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„Tränen in schwerer Krankheit“ (1550 – 1750) Andreas Gryphius

Mir ist, ich weiß nicht wie, ich seufze für und für.
Ich weine Tag und Nacht, ich sitz in tausend Schmerzen;
Und tausend fürcht' ich noch; die Kraft in meinem Herzen
Verschwindt, der Geist verschmacht', die Hände sinken mir.

Die Wangen werden bleich, der muntern Augen Zier


Vergeht gleich als der Schein der schon verbrannten Kerzen.
Die Seele wird bestürmt, gleich wie die See im Märzen.
Was ist dies Leben doch, was sind wir, ich und ihr?

Was bilden wir uns ein, was wünschen wir zu haben?


Itzt sind wir hoch und groß, und morgen schon vergraben:
Itzt Blumen, morgen Kot. Wir sind ein Wind, ein Schaum,

Ein Nebel und ein Bach, ein Reif, ein Tau, ein Schatten;
Itzt was und morgen nichts. Und was sind unsre Taten
Als ein mit herber Angst durchmischter Traum.

Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation

„Tränen in schwerer Krankheit“ – da denke ich als erstes, dass ich mich jetzt mit einer
lyrischen Beschreibung des Weinens, Trauer oder Tränen selbst eines Kranken widmen
werde. Auf jeden Fall stimmt der gewählte Titel schon eine gewisse Schwermütigkeit an
aufgrund seines negativbehafteten Wortes Krankheit, aber auch mit Tränen assoziiere ich
mehr das Leid eines Menschen als das Glück.
Beim Blick auf den Inhalt wird die Schwermütigkeit bestätigt, aber es ist da noch mehr
versteckt als nur eine Beschreibung Zustandes oder eben diese im Titel erwähnten Tränen. Es
wird zum Ende hin tiefsinniger vom Inhalt und in das Licht der Aussage scheint die
Existenzfrage zu rücken, was im Titel kein bisschen angedeutet wird.

Es handelt sich hierbei um ein Gedicht aus dem Barock. Darauf verweisen einerseits die
Überschrift wie auch der Autor Andreas Gryphius (1616-1664), der zu der Zeit des Barocks
(1550 – 1750) wirkte und zahlreiche barocke Lyrik verfasst hatte. Andrerseits ist das Gedicht
natürlich Indiz selbst und wahrlich ein Paradebeispiel barocker Lyrik. Auf den ersten Blick
erkennt man schon die zeittypische Form eines Sonettes, das heißt 14 Verse in den Reimen
nach in ein Oktett aus 2 Quartetten und einem Sextett aus 2 Terzetten; zunächst wird der
umschließende Reim (abba, abba) und dann der Schweifreim (ccd, eed). Um auch immer die
gleichmäßige, starre Silbenaufteilung des Sonettes von 13 und 12 Silben zu erreichen, hat der
Autor sich auch das Stilmittel der Apokope (Verkürzung – z. B. V. 2 „ich sitz“ V. 3 „fürcht“)
zu Nutzen gemacht. Besonders auffallend und typisch für den barocken Schreibstil, das wird
auch während der Detailinterpretation noch einige Male deutlich, ist einerseits die schwülstige
und von Stilmitteln und Symbolen überladene Sprache, sowie auch das inhaltliche Chaos was
im Gegensatz zur starren Form des Sonettes steht.
In der weiteren Interpretation werde ich noch häufiger die stilistischen Anzeichen auf barocke
Lyrik in meine Argumentation einbringen.

