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Name: Herr Jan Henschel | Bestellnummer: 33081

Wolfhard Keiser

Interpretation zu
Stefan Zweig

Angst

Aus dem Band: Beliebte Erzählungen und Novellen interpretiet


ISBN 978-3-8044-1504-1

Ihr Name: Herr Jan Henschel - Bestell-Nr.: 33081


Name: Herr Jan Henschel | Bestellnummer: 33081

1.12 ZWEIG: AnGST

1.12 Stefan Zweig


Angst

Stefan Zweig wird 1881 in Wien als Sohn eines jüdischen Industriellen ge-
boren. In Berlin und Wien studiert er Germanistik und romanistik. Mit
romain rolland, dem französischen Pazifi sten, verbindet ihn eine lebens-
lange Freundschaft. Wie dieser, setzt er sich für die geistige Einheit Europas
ein, wendet sich gegen Fanatismus und nationalismus. nach der Macht-
übernahme der nationalsozialisten emigriert Zweig nach England. 1941
verlässt er Europa und lässt sich in Brasilien nieder, wo er sich 1942 das
Leben nimmt.
neben bekannten novellen wie Angst, Der Zwang, Schachnovelle ver-
öffentlicht er Essays: Drei Meister (1920, behandelt Dickens, Balzac und
Dostojewski), Der Kampf mit dem Dämon (1925, behandelt hölderlin, Kleist
und nietzsche). 1927 erscheinen Sternstunden der Menschheit . Historische
Miniaturen . Seine Autobiographie Die Welt von Gestern (1942) ist auch ein
Erinnerungsbuch an ein Europa, dessen nahendes Ende er vorhersah.

A. Einleitung
In der 1925 erschienenen novelle Angst gewährt uns Zweig Einblick in die
Psyche zweier Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: Auf der
einen Seite die ehebrecherische Frau, von Angstvorstellungen verfolgt, ihrer
Sinne nicht mehr mächtig, auf der anderen Seite der streng rational handeln-
de Ehemann, der nüchtern plant, sein jeweiliges verhalten an den reaktionen
seiner Frau ausrichtet.

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B. Interpretation
I . Inhalt
Die abrupt einsetzende handlung vermittelt, in verbindung mit dem Titel, ei-
nen ersten Eindruck von der Thematik der novelle: Eine verheiratete Frau – es
handelt sich um „Frau Irene“ Wagner, Ehefrau des renommierten und wohl-
habenden Anwalts Fritz Wagner – hat ein illegitimes verhältnis mit einem
Mann, Eduard, einem Pianisten, fürchtet, so darf man annehmen, die Entde-
ckung dieser Beziehung. Beim verlassen seiner Wohnung ergreift sie jedes
Mal eine „unsinnige [ ] und lächerliche [ ] Angst“ (Z. 7). Dieser spannungsgela-
dene Auftakt lässt uns eine dramatische, möglicherweise in einer Katastrophe
endende Entwicklung vermuten.
Im haustor trifft sie auf eine „Frauensperson“, die behauptet, Eduards Freun-
din zu sein. Um sich ihrer möglichst schnell zu entledigen, drückt Irene ihr
einige Banknoten in die hand. Ihren Freund informiert sie, dass ein Treffen
mit ihm in den nächsten Tagen nicht möglich sei.
Trotz dieses Entschlusses trifft sie sich wiederum mit ihm, diesmal in einer
Konditorei – bei der rückkehr nach hause erwartet sie bereits die Erpresserin,
die nunmehr offensichtlich weiß, wer sie ist. Irene gibt ihr neben Geld die
von der Unbekannten geforderte Silbertasche. Ihr wird klar, dass ihr Mann
über kurz oder lang von ihrem Ehebruch erfahren wird. Aus Angst vor einem
nochmaligen Zusammentreffen mit der Erpresserin bleibt sie mehrere Tage zu
hause, bis die Einladung zu einem Gesellschaftsabend ihr einige Stunden Ent-
spannung verspricht. Im verlauf dieses Abends gewinnt Irene den Eindruck,
dass ihr Mann von ihrem verhältnis zu ahnen scheint – Furcht empfindet sie
angesichts seines undurchschaubaren verhaltens. In der auf diesen Abend
folgenden nacht hat sie einen Albtraum, aus dem sie schreiend erwacht. Ihr
Mann sitzt an ihrem Bett, beschwört sie, ihm den Grund für ihre offensicht-
lichen Angstzustände zu nennen – Irene hat nicht den Mut, ihren Fehltritt zu
bekennen.
Am darauffolgenden Tag erhält sie durch einen Boten einen Erpresserbrief –
völlig verwirrt übergibt sie ihm die geforderten 100 Kronen. Immer ange-
spannter wird die Stimmung zwischen den Eheleuten – sein Misstrauen ihr
gegenüber scheint sich zu verstärken.
Während eines Spaziergangs trifft Irene auf ihren Geliebten, den Pianisten;
sie schenkt seinen Liebesbeteuerungen keinen Glauben, weist ihn zornent-
brannt von sich.
Ein weiterer Erpresserbrief wird ihr überbracht – dieses Mal sind zweihun-
dert Kronen von ihr zu bezahlen. Ein wahres Martyrium beginnt für Irene:
Sie fürchtet weitere Erpressungsversuche, ihre Angst verstärkt sich durch die
immer bedrohlichere haltung ihres Mannes.
Bei der rückkehr von einem Spaziergang wird sie Zeugin einer improvisierten
Gerichtsverhandlung, während der ihr Mann in richterpose ein läppisches
vergehen der Tochter helene – sie hatte ein Spielpferdchen ihres Bruders

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zerstört – einer genauen Prüfung unterzieht und die Kleine schließlich, nach
einem freiwillig abgelegten Geständnis, aburteilt. Die anschließenden Aus-
führungen ihres Mannes zum Themenbereich „Schuld und Sühne“ wecken in
Irene für einen Moment den Wunsch, ihren Fehltritt einzugestehen, jedoch
schreckt sie im letzten Moment davor zurück.
nach einigen Tagen angespannter ruhe taucht die Unbekannte persönlich
bei den Wagners auf – sie fordert 400 Kronen. Da Irene das Geld nicht zur ver-
fügung hat, gibt sie ihr den wertvollen verlobungsring. Ihr Mann bemerkt das
Fehlen des ringes – sie weiß, dass sie vor der Wahrheit nicht mehr ausweichen
kann. nachdem auch ein letztes Gespräch mit ihrem ehemaligen Geliebten,
der ihre Bitte, bei der Erpresserin für sie zu intervenieren, überhaupt nicht
versteht, fehlgeschlagen ist, beschließt sie, ihrem Leben durch Gift, das sie in
einer Apotheke kauft, ein Ende zu setzen. Plötzlich steht ihr Mann neben ihr;
nach hause zurückgekehrt gesteht er, dass er sie mithilfe der Erpressungen
zwingen wollte, ihren Ehebruch zu gestehen. Irene erwacht wie aus einem
bösen Traum: „Innen tat noch leise etwas weh, aber es war ein verheißender
Schmerz, glühend und doch so wie Wunden brennen, ehe sie für immer ver-
narben wollen.“ (Z. 258 f.).

