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Meereskulte________________________________________________________________________111
Tylor definierte 1871 Kultur als jenes komplexe Ganze, welches Wissen,
Glauben, Kunst, Moral, Recht, Sitte, Brauch und alle anderen Fähigkeiten und
Gewohnheiten einschließt, die der Mensch als Mitglied der Gesellschaft
erworben hat.
Tylor ging hierbei vom Vorhandensein einer Gesellschaft aus, die in
verschiedene Bereiche gegliedert ist und sich aus Mitgliedern zusammensetzt.
Angenommene erwerbbare kulturelle Fähigkeiten und Gewohnheiten werden
dabei von der Gesellschaft auf die Mitglieder übertragen. Das komplexe Ganze,
von dem Tylor spricht, setzt sich also aus erkennbaren, unterscheidbaren Teilen
zusammen, die zueinander in Funktion stehen und durch den Verbund der
Funktionen dieses Ganze ergeben.
Tylor nimmt hier die Kategorien seiner eigenen Gesellschaft (bzw. seiner
Interpretation davon) und setzt sie als 'allgemeinmenschlich'. Die dabei
verwendeten Begriffe werden wie 'objektive' (etische, absolute) Gegenstände
behandelt und auf jede mögliche 'Kulturform' (emisch) in einer
allgemeingültigen Formel angewendet.
Alienne Laval
In der strukturalen Analyse dieser kurzen Definition zeigt sich schon, dass Tylor
hier eine idealtypische Aussage über seine eigene Gesellschaft macht.
Vor dem Hintergrund von Firth' Konzeption der 'social organization', das in den
1950er Jahren erarbeitet wurde, läßt sich dingfest machen, welcher
'Strukturebene' der sozialen Organisation Tylors Definition zugehört. Firth
(1964) unterscheidet drei Ebenen der sozialen Organisation: die
Handlungsstruktur (structure of action), die Erwartungsstruktur (structure of
expectation) und die Idealstruktur (structure of ideals). Die Handlungsstruktur
zeigt eine gegebene Ethnie (soziale Gruppe, Gesellschaft etc.) in Aktion. Die
Erwartungsstruktur gibt Auskunft über die Erwartungen dieser Gruppe, was die
Gestaltung der unmittelbaren Zukunft angeht. Z.B.: früher war es die Regel,
dass der älteste Sohn den Hof erbte. Vor der Industrialisierung konnte er davon
ausgehen, dieses 'Recht' auch wahrzunehmen, da es seinen und den Erwartungen
seiner sozialen Gruppe entsprach. Industrialisierung und Verstädterung änderten
aber zumindest Teile seiner Erwartungen und dann auch die Handlungspraxis.
Die Idealstruktur wird aber durch die Verschiebung des Erwartungshorizontes
noch lange nicht angetastet. Man kann sagen, dass es sich hier um eine Ebene
besonders 'schwerer Zeichen' handelt. Der Bauer vom Lande, um bei diesem
Beispiel zu bleiben, war als Bauer in seiner Idealstruktur Christ und ist es auch
als Fabrikarbeiter geblieben. Selbst die Bürger in den Industrienationen sind
ihren Erwartungen (Monogamie, Mann dominiert Frau, ethnisches Dünkel usw.)
und Idealen nach Christen oder Muslime geblieben.
Das Verbot und die Aufweichung von tradierten Handlungsmustern änderte
nichts an den Erwartungen und Idealen.
Tylors Aussage läßt sich auf folgenden Inhalt reduzieren: in jeder 'Kultur'
werden die kulturellen Interna sozialisiert und konditioniert.
Bei Cohens Kulturdefinition (1974:46) treten materialistische und
produktivistische Kategorien in den Vordergrund. Er spricht von Artefakten,
Institutionen, Ideologien und der gesamten Breite gebräuchlicher
Verhaltensweisen, mit denen die Gesellschaft für die Ausbeutung ihrer
besonderen Umwelt ausgestattet ist. 'Verhalten' und 'Ausbeutung' werden bei
Levine (1975:213) zu 'Energiesystemen'. Er bringt damit in seine Definition die
Idee des Fließgleichgewichtes ein und weist in eine ökologische bzw.
kybernetische Richtung der Kulturinterpretation. Für ihn besteht Kultur aus den
Energiesystemen einer Bevölkerungsgruppe und deren Methoden bei ihrer
Verwertung, aus der Organisation der sozialen, politischen und wirtschaftlichen
Beziehungen, aus Sprache, Sitte und Bräuchen, Glaubensvorstellungen,
Verhaltens- und Kunstregeln - aus allem, was von anderen Menschen oder deren
Werken gelernt ist.
"Das bei Marx entlehnte 'Reich der Notwendigkeit' wurde für die
Zivilisation charakteristisch, das ebenfalls Marxsche 'Reich der Freiheit'
wurde mit dem Einzugsbereich der Kultur identifiziert. Diese
Gegenüberstellung erstreckt sich bis zu den Schriften von H.Marcuse, für
den zu dem Bereich Kultur die authentischen Werke der Literatur, Kunst,
Musik und Philosophie gehören, die durch die Zivilisation 'übernommen,
organisiert und verkauft' werden." (Bystrina u. Kuper ebd.)
Unter einem Text wird deshalb ein sinnvoller Komplex von Zeichen verstanden.
"Nach Lotman ist ein Text an sich relativ geschlossen, durch Anfang und
Ende begrenzt und enthält eine potentiell rezipierbare Botschaft." (Bystrina
u. Kuper :656)
Dass der Mensch ab dem Zeitpunkt der Kulturemergenz, der ihn der Natur
gegenüberstellte, zumindest in zwei Bereichen existierte, läßt sich schon von
den Erkenntnissen Saussures (1916) ableiten, der zwischen langue und parole
differenzierte. Lévi-Strauss (1958) stellte bei der Untersuchung von
südamerikanischen Indigenen fest, dass die Alltagssprache dieselben
Gegenstände wie die mythische Sprache, nur auf einer anderen Ebene,
bezeichnet. Nach Bystrinas Modell liegt die Interpretation nahe, dass Lévi-
Strauss herausgefunden hat, dass das Soziale wiederum auf einer Ebene der
sekundären Codes agiert, während die mythische Sprache, die dem Sozialen
zugrunde liegende 'langue' also, einen tertiären Code meint. Der Mythos aber
wird erst auf dem tertiären Code aktualisiert; er ist dem Sozialen verschlossen.
Übergänge vom einen Bereich in den anderen sind bei sogenannten
Stammesgesellschaften häufig mit besonderen Festen und Handlungen
verbunden.
Kultur bedeutet demnach das 'signifikante Operieren in einer zweiten
Wirklichkeit' (Bystrina 1989, Bystrina u. Kuper 1990).
bezeichnenderweise leichter, sich insgesamt an die Industrie anzukoppeln (s.a. die Utopien
des Karl Marx), als den individuellen Sprung in das kulturelle Sein zu wagen. Der
Bodenlosigkeit des kulturellen Anspruches gegenüber versprach die Industrie die Wahrung
von Heimat (auch einer internationalen, wenn gerade angesagt), Werten und Tradition. So
lassen sich heute so heterogene Ansprüche und strukturelle Unvereinbarkeiten wie 'High
Tech' und 'Blut und Boden' problemlos in einer gemeinsamen Menge vereinen.
Bayernschrankwand, Trachtenrock etc. schließen nicht Videorekorder, Mikrowelle, Computer
etc. aus. Eine solche 'menschliche' und d.h. ideologische Industrie, muß dem kulturellen
Schaffen zuwider sein
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ersten und wird aus dem Material der ersten Wirklichkeit durch vielfältige
Umstrukturierung aufgebaut." (Bystrina u. Kuper :659)
Die Interdependenzen der sozialen, wie auch der natürlichen Systeme werden im
Kulturellen verlassen. Auch wenn Utopien - vor allen Dingen, wenn im Sozialen
umgesetzt - die Tendenz zur Inversion und Perversion aufweisen, kommt der
Mensch, wenn er auch psychisch als Mensch überleben will, um sie nicht
umhin. Eine 'soziale' Kontrolle der Utopien kann einen neuen Faschismus
religiöser und/oder ökologisch-kybernetischer Art erzeugen.
Die durch Kultur dargelegten und entregelten Gegensätze werden so oft durch
beliebte Scheinlösungen ( die Letzten werden die Ersten sein, Diktatur des
Proletariats, der 'gute' Diktator, Tod für das Kollektiv, seelig sind die geistig
Armen usw.) im Sozialen wieder eingeregelt und ertragbar gemacht. Durch
Sozialisation, Tradition ( auch die Ritualisierung der Arbeit als
Lebenswirklichkeit zählt dazu), Wiederholung und Gewöhnung nehmen diese
Systeme 'Wirklichkeitsstatus' an. Deswegen erscheinen sie auch so starr,
unreflektierbar und invariant (eine übliche Meinung: "es war schon immer so"),
dass eine 'Lösung' unmöglich scheint. Gerade heute wird diese Behäbigkeit und
die dadurch implizierte Gefahr des Sozialen im Angesicht einer
wahrscheinlichen Katastrophe offensichtlich. In autopoietischer
Selbstgefälligkeit konstruiert das Soziale unter Zuhilfenahme kultureller, also
poetischer Inputs, als Rettungs- und Rechtfertigungsversuch Kybernetik,
Ökologie und Netzwerke. Diese 'neuen' Inhalte sollen auf bekanntem Wege
vermittelt werden, also lehr- und lernbar sein. In die möglichen neuen Schläuche
rinnt auf diese Weise der längst umgekippte Wein alter Schule und Didaktik.
Explorationstrieb (Koestler 1978) und Verstand werden zum Rieselfeld des
Bildungsapparates, der schulmeisterlichen Langeweile preisgegeben.
Es waren die Lösungen auf den tertiären Codes, die das (Über-)Leben der
Menschen ermöglicht und ausschlaggebend beeinflußt haben. Dass eine solche
Praxis mit unabsehbaren Risiken für Indivduum und Spezies verbunden ist, kann
nicht bestritten werden. Koestler (1978) sieht in der Sprachentstehung u.a. das
entscheidende Generativum für Kriege und Waffentechnologie. Als fatale
Lösung empfahl er entweder die Abschaffung der Sprache oder einen
neurochemischen Eingriff ins Gehirn. Auch Skinner (1971) strebte eine
Änderung der 'Kontingenzen' an, durch Anpassung der menschlichen Umwelt an
2 siehe dazu z.B. John Norman's Trivialroman-Epos 'Gor - die Gegenerde' (Heyne-Verlag).
Mächtige Satellitensysteme kontrollieren hier die Herstellung von Waffen, die über Hieb- und
Stichwaffen hinausgehen. Erfindet jemand eine Feuerwaffe, so wird er per Satellitenstrahl
exterminiert. Bezeichnend ist, dass diese Waffen in diesem Szenario dauerend neu erfunden
werden und nur eine exteriorisierte Kontrollinstanz dieses ungezügelte, innere Schaffen
unterbinden kann.
Eine solche Vorstellung läßt sich leicht auf den intellektuellen Bereich übertragen.
SittenwächterInnen, wie derzeit im Iran, könnten die Überwachung erlaubten Denkens
garantieren.
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Laborbedingungen. Er stellt sich dann eine Kunst und Literatur vor, die ohne
Tod, Mord, Macht, Ohnmacht und Tragödie/Komödie auskommt. Nach seinem
Ideal würde sich zu guter Letzt der Kontrolleur selbst in die Laborbedingungen
einbringen.
An dieser Stelle entsteht ein unkritischer Realismus, wie Gorsen (ebd.) ausführt:
Offensichtlich ist dabei nach Gorsen die 'domestizierende Sicht auf die reine
Gebrauchsfunktion der Kunst für die Gesellschaft'. Das eben Gesagte betrifft
daher nicht nur den Kunstbeschauer, der sich, sie letztlich auch verteidigend, in
diese Realität einbringen soll, sondern auch den Künstler, der gezwungen ist,
sich in sie einbringen zu müssen.
Im gleichen Maße, wie durch diesen Vorgang Kunst und Kultur zur Ware
werden, zwingt die Masse die Herstellung jeder Kunst auf ihr Verständnisniveau
als Konsumenten herunter.
"Diese Barbarei werden sie als neue Freiheit, als Emanzipation des
Genusses missverstehen." (Gorsen a.a.O.:224)
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Das bedeutet im Kontext dieser Konzeption eine Kybernetisierung und
Symmetrisierung der Kultur auf einem systemimmanenten Informationsniveau.
Kultur kann nur noch als Gebrauchs- bzw. Freizeitverhalten geduldet werden.
Das Innovative wird gänzlich den Regelkreisen (u.a. dem Sozialen) überlassen,
die es aber nicht leisten können und immer weitergehende Simulationsformen
produzieren. (s.a. Baudrillard 1976)
"Für die wirkliche Befreiung der Massen zum Kunstverständnis und damit
für die Chance aller, einen ähnlich hohen oder vielmehr höheren, qualitativ
anderen Status ästhetischer Bildung und Sensibilität zu erreichen,...wird
heute...(nichts) Entscheidendes getan."
Gorsen (:236) führt weiter aus, dass es 'die marxistische Psychoanalyse Reichs
und der surrealistische Marxismus Marcuses waren, die dem Gedanken zum
Zuge verholfen haben, dass Regressionen den Boden für Politisierung und
Revolutionierung (wider den verkehrten Fortschritt und wider eine vernunftlose
Vernunft) bereiten können,
"...dass sie nicht nur als Weltverlust, Autismus, als Rückschritt, Krankheit
und psychische Mangelerscheinung verstanden werden können, sondern,
dass sie - aus dem konservativen und repressive Ordnung stabilisierenden
Rahmen der heilmedizinischen Betrachtung gesprengt - Möglichkeiten
darstellen, jene Erlebnis- und Erfahrungsqualitäten, nun freilich verwandelt
und auf der Stufe der Selbstaufklärung ins Bewußtsein zurücktreten zu
lassen, die als deren Nachtseite verdrängt und zu sozial 'wertlosen'
Leistungen 'kultiviert' worden sind."
Gefährlich wird es nur, wenn diese Prozesse ins Private gedrängt verbleiben.
Gerade rigorose und faschistische Systeme haben immer die Tendenz, das
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Öffentliche bzw. die Öffentlichkeit zu verhindern und - da fremd und bedrohlich
- zu zerstören.
Kulturelles Schaffen ist, wie oben gesagt, auf den große Variabilität zulassenden
tertiären Codes angesiedelt. Es erhöht damit die Geschwindigkeit der
Modifikationen in der Humanevolution.3
Kennzeichnend ist die Reversibilität (s.a. Kramer 1987; Baudrillard 1983) aller
Prozesse auf dieser Ebene. Das bedeutet demnach Vorläufigkeit und ein
Ablassen von den auf das Finale fixierten Ideologien. Diese Einsicht fällt in
Europa, wo wir über Jahrhunderte das Leben in und das Bezogen-Sein auf starre
Muster gelernt haben, schwer:
"Auf die negativ entropisch wirkende Entregelung, die den Regress ins
Chaos wagt und ihre Autorität aus dem vom sozialen Kosmos als
Übermacht begriffenen Bereich bezieht, folgt der entropische Wunsch nach
Ordnung und der Homogenität eines von einer Macht - und sei sie auch nur
strukturales Prinzip - kontrollierten Paradieses." (Uchtmann 1991:169)
Eine wirkungsvolle Kulturpädagogik muss aber gerade hier ansetzen. Sie kann
nicht umhin, von der Prämisse auszugehen, dass 'Kultur' die treibende Kraft im
Prozeß der Humanevolution war und ist. Genau diesen Inhalt müßte sie
vermitteln. Die Vorgabe eines Ergebnisses wäre wiederum eine finale Fixierung.
Das Individuum ist anzusprechen, das bereit ist Intention/Intellekt zu
entwickeln. Eine Quantifizierung der Teilnahme durch großangelegte Entwürfe
und Raster schadet dabei der Qualität.
3 z.B.: das Efe/Gelede-Fest der Yoruba hat keinen anderen Sinn, als Geschehnisse der ersten
Wirklichkeit mit Hilfe der zweiten reversibel zu machen. Zu Beginn des Festes, das in der
Nacht beginnt, wird der Platz durch bestimmte, jenseitige (innere) Kräfte verkörpernde
Maskenträger gereinigt und auf die Ankunft der Wesen aus der anderen Welt vorbereitet. Es
wird dabei angenommen, dass diese Wesen mit dem Wind kommen und am Ende des Festes
mit dem Wind auch wieder gehen. Genauso wird aber davon ausgegangen, dass die realen
Unbilden mit dem Wind gekommen sind und am Ende des Festes von den Wesen der anderen
Welt mit dem Wind hinfortgenommen werden. Das Ganze ist profanerer Natur als man
zunächst denkt: Der 'Wind' bringt Veränderungen ins Land, die verstanden werden müssen,
damit mit ihnen umgegangen, damit auf sie reagiert werden kann. Dies sind nicht nur
Krankheiten, Mißernten usw., sondern auch die Einfuhr neuartiger Güter, Ideen, Kleidung,
Techniken und Arbeitsweisen.
Nach der das Fest eröffnenden Efe-Nacht tragen die Tänzer des nächsten Tages (Gelede) auf
ihren stereotypen, das Gesicht bedeckenden, Maskenunterteilen Aufbauten, die in
symbolischer oder realistischer Manier das Fremde und Neuartige darstellen (so können dort
neben traditionellen Motiven der Polizist, die Nähmaschine, der weiße Händler, das Auto, der
Heimcomputer etc. auftauchen).
Diese Form der Auseinandersetzung ist auf Reversibilität angelegt, die durch den Wind
symbolisiert wird. Das Skulpturelle dient der Anschauung, ist aber nicht Mittelpunkt. Der
Tanz ist dabei analog dem Wind. Es ist diese hohe Flexibilität, die das Überleben des Sozialen
bei gleichzeitiger Transformabliität sichert.
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"Ob und wie es möglich wird, kulturelle Repressionen bloß dadurch, dass
man sie den Regressionen provokatorisch konfrontiert, rückgängig zu
machen, ist keine leichte Frage. Die konkrete Utopie sinnlicher und
geistiger Freiheit kann für den Künstler in der unfreien Gesellschaft nur
wie in einem Zerrspiegel erscheinen: eben in der häßlichen, negativen
Gestalt von Neurosen, Perversionen, von Unfreiheit und Versagung, von
Unrecht und Gewalt, die Gegenstand von Konsensaufkündigungen sind."
(Gorsen :236f)
Kultur meint eben keine reine Ästhetik, keine 'reine Schönheit ohne Wert'
(Bataille), sondern ein existentielles Tun, das auf Veränderung ausgerichtet ist.
Das Individuum muß hierbei zunächst einen kritischen Zustand durchlaufen, der
es außerhalb des Normativen stellt, ihm die 'Kunst' vermittelt, den Sinn von
Regeln zu hinterfragen. (s.a. Uchtmann 1991)
Selbst eine effektive Gruppendynamik ist auf Individuen, Kritik und
Widerspruch, nicht aber auf Allgemeinheit angewiesen; das gemeinsame,
soziale Werkeln darf nicht im Vordergrund stehen, nicht zum Inhalt werden.
Eine solche Kulturpädagogik setzt bei Betreibern und Teilnehmern die
Bereitschaft voraus, grundsätzliche kognitive und damit auch soziale
Veränderungen in Kauf zu nehmen.
Ein solches Unterfangen wird zwangsläufig den Charakter eines Experiments haben müssen. Experiment
bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, von außen steuernd in den Prozeß einzugreifen, sondern gemeinsam zu
lernen und zu erfahren, dass existentielle Realitäten gleichzeitig experimentelle Realitäten sind, denn: ohne den
Zeichengebrauch auf den tertiären Codes ist das psychische Überleben nicht gesichert.
Die Kultursemiotik ist die Wissenschaft, die sich mit den von den Menschen in
der Entwicklung der Kulturen erfundenen Zeichenprozessen - den Semiosen -
und Zeichenräumen - den Semiosphären - beschäftigt.
Die semiotischen Wurzeln der Kultur finden sich in den Träumen und Spielen,
die man bei allen höheren Säugetieren nachweisen kann. Spätestens mit dem
Auftauchen der Kultur als originär menschlichem Phänomen kommen
psychische Devianzen, Drogengebrauch, Askese, Ekstase und symbolschaffende
Aktivitäten, also zeichenhafte Handlungsoperationen, hinzu.
Dieses Auftreten des Menschen als Kulturwesen übersteigt die Anforderungen,
die eine Organisation des bloß Lebensnotwendigen an das Mensch-Sein stellt.
Dem Schamanen ist dabei klar, dass Welt und Mensch nicht statisch auf
bestimmte Formen festgelegt, sondern veränderlich sind.
Auch dann, wenn Nahrung gesammelt, gejagt, zerlegt, geteilt, gegessen, verdaut
und ausgeschieden oder ein verfallendes Lebewesen bei der Auflösung
beobachtet wird, wird eine Metamorphose offenbar, die auch vice versa, als
Entfaltung, als Umkehrung - Inversion - des Zerfallsprozesses, denkbar sein
müßte. Das Geschehen des Verfalls, der Zerstückelung, wird zur synthetischen
Leistung invertiert, die das Zerlegte vor dem Hintergrund einer besonderen
Situation in einem Mythos vereinigt und somit den Verfall aufhebt und
zumindest partiell - in einer Semiose - umkehrt. Mit dieser Inversion haben wir
den kulturgenerierenden Übergang von den rein zergliedernden und zerlegenden
Leistungen und Verfahren zur allein synthetisch begründbaren Dimension der
Kultur vorliegen.
Der eine Zwilling wird in den Mythen häufig als häuslich und sozial gedacht
und mit gekochten Nahrungsmitteln ernährt, während der andere in der Wildnis
lebt, der Natur nahe ist, sich von rohen Beeren, Bohnen und ähnlichem ernährt
und von den Tieren aufgezogen wird.
Der wilde Zwilling ist schelmischer und intelligenter als der häusliche und
verführt diesen dazu, das eingefriedete Terrain zu verlassen. Nach einigem Hin
und Her - unter anderem erlernen die Zwillinge die Kunst, sich gegenseitig
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wieder zum Leben zu erwecken - beginnen sie gemeinsame Sache zu machen
und begründen neue Verfahrensweisen im Umgang mit den Menschen und den
Phänomenen der Welt.
Für den Kultursemiotiker Ivan Bystrina werden die 'Todesbewußtheit' und damit
in ihrer Folge die 'Selbstbewußtheit' zu den die Kultur und damit das
Menschsein konstituierenden Faktoren schlechthin.
Was bei der Initiation tatsächlich stirbt, ist demnach die alte Weltauffassung des
Schamanen, die allein durch sein in Erziehung, Sozialisation und Anpassung
geformtes 'Ich' bestimmt war.
Forschende und kreative Zugänge zur Welt, wie wir sie noch heute in den
Künsten und Wissenschaften finden, haben ihren Ursprung in dem komplexen
Zusammenspiel der Zwillinge, das der der Linearität des sozialen Schicksals
entgegengesetzt wird.
Nach Sigmund Freud soll es daher zwei Formen von Sublimierung geben, die
das Wesen eines Menschen verfeinern können, wobei eine das Werk der
Erziehung ist und eine andere, 'niedere Form', die selbständig entsteht und deren
Beginn in die sexuelle Latenzperiode der Kindheit zu verlegen ist. Im
günstigsten Fall bleibt diese Form das ganze Leben hindurch erhalten.
Diese niedere Form ist es, die nicht in den Bereich des Sozialen paßt, da sie
vom Sozialen aus gesehen zufällig entsteht und nicht kontrollierbar ist. Da diese
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Form der Sublimierung aber auch nicht in die Natur gehört, obwohl sie eine
wilde Form ist, gilt sie als gefährlich, aber auch als heilig.
Die Freuden am Schaffen, die Künstler und Forscher empfinden, sagt Sigmund
Freud in seinem Werk Das Unbehagen in der Kultur, erscheinen uns feiner und
höher, da sie diese besondere Qualität haben.
Die Initiation, in der der Schamane lernt, seinen wilden Aspekt oder Zwilling
mit dem sozialen Aspekt oder Zwilling zusammen zu bringen, vollzieht sich in
drei Schritten, deren erster die Trennung vom Sozialen, die Separation, bedeutet.
Auf diesen folgt eine Zeit der Absonderung, der Marginalität, die der Initiand
alleine in der Wildnis verbringt. Der letzte Schritt, der auch die Initiation
öffentlich macht, ist das Auftreten in der neuen Rolle, die Aggregation.
Im Falle des Jesus von Nazaret waren dies die Taufe durch Johannes im Jordan,
sein Wüstenaufenthalt und die Aufnahme seiner Tätigkeit als Wanderprediger
Diese Realität war für Johannes das Kommen des von den Propheten
angekündigten wahren Messias im Verbund mit einem rächenden,
apokalyptischen Gott. Die Taufe des Johannes bereitete die Getauften passiv auf
das apokalyptisch erwartete und herbeigesehnte Reich Gottes vor, war also kein
Initiationsgeschehen.
Es befreite die Getauften nicht von ihrem Unwissen, sondern beließ sie in einer
passiven Abhängigkeit, wobei hier allerdings die Abhängigkeit von den
römischen Besatzern auf das kommende himmlische Reich übertragen wurde.
Jesus, der aber als Handelnder auftreten und aktiv in das Geschehen eingreifen
wollte, stand gegen die Apokalyptik des Johannes. Im Gegensatz zu ihm, der mit
Wasser taufte, wurde die Taufe durch Jesus mit dem Feuer in Verbindung
gebracht.
Bei dem Taufgeschehen zeigte sich der Geist, der aus dem Himmel kommt, als
Taube.
In einem Mythos der siberischen Burjaten war es der Adler, der ausgeschickt
wurde, um dem ersten Menschen, dem er begegnete, egal welchen Geschlechts,
Lebenskraft und Allweisheit zu übermitteln. In diesem Mythos war es eine Frau,
der der Adler begegnete und die damit zur ersten Schamanin wurde.
Der Adler spielt in vielen Kulturen des nordasiatischen Raumes und
Nordamerikas die Rolle des Kulturbringers. Außerdem ist er Beschützer und
Leitwesen der in Trance reisenden Schamanen.
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Der Adler gilt aber auch als Symbol Christi und es gibt die Vorstellung vom
Kampf des Adlers mit der Schlange, als Symbol des Kampfes Christus mit dem
Satan, des Lichtes mit der Finsternis.
Baudrillard schreibt:
"So fordert der Asket, der sich abtötet, Gott heraus, ihm stets das
Äquivalent zu geben. Gott tut, was er kann, um es ihm 'hundertfach'
zurückzuerstatten, in der Form des Prestiges, der spirituellen Macht und gar
der weltlichen Herrschaft. Aber der geheime Traum des Asketen ist der, an
einen solchen Punkt der Abtötung zu gelangen, dass sogar Gott die
Herausforderung nicht mehr annehmen und seine Schuld tilgen kann. Er
wird dann über Gott selbst triumphiert haben, und er wird Gott sein.
Deshalb ist der Asket nie weit von der Häresie und dem Sakrileg entfernt
und wird als solcher von der Kirche verdammt, die nur dazu da ist, Gott vor
diesem symbolischen 'Auge in Auge' zu bewahren, vor dieser tödlichen
Herausforderung, in der Gott genötigt wird, zu sterben, sich zu opfern, um
die Herausforderung des Sichabtötenden anzunehmen. Zu allen Zeiten wird
die Kirche die Aufgabe gehabt haben, diese Art einer (zuerst für sie)
katastrophischen Konfrontation zu vermeiden und durch einen geregelten
Austausch von Bußen und Belohnungen zu ersetzen, durch ein
Äquivalentensystem zwischen Gott und den Menschen, das sie selbst
verwalten würde."
Baudrillard ist hier misszuverstehen, denn der Asket fordert immer die jeweils
herrschende Gottheit, also den Zeitgeist heraus. An anderer Stelle wird
deutlicher, was er meint:
Aus der vor der Initiation unkontrollierten und von außen beeinflußten oder
gelenkten Dissoziiertheit, einer Art geistiger Apartheid der zwillingshaften
Komponenten, wird in der Initiation die bewußte Bisoziation oder
Zusammenschau dieser beiden, vorher getrennten Kontexte.
Den Begriff der Bisoziation leitete der Kulturphilosoph Arthur Koestler von
dem psychologischen Ausdruck der Assoziation ab, der ihm als zu linear
erschien, um das Komplexe des menschlichen Seins zu erfassen.
Um die Zeit von Jesus' Geburt hatte es bereits eine Reihe von Bauernaufständen
gegen die römischen Besatzer gegeben. Die Bauern wehrten sich gegen die
hohen Steuern und die Schuldknechtschaft, die sie in zunehmende Armut und
schließlich zum Verlust ihres Ackerlandes führte.
Drei Viertel der Einwohner der Stadt Rom waren Sklaven oder Nachkommen
von Sklaven. Nach römischem Recht waren diese Menschen Sachen, die weder
das Recht zur Eheschließung, noch das Recht hatten, vor Gericht zu klagen.
Das Dorf Nazaret, in dem Jesus aufwuchs, lag an einer der verkehrsreichsten
Handelsstraßen Palästinas, sieben Kilometer von der römischen
Provinzhauptstadt Sepphoris (Sefforis) entfernt.
Sepphoris - mit seinen 30 000 Einwohnern - eine Großstadt, war Gerichtssitz,
hatte ein Theater mit 4000 Sitzplätzen, Paläste, Märkte, Archive, eine königliche
Bank, ein Zeughaus.
"Über der Erde gab es Himmel, bewohnt von Dämonen, Engeln und
Göttern verschiedener Art (die 'vielen Götter', deren Existenz Paulus in
1.Kor.8.5 einräumte und zu denen er den 'Gott dieses Zeitalters' rechnete
2.Kor.4.4). Im höchsten Himmel thronte der oberste Gott, Jahwe, 'Gott' par
excellence, der lange zuvor den ganzen Kosmos erschaffen hatte und der
im Begriff war, ihn umzuformen oder zu zerstören und zu ersetzen. Unter
der Erde existierte eine Unterwelt, zu welcher die meisten der Toten
hinabstiegen. Auch dort gab es Dämonen. Zwischen Unterwelt, Erde und
Himmel herrschte ein ständiges Kommen und Gehen übernatürlicher
Wesen, die sich auf vielerlei Weise in menschliche Angelegenheiten
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einmischten. Krankheit, vornehmlich Wahnsinn, Seuchen, Hungersnöte,
Erdbeben, Kriege und Katastrophen aller Art hielt man allgemein für das
Werk von Dämonen. Wie mit üblen Menschen, besonders mit
ausländischen Unterdrückern, lebbten die Bauern Palästinas mit diesen
Dämonen in ständiger Feindschaft und gelegentlichem Konflikt, doch die
Beziehungen waren komplex. Wie die römische Regierung ihre jüdischen
Agenten hatte, von denen einige, vornehmlich die Herodes, lokale
Herrscher waren, so hatten die Dämonen ihre menschlichen Agenten, die
Wunder verrichten und dadurch viele irreführen konnten. Die niedrigeren
Götter waren die Herrscher dieses Zeitalters, und Menschen, die sich
darauf verstanden, sie anzurufen, konnten ihre Hilfe für Zwecke aller Art
erlangen. So etwa Frauen, deren Gunst sie dadurch belohnt hatten, dass sie
ihnen Magie und andere Künste des höheren Lebens beibrachten.
Andererseits war oftmals Jahwe, wie die Dämonen, die Ursache von
Katastrophen, Krankheiten und dergleichen, die er als Strafen
herabschickte. Zuweilen setzte er Engel, zuweilen Dämonen als Agenten
seines Zornes ein, und seine menschlichen Agenten, die Propheten,
konnten ebenso Schaden zufügen, wie sie helfen konnten. Die meisten
Juden waren überzeugt, dass er zuletzt die Welt vernichten oder die
gegenwärtige Welt umformen und eine neue Ordnung schaffen werde, in
der die Juden oder zumindest diejenigen, die sein Gesetz befolgt hatten, ein
besseres Leben hätten. Allerdings herrschte tiefe Uneinigkeit über den
Gang der Ereignisse und über die Akteure in der kommenden Katastrophe;
eine reichliche Anzahl widersprüchlicher Programme war in Umlauf: mit
verschiedenen Rollen für einen oder mehrere 'Messiasse' - Sondervertreter
Jahwes -, Antimessiasse und verschiedenartige mythologische Ungeheuer.
Wir dürfen vermuten, dass nahezu alle palästinensischen Juden der Zeit
Jesu von sich annahmen, sie seien in das mythologische kosmische Drama
verwickelt."
Nach der Ansicht Morton Smith' hatte Jesus schon früh soziale Schwierigkeiten
und zeigte Verhaltensauffälligkeiten.
Diese Entwicklung deutete sich früh in der Kulturgeschichte mit der Gründung
fester Siedlungsplätze und Dörfer an, die häufig in eine untere und eine obere
Hälfte unterteilt waren. Die obere Hälfte wurde dann mit den herrschaftlichen
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Elementen Himmel und Feuer in Verbindung gesehen, die untere mit den
Elementen Erde und Wasser, die auf körperliche Arbeiten, wie Ackerbau und
Fischfang, hinwiesen.
Der Religionswissenschaftler John Dominic Crossan hat das Palästina vor und
zu der Zeit Jesu als Reich der Mittler beschrieben.
Die Mittler waren Anwälte, Günstlinge der Mächtigen, Personen mit
gesellschaftlichem oder wirtschaftlichem Ansehen.
Die Bevölkerung des römischen Reiches - das galt auch für Palästina - ließ sich
in zwei Hauptklassen einteilen: die Ehrwürdigen und die Demütigen. Während
die obere Klasse der Herrschenden und Besitzenden sehr klein war, war die
untere Klasse der Beherrschten und Besitzlosen außerordentlich groß und wuchs
durch die zunehmende Verarmung noch weiter an.
Ein direkter Kontakt zwischen beiden Klassen war nicht möglich, sondern
mußte von einem Dritten vermittelt werden.
Dieses Patronats- und Klientenwesen wirkte aber nicht nur in der Sphäre der
sozialen Beziehungen und der politischen Organisation.
Auch Himmel, Erde, Unterwelt und ihre Verpflechtungen und Übergänge waren
in dieser Weise organisiert.
Jeder, der in dieses System eingebunden war, von den Reichen bis hin zu den
Armen und Sklaven war auf das symmetrisierende Zentrum bezogen.
Freiheit konnte daher theoretisch nur erlangt werden in der bewußten Abkehr
und Abwendung von den Verflechtungen, Beziehungen und gesellschaftlichen
Hierarchien.
Die Beweglichkeit der Ausgegrenzten ist aber nur geduldet, so lange sie sich
von oben bewegen lassen. Auch die Arbeitsmigration, die im Palästina der
römischen Zeit üblich war, gehört zu den erwünschten oder geduldeten
Bewegungen.
Irregulär und tabuisiert ist die Beweglichkeit dann, wenn die Menschen
beginnen, sich selbständig zu bewegen und eine neue Ausdifferenzierung der
Gesellschaft fordern. Damit maßen sie sich Wissen an, das ihnen nicht gestattet
ist.
Aber auch in den großen Religionen - der jüdischen, christlichen, islamischen,
zoroastrischen und buddhistischen - die unter seßhaften Völkern gepredigt
wurden, die von wandernden Gruppen abstammten und später Hirten-Nomaden
waren, blieb dieses Gedankengut erhalten. Ihr Zeremoniell ist immer noch reich
an Hirtenmetaphern, ihre Prozessionen und Pilgerreisen sind Nachahmungen
von Hirtenwanderungen.
Der Reiseschriftsteller Bruce Chatwin sagte über die nomadischen Kunst, dass
sie dazu tendiere, tragbar, asymmetrisch, dissonant, rastlos, entkörperlicht und
intuitiv zu sein.
Die Revolte für das Leben, für welche die frühen Christen Folter und Tod in
Kauf nahmen, ist ein jenseitiger Akt, der von Mächten, die außerhalb der
Verwaltung stehen, legitimiert wird.
Jesus von Nazaret war zu Lebzeiten jenseitig orientiert und konnte erst durch
seine Kreuzuigung diesseitig und bildhaft festgesetzt werden. Als nun seßhafter
Vermittler sitzt er zur Rechten Gottes, da das, was er einst tat, niemals wieder
stattfinden darf.
Aber sein anderer Aspekt ersteht mit jedem Menschen wieder auf, der sich
gegen Ungerechtigkeiten stemmt, die Gegebenheiten nicht einfach fraglos
hinnimmt und sich neugierig und forschend auf das Angebot des wilden
Zwillings einläßt.
Was das Unerschlossene - wir Modernen sagen: die Zukunft - bringen mag,
darüber haben sich die Menschen schon zu allen Zeiten Gedanken gemacht.
Dieser Bereich muß sich aber nicht grundsätzlich vor uns in der Zeit, im Morgen
oder Übermorgen befinden, es kann sich auch um ein glorifiziertes Gestern, eine
goldene Zeit, handeln. Er kann aber auch als weit entfernter Ort im Raum
gelegen sein, der nur durch mühselige Reisen und Fahrten zu erreichen ist.
Die Arche, die Utnapishtim baute, war aber kein gewöhnliches Schiff: sie war
ein perfekter Würfel mit sieben Ebenen. Der Würfel ist die Arche - also der
Ursprung - eines neuen Zeitalters, das unter dem Primat der Berechnung steht
und zunächst die Architektur, den Städtebau, die Landvermessung, die
Grenzziehung und stehende Heere hervorgebracht hat.
Auch unsere Gegenwart steht unter dem Zeichen des Würfels, denn auch die
Mathematik und die Technik haben hier ihren Ursprung.
Für diese Tat verliehen die Götter Utnapischtim das ewige Leben. Eine weit im
Osten gelegene Insel gaben sie ihm und seiner Frau zum Wohnsitz.
Um dorthin zu gelangen, mußte Gilgamesch die Wasser der Sintflut, die
gleichzeitig die Wasser des Todes sind, durchqueren.
Als er angekommen war, gab Utnapishtim Gilgamesch die Empfehlung, sich mit
der neuen Zeit zu arrangieren und zum Leben zurückzukehren.
Im Gilgamesch-Epos heißt es:
Der Geschichtsphilosoph Giambattista Vico, der am Übergang des 17. zum 18.
Jahrhundert in Italien lebte, hat versucht den Verlauf der Geschichte anhand
derartiger Mythen zu systematisieren und zu bestimmen.
Vico nahm die alte, ägyptische Vorstellung von den drei aufeinanderfolgenden
Zeitaltern auf - dem der Götter, dem der Helden und dem der Menschen - und
erweiterte sie um ein viertes Zeitalter, das des Chaos, in dem wir uns auch heute
wieder befinden.
Mit der Entwicklung vom göttlichen Zeitalter zu dem des Chaos geht nach Vico
ein Verlust der Sprache einher, die sich von der hieroglyphischen oder heiligen
Sprache über die symbolische oder figurative Sprache bis hin zur vulgären
Sprache verändert, die nur noch Zeichen benutzt, um die alltäglichen
Bedürfnisse des Lebens mitzuteilen. Nach Vicos Ansicht werden sich die
Verwirrungen des chaotischen Zeitalters, das unter dem Merkmal der Spirale
steht, erst in einem neuen Zeitalter der Götter auflösen. Dieses wird als
Kennzeichen die Gerade haben, also die Richtungslosigkeit aufheben.
Vico begreift die geschichtliche Entwicklung als ein System, das er durch die
Wirkungsweise des Menschen zu begründen versucht, dessen Leben als
zwischen zwei Polen - Materie und Geist - aufgespannt erscheint.
Die Menschwerdung wird Vico zu einem Abstieg in die Materie, der nur in einer
Entmenschlichung - also im Chaos - enden kann.
Auf die größtmögliche Annäherung an die Materie im Zeitalter des Chaos muß
nach der Auffassung Vicos aber der Wiederaufstieg des Geistes im Zeitalter der
Götter folgen.
Diese Mythen und ihre Interpretationen thematisieren die Angst des Menschen
vor dem Verlust der Seele und ihrer möglichen Auflösung in der Materie.
Jeder Art von Prophezeiung, vom Johannes der biblischen Offenbarung über
Nostradamus bis hin zu Karl Marx, liegt ein derartiges oder ähnliches System
der Seelenrettung zugrunde, in das die Wahrnehmungen eingeordnet und in dem
sie bewertet werden, denn das Unerschlossene selbst ist für den Menschen
unaushaltbar.
Der Mensch hat daher immer gehofft, dass dort irgendwo in der Ferne ein Ort
sein müsse, der die Widersprüche und Ungerechtigkeiten, die ihm das Leben
schon so beschert - vor allem aber den Fluch des Geboren-Seins und die mit
Alienne Laval
ihm verbundenen Verwicklungen und Komplexe bis hin zum unabwendbaren
Sterben -, außer Kraft setzen müsse.
Früher gehörte der Umgang mit Leben und Tod in den Bereich der Religion;
inzwischen hat sich aber die Wissenschafts-Technik dieser Thematik
bemächtigt.
Ein wirkungsmächtiger Umgang mit dem Bereich des Unerschlossenen war
daher oft ergriffenen und entschlossenen Personen oder religiösen Spezialisten
vorbehalten. Von den schamanischen Visionären und den Propheten der
Religionen bis hin zu den astrologischen Berechnungen und den modernen
Prognosen der Zukunftsforscher läßt sich der Stammbaum der Zukunftsdeuter
rekonstruieren.
Die Entwicklung von der Vision zur Prognose ist aber verbunden mit einer
anderen, nämlich der von der Utopie zur Zukunft, die sich mit der
würfelförmigen Arche des Utnapischtim bereits andeutet. Es sind dabei nicht
nur alte Begriffe durch moderne ersetzt worden, sondern die neuen Begriffe
beschreiben auch ganz andere Haltungen und Erwartungen als die alten.
Die Utopie hat zu tun mit den Märchen, Mythen und den Hoffnungen, die sie
seit grauer Vorzeit veranschaulichen. Sie ist in Visionen und Träumen
entstanden und erlebt worden und hat die Entwicklung des Menschen lange
begleitet.
In der Regel machen die Helden der Märchen und Mythen lange Reisen, auf
denen sie gegen Ungeheuer zu kämpfen und schwere Rätsel zu lösen haben.
Diese Reisen finden aber mehr in einem inneren und geistigen Bereich statt als
in der realen Außenwelt.
Zu diesen Seelenreisen zählen die Fahrten des Gilgamesch und des Odyseeus,
die zu den Grundlagen der abendländischen Kultur wurden. Das Epos, das von
den Abenteuern des Gilgamesch handelt, beeinflußte die Entwicklung der
Kunstform der Literatur bis in unsere Gegenwart. Homers Epos Die Odyssee
zählt zu den Gründungsmythen der athenischen Demokratie.
Doch hierbei ergibt sich ein Problem, denn Vision und Prophezeiung haben, wie
auch die Prognose, die Tendenz, diesen Effekt einseitig aufzuheben. Während
Vision und Prophezeiung Utopien entwerfen, die letztendlich die physische
Realität negieren und zur Verleugnung alles Körperlichen führen können,
versucht die Prognose das Kulturelle und Psychische außer Kraft zu setzen, um
die Zukunft in eine bestehende Gegenwart einzugemeinden.
Wir vertrauen heute eher den Prognosen als den Visionen und Prophezeiungen,
da wir an ein naturwissenschaftliches Weltbild gewöhnt sind. Unsere Zukunft
erscheint uns als allein mit unserem Gebrauchsverhalten und Alltagsbewußtsein
angehbar und machbar.
Die Schlüssel zur Zukunft sind - so glauben wir - nüchterne Überlegung und
Planung, die uns einen geregelten Übergang ermöglichen werden. Diese
Planung ist nicht nur das Kennzeichen technologischer oder ökonomischer
Ansätze, sondern auch von fortschrittlich-ökologischen Bemühungen, die zwar
der klassischen Ökonomie entgegenstehen, sich aber dennoch von ihr ableiten
und eine Gegenrechung aufmachen.
Bislang ist es nicht gelungen, Seele oder Psyche im Labor zu isolieren, und das
bedeutet, dass sie u-topisch - also nicht-örtlich - und keineswegs empirisch sind:
sie zeigen sich uns nur in Form von Wirkungen. Die Wirkungen haben
Textcharakter: hierzu gehören Märchen, Mythen, Kunstwerke, Literatur, Tanz,
Theater, wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwürfe, Religionen und
Philosophien. Umgekehrt sind es diese Texte, die Menschen zur Seelenhaftigkeit
anregen oder ihre Seelen beflügeln.
Alienne Laval
Die Ortlosigkeit der Seele wird in der empirischen und quantitativen Forschung
durch ihre Nicht-Existenz begründet. In den einschlägigen Erklärungen wird die
Seele zur Funktion und durch biologische und psycho-soziale Zusammenhänge
ersetzt, die gestört oder ungestört ablaufen können.
Da die Psyche eine Utopie ist, kann sie in diesen Systemen, die nichts anderes
als ihre Unterdrückung und Austreibung im Schilde führen, auch nicht mehr
auftauchen; ebenso ergeht es den Texten, in denen sie sich entäußert. Kulturelle
Texte werden zunehmend abgelöst durch Bedienungsanleitungen und reine
Gebrauchstexte, die an der sozialen Realität kleben und niemanden mehr dazu
erheben, über den Tellerrand zu gucken.
Das Tagesgeschehen und die Gespräche handeln hauptsächlich von der
Organisation des Banalen. Die Verrichtungen, um die sich alles dreht, sind
Essen, Trinken, Fernsehen, Bekleidung, Kinderaufzucht, Sport und Arbeit. Es
gibt keinen Sinn mehr hinter diesen Funktionen; sie finden ihre Begründung nur
noch in sich selbst. Ihr Ziel ist der reine Selbsterhalt dieser Tätigkeiten und ihre
Vererbung von der einen Generation auf die nächste; es gibt keine Utopie mehr.
Jede Leistung oder Handlung, die wir erbringen, bleibt jedoch auf die Utopie
geworfen, wenn sie einen Sinn haben soll.
Wie ein System beschaffen ist, das beiden Wirklichkeiten Rechnung trägt, kann
am Beispiel des Kula-Ring-Tausches der Bewohner der melanesischen
Trobriand-Inseln verdeutlicht werden.
Das Kula war eine Form des symbolischen Tauschhandels zwischen den
Bevölkerungen eines großen Gebietes, die einen weiten Ring von Inseln im
Norden und Osten der Ostspitze Neuguineas und auch Dörfer am Ostkap
Neuguineas bewohnten.
Bei den Fahrten ging es aber in erster Linie nicht um den materiellen Wert der
Gegenstände, die getauscht wurden. Ihr Wert war ideeller Natur, denn sie waren
Ausdruck und Überbringer einer bestimmten Seelenhaftigkeit, die in Form von
Geschichten, Mythen und Ritualen weitergegeben wurde.
Der Ethnologe Bronislav Malinowski hat seine Monographie über die Bewohner
der Trobriand-Inseln auf drei Bände angelegt. Den ersten Band, der sich mit
dem Kula-Ring und dem symbolischen Tausch beschäftigt, nannte er - in
Anlehnung an die Argofahrt des Odysseus - Argonauten des westlichen Pazifik.
Alienne Laval
Es folgten die Bände Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwestmelanesien
und Korallengärten und ihre Magie.
Die Argonauten des westlichen Pazifik machen den Leser vertraut mit dem
Kulturverhalten der Bewohner der Inseln, die am Kula teilnehmen, während die
beiden folgenden Bände ihn in die Organisation des Sozialen und des
Gebrauchsverhaltens einführen.
Die Teilnehmer am Kula hatten eine Harmonie zwischen den Polen Geist und
Materie, Kultur- und Gebrauchsverhalten zustande gebracht, die sich beide als
nicht ineinander auflösbar darstellten.
Das, was sozial gelebt wurde oder als heimatlicher Ort bestimmt werden konnte,
wurde als durch die Utopie begründet gesehen, welche die am Kula
teilnehmenden melanesischen Gesellschaften von sich entwarfen. Diese Utopie
konnte aber nicht im Sozialen selbst, sondern nur in der sozialen Aus-Zeit der
Reisen erschlossen, aufrechterhalten und gefestigt werden.
Die richtige Formel schien den Melanesiern die stereotype Massenhaftigkeit der
uniformierten Eindringlinge zu sein, die auf Befehl und Gehorsam in
organisierten Verbänden auftraten.
Zur Vorbereitung auf das Cargo und die Teilnahme an diesem zukünftigen
Raum bildeten sich streng organisierte Kulte, in denen das Befehlen und
Exerzieren geübt wurde.
Groß war dann die Enttäuschung, als später gesehen wurde, dass die aus Holz
und Bambus gefertigten Anlagen der Landeplätze nicht magisch funktionierten,
keine Modelle für die Zukunfstbewältigung waren, kein Cargo herbei
beförderten.
Es ist genau diese Form des geordneten und planvollen Übergangs oder Zugangs
zur Zukunft, die auch von Europäern, Japanern, Amerikanern und anderen geübt
wird, so, als ließe sich allein anhand der ins Hyperdimensionale und
Perspektivlose aufgeblasenen Technik festmachen, was Zukunft wirklich sei.
Neuerdings ist die Rede von neuen Fertigkeiten, Qualifikationen und
Verhaltensweisen, die erlernt werden müssen, damit man auch in die Zukunft
hinein kann, deren Beschaffenheit schon längst feststeht.
Trotz aller Mühen, die die Melanesier auf sich nahmen, um mündige Teilnehmer
an der Zukunft zu werden, wurden sie dennoch erst einmal von der Zukunft der
Fremden ausgeschlossen.
