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Johann Sebastian Bach

JOHANNES-PASSION
SCHRIFTENREIHE

DER
INTERNATIONALEN
BACHAKADEMIESTUTTGART

HERAUSGEGEBEN
VON
ULRICH PRINZ

BAND5

~
INTERNATIONALE
BACHAKADEMIE
STUTTGART
BÄRENREITER
[@] KASSEL· BASEL
LONDON · NEWYORK
Johann Sebastian Bach

JOHANNES-
PASSION
BWV245

Vorträge des
Meisterkurses 1986
und der
Sommerakademie
J. S. Bach 1990

~
INTERNATIONALE
BACHAKADEMIE
STUTTGART
BÄRENREITER
[@] KASSEL·BASEL
LONDON · NEWYORK
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Johann Sebastian Bach, Johannes-Passion, BWV 245:


Vorträge des Meisterkurses 1986 und der Sommerakademie
J. S. Bach 1990 I Internationale Bachakademie Stuttgart.
[Red.: Ulrich Prinz].- Kassel; Basel; London; New York:
Bärenreiter-Verl., 1993
(Schriftenreihe der Internationalen Bachakademie Stuttgart; Bd. 5)
ISBN 3-7618-1141-1

NE: Prinz, Ulrich [Red.]: Sommerakademie Johann Sebastian Bach


<12, 1990, Stuttgart>; Internationale Bachakademie <Stuttgart>
Schriftenreihe
ISSN 1012-8034

© 1993 by Internationale Bachakademie Stuttgart


Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise,
nur mit schriftlicher Genehmigung.

Redaktion Ulrich Prinz


Gestaltung Gabriele Roloff
Schrift Walbaum Buch (Berthold)
Satz böttler-satz-technik, 7401 Walddorfhäslach 1
Papier Schneidersöhne Samtoffset 135 g/m 2
Herstellung Druck+ Verlag Ernst Vögel GmbH, 8491 Stamsried
Verlag Bärenreiter Kassel· Basel· London · New York
INHALT

Ulrich Prinz 6 VORWORT


DES HERAUSGEBERS

Lothar und 8 DIE PASSIONSTHEOLOGIE


Renale Steiger DER BACHZEIT, IHR PREDIGTTYPUS UND
DER TEXT DER JOHANNES-PASSION

Martin Petzoldt 44 BACHS PASSIONEN ALS MUSIK


IM GOTTESDIENST

Bernhard Hanssler 62 GRUNDZÜGE


JOHANNEISCHER THEOLOGIE

Bernhard Hanssler 76 DIE PASSIONSGESCHICHTE


BEI JOHANNES

Peter Kreyssig 88 DIE PASSION JESU AUS DER SICHT


DES EVANGELISTEN JOHANNES

Ulrich Prinz 100 ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER


JOHANNES-PASSION
UND IHRER FASSUNGEN

Hans-Joachim 112 J. S. BACHS JOHANNES-PASSION


Schulze DIE SPÄTFASSUNG VON 1749

Christoph Wolff 128 DIE MUSIKALISCHEN FORMEN


DER JOHANNES-PASSION

Martin Petzoldt 142 THEOLOGISCHE ÜBERLEGUNGEN


ZUM PASSIONSBERICHT DES JOHANNES
IN BACHS DEUTUNG

Alfred Dürr 166 DER PASSIONSBERICHT DES JOHANNES


IN BACHS DEUTUNG- AUS DER SICHT
DES MUSIKWISSENSCHAFTLERS

186 KONKORDANZ DER SATZFOLGE


NACH NBA UND BWV

189 VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN


191 VERZEICHNIS DER PERSONEN
194 VERZEICHNIS DER ANGEFÜHRTEN
WERKE J. S. BACHS
195 VERZEICHNIS DER AUSGABEN
197 VERZEICHNIS DER LITERATUR
203 BIOGRAPHIEN DER AUTOREN
VORWORT
DES HERAUSGEBERS
Vom jüngeren Schwesterwerk der Johannes-Passion-
der 1727 erstmals aufgeführten Matthäus-Passion -wis-
sen wir, daß sie 1756 ihre endgültige Gestalt erhalten hat.
Die ältere Passion, deren Entstehungsgeschichte in ein-
zelnen Sätzen bis nach Weimar reicht, hat Bach mehrfach
umgearbeitet und in verschiedenen Fassungen in Leip-
zig 1724, 1725, 1752 und 1749 aufgeführt. Eine Revision
der Johannes-Passion hat Bach 1759 begonnen, Zeugnis
davon legt die teilautographe Partitur ab, deren auto-
grapher (reinschriftlicher) Teil jedoch nach 20 Seiten
abbricht, ohne daß wir wüßten, was Bach zu diesem Ab-
bruch bewogen hat. Zudem zeigt dieser Teil (Sätze 1-12a)
weiterentwickelte Lesarten, die in keine der erhaltenen
Stimmgruppen eingegangen sind, folglich in Leipzig zu
Bachs Lebzeiten nie erklungen sind.>>In kaum einem an-
deren Werk Bachs ist die Quellensituation so verworren,
sind die Stimmen so vielfach durchkorrigiert und doch
wieder so unvollständig erhalten, wie in diesem<<, formu-
lierte Alfred Dürr in der Sommerakademie J.S. Bach in
Stuttgart 1979.
Erschwerend kommt die Tatsache hinzu, daß sich kein
originaler Textdruck zur Bachsehen Johannes-Passion
für eine derverschiedenen Aufführungen zwischen 1724
und 1749 erhalten hat, insbesondere kein Druck für die
frei gedichteten Sätze (es lassen sich in einigen Fällen
nur Anlehnungen an die Poesie bekannter Vorbilder
beobachten). Insofern war es auch nicht möglich, eine
ähnliche Rekonstruktion vorzulegen, wie sie für die
Matthäus-Passion als Faksimile-Teil in Band 2 der Schrif-
tenreihe unternommen wurde.
Da sich die Internationale Bachakademie Stuttgart
im Rahmen mehrerer Sommerakademien und Meister-
kurse mit den verschiedenen Fassungen der Johannes-
Passion in öffentlichen Veranstaltungen, Seminaren,
Kursen und Gesprächskonzerten auseinandergesetzt
hat, liegt es nahe, wichtige Beiträge zu diesem Thema in
einem Band zusammenzutragen (wie schon in Band 2
und 3 dieser Reihe). Daß es dabei zu gelegentlichen Dopplungen
kommt, läßt sich kaum vermeiden, diese können jedoch auch ihren
besonderen Reiz haben. Bestimmte Phänomene erfahren aus ver-
schiedener historischer oder konfessioneller Sicht unterschiedliche
Bewertungen sowie Deutungen und erschließen in ihrer Summe
neue Zusammenhänge bzw. eröffnen neue Fragen zu dieser kom-
plexen Materie. Sicherlich sind die hier erhobenen Forderungen
nach einer Neuedition der Johannes-Passion innerhalb der Neuen
Bachausgabe nicht ganz unumstritten, unter anderem im Hinblick
auf die Aufführungspraxis jedoch mit einigen Problemen behaftet.-
Bislang wurde noch keiner der Vorträge an anderer Stelle publiziert,
ausgenommen der Beitrag von Alfred Dürr, den er in sein aufschluß-
reiches Buch: >>Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach,
Kassel und München 1988<<, eingearbeitet hat.
Bei der Publikation von Vorträgen sind wir uns des grundsätz-
lichen Unterschiedes bewußt, der zwis~hen gesprochenem Wort,
eingesetzten Textsammlungen, Klangbeispielen sowie didaktischer
Aufbereitung mittels Overhead-Folien und gedrucktem Text besteht.
Im Sinne einer Dokumentation der wissenschaftlichen Arbeit
der Internationalen Bachakademie haben wir uns bemüht, diese
spürbare Diskrepanz durch verschiedene Maßnahmen ein wenig
zu mildern. Es ist der bescheidene Versuch, Tonfall und Sprach-
klang mit Mitteln graphischer Gestaltung in das Druckbild zu
»transponieren<<.
Die eingefügte Konkordanz der unterschiedlichen Satzzählung
nach BWV und NBA, Ausgaben- und Literaturhinweise sowie ver-
schiedene Register bieten dem Leser gezielte Unterstützung für
speziellere Fragestellungen.
Für die freundliche Abdruckerlaubnis verschiedener Abbildun-
gen bzw. Textfaksimilia, Handschriften und Notenbeispiele danke
ich der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, der Musikabtei-
lung der Staatsbibliothek zu Berli~, Preußischer Kulturbesitz, dem
Bärenreiter-Verlag Kassel und der Evangelischen Verlagsanstalt
Leipzig.
Herzlich danken möchte ich meinen Kollegen, insbesondere für
weitere Hilfestellungen, Ergänzungen und Korrekturen, den Mit-
arbeiterinnen der Bachakademie sowie allen Beteiligten, die zum
Gelingen dieses Bandes beigetragen haben.

Ulrich Prinz
8 Lothar und Renale Steiger

Meine Frau und ich haben das Thema 'Die Passi-


onstheologie der Bachzeit, ihr Predigttypus und
der Text der J ohannes-Passion'. 1
Sie haben hoffentlich alle in Händen das kleine
Lesebuch, das wir vorbereitet haben, denn wir
wollen Ihnenjeweils die Quellen auch an die Hand
geben, aus denen Johann Sebastian Bach ge-
schöpft hat. 2 Diese Quellen sind nun in sich noch
reicher, insofern sie nicht einfach die Passions-
theologie der Zeit Bachs enthalten, sondern der
Barockzeit, die ja eine Zeit der Fülle ist, d. h. es ent-
halten die Betrachtungen und Predigten die Passi-
onstheologie und Frömmigkeit des Mittelalters
und schöpfen reich aus der Alten Kirche. Dasmuß
man sich, glaube ich, erst einmal klarmachen: So
sehr die Barockzeit uns zunächst auch negativ
bekannt ist dadurch, daß die Theologen sehr posi-
tioneil gedacht haben und sich gegeneinander
abgegrenzt haben, als die Zeit also des Konfessio-
nalismus, so waren sie erstaunlicherweise auf der
anderen Seite frei, voneinander zu nehmen und zu
rezipieren. Und das ist vielleicht heute der umge-
kehrte Fall: daß wir theologisch fast zu irenisch
sind und voneinander wenig nehmen. Also das ist
ein kleines Wunder dieser Barocktheologie, ihre
Fülle.
Und nun wollen wir den Vortrag so einteilen,
daß ich Ihnen zunächst einmal etwas sage über
den Typus der Passionstheologie und -predigten,
nämlich über das Betrachten, die Passions-
betrachtung, und daß meine Frau dann in der
zweiten Hälfte des Vortrags dies noch im einzel-
nen weiterführt. Was ich Ihnen gebe, ist sozusagen
ein erster Aufriß.
Sehen Sie einmal die zitierten Quellen an. Sie
finden etwa unter Johann Arnd POSTILLA, Oder
Geistreiche Erklärung Der Gewöhnlichen Sonn=
und Fest=Tags =Evangelien . .. Nebst einer dreyjach
9

durchgehenden Betrachtung über die gantze Paßions=Historia. 3


Oder von J ohann Heermann MONS OLIVE TI, ODER: Christliche Be-
trachtung Der Blutsauren Arbeit I Welche unser Hochverdienter
Erlöser Jesus Christus Im Garten am Oelberg verrichtet. 4 Oder J ohann
Olearius Heylsame Betrachtung deß unschuldigen Leidens und
Sterbens Unsers HErrn und Beylandes JESU CHRISTL 5 Hier sehen
Sie also, daß das Wort >>Betrachtung<< eine hindeutende Stellung ein-
nimmt.
Nun lassen Sie mich zunächst einmal etwas sagen über das Be-
trachten als Gedächtnis. Das Gedächtnis der Leiden und des
Sterbens J esu Christi ist kein bloß historisches Erinnern, sondern es
ist ein Eingedenken, wie man sagt, nämlich einer geschehenen
Geschichte, die nun durch Eingedenken noch einmal vergegenwär-
tigt wird. Es ist ein Er=innern im wahrsten Sinne des Wortes, daß
das, was als Historia äußerlich geschehen ist, nun auch innen ange-
eignet, betrachtet wird. Dies geht zurück auf das urchristliche
Verständnis von Gedächtnis. Denken Sie an das Abendmahl. In den
Einsetzungsworten ist von Anamnesis die Rede: >>Dies tut zu
meinem Gedächtnis<<, 1 Kor 11, 24. Wir können so viel sagen, daß die
Passions-Historia die älteste Historia überhaupt ist im Neuen Testa-
ment. Die Passionsgeschichte ist entstanden dadurch, daß die
Gemeinde, die das Abendmahl feiert, der Geschichte J esu Christi
eingedenk wird, und dadurch entsteht erst I;listoria. Das wird 1 Kor 11
deutlich. Wenn Paulus die Formel der Einsetzungsworte zitiert,
bringt er schon ein Stück Historia: >>In der Nacht, da er verraten
war ... << So fängt im N euen Testament selber die Passions-Historia
an, sich zu bilden; das ist sozusagen formgeschichtlich der Ort, an
dem überhaupt angefangen wird zu erzählen.
Und daß das Gedächtnis etwas mit dem Herzen zu tun hat, die
Herzensfrömmigkeit der Barocktheologie sticht in die Augen.
Das hängt damit zusammen - da muß man die lateinische Brücke
machen-, daß >>erinnern<< recordari heißt, von cor, das Herz, in das

1 Teil I, von Lothar Steiger frei vorgetragen, wird nach der redigierten Tonbandauf-

nahme wiedergegeben. Der Charakter des Gesprochenen wurde belassen. Teil II ist
der Part von Renate Steiger.
2 Die Textsammlung wird vollständig im Rahmen einer größeren Veröffentlichung zu

Bachs Passionen abgedruckt werden. Die besprochenen Abschnitte sind hier in den
laufenden Text aufgenommen oder in den Anmerkungen mitgeteilt.
3 Hrsg. von Johann Jacob Rambach, Leipzig und Görlitz 1734.

4 Zweiundzwanzig Predigten, Nürnberg 1656.

5 Leipzig 1666.
10 Lothar Steiger

Herz zurück einbilden, ins Herz einbilden. Hier greift nun die Theo-
logie der Bachzeit tief in die mittelalterliche Theologie und Fröm-
migkeit hinein, besonders auf Bernhard geht sie zurück.
Wir wollen das verifizieren an einem Text. Bei Heinrich Müller in
den Passionspredigten6 heißt es am Anfang der ersten Predigt Vom
Leiden Christi:

»Der Apostel Paulus vermahnet seinen Timotheum I daß


er stets solle im Gedächtnij3 tragen Jesum I den Gecreutzig-
ten. Halt im Gedächtnij3 I sagt er I Jesum Christum (2 Tim.
2/8.).«Und weiter unten: »Nun ! dahinsolauch unsere Pas-
sions=Arbeit gehen«- Sie sehen auch, daß das E ingeden-
ken eine Arbeit ist- » I daß der gecreutzigtelesus recht ein-
gebildet I ja I vest eingedrucket werde in euer aller H ertzen. «
Und Galater 3/1 zitierend (>>Ich habe euch den Gekreuzig-
ten vor Augen gemalet.«) sagt Müller in der achten Pre-
digt: »DEr Apostel Paulus hat seinen Galatern den gecreut-
zigten Jesum also vor die Augen gemahlet I als wäre er
jetzo unter ihnen gecreutz iget. Er hat so deutlich und um-
bständlich von der Creutzigung Christi geprediget I als
wäre er selbst unter dem Creutz gestanden I und hätte sie
mit Augen gesehen.«7

Das schöne alte Wort »umständlich<< kommt auch in Kantatentex-


ten vor: »umständlich angesehn«, in der Estomihi-Kantate BWV 23
(Nr.1). Das hat eine andere Bedeutung als heute, es meint: alle Um-
stände, alles Einzelne ansehen.
Schauen wir uns nun das erste Bild an, den >>Schmerzensmann<<
von Lucas Cranach d. Ä. (Abb.1, Seite 11) 8 . E s geht auf eine spätmittel-
alterliche Tradition zurück, daß man Christus den Gekreuzigten als
Schmerzensmann vor Augen hat und hier alles Einzelne - es gibt
auch Darstellungen des Schmerzensmanns, wo alle Epitheta der
Leidensgeschichte, alle Leidenswerkzeuge und alle einzelnen Lei-

"Heinrich Müller, De r Leid ende Jes us I Od e r Das Lei den unsers HErrn und Heyland es
Jes u Christi, ne un Predigten , in: Evan gelisch er Hertzens=Spiegel lln Offen tlich er Kir-
chen=Versammlun g I bey Erklärungder Sonntäglich e n und Fest=Evan glien, Frank-
furt a . M. 1679, S. 981.
7 ebd. S. 1075.

8 Weimar 1515, a u s: Lucas Cr an ach d. Ä. , Altarbilder aus der Reformation szeit. Von Her-

bert von Hintzen ste rn. 2 . Aufl. Berlin 1975, S. 65.


Lothar Steiger 11

Abb . 1 Lucas Cranach d. Ä., »Schmerzensmann«, Weimar um 1515.

den, die er auf den einzelnen Stationen erfahren hat (arma Christi),
versammelt vor den Augen erscheinen, so daß das Andachtsbild
alles Einzelne, das Zugleich und das Nacheinander, in Einem prä-
sent hat. Das ist uns etwas aus dem Blick geraten seit der Aufklärung,
seit Lessing im Laokoon gesagt hat: Die Malerei ist dazu da, abzu-
bilden was gleichzeitig ist in einem Augenblick, und die Poetik ist
dazu da, das Nacheinander darzustellen . Hier, im Andachtsbild, ist
beides beieinander. Das heißt Gedächtnis, Angedenken 9 , so daß man
das Nacheinander zugleich hat.

"vgl. J\1atthäus-Passion Nr. 64 : "· . . 0 heilsames, o k östlichs Anged enken !«


12 Lotbar Steiger

Wir haben übrigens dieses Bild von Lucas Cranach gewählt, weil
es in der Schloßkirche in Weimar hängt. Es ist also ein Andachtsbild,
das Bach selbst gekannt haben dürfte.
Noch einmal zurück zu Heinrich Müller. Da heißt es weiter: »Der
Prediger Zunge sol seyn der Griffel/ der den gecreutzigten Jesum ins
Hertz mahlet ... Mancher lässt sein Hertz zu hause I und bringet nur
die Ohren zur Kirchen . .. Meine Hertzenl dazu predigte ich euch heute
auch!daß ich euch Jesum möge recht ins Hertz bilden . .. So bereite nun
ein jeder sein Hertz zu wahrer Andacht.<< 10
Hier ist schön zu sehen: recordari, gedenken, betrachten, heißt
»ins Herz einbilden<<, Christus heute gegenwärtig.
Daß dies nun einen Bezug hat zum Text der Johannes-Passion, wol-
len wir uns an Satz 19 verdeutlichen. Da heißt es: »Betrachte, meine
Seel, mit ängstlichem Vergnügen.« Der Brockes-Text selber ist da
nicht so theologisch genau, man kann fast sagen, daß hier Bach im
Sinne der Betrachtungstheologie und -frömmigkeit dies an den
Anfang stellt. Brockes schreibt: »Drum, Seele, schau mit ängstlichem
Vergnügen.<<Vergleichen Sie auch Nr.20: »Erwäge, wie sein blutgefärb-
ter Rücken ... « Hier kommt also im Text heraus dieser Topos des
Betrachtens, des Erwägens. Das ist der erste Punkt.
Zweitens nun will ich Ihnen etwas sagen zu dem >>fruchtbarlich
bedenken<< 11 oder zu dem >>heilsamen Betrachten<<. Unser Sprachge-
brauch ist ja da verarmt, wir nehmen das Betrachten eigentlich
mehr für das distanzierte Betrachten, für das gegenständliche,
objektivierende Betrachten. Das ist hier genau anders. Es geht beim
Betrachten zugleich um die Anwendung dessen, was das Bild, was
die Geschichte bedeutet, die mir zugut geschehen ist, und hier
kommt besonders das reformatorische Proprium der Betrachtungs-
weise der Passionstheologie heraus: das für-mich-geschehen.
Und dieses für- mich-selber, das wird noch einmal unterteilt in sei-
ner Bedeutung. Es ist ein Betrachten, einbitteres Betrachten, weil
nämlich der Mensch beim Betrachten der Passion Christi daran er-
innert wird, daß Christus um der Sünde, um meiner Sünde willen
dies hat erleiden müssen; und zugleich ist es einsüßes Betrachten.
Bitter und süß ist auch ein alter Topos, dulcedo und amaritudo, weil
es mir zugut geschehen ist. Zugleich kommt drittens aus dieser Er-

10 H. Müller, ebd.
11 Vgl. Johannes-Passion Nr. 37: » ... deinen Tod und sein Ursach I fruchtbarlieh beden-
ken ... «
Lothar Steiger 13

fahrung des für mich (pro me) dann die compassio, das Mitleiden:
daß ich, die glaubende Seele, dem Geschehen der Leidensgeschichte
selber eigens nachgehe sowohl ethisch in der Nachfolge, aber dann
auch erhöht in der eigenen Leidensbereitschaft. Und manchmal ge-
schieht es dann, daß die Seele sozusagen aufdie erste Ebene zurück-
gehen will, indem sie sagt- denken Sie wieder an eine Kantate auf
Estomihi- daß Jesus doch nicht ans Kreuz gehen soll (Kantate BWV
159 »Sehet! Wirgehn hinaufgenJerusalem«). Da singt der Alt (Nr.1):
»Ach, gehe nicht! I Dein Kreuz ist dir schon zugericht' .. .«Und dann
kommt die Doppelreflexion: >>Doch bliebest du zurücke stehen, I so
müßt ich selbst nicht nach Jerusaleml ach, leider in die Hölle gehen.«
Wir kennen das aus dem antiken Drama auch, daß der Chor das
Geschehen der Tragödie begleitet und sozusagen einzugreifen
versucht. Obwohl dieses Eingreifen zwar menschlich verständlich
ist, ist es doch im Sinne der heilsamen Passion nicht möglichY" Die-
ses also ist das pro me.
Schauen wir wieder in einen unserer Texte: Bei Johann Olearius
in der HeylsamenBetrachtung, da kommt das heraus in dem Zitat Ga-
later 2, 20: »Der Sohn GOttes hat mich geliebet I und sich selbstfür
mich«- das ist das Stichwort: pro me- »dargegeben«. Und da wird
nun ein Wort Luthers zitiert- das ist auch ein schönes Beispiel dafür,
daß die Theologen, von denen man immer gesagt hat, weil man nur
ihre Dogmatiken kannte, die sind schon sehr weit fern von Luther:
Die haben alle genuin authentisch aus Luther geschöpft! Das
kommt hier heraus. Da wird nun also Luther zitiert-- :

"Wenn du nun lieber Mensch mit allem Fleiß bedenckest I


wie du warlieh thun solt I was es gekostet und gestanden
habe I da du bist erlöset worden I und siehest wer der sey I
der sichfür dich gegeben hat I nemlich daß es JEsus Chri-
stus GOttes Sohn sey I etc. So seynd diese Wort Gal.2. der
mich geliebet hat I voll grosses mächtigen Trosts I und aus
dermassen kräiftig I den Glauben in uns zu erwecken I und
wer das einige kleine Wörtlein Mich mit solchem Glauben
sagen I und auif sich selbst deuten kan etc. Der wird erfah-

11 ' Vgl. neuerdings Lothar Steiger I Renate Steiger, Sehet! Wir gehn hinauf gen J erusa-

lem. Johann Sebastian Bachs Kantate auf den Sonntag Estomihi (Veröffentlichungen
zur Liturgik, Hymnologie und theologischen Kirchenmusikforschung Bd. 24), Göttin-
gen 1992, S. 127f.
14 Lotbar Steiger

ren I daß dadurch das Hertz gestärcket I und getröstet


werde wider Gottes Zorn und alles Unglück. Denn St. Pau-
lus redet solche Wort nicht allein von seiner Person I son-
dern von der gantzen Christenheit I darumb solls auch ein
ieglicher insonderheit auif sich deuten« - das ist eine
wichtige Wendung- »und es lassenfür ihm geschehen.«12
Und weiter unten: »Darumb soltu diese Wörtlein Mich
und für Mich I also lesen I daß du ihnen wol nachdenk-
kest.<<13 Das ist wieder das Betrachten.

Und nun auch hier wieder der Bezug zu einem Text aus der Johan-
nes-Passion, Nr. 7: »Von den Stricken meiner Sünden/mich zu entbin-
den, I wird mein Heil gebunden.<<
Verstehen Sie, wir versuchen immer, die Verbindung zwischen der
Predigtliteratur und der Dichtung zu zeigen. Dieses Wort >>mein<< hat
eine große Bedeutung, es ist das Auf-sich-deuten. Hier in Nr. 7ist die
erste und zentrale Applikation des Heils in der Johannes-Passion
ausgesprochen. In Nr. 22 wird es dann noch einmal zentral ausge-
sprochen in dem Choral »Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, !muß
uns die Freiheit kommen.<< Wir können sagen, daß die Matthäus-Pas-
sion in Übereinstimmung mit dem Evangelium den Ton legt auf
Gethsemane: Christus leidet die Angst, die Gerichtsangst, die end-
zeitliche, für mich. In der Johannes-Passion ist dieses Thema der
Angst Jesu schon verarbeitet worden in den Abschiedsreden Johan-
nes 14-17, und deswegen beginnt die Johannes-Passion mit der
Gefangennahme und nicht mehr mit dem Gebet und der Anfechtung
Jesu in Gethsemane. Das Gebundenwerden Christi für mich ist
dort das zentrale Thema. Sie sehen auch, wie klug und wie theolo-
gisch auf dem Damm die Passionen und die Theologen dieser Zeit
gewesen sind. Wir können das von unserer heutigen historisch-
kritischen Einsicht des Neuen Testaments her bestätigen und als
realisiert ansehen. Das ist also das Zweite gewesen, das fruchtbar-
liehe, das heilsame Betrachten, was es für mich bedeutet.
Und nun ist es doch auch wichtig, ein Drittes zu sagen: das Be-
trachten als Bewegen. Sie kennen die Übersetzung Luthers aus
der Weihnachtsgeschichte: »Maria aber behielt alle diese Worte, und
bewegte sie in ihrem Herzen<< (Lukas 2,19). Betrachten, das ist wichtig,

12 S. 22 f.
13 S. 23.
Lothar Steiger 15

ist nicht nur ein Anschauen, sondern es ist ein diskursives


Sehen. Das Herz, biblisch verstanden, ist ja die Einheit von Gefühl,
Verstand und Wille. Es ist sozusagen in der Bibel die Vernunft. Und
dieses Betrachten- das ist sicher auch für die musikalische Realisa-
tion wichtig -enthält in sich verschränkt das Emotionale und das
Kognitive, es ist ein Hin- und Hergehen, ein diskursives, es ist unmit-
telbar und zugleich in allem vermittelt. So wie ein Bild zugleich
erzählt und eine Erzählung bildhaft ist.
Das möchte ich ihnen an wenigen Beispielen erläutern. Nehmen
Sie den Eingangschor. Das Betrachten hat es mit Extremen zu tun, es
ist nicht ein identisches Gefühl, sondern es geht hin und her, das
Herzbewegt etwas. Das hängt natürlich zusammen damit, daß hier
der Deushomo der Leidende ist, und es fängt gleich im Eingangschor
an, daß gesagt wird: »Zeig uns durch deine Passion I daß du, der wahre
Gottessohn, I . .. auch in der größten Niedrigkeit, I verherrlicht worden
bist.« Also, Niedrigkeit und Herrlichkeit gehen beim Betrachten in-
eins und besprechen sich sozusagen. Sehen wir uns dazu wieder ein
Bild an, das Ecce homo, Christus, der vor Pilatus stehend als der Ge-
geißelte, Geschlagene der König ist. Dieses Bild stammt aus dem
Eisenacher Gesangbuch von 1673, das der ganz junge Bach vor
Augen gehabt hat, und es ist das einzige Bild zu den Passionsliedern,
es ist also in diesem Gesangbuch kein Gekreuzigter dargestellt, son-
dern die Passion im Eccehomo ins Bild gebracht (Abb. 2, Seite 16). 14
Hier kommt auch zum Vorschein, daß nach der Tradition- wie auch
noch bei Luther- das Johannes-Evangelium das Hauptevangelium
gewesen ist. Das kann man auch an den Perikopen im Kirchenjahr
zeigen. Daß die Matthäus-Passion bei Bach die spätere und die
Johannes-Passion die erste gewesen ist, hat also auch wirkungsge-
schichtlich einen Anhalt. Das Johannes-Evangelium ist das Grund-
passionsevangelium.
Und nun noch einmal zu Nr. 7. Da habe ich Ihnen schon versucht,
das Ineinander von Binden und Lösen zu zeigen, ebenso in Nr. 22
»Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, I muß uns die Freiheit kommen«.
Wir wollen dann im Seminar die Texte noch gerrauer lesen. Da wird
Ihnen deutlich werden, wenn ein Wort fällt, etwa >>er wird gebun-
den<<, dann assoziiert es sich biblisch durch alle Schriften hindurch.
Man hat früher biblisch gehört, man hatte ein Konkordanzhören.

14 s.Abb. S.16; Wiedergabe nach dem in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vor-

handenen Exemplar (Sign.: Tl 450).


Abb. 2 Fastenlieder, »Ecce homo«, Eisenachisches Gesangbuch 1673, S. 127.
(Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur T l 450)
Lotbar Steiger 17

Und wenn man »binden<< hörte, dann dachte man daran, daß 1. Mose
22 lsaak gebunden wurde. Dies ist ein wesentliches Moment des Be-
trachtens: im Hörer assoziieren sich an einem Wort tausend Bezüge.
Und das ist das Bewegen. Das ist uns heute verlorengegangen, dieses
biblische Hören, und es nun durch die Aufführung der Bachsehen
Passion wieder einzuüben, wäre sicher ganz wichtig.
Ein weiteres Beispiel, die Sätze 19 und 20. Da wird nun dieses
Assoziieren in der Sprache, in der poetico-theologischen Sprache
sichtbar. Nr. 19: >>Dein höchstes Gut in Jesu Schmerzen, I wie dir auf
Dornen, so ihn stechen, I die Himmelsschlüsselblumen blühn!« Das ist
eine Sprachpoetik, die sich auch herschreibt einmal davon , w as Jo-
hannes Heermann in seiner Predigt zu Jesu Leiden im Ölgarten
sagt. 15 Er spricht im Rückgriff auf Hieronymus von Christi Blut als
dem rechten Paradiesschlüssel, der die Himmelspforte eröffnet. Und
Georg Albrecht sagt: »Am Gelberg stehet das Himmelschlüsselein.«16
Der Dichter unseres Passionstextes nun - das scheint mir sonst
nicht belegt zu sein-, der schließt zusammen den Schlüssel und die
Schlüsselblumen und dann noch »Himmelsschlüsselblumen«. Wie
das poetisch gemacht ist, das kann man direkt sehen, und es ist na-
türlich unerhört schön, eine Sprache, die uns heute so nicht mehr
zur Verfügung steht.
Hier sieht man, es gibt nicht nur einen Vorrat von Typen und Anti-
typen, also Jona, d er im Bauch des Walfischs ist, und Christus, der in
den Tod, in die Hölle steigt, wie wir an den Beispielen aus der Biblia
pauperum sahen (Abb. 3, Seite 18)17 , sondern dieses Betrachten w ird
selbst spracherfinderisch, indem es solche Konnotationen au s sich
h eraussetzt: Schlüsselblumen. Oder in Nr. 20: Auch dieser gewagte
Vergleich kommt aus dem Betrachten: »Erwäge, wie sein blutgefärb-
ter Rücken I In allen Stücken I Dem Himmel gleiche geht«. Das in allen
Farben Schillernde wird mit dem »allerschönsten Regenbogen«, mit

15 Johann Heermann, CRUX CHR ISTI, Die schmertzliche und trawrige Marter=Woch e

/ vn sers hochverdienten Beyla nd es JEsu Chri sti . . . in EilffLehr= und Trostreich en Pr e-


digten erkläret, Bra unschweig 1711, Dritte Predigt, S. 75.
16 Georg Al brecht, PASSIO Domini nostri J ESU CH RI STI . . . in Vier und Sech szig Pre-

digten, Harn burg 1655, Sech s te Predigt nach Ma rkus, S. 317.


17 Es wurde gezeigt ein Blatt a u s de r Biblia pauperum, Cod. Heidelb erg. Cpg 148 fol.

131'": Christus befreit Adam und Eva a us der Höll e (1 Petr 3,18-22) mit den beiden altte-
s tamen tli chen Vorbildern Samson zerreißt den Löwen (Ri chter 14,5 f) und David be-
siegt Goliath (1 Sam 17,49). Hingewi esen wurde dab ei auf die Typoi der Aufer stehung
(Mt 28,2-6) : Samson h ebt die Tore von Gaza a us den An geln (Ri 16,3) und Jona s wird
vom Fisch ausgespien (Jon 2, 11).
Abb. 3 »Biblia pauperum«, Miniatur aus der Heidelberger Handschrift cod. pal. ger.
148, fol.131'·, 15.Jahrhundert. Samson zerreißt den Löwen (Ri 14,5 f); David be-
siegt Goliath mit der Schleuder (1 Sam 17, 49); Christus befreit die Seelen aus
der Unterwelt (1 Petr 3, 18-22).
Lothar Steiger 19

Noahs Regenbogen verglichen, mit dem Zeichen des Bundes, den


Gott mit den Menschen geschlossen hat. Das ist natürlich Barock-
zeit und - sprache, die uns zunächst sehr fern liegt, aber es liegt darin
ein ungeheurer Expressionismus, und, wie Germanisten festgestellt
haben, unser moderner Expressionismus ist eigentlich dem sehr
verwandt, daß solche Gegensätze hier miteinander verglichen wer-
den. Also das Betrachten als ein Verg leichen , Vergleichen in
dem Sinne, daß hier etwas Einigendes, etwas Erlösendes, etwas
Befreiendes zum Vorschein kommt.
Und noch ein letztes, Viertes: Man muß auch etwas von Theologie
verstehen, um die Texte zu verstehen. Was heißt in Nr. 35 >>Mein Jesus
ist tot<<? Das ist nicht einfach eine historische Feststellung, wie ein
moderner Betrachter meinen könnte. »Zerfließe, mein Herze, in Flu-
ten der Zähren, I dem Höchsten zu Ehren! I Erzähle der Welt und dem
Himmel die Not: I Dein Jesus ist tot!« Da wird die Schöpfung aufgeru-
fen, mitzutrauern, bzw. die Schöpfung trau ert mit, Nr. 34: »Die So nne
sich in Trauer kleidet.« Woher kommt das ? »Weil sie den Schöpfer sehn
erkalten.« Jesus ist der Gottmensch. 18 Denken Sie an Johannes 1
(1 - 14): Durch den Logos ist von Ewigkeit her alles gemacht. Oder
Kolosser 1, 15f: Jesus ist von Ewigkeit her bei Gott gewesen und h at
die Welt erschaffen. Und wenn er nun stirbt, dann trauern nicht nur
die Menschen mit ihm, sondern dann trauert a lle Kreatur, also auch
Sonne und Mond beim Anblick des Gekreuzigten, w ie w ir es auf dem
Holzschnitt von Albrecht Dürer sahen. 19 Man muß also Dogmatik
können, um diese Verse zu verstehen : Jesus, der Deus homo.
Lassen Sie mich noch hierauf aufmerksam machen: In dem Lied
von Johann Rist >> Ü Traurigkeit, o Herzeleid<< heißt es in der 2. Stro-
phe >>Ü große Not! Gott selbst liegt tot<<. Das hat man heute im
Gesangbuch geglättet in >>Gotts Sohn liegt tot<< (EKG 73), weil man
diesen Hintergrund und diese Dogmatik nicht mehr k ennt, und

18 Vgl. August Pfeiffer, Evan ge lisch e Ch ri s te n= Schul e I Darinne n das gantze SYSTEMA

T H EO LO GIAE Ode r di e Articul der Chri s tlichen Religion in ihrer richtigen Ordnun g I
aus den en Eva n glischen Sonn= und Fes t=Tags=Texten deutli ch gewiesen , Leipzig
1710, Kapitel24,§ 5, S 394: Fragt man denn nun: Was ist das für eine Per son I die gelit-
ten h a t? vers te h e nicht n ach ihrem Nahmen I das wissen wir schon (Fragst d u wer er
ist? Er h eist J Es us Ch1·ist) sondern n ach ihrer Condilion und Stande I so giebt Esaias
Bericht I es sey (Passio 8cavÖpiKY) e in Gottmensch liches Leid e n I die leidend e Person
sey (8cav8pwrroc:) Gottmensch I der Mensch I der z ugleieil GOtt der HErr in der Höhe
ist.
19 Albrecht Dürer, Kreuzigung, in: Dürer. Das graph ische Werk, Text von Karl-A do lf

Knapp e, Wien und München 1964, S. 127.


20 Renate Steiger

damit geht natürlich auch das bewegliche Betrachten, das zwischen


den Extremen Gott Mensch hin- und hergeht, verloren. Damit will
ich meinen Part schließen.

II

Wir möchten Sie in die Passionstheologie der Bachzeit einführen


am Text der Johannes-Passion entlang. Denn dem theologischen Ver-
ständnis dieses Textes soll unsere Arbeit heute Morgen ja dienen,
und wenn wir dann vielleicht an Beobachtungen zur Komposition
noch erkennen, wie Bach die einzelnen theologischen Topoi in Mu-
sik übersetzt, dann wird das vertiefte theologische Verstehen auch
für die praktische Aufführung, auf die dieser Kurs hinführt, Konse-
quenzen haben.
Der Johannes-Passion liegen zugrunde die Kapitel18 und 19 des
Johannes-Evangeliums mit zwei Einschüben aus Matthäus: auf Joh
18,27 folgt Mt 26,75: »Da gedachte Petrus an die Worte Jesu und ging
hinaus und weinete bitterlich« (Nr. 12c). Bach empfand die Notwen-
digkeit, in Entsprechung zu den synoptischen Evangelien an dieser
Stelle von der Reue des Petrus zu berichten. Denn im Johannes-
Evangelium wird die Verleugnung erst in Kap 21 aufgearbeitet mit
der dreimaligen Frage des Auferstandenen an Petrus: »Simon
Johanna, hast du mich lieb?«, der dann der Befehl folgt: »Weide
meine Schafe!« (Joh 21, 15-17). Der zweite Einschub ergänzt den Be-
richt über die Naturereignisse nach Jesu Tod, die dessen kosmische
Bedeutung anzeigen (Mt 27, 51-52 nach Joh 19, 30; Nr. 33). Das
darauffolgende Arioso zeigt, daß auch dieser Einschub nicht un-
reflektiert der Evangelienharmonie zuliebe geschieht, sondern vom
Johannes-Evangelium her gedacht ist:»... die Erde bebt, die Gräber
spalten I weil sie den Schöpfer sehn erkalten . .. »Für J ohannes ist der
Sohn der Logos, der Schöpfungsmittler, vgl. Joh 1, 1-3: »Im Arifang
war das Wort . .. alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne
dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.«
Bach läßt den biblischen Bericht in 17 Abschnitten vortragen, zwi-
schen die er 14 Choralstrophen und 12 Stücke freier Dichtung ein-
schiebt. Von den Passionsliedern »Jesu Leiden, Pein und Tod« und
»Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen« erklingen je 3 Stro-
phen 20 , von »Christus, deruns selig macht«und »Ü Welt, sieh hier dein
20 Nr. 14, 18 und 32 bzw. Nr. 3 und 17 (2 Strophen).
Renate Steiger 21

Leben<< je 2 Strophen 2 \ 3 weitere sind Einzelstrophen aus drei Cho-


rälen22, Nr. 22 »Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn« ist kein Kirchen-
lied-, sondern ein Arientext aus der Johannes-Passion von Christian
Heinrich Postel, dem Bach die Melodie von >>Machs mit mir, Gott,
nach deiner Güt<< (Johann Hermann Schein) unterlegte.
Wer die madrigalischenStücke gedichtet hat, ist nicht überliefert,
für die Mehrzahl von ihnen sind aber literarische Vorbilder bekannt
und man nimmt allgemein an, daß Bach selbst die Umdichtungen
vorgenommen, vielleicht auch die wenigen (vermutlichen) Neu-
schöpfungen verfaßt hat.
Acht der zwölf Sätze gehen zurück auf die Passionsdichtung von
Barthold Heinrich Brockes Derfürdie Sünde der Welt Gemarterte und
Sterbendelesus, aus deniVEvangelisten. 23 Dieses 1712 in Harnburg er-
schienene Werk war bei den Zeitgenossen hoch geschätzt, und das
nicht nur als Libretto, zu dem viele Komponisten griffen, so Rein-
hard Keiser (1712), Telemann, Händel (beide 1716) und Mattheson
(1718), sondern es war geschätzt auch als Meisterwerk der Dicht-
kunst und Erbauungsliteratur, das in zahlreichen Auflagen und
Übersetzungen eine ungewöhnliche Verbreitung fand. Bach ist mit
diesem Text wahrscheinlich durch Rändels Komposition bekannt
geworden. 24 Die Nachdichtung lehnt sich eng an das Vorbild an, wo
sie umgestaltet, fällt sie in der Regel nicht gegen das Original ab, es
gelingen sogar einzelne Verbesserungen. So sind die Sätze 24 »Eilt«,
32 »Mein teurer Heiland« und 34 »Mein Herz, in dem die ganze Welt<<
bei Bach etwas gestrafft, Satz 19 und 20 »Betrachte<< und »Erwäge<<
geben dem theologischen Inhalt sprachlich noch besser Ausdruck.
Nr.13 »Ach, mein Sinn<< ist die nur leicht abgewandelte erste Strophe
des Gedichts >>Der weinende Petrus<< von Christian Weise. 25
So ist nur für zwei Sätze der ersten Fassung bisher kein Vorbild
zwingend nachgewiesen, Nr. 1 »Herr, unser Herrscher<< und 9 »Ich
folge dir gleichfalls<<. Möglicherweise sind sie originale Schöpfungen.
Beide Sätze sind im wesentlichen aus Bibelstellen kompiliert. Nr. 1
verknüpft Psalm 8,2 mit Philipper 2,8 und Johannes 17,1. Nr. 9
besteht vornehmlich aus johanneischen Zitaten.

21 Nr. 17 und 37 bzw. Nr. 11 (2 Strophen).


22 Nr. 5, 6 und 40.
25 Nr. 7, 19, 20, 24, 32, 34, 35 und 39.
24 Vgl. NBA li I 4, Kritischer Bericht von Arthur Mendel, Kassel 1974, S. 173 f.
25 In: Der grünen Jugend Nothwendige Gedanken, Leipzig 1675.
22 Renate Steiger

Wir wollen uns heute mit den madrigalischen, den frei gedichte-
ten Sätzen beschäftigen. Der Passionsbericht des Johannes war ge-
stern Gegenstand Ihrer Betrachtung; über die Choräle werden wir
bei der Frage nach der Disposition, dem Aufbau des Werkes zu spre-
chen haben, die morgen dran ist, wenn es um Bachs Deutung des
Passionsberichts nach Johannes geht. Auch den Eingangssatz, in
dem sich das spezifisch johanneische Passionsverständnis aus-
spricht, sparen wir aus, um dem Thema von morgen nicht vorzugrei-
fen. Wir betrachten also alle Rezitative und Arien (Nr. 7, 9, 13, 19, 20,
24, 30, 32, 34, 35) und die abschließende Chorarie (Nr. 39) in der er-
sten Fassung des Werkes. Zu jedem dieser Sätze haben wir Ihnen in
der vorbereiteten Textsammlung einen oder mehrere Textab-
schnitte wiedergegeben, die den Kontext der Auslegung beleuchten
und den theologischen Zusammenhang zeigen sollen, der hinter
den einzelnen Stichworten und Bildern des Bachsehen Textes und
seiner Vorlagen steht. Die Intention bei der Vorbereitung dieser
Synopse war nicht, nachzuweisen, aus welchen Quellen nun ihrer-
seits Brockes oder Weise für ihre Dichtung unmittelbar geschöpft
haben, vielmehr sollen die Texte eine Begegnung mit der Gattung
der Passionsbetrachtung als solcher vermitteln. 26 Wir zitieren aus
elf verschiedenen Predigtsammlungen, fünf Andachtsbüchern und
aus den beiden durchlaufenden Bibelerklärungen der Zeit: der Bibli-
schen Erklärung von Johann Olearius und der Heiligen Bibel von
Abraham Calov, die jedem Vers eine Auslegung von Martin Luther
beifügt, zusammengetragen aus der Gesamtausgabe der Deutschen
Schriften. 27

26Die angeführten Werke stammen alle aus der Zeit zwischen 1650 und 1700. Wo ein
späteres Erscheinungsjahr angegeben ist, handelt es sich um eine wiederholte Aufl.
27 Mehr als die Hälfte der zeitgenössischen Werke, die wir anführen, hat Bach am Ende

seines Lebens selbst besessen; außer dem Eisenach er Gesangbuch seiner Kinderzeit
(s. Anm.14) und der Bugenhagensehen Passionsharmonie in seiner Leipziger Agende
(s. Anm. 28) folgende Titel: J ohann Arnd, Postilla (s. Anm. 3); Abraham Calov, Die Hei-
lige Bibel (s. Anm. 54); Heinrich Müller, Der Leidende Jesus (Passionspredigten, s.
Anm. 6); ders., Evangelische Schluß=Kette (s. Anm. 29); ders., Göttliche Liebes=
Flamme bzw. Himmlischer Liebes=Kuß (s. Anm. 48 und 51); Johann Olearius, Bibli-
sche Erklärung (s. Anm. 53); August Pfeiffer, Evangelische Christen=Schule (s. Anm.
18). Wieviele dieser Bücher Bach zur Zeit der Komposition der Johannes-Passion
schon besaß bzw. kannte, wissen wir nicht. Höchstwahrscheinlich besaß er schon die
Ev. Christen=Schule von Pfeiffer, deren Titel er mit zwei anderen Pfeiffer-Titeln auf
dem Umschlag des Clavierbüchlein für Anna Magdalena Bach von 1722 notiert hat.
Als ziemlich sicher darf ferner gelten, daß er mit den Predigten von Heinrich Müller,
den er sehr geschätzt hat und von dem er schließlich fünfumfangreiche Werke besit-
Renate Steiger 23

Schon bei einer ersten Durchsicht der Texte fällt ihre enge Ver-
wandtschaft auf, sowohl was den theologischen Inhalt betrifft als
auch den Ton, die Frömmigkeit, die sich in ihnen ausspricht. Die
inhaltliche und formale Einheitlichkeit der lutherischen Passions-
predigt im 17. Jahrhundert gründet in der Gemeinsamkeit des Tradi-
tionsgutes, das sie verarbeitet.
Da sind zunächst die gemeinsamen Schriftzi tate. Die Passions-
predigten sind in der Regel Homilien über den fortlaufenden Text
der Passionsharmonie von Johannes Bugenhagen. 28 Allgegenwärtig
sind die für den biblischen Passionsbericht selbst grundlegenden
alttestamentlichen Texte, also Jesaja 53 und Psalm 22. Daneben fin-
den sich regelmäßig die klassischen Belegstellen für die Rechtferti-
gung des Sünders vor Gott durch das Blut Jesu Christi, also etwa 1
J oh 1, 7: »Das Blut Jesu Christi macht uns rein von aller Sünde'~ Röm
3, 24 f: »Und werden ohne Verdienstgerecht aus seinerGnade durch die
Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist, welchen Gott hat
vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut,
damit er die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, darbiete in dem, daß er
Sünde vergibt . .. <<
Man vergleiche dazu Heinrich Müller in der Evangelischen
Schluß=Kette 29 : »Ohöre auffzu sündigen/ oder GOtt wird dich mit der
eisernen Rute seines Grimmes im Zorn zerschmeissen [vgl. Psalm 2,9].
Hast du aber gesündiget I und deine Sünde ist dir leyd I so verzage
nicht. Denn das Blut I das der Sohn Gottes in seiner Geisselung vergos-
sen/machet dich rein von allen Sünden.<< Dies ist ein Text, den wir im

zen sollte, um diese Zeit bereits vertrautwar.Salomo Franck,Bachs Hauptdichterwäh-


rend der Weimarer Zeit, hatte für seine Kantatendichtungen aus Predigten von H. Mül-
ler geschöpft und dürfte Bach mit diesem Autor bekannt gemacht haben. Vgl. dazu Lo-
thar und Renate Steiger, •Mein Gott, wie lang, ach lange?<< Herzensfrömmigkeit in der
Kantate 155, in: Johann Sebastian Bach. Prediger in Tönen, hrsg. v. Wolfgang Böhme,
Herrenalb er Texte 64, S. 25-71.

28 Johannes Bugenhagen, Historia vom Leiden und Sterben unsers Herrn Jesu Christi
nach den vier Evangelisten. Unter dem Titel Die Historien von dem schmertzlichen
Leiden I und der frölichen Aufferstehung des HErrn Christi ist diese Passionsharmo-
nie auch abgedruckt in der für Bach maßgeblichen Agende Vollständiges Kirchen=
Buch I Darinnen Die Evangelia und Episteln auf alle Fest=Sonn= und Apostel=Tage
durchs gantze Jahr I ... enthalten, Leipzig 1707, S. 291-344. Auch Bachs Oster-Orato-
rium greift auf diese Synopse zurück.
29 Evangelische Schluß=Kette I Und Krafft=Kern I Oder Gründliche Außlegung der

gewöhnlichen Sonntags= Evangelien, Frankfurt am Main 1672, Am Sonntag Estomihi,


S.341.
24 Renate Steiger

Reader gestellt haben zu Satz 20 »Erwäge, wie sein blutgefärbter Rük-


ken«: das in der Geisselung vergossene Blut macht dich rein von al-
len Sünden. Und- darfich das gleich einfügen- Satz 19 und 20 sind
in der Johannes-Passion eine zentrale Satzgruppe, betont ja auch da-
durch, daß hier zwei Sätze zusammengebunden sind. Dieser Akzent
ist darin begründet, daß die grundlegende theologische Aussage von
der Erlösung durch das Blut Jesu Christi von Bach an dieser Stelle
festgemacht ist, nicht bei der Kreuzigung; da ist ja nachher die Rede
von >>Hast mir den Himmel aufgemacht<<, vom Sieg Jesu über den Tod
und von der Nachfolge durch den Tod ins Leben, Nr. 30 und 32.
»Siehe nicht auffdich und deine Sünde« 30 - denken Sie an Nr.19:
»Drum sieh ahn Unterlaß auf ihn<< - »sondern auff Jesum I den dir
GOTT hat fürgesteilet zu einem Gnadenstul durch den Glauben in sei-
nem Blute.<< Da sehen Sie eingearbeitet diese Stelle aus Röm 3, 25.
Auch dazu möchten wir Ihnen ein Bild zeigen. Es ist ebenfalls von
Lucas Cranach d. Ä., der Mittelteil des Flügelaltars in der Stadtkir-
che Weimar (Abb. 5, Seite 83) 30 •, also Bach wahrscheinlich auch be-
kannt. Das Wesentliche, was ich Ihnen zeigen will dar an, ist der Blut-
strahl, der aus der Seitenwunde des Gekreuzigten trifft auf den mitt-
leren der dort stehenden Männer, das ist Lucas Cranach. Dies ist
sein letztes Bild, das er mit 82 Jahren gemalt hat. Und mit dem auf
sein Haupt treffenden Blutstrahl bekennt er das für mich vergossen,
zu meiner Erlösung. 30 b Und der rechts Stehende ist Martin Luther.
Er deutet in der aufgeschlagenen Bibel auf die Stelle Röm 3, 25: »Wel-
chen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in
seinem Blut.<< Wir haben ein typisches Bild der Reformation vor uns,
die die Rechtfertigungslehre Luthers dargestellt hat im Lehrbild.
Das Lehrbild löst im 16. Jahrhundert im protestantischen Raum das
mittelalterliche Andachtsbild ab. »Ablösen<< ist vielleicht zu viel
gesagt, es bleiben Elemente des Andachtsbildes darin, aber die
Hauptintention ist die lehrhafte Darstellung der Heilsgeschichte.
Wir waren dabei, zu untersuchen, was die Predigten untereinan-
der so verwandt macht. Das erste verbindende Element sind also die
Bibelstellen, die Bibelzitate, die verarbeitet sind. Außer den eigens
vermerkten und meist auch im Druckbild hervorgehobenen

30 ) H. Müller, ebd.
30 " Aus: Lucas Granach d. Ä., Altarbilder aus der Reformationszeit (s. Anm. 8), S. 5
(Abb. 5).
30 " Johann Olearius, Heylsame Betrachtung deß unschuldigen Leidens und Sterbens

Unsers HErrn und Heylandes JESU CHRISTI, Leipzig 1666, S. 21ff.; s. S. 13f.
Renate Steiger 25

Schriftzitaten sind diese Texte aber voll von weiteren biblischen


Anklängen, Anspielungen und Bildern. Wir sprechen hier vom kon-
kordanten Hören der Zeit, das zusammenhängt mit dem hermeneu-
tischen Grundsatz Luthers: »Sacra scriptura suiipsius interpres<<, daß
die Heilige Schrift ihr eigener Ausleger ist, was bedeutet, daß immer
ein Schriftwort durch ein anderes seine Auslegung erfährt.
Betrachten Sie den folgenden Text in Faksimile 3 \ wir wollen ihn
nachher im Seminar zur Erläuterung von Satz 32lesen. Jetzt sehen
Sie nur, wie da rechts und links am Rand die Bibelstellen angegeben
sind. Und wenn man den Text liest, dann klingt es nicht wie eine Rei-
hung von disparaten Zitaten, sondern es ist wirklich ein durchge-
hender Gedankengang, der aus dem Reichtum der Sprache der Bibel
schöpft.

3n jenem ;;,tage I .0 ~Qri~Hcte 6tclc I wirb bi~ bdn ~ilbj"er


Uebli~ anreben ·unbfprecbtn:l\Qmm pmin bu<5e{egn<ecr nHi~
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'Ef.Jo • J J • <!)bem brp <',!.Erren an3tinbet l\1lc einen Sc:bwtfd~St:r~rn.
Atmh.•J· Sie lfl ein ()rtl ba ~rulm unb ~ill}nrlappenfr'9n ""irb. mun
v.•~z.. \lber ~at ~~~ ~6rl~uti~a~on mtttet• ~r f}lber J.)OUen dne')!le,
Hof. •1, •4 • flll(n~ Worben .(Er ~at bicb gefil~rtt: aus ber <lJrubcn/barinnm
Z4Cb.!), II ecin Waffcr ijl. ~u l\1irfl wo~ntn Im .f;)immd I in bem ~aufe
1~h.14, z.. befJ ~immlifcbm \')aeecrs. Jn bem ~immliti:hcn Jerufalem/
Heb.u., z.z. barinnen gut wo~nm fc~n wirb. Woft\r wolfeil bu Aiffern~C>o~
Matt. '7· ne!jur~f unbQ;eben fanjlu ni~fgebencfen an ben tll'igen!lob/
v. 4· wd~n ttf ble\Verbamad!}. ~abie'i.llerbampten immer fn!loj:
Ap;~z.r~· bed~ana~ Uegen/aUtbdf finbenlunb teinmal e~Ruben.)lllaucQ
I •ber ndft\rllcqe ~ob I roann n~ .(db unb eeere frmnm I fit bem
Sir-41, v.t. ~enf~en ~iffcr. aber aUcQ f(Jr bem stobt folfU ni~f trbiffern.
ioh. u, u. ~rin ber AdtUcte 1:ob ifi fn dnen llebii~m 6~laff l.'trroan,
bdt.';Uon bem anbern ald bem f~roereflenl tla bie QJerbamm~
t~or.'l., 6 · fenmlf(db unb ecde fn llem fcurlgenlpfutlll'onbeme~igear
1° • 6 • fo •.(eben e~»fggefc&febcn ftpnlnn~> wfr befreoet.

31 Johann Heermann, MONS OLIVETI, s. Anm. 4, Vierdte Predigt, S. 45f.


26 Renate Steiger

Dieser gemeinsame Fundus an biblischer Sprache in der Überset-


zung Martin Luthers ist das stärkste verbindende Element der
Gattung. Es begegnet uns in gleicher Weise in den Kantatendichtun-
gen der Zeit, die ja Kurzpredigten sein wollen und die für den heuti-
gen weniger bibelfesten Hörer erst zu sprechen beginnen, wenn ihm
die Andeutungen der Abbreviaturen entschlüsselt und ausgelegt
werden.
Ein zweites verbindendes Element der Passionsbetrachtungen
führt von der explicatio, von Bericht und Darlegung hinüber in den
Bereich der applicatio, der Anwendung und Aneignung des Gehör-
ten. Das sind die in die Ausführungen eingestreuten Kirchenlied-
strophen, die bald in extenso zitiert werden, bald nur mit der
ersten Zeile angetippt dem Hörer gegenwärtig sind. Sie haben die
Funktion, bereits Ausgeführtes in gebundener Rede noch einmal
eindrücklicher zu wiederholen und dem Gedächtnis einzuprägen
oder auch, Berichtetem die Auslegung hinzuzufügen oder eben die
applicatio, das ist ja in Bachs Passionen das Häufigste, was uns auf-
fällt, dieses »Ich, ich und meine Sünden« 32 , die Anwendung.
Neben das didaktische tritt das versammelnde und überführende
Moment, sofern die Gemeinde in die bekannten Worte innerlich ein-
stimmen kann.
Auch hierzu ein Beispiel aus einer Predigt von Tobias Clausnitzer
über das Begräbnis Jesu; der Abschnitt erläutert die Zeile »macht
mir den Himmel auf« in Satz 39:

»Darum wenn wir auch aus dieser Angst= "Welt I durch


den zeitlichen Todt I abscheiden I uns auf Christi blutigen
Todt I und siegreichen Auferstehung I willig und getrost nie-
derlegen I und in unsere Grabstättlein zur Ruhe bringen
lassen; sollen wir I infrölicher Hoffnung I daß unser HErr
JEsus auch unsere Gräber azifthun I und uns ins ewige
Freuden= Leben einführen werde I auf solchen Trost ein-
schlaffen I wie die Christliche Kirche singt:« Und dann
kommt die schöne Strophe: »So fahr ich hin zu JEsu
Christ I Mein Arm thu ich ausstreclitJn I So schlaffich ein I

32Johannes-Passion Nr. 11, 1. »Wer hat dich so,_.,~,_ •.;«,.2. »Ich, ich und meine
Sünden ... «
Renate Steiger 27

und ruhefein I Kein Mensch kan mich aufwecken: Denn


JEsus Christus GOttes Sohn I Wird mir die Himmels=Thür
aufthun I Michführn zum ewigen Leben.« 33

Mit diesem Choral schließt ja Bach die Osterkantate BWV 51 3 \


und da ist in einem vorhergehenden Satz der Gedanke ausgeführt
»Weil dann das Haupt sein Glied I natürlich nach sich zieht. I so kann
mich nichts von Jesu scheiden<<. 5 5 Ein biblischer Gedanke, Christus
der erste Auferstandene wird uns nach sich ziehen. Dies also als Bei-
spiel dafür, wie die Gemeinde mit so einem Text, der ihr vertraut ist,
inn"erlich einstimmen kann in das, was gepredigt wurde.
Schließlich haben Liedstrophen als Eingangs- oder Schlußgebet
auch liturgische Qualität. Die eingerückten Choralstrophen in den
Passionsdichtungen der Bachzeit haben deutlich ihre Herkunft und
Parallele in den Passionspredigten und -betrachtungen. So stehtarn
Beginn der zweiten Predigt VomLeiden Christivon Heinrich Müller
die Strophe »0 hilf, Christe, Gottes Sohne<<. 36 Mit derselben Strophe
schließt die erste Passionspredigt von Johann Heerrnann. 37 Bach
verwendet die Strophe ganz entsprechend; er beschließt mit ihr den
zweiten Teil der Johannes-Passion, an dessen Anfang die erste Stro-
phe desselben Liedes steht: Nr.15 »Christus, deruns selig macht« und
Nr. 57 »0 hilf, Christe, Gottes Sohn<< (die letzte Strophe) rahmen den
zweiten Teil der Passion. 38 Auch solche Rahrnung durch eine Lied-
strophe finden wir in den Predigten. So beginnt und beschließt
J ohann Benedict Carpzov, Thornasprediger vor Bachs Zeit, seine Pre-
digt an Estomihi mit der Strophe »lesu, deine Passion I ist mir lauter
Freude<<. 39
Ein drittes die Gattung kennzeichnendes Element neben der
stark biblisch geprägten Sprache und der Aneignung im reforrnato-

33 Nicolaus Herman, »Wenn mein Stündlein vorhanden ist«, Zusatzstrophe.


34 »Der Himmel lacht! die Erde jubilieret<< zum 1. Ostertag. Entstanden in Weimar 1715.
35 Rezitativ Nr. 7. Der Text der Kantate stammt von Salomo Franck.
36 Strophe 8 von »Christus, der uns selig macht« (Michael Weiße, 1531); bei Heinrich

Müller in: Die Andere Predigt Vom Leiden Christi, Ausgabe im Evangelischen Hert-
zens=Spiegel, S. 996.
37 Johann Heermann, Crux Christi, Ausgabe 1655, S. 25.

38 Der noch folgende große Grablegungschor Nr. 59 entspricht formal dem Eingangs-

chor Nr. 1, bildet mit ihm den Rahmen des ganzen Werkes.
39 Johann Benedict Carpzov, Evangelische Fragen und Unterricht ... aus allen Sonn=

und Fest=täglichen Evangliis, Leipzig 1700, S. 474 und 509. Bach beschließt mit dieser
Strophe die Estomihi-Kantate BWV 159 »Sehet! Wir gehn hinauf gen Jerusalem«.
28 Renate Steiger

rischen und zeitgenössischen Lied ist die gemeinkirchliche Aus-


legungstradition, die in ihrer ganzen Breite aufgegriffen ist. Da ist
zunächst die Typologie der Biblia pauperum oder Armenbibel, die
Geschehnisse aus dem Alten Testament, dem Alten Bund, als Prä-
figuration, als Vorabbildung des Heilsgeschehens in Christus ver-
stand. Die typologische Bilderbibel hat vom 13.- 15. Jahrhundert
als Buch und als bildhafte Darstellung in Kirchen (als Wandmalerei
oder Glasmalerei 40 ) große Verbreitung und entsprechenden Nie-
derschlag in der Schriftauslegung gehabt. Den Dichtern und Predi-
gern der Bachzeit sind die Modelle von Vorbild und Erfüllung noch
geläufig. 41
In unseren Predigtbeispielen zu Satz 742 ist bei J ohann Olearius
die Rede vom himmlischen Isaac, der gebunden wird. Jesus kann
der himmlische Isaac heißen, weil Isaac nach 1 Mose 22,9 von sei-
nem Vater zum Opfer gebunden wird und auch dies als Präfigura-
tion des neutestamentlichen Geschehens galt. Jesus ist auch der
Simson (Samson), der nach Richter 15, 12f gebunden den Philistern
übergeben wird; dies gilt nach der Biblia pauperum als Vorbild der
Geisselung, bei der Jesus nach alter Überlieferung an eine Säule ge-
bunden war. Auch Jonas gilt der Biblia pauperum als Antitypos Chri-
sti: wie er im Bauch des Walfischs, so war Christus drei Tage im
Reich des Todes gefangen; vgl. auch die Rede vom himmlischen J ona
im Zitat Anm. 52. Auf diese Typologie ist oft nur mit der Nennung ei-
nes Namens Bezug genommen. Es wird dann damit auf eine Bibel-
stelle und ihre Auslegung vom Alten Testament her verwiesen. Auch
dieses Element der typologischen Auslegung verbindet die Passions-
predigten.
Die lutherische Passionspredigt hat ferner die Auslegung der Kir-
chenväter aufgenommen, besonders Augustin 4 S, und schließlich die

40 Berühmtestes Beispiel hier in der Nähe sind die Fenster im Chor der Klosterkirche

Bad Wimpfen im Tal.


41 Vgl. im Eingangschor der Matthäus-Passion; »Sehet ihn aus Lieb und Huld/ Holz zum

Kreuze selber tragen.« Die Formulierung spielt darauf an, daß Isaak in 1 Mose 22,6
selbst das Holz zum Berg Moria trägt, wo er geopfert werden soll. Isaak ist nach der
Biblia pauperum Vorabbild Christi bei der Kreuztragung und bei der Kreuzigung, dem
Opfer des eingeborenen Sohnes.
42 s. u. s. 31f.

