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ANDREI CORBEA-HOISIE*

CZERNOWITZER DEUTSCHSPRACHIGE PRESSE


VOR UND NACH DEM 1. WELTKRIEG

Die Reflexion über eine kulturelle Identität Zentraleuropas, die in den letzten zwei
Jahrzehnten dank der neuesten Erkenntnisse der cultural studies die Vorstellung ihres
„Wesens“ als jenes eines umfangreichen, jenseits geographischer Rahmen vom Plura-
lismus geprägten „Kommunikationsraumes“ entwickelte, in dem in einem gewissen
sozialen Kontext und aufgrund eines gewissen Regelsystems die Individuen mittels
verschiedener Zeichen, Symbole oder Codes „verbal und nonverbal kommunizieren“, 1
stützte sich auf einem riesigen empirischen Belegmaterial, das u.a. auch von der
Presseforschung zur Verfügung gestellt wurde. Zahlreiche Fallstudien bezogen sich
z. B. auf die Vielfalt deutschsprachiger Presseorgane, die seit dem 18. Jahrhundert in
mehreren urbanen Zentren der Habsburger Monarchie ausserhalb der „Erbländer“ (von
Lemberg bis Laibach und von Temesvar bis Reichenberg) kontinuierlich erschienen und
zur Bildung einer modernen Öffentlichkeit beitrugen.2 Dass in dieser bunten Landschaft
die späte Blüte der deutschsprachigen Presse in der Bukowina, der östlichsten Provinz
der Monarchie, und besonders in deren Hauptstadt Czernowitz ein an sich ausser-
gewöhliches Phänomen im Vergleich zu den Gegebenheiten in anderen an Wien viel
näheren Regionen bildete, steht heute ausser Zweifel. 3 Eine fast vollständige Liste aller
deutschsprachigen Blätter, die von 1848 und bis 1940 in dem eigentlich nur von etwa
21 Prozent als deutschsprachig erwägten Einwohnern besiedelten, nach 1918 an

*
Prof. univ. PhD, „Alexandru Ioan Cuza“ Universität, Iași.
1
Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen
Milieus in Zentraleuropa, Wien/Köln/Weimar, Böhlau, 2010, S. 101.
2
Vgl. Die Habsburgermonarchie 1848−1918, Bd. VIII/2, Hrsg. von Helmut Rumpler & Peter
Urbanitsch, Wien, OeAW Verlag, 2006, besonders das 2. Kapitel: Gabriele Melischek & Josef Seethaler,
Presse und Modernisierung in der Habsburgermonarchie, S. 1535−1714. Vgl. auch die zahlreichen
Sammelbände von Fallstudien aus Mittelosteuropa, wie: Benachrichtigen und Vermitteln. Deutschsprachige
Presse und Literatur in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Hrsg. von Mira Miladinovic
Zalaznik, Peter Motzan und Stefan Sienerth, München, IKGS Verlag, 2007; Regionalpresse Österreich-
Ungarns und die urbane Kultur, Hrsg. von Vlado Obad, Wien, Feldmann Verlagsgesellschaft, 2007;
Deutschsprachige Öffentlichkeit und Presse in Mittelost- und Südosteuropa (1848−1948), Hrsg. von Andrei
Corbea-Hoisie, Ion Lihaciu, Alexander Rubel, Iași/Konstanz, Editura Universității „Alexandru Ioan Cuza“/
Hartung-Gorre Verlag, 2008; Zwischenräume. Kulturelle Transfers in deutschsprachigen Regionalperiodika
des Habsburgerreichs (1850−1918), Hrsg. von Matjaz Birk, Wien, Lit Verlag, 2009; Medialisierung des
Zerfalls der Doppelmonarchie in deutschsprachigen Regionalperiodika zwischen 1880 und 1914, Hrsg. von
Zoltán Szendi, Wien, Lit Verlag, 2014 usw.
3
Vgl. Lothar Höbelt, Die deutschsprachige Presse in der Bukowina, in Die Habsburgermonarchie,
Bd. VIII/2 (Anm. 2), S. 1877−1880.

Anuarul Institutului de Istorie „A. D. Xenopol”, t. LIII, 2016, p. 349−357


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Rumänien eingegliederten habsburgischen Kronland veröffentlicht wurden, verzeichnete


