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Hans Jonas setzt sich in den Gesprächen dieses Buches für ein neues

Verhältnis des Menschen zur Natur ein. Wie kein anderer zeitgenössi
scher Philosoph wendet er sich energisch gegen die urigebremste Verwii-
stung und Ausbeutung der Natur durch den Menschen und plädiert für
eine Ethik der Verantwortung und Bescheidenheit.
In den acht Gesprächen kommt vor allem die unmittelbare, praktische:
Seite seiner Ethik zur Sprache: So in dem Zeit-Gespräch » Mitleid allein;
begründet keine Ethik«, in dem er 1989 mit Marion Gräfin Dönhoff und:
Reinhard Merkel über Euthanasie diskutierte. Auch in dem mit Alexan-
der U. Martens geführten Interview »Die Bereitschaft zur Furcht ist ein'
sittliches Gebot« von I98I sind die zentralen Themen: die Atombombe,!
die Vision einer vollkommenen Mußegesellschaft, unsere fatale Fort-I
schrittsgläubigkeit. In einem erst kürzlich geführten Gespräch zeichnet~
Hans Jonas die Etappen seines persönlichen und philosophischen Le-:
bensweges nach und geht auf die Veränderungen in der Weltpolitik der
letzten Jahre ein.
Hans Jonas, 1903 in Mönchengladbach geboren, starb im Februar 1993
in New York. 1933 emigrierte er nach England und 1935 nach Palästina,
seit 1955 lebte er in den USA. Jonas erlangte weltweite Anerkennung
durch sein Werk Das Prinzip Verantwortung (1979), in dem er eine
Ethik für die Menschen im technologischen Zeitalter formulierte. 1987
erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Im Frühjahr
1993 erschien im Suhrkamp Verlag Philosophie. Rückschau und Vor·
schau am Ende des Jahrhunderts. Sein Werk im suhrkamp taschenbuch
ist am Ende des Bandes angezeigt.
HantJonas
Dem bösen Ende näher
Gespräche über das Verhältnis
des Menschen zur Natur
Herausgegeben von
Wolfgang Schneider

Suhrkamp
Umschlagfoto: Isolde Ohlbaum

suhrkamp taschen buch 2197


Erstausgabe
Erste Auflage 1993
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1993
Quellenhinweise am Schluß des Bandes
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
des öffentlichen Vortrags, der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen
sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile.
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Printed in Germany
Umschlag nach Entwürfen
von Willy Fleckhaus und Rolf Staude

I 2 3 4 5 6 - 9 8 97 9 6 95 94 93
Inhalt

Vorbemerkung 7

Dem bösen Ende näher 10

Der ethischen Perspektive muß eine neue Dimension


hinzugefügt werden 24

Die Welt ist weder wertfrei noch beliebig verfügbar 40

Maschinen werden niemals ein Bewußtsein haben


können 49

Wir dürfen das Leben nicht belasten, indem wir uns


einfach gehenlassen 53

Mitleid allein begründet keine Ethik 59

Ohne Opferbereitschaft gibt es wenig Hoffnung 79

Die Bereitschaft zur Furcht ist ein sittliches Gebot 84

Technik, Freiheit und Pflicht 91

Quellenhinweise 103
Vorbemerkung

»Dieser Beitrag gehört als Sonderdruck millionenfach in je-


den deutschen Briefkasten und sollte jedem Schüler zur
Pflichtlektüre gemacht werden.« Der Kommentar eines Spie-
gel-Lesers auf das dort im Mai 1992 anläßlich des Umwelt-
Gipfels von Rio de J aneiro veröffentlichte Interview mit Hans
Jonas, »Dern bösen Ende näher«, spricht für sich und ist
Anlaß und Herausforderung, Gespräche und Gedanken des
Natur- und Technikphilosophen Hans Jonas zu sammeln.
Der Titel des Buches bezieht sich auf Jonas' Feststellung, im
Verhältnis des Menschen zur Natur .habe sich zwar theore-
tisch. einiges geändert, nicht jedoch praktisch: Seit dem Er-
scheinen seines Hauptwerkes »Das Prinzip Verantwortung-
1979 sei »nichts geschehen, um den Gang der Dinge zu
ändern, und da dieser kumulativ katastrophenträchtig ist, so
sind wir heute dem bösen Ende eben um ein Jahrzehnt näher
als darnals.«
Hans jonas' Spätphilosophie, deren Bedeutung für das ausge,
hende 20. Jahrhundert nicht hoch genug eingeschätzt werden
kann, hat die theoretischen Voraussetzungen geschaffen, mit
denen den Herausforderungen der Moderne begegnet wer-
den kann: Wie ist das Überleben auf diesem Planeten .auf
längere Sicht möglich? Hans ]onas setzt sich für ein neues,
wieder gleichwertiges Verhältnis zwischen Mensch und Na-
tur ein. Wie kein anderer zeitgenössischer Philosoph wendet
er sich gegen die ungebremste Ausbeutung und Verwüstung
der Erde durch den Menschen und plädiert energisch für eine
Ethik der Verantwortung und Bescheidenheit.
Im Vorwort des »Prinzip Veranrwortung« schreibt er: »Die
dem Menschenglück zugedachte Unterwerfung der Natur
hat im Übermaß ihres Erfolges, der sich nun auch auf die
Natur des Menschen selbst erstreckt, zur größten Herausfor-
derung geführt, die je dem menschlichen Sein aus eigenem
Tun erwachsen ist.« Aufklärung ist in ihr Gegenteil umge-

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schlagen. Die in den letzten 200 Jahren entwickelte Technik
ist heute bedrohlich geworden, erzeugt Unheil und kann nur
dadurch gezügelt werden, wenn wir Menschen den von Men-
schen geschaffenen Mechanismus wieder zu beherrschen ler-
nen. Das bedeutet vor allem: Wir dürfen nicht alles tun, wozu
wir - theoretisch wie praktisch - in der Lage sind.
Grundlage und Voraussetzung der Lehre von Hans Jonas ist,
daß dem Menschen - einerseits mit Wissen und andererseits
mit Freiheit, d, h. mit der Möglichkeit, so oder so zu handeln,
ausgestattet - Verantwortung für sein Tun obliegt, der er sich
nicht entziehen kann. Der Mensch als das einzige Wesen, das
der Verantwortung fähig ist, ist haftbar für das, was er tut.
Dieser Gedanke ist in den Beiträgen dieses Buches stets prä-
sent und wird auf verschiedenen Ebenen bei unterschiedli-
eher Thematik diskutiert. Es kommen. vor allem die prakti-
schen, unmittelbaren Seiten der Ethik der Verantwortung zur
Sprache, angesprochen werden die Konsequenzen der Le-
bensweisen der hochzivilisierten Gesellschaften, die freilich
globale Folgen haben: die Zerstörung der Umwelt, das Ozon-
loch, die Klimakatastrophe, die Gefahren der Kerntechnolo-
gie und -waffen, Macht und Ohnmacht der Computertech-
nik, Euthanasie und Gentechnologie. In einem erst kürzlich
geführten Interview zeichnet Hans Jonas die Etappen seines
persönlichen und philosophischen Lebensweges nach und
geht auf die Veränderung in der Weltpolitik der letzten Jahre
ein. Durchaus als Nachwort kann die Rede »Technik, Frei-
heit und Pflicht- gelten, die Jonas anläßlich .der Verleihung
des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels I987 in
Frankfurt am Main gehalten hat. Hier diskutiert er den für I

seine Philosophie ungemein wichtigen Freiheitsbegriff und:


benennt die aus der menschlichen Freiheit sich ergebenden
Pflichten.
Die Chancen des Überlebens sind nicht' groß. Verzweiflung,
Fatalismus und Aufgeben vor den Aufgaben der Gegenwart
und Zukunft stehen für Hans ]onas im direkten Widerspruch
zur Ethik der Verantwortung. Die hier gesammelten Inter-

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views und Gespräche können dem einzelnen wie det Gesell-
schaft und Politik Anleitung sein zur Überprüfung des eige-
nen Verhaltens. Verantwortung ist immer auch die komple-
mentäre Seite der Macht. Allerdings, wenn. Einsicht allein
nicht helfen will, so zwingen vielleicht die »kleinen« <Kata-
strophen, die sich ereignen (wie Tschernobyl) und noch ereig-
nen werden, den Menschen· zum Umdenken. Die Ansarnm-
Jung der vielen »unrnerklichen« Katastrophen aber steht der
großen, nicht wiedergutzumachenden in nichts nach.

Hans Jonas starb kurz vor der Drucklegung dieses Buches, es


sollte zu seinem 90. Geburtstag im Mai 1993 erscheinen. Er
hat an der Auswahl mitgewirkt und sie autorisiert. Sein Den-
ken führt durch das 20. Jahrhundert, mißt sich an dessen
Herausforderungen und weist in die Zukunft: Es ist ein Ver-
brechen a11 künftigen Generationen, unsere Umwelt schlei-
chend, aber unwiederbringlich zu zerstören. Angesichts der
gewaltigen .Naturschauspiele, die wir noch bewundern dür-
fen, sollte Hans Jonas' Philosophie, die Ethik der Verantwor-
tung und der Bescheidenheit. gegenüber der Natur, der Tech-
nik und uns selbst, heute mehr denn je unser Bewußtsein,
unser .Denken und Handeln bestimmen.
w.S.
Dem bösen Ende näher

SPIEGEL * Herr jonas, vor 13 Jahren haben Sie Ihr Buch


»Das Prinzip Verantwortung« veröffentlicht. In diesem
Werk rufen Sie die Menschheit dazu auf, sich ihrer Verant-
wortung gegenüber der von Technik und.lndustrie bedrohten
Natur bewußt zu werden. 13 Jahre später: Hat sich im Um-
gang des Menschen mit der Natur irgend etwas verbessert?
HANS JONAS Im tatsächlichen Umgang nichts, doch im-
merhin etwas im Bewußtsein der Menschen: 1979, als mein
Buch erschien, war der Ruf nach Verantwortung des Men-
schen für die Natur noch nicht so oft gehört und diskutiert
wie heute.
SPIEGEL Und was hat sich am realen Zustand geändertr.
JONAS Der reale Zustand hat sich in summa nur ver-
schlechtern können. Bis jetzt ist nichts geschehen, um den
Gang der Dinge zu verändern, und da dieser kumulativ kata-
strophenträchtig ist, so sind wir heute dem bösen Ende eben
um ein Jahrzehnt näher als damals.
SPI~GEL Zusammengefaßt.1autet mithin die Diagnose: Die
Einsichtsfähigkeit des Menschen nimmt zu, Die Fähigkeit,
nach diesen Einsichten zu handeln, nimmt jedoch ab.
JONAS Ja, .sie nimmt ab. Die Menschen können sich nicht
freimachen von den Sachzwängen, in die sie sich mit dem
technologischen Anschlag auf die Natur begeben haben. Der
Raubbau an der Natur ist übergegangen in. die Lebensge-
wohnheiten der Menschen, besonders die der westlichen In-
dustriegesellschaft.
SPIEGEL Ozonloch und Klimakatastrophe drohen; Luft,
Wasser und Boden sind in weiten Teilen der Erde schwer
geschädigt oder schon zerstört. Wie ist es zu erklären, daß
solche Signale zu keinen durchgreifenden Verhaltensände-
rungen führen?

.. Das Gespräch führten Matthias Marussek und Wolfgang Kaden.

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JONAS Wer nicht selber unmittelbar bedroht ist, ringt sich
nicht zu einer wirklichen Revision der Lebensführung durch.
Bei einer akuten Bedrohung ist das anders, individuell und
kollektiv. Wenn der Vulkanausbruch beginnt, dann flüchtet
man. Auf unmittelbare Bedrohung reagiert der Mensch un-
mittelbar, mal rational, mal irrational. Die Fernperspektiven
aber, besonders wenn sie erst künftige Generationen betref-
fen, bringen die Menschen offenbar nicht.zu Verhaltensände-
rungen.
SPIEGEL Tschernobyl war ein Schock. Aber er wirkte nur
kurzfristig. Man könnte die ketzerische Frage stellen:
Braucht die Menschheit mehr Tschernobyls?
JONAS Die Frage ist nicht unberechtigt. Sie ist zynisch, und
die Antwort ist auch zynisch. Vielleicht ist der Mensch ohne
ernsthafte Warnschüsse und schon sehr schmerzhafte Reak-
:ionen der gepeinigten Natur nicht zur Vernunft zu bringen.
Es könnte sein, daß es schon ziemlich schlimm kommen muß,
damit man aus dem Rausch immer wachsender Bedürfnisse
und ihrer unbegrenzten Befriedigung, zu der man die Macht
hat, wieder zurückkehrt zu einem Niveau, das mit dem Fort-
bestand der dafür nötigen 'Umwelt verträglich ist.
Es muß wieder ein einigermaßen stabiles Gleichgewicht zu-
stande kommen. Es könnte bei der jetzigen Menschenzahl,
die noch im Steigen ist, dafür schon zu spät sein. In dem Fall
müßte die bisherige Vermehrung sogar in eine Wiederver-
minderung der Weltbevölkerung umgekehrt werden.
SPIEGEL Kürzlich wurde in einer deutschen Fernsehsen-
dung an die Zuschauer die Frage gerichtet: Ist die Erde noch
zu retten? 75 Prozent derer, die sich meldeten, verneinten die
Frage. Es ist doch erstaunlich, daß trotz solch apokalypti-
scher Einschätzungen die Menschheit einfach so weitermacht
wie bisher.
JONAS Was heißt hier »retten«? Was »Untergang«? In
Gefahr ist nicht »die Erde«, sondern ihr gegenwärtiger Arten-
reichtum, in dem wir eine schreckliche Verarmung anrichten.
Erdgeschichtlich, über die Jahrmillionen, wird auch das nur

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eine Episode sein, aber menschengeschichtlich kann es das
tragische Scheitern höherer Kultur überhaupt bedeuten, ih-
ren Absturz in eine neue Primitivisierung, die wir durch ge-
dankenlose' Verschwendungssucht auf der Höhe unserer
Macht verschuldet hätten.
SpIEGEL Was meinen Sie mit Primitivisierung?
JONAS Daß es zu Massenelend, Massensterben und Mas-
senmorden kommt, daß es dabei zum Verlust aller der
Schätze der Menschlichkeit kommt, die der Geist außer der
Ausbeutung der Natur ja auch hervorgebracht hat. Der Geist
hat ja eine ganz merkwürdige Doppelrolle gespielt. Einerseits
hat er die Gefräßigkeit der Menschen ungeheuerlich erhöht.
Ausgerechnet der Geist ist ja das Instrument dafür gewesen,
daß wir so ungeheuer anspruchsvoll in den Bedürfnissen,
unserer Leiber geworden sind.
Andererseits hat der Geist ein Reich der Werte geschaffen,
das um seiner selbst willen gepflegt wird; wofür Menschen
das Äußerste einsetzen in der Kunst, in der Erkenntnis, aber
auch in der Pflege der Emotionen. Das ist etwas, was das
übrige Weltall vielleicht überhaupt nicht kennt. Was wirklich
bedroht ist, mehr als die biologische Weiterexistenz des Men-
schen, ist die Existenz des Menschen, ist die Existenz dieser
großen Schöpfung, die Hand in Hand gegangen ist mit der
wachsenden Zerstörung der Bedingungen, die das möglich
gemacht haben. Darin liegt die Paradoxie der Rolle des Gei-
stes in der Welt: daß um seinetwillen sich dieses ganze Aben-
teuer Menschheit lohnt; daß er aber gleichzeitig auch die
Bedingungen' für die Fortsetzung dieses Abenteuers zerstört.
SPIEGEL Ist denn der Geist auch zu einer anderen Kultur-
leistung fähig, der des freiwilligen Verzichts?
JONAS Es gibt dafür Beispiele in der Geschichte. In Verbin-
dung mit einem transzendenten Glauben, der ja auch eine Tat
des Geistes ist, ist es geschehen, daß Menschen sich das
Äußerste zugemutet haben an Verzichten. Es gab eine richtige
Leibesfeindschaft in manchen Heilslehren, sie hat zeitweilig
den Zustand ganzer Gesellschaften mitbestimmt. Daß wir

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solche Meister der Umwelt geworden sind, die sich jede Aus-
schweifung des Konsums leisten können, ist ja eine ziemlich
neue Tatsache.
Frühere Kulturen ware.n weitgehend statisch, da änderte
sich über Jahrhunderte hinweg kaum etwas. Die Geburt der
modernen Wissenschaft im 17. Jahrhundert ist ein Wende-
punkt, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt
werden kann. Damit wurde ein Dynamismus entfesselt, der
die ungeheuerlichste Form der Beherrschung und Umwand-
lung der Natur vorantreibt. Da scheint kein Halten zu sein.
Es kommen immer neue Dinge hinzu. Neues wird erfunden,
neue Wege eröffnen sich, auf denen die Bedürfnisbefriedi.-
gung des Menschen auf immer höhere Ebenen getrieben
wird ...
SPIEGEL ••• ohne erkennbare Zeichen, daß der Mensch
dieser Entwicklung Einhalt gebieten wollte oder könnte?
JONAS Der Planet ist überfüllt, wir haben uns zu breit
gemacht, sind zu rief eingedrungen in die Ordnung der Dinge.
Wir haben zuviel Gleichgewicht gestört, haben zu viele Arten
schon jetzt zum Verlöschen verurteilt. Technik und Natur-
wissenschaften haben uns von Beherrschten zu Herrschern
der Natur gemacht. Dieser Zustand ist es, der mich dazu
brachte, eine philosophische Bilanz zu ziehen und zu fragen:
Darf die moralische Natur des Menschen 'das zulassenrSind
wir jetzt nicht aufgerufen zu einer ganz neuen Art von Pflicht,
zu etwas, das es früher eigentlich nicht gab - Verantwortung
zu übernehmen für künftige Generationen und den Zustand
der Natur auf der. Erde?
SPIEGEL Die- Philosophie begibt sich auf ein neues, unbe-
kanntes Terrain?
JONAS Sie muß es tun. Jedes bisherige Moralbemühen der
Philosophie bezog sich auf das Verhältnis von Mensch zu
Mensch. Das Verhältnis von Mensch zur Natur ist noch nie
Gegenstand sittlicher Überlegung gewesen. Das ist es jetzt
geworden, und das ist ein philosophisches Novum. Doch das
besagt nicht das Mindeste darüber, ob wir der Sache über-

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haupt gewachsen sind, ob wir diesem neuen moralischen
Imperativ nachkommen wollen oder können. Da treten Fra-
gen der Psychologie auf, der Anthropologie, auch der Real-
zwänge, von denen ich nicht weiß, ob die heutige Erkenntnis
sie überhaupt übersehen. kann.
SPIEGEL Liegt das Dilemma Ihrer Verzichtsethik nicht
darin, daß ein Verzicht des einzelnen, letztendlich vergeblich:
ist? Wer der Umwelt zuliebe seinen materiellen Konsum ein-
schränkt, sieht sich am Ende als Verlierer: Die Mehrzahl der
Prasser läßt es sich weiter gurgehen, der Planet 'wird weiter
geplündert.
JONAS Ich weiß nicht, wieviel Nachahmung Vorbilder fin-
den können. Wir dürfen nicht von vornherein ausschließen,
daß sich auch Einstellungen ändern und daß aufgrund einer
eindringlichen Erziehung sich gewisse Einstellungen' der
Pflicht und der Scham und der Ehre, des Wohlverhaltens,
herausbilden. Daß es sich einfach nicht mehr schickt, so
weiterzuleben, wie die Menschen des 20. Jahrhunderts drauf-
losgelebt haben.
SPIEGEL Das halten Sie für möglich?
JONAS Möglich ist das, aber nicht wahrscheinlich. Wahr-
scheinlicher ist schon, daß die Angst das Ihrige tut. Daß
nämlich das Verderben sich nahe genug ankündigt, in sehr
alarmierenden und für jeden schon sichtbaren und fühlbaren
Erscheinungen. Daß die Furcht erzwingt und erreicht, was
die Vernunft nicht erreicht hat. Ich habe eine gewisse para-
doxe Hoffnung auf die Erziehung durch Katastrophen. Sol-
che Unglücke werden eventuell rechtzeitig noch eine heilsame
Wirkung haben. Wir sollten bei der Überlegung dieser Fra-
gen, bei denen wir über Vermutungen sowieso nichthinaus-
kommen, eines nie aus dem Auge lassen: daß der Mensch das
überrraschendste aller Wesen ist, und daß man überhaupt
nicht vorhersagen kann, wie sich in irgendeiner Zukunft, in
irgendeiner Situation, in irgendeiner Generation die Gesell-
schaft benehmen wird.
SPIEGEL Sie meinen, der Mensch, der es so weit gebracht
hat mit der Naturzerstörung, könnte sich plötzlich wieder
ganz anders verhalten?
JONAS Sehr unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.
Es könnte beispielsweise eine verrückte neue Religion um
sich greifen. Es hat keinen Zweck, darüber. Vermutungen
anzustellen. Das einzige, was ich sage, ist, daß die.Sicherheit
der Unglücksvorhersage nicht absolut ist.
So, wie man ganz bestimmt nicht darauf rechnen darf, daß
der Mensch Vernunft annehmen wird, so darf man doch
nicht ganz daran verzweifeln, daß der Genius der Menschheit
auch in der Richtung erfinderisch wird, in der eine mögliche
Rettung der Zukunft liegt. Dies offenzulassen ist wichtig,
damit wir nicht davon ablassen, einer solchen Chance, wenn
es sie gibt, mit allen Kräften der Warnung und Mahnung zu
Hilfe zu kommen.
SPIEGEL Was können die politischen Eliten in den Demo-
kratien tun, um eine Umkehr einzuleiten? Sind Demokratien
womöglich unfähig zu einer Politik, die auf Konsumverzicht
und Naturerhaltung ausgerichtet ist? Hilft nur, was manche
radikale Umweltfreunde fordern, eine Art aufgeklärte Öko-
Diktatur, in der die Philosophen die Könige sind?
JONAS Man kann in abstracto einen Entwurf machen für
eine Diktatur der Menschheitsretter. Aber wie stellt man sich
vor, daß eine wirklich selbstlose Elite an die Macht kommen
wird, daß diese selbstlos bleiben wird und in ihrer Selbstlosig-
keit auch anerkannt wird? Das übersteigt völlig meine Vor-
stellungen. Dies ist eine Art des Utopismus, der sich nicht
umsetzen kann in Wirklichkeit. Was ich mir viel eher vorstel-
len kann, ist das Hereinbrechen sehr schlimmer Zustände, die
zu kompromißbereiten Abmachungen zwischen den ökono-
mischen, politischen und sozialen Machtgruppen führen;
daß man sich auf einen Modus einigt, der sowohl den Men-
schen einigermaßen akzeptabel ist als auch der Natur. Dazu
gehören internationale Vereinbarungen, der globale Verzicht
darauf, weiter in ungehemmter Konkurrenz sich die begrenz-
ten Schätze der Erde streitig zu machen..

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SPIEGEL Demokratien sind Regierungssysteme mit sehr
kurzfristigen Perspektiven: Die Politiker müssen sich späte-
stens alle vier oder fünf Jahre zur Wahl stellen, länger reicht
der Horizont nicht. Die Erhaltung der natürlichen Umwelt
erfordert ungleich längerfristige Sichtweisen. Dieser Gegen-
satz vor allem läßt den Verdacht aufkommen, unsere vorhan-
denen demokratischen Regierungssysteme seien ungeeignet,
die ökologischen Aufgaben zu lösen.
JONAS Den Verdacht habe ich, daß die Demokratie, wie
sie jetzt funktioniert - mit ihrer kurzfristigen Orientierung-,
auf die Dauer nicht die geeignete Regierungsform ist. Wieso
sollte sie es auch sein? Wo steht geschrieben, daß in der
Demokratie jetzigen Stils .die endgültige Lösung der Frage des
guten Staates gefunden worden ist?
SPIEGEL Ein amerikanischer Professor namens Francis.Fu-
kuyama hat einen Bestseller mit dem Titel »Das Ende der
Geschichte« geschrieben. Darin erklärt er die westlichen De-
mokratien zur endgültigen Regierungsform.
JONAS Wer sich anmaßt zu wissen, daß irgend etwas ein
für allemal gilt, der ist von vornherein nicht ernst zu nehmen.
Aber ernst zu nehmen ist die Frage, zu welchen Freiheitsver-
zichten man bereit ist; zu welchen Freiheitsverzichten der
Philosoph ethisch verantwortungsvoll raten kann. Da ist
doch zunächst nicht zu übersehen, daß Freiheit sowieso nur
existieren kann, indem sie sich selber beschränkt. Eine unbe-
grenzte Freiheit des Individuums zerstört sich dadurch, daß
sie.. mit den Freiheiten der vielen Individuen nicht vereinbar
ist ...
SPIEGEL •.• Sie halten Freiheitsverzichte der Individuen
für unvermeidlich?
JONAS Für selbstverständlich. Vor: allen Dingen bin ich
nicht der Ansicht, daß man das ohne weiteres als Unglück
ansehen muß. Im alten Rom gab es zum Beispiel Gesetze, die
den privaten Aufwand einschränkten. Gewählte Zensoren
hatten das Recht zu prüfen, ob übermäßiger Luxus getrieben
wird. Da der im Widerspruch zur Staatsmoral stand, konnten

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sie ein solches Verhalten Unter Strafe stellen. Das war eine
große Einmischung in die persönliche Freiheit, aber gerade
im .Namen einer sich selbst regierenden Bürgerschaft.
SPIEGEL Moderne Demokratien verheißen dem einzelnen
die Möglichkeit individueller Glückserfüllung; »pursuit of
happiness« heißt es. in der amerikanischen Verfassung. Sind
Sie der Ansicht, daß solche Präambeln ersetzt werden müssen
durch andere, die das Allgemeinwohl und die Erhaltung der
Natur als oberste Ziele herausstellen?
JONAS Sie werfen eine Frage auf, die man ganz kapital so
formulieren kann: War vielleicht die Modernität ein Irrtum,
der berichtigt werden muß? Ist der Weg richtig, den wit mit
dieser Kombination von wissenschaftlich technischem Fort-
schritt und der Steigerung individueller Freiheit erreicht ha-
ben? War das moderne Zeitalter in gewissen Hinsichten ein
Irrweg, der nicht weitergegangen werden darf? Der Philo-
soph ist durchaus frei, das zu überdenken und sogar zu
gewissen Schlüssen zu kommen. Aber ob das irgendwo Ge-
hör findet, ob es möglich ist, die Menschen zu einer solchen
Umkehr zu bewegen, ist doch die Frage, an die wir dauernd
stoßen.
SPIEGEL Viele Menschen werden es nicht sein, die sich von
solchen Philosophen gewinnen .lassen.
JONAS So wird es wohl sein. Welche Macht hat Einsicht?
Einsicht dieser Art ist notwendigerweise bei relativ wenigen.
Erstens ist sehr große Kundigkeit nötig und sehr viel Sachver-
ständnis. Zweitens ist sehr viel Freiheit von persönlichem
Interesse nötig und ein gewisser Grad der Selbstlosigkeit und
der Hingebung an die sozusagen wahren Interessen des Men-
schen.
SPIEGEL Die Frage ist ja: Welches sind die wahren Interes-
sen, wer legt sie fest? Die Aussicht auf neue Ideologien zum
Zweck der Menschheitserrettung stimmt nicht gerade fröh-
lich.
JONAS Man schaudert vor der Phantasie, es könnten neue
Heilslehren auftreten, die die Menschen in ihren Bann schla-