43 Vgl. in den Texten zu Satz 7 das Zitat aus J. Heermann, CRUX CHRISTI, 4. Predigt,

S. 114. Man vgl. auch den folgenden Abschnitt aus der 8. Predigt über die Reue des Ju-
das, an dessen Ende Heermann ein Wort von Ambrosius, dem Lehrer Augustins, zitiert.
Stimmung und Topoi des Predigtabschnitts zeigen Verwandtschaft mit Nr. 13 der
Johannes-Passion (S. 273ff): »Ü ich armer I 0 ich elender I 0 ich unglückseliger
Renate Steiger 29

spätmittelalterlich-mystische Passionsfrömmigkeit, wie sie von


Bernhard von Clairvaux 44 und J ohann Tauler geprägt und in Sonder-
heit über die Meditationes sanetarum Patrum. Schöne andechtige
Gebete .. . aus den heiligen Altvätern Augustino, Bernhardo, TauZero
und anderen von Martin Moller 45 in die protestantische Erbauungs-
literatur eingeflossen ist. Besonders nachhaltige Wirkung auf die
Passionslieddichtung und die Passionspredigt hat die in der Bern-
hardnachfolge entstandene Rhythmica oratio ad unumquodlibet
membrarum Christi patientis et a cruce pendentis gehabt, ein Zyklus
von sieben Betrachtungen in in Versen über die Gliedmaße des ge-
kreuzigten Heilands. 46 Die Gefühlslage dieser Texte, das Sich-ver-
senken und Betroffensein vom Leiden des Heilands, der Ton einer
ganz persönlichen unmittelbaren Jesus-Liebe, ist den Passionsbe-
trachtungen des 17. Jahrhunderts gemeinsam.
Bei aller Aufnahme mittelalterlichen Traditionsguts wird aber an
der spezifischen Differenz der lutherischen Passionstheologie fest-
gehalten. Die Innerlichkeit, in der die Seele direkt mit ihrem Jesus
spricht47 , bleibt nicht bei der compassio, beim Mitleiden stehen, son-

Mensch! ... Ach wie wil ichsimmer und ewig verantworten? 0 ihr Berge fallet über
mich I 0 ihr Hügel bedecket mich ... Da wachet die lauschende und schlaffende Sünde
auf I macht ihm so angst und bange I daß ihm auch die weite und breite Welt wil zu
enge werden ... so bald sie begangen (sc. die Sünde) I wecket er (sc. Satan) das schlaf-
fende Gewissens= Hündlein auf I da wird aus deiner Sünde so ein überhäuffter dicker
Sand= und Landberg ... Sie wird dir zu einer schweren Last I als wann dir Himmel und
Erden aufm Halse legen: Sie schmecket deinem Hertzen bitterer als Entzian und
Galle: Sie naget und plaget dich dermassen I daß du nicht weist I wo du für grosser
Hertzens=Angst bleiben solt. Nullus dolor est major ... Es ist auf Erden kein grösser
Schmertz I dann derjenige I welcher durch das scharffe Sünden=Schwerdt des Gewis-
sens verwundet; und ist keine schwerere Last I als die schwere Sünden= und Laster=
Bürde, schreibet Ambrosius.«

44 Ein Bernhard-Zitat ist z. B. der letzte der angeführten Texte zu Satz 7 aus Christoph
Nicolai, JESUS SANGVINOLENTUS. Das ist/Der Bluttriefende JESUS. In fünffPredig-
ten erkläret, Wütenberg 1673. Nicolai gibt zuerst den lateinischen Wortlaut wieder,
dann übersetzt er. So ist es in den meisten Predigten Brauch.
45 ) Martin Moll er, Meditationes sanctorum Patrum. Schöne andechtige Gebete ... aus

den heiligen Altvätern Augustino, Bernhardo, Taulero und anderen, 2 Teile, Görlitz
1584- 91.
46 Ad pedes, Ad genua, Ad manus, Adlatus, Ad pectus, Ad cor, Ad faciem. Von den deut-

schen Nachdichtungen ist Paul Gerhardts >>0 Haupt voll Blut und Wunden« (1653) die
bekannteste. Dietrich Buxtehude hat die Rhythmica oratio seiner Passionskomposi-
tion Membra Jesu nostri (1680) zugrunde gelegt.
47 Vgl. Bachs Dialogkantaten oder auch Nr. 9 der Johannes-Passion » fehfolge dir gleich-

falls«.
30 Renate Steiger

dern weiß die Historie vom Leiden des Herrn mit allen Kräften des
Affekts »fruchtbarlich« zu bedenken nach den drei Aspekten:
1. daß wir über unsere Sünde erschrecken,
2. daß wir Gottes Liebe gegen uns erkennen und im Gewissen frei
sind,
3. daß wir die Sünde meiden und einen heiligen Wandel führen
sollen. 48

l>ie l.!:d~fbng ifl Alfo subetrAd]ten,


bAfj mAn ubtl: feine 6unbe er•
fd]rede. \Uozben finl>1alfo magfl bu fie tuiebe!
§. 2~. i'irfe~rlofungtietracbte aufibn fd)(ttten, uni> bat! ®eluiffen
Cl{fO1 bajbtt fiel) 'birtrfd)recfejl Uber lebig m«d)en. ~ertid)ert bid) <BOt•
J>eint @>Unbt 1 ttnb g{eicbfam in ein tel! ~ort, bati ~brijlut! bid) uon
f)eilfilmel! ~eraagen fincfejl. <Be• E)(mben erlofet bat 1 fo magll bu
i>encfejl bu,bati @Ott fo einen ~rnjl feil trauen, bati bicb <BOtt beiner
gebraud)t bat gegen fein eigen al• <Simben balben nid)t jlraff'en IUOI•
ltrliebjlel! .1tinb 1 unb ibme ro eine re. 6d>aue bat! freunb!idJe -!)er$
fd)\Um Sunben • R)uffe aufgeie, ~brijli an, IUie uoUtr fiebe batl ge•
get 1 magli bu \Uol 3ittern nnb aa• . gen bir itl, unb 1uie IUiUig!id) er ~ei•
gen. !mal! \UiU bem <Sunber lle• · ne \SUnbt getragen bat 1 affO \Utrb
gegnen1 tuenn ball tie(ljle Jtinb alfo bir bat! ,Per~e gegen ibm fuffe, unb
gefd)la~en \Uirb? ~I! muti ein un• bie guuertiCbt betl <Blaullentl 9e'
ertrdgltd)er ~rnjl ba fe~~, bem fo fldrdet tuerbtn. . XJarnacb ftetge
eine groffe unenblid)e ~erfon ent• IUtiter burd) ~briili ,PerQ in <BOt•
gegen gebet 1 lribet unb llirllet. tel -&;er$, uni> tie~t, l>aD l>ir ~bri•
~enn l>u el! red)t tief bebencfejl,
flul! bit i!itbt nid>t. bdtt,e mo_gen
umjl l>n ·"'"Yb~ff"tig erfd)recten, tr~eigen 1 IUtnn ttl 00tf mt\Utger
unb je mebr je tieffer. · ~mn baß firbt nid)t befd)lofftn battt1 \Uel•
mujl bu glauben, bat! beint <Sun• d)em ~brijlut! mit (einer i!telle ßt•
ben ~brittum alfo augerid)tet unb gen bir geborfam tft. ~a IUtrll
gemartert baben. bu btllll uertleben lernen ben
6prtid) ~brifli: !lob. 3, 16. 211•
~ev bet tempfinbung 6unbtno2!ngfl fo (]At 00<IfL bie Wrlt grlirbet1
ijl3u betrAd)ten,\tlie <5a>tt in unferer bllj rt fiinrn ringrbol}tntn E5ol}n
f.Edöfung feine eiebe gAb, :c. ttnb alfo tuirb bei11.J;er~
preifet. ber 6imben feinb ttltrbtn, nid)t
§.26.\jublell buaberWngjlin bei• au6 ~urd)t btr 6traffe 1 fonbern
nen <Sunben1 fo tl.eb.e tliq, unb b~· au!l fiebe 1 bati bu bencfejl: rolit
trad)te 1ueiter, \Ute m bemer Cfrlo • nid}ttn foU tnid> bie eunbe P(t~dn,
fung ®Ott feine fiebe preifet. XJa• bie meinen 3~fum ~at gepeiniget.
rum barffjl bu bie <Sunl>e nid)t in !mall ibm @aUt ge~Uefen, fo!l mir
<Betuiffen bebalten I bid) im .Oer~en Pein Sucfer fel)n, lUllt! i~n eetobtet
bamit beiffen unb freffen 1follillutrb bat, rou in mir nid)tltben, leb 1Uill6
ein lauter ~eq\Ueiffeln barautl, ttlieber mu~igen, luatl ibn gemu•
fenbern gleid)IUte tie anti ~briflo ~igetbat.
bem ~rlofer ge~offen unb erfannt
~l)rijiitedlifung foUunuud) reigen
· 5u einen l)eiligen 'rOAnbel.

48 Heinrich Müller, Himmlischer Liebes= Kuß Oder Übung deß wahren Christenthums
I fliessend av.s der Erfahrung Göttlicher Liebe, Rostock und Erfurt 1740, Kap. 6, S. 65ff;
Renate Steiger 31

Das ist der satisfaktorische, der meritorische und der monitori-


sche Aspekt der Passion 49 oder, wie ein anderer Prediger sagt, wir sol-
len uns die Betrachtung der Passion dienen lassen zur Warnung,
zum Trost und zur Aufmunterung zur Nachfolge 50 :

Satz 7 Brockes
CHOR GLÄUBIGER SEELEN
Von den Stricken meiner Sünden Mich vom Stricke meiner
Mich zu entbinden, Sünden zu entbinden,
Wird mein Heil gebunden. Wird mein Gott gebunden;
Mich von allen Lasterbeulen Von der Laster Eiterbeulen
Völlig zu heilen, Mich zu heilen
Läßt er sich verwunden. Läßt er sich verwunden.

Johann Olearius, Biblische Erklärung, zu Joh 18,12, S.777:


»Bunden. edesan.deo, ligo. aus Liebe und Gehorsam Philip. 2. wird gebunden
der hirnZische Isaac. 1. B. Mos. 22 und Joseph. Das Osterlam. Der Simson.-
B. Richt. 15/13. und macht unsjrey von Sünden= Banden. Ps. 9117. von Todes=
BandenvonHöllen=Bandenl Ps.18 I 5. Ps.11613. Epist.Jud. v. 6. Zach. 9/11.Ho-
se.13/12. Mat.12 128. Es. 61/1. c. 4217. Luc. 24/47. NB. Ps.1116/17 im Himmel
laß Matth. 16 ... und Mat. 27/1.2. NB. Ligatus es, ut solveres mundi ruentis
complices.
Jesu deine Liebes=Bande I
Sind mein Trost im Unglücks=Stande.«

Johann Heerman, Crux_ Christi, 4. Predigt, S. 114:


»(Augustin) ligatus est, ut nos a maledictionis nodo absolveremur: captus est,
ut nos a captivitate Daemonum aujerret.. .. 0 lieber Mensch/ dancke ja deinem
Erlöser hertzliehfür solche seine Gejängnüß I Marter und Pein und sprich: 0
HErr JEsu I du hast meine Bande zerrissen, dir wil ich Danck opffern I und dei-
nen Namen verkündigen.«

Heinrich Müller, Göttliche Liebes=Flamme, In der Erlösung deß Men-


schen, S. 77f:
»Auß Liebe läst er sich greifjen und binden I daß er dich von den Höllen= Ban-
den I von den Ketten der Finsternüß und Stricken deß Todes erlöse I sonst hät-
test du an jenem Tage diß erschreckliche Urtheil hören müssen: Bindet ihm
Hände und Füsse I und werjjet ihn in das Finsternüs hinaus I da wird seyn heu-
len und Zähn =klappern.« (Matth. 22/13)

August Pfeiffer,MAGNALIA CHRISTI, Oder Die Grossen Thaten Jesu Christi I Damit
49 l

er sich so wohl gegen alle Menschen ins gemein Durch seine Menschwerdung I Ge-
burt I Leiden I Sterben I Aufferstehn und Himmelfahrt ... verdient gemacht hat, ... Mit
einem dreyfachen fl.egister, Leipzig 1685, Passionsregister, »Wunden«, S. 360ff.
50 Tobias Clausnicer, Passions=Blume I Oder Trauriges Schau= Bild I Der gantz mitlei-

digen Natur I über dem hoch=schmertzlichen Leiden und Sterben I Unsers gecreut-
zigten HERRN JESU ... in Zwölff Predigten, Nürnberg 1662, 3. Betrachtung, S. 48ff.
52 Renate Steiger

Heinrich Müller, Evangelische Schluß=Kette, Am Sonntag EstoMihi,


s. 526f:
>>Er wird unser Bürge I versetzet sein Lebenfür unser Leben I trauret I daß wir
frölich seyn I !äst sich binden I daß wirvon der Höllen Banden entlediget I ver-
wunden/ daß unserverwundete Seelen geheilet werden I stirbt I daß wirewig le-
ben. Was zwingt und dringt ihn dazu? seine Liebe.«

Johann Arnd, Postilla, S. 655:


>>Wie uns die Sünde geistlich verwundet hat, beschreibet Esaias am 1, 6. Vom
Haupt biß auff die Fußsolen ist nichts gesundes an uns, sondern Wunden und
Striemen, und Eiterbeulen, die nicht gehefftet noch verbunden, noch mit Oe! ge-
lindert seynd. Auf daß nun Christus der Herr solchen unserngeistlichen Scha-
den heilete, hat er sich auch über seinen gantzen Leib verwunden lassen, daß
auch von seinem Haupt biß auf die Fußsolen nchts gesundes an ihm gewesen,
und uns also heilete«.

Christoph Nicolai, Jesus sanguinolentus, 2. Predigt Von des HErrn


Christi Geisselung, ?.45:

eie~e bOC~/ 0 ~Jlenfcf)/ \Vie ~Ocf) bicf)


<Ehri~u~ ~efu~ geltebet 1 Umb beinet wiUen ~at n· fccl> r~lfm bin"
~eit 1 auf ba~ er bid} t"m ben ~anf\en tler ®ainben r"~ mad)m
mdcl)te : Umb ~einet \uifien ~at er fiel) Caffen geifTeln 1 auf ba~ er
bid) """ ber r\l'igen ~eiffdung erloftte: umb beinet tl)iUen ~at er
fad> laffen "ertulmben I auf Da~ erbeine €5ainbennmnben mocbtt
~eUen: umb beinet tuifien ~at er fiel) laffen mit ~ornen fronen/ auf
Dat3 ~u in bem ~immd m6d)tej1 gefr6net werben: umb beinet n>il•
len ~M er gemeiner I aufbafj l\u bid) ewiglic~ freuen m6cbtefl.

Übereinstimmend sind alle Texte 51 von der Dialektik dieser zwei


Gegensätze bestimmt: Er wird gebunden, damit wir von Sünden-
und Todesbanden frei werden; er läßt sich verwunden, auf daß un-
sere verwundeten Seelen heil werden.
Auch musikalisch sind in Nr. 7 zwei gegensätzliche Elemente ein-
ander gegenübergestellt. T. 1-4 des Continuo bilden mit ihrem orgel-
51Zitierte Quellen: Johann Olearius, Biblische Erklärung s. Anm. 52; Johann Heer-
mann, Crux Christi s. Anm. 15; Heinrich Müller, Göttliche Liebes=Flamme Oder Auff-
munterung zur Liebe Gottes: Durch Vorstellung dessen unendlichen Liebe gegen uns,
Frankfurt am Main 1676 (Titel der früheren Auflagen: Himmlischer Liebes=Kuß);
ders., Evangelische Schluß=Kette s. Anm. 29; Johann Arnd, Postilla s. Anm. 3; Chri-
stoph Nicolai, Jesus sanguinolentus s. Anm. 44.
Renate Steiger 33

punktartigen Verharren auf einem Ton (d-e-f-g) das Festhalten, das


Binden ab. In T. 5 kommt der Continuo in Bewegung; statt der Repeti-
tionen haben wir jetzt eine fortschreitende Bewegung, und zwar
hauptsächlich Sekundfortschreitungen und damit verbunden Har-
moniewechsels (in Takt 6 sogar von Achtel zu Achtel). Die zweite
Hälfte des Ritornells, der Nachsatz stellt das Entbinden dar, beson-
ders die T.5-6. Die Takte 7-8 rhythmisch eine Hemiole, ein großer
Dreier, zeigen zwar im Continuo zunächst noch die fortschreitende
Bewegung, aber harmonisch beruhigt sich der Satz in die Kadenz
hinein.
Die beiden Obligatinstrumente, Oboe I und II, bilden ebenfalls im
Vordersatz, T.1--4, das Binden ab mit übergebundenen Noten und
dem Sich-Verschlingen der beiden Stimmen in Stimmkreuzungen.
Beachten Sie auch, wie sich jeweils auf der Synkope, auf der >>Eins<<
des übergebundenen Tones durch die Fortschreitung des Basso con-
tinuo eine Dissonanz ergibt. Diese Härten deuten das Schmerzliche,
das Verwunden an: sie müssen beim Spielen ausgekostet werden.
Deutlich heben sich davon dann im Nachsatz (ab T. 5) die Terz-
parallelen der beiden Oboen ab. Sie wirken nach den Reibungen von
T. 1--4 wie Öl auf die Wunden und bilden in ihrem Wohlklang das
Heilen ab, in ihrem Bewegungsfluß das Entbinden (Im Vokalteil
erscheint an der entsprechenden Stelle dann ja auch das Textwort
»entbinden«: vgl. T. 13, 14, 25, 26,33 usw.). Vorder-und Nachsatz des
Ritornells sind einander schließlich auch noch rein immanent
musikalisch, also ohne abbildenden Textbezug, entgegengesetzt,
indem die beiden Obligatstimmen in T.1-4 imitatorisch geführt wer-
den, ab T. 5 homophon.
In dem 8taktigen Ritornell, das die wesentliche musikalische
Substanz des Satzes exponiert, sind so die beiden tragenden theolo-
gischen Topoi des Textes abgebildet: die dialektische Entgegenset-
zung von entbinden- gebunden, heilen- verwunden, und dies nun
anders als der Text in der realen zeitlichen und heilsgeschichtlichen
consecutio: zuerst das Gebundensein, dann das Entbunden-, das
Freisein.
Der Vokalpart bringt noch zwei textbezogene musikalische Wen-
dungen dazu. Betrachten wir zunächst in T. 24 die beiden pathopoi-
etischen Halbtonschritte auf Sünden. Sie geben dem Affekt des
Schmerzes über die Sünde, der Reue Ausdruck. Dieses Umkreisen
des Grundtons mit der erniedrigten 2. Stufe (harmonisiert mit dem
affekthaltigen Neapolitaner) und der erhöhten 7. Stufe finden wir in
34 Renate Steiger

der Matthäus-Passion mehrfach in entsprechendem Zusammen-


hang, z. B. in der Arie Nr. 39 »Erbarme dich«, T. 10f:

Alto • Jll t:u -~$$W?~


Er- bar- - me um mci _
r?l!Jl J
ncr_ Zäh
1-

und ganz prägnant als Kopfmotiv (allerdings anders harmonisiert)


in Nr. 6., T. 13:
Alto ~b rJ" ~ I#f$1
Buß und Reu,

Die pathopoietische Halbtonfloskel tritt in unserer Arie aber nur


einmal aufund wird im Dacapo (T. 91) quartversetzt wiederholt. Prä-
gender für den Satz ist die ebenfalls von der Singstimme eingeführte
Diminutionsfigur

die dem Themenkopf sein Gesicht gibt. Sie scheint auf das Textwort
»Stricken« erfunden (vgl. T.22) ein Verstricken abzubilden. Wichtig
ist die Beobachtung, daß Bach dieses auffällige rhythmisch- melodi-
sche Modell in der anderen Alt-Arie der Passion, Nr. 30, wieder
anklingen läßt zum Text »Es ist vollbracht<<. Diese Arie greift ja Jesu
letztes Wort am Kreuz aufund spinnt es fort. Schon Friedrich Smend
hat auf diese Verknüpfung und Zusammengehörigkeit der beiden
Alt-Arien aufmerksam gemacht und sie so gedeutet: Die zweite Arie
besage, >>'Vollbracht' ist nicht nur die unsagbare Qual des Leidens,
sondern die Befreiung von den Banden der Sünde, die Erlösung.<< 52
Das ist in der Tat Bachs Aussage mit dieser musikalischen Verknüp-
fung, und sie steht in Übereinstimmung mit der Auslegung der
Gefangennahme und des Gonsummaturn estinden Predigten seiner
Zeit. 53 Ich möchte noch hinzufügen und damit eine andere These
52 Friedrich Sm end, Joh. Seb. Bach, Kirchen-Kantaten, Heft VI, Christlicher Zeitschrif-

tenverlag Berlin, 2 1950, S. 50.


53 Johann Olearius, Biblische Erklärung Darinnen I nechst dem allgemeinen Haupt=

Schlüssel Dergantzen heiligen Schrifft ... , Teil V, Leipzig 1681, zu Johannes 19,30, S.
789: »Es ist vollbracht,peractum est ... tetelestai.v.28.Luc. 9131. Hebr. 91 12. Luc.18 I 31.
Dan. 9124. Luc. 22137. Joh. 1714. allmein Leiden ist vollendet I indem sich mein Leben
endet. Matth. 9118. und mein Lebens= Lauff 2. Tim. 4/7. Conf.synteleia. Sirach, 11129,
das Ende ist erlanget. L Pet. 119. NB. Luc.23. Haupt= Lehr. NB. und eben daraufkönnen
auch wir frölich schliessen I und singen I das consummatum est. Hier war das Hertz
gleichsam ausgehölet I alles Bluts und aller Lebens= Kraft. v.28. beraubet I NB. Ps.1091
22. chalai. und wie Wasser ausgeschüttet. Ps. 22115. Schaphach. und damit ward auch
Renate Steiger 35

Smends stützen aus Quellen, die ihm noch nicht bekannt waren: Mit
der motivischen Verknüpfung der Arien Nr. 7 »Von den Stricken« und
Nr. 30 »Es ist vollbracht« markiert Bach Anfang und Ende der Pas-
sion. Der Anfang, principium, steht für das Ganze. So war es Bach ge-
läufig. Sowohl Abraham Calov als auch Johann Olearius zitieren in
ihrer Auslegung des Johannes-Evangeliums die von Luther ge-
prägte stehende Redevon Gefängnis und Tod Christi. 54 Dervon
Smend als >>Herzstück<< des Mittelteils verstandene Choral Nr. 22
»Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn«55 formuliert einen theologi-
schen Grundgedanken der Passion:

Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn,


Muß uns die Freiheit kommen;
Dein Kerker ist der Gnadenthron,
Die Freistatt aller Frommen;
Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein,
Müßt unsre Knechtschaft ewig sein.

alle Schrifft zugleich vollendet I und erfüllet. NB. Luca.18151. und die ewige Erlösung
vollbracht. NB: Hebr. 9112. c. 10114. NB. das herrliche Werck 1. Mos. 211. welches dem
einigen Mittler 1. Tim. 2. und Hohen- Priester aufgetragen. NB. Joh.1714. alle Fürbilder
und Opffer Luc. 24. haben ein Ende. Das Lebens= Ende deß Lambs GOttes ist das Ende
alles Zorns I Fluchs I Ungnade I und der Gewalt der Sünde I deß Todes I deß Teufels
und der Hölle NB. Hose.1511. Cor. 15. Esa. 6511. Conf. Telos.1. Petr.119. Hier ist deß Ge-
setzes Ende. Rom.1014. NB. allFehdehat nun ein Ende. Die völlige Hülffe deß Meisters
zu helffen Es.65. ist vollendet. Das ist die Panteleia Sacra. Consummata pugna & victo-
ria. Veni, vidi, vici Es. 65. consummata acquisitio,redemptio plenaria. Sobald der himli-
sche J onas ins Meer körnt I so wirds alles stille. Davon Jona.1 NB. omnia serena. Es ist
nun alles richtig I was vor dem Tode deß HERRN geschehen solte. Das übrige samt
dem Triumph 1. Petr. 5. und der frölichen Aufferstehung unsers Erlösers Job. 19. aus
dem Grabe muste auf dieses Gonsummaturnest auch eben so gewiß folgen/ als wäre es
allbereit geschehen ... Die Schlacht ist vollbracht I der Sieg ist erlangt. NB. Vici. Joh.
16135. Victoria. 1. Cor. 15157. Nun habe ich überwunden«.
54 Abraham Calov, Die Heilige Bibel nach S. Herrn D.MARTINI LUTHERI Deutscher

Dolmetschung/und Erklärung, Band III, Wittenberg 1682, Spalte 911; 912; vgl. auch
Spalte 918; Johann Olearius, Biblische Erklärung (s. Anm. 52), Teil V S. 785a. Händel
stellt mit Brockes den Satz »Mich vom Stricke meiner Sünden« (für Soli und Chor)
nach einer kurzen Sinfonia an den Anfang seiner Passion, vor die Einsetzung des
Abendmahls; er gibt also mit diesem Satz als leitendes Thema an: das Gefängnis Jesu.
Entsprechend hat Bach in der Matthäus-Passion eine spätere Leidensstation, nämlich
die Kreuztragung, an den Anfang gestellt und mit dem eingebauten Choral »0 Lamm
Gottes, unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet« den theologischen Horizont,
das Thema der Betrachtung angegeben.
55 Vgl. Friedrich Sm end, Die Johannes-Passion von Bach. Aufihren Bau untersucht, BJ

1926; wiederabgedruckt in: Bach-Studien, Gesammelte Reden und Aufsätze,hrsg. von


Christoph Wolff, Kassel 1969, S.11-25.
36 Renate Steiger

Dieser Choral schließt an die Worte des Evangelisten an: »Von


dem an trachtete Pilatus, wie er ihn losließe« (Joh 19,12) und gibt mit
dieser Entgegensetzung demselben Gedanken Ausdruck, der in der
Estomihikantate BWV 159 lautet:

... Die Bande warten dein;


Ach, gehe selber nicht hinein!
Doch bliebest du zurücke stehen,
So müßt ich selbst nicht nach Jerusalem,
Ach, leider in die Hölle gehen. (Nr. 1)

Deshalb heißt es in der Matthäus-Passion: »Drum muß uns dein ver-


dienstlich Leiden recht bitter und doch süße sein« (Nr. 20). Nehmen
wir dazu noch eine Passsage aus Heinrich Müllers Schluß=Kette 56 :
»Doch sollen wir in Betrachtung des Leydens Christ nicht verzagen.
Denn was er leydet I das leydet er aus höchster Gnaden=Liebe zu unse-
rem Heyl. Sein Fluch unser Segen I sein Tod unser Leben I seine Ver-
dammnüß unser Seligkeit. Daß er leydet I betrübt uns. Denn wir haben
ihm sein Leyden mit unseren Sünden verursachet. Daß er uns zu gut
leydet I erfreuet uns Wieder I denn dadurch hat er uns vom ewigen Ley-
den erlöset<<.
Dieses grundsätzliche theologische Beieinander von Bitterkeit
und Süße in der Passionsbetrachtung (und damit natürlich auch in
ihrer musikalischen Umsetzung) begegnet uns im Text der Johan-
nes-Passion besonders ausgeprägt (und mit den Stichworten bitter-
süß) im Arioso Nr. 19. 56 a
Soviel zu Arie Nr. 7. Es dürfte deutlich geworden sein, daß theolo-
gische und musikalische Auslegung in einem hermeneutischen
Zirkel einander bestätigen und weiterführen. Die Proben aus den
Passionspredigten der Zeit ließen den theologischen Horizont und
Kontext unseres Librettos aufscheinen und damit zugleich deutlich
werden, daß die Dichtung im wörtlichen Sinn Verdichtung einer
reichen Auslegungstradition ist. Diese Verdichtung arbeitet mit
theologischen Topoi und Metaphern. Diese setzt Bach in Musik um.
Wir haben das an der dialektischen Entgegensetzung von Vorder-
und Nachsatz des Ritornells beobachtet. Die Beobachtung rein
musikalischer Befunde wiederum, Satzstruktur, harmonischer Ver-
lauf oder motivische Arbeit innerhalb eines Satzes oder motivische
56 H. Müller, Evangelische Schluß=Kette (s. Anm. 29), S. 328f.
56 " Vgl. noch einmal oben S.17.
Renate Steiger 57

Verbindung und großformale Entsprechung verschiedener Sätze un-


tereinander vertieft und ergänzt ihrerseits das theologische Ver-
ständnis des Textes. Wir sahen dies an der motivischen Verknüpfung
der Sätze 7 und 50, die auf inhaltliche Bezüge aufmerksam macht.
Satz 24 Brockes
Eilt, ihr angefochtnen Seelen, TocHTER ZroN: Eilt, ihr angefochtne
Seelen!
Geht aus euren Marterhöhlen, Geht aus Achsaphs Mörderhöhlen!
Eilt- Wohin? -nach Golgatha! Kommt! CHoR: Wohin?TocHTERZroN:
nach Golgatha,
Nehmet an des Glaubens Flügel, Nehmt des Glaubens Taubenflügel,
Flieht- Wohin?- zum Fliegt! CHoR: Wohin? TocHTER ZroN:
Kreuzeshügel, zum Schädelhügel
Eure Wohlfahrt blüht allda! Eure Wohlfahrt blühet da.
Kommt! CHoR: Wohin? TocHTER ZroN:
nach Golgatha.

Johann Heermann, Crux Christi, 11. Predigt, S. 575ff:


»Oportet nos in vulneribus Christi nidosfacere, sicut aviculae in cavernis arbo-
rum (Bernhard,Jer. 48,28) .. . Die aufgespaltene Seite deines HerrnJEsu ist die
rechte Freystadt I dahinfleuch mit Buß und Glauben I du wirst allda sicher
wohnen . .. 0 HErr JEsu I laß sich meinen Geist an meinem Ende in deine offne
Seite verbergen.«

August Pfeiffer, MA GNALIA CHRISTI, Passions=Register. W., Leipzig


1685, s. 560ff:
»Dadurch hastu aber mir erlangt Gesundheit und Wohlfahrtfür meine preß-
haffte verwundete Seele; deine Wunden geben den köstlichsten Wund= Balsam I
der meine Seele von Grundaus heilet I Es. LI/I. 1. Pet. II. Du hast mir erlangt
freye Sicherheit: deine füriff principal-Wunden seyn so viel FestungeI dahin
ich meine sichere retirade und Zuflucht nehmen kan I wann mich meine
fünf.! Haupt= Feinde I Sünde I Welt !Tod /Teuf.fel un Hölle verfolgen: Verlaß die
Stäte I meine Seele I thue wie die Tauben I un wohne in den Felsen I mag ich
wohl sagen aus Jer.XLVIII. Gleichwie sich fein Ein f/Ogelein In hole Bäum
verstecket I . .. «56 b -

56 " Das Lied, das auch H. Müller in dem auf der übernächsten Seite faksimilierten Ab-

schnitt aus dem Himmlischen Liebes=Kuß zitiert, findet sich im Eisenacher Gesang-
buch unter den Fasten-Liedern aufS.138 f. Es wird Michael Altenburg zugeschrieben
und hat fünf Strophen, von denen die bei Müller zitierten die ersten beiden Strophen
sind. Im Dresdnischen Gesangbuch erscheint das Lied als Zusatz Johann Majors zu
dem Bußlied »Ach Gott und Herr, wie groß und schwer sind mein begangne Sünden«
von Johann Goeldelius. Das Incipit erscheint bei Vopelius im Register, nicht jedoch in
der Geistlichen Singe=Kunst von Johann Olearius und in der umfassenden Lieder-
sammlung Andächtiger Seelen geistliches Brand=und Gantz=Opfer, 8 Bde, Leipzig
1697.
38 Renate Steiger

August Pfeiffer, MAGNALIA CHRISTI; Passions=Register. W, Leipzig 1685, S. 360 ff

Tobias Clausnicer, Passions=Blume, Elegie (Einleitung):


... >>Schau dijJ Exempel an I nehmt euer Walfahrt wahr/. ..
Trett hin zu seinem Creutz ihr Angst=betrübten Seelen I
Setzt euch das grimme Heer I Sünd' I Höll I und Teujjel zu I
Geht und verberget euch in seine tiejje Hölen I
Dajindt ihr Sicherheit I und Trost I und Fried I und Ruh.
Sein rosinjarbes Blut wäscht euch von allen Sünden I
Macht euch von allem Wust und Übertrettungjrey!
Drückt euch die schwere Last I bijJ zu Cocytus Gründen I
So denckt I daß GOttes Lamm derselben Träger sey:
Durch seine Todtes=Angst ist unser Todt gelindert I
Das Thor der Seeligkeit I im Himmel aufgemacht:
Kein Feind ist mehr I der uns den Weg dahin verhindert:
Denn wir sind wiederum bey GOtt zu Gnaden bracht.«
Renate Steiger 39

Heinrich Müller, Himmlischer Liebes=Kuß, Cap. 16, S. 497f:

l!irbe ift$ 1 ~aß <B}.)tt Oetn annen ~tinber ben


~1litttcr ~~futn ~l)riftutn ftir mugrn fteUtt / Der
il;n nid}t aUcin \.'~rfo~nd anit ftinen1 blutigen
,~pffcr1fL'nb~rn aud) tür if)n bittetlunb t•uffd:2td)
l!atttr 1~-bone! S:a Der feinen @Jeift in ~e~ @;tin~
~crs .pcr~ ~cgeben l)atlllldd)er i~n btt) ~lOtt \'er~
trittmit utwu~fpred)lid)en ~eufflzernlunb fd)rel)et
~blllllltcrla~/ Mifererc, Mifercre, terb~rm bicb
mcin;crb.trm bid) 1nein;C!) !,f.frre <ß(!)V:l:!
smermaA au~rcDeu;was bie Der bet)fanb ftit• ~~t~
bean bcrn armen @itht~er erwcifit? ~er~unbcr
ftcbd nacfcnD unb blog; tnangclt Deg OtubtnS/ bcn
tr an CS~tt ()at. Uber ibtn fd>it,ebet ein feuerige8
~d)~cr~ I unD ~ie ®ercd)tigfcit ruffd/ ~aue ~u.
11mb ibn ~er finb alle ~cu!fcl au~ bcr .pöUe/tvar~
tm nurmit merfangcn 1 Da~ fie autf @lOttes Ur?
tl)rit ~ufd)nappen 1 unb Den @5tinber ~et·fd)lingen

lnL'getl.
Untrn 0eig_t fid) Die J)octe 1nit auffgefptrlfttn ffia9
dJrmDu fanft tdd)t eranetTen;t\lie l)etn4Wtncn~uran
mu~ ~u OOlutf)e fet)ll. mber Der ftltTe ~')Cl) lanD f)att
QJottes @5d)rotrD/unb ru1ft: SJJatter·erbartne DidJ/
~annDi~fes ~d)tucr~ babe id.' tur ben 6tlnber fu()~.
Im mt.itTen 1es bat tnid} a1n ~reu~ ~u toDte gefd>hlf
gm;oarumb la9 Diefen leben. @id)rct)et ~ann Die
~crr~tigfcit utnb ffiad>!lfo faUt. ibr bit J~artn"er~
~lqfut umb ben .patglfufTd fit/ Ull~ fprtd)t ! mc~>
hrbfte <Scb~efter/ber IDlann~@fus batbir~öUig
40 Renate Steiger

guJug getf)an/ bu ~aft an Ü)IU bein fd)artft~ Oted)t


gcubct;unb ~tltnit a1n ~tinDer·~erlot)ren. S!'Jeif
aud> ~~n Nöb~n <:mur1n böUc unb ~tutfd fd)rö~
t!m I fo Ö!fltct if)sn 3&fu~ feint <.munDen 1 t•ufft
Ub~rlmlt : 2\omnJ meinel:4ubeir~ l)iejeljj::::.fi"nt.
~\~d)er; iu bie Steinrit.;en . . ~a fpt•ingt ber l.l-i-o
J.Jnb~\· g~troft ~in ein.
~leicb wie flcb fein
tei•~ t)~geleinl
)n9ole l)aum t'erfiecPet/
Wanns trüb l)erge9tt
bie .t.utft unfiät;
menfcben unb l'i~ erfcbr9cfet .
2tlfo (, ~rt <C~rifft
mein ~uflucbt ift/
i)ie~ole beiner Wunbenl
w4nn Sunb unb ~obtt
micbbr4cbt int'lot9.
f)4b tcb micb brein gefunbett.
Hinter dem Text von Satz 24 57 steht der von Bernhard von
Clairvaux eingeführte Predigttopos, daß der Gläubige sich in Jesu
Wunden flüchten soll und dort seine Sicherheit, seine Freistatt
(4 Mose 55, 6; vgl. Johannes-Passion Nr. 22) finden wird. Die beiden
Schriftworte, an die sich diese Auslegung anschließt und die bis in
die Bachzeit die zentralen Traditionszitate für diesen Topos bleiben,
sind Jeremia 48,28 und Hohelied 2,14. In der Dichtung von Brockes
ist die Herkunft noch deutlich abzunehmen an der Wendung >>des
Glaubens Taubenflügel«.

57 Johann Heermann, Crux Christi s. Anm. 15; August Pfeiffer, Passions=Register s.

Anm. 49; Tobias Clausnicer, Passions=Blume s. Anm. 50; Heinrich Müller, Himmli-
scher Liebes= Kuß s. Anm. 48,
Renate Steiger 41

Die Betrachtung der Wunden Jesu hat für die Frömmigkeit so-
wohl des Spätmittelalters als auch der lutherischen Orthodoxie und
des Pietismus, die die bernhardinisch-mystische Tradition aufge-
griffen und aus diesem Glaubensgut geschöpft haben, große Bedeu-
tung gehabt. Einen besonderen Schwerpunkt bildete dabei die
Verehrung der Seitenwunde. Aus ihr sind nach Augustin, mit Blut
und Wasser angezeigt (Joh 19,34),die heidenSakramenteTaufe und
Abendmahl geflossen. Durch sie läßt uns J esus hineinblicken in sein
liebendes Herz- ein Grundgedanke der Herz-Jesu-Frömmigkeit. In
der Dichtung, in der Bildenden Kunst, in der Emblematik ist ein ver-
breiteter Topos das Bild von der >>Höhle seiner Wunden<<, in der sich
der Sünder verbirgt vor Zorn und Ungewitter, verbergen kann auf-
grund der erlösenden Kraft des Blutes Jesu Christi (s. S. 83).
Unter den Textproben sei der Abschnitt aus dem Himmlischen
Liebes=Kußvon Heinrich Müller hervorgehoben als ein Stück narra-
tiver Theologie. Man beachte, wie Müller ein theologisches Lehr-
stück, die Lehre von Christus als dem Mittler und Fürsprecher bei
Gott, dem intercessor, erzählt, seiner Gemeinde predigt.
Wir wollen auch hier noch einen Blick auf die Kompostion werfen
und fragen: Welche Elemente des Textes, welche Aussagen hat Bach
in seiner Musik aufgenommen, in Musik übersetzt? Sammeln wir
die tragenden Begriffe des Librettos und der Predigten. Da fällt am
Arientext zu allererst auf: die 6 Zeilen enthalten 5 Aufforderungen;
»eilt- geht aus - eilt- nehmt Flügel an -flieht<<. Ähnlich ist es in den
Predigtbeispielen: fleuch (Heermann)-Verlaß die stäte (Pfeiffer mit
Jer.48,28)-Trett hin zu seinem Creutz- Geht und verberget euch
(Clausnicer) und schließlich die Stimme Jesu zur Braut des Hohen-
liedes: Komm meine Taube (Müller). Bach setzt diese Aufforderung
um in die mitreißende Bewegung des Themenkopfes (T.i-2), die den
ganzen Satz bestimmen wird:
;" l
Violino I
... "::J~"rl· ., -c::

"
Violino II
V
::;~ ..... t::

-~.,._. ~

Viola

Das stürmt los. Die unisono-Führung der Violinen und Violen


-
bedeutet Konzentration der Kräfte, verstärkt den Impetus. Auf diese
42 Renate Steiger

kraftvoll auffahrende Linie wird in T. 17 der Solo-Baß einsetzen mit


dem Ruf »Eilt<<. Den Höreindruck >>Mehrzahl<< (der ja der Aufforde-
rung »Eilt<< und dem später chorisch eingeworfenen »wohin?«
entspricht) erreicht Bach durch die kanonische Führung des Basso
continuo, die im Verlauf des Satzes immerwieder so etwas wie Nach-
einander-auffliegen malt. Das Bild vom Fliegen, das ich brauche, ist
durch die Metapher >>des Glaubens Flügel<< nahegelegt, die sich
ihrerseits aus der biblischen Rede von den Tauben herleitet.
Eine Unterbrechung der Bewegung, ein Aufschrecken und Aus-
einanderstieben (in die Mehrstimmigkeit), ohne Orientierung,
hören wir in T. 3 -4 in den drei Oberstimmen:
... f
0)

- :

...
"
"' t::::::l...-l

... ... :
!!- .
.-fli '
Die zwei Takte sind das Modell der späteren Choreinwürfe
»wohin?«. Diese Frage ist musikalisch als eine gejagte, notvolle, wie-
dergegeben durch Verschleiern der guten Zählzeit. Dies erreicht
Bach durch Wechsel und Überlagerung von kleinem und großem
Dreier (hier 3/8- und 3/4-Takt) und die damit zusammenhängenden
Akzentverschiebungen. In ihnen gewinnt musikalisch Gestalt, was
die Texte mit ihr angejochtnen oder ihr Angst=betrübten Seelen
ansprechen. Die Angst, die die Angeredeten (bei Brockes: die Gläubi-
gen) hochschreckt, ohne Orientierung in der Zeit an einer geordne-
ten Betonung, ist Todesangst. Davon sprechen alle Texte. Denn am
Ende ist entscheidend und kommt heraus, wo die rechte Freistatt ist.
Was werden die Seelen am Kreuzeshügel finden? Eure Wohlfahrt
blüht allda! Sicherheit- das heißt Sicherheit vor der Anfechtung des
Todes und der Verdammnis, Zuflucht und Balsam auf die Wunden
des Herzens verheißen die Prediger.
Verfolgen wir zunächst die musikalische Entwicklung des
Ritornells weiter. Auf das Losstürmen (T. 1-2) und das Stocken der
Bewegung (T. 3-4) folgt nun in den zweimal zwei sequenzierenden
Taktgruppen (T. 5-8) ein Abtasten und Suchen, dann (T. 9-12) ein
zielgerichtetes Sich-spannen. In den letzten vier Takten (T.13-16)
senkt sich nach dem Angekommensein am Ziel- und Höhepunkt der
Renate Steiger 43

Spannungsbogen wieder und kommt in der Kadenz zur Ruhe. Das


Ritornellläßt sich also beschreiben als Modell von Eilen - Suchen -
Finden - Ankommen bzw. Angekommensein.
Der Singstimme ist neben dem auffordernden, mitreißenden
Gestus eine Art Atemlosigkeit eigen, die sich in Verschiebungen der
Betonung und Ausrufen auf der schlechten Taktzeit offenbart.
Das Textwort »Marterhöhlen« ist (T. 42 ff, entsprechend T. 152 ff)
mit einem Melisma hervorgehoben und durch Chromatik und
septakkordhaltige Harmonien figürlich abgebildet. Am Beginn des
Mittelteils (T.79) erhebt sich der Satz bei »Nehmet an des Glaubens
Flügel« hindeutend kurz nach F-Dur (also eine Quint höher und in
die Dur- Parallele). Überwältigend schön und tröstlich stellt Bach
dann die »Wohlfahrt«, das Ende aller Angst, die Ruhe der Zuflucht
dar in der Wendung nach Es-Dur in T.106ffund dem Aussingen die-
ses Es-Dur auf der Textwiederholung ab T.111 mit dem einzigen
Halteton der Singstimme in dieser Arie, dem aufblühenden b in
T.113ffauf das Textwort »blüht«. Im Orchester erklingt dazu die letzte
Viertaktgruppe des Ritornells, jetzt in Es-Dur, das Modell Ankom-
men oder Angekommensein. Bach hat den Text als Dacapo-Arie
disponiert. So steht (wie auch bei Brockes, der den Ruf verkürzt
noch einmal aufnimmt) am Schluß die Antwort, die die Richtung
weist: »nach Golgatha.«
44 Martin Petzoldt

1. ZUMTHEMA

Nach wie vor kommt die Diskussion über die


Einbeziehung von Kantaten Johann Sebastian
Bachs in den Gottesdienst nicht zur Ruhe. Das
ist auch nicht verwunderlich, wenn man davon
ausgeht, daß es tatsächlich echte Gründe dafür
gibt, eine allzu große Nähe von Teilen des Gottes-
dienstes aus dem 18. Jahrhunderts und unserem
heutigen Gottesdienst als hinderlich zu empfin-
den. Freilich scheint mir die Zeit darüber hinweg-
gegangen zu sein, eine eventuelle Modernität
heutigen Gottesdienstes zum ausschlaggebenden
Grund für die Ablehnung der gottesdienstlichen
Verwendung einer Bach-Kantate zu machen. Eher
kann man an verschiedenen Orten wieder Indi-
zien finden, die ein größeres Interesse an der
gottesdienstlichen Funktion von Kantaten spüren
lassen. Vorrangig- wenn wir jetzt die Musik ein-
mal ausklammern - ist es die Hinwendung zu
meditativen Elementen im Gottesdienst, der die
assoziativ sich gebende und biblisch gesättigte
Ausdrucksweise der Kantatentexte ganz brauch-
bar erscheint.
Nun handelt es sich jetzt nicht um Kantaten, zu
denen auch die sechs Teile des Weihnachts-Orato-
riums rechnen können, sondern um die Passionen
Bachs. Sie haben für sich bereits eine solche zeitli-
che Ausdehnung, daß die im Thema enthaltene
These sich eigentlich von selbst ausschließt. Das
gleiche Argument wäre dann auch hinsichtlich
der h-Moll-Messe in Anwendung zu bringen. Da
das Thema aber unbestreitbar eine historische
und eine präsentische Seite hat, wird uns zunächst
und am ausführlichsten die historische beschäfti-
gen müssen. Dies nicht deshalb, weil ich meine,
das Thema sei nur ein historisches, sondern -wie
wir sehen werden - die historische Dimension in
viel stärkerem Maße als sonst auch die Frage nach
dem Umgang mit den Passionen heute beeinflußt.
45

Zur historischen Seite gehören all die uns abhanden gekommenen


Kenntnisse gottesdiensttheologischer und theologiegeschichtlicher
Art, die zur Beurteilung nötig sind.
Bachs Passionen, deren wir zwei kennen und von einer dritten
wissen, hatten ihren gottesdienstlichen Ort und damit ihren Sitz im
Leben in dem Vespergottesdienst des Karfreitag. Dieser Gottesdienst
unterschied sich von einem gewöhnlichen Vespergottesdienst eines
Sonn- oder Festtages nicht nur durch die Aufführung der Passion.
Diese Frage wird uns gleich zuerst beschäftigen müssen. Um aber
tatsächlich begreifen zu können -vorrangig eben heute begreifen
können -, inwiefern Bachs Passionen Musik im Gottesdienst sein
können, benötigen wir eine Arbeitsmethodik, die die einzelnen
Funktionsebenen der Passion im Gottesdienst damals klärt, um
durch sie die mögliche Funktion heute gewinnen zu können. Solche
Funktionsebenen gibt es soweit ich sehe folgende vier: die homile-
tische, die katechetische, die liturgische und die dogmatische Funk-
tionsebene. Der Vereinfachung dient die Entscheidung, die Fragen
an der Johannes-Passion zu entwickeln; wo es Besonderheiten der
anderen Passionen mitzuteilen gibt, werden wir darauf Bezug neh-
men müssen.

2. DIE BESONDERHEIT DES VESPERGOTTESDIENSTES


AM KARFREITAG IN LEIPZIG (vgl. Übersicht Anlage 1, Seite 60)

Jeder Sonn- und Festtag des Kirchenjahres enthielt in der Regel


drei Gottesdienste: den Frühgottesdienst von 7 Uhr bis 11 Uhr, die
Mittagspredigt von 11.50 Uhr bis 15.00 Uhr und die Vesperpredigt
von 14 Uhr bis 16.50 Uhr. Daß am Karfreitag ein Vespergottesdienst
stattfand, ist zunächst nur für die Thomaskirche bezeugt. Eine
exakte Angabe dafür haben wir freililch auch erst in den Leipziger
Kirchen-Andachten von 1694, wo dieser Gottesdienst beschrieben
wird. In der Nikolaikirche kam eine solche Vesperpredigt erst durch
eine Stiftung zustande:
Die Witwe des Goldschlägers und Juweliers Koppy stiftete ein
Legat mit der Bestimmung, am Karfreitag einesjeden Jahres eine Ve-
sperpredigt zu halten. Daraus flossen dann Erträge, die je nach dem
Willen des Stifters unter die am Gottesdienst beteiligten Personen
ausgezahlt wurden. Auch Bach hat durch solche Stiftungen einen
Teil seines Leipziger Einkommens bestritten. Die Stiftung jener
46 Martin Petzoldt

besagten Dame trat erstmalig 1723 in Kraft; Bach befand sich noch
nicht in Leipzig. 1724 freilich beanspruchte der Rat die Aufführung
einer Passion in der Nikolaikirche, gemäß der Gepflogenheit, die
sonntäglichen Kantatenaufführungen zwischen Thomas und Niko-
lai im Wechsel vorzunehmen. Er konnte das beanspruchen, weil seit
1721 inzwischen dreimal die Kuhnausche Markus-Passion in der
Thomaskirche aufgeführt worden war.
Die Karfreitagsvesper verkürzte man der größeren Länge der
musikalischen Einlagen wegen um wesentliche Stücke, wenn man
sie mit einem allgemein bekannten sonntäglichen Vespergottes-
dienst vergleicht. Wichtige Auslassungen sind folgende: Psalm-
Lesung,Betstunden-Gebet,Kirchengebet,Fürbitten,Danksagungen
und das Magnificat. Gegenüber der Karfreitagsvesper vor 1721 fällt
auf, daß die musizierte Passion das Motettensingen am Anfang des
Gottesdienstes und das Lied >>Ü Traurigkeit, o Herzeleid<< nach der
Predigt verdrängt. In beiden Fällen enthielt der Lesungs- und Pre-
digtteil des Gottesdienstes nie die ganze Passion.
Die Psalm-Leseordnung nach Luthers Schüler Veit Dietrichs Vor-
schlag1 sah für den Karfreitag keinen Psalm vor. Aus dem Manual
der Nikolaikirche erfährt man, daß zumindest in der Frühpredigt
des Karfreitag im Wechsel der Jahre Psalm 22 und Jesaja 53 gelesen
und gepredigt wurden. Das bestätigt wenigstens die ohnehin ver-
mutbare Nähe des Psalmes 22 zum Karfreitag. Dennoch bleibt der
Ausfall einer Psalmlesung am Nachmittag bestehen. Da die Vesper-
gottesdienste ihr besonderes Gepräge durch die einbezogene Bet-
stunde, eine Gottesdienstform, die nur das Beistundengebet und
eine Predigt als wesentliche Elemente enthielt, zeigte, und ebenso
das charakteristische Merkmal des Magnificat entfiel, darf der Kar-
freitagsvespergottesdienst als eine eigene Größe im Spektrum des
gottesdienstlichen Lebens angesehen werden. Anstelle von Psalm
und Magnificat werden vor und nach der Predigt die beiden Teile der
Passion musiziert.

3. HOMILETISCHE EBENE

Nach dem Manuale des Gottesdienstes der Nikolaikirche predigte


man von nicht mehr bestimmbaren Zeiten an über das Begräbnis

1 Leipziger Kirchen=Andachten, Der Erste Theil, Leipzig 1694, S. 44.


Martin Petzoldt 47

Christi. Bereits die Leipziger Kirchenandachten von 1694 erwähnen


für den Karfreitagsvespergottesdienst in der Thomaskirche die Pre-
digt über diesen Teil der Passionsgeschichte. Näheres erfahren wir
im Manuale der Nikolaikirche 2 , wo seit 1723 als Predigttext konstant
keine Bibelstellenangabe erfolgt, wie sonst, sondern mit Textmar-
ken die Begrenzung der Lesung festgehalten wird. Zwei Varianten
wechseln, anfänglich jährlich, die aber in Unregelmäßigkeit auch
das weitere Bild über 1750 hinaus bestimmen:
Darnach am Abend -nach dem Gesetz.
Darnach am Abend -versiegelten den Stein.
Diese Begrenzung stimmt zu keinem der vier Evangelien; allein
Bugenhagens Passionsharmonie hilft zur Klarheit (vgl. Anlage 2).
Die zuerst genannte Begrenzung enthält die Grablegung, die zweite
fügt zusätzlich die Bewachung des Grabes nach dem Befehl des
Pilatus hinzu, wie sie allein von Matthäus berichtet und von
Bugenhagen auch am Schluß der Passionsharmonie plaziert ist.
Offensichtlich begegnen wir damit einer Tradition, die in der
Thomaskirche bereits länger geübt und seit 1723 von der Nikolai-
kirche aufgenommen wird. Wie nun solche Predigten aussahen,
welchen Unterschied sie nach den beiden Textvarianten in der
homiletischen Schwerpunktsetzung machten, läßt sich nicht sagen,
da bisher keine Karfreitagsvesperpredigten aus Leipzig gefunden
worden sind. Doch eines fällt auf: Der Ort der Predigt zwischen dem
ersten und zweiten Teil der Passion, also zwischen dem zweiten und
dritten Actus, ist nicht identisch mit dem Ort des Predigttextes im
Ablauf der Passion. In den fünf Passionen, die Bach zwischen 1724
und 1731 zur Aufführung brachte, steht die Predigt über das Begräb-
nis Jesu an folgenden Stellen der Passion:

Johannes-Passion zwischen den Actus Pontifices und Pilatus;


Markus-Passion!Keiser zwischen den Actus Pilatus und Crux;
Matthäus-Passion zwischen den Actus Hortus und Pontifices;
Lukas-Passion! Anon. im Actus Pontifices nach der Verleugnung Petri;
Markus-Passion zwischen den Actus Hortus und Pontifices.

In keiner der aufgeführten Passionen erfolgt die Predigt über die


Grablegung an dem Ort des Ablaufs der Passion, an dem auch davon
gesungen wird. Vielmehr kennzeichnet die Serie zweierlei: Der Ort

2 Manuale des Gottesdienstes, vgl. die Bände mit den Jahren 1721 bis 1750, Nikolai-

Archiv Leipzig, Signatur: I E 8-11.


48 Martin Petzoldt

der Predigt ist variabel; die Bach-Passionen, in diesem Fall auch die
Keisersche Passion, halten für die Predigt den Einschnitt zwischen
zwei Actiis ein.
Das Ergebnis unserer Überlegungen führt nun zu folgender Kon-
sequenz: Alles ist darauf ausgerichtet, die Ablösung von einer aus-
schließlich historisch verstandenen Ebene der Darstellung für den
Hörer zu erreichen: Ablösung zum Zweck der Aneignung durch den
Hörer. Da ein Detail des Passionsberichtes immer auch das Ganze
der Passionsverkündung zu tragen und zu vermitteln in der Lage 5
ist, entstehen bei solchem Verfahren auch keine unüberwindlichen
Probleme.
Das homiletische Prinzip 'Ablösung zum Zweck der Aneignung'
setzt sich nun auch in der Passionskomposition Bachs fort. Zu-
nächst beobachten wir bei ihm zwei traditionelle Mittel, zwei sich
überlagernde Gliederungsschemata, das nach Actiis und das nach
Personen: Die Johannes-Passion vermittelt beides; die Gliederung in
Actiis vollzieht sich wie selbstverständlich. Besonders interessant
ausgeprägt ist die Durchführung der Gliederung nach Personen, die
gleichzeitig eine verfremdende Anwendung erfährt: Durch den
Wechsel der Stimmlage wird die unauflösliche Bindung an eine be-
stimmte Person des Passionsberichts verhindert bzw. unterlaufen,
obgleich gleichzeitig die Inhalte der Arien/Ariosi eine Identifikation
mit im Bericht handelnden Personen erlauben. Den freien Texten
der Matthäus-Passion lassen sich jedenfalls nicht mit dieser Konse-
quenz Personen zuordnen, wie in der Johannes-Passion. Schon
Martin Luther hat die Ablösung von handelnden Personen des
Passionsberichtes gefordert. Besonders an der Mutter Maria kann er
es aus aktuellen Gründen verdeutlichen: 4

» . .. Gleich eben in der Passion, da man Christum und


sein leiden gepredigt hat, hat man die Mutter Maria gepre-
digt, das sie uns zur muttervon Christo befohlen und gege-
ben sey. Wirwollen die liebejungfraw und heiligeMutterin

3 Elke Axmacher, »Aus Liebe will mein Heyland sterben«. Untersuchungen zum Wan-

del des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert. Beiträge zur theologischen


Bachforschung. Schriftenreihe der Internationalen Arbeitgsgemeinschaft für theolo-
gische Bachforschung. Hrsg. von Walter Blankenburg und Renate Steiger, Band 2, Neu-
hausen-Stuttgart, 1984, S. 55 u.ö.
4 Martin Luther, Wochenpredigten über Joh 16-19, 1528/29, in: Martin Luther, Werke,

Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff., Bd. 28, S. 402-405.


Martin Petzoldt 49

allen ehren halten, wie sie denn wol werd ist, das man sie
ehre. Aber doch wollen wir sie nicht also ehren, das wir sie
jrem Sone Christo gleich machten. Denn sie ist nicht jur
uns gecreutziget noch gestorben und hat am Creutze jur
uns mit threnen geflehet und gebeten. Darumb man ehre
die Mutter Maria wie man wölle, allein man ehre sie nur
nicht mit der Ehre, da man Christum mit ehren sol. Und
solchs ist auch die ursach, Warumb der HErr seine Mutter
von sich hinweg thut. Denn er allein der sein wil dem wir
anhangen sollen.
ABer der Bapst mit Mönchen thut das widerspiel, lesst
Christum den Sonjaren und hanget der Mutter an. Chri-
stus verlesst alles umb unsert willen, Erde, Mutter, Jünger,
auff das er uns helf.fe. Darumb sollen wir auch jm allein an-
hangen und die Ehre die jm gebüret, keinem andern geben.
Denn weil er selbs die Mutter hinweg gibt und mit jr auff
Erden nicht sein wil nochjranhangen, sollen wirauch der
Mutter nicht anhangen und den San verlassen. Billich ist
Maria unser Mutter. Aber das wir walten auff sie bawen
und Christo sein ehre und ampt nemen und es der Mutter
geben, das hiesse Christus leiden verleugnet.<<

Das homiletische Prinzip 'Ablösung zum Zweck der Aneignung'


erfährt m.E. bei Luther die gleiche Anwendung wie bei Bach: Der
Hörer soll sich von der Historie ablösen (können), ohne die Historie
für unwesentlich erklären zu müssen, weil es um die Bindung an das
Heil geht: Aneignung des Heils.
Daneben lassen sich noch weitere Merkmale für dieses homile-
tische Prinzip nennen: Der Gebrauch der Lieder überschreitet den
Rahmen der Passionslieder wesentlich, wenn man an >>Vater unser
im Himmelreich«, »Valet will ich dir geben<<, »Herzlich lieb hab
ich dich, o Herr<<; die typologische und heilsgeschichtliche Inan-
spruchnahme des Alten Textaments sorgt für eine innerbiblische
Ablösung und Identifikation: der Regenbogen von Gen 9 (Satz 20),
Jakobs Kampf am Jabbok aus Gen 32 (Satz 9), der Jacobssegen
nach Gen 49 (Satz 30), der Stern aus Jacob nach Bileamssprüchen
Num 24 (Satz 30), J osuas Siege bei der Landnahme nach Jos 11 und
12 (Satz 24).
50 Martin Petzoldt

4. KATECHETISCHE EBENE

Neben der homiletischen Ebene in der Passion gibt es eine kate-


chetische. Vermittelt die homiletische das Prinzip 'Ablösung zum
Zweck der Aneignung', hat die katechetische Ebene die Aufgabe,
'Identifikation aufgrund von Erinnerung' zu ermöglichen. Das
geschieht vorrangig durch die eingefügten Liedstrophen. Sie haben
einen hohen Bekanntheitsgrad; wo u.U. die Texte doch unbekannt
sein sollten, (was für Johannes-Passion und Matthäus-Passion auf
keinen Fall zutrifft) wirken sogar die bekannten Melodien in glei-
cher Richtung. Kirchenlieder kommen in Bachs Werken weder zum
Mitsingen vor noch als Repräsentation der Gemeinde. Sie haben
katechetische Funktion, weil sie Identifikation von bisher neuen
Gedanken und Einsichten mit Hilfe bekannter Formulierungen
in Kirchenliedstrophen ermöglichen, die in Erinnerung gebracht
werden.
Wir hatten eben erwähnt, daß Bach - oder sein Textbuchautor -
den Bereich der Passionslieder überschreitet. Gleich gar läßt er den
eng gesteckten Rahmen der dem Karfreitag im besonderen zugeord-
neten Lieder aus der De-tempore-Ordnung hinter sich. Das für
Leipzig maßgebliche Dresdner Gesangbuch, dessen Vorwort mit
dem 9. November 1724 datiert ist, war noch nicht erschienen. Den-
noch lag die De-Tempore-Ordnung soweit fest, daß wir nicht fehl ge-
hen, wenn wir die des Dresdner Gesangsbuches bereits für 1723/24
in Anspuch nehmen:

Nun giebt mein Jesus gute Nacht;


0 Welt sieh hier dein Leben;
Als Gottes Lam und Leue entschlaffen und verschieden;
Jesu, der du meine Seele;
Herr J esu Christ, wahr' Mensch und Gott;
Christe du Lamm Gottes;
Hertzliebster Jesu, was hast du verbrochen;
0 Traurigkeit, o Hertzeleid.

Aus dieser Sammlung kommen in der Johannes-Passion einzelne


Strophen lediglich aus zwei Liedern vor: >>Ü Welt, sieh hier dein
Leben<< und »Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen<<. Freilich
findet der Benutzer des Gesangbuches von den anderen im Text-
buch der Johannes-Passion herangezogenen Liedern zwei weitere
Martin Petzoldt 51

unter der Rubrik >>Vom Leiden und Sterben Jesu Christi«: »Christus,
der uns selig macht« (2 Strophen), >>J esu Leiden, Pein und Tod<< (3 bzw.
4 Strophen). Das Lutherlied >>Vater unser im Himmelreich<< hat
seinen Platz unter den Katechismusliedern, die beinahe in allsonn-
täglicher Wiederkehr während der Austeilung des Abendmahls ge-
sungen wurden; >>Valet will ich dir geben<< und >>Herzlich lieb hab ich
dich, 0 Herr<< sind unter dem Titel >>Von Krankheit, Tod und Sterben<<
rubriziert, eine Abteilung, die anläßlich der reichlich anfallenden
Beerdigungsfeiern sehr oft gesungen wurden.
Im übrigen zeigt die Benutzung von Liedern aus anderen Berei-
chen als der Rubrik >>Vom Leiden und Sterben Jesu Christi<< eine Un-
terstützung der katechetischen Tendenz: die Identifikation mit dem
Passionsgeschehen ist ein in hohem Maße jeden Menschen selbst
betreffender Akt, so wie jeden unvertretbar Schuld, Krankheit,
Sterben und Tod betrifft.
'Identifikation aufgrundvon Erinnerung' durch Kirchenlieder mit
einem hohen Bekanntheitsgrad stellt ein katechetisches Prinzip dar.
Es funktioniert in einer Umgebung hoher Wertschätzung des
Kirchenliedes im allgemeinen und der Tropierung des Passionsbe-
richtes im besonderen. Denn die bereits über ein Jahrhundert an-
dauernde Gepflogenheit, die Passionsberichte durch Liedstrophen
zu gliedern und zu tropieren, übernimmt im Falle einer figural musi-
zierten Passion der Chor.
Schließlich lohnt es sich, die Frage nach einem geeigneten Ort
nachzuvollziehen, wie sie 1720/21 in Leipzig zur Disposition stand.
Der Frühgottesdienst des Karfreitag bot sich traditionell deshalb
nicht an, weil in diesem Gottesdienst nie ein vollständiger Passions-
bericht gelesen oder gepredigt worden wäre. DiwEntscheidung für
den Vespergottesdienst des Karfreitag scheint mir demgegenüber
auch aufgrundkatechetisch-pädagogischer Überlegungen gefallen
zu sein. Denn man mußte einen Ort wählen, der anpassungsfähig
war, und zwar hinsichtlich der liturgischen Prädisposition wie auch
hinsichtlich des verfügbaren Zeitfonds. Beidem kam die liturgisch
schwache Stellung der ohnehin am Rande stehenden Karfreitagsve-
sper in der Thomaskirche entgegen. Hier konnte man Neues ansie-
deln, ohne prinzipiell den allgemein bekannten Charakter eines
Vespergottesdienstes anzutasten. Andererseits verschaffte die Er-
setzung des Psalmes durch den ersten Teil der Passionsmusik und
des Magnificat durch den zweiten der Passion eine bestimmte
gottesdienstliche Qualität. Doch dazu jetzt Detallierteres.
52 Martin Petzoldt

5. LITURGISCHE EBENE

·Die die Johannes-Passion betreffende liturgische Ebene setzt sich


aus einer Mehrzahl von kleineren Elementen zusammen, deren
Zusammenhang wie bei einem Mosaik erst allmählich sichtbar
wird.
Bach führte 1724 als erste Passion in Leipzig eine Johannes-
Passion auf. Sein Vorgänger Johann Kuhnau begann mit der
Gewohnheit der Passionsaufführungen am Karfreitag erst im Jahr
1721. Es gab zwar in Leipzig bereits 1717 die Darbietung einer figu-
ral musizierten Passion, jedoch in keiner der beiden Hauptkirchen
Thomas und Nikolai, sondern in der Neukirche, die erst seit 1699
wieder dem gottesdienstlichen Gebrauch übergeben worden war.
Dort konnten sich auch neue Traditionen ansiedeln, während die
beiden Hauptkirchen die Verpflichtung zur Pflege des traditionell
Erprobten in weit stärkerem Maße empfinden mochten. Kuhnaus
Passion war eine Vertonung des markinischen Passionsberichtes.
Der Markusbericht aber gehörte nach einer reformatorischen Ord-
nung entweder zum Sonntag Palmarum oder zum Dienstag der Kar-
woche. Daß sich Bach für den Johannesbericht entscheidet, diesen
in der ersten Fassung seiner Vertonung gleich um zwei Stellen der
Passionsharmonie von Johann Bugenhagen erweitert, die Petrus-
szene und um die Darstellung der endzeitliehen Ereignisse nach
Jesu Tod, kann sowohl als bewußtes Gegenkonzept zu Kuhnau ver-
standen werden als auch als bewußte liturgische Entscheidung.
Denn zum Karfreitag gehörte seit alters der Bericht des letzten Evan-
geliums, des nach Johannes. Daß Bach sich von seinem Antecessor
hätte absetzen wollen, mag ich nicht annehmen. Andererseits hat
die liturgische Praxis, den Johannesbericht am Karfreitag zu lesen
bzw. singen zu lassen, soviel Selbstverständlichkeit an sich, daß man
fast anzunehmen geneigt ist, es sei für Bach gar keine Frage gewe-
sen, sondern der unwidersprochene, weil für zutreffend gehaltene,
Vollzug einer liturgischen Festlegung.
Die Johannes-Passion setzt mit dem Actus Hortus ein, verzichtet
also auf die auch im Johannes-Evangelium vorhandenen die
Passion vorbereitenden Abteilungen: Salbung in Bethanien (Joh
12,1-8), die Fußwaschung (Joh 13,1-20) und die Entdeckung des
Verräters (Joh 13,21-30). Die Textbücher zu Bachs Matthäus- und
Markus-Passion setzen ihrerseits fraglos die ihnen erreichbaren vor-
bereitende Abteilungen hinzu. Es fällt schon auf, daß Bach sich mit
Martin Petzoldt 53

seinem ersten Passionswerk in Leipzig streng an die vorgegebenen


Begrenzungen hält. Eine Zufälligkeit würde ich ausschließen, da die
genannten Merkmale übereinstimmend eine deutliche Sprache
sprechen. Der reguläre Eindruck setzt sich auch in den nun folgen-
den Beobachtungen fort.
Vergleicht man die Brackes-Passion, aus der das Textbuch der Jo-
hannes-Passion einige Vorlagen bezieht, mit den von Bach vertonten
Texten in der Johannes-Passion, so fällt vor allem eine entdramatisie-
rende Tendenz auf. 5 Nur die im Evangelientext selbst liegende
Dramatik erscheint gerechtfertigt, nicht aber eine zusätzliche Dra-
matisierung des Geschehens durch die freien Texte. Auch in dieser
Gemäßheit der Textaufnahme und Textbehandlung liegt ein deutli-
ches liturgisches Bestreben vor, d.h. eine ausdrückliche Bemühung,
dem Text entsprechend und nicht zusätzlich emotionalisierend zu
verfahren. Alle auf dieser Ebene besprochenen Erscheinungs-
weisen folgen dem Grundsatz, die gottesdienstliche Funktion der
Johannes-Passion zu unterstreichen oder zu erhalten. Das betrifft bei
einer Passion weniger Lobpreis und Jubel alsyielmehr das Moment
der Dankbarkeit. In den Liedstrophen der Actiis klingt immer wie-
der das Motiv der Dankbarkeit an:
»Keins Menschen Herze mag indes ausdenken, was dir zu schenken«
(Satz 17); »Wie kann ich dirdenn deineLiebestaten im Werk erstatten?«
(Satz 17); »Dein Nam und Kreuz allein ... Drauf kann ichfröhlich
sein<< (Satz 26); »Dafür ... dir Dankopfer schenken<< (Satz 37); »Daß
meine Augen sehen dich, in aller Freud, o Gottes Sohn« (Satz 40); aber
auch in dem 1725 zugefügten Satz BWV245a: >>Jesu, deine Passion, ist
mir lauter Freude':
Auch die Rahmensätze tragen liturgischen Charakter, freilich in
anderer Ausprägung: Satz 1 beginnt mit einem Psalmzitat, Satz 15
setzt neu ein mit einer Strophe, die den Charakter einer Eröffnung
hat: »Christus, der uns selig macht<<. Sie fungiert in ihrem Lied als
Kopfsatz für die gereimte Erzählung der gesamten Passion Jesu
nach Gliederung der Hauptstunden des Kreuzigungstages Jesu. Die
letzte Strophe dieses Liedes >>Ü hilfChriste, Gottes Sohn<< beschließt
bei Bach den Actus >>Crux<<. Heinrich Schütz benutzt die gleiche Stro-
phe in seiner Johannes-Passion ebenfalls, charakteristischerweise
jedoch als Abschluß des gesamten Passionsberichts. Das bestätigt
unsere an anderer Stelle geäußerte Ansicht, daß die Strophe in

5 E. Axmacher, vgl. Anm. 3, S. 152 und 155.


54 Martin Petzoldt

ihrem Aussagegehalt eine eigentümliche Nähe zum johanneischen


Passionsbericht hat. Am Schluß seiner Passion verwendet Bach, zu-
sätzlich zum Schlußchor »Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine<<, der sei-
nerseits aber doch stärker das Gepräge des Actus >>Sepulchrum<<
trägt, die Strophe »Ach Herr, laß dein lieb Engelein«. Die liturgische
Bedeutung dieser Strophe liegt in der Transzendierung der Klage
und der Dankbarkeit zum himmlischen Lobpreis. Die liturgische
Ebene erhält damit im Blick auf die ganze Passion eine Aufwertung,
die ihren Grund in einer dogmatischen Entscheidung hat. Davon
werden wir noch sprechen.