312 von allerlei Arten von Presseprodukten, von Tageszeitungen bis strikt speziali-
sierten Fachzeitschriften und Jahrbüchern, besetzten Positionen.4 Zum Vergleich
wurden in einer breiteren Zeitspanne (1809−1944) 338 Pressetitel (einschliesslich
Kalender) in rumänischer Sprache gezählt – d.h. in der Sprache der sogenannten
„historischen Nation“ der Bukowina, die nach dem Anschluss der Provinz an Rumänien
sogar zur einzigen Staatssprache erklärt wurde.5 Auch nur diese blossen Zahlen weisen
darauf hin, dass nicht nur der Prozess „der Medialisierung gesellschaftlicher Kom-
munikation“6 im späten 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, sondern auch deren
weiteren Dynamik im politisch-sozialen Umfeld in der Region nach 1918 unter
besonderen Umständen verlief, in denen bei näherer Betrachtung der komplexen
Verflechtung zwischen Ökonomie, Gesellschaft und Kultur sich ein ausdifferenzierteres
Bild der offenbar hervorragenden Rolle des Deutschen gerade im Unterschied zu
anderen Gegenden ergibt, die ebenfalls zum zentraleuropäischen Kommunikationsraum
zugezählt werden dürfen.
Dass schon um 1900 diese Sachlage für eine Selbstverständlichkeit gehalten
wurde, wird eindeutig u.a. von einer Äusserung Ernst Viktor Zenkers, eines der ersten
österreichischen Experten im Bereich der Zeitungskunde, bestätigt, als er in einer für die
Weltausstellung in Paris vorgesehenen Darstellung der österreichischen Presse
behauptete, dass Czernowitz „als der vorgeschobenste östliche Posten eines compacten
deutschen Zeitungswesens überhaupt“ zu betrachten sei.7 Nicht der Inhalt der
Mitteilung, sondern die Akzente, die damit gesetzt wurden, verdienen allerdings einen
besonderen Kommentar: die Formulierung greift auf ein Vokabular zurück, das die
Verwendung des Deutschen offensichtlich mit einer politisch-militärischen Metapher
verbindet, wobei die geographische Positionierung auch auf eine virtuelle Frontlinie im
Osten Europas hinweist, in dem die zur deutschen „Kultur“ zugehörende Presse als
Waffe in einer Konfrontation mit einem unbestimmten Fremden zu dienen hatte. Eine
derartige Diktion brachte allerdings nichts Neues in einem Diskurs, der in
verschiedenen Variationen die kulturell gefärbte offensiv-defensive Legitimierungs-
ideologie des Habsburgerstaates nach 1848 auszudrücken pflegte: er wirkte z.B.
vollkommen in der Argumentation, die die Mitglieder des Wiener Reichsrates 1874
überzeugte, für die Gründung einer deutschsprachigen Universität in Czernowitz und

4
Vgl. die von Markus Winkler und Ion Lihaciu angefertigte Liste der deutschsprachigen Periodika
aus der Bukowina, in Prolegomene la un dicționar al presei de limbă germană din Bucovina istorică
(1848−1940), ed. Andrei Corbea-Hoisie, Ion Lihaciu, Markus Winkler, Iași, Editura Universității „Alexandru
Ioan Cuza“, 2012, S. 151−203. Diese Liste ist erheblich umfangreicher als diejenige, die von Erich
Prokopowitsch aufgestellt und von vielen Forschern – u.a. auch von Markus Winkler in einer früheren Studie –
benutzt und zitiert wurde. Vgl. Erich Prokopowitsch, Die Entwicklung des Pressewesens in der Bukowina,
Wien, Verlag der Typographischen Anstalt, 1962; Markus Winkler, Wandel im Zeitalter der Modernisierung.
Czernowitzer Presse vor dem Ersten Weltkrieg, in Presse und Stadt. Zusammenhänge, Diskurse, Thesen,
Hrsg. von Susanne Marten-Finnis und Markus Winkler, Bremen Edition Lumière, 2009, S. 185−202.
5
Vgl. Ioan V. Cocuz, Matei Hulubei, Presa românească în Bucovina (1809−1944), „Anuarul
Muzeului Județean“, Suceava, XVI, 1991.
6
Zur Medialisierung gesellschaftlicher Kommunikation in Österreich und Ungarn. Studien zur Presse
im 18. und 19. Jahrhundert, Hrsg. von Norbert Bachleitner und Andrea Seidler, Wien/Berlin, Lit Verlag, 2008.
7
Ernst Viktor Zenker, Geschichte der Journalistik in Österreich verfasst aus Anlass der Weltausstel-
lung Paris 1900, Wien, K.k. Hof- und Staatsdruckerei, 1900, S. 82. Vgl. auch Wolfgang Duchkowitsch,
Verstellte oder hellsichtige Blicke? Zeitungskunde und Zeitungskultur, in Zeitungen im Wiener Fin de siècle,
Hrsg. von Sigurd Paul Scheichl und Wolfgang Duchkowitsch, Wien/München, Verlag für Geschichte und
Politik/R. Oldenbourg Verlag, S. 41 f.
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nicht in Olmütz oder Salzburg zu stimmen: der Bukowiner Abgeordnete Tomasczuk


nannte damals als „echt österreichische Tat“ die von der Regierung beabsichtigte
Errichtung einer Universität „in der Ostmark des Reiches“, die die Rolle einer
„geistige[n] Festung“ übernehmen konnte, um einerseits „die Zusammengehörigkeit der
Monarchie“ wirksamer als „mit Kanonen bespickte Bollwerke“ zu beschützen und
andererseits deren „Macht und Ansehen […] bei den kulturbedürftigen Grenznachbarn“
zu fördern.8 Kein anderer als der deutschnationale Freund des Kronprinzen Rudolf, der
einst in Czernowitz ausgebildete Jude Karl Emil Franzos, hatte jene langlebige Formel
erfunden, die die politischen Kalküls der Wiener Kabinette unter kulturmissionarischen
Ausreden verbergen sollte: „Halb-Asien“ bezeichnete er den vermeintlich rückständigen
Osten Europas im Vergleich zu einem Westen, über dem „die Sonne der Kultur
leuchtet“; laut ihm hängte ein erfolgreiches „Cultiviren“ von einem „vermehrten
Einfluss des deutschen Geistes“ ab.9 Mitten im Ersten Weltkrieg klang die gleich-
gesinnte Stellungnahme eines Hugo von Hofmannsthals unmissverständlicher, für den
die zentraleuropäische Monarchie „zugleich Grenzmark, Grenzwall, Abschluss […]
zwischen dem europäischen Imperium und einem […] stets chaotisch bewegten Völker-
gemenge Halb-Europa, Halb-Asien und zugleich […] Ausgangspunkt der Kolonisation,
der Penetration, der sich nach Osten fortpflanzenden Kulturwellen“ bedeutete. 10
Das Wort „Kolonisation“, das Hofmannsthal vorbehaltlos anbrachte, nahm 50 Jahre
später Claudio Magris in seiner Arbeit über den „habsburgischen Mythos“ wieder auf,
indem er die Utopie des altösterreichischen „Vielvölkerstaates“ mit dem Bestreben einer
„kulturellen Kolonisation Osteuropas“ verknüpfte. 11 In diesem Zusammenhang gehört
um so mehr der Fall der Bukowina, den noch Karl Emil Franzos als Beispiel der
gelungenen „Kulturmission Österreichs“ in „Halb-Asien“ anführte,12 in die von den
postcolonial studies entfachte Diskussion über einen Vergleich zwischen den üblichen
Kolonialismus-Definitionen und der von der nichtkolonialen Macht Österreich-Ungarn
ausgeübten Praxis der sogenannten „inneren Kolonisierung“. 13 Auf dem für die letzten
Dezennien der Monarchie typischen „Spannungsfeld zwischen der Anerkennung von
Differenz und den subtilen Mechanismen kultureller Hegemonie“14 war eine brutale
Zerlegung der autochtonen Kultursysteme – wie im „klassischen“ Kolonialismus –
undenkbar, jedoch soll die liberale Haltung gegenüber dem Sprachpluralismus
letztendlich – einschliesslich in der Bukowina – ebenso einer in dem eigentümlichen
„kolonialen“ Programm eingeschriebenen „Zähmung des Chaos“ und „Herstellung einer