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gen; mit denen man alles mögliche mit den Menschen an-
stellen kann, unter anderem auch Askese, unter Umständen
aber auch das Schrecklichste. Ich habe keine Antwort auf
die Frage, wie die sich jetzt abzeichnende und unzweifel-
hafte Gefährdung der menschlichen Zukunft im Verhältnis
zur irdischen Umwelt abgewendet werden kann. Ich weiß
nur eines: Man darf die Frage nicht zur Ruhe kommen las-
sen. Sie immer neu zu stellen; immer neu zu überdenken;
immer neu auch daran mitzuarbeiten, daß sich ein schlech-
tes Gewissen in den ungeheuerlichen Hedonismus der mo-
dernen Genußkultur hineinfrißt - dies ist eine unabweisbare
Pflicht. Man darf nicht fragen, ob das zu irgend etwas führt.
Es könnte sein, daß es zu nichts führt, aber das wissen wir
nicht.
Der Mensch ist ein vorausschauendes Wesen. Der Mensch
hat außer der Fähigkeit, der Natur alles auf die rücksichts-
loseste Weise abzutrotzen, auch noch die Fähigkeit, sei-
ne Verantwortung dabei zu überdenken. Er muß und kann
den Wert dessen empfinden, was er im Begriffe ist, zu zer-
stören.
SPIEGEL Von Brecht stammt der Satz: »Erst kommt das
Fressen, dann kommt die Moral.« Ist der Dialog, den wir hier
über den notwendigen Verzicht führen, vielleicht ein Dialog
der Gesättigten, der Begünstigten? Wir reden von der west-
lichen Industriewelt; die östlichen Länder kämpfen derzeit
verzweifelt um einen höheren Lebensstandard; von der südli-
chen Halbkugel wollen wir gar nicht reden, da können die
Menschen auf gar nichts verzichten.
JONAS Auf die große Vermehrung könnten die Menschen
in der Dritten Welt schon verzichten. Aber es stimmt voll-
kommen, das macht unseren ganzen Diskurs verdächtig, daß
es ein Gespräch unter den Bevorzugten ist. Wenn da von
Bescheidung und Verzicht die Rede ist, haben wir in den
westlichen Industriestaaten einen großen Spielraum; selbst
ein beträchtliches Herabsteigen läßt uns noch auf ziemlich
hohem Niveau. Man darf den Notleidenden und Hungern-

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den dieser Erde nicht mit irgendwelchen Ansinnen kommen,
sie sollten verzichten. Ausgenommen die Fortpflanzung, da
kann man Beschränkung verlangen.
SPIEGEL Dann dürfte Sie ja die Haltung des Papstes zur
Empfängnisverhütung nicht gerade freuen.
JONAS Dies ist ein Verbrechen gegen die Weltverantwor-
tung. Es ist mir unbegreiflich, wie das jemand tun kann. Aber
es zeigt, mit welchen Kräften, Irrationalitäten, Gewohnhei-
ten, Trägheiten und Unvernünftigkeiten jede Menschheitspo-
litik zu rechnen hat. Auch beim zentralen Thema der
Menschheitsvermehrung komme ich wieder zu der nieder-
schlagenden Feststellung, daß wir zwar die Gefahr sehen und
uns die Heilung abstrakt denken können; daß wir uns aber
vorläufig gar nicht vorstellen können, wie dies praktisch
durchgesetzt werden soll.
SPIEGEL Ähnliches gilt sicher auch für die so ungemein
erfolgreiche freiheitliche Wirtschaftsordnung des Westens.
Die Wettbewerbswirtschaften sind auf Wachstum angelegt,
Stillstand ist ihnen wesensfremd. Und Wachstum des Brutto-
sozialprodukts bedeutet in der Regel: weitere Zerstörung
und Ausbeutung der Natur.
JONAS Darf ich mal fragen, warum eigentlich eine gewisse
Stabilisierung der Wirtschaft nicht möglich ist? Warum muß
das Sozialprodukt immer weiter wachsen?
SPIEGEL Zum einen lebt ein gut Teil der Unternehmen von
den sogenannten Nettoinvestitionen, von der Produktion
neuer Maschinen und dem Bau neuer Fabriken. Zum anderen
kann ein einzelnes Unternehmen nicht stillstehen, wenn es
nicht verdrängt werden will. Wachse oder vergehe - so heißt
die unternehmerische Losung.
JONAS Nehmen wir mal an, wir hätten eine Weltregierung
und die würde die Bevölkerungsvermehrung einstellen, Dann
wäre nicht einzusehen, warum die Produktion dauernd er-
höht werden muß.
SPIEGEL Dies ließe sich nur in einer zentralgelenkten Wirt-
schaft bewerkstelligen, nicht in einer freiheitlichen.
JONAS Ich habe mich noch nie als Fachmann für Weltwirt-
schaftskunde ausgegeben ...
SPIEGEL .•• wir wollen hier auch keine ökonomische De-
batte führen. Wir wollen nur darauf hinweisen, daß eine
Abkehr von der Wachstumswirtschaft selbst dann riesige
Probleme aufwürfe, wenn eine solche Wende mehrheitlich
gewollt wäre. Weder die Demokratie noch die Marktwirt-
schaft bilden einen Rahmen für ihre Verantwortungsethik.
JONAS Aber kann man nicht etwas auch darauf setzen,
daß die Menschen eine Zukunft wollen? Darauf, daß sie den
Sinn des Daseins nicht nur im Verzehr sehen? Ist ein metaphy-
sisches Bedürfnis des Menschen nichtauch mit einzukalkulie-
ren in die weitere Geschichte der Spezies Homo sapiens? Es
hat Religionen von Anfang an gegeben, sie standen meistens
im Dienste sehr irdischer Bedürfnisse, Ängste und Wünsche.
Aber es hat auch ein Trachten darüber hinaus immer gege-
ben, daß es noch um etwas anderes geht als um die maximale
Befriedigung der Bäuche und der körperlichen Triebe. Der
Stolz; die Scham; der Ehrgeiz, anerkannt zu werden - all das
geht doch hinaus über das einfache Genießenwollen.
Jenseits davon erscheint ein Bedürfnis, das eigene mensch-
liche Dasein zu erhöhen und zu rechtfertigen durch etwas,
was eben nur der Mensch kann. Es gibt den Begriff des
Verzeihens, den Begriff des Helfens, den Begriff vor allem
aber auch der Erweiterung der menschlichen Erfahrung. Was
in der Kunst hervortritt, in der Poesie, in der Musik, selbst im
einfachen Tanz, geht schon über alles hinaus, was man unter
den einfachen Begriff der leiblichen Befriedigung rechnen
kann.
SPIEGEL Welche Rolle spielen die geistigen Eliten in die-
sem Prozeß? Mit dem Marxismus ist ein gigantisches Erzie-
hungsprojekt gescheitert, an dem viele Intellektuelle mitge-
wirkt haben. Die Geistesmenschen waren befeuert von der
Idee, die Menschheit zu einem Besseren zu führen. Im Mo-
ment ist bei den Intellektuellen ein Phantomschmerz zu regi-
strieren. Ein Großprojekt ist gescheitert, eine Leerstelle ist da.

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Sehen Sie die Notwendigkeit eines neuen. Marxismus, einer
neuen, großangelegten Ideologie?
JONAS Ich weiß es nicht. Im Falle des Marxismus traf der
Zauber einer großen, utopischen Vision einer gerechteren
Gesellschaft zusammen mit .einem Glücksversprechen. daß
nämlich die weitere Meisterung der Natur nun allen zugute
kommen wird, und zwar gleichermaßen; und schließlich mit
dem Dasein einer Klasse, die daran besonderes Interesse hat,
weil sie bisher um ihren Anteil gebracht worden ist. Hier hat
ein großer sittlicher Impuls, der etwas mit Gerechtigkeit zu
tun hatte, gewirkt, der gleichzeitig mit einem materiellen
Glücksversprechen zusammenfiel. Das Glücksversprechen
hat die bessere materielle Nutzung der Welt zum eigentlichen
Gegenstand gehabt. Das heißt, es ging eigentlich in die Rich-
tung dessen, was sich jetzt als verderblich herausstellt.
SPIEGEL Wir können heute in den ehemals kommunisti-
schen Ländern besichtigen, wie dort die Natur vorn Men-
sehen verwüstet wurde. Dies ist ohne Beispiel.
JONAS Ja, das ist eine der großen Enttäuschungen. Ich
gestehe, daß ich mich da völlig getäuscht habe. Ich habe
gedacht, die 'Kommunisten hätten die, größte Möglichkeit,
bescheiden mit der Natur umzugehen, weil sie die Befriedi-
gung der 'Bedürfnisse ja regieren können. Sie konnten sagen,
soundsoviel wird bewilligt und nicht mehr.
SPIEGEL Marx hat gefordert: Die Philosophie muß die
Welt nicht interpretieren, sie muß sie verändern. An Sie die
Frage: Kann der Philosoph, kann die Philosophie die Welt
verändern? Welche Rolle spielt der Philosoph heute? Soll er
sich einmischen? Kann er Prozesse einleiten, steuern?
JONAS Nein, wahrscheinlich nicht. Die Philosophie kann
dazu beitragen, daß in der Erziehung ein Sinn dafür entwik-
kelt wird, wie 'sich menschliches Handeln auf längere Sicht
auf das sehr delikate Gewichtsverhältnis zwischen mensch-
lichen Ansprüchen und Leistungsfähigkeit der Natur aus-
wirkt. Sie kann durch ihre Reflexion und Artikulation daran
mitwirken, daß Initiativen zur Rettung und Erhaltung der

21
Umwelt zustande kommen. Kommt es zu ihnen, dann haben
die Wirtschaftler, Politiker und Einzelwissenschaftler sehr
viel mehr zu sagen als der bestinformierte Philosoph. Aber
dann bleibt immer noch eine Aufgabe der Philosophie: zu
wachen über die Menschlichkeit der Maßnahmen, mit de-
nen man das Unheil zu stoppen versucht. Die könnten näm-
lich so sein, daß dabei die Sache, die man retten will, zum
Teufel geht ...
SPIEGEL .•• was könnte zum Teufel gehen?
JONAS Die Sache wird schließlich eine Machtfrage. Wenn
die Vorräte der Erde - Wasser, Rohstoffe, Luft - zur Neige
gehen, dann könnten doch die Stärksten die Dezimierung der
menschlichen Bedürfnisse und der Menschenziffern mit Ge-
walt erzwingen. Dieses grausame Grundgesetz der Evolution,
daß die Stärksten überleben, darf nicht zum Gesetz des Über-
lebens der Menschheit werden. Dann geht wirklich unsere
Kultur, die Menschlichkeit des Menschen, zum Teufel.
SPIEGEL Wäre das die Aufgabe der Philosophie, eine neue
Metaphysik des Menschen zu formulieren?
JONAS Meine Auffassung ist, daß die Philosophie eine
neue Seinslehre erarbeiten muß. In der sollte die Stellung des
Menschen im Kosmos und sein Verhältnis zur Natur im
Zentrum der Meditation stehen. Hier Friedensstifter zu sein,
wäre der künftige Utopismus, anstelle jedes politisch-sozia-
len der Vergangenheit.
SPIEGEL Sie halten es nicht für ganz ausgeschlossen, daß so
etwas wie ein Prinzip Verantwortung zu einem. modernen
kategorischen Imperativ wird?
JONAS Es geht um eine Erziehung des Menschen zu Le-
benseinstellungen, die weniger gierig und gefräßig sind, dafür
aber vielleicht anspruchsvoller in anderer Hinsicht. Man darf
nicht fragen: Wird denn das helfen? Kann sich das durchset-
zen gegenüber dem Vulgären, den Massenwünschen, den
Gewohnheiten? Nach dem, was wir wissen, muß der Glaube
daran sehr klein und schwach sein. Aber aufgeben ist das
letzte, was man sich erlauben darf.

22
SPIEGEL Dennoch: Warum erstmals in der Menschheit die
Bereitschaft zum freiwilligen Verzicht auf materiellen Genuß
die Massen erfassen sollte, können wir uns schwer ausmalen.
JONAS Die Psychologie des Menschen ist noch nicht voll
ergründet. Nochwissen wir nicht, welche Ressourcen sich im
äußersten Notfall beim Menschen offenbaren werden. Der
völlige Verzicht auf jede Hoffnung ist das, was das Unheilnur
beschleunigen kann. Eines der Elemente, die das Unheil ver-
zögern können, ist der Glaube daran, daß es abwendbar ist.
SPIEGEL Wir erleben einen Hans jonas, der am Ende dieses
Gesprächs denn doch etwas Mut und Zuversicht verbreitet.
JONAS Nein, nicht Mut und Zuversicht, Der aber auf eine
Pflicht hinweist, der wir unterstehen. Man darf nicht erst die
Aussichten bewerten und daraufhin beschließen, ob man was
tun soll oder nicht. Sondern umgekehrt, man muß die Pflicht
und die Verantwortung erkennen und so handeln, als ob eine
Chance da wäre, sogar, wenn man selber sehr daran zweifelt.
Der ethischen Perspektive muß eine neue Dimension
hinzugefügt werden

DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR PHILOSOPHIE'" Sehr geehrter


Herr Prof. jonas, in Deutschland geboren, haben Sie hier
studiert. 1933 mußten Sie vor den Nationalsozialisten emi-
grieren, Sie gingen nach Palästina, wurden nach Ausbruch
des 2. Weltkriegs mit britischem Paß Angehöriger einer Jüdi-
schen Brigade, kehrten mit den über die Faschisten sieg-
reichen alliierten Truppen nach Deutschland zurück, danach
lebten Sie in Israel, gingen 1949 nach Kanada und. sechs Jahre
später nach New York. Nun sind Sie, der große jüdische
Denker und Weltbürger zugleich, erstmals ins wiederverei-
nigte Deutschland gekommen, . in ein Land, in dem Ost und
West mit ihren unterschiedlichen Kulturen aufeinandertref-
fen, und das zugleich voller sozialer Spannungen .ist, Was
empfinden Sie in dieser Situation, wenn Sie über das nachden-
ken, womit Ernst Bloch sein -Prinzip Hoffnung- schloß: Hei-
mat?
HANS JONAS Der Begriff Heimat ist für mich längst ver-
lorengegangen. Zunächst einmal gehört dazu meine seiner-
zeitige Auswanderung aus Deutschland. Das Land meiner
Wahl war Palästina mit der Aussicht auf einen künftigen
jüdischen Staat dort, zu dem es auch gekommen ist - Israel.
Dann hat mich das einfache akademische Schicksal, das heißt
das Anbieten von Lehrstellungen, von Berufungen, erst nach
Kanada und schließlich in die Vereinigten Staaten geführt. So
kann ich nicht sagen, daß ich mich noch mit irgendeinem
Land besonders identifiziere, und sagen, da habe ich Heimat-
gefühle,
Richtig allerdings ist eines, daß die deutsche Sprache für mich
von jeher, unbeschadet alles dessen, was geschehen ist, unbe-

.. Das Gespräch führten Mischka Dammaschke, Horst Gronke und Christoph


Schulte.
schadet von Auswanderungen und vom Wechseln meiner
Gebrauchssprache, auch meiner akademischen Gebrauchs-
sprache - erst in das Hebräische und dann in das Englische-,
daß ungeachtet alles dessen Deutsch mein natürliches Me-
dium des Ausdrucks geblieben ist. In meinem Privatleben
zeigt sich das darin, daß ich. mit meiner Frau, die auch aus
Deutschland stammt - wir haben uns allerdings erst in jeru-
salem kennengelernt - immer nur deutsch gesprochen habe.
Mit den Kindern allerdings von Anfang an englisch, so daß es
sogar .quasi eine Sprachspaltung durch die Familie gibt - die
alte Generation spricht unter sich deutsch, aber die Sprache
der Kinder ist vollkommen Englisch; sie haben etwas Deutsch
gelernt, jedoch nicht sehr viel.
Wenn Sie wissen möchten, wie ich bei dem Besuch hier ge-
fühlsmäßig auf das reagiere,was sich inzwischen in Deutsch-
land ereignet hat -'das jüngste Ereignis der Wiedervereini.;.
gung und die damit einhergehenden Probleme -, so kann ich
nur antworten: aus der Distanz eines Besuchers. Natürlich
etwas mehr, weil ich viel mehr weiß von Deutschland als
wenn es Italien wäre oder Schweden oder Frankreich. Inso-
fern sind mir die Sachen auch nahe, einfach kenntnismäßig,
und natürlich verknüpftsich ja sehr vieles, was ich jetzt sehe,
mit jugenderinnerungen, aber diese ]ugenderinnerungen lie-
gen 50, 60 Jahre zurück.
DZFPH Ihr religionsgeschichtliches Werk und die Gnosis-
forschung haben Sie, Herr Prof. jonas, nach dem Zweiten
Weltkrieg nicht fortgesetzt. Dennoch haben Sie sich in Ihrem
Vortrag »Der Gottesbegriff nach Auschwitz« wieder einem
religiösen Problem' zugewandt. In Form einer mythologi-
schen 'Erzählung wird dort, um einen Begriff von Gott nach
Auschwitz zu retten, ein Prozeß der Theo- und Kosmogonie
vorgestellt, in dem Gott sich ganz in sich selbst zurückzieht
und damit die Macht über die Welt dem Menschen überläßt.
Nun bedeutet die Entmächtigung Gottes nicht unbedingt
seine totale Ohnmacht. Wenn man Ihren Mythos weiter..
denkt, kann man sich fragen, ob dieser Rückzug Gottes in
sich selbst ein irreversibler Prozef ist, oder ob Gott sich nicht
die Macht vorbehält, am Ende wieder in den Lauf der Welt ein-
zugreifen. Kurz: Behält Gott wie in der traditionellen Eschato-
logie noch die Macht, den Lauf dieser Welt zu beenden, oder
liegt auch diese nur noch in den Händen der Menschen?
JONAS Ja, in diesem kleinen Winkel des Universums
würde ich das letztere sagen. Es erscheint mir wahrscheinli-
cher, als daß ein jenseitiges. Eingreifen erfolgt mit einem
Weltuntergang. But who knows. Ich habe da keine dogmati-
sche Ansicht kundgegeben, sondern einen Versuch gemacht,
die Auschwitz-Erfahrung und ähnliche Erfahrungen verein-
bar zu machen mit der Existenz eines Gottes, an der ich gerne
festhalten möchte. Und das ist alles.
Ich will niemanden dazu überreden, das nun als Wahrheit
anzunehmen. Das war mein Versuch, die Gottesidee noch
vereinbar zu halten mit dem, was hier vor sich ging. Im
übrigen möchte ich nicht antworten auf diese Frage, ob ich
ein gesamtes Weltende für möglich halte oder nicht. Ich
glaube nicht, daß meine persönliche Meinung dazu von ir-
gendwelcher Bedeutung ist. Was eventuell von Bedeutung ist
in diesem tastenden Versuch des Gottesbegriffs nach Ausch-
witz, ist nur das Bemühen, die gemachten Erfahrungen in
Einklang zu bringen mit gewissen Glaubensvorstellungen,
auf die man nicht verzichten möchte.
DZFPH Ein heutiger Leser könnte meinen, daß in Ihrem
Lebenswerk die Gnosis-Forschung und das Prinzip Verant-
wortung lediglich biographisch vermittelt nebeneinander
stünden. Aber gibt es nicht entgegen jenem Eindruck eine
implizite Klammer zwischen diesen Polen von Gnosis und
Ethik, nämlich in der modernen '(und auch schon gnosti-
schen) Erfahrung eines dem Menschen, dem Leben und Über-
leben gegenüber gleichgültigen, wenn nicht sogar fremden
und feindlichen Universums? Haben wir es nicht mit ein und
derselben Ausgangssituation - der Verlorenheit des Men-
schen in einer gottfernen Welt, in einem ihm und seiner
Existenz gegenüber vollkommen indifferenten Universum -

26
zu tun, und lediglichmit zwei verschiedenen Reaktionen auf
dieses Universum; einmal der Weltflucht in der Gnosis und
umgekehrt heute dem Prinzip Verantwortung für die Selbst-
erhaltung des Menschen in dieser ihm gegenüber indifferen-
ten Welt?
JONAS Es gibt darüber. gewisse Hypothesen, die mehr von
anderen stammen als von mir selbst - Interpretationen, die da
einen Zusammenhang herstellen wollen. Was mich selbst
betrifft, wäre hier der einzige Zusammenhang der, daß ich
eine Sache fallengelassen habe - die Weiterarbeit an dem
Gnosis-Werk und dem religionsgeschichtlichen Feld über-
haupt - und mich zugewandt habe den permanenten Proble-
men der Philosophie, der Stellung des Menschen im Sein, der;
Interpretation des Verhältnisses von Natur, Leben und Geist.
Das Problem mit dem fremden Universum habe ich einmal so
gesehen: Das Universum der modernen Natur.wissenschaft
und das, welches die Gnostiker sich vorstellten, haben etwas
gemein: es ist den menschlichen Belangen gegenüber fremd.
Im Falle der Gnosis ist es feindlich, im Falle der Moderne
völlig indifferent, so daß menschliche Werte ihren Sitz nur im
menschlichen Willen haben und nirgendwo sonst. Dieser
Sicht habe ich nicht nur abgesagt, sondern in meinen Ansät-
zen zu einer biologisch verankerten Naturphilosophie den
entgegengesetzten Versuch gemacht zu zeigen, daß Zwecke
schließlich auch ihren Sitz in der Natur haben.
Denn das ganze Lebensabenteuer, obwohl es kosmisch gese-
hen vielleicht eine.minimale Ausnahme ist, die sich unter den
besonders günstigen Umständen dieses Planeten einmal er-
eignet..hat, und somit im Universum mengenmäßig vielleicht
gar keine Rolle spielt, verrät doch, daß in der Materie, die seit
Descartes nur noch als äußerlich angesehen wird - entblößt
von allen Prädikaten der Innerlichkeit einschließlich Zwek-
ken, Zielen, Interessen usw. -, doch mehr steckt als in dieser
cartesischen, sehr künstlichen Annahme gedacht worden ist.
Eigentlich ist es nur eine Arbeitsteilung, daß die Naturwissen-
schaft, die auf dieser cartesischen Grundlage ruht - die Mare-
rie sei nichts als das, was sich äußerlicher Messung darbietet
-, eine Art methodologischer Freibrief war, so die Natur zu
erklären und nie darüber hinauszugehen.
Kein Physiker könnte eigentlich als Physiker der einfachen
Aussage zustimmen: »Ich hebe meinen Arm, weil ich es jetzt
will.« Die physikalische Erklärung muß lauten: Bestimmte
Gehirnvorgänge sind passiert, bei denen das Denken keine
Rolle spielt, kein Fühlen, kein Wollen, 'keine Subjektivität,
sondern nur gewisse objektive Abläufe elektrischer oder che-
mischer Art, deren notwendige Folge es ist, daß ein Gehirnzu-
stand motorischer Auslösungen dazu führt, daß mein Arm
sich hebt.. Dies sind zwei ganz verschiedene Interpretationen
ein und desselben Vorganges - die eine von innen, von mei-
nem Bewußtsein her, die andere von außen, wobei das Gehirn
ja auch etwas Äußerliches, eine erkennbare Masse von be-
stimmt organisiertem Stoff ist.
Eine solche Arbeitsteilung hat sich ungeheuer bewährt, was
für die Naturwissenschaften zu einer Durchdringung der Na-
tur nach ihren Kausalverfahren geführt hat, nach strikten
Abfolgen von Ursachen und Wirkungen. Das hat dann er-
möglicht, die Erkenntnis davon, wie die Natur es macht - es
war die Idee von Bacon -, zu benutzen, um nun umgekehrt
die Natur etwas machen zu lassen. Man hat in ihre Werkstatt
geguckt - und nun kann man damit arbeiten.
Wobei natürlich ein Rätsel bleibt: Die Existenz der Naturwis-
senschaft selbst innerhalb der Natur kann nicht naturwissen-
schaftlich erklärt werden. Sie ist ein Mysterium, das dahinter-
steht, worum sich der Naturwissenschaftler jedoch nicht zu
kümmern braucht. Aber der Philosoph muß sich darurn.küm-
mern. Insofern würde ich sagen, daß die ganze gnostische
Herkunftsgeschichte oder diese Art Verbindung, die ich ein-
mal hergestellt habe zwischen dem sinnentleerten, also wert-
freien, völlig neutralen und nur äußerlich determinierten
Naturbild der modernen Naturwissenschaft und dem men-
schenfeindlichen, geistfeindlichen Kosmos der Gnostiker,
eigentlich überholt ist.

