aller menschlichen Phänomene, überall


auf der Oberfläche dieses Planeten und darüber hinaus und durch alle
Zeit...(ist)",

wie der Anthropologe Gerald Weiss (1973) bemerkt.

Die Anthropologie ist (s.a. Mead 1966)


1.) eine Naturwissenschaft bzw. biologische Wissenschaft, da sie die biologische
Evolution und die biologische Natur des Menschen erforscht;
2.) eine Sozialwissenschaft, da sie das Verhalten der Menschen als Mitglieder
sozialer Gruppen erforscht;
3.) eine historische Disziplin, weil sie nach einer Rekonstruktion der Abfolge
kultureller Entwicklungen strebt;
4.) eine Kulturwissenschaft, weil sie sich mit Kunst, Folklore, Ritual, Mythos
mündlicher Überlieferung, Musik usw. befaßt und
5.) eine semiotische Wissenschaft, weil sie Zeichensysteme, Zeichenprozesse
und Sprachen untersucht

Analog zu diesem Anspruch müsste die Meeresanthropologie alle menschlichen


Phänomene, die sich auf das Wasser und vor allem das Meer beziehen, global
und historisch erforschen.

Doch die Anthropologie ist darüberhinaus auch Wirtschaftswissenschaft,


Rechtswissenschaft, Agrarwissenschaft, Medizintheorie, Architekturtheorie,

4 Für die Expo 2000 in Wilhelmshaven waren (letztlich an der Finanzierung gescheiterte)
kulturanthropologisch ausgerichtete Projekte geplant und ebenso war für die nächsten Jahren
eine Reihe von Symposien zur kulturanthropologischen Erforschung des Meeres vorgesehen
(die auch tatsächlich stattfanden). Während die Expo-Projekte explizite Umsetzungen einer
Kulturanthropologie in die Praxis sein sollten, befassten sich die mit internationaler
Beteiligung ausgerichteten Symposien mit der näheren Erforschung der Thematik.

Wenn die Kulturanthropologie in diesen Zusammenhängen keine vage Begriffshülse und kein
interethnisches Kouriositätenkabinett sein soll, müssen wir uns der Mühe eines theoretischen
Exkurses unterziehen, der den Begriff Anthropologie erst konkretisiert, bevor wir auf die
Praxis zu sprechen kommen können. Ich habe versucht, die theoretischen Überlegungen so
einfach wie möglich zu gestalten, ohne mich jedoch auf Abstriche beim Inhalt einzulassen.
Alienne Laval
Psychologie, Technologie usw. Aus dem ethnologischen, also völkerkundlichen
Teilbereich der Anthropologie ist dieser Zugang bekannt, der in der Regel durch
Voransetzung des Präfixes ethno vor die einzeldisziplinären Bezeichnungen
angezeigt wird. So gibt es Ethnomedizin, Ethnobiologie, Ethnobotanik,
Ethnopsychologie, Ethnoarchitektur usw., aber auch Rechtsethnologie,
Wirtschaftsethnologie usw.

Diese Ethno-Wissenschaften haben jedoch nicht das Ziel, unsere


ethnozentrischen Auffassungen von Biologie, Medizin, Recht usw. zu
exportieren, sondern sind Versuche, die Begriffe, Konzepte und Kategorien zu
verstehen, mit denen eine gegebene, auch indigene Gruppe von Menschen z.B.
selbst Medizin betreibt, philosophiert oder Tierarten klassifiziert. Ein gut
geschulter Anthropologe kann diesen Ansatz nicht nur auf "fremde Vöker im
Urwald", sondern ebenso auf Industriegesellschaften anwenden. Unsere
landläufige Ökonomie beispielsweise würde in diesem Blickwinkel ebenfalls
zum Gegenstand der Wirtschaftsethnologie, zeigte in diesem Blick allerdings
irrationale Züge, quasireligiöse Strukturen und stünde nahe an Traum und
Mythos, die im weiteren Verlauf dieser Darstellung noch interessieren werden.

Ein derartiger Anspruch kann jedoch nur dann eingelöst werden, wenn
anthropologisch geschulte Spezialisten der Einzeldisziplinen zur Anthropologie
beitragen und Generalisten die Analysen synthetisch zusammenführen und zu
Menschheits-Erzählungen, ähnlich den ethnologischen Monographien,
verdichten5, die öffentlich und medial verbreitet werden müßten.

Ebenso, wie die Anthropologie schon vom Gegenstand her keine Einzeldisziplin
sein kann, kann auch eine zu konzipierende Meeresanthropologie keine
Einzeldisziplin sein: sie ist nur denkbar als eine interdisziplinäre
Integrationswissenschaft, deren Aufgabe es ist, den Menschen, seine Position
und sein zwar durch den biologischen Aufbau determiniertes und dennoch sozial
und kulturell wechselhaftes Verhältnis zu Wasser und Meer plausibel zu
erklären. Sie muß also fragen nach den das menschliche Sein in Bezug auf
Wasser und Meer bestimmenden Varianten und Invarianten.

Jede soziale Gruppe, Schicht, Ethnie, Kultur, aber auch jede Wissenschaft,
Religion, jeder Diskurs usw. verfügt über eine Anzahl für sie
bedeutungstragender Begriffe, Handlungen, Zeichen und Theorien. Diese
sozusagen einheimischen Standpunkte müssen über die Grenzen der Kultur oder

5 Der Schritt in die Synthese ist nicht nur deshalb notwendig, weil die Subjekte der
Geschichtlichkeit, der Narrativität und der Erinnerung bedürfen, um subjektive und
intersubjektive Erfahrungsmuster auszubilden, sondern auch, um - auch im Falle der
Meeresanthropologie - interdiziplinär abgesicherte und auf Wasser und Meer bezogene
Menschenbilder zu entwerfen, die zu weiteren Forschungen und Präsentationen anregen.
Alienne Laval
der Disziplin hinaus keinerlei Bedeutung haben; es mag sogar äußerst schwierig
sein, diese Bedeutungen auch außerhalb des ethnischen Diskurses oder des
Fachdiskurses zu vermitteln.6

Hier könnte die schon angeführte synthetische Anthropologie einsetzen, die die
einheimischen, bedeutungstragenden - in der ethnologischen Fachsprache
emischen - Standpunkte zunächst so zu interpretieren versucht, dass sie für die
Mitglieder der untersuchten Gruppe bedeutungsvoll bleiben. In einem weiteren
Schritt wird dann versucht, diesen kognitiven Ansatz zu übersteigen, indem er in
ein analytisches System überführt wird. Es ist dabei das Ziel, die untersuchten
Strukturen und Systeme so darzustellen, dass sie für einen außenstehenden
Beobachter Sinn machen.
Bei diesem in der ethnologischen Fachsprache etischen Standpunkt interessiert
es nicht, ob die Aussagen für Mitglieder der untersuchten Gruppe fachspezifisch
oder intrakulturell bedeutungsvoll bleiben.7 Bedeutung erlangen sie erst wieder

6 Für die Naturwissenschaften bedeutet das, dass sie die in ihrer eigenen Sicht der Dinge
gewonnenen und gesicherten Erkenntnisse - die allgemeingültigen, subjektunabhängigen
Gewißheiten - auf einem hohen Abstraktionsgrad vermitteln. Dabei haben sie, oft ohne es zu
bemerken, dieselben Schwierigkeiten wie viele autochthone Ethnien, die ihre Sicht der Welt
im globalen Kontext kaum durchsetzen, geschweige denn zu Gehör bringen können.

7 Die ersten systematischen Ethnologen waren für ihre Herkunftsländer, die Kolonialstaaten,
unterwegs. Sie waren in erster Linie Berichterstatter für die Regierungen ihrer Heimatländer
oder für Großkonzerne, die an einer Ausbeutung der Bodenschätze und der Arbeitskräfte der
kolonialisierten Gebiete interessiert waren. Die indigenen Glaubens-, Rechts-, Sozialsysteme
usw. mußten erforscht und verstanden werden, damit man wußte wie und an welcher Stelle
man in die indigenen Systeme eingreifen mußte, um sie steuern, verändern und dialogfähig
machen zu können.
Die abstrakten Ergebnisse dieser Analysen waren für die betroffenen Gruppen zwar nicht
bedeutungsvoll, ihre Rückübersetzung und Umsetzung in die Lebenswirklichkeit aber doch
höchst wirkungsvoll. Das ging bis zur unauffälligen Inkorporation europäischer
Rechtskonzepte in die indigen, emischen Systeme, dass es später selbst Einheimischen so
schien, als wenn sich diese Konzepte zwangsläufig und autark aus dem ursprünglichen
Rechtskorpus heraus entwickelt hätten.
Man kann sicher sein, dass Missionierung und Christianisierung, da wo sie geglückt sind und
Gewalt nicht Gegengewalt erzeugt hat, sich ähnlicher Methoden bedient haben. Diese
Prozesse lassen sich dann vor Allem anhand von Transformationen indigener mythischer
Elemente nachweisen; wenn zum Beispiel eine autchthone Gottheit plötzlich zum Teufel
wurde und eine andere in die Position eines Hochgottes gerückt wurde.
Eingriffe in Rechts- oder Glaubenssysteme sind also Manipulationen auf der Ebene der
Werte. Die Werte erscheinen bis zu einem gewissen Grad als variabel, dehnbar und steuerbar,
sie scheinen nicht biologisch festzuliegen, also einem anderen Bereich zu entstammen. Um
die Ebene des Sozialen kann es sich ebenfalls nicht handeln, denn dann würde sich die
Gemeinschaft sofort gegen jede auch noch so indirekte Beeinflussung wehren und mit
vehementem Widerstand nicht erst warten, bis es fast schon zu spät ist. Die Beeinflussung
muß demnach auf der Ebene des Individuums ansetzen und hier die Mythen neu arrangieren.
Auch die Ökonomie, die rezente Erbin von Missionstätigkeit und kolonialer Ethnologie, weiß
um diese Zusammenhänge und erschafft eine streng individualistische Weltordnung, indem
Alienne Laval
in der Übersetzung auf eine metastrukturelle, intersubjektive Ebene, die im
heutigen Zeitalter der Globalisierung eine gesamtmenschheitliche sein müßte.
Hier würden die Forschungsergebnisse beider Untersuchungsmethoden dann
zusammengebracht. Auf dieser Ebene, die Mythen, Traditionen, Rituale, Kunst,
Religionen, Technologien, Naturwissenschaften und Ökonomien integrieren
müßte, sind öffentliche, publizistische und mediale Präsentationen möglich.

Leitdisziplin kann bei einem solchen Vorhaben nur eine Wissenschaft sein,
deren Gegenstand die eigentliche und auszeichnende Dimension des Mensch-
Seins, das sinnstiftende Kulturelle nämlich, ist.

Der Philosoph Leszek Kolakowski (1984:26) führt aus, dass es uns nicht
gegeben ist, auf andere Weise Sinn in unsere Existenz zu bringen. Wir können
Sinn nicht konstituieren,

"...indem wir ihn auf die vorbewußten Bedürfnisse des Körpers beziehen,
wir würden nämlich in diesem Fall die...nicht rechtmäßige Animalisierung
des Menschseins wiederholen; den Dingen durch den Entwurf einen Sinn
zu verleihen, geht jeweils der Bestimmtheit desjenigen, dem der Sinn
verliehen wird, voraus. Die Bedürfnisse sind im Gegenteil der Sinn, den
wir unserer Existenz verleihen."

Ebenso könnten wir die Vernunft, die Weltenmechanik, eine Astrologie, eine
Genetik oder eine Neurologie benutzen, um das ihnen kulturell Vorausgehende,
den Menschen also, zu bestimmen und mit Sinn auszustatten.

Dieses Problem ist kein nur scheinbares und kein rein theoretisches
Erkenntnisproblem, denn seine jeweilige Lösung gibt nicht nur vor, mit welcher
Ausrichtung geforscht und in welcher Weise präsentiert werden kann, sondern
definiert den menschlichen Selbstbezug und die Position des Menschen in
Kosmos, Welt und Umwelt lebensbestimmend. Damit bestimmt die Lösung
dieses Problems nicht nur unsere politische und evolutionäre Ausrichtung,
sondern auch Lehre und Forschung und gibt vor, in welcher Weise Daten und
Befunde geordnet und präsentiert werden können. Eine wie auch immer
reduzierende Systematik an die Stelle des Kulturellen zu setzen, bedeutet, das
Mensch-Sein zu unterschlagen und unterdrückt die Wahrnehmung zugunsten
eines sekundären Konstrukts.

sie die Individuen wohlweislich dem Biologischen und dem Sozialen enthebt und dem
Konzept des Marktes unterwirft. Der bedürfniszentrierte und gleichermaßen
bedürfnisunterdrückende globale und fraktale Markt rückt damit an die Position heran, die
früher die Mythen innehatten. Wird die Ökonomie hier zufällig auf Ovids badende Diana
stoßen?
Alienne Laval
"Die Wahrnehmung kann jedoch nicht umhin, das menschliche Ding
auszuzeichenen, daher die verschiedenen Namen für die Kennzeichnung
seiner Substrat-Natur (Ich/Ego, Seele, Subjekt, Bewußtsein, Geist)", urteilt
Kolakowski (1984:23f).

Ich, Ego, Seele, Subjekt, Bewußtsein und Geist sind Substrate, also nicht weiter
reduzierbare Unterlagen des Mensch-Seins, die nicht durch Rückgriffe auf
andere (z.B. esoterische, naturwissenschaftliche, technologische und
ökonomische) Erklärungsebenen enträtselt oder annulliert werden können. Diese
Substrate, wie auch die von ihnen später erfundenen Begriffe Demokratie,
Freiheit usw. sind originär kulturelle Leistungen.

Es ist jedoch nicht zu bestreiten, dass unsere biologischen Unterlagen, die


Triebe und Bedürfnisse, die sozialen Traditionen und Gegebenheiten, die
Technologien, aber auch Träume und kulturelle Leistungen unser Sein
beeinflussen: wir sind also einem ganzen Bündel von Einflüssen
unterschiedlichen Ursprungs und verschiedener Qualität ausgesetzt.
Die Frage ist jedoch, welche dieser Ebenen wir zur Konstituierung unserer
Identität als Menschen heranziehen.8
8 In seinem Buch Die Einheit des Wissens geht der Soziobiologe Edward O. Wilson wie
schon füher davon aus, dass es der Biologie demnächst gelingen wird, alle Phänomene der
Kultur mit ihrem Instrumentarium zu erklären. Die Wissenschaft, so Wilson, sei inzwischen
zum künstlichen Horizont des Menschen geworden. Von diesem Horizont aus sehen wir das
Flaggschiff Biologie, die neue Leitwissenschaft, die die Flotte der Wissenschaften anführt,
zunächst auf uns zusegeln.
Wilson ist ein sogenannter starker Reduktionist, denn er erklärt die biologischen Grundlagen
schlichtweg als hinreichend, um das Phänomen des Geistes zu erklären. Starken
Reduktionismus kann die Naturwissenschaft nach ihren eigenen Kriterien jedoch nur bei
einfachen Systemen, also dort anwenden,

"...wo ihre Erklärungen auch zu Prognosen taugen, etwa in Bereichen der Physik. Doch bei
komplexeren Systemen bricht diese Symmetrie zwischen Erklärung und Prognose ziemlich
bald zusammen - sie bei Menschen oder gar Gesellschaften zu erwarten wäre mehr als naiv,"
schrieb Ulf von Rauchhaupt in DIE ZEIT( 1998 Nr. 45, S.42)

Wilsons starker Reduktionismus in der Erklärung des Geistes schließt vom biologischen Sein
auf das geistige Sollen. Die Soziobiologie sitzt damit dem sogenannten naturalistischen
Fehlschluß auf und übertritt ein Tabu, das in allen nicht-autoritären Gesellschaften gilt.
Totalitäre Ideologien und Staaten bedienen sich absichtlich dieses Fehlschlusses, der Sein und
Sollen symmetrisiert, um die Bevölkerung auf ihr Konstrukt auszurichten und unliebsame
Elemente zu eliminieren.

Doch auch die Reduktion des Menschlichen auf die reine Befriedigung von Konsum-,
Freizeit-, Technologie-, Informationsbedürfnissen oder auf eine wie auch immer geartete
Vernunft, wie Wilson es vorführt, usw. ist eine Leistung des naturalistischen Fehlschlusses.

Ich will die Berechtigung von reduzierenden Ansätzen, wie z.B. die Soziobiologie sie
vorführt, keineswegs herabsetzen, da sie in bestimmten Bereichen zu zweckvollen
Alienne Laval
Eine Identitäts- und Sinnstiftung, ist, wie schon ausgeführt, praktisch nur aus
dem des Bereich des Kulturellen selbst und theoretisch nur aus den das
Kulturelle begleitenden Kulturwissenschaften heraus möglich.

Die Integration aller gesellschaftlichen Bereiche - auch der Wissenschaften - in


das Ökonomische, wie zur Zeit gewollt, erfolgt keineswegs synthetisch und
narrativ; sie wird vielmehr erzeugt durch den weltweit wirksamen Druck des
monetären Systems. Die Erzählungen der neuen Manager-Schamanen sind auch
eher langweilig, da sie nur am Markt, an der Gegenwart und am Gebrauchswert
orientiert sind, aber keine Einsichten in das Mensch-Sein und seine
Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten bieten. Trotzdem ist es dem
Ökonomischen dank des monetären Druckes geglückt, zur eigentlichen, auch
das Kulturelle determinierenden Integrationswissenschaft und Leitdisziplin zu
werden. Eine Reduktion des Menschlichen auf das Ökonomische impliziert
allerdings ebenfalls die angeführten Gefahren.

Die Kulturanthropologie - als Angelpunkt einer allgemeinen Anthropologie -


könnte dieser Aufgabe gewachsen sein, verfügt allerdings über keine
angemessene Systematik. Als Ordnungsprinzipien bedient sie sich evolutionärer,
institutioneller oder strukturaler Ansätze, die in der Regel jedoch nicht explizit
zusammengeführt werden. Es gibt inzwischen einige semiotisch, also
zeichentheoretisch fundierte Theorien, die versuchen, diesen Mangel zu
beheben. Hier muß man sich allerdings auf jene Forscher beschränken, die
Kultur ausdrücklich in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen, denn viele
Semiotiken wiederholen die reduzierenden, einzewissenschaftlichen Fehler,
unterliegen dem naturalistischen Fehlschluß, der Sein und Sollen gleichsetzt und
erreichen so ebenfalls keine Anthropologie.

Oft ist es der evolutionäre Ansatz, der die Semiotik zwar mit der Biologie
verbindet, aber auch Anstoß erregt und zu Kritik animiert. Dabei wird jedoch

Ergebnissen führen, doch reichen sie allein keineswegs aus, um menschliche und kulturelle
Perspektiven zu entwickeln.
Ein Entwurf derartiger Perspektiven fällt den sogenannten exakten Wissenschaften allein
schon aufgrund ihres Gegenstandsbereiches schwer. Da, wo sie dies dennoch versuchen,
schürfen sie zwangsläufig im Metaphysischen und damit in der Sphäre des Kulturellen und
Anthropologischen. Hier wird es dann unwissenschaftlich und Forderungen nach Visionen,
kürzlich erneut von Hubert Markl bekräftigt, werden laut.

Der Bereich, der in der postmodernen und globalen Gesellschaft für Visionen zuständig ist, ist
ebenfalls keines originär kulturellen Ursprungs. Es sind nicht mehr die Schamanen,
Propheten, Priester und Philosophen einer noch nahen Vergangenheit, sondern die Manager
der multinationalen Konzerne und Banken, die Visionen zeitigen sollen.
Alienne Laval
häufig übersehen, dass sich der semiotische Evolutionsbegriff vom landläufig
üblichen in zentralen Punkten unterscheidet.
Zunächst wird unterschieden zwischen Gebrauchs- und Kulturverhalten, wobei
zum Gebrauchsverhalten die Techniken, die Ökonomie, Bereiche sozialer
Organisation aber auch viele Errungenschaften der Zivilsation gehören. Das
Kulturverhalten zeichnet sich dadurch aus, dass es vom Standpunkt des
Gebrauchsverhaltens oder des rein physischen Überlebens von Mensch und
Gattung überflüssig ist. Hier geht es um Kunst, Traum, Utopie, aber auch um
Religion, Wissenschaft, Philosophie usw.
Kultur ist in semiotischer Sicht ein zeichenhaftes Phänomen und der Mensch
zeigt sich hier als Benutzer, als Hersteller und Interpret von Zeichen und Texten.
Der Begriff Text wird in der Semiotik allerdings nicht auf Gesprochenes oder
Geschriebens beschränkt. Jeder kohärente, intendierte Zeichenkomplex kann
prinzipiell als Text aufgefaßt werden. Der Semiotiker Michael Titzmann
(1977:9) formuliert das so:

"...alle menschlichen aber auch tierischen Äußerungen..., die als


'zeichenhaft' und 'bedeutungstragend' fungieren: normalsprachliche Texte
der Alltagskommunikation; religiöse, philosophische, wissenschaftliche,
'hohe' und 'triviale' literarische Texte; epische, dramatische, lyrische Texte;
Produkte der Malerei, Plastik, Architektur; Comic Strips, Filme, Werbung:
im Prinzip auch gestische oder mimische Äußerungen."

In der Sphäre des Gebrauchsverhaltens haben wir es primär nicht mit Zeichen
und Texten zu tun, denn Techniken, Gebrauchsgegenstände, auch Bereiche
sozialer Organisation und bestimmte wissenschaftliche Verfahren wurden nicht
geschaffen, um zeichenhaft zu sein oder gar Identitäten zu stiften: sie sind
Werkzeuge. Gegenstände des Gebrauchsverhaltens können zwar sekundäre,
zeichenhafte Funktionen annehmen, doch sie sind ursprünglich nicht als Zeichen
oder Texte intendiert.

Evolution in semiotischem Sinne meint die Evolution von Zeichenprozessen und


Zeichensystemen. Die Evolution des Gebrauchsverhaltens, der Techniken, der
Ökonomie und der zivilisatorischen Errungenschaften ist von zweitrangigem
Interesse und Gegenstand anderer Disziplinen. Dies ist im semiotisch-
anthropologischen Zusammenhang auch theoretisch gerechtfertigt, der Kultur
als die einzig mögliche Dimension zur Produktion menschlicher Identität und
Daseinskonsitution herausstellt.

Wie weit auch immer die Techniken entwickelt sein mögen, so sagt die
Technik-Evolution noch nichts über den kulturellen Status einer Gemeinschaft
aus. Es kann also durchaus sein, dass eine Ethnie kulturell weiter entwickelt ist,
als eine technifizierte Hochzivilisation, die den großen Bogen zurück zu den
Alienne Laval
physikalischen oder biologischen Anfängen geschlagen hat und sich durch die
Eliminierung von Ich, Seele, Bewußtsein und Geist auszeichnet.
Der evolutionäre Ansatz der Semiotik wahrt also den anthropologischen
Anspruch an die Kulturrelativität, weil er keinem biologischen und keinem
Darwinismus des Gebrauchsverhaltens aufsitzt.

Grundlage für eine semiotische Interpretation des Kulturellen und seiner


Evolution kann ein Drei-Schichten-Modell der Codes sein, wie es der
Semiotiker Ivan Bystrina (1989) vorgeführt hat. Es wird dabei davon
ausgegangen, dass Mensch in drei unterschiedlichen Codeebenen existiert.
Ähnliche Modelle wurden von dem Paläoanthropolgen André Leroi-Gourhan
und den Semiotikern Roman Jakobson, Charles Morris und Roland Barthes
vorgeschlagen. Neuere Forschungen, z.B. die von Edwina Taborsky (1997ff),
weisen darauf hin, dass schon Charles S. Peirce, einer der Begründer der
modernen Semiotik, ähnliche Modelle im Sinn hatte.

Bystrina (1989) unterscheidet primäre, sekundäre und tertiäre Codes: primäre


Codes sind genetische Codes, intraorganismische Codes (z.B. Botenstoffe,
hormonale Regelsysteme etc.), Wahrnehmungscodes etc.; sekundäre Codes sind
z.B. ethologische Codes und 'sprachliche Codes'; tertiäre Codes sind
'hypersprachliche' Codes, die Träume, Märchen und Mythen regeln.

"Wir können diese drei großen Gruppen von Codes auch als
hyposprachliche, sprachliche und hypersprachliche Codes bezeichnen", so
Bystrina (1989:117)

oder sie vereinfacht und für unsere Zwecke biologische, ethologische und
kulturelle Codes nennen.9 Diese Codes schichten sich in evolutionärer Folge

9 Bystrina unterscheidet primäre, sekundäre und tertiäre Codes, wobei die primären einfache,
syntaktische Codes sind, die wir z.B. als genetische Codes bezeichnen. Ihr Kennzeichen ist
eine hohe Codegebundenheit (Stringenz) und eine daraus resultierende relativ starke
Invarianz. Sie strukturieren die primären Lebensformen und bezeichnen eigentlich Leben und
darüberhinaus gar nichts. Auf den sekundären Codes sind semantische Operationen möglich;
sie regulieren ethologische Systeme, die verschiedenen Spielarten des Sozialen im Tierreich
(auch Mimikry, Spiele, Sozialverhalten, Tarnungen und Täuschungen), soziale Systeme und
Phänomene der menschlichen Alltagssprache.
Spätestens hier tritt etwas ein, dass sich mit dem Walten primärer Codes alleine nicht mehr
erklären läßt. Der einzelne Organismus bleibt zwar eine raumzeitlich auszumachende und
durch Geburt und Sterben begrenzte Entität, doch diese ist eingebunden in ein konzeptuelles
Gefüge, das sich quasi außerhalb von Raum und Zeit - und damit auch der
phänomenologischen Wahrnehmung - befindet. Die individuelle Kenntnis dieses Gefüges -
und damit auch sein Verhältnis und das der Individuen zur Umwelt - ist nicht mehr nur
angeboren, sondern muß zum größten Teil erlernt, sozialisiert und tradiert, d.h.: introjeziert
werden.
Dieser Bereich, den ich als das ethologisch Soziale bezeichne, erstreckt sich bis hin zu der
Organisation menschlicher Gemeinschaften. Zu der primären Syntax der codehaften
Alienne Laval
nicht nur aufeinander auf, sondern bleiben in mannigfaltigen intra- und
interorganismischen Beziehungen erhalten.

Zu Anfang wurde von der Anthropologie gesagt, dass sie in ihren wesentlichen
Aspekten gleichzeitig Naturwissenschaft, Sozialwissenschaft, historische
Disziplin, Kulturwissenschaft und semiotische Wissenschaft sei. In semiotischer
Perspektive untersucht sie also biologische, ethologische und kulturelle Codes.

Bystrina (1989:86) spricht in diesem Zusammenhang von einem Trend der ab-
nehmenden Codestringenz, einer zu den tertiären, kulturellen Codes hin
abnehmenden Codegebundenheit. Es muß angenommen werden, dass das
'menschliche Soziale' sich nicht durch lineare evolutionäre Folge aus dem
ethologischen Sozialen der höheren Säugetiere ergibt, sondern eine besondere
Genese birgt.

Im Menschen lösen sich die neuen Kapazitäten des Kulturellen so weit von der
ursprünglichen biologischen und ethologischen Unterlage ab, dass ein völlig
neuer Bereich - eine zweite Wirklichkeit - entsteht, die sich gänzlich in den
Köpfen und in den nach außen verlagerten geritzten, gemalten, getanzten usw.
Texten befindet. Diese Texte sind in erster Linie narrativ, d.h.: sie erzählen
Geschichten. Hierdurch unterscheidet sich das menschliche Zeichenverhalten an
entscheidender Stelle von dem der Tiere, die zwar auch Zeichen benutzen, diese
aber nicht zu Geschichten oder Texten verdichten.

Strukturen, die sich u.a. durch die geschlechtliche Fortpflanzung weiterhin realisiert, tritt nun
eine Semantik hinzu, die einen bewußten Bezug zwischen den Umweltobjekten, den
Individuen - die ebenfalls Objekte dieser Metastruktur sind - und dem ethologisch Sozialen
herstellt. Dieser Art liegt mit dem ethologisch Sozialen eine zweite codehafte Struktur, ein
sekundärer, semantischer Code, vor, der das Verhältnis der Organismen zu den Phänomenen
der Umwelt gänzlich verändert. Es sind nicht mehr Modifikationen auf den primären Codes,
die diese Gemeinschaften auf Veränderungen der Umwelt reagieren lassen - denn dazu sind
die Generationenfolgen viel zu lang -, sondern Modifikationen auf den sekundären Codes.

Spätestens bei den höheren sozialen Säugern gesellt sich zu der Fähigkeit des Spiels und des
Sozialverhaltens jedoch eine weitere, die des Traumes, hinzu, der ein in den Innenraum
verlagertes Nach- bzw. Vorerleben bestimmter Erfahrungen und Situationen gestattet.

Während die sekundären, semantischen Codes eher ein gruppenhafter Ausdruck sind, deutet
sich mit dem Traum eine individualisiertere Form des Erlebens an, die später mit Begriffen
wie Götter, Geister, Seele, Ich, Bewußtsein usw. belegt werden wird. Die evolutionären
Vorläufer dieser Kapazität können in den Fähigkeiten zu Mimikry, Tarnung und Täuschung
gesehen werden, die schon früh und interspezifisch in der Phylogense auftauchen. Traum,
Verwandlung, Devianzen, Rausch, Ekstase, Askese usw. sind die Etappen, in denen sich diese
individualisiertere Form des Erlebens von den sozialen Säugern über die Primaten bis hin zum
Menschen weiterentwickelt.
Alienne Laval
Während jene Lebewesen, die die Ozeane verließen, um ihr Glück an Land zu
suchen und hier mit den sozialen Säugern letztlich ethologische Sozialgefüge
entwickelten, tauchten die Menschen wiederum ein in einen neuen, inneren,
introspektiven Ozean zeichenhafter Gestaltungen. Das Problem, das sich nun
stellte, war das der Gliederung und der Organisation dieses Ozeans. Dies
geschah durch Märchen und Mythen, namentlich durch Schöpfungsmythen, mit
denen so etwas wie ein inneres, psychisches Festland erreicht bzw. erzeugt
werden sollte, indem das Chaotisch-Narrative des Traumes in das Kosmisch-
ordnend-Narrative der Mythen überführt wurde.

Wie das gemacht wurde, erklärt die Religionswissenschaftlerin Wendy Doniger


O'Flaherty (1984:127) so: das Narrative funktioniert in den Träumen anders als
in den Mythen, da den Träumen ein überzeugender, ursächlicher
Zusammenhang von Ereignissen, also die Kausalität, fehlt. Den roten Faden
einer Handlung ersetzt hier ein Muster von suggestiven Bildern. In Träumen
können keine Beweise geführt werden, da Beweise abhängig sind von der
skelettartigen Struktur des Ursache-Wirkungs-Zusammenhanges, an der es
Träumen mangelt. Mythen fügen den Träumen aber genau jene Struktur hinzu,
die diese Beweise möglich macht.

Wie ich schon an anderer Stelle (Uchtmann 1991) ausgeführt habe, entstammt
der Mensch in dieser Sicht dem Mythos10; er ist im Mythos entstanden: der
Mythos ist das missing link, das fehlende Bindeglied, das uns mit dem Wasser,
unseren animalischen Vorfahren und der Umwelt verbindet.

Im weltweiten und kulturhistorischen Vergleich stoßen wir auf


Schöpfungsmythen, die dieses Geschehen thematisieren. Zum chaotischen und
traumatischen Zustand dieses inneren Ozeans gesellen sich Geister oder Götter,
die eine mythische Ordnung installieren und von den Menschen oft als von
außen, aus einer anderen Sphäre kommend, empfunden werden. Diese
Empfindung entsteht, weil die mythische Ordnung ein vollkommen neues, noch
fremdes Element in Mensch und Welt einbringt. Der geographische Ort, von
dem die Ordnung ausgeht, wird deshalb oft im Himmel angesiedelt. Prävalente
Orte der Erfahrung dieses Ordnenden sind deshalb, je nach Erfahrungshorizont,
hohe Bäume oder Berge, die dem Himmel nahe sind.

Dieser zweite, psychische und kulturelle Landgang, der dem ersten und
physischen, der zum Erfolg der sozialen Säuger führte, folgte, brachte die
Notwendigkeit mit sich, das Soziale, das bislang ethologisch reguliert war,
zumindest teilweise auf andere, auf anthropische und ethnische Weise zu
organisieren: es entstand ein, wie ich es nenne, ethnisches Soziales.
10 Mit den Mythen ist der Mensch dem Traum oder "seinem Kopf entsprungen, wie ein
Verurteilter dem Gefängnis", wie George Bataille es einmal formulierte.
Alienne Laval
Ab diesem Raum-Zeit-punkt, der als Punkt der Kulturemergenz, also des ersten
Auftretens des Menschen als kulturellem Wesen, gesehen werden kann,
existierte der Mensch in zwei Bereichen, war er an zwei existentiellen
Prozessen, dem des physischen und dem des psychischen Überlebens, beteiligt.

II

Die grundsätzliche Aufgabe der kulturell-schöpferischen Geister- oder


Götterkräfte war es, das Mensch-Sein durch Schaffung von Ordnungen und
sozialen Bedingungen aus dem Wasser zu führen und Identitäten zu
ermöglichen.
Während die Götter oder Eigentümer der Welt in primären oder elementaren
Gesellschaften (den sogenannten Stammesgesellschaften) außerhalb der Träume
oder der Traumzeit keineswegs dinglich-konkret waren, weil sie einer mythisch-
konzeptuellen, kulturellen Ordnung angehörten, in die die tertiären Codes - z.B.
durch Initiation - stets rückgeführt und eingebunden blieben, so wurden diese im
weiteren Verlauf der Kulturgeschichte immer weltlich-realer.
Einerseits kann dieses Phänomen als Eroberung und Besetzung des Himmels
durch Menschen (s.a. Uchtmann 1996) beschrieben werden, andererseits aber
auch als Herabkunft der Götter (s.a. Taborsky 1997) auf die Erde und als deren
Menschwerdung interpretiert werden.11

Es gibt Indizien dafür, dass die Besetzung des Himmels durch Menschen bzw.
die Herabkunft der Götter in Zusammenhang mit einer wachsenden
Populationsdichte steht (s.a. Taborsky 1997). Je größer die Bevölkerung wird,
desto mehr materialisieren sich sozusagen die Eigentümer der Welt. Dieser
Prozeß beginnt mit ikonischen Idolen und ritueller Beschwichtigung und führt
über vergottete, menschliche Herrscher bis hin zur rational begründeten
Besitznahme von Ländereien, Menschen und Ressourcen. Dieser Prozeß steht in
engem Zusammenhang mit der Seelen- und Ich-Werdung des Menschen, die
teilweise hart erkämpft werden mußte, denn zunächst hatten nur die Gott-
Könige so etwas wie Geist und Seele auf Erden.12

11 Die Menschwerdung Gottes im Jesus von Nazareth kann dann auch so gesehen werden,
dass sie dadurch notwendig wurde, weil schon die Römer so willkürlich wie fleischgewordene
Götter agierten. Ein himmlischer Gott hätte diesen wirklichen Göttern wenig
entgegenzusetzen gehabt.

12 Die Mumifizierung der Pharaonen hatte z.B. das Ziel, den Geist, also das pharaonische
Konzept auch nach dem Tod weiterhin für Erde und Menschen wirksam, eine bestimmte
Ordnung über den Tod hinaus zu erhalten.
Doch um das Jahr 2100 v. Chr., am Übergang vom alten zum mittleren Reich, gab es so etwas
wie eine Revolution; gewöhnliche Sterbliche erkämpften sich eine Seele, Besitzende wurden
enteignet und Sklaven stiegen zu Herren auf. Wer eine Seele hat, der will aber auch am Geist
teilhaben und den Tod konzeptuell überleben. In der Folge wuden die bisher geheimen,
Alienne Laval
Mit der immer weitergehenden Herabkunft der Götter gingen Profanisierungen
der konzeptuellen Ebene einher, die schließlich zu ihrer Auflösung im
Individuellen führte. Die neuen Konzepte, die das Verhältnis von Individuum
und Gemeinschaft regeln sollten, waren juristischer und politischer Art, bezogen
sich also vornehmlich auf das Gebrauchsverhalten und waren dadurch
keineswegs bindend.

Diesen Konzepten gegenüber stand und steht ein Individuum neuen Typs, das
sich ab der Phase der Industrialisierung herausbildete. Die Psychologie der
Eigentümer in der Epoche beginnender Industrialisierung und des
Abenteurerkapitalismus, die noch im Bewußtsein ihres Verstoßes gegen alte
Ordnungen handelten, hat Goethe in seinem Faust trefflich dargestellt.

Mit der Gewöhnung an diesen neuen Typus von Identiät, die vor allem durch die
Erfolge in der Eroberung neuer Ländereien, der Erfindung neuer Techniken, den
Fortschritten der Wissenschaften und der Ausbeutung von Bodenschätzen
erleichtert wurde, verschwanden allmählich auch diese Skrupel.

Um erfolgreich zu sein, mußten sich die industriellen Revolutionäre des


kulturellen, des tertären Codes bemächtigen, von dem allein aus sie als auf sich
selbst und auf den Mehrwert bezogenes Ich handeln konnten. Da ihnen jedoch
nicht an neuen, konzeptuellen Mythen gelegen war, erreichten sie nur den Ozean
eines neuen Traumes, den des Fortschritts und der Machbarkeit.

Doch auch die Indigenen und die Konsumenten sind Teil dieses Traumes, der,
da er nicht konzeptuell, sondern nur individualistisch funktioniert, die
Möglichkeit einer Teilhabe am Besitz vorgaukelt. Im Derivat des
Konsumverhaltens glauben wir alle Götter und Miteigentümer der Welt zu sein,
werden aber nur massenmedial mit Reizen überflutet, die nicht mythisch-
narrativ, sondern traumatisch-suggestiv - bis hin zur Nivellierung aller
Differenzen - sind. Doch ohne Differenzen sind keine Texte mehr möglich.

Es ist frappierend, dass die globale Durchsetzung dieses Traumes mit


verschmutzenden Meeren, steigenden Wasserspiegeln, Überschwemmungen und
Flutkatastrophen koinzidiert.

heilgen und einer kleinen Schicht vorbehaltenen Totenbücher veröffentlicht.


Alienne Laval
Aus den Mythologien der Völker sind uns Sintfluten13 bekannt, die die
mißratene Menschheit, die bestimmte Tabus gebrochen hatte, hinwegfegten,
einen Abortus verursachten und das Ende einer unfruchtbaren Entwicklung
markierten. Nur ein Rest, ein einziger Keim, ein neuer Anfang, eine Arche, die
wiederum im gedanklichen Chaos eines Urmeeres trieb, blieb von der
Menschheit übrig.

III

Da die kulturellen, tertiären Codes zur Zeit nicht imstande sind, Identitäten zu
stiften, wird zunehmend auf biologische und ethologische Codes
zurückgegriffen, die diese Funktion wahrnehmen und das Differenzprinzip
retten sollen. Hier zeigen sich verzweifelte Versuche, Stabilität zu erhalten und
Bedeutung zu konsolidieren. Weshalb das nicht funktionieren kann, wurde
eingangs begründet. Wird dieser Versuch dennoch gemacht, so bleiben wir den
vom Markt ausgehenden kulturellen Instabilitäten weiterhin ausgesetzt. Es nutzt
uns gar nichts, wenn wir uns im Gegenzug bemühen, die alten Gottheiten zu
revitalisieren, denn wir wollen ja nicht zurück zu den alten und zweifelhaften
semantischen Werten, die die wissenschaftlichen und technologischen
Kenntnisse ausklammern müßten.

Wir brauchen dehalb Entwürfe neuer konzeptueller Ordnungen, die allen drei
Codeebenen der menschlich-kulturellen Existenz und damit auch der Umwelt
und den Mitwesen Rechnung tragen und gleichzeitig unsere Art von
gottgleichem Eigentümerverhalten begrenzen, aber dennoch weiterhin
Technologie und Wissenschaft ermöglichen. Dies kann weder eine
Technologie, noch das Ökonomische leisten, denn beide gehören zum
Gebrauchsverhalten. Das Ökonomische, also ein Gebrauchsverhalten im
Mittelpunkt menschlicher Existenz, hat das Kulturelle soweit dynamisiert, dass
wir neue Orientierungen benötigen.
Als Schnittpunkt einer neuen gesellschaftlichen Syntax deutet sich inzwischen
ein mythisch-bipolarer ökonomisch-ökologischer Operator an, der sich jedoch
nur dann wird durchsetzen können, wenn auf der Ebene kultureller Codes
Mythen etabliert werden. Hier helfen ökonomisch-ökologische Einsichten
13 z.B.: Bibel, Koran und Thora; sumerische, babylonische und assyrische Chroniken;
griechische Überlieferung; altindische Schriften (Satapatha, Brahmana,Mahabarata); Purana;
persische Überlieferung; walisische Legenden; Edda; litauische Sagen; irische Legenden;
chinesische Legenden; Chroniken der Azteken, Tolteken und Chichimeken; Maya-Chroniken;
Legende der Chibcha, Südamerika; Legende der Huronen, Nordamerika; Legendes der
Mandan, Nordamerika; Legenden der Dakota-Sioux und Chicksaw, Nordamerika; Legenden
der Hopi, Nordamerika; Legenden der Guarani, Südamerika; Inka-Überlieferung,
Südamerika; Legende der Tuscarora, Brasilien; Legende der arktischen Eskimo; Legende der
Tlingit, Alaska.
Alienne Laval
allerdings nicht weiter. Das mythisch-kulturelle Konzept muß identitätsstiftend
sein, dem Ich, der Seele, dem Bewußtsein, dem Geist eine sinnvolle Semantik,
d.h. einen glaubwürdigen Bezug zu den Dingen der Umwelt gestatten.
Eine sinnvolle Semantik, die nicht erneut jene Fehler wiederholen will, die zur
wirklichen Inbesitznahme und Parzellierung der Erde führten, könnte von der
konzeptuellen Logik primärer Gesellschaften ausgehen und diese
weiterentwickeln, dürfte jedoch nicht den Fehler machen, diese einfach zu
kopieren.

Ein einfaches Modell einer solchen Konzeption, das als Kula-Ring-Tausch in die
Geschichte der Ethnologie eingegangen, soll nun kurz vorgestellt werden. Bei
seinen Forschungen auf den melanesischen Trobriand-Inseln entdeckte der
Ethnologe Bronislav Malinowski eine als Kula beteichnete Form des
symbolischen Tauschhandels, der zwischen den Bevölkerungen eines großen
Gebietes, die einen weiten Ring von Inseln im Norden und Osten der Ostspitze
Neuguineas und auch Dörfer am Ostkap Neuguineas bewohnten, betrieben
wurde. (Ausführungen nach Uchtmann 1996)
Die Trobriander veranstalteten noch in diesem Jahrhundert alljährliche
Seefahrten, bei denen werttragende Halsketten aus roten Muschelscheiben im
Ring der Kula-Inseln in der einen Richtung fortgegeben wurden, um sie dann
aus der anderen Richtung im Tausch gegen ebenso wertvolle Armreifen aus
weißen Muscheln wieder zurückzubekommen.
Während die Muschelketten im Urzeigersinn im Ring der Inseln weitergegeben
wurden, wanderten die Armreifen in entgegengesetzter Richtung, so dass jeder
dieser Gegenstände auf seiner Reise in dem geschlossenen Kreislauf auf
Gegenstände der anderen Art traf und ständig gegen diese getauscht wurde.
Bei den Fahrten ging es aber in erster Linie nicht um den materiellen Wert der
Gegenstände, die getauscht wurden. Ihr Wert war ideeller Natur, denn sie waren
Ausdruck und Überbringer einer bestimmten Seelenhaftigkeit, die in Form von
Geschichten, Mythen und Ritualen weitergegeben wurde.
Es gibt Indizien dafür, dass die Kula-Unternehmungen die Kopfjagd abgelöst
und in ihrer Funktion ersetzt haben.
Mit den Kula-Unternehmungen wurde der Kopfjagd ein utopisches Bild des
Mensch-Seins als alternatives Projekt entgegengesetzt, das als eine durch die
Seefahrten aufrechterhaltene Beziehung gelebt wurde. Durch die alljährliche
Wiederholung der Reisen entstand daher eine neue Tradition, die das alte
Verfahren allmählich überlagerte.
Die in diesem Kula-Bündnis zusammengeschlossenen Inseln hatten sich damit
gegenseitig auf ein Menschenbild - eine Art erster Verfassung - verpflichtet, in
dem die Kopfjagd abgelehnt wurde.
Die riskanten Seereisen zwangen die Teilnehmer nicht nur zur
Auseinandersetzung mit den Elementen Wasser und Wind, sondern auch zur
Beschäftigung mit ihren Vorstellungswelten.
Alienne Laval
Die Vorstellungen und Gedanken, die die Teilnehmer das ganze Jahr über
beschäftigt hatten, wurden nun vor dem Hintergrund dieser besonderen Situation
in Geschichten, in die auch die Erzählungen früherer Reisen einflossen,
bewältigt.

Dabei konnten die Reisenden Kannibalen, Zauberern, fliegenden Hexen,


springenden Steinen, Inseln männerloser Frauen und fliegenden Kanus
begegnen; jedoch konnte keiner der Teilnehmer von vornherein wissen, welchen
Erscheinungen sie im Einzelnen begegnen würden. Die Kula-Unternehmungen
waren nur grob skizziert und im Voraus nicht genau planbar; hierin
unterschieden sie sich von den Tätigkeiten, die mit dem Gebrauchsverhalten zu
tun hatten.

Bronislav Malinowski hat seine Monographie über die Bewohner der Trobriand-
Inseln auf drei Bände angelegt. Den ersten Band, der sich mit dem Kula-Ring
und dem symbolischen Tausch beschäftigt, nannte er - in Anlehnung an die
Argofahrt des Odysseus - Argonauten des westlichen Pazifik. Es folgten die
Bände Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwestmelanesien und
Korallengärten und ihre Magie.
Die Argonauten des westlichen Pazifik machen den Leser vertraut mit dem
Kulturverhalten der Bewohner der Inseln, die am Kula teilnehmen, während die
beiden folgenden Bände ihn in die Organisation des Sozialen und des
Gebrauchsverhaltens einführen.

Die Teilnehmer am Kula hatten eine Harmonie zwischen den Polen Geist und
Materie, Kultur- und Gebrauchsverhalten zustande gebracht, die sich beide als
nicht ineinander auflösbar darstellten.

Das, was sozial gelebt wurde oder als heimatlicher Ort bestimmt werden konnte,
wurde als durch die Utopie begründet gesehen, welche die am Kula
teilnehmenden melanesischen Gesellschaften von sich entwarfen. Diese Utopie
konnte aber nicht im Sozialen selbst oder im Gebrauchsverhalten, sondern nur in
der sozialen Aus-Zeit der Reisen erschlossen, aufrechterhalten und gefestigt
werden.

IV

Eine Meeresanthropologie hätte also zunächst die Aufgabe, den Umgang mit
Wasser und Meer historisch und vergleichend auf zwei verschiedenen Ebenen,
der des Gebrauchs- und der des Kulturverhaltens darzustellen und dann zu
analysieren, wie das Verhältnis der unterschiedlichen Codeschichten geregelt ist.
Diese Methodik dürfte sich jedoch nicht nur auf autochthone und überseeische
Alienne Laval
Kulturen beziehen, sondern müßte, wie schon eingangs gefordert, unsere eigene
Gesellschaft in den Vergleich mit einbeziehen.
Es muß überlegt werden, wie archaische Verfahren, Ökonomie, moderne
Technologie und Wissenschaften zusammenkommen können, ohne sich
gegenseitig auszuschließen oder aufzulösen.

Der trobriandische Kula-Ring-Tausch beabsichtigt nicht, inselübergreifend


einheitliche Identitäten zu erzeugen und es ist nicht sein Ziel, ein Imperium aus
mehreren Inseln zu schaffen. Er wahrt die Integrität der einzelnen Gruppen und
ihre Differenzen, die er durch Geschichten verbindet und überbrückt.

Ebenso kann es bei einer Meeresanthropologie nicht darum gehen, global


Identitäten zu nivellieren. Doch Geschichten und Texte werden interpretiert -
das hat auch Malinowski getan - und es liegt an uns, was wir aus ihnen lernen,
mit ihnen anfangen oder wie wir selbst unseren Teil der Geschichte erleben und
als Menschheits-Erzählung weitergeben.14

Die Geschichte vom Erlöschen der Lampen


Die Depolarisierung einer polaren Kultur

"Oh happy people! What better things can one whish you, than you already
possess? Have you no riches? Yet poverty does not trouble you. Have you
no superfluity? Yet you suffer no want. Is there pomp and pride, to be seen

14 Auf der synthetischen Darstellungsebene könnten vor dem Hintergrund dieses Ansatzes,
wie es schon für die Expo am Meer geplant ist, Ausstellungen stattfinden und
Veranstaltungen sowie Lesungen organisiert werden.
Ebenso müßten Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen die Möglichkeit zur
Selbstdarstellung bekommen. In Theater- und Kunst-Workshops, in Rollen- oder
Maskenspielen könnten darüberhinaus alte Verfahren im Umgang mit Wasser und Meer
kritisiert und neue erprobt werden.
Alienne Laval
among you? Neither is there any slight or scorn to be met with. Is there no
nobility or high rank amongst them? Neither is there any slavery or
bondage. What is sweeter than liberty? And what is happier than
contentedness? But one thing is yet wanting: I mean the saving knowledge
of God and his dear son Christ Jesus, in which alone consists eternal life
and happiness." (Hans Egede 1818:225)

So schrieb Hans Egede, einer der frühen Missionare Grönlands, der dort 1721
eintraf. Doch es kamen nicht Gott, Jesus Christus und die himmlischen
Heerscharen, um die Inuit/Grönländer über ihr schon vorhandenes Glück hinaus
restlos zu beglücken, sondern es kam ein schwarzer Engel über sie. Mehr als
250 Jahre später, am 10.09.1975, veröffentlichte der Grönländer Arkaluk Lynge
unter dem Titel Sollen wir in deiner Umarmung, Mutter Dänemark, zu Tode
gedrückt werden? einen verzweifelten Artikel in der dänischen Tageszeitung
Politiken:

"Seit Generationen haben wir euch in unserem Land willkommen geheißen,


weil es an diesem Ende der Welt Tradition ist, gastfrei zu sein. Das kam
wie eine Gabe des Festes. Und wir glaubten naiv daran, dass ihr nur unsere
Gäste sein wolltet, so wie es die holländischen Walfänger waren, und dann,
wenn der Sommer überstanden war, war es eben vorbei. Aber die Dänen
blieben, Gott steh mir bei. Bald wehte der Danneborg über der ganzen
Küste, so wie er es an der Goldküste, in Westindien und sogar in Ostasien
tat... Es zeigte sich, dass ihr uns darauf vorbereiten wolltet, in eurer
kapitalistischen Gesellschaft zu leben. Dass ihr unsere Gesellschaft
umfunktioniertet, so dass ihr darin zu leben beginnen und die Zeit vergehen
lassen konntet, bis das Öl unten von der Davis-Straße hochsprang, dort, wo
wir sonst zu fischen pflegen. Dass ihr uns darauf vorbereitet, dass das
kanadische 'Black-Angel-Projekt' (die Mine 'Schwarzer Engel bei Umanak)
in Betrieb genommen werden sollte. Dass die Fänger zu ihrer
Überraschung sehen sollten, wie ihr Eisrevier durchfahren und der gesamte
Fang vernichtet wurde, weil ein Eisbrecher zur Mine wollte..." (zit. in
Barüske 1977:233f)

Doch es sollten noch mehr als 10 Jahre vergehen, bis die Zinkmine Black Angel
1989 auch tatsächlich geschlossen wurde.

