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Die Geburt
des alten
Ägypten
januar 2014
Verstecke in
Raum und Zeit
Physiker entwickeln Tarnkappen
aus Metamaterialien
8,20 € (D/A) · 8,50 � (L) · 14,– sFr.
D6179E
01
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Unsere Neuerscheinungen
Dem Dunklen Universum auf der Spur • Blick Im Kosmos führt kein Weg zurück • Das Böse in
auf die finale Wand: Planck misst kosmische uns • Warum starben die Dinosaurier aus? • Wie
Hintergrundstrahlung • Das Rätsel der Anti man eine Schrift entschlüsselt • Als das Leben
materie • Was ist Zeit? • € 8,90 auf die Welt kam • € 6,50
Frühe Kelten: Druiden, Ritter, Fürstinnen • Die Unruh, das Pendel und der Schmetterlings
Druiden: Die Mär vom heiligen Hain • Kriegs- effekt • Himmelsmechanik mit Reibung • Spiele
moral: Tapfer in den Tod • Krieg gegen Rom • mit Dimensionen • Alle Tiere der Welt und die
Das Ende der Freiheit • € 8,90 Staatsverschuldung in Dezibel • € 8,90
Hartwig Hanser
Redaktionsleiter
hanser@spektrum.com
Sinnesverwirrungen
»M y precious« – mein Schatz – nennt der ebenso abstoßende wie Mitleid erregende Gol-
lum aus J. R. R. Tolkiens Roman »Der kleine Hobbit« den Ring, der seinen Träger un-
sichtbar macht. Wie etwa auch im derzeit laufenden zweiten Teil der Hobbit-Filmtrilogie zu
Der theoretische Astrophysiker
Steven W. Stahler von der Uni-
versity of California in Berkeley
erleben ist, würde sich eine solche Fähigkeit tatsächlich als höchst wertvoll erweisen. Vom berichtet ab S. 28 über die
mittelalterlichen Nibelungenlied mit Siegfrieds Tarnkappe bis zu klingonischen Raumschif- möglichen Schicksale von
fen und James Bonds Aston Martin in »Stirb an einem anderen Tag« taucht immer wieder die Sternhaufen.
Idee einer Vorrichtung auf, die Dinge oder Personen der optischen Wahrnehmung entzieht.
Lange galt so etwas als Ausgeburt der Fantasie, ohne jede Chance auf Realisierung. Inzwi-
schen haben Forscher jedoch erste Fortschritte auf dem Weg zu funktionsfähigen physikali-
schen Tarnkappen gemacht, über die Robert Schittny und Martin Wegener vom Karlsruher In-
stitut für Technologie (KIT) ab S. 80 berichten. Wobei der Begriff hier neben dem visuellen Be-
reich auch das Abschirmen vor mechanischen Wellen, etwa Schall, sowie vor Wärme umfasst.
Ausgerechnet die klassische, optische Version erweist sich allerdings als am schwierigsten
umzusetzen. Der Grund liegt in der winzigen Wellenlänge des sichtbaren Lichts von unter Ägypten gilt als das Land der
einem Mikrometer. Tarnkappen benötigen nämlich künstliche Stoffe, deren regelmäßige in- Pharaonen und Pyramiden –
nere Struktur deutlich kleiner ist als die Länge der Wellen, vor denen es sich zu verbergen gilt. doch wie kam das Reich zu
Im Nanometerbereich lassen sich derartige Metamaterialien aber erst seit einigen Jahren Stande? Seine Vorgeschichte
herstellen. Weiter sind die Forscher bei nichtvisuellen Schutzvorrichtungen. Hier zeigen sich erforscht Béatrix Midant-Reynes,
erste konkrete Anwendungsmöglichkeiten. So könnte ein Abschirmen vor Erdbebenwellen Direktorin des Institut Français
Gebäude in gefährdeten Gebieten vor der Zerstörung bewahren. Und mit vergleichbaren d’Archéologie Orientale (IFAO) in
Methoden ließe sich Wärme um hitzeempfindliche elektronische Bauteile herumleiten. Kairo (S. 48).
Lawrence D. Rosenblum
Unser Wahrnehmungsapparat funktioniert als eng
verflochtenes Netzwerk. Was wir hören, hängt daher in
hohem Maß davon ab, was wir sehen und fühlen.
Schlichting!
46 Himmelskörper im freien Fall
H. Joachim Schlichting
Laien erklären den Flutberg auf der dem Mond zugewand-
56 ten Erdseite meist falsch. Was ist seine wahre Ursache?
Béatrix Midant-Reynes
Innerhalb eines Jahrtausends wandelte sich Ägypten von
einem Land der Klans zu einem mächtigen Staat.
Metamaterialien
80 Physikalische Tarnkappen
Robert Schittny, Martin Wegener
Mit Metamaterialien kann man Dinge unsicht-
bar, unhörbar oder unfühlbar machen.
60 60 Universelle Gesetze
r
Terence Tao
Naturgesetze für sehr komplizierte Systeme sind häufig
weit gehend unabhängig von den Regeln, die für die
einzelnen Systemkomponenten gelten. Forscher suchen
intensiv nach einer mathematische Begründung für die
jüngst entdeckten unter diesen universellen Gesetzen.
Chemische Unterhaltungen
74 Lang lebe das Zwischenprodukt!
Roald Hoffmann
Es steht zu Unrecht im Schatten seines prominenteren
Verwandten, des Katalysators.
mus bis zu einer subjektivistischen In- dere Vorgänge kennen wir in der Physik
terpretation der bornschen Regel. Trotz- nicht. Es kann sich also nur um die Fra-
dem findet Baeyer zu Schrödingers Kat- ge handeln, welche Wellenfunktionen
ze: »Der QBismus löst das Rätsel, indem wir als relevanter für die Katzensitua
er darauf beharrt, die Wellenfunktion tion erachten. Ich denke, man kann hier
sei keine objektive Eigenschaft der Kat- sehr schnell zu der Überzeugung gelan-
ze in der Kiste, sondern eine subjektive gen, dass uns das Untersuchungsobjekt
Idee des Beobachters.« Die in der Tat letztlich doch mehr interessieren wird
logisch nicht hinnehmbare Aussage, die als die Gefühlslagen irgendwelcher Be-
Katze sei (in ein und demselben Kausal- obachter, die einer subjektivistischen
zusammenhang) zugleich tot und le- Interpretation der Wahrscheinlichkeits
bendig, kommentiert Baeyer so: »Dass theorie vertrauen.
der Kenntnisstand einer Person die Welt
so oder anders erschafft, ist eine absur- Gunter Berauer, München: Bei den
de, geradezu größenwahnsinnige Idee.« Aussagen des Beitrags von einer neuen
Das ist natürlich richtig. Allerdings Quantentheorie zu sprechen, ist ein we-
weiß ich nicht, wo da der Unterschied nig vermessen. Denn alles, was in dem
zu den vorsätzlich subjektivistischen Beitrag als neu bezeichnet wird, ist eine
Beobachtern des QBismus liegen soll. direkte Folge der alten Kopenhagener
Gar nicht so neu Überdies scheint mir hier die Einsicht Deutung der Quantenmechanik, die
Laut dem theoretischen Teilchenphysi- etwas zu mangeln, dass eine »subjek immer noch als Standardinterpreta
ker Hans Christian von Baeyer gibt tive Idee« genauso wie die Vorgänge im tion gilt. Auch sie kombiniert schon
die Wellenfunktion nur das wieder, was Katzenkasten auf einem objektiven Quanten- und Wahrscheinlichkeits
ein Beobachter erwartet (»Eine neue materiellen Vorgang beruht (in diesem theorie – genauso, wie es der QBismus
Quantentheorie«, November 2013, S. 46). Fall auf einem objektiven Gehirnvor- tut. Nach Kopenhagen sagt uns die Wel-
gang). An sich müsste leicht zu verste- lenfunktion, mit welchen Wahrschein-
Norbert Hinterberger, Hamburg: Hier hen sein, dass man nicht einfach den lichkeiten bei einer bestimmten Wech-
werden lauter alte Ideen einfach neu ge- einen Vorgang wellentheoretisch be- selwirkung zwischen Teilen der Welt
mischt – vom Bayesianismus über den handeln kann und den anderen nicht. sich die verschiedenen Werte von Eigen-
Kopenhagener (Quanten-)Antirealis- Beides sind Materieprozesse – und an- schaften manifestieren können. Dabei
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Spektrogramm
BIOLOGIE
CHIPHERSTELLUNG
KLIMAFORSCHUNG
MEDIZIN
Adam Paxson, Kyle Hounsell, Jim Bales, James Bird, Kripa Varanasi, MIT
Schneller Absprung
Trifft ein Wassertropfen auf eine superhydrophobe Oberfläche, breitet er sich kurz aus und löst sich dann wieder
ab. Diese Mindestkontaktzeit lässt sich nicht weiter unterbieten – dachten Forscher bislang. Doch der Flügel eines
Morphofalters zeigt, wie man das Abprallen beschleunigen kann: durch feine Rippen, die den Tropfen zerteilen (Bild).
Die resultierenden kleineren Tröpfchen ziehen sich schneller wieder zusammen, was die Kontaktzeit verringert.
Forscher um Kripa Varanasi vom MIT belegten mit einer Hochgeschwindigkeitskamera, dass ein derart konstruiertes
Material auftreffende Tropfen schneller abweist. Das ließe sich etwa für die Turbinenschaufeln moderner Düsenflug-
zeuge nutzen, die einzufrieren drohen, wenn stark unterkühlte Wassertröpfchen auf sie einprasseln.
Nature 503, S. 385 – 388, 2013
EVOLUTION
als bei Fischen mit gewöhnlichem Hä- ringerte sich auch die Sauerstoffabgabe rabile, das jedoch erst 150 Millionen
moglobin. Rummer schätzt, dass so bei in die Muskeln. Die Plasma-Carboanhy- Jahre später entstand als das spezielle
gleicher Durchblutung bis zu doppelt drase ist demzufolge für die verbesser- Root-Effekt-Hämoglobin. Das spricht
so viel Sauerstoff in den Muskel gelan- te Sauerstoffversorgung der Forellen- dafür, dass die ursprüngliche Funktion
gen kann wie in Ruhe. muskeln verantwortlich. des besonders pH-sensitiven Blutfarb-
Dies ist einer weiteren Carboanhy Bisher kannte man den Root-Effekt stoffs die Erhöhung der Leistungsfä-
drase im umgebenden Blutplasma zu vor allem von der Beobachtung her, higkeit der Muskeln bei großer An-
verdanken, die aus den Blutzellen he dass solche Fische bei niedrigem pH- strengung war. In den Kiemen kann
raustransportierte Kohlensäure zu CO2 Wert des Bluts den darin transportier- dieses Hämoglobin übrigens durchaus
umsetzt, das dann erneut in die Zelle ten Sauerstoff in ihre Schwimmblase sehr viel Sauerstoff binden, um es
gelangen und dort wieder in der um pumpen können – und zwar sogar ent- dann in den Körper zu transportieren –
gekehrten Reaktion Protonen bilden gegen dem Konzentrationsgradienten! denn dort fehlt die Plasma-Carboanhy-
kann. Das Enzym verstärkt damit also So kontrollieren sie ihren Auftrieb und drase.
die Ansäuerung in den roten Blutkör- sparen beim Schwimmen Energie. An
perchen, was mehr Sauerstoff freisetzt. dem Vorgang beteiligt ist ein kompli- Julia Heymann ist promovierte Molekularbiolo-
Blockierten die Wissenschaftler es, ver- ziertes Gefäßsystem namens Rete mi- gin und freie Wissenschaftsjournalistin in Berlin.
Chemie
Kristallstrukturen von
nicht kristallisierbaren Substanzen
Um den räumlichen Aufbau eines Moleküls per Röntgenbeugung zu ermitteln, muss man es erst
einmal kristallisieren. Aber oft gelingt das nicht. Wie Forscher in Japan nun gezeigt haben,
kann man kleine Moleküle stattdessen auch in die Poren eines vorgefertigten Kristalls einfügen.
Diese von japanischen Forschern konstruierte Käfigstruktur enthält ein Gitter aus okta- mitglied Shota Yoshioka in einem
edrischen Bausteinen (links und Mitte) mit großen Hohlräumen dazwischen (rechts), Blindversuch die Aufgabe, die Struktu-
die andere Moleküle aufnehmen können. Das ermöglicht Röntgenstrukturanalysen auch ren von sechs ihm unbekannten Ver-
an solchen Verbindungen, die sich nicht kristallisieren lassen. bindungen mit jeweils fünf Mikro-
gramm Material zu ermitteln. In drei
Fällen führten die Röntgendaten allein
oktaedrischen Zellen, an deren sechs ten die Japaner für ihre Experimente direkt zum Erfolg. Bei den drei anderen
Ecken Kobaltatome mit zwei daran ge- winzige Exemplare ihres molekularen Substanzen konnte Yoshioka mit Hilfe
bundenen Thiocyanationen (SCN–) sit- Gerüsts, die nur rund einen zehntel zusätzlicher Routineanalysen wie etwa
zen. Die Seitenflächen werden jeweils Millimeter in jeder Raumrichtung ma- der Massenspektrometrie die Struktur
von einem organischen Molekül gebil- ßen und etwa ein Mikrogramm (mil letztendlich ebenfalls bestimmen.
det, das sich vom Triazin ableitet: ei- lionstel Gramm) wogen. Theoretisch Nach dieser Nagelprobe erhöhte
nem Benzolring, in dem drei Kohlen- können sie maximal ein halbes Mikro- die Arbeitsgruppe die Anforderungen.
stoff- durch Stickstoffatome ersetzt gramm an Fremdmolekülen aufneh- Nächstes Ziel war, die Struktur einer
sind. Diese Oktaeder sind derart in ei- men. Wenn die Gäste sich allerdings chiralen Verbindung zu ermitteln. Als
nem rechtwinkligen Gitter angeordnet, nur an bestimmten Gitterplätzen fest- Test wählten die Forscher den Natur-
dass zwischen ihnen geradlinige Kanäle halten und nicht dicht gedrängt die stoff Santonin: einen Bestandteil des
offen bleiben, die molekulare Gäste be- Gänge bevölkern, ist die benötigte Wurmsamens (Artemisia cina), der als
herbergen können (Bild oben). Stoffmenge noch deutlich geringer. Medikament gegen Wurmbefall dient.
Als solche lagerten die japanischen Normalerweise würden Chemiker in
Wissenschaftler zunächst bekannte Erprobung in Blindversuchen solchen Fällen weitere Kristalle der zu
einfache Moleküle ein, unter anderem Den japanischen Forschern gelang so untersuchenden Substanz züchten, wo-
die Fullerene C6 0 und C70 . Diese sperri- eine Strukturanalyse von Guajazulen, bei sie Schwermetallionen in das Mo
gen Kohlenstoffkugeln sind zu groß, einem ätherischen Öl aus dem Guajak- lekül einbauen. Die Röntgenstruktur-
um in die Oktaederzellen hineinzu- baum, mit lediglich 80 Nanogramm analyse ist nämlich in der Regel mehr-
schlüpfen, besetzen aber bereitwillig (milliardstel Gramm) Material, wovon deutig, was vor allem bei komplizierter
die offenen Kanäle. Zur Charakterisie- nur ein Teil in einen Kristallwürfel mit aufgebauten Verbindungen zum Prob-
rung des dreidimensionalen Gerüsts 80 Mikrometer Seitenlänge aufgeso- lem wird. Leicht zuzuordnende Reflexe
bestimmten die Forscher seine Struk- gen wurde. Dabei verwendeten die Wis- der eingebauten Metallatome im Beu-
tur per Röntgenbeugung. Dabei erhiel- senschaftler eine laborübliche Rönt- gungsbild ermöglichen es, diese Mehr-
ten sie, wenn Fullerene eingelagert wa- genquelle. Ihrer Ansicht nach sollten deutigkeit zu überwinden.
ren, gleichsam als Gratiszugabe auch mit stärkeren Röntgenstrahlen, wie sie Im Fall des Gerüstmoleküls zeigte
deren räumliche Gestalt. zum Beispiel an Speicherringen entste- sich allerdings, dass eine Variante des
Das brachte die japanischen Wissen- hen (Cyclotron-Strahlung), sogar weni- verwendeten Kristallgitters, die an den
schaftler auf die Idee, den molekularen ger als zehn Nanogramm ausreichen. Ecken Zink statt Kobalt sowie Iodid-
Schwamm als Basis für die Struktur Für den Laboralltag empfehlen die For- statt Thiocyanationen enthielt, bereits
bestimmung kleiner Gastmoleküle zu scher allerdings nicht ganz so extreme die benötigten Zusatzinformationen
benutzen. Dabei dachten sie zunächst Probendimensionen – es ist ja auch lieferte. Das machte den Einbau von
vor allem an Substanzen, die nur in ge- praktischer, wenn man seinen Kristall Schwermetallen überflüssig. Die mit
ringen Mengen zur Verfügung stehen. noch mit bloßem Auge sehen kann. diesem dreidimensionalen Gerüst
Da die Röntgenkristallografie mit sehr Um die Leistungsfähigkeit der Me- durchgeführte Röntgenstrukturanaly-
kleinen Kristallen auskommt, benutz- thode weiter zu testen, erhielt Team- se war ein voller Erfolg: Sie lieferte für
Mathematik
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forschung aktuell
Unendlichkeit der Primzahlen immer Im Gegensatz zu Primzahlen im Allge- stand zwischen der kleinsten und der
wieder Paare, die relativ nahe beieinan- meinen haben Primzahlpaare mit klei- größten Zahl, ist 16. Man stellt sich vor,
derliegen. Konkret hat Zhang bewiesen, nem Abstand bislang keine Anwen- dass das Sieb Löcher an genau den Stel-
dass es unendlich viele Primzahlpaare dung in der Kryptografie gefunden, im len hat, die von diesen Zahlen bezeich-
gibt, die sich um höchstens 70 Millio- Gegenteil: Man hüte sich davor, ein sol- net werden. Hält man es unter den Zah-
nen unterscheiden. ches Pärchen zur Erzeugung eines kryp- lenstrahl, fallen die entsprechenden
Die Primzahlzwillingsvermutung ist tografischen Schlüssels zu verwenden, Zahlen durchs Sieb; im Beispiel sind
relativ einfach zu formulieren und hat denn der wäre leichter zu knacken als das lauter Primzahlen.
auch deswegen in der Vergangenheit andere. Dennoch hat ein Ergebnis wie Interessant ist nun die Frage, wie vie-
viele Mathematiker interessiert. An- das von Zhang beträchtliche indirekte le Primzahlen herausfallen, wenn man
fang des letzten Jahrhunderts entwi- Auswirkungen, denn es stellt neue das Sieb an irgendeiner Stelle unter den
ckelten die Briten Godfrey H. Hardy Werkzeuge zur Untersuchung von Zahlenstrahl hält. Das heißt, man ad-
und John Littlewood aus plausiblen An- Primzahlen bereit und hebt allgemein diert eine ganze Zahl zu allen Zahlen
nahmen eine Formel, nach welcher der die Attraktivität des Fachs, was am Ende des Siebs (zum Beispiel 100) und schaut
durchschnittliche Abstand von zwei auch den Verschlüsselungstechnolo nach, welche der Ergebnisse Primzah-
aufeinanderfolgenden Zwillingspaaren gien zugutekommt. Und natürlich ist len sind. Im Beispiel ist unter den fünf
proportional zum Quadrat ihres Loga- eine relativ einfach formulierte, uralte Zahlen 113, 117, 119, 123 und 129 nur
rithmus ist. Die Formel ist bemerkens- mathematische Frage eine faszinieren- eine einzige Primzahl, nämlich 113. Ad-
wert genau. So behauptet sie, dass es de Herausforderung. Wann sonst hat diert man stattdessen 200, sind zwei der
zwischen 5 000 000 und 5 001 000 fünf man Gelegenheit, sich an einem jahr- fünf Ergebnisse Primzahlen, nämlich
bis sechs Zwillingspaare geben sollte. tausendealten Dialog zu beteiligen? 223 und 229.