28
Da Sie auch lebensgeschichtliche Fragen stellen, so ist als
einfache Willensentscheidung zu verbuchen, daß ich minde-
stens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges für viele Jahre
mich bemüht habe, wieder Raum für eine Naturphilosophie
zu schaffen, die als Ganzes ja etwas verpönt ist - als Idee. 'Das
gehört zur Idee der Arbeitsteilung: Die Natur wird den Na-
turwissenschaften überlassen, irgendwelche Sinndeutungen
hingegen gehören in den Bereich der Subjektivität und der
Geisteswissenschaften, und es gibt keine Verbindung. Diesen
Dualismus habe ich versucht, mit unvollkommenen Mitteln
etwas zu überbrücken. Und ich suche nach einem einheit-
lichen Bilde, in dem Zwecke eben nicht dem Kosmos fremd
sind.
DZFPH In Ihrem moralphilosophischen Hauptwerk, das
Sie sehr bescheiden als Versuch einer Ethik für die technolo-
gische Zivilisation kennzeichnen, wenden Sie sich auch dem
Problem der Differenz von Sein und Sollen zu. Dabei gehen
Sie von einer ontologischen Fundierung der Werte aus, die Sie
naturalistisch im Sein verankert bestimmen. Wenn Sein und
Sollen ontisch zusammenfallen, worin sehen Sie dann die
entscheidende Ursache für den empirisch realen Bruch zwi-
schen diesen beiden Polen? Warum nehmen Werte unter
bestimmten Bedingungen überhaupt eine normative Gestalt
an?
JONAS Wegen der menschlichen Freiheit, weil eine in der
Natur selbst liegende Bejahung - sagen wir mal gewisser
Werte - nicht automatisch von den Handelnden, an die sich
diese Bejahung wendet, befolgt wird. Der Ruf der Werte ist
ihr immanenter Anspruch auf Verwirklichung, auf Existenz.
Die Fähigkeit aber, diesem Anspruch zu entsprechen, ist eine
Funktion der Freiheit, und das heißt, er kann auch ignoriert
werden und ihm kann zuwider gehandelt werden.
Ohne das Phänomen der Freiheit ist das ganze menschliche
Dilemma nicht zu verstehen. Das drückt sich schon in der
Bibel im Schöpfungsbericht aus, wenn die Schlange zum Ge-
nuß vom Baum der Erkenntnis rät und sagt, ihr würdet wie
die Götter sein mit Kenntnis des Guten und des Bösen, d. h.
der Fähigkeit, sowohl das eine wie das andere zu tun. Und
nun ist es eine Tatsache, daß die Interessen - die der Selbst-
erhaltung und der unmittelbaren Befriedigung der eigenen
Bedürfnisse - immer an erster Stelle kommen. Schon des-
wegen, weil sie die Bedingung der Möglichkeit für alles an-
dere sind. Ohne zu essen und zu atmen, also unaufhörlich
für sich selbst etwas der Natur zu entnehmen, ohne die Tat-
sache des Stoffwechsels, deren Grundforderungen- erfüllt
sein müssen, ist nichts weiter möglich für lebendige, für or-
ganische Wesen. Somit liegt schon im Organismus beschlos-
sen, daß alles Leben an die Umwelt Ansprüche stellt und
alles Leben zunächst einmal, man kann so sagen, räuberisch
und gierig ist, sein muß. Jeder Atemzug beweist es, jedes
Essen usw.
Mit dem Begriff des Sollens kann man nur vernünftigen
Wesen kommen, das heißt solchen, die (a) eine Einsicht ha-
ben können in etwas, also ein Wissen. Wesen, die z: B. auch
erkennen können" daß etwas ein Wert in sich ist, und daß
solche Werte durchweg ihren Sitz haben in vergänglichen
Wesen - die also neben dem Wertwissen zugleich das Wis-
sen um die Vulnerabilität der Träger der Werte besitzen.
Und (b) solchen Wesen, die nicht nur dies wissen können,
sondern welche ihren Willen weitgehend bestimmen kön-
nen - nicht unbedingt frei, denn gewisse Erfordernisse der
Selbsterhaltung sind so gebieterisch, daß man sich ihnen
nicht entziehen kann, obwohl es ja andererseits durchaus die
Freiheit des Selbstmordes gibt und die Freiheit der Selbstauf-
opferung, zu der manchmal auch die Liebe führen kann.
Im ganzen muß man sagen, gewisse Forderungen, Notwen-
digkeiten müssen erst einmal erfüllt sein, aber dann bleibt
der Raum der Freiheit. Und der Mensch hat diesen Raum
der Freiheit ja sehr erweitert, da er durch .sein Wissen eine
Herrschaft über die Natur erlangt hat, über andere Lebens-
arten und ihre Nutzung, die ihm eigentlich eine viel größere
Breite oder viel größeren Raum willkürlicher Entscheidun-


gen und Verhaltensweisen läßt, als irgendeine andere Lebens-
art sie genießt.
Und damit ist die Kluft von Sein und Sollen da. Daß nämlich
seinem Wertwissen das Sein sich irgendwie kundgibt, ist vom
Menschen erkennbar. Zwar wird es deshalb nicht durchgän-
gig erkannt, aber es ist erkennbar: daß z. B. die Existenz von
fühlendem Leben etwas Besseres ist als die völlige Abwesen-
heit davon, daß das Universum weniger wert wäre zu existie-
ren, wenn es überhaupt keine Subjektivität darin gäbe, wenn
es überhaupt kein Besser und Schlechter, kein Vorziehen und
Verwerfen darin geben könnte. Was ja einmal eine philo-
sophische Lehre gewesen ist. Kein Geringerer als Spinoza hat
gesagt, daß Gut und Schlecht menschliche Erfindungen sind
und daß das Sein selber insofern immer gut ist, da alles das
geschieht, was notwendigerweise geschehen muß. Aber dem-
gegenüber ist doch das Allgemeinbewußtsein ein solches ~
und ich glaube, es ist richtig -, daß es so etwas wie Gelingen
und Mißlingen in der Natur selbst gibt.
Es ist schon eine besondere Art ontologischer, philo-
sophischer Ansicht: Das Prinzip der Selbstbejahung der Na-
tur - das Leben sagt ja zu sich selbst allein durch den unaus-
rottbaren Willen, am Leben zu bleiben, durch den Kampf
ums Dasein. Dieses allgemeine Jasagen der Natur zu sich
selbst offenbart sich im Leben und subjektiven Fühlen - im
Fürchten, in Ängsten und im Streben· - und im Menschen
gipfelt es noch einmal in der Bewußtheit und der Freiheit.
Damit kommt die Möglichkeit der Verantwortung in die
Welt.
Und nun versuche ich das ontologisch zu deuten - die Exi-
stenz von Verantwortungsfähigkeit macht den Träger dieser
Fähigkeit auch wirklich verantwortlich. Zumindest dafür,
daß diese Fähigkeit und die Grundlage davon - vernünftiges
Wissen und freies Wollen - nicht wieder aus der Welt ver-
schwinden. Die Existenz der Verantwortungsfähigkeit ist
eine ontologische Tatsache, die-sich quasi selbst beglaubigt.
Ob das logisch gültig gefolgert ist, ist mir selber nicht ganz

31
klar. Es handelt sich da wirklich um sehr subtile Fragen von
Schlußverfahren, deren Zulässigkeit strittig ist. Z. B. der be-
rühmte ontologische Beweis für das Dasein Gottes, daß näm-
lich im Gedanken Gottes die Notwendigkeit der Existenz
mitgedacht ist und sich damit also selbst beweist: daß der
nicht gültig ist, hat Kant wohl unwiderleglich bewiesen. Lo-
gisch gilt das nicht.
Aber mein Schluß von der Existenz der Verantwortungsfä-
higkeit auf die tatsächlich geltende Verantwortlichkeit des
Menschen leidet - glaube ich - nicht an derselben logischen
Schwäche wie der ontologische Gottesbeweis des Anselm von
Canterbury. Ich gebe aber zu, daß da ein Element einer
Urentscheidung drin liegt. Der Anhänger des Nirwana würde
sagen, die Existenz individueller Wesen, eines individuellen
Ichs und Bewußtseins ist keineswegs ein ultimativer Wert:
vielmehr ist deren Auslöschung, ihr Aufgehen in dem eigen-
tümlichen Nichts des Nirwana gerade der bessere Zustand,
Dem kann man nur die abendländische Entscheidung für den
Willen und die Individuation entgegensetzen - dahinter zu-
rückzugehen ist vielleicht unmöglich.
DZFPH Herr Prof. jonas, Sie halten Kant zugute, daß er
mit dem Prinzip der Verallgemeinerbarkeit womöglich ein
universales Kriterium der Richtigkeit moralischer Normen
und Entscheidungen entdeckt habe. Dennoch sei dieses Prin-
zip wegen seiner Formalität für sich 'allein unzureichend, weil
es nicht »das rechte Gefühle-in uns wachrufen könne. Für die
Motivation zum richtigen Handeln bedürfe es der Gefühle
der Ehrfurcht, Sorge, Furcht usw. Kant könne aus seinem
Prinzip der Verallgemeinerbarkeit keinen Inhalt und damit
auch nichts, was diese Gefühle in uns hervorrufen kann,
ableiten. Können Sie sich vorstellen, daß sich durch eine
intersubjektivitätstheoretische Deutung des solipsistischen
Ansatzes Kants, die seinen Universalismus konsequent wei-
terentwickelt, die Begründungslage für die Ethik verbessern
könnte? Dadurch etwa, daß aus der Anerkennung aller Men-
schen als vernünftiger Wesen, die daher nach Möglichkeit

32
alle an der moralischen Entscheidungsfindung zu beteiligen
sind, Rechte der einzelnen auf Freiheit und Leben ableiten
lassen?
JONAS Ja, aber das bezieht sich doch nur auf Wesen, die
schon da sind, auf Mitmenschen, Mitbürger sozusagen im
Kosmos der Vernunft, auf andere Vernunftwesen, die mit mir
gleichzeitig existieren und zum Teil auch Objekte meines
Handeins werden, davon affiziert werden. Und da ist in der
Tat das Kantische Prinzip der Verallgemeinerbarkeit von
Bedeutung, daß eine Handlung sittlich zulässig ist (obwohl
darum nicht notwendig geboten), deren Maxime man sich als
Prinzip einer allgemeinen.. Gesetzgebung vorstellen kann.
Also die einfache Fragestellung, kann diese Handlung eigent-
lich bestehen, wenn alle so handeln würden. Und da ergibt
sich ohne weiteres, daß es, wenn alle vertragsbrüchig sind,
überhaupt gar nicht erst ZU Verträgen kommen würde. Die
Maxime meines jetzigen Handelns, nämlich diesen Vertrag
mit der geheimen Absicht abzuschließen, ihn später nicht
einzuhalten, istgar nicht existenzfähig als Prinzip einer allge-
meinen Gesetzgebung.
Das ist aber eine Ethik unter Gleichzeitigen, da fällt doch
eigentlich die Dimension einer Zukunft der Menschenart auf
Erden weg, die Kant quasi als gegeben voraussetzt. Für Kant
ist es eine selbstverständliche Voraussetzung, daß es auch in
Zukunft Menschen geben wird. Und er hatte dann gewisse
wunderbare Ideen von einem höchsten Gut, wo die Glückse-
ligkeit mit der Würdigkeit dazu zusammenfällt, das heißt, wo
alle glücklich sein können, weil alle moralisch geworden sind.
Gut, er hat eine Zukunftsvision, aber aus seinem kategori-
schen Imperativ läßt sich nicht ableiten, daß es.künftig Leben
geben soll und daß vor allen Dingen auch eine dem Leben
freundlich gesinnte lebendige Umwelt weiter bestehen soll.
Diese Dimension ist erst in den Blick getreten in jenem Au-
genblick - eigentlich kann man sagen nach dem Zweiten
Weltkrieg, in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts -, da
es offenbar wurde, der Mensch ist nicht nur ein Vernunftwe-

33
sen, für den die Natur gewissermaßen zum Gebrauch bereit
daliegt, sondern er ist selbst eine Naturkraft hohen Ranges
geworden, welche die Bedingungen zukünftiger Menschen
oder Menschenwürde, schöpferischer Freiheit, Menschen-
glück plus Weiterexistenz dieser reichen Lebenswelt, in die
der Mensch eingebettet ist, in Frage stellt. Eine neue und
allmählich erschreckend aufkommende Einsicht, die heute
schon 'banal ist, wenn man sie äußert, die aber eigentlich erst
in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts ins Bewußtsein
getreten ist. Infolgedessen kann man Kant nicht etwa einen
Vorwurf daraus machen, daß er diesen Horizont, diese Per-
spektive vernachlässigt hat. Sie ist erst real geworden in jüng-
ster Zeit. Kant sprach zu seiner Zeit vom Unglück, das die
Menschen durch den Wahnsinn der Kriege sich selber zufü-
gen und hat jenen herrlichen Entwurf »Zum Ewigen Frieden«
verfaßt, in dem sozusagen die ganze Völkerbundidee und
anderes vorweggenommen ist. Aber über das Verhältnis des
Menschen zur Natur brauchte er nicht nachzudenken, in
diesem dringenden Sinne, in dem man heute darüber nach-
denken muß, weil von einer Gefährdung der Natur damals
nicht die Rede sein konnte.
Es ist die gewachsene menschliche Macht und die zuneh-
mende Einsicht in die Wirkungen dieser Macht auf eine be-
grenzte Umwelt, d. h. die Kollision, die eingetreten ist zwi-
schen der Quasi-Unendlichkeit menschlichen Könnens und
Begehrens einerseits und der Endlichkeit einer Natur ande-
rerseits, die dafür da 'ist, das dazu Nötige zu liefern, die diese
neue Dimension der Ethik eröffnet hat. Und das ist wirklich
ein objektiver Grund dafür, daß der ethischen Perspektive
eine neue Dimension hinzugefügt werden muß.
Ich zögere zu sagen, die Ethik im ganzen müsse nun erneuert
werden - die Gebote der Nächstenliebe, der Barmherzigkeit,
der Gerechtigkeit, der Treue bleiben bestehen. Aber das wird
heute überwölbt von einem Horizont, den es früher nicht gab
und der nicht nur eine Bewußtseinstatsache ist, sondern
höchst real vor unseren Augen liegt und womit auch zum

34
erstenmal - und das ist das zweite, was ich über meine
Beziehung zu Kant zu sagen habe - ein sehr nahes Verhältnis
zwischen sittlicher Überlegung und Kenntnis der Naturwis-
senschaft und der Lehren der Naturwissenschaft eintritt und
notwendig wird. Das ist etwas, was für Kant gar keine Rolle
spielte. Was die Naturwissenschaft lehrte, war für ihn -
obwohl er selbst ein bedeutender Naturphilosoph war - in
bezug auf die Ethik völlig irrelevant. Daß wir das Naturwis-
sen in unsere ethischen Überlegungen einbeziehen müssen, ist
eine neue Situation.
DZFPH' In Ihrem Buch »Das 'Prinzip Verantwortung« ha-
ben Sie eine Reihe zumindest instrumentaler: Vorzüge totali-
tärer kommunistischer Gesellschaften gegenüber den Demo-
kratien westlichen Modells bei der Lösung der ökologischen
Probleme, vor denen die Menschheit steht, erblickt. Nun sind
die » realsozialistischen« Diktaturen Osteuropas von den in
ihnen entstandenen demokratischen Bewegungen gestürzt
worden. Unübersehbare ökologische Schäden bilden eine der
traurigen Hinterlassenschaften. Hat sich angesichts dieser
Erfahrungen Ihre skeptische bis pessimistische Einschätzung
der Möglichkeiten und Chancen demokratischer Gerneinwe-
sen bei der Einlösung des von Ihnen so wunderbar eindring-
lich postulierten Imperativs der Bewahrung des Daseins und
der Würde des Menschen geändert?
JONAS Erwogen habe ich solche Vorzüge, nicht erblickt,
sondern erwogen. Das ist ein Unterschied. Und man mußte
das erwägen.
Skeptisch war ich und bin ich und bleibe ich nach beiden
Seiten. Es gibt jetzt den Triumph der freien Marktwirtschaft
gegenüber der kommunistischen Zwangswirtschaft. Man
kann aber nicht sagen, das sei ein Beweis für die Zuläng-
lichkeit dieser freien Marktwirtschaft, die Probleme zu be-
wältigen, vor die uns deren eigener, wirtschaftlich so viel
erfolgreicherer Umgang mit der Natur stellt. Esscheintmireine
gefährliche Verwechslung zwischen einem Moment des äuße-
ren Erfolges und den Hoffnungen, die man an die Fähigkeit

35
dieses Systems knüpfen darf, zu sein, wenn man nun an-
nimmt, daß es die von ihm ja ungeheuer.beförderte, zur Krise
treibende Problematik des Umweltverhältnisses selber mei-
stern könne.
Bewiesen worden ist, daß jene sozialistische Zwangswirt-
schaft, deren Chancen ich mit erwogen habe, und von der ich
glaubte, daß sie in gewisser Hinsicht eigentlich vielleicht
besser imstande ist, der Problematik Herr zu werden, weil sie
ja die Gewalt hat, das Maß der Bedürfnisbefriedigung ihrer
Bevölkerung zu steuern, hart zu drücken und infolgedessen
sparsamer mit der Natur umzugehen, es nicht vermochte. Es
hat sich herausgestellt - und das ist eine große Überraschung
für mich gewesen, übrigens für viele andere auch -, daß sie es
schlechter gemacht hat als die kapitalistische Profitwirtschaft
des freien Westens. Die Umweltverschmutzung ist dort viel
schlimmer, und ich habe bis heute eigentlich noch nicht recht
verstanden, warum der Versuch so kläglich gescheitert ist.
Aber es ist eine welthistorische Tatsache, daß jedenfalls die-
ses große Experiment unseres Jahrhunderts, das 1917 mit der
Oktoberrevolution in Rußland begann, Schiffbruch erlitten
hat.
Daraus folgt nicht, unsere jetzige Demokratie mit der Wahl
alle vier Jahre, diese ganze plebiszitäre Demokratie wäre auf
lange Sicht besser, ich meine in dem Sinne, daß wirklich mit
.ihren Mitteln die drohende Umweltkrise zu vermeiden ist. Sie
.ist darauf nicht sehr eingestellt, sondern vielmehr auf die
Befriedigung der Tagesinteressen und der Nahinteressen. Das
ergibt sich einfach daraus, daß dem Wähler natürlich sein
eigener Beschäftigungs- und Lebenserhaltungszustand in den
nächsten Jahren wichtiger ist als die Zukunft des Planeten. Es
·ist ganz klar, die Kurzinteressen überwiegen zunächst mal
immer die .Fernpflichren.
Was an Stelle der jetzigen Demokratie besser dazu imstande
wäre, davon habe ich keine Ahnung. Ich bin nur der Ansicht,
man soll sich nicht zu sehr auf die Schulter klopfen als Sieger
in dieser großen Auseinandersetzung. Das eine ist gescheitert,
das heißt nicht, daß die Demokratie nun eine Art Patentlö-
sung von Regierungsform überhaupt für jede Situation ist.
Wenn Sie also fragen, ob ich nun nach dieser großen Pleite,
diesem großen Bankrott im Osten denke, das hat bewiesen,
daß die freie Marktwirtschaft und die damit verbundenen
demokratischen Regierungsmethoden auf Dauer die richtige
politische und wirtschaftliche Form sind, die uns auch vor
dem Abgrund bewahrt, der sich da vor unseren Augen auftut,
wünschte ich, es wäre so, aber ich kann mir dessen nicht
sicher sein. Und ich finde, niemand kann sich dessen sicher
sein.
DZFPH Da würden wir Ihnen auch zustimmen, in dem
Sinne, daß die jetzt siegreiche Form ja wohl alles andere als
eine bereits vollendete Form von Demokratie ist, da bleibt
vieles noch offen, gibt es viel zu tun, und eine Gewähr dafür,
daß die Katastrophe abzuwenden ist, gibt sie nicht unbe-
dingt. Die gerade abgelaufene Konferenz für Umwelt und
Entwicklung in Rio hat gezeigt, daß ein Fortschritt in der
Sorge für die Menschheit und die Natur nur erzielt werden
kann, wenn die Teilnehmer bereit sind, sich miteinander zu
verständigen und dabei ihre egoistischen Interessen zurück-
zustellen. Heißt das nicht, Herr Prof. Jonas, daß die Sorge für
die Menschheit und die Natur abhängig ist - eigentlich - von
einem Fortschritt der Verständigungsverhältnisse ? Daß man
sich also immer besser vernünftig verständigen und einigen
muß? Und wenn die Pflicht zur gegenseitigen Verständigung,
etwa über die Berechtigung der eigenen Interessen der Natur-
verfügung, jetzt als Demokratieprinzip verstanden wird:
Könnte man dann nicht sagen, das Demokratieprinzip ist
eine Bedingung der Möglichkeit dafür, daß für die Mensch-
heit und für die Natur etwas getan werden kann, dies sei eine
Voraussetzung dafür?
JONAS Das ist ein ganz gutes Argument. Und ein freiwillig
zustandegekommener Konsensus wäre eben ein demokrati-
scher Konsensus, und der wäre natürlich die beste Grundlage
für eine künftige Behandlung und Steuerung des mensch-

37
liehen Verhältnisses zur Umwelt - er müßte jedoch global
sein. Aber das macht die Sicht in die Zukunftso sehr proble-
matisch und so sorgenvoll: Wie kommt ein solcher Konsen-
sus zustande, z. B. zwischen Norden und Süden, zwischen
Arm und Reich. Kann der Weg, der zu einem solchen Konsen-
sus führt, rein demokratisch sein im Sinne der reinen sponta-
nen Freiwilligkeit aller Teilnehmer?
Ich hoffe, ja. Aber woher können wir dabei eigentlich die
Zuversicht nehmen, daß sich wirklich in freier Verständi-
gung, in wachsender internationaler Verständigung eine ein-
heitliche Formel der Verwaltung der Erde durch den Men-
schen erzielen läßt? Doch selbst wenn der Konsensuserst mal
da ist, womit die Hauptsache ja getan wäre, selbst dann bleibt
noch die Frage, ob es gelingen wird, zu einem wirklichen
Frieden mit der Natur zu kommen. Vielleicht verhindert es
die pure Anzahl der Menschen, vielleicht ist sie schon so groß
geworden, daß sich quasi bereits daraus unmögliche Anfor-
derungen an die Natur ergeben. Das würde dann heißen, daß
die ganze Bevölkerungspolitik - auch in bezug auf das Pro-
blem der Vermehrung: Wie viele Kinder sind erlaubt?, etc, -
in die internationale Vereinbarung mit hineingenommen
werden muß.
Um die Antwort auf Ihre Frage abzuschließen. Ein demokra-
tischer Weg, zu einem globalen Konsensus zu kommen, wäre
natürlich der erwünschteste. Ich sehe ihn nicht, aber ich sehe
auch keine Alternative. Mit anderen Worten: Man darf doch
einen Zustand der Ratlosigkeit eingestehen, das muß jeden-
falls ein ehrlicher Philosoph, finde ich..
DZFPH Herr Prof. Jonas, was bedeutet es für Sie, an-
gesichts der ja auch in unserem heutigen Gespräch ange-
sprochenen verständlichen Furcht vieler Menschen vor der
ökologischen Situation auf unserem Stern Erde, nicht in Resi-
gnation und Fatalismus zu verfallen? Wieviel Hoffnung birgt
Ihr Prinzip Verantwortung in sich?
JONAS Es braucht gar keine Hoffnung in sich zu bergen, es
birgt eine Pflicht in. sich, nämlich sich nicht dem Fatalismus
zu überlassen, weil man damit aufgegeben hat und das
Schicksal, das ja doch vermieden werden soll, damit eigent-
lich nur besiegelt. Das Denken, das noch eine Chance erspä-
hen und damit aufrufen kann, etwas zu tun, ist ja schließlich
dasselbe mächtige Denken wie das, was uns in die Krise und
die unmögliche Misere hineingeritten hat. Eben dieses Den-
ken muß für jene Chance offen bleiben, wenn überhaupt eine
Hoffnung sein soll.
Aber damit habe ich nicht gesagt, daß ich die Hoffnung habe,
sondern daß ich die Pflicht sehe,.sich nicht der Resignation zu
überlassen..
Die Welt ist weder wertfrei
noch beliebig verfügbar

Verantwortung als Überlebenspflicht

CHRISTIAN SCHÜTZE Politiker sprechen viel von unserer


Pflicht, künftigen Generationen eine bewohnbare Welt zu
hinterlassen. Nach Erscheinen Ihres Buches »Das Prinzip
Veranrwortung« 1979 beriefen sich Politiker aufHans Jonas.
Sie zitieren ihn sogar, und das noch viel mehr, nachdem der
wiederentdeckte Philosoph 1987 den Friedenspreis des Deut-
schen Buchhandels bekommen hatte. Haben Ihre Gedanken
praktisches Handeln ausgelöst?
HANS JONAS Ich wüßte nicht, wie ich es erkennen könnte;
die Gegenprobe kann nicht gemacht werden. Das Umwelt-
denken, das im Prinzip Verantwortung philosophisch unter-
baut wurde, hat sich ins allgemeine Bewußtsein eingeprägt.
Jeder Wohlgesinnte fühlt die Verpflichtung, sich dazu zu
bekennen, auch jeder, der für wohlgesinnt gehalten werden
will. Kein Wirtschaftsführer oder Träger öffentlicher Verant-
wortung würde sagen: Das geht uns nichts an, die Aufgabe
des Siemens-Konzerns ist ausschließlich, den Aktionären Di-
vidende zu verschaffen. Kein Politiker würde sagen: Das
Schicksal der deutschen Wälder ist mir gleichgültig. Das all-
gemeine Lippenbekenntnis zur Umweltverantwortung ist
vorhanden. Ich schätze das aber nicht gering. Auch wenn
viele Scheinbekenntnisse darunter sind, schaffen sie doch ein
Klima, in dem ein moralischer D~uck für Träger öffentlicher
Verantwortung entsteht, sich ausweisen zu müssen. Insofern
glaube ich schon, daß dieses Buch etwas bewirkt hat; es hatte
anscheinend das Glück, die Sache publikumswirksam zu for-
mulieren, und es hatte noch das Prestige, ein philosophisches
Buch zu sein, wofür es in Deutschland immer einen Respekt
gibt.
SCHÜTZE Unsere deutschen Parteien gründen sich auf phi-