Inzwischen aber teilen die Melanesier mit uns denselben Cargo-Kult, der in
einer Linie vom Fernsehen zum Cyberspace führt.
Der direkte Zugang zur Welt und eine Einflußnahme ist verwehrt; das was
bleibt, sind die Fernsehgeräte und die auf das Weltall ausgerichteten
Satellitenschüsseln, die genauso hilflos und verzweifelt wirken, wie die
hölzernen Flughafenanlagen und Exerzierplätze der Melanesier.
Die heile Welt der abgeschotteten und ruhigen Häuser, Vorgärten und
Kleinfamilien, die in einer chaotischen Welt glücklich und ohne Seele
zurechtkommen, gibt es nur in den Fernsehstudios und der bunten Warenwelt
der Werbung. Der Versuch, diese Botschaften aus dem All in das Leben
umzusetzen, ist ebenfalls ein Cargo-Kult.
Alienne Laval
Die Verzweiflung darüber, dass die Umsetzung nicht klappt, kann sich aber
auch gewalttätig Bahn brechen - so wie es in Melanesien häufig passierte -,
indem irgendwann ein Kulminationsspunkt erreicht war, an dem die
herrschenden Autoritäten offen abgelehnt und auch bekämpft wurden.
Der Verlust der Utopie und die vorenthaltene Teilnahme an der Zukunft können
sich dann explosiv entladen. Die aufgestauten Gedanken und Vorstellungen, die
keine Chance mehr hatten auf den Reisen und in Tausch- und
Kommunikationsbeziehungen zu Geschichten zu werden, wandten sich nach
außen und trafen die Händler, Priester, Landbesitzer und Verwalter.
Diese Aufstände waren aber Revolten für etwas, nämlich für die
Wiedererlangung der Seelenhaftigkeit.
Christoph Kolumbus und seine Mannschaft waren die ersten Abgesandten des
christlich-abendländischen Kulturkreises, die über den Atlantik segelten, dort
auf einen unbekannten Kontinent stießen und fremde Menschen trafen, die sie
Indianer nannten.
Im Gepäck hatten sie nicht nur Waffen, Geschenke und Tauschobjekte, die sie je
nach Bedarf einsetzten, sondern auch das zentrale Symbol des christlichen
Glaubens, das Kreuz.
Als Kolumbus und seine Nachfolger sich entschlossen, die Welt zu entdecken
und zu erobern, stand die Kirche diesem Unterfangen zunächst äußerst skeptisch
gegenüber. Sie schien von der Universalität ihres Symbols nicht sonderlich
überzeugt gewesen zu sein.
Tüftler, Ketzer und Wissenschaftler waren es, die bald eine
Anwendungsmöglichkeit des Kreuzes fanden, die mit Hilfe von Seekarten und
technischen Meßgeräten die Fahrten auf den Weltmeeren erleichterte: sie teilten
den Gobus in Längen- und Breitengrade ein und versahen ihn auf diese Art mit
einem Koordinatensystem. Dieses System machte ein planvolles Reisen und
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Missionieren erst möglich, da jeder Punkt - ob zu Lande oder zu Wasser -
markierbar und wiederauffindbar wurde.
Es war der Gebrauch von Zeichen und Symbolen, der aus unseren
stammesgeschichtlichen Urahnen Menschen machte. Zeichen und Symbole
dienten schon den frühen Menschen dazu, sich miteinander zu verständigen oder
während der Jagd zu orientieren, Gruppenzugehörigkeiten und
Machtverhältnisse auszudrücken, Grenzen zu markieren und die Wahrnehmung
der Umwelt zu steuern.
Das abstrakte Symbol ist die Umkehrung dieses Prozesses und schafft einen
Plan oder eine universelle Karte der Welt, die auf alle möglichen Beziehungen
angewendet werden kann und die Welt steuerbar machen soll.
Alienne Laval
In ihrem Buch Am Anfang der Kultur geht die Kulturanthropologin Marie König
davon aus, dass die Menschen schon früh damit begannen, in Gegensätzen zu
denken. Die Welt bestand für sie aus zwei gegensätzlichen, aber
zusammengehörenden Teilen, die ihre symbolische Darstellung in der
hantelförmigen Doppelkugel, dem sogenannten Sphäroid, fanden.
Auf solche Formen, die die Natur durch Zufall schuf, bevor der Mensch sie
handelnd nachempfand, sind die frühen Menschen auch in Europa auf ihren
Wanderungen gestoßen.
In Frankreich kann ein solcher Sphäroid, ein Härtling aus Felsgestein, in einer
Höhle bei Noisy-sur-École auf dem Mont des Sabots noch heute betrachtet
werden. Diese Doppelkugel ist von zahlreichen Ritzungen und eingeritzten
Schälchen umgeben, die, immer wieder überlagert, den ganzen Höhlenraum, den
Boden und die Decke überziehen. Die Ritzungen zeigen, wie sehr die Form
dieses Sphäroids die Menschen der Vorzeit beschäftigt haben muß.
In den benachbarten Grotten wurden ebenfalls Zeichen eingeritzt und es hat den
Anschein, als sei hier einst ein Kult um die zentrale Höhle herum entstanden.
Die Doppelkugel kann als ein abstraktes Symbol verstanden werden, welches
das Denken in Gegensätzen auf eine erste Formel brachte.
Der für die Menschen zunächst wichtigste Gegensatz war derjenige zwischen
den Zeichen gebrauchenden und symbolschaffenden Menschen und ihrer
Umgebung, also der von Nicht-Natur und Natur. Zur Nicht-Natur gehörten die
Ritzungen und Zeichnungen, die die Menschen auf Steinen und Felsen
anbrachten und die zukünftig zur Ausbildung eines ganzen Kosmos von Zeichen
- der Kultur - führen sollten.
Diese Abgrenzung des Eigenen vom Andersartigen, die der Mensch an dieser
frühen Stelle beginnt, sich anhand zeichenhafter Darstellungen bewußt zu
machen, wird später als die Opposition von Kultur und Natur ausformuliert.
Schon anhand des einfachen Modells der Doppelkugel konnten die Gegensätze
von Natur und Kultur, rechts und links, Mann und Frau und später auch der
Gegensatz von oben und unten, von Himmel und Unterwelt, dargestellt werden.
Doch erst im Baum mit seinen Verästelungen fand sich ein Modell mit dem die
groben Gegensätze aufgelöst, feiner hierarchisiert und unauffälliger dargestellt
werden konnten.
Der Baum diente in vielen Kulturen als Muster für die Gliederung der
natürlichen und die Organisation der sozialen Welt sowie der Regelung ihrer
Beziehungen und Zusammenhänge. Der Baum drückte nicht nur die
Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der menschlichen Gemeinschaften aus,
Alienne Laval
denn sein dicker Stamm markierte auch den mythischen Ursprung der jeweilgen
Gruppe.
Die nordamerikanischen Indianer hatten diesen Baum häufig auf seine Achse,
den sogenannten Totempfahl, reduziert.
Noch heute sprechen wir von Stammbäumen, die wir erstellen lassen, um unsere
Verwandtschaft mit bestimmten Vorfahren nachzuweisen.
Der Baum mit seinen Verästelungen funktionierte aber auch als Vorlage für die
optische Gliederung der Landschaft.
Der Weltenbaum diente bei diesen Aktionen als eine Art Koordinatensystem,
das die Wahrnehmung und die Gedanken ordnete.
Schon früh in der Kulturgeschichte wurde deshalb die Form der Doppelkugel
weiter reduziert und der Mensch begann, mit Netzmustern und Linienkreuzen zu
experimentieren, die in die runden Formen der Schalen und Sphäroide und auch
in Felsplatten hineingeritzt wurden.
Bekannt sind die steinzeitlichen Muster, die wie Bretter des Mühlespiels oder
des Schachspiels wirken. Diese Modelle und die Linienkreuze lassen sich
genetisch aufschlüsseln, wenn man sie als Abstraktionen des Baummotivs
begreift. Der beobachtete Baum wird dabei in seine grundlegenden
Strukturelemente, das sind letztendlich senkrechte und waagerechte Linien,
zerlegt.
Das Baummotiv und seine Abstraktionen führen auf diese Weise immer weiter
von den ursprünglichen Gegensätzen weg und lösen sie auf.
Mit der Übertragung der den Bäumen und vielleicht auch den Spinnennetzen
nachempfundenen Gitternetze - worauf einige indianische Mythen hinweisen -
auf die Schalen, Sphäroide und Felsplatten, die schließlich zum Linienkreuz
führte, hatten die Menschen eine wichtige Entdeckung gemacht.
Die Reduktion des Kreuzmotivs auf das Linienkreuz, auf zwei sich im rechten
Winkel und in einem Punkt überschneidende Geraden, war für die weitere
Entwicklung der Menschheit von fundamentaler Bedeutung.
Marie König stellt fest:
Der Mensch hatte mit dem Kreuz aber nicht die Mitte der ihm bis dahin
bekannten und vertrauten Lebenswelt gefunden, sondern einen ganz anderen
Alienne Laval
Zugang zur Welt und mit ihm ein einfaches, transportables und überall
andwendbares System der Bestimmung entdeckt, das dem Unbekannten und
dem unerschlossenen Raum an jeder Stelle der Welt aufgelegt werden konnte.
Darüberhinaus bot das Kreuz die Möglichkeit, die Differenz von Kultur und
Natur auszuhebeln. Der Mensch hatte nun die theoretische Möglichkeit,
mächtiger als die Natur zu werden und sie nach seinen Bedürfnissen zu ordnen
und zu gestalten.
Der erste Mensch des jüdisch-christlichen Mythenkreises, der ein derartiges
Projekt durchzusetzen versuchte, war, wenn man der biblischen Geschichte
folgt, der älteste Sohn Adam und Evas, der Bauer Kain.
Die Schilderung des Paradieses, wie das erste Buch Moses sie gibt, kennt den
Garten Eden mit den beiden wesentlichen Bäumen und den vier Flüssen, die in
ihm ihren Ursprung haben.
Adam und Eva verließen, wenn man dem mythischen Bericht der Bibel folgt,
den paradiesischen Bereich, der unter dem Zeichen des Baumes des Lebens
stand, um in den Bereich des Ackerbaues, der unter den Zeichen des Kreuzes
und des Quadrats steht, zu gelangen. Kreuz und Quadrat sind Formen, die der
Mensch kennen muß, wenn er Ackerbau und Architektur betreiben und
geographische Grenzen ziehen möchte.
Adam und Eva verloren das Paradies, weil sie nicht vom Baum des Lebens,
jedoch vom Baum der Erkenntnis aßen. Es war ihnen ja nicht verboten, von
allen Bäumen des Gartens, einschließlich des Baumes des Lebens zu essen, aber
der Genuß der verbotenen Frucht hatte ihre Verbannung zur Folge.
Anders als die übrigen Bäume und den Baum der Erkenntnis hatte Gott den
Baum des Lebens genau in der Mitte des Garten Eden plaziert.
Dieser Baum wird damit als der Kern einer ursprünglichen Ordnung vorgestellt,
während die Erkenntnis kein zentrales Phänomen dieser Ordnung war und in
ihrer Mitte keinen Platz hatte.
Die Hinwendung zum Baum der Erkenntnis wird im alten Testament als das von
späteren Schuldgefühlen begleitete freiwillige Verspielen einer
Seinsmöglichkeit, die weder Schuld noch Berechnung oder Arbeit kannte,
dargestellt. Es bestand für Adam und Eva keine ersichtliche, sich aus dem Text
erschließende Notwendigkeit, von dem einzigen, ihnen verbotenen, Baum zu
essen. Die Bibel gibt an, dass sie sich von der Schlange verführen ließen,
obwohl sie zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden konnten. Es entsteht der
Eindruck, als sei Adam und Eva das Leben im Garten Eden zu langweilig
geworden, so dass sie nun nach neuen Lüsten, Schwierigkeiten und Aufgaben
dürsteten.
Alienne Laval
Doch die Wissenschaft ist da anderer Ansicht: die Populationsgenetiker meinen,
dass es sich bei dem biblischen Paradies um die afrikanischen Urwälder
gehandelt hat, in denen die ersten Hominiden ein nahezu sorgenfreies Leben
führten.
Es gilt heute als gesichert, dass diese Urwälder in der Vorzeit eine viel größere
Fläche des afrikanischen Kontinents bedeckten.
Es wird davon ausgegangen, dass es der Verlust dieses Lebensraumes war, der
die frühen Menschen dazu zwang, sich neue Methoden des Überlebens, wie den
Ackerbau, auszudenken. Mit dem Ackerbau begannen die Menschen vor ca. 12
000 Jahren im Gebiet zwischen Euphrat und Tigris, im sogenannten
Zweistromland. Schon bald entstanden auch städtische Siedlungen, deren
berühmteste wohl Catal Hüyük (Schatal Hüjük) ist. Auch das um 8000 v. Chr.
entstandene Jericho der Bibel ist eine dieser frühen Städte.
Vor dieser Deutungsgrundlage betrachtet war die Erkenntnis, die Adam und Eva
machten, in erster Linie die Erkenntnis des durch die Veränderung der
Lebensbedingungen herannahenden Todes. In dem Maße, in dem die Wälder
abstarben, verschwanden auch die Nahrungsmittel, von denen unsere frühen
Vorfahren lebten. Ihre besondere, kognitive Leistung war es, diesen
Zusammenhang zu erkennen und nicht einfach mit den Wäldern auszusterben.
In der ursprünglichen Ordnung des paradiesischen Überflusses brauchten die
Menschen dieses Bewußtsein nicht. Erst der drohende Verlust des Urwald-
Paradieses führte zum Todes-Bewußtsein, das im Gefolge das Selbst-Bewußtsein
mit sich brachte, welches für die Änderung der Lebensweise notwendig war.
Vor diesem Hintergrund braucht die Schlange nicht mehr als Verführerin
interpretiert zu werden, sondern wird zur Überbringerin des Todes- und des
Selbstbewußtseins, die ein Überleben überhaupt erst ermöglichten.
Der vorbiblische Bund mit Gott wird in der Bibel durch den Baum des Lebens
symbolisiert, während der biblische Bund durch den Baum der Erkenntnis
symbolisiert wird. Das erste Buch Moses handelt von dem Ringen, den äußeren
Kämpfen und den inneren Krämpfen der Menschen, die bei dem Übergang von
einer Ordnung in eine andere auftreten. Das bedeuteut, dass nicht nur die
Beziehungen der Menschen zur Umwelt und dem Sozialen neu bedacht,
interpretiert und bestimmt werden mußten. Auch die Verhältnisse zum
Göttlichen hatten sich geändert und die gesamte Religiosität, die Mythen und die
Rituale wurden auf eine neue Basis gestellt.
Das Alte Testament thematisiert einen derartigen Übergang und die damit
verbundenen Brüche und Schwierigkeiten. Es werden zwei konkurrierende
Systeme und Bewältigungsmuster, - das des Hirten Abel und das des Bauern
Kain -, vorgestellt, von denen das des Kain sich letztendlich durchsetzen wird.
Alienne Laval
In der Bibel ist der Hirte Abel der jüngere Bruder des Bauern Kain, obwohl er
kulturgeschichtlich der älteren Formation der wandernden Hirtennomaden
angehört, die jedoch durch eine neue Ordnung abgelöst werden soll.
Das alte Testament will ein neues Modell, - das des Acker- und Städtebaus -,
einführen, gleichzeitig aber die Macht des alten Modells bewahren. Obwohl die
Epoche, die es beschreibt, materiell bereits unter dem Regiment des Bauern
Kain steht, steht sie symbolisch noch unter dem Zeichen des Hirten Abel, dessen
Opfer Gott noch immer höher achtet, als das des Bauern Kain.
Mit der Tötung Abels wollte Kain daher eine einheitliche, neue symbolische
Ordnung unter dem Zeichen des Ackerbaus durchsetzen und gleichzeitig die
Rechtmäßigkeit des alten Opfers abschaffen.
Doch nun geschieht etwas Seltsames: das Kreuzsymbol, das alle Ackerbau,
Architektur, Schriftkultur und Stoffherstellung betreibenden Kulturen kennen,
rückte mit der Kreuzigung des Jesus Christus in den Mittelpunkt der
Religiosität.
Ein profanes, geläufiges, übliches und deshalb unaufälliges Zeichen des
täglichen Lebens wurde zum Zentrum der Anbetung.
War es nur der Zufall der Kreuzigung, dass allein für die Christen das Kreuz
zum zentralen Symbol ihres Glaubens wurde?
Das Kreuz drückte nie Kultur aus, sondern war ein technisches Symbol, das für
technische Verrichtungen stand. Man benutzte es, um das Land zu ordnen, urbar
zu machen und zu kultivieren, damit es die Kultur speisen könne. Die Idee, ein
so profanes und technisches, dem Gebrauchsverhalten vorbehaltenes Symbol
wie das Kreuz als heilig anzusehen, war unseren Vorfahren unvorstellbar.
Alienne Laval
In ihrem Kern, das heißt: in den Ansiedlungen und frühen Städten, blieb die
Kultur noch lange Zeit das, was sie schon in ihren Anfängen war. Sie war der
besondere, menschliche Lebensraum mit ihren Spielen, Sprachen, Träumen,
Liedern, Geschichten, Mythen und Ritualen. Ihr Motor war die Differenz von
Natur und Kultur.
Indem der Mensch sich aber mit von Mauern umgebenen Städten künstlich
gebaute und umbaute Räume schaffte, in die die Natur nicht ohne Weiteres
hinein konnte, fühlte er sich der Natur überlegen. Die Tore in den Stadtmauern
kontrollierten nicht nur den Zugang von Menschen. Sie waren auch
Transformatoren, die Menschen und Produkte der Natur in Ware verwandelten,
nach Nützlichkeitskriterien passieren ließen und zu in Stückzahlen zählbaren
und speicherbaren Rohstoffen machten.
Die Menschen in diesen Städten sind, wie der Romanist Robert Harrison in
seinem Buch Wälder schreibt,
Dennoch findet diese Wirklichkeitsprüfung statt, indem sie sie an der Natur, an
Fremden und Andersartigen durchführen.
Sie schaffen sich die fehlende Gewißheit dadurch, dass sie die Landschaften
parzellieren und den in der Wildnis und in den Wäldern außerhalb der
Siedlungen und Städte lebenden Hirten, Nomaden, Ausgestoßenen, Geächteten,
Helden, Wanderer, Liebenden, Heiligen, Verfolgten, Außenseiter, Verirrten,
Verwirrten, Ekstatischen und Eingeborenen ihren Maßstab aufzwingen und
ihnen den Lebensnerv abschneiden.
Kain war nach der biblischen Überlieferung wohl der erste Mensch, der die
Frage nach der Nützlichkeit der Kultur stellte und die Prinzipien des Ackerbaus
und der Landwirtschaft auf sie anwenden wollte. Bis dahin wurde unter Kultur
nichts anderes verstanden, als das menschliche So-Sein schlechthin. Die Tiere,
die Pflanzen und alle übrigen Erscheinungen hatten ihre je eigene Seins-Form,
die sich von derjenigen des Menschen unterschied.
Doch mit Kains Ansinnen kam zum ersten Mal in der Entwicklungsgeschichte
des Menschen der Gedanke an eine Allmacht des Menschen auf. Aus moderner,
psychologischer Sicht gehören derartige Allmachtsphantasien in die frühen
Phasen der Kindheit.
Die religiösen Praktiken des Bauern Kain waren sicherlich friedlicher als die des
Hirten Abel, die ohne das Tieropfer nicht auskamen. Diese Gewaltlosigkeit im
rituellen Handeln konnte aber nur durch den initialen Mord an Abel, dem
weitere Morde folgen sollten, erkauft werden.
Die klugen Verfasser der biblischen Genealogie, Moses und Matthäus, haben
diese Gefahr wohl geahnt. Der kulturelle Stammbaum, der uns mit dem Garten
Eden verbindet, beginnt mit Adam und Seth und endet mit Jesus. Der Agro-
Techniker Kain ist ausgeklammert.
Gesiegt hat das Prinzip des Kain dennoch: mit der Kreuzigung Jesu haben sich
die Nützlichkeitskriterien vollends durchgesetzt. Jesus war ein Außenseiter, der
stellvertretend für alle Außenseiter auf das Raster der Nützlichkeit geschlagen
wurde. Auf der anderen Seite aber ist dieses Kreuz eine Warnung, die uns zeigt,
an welcher Stelle Schluß mit dem Nützlichkeitsdenken sein sollte.
Das Kreuz wurde zunächst nur den Landschaften, fremden Menschen und
Außenseitern auferlegt, das Abstrakte also am Fremden exerziert. Erst dann traf
es in einer Rückprojektion auf die Ansiedlung selbst, die in dieser Quadratur zur
modernen, sich in das Land ergießenden und es verstädternden Stadt wurde.
Mit dieser Selbst-Kreuzigung verliert die Stadt ihre Mauern und damit ihre
Grenzen. Sie verflüchtigt sich aber nicht in die Landschaft hinein, sondern löst
diese auf.
Das Mensch-Sein, das sich im dialektischen Verhältnis mit der Natur erst
ausdifferenzierte, wird nun zurückgenommen, indem der Mensch die nun
fehlende Stelle der Natur ausfüllen und selbst zur Natur, zur zweiten Natur
werden muß, die mit immer feineren Methoden zerlegt und gekreuzigt wird.
So gesehen ist der gekreuzigte und noch immer und permanent am Kreuz
hängende Jesus gleichzeitig der erste moderne und der letzte der frühen
Menschen. Am Kreuz wurden Natur und Kultur gleichermaßen geopfert und
ihre Differenz annulliert.
Der natürliche Mensch dagegen ist die Erfindung einer Zivilisation, die die
Natur zurückgedrängt und überwältigt hat
Gerade die Universalisierung in den Bereich der Natur hinein führt letzten
Endes zur Auflösung der Kultur.
Alienne Laval
Die beiden Jahrtausende, die unter dem Zeichen des Kreuzes stehen, haben uns
nicht nur die Einteilung der Welt und des Kosmos in Längen- und Breitengrade
beschert. Sie haben uns auch mit der präzisen, durch Koordinaten bestimmten
Lokalisierung der Gene auf den Chromosomen und der Gentechnik beglückt.
Sie haben uns gelehrt, Tiere und Pflanzen zu quälen, auseinanderzunehmen und
nach Wunsch und Dünken wieder zusammenzubasteln. Sie haben uns auch bis
zum Computer und der computergenerierten Simulation von Realitäten
gebracht, die wie die Entdeckung neuer Kontinente gefeiert werden.
Jede Person wird zu einem mikroskopischen Punkt auf dem Feld zwischen
Ordinate und Koordinate, zwischen Ordnung und Zuordnung. Ordnen bedeutet,
etwas in Reihen aufzustellen. In der Reihe, in der Ordnung, wird alles
gewöhnlich und ordinär. Das Außerordentliche und Außergewöhnliche, die
Natur und die Kultur, haben hier keinen Platz mehr.
Die technische Simulation tritt an die Stelle der Kultur und der Mensch nimmt
als zweite Natur*, als Ersatz für die ursprüngliche Natur, die Stelle ein, die der
Natur einst zukam. Vor der präzise rechnenden Eleganz der Apparate kann auch
seine ganze Kultur nur noch Ausdruck seiner fehlbaren Naturhaftigkeit sein.
Jeder Mensch, so einfach gestrickt er auch sein mag, wird in diesem Spiel über
kurz oder lang zum Außergewöhnlichen. Wenn er nicht zum kulturell
Ausgestoßenen gemacht werden kann, dann wird er eben genetisch ausgestoßen.
Er kann nur noch auf seine Kreuzigung, seine finale Bestimmung, warten.
Religion bedeutet, wie Kultur auch, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die
Angst machen. Die Angst des Menschen begründete Religion und Kultur
gleichermaßen. Diese Angst kann uns niemand nehmen, denn sie ist eine
kreatürliche Eigenschaft des Mensch-Seins. Wir können aber lernen, mit ihr
umzugehen. Doch das ist nur möglich, wenn wir uns auf die Wurzeln der Kultur
besinnen.
Alienne Laval
Wie entsteht Religion?
Zur Semiotik religiösen Bewußtseins
Die Frage Wie entsteht Religion? kann von zwei Seiten angegangen werden.
Einmal können wir untersuchen, wann und wie Religion in der Kulturgeschichte
des Menschen entstanden ist; andererseits kann es unser Interesse sein,
herauszufinden, weshalb es in unserer Zeit zu einem Verlust an Religion
gekommen ist, ob Religion eine Chance hat, neu zu entstehen und ob sie diese
Chance überhaupt erhalten sollte. Die Geschichte der Religionen ist ja nicht nur
mit den Begriffen Mitmenschlichkeit, transzendente Erfahrung, Liebe und
Seelsorge verbunden, sondern für uns auch unlösbar verknüpft mit Inquisition,
Denunziation, Folter, Mord und Macht. In seinem Brief an die Kardinäle schrieb
Papst Johannes Paul II. im Jahre 1994:
"Wie kann man die vielen Formen von Gewalt verschweigen, die auch im
Namen des Glaubens verübt wurde? Die Religionskriege, die Tribunale der
Inquisition und andere Formen von Verletzung der Menschenrechte. Es ist
Alienne Laval
bezeichnend, dass diese Zwangsmethoden dann von den totalitären
Ideologien des 20. Jahrhunderts angewendet wurden."
Religion und Totalitarismus, die sich, wie gezeigt werden soll, in ihrer Herkunft
und Weltsicht eigentlich diametral gegenüberstehen, sind in der Geschichte oft
genug verhängnisvolle Bündnisse eingegangen. Religion und Totalitarismus
entstammen ganz unterschiedlichen Bereichen der menschlichen Wahrnehmung,
die sich typologisch und semiotisch, also in ihrer zeichen- und texthaften
Begründung, unterscheiden. Die Wurzel dieses Gegensatzes hat George Orwell
in seinem Roman 1984 durch eine einfache Opposition ausgedrückt.
Die geschichtslose, außerhalb der Zeit stehende Welt, die Orwell uns in seinem
Roman vorstellt, kennzeichnet Bestreben und Endziel aller totalitären
Weltanschauungen. In seiner totalen Utopie wird fleißig an einer Reform der
Sprache gearbeitet. Das Englische - Verkehrssprache in dem imaginierten Land
Ozeanien - soll auf eine minimale Anzahl von Wörtern begrenzt werden.
Dadurch soll den Menschen die Möglichkeit genommen werden, über die
Grund- und Staatsbedürfnisse hinausgehende Aussagen machen zu können.
Diese neue Sprache, Neu-Sprech genannt, soll das Denken und damit das
Entstehen von Bewußtsein verhindern, das im Jargon des Neu-Sprech als
Doppel-Denk bezeichnet wird.
Der Kulturphilosoph Arthur Koestler hat die Fähigkeit des Doppel-Denk
präzisiert, indem er den Begriff der Bisoziation erfand. Er erklärt ihn so:
Das "Haha" kennzeichnet den Witz und seine Varianten, den komischen
Vergleich, die Karikatur, die Darstellung, den Wortwitz, die Kollision und die
Alienne Laval
Koinzidenz. Der erkennende Ausruf "Aha" steht für das Entdecken einer
verborgenen Analogie, das Verstehen eines Diagramms, das Einfühlen in einen
unbekannten Zusammenhang, für Wortspiele, für die Fähigkeit zur Synthese und
die Zufallsentdeckung. Das gedehnte "Ah...." hingegen begleitet das Verstehen
einer Metapher, die Stilisierung, die Illusion, den Reim, die Konfrontation, aber
auch musikalischen Genuß und religiöses Erleben.
Die bewußten und unbewußten kreativen Prozesse, die diesen drei Bereichen
und damit auch der künstlerischen Originalität, der wissenschaftlichen
Entdeckung und der kosmischen Inspiration zugrunde liegen, haben ein
gemeinsames Grundschema: Der Witz, die Entdeckung, die Kunst, die Kritik
und die Inspiration stören die eingefahrenen, routinierten Abläufe des
Alltäglichen, indem sie Bewußtsein schaffen. Bewußtsein ist für Koestler daher
gleichbedeutend mit der Fähigkeit zum bisoziativen Doppel-Denk. In der Welt
des Neu-Sprech ist diese Fähigkeit strafbar. Diese Welt ist total geregelt und auf
reines, nur auf sich selbst bezogenes Funktionieren ausgerichtet.
Das heißt jedoch nicht, dass die Welt von 1984 gänzlich ohne gläubiges Erleben
sei. Die Bevölkerung glaubt an den großen Bruder, der von überdimensionalen
Plakatwänden, Übertragungsleinwänden und von Bildschirmen aus seine
Bevölkerung im Auge hat, die bespitzelt, belauscht und überwacht wird.
Ob dieser große Bruder tatsächlich existiert, weiß niemand, denn keiner hat ihn
jemals leibhaftig gesehen. Aber es gibt ein Bild von ihm, das man auf den
Plakaten und den Bildschirmen sehen kann. Die Bevölkerung glaubt auch, dass
sich Ozeanien im ständigen Krieg mit Eurasien befindet. Ob der Krieg gegen
Eurasien tatsächlich geführt wird, weiß ebenfalls niemand. Er ist, ebenso wie der
große Bruder, ein Spektakel der Medien.
Doch dieses Wissen ist gefährlich, denn es erfordert die Fähigkeit der
Bisoziation. Der eigentliche Krieg findet daher im Inneren gegen die
Bevölkerung statt, er gilt dem Verrat des die gläubige Illusion durchschauenden
Doppel-Denk.
Diese Art von Gläubigkeit ist sehr alt und läßt sich bis in die frühen Phasen der
Menschheit zurückverfolgen. Darüber hinaus verbindet sie uns über unser
stammesgeschichtliches und genetisches Erbe mit dem Tierreich und den
Anfängen des Lebens.
Schon die frühen Jäger und Sammler fertigten jene Abbildungen ihrer Umwelt
und des Jagdwildes an, die uns als Höhlenzeichnungen bekannt sind. Diese
Darstellungen sind realistisch und bilden die Anfänge der Darstellungstradition,
die wir als Realismus kennen.
Die Wirklichkeit wird in diesen Malereien mimetisch nachgeahmt und
nachempfunden. Die realistischen Höhlenzeichenungen hatten magische
Funktionen und waren keine freien Erfindungen. Die dargestellten Tiere sollten
ihren Vorbildern aus der Umwelt so ähnlich wie möglich sein. Die Bilder sollten
Alienne Laval
ihre Vorbilder abbilden und diese aufgrund ihrer Ähnlichkeit magisch
repräsentieren und anziehen. Die Menschen hofften, auf diese Weise in den
Besitz der Vorbilder zu kommen, die sie dann verspeisen und in sich
aufnehmen, also verschlingen konnten.
Auch wenn die Jagdbeute sich so nicht anlocken ließ und sich kein Jagdglück
einstellte, so blieben doch die Abbilder an den Höhlenwänden bestehen und
heizten die Gier nach der Beute weiter an. Die Unbeständigkeit der
Erscheinungen der Umwelt stand bald in krassem Gegensatz zur Beständigkeit
der Bilder. Unsere Vorfahren waren so von den Bildern besessen, dass sie Kulte
organisierten, die das ersehnte Jagdglück magisch beschwören sollten. Der
mimetische Zugang machte von den Dingen besessen, die man besitzen wollte.
Das frühe Verfahren, in dem sich unsere Vorfahren den dargestellten
Gegenständen annäherten, ist in der Anthropologie als Jagdzauber bekannt, der
zu den Formen der rituellen Besessenheit gehört. In der rituellen Besessenheit
werden Tiere oder andere Dinge aus ihrem Zusammenhang mit der Umwelt
gelöst und isoliert dargestellt. Die tatsächliche Ordnung der Wesen und Dinge
interessiert bei diesem Verfahren nicht. Der Ethnologe Fritz Kramer präzisiert
das Phänomen folgendermaßen:
"Der Blick von außen heftet sich an die Oberfläche der Erscheinungen, an
die Außenhaut der Dinge, ohne sich um die Ordnung zu kümmern, die sie
in sich selbst haben; er isoliert das Detail, das sich unter diesem Blick zum
suggestiven Bild, ja sogar zur eigenständigen Macht steigert. Statt der
Ordnung, der Struktur oder des Systems offenbart sich hier die Gewalt des
Sichtbaren, der Einzelheit."
"Beide Tendenzen der Menschheit, der ikonische Realismus als das Alles-
Verschlingen und dennoch An-der-Oberfläche-Bleiben sowie die
symbolischen Verhaltensmodi als Mittel der imaginären Überwindung ...
Alienne Laval
bezeichnen den ganzen Weg der Kulturevolution. Jedoch nur der imaginäre
Weg ist schlechthin human: die Verschlingung ist erkennbar animal."
Für Bystrina ist das Humane nur im Bereich des Imaginären zu finden, während
die Verschlingung in den Bereich des Animalen gehört. Wir Menschen haben
jedoch das Problem, dass wir beiden Bereichen angehören. Die wesentliche
Aufgabe der Religion bestand und besteht folglich darin, zwischen dem
Humanen und dem Animalen zu moderieren. Weshalb diese Moderation
notwendig ist, läßt sich nur erklären, wenn wir die besondere biologische und
kulturelle Evolution, die uns zu Menschen gemacht hat, berücksichtigen.
Für den Semiotiker Thomas Sebeok (Schebock) sind die Ikonen wichtig in der
Umweltwahrnehmung der Tiere und der Verständigung zwischen ihnen.
Visuelle, auditive und chemische Signale, die in Handlungen umgesetzt werden,
gehen von der Umwelt, den Artgenossen und anderen Tieren aus. Auf der
Grundlage dieser einfachen Signalketten entstand im Laufe von Jahrmillionen
unser komplexes Nervensystem.
Der Hirnforscher Detlef Linke, der sich mit der Evolution des Nervensystems
beschäftigt, geht davon aus, dass alle Entwicklungsstufen des Nervensystems -
angefangen bei den ältesten und einfachsten Signalketten - auch im Menschen
erhalten geblieben sind. Von den Würmern haben wir zusätzlich das
Rückenmark geerbt, von den Fischen das Stammhirn, von den Reptilien das
Kleinhirn und von den Säugetieren das Großhirn. Von den Primaten bekamen
wir eine erweiterte Großhirnrinde mit auf den Weg, in der ein großer Teil
unserer neuronalen Aktivitäten abläuft.
Die besonders alten Teile des Nervensystems sind axial angelegt, also auf einer
Achse ausgerichtet. Die zu ihm gehörenden Organe sind nur einmal vorhanden.
Hierzu zählen alle Organe des Verdauungsapparates wie Magen, Darm und
Leber, aber auch die Körperöffnungen Mund und After. Auch das Herz und die
Geschlechtsteile sind nur einmal vorhanden.
Die einfachen, blinden Gehorsam verlangenden Impulse, die das Ikon des
großen Bruders auslöst, finden ihre biologische Ursache in diesen alten Teilen
unseres Nervensystems.
Neuere Organe hingegen sind doppelt vorhanden; so die Kiemen, die Lungen,
die Nieren, die Augen, die Ohren und die Nasenlöcher. Aber auch die
Extremitäten von den Krallen und den Tatzen bis hin zu den Fingern und Zehen
gibt es in zweifacher Ausführung. Im Gegensatz zu den alten, axialen Organen
sind die neuen lateral, also seitlich angelegt. Erst mit der Bilateralität, der
Zweiseitigkeit der neuen Organe, kommt so etwas wie ein Stereoeffekt in die
Schöpfung.
Während die alten Teile des Nervensystems - wie das Rückenmark, das
Stammhirn und das Kleinhirn - axial ausgeführt sind, bestehen das Goßhirn und
Alienne Laval
die Goßhirnrinde aus lateralen Hälften, aus der linken und der rechten
Hirnhemisphäre. Beide Hemisphären wiederum sind durch einen Balken, das
sogenannte corpus callosum, miteinander verbunden, das es uns ermöglicht,
beide Kanäle parallel und miteinander verschaltet zu benutzen.
Doch durch die Einrichtung des neuen Gehirns wurde die Wirksamkeit der alten,
axialen Hirnteile nicht aufgehoben. Sie regulieren nach wie vor die Funktionen
der Nahrungsaufnahme und der Verdauung. Auch die sexuellen Impulse und der
Bemächtigungsdrang sind hier angesiedelt und können die Richtung, in der das
Großhirn tätig werden soll, beeinflussen.
Durch Jahrmillionen hindurch haben sich die Tiere mit Hilfe ihres axialen
Nervensystems erfolgreich gegen das Verschlungenwerden durch die Mächte
der Umwelt behauptet, indem sie selbst das Verschlingen lernten. Dieses
Verhalten hat sich lange bewährt und auch der Mensch steht in der
stammesgeschichtlichen und genetischen Tradition der Verschlinger, die aber
selbst in der ständigen Gefahr lebten, von der Welt und starken Raubtieren
verschlungen zu werden. Die damit verbundenen Hoffnungen und Ängste, die
Versuche der Aneignung und Abwehr der Umweltphänomene, fanden in den
Höhlenmalereien schließlich semiotischen Ausdruck.
Darüberhinaus bieten jedoch das Großhirn - und vor allem die Großhirnrinde -
Möglichkeiten, die die alten Teile des Nervensystems nicht hatten. Zu den
Empfindungen von Angst, Schmerz, Schwindel und Hunger und deren
Überwindung durch Flucht, Abwehr, Sexualität, der Suche nach Nahrung und
ihrer verschlingenden Aufnahme, kommen nun neue Seinszustände hinzu, die
bei den höheren Säugetieren zu einem mehr oder weniger bewußten Erleben des
eigenen Körpers und der Phänomene der Umwelt sowie zu Traum und Spiel
führen. Im Menschen schließlich sind diese Seinszustände so weit entwickelt,
dass sie endlich zu Witz und Bewußtsein führen.
Die Religionen hatten maßgeblichen Anteil daran, dass sich nicht nur die
ikonische Besessenheit in das werdende Mensch-Sein und die in den Texten
dargestellte, ausgelagerte zweite Wirklichkeit einschleuste, sondern auch ihr
Gegenspieler; das symbolische und kulturelle Verhalten. In dieser Tradition
stehen Humanismus und Aufklärung ebenso, wie die Wissenschaften und die
demokratisch verfaßten Gesellschaften.
Das religiöse Bestreben, das versuchte, den Platz des Menschen in der Welt
durch Ritual, Weisheit und Weissagung zu ergründen, führte im Laufe der
Jahrtausende auch zu den Formen der Kunst und der Wissenschaft. In Orwells
totalitärer Utopie und anderen totalitären Gesellschaftsordnungen ist der Witz -
ebenso wie die Religiosität -, da sie Wissen und Bewußtsein zur Folge haben
könnten, unerwünscht.
Religionen, die sich totalitären Auffassungen zuwenden, arbeiten daher an ihrer
Selbstabschaffung. Diese Selbstabschaffung kann sogar verlockend sein, wenn
die schwindende religiöse Macht durch einen Zugewinn an realer, weltlicher
Macht mehr als kompensiert wird. Das Verhalten der katholischen Kirche im
Mittelater und in der Phase der Inqiusition zeigt das deutlich. Auch im Dritten
Reich waren die katholische wie die evangelische Kirche nicht gänzlich gegen
diese Verlockung gefeit und selbst Intellektuelle waren von der Nazi-Ideologie
begeistert.
Alienne Laval
Die Preisgabe des Bewußtseins ist nicht ohne Reiz, denn sie verspricht die
Rückkehr zu einfacheren Formen des Seins, in denen die individuellen
Unterschiede etwa in einer Volksgemeinschaft aufgehoben sind, die sich zur
Durchsetzung eines gemeinsamen Zieles formiert hat. Alles, was der
Durchsetzung dieses Zieles im Wege steht, seien es Menschen, Gedanken oder
Kunstwerke, gilt als redundant, als überflüssig. Um zum wahren Glauben oder
zur gesellschaftlichen Utopie zu gelangen, muß das Redundante entfernt und
eliminiert werden. Erst in dieser Reduktion, der Rückführung auf das ikonische
Eine, soll sich die Wahrheit zeigen. Diese Wahrheit kann eine Botschaft Gottes,
eine Nachricht, eine Information oder eine Formel sein.
Die Kunstsprache Neu-Sprech, die Orwell in 1984 vorführt, wird niemals fertig
sein, denn sie wird ständig reformiert, um sie immer weiter von der Redundanz
des Bewußtseins zu befreien, um zur reinen Information zu gelangen. Was diese
reine Information ist, haben Dichter wie Raoul Hausmann oder Ernst Jandel mit
ihren lautmalerischen Gedichten eindringlich vorgeführt. Sie haben die
Reduktion so weit getrieben, dass von der Sprache nur noch ein Gestotter und
Gestammel übrigblieb.
Ein ähnliches Gedankengut trieb die mittelalterliche Kirche um, die den Gott,
den sie suchte, gleichzeitig durch eine Art Neu-Denk schützen wollte. Alles, was
ihren Gott bedrohte oder in Frage stellte - Menschen und Texte -, wurde der
Inquisition übergeben. Freies Denken und Sprechen waren verboten; Sprache
und Denken unterlagen der kirchlichen Aufsicht und Kontrolle. Allmählich
rutschte die Kirche aus dem Bereich des Humanen immer weiter in den des
Animalen hinein. Dieser Prozeß beförderte jedoch nicht die Religion; er
mündete in den bewußtlosen Terror von Hexenprozessen, Folter und
Verbrennung.
Eine der Ursachen für diese Entwicklung ist sicherlich in der ikonischen
Realismustradition des Abendlandes zu sehen, die sich in der katholischen
Religion, die Bildnisse des Christus und der Heiligen kennt, erhalten hat. Aber
auch in den kitschträchtigen Bildern des Bürgertums bis hinein in den
faschistisch-arischen und den sozialistischen Realismus hat sich diese Tradition
fortgesetzt. Die Skulpturen, die künstlerischen und filmischen Darstellungen des
fiktiven, arischen Herrenmenschen und des stilisierten Helden der
Arbeiterklasse sind Ikonen im vorhin eräuterten Sinn. Den arischen Ikonen
wurden Millionen von Menschenleben geopfert.
Die Bibel sagt eindeutig, dass sich der Mensch kein Bild von Gott machen, also
ihn nicht ikonisch repräsentieren soll. Der Protestantismus hat dieses biblische
Gebot im Gegensatz zum Katholizismus wieder aufgenommen. Die Protestanten
kennen nur das Kreuz als Symbol, aber nicht den Gekreuzigten als Skulptur.
Alienne Laval
Ebenso kennen sie keine Statuen von Madonnen oder Heiligen, die an
besonderen Tagen weinen oder bluten könnten.
Der Protestantismus ist von seinen Voraussetzungen her also die Form des
Christentums, die das Ikonische hätte überwinden können. Doch auch diese
Variante ist nicht frei von Reduktionen. Der rituelle Gehalt der Gottesdienste ist
auf ein Minimum reduziert, und die Transsubstantiation, die Umwandlung von
Wein und Brot in Blut und Leib während des Abendmahls, wird von den
Gläubigen kaum noch verstanden. Von Vielen wird dieses rituelle und
symbolische Geschehen, das ihnen nur noch als lästiges Beiwerk einer
allgemeinen christlichen Ethik und Moral erscheint, als redundant angesehen.
Ethik und Moral aber sind formelhafte Reduktionen von Religion, die ohne
symbolisches Verhalten und teilnehmende Menschen auskommt. Auch auf diese
Weise bleibt von der Religion und ihrer Botschaft wenig übrig.
Ethik und Moral sind aber nicht nur Reduktionen aus der Religion heraus; sie
sind auch Anpassungsleistungen an eine veränderte, realistische Weltordnung
mit ökonomischen Vorzeichen. Sie passen besser in die ökonomische und
politische Sphäre, als der komplexe Ansatz der Religion. Die Ethik versucht, der
Ökonomie auf ihrer eigenen Ebene mit rationalen Mitteln zu begenen und den
ökonomischen Bemächtigungsdrang soweit zu regulieren, dass er nicht die Welt
verschlingt. Doch im ethischen und moralischen Umgang mit der Ökonomie
bleibt das Humane, das sich nur im symbolischen Modus des Kulturellen
begründen kann, auf der Strecke.
Die Ökonomie, die Religion nur in ihrer auf Moral und Ethik reduzierten Form
dulden kann, ist selbst nicht frei von ikonischen Repräsentationen. Gerade in
den Massenmedien werden ikonische Heiligenverehrung und Ethik geschickt
zusammengeführt. Über einem ethisch abgesicherten Unterbau von
Nachrichten-, Magazin- und Diskussionssendungen befindet sich die Welt der
Medienträume. Denn obwohl "der heutige homo oeconomicus", wie Ivan
Bystrina ausführt,
"(..) im großen und ganzen bestimmt viel nüchterner, 'realistischer' als seine
Vorfahren oder auch die noch Überlebenden aus den Naturvölkern (ist), die
- auch als Erwachsene - dem Vortrag alter Mythen begeistert zuhören, (...)
nimmt die Bedeutung der zweiten Wirklichkeit in unserem Leben ständig
zu: die profane erste Wirklichkeit des Alltags und des Berufs schwimmt auf
den stets steigenden Wellen der Medienträume."
Diese Wellen der Medienträume sind belebt von Gewalten und Wesen, die wie
die urtümlichen Naturgewalten wirken. Die Helden und Heiligen dieser Welt
sind die Sportler, Schauspieler, Models und Manager, die ein ikonisches und
unerreichbares Dasein führen. Zunehmend sind es auch futuristische Helden und
Bösewichte, computeranimierte Kunstfiguren und synthetische Wesen, die den
Alienne Laval
entstehenden Cyberspace auf ähnliche Weise bevölkern werden wie vor
tausenden von Jahren die Geister und Götter die Höhlenwände.
Die aus der Natur abgeleiteten Geister und Götter sind inzwischen zu
technischen Gottheiten mutiert, die aber wie Naturmächte wirken.
Ein erneuertes Bekenntnis der Religion zum bisoziativen Doppel-Denk ist schon
deshalb ein gewagter Schritt, weil er die über Jahrhunderte gewachsene
Wissenschaftssfeindlichkeit der christlichen Religionen, die sich im Ursprung
der Religionen gar nicht begründen läßt, in Frage stellt. Das heißt: Religion kann
ihre Relevanz nur im Verbund mit den anderen bewußtseinsbildenden
Tätigkeiten wiedererlangen. Bewußtsein zu bilden bedeutet, auf die
Verschlingung der Welt zu verzichten. Von der Verschlingung Abstand zu
nehmen meint nicht, dass wir die Dinge der Welt weder besitzen noch genießen
dürfen. Ein vorsichtiger und bewußter Umgang mit diesen Dingen ist jedoch
notwendig, wenn wir human bleiben oder werden wollen. Auch für die Zukunft
des Menschen gilt der Satz des Philosophen Hans Blumenberg, der abschließend
zitiert werden soll:
"(Das) Wir wollen alles! wird nie verstummen, es ist die Bedrohung der
Humanität aus ihrem eigenen Weltverständnis heraus, ihre
anthropologische Antinomie."
Alienne Laval
Fundamentalismus und Synkretismus
Weltreligionen von morgen?
Beide Verfahren haben eine lange Tradition und haben sich im Verlauf der
Religionsgeschichte oft genug abgewechselt.
Die jüdische Religion war in ihren Anfängen ein Synkretismus, der sich aus dem
Aufeinandertreffen seßhafter und nomadisierender Gruppen bildete; das
Christentum wiederum vermengte jüdische, griechische, römische,
nordeuropäische und sogar indische Elemente; durch den Islam schließlich
gewannen die Synkretismen orientalische, arabische und afrikanische Züge.
Aus diesen Synkretismen entwickelten sich erst später einheitliche Religionen
mit einem Korpus heiliger Texte und Verhaltensregeln. Sie erst konnten zur
Grundlage für fundamentalistische Reduktionen werden.
Inzwischen wird nicht mehr nur von religiösem Fundamentalismus, wie dem
islamischen, gesprochen, sondern auch von fundamentalistischen Staaten. Dazu
gehören Iran und Irak, aber auch China und andere Staaten, die man früher als
Diktaturen bezeichnet hätte.
Auch fundamentalistische Terrorgruppen, wie jene in Afghanistan, Palästina,
Jordanien, Ägypten, Jemen, Algerien, Tunesien und Marokko, sind nicht
ausschließlich islamischen Ursprungs. Vor allem rechter Terror in Nordamerika
und Europa ist ebenfalls oft fundamentalistisch orientiert. Hierzu zählen in den
USA z.B. der Klu-Klux-Klan, die Aryan Nation des sogenannten Weißen
arischen Widerstandes und ähnliche Gruppierungen mit sektoid-christlichem
Hintergrund, die auch in Verbindung zu Gruppen in Europa stehen. Sie sind der
Überzeugung, dass das 21. Jahrhundert, das sie als kommendes Jahrhundert der
weltanschaulich motivierten fundamentalistischen Kämpfe ansehen, ein
Jahrhundert des Terrorkrieges und des elektronischen Krieges sein wird.
Alienne Laval
Synkretistische Staaten gibt es dagegen ebensowenig wie synkretistischen
Terror. Magie, Voodoo und Zauberei, die dem Synkretismus gerade in seinen
afroamerikanischen Varianten nachgesagt werden, sind keine sublimen und
heimlichen Formen des Terrors. Synkretismus in allen Formen ist eher als
kulturelle Leistung unterdrückter Individuen aufzufassen, die erst in
Demokratisierungsprozessen voll zum Tragen kommt.
Dass Synkretismus nicht magisch auf die Politik einwirkt, zeigt sich daran, dass
er nur geringe politische Erfolge erzielt.