In der ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich ausschließlich seinen psychischen Zustand.
Es fällt auf, dass die Strophe mit „mir“ (V. 1) beginnt und mit dem selbigen Wort auch
abschließt, ebenso das nur in der Strophe das Wort „ich“ (fünfmal) so oft verwendet wird wie
in keiner Weiteren. Das unterstreicht die Betonung der Person des lyrischen Ichs; das es
alleine im Mittelpunkt der ersten Strophe steht und dessen Zustand.
Mit „Mir ist“ (V. 1) eröffnet das lyrische Ich den Versuch seine Verfassung zu beschreiben,
aber durch den sofortigen Zweifelseinwurf („ich weiß nicht wie“ V. 1) wird deutlich, dass es
nicht wirklich beschreiben kann, was ihm fehlt, an was es leidet, wie es ihm geht. Aufgrund
des Titels lässt sich darauf schließen, dass das lyrische Ich sich als krank einschätzt, aber es
handelt sich um keine „simple“ Krankheit wie ein Beinbruch, denn es ist ja eine schwere
Krankheit, und die Schwere scheint darin zu liegen, dass es eine Krankheit der Seele ist. Denn
sind grundloses („ich weiß nicht wie“) weinen (V. 2) und deprimiert sein (V. 1 „seufze“) auf
Dauer (V. 1 „für und für“, V. 2 „Tag und Nacht“) ein Anzeichen für psychische Labilität.
Aber das werde ich versuchen noch im weiteren Verlauf der Interpretation zu belegen. 
Auf jeden Fall kann es seinen Zustand nicht konkret bezeichnen, sondern nur mittels
Umschreibung. Der dabei verwandte Parallelismus (V. 1/2) und die Anapher (V. 1/2 „ich…“)
unterstreicht stilistisch diese Verzweiflung, die die Krankheit dem „Geist des Gedichtes“
bringt, die dessen seelische Zustand zusetzt. Der Satzbruch des ersten Verses lässt den Leser
die Unsicherheit des lyrischen Ichs spüren und die Zerstreutheit, denn vermittelt es das
Gefühl, dass das lyrische Ich hilflos ein wenig vor sich her stottert, es fehlt ihn die Ordnung in
seinem Reden, wie die Ordnung in seinem Kopfe fehlt. Die Schwere, die im Titel erstmals
benannt wird, ist des Weiteren durch die Hyperbel  „tausend“ (V. 2) untersetzt, dass die
Qualen („Schmerzen“) ins Unendliche treibt, und es wird noch drastischer, da es im folgenden
Vers nochmals wiederholt wird. Besonders auffallend ist hier schon die antithetische
Aufstellung dieser zwei Teile „ich sitz in tausend Schmerzen“ und „und tausend fürcht ich
noch“ in Satzbau, aber auch inhaltlich. Es tritt hier erstmals in dem Gedicht das sich immer
wiederholende Thema der Vergänglichkeit auf, dass mittels Antithese dargestellt wird.
Antithesen waren äußerst häufig verwandt in der barocken Lyrik. Es wurde oft und gern auf
diese Weise ausgesagt, dass in der Zukunft alles schlechter/schlimmer oder tot sei als zum
Jetztzustand. Jetzt sind die „Schmerzen“ schlimm, denn das Verb steht im Präsens und ist ein
Handlungsverb, aber wahrscheinlich werden sie noch schlimmer werden, denn „fürcht“ ist ein
zukunftsweisendes Verb.
Das lyrische Ich klagt, dass ihn nicht nur sein ewiger Trauerzustand (V. 1-3, „seufze“,
„weine“) belastet (V. 3 „fürcht“), sondern es auch eingeschränkt wird in seinem Handeln
(„die Hände sinken mir“), Tatendrang („die Kraft in meinem Herzen“) und Denken („der
Geist verschmacht“).