Die saisonale Polarisierung arktischer Gemeinschaften

Der Frage, was in den nunmehr fast 280 Jahren seit Hans Egedes Ankunft
vorgegangen ist, soll nun nachgegangen werden. Es soll dabei versucht werden,
den Wandlungen einiger prototypischer Elemente eskimoischer Kultur und
Alienne Laval
Lebensweise nachzuspüren und diese Wandlungen anhand eines Modells
konkurrierender Codes15 verständlich zu machen.

Die prototypischen Elemente eskimoischer Kultur waren nicht, so wie es die


Medien mit eurozentrisch verstelltem Blick gerne darstellen, Kayak, Ein-
Familien-Iglu16 oder fesches Norweger-Haus und Hundeschlitten davor (heute
auch: Motorschlitten), sondern das Langhaus und die mit dem Öl der
Meeressäuger betriebene steinerne Tranlampe.
Erst mit dem Auftauchen der europäischen Walfänger, Händler, Siedler und
Missionare werden Langhaus und Lampe ins Vergessen abgedrängt und machen
unserem heutigen Bild des Eskimo, der vor seinem Schneeiglu sitzt und Fische
aufspießt, platz.
Marcel Mauss (1979:44) geht so weit zu sagen, dass dort, wo die Langhäuser zu
verschwinden begannen, dies ein sicheres Anzeichen für den Verfall der Inuit-
Kultur war. Ursache für das Verschwinden der Langhäuser war jedoch das
vorangehende Erlöschen der Tranlampen, ohne die bis zum Kontakt mit den
Europäern im arktischen Winter kein menschliches Leben denkbar war.
Die klimatische Wechselhaftigkeit ist das kardinale Charakteristikum des
arktisch-polaren Wirtschaftsraumes, der durch extreme saisonale Gegensätze
zusätzlich polarisiert ist. Auch Grönland (mit Ausnahme des Südens) gehört
dazu; es gibt Seeis im Winter, offenes Wasser für die Seehundjagd im Frühling
und ein ausgedehntes Jagdgebiet und Süßwasser zum Fischen im Sommer
(Mauss 1979:33). Walrossse wurden hauptsächlich im Frühjahr gejagt, Wale
vornehmlich im Herbst. Die extremen saisonalen, klimatischen Schwankungen

15 "Unter Kode (Code) kann man...eine integrierte Organisationsform verstehen, wodurch ein
Energiesystem in planvollem Austausch mit dem es umgebenden Energiesystem sich selbst
als zugleich eigenständiges (geschlossenes) und abhängiges (offenes) System erhalten...kann."
(Krampen et al. 1981:353)

16 Iglu bedeutet schlicht und einfach Haus.


Alienne Laval
dieses wechselhaften Landes waren den Inuit, die auch als Eskimo17 bezeichnet
werden, bekannt.
Auf der Basis einer hochspezialisierten, mit Speerschleudern und Harpunen18
durchgeführten Jagd auf Meeressäuger konnten sich die Inuit entlang der
arktischen Küsten Nordamerikas bis nach Grönland ausbreiten. Das heutige
Verbreitungsgebiet der Inuit - und Yuit - erstreckt sich über nahezu 10.000
Kilometer vom Nordosten Sibiriens über die arktischen Gebiete Nordamerikas
bis nach Ostgrönland.

17 Der Begriff Eskimo leitet sich wahrscheinlich aus dem Wabanaki-Wort (Algonkinische
Sprachgruppe) Eskimantsik ab, das Rohfleischfresser bedeutet (s.a. Platzer 1980:198, Oswalt
1979:5f, Birket-Smith 1948:20). Thalbitzer (1950:564) nimmt an, dass der Begriff von dem
Wort Excommuniquois abgeleitet wurde, das von den Jesuiten im östlichen Kanada benutzt
wurde, um die Heiden im Norden zu bezeichnen. Nach Oswalt (1979:5,22) ist es jedoch klar,
dass der Begriff nicht von den Exkommunizierten abgeleitet werden konnte, da die Jesuiten
die Missionierung nicht vor 1605 begannen. Er plädiert daher für die Algonkin-Variante.
Das Wort Eskimo findet 1611 Verwendung im Bericht des Pater Biard über die
Jesuitenmission in Neufrankreich (Birket-Smith 1949:20).
Die erste englische Verwendung des Wortes Eskimo oder vielmehr: Esquimawes, findet sich
aber schon in einem Aufsatz über die Kolonialisierung Ost-Nordamerikas von Richard
Hakluyt aus dem Jahre 1584 mit dem Titel Discourses on Western Planting (Oswalt 1979:5).
Die Skandinavier nannten die Eskimo Skrellings, was Barbaren oder Gnomen bedeutete.
Die Eskimo selbst nennen sich Yuit oder Inuit, was einfach Menschen bedeutet. Die Grenze
dieser beiden Zentralgruppen verläuft am Yukon, wobei die asiatischen Eskimo und die
Eskimo Südalaskas Yupik sprechen, während nördlich und östlich des Yukon bis nach
Grönland Inupik gesprochen wird. Die Bezeichnungen Yupik und Inupik setzen sich aus yuit
und inuit und dem Suffix pik (pik = Sprachgruppe) zusammen. Innerhalb der Sprachgruppe
des Inupik werden fünf Dialekte unterschieden: Grönland, Labrador, Nord-Quebec und
Belder Islands (südöstliche Hudson-Bay), die zentrale kanadische Arktis und die Barren
Grounds mit dem Mackenzie-Gebiet (Platzer 1980:8; Birket-Smith 1948:90f).

18 Die Kombination aus Speerschleuder und Harpune war der neolithische Höhepunkt
steinzeitlichen Erfindungsgeistes in Bezug auf die Jagdtechniken. In ihrer höchsten
Entwicklungsform, noch bis vor kurzem bei den Inuit zu sehen, bestand diese Waffe aus drei
Teilen: 1. der Speerschleuder, einem stabartigen, mit einem Haken am Ende versehenen Gerät
aus Knochen oder Geweih bzw. aus Holz gefertigten Wurfbrettern, 2. dem Schaft und 3. der
Harpunenspitze, einer aus Geweih oder Knochen geschnitzten mit Widerhaken versehenen
Spitze
Harpunen werden heute, anders als im Neolithikum, wo sie in der Jagd auf die großen
Landsäuger Verwendung fanden, hauptsächlich für die Jagd auf Meeressäuger genutzt.
Die Semang auf der Halbinssel Malakka übten Flußfischfang mit Schöpfkörben und
Harpunen aus; die Feuerlandindianer (Yamana, Halakwulup, Chono) gingen mit aus
Rindenstücken zusammengenähten Booten und Harpunen auf die Jagd nach Meeressäugern.
Nicht zu vergessen sind die relativ modern ausgerüsteten Waljäger der Azoren.
Landsäugerjagd wird (wurde) nur dort noch mit Speerschleuder und Harpune betrieben, wo
der Bogen nicht bekannt war - so bei den weitgehend ausgerotteten Tasmaniern und
Australiern, wo der Bogen nur in einem kleinen Gebiet im Norden Australiens bekannt war.
Die Weiterentwicklung des Bogens zu einer wirkungsvollen Fern- und Großwildwaffe löste
sonst die Jagd mit der Speerschleuder ab. M.E. hatte der Bogen wegen seiner Leichtigkeit und
Alienne Laval
Kennzeichnend für den arktischen Wirtschaftsraum war, dass er keine das ganze
Jahr über gleichbleibende und sichere Lebensgrundlage bot und so nicht einmal
kleineren Gruppen dauerhafte Siedlungen erlaubte19. Die Gebiete mit dem
jeweils optimalen Ertrag waren einschneidenden jahreszeitlichen Veränderungen
unterworfen, woraus sich der Zwang zu räumlich sehr ausgedehnten Jagd- und
Fangreisen, also eine halbnomadische Lebensführung ergab, die ethnologisch
mit dem Terminus Wildbeutertum (s.a. Vivelo 1981:71ff) belegt wird. Die
wechselnden klimatischen Verhältnisse und das gleichermaßen instabile
Verhalten des Jagdwildes machten eine Subsistenzwirtschaft während des
Winters unmöglich. Im Winter waren die Inuit daher zu zeitweiliger
Seßhaftigkeit in festen Winterhäusern und zur vorausschauenden Vorratshaltung
gezwungen (Dege 1965:14f); im Sommer wechselten die Inuit dann in Zelte
über: die saisonalen Plätze der Tiere und Phasen der Pflanzen, die Unterschiede
von Temeratur und Tageslicht und das erneute Erscheinen von Eis und Schnee
banden an ein fest definiertes Jahresprogramm (Weyer 1932:79).
Während sich im Sommer ein fast unbegrenztes Gebiet zum jagen, sammeln und
fischen öffnete20, wurde dieses Gebiet zum Winter hin immer begrenzter. Die
klimatischen Bedingungen und die Eigenheiten des Jagdwildes gaben so den
guten Handhabung den Vorteil, dass er im Gegensatz zu der recht plumpen und und schwierig
zu handhabenden Kombination von Speerschleuder und Harpune auch von Reittieren aus
verwendet werden konnte.

19 Diese Erfahrung mußten auch die Wikinger und ihre Nachkommen machen, die um das
Jahr 1000 auf Grönland siedelten und es mit festen Siedlungen versuchten:
"Die sonst so abgehärteten Nordländer, die sich um das Jahr 1000 in Grönland niederließen
und ihren Unterhalt in einer Kombination von Ackerbau und Jagd fanden, unterlagen nach
wenigen Jahrhunderten, während die eskimoischen Stämme trotz Hungerperioden und dem
rauhen Klima auszuhalten vermochten. Wahrscheinlich hatten sie mehr Erfahrung und wußten
auch mehr von der arktischen Welt." (Hoy o.A.:27)
Nicht nur das: diese ersten europäischen Siedler, die sich an der Westküste ansiedelten,
blieben in der Versorgung mit Getreide, Eisen und anderen Waren vollständig von ihrem
Mutterland Norwegen abhängig, das jedoch im 14. Jahrhundert den Bedürfnissen seiner
grönländischen Kolonie plötzlich nicht mehr nachkommen konnte: 1349 wütete die Pest in
Bergen, dem Hafen für den Grönlandhandel und schnitt damit die Kolonie, die schließlich in
Vergessenheit geriet, vom Kontinent vollständig ab. Mit diesen Schwierigkeiten einher ging
zu allem Überfluß noch eine Klimaverschlechterung in Grönland (s.a. VN*).
Die letzten Wikinger sind dann wohl von den Inuit dezimiert bzw. assimliert worden. Als
Martin Frobisher 1578 in Grönland landete, traf er jedenfalls keine Normannen, sondern Inuit
an. Auch die Schiffe, die zwischen 1605 und 1654 nach Grönland segelten, um nach den
Nachkommen der frühen Siedler zu suchen und den Handel mit ihnen wieder aufzunehmen,
fanden ebenfalls keine Normannen, und der Handel mit den Inuit erwies sich als nicht
profitabel.
Insgesamt wurden während dieser Phase 30 Inuit gefangen und von dänischen, norwegischen
und holländischen Schiffen entführt, um dann den zu Hause gebliebenen
Studierstubenethnographen als Anschauungsmaterial zu dienen. Der dänisch-norwegische
königliche Historiker Claus C. Lyschander beschrieb die drei Inuit, die man ihm 1605
vorführte, als wilde, verlogene auch rohes Fleisch fressende Tiere.
Alienne Laval
Rhythmus von winterlicher Konzentration und sommerlicher Dispersion der
Bevölkerung vor. Die Bevölkerung konzentrierte oder verteilte sich im
landschaftlichen Raum entsprechend dem Jagdwild. Marcel Mauss (1979:55f)
sah in diesem Rhythmus den Motor, der die Inuit-Gesellschaft in Bewegung
hielt. In Verwendung einer moderneren Terminologie werde ich jedoch nicht
von einem Motor oder Generator sprechen, sondern stattdessen den Begriff
Code einführen.
Die Innuit-Gesellschaft war über die jahreszeitliche Polarisation codiert. Ein
Code besteht aus Paaren oppositioneller Zustände, wie hell <> dunkel, Tag <>
Nacht, warm <> kalt, oben <> unten usw. Das z.B. Helle kann nur
wahrgenommen werden, wenn es das Dunkle zu Unterlage - und vice versa -
hat. Die stärkste Opposition war für die Innuit jene von Sommer und Winter
(Polarnacht), die als stärkster und grundlegender Code alle sich aufschichtenden
sozialen Codes unmittelbar bestimmte. In saisonaler Variation lebten sie mal
den einen, mal den anderen Pol ihres Codes.
Da es für die Inuit ein großes Problem war den Winter zu überleben, bildete der
Erfolg ihrer herbstlichen, auf Bevorratung angelegten, Jagd auf die Seesäuger
die wichtigste Voraussetzung ihrer Existenz. Einen großen Teil an der Jagdbeute
machte der Seehund aus, doch auch verschiedene Spezies der Delphin-Familie,
auch Schwertwal und weißer Wal, wurden gejagt. Die Waljagd war nur in
größeren Gruppen möglich und setze daher schon die im Herbst einsetzende
Konzentration der Gruppen an den Siedlungsplätzen voraus. (Weyer 1932:2, 79,
85; Dege 1965:14f; Mauss 1979:32f; Birket-Smith 1948:96)
Doch ebenso, wie Herbst und Winter zur Konzentration der Gruppen zwangen,
verlangten Frühjahr und Sommer ihre Dispersion, da die Wintervorräte
aufgebraucht und die großen Meeressäuger nun nicht mehr zu jagen waren.
Die soziale Organisation der Inuit basierte in erster Linie auf Lokalität. Generell
waren die einzelnen Gruppen recht klein und lebten weit auseinander. Da es
keine Exogamieregel gab, kam es zu starken Verwandtschaftsbindungen in jeder
Siedlung; sozialer Austausch mit anderen Gruppen fand eher sporadisch statt.
Die wirkliche territoriale Einheit war die Siedlung, eine Gruppe von Familien,
die durch verwandtschaftliche Bande miteinander verbunden waren und ein

20 Der überwiegende Teil des von Inuit und Yuit bewohnten Gebietes ist baumlos. Im Süden
Grönlands gibt es Bäume, die eine Höhe von bis zu 4 m erreichen (hauptsächlich Weiden und
Birken). An der Westküste gibt es bis zur Disko-Insel Weidenbüsche etc.; an der Ostküste
verläuft die Vegetationsgrenze weiter südlich und bei Angmagssalik werden Weiden selten 1
m hoch. Das Pflanzenleben ist auf Büsche, Moose, Flechten, Seggen, verschiedene
Blumenarten und Gräser beschränkt. Lediglich in Südgrönland, der unteren Labradorküste
und dem Gebiet, das von den südlichen Alaskagruppen besiedelt ist, herrscht kein arktisches
Klima (s.a. Weyer 1983:11ff).
Gejagt wurden Rentier, Moschusochse, Polarbär, Fuchs, Hase, verschiedene Vogelarten und
Fisch aus Süß- und Salzwasser; gesammelt wurden Beeren, Wurzeln und Kräuter (Mauss
1979:55f).
Alienne Laval
Habitat besetzten, in welchem sie entsprechend der Jahreszeiten unterschiedlich
verteilt waren.
Unter einer Siedlung ist eine Konzentration von Häusern (im Winter) oder eine
Anzahl von Zeltplätzen (im Sommer) und die dazugehörigen Jagdgründe, Wege,
Anlegeplätze usw. zu verstehen. Wohl bedingt durch die geringe
Populationsdichte und die wechselnden Habitate, haben die Inuit nie so etwas
wie formale Stammessysteme ausgebildet. Darüberhinaus ist die Kultur der Inuit
über weite Gebiete so einheitlich, dass sich für solche Systeme auch kaum eine
Basis bot. (Weyer 1932:203f; Dege 1965:20; Birket-Smith 1948:186; Mauss
1979:26f)
Ebenso wie es keine strikt definierten Stammesgruppen gab, waren
Klassenunterschiede quasi inexistent - eine Führungsschhicht gab es nicht. Am
Siedlungsplatz war häufig jedoch der Großfänger, der Piniartorssuak als
tüchtigster und erfolgreichster Jäger, tonangebend. Seine Position war aber nicht
durch vererbtes oder verfaßtes Recht begründet, und sein Einfluß schwand,
wenn er nicht mehr führend zum Unterhalt der Gemeinschaft beitragen konnte:
er mußte dann einem neuen Piniartorssuak Platz machen.
Von Bedeutung war auch der Angakok (Schamane, Priester, Prophet,
Medizinmann), der manchmal zugleich Großfänger oder erfolgreicher Jäger war.
Der Angakok war das Bindeglied zwischen natürlicher und übernatürlicher bzw.
kultureller Welt, zwischen Lebenden und Toten, dem Mythischen und dem
Profanen. Sein Prestige basierte in der Regel auf einem überlegenen Wissen,
doch auch seine Autorität vereinigte die Gruppenmitglieder nicht zu einem
Ganzen. Einheit entstand einzig aus der Notwendigkeit der Kooperation, die zu
ihrer Durchsetzung keines exekutiven Führers bedurfte. (Weyer 1932:208f,
421f; Dege 1965:19f)
Durch die Konzentration der Gruppen in Herbst und Winter (Seesäugerjagd) und
ihre Dispersion in Frühling und Sommer (Fischfang, Landjagd) war die Inuit-
Gesellschaft extrem polarisiert und wies zwei konträre Muster sozialer
Organisation auf. (Weyer 1932:91, 204ff; Birket-Smith 1948:129ff; Mauss
1979:46)
In Grönland beluden die Familien mit dem Beginn des Sommers die Umiaks mit
den Zelten von zwei oder drei befreundeten Familien und bauten sie entlang der
Buchten und Fjorde auf. Im Zelt lebte dann die Nuklearfamilie, die aus Mann,
Frau (oder Frauen) und den unverheirateten eigenen und adoptierten Kindern
bestand. Manchmal gehörten zu dieser Kernfamilie auch ältere, verwitwete
Verwandte oder Gäste. (Nansen 1903:72ff; Egede 1818:90; Rink 1975:7, 132,
189; Mauss 1979:36f,48)
Sobald sich der Winter ankündigte, änderte sich die Inuit-Gesellschaft
vollkommen und die Population war nach einem ganz anderen Siedlungsmuster
arrangiert. Anstelle der Zelte wurden feste, oft mehr oder weniger in die Erde
eingegrabene Häuser aus Baumaterialien wie Moos, Torf, Knochen, Steinen,
Holz und Erde errichtet.
Alienne Laval
Die Nuklearfamilie, die im Sommer so klar individalisiert war, ging im Winter
in einer größeren Gruppe, einer Art joint-family (oder: extended family) auf.
Dies war die Gruppe, die im selben Iglu oder Langhaus wohnte. Die Menschen,
die unter einem gemeinsamen Dach lebten, waren nicht nur durch ökonomische
Beziehungen miteinander verbunden, sondern sie waren auch igloq atigit,
Hausverwandte, ein Begriff, der von Dänen und Engländern mit husfaller oder
housemates übersetzt wurde. Die Housemates bildeten neben der Nuklearfamilie
den Kreis der nächsten Verwandten. Im einfachsten Typ dieses Hauses lebten
Blutsverwandte und deren Affinalverwandte; eine Heirat zwischen Housemates
war verboten.
Die Anzahl der in einem Langhaus wohnenden Familien konnte stark variieren.
In Ostgrönland lebten meistens sechs bis neun Familen auf diese Weise
zusammen, während es in Westgrönland auch schon mal zwölf sein konnten. In
Angmagssallik (Ostgrönland) bestand häufig eine ganze Siedlung aus einem
einzigen Langhaus (mit bis zu 58 Einwohnern). An der Smith-Strait lebten in
kleinen Schnee- oder Steinhäusern nur zwei Familien zusammen. (Mauss
1979:38ff, 44ff, 63ff; Birket-Smith 1948:161ff, 184; Weyer 1932:141, 206f)
Die Großfamilie des Winters setzte sich anders zusammen als die patriarchale
Sommerfamilie und war nach anderen Prinzipien organisiert. Ihr Oberhaupt -
eher ein Verwalter - war, wie schon erwähnt, ein Piniartorssuak oder ein
Angakok, konnte aber auch ein alter Mann, der Vater eines guten Jägers oder der
Besitzer eines Umiaks sein. Seine Macht war sehr begrenzt und seine Funktion
bestand im Wesentlichen darin, Fremde zu empfangen, Schlafplätze sowie
Fleisch zu verteilen und Rat in Konfliktfällen zu geben. (Weyer 1932:142;
Mauss 1979:46, 66, 70)
Das Langhaus des Winters gehörte gemeinschaftlich allen Housemates, die auch
kollektive Nahrungsrechte hatten; das Zelt hingegen, wie auch Kleidung,
Jagdgerät, Kayak, Schlitten, Amulette usw. waren Familien- bzw. Privatbesitz.
Den Frauen gehörte darüberhinaus das Kochgerät und die so wesentliche
Tranlampe. (Birket-Smith 1948:188; Weyer 1932:193ff; Mauss 1979:70ff)
Auch die Religion der Inuit fogte dem Rhythmus von Sommer und Winter. Im
Sommer wurden lediglich private und häusliche Familienrituale abgehalten.
Dazu gehörten die Beachtung verschiedener Tabus und die mit Geburten und
Todesfällen verbundenen Rituale. Im Gegensatz dazu lebte die Wintersiedlung
in einem Zustand permanenter Religiosität. Während dieser Zeit wurden die
Mythen und Legenden auf die nächste Generation übertragen und der Angakok
war sehr aktiv. Das Winterleben war so etwas wie eine lange Feier, und frühe
Ethnographen wie Hans Egede beschrieben andauerndes Tanzen der Inuit. Die
Mentalität des Winters war eine vollkommen andere, als jene des Sommers.
(Mauss 1979:58ff; Egede 1818:88ff)
Einher mit dem ökonomischen Kommunalismus des Winters ging ein sexueller
Kommunalismus: in den Winterhäusern herrschte sexuelle Offenheit, die ihren
Höhepunkt in verschiedenen Festivitäten, insbesondere im Frauentausch, fand.
Dieser Frauentausch fand zwischen allen Männern und Frauen einer Siedlung
Alienne Laval
statt und war der krasseste Gegensatz zum individualisierten und isolierten
Zustand, in dem die kleinen Familiengruppen während des Sommers lebten.
Doch der Frauentausch hatte auch durchaus profane Gründe: jeder hatte so die
Chance, einmal mit einem fertilen Partner zusammenzukommen und so - auch
bei Infertilität des eigenen Partners - den Nachwuchs zu sichern. Eine andere
Variante des Frauentausches bestand darin, Freunden Frauen auszuleihen, wenn
z.B. deren eigene Frau durch Krankheit oder Schwangerschaft verhindert war.
Gerade wenn jemand mehrere Frauen hatte, war dieses Vehalten, das
verwandtschaftliche Bindungen zur Folge hatte, üblich. Kein Mann konnte
während der Sommerzeit auf eine Frau verzichten, die die Jagdbeute und die
Felle verarbeitete und die Nahrung zubereitete. (Birket-Smith 1948:144f; Dege
1965:20f; Weyer 1932:140ff; Mauss 1979:60, 73)

Kulturkontakt und Depolarisierung

Abgesehen von den Wikingern waren die ersten Europäer, die mit den Inuit in
Berührung kamen, die Walfänger der neufundländischen Gewässer und der
Davis Strait. Um 1619 waren es vornehmlich Holländer, die an der leicht
zugänglichen Westküste landeten und einen lebhaften Handel mit den Inuit
betrieben. Sie handelten vornehmlich mit Tabak, Alkohol und Gewehren; ein
Resultat dieser Kontakte waren auch zahlreiche Mischlinge. Hundert Jahre
später führte der Kontakt mit den Walfängern dazu, dass sich die Generalstaaten
1720 zur Herausgabe eines Erlasses genötigt sahen, der Raub und Mord an der
Eingeborenenbevölkerung unter Strafandrohung verbat. (Birket-Smith
1948:260; Banks 1975:91)
Mit der Zeit waren die Walfänger infolge der Überfischung gezwungen, dem
Wal in immer unzugänglichere Gebiete zu folgen und weiter im Norden und
Westen zu suchen. 1818 traf John Ross mit seiner Flotte in der Melville-Bay, die
er von da an jeden Sommer besuchte, ein. Auch die Nachfolger Ross' trafen
gegen Ende Juni mit den polaren Inuit zusammen und handelten mehr als
hundert Jahre lang Holz, Gewehre und Geräte gegen Bären- und Fuchsfelle.
(Birket-Smith 1948:261)
Während dieser Phase wurde auch die dänische Kolonialisierung Grönlands
begründet. Bereits 1721 landete Hans Egede und begann mit der Missionierung
der Inuit. Angeblich war es sein ursprüngliches Ziel, den Glauben an das
Evangelium bei den Nachkommen der Wikinger des Mittelalters wieder in
Erinnerung zu rufen. Doch man wußte auch in Dänemark schon über hundert
Jahre vor Egedes Fahrt nach Grönland, dass dort keine Wikinger mehr lebten
(s.a. Anm. 5).
Mit seinem Buch A Description of Greenland (1745, 1818), das zugleich das
erste größere Werk über die Inuit war, brachte er Grönland zurück auf die
Landkarte. Einige Jahre später, 1733, gründeten die Moravier die
Missionsstation Neu Herrnhut einige Kilometer von Egedes eigener Station in
Alienne Laval
Godthab (heute Nuuk) entfernt. Die für die Missionierung und den Unterhalt der
Stationen anfallenden Ausgaben sollten durch den Handel mit den Eingeborenen
gedeckt werden. (Egede 1818:214f; Birket-Smith 1948:261; 275; Oswalt
1979:78f, 95)
Parallel zu den Missionsstationen wurden nun komplette Handelsstationen
gegründet, die einen sogenannten kostendeckenden Handel noch gezielter als die
Missionen selbst betreiben sollten. Die erste Station, Upernavik, wurde 1771 in
Betrieb genommen. Bereits 1774 wurde der gesamte Grönland-Handel mit der
eigens gegründeten Gesellschaft Königlich Grönländischer Handel (KGH) unter
das Monolpol der dänischen Krone gestellt. Da der Handel mit Grönland nun
Regierungssache war, konnte am 18.03.1776 eine Verordnung erlassen werden,
die anderen Staaten den Schiffsverkehr und den Handel mit Grönland, den
derzeitigen und zukünftigen Kolonien und Stationen, untersagte.
Die Verordnung galt auch 1894 noch, denn als jetzt die Station bei
Angmagssalik eröffnet wurde, kam sie und mit ihr die gesamte Südostküste,
automatisch unter das Monopol des KGH. Wenige Jahre später erging es der
Nordwestküste ebenso. (Birket-Smith 1948:275f; Banks 1975:93)
Über Jahrhunderte beleuchteten die Europäer ihre Häuser mit Kerzenschein und
Lampenöl, die aus dem Fett der Meeressäuger gespeist wurden. Gegen Ende des
18. Jahrhunderts war die Walpopulation im Nordatlantik durch die Überfischung
so gut wie ausgerottet, so dass die Walfänger damit begannen, Seehunde und
auch deren Neugeborene alljährlich zu Hunderttausenden abzuschlachten.
Doch selbst durch diese rigorose Vorgehensweise ließen sich die expansiven
Bedürfnisse Europas nicht befriedigen, so dass die Händler zudem die Inuit dazu
preßten, jedes Seehundfell und jedes Pfund Seehundspeck zu verkaufen, das
über ihre unmittelbaren und täglichen Bedürfnisse hinausging. Dabei wurde
keine Rücksicht darauf genommen, dass die Inuit das Öl bevorraten mußten, da
sie es im Winter zum Betrieb ihrer Lampen sowie zum Heizen und Kochen
brauchten.
Auch die Bedürfnisse der Inuit hatten sich inzwischen vervielfacht. Die goßen
Schiffe und die Werkzeuge aus Metall wirkten den traditionellen Gerätschaften
aus Stein, Häuten und Fellen gegenüber überlegen. Farbige Kleider, Glasperlen,
Tabak, Stoffe, Kaffee und andere, unbekannte Luxusartikel hatten ihren Preis,
und der wollte bezahlt sein mit Seehundsfellen und -speck. Oft tauschten die
Inuit ihre unschätzbaren Seehundfellmäntel und -zelte ein gegen billige
europäische Kleidung und Stoffzelte. Die Gewehre, die man eintauschen konnte,
waren genauer und tödlicher als Harpune, Pfeil und Bogen. Auch fehlerfreies
Holz, das man nun kaufen konnte, war unvergleichlich stärker und dauerhafter
als das halbverrottete Treibholz, das hin und wieder an Land gespült wurde.
Durch die Einführung des Gewehrs geriet der Harpunenfang zunehmend in
Verfall, denn mit dem Gewehr konnten viel mehr Tiere getötet werden - doch
angeschossene Tiere konnten auch fliehen und dann irgendwo verenden.
Der Verkauf von Seehundfellen und -speck, die aus der Wirtschaftsweise der
Inuit nicht wegzudenken sind, führte zum Verfall von Umiak, Zelt, Kayak,
Alienne Laval
Langhaus und den nicht wegzudenkenden Lampen. (Nansen 1891:335ff;
Jenness 1967:20f)
Ob die Lampe für Hans Egede, seinesgleichen und die Händler von so
unbekannter Bedeutung war, wie es in der Literatur häufig dargestellt wird, ist
indes zu bezweifeln. Die Lampe war ein zwar unscheinbares, doch in seiner
universalen Funktion unübersehbares Gerät, das nicht nur die Häuser beheizte
und Licht spendete, sondern auch zum Kochen der Nahrung diente. Eine Lampe
ohne jenen den Inuit abgetrotzten Wintervorrat an Öl war jedoch nutzlos. (s.a.
Oswalt 1979:94)
Es ist anzunehmen, dass es Egede, den Moraviern und anderen mit dieser
Strategie darum ging, die im Winter nun hilflosen Inuit an den Missions- und
Handelsstationen zu bündeln und von diesen abhängig zu machen (s.a. Rink
1877:159f; Lynge 1973:576). Nicht nur die Lebensgrundlage - Wale, Robben
und Rentiere - war weitestgehend zerstört (Birket-Smith 1949:277; Dege
1965:22), sondern die Inuit hatten darüberhinaus die Fähigkeit verloren, ihr
gemeinschaftliches Winterleben in den Langhäusern zu organisieren. Die
Langhäuser waren darauf angewiesen, dass jede Familie ihre Lampe mitbrachte
und genügend Öl vorhanden war, um über den Winter zu kommen.
Dieses vorsorgliche Verhalten war an den Handelsniederlassungen und
Missionstationen, die schnell zu zentralen Orten weiter Fängerdistrikte wurden,
weder nötig noch erwünscht. Innerhalb der Räume bisheriger Besiedlung
wirkten die Stationen wie Magneten, so dass die in ihrer Nähe gelegenen
Siedlungsplätze oft aufgegeben wurden. Bald wirkten diese neuen Plätze als
Konzentrationskerne weit in das Land hinein und bewegten weitere Inuit dazu,
herzuziehen und sich anzusiedeln. In weitem Schwarm lagen die Hütten der
Inuit um die Nierderlassungen, doch Ortswüstungen abseits dieser Kolonien
waren die Folge.
Diese Konzentrationskerne hatten aber nichts mehr mit der alten winterlichen
Konzentration der Bevölkerung zu tun, denn nun wurde auch im Winter die
Siedlungsweise des Sommers beibehalten, nur, dass die Hütten jetzt näher
beieinander standen. Die patriachale Inuit-Familie des Sommers konnte nun
ganzjährig und allein - nach dem Vorbild des christlichen Europa - ein Haus
bewohnen.
Kirchen und Handelsstationen übernahmen die kommunikativen Funktionen der
Langhäuser; Missionare, Pfarrer, Katecheten und die Vertreter des KGH
besetzten im sozialen Gefüge die Stellen, die einst Großfänger und Angakok
innehatten. Von den Inuit wurden sie zunächst als ebenfalls in Verbindung mit
den unsichtbaren Kräften ihrer eigenen weisen Männer stehend gedacht. (Rink
1877:139f, 146; Dege 1965:21)
Doch blieben die Piniartorssuaks und Angakoks lange eine ernstzunehmende
Konkurrenz für die Händler und ein Dorn im Auge Gottes für Missionare wie
Hans Egede:
Alienne Laval
"Sie (die Inuit) sollten auch unter einer gewissen Disziplin gehalten
werden. Ihr dummer Aberglaube muß ebenso unterdrückt werden, wie die
albernen Tricks und boshaften Betrügereien ihrer Angakoks, die allesamt
verboten und bestraft gehören." (Egede 1818:217; übers. R.U.)

Lynge (1973:575) berichtet davon, dass Egede diese Drohungen allen Ernstes in
die Tat umsetzte, indem er suchte, Angakoks durch Strafen und körperliche
Züchtigungen von ihrem Glauben abzubringen. Als integraler Bestandteil dieser
Sozialdisziplinierungen wurden auch die Gesänge und Tänze der Inuit, die
Egede vordem so überschwenglich lobte (s.o.), systematisch unterdrückt21
(Lynge 1973:576).
Egedes Rezept, aus Eingeborenen Handelspartner und Brüder und Schwestern
im Glauben zu machen, war einfach und ist noch heute gültig22:

"Es ist gar keine Frage, dass man aus einem völlig unzivilisierten und
wilden Menschen nur dann einen Christen machen kann, wenn man ihn
zunächst zu einem verständigen, einsichtigen und vernünftigen Menschen
macht: der nächste Schritt ist dann einfacher." (Egede 1818:210;übers.
R.U.)23

Die Vernunft, die Egede hier meint, ist allerdings die durch egoistische
Konkurrenz geprägte Vernunft Europas auf der Schwelle zum 19. Jahrhundert,
die ein Überleben in der Klassengesellschaft garantiert und kaum soziale
Verantwortung kennt.
Lynge (1973:573) irrt, wenn er seine Annahme, dass christlicher Glaube und
westliche Kultur zwei grundverschiedene Dinge seien, auch auf die Epoche

21 Schon in der europäischen Sozialdisziplinierung wurden Tanzverbote ab dem Mittelalter


von der weltlich-kirchlichen Obrigkeit gefordert und auch erfolgreich gegen die eigenen
barbarisch-unzivilisierten Unterschichten durchgesetzt.

22 Schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion sendeten Missionare des berühmt-
berüchtigten Summer Institute of Linguistics (SIL) mit Hilfe konvertierter Yuit von Alaska aus
Radiobeiträge nach Sibirien in das Gebiet der Chukchen und Yuit. 1988 (Perestroika-Periode)
war es erstmals möglich, Visa für Sibirien zu bekommen. Flugs schickte das SIL seine
Konvertiten aus Alaska zu den Verwandten nach Asien. Das angestrebte Ziel ist es, bis zum
Jahr 2000 eine Eingeborenen-Kirche bei den asiatischen Yuit zu etablieren, nach dem Motto:
"Pray for a strong indigenous church among the 1500 Yupiks of the USSR by the year 2000."
(s.a. Global Prayer Digest, Ausgabe vom 26.10.1991. Ed.: Frontier Fellowship, Inc., P.O.Box
90970, Pasadena, CA 91104)
23 Im 20. Jahrhundert sollte der reasonable man, der vernünftige Mensch, dann als Konzept
der Kolonialverwaltung in den englischen Kolonien Afrikas im Rahmen der sogenannten
indirect rule theoretisch-ethnologisch Aufwertung erfahren und Anwendung finden. (s.a. Max
Gluckman 1965ff; insb.: The Reasonable Man in Barotse Law, in: Dundes, A. (ed.) Every
Man His Way, New Jersey 1968)
Alienne Laval
Egedes bezieht, denn für ihn waren, wie gezeigt, Christentum und westliche
Lebensweise untrennbar miteinander verwoben.
Tornasuk zum Beispiel, der nach Rink (1877) für die Inuit eines der höchsten
göttlichen Wesen überhaupt war, wurde mit dem christlichen Teufel
gleichgesetzt. Auf die übernatürliche Hilfe Tornasuks, der als in den Tiefen der
Erde lebend gedacht wurde - denn da konnte es nur noch wärmer und
komfortabler werden, als in den schon halb in das Erdreich eingegrabenen
Langhäusern -, waren aber nicht nur die Inuit im allgemeinen angewiesen,
sondern im besonderen die Angakoks. Die Geister, über die Tornasuk herrschte,
waren die Hilfs-und Wächtergeister der Angakoks, die nun als des Teufels
untergeordnete Hilfsdämonen hingestellt wurden: die frühen Missionare
predigten und lehrten nicht nur das Höllenfeuer für die Ungläubigen, sondern
verdammten insbesondere die Verehrer dieses Satans, die Schamanen.
Doch nach dem alten Glauben der Inuit gingen nur diejenigen nach ihrem Tod in
den Bereich Tornasuks ein, die im Leben für das Wohl ihrer Freunde (der
Housemates) gearbeitet und gekämpft hatten. (Rink 1877:141; Jenness 1967:23)
Der Glaube an Tornasuk war gleichzeitig ein Glaube an die Solidarität der
Gemeinschaft und ihre konzeptuelle Ordnung. Mit der Zerstörung dieses
Glaubens durch die Missionare wurde im selben Augenblick der Glaube an den
bis in das Jenseits wirkenden Zusammenhalt der Langhaus-Gemeinschaften
zerrüttet.
Die partikularisierte Siedlungsweise des Sommers, die im Rituellen profaner
und mehr am Gebrauchsverhalten orientiert war als jene des Winters, erzeugte
auch andere Identitäten, die jetzt ganzjährig zur Geltung kamen. Die besten
Jäger sahen es nicht mehr ein, die für Fell und Speck erstandenen Produkte der
Weißen mit ihren ehemaligen Housemates zu teilen. Es machte sich ein
ökonomischer Egoismus breit, der, in Verbindung mit der durch die Bildung
ganzjähriger Populationszentren bedingten weiteren Abnahme des Ertrages an
Seehunden, vielen Familien den Tod brachte. (Hoegh 1973:373; Jenness
1967:44, 64) Tornasuks irdisch-unterirdisches Gefilde der Seligen entvölkerte
sich zunehmend.
Egede hatte bald erreicht, dass alle Bewohner der Westküste zumindest dem
Namen nach Christen waren und lesen und schreiben konnten. Gerade die
Kinder hatte er durch das Lehren dieser Fertigkeiten zunächst zur Vernunft und
dann zum christlichen Glauben bekehrt. Der Verelendung hatte er damit jedoch
keinen Einhalt geboten, sondern ihr nur weiteren Vorschub geleistet: die Inuit
hatten bald nicht einmal mehr Kraft und Willen, ihre eigenen Familien zu
ernähren. (Egede 1818:218; Nansen 1891:339f)
In den Langhäusern reichten die mit Seesäugerfett betriebenen Tranlampen
aufgrund der im Verhältnis zu der hohen Einwohnerzahl geringen Größe der
Wohnungen für Beleuchtung und Heizung vollkommen aus. In den neuen
Einfamilienhütten war das nicht mehr der Fall, so dass Krankheiten24 sich
24 Schwere Pockenepedemien grassierten 1734 (2000 Tote = 1/4 der Einwohner), 1785/86
und 1800 (500 Tote) an der Westküste. Es kann davon ausgegangen werden, dass in manchen
Alienne Laval
ungehindert ausbreiten konnten. Zudem wurden Krankheiten durch die
Einführung europäischer Kleidung befördert: die alte Fellkleidung lag locker auf
der Haut, zwischen Kleidung und Körper befand sich eine wärmende
Luftschicht, die gut zirkulieren konnte. Schweiß verdunstete schnell und ohne
unangenehme Nebeneffekte. Die neue europäische Unterwäsche hingegen lag
eng am Körper an, war ständig durchfeuchtet, verschmutzte leicht und bot
Krankheitskeimen guten Nährboden. Das Waschen von Wäsche war den Inuit,
die sich früher nackt in den Langhäusern bewegten, unbekannt, und die neue
Unterwäsche wurde ständig getragen, weil es in den elenden Hütten kalt und
zugig war. Überdies wurden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Metallöfen eingeführt, die überhaupt eine Möglichkeit boten, Wäsche zu
trocknen. (Birket-Smith 1949:146; Jenness 1967:71f; Nansen 1891:337)

"Um 1850 war die Mehrheit der einst stolzen und selbstgenügsamen
Eingeborenen zu einem schlecht ernährten, schäbig gekleideten
Elendsproletariat verkommen, das in unhygienischen Stein-und-Grashütten
hauste, in denen die Sterblichkeit so hoch war, dass sie zum Aussterben
verdammt schienen." (Jenness 1967:44; übers. R.U.)

Eine alte Kultur oder Religion ist eben kein

"Eimer mit dreckigem Wasser, den man lässig über Bord auskippen kann,
um ihn dann mit sauberer Flüssigkeit wieder aufzufüllen",

wie Jenness (1967:23) treffend bemerkt, sondern eine Weltanschauung (ebd.),


eine Interpretation und konzeptuelle Ordnung der sinnlich wahrnehmbaren und
erfahrbaren Welt, die alle individuellen und gesellschaftlichen Handlungen und
Phänomene durchdringt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es die arktische Kultur der Inuit, die ihren
ureigensten Ausdruck in den Tranlampen, den Langhäusern und der damit
verbundenen Seinsweise fand, nicht mehr. Das Kulturverhalten, das an die
winterliche Konzentration der Gruppen gekoppelt war und nicht nur rituelle,
sondern auch politische und identitätsstiftende Funktionen hatte und damit der
Ausübung eines Selbstbestimmungsrechtes diente, war verloren. Jene
Schamanen, die nicht verstarben, gingen in den Untergrund (Jenness 1967:82).
Eine neue Form der Selbstbestimmung war daher nur auf der Basis des aufgrund
des Verlustes des winterlichen Poles nun ebenfalls zerrütteten
Gebrauchsverhaltens sommerlicher Dispersion denk- und installierbar. Die

Siedlungen keiner überlebte. Im strengen Winter 1853/54 starben viele Inuit an Erkältung und
Hunger; 1856/57 starben 150 Personen an den gleichen Ursachen. Im folgenden Sommer
kostete eine Epidemie weitere 100 Menschen das Leben. Zu ähnlichen Desastern führten die
zahlreichen, durch Abnahme der Seehundpopulation verusachten Hungersnöte. Usw., usf.
(Jenness 1967:22; Oswalt 1979:80, 93; Nansen 1891:338f; Rink 1877:159)
Alienne Laval
Anregung zu dieser depolarisierten, von den Jahreszeiten unabhängigen Form
der Selbstbestimmung kam diesmal jedoch von außen, von Dänemark.

Codewandel: Technologie versus Adaption und saisonalem Rhythmus

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die Dänen damit, hölzerne Häuser
und Eisenöfen an die bei der Regierung angestellten Inuit/Grönländer weit unter
dem Herstellungspreis abzugeben. Die so pivilegierten Grönländer sollten als
Vorbilder dienen und zur Nachahmung anregen. Bald wurden aus Dänemark
vorfabrizierte Holzhäuser eingeführt, die oft auch verschenkt wurden. Die
Eisenöfen konnten mit der Kohle beheizt werden, die inzwischen (Disko-Bucht)
gefördert wurde. (Jenness 1967:41f, 48; Birket-Smith 1948:283) Die soziale
Situation verschlimmerte sich jedoch weiterhin und die Abhängigkeit von den
Europäern nahm noch zu.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erklärte die Kolonialverwaltung den Fisch zur
zukünftigen Basis der grönländischen Wirtschaft. Diese Idee kam der
Bevölkerungskonzentration ebenso entgegen, wie sie später auch zu ihr beitrug
(Jenness 1967:64). Bis 1927 waren 12 Gemeinden entstanden, die größer waren,
als jene der voreuropäischen Zeit. Nicht nur die medizinische Versorgung hatte
sich verbessert, so dass die Bevölkerung allmählich wuchs, auch schälte sich ein
Klassensystem nach europäischem Muster heraus. (Dege 1965:25; Jenness
1967:43, 88)
Nach dem zweiten Weltkrieg beschlossen die Dänen, Grönland am europäischen
Wirtschaftswunder teilhaben zu lassen. Grönland, Dänemarks einzige Kolonie,
sollte zum Testfeld für die Natur- und Sozialwissenschaftler werden. (Jenness
1968:13; Petersen o.A.:38f) Es war vor allem die Arbeit der
Grönlandkommission von 1948, die zu neuen Gesetzen führte, Möglichkeiten
soziologischer Forschung erweiterte und weitreichende Reformen für alle
Bereiche der grönländischen Gesellschaft vorbereitete. (Petersen o.A.:38f;
Jenness 1967:100f; Bornemann 1973:392) Ganz uneigennützig waren diese
Forschungen jedoch nicht:

"In Zukunft wird sich (West-)Grönland einem Problem gegenübergestellt


sehen, mit dem auch die Frage nach der Abschaffung des
Regierungsmonopols verknüpft ist; das Wichtigste ist aber der Übergang
von der Naturalienwirtschaft zur Geldwirtschaft, von der Produktion frür
den rein lokalen Bedarf zu einer solchen, die für allgemeine Verwendung
bestimmt ist. Dies hängt davon ab, wie weitgehend die europäische
Zivilisation aus den arktischen Gebieten Nutzen ziehen kann." (Birket-
Smith 1948:281)
Alienne Laval
1950/51 beschloß das dänische Parlament, dass ganz Grönland integraler
Bestandteil des dänischen Staates werden sollte. Erst 1946 war Grönland von
Dänemark als Kolonie bei der UNO angemeldet worden, und schon 1953/54
akzeptierte die UNO den neuen Status Grönlands als dänische Provinz (Amt).
Durch diesen Schritt wurde Dänemark von der Berichterstattungspflicht
gegenüber der UNO entbunden. Die paradoxe Grundlage dieses Aktes, der, wie
Birket-Smith just ausführte, auch zur Abschaffung des Regierungsmonopols
führen sollte, war eben jene Verordnung vom 18.03.1776, die das Monopol erst
eingeführt hatte. (Jenness 1967:100f, 116; Birket-Smith 1949:275f)
Verbunden mit der Entwicklung der Fischindustrie, den politischen
Institutionen, den Möglichkeiten der Fortbildung etc. wurde eine weitere
Konzentration der Bevölkerung notwendig und es wurden Städte und Zentren
aus dem arktischen Boden gestampft.
Ab 1951 wurden verschiedene Einfamilienhaustypen und später Reihen- und
Punkthäuser mit Fernversorgung errichtet. Die Zahl der Siedlungen sank von
164 im Jahre 1934 auf 144 im Jahre 1952. 1961 wohnten bereits 62,3% Prozent
der Inuit/Grönländer in den Städten. (Dege 1965:59f; Jenness 1967:103f)
Bald schon war es vielen zuzugswilligen Familien unmöglich, Wohnraum in den
Städten zu finden, da die Stadtentwicklung mit Migrationswillen und
Bevölkerungswachstum nicht Schritt hielt (Summary of the Committees
Proposals 1964:2). Eilends wurden aus Dänemark Fertigbauteile eingeführt, aus
denen in kurzer Zeit ganze Wohnblöcke gebaut werden konnten. Der Bau dieser
Häuser oblag dänischen Firmen, die dänische Arbeiter beschäftigten.
Als besonderes Argument für die Errichtung der Wohnblöcke mußte herhalten,
dass es auf Permafrost- oder Felsboden einfacher sei, ganze Blöcke mit Wasser,
Strom usw. zu versorgen, als alleinstehende Häuser, denn: alle Leitungen
müssen oberirdisch verlegt und Wasser- und Abwasserleitungen im Winter
elektrisch warmgehalten werden.
Bis 1975 lebten 70% der Inuit/Grönländer in den Städten und jede größere Stadt
war an das Telefonnetz angeschlossen. (Banks 1975:133)
Das Königlich Dänische Ministerium des Äußeren gab Ende der 60er, Anfang
der 70er Jahre eine Informationsbroschüre Grönland - arktisches Dänemark
(o.A.) heraus, die die offizielle Sicht des Bauprogrammes zeigt:

"Die Stadt, die ihr Dasein Bulldozern, Baukränen und vorfabrizierten


Elementen verdankt, hat sich schwer und dicht auf jeden freien Platz
gesetzt und alles weggepufft, was nicht des Bewahrens wert war. Dabei
ging das so schnell, dass jemand, der die Stadt vor nur wenigen Jahren
verlassen hat, sich heute bei seiner Rückkehr schwer zu orientieren vermag,
wenn er sie noch so gut gekannt hat. Selbst Leute, die das Wachstum der
Stadt die ganze Zeit verfolgt haben, fühlen sich bisweilen verzagt. Verzagt
zwischen den Blöcken 1, 2, 3, 4, 5, 6 und den Blöcken A, B,C, D, E, F, G.
Verzagt in einer Wohnmaschine, die an das Kollektive appelliert und daher
einen radikalen Bruch gegenüber der individuellen Siedlungstradition
Alienne Laval
bedeutet. Als Gegenleistung hat man all den modernen Komfort, dessen
Geräte man früher kaum dem Namen nach kannte."

Es wird unterschlagen, dass die individualisierte Siedlungsweise früher auf die


Sommermonate beschränkt war und erst durch den Einfluß der Missions- und
Handelsstationen den Rang einer ausschließlichen Tradition bekam. Auch paßt
das alte kommunalistische Winterleben keineswegs in den Rahmen einer
modernen Wohnmaschine, wenn man diese denn schon als an das Kollektive
appellierend ansehen will. Dieser Appell wurde vom dänischen Staat schließlich
noch dadurch verstärkt, indem jeder umsiedlungswilligen Familie 3000 DM
gezahlt und Wohnraum zur Verfügung gestellt wurde (SZ 29.08.1969). Doch
schon bald stellten sich gravierende Probleme ein: die Wohnungen, die die
Architekten auf dänische Verhältnisse zugeschnitten hatten, boten weder Platz
für Hunde, noch für das Trocknen von Fisch etc. (SZ 09.09.1969). Der Jäger,
der dem Ruf der Fischverarbeitung in die Stadt folgte, fühlte sich entfremdet
und verlor in der ungewohnten Umgebung den seelischen Halt; die Folgen
waren Gewalt und Alkoholismus (DP 12.03.1972). Die Inuit trauerten ihren
alten Hütten nach, die ihrer Mentalität und Lebensweise noch eher entsprachen
und in denen sie keine Miete zahlen mußten. Als Extreme wurden Wohnungen
genannt, in die "ganze Sippen" einzogen. (NZZ 16.09.1972)
Die verbesserte medizinische Versorgung beschleunigte die
Bevölkerungsentwicklung zusätzlich:

"Die Bevölkerungsexplosion im grönländischen Volk war, weil sie eben


eine Explosion en miniature darstellte, gut zu übersehen. Man konnte aus
ihr gleichsam ein Modell entwickeln. Man konnte sie studieren, man
konnte mit ihr experimentieren und sie vielleicht schließlich zu einer
Lösung führen. Das kann - im Rahmen des Weltproblems Nr. 1 gesehen -
Folgen haben, die sich weit über die Grenzen Grönlands auswirken."
(Barüske 1977:107)

Die Lösung war nicht das Einsetzen von ca. 1200 Spiralen jährlich in die
Gebärmütter von Frauen, das man ab Anfang der 70er Jahre durchführte,
sondern die fortschreitende Europäisierung. Die Bevölkerung pendelte sich ab
Mitte der 70er Jahre bei etwa 50.000 Einwohnern ein. (Banks 1975:116ff;
Barüske 1977:107ff)
Als in den Gemeinden zudem Geld, Banken, Handel, Wandel und Kommerz
einen immer größeren Platz im täglichen Leben einnahmen, nahm auch die
Kriminalität zu, die man durch stufenweise Annäherung an das dänische Recht
in den Griff bekommen wollte (FAZ 30. 09.1973).
Auch hier kollidierte die kommunalistische Tradition, die Diebstahl und Mord
im Sinne europäischer Rechtsauffassung nicht kannte, mit den dänischen
Erwartungen einer zivilisatorischen Entwicklung. So gab es bis 1964 lediglich
ein einziges Gefängnis in Godthab (Nuuk), das eigentlich nur ein Holzhaus war,
Alienne Laval
in dem sechs Gefangene untergebracht werden konnten. Diese arbeiteten am
Tag in der Stadt und kehrten um 18.00 Uhr freiwillig zurück. Erst 1967 wurde
ein 'richtiges' Gefängnis gebaut, doch zur Abbüßung schwerer
Kapitalverbrechen wurden die Gefangenen nach Dänemark überstellt. (Jenness
1967:131, 135ff, 140; Barüske 1977:123; s.a. Banks 1975:103f; Report des
Premierministers 1949:8f)
Doch auch die Selbstmordrate stieg und war zeitweise vier mal so hoch wie in
Dänemark (WS 05.10.1975), der Alkoholkonsum oft die einzige
Freizeitbeschäftigung. Adler (1979:485) spricht gar von Massenbesäufnissen. So
traf er in Julianehab (2.600 Einwohner) von freitags 19.00 Uhr bis montags 9.00
Uhr kaum eine nüchterne Person an, obwohl die horrenden Preise für Schnaps
und Tabak die finanziellen Etats der Familien ruinierten. Auf den neuerbauten
Wohnblocks lasteten Mietschulden sämtlicher Parteien in Millionenhöhe.
Wenn der Wochenlohn vertrunken war, blieb nichts mehr für die Kinder, die
dann Abfälle essen oder bei den Dänen betteln mußten, berichtet Barüske über
die Situation in Angmagssalik (Ostküste). Die Schulen bleiben zur Hälfte leer,
weil die älteren Kinder zu Hause die jüngeren Geschwister versorgen müssen,
während die Eltern betrunken im Bett liegen. Viele Familien sind in Auflösung
begriffen, das Kinderheim ist überfüllt von verwahrlosten Kindern, die durch
offene Wunden, Krätze und andere Krankheiten gezeichnet sind. Manche
Kinder, hinunter bis zum 13. Lebensjahr sind durch das Trinken schon schwer
geschädigt (Barüske 1977:122).