Keine Kultur kommt aus ohne das Wechselspiel von Reduktion und
Vermischung, wenn sie Tiefe haben und glaubwürdig sein will. Synkretismus
und Fundamentalismus jedoch sind extreme Reaktionen und Polarisationen
dieser notwendigen Differenzierungen, die sich dann ergeben, wenn eine
Gesellschaft den Bedürfnissen ihrer Mitglieder nach Differenz, Entfaltung und
Identität nicht gerecht wird und sie in ihren Interessen übergeht.
Dies ist insbesondere in Diktaturen der Fall, aber auch die ehemals kolonialen
Bedingungen und die derzeitige postkoloniale Situation in den Ländern der
sogenannten dritten Welt führen zu extremen Reaktionen. Besondere
gesellschaftliche Faktoren, die zur Ausbildung extremer Positionen führen, sind
heute die Ökonomie und in ihrem Gefolge die Arbeitslosigkeit, die die
Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und persönliche Orientierung
verhindern. Aber auch mangelndes Wissen, die Globalisierung der Märkte, die
Zerstörung von Umwelten und Lebensräumen, neue Technologien und
Erkenntnisse der Wissenschaften sind oft die Auslöser.
Besonders deutlich und auch staatlich sanktioniert wurde diese Haltungen durch
das sogenannte Kopftuchurteil, das einer islamischen, kopftuchtragenden
Lehrerin untersagte, an staatlichen Schulen zu unterrichten. Auf der anderen
Seite werden islamische Kinder in Süddeutschland gezwungen, am Unterricht in
Klassenzimmern teilzunehmen, in denen das Kruzifix prangt. Auch dieser
unbeugsame Konservatismus, der die derzeitige politische Situation ausnutzt
und Gegensätze auf lächerliche Weise zusätzlich verschärft, kann als eine Form
von Fundamentalismus gesehen werden.
Alienne Laval
Aber auch die oft verlangte und beschworene Integration türkischer Mitbürger
kann nicht gelingen, wenn die islamischen Identitäten nicht erst einmal
akzeptiert werden
In der Konfrontation mit der modernen Welt wurden diese Religionen weiter
angereichert mit Elementen der Psychoanalyse, des europäischen Spiritismus
und verschiedenen Entdeckungen der Wissenschaften.
Gerade auf europäische Intellektuelle hat der Synkretismus großen Reiz vor
allem deshalb ausgeübt, weil er eine religiöse Form und Möglichkeit
aufzuzeigen schien, die ohne den religiösen und gesellschaftlichen Monolog
auskam und stattdessen vielstimmige Heteroglossie zuließ. Für die
Intellektuellen stand der Synkretismus der avangardistischen Kunst und ihren
Formen und Forderungen nahe. Der Synkretismus wurde damit zu einer
intellektuellen Weltanschauung gerade in einer Phase, in der die kirchlichen,
poltitischen und rein wissenschaftlichen Orientierungshilfen bei der
persönlichen Sinnsuche vor allem ab dem Ende der 60er Jahre zunehmend als
unzureichend angesehen wurden.
Für den Literaturtheoretiker Michail Bakhtin (Bachtin) sind das Epische und das
Karnevaleske die zwei Bewegungen, die den europäischen narrativen Diskurs
maßgeblich bestimmt haben und einander je nach Epochen und Autoren
abwechseln. Gerade aus der karnevalesken Tradition heraus entsteht die Form
des Romans und formiert sich die Aufklärung.
Die Epik ist dagegen eine kanonische monologische Gattung. Ihre monologische
Struktur liegt darin, dass in ihr ein Erzähler agiert, dessen Perspektiven mit
denen der Gemeinschaft oder eines Gottes korrespondieren. Es findet, wie David
Simo ausführt, kein Dialog zwischen verschiedenen Bewußtseinsinhalten und -
ebenen statt. Eine klar verstandene Welt wird hier durch ein allgemein
anerkanntes Bewußtsein erzählt, dessen Hinterfragung tabuisiert ist.
Die Quellen, auf die sich die Fundamentalisten beziehen, sind immer noch die
von Gott inspirierten epischen Dichtungen, die die Welt auf dieses jeweils eine
und exklusive Bewußtsein ausrichten und reduzieren. Alle Fundamentalismen
treten vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Exklusivität gegeneinander an und
Alienne Laval
stehen im Gegensatz zu modernen und demokratischen Auffassungen von
Gesellschaft.
Erst mit dem Roman ergibt sich eine formale Möglichkeit und
Darstellungsweise, mit der die Beschreibung synkretistischer Welten und eine
Heteroglossie, eine Vielstimmigkeit, auch in der schriftlichen Erzählung,
möglich wird. Diese Entwicklung hängt stark zusammen mit der Entwicklung
der Märkte und des Handels.
Hubert Fichte findet bei dem griechischen Historiker Herodot, dem ersten
Geschichtsschreiber des Abendlandes, der um 500 vor Christus lebte, die
Anfänge der Form des Romans. Bakhtin selbst setzt den Raum-Zeit-Punkt, an
dem der epische Monolog allmählich in Heteroglossie umschlägt, später, um
etwa 150 nach Christus an. Zu dieser Zeit lebte der griechische Schriftsteller
Lukian in der strategisch bedeutenden syrischen Stadt Samosata, in der
mesopotamische, persische und indische Einflüsse mit griechisch-römischen
Elementen synkretistisch zusammentrafen. Für Hubert Fichte bleibt es
unfaßlich,
Die Gattung Roman setzte sich in Europa erst allmählich durch, als sich die
einzelnen Gesellschaften zueinander und zur übrigen Welt öffneten, hatte aber
nie den heiligen Stellenwert episch-religiöser Texte. Im Gegensatz zur Epik, die,
wie David Simo bemerkt, die Gattung einer geschlossenen, auf sich selbst
bezogenen Kultur ist, ist der Roman die Gattung einer multikulturellen Welt, ein
Zeichen dafür, dass fremde Kulturen wahrgenommen und rezipiert werden.
Doch der Roman ist auch eine leichter zu vermarktende Form als das Epos und
zudem massenmediengerecht. Jeder Synkretismus hat in sich selbst schon
Charakterzüge des globalen Marktes, indem er alles und jeden miteinander in
Beziehung bringen und verschmelzen kann. Der Markt hat heute die
Heteroglossie für sich entdeckt und okkupiert.
Dieser auf Wachstum und grenzenlosen Warentausch ausgerichtete Markt, der
die Zen-Mönche längst als Werbeträger für Zigaretten, Bier und
Fluggesellschaften entdeckt hat, fordert auf zum inflationären Gebrauch
religiöser, wissenschaftlicher und spritistischer Versatzstücke und Zeichen und
entintellektualisiert damit den Synkretismus.
Das marktwirtschaftliche Verfahren führt damit zu Ängsten vor einer Inflation
des Bewußtseinsfeldes, wie es der Psychologe Carl Gustav Jung einmal
Alienne Laval
ausgedrückt hat. Hierauf wird dann reagiert mit Traditionalismus,
Fundamentalismus, Rassismus, Ausweisung und Grenzziehung.
Das bedeutet, dass der globale Markt in letzter Wendung jene
identitätswahrende Rückkehr zu epischem Denken und den geschlossenen
Systemen des Mittelalters auf hohem technologischen Niveau erzwingt, wie es
heute z.B. die islamischen Fundamentalismen zeigen.
Der Markt überführt sich nicht selbst in Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit und
so gelten auch für die Religion die Regeln des Konsums, denen sich schließlich
die Fundamentalismen gegenüberstellen.
Der religiöse Konsument hangelt sich von einem Angbot zum nächsten, von
einer Therapie zur anderen, vom Sozialismus zur transpersonalen Psychologie,
von da zur Wiedergeburt, von dort zur Astrologie, dann zur Homöopathie und
weiter zu esoterischer Physik, Ethno-Kult, Chaostheorie, Yoga und Buddhismus
und schließlich zum Fundamentalismus.
Das Bewußtseinsfeld, in dem das Ich sich zu orientieren versucht, ist inzwischen
mit dem globalen Markt der Werbung, Waren und Ideen identisch geworden.
Die marktgerechte Zerfaserung von Religion und Erkenntnis, die oft als
Säkularisierung, als Verweltlichung von Religion und Wissen beschrieben und
mißverstanden worden ist, bedeutet indes keine Säkularisierung. Es geht
vielmehr darum, den Markt und seine Produkte mit einer Aura des Religiösen zu
umgeben, ihnen heilsbringende Kräfte zuzusprechen, den Sinnsuchern
klarzumachen, das der Markt selbst der erlösende Sinn ist.
In der gegenwärtigen Phase des Umbruchs, in der die Bezüge zwischen dem
religiösen Zeichengebrauch, der Technologie und den überlieferten religiösen
Inhalten neu gemischt und hergestellt werden, versuchen Individuen und
Gruppierungen innere und äußere Stabilität dadurch zu erzeugen, dass sie ihre
vertrauten und sozialisierten Verhaltenscodes verstärken und sie in Formen
bringen, die anscheinend gleichzeitig stabil und auch offen, also integrativ und
abschottend sind. Zumindest eine gruppenbezogene Konformität von
Anschauungen, Verhalten und Bewußtsein soll dabei eine gewisse Beständigkeit
gewährleisten.
Während das individuelle Bedürfnis nach Heteroglossie heute von Markt und
Medien okkupiert und befriedigt wird, bleiben Interkulturalität und
Interpretierbarkeit intellektuelle Leistungen. Die sozialen Gruppen hingegen
bleiben der monologischen Epik und damit den religiösen Texten der
Vergangenheit überlassen. Diesen Mangel nutzen die Fundamentalismen, indem
sie auf dieser Basis das menschliche Bedürfnis nach Identität und Stabilität
ausnutzen.
Alienne Laval
Der Synkretismus hingegen ist eine urtümliche Wirklichkeit, die wir erst heute
textuell einigermaßen angemessen darstellen können. Lange waren wir in
unseren Darstellungskünsten dem Epischen verhaftet.
Das synkretistische Potential bezieht seine Kraft aus der menschlichen Fähigkeit
zu Offenheit und Verwandlung, während der Fundamentalismus versucht, das
Gegenteil durch Reduktion zu erreichen.
Der Mensch ist ein wahrnehmendes und denkendes Wesen, das nicht
umhinkommt, seine Wahrnehmungen, Erinnerungen, Überlieferungen und
Erfahrungen zu strukturieren, wenn sie kein Traum, kein Muster suggestiver
Bilder bleiben sollen. Das kann er aber nur, wenn er sie zu Geschichten
verbindet, sie zu narrativen Synthesen verdichtet. Diese Texte bedürfen einer
Struktur, die sich der Mittel der Reduktion und der Vermischung bedient.
Fundamentalismus und Synkretismus bleiben so lange aktuell, bis eine
Teilnahme am gesellschaftlichen Wandlungsprozeß, in dem sich epische und
synkretistische Faktoren als differenzierende Momente einer gemeinsamen
Kultur treffen, nicht mehr verweigert wird.
Nach der eingangs erwähnten Analyse Helmut Zanders hat sich die Religion vor
allem mit den fundamentalistischen Ansätzen als ernstzunehmender politischer
Faktor zurückgemeldet. Das zeigt sich zunächst vor allem daran, dass die
Berichte über Fundamentalismus aus dem Feuilleton-Teil der Zeitungen und
Magazine verschwunden sind und nun in der Rubrik Politik verhandelt werden.
Zander fordert deshalb eine Religionspolitik, die sich speziell mit
fundamentalistischen Entwicklungen befaßt.
Die synkretistischen Versuche haben sich indessen noch nicht wieder vom
Markt emanzipiert, sind auch keine politischen Faktoren und selbst dem
Feuilleton nicht der Rede wert. Die synkretistische Heteroglossie bleibt bis auf
Weiteres dem Markt überlassen. Doch eine weitere Polarisierung oder ein
Zerbrechen gemeinsamer Kultur kann nur verhindert werden, wenn begriffen
wird, dass die Synkretismen nicht im marktkompatiblen New Age-Einerlei der
80er und 90er Jahre verharren können, sondern das in den 70ern aufgegebene
intellektuelle Experiment wieder aufnehmen müssen.
Enlightenment muß also wieder als Aufklärung und nicht mehr nur als
Erleuchtung verstanden werden.
Erlösung ohne Mühsahl, ohne tiefe Meditation, so der Dalai Lama einmal in
einem Interview mit dem ZEIT-Magazin, ist unrealistisch. 'Buddha selbst mußte
sechs Jahre lang fasten und meditieren'.
Mit Meditation meinte der Dalai Lama in diesem Zusammenhang durchaus nicht
das jahrelange und ausschließliche Sitzen, das Warten auf Samuel Becketts
Alienne Laval
Godot oder eine ähnliche Erleuchtung, sondern ein nachdenkendes, aufgeklärtes
Handeln, das sich auch politisch und intellektuell äußert.
I
Alienne Laval
Eine Anthropologie oder Kulturanthropologie4 des Meeres, eine
Meeresanthropologie, müsste den Menschen und sein Verhältnis zu Meer und
Wasser auf mehreren Ebenen untersuchen und zur Darstellung bringen und zwar
auf wissenschaftlicher, sozialer, technologischer, ökonomischer und kultureller.
Mit diesem Anspruch wäre eine Meeresanthropologie der ausschließlich auf
Mensch und Meer bezogene Teil der allgemeinen Anthropologie, deren
Gegenstand
4 Für die Expo 2000 in Wilhelmshaven waren (letztlich an der Finanzierung gescheiterte)
kulturanthropologisch ausgerichtete Projekte geplant und ebenso war für die nächsten Jahren
eine Reihe von Symposien zur kulturanthropologischen Erforschung des Meeres vorgesehen
(die auch tatsächlich stattfanden). Während die Expo-Projekte explizite Umsetzungen einer
Kulturanthropologie in die Praxis sein sollten, befassten sich die mit internationaler
Beteiligung ausgerichteten Symposien mit der näheren Erforschung der Thematik.
Wenn die Kulturanthropologie in diesen Zusammenhängen keine vage Begriffshülse und kein
interethnisches Kouriositätenkabinett sein soll, müssen wir uns der Mühe eines theoretischen
Exkurses unterziehen, der den Begriff Anthropologie erst konkretisiert, bevor wir auf die
Praxis zu sprechen kommen können. Ich habe versucht, die theoretischen Überlegungen so
einfach wie möglich zu gestalten, ohne mich jedoch auf Abstriche beim Inhalt einzulassen.
Alienne Laval
Psychologie, Technologie usw. Aus dem ethnologischen, also völkerkundlichen
Teilbereich der Anthropologie ist dieser Zugang bekannt, der in der Regel durch
Voransetzung des Präfixes ethno vor die einzeldisziplinären Bezeichnungen
angezeigt wird. So gibt es Ethnomedizin, Ethnobiologie, Ethnobotanik,
Ethnopsychologie, Ethnoarchitektur usw., aber auch Rechtsethnologie,
Wirtschaftsethnologie usw.
Ein derartiger Anspruch kann jedoch nur dann eingelöst werden, wenn
anthropologisch geschulte Spezialisten der Einzeldisziplinen zur Anthropologie
beitragen und Generalisten die Analysen synthetisch zusammenführen und zu
Menschheits-Erzählungen, ähnlich den ethnologischen Monographien,
verdichten5, die öffentlich und medial verbreitet werden müßten.
Ebenso, wie die Anthropologie schon vom Gegenstand her keine Einzeldisziplin
sein kann, kann auch eine zu konzipierende Meeresanthropologie keine
Einzeldisziplin sein: sie ist nur denkbar als eine interdisziplinäre
Integrationswissenschaft, deren Aufgabe es ist, den Menschen, seine Position
und sein zwar durch den biologischen Aufbau determiniertes und dennoch sozial
und kulturell wechselhaftes Verhältnis zu Wasser und Meer plausibel zu
erklären. Sie muß also fragen nach den das menschliche Sein in Bezug auf
Wasser und Meer bestimmenden Varianten und Invarianten.
Jede soziale Gruppe, Schicht, Ethnie, Kultur, aber auch jede Wissenschaft,
Religion, jeder Diskurs usw. verfügt über eine Anzahl für sie
bedeutungstragender Begriffe, Handlungen, Zeichen und Theorien. Diese
sozusagen einheimischen Standpunkte müssen über die Grenzen der Kultur oder
5 Der Schritt in die Synthese ist nicht nur deshalb notwendig, weil die Subjekte der
Geschichtlichkeit, der Narrativität und der Erinnerung bedürfen, um subjektive und
intersubjektive Erfahrungsmuster auszubilden, sondern auch, um - auch im Falle der
Meeresanthropologie - interdiziplinär abgesicherte und auf Wasser und Meer bezogene
Menschenbilder zu entwerfen, die zu weiteren Forschungen und Präsentationen anregen.
Alienne Laval
der Disziplin hinaus keinerlei Bedeutung haben; es mag sogar äußerst schwierig
sein, diese Bedeutungen auch außerhalb des ethnischen Diskurses oder des
Fachdiskurses zu vermitteln.6
Hier könnte die schon angeführte synthetische Anthropologie einsetzen, die die
einheimischen, bedeutungstragenden - in der ethnologischen Fachsprache
emischen - Standpunkte zunächst so zu interpretieren versucht, dass sie für die
Mitglieder der untersuchten Gruppe bedeutungsvoll bleiben. In einem weiteren
Schritt wird dann versucht, diesen kognitiven Ansatz zu übersteigen, indem er in
ein analytisches System überführt wird. Es ist dabei das Ziel, die untersuchten
Strukturen und Systeme so darzustellen, dass sie für einen außenstehenden
Beobachter Sinn machen.
Bei diesem in der ethnologischen Fachsprache etischen Standpunkt interessiert
es nicht, ob die Aussagen für Mitglieder der untersuchten Gruppe fachspezifisch
oder intrakulturell bedeutungsvoll bleiben.7 Bedeutung erlangen sie erst wieder
6 Für die Naturwissenschaften bedeutet das, dass sie die in ihrer eigenen Sicht der Dinge
gewonnenen und gesicherten Erkenntnisse - die allgemeingültigen, subjektunabhängigen
Gewißheiten - auf einem hohen Abstraktionsgrad vermitteln. Dabei haben sie, oft ohne es zu
bemerken, dieselben Schwierigkeiten wie viele autochthone Ethnien, die ihre Sicht der Welt
im globalen Kontext kaum durchsetzen, geschweige denn zu Gehör bringen können.
7 Die ersten systematischen Ethnologen waren für ihre Herkunftsländer, die Kolonialstaaten,
unterwegs. Sie waren in erster Linie Berichterstatter für die Regierungen ihrer Heimatländer
oder für Großkonzerne, die an einer Ausbeutung der Bodenschätze und der Arbeitskräfte der
kolonialisierten Gebiete interessiert waren. Die indigenen Glaubens-, Rechts-, Sozialsysteme
usw. mußten erforscht und verstanden werden, damit man wußte wie und an welcher Stelle
man in die indigenen Systeme eingreifen mußte, um sie steuern, verändern und dialogfähig
machen zu können.
Die abstrakten Ergebnisse dieser Analysen waren für die betroffenen Gruppen zwar nicht
bedeutungsvoll, ihre Rückübersetzung und Umsetzung in die Lebenswirklichkeit aber doch
höchst wirkungsvoll. Das ging bis zur unauffälligen Inkorporation europäischer
Rechtskonzepte in die indigen, emischen Systeme, dass es später selbst Einheimischen so
schien, als wenn sich diese Konzepte zwangsläufig und autark aus dem ursprünglichen
Rechtskorpus heraus entwickelt hätten.
Man kann sicher sein, dass Missionierung und Christianisierung, da wo sie geglückt sind und
Gewalt nicht Gegengewalt erzeugt hat, sich ähnlicher Methoden bedient haben. Diese
Prozesse lassen sich dann vor Allem anhand von Transformationen indigener mythischer
Elemente nachweisen; wenn zum Beispiel eine autchthone Gottheit plötzlich zum Teufel
wurde und eine andere in die Position eines Hochgottes gerückt wurde.
Eingriffe in Rechts- oder Glaubenssysteme sind also Manipulationen auf der Ebene der
Werte. Die Werte erscheinen bis zu einem gewissen Grad als variabel, dehnbar und steuerbar,
sie scheinen nicht biologisch festzuliegen, also einem anderen Bereich zu entstammen. Um
die Ebene des Sozialen kann es sich ebenfalls nicht handeln, denn dann würde sich die
Gemeinschaft sofort gegen jede auch noch so indirekte Beeinflussung wehren und mit
vehementem Widerstand nicht erst warten, bis es fast schon zu spät ist. Die Beeinflussung
muß demnach auf der Ebene des Individuums ansetzen und hier die Mythen neu arrangieren.
Auch die Ökonomie, die rezente Erbin von Missionstätigkeit und kolonialer Ethnologie, weiß
um diese Zusammenhänge und erschafft eine streng individualistische Weltordnung, indem
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in der Übersetzung auf eine metastrukturelle, intersubjektive Ebene, die im
heutigen Zeitalter der Globalisierung eine gesamtmenschheitliche sein müßte.
Hier würden die Forschungsergebnisse beider Untersuchungsmethoden dann
zusammengebracht. Auf dieser Ebene, die Mythen, Traditionen, Rituale, Kunst,
Religionen, Technologien, Naturwissenschaften und Ökonomien integrieren
müßte, sind öffentliche, publizistische und mediale Präsentationen möglich.
Leitdisziplin kann bei einem solchen Vorhaben nur eine Wissenschaft sein,
deren Gegenstand die eigentliche und auszeichnende Dimension des Mensch-
Seins, das sinnstiftende Kulturelle nämlich, ist.
Der Philosoph Leszek Kolakowski (1984:26) führt aus, dass es uns nicht
gegeben ist, auf andere Weise Sinn in unsere Existenz zu bringen. Wir können
Sinn nicht konstituieren,
"...indem wir ihn auf die vorbewußten Bedürfnisse des Körpers beziehen,
wir würden nämlich in diesem Fall die...nicht rechtmäßige Animalisierung
des Menschseins wiederholen; den Dingen durch den Entwurf einen Sinn
zu verleihen, geht jeweils der Bestimmtheit desjenigen, dem der Sinn
verliehen wird, voraus. Die Bedürfnisse sind im Gegenteil der Sinn, den
wir unserer Existenz verleihen."
Ebenso könnten wir die Vernunft, die Weltenmechanik, eine Astrologie, eine
Genetik oder eine Neurologie benutzen, um das ihnen kulturell Vorausgehende,
den Menschen also, zu bestimmen und mit Sinn auszustatten.
Dieses Problem ist kein nur scheinbares und kein rein theoretisches
Erkenntnisproblem, denn seine jeweilige Lösung gibt nicht nur vor, mit welcher
Ausrichtung geforscht und in welcher Weise präsentiert werden kann, sondern
definiert den menschlichen Selbstbezug und die Position des Menschen in
Kosmos, Welt und Umwelt lebensbestimmend. Damit bestimmt die Lösung
dieses Problems nicht nur unsere politische und evolutionäre Ausrichtung,
sondern auch Lehre und Forschung und gibt vor, in welcher Weise Daten und
Befunde geordnet und präsentiert werden können. Eine wie auch immer
reduzierende Systematik an die Stelle des Kulturellen zu setzen, bedeutet, das
Mensch-Sein zu unterschlagen und unterdrückt die Wahrnehmung zugunsten
eines sekundären Konstrukts.
sie die Individuen wohlweislich dem Biologischen und dem Sozialen enthebt und dem
Konzept des Marktes unterwirft. Der bedürfniszentrierte und gleichermaßen
bedürfnisunterdrückende globale und fraktale Markt rückt damit an die Position heran, die
früher die Mythen innehatten. Wird die Ökonomie hier zufällig auf Ovids badende Diana
stoßen?
Alienne Laval
"Die Wahrnehmung kann jedoch nicht umhin, das menschliche Ding
auszuzeichenen, daher die verschiedenen Namen für die Kennzeichnung
seiner Substrat-Natur (Ich/Ego, Seele, Subjekt, Bewußtsein, Geist)", urteilt
Kolakowski (1984:23f).
Ich, Ego, Seele, Subjekt, Bewußtsein und Geist sind Substrate, also nicht weiter
reduzierbare Unterlagen des Mensch-Seins, die nicht durch Rückgriffe auf
andere (z.B. esoterische, naturwissenschaftliche, technologische und
ökonomische) Erklärungsebenen enträtselt oder annulliert werden können. Diese
Substrate, wie auch die von ihnen später erfundenen Begriffe Demokratie,
Freiheit usw. sind originär kulturelle Leistungen.
"...wo ihre Erklärungen auch zu Prognosen taugen, etwa in Bereichen der Physik. Doch bei
komplexeren Systemen bricht diese Symmetrie zwischen Erklärung und Prognose ziemlich
bald zusammen - sie bei Menschen oder gar Gesellschaften zu erwarten wäre mehr als naiv,"
schrieb Ulf von Rauchhaupt in DIE ZEIT( 1998 Nr. 45, S.42)
Wilsons starker Reduktionismus in der Erklärung des Geistes schließt vom biologischen Sein
auf das geistige Sollen. Die Soziobiologie sitzt damit dem sogenannten naturalistischen
Fehlschluß auf und übertritt ein Tabu, das in allen nicht-autoritären Gesellschaften gilt.
Totalitäre Ideologien und Staaten bedienen sich absichtlich dieses Fehlschlusses, der Sein und
Sollen symmetrisiert, um die Bevölkerung auf ihr Konstrukt auszurichten und unliebsame
Elemente zu eliminieren.
Doch auch die Reduktion des Menschlichen auf die reine Befriedigung von Konsum-,
Freizeit-, Technologie-, Informationsbedürfnissen oder auf eine wie auch immer geartete
Vernunft, wie Wilson es vorführt, usw. ist eine Leistung des naturalistischen Fehlschlusses.
Ich will die Berechtigung von reduzierenden Ansätzen, wie z.B. die Soziobiologie sie
vorführt, keineswegs herabsetzen, da sie in bestimmten Bereichen zu zweckvollen
Alienne Laval
Eine Identitäts- und Sinnstiftung, ist, wie schon ausgeführt, praktisch nur aus
dem des Bereich des Kulturellen selbst und theoretisch nur aus den das
Kulturelle begleitenden Kulturwissenschaften heraus möglich.
Oft ist es der evolutionäre Ansatz, der die Semiotik zwar mit der Biologie
verbindet, aber auch Anstoß erregt und zu Kritik animiert. Dabei wird jedoch
Ergebnissen führen, doch reichen sie allein keineswegs aus, um menschliche und kulturelle
Perspektiven zu entwickeln.
Ein Entwurf derartiger Perspektiven fällt den sogenannten exakten Wissenschaften allein
schon aufgrund ihres Gegenstandsbereiches schwer. Da, wo sie dies dennoch versuchen,
schürfen sie zwangsläufig im Metaphysischen und damit in der Sphäre des Kulturellen und
Anthropologischen. Hier wird es dann unwissenschaftlich und Forderungen nach Visionen,
kürzlich erneut von Hubert Markl bekräftigt, werden laut.
Der Bereich, der in der postmodernen und globalen Gesellschaft für Visionen zuständig ist, ist
ebenfalls keines originär kulturellen Ursprungs. Es sind nicht mehr die Schamanen,
Propheten, Priester und Philosophen einer noch nahen Vergangenheit, sondern die Manager
der multinationalen Konzerne und Banken, die Visionen zeitigen sollen.
Alienne Laval
häufig übersehen, dass sich der semiotische Evolutionsbegriff vom landläufig
üblichen in zentralen Punkten unterscheidet.
Zunächst wird unterschieden zwischen Gebrauchs- und Kulturverhalten, wobei
zum Gebrauchsverhalten die Techniken, die Ökonomie, Bereiche sozialer
Organisation aber auch viele Errungenschaften der Zivilsation gehören. Das
Kulturverhalten zeichnet sich dadurch aus, dass es vom Standpunkt des
Gebrauchsverhaltens oder des rein physischen Überlebens von Mensch und
Gattung überflüssig ist. Hier geht es um Kunst, Traum, Utopie, aber auch um
Religion, Wissenschaft, Philosophie usw.
Kultur ist in semiotischer Sicht ein zeichenhaftes Phänomen und der Mensch
zeigt sich hier als Benutzer, als Hersteller und Interpret von Zeichen und Texten.
Der Begriff Text wird in der Semiotik allerdings nicht auf Gesprochenes oder
Geschriebens beschränkt. Jeder kohärente, intendierte Zeichenkomplex kann
prinzipiell als Text aufgefaßt werden. Der Semiotiker Michael Titzmann
(1977:9) formuliert das so:
In der Sphäre des Gebrauchsverhaltens haben wir es primär nicht mit Zeichen
und Texten zu tun, denn Techniken, Gebrauchsgegenstände, auch Bereiche
sozialer Organisation und bestimmte wissenschaftliche Verfahren wurden nicht
geschaffen, um zeichenhaft zu sein oder gar Identitäten zu stiften: sie sind
Werkzeuge. Gegenstände des Gebrauchsverhaltens können zwar sekundäre,
zeichenhafte Funktionen annehmen, doch sie sind ursprünglich nicht als Zeichen
oder Texte intendiert.
Wie weit auch immer die Techniken entwickelt sein mögen, so sagt die
Technik-Evolution noch nichts über den kulturellen Status einer Gemeinschaft
aus. Es kann also durchaus sein, dass eine Ethnie kulturell weiter entwickelt ist,
als eine technifizierte Hochzivilisation, die den großen Bogen zurück zu den
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physikalischen oder biologischen Anfängen geschlagen hat und sich durch die
Eliminierung von Ich, Seele, Bewußtsein und Geist auszeichnet.
Der evolutionäre Ansatz der Semiotik wahrt also den anthropologischen
Anspruch an die Kulturrelativität, weil er keinem biologischen und keinem
Darwinismus des Gebrauchsverhaltens aufsitzt.
"Wir können diese drei großen Gruppen von Codes auch als
hyposprachliche, sprachliche und hypersprachliche Codes bezeichnen", so
Bystrina (1989:117)
oder sie vereinfacht und für unsere Zwecke biologische, ethologische und
kulturelle Codes nennen.9 Diese Codes schichten sich in evolutionärer Folge
9 Bystrina unterscheidet primäre, sekundäre und tertiäre Codes, wobei die primären einfache,
syntaktische Codes sind, die wir z.B. als genetische Codes bezeichnen. Ihr Kennzeichen ist
eine hohe Codegebundenheit (Stringenz) und eine daraus resultierende relativ starke
Invarianz. Sie strukturieren die primären Lebensformen und bezeichnen eigentlich Leben und
darüberhinaus gar nichts. Auf den sekundären Codes sind semantische Operationen möglich;
sie regulieren ethologische Systeme, die verschiedenen Spielarten des Sozialen im Tierreich
(auch Mimikry, Spiele, Sozialverhalten, Tarnungen und Täuschungen), soziale Systeme und
Phänomene der menschlichen Alltagssprache.
Spätestens hier tritt etwas ein, dass sich mit dem Walten primärer Codes alleine nicht mehr
erklären läßt. Der einzelne Organismus bleibt zwar eine raumzeitlich auszumachende und
durch Geburt und Sterben begrenzte Entität, doch diese ist eingebunden in ein konzeptuelles
Gefüge, das sich quasi außerhalb von Raum und Zeit - und damit auch der
phänomenologischen Wahrnehmung - befindet. Die individuelle Kenntnis dieses Gefüges -
und damit auch sein Verhältnis und das der Individuen zur Umwelt - ist nicht mehr nur
angeboren, sondern muß zum größten Teil erlernt, sozialisiert und tradiert, d.h.: introjeziert
werden.
Dieser Bereich, den ich als das ethologisch Soziale bezeichne, erstreckt sich bis hin zu der
Organisation menschlicher Gemeinschaften. Zu der primären Syntax der codehaften
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nicht nur aufeinander auf, sondern bleiben in mannigfaltigen intra- und
interorganismischen Beziehungen erhalten.
Zu Anfang wurde von der Anthropologie gesagt, dass sie in ihren wesentlichen
Aspekten gleichzeitig Naturwissenschaft, Sozialwissenschaft, historische
Disziplin, Kulturwissenschaft und semiotische Wissenschaft sei. In semiotischer
Perspektive untersucht sie also biologische, ethologische und kulturelle Codes.
Bystrina (1989:86) spricht in diesem Zusammenhang von einem Trend der ab-
nehmenden Codestringenz, einer zu den tertiären, kulturellen Codes hin
abnehmenden Codegebundenheit. Es muß angenommen werden, dass das
'menschliche Soziale' sich nicht durch lineare evolutionäre Folge aus dem
ethologischen Sozialen der höheren Säugetiere ergibt, sondern eine besondere
Genese birgt.
Im Menschen lösen sich die neuen Kapazitäten des Kulturellen so weit von der
ursprünglichen biologischen und ethologischen Unterlage ab, dass ein völlig
neuer Bereich - eine zweite Wirklichkeit - entsteht, die sich gänzlich in den
Köpfen und in den nach außen verlagerten geritzten, gemalten, getanzten usw.
Texten befindet. Diese Texte sind in erster Linie narrativ, d.h.: sie erzählen
Geschichten. Hierdurch unterscheidet sich das menschliche Zeichenverhalten an
entscheidender Stelle von dem der Tiere, die zwar auch Zeichen benutzen, diese
aber nicht zu Geschichten oder Texten verdichten.
Strukturen, die sich u.a. durch die geschlechtliche Fortpflanzung weiterhin realisiert, tritt nun
eine Semantik hinzu, die einen bewußten Bezug zwischen den Umweltobjekten, den
Individuen - die ebenfalls Objekte dieser Metastruktur sind - und dem ethologisch Sozialen
herstellt. Dieser Art liegt mit dem ethologisch Sozialen eine zweite codehafte Struktur, ein
sekundärer, semantischer Code, vor, der das Verhältnis der Organismen zu den Phänomenen
der Umwelt gänzlich verändert. Es sind nicht mehr Modifikationen auf den primären Codes,
die diese Gemeinschaften auf Veränderungen der Umwelt reagieren lassen - denn dazu sind
die Generationenfolgen viel zu lang -, sondern Modifikationen auf den sekundären Codes.
Spätestens bei den höheren sozialen Säugern gesellt sich zu der Fähigkeit des Spiels und des
Sozialverhaltens jedoch eine weitere, die des Traumes, hinzu, der ein in den Innenraum
verlagertes Nach- bzw. Vorerleben bestimmter Erfahrungen und Situationen gestattet.
Während die sekundären, semantischen Codes eher ein gruppenhafter Ausdruck sind, deutet
sich mit dem Traum eine individualisiertere Form des Erlebens an, die später mit Begriffen
wie Götter, Geister, Seele, Ich, Bewußtsein usw. belegt werden wird. Die evolutionären
Vorläufer dieser Kapazität können in den Fähigkeiten zu Mimikry, Tarnung und Täuschung
gesehen werden, die schon früh und interspezifisch in der Phylogense auftauchen. Traum,
Verwandlung, Devianzen, Rausch, Ekstase, Askese usw. sind die Etappen, in denen sich diese
individualisiertere Form des Erlebens von den sozialen Säugern über die Primaten bis hin zum
Menschen weiterentwickelt.
Alienne Laval
Während jene Lebewesen, die die Ozeane verließen, um ihr Glück an Land zu
suchen und hier mit den sozialen Säugern letztlich ethologische Sozialgefüge
entwickelten, tauchten die Menschen wiederum ein in einen neuen, inneren,
introspektiven Ozean zeichenhafter Gestaltungen. Das Problem, das sich nun
stellte, war das der Gliederung und der Organisation dieses Ozeans. Dies
geschah durch Märchen und Mythen, namentlich durch Schöpfungsmythen, mit
denen so etwas wie ein inneres, psychisches Festland erreicht bzw. erzeugt
werden sollte, indem das Chaotisch-Narrative des Traumes in das Kosmisch-
ordnend-Narrative der Mythen überführt wurde.
Wie ich schon an anderer Stelle (Uchtmann 1991) ausgeführt habe, entstammt
der Mensch in dieser Sicht dem Mythos10; er ist im Mythos entstanden: der
Mythos ist das missing link, das fehlende Bindeglied, das uns mit dem Wasser,
unseren animalischen Vorfahren und der Umwelt verbindet.
Dieser zweite, psychische und kulturelle Landgang, der dem ersten und
physischen, der zum Erfolg der sozialen Säuger führte, folgte, brachte die
Notwendigkeit mit sich, das Soziale, das bislang ethologisch reguliert war,
zumindest teilweise auf andere, auf anthropische und ethnische Weise zu
organisieren: es entstand ein, wie ich es nenne, ethnisches Soziales.
10 Mit den Mythen ist der Mensch dem Traum oder "seinem Kopf entsprungen, wie ein
Verurteilter dem Gefängnis", wie George Bataille es einmal formulierte.
Alienne Laval
Ab diesem Raum-Zeit-punkt, der als Punkt der Kulturemergenz, also des ersten
Auftretens des Menschen als kulturellem Wesen, gesehen werden kann,
existierte der Mensch in zwei Bereichen, war er an zwei existentiellen
Prozessen, dem des physischen und dem des psychischen Überlebens, beteiligt.
II
Es gibt Indizien dafür, dass die Besetzung des Himmels durch Menschen bzw.
die Herabkunft der Götter in Zusammenhang mit einer wachsenden
Populationsdichte steht (s.a. Taborsky 1997). Je größer die Bevölkerung wird,
desto mehr materialisieren sich sozusagen die Eigentümer der Welt. Dieser
Prozeß beginnt mit ikonischen Idolen und ritueller Beschwichtigung und führt
über vergottete, menschliche Herrscher bis hin zur rational begründeten
Besitznahme von Ländereien, Menschen und Ressourcen. Dieser Prozeß steht in
engem Zusammenhang mit der Seelen- und Ich-Werdung des Menschen, die
teilweise hart erkämpft werden mußte, denn zunächst hatten nur die Gott-
Könige so etwas wie Geist und Seele auf Erden.12
11 Die Menschwerdung Gottes im Jesus von Nazareth kann dann auch so gesehen werden,
dass sie dadurch notwendig wurde, weil schon die Römer so willkürlich wie fleischgewordene
Götter agierten. Ein himmlischer Gott hätte diesen wirklichen Göttern wenig
entgegenzusetzen gehabt.
12 Die Mumifizierung der Pharaonen hatte z.B. das Ziel, den Geist, also das pharaonische
Konzept auch nach dem Tod weiterhin für Erde und Menschen wirksam, eine bestimmte
Ordnung über den Tod hinaus zu erhalten.
Doch um das Jahr 2100 v. Chr., am Übergang vom alten zum mittleren Reich, gab es so etwas
wie eine Revolution; gewöhnliche Sterbliche erkämpften sich eine Seele, Besitzende wurden
enteignet und Sklaven stiegen zu Herren auf. Wer eine Seele hat, der will aber auch am Geist
teilhaben und den Tod konzeptuell überleben. In der Folge wuden die bisher geheimen,
Alienne Laval
Mit der immer weitergehenden Herabkunft der Götter gingen Profanisierungen
der konzeptuellen Ebene einher, die schließlich zu ihrer Auflösung im
Individuellen führte. Die neuen Konzepte, die das Verhältnis von Individuum
und Gemeinschaft regeln sollten, waren juristischer und politischer Art, bezogen
sich also vornehmlich auf das Gebrauchsverhalten und waren dadurch
keineswegs bindend.
Diesen Konzepten gegenüber stand und steht ein Individuum neuen Typs, das
sich ab der Phase der Industrialisierung herausbildete. Die Psychologie der
Eigentümer in der Epoche beginnender Industrialisierung und des
Abenteurerkapitalismus, die noch im Bewußtsein ihres Verstoßes gegen alte
Ordnungen handelten, hat Goethe in seinem Faust trefflich dargestellt.
Mit der Gewöhnung an diesen neuen Typus von Identiät, die vor allem durch die
Erfolge in der Eroberung neuer Ländereien, der Erfindung neuer Techniken, den
Fortschritten der Wissenschaften und der Ausbeutung von Bodenschätzen
erleichtert wurde, verschwanden allmählich auch diese Skrupel.
Doch auch die Indigenen und die Konsumenten sind Teil dieses Traumes, der,
da er nicht konzeptuell, sondern nur individualistisch funktioniert, die
Möglichkeit einer Teilhabe am Besitz vorgaukelt. Im Derivat des
Konsumverhaltens glauben wir alle Götter und Miteigentümer der Welt zu sein,
werden aber nur massenmedial mit Reizen überflutet, die nicht mythisch-
narrativ, sondern traumatisch-suggestiv - bis hin zur Nivellierung aller
Differenzen - sind. Doch ohne Differenzen sind keine Texte mehr möglich.
III
Da die kulturellen, tertiären Codes zur Zeit nicht imstande sind, Identitäten zu
stiften, wird zunehmend auf biologische und ethologische Codes
zurückgegriffen, die diese Funktion wahrnehmen und das Differenzprinzip
retten sollen. Hier zeigen sich verzweifelte Versuche, Stabilität zu erhalten und
Bedeutung zu konsolidieren. Weshalb das nicht funktionieren kann, wurde
eingangs begründet. Wird dieser Versuch dennoch gemacht, so bleiben wir den
vom Markt ausgehenden kulturellen Instabilitäten weiterhin ausgesetzt. Es nutzt
uns gar nichts, wenn wir uns im Gegenzug bemühen, die alten Gottheiten zu
revitalisieren, denn wir wollen ja nicht zurück zu den alten und zweifelhaften
semantischen Werten, die die wissenschaftlichen und technologischen
Kenntnisse ausklammern müßten.
Wir brauchen dehalb Entwürfe neuer konzeptueller Ordnungen, die allen drei
Codeebenen der menschlich-kulturellen Existenz und damit auch der Umwelt
und den Mitwesen Rechnung tragen und gleichzeitig unsere Art von
gottgleichem Eigentümerverhalten begrenzen, aber dennoch weiterhin
Technologie und Wissenschaft ermöglichen. Dies kann weder eine
Technologie, noch das Ökonomische leisten, denn beide gehören zum
Gebrauchsverhalten. Das Ökonomische, also ein Gebrauchsverhalten im
Mittelpunkt menschlicher Existenz, hat das Kulturelle soweit dynamisiert, dass
wir neue Orientierungen benötigen.
Als Schnittpunkt einer neuen gesellschaftlichen Syntax deutet sich inzwischen
ein mythisch-bipolarer ökonomisch-ökologischer Operator an, der sich jedoch
nur dann wird durchsetzen können, wenn auf der Ebene kultureller Codes
Mythen etabliert werden. Hier helfen ökonomisch-ökologische Einsichten
13 z.B.: Bibel, Koran und Thora; sumerische, babylonische und assyrische Chroniken;
griechische Überlieferung; altindische Schriften (Satapatha, Brahmana,Mahabarata); Purana;
persische Überlieferung; walisische Legenden; Edda; litauische Sagen; irische Legenden;
chinesische Legenden; Chroniken der Azteken, Tolteken und Chichimeken; Maya-Chroniken;
Legende der Chibcha, Südamerika; Legende der Huronen, Nordamerika; Legendes der
Mandan, Nordamerika; Legenden der Dakota-Sioux und Chicksaw, Nordamerika; Legenden
der Hopi, Nordamerika; Legenden der Guarani, Südamerika; Inka-Überlieferung,
Südamerika; Legende der Tuscarora, Brasilien; Legende der arktischen Eskimo; Legende der
Tlingit, Alaska.
Alienne Laval
allerdings nicht weiter. Das mythisch-kulturelle Konzept muß identitätsstiftend
sein, dem Ich, der Seele, dem Bewußtsein, dem Geist eine sinnvolle Semantik,
d.h. einen glaubwürdigen Bezug zu den Dingen der Umwelt gestatten.
Eine sinnvolle Semantik, die nicht erneut jene Fehler wiederholen will, die zur
wirklichen Inbesitznahme und Parzellierung der Erde führten, könnte von der
konzeptuellen Logik primärer Gesellschaften ausgehen und diese
weiterentwickeln, dürfte jedoch nicht den Fehler machen, diese einfach zu
kopieren.
Ein einfaches Modell einer solchen Konzeption, das als Kula-Ring-Tausch in die
Geschichte der Ethnologie eingegangen, soll nun kurz vorgestellt werden. Bei
seinen Forschungen auf den melanesischen Trobriand-Inseln entdeckte der
Ethnologe Bronislav Malinowski eine als Kula beteichnete Form des
symbolischen Tauschhandels, der zwischen den Bevölkerungen eines großen
Gebietes, die einen weiten Ring von Inseln im Norden und Osten der Ostspitze
Neuguineas und auch Dörfer am Ostkap Neuguineas bewohnten, betrieben
wurde. (Ausführungen nach Uchtmann 1996)
Die Trobriander veranstalteten noch in diesem Jahrhundert alljährliche
Seefahrten, bei denen werttragende Halsketten aus roten Muschelscheiben im
Ring der Kula-Inseln in der einen Richtung fortgegeben wurden, um sie dann
aus der anderen Richtung im Tausch gegen ebenso wertvolle Armreifen aus
weißen Muscheln wieder zurückzubekommen.
Während die Muschelketten im Urzeigersinn im Ring der Inseln weitergegeben
wurden, wanderten die Armreifen in entgegengesetzter Richtung, so dass jeder
dieser Gegenstände auf seiner Reise in dem geschlossenen Kreislauf auf
Gegenstände der anderen Art traf und ständig gegen diese getauscht wurde.
Bei den Fahrten ging es aber in erster Linie nicht um den materiellen Wert der
Gegenstände, die getauscht wurden. Ihr Wert war ideeller Natur, denn sie waren
Ausdruck und Überbringer einer bestimmten Seelenhaftigkeit, die in Form von
Geschichten, Mythen und Ritualen weitergegeben wurde.
Es gibt Indizien dafür, dass die Kula-Unternehmungen die Kopfjagd abgelöst
und in ihrer Funktion ersetzt haben.
Mit den Kula-Unternehmungen wurde der Kopfjagd ein utopisches Bild des
Mensch-Seins als alternatives Projekt entgegengesetzt, das als eine durch die
Seefahrten aufrechterhaltene Beziehung gelebt wurde. Durch die alljährliche
Wiederholung der Reisen entstand daher eine neue Tradition, die das alte
Verfahren allmählich überlagerte.
Die in diesem Kula-Bündnis zusammengeschlossenen Inseln hatten sich damit
gegenseitig auf ein Menschenbild - eine Art erster Verfassung - verpflichtet, in
dem die Kopfjagd abgelehnt wurde.
Die riskanten Seereisen zwangen die Teilnehmer nicht nur zur
Auseinandersetzung mit den Elementen Wasser und Wind, sondern auch zur
Beschäftigung mit ihren Vorstellungswelten.
Alienne Laval
Die Vorstellungen und Gedanken, die die Teilnehmer das ganze Jahr über
beschäftigt hatten, wurden nun vor dem Hintergrund dieser besonderen Situation
in Geschichten, in die auch die Erzählungen früherer Reisen einflossen,
bewältigt.
Bronislav Malinowski hat seine Monographie über die Bewohner der Trobriand-
Inseln auf drei Bände angelegt. Den ersten Band, der sich mit dem Kula-Ring
und dem symbolischen Tausch beschäftigt, nannte er - in Anlehnung an die
Argofahrt des Odysseus - Argonauten des westlichen Pazifik. Es folgten die
Bände Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwestmelanesien und
Korallengärten und ihre Magie.
Die Argonauten des westlichen Pazifik machen den Leser vertraut mit dem
Kulturverhalten der Bewohner der Inseln, die am Kula teilnehmen, während die
beiden folgenden Bände ihn in die Organisation des Sozialen und des
Gebrauchsverhaltens einführen.
Die Teilnehmer am Kula hatten eine Harmonie zwischen den Polen Geist und
Materie, Kultur- und Gebrauchsverhalten zustande gebracht, die sich beide als
nicht ineinander auflösbar darstellten.
Das, was sozial gelebt wurde oder als heimatlicher Ort bestimmt werden konnte,
wurde als durch die Utopie begründet gesehen, welche die am Kula
teilnehmenden melanesischen Gesellschaften von sich entwarfen. Diese Utopie
konnte aber nicht im Sozialen selbst oder im Gebrauchsverhalten, sondern nur in
der sozialen Aus-Zeit der Reisen erschlossen, aufrechterhalten und gefestigt
werden.
IV
Eine Meeresanthropologie hätte also zunächst die Aufgabe, den Umgang mit
Wasser und Meer historisch und vergleichend auf zwei verschiedenen Ebenen,
der des Gebrauchs- und der des Kulturverhaltens darzustellen und dann zu
analysieren, wie das Verhältnis der unterschiedlichen Codeschichten geregelt ist.
Diese Methodik dürfte sich jedoch nicht nur auf autochthone und überseeische
Alienne Laval
Kulturen beziehen, sondern müßte, wie schon eingangs gefordert, unsere eigene
Gesellschaft in den Vergleich mit einbeziehen.
Es muß überlegt werden, wie archaische Verfahren, Ökonomie, moderne
Technologie und Wissenschaften zusammenkommen können, ohne sich
gegenseitig auszuschließen oder aufzulösen.
"Oh happy people! What better things can one whish you, than you already
possess? Have you no riches? Yet poverty does not trouble you. Have you
no superfluity? Yet you suffer no want. Is there pomp and pride, to be seen
14 Auf der synthetischen Darstellungsebene könnten vor dem Hintergrund dieses Ansatzes,
wie es schon für die Expo am Meer geplant ist, Ausstellungen stattfinden und
Veranstaltungen sowie Lesungen organisiert werden.