Tatsächlich sind es genau fünf, be Jedes Mal, wenn zwei oder mehr
ginnend mit dem Paar 5 000 111 und Von 70 Millionen auf 5414 Primzahlen durchs Sieb fallen, hat man
5 000 113. Dennoch liefern die Über Wie beweist Yitang Zhang nun sein Re- ein Paar von Primzahlen gefunden, die
legungen von Hardy und Littlewood sultat? Sein wichtigstes Werkzeug heißt sich höchstens um den Durchmesser
keinen Beweis. Auf jeden Fall sind Prim- »Zahlensieb« und ist einfach eine end- des Siebs (in diesem Fall 16) unterschei-
zahlzwillinge recht selten. liche Zahlenmenge. Nehmen wir zum den. Wie bei Primzahlen üblich, sieht es
Die Untersuchung von Primzahl Beispiel die Menge, die aus den Zahlen zunächst so aus, als hinge die Anzahl
paaren scheint auf den ersten Blick von 13, 17, 19, 23 und 29 besteht. Der Durch- der herausfallenden Primzahlen nur
rein akademischem Interesse zu sein. messer dieses Siebs, das heißt der Ab- vom Zufall ab, und man könnte besten-
falls statistische Aussagen darüber tref-
fen. Aber es gibt doch Abschätzungen,
Je weiter nach rechts man auf dem Zahlenstrahl wandert, desto dünner sind die Prim- die nach sehr komplizierten Berech-
zahlen gesät; und die Primzahlzwillinge (rot) werden noch schneller selten. nungen den Schluss erlauben, dass das
Spektrum der Wissenschaft
2 3–5–7 11–13 17–19 23 29–31 37 41–43 47 53 59–61 67 71–73 79 83 89 97 101–103 107–109 113 127 131 137–139 149–151 157 163 167 173 179–181 191–193
197–199 211 223 227–229 233 239–241 251 257 263 269–271 277 281–283 293 307 311–313 317 331 337 347–349 353 359 367 373 379 383 389 397 401
409 419–421 431–433 439 443 449 457 461–463 467 479 487 491 499 503 509 521–523 541 547 557 563 569–571 577 587 593 599–601 607 613 617–619
631 641–643 647 653 659–661 673 677 683 691 701 709 719 727 733 739 743 751 757 761 769 773 787 797 809–811 821–823 827–829 839 853 857–859
863 877 881–883 887 907 911 919 929 937 941 947 953 967 971 977 983 991 997 1009 1013 1019–1021 1031–1033 1039 1049–1051 1061–1063 1069 1087
1091–1093 1097 1103 1109 1117 1123 1129 1151–1153 1163 1171 1181 1187 1193 1201 1213 1217 1223 1229–1231 1237 1249 1259 1277 1279 1283 1289–1291 1297
1301–1303 1307 1319–1321 1327 1361 1367 1373 1381 1399 1409 1423 1427–1429 1433 1439 1447 1451 1453 1459 1471 1481–1483 1487–1489 1493 1499 1511
1523 1531 1543 1549 1553 1559 1567 1571 1579 1583 1597 1601 1607–1609 1613 1619–1621 1627 1637 1657 1663 1667 1669 1693 1697–1699 1709 1721–1723
1733 1741 1747 1753 1759 1777 1783 1787–1789 1801 1811 1823 1831 1847 1861 1867 1871–1873 1877–1879 1889 1901 1907 1913 1931–1933 1949–1951 1973 1979
1987 1993 1997–1999 2003 2011 2017 2027–2029 2039 2053 2063 2069 2081–2083 2087–2089 2099 2111–2113 2129–2131 2137 2141–2143 2153 2161
... ...
... ...
44683 44687 44699–44701 44711 44729 44741 44753 44771–44773 44777 44789 44797 44809 44819 44839 44843 44851 44867 44879 44887 44893
44909 44917 44927 44939 44953 44959 44963 44971 44983 44987 45007 45013 45053 45061 45077 45083 45119–45121 45127 45131 45137–45139
45161 45179–45181 45191 45197 45233 45247 45259 45263 45281 45289 45293 45307 45317–45319 45329 45337 45341–45343 45361 45377 45389 45403
45413 45427 45433 45439 45481 45491 45497 45503 45523 45533 45541 45553 45557 45569 45587–45589 45599 45613 45631 45641 45659 45667 45673
45677 45691 45697 45707 45737 45751 45757 45763 45767 45779 45817 45821–45823 45827 45833 45841 45853 45863 45869 45887 45893 45943 45949
45953 45959 45971 45979 45989 46021 46027 46049–46051 46061 46073 46091–46093 46099 46103 46133 46141 46147 46153 46171 46181–46183
46187 46199 46219 46229 46237 46261 46271–46273 46279 46301 46307–46309 46327 46337 46349–46351 46381 46399 46411 46439–46441
46447 46451 46457 46471 46477 46489 46499 46507 46511 46523 46549 46559 46567 46573 46589–46591 46601 46619 46633 46639 46643 46649
46663 46679–46681 46687 46691 46703 46723 46727 46747 46751 46757 46769–46771 46807 46811 46817–46819 46829–46831 46853 46861 46867
46877 46889 46901 46919 46933 46957 46993 46997 47017 47041 47051 47057–47059 47087 47093 47111 47119 47123 47129 47137 47143 47147–47149
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Ereignis »zwei oder mehr Primzahlen« im Frühsommer fast täglich neue, klei- Einstein, der die spezielle Relativitäts-
unendlich oft auftreten muss – wenn nere Siebe ein (und wurden bisweilen theorie als Angestellter eines Patent-
das Sieb geeignet gewählt und vor allem wieder zurückgezogen, weil Fehler zu amtes konzipierte, und Andrew Wiles,
groß genug ist. Zhang konnte nun be- Tage getreten waren). Die kleinsten bis- der jahrelang am Beweis der fermat-
weisen, dass es möglich ist, ein solches her gefundenen Siebe von Ende Juli ha- schen Vermutung arbeitete, ohne je-
Sieb zu finden, dessen Durchmesser ben den Durchmesser 5414 und beste- mandem etwas davon zu sagen.
etwa 70 Millionen beträgt und das aus hen aus 720 Zahlen. Damit haben die Liegt in der anonymen Kollabora
ungefähr 3,5 Millionen Zahlen besteht. Forscher jetzt schon Zhangs Ergebnis tion nach der Art von »Polymath 8« die
Nachdem es eigentlich um ein Sieb um mehr als den Faktor 1000 verbes- Zukunft der Mathematik, oder werden
mit Durchmesser 2 geht, klingt dieses sert. Noch einmal ein solcher Fort- Einzelkämpfer wie Yitang Zhang der
Ergebnis noch nicht beeindruckend. schritt und die Primzahlzwillingsver- Forschung immer wieder neue Impulse
Aber Zhangs wesentliche Errungen- mutung wäre bewiesen! geben? Und steht die vollständige Lö-
schaft war die Methode; und alsbald Dass ein Einzelner in Isolation einen sung der alten Vermutung kurz bevor?
stürzten sich zahlreiche Mathematiker wissenschaftlichen Durchbruch erzielt, Zhang glaubt das nicht. Er denkt, dass
darauf. Im Gegensatz zu Zhang, der ist selten, aber nicht einzigartig. Be- dazu völlig neue Ideen erforderlich sein
nach eigener Aussage am liebsten im rühmte Beispiele sind Isaac Newton, werden.
stillen Kämmerlein arbeitet, eröffneten der im Pestjahr 1665 Cambridge verließ
sie ein wikiähnliches Internetprojekt und im Landhaus seiner Mutter die Dif- Hans Engler ist Professor für Mathematik
namens »Polymath 8«. Dort trudelten ferenzialrechnung entwickelte, Albert an der Georgetown University in Washington.
MEDIZIN
ben Neurowissenschaftler herausgefunden, dass eine neu entdeckte Substanz das Am Ort des Geschehens
Gehirn von Mäusen nach einem Schlaganfall signifikant vor bleibenden Schäden festgehalten
bewahrt. Dann kann der Stafettenstab im Rahmen der so genannten translationa Tartour und seine Kollegen stellten in
len Forschung an die Mediziner übergeben werden, die mit der klinischen Erpro ihren Untersuchungen fest, dass be-
bung am Menschen beginnen. Und wenn alles gut geht, steht am Ende die kom stimmte dendritische Zellen in der
merzielle Nutzung eines neuen Heilmittels für Schlaganfallpatienten. Lunge offensichtlich eine weitere
Doch leider läuft bei der Stabübergabe von der Grundlagenforschung am Tier Funktion erfüllen. Sie machen nicht
modell zur medizinischen Anwendung am Menschen so häufig etwas schief, dass nur die T-Zellen gegenüber dem einge-
unter Experten die Unruhe wächst. Der Neurologe Ulrich Dirnagel, der das Zentrum atmeten Antigen kampfbereit, son-
für Schlaganfallforschung an der Berliner Charité leitet, stellte schon im Oktober dern kurbeln zusätzlich noch deren
2011 auf der Website des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft lakonisch CD49a-Produktion an. Damit zwingen
fest: »Viele präklinische Studien taugen nichts.« Die translationale Medizin stecke in sie die Zellen dazu, nahe der Schleim-
einer Krise. Die durchschnittliche statistische Aussagekraft von Experimenten in der haut zu bleiben, wo sie ja auch ge-
präklinischen Forschung liege häufig nur wenig über 0,5: »Sie entspricht der Vorher braucht werden. Bei intramuskulärer
sagekraft eines Münzwurfs.« Impfstoffgabe bleibt dieser Effekt aus,
Mit diesem harten Urteil steht Dirnagel nicht allein. Sein schottischer Kollege weil in dem Fall andere dendritische
Malcolm Macleod von der University of Edinburgh ging nun der Karriere von 603 Zellen zum Zug kommen, etwa solche
chemischen Verbindungen nach, die im Tierversuch augenscheinlich die Folgen ei in der Milz.
nes Schlaganfalls zu lindern vermochten. Ganze 97 davon wurden an Menschen er Mithin scheint der Ort, an dem der
probt, aber nur eine einzige zeigte irgendeine Wirkung; und selbst diese Substanz Impfstoff verabreicht wird, eine we-
wurde gar nicht wegen der Tierversuche getestet, sondern weil bereits bekannt war, sentliche Rolle zu spielen – zumindest,
dass sie Herzinfarktpatienten hilft (Science 342, S. 922, 2013). wenn neben der Produktion von Anti-
körpern auch die von CD8-positiven T-
Den Grund für die mangelnde Effizienz der präklinischen Tierforschung sehen Dirna Lymphozyten gefördert werden soll.
gel und Macleod in der schlampigen Methodik. So erfüllte laut Macleod nur ein Drit Offenkundig können T-Zellen, im Ge-
tel der von ihm überprüften Tierversuche die Standardanforderung an einen Blind gensatz zu den wesentlich kleineren
test: Erstens müssen die Versuchstiere nach dem Zufallsprinzip entweder das fragli Antikörpern, nicht überall hin gelan-
che Medikament empfangen oder in die unbehandelte Kontrollgruppe wandern, und gen. Um ihr Ziel zu erreichen, müssen
zweitens dürfen die Versuchsleiter nicht von vornherein wissen, welche Maus zu wel sie entweder von Signalmolekülen an-
cher der beiden Gruppen gehört. Nur dadurch ist ausgeschlossen, dass Wunschden gelockt werden oder Proteine tragen,
ken das Resultat beeinflusst – und tatsächlich stellte Macleod fest: Je methodisch un die sie an den Ort des Geschehens diri-
sauberer der Mäusetest, desto durchschlagender die vermeintliche Heilwirkung. gieren – etwa Integrin CD49a. Dass Me-
Offenbar steckt dahinter gar keine betrügerische Absicht, sondern der vom For diziner diesen Effekt bislang nicht oder
schungsbetrieb aufgebaute Druck, positive Resultate zu erzielen. Auch scheint eine kaum beachtet haben, könnte einer der
paradoxe Mischung von Tierliebe und Distanz zum Versuchsobjekt am Werk zu sein. Gründe dafür sein, warum Krebsimp-
Auf der einen Seite werden aus falsch verstandenem Tierschutz viel zu kleine Ver fungen gegen Schleimhauttumoren
suchstiergruppen gewählt – als könnte man mit fünf bis zehn Mäusen signifikante (etwa beim Lungenkrebs) bisher relativ
Aussagen über die Wirkung eines Medikaments gewinnen. Das heißt aber, die Tiere erfolglos geblieben sind. Die Ergebnisse
leiden umsonst. Auf der anderen Seite sehen auf den ersten lassen sich allerdings nicht auf alle
Blick alle Mäuse gleich aus; also fasst der Experimentator in Schleimhauttumoren übertragen. Bei
den Käfig und fischt scheinbar zufällig einzelne Versuchs Gebärmutterhalskrebs etwa scheinen
tiere heraus – ohne zu bedenken, dass es ganz unterschied intravaginale Impfungen keinen Vor-
liche Mäuse gibt, neugierige und ängstliche, muntere und teil gegenüber intramuskulären zu
schläfrige. Die einen springen förmlich in die Hand, die an bringen.
deren entgehen ihr. So wird beim menschlichen Zugriff un
absichtlich eine Auslese unter den kleinen Persönlichkeiten Emmanuelle Vaniet ist promovierte Biologin
Michael Springer
getroffen – und damit die Testreihe verfälscht. und arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in
Darmstadt.
SONN TAG
–
MOMNKITAG
A OSK
KULTUR
Was wir tasten, hören, sehen, riechen und schmecken, wird vom
Gehirn nicht getrennt verarbeitet, sondern als dichtes Datengeflecht.
G
egen Ende der 1970er Jahre engagierte das FBI rige Kartoffelchips naschen, beeinflusst das Kaugeräusch
(Federal Bureau of Investigation, Ermittlungs unser Geschmacksurteil – und Forscher können das Resultat
behörde der US-Bundespolizei) neun gehörlose von Geschmackstests durch Manipulieren des Höreindrucks
Mitarbeiter, um Fingerabdrücke zu analysieren. verändern. Während wir stillstehen, prägen Blickrichtung
Man nahm an, Gehörlosen fiele es leichter, sich auf die und Gesehenes unsere gesamte Körperhaltung. Wie die For
akribische Tätigkeit zu konzentrieren. Doch eine Frau, Sue schung der letzten 15 Jahre zeigt, arbeitet kein Sinn für sich
Thomas, fand die Aufgabe vom ersten Tag an unerträglich allein. Von dieser multisensorischen Revolution profitieren
langweilig. Sie beklagte sich darüber so oft bei ihren Vorge unter anderem die Prothesen für Blinde und Gehörlose, etwa
setzten, dass sie mit der Kündigung rechnete, als man sie mit die Cochleaimplantate.
anderen Agenten zu einer Aussprache vorlud.
Doch Sue Thomas wurde nicht gefeuert, sondern in ge Stumme Silben
wissem Sinn sogar befördert. Die Agenten führten ihr eine Eines der bekanntesten Beispiele für multisensorische Wahr
Stummfilmaufnahme von zwei Verdächtigen vor und baten nehmung ist der so genannte McGurk-Effekt, den der briti
sie, deren Unterhaltung zu entschlüsseln. Die Kollegen hat sche Entwicklungspsychologe Harry McGurk und sein Assis
ten bei ihren eigenen Gesprächen mit Thomas bemerkt, wie tent John MacDonald 1976 entdeckten. Wenn man den
geschickt sie von den Lippen ablas. Wie erwartet deutete Stummfilm einer mehrmals die Silbe »ga« wiederholenden
die Gehörlose den Dialog der Verdächtigen ohne Weiteres: Person betrachtet, während man simultan einer Tonbandauf
Die beiden waren dabei, illegale Glücksspiele zu organisie nahme derselben Person lauscht, die wiederholt »ba« sagt,
ren. So wurde Sue Thomas die erste FBI-Expertin für Lippen wird man die Silbe »da« hören. Die stummen »ga«-Silben
lesen. verändern die Wahrnehmung der hörbaren »ba«-Silben, weil
Sie hatte diese Fertigkeit perfektioniert, weil sie als Ge das Gehirn Gehörtes und Gesehenes integriert. Der McGurk-
hörlose von Geburt an auf sie angewiesen war, doch unbe Effekt funktioniert in allen Sprachen und – wie ich bestätigen
wusst verfügen wir alle über das gleiche Talent. Tatsächlich kann – selbst dann, wenn man ihn seit 25 Jahren untersucht.
verstehen wir schlechter, was jemand sagt, wenn wir seine Die Sprache, die man hört, wird auch beeinflusst durch
Lippen nicht sehen können – vor allem bei lauter Umge die Sprache, die man fühlt. Im Jahr 1991 ließ die amerikani
bung oder wenn jemand mit starkem Akzent spricht. Zur sche Psychologin Carol Fowler, damals am Dartmouth Col
normalen Sprachentwicklung gehört, dass wir lernen, Ge lege in Hanover (New Hampshire) tätig, ungeschulte Frei
sprochenes nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den willige die so genannte Tadoma-Technik ausführen. Dabei
Augen wahrzunehmen. Deshalb brauchen blinde Kinder oft deutet man die Sprache des Gegenübers, indem man die
überdurchschnittlich lange, um gewisse Feinheiten des Finger auf dessen Lippen, Wange und Hals legt. Vor dem Auf
Sprechens zu lernen. Unweigerlich kombinieren wir die kommen der Cochleaimplantate waren viele Taubblinde –
Wörter, die wir auf den Lippen des anderen sehen, mit den unter anderem die berühmte taubblinde Schriftstellerin
Wörtern, die wir hören. Durch die Erforschung der multi Helen Keller ( 1880 – 1968) – auf Tadoma angewiesen. Die der
sensorischen Sprachwahrnehmung hat sich unser Bild von art von den Freiwilligen gefühlten Silben veränderten bei
der Art und Weise, wie das Gehirn die unterschiedlichsten den Versuchen die Interpretation von gleichzeitig per Laut
Sinnesdaten organisiert, in den vergangenen Jahren radikal sprecher dargebotenen Silben.
gewandelt.
Neurowissenschaftler und Psychologen haben die frühere
Auf einen Blick
Vorstellung weit gehend aufgegeben, das Gehirn bestehe wie
ein Schweizer Taschenmesser aus separaten Modulen, die für
unterschiedliche Sinne zuständig seien. Gemäß dem neuen Unser multisensorisches Gehirn
Bild förderte die Evolution vielmehr die Wechselwirkung
aller Sinne: Die sensorischen Regionen des Gehirns sind neu 1 Früher stellten sich Neurowissenschaftler das Gehirn wie ein
Schweizer Taschenmesser vor: Verschiedene Regionen seien ex-
klusiv für unterschiedliche Formen der Sinneswahrnehmung
ronal vernetzt. zuständig. Es gebe eigene Hirnmodule für Sehen, Hören, Riechen,
Unsere Sinne belauschen einander quasi fortwährend Schmecken und Tasten.
und stecken ihre Nase in fremde Angelegenheiten. Beispiels
weise ist der visuelle Kortex (die Sehrinde) zwar vorwiegend 2 In den vergangenen drei Jahrzehnten haben psychologische
und neurowissenschaftliche Forschungen ergeben, dass das
Gehirn ein multisensorisches Organ ist: Es kombiniert unauf
mit Sehen beschäftigt, vermag aber durchaus auch andere
hörlich die Informationen der verschiedenen Sinnesmodalitäten.
Sinnesdaten zu interpretieren. Verbindet man einer Test
person die Augen, so wird sie binnen 90 Minuten dank ihrer
Sehrinde besonders tastempfindlich; ebenso zeigen bildge
3 Diese multisensorische Revolution hat nicht nur die frühere Vor-
stellung von der Arbeitsweise des Gehirns radikal gewandelt.
Sie ermöglicht auch bessere Prothesen für Blinde und Gehörlose
bende Verfahren, dass der visuelle Kortex von Blinden neue sowie effiziente Computerprogramme für die Spracherkennung.
Nervenverbindungen fürs Hören ausbildet. Wenn wir knusp
www.spektrum .de 25
1997 kartierte die Neurowissenschaftlerin Gemma Calvert schluss über die Identität des Redners. Robert Remez von der
an der University of Oxford die beim Lippenlesen besonders Columbia University in New York reduziert normale Sprach
aktiven Hirnareale. Dabei lasen untrainierte Versuchsperso aufnahmen auf Sinuswellen, die dem Pfeifen und Piepsen
nen stumm von den Mundbewegungen eines Gesichts ab, des Roboters R2-D2 in »Star Wars« ähneln. Obwohl diesen
das langsam die Zahlen von Eins bis Neun artikulierte. Wie Geräuschen typische Stimmeigenschaften wie Tonlage und
Calvert herausfand, aktiviert Lippenlesen den auditiven Kor Timbre fehlen, vermögen Zuhörer daran ihre Freunde zu er
tex – die Hörrinde – sowie verwandte Hirnregionen, die beim kennen. Testpersonen sind sogar fähig, solche Sinuswellen
Hören von Sprache mitwirken. Damit wies sie nach, dass ein den gesichtslosen Punktmuster-Filmen desselben Sprechers
vermeintlich nur für einen Sinn zuständiges Hirnareal von richtig zuzuordnen.
anderen Wahrnehmungskanälen beeinflusst wird. Spätere Die Tatsache, dass abgespeckte Versionen von gehörter
Studien haben weitere Indizien für ein solches Zusammen und gesehener Rede dieselbe Information über den Sprech
wirken geliefert. Zum Beispiel wissen Forscher nun, dass der stil bewahren, legt den Schluss nahe, dass die beiden Wahr
auditive Hirnstamm nicht bloß der groben Vorverarbeitung nehmungsmodalitäten im Gehirn vernetzt sind. Bildgebende
von Geräuschen dient, sondern auch auf gewisse Aspekte Verfahren stützen diese Hypothese: Beim Hören einer ver
von gesehener Sprache reagiert. Wie bildgebende Verfahren trauten Stimme wird der Gyrus fusiformis aktiviert – und
gezeigt haben, verhält sich das Gehirn beim McGurk-Effekt, diese Hirnwindung im Schläfenlappen der Großhirnrinde ist
wenn akustisch die Silbe »ba« dargeboten wird, tatsächlich für das Erkennen von Gesichtern zuständig.
so, als würde das Ohr die Silbe »da« empfangen.