losophische Werke, auf Hegel oder Marx oder Adam Smith.
Auch die christlichen Parteien haben ihren weltanschauli-
chen Hintergrund..Berufen sich bei uns oder anderswo Grüne
Parteien auf Ihr Werk?
JONAS In Deutschland war vornean in der Aufnahme mei-
ner Gedanken die Sozialdemokratische Partei: Das begann
1980 mit Helmut Schmidts Antwort auf die Frage, welche
Lektüre er in die Ferien mitnehme. Die Antwort: Eine neue
Übersetzung von Samuel Pepys' Tagebüchern und Jonas'
Prinzip Verantwortung. Daraufhin wurde ich von Sozialde-
mokraten dauernd zitiert, besonders von Hans-Jochen Vo-
gel. Im Bundestag berief sich die eine Seite auf mich, die
andere antwortete: Nein, da haben Sie Jonas falsch verstan-
den. Auf dem Rechtspolitischen Kongreß der SPD in Essen
sprach ich über Probleme der Gentechnik, die noch im Wer-
den war - eine bedeutende Plattform, die mir da geboten
wurde. Aber auch große Industriekonzerne .baten mich, bei
öffentlichen Veranstaltungen oder in Mitarbeiterseminaren
zu sprechen, so bei Siemens oder zur Hundertjahrfeier von
Hoechst-Pharma, wo ich den Festvortrag hielt. Man wollte
sich identifizieren oder schmücken oder. ausstaffieren mit
meinen anscheinend prestigewirksamen Gedanken.
SCHÜTZE Wissenschaftliche Politikberatung ist in der
Bundesrepublik institutionalisiert unter anderem in Form der
Umweltverträglichkeitsprüfung. Da werden überwiegend
Naturwissenschaftler oder Gesellschaftswissenschaftler ge-
fragt. Sollten auch Philosophen dabeisein, zumal Ethiker, die
Maßstäbe für das Zukunftsverhalten setzen? Sollte neben
den vorhandenen Verfassungsorganen eine » Konsultative«
installiert werden, die zur Legitimierung der gewählten Abge-
ordneten die Sachkompetenz von unabhängigen Denkern
hinzufügt?
JONAS Eine temperierte Fassung der platonischen 'Idee!
Niemand wird heute auf den Gedanken kommen, die Philo-
sophen zu Herrschern zu machen, aber hinzugezogen sollten
sie vielleicht werden - wenn es nur um die.Philosophie besser
stünde. Die .real existierende Philosophie - verkörpert in den
vorhandenen Philosophen, meist angestellte Lehrer eines Fa-
ches, genannt Philosophie, an staatlichen Anstalten, gehannt
Universitäten - erlaubt zu Recht jeden Standpunkt. Soweit
man die Philosophie überhaupt porträtieren kann, ist sie ganz
und gar nicht auf ein Theoretisieren über Ethik eingestellt.
Vom Erfolg der Naturwissenschaften mit ihren mathema-
tisch-analytischen Grundlagen wurde die Philosophie. ange-
steckt, verführt und überwältigt, wurde weitgehend zu einer
logisch-analytischen Übung. Sie geht nicht auf Sachprobleme
des Menschen oder der Menschheitein, sondern fragt, wie es
zu verbindlichem Wissen, zur Begriffsbildung kommt, was
die Sprache dabei tut oder was in der Wissenschaft die Wahr-
heit sei. Das trägt sehr wenig zur Frage bei, wie sich der
Mensch verhalten soll, ob es so etwas wie eine Pflicht gebe,
der sich die Menschheit unterordnen soll als einem höheren
Muß, das dem Wünschen und Begehren Schranken setzt und
Ziele vorschreibt. So etwas wird ja verspottet als metaphysi-
sche Spekulation oder kulturell, sozial, psychologisch oder
genetisch bedingte subjektive Meinung. Ich wäre sehr für eine
philosophische Beratungsfunktion, verfassungsmäßig befe-
stigt, von Ethikern, wenn die Philosophie so wäre, wie sie sein
sollte. Da sie es aber nicht ist,. ist mein Wunsch wohl nicht
realistisch.
SCHÜTZE Ist die allgegenwärtige Rede von der Sorge. für
künftige Generationen nicht ein psychologischer Trick, sich
vom Handeln hier und jetzt zu drücken? Es klingt gut und
verpflichtet zu nichts, denn .was künftige Generationen ge-
fährdet, macht uns doch keine Sorgen. Das Verantwortungs-
bewußtsein reicht nicht weiter als bis zu den Kindern oder
Enkeln - den eigenen. Gab es jemals kollektives Verantwor-
tungsbewußtsein für kommende Generationen?
JONAS Nein, nein, das gab es noch nicht, aber das muß es
eben geben. Es ist eine der Botschaften meiner Altersphiloso-
phie, daß sich etwas entscheidend geänderthat, Vorausden-
kende Verantwortung brauchte es früher nicht zu geben, weil
die Reichweite menschlicher Macht, die Auswirkungen
menschlichen Handeins wie auch die Reichweite mensch-
licher Voraussicht sehr begrenzt waren. Als ganze Gebirge
entlang der dalmatischen Küste entwaldet wurden für die
Flotten des Mittelmeeres, konnten die Holzknechte die dar-
aus folgende Verkarstung nicht voraussehen; 'Und das ging
auch langsam.
Heute liegt alles im hellsten Licht des Wissens, mindestens
eines wohlbegründeten Vermutungswissens, aber wir wissen
alle, daß die Eingriffe unserer technologischen Macht in die
Biosphäre, von der wir leben, mit einem stabilen Gleich-
gewicht unverträglich sind, daß möglicherweise Prozesse in
Gang gekommen sind, die sich selbst beschleunigen und un-
serer Kontrolle entgleiten.
Die enorme Vermehrung der Menschheit schafft schon
Zwänge, die selbst dem einsichtigsten Politiker jede Hand-
lungsmöglichkeit nehmen, weil der augenblickliche Hunger
lauter redet als die Sorge um die Zukunft. Seit der industriel-
len Revolution hat sich die Natur unseres Handeins verän-
dert; da Verantwortung aber ein Korrelat.der Macht ist, einer
Macht, die wissend ist und dem freien Willen untersteht, ist
das Prinzip 'Verantwortung erstmals in den Vordergrund ge-
treten und hat sogar Vorrang vor vielen Wünschen, Begier-
den 'und Verwohnungen der Gegenwart einschließlich des
Vermehrungsbed ürfn isses.
SCHÜTZE Das erfordert aber, daß man die. Welt, so wie sie
ist, für erhaltenswert hält, das ist aber bestreitbar.
JONAS Absolut bestreitbar. Der Pessimist hat das Recht,
zu sagen: Der ganze Plunder ist das Leiden und die Qual nicht
wert. Schopenhauer ist nicht widerlegbar.
SCHÜTZE Nun sagen viele: Die Sache geht sowieso den
Bach hinunter. Laßt uns heute deshalb noch flott leben.
JONAS Nach uns die Sintflut. Das gibt es immer wieder.
Das steht schon bei Jeremia.
SCHÜTZE Woher also die Pflicht zur Erhaltung der Schöp-
fung? Aus Ehrfurcht vor der wunderbaren Vielfalt des Leben-

43
digen? Oder sollen wir mit Kant sagen: Um unserer eigenen
Sittlichkeit willen werden wir Arten nicht mehr vernichten
und Tiere nicht mehr quälen?
JONAS Wenn das Bild, das die Naturwissenschaften von
der Natur entwerfen, das letzte Wort über die Beschaffenheit
der Welt wäre, dann wäre diese ein wertneutrales mecha-
nisches Getriebe, das durch Zufall und physikalische Not-
wendigkeit auch so seltsame Gebilde wie organische Wesen
hervorgebracht hat und schließlich so absonderliche mensch-
liehe.Hirne, die mit·Bewußtsein begabt sind. Dazu haben die
Naturwissenschaften nichts mehr zu sagen, weil das nicht ins
Bild paßt, aber es wird zur 'Kenntnis genommen und ist
wertneutral. Wenn dieses Bild der Wirklichkeit gilt, dann ist
in der Tat nicht zu' begründen, warum wir uns Sorgen über
das kommende Jahrtausend machen sollen. Es wäre dann
eine Erfüllung des Gesetzes der Evolution, daß Arten verlö-
sehen,
Unsere Gehirne, wie andere organische Systeme, sind aber so
beschaffen, daß sie sich selber Werte erfinden..Zum Beispiel
klammern sie sich an ihr eigenes Sein, sie führen.den Kampf
ums Überleben, das ein Wert ist. Und unter den Menschen
gibt es eben welche, die sich Sorgen machen. Da muß .man
fragen, wie es dazu kommt. Indem der Mensch als das einzige
uns bekannte Wesen Verantwortung haben kann, hat er sie
auch. Eine einfache Intuition ergibt, daß das Vorhandensein
von Verantwortung besser ist als deren völliges Fehlen. Es ist
ein Gewinn am Bestand der Welt. Damit wird es zur Pflicht
der Verantwortung, daß es auch künftig weiterhin Verant-
wortung gibt. Das ist nur möglich, wenn die Wesen, die
Verantwortung haben können, weiterexistieren, So ergibt
sich durch einen eigentümlichen ontologischen Schluß, daß
die bloße Tatsache, daß 'wir Verantwortung haben können,
diese Verantwortung uns die Weiterexistenz ihrer selbst in
der Welt vorschreibt. Das ist die kürzeste Formel der ontolo-
gischen oder metaphysischen Begründung der Verantwor-
rungsmoral, die ich anzubieten habe. Mit anderen Worten:

44
Die Welt ist nicht wertfrei; esgibt mindestens den einen Wert
in der Welt, das Dasein von Verantwortung, das besser ist als
ihr Nicht-Dasein.
SCHÜTZE Ein Gedanke, dem Philosophen folgen 'können,
den die meisten aber wohl zu beschwerlich finden dürften.
JONAS Wer da sagt, darauf.pfeife ich, dem ist nicht logisch
zu beweisen, daß er sich selber widerspricht, weil er indirekt
einräumt, daß es auf gewisse Dinge ankommt. Aber es wer-
den sich sehr viele finden, die sich weigern, das für nichtig zu
erklären, weil sie sich unter einem höheren Gesetz fühlen als
dem der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung; die mehr wol-
len als nur das »Genieße den Tag«.
Darauf muß man setzen, und da kommt es auch nicht darauf
an, daß es wirklich viele sind, sondern es ist wie damals, als
Gott fragte: Wen sollen wir zum Prophetenamt senden? Und
]esaja antwortete: Herr, sende mich! - Solche wird es geben,
wenn nur richtig gesprochen wird, und darum muß der Philo-
soph auf dem Posten sein. Das ist unsere Mission.
SCHÜTZE Als der Kalte Krieg jeden Augenblick in den
heißen Atomkrieg umschlagen konnte, ließ sich der Konsu-
mismus als Lebenshaltung verstehen. Jetzt ist das Endzeitge-
fühl.nicht mehr so tief gegründet, doch das Konsumieren ist
offenbar für viele höchster Daseinszweck. Gibt es auf der
anderen Seite, Chancen für eine neue Askese?
JONAS Eine neue Askese scheint mir unbedingt nötig zu
sein. Zu Beginn des Christentums drängten sich Menschen
zur Askese unter dem Einfluß einer mächtigen jenseirsreli-
gion. Um.des Diesseits willen hat man das noch nicht gehabt.
Nur in .Momenten gibt es das, wenn ein Volk in Gefahr ist
und die jungen Leute sich zum Schutz des Vaterlandes drän-
gen. üb sich eine Askese ohne transzendente Religion in der
Masse erzielen läßt, Wo die Gefahr nicht wie bei einem sin-
kenden Schiff klar ist, sondern sich über Jahrzehnte und
Kontinente erstreckt, das weiß ich nicht.
SCHÜTZE Aber Askese ist doch eine .unauffälligere Weise
der Entsagung als das Opfer für die höchsten Ziele. Man fährt

45
nicht mit dem Auto, obwohl man eines hat, sondern mit dem
Fahrrad.
JONAS Ja, das könnte man Askese in unserer Zeit nennen.
Solche Leute gibt es schon.
SCHÜTZE Sie fühlen sich ausgebeutet. Sie verzichten auf
etwas, was andere dafür um so preisgünstiger in Anspruch
nehmen, weil die Verzichtenden auf dem Markt der Güter
und Annehmlichkeiten als Nachfragende ausfallen.. Andere
konsumieren für sie mit; die Aufopferung bewirkt überhaupt
nichts außer Ungerechtigkeit, Askese erscheint als Dumm-
heit.
JONAS Nicht notwendig; ich versuche, etwas optimisti-
scher zu sein. Es gab immer wieder Zeiten, da gewisseVerhal-
tensweisen verpönt waren. Man genierte sich zum Beispiel,
ein Fresser zu sein oder mit Kleidung zu prunken. Es gab eine
öffentliche Zensur der Sitte. Es läßt sich doch denken, daß so
etwas wieder entsteht und jemand seine Ausschweifungen
dann heimlich verrichten muß. Ich glaube nicht, daß die Zahl
der Tugendhaften größer wird, aber das Laster wird dann
nicht mehr öffentlich begünstigt, es kann sich nicht mehr so
breitrnachen wie heute, wo es sogar angebetet wird. Es ver-
schwindet dann im Verschwiegenen und kann dadurch nicht
mehr richtig genossen werden.
Im übrigen ist es eine bestürzende Erscheinung, daß das
marxistische .und sozialistische Experiment, einen Menschen
hervorzubringen, der nicht seinem eigenen Vorteil nachjagt,
so kläglich gescheitert ist..Das gibt Anlaß zur Genugtuung für
alle, die dagegen waren, 'aber es ist auch bestürzend, daß
dieser in seiner Art imponierende Versuch freiwilliger Armut
der Gemeinschaft zuliebe völlig versagt hat. Nun, das letzte
Wort ist noch nicht gesprochen. Es ist nicht unmöglich, daß
es wieder, sagen wir: Mode wird, bescheiden zu leben. Beim
Menschen ist nichts vorauszusagen, das haben wir gelernt.
SCHÜTZE Der Zweite Weltkrieg war der letzte Flächen-
brand. Seit 1945 gab es Hunderte von begrenzten Konflikten
und Zwischenfällen, die früher zum Krieg geführt hätten. Ist
die Menschheit besser geworden oder nur klüger?
JONAS Friedfertiger, vor allem ängstlicher. Die Furcht
kann heilsam sein. Was hat man mir nicht alles wegen meiner
Heuristik der Furcht vorgeworfen: Du erstickst allen Wage-
mut. Ich hatte den Grundsatz formulie_rt: Wenn es über die
Folgen. großer technologischer Umbrüche zwei entgegenge-
setzte Prognosen gibt, eine zum Unheil, eine zum Heil, dann
soll man beim Ausmaß unserer Macht und dem, was auf dem
Spiel steht, der Unheilprognose den Vorrang geben und die
Sache unterlassen oder wenigstens verlangsamen.
SCHÜTZE Mitte der Soer Jahre gab es Propheten, die das
Ende der Geschichte feststellten. Jede Veränderung würde
sich verbieten, weil sie mit nuklearer Katastrophe bestraft
würde. Nun ist alles ganz anders gekommen, bislang ohne
großes Blutvergießen - Revolutionen ohne Gewalt. Wie
kommt das?
JONAS Das ist das große Rätsel dieses Augenblicks. Ich
hoffe nur, die Gewalt kommt nicht noch. Aber es scheint so,
als erlebten wir einen neuen Stil von Geschichte. Das fügt sich
in das Bild, das ich im Prinzip Verantwortung entworfen
habe: daß wir überhaupt in eine neue Phase der Geschichte
getreten sind. Die neue Technik hat ja auch die Formen und
Folgen der menschlichen Gewalttätigkeit fürchterlich gestei-
gert. Vielleicht war Hiroshima - so schrecklich es für die
Opfer war - ein segensvoller Moment. Die These vom Ende
der Geschichte war Unsinn. Die geht weiter. Aber daß sie sich
wieder verlangsamen könnte, ist möglich. Sie ging in den
letzten dreihundert Jahren rasend schnell, vorangetrieben
durch die europäische Rasse auf der kleinen Halbinsel vor
dem eurasischen Kontinent.
SCHÜTZE Manche Technokraten machen sich Sorgen über
die Verlangsamung beim Erfinden von Basisinnovationen.
JONAS Na wenn schon. Im Konkurrenzkampf mag es Sor-
gen machen, wenn andere schneller sind, aber die Beschleuni-
gung kann nicht immer so weitergehen.
SCHÜTZE Ein Ausblick? Der Philosoph als Prophet!

47
JONAS Der Überhochstand des materiellen Lebens in den
westlichen Ländern wird enden. Aber es bleibt noch genug
übrig für ein Dasein, das viel besser ist als das unserer Urgroß-
eltern. In der bisherigen Dritten Welt wird es. eine große
Über.völkerungsnot geben, schlimme Katastrophen sind zu
erwarten und die staatliche Einschränkung des Vermeh-
rungsdranges.
Das bedeutet einen schrecklichen Verlust an Freiheit, Man
wird sich die Art von Freiheit, welche die.westliche Welt sich
geschaffen hat, nicht mehr leisten können, wenigstens für
eine gewisse Zeit. Dafür hat mich Karl Popper als Verräter an
der Idee der Demokratie verklagt und als Freund der Dik-
tatur. Das war grotesk und ungerecht.
Ich glaube allerdings an die Erfindungskraft des Menschen
und an seine vitale Schlauheit, seine Fähigkeit, zu sehen, zu
planen, sich zu beherrschen, Gesetze zu machen und zu befol-
gen. Er wird gegen das, was von ihm selber ausgeht, auch
Mittel erfinden. Das mag mit Schmerzen verbunden sein,
aber ich kann nicht glauben, daß die Menschheit. sehenden
Auges in ihre Apokalypse hineintaumelt.
Maschinen werden niemals ein 'Bewußtsein
haben können

NORBERT LOSSAU Moderne Computertechnik, die sich ja


zum Teil sogar an der Funktionsweise biologischer Hirne
orientiert, ist zunehmend in der Lage, Dinge zu verrichten,
die bislang ausschließlich von Menschen durchgeführt wer-
den konnten. Was würden Sie empfinden, wenn Sie bei einer
telefonischen Hotelzimmerreservierung von einem techni-
schen System rnit einer täuschend echt klingenden syntheti-
schen Stimme bedient und erst später erfahren würden, daß
das kein Mensch gewesen ist, mit dem Sie gesprochen haben?
HANS JONAS Ich wäre wohl sehr darüber erstaunt, daß so
etwas technisch machbar ist, doch beunruhigen würde mich
das keineswegs. Auch in diesem Fall würde die Maschine ja
nur fest umrissene Zweckvorgänge mechanisch ausführen,
wie dies Tausende andererMaschinen auch tun. Im Grunde
könnte man das also beispielsweise mit der Umstellung von
Pferdegespannen auf.motorisierte Fahrzeuge vergleichen.
Eine mechanische Tätigkeit also, die zuvor von einem leben-
den Wesen verrichtet worden ist und dann von einer Ma-
schine ausgeführt wird. Nichts, was einen Philosophen also
besonders interessieren könnte.
LOSSAU Doch das könnte der Fall sein, wenn diese Sy-
steme dann einmal wirklich so etwas wie denken könnten
oder gar selbst Bewußtsein hätten, wie dies einige Forscher
durchaus im Bereich des Möglichen sehen.
JONAS Wer so etwas im Ernst erwägt, der setzt zuerst
einmal Rechnen mit Denken und dann Denken mit Bewußt-
sein gleich. Rechnen und logisches Denken können zwar
durch formale Regeln für die Abfolge objektiver Symbolzei-
chen ersetzt werden, und deren jeweiliges Ende kann - von
einem es sinnlich wahrnehmenden Bewußtsein - in sein sub-
jektives Äquivalent übertragen und als Lösung einer Denk-
aufgabe verstanden werden.

49
Den fühlenden Vollzug der Schritte hat sich das Subjekt
durch die Delegierung an unfühlende Objektprozesse er-
spart, das »Ergebnis« aber wird von einer Subjektivität auf-
genommen und dem Ende eines regelgemäßen Gedankengan-
ges gleichgesetzt. Wenn jemand da ist, der die Umsetzung des
physikalischen Endpunktes in ein psychisches Datum und
dessen Verständnis als Gedankensymbol vornimmt, dann hat
die Maschine »rückblickend« gesehen »gedacht«.
Ohne diese Einlösung ihres Symbolpotentials 'schließlich
könnte sie ewig weiterlaufen, ohne daß sie je gedacht hätte,
denn es besteht kein Grund anzunehmen, daß die einzelnen
Schritte von Gefühl begleitet waren - ja, es wäre eine sinnlose
Annahme, denn der Zweck der ganzen Veranstaltung war
doch gerade, die ganze Subjektivität zu umgehen und ohne sie
auszukommen. Nur bliebe dies seinerseits sinnlos, .wenn
nicht zum Schluß wieder eine Subjektivität vom Erreichten
Kenntnis nähme.
LOSSAU Die Maschine wäre also in jedem Fall nur ein
mechanisch arbeitender Erfüllungsgehilfe, ohne eigenen
Spielraum oder gar ein Bewußtsein -,zu besitzen?
JONAS Ja, es muß zu Anfang Bewußtsein dasein, um dem
Automaten Instruktionen, eine Aufgabe einzuspeisen, und
ebenso Bewußtsein zum Schluß, um ihm das Ergebnis, die
Lösung, abzunehmen: Daß der Automat über der Ausfüh-
rung der Aufgaben selber lebendig werden, eine Psyche ge-
winnen und uns nun mit einem eigenen Willen zu schaffen
machen könnte, .ist nichts weiter als wilde Spekulation, und
ich habe von ihren Befürwortern bislang nichts vernommen,
was mich nötigen könnte, sie ernst zu nehmen.
So wenig wie einem Thermostat Empfindung zuzuschreiben
ist, weil er empfindlich für Außenreize ist, so wenig habenwir
Grund, einem maschinellen Prozeß Denken zuzuschreiben,
weil er, von uns im voraus darauf eingerichtet, denkgerecht
operiert.
Ein raffiniert konstruierter Apparat mag vielleicht in der
Lage sein, jemanden eine Zeitlang zu täuschen, er sei mehr als


nur ein technisches Konstrukt. Doch letztendlich wird Orga-
nisches immer Organisches' von Technischem unterscheiden
können. Selbst wenn es gelingen sollte, alle Gehirnfunktionen
vollständig zu verstehen, bliebe es also unmöglich, Bewußt-
sein technisch zu konstruieren.
LOSSAU Zweifelsohne vollbringen moderne Computersy-
steme heute gewaltige technische Leistungen. Sehen Sie spezi-
fische Gefahren?
JONAS Natürlich läßt sich jede technische Errungenschaft
auch mißbrauchen, sogar die Medizin. Doch andere Dinge
würden mir da eher Sorgen bereiten. Computer haben, so-
weit ich das sehe, keine negativen Folgen für die Ökologie
unseres Planeten. Im Gegenteil ist es mir mit ihrer Hilfe
möglich, vor möglichen ökologischen Katastrophen zu war-
neo. Wenn so mit Hilfe von Computerszenarien genügend
Furcht vor schlimmen Entwicklungen erzeugt werden kann,
könnte dadurch das Verhalten der Menschen vielleicht doch
geändert werden, bevor es zu der Katastrophe kommt. In
einer Entwicklung von sogenannten Ersatzinstrumenten für
das Denken liegt jedenfalls keine reale Gefahr.
LOSSAU Übernehmen Computer oder neuronale Netze,
wenn man sie zur Entscheidungsfindung heranzieht, nicht
Funktionen, die zumindest eine Teilverantwortung bedeu-
ten? Sind die Menschen de facto nicht dabei, unbequeme
Verantwortung auf Maschinen zu delegieren?
JONAS Entscheidungen werden von Subjekten getroffen,
die für diese Entscheidung auch die Verantwortung tragen.
Das wird ihnen niemals eine Maschine abnehmen können.
Und dort, wo Entscheidungen von Kollektiven - zum Beispiel
einem Staat - getroffen werden, trägt jedes einzelne Indivi-
duum Mitverantwortung. Das kann durchaus zu der parado-
xen Situation führen, daß ein Individuum Verantwortung für
etwas trägt, was es vielleicht gar nicht beeinflussen kann.
Wenn der Einsatz von entsprechenden Computersystemen
allerdings dazu führen sollte, daß die große Bedeutung des
einzelnen Individuums zugunsten einer möglichst reibungs-

SI
los arbeitenden gesellschaftlichen Maschinerie untergraben
würde, wäre das schlimm: Der Verlust des Respekts vor der
Subjektivität wäre tatsächlich eine große Gefahr für die
Menschheit.
Wir dürfen das Leben nicht belasten, indem wir uns
einfach gehenlassen

WOLF SCHELI.ER Herr Professor jonas, Sie sind als Drei-


ßigjähriger aus Deutschland emigriert. Ihr Vater starb 1938.
Ihre Mutter wurde in Auschwitz ermordet. Wann haben Sie
erkannt, daß die Situation für Sie in Deutschland unhaltbar
geworden war?
HANS JONAS Seit Ende der zwanziger Jahre war mir klar,
daß da eine große Gefahr heraufzog. Das mußte jeder sehen:
In demAnwachsen der Nazi-Partei sah ich, noch bevor Hitler
an die Macht kam, eine gewisse Unausweichlichkeit, näm-
lich, daß die Kerle einmal an die Macht kommen würden.
Was ich aber absolut nicht dachte, war, daß sie sich halten
würden. Aber ich erkannte sehr.bald, daß ich mich getäuscht
hatte, daß sich die Nazis fest in den Sattel setzten und daß es
mit dem Antijuden-Programm ernst war. Mir wurde klar:
Mit einigem Stolz kann- ich in diesem Lande nicht bleiben,
ganz abgesehen davon, daß meine Berufsaussichten, jemals
an die Universität zu kommen, damit vernichtet waren.
SCHELLER Haben Sie es damals für möglich gehalten, daß
die Nazis zum Mord an den europäischen Juden fähig sein
könnten?
JONAS Nein, das habe ich nicht gedacht, und ich zweifle
auch, daß irgend jemand das gedacht hat. Aber sie wollten sie
ausscheiden aus dem deutschen Volkskörper, soviel war si-
cher. Sie begannen sofort, uns unsere Rechte zu nehmen,
unsere Ehre, unsere Berufsmöglichkeiten, unsere politische
und rechtliche Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Ich stellte mir
vor, daß man die Juden in ein Ghetto sperren würde wie im
Mittelalter, als Juden abgesondert leben mußten und ihnen
nur ganz bestimmte Beschäftigungen erlaubt waren. Austrei-
bung ja, an Ausrottung habe ich damals nicht gedacht.
SCHELLER Während' des Krieges waren Sie Soldat in der
britischen Armee und.sind 1945 nach. Deutschland zurückge-

53
kehrt. Wie waren Ihre Empfindungen: Rache, Genugtuung,
Trauer?
JONAS Trauer, was ich über das Schicksal der Juden erfah-
ren hatte. Man hatte ja nur dunkle Gerüchte über die Todes-
lager gehört, aber Genaueres erfuhr man erst, als m"an an Ort
und Stelle war. Gegenüber den Deutschen empfand ich Zorn,
und zwar nicht gegenüber den Nazis, sondern »Die Deut-
schen«. Denn daß das deutsche Volk mehr oder weniger
hinter Hitler stand und diese ganze Sache mitgemacht hatte,
war unverkennbar. Und natürlich. sah ich die zerstörten
Städte mit einem Gefühl halbbefriedigter. Rache an. Das
schien mir eine gerechte, aber nicht hinlängliche Strafe zu sein
für das absolut Ungeheuerliche, was hier geschehen war.
Aber gleichzeitig wußte ich auch, daß ja nicht jeder Deutsche
innerlich mitgemacht hatte und manche auch äußerlich nicht.
Aber im ganzen war meine Stimmung damals doch so, daß es
einen Abgrund gibt zwischen Juden und Deutschen, der nie
wieder zu überbrücken ist ... Darin täuscht man sich natür-
lich auch. Die Zeit tut vieles, und man lernt sehr viel mehr
kennen. Und so kommt es, daß sich dieser Abgrund in vielen
Fällen überbrückt hat - in vielen Fällen. Was aber geblieben
ist, ist, daß ich nie wieder nach Deutschland zurückkehren
wollte. Ich habe mich niemals mehr dazu entschließen kön-
nen, meinen Wohnsitz wieder nach Deutschland zu verlegen
und unter Deutschen zu leben.
. SCHELLER Ihre akademischen Lehret waren Heidegger
und Bultmann. Wo liegen aus Ihrer heutigen Sicht die Unter-
schiede? War es für Sie eine Enttäuschung, als Sie von Hei-
deggers Freiburger Rektoratsrede hörten ... ?
JONAS Es war für mich eine grausame, eine bittere Enttäu-
schung, die sich nicht nur auf die Person bezog, sondern auf
die Kraft der Philosophie, Menschen vor so etwas zu bewah-
ren. Daß die.Philosophie nicht die.Kraft hatte, Heidegger vor
diesem Irrweg zu schützen, empfand ich damals 'wie ein
Fiasko der Philosophie. Welch ein Bankrott.der Philosophie.
Das durfte nicht sein. Alles Mitläufertum, alles Umfallertum,