Ebenso müßten Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen die Möglichkeit zur
Selbstdarstellung bekommen. In Theater- und Kunst-Workshops, in Rollen- oder
Maskenspielen könnten darüberhinaus alte Verfahren im Umgang mit Wasser und Meer
kritisiert und neue erprobt werden.
Alienne Laval
among you? Neither is there any slight or scorn to be met with. Is there no
nobility or high rank amongst them? Neither is there any slavery or
bondage. What is sweeter than liberty? And what is happier than
contentedness? But one thing is yet wanting: I mean the saving knowledge
of God and his dear son Christ Jesus, in which alone consists eternal life
and happiness." (Hans Egede 1818:225)
So schrieb Hans Egede, einer der frühen Missionare Grönlands, der dort 1721
eintraf. Doch es kamen nicht Gott, Jesus Christus und die himmlischen
Heerscharen, um die Inuit/Grönländer über ihr schon vorhandenes Glück hinaus
restlos zu beglücken, sondern es kam ein schwarzer Engel über sie. Mehr als
250 Jahre später, am 10.09.1975, veröffentlichte der Grönländer Arkaluk Lynge
unter dem Titel Sollen wir in deiner Umarmung, Mutter Dänemark, zu Tode
gedrückt werden? einen verzweifelten Artikel in der dänischen Tageszeitung
Politiken:
Doch es sollten noch mehr als 10 Jahre vergehen, bis die Zinkmine Black Angel
1989 auch tatsächlich geschlossen wurde.
Der Frage, was in den nunmehr fast 280 Jahren seit Hans Egedes Ankunft
vorgegangen ist, soll nun nachgegangen werden. Es soll dabei versucht werden,
den Wandlungen einiger prototypischer Elemente eskimoischer Kultur und
Alienne Laval
Lebensweise nachzuspüren und diese Wandlungen anhand eines Modells
konkurrierender Codes15 verständlich zu machen.
15 "Unter Kode (Code) kann man...eine integrierte Organisationsform verstehen, wodurch ein
Energiesystem in planvollem Austausch mit dem es umgebenden Energiesystem sich selbst
als zugleich eigenständiges (geschlossenes) und abhängiges (offenes) System erhalten...kann."
(Krampen et al. 1981:353)
17 Der Begriff Eskimo leitet sich wahrscheinlich aus dem Wabanaki-Wort (Algonkinische
Sprachgruppe) Eskimantsik ab, das Rohfleischfresser bedeutet (s.a. Platzer 1980:198, Oswalt
1979:5f, Birket-Smith 1948:20). Thalbitzer (1950:564) nimmt an, dass der Begriff von dem
Wort Excommuniquois abgeleitet wurde, das von den Jesuiten im östlichen Kanada benutzt
wurde, um die Heiden im Norden zu bezeichnen. Nach Oswalt (1979:5,22) ist es jedoch klar,
dass der Begriff nicht von den Exkommunizierten abgeleitet werden konnte, da die Jesuiten
die Missionierung nicht vor 1605 begannen. Er plädiert daher für die Algonkin-Variante.
Das Wort Eskimo findet 1611 Verwendung im Bericht des Pater Biard über die
Jesuitenmission in Neufrankreich (Birket-Smith 1949:20).
Die erste englische Verwendung des Wortes Eskimo oder vielmehr: Esquimawes, findet sich
aber schon in einem Aufsatz über die Kolonialisierung Ost-Nordamerikas von Richard
Hakluyt aus dem Jahre 1584 mit dem Titel Discourses on Western Planting (Oswalt 1979:5).
Die Skandinavier nannten die Eskimo Skrellings, was Barbaren oder Gnomen bedeutete.
Die Eskimo selbst nennen sich Yuit oder Inuit, was einfach Menschen bedeutet. Die Grenze
dieser beiden Zentralgruppen verläuft am Yukon, wobei die asiatischen Eskimo und die
Eskimo Südalaskas Yupik sprechen, während nördlich und östlich des Yukon bis nach
Grönland Inupik gesprochen wird. Die Bezeichnungen Yupik und Inupik setzen sich aus yuit
und inuit und dem Suffix pik (pik = Sprachgruppe) zusammen. Innerhalb der Sprachgruppe
des Inupik werden fünf Dialekte unterschieden: Grönland, Labrador, Nord-Quebec und
Belder Islands (südöstliche Hudson-Bay), die zentrale kanadische Arktis und die Barren
Grounds mit dem Mackenzie-Gebiet (Platzer 1980:8; Birket-Smith 1948:90f).
18 Die Kombination aus Speerschleuder und Harpune war der neolithische Höhepunkt
steinzeitlichen Erfindungsgeistes in Bezug auf die Jagdtechniken. In ihrer höchsten
Entwicklungsform, noch bis vor kurzem bei den Inuit zu sehen, bestand diese Waffe aus drei
Teilen: 1. der Speerschleuder, einem stabartigen, mit einem Haken am Ende versehenen Gerät
aus Knochen oder Geweih bzw. aus Holz gefertigten Wurfbrettern, 2. dem Schaft und 3. der
Harpunenspitze, einer aus Geweih oder Knochen geschnitzten mit Widerhaken versehenen
Spitze
Harpunen werden heute, anders als im Neolithikum, wo sie in der Jagd auf die großen
Landsäuger Verwendung fanden, hauptsächlich für die Jagd auf Meeressäuger genutzt.
Die Semang auf der Halbinssel Malakka übten Flußfischfang mit Schöpfkörben und
Harpunen aus; die Feuerlandindianer (Yamana, Halakwulup, Chono) gingen mit aus
Rindenstücken zusammengenähten Booten und Harpunen auf die Jagd nach Meeressäugern.
Nicht zu vergessen sind die relativ modern ausgerüsteten Waljäger der Azoren.
Landsäugerjagd wird (wurde) nur dort noch mit Speerschleuder und Harpune betrieben, wo
der Bogen nicht bekannt war - so bei den weitgehend ausgerotteten Tasmaniern und
Australiern, wo der Bogen nur in einem kleinen Gebiet im Norden Australiens bekannt war.
Die Weiterentwicklung des Bogens zu einer wirkungsvollen Fern- und Großwildwaffe löste
sonst die Jagd mit der Speerschleuder ab. M.E. hatte der Bogen wegen seiner Leichtigkeit und
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Kennzeichnend für den arktischen Wirtschaftsraum war, dass er keine das ganze
Jahr über gleichbleibende und sichere Lebensgrundlage bot und so nicht einmal
kleineren Gruppen dauerhafte Siedlungen erlaubte19. Die Gebiete mit dem
jeweils optimalen Ertrag waren einschneidenden jahreszeitlichen Veränderungen
unterworfen, woraus sich der Zwang zu räumlich sehr ausgedehnten Jagd- und
Fangreisen, also eine halbnomadische Lebensführung ergab, die ethnologisch
mit dem Terminus Wildbeutertum (s.a. Vivelo 1981:71ff) belegt wird. Die
wechselnden klimatischen Verhältnisse und das gleichermaßen instabile
Verhalten des Jagdwildes machten eine Subsistenzwirtschaft während des
Winters unmöglich. Im Winter waren die Inuit daher zu zeitweiliger
Seßhaftigkeit in festen Winterhäusern und zur vorausschauenden Vorratshaltung
gezwungen (Dege 1965:14f); im Sommer wechselten die Inuit dann in Zelte
über: die saisonalen Plätze der Tiere und Phasen der Pflanzen, die Unterschiede
von Temeratur und Tageslicht und das erneute Erscheinen von Eis und Schnee
banden an ein fest definiertes Jahresprogramm (Weyer 1932:79).
Während sich im Sommer ein fast unbegrenztes Gebiet zum jagen, sammeln und
fischen öffnete20, wurde dieses Gebiet zum Winter hin immer begrenzter. Die
klimatischen Bedingungen und die Eigenheiten des Jagdwildes gaben so den
guten Handhabung den Vorteil, dass er im Gegensatz zu der recht plumpen und und schwierig
zu handhabenden Kombination von Speerschleuder und Harpune auch von Reittieren aus
verwendet werden konnte.
19 Diese Erfahrung mußten auch die Wikinger und ihre Nachkommen machen, die um das
Jahr 1000 auf Grönland siedelten und es mit festen Siedlungen versuchten:
"Die sonst so abgehärteten Nordländer, die sich um das Jahr 1000 in Grönland niederließen
und ihren Unterhalt in einer Kombination von Ackerbau und Jagd fanden, unterlagen nach
wenigen Jahrhunderten, während die eskimoischen Stämme trotz Hungerperioden und dem
rauhen Klima auszuhalten vermochten. Wahrscheinlich hatten sie mehr Erfahrung und wußten
auch mehr von der arktischen Welt." (Hoy o.A.:27)
Nicht nur das: diese ersten europäischen Siedler, die sich an der Westküste ansiedelten,
blieben in der Versorgung mit Getreide, Eisen und anderen Waren vollständig von ihrem
Mutterland Norwegen abhängig, das jedoch im 14. Jahrhundert den Bedürfnissen seiner
grönländischen Kolonie plötzlich nicht mehr nachkommen konnte: 1349 wütete die Pest in
Bergen, dem Hafen für den Grönlandhandel und schnitt damit die Kolonie, die schließlich in
Vergessenheit geriet, vom Kontinent vollständig ab. Mit diesen Schwierigkeiten einher ging
zu allem Überfluß noch eine Klimaverschlechterung in Grönland (s.a. VN*).
Die letzten Wikinger sind dann wohl von den Inuit dezimiert bzw. assimliert worden. Als
Martin Frobisher 1578 in Grönland landete, traf er jedenfalls keine Normannen, sondern Inuit
an. Auch die Schiffe, die zwischen 1605 und 1654 nach Grönland segelten, um nach den
Nachkommen der frühen Siedler zu suchen und den Handel mit ihnen wieder aufzunehmen,
fanden ebenfalls keine Normannen, und der Handel mit den Inuit erwies sich als nicht
profitabel.
Insgesamt wurden während dieser Phase 30 Inuit gefangen und von dänischen, norwegischen
und holländischen Schiffen entführt, um dann den zu Hause gebliebenen
Studierstubenethnographen als Anschauungsmaterial zu dienen. Der dänisch-norwegische
königliche Historiker Claus C. Lyschander beschrieb die drei Inuit, die man ihm 1605
vorführte, als wilde, verlogene auch rohes Fleisch fressende Tiere.
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Rhythmus von winterlicher Konzentration und sommerlicher Dispersion der
Bevölkerung vor. Die Bevölkerung konzentrierte oder verteilte sich im
landschaftlichen Raum entsprechend dem Jagdwild. Marcel Mauss (1979:55f)
sah in diesem Rhythmus den Motor, der die Inuit-Gesellschaft in Bewegung
hielt. In Verwendung einer moderneren Terminologie werde ich jedoch nicht
von einem Motor oder Generator sprechen, sondern stattdessen den Begriff
Code einführen.
Die Innuit-Gesellschaft war über die jahreszeitliche Polarisation codiert. Ein
Code besteht aus Paaren oppositioneller Zustände, wie hell <> dunkel, Tag <>
Nacht, warm <> kalt, oben <> unten usw. Das z.B. Helle kann nur
wahrgenommen werden, wenn es das Dunkle zu Unterlage - und vice versa -
hat. Die stärkste Opposition war für die Innuit jene von Sommer und Winter
(Polarnacht), die als stärkster und grundlegender Code alle sich aufschichtenden
sozialen Codes unmittelbar bestimmte. In saisonaler Variation lebten sie mal
den einen, mal den anderen Pol ihres Codes.
Da es für die Inuit ein großes Problem war den Winter zu überleben, bildete der
Erfolg ihrer herbstlichen, auf Bevorratung angelegten, Jagd auf die Seesäuger
die wichtigste Voraussetzung ihrer Existenz. Einen großen Teil an der Jagdbeute
machte der Seehund aus, doch auch verschiedene Spezies der Delphin-Familie,
auch Schwertwal und weißer Wal, wurden gejagt. Die Waljagd war nur in
größeren Gruppen möglich und setze daher schon die im Herbst einsetzende
Konzentration der Gruppen an den Siedlungsplätzen voraus. (Weyer 1932:2, 79,
85; Dege 1965:14f; Mauss 1979:32f; Birket-Smith 1948:96)
Doch ebenso, wie Herbst und Winter zur Konzentration der Gruppen zwangen,
verlangten Frühjahr und Sommer ihre Dispersion, da die Wintervorräte
aufgebraucht und die großen Meeressäuger nun nicht mehr zu jagen waren.
Die soziale Organisation der Inuit basierte in erster Linie auf Lokalität. Generell
waren die einzelnen Gruppen recht klein und lebten weit auseinander. Da es
keine Exogamieregel gab, kam es zu starken Verwandtschaftsbindungen in jeder
Siedlung; sozialer Austausch mit anderen Gruppen fand eher sporadisch statt.
Die wirkliche territoriale Einheit war die Siedlung, eine Gruppe von Familien,
die durch verwandtschaftliche Bande miteinander verbunden waren und ein
20 Der überwiegende Teil des von Inuit und Yuit bewohnten Gebietes ist baumlos. Im Süden
Grönlands gibt es Bäume, die eine Höhe von bis zu 4 m erreichen (hauptsächlich Weiden und
Birken). An der Westküste gibt es bis zur Disko-Insel Weidenbüsche etc.; an der Ostküste
verläuft die Vegetationsgrenze weiter südlich und bei Angmagssalik werden Weiden selten 1
m hoch. Das Pflanzenleben ist auf Büsche, Moose, Flechten, Seggen, verschiedene
Blumenarten und Gräser beschränkt. Lediglich in Südgrönland, der unteren Labradorküste
und dem Gebiet, das von den südlichen Alaskagruppen besiedelt ist, herrscht kein arktisches
Klima (s.a. Weyer 1983:11ff).
Gejagt wurden Rentier, Moschusochse, Polarbär, Fuchs, Hase, verschiedene Vogelarten und
Fisch aus Süß- und Salzwasser; gesammelt wurden Beeren, Wurzeln und Kräuter (Mauss
1979:55f).
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Habitat besetzten, in welchem sie entsprechend der Jahreszeiten unterschiedlich
verteilt waren.
Unter einer Siedlung ist eine Konzentration von Häusern (im Winter) oder eine
Anzahl von Zeltplätzen (im Sommer) und die dazugehörigen Jagdgründe, Wege,
Anlegeplätze usw. zu verstehen. Wohl bedingt durch die geringe
Populationsdichte und die wechselnden Habitate, haben die Inuit nie so etwas
wie formale Stammessysteme ausgebildet. Darüberhinaus ist die Kultur der Inuit
über weite Gebiete so einheitlich, dass sich für solche Systeme auch kaum eine
Basis bot. (Weyer 1932:203f; Dege 1965:20; Birket-Smith 1948:186; Mauss
1979:26f)
Ebenso wie es keine strikt definierten Stammesgruppen gab, waren
Klassenunterschiede quasi inexistent - eine Führungsschhicht gab es nicht. Am
Siedlungsplatz war häufig jedoch der Großfänger, der Piniartorssuak als
tüchtigster und erfolgreichster Jäger, tonangebend. Seine Position war aber nicht
durch vererbtes oder verfaßtes Recht begründet, und sein Einfluß schwand,
wenn er nicht mehr führend zum Unterhalt der Gemeinschaft beitragen konnte:
er mußte dann einem neuen Piniartorssuak Platz machen.
Von Bedeutung war auch der Angakok (Schamane, Priester, Prophet,
Medizinmann), der manchmal zugleich Großfänger oder erfolgreicher Jäger war.
Der Angakok war das Bindeglied zwischen natürlicher und übernatürlicher bzw.
kultureller Welt, zwischen Lebenden und Toten, dem Mythischen und dem
Profanen. Sein Prestige basierte in der Regel auf einem überlegenen Wissen,
doch auch seine Autorität vereinigte die Gruppenmitglieder nicht zu einem
Ganzen. Einheit entstand einzig aus der Notwendigkeit der Kooperation, die zu
ihrer Durchsetzung keines exekutiven Führers bedurfte. (Weyer 1932:208f,
421f; Dege 1965:19f)
Durch die Konzentration der Gruppen in Herbst und Winter (Seesäugerjagd) und
ihre Dispersion in Frühling und Sommer (Fischfang, Landjagd) war die Inuit-
Gesellschaft extrem polarisiert und wies zwei konträre Muster sozialer
Organisation auf. (Weyer 1932:91, 204ff; Birket-Smith 1948:129ff; Mauss
1979:46)
In Grönland beluden die Familien mit dem Beginn des Sommers die Umiaks mit
den Zelten von zwei oder drei befreundeten Familien und bauten sie entlang der
Buchten und Fjorde auf. Im Zelt lebte dann die Nuklearfamilie, die aus Mann,
Frau (oder Frauen) und den unverheirateten eigenen und adoptierten Kindern
bestand. Manchmal gehörten zu dieser Kernfamilie auch ältere, verwitwete
Verwandte oder Gäste. (Nansen 1903:72ff; Egede 1818:90; Rink 1975:7, 132,
189; Mauss 1979:36f,48)
Sobald sich der Winter ankündigte, änderte sich die Inuit-Gesellschaft
vollkommen und die Population war nach einem ganz anderen Siedlungsmuster
arrangiert. Anstelle der Zelte wurden feste, oft mehr oder weniger in die Erde
eingegrabene Häuser aus Baumaterialien wie Moos, Torf, Knochen, Steinen,
Holz und Erde errichtet.
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Die Nuklearfamilie, die im Sommer so klar individalisiert war, ging im Winter
in einer größeren Gruppe, einer Art joint-family (oder: extended family) auf.
Dies war die Gruppe, die im selben Iglu oder Langhaus wohnte. Die Menschen,
die unter einem gemeinsamen Dach lebten, waren nicht nur durch ökonomische
Beziehungen miteinander verbunden, sondern sie waren auch igloq atigit,
Hausverwandte, ein Begriff, der von Dänen und Engländern mit husfaller oder
housemates übersetzt wurde. Die Housemates bildeten neben der Nuklearfamilie
den Kreis der nächsten Verwandten. Im einfachsten Typ dieses Hauses lebten
Blutsverwandte und deren Affinalverwandte; eine Heirat zwischen Housemates
war verboten.
Die Anzahl der in einem Langhaus wohnenden Familien konnte stark variieren.
In Ostgrönland lebten meistens sechs bis neun Familen auf diese Weise
zusammen, während es in Westgrönland auch schon mal zwölf sein konnten. In
Angmagssallik (Ostgrönland) bestand häufig eine ganze Siedlung aus einem
einzigen Langhaus (mit bis zu 58 Einwohnern). An der Smith-Strait lebten in
kleinen Schnee- oder Steinhäusern nur zwei Familien zusammen. (Mauss
1979:38ff, 44ff, 63ff; Birket-Smith 1948:161ff, 184; Weyer 1932:141, 206f)
Die Großfamilie des Winters setzte sich anders zusammen als die patriarchale
Sommerfamilie und war nach anderen Prinzipien organisiert. Ihr Oberhaupt -
eher ein Verwalter - war, wie schon erwähnt, ein Piniartorssuak oder ein
Angakok, konnte aber auch ein alter Mann, der Vater eines guten Jägers oder der
Besitzer eines Umiaks sein. Seine Macht war sehr begrenzt und seine Funktion
bestand im Wesentlichen darin, Fremde zu empfangen, Schlafplätze sowie
Fleisch zu verteilen und Rat in Konfliktfällen zu geben. (Weyer 1932:142;
Mauss 1979:46, 66, 70)
Das Langhaus des Winters gehörte gemeinschaftlich allen Housemates, die auch
kollektive Nahrungsrechte hatten; das Zelt hingegen, wie auch Kleidung,
Jagdgerät, Kayak, Schlitten, Amulette usw. waren Familien- bzw. Privatbesitz.
Den Frauen gehörte darüberhinaus das Kochgerät und die so wesentliche
Tranlampe. (Birket-Smith 1948:188; Weyer 1932:193ff; Mauss 1979:70ff)
Auch die Religion der Inuit fogte dem Rhythmus von Sommer und Winter. Im
Sommer wurden lediglich private und häusliche Familienrituale abgehalten.
Dazu gehörten die Beachtung verschiedener Tabus und die mit Geburten und
Todesfällen verbundenen Rituale. Im Gegensatz dazu lebte die Wintersiedlung
in einem Zustand permanenter Religiosität. Während dieser Zeit wurden die
Mythen und Legenden auf die nächste Generation übertragen und der Angakok
war sehr aktiv. Das Winterleben war so etwas wie eine lange Feier, und frühe
Ethnographen wie Hans Egede beschrieben andauerndes Tanzen der Inuit. Die
Mentalität des Winters war eine vollkommen andere, als jene des Sommers.
(Mauss 1979:58ff; Egede 1818:88ff)
Einher mit dem ökonomischen Kommunalismus des Winters ging ein sexueller
Kommunalismus: in den Winterhäusern herrschte sexuelle Offenheit, die ihren
Höhepunkt in verschiedenen Festivitäten, insbesondere im Frauentausch, fand.
Dieser Frauentausch fand zwischen allen Männern und Frauen einer Siedlung
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statt und war der krasseste Gegensatz zum individualisierten und isolierten
Zustand, in dem die kleinen Familiengruppen während des Sommers lebten.
Doch der Frauentausch hatte auch durchaus profane Gründe: jeder hatte so die
Chance, einmal mit einem fertilen Partner zusammenzukommen und so - auch
bei Infertilität des eigenen Partners - den Nachwuchs zu sichern. Eine andere
Variante des Frauentausches bestand darin, Freunden Frauen auszuleihen, wenn
z.B. deren eigene Frau durch Krankheit oder Schwangerschaft verhindert war.
Gerade wenn jemand mehrere Frauen hatte, war dieses Vehalten, das
verwandtschaftliche Bindungen zur Folge hatte, üblich. Kein Mann konnte
während der Sommerzeit auf eine Frau verzichten, die die Jagdbeute und die
Felle verarbeitete und die Nahrung zubereitete. (Birket-Smith 1948:144f; Dege
1965:20f; Weyer 1932:140ff; Mauss 1979:60, 73)
Abgesehen von den Wikingern waren die ersten Europäer, die mit den Inuit in
Berührung kamen, die Walfänger der neufundländischen Gewässer und der
Davis Strait. Um 1619 waren es vornehmlich Holländer, die an der leicht
zugänglichen Westküste landeten und einen lebhaften Handel mit den Inuit
betrieben. Sie handelten vornehmlich mit Tabak, Alkohol und Gewehren; ein
Resultat dieser Kontakte waren auch zahlreiche Mischlinge. Hundert Jahre
später führte der Kontakt mit den Walfängern dazu, dass sich die Generalstaaten
1720 zur Herausgabe eines Erlasses genötigt sahen, der Raub und Mord an der
Eingeborenenbevölkerung unter Strafandrohung verbat. (Birket-Smith
1948:260; Banks 1975:91)
Mit der Zeit waren die Walfänger infolge der Überfischung gezwungen, dem
Wal in immer unzugänglichere Gebiete zu folgen und weiter im Norden und
Westen zu suchen. 1818 traf John Ross mit seiner Flotte in der Melville-Bay, die
er von da an jeden Sommer besuchte, ein. Auch die Nachfolger Ross' trafen
gegen Ende Juni mit den polaren Inuit zusammen und handelten mehr als
hundert Jahre lang Holz, Gewehre und Geräte gegen Bären- und Fuchsfelle.
(Birket-Smith 1948:261)
Während dieser Phase wurde auch die dänische Kolonialisierung Grönlands
begründet. Bereits 1721 landete Hans Egede und begann mit der Missionierung
der Inuit. Angeblich war es sein ursprüngliches Ziel, den Glauben an das
Evangelium bei den Nachkommen der Wikinger des Mittelalters wieder in
Erinnerung zu rufen. Doch man wußte auch in Dänemark schon über hundert
Jahre vor Egedes Fahrt nach Grönland, dass dort keine Wikinger mehr lebten
(s.a. Anm. 5).
Mit seinem Buch A Description of Greenland (1745, 1818), das zugleich das
erste größere Werk über die Inuit war, brachte er Grönland zurück auf die
Landkarte. Einige Jahre später, 1733, gründeten die Moravier die
Missionsstation Neu Herrnhut einige Kilometer von Egedes eigener Station in
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Godthab (heute Nuuk) entfernt. Die für die Missionierung und den Unterhalt der
Stationen anfallenden Ausgaben sollten durch den Handel mit den Eingeborenen
gedeckt werden. (Egede 1818:214f; Birket-Smith 1948:261; 275; Oswalt
1979:78f, 95)
Parallel zu den Missionsstationen wurden nun komplette Handelsstationen
gegründet, die einen sogenannten kostendeckenden Handel noch gezielter als die
Missionen selbst betreiben sollten. Die erste Station, Upernavik, wurde 1771 in
Betrieb genommen. Bereits 1774 wurde der gesamte Grönland-Handel mit der
eigens gegründeten Gesellschaft Königlich Grönländischer Handel (KGH) unter
das Monolpol der dänischen Krone gestellt. Da der Handel mit Grönland nun
Regierungssache war, konnte am 18.03.1776 eine Verordnung erlassen werden,
die anderen Staaten den Schiffsverkehr und den Handel mit Grönland, den
derzeitigen und zukünftigen Kolonien und Stationen, untersagte.
Die Verordnung galt auch 1894 noch, denn als jetzt die Station bei
Angmagssalik eröffnet wurde, kam sie und mit ihr die gesamte Südostküste,
automatisch unter das Monopol des KGH. Wenige Jahre später erging es der
Nordwestküste ebenso. (Birket-Smith 1948:275f; Banks 1975:93)
Über Jahrhunderte beleuchteten die Europäer ihre Häuser mit Kerzenschein und
Lampenöl, die aus dem Fett der Meeressäuger gespeist wurden. Gegen Ende des
18. Jahrhunderts war die Walpopulation im Nordatlantik durch die Überfischung
so gut wie ausgerottet, so dass die Walfänger damit begannen, Seehunde und
auch deren Neugeborene alljährlich zu Hunderttausenden abzuschlachten.
Doch selbst durch diese rigorose Vorgehensweise ließen sich die expansiven
Bedürfnisse Europas nicht befriedigen, so dass die Händler zudem die Inuit dazu
preßten, jedes Seehundfell und jedes Pfund Seehundspeck zu verkaufen, das
über ihre unmittelbaren und täglichen Bedürfnisse hinausging. Dabei wurde
keine Rücksicht darauf genommen, dass die Inuit das Öl bevorraten mußten, da
sie es im Winter zum Betrieb ihrer Lampen sowie zum Heizen und Kochen
brauchten.
Auch die Bedürfnisse der Inuit hatten sich inzwischen vervielfacht. Die goßen
Schiffe und die Werkzeuge aus Metall wirkten den traditionellen Gerätschaften
aus Stein, Häuten und Fellen gegenüber überlegen. Farbige Kleider, Glasperlen,
Tabak, Stoffe, Kaffee und andere, unbekannte Luxusartikel hatten ihren Preis,
und der wollte bezahlt sein mit Seehundsfellen und -speck. Oft tauschten die
Inuit ihre unschätzbaren Seehundfellmäntel und -zelte ein gegen billige
europäische Kleidung und Stoffzelte. Die Gewehre, die man eintauschen konnte,
waren genauer und tödlicher als Harpune, Pfeil und Bogen. Auch fehlerfreies
Holz, das man nun kaufen konnte, war unvergleichlich stärker und dauerhafter
als das halbverrottete Treibholz, das hin und wieder an Land gespült wurde.
Durch die Einführung des Gewehrs geriet der Harpunenfang zunehmend in
Verfall, denn mit dem Gewehr konnten viel mehr Tiere getötet werden - doch
angeschossene Tiere konnten auch fliehen und dann irgendwo verenden.
Der Verkauf von Seehundfellen und -speck, die aus der Wirtschaftsweise der
Inuit nicht wegzudenken sind, führte zum Verfall von Umiak, Zelt, Kayak,
Alienne Laval
Langhaus und den nicht wegzudenkenden Lampen. (Nansen 1891:335ff;
Jenness 1967:20f)
Ob die Lampe für Hans Egede, seinesgleichen und die Händler von so
unbekannter Bedeutung war, wie es in der Literatur häufig dargestellt wird, ist
indes zu bezweifeln. Die Lampe war ein zwar unscheinbares, doch in seiner
universalen Funktion unübersehbares Gerät, das nicht nur die Häuser beheizte
und Licht spendete, sondern auch zum Kochen der Nahrung diente. Eine Lampe
ohne jenen den Inuit abgetrotzten Wintervorrat an Öl war jedoch nutzlos. (s.a.
Oswalt 1979:94)
Es ist anzunehmen, dass es Egede, den Moraviern und anderen mit dieser
Strategie darum ging, die im Winter nun hilflosen Inuit an den Missions- und
Handelsstationen zu bündeln und von diesen abhängig zu machen (s.a. Rink
1877:159f; Lynge 1973:576). Nicht nur die Lebensgrundlage - Wale, Robben
und Rentiere - war weitestgehend zerstört (Birket-Smith 1949:277; Dege
1965:22), sondern die Inuit hatten darüberhinaus die Fähigkeit verloren, ihr
gemeinschaftliches Winterleben in den Langhäusern zu organisieren. Die
Langhäuser waren darauf angewiesen, dass jede Familie ihre Lampe mitbrachte
und genügend Öl vorhanden war, um über den Winter zu kommen.
Dieses vorsorgliche Verhalten war an den Handelsniederlassungen und
Missionstationen, die schnell zu zentralen Orten weiter Fängerdistrikte wurden,
weder nötig noch erwünscht. Innerhalb der Räume bisheriger Besiedlung
wirkten die Stationen wie Magneten, so dass die in ihrer Nähe gelegenen
Siedlungsplätze oft aufgegeben wurden. Bald wirkten diese neuen Plätze als
Konzentrationskerne weit in das Land hinein und bewegten weitere Inuit dazu,
herzuziehen und sich anzusiedeln. In weitem Schwarm lagen die Hütten der
Inuit um die Nierderlassungen, doch Ortswüstungen abseits dieser Kolonien
waren die Folge.
Diese Konzentrationskerne hatten aber nichts mehr mit der alten winterlichen
Konzentration der Bevölkerung zu tun, denn nun wurde auch im Winter die
Siedlungsweise des Sommers beibehalten, nur, dass die Hütten jetzt näher
beieinander standen. Die patriachale Inuit-Familie des Sommers konnte nun
ganzjährig und allein - nach dem Vorbild des christlichen Europa - ein Haus
bewohnen.
Kirchen und Handelsstationen übernahmen die kommunikativen Funktionen der
Langhäuser; Missionare, Pfarrer, Katecheten und die Vertreter des KGH
besetzten im sozialen Gefüge die Stellen, die einst Großfänger und Angakok
innehatten. Von den Inuit wurden sie zunächst als ebenfalls in Verbindung mit
den unsichtbaren Kräften ihrer eigenen weisen Männer stehend gedacht. (Rink
1877:139f, 146; Dege 1965:21)
Doch blieben die Piniartorssuaks und Angakoks lange eine ernstzunehmende
Konkurrenz für die Händler und ein Dorn im Auge Gottes für Missionare wie
Hans Egede:
Alienne Laval
"Sie (die Inuit) sollten auch unter einer gewissen Disziplin gehalten
werden. Ihr dummer Aberglaube muß ebenso unterdrückt werden, wie die
albernen Tricks und boshaften Betrügereien ihrer Angakoks, die allesamt
verboten und bestraft gehören." (Egede 1818:217; übers. R.U.)
Lynge (1973:575) berichtet davon, dass Egede diese Drohungen allen Ernstes in
die Tat umsetzte, indem er suchte, Angakoks durch Strafen und körperliche
Züchtigungen von ihrem Glauben abzubringen. Als integraler Bestandteil dieser
Sozialdisziplinierungen wurden auch die Gesänge und Tänze der Inuit, die
Egede vordem so überschwenglich lobte (s.o.), systematisch unterdrückt21
(Lynge 1973:576).
Egedes Rezept, aus Eingeborenen Handelspartner und Brüder und Schwestern
im Glauben zu machen, war einfach und ist noch heute gültig22:
"Es ist gar keine Frage, dass man aus einem völlig unzivilisierten und
wilden Menschen nur dann einen Christen machen kann, wenn man ihn
zunächst zu einem verständigen, einsichtigen und vernünftigen Menschen
macht: der nächste Schritt ist dann einfacher." (Egede 1818:210;übers.
R.U.)23
Die Vernunft, die Egede hier meint, ist allerdings die durch egoistische
Konkurrenz geprägte Vernunft Europas auf der Schwelle zum 19. Jahrhundert,
die ein Überleben in der Klassengesellschaft garantiert und kaum soziale
Verantwortung kennt.
Lynge (1973:573) irrt, wenn er seine Annahme, dass christlicher Glaube und
westliche Kultur zwei grundverschiedene Dinge seien, auch auf die Epoche
22 Schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion sendeten Missionare des berühmt-
berüchtigten Summer Institute of Linguistics (SIL) mit Hilfe konvertierter Yuit von Alaska aus
Radiobeiträge nach Sibirien in das Gebiet der Chukchen und Yuit. 1988 (Perestroika-Periode)
war es erstmals möglich, Visa für Sibirien zu bekommen. Flugs schickte das SIL seine
Konvertiten aus Alaska zu den Verwandten nach Asien. Das angestrebte Ziel ist es, bis zum
Jahr 2000 eine Eingeborenen-Kirche bei den asiatischen Yuit zu etablieren, nach dem Motto:
"Pray for a strong indigenous church among the 1500 Yupiks of the USSR by the year 2000."
(s.a. Global Prayer Digest, Ausgabe vom 26.10.1991. Ed.: Frontier Fellowship, Inc., P.O.Box
90970, Pasadena, CA 91104)
23 Im 20. Jahrhundert sollte der reasonable man, der vernünftige Mensch, dann als Konzept
der Kolonialverwaltung in den englischen Kolonien Afrikas im Rahmen der sogenannten
indirect rule theoretisch-ethnologisch Aufwertung erfahren und Anwendung finden. (s.a. Max
Gluckman 1965ff; insb.: The Reasonable Man in Barotse Law, in: Dundes, A. (ed.) Every
Man His Way, New Jersey 1968)
Alienne Laval
Egedes bezieht, denn für ihn waren, wie gezeigt, Christentum und westliche
Lebensweise untrennbar miteinander verwoben.
Tornasuk zum Beispiel, der nach Rink (1877) für die Inuit eines der höchsten
göttlichen Wesen überhaupt war, wurde mit dem christlichen Teufel
gleichgesetzt. Auf die übernatürliche Hilfe Tornasuks, der als in den Tiefen der
Erde lebend gedacht wurde - denn da konnte es nur noch wärmer und
komfortabler werden, als in den schon halb in das Erdreich eingegrabenen
Langhäusern -, waren aber nicht nur die Inuit im allgemeinen angewiesen,
sondern im besonderen die Angakoks. Die Geister, über die Tornasuk herrschte,
waren die Hilfs-und Wächtergeister der Angakoks, die nun als des Teufels
untergeordnete Hilfsdämonen hingestellt wurden: die frühen Missionare
predigten und lehrten nicht nur das Höllenfeuer für die Ungläubigen, sondern
verdammten insbesondere die Verehrer dieses Satans, die Schamanen.
Doch nach dem alten Glauben der Inuit gingen nur diejenigen nach ihrem Tod in
den Bereich Tornasuks ein, die im Leben für das Wohl ihrer Freunde (der
Housemates) gearbeitet und gekämpft hatten. (Rink 1877:141; Jenness 1967:23)
Der Glaube an Tornasuk war gleichzeitig ein Glaube an die Solidarität der
Gemeinschaft und ihre konzeptuelle Ordnung. Mit der Zerstörung dieses
Glaubens durch die Missionare wurde im selben Augenblick der Glaube an den
bis in das Jenseits wirkenden Zusammenhalt der Langhaus-Gemeinschaften
zerrüttet.
Die partikularisierte Siedlungsweise des Sommers, die im Rituellen profaner
und mehr am Gebrauchsverhalten orientiert war als jene des Winters, erzeugte
auch andere Identitäten, die jetzt ganzjährig zur Geltung kamen. Die besten
Jäger sahen es nicht mehr ein, die für Fell und Speck erstandenen Produkte der
Weißen mit ihren ehemaligen Housemates zu teilen. Es machte sich ein
ökonomischer Egoismus breit, der, in Verbindung mit der durch die Bildung
ganzjähriger Populationszentren bedingten weiteren Abnahme des Ertrages an
Seehunden, vielen Familien den Tod brachte. (Hoegh 1973:373; Jenness
1967:44, 64) Tornasuks irdisch-unterirdisches Gefilde der Seligen entvölkerte
sich zunehmend.
Egede hatte bald erreicht, dass alle Bewohner der Westküste zumindest dem
Namen nach Christen waren und lesen und schreiben konnten. Gerade die
Kinder hatte er durch das Lehren dieser Fertigkeiten zunächst zur Vernunft und
dann zum christlichen Glauben bekehrt. Der Verelendung hatte er damit jedoch
keinen Einhalt geboten, sondern ihr nur weiteren Vorschub geleistet: die Inuit
hatten bald nicht einmal mehr Kraft und Willen, ihre eigenen Familien zu
ernähren. (Egede 1818:218; Nansen 1891:339f)
In den Langhäusern reichten die mit Seesäugerfett betriebenen Tranlampen
aufgrund der im Verhältnis zu der hohen Einwohnerzahl geringen Größe der
Wohnungen für Beleuchtung und Heizung vollkommen aus. In den neuen
Einfamilienhütten war das nicht mehr der Fall, so dass Krankheiten24 sich
24 Schwere Pockenepedemien grassierten 1734 (2000 Tote = 1/4 der Einwohner), 1785/86
und 1800 (500 Tote) an der Westküste. Es kann davon ausgegangen werden, dass in manchen
Alienne Laval
ungehindert ausbreiten konnten. Zudem wurden Krankheiten durch die
Einführung europäischer Kleidung befördert: die alte Fellkleidung lag locker auf
der Haut, zwischen Kleidung und Körper befand sich eine wärmende
Luftschicht, die gut zirkulieren konnte. Schweiß verdunstete schnell und ohne
unangenehme Nebeneffekte. Die neue europäische Unterwäsche hingegen lag
eng am Körper an, war ständig durchfeuchtet, verschmutzte leicht und bot
Krankheitskeimen guten Nährboden. Das Waschen von Wäsche war den Inuit,
die sich früher nackt in den Langhäusern bewegten, unbekannt, und die neue
Unterwäsche wurde ständig getragen, weil es in den elenden Hütten kalt und
zugig war. Überdies wurden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Metallöfen eingeführt, die überhaupt eine Möglichkeit boten, Wäsche zu
trocknen. (Birket-Smith 1949:146; Jenness 1967:71f; Nansen 1891:337)
"Um 1850 war die Mehrheit der einst stolzen und selbstgenügsamen
Eingeborenen zu einem schlecht ernährten, schäbig gekleideten
Elendsproletariat verkommen, das in unhygienischen Stein-und-Grashütten
hauste, in denen die Sterblichkeit so hoch war, dass sie zum Aussterben
verdammt schienen." (Jenness 1967:44; übers. R.U.)
"Eimer mit dreckigem Wasser, den man lässig über Bord auskippen kann,
um ihn dann mit sauberer Flüssigkeit wieder aufzufüllen",
Siedlungen keiner überlebte. Im strengen Winter 1853/54 starben viele Inuit an Erkältung und
Hunger; 1856/57 starben 150 Personen an den gleichen Ursachen. Im folgenden Sommer
kostete eine Epidemie weitere 100 Menschen das Leben. Zu ähnlichen Desastern führten die
zahlreichen, durch Abnahme der Seehundpopulation verusachten Hungersnöte. Usw., usf.
(Jenness 1967:22; Oswalt 1979:80, 93; Nansen 1891:338f; Rink 1877:159)
Alienne Laval
Anregung zu dieser depolarisierten, von den Jahreszeiten unabhängigen Form
der Selbstbestimmung kam diesmal jedoch von außen, von Dänemark.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die Dänen damit, hölzerne Häuser
und Eisenöfen an die bei der Regierung angestellten Inuit/Grönländer weit unter
dem Herstellungspreis abzugeben. Die so pivilegierten Grönländer sollten als
Vorbilder dienen und zur Nachahmung anregen. Bald wurden aus Dänemark
vorfabrizierte Holzhäuser eingeführt, die oft auch verschenkt wurden. Die
Eisenöfen konnten mit der Kohle beheizt werden, die inzwischen (Disko-Bucht)
gefördert wurde. (Jenness 1967:41f, 48; Birket-Smith 1948:283) Die soziale
Situation verschlimmerte sich jedoch weiterhin und die Abhängigkeit von den
Europäern nahm noch zu.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erklärte die Kolonialverwaltung den Fisch zur
zukünftigen Basis der grönländischen Wirtschaft. Diese Idee kam der
Bevölkerungskonzentration ebenso entgegen, wie sie später auch zu ihr beitrug
(Jenness 1967:64). Bis 1927 waren 12 Gemeinden entstanden, die größer waren,
als jene der voreuropäischen Zeit. Nicht nur die medizinische Versorgung hatte
sich verbessert, so dass die Bevölkerung allmählich wuchs, auch schälte sich ein
Klassensystem nach europäischem Muster heraus. (Dege 1965:25; Jenness
1967:43, 88)
Nach dem zweiten Weltkrieg beschlossen die Dänen, Grönland am europäischen
Wirtschaftswunder teilhaben zu lassen. Grönland, Dänemarks einzige Kolonie,
sollte zum Testfeld für die Natur- und Sozialwissenschaftler werden. (Jenness
1968:13; Petersen o.A.:38f) Es war vor allem die Arbeit der
Grönlandkommission von 1948, die zu neuen Gesetzen führte, Möglichkeiten
soziologischer Forschung erweiterte und weitreichende Reformen für alle
Bereiche der grönländischen Gesellschaft vorbereitete. (Petersen o.A.:38f;
Jenness 1967:100f; Bornemann 1973:392) Ganz uneigennützig waren diese
Forschungen jedoch nicht:
Die Lösung war nicht das Einsetzen von ca. 1200 Spiralen jährlich in die
Gebärmütter von Frauen, das man ab Anfang der 70er Jahre durchführte,
sondern die fortschreitende Europäisierung. Die Bevölkerung pendelte sich ab
Mitte der 70er Jahre bei etwa 50.000 Einwohnern ein. (Banks 1975:116ff;
Barüske 1977:107ff)
Als in den Gemeinden zudem Geld, Banken, Handel, Wandel und Kommerz
einen immer größeren Platz im täglichen Leben einnahmen, nahm auch die
Kriminalität zu, die man durch stufenweise Annäherung an das dänische Recht
in den Griff bekommen wollte (FAZ 30. 09.1973).
Auch hier kollidierte die kommunalistische Tradition, die Diebstahl und Mord
im Sinne europäischer Rechtsauffassung nicht kannte, mit den dänischen
Erwartungen einer zivilisatorischen Entwicklung. So gab es bis 1964 lediglich
ein einziges Gefängnis in Godthab (Nuuk), das eigentlich nur ein Holzhaus war,
Alienne Laval
in dem sechs Gefangene untergebracht werden konnten. Diese arbeiteten am
Tag in der Stadt und kehrten um 18.00 Uhr freiwillig zurück. Erst 1967 wurde
ein 'richtiges' Gefängnis gebaut, doch zur Abbüßung schwerer
Kapitalverbrechen wurden die Gefangenen nach Dänemark überstellt. (Jenness
1967:131, 135ff, 140; Barüske 1977:123; s.a. Banks 1975:103f; Report des
Premierministers 1949:8f)
Doch auch die Selbstmordrate stieg und war zeitweise vier mal so hoch wie in
Dänemark (WS 05.10.1975), der Alkoholkonsum oft die einzige
Freizeitbeschäftigung. Adler (1979:485) spricht gar von Massenbesäufnissen. So
traf er in Julianehab (2.600 Einwohner) von freitags 19.00 Uhr bis montags 9.00
Uhr kaum eine nüchterne Person an, obwohl die horrenden Preise für Schnaps
und Tabak die finanziellen Etats der Familien ruinierten. Auf den neuerbauten
Wohnblocks lasteten Mietschulden sämtlicher Parteien in Millionenhöhe.
Wenn der Wochenlohn vertrunken war, blieb nichts mehr für die Kinder, die
dann Abfälle essen oder bei den Dänen betteln mußten, berichtet Barüske über
die Situation in Angmagssalik (Ostküste). Die Schulen bleiben zur Hälfte leer,
weil die älteren Kinder zu Hause die jüngeren Geschwister versorgen müssen,
während die Eltern betrunken im Bett liegen. Viele Familien sind in Auflösung
begriffen, das Kinderheim ist überfüllt von verwahrlosten Kindern, die durch
offene Wunden, Krätze und andere Krankheiten gezeichnet sind. Manche
Kinder, hinunter bis zum 13. Lebensjahr sind durch das Trinken schon schwer
geschädigt (Barüske 1977:122).
"Die meisten Familien lösen sich auf. Die Kriminalität steigt. Der
Alkoholmißbrauch greift um sich, auch unter den ganz Jungen. Die Anzahl
gewöhnlicher psychischer Störungen steigt, was ebenfalls für die
Schulkinder gilt. Bei vielen ahnt man ein inneres Chaos, Verwirrung,
Enttäuschung. Die einstige soziale Not wird nun durch menschliche
Auflösung ersetzt." (Olsen o.A.:46)
Auch 1989 waren diese Probleme noch nicht gelöst. Immer noch ist der Alkohol
oft der einzige Zeitvertreib. 'Am Abend ist halb Grönland besoffen!', so Peder
Munk Pedersen, Redakteur bei Atuagagdliutit (Grönlandpost) zu Michael
Kunert, einem Korrespondenten des Weser-Kurier:
Auch wenn ab Mitte der 70er Jahre der Plan einer Bevölkerungskonzentration
wieder aufgegeben wurde, weil die Arbeitslosenzahlen in den Küstenorten
stiegen und die Kleinsiedlungen nun nicht mehr aufgelöst werden sollten, da die
dortige Fängertradition noch eine relativ solide Existenz sichern konnte
(Barüske 1977:233)25, so zeigt sich doch auch 1989 noch das schon bekannte
Bild.
Der Taxifahrer, der Kunert stundenlang durch Nuuk chauffierte, sollte ihm auf
seine Bitte ein typisches Eskimo-Haus zeigen:
Ubi natura definit, ibi ars incipit (Wo die Natur aufhört, hebt die Kunst an)
25 Barüske (1977:229f) berichtet vom Wohnplatz Niaqornat, einer nördlichen Siedlung, die
noch aus Torfsteinhütten besteht. Obwohl die alte Fängertradition hier noch einträglich ist,
fordert er dennoch, dass die Wohnsituation verbessert werden muß.
Alienne Laval
Die Struktur wandelt sich, wenn sie ihre Funktionen beim Umgang mit Neuem
nicht mehr erfüllen kann. Das ist oft dann der Fall, wenn zwei unvereinbare
strukturelle Prinzipien aufeinandertreffen (Firth 1964:60). Das strukturelle
Prinzip der Inuit-Gemeinschaften war der adaptive Umgang mit den arktischen
Bedingungen. Ihre Gesellschaftsordnung war entsprechend den jahreszeitlichen
Variationen polarisiert, wobei diese Polarisation als Code fungierte, der alle
anderen sich aufschichtenden Codes regelte und bestimmte. Während des
Winters wurde der mythisch-konzeptuelle Teil der Opposition gelebt, während
dem Sommer der profan-individualistische Teil vorbehalten war. (s.a. Taborsky
1998) Beide Teile der codalen Opposition waren nicht isoliert und unvermittelt,
sondern aufeinander angewiesen und konnten keinesfalls unabhängig existieren.
Ganz anders funktionierte dagegen der europäische Code, der sich - vor allem
durch die Errungenschaften in Handel, Transport und Technik - so weit
transformiert und von den Umweltbedingungen emanzipiert hatte, dass er sich in
weitgehender Selbstreferentialität und auf der Basis politischer, sozialer und
weiterer immanenter Kriterien ausformen konnte. Der Export dieses Codes nach
Grönland zeitigte dort jedoch schwerwiegende Folgen. Zunächst waren es die
Missions- und Handelsstationen, die nicht nur wie Magnete auf die
Siedlungsstruktur wirkten, sondern auch die alte konzeptuelle Ordnung des
Winters und der Langhäuser ersetzten und einen ganzjährigen Betrieb
aufnahmen. Der nun einsetzende Prozeß der Entpolarisierung, der wohl auch für
die Europäer in der ganzen Tragweite rasanten technischen Fortschritts nicht
absehbar war, wurde vorhin ausführlich beschrieben.
Am Pol war bis dato nur eine saisonal polarisierte Lebensform denkbar.
Derartige Polarisationsmöglichkeiten bot jedoch nur ein hochspezialisiertes
Wildbeutertum, das hier im Extremklimat noch einmal triumphierte. Erst die
Technologie ermöglichte es, das grönländische Extremklimat als unpolarisiert
zu empfinden; die moderne Technik sollte die adaptive Strategie der Wildbeuter
ersetzen.