8
Apud Rudolf Wagner, Alma Mater Francisco Josephina. Die deutschsprachige Nationalitäten-
Universität in Czernowitz, München, Verlag Hans Meschendörfer, 1979, S. 26 f.
9
Vgl. Andrei Corbea-Hoisie, Halb-Asien, in Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in
Zentraleuropa, Hrsg. von Johannes Feichtinger und Heidemarie Uhl, Wien/Köln/Weimar, Böhlau Verlag,
2016, S. 73−81, hier S. 76.
10
Hugo von Hoffmansthal, Die österreichische Idee, in Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II
1914−1924, Hrsg. von Bernd Schoeller, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, 1986, S. 454−458, hier S. 456.
11
Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Paul Zsolnay Verlag,
2000 (3. Aufl.), S. 26.
12
Karl Emil Franzos, Ein Culturfest, in Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina,
Südrussland und Rumänien, Leipzig, Duncker & Humblot, 1876, S. 186.
13
Johannes Feichtinger, Habsburg (post-)colonial. Anmerkungen zur Inneren Kolonisierung in
Zentraleuropa, in Habsburg postcolonial, Hrsg. von Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch, Moritz Csaky,
Innsbruck/Wien/München/Bozen, Studien Verlag, 2003, S. 13−32.
14
Heidemarie Uhl, Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als
Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne, in Ebd., S. 45−54, hier S. 51.
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taxonomischen Ordnung“ gedient haben. 15 Das asymmetrische Machtverhältnis


zwischen dem funktionalen Druck der Zentralisierung und dem schwachen Widerstand
traditioneller Strukturen an den Peripherien förderte die aktive „Homogenisierung von
unten“ nicht zuletzt durch jene „Definitionsmacht“ der Herrschenden, die auf der
Diskursebene erlaubte, die Bilder des „Eigenen“ und des „Anderen“, des „Orients“ und
des „Okzidents“, sowie die Vorstellungen des „Fortschritts“ und der „Barbarei“ nach
den eigenen Kriterien zu konstruieren und den anderen aufzudrängen; die aufklärische
Überzeugung, das eigene zivilisatorische Modell überall durchsetzen zu müssen enthielt
auch jene von Überlegenheitsgefühl genährte Kombination zwischen „Sendungs-
glauben“ und „Vormundschaftspflicht“, die Jürgen Osterhammel für definitorische
Züge der Kolonisatoren hielt.16 Auf das vorher zitierte Satz Ernst Viktor Zenkers
zurückkommend, scheint daher die Frage, inwieweit die deutschsprachige Presse in der
Bukowina, die richtig erst in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts aufzublühen begann,
als Produkt und gleichzeitig Produzent eines derartigen, im Geiste der „inneren
Kolonisation“ entstandenen Diskurses zu betrachten ist, durchaus rechtfertigt.
Susanne Marten-Finnis und Katarzyna Jastal glaubten in einem älteren Aufsatz,
darüber nicht zweifeln zu dürfen, als sie die deutschsprachige Czernowitzer Presse vor
dem 1. Weltkrieg „als Medium der kolonialen Ideologisierung durch das Habsburger
Reich“ charakterisierten.17 Auf dem ersten Blick scheinen die äusseren Umstände ihres
Bestehens einem solchen Standpunkt Recht zu geben. Die Entwicklung des Zeitungs-
wesens gehörte unmittelbar zum allgemeinen ökonomisch-sozialen Modernisierungs-
prozess (Zentral)Europas im 19. Jahrhundert; auch in der habsburgischen Bukowina
wurde sie von den überall in diesem geographischen Raum agierenden Bedingungen
favorisiert: Zunahme sozialer Mobilität, Urbanisierung, Ausbau des Bildungswesens,
Aufbruch der kommunalen Selbstverwaltung, Entstehung bürgerlicher Organisations-
formen (Vereine, Parteien) und damit auch einer an der politischen Partizipation liierten
bürgerlichen Öffentlichkeit, der die Presse als Kommunikationsmittel zu dienen hatte.18
Die technischen Fortschritte wie die Entfaltung des Telegraphs und Telefons oder der
Eisenbahnnetze haben ihrerseits die Rolle der Presse als erstklassigen Informations-
mittel verstärkt, und dies auch trotz verschiedener Versuche der Staatsmacht, sie durch
direkte Bevormundung oder durch ökonomische Massnahmen (Steuern usw.) zu
kontrollieren oder nur zu beeinflussen. Hinzu kam aber in der Bukowina jene
„spezifische Differenz“ im Vergleich zum übrigen zentraleuropäischen Raum, indem
die übliche Heterogenität der Städtebevölkerung gegenüber deren relativen Homo-
genität in den umgebenden ländlichen Gebiete hier (aus Gründen, die mit den lokalen
sprachlichen oder religiösen Zuständen zusammenhingen) verhältnismässig hoch
ausfiel:19 die Dominanz des Deutschen, das in Czernowitz und in den anderen Orten mit
urbanen Ansprüchen von fast einer Hälfte aller Einwohner als Umgangssprache bei den
österreichischen Volkszählungen nach 1870 angegeben wurde, verwies schon auf eine