In der 2.Strophe beginnt es sein Antlitz (V. 5) zu beschreiben, die es eher mit dem eines Toten
vergleicht. Bleiche Wangen und Augen, deren Glanz transparent und leer erscheinen. Es
umschreibt das hier sehr symbolisch, denn der lebenslustige Augenglanz (V. 5 „der muntern
Augen Zier“) „vergeht“ wie der „Schein der schon verbrannten Kerzen“. Das heißt in der
Zeile ist die Vergänglichkeit gleich mehrmals betont, mittels dem Verb „vergeht“, der
Symbolik der Kerze (Vergänglichkeit) und dem Adjektiv „verbrannt“ – was verbrannt ist, ist
vergangen. Und eine „schon verbrannte Kerze“ kann nicht mehr scheinen. Das ist demnach
schon ein Widerspruch. Nur der transparente, graue Rauch schleiert noch als Illusion eines
Scheines einer erloschenen Kerze. Das lebende, zündelnde Licht ist verglimmt und die Kerze
tot, und somit die Vergänglichkeit in ihrem Endstadium – dem Tod.
Diese ist Zentrum aller Unruhe. Das einzige was bewegt („bestürmt“) umschrieben wird.
Dieser wird zugesetzt, von was ist aber nicht benannt. Es vergleicht es lediglich mit dem
Frühjahrssee (V. 7 “wie die See im Märzen“), die, so les ich zwischen den Zeilen, von
stürmischen Natur sein muss, denn steht das Verb „bestürmt“ in nächster Nähe. Das würde
auch die Behauptung unterstützen, dass seine Krankheit psychischer (“Seele“) Natur ist.
Denn was seiner Seele zuzusetzen scheint sind Gedanken und Fragen in seinem Kopf,
nämlich jene Fragen die in Zeile 8 und 9 folgen. Mit denen es sich im weiteren Verlauf des
Gedichtes auseinandersetzt und die somit den Übergang zum inhaltlichen zweiten Teil dieser
Lyrik bilden, indem nicht mehr das „ich“ und dessen Zustand im Mittelpunkt steht, sondern
die Gedanken, die Philosophie und das „wir“ (fünfmal), all das was es krank machen! Der
Grund seiner Tränen. Eine philosophische Frage, eine Frage der Identität und des Seins (V.
8). Die Frage stellt er an die Allgemeinheit und schließt sich mit ein („…wir, ich und ihr“)!

