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48  Bulletin | Aus Wissenschaft und Forschung

ENDS OF
EMPI E
Postkoloniale Perspektiven auf nationale Historiografien

Das Ende der Kolonialimperien hat die Gesell- globale Bedeutung der Nation, aber ihm wurde
schaften nicht nur in den Kolonien, sondern auch kein nachhaltiger Einfluss auf die innere Fundie-
in den ehemaligen Metropolen tiefgreifend verän- rung dieser Nation zugebilligt. Das Ende der Im-
dert. Diese Einsicht scheint wenig spektakulär. Sie perien konnte daher auch als weitgehend äußerli-
beschreibt den inzwischen weitgehend akzeptier- che Erscheinung wahrgenommen werden, sei es
ten Stand in der historiographischen Auseinander- nostalgisch verklärt als selbstbestimmter Abschied
setzung mit dem Kolonialismus. Seitdem in den vom Empire wie in Großbritannien oder aus dem
1980er Jahren das Interesse an der kolonialen Ver- öffentlichen Bewusstsein verdrängt wie im Fall
gangenheit in immer mehr europäischen Staaten von Frankreich oder den Niederlanden, deren De-
wuchs, hat sich eine neue Kolonialgeschichte her- kolonisierungskriege lange als Polizeiaktionen
ausgebildet, die sich besonders für die vielfälti- dargestellt wurden. Mit dem Ende der Kolonial-
gen Verflechtungen von kolonisierenden und kolo- zeit wurde daher auch der Kolonialismus in den
nisierten Gesellschaften interessiert. Frederick ehemaligen Metropolen als ein abgeschlossenes
Cooper und Ann Laura Stoler entwarfen Ende der Kapitel angesehen und die Tatsache, dass die eu­
1990er Jahre eine Forschungsagenda, die Metro- ropäischen Gesellschaften ihre nationalen Identi-
polen und Kolonien in einem gemeinsamen analy- täten in kolonialen Kontexten entworfen hatten,
tischen Feld verortete und die bis dahin gültige wurde von einer allgemeinen Amnesie verdeckt.
Binariät von domestic und imperial history über-
winden half. Zwar wird weiterhin darüber ge- Diese koloniale Amnesie ist fast vierzig Jahre
stritten, wie weit die kolonialen Prägungen etwa nach der Unabhängigkeit der letzten Kolonien
in die metropolitanen Gesellschaften hineinreich- einer intensiven erinnerungspolitischen Aus­
ten und ob die Konjunktur postkolonialer Erklä- einandersetzung mit der Kolonialvergangenheit
rungsansätze andere Paradigmen nicht zu sehr gewichen und in vielen europäischen Staaten
verdeckt, aber der Kolonialismus und die Auflö- findet derzeit eine sehr dynamische Beschäftigung
sung der europäischen Kolonialreiche sind in mit dieser Epoche statt. Inwiefern es sich hier-
­ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die Gesell- bei um parallele Debatten handelt oder um ein eu-
schaften des 20. und 21. Jahrhunderts anerkannt. ropäisches Phänomen, war eine der Fragen, mit
denen sich ein internationales Symposium in der
Das war lange nicht so. Bevor Dekolonisierung Königlichen Akademie der Wissenschaften in
und postkoloniale Theorie das Bild kolonialer Herr- Amsterdam vom 6. bis 7. Dezember 2012 befasste.
schaft veränderten, bildeten nationale und impe- Unter dem Titel „Postcolonial Perspectives on
riale Geschichte zwei getrennte Bereiche der his- ­National Historiographies and History Education“
toriographischen Selbstdarstellung. In dieser diskutierten Wissenschaftlerinnen und Wissen-
Perspektive stärkte das Kolonialreich zwar die schaftler aus zahlreichen europäischen Ländern
RECHTS
Die Karikatur „Kolonialmächte“ von
Thomas Theodor Heine erschien am
3. Mai 1094 in der satirischen Wochen-
schrift Simplicissimus, Jg. 9, Nr. 6,
1904, S. 55. Die Bildunterschriften lauten:
So kolonisiert der Deutsche. So koloni-
siert der Engländer, so der Franzose und
so der Belgier.