Die Auflösung der arktisch-saisonalen Polarisierung und die technische
Erzeugung eines Gleichmaßes erforderte auch hier andere Polarisierungen,
namentlich soziale, um eine funktionable soziale Syntax zu garantieren. Es fand
so der Übergang von einer naturdeterminierten Syntax zu einer sozio-
technologischen Syntax statt, die auch den semantischen Objektbezug von der
Natur auf die Technologie (Bergbau, industrielle Fischverarbeitung,
zentralbeheizte Wohnblocks etc.) verschob.26
26 Gerade die strengen Winter Anfang bis Mitte der 80er Jahre schienen die Bedenken der
Grönländer gegen den weiteren Import dänisch-europäischer Kultur zu bestätigen. Im Januar
1984 sank das Temometer bis auf 48 Grad unter dem Gefrierpunkt. Normalerweise beträgt die
mittlere Temperatur im Januar minus sieben Grad, 1984 lag sie jedoch bei minus 19 Grad.
Robbenfellkleidung und Iglu schienen wieder eine angemessene Alternative zu sein.
"Schlecht schneiden auch die modernen, wärmeisolierten Wohnhäuser im Vergleich mit den
Schnee-Iglus oder den aus Steinen und Erde erbauten Hütten ab, die von einer simplen
Tranlampe oder einfach mit Körperwärme geheizt wurden. Angaben aus der Stadtverwaltung
von Nuuk zufolge ist das Leben in den neuen Wohnhäusern nahezu unerträglich geworden,
Alienne Laval
Der grönländische Folketingabgeordnete Moses Olsen drückte das Dilemma der
Codediskrepanz so aus:
"Die soziale Auffassung scheint gewesen zu sein, dass der Mensch das
Produkt sozialer Verhältnisse ist. - Meiner Meinung nach ist es eine
Tatsache, dass die menschliche Würde nicht durch Geld zu retten ist. Geld
ist höchstens eine Ergänzung der Bewahrung und Entwicklung
menschlicher Werte. Es sieht so aus, als hätte man gemeint, dass die
Grönländer automatisch als Dänen reagieren würden. Dies dürfte wohl a
priori so gut wie ausgeschlossen sein, siehe die naturgegebenen
weil im Sommer zerbrochene Fensterscheiben niemals ersetzt worden sind. 'Viele können sich
neue Scheiben einfach nicht leisten, so dass wir bei diesem Notstand unter Umgehung der
Vorschriften mit Geld helfen müssen'." (WK 15.02.1984)
Die Heizkosten stiegen in schwindelnde Höhen, die Stromversorgung fiel oft aus, die
Wasserleitungen froren zu und die Telefonverbindungen waren unterbrochen. Der Ausfall der
Telefonleitungen hatte den Nebeneffekt, dass auch auf das Fernsehen, eines der wenigen
winterlichen Vergnügen, das Tranlampe, kommunales Winterleben und den späteren
Kirchgang ersetzte, verzichtet werden mußte.
Die Meterologen rechneten nach diesen schlimmen Wintern mit einer anhaltenden
Wetterverschlechterung und immer kürzer werdenden Sommern. Der damalige dänische
Minister für Grönlandfragen, Tom Hoeyem, regte an zu prüfen, ob das Schwergewicht der
Wirtschaft von der Fischerei weg und auf andere Bereiche, wie die Gewinnung von
Bodenschätzen, verlagert werden sollte. (WK 15.02.1984)
Schon die Wikinger, die um das Jahr 1000 auf Grönland siedelten, mußten unter anderem (s.a.
Anm. 5) wegen einer Klimaverschlechterung kapitulieren. Ab 1850 trat eine
Klimaverbesserung ein, die den Dorschfang in großem Maßstab erst lohnend werden ließ...
1998/99 sieht die klimatische Situation wieder anders aus als in den 80er Jahren. Nach
Messungen der NASA hat die Dicke der Gletscher in Südostgrönland von 1993 bis 1998
jährlich um einen Meter abgenommen, wobei davon ausgegangen wird, dass sich dieser
Prozeß noch beschleunigen wird. Im gleichen Zeitraum hat zwar die Dicke des Inlandeises
zugenommen, doch insgesamt ist eine Abnahme der Eismasse festzustellen. Noch zeitigen
sich keine globalen Auswirkungen, doch könnte sich das bei einer Beschleunigung des
Prozesses ändern. (WK 13.03.1999) Auf den Permafrostboden im Norden Kanadas wirkt sich
die globale Erwärmung wohl bereits aus. Erste Folgen sind in der Siedlung Tuktoyaktuk im
Mündungsgebiet des Mackenzie-Flusses zu sehen, wo einige Häuser der Aufweichung des
Bodens nicht standhielten. Die Erosion ist in mehreren Küstenortezu spüren. Die
Durschnittstemperatur lag 1998 fünf Grad über dem Normalwert - das ist bisher eine der
gößten Temperaturzunahmen auf der Erde im bisher wärmsten Jahr seit Beginn der
Aufzeichnungen. Als Folge der Erwärmung werden die Eisflächen kleiner, auf denen die Inuit
jagen und fischen. Auch sind die Eisbären in den letzten 30 Jahren immer leichter geworden
und wiegen zwischen 40 und 100 Kilogramm weniger. Das hängt wohl mit der früheren
Eisschmelze zusammen, die es den Bären verunmöglicht, genügend Robbenbabys zu jagen.
Doch noch andere Gefahren lauern: Straßen und Brücken könnten durch das Auftauen des
Dauerfrostbodens in Mitleidenschaft gezogen und Ölpipelines zerstört werden. Dies könnte zu
gravierenden Umweltschäden führen. (WK 24/25/26.12.1998)
Das Ende des Kolonialismus, das im April 1999 für die Innuit im Nordwesten Kanadas mit
dem selbstverwalteten Territorium Nunavut (Unser Land) beginnt, wird mit diesen
wachsenden Problemen zusammentreffen (WK 14.03.1999; s.a. Rathgeber o.A.).
Alienne Laval
Voraussetzungen...Es genügt nicht, dass die Menschen ein Dach über dem
Kopf bekommen, wenn sie dabei in einer Menge Schachteln in sterilen
Hochhäusern eingesperrt werden. - Wir wünschen 'Milieubauten', in denen
man sich wohlfühlt, menschlich wachsen und sich entfalten kann." (Olsen
o.A.:46, 48)
Gerade im emotionalen Bereich gelang der Codewandel kaum, wie die
psychischen Verzerrungen zeigen, die sich in Alkoholismus, Gewalt usw.
entäußern. Sehr einfühlsam berichtet der aus Togo kommende Tété-Michel
Kpomassie, der Grönland 1965 besuchte, von dem im Herbst einsetzenden
arktischen Koller, der viele Inuit heimsucht:
Der alte Code konnte mit diesen Schwierigkeiten eher umgehen, denn der
Herbst diente der Beschaffung der Wintervorräte, und das folgende kommunale
Winterleben im Langhaus kompensierte die einsame, helle Phase des Sommers.
Fraglich ist auch, ob Missionare, Händler und Ökonomie tatsächlich die
Funktionen der Angakoks übernehmen konnten und ob der Alkohol die Feste in
den Langhäusern ersetzen kann und die heutigen Fernsehgeräte als
wiederauferstandene Lampen gefeiert werden können.
Bereits 1972 war Moses Olsen gegen den EG-Beitritt, für den Austritt aus der
Nato, für eine Loslösung vom dänischen Großkapital, forderte die Räumung der
US-Stützpunkte (SZ 09.08.1972) und ging mit seinen Forderungen noch weiter:
Alienne Laval
"Meiner Meinung nach können wir aber nicht umhin, in der
Grönlandpolitik den Kurs zu wechseln, wenn wir eine grönländische
Gesellschaft wünschen, die im Gleichgewicht, in Harmonie mit sich selbst
und ihrer natürlichen Umwelt ist. Ein solches Gemeinwesen, eine solche
Gesellschaft kann augenscheinlich nicht nach westlichem Muster aufgebaut
werden, das in den menschlichen Beziehungen allzu viele Paradoxe
einschließt. Die Grönlandpolitik muß aufgrund grönländischer Wirklichkeit
und Gegebenheiten geführt werden. Die Reichseinheit und andere
Rücksichten haben von untergeordneter Bedeutung zu sein, wenn das
Ganze dem Grönländer frommen soll." (Olsen o.A.:49)
Die Durchsetzung dieser Politik führte u.a. zum Austritt aus der EG, der
Schließung der Mine Black Angel und schließlich zur Autonomie Grönlands
mit eigenem Premierminister. Grönland mußte mit diesen Schritten seine
Wirtschaft damit zunächst fast ausschließlich auf Fischerei, Fischverarbeitung
und Tourismus (GL)*27 begründen. Der weitere Weg, auf dem eine neue polare
Identität auf der Grundlage alter Tradition entwickelt werden kann und auf dem
sich der naturdeterminierte und der sozio-technologische Code treffen können,
ist nicht leicht zu gehen. Die Inuit/Grönländer haben eine lange Tradition als
Walfänger, die sie wieder aufnehmen möchten. Ursprünglich stand die
gemeinschaftliche Waljagd in Zusammenhang mit der Winterbevorratung der
Langhäuser (s.o.) und hatte innerhalb des alten Codes identitätsbildende
Funktion.
Heute ist Grönland Mitglied der Internationalen Walfang Kommission (IWC) in
der Kategorie Aboriginal Subsistence Whaling und provoziert durch die Waljagd
das Entsetzen zivilisierter Moral.
28 "Schwer getroffen wurden die Inuit, als die Europäische Gemeinschaft 1983 die Einfuhr
von Seehundfellen verbot. Naturschützer - Greenpeace, der World Wildlife Fund und andere
Tierschutzorganisatioen - hatten aus guten Gründen gegen das Abschlachten von
Robbenbabies durch kanadische und norwegische Fangflotten protestiert und den Schutz der
Robben gefordert. Der Markt für Robbenfelle brach zusammen. Die Inuit konnten plötzlich
ihren Lebensunterhalt nicht mehr aus der Jagd auf ausgewachsene Robben - Babyrobben
jagten sie nicht, um die Bestände nicht zu gefährden - bestreiten und mußten sich auch vom
Walfang verabschieden. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer kulturellen Identität und ihres
Sozialsystems brach ersatzlos weg. Dieselbe Gefahr beschwört das von der EU vorgesehene
Einfuhrverbot für Wildfelle herauf, das Inuit und andere Ureinwohner in Kanada betrifft.
Alienne Laval
Jagd muß hübsch aussehen (s.a.Lynge 1996:7), damit Europäer und Amerikaner
sie ertragen können. Überall dort, wo das Öl der Meeressäuger nicht mehr
gebraucht wird, wird es mit Handelsbarrieren belegt. (s.a. Donovan o.A.; The
International Harpoon 1995; Lynge o.A., 1996, 1997) Aus der Sicht des
Tierschutzes kommt noch erschwerend hinzu, dass die Inuit/Grönländer
Walfleisch und andere Walprodukte nicht mehr nur innerhalb ihrer
Subsistenzwirtschaft nutzen, sondern auch noch exportieren wollen (High North
News 15.05.1995).
Am 19.05.1998 berichtete Die Tageszeitung TAZ, dass Walfleisch aus der
Arktis mit Giftstoffen verseucht und daher für Menschen gefährlich sei. Zu
diesem - vielleicht nicht ganz unvoreingenommenen Ergebnis - kam eine
Schweizer Arbeitsgruppe zum Schutz der Meeressäuger. Hauptsächlich
betroffen seien die Wale bei den Faröer-Inseln und bei Grönland, wo Walfleisch
zu den Grundnahrungsmitteln gehört. Diese Erkenntnisse können die Inuit
jedoch nicht davon abhalten, auch weiterhin Walfleisch zu essen (McCarten
1995).
Ein Zurück zur Subsistenzwirtschaft des Sommers und zur Vorratswirtschaft des
Winters scheint heute nicht mehr möglich zu sein, und die Reetablierung eines
naturdeterminierten Codes wird aus verschiedenen Richtungen verhindert. Es ist
nicht nur die weiterhin repressive Politik des sozio-technologischen Codes, die
die Gründung moderner Identitäten auf der Basis der alten erschwert; eine
wesentliche Rolle spielen auch die Umweltbedingungen, die sich aufgrund der
globalen Erwärmung rapide zu verändern scheinen (s.a. Anm. 12).
Etwa 35.000 Ureinwohner besaßen 1995 eine Lizenz zum Fallenstellen. Sie haben in der
Regel kaum andere Einkommensquellen, insbesondere in abgelegenen nördlichen
Gemeinden. Interessenorganisationen der Inuit protestierten nicht zuletzt gegen die Art und
Weise, wie das Verbot durchgedrückt werden sollte: in schlechter kolonialer Manier, ohne
Konsultation der Betroffenen." (Rathgeber o.A.)
Alienne Laval
Meereskulte
Verhaltensmodi der Beschwichtigung, Abwehr und Aneignung von
Fremdem
Masken- und Verkeidungsspiele sind wohl so alt wie die Menschheit und
kommen auch heute noch in allen Kulturen (z.B. im Karneval) in
unterschiedlicher Ausprägung vor. Maskenspiele gehören damit zum
interkulturellen Repertoir humaner Ausdrucksformen. Innovationen in Politik,
Ökonomie, Technologie, Gesellschaft und Veränderungen der natürlichen
Umwelt werden in vielfältiger Weise von Maskierungen und Demaskierungen
begleitet, die die Entwicklungen kritisieren, reflektieren, aushaltbar machen oder
ihnen gegensteuern. Gerade die Einführung neuer Technologien ist ambivalent
und löst ambivalente Reaktionen aus, die von Beschwichtigung und Abwehr bis
hin zu Aneignung reichen.
Unser Karneval geht allem Anschein nach zurück bis auf die Zeit keltisch-
germanischer Fruchtbarkeitsriten, der Sonnenverehrung, der Vertreibung der
Winterdämonen und der Frühlingsfreuden. Während der Zeit des römischen
Imperiums wurde diese Tradition in Beziehung zu römischen
Sühneprozessionen, dionysischen Geheimbündeleien und den Saturnalien
gebracht, bei denen die Herren ihren Sklaven dienen mußten.
"Die Standesunterschiede waren aufgehoben. Die Freiheit zu scherzen und zu
spotten symbolisierte eine vergangene 'goldene' Zeit der Gleichheit und
Unabhängigkeit: Die Untertanen hatten das Recht, sich über die Fehler und
Schwächen ihrer Herren ungestraft lustig zu machen... " (Hallerbach 1984:8)
Diese goldene Zeit, auf die Jörg Hallerbach hier anspricht, ist jene primordiale
und mythische Epoche der Menschheitsentwicklung, die in den Mythen als die
Phase der Weltumwandler gespeichert ist. Die urtümlichste Figur des
Weltumwandlers ist der Trickster, wie er aus den Mythenzyklen der
nordamerikanischen Indianer und aus Afrika bekannt ist. Der Trickster ist
Kulturbringer, Schelm, Spaßmacher, Umwerter der Werte, Schadenstifter und
Demonstrationsfigur öffentlicher Belehrung (Kuper 1993:162) zugleich und hat
der Welt ihr heutiges Aussehen gegeben.
Alienne Laval
"Wird er auf die Bühne der menschlichen Vorstellungskraft und
Bewußtheit zitiert, so dichtet man ihm gerne auch die von der Täter-Opfer
Komik getragene Doppelrolle des betrogenen Betrügers an, der sich von
sprechenden Bäumen brüskieren und in die Irre führen und vom Nerz
hereinlegen läßt." (Kuper 1993:162)
Die physische und geistige Potenz des Tricksters ist enorm, ungerichtet und
unberechenbar, so dass ihr eine Richtung gegeben werden muß. Im Trickster-
Zyklus der Winnebago-Indianer jagt der Trickster eines Tages ein
Eichhörnchen, dass ihn aber austrickst, seinen Penis zernagt und diesen auf ein
'herkömmlich proportioniertes Maß' (Kuper 1993:162) zurechtstutzt.
"Aus den für ihn selbst nutzlos gewordenen Teilstücken seines Penis
schafft der Trickster für die Menschen überlebensnotwendige
Kulturpflanzen wie Kartoffeln, Reis, Mais, Steckrüben und auch Tabak. In
seiner Eigenschaft als ambivalenter Kulturheros und Heilsbringer hat der
Trickster nicht nur zur Sicherung des materiellen, sondern vor allem auch
des psychischen Überlebens beigetragen, indem er den Menschen die Gabe
der Kultur gebracht hat. Für den Menschen ungünstige oder asymmetrische
Existenzbedingungen hat der Trickster durch sein den Anfang der Kultur
und das kreative Potential des imaginär Möglichen markierende Wirken
positiv ausbalanciert." (Kuper 1993:162)
Der Trickster überführt die in der dem Menschen gegenüber ambivalenten Natur
und später auch in den Gesellschaften vorliegenden Asymmetrien in kulturelles
Verhalten, wobei allerdings die Möglichkeiten der Kultur - als einer
semiotischen und zweiten Wirklichkeit - durch das in Gesellschaft und Natur
Vorliegende - die erste Wirklichkeit - bestimmt werden. Nicht nur das, denn die
Erscheinungen der ersten Wirklichkeit werden durch zeichenhafte
Handlungsoperationen in die zweite überführt.
II
Das Fell des Schamanen hatte eine gänzlich andere Funktion, als das des
Herrschers: es zeigte die (mimetische und poetische) Selbstbehauptung der
entstehenden Kultur gegen die bedrohliche Natur und dann auch gegen die
ikonische und ideologische Repräsentation gesellschaftlicher Mächte.
Das schamanische Handeln mußte, neben der Besessenheit durch die ikonisch
repräsentierten Kräfte der Natur, die Ahnengeister usw., auch die Besessenheit
durch die Geister der gesellschaftlichen Mächte in kulturelles Tun überführen.
Dies geschah vor allem durch Rollenübernahme, in der die Ikonen zur Abwehr
des Faszinierenden verwendet wurden.
Der Umgang mit den Ikonen leitet damit in eine andere Sphäre menschlichen
Seins, die der symbolischen Verhaltensmodi und der kulturellen Produktion -
und damit in eine zweite Wirklichkeit -, über.
Doch auch ein anderer Bereich menschlichen Seins kann ikonische Besessenheit
erzeugen: die Werkzeuge, technischen Gegenstände und Gerätschaften sind
Alienne Laval
ikonische Repräsentationen. Ist auch der Faustkeil noch eine Verlängerung des
Skeletts, wie André Leroi-Gourhan (1980) bemerkt, so entsteht auch hier bald
ein völlig eigenständiger Bereich von phantastischen, technischen Erfindungen.
Inzwischen erscheint unser modernes Soziales in zunehmendem Maße
technifiziert, von den technischen Ikonen infiziert und bestimmt. Eine
Entlastung wird indes nicht als notwendig erachtet.
Der Semiotiker Thomas Sebeok zeigt auf, dass die Ikonizität zu unserem
animalischen Erbe gehört. Erst spät bildeten sich in der biologischen Evolution
Formen, die von diesem Muster abwichen. Der Hirnforscher Detlef Linke weist
darauf hin, dass die besonders alten Teile unseres Nervensystems - Rückenmark,
Stammhirn und Kleinhirn - axial angelegt, also auf einer Achse ausgerichtet
sind. Im Gegensatz zu den alten, axialen Teilen des Nervensystems sind die
neuen lateral, also seitlich angelegt; so das Großhirn und insbesondere die
Großhirnrinde, in der ein großer Teil unserer neuronalen Aktivitäten abläuft.
Erst mit der Bilateralität, der Zweiseitigkeit der neuen Organe, kommt so etwas
wie ein Stereoeffekt in die Schöpfung.
Großhirn - und vor allem die Großhirnrinde - bieten Möglichkeiten, die die alten
Teile des Nervensystems nicht hatten. Zu den Empfindungen von Angst,
Schmerz, Schwindel und Hunger und deren Überwindung durch Flucht,
Abwehr, Sexualität, der Suche nach Nahrung und ihrer verschlingenden
Aufnahme kommen nun neue Seinszustände hinzu, die bei den höheren
Säugetieren zu einem mehr oder weniger bewußten Erleben des eigenen Körpers
und der Phänomene der Umwelt sowie zu Traum und Spiel führen. Im
Menschen schließlich sind diese Seinszustände so weit entwickelt, dass sie
endlich zu Witz und Bewußtsein - und damit zur Kultur 29 - führen.
Die von den Menschen bewohnbaren Orte, in denen sich der iokonische
Realismus und die symbolischen Verhaltensmodi treffen und ausgependelt
werden, können in Anschluß an den Semiotiker Yuri Lotman und unter
Einbeziehung des ethnologischen Konzeptes der Ethnizität Semiosphären
genannt werden (Uchtmann 1993ff). Semiosphären sind Zeichenräume, mit
denen sich der Mensch durch ein besonderes zeichenhaftes Repertoire und
Inventar von seiner Umwelt und anderen Semiosphären einerseits abgrenzt und
andererseits auch verbindet. Durch Tradition, Sozialisation und Konvention
regeln die jeweiligen Semiosphären das, was als Wachzustand, gewöhnliches,
'ernstes' Alltagsleben, 'echte' Wahrnehmung, psychische 'Normalität', Abstinenz
und nüchternes Erleben der Wirklichkeit zu gelten hat (s.a. Bystrina 1989:265).
Das menschliche Soziale ist Teil der Semiosphären und wird über sie codiert.
Diese semiotische Codierung des 'Normalen' reicht bis in biologische Abläufe
hinein. Selbst die Weise, in der Frauen ihre Babies halten und stillen, ist beim
Menschen nicht biologisch, sondern semiotisch codiert (s.a. Leroi-Gourhan
1980). Auch der biologische und angeborene Sexus wird in vielen Kulturen, so
auch den euro-amerikanischen, zusätzlich durch vestiäre, semiotische Codes
verstärkt. In anderen Kulturen, z.B. im 'akephalen' Südamerika, waren vor dem
Kulturkontakt alimentäre Codes von entscheidenderer Bedutung, als die
vestiären.
30 Mit Erstaunen hatte schon Lévi-Strauss (1958:229ff) einst festgestellt, dass ein Mythos,
auch wenn er in noch so verstümmelter Form auf uns gekommen sei, immer noch als Mythos
erkennbar sei. Seine Begründung lief darauf hinaus, dass der Mythos zumindest in zwei
Ebenen, einer sprachlichen und einer hypersprachlichen operiere. Vom Bereich der profanen
Alltagswirklickeit, von dem aus wir es gewohnt sind, unsere Bestimmungen vorzunehmen, ist
die hypersprachliche Ebene redundant, d.h. überflüssig.
Alienne Laval
Doch wie der urtümliche Trickster bringen sie damit auch "...neue
Schwierigkeiten, Barrieren und ungünstige Existenzbedingungen in das Sein der
Menschen..." (Kuper 1993:162)
Nicht nur durch die Einführung neuer Umgangsweisen mit der Umwelt, sondern
auch durch die Neuorganisation des Sozialen, die in unseren Breiten u.a. zu dem
zentralen Mann-Frau-Ikon, zur Arbeitsteilung, zum Christentum und zur
Hierarchisierung führte, brachte neue Schwierigkeiten in die Welt. 31
IV
Was Lévi-Strauss sagen will, ist, dass der Mythos vom Standpunkt der profanen Wirklichkeit
aus nicht dazu beiträgt, uns über sie in Kenntnis zu setzten, uns über sie zu informieren. Aus
der Nachrichtentechnik und der Informationstheorie ist der Begriff Redundanz bekannt; mit
Redundanz wird dabei das Überflüssige an einer Nachricht, die sie begleitenden
Störgeräusche und sinnloses Beiwerk, die nicht zum Verständnis der Nachricht beitragen und
den verständlichen Transport ihres Inhaltes behindern, bezeichnet.
31 Ein Beispiel kann das verdeutlichen: die anglo-amerikanische Ethnologie kennt den
Unterschied zwischen Sex und Gender, der sich in der deutschsprachigen Völkerkunde nur
allmählich durchsetzt. Mit Sex wird das biologische Geschlecht bezeichnet, während Gender
das soziale bzw. kulturelle Geschlecht meint. Die anglo-amerikanische Forschung war auf
diese Unterscheidung angewiesen, da die indianischen Kultruren, mit denen sie zu tun hatte,
häufig diese Differenzierung machten. Das biologische Geschlecht wurde hier nicht als das
Soziale determinierend angesehen und so kam es, dass indianische Kulturen mehrere
verschiedene kulturelle Geschlechter kannten.
Diese Übergänge wurden in unseren Breiten im Prozeß der sozialen Spezialisierung und
Disziplinierung zunehmend tabuisiert, und die Differenz des biologischen Mann-Frau-
Gegensatzes ist auch heute noch semiotisch elementar und bindend. Diese ideale Symmetrie
verbarg und verbirgt jedoch abermals Widersprüche, die sich nur schlecht kompensieren
ließen.
Im chinesischen Yin-Yang-Symbol wird diese Problematik sehr geschickt vertuscht: der im
Yin-Yang dargestellte Gegensatz zweier Gleicher negiert die Realität der chinesischen
Gesellschaft, wo Yang (männlich, hell, aktiv) Yin (weiblich, dunkel, passiv) dominiert. Die
Austauschbarkeit ist Illusion, da es nur so scheint, dass jede der beiden Hälften die
dominierende oder die den Untergrund bildende sein könnte. Die verborgene Absicht ist es,
den Anschein der Austauschbarkeit zu erwecken und zu wahren. Das Yin-Yang-Ikon ist eine
logische Tautologie, die gesellschaftliche Kohärenz gewährleisten soll. (s.a. Uchtmann
1990:722f)
Die Bibel ist da noch deutlicher, denn sie unterstellt die Frau eindeutig dem Mann und
Herrschaft hat männliches Vorzeichen. Dieses Verhältnis ist von so fundamentaler Bedetung,
dass es als Plakette gerabeitet auf einer Voyager-Sonde angebracht in das Weltall geschossen
wurde, um dort eventuelle fremde Wesen über uns zu informieren: ein großer Mann winkt mit
seiner Rechten den Fremden zu, eine kleine Frau steht teilnahmslos neben ihm. So wichtig
und elementar ist diese Opposition, dass sie uns sogar im Weltall, stellvertretend für die
gesamte Menschheit, abbilden soll.
Diese Bestimung, die die Reduktion auf eine empirische, rein biologische pragmatische
Information impliziert, muß originär kulturelle Alternativen unterschlagen; sie muß vieles von
dem, was unser kulturelles Erbe zu bieten hat, als eigenständige Dimension leugnen.
Alienne Laval
Die Kernsysteme (Lotman 1984:11f) der Semiosphären, so auch unser Mann-
Frau-Ikon und die gesellschaftliche Hierarchisierung usw., bleiben jedoch
eingetaucht in eine unbestimmte, 'amorphe semiotische Welt' (Lotman 1984:11f)
der Träume, der Utopien, des Fremden, des Anderen usw., die sie abwehren und
mit der sie umgehen müssen.
Gerade heute erleben wir - forciert durch die Globalisierung - wieder, wie sich
einerseits begrifflich-statische Oppositionen in dynamische verwandeln, die auf
einen Umbruch hinweisen, aber andererseits auch, wie sich unser auf dem
Mann-Frau-Gegensatz aufgebautes Weltbild weltweit durchsetzt. An beiden
Prozessen haben die Massenmedien maßgeblichen Anteil.
Der mythischen Figur des Tricksters stehen die Hexen (hagazussa), ebenfalls
liminale Wesen, die auf dem Zaun hocken, der Kultur und Natur trennt bzw.
verbindet und die schon erwähnten Schamanen, die Meister- oder
Meistverwandler, wie Elias Canetti (1980:428ff) sie nennt, nahe. Im Verlauf der
inneren Kolonisation Europas und der äußeren Kolonisation durch Europa
"Zeitgleich mit der Ausbreitung des westlichen Modells konstituierte (und konstituiert) sich
die eigene Identität der Europäer. Neben die traditionellen Institutionen, die Identität
zusprachen oder vermittelten, trat das sich seiner selbst bewußt gewordenen Ich mit dem
Anspruch der Selbstsetzung. Indem die Europäer aber begannen, ihr Selbstbewußtsein
autonom zu begründen, leiteten sie einen Prozeß ein, der zur Degradierung der Außenwelt
führte. Außerhalb des selbstgesetzten Ich gab es nur inferiores Material. Selbsterhaltung
verband sich mit der Vernichtung des Anderen. Der eigene Lebenskreis wurde universalisiert,
indem die übrige Welt entweder assimiliert oder zum Verschwinden gebracht wurde.
Vereinheitlichung der Welt unter westlichen Vorzeichen bewirkte (und bewirkt) unweigerlich
materielle, kulturelle und geistliche Verelendung." (Schönborn 1994:165)
Alienne Laval
wurde der Trickster immer weiter als Gegenspieler des christlichen Gottes
amplifiziert und mit dem Teufel identifiziert. Seine Sympathisanten, die
Schamanen und Hexen, galten daher als mit dem Teufel im Bunde und mußten
bekämpft werden.
Der Schamane ist das genaue Gegenteil des Königs, wie Canetti (1980:428ff)
ausführt:
"Bei dem einen, dem Schamanen, wird (die Verwandlung) bis aufs äußerste
gesteigert und bis ins letzte ausgenützt, beim anderen, dem König, wird sie
verboten und unterbunden, bis er völlig erstarrt... Das Statische dieses
Typus, dem die eigene Verwandlung verboten ist, obwohl unaufhörlich
Befehle von ihm ausgehen, die die anderen immerzu verwandeln, ist in das
Wesen der Macht eingegangen, und die Vorstellung, die der moderne
Mensch von ihr hat, ist auf entscheidende Weise davon bestimmt worden."
Schamane und König können damit als die axiomatischen Pole gesehen werden,
die unsere bisherige Kulturevolution kennzeichnen. Unsere Gottesvorstellung ist
bis heute mit dem Bild des Königs verbunden, und selbst die ökonomisch
determinierte Demokratie füllt bislang nur das Vakuum aus, das das punktuelle
Verschwinden des Königs oder Herrschers hinterließ.
Doch nur der Schamane ist originär kulturellen Ursprungs, denn im Herrscher
und in der - auch symbolischen - Herrschaft (s.a. Pross 1981), die sich in
machtvollen Ikonen zeigt, setzen sich ältere, in unserer biologischen Herkunft
begründete Schichten des Seins gegen die Kultur durch.
In den gesellschaftlichen Mächten zeigt sich der ikonische Realismus der Urzeit
wieder, der nur durch die symbolischen Verhaltensmodi, die Rituale und
Maskeraden, verhandelt werden kann. Trickster-Geschichten und
Schamanentaten zeigen uns die Anfänge der symbolischen Verhaltensmodi und
damit der Kultur.
"Beide Tendenzen der Menschheit, der ikonische Realismus als das Alles-
Verschlingen und dennoch An-der-Oberfläche-Bleiben sowie die
symbolischen Verhaltensmodi als Mittel der imaginären Überwindung ...",
so Ivan Bystrina (1992:255), "bezeichnen den ganzen Weg der
Kulturevolution. Jedoch nur der imaginäre Weg ist schlechthin human: die
Verschlingung ist erkennbar animal."
Alienne Laval
VI
Die groteske Körperlichkeit der karnevalesken Mummen und Larven (auch eine
Bedeutung von Person) ist nicht in den Hirngespinsten der Vermummten zu
begründen, sondern in den vorliegenden, bedrohlichen und faszinierenden
ikonisch determinierten gesellschaftlichen Verhältnissen, die keine Übergänge
gestatteten. So wurden besonders gerne der Mann-Frau-Gegensatz, die
unliebsame Vertikalität der Gesellschaft und die hierarchisierten Positionen
durch Überführung in die symbolische zweite Wirklichkeit der Maskerade
problematisiert.
Hinter den Masken der wilden Holzleute, den wilden Männern mit ihren
geschwärzten Gesichtern, haben sich die Schwarzkünstler, Magier und
Alchimisten verborgen (Hallerbach 1984:13), also jene neuen Weltumwandler
und Schamanen, deren Erkenntnisse zur Entwicklung der Schriftstellerei, der
Medizin, den anderen Wissenschaften, zur Aufklärung und zur
Demokratisierung beitrugen. 33
33 Das Ziel dieses Karnevals war, sich nicht nur über die Mißstände lustig und diese bewußt
zu machen, sondern diese auch aufzuheben. Die Absicht der Verwandlung war es, sich in eine
neue, mitbestimmte Ordnung hinein zu entwandeln. Nicht weichender Druck führte jedoch
zum Verbleib in der 'amorphen, semiotischen Welt' und zur Beibehaltung der Verwandlung.
"Im Mittelalter mußte man das Treiben vom Martinstag (11.11.), dem Schluß des bäuerlichen
Jahres, bis in den Frühling hinein dulden. Nachdem die Ernte eingebracht und das Vieh im
Stall war, wurden Knechte und Mägde entlassen. Ähnlich erging es vielen
Handwerksgesellen. Sie mußten nun "heischen", d.h. betteln gehen - während die Reichen
ihre Schlachtfeste veranstalteten. Da möchte man schon gern die Rollen tauschen: Frau wird
Mann, Knechte zu Herren, die Gecken kennen keine Standesunterschiede." (Hallerbach
1984:10)
Die Fasnacht konnte auch schon mal das ganze Jahr über andauern (Hallerbach 1984:10),
wenn keine angemessenen 'Arbeitsplätze' geschaffen wurden. Die Zustände verbesserten sich
nicht und die Bevölkerung konnte nach einem Jahr karnevalesker Ausschreitungen nur durch
den Druck der Obrigkeit zur Beendigung der Maskeraden gezwungen werden.
Die Ernte des nachkriegsdeutschen Wirtschaftswunders ist nun ebenfalls eingebracht, der
neue Reichtum wird gefeiert, die Arbeitslosen müssen heischen gehen. Doch unsere
Arbeitslosen sind sozial diszipliniert und akzeptieren den kleinbürgerlichen Karneval, der ein
Abbild höfischer Lustbarkeit und zwischen Operette und Revue anzusiedeln ist. (s.a.
Hallerbach 1984:10)
In der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft war diese Form des Karnevals, an der sich viele
Bürger nur noch am Bildschirm beteiligten, allgemein akzeptiert. Demokratie und Wohlstand
erschienen für alle als gesichert, der Mummenschanz und die Maskerade als überflüssig.
Der Beteiligung am Bildschirm entsprach im 14. Jahrhundert die Sitte, dass städtischer Adel
und Großbürgertum in Friedenszeiten verkleidete Narren als Stellvertreter des einfachen
Volks in ihre Runden hineinließen und sie großzügig bewirteten (Hallerbach 1984:11). Die
Narrenshows im Fernsehen, die zur besten Sendezeit ausgestrahlt werden, garantieren den
Sendern noch heute traumhafte Einschaltquoten von acht bis zehn Millionen Zuschauern.
Alienne Laval
VII
(Alverdes 1998)
Doch hinter dem televisionären und gesitteten Karneval dämmert schon der Cyberspace, ein
neuer, karnevalesker Raum, der schon jetzt Verwandlungen und Vermummungen zuläßt, die
allmählich auch von der Bevölkerung genutzt werden. Besteht nicht da die Möglichkeit, dass
sich in diesem Raum die Mummen darauf vorbereiten, um in Krisenzeiten von den
Bildschirmen aus auf die Straßen zu preschen?
Bis weit in das 19. Jahrhundert wurden die Masken aggressiv benutzt, sobald Teile der
Bevölkerung verarmten. Die Maske diente dann nicht nur bei Bettelgängen, sondern auch bei
Raub und Rebellion. Im Jahre 1403 wurde in Köln deshalb ein Maskierungsverbot erlassen,
das einige Male nachgebessert werden mußte, da es nicht befolgt wurde (Hallerbach 1984:
11f):
"Die wilden Maskeraden", so Jörg Hallerbach (1984:12), "richteten sich gleichermaßen gegen
die kirchliche und die weltliche Obrigkeit. 1441 wurde der Wirt Johann van Ghyent vom
Kölner Rat bestraft, weil er zusammen mit seinen Freunden 'das religiöse Gefühl in
schmachvoller Weise verletzt' hatte. Sie trugen zur Fasnacht einen Reliquienschrein, auf dem
kein Heiliger, sondern ein Popanz dargestellt war, mit Weihwedel und Fahne."
1482 entwickelte sich am Fasnachtsmontag in Köln aus dem Maskenfest ein Aufruhr. Es wird
daraufhin nicht nur das Vermummen, sondern es werden 1487 auch die Schwert- und
Reifentänze der Schmiedegesselen verboten. 1567 folgte ein Verbot des Fremdgehens; 1596
verlangte die kurköllnische Polizeiordnung, das Fasnachtsvergnügen ganz zu beseitigen. 1657
wurde erlassen,
"alle bei Tag und Nacht vermummt gehenden und ferner alle diejenigen, welche heimlich
oder öffentlich bei Nacht oder zu unangebrachten Zeiten Büchsen, Pistolen, Schnapphähne,
Knallfrösche oder andere verbotene Lärminstrumente bei sich tragen und führen, ohne
Unterschied der Person in den Turm zu bringen..." (Hallerbach 1984:13ff)
Als Georg Forster, der Aufklärer und Mit-Begründer der Ethnologie, um 1790 nach Köln
kam, war die Stadt weitgehend entvölkert und heruntergewirtschaftet. "Überall auf den
Straßen lungerten Bettler in Lumpen, die 'Kappengecken' hießen, weil sie vermummt waren -
nicht nur zur Fasnachtszeit." (Hallerbach 1984:15)
Nach der niedergeschlagenen Revolution von 1848 - am 20. März des Jahres wehte mit
Einverständnis des Erzbischofs die schwarz-rot-goldene Fahne vom Kölner Dom -, war der
Karneval von 1849 besonders bösartig. Am 27.02.1849 veröffentlichte die konservative
Kölnische Zeitung folgenden Artikel (zit. nach Hallerbach 1984:37):
Alienne Laval
Das Kulturfremde, das auch die Schamanen und die Vermummten des
Karnevals nicht nur in der Natur selbst fanden, sondern auch in den
Herrschenden der eigenen Gesellschaft, sahen die Afrikaner in ihren Herrschern
ebenso und in den Europäern insgesamt.
Die Europäer mit ihrem technischen Gerät wurden dem wilden Bereich und
damit der Natur zugeordnet, wobei die Menschlichkeit, d.h. die Kulturhaftigkeit
und damit das Bewußtsein der Fremden bezweifelt wurde.
"Wir sind Zeuge von Darstellungen gewesen, die jeder Sittlichkeit Hohn sprechen. Das
Bewerfen mit Koth, das Besudeln mit in Gassen herumgeschleppten Lumpen, nahm der Art
zu, dass man sich oft nicht zu flüchten wußte. Einzelne Masken liefen umher und warfen mit
rother Farbe ums sich, andere hatten dieselbe angefeuchtet und beschmierten oder begossen
damit die Vorübergehenden. Auf der Hochstraße, in der Nähe der Vier-Winden, hatte sich
eine Rotte aufgestellt, welche, mit Stöcken versehen, jeden Spießruthen laufen ließ, welcher
nicht den Hut abziehen oder den Regenschirm schließen wollte. Wehe denen, die sich dieser
pöbelhaften Herrschaft widersetzen wollten! Wir sahen Männer, welche bemüht waren, die
Ordnung herzustellen oder Frechheiten abzuwehren, den schändlichsten und fürchterlichsten
Mißhandlungen Preis gegeben. Nicht allein begnügte sich der Pöbel mit der Herrschaft auf
der Straße; ganze Banden verfolgten hülflose Weiber bis unter die Dächer der Häuser, andere
drangen in die von Männern verlassenen Wohnungen, verscheuchten die Frauen, überfielen
die Tafeln und zertrümmerten, was sie nicht verschlingen konnten; wieder andere drangen in
die Wirtshäuser, nahmen Getränke in Massen und entfernten sich unter wüstem Geschrei,
ohne zu bezahlen..."
Den wilden Straßenkarneval, den man im Jahr der Machtergreifung Hitlers 1933 wieder
gebraucht hätte, gab es inzwischen jedoch nicht mehr. Durch die jahrhundertelange
Unterdrückung war er ausgelöscht. Schon wenige Wochen nach der Machtübernahme gab es
keine Kritik mehr im Kölner Karneval, es sei denn, man will den folgenden Büttendialog
zwischen Tünnes und Schäl noch als Witz verstehen:
Tünnes: "Gestern habe ich geseh'n, wie sich ... zwei über Politik unterhalten haben!"
Schäl: "Wann ist denn die Beerdigung?" (zit. nach Hallerbach 1984:48)
Narren und Nazis waren gleichgeschaltet und schunkelten einträchtig zu den Liedern Willi
Ostermanns (1914-1936):
"Wenn ich so an meine Heimat denke
und seh den Dom so vor mir steh'n,
möcht ich direkt nach Haus umschwenke,
ich möcht zu Fuß nach Kölle geh'n." (nach Hallerbach 1984:48)
Schon damals werteten zeitgenössische Chronisten diese Wende als Rückkehr zum wahren
Gehalt des Volksfestes, der lediglich in den Jahren der Großstadtwerdung Kölns verfälscht
war (Hallerbach 1984:48).
"Zweimal, 1938 und 1939, wählte man ein arisch sauberes Mädchen zur 'Jungfrau' (erst Paula,
dann Else) - eine traditionelle Herrenrolle. Das Zugmotiv 1939, wenige Monate vor dem
Zweiten Weltkrieg: 'Singendes, lachendes Köln'." (Hallerbach 1984:50)
Das Kölner Zug-Motto 1998 war: "Wir lassen den Dom in Kölle!" Zu diesem Motto paßt
wahrlich kein nackter Busen aus Pappmaché!
Alienne Laval
Die karnevaleske Form des Umgangs mit Fremdem bei den westafrikanischen
Yoruba (Ketu), sind die Maskenspiele Efe/Gelede-Feste. Diesen Festen liegen
die Prinzipien Esu und Ifa zugrunde, wobei Esu die Rolle des Herrn der Wege,
des Mittlers und des Götterboten zukommt. Mächtige Älteste verbinden die
'unsichtbare Welt' (orun) mit seiner Hilfe mit der Welt der Lebenden (aiyé).
(Zander-Giacomuzzi 1981:50; Drewel 1980:74)
"Nur am Kreuzweg, wo die menschliche und die göttliche Achse sich treffen,
findet der Verkehr mit den Gottheiten statt. Und dieser Kreuzweg wird von
Legba (Esu) bewacht." (Jahn 1958)
Man findet Esu-Schreine deshalb an Wegkreuzungen und auf Marktplätzen, die
im Zentrum der Dörfer und Städte oft an Kreuzungen installiert sind. Der
Marktplatz wird so zur Metapher für die Welt an sich, wobei das Dasein auf der
Eine realistische Darstellungsweise hatte sich im Karneval allmählich durchgesetzt, die sich
bis heute im Bierernst der Prunksitzungen der goßen Karnevalsvereine zeigt. Hier werden
keine Hierarchien persifliert, sondern sie werden unter Beibehaltung der gesellschaftlichen
Vorzeichen der Alltagswelt in den Festsaal übertragen.
Diese ikonische Seite des Karneval ist anti-kulturell im strikten Sinne des Wortes, verweigert
ihre Lösung in den symbolischen Verhaltensmodi und birgt damit Gefahren. Den extremen
Effekt dieser Haltung haben wir im Nationalsozialismus und seiner marschierenden und
schunkelnden Gleichmacherei kennengelernt.
Diese Gleichheit wurde allerdings durch Barbarei hergestellt, indem die naturbezogene Seite
überbetont und die gesamte Gesellschaft und ihr Aufbau ideologisch aus der Natur abgeleitet
wurde. Nach Jan Phillip Reemtsma (1997:1199f) zog der Nationalsozialismus
"...die Konsequenz, das Projekt der Moderne mit seinem doch sowieso nie recht
verwirklichten Ideal der Gewalteindämmung abzuschaffen.... In ihm finden wir ein
entschiedenes Bekenntnis zur Barbarei. Geschichte, so wie sie von den Aufklärern mit
Entsetzen beschrieben wurde, wird vom Nationalsozialismus als Ideal formuliert."
Leszek Kolakowski (1984:35) bezweifelt mit Recht, dass das Vorhaben, gesellschaftliche
Kohärenz durch Barbarei zu erlangen, jemals gelingen kann:
"Die Vollkommenheit meines Menschseins verwandelt sich durch die dialektische Falle in ein
vollendetes Vormenschsein, in eine Rückkehr ins Tiersein, aber nicht in eine dialektische
Rückkehr, sondern in einen ereneuten Rückfall in die vorkulturelle Natur (ein im übrigen in
Wirklichkeit nicht realisierbarer Rückfall, der nur in den euphorischen Phantasien 'erhabener
Barbaren' möglich ist)."
Der 'erhabene Barbar' handelt schon immer aus der Kultur heraus, denn nur dort haben seine
'euphorischen Phantasien' ihren Ursprung; allein, es mangelt ihm an Bewußtsein, und das ist
es, was ihm Angst macht.
"Die Wahrnehmung", so Kolakowski (1984:24f), "kam...nicht umhin, das menschliche Ding
auszuzeichnen, daher die verschiedenen Namen für die Kennzeichnung seiner Substrat-Natur
(Ich/Ego, Seele, Subjekt, Bewußtsein, Geist)...Der Mensch kann die Erkenntnis nicht an
einem vormenschlichen Standpunkt zünden, der einen Nullwert besäße, er ist für sich ein
unausweichlicher endgültiger Ausgangspunkt." Dieser Ausgangspunkt ist kultureller Art.
Alienne Laval
Erde wie das Kommen und Gehen auf dem Markt verstanden wird. So heißt es
dann auch bei den Yoruba:
"The world is the market, the other world is home" (Aiyé l'ojà, orun n'ilé)
(Drewel 1983:2,10)
Das zentrale Fest ist in zwei Teilen gestaltet, einen nächtlichen - Efe - und einen,
der am Tag zelebriert wird - Gelede -. Die Efe-Festivitäten beginnen um
Mitternacht und enden bei Sonnenaufgang. Die Dunkelheit ist der 'natürliche'
Ort der Mütter und der Geschöpfe, mit denen sie verbunden werden: Vögel,
Fledermäuse, Ratten und Reptilien. Die Nacht unterstreicht das Unbekannte und
Ungewisse ihrer Qualitäten.(Drewel 1983:11)
In den Eröffnungs- und Abschlußritualen für die Ahnen und Götter werden die
'Kräfte', die 'orun', den Himmel, bewohnen, von den Menschen in die Welt der
Erscheinungen 'ayé' geleitet und dann später wieder zurückbefördert. Das Ganze
findet auf dem Marktplatz statt. (Drewel 1983:2,11)
Die zentrale Figur der Efe-Festivitäten ist der 'Vogel der Nacht', wobei die große
Mutter als Vogel oder als 'bärtige Mutter' erscheint. Wichtig sind die danach
erscheinenden Figuren, es sind entweder Tetede (the-one-who-comes-in-good-
time) oder Aiyé Tùtù (cool world). Sie sind die Wegbbereiter für Oro Efe und
seinen die ganze Nacht andauernden Soloauftritt. Er ist immun, prangert
antisoziales Verhalten, Fehler etc. an und hat absolute Freiheit, seine Meinung
zu jedem Aspekt der Gesellschaft zu äußern. Efe hat viel mit Satire, Humor und
Spott zu tun, sie sind aber dennoch nach Drewel (1983:38) nicht das
hauptsächliche Element. (Drewel 1983:22ff,38,50,61)
Bei Einbruch der Dämmerung erscheint ein als Hyäne gekleideter Maskenträger
und beendet das Efe-Fest. Oro Efe, der zu Beginn rituell zur Welt gerufen wurde
und im 'mouth of authority', dem Platz vor den weiblichen Ältesten, erschien,
wird in eben dieses zurückgerufen. (Drewel 1983:26f).
Am nächsten Nachmittag findet das Gelede-Fest statt. Auch hier treten, wie
beim Efe-Fest, die Maskenträger paarig auf und die Tänzer sind, wie beim Efe-
Fest, auch wenn Frauen dargestellt werden, ausschließlich Männer. (Drewel
1983:19,27ff)
Fast alle Masken bestehen aus einem stereotypen, idealisierten menschlichen
Gesicht und einem gesonderten Kopfteil, den eine stilisierte Frisur bilden mag
oder Szenen und Aspekte der sozialen Erfahrung, sowie metaphorische
Darstellungen. Die Motive für die Masken sind nahezu unbegrenzt, denn die
Welt ist ein Markt. All das, was jemanden beschäftigt - seien es
Sexualverhalten, Marktfrauen, Fremde, Handelsgüter, Messer, Gewehre,
Schalen, Teller, Kolonialbeamte, Motorräder, Nähmaschinen, Flugzeuge,
anderes technisches Gerät usw. - wird gezeigt. (Drewel 1983:13f,22,247; Fagg
1982:62)
Zum Abschluß erscheint ein Maskenträger in der Maske der vergöttlichten
Urahnin der Gemeinschaft (Drewel 1983:37).
Alienne Laval
Der Sinn dieser Festivitäten ist es, das von außen kommende Bedrückende oder
das eigene, von der Tradition abweichende Verhalten, per rituellem und
symbolischem Geschehen in sozial verträgliche Formen zu überführen.
Grundlage der Festivitäten ist die Yoruba-Religion, die auch heute noch von den
ca. 40 Millionen Yoruba, die im westlichen Nigeria und in Benin leben, bewahrt
wird. (Kubik 1991:149)
Das höchste Wesen ist Olódùmare, das auch den Namen Ol' orun, Eigentümer
des Himmels, trägt. Im Himmel - orun - leben die òrìsà, die Götter, die eine
bestimmte Rangfolge haben. Die wichtigste dieser Gottheiten ist Obàtálá, jene
Kraft, durch die Olódùmare die Schöpfung ausführen ließ. Der Legende nach
stieg Obàtálá nach Beendigung seines Schöpfungswerkes vom Himmel herab,
um zum Händeklatschen seiner vier Frauen zu tanzen. (Kubik 1991:149)
"Er ist eine Naturkraft (Donner, Sturmwind, Fluß, Felsen, Eisen oder Meer)
und gleichzeitig Mensch (Krieger, Städtegründer, Jäger, Schmied oder
Zauberer), gleichzeitig wird er durch Tiere oder Pflanzen oder Farben
symbolisiert. - So ist Schango der Donner, und zugleich ist er eine
tragische Heldengestalt aus der Geschichte des Königreiches Oyo: ein
König, der sich aus Enttäuschung über seine Untertanen das Leben nahm.