Werfen wir einen Blick auf Beginn und Abschluß der Johannes-
Passion in ihrer zweiten Fassung von 1725 innerhalb des Choralkau-
tatenjahrgangs, so verstärkt sich der liturgisierende, d.h. der auf
Gottesdienst bezogene Eindruck: Satz 1 »0 Mensch, bewein dein
Sünde groß«, eine Strophe, die zwei wesentliche biblische Texte zur
Grundlage eines durch Christologie bestimmten bekenntnishaften
Textes macht: Phil2,5-11 und J es 55. Nicht erst dieneuere biblische
Exegese vermittelt ein Wissen um solche Texte, daß sie ihrer großen
Dichte und ihres hymnischen Charakters wegen liturgische Quali-
tät besitzen. Zur Zeit Bachs wußte man nicht nur darum, man
benutzte solche Texte auch in solcher Funktion: eben zur Eröffnung
einer Passion.
Satz 40 der zweiten Fassung »Christe, du Lamm Gottes«, für die
Zeit des 18. Jahrhunderts erwiesenermaßen nicht als Agnus Dei
Bestandteil der Abendmahlsliturgie, sondern als zeitbestimmendes
Lied des Karfreitag in der De-tempore-Ordnung festgelegt, entfaltet
bis in Bachs Vertonung hinein liturgischen Charakter: Die Dreima-
ligkeit derselben Strophe, der dreifache Kanon der Melodie in der
Mittelstrophe, die Zweiteiligkeit nach den gewählten Tempi, die der
langsamen ersten Strophe ebensoviel Zeit einräumt, wie den beiden
nachfolgenden Strophen im rascheren Tempo: die erste Strophe, die
dem Hörer den Eindruck des schweren Tragens der Sünde vermit-
telt in einer großen hoheitsvollen Geste, die zweite und dritte, die im
Übernehmen der Sünde durch Christus, dem Lamm Gottes, zugleich
deren Überwindung zur Aussage macht >>Gib uns dein' Frieden<<.
Spontan fallen dazu zwei Stellen des Johannes-Evangeliums ein:
Der Täufer sieht J esus kommen und verweist aufihn mit den Worten
>>Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt<< (Joh 1,29),
und Jesus sagt in den johanneischen Abschiedsreden >>Den Frieden
Martin Petzoldt 55

lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch,
wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht«
(Joh 14,27).
Zur liturgischen Ebene gehört auch eine Überlegung zu dem Lied
>>Jesu Leiden, Pein und Tod<< von Paul Stockmann, eine 34-strophige
Dichtung, die die Passion J esu weniger beschreibt als vielmehr
reflektierend begleitet. Das Lied kommt in der Johannes-Passionmit
drei Strophen vor, 1725 sogar mit vier. Auch im weiteren Bachsehen
Werk stößt man immer wieder auf Strophen dieses Liedes: BWV 182,
BWV 159, BWV 247,56. Die spirituelle Qualität dieses Liedes muß
enorm gewesen sein: 1766 vermerkt der Thomasküster Christian
Köpping in dem liturgischen Merkbuch seines Vorgängers Johann
Christoph Rost:

»Anno 1766 d. 20. Mart. wurde auf Befehl des Consistorii,


weil durch den H. Appell.Rath Born und dem H. D. Barth
[Superintendent] Vorstellung geschehen, daß die Absin-
gung der Passion durch die Persohn eines Jesus, Evangeli-
sten, Petrus, eine Magd u. zu theatralisch wäre, dasselbe
abgeschafft und verordnet, daß von ietzt an, an deren statt
das Liedlesu LeidenPein u. Tod pp. in dereinen u. in deran-
deren Kirche, die sonst am Chaifreytage Nachmittags
gewöhnl. Passions Musicfrüh, aufgeführet, hingegen am
Charfreytages, umgekehrt in der Kirche, wo amPalm Sann-
tagefrüh die Passions Music gewesen das Lied Jesu Leiden
Pein und Tod und in deranderen die näml. Passions Music
aufgeführet werden solle«. 6

6. DOGMATISCHE EBENE

Auch die Gottesdienste besaßen ein dogmatisches Gerüst, das in


einem anderen Zusammenhang schon einmal vorgestellt wurde. 7
6 Johann Christoph Rost, Nachricht, Leipzig 1716, Archiv der Thomas-/Matthäi-

Gemeinde, fol. 18r.


7 Zu den Nebengottesdiensten und deren Unterschieden vgl. Günther Stiller, Johann

Sebastian Bach und das Leipziger gottesdienstliche Leben seiner Zeit, Berlin 1970,
S.40-46. Stiller geht nicht auf den Karfreitagsvespergottesdienst ein, vgl. S.52f. Zum
dogmatischen Bezug der Gottesdienste vgl. meinen Beitrag zur Sommerakademie
1984: Theologisch-liturgische Aspekte von Bachs Leipziger Kirchenmusik (bisher
unveröffentlicht).
56 Martin Petzoldt

Jetzt muß es uns in wenigen Überlegungen um die Besonderheit des


Karfreitags-Vespergottesdienstes gehen, in den die Passion einge-
fügt war. Zwei bereits kurz angesprochene Merkmale verdienen be-
sonderer Erwähnung: Die Tatsache, daß der Passionsbericht nach
Johannes traditionellerweise dem Karfreitag zugeordnet wurde, ver-
lieh den Gottesdiensten am Karfreitag einen hoheitsvollen Zug.
Denn der Christus des Johannes-Evangeliums ist, wie es Satz V1724
heißt, >>der wahre Gottessohn, zu aller Zeit, auch in der größten Nied-
rigkeit<<. Damit wird dogmatisch, von der johanneischen Theologie
gestützt und gehalten, Wert gelegt auf Aussagen von Christus, die
ausschließlich seine Person betreffen, nicht -oder nur nachgeord-
net-sein Werk. Das bedeutet aber in jener Zeit unbedingt, daß damit
ein antipietistischer Akzent gesetzt wurde. Legte doch der Pietismus
weithin besonderen Wert auf die Aussage von Christi Heilswerk für
die Welt und für uns, für die Menschen. Demgegenüber tritt nun eine
Form der Verobjektivierung der Christologie entgegen, die sogar
ohne den Bezug zum Heilswerk Christi - zunächst! - auskommt.
Das wird weder in der zeitgenössischen späten altprotestantischen
Dogmatik so exklusiv durchgehalten, noch in der Johannes-Passion -
von der Matthäus-Passion völlig zu schweigen. Wichtig daran
erscheint mir nur, daß der Karfreitag in seinen Gottesdiensten eine
solche einseitig personchristologische Prägung trägt. Das setzt
sich bis in den Text des neunstrophigen Liedes >>Da Jesus an dem
Kreuze stund<< fort, das der Chor zum Beginn der Karfreitagsvesper
singt- eine Dichtung zu Jesu sieben letzten Worten am Kreuz, die
weitestgehend ohne den Bezug auf Jesu Heil für uns, für die
Menschen auskommt-, das begegnet außerhalb der Bach-Passion
wieder in dem Text der Motette von Jacobus Gallus >>Ecce quomodo
moritur iustus«: Siehe, w ie der Gerechte muß sterben und niemand
nimmt es zu Herzen ... Von allem Ungemach des Lebens wird frei
der Gerechte ... Im Frieden ist sein Gezelt bereitet und in Zion wird
seine Wohnung sein (Jes 57,1-2; Ps 76,3).
Ein zweites Merkmal der dogmatischen Ebene zeigt sich in der
Wendung bzw. Transzendierung der Klage und Dankbarkeit hin
zum himmlischen Lobpreis. Das wird besonders am Schritt von Satz
37 zu Satz 40 deutlich: .. . »dafür, wiewohl arm und schwach, dir
Dankopfer schenken!« - ... »Herr Jesu Christ, erhöre mich, ich will
dich preisen ewiglich!«.
Abb.4 Caspar Friedrich Löbelt, Kruzifix, Thomaskirche Leipzig, einzig erhaltenes
Detail des Bornsehen Altars von 1721.
58 Martin Petzoldt

7. ZUR HEUTIGEN SEITE DES THEMAS

Als wesentlichstes Gliederungsmerkmal hat sich die Struktur der


Passionen Johann Sebastian Bachs nach Actus herausgestellt. M.E.
kommt ein solcher Impuls heutigen Überlegungen zum Einbezug
der Passionen Bachs in den Gottesdienst entgegen. Ein Actus hat
etwa die Dauer einer Kantate. Es liegt deshalb nahe, jeden Actus als
themagebendes Element eines Gottesdienstes zu verstehen. Damit
nähme man auch das Selbstverständnis der Texte damals ernst:
jedes Detail des Textes der Passionsgeschichte ist in der Lage, das
Ganze der Passionsverkündigung auszulegen. Damit lassen sich
durch die fünf Actus der Johannes-Passion beispielsweise fünf Pas-
sionsgottesdienste bestreiten und gestalten. Ich empfinde es nicht
als Gegenargument, wenn die Frage der Finanzierung als entschei-
dendes Merkmal in die Debatte gebracht wird. Hier kann es auch Re-
gelungen geben, die den Aufwand einer geschlossenen Aufführung
der Johannes-Passion nicht wesentlich übersteigen.
Hinsichtlich der in einem Actus verwendeten Liedstrophen
könnte sich die Regelung durchsetzen, diese Lieder als Gemeinde-
lieder in einem Gottesdienst fortzusetzen; das betrifft vor allem die
Schlußstrophen der Actiis. Außerdem gilt die Aufmerksamkeit in be-
sonderer Weise weiteren Gemeindeliedern, vor und nach dem musi-
zierten Actus: sie sollten auch unter Berücksichtigung der in dem
betreffenden Actus vom Chor dargebotenen Liedstrophen stehen.
Dabei ist die Einbeziehung des Chores in solche Liedfortsetzungen-
etwa alternatim - unbedingt erwünscht.
Zur Gestaltung eines Gottesdienstes mit der Aufführung eines
Actus gehört als Lesung - vor und nach dem betreffenden musi-
zierten Teil - der gesamte Umfang der verbleibenden Passions-
geschichte, so daß der musizierte Actus einbezogen ist in den
vollständigen Passionsbericht. Dem für die Passionsverkündigung
charakteristischen Merkmal der Erinnerung und des Gedächtnis-
ses kann dadurch Rechnung getragen werden, daß die Wiederho-
lung der gesamten Passionsgeschichte als intensive Einübung mit
meditativem Umgang verstanden und begangen wird. Folgen fünf
Gottesdienste mit den fünf Actus der Bachsehen Johannes-Passion
hintereinander, vermögen der Wechsel von gesprochenem ( d.h. gele-
senem), gepredigten und musizierten Wort in höherem Maße eine
solche Einübung zu ermöglichen als das bei einer einmaligen ge-
schlossenen Aufführung der Passion der Fall ist. Die Gottesdienste
Martin Petzoldt 59

können sowohl als Passionsgottesdienste während der Passions-


zeit- Okuli, Lätare, Judika, Palmarum und Karfreitag- als auch als
Gottesdienste in der Karwoche - Montag, Dienstag, Mittwoch,
Donnerstag und Freitag- gefeiert werden. Außer den Actüs Hortus
und Sepulchrum mit den großen Chorsätzen ist auch kein großes
Orchester notwendig.
Die Predigt kann den Text des jeweils musizierten Actus zugrun-
delegen; freilich böte sich auch eine Konzentration auf einzelne
Schlüsselverse der betreffenden Textabschnitte an, zumal in den
vorgeschlagenen Perikopenreihen, abgesehen von jährlich wech-
selnden Abschnitten aus den Passionsberichten der vier Evangelien,
nie die kursorische Predigt der Passionsberichte vorkommt.
Bachs Passionen als Musik im Gottesdienst: Wir sollten auch den
Passionen -wie den Kantaten Bachs -nicht auf Dauer die liturgisch-
gottesdienstlichen Elemente verweigern, die aufgrund heutiger
Liturgie und heutigen Liturgieverständnisses möglich sind. Der
Karfreitagsvespergottesdienst der Bachzeit macht deutlich, daß die
musikalische Darbietung der Passion umstellt war von einer Reihe
von gültigen liturgischen Elementen. Dem formalen Erkennen muß
das praktische Angebot folgen. Es ist ausschließbar, eine Bachpas-
sion im Gottesdienst nur als in einer historischen Gottesdienstform
in passender Weise angesiedelt zu sehen.
60 Martin Petzoldt

Anlage 1

Allgemeiner Vespergottesdienst Thomaskirche vor 1721 Seit 1721

Geläut Geläut Geläut


Orgel
Motette Motteten
Lied nach Beschaffenheit Da Jesus an dem Da Jesu an dem
der Zeit Kreuze stund Kreuze stund
Psalm: am Pult gelesen (»Vor der Predigt wurde Johannes-Passion
am Pulte nichts gelesen«) Teilt
Vaterunser durch den Pfarrer
Gewöhnliches Betstunden-Gebet
Lied des Sonntags
(»Mit dem letzten Vers gehet
der Priester auf die Cantzel I
ohngefehr um 2 uhr<•)
Antritt der Predigt (Kanzelgruß) Antritt der Predigt Kanzelgruß
Gemeinde: Herr Jesu Christ Herr Jesu Christ Herr Jesu Christ
dich zu uns wend, dich zu uns wend dich zu uns wend
oder ein anderes Lied
nach Beschaffenheit der Zeit
Vaterunser, still gebetet Vaterunser Vaterunser
Verlesung der Sonntagsepistel Verlesung des Verlesung des
Begräbnisses J esu Begräbnisses J esu
nach Bugenhagen nach Bugenhagen
"("Um 3 Uhr pfleget der Predigt Predigt
Priester zu schließen«)
Gebete wie früh, doch unter Aus-
lassung der Kirchenbeichte
Fürbitten und Danksagungen wie
früh, keine Abkündigungen
Kanzelsegen Kanzelsegen Kanzelsegen tJ
/ j!
Praembulum auf der Orgel zum Ecce, quomodo Ecce, ~modo 1
Magnificat deutsch oder lateinisch moritur iustus moqtur mstus {,~·"e L-
(1.- 1c'fr
Versikel: »nach geendigten Lobge- 0 Traurigkeit, o Herzeleid Versikel: AHaristen - c' ·

sang intoniren die Schüler auf Chor


den Chor ein Responsorium,
so sich auf die Zeit schicket«.
Collectengebet Collecte Collecte
Segen Segen Segen
Nun danket alle Gott Nun danket alle Gott Nun danket alle Gott
Martin Petzoldt 61

Anlage 2

Johannes Bugenhagen, Historia vom Leiden Christi Grablegung


Darnach am Abend, dieweil es der Rüsttag war, welches ist der Vor= Sab-
bath, kam Joseph von Arimathia, der Stadt der lüden ein reicher Mann, ein
Rathsherr, ein guter frommer Mann! der hatte nicht verwilligt in ihren Rath
und Handel/ welcher aufdas Reich GOttes wartete, denn er warein Jünger Jesu,
doch heimlich aus Furcht vor den lüden, der wagte es, und gieng hinein zu
Pilato, und bat/ daß er möchte abnehmen den Leichnam JESU. Pilatus aber
verwunderte sich, daß er schon todt war, und riefdem Hauptmann, undfragete
ihn: ob er längst gestorben wäre. Und als ers erkündigt von dem Hauptmann,
gab er Joseph den Leichnam JES U, und befahl, man solt ihn ihm geben. Und
Joseph kaufft ein Leinwand.
Mt 27, 57j, Mt 15,42-45, Lk 23, 51-53,Joh 19, 38.
Es kam aberauch Nieodemus I dervormahls beyder Nacht zuJEsu kommen
war, und brachten Myrrhen und Aloen untereinander beyhundert Pfunden.
loh. 19,39. Da nahmen sie den Leichnam JEsu, der abgenommen war, und
wickelten ihn in ein reich Leinwand, und bunden ihn mit leinen Tüchern, und
mit den Specereyen, wie die lüden pflegen zu begraben.
Es war aber an der Stätte, da er gecreutziget ward, ein Garte, und im Garten
ein neu Grab, das war Josephs, welches er hatte lassen hauen in einen Feiß, in
welches niemandie geleget war, daselbst hin legten sie JEsum, um des Rüsttags
willen der lüden, daß der Sabbath anbrach, und das Grab nahe war. Und
weltzeten einengrossen Steinfür die Thür des Grabes, und giengen davon.
loh 19,40-42, Lk 23, 53j, Mt 27, 59j, Mk 15, 46.
Es war aber allda Maria Magdalena, und Maria loses, diesatzten sich
gegen das Grab, auch andere Weiber, die da JESU auch waren nachgefolget
von Galiläa, beschauten wohin und wie sein Leib geleget war.
Mt 27, 61, Mk 15, 47, Lk 23,55.
Sie kehrten aber um, und bereiteten die Specerey und Salben und den Sab-
bath über waren sie stille nach dem Gesetze.
Lk 23,56.

Des andern Tages, war da folget nach Rüsttag, kamen die Hohenpriester
und Pharisäer sämmtlich zu Pilato, und sprachen: Herr, wir haben gedacht,
daß dieser Verführer sprach, da er noch lebete: Ich will nach dreyen Tagen auf-
/erstehen; Darum befiehl, daß man das Grab verwahre, bis an den dritten Tag,
auf daß nicht seine Jünger kommen, und stehlen ihn, und sagen zum Volck: Er
ist auf/erstanden von den Todten, und werde der letzteBetrug ärgerdenn der er-
ste. Pilatus sprach zu ihnen: Da habt ihrdie Hüter, gehet hin, und verwahret es,
wie ihr wisset. Siegiengen hin, und verwahreten das Grab mit Hütern, und ver-
siegelten Stein.
Mt 27, 62-66.

(Vollständiges Kirchen= Buch, Leipzig 1718, S. 540-544).


62 Bernhard Hanssler

JESUS CHRISTUS

Das Johannes-Evangelium ist von Anfang bis


Ende Christusverkündigung. Ein anderes Thema
als J esus Christus gibt es nicht. Die Reden, die
Jesus hält, sind allesamt Selbstauslegungen. Die
Wunder, die er tut, heißen Zeichen, weil sie Rück-
verweise auf ihn sind. Selbst der Mensch, wie ihn
Johannes vorstellt, ist eine Christus-Chiffre. So
wie der Mensch am Leben hängt, nicht nur am
leiblichen, wie er hungert und dürstet, nicht nur
körperlich, wie er zum Lichte drängt, ruft alles an
ihm nach Christus, der die Antwort auf die
menschliche Verfassung ist. >>Er wußte, was im
Menschen ist<< (2,25), damit ist auch gesagt, daß Je-
sus das Geheimnis der menschlichen Existenz in
ihrer Hinordnung auf ihn voll vertraut war.
Die Christustitel machen deutlich, wer Jesus
Christus ist. Er ist der Logos, er ist der Sohn des Va-
ters, er ist der Menschensohn, er ist der Messias.
Aber nicht nur auf die Christusnamen und Chri-
stustitel muß man achten, wenn man in das vierte
Evangelium eindringen will. Erst die Christusbil-
der und Christussymbole bringen Farbe in das
Bild. Von ihnen soll daher zuerst die Rede sein, und
an Überraschungen wird es dabei nicht fehlen. Je-
sus sagt von sich: »Ich bin das Licht der Welt<<
(8,12). Um in dieses Wort hineinzufinden, muß
man erst einmal die eigene Erfahrung des Lichtes
in sich aufrufen. Man muß sich an Sonnenauf-
gänge erinnern, so selten uns heute diese elemen-
tare Erfahrung zuteil wird, man muß sich an die
immer wieder überwältigende Tatsache erinnern,
daß ein noch so kleines Licht die schwärzeste Fin-
sternis zu besiegen vermag, erst dann vermag man
das Wort Jesu nachzuzvollziehen: >>Ich bin das
Licht der Welt, wer mir nachfolgt, tappt nicht im
Dunkeln, sondern wird das Licht des Lebens ha-
ben<< (8,12). Aus gutem Grund wird Jesus schon in
den ersten Worten des Evangeliums mit Hilfe des
63

Lichtsymbols gedeutet: »In ihm war das Leben und das Leben war
das Licht der Menschen<< (1,11). >>Das wahre Licht, das jeden Men-
schen erleuchtet, kam in die Welt<< (1,9), so sagt es der Evangelist, so
sagt es Jesus immer wieder von sich selbst (8,12; 9,5; 12,46).
Aber er sagt es nicht nur, er führt es in einer feierlichen Handlung
vor Augen. Die Blindenheilung nämlich, die im neunten Kapitel so
ausführlich und umständlich berichtet wird, will nicht nur zeigen,
wie Jesus einem bedauernswerten GeschöpfHeilung brachte. Nicht
der Kranke ist das Thema, sondern Christus als der Lichtträger und
Lichtbringer, wie er in der Deutung des ganzen Vorgangs selber aus-
drücklich sagt (9,5). Nicht zufällig mündet daher der Bericht von der
Blindenheilung unmittelbar in dem Streit um die Christusfrage ein.
Ein anderes großes Christussymbol des Johannes-Evangeliums
ist das Wasser. Wiederum muß man erst einmal die eigenen Erfah-
rungen mit dem Wasser sich vergegenwärtigen, um in das Bild ein-
zudringen. Nicht nur der labende Trunk und das erfrischende
Bad gehören dazu, auch der silberne Quell, der aus dem dunklen
Schoß der Erde hervorbricht, auch der rauschende Bach oder der er-
quickende Regen oder das gewaltige Brausen des Meeres bringt uns
zum Bewußtsein, was es mit dem Wasser auf sich hat. Erst wenn sol-
che Erinnerungen-in uns aufleben, öffnen sich die Christusbilder
vom Wasser wie sich die Knospen einer Blume öffnen. Das ist umso
wichtiger, als das Wassermotiv unter den Christusbildern des Evan-
geliums wohl überhaupt das stärkste Gewicht besitzt. Es ist litera-
risch gesprochen ein Leitmotiv, musikalisch gesprochen ein Thema
in Variationen. Wiedergeburt aus dem Wasser und dem Geist wird
mit Nikodemus erörtert. Wie eindrucksvoll ist andererseits der Be-
richt über die intermittierende Heilquelle im Teich Betesda. Was sie
nicht leistet an dem Mann, der 38 Jahre krank lag, leistet J esus, Heil-
quelle schlechthin. Daß der Dichter Thornton Wilder den Stoff in
einem seiner Dreiminutenstücke dichterisch aufgeschlossen hat,
beweist, wie packend der Vorgang erlebt werden kann.
Nocheinmal kommt das Wassermotiv zu großer Wirkung in der
Wasserrede Jesu am letzten Tag des Laubhüttenfestes, der der Tag
des Wasserschöpfens hieß, wegen der festlichen Wasserzeremonie,
die man an diesem Tag beging. Da ruft Jesus plötzlich in die Menge
hinein: >>Wenn einer dürstet, komme er zu mir und trinke, vorausge-
setzt, daß er glaubt. Denn wie die Schrift sagt: 'Ströme lebendigen
Wassers'<< werden aus dem Inneren (des Messias) hervorbrechen
(7,37 f).
64 Bernhard Hanssler

Aber cüe eigentliche große Wassermusik, wenn ich so sagen darf,


ist das vierte Kapitel mit der Samariterirr am Jakobsbrunnen. Jesus
sitzt auf dem Brunnenrand und hat Durst. Da kommt die Frau, um
Wasser aus der Zisterne zu holen. Sie hat das Schöpfgefäß, das sie in
den Brunnen hinablassen kann, um Wasser heraufzuholen. So ist Je-
sus auf sie angewiesen, wenn er trinken will, und er bittet sie denn
auch ausdrücklich um einen Trunk. Dann entwickelt sich sein lan-
ges Gespräch mit einer überraschenden Wendung. Jesus redet von
dem Wasser, das er gibt und das wie aufrauschende Kaskaden ins
ewige Leben hinübersprudelt. Wer davon trinkt, dessen Durst ist
gelöscht. Spontan reagiert die Frau mit der Bitte, »gib mir dieses
Wasser!«. Und siehe da: plötzlich sind die Rollen vertauscht, jetzt
zeigt sich, daß der Mensch der Dürstende und J esus der Spendende
ist. Und schon holt Jesus weiter aus. Auch die erotischen Abenteuer
der Frau -fünf Männer hatte sie, und der, mit dem sie jetzt zusam-
menlebt, ist nicht ihr Mann - sind im Sinn des Evangelisten zu
verstehen als Offenbarung einer inneren Verfassung, deren gerraues
Symbol der Durst ist.

So breit also wird das Thema des Wassers im Evangelium durch-


geführt. Nicht genug, wie in einer ausschwingenden Kadenz wird in
der Leidensgeschichte darauf aufmerksam gemacht, daß Blut und
Wasser aus der geöffneten Seite J esu heraustraten (19,25), wobei die-
ser Feststellung mit einer besonderen Redewendung eine beson-
dere Bedeutsamkeit zugesprochen wird.
So wie Jesus das Wasser des Lebens gibt, so gibt er den Wein der
Freude. Damit haben wir ein weiteres christologisches Symbolwort
vor uns. Wein ist in der Bibel der eschatologische Freuden trank. Auf
der Hochzeit von Kana, mit der der Evangelist den Bericht über das
öffentliche Wirken Jesu eröffnet, hat ihr Kernmotiv nicht in der
Verlegenheit der Hochzeitsgesellschaft, sondern im Christusthema.
Er soll vorgestellt werden als der, der die messianische Zeit herbei-
führt und den Freudenwein überreichlich zur Verfügung stellt.
In diesen thematischen Zusammenhang gehört auch das Weinstock-
Gleichnis aus Kapitel15, denn auch dort geht es nicht in erster Linie
um die Eingliederung und Einpflanzung der Menschen in die Chri-
stusgemeinschaft, sondern zugleich um das WeinsymboL Seit dem
Weinberglied in Jesaja 5 und seit dem Psalm 80 gehört der Wein
zu den großen Heilssymbolen. Seine Krönung findet das Thema
natürlich in jenem Moment, von dem die anderen Evangelisten
Bernhard Hanssler 65

berichten: >>Er nahm den Kelch mit Wein und sagte: das ist mein
Blut<< (Mt 26, 27).
Nicht weniger wichtig als der Wein ist das Brotthema in Kapitel6.
An dem Bericht über die Brotvermehrung schließt sich die große
Brotrede Jesu an. Die leibliche Speisung der Menge ist nur der
äußere Vorgang, der auf das eigentliche Thema hinführen soll und
dieses ist wiederum das Christusthema. Das Brot versinnbildet den
Menschen, den einzigen Brotesser der Schöpfung. Indem Jesus sagt:
>>Ich bin das Brot des Lebens<< (6,35) weist er darauf hin, daß der
Mensch in einem umfassenden Sinne der Hungerleider ist, dessen
Hunger nur Jesus zu stillen vermag.
Licht und Wasser sind Grundstoffe der Schöpfung, Wasser, Wein
und Brot sind Grundbedürfnisse des Menschen. Die Elemente tra-
gen unsere Existenz, Speise und Trank sichern unsere Lebensfri-
stung. Die Rolle, die diese Stoffe im leiblichen Bereich spielen, wird
von Jesus auf die personal-existentielle Ebene übertragen. Alle die
Christusbilder, die aus diesen Bereichen geschöpft sind, haben
dieselbe Botschaft: die Christuswirklichkeit ist eingesenkt und ein-
gepflanzt und verankert im Elementaren der Schöpfung und der
Existenz. Daraus ergibt sich: wer in den Kern der geschaffenen Welt
eindringt, stößt auf Christus. Der Grund dafür ist schon in einem der
ersten Sätze des Evangeliums genannt. >>Alles ist durch ihn gewor-
den und ohne ihn ist nichts geworden von dem was geworden ist<<
(1,3). So ergibt sich die wichtige Folgerung, daß Christus dem Men-
schen und der Welt, in der der Mensch lebt, nicht fremd ist. Die Welt
ist sein Eigentum, aber sie merkt es nicht: >>Er kam in sein Eigentum,
aber seine Eigenen haben ihnnicht aufgenommen<< (1,11).Dennoch,
die hier vorgeführten Christusbilder haben ihre große religiöse
Bedeutung. Sie könnten gerade dem modernen Menschen das
Christusgeheimnis erschließen. Sie könnten freilich auch auf einen
Irrweg führen, wenn man sie nicht ergänzt durch ganz andere Aus-
sagen, von denen nun zu handeln ist.
Christus ist den Existenzbedingungen des Menschen zugeordnet.
Aber er geht nicht auf in Welt und Schöpfung, er ist anderer Herkunft.
Zu den christologischen Grundaussagen des Johannes-Evangliums
gehört die ständig wiederholte Feststellung, daß er, Christus, der
oberen Welt angehört, während wir Menschen von unten sind (8,23).
Das Unten ist nicht nur dadurch definiert, daß es der absolute
Gegensatz zum Oben ist, sondern vor allem dadurch, daß kein Weg
von unten nach obenführt. Das Oben aber ist nicht nur dadurch defi-
66 Bernhard Hanssler

niert, daß es der Gegensatz zum Unten ist, sondern dadurch, daß es
die Möglichkeit und den Willen hat, sich zum Unten herabzulassen.
Jesus hat seinen Ursprung in der oberen Welt, aber er hat vom Vater
Auftrag, Ermächtigung, Sendung und umfassende Vollmacht er-
halten für sein Werk hier unten auf der Welt. Er ist gesandt worden,
er ist herabgestiegen, er ist gekommen, er ist erschienen, alle diese
Begriffe beschreiben den Vorgang, sie alle sind Begriffe der Bewe-
gung, jener Bewegung nämlich, die sich in der Zuwendung Gottes
zur Welt in der Person Jesu Christi vollzieht und deren Antrieb die
Liebe Gottes ist: »So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen
Sohn für sie hingab« (3,16). Es ist wie ein Schlüsselwort, wenn das
Christusereignis ausgedrückt wird mit.dem Satz: »Keiner ist aufge-
stiegen außer dem Menschensohn, der herabgestiegen ist« (3,13).
Aber nach getanem Werk verharrt er nicht im Unten, sondern kehrt
in einen Ursprung zurück:» Ich bin vom Vater ausgegangen, ich gehe
wieder zum Vater, kehre wieder zu ihm zurück«, dieser Satz wird im-
mer neu abgewandelt in Kapitel 14 -17.
Zu dieser Oben- Unten -Thematik ist auf ein bemerkenswertes
literarisches Stilmittel des Evangelisten hinzuweisen. Daß dem
Unten der Weg nach oben verwehrt ist, bringt das Evangelium mit
einer besonderen Darstellungstechnik zum Ausdruck. Daß das
Unten das Oben nicht erreichen kann, kommt in immer neuen
Mißverständnissen zum Ausdruck. Zu Nikodemus spricht Jesus von
der Wiedergeburt aus Wasser und Geist. Nikodemus begreift nichts,
er stellt die törichte Frage, ob ein Mensch in den Mutterschoß
zurückkehren könne. Der Frau am Jakobsbrunnen bietet Jesus
jenes Wasser an, das den Durst löscht. Prompt bittet sie um dieses
Wasser in der Hoffnung, daß ihr künftig der beschwerliche tägliche
Gang zum Brunnen erspart sein würde. J esus kündigt an, er werde
weggehen an einen Ort, wohin die Menschen ihm nicht folgen
könnten. Hat er vor, Selbstmord zu begehen? (8,22), fragen sie
statt zu begreifen, daß er von der Rückkehr zum Vater sprach. Litera-
risch gesprochen handelt es sich hier um ein meisterlich gehand-
habtes Darstellungsprinzip des Evangelisten vom Anfang bis zum
Schluß.
Jesus hat Einzug gehalten in dieser unteren Welt, in die der Vater
ihn gesandt hat. Daher gilt, solange er da ist, ist Gott in dieser Welt da.
Die Frage des Philippus, der den Vater gezeigt zu bekommen
wünscht, erhält die eindeutige Antwort: »Philippus, wer mich sieht,
sieht den Vater« (14,9). Das Angesicht Gottes, von dem im Alten
Bernhard Hanssler 67

Testament so oft die Rede ist, haben die Mensch nun vor Augen im
Antlitz Jesu Christi.
Auf die Anwesenheit Gottes in der Person Jesu zu verweisen, ist
auch die Absicht der »Ich-bin-Worte<<. Ich bin das Licht, bin das Brot,
bin der gute Hirt, bin der Weinstock, der Weg, die Wahrheit und das
Leben. Diese Selbstaussagen sind gebildet nach der Selbstprädika-
tion Gottes gegenüber Mose am brennenden Dornbusch: »Ich bin
der, der ist<< (Exodus 5,14 ). Diese Worte in ihrer Feierlichkeit betonen
die Exklusivität der Sendung Jesu und weisen alle rivalisierenden
Ansprüche anderer Angebote zurück. Sie erinnern deutlich an
Jesaja 45, wo Gott wie im Refrain immer wieder sagt: >>Ich bin
der Herr und sonst keiner.<< Das Hoheits bewußtsein, das sich in den
>>Ich-bin-Worten<< Jesu äußert, läßt die Menschen zurückschrecken.
Kein Wunder daher, daß die Schergen bei der Gefangennahme Jesu
schlicht zu Boden schlagen, als sie das >>Ich bin es<< hören (18,6).
In J esus Christus ist Gott am Werk, solange er aufErden weilt. Wie
der Vater wirkt, wirkt auch er selbst (5, 19-50). Jesus hatden Auftrag
Gottes und so ist er Gottes Beistand für die Seinen. Wie aber, wenn er
die Erde verläßt und in seinen himmlischen Ursprung heimkehrt?
Für diese neue Situation stellt er einen neuen Beistand in Aussicht,
dem er den Namen Paraklet gibt und den er als den Geist der Wahr-
heit kennzeichnet. Das Wort Paraklet gibt Rätsel auf. Sicher ist heute,
daß es mit Beistand, Anwalt, Sachwalter zu übersetzen ist und nicht
mit Tröster. Aber wer ist der Paraklet, ist er eine sichtbare Gestalt
(vgl. 14, 19) oder ist er als rein innerliche Kraft zu denken? Jedenfalls
ist er der andere Beistand nach J esus, dem ersten Beistand. Der Para-
klet, das wird nachdrücklich betont, ist nicht ein neues selbstständi-
ges Offenbarungsorgan. Er steht völlig im Dienst am Werk und Wort
J esu. >>Er wird von den Meinigen nehmen und es euch verkündigend
weitergeben<< (16,14). In dieser Tätigkeit ist er der >>Geist der Wahr-
heit<< (14,17), er wird die Jünger lehren und die Erinnerung an die
Worte J esu wachhalten. Er wird sie in die ganze Wahrheit einführen
(16,15). In diesem Wort haben wir eine besonders wichtige Ausle-
gung der Geistwirkung vor uns. Dank des Heiligen Geistes und sei-
nes Wirkens steht die Wahrheit, die Christus verkündet hat, uns
nicht mehr gegenüber wie eine fremde Welt. Wir dringen in sie ein,
sie dringt in uns ein, so daß wir in ihr stehen, was bekanntlich im
Deutschen mit dem Wort Verstehen ausgedrückt ist.
Ein abschließender Hinweis zu diesem Thema sei angefügt. Die
christliche Kirche kann nach dem Weggang Jesu nur seine Kirche
68 Bernhard Hanssler

sein, wenn sie pneumatische, geistdurchwaltete, pfingstliche charis-


matische Gemeinschaft ist. Nur wenn sie durch den Geist in der
Wahrheit lebt, wird sie teilhaftig des göttlichen Lebens. Wenn wir
nämlich den Heiligen Geist in unserem Glaubensbekenntnis den
Lebendigmacher oder Lebensspender nennen, sprechen wir die
johanneische Sprache (6,63). Er vermittelt das ewige Leben, das die
Heilsgabe Jesu ist, und von dieser ist jetzt zu handeln.

EWIGES LEBEN

>>Wie der Vater Leben in sich selber hat, so hat er auch dem Sohn
gegeben, Leben in sich selber zu haben« (5,26). Daraus ergibt sich
die Formel für den Auftrag Jesu: >>Ich bin gekommen, damit sie das
Leben haben und es in Fülle haben<< (10,10). Leben ist also das Ange-
bot Jesu, meist wird das Wort verbunden mit der Qualitätsbestim-
mung ewiges Leben. So heißt es dann etwa: >>Wer mein Wort hört und
dem glaubt, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt
nicht ins Gericht, vielmehr ist er vom Tod in das Leben hinüberge-
gangen<< (5,24). Zum Begriff ewiges Leben bedarf es einer Klarstel-
lung. Wenn wir ewiges Leben hören, denken wir unwillkürlich an
die Zeit nach dem Tod, an unsere künftige jenseitige Existenz. An sie
ist aber gerade nicht gedacht. Nicht eine künftige Existenz ist ge-
meint, sondern ein gegenwärtiger Besitz. Das ewige Leben haben,
heißt, an dem Leben teilhaben, das in der Ewigkeit Gottes seinen
Ursprung hat und durch J esus Christus in die Welt gekommen ist. Er
ist der Menschensohn, der die Speise zum ewigen Leben geben wird
(6,27). An dieser Stelle ist ein Hinwies auf eine Besonderheit des
Johannes-Evangeliums nötig. Im Johannes-Evangelium gibt es
keine Aussage über das Weitende, über die Wiederkunft Christi und
über das kommende Gericht, also über das, was man Eschatologie
nennt, Weltende ist immer, Weltgericht vollzieht sich jetzt (12,31),
nämlich dort, wo ein Mensch sich Christus verweigert: >>Wer an ihn
glaubt, kommt nicht ins Gericht, wer nicht glaubt, ist schon gerich-
tet, weil er nicht an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes
geglaubt hat<< (3,18). >>Die Stunde kommt und jetzt ist sie da, in der
die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören und die sie hören
werden leben<< (5,25). Nocheinmal: alle Tage ist Weltgericht, alle
Tage ist Auferstehung.
Bernhard Hanssler 69

In diesen Zusammenhang gehört also auch die Paraklet- Ansage.


Der Paraklet ist die konkrete Form der Wiederkunft Christi (14,18
mit 14,26; 15,26 und 16,7). Die Hörer Jesu haben das Angebot des
ewigen Lebens mit freudiger Zustimmung aufgenommen. Die
Grundstimmung war geprägt durch das Bewußtsein der Todver-
fallenheit des menschlichen Daseins. Je schärfer die Todesgrenze
erfahren wird, desto heftiger regt sich der Lebenswille und das
Lebensverlangen.
Anders steht der moderne Mensch dem Angebot des ewigen
Lebens gegenüber. Das Wort empfindet er lediglich als erbau-
liche Rede, es ist nicht der Schlag aufs Herz. Das hängt damit
zusammen, daß heute der Tod nicht als radikale Grenze erfahren
wird- Heidegger ist weit vom Lebensgefühl der Gegenwart. Der Tod
wird als etwas Natürliches betrachtet, er ist nur ein weiterer Fall in-
nerhalb einer Welt, in der alles Leben unter dem Gesetz der Vergäng-
lichkeit steht.
Dagegen gibt es in der Sprache J esu Umschreibungen und Entfal-
tungen dieses Begriffes, die auch beim modernen Menschen in das
Zentrum seiner Vorstellungen reichen. Zu diesen Umschreibungen
des ewigen Lebens gehört zunächst einmal der Begriff der Wahrheit,
wie das J ohannes-Evangelium ihn gebraucht. J esus ist die Wahrheit
in Person (14,6) und der Paraklet ist der Geist der Wahrheit, wie wir
gesehen haben. »Ich habe euch die Wahrheit vorgelegt, die ich von
Gott gehört habe<< (8,40). >>Das ist das ewige Leben, daß sie dich, den
einen wahren Gott erkennen und den du gesandt hast, Jesus
Christus<< (17,3). Vom wahren Gott ist nicht die Rede, um ihn von den
falschen Göttern zu unterscheiden, sondern als von dem Gott, der
die Wahrheit selber ist. Noch vor dem Richterstuhl des Pilatus wird
Jesus geltend machen, seine Lebensaufgabe habe darin bestanden,
für die Wahrheit Raum zu schaffen, die Wahrheit öffentlich zu ver-
treten, der Wahrheit Zeugnis zu geben (18,37).
Aber >>Was ist Wahrheit?<< fragt Pilatus. Nicht nur für ihn, für jeden
Leser des Johannes-Evangeliums kommt es darauf an, den Begriff
der Wahrheit richtig zu erfassen. Wahrheit ist bei Johannes
von ihrem Gegensatz her mit definiert, wie Leben vom Tod, Licht von
der Finsternis, Liebe vom Haß her beleuchtet wird. Der Gegensatz
zur Wahrheit ist bei Johannes die Lüge, besser der Irrtum, noch
besser der Trug. Wer dem Trug verfallen ist, ist der dämonischen
Gegenmacht Gottes verfallen, dem Satan (8,44).
70 Bernhard Hanssler

Um es möglich genau zu sagen: die Wahrheit bei Johannes ist die


Wirklichkeit Gottes selber, wie sie sich dem Menschen gewährt, sich
ihm enthüllt, sich ihm zu erkennen gibt. Eben darum besteht ewiges
Leben darin, Gott den Quell der Wahrheit und Jesus Christus den
Verkünder der Wahrheit zu erkennen (17,3). Mit dem Menschen, der
in die Wahrheit Gottes aufgenommen ist, in den die Wahrheit Gottes
eingedrungen ist, der durch den Heiligen Geist in sie hineingeführt
worden ist, geschieht eine entscheidende Veränderung. Er wird in
die Sphäre Gottes aufgenommen, in der Sprache des Evangelisten
gesagt: er wird durch die Wahrheit »geheiligt<< (17,17). Die Wahrheit
ist nicht nur geistige Bereicherung, sie arbeitet im Menschen, dem
aufgegeben ist, die Wahrheit zu tun (3,21).
Ewiges Leben besteht im Wahrheitsbesitz und ewiges Leben setzt
sich um in bestimmte seelische Zuständlichkeiten, die mit den drei
Begriffen Freiheit, Freude und Friede bezeichnet werden. >>Ihr wer-
det die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen<<
(8,32). Da freilich der Begriff der Freiheit jedem Mißverständnis
offen steht, betont Jesus ausdrücklich, es gehe ihm um die wahre
Freiheit, darum fügt er hinzu: >>Wenn der Sohn euch frei macht, seid
ihr in Wahrheit frei<< (8,36). Freiheit ist die höchste Möglichkeit des
Menschen und wenn man den Begriff der Menschenrechte konkreti-
sieren will, stellt sich heraus, daß sie allesamt Freiheitsrechte sind.
Die Entschlossenheit zur Freiheit ist das eigentliche Signum unse-
rer Epoche. Nie war der Freiheitswille ungebärdiger, ob es sich um
den emanzipatorischen Drang der Person oder die Freiheitsbewe-
gungen im politischen und sozialen Bereich handelt. Gerade darum
ist es wichtig, zu begreifen, daß das Angebot Jesu Christi das Ange-
bot der Freiheit ist. Eine Kirche, die die Freiheitsbotschaft des Evan-
geliums nicht aufgreift, wird schuldig am Evangelium und lebt am
modernen Menschen vorbei.
Ein anderes Anzeichen des ewigen Lebens ist die Freude. >>Das
habe ich zu euch gesagt, damit meine Freude in euch sei und euere
Freude vollkommen sei<< (15,11; 17,13). Leben in der Fülle (10,10),
Freude in höchstmöglicher Vollkommenheit, schon diese Beschrei-
bungen weisen daraufhin, daß die Heilsgaben Jesu alle innerweltli-
chen Kargheiten weit hinter sich lassen. Wie die Freiheit ein großes
Thema der urchristlichen Verkündigung geworden ist (Röm 8,21;
Gal 5,1) so auch die Botschaft der Freude (Gal 5,22; Röm 14,17).
Wäre die Freudigkeit das unterscheidende Merkmal der Christen,
dann wüchse der Kirche eine missionarische Kraft zu, der nicht zu
Bernhard Hanssler 71

widerstehen wäre. Die Freude, die Christus gibt, äußert sich gewiß
nicht in Freudenausbrüchen, aber sie behebt die Verdüsterung
der Seele und ist so das Heilmittel für eine tiefverschattete moderne
Seelenwelt.
Verwandt mit der Freude, im Deutschen sogar sprachlich ver-
wandt, ist der Friede. >>Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden
gebe ich euch, so wie die Welt ihn nicht zu geben vermag, gebe ich
ihn euch« (14,27).Auch den Frieden kennzeichnetJesus also als eine
Gabe, die alle weltlichen Friedensmöglichkeiten hinter sich läßt.
Friede, wir wissen es, ist in der Bibel die große Gottesstiftung, die
alles umfaßt, was zwischen Wohlbefinden und seliger Gotterfüllt-
heit liegt, denn das alles gehört zum Schalom. Wie könnte man nach
den Erfahrungen der vergangenen Monate vom Frieden J esu Christi
reden, ohne sich zu erinnern, daß das Friedensangebot Jesu neue-
stens eine ganze Welt, die deutsche Welt einbegriffen, aus den
Angeln gehoben hat. Nicht als wäre die Friedensgabe Jesu ein politi-
sches Programm, aber geistlicher Friede setzt sich um, greift um
sich, überflutet das Land und >>der Friede hat kein Ende<< (Jes 9,6).
Soviel in unvermeidbarer Knappheit zum Zentralbegriff ewiges
Leben im Johannes-Evanglium. Das Wort scheint auf den ersten
Blick nur erbauliche Rede zu sein, aber es birgt eine gewaltige
Dynamik in sich und es trifft die Wertvorstellungen und Lebensziele
des modernen Menschen in ihrem Kern. Diesen Kern freizulegen
und ihm das Angebot Jesu zuzuordnen, das ist das Amt der Verkündi-
gung in der gegenwärtigen Welt.
Um das Thema ewiges Leben abzurunden, ist aber noch nach
dem eigentlichen Quellgrund zu fragen, dem das Angebot Jesu ent-
springt. Es ist die Liebe Gottes und der Niederstieg dieser Liebe vom
Oben Gottes her in das Unten der Menschen hinein. Diese Liebe Got-
tes agiert der Welt gegenüber in der Person, in der Sendung und im
Wirken Jesu Christi: >>So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen
einzig gezeugten Sohn dahingab, damit jeder der an ihn glaubt,
nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat« (3,16). Diese
Liebe ist bei J esus immer am Werk und er hält sie durch bis zu ihrer
höchsten Steigerung. >>Da J esus die Seinen liebte, liebte er sie bis zur
Vollendung«, wenn wir nicht lieber übersetzen sollten: ging er in der
Liebe bis zum äußersten (13,1). Dieser Satz eröffnet und deutet vor-
weg den Bericht von der Fußwaschung, wo Jesus, die Schürze umge-
bÜnden, reihum geht, mit dem Wassergefäß hantierend und jedem
der Jünger den Dienst leistend, den im palästinensischen Haus der
72 Bernhard Hanssler

unterste aller Sklaven zu tun hatte. Daß Jesus, >>der Herr und der
Meister<<, wie er nicht versäumt zu betonen (13,13), diesen Dienst
übernimmt, der zugleich Vorspiel und Deutung des Kreuzes ist, stellt
die Welt auf den Kopf, so wie Gottes Liebe sie eben auf den Kopf stellt.

GLAUBE

Weil Gott der Liebende ist, ist er der Gebende. Das Geben ist der
Grundgestus Gottes im Johannes-Evangelium. Dem Geben Gottes
entspricht das Nehmen des Menschen. Die Bereitschaft, zu nehmen,
anzunehmen, aufzunehmen, entgegenzunehmen, ist die erste Vor-
aussetzung für die Entstehung religiöser Erfahrung. >>Denen, die ihn
aufnahmen, gab er die Möglichkeit Kinder Gottes zu werden, denen
nämlich, die an seinen Namen glauben<< (1,12). Wie man sieht, ist in
diesem Satz der Begriff des Nehmens und Ernpfaugens bereits
gedeutet mit dem Begriff des Glaubens. Vom Glauben also muß die
Rede sein, wenn die Grundzüge der johanneischen Theologie sicht-
bar werden sollen.
>>Der Glaube kommt vom Hören<< ist das berühmte Axiom des
Römerbriefes (10,17). Bei Johannes ist es nicht anders. Wie sollte
sonst die göttliche Gabe empfangen werden, wenn_ nicht im Hören.
Gott macht sein Angebot im Wort und in der Botschaft Jesu, also
durch Sprache und Rede. So kommt aufnehmen und glauben durch
das Hören zustande. Das Zeitwort hören kommt übrigens in keiner
anderen neutestamentlichen Schrift so häufig vor, wie bei J ohannes.
Außerdem hat es mit dem Hören bei Johannes eine besondere
Bewandtnis. Dem Reden Jesu entspricht das Hören des Menschen,
aber ehe er redete, war Jesus selber der Hörende im Verhältnis zum
Vater (3,32; 8,26. 40; 15, 15). Anders gesagt: das Sprechen J esu ist die
Wiedergabe dessen, was er selber gehört hat. Wie Jesus dem Vater
gegenüber, ist der Mensch Jesus gegenüber ein Hörender. Daher gilt:
wer auf Jesu Wort hört, hat das ewige Leben (10,27 f) und da das
Hören den Glauben begründet, gilt entsprechend: »Wer glaubt, hat
das ewige Leben<< (3,15 f; 6,40. 47; 20,31).
Das aber, was im Aufnehmen- Hören- Glauben geschieht, kann
auch mit dem Wort Erkennen bezeichnet werden. Erkennen, davon
war schon die Rede, ist in der Sprache des J ohannes soviel wie inne-
werden. Es ist Innigkeit und fast dasselbe wie Liebe. Und weil es
Liebe ist, steht das Erkennen unter dem Gesetz der Wechselseitig-
Bernhard Hanssler 73

keit: >>Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich<< (10,14).
So fängt der Begriff des Glaubens an, sich zu füllen und sich zu ver-
lebendigen. Glaube ist auch im Johannes-Evangelium der religiöse
Grundakt. Auch zum Glauben gibt es eine Reihe von Stichwörtern,
die den Begriff verdeutlichen.
So heißt glauben, zu Jesus kommen. »Wer zu mir kommt, wird
nicht mehr hungern und wer an mich glaubt, wird nicht mehr dür-
sten<< (6,35). Hier handelt es sich um jene bekannte Redeform des
Hebräischen, bei der ein Gedanke in zwei aufeinanderfolgenden
Zeilen zweimal, aber jeweils mit anderen Worten wiedergegeben
wird. Eben deswegen ergibt sich aus diesem Wort J esu eindeutig,
daß Glauben dasselbe ist, wie zu ihm kommen. Zu ihm kommen
aber heißt, ihm nachfolgen. So ist auch das Wort nachfolgen eine
häufige Wiedergabe für Glauben (12,26; 13,36 f; 21,19-22). Kommen
und Nachfolgen sind Begriffe, die ein Element der Bewegung zum
Ausdruck bringen. Glaube ist Aufbruch zu Christus hin.
Dabei beansprucht das Wort von der Nachfolge noch eine beson-
dere Aufmerksamkeit. Mit Nachfolge wird in allen Evangelien der
Existenzvollzug des Jüngers beschrieben, Nachfolge ist im Evange-
lium nicht Nachahmung eines Vorbildes, sondern die liebende Aus-
lieferung des Jüngers an den Meister. Jünger sein, heißt im Meister
aufgehen. Aber so sehr der Jünger sich dem Meister ausliefert, die
Beziehung führt nicht zu seiner Versklavung. Denn die Beziehung
Meister -Jünger ist ein Liebesbündnis. Daher: »Ich nenne euch
nicht Sklaven, sondern Freunde<< (15,15). Das ist ein Wort von hohem
Klang. Freilich, was Freundschaft heißt, weiß der heutige Mensch
nicht mehr. Man muß sich bei Aristoteles oder Cicero umsehen, um
zu bemerken, daß 'Freundschaft für die Antike eines der höchsten
Lebensgeschenke war.
Daß der Jünger im Meister aufgeht, drückt sich darin aus, daß er
unter der Weisung seines Meisters lebt, in der Sprache des J ohannes
ausgedrückt, daß er die Gebote des Meisters hält. »Wer meine Gebote
hat und sie hält, der ist es, der mich liebt<< (14,21, ähnlich 14,15;
15,10). Die Gebote sind also nicht moralistische Vorschriften, sie
sind Ausdruck der personalen Beziehung Meister -Jünger. In der
Liebe zu Jesus und in der Liebe untereinander bewährt sich der
Stand der Jüngerschaft.» Dar an werden alle erkennen, daß ihr meine
Jünger seid, daß ihr die Liebe habt zueinander<< (13,35).
Glauben heißt, zu Jesus kommen, sich Jesus verweigern, ist das
Wesen des Unglaubens. Nicht irgendeine weltanschauliche Skepsis,
74 Bernhard Hanssler

nicht die Abhängigkeit von Ideologien, nicht eine agnostische


Grundhaltung im weitesten Sinn ist das Wesen des Unglaubens, son-
dern die Zurückweisung Jesu Christi. Der Sammelbegrifffür diese
Einstellung ist bei Johannes der Begriff der Welt.
Johannes kennt das Wort Welt durchaus auch in einem neutralen
Sinn, als Wort für die Schöpfung überhaupt oder als Wort für die
Menschenwelt (z.B. 3,16; 8.1.2). Meistens aber bezeichnet Welt die
Verschlossenheit, den verstockten Widerstand gegen Gott und gegen
Jesus Christus.»Er kam in die Welt und die Weltist durch ihn gewor-
den, aber die Welt hat ihn nicht erkannt<< ( 1,1 0). Glauben heißt hören,
aber die Welt will nicht hören (18,47). Glaube ist Liebe, aber die Welt
ist der Haß (15,.23 f). Der Glaube vermittelt den Frieden, aber einen
Frieden, zu dem die Welt kein Verhältnis hat (14,27). Aus alledem
kommen wir zu der wichtigen Feststellung: Welt ist im Johannes-
Evangelium kein Seins begriff, sondern ein Existenzbegriff. Welt ist
man nicht, Welt wird man in der Entscheidung gegen Jesus Christus.
Glaube steht also gegen Unglaube. Das ist für unser modernes
Empfinden eine Entgegensetzung, die etwas Erschreckendes an
sich hat. Dazwischen nämlich gibt es für J ohannes nichts, keine neu-
trale Zone. Hier ist Streit und Widerstreit. Dem modernen Menschen
ist das eine fast unzugängliche Vorstellung. Immerhin, selbst Goethe
sagt: >>Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Men-
schengeschichte, dem alle anderen untergeordnet sind, bleibt der
Konflikt des Unglaubens und des Glaubens<< (Noten zum Westöstli-
chen Divan). Damit ist die Denkform des Johannes-Evangeliums
überraschend genau getroffen. In diesem Evangelium wird in
Kontrasten gedacht. Aber die Gegensatzpaare Leben -Tod, Wahrheit
-Lüge, Licht -Finsternis, Liebe -Haß haben eigentlich den Sinn,
dem jeweils positiven Begriff schärfere Kontur zu geben und damit
seine Erlebbarkeit zu steigern.
Nicht um den Unglauben geht es, sondern um den Glauben, nicht
um die Welt, sondern um Jesus Christus. Seine Gabe, nämlich das
ewige Leben uns nahezubringen, ist die leitende Absicht des Evan-
gelisten. Ewiges Leben aber, das ist alles, wonach wir hungern und
dürsten, alles, worin unser tiefstes Verlangen Erfüllung findet, Wahr-
heit, Freiheit, Freude, Frieden, zuerst und zuletzt aber Liebe. Der
Christenstand erschöpft sich nicht darin, daß ein Mensch in äußerer
Rechtgläubigkeit lebt, daß er konfessionelle Festigkeit aufweist, daß
er loyale Kirchlichkeit praktiziert. Der Christenstand ist jene heilige
Unbegreiflichkeit, daß ein Mensch mitten in allen Weltzusammen-
Bernhard Hanssler 75

hängen, in denen er steht und die ihn binden und verpflichten,


unendlich hinausgehoben ist über alles, was Welt und Erfahrung
heißt im seligen Ineinander mit dem Herrn J esus Christus. Denn die-
ses Ineinander ist die höchst Möglichkeit der Jüngerschaft.>> In jener
Stunde werdet ihr erkennen, daß ich in meinem Vater bin und daß
ihr in mir seid und ich in euch<< (14,20).>>Bleibet in mirund ich bleibe
in euch<< (15,4). So und ähnlich wird das Ineinander immer von
neuem beschrieben, unmittelbare Wirklichkeit aberwird es dort, wo
der Mensch, der durch Hunger und Durst gekennzeichnet ist, der
Einladung J esu folgt: >>Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der
bleibt in mir und ich bleibe in ihm<< (6,56). Und wieder: Indem wir
mitten in der Menschenwelt uns befinden, befinden wir uns mitten
in der Wirklichkeit J esus Christus, und das alles nicht irgendwann
in der Zukunft und irgendwo im Himmel, sondern heute und hier,
vorausgesetzt wir halten uns an das Beispiel der Urkirche, von der
gesagt ist: >>Häuserweise brachen sie das Brot, nahmen die Speise
mit Frohlocken und in Lauterkeit des Herzens, lobten Gott und stan-
den in Gunst beim ganzen Volke<< (Apg 2,46).
76 Bernhard Hanssler

Die Leidensgeschichte nach J ohannes unter-


scheidet sich in vielen Punkten von der Darstel-
lung der drei anderen Evangelien. Wir können uns
mit den Unterschieden im einzelnen nicht befas-
sen, es muß genügen, darauf hinzuweisen, daß
Johannes zum Beispiel den Todeskampf Jesu in
Getsemani nicht erwähnt, ebenso nicht den jüdi-
schen Prozeß unter dem Hohenpriester Kajafas.
Überhaupt fällt auf, daß Johannes es vermeidet,
die schrecklichen Torturen eingehend zu schil-
dern, die man Jesus antat. Die Vorgänge nennt er,
aber die Einzelheiten verschweigt er.
Die Bibelwissenschaft nimmt an, daß dem Evan-
gelisten ein eigener Passionsbericht vorlag, den er
in das Evangelium einarbeitete und stellenweise
für seine eigene literarische Absicht umformte.
Die leitende Absicht ist es im .Passionsbericht wie
im ganzen Evangelium, das Christusthema immer
neu zu beleuchten.

ERHÖHUNG

Wir schalten unserem Bericht über die Johan-


nespassion die Erklärung eines J esuswortes vor,
an dem wir wie am Modell das literarische Verfah-
ren des Evangelisten vorführen können. Es han-
delt sich um das bekannte Wort von der ehernen
Schlange. In moderner Übersetzung lautet es wie
folgt: >>Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht
hat, so muß der Menschensohn erhöht werden,
damit jeder, der glaubt, in ihm das ewige Leben
hat<< (3,14f). Jesus nimmt also Bezug auf eine
Episode des Wüstenzugs Israels, die wir aus 3. Mos
21,4-9 kennen. Gott hatte zur Strafe Giftschlangen
unter das murrende Volk geschickt. Wer von ihnen
gebissen wurde, starb. Mose wandte sich an Gott
und bekam den Auftrag, eine Schlange aus Kupfer
zu fertigen und sie an einem Pfahl aufzuhängen.
Wer gebissen worden sei und zu ihr aufschaue,
77

werde am Leben bleiben. An dem ganzen, für uns dem Hergang nach
undurchsichtigen Vorgang greift Jesus nur zwei Motive auf: die
Stange (oder den Pfahl) und das Moment des Aufhängens oder in
seiner Sprache des Erhöhens. Erhöhen bezeichnet hier ganz eindeu-
tig das Aufhängen am Kreuz, denn darin liegt ja der Vergleichspunkt
mit der ehernen Schlange. Die tiefere Gemeinsamkeit zwischen bei-
den Vorgängen aber besteht darin, daß der Mensch im Aufblick zum
Kreuz Rettung erfahren kann, wie die Israeliten im Aufblick zu der
Schlange vom leiblichen Tod errettet werden konnten.
Also: das Wort Erhöhung ist doppelsinnig gemeint. J esus hatte an-
gekündigt, er werde von der Erde erhöht werden (12,32). Am Kreuz
ist er ein paar Handbreit über den Erdboden erhöht worden, aber
eben dadurch vollzog sich die Inthronisation, die Versetzung in die
Herrlichkeit Gottes hinein.
So arbeitet der Evangelist: die Dinge und die Worte, auf die es an-
kommt, haben ein über die Wörtlichkeit hinausgehendes Volumen.
Sie sind Symbole, d.h. sie haben Sinnschichten und Sinnaspekte, die
ähnlich unerschöpflich sind, wie die Bilder der Dichtung. Auf dieses
symbolistische Prinzip der Darstellung muß der Leser Schritt für
Schritt achten, sonst entgeht ihm die Hauptsache.

ABLAUF DER PASSION

Von dieser Erkenntnis geleitet, wollen wir die Hauptphasen der


Leidensgeschichte nach Johannes genauer in den Blick zu bekom-
men suchen. Zunächst die Verhaftung. Die Rotte rückt heran, von
Judas angeführt. Jesus tritt vor und fragt: >>Wen suchet ihr?« Sie ant-
worten: »Jesus von Nazareth«. Es war die Frage nach der Identität,
sozusagen nach den Papieren. Jesus antwortet: »Ich bin es<<, und sie
weichen zurück und stürzen zu Boden.
Fielen sie wirklich um? Schlugen sie einfach zu Boden? Was
wirklich vorging, wissen wir nicht, aber das ist auch gar nicht der
Gesichtspunkt der Darstellung! Vielmehr soll deutlich gemacht wer-
den, was in dem »Ich bin<< Jesu steckt, nämlich jener Anspruch, der
dem Menschen den Boden unter den Füßen wegzieht. Das Gewicht
dieser Selbstaussagen war ein Thema des ersten Vortrags, woran
jetzt erinnert sein mag. Jesus wiederholt die Frage, die Antwort ist
dieselbe. Darauf Jesus: »Wenn ihr mich sucht, dann laßt diese
gehen.<< Ein letztes Mal also bewährt er sich als der gute Hirt, der
78 Bernhard Hanssler

sein Leben geben wird für die Seinen, von denen keiner verloren
gehen soll.
Die Passion kommt in Gang. Petrus will sie verhindern, ein weite-
res Mal nach Mt 16,21, diesmal mit Gewalt. Er zieht das Schwert, er
schlägt zu, er hat einen lächerlichen Erfolg, nur das rechte Ohr des
Malchus war die magere Beute. Alsbald erteilt Jesus dem Petrus
einen strengen Verweis: >>Steck das Schwert in die Scheide oder soll
ich den Kelch nicht trinken, den der Vater mir gereicht hat?<< (18,11).
Eine beiläufige, aber eine fundamentale Lehre: Die Kirche darf
nicht das Schwert führen, versucht sie es dennoch, handhabt sie es
unbeholfen, macht sie sich selbeor lächerlich und zieht sich den
Tadel Jesu zu. Nicht im Schwert, also in der Gewalt, sondern im
Kreuz, also in der äußersten Wehrlosigkeit und Gewaltlosigkeit hat
das Christentum sein Symbol.
Jesus wird abgeführt, zunächst zu Hannas, dem Ex-Hohenprie-
ster (wovon die Synoptiker nichts wissen). Jetzt kommt es zur drei-
maligen Verleugnung Jesu durch Petrus. Dem Petrus sagt man auf
den Kopf zu, daß er ein Jünger Jesu sei. Er antwortet: >>Ich bin es
nicht.<< Eben noch hatte Jesus in Getsemani die eigene Identität in
feierlichster Form mit seinem >>Ich bin es<< bezeugt, Petrus leugnet
seine eigene Identität als Jünger Jesu und sagt: >>Ich bin es nicht.<<
Und der Hahn kräht: Petrus verrät Jesus, der Hahn verrät den Petrus,
ein unvergeßlicher Zug im Bild und einer, der keines Kommentars
bedarf.
Bei den anderen Evangelisten hat der Hahnenschrei den Petrus
aufgeschreckt. Er wurde sich des Verrates an Jesus bewußt und er
weinte bitterlich. Nichts davon bei J ohannes. Petrus ist der Verleug-
ner und er bleibt es. Wie ein stehendes Bild bleibt er in der Szene,
und erst nach der Auferstehung J esu kommt die Wende, als J esus
ihn dreimal fragt: >>Liebst du mich mehr als diese?<< Als Jesus zum
drittenmal fragte, heißt es da, wurde Petrus traurig, denn ihm kam
zum Bewußtsein, daß er zwar taktvoll aber unzweideutig an die
fatale Dreizahl der Verleugnungen erinnert werden sollte (21,15 ff).

PILATUS

Inzwischen wird Pilatus, der römische Statthalter eingeschaltet.


