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Ware, Warenfetischismus, Konsum

Thomas Wegmann

Zu Waren werden Dinge transformiert, wenn sie untereinander getauscht bzw.


mehr noch: über das Äquivalenzprinzip Geld veräußert werden und dabei von
vornherein – und das ist in modernen Wirtschaften die Regel – für den Verkauf
produziert wurden: „Das Wesentliche auf wirtschaftspsychologischem Gebiet
ist hier, daß in primitiven Verhältnissen für den Kunden produziert wird, der
die Ware bestellt, so daß Produzent und Abnehmer sich gegenseitig kennen.
Die moderne Großstadt aber nährt sich fast vollständig von der Produktion für
den Markt, d.  h. für völlig unbekannte, nie in den Gesichtskreis des eigentlichen
Produzenten tretende Abnehmer“ (Simmel 1989  ff., Bd.  7, 118). Während die
klassische Ökonomie wie die modernen Wirtschaftswissenschaften zumeist den
Terminus ‚Güter‘ (engl. goods) präferiert, erhielt der Warenbegriff bei Karl Marx
und im Marxismus grundlegende Bedeutung als Schlüssel für die Analyse kapita-
listischer Produktionsverhältnisse (vgl. Iber und Lohmann 2005, 320). Konstitutiv
ist dabei der doppelte Wert der Ware, die über einen ‚Gebrauchswert‘, welcher der
Befriedigung bestimmter, mit den sachlichen Eigenschaften der Ware begründ-
barer Bedürfnisse dient, und über einen ‚Tauschwert‘ verfügt. Letzterer verweist
auf die komplexen Regularien, wonach Dinge untereinander bzw. gegen das Äqui-
valenzprinzip → Geld getauscht werden, bezeichnet also den ökonomischen Wert
in engerem Sinne. Bei der Produktion von Waren unter kapitalistischen Bedingun-
gen werden außerdem auch die menschlichen Arbeitsvermögen als Ware Arbeits-
kraft (Lohnarbeit) produziert und getauscht (Lohnarbeitsvertrag), wodurch sich
am Ende der „Doppelcharakter der in den Waren dargestellten Arbeit“ ergibt
(Marx und Engels 1956  ff., Bd. 23, 56).
Mit dem Begriff des ‚Warenfetischismus‘ hat Marx zudem das Konzept des
Fetischs bzw. Fetischismus aus seinem ursprünglich religiösen bzw. ethnologi-
schen Kontext in den ökonomischen Diskurs überführt: „Eine Ware scheint auf
den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß
sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeiten und theo-
logischer Mucken“ (Marx und Engels 1956  ff., Bd. 23, 85). Was Marx hier und im
weiteren Verlauf seiner Argumentation, die das Vertrackte der Ware ihrer doppel-
ten Funktion als Gebrauchs- und Wertgegenstand zuschreibt, letztlich erwirkt,
ist ein Reentry von religiösen Formen in die moderne kapitalistische Ökonomie
(vgl. Böhme 2006, 311–315) Damit wiederum ist nicht nur ein Zusammenhang zwi-
schen vermeintlich archaisch-religiösen und aufgeklärt-modernen Gesellschaften
etabliert, sondern auch die Kohäsion von Waren und Subjekten, die bei Marx als
verselbständigte, „automatische Subjekte“ (Marx und Engels 1956  ff., Bd. 23, 169)

https://doi.org/10.1515/9783110516821-072
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figurieren, erstmals dezidiert zur analytischen Disposition gestellt. Im Konzept