54
alle Gleichschalterei konnte man als dumm oder feige anfüh-
ren ... Aber daß der bedeutendste, originalste Denker meiner
Zeit da mitmachte, war ein ungeheurer Schlag für .mich.
SCHELLER Heidegger, und Bultmann haben beide auf Sie
gewirkt?
JONAS Gedanklich.hat Heidegger zweifellos den größeren
Einfluß gehabt. Er war auch eine viel gewaltigere Figur in der
Geistesgeschichte als Bultmann. Bultmann war ein .hoch zu
achtender Neutestamentler, aber was die Originalität des
Denkens anbelangt, war Heidegger ein.Bahnbrecher, Heideg-
ger hat Neuland erschlossen, das kann man von Bultmann
nicht sagen. Und Bultmann geriet ja selber sehr stark unter
den Bann Heideggers und hat sich ihm philosophisch gewis-
sermaßen unterworfen. Er hat die Heideggersche Existential-
analyse ganz akzeptiert und für sich fruchtbar zu machen
versucht. .. für die Hermeneutik des Neuen Testaments.
Aber Bultmann war ein sehr viel edlerer Mensch als Heideg-
ger, ein sehr viel reinerer. Bultmann hat auch absolut zu mir
gehalten, zu. mir, seinem jüdischen Schüler, was eine para-
doxe Sache war. Hier erscheint jemand in seinem neutesta-
mentarischen Seminar, der nicht Theologe ist, der nicht
Christ ist ... aber Bultmann hat Gefühle väterlicher Freund-
schaft für mich gehabt. Außerdem verdanke ich ihm das
Thema meiner späteren philosophischen Forschungstätig-
keit, nämlich die Gnosis. So kam es zu dem eigenartigen Weg,
daß ich bei Heidegger über ein Thema meine Doktorarbeit
schrieb, das ihm selbst.sehr wenig bekannt war ... Aber das
war damals in Marburg eine Abmachung zwischen Heideg-
ger und Bultmann.
SCHELLER Wenn Sie über Bultmann sprechen,. hört sich
das sehr warm und freundschaftlich an. War Heidegger käl-
ter?
JONAS Es war sehr schwer zu sagen, was Heidegger eigent-
lich fühlte. Natürlich, das, was er vom Katheder zu sagen
hatte, das hörte man ja und versuchte es zu verstehen so gut
man konnte und lernte ungeheuer davon. Was aber eigentlich

55
in seinem Inneren vor sich ging, darüber war man sich nie
ganz klar.
Auch menschlich nicht. Also: wie steht der eigentlich zu
-einem? Ja, er war menschlich neugierig, er hörte ganz gerne,
was mit anderen los ist, er fragte einen auch schon mal aus ...
Wie war Heidegger? Man wußte. nicht so recht. Irgendwie
hatte man das Gefühl: er lebte eben in seiner. Gedankenwelt
und ließ das Persönlich-Menschliche seiner Studenten nicht
so recht an sich herankommen. Aber ich bin dessen nicht
sicher. Er war sehr verschlossen.
SCHELLER War es für Sie eine Erfahrung, die in diese Rich-
tung der Kälte ging, als Sie nach dem Krieg Heidegger wieder
begegnet sind?
JONAS Als sein 80. Geburtstag nahte, da hatte ich das
Gefühl: Ich möchte eigentlich nicht, daß der Tod hier ein-
schreitet, bevor ich den Mann noch einmal gesehen habe, der
so viel in meinem Leben bedeutet. Es war ein großer Kummer
für mich. Aber andererseits habe ich nie aufgehört, das hoch
zu werten, was ich von Heidegger gelernt hatte.
SCHELLER Wenn man über Hans Jonas spricht, fällt einem
sogleich auch der Name von Hannah Arendt ein. Was hat sie
Ihnen bedeutet?
JONAS Sie war-die beste Freundin, die ich je.gehabt habe-
und sehr lange. Ein Jahr vor ihrem Tod - ich war damals
gerade in Israel- habe ich ihr ein Telegramm zum 50. jahres-
tag des Beginns unserer Freundschaft geschickt ... übrigens
ein Telegramm auf lateinisch ... Wir waren sehr nah und eng
befreundet. Wir hatten nie ein Liebesverhältnis. Aber eine
wirkliche Freundschaft, die einmal einen schweren Schock
erlitt durch ihr Eichmann-Buch, das ich ihr sehr üb elnahm,
wo eine Zeitlang die Beziehung abbrach, aber dann wieder
aufgenommen wurde. Sie war die .bedeutendsre Frau, die ich
je gekannt habe.
SCHELLER War 'sie für Sie eine Mitdenkerin?
JONAS Durchaus nicht. Wir gingen verschiedene Wege
und zeigten uns nie unsere Arbeiten. Die einzige Ausnahme:
Ich hatte ihr ein wichtiges "Kapitel des » Prinzips Verantwor-
tung« gezeigt, und nachdem sie es gelesen hatte, sagte sie zu
mir: Soviel steht fest, Hans, das ist das Buch, das der liebe
Gott mit dir im Sinne gehabt hat.
SCHELLER »Das Prinzip Verantwortung«, nach Jahrzehn-
ten das erste Buch, das Sie wieder auf deutsch geschrieben
haben, ... wan das von Ihrer Seite eine Geste der Versöh-
nung?
JONAS Nein, ich hatte ein großes Thema in Angriff genom-
men, das ich für ungeheuer wichtig hielt und legte Wert
darauf, daß ich noch damit fertig wurde. Es war nur das
Bewußtsein meines vorgerückten Alters, das mich zu der
Entscheidung brachte, mich hier auf deutsch auszudrücken,
weil es auf englisch zwei- bis dreimal so lange gedauert hätte.
SCHELLER Wie ist es zu diesem Versuch gekommen, eine
Verantwortungsethik zu etablieren?
JONAS Man brauchte sich ja nur umzuschauen, um zu
erkennen, was geschah. Durch den Zustand der Welt, den
man beobachten konnte. Es war nicht zu übersehen, daß die
Folgen der Technik zweideutig zu werden begannen. Nach-
dem man ein Jahrhundert lang oder noch länger die Gewinne
des technischen Fortschritts geerntet hatte, kam dann all-
mählich die Einsicht, daß das auch seine Kehrseite hatte. Mir
wurde mehr und mehr klar, daß wir uns unter Umständen
unser eigenes Verderben bereiten ... mit a11 dem Guten, was
wir uns jetzt erlauben, auf Kosten der Zukunft ... und daß
man das eben nicht darf. Wir dürfen nicht das Leben künfti-
ger Generationen belasten, indem wir uns jetzt einfach gehen
lassen.
SCHELLER Aber diese Erkenntnis hätte in der Philosophie
doch schon sehr viel früher auftreten müssen?
JONAS Nicht eigentlich: Was das technische Wohl-
ergehen, das wir uns bereiten, etwa der menschlichen Psyche
antut und der menschlichen Moral - das ist eine Frage für
sich. Da hätte man vielleicht schon früher seine Bedenken
haben können. Aber daß es bedrohlich für den ganzen Haus-

57
halt der Erde ist, das trat doch erst in den Gesichtskreis, als
die Größenordnungen so wurden, daß sie wirklich einen
entscheidenden Einfluß hatten auf den Zustand der Bio-
sphäre. Und das ist erst relativ jungen Datums. Die Diagnose
ist die eine Seite des Buches, auch die Prognose, vor allem
aber lag mir daran, darauf hinzuweisen, daß die marxistische
Ideologie mit ihrer Vorstellung von einer durch Technik von
Lebensnot befreiten Gesellschaft als Ideal nicht mehr haltbar
ist. Das war Blochs »Prinzip Hoffnung«, Daf wir hier be-
scheidener werden müssen, daß wir uns hier gewisse Rosinen
nicht mehr leisten können, vielmehr Pflichten ganz neuer Art
auf uns zukommen, das sollte dieses Buch aufphilosophische
Weise auseinandersetzen.
Mitleid allein begründet keine Ethik

Über Euthanasie und Ethik

MARION DÖNHOFF Professor jonas, Sie haben ein Buch


geschrieben mit dem Titel »Das Prinzip Verantwortung. Ver-
such einer Ethik für die technologische Zivilisation«. Warum
brauchen wir eigentlich eine neue Ethik? Könnte man nicht
meinen, daß wir mit den Zehn Geboten auskommen?
HANS JONAS Also, .mit denen allein ganz gewiß nicht. Sie
sind ja nur das Rahmenwerk für eine Gesellschaftsordnung
und für die persönliche Lebensführung..Eine. Ethik muß ja
eine Lehre darüber sein, wie man sich im Handeln verhalten
soll. Alles, Handeln hat mit der Wirklichkeit zu tun, ein
großer Teil davon ist aufgenötigtes Handeln, weilwir in einer
Welt leben, von der. wir etwas wollen und die ihrerseits ihre
Gesetze hat, mit. denen man nicht einfach nach Belieben
umspringen kann.
Wir befinden uns seit einiger Zeit in einer Situation der
Wirklichkeit, die Anforderungen an uns stellt oder uns Hand-
lungszwänge auferlegt, aber uns auch Möglichkeiten bietet,
die es früher gar nicht gegeben hat. In dieser neuen Situation
muß man die ethischen Pflichten neu bedenken. Das heißt
nicht notwendigerweise, daß wir eine neue Ethik brauchen,
aber sicher gibt es ein völlig neues Anwendungsgebiet für
Sittlichkeit, für Pflicht und für das» Du sollsr« und » Du sollst
nicht«. Eine solche neue Situation, eben die des hochtechni-
schen Zeitalters, erfordert eine neue ethische Besinnung.
DÖNHOFF Sie sagen, die Macht hat eine Größenordnung
angenommen, die eben deshalb auch neue Verhaltensweisen
erzwingt, weil wir auf vielen Gebieten Dinge machen können,
von denen. man früher .nicht einmal träumen konnte. Was
sollte "derKompaß sein für dieses neue Verhältnis von Verant-
wortung und Macht?
JONAS Macht - im Deutschen liegt das Wortspiel nahe:

59
Macht ist die Fähigkeit zu machen, etwas durchzusetzen, die
Welt zu ändern, sie nach seinen Wünschen zurechtzubiegen
oder andere zu zwingen, dem eigenen Willen zu Willen zu
sein. Infolgedessen sind die Formen und das Ausmaß der
Macht und ihre neuen Arten schon an und für sich ein direk-
ter. Appell an die Verantwortung. Die Verantwortung ist die
Komplementärseite der Macht. Verantwortlich sind wir für
das, was wir tun. Und wir tun eben, was wir tun können.
Wenn wir zum Beispiel Menschen ändern können durch
genetische Eingriffe, übernehmen wir eine Verantwortung,
die es früher nie gegeben hat, weil so etwas gar nicht möglich
war. Darum müssen wir Überlegungen anstellen, die wir
früher nicht anzustellen brauchten.
Jetzt befinden wir uns fast unversehens vor einer Möglich-
keit, die enorme Konsequenzen haben kann. Und da ist es
doch klüger - jedenfalls ist es sittlich geboten -, daß wir uns
die Frage stellen: Was darf man, was darf man nicht, wie weit
soll man gehen, oder wo soll man sich zurückhalten?
OÖNHOFF In a11 Ihren Betrachtungen, Vorträgen, Büchern
spürt man immer die Sorge vor der Hektik dieses dynami-
schen Prozesses, der sich ohne ein bestimmtes Ziel immer
weiter fortsetzt. Frage: Kann man sich vorstellen, daß dieser
Prozeß - Forschung um der Forschung willen, die uns in
Gebiete trägt, wo wir eigentlich gar nicht hin wollten -
irgendwie gestoppt werden kann?
JONAS Die frage ist: Können wir Herr der Technik wer-
den, die wir selber geschaffen haben? Es ist da eine Art von
eigener Dynamik in der technischen Entwicklung, die die
Eröffnung von Wegen in bestimmte Richtungen dann dazu
treibt, in der gleichen Richtung. immer weiter zu gehen, so
daß einem die freie Entscheidung aus der 'Hand genommen
wird. In Goethes Gedicht »Der Zauberlehrling« ist das ja
wunderbar dargestellt: »Die ich rief, die Geister, werd' ich
nun nicht los.« Und-Ihre Frage ist nun: Können wir das in die
Hand bekommen. In einer Gesellschaft des freien Unterneh-
mertums und des freien Marktes, das heißt in dernokrati-

60
sehen und liberalen Gesellschaften, ist es außerordentlich
schwierig, sich ein Stoppen vorzustellen. Meine. pessimisti-
sche Theorie ist, daß das, was Weisheit und politischer Ver-
.stand nicht fertigbringen, vielleicht der Furcht gelingt.
Wir erhalten Warnschüsse von der Natur, und ich hoffe, daß
ei~~ Serie von kleinen.Naturkata~trophenuns ~ch so recht-
zeitig zur Vernunft bringt, daß wir vor der großen Katastro-
phe bewahrt werden.
nÖNHOFF Das finde ich sehr einleuchtend. Wir haben
gerade jetzt ein gutes Beispiel dafür, nämlich.. den Stopp der
Rüstungsspirale, der auf einen Sachzwang zurückzuführen
ist, den wahrscheinlich die Furcht genährt hat.
Wenn wir uns nun fragen: Gibt es im medizinischen Bereich,
über den wir reden wollen, ein Regulativ - einen Kompaß -
für das, was man machen will? Gibt es eine Möglichkeit
vorzusehen, daß man nur macht, was man wirklich verant-
worten kann, oder taumelnwir immer weiter diesem Irrlicht
des Fortschritts - beispielsweise im Gen-Bereich - nach?
JONAS Das Grenzensetzen ist natürlich ungeheuer schwer,
weil jeder medizinische Fortschritt ein neues Hoffnungslicht
für eine bestimmte Gruppe von Leidenden ist. Es wäre schon
grausam, wenn man sagte, man soll in einer bestimmten
Richtung nicht weitergehen, weil sie zu gefährlich ist. Die
Gefahr ist natürlich der Mißbrauch. Nun könnte es aber sein,
daß gewisse Techniken schon an. und für sich ein Mißbrauch
sind. Ich würde dazu den Versuch zählen, die genetische
Substanz des Menschen irgendwie ändern oder verbessern zu
wollen. Es ist außerordentlich schwer, die Grenze zu ziehen
zwischen bloßer Reparatur von Schäden und einer kreativen
Umformung, Weiterformung. Die Gefahren sind so ungeheu-
erlich, daß es vielleicht besser ist, auf gewisse Fortschritte zu
verzichten, die vielleicht für einige Leidensfälle Hilfe bringen
-könnten. Die entscheidende Frage ist: Was ist die Grundlage
für das Votum »Man darf- oder »Man darf nicht«?
In meinem Buch »Das Prinzip Veranrwortung« habe ich
versucht, darauf eine bestimmte Antwort zu geben: durch

6I
eine bestimmte philosophisch-metaphysische Besinnung auf
letzte Grundlagen der Moral und der menschlichen Bestim-
mung. Der Religiöse braucht diese Besinnung nicht, aber ich
halte es für nötig, die Ethik unabhängig zu machen von einem
bestimmten Glaubensbekenntnis. Die Pflichten und Verant-
wortungen müssen sich so begründen lassen, daß auch der
Atheist sie-anerkennen muß. Es gibt letzte Tabus. Ein solches
letztes Tabu ist zum Beispiel der Selbstmord der Menschheit,
die Vernichtung durch einen atomaren Holocaust. Auch
kommt es darauf an, daß die Menschheit in einem menschen-
würdigen Zustand und nicht auf einem verarmten und ver-
wüsteten Planeten lebt. Warum eigentlich ist das eine Pflicht
für uns alle? Zur Begründung läßt sich auf etwas zurückgrei-
fen, was in der Philosophie einmal als »Metaphysik« seinen
Platz hatte, was aber in Verruf gekommen ist, weil die neu-
zeitliche kritische Entwicklung der Philosophie nur noch Fra-
gen erlaubt, die beweisbare und widerlegbare Antworten
zulassen. Es ist aber klar, daß es sich hier um eine Dimension
handelt, in der es so etwas nicht gibt. Denn auf die Frage, ob
es eine Menschheit geben soll oder nicht, ob es gar eine Welt
geben soll oder nicht, kann man gewiß nicht Antworten
erwarten, die sich - wie in den Naturwissenschaften - als
richtig oder falsch beweisen lassen. Wohl aber kann man in
der Besinnung darauf, was es heißt, ein Mensch zu sein, zu
letzten Grundsätzen vorstoßen, in denen sich doch ein .Kon-
sensus vernünftiger und zur Verantwortung disponierter Gei-
ster finden läßt. Und wir sind zur Verantwortung disponiert,
der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Verantwortung
übernehmen kann für das, was er tut, und...mit diesem Kann
ist er auch schon verantwortlich. Infolgedessen ist das Aufzei-
gen einer solchen basalen Auszeichnung des Menschen im
Gesamtbild des Seins bereits der Anfang einer Begründung
unserer Pflicht gegenüber dem Ganzen. Und im jetzigen Au-
genblick ist es möglicherweise der Anstoß, um ein Gefühl
dafür zu wecken, daß unser gegenwärtiges Tun uns vor letzte
Entscheidungen stellt, die unter Umständen ein Herumwer-
fen des Ruders oder mindestens eine Beschränkung unserer
Macht verlangen. Das wäre eine Art Grenzsetzung.
DÖNHOFf Damit wären wir nun bei dem Thema, über das
wir im Grunde .reden wollten und das leider mit dem anstößi-
gen Wort »Euthanasie« überschrieben ist.
REINHARD MERKEL Halten Sie, Herr Jonas, die Diskussion
über Euthanasie gerade angesichts des medizinischen Hinter-
grunds, über den wir jetzt gesprochen haben, für notwendig,
für zulässig oder für verboten - jedenfalls hier in Deutsch-
land?
JONAS Für verboten auf keinen Fall, ob geraten, ob rat-
sam, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls ist Deutschland der
Ort der Welt, wo eine Diskussion darüber am allerschwierig-
sten ist. Die Voraussetzungen sind denkbar ungünstig, denn
die Vergangenheit wirft so schreckliche Schatten auf dieses
Thema, daß es hier anscheinend zu einer ruhigen, sachgemä-
ßen Diskussion nicht kommen kann.
Ich war etwas erschrocken, als ich durch die ZEIT von der
Art erfuhr, wie hier die Debatte geführt wurde. In,der angel-
sächsischen Welt, in der ich nun seit jahrzehnten lebe, kennt
man diese Form der Diskussion nicht, die vergiftet ist von
Unterstellungen und Beschimpfungen, von Verdächtigungen
der Motive des anderen - bis hin zum Anwurf des Faschis-
mus. Und wer so diskutiert, käme sehr schlecht dabei weg.
Die Art, wie Singer hier zum Teil niedergeschrien worden ist'
oder es ihm verwehrt wurde, aufzutreten, hat mich bestürzt.
Andererseits finde ich, daß es keine glückliche Wahl war, sich
gerade an Herrn Singer zu orientieren. Denn er ist für.mich in
keiner Weise beispielhaft für die Art, wie man diese Frage
behandeln sollte, philosophisch und kasuistisch und als ethi-
sches Problem. Im großen und ganzen lehne ich sowohl seine
Prämissen ab - oder halte sie jedenfalls für viel zu flach - wie
auch seine Folgerungen. Aber ich könnte mich doch ruhig mit
ihm darüber .unterhalten. Anscheinend ist das hier in
Deutschland nicht möglich.
Wenn Sie also fragen, ob man über so was in Deutschland
diskutieren soll oder nicht, so würde ich folgendes sagen: Es
ist fast unausweichlich, daß man darüber diskutiert. Indem
Sie die Frage totschweigen, geht sie ja nicht weg, Es müßte
diskutiert werden, aber in einem anderen Stil, als es hier
geschehen ist. Ich denke an ein Beispiel: Der Vertreter der
Krüppelbewegung, Herr Christoph (ich nehme an, daß er
selber ein Behinderter ist), hat seinen Diskussionsbeitrag mit
der Feststellung eröffnet, daß Peter Singer ihm und anderen
Krüppeln das Lebensrecht bestreite. Das ist einfach nicht
wahr. Das ist eine totale .Entstellung des Sachverhaltes. Ich
meine, es gibt genug bei Singer, wogegen man polemisieren
kann, aber ihm etwas unterzuschieben, was er nie gesagt hat
und was auch gar nicht zu seiner Einstellung paßt, das sind
unsaubere und häßliche Diskussionssitten, die mich, wie ge-
sagt, bestürzt haben und mir zeigten, woran Deutschland
immer noch zu tragen hat. Auch dies ist noch ein Preis, der für
die Verbrechen, die geschehen sind, und für das Ungeheuerli-
ehe der Hitlerzeit gezahlt wird.
Während es doch darum geht, bei eitler solchen Diskussion
zu einem wirklichen Verständnis und Einvernehmen über die
Sache zu kommen, wird hier etwas aufgeführt, was vom
Problern ablenkt. Ich glaube, daß der ausländische Betrach-
ter, wenn er diese Debatte verfolgt, den Kopf schüttelt und
sagt: »Mein Gott, können denn die Deutschen nicht lernen,
sich bei solchen Diskussionen gegenseitige Achtung zu erwei-
sen und einander zu glauben, daß es ihnen um dasselbe zu tun
ist; der jeweils andere mag im Irrtum sein, aber dann versuche
man, ihm das zu. beweisen.« Per Ausländer, der so denkt,
würde freilich einen Irrtum begehen, wenn er meinte, das
liege im deutschen Charakter oder in der deutschen Kultur,
während doch in Wirklichkeit ein spezielles Erbe der Hinter-
grund dafür ist.
MERKEL Ich möchte' eine Frage zum Kernproblem stellen.
Für den Bereich der Euthanasie ·wird üblicherweise unter-
schieden zwischen der sogenannten Moribunden-Euthanasie,
also der Sterbehilfe für schwerstleidende, kranke Alte, und
der sogenannten Neugeborenen-Euthanasie. Gibt es für Sie
eine denkbare, legitimierbare, moralisch ausweisbare Mög-
lichkeit für Euthanasie in einem dieser Bereiche?
JONAS Sie meinen jetzt aktive Euthanasie?
MERKEL Ja, aktive Tötung.
JONAS Sie ist eine in extremen Fällen möglicherweise zu
rechtfertigende Form, von der ich aber dringend abraten
würde. Denn das, worauf man sich dann einläßt, kann zu
einer Mißachtung gewisser Grundgesetze verleiten, die unbe-
dingt geschützt werden sollten. Aber das muß ich ausführen.
Wollen wir erst einmal, weil die Frage einfacher ist, bei den
Todkranken bleiben. Ich habe darüber in meinem Buch
»Technik, Medizin und Ethik- einen Aufsatz geschrieben,
der betitelt ist »Das Recht zu sterben« (ausführlicher: »Tech-
niken des Todesaufschuhs und das Recht zu sterben«), Der
Artikel beginnt zunächst mit der Feststellung des Befremdli-
chen, daß man von einem Recht zusterben überhaupt spre-
chen soll; denn alle bisherigen Diskussionen über Rechte und
alle ethischen und juristischen Bemühungen um Rechtsbe-
griffe gingen zunächst immer von einem Recht zum Leben
aus, einem Recht auf Glück oder ähnlichem, jedenfalls von
einem Recht auf etwas Positives. Daß man überhaupt von
einem Recht zu sterben sprechen kann, gehört auch zu den
neuen Dingen, die durch die Entwicklung der ärztlichen
Technik, also im Vollzuge der Erweiterung unserer Macht
durch technische Apparate, erst möglich geworden sind.
Moribunde werden am Leben erhalten, über ihre eigene Ent-
scheidung hinweg und oft auch gegen den Willen ihrer nach-
sten Angehörigen. Die Gründe dafür sind zum Teil vielleicht
sehr ehrenwerter Art, zum Teil aber beruhen sie auch auf der
Furcht vor gerichtlichen Folgen oder beruflichen Schäden.
Die Verantwortung, den Stecker herauszuziehen, der den
Koma-Patienten an der Atmungsmaschine hält - dieser Akt
könnte ausgelegt werden als aktive Tötung. Ich versuche
diesem schrecklichen Dilemma zu entgehen, indem ich, und
andere haben das auch getan, zwischen aktiver Tötung und
Zulassen des Sterbens unterscheide. Es gibt klar definierte
medizinische Fälle des irreversiblen Komas, des Bewußt-
seinsverlustes, in denen das Sterbenlassen die einzig wirklich
humane Handlung ist und die Unterbrechung einer Behand-
lung das Gebotene. Das führt aber zu den Grenzfällen, in
denen schwer zu unterscheiden ist, ob man nur etwas unter-
läßt oder ob man in Wirklichkeit etwas tut. Da liegt die
Grenze, wo es kritisch wird.
Peter Singers sehr frisch-fröhlicher Gedankengang ist folgen-
der: Wenn man schon so weit geht, zu sagen, daß hier das
Sterben besser für den Patienten selber ist als das Weiterleben
unter diesen Umständen, ist es dann nicht konsequent, daß
der Arzt die Sache in die Hand nimmt und mit einer Spritze
den Prozeß beendet? Meine Antwort ist: ein unbedingtes
Nein. Die Rolle des Tötens darf dem Arzt nie zufallen, jeden-
falls soll das Recht es ihm nie anerkennen, denn es würde die
Rolle des Arztes in der Gesellschaft gefährden, vielleicht ver-
nichten. Das aktive Töten darf nicht zu den Berufsaufgaben
des Arztes gehören, es darf ihm nicht in Erweiterung seiner
bisherigen Rolle als Heiler und Milderer von Leid zufallen.
Nie darf ein Patient argwöhnen müssen, daß sein Arzt sein
Henker wird. Der Arzt darf nicht töten; darf es jemand
anders?
Meine Antwort ist, daß dies ein Gebiet ist, für das' sich keine
rechtlichen Regeln aufstellen lassen. Der liebende Ehegatte
oder die liebende Ehegattin, wissend um die Qualen des
Partners, kann es riskieren, eventuell mit drohender Gefäng-
nisstrafe die Leiden zu verkürzen. Darüber kann man aber
keine Regeln aufstellen. Ich sage nur, dies ist eine Möglich-
keit, die der Liebe und der Entscheidungsfähigkeit und -wil-
ligkeit dieser Personen offensteht. Das kann man aber nicht
in einen allgemeinen Kodex binden.
Ich will, um das zu illustrieren, eine Episode erzählen, die sich
kürzlich in Amerika zugetragen hat. Sie hat die Aufmerksam-
keit der ganzen Nation erregt, Es war ein Fall in Chicago. Ein
Kind wurde geboren mit schrecklichen Geburtsfehlern. Die

66
Eltern wurden vom Arzt aufgeklärt, daß es da gewisse lebens-
rettende Operationen gebe, die zwar nicht zu einer Behebung
dieses Geburtsfehlers - eines höchst pathologischen Zustan-
des - führen, aber dem Kind doch eine gewisse Zeit des
Lebens verschaffen, während es andernfalls in kurzer Zeit
sterben würde. Aber Vater und Mutter sprachen sich gegen
die Behandlung aus. Vom Hospital wurde durch Intervention
(sie kommt häufig vom Pflegepersonal) eine einstweilige Ver-
fügung erwirkt; eine Art staatlicher Vormund wurde für das
Kind eingesetzt, da die Eltern dessen Leben nicht wollten. Die
Operation wurde vorgenommen. Es folgten mehrere Ein-
griffe, das Kind litt schrecklich. Die Eltern besuchten es im-
mer wieder, protestierten immer wieder gegen die Fortset-
zung der Behandlung, und dann, nach etwa sechs Monaten,
erfuhren sie, daß das Hospital das Kind in ein anderes Kran-
kenhaus, fern von Chicago, überweisen wollte, das eine ge-
wisse Spezialbehandlung entwickelt hatte.
Daraufhin erschien der Vater im Hospital in der Intensivsta-
tion, zog einen Revolver aus der Tasche, hielt das Personal in
Schach, trennte das Kind vom Beatmungsgerät, nahm sein
Söhnchen weinend in die Arme, während der ganzen Zeit den
geladenen Revolver auf die Pfleger und Ärzte gerichtet. Als
das Kind in seinen Armen gestorben war, umarmte er es
schluchzend und lieferte die Pistole aus. Natürlich folgte die
Anklage wegen vorsätzlicher Tötung, er wurde jedoch durch
die Jury von allen Anklagepunkten freigesprochen und nur
eines einzigen Vergehens für schuldig befunden: des unbefug-
ten Waffenbesitzes - unter dem Beifall von, wie man sagen
kann, neunzig Prozent der amerikanischen Nation. Dies als
ein Beispiel für das, was möglich ist und was man nicht in
irgendein Gesetzbuch schreiben kann. Dem Arzt die Erlaub-
nis zu geben zu töten, würde ich für verderblich halten.
DÖNHOFF Sie haben vorhin in einem anderen Zusammen-
hang den Unterschied gemacht zwischen religiös bestimmten
Menschen und Atheisten. Bedeutet die passive Tötung, also
das Herausziehen des Steckers, für den religiösen Menschen
etwas- anderes als für den Atheisten? Der religiöse Mensch
müßte doch eigentlich das, was Gott einem Gebrechlichen an
Leiden zugemessen hat, akzeptieren. Ist das ein Gesichts-
punkt oder nicht?
JONAS Nein, das ist deswegen kein Gesichtspunkt, weil ja
dem Willen Gottes sowieso schon in den Arm gefallen wor-
den ist durch die Atmungsmaschine selber, ohne diese wäre
der Patient schon gestorben. Es ist eher umgekehrt. Was ein
Recht gibt, diese Frage überhaupt zu erwägen, ist ja nur
dadurch entstanden, daß es hier möglich geworden ist, durch
Intervention mit Apparaten und Medikamenten Lebenszu-
stände aufrechtzuerhalten, die von der Natur nicht vorgese-
hen sind. Also ist die Frage von der religiösen Seite her
umgekehrt. Jehovas Zeugen oder auch die Christian Seien-
tists würden schon die Anwendung des Atmungsgeräts als
Frevel, als unreligiös ansehen. Also: Religion kann dazu füh-
ren, daß man so oder so entscheidet..Es ist, soviel ich weiß,
nur die christliche Religion, die den Selbstmord als Sunde
ansieht.
MERKEL Herr Jonas, noch .mal die Frage: Wie ist das mit
der ethischen Relevanz der Unterscheidung zwischen aktiver
und passiver Tötung? Kann es denn in gewissen Fällen über-
haupt eine ethisch bedeutsame Unterscheidung sein, ob der
Tod durch Unterlassen oder durch aktives Tun' verursacht
wurde und also jedenfalls verantwortet werden muß? Und
die zweite Frage: Es gibt doch Fälle, wo es ersichtlich huma-
ner ist - oder jedenfalls sein könnte ~, den Tod schnell
'herbeizuführen. Wenn ich an Ihr Beispiel von dem schwer-
kranken Neugeborenen denke, dem der Vater endlich mit
Waffengewalt zum Sterben verhalf ~ dieses Neugeborene ist
ja sechs Monate gequält worden, obgleich die Ärzte wußten,
daß es jedenfalls in absehbarer Zeit sterben würde. Wäre es
da nicht humaner gewesen zu sagen: Da der baldige Tod
feststeht, unweigerlich feststeht, wollen wir ihn schnell- und
schmerzlos herbeiführen, anstatt ihn langsam und 'quälend
eintreten zu lassen?

