Sie sind auf Seite 1von 344

Vorwort

Notizen zur
Idealistischen Metaphy
Metaphysik

Band II

Die Akademiker und


Aristo
Aristoteles

Marco Bormann

1
Vorwort

Herstellung und Verlag:


Books on Demand GmbH, Norderstedt 2011

ISBN 978-3-8423-5881-2

2
Vorwort
Inhalt

VORWORT .................................................................................................... 6

EINLEITUNG ................................................................................................ 7

IDEEN............................................................................................................ 7
NATUR .......................................................................................................... 8
GEIST .......................................................................................................... 10

PHILIPPOS VON OPUS (420-345)............................................................ 12

IDEEN.......................................................................................................... 13
NATUR ........................................................................................................ 17
i. Die mathematische Harmonie............................................................ 17
ii. Die Ordnung der Natur und die Zwischenwesen.............................. 19
GEIST .......................................................................................................... 30

EKPHANTOS VON SYRAKUS (UM 375) ............................................... 33

NATUR ........................................................................................................ 33

SPEUSIPPOS VON ATHEN (408-339) ..................................................... 38

IDEEN.......................................................................................................... 38
NATUR ........................................................................................................ 44
i. Das Problem der Entstehung von Lebewesen.................................... 44
ii. Die ausgebildete Wahrnehmung ....................................................... 47
XENOKRATES VON CHALKEDON (396-314) ..................................... 50

IDEEN.......................................................................................................... 50
i. Die Identifikation von Ideen und Zahlen............................................ 50
ii. Die Form ist sich selbst ihre Form..................................................... 53
NATUR ........................................................................................................ 54
i. Zahlen als Formen der Dinge ............................................................ 54
ii. Der Bezug der Natur zum Ewigen .................................................... 57
GEIST .......................................................................................................... 58

3
Vorwort
ARISTOTELES VON STAGEIRA (384-322)........................................... 61

IDEEN.......................................................................................................... 61
i. Die Möglichkeit einer Ideenlehre bei Aristoteles ................................ 61
ii. Das Sein und seine kategorialen Hinsichten.............................................. 63
iii. Das Eine und die Formen der Übereinstimmung ............................ 78
iv. Die Vielheit und die Gegensätze ...................................................... 83
v. Ein formales Argument gegen die Ideenlehre ................................. 101
vi. Der Unterschied von Möglichkeit und Notwendigkeit ................... 102
vii. Das höchste Wesen........................................................................ 106
viii. De divisione naturae .................................................................... 114
NATUR ...................................................................................................... 115
i. Die erste Materie.............................................................................. 115
ii. Gibt es den Raum? .......................................................................... 121
iii. Die Zeitlichkeit............................................................................... 125
iv. Die Formen sind keine Ideen.......................................................... 127
v. Die Ursachenlehre........................................................................... 133
vi. Das Einzelding und seine Form ..................................................... 138
vii. Das Werden der Einzeldinge......................................................... 143
viii. Eine Theorie der Technik ............................................................. 148
ix. Die Teile des Einzeldings ............................................................... 151
x. Gibt es eine spezifische Materie? .................................................... 156
xi. Die Verbindung von Form und Materie......................................... 162
xii. Die Bestimmung des Wesens ......................................................... 167
xiii. Die Einteilung der Naturwesen.................................................... 172
xiv. Gibt es Teleologie in der Natur? .................................................. 180
xv. Die Grundkategorie der Natur ...................................................... 184
xvi. Die Ordnung der Elemente........................................................... 188
xvii. Die Elemente zwischen Materie und Organismen ...................... 203
xviii. Der Wasserkreislauf ................................................................... 214
xix. Argumente gegen die Harmonielehre........................................... 216
xx. Der Grundbegriff der Seele ........................................................... 220
xxi. Die Nährseele ............................................................................... 225
xxii. Die Pflanze im Unterschied zu Nährseele................................... 234
xxiii. Biologische Information ............................................................. 237
xxiv. Die Sinnesseele ........................................................................... 241

4
Vorwort
xxv. Der Gemeinsinn und die Seele des Tieres ................................... 248
xxvi. Das Strebevermögen ................................................................... 255
xxvii. Das Vorstellungsvermögen........................................................ 260
xxviii. Die soziale Welt der Tiere ........................................................ 262
xxix. Das Verhältnis der Seelenformen zueinander ............................ 264
GEIST ........................................................................................................ 272
i. Der Unterschied von Wahrnehmung und Geist ............................... 272
ii. Der Selbständigkeit des Geist ......................................................... 277
iii. Der abgetrennte Geist.................................................................... 282
iv. Die Sprache .................................................................................... 287
v. Der Zusammenhang des Geistigen .................................................... 292
vi. Die Erkennbarkeit der Einzelformen.............................................. 294

THEOPHRASTOS VON ERESOS (370-285)......................................... 298

IDEEN........................................................................................................ 298
NATUR ...................................................................................................... 301
i. Das Verhältnis von Prinzipien und Natur........................................ 301
ii. Der Unterschied von tšcnh und Natur ............................................ 308
iii. Die Verwandtschaft von Mensch und Tier..................................... 312

PYRRHON VON ELIS (360-270) ............................................................ 314

GEIST ........................................................................................................ 314


EPIKUROS VON SAMOS (342-271)....................................................... 319

IDEEN........................................................................................................ 319
NATUR ...................................................................................................... 322
GEIST ........................................................................................................ 325

INHALTSREGISTER ............................................................................... 330

LITERATUR .............................................................................................. 342

5
Vorwort
Vorwort
Der Chronologie der Philosophiegeschichte folgend beschäftigt sich
dieser zweite Band vor allem mit den Schülern Platons, die dessen
philosophische Schule, die Akademie weiter belebten. Aristoteles je-
doch, der herausragende Schüler Platons, verließ die Akademie und
entwickelte sich schnell zum scharfen Kritiker seines Lehrers und vor
allem auch seiner ehemaligen Mitschüler. Sein Denken beherrscht –
nicht zuletzt aufgrund des Umfangs der uns überlieferten Werke – die-
sen Band. Die spannende Frage ist dabei, welche Einsichten dieses Kri-
tikers des platonischen Idealismus man als konstruktive Beiträge zu ei-
ner idealistischen Metaphysik lesen kann. Vor allem im Bereich der
Naturphilosophie werden wir hier auf sehr viele fruchtbare Gedanken
stoßen. Diese Gedanken und die Möglichkeit, sie idealistisch zu deu-
ten, fußen nicht zuletzt auf dem Umstand, daß auch Aristoteles im
Grunde seines Herzens noch auf dem Boden einer idealistischen Me-
taphysik steht, was vor allem in seiner naturphilosophischen Formlehre
deutlich werden wird. Neben diesen beiden hier behandelten Strömun-
gen werden wir schließlich auch noch auf ein pythagoräischen, einen
skeptischen und einen epikureischen Ansatz stoßen. Während ersterer
offensichtlich idealistischer Natur ist, mag uns die Fruchtbarkeit der
Einsichten des zweiteren durchaus überraschen. Bei Epikuros hingegen
können wir vor allem das bisher angesammelte idealistische Arsenal zur
Kritik verwenden.

Metz im April 2011

6
Einleitung
Einleitung
Da dieser zweite Band einen ersten voraussetzt, soll diese Einleitung
dazu genutzt werden, die im ersten Band gewonnenen Einsichten grob
zusammenzufassen. Hier empfiehlt sich ein systematischer Blick auf die
idealistische Metaphysik. Dabei folgen wir der im ersten Band bereits
praktizierten und letztlich auf Hegel zurückgehenden Einteilung der
Metaphysik in einen Bereich, der sich mit den Ideen, einen Bereich
der sich mit der Natur und einen der sich mit dem menschlichen Geist
beschäftigt.

Ideen
Schon bei den Vorsokratikern fanden wir zarte Versuche einer Ideen-
lehre, die jedoch in sich wenig systematisiert war. So finden wir bei
Anaximandros den Versuch, alles aus den Begriff des Unendlichen
hervorgehen zu lassen. Pythagoras’ Auffassung setzt dort an. Er faßt das
Unendliche als Zahl und unterscheidet zwischen dem Einen als dem
Ausgangspunkt der bei ihm auch mit den Zahlen identifizierten Ideen
und einer unbestimmten Zweiheit, hinter der wir die übrigen Ideen
vermuten können. In seiner Schule entwickelt dann Alkmaion eine er-
ste, aber noch sehr an der Anschauung orientierte Liste von Ideen.
Haben diese Denker – und unter ihnen vor allem Pythagoras – ei-
ner Ideenlehre einen konkreten Boden bereitet, so gibt es auch solche,
die das Einzugsgebiet der Ideenlehre metaphorisch erweitern. Xeno-
phanes liefert uns die Möglichkeit, das Ideenreich als einen Gott aufzu-
fassen und so – auch wenn von ihm nicht so gedacht – den Gottesbe-
griff als eine metaphysische Metapher zu verstehen und für die Meta-
physik fruchtbar zu machen. Das Nämliche tut Anaxagoras mit dem
Begriff des Geistes. Eukleides von Megara fügt dem schließlich noch
den Begriff des Guten als eines Ideals hinzu, welches er mit dem Einen
gleichsetzt.
Methodisch bringt uns allein Herakleitos weiter, bei dem wir das
Prinzip der Dialektik entdecken können. Während Sokrates eine prak-
tische Anwendung für dieses Prinzip im konkreten Diskurs findet, weiß

7
Einleitung
es sein Schüler Platon auch theoretisch zu verwenden. Im Sophistes
stellt er uns den ersten Entwurf einer systematisch von Begriff zu Begriff
vorgehenden Ideenableitung vor. Dies ist gleichwohl nur ein erster An-
satz, der versucht, das dialektische Potential des Begriffes »Nichtsein«
auszuschöpfen. Dabei erweitert er das methodische Instrumentarium
der Ideenanalyse um die sehr bedeutsame Unterscheidung von Bedeu-
tungsgehalt und Teilhabe an einem solchen Bedeutungsgehalt.
Platons Beitrag zu Ideenlehre geht jedoch weit darüber hinaus. Er
schafft es, die erwähnten Ansätze seiner Vordenker produktiv zu verar-
beiten. Dabei gelangt er zu einer sehr konkreten Vorstellung des Ver-
hältnisses von Ideen und Natur. Dies erlaubt es ihm im ersten Teil des
Parmenides, diese eigene Vorstellung einer umfassenden Kritik zu un-
terziehen, die wir als einen Härtetest auffassen können. Schließlich fin-
den wir im zweiten Teil des Parmenides, der im ersten Band ausführ-
lich kommentiert worden ist, einen zweiten Versuch einer Art von Ge-
samtdarstellung des Reiches der Ideen, welcher die pythagoräische
Trennung von Ideen und dem über diesen stehenden Einen beibehält.
Insgesamt haben wir so zwar eine erste umfassende Ideenlehre vor-
liegen, aber diese ist noch mit Problemen durchsetzt. Bei vielen Begrif-
fen, die uns Platon vorstellt, schwanken wir sehr in deren Interpretation
als reine logische Ideen, die sich nur auf andere Ideen beziehen sollen.
Dieser zweite Band und vor allem das analytische Genie des Aristoteles
mag uns dabei helfen, hier den Blick zu schärfen.

Natur
In der Naturphilosophie gibt es zwei wesentliche Fragen, die zu klären
sind. Zum einen stellt sich die Frage nach dem Ursprung der Natur und
zum anderen die nach deren Struktur. Die Forderung nach einem ein-
heitlichen Ursprung der Natur findet sich bei Diogenes von Apollonia.
Hätten die vielen Naturwesen nicht eine gemeinsame Grundlage, so
wäre keine Veränderung möglich. Zugleich muß aber in dieser Grund-
lage auch schon bereits das Kommende angelegt sein, die zugrundelie-
gende Materie muß die Naturwesen erahnen.

8
Einleitung
Gerade dieser Punkt verleitet zum Reduktionismus, den wir dann
auch bei Anaxagoras finden und kritisieren können. Ein weiterer Den-
ker, der es nicht schafft, den Boden des Reduktionismus zu verlassen
ist Empedokles. Er präsentiert uns eine Formenlehre, welche die Na-
turwesen auf eine einzige Form reduziert und dabei wesentliche Teile
die Evolutionslehre Darwins vorwegnimmt. Seinen Höhepunkt erreicht
der Reduktionismus im Atomismus des Leukippos und des Demokri-
tos, wo sogleich auch dessen Schwächen am deutlichsten werden.
Die erste idealistische Antwort auf die Ursprungsfrage der Natur gibt
uns Anaximandros. Setzen wir die Ideen als das Perfekte an, dann ist
damit der Gedanke des Unperfekten mit gedacht. So lassen sich die
Ideen gar nicht ohne die Existenz ihres Gegensatzes denken. Noch wei-
ter geht Pythagoras, der die Materie selbst letztlich aus dem Ideellen
bestehen läßt. Indem er die Ideen als Zahlen denkt, versucht er die
Körper und den Raum aus diesen als mathematische Entitäten herzulei-
ten.
In Pythagoras’ Harmonielehre finden wir den ersten Ansatz zu einer
Verbindung von Form und Materie. Die Form wird als die Harmonie,
als das Gleichgewicht gegensätzlicher Bestandteile gedacht. Daraus ent-
steht dann bei Herakleitos die Idee des Fließgleichgewichts, wonach die
Materie in und aus dem Körper fließen kann, die Form aber erhalten
bleibt. Beide Ansätze finden Hippokrates’ Theorie der Autonomie der
Organismen ihre Anwendung.
Eine Lehre der Naturstufen finden wir schließlich beim Pythagoräer
Philolaos. Zur Frage der Integrität dieser Naturstufen leistet Demokri-
tos einen Beitrag. Derselbe liefert uns zusammen mit dem Sophisten
Protagoras auf der Basis einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie,
die in der Naturphilosophie durchaus Sinn macht, eine wertvolle Ein-
sicht in die Selbständigkeit der Naturstufen.
Erneut ist es aber Platon, der auch zur Naturphilosophie den bedeu-
tendsten Beitrag leistet, selbst wenn er explizit die Naturphilosophie für
eine ungenaue Wissenschaft hält. In seinem Timaios finden wir eine
Theorie der Weltentstehung, welche durchweg idealistische Züge trägt.
Lediglich die These der Selbständigkeit der Materie stört hier die Ko-
härenz. Platons Vorgehen folgt einer Theorie der Emanation, wonach

9
Einleitung
die höherstufige Wesen die jeweils nächsten in der Formenstufung her-
vorbringen. Die Schwierigkeit einer solchen Emanationstheorie, bei der
sich die Formkonzepte hervorragend aus dem Zusammenhang der
Ideen gewinnen ließen, liegt jedoch in deren konkreter Anwendung auf
die Natur.
Platon kritisiert die pythagoräische Harmonielehre, greift jedoch
selbst an vielen Stellen auf eine sehr ähnliche Konzeption zurück. Das
grundlegende Problem dabei ist erneut das Emanationskonzept, das
davon ausgeht, daß die Formen auch ohne Materie existieren können
und so mehr sein müssen, als eine bloße Struktur; eine Auffassung, die
eng mit Platons Glaube an die Unsterblichkeit der Seele verbunden ist
und der wir zumindest metaphysisch nicht folgen können.
Vor allem die Naturphilosophie, die bis hierhin nur in ihrem groben
Rahmen gefaßt worden ist, wird in der Auseinandersetzung mit Aristo-
teles eine ganz neue Dimension erreichen können. Die Systematik sei-
ner Naturphilosophie ist bestechend und trotz ihres alles umfassend,
allgemeinen Ansatzes erreicht sie doch eine beeindruckende Detail-
schärfe. Diese mußten wir bislang vermissen, konnten aber dafür sehr
viele für die idealistische Metaphysik entscheidende Fragen des theore-
tischen Ansatzes diskutieren.

Geist
In der idealistischen Philosophie des Geistes geht es vor allem darum,
die Selbständigkeit des Geistes als eines Naturwesens und dessen Ver-
bindung zu den Ideen herauszustellen. Nur wenige Vorsokratiker ha-
ben einen echten Beitrag dazu geleistet. Die meisten sind selbst mit ih-
ren Beiträgen zu Geistigem in der Natur verbleiben. Den Unterschied
zwischen einem Geistwesen und Naturwesen stellt allein Pythagoras
deutlich heraus.
Die Trennung von Geist und Natur ist dann vor allem das große
Thema Platons. Der Körper gilt ihm als minderwertig und der Geist
solle sich aus dem Körper befreien. Diese Hintergrundthese ermöglicht
es ihm, den Geist als eine Wesenheit aufzufassen, die sich aufgrund ih-
rer Verfaßtheit im Reich der reinen Ideen befinden könnte. Für uns

10
Einleitung
verständlich können die daraus resultierende Auffassung einer unsterb-
lichen Seele dadurch werden, daß wir sie als eine Metapher für den ei-
gentlichen Geist auffassen, der eben nach unserer Auffassung nicht der
individuelle menschliche Geist ist, sondern eine umfassende soziale
Wesenheit, die am ehesten mit der Sprache identifiziert werden kann.
Solch eine Auffassung paßt jedoch ganz und gar nicht in Platons
Sprachtheorie, welche die Sprache nur als ein minderwertiges Werk-
zeug zur Repräsentation von Gedanken auffaßt und den Gedanken so
den Primat vor der Sprache zuweist.

11
Philippos von Opus (420-345)
Philippos von Opus (420-345)
Philippos ist einer derjenigen Autoren, von denen im Grunde nichts
überliefert ist. Er wird jedoch bei Diogenes Laertios als Autor eines
derjenigen platonischen Dialoge erwähnt, die – eben aufgrund seiner
Aussage – als unecht gelten, nämlich der Epinomis:
œnio… te fasˆn Óti F…lippoj Ð »Einige sagen, daß Philippos von
'OpoÚntioj toÝj NÒmouj aÙtoà met- Opus seine Nomoi abschrieb, die
šgrayen Ôntaj ™n khrù. toÚtou d nur als Wachstafeln vorlagen. Sie
kaˆ 'Epinom…da fasˆn e nai. sagen, daß die Epinomis vom
ihm sei.«
1

Hinsichtlich einer Schätzung seiner Lebensdaten können wir auf das


Suda zurückgreifen, ein byzantinisches Lexikon aus dem 10. Jahrhun-
dert, welches etwas ausführlicher über ihn berichtet:
FilÒsofoj, Öj toÝj Pl£twnoj »Der Philosoph, der die Nomoi
NÒmouj die‹len e„j bibl…a ib, tÕ Platons zusammenstellte, tat dies
g¦r ig aÙtÕj prosqe‹nai lšgetai. bis zum 12. Buch, denn es wird
kaˆ Ãn Swkr£touj kaˆ aÙtoà gesagt, daß das 13. sein eigenes
Pl£twnoj ¢koust»j, scol£saj sei. Er hörte sowohl Sokrates wie
to‹j meteèroij. ín d kat¦ auch eben diesen Platon und be-
F…lippon tÕn MakedÒna su- schäftigte sich mit den Himmels-
negr£yato t£de· Perˆ tÁj ¢po- körpern. Während er aber bei
st£sewj ¹l…ou kaˆ sel»nhj, Perˆ Philippos von Makedonien war
qeîn b, Perˆ crÒnou ›n, Perˆ schrieb er folgendes: Über die
mÚqwn a, Perˆ ™leuqer…aj a, Perˆ Entfernung von Sonne und
ÑrgÁj a, Perˆ ¢ntapodÒsewj a, Mond, Zwei Bücher über die
Perˆ Lokrîn tîn 'Opount…wn, Götter, Über die Zeit, Über die
Perˆ ¹donÁj a, Perˆ œrwtoj a, Mythen, Über die Freiheit, Über
Perˆ f…lwn kaˆ fil…aj a, Perˆ toà die Affekte, Über die Vergeltung,
gr£fein, Perˆ Pl£twnoj, Perˆ Über Lokris am Euripos, Über
™kle…yewj sel»nhj, Perˆ megšqouj die Lust, Über die Liebe, Über
¹l…ou kaˆ sel»nhj kaˆ gÁj a, Perˆ Freunde und Freundschaft, Über
¢strapîn, Perˆ planhtîn, 'Ariq- das Schreiben, Über Platon,
mhtik£, Perˆ polugÒnwn ¢riqmîn, Über die Mondfinsternis, Über
'Optikîn b, 'Enoptikîn b, Ku- die Größe von Sonne, Mond und
kliak£, MesÒthtaj· kaˆ ¥lla. Erde, Über die Blitze, Über die

1
Vitae philosophorum III, 37, Z. 7-9

12
Philippos von Opus (420-345)
Planeten, Arithmetik, Über poly-
gonale Zahlen [eine Anzahl von
Objekten, die sich zu einem
Vieleck anordnen lassen], Zwei
Bücher zur Optik, Zwei Bücher
zu Enoptik [kontemplatives Ler-
nen], Kreise, Über die Mitte.
Und andere.« 2

Als Hörer des Sokrates können wir davon ausgehen, daß Philippos bei
dessen Tod bereits erwachsen war, jedoch jünger als Platon, dessen
Schüler er alsdann wurde. Zugleich muß er nach Platons Tod als Her-
ausgeber der Nomoi noch gelebt haben. Die Liste seiner Werke be-
zeugt zudem, daß er vor allem mathematische und naturwissenschaftli-
che Interessen hatte, was sich an der Ausrichtung der Epinomis, die wir
nunmehr als sein Werk behandeln werden, sehr deutlich zeigt.