Palästina ist von den Römern besetzt, seit Pompeius das Land dem
römischen Imperium eingegliedert hatte. Das Recht, Todesurteile zu
Bernhard Hanssler 79

fällen war jetzt der Besatzungsmacht vorbehalten. Pilatus ist, wie er


selber sagt (18,25) davon unterrichtet, daß Jesus ständig vom König-
reich Gottes gesprochen hatte. So lag der Verdacht nahe, daß er sich
selber als König fühle, und das war für die Römer bereits der
Verdacht auf Umsturzabsichten, auf den Versuch, das Joch der
Fremdherrschaft abzuschütteln. Konsequent geht Pilatus ohne Um-
schweife aufden Kern der Sache zu mit der Frage: >>Bist du der König
der Juden?<< (18,33). Jesus schafft Klarheit, indem er sagt: >>Mein
Königreich ist nicht aus dieser Welt.<< »Aber ein König bist du?<<, faßt
Pilatus nach.Jesus, bedachtsam wie ein vorsichtiger Angeklagter, er-
widert: »Das hast du gesagt, nicht ich, es ist deine Formulierung,
nicht die meine.<< Mit dieser Äußerung für das Verhör-Protokoll kann
er jedenfalls nicht belangt werden als angeblicher Thronprätendent.
Nun aber setzt Jesus neu an und erläutert endgültig das Wesen sei-
nes Königtums: »Dazu bin ich geboren und in die Welt gekommen,
um der Wahrheit Zeugnis zu geben.<< Darauf die berühmte Pilatus-
frage: »Was ist Wahrheit?<<.
Die Verhandlung wird unterbrochen. Pilatus erklärt den Juden, er
finde keinen Anklagegrund und er macht einen Vermittlungsvor-
schlag. Er bietet alternativ an, auf Ostern entweder Jesus oder den
Barabbas freizulassen und er hofft, sie würden lieber den harmlosen
Nazarener freibitten als den Mörder und Attentäter Barabbas.
Es war der Irrtum des Pilatus, sie ziehen den Barabbas vor. Aus der
Sicht des Evangelisten ein über alle Maßen erschreckender
Moment: die Welt trifft die falsche Wahl- eben dies charakterisiert
sie als »Welt<<. Pilatus ist fürs erste gescheitert, er muß einen anderen
Ausweg suchen. Vielleicht lassen sie mit sich reden, wenn er ihnen
in der Weise entgegenkommt, daß er J esus geißeln läßt. So ordnet er
die Auspeitschung an. Die Soldateska treibt ihre mutwilligen Späße
mit Jesus, indem sie ihn als König ausstaffiert, ihm eine Dornen-
krone aufstülpt und ihm ein rasch gegriffenes Stück roten Tuches
umhängt, das den königlichen Purpurmantel darstellen soll.
Nach der Geißelung führt Pilatus Jesus den Juden vor, ein
Häufchen Elend durch die Auspeitschung, eine Spottfigur mit der
Imitation von Krone und Purpurmantel. »Ecce homo!<<, seht
der Mensch! (19,5). Heißt das: seht die Jammergestalt! heißt es, so
sind die letzten Lose des Menschen! Ist dieser Jesus der Bruder
Prometheus in den Felsschluchten des Kaukasus? Wir brauchen dar-
über nicht zu streiten: natürlich ist all das zusammen und all das
gleichzeitig im Ecce homo enthalten.
80 Bernhard Hanssler

KÖNIGTUM JESU

Die Leute haben also irgendwie mitbekommen, was in den Amts-


räumen des Pilatus verhandelt worden war. Es ging um das König-
tum Jesu. Das Königtum Jesu ist tatsächlich das Leitthema des
johanneischen Passionsberichts. Vor Pilatus ist es Gegenstand des
Verhörs, in der Maskerade der Königskrönung wird es fortge-
sponnen, in der Person des Barabbas, des Rebellen ergänzt die Ge-
genfigur zum legitimen Herrscher den Symbolgehalt des ganzen
Vorgangs.

DIE MACHTSPHÄRE DER WAHRHEIT

Königtum ist das eine Thema beim Verhör des Pilatus, Wahrheit
das andere. Jetzt gewinnt die Szene eine welthistorische Perspektive.
In dem Gespräch über die Wahrheit werden die Institutionen der
Welt grundsätzlich und für alle Zukunft verändert. Jesus bean-
sprucht, der Wahrheit Zeugnis zu geben, also die Wahrheit öffentlich
geltend zu machen, denn Zeugnisgeben heißt öffentlich vertreten.
Die Frage des Pilatus >>Was ist Wahrheit?<< ist alles andere als Aus-
druck einer philosophischen Skepsis. Pilatus ist nicht Privatperson,
er ist der offizielle Vertreter des römischen Imperiums und als
solcher erklärt er sich für unzuständig in Sachen Wahrheit. Das
bedeutet im Ergebnis, daß er die Wahrheitsfrage freigibt, also den
Anspruch Jesu hinnimmt, der Wahrheit Zeugnis zu geben und sie
öffentlich zu vertreten. Auf die Öffentlichkeit seines Wirkens hatte
Jesus schon Hannas mit Nachdruck hingewiesen (19,20).
So ergibt sich also: in dieser Stunde, da J esus vor Pilatus steht, tre-
ten die politische Sphäre und die Wahrheitssphäre mit amtlicher
Beglaubigung auseinander. Bis dahin bestimmte entweder die Reli-
gion auch den Staat, in allen Theokratien wie zum Beispiel in Israel,
oder der Staat bestimmte die Religion, wie zum Beispiel im römi-
schen Staatskult, wo es der Magistrat war, der das Kultwesen
besorgte (Vestalinnen, Pontifex Maximus). Seit dem Pilatusgespräch
aber gibt es den profanen Staat auf der einen Seite und die Wahr-
heitssphäre auf der anderen Seite, repräsentiert durch die Kirche,
die sich als >>Säule und Feste der Wahrheit<< zu verstehen hat (1 Tim
3.15). Welcher heutige Mensch, welcher Zeitgenosse der gegenwärti-
gen politischen Abläufe, kann ohne tiefe Betroffenheit von alledem
Bernhard Hanssler 81

Kenntnis nehmen? Soeben noch gab es den Staat, faschistisch oder


kommunistisch, der sich als Besitzer der Wahrheit aufspielte, und
wehe dem Bürger, der es wagte, dem Staat die Anerkennung seiner
Wahrheit, nämlich seiner Ideologie zu verweigern. Das ist vorbei.
Die Situation ist wieder hergestellt, die in dem Gespräch zwischen
Jesus und Pilatus zum erstenmal geschaffen wurde.
Auch in diese Szene gehört Petrus. Er ist ja noch zur Stelle, er ist
als stehendes Bild übriggeblieben. Jesus legte vor Pontius Pilatus,
wie 1 Tim 6,13 sagt, das Bekenntnis ab, Petrus begeht Verrat und Ver-
leugnung. J esus ist die Wahrheit existentiell, Petrus -verleugnen
heißt leugnen und lügen -ist in diesem Augenblick existentiell der
Repräsentant der Gegenmacht zur Wahrheit, der Lüge.

ENTLARVUNG DER MACHT DES PILATUS

Kehren wir zurück zum Ablauf der Passion. Dem Pilatus wird die
Sache immer unheimlicher. Er versucht immer wieder, sich aus der
Affäre zu ziehen. Zuerst versucht er die Sache an die jüdischen
Instanzen abzuwälzen (18,31; 19,16), dann den Fall einfach nieder-
zuschlagen. Nach dem letzten Gespräch, dem Diskurs über die
Wahrheit, ist Pilatus vollends verunsichert. Hatte er im ersten Verhör
noch inquisitorisch gefragt: >>Was hast du getan?<< (18,35), so fragt er
jetzt an allen Tatbestandsfragen vorbei: >>Woher bist du?<< (19,9). Das
mag so dahergefragt sein, halb aus Verlegenheit, halb aus heimli-
cher Bewunderung, aber die Frage stößt mitten hinein in die Katego-
rie der Selbstauslegung J esu. Auf die Frage nach seinem Woher hatte
er mehr als einmal geantwortet: >>Ihr stammt von unten, ich stamme
von oben<< (8,23, vgl. 3,13.31). Diesmalläßt Jesus die Frage unbeant-
wortet. Pilatus pocht auf seine Macht, indem er Jesus darauf auf-
merksam macht, daß er ihn völlig in der Hand habe. Darauf Jesus:
>>Du hättestkeine Macht über mich, wenn sie dirnichtvon oben gege-
ben wäre<< (19,11). Das ist wieder eine Situation nach dem Herzen
des Evangelisten. Pilatus ist der Repräsentant der Weltmacht Rom
und es steht ihm durchaus zu, diesen Anspruch geltend zu machen.
J esus dagegen befindet sich in der Situation totaler Ohnmacht, preis-
gegeben der Willkür der Juden wie des römischen Prokurators. Aber
völlig unvorhergesehen vertauschen sich die Rollen. Jesus entlarvt
die Macht des Pilatus als geliehen und somit unsicher. Er selbst weiß
auch in dieser Stunde, daß ihm >>alle Macht gegeben ist im Himmel
82 Bernhard Hanssler

und auf Erden<< (Mt 28,18), denn noch Stunden ehe er als wehrloser
Angeklagter vor Pilatus stand, hatte er daran erinnert, daß ihm der
Vater Macht über alles Fleisch gegeben habe, über alles, was Men-
schenantlitz prägt (17,2). Der Mächtige w ird als der Ohnmächtige
entlarvt, der Ohnmächtige ist der Allmächtige.

PILATUS KAPITULIERT

Pilatus kommt zum endgültigen Entschluß, Jesus freizulassen


(19,12). Pilatus ist verwirrt, verstört, verunsichert in der Konfronta-
tion mit J esus. Fast ergeht es ihm wie der Rotte in Getsemani bei der
Gefangennahme. Vor allem aber: der Mann, der sich eben noch auf
seine Macht berief, geht in die Knie vor den Vertretern des Juden-
tums. Machtpose dort, Feigheit hier. Die Juden wissen freilich, wie
sie ihn in die Zange nehmen können. Sie setzen ihm zu mit dem Hin-
weis, der den Charakter n icht nur einer Drohung, sondern einer
Nötigung annahm: »Wenn du diesen freiläßt, bist du kein Freund des
Kaisers mehr<< (19,12). Freund des Kaisers, das war ein Titel, ihn ab-
erkannt zu bekommen, bedeutete mindestens die gesellschaftliche,
manchmal auch die physische Vernichtung. Die Drohung zeigt Wir-
kung, Pilatus setzt sich auf den Richterstuhl, er wird jetzt also hoch-
amtlich, er läßt J esus herausführen, stellt ihn den Juden nocheinmal
in aller Form vor: >>seht euren König<< (19,13 f). Das hätte er nicht sa-
gen sollen, mit diesem Stichwort löste er ein wütendes Geschrei aus :
>>Hinweg, hinweg, kreuzige ihn!<< Pilatus: >>Was, euren König soll ich
kreuzigen?<< Darauf die Juden, fanatisch, verblendet, unüberlegt:
>>Wir haben keinen König außer dem Kaiser.<< Das hätten sie nicht
sagen sollen. Sie hatten jetzt ihren Kaiser in der Person des Tiberius,
aber sie werden ihn bald bekommen in schlimmerer Gestalt, den
Claudius, der die Juden aus Rom vertrieb, den Vespasian und den
Titus, die dem Judentum den Todesstoß geben werden, Jerusalem
zerstören und den Tempel dem Erdboden gleichmachen werden.

DIE KREUZIGUNG

Das Schicksal Jesu ist besiegelt. Er wird nach Golgatha geschafft


und zwischen zwei Schächern gekreuzigt. Johannes vermeidet im
Unterschied zu den anderen Evangelisten jedes Detail des unbe-
Abb. 5 Lucas Granach d.Ä., Hauptbild des Flügelaltars in der Weimarer Stadtkirche
St. Peter und Pani, 1553/54.
84 Bernhard Hanssler

schreiblich grauenvollen Vorgangs, den eine Kreuzigung darstellte.


Nicht auf die Qualen kommt es an, sondern auf die »Erhöhung<<.
Denn sie bleibt der Gesichtspunkt seiner Darstellung, sie ist damit
auch der Erklärungsgrund für die Aussparung aller Einzelmomente
des Hergangs. Wohl aber wird ausdrücklich festgestellt, daß Pilatus
nach Brauch und Vorschrift eine Tafel am Kreuz anbringen ließ, die
den Hinweis auf den Hinrichtungsgrund anzugeben hatte. Solche
Tafeln wurden dem Hinrichtungszug vorangetragen oder dem
Delinquenten um den Hals gehängt. Der Bericht über diese Maß-
nahme und die damit zusammenhängenden Probleme ist doppelt so
lang wie der Bericht über die Kreuzigung selbst. Die Sache hat also
für den Evangelisten großes Gewicht.
Der Text, von allen vier Evangelien mit leichten Abwandlungen
inhaltlich gleich wiedergegeben, lautet: >>Jesus von Nazareth, König
der Juden.<< Das also ist die Kreuzigung im Verständnis des Johan-
nes-Evangeliums: Erhöhung in der Erniedrigung, und Pilatus sel-
ber, Rom selber, machte es amtlich, daß Jesus der Messias-König ist.
An dieser Sache aber entzündet sich ein letzter Streit zwischen
Pilatus und den jüdischen Autoritäten. >>Schreibe nicht, 'König der
Juden', sondern er habe gesagt, er sei der König der Juden.<< Jetzt,
jetzt erst nimmt Pilatus Haltung an und erteilt den Beschwerdefüh-
rern die schroffe Antwort: »Was ich geschrieben habe, habe ich
geschrieben.<< Das ist in der Form eine unvergleichliche Tautologie,
für den Evangelisten aber der Beweis, daß Rom selber mit Brief und
Siegel die Messianität Jesu bestätigt.
Viele Leute lasen die Inschrift. Mit diesem Hinweis will der Evan-
gelist den öffentlichen Charakter der Vorgänge betonen. Der Tod ist
amtlich besiegelt, amtlich publiziert und öffentlich zur Kenntnis
genommen.
Noch eine andere Einzelheit wird im Johannes-Evangelium fest-
gehalten, die die drei anderen Berichte nicht wiedergeben. Die Auf-
schrift der Tafel war hebräisch, lateinisch und griechisch. Hebräisch
(aramäisch) ist die Landessprache und die Heimatsprache Jesu.
Lateinisch ist die Amtssprache im besetzten Palästina, Griechisch
ist die Verkehrs- und Handelssprache. Hebräisch ist die heilige Spra-
che, deren Schrifttum, das Alte Testament, von Jesus Christus han-
delt (5,39). Lateinisch ist die politische Sprache. Griechisch ist die
Sprache der Bildung und der Kultur. So kommt zum Ausdruck, daß
der Tod J esu und der Sieg im Tod ein ökumenisches Ereignis in
jedem Sinne ist. Jerusalem, Rom, Athen, das sind die großen Städte
Bernhard Hanssler 85

der Geschichte und ihrer Geheimnisse. Sie werden durch ihre jewei-
ligen Sprachen am Kreuz Jesu repräsentiert. Feierlicher könnte das
Wort vom Kreuz nicht verkündet werden. Umso verständlicher, daß
es Leute gibt, nämlich die Hohenpriester, die die Annullierung des
Dokumentes betreiben.
Einige kleinere Züge, die man nicht überbetonen darf, die aber ins
Bild gehören, runden den Bericht ab. Die Soldaten verteilen die
Kleider Jesu, sie machen vier Teile daraus, für jeden einen. Das Un-
tergewand aber, das aus einem Stück gewoben und ohne Naht war,
zerschnitten sie nicht, sondern verlosten es als Ganzes. Die Absicht
des Berichtes ist klar: das Vermächtnis Jesu, symbolisiert in seinen
Kleidern, ist ein ungeteiltes Ganzes, aber alle vier Himmelsrichtun-
gen werden damit »gewandet<<. Darin besteht für den Evangelisten
das Geheimnis des Vorgangs, ihm geht es nicht um die Feststellung,
daß in solchen Fällen die Wachmannschaften Anspruch auf die
Hinterlassenschaft des Hingerichteten hatten.
Auch der Auftrag des sterbenden Jesus an die Mutter und an den
Jünger, den Jesus liebte, ist nicht Nachlaß- und Versorgungsrege-
lung, sondern Geheimnis. >>Frau, sieh dein Sohn! Sohn, sieh deine
Mutter!<<, das ist nicht nur die Begründung aller Marienverehrung,
darin ist auch schon die »Mutier Kirche<< vorentworfen, ähnlich wie
in Gal4,26, wo vom oberen Jerusalem als unserer Mutter die Rede
ist.
Der Sterbende ruft: »Mich dürstet!<<. Auch dieses Wort hat sein
Geheimnis. Es führt bezeichnenderweise wieder einmal zu einem
Mißverständnis. Sie reichen ihm den Betäubungstrank, wo er doch
einen ganz anderen Durst meint, nämlich sein Verlangen nach dem
Heil der Welt (vgl. Lc 12,50).
Der letzte Augenblick ist gekommen, das letzte Wort kommt aus
diese_m Munde, der gesprochen hatte wie nie ein anderer zuvor
(7,46). »Es ist vollbracht<<, es ist überstanden, es ist vorbei, das ist ge-
wiß der primäre Sinn. Aber das Wort umschließt unendlich viel
mehr. »Da er die Seinen liebte, ging er in seiner Liebe bis zum äußer-
sten, bis zur Vollendung<< (13,1), auch dieses ist gemeint. Jetzt ist der
letzte Akt dieser Liebe vollzogen. Dabei enthält das griechische Wort,
das Johannes gebraucht, auch den Begriff des Zieles in sich: es ist
vollbracht, ich bin am Ziel, das Heilswerk der Erlösung ist an sein
Ziel gekommen.
>>Er neigte sein Haupt und gab seinen Geist auf<<, so lautet die leise,
ehrerbietige Schlußkadenz der Passionsgeschichte. Einige Ausleger
86 Bernhard Hanssler

freilich weisen darauf hin, daß es in der Antike den Ausdruck »den
Geist aufgeben« als Beschreibung des Todesmomentes nicht gebe.
Also müsse man übersetzen: er hinterließ den Heiligen Geist -der ja
nicht kommen konnte, ehe Jesus gestorben war (7,39; 16,7).
Zwei theologisch wichtige Momente schließen den Passionsbe-
richt ab. Man zerschmettert den beiden Mitgekreuzigten die Schen-
kel, wie es üblich war als eine Art Gnadenstoß. Jesus aber, weil er
schon tot war, wurden die Schenkel nicht zerschlagen, also folgert
der Evangelist, war er das Passah-Lamm, denn bei der Schlachtung
des Osterlammes war streng vorgeschrieben, dem Opfertier kein
Bein zu zerbrechen. So wie Paulus den wahrlich überraschenden
Satz geschrieben hat: »Unser Osterlamm, das geschlachtet wurde,
ist Christus« (1 Kor 5,7), so will auch J ohannes darauf hinweisen, daß
der Tod Jesu Erfüllung und Überbietung der Passahfeier war. Das
hat ihn sogar veranlaßt, das Todesdatum Jesu abweichend von den
anderen Evangelisten auf den 14. Nisan zu legen. Nach Johannes
starb Jesus zu gleicher Stunde, da im Tempel die Osterlämmer
geschlachtet wurden.
Jesus ist tot, ihm durfte kein Bein zerschlagen werden, denn er
war das Passah-Lamm. So erfolgt, um letzte Sicherheit zu haben, daß
er nicht etwa nur scheintot war, der Herz stich. Dieser Vorgang wird
zum abschließenden offenbarenden Akt des Vollzugs der Erlösung
am Kreuz. Aus der Seite Jesu floß Blut und Wasser, sagt der Evange-
list. Das ist unmöglich, sagt Albert Schweitzer, und er, der Arzt, muß
es wissen. Aus einer Leiche könne keine Flüssigkeit mehr austreten.
Die Auskunft wird richtig sein, nur stört sie gewiß den Evangelisten
nicht. Er schreibt keinen Leichenschein, er verkündet eine Bot-
schaft. Sie lautet: aus dem Tod strömt neues Leben. Blut war nach
hebräischer Vorstellung der Sitz des Lebens. Wasser, lebendiges
Wasser, ist die Gabe des Erlösers, wie er sie der Samariterirr angebo-
ten hatte. Davon will der Evangelist sprechen. Die Auslegung auf die
Taufe und auf die Eucharistie ist naheliegend, aber sie ist mit Sicher-
heit sekundär.
Die Botschaft der Passionsgeschichte nach Johannes also lautet:
Die Erniedrigung war die Erhöhung, die Verhöhnung war die
Königshuldigung, das Kreuz war der Thron, der Geschundene und
Erniedrigte war der König, der Tod war die Auferstehung. Dieses
Ineinander des Geschehens, diese unauflösbare Ganzheit der Erlö-
sung ist das Kerygma des Berichtes. Es stellt die johanneische
Sonderform dar, es bildet aber eine Einheit mit den anderen Darstel-
Bernhard Hanssler 87

lungsformen der Kreuzesbotschaft im Neuen Testament. Paulus gibt


keine andere Auslegung, wenn er sagt: >>Christus gestorben, nein
besser gesagt zum Leben auferweckt<< (Röm 8,34).
Der Bericht ist Kerygma, nicht Chronik. Der Satz, mit dem er
schließt, spricht deutlich genug zu uns: >>Noch viele andere Zeichen,
die nicht in diesem Buch aufgeschrieben sind, hat Jesus vor seinen
Jüngern getan. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, daß
Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes und damit ihr durch den
Glauben in seinem Namen das Leben habt<< (20,30 f).
88 Peter Kreyssig

ALLGEMEINE EINFÜHRUNG

Will man J ohann Sebastian Bachs musikalische


Deutung der Passion Jesu im Zusammenhang mit
der theologischen Sicht und der Auslegungstradi-
tion seiner Zeit erkennen und beurteilen, so
braucht man dazu einen eigenen Standort und ein
eigenes Verhältnis zu dem biblischen Stoff, um den
es geht. Denn die Aufgabe des Musikers lautet ja in
diesem Fall- wie beim Theologen als Verkündiger
auch -nicht auf unverbindliches Zitieren histori-
scher Äußerungen, sondern auf Vergegenwärti-
gung, die durch die eigene Person mit gedeckt und
verantwortet wird. Als heutige Menschen, d.h. als
Menschen mit Geschichtsbewußtsein beginnt
aber die Bemühung um einen eigenen Standort für
uns immer in einem Dialog mit der ursprüng-
lichen Quelle. Und so ist unser heutiges Thema
entstanden, nehme ich an: Wir wollen wissen, was
der Autor des Evangeliums sagen wollte, um selbst
darauf antworten zu können und so einen Stand-
punkt auch gegenüber Bachs Werk zu finden.
Die Frage: Wer war der Evangelist Johannes
und was wollte er mit seinem Evangelium, speziell
mit seinem Passionsbericht, ist unglücklicher-
weise eine der schwierigsten und bis heute offen-
sten und am meisten umstrittenen Fragen der
neutestamentlichen Wissenschaft. Um Sie auch
nur einigermaßen ins Bild zu setzen, muß ich
vieles in Aussageform vortragen, was im Detail
noch umstritten sein mag; ich versuche dabei,
mich auf dem Boden des bisher errungenen Kon-
senses zu halten und im Gespräch später noch zu
erläutern, was ich als Nicht-Experte in diesem spe-
ziellen Wissenschaftszweig erläutern kann.
Erster wichtiger Schritt: Wie müssen wir uns
die Entstehung des literarischen Phänomens
>>Evangelium<< vorstellen? Am Anfang war nichts
anderes als das gesprochene Wort; weitererzählte
Botschaft. In einer Zeit, in der Schriftliches selten
89

und die Kunst, es zu lesen, rare Ausnahme war, war die wortgetreue
Weitergabe des Gehörten dafür zu für uns unvorstellbarer Sorgfalt
entwickelt. Das älteste und festeste Erzählstück kurz nach der
Kreuzigung Jesu war sicher der Passionsbericht: Die erste Kunde
von dem leidenden Gerechten Jesus aus Nazaret, der als falscher
Messias von der Obrigkeit mit Hilfe der Römer getötet und alsbald
von Gott in einer wunderbaren Auferweckung als der wahre Heils-
bringer bestätigt worden war.
Dieser Passionsbericht begann ziemlich sicher mit dem Todes be-
schluß: Hohenpriester und Schriftgelehrten halten Rat, wie sie Je-
sus griffen und töteten (z.B. Mt26,4) und endete mit dem Bericht von
der Entdeckung des leeren Grabes als erstem Auferstehungszeug-
nis. Als der Autor des Markus-Evangeliums bald nach dem Jahre 70
n.Chr. das erste schriftliche Evangelium der Geschichte verfaßte,
war der Passionsbericht wohl schon weiter gewachsen und hatte die
separaten Stücke von der Salbung in Bethanien, Einzug in Jerusa-
lem, Tempelreinigung und der Frage nach Jesu Vollmacht dazu-
genommen. Außerdem gab es noch eine Sammlung von Worten,
Aussprüchen und kurzen Reden Jesu, die man aus einem sorgfälti-
gen Vergleich der drei frühesten Evangelien Markus, Lukas und
Matthäus postulieren, ja sogar weitgehend rekonstruieren kann; die
sogenannte >>Reden-Quelle<<.
Aus dieser gemeinsamen Grundmasse von Überlieferung und aus
lokalen und regionalen Einzeltraditionen- sowie der theologischen
Überarbeitung und Redaktion, die diese drei ersten Autoren dem
allen angedeihen ließen,- entstanden die Evangelien, die wir wegen
der grundsätzlich gemeinsamen Sicht der Überlieferung die drei
synoptischen Evangelien nennen. Sie sind, wie viele Werke der
Antike, anonym geschrieben; die Namen, die ihnen die altkirchliche
Überlieferung als Autoren zulegte, sind für uns auf keine Weise
mehr verifizierbar.
Auch das vierte Evangelium, als dessen Autor Johannes genannt
wird, hat eine mit den synoptischen Evangelien gemeinsame Grund-
gestalt: Alle vier setzen, wenn wir mal von Vorgeschichten und Pro-
logen absehen, mit Johannes dem Täufer ein, teilen das öffentliche
Wirken Jesu in einen galiläischen und judäischen Abschnitt, geben
diesem Auftreten J esu ein Itinerar, d.h. einen Reiseweg, und ordnen
den Stoffteils nach sachlichen, teils nach chronologischen Gesichts-
punkten. Alle vier wollen mit ihrem Bericht einerjeweiligen theolo-
gischen Deutung des Geschehens Ausdruck geben, aber alle verbin-
90 Peter Kreyssig

den damit auch ein historisch-biographisches Interesse. Von An-


beginn der Berichte werden Tod und Auferstehung J esu in diesen
Darstellungen vorbereitet und alles zielt ab auf die letzten J erusale-
rner Tage, wie sie dann im Passionsbericht festgehalten werden.
Trotz dieser Gemeinsamkeiten aber ist das vierte Evangelium
im Ganzen stark von den drei anderen verschieden: Statt mit Ge-
nealogien und Jugendgeschichten Jesu beginnt es mit einem
schwergewichtigen Prolog (Joh 1, 1-18) derwie eine Ouvertüre das
theologische Grundkonzept des ganzen Evangeliums thematisiert.
Mit dem Itinerar J esu geht dieser Evangelist viel freier und sorgloser
um, dazu beschreibt er es anders als die drei Synoptiker. Sein
Evangelium enthält lange Offenbarungsreden in einem seltsam
kreisenden Stil, einem Vokabular, das seine Wurzeln in einem jü-
disch-hellenistischen Denken und aus seiner Umwelt nicht mehr
primär jüdische Geistigkeit, sondern die Anfänge der hellenisti-
schen Gnosis widerspiegelt; für das >>die Juden<< schon ein insgesamt
anti-christliches Kollektiv darstellen und nicht mehr in Volk und
Obere zu differenzieren sind. Von dieser geistigen Umwelt werden
wir noch zu sprechen haben. Zwar gibt es auch wirkliche Anklänge
an die synoptischen Evangelien bei Johannes. Sie sind aber spärlich
und leichter mit gerneinsam rezipierter Erzähltradition zu erklären
und als etwa damit, daß »Johannes<< die synoptischen Evangelien
gekannt und literarisch benutzt hätte. Dafür sind die Differenzen
viel zu groß. Das alles macht es uns heute unmöglich, in diesem
Johannes den Zebedäussohn aus der Jüngerschar als Autor des
Evangeliums anzusehen. Zu beschreiben, was dazu alles bis heute
im Einzelnen geforscht und gedacht worden ist, würde Stunden er-
forden. Lassen Sie mich den heutigen Erkenntnisstand zusammen-
fassend zu schildern versuchen:
Als Ursprungsbereich des johanneischen Schriftturns im Neuen
Testament, d.h. unseres Evangeliums und der drei Johannesbriefe,
nimmt man heute eine Gruppe von Gerneinden jüdischen
Ursprungs in Syrien an, irgendwo um das alte Antiochia herum, die
unabhängig von Jerusalern eine eigene theologische, eben die
johanneische Schule entwickelten: Sie besaß ein eigenes Corpus
von theologischen Schriften, nämlich dieses Evangelium und die
drei Johannesbriefe; sie stammen nicht notwendig vorn gleichen
Autor, sind aber sprachlich und in der theologischen Konzeption
eng verwandt. Diese theologische Schule scheint die eigene Ge-
schichte mit der Gestalt des geheimnisvollen Lieblingsjüngers
Peter Kreyssig 91

beginnen zu lassen, die im Evangelium als bekannt erwähnt, aber


nie identifiziert wird; er bleibt anonym. Nur das später dem Johan-
nes-Evangelium angefügte Nachtragskapitel 21 identifiziert den
»Lieblingsjünger<< mit dem Evangelisten- sicher aber um damit dem
Ganzen Autorität zu sichern. Das authentische Evangelium selbst
hat und behält also für uns zwar einen einzelnen Autor mit einer
erkennbaren Theologie, aber er bleibt anonym.
Diese johanneischen Gemeinden sind irgendwann nach dem
Jahre 80 n. Chr. aus dem jüdischen Synagogenverband als christli-
che Häretiker ausgestoßen worden: Um 90 n. Chr. herum erscheint
im täglichen Achtzehn-Bitten-Gebet der Synagoge eine unter Rabbi
Gamaliel eingefügte Verfluchung der Häretiker; in der auch die
Christen genannt sind; das ist sicher der »Bann<< der Juden gegen die
Christen, von dem J oh 9,22/ 12,42/u. 16,2 die Rede ist. Das J ohannes-
Evangelium ist also nach dem Jahre 80 n. Chr. geschrieben worden.
Der älteste christliche Papyrus, um 120 n. Chr. in Ägypten gefunden
(p. 25) und auf das J ohannes-Evangelium Bezug nehmend, fixiert
den terminus ad quem. Wenn das Evangelium also zwischen 80
und 120 n.Chr. geschrieben wurde, der Zebedaide Johannes aber
schon 44 n.Chr. unter Herodes Agrippa als Märtyrer starb (vgl.
Mk 10,35-40), müssen wir der altkirchlichen Tradition an diesem
Punkt Valet sagen. 1
Dieser anonyme Autor - auch darüber ist sich heute die
Forschung weitgehend einig- hat wie seine synoptischen Kollegen,
Quellen benutzt, die er vorfand,- mündliche, vielleicht auch schon
schriftliche Traditionen: Einmal den Prolog - einen Hymnus der
Gemeinden dort; ferner eine Sammlung von Wunderberichten Jesu,
die sogenannte >>Zeichen-Quelle<<; und den Passionsbericht. Dieser
hat viele Ähnlichkeiten mit dem des Lukas, aber eine andere Chro-
nologie und stammt also auch nicht von den Synoptikern; obwohl
im Passionsbericht die vier Evangelien noch am dichtesten beiein-
ander sind - Zeichen der alten, gemeinsamen Erzähltradition.

1 Irenaeus, Adversus haereses, III, 1-2; vgl. Eusebius, V, 8.4.


92 Peter Kreyssig

DIE THEOLOGIE DES EVANGELISTEN

Das alles -verbunden durch die großen Redenkompositionen des


Johannes (nennen wir ihn ruhig weiter so), wird nun integriert in
eine eindrückliche und umfassende theologische Sicht von der
Bedeutung Jesu, seines Wirkens, Leidens, Sterbens und Auferste-
hens, wie sie die Synoptiker in dieser Geschlossenheit gar nicht
kennen.
Charakteristisch für diesen Evangelisten ist ein seltsam dualisti-
sches, >>zweistöckiges<< Weltbild: Da ist zunächst einmal die himmli-
sche, obere Licht-Welt, in der Gott zuhause ist; das Reich des Lebens,
der Freiheit, der Wahrheit. Und darunter liegt die irdische Welt, der
»Kosmos<<, als die der Herrschaft des Bösen, der Finsternis, der Lüge,
der Unfreiheit unterworfene Wirklichkeit, in der die Menschen ge-
fangen sind und aus der sie sich selbst nicht befreien können. Dieses
dualistische Weltbild ist kennzeichnend für die damals im Entste-
hen begriffene hellenistische Erlösungsphilosophie, die man Gno-
sis, d. h. Erkenntnis nennt und die mit christlichen Varianten und
Einflüssen dann später regelrechte große Systeme entwickelt. Kenn-
zeichnend für die gnostische Erlösungslehre ist, daß Einsicht und
Anteil an dieser Erkenntnis der oberen Lichtwelt, dieses Geheim-
Wissen, in sich schon Erlösung bedeutet: Anteil am göttlichen
»Logos<<, der göttlichen Weisheit, die das geheime Lebensprinzip der
oberen Welt ist (s. Diagramm).
Gegen diese sich noch entwickelnde hellenistische Erlösungs-
lehre schreibt Johannes sein Evangelium: In einer für dieses
Denken relevanten Terminologie, aber nun doch im Sinne einer Be-
schlagnahme dieses Denkens für die christliche Botschaft. Der
"Logos<<, die göttliche Weisheit, von der ihr redet- sagt der Evangelist
-das ist in Wahrheit der als Mensch unter uns erschienene J esus aus
Nazaret: Er ist der eingeborene Sohn Gottes, voller Gnade und Wahr-
heit (Joh 1,14), d.h. der ewige Logos, der vor seinem Erscheinen in
dieser Welt in Ewigkeit beim Vater war, eines Wesens mit Gott: Im
Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott und der Logos war
Gott! (Joh 1,1).
Daraus ergibt sich die Christologie, die Christuslehre des Johan-
nes, als ein theologisches Konzept aus einem Guß: J esus aus N azaret
ist in Wahrheit der von Gott aus der oberen Lichtwelt zu unserer Er-
lösung gesandte Offenbarer. Aber dieser göttliche Gesandte ist nun
nicht der Überbringer einer Botschaft, die man ihm abnehmen und
Peter Kreyssig 93

DAS GRUNDKONZEPT JOHANNEISCHER THEOLOGIE

Die Sicht des Glaubens

Gott der Sendende

göttlicher
Bereich
von Leben,
Licht,
Wahrheit
und Freiheit

DerWeg
des Sohnes
als
Gesandter
Menschheit
diabolischer
Bereich
von Tod,
Finsternis,
Lüge und
Knecht-
schaft
Durchführung des
Auftrages

Die Sicht des Unglaubens

Lebensweg Jesu
94 Peter Kreyssig

unabhängig von ihm weitergeben kann. Vielmehr ist er selbst diese


Botschaft: Ihm zu glauben, ihm sich anzuvertrauen, sich mit ihm zu
identifizieren, ist die Erlösung, die Rettung für die verlorenen
Menschen. So benutzt Johannes auch das Wort >>erkennen« und
>>Erkenntnis« (Gnosis) immer in diesem Sinne von Glauben.
Das Herz der Johannes-Christologie schlägt also in den >>Ich -
bin- Worten<< des Evangeliums: Ich bin- der gute Hirte, das Brot,
das Wasser des Lebens, das Licht der Welt, der Weg, die Wahrheit und
das Leben. Das Erscheinen Jesu in der irdischen Welt ist also nicht-
wie bei den Synoptikern- Vorbereitung der Menschen auf ein göttli-
ches Urteil über ihr Leben und die Welt am Ende der Zeiten: Nein,
sein Erscheinen selbst bringt im Augenblick der Begegnung mit den
Menschen für sie den Moment der Krisis, der göttlichen Entschei-
dung für oder gegen das Leben: >>Wer mein Wort hört und glaubt
dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt
nicht in das Gericht (Krisis!), sondern ist vom Tode zum ~eben hin-
durchgedrungen<< (Joh 5,25 als Beispiel für viele Stellen).
Diese Christologie von dem Gesandten, der selbst die rettende
Botschaft ist (niemand hat Gott je gesehen -wer mich sieht, der
sieht den Vater!) und so den Menschen den Weg zum Leben, d.h. zu
Gott öffnet, bestimmt den Duktus des ganzen Evangeliums: Von der
theologischen Ouvertüre, dem Prolog (Joh 1, 1-18) über den ersten
Teil, der vom Wirken des göttlichen Gesandten in der Öffentlichkeit
berichtet (Kap.1,18 bis Kap.12 Ende), über den zweiten Teil, der aus
einer ausführlichen Belehrung und Zurüstung der Jünger auf ihr
schließliches Alleinsein besteht, bis zum Passionsbericht und Aufer-
stehungszeugnis, die von der Rückkehr des gesandten Sohnes zum
Vater berichten (ab Kap.18, wo ja auch die Johannes-Passion einsetzt,
bis Kap. 20 Ende).
Wir müssen diesen Weg also wie ein großes U in das Diagramm
des johanneischen Weltbilds einzeichnen: Das stellt dar, was der
Glaubende als die volle Wirklichkeit, als >>die Wahrheit<< erkennt und
sieht und woraus er seine Hoffnung auf Leben schöpft. Für die
>>Kinder der Finsternis<<, die Ungläubigen, die >>Juden<< des Johanneb-
Evangeliums sieht der Weg Jesu einfach und geradlinig ins Scht1-
tern führend aus (s. Diagramm). Sie sehen nur eine ganz normale
menschliche Geburt, (ohne jedes wunderbare Begleitzeichen wie
bei den Synoptikern), und nur der Glaubende weiß, daß da der ewige
Logos in die irdische Welt eintritt. Die Ungläubigen sehen einen sehr
umstrittenen irdischen Lebensweg, dessen ungedeckter hoher
Peter Kreyssig 95

Anspruch dem Mann Jesus schließlich einen elenden Tod einträgt-


und das war es dann!
Kennzeichnend ist dennoch für das J ohannes-Evangelium, daß es
wie keines der anderen den irdischen Weg Jesu bereits als den Weg
des Erhöhten, des im Grunde seiner künftigen Herrschaft schon
gewissen heimlichen Königs zeichnet. Es läßt- auch in den drama-
tischen Auseinandersetzungen mit der feindlichen Welt - den
verborgenen Glorienschein immer schon aufleuchten, den der
Glaubende sieht. Und deshalb hatman wohlzuRecht gesagt (Jürgen
Becker, Ev. Joh., Bd. I I 56), daß Johannes >>für Insider<< schreibt;
sein Evangelium ist keine Missionsschrift. Er möchte mit diesem
Evangelium bestimmte theologische Entwicklungen in seinem Ge-
meindeverband neu auslegen und auch korrigieren, vermutlich in
Auseinandersetzung mit den entstehenden gnostischen Lehren.

DER PASSIONSBERICHT UND SEINE BEDEUTUNG

Diese Skizze des ganzen historischen und theologischen Rund-


horizonts schien mir unerläßlich, wenn man die Sicht verständlich
machen will, die dieser Evangelist von der Passion J esu hat. Wie-
derum wollen wir für jetzt auf eine Einzelanalyse des Passionsbe-
richts verzichten, um die wesentlichen Linien hervorzuheben.
Anders als bei den Synoptikern ist bei J ohannes die Leidensge-
schichte Jesu samt dem Kreuzestod nicht der Kulminationspunkt
des Erlösungswerks und sein zentralstes Herzstück. In seiner
Theologie spielt ja weder der Opfergedanke der Hingabe für die
Sünden der Welt, die Idee des stellvertretenden Leidens oder das
Konzept eine Rolle, daß J esus den Weg des Menschenschicksals
auch in Leiden und Sterben solidarisch mit uns bis an die äußerste
Grenze ausschreitet. Wir hatten ja bereits gesehen, daß bei Johannes
die Ausrichtung der Botschaft an die Öffentlichkeit selbst das ent-
scheidende Geschehen darstellt, die Krisis zwischen Glauben und
Unglauben bringt und das Schicksal der Menschen entscheidet. Für
diese theologische Konzeption des Johannes bringt die Passionsge-
schichte im Grunde keine wesentlichen neuen Aspekte. Um das
Ergebnis der Analyse des Passionsberichtes vorauszunehmen:
Für Johannes ist dies zunächst -neben dem historisch-biogra-
phischen Interesse, das alle Evangelien an der Schilderung haben,
wie es mit Jesus zu Ende ging und doch nicht zu Ende war- der
nötige Schlußbericht davon, wie und auf welchem Wege der gött-
96 Peter Kreyssig

liehe Offenbarer, der Gesandte zum Vater zurückkehrte. Da ist seine


Aussage also: Jesus starb eines natürlichen, wenn auch schreck-
lichen Todes auf Grund eines Komplotts >>der Juden<<, die sich dazu
mit diabolischem Geschick der Römer, d.h. des Pilatus, bedienten.
Den ihm vorliegenden Passionsbericht bearbeitet nun allerdings
von seinem theologischen Grundinteresse her Johannes so, daß die
Doppelbödigkeit seines dualistischen Konzepts deutlich hervortritt:
Die gottfeindliche Welt tötet den Gesandten Gottes mit ihren raffi-
nierten und diabolischen Methoden als einen Lügner und Betrüger.
Sie erringt nach ihrer Meinung darin einen großen Sieg und bleibt
obenauf. Der Glaube erkennt freilich - nach Johannes - daß der
wahre Sieger in dieser Sache das Opfer ist. Der verspottete Schein-
könig ist der wahre König Israels, die Erniedrigung des Kreuzes ist
in Wahrheit seine Erhöhung - sie ist der von ihm selbst gewählte
Weg der Rückkehr zum Vater und natürlich zugleich auch seine sieg-
reiche Überwindung des Todes. Und es ist sehr spannend- wenig-
stens für mich gewesen- wie nun fast im Gegensatz zu den Synopti-
kern aus dem leidenden Jesus bei Johannes der souverän und in
Vollmacht handelnde Christus wird, der seinen vorherbestimmten
Weg als Sieger zu Ende geht. Ich möchte Ihnen dies- am Passions be-
richt im Vergleich zu den Synoptikern entlanggehend- noch in Ein-
zelheiten belegen. 2
1. Bericht von der Gefangennahme: Johannes streicht den im
Passionsbericht, der ihm vorlag, sicher auch vorhandenen Gebets-
kampf Jesu in Getsemane. Diese >>Schwäche<< paßt nicht in sein Kon-
zept des souverän handelnden J esus. Als die Häscher kommen, geht
bei J ohannes J esus, >>der alles wußte<<, ihnen aktiv entgegen, gibt sich
zu erkennen, was sie jämmerlich zurücktaumeln läßt. Judas kann
bei Johannes seinen Verräterkuß nicht anbringen. Er spielt fast
keine Rolle mehr; Jesus liefert sich selbst entschlossen an die
Feinde aus. Bei Johannes fliehen die Jünger nicht -Jesus fordert für
sie freien Abzug, weil Gott das so will.
2. Vor dem Hohen Rat: Das Problem, daß bei Johannes zwei Hohe-
priester auftauchen, lassen wir beiseite. Es hat keine theologische
Bedeutung, zeigt nur eine gewisse Distanz zu den wirklichen histo-
rischen Verhältnissen, nach denen Kaiphas (vgl. Matth.) der Richtige

2Vgl. die vierfache Synopse des Passionsbericht mit dem Wortlaut der Zürcher Über-
setzung, in: Carl Heinz Peisker, Zürcher Evangelien-Synopse, J. G. Oncken-Verlag
Kassel 1962, S. [148] ff.
Peter Kreyssig 97

war. Wieder läuft das Verhör bei Johannes ganz anders: Er läßt sich
auf keine Sachdebatte ein, sondern verweigert unter Hinweis auf
sein bisheriges öffentliches Reden schlicht die Aussage. Theolo-
gische Intention des Johannes: Von jetzt ab schweigt Jesus für »die
Juden<<. Sie haben seinen Auftrag gehört und abgelehnt; es gibt
nichts mehr zu sagen. Jesus >>nutzt<< ihre Intrige unwidersprochen
für seine Heimkehr zum Vater. Als Schweigender bleibt er so sou-
verän wie in seiner Zurechtweisung dessen, der ihn schlägt- auch
das ein einmaliger Zug ohne Parallele bei den Synoptikern.
3. Die Verleugnung des Petrus: Sie ist in der Reaktion, die
Johannes am Passionsbericht vornimmt, zeitlich und räumlich selt-
sam auseinandergerissen und im Vergleich zu den Synoptikern
auch farblos: Kein Wort von der Reue des Petrus und seiner Verzweif-
lung-dieJohann Sebastian Bach so wichtig war, daß er den Text der
Johannes-Passionaus der synoptischen Tradition auffüllte! Das theo-
logische Interesse des Johannes liegt nicht auf der Verleugnung als
solcher. Ihn interessiert viel mehr die geheimnisvolle und schweig-
same Gestalt des >>Lieblingsjüngers<<, die nach seiner Intention als
stummer Zeuge überall dabei sein muß - deshalb reißt er die
Verleugnungsgeschichte auseinander-; und Johannes interessiert
lediglich der Beweis, wie J esus auch diesen Fehltritt des Petrus
vorherwußte: Deshalb der Hinweis auf den Hahnenschrei. Wieviel
menschennäher ist da der synoptische Bericht!
4. Das Verhör vor Pilatus und das Urteil: Sie sehen, wie hier
Johannes dieses Verhör in sieben Szenen und in einem theologi-
schen Guß gegenüber der synoptischen Tradition ausbaut. Es geht
nur um ein Problem: das Königsturn Jesu, die Königstümer dieser
Welt und die Messiashoffnung der Juden. Pilatus erkennt, daß Jesu
Anspruch kein weltlicher Anspruch ist; er sieht tiefer als >>die Juden<<
und bezeugt dreimal öffentlich, daß er Jesus für unschuldig hält. Die
Juden bleiben bei diesem politischen Gerangel Sieger über den
schlappen Gouverneur, der wie ein Weberschiffchen hinein- und
herausrennt zwischen dem Gefangenen und seinen Verklägern, um
einen Ausweg zu finden. Die Juden bleiben Sieger- um den Preis,
ihre eigene Messiashoffnung öffentlich zugunsten des römischen
Kaisers desavouieren zu müssen. Das Ganze eine meisterliche Lei-
stung des Johannes: Gott steht hier vor Gericht- sagt er-; und nur
wir, die Glaubenden vermögen dabei zu erkennen, daß in Wahrheit
dabei die Welt unter dem Gericht Gottes steht!
98 Peter Kreyssig

5. Die Kreuzigung und Jesu Tod: Johannes berichtet wie die


Synoptiker, daß Jesus zwei Mitverurteilte rechts und links von sich
hatte; Johannes allein unterstreicht noch einmal die Position in der
Mitte - die des Herrschers mitten im Leiden. Der Streit der Juden
mit Pilatus um die Kreuzinschrift: Nur Johannes breitet hier das
Königsthema nochmals stärker aus; nur er berichtet von den drei
Sprachen: der Verwaltungssprache der Besatzung, der Handels-
sprache Griechisch und der Volkssprache: Es ist der Kosmos, die
ganze gottfeindliche Welt, die hier beteiligt ist. Schlußwort bei
Johannes ist nicht der unartikulierte laute Schrei oder das »Mein
Gott, warum hast du mich verlassen« der Synoptiker, sondern das
»Es ist vollbracht« des Siegers, der das letzte, schreckliche Stück
überwunden hat.
Wieder ist die geheimnisvolle Gestalt des Lieblingsjüngers als
stummer Zeuge dabei: Er nimmt sich der Mutter Jesu an, er sieht
beim Speerstich, daß Jesus wirklich gestorben ist. Offenbar war
nach Johannes Jesu Tod so leise und friedevoll, daß ihn die Soldaten
zunächst übersahen. »Und er neigte das Haupt und übergab seinen
Geist<<- heißt es in ganz ungewöhnlicher Formulierung: Der heim-
kehrende Sieger gibt dem Vater zurück, was er von ihm empfing -
ohne alles Erdbeben und alle plötzliche Finsternis, ohne den im
Tempel reißenden Vorhang: Ein Tod, der nicht von wunderbaren
Ereignissen umgeben ist!
Wir sind am Ende; ich hoffe, daß Ihnen dabei deutlicher geworden
ist, was dem Evangelisten als Botschaft für seine Zeit vor Augen
stand. Es war für mich sehr interessant, von Herrn Prinz zu hören,
daß es in der Werkgeschichte der Johannes-Passion eine Fassung
gibt, die dem Evangelium wirklich genau entspricht, nämlich die
dritte Fassung (um 1730). Wir werden nicht annehmen dürfen, daß
das auf den kritischen Einsichten beruht, die wir heute haben. Ich
habe Herrn Dürr gefragt, und er meinte, es sei möglicherweise auf
eine von den Pfarrern erhobene Forderung zurückzuführen, Bach
möge sich strikt an den Evangelienbericht halten und vom Verfah-
ren einer Harmonisierung des Passionstextes zwischen den vier
Evangelien absehen ..
Vielleicht empfinden Sie wie ich selbst, daß für uns Heutige dieses
Evangelium, das für Luther »das rechte Haupt-Evangelium« war,
uns ferner gerückt ist als die drei frühen Evangelien. Vermutlich
hängt das damit zusammen, daß vielen von uns nach der Intention
gerade dieses Evangeliums in unserer religiösen Erziehung die
Peter Kreyssig 99

Göttlichkeit J esu betont nahegebracht worden ist, allerdings in


einer Weise, die uns den Glauben an das wahre Mensch-Sein Jesu
erschwert oder gar mit absurden dogmatischen Behauptungen
unmöglich gemacht hat. Dieser souverän und in göttlichem Voraus-
wissen sein Leiden bestehende, ja an sich reißende Christus des
Johannes-Evangeliums ist nicht der Erlöser, der meinen Glauben
anzieht und bindet, sondern eher abstößt oder erschwert. Und dabei
hat doch Johannes im Grunde die Menschlichkeit Jesu weniger an-
getastet als die Synoptiker in manchen Zügen, wie wir sahen. Aller-
dings: Wenn wir das J ohannes-Evangelium so lesen, daß wir vollen
Ernst machen mit dem wahren Mensch -Sein J esu; und wenn wir die
Aussagen über seine Göttlichkeit mitsamt den Wundergeschichten
der »Zeichen-Quelle<< zu verstehen suchen als Aussagen über die
einmalige Bedeutung dieses Mensch-Seins für uns ... , dann kann
und wird auch dieses Evangelium für uns neu und verstehbar zu re-
den beginnen. Doch das zu entfalten, kann heute nicht mehr meine
Aufgabe sein.
100 Ulrich Prinz

Diese Thematik in 45 Minuten allgemein-


verständlich vorzutragen, ist ein gewagtes Unter-
fangen. Wir können nur versuchen, exemplarisch
vorzugehen, komplizierte Sachverhalte zu verkür-
zen, quasi einige Schneisen in den Urwald zu
schlagen, »denn in kaum einem anderen Werk
Bachs ist die Quellensituation so verworren, sind
die Stimmen so vielfach durchkorrigiert und doch
wieder so unvollständig erhalten, wie in diesem<<,
äußerte Alfred Dürr in der Sommerakademie 1979
zum gleichen Thema.
Beginnen wir mit der Überlieferung der Johan-
nes-Passion: Erhalten hat sich die Originalpartitur,
derzeit im Besitz der Staatsbibliothek Preußischer
Kulturbesitz Berlin-W (Signatur Mus.ms. Bach
P 28) sowie der Originalstimmensatz, derzeit im
Besitz der Deutschen Staatsbibliothek Berlin-0
(Signatur Mus.ms. Bach St 111).
Die Überlieferung von Originalpartitur, auch
wenn sie nur teilautograph ist, d.h. von Bachs
Hand sind die Seiten 1 bis 20 geschrieben, die
Seiten 21 bis 92 von einem namentlich nicht
bekannten Schreiber (Hauptkopist H) in Bachs
letzten Lebensjahren, sowie der 26 Originalstim-
men, bestehend aus:

a) einem einfachen Stimmensatz,


b) den Dubletten und
c) späteren Ergänzungsstimmen und Einlagen,
bedeuten eigentlich günstige Voraussetzungen für
die Redaktion einer wissenschaftlichen Ausgabe.
Zum Vergleich sei deshalb an quellenmäßig
ungünstigere Überlieferungen Bachscher Werke
kurz erinnert: Der Actus tragicus Gottes Zeit ist die
allerbeste Zeit BWV 106 ist z.B. nur in zwei post-
humen Partiturabschriften erhalten; zwei Kanta-
ten, die manche von Ihnen etwas genauer kennen,
sind z.B. nur in autographer Partitur überliefert:
Schmücke dich, o liebe Seele BWV 180 und Herr Jesu
Christ, du höchstes GutBWV 113. Andere Kantaten
101

sind nur im originalen Stimmensatz überliefert, z. B. Christ lag in To-


des banden BWV 4 (in der Leipziger Umarbeitung) oder Der Himmel
lacht! die Erde jubilieret BWV 31, beide werden während der Som-
merakademie in diesem Jahr in Stuttgart zu hören sein.
Für das Verständnis der Überlieferung von Bachs Originalhand-
schriften ist es wichtig zu wissen, insbesondere bei den Vokal-
Instrumental-Werken, daß nach Bachs Tod durch die Erbteilung das
Material eines Werkes in den meisten Fällen aufgespalten wurde,
ein Erbe bekam die Partitur >>und einige Stimmen<<, d. h. die Dublet-
ten, der andere Erbe den einfachen Stimmensatz, insofern konnte
ein- und dasselbe Werk an zwei Erben weitergegeben werden.
Zurück zur Johannes-Passion: Aus dem 1790 in Harnburg
gedruckten >>Verzeichniß des musikalischen Nachlasses des verstor-
benen Capellmeisters Carl Philipp Emanuel Bach« 1 ist zu entneh-
men, daß er unter den Singstücken seines Vaters »Eine Paßion nach
dem Evangelisten Johannes. Mit Flöten und Hoboen. Eigenhändige
Partitur, und auch in Stimmen.«2 besessen hat. Der weitere Besitz-
gang ist auch geklärt: Die Originalpartitur gelangt über den be-
rühmten Sammler Georg Poelchau 1841 an die damalige Königliche
Berliner Bibliothek, die Originalstimmen werden 1854 von eben
dieser Bibliothek aus den Beständen der Berliner Singakademie
gekauft. Wie vorhin schon erwähnt, werden beide Quellen bis heute
in Berlin bei den entsprechenden Nachfolgeinstitutionen in West
und Ost aufbewahrt.
1830 erscheint bei Trautwein in Berlin als erste Veröffentlichung
der Johannes-Passion ein Klavierauszug, ein Jahr später ebenda die
Partitur, die im vergangeneu Herbst in unserer Ausstellung »300
Jahre J. S. Bach« in der Staatsgalerie zu sehen war (Kat.-Nr. 82). Darf
ich im Zusammenhang mit der Drucklegung daran erinnern, daß
1829 in Berlin die Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion
durch die Singakademie unter Mendelssohns Leitung erfolgte und
1830 die Partitur gedruckt wurde, also ein Jahr vor der Johannes-
Passion.
Wilhelm Rust legte als 1. Lieferung des Jg. XII der Bach-Gesell-
schaft im Jahr 1863 (so die Datierung des Vorwortes) die Johannes-
Passion als kritisch-wissenschaftliche Edition vor. Dem Vorwort ist
auf 11 Seiten zu entnehmen, wie Rust die Originalquellen geordnet
und bewertet hat:
1 Dok III, Nr. 957.
2 ebenda, S. 493.
102 Ulrich Prinz

Sehen wir uns die erste Seite der Original-Partitur etwas genauer an,
hier in autographer Reinschrift, begonnen um 1739. Der Kopftitel
lautet (in aufgelöster Form): >>Jesuluva. Passio secundumlaonnem a
4 Voci. 2 Oboe. 2 Violini, Viola e Continuo I di J. S. Bach<<. Weder hier
noch in den Besetzungsangaben zu Akkoladenbeginn sind z.B. die
uns von den Aufführungen her so vertrauten Querflöten benannt,
auch findet sich hier kein Hinweis auf die in späteren Sätzen soli-
stisch eingesetzten Viola d'amore I, II, Laute sowie Viola da gamba.
Den Original-Stimmensatz hatte Rust bereits in drei verschie-
dene Gruppen geteilt, in einen einfachen Stimmensatz, den er als
>> ältere Stimmen<< bezeichnet; die Dubletten Violine I und II samt
Continuo sowie die vier Vokal-Ripienstimmen, als >>mittlere Stim-
men<< benannt; schließlich >>neuere Stimmen<<, Violine I, Viola,
Cembalo beziffert und Cembalo unbeziffert.
Philipp Spitta übernimmt Rusts chronologische Klassifizierung
der Stimmen (er beschreibt auch drei Wasserzeichen) und alle
grundlegenden Erörterungen zur Johannes-Passion bis in die fünfzi-
gerJahreunseres Jahrhunderts basieren auf Rusts Ausführungen.
1973 legt Arthur Mendel innerhalb der 1950 begonnenen Neuen
Bachausgabe in der Serie II als Band 4 eineN euedition der Johannes-
Passion vor, die Sie als Taschenpartitur großenteils selbst besitzen
dürften. Ein Jahr später erscheint der Kritische Bericht, mit 356 Sei-
ten (nach der h-Moll-Messe) der umfangreichste zu Bachs Vokal-
Instrumentalwerken, ein Zeugnis bald 20jähriger akribischer und
kompetenter Auseinandersetzung - bis hin zu einzelnen Nadellö-
chern im Papier - mit eben denselben Original- und Vergleichsquel-
len, die Wilhelm Rust schon gekannt und benutzt h at. Um Ihnen die
Tragweite von Mendels Untersuchungen ansatzweise zu verdeutli-
chen, mache ich jetzt den zweiten Schritt vor dem ersten, d.h. ich
möchte Sie zunächst mit den Ergebnissen Mendels konfrontieren -
den vier bzw. fünfverschiedenen Fassungen der Johannes-Passion -
und gleichsam Schicht um Schicht in den überlieferten Stimmen
aufdecken. Damit n ehme ich methodisch etwas vorweg, was uns
nachher h elfen könnte, Mendels Vorgehensweise im Bestimmen der
einzelnen Quellenschichten (= Fassungen) besser zu ver st eh en.3

3 Um die schwierigen Inh alte möglichst anschaulich darzubieten , wurden ko mp lex-

ere Sachverhalte mit Hilfe von 14 eigens präparierten Overhead-Fo lie n , teilweise als
farbi ge Aufbautransparente der ein zeln e n Fassun gen, verdeutlicht. Diese m edienspe-
zifische didaktisch e Aufbereit un g läßt sich in gedruckter Form jedoch nicht sinnvo ll
wiedergeben , insofe rn ist jeweils ein gekürzter Tonbandm itschnitt abgedruckt.
Beginn der teilautographeil Partitur von J. S. Bachs Johannes -Passion
(Staatsbiblioth ek zu Berlin, Preußischer Kulturb esi tz, Mus. ms. Bach P 28).
Reinschriftbeginn um 1739, Bl.1'' (Origina lgröße: 34 x 20,5 cm).

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104 Ulrich Prinz

In einer Grundfolie sind zunächst diejenigen Sätze zu sehen, die


in allen vier Fassungen nahezu unverändert auftreten. Wie sieht
nun Fassung I von 1724 aus? Sie ist uns in der Abfolge ihrer Sätze
von vielen Aufführungen her wohl vertraut, beginnt mit dem Chor
>>Herr, unser Herrscher<< und endet mit dem Choral >>Ach Herr, laß dein
lieb Engelein<< (Satz 40).
Die Fassung II von 1725 (in der Folie kenntlich gemacht durch
eine andere Farbe) beginnt nicht mit >>Herr, unser Herrscher<<, son-
dern mit dem Choralchorsatz >> 0 Mensch, bewein dein Sünde groß<<,
in Es-Dur stehend, den Sie sehr gut kennen als Schlußchor des er-
sten Teils der Matthäus-Passion, dort allerdings in E-Dur stehend.
Als Satz 11 + bzw. BWV245a wird eine zusätzliche Arie>> Himmel reiße,
Welt erbebe<< eingefügt. Die Tenorarie >>Ach, mein Sinn<< (Satz 15) ist
ersetzt durch eine Tenorarie >>Zerschmettert mich, ihr Felsen und ihr
Hügel<< (Satz 245b). Im zweiten Teil sind das Arioso>> Betrachte, meine
Seel<< und die anschließende Arie >>Erwäge<< (Sätze 19 und 20) gestri-
chen und ersetzt durch eine Tenorarie >>Ach windet euch nicht so, ge-
plagte Seelen<< (BWV 245c ). Abgeschlossen wird Fassung II nicht mit
dem Choral >>Ach Herr, laß dein lieb Engelein<< sondern mit dem
Schlußchor der Kantate BWV 25 >> Christe, du Lamm Gottes<<.
Die nächste Schicht, die Mendel dabei herausgefiltert hat, zeigt
Fassung 111 (um 1750): Der Choral>> 0 Mensch, bewein<< ist wieder ge-
tilgt, ebenso die übrigen Einlagesätze der Fassung II. Gestrichen
sind die Interpolationen aus dem Matthäus-Evangelium >>Und ging
hinaus und weinete bitterlich<< in Satz 12c und Satz 55, das >>Erd-
beben<<. Daraus ergeben sich Konsequenzen inhaltlicher und tonart-
licher Natur, denn die nachfolgenden· Arien (Satz 15 sowie 54/55)
nehmen Bezug auf diese Matthäus-Interpolationen. Zwei Sätze sind
heute verschollen, eine Arie (Satz 15m) und eine Sinfonia (Satz 35m),
von der Existenz letzterer weiß man z.B. nur aufgrundvon Eintra-
gungen >>Sinfonia tacet<< in zwei Vokalstimmen. Da auch der Schluß-
choral >>Ach Herr, laß dein lieb Engelein<< gestrichen ist, endet
Fassung III mit dem Chor>> Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine<< (Satz 59).
Und schließlich zur Fassung IV (um 1748/49): Sie stellt im
Grunde genommen das Bild wieder her, das wir aus Fassung I von
1724 bereits kennen, d.h. die Veränderungen, die wir eben in Fas-
sung 111 beobachtet haben, sind wieder rückgängig gemacht. Neben
der Ergänzung weiterer Aufführungsstimmen sind eine Reihe von
Textänderungen in den Sätzen 9, 19 und 20 auffällig. Die Arie >>Ich
folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten<< lautet jetzt >>Ichfolge dir
Ulrich Prinz 105

gleichfalls, mein Heiland, mit Freuden<<. Auf weitere Änderungen 4


möchten wir an dieser Stelle nicht eingehen und damit die zunächst
rein formale Betrachtung der einzelnen Schichten (Fassungen), die
Mendel aus den Original-Stimmen herauspräpariert hat, abschlie-
ßen.
Ein wesentliches Fundament, auf dem Mendel seine Untersu-
chungen stützen konnte, waren einerseits der Katalog der Wasser-
zeichen, die in Bachs Originalhandschriften auftreten, erstellt von
dem Erfurter Papierforscher Wisso Weiß 5 -vorgelegt Ende 1954 -
und andererseits schriftkundliehe Forschungen im Hinblick auf die
Entwicklung Bachs eigener Handschrift und die seiner Schreiber,
verbunden mit einer ganzen Anzahl weiterer Datierungsmethoden.
Die umwälzenden Neuerkenntnisse zur Chronologie der Bach-
sehen Werke, insbesondere der Kantaten, verdanken wir Alfred Dürr
>>Zur Chronologie der Leipziger Vokalwerke J. S. Bachs<< 6 , und Georg
von Dadelsen >>Beiträge zur Chronologie der Werke J. S. Bachs<< 7 , ver-
öffentlicht in den Jahren 1957 und 1958.
Diese Erkenntnisse wendet Mendel an bei seiner Spurensuche
nach der Entstehungsgeschichte der Johannes-Passion, und zwar
bei den Originalstimmen. Bei den Stimmen deshalb, weil die Origi-
nalpartitur einerseits nur teilautograph ist, zudem wahrscheinlich
nach Fassung 111 niedergeschrieben wurde, zum dritten aber, und
das ist der gewichtigste Grund, nicht eine Konzeptpartitur ist, son-
dern eine Reinschrift darstellt. Mit anderen Worten, Bachs Urschrift
der Johannes-Passionist verschollen, sie hätte uns zuverlässige Hin-
weise zur Entstehungsgeschichte liefern können. Daß einzelne
Sätze der Johannes- Passion möglicherweise Weimarer Ursprungs
sind (wie die fünf Sätze der Fassung II), läßt sich nicht ausschließen,
jedoch bleibt festzuhalten, daß der Befund der erhaltenen Quellen in
ihrer frühesten Schicht eindeutig ins Jahr 1724 verweist.