68
JONAS Das hört sich sehr logisch an, aber es steckt ein
Fehler darin. Es ist richtig, die Grenze zwischen aktiver und
passiver Euthanasie ist fließend. Ein gutes Beispiel - ich
spreche im Moment vom moribunden Patienten, kehre dann
aber zum Kinder-Beispiel zurück - ist: Der quälende Tod
eines Krebskranken kann abgekürzt werden, indem ihm die
Qual, soweit wie möglich, durch Drogen erleichtert wird.
Die Dosierungen der schmerzstillenden Mittel, die da nötig
sind, sind solche, die man in einem hoffnungsvolleren, also
in einem Fall, der nicht unbedingt mit dem Tode enden muß,
nicht anwenden dürfte, weil die schmerzstillenden Mittel
selber Agenzien sind, die den Tod beschleunigen. Hier ist die
Grenze also zwischen Erleichterung, Milderung der Schmer-
zen und Tötung fließend.
Dennoch ist es ein Unterschied, ob ein Arzt oder zwei Ärzte
oder der Arzt mit den Angehörigen zusammen beschließen,
daß der Patient mit der Spritze getötet werden soll oder ob
die Maxime des Handeins ist, dem Sterbenden die Schmer-
zen zu erleichtern. Es ist ein Unterschied, ob der Arzt sagt,
der Patient soll so wenig wie möglich leiden, ich gebe jetzt
dieses Schmerzmittel (Morphium oder welches Schmerzmit-
tel auch immer) in größeren Dosen und in kürzeren Abstän-
den, als ich es in einem noch hoffnungsvollen Fall, in einem
Fall, der noch Aussicht bietet, tun dürfte. Aber das ist doch
etwas anderes, als die Verabfolgung einer Spritze zum
Zweck des Tötens.
Obwohl die Grenzlinie hier etwas verwischt ist, ist es doch
von Wichtigkeit, daß im zweiten Fall die direkte Absicht des
Tötens sozusagen in das Arsenal des Arztes wie eine Routi-
nehandlung eingereiht wird. Der Arzt kann vieles machen:
heilen, erleichtern, mildern. Aber das Töten darf nicht dazu?
gehören. Wenn erst das Töten zu den Rechten und Pflichten
des Arztes gehört, in die Standesethik und in das Gesetzbuch
aufgenommen wird, dann stellt dies ein verhängnisvolles
Abweichen von der bisherigen Auffassung des ärztlichen Be-
rufsbildes dar.
nÖNHOFF Wenn in diesem Beispiel sich der Arzt bewußt
ist, daß er hilft, den Tod herbeizuführen, dann frage ich mich,
was der Unterschied ist zwischen dieser Art Mithilfe und der,
den Stecker herauszuziehen?
JONAS Den Stecker herauszuziehen - wo .das verlangt
wird, bin ich auf jeden Fall dafür. Es handelt sich dabei
gewöhnlich um eine Herz-Lungen-Maschine, etwas, was die
Blutzirkulation und die Atmung aufrechterhält; der Patient
hat gar nicht mehr die eigenen physischen Mittel, die Atmung
noch in Gang zu halten; diese ist vom Gehirn her völlig
gelähmt, er wird also von außen zu der Atmung genötigt.
Wenn man jemandem. über eine Krise hinweghilft, ist das
richtig, aber dies als die permanente Bedingung des künstli-
chen Weiterlebens dem Patienten aufzuzwingen, erscheint
mir unstatthaft, nicht nur aus Mitleid, sondern um der
Würde des Menschen willen, Es ist in einem konkreten Sinne
sinnlos. Also ist der Abbruch der Behandlung, nachdem ein-
wandfrei festgestellt ist, daß mit einer Wiederkehr des Be-
wußtseins nicht zu rechnen ist, etwas anderes, als die Verab-
folgung einer tödlichen Spritze.
Wenn der Organismus in einer Verfassung ist, die erfordert,
daß man ihn auf diese Weise töten muß, dann ist das an und
für sich schon ein Grund dagegen, es zu tun. Es gibt eine
ganze Sammlung von Fällen, die zeigen, wie kompliziert die-
ses Gebiet ist. Ein berühmter Fall ist der der Karen Quinlan in
Amerika. Da haben die Eltern einen richterlichen .Beschluß
erwirkt, die Tochter vom Atmungsgerät abzukoppeln. Als
man das tat, begann spontane Atmung einzusetzen, und 'sie
hat dann noch acht Jahre weitergelebt, oder vielmehr vege-
tiert, bewußtlos, künstlich ernährt. Für einen neuen richterli-
chen Beschluß, der gesagt hätte, man kann auch die Ernäh-
rung einstellen, hat sich kein Richter mehr gefunden..Karen
Quinlan ist dann schließlich gestorben. Man sieht, auch Pro-
gnosen von großen Spezialisten können falsch sein. In diesem
Fall hatte jeder gedacht, mit der Abschaltung der Maschine
sei das Leben zu Ende.


Es gibt, wie gesagt, fließende. Übergänge, die sich schwer
fassen lassen in Unterscheidungen. Aber in diesem Fall ist die
Unterscheidung zwischen. Abbruch der Behandlung und akti-
ver Tötung doch von Bedeutung. Denn generell kann man
schwer sagen, ob die junge Frau gelitten hätte oder nicht,
wenn man sie durch Austrocknung, durch Verhungern, hätte
sterben lassen. Wir wissen es nicht. Es gibt nicht auf alles eine
Antwort. Ihre Andeutung, daß es vielleicht keinen Unter-
schied zwischen dem Sterbenlassen und dem Töten durch
einen darauf ausgerichteten, einmaligen Eingriff gibt, halte
ich trotz der fließenden Grenzen für unstatthaft.
MERKEL Ich meine, wir müssen auch die Konsequenzen
bedenken, die wir uns in bestimmten Fällen damit einhan-
deln, daß wir sagen: Sterbenlassen, ja; Töten, nein. Sie haben
das Stichwort Dehydration ~ Austrocknung - gebraucht. Es
gibt Fälle schwerstleidender und schwerstbehinderter Neuge-
borener, bei denen die Ärzte wissen, daß es keine Überlebens-
chancen gibt. Aber es mag eine gewisse Möglichkeit der
Lebensverlängerung um Tage, Wochen, manchmal Monate
bestehen, wenn man schwere Operationen durchführt. Dann
wird in solchen Fällen - wenn beispielsweise das Kind zudem
keinen Darmausgang hat - die Operation unterlassen, und
man läßt das Kind sterben, hier dann eben durch Verhun-
gern. Nun sagen manche, unter anderem auch Singer: »Das
ist ein grausamer Tod. Ihr haltet euch fern von dem tabuisier-
ten Bereich der aktiven Tötung; dafür gibt es gute Gründe.
Aber ihr Ärzte müßt dann sehen, daß für die Reinhaltung
dieses Tabus ein grausamer Preis gezahlt werden muß - wenn
auch Gott sei Dank nur in Extremfällen. Doch nicht ihr. zahlt
ihn, sondern das leidende, sterbende Neugeborene.« Zuge-
spitzt: Würden Sie sagen, dieser Preis muß in Kauf genom-
men werden, damit nicht das gefährliche Terrain der erlaub-
ten aktiven Tötung eröffnet wird?
JONAS Ja, meine Antwort ist: ja. Dieser Preis muß in Kauf
genommen werden. Es ist schrecklich, das zu sagen, aber eine
auf Mitleid allein gegründete Ethik ist etwas sehr Fragwürdi-

71
ges. Denn was da an Konsequenzen drinsteckt für die
menschliche Einstellung zum Akt des Tötens, zum Mittel des
Tötens als eines routinemäßig zu Gebote stehenden Weges,
gewisse Notlagen zu beenden, ws sich da auftut für eine, um
es mal ganz scharf zu sagen, progressive und kumulative
Gewöhnung an den Gedanken und die Praxis des Tötens, das
ist unabsehbar. Da steht so viel auf dem Spiel, daß das Leiden
des Säuglings dagegen nicht aufkommt.
Man darf sich nicht vom Gesichtspunkt einer Mitleidsethik
bestimmen lassen, sondern nur von der- Verantwortung für
die Folgen, die aus unserer Einstellung resultieren, aus unse-
rer Bereitschaft, unserer Willigkeit zu erwägen, hier und da
das Mittel des Tötens zu gebrauchen. Damit soll man und
darf man gar nicht anfangen. Das ist meine Einstellung, aber
ich habe Verständnis dafür, wenn jemand anders entscheidet.
MERKEL In der juristischen Diskussion wird das gern als
das Dammbruch-Argument bezeichnet. Es könnte aber in der
Situation eines strikten und ausnahmslosen Verbotes der
aktiven Tötung einerseits und einer Legalisierung des Ster-
benlassens andererseits einen anderen bedenklichen Gewöh-
nungseffekt geben, nämlich den Abstumpfungseffekt gegen-
über dem Leiden. Halten Sie es für möglich, daß das häufige
Zusehenmüssen, wie jemand qualvoll stirbt, einen Gewöh-
nungseffekt der Erbarmungslosigkeit mit sich bringt, der
ebenfalls gefährlich sein ·kölinte?
JONAS Eigentlich spricht die Erfahrung dagegen. Was Sie
sagen, klingt ganz plausibel, es könnte so sein. Die allgemeine
Erfahrung spricht dagegen. Nicht einmal in den Schlachten
des Ersten Weltkrieges war das so: Die Zahl der Opfer war ja
ungeheuer groß, und die Kameraden mußten immer wieder
sehen, wie andere zerfetzt wurden. Trotzdem ist mir weder
aus den Erinnerungen von Soldaten noch aus der Literatur
bekannt, daß das zur Abstumpfurig geführt hätte. Es ist.schon
möglich, natürlich, aber die Unempfindlichkeit gegenüber
menschlichem Leiden entsteht gewöhnlich nicht aus dem
Anblick, sondern aus dem Gar-nicht-Hinschauen. Sowohl

72
das Töten wie das Sterbenlassen haben ihre finstere Seite.
Was ist hier das schlimmere, was ist das geringere Übel? Ich
würde sagen, die Zumutung eines über eine WQche oder
länger sich hinziehenden Todes ist immer noch besser, als mit
der Praxis zu beginnen, neugeborene Kinder einfach umzu-
bringen. Das Ganze ist ja ein schreckliches Unglück, es fragt
sich nur, was die allgemeine Dimension der Sittlichkeit gebie-
tet, was man unbedingt vermeiden soll und was man noch
hinnehmen kann.
Noch eine andere Frage drängt sich auf. Was e.igentlich be-
rechtigt uns, einem Wesen, indem wir es in die Welt setzen,
das Dasein zuzumuten - einem Wesen, das sich an der Wahl
nicht hat beteiligen können? Es gibt im Zeugen und Hervor-
bringen eines Kindes eine Art Urschuld. Denn nicht nur
schenken wir dem Kinde das Dasein, wir erlegen es ihm auch
auf - ungefragt: In der Voraussetzung, daß dieses sein eigenes
Leben wollen wird, daß wir also ein Lehen in die Welt setzen,
das sich selber bejaht. Das ist in einem gewissen Sinn eine
ungeheure Präsumtion. Jeder muß darauf gefaßt sein, auf
diesen Schrei, der aus dem Munde des Propheten Jeremias
gekommen ist: »Mutter, warum hast du mich geboren?« Die
Antwort darauf kann nur sein: Weil es die Ordnung der
Dinge in der Natur so will, daß es nur unterdieser Bedingung
Menschen geben kann: allein mit diesem Wagnis, daß man
sie eben zum Menschsein nicht nur befähigt, sondern auch
verurteilt.
Die Bürde des Daseins ist groß, und vielleicht waren die
Menschen, um die es sich am meisten gelohnt hat, manchmal
die unglücklichsten. Ich erinnere mich, wie ich einmal Martin
Buber fragte, wie denn Kafka, den er persönlich kannte,
gewesen ist. Er antwortete mir, und das werde ich nie verges-
sen: »Ich kann eins sagen, er war der unglücklichste aller
Menschen, die mir je vorgekommen sind.« Trotzdem hat sich
sein Dasein gelohnt - ein schreckliches Wort, ich meine, es
war wirklich der Mühe wert. Ich will die Frage einmal um-
kehren, Nicht was wir dem Säugling zu seinem Weiterleben

73
schulden - das ist die positive Verantwortung -, sondern wie
weit wir gehen dürfen mit der Zumutung des Daseins an das
von uns gezeugte Kind, ist hier das Problem. Da gibt es
Grenzen um dieses Wesens selbst willen, wo man sagt: Nein,
dazu dürfen wir es nicht verurteilen, und deswegen achten
wir nicht nur das Recht zu leben, sondert) wir müssen auch
ein Recht zu sterben achten. Trotzdem dürfen wir das nicht
auf dem Wege der aktiven Tötung tun, und zwar aus den
Gründen, die ich dargelegt habe. Eine solche Gewöhnung
würde eben jene Dammbruch-Situation schaffen. Aber es
gibt Grenzen für das, wozu wir ein solches Wesen verurteilen
dürfen, und darum könnte das Sterbenlassen wirklich ein
sittliches Gebot sein.
OÖNHOFF Ja, mit leisem Zweifel. Wie kann ich das Un-
recht so definieren, daß ich bei hin- und herschwankendem
Gefühl zu einem Maßstab für mein eigenes Urteil kommen
kann?
JONAS Die Frage ist sehr berechtigt. Ich habe bei dem, was
ich vorhin gesagt habe, vorausgesetzt, daß es sich um Extrem-
fälle handelt, wie sie in der Literatur vorkommen, wie sie in
Ihrem Dossier geschildert und wie sie in Peter Singers Buch
berichtet werden. Bei Extremfällen zu einem Befund zu kom-
men ist relativ leicht. Es gibt dann aber immer auch die
Schattenzonen, in denen die Frage berechtigt ist: Wo nimmst
du eigentlich den Maßstab her zu sagen, das ist nicht mehr
»lebenswert« oder das ist noch »lebenswert«? Antwort: Ich
weiß es nicht..Vielleicht ist es zuviel verlangt, daß es hier solch
eindeutige Kriterien geben soll. Letzten Endes wird dann
eine Intuition und die Imagination der einzelnen Person eine
Rolle spielen, und eben auch da wären wir wieder auf einem
Gebiet, wo es unmöglich ist, eine allgemeine Regel-aufzustel-
len.
MERKEL Sie haben gesagt, Herr jonas, man müßte sich in
bestimmten Fällen auch die Frage stellen: Wieviel dürfen wir
dem Neugeborenen auferlegen, wozu dürfen wir es verurtei-
len? Damit kommen wir in die Nähe dessen, was mit einem

74
schwer vorbelasteten Begriff als » lebensunwert« bezeichnet
wird. Zwei Fragen dazu: Können wir die zugrundeliegende
sachliche Überlegung: Ist dieses Leben noch irgendwie
wünschbar ~ und zwar für den, der es leben muß - überhaupt
vermeiden? Und die zweite Frage: Sollten wir dann nicht
wenigstens das schwer desavouierte Wort »lebensunwerr«
vermeiden?
JONAS Die Vokabel. Ja, die muß man wahrscheinlich ver-
meiden, weil sie eine rationale und abwägende Diskussion
beinahe unmöglich macht. Wenn ich die Frage stelle: Wieviel
dürfen wir auferlegen, bis zu welchem Grade ein Wesen zum
Leben zwingen, wenn es dazu verdammt ist, ein total ver-
kümmertes Leben zu führen, das es sich nie gewählt hätte,
dann kommt natürlich der Begriff des »nicht lebenswert«
hinein, aber für wen, »nicht lebenswert« für wen? Der Begriff
ist belastet, erstens durch seine Vorgeschichte und zweitens
durch seine Zweideutigkeit.
Sie haben in Ihrem Dossier, glaube ich, auch das Buch von
Hoche und Binding, »Die Freigabe der Vernichtung lebens-
unwerten Lebens«, erwähnt und das, was dann später die
Nazis daraus gemacht haben. Aber schon bei Hoche und
Binding war ein Grundirrtum im Gebrauch dieses Begriffes,
denn der Gesichtspunkt, unter dem Wert oder Unwert gemes-
sen wurde, war, wenn ich nicht irre, der der Gesellschaft.
Auch wenn die Gesellschaft nicht Rasse genannt wird oder
Volksgemeinschaft oder ähnlich, so ist eben doch nicht das
Subjekt selber im Mittelpunkt, sondern etwas anderes. Es
kann auch. der Staat sein: »Der König braucht Soldaten!«
Aber bei »lebensunwert- kann .und darf nur gemeint sein:
nicht wert zu leben für dieses Wesen selber. Die Gesichts-
punkte, es koste soviel, es zu erhalten, und so große Anstren-
gungen seien nötig, und für welche besseren Sachen könnte
man das Geld ausgeben ... - sie dürfen keine Rolle spielen.
MERKEL Mich überzeugt das vollständig, was Sie da sagen.
Nun wird aber oft folgendes eingewendet: üb das bevorste-
hende, nach allen unseren Kriterien grauenvolle Leben des

75
Neugeborenen für dieses Wesen selbst ein noch wünschbares
oder nicht mehr wünschbares Leben ist, das können wir
niemals wissen. Gibt es denn für Sie Fälle, wo die Frage
trotzdem von außen beantwortbar ist, obwohl man sich im
strikten Sinne nie in ein anderes Wesen versetzen kann?
JONAS Ja, aber eben auch wieder nur für Extremfälle. Bei
dem in dieser Debatte erwähnten Beispiel des Säuglings, der
unaufhörlich schreit, ist doch wohl klar, daß dieses Schreien
ein Protest gegen die Qualen ist, die er erleidet, Das ist .ein
klarer Fall. Aber wir haben es ja nicht nur mit. solchen Ex-
tremfällen zu tun. Sobald sich eugenische Gesichtspunkte
einmischen, wird die Sache überaus gefährlich. Man stelle
sich vor, man kann durch pränatale Diagnose feststellen, daß
das Kind Epileptiker sein wird. Epilepsie ist ein Unglück für
das Geschöpf selber und auch für die Umwelt. Machten wir
dies zum Kriterium für Abtreibung oder Infantizid, hätten
wir keinen Dostojewski gehabt. Das Glück zum Maßstab zu
machen ist überhaupt ein sehr bedenklicher Weg - denken Sie
daran, was Buber mir über Kafka sagte. Ich habe mich gegen
die aktive Tötung ausgesprochen. Ich würde auch sagen, daß
man das Sterbenlassen ebenfalls sehr sorgfältig einhegen muß
und es nicht dazu ausarten lassen darf, daß schließlich die
Wünsche der Eltern, welche Sorte Kind sie haben wollen,
mitsprechen. Da gibt es ein Beispiel bei Singer: Eine Mutter
ist Trägerin des Gens der Hämophilie, es vererbt sich nur
durch den männlichen Nachwuchs. Das Elternpaar hat ein
Kind ohne Hämophilie,. ein Mädchen. Nun kommt ein Junge
zur Welt, und jetzt kommt die Überlegung von Singer: Da die
Eltern entschlossen sind, nicht mehr als zwei Kinder zu ha-
ben, würde das Lebenlassen dieses Bluterkindes die Möglich-
keit ausschließen - die rein statistisch sehr gut ist -, daß das
nächste Mal, wenn die Mutter wieder schwanger wird, ein
Kind ohne Hämophilie zur Welt kommt.
Also ist im Sinne des Interesses aller Beteiligten, das Bluter-
kind umzubringen, damit die Frau es von neuem versucht.
Singer merkt nicht einmal, daß ein schon vorhandenes Leben
natürlich einem erst eventuell möglichen vorgeht. Dies sind
unsinnige und leichtfertige Überlegungen, Singer nennt das
Präferenz-Utilitarismus, das ist Unsinn. Denn das Recht des
schon lebenden Kindes ist natürlich unveräußerlich.
MERKEL Singer sagt, daß das Neugeborene an sich kein
eigenes Recht habe, denn er bindet das Recht auf Leben nicht
an die biologische Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, son-
dern an Personenkriterien. Was Singer aber nach meiner
Überzeugung falsch sieht, ist, daß auch eine potentielle
menschliche Person, also etwa ein Säugling, ein eigenes, nicht
bloß abgeleitetes Recht auf Leben haben muß. Was meinen
Sie dazu?
JONAS Sie haben ja die Antwort gegeben. Das Kind ist uns
doch anvertraut als etwas, was sich zur Personhaftigkeit
unter unserer Obhut entwickeln soll. Ihre Einführung der
Potentialität beantwortet die ganze Frage. Selbstverständlich
ist das Neugeborene noch keine Person, aber es hat schon alle
Anlagen und den Drang dazu. Wenn man beobachet, wie sich
das bei Kindern entwickelt, das ist doch das Aufregendste
und Großartigste, was man überhaupt sehen kann: daß das
Kind wirklich nach den Möglichkeiten des Sprach erwerbs
greift. Ein ungeheuerlicher Prozeß, was da zwischen erstem
und zweitem Lebensjahr vor sich geht, die Syntax wird ge-
meistert, man stelle sich das vor, in einem so jungen Gehirn!
Die Diskussion dieser Frage in Begriffen von Recht scheint
mir überhaupt verfehlt zu sein. Wir sorgen für das Neugebo-
rene nicht, weil es Rechtsansprüche an uns hat, sondern weil
es ein Existenzrecht hat, das wir achten müssen. Selbstver-
ständlich ist es auch schon ein Rechtssubjekt (zum Beispiel in
Erbschaftssachen), das eine Vertretung braucht, solange es
sich selber noch nicht vertreten kann.
Aber was da allem vorangeht, ist zunächst ein ganz einseitiges
Verhältnis der Verantwortung gegenüber einem werdenden
Menschen, es ist vor allem Verantwortung und nicht die
Respektierung seines Rechtes - die kommt später. Was zuerst
da ist, ist etwas viel Elementareres und Fundamentaleres: die

77
wirkliche Sorge um ein uns anvertrautes Leben. Es ist uns als
Pflicht auferlegt, leicht gemacht durch die Liebe. Ein Rechts-
fall wird es bei gröblicher Mißachtung dieser Pflicht: Dann
muß »das Gesetz« zum Schutze des Kindeswohles einschrei-
ten. Dieser Schutz s- um noch einmal zur Euthanasie-Frage
zurückzukehren - schließt auch das gesetzliche Verbot der
Tötung ein, und dabei sollte es bleiben - trotz der quälenden,
humanitär drängenden Grenzfälle.
Öffentliches Recht und die viel persönlichere Sittlichkeit kön-
nen nie zu vollkommener Deckung gebracht werden. Zuletzt
und im Äußersten werden wir auf die einsamen Entscheidun-
gen der Liebe zurückgeworfen, die selbst dem Gesetz zu
trotzen wagt, aber hoffen darf, daß auch das verletzte Recht
so gnädig urteilt, wie es der Bestand der Rechtsordnung
erlaubt. Mit diesem ungelösten und unauflöslichen Rest in
der Euthanasie-Frage - dem Verzicht also auf eine eindeutig
regelnde ethische Antwort - müssen wir uns, so glaube ich, in
Demut abfinden.
Ohne Opferbereitschaft gibt es wenig Hoffnung

STERN * Herr Professor ] onas, für Sie als Philosoph sei


heute nicht mehr die Lust des Erkennens das Hauptmotiv Ihres
Denkens, schrieben Sie einmal, sondern die Furcht vor dem
Kommenden, die Furcht um den Menschen. Ist der Mensch
durch die Technik sich selbst zur größten Gefahr geworden?
HANS JONAS Ich kritisiere nicht die Technik oder die rech-
nische Zivilisation als solche. Ich halte sie nicht für eine
unerlaubte menschliche Verirrung. Aber ich bin Diagnostiker
und Prognostiker - einer, der zeigt, was vor sich geht und
wozu es führen kann. Da muß man auch die Rolle des Unheil-
propheten spielen. Denn wir dürfen uns und unsere Nach-
kommen nicht in eine Situation bringen, aus der es kein Aus
und Ein mehr gibt.
Die technische Zivilisation trägt die starke Tendenz in sich,
ins Maßlose. und Unkontrollierbare auszuarten. Hier sind
wirtschaftliche und andere Kräfte am Werk, die die Sache
vorantreiben und sie uns aus der Hand nehmen. Wir befinden
uns in einer Art Notstand, einer klinischen Situation, an
einem Krankenbett. Und dabei sind wir Patienten und Ärzte
zugleich.
STERN Sie sagen: »Wir haben es in der Hand, die Schöp-
fungsabsicht zu vereiteln; und wir sind vielleicht kräftig da-
bei, es zu tun.« Wo sehen Sie in dieser Entwicklung die
größten Gefahren?
JONAS Das läßt sich nicht so leicht auf einen Nenner brin-
gen. Ohne Zweifel ist die nukleare Gefahr da. Atombomben
werden gebaut, um den größtmöglichen Schaden anzurich-
ten. Aber ich richte meine Aufmerksamkeit mehr auf Dinge,
die wir nicht mit böser, nicht mit Zerstörungsabsicht, son-
dern unschuldig tun. Die chemischen Düngemittel zum Bei-
spiel werden zu einem wohlmeinenden Zweck geschaffen

.. Das Gespräch führten Christine Claussen und. Heinrich Jaenecke.