Ideen
§ 1 In der Epinomis geht es zunächst um die Frage nach der grundle-
genden Wissenschaft. Von einem Platonschüler würden wir erwarten,
hier die Dialektik zu finden. Philippos enttäuscht jedoch diese Erwar-
tung und sieht in der Mathematik die höchste Wissenschaft:
kat…dwmen d¾ taÚthn prèthn, t…j »Laßt uns denn also zuvörderst in
pot' ™k tÁj ¢nqrwp…nhj fÚsewj Betracht ziehen welche von allen
™pist»mh m…a diexelqoàsa À m¾ Wissenschaften wohl allein so
paragenomšnh tîn nàn parousîn geartet ist daß, wenn man sie dem
¢nohtÒtaton ¨n kaˆ ¢fronšstaton Menschengeschlecht entzöge
par£scoito zùon tÕ tîn ¢nqrè- oder wenn sie nie demselben zu
pwn. oÙ d¾ toàtÒ ge p£nu calepÕn Teil geworden wäre, dasselbe
tÕ katide‹n. m…a g¦r æj e„pe‹n prÕj ganz unvernünftig und unver-
m…an ¹ tÕn ¢riqmÕn doàsa pantˆ tù ständig sein würde. Diese zu fin-
qnhtù gšnei toàt' ¨n dr£seien· qeÕn den wird nun nicht gar so schwie-
d' aÙtÕn m©llon ½ tina tÚchn rig sein. Denn wenn man die eine
¹goàmai dÒnta ¹m‹n sózein ¹m©j. Wissenschaft gegen die andere
Ön d qeÕn ¹goàmai, fr£zein cr», hält, so wird diejenige welche

2
Suda Lexicon, phi, Eintrag 418

13
Philippos von Opus (420-345)
ka…per ¥topon Ônta, ka… pwj oÙk dem ganzen Menschengeschlecht
¥topon aâ· pîj g¦r tÕ ¢gaqîn den Begriff der Zahl verliehen
a‡tion ¹m‹n sump£ntwn oÙ kaˆ toà hat es sein welche so Großes lei-
polÝ meg…stou, tÁj fron»sewj, stet, und ich glaube daß uns eher
a‡tion ¹ge‹sqai de‹ gegonšnai; t…na ein Gott selber als irgend ein Zu-
d¾ kaˆ semnÚnwn pot lšgw qeÒn, fall diese Wissenschaft zu unse-
ð Mšgillš te kaˆ Klein…a; scedÕn rer Erhaltung verliehen hat, und
OÙranÒn, Ön kaˆ dikaiÒtaton, æj auch darüber welchen Gott ich
sÚmpantej ¥lloi da…monej ¤ma kaˆ meine muß ich mich erklären;
qeo…, tim©n te kaˆ eÜcesqai dia- vielleicht freilich werdet ihr die-
ferÒntwj aÙtù. sen meinen Gedanken seltsam
finden, vielleicht aber auch nicht.
Wie sollte man nämlich demje-
nigen Gott, welcher der Urheber
alles Guten für uns ist nicht auch
für den des bei Weitem größten
Gutes, der Weisheit, halten, und
welchen Gott habe ich nun dabei
wohl in aller Ehrfurcht im Sinne,
Megillos und Kleinias? Doch
wohl eben das Weltall selbst,
welches wir, wie es auch alle an-
deren Götter und Dämonen tun,
mit allem Rechte vorzüglich zu
verehren und anzubeten haben.« 3

Wir erfahren hier bereits eine ganze Menge über das Denken des
Philippos. Offenbar steht für ihn die Mathematik höher als alles ande-
re, denn sie ist die einzige Wissenschaft, die der Mensch nicht entbeh-
ren kann. Diese zunächst rein erkenntnistheoretische Feststellung hat
aber auch ontologische Konsequenzen, denn die höchste Erkenntnis
muß mit dem höchsten Sein zusammenfallen; zumindest spricht
Philippos nirgendwo von einer Beschränkung der menschlichen Ver-
nunft, was die Gegenannahme rechtfertigen könnte. Die höchste onto-
logische Instanz ist also nicht wie bei Platon begrifflicher Natur, son-
dern arithmetisch.

3
Epinomis 976d 5 – 977a 6, Übers. F. Susemihl.

14
Philippos von Opus (420-345)
§ 2 Über dieser Instanz steht nur noch derjenige Gott, welcher uns
die mathematische Weisheit beschert hat. Diesen Gott setzt Philippos
mit dem Weltall oder Himmel (oÙranÒj) gleich. Folgen wir ihm noch
einen Schritt weiter, bevor wir uns ausführlicher mit diesem panthei-
stisch anmutenden Gedanken beschäftigen, so werden wir deutlicher
sehen, was er meint:
™¦n g¦r ‡V tij ™pˆ qewr…an Ñrq¾n »Gehe man nämlich nur an eine
t¾n toàde, e‡te kÒsmon e‡te Ôlum- richtige Betrachtung dieses unse-
pon e‡te oÙranÕn ™n ¹donÍ tJ lš- res Alls, oder nenne man es lie-
gein, legštw mšn, ¢kolouqe…tw d ber Himmel oder Weltgebäude,
ÓpV poik…llwn aØtÕn kaˆ t¦ ™n und man wird es verfolgen kön-
aØtù stršfwn ¥stra p£saj di- nen wie dasselbe sich selbst und
exÒdouj éraj te kaˆ trof¾n p©sin jedes Gestirn das es in sich trägt
paršcetai. auf ihren mannigfaltig verschlun-
genen Märschen herumführt und
allen ihre Nahrung und den
Wechsel der Jahreszeiten ge-
währt.«4

Zunächst einmal erhält sein Gott hier noch eine weitere Bezeichnung,
neben oÙranÒH wird er auch noch als kÒsmoj bezeichnet. Gott wird also
nicht mit dem Himmel etwa im Sinne der planetarischen Sphären,
sondern wirklich mit dem All gleichgesetzt. Dieses All sorgt für sich
selbst und die Gestirne. Mit der Nahrung (trof¾) der Gestirne, von der
hier die Rede ist, kann nur die Kraft gemeint sein, die sie brauchen, um
sich weiter zu bewegen; eine Überlegung die nach heutigen physikali-
schen Erkenntnissen ganz und gar überflüssig wäre. Ich denke jedoch,
daß Philippos’ Anspruch hier etwas über den der heutigen Physik hin-
ausgeht. Seine Feststellung des Getragenseins der Gestirne vom All ist
nicht nur so etwas wie ein Postulat der Energieerhaltung, sondern damit
zugleich das Postulat eines Ausbleibens von Enthropie. Die heutige
Physik geht nämlich davon aus, daß zwar die Energie erhalten bleibt,
daß das Universum jedoch insgesamt an Komplexität verliert, daß das
Universum letztendlich zu einem Zustand der Gleichverteilung der
Energie strebt, in dem so etwas wie Planetensysteme nicht mehr mög-

4
Epinomis 977b 1-5, Übers. F. Susemihl.

15
Philippos von Opus (420-345)
lich sind. Hier muß Philippos anders denken, denn die Planeten sind
für ihn – wie wir noch sehen werden – äußert wichtig, so daß es auch
eine Aufgabe und Leistung des Alls ist, diese zu erhalten.
§ 3 Dies beantwortet uns dann auch die Frage, ob denn dieser Gott,
der mit dem kÒsmoj gleichgesetzt wird, überhaupt ein ideelles Wesen
sei, oder ob er nicht letztlich doch bloß mit der materiellen Gesamtheit
des Alls identisch und damit eben bloß materiell sei. Es sieht in der Tat
zunächst so aus, als sei jenes göttliche Wesen hier in einer pantheisti-
schen Systemstruktur einfach herauszukürzen. Gott besteht eben ein-
fach in den Planetenbewegungen und mehr ist da nicht. Unsere Über-
legungen geben uns jedoch ein Argument dafür an die Hand, daß dem
nicht so ist. Philippos bezeichnet das All hier als etwas, das sich selbst
und außerdem die Gestirne umfaßt. Dem All kommt somit die Struktur
einer Ganzheit zu, die mehr ist, als die Summe seiner Teile. Als dieses
Ganze trägt das All Sorge für seine Teile und deren Ordnung. Wir
können in Philippos’ Gott also durchaus ein ideelles Wesen erkennen,
welches die Struktur der Welt garantiert.
Auch die unmittelbar folgende Textstelle weist auf diesen Umstand
hin, verknüpft mit ihm jedoch die zentrale Rolle der Mathematik:
kaˆ t¾n ¥llhn d oân frÒnhsin, æj »Und so würden wir behaupten
fa‹men ¥n, sÝn ¢riqmù pant…, kaˆ dürfen daß es uns alle anderen
t«ll' ¢gaq£· toàto d mšgiston, Güter und alle andere (sogenann-
™£n tij t¾n ¢riqmîn aÙtoà dÒsin te) Weisheit zugleich mit der
dex£menoj ™pexšlqV p©san t¾n Kunst der Zahlen geschenkt hat.
per…odon. Diese letztere aber ist das wich-
tigste Geschenk für Jeden der es
annimmt und nach Anleitung der
Zahl alle Bewegungen der Him-
melskörper verfolgt.«
5

Die mathematische Kenntnis hilft uns dabei, das Gute zu erkennen, das
selbst wiederum in jenem Umstand liegt, daß der kÒsmoj sich selbst er-
hält. Die Mathematik erscheint hier gleichsam als ein Mittel zum
Zweck. Das Höhere und die aus ihr resultierende Einsicht in das Gute
läßt sich offenbar nicht mehr in Worten ausdrücken. Die Mathematik

5
Epinomis 977b 5-8, Übers. F. Susemihl.

16
Philippos von Opus (420-345)
erscheint somit als das Pendant zu Platons Ideen, welche, wie die Ideen
bei Platon, dem Menschen noch einsichtig ist und zugleich die letzte
Stufe vor der unerkennbaren göttlichen Einheit des kÒsmoj bildet. Die
einzige noch höhere Idee wäre die Einheit selbst, die sich zwar in den
Himmelsbewegungen und der Mathematik ausdrückt, die aber begriff-
lich nicht erfaßt werden kann.
Zur Kritik dieses Punktes müssen wir hier nicht viel sagen. Philippos
tritt hier in die Fußstapfen des Pythagoras und setzt die Ideen mit den
Zahlen gleich. Das dies nicht zur Erfassung des Ideellen beitragen kann,
ist im unserem Kapitel zu Pythagoras im ersten Band bereits ausgeführt
worden.

Natur
i. Die mathematische Harmonie
§ 4 Hinsichtlich der Frage nach den Naturformen erfahren wir zunächst
von Philippos nichts genaues über deren Beschaffenheit. Wir erfahren
jedoch, daß die Zahlen, ebenso wie sie die kosmische Harmonie garan-
tieren, auch harmonische Verhältnisse in der Natur entstehen lassen:
kaˆ tÕ mšgiston, ¢gaqîn æj p£n- »Und, was das wichtigste ist, aus
twn a‡tion, Óti d kakîn oÙdenÒj, ihr entspringt alles Gute. Denn
eâ toàto gnwstšon, Ö kaˆ t£ca daß nicht Schlechtes aus ihr her-
gšnoit' ¥n. ¢ll' ¹ scedÕn ¢lÒgis- vorgehe ist leicht einzusehen und
tÒj te kaˆ ¥taktoj ¢sc»mwn te wird hoffentlich aus folgender
kaˆ ¥rruqmoj ¢n£rmostÒj te for£, Erwägung auch wirklich erhellen.
kaˆ p£nq' ÐpÒsa kakoà kekoinènh- Ermangelt doch die regellose und
kšn tinoj, ™pilšleiptai pantÕj ungeordnete, die unschöne, un-
¢riqmoà, kaˆ de‹ toàq' oÛtw dia- rhythmische und unharmonische
noe‹sqai tÕn mšllonta eÙda…mona Bewegung, und so Alles was ir-
teleut»sein· kaˆ tÒ ge d¾ d…kaiÒn gend vom Übel ist, eben schlech-
te kaˆ ¢gaqÕn kaˆ kalÕn kaˆ p£nta terdings des Zahlenmaßes. Da-
t¦ toiaàta oÙde…j pote m¾ gignès- von muß ein Jeder überzeugt sein
kwn, ¢lhqoàj dÒxhj ™pilabÒmenoj, welcher ein seliges Ende finden
diariqm»setai prÕj tÕ ˜autÒn te will, das Gerechte, das Gute, das
kaˆ ›teron pe‹sai tÕ par£pan. Schöne und Alles was dahin ge-
hört, wird also Keiner ohne
Kenntnis der Zahl sich richtig

17
Philippos von Opus (420-345)
vorstellen und zergliedern und so
bestimmen können, daß er sich
selbst und Andere überzeugt.«6

Alles harmonische in der Welt ist also direkt auf eine mathematische
Ordnung zurückzuführen. In dem Maße, in dem die Natur mathemati-
schen Gesetzen gehorcht, in dem Maße ist sie nach Philippos auch vom
Ideellen durchdrungen. Je mathematischer sich ein Naturding verhält,
um so höher steht es folglich in der Stufenordnung der Natur.
§ 5 Im Hintergrund steht hier natürlich vor allem die Regelmäßig-
keit der Planetenbewegungen und damit auch die von diesen herbeige-
führten natürlichen Rhythmen wie der von Tag und Nacht oder auch
der Wechsel der Jahreszeiten. Daher ist es nicht verwunderlich, daß
Philippos die Zahlen auch als verantwortlich für natürliche Kreisläufe
ansieht:
di¦ d taàq' ¹m‹n karpo… te kaˆ »Dieser Einrichtung aber haben
™gkÚmwn ¹ gÁ gšgonen, ést' e nai wir auch die Früchte zu danken
trof¾n p©si to‹j zóoij, ¢nšmwn te welche die Erde in reichem Ma-
kaˆ Øetîn gignomšnwn oÙk ™xais…wn ße hervorbringt, so daß Nahrung
oÙd ¢mštrwn· ¢ll' e‡ ti par¦ für alle lebendigen Geschöpfe
taàta g…gnetai prÕj tÕ flaàron, vorhanden ist, wenn nicht Sturm
oÙ t¾n qe…an ¢ll¦ t¾n ¢nqrwp…nhn und Regenguß zur Unzeit oder
a„ti©sqai cr¾ fÚsin, oÙk ™n d…kV im Übermaße eintritt. Aber wenn
dianšmousan tÕn aØtîn b…on. auch dieser Ordnung entgegen
schlimmer Mißwachs vorkommt,
so darf man doch die Schuld
nicht der Gottheit, sondern nur
den Menschen beimessen, die
ihren Lebensunterhalt nicht nach
der Gerechtigkeit einander mitt-
teilen.«
7

Philippos erklärt uns hier die Ursachen des Guten und Schlechten in
der Natur näher. Das Gute wird von der mathematischen Ordnung be-
dingt, die es eben den Pflanzen ermöglicht, alle Lebewesen ausreichend
mit Früchten zu versorgen. Das Schlechte hingegen liegt, wie Philippos

6
Epinomis 978a 4 – 978b 6, Übers. F. Susemihl.
7
Epinomis 979a 6 – 979b 3, Übers. F. Susemihl.

18
Philippos von Opus (420-345)
es hier darstellt, nicht im Mathematischen selbst, sondern in der Unfä-
higkeit der Wesen, die mathematische Ordnung zu begreifen.
Philippos erwähnt hier zwar nur die Menschen als diejenigen We-
sen, welche aufgrund ihres wenig optimalen Sozialverhaltens bisweilen
Nahrungskrisen auslösen; wir können diesen Gedanken aber pro-
blemlos erweitern. Weitere Gründe für Nahrungskrisen liegen natürlich
darin, daß Menschen nicht auf widrige Witterungsverhältnisse vorberei-
tet sind und zu wenige Vorräte angelegt haben. Die Vorratshaltung ist
aber nicht nur eine Sache der planenden Vernunft, sondern durchaus
auch eine organische Funktion. Alle Organismen müssen in gewissem
Sinne Energie speichern. Die Art und Weise wie sie dies tun ist jedoch
sehr verschieden. Während sich Pflanzen als statische Wesen in einem
ständigen Nahrungskreislauf befinden, der nicht unbedingt längere
Speicherung voraussetzt, können Tiere bereits aktiv Vorräte für magere
Jahreszeiten anlegen. Je höher die kognitiven Fähigkeiten eines Wesens
sind, desto besser und exakter kann dieses Wesen auch seine Nah-
rungsspeicherung planen und damit sein Überleben sicherstellen.
Im Grunde ist, so Philippos, die Natur darauf angelegt, alle in ihr
lebenden Wesen zu versorgen. Diese Wesen wären, so könnte man
hinzufügen, sonst gar nicht erst entstanden. Die Natur ist somit an sich
gut, weil sie eine mathematische Regelmäßigkeit an den Tag legt. Das
Schlechte in der Natur sind aus dieser Perspektive die Brüche der Re-
gelmäßigkeit. Und eben hier verlagert Philippos die Schuld (a„t…a) auf
die Naturwesen selbst. Diese müssen mitarbeiten um die Lücken in der
Natur auszugleichen. In dem Maße aber, in dem sie das können, haben
sie am Guten teil, was sowohl heißt, daß es ihnen gut geht, wie auch,
daß sie ontologisch höher stehende Wesen sind.

ii. Die Ordnung der Natur und die Zwischenwesen


§ 6 Philippos übernimmt Platons Auffassung, wonach das Seelische ur-
sprünglicher und gottähnlicher als das Körperliche sei. Er kommt je-
doch im Unterschied zu Platon zu einer ganz eigenartigen Bestimmung
des Verhältnisses zwischen dem Seelischen und Körperlichen, die wir
als einen Vorschlag zur Lösung des Problem des corismÒj, der Tren-
nung von Ideen und Welt, verstehen können.

19
Philippos von Opus (420-345)
Zunächst unterscheidet Philippos zwischen den Körpern, von denen
es fünf Arten gäbe und der Seele:
Stere¦ d sèmata lšgesqai cr¾ »Feste Körper nun sind aller
kat¦ tÕn e„kÒta lÒgon pšnte, ™x Wahrscheinlichkeit nach fünf
ïn k£llista kaˆ ¥rist£ tij ¨n anzunehmen, (aus deren weiterer
pl£ttoi, tÕ d ¥llo gšnoj ¤pan Zusammensetzung alle anderen
œcei morf¾n m…an· oÙ g£r ™stin entstehen und) die (als bleiben-
¢sèmaton Óti t' ¥llo g…gnoit' ¨n der Stoff) den trefflichsten und
kaˆ crîma oÙd n oÙdamîj oÙdšpot' schönsten (körperlichen) Bildun-
œcon, pl¾n tÕ qeiÒtaton Ôntwj gen zu Grunde liegen; von allem
yucÁj gšnoj. toàto d' ™stˆ scedÕn Unkörperlichen dagegen gibt es
ú mÒnJ pl£ttein kaˆ dhmiourge‹n nur Eine Art. Denn was auch
pros»kei immer schlechthin körperlos und
farblos entstehen mag, Alles ge-
hört zu der in Wahrheit göttli-
chen Gattung der Dinge, zu der
die Seele. Und dieser allein
kommt es zu zu bilden und zu
schaffen«.
8

Alles Körperlose also gehört nach Philippos in Reich des Seelischen.