"Die meisten Familien lösen sich auf. Die Kriminalität steigt. Der
Alkoholmißbrauch greift um sich, auch unter den ganz Jungen. Die Anzahl
gewöhnlicher psychischer Störungen steigt, was ebenfalls für die
Schulkinder gilt. Bei vielen ahnt man ein inneres Chaos, Verwirrung,
Enttäuschung. Die einstige soziale Not wird nun durch menschliche
Auflösung ersetzt." (Olsen o.A.:46)

Die Verfasser der schon angeführten Broschüre des dänischen


Außenministeriums schienen über diese Resultate nicht weiter verwundert; so
heißt es da:

"Bei einem so heftigen Zusammenprall verschiedener Kulturen sprühen


Funken, und es wäre merkwürdig, wenn nicht einige Entladungen in
weniger widerstandsfähigen Seelen schmerzhafte Wunden hinterließen."
(Dänisches Ministerium des Äußeren o.A.:22)

In derselben Schrift wird noch einmal der schon angesprochene


Experimentalcharakter der grönländischen Entwicklung hervorgehoben:
Alienne Laval
"Die Stadt ist ein Versuchsmodell für das geworden, was eine Bevölkerung
in einer explosiv stürmischen Entwicklungsphase zu absorbieren imstande
ist." (ebd.:21f)

Auch 1989 waren diese Probleme noch nicht gelöst. Immer noch ist der Alkohol
oft der einzige Zeitvertreib. 'Am Abend ist halb Grönland besoffen!', so Peder
Munk Pedersen, Redakteur bei Atuagagdliutit (Grönlandpost) zu Michael
Kunert, einem Korrespondenten des Weser-Kurier:

"Der ständige Alkoholmißbrauch bringt so manches Unternehmen in arge


Schwierigkeiten: Mitarbeiter erscheinen tagelang nicht zum Dienst,
angetrunkenes Personal gefährdet die Kollegen und im Umgang mit den
Maschinen sich selber. Prügeleien in den Produktionshallen sind ebenso die
Regel wie die Beschaffungskriminalität, die in Grönland selten verfolgt
und noch seltener geahndet werden kann. Der Kriminelle flüchtet - und
Grönland ist groß. Groß und unübersichtlich. So unübersichtlich, dass
niemand genau weiß, wie viele Grönländer in Nuuk leben." (WK
04.08.1989)

Auch wenn ab Mitte der 70er Jahre der Plan einer Bevölkerungskonzentration
wieder aufgegeben wurde, weil die Arbeitslosenzahlen in den Küstenorten
stiegen und die Kleinsiedlungen nun nicht mehr aufgelöst werden sollten, da die
dortige Fängertradition noch eine relativ solide Existenz sichern konnte
(Barüske 1977:233)25, so zeigt sich doch auch 1989 noch das schon bekannte
Bild.
Der Taxifahrer, der Kunert stundenlang durch Nuuk chauffierte, sollte ihm auf
seine Bitte ein typisches Eskimo-Haus zeigen:

"(Er)...zeigt...zur linken Seite. Dort reihen sich etliche fünfstöckige


Gebäude auf, das jedes für sich Wohnungen für 200 Familien aufweist. Auf
40 Quadratmetern leben bis zu vier Generationen..." (WK 04.08.1989)

Ubi natura definit, ibi ars incipit (Wo die Natur aufhört, hebt die Kunst an)

Struktureller Wandel oder Codewandel bedeutet eine tiefgreifende Änderung der


grundlegenden Prinzipien, nach denen eine Gesellschaft funktioniert. In der
Regel ist ein derartiger Wandel durch Einflüsse von Außen, wie schwere
Naturkatastrophen, klimatische Veränderungen oder Kulturkontakt bedingt. (s.a.
Firth 1959:340f)

25 Barüske (1977:229f) berichtet vom Wohnplatz Niaqornat, einer nördlichen Siedlung, die
noch aus Torfsteinhütten besteht. Obwohl die alte Fängertradition hier noch einträglich ist,
fordert er dennoch, dass die Wohnsituation verbessert werden muß.
Alienne Laval
Die Struktur wandelt sich, wenn sie ihre Funktionen beim Umgang mit Neuem
nicht mehr erfüllen kann. Das ist oft dann der Fall, wenn zwei unvereinbare
strukturelle Prinzipien aufeinandertreffen (Firth 1964:60). Das strukturelle
Prinzip der Inuit-Gemeinschaften war der adaptive Umgang mit den arktischen
Bedingungen. Ihre Gesellschaftsordnung war entsprechend den jahreszeitlichen
Variationen polarisiert, wobei diese Polarisation als Code fungierte, der alle
anderen sich aufschichtenden Codes regelte und bestimmte. Während des
Winters wurde der mythisch-konzeptuelle Teil der Opposition gelebt, während
dem Sommer der profan-individualistische Teil vorbehalten war. (s.a. Taborsky
1998) Beide Teile der codalen Opposition waren nicht isoliert und unvermittelt,
sondern aufeinander angewiesen und konnten keinesfalls unabhängig existieren.
Ganz anders funktionierte dagegen der europäische Code, der sich - vor allem
durch die Errungenschaften in Handel, Transport und Technik - so weit
transformiert und von den Umweltbedingungen emanzipiert hatte, dass er sich in
weitgehender Selbstreferentialität und auf der Basis politischer, sozialer und
weiterer immanenter Kriterien ausformen konnte. Der Export dieses Codes nach
Grönland zeitigte dort jedoch schwerwiegende Folgen. Zunächst waren es die
Missions- und Handelsstationen, die nicht nur wie Magnete auf die
Siedlungsstruktur wirkten, sondern auch die alte konzeptuelle Ordnung des
Winters und der Langhäuser ersetzten und einen ganzjährigen Betrieb
aufnahmen. Der nun einsetzende Prozeß der Entpolarisierung, der wohl auch für
die Europäer in der ganzen Tragweite rasanten technischen Fortschritts nicht
absehbar war, wurde vorhin ausführlich beschrieben.
Am Pol war bis dato nur eine saisonal polarisierte Lebensform denkbar.
Derartige Polarisationsmöglichkeiten bot jedoch nur ein hochspezialisiertes
Wildbeutertum, das hier im Extremklimat noch einmal triumphierte. Erst die
Technologie ermöglichte es, das grönländische Extremklimat als unpolarisiert
zu empfinden; die moderne Technik sollte die adaptive Strategie der Wildbeuter
ersetzen.
Die Auflösung der arktisch-saisonalen Polarisierung und die technische
Erzeugung eines Gleichmaßes erforderte auch hier andere Polarisierungen,
namentlich soziale, um eine funktionable soziale Syntax zu garantieren. Es fand
so der Übergang von einer naturdeterminierten Syntax zu einer sozio-
technologischen Syntax statt, die auch den semantischen Objektbezug von der
Natur auf die Technologie (Bergbau, industrielle Fischverarbeitung,
zentralbeheizte Wohnblocks etc.) verschob.26
26 Gerade die strengen Winter Anfang bis Mitte der 80er Jahre schienen die Bedenken der
Grönländer gegen den weiteren Import dänisch-europäischer Kultur zu bestätigen. Im Januar
1984 sank das Temometer bis auf 48 Grad unter dem Gefrierpunkt. Normalerweise beträgt die
mittlere Temperatur im Januar minus sieben Grad, 1984 lag sie jedoch bei minus 19 Grad.
Robbenfellkleidung und Iglu schienen wieder eine angemessene Alternative zu sein.
"Schlecht schneiden auch die modernen, wärmeisolierten Wohnhäuser im Vergleich mit den
Schnee-Iglus oder den aus Steinen und Erde erbauten Hütten ab, die von einer simplen
Tranlampe oder einfach mit Körperwärme geheizt wurden. Angaben aus der Stadtverwaltung
von Nuuk zufolge ist das Leben in den neuen Wohnhäusern nahezu unerträglich geworden,
Alienne Laval
Der grönländische Folketingabgeordnete Moses Olsen drückte das Dilemma der
Codediskrepanz so aus:

"Die soziale Auffassung scheint gewesen zu sein, dass der Mensch das
Produkt sozialer Verhältnisse ist. - Meiner Meinung nach ist es eine
Tatsache, dass die menschliche Würde nicht durch Geld zu retten ist. Geld
ist höchstens eine Ergänzung der Bewahrung und Entwicklung
menschlicher Werte. Es sieht so aus, als hätte man gemeint, dass die
Grönländer automatisch als Dänen reagieren würden. Dies dürfte wohl a
priori so gut wie ausgeschlossen sein, siehe die naturgegebenen

weil im Sommer zerbrochene Fensterscheiben niemals ersetzt worden sind. 'Viele können sich
neue Scheiben einfach nicht leisten, so dass wir bei diesem Notstand unter Umgehung der
Vorschriften mit Geld helfen müssen'." (WK 15.02.1984)
Die Heizkosten stiegen in schwindelnde Höhen, die Stromversorgung fiel oft aus, die
Wasserleitungen froren zu und die Telefonverbindungen waren unterbrochen. Der Ausfall der
Telefonleitungen hatte den Nebeneffekt, dass auch auf das Fernsehen, eines der wenigen
winterlichen Vergnügen, das Tranlampe, kommunales Winterleben und den späteren
Kirchgang ersetzte, verzichtet werden mußte.
Die Meterologen rechneten nach diesen schlimmen Wintern mit einer anhaltenden
Wetterverschlechterung und immer kürzer werdenden Sommern. Der damalige dänische
Minister für Grönlandfragen, Tom Hoeyem, regte an zu prüfen, ob das Schwergewicht der
Wirtschaft von der Fischerei weg und auf andere Bereiche, wie die Gewinnung von
Bodenschätzen, verlagert werden sollte. (WK 15.02.1984)
Schon die Wikinger, die um das Jahr 1000 auf Grönland siedelten, mußten unter anderem (s.a.
Anm. 5) wegen einer Klimaverschlechterung kapitulieren. Ab 1850 trat eine
Klimaverbesserung ein, die den Dorschfang in großem Maßstab erst lohnend werden ließ...
1998/99 sieht die klimatische Situation wieder anders aus als in den 80er Jahren. Nach
Messungen der NASA hat die Dicke der Gletscher in Südostgrönland von 1993 bis 1998
jährlich um einen Meter abgenommen, wobei davon ausgegangen wird, dass sich dieser
Prozeß noch beschleunigen wird. Im gleichen Zeitraum hat zwar die Dicke des Inlandeises
zugenommen, doch insgesamt ist eine Abnahme der Eismasse festzustellen. Noch zeitigen
sich keine globalen Auswirkungen, doch könnte sich das bei einer Beschleunigung des
Prozesses ändern. (WK 13.03.1999) Auf den Permafrostboden im Norden Kanadas wirkt sich
die globale Erwärmung wohl bereits aus. Erste Folgen sind in der Siedlung Tuktoyaktuk im
Mündungsgebiet des Mackenzie-Flusses zu sehen, wo einige Häuser der Aufweichung des
Bodens nicht standhielten. Die Erosion ist in mehreren Küstenortezu spüren. Die
Durschnittstemperatur lag 1998 fünf Grad über dem Normalwert - das ist bisher eine der
gößten Temperaturzunahmen auf der Erde im bisher wärmsten Jahr seit Beginn der
Aufzeichnungen. Als Folge der Erwärmung werden die Eisflächen kleiner, auf denen die Inuit
jagen und fischen. Auch sind die Eisbären in den letzten 30 Jahren immer leichter geworden
und wiegen zwischen 40 und 100 Kilogramm weniger. Das hängt wohl mit der früheren
Eisschmelze zusammen, die es den Bären verunmöglicht, genügend Robbenbabys zu jagen.
Doch noch andere Gefahren lauern: Straßen und Brücken könnten durch das Auftauen des
Dauerfrostbodens in Mitleidenschaft gezogen und Ölpipelines zerstört werden. Dies könnte zu
gravierenden Umweltschäden führen. (WK 24/25/26.12.1998)
Das Ende des Kolonialismus, das im April 1999 für die Innuit im Nordwesten Kanadas mit
dem selbstverwalteten Territorium Nunavut (Unser Land) beginnt, wird mit diesen
wachsenden Problemen zusammentreffen (WK 14.03.1999; s.a. Rathgeber o.A.).
Alienne Laval
Voraussetzungen...Es genügt nicht, dass die Menschen ein Dach über dem
Kopf bekommen, wenn sie dabei in einer Menge Schachteln in sterilen
Hochhäusern eingesperrt werden. - Wir wünschen 'Milieubauten', in denen
man sich wohlfühlt, menschlich wachsen und sich entfalten kann." (Olsen
o.A.:46, 48)
Gerade im emotionalen Bereich gelang der Codewandel kaum, wie die
psychischen Verzerrungen zeigen, die sich in Alkoholismus, Gewalt usw.
entäußern. Sehr einfühlsam berichtet der aus Togo kommende Tété-Michel
Kpomassie, der Grönland 1965 besuchte, von dem im Herbst einsetzenden
arktischen Koller, der viele Inuit heimsucht:

"Die Medizin ist angeblich machtlos gegenüber diesem merkwürdigen


psychisch bedingten Leiden, das von mehreren Phänomenen ausgelöst
wird: dem Herannahen der langen Polarnacht, die, je nach der
geographischen Breite, etwa sechs Monate dauert; die fahle, bedrückende
Klarheit des Herbstes; die Untätigkeit, in der die Menschen schlaff werden
(während dieser Übergangsperiode bringt es der Frosteinbruch mit sich,
dass die Kajaks nicht mehr benützt werden können, und das Eis noch zu
dünn und nicht widerstandsfähig genug für die Schlitten); die tödliche
Langeweile, die daraus resultiert, Zwangsvorstellungen (im Herbst wissen
die Leute weder, was sie mit sich, noch, was sie mit den anderen anfangen
sollen); und die Folgen des Schlafmangels während der hellen Nächte des
arktischen Sommers. Die Grönländer, mit denen ich zusammen den
Sommer verbrachte, hatten einen leichten Schlaf und träumten laut;
manchmal standen sie auch im Schlaf auf, wanderten durchs Zimmer und
sprachen weiter. Da sie keine genügend dichten Vorhänge besitzen, um in
ihren Räumen die notwendige Dunkelheit zu schaffen, war ihr Schlaf den
ganzen Sommer hindurch sehr unruhig. Manche, deren Nerven durch diese
Schlaflosigkeit arg gelitten haben, ertragen den Herbst schwer, das
langsame Nahen der monatelangen Nacht, und bekommen Anfälle."
(Kpomassie 1992:159)

Der alte Code konnte mit diesen Schwierigkeiten eher umgehen, denn der
Herbst diente der Beschaffung der Wintervorräte, und das folgende kommunale
Winterleben im Langhaus kompensierte die einsame, helle Phase des Sommers.
Fraglich ist auch, ob Missionare, Händler und Ökonomie tatsächlich die
Funktionen der Angakoks übernehmen konnten und ob der Alkohol die Feste in
den Langhäusern ersetzen kann und die heutigen Fernsehgeräte als
wiederauferstandene Lampen gefeiert werden können.
Bereits 1972 war Moses Olsen gegen den EG-Beitritt, für den Austritt aus der
Nato, für eine Loslösung vom dänischen Großkapital, forderte die Räumung der
US-Stützpunkte (SZ 09.08.1972) und ging mit seinen Forderungen noch weiter:
Alienne Laval
"Meiner Meinung nach können wir aber nicht umhin, in der
Grönlandpolitik den Kurs zu wechseln, wenn wir eine grönländische
Gesellschaft wünschen, die im Gleichgewicht, in Harmonie mit sich selbst
und ihrer natürlichen Umwelt ist. Ein solches Gemeinwesen, eine solche
Gesellschaft kann augenscheinlich nicht nach westlichem Muster aufgebaut
werden, das in den menschlichen Beziehungen allzu viele Paradoxe
einschließt. Die Grönlandpolitik muß aufgrund grönländischer Wirklichkeit
und Gegebenheiten geführt werden. Die Reichseinheit und andere
Rücksichten haben von untergeordneter Bedeutung zu sein, wenn das
Ganze dem Grönländer frommen soll." (Olsen o.A.:49)

Die Durchsetzung dieser Politik führte u.a. zum Austritt aus der EG, der
Schließung der Mine Black Angel und schließlich zur Autonomie Grönlands
mit eigenem Premierminister. Grönland mußte mit diesen Schritten seine
Wirtschaft damit zunächst fast ausschließlich auf Fischerei, Fischverarbeitung
und Tourismus (GL)*27 begründen. Der weitere Weg, auf dem eine neue polare
Identität auf der Grundlage alter Tradition entwickelt werden kann und auf dem
sich der naturdeterminierte und der sozio-technologische Code treffen können,
ist nicht leicht zu gehen. Die Inuit/Grönländer haben eine lange Tradition als
Walfänger, die sie wieder aufnehmen möchten. Ursprünglich stand die
gemeinschaftliche Waljagd in Zusammenhang mit der Winterbevorratung der
Langhäuser (s.o.) und hatte innerhalb des alten Codes identitätsbildende
Funktion.
Heute ist Grönland Mitglied der Internationalen Walfang Kommission (IWC) in
der Kategorie Aboriginal Subsistence Whaling und provoziert durch die Waljagd
das Entsetzen zivilisierter Moral.

"Tierschutzorganisationen wie IFAW, Greenpeace, Earth First und andere


haben europäische, nordamerikanische und australische Politiker - um nur
einige zu nennen - davon überzeugt, dass fast alle Meeressäuger
unveräußerliche Rechte als Lebewesen haben und daher nicht gejagt
werden sollten, wie sie sagen. Für viele Westländer sind die Wale fast zu
heiligen Wesen geworden." (Egede, I. 1994; übers. R.U.)28

27 Die Angabe (GL)* bezieht sich auf eine Website (s.Literaturliste).

28 "Schwer getroffen wurden die Inuit, als die Europäische Gemeinschaft 1983 die Einfuhr
von Seehundfellen verbot. Naturschützer - Greenpeace, der World Wildlife Fund und andere
Tierschutzorganisatioen - hatten aus guten Gründen gegen das Abschlachten von
Robbenbabies durch kanadische und norwegische Fangflotten protestiert und den Schutz der
Robben gefordert. Der Markt für Robbenfelle brach zusammen. Die Inuit konnten plötzlich
ihren Lebensunterhalt nicht mehr aus der Jagd auf ausgewachsene Robben - Babyrobben
jagten sie nicht, um die Bestände nicht zu gefährden - bestreiten und mußten sich auch vom
Walfang verabschieden. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer kulturellen Identität und ihres
Sozialsystems brach ersatzlos weg. Dieselbe Gefahr beschwört das von der EU vorgesehene
Einfuhrverbot für Wildfelle herauf, das Inuit und andere Ureinwohner in Kanada betrifft.
Alienne Laval
Jagd muß hübsch aussehen (s.a.Lynge 1996:7), damit Europäer und Amerikaner
sie ertragen können. Überall dort, wo das Öl der Meeressäuger nicht mehr
gebraucht wird, wird es mit Handelsbarrieren belegt. (s.a. Donovan o.A.; The
International Harpoon 1995; Lynge o.A., 1996, 1997) Aus der Sicht des
Tierschutzes kommt noch erschwerend hinzu, dass die Inuit/Grönländer
Walfleisch und andere Walprodukte nicht mehr nur innerhalb ihrer
Subsistenzwirtschaft nutzen, sondern auch noch exportieren wollen (High North
News 15.05.1995).
Am 19.05.1998 berichtete Die Tageszeitung TAZ, dass Walfleisch aus der
Arktis mit Giftstoffen verseucht und daher für Menschen gefährlich sei. Zu
diesem - vielleicht nicht ganz unvoreingenommenen Ergebnis - kam eine
Schweizer Arbeitsgruppe zum Schutz der Meeressäuger. Hauptsächlich
betroffen seien die Wale bei den Faröer-Inseln und bei Grönland, wo Walfleisch
zu den Grundnahrungsmitteln gehört. Diese Erkenntnisse können die Inuit
jedoch nicht davon abhalten, auch weiterhin Walfleisch zu essen (McCarten
1995).
Ein Zurück zur Subsistenzwirtschaft des Sommers und zur Vorratswirtschaft des
Winters scheint heute nicht mehr möglich zu sein, und die Reetablierung eines
naturdeterminierten Codes wird aus verschiedenen Richtungen verhindert. Es ist
nicht nur die weiterhin repressive Politik des sozio-technologischen Codes, die
die Gründung moderner Identitäten auf der Basis der alten erschwert; eine
wesentliche Rolle spielen auch die Umweltbedingungen, die sich aufgrund der
globalen Erwärmung rapide zu verändern scheinen (s.a. Anm. 12).

Etwa 35.000 Ureinwohner besaßen 1995 eine Lizenz zum Fallenstellen. Sie haben in der
Regel kaum andere Einkommensquellen, insbesondere in abgelegenen nördlichen
Gemeinden. Interessenorganisationen der Inuit protestierten nicht zuletzt gegen die Art und
Weise, wie das Verbot durchgedrückt werden sollte: in schlechter kolonialer Manier, ohne
Konsultation der Betroffenen." (Rathgeber o.A.)
Alienne Laval
Meereskulte
Verhaltensmodi der Beschwichtigung, Abwehr und Aneignung von
Fremdem

Masken- und Verkeidungsspiele sind wohl so alt wie die Menschheit und
kommen auch heute noch in allen Kulturen (z.B. im Karneval) in
unterschiedlicher Ausprägung vor. Maskenspiele gehören damit zum
interkulturellen Repertoir humaner Ausdrucksformen. Innovationen in Politik,
Ökonomie, Technologie, Gesellschaft und Veränderungen der natürlichen
Umwelt werden in vielfältiger Weise von Maskierungen und Demaskierungen
begleitet, die die Entwicklungen kritisieren, reflektieren, aushaltbar machen oder
ihnen gegensteuern. Gerade die Einführung neuer Technologien ist ambivalent
und löst ambivalente Reaktionen aus, die von Beschwichtigung und Abwehr bis
hin zu Aneignung reichen.

Unser Karneval geht allem Anschein nach zurück bis auf die Zeit keltisch-
germanischer Fruchtbarkeitsriten, der Sonnenverehrung, der Vertreibung der
Winterdämonen und der Frühlingsfreuden. Während der Zeit des römischen
Imperiums wurde diese Tradition in Beziehung zu römischen
Sühneprozessionen, dionysischen Geheimbündeleien und den Saturnalien
gebracht, bei denen die Herren ihren Sklaven dienen mußten.
"Die Standesunterschiede waren aufgehoben. Die Freiheit zu scherzen und zu
spotten symbolisierte eine vergangene 'goldene' Zeit der Gleichheit und
Unabhängigkeit: Die Untertanen hatten das Recht, sich über die Fehler und
Schwächen ihrer Herren ungestraft lustig zu machen... " (Hallerbach 1984:8)

Diese goldene Zeit, auf die Jörg Hallerbach hier anspricht, ist jene primordiale
und mythische Epoche der Menschheitsentwicklung, die in den Mythen als die
Phase der Weltumwandler gespeichert ist. Die urtümlichste Figur des
Weltumwandlers ist der Trickster, wie er aus den Mythenzyklen der
nordamerikanischen Indianer und aus Afrika bekannt ist. Der Trickster ist
Kulturbringer, Schelm, Spaßmacher, Umwerter der Werte, Schadenstifter und
Demonstrationsfigur öffentlicher Belehrung (Kuper 1993:162) zugleich und hat
der Welt ihr heutiges Aussehen gegeben.
Alienne Laval
"Wird er auf die Bühne der menschlichen Vorstellungskraft und
Bewußtheit zitiert, so dichtet man ihm gerne auch die von der Täter-Opfer
Komik getragene Doppelrolle des betrogenen Betrügers an, der sich von
sprechenden Bäumen brüskieren und in die Irre führen und vom Nerz
hereinlegen läßt." (Kuper 1993:162)

Die physische und geistige Potenz des Tricksters ist enorm, ungerichtet und
unberechenbar, so dass ihr eine Richtung gegeben werden muß. Im Trickster-
Zyklus der Winnebago-Indianer jagt der Trickster eines Tages ein
Eichhörnchen, dass ihn aber austrickst, seinen Penis zernagt und diesen auf ein
'herkömmlich proportioniertes Maß' (Kuper 1993:162) zurechtstutzt.

"Aus den für ihn selbst nutzlos gewordenen Teilstücken seines Penis
schafft der Trickster für die Menschen überlebensnotwendige
Kulturpflanzen wie Kartoffeln, Reis, Mais, Steckrüben und auch Tabak. In
seiner Eigenschaft als ambivalenter Kulturheros und Heilsbringer hat der
Trickster nicht nur zur Sicherung des materiellen, sondern vor allem auch
des psychischen Überlebens beigetragen, indem er den Menschen die Gabe
der Kultur gebracht hat. Für den Menschen ungünstige oder asymmetrische
Existenzbedingungen hat der Trickster durch sein den Anfang der Kultur
und das kreative Potential des imaginär Möglichen markierende Wirken
positiv ausbalanciert." (Kuper 1993:162)

Der Trickster überführt die in der dem Menschen gegenüber ambivalenten Natur
und später auch in den Gesellschaften vorliegenden Asymmetrien in kulturelles
Verhalten, wobei allerdings die Möglichkeiten der Kultur - als einer
semiotischen und zweiten Wirklichkeit - durch das in Gesellschaft und Natur
Vorliegende - die erste Wirklichkeit - bestimmt werden. Nicht nur das, denn die
Erscheinungen der ersten Wirklichkeit werden durch zeichenhafte
Handlungsoperationen in die zweite überführt.

II

In der Menschheitsgeschichte haben sich, von den frühesten nachweisbaren


künstlerischen Gestaltungen ausgehend, zwei Darstellungstraditionen mehr oder
weniger parallel entwickelt; das sind der ikonische Realismus und die
symbolischen Verhaltensmodi. (Bystrina 1992:255ff)

Der ikonische Realismus findet seinen Ursprung in den von manchen


Anthropologen als Jagdzauber bezeichneten Formen der rituellen Besessenheit.
An den Höhlenwänden wurden realistische Abbildungen von Tieren und
anderen herbeigewünschten Dingen angebracht, die durch ihre Ähnlichkeit die
Alienne Laval
herbeigesehnte Jagdbeute magisch anziehen sollten. Diese Form der
Repräsentation wird im Kulturprozeß dann problematisch, wenn die Abbildung
keine reale Entsprechung mehr hat, aber realistisch ausgeführt bleibt. Götter,
Geister, Dämonen, Ahnen usw. sind derartige Abbilder, die nichts mehr
abbilden. Sie bündeln oder fokussieren dann Kräfte oder Mächte, die die
menschliche Existenz beeinflussen und die beschwichtigt oder verstärkt werden
müssen.
Der Semiotiker Charles Sanders Peirce legt dar, dass es unerheblich ist, ob das
Ding, auf das sich die Abbildung bezieht - in der Semiotik Ikon genannt -
tatsächlich existiert oder nicht. Die Wirksamkeit des Ikons wird dadurch nicht
beeinträchtigt. Die Irrealität und Unerreichbarkeit des Ikons verstärkt eher seine
Wirkung, indem sie zur Verschlingung der Welt durch eine gemeinschaftliche
Ideologie - zur Besessenheit - anhält. Diese Effekte sind uns aus den Kriegen der
Religionen, der Politik, den Massenmedien und dem Konsum bekannt.
Ikonen sind das, was Claude Lévi-Strauss als Beziehungsbündel bezeichnet hat.
Das lateinische Wort für Bündel ist fascis und damit etymologisch verwandt mit
der fascinatio, der Beschreiung oder Behexung. Das, was uns fasziniert, bündelt
unsere Aufmerksamkeit, behext uns, macht uns besessen.
Die gesellschaftlichen Mächte haben sich dieser Möglichkeiten schon früh
bedient, indem sie sich mit den Attributen besonders gefährlicher Tiere oder
Naturmächte auszeichneten. Das Fell oder der Kopf des getöteten Raubtieres,
des Bären, des Löwen usw. (später als Wappen gestaltet) signalisiert die
Unberechenbarkeit der Herrschaft und wird zum Insignium dieser
naturäquivalenten, mit dem Tode drohenden Macht, die inmitten der geschützten
Ansiedlung wieder auftaucht. Auf diese Weise erlernten die Mächtigen bald die
Fähigkeit, kognitiv verbindliche Ikonen zu schaffen.

Das Fell des Schamanen hatte eine gänzlich andere Funktion, als das des
Herrschers: es zeigte die (mimetische und poetische) Selbstbehauptung der
entstehenden Kultur gegen die bedrohliche Natur und dann auch gegen die
ikonische und ideologische Repräsentation gesellschaftlicher Mächte.

Das schamanische Handeln mußte, neben der Besessenheit durch die ikonisch
repräsentierten Kräfte der Natur, die Ahnengeister usw., auch die Besessenheit
durch die Geister der gesellschaftlichen Mächte in kulturelles Tun überführen.
Dies geschah vor allem durch Rollenübernahme, in der die Ikonen zur Abwehr
des Faszinierenden verwendet wurden.

Der Umgang mit den Ikonen leitet damit in eine andere Sphäre menschlichen
Seins, die der symbolischen Verhaltensmodi und der kulturellen Produktion -
und damit in eine zweite Wirklichkeit -, über.

Doch auch ein anderer Bereich menschlichen Seins kann ikonische Besessenheit
erzeugen: die Werkzeuge, technischen Gegenstände und Gerätschaften sind
Alienne Laval
ikonische Repräsentationen. Ist auch der Faustkeil noch eine Verlängerung des
Skeletts, wie André Leroi-Gourhan (1980) bemerkt, so entsteht auch hier bald
ein völlig eigenständiger Bereich von phantastischen, technischen Erfindungen.
Inzwischen erscheint unser modernes Soziales in zunehmendem Maße
technifiziert, von den technischen Ikonen infiziert und bestimmt. Eine
Entlastung wird indes nicht als notwendig erachtet.

Der Semiotiker Thomas Sebeok zeigt auf, dass die Ikonizität zu unserem
animalischen Erbe gehört. Erst spät bildeten sich in der biologischen Evolution
Formen, die von diesem Muster abwichen. Der Hirnforscher Detlef Linke weist
darauf hin, dass die besonders alten Teile unseres Nervensystems - Rückenmark,
Stammhirn und Kleinhirn - axial angelegt, also auf einer Achse ausgerichtet
sind. Im Gegensatz zu den alten, axialen Teilen des Nervensystems sind die
neuen lateral, also seitlich angelegt; so das Großhirn und insbesondere die
Großhirnrinde, in der ein großer Teil unserer neuronalen Aktivitäten abläuft.
Erst mit der Bilateralität, der Zweiseitigkeit der neuen Organe, kommt so etwas
wie ein Stereoeffekt in die Schöpfung.

Großhirn - und vor allem die Großhirnrinde - bieten Möglichkeiten, die die alten
Teile des Nervensystems nicht hatten. Zu den Empfindungen von Angst,
Schmerz, Schwindel und Hunger und deren Überwindung durch Flucht,
Abwehr, Sexualität, der Suche nach Nahrung und ihrer verschlingenden
Aufnahme kommen nun neue Seinszustände hinzu, die bei den höheren
Säugetieren zu einem mehr oder weniger bewußten Erleben des eigenen Körpers
und der Phänomene der Umwelt sowie zu Traum und Spiel führen. Im
Menschen schließlich sind diese Seinszustände so weit entwickelt, dass sie
endlich zu Witz und Bewußtsein - und damit zur Kultur 29 - führen.

29 Kultur ist, um es mit Arthur Koestler (1978) auszudrücken, ein bisoziativer


Wahrnehmungsmodus. Koestler unterscheidet den von ihm geprägten Begrifff der Bisoziation
von dem der Assoziation, der, aus der Kaufmannssprache des 17. Jahrhunders entlehnt,
allmählich bis in die Psychologie diffundierte. In der Assoziation werden Gedanken
miteinander verbunden oder vereinigt, die einem einzigen, gemeinsamen Bezugsrahmen
entstammen; die Bisoziation dagegen operiert in zwei voneinander getrennten, autarken und
unvereinbaren Bezugsrahmen.
Diese Fähigkeit kommt in der Erfindung subtiler Witze ebenso zum Tragen, wie im Verstehen
von Scherzen, das sich im erfreuten, geistigen Sprung von einer Ebene zur anderen, von
einem Kontext zum anderen zeigt. Der Witz ist sprach- und kulturhistorisch mit Gewissen,
Weisheit, Weissagung, Vorwitz, Wissen und Bewußtsein verwandt.
Arthur Koestler hat drei Bereiche unterschieden, die sich mit verschiedenen Ausrufen des
freudigen Entdeckens in Verbindung bringen lassen:
Das "Haha" kennzeichnet den Witz und seine Varianten. Das "Aha" steht für das Entdecken
einer verborgenen Analogie, das Einfühlen in einen unbekannten Zusammenhang, für
Wortspiele, für die Fähigkeit zur Synthese und die Zufallsentdeckung. Das gedehnte "Ah..."
hingegen begleitet das Verstehen einer Metapher, die Stilisierung, die Illusion, den Reim, die
Konfrontation, aber auch musikalischen Genuß und religiöses Erleben.
Alienne Laval
III

Die von den Menschen bewohnbaren Orte, in denen sich der iokonische
Realismus und die symbolischen Verhaltensmodi treffen und ausgependelt
werden, können in Anschluß an den Semiotiker Yuri Lotman und unter
Einbeziehung des ethnologischen Konzeptes der Ethnizität Semiosphären
genannt werden (Uchtmann 1993ff). Semiosphären sind Zeichenräume, mit
denen sich der Mensch durch ein besonderes zeichenhaftes Repertoire und
Inventar von seiner Umwelt und anderen Semiosphären einerseits abgrenzt und
andererseits auch verbindet. Durch Tradition, Sozialisation und Konvention
regeln die jeweiligen Semiosphären das, was als Wachzustand, gewöhnliches,
'ernstes' Alltagsleben, 'echte' Wahrnehmung, psychische 'Normalität', Abstinenz
und nüchternes Erleben der Wirklichkeit zu gelten hat (s.a. Bystrina 1989:265).

Das menschliche Soziale ist Teil der Semiosphären und wird über sie codiert.
Diese semiotische Codierung des 'Normalen' reicht bis in biologische Abläufe
hinein. Selbst die Weise, in der Frauen ihre Babies halten und stillen, ist beim
Menschen nicht biologisch, sondern semiotisch codiert (s.a. Leroi-Gourhan
1980). Auch der biologische und angeborene Sexus wird in vielen Kulturen, so
auch den euro-amerikanischen, zusätzlich durch vestiäre, semiotische Codes
verstärkt. In anderen Kulturen, z.B. im 'akephalen' Südamerika, waren vor dem
Kulturkontakt alimentäre Codes von entscheidenderer Bedutung, als die
vestiären.

In den Semiosphären schwingt aber immer jener urtümliche, redundante Bereich


mit, der sich ursprünglich in Traum, Spiel, Halluzinationen, psychischen
Deviationen, Drogen, Rausch, Ekstasen, Trancen und Visionen zeigte (s.a.
Bystrina 1989:265), in denen wir die genetischen Vorläufer der Künste,
Religionen, Wissenschaften, Philosophien, Utopien, Ideologien usw. sehen
können, die darauf angelegt sind, die Welt erneut zu verwandeln. 30
Die bewußten und unbewußten kreativen Prozesse, die diesen drei Bereichen und damit auch
der künstlerischen Originalität, der wissenschaftlichen Entdeckung und der kosmischen
Inspiration zugrunde liegen, haben ein gemeinsames Grundschema: der Witz, die Entdeckung,
die Kunst, die Kritik und die Inspiration stören die eingefahrenen, routinierten Abläufe des
Alltäglichen und die Ikonen, indem sie Bewußtsein schaffen.
In der schamanischen Wahrnehmung von Welt, die Bewußtsein dadurch schuf, indem sie
zunächst Phänomene der Natur in Kultur überführte, können wir die grundlegende
Voraussetzung der kulturellen Entwicklung bis heute sehen.

30 Mit Erstaunen hatte schon Lévi-Strauss (1958:229ff) einst festgestellt, dass ein Mythos,
auch wenn er in noch so verstümmelter Form auf uns gekommen sei, immer noch als Mythos
erkennbar sei. Seine Begründung lief darauf hinaus, dass der Mythos zumindest in zwei
Ebenen, einer sprachlichen und einer hypersprachlichen operiere. Vom Bereich der profanen
Alltagswirklickeit, von dem aus wir es gewohnt sind, unsere Bestimmungen vorzunehmen, ist
die hypersprachliche Ebene redundant, d.h. überflüssig.
Alienne Laval
Doch wie der urtümliche Trickster bringen sie damit auch "...neue
Schwierigkeiten, Barrieren und ungünstige Existenzbedingungen in das Sein der
Menschen..." (Kuper 1993:162)
Nicht nur durch die Einführung neuer Umgangsweisen mit der Umwelt, sondern
auch durch die Neuorganisation des Sozialen, die in unseren Breiten u.a. zu dem
zentralen Mann-Frau-Ikon, zur Arbeitsteilung, zum Christentum und zur
Hierarchisierung führte, brachte neue Schwierigkeiten in die Welt. 31

IV

Was Lévi-Strauss sagen will, ist, dass der Mythos vom Standpunkt der profanen Wirklichkeit
aus nicht dazu beiträgt, uns über sie in Kenntnis zu setzten, uns über sie zu informieren. Aus
der Nachrichtentechnik und der Informationstheorie ist der Begriff Redundanz bekannt; mit
Redundanz wird dabei das Überflüssige an einer Nachricht, die sie begleitenden
Störgeräusche und sinnloses Beiwerk, die nicht zum Verständnis der Nachricht beitragen und
den verständlichen Transport ihres Inhaltes behindern, bezeichnet.

31 Ein Beispiel kann das verdeutlichen: die anglo-amerikanische Ethnologie kennt den
Unterschied zwischen Sex und Gender, der sich in der deutschsprachigen Völkerkunde nur
allmählich durchsetzt. Mit Sex wird das biologische Geschlecht bezeichnet, während Gender
das soziale bzw. kulturelle Geschlecht meint. Die anglo-amerikanische Forschung war auf
diese Unterscheidung angewiesen, da die indianischen Kultruren, mit denen sie zu tun hatte,
häufig diese Differenzierung machten. Das biologische Geschlecht wurde hier nicht als das
Soziale determinierend angesehen und so kam es, dass indianische Kulturen mehrere
verschiedene kulturelle Geschlechter kannten.

Diese Übergänge wurden in unseren Breiten im Prozeß der sozialen Spezialisierung und
Disziplinierung zunehmend tabuisiert, und die Differenz des biologischen Mann-Frau-
Gegensatzes ist auch heute noch semiotisch elementar und bindend. Diese ideale Symmetrie
verbarg und verbirgt jedoch abermals Widersprüche, die sich nur schlecht kompensieren
ließen.
Im chinesischen Yin-Yang-Symbol wird diese Problematik sehr geschickt vertuscht: der im
Yin-Yang dargestellte Gegensatz zweier Gleicher negiert die Realität der chinesischen
Gesellschaft, wo Yang (männlich, hell, aktiv) Yin (weiblich, dunkel, passiv) dominiert. Die
Austauschbarkeit ist Illusion, da es nur so scheint, dass jede der beiden Hälften die
dominierende oder die den Untergrund bildende sein könnte. Die verborgene Absicht ist es,
den Anschein der Austauschbarkeit zu erwecken und zu wahren. Das Yin-Yang-Ikon ist eine
logische Tautologie, die gesellschaftliche Kohärenz gewährleisten soll. (s.a. Uchtmann
1990:722f)
Die Bibel ist da noch deutlicher, denn sie unterstellt die Frau eindeutig dem Mann und
Herrschaft hat männliches Vorzeichen. Dieses Verhältnis ist von so fundamentaler Bedetung,
dass es als Plakette gerabeitet auf einer Voyager-Sonde angebracht in das Weltall geschossen
wurde, um dort eventuelle fremde Wesen über uns zu informieren: ein großer Mann winkt mit
seiner Rechten den Fremden zu, eine kleine Frau steht teilnahmslos neben ihm. So wichtig
und elementar ist diese Opposition, dass sie uns sogar im Weltall, stellvertretend für die
gesamte Menschheit, abbilden soll.
Diese Bestimung, die die Reduktion auf eine empirische, rein biologische pragmatische
Information impliziert, muß originär kulturelle Alternativen unterschlagen; sie muß vieles von
dem, was unser kulturelles Erbe zu bieten hat, als eigenständige Dimension leugnen.
Alienne Laval
Die Kernsysteme (Lotman 1984:11f) der Semiosphären, so auch unser Mann-
Frau-Ikon und die gesellschaftliche Hierarchisierung usw., bleiben jedoch
eingetaucht in eine unbestimmte, 'amorphe semiotische Welt' (Lotman 1984:11f)
der Träume, der Utopien, des Fremden, des Anderen usw., die sie abwehren und
mit der sie umgehen müssen.

Gerade heute erleben wir - forciert durch die Globalisierung - wieder, wie sich
einerseits begrifflich-statische Oppositionen in dynamische verwandeln, die auf
einen Umbruch hinweisen, aber andererseits auch, wie sich unser auf dem
Mann-Frau-Gegensatz aufgebautes Weltbild weltweit durchsetzt. An beiden
Prozessen haben die Massenmedien maßgeblichen Anteil.

Mit Ivan Bystrina (1989:243) können wir sagen:

"Nach allen bisher bekannten Belegen und den systematischen


Verbindungen müssen wir annehmen, dass der Mensch ursprünglich nicht
in unbeweglichen Oppositionsbegriffen gedacht hat, sondern dass für ihn
sowohl binäre Oppositionen als auch komplexe Strukturen (Triaden etc.)
dynamische Gebilde bedeuteten. Es gab z.B. kein Oben und kein Unten an
sich, keine begrifflich-statische Opposition oben/unten, sondern nur
Prozesse, in denen sich die Opposition realisierte: Verbindungen und
Überwindungen, Entfernungen und Annäherungen, Entstehen (Schöpfung)
und Untergang, Himmelfahrt und Unterweltfahrt, (ewiger) Kampf und
(zeitweilige) Harmonie zwischen den Polen."

Der mythischen Figur des Tricksters stehen die Hexen (hagazussa), ebenfalls
liminale Wesen, die auf dem Zaun hocken, der Kultur und Natur trennt bzw.
verbindet und die schon erwähnten Schamanen, die Meister- oder
Meistverwandler, wie Elias Canetti (1980:428ff) sie nennt, nahe. Im Verlauf der
inneren Kolonisation Europas und der äußeren Kolonisation durch Europa

"Zeitgleich mit der Ausbreitung des westlichen Modells konstituierte (und konstituiert) sich
die eigene Identität der Europäer. Neben die traditionellen Institutionen, die Identität
zusprachen oder vermittelten, trat das sich seiner selbst bewußt gewordenen Ich mit dem
Anspruch der Selbstsetzung. Indem die Europäer aber begannen, ihr Selbstbewußtsein
autonom zu begründen, leiteten sie einen Prozeß ein, der zur Degradierung der Außenwelt
führte. Außerhalb des selbstgesetzten Ich gab es nur inferiores Material. Selbsterhaltung
verband sich mit der Vernichtung des Anderen. Der eigene Lebenskreis wurde universalisiert,
indem die übrige Welt entweder assimiliert oder zum Verschwinden gebracht wurde.
Vereinheitlichung der Welt unter westlichen Vorzeichen bewirkte (und bewirkt) unweigerlich
materielle, kulturelle und geistliche Verelendung." (Schönborn 1994:165)
Alienne Laval
wurde der Trickster immer weiter als Gegenspieler des christlichen Gottes
amplifiziert und mit dem Teufel identifiziert. Seine Sympathisanten, die
Schamanen und Hexen, galten daher als mit dem Teufel im Bunde und mußten
bekämpft werden.

Ob die Schamanen Gegenspieler des christlichen Gottes waren, sei dahingestellt;


auf jeden Fall aber waren sie Gegenspieler des Königstums und der mit ihm
verbundenen Form von Religion, die mit ihrer Wertehierarchie neue
Asymmetrien und ikonische Repräsentationen in die Welt brachten.

Der Schamane ist das genaue Gegenteil des Königs, wie Canetti (1980:428ff)
ausführt:

"Bei dem einen, dem Schamanen, wird (die Verwandlung) bis aufs äußerste
gesteigert und bis ins letzte ausgenützt, beim anderen, dem König, wird sie
verboten und unterbunden, bis er völlig erstarrt... Das Statische dieses
Typus, dem die eigene Verwandlung verboten ist, obwohl unaufhörlich
Befehle von ihm ausgehen, die die anderen immerzu verwandeln, ist in das
Wesen der Macht eingegangen, und die Vorstellung, die der moderne
Mensch von ihr hat, ist auf entscheidende Weise davon bestimmt worden."

Schamane und König können damit als die axiomatischen Pole gesehen werden,
die unsere bisherige Kulturevolution kennzeichnen. Unsere Gottesvorstellung ist
bis heute mit dem Bild des Königs verbunden, und selbst die ökonomisch
determinierte Demokratie füllt bislang nur das Vakuum aus, das das punktuelle
Verschwinden des Königs oder Herrschers hinterließ.

Doch nur der Schamane ist originär kulturellen Ursprungs, denn im Herrscher
und in der - auch symbolischen - Herrschaft (s.a. Pross 1981), die sich in
machtvollen Ikonen zeigt, setzen sich ältere, in unserer biologischen Herkunft
begründete Schichten des Seins gegen die Kultur durch.

In den gesellschaftlichen Mächten zeigt sich der ikonische Realismus der Urzeit
wieder, der nur durch die symbolischen Verhaltensmodi, die Rituale und
Maskeraden, verhandelt werden kann. Trickster-Geschichten und
Schamanentaten zeigen uns die Anfänge der symbolischen Verhaltensmodi und
damit der Kultur.

"Beide Tendenzen der Menschheit, der ikonische Realismus als das Alles-
Verschlingen und dennoch An-der-Oberfläche-Bleiben sowie die
symbolischen Verhaltensmodi als Mittel der imaginären Überwindung ...",
so Ivan Bystrina (1992:255), "bezeichnen den ganzen Weg der
Kulturevolution. Jedoch nur der imaginäre Weg ist schlechthin human: die
Verschlingung ist erkennbar animal."
Alienne Laval
VI

Die stringente Hierarchisierung der Gesellschaft, die vom Mittelalter an


betrieben wurde, ließ einige wie die Götter leben und zwang andere dazu, wie
die Schweine zu vegetieren. Zudem wurden sie in Rollen hineingepreßt, in die
sie sich nicht hinein individuiert, sondern die sie per Zwang auszufüllen hatten.
Die Menschen sollten Personen sein, also gesellschaftlich festgelegte Masken
tragen, die ihren Rang, Stand und ihre Stellung nach außen ausdrückten sollten.
Dieses Prinzip fand nicht nur in der inneren Kolonisation Europas und in der
Sozialdisziplinierung Anwendung, sondern wurde auch nach Übersee exportiert
und dort den besonderen Bedingungen der Sklaverei angepaßt.

Die Überführung des Bedrohlichen in Natur und Gesellschaft in Kultur -


ursprünglich schamanisches Tun -, fand mit der Entwicklung der Gesellschaften
zum Teil im Karneval statt.

Die groteske Körperlichkeit der karnevalesken Mummen und Larven (auch eine
Bedeutung von Person) ist nicht in den Hirngespinsten der Vermummten zu
begründen, sondern in den vorliegenden, bedrohlichen und faszinierenden
ikonisch determinierten gesellschaftlichen Verhältnissen, die keine Übergänge
gestatteten. So wurden besonders gerne der Mann-Frau-Gegensatz, die
unliebsame Vertikalität der Gesellschaft und die hierarchisierten Positionen
durch Überführung in die symbolische zweite Wirklichkeit der Maskerade
problematisiert.