'1Vgl. dazu den ausführlichen Beitrag von Hans-Joachim Schulze in diesem Band.
5 als erster Entwurf; inzwischen erschienen als NBA IX/1: Katalog der Wasserzeichen
in Bachs Originalhandschriften von Wisso Weiß unter musikwissenschaftlicher Mit-
arbeit von Yoshitake Kobayashi, Kassel und Leipzig 1985 (2 Bände, Abbildungen und
Text).
6 Alfred Dürr, Zur Chronologie der LeipzigerVokalwerke J.S. Bach, in: Bach-Jahrbuch

1957. Zweite Auflage: Mit Anmerkungen und Nachträgen versehener Nachdruck aus
Bach-Jahrbuch 1957, Kassel 1976.
7 Georg von Dadelsen, Beiträge zur Chronologie der Werke Johann Sebastian Bachs

(= Tübinger Bach-Studien, hrsg. von Walter Gerstenberg, Heft 4/5), Trossirrgen 1958.
106 Ulrich Prinz

Die einzelnen Schichten, die den vier verschiedenen Fassungen


entsprechen, wie wir vorhin sehen konnten, identifizierte Mendel
u. a. mit folgenden Vorgehensweisen, die hier um des besseren Ver-
ständnisses willen systematisiert sind:
Um eine genaue Identifizierung und Zuordnung der Stimmen zu
ermöglichen, wurde im Sommer 1958 in der Berliner Staatsbiblio-
thek jede Seite der Stimmen, jedes Einlageblatt, jedes Deckblatt
(z.T. auch unbeschriebene Rückseiten) mit einer Bleistiftpaginie-
rung versehen, insgesamt 540 Seiten! Die Numerierung erfolgte
auch in dem Bestreben, die ursprüngliche Reihenfolge der Eintra-
gungen in den Stimmen und deren Veränderungen deutlich zu
machen; also beginnend bei den ursprünglichen Eintragungen, den
Streichungen und wiederum deren Tilgung, einer Zuordnung der
Einlageblätter bis hin zum Aufnähen von Deckblättern und deren
Entfernung (Spuren der Nadellöcher).
Mendel bestimmte die in den Stimmen und Einlageblättern auf-
tretenden fünfverschiedenen Wasserzeichen aus der Leipziger Zeit
und die unterschiedlichen Papiersorten. Da manche der kleineren
Deckblätter keine Wasserzeichen enthalten, konnten sie aufgrund
der sichtbaren Stege bestimmten Papiersorten zugewiesen werden.
Durch Zuordnung von Wasserzeichen und Papiersorten zu den ein-
zelnen Stimmen bzw. Einlageblättern ermittelte Mendel zunächst
eine »relative« Chronologie der Stimmgruppen (= Fassungen). 8
Außerdem untersuchte Mendel die gesamten Quellen nochmals
im Hinblick auf die einzelnen Schreiber und deren nachweisbare
Tätigkeit in Leipzig. Es sind, ohne die autographen Eintragungen,
die sich in jeder Stimme finden, insgesamt etwa 20 Schreiber über
einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren beteiligt, davon vier Haupt-
kopisten. Von den 20 Schreibern sind uns heute fünf namentlich
b ekarm t. 9
Welches sind nun die Schlußfolgerungen, die Mendel zieht?
Worin unterscheiden sie sich in den Thesen Rusts, die in der Bach-
forschung nahezu 100 Jahre fortgeschrieben wurden?
Schon Wilhelm Rust beobachtet verschiedene Entwicklungs-
stadien der Johannes-Passion. Im einfachen Stimmensatz sieht er
den Ursprung, deshalb die Bezeichnung »ältere Stimmen«, also
beginnend mit dem Eingangschoralchorsatz »0 Mensch, bewein dein

8 Vgl. Kritischen Bericht NBA 11/4, S. 24 ff.


9 ebenda, S. 52 ff.
Ulrich Prinz 107

Sünde groß<< in Es-Dur (der 1756 als Schluß des ersten Teils in die
Matthäus-Passion in E-Dur eingefügt wurde), den drei später eiemi-
nierten Arien, die er im Anhang zur BG XII 1 mitteilt, von Sehrnieder
BWV245a/b/c benannt, und dem Schlußchoralchorsatz aus Kantate
25 Christe, du Lamm Gottes. Sowohl die Matthäus-Passion als auch
Kantate 25 waren damals schon in der BG ediert (BG IV, Rietz!Rust
1854; BG V\ Rust 1855).
Die Dubletten (vier Vokalstimmen, Violine I, Violine II, Continuo)
stellten für Rust eine inhaltliche Weiterentwicklung dar, die auch
durch das Repertoire der Partitur bestätigt wurde, deshalb benennt
er die Dubletten »mittlere Stimmen<< und beobachtet, wie der einfa-
che Stimmensatz durch Hinzufügen von Einlageblättern diesem
Stadium angepaßt wurde. Ein drittes Stadium repräsentieren
"neuere Stimmen", Ergänzungsstimmen zu einer Aufführung in spä-
tester Zeit.
Mendel weist aber nach, daß die Dubletten (Rusts mittlere Stim-
men) die früheste Fassung der Johannes-Passion repräsentieren,
nicht nur wegen der Wasserzeichen und Schreiberbefunde, sondern
weil diese Stimmen vier verschiedene Stadien (Schichten) von Ein-
tragungen ausweisen, eine mehr als der einfache Stimmensatz, der
folglich der Fassung II angehören muß. Insofern wurden die Beob-
achtungen, die Alfred Dürr schon im Bach-Jahrbuch 1957mitgeteilt
hatte, voll und ganz bestätigt, ebenso diejenigen von Georg von
Dadelsen.
Diese Vertauschung hat mehrere Konsequenzen:

1. Fassung I zum Karfreitag 1724 unterscheidet sich nicht grund-


sätzlich, sondern nur in Details von den Fassungen 111 und IV. Die
meisten der uns bekannten und liebgewordenen Sätze erklangen
schon 1724. »Herr, unser Herrscher<< ist der ursprüngliche Ein-
gangschor, der nur 1725 in Fassung II gegen »0 Mensch, bewein<<
ausgetauscht wurde, ähnlich steht es mit weiteren Sätzen.
2. Wenn der einfache Stimmensatz die Satzfolge der Fassung II als
ursprüngliche Eintragung überliefert und nur drei Schichten von
Eintragungen ausweist, dann fehlt uns nicht nur die autographe
Konzeptpartitur, sondern der gesamte einfache Stimmensatz zur
Fassung I. Verloren sind: Oboe I, II; Violine I, II und Viola; vier
Vokalstimmen, die alle Sätze. enthalten; 1 Continuo untranspo-
niert und unbeziffert; 1 Continuo transponiert und beziffert für
die Orgel, sowie wahrscheinlich zwei Flötenstimmen.
108 Ulrich Prinz

3. Doch damit nicht genug, es fehlen, sei es als Einlageblätter oder


als Eintragung in diesen verlorenen Stimmen: Die beiden Viola
d'amore-Partien (Sätze 19 und 20), denn die erhaltenen Stimmen
weisen nur jene Behelfslösung einer Besetzung mittels Violinen
>>con surdino" aus, die Partie der Gambe (Satz 30) und die der
Laute (Satz 19).

Eine Erklärung dafür, warum 1725 für die Aufführung II ein völlig
neuer Stimmensatz ausgeschrieben werden mußte, könnte darin
liegen, daß Bach das Stimmenmaterial ausgeliehen und nicht wie-
der zurückerhalten hatte. Diese Ausleihpraxis war üblich und ist
mehrfach zu belegen, allerdings pflegte man die Partitur und die Du-
bletten zurückzubehalten. Nun sind uns aber aus dem Jahr 1724
zwei gleichartige Fälle bekannt, bei denen sich nur die Dubletten
dieser Aufführung erhalten haben und für spätere Aufführungen
auch Stimmen neu ausgeschrieben werden mußten:
Für die Kantate BWV 37 Wer da gläubet und getauft wird zu Hirn-
melfahrt 1724 und für das Sanctus D-Dur BWV 232m, aufgeführt zu
Weihnachten 1724 (später in die h-MollMesseeingefügt). Der Entlei-
her dieser Sanctus-Stimmen ist durch eine Aufschrift in der Partitur
bekannt, dort heißt es: »NB. Die Parteyen sind in Böhmenbey Grajj
Sporck.« 11
Dieser Sachverhalt könnte also erklären, warum dieser einfache
Stimmensatz 1725 nicht verfügbar war und deshalb ein neuer ausge-
schrieben werden mußte, während man die Dubletten hinzunahm
und dort Änderungen vornahm, wo sich die Reihenfolge der Sätze
inhaltlich geändert hatte.
Bevor wir uns noch einer kurzen Betrachtung der Original-Parti-
tur zuwenden, sollen die wesentlichen Änderungen der Fassungen
111 (um 1730) und IV (um 1748149) in wenigen Bemerkungen zusam-
mengefaßt werden, damit alle vier Schichten deutlich sind.

Fassung III ist Fassung I wieder stark angenähert, indem die zwei
Choralchorsätze und drei Arien der Fassung II eieminiert wurden
und an deren Stelle die ursprünglichen Sätze der Fassung I traten,
sei es durch Rückgängigmachen der Streichungen in den Dubletten,
sei es durch Einlage- oder Deckblätter im einfachen Stimmensatz,

10 Vgl. Kritischen Bericht NBA I/12, S. 157.


11 Kritischer Bericht NBA II/1, S. 166.
Ulrich Prinz 109

der ja diese Sätze noch nicht enthielt. Andererseits traten auch


Änderungen dadurch auf, daß die beiden Matthäus-Interpolationen
gestrichen wurden: Satz 12c zu Ende »Da gedachte Petrus an die
Worte Jesu und ging hinaus und weinete bitterlich«, sowie Satz 33
»Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stück von oben an
bis unten aus. Und die Erde erbebete, und die Felsen zerrissen, und die
Gräber täten sich auf, und stunden aufviel Leiber der Heiligen.«
Den jeweils sich anschließenden Arien war der textliche Bezug
genommen, insofern mußten sie durch andere Kompositionen
ersetzt werden. Beide Stücke, eine Tenor-Arie mit Streicherbeglei-
tung und eine Sinfonia, sind verschollen. Ihre ehemalige Existenz ist
nur durch Nadellöcher für verschollene Deckblätter (Satz 13) bzw.
Vermerke >>Sinfonia tacet<< (B 16, Alto concertante oder B 20, Basso
Jesu) in wenigen Stimmen nachweisbar. Die Ganztontransposition
des Schlußchorals von Teil I ist wohl aus tonartliehen Gründen des
Anschlusses an die verschollene Tenorarie erfolgt. Die Passion
· schloß mit Satz 39 »Ruhet wohl«, der Choral »Ach Herr, laß dein lieb
Engelein« entfiel.
In Fassung IV werden die Veränderungen von Fassung I li wieder
rückgängig gemacht und wir erkennen wieder die ursprüngliche
Satzfolge der Fassung I. Die Neuausfertigung von vier Instrumental-
stimmen (B 7, Violine I; B 11, Viola; B 24, Continuo; B 23, Cembalo
bez.) deutet nach Dürr auf eine Verstärkung der Instrumentisten zur
Aufführung der Fassung IV in Bachs allerletzten Lebensjahren hin.
Ein Teil der Änderungen von Fassung IV betrifft schließlich den
Text, z. B. die Arie Satz 9, aus: »Ichfolge dir gleichfalls mitfreudigen
Schritten«wird: »Ichfolge dirgleichfalls, mein Heiland, mit Freuden«
etc. sowie das Arioso Satz 19 »Betrachte, mein Seel« und die sich
anschließende Aria Satz 20 »Erwäge«. Aus zeitlichen Gründen
möchte ich es bei diesen Andeutungen belassen, zumal wir uns in
der zweiten Wochenhälfte vertieft mit den textlichen Grundlagen
der Johannes-Passion befassen werden, d.h. mit dem Bibelwort (dem
Johannes-Evangelium), den Chorälen (den einzelnen Kirchenlied-
strophen) und den madrigalischen Texten (den frei gedichteten
Teilen, die sich an verschiedene Passions-Dichtungen der Zeit
anlehnen).
Hatten wir uns bislang primär mit den Stimmen und den sich dar-
in spiegelnden vier Fassungen beschäftigt, so sollen noch wenige
Anmerkungen zur teilautographen Partitur folgen, um auch hieran
zu verdeutlichen, wie komplex sich der gesamte Befund der Origi-
110 Ulrich Prinz

nalquellen darstellt. Wir hatten anfangs schon gehört, daß Bachs


Reinschrift wahrscheinlich nach der Fassung 111 entstanden ist,
Mendel datiert sie aus einigen Gründen auf 1739. Der autographe
Teil endet aufBl.10V (Seite 20), Satz 10, Takt 42a. Es sind unterschied-
liche Vermutungen darüber angestellt worden, was Bach veranlaßt
hat, seine Niederschrift zu unterbrechen, den Grund wissen wir
nicht. Wir können nur feststellen, daß die Partitur nach mehrjähri-
ger Unterbrechung von dem Hauptkopisten H zu Ende geschrieben
worden ist, der auch in den Stimmen der Fassung IV auftritt, ebenso
verbindet beide Quellen dasselbe Wasserzeichen (Wappen von
Schönburg).
Eine Diskrepanz besteht einerseits zwischen dem autographen
Teil der Partitur und den Stimmen, andererseits zwischen dem Ent-
wicklungsstadium des Autographs und der sich anschließenden
Abschrift. >>Der abschriftliche Teil spiegelt letztlich doch die mut-
maßliche Kopiervorlage, die [verschollene] Konzeptpartitur X wie-
der, von der die bisher existierenden Stimmen auch abgeschrieben
wurden<<, schreibt Dürr 1979. Ohne den abschriftlichen Teil wüßten
wir z.B. nichts von einer Lautenbesetzung in Satz 19, ebensowenig
hat sich in irgendeiner Continuostimme die bei Cellisten und Fagot-
tisten so gefürchtete Sechzehntel >>Würfel<<-Figuration im Chorsatz
27b »Lasset uns den nicht zerteilen« erhalten.
Derautographe Teil hinwiederum zeigt im Detail weiterentwik-
kelte Lesarten, die in die Stimmen gar nicht Eingang gefunden ha-
ben, folglich auch nicht erklungen sein können. Ihnen ist bekannt,
daß Bach bei jeder erneuten Niederschrift verändert, verbessert, dif-
ferenziert hat, selbst in den Handexemplaren seiner Originaldrucke
können wir solche Beobachtungen machen.
Den Unterschied zwischen ursprünglicher Lesart in den Stim-
men und der Fortentwicklung im autographen Teil der Partitur
kann man dank Mendels Abdruck beider Fassungen der Sätze 1-10
in der Neuen Bachausgabe recht gut verfolgen (Anhang und Haupt-
teil), hierzu einige Beispiele:
In Satz 1 weisen die Continuo-Stimmen zu Beginn nur Achtel aus,
in der Partitur ist differenziert, die Achtel sind den >>Violoncelli e
Bassoni<< zugewiesen, während >>Organa e Violone<< nur die Takt-
schwerpunkte als Viertel mit Viertelpause markieren. Die Auffüh-
rung IV bereichert Bach zudem um die Klangfarbe eines >> Bassono
grosso<<, also eines Kontrafagotts, durch besondere Einrichtung
einer Continuostimme der Fassung I.
Ulrich Prinz 111

Sind die Choräle (Sätze 3 und 5) in der frühen Fassung der Stim-
men noch eherNotegegen Note gesetzt, so zeigt die Partitur die Ten-
denz zur Polyphonisierung, nicht nur die Mittelstimmen zeichnen
sich durch stärkere Durchgangs-, Wechsel- und Vorhaltsnoten-
bildung aus. In ähnliche Richtung weiterentwickelter Lesarten, d. h.
einer Bereicherung durch Imitation oder Auszierung, weisen Bei-
spiele aus Satz 4 (Continuo, vorletzter Takt), aus Satz 7 die Achtelbil-
dung (statt Viertel) Oboe I, Takt 2; Oboe II, Takt 3; Alt, Takt 10 sowie
aus Satz 9, statt zweier Sechzehntel sind Verzierungen für den
Sopran (Takt 29 und 33) in der Partitur beispielsweise ausnotiert.
Auch an dieser Stelle muß nochmals hervorgehoben werden, daß
diese reicheren Lesarten der Partitur in keine Stimmgruppe
Eingang gefunden haben, folglich unter Bach in Leipzig somit nicht
erklungen sind.
Darf ich zum Schluß die Hoffnung aussprechen, daß ein wenig
Licht in die eingangs erwähnten Schneisen gefallen ist, es wäre ein
schlechtes Zeichen, wenn Sie jetzt den Wald vor lauter Bäumen
nicht mehr sähen. Andererseits erschien es mir sinnvoll, Sie ein
wenig in die Werkstatt eines Editors einzuführen, wie selbstver-
ständlich musizieren wir heute aus einer Ausgabe, ohne uns um
deren Entstehung· zu kümmern und ohne uns immer bewußt
zu machen, wieviele verlorengegangene Selbstverständlichkeiten
wir uns für eine Aufführung erst wieder mühevoll erarbeiten
müssen.
Vielleicht kann Sie das ausgelegte Literatur-Verzeichnis ein
wenig ermuntern und unterstützen, Ihre Kenntnisse über die Johan-
nes-Passion zu erweitern, dazu möchten die Einzelreferate des ge-
samten Seminars beitragen. Zielsetzung ist es, im Wechsel von prak-
tischem Tun innerhalb des Dirigierkurses und theoretischer Durch-
dringung im Seminar, ein tieferes Verständnis für die musikalisch-
theologische Aussage der Bachsehen Johannes-Passion zu erreichen,
die für uns heutige Menschen auch nach über 250 Jahren in ihrer
unmittelbaren Wirkung und auslösenden Betroffenheit als Bot-
schaft aktuell ist.
112 Hans-Joachim Schulze

Der Umgang mit einer Passionsmusik, die der


größte Leipziger Thomaskantor im Laufe eines
Vierteljahrhunderts wenigstens viermal aufge-
führt und dabei verschiedentlich mit gewichtigen
Änderungen versehen hat, erweist sich für For-
schung und musikalische Praxis als eine perma-
nente Herausforderung.
Die folgenden Überlegungen zur Johannes-Pas-
sion betreffen Vorgeschichte und Überlieferung
der spätesten Version sowie Einzelfragen des Li-
brettos und des N otentextes, letzteres vor allem im
Blick auf die Brauchbarkeit der Neuen Bach-Aus-
gabe sowie die aufführungspraktische Umsetzung
des dort Gebotenen.
Machen wir uns nichts vor: Was wir wirklich in
der Hand haben, um der Geschichte und Gestalt
des Werkes nachzuspüren, sind neben zwei Akten-
notizen aus den Jahren 1724 und 1739 allein die
teilweise von J ohann Sebastian Bach geschrie-
bene Partitur sowie ein Bündel von Aufführungs-
stimmen aus seinem Besitz und zum Teil von
seiner Hand. Alle Aussagen, die hierzu getroffen
werden, sind- vor allem hinsichtlich ihrer immer
weiter getriebenen Präzision- ein Spiegelbild der
Bach-Forschung in ihrer Entwicklung der letzten
vier Jahrzehnte, zuweilen vielleicht auch einer
wachsenden Entschlossenheit zu schnellem Kon-
sens. Die Wahrscheinlichkeit, mit dieser oder je-
ner Kombination das Richtige getroffen zu haben,
ist groß - aber Unfehlbarkeit der Rückschlüsse
kann nicht erwartet werden. 1
Um mit nur einem Beispiel aufzuwarten: Wir
sprechen ungeachtet des Verlustes der Kompositi-
onspartitur von vier Fassungen aus den Jahren
1724, 1725, 1732 und 1749 sowie einer unvollendet
gebliebenen Revision, vermutlich von 1739. Aber
schon melden sich Stimmen -hauptsächlich aus
Kreisen junger, erkenntnishungriger amerikani-
scher Musikologen, die eine Entstehung der aller-
ersten Fassung schon vor 1724 in Erwägung
113

ziehen, diese hypothetische Urfassung am Ende von Bachs Weima-


rer Zeit (1717) ansiedeln möchten und sie im wesentlichen mit der
Fassung II von 1725 gleichsetzen. Um keine Verwirrung zu stiften,
verlassen wir diese Hypothese sogleich wieder und wenden uns den
»bekannten<< vier Fassungen nebst der unbeendeten Revision zu. Ob
freilich >>Fassungen<< im strengen Wortsinn vorliegen, ist eine Frage
der Definition. Denn das immer wieder verwendete Material, dessen
älteste Bestandteile aus dem Jahre 1724 stammen, ist mit seinen vie-
len Tekturen und Ergänzungen, Streichungen und wieder aufge-
machten Strichen Spiegelbild eines »work-in-progress<<, das immer
nur eine aktuelle und nie eine endgültige Gestalt erhält und das ein
gewisses Maß an Ambivalenz nie abzulegen vermag.
Die nachweislich ältesten- 1749 wiederverwendeten- Materia-
lien aus dem Frühjahr 1724 erweisen sich als Rest eines vordem voll-
ständigen Stimmensatzes: Vorhanden sind die Ripienstimmen zu
Sopran, Alt, Tenor und Baß, dazu je ein Exemplar Violine 1, Violine 2
und Continuo. Eine solche lupenreine Trennung kann kein Zufall
sein. Sie ist 1750 wieder anzutreffen im Zusammenhang mit Bachs
Erbteilung, wo bei fast allen Kantaten die Dubletten den Auffüh-
rungsstimmen entnommen und dem jeweiligen Erben der Partitur

1 Den derzeitigen Wissensstand referiert: Bach Compendium. Analytisch-bibliogra-

phisches Repertorium der Werke Johann Sebastian Bachs, von Hans-Joachim Schulze
und Christoph Wolff, Bd. IVokalwerke, Leipzig 1986-1989, insbesondere Teil III (1988),
Werkgruppe D Passionen und Oratorien (S. 977ff.); die verschiedenen Fassungen der
J ohannes-Passion hier unter D 2a bis D 2e. Die nachstehenden Ausführungen stützten
sich größerenteils auffolgende seither erschienenen Arbeiten des Verfassers: »Wer der
alte Bach geweßen weiß ich wo!«. Anmerkungen zum Thema Kunstwerk und Biogra-
phie, in: Johann Sebastian Bachs Spätwerk und dessen Umfeld. Perspektiven und
Probleme. Bericht über das wiss. Symposion anläßlich des 61. Bachfestes der Neuen
Bachgesellschaft Duisburg 1986, hrsg. von Christoph Wolff, Kassel etc. 1988, S. 23-31;
Besprechung von: Alfred Dürr,DieJohannes-Passion von Johann Sebastian Bach. Ent-
stehung, Überlieferung, Werkeinführung, Kassel etc. und München 1988, in: Bach-
Jahrbuch 1990, S. 86-89; Carl Philipp Emanuel Bachs Hamburger Passionsmusiken
und ihr gattungsgeschichtlicher Kontext, in: Carl Philipp Emanuel Bach und die euro-
päische Musikkultur des mittleren 18. Jahrhunderts. Bericht über das Internationale
Symposium der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Harnburg 29. Sep-
tember- 2. Oktober 1988, hrsg. von Hans Joachim Marx, Göttingen 1990, S. 333-343;
Bemerkungen zum zeit-und gattungsgeschichtlichen Kontext von Johann Sebastian
Bachs Passionen, in: Johann Sebastian Bachs historischer Ort, Wiesbaden und Leipzig
1991 (Bach-Studien.10.), S. 202-215; Florilegium- Pasticcio- Parodie- Vermächtnis.
Beobachtungen an ausgewählten Vokalwerken Johann Sebastian Bachs, in: Beiträge
zur Bach-Forschung 9/10,Leipzig 1991, S.199-204. Nichtmehr berücksichtigt werden
konnte Martin Geck, Johann Sebastian Bach. Johannespassion BWV 245, München
1991 (Meisterwerke der Musik. Werkmonographien zur Musikgeschichte. 55.).
114 Hans-Joachim Schulze

als Dreingabe überlassen wurden. Sie ist außerdem zu finden bei


dem 1724- im selben Jahr wie die Johannes-Passion- komponierten
D-Dur-Sanctus, bei dem der Stimmensatz (abzüglich der dem Kom-
ponisten verbliebenen Dubletten) sich laut Bachs eigenhändiger
Notiz leihweise im Besitz des Grafen Sporck in Böhmen befand, so
daß der Thomaskantor, als er 1727 eine Wiederaufführung beabsich-
tigte, sich neue Stimmen ausschreiben lassen mußte.
Hinsichtlich der Johannes-Passion ist nichts anderes denkbar, als
daß Johann Sebastian Bach diese seine erste Leipziger Passionsmu-
sik in Form eines vollständigen Stimmenmaterials an einen Interes-
senten verliehen oder eher verkauft hat. Das aber müßte bedeuten,
daß jener Unbekannte bald nach 1724 das Werk auch aufgeführt hat,
denn Stimmen ohne Partitur zu bloßen Studienzwecken zu entlei-
hen, wäre für die Zeit zumindest ungewöhnlich. Im Frühjahr 1725
muß Bach gewußt haben, daß er das Hauptmaterial von 1724 nicht
zurückerhalten würde. So ließ er neue Stimmen ausschreiben für
die mittlerweile zu Fassung II umgestaltete Passion. Inwieweit diese
doppelte Ausnutzung der Thomasschüler rechtens war, müssen wir
auf sich beruhen lassen. Das Material aus dem Jahre 1725 stellt nun
den eigentlichen Überlieferungsträger dar, der das Werk - abgese-
hen von Veränderungen an gewissen >>neuralgischen<< Punkten- in
seiner maßgeblichen (nicht >>definitiven<<) Gestalt fixiert hat. Dieses
Material hat Bach bis in seine letzte Lebenszeit für seine Aufführun-
gen verwendet, und die Editoren der Bach-Gesamtausgaben wären
gut beraten gewesen, wenn sie sich streng an das gehalten hätten,
was Bach für seine Aufführungen als gut genug empfunden hat,
und nicht versucht hätten, einerseits die nur hypothetisch wieder-
herstellbare Erstfassung aus dem Jahre 1724 mit aller Macht
wiederzugewinnen, und andererseits die subtileren Lesarten der
unvollendeten Revision von vermutlich 1739 einzuarbeiten, das letz-
tere allein mit Rücksicht auf Aufführungstraditionen und -konven-
tionen des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Konstruktion, >>so hätte
Bach seine Johannes-Passion dargeboten, wäre er nur mit der Revi-
sion zu Ende gekommen<<, erweist sich als Schwindelbau mit fatalen
Konsequenzen.
Die Aufführung von 1724 gehört in den Kontext des I. Leipziger
Kantaten-Jahrganges, der bald nach dem Amtsantritt Bachs mit
ausgedehnten Neukompositionen begonnen hatte, dann aber, wo
immer möglich, bereits Vorhandenes einzubeziehen trachtete, vor-
zugsweise Kirchenkantaten aus den Weimarer Jahren 1714 -1716,
Hans-Joachim Schulze 115

aber auch Material aus Köthener Weltlichen Kantaten. Das Verhält-


nis» teilweise ältere Kirchenkantaten, neue Passion<< kehrte sich im
Folgejahr 1725 um: nach etwa 40 Neukompositionen des II., des so-
genannten Choralkantaten-Jahrganges, des umfangreichsten von
Johann Sebastian Bach je in Angriff genommenen Opus', folgte
die Wiederaufführung der Johannes-Passion mit den bereits be-
schriebenen Veränderungen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war
die Johannes-Passion-wie vor ihr schon viele Kirchenkantaten (von
Instrumentalwerken gar nicht zu reden) -Bestandteil von Bachs
Repertoire geworden. Bildung, Behandlung und Chronologie von
Bachs Repertoire herausgearbeitet zu haben, ist eines der wichtig-
sten Verdienste der Bach-Forschung in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Wesentliche Einblicke in Bachs Umgang mit seinem
eigenen Oeuvre, das er in Goetheschem Sinne als Lebensleistung
ansah und behandelte, sind erst auf diesem Wege möglich geworden.
Der Kontext der Wiederaufführung von 1732 bietet ein in mehr-
facher Hinsicht abweichendes Bild: vorangegangen waren dieser
Darbietung die Aufführung fremder Werke in den Jahren 1726
(Reinhard Keiser, Markus-Passion) und 1730 (Anonymus, Lukas-
Passion), die Neukomposition und zweimalige Aufführung der
Matthäus-Passion (1727 und 1729) sowie die Neukomposition (be-
ziehungsweise Parodierung) der Markus-Passion von 1731. Die 1732
erfolgte Eliminierung der in die Johannes-Passion eingestreuten
Texte aus dem Matthäus-Evangelium mag in der Entstehung der
Matthäus-Passion ihre Ursachen haben. Erwähnt zu werden ver-
dient jedoch auch ein eher praktisches Problem, das den Alltag von
Thomaskantor und Schülern in jener Zeit nachhaltig beeinflußte:
Schulgebäude und Alumnatsräume erfuhren 1731/32 einen grund-
legenden Umbau, Rektor, Kantor und Schüler waren »ausgelagert<<
und anderweitig einquartiert, und dies mag mit dazu beigetragen
haben, daß Bach nicht an die Neukomposition einer Passion ging,
sondern sich mit der Auffrischung eines vorhandenen Werkes
begnügte. Immerhin investierte er so viel Arbeit, daß die Erstgestalt
aus dem Jahre 1724 im wesentlichen wieder zum Vorschein kam-
ausgenommen die Arien >>Ach, mein Sinn<< (Satz 13) und >>Zerfließe,
mein Herze<< (Satz 35) sowie den Schlußchoral >>Ach Herr, laß dein
lieb Engelein<< (Satz 40).
Ob nach 1732 und vor 1749 eine oder mehrere Aufführungen folg-
ten, läßt sich dem vorhandenen Material nicht entnehmen. Von der
in Angriff genommenen und steckengebliebenen Revision war be-
116 Hans-Joachim Schulze

reits die Rede; ob sie in das kritische Jahr 1739 gehört, oder in eines
der angrenzenden Jahre, läßt sich nicht mit letzter Gewißheit sagen.
Bach mag die Absicht gehabt haben, auch seine erste Leipziger Pas-
sion in eine gültige Form umzugießen. Die begonnen Änderungen
zielen jedenfalls in diese Richtung: geschmeidigere Choralsätze der
Art, wie sie in den nach 1730 geschriebenen Kantaten (beispiels-
weise in BWV 177) und im Weihnachts-Oratorium anzutreffen sind;
differenziertes Accompagnement im Eingangssatz; intensivierte
Deklamation und Diasthematik in den Rezitativen. Warum er diese
so zielstrebig und ertragreich durchgeführte Arbeit nach einem
Viertel der Wegstrecke ab brach, wissen w ir nicht. Wenn eine Wieder-
aufführung vor 1749 tatsächlich nicht erfolgte, wäre an eine massive
Verärgerung zu denken, beispielsweise - wie oft vermutet wird - in
Zusammenhang mit Beanstandungen wegen des Textes. Eine weni-
ger prätentiöse Erklärung könnte daraufhinauslaufen, daß der Tho-
maskantor eine Wiederaufführung für sich selbst vom Abschluß der
Revisionsarbeiten abhängig machen w ollte, diese Arbeit von Jahr zu
Jahr vor sich herschob, bis - nach der Darbietung von mancherlei
fremden Werken (Carl Heinrich Graun, Pasticcio; Keiser-Händel,
Passions-Pasticcio; Anonymus, Lukas-Passion) - ein ganzes Jahr-
zehnt ins Land gegangen war.
Nun wurde also 1749 eine Wiederaufführung in Szene gesetzt-
aber war es eine bloße Wiederaufführung, ein Routinevorgang? Das
musikalische Hauptereignis des Jahres war und blieb die Passions-
aufführung am Karfreitag allemal. Wie nur selten (etwa bei Rats-
wahlkantaten) standen Mitwirkende in auseichendem Maße zur
Verfügung, ohne daß -wie an den hohen Festen - die parallele Kir-
chenmusik in den beiden Hauptkirchen, Nikolai- und Thomaskir-
che, zur Teilung zwang. (Freilich konnte sich auch die Konkurrenz
in der Neukirche unliebsam bemerkbar machen, indem sie vor al-
lem Musiker aus Kreisen der Studenten an sich zog.) Aber zwischen
dem Neubeginn von 1724 und dem Spätstadium von 1749 lagen 25
Dienstjahre, in denen es an Höhen und Tiefen gewiß nicht gefehlt
hat. Die ärgerliche Äußerun g, >>er hätte ohnedem nichts darvon, und
wäre nur ein onus<< lag 1749 zwar schon ein Jahrzehnt zurück - aber
war es nicht wirklich ein >>onus<<- die Arbeit des Vorbereitens, Ein-
studierens, des Zusammenholensund Verschreibens der zusätzlich
benötigten Musiker, deren Bezahlung (aus welchen Mitteln?) und
schließlich das Leiten einer Aufführung, in der so manche Klippe zu
überwinden war?
Autographes Einlageblatt mit der Orgelstimme zu Satz 19, Arioso »Betrachte, meine
Seei»(Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kultur besitz, Mus. ms. Bach St 111). Erst-
schrift Fassung III ; Übersc hrift Spätautograph (Originalgröße 33,5 x 21,5 c m ).
118 Hans-Joachim Schulze

In dem Vierteljahrhundert von 1724 bis 1749 hatte sich in der


Stadt wie in ihrem Musikleben vieles gewandelt. Collegia rnusica
und studentisches Musizieren hatten an Bedeutung eingebüßt, seit
1745 das professionell organisierte und finanzierte >>Große Concert<<
ins Leben gerufen worden war. Von den Mitwirkenden der ersten
Aufführung der Johannes-Passion (1724) war 1749 praktisch nie-
mand mehr mit von der Partie, ausgenommen den Thornaskantor
selbst und ein bis zwei alte Haudegen unter den Ratsrnusikern. Hun-
derte von Thornasschülern und Dutzende von Privatschülern hatten
in diesen 25 Jahren eine mehr oder minder eingehende Unterwei-
sung durch Johann Sebastian Bach erhalten, und ein vollständiger
Generationswechsel hatte sich zugleich vollzogen.
Was 1724 neue Dimensionen (gemessen an Johann Kuhnaus Mar-
kus-Passion von 1721) eröffnet hatte, mußte 1749 als eher konserva-
tiv oder sogar regressiv gelten- aus Bachs Sicht vielleicht auch als
Gegenentwurf zu den Tendenzen, die die Graun, Stölzel, Telemann
in ihren Passionsoratorien verfolgten. Dies urnso eher, als in den
1740er Jahren so mancher dahingegangen war von denen, die seine
Kunst achteten und zu schätzen wußten: Bürgermeister Gottfried
Lange, Magister J ohann Abraham Birnbaum, der Vetter J ohann Gott-
fried Walther in Weimar ... 1749 konnte Johann Sebastian Bach
Rückschau halten auf ein reiches Schaffen, das auch in den Jahren
zwischen der mutmaßlich vorletzten Wiederaufführung der Johan-
nes-Passion (1752) und der letzten Darbietung Gipfelleistungen her-
vorgebracht hatte wie das Weihnachts-Oratorium, die letztgültige
Fassung der Matthäus-Passion, Clavier-Übung II-IV, Wohltemperier-
tes Klavier II, möglicherweise auch ein bis zwei Passionsrnusiken,
von denen keine Note erhalten ist, sowie eine unbekannte Anzahl
ebenfalls spurlos verschollener Kirchenkantaten. Über diesen stili-
stischen Kontext der 1749er Wiederaufführung läßt sich überhaupt
nichts sagen- und es wäre doch so wichtigangesichtsder Beobach-
tung, daß auf der anderen Seite für den Umgang mit älterer Musik,
mit altern Stil und alten Techniken Zeugnisse relativ reichlich vor-
handen sind: An eigenem Schaffen Johann Sebastian Bachs die spe-
zifisch an Fugen- und Kanontechniken orientierten Alterswerke
Kunst der Fuge (seit etwa 1740), Musikalisches Opfer (1747) und Ei-
nige canonische Veraenderungen, an Zeugnissen der Beschäftigung
mit fremden Werken die Wiederaufführung und Bearbeitung von
Komponisten wie Johann Christoph Bach, Johann Caspar Kerll, Se-
bastian Knüpfer-dazwischen allerdings auch das etwas versprengt
Hans-Joachim Schulze 119

wirkende Stabat matervon Giovanni Battista Pergolesi. Selbst bei


der Brackes-Passion von Georg Friedrich Händel, deren Schrift-
befund in der Abschrift Johann Sebastian Bachs mit der Johannes-
Passion um das Jahr 1749 konkurriert, 2 handelt es sich um ein
vergleichsweise altes Werk. Die etwa 1748 zum Druck beförderten
Schübler-Choräle greifen auf Kantatensätze J ohann Sebastian Bachs
zurück, die mehrheitlich dem Zeitraum 1724/25 entstammen und
nur in einem Falle etwas jüngeren Datums sind (1731). Schließlich
die mutmaßliche Hauptbeschäftigung seit der zweiten Jahreshälfte
1748 -die h-Moll-Messe (von Teil2, dem SymbolumNicenuman), ein
Opus summum, dessen älteste Bearbeitungsvorlage (>>Weinen, Kla-
gen<< BWV12 für das >>Crucifixus<<) 1749 bereits 35 Jahre altwar.Alles
dies bleibt zu berücksichtigen, wenn es gilt, die letzte Wiederauffüh-
rung der Johannes-Passion in ihrem persönlichen, individuellen
Zusammenhang zu begreifen.
Ob die 1724 getroffene Entscheidung für den originalen Bibeltext
und gegen dessen dichterische Paraphrasierung in der Art der Brok-
kes, Pos tel, Christian Reuter, Picander, also die Entscheidung für die
oratorische Passion und gegen das Passionsoratorium, Bachs Ent-
scheidung war oderdiejenige der Kirchenbehörde, wissen wir nicht.
Unbeantwortet bleibt damit auch die Frage, welche Rolle die Passi-
onsoratorien in Leipzig gespielt haben, und was Bach überhaupt
(und auch in seiner Spätzeit) mit einem Werk wie Rändels Brackes-
Passion anfangen konnte. In der vom Leipziger Großbürgertum
bevorzugten Neukirche war das Passionsoratorium schon 1717hei-
misch geworden, und Werke von Keiser, Händel, Telemann (ein-
schließlich des Seligen Erwägen) werden hier ihre Heimstatt gehabt
haben. Die Frage nach der Funktion des Passions-Pasticcios Wer ist
der, so von Edom kämmt (wenn dieses Werk denn in Leipzig zusam-
mengetragen worden sein sollte) und des darin enthaltenen Der
Gerechte kämmt um, bleibt damit ebenfalls offen.
Zum Kontext des Bachsehen Werkes gehören jedenfalls die Dar-
bietungen einschlägiger Werke in Leipzig, die dort außerhalb von
Bachs Einflußbereich standen. Ein Breitkopf-Textdruck aus dem

2Zur Datierungvon Bachs Spätschrift vgl.insbesondre Yoshitake Kobayashi, Zur Chro-


nologie der Spätwerke Johann Sebastian Bachs. Kompositions- und Aufführungstätig-
keit von 1736 bis 1750, in: Bach-Jahrbuch 1988, S. 7-72, sowie Detlev Kranemann, J o-
hann Sebastian Bachs Krankheit und Todesursache-Versuch einer Deutung, in: Bach-
Jahrbuch 1990, S. 55-64, besonders S. 62 f.
120 Hans-Joachim Schulze

Jahre 1749 enthält eine Passionsmusik, die >>Montags in der Karwo-


che<< von der >>Musikalischen Gesellschaft allhier<< aufgeführt wurde
(Textbeginn:>> Wirgingen alle in dieirre wie Schafe<<). Die Aufführung,
offensichtlich nicht in der Kirche, sondern >>in der Kammer<< stattfin-
dend, präsentierte eine Passionskantate; fünfTage später, am 4. April
1749, erklang zum letzten Mal die Johannes-Passion in der Leipziger
Nikolaikirche. Für 1750 nennt eine Aufzeichnung aus dem 19. Jahr-
hundert >>Andächtige Erinnerungen des leidenden Jesu, wie die Ge-
schichte desselben von denen Evangelisten beschrieben und am
Charfreitage vor und nach derNachmittagspredigt in der Kirche zu
St. Thomä abgesungen wird.<< Ob dieser seltsame Titel- doch wohl
zu einem Textbuch gehörig - die letzte Passionsaufführung zu
Bachs Lebzeiten, jedoch ohne dessen Mitwirkung, charakterisiert
und zugleich den beginnenden Verfall einer Gattung signalisiert,
ließe sich wohl nur nach Wiederauffindung wenigstens der Text-
quelle beurteilen.

EINIGE BESONDERHEITEN DER FASSUNG IV

1. TEXTÄNDERUNGEN

Die madrigalischen Texte der Johannes-Passion sind, wie oft be-


tont, uneinheitlicher Herkunft. Dies erschien der älteren Forschung
als Schwäche, doch kann ein derartiges >>Florilegium<< auch große
Vorzüge an sich haben. Ungeachtet aller Auswechselungen von Sät-
zen im Laufe der Herstellung von vier bis fünf Fassungen, sind die
Texte innerhalb der einzelnen Sätze doch stets gleich geblieben. Aus-
zunehmen hiervon sind Fassung IV, Satz 9, 19 und 20. Satz 9, von ei-
nem unbekannten Verfasser gedichtet, lautete ursprünglich:

Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten


Und lasse dich nicht,
Mein Leben, mein Licht.
Befördre den Lauf
Und höre nicht auf,
Selbst an mir zu ziehen, zu schieben, zu bitten.
Hans-Joachim Schulze 121

Daraus wurde 1749:


Ich folge dir gleichfalls, mein Heiland, mit Freuden
Und lasse dich nicht,
Mein Heiland, mein Licht.
Mein sehnlicher Lauf
Hört eher nicht auf,
Bis daß du mich lehrest, geduldig zu leiden.

Die Eintragung des neuen Textes hat Johann Sebastian Bach


eigenhändig vorgenommen. Daß die Änderungen auf ihn zurückge-
hen, folgt daraus nicht. Vielmehr ist anzunehmen, daß das zum
Druck vorbereitete Textbuch der geistlichen Zensur unterworfen
werden mußte und diese einige >>alte und unerbauliche<< Passagen
monierte. Das ist in der Zeit nichts besonderes, vergleicht man Ham-
burger Vorgänge um 1790 sowie Johann Friedrich Faschs Sorge, in
seinen Texten könnten >>papistische Brocken<< stehengeblieben
sein. 5
Satz 19 und 20 stammen aus der Brockes-Dichtung >>Der für die
Sünde der Welt leidende und sterbende Jesus<< in der Version von
1713. Die Vorlage war 1749 demnach 36 Jahre alt, war allerdings
1724 schon gekürzt, präzisiert und gemildert worden. Gleichwohl
muß das Bild vom 1. Regenbogen 1749 Anstoß erregt haben.

Satz 19 in der Fassung von 1724:


Betrachte, meine Seel, mit ängstlichem Vergnügen,
Mit bittrer Lust und halb beklemmtem Herzen
Dein höchstes Gut in J esu Schmerzen.
Wie dir auf Dornen, so ihn stechen,
Die Himmelsschlüsselblumen blühn!
Du kannst viel süße Frucht von seiner Wermut brechen,
Drum sieh ohn Unterlaß auf ihn!

Satz 19 in der Fassung von 1749:


Betrachte, meine Seel, mit ängstlichem Vergnügen,
Mit bittrer Lust und halb beklemmtem Herzen
Dein höchstes Gut in Jesu Schmerzen.

3 Briefvom 1. März 1752 an Johann Friedrich Armand von Uffenbach, vgl. Bernhard En-

gelke, Johann Friedrich Fasch. Sein Leben und seine Tätigkeit als Vokalkomponist,
Dissertation Leipzig 1908, S. 39-41.
122 Hans-Joachim Schulze

Sieh hier auf Ruten, die ihn drängen,


Vor deine Schuld den Isop blühn
Und Jesu Blut auf dich zur Reinigung versprengen,
Drum sieh ohn Unterlaß auf ihn!

Satz 20 in der Fassung von 1724:


Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken
In allen Stücken
Dem Himmel gleiche geht,
Daran, nachdem die Wasserwogen
Von unsrer Sündflut sich verzogen,
Der allerschönste Regenbogen
Als Gottes Gnadenzeichen steht!

Satz 20 in der Fassung von 1749:


Mein Jesu, ach! dein schmerzhaft bitter Leiden
Bringt tausend Freuden,
Es tilgt der Sünden Not.
Ich sehe zwar mit vielen Schrecken
Den heilgen Leib mit Blute decken;
Doch muß mir dies auch Lust erwecken,
Es macht mich frei von Höll und Tod.

Satz 39 weist zwar auch eine Umdichtung auf, doch ist diese von
Carl Philipp Emanuel Bach in seiner Handschrift der 1770er Jahre
eingetragen worden, und entsprechend findet der neue Text sich als
Schlußsatz von Carl Philipp Emanuel Bachs Hamburger Johannes-
Passion von 1772, gehört also weniger zur Werk- als zur Wirkungsge-
schichte.

Satz 39 in der Fassung von 1724:


Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine,
Die ich nun weiter nicht beweine,
Ruht wohl und bringt auch mich zur Ruh!
Das Grab, so euch bestimmet ist
Und ferner keine Not umschließt,
Macht mir den Himmel auf und schließt die Hölle zu.
Hans-Joachim Schulze 123

Satz 39 in der Fassung bei Carl Philipp Emanuel Bach,


Harnburg 1772:
Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine,
Um die ich nicht mehr trostlos weine,
Ich weiß, einst gibt der Tod mir Ruh.
Nicht stets umschließet mich die Gruft,
Einst, wenn Gott, mein Erlöser, ruft,
Dann eil auch ich verklärt dem Himmel Gottes zu.

2. ÄNDERUNG DER SATZFOLGE - AusTAUSCH voN SÄTZEN


Betroffen sind vorzugsweise Exordium und Conclusio (Sätze 1
sowie 39/40), dazu die Sätze 13, 19/20, 33-35. Die einzelnen Stadien
brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Daß in Fassung II (1725)
mehrere Sätze aus einer verlorenen Weimarer Passion einmalig Auf-
erstehung hielten, gilt heute als sicher. Von ihnen fand der Choral
4011 >> Christe, du Lamm Gottes« bereits 1723 seinen endgültigen Platz
in Kantate BWV 23 Du wahrer Gott und Davids Sohn. Satz 1u
»0 Mensch, bewein dein Sünde groß« war nach 1725 heimatlos, bis
1736 die Übernahme in die Matthäus-Passion erfolgte. Der Eingangs-
chor »Herr, unser Herrscher« sowie das Satzpaar 19/20 »Betrachte« I
»Erwäge<< waren nur 1725 bis 1731 zum Schweigen verurteilt, Satz 35
»Zerfließe, mein Herze« 1726 bis 1748, Satz 13 »Ach, mein Sinn« am
längsten -von 1725 bis 1748. Die relative Instabilität dieser Interpo-
lationen aufmadrigalische Texte hängt mit dem augenscheinlichen
Primat der Bibelwortvertonung zusammen.
Die Johannes-Passion ist primär vom Bibeltext her gestaltet- am
deutlichsten zu erkennen am vielfach beschriebenen Gestaltungs-
mittel der Chorpaare und der mit diesen bewirkten Symmetriebil-
dungen. Ein solches Vorgehen gerade im Zusammenhang mit dem
J ohannes-Evangelium erscheint bemerkenswert, denn dieser Passi-
onsbericht ist im Blick auf musikalische Belange und auf die Ein-
schaltung betrachtender Sätze im allgemeinen weniger ergiebig.
Die Matthäus-Passion ist demgegenüber primär von der Dichtung
her gestaltet; diese strahlt unverkennbar auf die Anlage des Passi-
onsberichtes aus. Die Tatsache, daß die meisten Choräle bei Piean-
der nicht vorgesehen sind, also eine nachträgliche Erweiterung des
Librettos darstellen, ändert nichts am Primat des Dichterischen.
Demnach ist die Johannes-Passion im weitesten Sinne der Tradi-
tion der Choralpassion mit Einlagesätzen verbunden; die Verwen-
dung fakultativer Einlagen, die Austauschbarkeit von Sätzen und
124 Hans-Joachim Schulze

auch die Tendenz zum Pasticcio sind charakteristisch für diese Tra-
dition. Als Paradigma hierfür kann ein von Werner Braun beschrie-
benes »Simultan-Textbuch« (Sondershausen 1720) gelten, das die
Choralpassion nach Melchior Vulpius enthält mit eingefügten kur-
zen Liedern und Arien, »welche denn nach Gefallen und Gelegen-
heit der Zeit und des Ortes, können gebrauchet oder außengelassen
werden«. In der Tat greift eine 1720 für Sondershausen komponierte
Matthäus-Passion auf diese fakultativen Texte zurück.

3. ÄNDERUNGEN VON BESETZUNG UND INSTRUMENTATION


Wie bereits erwähnt, ist das originale Aufführungsmaterial der Jo-
hannes-Passion recht heterogen und dann und wann auch nicht
mehr ganz vollständig. Gleichwohl kann man dem Bestand einige
grundsätzliche Verfahrensweisen entnehmen.

3.1 Der Fassung I von 1724 entstammen vier Ripienstimmen für So-
pran, Alt, Tenor und Baß, dazu je einmal Violine 1, Violine 2 und Con-
tinuo. Die Continuostimme wurde von Johann Sebastian Bach 1749
für ein Bassono grosso eingerichtet. Wie dieses aussah, wer es spielte
- ein neu berufener Stadtmusiker: Carl Friedrich Pfaffe, Johann
Christian Oschatz? -bleibt ungewiß.

3.2 Für die Fassung II von 1725 wurde ein vollständiger neuer Stim-
mensatz angefertigt, jedoch ohne Ripieni: Soprano Concertante,
Alto Concertante, Tenore Evangelista, Basso Jesus, Traversiere 1/2,
Hautbois 1/2, Violino 112, Viola, Continuo, die Organo-Stimme ist ver-
lorengegangen. Die Bedeutung von »Continuo« (Cembalo + Violon-
cello+ Kontrabaß?) bleibt zu bedenken.

3.3 Für die Fassung III gab es im wesentlichen keine neuen Stim-
men; mittels Tekturen wurden die notwendigen Änderungen gegen-
über Fassung II hergestellt: Satz 11 wieder eingesetzt, Satz 13m
eingefügt (verloren), Satzpaar 19/20 wieder eingesetzt, Sinfonia an-
stelle von Satz 33-35 eingefügt (verloren), Satz 40n gestrichen.

3.4 Für die Fassung IV wurde ein Satz Streicherstimmen zusätzlich


angefertigt (Violino 2 fehlt inzwischen), dazu eine bezifferte Cem-
balostimme. Eine weitere (unbezifferte) Cembalostimme könnte
korrekt Continuo heißen müssen. Ergänzt wurden Stimmen für Soli-
loquenten (Tenore Servus, Basso Petrus & Pilatus), die ehemals viel-
Hans-Joachirn Schulze 125

leicht verlorengegangen waren. Desgleichen mußten an vielen Stel-


len Striche wieder aufgemacht werden und so manche infolge des
Streichens undeutlich gewordene Partie, obwohl schon vorhanden,
nochmals geschrieben werden- meist von Johann Sebastian Bach
selbst (in charakteristischer Spätschrift), teils auch von seinen >>ZU-
ständigen« Kopisten.
Eine Continuostimme der Fassung I wurde von J ohann Sebastian
Bach -wie erwähnt - für Bassono grosso eingerichtet, ein Instru-
ment, das alle Tutti-Sätze (Satz 1, 39, 40, die Turbae und Choräle)
mitspielt, bei subtil besetzten Arien (Satz 7 >>Von den Stricken<<, Satz 9
>>Ich folge dir gleichfalls<< und Satz 55 >>Zerfließe, mein Herze<<)
schweigt, das Arioso >>Betrachte, meine Seel<< (Satz 19) jedoch pianis-
simo accompagniert.
Alle Tutti-Sätze werden- wie schon 1724-von Ripiensängern ver-
stärkt, die erforderlichenfalls auch Soliloquenten (Servus, Petrus,
nicht aber Ancilla) stellen. Demnach könnte die Chorbesetzung bis
zu 24 Sänger umfaßt haben.

Zu EINZELNEN SÄTZEN DER FAssuNG IV:


Satz 1 >>Herr, unser Herrscher<< kennt den differenzierten Continuo
der Revisionsfassung (Bach Compendium: D 2e) nicht, wo-
bei einschränkend zu bemerken ist, daß die Orgelstimme
nicht erhalten ist, somit über deren Sonderlesarten nichts
ausgesagt werden kann. Andere weiterentwickelte Lesar-
ten der Fassung D 2e, beispielsweise hinsichtlich der Baß-
stimme, sind in Fassung IV ebenfalls nicht berücksichtigt.

Satz 3 >> 0 große Lieb<< und

Satz 5 >>Dein Will gescheh<< zeigen gleichfalls nicht die Lesarten der
Fassung D 2e.

Satz 7 >>Von den Stricken<< läßt sich hinsichtlich Fassung IV im we-


sentlichen aus dem Hauptteil sowie dem Anhang 1 des
NBA-Bandes zusammenlesen, doch bleiben dann immer
noch einige Sonderlesarten unberücksichtigt.

Satz 9 >>Ichfolge dir gleichfalls<<, insgesamt 171 Takte umfassend


(nicht identisch mit der 164 Takte langen Fassung D 2e),
enthält Traversiere 1 und 2 noch in der ursprünglichen
Lesart sowie die oben beschriebenen Textänderungen.
126 Hans-Joachim Schulze

Satz 13 »Ach, mein Sinn«: Ursprünglich >>Aria tutti li stromenti<< be-


zeichnet, jetzt nur mit Violine 1 (drei Stimmenexemplare ),
Violine 2 (ebenfalls drei) und Viola (zwei) sowie Basso con-
tinuo besetzt. In der Stimme Bassono grosso ist innerhalb
des punktierten Rhythmus' das anlautende Achtel teil-
weise bereits als Sechzehntel notiert (der NBA-Notenband
läßt dies unberücksichtigt).

Satz 19 >>Betrachte meine Seel«: Nur in Fassung I (schon nicht mehr


in Fassung III) mit obligater Laute besetzt; Gleiches gilt
für Viola d'amore 1/2. Besetzung in Fassung IV: Violino 1/2
solo con sordino, Organo 8' + 4' beziehungsweise Cembalo,
Continuo einschließlich Bassono grosso (hier durchweg
pianissimo vorgeschrieben). Die ursprünglichen Register-
verhältnisse - hohe Lage: Viola d'amore, mittlere Lage:
Laute, Basso, tiefe Lage: Continuo- sind in Fassung IV wie
folgt verändert. Hohe Lage: Cembalo beziehungsweise Or-
gano, mittlere Lage: Violini con sordino, tiefe Lage: Basso,
Continuo. Damit erhebt sich die Frage nach Art und Lage
der Continuo-Akkorde.

Satz 20 >>Erwäge<<: Ursprünglich besetzt mit Viola d'amore 1/2


sowie Viola da gamba, in Fassung IV mit Violino 1/2 con sor-
dino statt der Violen.

Satz 27b >>Lasset uns den nicht zerteilen<<: In der Continuo-Stimme


fehlt die Sechzehntel-Figuration, diese ist nur in der (hier
abschriftlichen) Originalpartitur überliefert, jedoch ohne
Hinweis auf ausführende Instrumente (Fagott oder Violon-
cello?).

Satz 34 >>Mein Herz<<: Das Accompagnato-Rezitativ war ursprüng-


lich mit Traversiere 1/2, Oboe da caccia 1/2 und Continuo
besetzt. Der Wechsel zu Traversiere 1/2 und Oboe d'amore
1/2 erfolgte möglicherweise mit Rücksicht auflntonations-
probleme beziehungsweise auf eine verbesserte Balance
bei den ausgehaltenen Akkorden.

Satz 35 >>Zerfließe, mein Herze<<: Besetzung ursprünglich mit Tra-


versiere 1, Oboe da caccia 1 und Continuo. In Fassung IV
Hans-Joachim Schulze 127

wird die Traversiere 1 mit Violino 1 »col sourdino<< verstärkt


beziehungsweise um diese Klangfarbe bereichert.

Satz 40 >>Ach Herr, laß dein lieb Engelein<<: Dieser Satz ist in relativ
viele Stimmen nochmals eingetragen worden, nachdem er
in Fassung II durch» Christe, du Lamm Gottes<< ersetzt und
in- Fassung 111 ganz entfallen war.

4. SATZTECHNISCHE ÄNDERUNGEN
Eine eingehende Diskussion ist an dieser Stelle nicht erforderlich,
da die relevanten Änderungen der Revisionsfassung D 2e zumeist
keinen Eingang in die späteste Version gefunden haben. Dieser Ver-
zicht des Komponisten auf die bereits vorliegenden weiterentwik-
kelten Lesarten bedeutet ein kennenswertes (möglicherweise sogar
prinzipielles) schaffenspsychologisches Problem, das in größerem
Zusammenhang verfolgt werden müßte.
Als Gesamtbild ergibt sich für Fassung IV: Bach versucht weit-
gehend die Fassung I wiederherzustellen, bei Verzicht auf Sonder-
instrumente wie Laute und Viola d'amore und Einbeziehung einer
gewissen Tendenz zur Standardisierung. Bei heiklen Besetzungen
(Traversiere) wird i:h RichtungaufVerstärkung eingegriffen. Für die
Ausführung des Continuo-Parts sind Organo (ungeachtet des Verlu-
stes der Originalstimme), Cembalo (beziffert), Streichinstrumente
sowie Bassono grosso belegt. Die Mitwirkung des Cembalos ist
bereits für 1724 (Fassung I) durch eine Notiz in den Leipziger Rats-
akten nachgewiesen. Damit kann für die Johannes-Passion das» Dop-
pelaccompagnement<< (Orgel und Cembalo simultan) als gesichert
gelten.
Die heterogene Zusammensetzung des Textes bedeutet für Jo-
hann Sebastian Bach auch 1749 kein Problem (abgesehen von der
Möglichkeit äußerer Eingriffe), er akzeptiert ungeachtet des großen
zeitlichen Abstands zur ersten Aufführung das textliche »Florile-
gium<<.
Durch die Rückkehr zur ursprünglichen Werkidee ist die Johan-
nes-Passion in den Fassungen I (1724) und IV (1749) als Kunstwerk
festgeschrieben, scheinbar fakultative Einlagen sind nun nicht
mehr disponibel. Damit nähert sich die Johannes-Passion zu guter
Letzt dem von der Matthäus-Passion vorgeprägten Kunstwerk-
charakter, und schüttet auf diese Weise den zwischen beiden Passi-
onsmusiken ehedem vorhandenen Graben weitgehend zu.
128 Christoph Wolff

Eine Diskussion der musikalischen Formen der


Johannes-Passion läßt sich nicht absondern von
einer Erörterung des musikalischen Inhalts der
Passion im Allgemeinen, das heißt insbesondere
der musikalischen Konzeption des Werkes. Wir
haben uns bereits mit der Quellenlage der Johan-
nes-Passion auseinandergesetzt und sollten uns
nunmehr fragen, worin das Unverwechselbare,
die individuelle künstlerische Qualität der Johan-
nes-Passion beruht.
In der Geschichte der Bachpflege stand die
Johannes-Passion seit jeher deutlich im Schatten
der Matthäus-Passion. Die Gründe dafür sind viel-
fältig. Gewiß hat die 1829 erfolgte Berliner Auffüh-
rung der Matthäus-Passion durch Mendelssohn
dazu beigetragen, dieser seither eine unbestrit-
tene Sonderstellung im Musikleben zu verhelfen.
Rezeptionsgeschichtlich gesehen war es jedoch
vor allem das »Monumentale<< im Charakter des
Werkes, seine immens geschlossene oratorische
Konzeption, die der Kunstauffassung des 19. Jahr-
hundert entgegenkam und somit der Matthäus-
Passion den absoluten Vorrang sicherte. Es
überrascht darum auch nicht, wenn der große
Bach-Biograph Philipp Spitta (1841-1894) sich zu
einem ästhetischen Gesamturteil genötigt sah, das
der Johannes-Passion gegenüber der Matthäus-
Passion >>den höchsten Grad von Vollkommenheit<<
absprach.
Eine gerechte Beurteilung und damit ein echtes
Verständnis der Johannes-Passion läßt sich freilich
nur erreichen, wenn man sich die besonderen
Umstände der Werkgenese vergegenwärtigt. Die
Entstehungsgeschichte der Johannes-Passion
stellt sich als äußerst komplexer Fragenkreis dar,
dessen Beantwortung erst die jüngere Bach-For-
schung (vor allem im Zusammenhang mit der Edi-
tion des Werkes in der N euen Bach-Ausgabe durch
Arthur Mendel, 1973) wirklich nähergekommen
ist. Während beispielsweise die Matthäus-Passion
129

als das jüngere Werk nach ihrer Erstaufführung (vermutlich 1727)


bereits 1736 ihre Endgestalt erhielt, hat die 1724 uraufgeführte
Johannes-Passion nach mehreren tiefgreifenden Umarbeitungen
ihre letztgültige Fassung nie bekommen.
Der Johannes-Passion haften in allen ihren überlieferten Werkge-
stalten deutlich Züge an, die mit ihrem ungeradlinig verlaufeneu
Entstehungs- und Wandlungsprozeß zusammenhängen. Bach hat
mit der Johannes-Passion experimentiert, ja er ist offensichtlich in
der Werkkonzeption auf Schwierigkeiten gestoßen, die kaum zu
lösen waren. Diese lagen weniger im Detail als in der großfor-
matigen Anlage. Es dürfte schwerfallen, etwa die Einzelsätze der
Johannes-Passion gegenüber denjenigen der Matthäus-Passion un-
terzubewerten, speziell im Bereich der Chorsätze. Hinsichtlich der
Großform freilich bietet das Libretto der Johannes-Passion mit sei-
ner heterogenen Kompilation unterschiedlicher Passionensdich-
tungen (Brockes, Weise, Postel) kein echtes Gegengewicht zu dem
von Picander eigens für die Matthäus-Passion geschaffenen einheit-
lichen und geschlossenen Textbuch.
Nichtsdestoweniger zählt die Johannes-Passion, unbeschadet
ihres »unfertigen<< Charakters, unter die Großwerke des Thomas-
kantors. Im Bereich der Kunst stehen eben Vollkommenes und Un-
vollendetes - Unvollendbares nicht selten dicht beieinander. Doch
fragen wir zunächst einmal nach den Gründen der Umarbeitungen,
die teilweise wirklich tiefgreifender Art sind und sich kaum als ver-
bessernde Eingriffe erklären lassen.
Es hat den Anschein, als bezögen sich die einzelnen Umarbei-
tungsphasen deutlich auf das Verhältnis der Passion zu den übrigen
kirchenmusikalischen Planungen Bachs. Die wiederholte Auffüh-
rung der Johannes-Passion 1725, nur ein Jahr nach ihrer Erstauffüh-
rung, veranlaßte Bach zu einer ersten Umarbeitung, die sicherlich
weniger darauf zielte, eine >>wörtliche<< Wiederholung zu vermeiden,
als vielmehr beabsichtige, das Werk in den laufenden Choralkan-
taten-Jahrgang von 1724-25 einzugliedern. Nicht von ungefähr
exponiert die II. Fassung in den Rahmensätzen große Choralbear-
beitungen: >> 0 Mensch, bewein dein Sünde groß<< und >> Christe, du
Lamm Gottes<<; hinzu tritt die Choralarie Nr. 11 +mit der Liedstrophe
>>lesu, deine Passion<<. Die 111. Fassung von 1732 berücksichtigt dann
in erster Linie nunmehr die Existenz einer zweiten großen Passions-
musik, der Matthäus-Passion von 1727. Nur so erklärt sich die Elimi-
nierung der Matthäus-Evangeliumsabschnitte aus der Johannes-
150 Christoph Wolff

Passion. Die IV. Fassung der Johannes-Passion kehrt schließlich im


wesentlichen zur ursprünglichen Werkfassung zurück, da der Ab-
stand zum Choralkantaten-Jahrgang sowie zur Matthäus-Passion
(die 1756 den Satz" 0 Mensch, bewein<< als Abschlußstück des 1. Teils
übernahm) gewährleistet war und die Johannes-Passion sich als
eigenständiges Werk behaupten konnte, und dies nicht zuletzt
durch eine Vergrößerung der Besetzung dokumentierte.
Alle größeren Vokal-Instrumentalwerke Bachs haben gewisse
Umarbeitung erfahren (Matthäus-Passion, Messe h-mol[), doch
keines in so tiefgreifender Form wie die Johannes-Passion. Dies läßt
darauf schließen, daß Bach an der Johannes-Passion gewisse konzep-
tionelle Schwierigkeiten erkannte und zu bewältigen versuchte.
Welcher Art waren sie? Wie lassen sie sich dingfest machen?

Drei Aspekte treten hier in den Vordergrund:


1. Es bestanden zweifellos formale Unsicherheiten bei der Gestal-
tung der Passionsmusik, die als >>musicirte Passion<< ja erst 1721
durch Kuhnau in Leipzig eingeführt wurde. Das Leipziger Modell,
für das es keine Parallele gab und das als Modell sich auch noch
nicht festigen konnte, unterschied sich von der modernen Gat-
tung des Passionsoratoriums durch die Bewahrung des unverän-
derten Bibeltextes und die Aufnahme einer großen Anzahl von
Chorälen. Bach war notwendigerweise gezwungen, unter Berück-
sichtigung der Leipziger Erfordernisse, seine eigene Lösung für
eine große Passionsmusik zu finden.

2. Bach hatte sich zwar bereits in Weimar mit der Gattung Passion
auseinandergesetzt (jenes vermutlich 1717 entstandene Werk hat
sich freilich nicht erhalten), doch war es für Leipzig neben dem
Magnificat von Weihnachten 1725 sein erstes Großchorwerk. Es
mußten sich somit zwischen den künstlerischen Ambitionen auf
der einen Seite und dem Mangel an einschlägiger Erfahrung auf
der anderen Seite gewisse -wenngleich überraschend geringe -
Schwierigkeiten ergeben, die auf das Werk durchschlugen.

5. Das Hauptproblem für Bach entstand aus dem Nicht-Vorhanden-


sein eines geeigneten einheitlichen Librettos. So war er darauf
angewiesen, ein Libretto zu kompilieren, das zwar die Leipziger
Erfordernisse erfüllte (und wohl auch für diese erstellt war),
jedoch die madrigalischenTexte aus verschiedenen vorhandenen
Christoph Wolff 131

Passionsdichtungen von Barthold Heinrich Brockes, Christian


Heinrich Postel und Christian Weise kompilierte. Ein poetisch
einheitliches Libretto lieferte ihm dann später erst Christian
Friedrich Henrici (Picander) für die Matthäus-Passion.