Damit aber ist dieses Reich mit dem Ideellen gleichzusetzen. Das geht
darüber hinaus auch noch daraus hervor, daß das Reich des Seelische
allein schaffend ist. Wir finden also bei Philippos die platonische Un-
terscheidung von Ideen und Weltseele nicht wieder. Beides wird viel-
mehr in eins gesetzt. Die Weltseele ist zugleich jenes Wesen, das als
Ganzes des kÒsmoj dessen Strukturen schafft.
§ 7 Die fünf Körperarten, die Philippos hier unterscheidet, listet er
wenig später detailliert auf:
pšnte oân Ôntwn tîn swm£twn, »Jene fünf Grundkörper nun sind
pàr cr¾ f£nai kaˆ Ûdwr e nai kaˆ Feuer, Wasser, Luft Erde und
tr…ton ¢šra, tštarton d gÁn, Äther, und jeder derselben hat
pšmpton d a„qšra, toÚtwn d' ™n sein (besonderes) Bereich (im
¹gemon…aij ›kaston zùon polÝ kaˆ Weltall), in deren jedem lebendi-
pantodapÕn ¢potele‹sqai. ge Wesen von großer Zahl und
Mannigfaltigkeit sich bildet, und

8
Epinomis 981b 3-8, Übers. F. Susemihl.

20
Philippos von Opus (420-345)
man muß daher die Gattungen
jedes dieser Bereiche abgeson-
dert für sich betrachten.«
9

Philippos unterscheidet also zwischen den vier Elementen, Feuer, Was-


ser, Luft und Erde und Äther (a„q»r), einem Element, das nach der
obersten Himmelsschicht in den griechischen Mythologie benannt ist,
wo sich jene reine Luft findet, welche die Götter einatmen. Hier wird
den vier Elementen also erstmals ein fünftes hinzugefügt. Doch die Fra-
ge nach den Elementen ist weniger interessant, als Philippos’ Feststel-
lung, daß jedes dieser Elemente einen eigenständigen Seinsbereich le-
bendiger Wesen konstituieren würde. Aus dem vorher gesagten wird
klar, wie er das meint. Es gibt offenbar nach seiner Auffassung ganz ver-
schiedene Gattungen lebendiger Wesen, wobei jedes Wesen aus dem
seine Gattung bestimmenden Element und aus einer Seele, in der sich
dann alle irgendwie gleichen, zusammengesetzt ist.
§ 8 Sehen wir uns dies zunächst einmal im Detail an, damit wir er-
fahren, von welchen Gattungen er hier überhaupt spricht:
maqe‹n d kaq' ›n ïd' œstin creèn. »Fassen wir daher zunächst die
g»inon m n tiqîmen tÕ prîton ¹m‹n lebendigen Wesen der Erde,
›n, p£ntaj m n ¢nqrèpouj, p£nta Menschen und Tiere mit und
d Ósa polÚpoda kaˆ ¥poda, kaˆ ohne Füße, und neben diesen
Ósa poreÚsima kaˆ Ósa mÒnima, willkürlicher Bewegung fähigen
dieilhmmšna ·…zaij· tÕ d ›n aÙtoà Geschöpfen auch die fest an ih-
tÒde nom…zein de‹, æj p£nta m n ™x rem Orte angewurzelten als Eine
¡p£ntwn taàt' œstin tîn genîn, Gattung zusammen. Alle diese
tÕ d polÝ toÚtou gÁj ™stin kaˆ Arten von Wesen bilden nämlich
tÁj steremn…aj fÚsewj. insofern eine Einheit als man an-
zunehmen hat, daß sie zwar alle
aus allen Grundkörpern (in ver-
schiedener Weise), aber doch
zum größten Teile aus Erde zu-
sammengesetzt und (daher) von
fester Beschaffenheit sind.«10

9
Epinomis 981c 5-8, Übers. F. Susemihl.
10
Epinomis 981c 8 – 981d 6, Übers. F. Susemihl.

21
Philippos von Opus (420-345)
Zu der – wir können es schon verraten – niedrigsten Gattung gehören
bereits alle uns bekannten Naturwesen, Menschen, Tiere und Pflanzen.
Philippos lockert die Forderung der strikten Trennung der Elemente
hier etwas auf und gesteht den Wesen zu, daß die Elemente in ihnen
gemischt seien. Lediglich die Mehrheit der Elemente müsse von der
Art sein, welche für die entsprechende Gattung charakteristisch ist.
§ 9 Sodann beschreibt er diejenige Gattung, die zugleich die höchste
der Gattungen ist, welche Philippos annimmt:
¥llo d cr¾ zóou gšnoj qe‹nai »Als eine zweite Gattung belebter
deÚteron gignÒmenon ¤ma kaˆ du- Wesen werden wir sodann die
natÕn Ðr©sqai· tÕ g¦r ple‹ston Gestirne anzusehen haben, da
purÕj œcei, œcei m¾n gÁj te kaˆ auch diese mit ihrer Entstehung
¢šroj, œcei d kaˆ ¡p£ntwn tîn zugleich sichtbar geworden sind.
¥llwn bracša mšrh, diÕ d¾ zù£ te Denn sie bestehen zumeist aus
™x aÙtîn pantodap¦ g…gnesqai cr¾ Feuer, enthalten aber auch Erde
f£nai kaˆ Ðrèmena, nom…sai d d¾ und Luft und kleine Bestandteile
de‹ p£lin t¦ kat' oÙranÕn zówn von den beiden anderen Grund-
gšnh, Ö d¾ p©n cr¾ f£nai qe‹on körpern in sich, und wir müssen
gšnoj ¥strwn gegonšnai, sèmatoj daher behaupten daß aus der ver-
m n tucÕn kall…stou, yucÁj d' schiedenen Mischung dieser Be-
eÙdaimonest£thj te kaˆ ¢r…sthj. standteile verschiedenartige We-
sen von dieser Gattung hervorge-
hen, alle aber sichtbar. Alle diese
Arten himmlischer Wesen wie-
derum muß man also wiederum
als eine einzige Gattung zusam-
menfassen und als ein göttliches
Geschlecht bezeichnen, welchem
der schönste Körper und die
edelste und glücklichste Seele zu
Teil geworden ist.« 11

Die zweite Gattung ist also die der Götter, die Philippos mit den Ge-
stirnen gleichsetzt. Diese bestünden aus Feuer. Auch hier räumt er wie-
der ein, daß sie durchaus auch andere Elemente enthalten könnten,

11
Epinomis 981d 6 – 981e 6, Übers. F. Susemihl. Der Ausdruck »Gestirn« (¥stron)
taucht zwar im Text nicht auf, ist aber insofern gerechtfertigt, als im folgenden Text
klar wird, daß hier von Gestirnen die Rede ist.

22
Philippos von Opus (420-345)
und daß eben dies aber dazu führe, daß sie sich als Wesen untereinan-
der unterscheiden würden.
Schließlich finden sich zwischen den Göttern und den sterblichen
Wesen noch eine Reihe von Mischwesen, die aus den übrigen Elemen-
ten bestehen:
tîn d dÚo toÚtwn zówn, toà t' ™x »Es gibt zwei Dämonengeschlech-
a„qšroj ™fexÁj te ¢šroj Ôn, diorè- ter, ein von ätherischer und ein
menon Ólon aÙtîn ˜k£teron e nai – zweites, niedrigeres von luftiger
parÕn d¾ plhs…on oÙ kat£dhlon Art. Keins von beiden aber ist
¹m‹n g…gnesqai – metšconta d uns vollständig sichtbar, und wir
fron»sewj qaumastÁj, ¤te gšnouj werden einen Dämon nicht ge-
Ônta eÙmaqoàj te kaˆ mn»monoj, wahr, wenn er sich auch ganz na-
gignèskein m n sÚmpasan t¾n he bei uns befindet, aber wir
¹metšran aÙt¦ di£noian lšgwmen müssen ihnen dennoch eine
staunenswerte Einsicht zuschrei-
ben und sie als ein scharfsinniges
und gedächtnisstarkes Geschlecht
bezeichnen, welches alle unsere
Gedanken kennt«. 12

Die nächsten beiden Gattungen sind also jeweils eine höhere und eine
niedrigere Gattung von Dämonen, deren seelische Kraft immerhin so
stark sein soll, daß sie Einsicht in unsere Gedanken haben. Ihnen folgt
als letzte Gattung der Zwischenwesen diejenige der Halbgötter:
tÕ d Ûdatoj pšmpton ×n ¹m…qeon »Das fünfte Geschlecht lebendi-
m n ¢peik£seien ¥n tij Ñrqîj ger Wesen gehört dem Wasser
¢peik£zwn ™x aÙtoà gegonšnai, kaˆ an und ist aus ihm geboren, und
toàt' e nai tot m n Ðrèmenon, dies ist als ein Geschlecht von
¥llote d ¢pokrufq n ¥dhlon Halbgöttern anzusehen, welche
gignÒmenon, qaàma kat' ¢mudr¦n bald sichtbar erscheinen bald sich
Ôyin parecÒmenon. unseren Blicken verbergen und
wegen dieser ihrer nebelhaften
Erscheinung unser Staunen erre-
gen.«13

12
Epinomis 984e 3 – 985a 3, Übers. F. Susemihl.
13
Epinomis 985b 4 – 985c 1, Übers. F. Susemihl.

23
Philippos von Opus (420-345)
Das Geschlecht der Halbgötter komplettiert Philippos’ illustre Liste der
Wesen, die ihrer Seele nach zu urteilen alle über der Natur stehen, je-
doch alle einen Körper besitzen und so rein technisch gesehen doch als
Naturwesen bezeichnet werden müssen.

Element Gattung
pàr Götter

a„q»r Dämonen

¢»r Dämonen

Ûdwr Halbgötter

gÁj Menschen

Die fünf Elemente konstituieren also gewissermaßen unabhängig von-


einander fünf verschiedene Wesenheiten, die aber alle dadurch ver-
bunden sind, daß sie von der Weltseele aus einem Seelenanteil und ih-
rem jeweiligen Element gemischt wurden.
§ 10 Bevor wir uns den produktiven Ideen zuwenden, die sich aus
dieser sehr eigenwilligen Konstruktion des Philippos für unsere ideali-
stische Metaphysik gewinnen lassen, sind zunächst zwei Kritikpunkte
anzuführen. Der erste Kritikpunkt bezieht sich auf die Richtung in der
Philippos diese Wesen konstruiert. Anstatt die vor ihm liegende Natur
mit idealistische Mitteln zu beschreiben, wirft er Menschen, Tiere und
Pflanzen undifferenziert in eine einzige Kategorie seiner Konstruktion
und beschäftigt sich mit Fabelwesen, die zwischen Göttern und Men-
schen angesiedelt sind. Er weicht hier nicht nur von Platons Timaios
ab, der die Elemente zumindest noch zu einer – wenn auch sehr ober-
flächlichen – Unterscheidung der Lebewesen anhand ihrer möglichen

24
Philippos von Opus (420-345)
Lebensräume nutzt,14 sondern er verlängert die Reihe der Naturwesen
in einen Bereich hinein, der über dem menschlichen Geist steht und
damit der Natur bereits enthoben ist. Dies kann nur zu Widersprüchen
führen.
Zweitens macht er die Elemente zur Grundlage der Wesensunter-
scheidung dieser von ihm eingeführten Gattungen. Dies steht im kras-
sen Widerspruch zu Platons Auffassung, die Philippos explizit teilt, wo-
nach die Seele über dem Körperlichen steht. Konsistenz könnte seine
Konstruktion allein dadurch erreichen, daß er diese Wesen hinsichtlich
ihrer Seelen unterscheidet. Implizit tut er das, indem er beispielsweise
die Dämonen als den Menschen geistig überlegen darstellt; er überträgt
diesen konsequenten Gedanken jedoch nicht in seine Hierarchisierung.
§ 11 Der produktive Gedanke, der sich mit Sicherheit paradoxer-
weise gerade dem fabulierenden Charakter seiner Konstruktion schul-
det, liegt in seinen Überlegungen zur Kommunikation der Wesen un-
tereinander:
kaˆ sumpl»rouj d¾ zówn oÙranoà »Und da nun das ganze Weltall
gegonÒtoj, ˜rmhneÚesqai prÕj ¢l- mit lebenden Wesen erfüllt ist,
l»louj te kaˆ toÝj ¢krot£touj so können nicht bloß Alle einan-
qeoÝj p£ntaj te kaˆ p£nta, di¦ tÕ der alle ihre Gedanken mitteilen,
fšresqai t¦ mšsa tîn zówn ™p… te sondern dieselben auch zu den
gÁn kaˆ ™pˆ tÕn Ólon oÙranÕn höchsten Göttern gelangen lassen
™lafr´ ferÒmena ·ÚmV. (durch Vermittlung der Dämo-
nen) weil diese leichtbeschwing-
ten Wesen von ihrem Wohnsitz
in der Mitte der Welt aus eben
so wohl zur Erde sich hinablas-
sen als zu allen Regionen des
Himmels sich emporzuheben im
Stande sind.«
15

Wir haben zwei Möglichkeiten, diesen Gedanken zu interpretieren.


Zum Einen können wir diese vermittelnden Wesen als das nehmen,
was sie sind und damit Philippos’ Idee als einen Beitrag zur Lösung des

14
Vgl. Timaios 39e f.
15
Epinomis 985b 1-4, Übers. F. Susemihl.

25
Philippos von Opus (420-345)
Problems der Vermittlung von Ideen und Wirklichkeit ansehen. Wir
können seinen Gedanken zum anderen aber auch abstrakter lesen und
hierin einen Beitrag zur Frage der Kommunikationsmöglichkeit ver-
schiedener Wesen untereinander erkennen.
§ 12 Es liegt sehr nahe, daß es Philippos’ Absicht war, das Problem
des corismÒj mit Hilfe jener Zwischenwesen zu lösen, denn er geht hier
von einer Möglichkeit der Vermittlung zwischen der höchsten Stufe der
Ontologie, den rein ideellen Göttern und der niedrigsten, den mit Ma-
terie behafteten Wesen aus. Das wird an einer anderen Stelle kurz vor-
her noch deutlicher, wo er sagt, daß die Gattung der Zwischenwesen als
tÁj ˜rmhne…aj a‡tion »die Ursache der Übersetzung« 16

anzusehen sei. Er meint damit, daß der Wille der Götter durch diese
Wesen in das weltliche Geschehen übertragen wird und daß wir Men-
schen nur durch diese Übersetzung verstehen können, was die Götter
wollen. Hier ist ganz klar das corismÒj-Problem in Angriff genommen,
denn dieses Problem steht ja eben vor der Frage, zu klären wie die Ide-
en in der Materie wirksam werden können. Philippos’ Antwort ist
demnach, daß dies eben durch die Zwischenwesen geschieht, welche
sowohl den Willen der Götter verstehen, als auch den Menschen ver-
ständlich sind. Ist der Wille der Götter aber bei den Menschen ange-
kommen, so ist er ja gewissermaßen auch schon mitten im Reich der
Materie.
Was aber ist von diesem Lösungsvorschlag zu halten? Im Grund
bringt er uns in der Sache nicht weiter, als das was wir schon von Platon
her als Theorie der Emanation kennen. Der Wille der Götter kann in-
sofern immer weiter nach unten durchgereicht werden, als das Ideelle
die Fähigkeit besitzt, eine immer unkomplexere und unperfektere Ge-
stalt anzunehmen. Diese unperfektere Gestalt kann zum einen als ein
von den Göttern geschaffenes Wesen angesehen werden. Philippos in-
tegriert diesen Gedanken der Emanation durchaus in sein Denken:
p£nta d dhmiourg»sasan taàta »Und so muß es uns als wahr-
yuc¾n zówn e„kÕj Ólon oÙranÕn scheinlich bedünken, daß sie, in-
™mplÁsai, crhsamšnhn p©si to‹j dem sie dies Alles schuf, das gan-

16
Epinomis 984e 1-2.

26
Philippos von Opus (420-345)
gšnesi kat¦ dÚnamin, p£ntwn m n ze Weltall mit lebenden Wesen
metÒcwn toà zÁn gegonÒtwn· deÚte- erfüllte, indem sie alle Elemente
ra d kaˆ tr…ta kaˆ tštarta kaˆ in allen möglichen Arten der Zu-
pšmpta, ¢pÕ qeîn tîn fanerîn sammensetzung dazu verwandte,
¢rx£mena genšsewj, e„j ¹m©j toÝj und jedem derselben Leben ein-
¢nqrèpouj ¢poteleut©n. hauchte, und zwar so daß sie da-
bei mit der Erzeugung der sicht-
baren Götter den Anfang machte,
dann zur Bildung der zweiten,
dritten und vierten Gattung
schritt, und endlich den Ab-
schluß mit der fünften und unter
ihr mit uns Menschen machte.« 17

Die Akteurin dieses Schöpfungsprozesses ist dabei die Weltseele, wel-


che ja bei Philippos, wie wir gesehen hatten, mit den Zahlen als dem
Reich der Ideen zusammenfällt.
Was uns hier als ontologischer Schöpfungsprozeß vorgestellt wird,
läßt sich nun aber auch im Kleinen an einen einzelnen Gedanken vor-
stellen. Der Gedanke mag im Rahmen des Ideellen selbst noch perfekt
sein, wird er aber Schritt für Schritt nach unten vermittelt, so verliert er
an Perfektion und im letzten Schritt organisiert er die Materie. Ein
konkretes Beispiel hierfür ist in unserer Lebenswelt schnell gefunden.
Nehmen wir einen Menschen, der einen Mord plant. Der erste Schritt
nach unten ist das arrangieren einer geeigneten Gelegenheit, indem er
dem Opfer eine gefälschte Einladung an einen einsamen Ort zuschickt.
Der Mordplan enthält noch bestimmte ganz abstrakte Motive, die Ein-
ladung hingegen ist bloß noch Ausdruck eines rein technischen Plans,
dessen einzige Intention es ist, eine Person von A nach B zu locken.
Der letzte Schritt dieser Abwärtsbewegung wäre dann die Ausführung
selbst, etwa die rein mechanische Betätigung des Abzugs eines Revol-
vers, welche für sich genommen nur die Bewegung eines Fingers dar-
stellt, insgesamt jedoch einen umfassenden geistigen Plan in die materi-
elle Welt übersetzt.

17
Epinomis 984c 4 – 984d 2, Übers. F. Susemihl.

27
Philippos von Opus (420-345)
§ 13 Aber gerade dieser letzte Schritt ist für die Frage nach dem co-
rismÒj-Problem der eigentlich interessante. Wie kann eine Idee über-
haupt auf die Materie wirken? Sowohl in unseren Beispiel, wie auch in
Philippos’ Theorie wirkt dies sehr anschaulich, weil wir geneigt sind,
das letzte Glied der Kette, den handelnden Menschen als gegeben an-
zusehen. Daß aber Menschen mit ihrem Geist so leicht auf die Materie
wirken können, das eben setzt voraus, daß Ideelles überhaupt auf Mate-
rielles zu wirken vermag. Und gerade das erklärt uns Philippos so we-
nig, wie es die Emanationstheorie Platons tat. Die Zwischenwesen mö-
gen zwar die Lücke zwischen den Menschen und den Göttern über-
brücken, aber diese Lücke ist sehr unproblematisch, da wir Menschen
ja schon denken können. Viel schwieriger ist es zu erklären, wie das
Ideelle es vermag, die Materie zu organisieren, wie also die Materie
denken lernen kann.
§ 14 Uns bleibt aber noch die andere Interpretationsmöglichkeit des
Gedankens von Philippos. Wir können diesen Gedanken als einen
Beitrag zur Frage der Kommunikationsmöglichkeit verschiedener We-
sen untereinander interpretieren. Wenn wir nun einmal davon abstra-
hieren, daß es sich bei den von Philippos beschriebenen Wesen um
Dämonen und Götter handeln soll und wir sie alle als Naturwesen an-
sehen, dann ist dieser Gedanke der Übersetzung von Informationen
von Stufe zu Stufe durchaus interessant und produktiv. Er kann uns er-
klären, wie verschiedene Naturwesen miteinander kommunizieren. Der
Ausdruck »Kommunikation« muß dabei natürlich als sehr abstrakt an-
gesehen werden und meint bestimmt nicht »sprechen« sondern jede
Form von Wirkung eines Naturwesens auf ein anderes. Das Sprechen
mag vielleicht eine adäquate Form der Kommunikation von Menschen
und Dämonen sein, aber zwischen vielen Naturwesen ist das Fressen
des anderen eine viel typischere Art der Kommunikation.
Was aber können wir von Philippos nun für eine solche abstrakte
Kommunikationstheorie lernen? Seine Überlegung besagt, wenn wir
von allem Zusatz absehen, daß zwei Naturwesen, die nicht benachbar-
ten Stufen angehören, nur vermittels des Wesens auf der Zwischenstufe
miteinander kommunizieren können. So erreichen die Menschen die
Götter nicht direkt, sondern nur durch die Übersetzung der Dämonen.