79
und angewandt, nämlich um den Ertrag der Landwirtschaft
und die menschliche Ernährung zu verbessern. Diese fried-
fertige Technik ist viel schwerer unter Kontrolle zu bringen,
weil sich zu viele unterschiedliche Interessen damit verbin-
den.
STERN Ist dieses System denn überhaupt aus sich heraus
reforrnierbar? Führt das wirtschaftliche und technische Lei-
stungsprinzip nicht zu einer immer größeren.Ausplünderung
des Planeten?
JONAS Ja, eine solche Dynamik ist am Werk. Wenn man
diese Entwicklung sich selbst überläßt, wird es eine Regulie-
rung nur über Katastrophen geben.
STERN Heißt das, wir dürfen nicht alles, waswir können?
JONAS Ja. Und auch unser Konsumappetit darf nicht mehr
ständig wie bisher steigen. Wir werden uns in unserem Le-
bensstandard etwas bescheiden müssen. Ohne Opferbereit-
schaft gibt es wenig Hoffnung.
STERN Unter Philosophen, Naturwissenschaftlern und
sogar unter Technokraten wächst das Bewußtsein für die
Gefährlichkeit der technologischen Entwicklung. Aber zwi-
sehen diesen Erkenntnissen und der praktischen Politik bezie-
hungsweise den Interessen der Industrie klafft doch eine Rie-
senlücke. Wie wollen Sie etwa einen Autokonzern davon
überzeugen, daß es genug Autos auf der Welt gibt und daß es
besser wäre, aufs Fahrrad umzusteigen?
JONAS Das wäre sicher etwas zuviel verlangt. Man kann
aber die Autohersteller dazu zwingen, sehr viel bessere, un-
schädlichere Verbrennungsmethoden einzuführen. Es wäre
sehr wohl möglich, obere Begrenzungen-in der Verkehrsbela-
stung festzulegen. Im übrigen: Wenn ein Philosoph sieht, wie
die Dinge laufen, und sagt, es ist unbedingt notwendig, daß
wir uns von unseren eigenen technischen. Errungenschaften
nicht überrennen lassen, hat er nicht auch gleich die zur
Veränderung notwendigen politischen und psychologischen
Rezepte parat.
STERN Aber dieser Philosoph macht sich doch zweifellos

80
Gedanken darüber, wie die Menschen zur Einsicht ins Not-
wendige, etwa zu Konsumverzicht, gebracht werden könnten.
JONAS Zunächst ist dauerndes Predigen nicht ganz un-
wirksam. Esist ja nicht zu.leugnen, daß in den letzten zehn bis
zwanzig Jahren ein Umweltbewußtsein erwachsen ist, das es
vorher nicht gegeben hat. Außerdem kommen die Schreck-
schüsse von der Natur selber. Was wir bisher erlebt haben,
Waldsterben, Tschernobyl, war noch gar nichts: Es wird
noch Schlimmeres kommen.
STERN Ist es.. dann für eine Umkehr nicht schon zu spät?
JONAS Wenn die Menschen, besonders die mitEinfluß, erst
in dem Moment einsichtig werden, wo sie eindeutig schon zu
weit gegangen sind, wäre das tragisch. Man kann nicht skep-
tisch genug sein; skeptisch - aber nicht fatalistisch. Wenn wir
fatalistisch sind, haben wir die Schlacht schon verloren.
STERN Bisher hat der Mensch immer getan, was er wollte
und konnte. Und er ist damit im großen und ganzen unge-
heuer erfolgreich gewesen. Was soll ihn jetzt dazu bringen,
plötzlich nicht mehr zu tun, was er kann? Nehmen wir als
extremes Beispiel die Gentechnologie. Entstehen hier nicht
ethische Probleme, die es in dieser Entschiedenheit bisher
nicht gegeben hat?
JONAS In dieser Hinsicht bin ich sehr pessimistisch. Ge-
rade weil dies ein Gebiet ist, auf dem keine Erfahrung zur
Verfügung steht, die lehren könnte, wie verderblich die Fol-
gen eventuell sind. Wenn man jetzt gestattet, die Sache expe-
rimentell weiterzutreiben, dann wird eine spätere praktische
Anwendung im Großen überhaupt nicht aufzuhalten sein.
Bei diesen genetischen Experimenten, genetischen Abenteu-
ern, kann man keine Voraussagen machen. Man kann nur an
etwas appellieren, das der religiösen Scheu gleichkommt: Es
gibt Dinge, die man nicht machen darf.
STERN Ist mit der Aufklärung, dem rationalistischen Zeit-
alter diese » religiöse Scheu« nicht unwiederbringlich ver-
lorengegangen ?
JONAS Ja, es sieht oft so aus. Die Art, wie gewisse alte

81
Tabus sich auflösen und durch Anarchie ersetzt werden, ist
alarmierend. Andererseits entstehen Bewußtseinsformen, die
an die Stelle der sakralen treten. Wieso regen sich Menschen,
und zwar gerade 'in der Jugend, darüber auf, daß anderen
Menschen Unrecht geschieht? Die Civil-Rights-Bewegung in
Amerika beispielsweise geht keineswegs nur von den Benach-
teiligten selbst aus, sondern ganz wesentlich gerade von Leu-
ten, denen es gut geht und die nicht eigene Not, sondern ihr
Gewissen. antreibt. Das ist ein neues Phänomen.
STERN Aber diese Menschen haben in der Regel wenig
Einfluß oder Macht. Liegt das Problem der Verantwortung
nicht gerade in der Anonymität, in der zentrale gesellschaftli-
che Bereiche wie etwa große Wirtschaftsunternehmen betrie-
ben werden?
JONAS Das ist das Schlimmste, die größte Schwierigkeit.
Niemand kann mehr individuell verantwortlich gemacht
werden. Es geht so anonym zu, daß der einzelne privat ein
höchst sittlich empfindender, mitfühlender, wohltätiger
Mensch sein kann und doch in Direktorien und anderen
Gremien zu ganz anderen Entscheidungen beiträgt. Das ist
sehr, sehr schwierig.
STERN Wie ist diese Entwicklung überhaupt noch steuer-
bar? Denn man müßte ja an Großunternehmen, Gtoßorgani-
sationen Anforderungen stellen, die sich gegen ihren eigenen
existentiellen Mechanismus richten: Expansion, Profitmaxi-
mierung, Gewinn. Hieße das nicht vom Ochsen verlangen,
daß er Milch gibt?
JONAS Die ganze Situation ist sehr komplex, und die even-
tuellen Heilmittel können auch nur komplex sein. Immerhin
hat es der moderne Staat schon zu so etwas wie einem. Wohl-
fahrtsstaat mit einem großen Sozialapparat gebracht. Nach
einer Epoche der wildesten Ausbreitung reinen individualisti-
sehen Wettbewerbs haben sich die Dinge in' Richtung eines
gewissen Sozialismus entwickelt. Es treten ja durchaus politi-
sche Kräfte ins Werk, die das sogenannte freie Unternehmer-
tum etwas weniger frei machen.
STERN Sie sind im Jahr 1903 geboren, Herr Professor jo-
nas, Sie überblicken das jahrhundert. Wie ist Ihr Ausblick
heute auf die Zukunft der Menschheit?
JONAS Ungewiß, sehr ungewiß. Eine Mischung aus Furcht
und Hoffnung. Es ist durchaus möglich, daß es tragisch zuge-
hen wird mit der Menschheit. Regional und lokal wird das
sogar bestimmt eintreten. Aber andererseits hoffe ich doch
auf Selbstheilungsprozesse im Organismus der Menschheit.
Wenn wir nicht mit dem Wahnsinn eines Atomkriegs zu
einem plötzlichen Ende treiben, dann könnte noch Zeit sein,
im Immunsystem der Menschheit Abwehrkräfte zu erzeugen,
die nicht zu spät kommen. Aber anders als im Organismus
müssen wir selber und unsere Nachkommen bewußt etwas
dafür tun. Der Mensch ist immerhin so frei, daß er lernen und
aus manchen Erfahrungen Lehren ziehen kann. Die aber
werden sehr bitter sein, ehe-genügend Vernunft da ist, um der
Katastrophe wirklich vorzubeugen. Mein Ausblick ist nicht
sehr rosig, aber auch nicht verzweifelt.
Die Bereitschaft zur Furcht
ist ein sittliches Gebot

ALEXANDER u. MA~TENS Seit 1934, ein Jahr nach Ihrem


Weggang aus Deutschland, als der erste Band Ihres Werkes
über die Gnosis in Göttingen erschien, gelten. Sie in erster
Linie als ein großer Religionsphilosoph. Nahezu 50 Jahre
nach Ihrer Emigration bedienen Sie .sich. nun wieder Ihrer
Muttersprache und legen ein Buch vor, weit weg von der
Religion und sehr nahe bei der weltlichen Philosophie: Sie
versuchen, eine.Ethik der Zukunftsverantwortung zu etablie-
ren. Wie ist es dazu gekommen?
HANS JONAS Seit meiner Rückkehr aus dem Zweiten Welt-
krieg, in dem ich als Soldat bei der britischen Armee war,
stand für mich völlig fest, daß meine philosophische Aufgabe
ganz woanders liegt als auf historischem Gebiet, und ich
stellte mir eine systematische. Aufgabe: nämlich die Natur des
Lebens, das Phänomen des Organischen, philosophisch zu
beleuchten, und zwar so, daß es sich einfügt in eine Ontolo-
gie, in eine allgemeine Seinslehre.
Diese allgemeine Seinslehre, unter der wir heute zu denken
gewohnt sind, ist entscheidend beherrscht von der Naturwis-
senschaft, und zwar Natur verstanden so, wie sie die im
17. Jahrhundert begründete moderne Naturwissenschaft
sieht, als einen Bereich der Physik. Da ist es von vornherein
offenbar gewesen, daß das Leben da nicht ganz hineinpaßt,
daß es irgendwie heimatlos wurde im Schema der wissen-
schaftlichen Methoden und Verständnisformen der moder-
nen Erforschung der Natur. Das Leben, das seinen Innenhori-
zont hat mit Streben, mit Bewußtsein, mit Gefühl, mit
Schmerz und Lust, mit Gelingen und Scheitern, paßt mit
keiner dieser Kategorien auf das Verhalten von Molekülen
und Atomen und anorganischen Substanzen. Einen Platz also
gewinnen für die Phänomene des Lebens in einer Ontologie,
die eben nicht mehr einseitig beherrscht wird von dem Mo-
den der naturwissenschaftlichen Realität - das 'wurde meine
erklärte Aufgabe, die ich mir nach dem sogenannten Kriegs-
erlebnis stellte.
Am Ende dieses Krieges hatten wir dann die Atombombe, die
ein neues Element einführte in die menschliche Rechnung
und zeigte, wessen der Mensch fähig ist; wie er unter Umstän-
den zum eigenen Verderben und zum Verderben alles dessen,
woraus er hervorgegangen ist, beiträgt. Ich muß zugeben,
daß·· ich damals die Entwicklung und Anwendung der. Atom-
bombe nur vom soldatischen Gesichtspunkt her gesehen
habe als eine militärische Notwendigkeit, als etwas, das,
wenn es Amerika nicht machte, von der anderen Seite ge-
macht werden würde. Und ich habe damals bei der Atom-
bombe in erster Linie auch die Möglichkeiten zum friedlichen
Gebrauch der Atomenergie gesehen.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein Gespräch
mit Karl ]aspers, das ich bei einem denkwürdigen Wieder-
sehen 1945 in Heidelberg mit ihm. hatte, als ich .mit den
Besatzungstruppen nach Deutschland kam. Wir sprachen
darüber, welche Bedeutung die Atomenergie haben könnte,
und ich sagte damals, ich könnte mir das Entstehen einer
großartigen Mußegesellschaft vorstellen, wenn man nun
Energie in unbegrenzter Fülle, und vermutlich eben sehr bil-
lig, haben werde. In diesem Moment schwebte mir so eine Art
naiver Blochscher Utopie vor; wie gesagt, das war 1945. Und
ich weiß noch, wie ]aspers sich das anhörte und sagte: »Sehr
schön, sehr schön, ja, das wäre vielleicht sehr schön..« Man
war eben damals noch nicht darauf eingestellt, diese Dinge
wirklich zu durchdenken.
Die menschliche Technik ist ja inzwischen längst hinaus-
gewachsen über den :bloßen Werkzeugsinn, den Technik
ursprünglich hatte: Sie ändert tatsächlich die Natur, die
Lebensbedingungen des Menschen und auch die Ziele
menschlichen Lebens. Darauf wurde ich 'zum erstenmal bei
einem eher zufälligen Anlaß theoretisch aufmerksam. Und als
ich mich hinsetzte und das ausarbeitete, da wurde mir klar,
daß praktischer Gebrauch von Theorie heute heißt, praktische
Anwendung der Wissenschaft auf alle Machtverhältnisse und
Wertverhältnisse des menschlichen Daseins im Kleinen und
im Großen, im Industriell-Kommerziellen wie im Politischen,
und daß sich die Rolle der Theorie völlig verändert hat; daß
sie nämlich in den Dienst der praktischen Bewältigung und
Umänderung des Lebens gestellt worden ist.
MARTENS Aus diesen Überlegungen heraus ist schließlich
entstanden, was jetzt als Buch mit dem· Titel »Das Prinzip
Veranrwortung« vor uns liegt; der Versuch, einen Begriff,
den es irr der abendländischen Philosophie bisher nicht gege-
ben hat, nämlich den der Verantwortung für die Zukunft, als
eine philosophische Maxime einzuführen.
JONAS Ja, mit einigen Umwegen natürlich, wie so etwas
geht. Zunächst mal dadurch, daß ich im Laufe der Jahre über
Einzelprobleme, die sich aus dem technologischen Fortschritt
ergaben, von Zeit zu Zeit einzelne Studien schrieb. Einzelfra-
gen dieser Art führen immer wieder auf eine Grundfrage: Wie
weit darf man gehen mit den Möglichkeiten, mirder Macht,
die die wissenschaftliche Technologie bietet in eine Richtung,
die zuerst immer, oder fast immer, wohltätig ausieht, dann
aber, in der .Extrapolation, in immer größere Größenordnun-
gen, ihre gefährlichen, manchmal sogar katastrophalen Sei-
ten offenbart.
MARTENS Sie schreiben an einer Stelle Ihres Buches, es
dürfe heute gar nicht mehr gefragt werden, was der Mensch
noch alles tun, erfinden, weiterentwickeln könnte, sondern
man müsse heute eher. fragen, was die Natur an mensch-
lichem Erfindungsgeist überhaupt noch verkraften könne.
JONAS Was kann die Natur davon noch aushalten und:
Wie wird sie sich eventuell rächen? Denn die Lebenswelt mit
aller Robustheit, die sie zeigt, hat auch ihre großen Empfind-
lichkeiten. Das hat man eigentlich erst gelernt, nachdem man
ihr zu sehr zu Leibe gerückt ist. Früher war der Mensch so
klein im Vergleich zu dieser überwältigenden Natur, die ihn
umgab. Heute sieht es so aus, als ob der Mensch eine be-

86
denkliehe Art von Überlegenheit gewonnen hätte und eine
Art von Siegerstellung, die ihm selbst verhängnisvoll werden
kann.
MARTENS Sie schreiben an anderer Stelle, es müsse sich
einbürgern, künftig Erfindungen im technologischen Bereich
zunächst mal weniger auf ihren eventuellen Nutzen als viel-
mehr auf ihren eventuellen Schaden abzuklopfen. Ist es denn
menschenmöglich, so zu denken und zu handeln?
JONAS Individuell ist das sehr menschenmöglich. Es gibt
viele, die jetzt so denken und- sich darüber auch sehr schön
verständigen. Ob es menschenmöglich ist im kollektiven
Sinne, also.ob dies zur Grundlage einer Politik werden kann,
das ist eine Machtfrage. Wird die Einsicht, die sich hier und
dort regt, auch konsolidiert und sich sehr deutlich ausspricht
- und für die es übrigens sehr viel, mit dem Munde jedenfalls
gewiß, Beifall und Übereinstimmung gibt -, wird diese Ein-
sicht die Kraft haben, alle die Tagesinteressen und -nöre zu
überwinden, deretwegen ja gerade das technologische Spiel
gespielt wird, in gewissem Sinne auch gespielt werden muß.
Die Frage »Ist das menschenmöglich?« muß sehr getrennt
werden in die Frage »Kann man Menschen individuell zur
Zustimmung bringen zu den wirklichen moralischen, den
sittlichen Notwendigkeiten der Menschheit?« und in die an-
dere Frage »Kann man eine solche Einsicht zum politisch
bestimmenden Faktor machen?«
Ich glaube, daß von der individuellen Seite her die Sache nur
wirksam in Angriff genommen werden und vielleicht bewäl-
tigt werden könnte, wenn es eine neue Massenreligion gäbe,
deren Lehren" von den Individuen aus tiefer religiöser Über-
zeugung .befolgt würden. Das ist etwas, worauf wir nicht
warten können. Es ist gar nicht auszuschließen, daß es zu so
etwas kommt; das ist aber nicht die Art, wie man über die
Pflichten der Jetztzeit und der bevorstehenden Zukunft nach-
denken darf. Es wäre daher schon viel besser, wenn auf dem
Wege über die Vernunft und über eine wirklich nüchtern-
sachliche Beurteilung und Abwägung der Dinge es zu Verhal-
tensformen und -normen käme, die aber auch eingehalten
werden müßten. Nun, diese Einhaltung kann nur garantiert
werden, wenn eine Macht dahintersteht, die die Einhaltung
erzwingt, das heißt, wenn es auch Sanktionen gibt.
In der Praxis muß Macht dabei sein; Macht.heißt Politik, und
·Politik ist.heute Politik im großen. Das trifft in erster Linie auf
die großen Industriemächte zu; die Frage einer Verantwor-
tungsethik für die Zukunft verbindet sich leider sehr eng mit
der Frage von Techniken der Macht, mit der Frage, wer wird
wirklich bestimmen, was getan und was unterlassen wird? Das
Unterlassen ist unter Umständen .ein ganz entscheidender
Faktor, denn nicht so sehr, was wir tun, sondern worauf wir
verzichten, ist vielleicht das Dringendere.
MARTENS Sie gehen in Ihren gedanklichen Schlußfolgerun-
gen so weit, daß Sie sagen, eine solche Verantwortung für die
Zukunft der Menschheit läßt sich, wenn überhaupt, dann viel
eher in den sogenannten sozialistischen Gesellschaften als in
unseren kapitalistischen Gesellschaften etablieren.
JONAS Zunächst mal ist es ganz einleuchtend, zu sagen,
daß eine nicht auf Profit eingestellte Wirtschaftsordnung na-
türlich besser geeignet ist, auch unter Berücksichtigung der
möglichen Umweltverschmutzung auf eine rationale Nut-
zung der vorhandenen Hilfsquellen und Vorräte der Erde an
Energie 'und Material zu achten. Das heißt, die Chancen sind
besser. In einer zweiten Untersuchung frage ich aber, wie
groß sind die Chancen, daß die besseren Chancen auch wahr-
genommen werden in den tatsächlichen sozialistischen Regi-
men. Und da ist das Bild nicht mehr so eindeutig, denn zum
Beispiel ist die Besessenheit im Hinblick auf industriellen und
technischen Fortschritt in marxistischen Gemeinschaften si-
cher genauso groß wie in kapitalistischen. Das Wohlfahrts-
versprechen der marxistischen Utopie ist selber ein großer
Antrieb dazu, diese Art Fortschritt nicht etwa zu zügeln,
sondern voranzutreiben. Hätte man ein sozialistisches Re-
gime ohne die gewissermaßen eschatologische Hoffnungs-
perspektive des Marxismus, das heißt ohne das Versprechen,

88
daß dies'zu dem großen Glückszustand der Menschheit führt,
dann wäre in der Tat ein solcher, sehr ernüchterter Sozialis-
mus wahrscheinlich die beste Voraussetzung, um die Techno-
logie wieder etwas .bescheiden in den Dienst der mensch-
lichen Gegenwart und Zukunft zu stellen, anstatt sie sich
austoben zu lassen und damit eventuell nach einem kurzen
Fest des Überflusses alles zu gefährden.
MARTENS Diese Ansicht zielt deutlich auf den sicherlich
mit Bedacht gewählten Titel »Prinzip Veranrwortung« als
eine Art Gegenentwurf zu Blochs »Prinzip Hoffnung«, Mit
diesem Prinzip Hoffnung verfahren Sie ja nicht gerade scho-
nend in Ihrem Buch.
JONAS In der von mir anvisierten Ethik der Zukunft for-
dere ich etwas, was es, glaube ich, in bisheriger ethischer
Theorie noch nicht gibt, nämlich, daß man sich bescheidene
Ziele setzen soll. Ich wüßte nicht, daß es in irgendeiner der
früheren ethischen Theorien das Gebot gäbe: »Bescheide
dich« - abgesehen, natürlich, von Bescheidenheit als indivi-
dueller Tugend, das meine ich nicht -, sondern, daß man als
Ziel der Menschheit nicht das höchste. Gut anstreben soll.
Nicht nur, daß man das höchste Gut wahrscheinlich nie
verwirklichen wird, da würde Kant sogar zugestimmt haben,
daß es natürlich nie da sein wird; aber immerhin, das sum-
murn bonum stand eigentlich im Blickfeld früherer ethischer
Systeme, die über die Privatethik hinausgingen und Ziele für
das Streben der Menschheit aufstellten.
Diese Konzeption des summum bonumhalte ich für ein
unbescheidenes Ziel, das wir uns nicht leisten können und
das vielleicht auch dem Menschen gar nicht ansteht. In welt-
lich realen Zusammenhängen können wir nicht auf Wunder
setzen und sollten uns lieber fragen: Was ist erreichbar? Aber
auch schon: Welches Streben ist auf die Dauer tragbar? Und
hier ist das Prinzip Hoffnung ein unter Umständen gefährli-
ches Motiv. Sicher, für Zeiten der Schwäche, in denen der
Mensch zu ringen hatte mit Naturnotwendigkeiten, ist das
Prinzip Hoffnung eine sehr große Inspiration. Und leider hat
ja das Prinzip Bescheidung nichts Inspirierendes, nichts An-
feuerndes an sich,
Daraus folgt unter anderem, was in meinen Überlegungen
unter dem Namen Heuristik der Furcht erscheint: Wenn es
nicht mehr die Inspiration der Hoffnung ist, dann ist es
vielleicht die Warnung der Furcht, die uns zur Vernunft
bringen kann. Nur ist Furcht an sich keine sehr edle mensch-
liehe Haltung, aber es ist eine sehr berechtigte. Und wenn es
wirklich etwas zu fürchten gibt, dann wird die Bereitschaft
zur rechten Furcht selber ein sittliches Gebot.
Da versuche ich zu zeigen, daß das ein völlig verfehltes Bild
vom Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit ist; und daß,
wenn dem Menschen etwas entzogen wird, wogegen er seine
Freiheit einsetzt, woran er seine Kräfte mißt, womit er fertig
werden muß, und zwar im täglichen Bemühen, daß dadurch
eine Gesellschaft der Langeweile und der unverbindlichen
Liebhaberei entsteht, die man sich gar nicht vorstellen
möchte, weil man schon jetzt beobachten kann, wie eine
Verwöhnung in dieser Hinsicht zu einer Art von Überdruß
führt, aus der als Ausweg dann eine mörderische Gesetzlosig-
keit führt, die selber zur Tugend erklärt wird.
MARTENS Wenn man versucht, eine Quintessenz aus Ih-
rem Buch zu formulieren, dann könnte sie lauten: Wir müs-
sen, zumindest in unseren Breitengraden, weg von der herge-
brachten Vorstellung, die da meint: Unsere Kinder sollen es
mal besser haben als wir. Würden Sie dem zustimmen?
JONAS Es ist schon sehr viel, wenn wir sagen können,
unsere Enkel werden es nicht schlechter haben. Wir müssen
unsere Nachkommen davor schützen, daß sie die Zeche für
uns bezahlen.
Technik, Freiheit und Pflicht

Dankesrede anlaßlieh der Verleihung des Friedenspreises


des Deutschen Buchhandels

Bewegten Herzens und auch beklommen über die Größe der


Ehrung, in die noch hineinzuwachsen mir keine Zeit mehr
bleibt, danke ich dem Börsenverein des Deutschen Buchhan-
dels für die Verleihung und den Vorrednern für ihre Worte ...
Auch ich mußte mir die Frage vorlegen, womit denn mein
Werk, obwohl es nicht ausdrücklich vom Frieden spricht, für
diese Auszeichnung in Betracht kam. In der Erklärung seiner
Wahl sagt der Stiftungsrat »Frieden gründet auf Verantwor-
tung«, damit eine Brücke schlagend zwischen dem Begriff des
Friedens und dem vorherrschenden Thema meiner Alters-
schriften. In der Tat versteht es sich im Atomzeitalter von
selbst, daß Friede als Nichtkrieg zwischen Nationen, zumal
den Supermächten, zur allerersten und hinfort permanenten
Aufgabe weltweiter Verantwortung geworden ist. Hier wird
nur am grellsten sichtbar, daß die übergroße Macht unserer
Technik Verhütung zum Hauptauftrag an die Verantwor-
tung macht. Aber eben nicht hier allein. Auch unsere friedli-
che Technik, mit der heute die Menschheit dem Planeten
ihren Alltag abgewinnt, birgt ihr Unheilspotential in sich -
ein absichtsloses, nicht jähes, sondern schleichendes, das mit
kürzeren oder 'längeren Karenzzeiten ihre gewollten und oft
so benötigten Werke gerade im Erfolg wie ein wachsender
Schatten begleitet. Die Karenzzeiten sind Gnadenfristen, die
im Vormarsch des Fortschritts schrumpfen. Das auf tausend
Wegen sich Heranstehlende zu vermeiden, ist schwerer als die
einmalig-eindeutige Untat des Krieges. Die Wahl einfacher
Tatenthaltung ist uns da versagt. Denn wir müssen ja mit der
technischen Ausbeutung der Natur fortfahren. Nur das Wie
und Wieviel davon steht in Frage; und ob wir dessen Herr
sind oder es werden können, wird zur ernstesten Frage an
die menschliche Freiheit. Um diese Frage geht es mir auch in
den heutigen Betrachtungen.
Es ist in Frankfurt wohl am Platze, sie mit Worten von
Goethe zu eröffnen. Der sterbende Faust spricht sie in Vor-
schau des Triumphes menschlicher Naturbezwingung, die er
als sein Alterswerk unternommen hat - der Gewinnung
neuen -, Kulturlandes vom Meere,

[Eröffn' ich Räume vielen Millionen,


nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.]