Insgesamt zeigt sich, daß der Johannes-Passion ein gewisser Expe-


rimentiercharakter anhaftet, wenn man Bachs Umgang mit diesem
Werk über die Jahrzehnte beobachtet. Dennoch erscheint es merk-
würdig, wenn der Komponist gegen Ende im wesentlichen auf die
Anfangsfassung zurückkommt- dies spricht eigentlich für die Wert-
schätzung des ersten Entwurfes, dem auch ganz zweifellos be-
sondere Qualitäten innewohnen, die mit der Individualität der
Johannes-Passion zusammenhängen, das heißt insbesondere mit
dem theologischen Charakter dieses Evangelienberichtes und sei-
ner musikalischen Behandlung durch Bach.
Die wechselvolle und überaus komplizierte Entstehungsge-
schichte der Johannes-Passion mag leicht davon ablenken, die
besonderen Qualitäten dieses Werkes und seine einzigartige musi-
kalische Substanz recht zu würdigen. Unbeschadet der vielfältigen
Wandlungen demonstriert die Komposition in all ihren Teilen ein
gleichmäßig hohes Maß an musikalisch-technischer Ausarbeitung.
Hinzu kommt ein Grad an Originalität, der in mancher Beziehung
über dem der Matthäus-Passion steht. Dies gilt zumindest für die
Gestaltung der Rahmenteile, also Eingangs- und Schlußchor, die
durchaus unkonventionell gehalten sind. Die Matthäus-Passion
steht mit ihren Rahmenteilen sehr viel mehr in der Tradition des ba-
rocken Passionsoratoriums, in dem sie madrigalische Dichtung -
also kontemplative Stücke - für den Eröffnungs- und Schlußsatz
wählt. Bachs Lösung für die Johannes-Passionlehnt sich mehr an die
Tradition der Passions-Historie des 17. Jahrhunderts an, die norma-
lerweise durch ein schlichtes Exordium (»Höret das Leiden unseres
Herrn J esu Christi ... <<) eröffnet wurde. Bach verbindet hier das Lehr-
hafte (>>Zeig uns durch deine Passion ... <<) des Exordiums mit einer
Charakterisierung des Johannes-Evangeliums als eines Berichtes
vom Königtum Christi (>>Herr, unser Herrscher ... <<). Mit dieser Text-
wahl knüpft Bach beziehungsweise sein unbekannter Librettist an
eine in Kursachsen damals übliche Kollektengebet-Eröffnungsfor-
mel an: >>Herr, unser Herrscher, dessen Namen herrlich ist in allen
Landen!<< (Dresdner Gesangbuch 1725). Der Schußchoral schließ-
lich bietet dem Grabeschor (Satz 39) gegenüber den eschatologi-
132 Christoph Wolff

sehen Ausblick, der an die lehrhafte Eröffnung der Passionsmusik


anknüpft.
Wichtig für die großformale Gestaltung der Johannes-Passion
erscheint, daß Bach keine inhaltlich-dichterischen Gestaltungsprin-
zipien präjudiziert findet. Das heißt im Vergleich mit der poetisch
einheitlich konzipierten Matthäus-Passion, daß Bach für die be-
trachtenden Stücke als Einschübe in den Evangelienbericht weitge-
hende Freiheit besitzt. Davon macht er auch ausgiebig Gebrauch,
indem er Texte verschiedenster Provenienz (vor allem Brockes,
Postel und Weise) freizügig kombiniert.
Zu den Besonderheiten der Johannes-Passion gehört gerade auch
die relative Unterbetonung der madrigalischen Dichtungen und -
daraus resultierend - insgesamt ein Zurücktreten der Bedeutung
der solistischen Stücke. Die Anzahl der Arien ist denn auch nicht
groß, ihre jeweilige Ausdehnung durchaus mäßig. Während Bach in
der Matthäus-Passion das solistische Element durch die prinzipielle
Einleitung der Arien durch ausgedehnte Ariosi betont, kennt die
Johannes-Passion nur zwei solcher Arioso-Aria-Paare. Frei ist sie
auch von mehrschichtigen Soli (Duetten usw.) sowie ausgedehnten
Solo-Chor-Kombinationen. Bis auf den >>Ruht wohl<<-Chor fehlen
madrigalische Tuttisätze.
Auch in der Rezitativgestaltung geht die Johannes-Passion eigene
Wege. Ein Merkmal der Matthäus-Passion ist die Differenzierung
zwischen den Jesus-Worten und dem übrigen Evangelienbericht
durch Streicher-Accompagnato und Secco-Begleitung. In der Johan-
nes-Passion hingegen tritt ausschließlich Secco-Begleitung auf. Da-
für hebt Bach textlich besonders wichtige Passagen durch motivisch
ausgearbeitete und metrisch gebundene Gestaltung heraus, so bei-
spielsweise die Petrus-Klage >> ••• und weinete bitterlich<< (Satz 12c)
wie die Geißelung Jesu >> ••• und geißelte ihn<< (Satz 18c).
Insgesamt zeigt sich, daß quantitativ wie qualitativ der musikali-
schen Gestaltung des Evangelienberichtes ein größerer Raum
zukommt, als etwa in der Matthäus-Passion. Die ausgedehnte, bild-
hafte Auszeichnung charakeristischer Textpartien wie die klassi-
sche Stelle der Lacrimae Petri >> ••• und weinete bitterlich<< (Satz 12c)
oder die Worte >> ... und geißelte ihn<< (Satz 18c) findet sich in der
Matthäus-Passion genausowenig wie etwa die Motivvorgabe durch
den Evangelienbericht für die Gestaltung eines madrigalischen
Stückes wie im Falle von >>Es ist vollbracht« (Ende Satz 29), so daß die
Arie die weitere Entwicklung dieses Motives als Aufgabe über-
Christoph Wolff 133

nimmt. Am bedeutsamsten erscheint jedoch sichtlich das Gewicht


der Turba-Chöre mit ihrer oft ungewöhnlichen Ausbreitung selbst
bei geringen Textmengen, z.B. >>Weg, weg mit dem, kreuzige ihn<<
(Satz 23ct).
Um den Stellenwert der Vertonung des Evangelienberichts recht
einschätzen zu können, wäre es notwendig, seine Funktion im Rah-
men des Kompositionsprozesses festzustellen. Dies ist freilich nicht
möglichangesichtsdes Verlustes der Kompositions-Partitur. Wie wir
gehört haben, hat sich innerhalb der Original-Quellen nur eine teil-
autographePartiturvon 1739 erhalten, deren Aussagekraft im Blick
auf die Kompositionsgeschichte der Erstfassung von 1724 verständ-
licherweise höchst gering ist. Es bleibt also keine Wahl, als an die-
sem Punkte zu spekulieren.
Lassen Sie mich an diese Stelle einen Gedanken entwickeln, der
in dieser Form noch nicht in die Diskussion um die Johannes-
Passion eingebracht worden ist. Ich möchte die These vertreten und
begründen (freilich ohne sie quellenkritisch untermauern zu kön-
nen), daß die Vertonung des Evangelienberichtes die primäre
Schicht der Komposition darstellt. Ja, es besteht Grund zu der
Annahme, daß Bach den Bibeltext im Zusammenhang und wohl
weitgehend unabhängig von den madrigalischen Stücken und
Chorälen komponierte, die dann als zwar wesentliche, doch sekun-
däre Glieder eingefügt wurden. Wichtigstes Argument für diese
These ist die harmonische Gesamtplanung der Johannes-Passion,
die auf der Basis des Evangelienberichtes steht, nicht aber- wie im
Falle der Matthäus-Passion - auf der Basis der madrigalischen
Stücke. Dazu gehört beispielsweise, daß der Evangelien-Bericht
deutlich in c-Moll beginnt (Satz 2") und ebenso deutlich in c-Moll
aufhört (Satz 38), während die Rahmensätze (Nr. 1 und 39-40) hier
andere Akzente setzen: Eingangs-Chor in g-Moll; Schlußsätze in
c-Moll bzw. Es-Dur; (die Untersuchung der ursprünglichen Gesamt-
planung muß selbstverständlich von der Erstfassung des Werkes
ausgehen).
Der sich hierin andeutende geschlossene Charakter der Evange-
lien-Vertonung spiegelt sich insgesamt wieder im tonartliehen
Aufriß des Werkes, das sich in neun Textabschnitte, (sprich: dramati-
sche Szenen) einteilen läßt: Dieser Aufbau wird exakt in der harmo-
nischen Struktur des Evangelienberichtes greifbar, und zwar in
einer absolut symmetrischen Anlage der Tonartensphäre, und zwar
unter Berücksichtigung dreier verschiedener Modi: Be-Tonarten,
134 Christoph Wolff

Kreuz-Tonarten, vorzeichenfreie Tonarten, das heißt entsprechend


den drei traditionellen Hexachorden: molle, durum und naturale.

Tabelle 1:

Tonarten-Planung

Satz Tonarten-Modus Szene (Actus)

1-10: ~ Gefangennahme J esu


10-14: # - Verleugnung des Petrus
15-18: q Vor Pilatus

~
19 -21f: ~ Geisselung -Verspottung
21g-23: # Verurteilung
24 -27a: ~ Kreuzigung
27b-27c: q Teilung des Rockes
27c -34: # - Tod
35-40: ~ Grablegung

Untersuchen wir zunächst zwei kurze Beispiele für Bachs Anwen-


dung des Wechsels von Tonarten-Modi zur Abgrenzungvon Szenen
des Passionsdramas.

1. In Satz 10 findet sich in Takt 9 die graduelle Aufhebung der


vorangehenden b-Vorzeichnung (Hexachordum molle) zum Text
>> ••• undführete Petrum hinein.<< Hier vollzieht sich also hörbar der

Wechsel von der Szene der Gefangennahme zur Szene der Ver-
leugnung des Petrus. Der vorzeichenlose Abschnitt bereitet nicht
nur die Kreuz-Tonartensphäredes Hexachordum durum (fixiert
im A-Dur von Satz 11 >>Wer hat dich so geschlagen<<) vor, sondern ge-
hört selbst bereits dorthin, wie die Vielzahl von kreuztonartliehen
Wendungen zeigt.

2. Satz 16a >> Daführeten sie Jesum von Kaipha vor das Richthaus<< be-
ginnt vorzeichenlos (Hexachordum naturale ); der Übergang zum
Hexachordum mollevollzieht sich in Satz 18b >>nicht diesen, son-
dern Barrabam<< (Satz 19 fixiert Es-Dur): Wechsel von der Szene
vor Pilatus zur Geißelung und Verspottung.
Christoph Wolff 135

An diesen Beispielen zeigt sich Bachs bewußte und gezielte


tonartliehe Disposition, deren symmetrische Gesamtanlage das
Hexachordum durum aus inhaltlichen Gründen ins Zentrum stellt.
Die Zuspitzung der kreuztonartliehen Sphäre findet sich dann in der
Tat in der Mitte des Werkes, das heißt zwischen den Sätzen 21 g und
23. Nicht von ungefähr basiert der eröffnende Turba-Satz 23a auf
4 Kreuzen (das Maximum in Bachs Vokalmusik). Die stufenweise
Reduktion auf 3 Kreuze (Satz 23d) bzw. 2 Kreuze (Satz 23•) bietet die
organische Rückleitung zur Be-Tonartensphäre, die mit der Modula-
tion nachg-Moll in Takt 85 erreicht und in Satz 24 befestigt wird. Es
dokumentiert sich hier aufs Deutlichste die Eigenständigkeit des
harmonischen Denkens und seine Funktion als primäre Schicht im
Blick auf die großformale Gestaltung der Komposition.
Dazu gehört aber-auch die architektonische Idee einer symme-
trisch modalen Ordnung: ein altmodischer Zug, verbunden mit
modernen strukturellen Ambitionen. Denn diese Art der extremen
Abfolge kontrastierender Tonarten ist vorbildlos, ohne Parallele,
und setzt sicherlich das Wohltemperierte Klavier voraus, das die un-
begrenzte Verfügbarkeit aller 24 Tonarten -von denen die Johannes-
Passion nur ein relativ enges Spektrum bietet - demonstrierte.
Es zeigt sich hier oas interpretatorische Gewicht der musikalisch-
harmonischen Konzeption: Der Kreuzweg, die Passion Christi
durchmißt die extremen Grenzbereiche zwischen Leben und Tod,
mit allen Leidenschaften (vom Ausdruck der Liebe bis zum Aus-
druck des Schmerzes), also der geradezu ideale Stoff, diese Affekten-
Palette musikalisch darzustellen. Daß Bach dies nicht in will-
kürlicher Abfolge tut, sondern in strenger Anordnung, zeigt nicht
nur seinen künstlerisch architektonischen Ausdruckswillen, son-
dern auch seine Achtung vor dem besonderen Wert des Textstoffes.
Wir finden hier auch den Einstieg in die Behandlung der Turba-
Chöre, die ja in der Johannes-Passion ebenfalls ein besonderes archi-
tektonisches Gewicht erhalten, und zwar insofern, als sie eine
Vielzahl von Korrespondenzen aufweisen. In einer bedeutenden
Untersuchung hat Friedrich Smend im Bach-Jahrbuch 1926 den
Bauplan der Johannes-Passion beschrieben und gedeutet und dabei
auf eine Konfiguration zu Chören in der Mitte des zweiten Teiles auf-
merksam gemacht, die eine von ihm als Chiasmus bezeichnete Sym-
metrie aufweisen.
Smends Interpretation des von ihm beschriebenen Befundes
mündet in eine christologische Deutung des »Herzstückes« und
136 Christoph Wolff

dessen zentralen Choralsatzes (Nr. 22) mit der Textaussage »Durch


dein Gefängnis, Gottes Sohn, muß uns die Freiheit kommen . .. << Wer-
ner Breig hat in einem Aufsatz (»Zu den Turba-Chören von Bachs
Johannes-Passion<<, in: Hamburger Jahrbuch für Musikwissen-
schaft, Band 8, 1985) Smends Interpretation und ihre formale
Grundlage mit analytischen Argumenten zu widerlegen versucht,
sieht sich dabei jedoch gezwungen, einige Sätze aus seinem
>>Gesamtsystem<< auszuklammern (darunter Nr. 18b und 23r),- ein
Verfahren, das der Logik der Komposition durchaus zuwiderläuft.
Mir scheint, daß dem Formplan des Ganzen am ehesten eine Ana-
lyse gerecht wird, die die primäre Funktion der Komposition des
Evangelienberichtes im Rahmen des Gesamtwerkes als Ausgangs-
punkt anerkennt.
Die kompositorische Gestaltung des Bibeltextes als gleichsam in
sich geschlossenes, einheitliches Stück legt nahe, thematische
Korrespondenzen zu entwickeln, die insgesamt 14 Sätze betreffen:

Tabelle 2:

Turbae ChorsatzlEe Orchestersatz


Teil [ 2b: >>lesum von Nazareth« (Modell/Motivik:) a obligat; Kp. x
I 2d: »lesum von Nazareth« a obligat; x
12b: »Bist du nicht seiner Jünger einer« b colla parte

Teil »Wäre dieser nicht ein Übeltäter« c colla parte; x


II »Wir dürfen niemand töten« c+ a colla parte; x
»Nicht diesen, sondern Barrabam« a colla parte; x
»Sei gegrüßet, lieber Jüdenkönig« d colla parte; y
»Kreuzige, kreuzige« e obligat (Str.)
»Wir haben ein Gesetz« f colla parte
»Lässest du diesen los« f colla parte
»Weg, weg mit dem<< e obligat (Str.)
»Wir haben keinen König« a obligat; x
»Schreibe nicht: der lüden König« d colla parte; y
27b: »Lasset uns den nicht zerteilen« g colla parte

Dazu stichwortartig einige Bemerkungen. Die Identität der Texte


von Satz 2b und 2ct diente offensichtlich als >>Aufhänger.<< Die Bezug-
losigkeit der Schlußglieder (Satz 12b und 27b) betont hingegen den
eigenständigen Abschluß der Teile 1 und 2. Die Zuspitzung der Kor-
respondenzen im thematischen Bereich findet sich dem Höhepunkt
Christoph Wolff 137

des Passionsdramas entsprechend in der Mitte des 2. Teils. Die


Motivik e >>Kreuzige<< (Satz 21 d und 23d) greift übrigens in der Bezug-
nahme auf das Modell des Contrapunctus syncopatus auch auf den
Eingangssatz zurück (vgl. die Oboen/Flöten in den Anfangstakten
und öfter). Die Rolle des obligaten Orchesters nimmt an Wichtigkeit
zu, indem zu dem einstimmigen instrumentalen Kontrapunkt (x)
später auch ein zweistimmiger (y) tritt; das Eindringen des instru-
mentalen Kontrapunktes (x) in den 2. Teil birgt ein starkes Moment
der Beziehungsstifung zwischen den beiden Teilen, wie es auch
durch das übergreifende Motiv a als >>Stabilisationsfaktor<< gewähr-
leistet wird. Die dramatische Zuspitzung läßt Bach zwischen den
Sätzen 21 b und 23r auf eine Unterbrechung durch madrigalische
Stücke verzichten. Dies veranlaßt ihn auch zu dem Kunstgriff, die
Ariendichtung >>Durch dein Gefängnis<< in Form eines Chorales zu
setzen, um madrigalische Unterbrechung zu vermeiden und gleich-
zeitig einen formalen und inhaltlichen Akzent zu 1),
setzen, der von
Smend sicherlich richtig gedeutet wurde.

Meine Deutung des formalen Befundes würde etwa folgender-


maßen lauten:

1. Bach strebt musikalische Vereinheitlichung an durch Schaffen


von Korrespondenzen und unter Bewahrung der relativen Eigen-
ständigkeit des Evangelienberichtes.
2. Der Berichtsfunktion und der dramatischen Zuspitzung entspre-
chend wird der entscheidende Teil der Johannes-Passion im
wesentlichen ohne Unterbrechung durchkomponiert und konzi-
piert: von Satz 21 b bis 23r gibt es in der Tat überhaupt keine Unter-
brechung. Kontraststücke finden sich unmittelbar vorausgehend
in den Sätzen 19/20 (>>Betrachte<< I >>Erwäge<<) kontemplativer Hal-
tung sowie anschließend in Satz 24 (>>Eilt<<) von dramatischem Ge-
stus.
3. Die formale Symmetrie hat wohl weniger symbolische Bedeu-
tung. Sie dient vielmehr der unmittelbaren Intensivierung des
musikalischen Ablaufs und damit der musikalisch-dramatischen
Zuspitzung und sowie der inhaltlichen Gewichtung, wie sie
schon Smends christologische Interpretation betont hat.

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Choräle und madriga-
lischen Sätze.
158 Christoph Wolff

CHORÄLE

Der erste Choral (Satz 5) bringt einen typischen Passionston, den


auch die Matthäus-Passion aufgreift, da sich die Melodie >>Herz-
liebster J esu<< mit keinem anderen Lied verbindet. Durch mehrfache
Verwendung ein und desselben cantus firmus wird außerdem das
Element der Vereinheitlichung erneut unterstrichen. So erscheint
die Melodie von Satz 5 noch einmal im Zweiten Teil (Satz 17); eben-
falls zweimal erscheint die Melodie von Satz 15 I Satz 57, und zwar
zugleich unter Betonung der Rahmenfunktion dieses Choralsatzes
(in zwei verschiedenen Tonarten: e- und f-phrygisch) zu Beginn und
Ende des Zweiten Teils. Die Melodie des Passionsliedes »J esu Leiden,
Kreuz und Pein<< erscheint sogar dreimal (Satz 14, 28 und 52). Zu
verzeichnen ist ein Wandel des Satzstiles bei den Chorälen der
Johannes-Passion in ihrer Revisions-Fassung, die freilich nur bis
Satz 10 vollendet wurde. Gegenüber der I. Fassung revidiert Bach die
Choralsätze 5 im Sinne der polyphonisierten Satzweise, wie
sie für den späten Choralstil Bachs, etwa im Weihnachts-Oratorium
von 1754-55, charakteristisch ist. Doch schon in den früheren
Fassungen der Choralsätze zeigt sich das Streben nach variativer
Differenzierung (vgl. etwa die unterschiedliche Behandlung des
Basses in Satz 5 und 17). Auch bei weniger kontrapunktierenden
Mittelstimmen steht die Textauszeichnung im Vordergrund der
Harmonisierung (vgl. Satz 5, Takt 5f.: >>Geduld in Leidenszeit<<; Satz
15, Takt 5: >>kein Bös<<).

MADRIGALISCHE STÜCKE

Hier fällt auf, daß der eklektische ZugriffBachs bei der Textwahl
(Brockes, Postel, Weise etc.) auch in der Gestaltung der Stücke Kon-
sequenzen mit sich bringt, wie auf der anderen Seite das homogene
Libretto der Matthäus-Passion ein Optimum an Textvorlage bietet,
die zur formalen Vereinheitlichung führt. Es scheint, als habe Bach
die heterogene Struktur der madrigalischen Texte nicht musi-
kalisch verdecken wollen, im Gegenteil. Zum musikalischen Reiz
der madrigalischen Stücke der Johannes-Passion gehört die außer-
gewöhnlich kontrastreiche Behandlung und die schiere Vielfalt an
Satztypen, die singulär erscheinen, beispielsweise:
Christoph Wolff 139

Choral + Arie »Mein teurer Heiland« (Satz 32)


Dialog - Arie »Eilt, ihr angefochtenen Seelen« (Satz 24)
DaCapo -Arie »Erwäge« (Satz 20)
durchkomponierte Arie »Ach, mein Sinn« (Satz 13)

Auch die beiden Satzpaare Nr. 19/20 (>>Betrachte<< I >>Erwäge<<) und


Nr. 34/35 (>>Mein Herz<< />>Zerfließe<<) sind total versc1l.i'fmen: Nr.19/20
erscheint als homogenes Paar, auch von der Instrumentation und
der bildhaften Verwendung der Regenbogenfigur her. Nr. 34/35
wirkt hingegen als Kontrastpaar: Nr. 34 als Tutti-Stück, Nr. 35 als
Solo-Satz.
Bei den insgesamt zehn madrigalischen Stücken zeigt sich eine
höchst differenzierte Disposition in der instrumentalen Klang-
farben-Gewandung, vor allem insofern, als von Satz 13 bis 32 die
Bläser völlig ausgespart werden und erst in dem letzten Satzpaar die
beiden Bläserfamilien (Oboen und Flöten) der Anfangsarien erneut
(und diesmal in abrundender Kombination) auftauchen:

Satz 7 2 Oboen
Satz 9 2 Traversieren
Satz 13 Streicher
Satz 19/20 Violen d'amore, Laute
Satz 24 Streicher
Satz 30 Gambe
Satz 32 Basso continuo
Satz 34/35 Traversiere/Oboe da caccia

Durch die Vielfältigkeit der madrigalischen Stücke sieht sich


Bach wohl veranlaßt, bei den großen Rahmensätzen den Akzent auf
formale Geschlossenheit zu setzen. Dies gilt insbesondere für die
Anlage des Schlußchores, dessen gleichmäßiger Menuett-Rhyth-
mus sein Pendant in einer ausgewogenen fünfteiligen Rondeau-
Gliederung findet:

A B A B A
c As c Es c

Letztlich nicht weniger ausgewogen wirkt der auf einen Prosatext


komponierte Eingangschor, den Bach - großformal gesehen -je-
doch als Dacapo-Arie behandelt. Doch erscheint der Satz von seiner
140 Christoph Wolff

Substanz her alles andere als Dacapo, wie sich schon darin erweist,
daß Bach ein und demselben synkopierten Fugato-Motiv

_f.j mehrere Texte unterlegt:

1. >>Herr, unser Herrscher<<


2. >>Zeig uns durch deine«
3. >>Daß du, der wahre«

Diese leichte formale Verwirrung gleicht Bach dadurch aus, daß


er dem Satz eine überaus zwingende Struktur verleiht, die auf dem
Alternieren von akkordischenund imitativen Satzprinzipien basiert.
Anhand von zwei Arten der Basso-Continuo Begleitung (als beson-
ders hervorstechendes Merkmal herausgegriffen), läßt sich die
Analyse aufhängen:

TypA Typ B

rrri rrrr
A B A* I B A** B A** I A B A*
(*variiert)
(**dynamisch zurückgenommen: piano)

Die ABA- Dacapo-Form ist bereits in der Untergliederung der


Großteile I beziehungsweise II impliziert und gibt damit gerade dem
Anfangssatz ein stark vereinheitlichtes Gesicht.
Ich möchte jedoch betonen, daß sich, abgesehen vom Eingangs-
und Schlußchor, in den madrigalischen Stücken insgesamt die Ten-
denz zur Vereinheitlichung nicht findet. Das läßt sich vielleicht am
deutlichsten an der Arie >>Es ist vollbracht« demonstrieren, bei der
Bach aus jeglicher Dacapo-Konvention herausbricht, und dies offen-
bar aus inhaltlichen Gründen. Bach hält den an zentraler Stelle
stehenden Satz (thematische Verknüpfung mit dem Schluß des vor-
angehenden Rezitativs!) im Stil eines französischen Tombeaus
(Symbol: Christus stirbt als König!), in dem der stille Klang der
Gambe überwiegt. DerB-Teil bringt üblicherweise dynamische Zu-
rücknahme; hier aberwählt Bach das Tutti: >>Der Held«. DerB-Teil ist
also dynamisch stärker als derA-Teil und bringt damit eine Umkeh-
rung der Verhältnisse. Aber auch dieA-Teile werden quasi ausge-
Christoph Wolff 141

tauscht: Die Wiederholung des A-Teiles geschieht in der Dacapo-


Arie normalerweise unter Verwendung von ausgezierter Deklama-
tion. In der Arie Satz 30 hingegen entkleidet Bach den A'-Teil seiner
Verzierungen und reduziert die Deklamation auf die Gestalt, wie sie
original im Rezitativ erscheint.
Hier, an einem solchen Detail, zeigt sich letztlich das zentrale Ge-
wicht des biblischen Berichtes für Bachs Vertonung der Johannes-
Passion. Und darin erweist sich schließlich der eigenständige musi-
kalische Gesamtcharakter der Johannes-Passion, die sich von ihrem
späteren Schwesterwerk Matthäus-Passion vor allem dadurch
unterscheidet, daß sie weniger Oratorium als Historia sein will und
damit enger der ursprünglich liturgischen Funktion der Passion ver-
pflichtet bleibt.
142 Martin Petzoldt

»Aifred Dürr in Dankbarkeit und herzlicher


Verbundenheit zum 75. Geburtstag gewidmet.«

1. ZUR GESTALT DES TEXTBUCHES

Bekanntheil und Gewohnheit im Umgang mit


der Johannes-Passion Johann Sebastian Bachs
lassen schwer den Gedanken aufkommen, daß es
eigentlich kein geschlossenes Textbuch der Johan-
nes-Passion gibt. Der erste flüchtige Blick erkennt-
wie in anderen oratorischen Werken Bachs und
vielen seiner Kantaten ebenso - die Dreiheit von
biblischen Texten, Kirchenliedtexten und freien
Texten. Die Beschäftigung mit der Textgestalt der
oratorischen Werke Bachs pflegt in der Regel, die
freien Texte und die Liedstrophen als wesentliche
Merkmale zu würdigen. Unsere Überlegungen
werden sich zuerst dem Bibeltext zuwenden, dann
den Liedstrophen und zuletzt den freien Texten.
Dieses Verfahren legt sich deshalb nahe, weil beim
Textbuch der Johannes-Passion eine erhoffte
Geschlossenheit nicht durch die redigierende,
sortierende und gestaltende Hand eines Dichters
erreicht wird, sondern allenfalls durch den Passi-
onsbericht des Johannes. Er ist auch das Element
des Textbuches, das theologische Leitlinien preis-
gibt. Insgesamt muß das Textbuch der Johannes-
Passion als unausgeglichen bezeichnet werden.
Diese Tatsache macht es aber theologisch beson-
ders reizvoll. Methodisch heißt das, daß es unsere
Aufgabe ist, überzeugende Beziehungen und
Strukturen offenzulegen, die nach Möglichkeit
theologisch durch die zeitgenössische Theologie
identifiziert und stabilisiert werden können.

2. GLIEDERUNG DES BIBLISCHEN TEXTES

Nicht selten wird die sinnvolle Gliederung des


biblischen Textes in der Johannes-Passion hervor-
143

gehoben: Anläßlich der Sommerakademie 1985 bestand Gelegen-


heit, den Schlüssel der Textgliederung der Passionen Bachs offenzu-
legen.1 Der Schlüssel zeigt sich in den drei Bach-Passionen (Joh, Mt,
Mk) deshalb so überzeugend, weil er bereits in anderen, ebenso von
Bach aufgeführten Passionen ignoriert wird: man vergleiche die
Markus-Passion Reinhard Keisers und die anonyme Lukas-Passion.
Den Schlüssel finden wir in der Gliederung nach Actus, wie sie sich
sowohl in Predigten als auch in Passionsdarstellungen findet und
vor allem für die im protestantischen Raum wirksame klassische
Passionsharmonie typisch ist. Dabei bleibt variabel, ob den fünf
Actus - Hortus, Pontifices, Pilatus, Crux, Sepulchrum - ein Textbe-
stand vorgeordnet wird, der sein Material aus den insgesamt neun
Abteilungen der Passionsharmonie bezieht, die auch dort der eigent-
lichen Passionsgeschichte vorausgehen:

1. Christi Verkündigung seines Leidens,


2. Der Juden Anschlag, Christum zu töten,
3. Christi Salbung,
4. Judas' Absprache des Verrats,
5. Die Bereitung des Osterlammes,
6. Die Einsetzung des Abendmahls,
7. Die Fußwaschung,
8. Die Entdeckung des Verräters,
9. Die Schlichtung des Zanks unter den Jüngern.

So sind z. B. in Bachs Matthäus-Passion und Markus-PassionTeile


der sogenannten >>Vorbereitung des Leidens Christi<< einbezogen,
während die Johannes-Passion nur den Textbestand der klassischen
fünf Actus aufweist.

Wesentlich an Bachs Passionen ist hinsichtlich ihres biblischen


Textbestandes zweierlei: Einmal bezieht sich Bach konsequent auf
den Text je eines Evangelisten; negativ: Bach verzichtet auf Text-
vorlagen, die die Bugenhagensehe Passionsharmonie im biblischen
Wortlaut oder in versifizierter Gestalt (beispielsweise die Brackes-
Passion) voraussetzt; zweitens ist in den von Bach vertonten

1 Vgl. dazu meinem Beitrag» Passionspredigt und Passionsmusik der Bachzeit«, in: J. S.

Bach, Matthäus-Passion BWV 244 (= Schriftenreihe der Internationalen Bachakade-


mie Stuttgart, Bd. 2), Kassel u. a. 1990, S. 8-23, bes. 14-18.
144 Martin Petzoldt

Passionen in auffälliger Weise am Gliederungsschema der Passions-


harmonie nach Actüs festgehalten; negativ: Bachs Passionen stehen
damit im Gegensatz zu den von ihm nachweislich auch aufgeführ-
ten Passionen nach Markus von Reinhard Keiser und nach Lukas
von einem unbekannten Komponisten.

Da die Gliederung des Passionsvortrages bereits im 16. und 17.


Jahrhundert mit Hilfe von Kirchenliedstrophen erfolgte, erscheint
es sinnvoll, zunächst den Blick auf das Verhältnis der Actüs zu den
vorhandenen bzw. möglichen Schlußstrophen zu richten (vgl.
Anlage 1). Dabei bestätigt sich die frühere Einsicht der Stabilität
der Actüs bei Bach:

Hortus: Joh 18, 1-11; Satz 5: >>Dein Will gescheh, Herr Gott«;
Pontifices: Joh 18, 12-27; Satz 14: »Petrus, der nicht denkt zurück«;
Pilatus: Joh 18, 28-19,22; Satz 26: »In meines Herzens Grunde<<;
Crux: Joh 19, 23-37; Satz 37: »0 hilf, Christe, Gottes Sohn<<;
Sepulchrum: Joh 19, 38-42; ohne eigenen Schlußsatz.

Auch fiel immer schon auf, daß es in dem von Bach vertonten
johanneischen Passionstext zwei >>Interpolationen<< aus dem
Matthäustext gäbe (vgl.Anlage 2). Im Actus >>Pontifices<< werden zwei
Satzteile aus Mt 26,75 eingefügt. Ihre Sprachgestalt zeigt, daß wir es
hier- wie auch bei der zweiten Stelle im Actus >>Crux<<- nicht mit
Interpolationen zu tun haben, sondern mit zwei Details der Bugen-
hageuseheu Passionsharmonie. 1 " Das aber ist einem. E. wichtige Er-
kenntnis vor allem für die Beurteilung der Zusammenhänge mit den
jeweils folgenden freien Texten (Sätze 13 und 34/35), nicht weniger
wichtig aber als Belege der Wirkung der Passionsharmonie Bugen-
hagens und ihrer theologischen Implikationen. Bei Bugenhagen
handelt es sich nämlich nicht um ein additives Verfahren aller vier

1" Die Sprachgestalt von Mt 26,75 zeigt eine leichte Veränderung; das hat seinen Grund

in der Differenz zwischen Luthers Bibelübersetzung 1534/35, der Textgestalt der Bu-
genhagenschen Passionsharmonie zur Bachzeit (Agenda 1712) und Bachs vertontem
Text:
»Da dachte Petrus »Da gedachte Petrus »Da gedachte Petrus
an die Wort Jhesu an das /!Vort Jesu an die Worte Jesu
... Vnd gieng her- ... und ging her- ... und ging hin-
auslvnd weinet aus, und weinete aus und weinete
bitterlich« (Luther). bitterlich« (Bugenhagen 1717). bitterlich« (Bach).
Martin Petzoldt 145

Passionsberichte, wie es oberflächlich scheinen könnte, sondern-


wie an unseren Stellen zu sehen ist - um theologische Akze!lte.
Die Petrus-Stelle entbehrt nach dem Johannes-Evangeliufu des
Gedankens, weswegen sie insgesamt dogmatische Wichtigkeit er-
langte: Petrus gehört neben einer Reihe von alt- und neutestament-
lichen Gestalten - Adam und Eva (Gen 3,15), Aaron (Ex 32,11),
David (2Sam12,13), Manasse (2Chr 33), Matthäus (Mt 9,13),
Zachäus (Lk 19), den Unzüchtigen (1Kor 5), Saulus-Paulus (1Tim
1,13ff) - zu den wichtigsten biblischen Beispielen für Umkehr
aufgrundvon Buße (conversio per poenitentiam2 ).
Im Actus »Crux« wird die bei Mt und Mk gleichplazierte Aussage
vom Riß des Vorhangs imTempel berichtet, der das Allerheiligste ab-
schließt (Mt 27,51; Mk 15,38; in der Folge des Todes Jesu berichtet),
die bei Lk mit der Verdunkelung der Sonne zusammen bereits vor
Jesu Tod plaziert ist (Lk 23,45); nur bei Mt erfährt sie die in der Jo-
hannes-Passion folgende Erweiterung des Erdbebens, des Felsrisses,
der Öffnung der Gräber und der Auferstehung der Heiligen. Mit Be-
dacht bricht in der Johannes-Passion der Text hier ab; aber auch in
Bugenhagens Harmonie wird anschließend mit Mt und seiner Aus-
sage von der Auferstehung und Erscheinung der Heiligen fortge-
setzt. Denn nicht diese Detailauskunft ist für den Johannesbericht
offensichtlich unverzichtbar, sondern der Akzent der eschatologi-
schen Bedeutung des Todes Jesu. Sein Tod ist ein Ereignis, das die
Welt in allihren Dimensionen betrifft. Mt 27,51fund Lk 23,45 werden
auch konstant als biblische Stellen unter den Kennzeichen des Rei-
ches Christi aufgezählt. 5 Insgesamt aber ein interessanter Aspekt
der Textbehandlung, der sowohl in Rudolf Bultmanns Feststellung
des ausschließlich4 präsentischen Eschatologieverständnisses im
Johannes-Evangelium wiederkehrt als auch in der Textgestalt der
Johannes-Passion verschiedentlich Bestätigung findet. Wir kommen
darauf zurück.

2 Scherzer, Systema, 8.289-295.


3 Ebd., S.617f. _
4 Bultmann, Theologie, S.452: »Anders Johannes, für den die eschatologische Zeit-

perspektive keine Rolle spielt infolge seiner radikalen Vergegenwärtigung des


eschatologischen Geschehens«. S.561: Bei beiden- Johannes und Paulus- ist »das
eschatologische Geschehen als ein schon in der Gegenwart sich vollziehendes ver-
standen ... , wenngleich erst Johannes den Gedanken radikal durchführt.«
146 Martin Petzoldt

5. AUSWAHL UND ANORDNUNG DER LIEDSTROPHEN

Die insgesamt 14 Liedstrophen haben verschiedene Funktionen


(vgl. Anlage 1, S. 164); erkennbar sind folgende:
- Rahmenstrophen: Satz 15 - Eröffnung des 2. Teiles
nach der Predigt;
Satz 40- Beschluß der gesamten Passion;
Schlußstrophen der Actus: Sätze 5, 14, 26 und 37;
Betrachtende Strophen
innerhalb der Actus:
selbstständige: Sätze 3, 11, 17, 22 und 28;
mit freien Texten
verbundene: Sätze BWV 245a und 32.
Satz 15: Die Strophe entstammt einer Umdichtung des lateini-
schen »Patris sapientia« des Egidio von Colonna (15. Jh.) von Mi-
chael Weiße. Jede der sechs Tageszeiten des Karfreitag erhält eine
Strophe, die von Weiße unverändert übernommen werden (Stro-
phen 2 bis 7). Gerahmt wird das Lied durch eine Anfangs- und eine
Schlußstrophe, deren erste auf»die Schrift<< Bezug nimmt und dabei
Ps 22,7-8 und Jes 50,6 meint, und deren zweite gleichsam gottes-
diensttheologisch unter Hinweis auf Ps 50,25 schließt. Die erste
Strophe, die wesentliche alttestamentliche Stellen der Passionsin-
terpretation aufnimmt, eröffnet den zweiten Teil der Passion nach
der Predigt.
Satz 40: beschließt die gesamte Passion. Die dritte Strophe des
Liedes »Herzlich lieb hab ich dich, o Herr<< von Martin Schalling
kennt die traditionelle Beanspruchung als Sterbe- und Begräbnis-
lied. Das Besondere ihrer Stellung in der Johannes-Passion ist aber
ihre Akzentuierung als Ewigkeitslied. Wir nannten oben bereits die
korrigierende Tendenz, die die ausschließlich präsentische Eschato-
logie des Johannes-Evangelium um die futurische zu ergänzen
bemüht ist. Hier treffen wir sie wieder an. Der Rezipient- Textbuch-
autor kann man schlecht sagen!- nimmt die inhaltliche Abfolge der
Aussagen der Strophe ernst: Schilderung des Zwischenzustandes
zwischen Sterben und Auferstehung der Toten (beide Stollen),
Auferweckung, visio beata, gaudium aeternum, das Bekenntnis zu
Christi Heilsmittlerschaft, das Gebet um Erhörung (jetzt schon), der
ewige Lobpreis (noch nicht) (Abgesang). 5 Feinsinnig sind auch die
in dieser Strophe möglichen Rückbezüge auf die Passion:
5 Dazu insgesamt W. Zell er, Tradition und Exegese.
Martin Petzoldt 147

zweiter Stollen: Bezug auf Sätze 58 und 59;


Abgesang 1. Zeile: Bezug auf Sätze 55 und 54;
Abgesang 2./5. Zeile: Bezug auf Satz 26;
Abgesang 5./4. Zeile: Bezug auf Sätze 21 und 22;
Abgesang 5./6. Zeile: Bezug auf Satz 17.

Daß mit dieser Strophe entschieden die eschatologische Kompo-


nente betont wird, die durch die Erweiterung des johanneischen
Passionsberichtes im Anschluß an Jesus Sterben (Sätze 55/54)
gegen die rein-johanneische Intention entstanden ist, läßt sie zur
Bestätigung eines theologischen Willens werden, der sich mit der
Eingrenzung auf eine einzige theologische Richtung in der Sicht der
Passion Christi nicht zufrieden geben mochte. Dies ist zugleich die
wichtigste Tendenz der Passionsharmonie Bugenhagens und des
noch bis in die Zeit Bachs reichenden Bibelverständnisses.
Für die Schlußstrophen der Actiis bescheiden wir uns mit einer
kürzeren Besprechung:
Satz 5: Leitend ist der Gedanke des Willens Gottes nach der For-
mulierung der dritten Bitte des Vaterunsers, wobei eine wiederum
nur auf dem Hintergrund der Passionsharmonie verständliche Ver-
allgemeinerung geschieht: Satz 5 betont das >>Muß<< des Leidens
Christi, das eigentlich aus lukanischer Theologie stammt. Dieses
>>Muß<< (o e i, vgl. Lk 9,22.44; 24,26) wird transferiert bzw. sogar offen
gelegt als >>Wille Gottes<<.
Satz 14: Die Strophe scheint eine Subjektivierung und Konkreti-
sierung auf Petrus zu sein. In Wirklichkeit kommt es aber auf den
wichtigen Gedanken der Umkehraufgrund von Buße an, der nur in
der Person des verleugnenden, sich erinnernden und weinenden Pe-
trus den biblischen Prototyp dieser Stelle findet - wie wir bereits
oben gesehen hatten.
Satz 26: wirkt hinsichtlich des Textes wie auch der Vertonung
nach wie ein Schlußsatz; er ist also ein Trugschluß. Es wurde bereits
auf den Bezug des Beschlusses der gesamten Passion - Satz 40,
Abgesang- auf diese Strophe hingewiesen. In ihr verbindet der Dich-
ter, Valerius Herberger, die Kreuzmeditation mit der visio beata und
dem gaudium aeternum. Daraus entsteht eine ars moriendi, die ihre
Elemente unter die Bedingungen dieser Welt stellt.
Satz 57: Die Schlußstrophe des Liedes »Christus, der uns selig
macht<< beschwört eine johanneische Objektivität, die dem heutigen
Hörer doppeldeutig erscheint: einerseits die Befreiung von dem
148 Martin Petzoldt

Druck des bangen Zagens und Hoffens auf Wendung im Geschick


J esu, andererseits das Gebet zum erhöhten Christus, das bezeugend
und konstatierend die Frucht des Todes Jesu für die Seinen erbittet.
Das Kreuz ist zum Zeugnis und Zeichen geworden. Damit wird der
Charakter des Actus >>Crux<< eindeutig bestimmt, während das
»Anschauen<< und »Betrachten<< des Kreuzes durch den gläubigen
Hörer dem vorangegangenen Actus »Pilatus<< zugeordnet ist. Der
Actus »Sepulchrum<< erhält- wie auch in der Matthäus-und Markus-
Passion- keine eigene Schlußstrophe.
Innerhalb der Actüs finden sich weitere Liedstrophen, die
betrachtende Funktion haben, bei näherem Zusehen aber jeweils
einen wesentlichen theologischen Akzent auf dem Weg zur Schluß-
strophe jedes Actus benennen:
Satz 5: Die schützende Geste Jesu, die er seinen Jüngern zuteil
werden läßt, findet ihren johanneischen Vorentwurf in der Bildrede
vom guten Hirten und in dem Wort von der »größeren Liebe<<, die
das Leben für Freunde hinzugeben bereit ist, Joh 15, 13. Daraufver-
weist bereits Luther in den Predigten vom Leiden Christi in seiner
Kirchenpostille. 6 Doch bleibt das Stichwort von der »großen Liebe<<
in Satz 3 eigentümlich in der Schwebe: es wird nicht klar, wer das
Subjekt dieser Liebe ist, Gott oder Jesus Christus. Womöglich ist
damit auch eine trinitätstheologische Absicht verbunden. Nach dem
logischen Gedankengang, wie er auch von Luther in Anspruch
genommen wurde, ist es Jesus Christus; das »Muß<< der letzten Zeile
verweist aber auf den Willen Gottes (vgl. Satz 5).
Satz 11: Die beiden einzigen Strophen aus einem Paul-Gerhardt-
Lied in der Johannes-Passion- anders als in der Matthäus-Passion,
wo allein sieben Strophen vorhanden sind- markieren den gleichen
Ort der Handlung, an dem erst die neueste Synoptikerforschung
mit den Johannesparallelen vergleichbare Überlieferungen sieht. 7
Noch die Bachzeit zog gemäß der Bugenhagensehen Harmonie die
Berichte des Verhörs Jesu vor dem Hohen Rat, wie sie einerseits bei
Mt, Mk und Lk und andererseits bei Joh vorliegen, ein Stück aus-
einander:

6 WA 52, 743-751.
7 Aland, Synopsis, Nr.332, S.461-466.
Martin Petzoldt 149

1. Jesus wird zu Hannas bzw. Kaiphas abgeführt: Mt, Mk, Lk, Joh
(311f8 ); l
2. Petrus läuft zum Palast des Hohenpriesters nach: Mt, Mk, Lk, Joh
(312);
3. Petrus wärmt sich mit Knechten am Feuer, erste Verleugnung: Mt,
Mk, Lk, Joh (313);
4. Hoherpriester fragt Jesus nach seiner Lehre, Schlag durch einen
Diener: Joh (313f 9 );
5. Petri zweite und dritte Verleugnung, Hahnenschrei, Petri Weinen:
Mt, Mk, Lk, Joh (314f);
6. Zwei falsche Zeugen, Feststellung der Gotteslästerung durch
Hohenpriester: Mt, Mk (316f);
7. Schläge durch Diener, nochmaliger Rat am nächsten Morgen,
J esu Aussage von der Gottesherrschaft: Mt, Mk, Lk (317f).

Überraschend ist die Akzentuierung der Textteile 4. und 7. in der


Johannes-Passion und der Matthäus-Passion durch die gleiche Lied-
strophe. Selbstverständlich ist dafür -vordergründig - der Stich-
wortanschluß ein erster Beleg. Doch zeigt die Wahl der gleichen
Strophe an diesen Stellen nicht weniger das theologische Verständ-
nis der Zusammenhänge. Während in der Matthäus-Passion die
scheinheilige Frage der Schläger aufgenommen und als rhetorische
Frage unter Hinweis auf das Sündersein aller Menschen umformu-
liert wird, um dagegen Jesu Sündlosigkeit zu betonen, liegt der
Schwerpunkt in der Johannes-Passion auf der Erkenntnis der eige-
nen Sünde, die zur Umkehr führen soll. Letzteres zielt bereits auf
das Ergebnis der bereits besprochenen passionsharmonischen
Erweiterung im Folgeabschnitt mit der abschließenden Strophe
Satz 14.
Sätze 17 und 22: Sie markieren Stationen auf dem Weg der ars
moriendi unter den Bedingungen der Welt. Wesentliche Person der
Handlung für diese Inhalte ist Pilatus. Er erscheint in der Passion
nach Johannes überhaupt 10 und in der zeitgenössischen Theologie

8 In Klammern werden die Seitenzahlen des Abdrucks der Bugenhagensehen Passi-


onsharmonie in: Vollständiges Kirchenbuch, Leipzig 1718, angegeben.
9 In der Markus-Passion folgt an der entsprechenden Stelle die Strophe »Du edles An-

gesichte, dafür sonst schrickt und scheut«, Satz 77.


10 Bultmann, Johannes, S.505f, 508.
150 Martin Petzoldt

des 18. Jahrhunderts ohnehin positiver als bei den Synoptikern:


>>seine Sünde wird nicht so groß geachtet, als des Verräthers Judä<<
mit Hinweis auf J oh 19,11. 11 Der Text der Zeile 1 der ersten Strophe
von Satz 17 nimmt die nächste Frage des Pilatus als Aussage vorweg
(Satz 18a). Sonst erscheint der weitere Text der beiden Strophen des
Satzes 17 nicht in den Zusammenhang zu passen, es sei denn man
rückt ihn in eine Reihe mit Satz 22 und schließlich auch mit Satz 26
(vgl. oben). Dabei zeigt sich, daß nicht der vom Textdichter und sei-
ner Vorlage intendierte Verslehensraum benutzt, 12 sondern daß
beim Nachgehen des Leidensweges Christi gleichsam an bestimm-
ten Stellen innegehalten wird, um die Kunst des eigenen Sterbens
einzuüben. Die Strophen des Satzes 17 erhalten die Funktion der
Erkenntnis der Größe des Werkes Christi: »diese Treu«, »dein Erbar-
men«, »deine Liebestaten«, und dieses alles unter der Anerkenntnis
der Königsherrschaft Christi »Ach großer König, groß zu allen
Zeiten«.
Satz 22: richtet noch konsequenter den Blick auf Christi Werke,
Freiheit durch sein Gefängnis, Freistatt durch seinen Kerker, Verkür-
zung unserer Knechtschaft durch seine Knechtschaft; die Dichtung
Posteis mutet zentral johanneisch an, obwohl der Bezug zu anderen
biblischen Stellen hergestellt wird: Jes 42,7.22; Hebr 4,16; Gal4,24.
Wir begegnen in dieser Strophe einer eindrücklichen aber kon-
trären Argumentation, die nicht nur an johanneische, sondern vor
allem an die Theologie des jungen Luther erinnert.
Seine Schrift >>Eyn Sermon von der bereytüg zum sterben<< von
1519 knüpft an jene beliebten mittelalterlichen Schriften an, die der
ars moriendi oder- wie Geiler von Kaysersberg sagte- der >>kunst
des wolsterbens<< galten. Wie in jenen Schriften mit Hilfe von
Holzschnitten die Härte des Todes als Bildseite drastisch den aufder
Textseite gegenübergestellten Aussagen des gläubigen Sterbens
kontrastierten, so spricht Luther in seinem Sermon.
»Du must den todlyn dem leben/die sundlyn der
gnadennldie helllym hymell ansehenlvnd dich von dem an-
sehen odder blicklnit lassen treybenlwan dirs gleychlalle
Engell/alle Creaturlya wens auch dich duncktlgott selb an-
dersfurlegen ... <<»Dann Christ ist nichts dan eytellleben!
... yhe tieffer vnd vehsterldu dir diß bild eynbildestlvnd

11 Michaelis, Concordanz, S.1256.


12 Axmacher, Heermanns Passionslied, S.182.
Martin Petzoldt 151

ansihestlyhe mehr des todts bild abfelt vnd von yhm selbs
vorschwindtlan alles zerren vnnd streyten .. .« »Der
gnaden bild/ist nit anders!dan Christus am Creutz . .. Wie
vorsteht man das? dz ist gnade vnd barmhertzickeit/das (~
Christ am Creutz deyne sundvon dir nymmetltregt siefur
dich vnd erwurget sie! vnd dasselb festigtich glaube vnd
vor augen habenlnit drann zweyifelnldas heyst das
gnaden bild ansehen vn ynn sich bilden.«»... suche dich
nur in Christo ... «13
Eine unzweifelhafte Steigerung und Bestätigung erfährt der
Gedanke von der ars moriendi in der bereits besprochenen Schluß-
strophe des Actus »Pilatus«, Satz 26: »In meines Herzens Grunde, dein
Nam und Kreuz allein«. Dort kehren bei Valerius Herberger die we-
sentlichen Stichworte und ihre Verbindung untereinander wieder:

Dein Name und Kreuzfunkeltall Zeit und Stunde-


von dem Ansehen oder Blick nicht lassen wegtreiben
(Luther),
In meines Herzens Grunde -
Je tiefer und fester du dies Bild in dich hineinbildest
(LutherJ,
Erschein mir in dem Bilde -
Der Gnade Bild ist nichts anders als Christus am Kreuz
(Luther),
zu Trost in meiner Not -
Christus nimmt am Kreuz deine Sünde von dir, trägt
und erwürgt sie für dich (Luther),
Wie du Herr Christ so milde, dich hast geblut' zu Tod -
Suche dich nur in Christus (Luther).
13 WA 2,688-689; Übertragung des Textes aus dem Frühneuhochdeutschen aus: Martin

Luther, Ausgewählte Schriften, hrsg. v. K. Bornkamm und G. Ebeling, Bd.2: •Du mußt
den Tod in dem Leben, die Sünde in der Gnade, die Hölle im Himmel ansehen und dich
von dem Ansehen oder Blick nicht lassen wegtreiben, wenn dir's gleich alle Engel, alle
Kreatur, ja, wenn dir's auch scheint, Gott selbst anders vor Augen halten• ... (S.21).
•Denn Christus ist nichts als lauter Leben ... Je tiefer und fester du dies Bild in dich
hineinbildest und ansiehst, desto mehr fällt des Todes Bild ab und verschwindet von
selbst ohne alles Zerren und Streiten•. (S.21). •Der Gnade Bild ist nichts anderes als
Christus am Kreuz ... Wie versteht man das? Das ist Gnade und Barmherzigkeit, daß
Christus am Kreuz deine Sünde von dir nimmt, sie für dich trägt und sie für dich
erwürgt; und dies fest glauben und vor Augen haben, nichtdaranzweifeln-das heißt,
das Gnadenbild ansehen und in sich hineinbilden.• (S.22). • ... suche dich nur in
Christus ... « (S.23).
152 Martin Petzoldt

Satz 28: Der Text vermittelt den Eindruck eines >>letzten Willens«,
der ultima voluntas, eines Testaments. Die Sensibilität der vorheri-
gen Johannesstelle bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit
Rom seit Luther in Fragen der Mariologie: »Darumb man ehre die
Mutter Maria wie man wölle, allein man ehre sie nur nicht mit der
Ehre, da man Christum mit ehren sol.«14 Die Strophe hat ihren textli-
chen - wohl auch musikalischen - Höhepunkt in den Zeilen:
»0 Mensch, mache Richtigkeit, Gott und Menschen liebe«. Die >>Richtig-
keit<< bezieht sich aufrechte Nächstenliebe- »Er nahm alles wohl in
acht«: Sorge für die, nach der Tradition, bereits verwitwete Maria, die
ohne ihren Sohn sonst rechtlos gewesen wäre; >>Richtigkeit<< bezieht
sich aber auch auf die rechte Gottesliebe -wir sollen nicht Mariaals
Mittlerin zu Gott bekennen, deshalb tut »der HErr seine Mutter von
sich hinweg«. 15 Luther fährt fort: Billich ist Maria unser Mutter. Aber
das wir walten auifsie bawen und Christo sein ehre und ampt nemen
und es der Mutter geben, das hiesse Christus leiden verleugnet<<. 16 Die-
ser Sinn des Satzes 28 bereitet sachgerecht den Satz 57 vor: Im Actus
>>Crux<< geht es nicht um die Verbreiterung des Mitleides, um die
Kenntnisnahme der Personen, sondern allein um das Zeugnis des
Kreuzes. Dazu trägt die >>richtige<< Unterscheidung von Gottes- und
Nächstenliebe ein wesentliches Element bei: Gottesliebe ist von
Nächstenliebe total unterschieden; Gottesliebe enthebt schließlich
>>allen Leides<< und >>aller Betrübnis<< dieser Welt (vgl. die letzten bei-
den Zeilen von Satz 28).
Schließlich verbleiben einige Überlegungen zu der Strophe »Jesu,
der du warest tot<< (Satz 52), die betrachtenden Inhaltes mit einem
freien Text verbunden wurde. Diese Strophe wird im Zusammen-
hang mit den freien Texten besprochen werden.

4. FREIE TEXTE UND IHR PERSONELLER SYMBOLWERT

Die bisherige Behandlung und Deutung verfügt bereits über eine


erstaunliche Weite und Klarheit. Auch wenn es in der Anwendung
und Position der Liedstrophen im Rahmen der Johannes-Passion
Unausgeglichenheiten 17 gibt- ein Eindruck, der sich im Verhältnis
zu den freien Texten fortsetzen wird-, festigt sich die Annahme, daß
14 Luther, Wochenpredigten über Joh 16-19, 152&29, in: WA 28,402,25f.
15 WA 28,403,27.
16 WA 28,403,2-4.
Martin Petzoldt 155

auch im Text der Johannes-Passion mit Konsequenz theologische


Traditionen biblischer Auslegung und dogmatischer Lehrbildu1-!fgen
Anwendung erfahren haben. Dabei dürfen heutige Betrachter und
Hörer nicht vergessen, daß die ihnen fremd und differenziert
erscheinenden theologischen Zusammenhänge für die Zeit Bachs
einen hohen Grad der Vertrautheit genossen haben. Wenn wir uns
jetzt mit den sogenannten freien Texten befassen, werden wir zwei
Phasen des Nachdenkens für jeden der fünf Actiis durchlaufen müs-
sen: die Erhebung des bibeltheologischen Gehaltes (konkordante
Aufbereitung der Texte); die Funktion des Textes im Zusammen-
hang des johanneischen Passionsberichtes (personeller Symbol-
wert). Vorausblickend sind zwei Feststellungen zu machen:
Der Chor wird insgesamt nur in drei Sätzen an den freien Texten
beteiligt. Das ist verglichen mit der Matthäus-Passion (dort sechs
Sätze) wenig. Abgesehen von Satz 24, wo es nur um die eingestreute
Frage »Wohin?<< geht, entspricht das dem Maß der Markus-Passion,
die ebenfalls nur den Eingangs- und den Schlußchor als freie Texte
dem Chor zuweist. Sonst hat der Chor seine Aufgaben innerhalb des
Evangelienberichtes und an den Liedstrophen wahrzunehmen.
Diese Beobachtung ist wichtig, festgehalten zu werden, denn damit
bestimmt sich dieRolle des Chores näher. In der Matthäus-Passion
sorgt der Dichter- ob mit oder ohne Bachs ausdrückliche Zustim-
mung, sei dahingestellt - dafür, daß der Chor mit der Tochter Zion
und den Gläubigen das dialogische (nicht dramatische!) Moment
der gesamten Passion repräsentiert im Gegenüber zu den monologi-
schen Einzelrollen. Für die Johannes-Passion fehlt ein gedrucktes
Textbuch und damit der mögliche Hinweis auf die Rolle des Chores.
Eindeutig ist, daß es in der Johannes-Passion- abgesehen von Satz
24 - keine dialogische Funktion des Chores gibt. Vielmehr entspre-
chen sich die Sätze 1 und 59, Anfangs- und Schlußchor, als Rahmen-
sätze, wenn sie auch ihre Bindung an den Actus »Hortus« und den
Actus >>Sepulchrum<< deutlich kund geben.
Die zweite Feststellung betrifft die relative Geschlossenheit jedes
der einzelnen Actiis. Das wird bereits- wie wir sahen- an den Lied-
strophen deutlich. Die Verteilung der vier Solostimmen auf die Arien
bzw. Ariosi entspricht in jedem Actus der Betonung bestimmter han-
delnder Personen. Der Tenorsolostimme weist Bach neben dem

17 Vgl. Satz 14, der mit dem Blick J esu rechnet, Lk 22, 61; Satz 26 setzt schon den Tod J esu

voraus.
154 Martin Petzoldt

Evangelienbericht in den drei mittleren Actus >>Pontifices<<, >>Pilatus<<


und >>Crux<< je eine Arie bzw. Arioso zu. Bach identifiziert den Tenor
offensichtlich nicht mit Petrus -wie es etwa Satz 13 nahezulegen
scheint-, sondern er hat wie der Evangelienbericht erzählende und
darstellende Funktion: das geschieht im Unterschied zum Evange-
lienbericht mit jeweils zentralen alttestamentlichen Bezugsstellen,
die- mit dem Geschick Jesu verknüpft- in Anwendung gebracht
werden:

Hortus: keine Solostimme, Betonung der Person Jesu


(vgl. Besprechung der Sätze 1, 3 und 5);
Pontifices: Alt, Sopran, Betonung des Petrus und
des >>anderen Jüngers<<;
Pilatus: Baß, Betonung des Pilatus;
Crux: Alt, Baß, Sopran, Betonung der Mutter Maria, des
>>anderen Jüngers<< und der Maria Magdalena;
Sepulchrum: keine Solostimme.

Die Begründung für diese Verteilung liegt einmal in dem Verhält-


nis des Evangelientextes zu den Arien/ Ariosi, zum anderen in der ge-
nannten Betonung einzelner Personen innerhalb der Actus, die als
eigenständiges Gliederungsschema traditionell gelegentlich auch
Anwendung fand. Dabei verbleiben die durch die Arien/ Ariosi
herausgehobenen Personen nicht unbedingt in der Stimmlage der
betreffenden Personen im Evangelienbericht. Mit dieser Form von
Verfremdung leistet Bach einen wesentlichen Schritt zur Aneignung
der Passion durch den Hörer. Nicht mehr die im Text sich reflektie-
rende Person aus der Passionshistorie versucht den Hörer allein zu
erreichen, sondern der Hörer erhält die Möglichkeit, in Reflexen der
verschiedenen Rollen und unterschiedlichen Stimmlagen sich
selbst wiederzuentdecken und zu identifizieren.
Satz 1: Elke Axmacher verweist unter Bezugnahme auf Spitta
auf den >>völlig anderen Charakter<< 18 des Eingangschores im Ver-
gleich zu den übrigen freien Texten. Das sei erstaunlich. Freilich ge-
winnt diese >>rein-christologische<< Argumentation des Satzes 1 ihre
zeitgenössisch-theologische Bedeutung aus der dogmatischen
Frontstellung gegen den Pietismus. Dort verwirklicht sich der Trend,
Christologie im ganzen als Soteriologie zu betreiben, d.h. unter zu-

18 Axmacher, •Aus Liebe will mein Heyland sterben«, S.163.


Martin Petzoldt 155

nehmendem Verzicht aufPersonchristologie. Während die späte alt-


protestantische Christologie noch Werk- und Personchristologie
betreibt mit unübersehbarer Wertschätzung der personchristologi-
schen Aussagen und einer ebenso beanspruchten Werkchristologie,
reduziert sich in pietistischen Texten (Predigten, Andachtsbüchern,
Liedern, theologischen Traktaten und auch Kantatentexten)
Christologie auf Soteriologie, die als Weiterentwicklung der Werk-
christologie zu sehen ist. Eine Bestätigung erfährt die person-chri-
stologische Orientierung durch einzelne Liedstrophen der Passion:
z.T. in der Eröffnungsstrophe des 2. Teiles (Satz 15), vor allem aber
durch die beiden Strophen im Actus >>Crux«: Sätze 28 und 37, sowie
durch den Abgesang der Schlußstrophe Satz 40. An zweiter Stelle ist
dann das Argument johanneischer Theologie zu nennen, die durch
Stellen wie Ps 8,2; Joh 20,20; Act 8,33 und Joh 13,31 in den Satz 1 ein-
formuliert wird.
Ein Detail dieses Satzes vermag auch eine Besonderheit der von
Bach vertonten freien Texte in der Johannes-Passionzu beschreiben:
Der biblische Hintergrund erschließt sich oft nur durch die Text-
version der Lutherbibel (einschließlich aller Fehlübersetzungen
und sprachlich altertümlichen Formulierungen), wie sie zur Bach-
zeit verwendet wurde. So liest sich die Bezugsstelle Act 8,33 in der
Lutherbibel 1534 ff anders als heute. Das angegebene Zitat stammt
aus der Lektüre des Kämmerers aus dem Morgenland, der den Pro-
pheten Jesaja liest, als sich Philippus zu ihm gesellt. Jes 53,8 erklärt
Philippus auf Jesus Christus.
Schließlich verwirklicht Satz 1 nicht nur die Funktion eines Ein-
gangs in die Passion überhaupt, sondern lebt auch aus seiner Bezo-
genheit auf Actus 1 >>Hortus<<, sowie der Betonung der Person Jesu in
diesem Actiis. Luther erklärt die Verse J oh 18,1-11 vorrangig unter
personchristologischen Fragestellungen: >>Quis, Qualis et Quantus
sit Christus, qui passus, et ad quid passus<<. 19 Wer, welcher Beschaf-
fenheit und wie groß Christus sei; in einer nachgestellten Frage
wird dem soteriologischen Anliegen Rechnung getragen, warum er
das alles gelitten habe.
Im Actus >>Pontifices<< gruppieren sich zwei Arien um die beiden
Gestalten des Petrus und des >>anderen Jüngers<<, der in der Tradition
gern mit dem Lieblingsjünger Johannes identifiziert worden ist.

19 WA 28,222,24-26; vgl. dazu folgende Passagen: 225,15ff; 226,18ff; 230,10ff; 233,14ff;

234,21ff; 236,16ff; 238,16ff.