28
Philippos von Opus (420-345)
Ebenso aber erreicht auch der Wille der Götter die Menschen nur
über diesen Zwischenschritt. Diese Form der Aufwärtskommunikation
und Abwärtskommunikation müssen wir uns zunächst einmal näher an-
sehen.
Nehmen wir als Beispiel einfach einen Menschen, der Brot zu sich
nimmt. Der Vorteil dieses Beispiels ist, daß wir weitgehend in der anti-
ken Stufeneinteilung von Mensch, Tier und Pflanze bleiben können.
Im menschlichen Wesen finden sich eben auch jene Formen wieder,
die für Tiere und Pflanzen als deren höchste Seinsstufen bestimmend
sind. Das Menschliche am Menschen käme aus sich heraus nicht auf
den Gedanken, etwas zu essen. Es ist vielmehr sein pflanzliches Wesen,
welches den Mangel an Energie bemerkt und diesen gewissermaßen
weiter nach oben meldet. Zunächst wird – grob vereinfacht – das tieri-
sche Wesen des Menschen durch eine Hungerempfindung in Alarm
versetzt. Dieses Wesen vermag sich nun zwar in Tieren direkt auf die
Nahrung zu stürzen, allein im Menschen ist dies sehr viel kontrollierter.
Vielleicht beschäftigt sich unser Mensch gerade mit einem spannenden
philosophischen Text und das Essen würde ihn dabei stören, so daß er
es zurückstellt. Erst später läßt er das Tier in sich wieder zu Wort
kommen und sich von ihm wiederum zu derjenigen Nahrung leiten, auf
die es Appetit hat. Der Mensch weiß dies dann nur vermittelt durch das
Tier in ihm. Wenn er nun beispielsweise etwas Pflanzliches zu sich
nimmt, so werden in ihm auch die pflanzlichen Formen aktiv, welche
die Nahrung assimilieren, sie zu einem Teil des menschlichen Körpers
machen. Direkt würde das nicht gehen, denn das Denken verspürt kei-
nen Hunger. Ohne diese Zwischenschritte, ohne das im Menschen in-
tegrierte tierische Zwischenwesen also, würde der Mensch einfach ver-
hungern.

29
Philippos von Opus (420-345)

Mensch Pflanze
Stufe 3 Denken

Stufe 2 Hunger

Stufe 1 Energie Energie

Diese Kommunikationstheorie ist natürlich bei Philippos nur im Keim


angelegt und wir brauchen noch eine ganze Menge an weiterem natur-
philosophischem Material, um sie richtig fruchtbar zu machen.

Geist
§ 15 Betrachten wir jene oben erwähnten Dämonen, die alle unsere
Gedanken kennen sollen, nun noch einmal aus der Sicht des Geistes,
so eröffnet sich auch hier eine ganz interessante Interpretationsmög-
lichkeit:
metšconta d fron»sewj qauma- »Aber wir müssen ihnen dennoch
stÁj, ¤te gšnouj Ônta eÙmaqoàj te eine staunenswerte Einsicht zu-
kaˆ mn»monoj, gignèskein m n sÚm- schreiben und sie als ein scharf-
pasan t¾n ¹metšran aÙt¦ di£noian sinniges und gedächtnisstarkes
lšgwmen Geschlecht bezeichnen, welches
alle unsere Gedanken kennt«. 18

Ich habe bereits anläßlich der Diskussion von Platons Sprachauffassung


die Idee erläutert, daß nicht der menschliche Geist mit seinen Gedan-
ken der Inbegriff dessen ist, was eine idealistische Metaphysik als Geist
auffassen solle, sondern vielmehr die Sprache. Denn die Sprache ist ein
rein ideelles Wesen, deren Form sich selbst zur Materie haben kann,
indem sie über sich reden kann. Wenn wir von diesem Gedanken aus-
gehen und eben jene Wesen, die nach Philippos noch über den Men-

18
Epinomis 984e 5 – 985a 3, Übers. F. Susemihl.

30
Philippos von Opus (420-345)
schen stehen, als Metapher für die Sprache interpretieren, dann liefert uns
das obige Zitat eine interessante Einsicht. In der Tat muß dieses Wesen
dann alle unsere Gedanken kennen, denn unsere Gedanken müssen eben
in sprachlicher Form vorliegen.
Was jedoch bei dieser Identifikation von Dämon und Sprache schief
ist, ist die Körperlichkeit des Dämons. Natürlich hat auch die Sprache ei-
nen Körper, weil sie an ein Medium gebunden ist. Aber ihre Besonderheit
ist es gerade, daß sie von diesem Körper abstrahieren kann. Zwar schwebte
Philippos, der uns die Dämonen als unsichtbar vorstellt, wohl etwas ähnli-
ches vor, allein er hat es nicht geschafft, sich ein Naturwesen zu denken,
daß sich vollkommen aus der Natur zu erheben vermag. Auch die Dämo-
nen bleiben bei ihm letztlich an Materie zurückgebundene Wesen. Und
auch wenn diese Materie ätherischer Art ist, so bleibt sie doch Materie.
§ 16 Es gibt lediglich eine Stelle, wo sich eine Überlegung andeutet, die
auf ein solches, von allem Natürlichen enthobenes Wesen hinweist:
tÕn d sÚmpanta taàta oÛtwj »Wer aber dies Alles auf diese
e„lhfÒta, toàton lšgw tÕn ¢lh- Weise sich angeeignet hat, den
qšstata sofètaton· Ön kaˆ di- allein nenne ich einen wahrhaft
iscur…zomai pa…zwn kaˆ spoud£zwn weisen Mann, und versichere
¤ma, Óte qan£tJ tij tîn toioÚtwn euch auch zugleich in ernster Leh-
t¾n aØtoà mo‹ran ¢napl»sei, sce- re und im heiteren Scherz und
dÕn ™£nper œt' ¢poqanën Ï, m»te Spiel der Dichtung daß ein sol-
meqšxein œti pollîn tÒte kaq£per cher, wenn er einst im Tode sein
nàn a„sq»sewn, mi©j te mo…raj me- Schicksal erfüllen wird, gleich
teilhfÒta mÒnon kaˆ ™k pollîn unmittelbar nach seinem Sterben
›na gegonÒta, eÙda…mon£ te œses- nicht mehr vielerlei sinnlicher
qai kaˆ sofètaton ¤ma kaˆ Wahrnehmungen bedürfen, son-
mak£rion, e‡te tij ™n ºpe…roij e‡t' dern einartig geworden und aus
™n n»soij mak£rioj ín zÍ, k¢ke‹non der Geteiltheit des Seins zur Ein-
meqšxein tÁj toiaÚthj ¢eˆ tÚchj heit gelangt, wahrhaft glücklich,
vollweise und selig sein wird, mag
er nun diese seine Seligkeit auf
Inseln oder festem Land genie-
ßen, und daß sie von ununterbro-
chener Dauer sein wird.«19

19
Epinomis 992b 1 – 992c 1, Übers. F. Susemihl.

31
Philippos von Opus (420-345)
Mit »alles dies« meint Philippos hier natürlich die Einsicht in die Ideen,
aus seiner Sicht also die Einsicht in die Mathematik. Diese als die
höchste Erkenntnis soll es dem Menschen ermöglichen, nach dem Tod
vom Leib und allem Leiblichen befreit in einer Art geistigem Paradies
zu leben, in der alle Vielheit durch eine Einheit ersetzt ist. Nur leider ist
der Mensch, der dieses erreicht eben dann schon verstorben. Indem er
sich aus seinem Natursein über dieses erhebt, verläßt er es vollkommen
und realisiert somit nicht das, was der Geist im Sinne der idealistischen
Metaphysik sein sollte, nämlich ein in der Natur befindliches Wesen,
daß sich über die Natur zu erheben vermag.

32
Ekphantos von Syrakus (um 375)
Ekphantos von Syrakus (um 375)
Über und von Ekphantos ist wenig überliefert. Man streitet sich sogar
bisweilen, ob Ekphantos nicht nur eine Figur in den Dialogen von
Herakleides Pontikos ist, der um 390 geboren wurde. In jedem Fall läßt
sich dieser Ekphantos mit den wenigen Informationen, die wir über ihn
haben, zeitlich ganz gut einordnen. Er greift sowohl auf Theoriestücke
von Philolaos als auch auf solche von Demokritos zurück, so daß er
wohl nach diesen gelebt haben wird. Zugleich aber muß er vor Herak-
leides Pontikos gelebt haben, da dieser eben Figuren in seinen Dialo-
gen nach ihm benannt haben soll. Von Philolaos soll er die Theorie der
Drehung der Erde um die eigene Achse übernommen haben. Uns in-
teressiert jedoch vielmehr seine Rezeption der Atomisten.

Natur
§ 17 Ekphantos hat eine ganz eigene Atomtheorie entwickelt, welche,
wie Aetios uns berichtet, Elemente des pythagoräischen Theorieguts
mit dem der Atomisten verbindet:
”Ekfantoj SurakoÚsioj eŒj tîn »Ekphantos aus Syrakus nimmt
Puqagore…wn p£ntwn t¦ ¢dia…reta das Eine der ganzen Pythagoräer,
sèmata kaˆ tÕ kenÒn. t¦j g¦r Pu- die unteilbaren Körper und die
qagorik¦j mon£daj oátoj prîtoj Leere an. Denn er behauptete
¢pef»nato swmatik£j. zuerst, daß die pythagoräischen
Monaden Körper seien.« 20

Ekphantos geht also davon aus, daß die Atome des Leukippos und
Demokritos keine bloßen Materieklumpen sind, sondern pythagoräi-
sche Monaden. Als solche aber sind sie bereits als etwas Ideelles be-
stimmt. Denn die Monaden des Pythagoras sind eben jene Einheiten,
die just zwischen Ideellem und Materiellem stehen. Sie sind die aus den
Zahlen hervorgehenden Punkte, die dann zu Linien, Flächen und Kör-
pern werden sollen.
Hatten wir bei Pythagoras kritisiert, daß dieser Übergang vom Ma-
thematischen ins Materielle eben gerade die Materialität nicht erklären

20
De placitis reliquiae (Stobaei excerpta) S. 286, Z. 5-9.

33
Ekphantos von Syrakus (um 375)
könne, so finden wir eben auf diese Kritik bei Ekphantos den Versuch
einer Antwort. Er läßt die Punkte, die noch ganz und gar ideelle Einhei-
ten sind, zunächst materiell werden, bevor er sie dann als Grundlage
des Aufbaus der materiellen Welt betrachtet.
§ 18 Die entscheidende Frage, die man sich nun unweigerlich stellt,
ist die nach dem Übergang der ideellen Punkte in materielle Atome.
Eine Stelle bei Hippolytos kann uns hier näheres darüber sagen, wie
Ekphantos sich dieses vorgestellt haben mag.
”EkfantÒj tij SurakoÚsioj œfh m¾ »Ein Ekphantus aus Syrakus sagt,
e nai ¢lhqin¾n tîn Ôntwn labe‹n daß es nicht möglich ist, wahre
gnîsin, Ðr…zei<n> d <›kaston> Erkenntnis der Dinge zu erlan-
æj nom…zei<n> t¦ m n <g¦r> gen. Er definiert jedoch, wie er
prîta ¢dia…reta e nai sèmata kaˆ glaubt, die ersten Körper als un-
parallag¦j aÙtîn tre‹j Øp£rcein, teilbar, und geht davon aus, daß
mšgeqoj scÁma dÚnamin, ™x ïn t¦ es drei Aspekte vorhanden sind,
a„sqht¦ g…nesqai· e nai d tÕ in denen sie sich unterscheiden,
plÁqoj aÙtîn, ærismšnwn kat¦ Größe, Gestalt und Kraft, aus
toàto, ¥peiron. kine‹sqai d t¦ denen die sinnlichen Dinge ent-
sèmata m»te ØpÕ b£rouj m»te stehen. Es gibt aber eine große
plhgÁj, ¢ll' ØpÕ qe…aj dun£mewj, Menge von ihnen, die, in dieser
¿n noàn kaˆ yuc¾n prosagoreÚei. Weise bestimmt, unendlich ist.
toÚ<tou> m n oân tÕn kÒsmon e nai Die Körper sind aber weder
„dšan, di' Ö kaˆ sfairoeidÁ ØpÕ durch Gewicht noch durch Stoß
qe…aj dun£mewj gegonšnai. t¾n d bewegt, sondern durch göttliche
gÁn mšson kÒsmou kine‹sqai perˆ tÕ Kraft, die er Geist und Seele
aØtÁj kšntron æj prÕj ¢natol»n. nennt. Die Welt aber ist eine
Darstellung davon, weswegen sie
auch durch göttliche Kraft in
sphärischer Form entstanden ist.
Die Erde bewegt sich in der Mit-
te des Kosmos um ihr eigenes
Zentrum nach Osten.« 21

Trotz der Fülle an Informationen, die uns Hippolytos hier gibt, hätten
wir uns aufgrund der Tragweite der hier überlieferten Aussagen, durch-
aus noch mehr Informationen gewünscht. Zunächst schränkt Ekphan-

21
Refutatio omnium haeresium I, 15.

34
Ekphantos von Syrakus (um 375)
tos ebenso wie Platon die Möglichkeit des Wissens über die Dinge ein;
wobei offen bleibt, ob er damit nur die materiellen Dinge meint, oder
über Platons Bescheidenheit hinausgehend auch Ideelles. Das spielt für
unser Interesse jedoch keine wichtige Rolle.
Hippolytos kommt dann auf die Atomtheorie Ekphantos’ zu spre-
chen und spricht von drei Aspekten hinsichtlich derer sich die Atome
unterscheiden können: Größe (mšgeqoj), Gestalt (scÁma) und Kraft
(dÚnamij). Das klingt zunächst noch wie eine gewöhnliche Atomtheorie
und scheint von einer sehr materialistischen Auffassung zu zeugen. Das
sind alles physikalisch definierbare Eigenschaften, wobei die Gestalt
hier insofern eine Bedeutung haben kann, als sie eine spezifische Form
der Verteilung der Masse darstellt. In jedem Fall eignen sich die Eigen-
schaften als Kriterien zur Unterscheidung der verschiedenen Atome.
Dann kommt jedoch eine überraschende Wende, denn nun greifen die
pythagoräischen Theorieelemente ins Spiel ein. Wir wissen ja schon,
daß diese Atome eigentlich ideelle Wesenheiten sind. Folglich können
sie nicht durch physikalische Kräfte bewegt werden, sondern nur durch
ideelle Kräfte. Ekphantos spricht hier offensichtlich von einer göttlichen
Kraft (qe…a dÚnamij). Diese bezeichnet er als Geist oder Seele. Dabei
bleibt leider unklar, ob diese Kraft von außen als eine Art Weltseele auf
die Atome wirkt, oder ob sie von innen aus den Atomen wirkt, ob die-
sen also etwas Seelisches zugeschrieben wird. Beides jedoch zieht den
nächsten Schritt zwingend nach sich: Die Welt als ganze mit samt den
materiellen Erscheinungen in ihr ist nur ein Schauspiel, nur eine Dar-
stellung („dša) dessen, was eigentlich die göttliche Kraft hinter den Ku-
lissen bewirkt. So liefert dies dann auch den Grund, warum der Kos-
mos eine sphärische Gestalt hat.
§ 19 Natürlich steht diese Interpretation auf wackeligen Füßen. Er-
stens findet sie sich die Quelle hier nur in einem Sekundärtext, wo man
zumindest in Frage stellen kann, ob Hippolytos wirklich Ekphantos’
Gedanken in seiner Formulierung getroffen hat und zweitens interpre-
tieren wir diese Gedanken dann zudem noch sehr gewagt. Aber es liegt
eben in unserem Interesse, der Tradition die produktivsten Gedanken
abzuringen.

35
Ekphantos von Syrakus (um 375)
Wie muß man sich dieses Schauspiel vorstellen und was ist damit
über die Materialität der Atome gesagt. Meines Erachtens liegt hierin
bereits die definitive Lösung des Materieproblems, das uns gewisserma-
ßen zwischen den Zeilen der griechischen Philosophie in den wenigen
Fragmenten eines verschütteten Denkers geliefert wird: Es gibt gar kei-
ne Materie, sie ist nur das Resultat der rein ideellen Relation ideeller
Einheiten oder Monaden zueinander.

Ideelle Welt als eigentliche Wirklichkeit

ideelle Wirkung

Erscheinungswelt
Anschein wirklicher
Kausalität

In der ideellen Welt wirken hier zwei ideelle Monaden aufeinander.


Das tun sie nicht kausal, sondern logisch, denn was sie sind und wie sie
sich verhalten ist hier logisch festgelegt. Diese Wirkung erscheint dann
in der wirklichen Welt als eine kausale Wirkung. Sie erscheint deswe-
gen als eine kausale Wirkung, weil die beiden Monaden hier als mate-
riell erscheinen. Und sie erscheinen zugleich als materiell, weil sie kau-
sal aufeinander einwirken. Das ist ein viziöser Zirkel, aus dem das im
Materialismus verhaftete Denken hier erstmals herausfindet.
Die in Platons im Höhlengleichnis der Politeia noch als mythisch
beschriebene Situation ist hier ganz exakt in das Denken übertragen
worden. Der corismÒj, der in Platons Denken so problematisch war, ist
hier beibehalten aber zugleich entschärft worden. Ideen und Materie
bleiben weiterhin getrennt, aber die Materie führt hier nur das als

36
Ekphantos von Syrakus (um 375)
Schauspiel auf, was im ideellen Drehbuch steht. Platon konnte sich
noch nicht zu dieser konsequenten Sichtweise durchringen, da er im-
mer noch von der realen Existenz der Materie ausging. Erst indem Ek-
phantos diese offenbar abgeschafft hat, war es ihm möglich, das Materi-
elle im Ideellen vorgeprägt sein zu lassen, ohne sich anschließend fra-
gen zu müssen, wie man denn nun das Vorgeprägte in die Materie ein-
prägen kann. Im Gegenteil kann Ekphantos sogar die Gedanken und
geistigen Früchte der schärfsten Gegner des Idealismus, die der Atomi-
sten nämlich, vollends übernehmen, denn die Atome von denen er
spricht, sind nur noch geistige Vorstellungen, aber keine wirklichen Ge-
genstände, die im Gegensatz zum Geistigen stehen.
Natürlich können wir auch einige Abweichungen von einer idealen
Theorie der Materie bei Ekphantos feststellen. So geht er beispielswei-
se offenbar weiterhin von der Existenz des Leeren (tÕ kenÒn) aus. Die
Frage wäre, wo er dieses Leere verortet? Damit aber stellt sich zugleich
die Frage nach dem Raum. Ekphantos erklärt uns zwar die Idealität des
Materiellen; wie aber der Raum aus idealistischer Sicht gedacht werden
soll, das erfahren wir bei ihm noch nicht.

37
Speusippos von Athen (408-339)
Speusippos von Athen (408-339)
Speusippos war Platons Schüler und Neffe. Er wurde nach dessen Tod
347 Leiter der platonischen Akademie. Ebenso wie Platon soll er viele
Dialoge verfaßt haben, von denen jedoch kein einziger erhalten ist. Zur
Darstellung seiner Gedanken können wir nur auf einige wenige Frag-
mente zurückgreifen, die ihn zudem noch teilweise nicht explizit be-
handeln, sondern oft nur Gedanken, die andernorts als seine Philoso-
phie beschrieben werden.