II . Aufbau
Die sich über einen Zeitraum von insgesamt sechzehn Tagen erstreckende
novelle besteht aus drei Teilen, von denen der erste langsam auf die unaus-
weichliche Katastrophe hinführt. Zu diesem Eindruck tragen vor allem Angst-
gefühle Irenes bei, wohingegen ihr flüchtiges Zusammentreffen mit der un-
bekannten Frau aus Sicht des Lesers reiner Zufall sein kann, ohne weitere
Bedeutung für den Fortgang der novelle. Als sich die Wege der beiden Frauen
drei Tage später wieder kreuzen, wird deutlich, dass hier jemand ganz gezielt
in erpresserischer Absicht vorgeht.
An diese beiden Episoden schließt sich hinsichtlich des reinen handlungsab-
laufs eine Phase relativer ruhe an – der Schwerpunkt der Erzählung verlagert
sich auf die Beschreibung von Irenes psychischer verfassung, in die wir ins-
besondere durch ihren den ersten Teil der novelle beschließenden Albtraum
einen tieferen Einblick erhalten.
Das Mittelstück beschreibt den seelischen niedergang Irenes. Ihre wachsende
Angst vor ihrem Mann, vor seinen sie verfolgenden zensierenden Blicken ist
das Ergebnis des ersten Erpresserbriefes – die Erpresserin ist unerreichbar, Ab-
wehrstrategien wie im Falle einer direkten Konfrontation sind nicht möglich.
Der Grund für Irenes abweisendes verhalten bei dem zufälligen Zusammen-
treffen mit ihrem Geliebten ist nur vordergründig durch ihren verdacht, er
mache mit der Erpresserin gemeinsame Sache, zu erklären. Eduard dient ihr
als ventil für ihr wachsendes Gefühl totaler ohnmacht angesichts der Bedro-
hung durch die Erpresserin, angesichts ihrer ständigen Angst vor physischer
Gewalt ihres Mannes (Z. 101 ff.). Der zweite Erpresserbrief verdeutlicht ihr

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die totale Ausweglosigkeit ihrer Situation; das an die „Gerichtsverhandlung“


anschließende Gespräch zwischen den Eheleuten erweckt den Eindruck, als
stünde die Lösung des Konflikts unmittelbar bevor. Aber mit dem Erscheinen
der Erpresserin in der Wohnung der Wagners schafft der Erzähler einen wei-
teren Spannungsbogen: Dem Leser ist klar, dass der Ehemann das Fehlen des
verlobungsringes entdecken wird und somit die Katastrophe unmittelbar be-
vorsteht. Das Gespräch mit dem Geliebten hat nicht nur retardierende Funk-
tion – es führt Irene überdeutlich ihre hoffnungslose Lage vor Augen: Das
Gefühl, sich erniedrigt zu haben, ist der letzte Auslöser für ihren Entschluss,
Selbstmord zu begehen.
Der dramatische höhepunkt im handlungsablauf und die Enthüllung aller in-
haltlichen Zusammenhänge fallen zusammen. Erst jetzt wird erkennbar, dass
der Ehemann von Beginn an von dem Ehebruch seiner Frau wusste, dass er die
gesamte Erpressergeschichte inszeniert hat. Einzelne, den Leser während der
Lektüre befremdende verhaltensweisen der Akteure finden nunmehr ihre
Erklärung, so z. B. das selbstsichere Auftreten der Erpresserin oder die von
ihrem Mann durchgeführte Gerichtsverhandlung.

III . Aussage
Der Titel der vorliegenden novelle gibt dem Leser den entscheidenden hin-
weis auf ihren Kerngehalt: Im Mittelpunkt steht die psychische Zerrüttung
einer jungen Frau, die durch ihre außereheliche Beziehung mit einem jungen
Pianisten dem für sie unbefriedigenden Alltag einer gutbürgerlichen Ehe zu
entfliehen sucht. Ihre permanente Angst vor einer Entdeckung dieses verhält-
nisses steigert sich nach dem ersten Zusammentreffen mit der unbekannten
Frau zu einem Gefühl permanenter Bedrohung.
Irene führt ein gesichertes Leben, ist Teil einer Welt, die keine Angst vor der
Zukunft kennt, lebt „träge und zufrieden gebettet in ihrer behaglichen,
breit-bürgerlichen, windstillen Existenz.“ (Z. 48 f.). Es ist „Schlaffheit der At-
mosphäre“ (Z. 49), nicht leidenschaftliches verlangen, die sie die nähe des
Pianisten suchen lässt. nach vielen Ehejahren fühlt sie sich in ihrer Eitelkeit
geschmeichelt, wieder umworben zu werden – dieses Gefühl erweist sich als
stärker als ihr Schuldbewusstsein.
Den Schlüssel zu ihrem Wesen gibt uns ihre Traumvision im Anschluss an
den sie förmlich berauschenden Gesellschaftsabend. Dieser Traum muss im
Zusammenhang gesehen werden mit dem vorangegangenen rauschhaften
Tanzerlebnis und mit dem Wunschtraum ihrer Mädchenjahre: Für ein Zusam-
mentreffen mit ihrem Geliebten wählt sie, rein zufällig, eine Konditorei, wo
sie in ihrer Mädchenzeit ein rendezvous mit einem Schauspieler gehabt hat-
te: „Seltsam, lächelte sie in sich hinein, dass die romantik in ihrem Leben
jetzt wieder aufzublühen begann, die in all den Jahren ihrer Ehe verkümmert
war.“ (Z. 63 ff.). Ihr Traum knüpft an diese vergessen geglaubte Episode an:
hingebungsvoll tanzt sie mit einem jungen Mann, in dem sie einen von ihr