156 Martin Petzoldt

Arie Nr. 15 ist schwerlich dem Petrus zuzuschreiben aufgrundder


distanzierenden Formulierung: >>Weil der Knecht den Herrn verleug-
net hat<<.
Satz 7: Der Inhalt der Arie- der Text hat Verse von Barthold Hein-
rich Brockes zur Vorlage 20 - deutet auf Petrus, der soeben, allen
sichtbar, an der Grundsünde der Menschen, des Zweifels an Gottes
Macht ( J oh 18,9-11; Satz 4 ), teilgenommen hat. Andererseits kommt
gut die Doppeldeutigkeit der Person des Petrus zur Geltung, der als
Autoritätsperson zugleich Sünder ist. Die Bindung durch Sünde wie
durch Stricke ist ein beliebtes Bild, das das ganze Alte Testament
durchzieht. Die beiden angegebenen Nachweise Prov 5,22 und Sir
28,25 geben lediglich markante Beispiele, die auch sprachlich eine
Nähe anzeigen. Daß Jesus bei seiner Gefangennahme gebunden ist,
berichten Joh 18,12 und Mt 27,2. Die Aussagen des B-Teiles geben
eine parallele Aussage zur Paradoxie >>entbinden - binden« in der
Formulierung >>heilen-verwunden«, ein nachempfundener paralle-
lismus membrorum. Die biblische Vorlage dafür ist eindeutig
Jes 55, 5c, interpretiert durch die >>Beulen« von Jes 1, 6 und die be-
liebte Stelle Weish 16, 12.
Satz 9: Rezitativ Nr. 8 als Mittelpunkt gruppiert um sich die Sätze 7
und 9. Verweist Satz 7mit seinem Sündenbekenntnis auch nach vorn
auf die Verleugnung des Petrus, so vermittelt der textliche und
musikalische Charakter von Satz 9 die Konstanz und Selbstverständ-
lichkeit der Funktion des Lieblingsjüngers im Johannes-Evangeli-
um21. Der Lieblingsjünger tritt immer zusammen mit Petrus auf. 22
Dieser >>gleichfalls« folgende >>andere Jünger« bietet eine von Petrus
unterschiedene Möglichkeit der Identifizierung mit Jesu Leidens-
weg an. Hier deutet sich den Bezugstexten Gen 52, 27; Joh 8, 12; Hld
1,4a; Joh 12, 52; Jes 55, 12c bereits der Grundcharakter des Actus
>>Crux« an, in dem der Lieblingsjüngerwieder einewesentliche Rolle
spielt: der Charakter der Zeugnisgabe. Satz 9 bietet nicht einfach
eineN achfolgeethik; der Text beansprucht die im J ohannes-Evange-
lium bevorzugte Stellung des Lieblingsjüngers vor Petrus -Zeilen
20 Axmacher, •Aus Liebe will mein Heyland sterben«, S.165.
21 Kragerud, Lieblingsjünger.
22 Berufung der ersten Jünger, J oh 1,55-42; Entdeckung des Verräters beim Abschieds-

mahl, Joh 15,21-26; Im Palast des Hohenpriesters, Joh 18,15-16; Unter dem Kreuz
(ohne explizite Beziehung zu Petrus), Joh 19,25-27; Am Ostermorgen: Wettlauf zum
Grabe, Joh 20,2-10; Am See Tiberias, J oh 21, 1-14; Worte J esu über den Lieblingsjünger
zu Petrus, Joh 21,15-25. Dazu Kap. I (S.11-41) und Kap. IV (S.67-85) des Buches von
Kragerud, Lieblingsjünger.
Martin Petzoldt 157

4 und 6 legen den Gedanken an den Wettlauf dieser beiden Jünger


zum Grabe nicht ohne Grund nahe- im Dienst der »herrlichen Cata-
strophe<< (Johann Gerhard). 25
Satz 13: Die Tenor-Arie, deren Text auf eine Dichtung Christian
Weises-Zittau zurückgeht, erhält ihren Sinn in besonderer Weise
durch den Gedanken der Umkehraufgrund von Buße, wie ihn allein
die Ergänzung des johanneischen Passionsberichtes durch die Bu-
genhagensche Passionsharmonie ermöglicht (vgl. Anlage 2). Das
Weinen des Petrus zeigt seine Buße an, was der johanneische Bericht
selbst nicht mitteilt. Die zweite Fassung der Johannes-Passion 1725
bringt hier einen ähnlichen Text in der Arie BWV 245b, in der interes-
santerweise zwei der fünfBibelsteilen ebenfalls vorhanden sind: Lk
23,30 und der Bezug zu Ps 139, dessen Verse 7-10 eine vorrangige
Rolle im Zusammenhang des Gedankens der Omnipraesentia
Gottes einnehmen. 24 Satz 13 wird musikalisch oft als dramatischer
Akzent verstanden und interpretiert; vom theologischen Horizont
des Textes her- neben Ps 139,7 und Lk 23, 30 ist es die nur aus der
unrevidierten Lutherfassung nachzuweisende Stelle Hi 8, 18, sowie
wiederum Jes 53,4-5 -läßt sich die Expressivität des Satzes nicht als
Dramatik im Rahmen des Passionsberichtes lesen, sondern als
äußeres Zeichen der Ausweglosigkeit, in der sich ein reuiger
Mensch befindet. Der Chor identifiziert diese Gedanken mit einer
dem Hörer bekannten Strophe, die den vermittelten Inhalt wieder-
holt. Insgesamt aber beschreibt Satz 13 den Typus eines Sünders, der
aufgrund von Buße umkehrt. Es ist eine conversio passiva, weil
Petrus erst der Erinnerung bedarf, die sich durch den Hahnenschrei
einstellt. Satz 14 bezieht zusätzlich den Blick J esu als Erinnerungs-
impuls ein (Lk 22,61).
Satz 19: Ebenso wie im Text des Satzes 24 bezieht 19 die Haupt-
person des Actus >>Pilatus<< ein, eben jenen römischen Statthalter
Pontius Pilatus, indem das von Johannes ohnehin vermittelte gün-
stige Porträt eines von Mitschuld wenigstens teilentlasteten Inha-
bers weltlicher Gewalt weitergedacht wird: Pilatus tritt dem Hörer
als nachdenklicher, jedenfalls für die Worte Jesu durchaus zugängli-
cher Zeitgenosse vor das innere Auge. Satz 19 bezieht- ebenso wie
Satz 20- sein Material aus der Passion Brockes', freilich unterschei-

23 Zitiert nach Axmacher, »Aus Liebe will mein Heyland sterben•, S.54.
24 Scherzer, Systema, S. 41, 74, 250 und 255.
158 Martin Petzoldt

dend umgestaltet, wie schon Axmacher differenziert darlegt. 25 Auf


den Bearbeiter der Brackessehen Vorlage geht - abgesehen von
einer Kürzung von fünfzehn auf sieben Zeilen- die Verstärkung der
eigentümlichen Doppelgerichtetheit (die Psychoanalyse redet von
Ambivalenz) des Pilatus zurück: ängstliches Vergnügen, bittere Lust,
halb beklemmtes Herz, sowie die Zufügung der letzten Zeile. Der
biblische Bezug auf das passionstheologisch ausgelegte Hohelied
Salomonis ist bereits bei Brockes unübersehbar vorhanden. Doch
zeigt der Hinweis auf die Dornen auch das Moment der Unausgegli-
chenheit des Textes insgesamt: von der Dornenkrone wird erst im
Satz 21 a berichtet. Pilatus verinnerlicht mit diesem Text seine dop-
pelgerichtete Haltung, eine Haltung zwischen Interesse, Sympathie
und Gerechtigkeitsempfinden einerseits und Demonstration der
Macht auf der anderen Seite. Ähnliche Gestalten werden in der Bibel
gelegentlich als unbewußte Helfer und Mitarbeiter Gottes gesehen.
Durch die zur Brockes-Vorlage hinzugefügte letzte Zeile mag jene
Deutung des Täufers hindurchschimmern, die bereits auf das Lamm
Gottes verweist (Joh 1,29), oder steht die Zeile hier als Vorverweis
auf das »Ecce homo« des Pilatus von Joh 19,5?
Satz 20: Nach Satz 13, einer Typus-Beschreibung, folgt nun für
die zur Interpretation herangezogene Tenor-Solostimme eine heils-
geschichtlich typologische Genealogie. Innerbiblisch wird schon in
1.Petr 3,20f die Sintflut als Typus der Taufe beansprucht. Satz 20,
wieder ein auf eine Brockes-Vorlage zurückgehender jedoch stark
bearbeiteter Text, legt die Betonung auf die Erkennbarkeit des Gna-
denreiches Gottes. Der eine Regenbogen nach der Sintflut meint
den regenbogenfarbenen Rücken de~einen, der den verderbenden
Zorn Gottes mit Blut, Wasser, Schweiß und Tränen beendet. 26 Der
zerfurchte Rücken nach Ps 129,3 und Jes 50,6 geht als Bild gelegent-
lich über in das Bild des Bogens der ausgespannten und ausgebreite-
ten Arme des Gekreuzigten, wie in Satz 60 der Matthäus-Passion
(»Sehet, Jesu hat die Hand, uns zufassen ausgespannt<<).
Satz 24: stellt nochmals die Person des Pilatus in seiner ambiva-
lenten Haltung in den Mittelpunkt. Während er in Satz 19 sich selbst
anspricht, scheint er hier die wenigen verbliebenen Freunde Jesu
zur Nachfolge auf dem Kreuzesweg zu ermutigen. Aber nur das Lu-
kas- Evangelium weiß von der Begleitung J esu auf seinem Kreuzweg,

25 Axmacher, •Aus Liebe will mein Heyland sterben<<, 8.136-138.


26 Axmacher, 8.138.
Martin Petzoldt 159

besonders durch Frauen zu berichten (Lk 25,27-51). In dcer Vorlage


dieser Arie legt Brockes diesen Text der >>Tochter Zion<< bei, zusam-
men >>Mit dem Chor der gläubigen Seelen<<. Das entspricht der ge-
nannten Lukas-Stelle, wo Jesus die weinenden Frauen als >>Töchter
von Jerusalem<< anspricht; Bach läßt die Frage »Wohin?« auch nur
von den drei Oberstimmen singen. Gleichzeitig wird der damalige
Hörer mit einer solchen Kennzeichnung an die vielfach gebrauchte
allegorische Auslegung des Hohenliedes erinnert. Deshalb verwun-
dert es nicht, daß Arie 24 der einzige dialogische Satz der Johannes-
Passion ist. Brockes formuliert: »Eilt/ihrangejochtne Seelen/Geht aus
Achsaphs Mörder=Hölen<<. Durch Rückverweis auf die unveränderte
Stelle bei Brockes erschließt sich der Gegensatz zum »Kreuzeshü-
gel<<: Achsaph, eine Stadt im Stammesgebiet Asser, nennt das Buch
Josua mehrfach unter jenen 51 Stadtstaaten und deren Königen, die
von Josua und dem Volk Israel besiegt und eingenommen werden
(Jos 11; 12 und 19). Doch habe man nach Jos 11,15 Städte auf Hügeln
nicht verbrannt; Johann Olearius schreibt dazu in seiner Biblischen
Erklärung: »Wol dem/der au.ff die geistlichen Hüiffs-Berge Psal. 121.
Matth. 24. siehetlund dahin seine Zuflucht nimmet<<. »Allein der Sieg
des Himmlischen Josua ist weit grösser wider die gantze Welt/Johan.
10. und Sünde/Todt!Teujel und Hölle.<< Dem Kapitel11 fügt Olearius
noch ein Zitat des Origenes hinzu: »gleichwie Mosis Geschieht ein
Schatten gewesen der zukünfjtigen Güter/also seyn auch des Josuae
Kriege ein Fürbild gewesen des Geistlichen Krieges Christi.<< 27 -Die
letzte Textzeile des Satzes 24 erschließt sich allein anhand der
unrevidierten Lutherfassung von Ps 106,5.
Satz 50: Im Actus >>Crux<< stehen die dreiMarienunter dem Kreuz
und der Lieblingsjünger im Mittelpunkt des Geschehens. Es bietet
sich für Satz 50 die Identifikation mit der Mutter Maria an, während
wir bei Satz 55 an Maria Magdalena denken werden. Im Anschluß an
das Erfüllungszitat aus Ps 69, das dem Jesuswort »Mich dürstet<< und
dem Darreichen des Essigs zugrunde liegt, greift die zweite Zeile des
Satzes 50 ebenfalls Ps 69 auf. In seinem Mittelteil mündet der Satz
ein in den zeugnishaften entemotionalisierten Charakter des Actus
>>Crux<<. Der Jacobssegen Gen 49 und die Prophetie des Bileam Num
24 entfalten hier ihre passionstheologische Sinngebung- die inkar-
nationstheologische wird Bach im Weihnachtsoratorium Satz 5 (Alt-

27Biblische Erklärung, Von Johanne Oleario, Bd.l, S.958 zu Jos 11,13; S.961 zu Jos
12,9-24; S.962, Abschnitt VI. Die Denckwürdige Erinnerung der alten Kirchen=lehrer.
160 Martin Petzoldt

Rezitativ) vertonen-: Der Held aus Juda und der Stern aus Jacob,
der den Sieg bringen und »die Gottlosen/samt ihren Städten und
Abgöttischen Wesen<< umbringen wird. 28
Satz 52: Auch wenn wir Satz 9, eine Sopranarie, intentional dem
Lieblingsjünger beigelegt haben, hindert das nach unserer Vorüber-
legung nicht, jetzt ihm ebenso eine Baßarie zuzuweisen. Brockes'
Vorlage beginnt erst mit der jetzigen Zeile 5; die folgenden Fragen
kommen aus dem Munde der >>Tochter Zion<<, nun werden sie qualifi-
ziert durch die erste Frage: Bin ich vom Sterben frei gemacht? Joh
21,22-25 berichtet davon, wie Jesus vom Lieblingsjünger sagt: Wenn
ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an? Diese Aus-
kunft, an die Adresse des Petrus gerichtet, zieht die Meinung der Jün-
ger nach sich: Dieser Jünger stirbt nicht. Die Arie endet mit einer
Antwort Jesu, die aus der Geste des Hauptneigens abgelesen wird,
eine in der Passionstradition verwurzelte Auslegung. 29
Satz 54: Das Arioso für Tenor lebt vordergründig von Stellen aus
den Passionsberichten des Mt und des Lk (Lk 25, 45; Mt 27, 51-52).
Doch sollte man sich nicht den Blick für die entsprechenden
alttestamentlichen Angaben verschließen, da sie dem Arioso das
Gepräge eines die alttestamentliche Typologie benutzenden Textes
geben: Amos, Exodus, Nahum, Jesaja, Ezechiel. Dieser Auslegungs-
modus setzt sich fort, wenn Zeile 6, »Weil sie den Schöpfer sehn erkal-
ten<<, indirekt erneut den Bileamspruch vom Jacobsstern aufnimmt;
indirekt deshalb, weil die Auslegungstradition in diesem Spruch ei-
nen Beleg für die Schöpfungsmittlerschaft Christi erkennt. Olearius
schreibt: »der rechte Morgenstern/Offenbar. 22116. Stella Regia. das
warhajftigeLicht/Joh. 1. deralle unzehlige Sterne/1.Mos. 13/16. samt
Himel uii Erde erschajjenlc.t. uii erhält/Sir.43<<. 50
Satz 55: Die große Sünderin von Lk 7 und Maria Magdalena aus
Joh 19 und 20 werden gemäß Joh 12,1-8 in der Auslegungstradition
identifiziert. Ihr Wirken deutet Jesus selbst in Lk 7,44-46 als Geste
der Verehrung. Nach matthäischer Passionsüberlieferung vollzieht
sie damit die Bereitung Jesu zum Tode (Mt 26,6-15). Die Trostlosig-
keit der Ernmausjünger (Lk 24, 19-20) und der Maria Magdalena in
der johanneischen Ostergeschichte (Joh 20,11-15) schlägt sich in

28 Olearius, Erklärung, Bd.I, S.746 zu Num 24,19.


29 Axmacher, »Aus Liebe will mein Heyland sterben<<, verweist auf V. Herberger, S.140.
30 Olearius, Erklärung, Bd.I, S.745 zu Num 24,17.
Martin Petzoldt 161

ihrem Bericht vom toten Jesus nieder: »Erzähle der Welt und dem
Himmel die Not: Dein Jesus ist tot!<<
Satz 39: Der Schlußchor, einzige Zutat zum Actus >>Sepulchrum<<,
verrät eine deutliche Nähe zu J es 11,10 in der unrevidierten Luther-
version. »Ruht wohl und bringt auch mich zur Ruh<<: »Seine, des Meßiä
Ruhe, da ernernlieh mit Gnaden in denHerzen derGläubigen Wohnet,
wird Ehre sein, d.i. voller Herrlichkeit und Ansehen<<. 5 1 So erklärt es
eine zeitgenössische Konkordanz. Doch seine Grabesruhe erklärt
die Dogmatik als letzte Station des status exinanitionis, des Standes
der Erniedrigung. Versucht man zu klären, was hier vorliegt, so
scheint mir, daß sich im Schlußchor verschiedene alttestamentliche
Vorstellungen überlagern: Dan 12,13 ist zusammen mit Act 7,55b
und Apk 1,18 zu interpretieren: Sein Grab macht mir den Himmel
aufund schließt die Hölle zu.>> Die Ruhe des Messias<< meint die Ruhe
des erhöhten, >>in Herrlichkeit und Ansehen<< stehenden Messias,
nicht seine Grabesruhe. Daraufverweist nicht zuletzt der Abgesang
des Satzes 40.

5. ZUSAMMENFASSUNG

>>Theologische Überlegungen zum Passionsbericht des Johannes


in Bachs Deutung<<: Ohne jetzt dem Fehler zu verfallen, Bach selbst
für jede genannte Einzelheit in Anspruch zu nehmen- das verbietet
sowohl die ungesicherte Herkunft des Textbuches als auch sich
rasch einschleichende Überinterpretationen -,lassen sich gewisse
Linien festhalten, die eine Antwort auf das Thema sein können:
1. Bach vertont ein Textbuch, das prinzipielleinen Evangelien-
bericht bevorzugt und diesen in der Gliederung der Actus in Anwen-
dung bringt.
2. Die beiden Erweiterungen durch die Bugenhagensehe Passi-
onsharmonie verweisen auf zwei passionstheologisch wesentliche
Akzente, auf die der Textbuchautor und wohl auch Bach nicht ver-
zichten wollten: den Typus der conversio passiva per poenitentiam
und die eschatologisch-kosmologische Dimension des Kreuzesto-
des Jesus.
3. Der Textgebrauch spiegelt zwei Wurzeln biblischer Theologie
im Rahmen des johanneischen Passionsberichtes wider: einmal die

31 Michaelis, Concordanz, S. 1554.


162 Martin Petzoldt

Hochschätzung des Johannes-Evangelium durch Luther, für den


es das »rechte Heuptevangelium«war; zum andern die Anschauung
von der Widerspruchslosigkeit der Heiligen Schrift, die sich in Bu-
genhagens Passionsharmonie exemplarisch niedergeschlagen hat.
4. Der Kirchenliedgebrauch bestätigt trotz einiger Uneinheitlich-
keiten die Gliederung in Actiis und hilft zur Bezeichnung theologi-
scher Schwerpunkte durch Bach:
die schützende Geste Jesu rückt die »größere Liebe« unter
den Willen Gottes (Actus Hortus);
die Erkenntnis der eigenen Sünde soll zur Umkehr führen:
conversio passiva per poenitentiam (Actus Pontifices);
Kreuzmeditation unter den Bedingungen der Welt, eine Ein-
übung in das Sterben (ars moriendi) (Actus Pilatus);
das Kreuz wird zum Zeugnis und Zeichen (Actus Crux);
die Ruhe des Erhöhten, des »in Herrlichkeit und Ansehen«
stehenden Messias, bringt mich zur Ruhe, d.h. macht mir
den Himmel auf (Actus Sepulchrum); ohne Liedstrophe.

5. Die freien Texte unterstreichen die durch die Liedstrophen be-


reits umschriebenen theologischen Schwerpunkte, indem sie die
durch die Personen dargestellte Symbolik nutzbar macht. Freilich
geschieht das in einem durchaus verfremdenden Sinn, wenn Bach
z.T. ein und dieselbe Person in verschiedenen Stimmlagen singen
läßt. Dadurch erhält der Hörer die Möglichkeit, nicht in historisie-
rendem Sinn die Person zu verfolgen, sondern sich selbst wiederzu-
entdecken und zu identifizieren:

Petrus: Satz 7; Altarie;


Der »andere« Jünger: Sätze 9, Sopranarie, und 32, Baßarie;
Pilatus: Sätze 19 und 24, Baßarioso und Baßarie;
Mutter Maria: Satz 30, Altarie;
Maria Magdalena: Satz 35, Sopranarie.

Die Sätze 13 (Arie), 20 (Arie) und 34 (Arioso) für Tenor stehen


dem Evangelisten intentional sehr nahe, wenn sie auch vorwiegend
mit alttestamentlichem Textmaterial argumentieren: sie haben
typologisierende und allegorisierende Funktion im Blick auf das
Geschick Jesu.
6. Dem Satz 1 eignet konsequent personchristologisches Gepräge,
womit ein antipietistischer Akzent gesetzt und johanneische Chri.:.
Martin Petzoldt 163

stologie bestätigt wird. Satz 39 unterscheidet die Grabesruhe als


letzte Station des status exinanitionis von der» Ruhe des Meßiä <<,der
die den Himmel öffnende Wirkung zuzuschreiben ist, womit noch-
mals die Personchristologie einseitig betont wird.

LITERATURANGABEN:

ALAND, Kurt: Synopsis quattuor Evangeliorum, editio tertia, Stuttgart, 1964.


AxMACHER, Elke: Johann Heermanns Passionslied »Herzliebster Jesu, was
hast du verbrochen<< und seine Quellen, in: Musik und Kirche 53. Jg. 1983,
s. 179-184.
dies.: »Aus Liebe will mein Heyland sterben<<. Untersuchungen zum Wandel
des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert, Neuhausen-Stutt
gart 1984 (=Beiträge zur theol. Bachforschung, Band 2).
BuGENHAGEN, Johann: Das Leiden und Sterben unsers Herrn Jesu Christi
nach den vier Evangelisten, in: Vollständiges Kirchen=Buch, Leipzig 1718,
S.291-344.
BuLTMANN, Rudolf: Theologie des N euen Testaments, 9. Aufl., Tübingen 1984.
ders.: Das Evangelium des Johannes, Berlin 1963.
DIBELIUS, Martin: Individualismus und Gemeindebewußtsein in Johann
Sebastian Bachs Passionen, Archiv für Reformationsgeschichte Jg. 41, 1948,
s. 146-154.
DüRR, Alfred: Die vier Fassungen der Johannes-Passion. Zur Entstehung,
Quellenlage und Überlieferung, in: Vorträge der Sommerakademie 1979,
Stuttgart 1979, S.67-86.
GANZHORN-BURKHARDT, Renate: Zur Bedeutung der Choräle in Bachs Johan-
nespassion, in Musik und Kirche 53. Jg. 1983, 64-73.
KRAGERUD, Alv: Der Lieblingsjünger im Johannesevangelium. Ein exegeti-
scher Versuch, Oslo 1959.
LuTHER, Martin: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff. (=WA).
MENDEL, Arthur: Krit. Bericht zur Johannes-Passion, NBA II/4, Kassel 1974.
MICHAELIS, Georg: Vollständige Real und Verbal Concordanz, Jena 1767.
ÜLEARIUs, J ohannes: Biblische Erklärung. . . nechst dem allgemeinen
Haupt=Schlüssel, Erster Theil, Leipzig 1678.
ScHERZER, Johann Adam: Systema Theologiae, Leipzig u. Frankfurt 1698.
SM END, Friedrich: Die Johannes-Passion von Bach. Aufihren Bau untersucht,
in: ders., Bach-Studien, hrsg. von Christoph Wolff, Kassel 1969, S. 11-23.
ZELLER, Winfried: Tradition und Exegese. J. S. Bach und Martin Schallings
Lied >>Herzlich lieb hab ich dich, o Herr<<, in: Bach als Ausleger der Bibel,hrsg.
von Martin Petzoldt, Berlin und Göttingen 1985, S.151-176.
Eröffnungssätze 1 Herr, ·unser Herrscher 15 Christus, der uns .......
Ol
~
Actiis der Passion Hortus Pontifices Pilatus Crux Sepulchrum
Joh 18,1--8 Joh 18,12-23 Joh 18,28-36 Joh 19,23--27 Joh 19,38--42
Betrachtende 3 0 große Lieb 11 Wer hat dich so 17 Ach großer Kö- 28 Er nahm alles
Liedstrophen geschlagen nig, groß zu wohl in acht
Ich, ich und Ich kann's mit
meine Sünden meinen Sinnen
[BWV 245a: Aria
und Liedstrophe:
Jesu, deine Passion]
Joh 18,9-11 Joh 18,24-27 Joh 18,37--40 Joh 19,28-30
Mt 26,75 Joh 19, 1-12a
32 Aria und Lied-
22 Durch dein Ge- strophe: Jesu, der
fängnis Gottes Sohn du warest tot
Joh 19,12b-22 Mt 27,51--52
Joh 19,31-37
Schlußstrophen 5 Dein Will gescheh 14 Petrus, der nicht 26 In meines Her- 37 0 hilf Christe,
der Actüs Herr Gott denkt zurück zens Grunde Gottes Sohn
Abschlußsatz 40 Ach Herr, laß dein
Liedbestand mit 3 Str. 7 von "Herz- 11 Str. 3 u. 4 von 17 Str. 8 u. 9 von 28 Str. 20 von "Jesu
Dichterangabe liebster Jesu" "0 Welt, sieh hier "Herzliebster Jesu" Leiden, Pein
von J. Heermann dein Leben" von J. Heermann und Tod" von
5 Str. 4 von "Vater von P. Gerhard 22 Arientext von P. Stockmann
unser im [245a: Str. 33 von C.H. Postel 32 Str. 34 des 40 Str.3 von "Herz-
Himmelreich" "Jesu Leiden, Pein 26 Str. 3 von "Valet will gleichen Liedes lieh lieb hab
von M. Luther und Tod" von ich dir geben" 37 Str. 8 von ich dich, o Herr"
P. Stockmann] von V. Herberger . "Christus, der von M. Schalling
14 Str. 10 v. "Jesu
Leiden, Pein und"
von P. Stockmann
uns selig macht"
von M. Weiße,
vgl. Satz 15
-~
Pl
~
(!)
.......
Anlage 2 165

J. Bugenhagen, Passions-Harmonie J. S. Bach, Johannes-Passion


Sirnon Petrus aber stund und wärmete sich. - 12" ... Sirnon Petrus stund und
Und über eine kleine Weile nach dem ersten wärmete sich,
Verleugnen, als er hinaus ging nach dem Vor-
hof, krähete der Hahn. Und eine andere Magd
sahe ihn, und hub abermal an zu sagen denen,
die dabei stunden: Dieser war auch mit dem
Jesus von Nazareth.
Da sprachen sie zu ihm: Bist du nicht sei- da sprachen sie zu ihm:
ner Jünger einer? Und ein andrer sprach: Du - 12b Bist du nicht seiner Jünger
bist auch der einer. Und er leugnete abermal, einer?
und schwur darzu, und sprach: Mensch ich - 12c Er leugnete aber und sprach:
bins nicht, und ich kenne auch des Menschen Ich bins nicht.
nicht. Und über eine kleine Weile, bei einer
Stunde, bekräftigte es eine andere mit denen,
die da stunden, und sprachen: Wahrlich du
bist ein Galiläer, denn deine Sprache verrät
dich.
Spricht des Hohenpriesters Knecht, ein Spricht des Hohenpriesters
Gefreundter deß, dem Petrus das Ohr Knecht einer, ein Gefreundter
abgehauen hatte: des, dem Petrus das Ohr abge-
hauen hatte:
Saheich dich nicht im Garten bei ihm? Sahe ich dich nicht im Garten
Da fing er an sich zu verfluchen, und bei ihm?
Schwören: Ich kenne des Menschen nicht, von Da verleugnete Petrus abermal,
dem ihr saget. Und alsbald da er noch redete, und alsobald krähete der Hahn.
krähete der Hahn zum andernmal, und der
Herr wandte sich, und sahe Petrum an. Mt 26,75:
Da gedachte Petrus an das Wort Jesu, als er Da gedachte Petrus an die Worte
zu ihm gesagt hatte: Eiie der Hahn zweimal Jesu [da er zu ihm sagte: Ehe
krähet, wirst du mich dreimal verleugnen, der Hahn krähen wird, wirst du
und ging heraus, und weinete bitterlich. mich dreimal verleugnen]
und ging hinaus und weinete bit-
terlich.
- 13 Ach, mein Sinn,
Wo willt du endlich hin ...

Da nun Jesus den Essig genommen hatte, - 29 ... Da nun Jesus den Essig ge-
sprach er: Es ist vollbracht. Und abermal rief nommen hatte, sprach er: Es ist
er laut, und sprach: Vater ich befehle meinen vollbracht.
Geist in deine Hände. Und als er das gesagt, - 50 Es ist vollbracht!
neigte er das Haupt, und gab seinen Geist 0 Trost vor die gekränkten See-
auf. len!
- 51 Und neiget das Haupt und
verschied. Mt 27,51-52:
Und siehe da der Fürhang im Tempel zerriß - 53 Und siehe da, der Vorhang im
in zwei Stücke, von oben an bis unten aus, Tempel zerriß in zwei Stück von
und die Erde erbebte, und die Felsen zerris- oben an bis unten aus. Und die
sen, und die Gräber thäten sich auf, und Erde erbebte, und die Felsen zer-
stunden auf viel Leibe der Heiligen, die da rissen, und die Gräber täten sich
schliefen, und gingen aus den Gräbern, nach auf, und stunden aufviel Leiber
seiner Auferstehung, und kamen in die heilige der Heiligen.
Stadt, und erschienen vielen.
(Folgt: Mt 27,54 parr; Lk 23,48; - 54 Mein Herz, in dem die ganze
Mt 27,55f parr.) Welt ...
- 55 Zerfließe, mein Herze ...
Die Jüden aber, dieweil es der Rüsttag - 56 Die Jüden aber, dieweil es der
war ... Rüsttag war ...
166 Alfred Dürr

Die Frage nach der Deutung des johanneischen


Passionsberichts, wie sie sich in Bachs Musik
kundtut, ist nicht leicht zu beantworten. Denn
selbstverständlich gibt es keine spezifische johan-
neische Musik; meine Frage soll daher lauten:
Was unternimmt Bach, um das Typische des
Johannesberichts hervorzuheben, vielleicht zu
ergänzen oder auch durch Betonung anderer
Aspekte zurücktreten zu lassen?
Rekapitulieren wir zunächst kurz die lokalen
und biographischen Voraussetzungen zur Kompo-
sition. Nachdem in der Leipziger Neukirche
erstmals am Karfreitag 1717 eine figurale Passion
erklungen war, führte man im Jahr 1721 dieselbe
Sitte in den Leipziger Hauptkirchen ein. Den Be-
ginn machte Johann Kuhnaus Markus-Passion.
Diese Passionsaufführung innerhalb der Karfrei-
tagsvesper beruhte also auf einem Rats beschluß,
an den Bach gebunden war, auch wenn er selbst
ihm nicht so positiv gegenübergestanden hätte,
wie wir das annehmen dürfen. Aus ihrer liturgi-
schen Verankerung als Teil des Vespergottesdiens-
tes folgte nun aber, daß die Passion zweiteilig
angelegt sein mußte -in der Mitte stand die Pre-
digt - und ferner höchstwahrscheinlich, daß der
Evangelienbericht im Wortlaut beizubehalten war,
zumindest in diesen frühen Leipziger Jahren
Bachs. Ob Bach in späteren Jahren auch Passionen
mit frei nachgedichtetem biblischem Bericht, z. B.
Rändels Brackes-Passion, aufgeführt hat, wissen
wir nicht genau; wenn ja, so ist dabei weniger an
die Karfreitagsvesper der Hauptkirchen als an
eine Veranstaltung an anderer Stelle etwa mit dem
studentischen Collegium musicum zu denken.
Und sie hätte Bach von seiner Pflicht zur Passions-
aufführung in der Karfreitagsvesper nicht entbun-
den.
Dies also war der Rahmen, dem sich Bachs
Passionen, also auch die Johannes-Passion, anzu-
passen hatten. Nicht ganz ersichtlich ist für uns, ob
167

die naheliegende und z. B. in Harnburg streng eingehaltene Gewohn-


heit, die Berichte der vier Evangelien in regelmäßigem Wechsel er-
klingen zu lassen, in Leipzig, wenn auch offensichtlich nicht befolgt,
so doch wenigstens zeitweise angestrebt worden sein könnte. Aber
diesbezügliche Dokumente sind nicht überliefert, und ein Versuch,
einen solchen Wechsel aus den sicher belegten Aufführungen her-
auszulesen, führt zu keinem Ergebnis.
Als Bach im Sommer 1723 nach Leipzig kam, hatte er höchstwahr-
scheinlich schon eine heute weitgehend verschollene Passion
komponiert. Das geht aus einer allerdings äußerst vagen Notiz des
Bach- Biographen Hilgenfeldt von 1850 hervor; sie lautet: >>Eine der
übrigen drei [Passionen] soll Bach im Jahr 1717 componiert
haben.<< 1 Ein weiteres Indiz sind die drei Arien und der Choralchor-
satz » 0 Mensch, bewein dein Sünde groß<<, die Bach 1725 in die Johan-
nes-Passion eingefügt hat. Hier liegt der Schluß nahe, daß er sie nicht
neu komponiert, sondern aus einer bereits existierenden Passion
entlehnt hat. Wir wissen ja, daß Bach in seinen frühen Weimarer
Jahren die Markus-Passion von Reinhard Keiser in Stimmen abge-
schrieben hat bzw. abschreiben ließ, also zweifellos auch aufgeführt
hat, sei es in der Weimarer Schloßkapelle, sei es anderswo. Er könnte
also sehr wohl in diesen Jahren auch eine eigene Passion kompo-
niert und aufgeführt haben. Trifft dies zu, so wäre die Johannes-
Passion nicht sein Erstlingswerk, sondern bereits das zweite dieser
Gattung gewesen.
Wenn wir uns nun Bachs Deutung des johanneischen Passions-
berichts zuwenden, so können wir nicht an der Frage vorbeigehen,
ob Bach auch als Verfasser des Librettos zu diesem Werk anzusehen
ist, bzw. inwieweit er bei dessen Planung mitgewirkt hat. Philipp
Spitta hatte aus dem Wasserzeichen der Stimmen von 1725 - ge-
kreuzten Schwertern -, das ähnlich auch in Werken der Köthener
Zeit auftritt, gefolgert, Bach habe die Johannes-Passion schon An-
fang des Jahres 1723 in Köthen komponiert in der Erwartung, am
Karfreitag bereits zum Thomaskantor berufen und somit zur
Aufführung einer Passion verpflichtet zu sein. 2 Zur scheinbaren Ge-
wißheit wurde diese Vermutung Spittas, als Bernhard Friedrich
Richter im Bach-Jahrbuch 1911 auf die »Nachricht<< des Thomas-

1 Carl Ludwig Hilgenfeldt,Johann Sebastian Bach's Leben, Werken und Werke. Ein Bei-

trag zur Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1850; unveränderter Nach-
druck Hilversum 1965, S. 114.
2 Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach I!, Leipzig 1880, S. 814.
168 Alfred Dürr

küsters Johann Christoph Rost hinweisen konnte, daß tatsächlich


1723 - trotz der Vakanz im Kantorat- eine Passionsaufführung in St.
Thomae stattgefunden habe. Das dabei aufgeführte Werk, so meinte
Richter, könne nur die Johannes- Passion gewesen sein, mit der Bach
gleichsam eine Vorleistung auf die Pflichten des erhofften Kantorats
erbracht habe. 3
Wir wissen inzwischen, daß dies so nicht zutrifft. Hätte Bach 1723
die Passionsaufführung ausgerichtet, so wäre das mit Sicherheit in
den erst danach beginnenden Ratsverhandlungen um die endgül-
tige Besetzung des Amtes zur Sprache gekommen. Aber selbst wenn
diese Annahme irrig sein sollte: Dreimal hintereinander hätte Bach
dieselbe Passion mit Sicherheit nicht aufgeführt, so daß Bach, wenn
überhaupt, dann höchstens eine andere Passion aufgeführt haben
könnte. Gleichwohl meine ich, daß wir die Annahme einer Passions-
aufführung 1723 durch Bach endgültig fallenlassen sollten.
Den Anstoß zur Revision dieser Datierung gaben die Ermittlun-
gen des Erfurter Papierforschers Wisso Weiß, der die Wasserzeichen
des in Köthen und des in Leipzig 1725 von Bach verwendeten
Papiers exakt voneinander unterschieden hat. 4 Nun hatte aber
Spitta aus der richtigen Beobachtung, daß sich die madrigalische
Dichtung zu Bachs J ohannes Passion an zahlreiche fremde Vorbil-
der, insbesondere an die Passionsdichtung von Barthold Heinrich
Brockes anlehnt, gefolgert, Bach habe, als er in Köthen den Plan zur
Passionskomposition faßte, keinen geeigneten Dichter am Ort zur
Hand gehabt und daher den Text in Anlehnung an fremde Vorbilder
selbst verfaßt bzw. umgedichtet. Und obwohl inzwischen die Voraus-
setzungen für diese Hypothese nicht mehr gegeben sind, hält sie
sich dennoch hartnäckig, so z. B. in Nikolaus Rarnoncourts Buch
>>Der musikalische Dialog<<. 5 Ich meine aber, man solle das Märchen
von Bach als dem Textdichter der Johannes-Passion endlich einmal
zu den Akten legen, und zwar aus folgenden Gründen:

1. Gewiß können wir nicht mehr sagen, als daß 1724 die erste nach-
weisbare Aufführung diese Werkes stattgefunde hat; doch ist eine

3 Bernhard Friedrich Richter, Zur Geschichte der Passionsaufführungen in Leipzig, in:

Bach-Jahrbuch 1911, S. 50 ff.


4 Vgl. NBA IX/1: Katalog der Wasserzeichen in Bachs Originalhandschriften von Wisso

Weiß unter musikwissenschaftlicher Mitarbeit von Yoshitake Kobayashi, Kassel und


Leipzig 1985 (2 Bände, Abbildungen und Text).
5 Nikolaus Harnoncourt, Der musikalische Dialog, Salzburg und Wien 1984, S. 229.
Alfred Dürr 169

frühere Entstehung durch nichts zu belegen, die Theorie vom


Fehlen eines geeigneten Dichters also bis zum Beweis des Gegen-
teils unhaltbar.

2. Die Anlehnung an fremde Vorbilder war den Textdichtern der


Bachzeit so geläufig, daß sie zum Beweis dichterischen Unvermö-
gens nicht tauglich ist, -und das ganz besonders, seitdem Elke
Axmacher gezeigt hat, wie eng sich Henrici-Picander bei der Dich-
tung zur Matthäus-Passion an die Predigten Heinrich Müllers an-
gelehnt hat. Jeder beliebige Textautor hätte Brockes nach- oder
umdichten können, ohne daß dies als ungewöhnlich empfunden
worden wäre.

3. Wenn das spezifische Anliegen des Evangelisten in der freien


Dichtung, insbesondere im Eingangschor, außerordentlich ver-
ständnisvoll erfaßt worden ist, so deutet das bei aller Hochach-
tung vor der theologischen Bildung Bachs doch mit einer
gewissen Wahrscheinlichkeit auf einen Theologen als Textautor.
In dieser Richtung wäre wohl zunächst einmal zu suchen.

4. Das wichtigste Argumentscheintmir jedoch zu sein, daß kein ein-


ziger Kantaten-, Oratorien- oder Passionstext bekannt ist, der
nachweislich von Bach gedichtet wurde, wohl aber sehr viele sol-
cher Texte, die ·erwiesenermaßen fremde Dichter zum Verfasser
haben. Die Konsequenz, die aus diesen Beobachtugen zu ziehen
wäre, lautet, daß man vorderhand auch für die »Johannes-Passion«
solange die Autorschaft eines fremden Dichters unterstellen muß,
bis ein Gegenbeweis erbracht ist.

Dies alles schließt natürlich die Möglichkeit eines Eingriffs in das


Libretto durch Bach nicht aus. So wäre insbesondere zu fragen, ob
etwa die Einfügungen von Versen des Matthäus- und Markus-Evan-
geliums, also die Berichte von der Reue des Petrus und vom Zerrei-
ßen des Vorhangs im Tempel, Bach zuzuschreiben sein könnten.
Denn wenn der Text des Eingangschors von einem besonderen Ver-
ständnis seines Dichters für das Johannes-Evangelium zeugt, wenn
ferner andernorts, z. B. in Hamburg, die Sitte herrschte, die vier
Evangelienberichte in regelmäßigem Wechsel aufzuführen (wo-
durch sich Mischungen des biblischen Berichts von selbst verboten)
und wenn wir endlich bedenken, daß Bach, aus welchem Grunde
170 Alfred Dürr

auch immer, in Fassung III der Johannes-Passion die Interpolationen


tatsächlich eliminiert hat, so muß es zumindest erlaubt sein zu fra-
gen, ob nicht auch vielleicht der ursprüngliche Text, der Bach zur
Komposition vorlag, nur den johanneischen Bericht enthielt, was
natürlich bedeuten würde, daß auch die mit den Interpolationen ver-
bundenen madrigalischen Texte noch gefehlt hätten.
Eine Nachprüfung dieser Frage führt leider zu keinem eindeuti-
gen Ergebnis, wasangesichtsder Spärlichkeil unserer Quellen kein
Wunder ist. Zunächst zur Reue des Petrus: Bekanntlich schließt der
johanneische Bericht mit den Worten »und alsobald krähete der
Hahn<<. Es entspricht der Konzeption des vierten Evangelisten, daß
ihm nur dar an gelegen ist, das Eintreffen der Prophezeihung J esu zu
berichten, denn dieser »wußte alles, was ihm begegnen sollte<<; an
einem Psychogramm des Petrus ist der Evangelist nicht interessiert.
Anders die Ästhetik der Bachzeit. Wenn es nach damaliger Überzeu-
gung Aufgabe der Musik ist, >>Affekte<< auszudrücken, dann mußte es
den Komponisten hart ankommen, die Möglichkeit zu musikali-
scher Abbildung des Weinens und reuevoller Verzweiflung unge-
nutzt zu lassen, zumal da der johanneische Bericht ja auch sonst mit
Emotionen sparsam umgeht (es fehlen die Reue des Judas, die Ver-
spottung unterm Kreuz, der Hohn der Schächer, der Ruf »Mein Gott,
warum hast du mich verlassen?<<, das Christusbekenntnis des Haupt-
manns unterm Kreuz und manches andere); und selbst die Turba-
chöre, die eigentliche Domäne des Komponisten zur Darstellung
haltloser Wut, verlegen sich bei Johannes zuweilen mehr auf sachli-
ches Argumentieren (»Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten... <<
oder »Lässest du diesen los, so ... <<).
Ist damit zumindest ein gewisses Interesse des Komponisten ge-
geben, den Bericht von der Reue Petri in die Passion einzuschalten,
so muß, betrachtet man die textlichen Vorlagen des Librettisten, auf-
fallen, daß die Arie »Ach, mein Sinn<< sich nicht an Brockes orientiert.
Sie stammt vielmehr als einzige Arie vonChristianWeise und wurde
überdies bei der Eingliederung in die Passion nur so geringfügig ver-
ändert, daß hierfür nicht eigens ein Textdichter erforderlich gewe-
sen wäre: Bach pflegte auch in anderen Fällen Änderungen solchen
Ausmaßes selbst vorzunehmen.
Endlich ist noch eine scheinbare Geringfügigkeit von Interesse,
nämlich die Frage, wem die Arie in den Mund gelegt ist: Wer ist der
Knecht, der den Herrn verleugnet hat? Offenbar doch nicht Petrus;
denn die Arie wird von einem Tenor gesungen, während Petrus sein
Alfred Dürr 171

»Ich bins nicht« soeben mit Baßstimme gesungen hatte. Bach verzich-
tet also, so muß die Erklärung lauten, auf eine opernhafte Dramatik,
vielmehr macht sich der Sänger zum Sprecher jedes einzelnen Chri-
sten der im Gottesdienst versammelten Gemeinde in demselben
Sinne, in dem wir bei Lukas 23,28 J esus sagen hören: »weinet nicht
über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder«.
Gerade Luther war daran gelegen, daß sich das rechte Passionsver-
ständnis nicht in der compassio, im Mitleiden mit J esus, erschöpfe,
sondern zu einer Erkenntnis der eigenen Sünden führe. Insofern ist
die erste Matthäus-Interpolation vielleicht nicht unbedingt johan-
neisch, aber doch gut lutherisch zu nennen.
Zu einem anderen Ergebnis führt die Betrachtung der zweiten
Interpolation. Gewiß, auch sie gibt dem Komponisten Gelegenheit
zur Affektdarstellung, zunächst zu einem ebenso wirkungsvollen
wie vordergründigen Katastrophengemälde, danach zu einem Kla-
gegesang, der Bach auf der Höhe seiner Kunst zeigt. Trotzdem sind
die Unterschiede zur Petrus-Interpolation unverkennbar:
Zunächst verwundert, daß die erste Fassung der Bachsehen
Passion, wenn nicht alles täuscht, nicht den Text nach Matthäus, son-
dern Markus 15,38 enthalten hatte, eine gegenüber Matthäus kür-
zere Fassung des Wortlauts: »Und der Vorhang im Tempel zerrij3 in
zwei Stück von oben an bis unten aus«. Wenn wir dann aber im folgen-
den Arioso (Satz 34) hören »die Sonne sich in Trauer kleidet, der Vor-
hang reij3t, der Fels zerfällt, die Erde bebt, die Gräber spalten«, dann
wird offensichtlich, daß sich diese freie Dichtung gar nicht aufMar-
kus (und übrigens noch viel weniger auf Lukas oder Johannes) be-
ziehen kann, sondern nur aufMatthäus. Und das ist umso auffälliger,
als dieses Arioso eine Nachdichtung nach Brockes ist, bei dem zwar
die Sonnenfinsternis, das Bersten der Felsen genannt werden, nicht
aber das Erdbeben und das Sichauftun der Gräber: Beides ist Zutat
des Librettisten der Johannes-Passion.
Man erhält also den Eindruck, als seien hier heterogene Bestand-
teile eingefügt worden, nämlich der Bericht nach Markus und eine
Betrachtung des Textes nach Matthäus; und erst von Fassung II
(1725) an hat Bach die Widersprüche gemildert, indem er in Satz 33
Markus 15,38 durch Matthäus 27,51-52 ersetzte, dabei das Rezitativ
von 3 auf 7 Takte erweiterte. Gleichwohl fehlt die >>Finsternis über
das ganze Land<< auch jetzt noch im Bericht des Evangelisten.
Ihre Kenntnis wird im Arioso einfach vorausgesetzt, was für die
Gemeinde der Bachzeit natürlich zutraf. Auch der Text der Arie
172 Alfred Dürr

»Zerfließe, mein Herze« (Satz 35) lehnt sich, wenn auch lockerer, an
die Brockessche Dichtung an, und das läßt vermuten, daß der Dich-
ter wohl derselbe war, der auch die anderen Brockes-Nachdichtun-
gen verfaßt hat, also offenbar doch nicht Bach. Endlich ist auch
»Zerfließe, mein Herze« ein Trauergesang um J esus selbst und nicht
um die eigenen Sünden, dem man seine Berechtigung in der Todes-
stunde Jesu allenfalls zugestehen kann; aber johanneisch ist er
nicht; denn für den vierten Evangelisten ist der Tod Jesu die Heim-
kehr zum Vater nach vollbrachter Sendung, und insofern kommt das
»Der Held aus Juda siegt mitMacht<< dem johanneischen Passionsver-
ständnis wesentlich näher als Worte wie »Erzähle der Welt und dem
Himmel die Not«.
Wenn wir nun zur Ausgangsfrage zurückkehren, ob Bach selbst
für die Interpolationen und die damit im Zusammenhang stehenden
Sätze verantwortlich zu machen sei, so bleibt die Antwort in der
Schwebe; zur ersten Interpolation lautet sie eher ja, zur zweiten
eher nein; doch will auch die Annahme einer unterschiedlichen Ur-
heberschaft nicht recht befriedigen.
Müssen wir aber damit rechnen, daß diese Interpolationen etwa
doch auf das Konto desjenigen Textautors gehen, der auch die übri-
gen Brockes-Texte nachgedichtet hat, so muß eine neue Unstimmig-
keit auffallen: Man fragt sich, ob dies wirklich derselbe Dichter
gewesen sein kann, der im Eingangschor der Johannes-Passion ein
so klarsichtiges Verständnis für die johanneische Theologie von der
Herrlichkeit Jesu auch in der größten Niedrigkeit bewiesen hat.
Sollte der Librettist etwa auch den Eingangschor von anderswoher
übernommen haben?
Wir können diese Frage nicht sicher beantworten, verbleiben aber
noch ein wenig bei dem Eingangschor, um uns auch die Bachsehe
Vertonung etwas näher anzusehen. Schon Elke Axmacher hat in
ihrer Arbeit >>Aus Liebe will mein Heyland sterben« auf die >>theolo-
gische Aussagekraft« der Dacapoform in diesem speziellen Fall hin-
gewiesen: >>Der Gottessohn, der als Schöpfer und Herrschergott...
herrlich ist, steigt hinab in die Niedrigkeit, um dort verherrlicht zu
werden<< und: >>Aus der Niedrigkeit kehrt der Gottessohn zurück in
die Herrschaft des Weltenherrn<< 6 • Bach hat dieses Hinabsteigen in
die Niedrigkeit und die Rückkehr in sein angestammtes Reich nach-
6Elke Axmacher, »Aus Liebe will mein Heyland sterben<<. Untersuchungen zum Wan-
del des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert (=Beiträge zur theologi-
schen Bachforschung, Band 2), Neuhausen-Stuttgart 1984, S. 163.
Alfred Dürr 173

komponiert, indem die Rahmenteile vom Herrlichsein Jesu (in


Anlehnung an den 8. Psalm) handeln, der Mittelteil dagegen von sei-
nem Verherrlichtwerden in der Niedrigkeit. Diesen einzelnen Begrif-
fen sind bestimmte musikalische Motive und Themen zugeordnet.
Aber sehen wir uns zunächst einmal den musikalischen Aufbau
näher an. Ein 18taktiges Orchesterritornell exponiert das musikali-
sche Material, das >>thematisch<< zu nennen ein wenig kühn wäre;
denn im Gegensatz zu den meisten Chor- und Arienritornellen
Bachs erklingt hier kein prägnantes Thema. Eher könnte man von
einem motivgeprägten Ritornell sprechen oder -mit Siegfried Her-
melink von einem >>Klangflächenpräludium<< (der Terminus wurde
wohl für einige Präludien des Wohltemperierten Klaviers erfunden).
Drei Ebenen zeichnen sich ab:

1. Der Continuo-Orgelpunkt (ähnlich dem, der einst die Matthäus-


Passion eröffnen wird).

2. Eine kreisende Streicherfigur, die, nennt man sie mit der musika-
lischen Figurenlehre circulatio oder groppo, zwar einen treff-
lichen Namen hat und als solche, wie man erfährt, Wörter wie
circumdare bzw. umgeben bildlich darstellen soll, die aber hier
vorderhand mehrdeutig bleibt.

3. Haltetöne der Holzbläser, deren scharfe Dissonanzen offenbar


durch die Vorstellung der >>Passion<< angeregt sind.

Es ist nicht einfach zu sagen, was Bach mit einem solchen in sich
kreisenden, nur vom Harmoniewechsel vorangetriebenen Orgel-
punktvorspiel >>gemeint<< haben könnte, -wenn er etwas gemeint hat.
Vielleicht haben wir in ihm eine Interpretation von Johannesstellen
wie >>Im Anfang war das Wort<< oder >>Ehe denn Abrahahm ward, bin
ich<< (Joh.1,1 bzw. 8,58) zu sehen. Auch Meinrad Walter gibt in seiner
maschinenschriftlichen Diplomarbeit über die Johannes-Passion ei-
nen beherzigenswerten Vorschlag zur Auffassung der drei Ebenen
als musikalische Darstellung der Trinität, wobei der Orgelpunkt
Gottvater zugeordnet ist, die Streichersechzehntel dem Heiligen
Geist und die Haltetöne der Bläser dem leidenden Christus, -eine
Deutung, die in der Tat frei ist von jeglicher Gewaltsamkeit. Aber
wahrscheinlich werden Bach-Fanatiker noch jede Menge weiterer
Patentrezepte für eine Deutung bei der Hand haben.
174 Alfred Dürr

Der vokaleA-Teil hat dann drei deutlich voneinander unterschie-


dene Abschnitte:

a) Takt 19-32, einen überwiegend homophonen Teil, in dem die


Instrumentalmotivik in Anlehnung an das Einleitungsritornell
weitergeführt wird, während die Sechzehntelmotivik in aufstei-
gender Sequenzierung vom Chor auf die Worte »Herrscher« und
»herrlich« übernommen wird und so ihre unzweideutige Erklä-
rung findet.

b) Takt 33-39, ein relativ kurzes Kanongeflecht auf ein neues, oder
vielmehr auf ein erstes wirkliches Thema, dessen Beginn
(Oktavsprung abwärts) offensichtlich auf den Anruf »Herr,
unser... « gebildet ist, während die verminderte Quarte, nach der
Figurenlehre ein Saltus duriusculus, auf das Wort »Herrscher<<
bislang noch unverständlich bleibt.

a') Takt 40-57, ein dem Abschnitt a verwandter homophoner Teil als
Choreinbau in das vollständige Instrumentalritornell, das frei-
lich in den Takten 42-44 fast bis zur Unkenntlichkeit abgewan-
delt und dabei den Takten 21-23 angenähert wird.

Ohne Zwischenspiel folgt der Mittelteil B, Takt 58 ff., der in sich


zweigeteilt ist in zwei korrespondierende Abschnitte c c', deren jeder
wieder in drei Einzelglieder unterteil ist, nämlich
als erstes das aus Abschnitt b bekannte Kanonengeflecht, nun-
mehr- ein genialer Kunstgriff! -um einen Halbton höher auf es'
(das zweite Mal normal auf a) einsetzend, wobei der Text »Zeig
uns durch deine Passion<< den erwähnten Saltus duriusculus als
Hinweis auf Christi Leiden offenbart, während sich der Oktav-
sprung auf »Zeig uns<< deklamatorisch als ebenso geeignet erweist
wie zuvor auf »Herr<< (Takte 58-66a, 78b-82a),
als zweites ein kurzes Imitationsgeflecht auf die Worte »zu aller
Zeit<< im Rahmen einer Oktave (Diapason) aufsteigend und auf
»auch in der größten Niedrigkeit<< piano und abfallend auslaufend
(Takte 66b-69, 82b-85),
endlich auf den Text »verherrlicht worden bist<< in offensichtlicher
Anlehnung an Abschnittades Hauptteils endend (Takte 70-78a,
86-95).
Die Wiederholung des unveränderten A-Teils beschließt den Satz.
Alfred Dürr 175

Welche Mittel dienen nun der Textverdeutlichung? Zunächst


sorgt der Verzicht auf eine spezifische Instrumentalthematik, d. h.
die ausschließliche motivische Prägung des Eingangsritornells (das
übrigens nur einmal, nämlich als Dacapo, wiederholt wird; im übri-
gen finden sich außer den beiden Takten 31-32 keine Instrumental-
zwischenspiele!) für eine starke Beachtung des vokalen Elements
durch den Hörer.
Vom Einsetzen des Abschnitts a an wird das Sechzehntelmotiv
mit den Begriffen »Herrscher« und »herrlich« assoziiert; und dieses
Motiv ist auch in der folgenden Entwicklung allgegenwärtig, auch
wenn es, wie in Takt 33-36 und wieder 58-66, 78-82 in den Continuo
wandert, Takt 37-39 in Sopran und Baß oder 66-67, 82-83 in die Holz-
bläser: So wie dieses Motiv, das will Bachs Kompositionsplan wohl
sagen, ist die Herrlichkeit Jesu auch in seiner größten Niedrigkeit
stets offenbar (der johanneische Jesus wird nicht rufen: >>Mein Gott,
warum hast du mich verlassen?<<).
Vielleicht nicht ganz so eindeutig, aber doch als Hypothese ver-
tretbar ist eine weitere Interpretation: Auffallen muß die Themen~
gleichheit auf die Worte »Herr, unser Herrscher« im Mittelabschnitt
des A-Teils mit »Zeig uns durch deine Passion, daß du, der wahre Got-
tessohn<< im B-Teil des Satzes, eine Themengleichheit, die uns, wie
bekannt, ähnlich in zahlreichen Turbachören der Passion später
noch wiederbegegnen wird. Denkbar wäre, daß Bach auch mit die-
ser Wiederaufnahme des Hauptteilthemas im Mittelteil sagen will:
Der Jesus der Passion ist zugleich unser Herrscher in seiner Herr-
lichkeit.
Daß mit der Oktave, die auf den Text »zu aller Zeit« durchmessen
wird (Takt 67-68, 82-83), jeweils die Ganzheit der Zeit (zu aller Zeit!)
charakterisiert wird, hatte ich mit dem griechischen Wort für die
Oktave »Diapason« schon anzudeuten versucht. Die Abbildung der
»Niedrigkeit« durch eine absteigende Melodielinie versteht sich von
selbst, auch wenn man es nicht für nötig hält, die Bezeichnung Kata-
basis aus der musikalischen Figurenlehre dafür parat zu haben.
Dieser Eingangschor ist gewiß in Bachs Passion dasjenige Stück
freier Dichtung, das der Intention des vierten Evangelisten am deut-
lichsten entspricht, aber doch nicht das einzige dieser Art. Als ihm
am nächsten verwandt wäre die Arie »Es ist vollbracht« zu nennen,
und auch ihr Text geht ja, wie bekannt, nicht auf die Brockes-Passion
zurück. Wenn freilich Friedrich Smend 7 und nach ihm Arthur
7 Friedrich Smend, Bach in Köthen, Berlin 1951, S. 124 ff.
176 Alfred Dürr

Mendel8 den Text auf Christian Heinrich Postel zurückführen, so ist


der Sachverhalt damit ein wenig verkürzt wiedergegeben.
Tatsache ist, daß in einer zu Unrecht Händel zugeschriebenen
Johannes-Passionnach den Jesusworten »Es istvollbracht«ein Arien-
text enthalten ist, der im Versbau genau mit dem der Bachsehen Arie
»Es ist vollbracht« übereinstimmt. Als Textdichter der Pseudo- Hän-
delsehen Johannes-Passion gilt eben jener Postel, jedoch nur nach
dem Zeugnis seines Dichterkollegen Christian Friedrich Hunold,
der 1706 mitteilt:
»Der Seel. Hr. Licentiat Postel hat unterschiedliche Arien
in einer vor diesem gemachten Passion verfertiget I daß I
weil sie in weniger Händen I ich nicht unterlassen kan I
ein paar heraus zu ziehen.<< 9
Es folgen drei Arien, darunter weder die hier zur Diskussion
stehende noch etwa »Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn«. Damit wis-
sen wir nicht mehr, als daß Postel für diese Passion >>unterschied-
liche Arien<< verfertigt hat. Und selbst wenn man den Ausdruck >>in
einer vor diesem gemachten Passion<< nicht in dem Sinne interpretie-
ren will, daß Posteis Arien in eine bereits >>vor diesem<< existierende
Vertonung eingefügt werden sollten (was ich für unwahrscheinlich
halte), sondern nur als Betonung, daß die ganze Angelegenheit
schon einige Jahre zurückliege (was mir glaubwürdiger erscheint),
-selbst dann schließt diese Formulierung nicht aus, daß auch Arien
aus anderen Quellen darin enthalten sind. Dies betrifft nun also
nicht nur den Text »Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn«- handelt es
sich etwa doch um eine Choralstrophe? - sondern auch die Arie
nach den Worten »Es ist vollbracht«. Denn die Strophengleichheit
mit der Bach-Arie, für die weder Smend noch Mendel eine Begrün-
dung geben, läßt sich doch eigentlich nur so erklären, daß der Libret-
tist des Peudo-Händelsehen Textes, nennen wir ihn Pos tel, entweder
eine mehrstrophige Arie gedichtet hat, aus der Pseudo-Händel nur
eine, Bachs Librettist aber eine andere Strophe zur Vertonung
ausgewählt haben, oder aber daß beide Librettisten einem bereits-
vorliegenden Strophengedicht jeweils eine Strophe als Arientext
entnommen haben. Daß aber dieses Strophengedicht selbst von
Postel stamme, ist weder erwiesen noch auszuschließen.
8Artbur Mendel, Kritischer Bericht zu NBA 11/4, Kassel und Leipzig 1974, S.162ff.
9Menantes (= Christian Friedrich Hunold), Theatralische I Galante und Geistliche
Gedichte, Harnburg 1706, S. 34 der geistlichen Gedichte. \.
Alfred Dürr 177

Ob das Gedicht mehr als die bekannten zwei Strophen hatte, ist
bislang nicht ermittelt. Waren es nur zwei Strophen, so müßte wohl
die der Bachsehen Passion die erste gewesen sein; denn nur sie
zitiert nicht nur am Schluß, sondern auch zu Beginn die J esusworte.
Unter dieser Voraussetzung wäre die Strophenfolge:

Es ist vollbracht!
0 Trost für die gekränkten Seelen!
Die Trauernacht
Läßt mich die letzte Stunde zählen.
Der Held aus Juda siegt mit Macht
Und schließt den Kampf. Es ist vollbracht!

0 Großes Werk!
Im Paradies schon angefangen!
0 Riesenstärk,
Die Christus läßt den Sieg erlangen!
Daß nach dem Streit in Siegespracht
Er sprechen kann: Es ist vollbracht!

Sollte das Gedicht für eine Vertonung geschrieben worden sein, so


kommt, wenn nicht ein Andachtslied (darauf könnte die Barform
deuten) so doch wohl nur eine Betrachtung zur Passion nach Johan-
nes in Frage; denn nur im Johannes-Evangelium ist dieses Jesus-
wort überliefert. Ähnlich dem Eingangschor zur Bachsehen Passion
erscheint auch hier Christus nicht als der Leidende, sondern als
derjenige, der seine Aufgabe erfüllt hat, obgleich die Vorstellung von
einem siegreich abgeschlossenen Kampf und Streit der johannei-
schen Vorstellung nicht ganz so gut entspricht wie die der Rückkehr
in die Herrlichkeit des Vaters. Der Gedanke des im Paradies schon
angefangenen Heilswerkes ist dagegen der Theologie sowohl des
Johannes- Evangeliums (>>Im Anfang war das Wort<<) als auch des
Paulus eigen (Christus als >>der letzte Adam<<: 1. Kor. 15, 45).
Bach hat diese Arie als ausgesprochene Kontrastform kom-
poniert: Einem >>Molt' adagio<< überschriebenen A-Teil folgt ein
B-Teil mit der Überschrift >>vivace<<, dem. nur ein kurzer Adagio-
Schluß A' folgt. Der Kontrast erstreckt sich nahezu auf alle Bereiche:
178 Alfred Dürr

A B

Besetzung: mit Gambe mit vollem Streich-


orchester

Tongeschlecht: Moll Dur

Harmonik: reich einfach


z.T. chromatisch diatonisch

Rhythmik: differenziert gleichförmig


punktiert fließend

Melodik engräumig weiträumig


gesanglich instrumental
schreitend Dreiklangsbrechungen
textgezeugt-
deklamierend Trompetenimitation

Interessant ist die Vielfalt der melodischen Darstellung der Worte


»Es ist vollbracht<<. Rhythmisch werden sie weitgehend gleich wie-
dergegeben,

nämlich j)}~~)l oder koloriert: )1 ~)l.ffl ~)


Es ist voll-bracht Es ist voll-bracht

Melodisch dagegen erklingen folgende Versionen:


Am Schluß des Evanglistenrezitativs 29, vom Baß gesungen:

Es ist voll - bracht!

Zu Beginn des Satzes 30, von der Gambe aufgenommen:

Und danach auf mehreren Tonstufen in leichten Veränderungen


wiederholt.
Alfred Dürr 179

In Takt 5-6 vom Alt in Quarttransposition vorgetragen und sofort


ähnlich dem Gambenbeginn, jedoch mit Umkehr des Terzsprungs
abwärts in einen Sextsprung aufwärts wiederholt:

Alto ,,MJI p@ 4.§oJ) 7 l I' ) V Ej V


Es Ist voll- bracht, es Ist voll-- bracht!

Im Schlußteil N dagegen, nach den Worten »und schließt den


Kampf« erklingt das Wort »Es ist vollbracht«, dem Finalcharakter
entsprechend, wieder in der ursprünglichen Melodik aus Satz 29,
jedoch aus fis-nach h-Moll transponiert:

Alto ' Mn , } ; n&J


es ist voll-hii'chtl
t II

Aber auch im Mittelteil ist eine Figur von Interesse, nämlich das
Melisma auf »Kampf«; es lautet in Takt 30-32 wie folgt:

Alto
Kampf ___________________________________

Es kann natürlich ein Zufall sein; aber der Anklang an die Melis-
men des Eingangschores auf »Herrscher« und »herrlich« sind kaum
zu überhören.

Dieser Kontrast, mit dem hier der sterbende und siegreiche Jesus
in einer Arie dargestellt wird, mag vordergründig ein dichterischer
wie musikalischer Kunstgriff sein im Dienste der variatio, die
bekanntlich delectat. Allein auch er entspricht der Antithetik johan-
neischen Denkens; erinnert sei nur an die Worte des Prologs
(Joh.1,5) »Das Licht scheint in der Finsternis« oder an das Jesuswort
J (Joh. 16,33) »In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe
die Welt überwunden«. Unmittelbar darauf -dazwischen stehen nur
eineinhalb Evangelistentakte »Und neiget das Haupt und verschied«-
folgt eine weitere Arie, »Mein teurer Heiland, laß dich fragen«, die
nochmals das Wort »Es ist vollbracht« aufgreift. Auch sie strahlt die-
selbe Hoheit aus, in der der vierte Evangelist Jesu Tod sich vollzie-
180 Alfred Dürr

hen läßt; denn ungeachtet der unmittelbar vorausgehenden Worte


»und verschied« erklingt sie in fröhlichem Dur, fast tänzerisch-hym-
nisch, kaum gezügelt durch den gleichfalls in Dur stehenden Choral
(diese Tonartengleichheit ist für Bach nicht selbstverständlich;
denn z. B. in der Arie »Himmel, reiße, Welt, erbebe« aus der Fassung
von 1725 erklingt dieselbe Dur-Choralmelodie innerhalb einer Arie,
die ihrerseits in Moll steht!).
Endlich dürfen wir auch den Choraltext des Satzes 17 »Ach großer
König, groß zu allen Zeiten« zu denjenigen Stücken zählen, die dem
Christusbild des Johannes-Evangeliums in besonderer Weise ent-
sprechen.
Eine Anzahl weiterer Sätze greift Gedanken auf, die der Theologie
des vierten Evangelisten ferner liegen, die aber für das Passionsver-
ständnis der lutherischen Orthodoxie doch sehr wesentlich sind,
insbesondere den der Erlösung des Christen durch Jesu Opfertod,
kurz und bündig formuliert z. B. in dem Choral »Durch dein Gefäng-
nis, Gottes Sohn, muß uns die Freiheit kommen« (für Johannes dage-
gen liegt die Erlösung des Menschen nicht so entscheidend in der
Passion Jesu als vielmehr im Annehmen seiner Botschaft, im Glau-
ben an den eingeborenen Sohn Gottes). Zu diesen Sätzen gehört
auch der Schlußchor »Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine«, den wir uns
nun ein wenig ansehen wollen.
Seine Großform ist die Rondoform A B A B A, die sich hier als
Erweiterung der Dacapoform begreifen läßt, da der Teil A dreimal
unverändert erklingt; nur derB-Teil wird variiert. DieserA-Teil ent-
spricht weitgehend demjenigen Typus des Passions-Schlußgesangs,
der sich zur Bachzeit entwickelt hatte; auch seine Verwandtschaft
mit dem Schlußchor der Matthäus-Passion ist nicht zu übersehen.
Der Rhythmus ist dem Tanz verwandt, wenn auch keine echte
Sarabande: Diese müßte die Taktordnung n j I n j I usw.
aufweisen. Die fast stets abwärtsgerichteten Melodielinien malen
das »Zur-Ruhe-Bringen<< ebenso, wie die Haltetöne und Klopfbässe
im Continuo die »Ruh« abbilden. Das alles ist genial komponiert,
aber mit zeitüblichen Mitteln. Von der Technik des Choreinbaus
macht Bach hier nur maßvollen Gebrauch; lediglich die Takte 13-16
sind in die Wiederholung der Takte 1-4 eingefügt und 45-48 in die
der Takte 9-12. Im übrigen dominiert der Vokalsatz bei zuweilen
pausierenden, meist aber frei, gelegentlich auch colla parte beglei-
tenden Instrumenten, wobei in Takt 33-34 noch eine kurze gemein-
same vokal! instrumentale Wiederholung der beiden Anfangstakte
Alfred Dürr 181

zustandekommt. Diese relative Dominanz des Vokalparts wird dann


in den beiden B-Teilen noch erheblich gesteigert.
Im ersten, Takt 61-72, ist durchgehend nur der Continuo an der
Begleitung der Singstimmen beteiligt; die Bläser schweigen ganz,
und die übrigen Streicher vereinigen sich, sofern sie nicht pausie-
ren, zu den schon aus demA-Teil bekannten, in dieTiefe des Grabes
weisenden Katabasismotiven, und nur in Takt 70-71 imitieren sie die
Anabasis-Figur der Singstimmen auf »macht mir den Himmel aufi<,
während diese schon wieder zu den Worten »und schließt die Hölle
zu<< hinab gleiten, wodurch ein reizvoller Kontrapunkt entsteht. Der
zweite B-Teil (B'), Takt 113-124, ist eine sehr freie Wiederholung des
ersten, jedoch mit bemerkenswerten Unterschieden: Der Continuo
übernimmt diesmal die Katabasismotive von den Streichern, aber
nur an zwei Stellen, um die Zäsur der Singstimmen zu überbrücken;
im übrigen schweigt er, und gleichfalls schweigt der Singbaß. Auch
die Bläser pausieren, wie schon im ersten B-Teil. Die Violinen samt
Viola, wiederum unisono, übernehmen als sogenanntes Bassettgen
die Funktion des (pausierenden) Continuo.
Während aber die Anabasisfigur zu »macht mir den Himmel aufi<
und die Katabasis auf »Grab<< oder »Hölle<< zum üblichen Rüstzeug
des Barockkomponisten gehören, so daß, wie J ohannes Brahms ge-
sagt haben würde, »jeder Esel gleich merkt<<, was gemeint ist, scheint
die Symbolik des Bassettgen doch seltener und für Bach typischer zu
sein. Wie Friedrich Sm end gezeigt hat, verwendet Bach sie vorzugs-
weise zur Darstellung der Unschuld, so z. B. in der Arie »Unschuld,
Kleinod reiner Seelen<< aus der Hochzeitskantate >>Auf! süß entzük-
kende Gewalt<< oder in »Aus Liebe will mein Heiland sterben, von einer
Sünde weiß er nichts« der Matthäus-Passion. Auch hier, im Schluß-
chor der Johannes-Passion, will diese Kompositionsweise sagen, daß
der glaubende Christ durch den Tod Jesu in den Zustand der Un-
schuld versetzt worden ist.
Wenn eben gesagt wurde, die Figuren der Anabasis und Katabasis
gehörten zum Rüstzeug des Barockkomponisten, so soll damit
natürlich nicht gesagt sein, daß jeder Komponist sie mit unvermeid-
licher Konsequenz anwendet. Hören wir einmal, wie Händel in sei-
ner Brackes-Passion die entsprechende Stelle vertont hat. Hier han-
delt es sich um eine Arie der Tochter Zion (Sopran), der wie bei Bach
noch ein Schlußchoral folgt. Der Arientext, dessen zweite Hälfte
Bachs Librettist zum Vorbild gedient hat, lautet:
182 Alfred Dürr

Wisch ab der Tränen scharfe Lauge,


Steh, selge Seele, nun in Ruh!
Sein ausgesperrter Arm und sein geschlossen Auge
Sperrt dir den Himmel auf und schließt die Hölle zu.

Wir hören den Mittelteil (HWV 48, Satz 55, T. 59 -75).