15
Anil Bhatti, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, in Ebd., S. 55−68, hier S. 57.
16
Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München, C. H. Beck, 2001
(3. Aufl.), S. 115.
17
Susanne Marten-Finnis, Katarjyna Jastal, Presse und Literatur in Czernowitz 1918−1940. Vom
kolonialen Diskurs zum eigenständigen Feld der kulturellen Produktion, in „Internationales Archiv für
Sozialgeschichte der deutschen Literatur“, 28, Bd/1, Heft (2003), S. 171−180, hier S. 178.
18
Markus Winkler, Wandel... (Anm. 4), S. 193.
19
Vgl. u. a. Adolf Ficker, Hundert Jahre (1775−1875), Wien, Verlag der k.k. Statist. Zentral-Kom-
mission, 1875 [Sonderdruck aus „Statistische Monatsschrift“, Juli 1875, S. 403−429].
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offensichtliche soziale Kluft zwischen Enklaven städtischer Zivilisation, deren meist


alphabetisierten bürgerlichen Schichten kulturell im Banne eines metropolitanischen
Zentrums zu stehen schienen, das gleichzeitig auch die Staatsmacht verkörperte, und der
sogenannten „autochtonen“, meist noch in bäuerlich-patriarchalen Umständen lebenden
Bevölkerung. Dieses deutschsprachige Bürgertum in Czernowitz und andernorts in der
Bukowina, das im Laufe der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts die Zeitungen
und Zeitschriften aus Wien, Prag, Lemberg oder Pest zu lesen pflegte,20 erschuf sich
aufgrund deren Modelle (und jenseits der halbamtlichen Czernowitzer Zeitung21) eine
eigene Presse, sobald die Voraussetzungen für die Erfüllung dessen Kommunikations-
bedürfnisses gegeben waren, wobei sein existentielles Selbstverständnis als Werk des
habsburgischen Modernisierungs- und gleichzeitig Machtfestigungsantriebs am Rande
der Monarchie in die implizite Diskursideologie des eigenen medialen Auftretens
eingegangen ist. Die von aus Prag stammenden Verleger Hermann Czopp ab 1882
herausgegebene Bukowiner Rundschau, die 1888 erschienenen Bukowinaer Nachrichten,
die von einem Kartell reicher Czernowitzer Bürger gefördert wurde, die Bukowiner
Post, die 1893 von dem Journalisten Moritz Stekel im Dienste rumänischer, später
ruthenischer Potentaten gegründet wurde, die mit paar Monaten Abstand 1903
erschienenen, durchaus modern gestalteten und zu den wichtigsten Provinzzeitungen der
Monarchie zählenden Czernowitzer Tagblatt und Czernowitzer Allgemeine Zeitung und
schliesslich die mehr oder weniger kurzlebigen, nach der Jahrhundertwende zahlreichen
Partei- oder Fachblätter galten unabhängig von ihren politischen Unterschieden,
finanziellen Quellen, Auflagenstärke, Seitenumfang oder technischer Ausrüstung und
Leistung als Sprachrohr eines Publikums, das trotz und vielleicht wegen der ständig
aggressiveren und deswegen als lebensbedrohlich empfundenen national-partiku-
laristischen Ansprüche sich zu den für sich selbst legitimierend gehaltenen sozio-
kulturellen Werte des alten österreichischen Liberalismus bekannte, der die Selbster-
haltungs- und Reproduktionsstrategien der Habsburger Macht an den Peripherien des
Reiches unter Ausreden wie jene des schützenden „Kulturstaates“ oder des „Verlangens“
seiner Völkerschaften nach einem vermeintlich verbindenden „Übernationalen, nach
Universalität, nach der deutschen Sprache“ immer noch vorzustellen pflegte.22
Es gibt dennoch in diesem Komplex eine wichtige Nuance, die zu einer gewissen
Mässigkeit in der übereilten Reduktion des Wesens eines Phänomens vielschichtiger
Dimension wie jenes der deutschsprachigen Presse in der Bukowina auf einen
„kolonialen“ (Selbst)auftrag ermahnt. Dass das deutschsprachige Bürgertum in
Czernowitz und in den anderen Städten des habsburgischen Kronlandes zahlenmässig
nicht von Abkömmlingen deutscher und österreichischer Kolonisten, sondern eher von
einheimischen oder migrierten Juden, die einen zunächst erzwungenen und später
freiwilligen Akkulturationsprozess durchmachten, gebildet wurde, wurde schon von den
frühen Untersuchungen zum Wesen der deutschsprachigen Zivilisation der Bukowina
erkannt. Dem deutschen Historiker Martin Broszat ist eine Schlüsselbemerkung dazu zu
verdanken: die assimilierungswilligen Bukowiner Juden, die gerade weil sie in dieser