darüber, welchen Stellenwert die Kolonialgeschich- liche und kulturelle Identität konstituiert, ohne
te in der nationalen Selbstwahrnehmung einnimmt dass dies freilich in eine gemeinsame europäische
und wie sich dies in der Geschichtsvermittlung Erzählung des Kolonialismus mündete. Im Mittel-
niederschlägt. Der erste Tag des von Maria Grever punkt des Symposiums standen daher die Kontro-
(Rotterdam) und Andrew Mycock (Huddersfield) versität und Transnationalität der europäischen
organisierten Symposiums war öffentlich. Am Kolonialerinnerung. Sie wurde als eine geteilte
zweiten Tag diskutierte eine kleinere Gruppe von historische Erfahrung diskutiert mit weitreichen-
Wissenschaftlern, wie die Ergebnisse dieses Sym- den Auswirkungen für das Selbstverständnis der
posiums und eines im Juni 2011 von der European nachkolonialen Gesellschaften, etwa im Hinblick
Science Foundation geförderten Workshops für darauf, auf welche Erfahrung sie heute Identität
künftige Forschungsprojekte nutzbar gemacht und Alterität gründen.
werden könnten.
Was dies für die niederländische Gesellschaft be-
Das Amsterdamer Symposium widmete sich dem deutete, schilderte Maria Grever (Rotterdam) in
Verhältnis von kolonialer und nationaler Ge- ihrer Eröffnungsrede. Nach der Unabhängigkeit
schichte in historischer Langzeitperspektive vom von Surinam 1975 wurde die Geschichte der Ko­
ausgehenden 19. bis ins 21. Jahrhundert. Dabei lonien weitgehend aus der nationalen Geschichte
zeigte sich, dass der Umgang mit dem kolonialen ausgeklammert. Die Kolonialgeschichte galt als
Erbe nicht nur auf die je nationalen Erfahrungen ein abgeschlossenes Kapitel, das der Vergangen-
zurückgeführt werden kann, sondern auch nach heit angehörte und die Tatsache, dass die nieder-
transnationalen Wirkungen gefragt werden muss. ländische Geschichte in vieler Hinsicht kolonial
So haben die metropolitanen Historiografien den geprägt war, wurde verdrängt. Stattdessen ent-
Kolonialismus zwar immer national konfiguriert, stand eine Nationalgeschichte, deren Bezugsrah-
zugleich haben sie ihn aber auch als europäisches men sich auf Europa beschränkte und, hier zitierte
Projekt beschrieben und Europa darüber als räum- sie die Amsterdamer Kolonialismusexpertin Susan
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Legêne, die in diesem Zusammenhang von einer MacKenzie, die wesentlich dazu beigetragen hät-
„europäischen Nationalgeschichte“ spricht, die die ten, dass der Imperialismus als kulturelles Phä-
kolonialen und globalen Verflechtungen der nie- nomen mit prägenden Wirkungen nicht nur für die
derländischen Geschichte ausblendet. kolonisierten Gesellschaften sondern auch für die
kolonisierende britische Gesellschaft verstanden
Diese wechselnden Rahmungen nationaler Ge- werde. MacKenzies Position ist jedoch keineswegs
schichtsschreibung machte Stefan Berger (Bochum) unumstritten. Historikerkollegen wie Andrew Por-
in seinem bis in das 19. Jahrhundert zurückgrei- ter oder Richard Price schätzen den Einfluss auf
fenden Keynote-Beitrag zum Thema. Er verglich die die britische Gesellschaft weitaus geringer ein und
Versuche der europäischen Metropolen, die Ge- von einer umfassenden „colonization of conscious­
schichte ihrer Nation zu schreiben. Dabei konnte ness“ kann aus ihrer Sicht keine Rede sein. In die-
das Empire als „greater nation“ imaginiert wer- ser aktuellen Auseinandersetzung stellte sich
den wie bei John Seeley, und ähnlich bei Heinrich Ward klar auf die Seite MacKenzies. Das Empire
von Treitschke für Preußen, François Guizot für habe Kultur und Gesellschaft „zu Hause“ ent-
Frankreich oder Vasily Klyuchevsky für das russi- scheidend geprägt, wobei man inzwischen nicht
sche Reich. Im Gegensatz dazu entwarfen die spä­ mehr von „distinct entities in collision“ ausgehe,
teren Historiografien das Empire bewusst als das sondern Metropole und Empire als einander über-
Andere und Gegenstück zur Nation. Unter dem lagernde Erfahrungswelten betrachte.