Diesen Befunden zufolge macht das Gehirn letztlich kei Vermischte Wahrnehmungen
nen Unterschied zwischen Sätzen, die es über die Ohren, die Das Ergebnis führte zu einer noch ausgefalleneren Vorher
Augen oder sogar über die Haut empfängt. Das heißt nicht, sage. Wenn die Wahrnehmungsformen vermischt sind, dann
dass diese unterschiedlichen Modalitäten gleich viel Infor sollte das Erlernen der Fähigkeit, von den Lippen einer be
mation liefern: Gewiss fängt das Gehör mehr Details der stimmten Person zu lesen, zugleich auch das Hörverständnis
Artikulation auf als der Gesichts- oder der Tastsinn. Vielmehr der von ihr gesprochenen Wörter verbessern. Wir baten un
unternimmt das Gehirn eine konzertierte Aktion, um all geschulte Freiwillige, eine Stunde lang anhand des Stumm
die verschiedenen Typen der empfangenen Sprachinforma films einer Rede das Lippenlesen zu üben. Danach lauschten
tion auszuwerten und zu kombinieren – ungeachtet ihrer die Testpersonen einer Menge von gesprochenen Sätzen vor
Modalität. einem Hintergrund von Zufallsrauschen. Ohne es zu wissen,
In anderen Fällen helfen unterschiedliche Sinne einander hörte die eine Hälfte der Versuchsteilnehmer Sätze dersel
bei der Verarbeitung derselben Information. Beispielsweise ben Person, deren Lippen sie gerade abgelesen hatten, wäh
liefert die spezielle Sprechweise einer Person Information rend die zweite Hälfte einem neuen Sprecher lauschte. Den
darüber, wer da redet – unabhängig davon, ob die Worte Teilnehmern der ersten Gruppe fiel es leichter, die verrausch
gesehen oder gehört werden. Meine Kollegen und ich filmen ten Sätze zu verstehen.
Leute beim Sprechen und manipulieren die Aufnahmen so, Das Phänomen der multisensorischen Sprachwahrneh
dass die Gesichtszüge nicht zu erkennen sind: Man sieht an mung hat Forscher zur Untersuchung aller möglichen Wech
Stelle der Wangen und Lippen leuchtende Punktmuster, die selwirkungen zwischen den Sinnen animiert. Zum Beispiel
wie Glühwürmchen umherschwirren. Dennoch können un ist nicht nur der Geruch bekanntermaßen eine wichtige
sere Versuchspersonen von den Lippen dieser gesichtslosen Geschmackskomponente: Auch visuelle und akustische
Punktmuster lesen und daran ihre Freunde erkennen. Auch Eindrücke können den Geschmack verändern. Besonders
einfache, aus Sprechszenen gefilterte Klänge liefern Auf verblüffend ist, dass Orangensaft nach Kirsche schmeckt,
wenn er rot gefärbt wird, und umgekehrt. Wie Massimiliano
Zampini von der Universität Trient in Italien zeigte, beein
flussen unterschiedliche Kaugeräusche, die man Versuchs
personen beim Probieren von Kartoffelchips vorspielt, das
Geschmackserlebnis von Frische und Knusprigkeit. Wenn
man eine kontinuierlich abfallende visuelle Struktur – etwa
einen Wasserfall – betrachtet und gleichzeitig eine waag
rechte Struktur betastet, scheint letztere schräg anzusteigen.
Tom Stoffregen von der University of Minnesota in Min
neapolis bat Personen, gerade zu stehen und ihren Blick von
einem nahen Ziel auf ein weiter entferntes zu lenken. Dieser
einfache Wechsel der Blickrichtung veränderte die gesamte
Körperhaltung.
Das multisensorische Modell unterstreicht die unglaub
liche Plastizität des Gehirns: Dieses kann die Hauptfunktion
AXS Biomedical Animation Studio; multisensorisches Schema nach Ghazanfar, A.A. und Schroeder,
sensorischer Wahrnehmung wie Tastgefühl und Temperatur. Nun stellt sich heraus, dass die
C.E.: Is neocortex essentially multisensory? In: Trends in Cognitive Sciences 10, S. 278–285, 2006;
visuell somatosensorisch
eines Areals quasi auswechseln, wenn der Zustrom von Sin nutzen unsere Augen, um andere zu sehen, und unsere Oh
nesdaten auch nur kurz unterbrochen oder eingeschränkt ren, um sie zu hören; wir spüren die Härte eines Apfels mit
wird. Zum Beispiel haben Hirnforscher in den vergangenen unseren Händen, schmecken ihn aber mit der Zunge. Doch
Jahren bestätigt, dass die Sehrinde einer Person, der nur sobald die Sinnesdaten das Gehirn erreichen, schwinden
eineinhalb Stunden lang die Augen verbunden werden, auf solch strenge Trennungen. Die von den Augen aufgenom
Tasteindrücke zu reagieren beginnt. Tatsächlich steigt dabei mene visuelle Information wandert nicht nur in einen Con
auch die Empfindlichkeit des Tastsinns. Ähnlich wirkt Kurz tainer und die von den Ohren empfangenen auditiven Daten
sichtigkeit: Oft verbessert sie das Gehör und die räumliche in einen anderen, als würde das Gehirn Münzen sortieren.
Orientierung – und zwar selbst bei Brillenträgern, denen Vielmehr destilliert es aus der Welt möglichst vielfältige Be
ihr Gesichtsfeld nur in der Mitte wirklich scharf erscheint. deutung, indem es die verschiedenen Formen der Sinnes
Im Allgemeinen kommt eine gegenseitige Hilfestellung der wahrnehmung kombiniert. Ÿ
Sinne viel häufiger vor als früher angenommen.
Diese Erkenntnis nützt bereits heute Menschen, die einen
Der Autor
ihrer primären Sinne eingebüßt haben. Beispielsweise hat
sich gezeigt, dass ein Cochleaimplantat schlechter funktio Lawrence D. Rosenblum ist Psychologieprofessor
niert, wenn das Gehirn schon allzu viel Zeit hatte, den ver an der University of California in Riverside
und Autor des Buchs »See What I’m Saying: The
nachlässigten auditiven Kortex auf andere Wahrnehmungs
Extraordinary Power of Our Five Senses«
formen wie Sehen und Fühlen umzuprogrammieren. Darum (W. W. Norton, New York 2010).
empfehlen Experten, gehörlos geborenen Kindern mög
lichst früh Cochleaimplantate einzupflanzen. Danach sollen
die kleinen Patienten Filmszenen mit Sprechenden betrach
ten, damit sie lernen, die Lippenbewegungen mit der gehör Quellen
ten Sprache zusammenzuführen. Rosenblum, L. D.: Speech Perception as a Multimodal Phenomenon.
Auch Techniker, die Geräte zur Gesichts- und Spracherken In: Psychological Science 17, S. 405 – 409, 2008
nung entwickeln, profitieren von der Erforschung der multi Stein, B. E. (Hg.): The New Handbook of Multisensory Processing.
MIT Press, Cambridge 2012
sensorischen Wahrnehmung. Spracherkennungssysteme
versagen oft schon bei mäßigem Hintergrundlärm. Wenn Literaturtipp
man solchen Programmen beibringt, Aufnahmen von Mund
bewegungen zu analysieren, arbeiten sie viel genauer; die Nicolic, D., Jürgens, U. M.: Sinfonie in Rot. In: Gehirn und Geist
6/2011, S. 58 – 63
Methode funktioniert sogar mit den in Smartphones und
Der Artikel illustriert die Verknüpfung der Sinne durch das Phänomen
Laptops installierten Kameras. der Synästhesie: Synästhetiker sehen Töne oder schmecken Farben.
Zunächst scheint das multisensorische Modell unserer www.spektrum.de/artikel/1069983
Alltagserfahrung zu widersprechen, denn jeder Sinn nimmt
offenbar einen ganz eigenen Aspekt der Welt wahr. Wir be Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1214045
www.spektrum .de 27
Astrophysik
Die Kinderstuben
der Sterne
In Sternhaufen bilden sich neue Sonnen. Oft geht es dort zu wie in
einem Bienenschwarm. Eine neue Theorie versucht zu erklären,
wie die Haufen entstehen und sich wieder auflösen, in seltenen
Fällen aber hunderte Millionen von Jahren bestehen bleiben.
Von Steven W. Stahler
D
ie Figuren, die manche am nächtlichen Firma- Gas aufleuchten. Einen weiteren Sternhaufen, die Plejaden,
ment zu erkennen glauben, stellen nur Projektio- aus dem einzelne Hauptsterne hell hervortreten, sieht man
nen des menschlichen Gehirns dar, das einzelne als verschwommenen Lichtfleck im Sternbild Stier sogar mit
Sterne miteinander in Beziehung zu setzen ver- dem bloßen Auge.
sucht. Tatsächlich ist die große Mehrzahl aller Sterne auf sich Sternhaufen kommen in höchst unterschiedlichen Vari-
gestellt und weit von ihren Nachbarn entfernt. Doch das war anten vor, die von schwächlichen Gebilden mit wenigen Dut-
nicht immer so: Jeder Stern beginnt sein Leben in einer Grup- zend Mitgliedern bis zu dichten Ansammlungen von Millio-
pe von Geschwistern nahezu gleichen Alters. Erst nach und nen Sternen reichen. Einige Exemplare sind nur ein paar Mil-
nach driftet die Schar auseinander. Einige dieser stellaren lionen Jahre alt, andere Haufen stammen aus der Frühzeit
Kinderstuben existieren noch heute; Astronomen bezeich- des Universums. Nicht zuletzt, weil sie Sterne in allen mögli-
NASA / ESA / AURA / Caltech
nen sie als Cluster oder Sternhaufen. Der wohl bekannteste chen Stadien ihres Lebenszyklus beherbergen, haben sie die
von ihnen ist der Orion-Trapezium-Haufen im Orion-Nebel: wichtigsten Belege für die heutige Theorie der Sternentste-
Bilder des Weltraumteleskops Hubble zeigen, wie seine hung geliefert, eine der größten astrophysikalischen Errun-
Sterne inmitten von aufgewühlten Wolken aus Staub und genschaften des 20. Jahrhunderts (siehe SdW 8/2013, S. 46).
Weniger gut erforscht ist, wie sich Sternhaufen als solche In den folgenden beiden Jahrzehnten habe ich einen er-
entwickeln und was genau sich in ihnen abspielt. Und warum heblichen Teil meiner Zeit dafür aufgewandt, Belege für die-
gibt es sie ausgerechnet in den heute beobachteten Spiel se Vermutung zu finden. Schon damals wussten Astrono-
arten? Vor etwa 20 Jahren, als ich gemeinsam mit Francesco men viel über die Entstehung von Sternen und auch einiges
Palla vom Arcetri-Observatorium in Florenz ein Lehrbuch über die Cluster, in denen das geschieht. Ausgangspunkt sind
über Sternentstehung verfasste, wurde mir erstmals be- große Molekülwolken, wie sie in jeder Galaxie vorkommen.
wusst, dass wir offenbar weit mehr über die Sterne selbst Sie bestehen vor allem aus Wasserstoffmolekülen, außerdem
wissen als über die Kinderstuben, die sie hervorbringen. An finden sich in ihnen weitere Elemente sowie geringe Mengen
einem Nachmittag, wir saßen gerade im Café Strada in Berke- an Staub. Den Schwerkraftsog einer Wolke spüren nicht nur
ley, kam mir eine Idee. Vielleicht erschaffen ja dieselben phy- Sterne und andere Objekte in ihrer näheren Umgebung, er
sikalischen Kräfte die verschiedenen Haufenvarianten. Und wirkt auch auf die Materie in ihrem Inneren. Dort, wo ihre
vielleicht ist nur eine einzige Variable dafür maßgeblich, wel- Gas- und Staubdichte besonders groß ist, ballt sich die Ma
che Art Haufen im Lauf der Zeit entsteht – nämlich die Masse terie daher zu so genannten Protosternen zusammen, den
der »Elternwolke«, in der ein Cluster geboren wird. Vorläufern der Sterne.
T-Assoziationen überdauern meist nur einige Millionen Jahre. ger Masse unter dem Einfluss ihrer eigenen, recht schwachen
Sie enthalten bis zu einige Hundert junger T-Tauri-Sterne, die Schwerkraft langsam zusammenzieht. Von den Sternen ausge-
noch von Überresten der Elternwolke umgeben sind. Solche hende Materieströme vertreiben anschließend die Wolke. Später
Sternhaufen entstehen vermutlich, wenn sich eine Wolke niedri- verteilen sich sowohl Gaspartikel als auch Sterne im Weltraum.
OB-Assoziationen bleiben bis zu zehn Millionen Jahre beste- trem große Massen und kontrahieren sehr schnell. Später wer-
hen. In ihrem Inneren tummeln sich dicht an dicht Tausende den sie durch die starke ultraviolette Strahlung der O- und B-
von Sternen, darunter einige Exemplare der sehr massereichen Sterne vertrieben. Die Sternhaufen dehnen sich dann weiter
O- und B-Typen. Die Elternwolken solcher Cluster besitzen ex aus, und ihre Mitglieder verschwinden ins All.
Offene Cluster sind der langlebigste Typ von Sternhaufen. Sie mittlerer Masse zusammenziehen. Obwohl stellare Winde die
können hunderte Millionen oder gar Milliarden Jahre alt wer- Elternwolke wegblasen, lösen sich diese Sternverbände über
Malcolm Godwin
den, enthalten aber deutlich weniger Sterne als OB-Assoziatio- sehr lange Zeiträume nicht auf, vermutlich dank der wechsel-
nen. Offene Cluster entstehen vermutlich, wenn sich Wolken seitigen gravitativen Anziehung ihrer Mitglieder.
hoch
Trapezium-
Haufen (weiße Linie) vorhergesagt hatten.
Diagramme: Malcolm Godwin; links nach Palla, F. and Stahler, S. W.: Star formation in the Orion nebula cluster. In: Astrophysical
200
Leuchtkraft relativ zur Sonne (logarithmisch)
Journal 525, S. 772–783, 1999, fig. 3; Foto rechts: NASA / HST / C. Robert O’Dell, Vanderbilt University & S. K. Wong, Rice University
Geburt junger Sterne
150
2
1
100
Sterne in
0 reifem Stadium
gemessene
Rate
–1
50
theoretisch
vorhergesagte
–2 Rate
dunkler
niedrig
–3 0
4,6 4,4 4,2 4,0 3,8 3,6 3,4 10 8 6 4 2 0
heißer kühler alt jung
Oberflächentemperatur in Grad Kelvin Sternalter
(logarithmisch) (in Millionen Jahren)
E
in Spaziergang an einem frostigen Wintermorgen ist bar aus Längsrissen des Stiels im weichen Zustande hervor
zwar nicht jedermanns Sache, mitunter lohnen aber gequollen war. Die Bänder hatten eine glänzende seidenarti
fragile Eisskulpturen an den Stängeln meist abge ge Oberfläche und ein faseriges Gefüge.«
storbener Pflanzen die Mühe. So entdeckte ich 2005 Im Jahr 1850 ergänzte der Mediziner und Naturforscher
Eisformationen vom Auto aus am frisch gemähten Straßen John LeConte von der University of Georgia diese Angaben
rand. Die Gebilde begleiteten mich auf der gesamten Fahrt im gleichen Magazin. Demnach bildeten sowohl intakte als
durch Kentucky. Offensichtlich herrschte überall die richtige auch abgeschnittene Stiele das Eis. Obwohl er nicht aus
Kombination aus Temperatur, Luftfeuchtigkeit und den pas schließen konnte, dass die Wurzeln noch nicht abgestorben
senden Pflanzenarten. waren, schien ihm die Physiologie der Pflanze keine Rolle zu
Seit gut zehn Jahren untersuche ich dieses Phänomen. spielen. LeContes Schilderung war im wahrsten Wortsinne
Von einer Fundstelle in Tennessee sammelte ich im Jahr da recht blumig: »Aus der Distanz ähneln sie aufgesprungenen
rauf Samen von Verbesina virginica und konnte dann im fol Baumwollkapseln; sie erreichen zehn bis zwölf Zentimeter
genden Winter Studien in meinem eigenen Garten anstellen. im Durchmesser und befinden sich unten am Stängel; meh
Freilich darf ich nicht den Anspruch erheben, als Erster da rere gleichzeitig wirken eindrucksvoll und wunderschön.«
rauf gestoßen zu sein. Einige Pflanzenarten, an denen Eisge Ähnlich formulierte 1892 der amerikanische Naturforscher
bilde entstehen, sind in den Vereinigten Staaten seit Langem William Hamilton Gibson: »Es handelt sich um eine Blüte
unter Namen wie »frostweed« oder »frost plant« bekannt, aus Eiskristallen von reinstem Weiß, die vom Stiel ausge
und schon im frühen 19. Jahrhundert publizierten Wissen hend die Rinde entzweireißt; sie bildet skurrile federarti-
schaftler entsprechende Beobachtungen. Ein bemerkenswer ge Kringel und Kämme.« Interessant war seine Überlegung,
ter Bericht stammt von Sir John F. W. Herschel, dem Sohn je dass der zur Verfügung stehende Pflanzensaft für die Größe
nes Astronomen, der den Planeten Uranus entdeckt hat. 1833 der Gebilde nicht ausreichen dürfte, wahrscheinlich also
veröffentlichte er eine bebilderte Arbeit in der Zeitschrift auch Feuchtigkeit aus dem Boden eine Rolle spielt.
»The London and Edinburgh Philosophical Magazine and
Journal of Science«. Darin beschrieb er Eisgebilde als »band- Blüten ohne Wurzeln
oder hemdkrausenartige wellenförmige Masse, die schein William Coblentz, Physiker am National Bureau of Standards
in Washington, setzte 1914 Stängel unter Laborbedingungen
in feuchte Erde. Wie er beweisen konnte, sind Wurzeln für die
Auf einen Blick
Bildung der Eiskringel nicht unbedingt erforderlich. Diese
Frostiges Vergnügen entstanden aber auch nicht aus kondensierendem Wasser
dampf, wie es beim Raureif der Fall ist.
Die Physik macht es möglich: Ein abgeschnittener Stängel treibt äußere Schicht durch Austrocknung, gefriert das Wasser an der
eine Blüte – allerdings besteht sie aus Eis. Dazu muss nicht kalten Oberfläche. Sobald sich Eis bildet, kann weiteres nach-
nur die Lufttemperatur unter den Gefrierpunkt fallen; im Stän- fließen, bis Eisbänder wachsen (sofern nicht anders bezeichnet
James R. Carter
gel sollte zudem noch Flüssigkeit vorhanden sein. Platzt seine zeigen alle Fotos dieses Artikels die Pflanze Verbesina virginica).
parallel verlaufende, Wasser leitende Gefäße an dem Phä recht von ihm abstehen.
sel auf Erde, auf der sich vorher schon Kammeis gebildet hatte. her eignen sich wohl auch Bruchstücke von Ziegeln oder Keramik.
Über Nacht entstanden Eiskappen, die am Tag teilweise schmol- Im Experiment zeigte sich: Nimmt ein mit einem nassen Schwamm
zen, um in der darauf folgenden Nacht eine neue Schicht anzule- bedeckter Kieselstein in 15 Sekunden durch Wasseraufnahme an
gen. Die Kiesel müssen wahrscheinlich ausreichend porös sein, da- Gewicht zu, bringt er wahrscheinlich Stäbcheneis hervor.
Wer den Versuch selbst unternehmen möchte, kann dies mit
einer Kühlbox im Eisfach versuchen. Auf eine Schicht nassen San-
Zwei Nächte dauerte es, bis dieses Kammeis unter mit Moos des kommen die Kiesel. Eine batteriebetriebene, regulierbare
bedeckten Grassoden gewachsen war (unten). Das dunkle Band Glühbirne sorgt mit ihrer Wärmeabgabe dafür, dass der Sand
in der Mitte der Nadeln zeigt die Unterbrechung bei Tage an, selbst nicht gefriert; ein Aluminiumblech verteilt die Wärme
wenn die Temperaturen stiegen. Stäbcheneis lässt sich auch im gleichmäßig. Nimmt man statt Sand Erde mit einem zu ermit-
häuslichen Eisfach auf Kieselsteinen selbst herstellen (links). telnden Gehalt an Lehm, wächst Kammeis.
oben am Stängel wachsen (rechts). Letztere kommen an nahe Form später im Winter.