Ideen
§ 20 Wie schon bei Philippos so finden wir auch bei Speusippos ein
Denken, das zwar von Platon herkommt, aber ebenso stark von Pytha-
goras beeinflußt zu sein scheint. In Aristoteles’ Metaphysica erfahren
wir ganz grob, wie Speusippos’ philosophisches System aussieht:
SpeÚsippoj d kaˆ ple…ouj oÙs…aj »Speusippos aber setzt, von dem
¢pÕ toà ˜nÕj ¢rx£menoj, kaˆ ¢rc¦j Einen ausgehend, noch mehr
˜k£sthj oÙs…aj, ¥llhn m n ¢riq- Wesen und verschiedene Prin-
mîn ¥llhn d megeqîn, œpeita zipien für jedes Wesen, eines für
yucÁj· kaˆ toàton d¾ tÕn trÒpon die Zahlen, ein anderes für die
™pekte…nei t¦j oÙs…aj. Größen, ein anderes für die See-
le, und auf diese Weise erweitert
er das Gebiet der Wesen.« 22

Zunächst erfahren wir, daß Speusippos ebenso wie Platon und Pythago-
ras vom Einen als dem obersten Prinzip ausgeht. Wenn Aristoteles ihm
nur hier zuschreibt, er habe mehr Prinzipien angenommen, dann liegt
es nahe, daß es mehr sind, als diejenigen, welche sein Lehrer Platon an-
genommen hat. Es gibt zwei Richtungen, dieses »mehr« zu interpretie-
ren. Zum Einen kann Speusippos mehr Prinzipienarten angenommen
haben, zum anderen kann er aber auch von mehr Einzelprinzipien aus-
gehen. Die Prinzipienarten, die hier angegeben sind, sind neben dem
Einen und der Seele – sicherlich die Weltseele –, die sich bei Platon
auch finden, Zahlen (¢riqmo…) und Größen (mšgeqoi). Demnach hätte

22
Metaphysica VII, 2; 1028b 21-24, Übers. H. Bonitz.

38
Speusippos von Athen (408-339)
Speusippos lediglich eine Prinzipienart mehr als Platon, was sicherlich
nicht sonderlich spektakulär wäre.
§ 21 Die andere Interpretation, wonach die verschiedenen Zahlen
und Größen hier alle als Prinzipien zu gelten haben, ist folglich viel na-
heliegender. Aus Aristoteles Kritik an der Ansicht, Zahlen überhaupt
als Prinzipien zu betrachten, können wir darauf zurückschließen, wie
sich Speusippos dieses gedacht haben mag:
Oƒ d lšgontej tÕn ¢riqmÕn prîton »Diejenigen aber, welche die ma-
tÕn maqhmatikÕn kaˆ oÛtwj ¢eˆ thematische Zahl als die erste an-
¥llhn ™comšnhn oÙs…an kaˆ ¢rc¦j sehen, und so immer ein Wesen
˜k£sthj ¥llaj, ™peisodièdh t¾n nach dem anderen, und für jedes
toà pantÕj oÙs…an poioàsin (oÙd n andere Prinzipien setzen, ma-
g¦r ¹ ˜tšra tÍ ˜tšrv sumb£lletai chen das Wesen des Ganzen un-
oâsa À m¾ oâsa) kaˆ ¢rc¦j pol- zusammenhängend (denn das
l£j· t¦ d Ônta oÙ boÚletai poli- eine Wesen trägt durch sein Sein
teÚesqai kakîj. ‘oÙk ¢gaqÕn po- oder Nichtsein nichts für das an-
lukoiran…h· eŒj ko…ranoj œstw.’ dere bei) und nehmen viele Prin-
zipien an. Das Seiende aber mag
nicht schlecht beherrscht sein.
„Nimmer ist gut eine Vielherr-
schaft; nur Einer sei Herr-
scher!“«23

Diejenigen, welche die Zahlen als Prinzipien ansehen, wozu Speusippos


gehört, gehen also nach Aristoteles davon aus, daß jede Zahl jeweils ein
anderes Prinzip ist. Damit kommen sie natürlich zu einer unendlichen
Fülle an Prinzipien. Aristoteles Kritik an dieser »Vielherrschaft« der
zahllosen Prinzipien über das Sein läßt sich so zusammenfassen, daß
damit letztlich nichts mehr erklärt wird. Es wird immer auf ein anderes
Prinzip verwiesen, denn es gibt ja zahllose Prinzipien und für alles kann
man immer ein je eigenes Prinzip annehmen. Wir erfahren aber damit
nichts über das Sein. Gleichzeitig beklagt Aristoteles den fehlenden Zu-
sammenhang im System dieser Prinzipien. Es ist nicht ganz klar, was er
damit kritisiert, denn wir wissen ja nicht, wie diese Prinzipien nach
Speusippos zusammenhängen.

23
Metaphysica XII, 10; 1075b 37 – 1076a 5, Übers. H. Bonitz; Aristoteles zitiert hier
Homer, Illias II, 204.

39
Speusippos von Athen (408-339)
§ 22 Was nun aber viel entscheidender an Speusippos’ Auffassung
ist, sind weniger die Prinzipien, die er annimmt, als vielmehr diejenigen,
die er nicht annimmt, nämlich die Ideen. Wir hatten bei Philippos be-
reits vermuten können, daß er die platonischen Ideen ablehnt und sie
durch Zahlen ersetzte, aber er hat dies nirgendwo explizit erwähnt. Bei
Speusippos besteht hierin kein Zweifel. Speusippos hat offenbar einen
Idealismus ohne Ideen im platonischen Sinne vertreten. Und dies tat er
nicht als Irgend jemand sondern als offizieller Nachfolger Platons. Er
muß somit eine ganze Reihe von Argumenten dafür besessen haben,
sich von der Ideenlehre zu verabschieden. Drei dieser Argumente las-
sen sich meines Erachtens aus den überlieferten Fragmenten rekon-
struieren:
Erstens finden wir bei Aristoteles ein rein negatives Argument, das
sich offen gegen Platons Lehre richtet, dennoch aber Speusippos zuge-
schrieben werden kann:
oƒ m n g¦r t¦ maqhmatik¦ mÒnon »Denn die einen, welche nur die
poioàntej par¦ t¦ a„sqht£, Ðrîn- mathematischen Dinge neben
tej t¾n perˆ t¦ e‡dh duscšreian kaˆ den sinnlichen setzen, ließen, da
pl£sin, ¢pšsthsan ¢pÕ toà e„dh- sie die Schwierigkeit und Willkür
tikoà ¢riqmoà kaˆ tÕn maqhmatikÕn in der Ideenlehre sahen, von den
™po…hsan· Ideenzahlen ab und setzten nur
die mathematische.«24

Offenbar sind das verwirrende Begriffsspiel des Parmenides und ähnli-


ches der Ideenlehre bei Speusippos zum Verhängnis geworden. Er
scheint diese für einfach zu komplex zu halten, als daß die Aussicht be-
stünde, man käme hier zu irgend einem fruchtbaren Ergebnis. Da ist im
Vergleich die Mathematik doch eine sehr viel geordnetere Angelegen-
heit.
In der Tat kommt man im Idealismus, so wie wir ihn hier verstehen,
gar nie zu dem Punkt, wo man die Ideenlehre einfach problemlos dazu
benutzen kann, das Wesen der Wirklichkeit einfach abzulesen. Sie ist
viel mehr ein rein hermeneutischer Prozeß, wo zwar der Zusammen-
hang der Begriffe immer dichter wird, wo man jedoch sicherlich nie
über ein vollständiges System verfügen wird. Nur aus einem vollständi-

24
Metaphysica XIII, 9; 1086a 2-5, Übers. H. Bonitz.

40
Speusippos von Athen (408-339)
gen System heraus aber könnte man die Welt vollends verstehen. Der
Idealist muß also mit Konjekturen arbeiten und gewissermaßen darauf
hoffen, daß eine zweieinhalbtausend Jahre alte Denktradition nicht
fundamental irrt. Diese Hoffnung scheint Speusippos nicht geteilt zu
haben. Und es war auch leichter für ihn mit einer bloß fünfzigjährigen
Tradition zu brechen.
§ 23 Dennoch wäre ein solcher Schluß von der Schwierigkeit einer
Lehre auf dessen Falschheit für einen Philosophen fahrlässig und unter
Umständen gar fatal, wenn er nicht auch ein positives Argument in der
Hinterhand hätte, ein Argument für dasjenige, durch was er die abge-
schaffte Ideenlehre zu ersetzen gedenkt. Das zweite von mir hier vorge-
stellte Argument für Speusippos’ Sichtweise hat einen solchen positiven
Charakter. Wir können es erneut aus einer Kritik von Aristoteles her-
auslesen:
'All¦ m¾n oÙd' æj ›tero… tinej »Aber ebensowenig ist die An-
lšgousi perˆ tîn ¢riqmîn lšgetai sicht haltbar, welche andere über
kalîj. e„sˆ d' oátoi Ósoi „dšaj m n die Zahlen aufstellen. Es sind
oÙk o‡ontai e nai oÜte ¡plîj oÜte dies nämlich diejenigen, welche
æj ¢riqmoÚj tinaj oÜsaj, t¦ d nicht annehmen, daß Ideen exi-
maqhmatik¦ e nai kaˆ toÝj ¢riq- stieren, weder schlechthin noch
moÝj prètouj tîn Ôntwn, kaˆ als Zahlen, sondern daß die ma-
¢rc¾n aÙtîn e nai aÙtÕ tÕ ›n. thematischen Dinge existieren
¥topon g¦r tÕ ›n m n e na… ti prî- und die Zahlen das Erste unter
ton tîn ˜nîn, ésper ™ke‹no… fasi, dem Seienden seien, und daß ihr
du£da d tîn du£dwn m», mhd Prinzip das Eine-an-sich sei.
tri£da tîn tri£dwn· toà g¦r aÙtoà Denn es ist ja unstatthaft, daß es
lÒgou p£nta ™st…n. e„ m n oân ein Eines gebe, welches das erste
oÛtwj œcei t¦ perˆ tÕn ¢riqmÕn kaˆ unter den verschiedenen Einen
q»sei tij e nai tÕn maqhmatikÕn sei, wie diese behaupten, und
mÒnon, oÙk œsti tÕ ›n ¢rc» nicht ebenso eine Zweiheit für
(¢n£gkh g¦r diafšrein tÕ ›n tÕ die Zweiheiten und eine Dreiheit
toioàto tîn ¥llwn mon£dwn· für die Dreiheiten; denn bei allen
diesen findet dasselbe Verhältnis
statt. Wenn es sich nun einmal so
mit den Zahlen verhält und je-
mand nur die mathematische
Zahl annimmt, so ist das Eine
nicht Prinzip; denn notwendig

41
Speusippos von Athen (408-339)
müßte sich ein solches Eines von
den übrigen Einheiten unter-
scheiden«. 25

Das Argument für eine Zahlenlehre statt einer Ideenlehre, das wir
hierin erkennen können, ist ganz und gar einfach. Das Eine, welches als
Grundlage allen Seins angenommen wird, wird von Speusippos offen-
sichtlich sogleich als eine mathematische Größe, als Eins aufgefaßt.
Dann ist der Schritt nicht weit dahin, das von diesem Einen Prinzipiier-
te auch als etwas Mathematisches anzusehen. Da trifft es sich sogleich
ganz gut, daß eben jede Zahl zugleich eine Einheit von Einsen darstellt.
So kann die ursprüngliche Einheit der Eins als Prinzip aller Zahlen ge-
sehen werden.
§ 24 Aristoteles bringt gegen diese Auffassung einen interessanten
Kritikpunkt vor. Die Eins als Zahl unterscheidet sich, so Aristoteles,
nicht wesentlich von den anderen Zahlen. Dieser Kritikpunkt trifft den
Nerv der mathematisierenden Philosophie des Speusippos, die auf alle
Ideen verzichten möchte. Wenn sie nämlich das Eine nicht mehr als
Begriff, als Idee, sondern nur noch als Zahl betrachtet wird, dann hat
diese Eins, zu der es geworden ist, eben auch kein besonderer Bedeu-
tungsgehalt mehr. Es gibt keinen Grund, die Eins, in einer anderen als
einer numerischen Hinsicht von der Zwei oder der Drei zu unterschei-
den. Auch diese könnten als mathematische Grundlage der Zahlen an-
gesehen werden. Es gibt hier keinen Grund, die Eins zu bevorzugen.
Wir finden so zwar ein Argument für die Sichtweise des Speusippos,
wir finden jedoch zugleich mit dem Argument ein vernichtendes Ge-
genargument. Obwohl nun Aristoteles’ Argument die Haltbarkeit einer
Philosophie, welche die Ideen durch Zahlen ersetzt und vom Einen als
der Basis dieser Zahlen ausgeht, prinzipiell in Frage zu stellen vermag,
lohnt es sich dennoch, einen Blick auf das dritte Argument für Speu-
sippos’ Auffassung zu werfen.
§ 25 Dieses dritte Argument finden wir, wenn wir einer Frage nach-
gehen, die wir bezüglich der Einteilung des Seins in Eines, Zahlen,
Größen und Weltseele noch nicht gestellt haben: Wie haben wir uns

25
Metaphysica XIII, 8; 1083a 20-30, Übers. H. Bonitz.

42
Speusippos von Athen (408-339)
die Größen (mšgeqoi) vorzustellen? Wir finden wiederum bei Aristote-
les, in einer Stelle, die den Fragmenten des Speusippos zugerechnet
wird, eine Antwort auf diese Frage:
Oƒ m n oân t¦ megšqh gennîsin ™k »Diese also lassen aus solchem
toiaÚthj Ûlhj, ›teroi d ™k tÁj Stoff die Größen entstehen, an-
stigmÁj (¹ d stigm¾ aÙto‹j doke‹ dere dagegen aus dem Punkt (der
e nai oÙc ›n ¢ll' oŒon tÕ ›n) kaˆ Punkt nämlich ist nach ihrer An-
¥llhj Ûlhj o†aj tÕ plÁqoj, ¢ll' sicht nicht Eines, sondern wie das
oÙ pl»qouj· perˆ ïn oÙd n Âtton Eine) und aus einem anderen
sumba…nei t¦ aÙt¦ ¢pore‹n. Stoff, welcher ist wie die Menge,
aber welcher nicht die Menge
selbst ist.«
26

Die Größen entstehen folglich aus dem Punkt. Gemeint sind also of-
fenbar geometrische Größen. Wie Speusippos diese sieht, wird schließ-
lich einige Seiten später genauer ausgeführt:
E„sˆ dš tinej o‰ ™k toà pšrata e nai »Manche finden auch darin, daß
kaˆ œscata t¾n stigm¾n m n gram- der Punkt für die Linie, diese für
mÁj, taÚthn d' ™pipšdou, toàto d die Fläche, diese für den Körper
toà stereoà, o‡ontai e nai ¢n£gkhn Grenze und Äußerstes ist, einen
toiaÚtaj fÚseij e nai. zwingenden Grund dafür, daß es
solche Wesen gibt.« 27

Hier finden wir Ansätze der pythagoräischen Theorie wieder, der zu-
folge sich die natürlichen Gegenstände aus geometrischen und diese
wiederum aus Zahlen herleiten lassen. Speusippos scheint sich aber
damit begnügt zu haben, die Größen, geometrische Gebilde also, als
Wesenheiten der natürlichen Gegenstände zu behaupten. Sieht man
sich den Sachverhalt jedoch genauer an, dann wird man gewahr, daß er
an irgendeiner Stelle dann doch gezwungen sein würde, den Schritt in
die Natur zu machen und die Dinge aus den Wesenheit bestehen zu
lassen.
Diese Auffassung stellt insofern ein Argument für die Theorie Speu-
sippos’ dar, als er nunmehr glaubt, eine geschlossene Kette vom Einen
über die Zahlen zu den logischerweise von den Zahlen bestimmten

26
Metaphysica XIII, 9; 1085a 32-34, Übers. H. Bonitz.
27
Metaphysica XIV, 3; 1090b 5-7, Übers. H. Bonitz.

43
Speusippos von Athen (408-339)
geometrischen Körpern vorliegen zu haben. Wir haben jedoch schon
bei der Diskussion dieses Arguments bei Pythagoras gesehen, daß hier
eine Reihe massiver Probleme auftauchen, die hier nicht im einzelnen
wiederholt werden müssen.
Die Ideenlehre Platons mag so insgesamt zwar einen verwirrenden
Eindruck machen; allein wir sehen, daß eine mathematisierende Theo-
rie, so wie sie uns von Speusippos überliefert ist, hier keine Alternative
bietet. Im Gegenteil taucht das entscheidende von Aristoteles formulier-
te Problem dieses Ansatzes gerade an der Stelle auf, wo das Reich des
Begrifflichen verlassen wird.

Natur
i. Das Problem der Entstehung von Lebewesen
§ 26 Wir erfahren von Speusippos’ Ansicht über Naturformen bei Ari-
stoteles nur durch den Umstand, daß dieser sie als Beispiel zur Be-
gründung seiner Ablehnung der Sonderstellung des Guten und Schö-
nen herangezogen hat:
“Osoi d Øpolamb£nousin, ésper »Alle diejenigen aber, welche, wie
oƒ PuqagÒreioi kaˆ SpeÚsippoj, tÕ die Pythagoreer und Speusippos,
k£lliston kaˆ ¥riston m¾ ™n ¢rcÍ annehmen, das Schönste und
e nai, di¦ tÕ kaˆ tîn futîn kaˆ Beste sei nicht im Prinzip enthal-
tîn zówn t¦j ¢rc¦j a‡tia m n e - ten – weil ja auch bei den Pflan-
nai tÕ d kalÕn kaˆ tšleion ™n to‹j zen und Tieren die Prinzipien
™k toÚtwn, oÙk Ñrqîj o‡ontai. tÕ zwar Ursachen sind, das Schönste
g¦r spšrma ™x ˜tšrwn ™stˆ und Vollkommene aber erst in
protšrwn tele…wn, kaˆ tÕ prîton dem Hervorgehenden sich findet
oÙ spšrma ™stˆn ¢ll¦ tÕ tšleion· –, haben keine richtige Ansicht;
oŒon prÒteron ¥nqrwpon ¨n fa…h tij denn der Same geht aus ande-
e nai toà spšrmatoj, oÙ tÕn ™k rem, ihm selbst vorausgehenden
toÚtou genÒmenon ¢ll' ›teron ™x oá Vollendeten hervor, und das er-
tÕ spšrma. ste ist nicht der Same, sondern
das Vollendete. So würde man
z.B. vom Menschen sagen, daß er
früher sei als der Same, nämlich
nicht von dem Menschen, der
aus diesem Samen wird, sondern

44
Speusippos von Athen (408-339)
von einem anderen, aus welchem
der Same hervorgegangen ist.«
28

Hier wird ein allgemeines ontologisches Problem neben einem konkre-


ten naturphilosophischen Problem diskutiert. Speusippos ging es offen-
sichtlich darum zu zeigen, daß das erste Prinzip seiner Ontologie, das
Eine – verstanden als mathematische Eins – durchaus noch ganz ab-
strakt und leer sein darf. Als Vergleich zieht er dann ein naturphiloso-
phisches Beispiel heran. Er geht also davon aus, daß das Beste und das
Schöne deswegen keine höchsten Prinzipien seien, weil sie in der Natur
erst im fertigen Wesen als solche in Erscheinung treten. Die Eins muß
also ebenso wie der Same noch nichts sein, das eine Vollendung in sich
enthält.
§ 27 Dabei taucht nun für Aristoteles sofort das Problem auf, daß
das Vollendete zugleich auch den Anfang – hier verstanden als der on-
tologische Anfang allen Seins – machen muß; der Grundsatz jeglichen
idealistischen Denkens. Er kann mithin Speusippos’ Annahme nicht
akzeptieren und sucht diese dadurch zu widerlegen, daß er feststellt, das
Vollkommene, das fertige Geschöpf sei eben doch der Anfang, nicht
aber der Same, denn der Same geht aus dem fertigen Geschöpf hervor.
Damit versucht Aristoteles bloß ein allgemeines Prinzip zu retten; sagt
aber nicht direkt etwas über den naturphilosophischen Fall aus. Onto-
logisch gesehen müssen wir Aristoteles aus idealistischer Sicht recht ge-
ben, denn natürlich müssen wir vom Vollkommenen ausgehen. Für die
Naturphilosophie kann aber dieser Verzicht auf das Vollkommene
durchaus interessant sein.
Kommen wir also zurück zu Speusippos’ Beispiel. Erst in der voll-
endeten Gestalt eines Geschöpfs zeigt sich nach dieser Auffassung die
Schönheit und Funktionalität desselben. Im Samen hingegen, der als
Prinzip (¢rc») dieses Geschöpfes betrachtet wird, ist zwar eine Ursache
des Geschöpfes zu sehen, wohl aber noch nicht dessen fertige Gestalt.
Wir müssen Speusippos hier zunächst einiges biologische Nichtwis-
sen zugestehen. Er konnte noch nichts von Genen wissen, die sehr vie-
les von dem, was ein Geschöpf ausmacht, bereits im Samen determi-