Eindruck von Dekolonisierung und europäischer
Einigung entstanden schließlich Nationalge- Belgien ist gegenwärtig von erbitterten Auseinan-
schichten, die anstelle der imperialen Grundie- dersetzungen um seine Staatlichkeit geprägt, die
rungen die europäischen Orientierungen der nationale Geschichtsschreibung bleibt davon je-
­eigenen Geschichte betonten. Nach dem Ende der doch seltsam unberührt. Zwar haben flämische
Kolonialimperien richteten sich die nationalen und wallonische Interpretationen die patriotische
Historiografien an der Europäischen Union aus. Nationalgeschichte, die die kollektive Identität
Interessant erscheint, dass die imperialen Di- seit der Staatsgründung 1830 geprägt hat, inzwi-
mensionen der Nationalgeschichten nun verstärkt schen neu akzentuiert, das gemeinsame Narrativ
auch von einem europäischen Blickwinkel heraus haben sie aber nicht in Frage gestellt. Dieses sei
einbezogen werden, wenn etwa Jan Zielonka in geradezu transnational ausgerichtet, so Kaat Wils
seinem durchaus kontrovers diskutierten Konzept (Leuven). Der Geschichtsunterricht als solcher ist
die Europäische Union selbst als Empire begreift. also kein Gegenstand gesteigerter Aufmerksam-
keit im verfassungs- und sprachenpolitisch unru-
Den Wandel in der Wahrnehmung des Kolonial- higen Belgien. Dennoch werden wie in anderen
reichs in der britischen Geschichtsschreibung nahm ­europäischen Ländern auch in Belgien zunehmend
Stuart Ward (Kopenhagen) zum Ausgangspunkt Fragen an die historische Rolle und Verantwortung
seines Beitrags. Er skizzierte, wie sich die britische des Staats im Zweiten Weltkrieg oder während der
Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren Kolonialisierung und Dekolonialisierung gestellt.
wieder verstärkt mit der eigenen Kolonialgeschich- Diese Debatten wirken auf den Geschichtsunter-
te beschäftigt hat. Diese imperiale Wende sei durch richt ein und sie sind ablesbar am Wandel der
exogene Faktoren wie das Aufflammen nationalis- Darstellung der Kolonialgeschichte in den Schul-
tischer Reflexe während des Falklandkrieges 1982 büchern. Diese wird nicht mehr nur als euro­
und die verbreitete Raj-Nostalgie in den 1980er päisches Fortschrittsnarrativ und nationale Er-
Jahren ebenso angestoßen worden wie durch indo- folgsgeschichte erzählt, sondern stellenweise
gene Faktoren aus dem Fach und den angrenzen- sehr kritisch reflektiert und dies vor allem im Hin-
den Disziplinen selbst. In den Mittelpunkt seiner blick auf die beiden zentralen Themen der belgi-
Überlegungen stellte er die Forschungen von John schen Kolonialerinnerung, den Kongo-Freistaat
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(1885 – 1908) und die Unabhängigkeit des ­ ommunismus und Zwangsmigration als weniger
K
Kongo 1960. bedeutsam einzuordnen wäre. Die Schwierigkei-
ten, vor denen postkoloniale Geschichtsschreibung
Wie aber wirken solche Narrative jenseits der und postkolonialer Geschichtsunterricht stehen,
Schulbücher? Können sie wirklich einen Perspek- liegen aber nicht nur auf der Ebene der Inhalte
tivenwechsel anstoßen und die Sichtweise von und der Frage, ob und wie diese überhaupt ver-
Schülern auf die Vergangenheit dekolonisieren? handelt werden, sondern auch auf der Ebene der
Am Beispiel der spanischen Nationalgeschichte Sprache. Essenzia­lisierung, Relativierung, Stereo­
und der Reconquista haben empirische Studien typisierung konterkarieren immer wieder den Ver-