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während ihrer Mädchenjahre verehrten Schauspieler zu erkennen glaubt. Als


sie im Traum seinen namen aussprechen will, verschließt er ihr den Mund
mit einem glühenden Kuss. „Als ein einziger ineinanderglühender Körper“
(Z. 111 f.) „entfliegen“ die beiden der sie umgebenden alltäglichen Welt. Die
mit dem Pianisten eingegangene verbindung ist Ausdruck ihrer verdrängten,
unbewussten Sehnsucht nach einem Ausleben ihrer wirklichen Gefühle. Die
Traumlogik lässt einen weiteren Schluss zu: Dass sie den namen des Schau-
spielers nicht nennen darf, deutet darauf hin, dass auch die verbindung mit
dem Schauspieler, mit dem sie sich damals in der Konditorei traf, von ihr als
etwas Unerlaubtes empfunden wurde. Auch jetzt, gegenüber ihrem Mann,
sieht sie sich innerlich außerstande, ein Geständnis abzulegen. Es sind nicht
nur Schamgefühle, die sie daran hindern – sie würde mit der nennung seines
namens ihr wahres Wesen enthüllen.
Der Traum wird zum Albtraum, der kurze Moment ihrer Erfüllung wird jäh
durch Bilder, die sich auf ihre gegenwärtige Situation beziehen, zerstört. Das
„grauenhafte Weib“ (Z. 115) bedroht sie, Ausfluss ihrer ständigen Angst vor
der Erpresserin. Irene flüchtet eine Treppe hinab: Unten lauert dieses Unge-
heuer von Frau, wie in der Wirklichkeit am Beginn der novelle – nirgends und
nie findet Irene ruhe vor dieser rivalin. von großer Aussagekraft ist Irenes
Traum in Bezug auf ihre wahren Gefühle für ihren Mann. von Beginn an, also
auch während der scheinbar glücklichen Jahre ihrer Ehe, hatte sie sich vor ihm
gefürchtet. Einmal hatte sie ihn vor Gericht während eines Plädoyers beob-
achtet: Seine Unnahbarkeit, Unnachgiebigkeit, Bösartigkeit hatten ihr einen
tiefen Schrecken eingeflößt. nach ihrem Ehebruch steigert sich diese latente
Furcht vor ihm zu einem Gefühl physischer Bedrohung (Z. 102 f.), kulminiert
dann in der Traumszene: Bei ihrer Flucht vor dem „gemeine[n] Weib“ sucht
sie Schutz in ihrem haus, wo sie ihr Mann bereits erwartet, „ein Messer in der
hand“ (Z. 123).
Der versöhnlich gestaltete Schluss wirkt nicht wirklich glaubhaft. Irene muss
erkennen, dass sie hilflos den seelischen Quälereien ihres Mannes ausgesetzt
war – eine echte versöhnung kann es zwischen den beiden nicht geben: „[...]
alle Maschen rollten sich auf, und sie sah das grauenvolle netz, in dem sie
verstrickt gewesen war. Erbitterung überfiel sie und Scham“ (Z. 253 f.).
Erst in der rückschau, nach Enthüllung der Wahrheit, ist es dem Leser mög-
lich, sich ein umfassendes Bild von Irenes Ehemann zu machen. Um seine ra-
chegefühle als betrogener Ehemann zu befriedigen, inszeniert er ein grau-
sames Spiel mit seiner Frau als hilflosem opfer, dessen Ziel es ist, sie zu einem
„freiwilligen“ Eingeständnis ihrer Schuld zu bringen. Er nimmt für sich eine
gottähnliche Position in Anspruch: Der hilflose Mensch soll über die Beichte
seiner vergebung teilhaftig werden.
In dem von ihm fein gesponnenen netz lässt er seine Frau hilflos zappeln.
Dadurch, dass er sich hinter der als rachegöttin auftretenden Schauspielerin
verbirgt, ihr geheime Anweisungen für ihre jeweiligen „Auftritte“ erteilt, ist

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es für Irene völlig unmöglich, den wahren Urheber all dessen, was ihr wider-
fährt, auch nur zu erahnen. Wie auch in seinem beruflichen Alltag delektiert
sich ihr Mann an seiner „psychologische[n] Spürjagd“ (Z. 146), wobei er ganz
bewusst darauf abzielt, Irenes Angst vor einer Enthüllung ihres Ehebruchs
mit jedem „Auftritt“ der Schauspielerin zu steigern. nach dem zweimaligen
von ihm in die Wege geleiteten Aufeinandertreffen der beiden Frauen und
den beiden Erpresserbriefen, die Irenes Ängste verstärken, aber nicht zu dem
von ihm ersehnten Geständnis führen, ändert er seine Strategie: Statt sie mit
„bohrenden, strengen, schmerzhaften“ (Z. 142) Blicken zu traktieren oder
seiner Stimme einen drohenden Unterton zu verleihen: „nun – schlaf gut.“
Kurz sagte er’s jetzt, ganz scharf. Mit einer ganz anderen Stimme, wie eine
Drohung oder wie einen bösen, gefährlichen Spott.“ (Z. 138 f.) versucht er
nunmehr, nach dem „Spiel im Spiel“, mit allgemein gehaltenen Belehrungen
zum Thema „Schuld und Sühne“ sein Ziel zu erreichen (Z. 186 ff.). Sein vä-
terlicher, verständnisvoller Ton soll Irene von seinen guten Absichten über-
zeugen – er gibt vor, ihr helfen, sie von ihren Ängsten befreien zu wollen.
In Wirklichkeit geht es ihm nur um ihre völlige Unterwerfung: „Da traf sie
sein Blick, in dem eine Gier war, nach dem Geständnis, nach irgendetwas von
ihrem Wesen“ (Z. 193 f.).
Seine ganze niedertracht zeigt sich, als er nach der Überbringung des ersten
Erpresserbriefes den Unwissenden spielt, vorgibt, die Intimsphäre seiner Frau
respektieren zu wollen (Z. 152 ff.). hier delektiert sich ein wahrer Sadist an
der erkennbaren verzweiflung seiner Frau: Er genießt seine Macht über sie,
lässt sie in den von ihm gestellten Fallen zappeln, übt rache für einen ihn in
seinem Selbstwertgefühl treffenden Ehebruch. Sein eigenes handeln stellt er
in dem Schlussgespräch mit seiner Frau als moralisch gerechtfertigt dar. Dass
er, wie er hervorhebt, „keine andere Wahl“ (Z. 242) hatte, als seine Frau zu
Tode zu ängstigen, um sie „zu [ihrer] Pflicht“ (Z. 241) zurückzurufen, vermag
nicht zu überzeugen – ein klärendes Gespräch mit Irene hätte ihm allerdings
nicht die Möglichkeit geboten, sich an ihrem völligen seelischen Zusammen-
bruch zu erfreuen. heuchlerisch ist sein einleitender Satz: „[...] ich habe es
ja nicht ahnen können, dass du so sehr erschrecken würdest“ (Z. 240) – ganz
bewusst hat er ihre Qualen gesteigert, hat sie immer mehr durch die von ihm
beauftragte Schauspielerin in die Enge getrieben.
Der Leser versteht Irenes verhalten: Das Zusammenleben mit diesem von
sich derartig überzeugten Mann, dem jedes Mittel recht ist, die Familie seine
Macht spüren zu lassen, muss für eine Frau unerträglich sein.