In der dritten Strophe greift er die Rhetorische Frage auf und erweitert diese mit weiteren
Sinnfragen (V. 9), mit denen er sich darauf folgend monologisch auseinandersetzen wird.
Auffallend ist die Versform, die hier verwandt wurde. Wie zu dem Beginn des Gedichtes sind
die Verse mit Anaphern (V. 8/9„was…) und parallelen Satzbau (V. 8/9) ausgestattet und
lassen somit auch förmlich erkennen, dass hier inhaltlich der zweite Sinnteil des Gedichtes
beginnt und die Fragen somit die Überleitung zum philosophischen Part des Gedichtes
darstellen. Die Fragen stellen dabei nicht nur die Grundlage der Untersuchung des Sinnes der
menschlichen Existenz und der Gedanke der Vergänglichkeit dar, sondern können auch
symbolisch als Vorankündigung/Einleitung gesehen werden für den folgenden
philosophischen Teil. Die Sinnfrage ist schließlich Hauptmerkmal der Philosophie. Auch
wenn es durch die unterschiedliche Versverteilung auf die Strophen aussieht als wären die
beiden Teile des Gedichtes unterschiedlich lang, verfügen beide doch über sieben Verse. Das
bestätigt wieder auf der einen Seite die starre Genauigkeit des Barocks, die Exaktheit – in
dem Falle die genaue Aufteilung der Verse – aber auf der anderen Seite ergibt hier Inhalt und
Form wieder mal keine Einheit, denn der zweiten Teil beginnt nicht abgesondert vom ersten
Teil, sondern bricht mitten ein in die zweiten Strophe.
Des Weiteren unterlegt er seine Fragen mit einer Auseinandersetzung und verwendet natürlich
wieder das barocktypische Thema der Vergänglichkeit, wie ich es schon in der ersten Strophe
angerissen habe, das antithetisch dargestellt wird. Die Fragen, was der Mensch ist, welche
Bedeutung seine Existenz hat, unterlegt er demzufolge mit dem Bedenken, dass das heutige
Sein („heute sind wir hoch und groß“), was wir auch sind, welche Größe wir darstellen
mögen, auch vergeht („morgen schon vergraben“), und vergleicht es parallel mit Blumen (V.
11), die zu Erde (V. 11 „Kot“) werden, wie der Mensch der durch Vergraben (V. 10) auch zu
Erde wird. Auch hier ist wieder eine Überlastung von Symbolik und Stilmittel zu verzeichnen,
wie es im barocken Stil üblich war. Stehen die Blumen ja schon als Symbol für
Vergänglichkeit, bekräftigen sie noch die Antithese mit der Aussage der Vergänglichkeit, die
als Vergleich dient. Der darauffolgende Vergleich ist eine Akkumulation (V. 11/12) von
verschiedenen Formen leichter Natur, der das Strophenmaß überspringt. Die Anordnung von
Wind, Schaum, Nebel, Bach, Reif, Tau und Schatten scheint keine großen Zusammenhänge
zu liefern, aber sie sind alle in ihrer Materie unzähmbar, nicht einfangbar. Es sind die Dinge,
die nicht bleiben, nur etwas Scheinbares. Möglicherweise sollen diese Vergleiche auch nicht
alle auf jeden zutreffen, sondern eher die Unterschiedlichkeit der menschlichen Existenz
unterstützen. Der eine gleicht mehr Existenziellen als der andere, dennoch sind die
Vergleiche alle lose Materie. Im Resultat hieße das für die Menschen, dass trotz dieser
Unterscheidung jede Existenz nur scheinbar ist, die eine mehr, die andere weniger.
Das unterlegt das lyrische ich auch wieder mit der Antithese der Vergänglichkeit (V. 13 „Itzt
was, und morgen nichts“), um dieses schwermütige Motto immer wieder zu betonen.
Zum Schluss vergleicht es mit der Metapher „Taten“ (V. 13) als das Wirken der Menschen zu
ihrer Lebenszeit mit einen „mit herber Angst durch aus vermischter Traum“. Ein Traum ist
ebenso wie die in der Akkumulation benannten Materien, nichts Bleibendes, sondern vergeht
nach jedem Aufwachen und gerät bald darauf in Vergessenheit. So scheint das Lyrische Ich
für sich festgelegt zu haben, dass das Leben ebenso nichts Bleibendes ist und von Furcht (V.
14 „mit herber Angst durchaus vermischter) durchzogen scheint, dass somit auf die
Allgemeinheit zu beziehen. Man beachte jedoch, dass das lyrische Ich vom Zweifel überfallen
ist, seelenkrank. So bezieht es also seine Unbehagen, die es trägt, weil es an der Sinnfrage der
menschlichen Existenz scheitert, auf die gesamten Menschen indem es das Leben als
angsterfüllt und unbedeutsam abserviert. Sozusagen „herbe Angst“ ist die Furcht des
lyrischen Ich, wie sie im Gedicht zu spüren ist, besonders aus der ersten Strophe heraus. Aber
auch verstärkt durch den elliptisch (z. B.„Itzt Blumen, morgen Kot“) und teils auch durch
Inversion (V. 2/3 „ich sitz in tausend Schmerzen und tausend fürcht ich noch“)
gekennzeichneten Satzbau.

Wenn man das Gedicht im Bezug zum Titel sieht, so könnte man der Ansicht sein, dass das
Lyrische Ich diesen schwermütigen und lebensverneinenden Gedanken nachgeht, weil es
krank ist. Aber in Anbetracht des Inhaltes, der Sprache und der körperlichen Unversehrtheit
des Gedichtgeistes scheint mir, und damit bestätige ich nur meine Behauptung vom Beginn,
dass das Lyrische Ich psychisch krank, also depressiv ist, weil es sich durch diese
pessimistische Haltung selbst zerstört.

Und obwohl mir die nihilistische, düstere Grundhaltung des Gedichtes zuwider stößt,
empfinde ich es als interessant mich damit beschäftigen zu müssen. 
Ich mag mich zwar überhaupt nicht mit der Aussage anfreunden. Denn dass alles vergänglich
ist, weiß ich schließlich auch und nach meiner Ansicht muss man diese Tatsache akzeptieren
und sollte nicht seine Seele damit belasten, sondern gerade deshalb das Leben überlegt
genießen. 
Aber vielleicht es ist die Erfahrung selbst solche Gedanken einmal in sich getragen zu haben
in tiefen Momenten, was Verbindung und Nachempfindung zu dem Gedicht und dessen Inhalt
herstellt. Oder auch die zahlreiche Symbolik gekoppelt mit Philosophie, was aus dem ganzen
ein kleines Rätsel macht.

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