»Haarbüschelförmige Eisbildungen« an einem morschen Holzstück entdeckte auch der Geophysiker Alfred Wegener, Begründer
der Theorie der Kontinentaldrift, 1916 in den Vogesen. Wie der Botaniker Gerhart Wagner und seine Kollegen von der Universi-
tät in Bern vor Kurzem zeigen konnten, wächst Haareis, wenn Pilze Holz verdauen. Die Gase, die dabei entstehen, drücken Wasser
durch feine Kanäle zur Oberfläche. Dort wirken die in ihm gelösten organische Stoffe als Kristallisationskeime und lassen es
gefrieren. Haareis findet man häufig auch in Westeuropa; dieses Prachtexemplar wurde im Harz entdeckt.
Ebbe
Schwerpunkt
Erde-Mond-
System Flutberg
Erdmittel-
punkt
Mondmittelpunkt
Flutberg
Mit dieser Skizze veranschaulichte
Ebbe Newton, dass ein Körper, der von einem
Berg (V) horizontal mit einer bestimm-
ten Anfangsgeschwindigkeit wegge-
Laut dem Gravitationsgesetz von Isaac Newton befindet sich die Erde im freien Fall in schleudert wird, eine Kreisbahn um die
Richtung Schwerpunkt des Erde-Mond-Systems. Der Flutberg auf der mondwärts Erde zu beschreiben beginnt. Bei gerin-
gewandten Seite entsteht, weil das Wasser dort der Erde voranfällt, während es auf der geren Geschwindigkeiten fällt er auf die
mondabgewandten Seite hinter der Erde zurückbleibt. Erde zurück (Skizze leicht modifiziert).
www.spektrum.de 47
Ägyptologie I
Die Geburt
des Pharaonenstaats
Innerhalb eines Jahrtausends, zwischen 4000 und 3000 v. Chr.,
wandelte sich Ägypten von einem Land der Nomaden und einfachen
Ackerbauern zu einem mächtigen Staat, dem Reich der Pharaonen.
Von Béatrix Midant-Reynes
M
onumentale Bauten, prächtige Kunstschätze, Als Erster stieß der britische Archäologe William Flinders
ein selbst die Tagespolitik bestimmender To Petrie Ende des 19. Jahrhunderts auf Zeugnisse der ägypti
tenkult mit einem Gottkönig im Zentrum – schen Vorgeschichte. Nahe dem oberägyptischen Ort Naqada
das pharaonische Ägypten fasziniert das legte er mehrere tausend Gräber frei, die einen unter Alter
Abendland, seit französische Forscher und Ingenieure 1798 tumsforschern damals noch wenig bekannten Bestattungs
in Kairo das Institut d’Égypte gründeten. Sie waren im Tross brauch belegten: Die Toten waren in Hockerhaltung beige
eines französischen Heers unter Napoleon Bonaparte ins setzt worden, also in Seitenlage und mit eng an den Körper
Land gekommen und dokumentierten die grandiosen Mo angewinkelten Knien (siehe Foto S. 53 oben); zudem hatte
numente einer in Europa vergessenen Hochkultur. In der man ihnen offenbar Gefäße mit ins Grab gegeben.
Folge wetteiferten Archäologen darin, deren Geschichte zu Da zu diesem Zeitpunkt noch kein naturwissenschaftli
ergründen. Dabei lag ihr Augenmerk zumeist auf den Errun ches Verfahren zur Absolutdatierung existierte, die Kerami
genschaften der pharaonischen Zeit. ken aber in keine bereits bekannte Chronologie einzupassen
Doch eine Hochkultur entsteht nicht aus dem Nichts. Ein waren, ließ sich nur eines mit Sicherheit sagen: Petrie hatte
Amt wie das des Pharaos, der den Ägyptern als Garant welt den Beweis für eine nichtpharaonische Kultur im Niltal ent
licher wie kosmischer Ordnung galt, setzt entsprechende deckt, die offenkundig Jenseitsvorstellungen und ein geord
Weltbilder und religiöse Vorstellungen voraus. Vermutete netes Gemeinwesen entwickelt hatte.
man zunächst den Vorderen Orient als Quelle all dieser Als ein ganzer Landstrich in den 1960er und 1970er Jahren
Entwicklungen, gilt es inzwischen als sicher, dass die ägyp in dem sich füllenden Nasser-Stausee verschwand, koordi
tische Kultur etwa 3000 v. Chr. im Niltal selbst ihren Anfang nierte die Unesco etliche Grabungsprojekte, um die Hinter
nahm, als Landwirtschaft und Vorratshaltung eine immer lassenschaften der Vergangenheit zu retten oder wenigstens
stärker hierarchisch gegliederte Gesellschaft hervorbrachten. zu dokumentieren. Dabei kamen im Niltal, in der Westwüste
und in den dortigen Oasen auch Zeugnisse menschlicher Tä
tigkeit zum Vorschein, die bis in die ausgehende Altsteinzeit
Auf einen Blick
um 20 000 v. Chr. zu datieren waren.
In den 1960er Jahren untersuchten die französischen
Schritt für Schritt zur Einheit
Forscher Jean Leclant und General Paul Huard Felsgravuren
Die so genannte Stierpalette zeigt einen König in Gestalt eines Stiers beim Niederwerfen eines Feinds.
Auf der linken Seite halten mit Händen versehene Pflöcke ein Seil, das wohl Gefangene fesselte (dieser Teil
ist heute nicht mehr vorhanden). Auf der rechten Seite herrscht der Stier/König über zwei Festungsanlagen
(die untere ist nur teilweise erhalten). Ob die aus stilistischen Gründen in die Naqada-III-Zeit (um 3200 v. Chr.)
zu datierende Palette allerdings einem König »Wildstier« gewidmet war, lässt sich nicht sagen, zumal der
Fundort unklar ist. In späterer Zeit gehörte »starker Stier« schlicht zur Titulatur eines jeden Pharaos.
Oase
s t
Rot r
Badari
e
Mee
es
Nag ed-Der
c h
Abydos
e
Wichtige Fundstätten: Erster Katarakt Verhältnisse des Nils von höheren Mächten für seine Anwoh
Naqada I ner geschaffen wurden. Die traditionelle Lebensweise aufzu
Naqada II n geben, mag dann als Verstoß gegen eine kosmische Ordnung
u b i e
Naqada III e r n erschienen sein.
U n t N
Maadi-Buto i
l
Maadi-Buto (Unterägypten)
Neolithikum Naqada II Naqada III Pharaonen
Innerhalb eines Jahrtausends nahmen die unterschiedlichen Kulturen des alten Ägypten die
Landwirtschaft an und wurden vereint. Zuletzt bildete sich ein starker und hierarchisch
gegliederter Staat heraus, über den die Pharaonen während der nachfolgenden drei Jahrtausende
herrschen sollten, bis zur Eroberung durch die Römer 30 v. Chr.
Niltal gewesen sein: Denn in den südlich des Deltas in der sie keine einheitliche Richtung ein. Insbesondere für die ers
Sahara gelegenen Oasen wurde bereits spätestens im 9. Jahr te Hälfte des 4. Jahrtausends v. Chr. lässt sich jene Zweiteilung
tausend v. Chr. Keramik hergestellt und wahrscheinlich so gut fassen, die Ägyptens Altertum prägte: im Norden das Nil
gar exportiert. delta Unterägyptens, daran südlich anschließend etwa ab
Nicht nur die Überreste von Gefäßen zeugen von Vorrats dem heutigen Kairo Oberägypten, das mit dem Ersten Kata
haltung im Nildelta und später in Oberägypten. Auch Reib rakt nahe dem heutigen Assuan endete (als Nil-Katarakte be
schalen und Steine, die zum Mahlen von Getreidekörnern zeichnet man sechs felsige, durch Stromschnellen für Schiffe
dienten, weisen darauf hin, wobei Letztere nicht unbedingt unpassierbare Geländestufen).
von Kulturpflanzen stammen mussten – auch Wildgetreide Zum Beispiel brachte nur der Süden rot gebrannte,
konnte bei reichlichem Vorkommen zur Vorratshaltung ani schwarz berandete Töpferware hoher Qualität hervor (siehe
mieren. Der französische Ethnologe Alain Testart (1945 – 2011) Bild S. 52). Und während die Verstorbenen im Mündungs
verwies darauf, dass mit einer Bevorratung zwangsläufig die delta – den bislang entdeckten Gräbern nach zu urteilen –
Anhäufung von Gütern einhergeht, was dann wiederum so ganz ohne oder mit wenigen Grabbeigaben für ihre Reise ins
ziale Ungleichgewichte in ursprünglich egalitären Gemein Jenseits ausgestattet wurden, pflegte man in Oberägypten
schaften verursachen kann. Es ist also durchaus möglich, schon zu Anfang des 4. Jahrtausends den Wohlhabenderen
dass im Niltal zu dieser Zeit bereits eine hierarchische Glie Prestigegüter in die Gräber mitzugeben – mit zunehmender
derung der Sozialstruktur Einzug hielt. Tendenz bis hin zu den Königsgräbern der 1. Dynastie zu
Leider gibt es kaum aussagekräftige archäologische Funde Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr.
für das 6. Jahrtausend v. Chr., sondern erst für das ausgehen Prähistoriker entdecken immer wieder neue Siedlungen
de 5. Jahrtausend – dann aber im Überfluss. Denn nun nahm der unterägyptischen, nach zwei Fundplätzen benannten
die kulturelle Entwicklung offenbar Fahrt auf, doch schlug Maadi-Buto-Kultur, die zwischen 3800 und 3500 v. Chr.
Rote Töpferwaren mit schwarzem Rand wurden häufig als Opfergaben in die Gräber gestellt.
Diese Objekte sind das Kennzeichen einer Kultur, die sich um 3200 v. Chr. über das gesamte
Ägypten ausbreitete. Die Kunst und die Bestattungsbräuche dieser Epoche, die als prädynastisch
bezeichnet wird, verschwinden mit dem Auftreten der Pharaonen.
Institut français d’archéologie orientale (IFAO), Alain Lecler; mit frdl. Gen. von Béatrix Midant-Reynes
wurden, sind in Hockerhaltung und in Seitenlage sowie mit
Gefäßen an Stelle von Opfergaben beigesetzt worden. Diese
Bestattung wie auch das Gefäß mit aufgemaltem Dekor
stammen aus der Naqada-II-Zeit Ägyptens.
Institut français d’archéologie orientale (IFAO), Alain Lecler; mit frdl. Gen. von Béatrix Midant-Reynes
Bedeutung der Stoff- und Lederverarbeitung in den Badari-
Siedlungen.
DAI Kairo
Fläche ein. Pfostenlöcher in regelmäßigen Abständen – sie
sind an der dunklen Verfärbung erkennbar, die das verrot
tende Holz hinterlassen hat – bezeugen eine weiter entwi
ckelte Bautechnik. Offenbar genügten die bisherigen Vorrats
gruben nicht mehr, um die Erträge zu lagern; sie wurden zu
regelrechten Silos erweitert.
Die Bestattungsbräuche jener Zeit ähneln noch sehr den
jenigen der vorangegangenen Periode – eine einfache Grube,
Beisetzung in gekrümmter Haltung, eingewickelt in Fell oder
abgedeckt mit einer Matte. Doch statt der Gefäße mit gewell
ter Oberfläche kommen nun rot polierte Becher, Teller und
Schalen auf. Sie sind mit weißer Farbe bemalt – manche mit
geometrischen Motiven, andere mit Krokodilen und Nil
pferden, deren Umrisse mit Zickzack- und Pfeilmustern ge
schmückt sind. Es erscheinen aber auch Darstellungen von
Menschen.
Gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. hatte sich in Abydos
Schminkpaletten als offenbar eine Königsdynastie etabliert, die Oberägypten
Weihegeschenke an die Götter dominierte. Davon zeugt insbesondere das hier gezeigte Grab
Schieferplatten dienten der Zubereitung von Augenschmin »U-j«. Schon seine Anlage aus zwölf Kammern war außer
ke. Weil der dafür verwendete Malachit desinfizierende Wir gewöhnlich (oben). Der Tote war mit exotischen Beigaben
kung hatte, wurde den »Schminkpaletten« eine magische ausgestattet worden, beispielsweise gut 4500 Liter Wein aus
Funktion zugeschrieben. Daher gab es großformatige, relief Palästina. Plaketten mit Tiersymbolen deuten Experten als
verzierte Exemplare, die als Weihegeschenke an die Götter Namensetiketten der zugehörigen Dynastie. Es handelt sich
dienten. Auch hier kamen nun Varianten auf, beispielswiese um die ältesten erhaltenen Hieroglyphen.
Paletten in Tierform. Dergleichen ließ sich nicht mehr in
Heimarbeit fertigen, sondern setzt spezialisierte Hand
werksbetriebe voraus. Zudem kommt der dafür bevorzugte
Schiefer nur in der Ostwüste vor und musste erst einmal von großen Kulturkreis in Ägypten gab. Die Töpferwaren dieser
Expeditionen herbeigeschafft werden. Epoche waren landesweit den gesamten Nil entlang die glei
Solche Funde bergen die Archäologen vor allem in einzel chen, ebenso wie die Gerätschaften aus Feuerstein, Knochen
nen Gräbern, in denen offenbar hochrangige Personen be oder Elfenbein. Mehrere Fundgattungen, die für die Prähisto
stattet worden waren. Mehrere Dutzend Objekte pro Grab, rie charakteristisch waren, verschwanden, darunter die be
zudem solche, die aus wertvollen Materialien gearbeitet wor malte Keramik und mit bestimmten Techniken bearbeiteter
den waren – das spricht für eine im Süden Ägyptens zur Zeit Feuerstein. Steingefäße und Fayencen erfuhren hingegen
der Naqada-Badari-Kultur aufkeimende »Aristokratie«. Für größeren Zuspruch, zudem traten neue Objektideen auf, die
deren Mitglieder wurden sogar Elfenbein, kostbare Steine aus dem Vorderen Orient übernommen wurden, wie zylind
und Metalle aus immer weiter entfernten Gegenden einge rische Rollsiegel und Lehmziegelwände mit dekorativen Vor-
führt. und Rücksprüngen.
Die gesellschaftliche Differenzierung setzte sich ungefähr Die politische Macht lag noch nicht in einer Hand, aber
ab 3550 v. Chr. in der Naqada-II-Kultur fort. Statt einfacher immerhin kristallisierten sich in Oberägypten drei Herr
Gruben erhielten manche Verstorbene nun große, recht schaftszentren heraus: Hierakonpolis (siehe den nachfolgen
eckige Eintiefungen, deren Wände mit ungebrannten Lehm den Beitrag), das in bildlichen Darstellungen mit dem Fal
ziegeln ausgekleidet wurden. Ein Sarg aus Holz oder Keramik kengott Horus und einer weißen Krone assoziiert wurde;
ersetzte das Tierfell, es wurden immer mehr Objekte mitge Naqada, mit dem Zeichen des so genannten Seth-Tiers (es
geben. gleicht keinem bekannten Tier) und einer roten Krone; so-
Allmählich verbreiteten sich diese Bestattungsbräuche wie Abydos. Letzteres geriet zunächst ins Hintertreffen,
wie auch die Machart der Keramiken nach Norden hin bis gewann aber schließlich als Bestattungsort an Bedeutung,
zum Delta und nach Süden über den Ersten Katarakt hinaus weil dort die Unterwelts- und Fruchtbarkeitsgottheiten ver
in das sudanesische Nubien. Forscher sehen darin ein Indiz ehrt wurden.
dafür, dass es zwar zunächst eine Reihe von »Proto-Königrei Dass monarchische Strukturen sich bereits zu dieser
chen« gegeben hat, diese sich aber durch Bündnisse und Zeit entwickelten und nicht erst um 3000 v. Chr. von König
Hochzeiten nach und nach einander annäherten, bis es von Narmer etabliert wurden – er gilt als Vater des Menes, des
3200 v. Chr. an, während der Naqada-III-Zeit, nur noch einen Begründers der 1. Dynastie –, belegt unter anderem das aus
DAI Kairo
schers – in der Chronologie ist das Skorpion II. –, gelang es
vermutlich um 3000 v. Chr., ganz Ägypten unter seiner Herr
schaft zu vereinen. Eine Schminkpalette zeigt ihn, wie er mit
einer Keule Feinde in großer Zahl erschlägt. Eine in Hierakon
polis ausgegrabene Votivgabe scheint die Kriegshandlung zu
bestätigen.
Allerdings sehen viele Forscher diese Deutung heute kri
tisch, da vergleichbare Motive von da an immer wieder von
den Mächtigen verwendet wurden. Zwar dienten sie mögli
cherweise wirklich dazu, kriegerische Ereignisse sozusagen
zu archivieren, doch dürfen sie nicht im Sinne einer groß an
gelegten, auf die Eroberung des gesamten Niltals gerichteten
Expansion verstanden werden.
Tatsächlich dürfte Gewalt allein nicht genügt haben, um
Ägypten zu einen. Der Boden war dafür aber durch die ho
mogene Kultur, die nachweislich intensivierten Warenströ
me in beide Richtungen des Nils und die Aufstellung einer
Elite bereitet. Die Macht fiel nun jenem zu, dem es gelang,
der neuen sozialen Ordnung auch ein theologisches Funda
ment zu geben.
Narmer etablierte ein System, das für das pharaonische
Königtum wegweisend war. Er fungierte als Mittler zu den
Göttern und wachte über die Regelmäßigkeit der Überflu
tungen, vertrat die Interessen seiner Untertanen gegenüber
den Göttern – und blieb doch Anführer bei der Jagd wie im
Krieg. Zwischen 3000 und 2900 v. Chr. entwickelte sich ein
Staat, der alle Macht in die Hände eines Einzelnen legte, und
dieser wiederum konnte sich auf einen ausgefeilten zentra
zwölf Räumen bestehende Grab »U-j« in Abydos (siehe Bilder len Verwaltungsapparat stützen. In der Kunst wie in der Reli
oben): Hunderte von kostbaren Grabbeigaben und sogar ein gion entstand zudem ein Kanon von Regeln, die das Reich
hölzernes Zepter zeigen, dass dort ein Auserwählter beige stabilisierten und es zu einem der mächtigsten des Alter
setzt wurde. tums machen sollten. Ÿ
Hierakonpolis –
die Stadt des Falken
Auf die Frage, wo Ägypten entstanden ist, hätte man
im Altertum eine klare Antwort gegeben: in Nechen, das die
Griechen später Hierakonpolis nannten.
Von Joachim Willeitner
D
er Kom el-Achmar, der »Rote Hügel« nahe dem noch ungeklärt, doch dürfte es eher die Folge einer allmäh
Dorf Elkab in Oberägypten, ist ein Eldorado für lichen kulturellen Durchdringung gewesen sein als die einer
Prähistoriker. Seit die britischen Forscher James militärischen Eroberung. Gerade Hierakonpolis kommt bei
Edward Quibell und Frederick W. Green dort 1897 der Aufklärung dieses Prozesses eine Schlüsselrolle zu. Denn
erstmals den Spaten ansetzten, kommt Stück für Stück der die Überreste aus den entsprechenden Zeitabschnitten wur-
Ort Nechen zum Vorschein. Bekannt wurde er jedoch unter den später kaum überbaut. Lediglich die Wohnviertel sind
der Bezeichnung, die ihm die Griechen gaben: Hierakon in Mitleidenschaft gezogen: Aus getrockneten Lehmziegeln
polis, »Stadt des Falken«, in Anspielung auf den dort prakti- errichtet, zerfielen die Bauten zu fruchtbarer Erde, die von
zierten Kult des Sonnengottes in seiner Gestalt als Horus. einheimischen Bauern über Jahrtausende abgetragen und
Der spätestens seit Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr. be auf die Felder verteilt wurde. Repräsentative Gebäude hin
siedelte Ort erlebte seine Blütezeit in der Naqada-II-Zeit gegen bestanden aus Stein oder zumindest aus wesentlich
(siehe den vorigen Beitrag). Besagter Roter Hügel bildete sein dickeren, heute noch sichtbaren Ziegelmauern.