20
Markus Winkler, Wandel... (Anm. 4), S. 195 ff.
21
Die Czernowitzer Zeitung folgte 1867 der ersten, 1861 von dem Gymnasiallehrer und Dichter Ernst
Rudolf Neubauer gegründeten Lokalzeitung Bukowina. Vgl. Ion Lihaciu, Czernowitz 1848−1918. Das kulturelle
Leben einer Provinzmetropole, Kaiserslautern und Mehlingen, Parthenon Verlag, 2012, S. 170−208.
22
Philipp Menczel, Trügerische Lösungen. Erlebnisse und Betrachtungen eines Österreichers,
Stuttgart/Berlin, Deutsche Verlags-Anstalt, S. 46. Menczel gründete 1903 die Czernowitzer Allgemeine
Zeitung, die er bis zum Ersten Weltkrieg auch leitete.
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Gegend „sich zur selbstbewussten, gesellschaftlich führenden Kraft entwickeln konnten,


[…] ihre Bereitschaft zur Integration in den deutsch-österreichischen Staat“ ständig
wachsen liessen, haben sich kulturell, aber auch politisch durch ihr Engagement (im
Bunde mit den österreichischen Behörden) auf der deutsch-liberalen Seite die hiesige
Vertretung der „deutschen Kulturnation“ und des „homo austriacus“ angeeignet. 23 Ihre
entscheidende Beteiligung an den Pressegründungen der letzten vier Jahrzehnte vor
dem 1. Weltkrieg einerseits und die massive Präsenz von Juden unter den in den
Czernowitzer Zeitungsredaktionen tätigen Journalisten andererseits, 24 die eigentlich ein
in Wien und anderen zentraleuropäischen Städten sozial begründetes Modell ihrer
übereifrigen Mitwirkung an dem öffentlichen Raum reproduziert, 25 sollte gerade an der
Peripherie des Reiches dafür sorgen, dass die habsburgische Staatsideologie auch
diskursiv übertragen, verbreitet und durchgesetzt wird. Die erst jüngst erreichte volle
Emanzipation setzte offensichtlich bei den Nachfahren jener „Ostjuden“ Galiziens und
der Bukowina, die durch den kolonialen Druck der im Namen „josephinischer“
Aufklärung agierenden Behörden sich an die Erfordernisse einer vom „Westen“ her
ertrotzten „Zivilisation“ anpassen mussten, jene Mechanismen im Gange, die Homi
Bhabha als „Mimikry“ nannte: im Namen einer illusionären „deutsch-jüdischen
Symbiose“, die ihnen eine gewisse Immunität gegen eine misstrauische Umgebung zu
sichern schien, übten sich die an sich weiterhin Dominierten an dem Diskurs der
Dominierenden, den sie zu simulieren lernten. 26 „Indem der post-aufklärerische
bürgerliche Traum den kolonialen Zustand oder das koloniale Subjekt «normalisiert»,
entfernt er sich von seiner eigenen Sprache der Freiheit und produziert ein anderes
Wissen seiner Normen“;27 das Bewusstwerden der Differenz seitens der stellvertre-
tenden Dominierten wird allerdings von der kolonisierenden Metropole strikt abgelehnt,
wie die negative Haltung der Wiener Regierung gegenüber den Bemühungen, bei der
Verabschiedung 1909 des neuen Wahlgesetztes für die Bukowina durch die Einführung
eines nationaljüdischen Wahlkataster eine jüdische Nationalität de facto anerkennen zu
lassen, zeigte.28 Statt zu „re-präsentieren“, bleibt jedoch der vermeintlich „koloniale“
Diskurs der von Juden getragenen Czernowitzer deutschsprachigen Presse volens nolens
– wie auch Bhabha aus seiner post-kolonialen Sicht festzustellen meint – in einem als-
ob-Register, er „imitiert“ und „wiederholt“, 29 ohne dass die Spuren der „Unechtheit“
definitiv entfernt werden konnten:30 die brutalen Angriffe seitens der nach 1900 immer

23
Martin Broszat, Von der Kulturnation zur Volksgruppe. Die nationale Stellung der Juden in der
Bukowina im 19. und 20. Jahrhundert, in „Historische Zeitschrift“, Bd. 200 (1965), S. 576, 579. Vgl. auch
Andrei Corbea-Hoisie, Czernowitzer Geschichten. Über eine städtische Kultur in Mittel(Ost)-Europa,
Wien/Köln/Weimar, Böhlau Verlag, 2002, S. 29−42.
24
Andrei Corbea-Hoisie, Politik, Presse und Literatur in Czernowitz 1890−1940. Kulturgeschichtliche
und imagologische Studien, Tübingen, Stauffenburg Verlag, 2013, S. 43−54, 93−110.
25
Edith Walter, Österreichische Tageszeitungen der Jahrhundertwende. Ideologischer Anspruch und
ökonomische Erfordernisse, Wien/Köln/Weimar, Böhlau Verlag, 1994.
26
Andrei Corbea-Hoisie, Czernowitzer Geschichten (Anm. 23), S. 57 ff. Zum grundlegenden
Verhältnis zwischen „Dominierenden“ und „Dominierten“ in der Soziologie Pierre Bourdieus vgl. u.a. Pierre
Bourdieu, La Distinction, Paris, Minuit, 1982 (2. Aufl).
27
Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur (Dt. Von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl),
Tübingen, Stauffenburg Verlag, 2007 (2. Aufl.), S. 127.
28
John Leslie, Der Ausgleich in der Bukowina von 1910. Zur österreichischen Nationalitätenpolitik
vor dem Ersten Weltkrieg, in Geschichte zwischen Freiheit und Ordnung. Gerald Stourzh zum 60. Geburtstag,
Hrsg. von Emil Brix, Thomas Fröschl, Joseph Leidenfrost, Graz/Wien/Köln, Styria Verlag, 1991, S. 113−144.
29
Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur (Anm. 27), S. 129.
30
Bhabha zitiert aus Sigmund Freuds Studie „Das Unbewusste“ (1915): „Ihre Herkunft bleibt das für
ihr Schicksal Entscheidende. Man muss sie mit den Mischlingen menschlicher Rassen vergleichen, die im
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aktiveren antisemitischen Presse in der Bukowina, sei es in polnischer, rumänischer,