Sein Symbol ist der Widder, dessen Kopfstöße uns blitzartig treffen. Der
Mensch, der Schango nahesteht, beschäftigt sich mit den Kräften, die er
verkörpert. Er schmückt sich mit seinen Farben (Rot und Weiß) und schützt
sich durch Ritual und magische Medizin vor Kräften, die ihm nicht gemäß
sind..." (Beier 1982:4; zit. nach Kubik 1984:150)
Òrìsàs sind auf diese Weise Kulturbringer im vorhin erläuterten Sinn, die
zwischen Natur und Kultur stehen. Sàngó ist der zurechtgestutzte König, der die
Kultur verändern wollte und damit wohl zum Teil scheiterte.
Während die Maskenspiele das Soziale gegen fremde Einflüsse schützen und die
damit verbundene Herxerei beschwichtigen sollen, gibt es einen anderen Bereich
von Mythen, der andersartig mit dem Fremden verbunden war, dies sind die
Mythen, die sich mit den Wassergeistern beschäftigen.
Die launenhaften Mächte des Wassers wurden als außerhalb der sozialen
Ordnung und jenseits von Gut und Böse befindlich angesehen. Die
Alienne Laval
Wassergeister standen in Opposition zu den Ahnen und kümmerten sich nicht
um die Moral, die Solidarität und Einheit der Gemeinschaft; dagegen war ihnen
am Glück und Unglück des Einzelnen gelegen. (Kramer 1987:229)
"...bei den Tembu und Fingo lockten die Flußmenschen den zukünftigen
Wahrsager in ihren Kraal; bei den Shona gab es Wahrsager, die... ihre
Kunst den Seejungfrauen verdankten, die sie am Ufer ergriffen, ins Wasser
gezogen und ihnen die Gabe der Weissagung verliehen hatten." (Kramer
1987:220)
Diese Symbolik gab es auch in den Initiationsriten der Nixenkulte, wobei man
Mädchen in das Wasser eintauchte und dem Grauen der Tiefe aussetzte. Da mit
den mythischen Wasserwesen schon immer Eigenschaften fremder Kulturen
verbunden waren, war es kein Problem, diesen Bereich auch mit europäischen
Motiven anzureichern.
Die ersten Europäer kamen in Schiffen, die man an der Guineaküste sichtete. Sie
schienen aus dem Meer aufzutauchen, da man zuerst nur die Mastspitzen sah.
"Die Haut der Europäer war hell wie die Haut von Wasserleichen; und sie
verfügten über unbekannte Ausrüstungsgegenstände, die man für das Werk
der kapriziösen Wassergeister hielt. Auf den großen Strömen zogen sie,
wie Fische, ins Innere des Landes." (Kramer 1987:221)34/ 35
34 Aus Aachen wird von 'Narrenschiffen', die über Land gezogen wurden, noch 1133
(Chronik des flämischen Abtes Rudolf) berichtet:
"Beim Schwinden des Tages, als schon der Mond am Himmel stand, kamen Scharen
verheirateter Frauen unter Hintansetzung aller weiblichen Scham mit aufgelösten Haaren aus
ihren Gassen hervor, die eine halbnackt, die andere nur im Unterkleid, und mischten sich,
schamlos vordringend, unter die Leute, die um das Schiff herum Chortänze aufführten. Da
konnte man zeitweilig an tausend Menschen beiderlei Geschlechts sehen, wie sie bis
Mitternacht die ungeheuerlichste und abscheulichste Abgötterei trieben." (zit. nach
Hallerbach 1984:8)
Sind diese Narrenschiffe auf ähnliche Erfahrungen wie die der Afrikaner zurückzuführen?
(s.a. die weiteren Ausführungen zum Kult der Mami wata).
35 Bei den nordamerikanischen Indianern war das Neue häufig mit den gegen den Strom der
Flüsse schwimmenden Lachsen, die mit dem ambivalenten, jenseits von Gut und Böse
befindlichen Motiv des Zwillings in Zusammenhang standen, verbunden (vgl. die
Ambivalenz, die für die Afrikaner von den Wassergeistern aausgeht). Könnte nicht der Lachs,
den Lévi-Strauss (1993) zum Ende seiner Luchs-Geschichte diskutiert, Zeichen einer neuen,
fremden, unbekannten auf Schiffen gegen den Strom eindringenden 'Semiosphäre' gewesen
Alienne Laval
Die ersten 'nordischen Nixen' die die Afrikaner sahen, waren daher auch die
Gallionsfiguren der Segelschiffe. Seit der Kolonialzeit ist es üblich, die Nixen
mit Europäerinnen, die sich durch ihre helle Hautfarbe, ihr langes, glattes oder
welliges Haar, ihren Reichtum, ihre Unberechenbarkeit und ihre Fremdartigkeit
auszeichnen, gleichzusetzen.
Aus den vielen Wassergeistern wurde im Laufe der Zeit so die synthetische
Figur der mammywater oder mami wata geschaffen. Mami Wata ist ist an der
ganzen westafrikanischen Küste, und vor allem in Nigeria bekannt. Doch auch
in Kamerun und Zentralafrika sind ihre Bildnisse zu finden.
Kramer (1987:222) nimmt an, dass der Name mammywater vor dem 20.
Jahrhundert in Afrika wahrscheinlich unbekannt war. Zuerst läßt er sich
"Die Vorstellung von Mammy Wata besteht aus zwei Komponenten, deren
Verbindung nur den modernen Betrachter frappiert: Mammy Wata
erscheint als moderne, manchmal mondäne Europäerin mit heller Haut,
langen, wallenden Haaren und von kalter, seelenloser Schönheit; zugleich
ist sie die Göttin des Wassers und des Reichtums... Um den Hals der
sein, zumal der Lachs mit dem Zwilling in Verbindung steht?
Der Bär als Beschwichtiger des Zwillings steht einerseits für das zu schützende Soziale;
andererseits begründet sich seine Existenz auf den Lachs, auf die Übernahme des Neuen also
und damit auf die kulturemergierenden Taten des Zwillings. Die Transformation des Lachses
zum Bären zeigt die Diffusion einer Information vom Rand bis hin zum Kernsystem der
Semiosphäre.
Der Zwilling steht mit Wind, Sturm, (See-)Ungeheuern und anderen 'Naturkräften' wie dem
Feuer in Zusammenhang.
Alienne Laval
Mammy Wata und um ihre Arme winden sich Schlangen, ihr Unterleib ist,
wenn er mitkonzipiert wird, ein Fischschwanz. Man erblickt sie am Ufer
der großen Ströme, wo sie ihre Haare kämmt, Menschen anlockt oder
Fischerboote gefährdet. Im Traum besucht man ihre Städte und Paläste am
Grunde des Meeres und der großen Gewässer, besichtigt ihre Schätze und
läßt sich mit europäischen Speisen und Getränken bewirten. Sie verleiht
Reichtum, aber nicht in der traditionalen Form, als glückliche Ernte und
Reichtum an Kindern, sondern als Geld und modernen, kapitalistischen
Besitz... Mammy Wata verleiht nicht nur Reichtum, ihre Anhängerinnen
zeichnet sie auch mit ihrer eigenen, allzu vollkommenen und allzu kalten
Schönheit, mit ihrer Kinderlosigkeit und Einsamkeit."
Bei den Ewe wurde der Kult der mami wata, der von den westlichen und
östlichen Nachbarn übernommen wurde, in das vodu-System aufgenommen.
mami wata wurde der Gottheit da - gedacht als Regenbogen oder Schlange -,
dem vodu des Geldes, der Händler, der Edelsteine und Perlen unterstellt.
(Kramer 1987:230)
"Das Original zeigt eine indische Schlangenbändigerin, aber so, wie man
sie sich in Deutschland vorstellt; um Hals und Arme der Frau windet sich
eine Schlange, die sie mit der rechten Hand umfaßt, während sich von
unten um die Hüfte eine zweite Schlange emporreckt, deren Kopf auf ihrer
Brust liegt. Im rechten unteren Bildteil ist ein rhombischer Ausschnitt
eingesetzt, der einen Flöte spielenden Jungen im Profil zeigt, vor dem vier
weitere Schlangen aufrecht tanzen. Die Hauptfigur ist frontal dargestellt,
mit langem, welligem Haar und traumhaft-unwirklich ins Leere
gerichtetem Blick. Das Bild erinnert an die Dschungelbilder Henri
Alienne Laval
Rousseaus und an die Symbolisten der Jahrhundertwende..." (Kramer
1984:118f)
In Afrika ziert es als Wandmalerei die Häuser, in denen die von mami wata
Besessenen zusammenkommen. Als Plastik aus Holz oder Zement findet es als
Ladenschild der Wahrsager und Heiler Anwendung. Das Plakat fand auch in
Indien Verbreitung und wurde mit einer Umschrift in Urdu gedruckt. (Kramer
1987:223)
"Eine ganze Reihe der alten Gottheiten erschien nun, ausgestattet mit
Attributen der Modernität, im Gefolge der mami wata: Mami-densu, mami-
tohosu, mami-ablo usw. Infolge eines exzessiven Synkretismus taucht
dieses Pantheon jedoch zugleich in einer hinduistischen Version auf, als
mami-vishnu, mami-rama usw., während die Christen mami wata mit der
Jungfrau Maria gleichsetzen und ihr mami-josef, mami-jesuvi, mami-
gabriel und andere Engel und Heilige als Gefolge beiordnen." (Kramer
1987:230)
"Ein junger Mann, der persönliche Beziehungen zur Mami Wata eingeht
und ihr verfällt, gewinnt ungeheuren Reichtum und Ruhm, aber zuletzt
nimmt ihn Mami Wata zu sich ins Meer. Insbesondere über berühmte
Künstler und Musiker erzählt man in Westafrika, dass sie ihren Ruhm und
ihr Glück einer Verbindung mit der Mami Wata verdanken." (Kubik
1991:156)
VIII
Auf die Forscher, die in Brasilien die Kulte von Bahia untersuchten, übte die
Verschmelzung und Gleichstellung von christlichen Heiligenfiguren mit
Alienne Laval
Yoruba-Orixás, die sie als Synkretismus 36 bezeichneten, eine besondere
Faszination aus. Kubik (1991:148f) stellt fest:
"Das afrikanische Erbe drang in die heiligsten Institutionen der Weißen ein.
Afrikanische religiöse Vorstellungen wurden auf Begriffe und Riten der
katholischen Kirche projeziert. Sie wurden ihr eingepaßt und damit wurde
ihre Sanktionierung erkauft. Dies führte zu einer Entwicklung etwa wie in
Bahia, bei der sich sozusagen auf der Vorderseite des bahianischen
Katholizismus ein katholischer Heiliger und auf der Hinterseite ein
Yoruba-òrìsà befindet. Beide sind miteinander identisch geworden. Und
diese Münze kann wie ein Code je nach der Situation beliebig umgedreht
werden. In Anlehnung an den Begriff des Code-Switching in der Sozio-
Linguistik könnte man dies 'symbol-switching' nennen... Im Candomblé
von Bahia sind u.a. folgende Gleichstellungen üblich: Ogum = Hl.
Antonius, Ossaim = Hl. Benedikt, Oxóssi = Hl. Georg, Xango = Hl.
Hyeronimus, Omolu = Hl. Lazarus (oder Hl. Rochus), Oxumaré = Hl.
Bartholomeus, Iansa = Hl. Barbara, Oxum = Unsere liebe Frau von
Candelária (u.a.) oder auch Jungfrau Maria; Yemanjá = Unsere liebe Frau
von Conceicao u.a.; Nana = Hl. Anna, Oxalá = Unser Herr vom Bomfim
(der Sohn Gottes)."
36 Die 'synkretistischen Kulte' geben vor, eigenständige Zugänge zur Wirklichkeit zu haben,
die sie mit bestimmten Mächten, z.B. Erkenntnisse zu vermitteln und Krankheiten zu heilen,
ausstatten. Auf diese Art werden Empirie, Ökonomie und Technologie kurzgeschlossen und
wird die herrschende Ordnung hintergehbar (s.a. Holenstein 1981) gemacht, indem ein
erneuten Anschluß an Urkräfte reklamiert wird.
Was auf den ersten Blick als bloße Inversion des technisch-ökonomischen Weltmodells
erscheint, (dem in seiner Geschichtsschreibung der steinzeitliche Faustkeil wichtiger ist als
die Felszeichnung und die Kulturevolution, und das vorgibt, sich streng an der ersten
Wirklichkeit zu orientieren), entpuppt sich auf den zweiten als pädomorphes (regressives)
Eintauchen in die urtümlichen Bedingungen der Kulturemergenz und als Suche nach Identität.
Während die technisch-ökonomische Ordnung den Tag, den Wachzustand besetzt hält und
gewöhnliches, ernstes Alltagsleben, echte Wahrnehmung, psychische Normalität, Abstinenz
und nüchternes Erleben der Wirklichkeit propagiert, bevorzugt die andere Seite den Traum,
das Spiel, Trance und Vision in inszenierten und ritualisierten Räumen.
Dieses Eintauchen in die urtümlichen und meeresartigen Bedingungen von Kultur ist als
kreative Regression, als Pädomorphose (Koestler 1978) anzusehen, die eine Hinwendung
zum 'Medium der kognitiven Kompetenz' (Holenstein 1980) bedeuten kann:
"Die biologische Evolution", so Arthur Koestler (1978:255), "ist weitgehend eine Geschichte
gelungener Fluchtversuche aus den Sackgassen der übermäßigen Spezialisierung und die
Geschichte der Ideen ist eine Reihe gelungener Fluchtversuche aus der Tyrannei geistiger
Gewohnheiten und erstarrter Routinemäßigkeiten. In der biologischen Evolution ist die Flucht
ein Rückschritt vom Erwachsenen- ins Kindheitsstadium, das anschließend als
Ausgangspunkt für eine neue Entwicklungslinie genutzt wird; bei der geistigen Evolution ist
sie ein vorübergehender Rückschritt zu primitiveren, ungehemmteren Arten der
Vorstellungskraft, gefolgt von einem schöpferischen Sprung nach vorn..."
Alienne Laval
Die zentrale Figur ist auch hier Oxalá (der afrikanische Obtala), der Schöpfer,
aus dessen Ehe mit Yemanjá Exu (Esu) entastammt. Ihm kommt die Rolle des
Vermittlers oder Götterboten zu.
Während bei den deutschen Festzügen mehr oder weniger politische Motive im
Vordergrund stehen, sind die brasilianischen von mythischen Hintergründen
geprägt. Auch politische Aussagen zur Umweltverschmutzung, zur
Indianerfrage usw., werden vor einem mythischen Hintergrund behandelt und
interpretiert. In diesem Jahr war es ein indianisches Leitmotiv, bzw. die
Vorstellungen davon, das den Festzügen durchgängig Gestalt gab. Die
mythischen Indianer werden als eine Art gefiederter Vogelmenschen gedacht,
die in mythischer Vorzeit sieben Städte bewohnten, die aber untergegangen sind.
Viele Tänzer waren daher mit Federkleidern maskiert.
Zu dem indianischen Motiv gehört auch die Amazonas-Anakonda, der ebenfalls
ein Festwagen - in der Nähe des Yemanjá-Wagens - gewidmet war. Das
Schlangenmotiv, das schon aus dem afrikanischen Kontext bekannt ist und in
Verbindung mit der mami wata steht, steht auch in Brasilien in Verbindung mit
Yemanjá.
In rot und weiß gekleidete Maskentänzer mit Stier- oder Widdermasken deuten
auf Xango hin, der auch in Afrika mit diesen Attributen verbunden ist.
Xango, Yemanjá und die Schlange sind Naturgottheiten, die gleichzeitig als
kulturbringend gesehen werden können. Xango ist eine Naturkraft (Donner,
Sturmwind, Fluß, Felsen, Eisen oder Meer) und gleichzeitig Mensch (Krieger,
Städtegründer, Jäger, Schmied oder Zauberer), der durch Tiere, Pflanzen oder
Farben symbolisiert wird. Xango ist, neben Esu (allerdings aus einer anderen
Ehe), in der brasilianischen Systematik einer der Söhne Yemanjás. Die
Ambivalenz der Göttin des Meeres wurde vorhin eingehend erklärt. Die
Schlange (oder der Regenbogen) hatte schon bei den westafrikanischen Ewe mit
den Händlern, den Edelsteinen und Perlen zu tun.
Alienne Laval
Die Hoffnungen und die Befürchtungen, die mit dieser Symbolik ausgedrückt
werden, sind ebenso offensichtlich wie eindringlich.
IX
Das Wasser - und auch der Weltraum - ist, in Opposition zum Land und der
Menschenwelt, fremd und unheimlich. Dieses Fremdartige betrifft nicht nur das
ethnisch Fremde, sondern auch das Fremde im Eigenen, das Heimliche und
Verdrängte, das verborgen werden muß, jedoch in den Semiosphären immer
mitschwingt. Während das Soziale das Fremde und Neue ablehnt, kann im
Individuum gleichzeitig eine Aneignungsabsicht bestehen. Der fremde Gott ist
zwar unheimlich, aber ebenso unheimlich ist das Verdrängte. Doch das Fremde
ist auch die Form, in der der eigene und verdrängte Gott zurückkehren kann.
(s.a.. Kramer 1987:227)
Noch ist der Himmel, den wir als die Geschicke der weiblich gedachten Erde
bestimmend sehen, für uns männlich. Doch ob wir uns den Cyberspace und den
Weltraum ebenfalls männlich denken können, ist fraglich; für die Ägypter war
der Himmel weiblich (Nuit) und die Erde männlich (Geb).
Der Karneval (mit seiner Tendenz zur Auflösung alter Rollenspiele) war
entscheidend innerhalb der Demokratisierungsbestrebungen, deren
Begrifflichkeit (wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) sich nicht aus der
Naturbeobachtung ableiten läßt, sondern dem Bereich der Kultur entstammt.
Von der Kultur und der Demokratie aus können wir Natur, Macht und Technik
nur apparativ begreifen, doch die Technik verselbständigt sich und dringt in den
Bereich der Kultur ein, wird ohne menschliche Vermittlung 'kulturbringend'.
Noch ist der Druck des Realitätsprinzips der industriellen Massengesellschaft
gegenüber ihren Mitgliedern so stark und bindend, dass selbst von der Kunst
erwartet wird, dass sie in realistischer Weise mit der Wirklichkeit
übereinstimmt (s.a. Gorsen 1981:224). Was passiert, wenn dieser Druck
nachläßt, die Konsistenz der industriellen Ordnung aufbricht? Die Fingerzeige
dieses Aufbruchs haben wir ab den siebziger Jahren bereits in den Bewegungen
des 'New Age' und den Deutungsversuchen neuerer Philosophien (den modernen
Wahrsagern) gesehen; doch nun läßt dieser Druck auch gesamtgesellschaftlich
nach, nämlich durch die zunehmende Arbeitslosigkeit. Hier deuten sich
postindustrielle Synkretismen und Bewältigungsmuster an, die den Anschluß an
die 'Neue Zeit' magisch abwehren und/oder erzwingen, auf ein sozial
verträgliches Maß zurechtstutzen wollen.
Wissenschaft und Technik machen in ihren Fortschritten nicht halt, auch wenn
große Schichten der Bevölkerung diese Fortschritte nicht nachvollziehen
können, geschweige denn, sie überhaupt wollen. Wir kommen auch in Zukunft
nicht umhin, uns zwischen Natur und Kultur, ikonischem Realismus und
symbolischen Verhaltensmodi zu bewegen.
Alienne Laval
Die Inversionsoperation als initiales semiotisches Geschehen im
Kulturprozeß
"Der Mensch, der sonst ständig lernen kann, hat bis heute einige Prägungen
seiner Phylogenese - die sich gegenwärtig wieder einmal als
lebensgefährdend zeigen - offensichtlich (noch) nicht überwunden. Es ist
die Ambivalenz der Codes (der Werte) und ihre prinzipielle Variabilität
(wir wissen nur nicht, wie weit sie reicht), worin die Hoffnung liegt."
(Bystrina 1989:125)
Lotman (1970:26,149) definierte Kultur als das Gedächtnis der Menschheit bzw.
bestimmter Kollektive und bestimmte die menschliche Kultur bei synchroner
Betrachtung als ein 'System von Texten'. Von Lotman (1984; 1990) ausgehend
können wir die synchrone Dimension der Kultur als 'Semiosphäre'( 37) definieren.
37 Mit den Parametern 'System' und 'Struktur' läßt sich der bei Lotman (1984) entlehnte und
später noch weiter zu diskutierende Terminus 'Semiosphäre' bestimmen. Ein System wird
nicht nur durch seine inneren Strukturen, sondern auch durch äußere bedingt. In der
Ethnologie/Kultur-Anthropologie hat sich zur Darstellung dieses Zustands sozialer und
ethnischer Systeme der Begriff 'Ethnizität' durchgesetzt, der aber zu sehr auf autochthone
Ethnien und die Vermittlung des Interesses 'rezenter' Volksgruppen abzielt, um ihn einer
allgemeineren Bedeutung zuführen zu können.
Der Begriff der Semiosphäre verallgemeinert den Begriff der Ethnizität und macht ihn
anwendbar auch auf die komplexen, globalen Interaktionen zwischen Raum-Zeit-Gebilden
unterschiedlicher Ordnung (wie z.B. autochthone Ethnien, internationale Konzerne, Staaten,
Alienne Laval
In der diachronen Perspektive kommt die Herstellung, Übermittlung,
Speicherung, Rezeption, Interpretation und Wirkung der Texte hinzu. Auf diese
Weise kann die Kultur als ein Prozeß, eine funktionierende Semiose, begriffen
werden.
Die Semiosphäre ist eine Abkoppelung von und eine Reduktion der Noosphäre
(s.a. Fleischer 1989:149f), die bis in den humanen Bereich hineinreicht. Die
Noosphäre wird im Subhumanen zu einem Bereich traumartiger Wirklichkeit
(s.a. Bystrina 1989), in dem zunächst zwischen 'Realität' und Traum, Innen und
Außen, Sprache und Text, gar nicht unterschieden wird.
Abstrakt insofern, als hier die Invarianten der ersten Wirklichkeit auf eine
andere Art und im rezenten Abschnitt des Kulturprozesses nicht mehr gelten,
das Gedächtnis nur noch bedingt an sie gekoppelt ist, an dieser Stelle keinen
äußeren Angelpunkt mehr bietet und die Semiosphäre sich damit vorrangig in
den Köpfen der Menschen befindet.
Während wir es in der ersten Wirklichkeit mit Objekten zu tun haben, stoßen wir
in der zweiten Wirklichkeit auf Systeme. Beide sind aber texterzeugende 'Dinge'
(Farbe, Bild, Klang, Rhythmus, Sprache etc.)(38) und können damit als
'Zeichensysteme', als mit Textcharakter behaftet, aufgefaßt werden. Zu
bedenken ist allerdings, dass ihr Textcharakter nur in der 'Semiose' erscheint und
gilt. Außerhalb der Semiose handelt es sich schlicht um 'Dinge'. Erst die auf die
'Zerlegung' der Phänomene der ersten Wirklichkeit folgende Semiose kann die
Erst die Be-Wertung, das Anlegen eines beliebigen Modells, kann die Beweger,
die initialen Strukturen eines Systems, ausfindig machen und das System
'entmischen'.
Rössler (1992) geht nach Boscovich (1763) davon aus, dass es im Wesentlichen
drei Arten von Kovarianzen sind, über die die Lebewesen in ihrer Evolution die
invarianten Merkmale der Welt entdecken. Zunächst können die bewegungs-
unabhängigen invarianten Eigenschaften der Welt nur aktiv von einem sich
bewegenden Lebewesen entdeckt werden. Auf diese Kovarianz der
standortspezifischen Perspektive in einer invarianten Geometrie (Wahrnehmung
durch Eigenbewegung in einer invarianten Landschaft) folgt jene des
geschwindigkeitsspezifischen Inertialsystems in einer invarianten
Hypergeometrie (zwischen stillstehendem Beobachter und invariantem
Hintergrund bewegt sich etwas) (s.a. Rössler 1992:120). Dieser nächste Schritt,
die Entdeckung einer zweiten Form der Kovarianz, erzeugt in der Ausbildung
der Noosphäre den Bereich des Traumes als redundantes Merkmal und damit die
Voraussetzung für den 'Innenraum' eines 'Geistes' und dann im Kulturprozeß
einer 'Psyche'.
In den beiden früheren Fällen von Kovarianz können zwei Schnittstellen durch
Kommunikation über räumliche und/oder zeitliche Distanzen (gewöhnliche
Kommunikation/Gedächtnisdokument) hinweg kombiniert werden.
"Im Gegensatz zu diesen beiden früheren Fällen ist ein von den inneren
Mikrobewegungen abhängiges Interface (Schnittstelle) zeitabhängig auf
einer Skala, die so kurz ist, dass es unmöglich ist, das Interface zu
manipulieren oder es gar zu verlassen. Welcher Teil der Welt auch
betrachtet wird - nah oder fern, außerhalb oder innerhalb des Körpers des
Beobachters, in zeitlicher Nähe oder weit in der Vergangenheit -, er wird
notwendig dem Differenzprinzip unterliegen. Das heißt, er wird von dem
augenblicklichen Zustand der inneren Bewegungen des Beobachters
beeinflußt sein. Da die 'Verzerrungen' die sich ergeben, die ganze Welt
betreffen, ist hier nicht einmal mehr das Gedächtnis ein unbeeinflußbarer
39 "Wenn alles zeichenhaft ist, dann kann ich ebensogutsagen:'alles ist wirklich' oder 'nichts
ist zeichenhaft'. Das sind dann bloß Worte. Wenn keine Negation mehr verfügbar ist, verliert
jeder Begriff seinen epistemologischen Biß." (Knobloch 1989:8f)
Alienne Laval
äußerer Angelpunkt. Von den Veränderungen des Interface ist die ganze
Welt betroffen. Jede Veränderung der ganzen Welt ist jedoch per
definitionem unbemerkbar. Zwei ganze Welten können niemals
miteinander verglichen werden, da die zweite nicht vollständig wäre, wenn
Reste der ersten in ihr erkennbar wären." (Rössler 1992:123)
In der über Abstraktion aus der Noosphäre gelösten Semiosphäre und den sich
im Kulturprozeß bildenden Semiosphären befreit sich der Mensch aus dem
Außenraum in den Innenraum der zweiten Wirklichkeit (s.a. Bystrina 1989).
Die Semiosphären sind deshalb kaum Teil der originären materiell-räumlichen
Gegebenheiten dieses Planeten, da sie abstrakte Objekte einer zweiten
Wirklichkeit, Systeme, sind. Vielmehr werden die materiellen Objekte und die
Noosphäre der zweiten Form der Kovarianz damit zum konstituierenden Teil der
Semiosphären. Die Semiosphären erscheinen so, ähnlich wie Castanedas 'Inseln
des Tonal', in die zweite Wirklichkeit einer 'Traumzeit' eingebettet.
Nur die Semiose narrativer Texte verbindet die primäre Biosphäre, die
Noosphäre und die Semiosphäre und ist nach der in diesem Aufsatz vertretenen
Auffassung die eigentliche, originäre Dimension der Kultur.(40)
Das, was wir 'Kultur' oder kulturelle Produktion nennen, ist eine relativ 'neue'
Schicht des Bewußtseins/Unbewußtseins, die das 'Selbst-Bewußtsein' begründet
und mit dem 'rationalen Denken' - und damit auch der Existenz des Computers -,
das ihr im Prinzip evolutionär vorgelagert ist und vorausgeht, erst später in
formalen Zusammenhang gebracht wird.(41)
Die Rationalisierung aber beginnt schon früher und unabhängig vom
Kulturprozeß, wird aber bald mit kulturellen Merkmalen durchmischt. Mit der
Ausbildung von 'Ethnien', genealogischen Systemen und Klassifikationen führt
der Weg so über 'Religion', 'Ideologie' (und 'Staat') bis hin zum Periodensystem
der Elemente, den modernen wissenschaftlichen Systematiken und besonders zu
40 Auch wenn es heute Automaten zur Herstellung, Übermittlung und Speicherung von
Texten gibt, so bleiben doch Entstehung, Rezeption, Verständnis, Interpretation und Wirkung
von Texten weitgehend ungeklärt. Die unterschiedlichsten Disziplinen haben sich - zum Teil
mit Computerunterstützung - daran versucht, den Schleier dieses 'Geheimnisses' ein wenig zu
lüften.
Die Herstellung 'künstlich-intelligenter' Maschinen mag in absehbarer Zeit kein Problem mehr
darstellen; aber wie steht es um den 'künstlichen Intellekt'? Wenn in Intelligenztests nur
Anpassungsleistungen geprüft werden, ist irgendwann jeder Computer/Roboter imstande,
diese besser zu erbringen. Intellekt hingegen, der schon im Menschen selbst eine 'künstliche'
Kultur-leistung, eine Synthese ist, bleibt Intellekt, unabhängig davon, ob wir einen
intellektuellen Computer oder Menschen vor uns haben. Entscheidend ist allein die Fähigkeit
zur 'Entpassung' und zumindest virtuellen Aufhebung von natürlichen und sozialen
'Gesetzmäßigkeiten'.
41 Eine nähere Explikation dieser Problematik kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht, soll
aber an anderer Stelle erfolgen. (s.a. Leroi-Gourhan 1980; Bystrina 1989; Uchtmann 1990 u.
1991)
Alienne Laval
durch den im 'Zivilisationsprozeß'(42) neuerdings mal wieder immer zentraler
werdenden 'Techniken'.(43)
Im Kern des Kulturprozesses sind Abläufe im Gange, deren Ergründung eine
besondere Fragestellung erfordert. Vor allen Dingen interessiert, welche
besonderen Vorkommnisse interner und externer Art zur Emergenz der Kultur
geführt haben und welches die kulturgenerierenden Objekte und Situationen
waren.
Der 'Geist' an sich, der keine kulturelle Dimension ist, wird erst in der Semiose
zur Wirkung gebracht, wobei er sich in den Semiosphären ausdifferenziert.
Die 'Dichtung' (Narration) ist an das Prinzip der Autorenschaft gekoppelt, an
einen, wie in der indischen Dichtung auch unbekannten, - und dadurch
universalisierten - Narrator, der sich postlimen befindet und einen Vorgang in
der Vergangenheit berichtet, der aber als Gegenwart beim Rezipienten neu
entsteht.
43 Ein besonders schönes Beispiel bietet die Maya-Kosmogonie, da hier der Übergang von
der genealogischen zur astronomisch-mathematischen Systematik in signifikanten Texten
belegt ist.
Alienne Laval
sich zeichenhaft die Potenz solcher Geschehnisse auch im Sinnenraume."
(Gehrts 1986:10)
Ähnliches sagt O'Flaherty (1984) für den indischen Mythos aus. Mehrere
mögliche Positionen treffen hier aufeinander: Der Rezipient kann sich auf die
Semiosphäre der Dichtung einlassen und durchläuft bestimmte
'Metamorphosen', die ihn letztlich zum 'Miterzähler' qualifizieren oder er zieht
sich in seine eigene (vorher bekannte, sozialisierte, vertraute) oder eine andere
(ihm sicherere) Semiosphäre zurück. Er kann aber auch einen eigenen 'Prozeß'
inszenieren, der ihm selbst 'Autorenschaft' ermöglicht und zu einer gewissen
Autonomie führt.
Diese 'Autonomie', die erst Wesenhaftigkeit verleiht, ist Initiation im
eigentlichen Sinne; es ist die eigene Narration, die deviant außerhalb der
Semiosphäre (hier: das 'System' der rezipierten Dichtung) stellt. Der Schamane
ist das klassische 'Axiom' dieser Tätigkeit, der trotz vielfältiger, besonderer
ethnischer Merkmale immer auf eine gemeinsame, auf die Semiosphäre
übergreifende, invariante Art schamanisiert, synthetisiert und so neue Semiosen
schafft.
Für ein weiteres Verständnis bedarf es jedoch der - wie später klar werden wird:
paradoxerweisen - Analyse und Kenntnis der strukturalen Merkmale des
Kulturprozesses und d.h.: der Mittel der Narration und ihrer Entstehung:
"Die ursprüngliche Kultur war Literatur und Kunst par excellence, stellte
eine durchgängig nach den Gesetzen der Poetik organisierte Praxis
dar...Die Geschichte in ihrer Opposivität zum Mythos (der ursprünglichen
Narrativik), zum Ritual (der ursprünglichen Dramatik) und zur Magie (der
ursprünglichen Lyrik, deren Wesen die Wiederherstellung/Konservierung
der Identität von Subjekt bzw. Objekt ausmacht) begann, als das
künstlerische Schaffen sich zu einem eigenen Typus von Diskursivität
spezifizierte und sich die übrigen Diskurse von der Herrschaft der Literatur
emanzipierten. Die Geschichte startete ihren Lauf in dem Moment, als die
Literatur zur Literatur wurde." (Smirnov 1988:107)
"Er kann lediglich die Schnittstelle (oder Differenz) zwischen ihm und der
Welt beschreiben. Eine erste Folgerung aus diesem Prinzip ist, dass ein
Zustand äußerer Bewegung des Beobachters in Relation zur Welt
äquivalent ist zu einem Bewegungszustand der ganzen Welt relativ zu
einem stationären Beobachter...Als einer der Vorläufer der kinetischen
Theorie scheint Boscovich jedoch noch eine weitere Implikation gesehen
zu haben. Das gleiche Äquivalenz-Prinzip läßt sich auch auf den Zustand
der inneren Bewegung eines Beobachters gegenüber seiner Welt anwenden.
Wenn zum Beispiel sowohl alle inneren Bewegungen des Beobachters als
auch alle Bewegungen seiner Umgebung eine Zeitumkehr erfahren - eine
Möglichkeit, derer sich Boscovich offenbar bewußt war -, so ändert sich
nichts für den Beobachter. Die Schnittstelle zwischen beiden ist nicht
betroffen...Wenn nur die inneren Bewegungen des Beobachters
zeitinvertiert sind, ist dies äquivalent dazu, dass keine Veränderung im
Beobachter stattgefunden hat, aber stattdessen die äußere Welt
zeitinvertiert wurde. Das heißt, jede Veränderung innerhalb des
Beobachters, die im Prinzip durch irgendeine äußere Veränderung in der
Umgebung exakt kompensiert werden kann (so dass der Nettoeffekt auf die
Schnittstelle gleich null wäre), ist äquivalent dazu, dass dieser
kompensierende Effekt in der Umgebung tatsächlich eingetreten ist, aber
im Beobachter keine Veränderung stattgefunden hat." (Rössler 1992:121)
so Rössler weiter,
"sieht der Beobachter die Welt niemals objektiv. Nur ein 'Schnitt' (oder
eine 'Transformation'), der vom Zustand seiner eigenen inneren Bewegung
abhängig ist, kann dem Beobachter zugänglich sein. Weiterhin folgt - da
die Schnittstelle die einzige Realität für den Beobachter ist -, dass die Welt
für den Beobachter objektiv all jene Eigenschaften besitzt, die sie nur
relativ zu dem Zustand seiner eigenen inneren Bewegung annimmt."
"...weil in ihr letzten Endes der Tod siegt. Um klaren Kopfes zu bleiben
und das psychische Überleben zu sichern, mußte er sie partiell in seinem
Vorstellungsvermögen invertieren oder gänzlich verdoppeln. Um den
Umweltüberdruck angesichts der stets als bedrohlich empfundenen Natur
Alienne Laval
zu mildern, machte sich der Mensch Gedanken über imaginäre Lösungen.
Imagination, Phantasie und Kreativität waren die Säulen, auf die der
Mensch seine Hoffnungen setzte. Langsam baute er auf das interne Modell
der Außenwelt das Modell einer zweiten Wirklichkeit auf. So entstand auf
einer bestimmten Stufe in der Entwicklung des Menschen die zweite
Wirklichkeit als Verdoppelung der ersten unter umgekehrten Vorzeichen,
denn was in der faktischen Welt begrenzte, einband und allzu bedrohlich
erschien, konnte in der fiktiven Vorstellungswelt entgrenzt, gelöst und
überwunden werden." (Kuper 1993:20)
Die Schwierigkeit bei dieser Form der Kovarianz ist, dass der
Beobachterstandpunkt zu einem inneren Ort hin verschoben wird und nicht mehr
eindeutig zu definieren ist, da der Beobachter von nun an weiß, dass er selbst
sich in der 'Umwelt', im Beobachteten also, auflösen kann und wird. Die Frage,
die sich dem Beobachter nun stellt, ist die, ob das Verschwinden, das
Unsichtbarwerden des Toten nicht aufgehalten werden kann, um ihm eine
zweite Existenz zu ermöglichen (frühe Begräbnisriten weisen darauf hin; bei den
alten Ägyptern durch Mumifizierung bis zur Perfektion getrieben). Diese
Existenz ist aber nur in einer inneren, hinter den äußeren Erscheinungen
liegenden Landschaft denkbar. Mit der Erkenntnis des Todes, die auf dieser
Unterlage erst eine bestimmte Erkenntnis des Lebens ermöglichte und daher mit
dem Eintreten des 'Geistes' in die Welt verbunden ist, wird eine neue Welt und
daher auch eine neue Mischung erzeugt. Erst an dieser Stelle, ausgelöst durch
die Transformation des Todes in den Innenraum, ist das Differenzprinzip
vollständig (Ambivalenz und Bipolarität) entfaltet, denn das Leben (und
Denken!) ist ohne den Tod nicht mehr denkbar.
Das Gedächtnis ist, wie gesagt, hier kein unbeeinflußbarer äußerer Angelpunkt
mehr, denn von diesen Veränderungen der Schnittstelle ist die ganze Welt
betroffen (s.a. Rössler 1992:123).
Im Anschluß an von Neumann (1932) stellt Rössler (1992:126) fest, dass im
Rahmen der Quantenmechanik der Informationszustand des Beobachters über
seinen eigenen Zustand keine Rolle spielt, wenn man die Quantenrealität als die
grundlegende Realität annimmt.
Wenn die zweite Wirklichkeit für uns als Möglichkeit erst einmal erschlossen
ist, und sobald damit auch die Notwendigkeit eines Überlebens in ihr besteht,
muß die Informiertheit des Beobachters in ihr - und das geschieht über die
Tradierung von Mythen - gewährleistet werden.
Der Existenzmodus (oder das Modell), dessen sich die 'Erfahrungswissenschaft'
Physik z.B. bei Fragestellungen zur Relativitätstheorie bedient, ist derjenige der
Manipulation von Positionen und externen Bewegungszuständen. Der
Existenzmodus, den die Text- und Strukturwissenschaften und insbesondere die
Semiotik als Kultur- , Kognitions- und Kommunikationswissenschaft
untersuchen, handelt von den inneren Bewegungen des Beobachters und dem
Versuch ihrer veräußerten Manipulation, wie er sich in der Produktion von
Alienne Laval
Texten zeigt. Interessant wird hier die Verschiebung zur Subjekt-Objekt-Achse,
wo doch vorher noch die semantische, rein spielerische, Material-Objekt-Achse
gegolten hat. Problematisch wirkt die Erkenntnis, dass das Objekt als
Bezugspunkt kaum noch dienen kann, da es nicht codiert ist und erst codiert
werden muß. Hiermit ist dann tatsächlich eine dritte Form der Kovarianz
gefunden, wie sie sich aus den Überlegungen Boscovichs ergibt.
Basis für die Emergenz einer tertiären Codeebene sind die Gruppenstrukturen
der ersten Wirklichkeit einschließlich der hierauf aufbauenden Erkenntnis einer
invarianten Hypergeometrie. In einer inversiven Verdoppelung entsteht in
Texten die Topographie eines Innenraumes, die auch die Invarianten der ersten
Wirklichkeit (Rösslers zweite Natur) invertiert und dadurch die Invarianten
(Topologie) dieses Raumes aufdeckt.
Rössler (1992:122) meint, dass im Falle der Boscovich-Kovarianz sogar ein
indirekter Zugang zu dieser neuen 'Hyperrealität' blockiert zu sein scheint. Was
er hier anspricht, ist keineswegs eine Hyperrealität, sondern die topographische
Ebene der 'zweiten Wirklichkeit', wie sie Bystrina (1989) im Anschluß an die
Untersuchungen Saussures und Lévy-Strauss' formuliert hat. Da die Invarianten
des internen Bewegungszustandes nur durch zeichenhafte und symbolische
Gestaltungen in Texten markiert werden, entgehen sie dem 'Ereignishorizont'
der empirisch arbeitenden Erfahrungswissenschaften.
Der Beobachter ist durchaus imstande, seine jeweilige Schnittstelle
vorübergehend zu verlassen, indem er sich per Traum, Trance, Spiel, Ekstase,
Askese, Droge oder deviantem Verhalten in einen auditiven, introspektiven
Modus begibt, der die jeweils internalisierte Ordnung hintergehbar macht (s.a.
Holenstein 1982; Bystrina 1989; Uchtmann 1991).
Nach Bells Theorem (1964) kann die nichtlokale Natur der Quantenmechanik
nicht durch eine klassisch-lokale Theorie erklärt werden (Rössler 1992:126).
Boscovichs Ansatz ist aber lokal und klassisch-newtonianisch. Nach Rössler
(1992:127) erinnert die Bosovichsche Sicht an Bohrs Aussage, "dass der
Beobachter an der Erschaffung der Welt 'partizipatorisch' Anteil hat."
"Sein Denken war erfüllt von den bösen Taten der Pandavas und sein Herz
war voll Kummer und Zorn. Er war hellwach und sah alles, was um ihn
herum vorging, denn die Nacht war sternenklar. Eine große Eule, die
vorbeiflog, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er sah sie auf einem
Alienne Laval
Zweige eines hohen Baumes sitzen, der dicht neben dem Baume stand,
unter dem sie Rast hielten. Die Eule hatte scharfe Krallen und einen harten
Schnabel. Damit begann sie die Krähen zu töten, die in ihren Nestern
schliefen. Einigen hieb sie mit ihrem spitzen Schnabel den Kopf ab,
anderen Flügel und Beine. Auf diese Art vernichtete sie alle Krähen auf
jenem Baum. Hernach flatterte sie voll Freude mit ihren Flügeln."
(Mahabharata 1978:287)
44 Ein frühes Beispiel für die Anschauung des Todes als Schlachtfeld ist Breughels Gemälde
'Triumph des Todes'. Hier zeigt sich eine andere Schicht eines archetypischen, invarianten
Geschehens. (zur Problematik des 'primitiven Krieges' s.insb.: Numelin 1950)
Die Definition der Uniformität ist abhängig von der 'Umweltsituation'. Bildete zum Zeitpunkt
der Kulturemergenz die 'Natur' die Umwelt, die u.a. durch das 'rituelle' Tragen von
Tiermasken zum Ausdruck gebracht wurde, war es später der 'Krieger', der das soziale und
ideologische Gemeinwesen verteidigte und sich gleichzeitig gegen das 'andere' Soziale
richtete. Noch in unserem Jahrhundert ist es der uniformierte, befehlsempfangende Soldat, der
seinen 'Staat' verteidigen soll, obwohl es längst die sich auf Gegenseitigkeit selbst sozial-
kontrollierende, konsumierende 'Masse' gibt, die die gleichen Aufgaben ohne Waffengewalt
und nur durch sozialen Druck erledigen könnte.
Alienne Laval
"Asvatthaman is universalized, like the shaman or cultural hero."
(Zilberman 1984:271)
In Rede, Argumentation und Handlung ist alles, was er tut fortan symbolisch
und zeichenhaft, er ist der Träger des Archetyps.
Im weiteren Verlauf dieser Dichtung wendet sich Asvatthaman ab von der
Kontemplation hin zu rituellen und meditativen 'Techniken', denn:
Asvatthaman sagt:
45 Lévi-Strauss (1976:518f) gibt die Position der Küche, des Herdes, als sich zwischen den
Polen Asche (Tabak) und Honig befindlich an, "...denn der Honig liegt diesseits der Küche,
insofern die Natur ihn dem Menschen in Form eines schon fertigen Gerichts und
konzentrierten Nahrungsmittels verschafft...und der gerauchte Tabak steht jenseits der Küche,
da er verbrannt, d.h. mehr als gekocht werden muß, damit man ihn verzehren kann." Asche
und Honig (aber auch: Rausch und Ekstase; Traum und Askese etc.) befinden sich damit
jenseits bzw. diesseits des Zerhacktwerdens im Synthetischen des Mythos.
46 Auch der heimische Herd generiert innere Organisation, jedoch anderer Art und um den
Preis neuer Kriege und sei es auch nur in Form von Jagd, Schlachtung und Zerstreuung. Das
fragmentarische (Löwith) oder fraktale (Baudrillard) Universum ist keineswegs modern,
sondern das alte Universum jeden Schlachtfeldes. Das Soziale, die Ökonomie, die Technik
etc. befinden sich in permanentem Krieg bei gleichzeitiger Überbetonung von Haus, Herd und
Kind.
Alienne Laval
"Ich bin als Brahmane geboren; unglücklicherweise wählte ich jedoch den
Stand des Kshatriyas (des Kriegers). Es wäre unrichtig, wenn ich nun
wieder die Rolle des Brahmanen übernähme und meinen Gegnern ihre
Untaten vergäbe..."
"Er war dem Geiste der Vernichtung verfallen, der keine Fesseln kannte. Er
mordete die ganze Nacht...So groß war die allgemeine Verwirrung, dass
diejenigen, die erwachten, nicht erkannten, wer mordend eingedrungen
war, und einander erschlugen." (Mahabharata 1978:288f)
Das Universum des Zerhacktwerdens, der Küche und später des Labors, ist ein
analytisches Universum - aber auch Grundlage der Initiation -, das sich in einem
fort weiter zergliedert, weil es keine Zeichen, keine Vision sieht. Erst die
Initiation von der heimischen Semiosphäre in die 'Allgewalt' des Todes - und
damit zur Semiose - führt zu einer Kenntnis der Invariante dieses Geschehens.
Asvatthaman verkündete seinen Begleitern ein 'Handlungsprogramm', eine
Strategie, um die Schlacht in der zweiten Wirklichkeit der 'Psyche' doch noch zu
gewinnen. Das Motiv der die schlafenden Krähen tötenden Eule wird ihm zur
Metapher dafür, die Feinde während des Schlafes (in dem ihnen unbewußten
Zustand ihrer Semiosphäre) zu überraschen. Diese 'besondere Waffe', die ihn
außerhalb der Regel stellt, beendet das alte Zeitalter (Yuga), d.h.: die
Semiosphäre und leitet durch diese Katastrophe über zu einer Anastrophe (neues
Yuga, neue Semiosphäre). Das Motiv, dass er seinen 'Feinden' während des
Schlafes die Köpfe abtrennt, damit diese in das neue Zeitalter übergehen
können, ist eine Metapher dafür, dass in der kommenden Semiosphäre ein
anderes Denken angesagt ist.
Der onto-evolutionäre Prozeß und die Semiose enden dort, wo sie die
Kontemplation des Archetyps sozial-technisch manipulierend überschreiten.
Derjenige, der den 'Sinn' des Archetyps in einem schon bestehenden oder neuen
Kontext in die dirigierte Tat umsetzt, ist nicht mehr sein Träger, ist nicht mehr
von ihm ergriffen:
"In other words, the subject of action, i.e. the one who understands its
sense, cannot be called 'Asvatthaman' (Weltenbaum) any more."
(Zilberman 1984:270)
47 Der Schamane, der freiwillig die Gruppe verläßt und in den 'Wald' geht, kann nach
Seperation und Marginalität durch Agregationsriten der Gruppe wieder inkorporiert werden
(s.a. Van Gennep 1960). Was ihn treibt, ist die Dimension der Semiose, die ein 'Fremdwerden'
verlangt, um in die andere Wirklichkeit einzutreten. Die modernen Semiosphären, Gehrts
technische Zivilisation z.B., kennen das Erlebnis der spontanen Berufung durch die andere
Wirklichkeit nicht mehr. Lehre und Belehrung ersetzen das Erlebnis durch Akkumulation.
Das Fremde wird hier nicht mehr selbst erlebt, sondern an anderen erzeugt. Die Separation ist
dann nur noch vorstellbar als die 'Ausgrenzung' ethnisch, psychisch etc. Andersartiger. Frei
nach Bertrand Russel wird die Phase der Marginalität durch die Deportation ersetzt und die
Agregation durch die physische Vernichtung (Extermination) (s.a. Zygmunt Baumann: "Der
Holocaust ist nicht einmalig" in 'Die Zeit' Nr.17/1993, S.68). Diese voyeuristische Position
und Funktion kann z.T. durch Massenmedien ersetzt, aber auch induziert werden. Dieser
Blick wird entgegen der herrschenden Ansicht aber nur perifer durch die 'Unfälle' des 'Reality
TV' ausgelöst.
Der Weg von der Initiation zur Extermination verläuft über die Ausgrenzung mit folgender
'Zwangsinitiation', wie Kuper (1993:59ff) nachweisen konnte: In Sebastian Brants
moraldidaktischer Schrift 'Das Narrenschiff' wird geschildert, wie die Toren gewaltsam aufs
Narrenschiff verfrachtet und auf die Suche nach ihrem verlorenen Verstand geschickt werden.