Um 1500 sah der Karneval 32 so aus:


"Da sieht man in seltsamer Rüstung seltsame Mummerei, die Frauen in
Mannskleidern und die Männer in weiblicher Kleidung und ist fürwahr,
32 In diesem Jahr stritten die Karnevals-Oberen aus Köln und Düsseldorf darüber, ob im
Karneval nackter Busen gezeigt werden darf.
"Der Kölner Präsident des Bundes Deutscher Karneval, Franz Wolf, meint nein und schreibt
vor, dass Nacktauftritte während der diesjährigen Karnevalssitzungen unterbleiben sollen. Der
Präsident des Comitees Düsseldorfer Carneval, Günther Pagalies, dagegen hält das für
kleinkariert und will diese Prüderie beim Rosenmontagszug mit einem riesigen Pappmaché-
Busen verspotten - die Kölner drohen im Gegenzug mit Veranstaltungsboykott." (Alverdes
1998)
Hans-Peter Benz, Pädagoge und diesjähriger Sitzungspräsident der Traditionsveranstaltung
'Mainz bleibt Mainz', hat kein Verständnis für Nackedeis im Karneval; auf Funkenmariechen,
Bläserkorps, Büttenreden und Gala-Veranstaltungen kann er jedoch nicht verzichten.
"...es ist nicht zu leugnen", so Benz, "dass einige Veranstaltungen eher schon einem wüsten
Gelage denn einer Fassenachtssitzung ähneln...Das hat mit dem ursprünglichen Sinn des
Karnevals nichts mehr zu tun. In Mainz gab und wird es so etwas nicht geben. Wir sind ja
nicht in Rio oder im 'Moulin Rouge'." (Höhne 1998)
Alienne Laval
Scham, Zucht, Ehrbarkeit, Frömmigkeit an diesem christlichen Fest teuer
und geschieht viel Büberei...
Etliche laufen ohne Scham aller Dinge nackend umher, etliche kriechen auf
allen Vieren wie die Tiere, etliche brütlen Narren aus, etliche sind Mönche,
Könige, etc. auf diesem Fest...
Etliche gehen auf hohen Stelzen und Flügeln und langen Schnäbeln, sind
Storche, etliche Bären, etliche wild Holzleut, etliche Teufel. Etliche sind
Affen, etliche in Narrenkleidern verbutzet." (Hallerbach 1984:12)

Hinter den Masken der wilden Holzleute, den wilden Männern mit ihren
geschwärzten Gesichtern, haben sich die Schwarzkünstler, Magier und
Alchimisten verborgen (Hallerbach 1984:13), also jene neuen Weltumwandler
und Schamanen, deren Erkenntnisse zur Entwicklung der Schriftstellerei, der
Medizin, den anderen Wissenschaften, zur Aufklärung und zur
Demokratisierung beitrugen. 33

33 Das Ziel dieses Karnevals war, sich nicht nur über die Mißstände lustig und diese bewußt
zu machen, sondern diese auch aufzuheben. Die Absicht der Verwandlung war es, sich in eine
neue, mitbestimmte Ordnung hinein zu entwandeln. Nicht weichender Druck führte jedoch
zum Verbleib in der 'amorphen, semiotischen Welt' und zur Beibehaltung der Verwandlung.

"Im Mittelalter mußte man das Treiben vom Martinstag (11.11.), dem Schluß des bäuerlichen
Jahres, bis in den Frühling hinein dulden. Nachdem die Ernte eingebracht und das Vieh im
Stall war, wurden Knechte und Mägde entlassen. Ähnlich erging es vielen
Handwerksgesellen. Sie mußten nun "heischen", d.h. betteln gehen - während die Reichen
ihre Schlachtfeste veranstalteten. Da möchte man schon gern die Rollen tauschen: Frau wird
Mann, Knechte zu Herren, die Gecken kennen keine Standesunterschiede." (Hallerbach
1984:10)

Die Fasnacht konnte auch schon mal das ganze Jahr über andauern (Hallerbach 1984:10),
wenn keine angemessenen 'Arbeitsplätze' geschaffen wurden. Die Zustände verbesserten sich
nicht und die Bevölkerung konnte nach einem Jahr karnevalesker Ausschreitungen nur durch
den Druck der Obrigkeit zur Beendigung der Maskeraden gezwungen werden.

Die Ernte des nachkriegsdeutschen Wirtschaftswunders ist nun ebenfalls eingebracht, der
neue Reichtum wird gefeiert, die Arbeitslosen müssen heischen gehen. Doch unsere
Arbeitslosen sind sozial diszipliniert und akzeptieren den kleinbürgerlichen Karneval, der ein
Abbild höfischer Lustbarkeit und zwischen Operette und Revue anzusiedeln ist. (s.a.
Hallerbach 1984:10)

In der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft war diese Form des Karnevals, an der sich viele
Bürger nur noch am Bildschirm beteiligten, allgemein akzeptiert. Demokratie und Wohlstand
erschienen für alle als gesichert, der Mummenschanz und die Maskerade als überflüssig.

Der Beteiligung am Bildschirm entsprach im 14. Jahrhundert die Sitte, dass städtischer Adel
und Großbürgertum in Friedenszeiten verkleidete Narren als Stellvertreter des einfachen
Volks in ihre Runden hineinließen und sie großzügig bewirteten (Hallerbach 1984:11). Die
Narrenshows im Fernsehen, die zur besten Sendezeit ausgestrahlt werden, garantieren den
Sendern noch heute traumhafte Einschaltquoten von acht bis zehn Millionen Zuschauern.
Alienne Laval
VII

In afrikanischen Mythen wird das Verhältnis zwischen der eigenen Gesellschaft


und dem Fremden innerhalb einer urzeitlich präfigurierten Ordnung gedeutet.
(s.a. Kramer 1984:105) Auf diese Weise wurden die Europäer und das
asymmetrische Verhältnis der Kolonialzeit nicht als Einbruch der Geschichte,
sondern als Teil jener Weltordnung angesehen, mit der man umgehen konnte
und mit der man schon immer umgegangen war.

(Alverdes 1998)

Doch hinter dem televisionären und gesitteten Karneval dämmert schon der Cyberspace, ein
neuer, karnevalesker Raum, der schon jetzt Verwandlungen und Vermummungen zuläßt, die
allmählich auch von der Bevölkerung genutzt werden. Besteht nicht da die Möglichkeit, dass
sich in diesem Raum die Mummen darauf vorbereiten, um in Krisenzeiten von den
Bildschirmen aus auf die Straßen zu preschen?

Bis weit in das 19. Jahrhundert wurden die Masken aggressiv benutzt, sobald Teile der
Bevölkerung verarmten. Die Maske diente dann nicht nur bei Bettelgängen, sondern auch bei
Raub und Rebellion. Im Jahre 1403 wurde in Köln deshalb ein Maskierungsverbot erlassen,
das einige Male nachgebessert werden mußte, da es nicht befolgt wurde (Hallerbach 1984:
11f):
"Die wilden Maskeraden", so Jörg Hallerbach (1984:12), "richteten sich gleichermaßen gegen
die kirchliche und die weltliche Obrigkeit. 1441 wurde der Wirt Johann van Ghyent vom
Kölner Rat bestraft, weil er zusammen mit seinen Freunden 'das religiöse Gefühl in
schmachvoller Weise verletzt' hatte. Sie trugen zur Fasnacht einen Reliquienschrein, auf dem
kein Heiliger, sondern ein Popanz dargestellt war, mit Weihwedel und Fahne."

1482 entwickelte sich am Fasnachtsmontag in Köln aus dem Maskenfest ein Aufruhr. Es wird
daraufhin nicht nur das Vermummen, sondern es werden 1487 auch die Schwert- und
Reifentänze der Schmiedegesselen verboten. 1567 folgte ein Verbot des Fremdgehens; 1596
verlangte die kurköllnische Polizeiordnung, das Fasnachtsvergnügen ganz zu beseitigen. 1657
wurde erlassen,

"alle bei Tag und Nacht vermummt gehenden und ferner alle diejenigen, welche heimlich
oder öffentlich bei Nacht oder zu unangebrachten Zeiten Büchsen, Pistolen, Schnapphähne,
Knallfrösche oder andere verbotene Lärminstrumente bei sich tragen und führen, ohne
Unterschied der Person in den Turm zu bringen..." (Hallerbach 1984:13ff)

Als Georg Forster, der Aufklärer und Mit-Begründer der Ethnologie, um 1790 nach Köln
kam, war die Stadt weitgehend entvölkert und heruntergewirtschaftet. "Überall auf den
Straßen lungerten Bettler in Lumpen, die 'Kappengecken' hießen, weil sie vermummt waren -
nicht nur zur Fasnachtszeit." (Hallerbach 1984:15)

Nach der niedergeschlagenen Revolution von 1848 - am 20. März des Jahres wehte mit
Einverständnis des Erzbischofs die schwarz-rot-goldene Fahne vom Kölner Dom -, war der
Karneval von 1849 besonders bösartig. Am 27.02.1849 veröffentlichte die konservative
Kölnische Zeitung folgenden Artikel (zit. nach Hallerbach 1984:37):
Alienne Laval
Das Kulturfremde, das auch die Schamanen und die Vermummten des
Karnevals nicht nur in der Natur selbst fanden, sondern auch in den
Herrschenden der eigenen Gesellschaft, sahen die Afrikaner in ihren Herrschern
ebenso und in den Europäern insgesamt.
Die Europäer mit ihrem technischen Gerät wurden dem wilden Bereich und
damit der Natur zugeordnet, wobei die Menschlichkeit, d.h. die Kulturhaftigkeit
und damit das Bewußtsein der Fremden bezweifelt wurde.

"Wir sind Zeuge von Darstellungen gewesen, die jeder Sittlichkeit Hohn sprechen. Das
Bewerfen mit Koth, das Besudeln mit in Gassen herumgeschleppten Lumpen, nahm der Art
zu, dass man sich oft nicht zu flüchten wußte. Einzelne Masken liefen umher und warfen mit
rother Farbe ums sich, andere hatten dieselbe angefeuchtet und beschmierten oder begossen
damit die Vorübergehenden. Auf der Hochstraße, in der Nähe der Vier-Winden, hatte sich
eine Rotte aufgestellt, welche, mit Stöcken versehen, jeden Spießruthen laufen ließ, welcher
nicht den Hut abziehen oder den Regenschirm schließen wollte. Wehe denen, die sich dieser
pöbelhaften Herrschaft widersetzen wollten! Wir sahen Männer, welche bemüht waren, die
Ordnung herzustellen oder Frechheiten abzuwehren, den schändlichsten und fürchterlichsten
Mißhandlungen Preis gegeben. Nicht allein begnügte sich der Pöbel mit der Herrschaft auf
der Straße; ganze Banden verfolgten hülflose Weiber bis unter die Dächer der Häuser, andere
drangen in die von Männern verlassenen Wohnungen, verscheuchten die Frauen, überfielen
die Tafeln und zertrümmerten, was sie nicht verschlingen konnten; wieder andere drangen in
die Wirtshäuser, nahmen Getränke in Massen und entfernten sich unter wüstem Geschrei,
ohne zu bezahlen..."

Den wilden Straßenkarneval, den man im Jahr der Machtergreifung Hitlers 1933 wieder
gebraucht hätte, gab es inzwischen jedoch nicht mehr. Durch die jahrhundertelange
Unterdrückung war er ausgelöscht. Schon wenige Wochen nach der Machtübernahme gab es
keine Kritik mehr im Kölner Karneval, es sei denn, man will den folgenden Büttendialog
zwischen Tünnes und Schäl noch als Witz verstehen:
Tünnes: "Gestern habe ich geseh'n, wie sich ... zwei über Politik unterhalten haben!"
Schäl: "Wann ist denn die Beerdigung?" (zit. nach Hallerbach 1984:48)

Narren und Nazis waren gleichgeschaltet und schunkelten einträchtig zu den Liedern Willi
Ostermanns (1914-1936):
"Wenn ich so an meine Heimat denke
und seh den Dom so vor mir steh'n,
möcht ich direkt nach Haus umschwenke,
ich möcht zu Fuß nach Kölle geh'n." (nach Hallerbach 1984:48)

Schon damals werteten zeitgenössische Chronisten diese Wende als Rückkehr zum wahren
Gehalt des Volksfestes, der lediglich in den Jahren der Großstadtwerdung Kölns verfälscht
war (Hallerbach 1984:48).
"Zweimal, 1938 und 1939, wählte man ein arisch sauberes Mädchen zur 'Jungfrau' (erst Paula,
dann Else) - eine traditionelle Herrenrolle. Das Zugmotiv 1939, wenige Monate vor dem
Zweiten Weltkrieg: 'Singendes, lachendes Köln'." (Hallerbach 1984:50)
Das Kölner Zug-Motto 1998 war: "Wir lassen den Dom in Kölle!" Zu diesem Motto paßt
wahrlich kein nackter Busen aus Pappmaché!
Alienne Laval
Die karnevaleske Form des Umgangs mit Fremdem bei den westafrikanischen
Yoruba (Ketu), sind die Maskenspiele Efe/Gelede-Feste. Diesen Festen liegen
die Prinzipien Esu und Ifa zugrunde, wobei Esu die Rolle des Herrn der Wege,
des Mittlers und des Götterboten zukommt. Mächtige Älteste verbinden die
'unsichtbare Welt' (orun) mit seiner Hilfe mit der Welt der Lebenden (aiyé).
(Zander-Giacomuzzi 1981:50; Drewel 1980:74)
"Nur am Kreuzweg, wo die menschliche und die göttliche Achse sich treffen,
findet der Verkehr mit den Gottheiten statt. Und dieser Kreuzweg wird von
Legba (Esu) bewacht." (Jahn 1958)
Man findet Esu-Schreine deshalb an Wegkreuzungen und auf Marktplätzen, die
im Zentrum der Dörfer und Städte oft an Kreuzungen installiert sind. Der
Marktplatz wird so zur Metapher für die Welt an sich, wobei das Dasein auf der

Eine realistische Darstellungsweise hatte sich im Karneval allmählich durchgesetzt, die sich
bis heute im Bierernst der Prunksitzungen der goßen Karnevalsvereine zeigt. Hier werden
keine Hierarchien persifliert, sondern sie werden unter Beibehaltung der gesellschaftlichen
Vorzeichen der Alltagswelt in den Festsaal übertragen.
Diese ikonische Seite des Karneval ist anti-kulturell im strikten Sinne des Wortes, verweigert
ihre Lösung in den symbolischen Verhaltensmodi und birgt damit Gefahren. Den extremen
Effekt dieser Haltung haben wir im Nationalsozialismus und seiner marschierenden und
schunkelnden Gleichmacherei kennengelernt.
Diese Gleichheit wurde allerdings durch Barbarei hergestellt, indem die naturbezogene Seite
überbetont und die gesamte Gesellschaft und ihr Aufbau ideologisch aus der Natur abgeleitet
wurde. Nach Jan Phillip Reemtsma (1997:1199f) zog der Nationalsozialismus

"...die Konsequenz, das Projekt der Moderne mit seinem doch sowieso nie recht
verwirklichten Ideal der Gewalteindämmung abzuschaffen.... In ihm finden wir ein
entschiedenes Bekenntnis zur Barbarei. Geschichte, so wie sie von den Aufklärern mit
Entsetzen beschrieben wurde, wird vom Nationalsozialismus als Ideal formuliert."

Leszek Kolakowski (1984:35) bezweifelt mit Recht, dass das Vorhaben, gesellschaftliche
Kohärenz durch Barbarei zu erlangen, jemals gelingen kann:

"Die Vollkommenheit meines Menschseins verwandelt sich durch die dialektische Falle in ein
vollendetes Vormenschsein, in eine Rückkehr ins Tiersein, aber nicht in eine dialektische
Rückkehr, sondern in einen ereneuten Rückfall in die vorkulturelle Natur (ein im übrigen in
Wirklichkeit nicht realisierbarer Rückfall, der nur in den euphorischen Phantasien 'erhabener
Barbaren' möglich ist)."

Der 'erhabene Barbar' handelt schon immer aus der Kultur heraus, denn nur dort haben seine
'euphorischen Phantasien' ihren Ursprung; allein, es mangelt ihm an Bewußtsein, und das ist
es, was ihm Angst macht.
"Die Wahrnehmung", so Kolakowski (1984:24f), "kam...nicht umhin, das menschliche Ding
auszuzeichnen, daher die verschiedenen Namen für die Kennzeichnung seiner Substrat-Natur
(Ich/Ego, Seele, Subjekt, Bewußtsein, Geist)...Der Mensch kann die Erkenntnis nicht an
einem vormenschlichen Standpunkt zünden, der einen Nullwert besäße, er ist für sich ein
unausweichlicher endgültiger Ausgangspunkt." Dieser Ausgangspunkt ist kultureller Art.
Alienne Laval
Erde wie das Kommen und Gehen auf dem Markt verstanden wird. So heißt es
dann auch bei den Yoruba:

"The world is the market, the other world is home" (Aiyé l'ojà, orun n'ilé)
(Drewel 1983:2,10)

Das zentrale Fest ist in zwei Teilen gestaltet, einen nächtlichen - Efe - und einen,
der am Tag zelebriert wird - Gelede -. Die Efe-Festivitäten beginnen um
Mitternacht und enden bei Sonnenaufgang. Die Dunkelheit ist der 'natürliche'
Ort der Mütter und der Geschöpfe, mit denen sie verbunden werden: Vögel,
Fledermäuse, Ratten und Reptilien. Die Nacht unterstreicht das Unbekannte und
Ungewisse ihrer Qualitäten.(Drewel 1983:11)
In den Eröffnungs- und Abschlußritualen für die Ahnen und Götter werden die
'Kräfte', die 'orun', den Himmel, bewohnen, von den Menschen in die Welt der
Erscheinungen 'ayé' geleitet und dann später wieder zurückbefördert. Das Ganze
findet auf dem Marktplatz statt. (Drewel 1983:2,11)
Die zentrale Figur der Efe-Festivitäten ist der 'Vogel der Nacht', wobei die große
Mutter als Vogel oder als 'bärtige Mutter' erscheint. Wichtig sind die danach
erscheinenden Figuren, es sind entweder Tetede (the-one-who-comes-in-good-
time) oder Aiyé Tùtù (cool world). Sie sind die Wegbbereiter für Oro Efe und
seinen die ganze Nacht andauernden Soloauftritt. Er ist immun, prangert
antisoziales Verhalten, Fehler etc. an und hat absolute Freiheit, seine Meinung
zu jedem Aspekt der Gesellschaft zu äußern. Efe hat viel mit Satire, Humor und
Spott zu tun, sie sind aber dennoch nach Drewel (1983:38) nicht das
hauptsächliche Element. (Drewel 1983:22ff,38,50,61)
Bei Einbruch der Dämmerung erscheint ein als Hyäne gekleideter Maskenträger
und beendet das Efe-Fest. Oro Efe, der zu Beginn rituell zur Welt gerufen wurde
und im 'mouth of authority', dem Platz vor den weiblichen Ältesten, erschien,
wird in eben dieses zurückgerufen. (Drewel 1983:26f).
Am nächsten Nachmittag findet das Gelede-Fest statt. Auch hier treten, wie
beim Efe-Fest, die Maskenträger paarig auf und die Tänzer sind, wie beim Efe-
Fest, auch wenn Frauen dargestellt werden, ausschließlich Männer. (Drewel
1983:19,27ff)
Fast alle Masken bestehen aus einem stereotypen, idealisierten menschlichen
Gesicht und einem gesonderten Kopfteil, den eine stilisierte Frisur bilden mag
oder Szenen und Aspekte der sozialen Erfahrung, sowie metaphorische
Darstellungen. Die Motive für die Masken sind nahezu unbegrenzt, denn die
Welt ist ein Markt. All das, was jemanden beschäftigt - seien es
Sexualverhalten, Marktfrauen, Fremde, Handelsgüter, Messer, Gewehre,
Schalen, Teller, Kolonialbeamte, Motorräder, Nähmaschinen, Flugzeuge,
anderes technisches Gerät usw. - wird gezeigt. (Drewel 1983:13f,22,247; Fagg
1982:62)
Zum Abschluß erscheint ein Maskenträger in der Maske der vergöttlichten
Urahnin der Gemeinschaft (Drewel 1983:37).
Alienne Laval
Der Sinn dieser Festivitäten ist es, das von außen kommende Bedrückende oder
das eigene, von der Tradition abweichende Verhalten, per rituellem und
symbolischem Geschehen in sozial verträgliche Formen zu überführen.
Grundlage der Festivitäten ist die Yoruba-Religion, die auch heute noch von den
ca. 40 Millionen Yoruba, die im westlichen Nigeria und in Benin leben, bewahrt
wird. (Kubik 1991:149)
Das höchste Wesen ist Olódùmare, das auch den Namen Ol' orun, Eigentümer
des Himmels, trägt. Im Himmel - orun - leben die òrìsà, die Götter, die eine
bestimmte Rangfolge haben. Die wichtigste dieser Gottheiten ist Obàtálá, jene
Kraft, durch die Olódùmare die Schöpfung ausführen ließ. Der Legende nach
stieg Obàtálá nach Beendigung seines Schöpfungswerkes vom Himmel herab,
um zum Händeklatschen seiner vier Frauen zu tanzen. (Kubik 1991:149)

Zu den spirituellen Wesen gehören auch vergöttlichte Ahnen, so Sàngó (in


Brasilien Xango), der früher einmal König der Yoruba-Stadt Oyo war. Zugleich
verkörpert Sàngó die Naturkräfte Blitz und Donner. Nach Beier (1982:3) ist ein
òrìsà eine sehr komplexe Gestalt, die der in Trance verfallene Priester auf
mehreren sinnlichen Ebenen gleichzeitig wahrnimmt, wobei visuelle, akustische,
Geruchsbilder etc. ineinandergeblendet erscheinen.

"Er ist eine Naturkraft (Donner, Sturmwind, Fluß, Felsen, Eisen oder Meer)
und gleichzeitig Mensch (Krieger, Städtegründer, Jäger, Schmied oder
Zauberer), gleichzeitig wird er durch Tiere oder Pflanzen oder Farben
symbolisiert. - So ist Schango der Donner, und zugleich ist er eine
tragische Heldengestalt aus der Geschichte des Königreiches Oyo: ein
König, der sich aus Enttäuschung über seine Untertanen das Leben nahm.
Sein Symbol ist der Widder, dessen Kopfstöße uns blitzartig treffen. Der
Mensch, der Schango nahesteht, beschäftigt sich mit den Kräften, die er
verkörpert. Er schmückt sich mit seinen Farben (Rot und Weiß) und schützt
sich durch Ritual und magische Medizin vor Kräften, die ihm nicht gemäß
sind..." (Beier 1982:4; zit. nach Kubik 1984:150)

Òrìsàs sind auf diese Weise Kulturbringer im vorhin erläuterten Sinn, die
zwischen Natur und Kultur stehen. Sàngó ist der zurechtgestutzte König, der die
Kultur verändern wollte und damit wohl zum Teil scheiterte.

Während die Maskenspiele das Soziale gegen fremde Einflüsse schützen und die
damit verbundene Herxerei beschwichtigen sollen, gibt es einen anderen Bereich
von Mythen, der andersartig mit dem Fremden verbunden war, dies sind die
Mythen, die sich mit den Wassergeistern beschäftigen.

Die launenhaften Mächte des Wassers wurden als außerhalb der sozialen
Ordnung und jenseits von Gut und Böse befindlich angesehen. Die
Alienne Laval
Wassergeister standen in Opposition zu den Ahnen und kümmerten sich nicht
um die Moral, die Solidarität und Einheit der Gemeinschaft; dagegen war ihnen
am Glück und Unglück des Einzelnen gelegen. (Kramer 1987:229)

In den frühen afrikanischen Besessenheitskulten gingen Menschen und


Wassergeister aus Liebe Verbindungen ein, die aber niemals von den Menschen,
sondern von den Wassergeistern ausgingen. Die Wasserwesen wurden
hauptsächlich als weiblich vorgestellt.

"...bei den Tembu und Fingo lockten die Flußmenschen den zukünftigen
Wahrsager in ihren Kraal; bei den Shona gab es Wahrsager, die... ihre
Kunst den Seejungfrauen verdankten, die sie am Ufer ergriffen, ins Wasser
gezogen und ihnen die Gabe der Weissagung verliehen hatten." (Kramer
1987:220)

Diese Symbolik gab es auch in den Initiationsriten der Nixenkulte, wobei man
Mädchen in das Wasser eintauchte und dem Grauen der Tiefe aussetzte. Da mit
den mythischen Wasserwesen schon immer Eigenschaften fremder Kulturen
verbunden waren, war es kein Problem, diesen Bereich auch mit europäischen
Motiven anzureichern.

Die ersten Europäer kamen in Schiffen, die man an der Guineaküste sichtete. Sie
schienen aus dem Meer aufzutauchen, da man zuerst nur die Mastspitzen sah.

"Die Haut der Europäer war hell wie die Haut von Wasserleichen; und sie
verfügten über unbekannte Ausrüstungsgegenstände, die man für das Werk
der kapriziösen Wassergeister hielt. Auf den großen Strömen zogen sie,
wie Fische, ins Innere des Landes." (Kramer 1987:221)34/ 35

34 Aus Aachen wird von 'Narrenschiffen', die über Land gezogen wurden, noch 1133
(Chronik des flämischen Abtes Rudolf) berichtet:
"Beim Schwinden des Tages, als schon der Mond am Himmel stand, kamen Scharen
verheirateter Frauen unter Hintansetzung aller weiblichen Scham mit aufgelösten Haaren aus
ihren Gassen hervor, die eine halbnackt, die andere nur im Unterkleid, und mischten sich,
schamlos vordringend, unter die Leute, die um das Schiff herum Chortänze aufführten. Da
konnte man zeitweilig an tausend Menschen beiderlei Geschlechts sehen, wie sie bis
Mitternacht die ungeheuerlichste und abscheulichste Abgötterei trieben." (zit. nach
Hallerbach 1984:8)
Sind diese Narrenschiffe auf ähnliche Erfahrungen wie die der Afrikaner zurückzuführen?
(s.a. die weiteren Ausführungen zum Kult der Mami wata).

35 Bei den nordamerikanischen Indianern war das Neue häufig mit den gegen den Strom der
Flüsse schwimmenden Lachsen, die mit dem ambivalenten, jenseits von Gut und Böse
befindlichen Motiv des Zwillings in Zusammenhang standen, verbunden (vgl. die
Ambivalenz, die für die Afrikaner von den Wassergeistern aausgeht). Könnte nicht der Lachs,
den Lévi-Strauss (1993) zum Ende seiner Luchs-Geschichte diskutiert, Zeichen einer neuen,
fremden, unbekannten auf Schiffen gegen den Strom eindringenden 'Semiosphäre' gewesen
Alienne Laval
Die ersten 'nordischen Nixen' die die Afrikaner sahen, waren daher auch die
Gallionsfiguren der Segelschiffe. Seit der Kolonialzeit ist es üblich, die Nixen
mit Europäerinnen, die sich durch ihre helle Hautfarbe, ihr langes, glattes oder
welliges Haar, ihren Reichtum, ihre Unberechenbarkeit und ihre Fremdartigkeit
auszeichnen, gleichzusetzen.

Aus den vielen Wassergeistern wurde im Laufe der Zeit so die synthetische
Figur der mammywater oder mami wata geschaffen. Mami Wata ist ist an der
ganzen westafrikanischen Küste, und vor allem in Nigeria bekannt. Doch auch
in Kamerun und Zentralafrika sind ihre Bildnisse zu finden.

"Der Ausdruck aus dem Pidgin-English 'Mami Wata' (Mamywater oder


Mutter des Wassers, des Meeres) hat sich in Westafrika sogar in
französisch sprechenden Gebieten durchgesetzt." (Kubik 1991:156)

Kramer (1987:222) nimmt an, dass der Name mammywater vor dem 20.
Jahrhundert in Afrika wahrscheinlich unbekannt war. Zuerst läßt er sich

"...in den afrikanischen Exklaven in der Neuen Welt nachweisen, etwa in


Surinam und Haiti, wo er seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als
waturmamma oder watramamma dokumentiert ist. Es ist möglich, dass der
Name, zusammen mit einzelnen ikonographischen Elementen, von
freigelassenen Sklaven an die Guineaküste, etwa nach Liberia, importiert
wurde. Seeleute und Wanderarbeiter könnten ihn dann verbreitet und damit
zur Vereinheitlichung und gleichsam zur Modernisierung vielfältiger
traditionaler und sogar misoneistischer Mythen und Kulte von
Wassergeistern beigetragen haben."

Kramer (1984:118) beschreibt die geläufige Anschauung der mami wata


folgendermaßen:

"Die Vorstellung von Mammy Wata besteht aus zwei Komponenten, deren
Verbindung nur den modernen Betrachter frappiert: Mammy Wata
erscheint als moderne, manchmal mondäne Europäerin mit heller Haut,
langen, wallenden Haaren und von kalter, seelenloser Schönheit; zugleich
ist sie die Göttin des Wassers und des Reichtums... Um den Hals der
sein, zumal der Lachs mit dem Zwilling in Verbindung steht?
Der Bär als Beschwichtiger des Zwillings steht einerseits für das zu schützende Soziale;
andererseits begründet sich seine Existenz auf den Lachs, auf die Übernahme des Neuen also
und damit auf die kulturemergierenden Taten des Zwillings. Die Transformation des Lachses
zum Bären zeigt die Diffusion einer Information vom Rand bis hin zum Kernsystem der
Semiosphäre.
Der Zwilling steht mit Wind, Sturm, (See-)Ungeheuern und anderen 'Naturkräften' wie dem
Feuer in Zusammenhang.
Alienne Laval
Mammy Wata und um ihre Arme winden sich Schlangen, ihr Unterleib ist,
wenn er mitkonzipiert wird, ein Fischschwanz. Man erblickt sie am Ufer
der großen Ströme, wo sie ihre Haare kämmt, Menschen anlockt oder
Fischerboote gefährdet. Im Traum besucht man ihre Städte und Paläste am
Grunde des Meeres und der großen Gewässer, besichtigt ihre Schätze und
läßt sich mit europäischen Speisen und Getränken bewirten. Sie verleiht
Reichtum, aber nicht in der traditionalen Form, als glückliche Ernte und
Reichtum an Kindern, sondern als Geld und modernen, kapitalistischen
Besitz... Mammy Wata verleiht nicht nur Reichtum, ihre Anhängerinnen
zeichnet sie auch mit ihrer eigenen, allzu vollkommenen und allzu kalten
Schönheit, mit ihrer Kinderlosigkeit und Einsamkeit."

In Südtogo und im Crossflußgebiet gibt es deshalb Tempel bzw. klosterartig


organisierte Gemeinden, an die sich von mami wata besessene Frauen und
Mädchen wenden können. Diese gehören überwiegend den benachteiligten
Schichten in den Städten an und sind Hausangestellte, Wäscherinnen usw., die
mit den Frauen der weißen Oberschicht zu tun haben.
Die Kennzeichen einer mami wata-Besessenheit sind allgemeine
Niedergeschlagenheit und anfallsartige Träume von mami wata. Die
Priesterinnen heilen die Frauen, indem sie sie in den mami wata-Kult
aufnehmen.

"Die Initiation in den Kult besteht wesentlich im Erlernen ekstatischer


Tänze. Trotz der modernistischen und individualistischen Züge der
Mammy Wata bespricht aber das von ihr besessenene Medium mit seinen
Klienten überaus alltägliche Sorgen und Nöte und mahnt vor allem,
verwandtschaftliche Pflichten zu befolgen. Mit der Konversion ist also
keine Aneignung moderner materieller oder geistiger Werte verbunden; der
Kult dieser modernen Gestalt bleibt symbolhaft, eine Phantasie, deren Sinn
sich auf dem Hintergrund realer Armut und Deprivation entschlüsselt."
(Kramer 1984:118)

Jenseits von Gut und Böse so Kramer (1987:229)

"...formulierte das Bild der mammywater nicht die politische Identität


gegenüber den Weißen, sondern die Ängste und Hoffnungen des einzelnen,
die Gefahren und Verlockungen, denen er sich ausgesetzt fühlte, das Glück,
das zufällig ihm und nicht seinen Mitmenschen widerfuhr. Von
mammywater besessen sein hieß in einem Teil seiner selbst ein Anderer
sein, und weil die europäische Welt zum Inbegriff des Anderssein wurde,
konnte sie eine Grenze markieren; die politische Gemeinde stellte sich ihr
entgegen, während der einzelne von ihr besessen sein konnte."
Alienne Laval
Diese Möglichkeit, in einem Teil seiner selbst ein Anderer zu sein, ist in der
eingangs erläuterten Organisation der Semiosphären, also in der besonderen
biologischen und kulturellen Evolution des Menschen, begründet. Während sich
die politische Gemeinde und das Soziale gegen neue Einflüsse wehren, ist das
Individuum ihnen dennoch ausgeliefert. Mit der zunehmenden
Individualisierung und dem Aufbrechen der traditionalen Bindungen gewinnen
die ambivalenten Kräfte des Neuen und Fremden an Stärke.

In Gabun wird beispielsweise die Aneignung des Fremden präferiert. Hier


flossen Motive des Kongoreiches in die Figur La Mère (mami wata) ein, die
symbolisch mit der Umverteilung des durch Wanderarbeit erlangten Erwerbs
verbunden ist. Die Teilhabe an diesem 'Wohlstand' kann durch
Zaubereianklagen erzwungen und legitimiert werden. (Kramer 1984:118)

Bei den Ewe wurde der Kult der mami wata, der von den westlichen und
östlichen Nachbarn übernommen wurde, in das vodu-System aufgenommen.
mami wata wurde der Gottheit da - gedacht als Regenbogen oder Schlange -,
dem vodu des Geldes, der Händler, der Edelsteine und Perlen unterstellt.
(Kramer 1987:230)

Heute entspricht der Begriff vodu

"...in der Fo-Sprache von Dahomey (heute: Volksrepublik Benin, nicht zu


verwechseln mit dem historischen Benin in Nigeria) in seinem
semantischen Feld fast völlig dem Begriff òrìsà der Yoruba." (Kubik
1991:151)

Mami wata-Vorstellungen wurden im Laufe der Zeit nicht nur in Afrika


verbreitet, sondern bis in das hinduistische Pantheon übertragen. Diese
Übertragungen boten sich schon deshalb an, weil die mami wata-Skulpturen aus
Togo und Nigeria (ebenso wie die Masken der Seri- und Apadje-Tänzer der
Guro und Baule) ein auf den Märkten Westafrikas vertriebenes Plakat des
naiven Malers Arnold Schleisinger aus Hamburg variierten.

"Das Original zeigt eine indische Schlangenbändigerin, aber so, wie man
sie sich in Deutschland vorstellt; um Hals und Arme der Frau windet sich
eine Schlange, die sie mit der rechten Hand umfaßt, während sich von
unten um die Hüfte eine zweite Schlange emporreckt, deren Kopf auf ihrer
Brust liegt. Im rechten unteren Bildteil ist ein rhombischer Ausschnitt
eingesetzt, der einen Flöte spielenden Jungen im Profil zeigt, vor dem vier
weitere Schlangen aufrecht tanzen. Die Hauptfigur ist frontal dargestellt,
mit langem, welligem Haar und traumhaft-unwirklich ins Leere
gerichtetem Blick. Das Bild erinnert an die Dschungelbilder Henri
Alienne Laval
Rousseaus und an die Symbolisten der Jahrhundertwende..." (Kramer
1984:118f)

In Afrika ziert es als Wandmalerei die Häuser, in denen die von mami wata
Besessenen zusammenkommen. Als Plastik aus Holz oder Zement findet es als
Ladenschild der Wahrsager und Heiler Anwendung. Das Plakat fand auch in
Indien Verbreitung und wurde mit einer Umschrift in Urdu gedruckt. (Kramer
1987:223)

"Eine ganze Reihe der alten Gottheiten erschien nun, ausgestattet mit
Attributen der Modernität, im Gefolge der mami wata: Mami-densu, mami-
tohosu, mami-ablo usw. Infolge eines exzessiven Synkretismus taucht
dieses Pantheon jedoch zugleich in einer hinduistischen Version auf, als
mami-vishnu, mami-rama usw., während die Christen mami wata mit der
Jungfrau Maria gleichsetzen und ihr mami-josef, mami-jesuvi, mami-
gabriel und andere Engel und Heilige als Gefolge beiordnen." (Kramer
1987:230)

In neueren Abwandlungen des Mythos heißt es:

"Ein junger Mann, der persönliche Beziehungen zur Mami Wata eingeht
und ihr verfällt, gewinnt ungeheuren Reichtum und Ruhm, aber zuletzt
nimmt ihn Mami Wata zu sich ins Meer. Insbesondere über berühmte
Künstler und Musiker erzählt man in Westafrika, dass sie ihren Ruhm und
ihr Glück einer Verbindung mit der Mami Wata verdanken." (Kubik
1991:156)

VIII

Auf die Forscher, die in Brasilien die Kulte von Bahia untersuchten, übte die
Verschmelzung und Gleichstellung von christlichen Heiligenfiguren mit
Alienne Laval
Yoruba-Orixás, die sie als Synkretismus 36 bezeichneten, eine besondere
Faszination aus. Kubik (1991:148f) stellt fest:
"Das afrikanische Erbe drang in die heiligsten Institutionen der Weißen ein.
Afrikanische religiöse Vorstellungen wurden auf Begriffe und Riten der
katholischen Kirche projeziert. Sie wurden ihr eingepaßt und damit wurde
ihre Sanktionierung erkauft. Dies führte zu einer Entwicklung etwa wie in
Bahia, bei der sich sozusagen auf der Vorderseite des bahianischen
Katholizismus ein katholischer Heiliger und auf der Hinterseite ein
Yoruba-òrìsà befindet. Beide sind miteinander identisch geworden. Und
diese Münze kann wie ein Code je nach der Situation beliebig umgedreht
werden. In Anlehnung an den Begriff des Code-Switching in der Sozio-
Linguistik könnte man dies 'symbol-switching' nennen... Im Candomblé
von Bahia sind u.a. folgende Gleichstellungen üblich: Ogum = Hl.
Antonius, Ossaim = Hl. Benedikt, Oxóssi = Hl. Georg, Xango = Hl.
Hyeronimus, Omolu = Hl. Lazarus (oder Hl. Rochus), Oxumaré = Hl.
Bartholomeus, Iansa = Hl. Barbara, Oxum = Unsere liebe Frau von
Candelária (u.a.) oder auch Jungfrau Maria; Yemanjá = Unsere liebe Frau
von Conceicao u.a.; Nana = Hl. Anna, Oxalá = Unser Herr vom Bomfim
(der Sohn Gottes)."

36 Die 'synkretistischen Kulte' geben vor, eigenständige Zugänge zur Wirklichkeit zu haben,
die sie mit bestimmten Mächten, z.B. Erkenntnisse zu vermitteln und Krankheiten zu heilen,
ausstatten. Auf diese Art werden Empirie, Ökonomie und Technologie kurzgeschlossen und
wird die herrschende Ordnung hintergehbar (s.a. Holenstein 1981) gemacht, indem ein
erneuten Anschluß an Urkräfte reklamiert wird.
Was auf den ersten Blick als bloße Inversion des technisch-ökonomischen Weltmodells
erscheint, (dem in seiner Geschichtsschreibung der steinzeitliche Faustkeil wichtiger ist als
die Felszeichnung und die Kulturevolution, und das vorgibt, sich streng an der ersten
Wirklichkeit zu orientieren), entpuppt sich auf den zweiten als pädomorphes (regressives)
Eintauchen in die urtümlichen Bedingungen der Kulturemergenz und als Suche nach Identität.
Während die technisch-ökonomische Ordnung den Tag, den Wachzustand besetzt hält und
gewöhnliches, ernstes Alltagsleben, echte Wahrnehmung, psychische Normalität, Abstinenz
und nüchternes Erleben der Wirklichkeit propagiert, bevorzugt die andere Seite den Traum,
das Spiel, Trance und Vision in inszenierten und ritualisierten Räumen.

Dieses Eintauchen in die urtümlichen und meeresartigen Bedingungen von Kultur ist als
kreative Regression, als Pädomorphose (Koestler 1978) anzusehen, die eine Hinwendung
zum 'Medium der kognitiven Kompetenz' (Holenstein 1980) bedeuten kann:
"Die biologische Evolution", so Arthur Koestler (1978:255), "ist weitgehend eine Geschichte
gelungener Fluchtversuche aus den Sackgassen der übermäßigen Spezialisierung und die
Geschichte der Ideen ist eine Reihe gelungener Fluchtversuche aus der Tyrannei geistiger
Gewohnheiten und erstarrter Routinemäßigkeiten. In der biologischen Evolution ist die Flucht
ein Rückschritt vom Erwachsenen- ins Kindheitsstadium, das anschließend als
Ausgangspunkt für eine neue Entwicklungslinie genutzt wird; bei der geistigen Evolution ist
sie ein vorübergehender Rückschritt zu primitiveren, ungehemmteren Arten der
Vorstellungskraft, gefolgt von einem schöpferischen Sprung nach vorn..."
Alienne Laval
Die zentrale Figur ist auch hier Oxalá (der afrikanische Obtala), der Schöpfer,
aus dessen Ehe mit Yemanjá Exu (Esu) entastammt. Ihm kommt die Rolle des
Vermittlers oder Götterboten zu.

Yemanjá (auch Iemanjá oder Janaina) wird in den Veranstaltungen des


Candomblé-Kultes als Frau, die halb Fisch ist, mit einer Krone auf dem Kopf
dargestellt. Diese Figur erinnert stark an die westafrikanische Mami Wata, die
vorhin besprochen wurde.

Ein zentrales zentrales Zug-Motiv der diesjährigen Karneval-Festivitäten (1998)


in Rio de Janeiro war eben diese Meeresgöttin Yemanjá, der insbesondere in
Bahia ein besonderer Tag, der 8. Dezember (Dia de Iemanjá), gewidmet ist, der
mit Festen am Meer begangen wird. Durch den Zustrom von weißen
Teilnehmern bei den afro-brasilianischen Kulten, erlangt dieses Motiv
zunehmend auch an Bedeutung in einem größeren Kontext.

Während bei den deutschen Festzügen mehr oder weniger politische Motive im
Vordergrund stehen, sind die brasilianischen von mythischen Hintergründen
geprägt. Auch politische Aussagen zur Umweltverschmutzung, zur
Indianerfrage usw., werden vor einem mythischen Hintergrund behandelt und
interpretiert. In diesem Jahr war es ein indianisches Leitmotiv, bzw. die
Vorstellungen davon, das den Festzügen durchgängig Gestalt gab. Die
mythischen Indianer werden als eine Art gefiederter Vogelmenschen gedacht,
die in mythischer Vorzeit sieben Städte bewohnten, die aber untergegangen sind.
Viele Tänzer waren daher mit Federkleidern maskiert.
Zu dem indianischen Motiv gehört auch die Amazonas-Anakonda, der ebenfalls
ein Festwagen - in der Nähe des Yemanjá-Wagens - gewidmet war. Das
Schlangenmotiv, das schon aus dem afrikanischen Kontext bekannt ist und in
Verbindung mit der mami wata steht, steht auch in Brasilien in Verbindung mit
Yemanjá.
In rot und weiß gekleidete Maskentänzer mit Stier- oder Widdermasken deuten
auf Xango hin, der auch in Afrika mit diesen Attributen verbunden ist.

Xango, Yemanjá und die Schlange sind Naturgottheiten, die gleichzeitig als
kulturbringend gesehen werden können. Xango ist eine Naturkraft (Donner,
Sturmwind, Fluß, Felsen, Eisen oder Meer) und gleichzeitig Mensch (Krieger,
Städtegründer, Jäger, Schmied oder Zauberer), der durch Tiere, Pflanzen oder
Farben symbolisiert wird. Xango ist, neben Esu (allerdings aus einer anderen
Ehe), in der brasilianischen Systematik einer der Söhne Yemanjás. Die
Ambivalenz der Göttin des Meeres wurde vorhin eingehend erklärt. Die
Schlange (oder der Regenbogen) hatte schon bei den westafrikanischen Ewe mit
den Händlern, den Edelsteinen und Perlen zu tun.
Alienne Laval
Die Hoffnungen und die Befürchtungen, die mit dieser Symbolik ausgedrückt
werden, sind ebenso offensichtlich wie eindringlich.

IX

Weltweit brechen im Prozeß der Globalisierung die traditionalen Strukturen auf,


die Individuen stehen der Ambivalenz des Neuen und Fremden vereinzelt
gegenüber. Gerade die technischen Entwicklungen (Computer, Gentechnologie
usw.) und die Schaffung eines Cyberspace (eines Meeres der Kommunikation)
in Verbindung mit der sich andeutenden Beschlagnahme des Weltraums, können
als ein neues Meer gesehen werden, das sich in seiner Ambivalenz der
Bewertung durch die traditionalen Instanzen entzieht.

Das Wasser - und auch der Weltraum - ist, in Opposition zum Land und der
Menschenwelt, fremd und unheimlich. Dieses Fremdartige betrifft nicht nur das
ethnisch Fremde, sondern auch das Fremde im Eigenen, das Heimliche und
Verdrängte, das verborgen werden muß, jedoch in den Semiosphären immer
mitschwingt. Während das Soziale das Fremde und Neue ablehnt, kann im
Individuum gleichzeitig eine Aneignungsabsicht bestehen. Der fremde Gott ist
zwar unheimlich, aber ebenso unheimlich ist das Verdrängte. Doch das Fremde
ist auch die Form, in der der eigene und verdrängte Gott zurückkehren kann.
(s.a.. Kramer 1987:227)

Die afrikanischen Wassergeister wurden zu Europäerinnen, während der durch


die Europäer vermittelte Jesus zum Afrikaner wurde, der nach dem Vorbild
afrikanischer Gottheiten umgestaltet und häufig als bisexuelles Wesen gedacht
wurde. (s.a. Kramer 1987:228)

Wir Europäer haben uns buddhistische, hinduistische, indianische usw.


Glaubensinhalte angeeignet, die zum Teil bis in die naturwissenschaftliche
Mythenbildung vorgedrungen sind und zur Erklärung merkwürdiger
subatomerer Phänomene herhalten müssen, während wir gleichzeitig das uns
körperlich Fremde vehement abwehren. Buddha ist inzwischen Europäer
geworden, doch die Inder, Chinesen usw. sind uns nicht geheuer.

Wir schätzen die afrikanische, ägyptische, ozeanische usw. Kunst in unseren


Museen, aber eben nur als Kunst. Die Inhalte bleiben uns fremd und wir
klammern uns an die Formen. Gerne sehen wir den bunten, brasilianischen
Karneval im Fernsehen, der für uns ein Ausdruck reiner Lebensfreude ist. Dass
dieser Karneval sich mit dem Fremden und Neuen beschäftigt, das auch über das
Meer kommt, entgeht uns. Steht der möglicherweise erneut scheiternde Xango
Alienne Laval
für Europa und letztlich für die unter europäischen Vorzeichen scheiternde Erde,
die für immer dem ambivalenten Meer der Yemanjá ausgesetzt bleibt?

Noch ist der Himmel, den wir als die Geschicke der weiblich gedachten Erde
bestimmend sehen, für uns männlich. Doch ob wir uns den Cyberspace und den
Weltraum ebenfalls männlich denken können, ist fraglich; für die Ägypter war
der Himmel weiblich (Nuit) und die Erde männlich (Geb).

Der Karneval (mit seiner Tendenz zur Auflösung alter Rollenspiele) war
entscheidend innerhalb der Demokratisierungsbestrebungen, deren
Begrifflichkeit (wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) sich nicht aus der
Naturbeobachtung ableiten läßt, sondern dem Bereich der Kultur entstammt.
Von der Kultur und der Demokratie aus können wir Natur, Macht und Technik
nur apparativ begreifen, doch die Technik verselbständigt sich und dringt in den
Bereich der Kultur ein, wird ohne menschliche Vermittlung 'kulturbringend'.
Noch ist der Druck des Realitätsprinzips der industriellen Massengesellschaft
gegenüber ihren Mitgliedern so stark und bindend, dass selbst von der Kunst
erwartet wird, dass sie in realistischer Weise mit der Wirklichkeit
übereinstimmt (s.a. Gorsen 1981:224). Was passiert, wenn dieser Druck
nachläßt, die Konsistenz der industriellen Ordnung aufbricht? Die Fingerzeige
dieses Aufbruchs haben wir ab den siebziger Jahren bereits in den Bewegungen
des 'New Age' und den Deutungsversuchen neuerer Philosophien (den modernen
Wahrsagern) gesehen; doch nun läßt dieser Druck auch gesamtgesellschaftlich
nach, nämlich durch die zunehmende Arbeitslosigkeit. Hier deuten sich
postindustrielle Synkretismen und Bewältigungsmuster an, die den Anschluß an
die 'Neue Zeit' magisch abwehren und/oder erzwingen, auf ein sozial
verträgliches Maß zurechtstutzen wollen.

Wissenschaft und Technik machen in ihren Fortschritten nicht halt, auch wenn
große Schichten der Bevölkerung diese Fortschritte nicht nachvollziehen
können, geschweige denn, sie überhaupt wollen. Wir kommen auch in Zukunft
nicht umhin, uns zwischen Natur und Kultur, ikonischem Realismus und
symbolischen Verhaltensmodi zu bewegen.
Alienne Laval
Die Inversionsoperation als initiales semiotisches Geschehen im
Kulturprozeß

Semiose und Semiosphäre: Die zwei Dimensionen der Kultur

"Der Mensch, der sonst ständig lernen kann, hat bis heute einige Prägungen
seiner Phylogenese - die sich gegenwärtig wieder einmal als
lebensgefährdend zeigen - offensichtlich (noch) nicht überwunden. Es ist
die Ambivalenz der Codes (der Werte) und ihre prinzipielle Variabilität
(wir wissen nur nicht, wie weit sie reicht), worin die Hoffnung liegt."
(Bystrina 1989:125)

Welchen tatsächlichen 'Sinn' der 'Geist' in der Entwicklungsgeschichte der


Menschheit hatte, kann nur in einer Untersuchung der Wirkungsweise dieses
Geistes festgestellt werden, wozu es aber einer Theorie des Kulturprozesses
bedarf:

"Der unauffällige Übergang vom Terminus 'Geisteswissenschaften' zu dem


der 'Kulturwissenschaften'...kann nur in dem Maße vor sich gehen, wie das
uralte, mythisch-magische Wort 'Geist' in seinem wahren
kulturevolutionären Sinn erfaßt und präzisiert wird." (Bystrina u. Kuper
1990:649)

Lotman (1970:26,149) definierte Kultur als das Gedächtnis der Menschheit bzw.
bestimmter Kollektive und bestimmte die menschliche Kultur bei synchroner
Betrachtung als ein 'System von Texten'. Von Lotman (1984; 1990) ausgehend
können wir die synchrone Dimension der Kultur als 'Semiosphäre'( 37) definieren.
37 Mit den Parametern 'System' und 'Struktur' läßt sich der bei Lotman (1984) entlehnte und
später noch weiter zu diskutierende Terminus 'Semiosphäre' bestimmen. Ein System wird
nicht nur durch seine inneren Strukturen, sondern auch durch äußere bedingt. In der
Ethnologie/Kultur-Anthropologie hat sich zur Darstellung dieses Zustands sozialer und
ethnischer Systeme der Begriff 'Ethnizität' durchgesetzt, der aber zu sehr auf autochthone
Ethnien und die Vermittlung des Interesses 'rezenter' Volksgruppen abzielt, um ihn einer
allgemeineren Bedeutung zuführen zu können.
Der Begriff der Semiosphäre verallgemeinert den Begriff der Ethnizität und macht ihn
anwendbar auch auf die komplexen, globalen Interaktionen zwischen Raum-Zeit-Gebilden
unterschiedlicher Ordnung (wie z.B. autochthone Ethnien, internationale Konzerne, Staaten,
Alienne Laval
In der diachronen Perspektive kommt die Herstellung, Übermittlung,
Speicherung, Rezeption, Interpretation und Wirkung der Texte hinzu. Auf diese
Weise kann die Kultur als ein Prozeß, eine funktionierende Semiose, begriffen
werden.
Die Semiosphäre ist eine Abkoppelung von und eine Reduktion der Noosphäre
(s.a. Fleischer 1989:149f), die bis in den humanen Bereich hineinreicht. Die
Noosphäre wird im Subhumanen zu einem Bereich traumartiger Wirklichkeit
(s.a. Bystrina 1989), in dem zunächst zwischen 'Realität' und Traum, Innen und
Außen, Sprache und Text, gar nicht unterschieden wird.