Im Innern hier ein paradiesisch Land,


Da rase draußen Flut bis 'auf zum Rand,
Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen,
Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen',

Und so verbringt, umrungen von Gefahr,


Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.

Welch herrliche Vision! Bejahenswerter kann der Angriff der


Technik auf die Natur nicht dargestellt werden. Böse Mittel
zwar - Teufelsbündnis. Unrecht, Gewalttat - verdunkeln im
Drama selbst den Weg zu dem glorreichen Ziel, doch dieses
selbst strahlt in seinem eigenen Glanz. Strahlt es auch uns
noch? Gibt die.Schaudes schon Erblindeten noch wieder, was
wir heute von -den. Siegen der Zivilisation über die Natur
denken müssen? Schon zu Goethes Zeit, zu Beginn der indu-
striellen Revolution, war das Bild vorwiegend agrarischen
Glückes Überholt. Schon sah auch das neu entstehende »Ge-
wimrnel« - um die Schlote, nicht die Bauernhöfe - ganz
anders aus als das von Faust erträumte [jinzwischen ins Un-
geheuerliche geschwollen, landflüchtig und verstädtert, hat
es .damit nichts mehr gemein].
Vor allem aber müssen wir das »umrungen von Gefahr- mit
dem unsrigen vergleichen. Faust spricht von der draußen
rasenden Flut, die einzuschießen droht. Kommt uns die Ge-
fahr noch von außen? Von dem wilden Element, dessen Ein-
bruch in das umwallte Kunstgebilde der Kultur wir abweh-
ren müssen? Zuweilen immer noch. Aber eine neue und
gefährlichere Flut rast jetzt darinnen und schießt zerstörend
nach außen - die überschießende Kraft unserer Kulturtaten
selber. Von uns her öffnen sich die Lücken, wir schlagen die
Breschen, durch die sich unser Gift über den Erdball ergießt,
die ganze Natur zur Kloake des Menschen verwandelnd. So
haben sich die Fronten verkehrt. Wir müssen mehr den
Ozean vor uns als uns vor dem Ozean schützen. Wir sind
der Natur gefährlicher geworden, als sie uns jemals war. Am
gefährlichsten sind wir uns selbst geworden, und das durch
die bewundernswertesten Leistungen menschlicher Dingbe-
herrschung. Wir sind die Gefahr, von der wir jetzt umrun-
gen sind - mit der wir hinfort ringen müssen. Ganz neue, nie
gekannte Pflichten erstehen daraus dem rettenden Gernein-
drang.
Jeder von Ihnen weiß, wovon ich im Gleichnis der Flut und
der Breschen gesprochen habe. Die nukleare, ökologische,
bio-ethische, gentechnologische Debatte dieser Jahrzehnte
bringt es unaufhörlich zu Wort - ein wachsender öffentlicher
Chor mit wachsender Thematik, in dem meine Stimme eine
unter vielen ist. Aus der Euphorie des faustischen Traumes
sind wir.ins kalte Tageslicht der Furcht erwacht. Es darf nicht
das des Fatalismus sein. Nie darf apokalyptische Panik uns
vergessen machen, daß die Technik ein Werk der uns Men-
schen eigenen Freiheit ist. Taten dieser Freiheit haben uns
zum gegenwärtigen Punkt gebracht. Taten derselben Freiheit
- die sie bleibt trotz der selbstgeschaffenen Zwänge zum
Fortfahren auf der eingeschlagenen Bahn ~ werden über die
globale Zukunft entscheiden, die zum ersten Mal in ihren
Händen liegt. Ich spreche von der Freiheit als Gattungseigen-
schaft, die noch nicht die politische ist, sie aber ermöglicht.
Über jene, ihre natürliche Wurzel, ihren Weg in der Technik,

93
ihre Pflicht und - zaghaft - auch über ihre Hoffnung möchte
ich nun etwas sagen.

J. [Ihre biologische Wurzel:] Die Freiheit des Menschen


gründet als Gattungseigenschaft in der organischen Ausstat-
tung seines Leibes. Da ist. die aufrechte Haltung, die zum
Umgang mit Dingen freie Hand, der vorwärtsgerichtete
Blick, die endlos modulierbare Stimme und über dem allen
das erstaunliche Gehirn, das zentral über diese Vermögen
verfügt. Die Verfügungsgewalt beginnt schon darinnen: Die
Einbildungskraft kann die erinnerten, den Augen verdankten
Bilder der Dinge nach Willen umbilden, neue entwerfen,
Mögliches sich vorstellen. Die Hand dann, dem Wjllen.hörig,
kann das innere Bild nach außen übersetzen und ihm gemäß
die Dinge selbst umbilden - zum Beispiel zu Werkzeugen für
weiteres Umbilden. Und die ebenfalls dem Willen hörige
Stimme formt die Sprache, dies souveränste sinnliche Me-
dium der Freiheit. Nach außen macht sie die Gesellschaft als
Dauersubjekt wachsenden Wissens möglich, nach innen den
Gedanken, der .sich über die Sinnenvorstellung erhebt. So
ausgestattet mit doppelter Freiheit, geistiger 'und leiblicher,
betritt der Mensch seine Bahn und breitet seine Kunstwelt als
Werk dieser Freiheit in der Naturwelt aus. So will es seine
eigene Natur, und die übrige Natur muß es erleiden.

2. Was bedeutet das für diese? Bis dahin war. das Gesetz der
Lebensvielfalt, daß der Kampf ums Dasein unter den Arten
auf ein ungefähres Gleichgewicht hinausläuft,.in dem sich das
Ganze im Widerstreit der Teile erhält. Die. Vielfalt selber
entstammte schon dem Kampfe, der sie laufend bewahrt und
langsam verändert im Hervorgang neuer Arten um den Preis
vergehender. Insofern gilt hier das Wort Heraklits, daß der
Krieg der Vater aller Dinge sei. Aber es ist ein- im Wesen auf
Koexistenz abgestimmter Krieg) indem jeder nUI tun kann,
was die Art ihm vorschreibt, und auch der Stärkste zuletzt
dem gemeinsamen Haushalt zurückgibt, was er von ihm

94
nahm. Aber nun ist ein neuer Stärkster aufgetreten, nicht
mehr an Artvorschrift gebunden, der a11 dies umwirft. Mit
der einseitigen Überlegenheit seiner nicht mehr. natürlichen,
sondern künstlichen Waffen ist der Mensch aus dem Kreis
symbiotischen Gleichgewichts ausgebrochen. Er rottet aus,
wo bis dahin der Streit nur Schranken setzte. Er gibt nicht
mehr brauchbar zurück, was er dem Ganzen nimmt. So treibt
er Raubbau an .ihrn.
Im Erwerb seiner Übetmacht war er sehend, ist sie doch ein
Werk immer höherer erfinderischer Intelligenz; in ihrem Ge-
brauch war er blind und konnte es so lange bleiben, wie die
Strafen der Erde immer noch vom Lohn der Siege überglänzt
wurden. Diese lange Schonzeit der Blindheit ist vorbei. Das
Verhältnis von Mensch und Natur ist in eine .neue Phase
eingetreten.

3. Was ist das Neue, und wie kam es dazu? Ein Faktor ist der
biologische unserer rasanten Vermehrung, deren organischer
Bedarf allein die planetarischen Nahrungsquellen zu überfor-
dern droht. Aber dem liegt schon ein ganz und gar Unorgani-
sches zugrunde: der qualitative Sprung in unserer technologi-
schen Macht, den der kaum 200 Jahre alte Bund zwischen
Technik und exakter Naturwissenschaft bewirkte. Durch
dies epochale, einzigartig westliche Praktischwerden reiner
Theorie ist die Überlegenheit des Menschen so einseitig ge-
worden, seine Eingriffe nach Größenordnung, Art und Tief-
gang so bedrohlich für das Ganze jetziger und künftiger
Erdnatur, daß die Freiheit auch hierin endlich sehend werden
mußte. Sie sieht: Der zu große Sieg bedroht den Sieger selbst.
Das qualitativ Neue sei an einem einzigen Beispiel illustriert,
das auch erklärt, was ich mit dem neuen »Tiefgang« unserer
Eingriffe meine. Alle vormoderne Technik war makrosko-
pisch, wie es das älteste Werkzeug war und heute noch die
Maschine ist. Mit den Größen der sichtbaren Körperwelt
hantierend, hielt sich die Technik sozusagen noch an die
Oberfläche der Dinge. Seither ist sie in die molekulare Ebene

95
hinabgestiegen. Diese kann sie jetzt manipulieren, von dort-
her nie gewesene Stoffe erbauen, Lebensformen ändern,
Kräfte freisetzen. Nie vorher ist Kunst der Natur so in ihren
Elementen zu Leibe gerückt. Vom Untersten her regiert sie
jetzt das Oberste, vom Kleinsten das Größte. Dies Schöpfer-
turn am »Kerne« bedeutet mit neuer Macht neue Gefahr.
Eine ist die Belastung der Umwelt mit Substanzen, die ihr
Stoffwechsel nicht bewältigen kann. Zur mechanischen Ver-
wüstung tritt chemische und radioaktive Vergiftung hinzu.
Und in der Molekularbiologie erscheint die prometheische
Versuchung, VOIJl Keime her verbessernd an unserem eigenen
» Bilde« zu 'basteln.
Die gesteigerte Macht entstammt also gesteigertem Erken-
nen .. Dasselbe Erkennen nun, das in der Technik waltet, setzt
uns auch instand, ihre.globalen und künftigen Auswirkungen
zu errechnen. Dafür sehend gemacht, muß die Freiheit erken-
nen: Durch sie selbst steht das Ganze auf dem Spiel, und sie
allein ist dafür verantwortlich. Damit komme ich von Wurzel
und Macht zur Pflicht unserer Freiheit.

4. Daß sie sich Grenzen setzt, ist erste Pflicht aller Freiheit, ja
die Bedingung ihres Bestands, denn nur so ist Gesellschaft
möglicheohne die der Mensch nicht sein kann und auch nicht
seine Herrschaft über die Natur. Je freier die Gesellschaft
selber ist, je weniger also die natürliche Gattungsfreiheit
durch die Herrschaft von Mensch über Menschen beein-
trächtigt wird, desto evidenter und unerläßlicher wird im
zwischenmenschlichen Verhältnis die Pflicht freiwilliger Be-
grenzung. Vergleichbares nun tritt ein im Verhältnis der
Menschheit-zur Natur. Wir sind freier darin geworden durch
unsere Macht, und ebendiese Freiheit bringt ihre Pflichten
mit sich [diesmal allerdings einseitige]. Schritthaltend mit den
Taten unserer Macht reicht unsere Pflicht jetzt über den
ganzen Erdkreis und in die ferne Zukunft. Sie ist unser aller
Pflicht, denn wir alle sind Mittäter an den Taten und Nutz-
l)jeßer an den Gewinnen der kollektiven Macht. Jetzt und
hier, so sagt uns die Pflicht, sollen wir unsere Macht zügeln,
also unseren Genuß kürzen, um einer künftigen Menschheit
willen, die unsere Augen nicht mehr sehen werden. Ist unsere
moralische Natur; auch dafür ausgerüstet, wie sie es für das
zwischenmenschliche Nahverhältnis ist? Gerechtigkeit, Ach-
tung, Mitleid, Liebe - Impulse dieser Art, die in uns schlum-
mern und im konkreten Miteinander wachgerufen werden,
helfen uns da aus der Enge der Selbstsucht heraus. Nichts
Ähnliches ruft der abstrakte Inbegriff hypothetischer künfti-
ger Menschenwesen in uns hervor; und Furcht vor Vergel-
tung fällt hier gänzlich weg. Aber wir haben die Idee der
Verantwortung, sind stolz auf die Fähigkeit dazu; und das
tief in uns angelegte Gefühl dafür, so urtümlich bekundet im
Eltern-Kind- Verhältnis, wo es mit seiner Sorge bereits über
alle Unmittelbarkeit hinaus in eine gar nicht mehr 'eigene
Zukunft reicht: dies Gefühl, zur Idee erweitert, kann die
Brücke von der Nächstenethik zu dem Fernen, nur Vorge-
stellten, schlagen, das noch mit keiner Stimme zu uns spre-
chen kann - von dem aber-bekannt ist, daß es in die Willkür
unserer Macht geraten ist. Verantwortung sagt, daß es ihr
darum anvertraut ist.
Wer S9 spricht, muß sich allerdings die Frage gefallen lassen,
die sich beim Säugling in der Wiege gar nicht erst stellt, ja
pervers wäre: warum denn überhaupt dies Spätere sein soll-=-
in unserem Fall: eine Menschheit auf Erden? Ja, Leben über-
haupt? Mit der von mir versuchten Antwort darauf will ich
Sie nicht plagen, sondern hier einfach Ihre Zustimmung un-
terstellen, gegen Schopenhauer, Buddha, Gnostiker und Ni-
hilisten, qaß die in endloser Werdemühe entstandene Vielfalt
des Lebens als ein Gutes oder ein »Wert an sich« anzusehen
ist und die zuletzt daraus hervorgegangene Freiheit des Men-
schen als Gipfel dieses Wertwagnisses. Das stellt den Träger
dieser Auszeichnung mit seiner Macht, die jetzt erkennbar
das Ganze gefährdet, unter die' besagte Pflicht. So erhält die
Ethik zum erstenmal eine quasi kosmische Dimension, über
alles Zwischenmenschliche hinaus.

97"
5. Dies zugestanden, bleibt aber immer noch die' Frage: An
wen konkret richtet sich dieser Ruf? Wer kann ihm Folge
leisten? Wer soll die Opfer bringen, die seine. Befolgung ver-
langt? Ich sprach vorher .von »unser aller Pflicht« und muß
jetzt spezifischer werden. Das angesprochene »Wir« meint
zuerst das der. fortgeschrittenen Industriegesellschaften. Wir
vom sogenannten »Westen«.haben den technologischen Ko-
loß geschaffen und auf dieWelt losgelassen; wir sind weiter-
hin die Hauptverzehrer seiner Früchte und darin Hauptsün-
der an der Erde. Unserer Üppigkeit auch ist Einschränkung
wohl zuzumuten. Es wäre obszön, den Hungernden verarm-
ter Weltteile Umweltschonung zum Besten der Zukunft, gar
noch der globalen, zu predigen. Siezwingt die nackte Not des
Tages zu eben dem Zerstören, das in noch größere Not
späterer]ahre führt. Sie vorab aus diesem Zwang zu befreien,
muß das Ziel aller Entwicklungshilfe sein, zu welchem sie
ihrerseits freilich mindestens die Geburtenbeschränkung bei-
tragen müßten. Doch das eigentliche Problem liegt bei den
Reichen dieser Erde, den Prassern mit ihrer globalen Schuld
und Pflicht. Es ist ein Problem nicht der Ohnmacht, sondern
der Macht und damit - vorläufig immer noch - der Freiheit.
Aber wer ist hier ihr Subjekt? Die technologische Macht ist
kollektiv, nicht individuell. Also kann nur kollektive Macht,
und das heißt zuletzt: politische, sie auch bändigen. Diese
aber geht in den parlamentarischen Demokratien vom Volke
aus, das seine Regierungen wählt und dessen Willen sie aus-
führen sollen. Daher. ist durch politische Freiheit auch jeder
einzelne Subjekt der neuen Pflicht, Aber Mehrheiten ent-
scheiden, und diese werden.im Tagesverlauf der Dinge nicht
von selbst auf seiten selbstloser Fernsicht sein, mit den Ver-
zichten am verwöhnten jetzrinteresse, die sie verlangt. Und
doch hängt der Fortbestand der Freiheit selber davon ab,
denn sie würde verlorengehen in dem allgemeinen Bankrott,
in den die ungehemmte. Selbstindulgenz ausmünden muß.
Was ich in diesem Zusammenhang einmal vom drohenden
»Cespenst der Tyrannei« gesagt habe, ist mir statt als War-
nung als Empfehlung ausgelegt worden: als ob ich der Dik-
tatur für die Bewältigung unserer Probleme das Wort redete.
Was ich meinte, war, daß in Extremsituationen kein Raum
bleibt für die umständlichen Entscheidungsprozesse der De-
mokratie und wir es dazu nicht erst kommen lassen dürfen.
Die Gattungsfreiheit des Menschen, seine biologische Mit-
gift, kann nur mit ihm untergehen; aber die politische Frei-
heit, eine besondere und geschichtlich seltene Ausprägung
davon, kann sich auch wieder verscherzen. Sie würde es,
wenn sie die bisher größte Probe aller menschlichen Freiheit
für sich nicht besteht. Was sind die Aussichten, daß sie diese
bestehen wird? Was ihre möglichen Mittel dazu? Hierzu
kann ich nur sehr Unzureichendes sagen und nichts mit Si-
cherheit, die ja der unvorgreiflichen Natur der Freiheit nach
nicht zu erwarten ist.

6. Da ist zuerst. einmal der nicht-institutionelle Weg einer


Erziehung des Allgemeinbewußtseins durch solche, die das
Gewissen dazu treibt und Sachkenntnis dafür qualifiziert und
die sich spontan in dieser Aufgabe zusammenfinden. Die
Erziehung" besteht in nichts anderm als dem Öffnen der Au-
gen für das, was sie schon sehen, so daß alle es sehen können.
Ihre Beglaubigung, wie gesagt, ist Sachkenntnis, und schon
deswegen müssen sie sich zusammentun, denn nur das ver-
einte Wissen vieler Fächer kann der enormen Streuung der
Probleme einigermaßen gerecht werden. Unermüdliche Auf-
klärung durch solche Wortführer kann einen Druck der öf-
fentlichen Meinung erzeugen, dem dann auch Widerstre-
bende sich beugen. Ich denke also, Gott behüte, nicht an
»charismarischeFührer«, sondern ein Immer-mehr von dem
sehr Nüchternen, das seit einiger Zeit in Amerika und Europa
wie eine neuentstehende »Internationale« über Ländergren-
zen hinweg schon im Gange ist: das stete Lautwerden sachli-
cher Einsicht und Sorge, die von jedem Verdacht des Interes-
ses frei ist. Der Wid'erhalLdarauf bezeugt, daß dies nicht ganz
ohne Wirkung ist ~ zunächst auf das öffentliche Bewußtsein

99
und von da vielleicht auch auf das Verhalten, privates und
politisches. Da liegt eine der Chancen der Freiheit, die Hoff-
nung gibt.

7. Aber mit der nicht-institutionellen Spontaneität ist es auf


die Dauer nicht getan. Der grundsätzliche Konsens, den sie
günstigenfalls erzielen kann, muß staatsrechtlich befestigt
werden. Auf diesem Felde bin ich unbewandert. Von berufe-
nerer Seite habe ich mir sagen lassen, daß sich da an vorgrei-
fende Verfassungsbestimmungen denken läßt, die technische
Neuentwicklungen besonders folgenträchtiger Art mit viel-
leicht irreversiblen Auswirkungen auf das Leben künftiger
Generationen dem Belieben des Marktes entziehen und be-
sonderer legislativer Entscheidung vorbehalten, die er-
schwert wird durch längere Moratorien, qualifizierte Mehr-
heiten und dergleichen. Also zum verfassungsrechtlichen
Schutz der Grundrechte des einzelnen ein verfassungsrechtli-
cher Schutz für die Grundpflichtendes.Ganzen gegenüber der
Zukunft. Anders als dort gälte hier: Verboten ist, was nicht
ausdrücklich erlaubt wird. So etwas könnte sich die Demo-
kratie in vorgreifender Besinnung wohl auferlegen. Aber es
bezöge sich eben nur auf Neues und jeweils Spezifisches,
nicht auf das Unheilschwangere, das schon im Gange ist als
ein Ganzes. Darin greift. bis jetzt die öffentliche Gewalt nur
hin und wieder ein, etwa durch Entsorgungsauflagen, meist
nach schon sichtbar und fühlbar gewordenem Schaden. Die
Flut als solche steigt weiter, auch ohne neuen Zufluß. Sie
einzudämmen, dem von ihr ingesamt drohenden Unheil vor-
zubeugen, erfordert Änderungen in unseren Verbraueberge-
wohnheiten, also in unser aller Lebensstil,. und damit im
gesamten Wirtschaftsgefüge, das ihm dient und gerade davon
lebt. Wie das geschehen kann, ohne seinerseits Unheil anzu-
richten: (wie.Massenarbeitslosigkeit), das noch mehr. schrek-
ken Würde als das entferntere. Übel, dem es vorbeugen soll,
weiß ich nicht. Hier einen gangbaren Weg auf dem Grate
zwischen zwei Abgründen zu finden, ist eine Aufgabe für

100
Nationalökonomen. Opfer an Marktfreiheit würde er sicher
verlangen, aber die politische Freiheit kann diese dabei über-
leben.

8. Soweit a11 dies nun wegen des Willens elementes dabei auch
eine Frage der Psychologie und nicht nur sachlicher Mach-
barkeit ist, so "kann der nötigen Willigkeit etwas sehr Unfrei-
williges von den. Dingen selbst her zu Hilfe kommen: .der
Schock wirklicher und wiederholter Katastrophen kleineren
Ausmaßes, ·die uns den gehörigen Schrecken vor der großen
Katastrophe einjagen, mit der die technologische Ausschwei-
fung uns für: die Zukunft bedroht. Tschernobyl und Wald-
sterben haben schon jetzt für die meisten mehr getan als alles
Predigen abstrakter. Weitsicht. Mehr davon und Alarmieren-
deres wird folgen. Es ist nicht schmeichelhaft für den- Men-
schen, daß es dessen bedarf, aber für mich ist es Teil meiner
bescheidenen Hoffnung. In einem Punkt ist sie gar nicht so
bescheiden: Besagte Schocks - Schreckschüsse der gepeinig-
ten Natur - kennen keine Hoheitsgrenzen und könnten
schließlich die beiden technologischen Riesen, kapitalisti-
schen Westen und kommunistischen Osten, zu gemeinsamer
Abwehr der als gemeinsam erkannten Gefahr zusammenfüh-
ren --also auch zu einem besseren Frieden als dem der gegen-
seitigen Abschreckung. Letztlich setzt bei alledem meine
Hoffnung doch auf die menschliche Vernunft - dieselbe, die
sich schon in der Gewinnung unserer Macht so stupend
bewiesen hat und jetzt ihre Lenkung und Beschränkung in die
Hand nehmen muß. An ihr zu verzweifeln, wäre selber unver-
antwortlich und ein Verrat an uns selbst.
Über eines müssen wir uns zum Schluß im klaren sein: eine
Patentlösung für unser Problem, ein Allheilmittel für unsere
Krankheit gibt es nicht. Dafür ist das technologische Syn-
drom viel zu komplex, und von einem Aussteigen daraus
kann nicht die Rede sein. Selbst mit der einen großen » Um-
kehr« und Reform unserer Sitten würde das Grundproblem
nicht verschwinden. Denn das technologische Abenteuer sel-

ror
ber muß weitergehen; schon die rettenden Berichtigungen
erfordern. immer neuen Einsatz des technischen und wissen-
schaftlichen Ingeniums, der seine eigenen neuen Risiken er-
zeugt. So ist die Aufgabe der Abwendung permanent, und
ihre. Erfüllung muß immer Stückwerk bleiben und oft nur
Flickwerk.
Das bedeutet, daß wir wohl in alle Zukunft im Schatten
drohender Kalamität leben müssen. Sich des Schattens be-
wußt sein aber, wie wir es jetzt eben werden, wird. zum
paradoxen Licht der Hoffnung: Er läßt die.Stimme der Ver-
antwortung nichtverstummen. Dies Licht leuchtet nicht wie
das der Utopie, aber. seine Warnung erhellt .unsern Weg -
zusammen mit dem Glauben an Freiheit und Vernunft. So
kommt am Ende doch das Prinzip Verantwortung mit dem
Prinzip Hoffnung zusammen - nicht mehr die überschweng-
liehe Hoffnung auf ein irdisches Paradies, aber die be-
scheidenere auf eine Weiterwohnlichkeit der Welt und ein
menschenwürdiges Fortleben unserer Gattung auf dem. ihr
anvertrauten, gewiß nicht armseligen, aber doch beschränk-
ten Erbe. Auf diese Karte möchte ich setzen.
Quellenhinweise

Dem bösen Ende näher. Gespräch mit Matthias Matussek und Wolf-
gang Kaden, -Der Spiegel-, 11. 5. 199 2

Der ethischen Perspektive muß eine neue Dimension hinzugefügt wer-


den. Gespräch mit Mischka Dammaschke, Horst Gronke und Christoph
Schulte, -Deutsche Zeitschrift für Philosophie-, Heft I, 1993

Die Welt ist weder wertfrei noch beliebig verfügbar. Gespräch mit
Christian Schütze, -Süddeursche Zeitung-, 11. 2.. 1992

Maschinen werden niemals ein Bewußtsein haben können. Gespräch mit


Norbert Lossau, -Die Welt<, 29. 11. 1991

Wir dürfen das Leben nicht belasten, indem wir uns einfach gehenlassen.
Gespräch mit Wolf Scheller, -Allgemeine Jüdische Wochenzeitung<,
18. I. 1990

Mitleid allein begründet keine Ethik. Gespräch mit Marion Gräfin Dön-
hoff und Reinhard Merkel, -Die Zeit-, 2.5.8. 1989

Ohne Opferbereitschaft gibt es wenig Hoffnung. Gespräch mit Christine


Claussen und Heinrich Jaenecke, -Stern-, 23.6. 1988

Die Bereitschaft zur Furcht ist ein sittliches Gebot. Gespräch mit Alexan-
der U. Martens, -Süddeutsche Zeirung-, 7.18. 2.. 1981

Technik, Freiheit und Pflicht. Dankesrede anläßlich der Verleihung des


Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1987 in
Frankfurt am Main. In: Hans Jonas, »Wissenschaft als persönliches
Erlebnis«, Göttingen 1987. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des
Verlags Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. (In [] stehen Stücke aus
dem ursprünglich eingereichten Manuskript, die Hans jonas für den
mündlichen Vortrag gestrichen hat.)

Wir danken den Interviewpartnern und Verlagen für die freundlichen


Abdruckgenehmigungen.

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