ukrainischer oder deutscher Sprache 31 beharren nicht nur in der Entlarvung jüdischer
Abstammung verschiedener Journalisten, 32 sondern sie erklären – nach einem schon
in Wien und anderswo, sogar von Karl Kraus praktizierten Muster 33 – die deutsch-
sprachig-liberalen Organe pauschal al „jüdisch“, wobei auch die alte Behauptung
rumänischer Nationalisten, die habsburgischen und die jüdischen Interessen an einer
Entnationalisierung der Bukowina sich begegneten und ergänzten, nachdrücklich und
regelmässig in die Welt gesetzt wurde. 34 Eine vorsichtige Abgrenzung von der
loyalistischen Identifizierung mit der habsburgischen Politik und ihrem offiziellen
Diskurs in Bezug auf die östlichen Reichsperipherien wurde erst von jenen
deutschsprachigen Presseorganen durchgeführt, die die diskursive „Dissidenz“ offen
auf sich nahmen, d.h. sich zum „nationalen“ Judentum, aber auch zur Sozial-
demokratie bekannten. 35
Die definitive Antwort hinsichtlich des angeblichen „kolonialen“ Charakters der
deutschsprachigen Presse der Bukowina kam letzten Endes von den Vorgängen, die der
historischen Schwelle von November 1918 folgten, als die Provinz an das rumänische
Königreich angeschlossen wurde.36 Die Tatsache, dass das plötzliche Verschwinden des
Bezugs der lokalen Pressekultur auf die einstige zentraleuropäische Metropole nicht zur
umgehenden Einstellung der deutschsprachigen Periodika führte, liess erst recht auf ihre
wesentliche, bisher hinter dem habsburgisch gefärbten Diskurs verborgenen Daseins-
berechtigung hinweisen. Trotz erheblicher Verluste seines politischen „Kapitals“
zugunsten der von den Vertretern der „Staatsnation“ beanspruchten Prävalenz, zeigte
sich das örtliche, mehrheitlich jüdische Bürgertum durchaus fähig, sich auf dem neu
konfigurierten Bukowiner „Kräftefeld“ zügig zu positionieren, indem es vor allem
versuchte, seine Legitimität als daran beteiligten „Akteur“ zu behaupten, wobei neben
der Erhaltung des bisherigen vorrangigen Platzes im Geschäftsleben eine Art kompen-
satorischer Investition in die Bewahrung und Stärkung des eigenen kulturellen Gepräges