"Wenn die Noosphäre einen materiell-räumlichen Charakter hat und einen


Teil unseres Planeten umfaßt, so hat der Raum der Semiosphäre einen
abstrakten Charakter." (Lotman 1984:6; s.a. 1990:289)

Abstrakt insofern, als hier die Invarianten der ersten Wirklichkeit auf eine
andere Art und im rezenten Abschnitt des Kulturprozesses nicht mehr gelten,
das Gedächtnis nur noch bedingt an sie gekoppelt ist, an dieser Stelle keinen
äußeren Angelpunkt mehr bietet und die Semiosphäre sich damit vorrangig in
den Köpfen der Menschen befindet.
Während wir es in der ersten Wirklichkeit mit Objekten zu tun haben, stoßen wir
in der zweiten Wirklichkeit auf Systeme. Beide sind aber texterzeugende 'Dinge'
(Farbe, Bild, Klang, Rhythmus, Sprache etc.)(38) und können damit als
'Zeichensysteme', als mit Textcharakter behaftet, aufgefaßt werden. Zu
bedenken ist allerdings, dass ihr Textcharakter nur in der 'Semiose' erscheint und
gilt. Außerhalb der Semiose handelt es sich schlicht um 'Dinge'. Erst die auf die
'Zerlegung' der Phänomene der ersten Wirklichkeit folgende Semiose kann die

Massenmedien, wissenschaftliche Theorien, Kirchen, Technik, Kunstrichtungen, Ideologien,


Ökologien, Ökonomien, Religionen usw.)
Mit 'Semiosphäre' kann also jeder durch kulturelle Leistungen entstandene 'Zeichenraum'
benannt werden, auch wenn es sich dabei um das Universum eines wissenschaftlichen
Diskurses, eines Massenmediums, einer 'Subkultur' oder die 'psychische Semiosphäre' eines
Individuums handelt.
Mit 'Semiosphäre' ist die jeweilige synchrone Situation gemeint, in der sich System und
Struktur befinden, also der Zustand ihrer gegenwärtigen Aktualisation.
Semiotische Kulturtheorie ist der Ausgangspunkt, von dem aus Ethnizität, Modernität und die
Narration ethnisch-kultureller Texte angegangen werden müssen. 'Culture-Text' ist ein
abstraktes Modell der Wirklichkeit oder des Weltbildes (s.a. Winner u. Winner 1976:137).
Zum Thema Ethnizität s.a. Barth 1969; Cohen 1974; Despres 1975; Glazer u. Moynihan
1975; Hicks 1977; Winner-Portis, I. 1979.

38 Zu Rhythmus, Klang, Musik siehe insb. Karbusicky 1990 u. 1991


Alienne Laval
Strukturen schematisieren, schafft aber auch neue Formen der Komplexität.(39)
Sie bedient sich dabei durchweg narrativer Formen.
"Different sign systems have their own internal structures and are not
necessarily modelled along the lines of language, although it is true that all
nonverbal sign systems are more or less translateable into, or describable
by, language, while the converse is not true." (Winner-Portis 1984:28)

Erst die Be-Wertung, das Anlegen eines beliebigen Modells, kann die Beweger,
die initialen Strukturen eines Systems, ausfindig machen und das System
'entmischen'.

Rössler (1992) geht nach Boscovich (1763) davon aus, dass es im Wesentlichen
drei Arten von Kovarianzen sind, über die die Lebewesen in ihrer Evolution die
invarianten Merkmale der Welt entdecken. Zunächst können die bewegungs-
unabhängigen invarianten Eigenschaften der Welt nur aktiv von einem sich
bewegenden Lebewesen entdeckt werden. Auf diese Kovarianz der
standortspezifischen Perspektive in einer invarianten Geometrie (Wahrnehmung
durch Eigenbewegung in einer invarianten Landschaft) folgt jene des
geschwindigkeitsspezifischen Inertialsystems in einer invarianten
Hypergeometrie (zwischen stillstehendem Beobachter und invariantem
Hintergrund bewegt sich etwas) (s.a. Rössler 1992:120). Dieser nächste Schritt,
die Entdeckung einer zweiten Form der Kovarianz, erzeugt in der Ausbildung
der Noosphäre den Bereich des Traumes als redundantes Merkmal und damit die
Voraussetzung für den 'Innenraum' eines 'Geistes' und dann im Kulturprozeß
einer 'Psyche'.

In den beiden früheren Fällen von Kovarianz können zwei Schnittstellen durch
Kommunikation über räumliche und/oder zeitliche Distanzen (gewöhnliche
Kommunikation/Gedächtnisdokument) hinweg kombiniert werden.

"Im Gegensatz zu diesen beiden früheren Fällen ist ein von den inneren
Mikrobewegungen abhängiges Interface (Schnittstelle) zeitabhängig auf
einer Skala, die so kurz ist, dass es unmöglich ist, das Interface zu
manipulieren oder es gar zu verlassen. Welcher Teil der Welt auch
betrachtet wird - nah oder fern, außerhalb oder innerhalb des Körpers des
Beobachters, in zeitlicher Nähe oder weit in der Vergangenheit -, er wird
notwendig dem Differenzprinzip unterliegen. Das heißt, er wird von dem
augenblicklichen Zustand der inneren Bewegungen des Beobachters
beeinflußt sein. Da die 'Verzerrungen' die sich ergeben, die ganze Welt
betreffen, ist hier nicht einmal mehr das Gedächtnis ein unbeeinflußbarer

39 "Wenn alles zeichenhaft ist, dann kann ich ebensogutsagen:'alles ist wirklich' oder 'nichts
ist zeichenhaft'. Das sind dann bloß Worte. Wenn keine Negation mehr verfügbar ist, verliert
jeder Begriff seinen epistemologischen Biß." (Knobloch 1989:8f)
Alienne Laval
äußerer Angelpunkt. Von den Veränderungen des Interface ist die ganze
Welt betroffen. Jede Veränderung der ganzen Welt ist jedoch per
definitionem unbemerkbar. Zwei ganze Welten können niemals
miteinander verglichen werden, da die zweite nicht vollständig wäre, wenn
Reste der ersten in ihr erkennbar wären." (Rössler 1992:123)

In der über Abstraktion aus der Noosphäre gelösten Semiosphäre und den sich
im Kulturprozeß bildenden Semiosphären befreit sich der Mensch aus dem
Außenraum in den Innenraum der zweiten Wirklichkeit (s.a. Bystrina 1989).
Die Semiosphären sind deshalb kaum Teil der originären materiell-räumlichen
Gegebenheiten dieses Planeten, da sie abstrakte Objekte einer zweiten
Wirklichkeit, Systeme, sind. Vielmehr werden die materiellen Objekte und die
Noosphäre der zweiten Form der Kovarianz damit zum konstituierenden Teil der
Semiosphären. Die Semiosphären erscheinen so, ähnlich wie Castanedas 'Inseln
des Tonal', in die zweite Wirklichkeit einer 'Traumzeit' eingebettet.
Nur die Semiose narrativer Texte verbindet die primäre Biosphäre, die
Noosphäre und die Semiosphäre und ist nach der in diesem Aufsatz vertretenen
Auffassung die eigentliche, originäre Dimension der Kultur.(40)
Das, was wir 'Kultur' oder kulturelle Produktion nennen, ist eine relativ 'neue'
Schicht des Bewußtseins/Unbewußtseins, die das 'Selbst-Bewußtsein' begründet
und mit dem 'rationalen Denken' - und damit auch der Existenz des Computers -,
das ihr im Prinzip evolutionär vorgelagert ist und vorausgeht, erst später in
formalen Zusammenhang gebracht wird.(41)
Die Rationalisierung aber beginnt schon früher und unabhängig vom
Kulturprozeß, wird aber bald mit kulturellen Merkmalen durchmischt. Mit der
Ausbildung von 'Ethnien', genealogischen Systemen und Klassifikationen führt
der Weg so über 'Religion', 'Ideologie' (und 'Staat') bis hin zum Periodensystem
der Elemente, den modernen wissenschaftlichen Systematiken und besonders zu

40 Auch wenn es heute Automaten zur Herstellung, Übermittlung und Speicherung von
Texten gibt, so bleiben doch Entstehung, Rezeption, Verständnis, Interpretation und Wirkung
von Texten weitgehend ungeklärt. Die unterschiedlichsten Disziplinen haben sich - zum Teil
mit Computerunterstützung - daran versucht, den Schleier dieses 'Geheimnisses' ein wenig zu
lüften.
Die Herstellung 'künstlich-intelligenter' Maschinen mag in absehbarer Zeit kein Problem mehr
darstellen; aber wie steht es um den 'künstlichen Intellekt'? Wenn in Intelligenztests nur
Anpassungsleistungen geprüft werden, ist irgendwann jeder Computer/Roboter imstande,
diese besser zu erbringen. Intellekt hingegen, der schon im Menschen selbst eine 'künstliche'
Kultur-leistung, eine Synthese ist, bleibt Intellekt, unabhängig davon, ob wir einen
intellektuellen Computer oder Menschen vor uns haben. Entscheidend ist allein die Fähigkeit
zur 'Entpassung' und zumindest virtuellen Aufhebung von natürlichen und sozialen
'Gesetzmäßigkeiten'.

41 Eine nähere Explikation dieser Problematik kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht, soll
aber an anderer Stelle erfolgen. (s.a. Leroi-Gourhan 1980; Bystrina 1989; Uchtmann 1990 u.
1991)
Alienne Laval
durch den im 'Zivilisationsprozeß'(42) neuerdings mal wieder immer zentraler
werdenden 'Techniken'.(43)
Im Kern des Kulturprozesses sind Abläufe im Gange, deren Ergründung eine
besondere Fragestellung erfordert. Vor allen Dingen interessiert, welche
besonderen Vorkommnisse interner und externer Art zur Emergenz der Kultur
geführt haben und welches die kulturgenerierenden Objekte und Situationen
waren.

Der Kulturprozeß oder die Semiose als Differenzprinzip

Der 'Geist' an sich, der keine kulturelle Dimension ist, wird erst in der Semiose
zur Wirkung gebracht, wobei er sich in den Semiosphären ausdifferenziert.
Die 'Dichtung' (Narration) ist an das Prinzip der Autorenschaft gekoppelt, an
einen, wie in der indischen Dichtung auch unbekannten, - und dadurch
universalisierten - Narrator, der sich postlimen befindet und einen Vorgang in
der Vergangenheit berichtet, der aber als Gegenwart beim Rezipienten neu
entsteht.

"Narrative says: 'This happened once.' This is a basic form of human


communication, because it makes an immediate contact, gathering the
hearer into the speaker." (O'Flaherty 1984:127).

Der Rezipient ist so einerseits distanzierter Beobachter eines vergangenen


Geschehens (hier nimmt er die überlegene Warte des Narrators oder eine
universale Warte ein), andererseits wird er aber zu einer aktiven Teilnahme mit
Übernahme verschiedener Rollen (Muster) gezwungen. Karlinger (1986:178ff)
zeigt auf, dass zum Erzielen synchronistischer Erscheinungen (Gehrts 1986:9)
während der Erzählsituation, der Inszenierung einer Semiosphäre also, auch
Räüchermittel, Musik etc. eingesetzt werden.

"Ganz unabhängig von der Annahme subjektiver oder objektiver


Bedingungszusammenhänge läßt sich nämlich folgern, dass das
Zaubermärchen, insofern es mit initiatischer Absicht erzählt wurde, seinen
eigenen Wahrheitsbeweis zugleich mit sich führen konnte. Der Zauber, in
den es einführte, trug sich zugleich auch zu, und während das wunderbare
Gesamtgeschehen des Märchens in der Phantasie des Hörers abläuft, äußert
42 Der 'Zivilisationsprozeß', wie ihn die Soziologie versteht und ihn auch Norbert Elias
beschrieben hat, kann meiner Ansicht nach gar nicht deutlich genug vom 'Kulturprozeß'
unterschieden werden.

43 Ein besonders schönes Beispiel bietet die Maya-Kosmogonie, da hier der Übergang von
der genealogischen zur astronomisch-mathematischen Systematik in signifikanten Texten
belegt ist.
Alienne Laval
sich zeichenhaft die Potenz solcher Geschehnisse auch im Sinnenraume."
(Gehrts 1986:10)

Ähnliches sagt O'Flaherty (1984) für den indischen Mythos aus. Mehrere
mögliche Positionen treffen hier aufeinander: Der Rezipient kann sich auf die
Semiosphäre der Dichtung einlassen und durchläuft bestimmte
'Metamorphosen', die ihn letztlich zum 'Miterzähler' qualifizieren oder er zieht
sich in seine eigene (vorher bekannte, sozialisierte, vertraute) oder eine andere
(ihm sicherere) Semiosphäre zurück. Er kann aber auch einen eigenen 'Prozeß'
inszenieren, der ihm selbst 'Autorenschaft' ermöglicht und zu einer gewissen
Autonomie führt.
Diese 'Autonomie', die erst Wesenhaftigkeit verleiht, ist Initiation im
eigentlichen Sinne; es ist die eigene Narration, die deviant außerhalb der
Semiosphäre (hier: das 'System' der rezipierten Dichtung) stellt. Der Schamane
ist das klassische 'Axiom' dieser Tätigkeit, der trotz vielfältiger, besonderer
ethnischer Merkmale immer auf eine gemeinsame, auf die Semiosphäre
übergreifende, invariante Art schamanisiert, synthetisiert und so neue Semiosen
schafft.
Für ein weiteres Verständnis bedarf es jedoch der - wie später klar werden wird:
paradoxerweisen - Analyse und Kenntnis der strukturalen Merkmale des
Kulturprozesses und d.h.: der Mittel der Narration und ihrer Entstehung:

"Die ursprüngliche Kultur war Literatur und Kunst par excellence, stellte
eine durchgängig nach den Gesetzen der Poetik organisierte Praxis
dar...Die Geschichte in ihrer Opposivität zum Mythos (der ursprünglichen
Narrativik), zum Ritual (der ursprünglichen Dramatik) und zur Magie (der
ursprünglichen Lyrik, deren Wesen die Wiederherstellung/Konservierung
der Identität von Subjekt bzw. Objekt ausmacht) begann, als das
künstlerische Schaffen sich zu einem eigenen Typus von Diskursivität
spezifizierte und sich die übrigen Diskurse von der Herrschaft der Literatur
emanzipierten. Die Geschichte startete ihren Lauf in dem Moment, als die
Literatur zur Literatur wurde." (Smirnov 1988:107)

Als genauere Bestimmung der 'geschichtlichen Verortung' von Mythos, Ritual


und Magie kann Gehrts' (1980:73) Definition gewertet werden:

"Nennen wir unsere Schicht die technokratische Zivilisation, so hieße die


ihr vorausgehende die religiöse Kultur. Unter dieser läge die rituelle
Kultur, und am Grunde fänden wir die Schicht der schamanischen Kultur."

O'Flaherty (1981:430) unterscheidet eine Reihe von 'Realitätsschichten', nämlich


die der wahrgenommenen Realität (die Alltagswelt, die wir in Zentimetern und
Sekunden messen); die der eingebildeten Realität (der Bereich der Träume,
Phantasien, Wahnvorstellungen und Halluzinationen); die der künstlerischen
Alienne Laval
Realität (die bewußt geschaffenen Formen, die die Bilder der wahrgenommenen
Welt nachahmen oder in Frage stellen); und die der metaphorischen oder
analogischen Realität (das sind ihrer Ansicht nach 'verbale' Zeichen, die eine
Realitätsschicht durch eine andere hindurch sehen).
Bystrina (1989) differenziert zwei Codeebenen, die aufeinanderfolgend im
Evolutionsprozeß entstanden, aber im Kulturprozeß transformierte Gültigkeiten
beibehalten (z.B. in Ritual und Magie) und eine dritte, mythologisch-narrative,
die erst mit der Kulturemergenz hinzukam. Alle Codeebenen bleiben im
Kulturprozeß in mannigfaltigen intra- und interkulturellen und -organismischen
Beziehungen erhalten. Vom kulturevolutiven Standpunkt aus betrachtet ist die
schamanische Schicht des Mythisch-Narrativen, bzw. die Verbindung des
Geträumten mit dem Metaphorischen und Analogischen, die älteste Codeebene.
Eine eindeutige Dominanz des 'Rationalen' und d.h. auch des Magischen, ist
eine spätere Entwicklung.
Von diesen Positionen ausgehend kann der 'historisierenden Perspektive' eine
strukturale Version entgegengestellt werden, "die unter der Verschiedenheit der
Kulturphänomene Invarianten wiedererkennt, die sich trotz des mannigfaltigen
Wandels innerhalb der Kulturkreise und der Geschichte bewahrt haben. Nur die
Erkenntnis einer solchen Struktur erlaubt schließlich die Präzision der
Erkenntnis einzelner Phänomene", wie Bystrina (1989:120) schreibt.
Schamanische Kultur (Mythos, Narration) und rituelle Kultur (Ritual, Drama)
unterscheiden sich schon durch signifikante Merkmale:
"Auf der Stufe der rituellen Kultur beruhen Weltverständnis und Lebensgefühl
auf dem tradierten Kulturgut - und dementsprechend auch die Initiation; sie wird
mit Initiandenscharen durchgeführt und wird geleitet von älteren Eingeweihten.
Das schamanische Erleben und Vermögen ruhen auf dem metaphysischen
Wesen des Menschen unmittelbar - und im Einzelfalle daher auf der besonderen
diesbezüglichen Begabung des Initianden. Darum ereignet sich schamanische
Initiation am Einzelnen, darum wird sie oftmals eingeleitet durch ein
Berufungserlebnis, - und sie wird nicht von älteren Eingeweihten besorgt,
sondern im typischen Falle durch die Geister selber gelenkt,ja, erzwungen."
(Gehrts 1980:76)
Der Mythos weist uns daher zurück in die Zeit des 'kognitiven Dunkels' der
Noosphäre, der Nacht der Welt, in der es noch keine 'Welt' und keine von
Menschen begründeten Semiosphären gab.
Jede schamanische Initiation (Individuation) mit ihrer Grabesnähe führt zurück
in diesen Zustand, zum 'Null-Code' (Bystrina 1989:130), in dem sich dann
ambivalente Strukturen (Geister also) zeigen. Diese kontemplativen,
'strukturgenerierenden Situationen' (Karbusicky) formieren sich als Auslöser
oder 'prozessuale Archetypen' (Bystrina 1989) und werden zu den Invarianten
(Bystrina ebd. und Kuper 1993) des Kulturprozesses. Dieser Zusammenbruch
der früheren Schnittstelle (die 'alten' Codes und Kovarianzen gelten hier nicht
mehr) und die dann folgende 'Inflation' der Schnittstelle (oder Jungs Inflation
des Bewußtseinsfeldes) impliziert eine andere Form der Kovarianz, einen neuen,
Alienne Laval
andersartigen Code, indem sich die aufkeimende 'Psyche' einen Halt und
Mittelpunkt sucht, von dem ausgehend sie die Welt 'erschafft'.
Im Vorfeld der Relativitätstheorie erkannte Boscovich (1763), dass ein
Beobachter nur Auskunft über seine 'Schnittstelle' mit der Welt geben kann.

"Er kann lediglich die Schnittstelle (oder Differenz) zwischen ihm und der
Welt beschreiben. Eine erste Folgerung aus diesem Prinzip ist, dass ein
Zustand äußerer Bewegung des Beobachters in Relation zur Welt
äquivalent ist zu einem Bewegungszustand der ganzen Welt relativ zu
einem stationären Beobachter...Als einer der Vorläufer der kinetischen
Theorie scheint Boscovich jedoch noch eine weitere Implikation gesehen
zu haben. Das gleiche Äquivalenz-Prinzip läßt sich auch auf den Zustand
der inneren Bewegung eines Beobachters gegenüber seiner Welt anwenden.
Wenn zum Beispiel sowohl alle inneren Bewegungen des Beobachters als
auch alle Bewegungen seiner Umgebung eine Zeitumkehr erfahren - eine
Möglichkeit, derer sich Boscovich offenbar bewußt war -, so ändert sich
nichts für den Beobachter. Die Schnittstelle zwischen beiden ist nicht
betroffen...Wenn nur die inneren Bewegungen des Beobachters
zeitinvertiert sind, ist dies äquivalent dazu, dass keine Veränderung im
Beobachter stattgefunden hat, aber stattdessen die äußere Welt
zeitinvertiert wurde. Das heißt, jede Veränderung innerhalb des
Beobachters, die im Prinzip durch irgendeine äußere Veränderung in der
Umgebung exakt kompensiert werden kann (so dass der Nettoeffekt auf die
Schnittstelle gleich null wäre), ist äquivalent dazu, dass dieser
kompensierende Effekt in der Umgebung tatsächlich eingetreten ist, aber
im Beobachter keine Veränderung stattgefunden hat." (Rössler 1992:121)

„Da das Vorhandensein von solchen im Prinzip ausgleichbaren


Veränderungen im Beobachter nie a priori ausgeschlossen werden kann,"

so Rössler weiter,

"sieht der Beobachter die Welt niemals objektiv. Nur ein 'Schnitt' (oder
eine 'Transformation'), der vom Zustand seiner eigenen inneren Bewegung
abhängig ist, kann dem Beobachter zugänglich sein. Weiterhin folgt - da
die Schnittstelle die einzige Realität für den Beobachter ist -, dass die Welt
für den Beobachter objektiv all jene Eigenschaften besitzt, die sie nur
relativ zu dem Zustand seiner eigenen inneren Bewegung annimmt."

Boscovichs Einführung 'wahrer Existenzmodi' (Rössler 1992:122), die die


eigentliche Realität ausmachen sollen, verallgemeinert die Einsteinsche
Relativität, denn:
Alienne Laval
"Die Schwierigkeit liegt darin, dass der Beobachter seine inneren
Bewegungen nicht ebenso leicht manipulieren kann, wie seine Position und
seinen externen Bewegungszustand."

Rössler (1992:123) behauptet daher, dass

"...die größere Invarianz sich nicht aus einem einzigen kovarianten


Baustein konstruieren läßt."

Merkwürdigerweise kann das dennoch zutreffen, da die Existenz von


Verzerrungen über Modelle, wie z.B. das des R.Boscovich, zugänglich ist. Über
welchen Mechanismus werden solche Modelle aufgebaut? Die Ethologie hat
nachgewiesen, dass zumindest 'höhere Tiere' träumen und spielen. Nach
Bystrina (1989) gehören Traum und Spiel zu den invarianten Wurzeln der
Kultur. Die Rekurrenz (die Entmischung) hat hier den inneren Bereich des
Beobachters erreicht und generiert redundante Formen, die mit den
unmittelbaren Lebensnotwendigkeiten offensichtlich nichts mehr zu tun haben,
auch wenn Traum und Spiel ihre Begründung und Begrenzung zunächst in der
Entdeckung von Geometrie und Hypergeometrie und den daraus resultierenden
Veränderungen des Gehirns finden. Aber erst die durch Traum und Spiel
induzierte Etablierung der Rekurrenz als absichtlichem Prinzip der Entregelung
macht diese zur Inversion und damit zum kulturemergierenden - und d.h.
textproduzierenden - Faktor. Frühest mit dem 'Todeswissen' (Bystrina 1989)
aber ergießt sich dieser Faktor auch in das Gebrauchsverhalten (Bystrina 1889;
s.a. Leroi-Gourhan 1980), um selbst dieses zu invertieren. Der Tod, in den
beiden vorangehenden Kovarianzen nur als Tatsache geschehend und als
Invariante ob der Konstellation und Geometrie dieser Sphären der Kognition
unsichtbar und/oder unfaßbar, wird objektiv feststellbar und präkognitiv
vorstellbar.
Der fehlende kovariante Baustein, der Boscovich' Theorie einer dritten
Kovarianz begründen kann, die große Invariante, welche die primäre Inversion
zunächst ermöglicht, ist der Tod. Dieses redundante Merkmal allen Lebens
kommt aber erst hier zu Bewußtsein, wenn es sich in die Form des Menschen
ergießt, wo Innen und Außen durch die 'merkwürdige' Invariante 'Tod' und die
Koppelung von Traum und Tod verschwimmen. Der Tod ein 'objektives'
Ereignis, das für den Beobachter zuerst extern, d.h. unabhängig von ihm in
einem anderen Wesen und ohne seine Eingriffsmöglichkeit, eintritt, ihn in der
Zukunft aber selbst betreffen und zum 'Objekt' machen wird. Die erste
Wirklichkeit wirkte daher beängstigend auf den Menschen,

"...weil in ihr letzten Endes der Tod siegt. Um klaren Kopfes zu bleiben
und das psychische Überleben zu sichern, mußte er sie partiell in seinem
Vorstellungsvermögen invertieren oder gänzlich verdoppeln. Um den
Umweltüberdruck angesichts der stets als bedrohlich empfundenen Natur
Alienne Laval
zu mildern, machte sich der Mensch Gedanken über imaginäre Lösungen.
Imagination, Phantasie und Kreativität waren die Säulen, auf die der
Mensch seine Hoffnungen setzte. Langsam baute er auf das interne Modell
der Außenwelt das Modell einer zweiten Wirklichkeit auf. So entstand auf
einer bestimmten Stufe in der Entwicklung des Menschen die zweite
Wirklichkeit als Verdoppelung der ersten unter umgekehrten Vorzeichen,
denn was in der faktischen Welt begrenzte, einband und allzu bedrohlich
erschien, konnte in der fiktiven Vorstellungswelt entgrenzt, gelöst und
überwunden werden." (Kuper 1993:20)

Die Schwierigkeit bei dieser Form der Kovarianz ist, dass der
Beobachterstandpunkt zu einem inneren Ort hin verschoben wird und nicht mehr
eindeutig zu definieren ist, da der Beobachter von nun an weiß, dass er selbst
sich in der 'Umwelt', im Beobachteten also, auflösen kann und wird. Die Frage,
die sich dem Beobachter nun stellt, ist die, ob das Verschwinden, das
Unsichtbarwerden des Toten nicht aufgehalten werden kann, um ihm eine
zweite Existenz zu ermöglichen (frühe Begräbnisriten weisen darauf hin; bei den
alten Ägyptern durch Mumifizierung bis zur Perfektion getrieben). Diese
Existenz ist aber nur in einer inneren, hinter den äußeren Erscheinungen
liegenden Landschaft denkbar. Mit der Erkenntnis des Todes, die auf dieser
Unterlage erst eine bestimmte Erkenntnis des Lebens ermöglichte und daher mit
dem Eintreten des 'Geistes' in die Welt verbunden ist, wird eine neue Welt und
daher auch eine neue Mischung erzeugt. Erst an dieser Stelle, ausgelöst durch
die Transformation des Todes in den Innenraum, ist das Differenzprinzip
vollständig (Ambivalenz und Bipolarität) entfaltet, denn das Leben (und
Denken!) ist ohne den Tod nicht mehr denkbar.
Das Gedächtnis ist, wie gesagt, hier kein unbeeinflußbarer äußerer Angelpunkt
mehr, denn von diesen Veränderungen der Schnittstelle ist die ganze Welt
betroffen (s.a. Rössler 1992:123).
Im Anschluß an von Neumann (1932) stellt Rössler (1992:126) fest, dass im
Rahmen der Quantenmechanik der Informationszustand des Beobachters über
seinen eigenen Zustand keine Rolle spielt, wenn man die Quantenrealität als die
grundlegende Realität annimmt.
Wenn die zweite Wirklichkeit für uns als Möglichkeit erst einmal erschlossen
ist, und sobald damit auch die Notwendigkeit eines Überlebens in ihr besteht,
muß die Informiertheit des Beobachters in ihr - und das geschieht über die
Tradierung von Mythen - gewährleistet werden.
Der Existenzmodus (oder das Modell), dessen sich die 'Erfahrungswissenschaft'
Physik z.B. bei Fragestellungen zur Relativitätstheorie bedient, ist derjenige der
Manipulation von Positionen und externen Bewegungszuständen. Der
Existenzmodus, den die Text- und Strukturwissenschaften und insbesondere die
Semiotik als Kultur- , Kognitions- und Kommunikationswissenschaft
untersuchen, handelt von den inneren Bewegungen des Beobachters und dem
Versuch ihrer veräußerten Manipulation, wie er sich in der Produktion von
Alienne Laval
Texten zeigt. Interessant wird hier die Verschiebung zur Subjekt-Objekt-Achse,
wo doch vorher noch die semantische, rein spielerische, Material-Objekt-Achse
gegolten hat. Problematisch wirkt die Erkenntnis, dass das Objekt als
Bezugspunkt kaum noch dienen kann, da es nicht codiert ist und erst codiert
werden muß. Hiermit ist dann tatsächlich eine dritte Form der Kovarianz
gefunden, wie sie sich aus den Überlegungen Boscovichs ergibt.
Basis für die Emergenz einer tertiären Codeebene sind die Gruppenstrukturen
der ersten Wirklichkeit einschließlich der hierauf aufbauenden Erkenntnis einer
invarianten Hypergeometrie. In einer inversiven Verdoppelung entsteht in
Texten die Topographie eines Innenraumes, die auch die Invarianten der ersten
Wirklichkeit (Rösslers zweite Natur) invertiert und dadurch die Invarianten
(Topologie) dieses Raumes aufdeckt.
Rössler (1992:122) meint, dass im Falle der Boscovich-Kovarianz sogar ein
indirekter Zugang zu dieser neuen 'Hyperrealität' blockiert zu sein scheint. Was
er hier anspricht, ist keineswegs eine Hyperrealität, sondern die topographische
Ebene der 'zweiten Wirklichkeit', wie sie Bystrina (1989) im Anschluß an die
Untersuchungen Saussures und Lévy-Strauss' formuliert hat. Da die Invarianten
des internen Bewegungszustandes nur durch zeichenhafte und symbolische
Gestaltungen in Texten markiert werden, entgehen sie dem 'Ereignishorizont'
der empirisch arbeitenden Erfahrungswissenschaften.
Der Beobachter ist durchaus imstande, seine jeweilige Schnittstelle
vorübergehend zu verlassen, indem er sich per Traum, Trance, Spiel, Ekstase,
Askese, Droge oder deviantem Verhalten in einen auditiven, introspektiven
Modus begibt, der die jeweils internalisierte Ordnung hintergehbar macht (s.a.
Holenstein 1982; Bystrina 1989; Uchtmann 1991).
Nach Bells Theorem (1964) kann die nichtlokale Natur der Quantenmechanik
nicht durch eine klassisch-lokale Theorie erklärt werden (Rössler 1992:126).
Boscovichs Ansatz ist aber lokal und klassisch-newtonianisch. Nach Rössler
(1992:127) erinnert die Bosovichsche Sicht an Bohrs Aussage, "dass der
Beobachter an der Erschaffung der Welt 'partizipatorisch' Anteil hat."

Störungen der Semiosphäre als Katastrophen und Anastrophen

In dem indischen Mythos Mahabarata waren Asvatthaman und zwei Begleiter


als die letzten Überlebenden einer Streitmacht dem Schlachtfeld entflohen,
indem sie sich im Dickicht des fürchterlichen Waldes (Initiationsmotiv!)
versteckten. Seine Begleiter fielen bald in tiefen Schlaf, aber Asvatthaman
konnte kein Auge schließen und hatte einen Traum.

"Sein Denken war erfüllt von den bösen Taten der Pandavas und sein Herz
war voll Kummer und Zorn. Er war hellwach und sah alles, was um ihn
herum vorging, denn die Nacht war sternenklar. Eine große Eule, die
vorbeiflog, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er sah sie auf einem
Alienne Laval
Zweige eines hohen Baumes sitzen, der dicht neben dem Baume stand,
unter dem sie Rast hielten. Die Eule hatte scharfe Krallen und einen harten
Schnabel. Damit begann sie die Krähen zu töten, die in ihren Nestern
schliefen. Einigen hieb sie mit ihrem spitzen Schnabel den Kopf ab,
anderen Flügel und Beine. Auf diese Art vernichtete sie alle Krähen auf
jenem Baum. Hernach flatterte sie voll Freude mit ihren Flügeln."
(Mahabharata 1978:287)

Das Zerstückelungsmotiv ist Bestandteil schamanischer Initiation; es enthebt


hier aus der Uniformität des Krieges und der alten Semiosphäre und schafft
gleichzeitig eine Meta-Uniformität des Todes. Das Motiv der Uniformität wird
immer dem synchronen Kontext entsprechend formuliert und die Lösungen
bleiben daher dieselben.(44)
Die Anschauung des Todes, im Falle Asvatthamans als Schlachtfeld, kann die
Uniformität aufbrechen, da sie den Menschen in seine Bestandteile, in
strukturale Merkmale zerlegt, die nur in einem neuen, 'innere Organisation'
generierenden Bild (Zilberman 1984) integriert werden können. Dieser
Übergang des Traumes oder der traumatischen Situation in die narrative
Situation des Mythos findet statt anhand einer 'skelettartigen Struktur' (s.a.
O'Flaherty 1984:127) und ist typisches Geschehen des Kulturprozesses.
Bei diesem Bild handelte es sich im vorliegenden Beispiel um den 'Weltenbaum'
(Asvatthaman bedeutet Feigenbaum/Weltenbaum) mit den in seinen Ästen
nistenden 'Vögeln' eines bestimmten psychischen Zustandes, einer durch ein
organisierendes Muster geregelten Semiosphäre also (s.a. Zilberman 1984:270).
Asvatthaman überzieht dieses Bild, wie es in schamanischen Traditionen weit
verbreitet ist, mit einem anderen archetypischen Bild der Struktur des
Bewußtseins. Dieses Bild bietet der Seele ein neues Beispiel für innere
Organisation (Zilberman 1984:270).
Von diesem Punkt an, an dem das archetypische Beispiel die Seele
Asvatthamans in Form der Eule ergriffen und eingestimmt hat, sind alle
'Handlungsoperationen' seiner Psyche Projektionen des archetypischen Schemas.

44 Ein frühes Beispiel für die Anschauung des Todes als Schlachtfeld ist Breughels Gemälde
'Triumph des Todes'. Hier zeigt sich eine andere Schicht eines archetypischen, invarianten
Geschehens. (zur Problematik des 'primitiven Krieges' s.insb.: Numelin 1950)
Die Definition der Uniformität ist abhängig von der 'Umweltsituation'. Bildete zum Zeitpunkt
der Kulturemergenz die 'Natur' die Umwelt, die u.a. durch das 'rituelle' Tragen von
Tiermasken zum Ausdruck gebracht wurde, war es später der 'Krieger', der das soziale und
ideologische Gemeinwesen verteidigte und sich gleichzeitig gegen das 'andere' Soziale
richtete. Noch in unserem Jahrhundert ist es der uniformierte, befehlsempfangende Soldat, der
seinen 'Staat' verteidigen soll, obwohl es längst die sich auf Gegenseitigkeit selbst sozial-
kontrollierende, konsumierende 'Masse' gibt, die die gleichen Aufgaben ohne Waffengewalt
und nur durch sozialen Druck erledigen könnte.
Alienne Laval
"Asvatthaman is universalized, like the shaman or cultural hero."
(Zilberman 1984:271)

In Rede, Argumentation und Handlung ist alles, was er tut fortan symbolisch
und zeichenhaft, er ist der Träger des Archetyps.
Im weiteren Verlauf dieser Dichtung wendet sich Asvatthaman ab von der
Kontemplation hin zu rituellen und meditativen 'Techniken', denn:

"Im Mythisch-Ideologischen werden die Lösungen konzipiert, im Rituellen


symbolisch vollzogen, in sozialen Strukturen und Institutionen, im sakralen
und profanen, im öffentlichen und privaten, im alltäglichen Leben werden
sie gelebt." (Bystrina 1989:129)

In dieser Ablösung vom Archetyp verliert Asvatthaman durch die


'Ritualisierung' die Bindung zum Ursprung und damit seine initiale semiotische
Kraft.
Der aufbruchbereite Soldat ist nach Gehrts (1980:89) eine 'Vorstufe des
Zauberers', "oder sagen wir deutlicher: des Schamanen, des Ekstatikers, der des
Aufbruchs fähig ist in die Zauberwelt, in die Welt des Ungeheuren!" Jener
Krieger, der die Weihen seines Standes bereits empfangen hatte, besaß damit die
Fähigkeiten, Schüler des Brahmanen oder Druiden zu werden. Dieser hierdurch
implizierte Übergang vom kämpfenden Soldaten zum 'geistigen' Krieger
verlangt eine Desertion, aber:

"...nicht in die hausbackene Welt am heimischen Küchenherd( 45), vor


Mutters Milchkammer, sondern in die Allwelt jenseits des
Zerhacktwerdens, jenseits des Todes." (Gehrts 1980:90)(46)

Asvatthaman sagt:

45 Lévi-Strauss (1976:518f) gibt die Position der Küche, des Herdes, als sich zwischen den
Polen Asche (Tabak) und Honig befindlich an, "...denn der Honig liegt diesseits der Küche,
insofern die Natur ihn dem Menschen in Form eines schon fertigen Gerichts und
konzentrierten Nahrungsmittels verschafft...und der gerauchte Tabak steht jenseits der Küche,
da er verbrannt, d.h. mehr als gekocht werden muß, damit man ihn verzehren kann." Asche
und Honig (aber auch: Rausch und Ekstase; Traum und Askese etc.) befinden sich damit
jenseits bzw. diesseits des Zerhacktwerdens im Synthetischen des Mythos.

46 Auch der heimische Herd generiert innere Organisation, jedoch anderer Art und um den
Preis neuer Kriege und sei es auch nur in Form von Jagd, Schlachtung und Zerstreuung. Das
fragmentarische (Löwith) oder fraktale (Baudrillard) Universum ist keineswegs modern,
sondern das alte Universum jeden Schlachtfeldes. Das Soziale, die Ökonomie, die Technik
etc. befinden sich in permanentem Krieg bei gleichzeitiger Überbetonung von Haus, Herd und
Kind.
Alienne Laval
"Ich bin als Brahmane geboren; unglücklicherweise wählte ich jedoch den
Stand des Kshatriyas (des Kriegers). Es wäre unrichtig, wenn ich nun
wieder die Rolle des Brahmanen übernähme und meinen Gegnern ihre
Untaten vergäbe..."

Im Fortlauf des Textes wird kommentiert:

"Er war dem Geiste der Vernichtung verfallen, der keine Fesseln kannte. Er
mordete die ganze Nacht...So groß war die allgemeine Verwirrung, dass
diejenigen, die erwachten, nicht erkannten, wer mordend eingedrungen
war, und einander erschlugen." (Mahabharata 1978:288f)

Das Universum des Zerhacktwerdens, der Küche und später des Labors, ist ein
analytisches Universum - aber auch Grundlage der Initiation -, das sich in einem
fort weiter zergliedert, weil es keine Zeichen, keine Vision sieht. Erst die
Initiation von der heimischen Semiosphäre in die 'Allgewalt' des Todes - und
damit zur Semiose - führt zu einer Kenntnis der Invariante dieses Geschehens.
Asvatthaman verkündete seinen Begleitern ein 'Handlungsprogramm', eine
Strategie, um die Schlacht in der zweiten Wirklichkeit der 'Psyche' doch noch zu
gewinnen. Das Motiv der die schlafenden Krähen tötenden Eule wird ihm zur
Metapher dafür, die Feinde während des Schlafes (in dem ihnen unbewußten
Zustand ihrer Semiosphäre) zu überraschen. Diese 'besondere Waffe', die ihn
außerhalb der Regel stellt, beendet das alte Zeitalter (Yuga), d.h.: die
Semiosphäre und leitet durch diese Katastrophe über zu einer Anastrophe (neues
Yuga, neue Semiosphäre). Das Motiv, dass er seinen 'Feinden' während des
Schlafes die Köpfe abtrennt, damit diese in das neue Zeitalter übergehen
können, ist eine Metapher dafür, dass in der kommenden Semiosphäre ein
anderes Denken angesagt ist.

"Asvatthaman's sacrifice was beneficial, as he relieved the sinners from


their sins by parting them from their bodies, taking their lives in this yuga:
because their karmic sins have been incarnated in their impure bodies,
deserving to be devoured by the spirits of evil." (Zilberman 1984:297)
Alienne Laval
Der Schamane ist zwar Mittler, doch wird ihm dieser Charakter von seiner
Gruppe zugeschrieben und nicht von ihm selbst gesetzt( 47) (s.a. Uchtmann
1991:169), denn:

"Das 'schamanische Prinzip' ist das der Entregelung, Inversion und


Inhomogenität; die darauf folgende Vermittlung, Verbindung,
Formulierung von Zwischengliedern und die mit ihnen entstehenden
Rituale, Traditionen und Institutionen sind nicht mehr seine Sache."
(Uchtmann 1991:153)

Der onto-evolutionäre Prozeß und die Semiose enden dort, wo sie die
Kontemplation des Archetyps sozial-technisch manipulierend überschreiten.
Derjenige, der den 'Sinn' des Archetyps in einem schon bestehenden oder neuen
Kontext in die dirigierte Tat umsetzt, ist nicht mehr sein Träger, ist nicht mehr
von ihm ergriffen:

"In other words, the subject of action, i.e. the one who understands its
sense, cannot be called 'Asvatthaman' (Weltenbaum) any more."
(Zilberman 1984:270)

Aus einer strukturgenerierenden Situation heraus wird vermittels einer Setzung


(der willkürlichen Beendigung der Interpretation in einer 'ausreichenden'
Erkenntnis) eine neue Situation erzeugt, die eine Semiosphäre entwirft und
schafft, die sich technisch (Ritual, Meditation) umsetzen läßt und in sich selbst
(Autopoese) wiederholbar und (formallogisch) sinnvoll ist. Aus dem Mythos,

47 Der Schamane, der freiwillig die Gruppe verläßt und in den 'Wald' geht, kann nach
Seperation und Marginalität durch Agregationsriten der Gruppe wieder inkorporiert werden
(s.a. Van Gennep 1960). Was ihn treibt, ist die Dimension der Semiose, die ein 'Fremdwerden'
verlangt, um in die andere Wirklichkeit einzutreten. Die modernen Semiosphären, Gehrts
technische Zivilisation z.B., kennen das Erlebnis der spontanen Berufung durch die andere
Wirklichkeit nicht mehr. Lehre und Belehrung ersetzen das Erlebnis durch Akkumulation.
Das Fremde wird hier nicht mehr selbst erlebt, sondern an anderen erzeugt. Die Separation ist
dann nur noch vorstellbar als die 'Ausgrenzung' ethnisch, psychisch etc. Andersartiger. Frei
nach Bertrand Russel wird die Phase der Marginalität durch die Deportation ersetzt und die
Agregation durch die physische Vernichtung (Extermination) (s.a. Zygmunt Baumann: "Der
Holocaust ist nicht einmalig" in 'Die Zeit' Nr.17/1993, S.68). Diese voyeuristische Position
und Funktion kann z.T. durch Massenmedien ersetzt, aber auch induziert werden. Dieser
Blick wird entgegen der herrschenden Ansicht aber nur perifer durch die 'Unfälle' des 'Reality
TV' ausgelöst.
Der Weg von der Initiation zur Extermination verläuft über die Ausgrenzung mit folgender
'Zwangsinitiation', wie Kuper (1993:59ff) nachweisen konnte: In Sebastian Brants
moraldidaktischer Schrift 'Das Narrenschiff' wird geschildert, wie die Toren gewaltsam aufs
Narrenschiff verfrachtet und auf die Suche nach ihrem verlorenen Verstand geschickt werden.
Das Schiffsmotiv ist hier deshalb signifikant, da dem Wasser reinigende Wirkung
zugesprochen wurde.
Alienne Laval
der primären Narration, entsteht das Ritual und damit das ursprüngliche Drama;
die Ambivalenz und 'weiche' Bipolarität der mythischen Struktur mündet so in
die Polarität sozialer Rollen und damit in die Spaltung der Strukturen in
oppositionelle Paare: die Diachronie erschafft somit erneut die Synchronie. Das
bedeutet, dass die strukturgenerierende Situation und die sie begründende
Invariante durch Verdoppelung aus der Ambivalenz gehoben wird, um
schließlich als getrennte Gegenstände zu erscheinen. So läßt sich z.B. die Frau
von dem Mann abtrennen und der Tag von der Nacht, der Feind vom Freund,
oben von unten.
Jeweils eine Hälfte der ursprünglich ambivalenten Struktur wird negativ und die
andere positiv markiert. Auf diese Weise werden die beiden Mengen der
positiven und der negativen Gegenstände und Zustände erzeugt. Im Verlaufe
dieser 'Entmischung' bilden sich eigenständige Bereiche (die Semiosphären), die
sich aus internen Energiezuständen und Spannungen speisen.
Alle Semiosphären in der zweiten Wirklichkeit basieren auf polaren
Gegensätzen, auf Begriffs- oder Gegenstandspaaren, die als Oppositionen
gesehen werden. Jede Ambivalenz (oder auch alles (noch) nicht Verstandene,
d.h. das 'Nicht-Entmischte) wird hier als 'fremd', 'bedrohlich', 'heilig' oder
'andersartig' empfunden und als 'Null-Code' behandelt. Nur Dasjenige, das nach
jeweils konsensueller Auffassung als 'entmischt', als 'paarig auftretend'
verstanden werden kann, das was man im Schlaf beherrscht, gilt als codiert. Es
gibt daher nur die beiden Zustände 'Null' (nicht codiert) und 'Zwei' (paarig
auftretend, d.h. positiv markiert/negativ markiert), also den nicht-codierten und
den codierten Zustand. Alles, was in den Bereich des Konsensuellen gerät, wird
früher oder später mit einem Wert belegt und von dem 'Dialog' der 'Gegensätze'
(eigentlich ein innerer Monolog) miterschlossen. Hierbei geht es um einen
Einbezug des Neuen, Anderen oder Fremden in den habermasschen Bereich
sogenannter 'konsensueller Wahrheit'. Diese nicht-operationellen Codes dienen
der Aufrechterhaltung des synchronen Milieus einer Semiosphäre. Es ist nun
aber so, dass wir nach Kuper (1993) eine zweite Sorte von Codes, die
Operationscodes, von den eben genannten zu unterscheiden haben.
Die Lokalität der Semiosphäre wird aber nicht durch die Operationscodes
erzeugt: "Die Operationscodes unterscheiden sich von anderen kulturellen
Codes dadurch, dass die nicht operationellen Codes der Strukturierung und die
Operationscodes der Umgestaltung, Umbildung beziehungsweise Handhabung
dieser Strukturen dienen. Operationscodes enthalten Regeln, die bestimmen, wie
man von einer Code- oder Textstruktur zu einer anderen übergehen kann."
(Kuper 1993:24)
Was Kuper hier anspricht, ist die Unterscheidung von Semiosphäre (System)
und Semiose (Struktur), von der ich in diesem Aufsatz ausgehe. Im Folgenden
führt Kuper aus, dass der kulturelle Inversionscode zu den Operationscodes
gehört, "der die Handlungsanweisungen zur Durchführung von
Verkehrungsaktionen vorgibt. Der Inversionscode ist einer der radikalsten
Typen unter den Operationscodes, regelt er doch den völligen Austausch der
Alienne Laval
Pole binärer Oppositionen. Die Inversionsoperation selbst funktioniert als eine
der radikalsten Lösungen von allen möglichen Operationen an den Strukturen
von Codes und Texten." (Kuper 1993:24)(48)
"In der Inversion kann man den in der zweiten Wirklichkeit ersonnenen
radikalen Versuch sehen, die ungünstige Position des Menschen in seiner
Lebenssphäre angesichts der stets bedrohlichen Asymmetrie der
Weltgegensätze zu verändern beziehungsweise vorübergehend zu
beseitigen. Bei der Inversion handelt es sich um eine kulturell codierte
Operation; das heißt, das sie nach bestimmten Regeln funktioniert. Es gibt
keinen Lebens- oder Gegenstandsbereich, der in der zweiten Wirklichkeit
nicht der Inversionsoperation unterworfen werden könnte." (Kuper
1993:24)(49)

Die Operationscodes sind zwischen dem 'Null-Code' und den nicht-


operationellen Codes angesiedelt, gehören von diesen aus betrachtet aber
eindeutig zum 'Null-Code'. Als Operationscode wirkt der tertiäre Code
dialektisch, als nicht-operationaler Code dialogisch. Durch die - und das ist
entscheidend - primäre, intentionale Narration verweigern sie den 'Konsens',
kündigen ihn auf und implizieren für die Semiosphäre 'Todessnähe' und d.h.:
Codelosigkeit, wie Asvatthaman sie für das von ihm beendete alte Zeitalter
darstellte.

48 Die radikalste Lösung scheint nach Kuper ( 1993:24 Anm.25) in der Eliminierung des
einen Pols der Opposition zu liegen. S.a. Rösslers Vorschlag künstlicher Welten im
Computer, für die Strahlung, Gravitation etc. (Rössler 1992:111) nicht zu gelten bräuchten.
Wie will Rössler eine Welt ohne Reste und Ränder inszenieren - und wenn es auch nur Reste
oder Inversionen der Gedanken sind, die zum Bau einer solchen Welt geführt haben? Das
schwerelose Schweben als Inversion der Erdanziehung war auch schon vorstellbar ohne den
Flug ins All.

49 Dies entspricht in den Kultur- und Kommunikationswissenschaften dem Anspruch der


Ethnologie, die einen wissenschaftlich arbeitenden Feldforscher als 'teilnehmenden
Beobachter' definiert. Hier ist es klar, dass ein ausschließlich Teilnehmender das Risiko eines
'going native' eingeht, indem er die Distanz verliert; dem reinen Beobachter aber ist der
Zugang zu vielen Informationen verwehrt. Dem teilnehmenden Beobachter ist klar, dass er
auf die Gruppe, die er 'besucht' Einfluß ausüben wird, denn alle neuen Einflüsse werden
zunächst Veränderungen schaffen, auch wenn diese sich später als invertierbar und reversibel
(Kramer) erweisen sollten. Sie können sich aber dadurch auch von dem ursprünglichen
Impuls ablösen und vielleicht eine Eigendynamik entwickeln. (s.u.a. Worsleys (....)
Ausführungen zu den Cargo-Kulten der Melanesier)
Im Prinzip soll hiermit lediglich ausgesagt werden, dass jeder Impuls neue, invertierbare, also
reversible Lokalitäten erschafft. Der Feldforscher ist dieser Kovarianz ebenso unterworfen,
wie der Physiker, der Politiker oder der autochthone Schamane, wenn sie, wie ausgeführt, die
invariante, empirische Basis von Kultur ist.
Alienne Laval
Die zweite Wirklichkeit des Geistes und die Semiose

Im Vorfeld der Kulturevolution werden zunächst die Dinge (die Objekte der
Außenwelt) in strukturale Merkmale gegliedert. Assoziative Reihen sind es, die
das Rauschen in den Ohren mit dem Rauschen des Wasserfalles analog werden
lassen und so eine strukturgenerierende Situation schaffen können.
Die Dinge der Außenwelt erzeugen so Objekte der Innenwelt und letztlich
(gedachte) Systeme als 'Metaobjekte' und Semiosphären. Ausgangspunkte sind
aber immer strukturale Merkmale, die sich als Achse von den 'Dingen' bis zu
den 'Semiosphären' erstrecken.
Die Komplexität der Erscheinungen scheint die Dinge 'an sich' zu zeigen, aber
als lose nebeneinandergestellte Sachen, die miteinander wenig zu tun haben. Es
sind Zeichenprozesse, die auch die strukturell enfernten Dinge miteinander
verbinden; dies ist aber möglich, indem diese Prozesse in einfachere
Verwandlungen zerlegt werden, die mit den menschlichen Vorstellungen
vereinbar sind (Sceglov 1986:367)
Auch wenn die Merkmale der Bezeichnung eine gewisse ethnische Varianz
aufweisen, sind es dennoch 'wahre' Merkmale, denn das universal gültige
Prinzip der Semiose betrifft alle 'Dinge' der ersten und der zweiten Wirklichkeit
Jede Verwandlung ist ein tiefgreifender Prozeß, "der das Strukturprinzip der
Sache, die elementaren Differenzmerkmale, aus denen sie besteht, verändert."
(Sceglov 1986:369)
Poincaré (1904) vermutete,

"dass was immer die Gruppenstruktur der Welt sein mag, schon ein
Mechanismus im Gehirn liegt, der es ermöglicht, dass uns diese
Gruppenstruktur nach ausreichender aktiver Exploration zur zweiten Natur
wird." (Rössler 1992:120)
Anders ausgedrückt:

"Es besteht die Möglichkeit, dass die Daseinsweise der ontischen


Realitäten nicht fest und substantiell, nicht starr und einheitlich, sondern
ebenso differenziert, vielfältig und fließend gedacht werden kann, wie die
Mannigfaltigkeit und Fülle der Erscheinungen." (Schaeffer-Schweizer
1966:107)
"Die Tatsache, dass der schematisierte Ding- oder Teilchenbegriff kein ihm
im abbildlichen Sinn ähnlich seiendes Vorbild zu haben braucht bzw. nicht
einmal haben kann, ist weit entfernt davon, ein Argument zu sein dafür,
dass die einzelnen in das symbolische Schema eingegangenen
Eigenschaften nicht auf Wirkungen eines Seienden beruhen." (Schaeffer-
Schweizer 1966:107)

Im Prinzip macht ja auch die moderne Naturwissenschaft nichts anderes, wenn


sie als das alles Leben durchdringende Strukturmerkmal das Gen und als jenes,
Alienne Laval
das ganze Universum durchziehende Strukturmerkmal das Atom, hypostasiert,
wobei allerdings zu bedenken ist, dass es sich beim Atom noch - im Gegensatz
zu den auf es folgenden Spaltprodukten - um eine synthetische Leistung
handelte.