Das Schiffsmotiv ist hier deshalb signifikant, da dem Wasser reinigende Wirkung
zugesprochen wurde.
Alienne Laval
der primären Narration, entsteht das Ritual und damit das ursprüngliche Drama;
die Ambivalenz und 'weiche' Bipolarität der mythischen Struktur mündet so in
die Polarität sozialer Rollen und damit in die Spaltung der Strukturen in
oppositionelle Paare: die Diachronie erschafft somit erneut die Synchronie. Das
bedeutet, dass die strukturgenerierende Situation und die sie begründende
Invariante durch Verdoppelung aus der Ambivalenz gehoben wird, um
schließlich als getrennte Gegenstände zu erscheinen. So läßt sich z.B. die Frau
von dem Mann abtrennen und der Tag von der Nacht, der Feind vom Freund,
oben von unten.
Jeweils eine Hälfte der ursprünglich ambivalenten Struktur wird negativ und die
andere positiv markiert. Auf diese Weise werden die beiden Mengen der
positiven und der negativen Gegenstände und Zustände erzeugt. Im Verlaufe
dieser 'Entmischung' bilden sich eigenständige Bereiche (die Semiosphären), die
sich aus internen Energiezuständen und Spannungen speisen.
Alle Semiosphären in der zweiten Wirklichkeit basieren auf polaren
Gegensätzen, auf Begriffs- oder Gegenstandspaaren, die als Oppositionen
gesehen werden. Jede Ambivalenz (oder auch alles (noch) nicht Verstandene,
d.h. das 'Nicht-Entmischte) wird hier als 'fremd', 'bedrohlich', 'heilig' oder
'andersartig' empfunden und als 'Null-Code' behandelt. Nur Dasjenige, das nach
jeweils konsensueller Auffassung als 'entmischt', als 'paarig auftretend'
verstanden werden kann, das was man im Schlaf beherrscht, gilt als codiert. Es
gibt daher nur die beiden Zustände 'Null' (nicht codiert) und 'Zwei' (paarig
auftretend, d.h. positiv markiert/negativ markiert), also den nicht-codierten und
den codierten Zustand. Alles, was in den Bereich des Konsensuellen gerät, wird
früher oder später mit einem Wert belegt und von dem 'Dialog' der 'Gegensätze'
(eigentlich ein innerer Monolog) miterschlossen. Hierbei geht es um einen
Einbezug des Neuen, Anderen oder Fremden in den habermasschen Bereich
sogenannter 'konsensueller Wahrheit'. Diese nicht-operationellen Codes dienen
der Aufrechterhaltung des synchronen Milieus einer Semiosphäre. Es ist nun
aber so, dass wir nach Kuper (1993) eine zweite Sorte von Codes, die
Operationscodes, von den eben genannten zu unterscheiden haben.
Die Lokalität der Semiosphäre wird aber nicht durch die Operationscodes
erzeugt: "Die Operationscodes unterscheiden sich von anderen kulturellen
Codes dadurch, dass die nicht operationellen Codes der Strukturierung und die
Operationscodes der Umgestaltung, Umbildung beziehungsweise Handhabung
dieser Strukturen dienen. Operationscodes enthalten Regeln, die bestimmen, wie
man von einer Code- oder Textstruktur zu einer anderen übergehen kann."
(Kuper 1993:24)
Was Kuper hier anspricht, ist die Unterscheidung von Semiosphäre (System)
und Semiose (Struktur), von der ich in diesem Aufsatz ausgehe. Im Folgenden
führt Kuper aus, dass der kulturelle Inversionscode zu den Operationscodes
gehört, "der die Handlungsanweisungen zur Durchführung von
Verkehrungsaktionen vorgibt. Der Inversionscode ist einer der radikalsten
Typen unter den Operationscodes, regelt er doch den völligen Austausch der
Alienne Laval
Pole binärer Oppositionen. Die Inversionsoperation selbst funktioniert als eine
der radikalsten Lösungen von allen möglichen Operationen an den Strukturen
von Codes und Texten." (Kuper 1993:24)(48)
"In der Inversion kann man den in der zweiten Wirklichkeit ersonnenen
radikalen Versuch sehen, die ungünstige Position des Menschen in seiner
Lebenssphäre angesichts der stets bedrohlichen Asymmetrie der
Weltgegensätze zu verändern beziehungsweise vorübergehend zu
beseitigen. Bei der Inversion handelt es sich um eine kulturell codierte
Operation; das heißt, das sie nach bestimmten Regeln funktioniert. Es gibt
keinen Lebens- oder Gegenstandsbereich, der in der zweiten Wirklichkeit
nicht der Inversionsoperation unterworfen werden könnte." (Kuper
1993:24)(49)
48 Die radikalste Lösung scheint nach Kuper ( 1993:24 Anm.25) in der Eliminierung des
einen Pols der Opposition zu liegen. S.a. Rösslers Vorschlag künstlicher Welten im
Computer, für die Strahlung, Gravitation etc. (Rössler 1992:111) nicht zu gelten bräuchten.
Wie will Rössler eine Welt ohne Reste und Ränder inszenieren - und wenn es auch nur Reste
oder Inversionen der Gedanken sind, die zum Bau einer solchen Welt geführt haben? Das
schwerelose Schweben als Inversion der Erdanziehung war auch schon vorstellbar ohne den
Flug ins All.
Im Vorfeld der Kulturevolution werden zunächst die Dinge (die Objekte der
Außenwelt) in strukturale Merkmale gegliedert. Assoziative Reihen sind es, die
das Rauschen in den Ohren mit dem Rauschen des Wasserfalles analog werden
lassen und so eine strukturgenerierende Situation schaffen können.
Die Dinge der Außenwelt erzeugen so Objekte der Innenwelt und letztlich
(gedachte) Systeme als 'Metaobjekte' und Semiosphären. Ausgangspunkte sind
aber immer strukturale Merkmale, die sich als Achse von den 'Dingen' bis zu
den 'Semiosphären' erstrecken.
Die Komplexität der Erscheinungen scheint die Dinge 'an sich' zu zeigen, aber
als lose nebeneinandergestellte Sachen, die miteinander wenig zu tun haben. Es
sind Zeichenprozesse, die auch die strukturell enfernten Dinge miteinander
verbinden; dies ist aber möglich, indem diese Prozesse in einfachere
Verwandlungen zerlegt werden, die mit den menschlichen Vorstellungen
vereinbar sind (Sceglov 1986:367)
Auch wenn die Merkmale der Bezeichnung eine gewisse ethnische Varianz
aufweisen, sind es dennoch 'wahre' Merkmale, denn das universal gültige
Prinzip der Semiose betrifft alle 'Dinge' der ersten und der zweiten Wirklichkeit
Jede Verwandlung ist ein tiefgreifender Prozeß, "der das Strukturprinzip der
Sache, die elementaren Differenzmerkmale, aus denen sie besteht, verändert."
(Sceglov 1986:369)
Poincaré (1904) vermutete,
"dass was immer die Gruppenstruktur der Welt sein mag, schon ein
Mechanismus im Gehirn liegt, der es ermöglicht, dass uns diese
Gruppenstruktur nach ausreichender aktiver Exploration zur zweiten Natur
wird." (Rössler 1992:120)
Anders ausgedrückt:
"Nicht jedoch besagen jene Einsichten..., dass die dann erst sekundär zu
anschaulichen Dingen schematisierten Wirkungen und Prozesse nicht von
bewußtseinsunabhängig Seiendem ausgehen." (Schaeffer-Schweizer
1966:106)
"Nur die Zuordnung zwischen Formel und Vorgang muß eine exakte sein,
in der Möglichkeit ihrer Umkehrung und in ihrer Reproduzierbarkeit liegt
die Garantie ihrer Wahrheit." (Schaeffer-Schweizer 1966:106)
Auch und gerade im Prozeß der 'Kultur' und im Kulturvergleich haben sich
'äußere' Merkmale als unterschiedlich polarisier- und wertbar und in Ritual und
Magie als reversibel gezeigt; in der Sphäre der Natur-Technik wird heute noch
der gleiche Kanon der Möglichkeiten angewendet, der aber ob seiner
'technischen Möglichkeiten' in der 'Produktion' von Strahlung, genmanipulierten
Tieren etc. neue Invarianten, die allerdings nicht reversibel sind, schafft.
Nach Anaxagoras (500-425 v.u.Z.) hatte alles seit jeher existiert in einem
invarianten Zustand.
50Nach der hier vertetenen Auffassung sind das in der genetischen Folge die primären und
und dann die sekundären Codes. Zur Problematik und Begründung der Noosphäre und der
Semiosphäre (s.a. Fleischer 1988 u. Lotman 1984; 1990).
Alienne Laval
Tätigkeit des Geistes steht. Anaxagoras stellte sich hierbei keine kreisförmige
oder periodische Bewegung vor, und meinte nach Rössler das, was Birkhoff
(1922) mit dem Terminus Rekurrenz belegte.
"Das Verhalten dieses Unableitbaren wurde hebräisch als 'ul' erfahren, und
man nannte es 'El'. Die Grundbedeutung der Wurzel 'ul' ist: dringen, vor-
dringen, drängen, zunächst völlig neutral im Sinne von anbrechen,
aufbrechen, durchbrechen, vorbrechen eines Wesens. Das El-Hafte bricht
aus einem Ding aus, rüttelt den Menschen auf, erschreckt ihn oder macht
selig betroffen. Meist ist es ortsgebunden. So ist der Berg prävalierter Ort
der Begegnung, wo sich Manifestationen einstellen können. Traum und
Entrückung brauchen da keine materiellen Motive mehr." (Karlinger
1986:186f)
Auch dann, wenn die Nahrung gesammelt, gejagt, zerlegt, geteilt, gegessen,
verdaut und ausgeschieden oder ein verfallendes Lebewesen bei der Auflösung
beobachtet wird, wird die Metamorphose offensichtlich, die auch vice versa, als
Entfaltung, als Inversion des Zerfallsprozesses, denkbar sein müßte. Das
Alienne Laval
analytische Geschehen des Verfalls, der Zerstückelung, wird in einer
primordialen Inversion zur synthetischen Leistung, die die strukturalen
Merkmale vor dem Hintergrund einer besonderen Situation in einem Mythos
unifiziert und somit den Verfall aufhebt und zumindest partiell - in einer
Semiose in der zweiten Wirklichkeit - umkehrt. Mit der Inversion haben wir
somit nicht eine sich bündig und genetisch in einer Reihe aus der Rekurrenz
ableitende Funktion vorliegen, sondern den kulturgenerierenden Übergang von
den rein zergliedernden und zerlegenden Leistungen und Verfahren des
Gebrauchsverhaltens zur allein synthetisch begründbaren Dimension der Kultur.
Für den verfallenden Körper kann alles zum Lösungsmittel werden: Wind,
Sonne, Wasser, Luft, Tiere, Pflanzen, Erde oder technische und
waffentechnische Mittel. So ist es naheliegend, nach gemeinsamen Merkmalen
zu suchen.
Wir haben diesen Zusammenhang durch den nach unserer
'erfahrungswissenschaftlich' begründeten Auffassung primären 'Tastsinn' (alle
anderen Sinne und 'Metaphysiken' sind nach dieser Hypothese Ableitungen) in
den allen Objekten gemeinsamen Atomen und Molekülen entdeckt.(51)
Dieser Zusammenhang läßt sich aber auch auf andere Weise und zwar allein
durch Farbe, Geruch oder Form, aufdecken. In allen 'Kulturen' sind
Klassifikationen dieser Art gültig und am Werke. Verwandtschaftliche
Verhältnisse von Tieren können beispielsweise allein durch die Farbe bestimmt
werden; so sind nach bestimmten Auffassungen alle schwarzen Tiere
miteinander verwandt, was auch ihre Transformierbarkeit vereinfacht. Je
weniger Merkmale zugrunde gelegt werden, desto verwandter erscheinen die
Phänomene der Welt. Ein einfacheres Modell wird also mehr Gemeinsamkeiten
entdecken, als ein komplexes. Ein komplexes Modell ist daher kaum geeignet,
als Operationscode zu dienen. Die Dialektik ist ein archaischer Modus und nicht
der von elaborierten Semiosphären (s.a. Uchtmann 1991), der sie aber von Zeit
zu Zeit durchdringt; kennzeichnend ist, dass dialektische Codes
(Operationscodes) einen hohen Abstraktionsgrad aufweisen müssen, um
entmischend und neu mischend wirksam werden zu können. Wenn sie in jedem
51 Selbst die 'moderne' Chaostheorie ist über den Tastsinn aufgebaut, da sie sich auf die in der
Physik gewonnenen, in der Mechanik, im Labor und im theoretischen Versuch begründeten,
Erkenntnisse und Termini stützt. Die tatsächlich mögliche Spaltung, d.h. 'Zerstückelung', der
synthetischen Einheit Atom, treibt die Analyse weiter. So wundert es nicht, wenn nunmehr
die 'Oberfächen', die Ränder und Randbedingungen also, in den Vordergrund rücken und
'empirisch' untersucht werden sollen. Den Tastsinn für empirisch zu nehmen, ist aber genauso
absurd wie eine unterstellte Empirie eines jeden anderen Sinnes. Sinnliche Erfahrung ist
schon immer mit Vorstellung verbunden. Im Kulturprozeß kommt anderen Sinnen
ontologischer Status zu, z.B. dem 'Sehen', dem 'Hören', dem 'Denken' usw., also auch Kunst
und Musik. Das sind Sinne, die - wie alle Sinne - primär nicht gegeben sind und sich nicht
zwangsläufig ausbilden und ausbilden lassen. Die Reduzierung aller zu synthetischen
Leistungen fähigen Sinne auf eine chaostheoretisch begründete Oberflächen-Welt des
'Tastsinns', kann die weitere Zerstückelung nicht aufhalten.
Alienne Laval
Bereich, von der physikalischen Welt bis zu biologischen Strukturen, gelten
sollen, sind sie auf kleinste, gemeinsame Nenner angewiesen.(52)
Aber erst an die fortgeschrittene, rekurrierende Entmischung, die zum Tode
führt, kann ein solcher Inversionscode angelegt werden, der eine neue Synthese
ermöglicht.(53)
Ovid (43 v.u.Z - 18) beschreibt in seinen 'Metamorphosen' eine Welt, die
gänzlich nach rekurrierenden Prinzipien funktioniert.
Die Geschlossenheit seiner Semiosphäre erreicht er dadurch, indem keine
Unbekannte durch eine andere Unbekannte bestimmt wird:
"ist ein Modell dieser Sache, ihr Symbol und ihre Strukturformel."
(Sceglov 1986:359)
Ovids Reduktion der Phänomene bis auf eine Ebene gemeinsamer Merkmale
kommt mit abstrakten räumlichen und physikalischen Begriffen, wie
Krümmung, Vakuum, Härte, Flüssigkeit, Ausgedehntheit usw. aus.
"Dass diese Anzahl von Begriffen begrenzt ist im Vergleich zur Vielfalt der
Gegenstände aus der realen Welt, die sie beschreibt, läßt sich daraus
ersehen, dass die gleichen Epitheta bei der Benennung verschiedener
Gegenstände wiederholt werden. Viele, sogar sehr unterschiedliche Sachen
und Sachteile erhalten dasselbe Merkmal und werden auf diese Weise
miteinander verglichen." (Sceglov 1986:361)
52 In dem Schema der Chaostheorie weisen das Entstehen eines Unwetters auf hoher See und
die Bildung eines Tumults in einer Menschenmenge Ähnlichkeiten auf. Parallelen zu
philosophischen Systemen, nach denen z.B. der Flügelschlag eines Schmetterlings Gewitter
auslösen und das Ausrupfen eines Grashalms zum Erlöschen eines Sterns führen können,
bieten sich hier an.
53 Für den Christenmenschen ist es Jesus Christus, der den Tod überwand, auferstand und zu
einer synthetischen Einheit mit Gott verschmolz. Die höchste synthetische Einheit der
christlichen Epoche findet sich daher in Jesus/Gott. Die nordische Mythologie erkannte diese
Einheit in Odin/Wotan. Ovid war durch die politischen Umstände seiner Zeit gezwungen,
diese Einheit in Augustus/Jupiter - nicht ohne Zynismus - zu sehen.
Alienne Laval
"Nach dem Merkmal der Hohlstruktur erweisen sich Trinkgefäße, Schilf,
die Glieder des Froschs und die Falten des Greises ähnlich." (Sceglov
1986:361)
"Die in der Mitte sich zieht ist nicht bewohnbar vor Hitze; zwei deckt
mächtiger Schnee; zwei legte er zwischen die beiden, denen er Mäßigung
gab, mit der Glut die Kälte vermengend."(55)
54 Auch die Grundlage der sogenannten 'naturalistischen' oder der 'realistischen' Malerei ist
eine Abstraktion, nämlich die Reduzierung des Gesehenen auf die für die Perspektive
wesentlichen Strukturmekmale, die dann zu einer Projektion des Konkreten - zur Schaffung
einer 'neuen' Welt, einer neuen Komplexität - verwendet wird.
55 Interessant ist die Feststellung, dass die physische, äußere Kugelgestalt der Erde, auf deren
Oberfläche wir leben, noch gar nicht so lange eine anerkannte Tatsache ist. Abgesehen von
dem Faktum, dass die Biosphäre - aus unserer Vogelperspektive betrachtet - diese
Oberflächenkrümmung mitmacht, sind Noo- und Semiosphäre wohl eher als 'Hohlkugeln', in
denen wir leben, zu denken. Auch die modernen, astrophysikalischen Annahmen wiederholen
das Motiv des Universums als einem belebten Innenraum. Dies ist aber eine archaische
Vorstellung, die an das Modell der dreigeteilten Welt anknüpft, das sich, von schamanischen
Kulturen ausgehend, in indischen, persischen usw. Weltmodellen und im europäischen
Mittelalter sowie in Märchen findet. Der kardinale Unterschied ist der, dass wir den Bereich
der 'Mittelerde' nicht mehr als flach und 'tellurisch' begreifen, sondern als kugelförmig. Ovid
hat offensichtlich den strukturalen Aufbau der Semiosphäre auf die Oberflächengestalt einer
Alienne Laval
In den Metamorphosen
"Wenn es heißt, dass der Stein 'fest' und 'formlos' ist, wird man dadurch auf
den Gedanken gebracht, dass es auch weiche Gegenstände gibt und solche,
die eine Form haben. Der ganze Effekt der Ovidschen Metamorphosen
besteht darin, dass die Dinge einander unähnlich sind und sich gleichzeitig,
da sie miteinander verglichen werden können, leicht ineinander
verwandeln. Das Epitheton, das die Objekte so verschieden macht (z.B. den
Menschen mit geradem Rücken, den Delphin mit gebogenem), dient
gleichzeitig auch als Brücke von einem Objekt zum anderen." (Sceglov
1986:366)
Kugel projeziert, die psychische Hohlkugel sozusagen auf eine physische Kugel übertragen.
56Z.B. kann schon ein Faustkeil oder Schaber für die verschiedensten Tätigkeiten verwendet
werden. Er 'beschreibt' damit also unterschiedliche 'Objekte' auf die gleiche Weise.
Alienne Laval
wieder offen dar, so dass sie gezwungen ist, sich auf ihrer Strukturebene zu
äußern, wobei dann die Rekurrenz als analytisches Mittel und der
Inversionscode als Input eines Gegen- oder Antimodelles fungieren kann.
Wenn aber - und von dieser Prämisse wird in diesem Aufsatz ja ausgegangen -
Rekurrenz und Inversion die treibenden Kräfte im Prozeß der Evolution sind,
dann haben wir in diesen Semiosphäreen ideologische, antievolutionäre
Konstellationen vor uns, wenn sie nicht einer rein pragmatischen Orientierung,
wie es die Aufnahme aufklärerischer und humanistischer Grundsätze in den
staatlichen Verfassungen vorsieht, dienen.
Die jeweils gültige Stufe der Rekurrenz, denn die initiale Inversion wird in der
Semiosphäre zur Rekurrenz, kann erst vor einer Folie, einer Querschnittsfläche
durch den Fluß, deutlich werden. Das 'Jetzt' der Querschnittsfläche ist bestimmt
durch reine Quantenmechanik. Diese wird konstituiert durch sich gegenseitig
aufhebende, widersprüchliche Bewegungen und ist auf rein formale Weise
logisch. Erst durch das Anlegen einer 'Skala' wird Bewegung denkbar. Die
Alienne Laval
Vision hebt hinaus aus dem 'reinen' Raum und ermöglicht Wertungen, Ziele und
Modelle.
Deshalb kann Lévi-Strauss (1968:269) auch sagen:
"Theoretisch, wenn nicht gar praktisch ist die Geschichte dem System
untergeordnet."
Es sind eben nicht nur bewußte Kontrollriten, wie Lévi-Strauss annimmt, die
Synchronizität gewährleisten; sondern auch die 'Krümmung der Semiosphäre in
sich selbst' gewährleistet solches. Derartige Mechanismen, die auch als 'strange
loops' (Möbiusschleifen, paradoxe Repräsentationen) bezeichnet wurden,
bestimmen die Abläufe an den 'Rändern' der Semiosphären und koppeln sie mit
den heimischen Feuerstellen und Herden. Ähnlich wie in einer
Geister-/Achterbahn befördern sie den Fahrgast bis zum Rand und zurück in die
soziale Sicherheit.
Die
Von der Semiosphäre aus betrachtet ist die Grenze oder der Rand, an dem die
Unordnung, das Chaos beginnt, der Bereich, in dem ihre Möglichkeiten enden.
58 Es ist bedauerlich, dass Lotman häufig von Kernstrukturen, nun aber von im Kern
befindlichen semiotischen
Systemen spricht. M.E. kann es im Kern der Semiosphäre gar keine wirksamen Strukturen
geben, da diese nur in der Semiose plausibel sind. Die Strukturen (die Unregelmäßigkeiten)
sind in der 'ideellen Einheit' (dem System) zugedeckt, die mit festen Begriffen und
Oppositionen agiert. Der Begriff 'Kernstruktur' sollte daher als 'Kernsystem' gelesen werden.
"Unter Selbstbeschreibung des Systems wird die 'Beschreibung aus dem inneren
Gesichtspunkt heraus und in den Termini, die im Prozeß der Selbstentwicklung der gegebenen
Semiosphäre ausgearbeitet wurden', verstanden." (Fleischer 1989:153, Lotman 1984:12f)
Alienne Laval
"Die Grenze hat aber auch noch eine andere Funktion in der Semiosphäre:
Sie ist das Gebiet der beschleunigten semiotischen Prozesse, die immer an
der Peripherie des kulturellen Raumes aktiver verlaufen..." (Lotman
1984:11; s.a. 1990:293)
Präziser ausgedrückt - und im Rahmen dieses Aufsatzes - heißt das, dass erst
hier semiotische Prozesse, Semiosen demnach, stattfinden können.
Durch 'Inversionen' können sie rückbindend wirken, weil sie jede
gesellschaftliche oder individuelle Position oder Bewegung mit ihrer Antipode
koppeln und über das traumhafte oder albtraumhafte Erleben des anderen Pols
soziale sowie kognitive Kohärenz und den Bestand der Semiosphäre
gewährleisten.(59)
Die Semiosphäre stabilisiert sich über die Randphänomene und ihre Inversion
keineswegs ausschließlich, sondern die Mittel ihrer Stabilisierung und
Destabilisierung sind exakt die gleichen:
"Die Kultur stellt nicht nur ihre eigene Organisation, sondern auch ihren
Typus der äußeren Desorganisation her." (Lotman 1984:11; 1990:293)
Von hier aus können die Semiosen die Kernsysteme erreichen und sie
verdrängen. (Lotman 1984:11; s.a. 1990:293)
Die Kernsysteme bauen sich wiederum nach einem bestimmten Schema auf:
"...von den mythischen Helden kann man wahrhaftig sagen, dass sie
zurückkommen, denn ihre Realität liegt in ihrer Personifizierung; aber die
lebenden Menschen sterben für immer."
In den Toten- und Todeskulten verkörpert sich die Ordnung der Zugehörigkeit,
die dauerhafte Bindung an die Gruppe, an die man selbst im Tod noch gebunden
bleibt (Macho 1991:507). Diese Bindung ist aber die rituelle Bindung an die
Semiosphäre, die restlose Zergliederung/Zerstückelung und universale
Kommensurabilität fordert.
Das 'Leben' befindet sich sozusagen zwischen den externen Merkmalen des
Todes und den internen Merkmalen des Traumes, wobei nur die Semiose über
den Mythos das Externe mit dem Internen verbindet und den Bruch überwindet.
"so wirkt sich das deshalb unverzüglich in verzehnfachter Form auf die
konkreteren Ebenen der Dinge aus und ruft hier eine ganze Skala
verschiedenartigster Veränderungen hervor. Zugleich verändert sich die
Sache in zehnfacher Hinsicht, sie verläßt einen Bereich und findet Platz in
einem neuen...Bei einer Metamorphose verändert sich die ganze Gestalt
einer Sache bis hin zu den kleinsten Details. Sie kann der ursprünglichen
Form völlig unähnlich werden." (Sceglov 1986:369f)
"dass die Metamorphose in der normativ ausgelegten Welt Ovids immer als
Mittel zur Wiederherstellung des Gleichgewichts dient, das an einzelnen
Stellen dieser Welt zerstört worden ist."
Wenn wir aber von dem Grundsatz der Asymmetrie der kulturellen Codes
ausgehen, dann schafft jedes Gleichgewicht nach dem Evolutionsprinzip neues
Ungleichgewicht und sprengt per Inversion irgendwann den Rahmen der
Semiosphäre durch Einbeziehung neuer Faktoren und anderer Strukturelemente.
Deshalb ist es forschungsrelevant, das Augenmerk vom Erhalt von Ethnizität
und Semiosphäre hin zur diachronen Dimension der Semiose zu lenken. Die
Erlangung eines Gleichgewichts wird dann zwangsläufig zu einem fiktiven
Geschehen des ritualisierten Bereiches oder der Inversion. Auf der anderen Seite
aber lassen sich auf dieser Basis Werte konzipieren, die in irgendeiner Zukunft
gültig sein könnten. Nichts desto weniger geben aber die invertierenden,
semiotischen, evolutiven Tätigkeiten und damit die Operationscodes, die
Richtung vor, in die es gehen kann. Derartige Untersuchungen müssen sich dem
Randgeschehen zuwenden, das die Kerne transformieren kann.
Eine Strategie oder ein Programm der Zukunftsbewältigung, das im Rahmen
einer festgelegten Schwimmstrecke 'abgearbeitet' werden und in dem obendrein
ein 'Sieg' errungen werden kann, kann das nicht sein, denn Strategie und
Programm sind nur möglich mit einer Zielvorgabe innerhalb eines Systems.
Alienne Laval
In der vorliegenden Interpretation wurden der Tod und seine initiale Erfahrung -
und das impliziert auch Initiation - in den Mittelpunkt gerückt; er wurde zum
Fixpunkt, zum Nagelstern, um den die ganze kosmische Sphäre sich dreht. Alle
Erscheinungen haben dieses, sich in den Köpfen findende, 'schwarze', Himmel,
Erde und Unterwelt verbindende, 'Loch', zum Eintritts- und Ausgangspunkt.
Dieses Loch läßt sich mit Bergen, Bäumen, Weltenbäumen, Seelen, Licht und
Sternen - auch in anderer Sichtweise als heute - füllen, denn Semiose bedeutet
Transformation.
Kovariant/invariant wird aber immer der Tod zur primordialen Struktur und zum
universalen Lösungsmittel, in die das 'ul' sich durch die Invarianten der ersten
Wirklichkeit drängt, um die sich andere Strukturen ranken und langsam neue
Objekte, Systeme und Semiosphären bilden. Der Tod selbst ist kein System; er
ist der Übergang des Komplexen ins Abstrakte bewußt gewordener strukturtaler
Merkmale.
Seine Uferlosigkeit muß gebannt werden, indem die Strukturen in Systemen (am
heimischen Herd) ihre Begrenzung und ihren Sinn finden. Heute sind es noch
immer die Ideologien, die schwammig und schwer durchschaubar genug, durch
proklamierte Vollständigkeit den Ausgleich versprechen und durch Begrenzung,
selbstbestimmte Einschränkung und Repression Unregelmäßigkeiten erzeugen,
aufwerfen und thearapieren/vernichten. Es ist die Reduzierung auf eine
konsensuelle Wahrnehmungsweise und der sozial verstärkende, geübte Umgang
mit der Inversion, die Akzeptanz des synchronen Codes, die zum
selbstverschuldeten, dummen Glück innerhalb des Systems einer
gemeinschaftlichen Ideologie führt.
60 Die rein technische Umsetzung ist schon deswegen ein Problem, weil sie auch ohne
individuelle Erkenntnis angewendet werden kann. Eine initiatorische Erkenntnis ist nicht
mehr Voraussetzung.
Alienne Laval
Ohne die Semiose verlieren die Semiosphären ihre Anbindung an die sie
generierende Noosphäre der zweiten Wirklichkeit. Sie halten sich dann für mit
der ersten Wirklichkeit identisch und empfinden sich gleichsam als Abbilder
eines natürlichen Geschehens, zu dem sie aber keine Verbindung mehr haben
und parallel existieren. Im Sinne Baudrillards (1982) könnte man von solchen
Semiosphären als 'Simulakren' sprechen, da sie keine Referenten mehr haben.
Diese Simulakren sind es, die sich schizophren von ihrer Traumzeit entkoppeln,
die nur durch den individuellen Initiationstod zugänglich ist: der semiotische
Zugang zum Traum wird durch den Tod markiert.
Der Überstieg zur zweiten Wirklichkeit, der die Bildung der Semiosphären im
Gefolge hat, ist ein strukturaler (z.B. das Austreten der Schamanenseele als
Schlange) - obzwar an ein empirisches Ereignis (den Tod) gekoppelt -, der sich
aber empirisch nicht deuten läßt.
Jede hier geschaffene Einheit, jeder Begriff ist eine synthetische Leistung, wie
die durch die Initiation errungene, bewußtseinskontinuierliche und luzide Seele.
Erst diese Seele kann in den Abgrund, die Spalte zwischen den Welten, den
Abyssos springen, da sie, wenn einmal errungen, ein untilgbarer Rest ist.
Semiose, Kulturprozeß und Synthese sind auf die Überbrückung des 'Spaltes'
angewiesen: während die Semiosphären die Spaltung leben, überbrückt der
Schamane die Spalte.
Für uns in unserer rationalen, magisch-lyrischen Welt der Kernspaltung,
Gentechnik, Arztromane, Milchmädchenrechnungen, des Öko-Stumpfsinns der
Mogelpackungen und TV-Banalitäten findet sich die Achse im Chaos der
Massenwirkung in den undurchschaubaren und sogenannten 'strange attractors'
der Chaosforschung.
Es sind nicht die Pole 'Heilig und Profan' (Eliade), die in Mythos, Ritus und
Semiose aufeinandertreffen, sondern Struktur und System. Das System in seiner
unbewußten Geschlossenheit bemerkt die Strukturen nicht, die es generieren. Es
ist sich der Strukturen zwar bewußt, aber ihrer nicht selbst-bewußt.
Ihrem, dem Tode nahen und im Tode fußenden, ambivalenten Mysterium
(fascinans/tremendum) gilt es auszuweichen, um den zyklischen Bestand der
geschlechtlichen Polarität, der Gemeinschaft und des Krieges zu sichern.
Externe wie interne Strukturen - die unbekannten Beweger der Systeme -
ängstigen, obwohl in allen 'profanen' Systemen des Wachzustandes die
strukturalen Invarianten des Kulturprozesses mitschwingen. Es sind diese
Wurzeln (und damit auch das Motiv des Weltenbaumes als axis mundi), die im
geschichtlichen Verlauf als Mittel des Wissens tabuisiert und zum nächtlichen
Alienne Laval
Beiwerk der Systeme wurden oder vom Spiel zum Sport profanisierten. Es sind
aber genau die Tiefenstrukturen, die erst einen tatsächlichen Zugang zu den
Kulturen eröffnen. Jeder Betrachter kann zwar ein Objekt, ein Bild oder ein
beliebiges System genauestens beschreiben, einen Text auswendig dahersagen
oder ein beliebiges Modell mit Leben füllen, muß aber nichts über ihre Inhalte
auszusagen vermögen. Der 'Sinn' erschließt sich erst über eine Kenntnis
zumindest der textinternen Strukturen (s.a. Bystrina 1989:116f).
"Nach allen bisher bekannten Belegen und den systematischen Verbindungen
müssen wir annehmen, dass der Mensch ursprünglich nicht in unbeweglichen
Oppositionsbegriffen gedacht hat, sondern dass für ihn sowohl binäre
Oppositionen als auch komplexe Strukturen (Triaden etc.) dynamische Gebilde
bedeuteten. Es gab z.B. kein Oben und Unten an sich, keine begrifflich-statische
Opposition oben/unten, sondern Prozesse, in denn sich die Opposition
realisierte: Verbindungen und Überwindungen, Entfernungen und
Annäherungen, Entstehen (Schöpfung) und Untergang, Himmelfahrt und
Unterweltfahrt, (ewiger) Kampf und zeitweilige Harmonie zwischen den Polen."
(Bystrina 1989:243)
Gerade in der Zukunft werden wir erneut angewiesen sein auf die individuellen
Fähigkeiten zu Semiose und Transformation und können uns angesichts der
selbst inszenierten Probleme und der Schaffung neuer Invarianten keine
statischen Systeme mehr leisten.
Alienne Laval
Verwandlung und Entwandlung
zur Kulturgeschichte einer Opposition
Die Fähigkeit des Menschen zur Verwandlung ist eine der grundlegenden
anthropogenetischen und kulturellen Leistungen. In rezenten, autochthonen
Ethnien hat sie sich erhalten in den kollektiven oder schamanischen Kapazitäten,
Träume und ekstatische Zustände hervorzubringen; in den industrialisierten
Gesellschaften ist sie in der Regel in massenmedialen, musikalischen,
sportlichen, sexuellen oder drogeninduzierten Ereignissen und im Konsum
kanalisiert.
Mit der Entwicklung komplexerer Gesellschaften wurde aber auch eine
Opposition zur Verwandlung fabriziert, die als Entwandlung bezeichnet werden
kann. Während die Ekstase aus der Befähigung zum 'Außer-Sich-Sein' gespeist
wurde, referierte die Entwandlung auf die Erschöpfung und den Zustand des 'In-
Sich-Seins'. Die Manipulation dieses Feldes zwischen Anspannung und
Entspannung - beides sicherlich prähumane Optionen - ist eine wesentliche
Grundlage jeder gesellschaftlichen Steuerung und wirkt damit auf Geschichte
und Kultur formierend.
Durch Verwandlungsverbote und -gebote wird nicht nur der semiotische 61
Aufbau der Gesellschaften geregelt, sondern auch die kognitiven Beziehungen
61 Semiotik = Lehre von den Zeichen, den Zeichenprozessen (Semiosen) und den
Zeichenräumen (Semiosphären). Erste nachgewiesene Verwendung des Begriffes Semiotik
durch den griechischen Arzt Hippokrates. Hippokrates (ca. 460 bis 370 v.u.Z) bezeichnete die
von ihm entwickelte Symptomatologie als Semeiologie, als Lehre von den Krankheitszeichen.
Darin stellte er u.a. fest, dass die Krankheitszeichen unabhängig von Hautfarbe und
ethnischen Merkmalen bei allen Menschen gleich sein und gleich gedeutet werden müssen.
Ein weiterer griechische Arzt, Galenos (Galen) (130 bis ca. 200), bestimmte die Semiotik als
jene der sechs Hauptabteilungen der Medizin, die sich mit der Diagnostik (dem Hier und
Jetzt), der anamnetischen Vergangenheit (Fallgeschichte) und der prognostischen Zukunft
befassen müsse. Auch John Locke (1632 bis 1704), der 1690 den Begriff Semiotik für seine
Erkenntnislehre nutzte, war eigentlich Arzt. Giambattista Vico (1688 bis 1744), ein Kritiker
Lockes und Descartes, forderte in seiner Schrift De antiquissima Italorum sapientia (1709)
eine semiotische Fundierung der ‘Humanwissenschaften’: “ich, der ich denke, bin Geist und
Körper: und wenn das Denken die Ursache dafür wäre, dass ich bin, so wäre das Denken
Ursache des Körpers. Nun sind es aber die Körper, die nicht denken. Also: weil ich aus
Körper und Geist bestehe, deshalb denke ich; so ist die Tatsache, dass Körper und Geist
verbunden sind, der Grund des Denkens: denn wenn ich nur Körper wäre, dächte ich nicht,
und wenn bloß Geist, würde ich einsehen. In der Tat ist nämlich das Denken nicht der Grund
dafür, dass ich Geist bin, sondern das Zeichen...”
Alienne Laval
zu diesem Aufbau und zur Umwelt werden onto- und phylogenetisch durch
diese Setzungen bestimmt.
Es soll nun versucht werden, anhand verschiedener Beispiele und theoretischer
Überlegungen die Evolution der Opposition Verwandlung - Entwandlung zu
konturieren.
62 Narration bedeutet im semiotischen Sinne nicht nur den Erzählakt und dessen orale oder
schriftliche Tradierung, sondern kann sich auch auf gestische, mimetische, musikalische,
künstlerische und andere gestalterische Leistungen beziehen.
Alienne Laval
Die zunächst flexible, orale und erst spät schriftlich fixierte und damit fast
unwandelbar gewordene Tradition dieser Fähigkeit findet sich noch heute in
unseren Märchen, in denen diese urtümliche Kapazität prinzipiell fortlebt. Im
Anschluß an Heino Gehrts (1967) läßt sich folgern, dass das Märchen die Form
ist, die der ursprünglichen, bewegungsgebundenen Lebensweise der frühen
Menschen am nächsten kommt. Das Märchen ist eine Verlaufsform, die sich
struktural auszeichnet. Es gibt dabei kein fertiges System, in das sich eine
Handlung einfügen würde; die Figuren sind Objekte der Verlaufsform, aber
keine Helden im Sinne der späteren Formen des Mythos oder der Sage. Sie sind
also keine handelnden Charaktere oder psychischen Subjekte in unserem
(modernen) Sinne.
Diese 'Inhaltslosigkeit' wird aber wettgemacht durch einen transformativen
Prozeß, der die jeweilige Umgebung oder die Welt in den Text und somit
kognitiv in den Handlungsverlauf einbezieht. Die Transformationen erzeugen
immer neue Wandlungen der Figuren und Landschaften - oder zunächst: die sich
wandelnden Landschaften und Ereignisse erzeugen immer neue
Transformationen der Figuren und erfordern damit andere Verwandlungen. (s.a.
Uchtmann 1995:14)
II
Die Bestimmung dieser Mitte, also der Semiosphären, hat sich im Verlauf der
Kulturevolution diachron verändert und auch die synchronen menschlichen
Gesellschaften haben kein einheitliches Bild davon, wie diese beschaffen sein
sollten. Die globale Durchsetzung eines bestimmten Typus von Semiosphäre hat
indes nicht unbedingt etwas mit Verbesserung oder gar Evolution zu tun,
sondern ist auch abhängig von den jeweiligen technischen und ökonomischen
Möglichkeiten und dem damit verbundenen Machtpotential. Bystrina zeigt jene
Opposition und den zentralen Code auf, die in den aufgeklärten,
Alienne Laval
wissensbasierten Zivilisationen im Ideal gelten. Es findet sich hier allerdings
auch das Feld, in dem sich Ideologien, soziale und psychische Traditionen,
Ökonomie, Politik, Religion, Kult, Technik, Esoterik, Utopie usw. tummeln,
durchzusetzen versuchen und auch durchsetzen können.
Der Grund für diese Möglichkeit ist darin zu sehen, dass der kulturevolutionäre
Ursprung der elaborierten und aufgeklärten Opposition Distanz / Engagement,
die unseren sozialen und individuellen Spielraum gewähren und zulassen soll, in
der wesentlich älteren und urtümlicheren, der von Verwandlung und
Entwandlung - mit der sie genetisch (d.h.: entwicklungsgeschichtlich), diachron
und evolutiv verbunden ist -, zu suchen ist. Unsere elaborierte Opposition gäbe
es gar nicht und sie würde auch nicht funktionieren, wenn sie nicht diese
archaischen, kulturellen Wurzeln, aus denen heraus sie sich entwickelt hat,
besäße, die uns nur zum Teil bewußt, aber dennoch semiotisch wirksam sind.
Die urtümliche Verwandlung ist der Vorfahre des Engagements und die
Entwandlung derjeniege der Distanz; ihre jeweilige genetische Verbundenheit
wird deutlicher, wenn wir das Paradigma unseres kulturellen Codes genauer
betrachten:
Bei dem einen, dem Schamanen, wird (die Verwandlung) bis aufs äußerste
gesteigert und bis ins letzte ausgenützt, beim anderen, dem König, wird sie
verboten und unterbunden, bis er völlig erstarrt... Das Statische dieses Typus,
dem die eigene Verwandlung verboten ist, obwohl unaufhörlich Befehle von ihm
ausgehen, die die anderen immerzu verwandeln, ist in das Wesen der Macht
eingegangen, und die Vorstellung, die der moderne Mensch von ihr hat, ist auf
entscheidende Weise davon bestimmt worden. (Canetti 1980:428f)
Alienne Laval
III
Heute ist die Moderation für große Teile der Bevölkerung von Kindesbeinen an
ein massenmediales Ereignis, und der Moderator ist noch als ein Leiter von
Fernseh- und Radioveranstaltungen bekannt; doch auch Nachrichten- und
Tiersendungen, Spielfilme aller Couleur, Serien, Talkshows, Werbung,
Dokumentationen usw. wirken moderierend. Aufgabe der Moderation ist es,
Distanz und Engagement nach den jeweils gültigen Regeln auszupendeln. Was
hier aber tatsächlich moderiert, also in Konzepten vorgestellt, verwaltet und
bestimmt wird, ist der Verwandlungshaushalt der Rezipienten.
Nicht nur bei der Jagd um Einschaltquoten ist diese Form der Moderation
gezwungen, Tabus zu brechen und Grenzen zu überschreiten (bzw. ganz ohne
sie auszukommen)63, um thematisch interessant zu bleiben oder den Rezipienten
etwas Neues und Attraktives zu bieten. Ebenso gilt es, die Rezipienten
entsprechend ökonomischer, politischer, modischer etc. Vorgaben und
Erfordernisse semiotisch zu steuern, also zu Kritik, Anpassung, Lethargie,
Angst, Euphorie, Lust etc. zu bewegen.
Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Orientierungslosigkeit, in Phasen der
Umwälzung oder an sogenannten Epochenschwellen, werden aus den
Moderatoren damit Grenzverletzer und Entregeler, die je nach Bedarf und den
opportunistischen Regeln des Marktes und der Medien Distanz reduzieren und
(..) im großen und ganzen bestimmt viel nüchterner, 'realistischer' als seine
Vorfahren oder auch die noch Überlebenden aus den Naturvölkern (ist), die -
auch als Erwachsene - dem Vortrag alter Mythen begeistert zuhören, (...) nimmt
die Bedeutung der zweiten Wirklichkeit in unserem Leben ständig zu: die
profane erste Wirklichkeit des Alltags und des Berufs schwimmt auf den stets
steigenden Wellen der Medienträume.
IV
Der Rundfunk - als moderne Form der Moderation - hat momentan Anteil an
einem Prozeß der Potentialisierung, der von der Ökonomie ausgeht. Der Raum,
in den diese Potentialisierungen münden sollen, deutet sich mit dem Cyberspace
- einem Hyper- oder Subraum der Spiele und der Träume - inzwischen bereits
an.
Aus einer anderen Richtung kommend trifft das Internet, wo besondere
Einspeisungen neuerdings als Rundfunk definiert werden, auf diese
Entwicklung. Die Telekommunikationsunternehmen, die Gebühren für die
Nutzung ihrer Leitungen erheben, moderieren nur noch in einem rein
technischen Sinne: sie stellen die Verbindungen her, aus denen sie Kapital
schlagen.
Diese Form der Ökonomisierung würde in letzter Konsequenz allerdings alle
anderen Formen der Moderation überwinden und eliminieren und den
Rezipienten unvermittelt den sich über das Internet immer weiter
globalisierenden und synchronisierenden Medienträumen überlassen. Doch
diese Medienträume wären dann kaum etwas Anderes als eine Wiederauflage
einer ursprünglichen Traumzeit, aus der sich der Mensch durch Märchen,
Mythos usw. erst allmählich herausgeschält hat:
Alienne Laval
Dieser Typ von Welt ist ohne Geschichte. Er existiert wie er ist, unwandelbar
und frei von irgendwelchen Zwängen oder dem Bewußtsein seiner selbst als
einem Selbst. Dies sind die Welten finalen Stadiums, wie wir sie auch in Utopien
angepriesen finden. Dies ist Vicos Ära der schweigenden Götter, es ist die
Traumzeit der Aboriginies, das Eden der Christen, es ist vorbewußt. (Taborsky
1999)
Die Geschichte der Evolution ist eine Geschichte des 'Wettrüstens' zwischen
Räuber und Beute, da die natürliche Auslese der Beute mit den besten
Verteidigungsmechanismen und den Räubern mit den besten Mordwerkzeugen
den Vorzug gibt.
Eine Schildkröte zieht sich in ihren Panzer zurück. Ein Igel sträubt seine
Stacheln. Ein Nachtfalter tarnt sich an der Baumrinde, und ein Kaninchen saust
in den Bau, der zu eng ist, als dass der Fuchs ihm folgen könnte; der Mensch
dagegen war in einem Flachland ohne Bäume wehrlos. Der robustus reagierte
darauf, indem er sich mehr Muskeln zulegte. Wir benutzen unser Gehirn.
Was Chatwin hier beschreibt, deutet einen massiven Wandel in den evolutiven
Strategien der Hominisation an. Während der Homo robustus, ein Vorläufer des
Homo sapiens, ausstarb, weil er im Wettrüsten zwischen Räuber und Beute
unterlag, entschieden sich unsere Vorfahren für Mimesis (Verwandlung,
Tarnung und Mimikry), Märchen und Poeisis und damit für die Einführung
konzeptueller Odnungen. Der Robustus unterlag, weil er nicht imstande war, aus
seiner einfachen Logik des Kampfes und der Konfrontation weitreichendere
Schlüsse zu ziehen, sie in einer konzeptuellen Ordnung zu interpretieren. Die
einzige Form der Verwandlungsflucht, die ihm im baumlosen Flachland mit
wenigen Wasserstellen möglich war, war die in einen Toten:
Man hofft, dass man als Toter losgelassen wird. Man bleibt liegen und der
Feind geht weg. Diese Verwandlung ist die zentralste von allen: man wird so
sehr zum Zentrum, dass man sich nicht mehr regt. Man verzichtet auf jede
Bewegung, als wäre man tot, und das andere entfernt sich. (Canetti ebd.:384)
Diese Form der Verwandlungsflucht nennt Canetti deshalb zirkulär, weil alles
an einem Fleck passiert. Das ist keine Jagd, denn die Beute wird gepackt und
zum Gefangenen gemacht, der sich in sein Schicksal fügen muß.64
64 In den Zeiten der Sklaverei wurde diese Form von der Übermacht genutzt, die auf die
Tötung verzichtete und stattdessen den Versklavten in die Öde menschenunwürdiger und
monotoner Verrichtungen entließ. Auch die Vorstellungen vom Zombie, der getötet, von
außen durch künstliche Mittel wiederbelebt wird und dann abhängig ist, weisen in eine
ähnliche Richtung.
Alienne Laval
Voraussetzung einer Überwindung dieses Zustands und damit der Einrichtung
einer konzeptuellen Ordnung (Semiosphäre), ist jedoch die Entdeckung der
gerichteten Zeit, wie sie das Narrative (Semiose) ermöglicht.
Wie das gemacht wurde, erklärt die Religionswissenschaftlerin Wendy Doniger
O'Flaherty (1984:127) so: das Narrative funktioniert in den Träumen anders als
in den Mythen, da den Träumen ein überzeugender, ursächlicher
Zusammenhang von Ereignissen, also die Kausalität, fehlt. Den roten Faden
einer Handlung ersetzt hier ein Muster von suggestiven Bildern. In Träumen
können keine Beweise geführt werden, da Beweise abhängig sind von der
skelettartigen Struktur des Ursache-Wirkungs-Zusammenhanges, an der es
Träumen mangelt. Mythen fügen den Träumen aber genau jene Struktur hinzu,
die diese Beweise möglich macht.
65Mit den Mythen ist der Mensch dem Traum oder "seinem Kopf entsprungen, wie ein
Verurteilter dem Gefängnis", wie George Bataille es einmal formulierte.
66Auch das freiwillige Opfer späterer Rituale konnte diese Distanz empfinden, die dann als
Nähe zum Göttlichen gesehen wurde.
Alienne Laval
Mit diesem Stadium liegt das vor, was Peirce als ‘Doppel-Bewußtsein’ (1.324)
bezeichnet hat, weil “wir uns selbst bewußt werden, indem wir des Nicht-Selbst
bewußt werden. Der wache Zustand ist ein Bewußtsein der Reaktion; und wie
das Bewußtsein selbst zweiseitig ist, so hat es auch zwei Formen...” (1.324).
