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2022/1/5 75-jähriges Bestehen: Wie viel Kraft steckt noch im "Spiegel"? | tagesschau.

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75-jähriges Bestehen

Wie viel Kraft steckt noch im "Spiegel"?


Stand: 04.01.2022 12:09 Uhr

Früher gingen Menschen für den "Spiegel" auf die Straße. Heute machen dem Magazin
die Relotius-Affäre und neue journalistische Fronten zu schaffen. Hat der "Spiegel" 75
Jahre nach seiner Gründung noch publizistische Macht?

Der "Spiegel" strahlt seit Jahrzehnten eine zentrale Botschaft aus: Wir sind die
Investigativen. Tatsächlich hat das Magazin den Journalismus mit Enthüllungscharakter
so geprägt wie kein anderes Medium in Deutschland. 1962 gingen sogar Menschen für
den "Spiegel" auf die Straße. "Spiegel tot, Freiheit tot", skandierten sie.

Publizistischer Höhenflug nach "Spiegel-Affäre"


Unter der Schlagzeile "Bedingt abwehrbereit" hatte die Redaktion die damalige
Rüstungspolitik der Bundesregierung kritisiert, mit Interna der Bundeswehr. Der Staat
ermittelte wegen angeblichen Landesverrats und nahm einen Redakteur sowie
Herausgeber Rudolf Augstein in Untersuchungshaft, mehr als 100 Tage. Die Polizei
blockierte die Verlagsräume.

Die "Spiegel-Affäre", die den damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU)
letztlich zum Rücktritt zwang, war beste Werbung für das Magazin. Es folgte ein
publizistischer Höhenflug: In den 1980er-Jahren deckten "Spiegel"-Journalisten die
Parteienfinanzierung des Industriellen Flick auf, ebenso Selbstbereicherung des
Vorstands in Europas größtem Wohnbauunternehmen, der "Neuen Heimat". Auch
heute produziert der "Spiegel" noch Schlagzeilen, etwa zu den Masken-Deals der Union.

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"Spiegel"-Herausgeber Rudolf Augstein wurde nach 103 Tagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Bild:
picture-alliance/ dpa

Zunehmende Beliebigkeit
Wenn der Chefredakteur die Lage beschreiben soll, dann spricht Steffen Klusmann über
die "Spiegel-Classics". Es gehe darum, Opposition gegenüber den Mächtigen zu sein, "in
der Wirtschaft und in der Politik", sagt er dem NDR-Medienmagazin Zapp. Hinterfragen
gehöre genauso dazu wie Missstände aufzudecken. "Das gelingt vielleicht weniger
häufig, als wir das manchmal gerne hätten, aber manchmal gelingt es immer noch ganz
schön gut."

Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler und Herausgeber der "Blätter für


deutsche und internationale Politik", mahnt hingegen, der "Spiegel" verliere sich
zunehmend in Beliebigkeit - sowohl politisch als auch beim Themenmix. Investigatives
werde zwar noch gepflegt, doch das Heft werde immer bunter.

Vertrauenskrise nach Relotius-Affäre


Vor drei Jahren stürzte "Spiegel"-Redakteur Claas Relotius das Magazin in eine
Vertrauenskrise - und mit ihm die deutsche Medienlandschaft. An Texte war er mit teils
großer Fantasie herangegangen. Klusmann fällt diese Affäre im eigenen Haus als neuem
Chefredakteur auf die Füße. Er kam damals von außen und setzte auf maximale
Transparenz.

Doch die Affäre klebt am "Spiegel". "Wenn der 'Spiegel' Recherchen veröffentlicht, die
angezweifelt werden, wird Relotius immer wieder ein Thema werden", erklärt Marvin
Schade, Chefredakteur des Branchendienstes "Medieninsider". Er lobt die Aufarbeitung

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im "Spiegel" als durchaus vorbildlich. Der Fall lasse sich allerdings "nicht komplett
abschütteln".

Und auch Klusmann sagt dazu nach drei Jahren Abstand: "Wenn man so einen Bock
geschossen hat, dann muss man damit leben, dass man damit für sehr lange Zeit in
Verbindung gebracht wird und dass das für andere ein gefundenes Fressen ist."

Der frühere "Spiegel"-Journalist Relotius lieferte jahrelang gefälschte Texte. Bild: picture alliance / dpa

Geschäft wächst wieder


Wirtschaftlich scheint diese Krise jedoch längst überwunden. Während der
"Spiegel" in den vergangenen 20 Jahren immer weniger Magazine verkauft
und die Millionen-Marke schon lange nicht mehr erreicht hat, wächst das Geschäft
neuerdings wieder.

Klusmann sagt, mit Verkäufen an Kiosken und Abos zusammengenommen, habe der
"Spiegel" heute eine "steigende harte Auflage". Verkaufszahlen der Verlags- und
Werbeindustrie zeigen, dass digitale Abos, die das Haus unter der Marke "Spiegel+"
anbietet, den Niedergang nicht nur bremst, sondern sogar für Wachstum sorgen.

Auch der "Spiegel" muss inzwischen sparen


Medienjournalist Schade bremst allerdings die Euphorie. Auch der "Spiegel", der lange
in einer vergleichsweise luxuriösen Situation gewesen sei und seine Mitarbeiter seit
Jahrzehnten an seinen Gewinnen beteilige, müsse inzwischen aufs Geld achten.

Schon vor Corona sei ein Sparprogramm angelaufen. In der Krise sei der Druck noch mal
gestiegen. Der Verlag habe deshalb "Bento" den Stecker gezogen, dem ambitionierten

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Portal des "Spiegel" für junge Leserinnen und Leser. Und auch sonst sei die
Digitalisierung beim "Spiegel" zwar ein Erfolg, aber eben auch nur bedingt.

Multimediales Potenzial noch nicht genutzt


Die "Spiegel"-Gruppe hat die besten Voraussetzungen für Multimedialität - durch das
starke Nachrichtenmagazin, durch den Online-Auftritt und durch "Spiegel-TV", sagt
Schade. Der "Spiegel" habe es aber in den vergangenen Jahren "leider noch nicht
geschafft, alle diese Elemente zusammenzuführen und ein starkes multimediales Haus
zu werden".

Da seien andere deutlich weiter, vor allem der Axel-Springer-Konzern. Dort haben
sowohl "Bild" als auch "Welt" inzwischen je einen eigenen TV-Kanal. Klusmann sagt, auf
diesem Markt sei für den "Spiegel" aber nichts zu gewinnen, der mit XXP schon früh
selbst an einem Kanal beteiligt war. XXP ging 2006 vom Netz.

Bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2002 war "Spiegel"-Gründer Rudolf Augstein im Verlag aktiv. Bild: picture-
alliance / Sven Simon

"Stern" und "Focus" sind nicht mehr die Konkurrenten


Inzwischen verschiebt sich für den "Spiegel" auch die Konkurrenz. Früher waren das vor
allem der "Stern" und der "Focus". Heute sind es für den "Spiegel"-Chefredakteur im
klassischen Geschäft vor allem die "Süddeutsche Zeitung", die in der Investigation
wiederum mit dem NDR und dem WDR kooperiert, und die "Zeit". In beiden Häusern
haben einstige "Spiegel"-Journalisten Investigativ-Ressorts aufgebaut.

Im Nachrichtengeschäft der Zukunft, im Netz, stünde der "Spiegel" vor allem "Auge in
Auge mit der 'Bild'". Im Jubiläumsjahr will Klusmann deshalb nun ein neues

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Nachrichten-Team aufbauen. Seine Redaktion soll damit "wieder mehr Agendasetting


betreiben".

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