Wie Sie sehen, hat sich Händel mit der figürlichen Ausdeutung
dieses Textes keine besondere Mühe gemacht. Umso mehr dürfen
wir darum wohl Bachs Vertonung als eine für ihren Komponisten
bezeichnende Leistung ansehen.
Wenn wir nun zum Schluß noch einen Blick auf die Vertonung des
Evangelientextes selbst werfen, so muß uns wiederum in erster
Linie die Frage nach den für Bach charakteristischen Zügen der Ver-
tonung beschäftigen.
Hinsichtlich der Rezitative wäre hier zunächst eine negative Fest-
stellung zu treffen: Sie sind gewiß großartig komponiert, enthalten
aber, wenn ich recht sehe, keinen Versuch, den Bericht des J ohannes-
Evangeliums von anderen biblischen Berichten zu unterscheiden.
So wäre es z. B. durchaus denkbar gewesen, auch in dieser Passion
die Jesusworte als Accompagnato zu vertonen, wie dies später in der
Matthäus-Passion geschehen ist und wie dies auch -in etwas an-
derer Satzweise -in den J ohannes-Passionen auf den Postelsehen
Text von Pseudo-Händel wie auch von Mattheson (>>Das Lied des
Lammes<<, Harnburg 1713) verwirklicht worden ist. Zur Darstellung
der Verherrlichung Jesu, von der der Eingangschor redet, hätte
dies ausgezeichnet gepaßt; und welcher Grund den Komponisten
bewogen haben könnte, selbst nicht so zu verfahren, ist schwer zu
sagen.
Von jeher beachtet worden sind die musikalischen Korresponden-
zen der Turbachöre, gerrauer gesagt, innerhalb von 12 der 14 Turba-
chöre; denn »Bist du nicht seiner Jünger einer« (Satz 12b) und »Lasset
uns den nicht zerteilen« (Satz 27b) stehen außerhalb dieses Bezugs-
netzes. Mit der Korrespondenz der übrigen Chöre haben sich 1926
Friedrich Smend10 und jüngst Werner Breig11 beschäftigt, und

1° Friedrich Smend, Die Johannes-Passion von Bach. Auf ihren Bau untersucht, in:

Bach-Jahrbuch 1926, S. 113 ff. Wiederabdruck in: Friedrich Smend, Bach-Studien.


Gesammelte Reden und Aufsätze, hrsg. von Christoph Wolff, Kassel 1969, S. 15 ff.
11 Werner Breig, Zu den Turba-Chören von Bachs Johannes-Passion, in: Geistliche

Musik. Studien zu ihrer Geschichte und Funktion im 18. Jahrhundert(= Hamburger


Jahrbuch für Musikwissenschaft, Band 8), Laaber 1985, S. 24-39.
Alfred Dürr 183

während Smend in ihrer, wie er sich ausdrückt, chiastisch-zykli-


schen Anlage gleichsam das Baugeheimnis der gesamten Johannes-
Passion zu sehen meinte, hat Breig diese Auffassung mit einleuch-
tenden Argumenten in Frage gestellt. Hierüber wurde ja bereits
gesprochen; Breigs Argumente waren:

1. Die symmetrische Ordnung entsteht weitgehend notwendiger-


weise ohne Zutun Bachs,
2. nur ein Teil der miteinander korrespondierenden Chöre gehört
dem von Smend aufgezeigten Symmetriesystem zu; es gibt kei-
nen Hinweis darauf, daß die übrigen zu vernachlässigen sind,
3. die Absicht einer Symmetriebildung ist selbst für den aufmerk-
samen Hörer kaum oder höchstens sehr spät erkennbar.

Lassen Sie mich noch ein paar Gedanken zu Bachs Gebrauch der
Symmetrieform, genauer, der axialsymmetrischen Form, hinzu-
fügen. Die Deutung eines Bachsehen Werkes oder Werkteils als
symmetrisch geschieht, wie ich meine, oft recht leichtfertig. Denn
so einleuchtend es sein mag, daß die symmetrische Anordnung der
Sätze im Credo der h-Moll-Messe als Abbild des griechischen Buch-
stabens Chi und damit als Hinweis auf das Kreuz Christi (im Mittel-
punkt steht der Satz »Crucifixus«) zu verstehen ist, so wenig kann
das für jede beliebige Dacapo-Arie gelten. Und der Vergleich mit
/ dem barocken Residenzbau, den man überall findet, wo nur von
musikalischer Symmetrie die Rede ist, führt nicht nur ein gutes
Stück vom Kreuz Christi weg, sondern auch von der Dacapoform, in
der doch üblicherweise derA-Teil als Hauptteil bezeichnet und auch
gehört wird, während bei der barocken Residenz stets der Mittelbau
die Krönung des Bauwerks darstellt, -ganz zu schweigen von dem
fundamentalen Unterschied, daß der Betrachter eines Barock-
schlosses dessen Symmetrie mit einem Blick erfaßt, während der
Hörer eines Musikstücks die intendierte Symmetrieform auch in
günstigeren Fällen als dem der Johannes-Passion frühestens er-
ahnen kann, wenn die Mittelachse bereits überschritten ist.
Betrachtet man die dem musikalischen axialsymmetrischen Auf-
bau innewohnenden Möglichkeiten und die ihm gezogenen Gren-
zen, so ist bei seiner Deutung als Abbild des Kreuzes Christi zumal
dann Zurückhaltung geboten, wenn, wie hier in der Johannes-
Passion, nicht ein musikalischer Höhepunkt die Mittelachse für den
Hörer erkennbar macht, sondern wenn an dieser Stelle nur einer
184 Alfred Dürr

von den 11 schlichten Choralsätzen der Passion erklingt. Zwar hat


Walter Blankenburg in einer sehr lesenswerten Studie über die
>>Die Symmetrieform in Bachs Werk<<12 im Bach-Jahrbuch 1949-1950
auch die Möglichkeit einer solchen Form mit geradzahligen Glie-
dern, also ohne Mittelsatz in seine Erwägungen einbezogen; aber
dadurch wird nicht nur sein Vergleich mit dem barocken Residenz-
bau suspekt, sondern gerade auch derjenige mit dem Kreuz, wenn
nämlich diesem gleichsam der senkrechte Mittelbalken fehlt. Auch
Smend mag an diesen möglichen Einwand gedacht haben. Zwar
meint er, >>daß der Choral 'Durch dein Gefängnis' zum Größten
gehört, was in der ganzen Passion erklingt<<13 (ein Urteil, dem ich
nur zustimmen könnte, wenn ich recht viele weitere Sätze zu den
größten der Passion zählen dürfte), er gibt aber dazu noch eine
inhaltliche Begründung:
>>Und dieser Choral erweist sich als Mittelpunkt des gan-
zen Werkes, als sein Höhepunkt. Bis zu ihm steigt die
Handlung an, von nun an fällt sie. Bis zu seinem Erklin-
gen ist Pilatus gewillt, den, dessen Unschuld ihm fest-
steht, nicht zu töten; nach ihm weicht er Schritt für
Schritt vor dem Drängen der Masse zurück.<<14
Es fällt aber nicht ganz leicht, die Verhandlung vor Pilatus in zwei
Teile zu teilen, in deren erstem Pilatus mit Erfolg gegen die Juden
agiert und in deren zweitem er vor ihnen zurückweicht. Muß nicht
Pilatus von allem Anfang an Schritt für Schritt vor dem Drängen der
Masse zurückweichen, und fragt er nicht noch ganz zum Schluß:
»Soll ich euren König kreuzigen?«? Insbesondere aber: Der Choral
folgt unmittelbar auf die Worte des Evangelisten »Von dem an trach-
tete Pilatus, wie er ihn losließe«. Müßte nicht, wenn Smends These zu-
trifft, der Satz lauten: >>Von dem an trachtete Pilatus nicht mehr, wie
er ihn losließe<<?
Kurz: Es fällt schwer, an diesem Punkt die Krisis der Handlung zu
erkennen.- Ich selbst habe Smends Thesen lange Zeit hindurch für
überzeugend gehalten, meine aber doch, daß man sie unter dem Ge-
wicht der Argumente Breigs relativieren muß. Zwar hat Bach offen-
sichtlich -und zwar, wie ich zu zeigen versucht habe, schon vom

12 Walter Blankenburg, Die Symmetrieform in Bachs Werken und ihre Bedeutung, in:

Bach-Jahrbuch 1949-1950, S. 24-39. Wiederabdruck in: Walter Blankenburg, Kirche


und Musik, Göttingen 1979, S. 183-197.
13 Friedrich Smend, Die Johannes-Passion von Bach, a. a. 0., S. 120.

14 ebenda, S. 120.
Alfred Dürr 185

Eingangschor an -eine starke Einheitlichkeit in der Komposition


auch verschiedenartiger Texte anzustreben gesucht, aber, soweit er-
kennbar, nicht mit dem Ziel der Konzentration auf einen- sei es in
der Passionshandlung, sei es in der musikalischen Gestaltung be-
gründeten -Höhepunkt des Werkes.
Wer Bachs Bedeutung allein in der deklamationsgerechten Wort-
vertonung zu sehen gewohnt ist, wird wohl von den Chören der
Johannes-Passion ähnlich enttäuscht sein wie Philipp Spitta, der
den Komponisten mit den Worten tadelt: »Man kann nicht behaup-
ten, daß die Musik zu den verschiedenen Texten immer gleich gut
paßt<< 15 ; und dasselbe gilt für den, der Bachs Passionen als eine auf
einer idealen Bühne dargestellte dramatische Handlung anzusehen
geneigt ist: Auch ihn müßten die ständigen musikalischen Rückbe-
ziehungen auf Vorangegangenes im Handlungsablauf empfindlich
stören. Demgegenüber weist schon Breig daraufhin, daß sich dieses
Kompositionsverfahren der im Johannes-Evangelium erkennbaren
Auffassung durchaus anpaßt. Die Tatsache, daß Jesus in kurzen
Seccorezitativen redet, seine Widersacher dagegen in ausgedehnten
Chorsätzen zu Worte kommen, daß aber diese Chorsätze nach einem
vorgeplanten Schematismus ablaufen, entspricht der Sicht des vier-
ten Evangelisten, nach der die Passion Jesu den Teil eines vorbe-
stimmten göttlichen Heilsplanes bildet. So wie die Widersacher J esu
nicht so sehr emotional reagieren, als vielmehr Pilatus mit Argu-
menten ihren Willen aufzwingen und so wider besseres Wissen zum
Vollstrecker der von Jesus geplanten Heimkehr zum Vater werden,
so läuft auch das musikalische Geschehen nach einem vorgeordne-
ten Plan ab.
Es mag sein, daß Bach diese Kompositionsweise nicht so bewußt,
wie das eben dargelegt wurde, unter theologischen Gesichtspunk-
ten geplant hat, daß hier also eine gewisse Überinterpretation vor-
liegt. Gleichwohlläuft sie der Auffassung des biblischen Textes nicht
zuwider. Auch möchten wir im Text des Eingangschores einen Hin-
weis darauf sehen, daß der Dichter, und dann sicherlich auch der
Komponist, die johanneische Auslegung des Passionsgeschehens
sehr wohl richtigerfaßt haben als den Gang des selbst in seiner größ-
ten Niedrigkeit stets souveränen Gottessohnes zurück zu seinem
Vater und in seine Herrlichkeit.

15 Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach, Band Il, Leipzig 1880, S. 355.
186

KONKORDANZ DER SATZFOLGE


NACH NBA UND BWV
ERSTER TEIL
NBA (BWV)
1 (1) Chorus: Herr, unser Herrscher
2" (2) (Evangelista, Jesus): Jesus ging mit seinen Jüngern
2b (5) Chorus: J es um von N azareth
2c (4) (Evangelista, Jesus): Jesus spricht zu ihnen
2d (5) Chorus: J es um von N azareth
2e (6) (Evangelista, Jesus): Jesus antwortete
5 (7) Choral: 0 große Lieb
4 (8) (Evangelista, Jesus): Auf daß das Wort erfüllet
würde
5 (9) Choral: Dein Will gescheh, Herr Gott, zugleich
6 (10) (Evangelista): Die Schar aber und der Oberhaupt-
mann
7 (11) Aria: Von den Stricken meiner Sünden
8 (12) (Evangelista): Sirnon Petrus aber folgete Jesu nach
9 (15) Aria: Ich folge,dir gleichfalls
10 (14) (Evangelista, Ancilla, Petrus, J esus, Servus):
Derselbige Jünger war dem Hohenpriester bekannt
11 (15) Choral: Wer hat dich so geschlagen
128 (16) (Evangelista): Und Hannas sandte ihn gebunden
12b (17) Chorus: Bist du nicht seiner Jünger einer
12c (18) (Evangelista, Petrus, Servus): Er leugnete aber und
sprach
15 (19) Aria: Ach, mein Sinn
14 (20) Choral: Petrus, der nicht denkt zurück

ZWEITER TEIL

15 (21) Choral: Christus, der uns selig macht


16" (22) (Evangelista, Pilatus): Da führeten sie J es um
16b (25) Chorus: Wäre dieser nicht ein Übeltäter
16c (24) (Evangelista, Pilatus): Da sprach Pilatus zu ihnen
16d (25) Chorus: Wir dürfen niemand töten
16e (26) (Evangelista, Pilatus, Jesus): Auf daß erfüllet würde
das Wort
187

NBA (BWV)
17 (27) Choral: Ach großer König
18• (28) (Evangelista, Pilatus, Jesus): Da sprach Pilatus
zu ihm
18b (29) Chorus: Nicht diesen, sondern Barrabam
18c (50) (Evangelista): Barrabas aber war ein Mörder
19 (51) Arioso: Betrachte, meine Seel
20 (52) Aria: Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken
21• (53) (Evangelista): Und die Kriegskechte flochten eine
Krone
21b (54) Chorus: Sei gegrüßet, lieber Jüdenkönig
21c (55) (Evangelista, Pilatus): Und gaben ihm Backen-
streiche
21d (56) Chorus: Kreuzige, kreuzige
21 e (57) (Evangelista, Pilatus): Pilatus sprach zu ihnen
21f (58) Chorus: Wir haben ein Gesetz
21g (59) (Evangelista, Pilatus, J esus): Da Pilatus das Wort
hörete
22 (40) Choral: Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn
23• (41) (Evangelista): Die Jüden aber schrieen und
sprachen
23b (42) Chorus: Lässest du diesen los
23c (43) (Evangelista, Pilatus): Da Pilatus das Wort hörete
23d (44) Chorus: Weg, weg mit dem
23e (45) (Evangelista, Pilatus): Spricht Pilatus zu ihnen
23f (46) Chorus: Wir haben keinen König
23g (47) (Evangelista): Da überantwortete er ihn
24 (48) Aria: Eilt, ihr angefochtnen Seelen
25a (49) (Evangelista): Allda kreuzigten sie ihn
25b (50) Chorus: Schreibe nicht: der Jüden König
25c (51) (Evangelista, Pilatus): Pilatus antwortet
26 (52) Choral: In meines Herzens Grunde
27• (53) (Evangelista): Die Kriegsknechte aber
27b (54) Chorus: Lasset uns den nicht zerteilen
27c (55) (Evangelista, Jesus): Auf daß erfüllet würde die
Schrift
28 (56) Choral: Er nahm alles wohl in acht
29 (57) (Evangelista, Jesus): Und von Stund an nahm sie
der Jünger
50 (58) Aria: Es ist vollbracht
188

NBA (BWV)
51 (59) (Evangelista): Und neiget das Haupt
52 (60) Aria: Mein teurer Heiland, laß dich fragen
55 (61) (Evangelista): Und siehe da, der Vorhang im
Tempel zerriß
54 (62) Arioso: Mein Herz, indem die ganze Welt
55 (65) Aria: Zerfließe, mein Herze
56 (64) (Evangelista): Die Jüden aber, dieweil es der
Rüsttag war
57 (65) Choral: 0 hilf, Christe, Gottes Sohn
58 (66) (Evangelista): Darnach bat Pilatum Joseph von
Arimathia
59 (67) Chorus: Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine
40 (68) Choral: Ach Herr, laß dein lieb Engelein

DIE NUR IN FASSUNG II (1725) EINGEFÜGTEN SÄTZE

NBA (BWV)
111 244/55 Choral: 0 Mensch, bewein dein Sünde groß
11 + 245a Aria: Himmel, reiße, Welt, erbebe
15 11 245b Aria: Zerschmettert mich, ihr Felsen und ihr Hügel
19n 245c Aria: Ach windet euch nicht so, geplagte Seelen
40n 25/4 Choral: Christe, du Lamm Gottes
189

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN


a.a.O. am angegebenen Ort
Abb. Abbildung
Act Johannes-Akten
Anh. Anhang
Anm. Anmerkung
Apk Johannes-Apokalypse
Arch. Archiv
BC Bach Compendium (siehe Literaturverzeichnis)
Be. Basso continuo
Bd. Band
BG,BGA Johann Sebastian Bach's Werke. Gesamtausgabe
der Bachgesellschaft Leipzig 1851-1899
BJ Bach-Jahrbuch, Leipzig 1904 ff., Berlin 1955 ff.
BWV Bach-Werke-Verzeichnis, hrsg. von
Wolfgang Schmieder, Leipzig 1950 ff.,
2. überarb. und erw. Ausg. Wiesbaden 1990
Chr Buch der Chronik
Cont. Continuo
Dan Dariiel
d.Ä. der Ältere
EKG Evangelisches Kirchen Gesangbuch
Ex Exodus, 2. Buch Mose
f. folgende
Faks. Faksimile
ff. fortfolgende
fol. folio, Blatt
Gal Galaterbrief
Gen Genesis, 1. Buch Mose
Hebr Hebräerbrief
Hi Hiob
Hld Hoheslied Salomonis
hrsg. herausgegeben
HWV Händel-Werke-Verzeichnis
Jes Jesaja
Jg. Jahrgang
Joh Johannes-Evangelium
Jon Jona
Jos Josua
190

KB Kritischer Bericht
Kor Korintherbriefe
Lc,Lk Lukas-Evangelium
m.E. meines Erachtens
Mk Markus-Evangelium
Mos Mose
Ms. Manuskript
Mt, Matth. Matthäus-Evangelium
NBA Neue Bach-Ausgabe: Johann Sebastian Bach,
Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. vom
Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und
Bach-Archiv Leipzig, Kassel und Leipzig 1954 ff.
n. Chr. nach Christi Geburt
NBG Neue Bachgesellschaft
Num Numeri, 4. Buch Mose
o.J. ohne Jahr
p Partitur
Petr Petrus brief.
Phil Philipperbrief
Prov Sprüche Salomos
Ps, Psal Psalm (en)
r recto (-Seite)
Ri Richterbuch
Röm Römerbrief
s. Seite
Sam Samuelisbücher
Sign. Signatur
Sir Jesus Sirach
St Stimme (n)
T. Takt
Tim Timotheusbriefe
TP Taschenpartitur
u.ö. und öfter
u.U. unter Umständen
V ver so (-Seite)
vgl. vergleiche
WA Weimarer Ausgabe (der Werke Luthers)
Weish Weisheit Salomonis
z.B. zum Beispiel
z.T. zum Teil
191

VERZEICHNIS DER PERSONEN

AGGRIPPA: S. 91 CALOV, Abraham: S. 22, 35


ALAND, Kurt: S. 148 CARPzov, Johann Benedict: S. 27
ALBRECHT, Georg: S. 17 CICERO: s. 73
ALTENBURG, Michael: S. 37 CLAuDius, römischer Kaiser: S. 82
AMBROSIUS: S. 28f. CLAUSNITZER, Tobias:
ARISTOTELES: S. 73 s. 26, 31, 38, 40f.
ARND,Johann:S.8,22,32 CRANACH, Lucas d.Ä.:
AucusTINus, Kirchenvater: s. 10-12,24,83
S.28,29,41
AxMACHER,Elke: S.48, 150,154, DADELSEN, Georg von: S. 105, 107
156-158,160,169,172 DIETRICH, Veit: S. 46
DüRER, Albrecht: S. 19
BAcH, Anna Magdalena: S. 22 DüRR, Alfred: S. 6, 98, 100, 105,
BAcH, Carl Philipp Errianuel: 107, 109f., 113, 142
s. 101, 113, 122, 123
BAcH, Johann Christoph: S. 118 EBELING, G.: s. 151
BARTH, Georg Heinrich: S. 55 Ecmws von Colonna: S. 146
BECKER,Jürgen: S.95 ENGELKE, Bernhard: S. 121
BERNHARD von Clairvaux:
s. 10,29,40 FAscH, Johann Friedrich: S. 121
BIRNBAUM, Johann Abraham: FRANCK, Salomo: S. 23, 27
s. 118
BLANKENBURG, Walter: S. 48, 184 GALLus,Jacobus: S.56
BöHME, Wolfgang: S. 23 GAMALIEL: s. 91
BoRN, Jacob: S. 55 GEcK, Martin: S. 113
BoRNKAMM, K.: S. 151 GERHARD,Johann:S. 157
BRAHMs,Johannes:S.181 GERHARDT,Paul: S.29, 148,164
BRAUN,Werner: S. 124 GERSTENBERG, Walter: S. 105
BREIG, Werner: S. 136, 182-185 GoELDELius, Johann: S. 37
BROCKES, Barthold Heinrich: S. 21f., GoETHE, Johann Wolfgang von:
35, 37, 40, 42f., 119, 129, 131f., s. 74
138, 143, 156f., 159f., 166, 168-172 GRAUN, Carl Heinrich: S. 116, 118
BucENHAGEN, Johann: S. 22f., 47, 52,
60f., 143-145, 147-149, 157, 161f. HÄNDEL, Georg Friedrich: S. 21, 35,
BuLTMANN, Rudolf: S. 145, 149 116, 119, 166, 176, 181f.
BuxTEHUDE, Dietrich: S. 29 HARNoNcouRT, Nikolaus: S. 168
192

HEERMANN, Johann: S. 9, 17, 25, 27f., LuTHER, Martin: S. 15-15, 22,


51f., 57, 40f., 150, 164 24-26,55,46,48f.,51,98, 144,
HEIDEGGER, Martin: S. 69 148, 150-152, 155, 162, 164, 170
HENRici, Christian Friedrich
(PICANDER): S. 119, 125, 129, MAJoR, Johann: S. 57
151, 169 MARX, Hans Joachim: S. 115
HERBERGER, Valerius: MATTHESON, Johann: S. 21, 182
s. 147, 151, 160, 164 MENANTEs: siehe HuNoLD,
HERMANN, Nicolaus: S. 27 Christian Friedrich
HERMELINK, Siegfried: S. 175 MENDEL, Arthur: S. 21, 102, 104-107,
HILGENFELDT, Carl Ludwig; S. 167 110, 128, 176
HINTZENSTERN, Herbert von: S. 10 MENDELSSOHN, Felix: S. 101, 128
HuNOLD, Christian Friedrich MicHAELis, Georg: S. 150, 161
(MENANTES): S. 176 MoLLER, Martin: S. 29
MüLLER, Heinrich: S. 10, 12, 22-24,
IRENAEUS: S. 91 27, 50-52, 56, 59-41, 169

]UNGIUS, Joachim: S. 115 NICOLAI, Christoph: S. 29, 52

KAYSERSBERG, Geiler von: ÜLEARrus, Johann: S. 15, 22, 24, 28,


s. 150 51f., 54f., 159f.
KEISER, Reinhard: S. 21, 48, 115f., ÜRIGINES: S. 159
119, 145, 144, 167 OscHATZ, Johann Christian: S. 124
KERLL, Johann Caspar: S. 118
KNAPPE, Karl-Adolf: S. 19 PEISKER, Carl Heinz: S. 96
KNÜPFER, Sebastian: S. 118 PERGOLESI, Giovanni Battista: S. 119
KoBAYASHI, Yoshitake: PETZOLDT, Martin: S. 55, 145
s. 105, 119, 168 PFAFFE, Carl Friedrich: S. 124
KöPPING, Christian: S. 55 PFEIFFER, August:
KoPPY (KoPPE, KoPPrus ), s. 17, 22, 51, 57f., 40f.
Maria Rosina: S. 45 PicANDER: siehe HENRICI,
KRAGERUD,Alv: S. 156 Christian Friedrich
KRANEMANN, Detlev: S. 119 PoELCHAu, Georg: S. 101
KuHNAu, Johann: PosTEL, Christian Heinrich:
S.46,52, 118,150,166 S.21, 119, 129, 151f., 158, 164, 176
PRINZ, Ulrich: S. 98
LANGE, Gottfried: S. 118 PROMETHEUS: S. 79
LEssiNG, Gotthold Ephraim:
s. 11 RAMBACH, Johann Jacob: S. 9
LöBELT, Caspar Friedrich: S. 57 REuTER, Christian: S. 119
193

RicHTER, Bernhard Friedrich: STocKMANN,Paul: S.55, 164


s. 167f. STöLzEL, Gottfried Heinrich: S. 118
RIETZ, Julius: S. 107
RisT, Johann: S. 19 TAULER, Johann: S. 29
RosT, Johann Christoph: TELEMANN, Georg Philipp:
S.55, 168 S.21, 118f.
RusT, Wilhelm: S. 101f., 106f. TIBERIUS, römischer Kaiser: S. 82
TITus, römischer Kaiser: S. 82
ScHALLING, Martin: S. 146, 164 TRAUTWEIN, Traugott: S. 101
ScHEIN, Johann Hermann: S. 21
ScHERZER, Johann Adam: VEsPASIAN, römischer Kaiser: S. 82
s.
145, 157 VoN UFFENBACH, Johann Friedrich
ScHMIEDER, Wolfgang: S. 107 Armand: S. 121
ScHÜBLER,Johann Georg: S. 119 VOPELrus, Gottfried: S. 37
ScHÜTz, Heinrich: S. 53 VuLPrus, Melchior: S. 124
ScHuLzE, Hans-Joachim: S. 105, 113
ScHWEITZER, Albert: S. 86 WALTER, Meinrad: S. 173
SMEND, Friedrich: S. 34f., 35, WALTHER, Johann Gottfried: S. 118
135-137, 175f., 181-184 WEISE, Christian: S. 21, 129, 131f.,
SPITTA, Philipp: s. 102, 128, 154, 138, 157, 170
167, 185 WEiss, Wisso: S. 105, 168
SPoRcK, Franz Anton Graf von: WEissE, Michael: S. 27, 146, 164
s. 108, 114 WILDER, Thornton: S. 63
STEIGER, Lothar und Renate: WoLFF, Christoph: S. 35, 113, 182
S.9, 13,23,48
STILLER, Günther: S. 55 ZELLER, Winfried: S. 146
194

VERZEICHNIS DER ANGEFÜHRTEN


WERKE J. S. BACHS

BWV 4 S. 101
BWV 12 s. 119
BWV 23 S. 104, 107, 123
BWV 31 s. 27, 101
BWV 37 s. 108
BWV 106 S.100
BWV 113 S.100
BWV 155 S.23
BWV 159 S. 13, 27, 36, 55
BWV 177 s. 116
BWV 180 S. 100
BWV 182 S.55
BWV 232 S.44, 102,108,119,130
BWV 243 s. 130
BWV 244 S.6, 11, 15,28,35t,4~50,52,56, 101,
104, 107, 115, 118, 127-133, 138, 141, 143,
148(,153,158,169
BWV 245 S. 6 (passim)
BWV 245a S. 53, 104, 107, 127, 180
BWV 245b s. 104, 107
BWV 245c S. 104, 107
BWV 247 S.4~52,55, 115,143,148,153
BWV 248 S.44, 116,118,159
BWV 249 S.23
BWV 552 s. 118
BWV 645-650 S. 119
BWV 669-689 s. 118
BWV 769 s. 118
BWV 802-805 S. 118
BWV 831 s. 118
BWV 870-893 s. 118
BWV 971 S. 118
BWV 988 s. 118
BWV 1047 S. 118
BWV 1080 s. 118
BWV Anh. 196 S.181
195

VERZEICHNIS DER AUSGABEN


Erstdruck
GROSSE I PASSIONS-MUSIK I nach dem Evangelium Johannis I von I
JOHANN SEBASTIAN BACH. I Partitur I ... Berlin, 1831. I Verlag der Buch-
und Musikalienhandlung von T. Trautwein.

BGXX 1
Joh. Seb. Bach's Passionsmusik nach dem Evanglisten Johannes. Johann
Sebastian Bach's Werke. Hrsg. von der Bach-Gesellschaft zu Leipzig. Jahr~
gang 12, 1. Lieferung, hrsg. von Wilhelm Rust. Breitkopf & Härtel Leipzig 1863.

Als Taschenpartitur Edition Eulenburg No. 965, hrsg. von Arnold Schering,
Vorwort »Halle a. d. S., April1925«.

NBA 1114
JOHANN SEBASTIAN BACH, JOHANNES-PASSION BWV 245. Hrsg. von
Arthur Mendel. Johann Sebastian Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke.
Hrsg. vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv
Leipzig, Serie II, Band 4. BAIDVfM 5037. Gemeinsame Edition: Bärenreiter-
Verlag Kassel u.a., VEB Deutscher Verlag für Musik Leipzig 1973.

KRITISCHER BERICHT zur NBA 1114 von Arthur Mendel, ebendort 1974.

Bärenreiter-Studienpartitur nach dem Urtext der Neuen Bach-Ausgabe,


hrsg. von Arthur Mendel. BärenreiterTP 1971DVfM 3093, Kassel und Leipzig
1974.

Klavierauszug nach dem Urtext der Neuen Bach-Ausgabe, hrsg. von Walter
Heinz Bernstein. BA 5037aiDVfM 6093. Bärenreiter-Verlag Kassel und VEB
Deutscher Verlag für Musik Leipzig 1981.

Aufführungsmaterial: BAIDVfM 5037 (Fassung II im Anhang).


196

FAKSIMILE-Ausgaben

Teilautogaphe Originalpartitur Mus. ms. Bach P 28:

Faksimile-Wiedergabe der ersten 21 Seiten als Beilage zu NBA II/4, Kassel


und Leipzig 1975.

Joh. Seb. Bachs's Handschrift in zeitlich geordneten Nachbildungen. Johann


Sebastian Bach's Werke. Hrsg. von der Bach-Gesellschaft zu Leipzig. Jahr-
gang 44, hrsg. v. Hermann Kretzschmar. Breitkopf und Härtel Leipzig 1895,
Bl. 26-55.

JOHANN SEBASTIAN BACH, Seine Handschrift -Abbild seines Schaffens,


eingeleitet und erläutert von Alfred Dürr. Revidierte Neuauflage des Bandes
44 aus der Gesamtausgabe der Bachgesellschaft. Breitkopf und Härtel Wie-
sbaden 1984, Bl. 60-65.

Musikerhandschriften. Von Palestrina bis Beethoven. Eingeleitet und kom-


mentiert von Walter Gerstenberg, Atlantis Verlag Zürich 1960,Abb. 52 und 55.

Die Handschrift Johann Sebastian Bachs. Musikautographe aus der Musik-


abteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin. Ausstellung
zum 500. Geburtstag von J. S. Bach 1985. Ausstellungkataloge 25. Wiesbaden
1985, s. 150-155.

Blatt 1r in: NBA IX/2, Kassel und Leipzig 1989, Abb. 155.

Einzelne Seiten aus den Stimmen Mus. ms. Bach St 111, in: NBA II/4, S. VIII-
XIII sowie im Kritischen Bericht zur NBA II/4, S. 181f.
197

VERZEICHNIS DER LITERATUR


Das Schrifttum über Johann Sebastian Bach im allgemeinen und über die
Johannes-Passion im besonderen hat kaum überschaubare Ausmaße ange-
nommen. Insofern mußte eine Auswahl getroffen werden, die alphabetisch
nach Verfassern angeordnet ist. Der interessierte Leser sei verwiesen auf die
umfangreichen bibliographischen Angaben, die im Bach-Werke-Verzeich-
nis, im Bach Compendium und in der Bach-Bibliographie nachgewiesen
sind.

1. NACHSCHLAGEWERKE UND DOKUMENTE


BWV
Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von
Johann Sebastian Bach. Bach-Werke-Verzeichnis, hrsg. von Wolfgang
Schmieder, Breitkopf & Härtel, Leipzig 1950. Zweite, überarbeitete und er-
weiterte Ausgabe, Breitkopf & Härtel Wiesbaden 1990.

BC
BACH COMPENDIUM. Analytisch-bibliographisches Repertorium der
Werke Johann Sebastian Bachs von Hans-Joachim Schulze und Christoph
Wolff. Band 1, Teil 3: Vokalwerke 111. Edition Peters Leipzig I C. F. Peters
Frankfurt 1988.

BACH -BIBLIOGRAPHIE. Nachdruck der Verzeichnisse des Schrifttums über


Johann Sebastian Bach (Bach-Jahrbuch 1905 -1984). Mit einem Supplement
und Register hrsg. von Christoph Wolff, Merseburger Berlin 1985.

BACH-DOKUMENTE. Herausgegeben vom Bach-Archiv Leipzig unter Lei-


tung von Werner Neumann. Supplement zu Johann Sebastian Bach, Neue
Ausgabe sämtlicherWerke (NBA).

Band I: Schriftstücke von der Hand Johann Sebastian Bachs. Vorgelegt und
erläutert von Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze, Kassel und Leip-
zig 1963 (Dok I).

Band II: Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte


Johann Sebastian Bachs 1685 - 1750. Vorgelegt und erläutert von Werner
Neumann und Hans-Joachim Schulze, Kassel und Leipzig 1969 (Dok II).

Band 111: Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1750- 1800.
Vorgelegt und erläutert von Hans-Joachim Schulze, Kassel und Leipzig 1972
(Dok III).

Band IV: Werner Neumann, Bilddokumente zur Lebensgeschichte Johann


Sebastian Bachs, Kassel und Leipzig 1979 (Dok IV).

BT
Sämtliche von Johann Sebastian Bach vertonte Texte, hrsg. von Werner
Neumann, Leipzig 1974 (Text-Teil und Faksimile-Teil).
198

2. SPEZIELLERE MONOGRAPHIEN, BEITRÄGE UND AUFSÄTZE

AxMACHER, Elke: >>Aus Liebe will mein Heyland sterben«. Beiträge zur theolo-
gischen Bachforschung. Schriftenreihe der Internationalen Arbeitsgemein-
schaft für theologische Bachforschung. Hrsg. von Walter Blankenburg und
Renate Steiger, Band 2. Neuhausen-Stuttgart 1984.
BECKER, Jürgen: Das Evangelium des Johannes. Ökumenischer Taschen-
buch-Kommentar zum Neuen Testament 4/1 und 4/2 (GTB Siebenstern 505,
506), Gerd Mohn Gütersloh 1979.
BLUME, Friedrich: J. S. Bachs Passionen, in: Friedrich Blume, Geschichte der
evangelischen Kirchenmusik. Zweite, neubearbeitete Auflage Kassel u. a.
1965, S: 204-208.
ders.: J. S. Bachs Passionen, in: Friedrich Blume, Syntagma musicologicum
Il. Gesammelte Reden und Schriften 1962-1972, Kassel u. a. 1975, S. 251-247.
BREIG, Werner: Bemerkungen zur zyklischen Symmetrie in Bachs Leipziger
Kirchenmusik, in: Musik und Kirche 55. Jg. 1985, S. 175-179.
ders.: Zu den 1\uba-Chören von Bachs Johannes-Passion, in: Geistliche Mu-
sik ·Studien zu ihrer Geschichte und Funktion im 18. und 19. Jahrhundert
(=Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, Bd. 8), hrsg. von Constantin
Floros u. a., Laaber 1985, S. 65-96.
ders.: Grundzüge einer Geschichte von Bachs vierstimmigem Choralsatz, in:
Archiv für Musikwissenschaft 45. Jg. 1988, S. 165-185 und 500-519.
BuLTMANN, Rudolf: Artikel >>Johannesevangelium<<, in: Die Religion in Ge-
schichte und Gegenwart Bd. 5, Mohr (P.Siebeck) Tübingen 1959, Sp. 840--851.
ders.: Das Evangelium des Johannes. Meyers kritisch-exegetische Kommen-
tare zum Neuen Testament II/17, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1962.
CHAFE, Eric: Key Structure und Tonal Allegory in the Passions of J. S. Bach: An
Introduction, in: Current Musicology 51, 1981, S. 59-54.
ders.: Bach's St. John Passion: Theology and Musical Structure, in: New Bach
Studies,hrsg. von Don O.Franklin, Cambridge University Press 1989, S. 75-112.
CHAILLEY, Jacques: Les >>Passions<< de J.-S. Bach, Paris 1965, 2 1984.

DADELSEN, Georg von: Beiträge zur Chronologie der Werke Johann Sebastian
Bachs (=Tübinger Bach-Studien, Heft 4/5), Trossirrgen 1958.
DARMSTADT, Werner: Zur Aufführungspraxis der Johannes-Passion Johann
Sebastian Bachs, in: Musik und Kirche 55. Jg. 1985, S. 202-208.
DIBELIUS, Martin: Individualismus und Gemeindebewußtsein in Joh. Seb.
Bachs Passionen, in: Archiv für Reformationsgeschichte Jg. 41, 1948, S. 152-
154; Neudruck in: Martin Dibelius, Botschaft und Geschichte, Bd. 1, Göttin-
gen 1955, S. 558-580.
199

300 Jahre Johann Sebastian Bach. Sein Werk in Handschriften und Doku-
menten, Musikinstrumente seiner Zeit, seine Zeitgenossen. Ausstellungs-
katalog Stuttgart 1985, hrsg. v. Ulrich Prinz unter Mitarbeit von Konrad Kü-
ster, Thtzing 1985. S. 25, 43-45, 95, 130, 215, 320.

DREYFUS, Laurence D.: Bach's Continuo Group. Players and Practices in His
Vocal Works, Cambridge Mass. 1987 (= Studies in the History of Music 3).

DüRR, Alfred: Zu den verschollenen Passionen Bachs, in Bach-Jahrbuch


1949/ 50, s. 81-99.

ders.: Zur Chronologie der Leipziger Vokalwerke J. S. Bachs, in :Bach-Jahr-


buch 1957. S. 5-162; Zweite Auflage: Mit Anmerkungen und Nachträgen ver-
sehener Nachdruck aus dem Bach-Jahrbuch 1957, Kassel u. a. 1976.

ders.: Die vier Fassungen der Johannes-Passion. Zur Entstehung, Quellen-


lage und Überlieferung, in: Sommerakademie Johann Sebastian Bach 1979,
Sonderdruck Stuttgart 1979, S. 67--86.
ders.: Die vier Fassungen der Johannes-Passion, in: 57. Bachfest der Neuen
Bachgesellschaft Würzburg 1982, S. 92-106.
ders.: Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach. Entstehung, Über-
lieferung, Werkeinführung, München und Kassel1988.
ENGELHARDT, Walter: Das Arioso »Betrachte, mein Seel« der Bachsehen Johan-
nes-Passion (Nr. 31), in: Musik und Kirche 27. Jg. 1957, S. 136.
FisCHER, Kurt von: Bachs Passionen im Lichte musikalischer und frömmig-
keitsgeschichtlicher Traditionen, in Kurt von Fischer, Johann Sebastian
Bach. Welt, Umwelt und Frömmigkeit. Jahresgabe 1982 der Internationalen
Bach-Gesellschaft Schaffhausen, Wiesbaden 1983, S. 13-23.
FisCHER, Wilfried: Einführung in die Johannes-Passion von J.S.-Bach, in:
Musik und Bildung 12. (71.) Jg. 1980, S. 225-229.
FREDERICHS, Henning: Das Verhältnis von Text und Musik in den Brackes-Pas-
sionen Keisers, Rändels, Telemanns und Matthesons. (=Musikwissenschaft-
liehe Schriften, Bd. 9), Katzbichler München 1975.
GANZHORN-BURKHARDT, Renate: Zur Bedeutung der Choräle in Bachs Johan-
nes-Passion, in: Musik und Kirche 53. Jg. 1983, S. 64-73.

GEcK, Martin: Bachs Probestück, in: Quellenstudien zur Musik. Wolfgang


Sehrnieder zum 70. Geburtstag. In Verbindung mit Georg von Dadelsen hrsg.
von Kurt Dorfmüller, Peters Frankfurt/M 1972, S. 55-68.

ders.: Johann Sebastian Bach, Johannespassion BWV 245 (=Meisterwerke


der Musik, Heft 55), Fink Verlag München 1991.

GLöCKNER, Andreas: Johann Sebastian Bachs Aufführungen zeitgenössi-


scher Passionsmusiken, in: Bach-Jahrbuch 1977, S. 75-119.
200

ders.: Die Musikpflege an der Leipziger Neukirche zur ZeitJohann Sebastian


Bachs (=Beiträge zur Bachforschung 8), Leipzig 1990.

GoLDSCHMIDT, Harry: Johannes-Passion: >>Es ist vollbracht<< -Zu Bachs obli-


gatem Begleitverfahren, in: Bericht über die Wissenschaftliche Konferenz
zum III. Internationalen Bach-Fest der DDR Leipzig 1975, hrsg. von Werner
Felix u. a., VEB Deutscher Verlag für Musik Leipzig 1977, S. 181-188.

HASELBÖCK, Lucia: Du hast mirmein Herz genommen, Sinnbilderund Mystik


im Vokalwerk von Johann Sebastian Bach, Herder Wien u. a. 1989.

HEUss, Alfred: Bachs Rezitativbehandlung mit besonderer Berücksichtigung


der Passionen, in: Bach-Jahrbuch 1904, S. 83-103.

HrcKMANN, Hans: Zur Frage der Generalbaßbesetzung in Bachs Johannes-


Passion, in: Phono 10 (1963/64), S. 57-58.

HocHREITHER, Karl: Zur Aufführungspraxis der Vokal-Instrumentalwerke


Johann Sebastian Bachs, Berlin 1983.

HoLsT, Ortwirr von: Von der Problematik der Aufführungspraxis Bachscher


Passionen, in: Musik und Kirche 32. Jg. 1962, S. 55-65.

]ANSEN, Martin: Bachs Zahlensymbolik an seinen Passionen untersucht, in:


Bach-Jahrbuch 1937, S. 96-117.

KoBAYASHr, Yoshitake: Zur Chronologie der Spätwerke Johann Sebastian


Bachs. Kompositions- und Aufführungstätigkeit von 1736 bis 1750, in: Bach-
Jahrbuch 1988, S. 7-72.

KüsTER, Konrad: Text und Musik in der Gesamtform von Bachs Johannes-
Passion, in: Beiträge zur Bach-Forschung 9/10, Leipzig 1991, S. 20-28.

LEAVER, Robin A.: The Revival of the St. John Passion. History and Perform-
ance Practice, in: Bach, the Journal of the Riemenschneider Bach Institute
Vol. 20, No.3, S. 34-49.

MELCHERT, Hermann: Das Rezitativ der Bachsehen Johannespassion (=Veröf-


fentlichungen zur Musikforschung, hrsg. von Richard Schaal, Bd. 8), Hein-
richshofen/Noetzel Wilhelmshaven 1988.

MENDEL, Arthur: Traces ofthe Pre-History ofBach'sSt. John and St. Matthew
Passion, in: Festschrift Otto Erich Deutsch zum 80. Geburtstag, hrsg. von Wal-
ter Gerstenberg u. a.) Kassel u. a. 1963, S. 31-48.

ders.: More on the Weimarürigin ofBach's »Ü Mensch, bewein<< (BWV244/35),


in: Journal ofthe American Musicological Society Vol. XVII, 1964, S. 203-206.
201

ders.: Wasserzeichen in den Originalstimmen der Johannes-Passion Johann


Sebastian Bachs, in: Die Musikforschung 19. Jg. 1966, S. 291-294.

ders.: Meliora et melioranda in the two versions of BWV 245/1, in: Bach-
Studien 5, Leipzig 1975, S. 113-121.

METZGER, Heinz-Klaus und RrEHN, Reiner (Hrsg.): Johann Sebastian Bach. Die
Passionen (=Musik-Konzepte, Heft 50/51), München 1986.

MEYER, Ulrich: J.S. Bachs Musik als theonome Kunst. Breitkopf & Härtel
Wiesbaden 1979.

MosER, Hans Joachim: Zum Bau von Bachs Johannespassion, in: Bach-Jahr-
buch 1932, S. 155-157.

PETZOLD, Martin: Zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung -Überle-


gungen zum theologiegeschichtlichen Kontext Johann Sebastian Bachs, in:
Johann Sebastian Bach und die Aufklärung, Bach-Studien 7, Leipzig 1982,
s. 66-108.
ders. (Hrsg.): Bach als Ausleger der Bibel. Theologische und musikwissen-
schaftliche Studien zum Werk Johann Sebastian Bachs. Hrsg. im Auftrag des
Kirchlichen Komitees Johann Sebastian Bach 1985 von Martin Petzoldt,
Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1985.

ders.: Theologische Aspekte der Passionsmusiken J. S. Bachs, in: Bach-


Händel-Schütz-Ehrung der DDR: Bachehrung der Wartburgstadt Eisenach
1985, s. 34-38.

ders.: Passionspredigt und Passionsmusik der Bachzeit, in: J.S. Bach, Mat-
thäus-Passion BWV 244. Vorträge der Sommerakademie J.S. Bach 1985
(=Schriftenreihe der Internationalen Bachakademie Stuttgart, Bd. 2), Kassel
u. a. 1990, S. 8-23.

PRAUTzscH, Ludwig: Die Bedeutung der Instrumente in der Johannespassion


von Johann Sebastian Bach, in: Musik und Kirche 50. Jg. 1980, S. 75--80.

PRINZ, Ulrich: Studien zum Instrumentarium Johann Sebastian Bachs mit


besonderer Berücksichtigung der Kantaten, Dissertation Tübingen 1979.

ders.: Zur Bezeichnung »Bassono<< und >>Fagotto<< bei J.S. Bach, in: Bach-Jahr-
buch 1981, S. 107-122.

REINHART, Walther: Die Aufführung der Johannes-Passion von J.S. Bach und
deren Probleme. Jahresgabe 1956 der Internationalen Bach-Gesellschaft,
Hug Zürich o. J.

RicHTER, Bernhard Friedrich: Zur Geschichte der Passionsaufführungen in


Leipzig, in: Bach-Jahrbuch 1911, S. 50--59.
202

RITORNO ABAcH. Dramma e Ritualita delle Passioni, a cura di Elena Povellato.


Marsilio Editori Venedig 1986.

ScHERING, Arnold: »Vorhalte« und »Vorschläge« in Bachs Passionen und im


Weihnachtsoratorium, in: Bach-Jahrbuch 1923, S. 12-30.

ders.: Johann Sebastian Bachs Leipziger Kirchenmusik, Leipzig 1936; 2. Aufl.


1954.

ders.: Johann Sebastian Bach und das Musikleben Leipzigs im 18. Jahrhun-
dert (=Musikgeschichte Leipzigs, Band III), Leipzig 1941.

ScHMITz, Arnold: Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik Johann Seba-


stian Bachs, Mainz 1950 (Nachdruck Laaber 1976).

ScHuLzE, Hans-Joachim: Zur Aufführungsgeschichte von Bachs Johannes-


Passion, in: Bach-Jahrbuch 1983, S. 118-119.

ders.: Johann Sebastian Bach, Oratorische Werke, in: Programmbuch zum


V. Internationalen Bachfest in Verbindung mit dem 60. Bachfest der Neuen
Bachgesellschaft, Leipzig 1985, S. 198-205.

ders.: Johann Sebastian Bachs Passionsvertonungen, in: J.S.Bach,Matthäus-


Passion BWV 244. Vorträge der Sommerakademie J.S. Bach 1985 (= Schrif-
tenreihe der Internationalen Bachakademie Stuttgart, Bd. 2), Kassel u. a.,
s. 24-48.
SERAUKY, Walter: Die "Johannes-Passion" von Joh. Seb. Bach und ihr Vorbild,
in: Bach-Jahrbuch 1954, S. 29-39.

SMEND, Friedrich: Die Johannes-Passion von Bach. Aufihren Bau untersucht,


in: Bach-Jahrbuch 1926, 105-128; Wiederabdruck in: Friedrich Smend, Bach-
Studien, hrsg. von Christoph Wolff, Kassel1969, S. 11-23.

ders.: Die Urgestalt der Johannes-Passion, in: Bach-Fest-Buch 1953, S. 52--59.

ders.: Zur Passion nach dem Evangelisten Johannes, in: Bachfestbuch Nürn-
berg 1973, S. 89-92.

STILLER, Günther: Johann Sebastian Bach und das Leipziger gottesdienst-


liche Leben seiner Zeit, Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1970.

TERRY, Charles Sanford: Bach: the Passions, London 1928; Reprint Westporti
Ct. 1971.

WEISS, Dieter: Zur Tonartengliederung in J.S. Bachs Johannes-Passion, in:


Musik und Kirche 40. Jg. 1970, S. 33.
203

BIOGRAPHIEN DER AUTOREN

Alfred Dürr

Geboren 1918 in Berlin-Charlottenburg. Studium der Musikwissenschaft


in Göttingen 1945-1950; Promotion 1950 mit »Studien über die frühen Kan-
taten J. S. Bachs« (Leipzig 1951, Neufassung Wiesbaden 1977). Von 1951 bis
1983 Mitarbeiter, von 1962-1981 stellvertretender Direktor des Johann-
Sebastian-Bach-Instituts Göttingen. Herausgeber zahlreicher Schriften zu
verschiedenen kirchenmusikalischen Themen sowie zur Chronologie der
Leipziger Vokalwerke Bachs und von Publikationen im Rahmen der Neuen
Bach-Ausgabe. 1953-1974 Mitbetreuer des Bach-Jahrbuchs. Verfaßte u. a.
»J. S. Bach, Weihnachtsoratorium BWV 248«, München 1967; »Die Kantaten
von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten«, München -Kassel 5 1985; »Die
Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach«, München -Kassel1988. Aus-
gewählte Aufsätze und Vorträge von ihm in: »Im Mittelpunkt Bach«, Kassel
u. a. 1988. 1952-1962 nebenamtlicher Kirchenmusiker. Mitglied der Akade-
mie der Wissenschaften in Göttingen. Ehrendoktor des Baldwin-Wallace
College, Berea, Ohio.
Er hat die »Neue Bach-Ausgabe« mit wegweisenden eigenen Editionen
entscheidend mitgeprägt. Bei der Sommerakademie J. S. Bach war er einer
der Dozenten der »ersten Stunde«, hat über die Jahre hinweg bis heute den
Dialog zwischen Theorie und Praxis beflügelt und die Arbeit der Bachakade-
mie selbstlos unterstützt.
Der Vortrag DER PASSIONSBERICHT DES JOHANNES IN BACHS DEU-
TUNG -AUS DER SICHT DES MUSIKWISSENSCHAFTLERS wurde in Stutt-
gart am 8. März 1986 innerhalb des Meisterkurses und Seminars »Bachs
Johannes-Passion als Musik im Gottesdienst« gehalten.

Bernhard Hanssler

Geboren 1907 in Thfern. Studium der Theologie in Tübingen. 1932 Prie-


sterweihe; seelsorgerliehe Tätigkeit als Jugendpfarrer in Ulm/Donau, als
Studentenpfarrer in Tübingen sowie Gemeindepfarrer in Schwäbisch Hall
und Stuttgart. 1956 Mitbegründer und erster Leiter der Bischöflichen Stu-
dienförderung Cusanuswerk. 1957 Geistlicher Direktor am Zentralkomitee
der Deutschen Katholiken. 1966-70 Mitglied des Deutschen Bildungsrates.
1970 -74 Rektor des Collegio Teutonica di Santa Maria in Camposanto, Rom.
1974 -81 Lehr- und Vortragstätigkeit in Bochum. 1981 Akademieseelsorger
des Bistums Rottenburg-Stuttgart. Seit 1987 kontinuierlich als Dozent bei
der Sommerakademie J. S. Bach tätig.
Die Vorträge GRUNDZÜGE JOHANNEISCHER THEOLOGIE sowie DIE
PASSIONSGESCHICHTE BEI JOHANNES wurden in Stuttgart am 29. und
30. August 1990 bei der Sommerakademie J. S. Bach gehalten.
204

Peter Kreyssig

1924 in Chemnitz geboren. Nach 1945 Studium der Evangelischen Theolo-


gie in Marburg, an der Kirchlichen Hochschule Berlin, in Tübingen sowie in
einem ökumenischen Stipendiatsjahr am United _Presbyterian College in
Aberystwyth/Wales. 1950-1962 Mitarbeiter der Evangelischen Studenten-
gemeinde in Deutschland, von 1954 an als Generalsekretär; Mitglied im
Executive Cornitee derWorld's Student Christian Federation (Genf).1962 bis
1986 Pfarrer der Gedächtniskirchengemeinde in Stuttgart; 1970-1986 Dekan
in Stuttgart-Mitte; Vorsitzender des Evangelischen Stadtverbandes Stuttgart
(Stadtdekan).
Zusammen mit Helmuth Rilling gestaltete er die zahlreichen »Kantaten-
Gottesdienste<< und ist der Sommerakademie J. S. Bach seit ihren Anfängen
als Dozent und Prediger eng verbunden. Auch nach Japan begleitete er die
Bachakademie mehrmals und hielt dort theologische Einführungsvorträge,
Kantaten- und historische Gottesdienste. Grundlegende Gedanken zur
Arbeit der Bachakademie hat er geäußert in seinem Artikel >>10 Jahre Som-
merakademie<< in: Sommerakademie J. S. Bach 1979-1989, Internationale
Bachakademie Stuttgart 1989, S.12-22. Peter Kreyssig lebt jetzt im Ruhe-
stand.
Der Vortrag DIE PASSION JESU AUS DER SICHT DES EVANGELISTEN
JOHANNES wurde in Stuttgart am 6. März 1986 innerhalb des Meisterkurses
und Seminars >>Bachs Johannes-Passion als Musik im Gottesdienst<< gehal-
ten.

Martin Petzoldt

Geboren 1946 als Pfarrerssohn in Rabenstein bei Chemnitz, aufgewach-


sen im sächsischen Erzgebirge und in Dresden, dort auch von 1958 -1964
Mitglied des Dresdner Kreuzchores unter Rudolf Mauersberger. Nach dem
Abitur 1964 Studium der Theologie an der Universität Leipzig, 1969 Staats-
examen, Ausbildung zum Pfarrer der Evangelischen Lutherischen Landes-
kirche Sachsen, 1973 Ordination. Im gleichen Jahr Beginn der Arbeit als
Assistent für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät, 1976
Promotion, 1978 Beginn der Mitarbeit in der theologischen Bachforschung,
1985 Habilitation mit einer Arbeit zum Thema »Theologie im Rahmen der
Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs<<, 1986 Hochschuldozent für
Systematische Theologie an der Universität Leipzig, Mitglied der »Inter-
nationalen Arbeitsgemeinschaft für Theologische Bachforschung<<, 1990
Stellvertretender Vorsitzender der Neuen Bachgesellschaft, 1991 Dekan der
Theologischen Fakultät der Universität Leipzig; seit Juni 1992 Professor.
Zahlreiche Publikationen zu Themen der theologischen Bachforschung.
Zum Bach-Jahr 1985 Herausgabe einer Aufsatzsammlung >>Bach als Ausle-
ger der Bibel<<; 1988 >>Ehre sei dir Gott gesungen. Bilder und Texte zu Bachs Le-
ben als Christ und seinem Wirken für die Kirche<<, Berlin 21990.
205

Ist als Dozent seit 1983 kontinuierlich an der Sommerakademie J. S. Bach


tätig. Seiner intensiven Forschungstätigkeit ist es zu verdanken, daß inzwi-
schen sechs »Große Leipziger Gottesdienste« der Bachzeit als Rekonstruk-
tion in der Stuttgarter Stiftskirche stattfinden konnten, 1989,1990 und 1992
sogar mit ihm als Liturg bzw. Prediger. Die Wiederbelebung der Leipziger
Hauptgottesdienste hat inzwi&chen größere Kreise gezogen, die bis nach Ja-
pan reichen. In Tokio werden seit 1985 in jedem November als Abschluß der
jährlichen Bachakademie von Martin Petzoldt rekonstruierte Gottesdienste
der Bachzeit veranstaltet.
Der Vortrag THEOLOGISCHE ÜBERLEGUNGEN ZUM PASSIONSBE-
RICHT DES JOHANNES IN BACHS DEUTUNG und der Hauptvortrag BACHS
PASSIONEN ALS MUSIK IM GOTTESDIENSTwurden in Stuttgart am 8. und
9. März 1986 innerhalb des Meisterkurses und Seminars »Bachs Johannes-
Passion als Musik im Gottesdienst<< gehalten.

Ulrich Prinz

Geboren 1937in Esslingen. Schulmusikstudium an der Musikhochschule


Stuttgart. 1964 Künstlerische Prüfung für das Lehramt. 1960 -67 Lehrbeauf-
tragter an der Evangelischen Landeskirchenmusikschule Esslingen. Freier
Mitarbeiter beim Schulfunk des Süddeutschen Rundfunks. Solocellist der
Jungen Süddeutschen Philharmonie von 1958-1973. Studium der Musikwis-
senschaft an der Universität Tübingen bei Walter Gerstenberg und Georg
von Dadelsen. Wissenschaftlicher Assistent an der Pädagogischen Hoch-
schule Reutlingen von 1967-1973. 1974 Pädagogische Prüfung für das Lehr-
amt an Gymnasien und Promotion zum Dr. phil. mit der Arbeit >>Studien zum
Instrumentarium J. S. Bachs mit besonderer Berücksichtigung der Kanta-
ten<<. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen, 1974/75
gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1975 Dozent an der
Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. 1979 Ernennung zum Professor.
Seit 1986 Wissenschaftlicher Leiter der Internationalen Bachakademie
Stuttgart. Veröffentlichungen u. a.: Aufsätze und Vorträge zur Musikwissen-
schaft und Musikdidaktik, Konzeption und Katalog der Ausstellung »300
Jahre J. S. Bach<<, Stuttgart 1985. Editorische Arbeiten und Herausgeber der
Schriftenreihe der Internationalen Bachakademie Stuttgart.
Der Vortrag ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER JOHANNES-PAS-
SION UND IHRER FASSUNGEN wurde in Stuttgart am 3. März 1986 inner-
halb des Meisterkurses und Seminars >>Bachs Johannes-Passion als Musik
im Gottesdienst<< gehalten.

Hans-Joachim Schulze

Geboren 1934 in Leipzig. Studium 1952-1957 an der dortigen Musikhoch-


schule und an der Universität Leipzig (Musikwissenschaften und Germani-
stik) u. a. bei Heinrich Besseler, Rudolf Eller, Paul Rubardt, Walter Serauky
und Helmuth Christian Wolff. 1957 Assistent am Bach-Archiv Leipzig, 1974 -
206

1979 Stellvertretender Direktor, 1979 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der


>>Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten 'Johann Sebastian Bach' der
DDR«, 1986 Direktor des Bereiches Bach-Archiv, 1992 Direktor des Bach-
Archivs Leipzig und Projektleiter der Neuen Bach-Ausgabe.1979 Promotion
an der Universität Rostock mit »Studien zur Bach-Überlieferung im 18. Jahr-
hundert«. 1990 Honorardozent an der Martin-Luther-Universität Halle-
Wittenberg.
Veröffentlichungen: Bach-Dokumente I -III (1963 -1972, Bd. I -II zusam-
men mit Werner Neumann); Bach Compendium I.1-4 (1986 -1989, zusam-
men mit Christoph Wolff); Aufsätze, BegleiHexte zu Faksimile-Ausgaben,
u. a. Herausgeber des Bach-Jahrbuches seit 1975 (zusammen mit Christoph
Wolff); Mitglied des Verwaltungsrates der Neuen Bachgesellschaft. Vorträge
und Lehrveranstaltungen u. a. in Polen, Ungarn, Österreich und USA. Zahl-
reiche Veröffentlichungen. Seit 1983 mehrfach als Dozent der Sommerakade-
mie J. S. Bach tätig.
Der Vortrag J. S. BACHS JOHANNES-PASSION- DIE SPÄTFASSUNG VON
1749 wurde in Stuttgart am 28. August 1990 bei der Sommerakademie J. S.
Bach gehalten.

Lotbar Steiger

Geboren 1935 in Berlin. Studium der ev. Theologie und Philosopie an den
Universitäten Heidelberg und Tübingen. 1960 Promotion zum Dr. theol. mit
einer Arbeit über >>Die Dogmatik als hermeneutisches Problem<<. 1961 Erste
theologische Dienstprüfung. Vikariat in der Württembergischen Landeskir-
che, Assistent an der Universität Tübingen.1968 -1973 Professor für Systema-
tische Theologie (Dogmatik) an der Universität Heidelberg; 1989 Wechsel auf
den Lehrstuhl für Praktische Theologie (Homiletik und Seelsorge).
Seit 1981 an der Erforschung der Predigt- und Erbauungsliteratur des
17. und beginnenden 18. Jahrhunderts und in der theologischen Bachfor-
schung tätig. Veröffentlichungen z. T. mit Renate Steiger.
Der Vortrag DIE PASSIONSTHEOLOGIE DER BACH ZEIT, IHR PREDIGT-
TYPUS UND DER TEXT DER JOHANNES-PASSION wurde zusammen mit
Renate Steiger in Stuttgart am 7. März 1986 innerhalb des Meisterkurses und
Seminars »Bachs Johannes-Passion als Musik im Gottesdienst<< gehalten.

Renate Steiger

Geboren 1934 in Hamburg. Studium der Schulmusik an der Musikhoch-


schule Köln, der Musikwissenschaft, Philosopie und Mathematik sowie der
ev. Theologie an den Universitäten Köln, Bonn und Tübingen.1957 Prüfung
für das Künstlerische Lehramt, 1958 Staatsexamen in den wissenschaftli-
chen Fächern; Staatsarbeit: »Johann Sebastian Bachs Bearbeitungen eige-
ner Werke<<.1962 Promotion zum Dr. theol. in Tübingen. Seit 1958 Tätigkeit an
207

Kritischen Editionen von theologischen und philosopischen Texten des


15. Jahrhunderts; bis 1964 im Auftrag der Deutschen Forschungsgemein-
schaft, seit 1969 im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Seit 1962 verheiratet mit Lotbar Steiger; zwei Söhne (geb. 1966 und 1967).
Veröffentlichungen zur Bachforschung seit 1971. Seit Gründung der Inter-
nationalen Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung 1976 deren
stellvertretende Vorsitzende (mit Walter Blankenburg), ab 1987Vorsitzende;
Organisation und Leitung von wissenschaftlichen Kolloquien der Arbeitsge-
meinschaft, u. a. 1988 auf Einladung der Internationalen Bachakademie in
Stuttgart (»Parodie und Vorlage«). Seit 1981 Herausgeberin (bis 1986 mit Wal-
ter Blankenburg, ab 1986 mit Diethard Hellmann) und Schriftleiterin von
>>Musik und Kirche«. Vortrags- und Lehrtätigkeit (z. T. mit Lothar Steiger) zu
Themen der Auslegungsgeschichte, lutherischen Orthodoxie, Bach-Werk-
interpretation.
1988ff. Herausgabe des Bulletin der Arbeitsgemeinschaft (Tagungsbe-
richte); 1992 (mit Lothar Steiger): >>Sehet! Wir gehn hinauf gen Jerusalem.
Johann Sebastian Bachs Kantaten auf den Sonntag Estomihi« (Vandenhoeck
und Ruprecht).

Christoph Wolff

------- Geboren 1940 in Solingen. Studium an den Musikhochschulen Berlin und


Freiburg i. Br. sowie an den Universitäten Berlin und Erlangen. 1965 Staats-
examen für Kirchenmusik (A) in Berlin, 1966 Promotion zum Dr. phil. in
Erlangen. Nach Lehrtätigkeit in Erlangen und Toronto von 1970 bis 1976 Pro-
fessor für Musikwissenschaft an der Colum bia U niversity, New York; ab 1976
an der Harvard University, Cambridge,Massachusetts; seit 1990 Honorarpro-
fessor an der Universität Freiburg i. Br. Er schrieb u. a. »Der stile antico in der
Musik J. S.Bachs, Studien zu Bachs Spätwerk<<, Wiesbaden 1968; Arbeiten zur
Musikgeschichte des 15. bis 20. Jahrhunderts, insbesondere zu J. S. Bach und
W. A. Mozart. Mitarbeiter der Neuen Bach- und der Neuen Mozart-Ausgabe;
gemeinsam mit Hans-Joachim Schulze Herausgeber des Bach-Jahrbuchs
(seit 1975) sowie des Bach Compendiums (1986ff.; vier Bände erschienen,
drei weitere in Vorbereitung), Mitglied des Verwaltungsrates der Neuen
Bachgesellschaft. 1978 Empfänger der Deut-Medaille der Royal Musical
Association, London; seit 1972 Mitglieder der American Academy of Artsund
Sciences.
Gehört seit den Anfängen der Sommerakademie J. S. Bach zu den Dozen-
ten; mit Errichtung der Stiftung »Internationale Bachakademie Stuttgart« im
Jahre 1981 wurde er zum» Musikwissenschaftlichen Berater<< berufen und ist
eng in die Planung der Sommerakademie und des Europäischen Musikfestes
Stuttgart eingebunden.
Der Vortrag DIE MUSIKALISCHEN FORMEN DER JOHANNES- PASSION
wurde in Stuttgart am 4. März 1986 innerhalb des Meisterkurses und Semi-
nars »Bachs Johannes-Passion als Musik im Gottesdienst« gehalten.
SCHRIFTENREIHE DER
INTERNATIONALEN BACHAKADEMIE STUTTGART
herausgegeben von Ulrich Prinz

Band 1:
MESSA PER ROSSINI. Geschichte · Quellen · Musik, Stuttgart 1988. 190 S.
mit 55 Abbildungen, Notenbeispielen, Personen-und Werkregister. gr-8°.
Kart. DM 59,80 ISSN 1012-8054 I AoE 500
Band 2:
Johann Sebastian Bach, MATTHÄUS-PASSION BWV 244. Vorträge der
Sommerakademie J. S. Bach 1985, Stuttgart und Kassel1990.176 S. mit Faksi-
mile-Abdruck der zeitgenössischen Text-Vorlagen, Literatur- und Ausgaben-
hinweisen, Personen- und BWV-Register. gr-8°.
Kart. DM 59,80 ISBN 5-7618-0977-8
Band 5:
Johann Sebastian Bach, MESSE H-MOLL»Opus ultimum<<BWV252. Vorträge
der Meisterkurse und Sommerakademien J. S. Bach 1980, 1985 und 1989,
Stuttgart und Kassel1990.176 S. mit Abbildungen, Notenbeispielen, Tabellen,
Personen- und BWV-Register, Ausgaben- und Literaturhin weisen. gr-8°.
Kart. DM 59,80 ISBN 5-7618-0997-2
Band 4:
ZWISCHEN BACH UND MOZART. Vorträge des Europäischen Musikfestes
Stuttgart 1988 (im Satz). ISBN 5-7618-1029-6
Band 5:
Johann Sebastian Bach, JOHANNES-PASSION BWV 245. Vorträge des
Meisterkurses 1986 und der Sommerakademie J. S. Bach 1990, Stuttgart und
Kassel 1995. 208 S. mit Abbildungen und Notenbeispielen, Personen- und
BWV-Register, Ausgaben und Literaturhinweisen. gr-8°.
Kart. DM 59,80 ISBN 5-7618-1141-1

Weitere Bände in Vorbereitung.

Die Auslieferung der Schriftenreihe erfolgt über Bärenreiter Kassel. Eine


Subskription der Reihe ist möglich (20% Preisvorteil).

INTERNATIONALE BACHAKADEMIE STUTTGART


Johann-Sebastian-Bach-Platz, 7000 Stuttgart 1

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