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Die K ernfrage des G enfer Bundes ist, ob er den status quo von Ver
sailles legitim iert, und das ist w iederum davon abhängig, ob diese Ver
einigung zahlreicher Staaten als ein w irklicher Bund betraditet werden
muß. F ragt m an nach dem Kennzeichen des wirklichen Bundes, nach
G arantie und Hom ogenität und nach den konkreten Prinzipien für diese
G arantie und für das M indestmaß von Gleichartigkeit, so erhält man keine
Antwort. D er berühm te deutsche Kom m entar zur Völkerbundssatzung von
Schücking und W ehberg spricht davon, daß der Genfer Völkerbund einen
„Januskopf“ habe, dessen eines A ntlitz die Züge des „im perialistischen“
Zeitalters trage, aus dem der W eltkrieg geboren sei, dessen anderes Antlitz
aber beherrscht w erde von den Zügen des Solidarismus, von dem allein die
Rettung der Zukunft kommen könne. „Gelingt es nicht, ihn in K ardinal
punkten aus- und um zugestalten, so w ird er allerdings dem Schicksal der
Heiligen A llianz verfallen“. A ber von der Heiligen Allianz könnte der
Völkerbund lernen, daß kein Bund ohne Legitim itätsprinzip bestehen kann,
und einen „Januskopf“ h at er nicht nur in seiner Mischung von Vorkriegs
und Nachkriegsideen, sondern in etwas vielleicht viel Gefährlicherem, näm
lich darin, daß er es absichtlich im unklaren läßt, wieweit er ein echter
Bund ist oder nicht und w iew eit infolgedessen die unvermeidlichen Konse
quenzen des Bundescharakters zur Anwendung kommen. Auf diese Weise
ist es möglich, daß französische Juristen den A rtikel 10 der Völkerbund-
satzung so auslegen, als seien darin alle grundlegenden G arantien des
echten Bundes gegeben, w ährend sie den A rtikel 19, der Änderungsmög
lichkeiten vorsieht, so behandeln, als habe das Genfer Gebilde mit einem
wirklichen Bunde nichts zu schaffen; deutsche Pazifisten dagegen versuchen
die in A rtikel 10 enthaltene G arantie zu beschränken und dafür dem
A rtikel 19 eine große Anwendungsmöglichkeit zu geben. Es besteht nun die
große G efahr, daß der G enfer V ölkerbund von F all zu Fall verschiedenen
Staaten ein verschiedenes Gesicht zeigt und sich absichtlich nicht entscheidet,
sondern bald die H altung eines wirklichen Bundes annimmt, mit allen dazu
gehörigen Ansprüchen auf G arantie und Gleichartigkeit und mit allen
lnterventionsm öglichkeiten, bald aber nur als Büro, als praktisch brauch
bare Konferenz- und Verm ittlungsgelegenheit gelten will. So kann er aller
dings zwei Gesichter haben, eines nach W esten und ein anderes nach Osten.
Er kann den westlichen Großmächten gegenüber als dienstbereites, be
scheidenes Zweckgebilde vorsichtig und unverbindlich auftreten, w ährend
er einem schwachen und entw affneten Staat das hoheitsvolle Antlitz
strengen Rechtes zeigt und ihn, wenn er den politischen Interessen einer
44 Das Doppel gesicht des Genfer Völkerbundes