Zentrum, doch die bewohnte Gesamtfläche betrug knapp Für die Kultstätte des Horus hatte man schon in prähisto-
150 Quadratkilometer. Von mindestens 5000 Menschen be- rischer Zeit Sand zu einer Plattform von 46 mal 46 Metern
völkert, avancierte er seinerzeit zur Hauptstadt des dama aufgeschüttet und diese mit Kalksteinquadern verkleidet. Im
ligen Oberägypten. Möglicherweise markierte Nechen auch deutschsprachigen Raum heißt dieser Tempeltyp deshalb
dessen südliche Grenze, was gut zum Namen passen würde: »Hoher Sand«. Er symbolisierte späteren Texten zufolge den
Sinngemäß bedeutet er »befestigte Residenz«. Ergänzt wur- mythischen Urhügel, der am Anfang aller Zeit aus einem
de das politische Zentrum durch einen wichtigen Kultort: Urozean aufgetaucht sein soll. Dass man den Anfang der
das ihm am anderen Nilufer gegenüberliegende Necheb, Welt in Nechen verortete, unterstreicht die Bedeutung und
heute El-Kâb. Ruinen und Hieroglyphentexte belegen dort das hohe Alter des Orts. Es gab nur zwei weitere Tempel die-
das Hauptheiligtum der oberägyptischen Kronengöttin, der ser Art: in Unterägypten und am Übergang zwischen den
geiergestaltigen Nechbet. beiden Landesteilen.
Wie die beiden Großregionen Ober- und Unterägypten zu Wahrscheinlich während des Mittleren Reichs (etwa 2000 –
einem geeinten Staat zusammenfanden, ist in den Details 1800 v. Chr.) wurden im Horustempel bedeutende Votivga-
ben rituell vergraben, die Quibell wieder ans Licht brachte.
Zu den spektakulärsten Objekten zählt die »Schminkpalette«
Auf einen Blick
des Königs Narmer, die lange Zeit als Beleg für die gewalt
same Reichseinigung missverstanden wurde, da sie auf ihren
Wo die Welt begann
Reliefs die offensichtliche Unterwerfung des Nildeltas durch
Joachim Willeitner
tion ruhte, wahrscheinlich aus Matten und Lehmverputz.
Kostbare Grabbeigaben und Totenmasken aus Keramik be-
tonten den Rang der Verstorbenen. Mitunter entdeckten die
Forscher sogar mit großem Aufwand betriebene Tierbestat-
tungen, darunter von einem afrikanischen Elefanten, einem
Nilpferd, einem Auerochsen, einer Kuhantilope und mehre-
ren Hunden. Wie die Leichen der Menschen waren die Tiere
in Binden gewickelt und dann im Sand getrocknet worden.
Die Abnutzung der Zähne zeigte, dass sie wild geboren und
dann in Gefangenschaft gehalten worden waren. Möglicher-
weise handelte es sich um Totemtiere der Herrscher.
Um 3200 v. Chr. wurde dieser Friedhof zu Gunsten eines
Das »Fort« ist ein Ziegelbau, der während der 2. Dynastie vielleicht neuen, näher am Nil gelegenen aufgegeben. Dort kamen
das oberägyptische Kronenheiligtum barg. 1899 im »Grab 100« eines namentlich nicht bekannten Herr-
schers großflächige Wandmalereien zum Vorschein. Leider
begnügten sich die Ausgräber damit, sie als Aquarelle zu
nennt und die sich auch auf der Narmer-Palette findet. 2001 kopieren, von den Wänden abzunehmen und nach Kairo ins
rekonstruierte Kryzstof Marek Ciałowicz von der Universität Ägyptische Museum zu überführen. Dort fristen sie in ei-
Krakau anhand der stark beschädigten anderen Hälfte der nem Nebenraum ein unbeachtetes Dasein, zumal litten die
Palette auch die unterägyptische Krone. Somit hätte nicht Bilder unter schlechten Erhaltungsbedingungen.
Narmer, sondern bereits Skorpion II. beide Landeskronen Nechen büßte am Ende der Naqada-Zeit seine Bedeutung
getragen, mithin über ein geeintes Ägypten regiert. ein. Die Königsgräber wurden nach Abydos verlegt, dem
Hauptkultort des Totengottes Osiris. Zuletzt wandte sich
Gute Nachbarschaft: Cha-sechemui, der letzte König der 2. Dynastie, nochmals der
Beamte und Bierbrauer Stadt des Falken zu. Reliefblöcke mit seiner Darstellung und
Vor allem die 1978 wieder aufgenommenen Grabungskam seinen Namenshieroglyphen fand man dort sowohl inner-
pagnen brachten neue Erkenntnisse zum gesellschaftlichen halb der äußeren Umfassungsmauer des »Hohen Sandes«
Wandel von der Stadtgründung bis zum Niedergang nach der als auch im »Fort«, einervon einer dicken Lehmziegelmauer
Reichseinigung. Spätestens in der ausgehenden Naqada-I- umfriedeten monumentalen Anlage (siehe Bild). Hier ver-
Zeit kamen neben runden auch rechteckige Wohnbauten in mutet die derzeitige Grabungsleiterin, die amerikanische
Gebrauch. Zwar verschlangen diese für die gleiche Grund Ägyptologin Renée Friedman, das oberägyptische Kronen-
fläche mehr Ziegel, sie boten aber einen großen Vorteil: Es heiligtum »Per wer«. Den Namen (wörtlich »großes Haus«)
ließen sich mehrere Räume gut aneinanderfügen. In den Ne- und seine Funktion als Kultplatz kennt man aus Inschriften,
kropolen beanspruchte eine Oberschicht in dieser Zeit eige- sein Aussehen von Siegelbildern. Das ober- und das unter
ne Areale, was auf eine zunehmende soziale Differenzierung ägyptische Kronenheiligtum haben jeweils unterschiedliche
schließen lässt. Auch Arbeitsteilung wurde zur Regel. So Dachformen: Ersteres trägt eine Art Pultdach mit sanftem
konnten innerhalb eines mit einer Palisade umfriedeten Abfall nach hinten und gerundetem First; letzteres eine
Stadtviertels hoch spezialisierte Handwerksbetriebe lokali- schwach gewölbte Längstonne.
siert werden. Darunter finden sich Töpfereien – eine davon Als Hauptstadt des 3. oberägyptischen Nechen-Gaus war
war offenbar in Brand geraten, so dass ihre Lehmziegelmau- Hierakonpolis ab der 3. Dynastie ein Verwaltungszentrum
ern gehärtet und gut erhalten waren –, eine Großbäckerei unter vielen. Nur seine religiöse Bedeutung als Ort des
sowie die ältesten Brauereien der Welt; vier der Braubottiche Anfangs aller Zeit und als Sitz des göttlichen Horus hob den
fassten je 390 Liter. Ob und wie stark die Waren- und Nah- Ort auch weiterhin über andere hinaus. Ÿ
rungsmittelproduktion bereits zentral gesteuert wurde, lässt
sich nicht bestimmen, doch gab es zu jener Zeit offensicht-
Der Autor
lich bereits innerhalb der erwähnten Palisade auch Verwal-
tungs- und Repräsentationsbauten, also einen »Regierungs- Der Ägyptologe Joachim Willeitner arbeitet als
bezirk«, wie er im späteren Pharaonenstaat die Regel war. freier Publizist in München.
Auch die Nekropolen stützen die Annahme, damals seien
die Grundlagen für drei Jahrtausende Ägypten gelegt wor-
den. So setzte man die einfachen Bürger der Naqada-I-Zeit in
einem stadtnahen Friedhof bei, während sich die Nekropole
der Oberschicht in einem 2,5 Kilometer entfernten Wadi be-
fand. Pfostenlöcher verraten, dass es dort wohl oberirdische Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1214054
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Mathematik
Universelle Gesetze
Manche Naturgesetze gelten für eine große Vielfalt von Systemen unabhängig
von den dynamischen Gesetzen, denen deren elementare Bestandteile
gehorchen. Dieses Phänomen ist an zahlreichen Stellen zu beobachten; aber
eine strenge mathematische Begründung steht bis heute aus.
Von Terence Tao
D
ie moderne Mathematik ist ein überaus mächti kern und einem einzigen Elektron, das diesen umkreist. Ein
ges Instrument. Sie kann die verschiedensten Natriumatom hat gerade einmal elf Elektronen, die mit
Dinge und Ereignisse in der Realität modellieren, einander und mit dem Kern wechselwirken; aber die mathe
das heißt durch Gleichungen beschreiben: solche matische Herleitung seiner Spektrallinien überfordert auch
aus der unbelebten Natur wie die Bewegung der Himmels heute noch die leistungsstärksten Computer.
körper oder die physikalischen und chemischen Eigenschaf Nicht umsonst ist das Dreikörperproblem der Himmels
ten von Materialien, oder Elemente menschlichen Verhal mechanik berüchtigt – angeblich das einzige, das Newton
tens, wie es sich zum Beispiel in Börsenkursen oder Wahl selbst Kopfschmerzen bereitete: Wie bewegen sich drei
ergebnissen zeigt. Dabei ist der Anzahl der Gleichungen Massenpunkte unter der Einwirkung von Newtons Gravita
keine prinzipielle Grenze gesetzt: Mathematische Modelle tionsgesetz? Anders als beim Zweikörperproblem, dessen Lö
erfassen auch extrem komplizierte Systeme mit einer Viel sung – die keplersche Ellipsenbahn – bekannt und nicht
zahl interagierender Bestandteile. schwer zu berechnen ist, gibt es für die Lösung des Drei
Wenn es jedoch darum geht, diese Gleichungen zu lösen körperproblems allem Anschein nach überhaupt keinen
und damit das Verhalten dieser so präzise beschriebenen geschlossenen formelmäßigen Ausdruck (Spektrum der Wis
Systeme vorherzusagen, sieht es sehr viel düsterer aus. Exak senschaft 1/1997, S. 24); vielmehr lassen sich die Bahnen der
te Lösungen gibt es eigentlich nur für sehr simple Systeme Himmelskörper nur mit Hilfe numerischer Algorithmen
mit gerade einmal zwei oder drei Akteuren. Ein beliebtes Bei näherungsweise bestimmen. Und selbst diese Methode gerät
spiel sind die Spektrallinien des Wasserstoffs. Die zugehöri rasch an ihre Grenzen, wenn die Dimension des Systems, das
gen Gleichungen sind so einfach und elegant lösbar, dass heißt die Anzahl seiner Unbekannten, groß wird (Spektrum
man sie in einer Physikvorlesung für mittlere Semester brin der Wissenschaft 2/2012, S. 88). Das ist der berüchtigte »Fluch
gen kann; aber das System besteht eben nur aus einem Atom der Dimensionen«.
Dem Fluch zum Trotz zeigt sich oft ein bemerkenswertes
Phänomen. Sowie die Anzahl der Komponenten ausreichend
Auf einen Blick
groß ist, werden summarische Eigenschaften, die das kom
plexe System als Ganzes charakterisieren, auf mysteriöse
Einfachheit durch Vielfalt Weise doch vorhersagbar und folgen sogar sehr einfachen
2 Ihre Gültigkeit leitet sich nicht aus den Gesetzen für die
einzelnen Komponenten eines großen Systems her, sondern
aus deren Zusammenspiel.
Komponenten gehorchen. Man könnte die elementaren Be
standteile durch völlig andere mit gänzlich verschiedenem
Verhalten ersetzen, und das makroskopische Gesetz bliebe
3 So findet sich für die Wartezeiten auf den nächsten Bus, die
Neutronenstreuung an einem Atomkern und die Verteilung der
Primzahlen dieselbe Gesetzmäßigkeit.
unverändert. In diesem Fall nennt man es »universell«.
Universalität wurde in vielen unterschiedlichen Zusam
menhängen gefunden, sowohl in der Realität als auch in der
mathematischen Abstraktion. Manche versteht man sehr fuhr der Statistiker Nate Silver ein: Mit einer gewichteten
gut, für viele andere jedoch ist die Ursache der Universalität Analyse aller verfügbaren Umfragen sagte er den Ausgang
nach wie vor rätselhaft und Gegenstand der aktuellen ma der Präsidentschaftswahl in 49 der 50 Bundesstaaten sowie
thematischen Forschung. aller 35 Wahlen zum Senat korrekt vorher. Die einzige Aus
nahme war die Präsidentenwahl in Indiana, die Silver knapp
Das Gesetz der großen Zahlen zu Gunsten von McCain entschieden sah, während am Ende
Die Wahl des US-Präsidenten am 4. November 2008 war eine Obama mit 0,9 Prozent Vorsprung gewann.
äußerst komplizierte Angelegenheit. Die Komponenten des Die Genauigkeit von Wahlprognosen lässt sich mit einem
Systems waren mehr als 100 Millionen Wähler aus 50 Bun mathematischen Resultat erklären, das als Gesetz der großen
desstaaten, und welche Gesetze für ihr Verhalten galten, wäre Zahlen bekannt ist. Für Wahlen besagt es: Sobald der Umfang
selbst theoretisch kaum zu sagen. Auf jeden Wähler wirkten einer zufälligen Stichprobe groß genug ist, nähert sich der
die unterschiedlichsten Einflüsse: Wahlkampfauftritte der Stimmenanteil für einen Kandidaten innerhalb dieser Stich
Kandidaten, Medienberichte, Gerüchte, persönliche Eindrü probe, sprich das Umfrageergebnis, dem Stimmenanteil in
cke und politische Diskussionen im Bekanntenkreis. Mil der Gesamtwählerschaft an – mit einer gewissen Fehlerspan
lionen Wähler waren nicht vorab auf einen der beiden ne. Bei einer Umfrage mit 1000 Wählern beträgt diese etwa
Hauptkandidaten festgelegt. Niemand hätte ihre endgültige drei Prozent.
Entscheidung vorhersagen können, und manche von ihnen Das Gesetz der großen Zahlen ist in der Tat universell, und
ließen sich vermutlich sogar vom Zufall leiten. Dieselbe Un zwar in vielerlei Hinsicht. Geht es um eine Wahl mit 100 000
gewissheit gab es auch auf der Ebene ganzer Bundesstaaten: oder einer Million Wählern? Einerlei, die Fehlerspanne be
Während viele von ihnen als Hochburg für einen der beiden
Kandidaten galten, war für mindestens ein Dutzend der 0,30 Anteil an der Gesamtheit
Wahlausgang offen.
Regionales/Gemeindeverzeichnis/Administrativ/Aktuell/05Staedte.html
trägt stets drei Prozent. Betrifft es einen Staat, der McCain Zufall bestimmte Komponenten beeinflusst werden. Unter
mit 55 Prozent gegenüber Obama mit 45 Prozent favorisiert, der Voraussetzung, dass keine von ihnen einen entscheiden
oder einen, in dem Obama mit 60 Prozent gegen McCain mit den Einfluss auf das Ganze hat, besagt er, dass die Summe
40 Prozent vorn liegt? Lebt in dem Staat eine weit gehend ho dieser Komponenten annähernd einer gaußschen Normal
mogene Bevölkerung aus eher wohlhabenden weißen Stadt verteilung folgt; deren bildliche Darstellung ist die bekannte
menschen oder ein buntes Gemisch verschiedener Rassen, Glockenkurve (Bild S. 61 oben).
Bildungs- und Einkommensklassen? Es kommt nicht darauf
an. Der einzige signifikante Faktor ist die Größe der Stich Zentraler Grenzwertsatz
probe: je mehr Befragte, desto geringer die Fehlerspanne. Die Dieses Gesetz ist ebenfalls universell – es gilt, ohne dass die
immense Komplexität eines Systems von 100 Millionen Verteilungen der einzelnen Komponenten oder auch nur
Wählern, die jeder für sich eine Entscheidung treffen, deren Anzahl bekannt sein müssten. Allerdings nimmt die
schrumpft auf eine bloße Hand voll von Zahlen zusammen. Genauigkeit seiner Vorhersagen mit der Anzahl der Kompo
Warum das Gesetz der großen Zahlen so universell gilt, ist nenten zu. Seine Gültigkeit ist in einer geradezu unglaub
bekannt und Gegenstand jeder Anfängervorlesung über lichen Vielfalt von Statistiken zu beobachten, darunter
Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik. In den vergange ➤ Unfallhäufigkeiten;
nen Jahrzehnten sind viele weitere universelle Gesetze ent ➤ Körpergröße, Gewicht oder andere Merkmale von Ange
deckt worden; aber wir verstehen sie leider sehr viel weniger hörigen einer Tierart;
vollständig. Die Frage, warum sie so oft in komplexen Syste ➤ Gewinne und Verluste eines Wertpapiers;
men in Erscheinung treten, ist ein sehr intensiv bearbeitetes ➤ Geschwindigkeiten von Teilchen in einem großen physi
Teilgebiet der Mathematik. In den meisten Fällen sind wir kalischen System.
noch weit von einer befriedigenden Antwort auf diese Frage Die gezählte oder gemessene Größe mag in Personen,
entfernt, aber es gibt ermutigende Fortschritte. Zentimetern oder Mikrosekunden angegeben sein, durch
Den zweiten Platz in der Rangfolge der universellen Geset Wahl der Maßeinheiten mag die Glockenkurve groß oder
ze nimmt wohl der Zentrale Grenzwertsatz ein. Er gilt für klein, breit oder schmal aussehen; aber stets bleibt ihre Ge
Größen, die durch viele voneinander unabhängige und vom stalt erkennbar.
Frankenhuysen, M., Lapidus, M. L. (Hg.): Dynamical, Spectral, and Arithmetic Zeta Functions.
Christoph Pöppe, nach Odlyzko, A. M.: The 10 -nd Zero of the Riemann Zeta function. In: van
. —— nach der
quenzen oder auch Resonanzen. (Es handelt sich um die Ei
. . GUE-Vermutung genwerte der Zufallsmatrix.) Wigner vermutete nun, dass die
. berechnet Resonanzen eines großen Atomkerns denen eines Zufalls
. .
relative Häufigkeit
0,6
22
. . aber für Zufallsmatrizen streng beweisbar ist, ergibt sich da
. . raus zumindest der Ansatz einer Erklärung für die Beobach
0,4
0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 ker, darunter ich, inzwischen entdeckt haben, drückt Wigners
Abstand in Vielfachen des häufigsten Abstands Vermutung nicht etwa eine tiefliegende Gemeinsamkeit zwi
schen beiden Systemen aus, sondern ein universelles Gesetz.
Häufigkeit der Abstände benachbarter Nullstellen der riemann- Es gilt für viele Typen von Spektrallinien, darunter auch sol
schen Zeta-Funktion, theoretisch nach der GUE-Vermutung che, die weder mit Atomkernen noch mit Zufallsmatrizen in
und »empirisch«, das heißt durch Berechnung von einer Milliarde einer erkennbaren Beziehung stehen. So findet sich dieselbe
16
Nullstellen in der Umgebung der Nullstelle Nummer 1,3 · 10 . Verteilung auch bei den Wartezeiten auf Busse an einer Hal
testelle in Cuernavaca (Mexiko); und bislang weiß niemand
dafür eine befriedigende Erklärung anzubieten.
trallinien zeigen ein regelmäßiges Muster; für schwerere Ele Das wahrscheinlich überraschendste Beispiel kommt al
mente dagegen ist deren Verteilung ziemlich kompliziert lerdings aus einem ganz anderen Gebiet, der Zahlentheorie.
und kaum aus den grundlegenden Gleichungen herzuleiten. Es geht um die Verteilung der Primzahlen 2, 3, 5, 7, 11, … – also
Ähnliche, aber weniger bekannte Spektren ergeben sich der natürlichen Zahlen, die größer als 1 sind und sich nicht
bei der Streuung von Neutronen an Atomkernen, zum Bei als Produkt kleinerer Zahlen darstellen lassen. Die Verteilung
spiel von Uran-238. Neutronen mit speziellen Energiewerten der Primzahlen innerhalb der natürlichen Zahlen scheint
fliegen praktisch unbeeinflusst durch einen Atomkern hin keine Regelmäßigkeit zu zeigen (siehe auch den Beitrag ab
durch, während sie bei anderen Energien, den so genannten S. 16). In einer Spektralanalyse treten jedoch gewissermaßen
Streuresonanzen, am Kern abprallen. Das ergibt sich aus Schwingungen zu Tage. Die Frequenzen dieser »Musik der
den Gesetzen für die elektromagnetische und die Kernkraft Primzahlen« werden durch eine Folge komplexer Zahlen
zusammen mit denen der Quantenmechanik. Die innere beschrieben; es handelt sich um die (nichttrivialen) Nullstel
Struktur großer Kerne ist jedoch derart komplex, dass man len der nach Bernhard Riemann benannten Zeta-Funktion
bisher diese Resonanzen weder theoretisch bestimmen noch (Spektrum der Wissenschaft 9/2008, S. 86, und Dossier
numerisch berechnen kann; einzige Quelle der Erkenntnis 6/2009 »Die größten Rätsel der Mathematik«).
bleibt das Experiment. Im Prinzip können uns diese Nullstellen alles erzählen,
Die Resonanzen weisen eine interessante Verteilung auf. was wir über die Primzahlen wissen wollen. Eines der wich
Sie sind nicht unabhängig voneinander, vielmehr scheint es tigsten und berühmtesten Probleme der Zahlentheorie ist
zwischen ihnen eine Art Abstoßung zu geben: Die Wahr die riemannsche Vermutung; sie behauptet, dass alle diese
scheinlichkeit, dass zwei aufeinander folgende Resonanzen Nullstellen auf einer gemeinsamen Geraden in der komple
nahe beieinander liegen, ist sehr gering – fast wie bei den xen Ebene liegen. Aber selbst wenn sie bewiesen würde – was
Sendefrequenzen der Radiostationen, nur dass die Atomker einem sensationellen Durchbruch gleichkäme –, könnte sie
ne offensichtlich keinen behördlichen Vorschriften folgen. immer noch nicht jede Frage über Primzahlen beantworten;
In den 1950er Jahren schlug der berühmte Physiker Eugene unter anderem, weil sie nicht viel darüber aussagt, wie die
Wigner (1902 – 1995; Nobelpreis 1963) ein bemerkenswertes Nullstellen auf dieser Geraden genau verteilt sind. Es gibt je
mathematisches Modell zur Erklärung der Resonanzen vor; doch äußerst starke Hinweise darauf, dass diese Nullstellen
es war das erste Beispiel für das, was wir heute ein Zufalls exakt demselben Gesetz gehorchen, das auch bei der Neutro
matrizenmodell nennen. nenstreuung und bei anderen Systemen beobachtet wird.