IV . Sprache und Form


Dass der Leser von dem an sich handlungsarmen Geschehen bis zum Schluss
gefesselt ist, liegt nicht nur daran, dass es Zweig gelingt, das Phänomen der
Angst in allen seinen Ausprägungen zu erfassen. Die von ihm gewählte Er-
zählperspektive, die uns die gesamte handlung aus der Sicht Irenes erleben

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lässt, bedeutet, dass wir aus ihrer begrenzten Perspektive die Ungewissheit
der Zukunft miterleben und erst am Schluss, von späterer Warte, die Ereig-
nisse übersehen und das verhalten der Personen beurteilen können. Ledig-
lich an einer Stelle greift der Erzähler ordnend und kommentierend in das
Geschehen ein, indem er auf den Beginn der Beziehung zwischen Irene und
dem Pianisten eingeht, Irenes Motive für die Anknüpfung dieser Beziehung
andeutet (Z. 49 f.). Ansonsten wird für den Leser die innere Anspannung und
die sich intensivierende Furcht vor der Zukunft greifbar.
Die Wortwahl der ersten Zeilen der novelle deuten an, was Irenes Zukunft
sein wird: Das Bild des „schwarze[n] Kreisel[s]“ (Z. 2) ist ein hinweis auf die
geistige Dunkelheit, die sie umfangen und es ihr unmöglich machen wird, zu
erkennen, was um sie herum geschieht: Sie wird wie von einem Strudel in ihr
verderben hinabgezogen werden, unfähig, sich durch eigenes handeln zu
befreien. Gleich ihr erstes Zusammentreffen mit der fremden Frau lässt sie
panisch reagieren: „Da ... da haben Sie ...“ (Z. 21 f.) – die Wiederholung des
Ausrufes und die Ellipse sind Zeichen ihres Erschreckens: Wir erkennen bereits
hier, dass diese Frau nicht in der Lage sein wird, ihrer Ängste herr zu wer-
den. In der ihrer rückkehr nach hause folgenden Unterhaltung zwischen den
Eheleuten wird auch sprachlich deutlich, wie souverän ihr Mann die Situati-
on beherrscht, wie verräterisch ihre hilflosigkeit ist: Sein einleitendes „Spät,
spät“ schafft eine bedrückende Atmosphäre, das folgende „liebe Irene“
(Z. 26) wirkt bedrohlich, nicht freundlich, ist unverkennbar ironisch gemeint.
Knapp, kein Ausweichen ermöglichend, kommt dann seine Frage „Wo warst
du so lange?“ (Z. 28 f.). hilflos stammelt Irene ihre Antwort: „Ich war ... bei ...
bei Amélie ... sie musste da noch etwas besorgen ...“ (Z. 30). Sie sucht nach
Worten „... bei ... bei ...“, das nachfolgende „da“ hat im Kontext des Satzes
keinerlei Funktion – sie ist unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Um Irenes Angstgefühle möglichst nuanciert zu beschreiben, greift Zweig
zu ausgefallenen, stellenweise gesucht wirkenden Bildern: „jetzt, da ihr tau-
melnder Blick nach rettung fortflüchtete“ (Z. 115 f.) – das geläufige „ihr
Blick suchte nach rettung“ wäre sehr viel nüchterner, würde jedoch nicht
den Eindruck des Gehetztseins, der hilflosigkeit und orientierungslosigkeit
vermitteln. Die „kralligen hände“ (Z. 120) der sie verfolgenden Unbekannten
evozieren das Bild eines raubvogels, der sie unerbittlich in seinen Fängen
hält, vor dem es kein Entkommen gibt.
Irene fürchtet die physische Gewalt ihres Mannes: Sein äußeres Erscheinungs-
bild lässt sie an einen Gewalttäter denken „wie bei einem Mörder“ (Z. 102 f.),
von seinen Blicken fühlt sie sich wie von einer Waffe durchbohrt: „er [gab] ihr
mit dem Blick diese plötzlichen Stöße des Misstrauens“ (Z. 143 f.).
Der Autor schreckt nicht vor melodramatischen, peinlich wirkenden Szenari-
en zurück: Irene erwacht aus ihrem Albtraum: „Unwillkürlich blickte sie nach
seiner hand: nein, es war kein Messer darin.“ (Z. 129 f.). Den wachsenden
hass zwischen Irene und ihrem Mann vermittelt uns Zweig in dem Bild von

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zwei einander belauernden raubtieren: „Sie umschlichen sich Tag und nacht,
gleichsam einander umkreisend“ (Z. 173).
Die in den angeführten Beispielen erkennbare Entfremdung zwischen den
Eheleuten bestätigt unsere obige Aussage, dass der versöhnliche Schluss dem
Tenor der novelle nicht entspricht.

C. Schluss
In seiner Autobiographie Die Welt von Gestern äußert sich Stefan Zweig auch
zu den Grundprinzipien seines literarischen Schaffens und zu seiner Leserer-
wartung bei der Lektüre eines Buches:
„Nur ein Buch, das ständig, Blatt für Blatt, die Höhe hält und bis zur
letzten Seite atemlos mitreißt, gibt mir einen vollkommenen Genuss .“
(In: Stefan Zweig: Die Welt von Gestern . Frankfurt a. M. 1981, S. 365).