grossen und ganzen bereits den Weissen gleichen, ihr farbige Abkunft aber durch den einen oder anderen
auffälligen Zug verraten und darum von der Gesellschaft ausgeschlossen bleiben und keines der Vorrechte der
Weissen geniessen.“ Ebd., S. 132.
31
Im letzten Fall handelt es sich um eine nach 1900 wachsende Zahl von im Namen der „christlichen“
Deutschen herausgegebenen Periodika deutschnationaler oder christlich-sozialer Inspiration.
32
Ein eklatantes Beispiel für die systematische Hetze gegen die angeblich von Juden kontrollierte
Czernowitzer Presse lieferte die deutschsprachige Zeitschrift Die Wahrheit, die zwischen 1907−1914 von dem
Kreis um den Reichsrats- und Landtagsabgeordneten Aurel Onciul, der von einer übernationalen christlich-
sozialen und antisemitischen Partei in der Bukowina träumte, herausgegeben wurde. Vgl. Andrei Corbea-Hoisie,
„Wie die Juden Gewalt schreien“: Aurel Onciul und die antisemitische Wende in der Bukowiner
Öffentlichkeit nach 1907, in „East Central Europe“, Nr. 39 (2012), S. 13−60.
33
Vgl. u. a. Dietmar Gotschnigg, Die Fackel ind wunde Herz. Kraus über Heine. Eine Erledigung?,
Wien, Passagen Verlag, 2000.
34
Zu den propagandistischen Klischees, die öfters Fragmente aus Schriften von prominenten Vertretern
des rumänischen Nationalismus von Mihai Eminescu bis Nicolae Iorga zitierten, vgl. Andrei Corbea-Hoisie,
Czernowitzer Geschichten (Anm. 23), S. 89−116.
35
Vgl. Francisca Solomon, Sprache und Identität. Zu den theoretischen und typologischen
Dimensionen der „jüdischen Presse“ in Galizien und in der Bukowina in der Habsburger Zeit, in Zeitungs-
stadt Czernowitz. Studien zur Geschichte der deutschsprachigen Presse in der Bukowina 1848−1940, Hrsg.
von Andrei Corbea-Hoisie, Ion Lihaciu, Markus Winkler, Kaiserslautern und Mehlingen, Parthenon Verlag,
2014, S. 53−68.
36
Vgl. u. a. Erich Prokopowitsch, Das Ende der österreichischen Herrschaft in der Bukowina,
München, R. Oldenbourg Verlag, 1959; Radu Economu, Unirea Bucovinei 1918, București, Editura Fundației
Culturale Române, 1994; Mariana Hausleitner, Die Rumänisierung der Bukowina. Die Durchsetzung des
nationalstaatlichen Anspruchs Grossrumäniens 1918−1944, München, R. Oldenbourg Verlag, 2001.
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massgeblich dazu wirken sollte37. Die unleugbare Blüte der deutschsprachigen Presse
der Bukowina zwischen 1918−194038 illustriert unmissverständlich diese langfristige
Strategie, ein „Widerstands“-Vermögen seitens der traditionellen urbanen Schichten der
Provinz auch dadurch zu signalisieren, indem man der „offiziellen“ Öffentlichkeit eine
parallele „Szene“ der „Dominierten“ mit deren konkurrierenden thematischen Agenda
gegenüberstellte. Dass diese Alternative zum rumänischnationalen Diskurs, der sich
nicht selten alter Ressentiments und (inklusive antisemitischer) Klischees bediente, auf
die „Kultursprache“ Deutsch rekurrierte, sollte weniger habsburgische Nostalgien als
ihre selbständige Verankerung in einem (zentral)europäisch geformten geistigen
„Raum“ andeuten, aus dem sich der Glaube an einen von nationalistischen Vorurteilen
freien, demokratisch liberalen „Kosmopolitismus“ herausfiltern liess.
Die „Demarkation“ zwischen abgesonderten Öffentlichkeitssphären war schon im
November 1918 gezogen39, da in jenem Augenblick zwei unvereinbare Auffassungen
der künftigen Machtverhältnisse in der Bukowina kollidierten: einerseits eine sich selbst
als national definierende Staatsgewalt, die sich nicht scheute, von der unverblümten
Rhetorik des traditionellen rumänischen Nationalismus Gebrauch zu machen, und
andererseits ein auf dem festen Glauben an die eigenen Rechte, inklusive an die
Legitimität ihrer autonomen sprachlich-kulturellen Identität errichtetes Selbst-
bewusstsein jener kaum zu verdrängenden Träger der kapitalistischen ökonomisch-
sozialen Grundlage der Region. Trotz der allgemeinen Tendenz, nach dem 1. Weltkrieg
die rumänische „Leitkultur“ in allen öffentlichen Bereichen der angeschlossenen
Provinzen durchzupeitschen, wurde jedoch das Prinzip der Pressefreiheit und damit das
Recht „privater“ Personen, Periodika in anderen Sprachen als der rumänischen zu
veröffentlichen, nicht in Frage gestellt. Der stillschweigende Ausgleich, aufgrund
dessen man den „kosmopoliten“ urbanen Schichten als Gegenleistung für die passive
Anpassung an die Regelungen der „nationalstaatlichen“ Nachkriegsordnung politische
und besonders kulturelle Freiräume gewährte, bestimmte in letzter Instanz auch eine Art
modus vivendi-Grenze, die in den gegebenen Bedingungen von den beiden Seiten, sei es
offensiv oder defensiv, nicht überschritten werden sollte. Das fragile Gleichgewicht

37
Vgl. u. a. Pierre Bourdieu, Les régles de l’art. Genèse et structure du champ littèraire, Paris, Seuil,
1992. Zur Anwendung dessen Theorie der Konversion verschiedener Arten des symbolischen Kapitals im
Falle der deutschsprachigen Kultur der Bukowina an der Schwelle des Jahres 1918 vgl. Andrei Corbea,
Sprach- und Raumgrenzen als Komponenten der kulturellen Produktivität, in Kulturlandschaft Bukowina.
Studien zur deutschsprachigen Literatur des Buchenlandes nach 1918, Hrsg. von Andrei Corbea und Michael
Astner, Iași/Konstanz, Editura Universității „Alexandru Ioan Cuza“/Hartung-Gorre Verlag, 1990, S. 7−17;
Andrei Corbea-Hoisie, Czernowitzer Geschichten (Anm. 23), S. 169 f.
38
Ausser der Czernowitzer Deutschen Tagespost, die von den Kreisen der ehemaligen Verbände der
„christlichen Deutschen“ gegründet und gesteuert wurde, setzten die wichtigsten deutschsprachigen Presse-
organe des Nachkriegs-Czernowitz’ journalistische Vorkriegs-Unternehmen fort, die den jüdischen Stadt-
bewohnern, aus denen sich meist auch ihre Leserschaft rekrutierte, nahe standen; darin kamen – von der
großbürgerlichen, 1903 gegründeten, jetzt hauptsächlich informativen Czernowitzer Allgemeinen Zeitung über
der mittelständischen, geistig gehobenen Czernowitzer Morgenblatt bis zur populären jüdischnationalen Das
Volk, die zeitweilig Anfang der 20er Jahre erschienen war, zum sozialdemokratischen Vorwärts, zur
zionistischen Ostjüdischen Zeitung oder zu den linksgerichteten Der Tag und Czernowitzer Tagblatt – die
unterschiedlichsten ideologischen Richtungen zur Sprache, was dazu führte, dass die Blätter über ein in der
Regel loyales, entsprechend seinen ideologischen Differenzen dennoch aufgespaltenes Publikum verfügten,
bei dem man jedenfalls sicher sein konnte, dass es nicht zu der Czernowitzer oder auch Bukarester
rumänischsprachigen Presse abwandern würde.
39
Mariana Hausleitner, Die Rumänisierung der Bukowina (Anm. 36), S. 144 ff. Vgl. auch Irina
Livezeanu, Cultural politics in Greater Romania. Regionalism, nation building & ethnic struggle. 1918−1930,
Ithaca, Cornell University Press, 2000.
CZERNOWITZER DEUTSCHSPRACHIGE PRESSE 357