"Nicht jedoch besagen jene Einsichten..., dass die dann erst sekundär zu
anschaulichen Dingen schematisierten Wirkungen und Prozesse nicht von
bewußtseinsunabhängig Seiendem ausgehen." (Schaeffer-Schweizer
1966:106)

Als wesentlich wird herausgestellt:

"Nur die Zuordnung zwischen Formel und Vorgang muß eine exakte sein,
in der Möglichkeit ihrer Umkehrung und in ihrer Reproduzierbarkeit liegt
die Garantie ihrer Wahrheit." (Schaeffer-Schweizer 1966:106)

Auch und gerade im Prozeß der 'Kultur' und im Kulturvergleich haben sich
'äußere' Merkmale als unterschiedlich polarisier- und wertbar und in Ritual und
Magie als reversibel gezeigt; in der Sphäre der Natur-Technik wird heute noch
der gleiche Kanon der Möglichkeiten angewendet, der aber ob seiner
'technischen Möglichkeiten' in der 'Produktion' von Strahlung, genmanipulierten
Tieren etc. neue Invarianten, die allerdings nicht reversibel sind, schafft.

Nach Anaxagoras (500-425 v.u.Z.) hatte alles seit jeher existiert in einem
invarianten Zustand.

"Dieser Zustand mußte dem einer perfekten Mischung entsprechen. Aber


dann ergab sich das Problem, wie man die Entstehung des Einfachen (der
Dinge, die wir heute sehen) aus dem Komplexen erklären könnte - das
inverse Problem zu den üblichen Erklärungsmodellen." (Rössler 1992:17)

Für Anaxagoras gab es am Ursprung des Universums einen invarianten


Weltzustand. Neben dem Chaos, der perfekten Mischung, entstand jedoch eine
zweite 'Urrealität', der Geist, Nous, eine Substanz, die zu 'fein' war, um mischbar
zu sein und die deshalb einen gesetzhaften Prozeß der Entmischung in Gang
setzte (Rössler 1992:17).(50) Die Frage, die Anaxagoras sich dabei stellte war, ob
"ein unendlich vermischter Zustand, der das Ergebnis eines unendlich langen
Mischungsprozesses darstellt", im Prinzip überhaupt wieder entmischt werden
kann (Rössler 1992:17f). An dieser Stelle führte er den Begriff
'Herumbewegung', die Perichorese, ein, die als zentrales Attribut für die

50Nach der hier vertetenen Auffassung sind das in der genetischen Folge die primären und
und dann die sekundären Codes. Zur Problematik und Begründung der Noosphäre und der
Semiosphäre (s.a. Fleischer 1988 u. Lotman 1984; 1990).
Alienne Laval
Tätigkeit des Geistes steht. Anaxagoras stellte sich hierbei keine kreisförmige
oder periodische Bewegung vor, und meinte nach Rössler das, was Birkhoff
(1922) mit dem Terminus Rekurrenz belegte.

"Die Herumbewegung begann in der Vergangenheit zunächst mit dem


Kleinen, umfaßt jetzt mehr und wird in der Zukunft noch mehr umfassen.
Der Geist erkennt, was zusammenzumischen, was abzutrennen und was zu
unterscheiden ist. Was immer sein sollte - das, was war, aber jetzt nicht ist,
alles, was jetzt ist und alles, was sein wird -, das alles legte der Geist in
genauer Ordnung fest. Das gilt auch für die Herumbewegung selbst, die
jetzt sich auf die Sterne und die Sonne und den Mond erstreckt, und auf die
Luft und den Äther, die gerade abgetrennt werden. Die Herumbewegung
selbst verursacht die Abtrennung. Vom Dünnen wird das Dicke abgetrennt,
vom Kalten das Warme, vom Dunklen das Helle und vom Feuchten das
Trockene. Gar viele Anteile haben die vielen Dinge. Für alle die Anteile
gilt, dass keiner vollkommen von den anderen abgetrennt und
unterschieden ist, nur der Geist ist es. Der Geist aber ist selbstähnlich (ganz
gleich) sowohl im Großen wie im Kleinen. Sonst ist nichts irgendeinem
anderen ganz gleich, sondern es bestimmt immer das, was in einem Ding
am meisten vorherrschend ist, am deutlichsten seine Erscheinung."
(Anaxagoras, Fragment 12)

Die Lebewesen, die, mythologisch betrachtet, aus dem gleichen Material


bestehen wie Sterne, Flüsse, Bäume, Tiere und Berge, bzw. aus ihnen
hervorgingen, bzw. auch in sie transformierbar sind, sind nach wie vor über die
Kovarianten/Invarianten an sie gekoppelt. Die immer schon unableitbaren
Invarianten der ersten Wirklichkeit gelten weiter in Noo- wie Semiosphäre und
werden über die Kovariante des Todes mit dem Unableitbaren an sich
verbunden.

"Das Verhalten dieses Unableitbaren wurde hebräisch als 'ul' erfahren, und
man nannte es 'El'. Die Grundbedeutung der Wurzel 'ul' ist: dringen, vor-
dringen, drängen, zunächst völlig neutral im Sinne von anbrechen,
aufbrechen, durchbrechen, vorbrechen eines Wesens. Das El-Hafte bricht
aus einem Ding aus, rüttelt den Menschen auf, erschreckt ihn oder macht
selig betroffen. Meist ist es ortsgebunden. So ist der Berg prävalierter Ort
der Begegnung, wo sich Manifestationen einstellen können. Traum und
Entrückung brauchen da keine materiellen Motive mehr." (Karlinger
1986:186f)

Auch dann, wenn die Nahrung gesammelt, gejagt, zerlegt, geteilt, gegessen,
verdaut und ausgeschieden oder ein verfallendes Lebewesen bei der Auflösung
beobachtet wird, wird die Metamorphose offensichtlich, die auch vice versa, als
Entfaltung, als Inversion des Zerfallsprozesses, denkbar sein müßte. Das
Alienne Laval
analytische Geschehen des Verfalls, der Zerstückelung, wird in einer
primordialen Inversion zur synthetischen Leistung, die die strukturalen
Merkmale vor dem Hintergrund einer besonderen Situation in einem Mythos
unifiziert und somit den Verfall aufhebt und zumindest partiell - in einer
Semiose in der zweiten Wirklichkeit - umkehrt. Mit der Inversion haben wir
somit nicht eine sich bündig und genetisch in einer Reihe aus der Rekurrenz
ableitende Funktion vorliegen, sondern den kulturgenerierenden Übergang von
den rein zergliedernden und zerlegenden Leistungen und Verfahren des
Gebrauchsverhaltens zur allein synthetisch begründbaren Dimension der Kultur.
Für den verfallenden Körper kann alles zum Lösungsmittel werden: Wind,
Sonne, Wasser, Luft, Tiere, Pflanzen, Erde oder technische und
waffentechnische Mittel. So ist es naheliegend, nach gemeinsamen Merkmalen
zu suchen.
Wir haben diesen Zusammenhang durch den nach unserer
'erfahrungswissenschaftlich' begründeten Auffassung primären 'Tastsinn' (alle
anderen Sinne und 'Metaphysiken' sind nach dieser Hypothese Ableitungen) in
den allen Objekten gemeinsamen Atomen und Molekülen entdeckt.(51)
Dieser Zusammenhang läßt sich aber auch auf andere Weise und zwar allein
durch Farbe, Geruch oder Form, aufdecken. In allen 'Kulturen' sind
Klassifikationen dieser Art gültig und am Werke. Verwandtschaftliche
Verhältnisse von Tieren können beispielsweise allein durch die Farbe bestimmt
werden; so sind nach bestimmten Auffassungen alle schwarzen Tiere
miteinander verwandt, was auch ihre Transformierbarkeit vereinfacht. Je
weniger Merkmale zugrunde gelegt werden, desto verwandter erscheinen die
Phänomene der Welt. Ein einfacheres Modell wird also mehr Gemeinsamkeiten
entdecken, als ein komplexes. Ein komplexes Modell ist daher kaum geeignet,
als Operationscode zu dienen. Die Dialektik ist ein archaischer Modus und nicht
der von elaborierten Semiosphären (s.a. Uchtmann 1991), der sie aber von Zeit
zu Zeit durchdringt; kennzeichnend ist, dass dialektische Codes
(Operationscodes) einen hohen Abstraktionsgrad aufweisen müssen, um
entmischend und neu mischend wirksam werden zu können. Wenn sie in jedem

51 Selbst die 'moderne' Chaostheorie ist über den Tastsinn aufgebaut, da sie sich auf die in der
Physik gewonnenen, in der Mechanik, im Labor und im theoretischen Versuch begründeten,
Erkenntnisse und Termini stützt. Die tatsächlich mögliche Spaltung, d.h. 'Zerstückelung', der
synthetischen Einheit Atom, treibt die Analyse weiter. So wundert es nicht, wenn nunmehr
die 'Oberfächen', die Ränder und Randbedingungen also, in den Vordergrund rücken und
'empirisch' untersucht werden sollen. Den Tastsinn für empirisch zu nehmen, ist aber genauso
absurd wie eine unterstellte Empirie eines jeden anderen Sinnes. Sinnliche Erfahrung ist
schon immer mit Vorstellung verbunden. Im Kulturprozeß kommt anderen Sinnen
ontologischer Status zu, z.B. dem 'Sehen', dem 'Hören', dem 'Denken' usw., also auch Kunst
und Musik. Das sind Sinne, die - wie alle Sinne - primär nicht gegeben sind und sich nicht
zwangsläufig ausbilden und ausbilden lassen. Die Reduzierung aller zu synthetischen
Leistungen fähigen Sinne auf eine chaostheoretisch begründete Oberflächen-Welt des
'Tastsinns', kann die weitere Zerstückelung nicht aufhalten.
Alienne Laval
Bereich, von der physikalischen Welt bis zu biologischen Strukturen, gelten
sollen, sind sie auf kleinste, gemeinsame Nenner angewiesen.(52)
Aber erst an die fortgeschrittene, rekurrierende Entmischung, die zum Tode
führt, kann ein solcher Inversionscode angelegt werden, der eine neue Synthese
ermöglicht.(53)
Ovid (43 v.u.Z - 18) beschreibt in seinen 'Metamorphosen' eine Welt, die
gänzlich nach rekurrierenden Prinzipien funktioniert.
Die Geschlossenheit seiner Semiosphäre erreicht er dadurch, indem keine
Unbekannte durch eine andere Unbekannte bestimmt wird:

"Er definiert...den Gegenstand vor allem von seinen sichtbaren Merkmalen,


seinen physikalischen und räumlichen Eigenschaften her." (Sceglov
1986:359)

Eine so beschriebene Sache

"ist ein Modell dieser Sache, ihr Symbol und ihre Strukturformel."
(Sceglov 1986:359)

Ovids Reduktion der Phänomene bis auf eine Ebene gemeinsamer Merkmale
kommt mit abstrakten räumlichen und physikalischen Begriffen, wie
Krümmung, Vakuum, Härte, Flüssigkeit, Ausgedehntheit usw. aus.

"Dass diese Anzahl von Begriffen begrenzt ist im Vergleich zur Vielfalt der
Gegenstände aus der realen Welt, die sie beschreibt, läßt sich daraus
ersehen, dass die gleichen Epitheta bei der Benennung verschiedener
Gegenstände wiederholt werden. Viele, sogar sehr unterschiedliche Sachen
und Sachteile erhalten dasselbe Merkmal und werden auf diese Weise
miteinander verglichen." (Sceglov 1986:361)

Allein das Merkmal der Krümmung weisen unterschiedliche Gegenstände, wie


z.B. die Sichel, der Rücken des Delphins, das Schiff, das Horn des Widders und
die Oberfläche des Meeres während eines Gewitters auf.

52 In dem Schema der Chaostheorie weisen das Entstehen eines Unwetters auf hoher See und
die Bildung eines Tumults in einer Menschenmenge Ähnlichkeiten auf. Parallelen zu
philosophischen Systemen, nach denen z.B. der Flügelschlag eines Schmetterlings Gewitter
auslösen und das Ausrupfen eines Grashalms zum Erlöschen eines Sterns führen können,
bieten sich hier an.

53 Für den Christenmenschen ist es Jesus Christus, der den Tod überwand, auferstand und zu
einer synthetischen Einheit mit Gott verschmolz. Die höchste synthetische Einheit der
christlichen Epoche findet sich daher in Jesus/Gott. Die nordische Mythologie erkannte diese
Einheit in Odin/Wotan. Ovid war durch die politischen Umstände seiner Zeit gezwungen,
diese Einheit in Augustus/Jupiter - nicht ohne Zynismus - zu sehen.
Alienne Laval
"Nach dem Merkmal der Hohlstruktur erweisen sich Trinkgefäße, Schilf,
die Glieder des Froschs und die Falten des Greises ähnlich." (Sceglov
1986:361)

Auf diese Weise findet Ovid Eigenschaftstypen als Strukturmerkmale und


schafft dadurch strukturgenerierende Situationen. Es geht ihm um
Strukturgesetze, die er nicht durch Vergleich, sondern durch abstrakte Begriffe
aufdeckt.(54)
Die Strukturmerkmale sind in jedem Gegenstand in einer anderen Weise
gemischt, wie Anaxagoras sagte. Alle Dinge sind dieser Art miteinander
verwandt und bestehen aus denselben Elementen in unterschiedlichen
Kombinationen (Sceglov 1986:364).
Durch diesen 'Trick' gerät die Welt in Bewegung und wächst um ein Vielfaches
an. Die Grenzen rücken weit nach außen, die Semiosphäre erlangt universale
Gültigkeit.
Aus wenigen Merkmalen wird nach diesem Prinzip in der zweiten Wirklichkeit
so eine neue Welt aufgebaut, die in unterschiedlichen Semiosphären ihre
individuelle oder ethnische Ausprägung findet, indem auf Strukturmerkmale
verschiedener Ordnungen zurückgegriffen wird, die in unterschiedlichen
Mischungsverhältnissen zueinander stehen.
Ovid geht, wie Anaxagoras auch, davon aus, dass es am Anfang der Welt nur
das Chaos, die Mischung, gab, die dann von einem 'Schöpfer' entmischt wurde.
Ganz nach den 'Strukturgesetzen' wurde auch die Erde nach Ovid entsprechend
dem Himmelsraum entmischt und in vier, bzw. fünf Zonen geteilt, wobei in den
belebbaren Zonen wiederum neue Mischungen entstehen:

"Die in der Mitte sich zieht ist nicht bewohnbar vor Hitze; zwei deckt
mächtiger Schnee; zwei legte er zwischen die beiden, denen er Mäßigung
gab, mit der Glut die Kälte vermengend."(55)
54 Auch die Grundlage der sogenannten 'naturalistischen' oder der 'realistischen' Malerei ist
eine Abstraktion, nämlich die Reduzierung des Gesehenen auf die für die Perspektive
wesentlichen Strukturmekmale, die dann zu einer Projektion des Konkreten - zur Schaffung
einer 'neuen' Welt, einer neuen Komplexität - verwendet wird.

55 Interessant ist die Feststellung, dass die physische, äußere Kugelgestalt der Erde, auf deren
Oberfläche wir leben, noch gar nicht so lange eine anerkannte Tatsache ist. Abgesehen von
dem Faktum, dass die Biosphäre - aus unserer Vogelperspektive betrachtet - diese
Oberflächenkrümmung mitmacht, sind Noo- und Semiosphäre wohl eher als 'Hohlkugeln', in
denen wir leben, zu denken. Auch die modernen, astrophysikalischen Annahmen wiederholen
das Motiv des Universums als einem belebten Innenraum. Dies ist aber eine archaische
Vorstellung, die an das Modell der dreigeteilten Welt anknüpft, das sich, von schamanischen
Kulturen ausgehend, in indischen, persischen usw. Weltmodellen und im europäischen
Mittelalter sowie in Märchen findet. Der kardinale Unterschied ist der, dass wir den Bereich
der 'Mittelerde' nicht mehr als flach und 'tellurisch' begreifen, sondern als kugelförmig. Ovid
hat offensichtlich den strukturalen Aufbau der Semiosphäre auf die Oberflächengestalt einer
Alienne Laval
In den Metamorphosen

"ist die Beschreibung einer Sache das Strukturschema dieser Sache."


(Sceglov 1986:365)
Mit Schema oder Formel sind hier Merkmale gemeint, die sich in einer Reihe
von Dingen finden und diese synchron oder diachron miteinander verbinden.
Diese Merkmale sind die Einheiten der Semiosphäre, die den Platz einer Sache
im System und ihren Unterschied zu anderen Sachen bestimmen. Der Kontrast
zwischen den Dingen kommt besser zum Vorschein, wenn sie mit den gleichen
Einheiten beschrieben werden.(56) Zum einen kommen so die Besonderheiten
eines Objekts, seine Individualität, zum Ausdruck; zum anderen wird dadurch
aber auch gezeigt, auf welche Art und Weise es sich in andere Objekte
verwandeln kann (Sceglov 1986:365).

"Wenn es heißt, dass der Stein 'fest' und 'formlos' ist, wird man dadurch auf
den Gedanken gebracht, dass es auch weiche Gegenstände gibt und solche,
die eine Form haben. Der ganze Effekt der Ovidschen Metamorphosen
besteht darin, dass die Dinge einander unähnlich sind und sich gleichzeitig,
da sie miteinander verglichen werden können, leicht ineinander
verwandeln. Das Epitheton, das die Objekte so verschieden macht (z.B. den
Menschen mit geradem Rücken, den Delphin mit gebogenem), dient
gleichzeitig auch als Brücke von einem Objekt zum anderen." (Sceglov
1986:366)

Unwahrscheinliche und phantastische Phänomene können so auf eine Abfolge


sehr einfacher und ziemlich realer Prozesse zurückgeführt werden (Sceglov
1986:367), wobei ersichtlich wird, mit welchen Mitteln die erste Wirklickeit in
eine zweite transformiert wird und wie dann die Transformationen in der
zweiten Wirklichkeit gelingen können. Die Reduktion der Objekte/Menschen
auf strukturale Merkmale erzwingt das Schaffen archetypischer
Ordnungsmuster, die der Welt vorausgesetzt werden und sich dann per
Metamorphose in die Welt mit all ihren Formen verwandeln können.

Die Semiosphären bilden sich zu dem Bereich der Wechselwirkung analogen


'universalen' Gebilden um; dass sie jedoch durch 'Gesetze' und Konventionen
geregelt sind, fällt erst dann auf, wenn z.B. wiederum ein operationaler
Inversionscode auf sie einwirkt, wie Kuper (1993) vorführt. Dieser
Dekonstruktionsversuch legt die Strukturen und Oberflächen der Semiosphäre

Kugel projeziert, die psychische Hohlkugel sozusagen auf eine physische Kugel übertragen.

56Z.B. kann schon ein Faustkeil oder Schaber für die verschiedensten Tätigkeiten verwendet
werden. Er 'beschreibt' damit also unterschiedliche 'Objekte' auf die gleiche Weise.
Alienne Laval
wieder offen dar, so dass sie gezwungen ist, sich auf ihrer Strukturebene zu
äußern, wobei dann die Rekurrenz als analytisches Mittel und der
Inversionscode als Input eines Gegen- oder Antimodelles fungieren kann.
Wenn aber - und von dieser Prämisse wird in diesem Aufsatz ja ausgegangen -
Rekurrenz und Inversion die treibenden Kräfte im Prozeß der Evolution sind,
dann haben wir in diesen Semiosphäreen ideologische, antievolutionäre
Konstellationen vor uns, wenn sie nicht einer rein pragmatischen Orientierung,
wie es die Aufnahme aufklärerischer und humanistischer Grundsätze in den
staatlichen Verfassungen vorsieht, dienen.

"The 'ideological' standpoint is characteristic of the conscious attempts to


transcend the mythological world-view. But...this transcendence results
only in immersing consciousness in some other mythology...Here the soul
of any participant in the events can turn out to be the locus where the
break-up begins. Just let its occasional state (i.e. the state it happens to be
in at this moment) be manifested as something natural (that is, in
accordance with cyclical natural laws), let the owner of this soul perceive
some external phenomenon as a pattern for the transformation of the
conventional signification of his momentary state into the unconditioned
significance of the primordially necessitated natural act of destruction - and
he would become that very 'weakest point' where the fabric of the universe
is ruptured first." (Zilberman 1984:268)

Während sich zirkuläre, geschlossene Semiosphären mit festen Mythemen und


Inhalten ausbilden, die durch 'relatio' geregelt sind, entwickeln sich parallel dazu
die 'narrativen' Strukturen in verfeinernden 'schamanischen' Praktiken weiter.
Die eigentliche Grundstruktur der Semiosphären kann auf jeder beliebigen durch
'Kultur' ausgebildeten Systemebene durch fortschreitende Entmischung
vergessen werden.
Erst die Herumbewegung bis zum Tod und der Vernichtung der 'Welt', ihre
gänzliche und universale Zerlegung in strukturale Merkmale, gleichzeitig
Katastrophe und Anastrophe (bei O'Flaherty 1984 'doomsday'), eine 'soziale
Auszeit als Intervallmarkierung' (Kuper 1984:667) ermöglicht gezielte
Fragestellungen, aber auch die Re-Etablierung von Ideologie etc.

Ränder, Reste und unscharfe Mengen

Die jeweils gültige Stufe der Rekurrenz, denn die initiale Inversion wird in der
Semiosphäre zur Rekurrenz, kann erst vor einer Folie, einer Querschnittsfläche
durch den Fluß, deutlich werden. Das 'Jetzt' der Querschnittsfläche ist bestimmt
durch reine Quantenmechanik. Diese wird konstituiert durch sich gegenseitig
aufhebende, widersprüchliche Bewegungen und ist auf rein formale Weise
logisch. Erst durch das Anlegen einer 'Skala' wird Bewegung denkbar. Die
Alienne Laval
Vision hebt hinaus aus dem 'reinen' Raum und ermöglicht Wertungen, Ziele und
Modelle.
Deshalb kann Lévi-Strauss (1968:269) auch sagen:

"Theoretisch, wenn nicht gar praktisch ist die Geschichte dem System
untergeordnet."

Es sind eben nicht nur bewußte Kontrollriten, wie Lévi-Strauss annimmt, die
Synchronizität gewährleisten; sondern auch die 'Krümmung der Semiosphäre in
sich selbst' gewährleistet solches. Derartige Mechanismen, die auch als 'strange
loops' (Möbiusschleifen, paradoxe Repräsentationen) bezeichnet wurden,
bestimmen die Abläufe an den 'Rändern' der Semiosphären und koppeln sie mit
den heimischen Feuerstellen und Herden. Ähnlich wie in einer
Geister-/Achterbahn befördern sie den Fahrgast bis zum Rand und zurück in die
soziale Sicherheit.

"Der semiotische Raum charakterisiert sich durch die Anwesenheit von


Kernstrukturen (häufig nur einiger) mit bestimmter aufgedeckter
Organisation, und dem Tendieren zur Peripherie einer amorphen
semiotischen Welt, in die die Kernstrukturen eingetaucht sind." (Lotman
1984:12f)(57)

Die

"Einteilung in Zentrum und Peripherie ist ein Gesetz der inneren


Organisation der Semiosphäre. Im Kern befinden sich die dominierenden
semiotischen Systeme." (Lotman 1984:12f; s.a. 1990:295)(58)

Von der Semiosphäre aus betrachtet ist die Grenze oder der Rand, an dem die
Unordnung, das Chaos beginnt, der Bereich, in dem ihre Möglichkeiten enden.

57 Siehe dazu auch meine Ausführungen zu indianischen Dorfstrukturen (Winnebago) und


ihren Wandlungen (Uchtmann 1990) und Lotmans (1984; 1990) Beispiele.

58 Es ist bedauerlich, dass Lotman häufig von Kernstrukturen, nun aber von im Kern
befindlichen semiotischen
Systemen spricht. M.E. kann es im Kern der Semiosphäre gar keine wirksamen Strukturen
geben, da diese nur in der Semiose plausibel sind. Die Strukturen (die Unregelmäßigkeiten)
sind in der 'ideellen Einheit' (dem System) zugedeckt, die mit festen Begriffen und
Oppositionen agiert. Der Begriff 'Kernstruktur' sollte daher als 'Kernsystem' gelesen werden.
"Unter Selbstbeschreibung des Systems wird die 'Beschreibung aus dem inneren
Gesichtspunkt heraus und in den Termini, die im Prozeß der Selbstentwicklung der gegebenen
Semiosphäre ausgearbeitet wurden', verstanden." (Fleischer 1989:153, Lotman 1984:12f)
Alienne Laval
"Die Grenze hat aber auch noch eine andere Funktion in der Semiosphäre:
Sie ist das Gebiet der beschleunigten semiotischen Prozesse, die immer an
der Peripherie des kulturellen Raumes aktiver verlaufen..." (Lotman
1984:11; s.a. 1990:293)

Präziser ausgedrückt - und im Rahmen dieses Aufsatzes - heißt das, dass erst
hier semiotische Prozesse, Semiosen demnach, stattfinden können.
Durch 'Inversionen' können sie rückbindend wirken, weil sie jede
gesellschaftliche oder individuelle Position oder Bewegung mit ihrer Antipode
koppeln und über das traumhafte oder albtraumhafte Erleben des anderen Pols
soziale sowie kognitive Kohärenz und den Bestand der Semiosphäre
gewährleisten.(59)
Die Semiosphäre stabilisiert sich über die Randphänomene und ihre Inversion
keineswegs ausschließlich, sondern die Mittel ihrer Stabilisierung und
Destabilisierung sind exakt die gleichen:

"Die Kultur stellt nicht nur ihre eigene Organisation, sondern auch ihren
Typus der äußeren Desorganisation her." (Lotman 1984:11; 1990:293)

Von hier aus können die Semiosen die Kernsysteme erreichen und sie
verdrängen. (Lotman 1984:11; s.a. 1990:293)
Die Kernsysteme bauen sich wiederum nach einem bestimmten Schema auf:

"Wenn eine dieser Kernstrukturen nicht nur eine dominierende Position


einnimmt, sondern sich auch durch das Stadium der Selbstbeschreibung
hervorhebt, und, was daraus folgt, Systeme von Metasprachen entwickelt,
mit deren Hilfe sie nicht nur sich selbst beschreibt, sondern auch den
peripheren Raum der gegebenen Semiosphäre, dann baut sich über der
Unregelmäßigkeit der realen semiotischen Karte die Ebene ihrer ideellen
Einheit auf." (Lotman 1984:12f; s.a. 1990:294f)

Die innere Unregelmäßigkeit, eigentlich organisierendes Prinzip der


Semiosphäre, wird in der Metasprache nivelliert:

"Die aktive, gegenseitige Beeinflussung zwischen diesen Ebenen stellt eine


der Quellen der dynamischen Prozesse innerhalb der Semiosphäre dar."
(Lotman 1984:12f; s.a. 1990:294f)

Der 'Wachzustand' (s.a. Bystrina 1989:265) - als positiv markierter und


markierender Wert - meint die Semiosphäre im Status ihrer jeweiligen

59 Dieser äußerste Kreis wird in der indischen Kosmologie Lokaloka (Welt-nicht-Welt)


genannt (s.a. O'Flaherty 1984:205; einen anderen Aufbau findet man bei Gombrich in:
Blacker u. Loewe (ed.) 1977)
Alienne Laval
Gegenwart, ihr ideales Zentrum. Die Tiefendimension der Strukturen kann auf
dieser Ebene nur als redundantes und randständiges Merkmal durchleuchten.
Nach Lévi-Strauss (s.a. 1968:274) sind es Traum und Tod, die über
Kontrollriten und Inversion Dauer und Periodizität des (sozialen) Lebens
gewähren.
Ritual und Inversion haben die Funktion, "drei Gegensätze zu überwinden und
zu integrieren: den von Diachronie und Synchronie; den von periodischen und
aperiodischen Merkmalen, die sie beide zeigen können; und schließlich,
innerhalb der Diachronie, den der reversiblen und der irreversiblen Zeit..."
(Lévi-Strauss 1968:274)
Jede Semiosphäre realisiert sich je nach dem Status ihrer inneren Organisation.
Lévi-Strauss (1968:274) unterscheidet Trauerriten, die den Tod begleiten und
die Gegenwart in die Vergangenheit befördern, von 'historischen' Riten, die die
Vergangenheit in die Gegenwart tragen. Beide Ritualformen stellen
'Überwindungen' dar. Die Trauerriten, die an den Tod gekoppelt sind,
destrukturieren und überführen in den Bereich einer 'potentiellen Information',
eines in gewissem Sinne potenzierten, 'absoluten' Systems. Das durch die
Polarisierung Aufgespannten ist integraler Bestandteil der Semiosphäre.
Die 'historischen' Riten hingegen, die sich auf die die Semiosphäre
begründenden Situationen und Archetypen beziehen und sich aus dem Traum
(dem Nach-Tod) speisen, erhalten Vergangenes gegenwärtig. Lévi-Strauss
(1968:274) schreibt:

"...von den mythischen Helden kann man wahrhaftig sagen, dass sie
zurückkommen, denn ihre Realität liegt in ihrer Personifizierung; aber die
lebenden Menschen sterben für immer."

In den Toten- und Todeskulten verkörpert sich die Ordnung der Zugehörigkeit,
die dauerhafte Bindung an die Gruppe, an die man selbst im Tod noch gebunden
bleibt (Macho 1991:507). Diese Bindung ist aber die rituelle Bindung an die
Semiosphäre, die restlose Zergliederung/Zerstückelung und universale
Kommensurabilität fordert.
Das 'Leben' befindet sich sozusagen zwischen den externen Merkmalen des
Todes und den internen Merkmalen des Traumes, wobei nur die Semiose über
den Mythos das Externe mit dem Internen verbindet und den Bruch überwindet.

"Yet narrative does not function in dreams precisely as it functions in myth.


The compelling causative sequence of events is absent from dreams; the
thread of the plot is replaced by a pattern of images that suggest but never
actually spell out the story. For this reason, too, proofs cannot be
accomplished within dreams, for proofs depend upon the skeletal structure
of cause and result that dreams lack. Myths add to dreams precisely the
structure that makes such seeming proofs possible." (O'Flaherty 1984:127)
Alienne Laval
Differenz ist Transformation

Die Strukturen haben immer die Möglichkeit, jedes Modell zu korrigieren,


indem sie mit den generierenden Situationen konfrontieren, neu polarisieren und
ausrichten. Es sind dies jene Merkmale (Reste), die im Laufe der Evolution
invariant geblieben sind und sich nicht inventarisieren ließen. Jede
Inversionsoperation bedient sich dieser Invarianten und konfrontiert dadurch
narrativ die Struktur (die Semiose) mit dem System (der Semiosphäre).
Wie die Boscovich-Kovarianz zeigt, ist ein Zeit- und Raumbezug in den
Semiosphären nicht mehr gegeben. Die jeweils gültige Interpretation der Welt
dünkt sich in kontingenter Adaptiertheit und wirkt daher wie ein Feld
quantenrealitärer, funktionaler Merkmale. Die binären, semantischen
Oppositionen der Strukturen treten mit der Kulturemergenz zunächst als
Relationspaare auf und sind asymmetrisch und ambivalent (Kuper 1993:23f).

"Zu den frühen menschlichen Erkenntnisleistungen gehört es, verstanden


zu haben, dass die Welt in Oppositionen aufgebaut ist, deren einer Pol
markiert und später auch gewertet wurde. Von der Idee der die Art der
Informationsaufnahme strukturierenden Oppositionen war es nur ein
kleiner Schritt bis zum Wunsch beziehungsweise Versuch, die ungünstige
Asymmetrie der Gegensätze, zum Beispiel gegenüber der Leben/Tod-
Problematik zu verändern. So kam man auf die verschiedenen Operationen,
deren Funktion an den Strukturen darin besteht, bedrohliche Asymmetrien
symbolisch oder in der zweiten Wirklichkeit zu beseitigen." (Kuper
1993:24)

Zeit- und Raumumkehrungen werden möglich, 'Naturgesetze' gelten nicht


(werden aufgrund dieser Verzerrung später aber entdeckt [Mechanik] und noch
später wieder verdeckt [Quantenphysik]), Vergangenes kann wieder
gegenwärtig sein, Totes weiterleben oder wieder auferstehen, Großes kann klein
sein und Kleines groß, Fernes nah, Männer Frauen usw.
Die Handlungsoperation der Inversion, die in den kovarianten Ebenen der
standortspezifischen Perspektive und der des geschwindigkeitsspezifischen
Inertialsystems gar nicht denkbar ist, kann in diesem Bereich alles ergreifen und
erzeugt daher im 'mikrokosmischen Innenraum' der Semiosphäre eine Art
'Quantenmechanik'.
Der Mensch, der ab diesem Raum-Zeit-Punkt an zwei existentiellen Prozessen
beteiligt ist, muß zum einen das physische Überleben in der ersten Wirklichkeit
sichern, was durch die primären und sekundären Codes, die geometrisch und
hypergeometrisch wirksam sind, gewährleistet ist; zum anderen muß er das
psychische Überleben in der neuen, zweiten Wirklichkeit sichern, was durch
tertiäre, nicht-operationale Codes bewerkstelligt wird. In den Semiosphären
treffen beide Wirklichkeiten aufeinander, deren Beziehungen durch Semiosen
Alienne Laval
aktualisiert werden. An dieser Stelle wird es möglich, dass der Mensch in der
ersten Wirklichkeit zwar stirbt, in der zweiten aber in Form von Texten (Mythen
etc.) weiterexistiert.

"Eine... Veränderung einzelner Eigenschaften läßt sich leicht realisieren, ist


aber andererseits für die Welt von größter Bedeutung. Wenige abstrakte
Eigenschaften...durchdringen die ganze Welt und liegen den vielfältigen
konkreten Erscheinungsformen der Einzeldinge zugrunde." (Sceglov
1986:369)

Wenn sich nämlich eine dieser abstrakten Eigenschaften verändert,

"so wirkt sich das deshalb unverzüglich in verzehnfachter Form auf die
konkreteren Ebenen der Dinge aus und ruft hier eine ganze Skala
verschiedenartigster Veränderungen hervor. Zugleich verändert sich die
Sache in zehnfacher Hinsicht, sie verläßt einen Bereich und findet Platz in
einem neuen...Bei einer Metamorphose verändert sich die ganze Gestalt
einer Sache bis hin zu den kleinsten Details. Sie kann der ursprünglichen
Form völlig unähnlich werden." (Sceglov 1986:369f)

Sceglov (1986:375) nimmt an,

"dass die Metamorphose in der normativ ausgelegten Welt Ovids immer als
Mittel zur Wiederherstellung des Gleichgewichts dient, das an einzelnen
Stellen dieser Welt zerstört worden ist."

Wenn wir aber von dem Grundsatz der Asymmetrie der kulturellen Codes
ausgehen, dann schafft jedes Gleichgewicht nach dem Evolutionsprinzip neues
Ungleichgewicht und sprengt per Inversion irgendwann den Rahmen der
Semiosphäre durch Einbeziehung neuer Faktoren und anderer Strukturelemente.
Deshalb ist es forschungsrelevant, das Augenmerk vom Erhalt von Ethnizität
und Semiosphäre hin zur diachronen Dimension der Semiose zu lenken. Die
Erlangung eines Gleichgewichts wird dann zwangsläufig zu einem fiktiven
Geschehen des ritualisierten Bereiches oder der Inversion. Auf der anderen Seite
aber lassen sich auf dieser Basis Werte konzipieren, die in irgendeiner Zukunft
gültig sein könnten. Nichts desto weniger geben aber die invertierenden,
semiotischen, evolutiven Tätigkeiten und damit die Operationscodes, die
Richtung vor, in die es gehen kann. Derartige Untersuchungen müssen sich dem
Randgeschehen zuwenden, das die Kerne transformieren kann.
Eine Strategie oder ein Programm der Zukunftsbewältigung, das im Rahmen
einer festgelegten Schwimmstrecke 'abgearbeitet' werden und in dem obendrein
ein 'Sieg' errungen werden kann, kann das nicht sein, denn Strategie und
Programm sind nur möglich mit einer Zielvorgabe innerhalb eines Systems.
Alienne Laval
In der vorliegenden Interpretation wurden der Tod und seine initiale Erfahrung -
und das impliziert auch Initiation - in den Mittelpunkt gerückt; er wurde zum
Fixpunkt, zum Nagelstern, um den die ganze kosmische Sphäre sich dreht. Alle
Erscheinungen haben dieses, sich in den Köpfen findende, 'schwarze', Himmel,
Erde und Unterwelt verbindende, 'Loch', zum Eintritts- und Ausgangspunkt.
Dieses Loch läßt sich mit Bergen, Bäumen, Weltenbäumen, Seelen, Licht und
Sternen - auch in anderer Sichtweise als heute - füllen, denn Semiose bedeutet
Transformation.
Kovariant/invariant wird aber immer der Tod zur primordialen Struktur und zum
universalen Lösungsmittel, in die das 'ul' sich durch die Invarianten der ersten
Wirklichkeit drängt, um die sich andere Strukturen ranken und langsam neue
Objekte, Systeme und Semiosphären bilden. Der Tod selbst ist kein System; er
ist der Übergang des Komplexen ins Abstrakte bewußt gewordener strukturtaler
Merkmale.
Seine Uferlosigkeit muß gebannt werden, indem die Strukturen in Systemen (am
heimischen Herd) ihre Begrenzung und ihren Sinn finden. Heute sind es noch
immer die Ideologien, die schwammig und schwer durchschaubar genug, durch
proklamierte Vollständigkeit den Ausgleich versprechen und durch Begrenzung,
selbstbestimmte Einschränkung und Repression Unregelmäßigkeiten erzeugen,
aufwerfen und thearapieren/vernichten. Es ist die Reduzierung auf eine
konsensuelle Wahrnehmungsweise und der sozial verstärkende, geübte Umgang
mit der Inversion, die Akzeptanz des synchronen Codes, die zum
selbstverschuldeten, dummen Glück innerhalb des Systems einer
gemeinschaftlichen Ideologie führt.

Eingangs wurde mit Smirnov (1988:107) davon ausgegangen, dass die


Geschichte erst auf den Plan trat, als sich die Literatur als eigenständiger
Diskurs emanzipierte. Nun können wir davon ausgehen, dass es die Diachronie
war, die sich hier einer ursprünglichen Synchronie (der 'Mischung') zugesellte
und die 'Geschichte' nur eine Variante der Diachronie ist. Keine nach dem
Sonnenlauf zirkulierende Uhrzeit (eigentlich auch ein Raum) ist gemeint,
sondern die Anlegung eines 'Zeitpfeiles', einer 'Weltenachse', die Navigation im
Raum des Bewußten/Unbewußten ermöglicht. Der Mensch wird in der Semiose
zum Schamanen, zu einem Fahrzeug in der zweiten Wirklichkeit.
Das erdrückende Chaos der Ordnung fiel den Menschen daher auch erst auf, als
sich im Evolutionsprozeß eine Möglichkeit der Transzendenz auftat.
Rössler interpretierend liegt es nahe - und die Implikationen des Todes und des
daraus erwachsenden Selbstbewußtseins weisen darauf hin -, dass es gerade die
Boscovich-Kovarianz war, der die Quantenphänomene ihre 'erneute' Existenz
verdanken. "Darüber hinaus könnte das exakte 'Herausfallen' des
Boscovichschen Prinzips aus der Quantenmechanik als ein Hinweis gewertet
werden, dass zwischen der Quantenmechanik und dem Boscovichschen Prinzip
eine tiefere Verbindung besteht." (Rössler 1992)
Alienne Laval
Dieses exakte Herausfallen des Selbstbewußtseins, der synthetischen Kapazität
und des Boscovichen Prinzips aus der Quantenmechanik kann auch damit
begründet werden, dass kollektives Unbewußtes imstande ist, individuelles
Bewußtsein zu produzieren, aber: alles, was internalisiert wird, wird unbewußt.
Aber genau hierdurch erklären sich Evolutionsprinzip und Quantenmechanik
gegenseitig und schließen sich nicht aus.
Ebenso wie aus der ersten Wirklichkeit fällt der tertiäre Operationscode aus der
zweiten Wirklichkeit heraus, obwohl er durch sie immer wieder aufs Neue
verursacht wird.
Grundlage auch dieser neuen Codeebene ist also wiederum ein objektives,
invariantes, empirisches Ereignis als fixe Bezugsgröße. In einem relativen
Bezug zu den langsamen, astrophysikalischen und geologischen Amplituden ist
sie genau so eine absolute Invariante, wie geometrische und hypergeometrische
Erscheinungen. Sie ist an die Herausbildung des Todeswissens gekoppelt,
wodurch der tertiäre Code später gezwungen ist, als Mittler zwischen erster,
zweiter Wirklichkeit und den Semiosphären zu fungieren. Die Fähigkeit zur
Semiose und das schamanische Prinzip sind der invariante, evolutive Rest.
Mythos (Narration), Ritual (Drama) und Magie (Lyrik) sind die fixen Größen,
die die Semiosphären aufspannen und sie in Bewegung bringen bzw. ihre
Konstanz (Dauer) ermöglichen. Das Phänomen des Rituals ermöglicht die
Etablierung und Sozialisierung erwünschter Rollen, aber auch ihre
Dramatisierung und Transzendierung. Das Ritual ist einerseits der Überstieg in
die vertraute Welt der lyrischen Selbstreferenz von Küche, unbewußter
Zerlegung und Analyse, andererseits aber auch zur Vision neuer Inversionen,
Synthesen und Möglichkeiten. Zerstückelungsmotiv und die Vision des
Weltenbaumes treffen sich im Ritual: hier findet sich die Initiation hin zur
intentionalen Achse.(60)

60 Die rein technische Umsetzung ist schon deswegen ein Problem, weil sie auch ohne
individuelle Erkenntnis angewendet werden kann. Eine initiatorische Erkenntnis ist nicht
mehr Voraussetzung.
Alienne Laval
Ohne die Semiose verlieren die Semiosphären ihre Anbindung an die sie
generierende Noosphäre der zweiten Wirklichkeit. Sie halten sich dann für mit
der ersten Wirklichkeit identisch und empfinden sich gleichsam als Abbilder
eines natürlichen Geschehens, zu dem sie aber keine Verbindung mehr haben
und parallel existieren. Im Sinne Baudrillards (1982) könnte man von solchen
Semiosphären als 'Simulakren' sprechen, da sie keine Referenten mehr haben.
Diese Simulakren sind es, die sich schizophren von ihrer Traumzeit entkoppeln,
die nur durch den individuellen Initiationstod zugänglich ist: der semiotische
Zugang zum Traum wird durch den Tod markiert.
Der Überstieg zur zweiten Wirklichkeit, der die Bildung der Semiosphären im
Gefolge hat, ist ein strukturaler (z.B. das Austreten der Schamanenseele als
Schlange) - obzwar an ein empirisches Ereignis (den Tod) gekoppelt -, der sich
aber empirisch nicht deuten läßt.
Jede hier geschaffene Einheit, jeder Begriff ist eine synthetische Leistung, wie
die durch die Initiation errungene, bewußtseinskontinuierliche und luzide Seele.
Erst diese Seele kann in den Abgrund, die Spalte zwischen den Welten, den
Abyssos springen, da sie, wenn einmal errungen, ein untilgbarer Rest ist.
Semiose, Kulturprozeß und Synthese sind auf die Überbrückung des 'Spaltes'
angewiesen: während die Semiosphären die Spaltung leben, überbrückt der
Schamane die Spalte.
Für uns in unserer rationalen, magisch-lyrischen Welt der Kernspaltung,
Gentechnik, Arztromane, Milchmädchenrechnungen, des Öko-Stumpfsinns der
Mogelpackungen und TV-Banalitäten findet sich die Achse im Chaos der
Massenwirkung in den undurchschaubaren und sogenannten 'strange attractors'
der Chaosforschung.
Es sind nicht die Pole 'Heilig und Profan' (Eliade), die in Mythos, Ritus und
Semiose aufeinandertreffen, sondern Struktur und System. Das System in seiner
unbewußten Geschlossenheit bemerkt die Strukturen nicht, die es generieren. Es
ist sich der Strukturen zwar bewußt, aber ihrer nicht selbst-bewußt.
Ihrem, dem Tode nahen und im Tode fußenden, ambivalenten Mysterium
(fascinans/tremendum) gilt es auszuweichen, um den zyklischen Bestand der
geschlechtlichen Polarität, der Gemeinschaft und des Krieges zu sichern.
Externe wie interne Strukturen - die unbekannten Beweger der Systeme -
ängstigen, obwohl in allen 'profanen' Systemen des Wachzustandes die
strukturalen Invarianten des Kulturprozesses mitschwingen. Es sind diese
Wurzeln (und damit auch das Motiv des Weltenbaumes als axis mundi), die im
geschichtlichen Verlauf als Mittel des Wissens tabuisiert und zum nächtlichen
Alienne Laval
Beiwerk der Systeme wurden oder vom Spiel zum Sport profanisierten. Es sind
aber genau die Tiefenstrukturen, die erst einen tatsächlichen Zugang zu den
Kulturen eröffnen. Jeder Betrachter kann zwar ein Objekt, ein Bild oder ein
beliebiges System genauestens beschreiben, einen Text auswendig dahersagen
oder ein beliebiges Modell mit Leben füllen, muß aber nichts über ihre Inhalte
auszusagen vermögen. Der 'Sinn' erschließt sich erst über eine Kenntnis
zumindest der textinternen Strukturen (s.a. Bystrina 1989:116f).
"Nach allen bisher bekannten Belegen und den systematischen Verbindungen
müssen wir annehmen, dass der Mensch ursprünglich nicht in unbeweglichen
Oppositionsbegriffen gedacht hat, sondern dass für ihn sowohl binäre
Oppositionen als auch komplexe Strukturen (Triaden etc.) dynamische Gebilde
bedeuteten. Es gab z.B. kein Oben und Unten an sich, keine begrifflich-statische
Opposition oben/unten, sondern Prozesse, in denn sich die Opposition
realisierte: Verbindungen und Überwindungen, Entfernungen und
Annäherungen, Entstehen (Schöpfung) und Untergang, Himmelfahrt und
Unterweltfahrt, (ewiger) Kampf und zeitweilige Harmonie zwischen den Polen."
(Bystrina 1989:243)

Gerade in der Zukunft werden wir erneut angewiesen sein auf die individuellen
Fähigkeiten zu Semiose und Transformation und können uns angesichts der
selbst inszenierten Probleme und der Schaffung neuer Invarianten keine
statischen Systeme mehr leisten.
Alienne Laval
Verwandlung und Entwandlung
zur Kulturgeschichte einer Opposition

Die Fähigkeit des Menschen zur Verwandlung ist eine der grundlegenden
anthropogenetischen und kulturellen Leistungen. In rezenten, autochthonen
Ethnien hat sie sich erhalten in den kollektiven oder schamanischen Kapazitäten,
Träume und ekstatische Zustände hervorzubringen; in den industrialisierten
Gesellschaften ist sie in der Regel in massenmedialen, musikalischen,
sportlichen, sexuellen oder drogeninduzierten Ereignissen und im Konsum
kanalisiert.
Mit der Entwicklung komplexerer Gesellschaften wurde aber auch eine
Opposition zur Verwandlung fabriziert, die als Entwandlung bezeichnet werden
kann. Während die Ekstase aus der Befähigung zum 'Außer-Sich-Sein' gespeist
wurde, referierte die Entwandlung auf die Erschöpfung und den Zustand des 'In-
Sich-Seins'. Die Manipulation dieses Feldes zwischen Anspannung und
Entspannung - beides sicherlich prähumane Optionen - ist eine wesentliche
Grundlage jeder gesellschaftlichen Steuerung und wirkt damit auf Geschichte
und Kultur formierend.
Durch Verwandlungsverbote und -gebote wird nicht nur der semiotische 61
Aufbau der Gesellschaften geregelt, sondern auch die kognitiven Beziehungen

61 Semiotik = Lehre von den Zeichen, den Zeichenprozessen (Semiosen) und den
Zeichenräumen (Semiosphären). Erste nachgewiesene Verwendung des Begriffes Semiotik
durch den griechischen Arzt Hippokrates. Hippokrates (ca. 460 bis 370 v.u.Z) bezeichnete die
von ihm entwickelte Symptomatologie als Semeiologie, als Lehre von den Krankheitszeichen.
Darin stellte er u.a. fest, dass die Krankheitszeichen unabhängig von Hautfarbe und
ethnischen Merkmalen bei allen Menschen gleich sein und gleich gedeutet werden müssen.
Ein weiterer griechische Arzt, Galenos (Galen) (130 bis ca. 200), bestimmte die Semiotik als
jene der sechs Hauptabteilungen der Medizin, die sich mit der Diagnostik (dem Hier und
Jetzt), der anamnetischen Vergangenheit (Fallgeschichte) und der prognostischen Zukunft
befassen müsse. Auch John Locke (1632 bis 1704), der 1690 den Begriff Semiotik für seine
Erkenntnislehre nutzte, war eigentlich Arzt. Giambattista Vico (1688 bis 1744), ein Kritiker
Lockes und Descartes, forderte in seiner Schrift De antiquissima Italorum sapientia (1709)
eine semiotische Fundierung der ‘Humanwissenschaften’: “ich, der ich denke, bin Geist und
Körper: und wenn das Denken die Ursache dafür wäre, dass ich bin, so wäre das Denken
Ursache des Körpers. Nun sind es aber die Körper, die nicht denken. Also: weil ich aus
Körper und Geist bestehe, deshalb denke ich; so ist die Tatsache, dass Körper und Geist
verbunden sind, der Grund des Denkens: denn wenn ich nur Körper wäre, dächte ich nicht,
und wenn bloß Geist, würde ich einsehen. In der Tat ist nämlich das Denken nicht der Grund
dafür, dass ich Geist bin, sondern das Zeichen...”
Alienne Laval
zu diesem Aufbau und zur Umwelt werden onto- und phylogenetisch durch
diese Setzungen bestimmt.
Es soll nun versucht werden, anhand verschiedener Beispiele und theoretischer
Überlegungen die Evolution der Opposition Verwandlung - Entwandlung zu
konturieren.