Eine Zufallsmatrix beschreibt, grob gesprochen, eine An Insbesondere scheinen sich die Nullstellen ebenso »abzusto
sammlung vieler Massen, die miteinander durch Federn ßen«, wie es die Theorie der Zufallsmatrizen vorhersagt, und
unterschiedlicher, zufallsbestimmter Härte verbunden sind. zwar mit verblüffender Genauigkeit.
Plankton –
Motor der Evolution
Nach der Permkatastrophe vor 250 Millionen Jahren
explodierte die Vielfalt der Meerestiere plötzlich.
Ein wichtiger Grund: ein Entwicklungsschub
des Phytoplanktons.
Von Ronald Martin und Antonietta Quigg
all
e Fo
tos
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K
önnten wir die Erde vor 500 Millio me der Diversität ozeanischer Arten seit
nen Jahren aufsuchen, erschiene sie dem frühen Erdmittelalter ist Tatsache.
uns wie ein fremder Planet. Damals, im Als Ursachen dafür betrachten Wis
Erdaltertum oder Paläozoikum, lagen die senschaftler unter anderem Klima
Kontinente überwiegend in der südlichen Hemi veränderungen, Verschiebungen des Meeresspiegels
sphäre, die Ozeane hatten völlig andere Umrisse und oder auch weitere Massenaussterben. Weil all solche Er
Strömungen, die heutigen Gebirge und Wüsten gab es noch eignisse die Evolutionsmöglichkeiten und Überlebens
nicht. Auch Landpflanzen waren noch nicht entstanden. chancen neu verteilen, mögen sie für den beobachte
Am befremdlichsten erschiene uns aber wohl die dama ten Anstieg der Organismenvielfalt durchaus einige
lige Tierwelt. Noch lebten fast alle mehrzelligen Organismen Bedeutung gehabt haben. Doch sie allein erklären
im Meer. Brachiopoden – äußerlich Muscheln ähnelnde die fossilen Befunde nicht zufrieden stellend.
Armfüßer – und Trilobiten beherrschten die Szene. Letztere Denn ein anderer Faktor fand in den bishe
waren urtümliche Gliederfüßer, also Verwandte von Kreb rigen Szenarien zu wenig Gewicht: das Nah
sen, Spinnen und Insekten. Wie diese bildeten sie eine harte rungsangebot im Meer, genauer gesagt die
Hülle als Außenskelett, trugen am Kopf lange Fühler – so Basis der Nahrungsketten, das Phytoplank
genannte Antennen – und besaßen Facettenaugen, die aus ton. Damals, als die marine Artenvielfalt so
vielen kleinen Einzelaugen bestehen. frappant zuzunehmen begann, erfolgte bei
Während der nächsten 250 Millionen Jahre nahm die Viel den winzigen Algen des pflanzlichen Plank
falt der Meerestiere beträchtlich zu – bis zum größten tons offensichtlich ein Umschwung. Ihre
bekannten Massensterben am Übergang vom Perm Masse und insbesondere ihr Nährstoff
zur Trias, bei dem über 90 Prozent aller ozeanischen gehalt nahmen stark zu. Wie es aussieht,
Arten ausgelöscht wurden. Damit ging vor rund ermöglichten erst diese mikroskopischen,
250 Millionen Jahren das Erdaltertum zu Ende, Fotosynthese betreibenden Organismen die
aber ein neues Zeitalter stand schon in den Start Evolution der modernen Meeresfauna.
löchern: das Erdmittelalter oder Mesozoikum mit Die neuen Einsichten verweisen zudem
den Dinosauriern, in dem auch frühe Säugetiere so auf die Zukunft unseres Planeten: Auch
wie später erste Vögel auftraten. Auch im Meer gestal heute noch basieren wichtige Nahrungs
tete sich das Leben jetzt grundlegend neu. Dort setz pyramiden auf dem Phytoplankton. Das
ten sich viele der Tiergruppen durch, die noch heute aber droht nun durch Klimawandel und anhalten
die Ozeane beherrschen, zum Beispiel moderne Raub de Abholzung völlig aus dem Gleichgewicht zu geraten.
fische, Weichtiere und Krebse, Seeigel und Seegurken. Warum sind die Planktonalgen so grundlegend
Den Fossilienfunden zufolge wuchs die Vielfalt der wichtig? Wie alle Pflanzen erzeugen sie durch Fo
Meerestiere seit damals wesentlich stärker als je zuvor. tosynthese mittels Sonnenenergie organische
Diese Entwicklung setzte sich über das Erdmittelalter hin Nahrungsstoffe. Von ihnen ernährt sich zu
aus in der Erdneuzeit fort. Früher hielten die Forscher diesen nächst hauptsächlich das so genannte
Befund für ein Artefakt – dadurch hervorgerufen, dass sich Zooplankton, das selbst keine Fotosyn
geologisch jüngere Fossilien mehr und besser erhalten ha these betreibt. Dessen winzige Tiere
ben. Aber inzwischen steht fest: Die beeindruckende Zunah oder Larven und Eier werden wiede
Perm-
katastrophe
Meeresspiegel
Auch Meeresspiegelveränderungen dürften die Evolution der marinen Fauna vorangetrieben
haben. Allerdings laufen sie nicht mit der Zunahme der biologischen Diversität parallel.
Jen Christiansen, nach Martin, R., Quigg, A.: Evolving phytoplankton stoichiometry fueled diversification of the marine biosphere. In: Geosciences 2, S. 130–146, 2012, fig. 1
+ 100 Meter
heutiger
Meeresspiegel
– 100 Meter
»grünes« Phytoplankton
Coccolithophoriden
»rotes« Phytoplankton (Kalkflagellaten)
Dinoflagellaten
Nährstoffangebot
(Panzergeißler)
Strontiumisotope (Sr) in Schalenfossilien zeigen, dass im Mesozoikum allmählich Diatomeen
und weiterhin im Känozoikum vermehrt Nährstoffe durch Erosion vom Land in (Kieselalgen)
die Meere gelangten und für die Organismen verfügbar wurden. Auch schon am
Anfang des Erdaltertums gab es bedeutende Nährstoffeinträge, die damals, noch
unter völlig anderen Voraussetzungen, die Evolution der frühen Tierwelt antrieben.
0,709 (87Sr/86Sr)
0,708
0,707
Reaktionsmechanismen
2 ClO → ClOOCl In den 1980er Jahren formulierten Chemiker ein Reaktionsschema für die Zerstörung von
hν
ClOOCl → Cl + OOCl stratosphärischem Ozon durch Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW). Darin tritt Chlor-
OOCl → O2 + Cl monoxid (ClO) als Zwischenprodukt auf. Um das Schema zu verifizieren, konstruierten
Die Bruttoreaktion für den einfache- Ingenieure einen extrem empfindlichen Sensor, der noch billionstel Volumenanteile von
ren Mechanismus ist also O3 + O → 2 O2 , ClO in der Luft nachweisen konnte. Mit ihm und einem Messgerät für Ozon an Bord flog
hν
für den komplizierteren dagegen 2 O3 → dann ein Flugzeug in großer Höhe in das Ozonloch am Südpol hinein. In Einklang mit
3 O2 , wobei hν die Energie des Sonnen- dem vermuteten Reaktionsschema nahm dort, wo der Ozonwert drastisch zurückging,
lichts bedeutet. In beiden Fällen bilden die ClO-Konzentration stark zu.
Chloratome den Katalysator, und ClO
erscheint als Zwischenprodukt. Ähnlich
wie bei der Stille-Kopplung gibt es bei vollste Herausforderung, die es in der Man denke nur an den aus der Asche
dem vierstufigen Mechanismus aber Chemie gibt. Wenn ich jedoch als Theo- auferstehenden Phönix, an die Wieder-
noch mehr Zwischenprodukte, nämlich retiker die chemische Literatur durch- erweckung des Osiris oder an Persepho-
ClOOCl und OOCl. forste, habe ich einen anderen Eindruck: nes Aufenthalt in der Unterwelt und
Das sehr reaktive ClO ist nichts, was So leicht sich Reaktionsmechanismen ihre periodische Wiederkehr. Es brauch-
sich so mir nichts, dir nichts nachwei- mit hypothetischen Zwischenstadien te in der Tat einige Jahrzehnte, um das
sen lässt. In den 1980er Jahren wurde hinschreiben lassen, so teuflisch schwer Wort Katalyse im 19. Jahrhundert von
eigens eine spektroskopische Sonde ist es in der Regel, sie zu verifizieren. seiner alchemistischen Aura zu befrei-
entwickelt, um winzige Mengen davon Dazu bedarf es großer experimenteller en. Doch das Wunder bleibt. Dem Kata-
in der polaren Atmosphäre aufzuspü- Erfahrung und enormen Scharfsinns, lysator haftet noch immer etwas Magi-
ren. Mit ihr und einem Messgerät für was etwa die Auswertung der Messdaten sches an, auch wenn wir wissen, wie er
Ozon an Bord nahm ein Flugzeug 1987 für die Reaktionsgeschwindigkeit, die funktioniert. Wie könnte das Zwischen-
von Punta Arenas an der Südspitze Chi- Analyse von Isostopeneffekten und die produkt da mithalten? Es taucht auf
les aus Kurs Richtung Antarktis und Bewertung von indirekten Hinweisen und verschwindet gleich wieder. Sein
durchquerte dabei in großer Höhe das betrifft. Gleiches gilt natürlich auch für Nachweis, und sei er noch so raffiniert,
Ozonloch. Die aufgezeichneten Werte nichtkatalytische Reaktionen; denn die hat bestenfalls den Charme einer guten
zeigten klar, dass die Ozonkonzentra wenigsten chemischen Umsetzungen Detektivgeschichte.
tion genau dort drastisch zurückging, rauschen glatt durch – in den meisten Ein Teil der Faszination, die Katalysa-
wo die ClO-Konzentration stieg (Bild Fällen ist der Weg verschlungen und toren ausstrahlen und mit der Alche-
oben). Man beachte die Einheiten für führt über viele Etappen mit flüchtigen mie gemeinsam haben, ist auch das
den Volumenanteil von ClO – eins zu ei- Zwischenprodukten. Versprechen von Reichtum. Wenn ein
ner Billion –, um diese experimentelle Katalysator die Synthese eines begehr-
Glanzleistung zu würdigen. Mythen und Mammon ten Produkts effizienter macht, indem
Die Zwischenprodukte einer Reak Es gibt weitere Gründe, warum der Ka- er eine dazu nötige, aber widerspens
tion zu identifizieren und experimen- talysator uns gefühlsmäßig stärker an- tige Reaktion beschleunigt, kann das
tell nachzuweisen halte ich sogar für spricht als das Zwischenprodukt. So ge- enorme Profite bringen. Die meisten,
noch schwieriger, als einen Katalysator mahnt er an alte Mythen. Der oftmals wenn nicht sogar alle industriellen Pro-
zu finden. Meine Freunde aus der Kata- kostbare Stoff geht verloren – und kehrt zesse nutzen Katalysatoren. Firmen set-
lyseforschung sind da natürlich ganz wieder. Das erinnert an die archetypi- zen deshalb in der Regel alles daran, sie
anderer Meinung! Sie und ihre Studen- schen Zyklen, welche die Erde in man- als essenzielles geistiges Eigentum mit
ten sehen in der Suche nach neuen Re- chen urtümlichen Religionen durch- Patenten zu schützen. Die Kenntnis des
aktionsbeschleunigern die anspruchs- läuft, oder an mythologische Gestalten. Zwischenprodukts ist unter kommerzi-
Das Haber-Bosch-Verfahren erzeugt aus Wasserstoffgas (H2) und Luftstickstoff (N2) Zwischenprodukt auf, ist der Lohn da-
Ammoniak (NH3 ). Als Katalysator dient eine modifizierte Eisenoberfläche (graue Kugeln). gegen rein ideeller Art: Man erhält tie-
An ihr lagern sich Wasserstoff- (rote Kugeln) und Stickstoffmoleküle (blaue Kugeln) feren Einblick in den Reaktionsme
an und werden dabei in die Einzelatome aufgespalten (links). Während diese über die chanismus. Als Theoretiker bin ich eher
Oberfläche wandern, treffen sie aufeinander und verbinden sich über die Zwischenpro- jemand, der verstehen möchte, als ein
dukte NH (halb links) und NH2 (halb rechts) zum NH3 (rechts), das sich vom Eisen ablöst. Held der Tat. Und vielleicht sympathi-
siere ich auch einfach mit Molekülen,
die nur deshalb ein Schattendasein fris-
fer-RNA (tRNA), die das Aminoacyla die Ethylenpolymerisation. Allerdings ten, weil sie nicht wie Katalysatoren mit
denylat dann zum Ribosom befördert lief die Umsetzung weiterhin nur unter magischem Flair und mythologischen
und dort es an eine wachsende Protein- hohem Druck ab. Das änderte sich erst Bezügen aufwarten können. Ÿ
kette anfügt. Heute laufen sie deshalb bei Zugabe von Titanchlorid (TiCl4) als
unter dem Namen Aminoacyl-tRNA- Hilfskatalysator. Bis heute sind nicht
Der Autor
Synthetasen. Sie wurden entdeckt, weil alle Einzelheiten des Reaktionsmecha-
die relevanten Zwischenprodukte bei nismus geklärt, doch kann man sich Roald Hoffmann ist
der Aktivierung von Aminosäuren zu- eine Welt ohne Polyethylen kaum mehr emeritierter Frank H. T.
Rhodes Professor of
vor bekannt waren. Tatsächlich sind vorstellen.
Humane Letters an der
Aminoacyladenylate so instabil und Cornell University in
heften sich dersart leicht an tRNA, dass Entwurf von Katalysatoren Ithaca (New York) und
Träger des Chemie-
sie sich nur in deren Abwesenheit iso- anhand des Zwischenprodukts
nobelpreises 1981. Er
lieren lassen. In jüngster Zeit haben Chemiker auch dankt Barry Carpenter, Geoff Coates,
Im zweiten Beispiel hat sich ein Zwi- gezielt Methoden entwickelt, Katalysa- Brian Crane, Prasad Dasari, Bruce Ganem
und Paul Houston für ihre Kommentare
schenprodukt selbst zum Katalysator toren anhand bekannter Zwischenpro-
und Vorschläge.
gewandelt. Dabei geht es um die Poly dukte zu entwerfen. Das gilt etwa für
merisation von Ethylen zum Polyethy- künstliche Enzyme. Ausgehend von der
Quellen
len, einem der bekanntesten und meist- Reaktion, die ablaufen soll, konstruiert
verwendeten Kunststoffe. Wie alle wah- man die wesentlichen Teile des aktiven Anderson, J. G. et al.: Free Radicals within
ren Forschungsgeschichten steckt auch Zentrums, das zusammen mit dem Sub- the Antarctic Vortex: The Role of CFCs
in Antarctic Ozone Loss. In: Science 251,
die, wie Karl Ziegler (1898 – 1973) einen strat das Zwischenprodukt bildet, und S. 39–46, 1991
Katalysator für diese Reaktion entwi- fügt es in ein passendes Protein ein. Eine Carpenter, B. K.: Determination of
ckelte, voller Zufälle und Umwege. weitere Methode ist die gerichtete Evo- Organic Reaction Mechanisms. Wiley,
New York 1984
Zusammen mit Kollegen untersuch- lution, bei der Unmengen ähnlicher Mo- Ertl, G.: Katalyse: Vom Stein des Weisen
te der spätere Nobelpreisträger am leküle erzeugt und auf ihre Eignung als zu Wilhelm Ostwald. In: Zeitschrift für
Max-Planck-Institut für Kohlenfor- Katalysatoren geprüft werden. Als Maß Physikalische Chemie 217, S. 1207 – 1219,
2003
schung in Mülheim die Reaktion von dafür dient meist ihre Fähigkeit, Zwi-
Haenel, M. W.: Karl Ziegler. Gesellschaft
Lithiumaluminiumhydrid (LiAlH4) mit schenprodukte zu destabilisieren – was Deutscher Chemiker, Frankfurt 2009
Ethylen (C2H4), das eine Kohlenstoff- sich auf einfache Weise massenspektro- www.kofo.mpg.de/media/2/D1106244/
0635034217/FestschriftZiegler.pdf
Kohlenstoff-Doppelbindung enthält. metrisch prüfen lässt. Nur die besten
Hoffmann, R.: The Same and Not the
Als Produkte entstanden dabei längere Kandidaten werden für die weitere Ver- Same. Columbia University Press, New
Kohlenwasserstoffe aus vier bis zwölf feinerung ausgewählt. York 1995
Kohlenstoffatomen. Wie weitere Versu- Mein persönliches Faible für das Smil, V.: Transforming the Twentieth
Century: Technical Innovations and Their
che ergaben, katalysiert Aluminiumhy- Zwischenprodukt erklärt sich vielleicht Consequences. Oxford University Press,
drid (AlH3) die Reaktion ebenfalls. Dabei auch aus meinem beruflichen Werde- New York 2006
tritt Triethylaluminium – Al(CH2CH3)3 – gang. Die Entdeckung eines Katalysa-
als Zwischenprodukt auf. Diese unab- tors wirkt sich direkt auf eine Reaktion © American Scientist
hängig herstellbare Verbindung erwies aus und verbessert womöglich ein groß- Dieser Artikel im Internet:
sich als noch besserer Katalysator für technisches Verfahren. Spürt man ein www.spektrum.de/artikel/1214060
Lassen Sie sich mit uns vom bezaubernden Unsere Reise ist eine besondere Expedi- Naturerlebnis pur – das ist Island! Genie-
Irland und deren Sagen- und Mythenwelt tion auf den Spuren der Nomaden. Sie be- ßen Sie die einzigartige Natur von Vulka-
inspirieren. Auf der Grünen Insel treffen steht aus Geländewagentouren durch die nen, Geysiren, Gletschern, Fjorden und
Sie auf viele steinerne Zeugen der Vergan- fantastischen Landschaften im Altai-Ge- Wasserfällen. Wir haben den September
genheit: keltische Steinkreise, romanti- birge und in der Wüste Gobi. Da auch in als Reisezeit gewählt, da dieser Monat
sche Klosterruinen sowie trotzige Ritter- der Mongolei große Strecken zu überbrü- zum einen noch die bunten Herbstfarben
burgen. Bei dieser außergewöhnlichen cken sind, stehen neben dem internatio- des Nordens bietet und zum anderen be-
Reise durch den südlichen Teil der Insel – nalen Flug über Moskau nach Ulan-Bator reits optimale Chancen für die Sichtung
von Dublin nach Galway über Limerick in drei Inlandflüge auf dem Programm. In der von Polarlichtern bestehen.
den Killarney-Nationalpark und zurück Hauptstadt Ulan-Bator besuchen wir den Der Nordosten Islands ist dafür eine der
von Killkenny nach Dublin – werden Sie bekannten Winterpalast des Bogd Khan, besten und landschaftlich interessantesten
von der Märchen- und Geschichtenerzäh- das Naturhistorische Museum und das Gegenden. Der Mývatn ist berühmt für
lerin Alexandra Kampmeier begleitet, die Gandan-Kloster. seine Naturwunder und das Herz einer
Historie, Sagen und Mythen der Grünen Nach einem Flug nach Khovd – Ziel ist faszinierenden Vulkanlandschaft. Das Ge-
Insel durch ihre beeindruckende Erzähl- die Gurwan-Höhle mit Zeichnungen aus biet sollte auf Grund der mondähnlichen
weise wieder lebendig werden lässt. der Steinzeit – wird ein Höhepunkt der Verhältnisse einst als Übungsgelände für
Die keltische Kultur ist überall präsent Reise der Besuch bei den Obertonsängern die US-amerikanische Raumfahrtsbehör-
und nirgendwo werden die Fabeln, Sagen (Chandmani Sum) in Manchan sein. Mit de NASA dienen.
und Legenden eines Landes so hochgehal- dem Geländewagen fahren wir weiter Der weiter westlich gelegene Skagaf-
ten wie in Irland. Wir begegnen Heiligen, durch das große Altai-Gebirge zur Gobi jörður bietet isländische Landschaften wie
Geistern, Riesen und Feen, lassen uns von Scharga mit beeindruckender Wüsten- aus dem Bilderbuch. Nirgendwo gibt es so
der Magie einzelner Landstriche ebenso in landschaft. Per Inlandflug über Ulan-Bator viele der berühmten Islandpferde wie hier.
den Bann schlagen wie von deren Entste- geht es nach Dalansangad in den Süden des Auf der Rundreise darf der Vatnajökull-
hungsgeschichten. Wie sagte schon der Landes. Dort beginnt unsere zweite Tour Nationalpark nicht fehlen. Einer der größ-
1939 verstorbene Dichter W.B. Yeats: »Ir- in die Wüste Gobi. Hier durchfahren wir ten Gletscher beherrscht hier die Land-
land, noch immer vorwiegend keltisch, hat die einzigartige Wüstenlandschaft Hongo- schaft mit seinen vielen Gletscherzungen
sich neben einigen weniger schönen Din- rin Els, den Saxaulwald und die Bartgeier- und Eisbergen. Natürlich besuchen wir
gen eine Begabung zur Vision bewahrt, die schlucht und besichtigen das weltbekannte auch klassische Reiseziele wie die histo-
bei hektischeren und erfolgreicheren Völ- Kloster Erdene Dzuu in der ehemaligen rische Versammlungstätte þingvellir, den
kern ausgestorben ist. Uns konnten keine Hauptstadt des Dschingis Khan. Übernach- berühmten Geysir oder die nahe dem Po-
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titelthema: Materialwissenschaft
Physikalische Tarnkappen
Mit Metamaterialien lassen sich Wellen und andere Energieflüsse verschiedenster
Art gezielt beeinflussen und steuern. Dadurch kann man Dinge unsichtbar,
unhörbar oder unfühlbar machen – und vor schädlichen Einflüssen schützen.