28
Metaphysica XII, 7; 1072b 30 – 1073a 3, Übers. H. Bonitz.

45
Speusippos von Athen (408-339)
nieren. Er nimmt diesen also als das, was er zunächst zu sein scheint;
ein bloßes Stück Materie – wenn auch ein besonderes – aus dem sich
dann beispielsweise ein Baum entwickelt. Die Besonderheit dieser Ma-
terie liegt nun nicht darin, daß der Baum bereits in ihr irgendwie enthal-
ten wäre, sondern bloß darin, daß aus ihr der Baum entsteht. Sie ist
bloße causa efficiens, die Wirkursache, um hier die Sprache Aristo-
teles’ vorwegzunehmen, nicht aber bereits eine Formursache. Irgendwie
führt der Same dazu, daß sich Materie zu einem Baum zusammenla-
gert; aber der Baum mit allen seinen Funktionsgliedern ist noch nicht in
ihm enthalten.
Was ist es dann, was hinzutritt, damit diese Materieansammlung zu
einem Baum wird? Die einzig denkbare Möglichkeit besteht darin, daß
eben eine spezifische Form, also eine ideelle Größe hinzutritt. Speusip-
pos mag hier, da er die Ideen leugnet, sicherlich davon ausgegangen zu
sein, daß es sich dabei um eine rein geometrische Struktur handelt.
Wie auch immer man diese Form aber denkt, es bliebe zu erklären,
wie sie hinzutritt. Dies läßt sich aber ganz einfach dadurch erklären, daß
bestimmte logische Zwänge vorhanden sind, welche nur diese eine
Form zulassen, wenn man von einem bestimmten Samen ausgeht. Die
Materie wird insofern logisch gezwungen, diese Form anzunehmen.
Das kann selbstverständlich scheitern, denn das Logische erfordert
eben bisweilen eine größere Exaktheit, als die Natur zu produzieren
vermag. Aber es entwickelt sich eben auch nicht jeder Same zum
Baum. Wenn es jedoch glückt, dann eben deswegen, weil der Raum
der Möglichkeiten so eingeschränkt worden ist, daß aus dem relativ ein-
fachen Samen ein komplexer Organismus entsteht.
Natürlich wissen wir heute sehr viel mehr über die Vorgänge, als
Speusippos. Wir wissen beispielsweise, daß es ganz im Gegenteil eine
Fülle von Möglichkeiten gibt, die es dem Samen erlauben, aktiv Prozes-
se in Gang zu setzen, die seine Entwicklung zum Baum optimal verlau-
fen lassen. Einige der Prozesse, wie beispielsweise die gengesteuerte
Produktion von Proteinen, haben bereits im Samen ein vollkommenes
Stadium erreicht. Andere organische Funktionen jedoch, wie etwa das
Immunsystem und insbesondere dessen Training werden erst im Ver-
lauf der Ontogenese vervollkommnet. Diese subtile Unterscheidung

46
Speusippos von Athen (408-339)
derjenigen Funktionsglieder eines Organismus, die erst während der
Ontogenese entwickelt werden, von denen, die im embryonalen Stadi-
um bereits vorhanden sind, geht natürlich weit über das von Speusippos
hier intendierte hinaus. Dennoch stellt sein Gedanke einen ersten nai-
ven Beitrag zu dieser Frage dar.

ii. Die ausgebildete Wahrnehmung


§ 28 Bereits von Demokritos und Platon haben wir erfahren, daß
Wahrnehmungen nicht einfach da sind, sondern daß unsere Seele mit
ihrem Vorstellungsvermögen einen wesentlichen Anteil bei Bildung
dessen hat, was wir aus unserer Wahrnehmung gewinnen. Speusippos
geht nun noch einen Schritt weiter und behauptet sogar, die Wahr-
nehmung bedürfe, damit sie überhaupt funktionieren kann, einer Aus-
bildung durch die Vernunft:
SpeÚsippoj dš, ™peˆ tîn prag- »Speusippos aber behauptet, ei-
m£twn t¦ mšn ™stin a„sqht£, t¦ nige Dinge seien sinnlich, andere
d noht£, tîn m n nohtîn intelligibel, der Intelligiblen Un-
krit»rion œlexen e nai tÕn ™pis- terscheidungsmerkmal sei wis-
thmonikÕn lÒgon, tîn d a„sqh- senschaftliche Vernunft, der
tîn t¾n ™pisthmonik¾n a‡sqhsin. Sinnlichen aber die wissenschaft-
™pisthmonik¾n d a‡sqhsin Øp- liche Wahrnehmung. Als wissen-
e…lhfe kaqest£nai t¾n metalam- schaftliche Wahrnehmung aber
b£nousan tÁj kat¦ tÕn lÒgon betrachtete er das, was an der
¢lhqe…aj. ésper g¦r oƒ toà vernünftigen Wahrheit teil hat.
Denn wie die Finger des Flöten-
aÙlhtoà À toà y£ltou d£ktuloi
spielers und des Harfenspielers
tecnik¾n m n e con ™nšrgeian, oÙk
zwar eine Fähigkeit in Bezug auf
™n aÙto‹j d prohgoumšnwj telei-
ihre Kunst besitzen, die aber
oumšnhn, ¢ll' ™k tÁj prÕj tÕn
nicht in ihnen zur Vollendung
logismÕn sunask»sewj ¢parti-
gebracht wurde, sondern durch
zomšnhn, kaˆ æj ¹ toà mousikoà gemeinsames Üben im Hinblick
a‡sqhsij ™nšrgeian m n e cen auf die Vernunft gefertigt worden
¢ntilhptik¾n toà te ¹rmosmšnou ist, und wie die Wahrnehmung
kaˆ toà ¢narmÒstou, taÚthn d des Musikers die Fähigkeit be-
oÙk aÙtofuÁ, ¢ll' ™k logismoà sitzt, das Harmonische wie auch
perigegonu‹an, oÛtw kaˆ ¹ ™pis- das Unharmonische aufzufassen,
thmonik¾ a‡sqhsij fusikîj par¦ was aber nichts von selbst ent-
toà lÒgou tÁj ™pisthmonikÁj me- standenes, sondern ein Ergebnis

47
Speusippos von Athen (408-339)
talamb£nei tribÁj prÕj ¢planÁ des Denkens ist, so ist auch die
tîn Øpokeimšnwn di£gnwsin. wissenschaftliche Wahrnehmung
durch die Vernunft der wissen-
schaftlichen Erfahrung, an der sie
teil hat und die zu untäuschbarer
Erkenntnis der zugrundeliegen-
den Dinge führt, entstanden.«29

Natürlich ist es eine sehr spezielle Wahrnehmung, die uns Speusippos


hier vorstellt und die er als wissenschaftliche Wahrnehmung (™pisth-
monik¾ a‡sqhsij) deklariert. Es ist sozusagen die Fähigkeit eines Speziali-
sten, sein Material auf einen Blick zu erkennen und womöglich es er-
kennend bereits vorzusortieren. Diese ™pisthmonik¾ a‡sqhsij ist daher
bereits von Rationalität durchdrungen und verfügt, so wie sie Speusip-
pos beschreibt, beim Erkennen schon über einen logischen Apparat,
der die Sinnesdaten analysieren kann.
§ 29 Wie haben wir uns diesen Umstand genau vorzustellen, wie
kann sich das Denken, nach Speusippos der ™pisthmonikÕj lÒgoj, so der
a‡sqhsij mitteilen, daß diese logische Fähigkeiten bekommt? Wir müs-
sen ja zunächst einmal beide Vermögen als strikt getrennte Naturstufen
in einem Organismus denken. Wie aber ist eine solche Grenzüber-
schreitung der Kompetenzen dann möglich? Wir können die These
des Speusippos durchaus auf eine Weise verstehen, welche die Tren-
nung der Seinsstufen aufrecht erhält. Wir haben ja bereits bei Platon
erfahren, daß in einem Organismus die höheren Stufen die niedrigeren
beherrschen. Beim Zusammenspiel von Vernunft und Wahrnehmung
ist eine solche Herrschaft leicht auf eine Weise vorstellbar, welche eben
zu dem Ergebnis führt, das uns Speusippos hier präsentiert. Die Ver-
nunft kann ja entscheiden, womit sich der Mensch und damit auch sei-
ne Wahrnehmung beschäftigt. Wenn beispielsweise die Vernunft etwa
dem Gehör beständig eine bestimmte Art von Musik präsentiert, dann
wird dieses automatisch geschult im Erkennen der Nuancen derselben.
Die Wahrnehmung gewöhnt sich gewissermaßen an die akustische
Umgebung, ist immer weniger damit beschäftigt, den immer wiederkeh-
renden Hintergrund aufzunehmen und vermag es nach und nach im-

29
Sextos Empeirikos, Adversus mathematicos Sect. 145, 1 – 146, 11

48
Speusippos von Athen (408-339)
mer subtileres im Vordergrund aufzunehmen. Dieser Effekt, daß die
Wahrnehmung stark von ihrem Fokus abhängt, wird noch dadurch ver-
stärkt, daß sie ja ständig von der Vernunft begleitet agiert und von dieser
immer wieder neu justiert werden kann. Wenn ein Detailbereich allzu
langweilig und bekannt erscheint und die Vernunft hier nichts sie bewe-
gendes mehr ausmachen kann, dann wird der Fokus leicht verschoben.
Diese allmähliche Ausbildung der Wahrnehmung muß keineswegs
auf eine ™pisthmonik¾ a‡sqhsij, also auf etwas wissenschaftliches oder
auch nur wissensbezogenes beschränkt sein. Selbst bei einem Tier kann
ein solcher Effekt eintreten oder auch durch Konditionierung hervorge-
rufen werden. Wenn bestimmte Sinnesreize, die dem Tier sonst entge-
hen würden, durch Konditionierung etwa mit Futter assoziiert werden,
dann wird es leicht, innerhalb dieser Sinnesreize wieder bestimmte Un-
terklassen auszuwählen und das Tier auf diese zu konditionieren.
Der Wahrnehmungsapparat erhält so als ein sehr abstraktes Instru-
mentarium seine Unabhängigkeit und alleinige Kompetenz hinsichtlich
seiner Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen. Die Vernunft oder auch beim
Tier das Vorstellungsvermögen jedoch behalten ebenfalls ihre alleinige
Kompetenz. Lediglich das Zusammenspiel der beiden führt dazu, daß
die herrschende Stufe die von ihr beherrschte so einsetzt, daß es den
Anschein hat, diese habe ihre Kompetenz erweitert. Auch eine
™pisthmonik¾ a‡sqhsij kann keineswegs denken, aber sie ist einem den-
kenden Wesen so sehr zu Diensten, daß sie nur noch dessen Welt
wahrnimmt und alles andere ausblenden kann.

49
Xenokrates von Chalkedon (396-314)
Xenokrates von Chalkedon (396-314)
Xenokrates, war, so berichtet uns Diogenes Laertios, von Jugend an ein
Schüler Platons. Er unternahm auch mit diesem eine Reise nach Sizili-
en. In Athen galt er als enthaltsam, vertrauenswürdig, genügsam und
unbestechlich. Er leitete ab 339 die platonische Akademie. Daher kön-
nen wir nicht nur davon ausgehen, daß sich bei ihm einiges platonische
Gedankengut wiederfindet, wir können es sogar voraussetzen. Das
müssen wir auch, denn es finden sich ebenso wie bei Speusippos nicht
viele Fragmente, die von seiner Philosophie zeugen.

Ideen
i. Die Identifikation von Ideen und Zahlen
§ 30 Eine grundlegende Auffassung von Xenokrates berichtet uns Ari-
stoteles. Es ist jedoch nicht so leicht, diese zuzuordnen, denn Aristote-
les nennt Xenokrates nicht mit Namen:
¥llh d ¢k…nhtoj, kaˆ taÚthn fas… »Zweitens das unbewegliche
tinej e nai cwrist»n, oƒ m n e„j dÚo (Wesen). Dieses behaupten eini-
diairoàntej, oƒ d e„j m…an fÚsin ge als existierend, und teils schei-
tiqšntej t¦ e‡dh kaˆ t¦ maqhma- den sie dieses in zwei Bereiche
tik£, oƒ d t¦ maqhmatik¦ mÒnon von Wesen, teils setzen sie die
toÚtwn. Ideen und die mathematischen
Dinge als ein Wesen, teils neh-
men sie auch nur die mathemati-
schen Dinge als unbewegliche
Wesen an.« 30

Aristoteles stellt uns hier drei philosophische Positionen dar, von denen
wir zwei bereits zuordnen können. Es geht hier um das Unbewegliche
(¢k…nhtoj), als welches Aristoteles das Ideelle bezeichnet. Er verwendet
hier jedoch einen Oberbegriff und spricht nicht von Ideen, denn es
geht ihm um die Rolle, welche Ideen (t¦ e‡dh) und mathematische Din-
ge (t¦ maqhmatik£) spielen. Es gibt nun Denker, die Ideen und ma-
thematische Dinge trennen. Zu ihnen gehört ohne Zweifel Platon, bei

30
Metaphysica XII, 1; 1069a 33-35, Übers. H. Bonitz.

50
Xenokrates von Chalkedon (396-314)
dem das Mathematische den Ideen untergeordnet ist. Schließlich gibt es
Denker, die nur das Mathematische als Ideelles annehmen. Als solchen
haben wir Speusippos kennengelernt. Es bleibt also noch eine dritte
Gruppe von Denkern zu identifizieren, die beides in eins setzen.
Um diesen Denkern auf die Spur zu kommen müssen wir zunächst
eine weitere Stelle von Aristoteles heranziehen, in der er die Philoso-
phie dieser Denker näher beschreibt:
œnioi d t¦ m n e‡dh kaˆ toÝj ¢riq- »Einige ferner behaupten, daß
moÝj t¾n aÙt¾n œcein fasˆ fÚsin, die Ideen und die Zahlen diesel-
t¦ d ¥lla ™cÒmena, gramm¦j kaˆ be Natur hätten, das andere aber
™p…peda, mšcri prÕj t¾n toà oÙra- demnächst der Reihe nach folge,
noà oÙs…an kaˆ t¦ a„sqht£. Linien, Flächen, bis zum Wesen
des Himmels und dem sinnlich
Wahrnehmbaren.« 31

Auch hieraus geht noch nicht direkt hervor, daß es sich bei diesen
Denkern um Xenokrates handelt. Dies läßt sich jedoch aus einem
Kommentar zu dieser Stelle von Asclepius ersehen, der davon ausgeht,
daß hier Xenokrates gemeint ist:
'Enteàqen e„j tÕn Xenokr£thn ¢po- »In Folge dessen wird die Rede
te…netai, ka… fhsin Óti t¦ e‡dh tîn bis hin zu Xenokrates ausge-
pragm£twn to‹j ¢riqmo‹j pros- dehnt, und er sagt, daß er die
hgÒreuen, ™peid», ésper oƒ ¢riqmoˆ Ideen der Dinge die Zahlen
perioristiko… e„sin ïn e„sin ¢riqmo…, nennt, denn ebenso wie die
oÛtw d¾ kaˆ t¦ e‡dh perioristik¦ Zahlen begrenzende sind, wenn
tÁj Ûlhj Øp£rcousin. e ta met¦ sie als Zahlen sind, so ermögli-
t¦j „dšaj deutšraj oÙs…aj Øpo- chen auch die begrenzenden
t…qetai t¦j dianoht£j, toutšsti t¦ Ideen die Materie. Folglich ent-
maq»mata, gramm¦j kaˆ ™p…peda· stehen nach den Ideen als zweite
Wesenheiten die gedanklichen
(durch Nachdenken erkennba-
ren) und das sind die wissen-
schaftlichen wie Linie und Flä-
che.«
32

31
Metaphysica VII, 2; 1028b 24-27, Übers. H. Bonitz.
32
In Aristotelis metaphysicorum libros A-Z commentaria S. 379, Z. 17-22.

51
Xenokrates von Chalkedon (396-314)
Die Rede, die hier bis hin zu Xenokrates’ Denken ausgedehnt wird, ist
eben jene Stelle bei Aristoteles, mit der unser obiges Zitat beginnt. Wir
können also in Xenokrates denjenigen Denker erkennen, der die dritte
noch offene Denkmöglichkeit des Verhältnisses von Ideen und Zahlen
als Grundlage seiner Philosophie gewählt hat; eben die Identifikation
der beiden.
§ 31 Wie aber sieht diese Auffassung genau aus und was macht sie
für Xenokrates so attraktiv? Hierzu haben wir in den wenigen Zitaten
bereits eine Menge erfahren. Zahlen und Ideen, so erfahren wir bei
Asclepius, haben etwas gemeinsam: Sie begrenzen sich und anderes.
Ideen tun dies hinsichtlich der Bedeutung, Zahlen tun es hinsichtlich
der Quantität. Offenbar ging Xenokrates davon aus, daß es sich hier um
dasselbe Konzept der Begrenzung handelt und schloß von dieser Ana-
logie auf eine Identität von Ideen und Zahlen. Man könnte nun als Ge-
genargument gegen seine Auffassung vorbringen, daß man doch zum
Begrenzen nicht nur Zahlen verwenden kann, sondern auch des Be-
griffs der Begrenzung bedarf. Aber diesen Begriff, so würde Xenokrates
antworten, schafft er ja – anders als Speusippos – nicht ab, sondern er
setzt ihn nur mit einer Zahl gleich.
Ich sehe nur ein Argument, welches die Gleichsetzung von Zahl und
Idee rechtfertigen könnte. Nehmen wir an, die Summe der Ideen läge
vor uns und wir hätten eine perfekte Methode zu ihrer Rekonstruktion
gefunden. Unser Geist könnte so sicher von Begriff zu Begriff gelangen
und hätte am Ende das ganze Reich der Ideen erfaßt. Dann wäre es
doch ebenso logisch, daß die Begriffe sich zumindest für den Geist in
einem geordneten nacheinander präsentieren. Jeden Begriff könnte so
eine Zahl zugeordnet werden, die angibt, der wievielte Begriff auf dem
Weg der geistigen Rekonstruktion des Reichs der Ideen er ist. Ich sehe
jedoch andererseits nicht, warum dies mehr als ein äußerer Zusam-
menhang von Idee und Zahl sein soll, worin also dann die Identifikati-
on der beiden begründet läge. Aus eben diesem Grund, daß die Zahl
dann bloß äußerlich den Ideen zugeordnet wäre, bleibt mir auch un-
klar, welchen ideellen Wert die Zahlen haben sollten.
Worin dieser Wert für Xenokrates lag, haben wir von Aristoteles
unlängst erfahren. Es ist auch hier, ähnlich wie bei Speusippos, der py-

52
Xenokrates von Chalkedon (396-314)
thagoräische Traum einer Herleitung der Wirklichkeit aus den Ideen
durch die Geometrie. Auch Xenokrates glaubte offensichtlich, man kön-
ne aus Zahlen geometrische Körper und aus diesen physikalische Körper
herleiten. Dieser Traum aber zerplatzt an den bei der Diskussion von Py-
thagoras genannten Argumenten. Wir werden jedoch bei der Diskussion
der Naturformen sogleich noch sehen, daß auch dieser Anspruch, einer
Herleitung der Natur als ganzer bei Xenokrates nicht vorhanden ist.

ii. Die Form ist sich selbst ihre Form


§ 32 Zunächst jedoch müssen wir uns mit einem weiteren sehr interes-
santer Beitrag zur Ideenlehre durch Xenokrates beschäftigen. Dieser be-
zieht sich auf ein Problem, welches wir als zweites von Platon diskutiertes
Problem der Ideenlehre bereits kennengelernt haben. Wenn eine Idee
so konstituiert wird, so fragt sich Platon im Parmenides, daß es zu zwei
oder mehreren Ähnlichen immer eine Idee gibt, welche diese Ähnlich-
keit verkörpert, dann muß es für die Ähnlichkeit zwischen Idee und den
Gegenständen wiederum eine Metaidee geben, die diese Metaähnlichkeit
verkörpert.
Wir haben oben eine ganz einfache Lösung für dieses Problem vor-
geschlagen. Man setzte einfach Idee und Metaidee in eins und die Gefahr
eines endlosen Progresses der Ideenkonstitution ist gebannt. Xenokrates
scheint dieses Problem gekannt und es auf eben diese Art gelöst zu ha-
ben:
kaˆ ¢n£gousi p£nta e„j toÝj ¢riq- »Und [sie] führen alles auf Zahlen
moÚj, kaˆ grammÁj tÕn lÒgon tÕn zurück und behaupten, der Begriff
tîn dÚo e na… fasin. kaˆ tîn t¦j der Linie sei der der Zwei. Und
„dšaj legÒntwn oƒ m n aÙto- zwar erklären von den Anhängern
gramm¾n t¾n du£da, oƒ d tÕ e doj der Ideenlehre einige die Zweiheit
tÁj grammÁj, œnia m n g¦r e nai tÕ für die Linie an sich, andere für die
aÙtÕ tÕ e doj kaˆ oá tÕ e doj (oŒon Form der Linie. Denn bei man-
du£da kaˆ tÕ e doj du£doj), ™pˆ chen sei die Form und das, dessen
grammÁj d oÙkšti. Form es sei, identisch, wie Zweiheit
und Form der Zweiheit, bei der
Linie aber nicht mehr.« 33

33
Aristoteles, Metaphysica VII, 11; 1036b 12-17, Übers. H. Bonitz.

53
Xenokrates von Chalkedon (396-314)
Die Form selbst (aÙtÕ tÕ e doj) und das, dessen Form sie ist (oá tÕ e doj)
werden hier in eins gesetzt. e doj als Form meint dabei natürlich dassel-
be wie Idee. Als Beispiel wird die Zweiheit als Form oder Idee der
Zweiheit genannt. Das ist natürlich nur eine platte Tautologie, aber die-
se Tautologie löst eben das genannte Problem. Jene Idee, welche die
Gemeinsamkeit der Idee der Zweiheit und einer empirischen Zweiheit
verkörpert, ist eben die nämliche Idee der Zweiheit selbst.34
Dabei ist es sehr naheliegend, daß Xenokrates gerade wegen seiner
Identifikation von Ideen und Zahlen auf diese Lösung gekommen ist.
Denn im Fall der Zweiheit hätten wir die Möglichkeit zwei verschiede-
ne Ideenformen zu unterscheiden; eben die mathematische Zwei und
die begriffliche als gewissermaßen eine allgemeinste Form der Vielheit.
Erst da, wo das Begriffliche wirklich auseinanderfallen könnte, läßt sich
seine Einheit konstatieren.