gezeigt, dass aktuelle Schulbuchnarrative zwar such, koloniale Sichtweisen zu überwinden – das
in der Lage sind, nichthegemoniale und differen- lässt sich an vielen Schulbüchern zeigen und es
zierte Geschichtsdeutungen hervorzubringen, betrifft auch solche, die sich kolonialer Geschichte
gleichzeitig aber ontologische Deutungen fortwir- in kritischer Absicht nähern. Eine postkoloniale
ken und beide miteinander konkurrieren. Gründe Sprache, die diese Diskursregimes umgeht oder
für die ungebrochene Deutungsmacht ontologi- umkehrt, so Alex van Stipriaan (Amsterdam/Rot-
scher Konzepte macht Mario Carretero (Madrid) terdam), werde wohl am ehesten in den urbanen
in den lernpsychologischen Bedingungen für jugendlichen Subkulturen gesprochen. Deren
­historisches Lernen aus und in der zeitlichen und Sprache betrachtete er als verschiedene Ethnien
medialen Hegemonie von nationalen Meisterer- inkludierend, jedoch als exkludierend im Hin-
zählungen. Das gilt besonders, wenn es sich um blick auf Generation und Klasse.
Teile der Nationalgeschichte handelt, die sehr
­unmittelbar und nachhaltig mit der kollektiven Abschließend lassen sich zwei Schwerpunkte be-
Identität verknüpft wurden, wie etwa die Recon- nennen, die während des Symposiums besonders
quista, also die sogenannte Rückeroberung spani- deutlich wurden: Zum einen wurde konstatiert,
schen Territoriums von den Arabern, die zu einem dass die europaweit zu beobachtende Rückkehr
Gründungsmythos des spanischen Nationalstaats der imperialen und kolonialen Geschichte von
avanciert ist, obwohl der Terminus vergleichsweise ­nationalen Pfadabhängigkeiten geprägt ist. In den
spät erstmals nach dem Unabhängigkeitskrieg nationalen Historiografien und besonders den na­
­g egen Napoleon gebraucht wurde. Hier sprach tionalen Geschichtsschulbüchern zeigt sich, dass
Carretero von internem Kolonialismus. Wenn es der Kolonialismus zwar als ein europäisches
um die Entdeckung Amerikas und damit die Kolo- ­Modernisierungs- und Zivilisierungsprojekt auf-
nisierung fremder Territorien geht, es sich also gefasst wird, aber in erster Linie noch immer
um externen Kolonialismus handelt, zeichnet sich in nationaler Perspektive gedeutet wird. Zum an-
dagegen eine größere Fähigkeit ab, etablierte deren geht das aktuelle Interesse an der Kolonial-
­Deutungen in Frage zu stellen und zu verändern. geschichte mit dem Ende kolonialer Amnesie und
Empirenostalgie einher. Immer mehr Staaten er-
Inwiefern diese Auseinandersetzungen um das kennen den Kolonialismus als Schlüsselerfahrung
Verhältnis von nationaler und imperialer Ge- an, mit der sie sich auseinandersetzen müssen,
schichte nicht nur für die westeuropäischen und um ihre Vergangenheit zu verstehen und sie in ihre
südamerikanischen Staaten Gültigkeit besitzen, nationalen Selbstbeschreibungen zu integrieren.
war Thema des Beitrags von Joke van der Leuw- Der Kolonialismus hat sich zu einem nationalen
Rood (Den Haag). Sie ging der Bedeutung der Erinnerungsort entwickelt und es scheint nicht
­Kolonialgeschichte für die Staaten Mittel- und ausgeschlossen, dass er sich zu einem transnatio-
Südosteu­ropas nach. Im Sinne einer Dezentrie- nalen und europäischen „lieux de memoire“ ent­
rung des Themas fragte sie, ob der Kolonialis- wickeln könnte.
mus nicht gegenüber den Erfahrungen von Susanne Grindel

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