Von Robert Schittny und Martin Wegener
W
arum sehen wir Dinge? Weil sie das Licht auf len geht: Die zu Grunde liegende Physik mitsamt der zuge
dem Weg in unser Auge verändert haben: in hörigen Mathematik ist in allen Fällen im Prinzip dieselbe
seiner Richtung, Helligkeit oder Laufzeit. Tä und anschaulich greifbar.
ten sie das nicht, wären sie nicht von ihrer Wie konstruiert man nun eine solche Umleitung? Erset
Umgebung zu unterscheiden. Wenn es uns also gelänge, das zen wir in Gedanken das Licht – oder eine andere Welle –
Licht so an einem Objekt vorbeizulenken, als wäre dieses durch Autos, die mit konstanter Geschwindigkeit eine Stadt
nicht da, hätten wir erfolgreich eine Tarnkappe gebaut. durchqueren. Wir nehmen eine Luftaufnahme der Stadt und
Doch Sehen ist nur eine Weise, unsere Welt wahrzuneh verzerren sie – zum Beispiel mit einem Bildbearbeitungspro
men. Ein Objekt macht sich auch dadurch bemerkbar, dass es gramm wie Photoshop – so, dass sich in der Mitte ein kreis
Schall reflektiert oder absorbiert, dass es die Ausbreitung der förmiges Loch auftut (Bilder S. 82/83). Das Ergebnis kann
Wärme behindert und dass es der Berührung Widerstand ziemlich komisch aussehen: Manche ursprünglich geraden
entgegensetzt. Eine allumfassende Tarnkappe müsste also Straßen werden krumm und vor allem länger, andere wer
nicht nur für Licht, sondern auch für Schall und Wärme den zusammengestaucht. Wendet man diese Verzerrung auf
leitung eine perfekt täuschende Umleitung bereitstellen. einen ganzen Film an, so scheinen die Autos auf den verlän
Obendrein müsste sie das Objekt durch so etwas wie eine gerten Straßen entsprechend schneller und auf den verkürz
elastische Tarnverpackung unfühlbar machen. ten langsamer zu fahren.
Seit ein paar Jahren sind Tarnkappen nicht mehr bloß Sci Die Kunst besteht nun darin, gewissermaßen eine Stadt
encefiction – sogar über die Optik hinaus. Wir wissen nicht zu bauen, in der die Autos in Wirklichkeit so schnell fahren,
nur, wie sie theoretisch funktionieren können, sondern ha wie sie sich im Zerrbild zu bewegen scheinen. Insbesondere
ben dieses Wissen auch schon teilweise im Labor umgesetzt. muss man ihnen auf den verlängerten Straßen eine höhere,
Gleichgültig, ob es um Licht-, Schall- oder mechanische Wel auf den verkürzten eine niedrigere Geschwindigkeit vor
schreiben. Dann sieht ein Beobachter die Autos aus der um
gebauten Stadt zur gleichen Zeit und mit der gleichen Ge
Auf einen Blick
schwindigkeit herauskommen wie aus der ursprünglichen.
Er kann also unter keinen Umständen wahrnehmen, dass in
Perfekte Umleitung der Mitte ein Loch ist, und erst recht nicht, was darin steckt, –
eine perfekte Tarnkappe.
1 Eine Tarnkappe leitet Wellen oder andere Energieflüsse auf
bestimmten krummen Wegen, indem sie an jedem Punkt
die Geschwindigkeit und die Richtung der Ausbreitung vorgibt.
Für echtes Licht an Stelle von Autos bedeutet das: Man
muss dem Licht an jedem Punkt der »Stadt« eine andere Ge
3 Das Prinzip lässt sich nicht nur auf Licht, sondern auch auf
mechanische Wellen einschließlich Schall sowie die Ausbrei-
tung von Wärme anwenden.
fahrer, der möglichst schnell von A nach B kommen möchte,
wählt das Licht nach dem fermatschen Prinzip zwischen zwei
Punkten stets den Weg kürzester Laufzeit.
4 Zusätzlich isoliert eine Tarnkappe ihr Objekt von seiner
Umgebung. Hierdurch könnte sie zum Beispiel Häuser vor
einem Erdbeben schützen.
Der Konstrukteur einer Tarnkappe muss also eine geeig
nete Verzerrung (mathematisch: eine Koordinatentransfor
mation) finden. An dieser Stelle ist Kreativität gefragt. Theo
kleines Foto: Robert Schittny, KIT; aus Schittny, R. et al., Phys. Rev. Lett 110, 195901, 2013;
groSSes Foto: Robert Schittny, KIT
Diese thermische Tarnkappe (Foto oben) besteht aus einer Kupferplatte mit Schlitzen und Löchern, die
mit dem durchsichtigen Kunststoff PDMS aufgefüllt sind. Im unteren Bild zeigen Falschfarben die gemes-
senen Temperaturen an: von heiß (rot) bis Zimmertemperatur (blau). Von links dringt Wärme ein. Sie
fließt bevorzugt über die kreisförmigen Stege, die in der Kupferplatte stehen geblieben sind, so dass der
Zentralbereich kühl bleibt. Löcher im Außenbereich mindern die Wärmeleitfähigkeit der Platte so weit,
dass die Wärme sich innerhalb und außerhalb gleich schnell ausbreitet: Die Linien konstanter Tempera-
tur (weiß) sind nach Passieren der Tarnkappe wieder gerade.
retiker wie John Pendry vom Imperial College London mit Baugruppen spielen dieselbe Rolle wie die Einheitszellen in
seinen Kollegen und Ulf Leonhardt von der University of einem gewöhnlichen Kristall: Sie sind periodisch angeord
St Andrews in Schottland haben für Licht im Jahr 2006 unab net. Die solcherart künstlich hergestellten Strukturen sollen
hängig voneinander erstmals Lösungen vorgelegt. Die Ma sich wie ein Material verhalten, dessen Eigenschaften über
thematik ist dabei derjenigen der allgemeinen Relativitäts die eines gewöhnlichen Materials hinausgehen – entspre
theorie recht ähnlich. chend taufte man sie Metamaterial. Da wir deren Herstel
Aus der Verzerrung ergibt sich eine Funktion, die zu jedem lung noch nicht lange beherrschen, werden auch Tarnkap
Ort und zu jeder Richtung eine Geschwindigkeit vorschreibt. pen erst in den letzten sieben Jahren intensiv erforscht.
Diese wäre nun durch ein geeignetes Material zu realisieren. Auf eine durchlaufende Welle soll ein Metamaterial wie
In der Natur gibt es zwar Stoffe, bei denen die Ausbrei ein homogenes Medium wirken. Dazu muss die Größe der
tungsgeschwindigkeit des Lichts von der Richtung abhängt; Einheitszellen deutlich kleiner sein als die Wellenlänge. Denn
diese Anisotropie ist jedoch nur sehr schwach ausgeprägt. sind diese beiden Längen vergleichbar, so entsteht Interfe
Ein viel verwendetes und vergleichsweise stark anisotropes renz: Die Welle merkt gleichsam, dass sie durch ein struktu
Material ist Kalkspat; aber seine zwei Lichtgeschwindigkei riertes Medium läuft, und wird reflektiert oder gebeugt. Das
ten unterscheiden sich gerade einmal um zehn Prozent. Hier ist hier nicht erwünscht, da wir lediglich die effektive Wellen
helfen künstliche Werkstoffe weiter, die aus verschiedenen geschwindigkeit beeinflussen wollen.
Materialien zusammengesetzt sind. Bei Tarnkappen für mechanische Vibrationen oder Wär
Schon 1874 dachte James Clerk Maxwell (1831 – 1879), einer me lässt sich dies noch leicht umsetzen; hier sind die Struk
der Väter des Elektromagnetismus, über künstliche, effektiv turen einige Millimeter oder Zentimeter groß. Für Lichtwel
anisotrope Materialien (so genannte Laminate) nach. Ein Ei len brauchen wir Nanostrukturen, die man erst seit wenigen
senklotz leitet den elektrischen Stromfluss in allen Richtun Jahren herstellen kann.
gen gleich. Macht man hingegen daraus einen Satz dünner Um Metamaterialien zu bauen, braucht man hinreichend
geradliniger paralleler Drähte, die gegeneinander isoliert unterschiedliche Ausgangsstoffe. Für die Anwendung auf
sind, kann der Strom nur noch entlang der Drahtachsen flie elektrischen Strom sind diese noch leicht zu finden: Ein
ßen. So einfach lässt sich mit ganz normalen Ausgangsmate Stück Metalldraht hat einen elektrischen Widerstand von
rialien eine massive Anisotropie herstellen, oder auch eine weit unter einem Ohm, ein guter Isolator mehr als das Zehn
mildere, indem man die Isolierung durch einen schlechten millionenfache. Die elektrische Leitfähigkeit, das Pendant
Leiter ersetzt. zur Wellengeschwindigkeit, variiert also über sieben bis acht
An die Stelle der Drähte und Isolatoren setzen wir heute Zehnerpotenzen. Bei sichtbarem Licht dagegen ist Titan
anisotrope Anordnungen sehr vieler Atome, die manchmal dioxid immer noch die beste Wahl; aber dort ist die Lichtge
auch als Metaatome bezeichnet werden. Diese funktionellen schwindigkeit nur knapp einen Faktor drei geringer als in
Luft oder Vakuum. Damit lässt sich die oben skizzierte kreis Wir haben 2013 gemeinsam mit unserem Institutskolle
förmige Tarnkappe mit Geschwindigkeiten von nahezu null gen Muamer Kadic und Sebastien Guenneau von der Aix-
in der einen und nahezu unendlich in der dazu senkrechten Marseille Université eine solche Tarnkappe für Wärme ge
Richtung nicht einmal annähernd realisieren. baut. Sie besteht aus nur zwei verschiedenen Ausgangsmate
rialien: Kupfer und dem leicht zu verarbeitenden Kunststoff
Tarnkappen für Wärmeflüsse Polydimethylsiloxan (PDMS). Deren Wärmeleitfähigkeiten
Bemerkenswerterweise lässt sich das Prinzip auch auf die unterscheiden sich um mehr als einen Faktor 1000.
Ausbreitung von Wärme anwenden, obgleich diese kein Wel Damit die Wärme leicht um das (kreisförmige) zu tarnen
lenphänomen ist. Für zeitunabhängige Systeme gehorchen de Objekt herumfließt und nur schwer zu diesem vordringen
nämlich die Verteilung der Temperatur und diejenige des kann, haben wir eine Kupferplatte so mit Schlitzen und Lö
elektrischen Potenzials derselben mathematischen Glei chern versehen und diese dann mit PDMS aufgefüllt, dass sie
chung. Überdies sind bei Metallen die Leitfähigkeiten für dem Wärmefluss auf das Zentrum zu möglichst viele Hinder
Wärme und elektrischen Strom eng miteinander verknüpft nisse in den Weg legt und ihm seine Umgehung maximal er
und lassen sich durch analoge physikalische Modelle be leichtert (Bilder S. 81). Der zentrale Kreis wird dadurch von
schreiben. Entsprechend finden sich auch Ausgangsstoffe der Umgebung entkoppelt und bleibt für längere Zeit kühl;
für ein Metamaterial, bei dem die Ausbreitungsgeschwindig das kann zum Beispiel für Anwendungen in der Elektronik
keit der Wärme vom Ort und von der Richtung abhängt. von Nutzen sein.
Insgesamt ist die Wärmeleitfähigkeit innerhalb der Tarn Millimetern liegt deutlich unter der Wellenlänge von knapp
kappe geringer als in einer ungeschlitzten Kupferplatte. Um zehn Zentimetern bei einer Frequenz von 200 Hertz, wie es
diesen Effekt zu kompensieren, haben wir auch in die umge sich für eine Tarnkappe gehört.
bende Kupferplatte Löcher gebohrt und mit PDMS aufge Für eine Welle, die um den festgehaltenen Bereich herum
füllt, so dass die effektive Wärmeleitfähigkeit innen wie au läuft, liegen der harte und der weiche Kunststoff parallel.
ßen dieselbe ist. Insbesondere ist die Ausbreitungsgeschwin Diese Situation ist analog zu einer weichen und einer harten
digkeit, wie gefordert, an gewissen Stellen und in gewissen Schraubenfeder. Sind diese parallel angeordnet, so bestimmt
Richtungen innerhalb der Tarnkappe größer als in der Umge die harte Feder mit ihrem größeren Widerstand die Eigen
bung. Somit verhält sich der Wärmefluss außerhalb der Tarn schaften des Paars. Das Material verhält sich daher hart, und
kappe genauso wie in der restlichen homogenen Platte. die Wellen breiten sich schnell aus. In Richtung Zentralbe
reich sind die beiden Federn hingegen hintereinanderge
Vor Vibrationen verbergen schaltet. Nun ist die weiche Feder maßgeblich, die sich leicht
Wenn es nicht mehr um die Ausbreitung von Wärme, son strecken oder zusammendrücken lässt. Im Effekt reagiert das
dern um die von Wellen geht, kommt eine weitere Kompli Metamaterial weich, und die Wellen laufen langsamer.
kation hinzu: Wellen können entlang der Ausbreitungs Ein Lautsprecher versetzt die Platte am linken Rand in
richtung (longitudinal) oder in zwei möglichen Richtungen Auf-und-ab-Schwingungen. Von dort aus läuft die Welle
senkrecht dazu (transversal) schwingen. Lichtwellen sind durch die Tarnkappe. Mittels stroboskopischer Beleuchtung
transversal, Schallwellen in Gasen und Flüssigkeiten longi der Platte konnten wir die Ausbreitung vermessen und be
tudinal, und mechanische Wellen in elastischen Stoffen kön stätigen, dass die Tarnkappe ihre Funktion erfüllt (Bild oben).
nen in allen drei Raumrichtungen schwingen. Eine Tarnkap Zu unserer eigenen Überraschung könnte das Prinzip
pe sollte im Idealfall für alle möglichen Schwingungsrich der mechanischen Tarnkappe praktischen Nutzen abwerfen.
tungen (Polarisationen) einer Wellenart funktionieren. Die Anordnung tarnt nämlich nicht nur ein Objekt, sondern
Als einen ersten Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel hat entkoppelt es auch von seiner Umgebung. Eine Forscher
im Jahr 2012 Nicolas Stenger aus unserer Gruppe mit Unter gruppe um Sebastien Guenneau und Stefan Enoch von der
stützung seines Chemikerkollegen Manfred Wilhelm eine Aix-Marseille Université hat jüngst spekuliert, dass Tarnkap
zweidimensionale Tarnkappe hergestellt. Es handelt sich um pen für Vibrationen auf diese Weise Gebäude vor Erdbeben
eine Platte, die wie die Membran einer Trommel schwingen schützen könnten, genauer: vor den besonders zerstöreri
kann. Sie transportiert also nur Wellen, welche die Membran schen Wellen mit Wellenlängen von einigen Metern bis eini
senkrecht zu ihrer Ebene auslenken. In der Mitte gibt es ei gen hundert Metern, die sich parallel zur Erdoberfläche aus
nen Bereich, den wir festhalten und der dadurch die Ausbrei breiten (»Rayleigh-Wellen«). Erste Vorexperimente in Zu
tung der Welle stören würde, wenn wir ihn nicht mit einer sammenarbeit mit der französischen Firma Menard sind
Tarnkappenstruktur umgeben hätten. ermutigend. Gleichwohl ist diese Anwendung noch umstrit
Stenger wählte als Ausgangsmaterialien den harten ten, weil die Bewegungen des Gesteins bei großen Auslen
Kunststoff Polyvinylchlorid (PVC) und das schon genannte kungen nicht mehr korrekt durch die Bewegungen gewöhn
PDMS, das weich und fast gummiartig ist. Die Wellenge licher (»linearer«) Schraubenfedern zu modellieren sind und
schwindigkeit in einer Membran oder Platte ist für PVC damit eine wesentliche Voraussetzung der Theorie wegfällt.
knapp 40-mal so groß wie für PDMS. Wir haben die PVC-Plat Doch selbst wenn dadurch die Tarnkappe im Erdboden zer
te nach demselben Prinzip, das wir später für die Kupferplat stört würde, wäre der Schutz des Gebäudes das wert.
te bei der Wärmeleitung verwendeten, mit Löchern versehen Für seismische Wellen ist die Bedingung, dass die Struktu
und diese mit PDMS aufgefüllt. In der Umgebung haben wir ren des Metamaterials viel kleiner als die Wellenlänge sein
wieder in regelmäßiger Anordnung Löcher ins PVC gebohrt müssen, kein ernsthaftes Problem – für Licht mit seiner Wel
und diese mit PDMS aufgefüllt, damit die effektive Laufzeit lenlänge zwischen 400 und 800 Nanometern (millionstel
mit und ohne Tarnkappe dieselbe ist. Die Ringbreite von drei Millimetern) dagegen sehr. Ausgerechnet die Tarnkappe im
1
ternen Beobachter zu täuschen, muss also die Geschwindig
en
Tolga Ergin, KIT; aus Ergin, T. et al., Phys. Rev. Lett. 107, 173901, 2011
0,5 keit in der Nähe der Wölbung geringer sein. Die zugehörige
Koordinatentransformation kann aus einer Klasse von Abbil
0
dungen gewählt werden, die in der Mathematik »konform«
genannt werden. Konforme Abbildungen sind insbesondere
winkeltreu, mit dem Effekt, dass die Geschwindigkeit zwar
vom Ort, nicht aber von der Richtung abhängen muss. Daher
braucht man für eine Teppich-Tarnkappe keine anisotropen
Materialien.
1,4
scheinen: In rot markierten
Bereichen hat der Kunststoff
1,2 einen großen Volumenanteil,
so dass sich das Licht mit nur
60 Prozent der Vakuumlichtge-
schwindigkeit ausbreitet. In
1,0
dunkelblauen Bereichen über-
wiegt Luft, wodurch sich dort
Tolga Ergin, KIT; aus Ergin, T., Wegener, M., Physik-Journal 5/2012 S. 31
Titelthema: Werkstoffe
T
om Driscoll wäre glücklich, wenn er nie mehr Dadurch wechseln die von ihnen entwickelten Bauteile zum
»Tarnumhänge à la Harry Potter« hören müsste. Beispiel von undurchsichtig nach transparent oder von rot
Unweigerlich drängt sich der Vergleich auf, wenn nach blau – auf Knopfdruck.