Natur
i. Zahlen als Formen der Dinge
§ 33 Über Xenokrates erfahren wir von Aristoteles etwas genauer, wie
man sich in den Reihen der Platoniker, insbesondere wohl der Schüler
Platons, das Verhältnis von Ideen, Naturformen und Materie vorstellte:
poioàsi g¦r t¦ megšqh ™k tÁj Ûlhj »Denn sie lassen die Raumgrö-
kaˆ ¢riqmoà, ™k m n tÁj du£doj t¦ ßen aus der Materie und der Zahl
m»kh, ™k tri£doj d' ‡swj t¦ ™p…- entstehen: aus der Zweiheit die
peda, ™k d tÁj tetr£doj t¦ ste- Linien, aus der Dreiheit etwa die
re¦ À kaˆ ™x ¥llwn ¢riqmîn· dia- Flächen, aus der Vierzahl die
fšrei g¦r oÙqšn Körper, oder auch aus anderen
Zahlen; denn darauf kommt
hierbei nichts an.«
35

34
Am Rande ist hier anzumerken, daß sich diese Stelle in Aritoteles’ Metaphysik fin-
det, also gerade dem Buch, das sich mittels diesem nach seiner Diskussion so ge-
nannten Problem des dritten Menschen gegen die Ideenlehre Platons und seiner
Schüler wendet. Dabei geht Aristoteles an keiner Stelle auf diese mögliche Lösung
des Problems ein.
35
Metaphysica, XIV, 3; 1090b 21-24, Übers. H. Bonitz.

54
Xenokrates von Chalkedon (396-314)
Wir hatten bereits bei Speusippos und auch in Platons Timaios gese-
hen, daß sie davon ausgehen, die Materie aus geometrischen Körpern
konstruieren zu können. Platon schränkte dieses gleichwohl als lÒgoj
e„kÒj, als bloß wahrscheinliche Rede in seiner Aussagekraft ein. Den
hier vorgestellten Gedanken, die Natur aus Zahlen, Punkten, Linien,
Flächen geometrisch herzuleiten kennen wir jedoch insbesondere von
Speusippos und natürlich von Pythagoras. Was nun bei Xenokrates
hinzukommt, ist die Rolle der Materie. Die Größen entstehen ihm zu
Folge ™k tÁj Ûlhj kaˆ ¢riqmoà, aus Materie und Zahl. Wenn die Materie
nun schon vorausgesetzt ist, um räumliche Größen entstehen zu lassen,
dann können wir mit Sicherheit davon ausgehen, daß Xenokrates zufol-
ge nicht mehr die Zahl allein die physikalische Körper aus sich hervor-
bringt, sondern daß sie diese allenfalls formt. Die geometrischen Kör-
per sind somit vermutlich mit den Naturformen gleichzusetzen. Ihre
ideellen Prinzipien sind die Ideen als Zahlen, die Einheit, Zweiheit usw.
Diese geometrischen Körper treten dann offenbar nur zur Materie hin-
zu.
Die Probleme dieser Sichtweise sind offenbar. Zum einen wird hier
die Materie vorausgesetzt und selbst nicht aus dem Ideellen hergeleitet.
Xenokrates macht offenbar nicht einmal den Versuch dazu. Zum ande-
ren bleibt eben aufgrund dieses Dualismus von Materie und Form die
Frage ungeklärt, wie denn die Form die Materie zu formen vermag.
Wie soll ein geometrischer Körper zur Materie hinzutreten, wie vermag
er diese zu begrenzen? Aus dem bloßen Faktum, daß alles Natursein
eine geometrische Gestalt hat, läßt sich ja keineswegs ein Erklärungszu-
sammenhang herleiten. Die geometrische Gestalt bestimmt das Natur-
sein nicht, erklärt uns nicht, warum es sich so und nicht anders verhält.
§ 34 Ein Anwendungsbeispiel, das uns erklären könnte, wie sich
Xenokrates dies denkt, finden wir in seiner Auffassung vom Wesen der
Seele:
e‡dh d' oƒ ¢riqmoˆ oátoi tîn prag- »Und diese Zahlen sind die Ide-
m£twn. ™peˆ d kaˆ kinhtikÕn ™dÒkei en (Formursachen) der Dinge.
¹ yuc¾ e nai kaˆ gnwristikÕn Da die Seele auch bewegendes
oÛtwj, œnioi sunšplexan ™x ¢mfo‹n, und erkennendes Vermögen zu
¢pofhn£menoi t¾n yuc¾n ¢riqmÕn sein schien, kombinieren somit
kinoànq' ˜autÒn. einige Denker ihre Ansicht aus

55
Xenokrates von Chalkedon (396-314)
den zwei anderen und sagten, die
Seele sei „eine sich selbst bewe-
gende Zahl“.« 36

Ebenso wie die Zahlen die Formen der Dinge (e‡dh tîn pragm£twn)
sind, sind sie auch die Formen der Seele. Dies verband Xenokrates of-
fenbar mit dem platonischen Gedanken der sich selbst bewegenden
Seele und kam zu dem Ergebnis, die Seele als eine sich selbst bewe-
gende Zahl (¢riqmÕj kinoànq' ˜autÒj) zu bestimmen.
Leider bringt uns in der Analyse dieser Feststellung auch der Ge-
danke des sich selbst Bewegens, den wir vorher schon analysiert haben
und dem wir durchaus einiges Produktive abgewinnen konnten, nicht
wirklich weiter. Anstatt Xenokrates’ Sichtweise, die Zahl als Form der
Dinge zu sehen, aufzuklären, zeigt uns Aristoteles’ Darstellung viel-
mehr, wie verwirrend diese Sichtweise wird, wenn man sie konsequent
auf ein Naturphänomen wie die Seele anwendet. Natürlich mag Aristo-
teles’ Darstellung hier sehr polemisch sein und einiges zur Verdunke-
lung beitragen. Allein, wir sind auf seinen Bericht angewiesen um über-
haupt etwas über Xenokrates’ Denken zu erfahren und kommen somit
nicht umhin, Aristoteles hier ernst zu nehmen. In jedem Fall zeugt Ari-
stoteles’ Widerlegung der xenokratischen Seelenlehre von einiger Po-
lemik:
Ðmo…wj d kaˆ Óti ¹ yuc¾ oÙk »Ebenso kann man zeigen, daß
¢riqmÒj, dielÒmenon Óti p©j ¢riq- die Seele keine Zahl ist, indem
mÕj À perittÕj À ¥rtioj· e„ g¦r ¹ man alle Zahlen in ungerade und
yuc¾ m»te perittÕn m»te ¥rtion, gerade unterteilt. Wenn nun die
dÁlon Óti oÙk ¢riqmÒj. Seele weder ungerade noch gera-
de ist, so ist offenbar, daß sie kei-
ne Zahl ist.«37

So parodistisch dieser Gegenbeweis auch anmuten mag; er zeigt jeden-


falls schlüssig, daß die Seele keine Zahl ist. Möchte jemand das Gegen-
teil behaupten, so hat er zumindest einiges an Erklärungsarbeit zu lei-
sten, was von Xenokrates leider nicht überliefert ist.

36
Aristoteles, De anima, I, 2; 404b 27-30, Übers. W. Theiler.
37
Topica, III, 6; 120b 3-4

56
Xenokrates von Chalkedon (396-314)
ii. Der Bezug der Natur zum Ewigen
§ 35 Ein Gedanke des Xenokrates, der in eine ganz andere Richtung
geht, findet sich bei Clemens von Alexandria. Clemens geht es darum,
Verbündete für die Ansicht zu finden, daß auch die Ungläubigen zu-
mindest einen vagen Begriff des allmächtigen christlichen Gottes haben
müßten. Er findet hierfür in gewissem Sinne in Xenokrates ein Beispiel:
qeoà m n g¦r œmfasij ˜nÕj Ãn toà »Denn es gab immer eine natür-
pantokr£toroj par¦ p©si to‹j eâ liche Erscheinung des einen all-
fronoàsi p£ntote fusik», kaˆ tÁj mächtigen Gottes bei all jenen,
¢id…ou kat¦ t¾n qe…an prÒnoian eÙ- die richtig denken und die vielen,
erges…aj ¢ntelamb£nonto oƒ ple‹s- die immerwährend gemäß göttli-
toi, oƒ kaˆ m¾ tšleon ¢phruqri- cher Vorsehung gut handeln und
akÒtej prÕj t¾n ¢l»qeian. kaqÒlou nicht vollends schamlos mit der
goàn t¾n perˆ toà qe…ou œnnoian Xe- Wahrheit umgingen, wurden un-
nokr£thj Ð KalchdÒnioj oÙk ¢p- terstützt. Im allgemeinen wenig-
elp…zei kaˆ ™n to‹j ¢lÒgoij zóoij stens war Xenokrates von Chal-
kedon nicht hoffnungslos bezüg-
lich der Existenz des Begriffs
Gottes selbst bei den unvernünf-
tigen Lebewesen.« 38

Was Clemens dem Xenokrates hier zuschreibt ist eine ganz und gar in-
teressante Sichtweise. Offenbar ging Xenokrates davon aus, daß die
höchste Einsicht, sich auch in irgend einer Form schon in niedrigeren
Naturwesen als dem Menschen finden lassen muß. Auch diese Natur-
wesen müssen schon eine vage Ahnung vom Ideellen – dem platoni-
schen Pendant zum christlichen Gott – haben.
Aus der Perspektive einer idealistischen Metaphysik läßt sich dies
hervorragend erklären. Selbst die niedersten Naturwesen bestehen ja
durch und durch aus Ideellem. Dieses Ideelle aber, das nach Xenokra-
tes’ Auffassung nur ihre Form bestimmt, nach unserer aber sogar ihre
Materie, hängt wesentlich von den Ideen selbst ab. So steht es immer
schon in logischen Zusammenhängen und läßt das Wesen, welches es
konstituiert, in solchen Zusammenhängen agieren. Darüber hinaus ist
in ihm natürlich damit auch immer schon die Möglichkeit einer Hö-

38
Stromata, V, 13, Sec. 87, Subsec. 3, Z. 1- 3, 3

57
Xenokrates von Chalkedon (396-314)
herentwicklung gegeben. Es kann als wesentlich Ideelles in einen über-
geordneten Zusammenhang gestellt werden. So liegt in jedem Naturwe-
sen eben auch immer schon die Möglichkeit seiner Vollendung als Na-
turwesen, die Möglichkeit eines Beitrags auf dem Weg zur Entwicklung
des Geistes, der vollendeten Erscheinung des höchsten Ideellen in der
Natur verborgen.

Geist
§ 36 Über Xenokrates’ Sichtweise des Geistes ist wenig überliefert. Wir
werden uns hier nur mit einer Stelle beschäftigen, die sich mit dem Ort
des Geistes im Menschen auseinandersetzt. Lactantius teilt uns dazu
folgendes mit:
Sive etiam mentis locus nullus »Mag nun aber auch der Geist
est, sed per totum corpus keinen bestimmten Sitz haben,
sparsa discurrit, quod et fieri sondern im ganzen Körper ver-
potest, et Xenocrate Platonis breitet sein, was auch der Fall
discipulo disputatum est, si- sein könnte und auch von Pla-
quidem sensus in qualibet par- tons Schüler Xenokrates darge-
te corporis praesto est, nec legt worden ist, da ja das Gefühl
quid mens sit mens ista, nec in jedem beliebigen Teile des
qualis, intelligi potest, cum Körpers sich findet, so ist doch
sit natura eius tam subtilis ac die Erkenntnis des Wesens des
tenuis, ut solidis visceribus in- Geistes unmöglich, da seine Na-
fusa, vivo, et quasi ardenti sen- tur so zart und fein ist, daß er, mit
su, membris omnibus misceatur. den materiellen Eingeweiden
vereinigt, mit einem lebendigen
und gewissermaßen feurigen Ge-
fühle sich mitteilt.«
39

Xenokrates behauptet also, der Geist, den Alkmaion im Gehirn vermu-


tete, habe gar keinen festen Sitz im Körper. Er sei vielmehr über den
ganzen Körper verteilt. Den Grund für diese Annahme hat er offen-
sichtlich darin gesehen, daß wir in jedem Körperteil Empfindungen ha-
ben können. Lactantius zieht daraus die Folgerung, wir könnten den

39
De opificio Dei XVI, 12, Übers. A. Hartl.

58
Xenokrates von Chalkedon (396-314)
Geist deswegen nicht erkennen, weil er als im Körper verteilte Wesen-
heit zu fein sei. Dem wollen wir nicht weiter nachgehen, sondern nur
konstatieren, daß es jedenfalls nicht dem Xenokrates als Auffassung zu-
zuschreiben ist.
Was aber ist von Xenokrates Feststellung zu halten? Zunächst ein-
mal würden wir sagen, informiert durch eine reichere biologische
Kenntnis, daß der Umstand, daß wir in jedem Körperteil Empfindun-
gen haben können, den dort vorhandenen Nerven geschuldet ist. Das
wiederum würde die Auffassung nahelegen, daß eben das ganze Ner-
vensystem entweder der Geist ist, oder doch zumindest dessen Sitz.
Doch diese beiden Annahmen scheitern daran, daß eben die wesentli-
che Leistung des Nervensystems offenbar darin besteht, Empfindungen
zu zentralisieren, sie an einem Ort zur Verfügung zu stellen. Ich habe
zwar Schmerzen an meinem Bein, aber der Schmerz ist immer in mein
allgemeines Befinden integriert und dieses allgemeine Befinden erlebe
ich nicht einmal aus der Sicht meines Beines und ein anderes mal aus
der Sicht meines Kopfes. Dies legt den Schluß nahe, daß dann eben die
Zentrale, die sich doch sicherlich – hier müssen wir Alkmaion recht ge-
ben – im Kopf befindet, der Sitz des Geistes ist.
Sicherlich erleben wir die Welt aus unserem Kopf heraus, aber muß
deswegen schon der Geist auch hier verortet werden? Ein ganz einfa-
cher Gedanke läßt uns diese Sichtweise guten Gewissens verneinen.
Was würde es denn für den Inhalt einer Empfindung an zusätzlicher
Qualität bringen, wenn wir sie im Kopf verorten? Die Bedeutung einer
Empfindung ist sicherlich nicht ortsgebunden, sondern viel eher sy-
stemgebunden. Es ist wichtiger, daß es meine Empfindung ist, daß es
mein Schmerz ist, den ich da spüre, als zu wissen, wo ich genau diese
Schmerzempfindung abspeichere. Fragt mich jemand nach dem Ort
des Schmerzes, so zeige ich beispielsweise auf mein schmerzendes
Bein, nicht aber auf den Kopf. Und das tun selbst jene Menschen, de-
ren Bein bereits amputiert worden ist. In ihrer Empfindung ist der
Schmerz immer noch dort, wo sie ihn empfinden. Und das kann, hier
können wir Xenokrates nur bestätigen, überall sein.
Interessanter wird der Fall noch, wenn wir den Geist sich nicht mit
seinen Schmerzen befassen lassen, sondern beispielsweise mit abstrak-

59
Xenokrates von Chalkedon (396-314)
ten Begriffen oder auch einfach nur mit sprachlichen Äußerungen.
Auch hier ist die Bedeutung des Begriffs nicht orts- sondern systemge-
bunden. Sie ist nicht in meinem Kopf, sondern sie liegt in der Sprache
oder im Fall logischer Begriffe sogar im System dieser Begriffe, welches
jedem seine Bedeutung zuweist. Wir können Xenokrates so in seiner
Behauptung recht geben, daß sich der Geist nicht irgendwo im Körper
verorten läßt.

60
Aristoteles von Stageira (384-322)
Aristoteles von Stageira (384-322)
Aristoteles war der Sohn des Arztes des Makedonierkönigs Amyntas. Er
trat 367 als junger Mann in die platonische Akademie ein und blieb bis
zu Platons Tod dessen Schüler. Nach Platons Tod reiste er zusammen
mit Xenokrates zu Hermeias, dem Herrscher von Atarneus. Als dieser
vom König der Perser hingerichtet wurde, begab er sich nach Makedoni-
en und wurde der Lehrer des Königssohnes Alexandros; eine Aufgabe,
der er bis zu dessen Regierungsantritt 336 nachging. Er ging dann wieder
nach Athen zurück und mietete das Lykeion, indem er seine eigene
Philosophieschule etablierte. Aus dieser Zeit sollen fast alle seine Schrif-
ten stammen, die größtenteils Vorlesungsmanuskripte gewesen sein sol-
len. Ein Jahr vor seinem Tod mußte er als Freund Alexandros’, der ge-
storben war, Athen verlassen und floh vor einer drohenden Anklage –
wie bei Philosophen üblich wegen Gottlosigkeit – nach Chalkis.