des Warenfetischismus wird somit jener Mechanismus erkennbar, der alltäglichen
Gebrauchsgegenständen bei ihrer Performance auf dem Markt, also in Schau­
fenstern, Anzeigen und auf Plakaten, die Aura von Wunscherfüllung verleiht, sie
mit anderen Worten begehrenswert macht (→ Werbung). Denn als Fetische ver-
fügen Waren und Dinge über Eigenschaften, über die sie nicht per se bzw. primär
verfügen, sondern die ihnen erst in einem projektiven Akt hinzugefügt werden.
Entsprechend erweist sich der Warenfetischismus „als Antriebskraft […], bei der
die Bereitschaft zu zahlen nicht von der Rationalität begrenzt wird, nicht zahlen zu
können, sondern vom Wunsch und Begehren, mit der Versprechenssemantik der
Ware zu verschmelzen – und dafür zahlen zu wollen“ (Böhme 2006, 287). Im wei-
teren Verlauf der Begriffsgeschichte diente das Fetischkonzept jedoch nicht nur –
wie bei Marx – der Kritik an kapitalistischen Produktionsweisen, sondern wurde
auch von der gegen Ende des 19. Jh.s sich in Deutschland etablierenden und all-
mählich ausdifferenzierenden Werbebranche dazu genutzt, um eine eigene Fas-
zinationsgeschichte der Markenartikel zu schreiben: „Im kaufmännischen Leben
unserer Zeit“, so Hans Domizlaff, einer der ersten namhaften deutschen Marken-
techniker, „wird der Begriff eines Fetisches oder eines Kristallisationspunktes der
Gläubigkeit durch den Begriff einer Marke mit allen Variationen der Firmenmar-
ken, Handelsmarken und Markenartikel ersetzt“ (Domizlaff 2005, 3; → Marke).
Darin impliziert ist eine wirtschafts- wie kulturgeschichtlich gestiegene Bedeu-
tung des Konsums, der kürzlich als „gelerntes Mehr-Wollen“ bestimmt wurde
und, basierend auf dem Wunsch, „sich anderweitig geleistete Arbeit zunutze zu
machen“, einer spezifisch modernen Steigerungslogik folge (G.  Schulze 2003,
49–61). In großen Teilen der sozial- und kulturgeschichtlichen Forschung wurde
dem Konsum indes lange Zeit keine eigene Sphäre zuerkannt, sondern wurde er
grosso modo der seit Marx vorherrschenden Schlüsseldifferenz von Kapital und
Arbeit subsumiert. Demnach ließ sich Konsum umstandslos der Kapitalsphäre
zuschlagen und „als List des Kapitalisten interpretieren, der den Fabrikterror
durch den Konsumterror ersetzt, um seine Profite zu retten“ (Luhmann 1996a,
166). Gegen Ende des 20. Jh.s konstituierte sich dann – ausgehend vom anglo- und
frankophonem Raum – eine transdisziplinär ausgerichtete Konsumforschung, die
den Konsum weder dämonisiert noch glorifiziert, sondern auch und gerade seine
illusorischen Momente als konstitutiv für seinen kulturökonomischen Stellen-
wert untersucht (vgl. Wegmann 2011, 339–342). Ausgehend von einer Ästhetisie-
rung der Waren wurde zudem betont, dass und wie Konsumenten Güter als Teil
ihrer Identität betrachten, wobei auch jene weitverbreiteten und auf das 19. Jh.
zurückgehenden Diskurse in den Blick genommen wurden, die den modernen
Verbraucher vor allem als ein antidemokratisches, grundlegend irrationales, von
Begierden bestimmtes und leicht manipulierbares Subjekt konstituieren  – mit
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genderspezifischer Schlagseite: „Nationalökonomie, Medizin, Kriminologie und