über die neuesten Fortschritte bei Metamateria
lien gesprochen wird – Anordnungen winziger »Zellen«, die Die Grundlagenforschung weicht der angewandten
elektromagnetische Strahlung beugen, streuen oder auf David Smith, der 2006 mit seinen Kollegen von der Duke
andere Weise formen, wie es kein natürliches Material kann. University in Durham (North Carolina) die erste funktionie
Im Prinzip könnten Metamaterialien zur Konstruktion von rende Tarnkappe herstellte, sieht inzwischen den Zeitpunkt
Tarnkappen dienen (siehe den vorstehenden Artikel). Und gekommen, an dem die Grundlagenforschung der ange
das stellen viele Forscher in den Vordergrund, vor allem in wandten weichen muss. Entsprechend nahm er im Januar
Förderungsanträgen, die an das amerikanische Verteidi 2013 einen Posten als Abteilungsleiter bei Intellectual Ven
gungsministerium gerichtet sind. tures an. Schon im kommenden Jahr hofft Kymeta aus
Interessanter als solche Visionen, deren Realisierung noch Redmond (Washington), ein Ableger der Patentverwertungs
in weiter Ferne liegt, sind für Driscoll Anwendungen in der firma, das erste Metamaterialgerät für den Endverbraucher
Satellitenkommunikation, der optischen Datenverarbeitung auf den Markt zu bringen: eine kompakte Antenne, die dort,
und der Konstruktion von Smartphones. Der Physiker von wo kein Mobilfunknetz zur Verfügung steht, eine Breitband
der University of California in San Diego befasst sich damit, verbindung zu einem Satelliten herstellt.
diese Ideen zur Marktreife zu führen, und zwar bei Intel Das Herz der Anlage bildet ein Mikrochip, der tausende
lectual Ventures, einer in Bellevue (Washington) ansässigen elektronische Metamaterialzellen enthält. Die Eigenschaften
Firma, die Patente aufkauft. jeder Zelle können von einem Augenblick zum anderen ge
Mit den ersten verkäuflichen Produkten aus Metamateri ändert werden, gesteuert von der internen Software der An
alien rechnet er bereits in ungefähr einem Jahr – auch wenn lage. Damit kann die Antenne einem Satelliten am Himmel
die Herstellung und Bearbeitung der nanometergroßen folgen, ohne sich selbst zu bewegen. Vielmehr sendet jedes
Strukturen bislang noch extrem teuer ist. Später würden Element sein Funksignal mit einer präzise bestimmten Pha
auch Normalverbraucher in den Genuss der Vorteile kom senverschiebung – mit dem Effekt, dass sich die Signale nur
men, etwa durch schnellere und billigere Internetverbin in der gewünschten Richtung durch Interferenz verstärken
dungen in Flugzeugen und in Handys. und in jeder anderen Richtung auslöschen (Bild S. 90; ver
Andere Forscher waren ebenfalls nicht untätig. Sie ersan gleiche Spektrum der Wissenschaft 4/1985, S. 46). Zugleich
nen unter anderem Möglichkeiten, die Anordnung und so arbeitet das Gerät aus denselben Gründen als gerichtete
gar die Form der Elemente eines Metamaterials zu ändern. Empfangsantenne mit einem sehr kleinen »Blickwinkel«.
Gegenüber der klassischen Satellitenschüssel biete die
Auf einen Blick neue Technik »bedeutende Einsparungen an Kosten, Ge
wicht und Stromverbrauch«, berichtet Smith. Kymeta hat
Alles auSSer Tarnkappen Investoren und potenziellen Entwicklungspartnern auch
schon ein Demonstrationsmodell vorgeführt. Aber die Pro
bart, dass er selbst keinen derzeitigen noch nicht verstehen, ist sehr sympa Nagel dar, dass eine Kritik am dominie
Erklärungsversuch für hinreichend hält. thisch und fehlt leider so manchem sei renden naturalistischen Modell mög
Das zeigt sich deutlich, wenn er gegen ner Kritiker. lich ist, ohne dabei auf Argumente zu
Ende des Buchs schreibt, dass »ein Ver So hält das Buch zwei Botschaften rückzugreifen, deren sich Kreationisten
ständnis, nach dem das Universum bereit. Erstens, das vorherrschende ma bedienen. Allerdings offenbart das
grundsätzlich dazu neigt, Leben und terialistisch-neodarwinistische Welt Buch auch die Schwierigkeit, konsisten
Geist zu erzeugen, wahrscheinlich eine bild sei unhaltbar geworden, da es nicht te Theorien jenseits des materialisti
sehr viel radikalere Abkehr von den ver in der Lage sei, die Entstehung des Be schen Modells zu formulieren.
trauten Formen naturalistischer Erklä wusstseins – und weniger noch der Ver
rung verlangen wird, als ich sie mir ge nunft – in seine Theorie zu integrieren. Eckart Löhr
genwärtig vorzustellen vermag«. Diese Es zeige sich, schreibt der Autor, »dass Der Rezensent hat Philosophie und Literatur
Bescheidenheit und Demut angesichts die Biologie keine rein physikalische studiert; er schreibt Essays und Rezensionen für
dessen, was wir nicht beziehungsweise Wissenschaft sein kann«. Zweitens legt verschiedene Onlinezeitschriften.
Wolfgang Steinicke
Der Rezensent ist Physiker und Mitglied der Hinter den Rand geschaut: Im geozentrischen Weltbild dachte man sich die Erde als
Vereinigung der Sternfreunde e. V. Kugel, umgeben von konzentrischen Sphären, hinter deren letzter Gott wohnt.
Auch mit
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nus Maurus (780 – 856) und der Biograf unter sein Joch, etwa die Sachsen. Hier
Einhard (770 – 840), der mit seiner offenbaren sich die Schattenseiten die
»Vita Karoli Magni« den Nachruhm ser mittelalterlichen Lichtgestalt, sein
des Kaisers sicherte. hässliches Gesicht als grausamer Men
Zur herrschaftlichen Durchdrin schenschlächter, der »heidnische« Un
gung seines Reichs stützte sich Karl auf tertanen mit Waffengewalt zum christ
Erzbischöfe und Bischöfe, die in ihren lichen Glauben bekehrte. Zudem stell
Bezirken seine Weisungen (Kapitulari te er die Beziehung zu Rom auf eine
en) ausführten. Zudem setzte er Grafen neue Grundlage und propagierte die
ein, die in ihren Herrschaftsbereichen Erneuerung des Römischen Reichs
als seine Stellvertreter über das Heer (»renovatio imperii Romanorum«). Als
befehligten und den Vorsitz bei Ge deren im wahrsten Sinne krönender
richt führten. Königsboten (»missi do Abschluss ist sein Kaisertum zu ver
minici«), jeweils ein Adliger und ein stehen.
Bischof, bereisten jährlich bestimmte Aus heutiger Perspektive lässt sich Christiane Gelitz (Hrsg.)
Grafschaften und Bistümer und kont kaum nachvollziehen, wie schwer es
rollierten die Amtsführung der lokalen damals war, über ein Reich zu gebieten, Psychotherapie heute
Machthaber. das sich von der Elbe bis zum spani Seelische Erkrankungen und ihre
Um den Königshof zu versorgen, er schen Fluss Ebro und von den friesi Behandlung im 21. Jahrhundert
ließ Karl eine Landgüterverordnung, schen Inseln bis nach Mittelitalien er ADHS bei Erwachsenen, Computerspielsucht,
das »Capitulare de villis«, in der er sei streckte. Zu den Eigenheiten der karo soziale Phobie, Borderline – Begriffe, die wie
ne Verwalter detailliert unterwies, wie lingischen Herrschaftspraxis gehörte nie zuvor durch sämtliche Medien geistern.
sie seinen Besitz zu pflegen hätten. Er es, überall im Reich persönliche Prä Aber was steckt dahinter?
ließ Maße und Gewichte normieren, senz zu zeigen. Dieses Phänomen der In wissenschaftlich fundierten, verständlichen
und unterhaltsamen Beiträgen stellen Psycho-
schuf mit dem Silberdenar eine Ein »ambulanten Herrschaftsausübung«
logen, Psychiater, Psychotherapeuten und Me-
heitswährung, die Jahrhunderte über erforderte ständiges Umherreisen. So dizinjournalisten das Spektrum der wichtigsten
dauerte, und vereinheitlichte die reli begegnet uns in Karl ein Herrscher im psychischen Störungen sowie erfolgreiche
giösen Zeremonien und Riten. In Ge Sattel, der permanent unterwegs war, neue Therapieansätze in den Fokus.
stalt der Pfalzen ließ er monumentale von Pfalz zu Pfalz ritt und an diesen „Psychotherapie heute“ verschafft einen
Steinbauten errichten – alles andere als »repräsentativen Orten fränkischer ebenso instruktiven wie spannenden Überblick
selbstverständlich in einer Welt der Herrschaftsausübung« seinen Regie über neue Störungsbilder und die Fortschritte
der Therapieforschung. Dieser ist nicht nur für
Hütten –, förderte die Wissenschaften rungsgeschäften nachging.
Mediziner und Therapeuten von Bedeutung,
und das Handwerk. Überdies etablierte Karls Imperium schuf einen zivili sondern auch für alle an Psychotherapie und
er mit der karolingischen Minuskel ein satorischen Rahmen, in dem sich die Neurowissenschaften Interessierten.
neues Schriftbild mit klarer Linienfüh späteren europäischen Nationen he 2012. 200 Seiten, 16 Abb., kart.
rung, die das Schreiben erleichterte rausbilden konnten. Diese epochale € 19,99 (D) / € 20,60 (A)
ISBN 978-3-7945-2867-7
und noch heute üblichen Druckschrif Leistung würdigt das vorliegende Buch
ten wie der »Times« zu Grunde liegt. historisch fundiert und mit großem
Als Zentren der neuen Gelehrsam erzählerischem Schwung.
keit etablierten sich die Klöster. Sie wa
Irrtum und Preisänderungen vorbehalten.
ren nicht mehr nur Orte des Gebets, Theodor Kissel Jetzt bestellen!
sondern wurden zu Bildungsstätten Der Rezensent ist promovierter Althistoriker, Internet: www.schattauer.de/shop
E-Mail: order@schattauer-shop.de
mit Bibliotheken und Skriptorien, zu Sachbuchautor und Wissenschaftsjournalist;
handwerklichen und landwirtschaftli er lebt in der Nähe von Mainz.
Darek Sepilo
Magic of Big Blue – Geheimnisse der Ozeane
Koch Media, München 2013
Laufzeit: 345 Minuten, DVD € 23,–, Blu-Ray € 25,–, 3D-Blu-Ray € 27,– (Zirkapreise)
Die spektakulären Aufnahmen des Unterwasserfilmers Darek Sepilo lassen den Zuschauer in die faszi-
nierende Welt der Ozeane eintauchen. Jede der insgesamt sieben Episoden widmet sich einer anderen
Weltregion. Sepilo präsentiert farbenprächtige Korallenriffe, perfekt getarnte Fische, Haie, Wale, Meeres
schildkröten und vieles mehr. Untermalt von stimmungsvoller Musik stehen dabei sinnliches Erleben
und Staunen im Vordergrund. Der Film bietet jedoch auch fundierte biologische Hintergrundinforma
tionen. So erfährt man mit Staunen von den unglaublichen Anpassungen und Symbiosen, zu denen
der tägliche Daseinskampf bei Räubern und Beutetieren führt. Dieses fragile Ökosystem, so die Bot-
schaft, ist durch globale Erwärmung und Überfischung bedroht. »Magic of Big Blue« richtet sich an
Zuschauer aller Altersklassen und erfordert keine Vorkenntnisse. Die Sprache ist lebendig und gut
verständlich, wenn auch manchmal etwas pathetisch. Georg Neulinger
Sonia Fernández-Vidal
Nikos Reise durch Raum und Zeit
Aus dem Spanischen von Kristin Lohmann
Hanser, München 2013. 195 S., € 14,90
Niko, der Held dieser Geschichte, kommt auf seinem Schulweg an einer seltsamen Tür vorbei. Als er
hindurchgeht, landet er in der Quantenwelt. Dort erlebt er viele merkwürdige Dinge am eigenen Leib,
darunter den Tunneleffekt (er rennt durch eine Wand), die Quantenverschränkung (er lässt sich tele-
portieren) und das Superpositionsprinzip (er findet aus einem Labyrinth, indem er drei Wege gleichzei-
tig nimmt). Das alles fügt sich in eine kindgerechte, fesselnde Märchenhandlung ein. Die Autorin Sonia
Fernández-Vidal, promovierte Quantenphysikerin, erklärt die genannten Phänomene in ihrem schma-
len Kinderroman natürlich nur oberflächlich. Ihr Buch könnte Kinder aber früh an die moderne Physik
heranführen und ihnen diesbezügliche Berührungsängste nehmen. Frank Schubert
Eckhard Grimmberger
Die Säugetiere Deutschlands – Beobachten und Bestimmen
Quelle & Meyer, Wiebelsheim 2014. 561 S., € 19,95
Der üppig bebilderte Band will eine handliche Bestimmungshilfe bei Säugetierbeobachtungen sein –
sowohl für interessierte Laien als auch für Profis. In der knappen Einleitung trägt der Autor einige
Hintergrundinformationen zusammen und gibt Beobachtungstipps. Auf den restlichen gut 500 Seiten
listet er sämtliche in Deutschland heimischen Säuger auf und beschreibt sie kurz; auch auf invasive
oder ausgewilderte Spezies geht er ein. Die etwa 320 Fotos von Alt- und Jungtieren, ihren Gebissen,
Nestern und Spuren ergänzt er stimmig mit Karten der jeweiligen Verbreitungsgebiete. Allerdings
dürfte die Schriftgröße bei Dämmerlicht und Dunkelheit – den Hauptbeobachtungszeiten bei vielen
Tieren – so manchem Nutzer Leseschwierigkeiten bereiten. Davon abgesehen präsentiert sich der Band
als inhaltlich gut aufgearbeitetes und überzeugendes Werk. Arne Baudach
steht aus mehreren Kno Unterkiefer ein solches We 1953 als Fälschung entlarvt, beste-
chenstücken, der linken Hälf sen nie habe sprechen kön hend aus einem mittelalterlichen
te eines Unterkiefers und nen.« Prometheus 1262, S. 209, 1914 Menschenschädel und dem Unter-
verschiedenen Teilen der (Der »Piltdown-Mensch« wurde kiefer eines Orang-Utans. Die Red.)
Schädelkapsel. Dawson und
Woodward bargen den Fund.
Viel Lärm um nichts Nachdem englische Sachver Strom schlägt Gas
»Neben den bereits bekann ständige die Zusammenge »Nach einer Statistik wies Berlin im Jahre 1893 an Kleinmoto
ten Vormenschenfunden be hörigkeit von Kiefer und ren 1010 Gas- und 232 Elektromotoren auf. Sechs Jahre später
ansprucht der im Sommer Schädel anerkannten, gehen war die Zahl der Gasmotoren auf 1225, die der Elektromoto
1912 in einem Kieslager bei aber im weiteren die Ansich ren auf 13 791 gestiegen. 1911 waren nur noch 422 Gas- neben
Piltdown zutage geförderte ten der Gelehrten weit ausei 26 669 Elektromotoren im Betrieb. Dies zeigt, daß der Elek
Fund ein besonderes Interes nander. Nach Woodward ist tromotor als Kleinmotor bei annähernd gleichen Preisen für
se, da er der Gegenstand eif der dicke Wandungen zeigen Strom und Gas unbestreitbare Vorzüge besitzt, in erster Linie
rigster wissenschaftlicher de Schädel kleiner als bei geringe Anschaffungskosten, bequeme Bedienung und stete
Diskussion ist. Der Fund be ›irgendeinem menschlichen Betriebsbereitschaft.« Technische Monatshefte 1/1914, S. 38
Wesen‹, nach Lankester ›de
nen der vor etwa 1000 Jah
ren lebenden Bewohner von Delikatessen aus der Tiefsee
Sussex ähnlich‹. Aus dem re »Wie Jacques Pellegrin mitteilte, kommen neuerdings See
konstruierten Schädel geht fischarten, die beträchtliche Meerestiefen bewohnen und von
hervor, daß Gesicht und Kie denen man zurzeit nur wenige Exemplare in den Museen hat,
fer ungemein affenähnlich auf den Pariser Markt. Diese Tatsachen sind bedingt durch die
sind und nach ihrer Entwick Entwicklung der französischen Seefischerei. Die Fischer ge
lungsstufe nicht sehr hoch hen jetzt weiter hinaus in die See, und sie dringen mit ihren
über den betreffenden Teilen Fanggeräten bis zu den Tiefen von 200 m. Selbst einer der al
eines Schimpansenschädels lerseltensten Fische, Parazenopsis conchifer, der erst in einem
Der rekonstruierte stehen. Klaatsch führte aus, einzigen Exemplar beschrieben worden ist, hat auf dem Pari
Piltdown-Schädel. daß mit einem derartigen ser Markt festgestellt werden können.« Die Umschau 2/1914, S. 40
www.spektrum.de 103
Futur III
Geschichte
in Briefen
Von Alex Shvartsman
findung perfektioniert, aber die Nach- sen werden. Ich kann den Gedanken
1. 9. 12 richt von deiner Schwangerschaft ist nicht ertragen, dass sie in ständiger
Hallo Cat, ein Wunder, das alle bloß wissenschaft- Furcht vor der nuklearen Vernichtung
endlich haben wir’s geschafft! Die Zeit- lichen Errungenschaften überstrahlt. leben, die allen freien Menschen des
maschine funktioniert. Die Kerle reden Ich konnte letzte Nacht nicht schla- Sozialistischen Europas droht.
davon, sie an eine große Technikfirma fen und dachte an die Welt, in die unser Ich besitze das Mittel und die mora-
zu verscherbeln, aber ich habe eine Kind – ob Sohn oder Tochter – hineinge- lische Autorität, 70 Jahre Kalten Krieg
bessere Idee. boren wird. Ein durch 70 Jahre totalen zu verhindern. Ich werde zurück nach
Ein rascher Abstecher zu Ururgroß- Krieg und dauernde Nazi-Luftangriffe 1930 reisen und Roosevelt töten. Wenn
vater Oskars Werkstatt im Weimar von verwüstetes England ist wahrlich nicht alles gut geht, wirst du diese Notiz in
1890, ein paar Skizzen und eine Probe der Ort, an dem es aufwachsen soll. einer besseren Welt lesen, die bereits
auf seinem Arbeitstisch hinterlassen – Im Besitz eines funktionierenden den Kommunismus erreicht hat.
und Simsalabim: Oskar erfindet das Prototyps der Zeitmaschine besitze
Klebeband und macht in Deutschland ich sowohl das Mittel als auch die
ein Vermögen; 100 Jahre später erbt moralische Verantwortung, die Fehler ***
mein Zweig der Familie so viel, dass wir der Vergangenheit zu korrigieren. Ich ***
keine Finanzgeier nötig haben, die uns werde ins Jahr 1930 zurückreisen und
den Löwenanteil der Zeitreiseprofits Hitler töten.
Erster Tag des Septembers im Jahr
wegschnappen. Außerdem, mit einem Wenn alles gut geht, wirst du in
des Herrn Zweitausend und Zwölf
Kind unterwegs können wir die übrige einer viel besseren Welt erwachen und
Knete gut brauchen. diese Nachricht lesen. Allerliebste Katharina,
Leider muss ich dir per E-Mail mel- ich empfing Deinen freundlichen Brief
den, dass ich heute lange in Oxford vor einigen Tagen, und es tut mir
bleibe, um an der Sache zu arbeiten, C 01, 2012 schrecklich leid, dass die Fruchtbar-
und vielleicht das Abendessen versäu- keitsinfusionen noch nicht wirken. Ich
me. Die gute Nachricht: Wenn es aus- Liebe Katja, richte diesen Brief an Dich in der Hoff-
geht wie erwartet, werden wir nicht meine Genossen an der Oxford Uni nung, glückliche Entwicklungen auf
Pizza speisen, sondern Kaviar. versität und ich haben den Apparat meiner Seite mögen Dein Herz erfreu-
endlich perfektioniert. Morgen sollen en und Deine Stimmung heben.
wir das Projekt »Machina Vremeny« Der Chronomat, den zu konstruie-
1. September 2012 dem Politbüro präsentieren. ren ich unternahm, ist endlich fertig.
Als du mir gestern die große Neuig- Mein lebenslanger Traum, das Empire
Meine liebe Cathy, keit mitteiltest, konnte ich nicht ein- Ihrer Majestät im Alleingang gegen
gestern war der glücklichste Tag mei- schlafen und musste an die Welt den- die kriegerischen Grobiane aus den
nes Lebens. Endlich habe ich meine Er- ken, in die unsere Kinder hineinwach- Amerikanischen Kolonien zu verteidi-
www.spektrum.de 105
Vorschau Das Februarheft ist ab 21. 1. 2014 im Handel.
Mike Carroll
Stringtheorie und
Quantenverschränkung
Was Einstein misstrauisch als »spukhafte Fernwirkung« abtat, wurde
bisher meist nur an einzelnen Teilchen oder winzigen Molekülwolken
bestätigt. Doch auch die unzähligen Teilchen in einem Festkörper können
einen verschränkten Quantenzustand bilden. Zu dessen Beschreibung
eignet sich überraschenderweise die Stringtheorie aus der Elementarteil
chenphysik.
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