Gebote und Verbote zu Verwandlungen und Entwandlungen regeln und


determinieren Zeichenprozesse (Semiosen) und steuern auf diese Weise
Gesellschaften und ihre Entwicklungen. Die semiotischen Organisationen
menschlicher Gemeinschaften , die ich nach Yuri Lotman (1984) - aber unter
Einbeziehung des ethnologischen Konzeptes der Ethnizität - als Semiosphären
(Zeichenräume) bezeichne (Uchtmann 1993;1995), zeigen, dass sich die
Semiosphären in lokalen, asynchronen, evolutionären Prozessen entwickeln, die
in immer weiterer Ablösung von den Umweltfaktoren (erste Wirklichkeit) in
Richtung auf eine Autonomie hin streben, die sich aus sozialen, kulturellen,
ökonomischen und psychischen Abläufen speist, die eine zweite, texthafte
Wirklichkeit generieren (s.a. Uchtmann 1999:40ff). Die Wurzeln dieser zweiten
Wirklichkeit - und damit der Kultur - finden sich in den Fähigkeiten zu Traum,
Spiel und Devianz, die sich zumindest bei den höheren Säugetieren und
insbesondere bei den Primaten nachweisen lassen. (s.a. Bystrina 1989:225ff)
Die Semiosphären lösen sich daher in gewisser Weise von den materiell-
energetischen Vorgaben der Umwelt ab, indem sie sich durch vorgefundene, mit
Zeichenfunktion belegte Gegenstände oder geschaffene Zeichen, beide
verstanden als 'materiell-energetische, sinnlich wahrnehmbare Objekte
(Systeme), die von Zeichengebern intendierte Informationen über ein
Bezeichnetes enthalten' (Bystrina / Kuper 1990:654), abgrenzen. Der Mensch
muß in den Semiosphären psychisch überleben, während er gleichzeitig in der
Biosphäre materiell und physisch überleben muß.
Der Grad und die Art dieser Ablösung ist in den synchronen (rezenten)
Semiosphären unterschiedlich. Vor allem im Vergleich mit den gerade noch
existenten autochthonen Ethnien oder ihren ethnographisch überlieferten Denk-
und Lebensweisen läßt sich das zeigen.
Die Schaffung von Semiosphären aber setzt zunächst einmal Zeichenprozesse -
Semiosen - voraus, die narrativen (erzählenden) Charakter62 haben. Narrativität
aber war am Raum-Zeit-Punkt der Kulturemergenz gleichbedeutend mit der
Fähigkeit zur Verwandlung.

62 Narration bedeutet im semiotischen Sinne nicht nur den Erzählakt und dessen orale oder
schriftliche Tradierung, sondern kann sich auch auf gestische, mimetische, musikalische,
künstlerische und andere gestalterische Leistungen beziehen.
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Die zunächst flexible, orale und erst spät schriftlich fixierte und damit fast
unwandelbar gewordene Tradition dieser Fähigkeit findet sich noch heute in
unseren Märchen, in denen diese urtümliche Kapazität prinzipiell fortlebt. Im
Anschluß an Heino Gehrts (1967) läßt sich folgern, dass das Märchen die Form
ist, die der ursprünglichen, bewegungsgebundenen Lebensweise der frühen
Menschen am nächsten kommt. Das Märchen ist eine Verlaufsform, die sich
struktural auszeichnet. Es gibt dabei kein fertiges System, in das sich eine
Handlung einfügen würde; die Figuren sind Objekte der Verlaufsform, aber
keine Helden im Sinne der späteren Formen des Mythos oder der Sage. Sie sind
also keine handelnden Charaktere oder psychischen Subjekte in unserem
(modernen) Sinne.
Diese 'Inhaltslosigkeit' wird aber wettgemacht durch einen transformativen
Prozeß, der die jeweilige Umgebung oder die Welt in den Text und somit
kognitiv in den Handlungsverlauf einbezieht. Die Transformationen erzeugen
immer neue Wandlungen der Figuren und Landschaften - oder zunächst: die sich
wandelnden Landschaften und Ereignisse erzeugen immer neue
Transformationen der Figuren und erfordern damit andere Verwandlungen. (s.a.
Uchtmann 1995:14)

II

In den industriellen und ‘postindustriellen’ Gesellschaften werden


Semiosphären, ihre Werte und Kategorien, hauptsächlich massenmedial
vermittelt. In seinem 1983 verfaßten Aufsatz, Distanz und Engagement - eine
Opposition, untersucht Ivan Bystrina (1989:211ff) die Erzeugnisse der
publizistischen und medialen Textproduktion, die er als zwischen der
Opposition Distanz und Engagement aufgespannt begreift.

Distanz und Engagement bilden eine echte konträre (polare) Opposition.


Ähnlich wie schwarz und weiß, oben und unten, objektiv und nichtobjektiv etc.
sind sie nie absolut vorhanden, sondern relativ, aufeinander bezogen. Das
Maximum an Distanz bedeutet zugleich ein Minimum an Engagement et vice
versa. Nun befindet sich zwischen oben und unten das Reich der Mitte...
(Bystrina 1989:212)

Die Bestimmung dieser Mitte, also der Semiosphären, hat sich im Verlauf der
Kulturevolution diachron verändert und auch die synchronen menschlichen
Gesellschaften haben kein einheitliches Bild davon, wie diese beschaffen sein
sollten. Die globale Durchsetzung eines bestimmten Typus von Semiosphäre hat
indes nicht unbedingt etwas mit Verbesserung oder gar Evolution zu tun,
sondern ist auch abhängig von den jeweiligen technischen und ökonomischen
Möglichkeiten und dem damit verbundenen Machtpotential. Bystrina zeigt jene
Opposition und den zentralen Code auf, die in den aufgeklärten,
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wissensbasierten Zivilisationen im Ideal gelten. Es findet sich hier allerdings
auch das Feld, in dem sich Ideologien, soziale und psychische Traditionen,
Ökonomie, Politik, Religion, Kult, Technik, Esoterik, Utopie usw. tummeln,
durchzusetzen versuchen und auch durchsetzen können.
Der Grund für diese Möglichkeit ist darin zu sehen, dass der kulturevolutionäre
Ursprung der elaborierten und aufgeklärten Opposition Distanz / Engagement,
die unseren sozialen und individuellen Spielraum gewähren und zulassen soll, in
der wesentlich älteren und urtümlicheren, der von Verwandlung und
Entwandlung - mit der sie genetisch (d.h.: entwicklungsgeschichtlich), diachron
und evolutiv verbunden ist -, zu suchen ist. Unsere elaborierte Opposition gäbe
es gar nicht und sie würde auch nicht funktionieren, wenn sie nicht diese
archaischen, kulturellen Wurzeln, aus denen heraus sie sich entwickelt hat,
besäße, die uns nur zum Teil bewußt, aber dennoch semiotisch wirksam sind.
Die urtümliche Verwandlung ist der Vorfahre des Engagements und die
Entwandlung derjeniege der Distanz; ihre jeweilige genetische Verbundenheit
wird deutlicher, wenn wir das Paradigma unseres kulturellen Codes genauer
betrachten:

Im Paradigma des kulturellen Codes stehen dem Gegensatz Distanz /


Engagement die Opposition Wahrheit / Falschheit, Objektivität /
Nichtobjektivität, Wahrhaftigkeit (Streben nach Wahrheit) / Lüge (intendierte
Unwahrheit) sehr nahe. (Bystrina 1989:213)

Als Folge gehören für uns Enthusiasmus, Fanatismus, autortitäres Verhalten,


Dogmatismus, Besessenheit, Ideologie und Ekstase als deren Extremformen
zum Bereich des Engagements. Objektivität, Wissenschaftlichkeit, aber auch
Gleichgültigkeit, Indifferenz, Gewohnheit, Routine, Apathie und Lethargie
zählen wir zum Bereich der Distanz. (s.a. ebd.:218)

In kulturevolutionärer Perspektive können Verwandlung und Entwandlung, die


Elias Canetti in seinem 1960 erschienenen Essay Masse und Macht typologisch
mit den Merkmalen Schamane und König belegt, auf einer diachronen Achse
miteinander verbunden werden, wobei die Entwandlung und ihre
zivilisatorischen Wirkungen kulturgeschichtlich neueren Datums sind.

Bei dem einen, dem Schamanen, wird (die Verwandlung) bis aufs äußerste
gesteigert und bis ins letzte ausgenützt, beim anderen, dem König, wird sie
verboten und unterbunden, bis er völlig erstarrt... Das Statische dieses Typus,
dem die eigene Verwandlung verboten ist, obwohl unaufhörlich Befehle von ihm
ausgehen, die die anderen immerzu verwandeln, ist in das Wesen der Macht
eingegangen, und die Vorstellung, die der moderne Mensch von ihr hat, ist auf
entscheidende Weise davon bestimmt worden. (Canetti 1980:428f)
Alienne Laval
III

Die in den Semiosphären jeweils statthaften Vermittlungen dieses Verhältnisses


von Stasis und Dynamis, das ursprünglich in den Märchen ähnlichen Formen
und später in modellhaften Mythen gespeichert und mit ihren Bewahrern
verbunden war, kann als Moderation bezeichnet werden. Der sie vermittelnde
Moderator ist ein Lenker und ein Mäßigender, einer, der das jeweilig gültige
Maß anwendet. Solche Moderatoren waren Schamanen, Priester, Propheten,
Philosophen, aber auch Könige, Politiker, Richter, Manager, Ärzte,
Wissenschaftler, Künstler und Eltern.

Heute ist die Moderation für große Teile der Bevölkerung von Kindesbeinen an
ein massenmediales Ereignis, und der Moderator ist noch als ein Leiter von
Fernseh- und Radioveranstaltungen bekannt; doch auch Nachrichten- und
Tiersendungen, Spielfilme aller Couleur, Serien, Talkshows, Werbung,
Dokumentationen usw. wirken moderierend. Aufgabe der Moderation ist es,
Distanz und Engagement nach den jeweils gültigen Regeln auszupendeln. Was
hier aber tatsächlich moderiert, also in Konzepten vorgestellt, verwaltet und
bestimmt wird, ist der Verwandlungshaushalt der Rezipienten.

Nicht nur bei der Jagd um Einschaltquoten ist diese Form der Moderation
gezwungen, Tabus zu brechen und Grenzen zu überschreiten (bzw. ganz ohne
sie auszukommen)63, um thematisch interessant zu bleiben oder den Rezipienten
etwas Neues und Attraktives zu bieten. Ebenso gilt es, die Rezipienten
entsprechend ökonomischer, politischer, modischer etc. Vorgaben und
Erfordernisse semiotisch zu steuern, also zu Kritik, Anpassung, Lethargie,
Angst, Euphorie, Lust etc. zu bewegen.
Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Orientierungslosigkeit, in Phasen der
Umwälzung oder an sogenannten Epochenschwellen, werden aus den
Moderatoren damit Grenzverletzer und Entregeler, die je nach Bedarf und den
opportunistischen Regeln des Marktes und der Medien Distanz reduzieren und

63 das ist in einer akkumulationsorientierten Konsumgesellschaft relevant; Grenzenlosigkeit


verhindert allerdings auch tatsächliche Statuspassagen, d.h.auch Initiationen.
In Bärbel Schäfers nachmittäglicher Talkshow kommt neuerdings (1999) der Lügendetektor
zum Einsatz, dessen Anwendung in der polizeilich-gerichtlichen Wahrheitsfindung für
Deutschland kürzlich höchstrichterlich untersagt wurde. Der Lügendetektor in der Talkshow
soll eine zuvor dortselbst durch schlechten Journalismus verspielte Grenze, die zwischen
Wahrhaftigkeit (Streben nach Wahrheit) und Lüge (intendierte Unwahrheit), markieren und
wiederum passierbar machen. Die konfusen Kandidaten und das desorientierte Publikum
akzeptieren diesen scheinbar problemlösenden, elaborierte Kriterien unterminierenden und
entgeistigenden Initiations-Apparat, der eine dort längst nicht mehr vorhandene
Referenzebene simuliert.
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Engagement verstärken oder auch mal umgekehrt verfahren sollen. Auf diese
Weise wird die aufgeklärte Opposition Distanz / Engagement in Oszillation
versetzt und damit entwertet, d.h.: die urtümlichere Opposition kommt
wiederum zur Geltung, die dann ein scheinbar stabileres Wertegefüge zu
gewährleisten scheint.

Denn obwohl "der heutige homo oeconomicus", wie Bystrina (1989:242)


schreibt,

(..) im großen und ganzen bestimmt viel nüchterner, 'realistischer' als seine
Vorfahren oder auch die noch Überlebenden aus den Naturvölkern (ist), die -
auch als Erwachsene - dem Vortrag alter Mythen begeistert zuhören, (...) nimmt
die Bedeutung der zweiten Wirklichkeit in unserem Leben ständig zu: die
profane erste Wirklichkeit des Alltags und des Berufs schwimmt auf den stets
steigenden Wellen der Medienträume.

In dieser mediengenerierten zweiten Wirklichkeit aber sind es keine


aufgeklärten Denker, die im Kampf gegen die Gefahren der Umwelt siegen,
sondern es sind quasimythische Helden, die mal als Detektiv, mal als
Weltraumheld der Welt oder dem Cyberspace noch autoritär die Stirn bieten.

IV

Der Rundfunk - als moderne Form der Moderation - hat momentan Anteil an
einem Prozeß der Potentialisierung, der von der Ökonomie ausgeht. Der Raum,
in den diese Potentialisierungen münden sollen, deutet sich mit dem Cyberspace
- einem Hyper- oder Subraum der Spiele und der Träume - inzwischen bereits
an.
Aus einer anderen Richtung kommend trifft das Internet, wo besondere
Einspeisungen neuerdings als Rundfunk definiert werden, auf diese
Entwicklung. Die Telekommunikationsunternehmen, die Gebühren für die
Nutzung ihrer Leitungen erheben, moderieren nur noch in einem rein
technischen Sinne: sie stellen die Verbindungen her, aus denen sie Kapital
schlagen.
Diese Form der Ökonomisierung würde in letzter Konsequenz allerdings alle
anderen Formen der Moderation überwinden und eliminieren und den
Rezipienten unvermittelt den sich über das Internet immer weiter
globalisierenden und synchronisierenden Medienträumen überlassen. Doch
diese Medienträume wären dann kaum etwas Anderes als eine Wiederauflage
einer ursprünglichen Traumzeit, aus der sich der Mensch durch Märchen,
Mythos usw. erst allmählich herausgeschält hat:
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Dieser Typ von Welt ist ohne Geschichte. Er existiert wie er ist, unwandelbar
und frei von irgendwelchen Zwängen oder dem Bewußtsein seiner selbst als
einem Selbst. Dies sind die Welten finalen Stadiums, wie wir sie auch in Utopien
angepriesen finden. Dies ist Vicos Ära der schweigenden Götter, es ist die
Traumzeit der Aboriginies, das Eden der Christen, es ist vorbewußt. (Taborsky
1999)

Märchen und Mythen zeigen nach Canetti (1980:379) Fluchtverwandlungen: das


sind Verwandlungen, die angenommen werden, um einem Feind zu entkommen.
Er unterscheidet dabei zwei Hauptformen, die lineare und die zirkuläre
Verwandlungsflucht. Bei der linearen Variante handelt es sich im Grunde um
die konventionelle Jagd, bei der ein Wesen das andere jagt. In dem Moment
aber, in dem der Jäger seine Beute packen will, verwandelt sich diese in den
märchenhaften Texten in etwas Anderes und entkommt. Dieser Ablauf kann
sich viele Male wiederholen, aber der Prozeß bleibt stets der gleiche. Die
Verwandlungen sind für den Verfolger jedes Mal jedoch so überraschend, dass
dieser nicht zupacken kann, obwohl er sich ebenfalls verwandelt, um sich der
veränderten Beute anzupassen. Die Formen ändern sich bei dieser Jagd so rasch
wie die Lokalitäten. In den Märchen gewinnt in diesen Konstellationen meistens
der Verfolgte.
Da die lineare Form der Fluchtverwandlung mit der Niederlage oder
Vernichtung des Verfolgers endet, setzt sie eine Inversion - eine Umkehrung -
des Jäger-Beute-Verhältnisses voraus und ist recht eigentlich das, was dem
Menschen die Evolution von einem Beutetier zu einem Jäger ermöglichte. Mit
diesem Schritt gelangte der Mensch gleichzeitig in die Zeit, die er nun nicht
mehr - wenn überhaupt - als in sie Hineingeworfener, sondern als sie auf der
Grundlage erfundener, märchenhafter Texte narrativ und später auch
handlungsoperativ Manipulierender erfahren konnte. Erste spezifisch kulturelle
Codes wurden an dieser Stelle encodiert.
Das eigentliche Kennzeichen der zirkulären Form der Fluchtverwandlung ist die
'physische Nähe einer überlegenen Macht' (s.a. Canetti 1980:383) bzw. eines das
Leben dominierenden, zunächst nicht hintergehbar erscheinenden
Wechselwirkungshintergrundes, wie ihn die ursprüngliche, in der menschlichen
Wahrnehmung noch nicht gegliederte und analysierte Natur darstellte, die die
Menschen in existentielle Situationen zwang.
Die bedrohliche Umgebung, in der die frühen Hominiden lebten, zwang diese zu
dieser zirkulären Form. In den Veröffentlichungen des Reiseschriftstellers Bruce
Chatwin findet sich ein Gespräch, das er mit der Biologin Elizabeth Vrba
führte:
'Der Mensch', sagte Elizabeth Vrba, 'wurde in Not geboren. Not ist in diesem
Fall die Dürre.'
Alienne Laval
'Wollen Sie damit sagen, dass der Mensch in der Wüste geboren ist?'
'Ja', sagte sie. 'In der Wüste. Oder zumindest in der Halbwüste.'
'Wo man sich nie auf Wasserstellen verlassen konnte?'
'Ja.'
'Aber es waren eine Menge Raubtiere in der Nähe?'
'Einem Karnivoren ist es gleichgültig, wo er lebt, solange er sein Fleisch
bekommt. Es muß schrecklich gewesen sein.' (Chatwin 1994:336)

Weiter schreibt Chatwin (ebd.):

Die Geschichte der Evolution ist eine Geschichte des 'Wettrüstens' zwischen
Räuber und Beute, da die natürliche Auslese der Beute mit den besten
Verteidigungsmechanismen und den Räubern mit den besten Mordwerkzeugen
den Vorzug gibt.
Eine Schildkröte zieht sich in ihren Panzer zurück. Ein Igel sträubt seine
Stacheln. Ein Nachtfalter tarnt sich an der Baumrinde, und ein Kaninchen saust
in den Bau, der zu eng ist, als dass der Fuchs ihm folgen könnte; der Mensch
dagegen war in einem Flachland ohne Bäume wehrlos. Der robustus reagierte
darauf, indem er sich mehr Muskeln zulegte. Wir benutzen unser Gehirn.

Was Chatwin hier beschreibt, deutet einen massiven Wandel in den evolutiven
Strategien der Hominisation an. Während der Homo robustus, ein Vorläufer des
Homo sapiens, ausstarb, weil er im Wettrüsten zwischen Räuber und Beute
unterlag, entschieden sich unsere Vorfahren für Mimesis (Verwandlung,
Tarnung und Mimikry), Märchen und Poeisis und damit für die Einführung
konzeptueller Odnungen. Der Robustus unterlag, weil er nicht imstande war, aus
seiner einfachen Logik des Kampfes und der Konfrontation weitreichendere
Schlüsse zu ziehen, sie in einer konzeptuellen Ordnung zu interpretieren. Die
einzige Form der Verwandlungsflucht, die ihm im baumlosen Flachland mit
wenigen Wasserstellen möglich war, war die in einen Toten:

Man hofft, dass man als Toter losgelassen wird. Man bleibt liegen und der
Feind geht weg. Diese Verwandlung ist die zentralste von allen: man wird so
sehr zum Zentrum, dass man sich nicht mehr regt. Man verzichtet auf jede
Bewegung, als wäre man tot, und das andere entfernt sich. (Canetti ebd.:384)

Diese Form der Verwandlungsflucht nennt Canetti deshalb zirkulär, weil alles
an einem Fleck passiert. Das ist keine Jagd, denn die Beute wird gepackt und
zum Gefangenen gemacht, der sich in sein Schicksal fügen muß.64

64 In den Zeiten der Sklaverei wurde diese Form von der Übermacht genutzt, die auf die
Tötung verzichtete und stattdessen den Versklavten in die Öde menschenunwürdiger und
monotoner Verrichtungen entließ. Auch die Vorstellungen vom Zombie, der getötet, von
außen durch künstliche Mittel wiederbelebt wird und dann abhängig ist, weisen in eine
ähnliche Richtung.
Alienne Laval
Voraussetzung einer Überwindung dieses Zustands und damit der Einrichtung
einer konzeptuellen Ordnung (Semiosphäre), ist jedoch die Entdeckung der
gerichteten Zeit, wie sie das Narrative (Semiose) ermöglicht.
Wie das gemacht wurde, erklärt die Religionswissenschaftlerin Wendy Doniger
O'Flaherty (1984:127) so: das Narrative funktioniert in den Träumen anders als
in den Mythen, da den Träumen ein überzeugender, ursächlicher
Zusammenhang von Ereignissen, also die Kausalität, fehlt. Den roten Faden
einer Handlung ersetzt hier ein Muster von suggestiven Bildern. In Träumen
können keine Beweise geführt werden, da Beweise abhängig sind von der
skelettartigen Struktur des Ursache-Wirkungs-Zusammenhanges, an der es
Träumen mangelt. Mythen fügen den Träumen aber genau jene Struktur hinzu,
die diese Beweise möglich macht.

Während der Traum zu zirkulären Verwandlungsfluchten führt und zirkuläre


Verwandlungsfluchten in den Traum führen, aus dem heraus kein Handeln mehr
möglich ist, ist der Mythos voll und ganz der linearen Verwandlungsflucht
verpflichtet. Das Märchen ist eine Art Medium zwischen beiden Formen und
legt damit die Gundlagen für die Ablösung vom Traum und die Entdeckung des
Zeitpfeiles, der für alle späteren Inversionsoperationen (bis hin zu den
Entdeckungen in Wissenschaft und Kunst) so bedeutungsvoll ist. Erst durch die
Einrichtung des Mythos erhält die psychische Form des Traumes einen Code,
der den Traum organisieren kann: der Mythos ist der Code des Traumes.
Wie ich schon an anderer Stelle (Uchtmann 1991) ausgeführt habe, entstammt
der Mensch in dieser Sicht dem Mythos65; er ist im Mythos entstanden. (s.a.
Uchtmann 1999/2)
Da der frühe Mensch lernen mußte, dem Zwang zur zirkulären
Fluchtverwandlung lebend zu entkommen, war er gezwungen, ein
Verhaltensmuster, das er mit anderen Beutetieren gemeinsam hatte, zu
invertieren. An der Stelle der Jagd, an der die Beute sich tot stellte, also
vollkommen in sich und isoliert war, mußte er außer sich sein (d.h. u.a. auch:
sozial reagieren; das Andere wahrnehmen). Er mußte gleichzeitig jedoch auch
bei sich bleiben und durfte nicht zum Objekt werden, dessen seelischer Anteil
sich schon so weit entfernt hatte, dass er sein Ableben nur noch aus der Distanz,
als jenes eines fremden Körpers, empfinden konnte. 66 Er war quasi zu einer
Doppelexistenz gezwungen, die ihm sein erwachendes Selbst bzw. das Andere
bewußtmachte:

65Mit den Mythen ist der Mensch dem Traum oder "seinem Kopf entsprungen, wie ein
Verurteilter dem Gefängnis", wie George Bataille es einmal formulierte.

66Auch das freiwillige Opfer späterer Rituale konnte diese Distanz empfinden, die dann als
Nähe zum Göttlichen gesehen wurde.
Alienne Laval
Mit diesem Stadium liegt das vor, was Peirce als ‘Doppel-Bewußtsein’ (1.324)
bezeichnet hat, weil “wir uns selbst bewußt werden, indem wir des Nicht-Selbst
bewußt werden. Der wache Zustand ist ein Bewußtsein der Reaktion; und wie
das Bewußtsein selbst zweiseitig ist, so hat es auch zwei Formen...” (1.324).
(Taborsky 1999)

Der frühe Mensch konnte die Distanz des Ablebens zunächst nur durch Ekstase
überwinden. Gleichzeitig mußte er sich aber auch von den ihn bedrohenden
Merkmalen des diffusen Wechselwirkungshintergrundes entfremden, sie
distanziert konkretisieren, benennen, sich dann wieder wehren und engagieren,
sich in einen durch Mythos und Technik verstärkten Jäger verwandeln. Diese
Inversion des Beuteverhaltens der angstbesetzten Starre war nur möglich über
die Extremform der mimetitsch-narrativen Ekstase, wie sie sich z.B. in den
schamanischen Initiationen und Ritualen lange erhalten hat. Die Narration und
Tradierung dieser Kapazität kann als eine erste Semiose und somit als
kulturemergierend verstanden werden. Die kognitiven Voraussetzungen hatten
sich nun entscheidend verändert, so dass der Mensch selbst sich verwandeln,
mimetisch in die Wesenheiten seiner Umgebung hineinversetzen, diese damit
verstehen, decodieren und überlisten konnte.
Traum und Spiel wurden somit zu den Wurzeln des Kulturprozesses (s.a.
Bystrina 1989), doch erst die Entwicklung stringenter Codeformen wie Riten
und Mythen ermöglichte es, den noch märchenhaft-traumartigen Bereich des
entstehenden Kulturellen zu organisieren:

Es scheint, dass eben die Begabung des Menschen zu Verwandlungen, das


zunehmend Fluide seiner Natur es war, was ihn beunruhigte und nach festen
und unveränderlichen Schranken greifen ließ. Dass er so vieles Fremde an
seinem eigenen Leib fühlte..., dass er diesem Fremden ausgeliefert war und zu
ihm werden mußte, dass es ihm von außen noch auferlegt blieb, auch wenn er
seinen Hunger dank dieser Begabung schon gestillt hatte, auch wenn er satt und
ruhig war, dass es sozusagen nichts als Bewegung gab und sein eigenstes
Gefühl, seine eigenste Form sich in ständigem Flusse befand - das mußte einen
Drang nach Permanenz und Härte in ihm wecken, der ohne
Verwandlungsverbote nicht zu stillen war. (Canetti 1980:429)

VI

Vom Beispiel der afrikanischen Buschleute ausgehend - es folgen die


australischen Ureinwohner und die nordamerikanischen Indianer - soll nun
exemplarisch dargestellt werden, wo die Organisation früher Semiosphären
angesetzt haben und wie sie vonstatten gegangen sein muß.
Alienne Laval
Die Buschmänner spüren das Kommen von Menschen, die sie weder sehen noch
hören können, aus der Ferne. Sie haben auch ein Gefühl dafür, dass Wild sich
nähert und schildern die Zeichen an ihrem eigenen Körper, durch die sie diese
Annäherung erkennen. (Canetti 1980:373)

und:

(Die Buschleute)...fühlen...in ihren Körpern, wenn gewisse Ereignisse


bevorstehen. Eine Art von Klopfen in ihrem Fleisch spricht zu ihnen und macht
ihnen Mitteilung davon. Ihre Buchstaben, wie sie sagen, sind in ihrem Körper.
Diese Buchstaben sprechen und bewegen sich und veranlassen selbst zur
Bewegung. (ebd.: 376)

Die Buchstaben, die für die Buschleute in den Körpern sind, weisen auf einen
märchenhaften Weltzugang hin, bei dem Code und Form, wie später im Mythos,
noch nicht völlig voneinander geschieden sind.
Die Buschleute, so Canetti (ebd.:378) weiter, vollführen saubere
Verwandlungen, die sie nacheinander, zu verschiedenen Zeiten, unternehmen.

Der Körper ein und desselben Buschmannes wird zum Körper seines Vaters,
seiner Frau, eines Straußes, eines Springbocks. Dass er sie alle sein kann, zu
verschiedenen Zeiten, und dann immer wieder er selbst, ist von ungeheurer
Bedeutung. Die Verwandlungen, die sich folgen, wechseln je nach den äußeren
Anlässen. Es sind saubere Verwandlungen: Jedes Geschöpf, dessen Kommen er
spürt, bleibt, was es ist. Er hält sie auseinander, sonst hätten sie keine
Bedeutung...Die eigene Identität, die der Buschmann aufgeben kann, bleibt in
der Verwandlung gewahrt. Er kann dies oder jenes sein, aber dies oder jenes
voneinander getrennt, denn dazwischen ist er immer wieder er selbst. (ebd.)

Die sauberen, in der Zeit organisierten Verwandlungen weisen auf den Zeitpfeil,
die Grundlage narrativer Operationen hin. Canetti (ebd.) nennt die einzelnen,
sehr einfachen Züge, die die Verwandlung bestimmen, Knotenpunkte:

Es sind die hervorstechenden Züge des anderen Geschöpfs, von denen oft die
Rede ist oder die man immer gut gewahrt. Es sind Züge, auf die man achtet,
wenn man dieses Geschöpf erwartet. (ebd.)

Die Jagd ist ein besonderer Fall, denn was man wirklich will, sind Blut und
Fleisch des Tieres.

Die Verfassung, in der man sich befindet, nachdem man es erlegt hat, während
man es nach Hause trägt, ist eine besonders glückliche. Der Leib des getöteten
Tieres, das einem als Beute über den Rücken herunterhängt, ist einem noch
wichtiger als sein lebender Körper. Man spürt sein Blut, das einem die Waden
Alienne Laval
herunterrinnt, man spürt es unter den Kniehöhlen; man spürt sein Blut im
Rücken, und da spürt man auch sein Haar. Dieser tote Körper, den man trägt,
ist nicht der eigene; er kann nicht der eigene sein, denn man will ihn essen.
(Canetti ebd.:379)

Der Verwandlung des Buschmannes folgt eine Entwandlung des Beutetieres,


eine Transformation, die Distanz erzeugt.

Die Vorgefühle des Buschmannes, die sich auf den Springbock beziehen,
enthalten zwei verschiedene Phasen. Zunächst fühlt er das lebende Tier, wobei
sein Körper zu dem des Tieres wird. Später, nach der Jagd, fühlt er das tote Tier
als einen fremden Körper, der dem Jäger nicht mehr entgehen kann. (Canetti
ebd.)

Die Verwandlungen sind abgeschlossen, sobald der erwartete Zustand


eingetreten oder das Gewünschte erreicht ist. Der Buschmann erwartet das
Kommen seines Vaters, die Heimkehr seiner Frau, und er tötet Tiere, um sie zu
essen. Er nutzt seine Körpersprache nicht dazu, um andere Ziele, die sich schon
ableiten ließen, zu erreichen; er erfindet keine Symbole, die Macht und
Ohnmacht ausdrücken sollen. Die Entwandlung fungiert hier als reiner Ruhepol,
in dem sich aber bereits eine narrative und reflexive, mythische Codifikation
andeutet.

VII

Die Schöpfungsgeschichte der australischen Aboriginies (nach: Chatwin


1994:87f) nennt als die ursprüngliche Opposition den Gegensatz von Himmel
und Erde, wobei der astronomische Himmel - wie in unseren Weltbildern auch -
zum Bereich der Erde, dem Bereich des materiellen Seins, gehört.

Im Himmel leben die Himmelsbewohner zeitlos und ohne zu altern seit eh und
je in ihrem grünen, wasserreichen Paradies jenseits der westlichen Wolken.
Anders als die Himmelsbewohner waren die mythischen Vorfahren, die unter
der Erde in Höhlungen lebten, nie jung gewesen. Es waren lahme, erschöpfte
Graubärte mit steifen Gliedern, und sie hatten in Abgeschiedenheit ewige Zeiten
durchgeschlafen.
Die einzigen Oberflächenmerkmale der Erde waren Höhlungen, die eines Tages
Wasserlöcher sein würden. Es gab keine Tiere und keine Pflanzen, doch um die
Wasserlöcher ballte sich eine breiige Fülle von Materie - lautlos, blind, nicht
atmend, nicht wach und nicht schlafend - die die Substanz des Lebens oder
sogar die Möglichkeit der Menschwerdung in sich trug.
Alienne Laval
Der Himmel wird als ein ewig gleichbleibender, außerhalb der Zeit befindlicher
Bereich dargestellt; die Bewohner sind ewig jung und kennen weder Alter noch
Tod. Die Ahnen der Erdenwesen werden als alt gezeigt, doch in diesem Alter
befindet sich gleichzeitig die Möglichkeit des Lebens, dessen Prozeßcharakter
angedeutet wird. In der blinden Potenz der Materie gibt es die Chance der
Aktualisierung.

Als die Welt der Menschen aktualisiert war, zogen sich die Ahnen zurück,
besser: sie wurden durch die nun feststehenden Regeln und Namen (Codes) aus
der Welt gedrängt. Ihre aktualisierende Wanderung durch die Welt war
abgeschlossen, ihre Verwandlungsfähigkeit wurde nicht länger benötigt.
Doch die Australier kennen die Technik des Dreaming, mit der sie sich in die
Traumzeit der Schöpfung versetzen und den märchenhaften Traumpfaden, den
Songlines der Alten und ihren Verwandlungen, weiterhin folgen können.

Entsprechend dieser Dichotomie werden die Babies zweimal gezeugt: zum


Einen vom leiblichen Vater und zum Anderen von einem Ahnen, dessen Lied in
einer ununterbrochenen Kette von Strophen auf der Erdoberfläche liegt. Eine
Strophe steht für jedes Paar Schritte des Ahnen, und jede Strophe wird aus den
Namen gebildet, die er beim Wandern auswarf. Wenn nun eine bereits
schwangere Frau während der Nahrungssuche die erste Regung ihres Babies
verspürt, dann entspricht dieser Moment der geistigen Empfängnis. Die Ältesten
interpretieren die geographische Position dieses Geschehens und legen fest,
wecher Ahne diesen Weg gegangen ist und welche Strophen des Liedes in den
Besitz des Kindes übergehen werden.

Der Himmel ist nicht durch Menschen besetzbar und die doppelte Geburt
bezieht sich auf die Verbindung mit den Ahnen der Traumzeit, die die Welt
verwandelten und zur Besiedlung durch die Menschen vorbereiteten.

VIII

Auch die nordamerikanischen Tricksterfiguren waren Formwandler, die als


ursprüngliche Kulturbringer mit diesem Bereich umgingen.
Die Mythenzyklen der Winnebago-Indianer kennen vier aufeinanderfolgende
Phasen von Formwandlern: auf den Tricksterzyklus folgt der des Hasen, dann
kommt der Rothorn- und schließlich der Zwillingszyklus (s.a. Kuper/Uchtmann
1990). Erst im Zwilling ist der Mensch in seiner Entwicklung da angelangt, wo
er beide Aspekte, die Verwandlung und die Entwandlung, die Dynamik und die
Stasis in den Semiosphären simulieren kann. Durch die Hereinnahme der Natur
in das Soziale, indem er bestimmte Mitglieder der Gemeinschaft als naturnah
und andere als naturfern festlegt, wird es ihm schließlich möglich, die Natur
auszuschließen und zu überwältigen. (s.a. Uchtmann 1990;1995)
Alienne Laval
Eine Analyse der relativ einfachen Dorfstrukturen kann das verdeutlichen. Bei
den Winnebago wurden die Dörfer in zwei Hälften eingeteilt, deren eine von
den Mitgliedern der Obergruppe und deren andere von den Mitgliedern der
Untergruppe bewohnt wurde. Der oberen Hälfte wurden die Elemente Luft und
Feuer, der unteren die Elemente Wasser und Erde zugeordnet. Luft oder Himmel
und Feuer sind herrschaftliche Elemente; Wasser und Erde haben mit Ackerbau
und Fischfang zu tun.

Auch wenn die Aufteilung des Dorfes in zwei Hemisphären zunächst dazu
gedient haben mag, die differentielle Energie zu erhöhen, um so etwas wie einen
sozialen Realitätseffekt zu erzeugen, so konnte doch im Laufe der Zeit daraus
ein Macht-Ohnmacht-Gefälle entstehen, das semiotisch und ökonomisch
reguliert wurde und keinesfalls von unten überbrückt werden durfte.

In Nordamerika wurden Zwillinge, von denen der eine als naturnah


(Untergruppe) und der andere als naturfern (Obergruppe) galt, daher als mit
besonderen Mächten verbunden und mit Wissen ausgestattet angesehen. Den
Familien, denen Zwillinge geboren wurden, entstand durch diese Geburten ein
Wissens- und Statusvorsprung und damit ein Machtzuwachs.
Familien der Untergruppen wurden aus diesem für die weitere Kulturevolution
entscheidenden Verständnis heraus oftmals gezwungen, Zwillinge zu töten, um
mit dieser Tötung zu verdeutlichen, dass sie auf einen Wissens- und
Statusvorsprung verzichteten.
Claude Lévi-Strauss (1993) bringt Zwillinge und Lachse in Zusammenhang.
Könnte nicht der Lachs, den Lévi-Strauss zum Ende seiner Luchs-Geschichte
diskutiert, Zeichen einer neuen, irregulären, gegen den Strom schwimmenden
und eindringenden Information gewesen sein, zumal dieser mit dem Zwilling in
Verbindung steht? Wenn die 'Wohlhabenden' den Lachs in Form des
Zwillingswissens für sich sichern, dann müssen sie den Armen gegenüber 'den
Bären machen', der von diesen in der Identifikation (mit dem Aggressor)
aufgegriffen wird und gleichzeitig als Beschwichtiger des Zwillings herhalten
muß.
Der Bär begründet seine Existenz auf den Lachs, auf die kulturemergierende
Tat des Zwillings also. Der Bär ist aber nicht nur Resultat der Transformation,
sondern gleichzeitig auch Beschwichtiger, Nutzer oder Richter des Zwillings,
der mit Wind, Sturm, (See-)Ungeheuern und anderen Natur- und späteren
Kulturkräften wie dem Feuer in Zusammenhang steht.67
Der Zwilling von unten und seine mögliche Transformation ist irregulär und
wird somit zur Gefahr für das von der Obergruppe regulierte Gemeinweisen, das

67 Auch die norddeutsche Stadt Syke (an der Hache; inzwischen ein kanalisiertes Rinnsal)
z.B. hat noch heute den Lachse fangenden Bären als Symbol (s.a. die Skulptur in der
Fußgängerzone); das Stadtwappen ist die Bärentatze.
Alienne Laval
eine Veränderung oder gar Evolution verhindern möchte. Wie Edwina Taborsky
(1999) ausführt, steht dieses ‘Doppel-Bewußtsein’ (s.a. Peirce 1.324) als eine
dyadische Differenzierung für Liebe, Streit, Spiel, Krieg, Wissenschaft und
Entdeckung.

In den Weltbildern der Buschleute und der australischen Aboriginies ist noch
jeder neugeborene Mensch ein Zwillingswesen.

IX

Während die Buschleute-Semiosphäre den Himmel ausspart und an seiner Stelle


nur die Ruhe, die nach den Verwandlungen einkehrt, kennt, so existiert dieser
für die Australier als vom Menschen unbesetzbare Leerstelle. In der
Semiosphäre der Winnebago wird diese Stelle von dem Himmel nahen
Persönlichkeiten und Gruppen eingenommen.

Im entwandelten, erstarrten und absoluten Herrscher schließlich sind die Kultur-


und Naturkräfte fokussiert, die durch technologische Beherrschung und
Domestikation zunächst immer weiter beschränkt wurden. Er empfindet sich
vollends als bei Gott oder dem Himmel nahe, weil sein Zustand einer der
künstlich wiedererrichteten, lebens- und todesmächtigen Natur ist.68
Das Fell oder der Kopf des getöteten Raubtieres, des Bären, des Löwen, des
Adlers usw. (später als Wappen und Flaggen gestaltet) signalisiert seine
Unberechenbarkeit und wird zum Insignium dieser naturäquivalenten, mit dem
Tode drohenden Macht, die inmitten der geschützten Ansiedlung wieder
auftaucht69, den Pol der Entwandlung für sich reserviert und alle Anderen
ständig verwandelt. Er ist dann der personifizierte Code des kollektiven
Traumes.
Die Revolten gegen diesen Souverän und seine letztendliche Abschaffung
füllten jedoch lediglich das Vakuum, das sein punktuelles Verschwinden
hinterließ, politisch, ökonomisch und massenmedial aus. Genau an dieser Stelle
wird aber unser philosophisches, politisches, kulturelles und wissenschaftliches
Dilemma offenbar. Der Übergang zu anderen, neuaufgelegten Formen,
beispielsweise der einst unhaltbaren Naturphilosophie70, die wir uns heute
68Dieses Motiv hat sich u.a. von der ägyptischen Praxis der Aufrichtung des Djed-Pfeilers bis
zum Weihnachtsfest mit den zunächst gefällten und dann in den Stuben wieder aufgerichteten
und mit Kerzen oder elektrischem Licht illuminierten Tannenbäumen bis heute erhalten.

69 Das Fell des Schamanen hatte noch eine gänzlich andere Funktion: es zeigte die
(mimetische und poetische) Selbstbehauptung der entstehenden Kultur gegen die bedrohliche
Natur, strebte jedoch nicht deren Ersatz an.

70 Naturphilosophie darf keinesfalls mit Naturalismus verwechselt werden. Absicht der


Naturphilosophie ist es, die Natur unter Einbeziehung historischer (also geistes- bzw.
Alienne Laval
aufgrund der wissenschaftlich-technologischen Möglichkeiten leisten könnten,
werden durch diese phylogenetische Herkunft begrenzt, und neuere Ansätze
haben in diesem Kontext kaum eine Chance, sich durchzusetzen.

Die Ökonomisierung und Globalisierung des semiotischen Inventars erzeugt


damit - technisch verstärkt und auf dem neuesten Stand - wiederum ähnliche
Potentialisierungen, wie sie vorhin für die Frühzeit der Menschheitsentwicklung
beschrieben wurden. Diese Potentialisierungen entregeln den
Verwandlungshaushalt der Menschen. Mit Internet und Cyberspace erringt die
Ökonomie endlich den Himmel71, dynamisiert diesen bis zu ihrer Erschöpfung
und überführt auf diese Weise in eine neue Traumzeit; denn die ökonomisch-
massenmediale Animation des Cyberspace leitet über in den Bereich des
Traumes und damit der zirkulären Fluchtverwandlungen.

kulturwissenschaftlicher) und naturwissenschaftlicher Forschung zu deuten. Der Naturalismus


hingegen ist eine Weltanschauung, die in der Natur das allumfassende Prinzip sieht: sie
bedient sich dabei eines sog. starken Reduktionismus in der Erklärung des Geistes und
schließt vom biologischen Sein auf das geistige Sollen. Dieser Ansatz wird als
naturalistischer Fehlschluß bezeichnet und übertritt ein Tabu, das in allen nicht-autoritären
Gesellschaften gilt. Totalitäre Ideologien, Staaten und Ökonomien bedienen sich dieses
Fehlschlusses, der Sein und Sollen symmetrisiert, um die Bevölkerung auf ihr Konstrukt
auszurichten und unliebsame und deviante Elemente zu eliminieren.
Vor dem Aufkommen der modernen Wissenschaften und Künste galt - im Gegensatz zu
dieser recht modernen Debatte - in Verbindung mit dem Numinosen stehende Macht oft als
einzig mögliche Form der Wahrheit, wie Platon es in in Fortführung der Überlegungen des
Sokrates formuliert hat. Beiden ging es darum, Heraklit zu widerlegen, der noch dem Prinzip
der Verwandlung mit seiner ursprünglichen Dynamik nahestand. Die schon früher von
Heraklit, Empedokles und anderen entwickelten naturphilosophischen Positionen erwiesen
sich damals als unhaltbar, weil sich ihre Thesen weder wissenschaftlich noch experimentell
beweisen ließen. Die Möglichkeit, eine naturphilosophisch gegründete Ontologie
wissenschaftlich zu begründen und zu beweisen, ist u.a. eine technologische Option, die in
Europa frühestens ab der Renaissance allmählich realisierbar wurde. .Sokrates und Platon
versuchten es daher mit einer zu jener Zeit plausibleren Staatsphilosophie, die in einer
unveränderbaren, ewigen und absoluten Realität, die sich über und jenseits des Universums
des Heraklit befinden sollte, zu begründen war. Diese Philosophie bestimmte nicht nur die
kirchlichen Ideologien des Mittelalters und das vergottete Königstum (z.B. Louis XIV: l’etat
c’est moi), sondern wirkte noch bis weit in Moderne, Postmoderne und ihre jeweiligen
Inversionen hinein und nach; z.B. in Diktaturen, autoritären Philosophien etc.

71 Zu den Gipfelerlebnissen des Ökonomischen gehört heute eine Besteigung des Mount
Everest mit Satellitentelefon, Laptop und Internetanschluß. Kurz unterhalb des Weltraums, in
der Nah-Tod-Zone oberhalb der Troposphäre arbeiten die Verdauungsorgane nicht mehr und
das Gehirn produziert euphorische, ekstatische Zustände, bevor es Müdigkeit signalisiert und
schließlich emboliert. Dem Außer-Sich-Sein folgt hier das In-Sich-Sein: nach der Exaltation
bleibt ein totes Objekt auf dem Gipfel zurück.
Alienne Laval
Die Medienwirklichkeit wird somit interpretierbar als ein zweiter, der
ursprünglichen Natur äquivalenter, nicht mehr hintergehbarer
Wechselwirkungshintergrund. Auch dieses Andere (die ebenfalls suggestive,
traumartige Struktur der Medienwirklichkeit) entfernt sich nicht und doch hat es
keinen Sinn, sich totzustellen. Nur ausgehend von einer zunächst dyadischen
Koppelung kann es narrativ gelingen, sie in andere Formen zu überführen.

"Der Mensch, der sonst ständig lernen kann, hat bis heute einige Prägungen
seiner Phylogenese - die sich gegenwärtig wieder einmal als lebensgefährdend
zeigen - offensichtlich (noch) nicht überwunden. Es ist die Ambivalenz der
Codes (der Werte) und ihre prinzipielle Variabilität (wir wissen nur nicht, wie
weit sie reicht), worin die Hoffnung liegt." (Ivan Bystrina 1989:125)

Offene Codierung

“ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere: entweder selbst das Neue
zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen, oder aufzubrechen, die
Alienne Laval
Besten und Würdigsten mit sich fort zu ziehen und ein günstigeres Schicksal
jenseits der Meere zu suchen. Eins wie das andere hat sein Bedenken, aber wer
hilft uns die Gründe abwägen, die uns bestimmen sollen?” (Goethe; Wilhelm
Meisters Wanderjahre)

Regress und Pädomorphose

Wunschmaschine (Deleuze und Guattari 1995) und Offene Codierung werden


nach der hier vorzustellenden These als polare Widersprüche, als extreme
Positionen eines Kontinuums dargestellt. Während die Wunschmaschine
zunächst das Unbewußte und später die Inversion eines Endzustandes, der
Maschine nämlich, markiert und ebenso wie diese nur noch potentiell und
simulativ funktionieren kann, bedeutet die Offene Codierung eine Phase
evolutiver Aktualisierung, die das Potential partiell und lokal für neue
Codifikation nutzt, somit die Simulation aushebelt, Differenzierungen einführt
und sich damit von ihr abgrenzt.
Ein Modell einer Inversion einer Maschine in eine Wunschmaschine zeigt
beispielsweise die Offenbarung des Johannes. Johannes sieht Gesetzmäßigkeiten
in der Entwicklung der vornehmlich durch Zeichenprozesse (Semiosen)
aufgebauten und organisierten menschlichen Gemeinschaften, die auf
semiotischer Ebene auch als Semiosphären (Zeichenräume) interpretiert werden
können. Er beschreibt bildhaft zwei wesentliche Stufen dieser Entwicklung, die
er als Babylon und Jerusalem benennt.
Man fühlt sich hier an moderne system- und chaostheoretische Überlegungen
erinnert, die das Umkippen eines Systems und dessen mögliche, zirkumbulative
Neurorganisation um einen strange attractor oder einen neuen prozessualen
Archetyp des Selbst herum beschreiben. Die Inversion, die Johannes darstellt, ist
daher keineswegs universal, sondern prozessual prototypisch.
Die Veränderung erfolgt lokal, das alte System wird durch das neue nicht
zerstört, sondern lediglich für tausend Jahre von ihm abgegrenzt und versiegelt,
so dass das alte Bewußtsein dem neuen einstweilen nichts anhaben kann.
Nicht anders funktioniert die gesamte Evolution. Aus alten Systemen heraus
entwickeln sich neue, und das Bewußtsein des vorangehenden Systemzustands
wird zum Unbewußten des neuen, das sozusagen versiegelt wird und auf das
sich irgendwann neue Bewußtseins- oder Codeebenen aufschichten werden.
Doch von Zeit zu Zeit - bei Johannes nach metaphorischen tausend Jahren -
kommt dieses Unbewußte reflexiv zurück an die Oberfläche des Bewußtseins.
Für uns Moderne geschieht dies mit der bewußtseinsüberschwemmenden
Decodierung der Atome, der Gene, des Verhaltens, der Kultur usw., wobei
derzeit nicht genau vorauszusehen ist, wie eine sicherlich folgende erneute und
nach aller Wahrscheinlichkeit informationstheoretisch und -technologisch
gegründete Encodierung tatsächlich aussehen wird.
Alienne Laval
"Die biologische Evolution", so Arthur Koestler (1978:255), "ist weitgehend
eine Geschichte gelungener Fluchtversuche aus den Sackgassen der
übermäßigen Spezialisierung und die Geschichte der Ideen ist eine Reihe
gelungener Fluchtversuche aus der Tyrannei geistiger Gewohnheiten und
erstarrter Routinemäßigkeiten. In der biologischen Evolution ist die Flucht ein
Rückschritt vom Erwachsenen- ins Kindheitsstadium, das anschließend als
Ausgangspunkt für eine neue Entwicklungslinie genutzt wird; bei der geistigen
Evolution ist sie ein vorübergehender Rückschritt zu primitiveren,
ungehemmteren Arten der Vorstellungskraft, gefolgt von einem schöpferischen
Sprung nach vorn."
Jede Entwicklung bedeutet demnach irgendwann auch übermäßige
Spezialisierung, Gewohnheit, Routinemäßigkeit, Automatismus und
maschinenhaftes Sein, das wiederum in unbewußtes Sein umschlägt.
Der Wunsch wird im Folgenden, in Abgrenzung von Deleuze und Guattari
(1995), aber eher als ein ein regressiver Prozeß zu verstehen sein, der aus der
konsensuellen und maschinellen Logik eines kollektiven Unbewußten oder einer
kollektiven Wunschmaschine entfernen und ihr lokal und inversiv einen neuen
Ausgangspunkt entgegenstellen muß. Keine wissenschaftliche und künstlerische
Entdeckung wäre möglich ohne diese Vorgehensweise, die eingefahrene
Systeme hintergehbar macht. Wenn die konsensuelle Logik des Mittelalters
beispielsweise die Entwicklung der Medizin dominiert hätte, dann würde die
Medizintheorie noch immer auf der Lehre von den verschiedenen Gallenarten,
Knochen, Blut und Eiter basieren.
Für Sigmund Freud ist das Denken selbst ein regressiver Prozeß, der dadurch
jedoch nicht an Würde einbüßt:
“Derzeit können wie nur bildweise sagen, ...(die Freuden am Schaffen von
Künstler und Forscher) erscheinen uns ‘feiner und höher’ und, dass die Lösung
von Problemen und das Erkennen der Wahrheit eine besondere Qualität
haben, ...die wir gewiß eines Tages werden metapsychologisch charakterisieren
können.” (Freud 1986:211)
Das, was Freud psychologisch als Regreß benennt, ist für Arthur Koestler auf
biologischer und kultureller Ebene die Pädomorphose. Dieser Begriff ermöglicht
es, regressive Phasen als evolutionäre Entwicklungen bedingend und
entscheidend anzunehmen.
Koestlers Lieblingsbeispiel für eine solche pädomorphe Entwicklung bei einem
relativ einfachen Organismus ist die Seewalze, ein im erwachsenen Zustand
stationär auf dem Meeresgrund lebendes Wesen. Im Gegensatz zur
ausgewachsenen Seewalze sind deren Larven jedoch schwimmfähig.
Irgendwann wurden einige dieser Larven im Larvenzustand geschlechtsreif und
setzten die Evolution fort, die mit der Seewalze in eine Sackgasse geraten war.
Ohne jene frühreifen Larven würde es den Homo sapiens, der von ihnen
letztendlich abstammt, gar nicht geben.
Entscheidend ist auch hier, dass nicht plötzlich alle Larven geschlechtsfreif
wurden, sondern nur einige diesen lokalen, asynchronisierenden, schöpferischen
Alienne Laval
Sprung machten und so zu den prozessualen Archetypen (s.a. Bystrina 1989)
neuer Verfahrensweisen wurden.72
Hunderte von Millionen Jahren später hatten sich zwei Typen von Säugetieren
gebildet, die plazentalen und die marsupialen Säuger, die Beuteltiere.