Genau diesen Anforderungen des Autors genügt seine novelle Angst – sie
fesselt den Leser durch ihren Spannungsaufbau, aber ihr besonderes Interesse
liegt in der Person Irenes. obwohl im moralischen Sinne schuldig, gehört ihr
unser Mitleid, wohingegen wir für den gesellschaftlich arrivierten Ehemann
nur verachtung übrig haben – wir erschrecken über das, was er seiner Frau
antut.

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1.12 Zweig: Angst

1.12 Stefan Zweig (1881–1942)


Angst (1925) (Auszug)

Als Frau Irene die Treppe von der Wohnung ihres Geliebten hinabstieg, packte sie
mit einem Male wieder jene sinnlose Angst. Ein schwarzer Kreisel surrte plötzlich vor
ihren Augen, die Knie froren zu entsetzlicher Starre, und hastig musste sie sich am Ge-
länder festhalten, um nicht jählings nach vorne zu fallen. Es war nicht das erste Mal,
5 dass sie den gefahrvollen Besuch wagte, dieser jähe Schauer ihr keineswegs fremd,
immer unterlag sie trotz aller innerlichen Gegenwehr bei jeder Heimkehr solchen
grundlosen Anfällen unsinniger und lächerlicher Angst. [...] Dann, wenn sie heim
wollte, stieg es fröstelnd auf, dies andere geheimnisvolle Grauen, nun wirr gemengt
mit dem Schauer der Schuld und jenem törichten Wahn, jeder fremde Blick auf der
10 Straße vermöchte ihr abzulesen, woher sie käme, und mit fremdem Lächeln ihre
Verwirrung erwidern.
An der Haustür tritt ihr unvermutet eine Frau entgegen, bei der es sich um die ehemalige
Freundin Eduards, Irenes Geliebtem, handelt.
„Was ... was wollen Sie denn von mir? ... Ich kenne Sie ja gar nicht ... Ich muss
15 fort ...“
„Fort ... ja natürlich ... zum Herrn Gemahl ... in die warme Stube, die vornehme
Dame spielen und sich auskleiden lassen von den Dienstboten ... Aber was unsereiner
treibt, ob das krepiert vor Hunger, das schert ja so eine vornehme Dame nicht ... So
einer stehlen sie auch das letzte, diese anständigen Frauen ...“
20 Irene gab sich einen Ruck und griff, einer vagen Eingebung gehorchend, in ihr
Portemonnaie und fasste, was ihr gerade an Banknoten in die Hand kam. „Da ... da
haben Sie ... aber lassen Sie mich jetzt ... Ich komme nie mehr her ... ich schwöre es
Ihnen.“
Von Panik erfasst eilt sie nach Hause, begrüßt ihren Mann, einen berühmten Anwalt, mit
25 erzwungener Ruhe:
„Spät, spät, liebe Irene“, grüßte er mit sanftem Vorwurf, stand auf und küsste sie
auf die Wange, was ihr unwillkürlich ein peinliches Gefühl der Scham erweckte. Sie
setzten sich zu Tische, und gleichgültig, kaum von der Zeitung weg, fragte er: „Wo
warst du so lange?“
30 „Ich war ... bei ... bei Amélie ... sie musste da noch etwas besorgen ... und ich
ging mit“, ergänzte sie, schon zornig über die eigene Unbedachtsamkeit, so schlecht
gelogen zu haben. [...] Das Mädchen kam mit der Abendmahlzeit, und es wurde ein
Abend wie alle anderen, vielleicht etwas mehr wortkarg und weniger gesellig als sonst,
ein Abend mit einem armen, müden, oft hinstolpernden Gespräch.
35 Um eine nochmalige Begegnung mit der „Frauensperson“ zu vermeiden, teilt sie ihrem
Geliebten mit, dass ein Treffen in den nächsten Tagen nicht möglich sei. In Form eines
Rückgriffs macht uns der Erzähler mit der Entwicklung dieser Beziehung vertraut.

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1.12 Zweig: Angst

Sie hatte diesen jungen Menschen, einen Pianisten von Ruf, bei einer gelegent-
lichen Abendunterhaltung kennengelernt und war bald, ohne es recht zu wollen und
40 beinahe ohne es zu begreifen, seine Geliebte geworden. Nichts in ihrem Blute hatte
eigentlich nach dem seinen verlangt, nichts Sinnliches und kaum ein Geistiges sie sei-
nem Körper verbunden: Sie hatte sich ihm hingegeben, ohne seiner zu bedürfen oder
ihn nur stark zu begehren, aus einer gewissen Trägheit des Widerstandes gegen seinen
Willen und einer Art unruhigen Neugier. Nichts in ihr, weder ihr durch eheliches
45 Glück voll befriedigtes Blut noch das bei Frauen so häufige Gefühl, in ihren geistigen
Interessen zu verkümmern, hatte ihr einen Liebhaber zum Bedürfnis gemacht, sie war
vollkommen glücklich an der Seite eines begüterten, geistig ihr überlegenen Gatten,
zweier Kinder, träge und zufrieden gebettet in ihrer behaglichen, breit-bürgerlichen,
windstillen Existenz. Aber es gibt eine Schlaffheit der Atmosphäre, die ebenso sinn-
50 lich macht als Schwüle oder Sturm, eine Wohltemperiertheit des Glückes, die aufrei-
zender ist als Unglück. Sattheit reizt nicht minder wie Hunger, und das Gefahrlose,
Gesicherte ihres Lebens gab ihr Neugier nach dem Abenteuer. [...] Sie fühlte sich
zum ersten Mal seit ihren Mädchentagen wieder in ihrem Innersten gereizt. [...] Das
Schuldbewusstsein für diesen ungewollten Ehebruch wurde nur teilweise beruhigt
55 durch die prickelnde Eitelkeit, zum ersten Mal durch einen, wie sie glaubte, eigenen
Entschluss die bürgerliche Welt, in der sie lebte, verneint zu haben.
Die leidenschaftliche Antwort ihres Geliebten auf ihren Brief bewegt sie dazu, die Bezie-
hung mit ihm fortzusetzen.
Diese Gier [schmeichelte] ihrer Eitelkeit und [er entzückte] sie durch seine eksta-
60 tische Verzweiflung [...]. [Es] reizte sie das neue Spiel, weiter mit ihm zu schmollen
und durch unmotiviertes Verweigern sich ihm noch kostbarer zu machen. So bestellte
sie ihn in eine Konditorei, von der sie sich plötzlich wieder erinnerte, dort als junges
Mädchen ein Rendezvous mit einem Schauspieler gehabt zu haben [...]. Seltsam, lä-
chelte sie in sich hinein, dass die Romantik in ihrem Leben jetzt wieder aufzublühen
65 begann, die in all den Jahren ihrer Ehe verkümmert war.
Nach dem kurzen Treffen mit ihm fühlt sie sich leidenschaftlich erregt.
Seit ihren Mädchentagen hatte sie nie sich so leicht empfunden, nie so beseelt in
allen Sinnen, nicht die ersten Tage der Ehe und nicht die Umarmungen ihres Ge-
liebten hatten derart mit Funken ihren Leib gestachelt, und der Gedanke wurde ihr
70 unerträglich, jetzt schon all diese seltene Leichtigkeit, diese süße Besessenheit des
Blutes an geregelte Stunden zu verschwenden.
Vor ihrem Hause trifft Irene wiederum auf die unbekannte Frau, die von ihrem Treffen
mit dem Pianisten in der Konditorei weiß.
„Ich warte schon eine halbe Stunde hier auf Sie, Frau Wagner.“
75 Irene zuckte zusammen, als sie ihren Namen hörte. Die Person wusste ihren Na-
men, ihre Wohnung. Jetzt war alles verloren, sie ihr rettungslos ausgeliefert.