Geschlechterdiskurs [arbeiteten] eng zusammen, um den weiblichen Kaufrausch
ebenso zu beschwören wie zu kontrollieren“ (Schößler 2009, 277–278).
Indes findet sich der divers bewertete Befund, dass (weiblicher) Konsum
mehr sein kann als nüchternes Kaufen, Gebrauchen oder Verzehren von Waren,
bereits in Gustave Flauberts 1856 erschienenem Roman Madame Bovary oder
in Émile Zolas Au bonheur des dames (1883), im deutschsprachigen Raum dann
vor allem in literarischen Texten der Neuen Sachlichkeit, am prominentesten
wie provokantestem wohl in Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen
(1932). Darin erweist sich die Protagonistin als Konsumentin in doppelter Hin-
sicht: zum einen als Käuferin, die faktisch etwas erwirbt; zum anderen als Illusio-
nistin, die davon träumt, bestimmte Waren zu erwerben. In beiden Fällen indes
sind die Konsumgüter von bestimmten Images überlagert, die sie überhaupt erst
begehrenswert machen und die in wachsendem Maße von einer expandierenden
Industrie prozessiert werden, zu der bestimmte Magazine und Filme ebenso
zählen wie Werbung. Denn wie die Prominenz der Prominenten sich technischen
Medien verdankt, an die auch ihre realen Auftritte stets gekoppelt bleiben, ist
auch Doris’ Variante von Glanz vor allem ein Abglanz, der sich dem medial ver-
breiteten Status von bestimmten Konsumgütern verdankt: „Ich will so ein Glanz
werden, der oben ist. Mit weißem Auto und Badewasser, das nach Parfüm riecht,
und alles wie Paris“ (Keun 2005, 44). Solche Interieurs kennt Doris in erster Linie
aus Magazinen, die sie identifikatorisch rezipiert, indem sie die feine Umgebung
der anderen zumindest in der Phantasie als eigene adaptiert.
Eine derartige Verknüpfung von Konsumtion, Rezeption und Imagination,
wie sie Irmgard Keun ihrer Protagonistin zuschreibt, ist in Europa nicht ohne Tra-
dition: „Emma Bovary, vielleicht die berüchtigtste europäische Verbraucherin um
1850, steht für einen solchen Fall“ (Kroen 2003, 541–542). Mit der gleichen Hingabe
vermag sich Madame Bovary in sentimentale Liebesromane wie in Versandhaus-
kataloge zu versenken, bestellt Kleider und Möbel. Was ihren Mann zunächst zu
einem Objekt nachbarschaftlichen Neids macht, lässt ihn am Ende als betrogenen
und finanziell ruinierten Ehemann zurück. Für Emma Bovary hingegen bieten
Luxus und Lektüre im Ennui ihres provinziellen Lebens (Schau-)Fenster zu einer
anderen Welt, und ihre Verknüpfung von Konsum und Romantik, die Flaubert
noch entlarvend sezierte, sollte zu einem einflussreichen Muster europäischer
Literatur- und Kulturgeschichte werden  – und das nicht nur mit Blick auf die
Entwicklung des modernen Romans (vgl. McKendrick 1997, 80–81; → III.13. Die
Entdeckung der Ware). Den Einfluss wiederum, den der demonstrative und
luxusorientierte Konsum ökonomischer Eliten (conspicuous consumption) auf die
Begehrlichkeiten und das Kaufverhalten benachbarter, aber in abgeschwächter
Weise auch auf andere Sozialschichten ausübt, hat der amerikanische Ökonom
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und Soziologe Thorstein Veblen in seiner Theory of the Leisure Class (1899) als
Nachahmungsverbrauch bezeichnet und die „Zurschaustellung von Gütern“
nachhaltig als „Dreh- und Angelpunkt in der neuen Arena der Image-Gestaltung“
(Veblen 1899, 102; → Verschwendung, Verausgabung) ausgewiesen. Der aus
soziologischer Perspektive zentralen Rolle der Nachahmung für gesellschaftliche
Reproduktion ist fast zur selben Zeit auch Gabriel Tarde in seiner (erst 2008 auf
Deutsch erschienenen) Studie Les lois de l’imitation (1890, dt. Die Gesetze der
Nachahmung) so ausführlich wie prägnant nachgegangen, nicht zuletzt anhand
von Mode und (politischer) Ökonomie.

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