Information und Redundanz

Bekannt ist das Phänomen der homologen Arten wie Marsupaliern und
Plazentaliern, die ähnliche der sogenannten ökologischen Nischen besetzen.
Dass Marsupalier und Plazentalier ihre Nischen nicht auf gleiche Art füllen,
zeigt ein Vergleich der Gehirne, die zwar ähnlich groß sind, sich aber doch in
einem entscheidenden Merkmal unterscheiden. Die Marsupalier besitzen kein
Corpus callosum, keine Brücke, die rechte und die linke Gehirnhemisphäre
miteinander verbindet.73
Interessant ist in diesem Zusammenhang das Phänomen der sogenannten
Luxusorgane, die auf der aktualisierten evolutiven Ebene nach unserem
Dafürhalten augenscheinlich keinen Sinn machen. So haben Tintenfische
Augen, die den unseren überlegen sind und die sie in ihrer Nische angeblich

72 Nun besteht allerdings das ontologische Problem, dass sich diese Prozesse nicht
beobachten lassen und wir immer und überall auf sozusagen abgestorbene oder vollendete
Formen und Systeme stoßen, die zwischen ihnen evolutiv vermittelnden Prozesse jedoch
empirisch nicht nachweisbar sind. Die Evolutionstheorie, auch wenn sie durch Artefakte,
phänomenologische und molekulargenetische Vergleiche und Ableitungen immer besser
belegbar ist, bleibt dennoch eine Rekonstruktion. Diese Tatsache hebt die Evolutionstheorie
neben anderen Teilgebieten der Naturwissenschaften, die ebenfalls historisch arbeiten
müssen, aus den sogenannten harten Natur- und Technikwissenschaften heraus. Die
Evolutionstheorie muß damit als in der Tradition der Naturphilosophie stehend angesehen
werden.
In erster Linie liegt das daran, dass die Evolutionstheorie keine Systeme, sondern die
Prozesse, die zu ihnen hin und von ihnen weg führen, beschreiben will. Auf der Ebene der
Kulturen sind dies narrative Prozesse, die die Übergänge von einer Form der Codifikation zu
einer anderen, von einem Systemtyp zu einem anderen, ermöglichen; sie sind anfänglich in
den Märchen und Mythen gepeichert. Diese Typen der Narration, die auch als erste Semiosen
verstanden werden können, sind die Fortsetzung der Evolution mit anderen Mitteln.

73 Noch vor einigen Jahren hat man versucht, Epilepsiepatienten dadurch zu heilen, indem
man ihnen die Brücke durchtrennte.
"Das Ergebnis war, dass sich der Zustand der Patienten besserte, was ihre Epilepsie betraf.
Ihre Gehirnhälften funktionierten jedoch nicht mehr als eine Einheit. Weil der Balken
durchtrennt war, bildete jede Gehirnhemisphäre mit dem Rest des Nervensystems eine
operationale Einheit, die die andere Gehirnhälfte überging, so als würde sie gar nicht
existieren. Es war, als sei der Patient nach der Operation zu drei verschiedenen Personen mit
jeweils individuellen Charakteristika geworden: einer Linke-Hemisphäre-Person, einer
Rechte-Hemisphäre-Person und der äußeren Kombination der beiden in ihrer Operation durch
einen gemeinsamen Körper." (Maturana/Varela 1987:243)
Alienne Laval
auch gar nicht gebrauchen können; Marsupalier füllen ihre Nischen genausogut
aus wie ihre plazentalen Vettern, solange sie nicht mit diesen zusammentreffen,
da diese im Gegensatz zu ihnen den selektionsvorteilhaften Luxus des Corpus
callosum besitzen.
Das Corpus callosum ist offensichtlich ein redundantes Merkmal bestimmter
sozialer Tiere, von dem das Sozialverhalten gar nicht abhängig ist. Erst in der
direkten Begegnung beider Varianten zeigt sich ein Mangel, der vorher gar nicht
akut war, und die Plazentalier verdrängen ihre marsupialen Vettern und
Cousinen.
So weit es zu übersehen ist, gibt oder gab es für viele plazentale Arten
marsupiale Entsprechungen, von Beutelwölfen bis hin zu fledermausartigen
Flugtieren. Sogenannte höhere Säuger aber, wie Pferde, Schweine, Wale, Affen
und Menschen, haben keine marsupialen Verwandten. Es scheint fast so, dass
ihre Entwicklung und insbesondere die für uns wichtige Entstehung von Affen
und frühen Menschen an die Voraussetzung des Corpus callosum gekoppelt ist.
Ebenso wie die geschlechtsreifen Larven der Seewalze können die frühen
Hominiden als pädomorphe Abkömmlinge anthropoider Vorfahren gesehen
werden. Schon Freud sprach vom Menschen als dem Kind einer schmalnäsigen
Äffin, und selbst ausgewachsene Menschen wirken wie Embryonalformen von
Affen. Auch diese Pädomorphose war nicht rein biologischer Art, sondern
führte, wie schon bei den Nachfahren der Seewalze, zu völlig neuen
Verhaltensweisen.
Doch wie werden aus affenartigen Vorfahren Menschen, wenn selbst die
rezenten Schimpansen, deren genetischer Code nur zu einem Prozent von
unserem abweicht, ihre latenten Fähigkeiten nur unter dem Einfluß von
Menschen ausbilden?
Es ist bekannt, dass höhere Säugetiere wie Katzen, Hunde und Affen träumen,
spielen und zu deviantem Verhalten fähig sind, und doch werden diese
Fähigkeiten im ethologischen Kontext hauptsächlich zur Erzeugung sozialer
Rollen genutzt.74 Der Traum, der auch für rezente, höhere Säugetiere ein
redundantes Merkmal ist, das ganz im Sinne von Shannons
Informationstheorie75 die Informationsverarbeitung gegen Störungen abschirmt

74 Bentele und Bystrina (1978:155 Anm. 58) unterscheiden die Bedeutungsklassen von
Tierlauten: “Während bei Vögeln häufig Informationen über Umweltobjekte (Futterquellen,
Feinde) übermittelt werden, spielt bei den sozial lebenden Säugetieren die
Motivationsübermittlung (subtile Stimmungsänderungen, spezifische
Handlungsbereitschaften usw.) eine große Rolle. Besonders bei den Affen, die in einem sehr
komplexen sozialen Gefüge leben, ist die Information über die belebte und unbelebte
Umgebung sehr gering, desto häufiger dafür die soziale Information, die der Koordination
verschiedener sozialer Aktivitäten (vor allem im Rahmen der funktionalen
Dominanzhierarchie) dient, so dass die Partnerinteraktionen fortgesetzt abgestuft modifiziert
werden können.”

Shannons Informationstheorie besagt, dass jede Entropieerhöhung - oder die Zunahme von
75
Wahrscheinlichkeit - einen Informationsverlust bedeutet. In seiner Theorie ist die Einheit der
Alienne Laval
und in dem z.B. bei Hunden Tagesaktivitäten wie Laufen, Jagen, Schnappen und
Springen sublimen reflektiert und codifiziert werden, verselbständigt sich bei
den Anthropoiden, die augenscheinlich immer mehr zu sinnlosen Tätigkeiten
fähig sind, in zunehmender Weise, bis einige Individuen auf den Einfall
kommen, ihr Sein aus diesem redundanten Bereich heraus neu zu
konstituieren.76

Frühere Annahmen (s.a. Rosenkranz 1971) gingen davon aus, dass es der
fehlende Keilknorpel des Kehlkopfes sei, der eine Versprachlichung der Affen
und damit eine weitergehende Evolution verhinderte. Doch heute wissen wir,
dass Affen neben dem Werkzeuggebrauch zu ausgeprägten mimischen und
gestisch-zeichenhaften Äußerungen fähig sind; es ist sogar möglich, ihnen
gestisch-zeichenhafte Hochsprachen - wie die Taubstummensprachen -
beizubringen.
"Uns Menschen”, so Hinrich Rahmann (1972:14), “sind Gefühle,
Willensprozesse und Vorstellungsvermögen zu eigen, psychische Eigenschaften
also, die sich zumindest auch bei höherentwickelten Tieren noch in
vereinfachter Form nachweisen lassen. Aufgrund der Tatsache, dass diese
Phänomene physiologischen, also kausal determinierten Prozessen parallel
meßbaren Information ein Bit; ein Bit ist jene Information, die einer einfachen Entscheidung
entspricht (ja - nein oder 0 -1). Nach dieser Theorie kann der genetische Code als ein
Alphabet mit vier Buchstaben, den Nucleosiden Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin
verstanden werden. Diese Buchstaben dienen dazu, um aus 20 Aminosäuren Proteine zu
synthetisieren. Zwei dieser Buchstaben, die einen Informationsgehalt von 4 Bit haben, reichen
nicht aus, um eine eine Aminosäure eindeutig festzulegen. Es werden also drei Nulceoside
benötigt, um die zwanzig Aminosäuren zu codieren. Der Informationsgehalt beträgt bei
Verwendung von drei Zeichen allerdings 6 Bit, ist also größer, als zur Codierung einer
Aminosäure erforderlich wäre. Kurz gesagt: ein DNA-Triplet enthält für seine Aufgabe ein
Zuviel an Information.
Dieses Zuviel an Information wird als Redundanz bezeichnet. Nach Shannons Theorie dient
diese Redundanz nur dazu, um Informationsübertragungen gegen Störungen abzusichern. Die
Codierung über ein DNA-Triplet soll also die Anzahl der möglichen Systemzustände und
somit die Entropie oder die Wahrscheinlichkeit reduzieren, enthält aber aus der Sicht des
Systems mit seinem Zuviel-an-Information trotzdem ein redundantes, entropisches Potential
für neue Codifikation.

76 Gerade soziale Säugetiere sind darauf angewiesen, ihr Verhalten in der sozialen Situation
erst zu erlernen; in Gefangenschaft gehaltene Orang-Utans z.B. wissen mit ihren Babys
nichts anzufangen, sie sind nicht einmal imstande, diese zu säugen; der Wal Keiko, der die
Hauptrolle in dem Film Free Willy spielte, kann nicht selbständig jagen. Doch Affen sind
noch zu ganz anderen Leistungen fähig. So sind sie neben dem Gebrauch vielfältiger
Werkzeuge auch zu scheinbar sinnlosen Tätigkeiten, wie dem Zusammenkleben und
Zerstören von Kuchen aus Kot oder Sägemehl imstande; es ist in Gefangenschaft möglich,
Schimpansen Zeichensprachen beizubringen, die sie eigenständig an ihre Nachkommen
weitervermitteln. Orang-Utans kann man das ihnen im Umgang mit ihrem Nachwuchs
fehlende Wissen durch bei frei lebenden Artgenossen aufgenommenes Filmmaterial per
Fernsehgerät vermitteln.
Alienne Laval
laufen, ist zu folgern, dass allen Lebewesen im Gegensatz zur unbelebten
Materie in irgendeiner Form psychische Komponenten (im einfachsten Fall
protopsychische Komponenten) zu eigen sind, die somit einen wesentlichen
Bestandteil der Gefügegesetzlichkeit lebender Systeme ausmachen."77
Die determinierten Prozesse sind jene, die im Rahmen der Informationstheorie
beschrieben werden können. Die protopsychischen Vorgänge hingegen, die den
kausal determinierten Prozessen parallel laufen, sind die redundanten und
müssen im evolutiven Kontext zugleich als protonarrative Komponenten
interpretiert werden. Narrativität hat aber zu tun mit Beweglichkeit, Wachstum
oder Formwandel. Auffällig ist, dass den biologischen Kriterien des Lebendigen
diese Begriffe fehlen. Rahmann schreibt (ebd.):
"Heute rechnet man diese Eigenschaften nicht mehr zu den
Lebenscharakteristika, weil man inzwischen lernen mußte, dass diese
Phänomene viel weiter als angenommen, über den Rahmen des Belebten hinaus,
verbreitet sind."
Wenn von einer Evolution des Lebendigen ausgegangen werden soll, dann wird
man jedoch unmöglich um diese Begriffe herumkommen. Die Orientierung, die
Rahmann vornimmt, kann daher nicht für eine Phase evolutiver Aktualisierung
gelten, sondern setzt fertige Lebewesen in einem erschlossenen Raum voraus.
Eine Bewegung in einem solchen Raum oder Universum ist allen prozessual
primären Lebewesen jedoch nicht gegeben; vielmehr erzeugen sie diesen Raum
erst durch Bewegung, Formwandel und die Art des Stoff- und Energiewechsels.
Dies ist aber nicht zweckmäßiges Erschließen, sondern über Anpassungen
hinausschießender Formwandel.
Diese immer vorhandene Wahrscheinlichkeit, wie Roland Harri Wettstein es
ausdrückt, ist für den Evolutionsverlauf jedoch relevant, und das bedeutet, dass
der ‘projektive Gehalt der biologischen Funktionen’ nur ‘semiotisch weiter
gedeutet werden könnte’. (s.a. Wettstein 1983:243f)

77 Die allgemein akzeptierten Kriterien des Lebendigen sind folgende (Rahmann 1972:9):
1. besonderer chemischer Aufbau
2. zelluläre Organisation
3. Stoff- und Energiewechsel
4. Fähigkeit zur Fortpflanzung
5. Reizbarkeitserscheinungen
6. Zweckmäßigkeit und Anpassungsfähigkeit
7. Zunahme des Ordnungsgrades (Verringerung der Entropie)
8. besondere psychische Eigenschaften

Unter 'besonderem chemischem Aufbau' versteht Hinrich Rahmann, dass alle Lebewesen
prinzipiell aus den gleichen chemischen Materialien aufgebaut und über die DNS codiert
sind. Vor einem kultursemiotischen Hintergrund sind neben dieser 'primären Codiertheit' die
'psychischen Eigenschaften' von besonderer Relevanz.
Alienne Laval
Der projektive Gehalt der biologischen Funktionen

Der protopsychische oder projektive Gehalt der biologischen Funktionen läßt


sich semiotisch weiter deuten, wenn wir zunächst auf das Beispiel der Seewalze
zurückkommen. Die Pädomorphose setzt eben nicht bei der erwachsenen
Seewalze an, sondern bei ihren Larven, redundanten, nicht voll integrierten
funktionalen Teilen, an denen Variationen auftreten können.
Am Beispiel dieser Larven läßt sich der ambivalente Charakter der
informationstheoretischen Redundanz gut demonstrieren. Einerseits dient die
Menge der Larven dazu, den Systemerhalt zu garantieren, andererseits ist es
einigen jedoch möglich, aus diesem Kreislauf auszuscheren und neue
systemische Ebenen zu etablieren. Das gelingt ihnen unter zeitweiliger
Ausschaltung eines Dritten, der erwachsenen Seewalze also. Ihre bipolare
Codifikation ist zwar weitaus ungenauer, wie die Informationstheorie lehrt,
erzeugt aber hohe Wahrscheinlichkeiten und damit neue, zunächst unabsehbare
Formen, die sich letztlich wieder in ternären Systemen einregeln und
synchronisieren. Auf jeden Fall aber führt die Ausschaltung des Dritten (hier:
der erwachsenen Seewalze), wie es Goethe im Anschluß an die Lehre Kants
vermutete und später Freud es nach Hanns Blumenberg (1983) mit seiner
Selbstanalyse vorfürte, zur zeitweiligen Aushebelung der Macht des Dritten, der
Begriffe, der Systematik bzw. zur Aufhebung der vorherigen Subjekt-Objekt-
Trennung und damit zu völlig neuen Perspektiven in den Innen- und
Umweltrelationen.
Auf der Ebene der Anthropoiden und der Prähominiden wird eine biologische
Recodifikation aufgrund der Komplexität des genetischen Codes und der
weitgehenden Verlagerung der reproduktiven Kapazitäten in den Innenraum
immer schwieriger78. Zudem ist das Tertium in Form des Corpus callosum fest
installierter Bestandteil des biologischen Apparates. Die Vorteile dieser
Codifikation wurden vorhin im Vergleich von Marsupialiern und Plazentalieren
aufgezeigt. Doch auf einen weiteren Vorteil müssen wir noch zu sprechen
kommen: der ternäre Hirnaufbau ermöglicht die Oszillation zwischen zwei
Formen der Codifikation oder heterogenen Zuständen, dem ternären und dem
bipolaren Modus: die Menschwerdung war nur möglich über das riskante,
zeitweilige und lokale Ausschalten des ternären Zustands. (s.a. Uchtmann 1995)
In der Bibel wird dieses Unterfangen als Sündenfall, der mit der Vertreibung aus
dem Paradies geahndet wurde, verstanden. Adam und Eva verweigerten mit
ihrer Entscheidung, vom Baum der Erkenntnis zu essen, das alte Tertium und
ließen sich auf eine neue, zunächst offene Codierung ein, die natürlich auch zu
neuen Schwierigkeiten führte. (s.a. Uchtmann 1997)

78 Das gilt zumindest für die Phase der Hominisation. Die ackerbauenden,
pflanzenzüchtenden und domestizierenden Kulturen sowie die gen- und atommaniplierenden
technischen Zivilisationen nehemen dieses Projekt jedoch wiederum auf.
Alienne Laval
Bipolare oder offene Codifikation

Die ungehemmteren Formen der Vorstellungskraft, von denen Koestler vorhin


sprach, und zu denen Menschen fähig sind, sind in den zwillingshaften
Phänomenen und Zwillingsmythen zu sehen, die weltweit anzutreffen sind (s.a.
Uchtmann 1990ff). In ihnen findet sich die Grundlage jener kulturell
primordialen Kapazität, die sich in der schamanischen Fertigkeit, sich kurzfristig
in einen bisoziativen (Koestler 1978; Uchtmann 1990ff, insb. 1998a) Zustand zu
versetzen, bis heute zeigt. Ich bin davon überzeugt, dass die Menschwerdung
nur über den Einsatz bipolarer, zwillingshafter Codifikation gelingen konnte.
Diese Phase ist es, die meiner Ansicht nach in den weltweit anzuteffenden
Zwillingsmythen dargestellt wird und die Zwillinge in erneuter Unkenntnis der
synchron gültigen Bedingungen von Welt und Umwelt auf sich selbst
zurückgeworfen allerlei Unfug treiben und das bis dato gültige Getriebe der
Mächte empfindlich stören läßt. Ihr bipolarer Code fungiert dabei als
prozessualer (Operations-)Code, als prozessualer Archetyp im Sinne Bystrinas
oder als Griff-Archetyp im Sinne René Thoms (1974; 1989). Der thomsche
Griff-Archetyp weist in seiner schematischen Darstellung allerdings schon
wieder auf ein vom zwillingshaften Prozeß vermittels einer Reihe
mythologischer Operationen erzeugtes greifendes Drittes hin, von dem die
Zwillinge zu guter Letzt dann in Form von Schöpfermächten an irgendeinem Ort
im Himmel (z.B. als Sonne und Mond) oder auf der Erde (z.B. auf einem Berg
im Osten) festgesetzt werden und damit neue Denk- und Lebensräume
erschließen. Das bedeutet, dass ihre asynchrone und lokale Bewegung
abgeschlossen ist und ein neues ternäres und synchrones System emergieren
kann, das dann von starren Archetypen, wie sie z.B. Ernst Cassirer, C. G. Jung
und Mircea Eliade beschrieben haben, determiniert wird.79

79 Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski hat bemerkt, dass "die ständig neu
auflebenden Interpretationen der empirischen Welt (...) die Empfindung der Welt als einem
Ort der Verbannung oder als eine Stufe der Rückkehr zum unbedingten Sein (erzeugen)."

Schon im alten Griechenland gab es eine ähnliche kritische Phase, die sich in den damals
nicht empirisch begründbaren Naturphilosophien von Thales, Heraklit und Empedokles
ausdrückte und gegen die die Philosophien Sokrates' und Platons entstanden, die sich gegen
die Wertenivellierung und Individualisierung des absoluten Standpunktes richteten. Ihre
Gegenbewegung war nicht nur der Versuch, die Individualethik an normative Gegebenheiten
anzuknüpfen, sondern hatte darüber hinaus ungeheuerliche Implikationen. Platons Denken,
das sich u. a. in der indischen Erkenntnis der inneren Erfahrung begründete, schuf ein
vollkommenes und zeitloses Reich überweltlicher Ideen bzw. statischer Archetypen als
Begründung einer Staatsphilosophie.

Diese Fragen kommen uns Modernen und Postmodernen, die wir schlau an der Zukunft
basteln, allzu bekannt vor. Auch für uns hat die nun mögliche Empirie ihre Versprechungen,
soziales und gesundheitliches Heil-Sein zu ermöglichen und gleichzeitig die Welt zu erklären,
nicht eingelöst. Stattdessen verlieren sich die Naturwissenschaften in den Nebeln von
Alienne Laval
Diese Einregelung erfolgt also nicht im Biologischen oder im Sozialen, sondern
zunächst durch mythologische Operationen.80 Die neu emergierenden
Sozialgefüge der Menschen, die sich nach dem ursprünglichen und
kulturgenerierenden Festsetzen der Zwillinge etablieren, müssen über Mythos
und Genealogie geregelt werden. Hier ergibt sich ein Problem, auf das schon
Claude Lévi-Strauss mehrfach aufmerksam machte, denn das Soziale und damit
auch die Sprache, sind gezwungen, auf zwei verschiedenen Ebenen, der
Mythischen und der Profanen zu operieren. Dieses Problem stellte sich für die
sozialen Säuger nicht, die ihr Soziales aus anderen Voraussetzungen heraus
vollkommen anders - nämlich ethologisch - konstituieren.81

Quanten und Chaos, die Medien in Unbestimmtheit und die Ökonomie in einer fragwürdigen,
selbstreferentiellen Zweckmäßigkeit.

80 Wie das gemacht wurde, erklärt die Religionswissenschaftlerin Wendy Doniger O'Flaherty
(1984:127): das Narrative funktioniert in den Träumen anders als in den Mythen, da den
Träumen ein überzeugender, ursächlicher Zusammenhang von Ereignissen, also die
Kausalität, fehlt. Den roten Faden einer Handlung ersetzt hier ein Muster von suggestiven
Bildern. In Träumen können keine Beweise geführt werden, da Beweise abhängig sind von
der skelettartigen Struktur des Ursache-Wirkungs-Zusammenhanges, an der es Träumen
mangelt. Mythen fügen den Träumen aber genau jene Struktur hinzu, die diese Beweise
möglich macht.

81 Nun ist aber der Übergang von den ethologischen Codes zu den ethnologischen oder
kulturellen Codes ohne unstatthafte Reduktion, nämlich die Ausklammerung des redundanten
Bereichs der Träume und Mythen, nicht zu erklären, auch wenn ethologische und
ethnologische Codes viele Parallelen aufzuweisen scheinen. Es tritt nämlich etwas hinzu, das
auch Adam und Eva nach dem Essen der verbotenen Frucht nicht erspart blieb, nämlich das
Todeswissen. Erst mit dem Todeswissen wird nach Ivan Bystrina (1989) ein Selbstbewußtsein
möglich. Das Selbstbewußtsein aber ist eine notwendige Inversion des Todeswissens, das zur
Triebfeder der entstehenden ethnischen Gemeinschaften und von Kultur, Wissenschaft und
Kunst werden wird. (s.a. Uchtmann 1993ff)
Diesem Problem ist nur mit einem erweiterten Schichtenmodell der Codes beizukommen, wie
ich es schon 1995 vorführte. Grundlage für eine semiotische Interpretation des Kulturellen
und seiner Evolution kann ein Drei-Schichten-Modell der Codes sein, wie es Bystrina (1989)
vorgeführt hat. Es wird dabei davon ausgegangen, dass Mensch in drei unterschiedlichen
Codeebenen existiert. Bystrina unterscheidet primäre, sekundäre und tertiäre Codes: primäre
Codes sind genetische Codes, intraorganismische Codes (z.B. Botenstoffe, hormonale
Regelsysteme etc.), Wahrnehmungscodes etc.; sekundäre Codes sind z.B. ethologische Codes
und 'sprachliche Codes'; tertiäre Codes sind 'hypersprachliche' Codes, die Träume, Märchen
und Mythen regeln. (Bystrina 1989:117)
Der hypersprachliche tertiäre Code, der mit dem durch den Mythos strukturierten Traum eine
zweite Wirklichkeit generiert, kann eben allein nicht handelnd auftreten, sondern muß sich
sekundärer und primärer Codes bedienen, um dies zu bewerkstelligen. Doch die nun neu
emergierenden sekundären und primären Codes sind vom Ursprung und vom Aufbau her von
den sekundären ethologischen und den primären biologischen Codes so verschieden, dass ich
von primären Codes I, sekundären Codes I, tertiären Codes, sekundären Codes II und
primären Codes II spreche. (Uchtmann 1995)
Alienne Laval
Die Zwillinge kommen also nicht umhin, in und mit den Mythen realistische
Bezüge zur Umwelt zu fabrizieren, die ihnen ein Überleben ermöglichen;
deshalb also die Operationen auf zwei Ebenen oder in zwei Kontexten, in denen
der Mythos jedoch als Code fungiert, der sich vorgefundener codaler
Versatzstücke bedienen muß, damit sich die zweite Wirklichkeit der Mythen mit
der ersten Wirklichkeit (s.a. Bystrina 1989) der Köper- und Umweltbedingungen
relationieren und sich aktualisieren kann. Eva Meier erläutert das Verfahren am
Beispiel paläolithischer Gestaltungen:
"Neben rhythmischen Folgen von Strichen und Punkten in der Altsteinzeit
entstehen auch stärker durchgebildete Figuren, die aber keine natürlichen
Lebewesen darstellen. In gewisser Weise sehen sie so aus, als ob sie Teile der
menschlichen Figur entleihen würden, um im Diesseits handelnd auftreten zu
können, während sie gleichzeitig durch das, was sie vom naturalistisch
dargestellten Menschen unterscheidet, darüber hinausgehoben wären...Eine
teilbare Grenze, die sich selbst durchquert und an Bewohnbarkeit gewinnt. Wie
in frühen, anthropomorphen Figuren, die keine Lebewesen darstellen, sondern
Ordnungen verkörpern..." (Meier 1989:381,383)

Synchronisation

Die Ordnungen, von denen Eva Meier spricht, sind als frühe
Synchronisierungsversuche zu verstehen, die das lokal durch die zwillingshaften
Handlungsoperationen Entregelte wieder in ein Gleichgewicht bringen sollten.
Die Figuren und die Teile von Figuren fungieren hierbei als konnotative
Versatzstücke, anhand derer ein mythologisch begründbares und in der ersten
Wirklichkeit voll funktionsfähiges ethnisches Soziales auf der Basis kultureller
Sozial- und Sprachcodes etabliert werden kann.
Jedoch war diese primordiale und halbwegs spielerische Konnotion nicht lange
haltbar und durch die Etablierung einer sozialen Syntax rutschten wirkliche
Menschen auf die Ebene der Konnotation, wurden zu ihren Platzhalten und
damit zu den Schachfiguren ahistorischer, mythischer Ordnungen und
Operationen, wie es beispielsweise Lévi-Strauss mit den Crow-Omaha-
Systemen demonstriert hat.82 Die biblische Schöpfungsgeschichte deutet diesen

82 Lévi-Strauss (1981:39) erläutert das Verfahren:


"Aufgrund ihrer Ausdehnung erinnern die kombinatorischen Möglichkeiten der Crow-
Omaha-Systeme an so komplizierte Spiele wie beispielsweise Skat, Dame und Schach...Im
Prinzip sind diese Spiele unempfänglich für die Geschichte, da dieselben synchronischen
Konstellationen (in den Verteilungen) oder dieselben diachronischen Konstellationen (im
Verlauf der Partien) erneut auftauchen können, und sei es nach Tausenden oder Millionen von
Jahren, sofern sich imaginäre Spieler so lange damit befassen könnten."
Doch weiter heißt es:
"Die kombinatorischen Möglichkeiten sind so groß, dass individuellen Entscheidungen ein
gewisser Spielraum bleibt, welcher der Struktur innewohnt", aber: "Der bewußte oder
unbewußte Gebrauch, der von ihm gemacht wird, könnte die Struktur sogar verändern...Dann
Alienne Laval
Wandel an, indem sie Eva eindeutig dem Adam unterstellt, die soziale Syntax
also hierarchisiert.
Tatsächlich wird dieser Wandel über semantische Naturrückgriffe vollzogen,
die, figurativ und konnotativ reflektiert, über totemistische Relationen die
Objekte anderer, also biologischer und ethologischer Ordnung, wie Tiere und
Pflanzen, einbeziehen, um das individuelle und gemeinschaftliche Sein
kontingent zu determinieren. Diese Relationen regeln dann nicht nur schon
vorgeburtlich die Stellung in der Gemeinschaft, sondern auch die Zugänge zu
Macht, Wissen, Ressourcen, die Dorfstrukturen usw.
In Ägypten wurde nach Herman te Velde (1967) durch fortlaufende
mythologische Operationen das Zwillingspaar Horus und Seth zunehmend
dissoziiert, bis Horus ausschließlich mit dem Papyrus und dem Wissen und Seth
mit dem Riedgras und dem Unwissen assoziiert werden konnte. Schließlich
wurde das Seth-Prinzip so weit ausgelagert, dass es nur noch als Vorurteil für
die Bestimmung von Ausländern und Fremdvölkern brauchbar war. Eine
schamanisch-zwillingshafte Bisoziation beider Pole, wie sie bereits für die
Kulturemergenz als unabdingbar herausgestellt wurde, war unerwünscht und
tabuisiert, um die funktionale Eleganz dieses vertikalen Weltmodells nicht zu
stören.
Auf diese Weise wurde im Laufe der Zeit eine soziale Vertikalität installiert, die
irgendwann naturäquivalente, absolute Macht auf der einen Seite und echtes
Elend auf der anderen gestattete. Und doch sind diese Systeme von ihren
paläolithischen Anfängen an mit einem kardinalen Problem konfrontiert. Sie
haben, wie sie es auch drehen oder wenden, kaum die Möglichkeit, eine
Synchronie mit der Welt herzustellen, d.h. ihr Abbild zu sein. Denn erst dieser
Schritt würde beweisen, dass sie tatsächlich wahr sind, im Einklang mit den
kosmischen Gesetzen funktionieren, dass Macht und Elend kosmische
Wirklichkeiten und damit gerechtfertigt seien. Doch diese so wesentliche
Synchronisierung blieb ihnen bei allen Bemühungen vorenthalten.
Bekannt ist inzwischen jener Synchronisierungsversuch, um den sich die
Ägypter des neuen Reiches bemühten. Der Ägyptologe Christian Leitz hat den
im neuen Reich erstellten Kalender des Thoth untersucht und ihn als Versuch

müßte man sagen, dass mit den Crow-Omaha-Systemen die Geschichte in die elemantaren
Strukturen eindringt, obwohl alles so aussieht, als bestünde ihre Aufgabe gerade darin, deren
Wirkung aufzuheben." (Lévi-Strauss 1981:39, kursiv R.U.)
Jede soziale Syntax ist für die Ewigkeit gedacht und hat kein Interesse an tatsächlichen
Veränderungen, die aber trotzdem auftreten. Die Bibel ist ein Buch der Täuschungen und der
Regelbrüche, die immer wieder die Geschichte einführen; ohne Jakob, dem Zwilling seines
nur kurz vorher geborenen älteren Bruders Esau und seinem initialen Betrug an ihm, hätte es
das Volk Israel nie gegeben. War es tatsächlich der gleiche Gott, der gleichemaßen das
Erstgeburtsrecht und den Betrug guthieß, der Jakob triumphieren ließ und ihm auch noch den
Namen Israel gab? Auch die Geschichten anderer Völker sind voll von diesen
geschichtsträchtigen Regelbrüchen, die oft als mit irregulärem, schamanischem Wissen in
Zusammenhang stehend gesehen werden.
Alienne Laval
interpretiert, den tatsächlichen und den ideellen Kalender in einer Synthese
zusammenzubringen. Beide Kalender konjugierten in Ägypten nur alle 1460
Jahre, indem der Aufgang des Sirius tatsächlich für vier Jahre auf den Morgen
des Neujahrstages fiel. Danach disjungierten beide Kalender wiederum. Nach
Leitz hatte die Verknüpfung beider Kalender nur ein Ziel, nämlich
"...die ägyptische Welt und ihre... Mythen mit Hilfe des Kalenders zu ordnen
und alle periodisch wiederkehrenden Naturereignisse in einen vollkommenen
und theologisch begründbaren Rahmen einzufügen. Dabei sollten der Zufall und
das Unregelmäßige ausgeschaltet werden - wie während der vier Jahre der
Apokatastasis, des kurzen Zusammenfalls des idealen und des tatsächlichen
Kalenders." (1995:36)
Apokatastasis bedeutet im eigentlichen Sinne die Wiederherstellung bzw. die
Wiederkehr der Sterne und Jahreszeiten, aber auch die Rückkehr in einen
früheren Zustand; im Neuen Testament ist damit jedoch auch die Neuschöpfung
der Welt gemeint.
Im Prinzip geht es bei der Apokatastasis darum, erste und zweite Wirklichkeit in
Einklang zu bringen und zu synchronisieren. Der Realitätseffekt aber, der nach
Lévi-Strauss und Jean Baudrillard auf der Disjunktion zweier Termini beruht,
geht eben mit dem Anspruch der ständigen Konjunktion flöten, d.h., dass die
Differenz zwischen erster und zweiter Wirklichkeit verschwindet und dadurch
die ursprüngliche zeichenprozessuale Produktivität in eine Phase der
zeichenhaften Reproduktion übergeht.83
Durch dieses Verfahren sollen nicht nur der Zeichenproduzent oder diejenigen,
die die Macht zur oder über die Zeichenproduktion haben, verborgen oder
verschleiert, sondern auch die herrschende soziale Syntax als naturkontingent
und nicht hintergehbar im Selbstverständnis verankert werden.
Ähnliches gilt in noch stärkerem Maße für den rezenten alles
synchronisierenden Anspruch der Informationsgesellschaft. Modern und im
Sinne der Informationstheorie ausgedrückt, soll über das Anstreben eines
apokatastatischen Zustandes eine Informationszunahme bei gleichzeitiger
Abnahme der Wahrscheinlichkeiten für unvorhersehbare Veränderungen im
System erzeugt werden, während Gespür und Wissen um gesellschaftliche
Hierarchien und Widersprüche langsam ins Unbewußte abdriften.

Die Evolutionsbiologie hat uns gezeigt, dass es Arten gibt, die sich seit
Jahrmillionen nicht mehr verändert haben. Diese Arten haben den Zustand der
auch in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften schon mehrfach
angestrebten Perfektion, bereits vor Urzeiten erreicht. Sie leben, wie man heute
so schön und in öko-dynamischer Eintracht sagt, im Einklang mit sich und ihrer

83 Lévi-Strauss' Warnung, keine heterogenen Elemente (wie Zustand/Akt <> Prozeß;


Dynamis <> Stasis) in einer gemeinsamen Menge zu kollabieren, wird bei diesem Verfahren,
das grundsätzliche und wechselseitige Transformierbarkeit und Reversibilität aller
natürlichen und kulturhaften Vorgänge in Aussicht stellt, außer Acht gelassen.
Alienne Laval
Umwelt. Doch der Einklang trügt, denn dieser Begriff ist ein Synonym für eine
homöostatische Ordnung, die allein und für sich gar nicht überlebensfähig wäre.
"Das normal - routinemäßig - standardisierte, invariante Verhalten kann nie
innovativ sein, kreative Funktionen erfüllen", wie Ivan Bystrina (1989:260)
bemerkt.
Das routinierte Bewußtsein ist ein Traumbewußtsein, es sind die Tätigkeiten ,
die man wie im Schlaf macht und die deshalb nicht mehr in das
Selbstbewußtsein und in die kritische Reflexion eindringen; es werden
höchstens Wünsche produziert. Jedes unbewußte und automatisierte Verhalten
wird Bestandteil dieses Bewußtseins, das ganz am Anfang der
Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins, vor der zwillingshaften Entregelung
des prähumanen und suggestiv-traumatischen ethologischen Sozialen, stand. In
diesem Sinne kann jede, auch eine informationstheoretisch- und technologisch
installierte, Apokatastasis, als Rückkehr in einen früheren Zustand oder als
Neuschöpfung der Welt verstanden werden.84
Naheliegend ist in diesem Kontext die Feststellung, dass die Information über
den Zustand eines Systems umso größer ist, je kleiner die Wahrscheinlichkeit
des Eintretens des Zustandes ist. Ein System - seine full structure - kann also
nur dann eindeutig beschrieben werden, wenn die Wahrscheinlichkeit von
Zustandsänderungen gegen Null läuft, es auf der Basis selbstreferentieller
Information funktioniert. Es muß hinzugefügt werden, dass Information kein
qualitativer Begriff ist, der Wertungen erlauben würde. Selbst ein völlig
sinnentleertes und wertloses System, in dem nur noch massenhaft Informationen
über Befindlichkeiten, Reklame, Waschzettel usw. kursieren würden, hätte eine

84 In dieser Synchronie der Information liegen alle Codes ungeordnet beieinander. Der
Zusammenbruch der syntaktischen und realen Machthierarchie setzt ihr geistiges Äquivalent,
die rein fakultative Codehierarchie gleichzeitig mit außer Kraft, die ebenfalls mit den
Attributen der Macht belegt wird. So verlieren beispielsweise Religion, Wissenschaft und
auch die Kunst, die nach George Bataille ebenfalls lange genug auf den realen Herrscher
referierte, mit dem Niedergang dieser Machtsyntax zugleich ihre Relevanz und gehen mit ihr
gemeinsam zugrunde, denn die Revolten gegen diesen Souverän und seine letztendliche
Abschaffung füllten das Vakuum, das sein punktuelles Verschwinden hinterließ, lediglich
politisch, ökonomisch und massenmedial aus. (s.a. Uchtmann 1996; 1999) Was das bedeutet
wird klar, wenn man den Prozeß der Demokratisierung, der gleichzeitig ein Prozeß der
Ökonomisierung war und ist, näher betrachtet. Während der Begriff der Macht durch den der
Verwaltung abgelöst wurde, wurde derjenige des Wissens durch den der Information ersetzt.
Wissen ist nicht mehr Macht, sondern Information ist Verwaltung.
Information gestattet die Verwaltung der Bedürfnisse, der Arbeit, der Freizeit, des Konsums,
der Wahrnehmung usw. Nicht die Aufklärung und Befreiung der Subjekte durch Wissen oder
ihre Unterdrückung durch Macht ist mehr angesagt, sondern ihre informations- und
verwaltungsbasierte Bespitzelung, Bestimmung und Fixierung. Es soll damit
informationstechnologisch und -theoretisch das gelingen, was Mythos und Religion bisher
versagt blieb, denn Macht und Wissen bleiben gleichermaßen Störungen im Getriebe von
Information und Verwaltung.
Alienne Laval
hohe Informationsdichte und eine geringe Wahrscheinlichkeit; es ließe sich
vollständig beschreiben.
Information ist daher ein für die Beschreibung evolutiver Vorgänge völlig
unbrauchbarer Begriff, der sich auf den Systemerhalt perfektionierender
Systeme bezieht. In diesen wird zwangsläufig die Informationsdichte zu-, die
Wahrscheinlichkeit für Neuerungen - und damit für Evolution - aber auch
abnehmen.85
Das Eintreten eines Zustands der Perfektionierung wird auf zeichenprozessualer
Ebene - wie schon angesprochen - dadurch angezeigt, dass die Frage nach dem
Zeichenproduzenten nicht mehr gestellt wird. Die Funktion des
Zeichenbenutzers ist einwertig und kennt nur noch einen Pol, den des
Zeichenempfängers. Hierdurch werden alle Zeichen- und Informationsprozesse
als natürliche, naturkontingente Vorgänge projeziert.86
85 Die These des Menschen als Wunschmaschine, wie sie Deleuze und Guattari vorführen,
kann so als informationstheoretisch und -technisch revitalisiertes Traumbewußtsein
verstanden werden, wie es sich eine Gesellschaft leisten kann, die sich so weit perfektioniert
hat, dass sie meint, ohne äußere Referenzen auskommen zu können. Eine derartige Ablösung
von den im Bewußtwerdungsprozeß emergenten Bedingungen ist indes nur denkbar als
evolutionäre Vollendung und Endpunkt, als gemeinschaftliches Ausscheren aus dem
Evolutionsprozeß.

86 Diese Auffassung kann jedoch nur eine Evolution annehmen, bei der sich auf perfekte
Zustände weitere perfekte Zustände aufschichten. Im Widerspruch zu einer derartig
kontinuierlichen Evolution steht allerdings schon der zweite Hauptsatz der Thermodynamik,
der eine irreversible, auf die Zukunft gerichtete Abnahme von Ordnung in geschlossenen
Systemen postuliert.
Diese Abnahme von Ordnung bezieht sich allerdings auf ein gegebenes, geschlossenes
System, auf ein von der Umgebung durch z.B. einen Glaskolben isoliertes Gas.
Organismische Systeme und die späteren Zeichensysteme, die Semiosphären, sind dagegen
von semipermeablen, also halbdurchlässigen Membranen umgeben, die eine entropische
Dissipation des Innenraumes durch Diffusion, Osmose oder Semiose verhindern sollen.
Diese Stoffwechsel- oder Zeichenprozesse werden nach dem diesem Beitrag
zugrundeliegenden Verständnis jedoch und soweit es die Umgebung zuläßt, auf einen als
aristotelische Finalursache deutbaren Endzustand hin immer weiter automatisiert. Diese
Systeme haben dann im Inneren sowie in ihren Wechselwirkungen mit der Umgebung eine
Homöostase erreicht, die selbst als ein Höchstmaß an Entropie angesehen werden kann.
Allein die Wirkung des dritten Hauptsatzes der Thermodynamik bzw. die evolutive
Entkoppelung redundanter Teile und die darauffolgende Ausbildung von die Disjunktion
wiederherstellenden neu emergierenden Systemen, hält sie davon ab zu kollabieren.
Roger Penrose sagte einmal, dass die Tendenz zu hoher Entropie in der Zukunft nicht
überrascht, da die Zustände mit hoher Entropie in gewissem Sinne die natürlichen Zustände
seien, die keiner weiteren Erklärung bedürfen. Die Zustände mit niedriger Entropie in der
Vergangenheit bleiben jedoch ein Rätsel.
Diese Zustände sind allerdings kein Rätsel, denn in der Vergangenheit kann es keine
automatisierten Prozesse lebendiger Strukturen und daher auch keine entropischen lebenden
Systeme gegeben haben. Jeder neue Prozeß entautomatisiert oder entregelt das Vorangehende
partiell und lokal (auch wenn es sich um ein Universum rein potentieller Information handelt),
muß also zunächst negativ entropisch wirksam sein, um nicht gleich wieder zu zerfallen.
Alienne Laval
Durch die Universalisierung und Globalisierung des Informationsprinzips strebt
die Semiosphäre so etwas wie ein Seewalzenstadium auf hohem
technologischen Niveau an und erhöht damit gleichzeitig aber die Redundanz,
die für Evolution so wesentlich ist. Das Duplet auf der Ebene der Kultur bedarf
der Moderation durch vermittelnde mythische, religiöse, ethische, moralische,
politische, ökonomische etc. Instanzen, das Triplet jedoch nicht; es würde eine
selbstreferentielle Handlungs- und Informationsökonomie auf rein
ökonomischer und informationstheoretisch codierter Basis gewährleisten. Die
großen Religionen und viele Philosophien haben diesen Schritt, der sich bislang
realitär kaum umsetzen ließ, mit ihren triadischen Konstruktionen bereits
vorweggenommen.
Doch das Triplet muß gleichzeitig die Redundanz erhöhen, denn es enthält mehr
Information, als für die reinen Codierungsvorgänge notwendig wäre. Vielleicht
waren die alten Religionen ja ziemlich nahe dran, indem sie die Trinitäten als
schöpferisch ansahen. Doch die selbsternannten Sachwalter dieser Trinitäten
mußten oft genug wiederum zu repressiven Mitteln greifen, um die redundanten
Energien der Informations- und Evolutions- bzw. Schöpfungsprozesse zu
steuern und im Zaume zu halten.
Die Automatisierung von Kommunikations- und Selektionsprozessen, die eine
Objektivität suggerieren soll, ist ebenfalls nur vorstellbar innerhalb eines
erneuten Kontinuums traumatischer und suggestiver Bilder, als
quasiorganismischer, ahistorischer Vorgang, der sublimen des Zeitpfeiles
abläuft. Es ist klar, dass mit der Etablierung derartiger Strukturen organismische
und vorbewußte Deutungen von Gesellschaft zunehmen, die den Binnenzustand
der Semiosphäre und die eigene Position darin nur noch mimetisch erfassen.
Dieser Verlust an Distanz kann dann als Ende der Geschichte, wie es viele
postmoderne Ansätze beschrieben haben, verstanden werden. Auch die
Seewalze ist ahistorisch, hat kein diachrones Potential, das sich in ihr selbst
aktualisieren ließe. Dieses Potential haftet ihr jedoch redundant an, ohne dass
der Organismus selbst ein Gespür dafür hätte.
Der zwillingshafte prozessuale Archetyp, der zur Erkenntnis des Anderen und
des Selbst führt, operiert mit der Einführung der Zeitdimension, die ein
Verlassen des Traumes und eine zwar terminierte, doch diachrone
Strukturierung ermöglicht. Ebenso, wie sich die prozessualen, schwimmfähigen
und geschlechtsreifen Larven der Seewalze auf einem höheren Niveau wieder
einregelten und sich neue, bei ihren späten Nachfahren auch ethologische und
ethnische Triplets bildeten, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach auch mit den
potentiellen prozessual archetypischen Entwicklungsformen menschlicher
Gemeinschaften sein.
Doch im Gegensatz zum Bestreben der heutigen ökonomischen Technokratien
läßt die Evolution alle möglichen Formen und Entwicklungsstufen
nebeneinander bestehen, sie versucht nicht, die realitätsstiftenden Disjunktionen
z.B. gentechnologisch aufzuheben, um ein interspezifisches, auf animalen
Leihorganen beruhendes amorph-humanoides oder cyborg-biotechnologisches
Alienne Laval
universales Feld zu schaffen. Man ist fast geneigt zu sagen, dass die Evolution
da viel toleranter und weiser ist, als die synchron mächtigen menschlichen
Gesellschaften, die keine Alternativen zu ihren Modellen zulassen und um den
Preis des Machterhaltes sogar das Konzept der Realität aufgeben. Die immer
nach Innen abgeleitete und paranoid auf dieses Innen bezogene Redundanz führt
zu Ängsten der Macht vor einer Zerstörung des Innen, dessen Zerstörung sie
aber mit diesem Verhalten erst inszeniert.
Für Norbert Bolz wird das menschliche Denken und Handeln nun von “...der
algorithmischen Struktur und digitalen Geschwindigkeit integrierter
Datenprozesse übertroffen. Das Subjekt ist raus aus dem Spiel. Seine politische
Dekonstruktion, die Strategie der minoritären Kämpfe, der Versuch einer
emanzipatorischen, kollektiven Subjektivität wird überflüssig” und der Triumph
der Technik über den Menschen "liegt in der physiologischen Analysierbarkeit
und physikalischen Rekonstruierbarkeit des Zentralnervensystems. Das ZNS
erscheint als Steuerungssystem eines gigantischen Datenprozesses, das eine
stabile Wirklichkeit errechnet. Wenn aber schon das menschliche ZNS
Wirklichkeit 'computiert', ist es nur konsequent, das menschliche Urteil über
computergestützte Modelle zu vermitteln." (Bolz 1995:115)
Bei dieser stabilen und errechneten Wirklichkeit handelt es sich um genau jene
traumatische und suggestive im oben diskutierten, informationstheoretischen
Sinne, denn eine stabile Wirklichkeit darf, wie gesagt, nur wenige
Informationen enthalten, um möglichst genau zu informieren und zu codieren:
sie muß die Zeichen, die ja einer höheren und redundanten Ordnung angehören,
rein informationstheoretisch begreifen bzw. ausschließen und sich auf neu
erzeugte vorbewußte Bedürfnisse konzentrieren.
Diesen Zustand hat Baudrillard (1976) als Simulation beschrieben. Simulation
bedeutet für ihn den Verlust der Referenten und referentieller Relationen
jedweder Art; d.h., die Informationsgesellschaft wird selbstreferentiell. Nach
Baudrillard - und hier bemüht er deutlich Karl Marx - findet ein Ereignis einmal
als historische Tatsache statt, um dann in der Simulation - oder der Farce im
marx’schen Sinne - noch einmal wiederholt zu werden. Was er darzustellen
versucht, ist eine Meta-Farce, ein globales oder universales Feld, in dem alles je
historisch Gewesene simulativ aufgeht. Keine der sich beschleunigenden Krisen
des Kapitalismus löst hier noch die globale Revolution aus. Diese
apokatastatische Simulation als informationstechnologische Übersteigerung und
gleichzeitige Farce des Kapitalismus wäre für Marx in ihrer derzeitig sich
andeutenden Form undenkbar gewesen, denn sie ist nur erklärbar vor dem
Hintergrund einer entstehenden Informationsgesellschaft.
Im Sinne Jorge Louis Borges könnte man hier von einem Aleph sprechen, das
als potentielles apokatastatisches Simulakrum nur darauf wartet, in einer offenen
Codierung, die die Pädomorphose in das fluide Unbewußte der
Alienne Laval
Informationsgesellschaft wagt, von einem prozessualen Operationscode erfaßt
und lokal umgangen zu werden.87

87 “Die bisher bekannte Digitaltechnik könnte vor einer Revolution stehen. In den USA
stellten Wissenschaftler des National Institute of Standards and Technology (NIST) mit der
‘Quantum’ genannten Theorie ein Axiom der Computertechnik in Frage. Die Digitaltechnik
früherer und heutiger Rechner basiert darauf, dass durch die Schaltungen eines Prozessors
Strom fließt oder nicht. Die mathematische Umsetzung von schier unendlich vielen Nullen
(Schalter aus) und Einsen (Schalter ein) ist die Keimzelle jedes Computerprogramms. Der
Quantum-Theorie folgend, nutzen die Forscher Atome, bei denen es zunächst analog zu
Schaltungen einen Ein- und einen Aus-Zustand gibt. Zusätzlich definierten die
Wissenschaftler aber einen dritten Zustand, den sie ‘Quantum Superposition’ nennen. Dieser
tritt immer dann ein, wenn ein Atom nicht angesprochen wird. Analog zu der heute
gebräuchlichen Bezeichnung Bits für die einzelne Ein/Aus-Rechnerschaltung nennen die
Forscher ihre Entwicklung ‘qBits’. Die Computerwissenschaftler sind über das reine Theorie-
Stadium bereits hinausgekommen. Ihnen gelang es bisher allerdings nur, einige wenige
Quantum-Schaltungen in Reihe anzuordnen. Sollte sich dieser Prozeß aber eines Tages auch
in größerem Maßstab wiederholen lassen, ist das der Weg zum Supercomputer.” (Baumeister
2000:14)

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