begann erst nach 1933 zu bröckeln, da die wachsende, von den Folgen der Wirtschafts-
krise angestiftete Einflussnahme der rumänischen faschistoiden Parteien, aber auch die
von der Machtergreifung Hitlers inspirierte antisemitische Welle in ganz Europa die
Widerstandskraft der ohnehin wegen der schwellenden Isolation weitgehend erschöpften
deutschsprachig-bürgerlichen Enklave um Czernowitz erheblich schwächten. Vier Jahre
später verbot eine xenophobe Regierung im ganzen Land Zeitungen, die vermeintlich
von „Juden“ gesteuert waren – darunter auch alle Czernowitzer Blätter deutscher
Sprache; als diese Regierung kurz danach gestürzt war, durften in Czernowitz nur das
Morgenblatt und die Allgemeine Zeitung wieder erscheinen, aber diesmal als zweis-
prachige deutsch-rumänische Zeitungen.40 Die hiesigen bürgerlich-jüdischen Kreise, die
ihr Publikum bildeten, verharrten jedoch kurz vor dem von Deutschland ausgelösten
Krieg immer noch in der autistischen Einbildung des „Glaubens“ an einer „Kultur“-
Idee41, in der die Deutschsprachigkeit von dem eigenen identitären und sozialen Selbst-
wertgefühl untrennbar zu sein schien. 42 Im Juni 1940, als die Sowjets die Nordbukowina
und Czernowitz besetzten, gab es davon nichts mehr zu retten; damit endete abrupt und
definitiv auch die Geschichte der deutschsprachigen Presse in der Bukowina.

THE GERMAN-SPEAKING NEWSPAPERS IN CZERNOWITZ/CERNĂUȚI


BEFORE AND AFTER THE FIRST WORLD WAR
(Summary)

Keywords: Bukovina, Habsburg Monarchy, press, German language, Jews.

The study aims to briefly review the evolution of the German-speaking press from
Bukovina before and after 1918, trying to answer the question if this could be considered or not
an emanation of a “colonial” reality in the province annexed after 1774 to the Habsburg Empire
and reincorporated with Romania after the First World War. The theoretical perspective offered
by the postcolonial studies displays here certain nuances due to an almost unique specificity (not
only quantitative but also qualitative) of the phenomenon in Central-European context.

40
Vgl. Ioana Rostos, Czernowitzer Morgenblatt. Eine Monographie, Editura Universității Suceava,
2008; Iulia Zup, Gesetz und Zensur. Die Zweisprachige Erscheinungsperiode der Czernowitzer Allgemeine
Zeitung/Ziarul pentru toți, in Zeitungsstadt Czernowitz (Anm. 35), S. 231−256.
41
Marianne Hirsch und Leo Spitzer assoziieren dies mit einer gewissen „Idee von Czernowitz“. Vgl.
Marianne Hirsch, Leo Spitzer, Ghosts of home. The afterlife of Czernowitz in Jewish Memory, Berkeley,
University of California Press, 2010, S. 72 ff.
42
Eine tragische Geschichte aus Transnistrien, die Alfred Kittner in seinen Memoiren erzählt, führt auf
jene grundsätzliche Selbsttäuschung zurück, aus der sich die Grundhaltung der deutschsprachig-jüdischen
Bukowiner Bourgeoisie – und ihrer öffentlichen „Sprachröhre“ – nährte, sich gegenüber der als „halb-
asiatisch“ empfundenen neuen rumänischen Herrschaft nach dem 1. Weltkrieg auf den Glauben an der
aufgeklärten deutsch-jüdischen „Kultursymbiose“ zu berufen. Es handelt sich um das Schicksal eines der
bedeutensten „Meinungsmacher“ der Czernowitzer Presse vor und besonders nach 1918: Julius Weber, der
Gründer und Herausgeber des Czernowitzer Morgenblatts bis 1940, wurde 1942 im Auftrag der rumänischen
Behörden in den Lager „Cariera de piatră“ (Steinbruch) am Ufer des Bugs verschleppt und sollte eines Tages
wie die anderen Insassen des Lagers von einer Gruppe deutscher Offizieren gemustert werden, die sich
Arbeitskräfte für das deutsch verwaltete Gebiet über den Fluss aussuchten. Während die meisten Internierten,
die wussten, dass diese Selektion auch den sicheren Weg in den Tod bedeuten konnte, sich davon zu entziehen
versuchten, war Weber überzeugt, „dass es bei den Deutschen besser zugehen würde als hier, weil dort alles
besser organisiert sei“, so dass er sich gar nicht vor dem Verschicktwerden drückte. „Im Gegenteil, er warf
sich im Gala – er hatte einen dunklen Anzug mit in seinem Gepäck – und erschien in seiner Gruppe recht
elegant aussehend. Man erzählte uns später, dass er wie ein Affe auf das Lastauto stieg. Er wurde jedoch auf
dem Wege ermordet, vermutlich, weil er dann nach dem Absteigen nicht mit den anderen Schritt halten
konnte“. Apud Alfred Kittner, Erinnerungen 1906−1991, Aachen, Rimbaud Verlag, 1996, S. 75.

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