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1.12 Zweig: Angst

Keines klaren Gedankens mehr fähig, bietet sie der Erpresserin wiederum Geld an, die
jedoch zusätzlich ihre Silbertasche verlangt.
Abgewandt, mit rascher Bewegung streckte sie ihr die kostbare Tasche hin, dann
80 lief sie, von Grauen gejagt, die Treppe empor.
Irene wird deutlich, dass die ihr ganzes bisheriges gutbürgerliches Leben vernichtende
Katastrophe nicht aufzuhalten ist, dass ihr Mann durch die unbekannte Frau von ihrem
Verhältnis erfahren wird.
Eines wurde aber ihr in diesem brütenden Sinnen grauenhaft bewusst, wie unge-
85 nau sie eigentlich ihren Mann kannte, wie wenig sie seine Entschließungen im Voraus
zu berechnen vermochte. [...] So durchfragte sie, da das Wort ihn nicht verriet, sein
Gesicht [...]. Die Stirne war hell und edel, wie von einer inneren starken, geistigen
Anstrengung geformt, der Mund aber streng und ohne Nachgiebigkeit.
Es ist ihr innerlich unmöglich, das Haus allein zu verlassen – sie fühlt, dass ihre Angst
90 sie zugrunde richten wird. Die Einladung zu einem Gesellschaftsabend, zusammen mit
ihrem Mann, verspricht für einige Stunden Abwechslung.
Diese drei Tage im Kerker der Zimmer schienen ihr länger als die acht Jahre ihrer
Ehe. [...] Und überdies, diese unsichtbaren Gitterstäbe von Grauen, die jetzt um ihr
Leben gebaut waren, mussten doch einmal zerbrochen werden, sollte sie nicht zu-
95 grunde gehen.
In einem wahren Tanzrausch versucht sie, ihrer Verzweiflung Herr zu werden sich aus
der Umklammerung zu befreien, in der ihre ständige Angst sie gefangen hält. Plötzlich
hört sie die Stimme ihres Mannes:
„Irene, was hast du?“ [...] kalt und hart [stieß] der verwundert starre Blick ihres
100 Mannes in ihr Herz. [...] „Das ist doch seltsam“, murmelte er endlich. [...] ein Schauer
lief ihr durch die Glieder, als sie jetzt, da er sich wortlos wegwandte, seine Schultern
sah, breit, hart und groß, zu einem eisernen Nacken nervig getürmt. Wie bei einem
Mörder, flog es ihr durch das Hirn, irrsinnig und schon wieder verscheucht. Jetzt erst,
als ob sie ihn zum ersten Mal gesehen, ihren eigenen Mann, empfand sie voll Grauen,
105 dass er stark und gefährlich war.
In der folgenden Nacht sieht sie sich im Traum in einem Ballsaal, leidenschaftlich schmiegt
sie sich an ihrer Tanzpartner.
Ein Schauspieler dünkte er sie, den sie als kleines Mädchen von fern ekstatisch
geliebt hatte, schon wollte sie seinen Namen beseligt aussprechen, aber er verschloss
110 ihren leisen Schrei mit einem glühenden Kuss. Und so, mit verschmolzenen Lippen,
ein einziger ineinanderglühender Körper, flogen sie, wie von einem seligen Wind
getragen, durch die Räume.
Plötzlich verschwindet er – die Frau, die sie zum ersten Mal beim Verlassen ihres Gelieb-
ten gesehen hatte, erscheint ihr:

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1.12 Zweig: Angst

115 „Gib ihn mir her, du Diebin!“ schrie das grauenhafte Weib [...], und jetzt, da ihr
taumelnder Blick nach Rettung fortflüchtete, sah sie plötzlich im finsteren Rahmen
der Tür ihren Mann reglos stehen, die rechte Hand hinter dem Rücken verborgen. [...]
Da sprang eine Tür vor ihr auf, gierig stürzte sie die Treppe hinab, sich zu retten, aber
unten wartete schon wieder das gemeine Weib in seinem wollenen Rock und mit
120 seinen kralligen Händen.
Sie eilt nach Hause, ständig verfolgt von der Frau und einer Menge höhnischer Fratzen.
Doch endlich, da war ihr Haus, sie stürzte darauf zu, aber wie sie die Tür aufriss,
stand dort ihr Mann, ein Messer in der Hand, starrte sie an mit einem bohrenden
Blick. „Wo bist du gewesen?“, fragte er dumpf. „Nirgends“, hörte sie sich sagen und
125 schon ein grelles Gelächter an ihrer Seite. „Ich habe es gesehen! Ich habe es gesehen!“,
schrie grinsend das Weib, das plötzlich wieder neben ihr stand und irrsinnig lachte.
Da hob ihr Mann das Messer. „Hilfe!“, schrie sie auf. „Hilfe!“ ...
Als sie aus diesem Albtraum erwacht, sitzt ihr Mann an ihrem Bett:
Ein Schrecken zuckte ihr durch und durch. Unwillkürlich blickte sie nach seiner
130 Hand: nein, es war kein Messer darin. [...] Aber warum blickte er so ernst, so durch-
dringend, so unerbittlich ernst auf sie?
Väterlich redet er auf sie ein, beschwört sie, ihm den Grund ihrer unverkennbaren Ängste
zu enthüllen.
„Ein Verlangen überkam sie, jetzt sich an seinen festen Körper zu werfen, sich an-
135 zuklammern, alles zu gestehen und ihn nicht eher zu lassen, als bis er vergeben, jetzt
in diesem Augenblick, da er sie leiden gesehen.
Aber die Ampel brannte fahl, ihr Gesicht erhellend, und sie schämte sich. [...]
„Nun – schlaf gut.“ Kurz sagte er’s jetzt, ganz scharf. Mit einer ganz anderen Stimme,
wie eine Drohung oder wie einen bösen, gefährlichen Spott.
140 Am nächsten Tag erhält sie einen Erpresserbrief, gibt dem Überbringer des Schreibens,
wie verlangt, 100 Kronen. Prüfend schaut ihr Mann sie an,
[mit] einem bohrenden, strengen, schmerzhaften Blick, den sie früher nie an ihm
gekannt hatte. Jetzt erst, seit einigen Tagen, gab er ihr mit dem Blick diese plötzlichen
Stöße des Misstrauens, von denen sie ihr Innerstes erzittern fühlte [...]. Aufspüren,
145 Entfalten, Erpressen eines Verbrechens konnte ihn beschäftigen wie andere Hasard-
spiel oder Erotik, und in solchen Tagen psychologischer Spürjagd war sein Wesen
gleichsam innerlich durchglüht. [...] Einmal hatte sie ihn [vor Gericht] gesehen bei
einem Plädoyer und nicht ein zweites Mal mehr, so sehr war sie erschreckt gewesen
von der finsteren Leidenschaft, der fast bösen Glut seiner Rede und einem dumpfen
150 und herben Zug in seinem Gesicht, den sie nun mit einem Male in dem starren Blick
unter den drohend gefalteten Brauen wiederzufinden meinte. [...] Ruhig blickte er
jetzt herüber: „Ich will dich nur aufmerksam machen, dass du nicht verpflichtet bist,

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1.12 Zweig: Angst

mir deine Briefe zu zeigen. Wenn du es wünschst, Geheimnisse vor mir zu haben, so
steht dir das vollkommen frei.“
155 Irene gibt sich ahnungslos, versucht es zumindest. Spaziergänge in der Stadt werden ihr
helfen, so hofft sie, ihrer Angst Herr zu werden.
Ein Herr grüßte sie. Aufschauend, erkannte sie einen Jugendfreund ihrer Familie,
einen freundlichen, geschwätzigen Graubart, dem sie sonst gerne auswich. [...] Aber
jetzt war es ihr leid, den Gruß nur dankend erwidert und nicht seine Begleitung
160 gesucht zu haben, denn ein Bekannter wäre doch Abwehr gegen eine unvermutete
Ansprache jener Erpresserin gewesen.
Unvermutet trifft sie auf ihren Geliebten – sie weist ihn von sich, voller Wut – für sie ist
klar, dass er mit der Erpresserin gemeinsame Sache macht.
„Machen Sie kein Aufsehen da“, herrschte sie ihn barsch an. „Und spielen Sie mir
165 keine Komödien vor. Gewiss lauert sie wieder in der Nähe, Ihre saubere Freundin,
und dann fällt sie mich wieder an ...“
„Wer ... wer denn?“
Ein weiterer Erpresserbrief wird ihr überbracht – 200 Kronen hat sie zu zahlen. Physisch
und psychisch fühlt sie sich am Ende. Immer angespannter wird das Verhältnis zwischen
170 den Eheleuten.
Nur einer von allen Menschen rings um sie schien, so dünkte es ihr, etwas zu ahnen
von dem Furchtbaren, das in ihr vorging, und dieser nur, weil er sie belauerte. [...]
Sie umschlichen sich Tag und Nacht, gleichsam einander umkreisend, um einer des
andern Geheimnis aufzuspähen und das eigene hinter dem Rücken zu bergen.
175 Eines Tages geraten die Kinder wegen eines Spielzeugs in Streit – der Vater führt eine
„Gerichtsverhandlung“ durch, in deren Verlauf die Tochter Helene ihre Schuld eingesteht.
Zwischen Irene und ihrem Mann Fritz, dem Anwalt, entwickelt sich ein scheinbar all-
gemeines Gespräch über die Gefühle von Angeklagten während einer Gerichtsverhand-
lung – er zeigt sich erstaunt über deren Weigerung, ihre Schuld einzugestehen:
180 „Meinst du ... dass es immer ... immer nur Angst ist ... die die Menschen hindert?
Könnte es nicht ... könnte es nicht Scham sein ... die Scham, sich auszusprechen ...
sich auszukleiden vor all den Menschen?“ [...]
„Vielleicht“ – sie musste sich abwenden, weil er sie so ansah und sie ihre Stimme
zittern spürte – „vielleicht [...] ist die Scham am größten ... denen gegenüber, denen
185 man sich ... am nächsten fühlt.“ [...]
„Du meinst also ... du meinst ...“ – und mit einem Male wurde seine Stimme an-
ders, ganz weich und dunkel ... „du meinst ... dass Helene ... jemand anderem ihre
Schuld leichter gestanden hätte ... der Gouvernante vielleicht ... dass sie ...“
„Du ... du hast vielleicht recht ... ja sogar bestimmt ... das ist doch seltsam ... gera-
190 de daran habe ich nie gedacht.“ [...]