(Taborsky 1999)
Der frühe Mensch konnte die Distanz des Ablebens zunächst nur durch Ekstase
überwinden. Gleichzeitig mußte er sich aber auch von den ihn bedrohenden
Merkmalen des diffusen Wechselwirkungshintergrundes entfremden, sie
distanziert konkretisieren, benennen, sich dann wieder wehren und engagieren,
sich in einen durch Mythos und Technik verstärkten Jäger verwandeln. Diese
Inversion des Beuteverhaltens der angstbesetzten Starre war nur möglich über
die Extremform der mimetitsch-narrativen Ekstase, wie sie sich z.B. in den
schamanischen Initiationen und Ritualen lange erhalten hat. Die Narration und
Tradierung dieser Kapazität kann als eine erste Semiose und somit als
kulturemergierend verstanden werden. Die kognitiven Voraussetzungen hatten
sich nun entscheidend verändert, so dass der Mensch selbst sich verwandeln,
mimetisch in die Wesenheiten seiner Umgebung hineinversetzen, diese damit
verstehen, decodieren und überlisten konnte.
Traum und Spiel wurden somit zu den Wurzeln des Kulturprozesses (s.a.
Bystrina 1989), doch erst die Entwicklung stringenter Codeformen wie Riten
und Mythen ermöglichte es, den noch märchenhaft-traumartigen Bereich des
entstehenden Kulturellen zu organisieren:
VI
und:
Die Buchstaben, die für die Buschleute in den Körpern sind, weisen auf einen
märchenhaften Weltzugang hin, bei dem Code und Form, wie später im Mythos,
noch nicht völlig voneinander geschieden sind.
Die Buschleute, so Canetti (ebd.:378) weiter, vollführen saubere
Verwandlungen, die sie nacheinander, zu verschiedenen Zeiten, unternehmen.
Der Körper ein und desselben Buschmannes wird zum Körper seines Vaters,
seiner Frau, eines Straußes, eines Springbocks. Dass er sie alle sein kann, zu
verschiedenen Zeiten, und dann immer wieder er selbst, ist von ungeheurer
Bedeutung. Die Verwandlungen, die sich folgen, wechseln je nach den äußeren
Anlässen. Es sind saubere Verwandlungen: Jedes Geschöpf, dessen Kommen er
spürt, bleibt, was es ist. Er hält sie auseinander, sonst hätten sie keine
Bedeutung...Die eigene Identität, die der Buschmann aufgeben kann, bleibt in
der Verwandlung gewahrt. Er kann dies oder jenes sein, aber dies oder jenes
voneinander getrennt, denn dazwischen ist er immer wieder er selbst. (ebd.)
Die sauberen, in der Zeit organisierten Verwandlungen weisen auf den Zeitpfeil,
die Grundlage narrativer Operationen hin. Canetti (ebd.) nennt die einzelnen,
sehr einfachen Züge, die die Verwandlung bestimmen, Knotenpunkte:
Es sind die hervorstechenden Züge des anderen Geschöpfs, von denen oft die
Rede ist oder die man immer gut gewahrt. Es sind Züge, auf die man achtet,
wenn man dieses Geschöpf erwartet. (ebd.)
Die Jagd ist ein besonderer Fall, denn was man wirklich will, sind Blut und
Fleisch des Tieres.
Die Verfassung, in der man sich befindet, nachdem man es erlegt hat, während
man es nach Hause trägt, ist eine besonders glückliche. Der Leib des getöteten
Tieres, das einem als Beute über den Rücken herunterhängt, ist einem noch
wichtiger als sein lebender Körper. Man spürt sein Blut, das einem die Waden
Alienne Laval
herunterrinnt, man spürt es unter den Kniehöhlen; man spürt sein Blut im
Rücken, und da spürt man auch sein Haar. Dieser tote Körper, den man trägt,
ist nicht der eigene; er kann nicht der eigene sein, denn man will ihn essen.
(Canetti ebd.:379)
Die Vorgefühle des Buschmannes, die sich auf den Springbock beziehen,
enthalten zwei verschiedene Phasen. Zunächst fühlt er das lebende Tier, wobei
sein Körper zu dem des Tieres wird. Später, nach der Jagd, fühlt er das tote Tier
als einen fremden Körper, der dem Jäger nicht mehr entgehen kann. (Canetti
ebd.)
VII
Im Himmel leben die Himmelsbewohner zeitlos und ohne zu altern seit eh und
je in ihrem grünen, wasserreichen Paradies jenseits der westlichen Wolken.
Anders als die Himmelsbewohner waren die mythischen Vorfahren, die unter
der Erde in Höhlungen lebten, nie jung gewesen. Es waren lahme, erschöpfte
Graubärte mit steifen Gliedern, und sie hatten in Abgeschiedenheit ewige Zeiten
durchgeschlafen.
Die einzigen Oberflächenmerkmale der Erde waren Höhlungen, die eines Tages
Wasserlöcher sein würden. Es gab keine Tiere und keine Pflanzen, doch um die
Wasserlöcher ballte sich eine breiige Fülle von Materie - lautlos, blind, nicht
atmend, nicht wach und nicht schlafend - die die Substanz des Lebens oder
sogar die Möglichkeit der Menschwerdung in sich trug.
Alienne Laval
Der Himmel wird als ein ewig gleichbleibender, außerhalb der Zeit befindlicher
Bereich dargestellt; die Bewohner sind ewig jung und kennen weder Alter noch
Tod. Die Ahnen der Erdenwesen werden als alt gezeigt, doch in diesem Alter
befindet sich gleichzeitig die Möglichkeit des Lebens, dessen Prozeßcharakter
angedeutet wird. In der blinden Potenz der Materie gibt es die Chance der
Aktualisierung.
Als die Welt der Menschen aktualisiert war, zogen sich die Ahnen zurück,
besser: sie wurden durch die nun feststehenden Regeln und Namen (Codes) aus
der Welt gedrängt. Ihre aktualisierende Wanderung durch die Welt war
abgeschlossen, ihre Verwandlungsfähigkeit wurde nicht länger benötigt.
Doch die Australier kennen die Technik des Dreaming, mit der sie sich in die
Traumzeit der Schöpfung versetzen und den märchenhaften Traumpfaden, den
Songlines der Alten und ihren Verwandlungen, weiterhin folgen können.
Der Himmel ist nicht durch Menschen besetzbar und die doppelte Geburt
bezieht sich auf die Verbindung mit den Ahnen der Traumzeit, die die Welt
verwandelten und zur Besiedlung durch die Menschen vorbereiteten.
VIII
Auch wenn die Aufteilung des Dorfes in zwei Hemisphären zunächst dazu
gedient haben mag, die differentielle Energie zu erhöhen, um so etwas wie einen
sozialen Realitätseffekt zu erzeugen, so konnte doch im Laufe der Zeit daraus
ein Macht-Ohnmacht-Gefälle entstehen, das semiotisch und ökonomisch
reguliert wurde und keinesfalls von unten überbrückt werden durfte.
67 Auch die norddeutsche Stadt Syke (an der Hache; inzwischen ein kanalisiertes Rinnsal)
z.B. hat noch heute den Lachse fangenden Bären als Symbol (s.a. die Skulptur in der
Fußgängerzone); das Stadtwappen ist die Bärentatze.
Alienne Laval
eine Veränderung oder gar Evolution verhindern möchte. Wie Edwina Taborsky
(1999) ausführt, steht dieses ‘Doppel-Bewußtsein’ (s.a. Peirce 1.324) als eine
dyadische Differenzierung für Liebe, Streit, Spiel, Krieg, Wissenschaft und
Entdeckung.
In den Weltbildern der Buschleute und der australischen Aboriginies ist noch
jeder neugeborene Mensch ein Zwillingswesen.
IX
69 Das Fell des Schamanen hatte noch eine gänzlich andere Funktion: es zeigte die
(mimetische und poetische) Selbstbehauptung der entstehenden Kultur gegen die bedrohliche
Natur, strebte jedoch nicht deren Ersatz an.
71 Zu den Gipfelerlebnissen des Ökonomischen gehört heute eine Besteigung des Mount
Everest mit Satellitentelefon, Laptop und Internetanschluß. Kurz unterhalb des Weltraums, in
der Nah-Tod-Zone oberhalb der Troposphäre arbeiten die Verdauungsorgane nicht mehr und
das Gehirn produziert euphorische, ekstatische Zustände, bevor es Müdigkeit signalisiert und
schließlich emboliert. Dem Außer-Sich-Sein folgt hier das In-Sich-Sein: nach der Exaltation
bleibt ein totes Objekt auf dem Gipfel zurück.
Alienne Laval
Die Medienwirklichkeit wird somit interpretierbar als ein zweiter, der
ursprünglichen Natur äquivalenter, nicht mehr hintergehbarer
Wechselwirkungshintergrund. Auch dieses Andere (die ebenfalls suggestive,
traumartige Struktur der Medienwirklichkeit) entfernt sich nicht und doch hat es
keinen Sinn, sich totzustellen. Nur ausgehend von einer zunächst dyadischen
Koppelung kann es narrativ gelingen, sie in andere Formen zu überführen.
"Der Mensch, der sonst ständig lernen kann, hat bis heute einige Prägungen
seiner Phylogenese - die sich gegenwärtig wieder einmal als lebensgefährdend
zeigen - offensichtlich (noch) nicht überwunden. Es ist die Ambivalenz der
Codes (der Werte) und ihre prinzipielle Variabilität (wir wissen nur nicht, wie
weit sie reicht), worin die Hoffnung liegt." (Ivan Bystrina 1989:125)
Offene Codierung
“ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere: entweder selbst das Neue
zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen, oder aufzubrechen, die
Alienne Laval
Besten und Würdigsten mit sich fort zu ziehen und ein günstigeres Schicksal
jenseits der Meere zu suchen. Eins wie das andere hat sein Bedenken, aber wer
hilft uns die Gründe abwägen, die uns bestimmen sollen?” (Goethe; Wilhelm
Meisters Wanderjahre)
Bekannt ist das Phänomen der homologen Arten wie Marsupaliern und
Plazentaliern, die ähnliche der sogenannten ökologischen Nischen besetzen.
Dass Marsupalier und Plazentalier ihre Nischen nicht auf gleiche Art füllen,
zeigt ein Vergleich der Gehirne, die zwar ähnlich groß sind, sich aber doch in
einem entscheidenden Merkmal unterscheiden. Die Marsupalier besitzen kein
Corpus callosum, keine Brücke, die rechte und die linke Gehirnhemisphäre
miteinander verbindet.73
Interessant ist in diesem Zusammenhang das Phänomen der sogenannten
Luxusorgane, die auf der aktualisierten evolutiven Ebene nach unserem
Dafürhalten augenscheinlich keinen Sinn machen. So haben Tintenfische
Augen, die den unseren überlegen sind und die sie in ihrer Nische angeblich
72 Nun besteht allerdings das ontologische Problem, dass sich diese Prozesse nicht
beobachten lassen und wir immer und überall auf sozusagen abgestorbene oder vollendete
Formen und Systeme stoßen, die zwischen ihnen evolutiv vermittelnden Prozesse jedoch
empirisch nicht nachweisbar sind. Die Evolutionstheorie, auch wenn sie durch Artefakte,
phänomenologische und molekulargenetische Vergleiche und Ableitungen immer besser
belegbar ist, bleibt dennoch eine Rekonstruktion. Diese Tatsache hebt die Evolutionstheorie
neben anderen Teilgebieten der Naturwissenschaften, die ebenfalls historisch arbeiten
müssen, aus den sogenannten harten Natur- und Technikwissenschaften heraus. Die
Evolutionstheorie muß damit als in der Tradition der Naturphilosophie stehend angesehen
werden.
In erster Linie liegt das daran, dass die Evolutionstheorie keine Systeme, sondern die
Prozesse, die zu ihnen hin und von ihnen weg führen, beschreiben will. Auf der Ebene der
Kulturen sind dies narrative Prozesse, die die Übergänge von einer Form der Codifikation zu
einer anderen, von einem Systemtyp zu einem anderen, ermöglichen; sie sind anfänglich in
den Märchen und Mythen gepeichert. Diese Typen der Narration, die auch als erste Semiosen
verstanden werden können, sind die Fortsetzung der Evolution mit anderen Mitteln.
73 Noch vor einigen Jahren hat man versucht, Epilepsiepatienten dadurch zu heilen, indem
man ihnen die Brücke durchtrennte.
"Das Ergebnis war, dass sich der Zustand der Patienten besserte, was ihre Epilepsie betraf.
Ihre Gehirnhälften funktionierten jedoch nicht mehr als eine Einheit. Weil der Balken
durchtrennt war, bildete jede Gehirnhemisphäre mit dem Rest des Nervensystems eine
operationale Einheit, die die andere Gehirnhälfte überging, so als würde sie gar nicht
existieren. Es war, als sei der Patient nach der Operation zu drei verschiedenen Personen mit
jeweils individuellen Charakteristika geworden: einer Linke-Hemisphäre-Person, einer
Rechte-Hemisphäre-Person und der äußeren Kombination der beiden in ihrer Operation durch
einen gemeinsamen Körper." (Maturana/Varela 1987:243)
Alienne Laval
auch gar nicht gebrauchen können; Marsupalier füllen ihre Nischen genausogut
aus wie ihre plazentalen Vettern, solange sie nicht mit diesen zusammentreffen,
da diese im Gegensatz zu ihnen den selektionsvorteilhaften Luxus des Corpus
callosum besitzen.
Das Corpus callosum ist offensichtlich ein redundantes Merkmal bestimmter
sozialer Tiere, von dem das Sozialverhalten gar nicht abhängig ist. Erst in der
direkten Begegnung beider Varianten zeigt sich ein Mangel, der vorher gar nicht
akut war, und die Plazentalier verdrängen ihre marsupialen Vettern und
Cousinen.
So weit es zu übersehen ist, gibt oder gab es für viele plazentale Arten
marsupiale Entsprechungen, von Beutelwölfen bis hin zu fledermausartigen
Flugtieren. Sogenannte höhere Säuger aber, wie Pferde, Schweine, Wale, Affen
und Menschen, haben keine marsupialen Verwandten. Es scheint fast so, dass
ihre Entwicklung und insbesondere die für uns wichtige Entstehung von Affen
und frühen Menschen an die Voraussetzung des Corpus callosum gekoppelt ist.
Ebenso wie die geschlechtsreifen Larven der Seewalze können die frühen
Hominiden als pädomorphe Abkömmlinge anthropoider Vorfahren gesehen
werden. Schon Freud sprach vom Menschen als dem Kind einer schmalnäsigen
Äffin, und selbst ausgewachsene Menschen wirken wie Embryonalformen von
Affen. Auch diese Pädomorphose war nicht rein biologischer Art, sondern
führte, wie schon bei den Nachfahren der Seewalze, zu völlig neuen
Verhaltensweisen.
Doch wie werden aus affenartigen Vorfahren Menschen, wenn selbst die
rezenten Schimpansen, deren genetischer Code nur zu einem Prozent von
unserem abweicht, ihre latenten Fähigkeiten nur unter dem Einfluß von
Menschen ausbilden?
Es ist bekannt, dass höhere Säugetiere wie Katzen, Hunde und Affen träumen,
spielen und zu deviantem Verhalten fähig sind, und doch werden diese
Fähigkeiten im ethologischen Kontext hauptsächlich zur Erzeugung sozialer
Rollen genutzt.74 Der Traum, der auch für rezente, höhere Säugetiere ein
redundantes Merkmal ist, das ganz im Sinne von Shannons
Informationstheorie75 die Informationsverarbeitung gegen Störungen abschirmt
74 Bentele und Bystrina (1978:155 Anm. 58) unterscheiden die Bedeutungsklassen von
Tierlauten: “Während bei Vögeln häufig Informationen über Umweltobjekte (Futterquellen,
Feinde) übermittelt werden, spielt bei den sozial lebenden Säugetieren die
Motivationsübermittlung (subtile Stimmungsänderungen, spezifische
Handlungsbereitschaften usw.) eine große Rolle. Besonders bei den Affen, die in einem sehr
komplexen sozialen Gefüge leben, ist die Information über die belebte und unbelebte
Umgebung sehr gering, desto häufiger dafür die soziale Information, die der Koordination
verschiedener sozialer Aktivitäten (vor allem im Rahmen der funktionalen
Dominanzhierarchie) dient, so dass die Partnerinteraktionen fortgesetzt abgestuft modifiziert
werden können.”
Shannons Informationstheorie besagt, dass jede Entropieerhöhung - oder die Zunahme von
75
Wahrscheinlichkeit - einen Informationsverlust bedeutet. In seiner Theorie ist die Einheit der
Alienne Laval
und in dem z.B. bei Hunden Tagesaktivitäten wie Laufen, Jagen, Schnappen und
Springen sublimen reflektiert und codifiziert werden, verselbständigt sich bei
den Anthropoiden, die augenscheinlich immer mehr zu sinnlosen Tätigkeiten
fähig sind, in zunehmender Weise, bis einige Individuen auf den Einfall
kommen, ihr Sein aus diesem redundanten Bereich heraus neu zu
konstituieren.76
Frühere Annahmen (s.a. Rosenkranz 1971) gingen davon aus, dass es der
fehlende Keilknorpel des Kehlkopfes sei, der eine Versprachlichung der Affen
und damit eine weitergehende Evolution verhinderte. Doch heute wissen wir,
dass Affen neben dem Werkzeuggebrauch zu ausgeprägten mimischen und
gestisch-zeichenhaften Äußerungen fähig sind; es ist sogar möglich, ihnen
gestisch-zeichenhafte Hochsprachen - wie die Taubstummensprachen -
beizubringen.
"Uns Menschen”, so Hinrich Rahmann (1972:14), “sind Gefühle,
Willensprozesse und Vorstellungsvermögen zu eigen, psychische Eigenschaften
also, die sich zumindest auch bei höherentwickelten Tieren noch in
vereinfachter Form nachweisen lassen. Aufgrund der Tatsache, dass diese
Phänomene physiologischen, also kausal determinierten Prozessen parallel
meßbaren Information ein Bit; ein Bit ist jene Information, die einer einfachen Entscheidung
entspricht (ja - nein oder 0 -1). Nach dieser Theorie kann der genetische Code als ein
Alphabet mit vier Buchstaben, den Nucleosiden Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin
verstanden werden. Diese Buchstaben dienen dazu, um aus 20 Aminosäuren Proteine zu
synthetisieren. Zwei dieser Buchstaben, die einen Informationsgehalt von 4 Bit haben, reichen
nicht aus, um eine eine Aminosäure eindeutig festzulegen. Es werden also drei Nulceoside
benötigt, um die zwanzig Aminosäuren zu codieren. Der Informationsgehalt beträgt bei
Verwendung von drei Zeichen allerdings 6 Bit, ist also größer, als zur Codierung einer
Aminosäure erforderlich wäre. Kurz gesagt: ein DNA-Triplet enthält für seine Aufgabe ein
Zuviel an Information.
Dieses Zuviel an Information wird als Redundanz bezeichnet. Nach Shannons Theorie dient
diese Redundanz nur dazu, um Informationsübertragungen gegen Störungen abzusichern. Die
Codierung über ein DNA-Triplet soll also die Anzahl der möglichen Systemzustände und
somit die Entropie oder die Wahrscheinlichkeit reduzieren, enthält aber aus der Sicht des
Systems mit seinem Zuviel-an-Information trotzdem ein redundantes, entropisches Potential
für neue Codifikation.
76 Gerade soziale Säugetiere sind darauf angewiesen, ihr Verhalten in der sozialen Situation
erst zu erlernen; in Gefangenschaft gehaltene Orang-Utans z.B. wissen mit ihren Babys
nichts anzufangen, sie sind nicht einmal imstande, diese zu säugen; der Wal Keiko, der die
Hauptrolle in dem Film Free Willy spielte, kann nicht selbständig jagen. Doch Affen sind
noch zu ganz anderen Leistungen fähig. So sind sie neben dem Gebrauch vielfältiger
Werkzeuge auch zu scheinbar sinnlosen Tätigkeiten, wie dem Zusammenkleben und
Zerstören von Kuchen aus Kot oder Sägemehl imstande; es ist in Gefangenschaft möglich,
Schimpansen Zeichensprachen beizubringen, die sie eigenständig an ihre Nachkommen
weitervermitteln. Orang-Utans kann man das ihnen im Umgang mit ihrem Nachwuchs
fehlende Wissen durch bei frei lebenden Artgenossen aufgenommenes Filmmaterial per
Fernsehgerät vermitteln.
Alienne Laval
laufen, ist zu folgern, dass allen Lebewesen im Gegensatz zur unbelebten
Materie in irgendeiner Form psychische Komponenten (im einfachsten Fall
protopsychische Komponenten) zu eigen sind, die somit einen wesentlichen
Bestandteil der Gefügegesetzlichkeit lebender Systeme ausmachen."77
Die determinierten Prozesse sind jene, die im Rahmen der Informationstheorie
beschrieben werden können. Die protopsychischen Vorgänge hingegen, die den
kausal determinierten Prozessen parallel laufen, sind die redundanten und
müssen im evolutiven Kontext zugleich als protonarrative Komponenten
interpretiert werden. Narrativität hat aber zu tun mit Beweglichkeit, Wachstum
oder Formwandel. Auffällig ist, dass den biologischen Kriterien des Lebendigen
diese Begriffe fehlen. Rahmann schreibt (ebd.):
"Heute rechnet man diese Eigenschaften nicht mehr zu den
Lebenscharakteristika, weil man inzwischen lernen mußte, dass diese
Phänomene viel weiter als angenommen, über den Rahmen des Belebten hinaus,
verbreitet sind."
Wenn von einer Evolution des Lebendigen ausgegangen werden soll, dann wird
man jedoch unmöglich um diese Begriffe herumkommen. Die Orientierung, die
Rahmann vornimmt, kann daher nicht für eine Phase evolutiver Aktualisierung
gelten, sondern setzt fertige Lebewesen in einem erschlossenen Raum voraus.
Eine Bewegung in einem solchen Raum oder Universum ist allen prozessual
primären Lebewesen jedoch nicht gegeben; vielmehr erzeugen sie diesen Raum
erst durch Bewegung, Formwandel und die Art des Stoff- und Energiewechsels.
Dies ist aber nicht zweckmäßiges Erschließen, sondern über Anpassungen
hinausschießender Formwandel.
Diese immer vorhandene Wahrscheinlichkeit, wie Roland Harri Wettstein es
ausdrückt, ist für den Evolutionsverlauf jedoch relevant, und das bedeutet, dass
der ‘projektive Gehalt der biologischen Funktionen’ nur ‘semiotisch weiter
gedeutet werden könnte’. (s.a. Wettstein 1983:243f)
77 Die allgemein akzeptierten Kriterien des Lebendigen sind folgende (Rahmann 1972:9):
1. besonderer chemischer Aufbau
2. zelluläre Organisation
3. Stoff- und Energiewechsel
4. Fähigkeit zur Fortpflanzung
5. Reizbarkeitserscheinungen
6. Zweckmäßigkeit und Anpassungsfähigkeit
7. Zunahme des Ordnungsgrades (Verringerung der Entropie)
8. besondere psychische Eigenschaften
Unter 'besonderem chemischem Aufbau' versteht Hinrich Rahmann, dass alle Lebewesen
prinzipiell aus den gleichen chemischen Materialien aufgebaut und über die DNS codiert
sind. Vor einem kultursemiotischen Hintergrund sind neben dieser 'primären Codiertheit' die
'psychischen Eigenschaften' von besonderer Relevanz.
Alienne Laval
Der projektive Gehalt der biologischen Funktionen
78 Das gilt zumindest für die Phase der Hominisation. Die ackerbauenden,
pflanzenzüchtenden und domestizierenden Kulturen sowie die gen- und atommaniplierenden
technischen Zivilisationen nehemen dieses Projekt jedoch wiederum auf.
Alienne Laval
Bipolare oder offene Codifikation
79 Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski hat bemerkt, dass "die ständig neu
auflebenden Interpretationen der empirischen Welt (...) die Empfindung der Welt als einem
Ort der Verbannung oder als eine Stufe der Rückkehr zum unbedingten Sein (erzeugen)."
Schon im alten Griechenland gab es eine ähnliche kritische Phase, die sich in den damals
nicht empirisch begründbaren Naturphilosophien von Thales, Heraklit und Empedokles
ausdrückte und gegen die die Philosophien Sokrates' und Platons entstanden, die sich gegen
die Wertenivellierung und Individualisierung des absoluten Standpunktes richteten. Ihre
Gegenbewegung war nicht nur der Versuch, die Individualethik an normative Gegebenheiten
anzuknüpfen, sondern hatte darüber hinaus ungeheuerliche Implikationen. Platons Denken,
das sich u. a. in der indischen Erkenntnis der inneren Erfahrung begründete, schuf ein
vollkommenes und zeitloses Reich überweltlicher Ideen bzw. statischer Archetypen als
Begründung einer Staatsphilosophie.
Diese Fragen kommen uns Modernen und Postmodernen, die wir schlau an der Zukunft
basteln, allzu bekannt vor. Auch für uns hat die nun mögliche Empirie ihre Versprechungen,
soziales und gesundheitliches Heil-Sein zu ermöglichen und gleichzeitig die Welt zu erklären,
nicht eingelöst. Stattdessen verlieren sich die Naturwissenschaften in den Nebeln von
Alienne Laval
Diese Einregelung erfolgt also nicht im Biologischen oder im Sozialen, sondern
zunächst durch mythologische Operationen.80 Die neu emergierenden
Sozialgefüge der Menschen, die sich nach dem ursprünglichen und
kulturgenerierenden Festsetzen der Zwillinge etablieren, müssen über Mythos
und Genealogie geregelt werden. Hier ergibt sich ein Problem, auf das schon
Claude Lévi-Strauss mehrfach aufmerksam machte, denn das Soziale und damit
auch die Sprache, sind gezwungen, auf zwei verschiedenen Ebenen, der
Mythischen und der Profanen zu operieren. Dieses Problem stellte sich für die
sozialen Säuger nicht, die ihr Soziales aus anderen Voraussetzungen heraus
vollkommen anders - nämlich ethologisch - konstituieren.81
Quanten und Chaos, die Medien in Unbestimmtheit und die Ökonomie in einer fragwürdigen,
selbstreferentiellen Zweckmäßigkeit.
80 Wie das gemacht wurde, erklärt die Religionswissenschaftlerin Wendy Doniger O'Flaherty
(1984:127): das Narrative funktioniert in den Träumen anders als in den Mythen, da den
Träumen ein überzeugender, ursächlicher Zusammenhang von Ereignissen, also die
Kausalität, fehlt. Den roten Faden einer Handlung ersetzt hier ein Muster von suggestiven
Bildern. In Träumen können keine Beweise geführt werden, da Beweise abhängig sind von
der skelettartigen Struktur des Ursache-Wirkungs-Zusammenhanges, an der es Träumen
mangelt. Mythen fügen den Träumen aber genau jene Struktur hinzu, die diese Beweise
möglich macht.
81 Nun ist aber der Übergang von den ethologischen Codes zu den ethnologischen oder
kulturellen Codes ohne unstatthafte Reduktion, nämlich die Ausklammerung des redundanten
Bereichs der Träume und Mythen, nicht zu erklären, auch wenn ethologische und
ethnologische Codes viele Parallelen aufzuweisen scheinen. Es tritt nämlich etwas hinzu, das
auch Adam und Eva nach dem Essen der verbotenen Frucht nicht erspart blieb, nämlich das
Todeswissen. Erst mit dem Todeswissen wird nach Ivan Bystrina (1989) ein Selbstbewußtsein
möglich. Das Selbstbewußtsein aber ist eine notwendige Inversion des Todeswissens, das zur
Triebfeder der entstehenden ethnischen Gemeinschaften und von Kultur, Wissenschaft und
Kunst werden wird. (s.a. Uchtmann 1993ff)
Diesem Problem ist nur mit einem erweiterten Schichtenmodell der Codes beizukommen, wie
ich es schon 1995 vorführte. Grundlage für eine semiotische Interpretation des Kulturellen
und seiner Evolution kann ein Drei-Schichten-Modell der Codes sein, wie es Bystrina (1989)
vorgeführt hat. Es wird dabei davon ausgegangen, dass Mensch in drei unterschiedlichen
Codeebenen existiert. Bystrina unterscheidet primäre, sekundäre und tertiäre Codes: primäre
Codes sind genetische Codes, intraorganismische Codes (z.B. Botenstoffe, hormonale
Regelsysteme etc.), Wahrnehmungscodes etc.; sekundäre Codes sind z.B. ethologische Codes
und 'sprachliche Codes'; tertiäre Codes sind 'hypersprachliche' Codes, die Träume, Märchen
und Mythen regeln. (Bystrina 1989:117)
Der hypersprachliche tertiäre Code, der mit dem durch den Mythos strukturierten Traum eine
zweite Wirklichkeit generiert, kann eben allein nicht handelnd auftreten, sondern muß sich
sekundärer und primärer Codes bedienen, um dies zu bewerkstelligen. Doch die nun neu
emergierenden sekundären und primären Codes sind vom Ursprung und vom Aufbau her von
den sekundären ethologischen und den primären biologischen Codes so verschieden, dass ich
von primären Codes I, sekundären Codes I, tertiären Codes, sekundären Codes II und
primären Codes II spreche. (Uchtmann 1995)
Alienne Laval
Die Zwillinge kommen also nicht umhin, in und mit den Mythen realistische
Bezüge zur Umwelt zu fabrizieren, die ihnen ein Überleben ermöglichen;
deshalb also die Operationen auf zwei Ebenen oder in zwei Kontexten, in denen
der Mythos jedoch als Code fungiert, der sich vorgefundener codaler
Versatzstücke bedienen muß, damit sich die zweite Wirklichkeit der Mythen mit
der ersten Wirklichkeit (s.a. Bystrina 1989) der Köper- und Umweltbedingungen
relationieren und sich aktualisieren kann. Eva Meier erläutert das Verfahren am
Beispiel paläolithischer Gestaltungen:
"Neben rhythmischen Folgen von Strichen und Punkten in der Altsteinzeit
entstehen auch stärker durchgebildete Figuren, die aber keine natürlichen
Lebewesen darstellen. In gewisser Weise sehen sie so aus, als ob sie Teile der
menschlichen Figur entleihen würden, um im Diesseits handelnd auftreten zu
können, während sie gleichzeitig durch das, was sie vom naturalistisch
dargestellten Menschen unterscheidet, darüber hinausgehoben wären...Eine
teilbare Grenze, die sich selbst durchquert und an Bewohnbarkeit gewinnt. Wie
in frühen, anthropomorphen Figuren, die keine Lebewesen darstellen, sondern
Ordnungen verkörpern..." (Meier 1989:381,383)
Synchronisation
Die Ordnungen, von denen Eva Meier spricht, sind als frühe
Synchronisierungsversuche zu verstehen, die das lokal durch die zwillingshaften
Handlungsoperationen Entregelte wieder in ein Gleichgewicht bringen sollten.
Die Figuren und die Teile von Figuren fungieren hierbei als konnotative
Versatzstücke, anhand derer ein mythologisch begründbares und in der ersten
Wirklichkeit voll funktionsfähiges ethnisches Soziales auf der Basis kultureller
Sozial- und Sprachcodes etabliert werden kann.
Jedoch war diese primordiale und halbwegs spielerische Konnotion nicht lange
haltbar und durch die Etablierung einer sozialen Syntax rutschten wirkliche
Menschen auf die Ebene der Konnotation, wurden zu ihren Platzhalten und
damit zu den Schachfiguren ahistorischer, mythischer Ordnungen und
Operationen, wie es beispielsweise Lévi-Strauss mit den Crow-Omaha-
Systemen demonstriert hat.82 Die biblische Schöpfungsgeschichte deutet diesen
müßte man sagen, dass mit den Crow-Omaha-Systemen die Geschichte in die elemantaren
Strukturen eindringt, obwohl alles so aussieht, als bestünde ihre Aufgabe gerade darin, deren
Wirkung aufzuheben." (Lévi-Strauss 1981:39, kursiv R.U.)
Jede soziale Syntax ist für die Ewigkeit gedacht und hat kein Interesse an tatsächlichen
Veränderungen, die aber trotzdem auftreten. Die Bibel ist ein Buch der Täuschungen und der
Regelbrüche, die immer wieder die Geschichte einführen; ohne Jakob, dem Zwilling seines
nur kurz vorher geborenen älteren Bruders Esau und seinem initialen Betrug an ihm, hätte es
das Volk Israel nie gegeben. War es tatsächlich der gleiche Gott, der gleichemaßen das
Erstgeburtsrecht und den Betrug guthieß, der Jakob triumphieren ließ und ihm auch noch den
Namen Israel gab? Auch die Geschichten anderer Völker sind voll von diesen
geschichtsträchtigen Regelbrüchen, die oft als mit irregulärem, schamanischem Wissen in
Zusammenhang stehend gesehen werden.
Alienne Laval
interpretiert, den tatsächlichen und den ideellen Kalender in einer Synthese
zusammenzubringen. Beide Kalender konjugierten in Ägypten nur alle 1460
Jahre, indem der Aufgang des Sirius tatsächlich für vier Jahre auf den Morgen
des Neujahrstages fiel. Danach disjungierten beide Kalender wiederum. Nach
Leitz hatte die Verknüpfung beider Kalender nur ein Ziel, nämlich
"...die ägyptische Welt und ihre... Mythen mit Hilfe des Kalenders zu ordnen
und alle periodisch wiederkehrenden Naturereignisse in einen vollkommenen
und theologisch begründbaren Rahmen einzufügen. Dabei sollten der Zufall und
das Unregelmäßige ausgeschaltet werden - wie während der vier Jahre der
Apokatastasis, des kurzen Zusammenfalls des idealen und des tatsächlichen
Kalenders." (1995:36)
Apokatastasis bedeutet im eigentlichen Sinne die Wiederherstellung bzw. die
Wiederkehr der Sterne und Jahreszeiten, aber auch die Rückkehr in einen
früheren Zustand; im Neuen Testament ist damit jedoch auch die Neuschöpfung
der Welt gemeint.
Im Prinzip geht es bei der Apokatastasis darum, erste und zweite Wirklichkeit in
Einklang zu bringen und zu synchronisieren. Der Realitätseffekt aber, der nach
Lévi-Strauss und Jean Baudrillard auf der Disjunktion zweier Termini beruht,
geht eben mit dem Anspruch der ständigen Konjunktion flöten, d.h., dass die
Differenz zwischen erster und zweiter Wirklichkeit verschwindet und dadurch
die ursprüngliche zeichenprozessuale Produktivität in eine Phase der
zeichenhaften Reproduktion übergeht.83
Durch dieses Verfahren sollen nicht nur der Zeichenproduzent oder diejenigen,
die die Macht zur oder über die Zeichenproduktion haben, verborgen oder
verschleiert, sondern auch die herrschende soziale Syntax als naturkontingent
und nicht hintergehbar im Selbstverständnis verankert werden.
Ähnliches gilt in noch stärkerem Maße für den rezenten alles
synchronisierenden Anspruch der Informationsgesellschaft. Modern und im
Sinne der Informationstheorie ausgedrückt, soll über das Anstreben eines
apokatastatischen Zustandes eine Informationszunahme bei gleichzeitiger
Abnahme der Wahrscheinlichkeiten für unvorhersehbare Veränderungen im
System erzeugt werden, während Gespür und Wissen um gesellschaftliche
Hierarchien und Widersprüche langsam ins Unbewußte abdriften.
Die Evolutionsbiologie hat uns gezeigt, dass es Arten gibt, die sich seit
Jahrmillionen nicht mehr verändert haben. Diese Arten haben den Zustand der
auch in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften schon mehrfach
angestrebten Perfektion, bereits vor Urzeiten erreicht. Sie leben, wie man heute
so schön und in öko-dynamischer Eintracht sagt, im Einklang mit sich und ihrer
84 In dieser Synchronie der Information liegen alle Codes ungeordnet beieinander. Der
Zusammenbruch der syntaktischen und realen Machthierarchie setzt ihr geistiges Äquivalent,
die rein fakultative Codehierarchie gleichzeitig mit außer Kraft, die ebenfalls mit den
Attributen der Macht belegt wird. So verlieren beispielsweise Religion, Wissenschaft und
auch die Kunst, die nach George Bataille ebenfalls lange genug auf den realen Herrscher
referierte, mit dem Niedergang dieser Machtsyntax zugleich ihre Relevanz und gehen mit ihr
gemeinsam zugrunde, denn die Revolten gegen diesen Souverän und seine letztendliche
Abschaffung füllten das Vakuum, das sein punktuelles Verschwinden hinterließ, lediglich
politisch, ökonomisch und massenmedial aus. (s.a. Uchtmann 1996; 1999) Was das bedeutet
wird klar, wenn man den Prozeß der Demokratisierung, der gleichzeitig ein Prozeß der
Ökonomisierung war und ist, näher betrachtet. Während der Begriff der Macht durch den der
Verwaltung abgelöst wurde, wurde derjenige des Wissens durch den der Information ersetzt.
Wissen ist nicht mehr Macht, sondern Information ist Verwaltung.
Information gestattet die Verwaltung der Bedürfnisse, der Arbeit, der Freizeit, des Konsums,
der Wahrnehmung usw. Nicht die Aufklärung und Befreiung der Subjekte durch Wissen oder
ihre Unterdrückung durch Macht ist mehr angesagt, sondern ihre informations- und
verwaltungsbasierte Bespitzelung, Bestimmung und Fixierung. Es soll damit
informationstechnologisch und -theoretisch das gelingen, was Mythos und Religion bisher
versagt blieb, denn Macht und Wissen bleiben gleichermaßen Störungen im Getriebe von
Information und Verwaltung.
Alienne Laval
hohe Informationsdichte und eine geringe Wahrscheinlichkeit; es ließe sich
vollständig beschreiben.
Information ist daher ein für die Beschreibung evolutiver Vorgänge völlig
unbrauchbarer Begriff, der sich auf den Systemerhalt perfektionierender
Systeme bezieht. In diesen wird zwangsläufig die Informationsdichte zu-, die
Wahrscheinlichkeit für Neuerungen - und damit für Evolution - aber auch
abnehmen.85
Das Eintreten eines Zustands der Perfektionierung wird auf zeichenprozessualer
Ebene - wie schon angesprochen - dadurch angezeigt, dass die Frage nach dem
Zeichenproduzenten nicht mehr gestellt wird. Die Funktion des
Zeichenbenutzers ist einwertig und kennt nur noch einen Pol, den des
Zeichenempfängers. Hierdurch werden alle Zeichen- und Informationsprozesse
als natürliche, naturkontingente Vorgänge projeziert.86
85 Die These des Menschen als Wunschmaschine, wie sie Deleuze und Guattari vorführen,
kann so als informationstheoretisch und -technisch revitalisiertes Traumbewußtsein
verstanden werden, wie es sich eine Gesellschaft leisten kann, die sich so weit perfektioniert
hat, dass sie meint, ohne äußere Referenzen auskommen zu können. Eine derartige Ablösung
von den im Bewußtwerdungsprozeß emergenten Bedingungen ist indes nur denkbar als
evolutionäre Vollendung und Endpunkt, als gemeinschaftliches Ausscheren aus dem
Evolutionsprozeß.
86 Diese Auffassung kann jedoch nur eine Evolution annehmen, bei der sich auf perfekte
Zustände weitere perfekte Zustände aufschichten. Im Widerspruch zu einer derartig
kontinuierlichen Evolution steht allerdings schon der zweite Hauptsatz der Thermodynamik,
der eine irreversible, auf die Zukunft gerichtete Abnahme von Ordnung in geschlossenen
Systemen postuliert.
Diese Abnahme von Ordnung bezieht sich allerdings auf ein gegebenes, geschlossenes
System, auf ein von der Umgebung durch z.B. einen Glaskolben isoliertes Gas.
Organismische Systeme und die späteren Zeichensysteme, die Semiosphären, sind dagegen
von semipermeablen, also halbdurchlässigen Membranen umgeben, die eine entropische
Dissipation des Innenraumes durch Diffusion, Osmose oder Semiose verhindern sollen.
Diese Stoffwechsel- oder Zeichenprozesse werden nach dem diesem Beitrag
zugrundeliegenden Verständnis jedoch und soweit es die Umgebung zuläßt, auf einen als
aristotelische Finalursache deutbaren Endzustand hin immer weiter automatisiert. Diese
Systeme haben dann im Inneren sowie in ihren Wechselwirkungen mit der Umgebung eine
Homöostase erreicht, die selbst als ein Höchstmaß an Entropie angesehen werden kann.
Allein die Wirkung des dritten Hauptsatzes der Thermodynamik bzw. die evolutive
Entkoppelung redundanter Teile und die darauffolgende Ausbildung von die Disjunktion
wiederherstellenden neu emergierenden Systemen, hält sie davon ab zu kollabieren.
Roger Penrose sagte einmal, dass die Tendenz zu hoher Entropie in der Zukunft nicht
überrascht, da die Zustände mit hoher Entropie in gewissem Sinne die natürlichen Zustände
seien, die keiner weiteren Erklärung bedürfen. Die Zustände mit niedriger Entropie in der
Vergangenheit bleiben jedoch ein Rätsel.
Diese Zustände sind allerdings kein Rätsel, denn in der Vergangenheit kann es keine
automatisierten Prozesse lebendiger Strukturen und daher auch keine entropischen lebenden
Systeme gegeben haben. Jeder neue Prozeß entautomatisiert oder entregelt das Vorangehende
partiell und lokal (auch wenn es sich um ein Universum rein potentieller Information handelt),
muß also zunächst negativ entropisch wirksam sein, um nicht gleich wieder zu zerfallen.
Alienne Laval
Durch die Universalisierung und Globalisierung des Informationsprinzips strebt
die Semiosphäre so etwas wie ein Seewalzenstadium auf hohem
technologischen Niveau an und erhöht damit gleichzeitig aber die Redundanz,
die für Evolution so wesentlich ist. Das Duplet auf der Ebene der Kultur bedarf
der Moderation durch vermittelnde mythische, religiöse, ethische, moralische,
politische, ökonomische etc. Instanzen, das Triplet jedoch nicht; es würde eine
selbstreferentielle Handlungs- und Informationsökonomie auf rein
ökonomischer und informationstheoretisch codierter Basis gewährleisten. Die
großen Religionen und viele Philosophien haben diesen Schritt, der sich bislang
realitär kaum umsetzen ließ, mit ihren triadischen Konstruktionen bereits
vorweggenommen.
Doch das Triplet muß gleichzeitig die Redundanz erhöhen, denn es enthält mehr
Information, als für die reinen Codierungsvorgänge notwendig wäre. Vielleicht
waren die alten Religionen ja ziemlich nahe dran, indem sie die Trinitäten als
schöpferisch ansahen. Doch die selbsternannten Sachwalter dieser Trinitäten
mußten oft genug wiederum zu repressiven Mitteln greifen, um die redundanten
Energien der Informations- und Evolutions- bzw. Schöpfungsprozesse zu
steuern und im Zaume zu halten.
Die Automatisierung von Kommunikations- und Selektionsprozessen, die eine
Objektivität suggerieren soll, ist ebenfalls nur vorstellbar innerhalb eines
erneuten Kontinuums traumatischer und suggestiver Bilder, als
quasiorganismischer, ahistorischer Vorgang, der sublimen des Zeitpfeiles
abläuft. Es ist klar, dass mit der Etablierung derartiger Strukturen organismische
und vorbewußte Deutungen von Gesellschaft zunehmen, die den Binnenzustand
der Semiosphäre und die eigene Position darin nur noch mimetisch erfassen.
Dieser Verlust an Distanz kann dann als Ende der Geschichte, wie es viele
postmoderne Ansätze beschrieben haben, verstanden werden. Auch die
Seewalze ist ahistorisch, hat kein diachrones Potential, das sich in ihr selbst
aktualisieren ließe. Dieses Potential haftet ihr jedoch redundant an, ohne dass
der Organismus selbst ein Gespür dafür hätte.
Der zwillingshafte prozessuale Archetyp, der zur Erkenntnis des Anderen und
des Selbst führt, operiert mit der Einführung der Zeitdimension, die ein
Verlassen des Traumes und eine zwar terminierte, doch diachrone
Strukturierung ermöglicht. Ebenso, wie sich die prozessualen, schwimmfähigen
und geschlechtsreifen Larven der Seewalze auf einem höheren Niveau wieder
einregelten und sich neue, bei ihren späten Nachfahren auch ethologische und
ethnische Triplets bildeten, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach auch mit den
potentiellen prozessual archetypischen Entwicklungsformen menschlicher
Gemeinschaften sein.
Doch im Gegensatz zum Bestreben der heutigen ökonomischen Technokratien
läßt die Evolution alle möglichen Formen und Entwicklungsstufen
nebeneinander bestehen, sie versucht nicht, die realitätsstiftenden Disjunktionen
z.B. gentechnologisch aufzuheben, um ein interspezifisches, auf animalen
Leihorganen beruhendes amorph-humanoides oder cyborg-biotechnologisches
Alienne Laval
universales Feld zu schaffen. Man ist fast geneigt zu sagen, dass die Evolution
da viel toleranter und weiser ist, als die synchron mächtigen menschlichen
Gesellschaften, die keine Alternativen zu ihren Modellen zulassen und um den
Preis des Machterhaltes sogar das Konzept der Realität aufgeben. Die immer
nach Innen abgeleitete und paranoid auf dieses Innen bezogene Redundanz führt
zu Ängsten der Macht vor einer Zerstörung des Innen, dessen Zerstörung sie
aber mit diesem Verhalten erst inszeniert.
Für Norbert Bolz wird das menschliche Denken und Handeln nun von “...der
algorithmischen Struktur und digitalen Geschwindigkeit integrierter
Datenprozesse übertroffen. Das Subjekt ist raus aus dem Spiel. Seine politische
Dekonstruktion, die Strategie der minoritären Kämpfe, der Versuch einer
emanzipatorischen, kollektiven Subjektivität wird überflüssig” und der Triumph
der Technik über den Menschen "liegt in der physiologischen Analysierbarkeit
und physikalischen Rekonstruierbarkeit des Zentralnervensystems. Das ZNS
erscheint als Steuerungssystem eines gigantischen Datenprozesses, das eine
stabile Wirklichkeit errechnet. Wenn aber schon das menschliche ZNS
Wirklichkeit 'computiert', ist es nur konsequent, das menschliche Urteil über
computergestützte Modelle zu vermitteln." (Bolz 1995:115)
Bei dieser stabilen und errechneten Wirklichkeit handelt es sich um genau jene
traumatische und suggestive im oben diskutierten, informationstheoretischen
Sinne, denn eine stabile Wirklichkeit darf, wie gesagt, nur wenige
Informationen enthalten, um möglichst genau zu informieren und zu codieren:
sie muß die Zeichen, die ja einer höheren und redundanten Ordnung angehören,
rein informationstheoretisch begreifen bzw. ausschließen und sich auf neu
erzeugte vorbewußte Bedürfnisse konzentrieren.
Diesen Zustand hat Baudrillard (1976) als Simulation beschrieben. Simulation
bedeutet für ihn den Verlust der Referenten und referentieller Relationen
jedweder Art; d.h., die Informationsgesellschaft wird selbstreferentiell. Nach
Baudrillard - und hier bemüht er deutlich Karl Marx - findet ein Ereignis einmal
als historische Tatsache statt, um dann in der Simulation - oder der Farce im
marx’schen Sinne - noch einmal wiederholt zu werden. Was er darzustellen
versucht, ist eine Meta-Farce, ein globales oder universales Feld, in dem alles je
historisch Gewesene simulativ aufgeht. Keine der sich beschleunigenden Krisen
des Kapitalismus löst hier noch die globale Revolution aus. Diese
apokatastatische Simulation als informationstechnologische Übersteigerung und
gleichzeitige Farce des Kapitalismus wäre für Marx in ihrer derzeitig sich
andeutenden Form undenkbar gewesen, denn sie ist nur erklärbar vor dem
Hintergrund einer entstehenden Informationsgesellschaft.
Im Sinne Jorge Louis Borges könnte man hier von einem Aleph sprechen, das
als potentielles apokatastatisches Simulakrum nur darauf wartet, in einer offenen
Codierung, die die Pädomorphose in das fluide Unbewußte der
Alienne Laval
Informationsgesellschaft wagt, von einem prozessualen Operationscode erfaßt
und lokal umgangen zu werden.87
87 “Die bisher bekannte Digitaltechnik könnte vor einer Revolution stehen. In den USA
stellten Wissenschaftler des National Institute of Standards and Technology (NIST) mit der
‘Quantum’ genannten Theorie ein Axiom der Computertechnik in Frage. Die Digitaltechnik
früherer und heutiger Rechner basiert darauf, dass durch die Schaltungen eines Prozessors
Strom fließt oder nicht. Die mathematische Umsetzung von schier unendlich vielen Nullen
(Schalter aus) und Einsen (Schalter ein) ist die Keimzelle jedes Computerprogramms. Der
Quantum-Theorie folgend, nutzen die Forscher Atome, bei denen es zunächst analog zu
Schaltungen einen Ein- und einen Aus-Zustand gibt. Zusätzlich definierten die
Wissenschaftler aber einen dritten Zustand, den sie ‘Quantum Superposition’ nennen. Dieser
tritt immer dann ein, wenn ein Atom nicht angesprochen wird. Analog zu der heute
gebräuchlichen Bezeichnung Bits für die einzelne Ein/Aus-Rechnerschaltung nennen die
Forscher ihre Entwicklung ‘qBits’. Die Computerwissenschaftler sind über das reine Theorie-
Stadium bereits hinausgekommen. Ihnen gelang es bisher allerdings nur, einige wenige
Quantum-Schaltungen in Reihe anzuordnen. Sollte sich dieser Prozeß aber eines Tages auch
in größerem Maßstab wiederholen lassen, ist das der Weg zum Supercomputer.” (Baumeister
2000:14)