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1.12 Zweig: Angst

Unwillkürlich trat sie ihm näher, schon fühlte sie das Wort in sich aufquellen, und
auch er trat vor, als wollte er ihr eilig aus den Händen nehmen, was sie so sichtlich
bedrückte. Da traf sie sein Blick, in dem eine Gier war, nach dem Geständnis, nach
irgendetwas von ihrem Wesen, eine glühende Ungeduld, und plötzlich brach alles in
195 ihr zusammen. Müde fiel ihre Hand, und sie wandte sich ab.
Einige Tage später erscheint die Erpresserin in der Wohnung der Familie Wagner. Voller
Verzweiflung gibt Irene der Unbekannten ihren Verlobungsring – ihrem Mann erklärt sie,
sie habe den Ring zum Putzen gegeben, werde ihn „übermorgen“ abholen.
Übermorgen: nun wusste sie ihre Frist und fühlte aus dieser Gewissheit eine merk-
200 würdige Ruhe in ihre Angst überströmen. Innen wuchs etwas auf, eine neue Kraft,
Kraft zum Leben und die Kraft zu sterben. [...] Flucht war unmöglich vor einem
Gegner, der allgegenwärtig schien. Und das Bekenntnis, die sichere Hilfe, blieb ihr
verwehrt, das wusste sie nun. Ein einziger Weg war noch frei, aber von dem gab es
keine Wiederkehr.
205 Noch einmal macht sie einen Spaziergang, lässt sich im Strom der Menschenmasse dahin-
treiben. Sie glaubt, ihren Mann zu sehen, jedoch verschwindet die Gestalt in dem Gewühl.
Durch Zufall gelangt sie vor das Haus ihres Geliebten – noch einmal keimt Hoffnung in
ihr auf. Sie besucht ihn in seiner Wohnung, erklärt ihm erregt den Sachverhalt, bittet
ihn darum, auf seine ehemalige Geliebte einzuwirken, den Ring zurückzugeben – sein
210 totales Unverständnis, sein Versuch, ihr begreiflich zu machen, dass er die Erpresserin
überhaupt nicht kennt, überzeugt sie nicht: Sie stürmt ins Schlafzimmer, trifft dort auf
eine ihr völlig fremde Frau.
„Verzeihen Sie“, murmelte sie. Es war ihr ganz wirr. Sie verstand nichts mehr, nur
Ekel fühlte sie, unendlichen Ekel, und eine Müdigkeit.
215 „Verzeihen Sie“, sagte sie noch einmal, als sie ihn unruhig ihr nachschauen sah.
„Morgen ... morgen werden Sie alles begreifen ... das heißt, ich ... ich verstehe selbst
nichts mehr.“ Wie zu einem Fremden sprach sie zu ihm. Nichts erinnerte sie, dass
sie jemals diesem Menschen angehört hatte, und kaum spürte sie noch den eigenen
Körper. Es war alles jetzt noch viel wirrer als zuvor, sie wusste nur, dass irgendwo eine
220 Lüge sein müsste. Aber sie war zu müde, noch zu denken, zu müde zu schauen. Mit
geschlossenen Augen stieg sie die Treppe hinab wie ein Verurteilter zum Schafott.
Sie betritt eine Apotheke, erwirbt ein Medikament, um ihrem Leben ein Ende zu setzen.
In diesem Augenblick fühlte sie ihren Arm erregt beiseitegeschoben und hörte
Geld auf die gläserne Schüssel klingen. Eine Hand streckte sich neben ihr aus und
225 griff nach dem Fläschchen.
Unwillkürlich wandte sie sich herum. Und ihr Blick erstarrte. Es war ihr Mann,
der da stand mit hart zugepressten Lippen. Sein Gesicht war fahl, und auf der Stirn
funkelte ihm feuchter Schweiß.
Schweigend kehren sie nach Hause zurück.

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1.12 Zweig: Angst

230 „Irene“, sagte er, und seine Stimme klang merkwürdig weich. „Wie lange sollen
wir uns noch quälen?“
Da brach es aus ihr, plötzlich, konvulsivisch, mit einem übermächtigen Stoß,
wie ein einziger, sinnloser tierischer Schrei, endlich stürzte es vor, das aufgesparte,
niedergerungene Schluchzen all dieser Wochen. [...] Wie mit elektrischen Schlägen
235 schüttelte der Weinkrampf die Glieder, Wellen von Schauer und Kälte schienen den
gefolterten Leib zu überrinnen. Seit Wochen auf das Unerträglichste gespannt, waren
die Nerven nun zerrissen, und fessellos tobte die Qual durch den fühllosen Leib.
Er klärt sie über die Hintergründe all dessen auf, was ihr in den letzten Wochen wider-
fahren ist:
240 „[...] ich habe es ja nicht ahnen können, dass du so sehr erschrecken würdest ...
nur rufen wollte ich dich ... zurückrufen zu deiner Pflicht ... nur dass du von ihm
weggehst ... für immer ... und zurück zu uns ... ich hatte doch keine andere Wahl,
als ich es durch Zufall erfuhr ... ich konnte es dir selbst doch nicht sagen ... ich dach-
te ... dachte immer, du würdest kommen ... darum habe ich sie gesandt, diese arme
245 Person, dass sie dich treiben sollte ... ein armes Ding ist sie, eine Schauspielerin, eine
entlassene ... sie hat sich ja ungern hergegeben, aber ich wollte es ... ich sehe, es war
unrecht ... aber ich wollte dich doch zurück ... aber so ... so weit wollte ich dich nicht
treiben ... ich habe ja mehr gelitten, alles das zu sehen ... jeden Schritt habe ich dich
beobachtet ... nur wegen der Kinder, weißt du, wegen der Kinder musste ich dich
250 doch zwingen [...].“
Beim Erwachen am nächsten Morgen entdeckt sie den Verlobungsring an ihrem Finger.
Alles verstand sie mit einem Male, die Fragen ihres Mannes, das Erstaunen ihres
Liebhabers, alle Maschen rollten sich auf, und sie sah das grauenvolle Netz, in dem
sie verstrickt gewesen war. Erbitterung überfiel sie und Scham [...]. Da klang Lachen
255 von nebenan. Die Kinder waren aufgestanden und lärmten wie erwachende Vögel in
den jungen Tag. [...] Leise flog ein Lächeln auf ihre Lippen und rastete dort still. Mit
geschlossenen Augen lag sie, um all dies tiefer zu genießen, was ihr Leben war und
nun auch ihr Glück. Innen tat noch leise etwas weh, aber es war ein verheißender
Schmerz, glühend und doch so wie Wunden brennen, ehe sie für immer vernarben
260 wollen.

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