Ideen
i. Die Möglichkeit einer Ideenlehre bei Aristoteles
§ 37 Wenn hier der Versuch unternommen wird, Aristoteles aus einer
idealistischen Sicht zu behandeln, so scheint das zunächst einmal ein ge-
waltsames Unterfangen zu sein. Wir werden sehen, daß für Aristoteles
der Bezug zur empirischen Wirklichkeit etwas ganz zentrales ist. Nichts
liegt ihm ferner als die platonische Trennung von Ideen und empirischer
Wirklichkeit. Doch gerade dieser Gedanke ist für uns sehr produktiv,
denn wir haben diese Trennung von Ideen und Wirklichkeit bei Platon
ja allenthalben kritisiert und damit bereits einiges von dem vorwegge-
nommen, was wir bei Aristoteles wiederfinden werden. Der aristotelische
Grundgedanke, daß es Ideen nur dann geben kann, wenn sie in der
Wirklichkeit aufweisbar sind und in ihr auch aktiv sind, macht uns aus
Aristoteles einen Verbündeten.
Gleichwohl wird dieses Bündnis erst dort wirklich unproblematisch,
wo die empirische Wirklichkeit zum Thema wird, also erst dort, wo wir
über die Naturformen diskutieren. Solange es um reine Ideen geht, ist
Aristoteles eher ein sperriger Autor. In seinen logischen Schriften geht es

61
Aristoteles von Stageira (384-322)
vor allem um den Versuch, Sätze und die Möglichkeit der Begründung
derselben zu untersuchen. Eine solche Untersuchung ist für uns ganz und
gar unfruchtbar, da sie einzelne Sätze als solche zu ihrem Gegenstand
macht. Wir hingegen gehen im Geiste der idealistischen Philosophie da-
von aus, daß ein System von Begriffen, die für logische Strukturen stehen,
einen kohärenten Zusammenhang bildet, der jede Frage nach einer Be-
gründung erübrigt. Es kommt nur darauf an, diesen Zusammenhang als
Zusammenhang nachzuvollziehen.
Was also tun wir, wenn wir bei Aristoteles keine ausgebildete Ideen-
lehre finden. Zunächst einmal gäbe es die Möglichkeit – ebenso wie bei
anderen Kritikern der Ideenlehre – seine Kritik derselben ausführlich
darzustellen. Bei genauerer Betrachtung der aristotelischen Äußerungen
zu dieser Frage jedoch zeigt sich, daß seine Kritik sich ausschließlich ge-
gen den vor allem bei Platon fehlenden Bezug der Ideen zur Wirklich-
keit richtet. Aristoteles Ideenkritik ist also kein Beitrag zu Ideenlehre,
sondern vielmehr zur Naturphilosophie.
Im Gegensatz zu anderen Autoren, die einer Ideenlehre gegenüber
kritisch eingestellt sind, haben wir jedoch bei Aristoteles den unschätzba-
ren Vorteil, eine Unmenge an von ihm überlieferten Texten zu besitzen.
Diese Texte behandeln durchaus eine große Zahl von Begriffen, die wir
leicht als reine Ideen identifizieren können. Daher lohnt sich der Ver-
such, das System dieser Begriffe als eine Art von Ideenlehre darzustellen.
§ 38 Von Aristoteles selbst erhalten wir hier eine ganz interessante
Hilfestellung, die uns den groben Rahmen dieser Ideenlehre liefert. In
Buch IV der Metaphysica stellt er hier die Frage nach der Möglichkeit
von Metaphysik überhaupt, indem er fragt, ob es eine allen Wissenschaf-
ten zugrundeliegende vereinende Wissenschaft geben könne, die allge-
meinste Prinzipien untersucht. Als eine solchen Wissenschaft präsentiert
er uns das, was später den Namen Metaphysik erhalten sollte:
”Estin ™pist»mh tij ¿ qewre‹ tÕ ×n »Es gibt eine Wissenschaft, wel-
Î ×n kaˆ t¦ toÚtJ Øp£rconta kaq' che das Seiende als Seiendes un-
aØtÒ. tersucht und das demselben an
sich Zukommende.« 40

40
Metaphysica IV, 1; 1003a 21-23, Übers. H. Bonitz.

62
Aristoteles von Stageira (384-322)
Was aber heißt es nun, tÕ ×n Î ×n zu untersuchen? Was macht das Seiendes als
Seiendes aus? Es sind die allgemeinsten Begriffe, die wir vom Seienden aussagen
können, nach denen Aristoteles hier fragt.
Dabei läuft Aristoteles, wenn wir denn davon ausgehen, daß er im Grunde
seines Herzens eine Ideenlehre ablehnt, in eine Falle. Der Gedanke, eine derart
grundlegende Wissenschaft zu suchen, die alles umfaßt, läßt ihn nach und nach
logische Kategorien aufdecken und somit doch so etwas wie eine Ideenlehre
entwickeln. Der heuristische Gedanke bei dieser Entwicklung ist dabei immer
die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit einer einheitlichen Wissenschaft.
Diese Bedingung ist aber nicht ganz und gar unterschieden von Platons Vorge-
hen im Sophistes, wo er immer danach fragt, was denn die Bedingung der Mög-
lichkeit der Eigenständigkeit des Bedeutungsgehaltes eines bestimmen Begriffs
sei. Auch hier ist implizit immer die Frage anvisiert, ob das System der Begriffe
bereits vollständig ist, oder ob es auf der Ebene der Begriffseigenschaften noch
Momente gibt, deren Bedeutungsgehalte noch nicht als Kategorien thematisiert
worden sind. Aristoteles Frage, ob die gesuchte Wissenschaft auch alles grundle-
gende umfaßt, legt ein ganz ähnliches Vorgehen nahe.
Da sich diese kleine aristotelische Ideenlehre jedoch nur in Buch IV mit ei-
ner Art Fortsetzung in Buch X der Metaphysica findet, sind wir darauf angewie-
sen, die hier auftauchenden Begriffsdarstellungen mit Hilfe anderer Textstellen,
in denen Aristoteles sie eingehender analysiert, zu erweitern. So soll nach und
nach das ganze Repertoire der Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie er-
schlossen werden.

ii. Das Sein und seine kategorialen Hinsichten


§ 39 Der erste Begriff auf den Aristoteles dabei stößt, ist der Begriff des Seins (tÕ
Ôn). Hier stellt er zunächst fest, daß dem Sein eine gewisse Allgemeinheit zu-
kommt, insofern es in vielen verschiedenen Fällen Anwendung findet, aber im-
mer einen Bedeutungsgehalt behält:
TÕ d ×n lšgetai m n pollacîj, »Das Seiende wird in mehrfacher
¢ll¦ prÕj ›n kaˆ m…an tin¦ fÚsin Bedeutung ausgesagt, aber immer
in Beziehung auf Eines und auf
eine einzige Natur«.
41

41
Metaphysica IV, 2; 1003a 33-34, Übers. H. Bonitz.

63
Aristoteles von Stageira (384-322)
Dieser Gegensatz zwischen pollacîj lšgetai und prÕj ›n ist der Ge-
gensatz zwischen dem Bedeutungsgehalt des Ôn und den Trägern sei-
ner Eigenschaft. Die Eigenschaft, zu sein, kommt allen Dingen zu,
aber dennoch hat der Begriff nur einen Bedeutungsgehalt.
Daher müssen wir hier einen wichtigen Unterschied zu Platon
konstatieren. Der Bedeutungsgehalt des Ôn ist nicht ›n sondern prÕj ›n,
er ist nicht in einem strengen Sinne einer, sondern es gibt zur einen
Bezug zu dieser Einheit. Die verschiedenen Anwendungsfälle des ×n
sind also nicht streng identisch, sondern sie sind vielmehr nur analog.
Wir haben den Begriff des Ôn also nicht als einheitlichen Begriff vor
uns, sondern wir schließen nur aus den vielen analogen Anwendungs-
fällen darauf, daß es eine solche Einheit geben muß; sie ist letztlich
nichts anderes als die Bedingung der Möglichkeit einer einheitlichen
Metaphysik. Aristoteles argumentiert also auch hier, wie auch in sei-
nen logischen Schriften, nicht streng ontologisch, sondern vielmehr
zurückhaltend erkenntnistheoretisch. Das soll uns aber nicht davon
abhalten, dennoch die ontologischen Früchte seiner Argumentation
zu ernten. Wir werden also im folgenden davon ausgehen, daß wir
über die Einheit der zur Sprache kommenden Begriffe verfügen und
die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Fragen einfach igno-
rieren. Mit diesen erkenntnistheoretischen Problemen werden wir uns
im dritten Teil auseinandersetzen.
§ 40 Aristoteles präzisiert nun diesen Begriff des Ôn in seinem Be-
griffslexikon in Buch IV der Metaphysica:
TÕ ×n lšgetai tÕ m n kat¦ sum- »Das Seiende wird teils in akzi-
bebhkÕj tÕ d kaq' aØtÒ dentellem Sinne ausgesagt, teil
an sich.«
42

Diejenigen Dinge oder Begriffe, denen die Eigenschaft des Seins zu-
kommt, sind demnach in zwei Hinsichten zu unterscheiden. Zunächst
müssen wir also die dabei zugrundegelegte Unterscheidung zwischen
akzidentell (sumbebhkÕj) und an sich (kaq' aØtÒ) klären. Der erste die-
ser Begriffe findet erneut eine ganz einleuchtende Erklärung im Be-
griffslexikon:

42
Metaphysica V, 7; 1017a 7-8, Übers. H. Bonitz.

64
Aristoteles von Stageira (384-322)

SumbebhkÕj lšgetai Ö Øp£rcei mšn »Akzidenz nennt man dasjenige,


tini kaˆ ¢lhq j e„pe‹n, oÙ mšntoi was sich zwar an etwas findet und
oÜt' ™x ¢n£gkhj oÜte <æj> ™pˆ tÕ mit Wahrheit von ihm ausgesagt
polÚ, oŒon e‡ tij ÑrÚttwn futù werden kann, aber weder not-
bÒqron eáre qhsaurÒn. wendig, noch in den meisten
Fällen sich findet, z.B. wenn je-
mand beim Graben eines Loches
für eine Pflanze einen Schatz
fand.«
43

Mit sumbebhkÒj meint Aristoteles also all dasjenige Sein, das einem Sei-
enden nicht zukommt, weil es dieses Seiende ist. Es bleibt weiter was es
ist, wenn dieses akzidentelle Sein für es verloren geht. Entsprechend
meint kaq' aØtÒ, all dasjenige Sein, was ein Seiendes zu dem Seienden
macht, das es ist, was es als das, was es ist, ausmacht.
Wenn nun die Metaphysik als Einheitswissenschaft das Seiende als
Seiendes (tÕ ×n Î Ôn) untersuchen soll, so ist es gerade diese Seite des
kaq' aØtÒ, die uns interessiert. Denn das dem Seienden nur nebensäch-
lich Zukommende gehört per Definition nicht in diesen Bereich. Aus
der Sicht der idealistischen Philosophie könnte man diese Leitunter-
scheidung hier als eine noch abstrakte Unterscheidung von Ideen und
Natur auffassen. Die Ideen als all diejenigen logischen Hinsichten, die
Teil der Metaphysik als Einheitswissenschaft sind, haben ihr Sein an
sich, während die Natur dieses Sein nur in einer akzidentellen Hinsicht
hat. Dabei muß das akzidentelle Moment natürlich in der Natur gese-
hen werden. Es ist also akzidentell für das Sein, daß es auf die Natur
zutrifft und entsprechend für die Natur, daß sie seiend ist. Gleichzeitig
ist das Sein natürlich ein wesentliches Moment des Natürlichen, denn
ohne Sein gäbe es dieses nicht.
§ 41 Folgen wir also der Betrachtung desjenigen, dem das Sein an
sich zukommt. Hier führt Aristoteles die Kategorien als Hinsichten des
Seins in die Metaphysik ein:

43
Metaphysica V, 30; 1025a 14-16, Übers. H. Bonitz.

65
Aristoteles von Stageira (384-322)

kaq' aØt¦ d e nai lšgetai Ósaper »An sich zu sein aber wird von all
shma…nei t¦ sc»mata tÁj kat- dem gesagt, was die Formen der
hgor…aj· Ðsacîj g¦r lšgetai, to- Kategorien bezeichnen; denn so
sautacîj tÕ e nai shma…nei. vielfach diese ausgesagt werden,
so viele Bedeutungen des Seins
bezeichnen sie.« 44

Eine detaillierte Analyse dieser Kategorien als Seinshinsichten finden


wir in den Categoriae:
Tîn kat¦ mhdem…an sumplok¾n »Das, was nicht in Verbindung
legomšnwn ›kaston ½toi oÙs…an gesagt wird, bezeichnet entweder
shma…nei À posÕn À poiÕn À prÒj ti ein Wesen oder ein Wieviel oder
À poÝ À pot À ke‹sqai À œcein À ein Wie-beschaffen oder ein In-
poie‹n À p£scein. bezug-auf oder ein Wo oder ein
Wann oder ein Liegen oder ein
Haben oder ein Tun oder ein
Widerfahren.« 45

Zunächst einmal steht diese Liste an Kategorien ganz unvermittelt da.


Wir erfahren von Aristoteles nicht, wie er zu dieser Liste gekommen
ist. Eine solche Methode der Kategoriengewinnung ist jedoch unver-
zichtbar, will man diese kritisch betrachten, denn der Zusammenhang
mit den anderen stützt eine jede Kategorie.
Nach einer Vermutung Arnold Trendelenburgs hat Aristoteles diese
Kategorien gefunden, indem er sich die Grammatik der griechischen
Sprache genau daraufhin angesehen hat, welche Hinsichten sich hier
finden lassen. Demnach steht das Wesen oder die Substanz (oÙs…a) für
das Substantiv. Das Wieviel oder die Quantität (posÒj) sowie das Wie-
beschaffen oder die Qualität (poiÒj) stehen für Adjektive, die Mengen
oder Eigenschafen angeben. Das In-bezug-auf oder die Relation (prÒj
ti) steht für zweistellige Adjektive, oder Vergleichsformen. Das Wo
(poÝ) und das Wann (pot ) stehen für Adverbien. Das Liegen (ke‹sqai)
steht für das intransitive Verb. Das Haben (œcein) steht für das griechi-
sche Perfekt, das sich nicht auf Vergangenes bezieht – wie man am
fehlenden Augment in den Formen erkennen kann –, sondern das Re-

44
Metaphysica V, 7; 1017a 22-24, Übers. H. Bonitz.
45
Categoriae 2; 1b 25-27, Übers. I. Rath.

66
Aristoteles von Stageira (384-322)
sultat einer vergangenen Handlung in der Gegenwart bezeichnet. Das
Tun (poie‹n) steht für das aktive und das Leiden (p£scein) schließlich für
das passive Verb.
§ 42 Wenn wir davon ausgehen, daß Aristoteles dieser Methode
folgte und seine Kategorien uns eine möglichst getreue Übersicht über
die logischen Möglichkeiten sprachlicher Äußerungen geben sollten,
dann erkennen wir sofort den Haken dieses Vorgehens. Aristoteles’
Methode ist offensichtlich an eine ihm empirisch zugängliche Sprache
gebunden und alle Änderungen in dieser Sprache oder alle Unter-
schiede zu anderen Sprachen beeinträchtigen sein Resultat. Hier sticht
vor allem das œcein ins Auge. Schon im Lateinischen wird das Perfekt
zu einem Vergangenheitstempus, das keiner eigenen Kategorie mehr
bedürfte, die das auszudrücken hätte, was es zu fassen versucht. Wenn
sich also, so sehen wir hier, die Suche nach logischen Strukturen nur an
der Grammatik der eigenen Sprache orientiert, so produziert sie keine
ewigen logischen Kategorien, sondern zeit- und kulturgebundene.
Es gibt jedoch noch einen anderen Grund, der zunächst dagegen
spricht, Aristoteles’ Kategorien als reine Ideen anzusehen. Ideen, so
haben wir gefordert, müssen Eigenschaften von Ideen konstituieren.
Hier weisen Aristoteles’ Kategorien einen Defekt auf, denn einige Ka-
tegorien bezeichnen keineswegs Eigenschaften von Begriffen. poÝ und
pot beispielsweise stehen ganz eindeutig für räumliche und zeitliche
Dinge und Bezeichnungen dieser Dinge. Es ist jedoch kein großes Pro-
blem, die Kategorienliste einfach zu kürzen, denn von denjenigen Kate-
gorien, die keine Begriffseigenschaften beschreiben, ist auch nicht zu
erwarten, daß sie im logischen Zusammenhang der Begriffe überhaupt
eine Rolle spielen werden.
§ 43 Eine solche Kürzung ist keineswegs verwerflich. Auch Aristo-
teles selbst präsentiert uns in seinem Begriffslexikon eine Liste der Ka-
tegorien, die um das ke‹sqai und das œcein gekürzt ist. Beschränken wir
uns also im Folgenden auf diejenigen Kategorien, in denen wir Be-
griffseigenschaften finden können, mithin also auf die ersten vier, oÙs…a,
posÒj, poiÒj und prÒj ti.
Aristoteles stellt nun zunächst fest, daß diese kategorialen Hinsich-
ten dem Sein analog sind.

67
Aristoteles von Stageira (384-322)

˜k£stJ toÚtwn tÕ e nai taÙtÕ »Das Sein bedeutet dasselbe wie


shma…nei· jedes von diesen.«46

Aristoteles meint damit, daß es keinen Unterschied macht, beispiels-


weise von einem Gegenstand zu sagen er habe eine bestimmte Eigen-
schaft, oder das Sein dieser Eigenschaft komme ihm zu. Sein kann et-
was nur zukommen, wenn es eine dieser Hinsichten annimmt, wenn es
also als etwas Substantielles, als eine Eigenschaft, eine Quantität oder
eine Relation ist.

tÕ Ôn

sumbebhkÒj kaq' aØtÒ


oÙs…a
poiÒj
posÒj
prÒj ti

Untersuchen wir also diese verschiedenen Hinsichten als die Seinswei-


sen des Seienden.
§ 44 Betrachten wir also zunächst die oÙs…a. Dieser Begriff ist uns in
Platons Parmenides bereits in der Bedeutung des Seins begegnet, so
daß es nicht verwunderlich ist, daß er auch bei Aristoteles die Rolle der
ersten und vornehmlichen Hinsicht des Seins einnimmt. Hinsichtlich
der oÙs…a trifft Aristoteles wieder eine zentrale Unterscheidung:
sumba…nei d¾ kat¦ dÚo trÒpouj t¾n »Es ergibt sich also, daß man
oÙs…an lšgesqai, tÒ q' Øpoke…menon Wesen in zwei Bedeutungen ge-
œscaton, Ö mhkšti kat' ¥llou lš- braucht, einmal als das letzte
getai, kaˆ Ö ¨n tÒde ti ×n kaˆ Subjekt, das nicht weiter von ei-
cwristÕn Ï· toioàton d ˜k£stou ¹ nem anderen ausgesagt wird, so-
morf¾ kaˆ tÕ e doj.
wie als dasjenige, welches ein be-

46
Metaphysica V, 7; 1017a 27

68
Aristoteles von Stageira (384-322)
stimmtes Seiendes und abtrenn-
bar ist; solcherart aber ist eines
jeden Dinges Gestalt und
Form.« 47

Zunächst kann die oÙs…a als Øpoke…menon betrachtet werden, als ein kon-
kret vorhandener Gegenstand also, der den Bezeichnungen zugrunde-
liegt, die man auf ihn anwendet. In den Categoriae präzisiert er diese
Verwendungsweise der oÙs…a folgendermaßen:
OÙs…a dš ™stin ¹ kuriètat£ te kaˆ »Wesen im sehr strengen und
prètwj kaˆ m£lista legomšnh, ¿ ersten und eigentlichsten Sinne
m»te kaq' Øpokeimšnou tinÕj lšge- wird das genannt, was weder über
tai m»te ™n ØpokeimšnJ tin… ™stin, ein Zugrundeliegendes ausgesagt
oŒon Ð tˆj ¥nqrwpoj À Ð tˆj †ppoj. wird noch in einem Zugrundelie-
genden ist, wie zum Beispiel die-
ser bestimmte Mensch, dieses
bestimmte Pferd.« 48

Als Øpokeimšnon ist die oÙs…a die sogenannte erste Substanz, das konkre-
te Seiende selbst. Man kann dieses, daß sie das Zugrundeliegende selbst
ist, aber nicht von ihr aussagen, denn es gibt keinen Allgemeinbegriff
von ihr. Sie ist schlechthin individuell. Selbst wenn man von einem Zu-
grundeliegenden aussagte, es sei ein Dieses-da (tÒde ti) und es so zum
Gegenstand einer Aussage machte, so wäre diese Aussage falsch. Sie
könnte nur sinnvoll und wahr sein, wenn man etwa gleichzeitig auf das
Gemeinte zeigte, wenn also ein ebenso individueller Akt die Aussage
über das Individuelle begleitete. Alles, was als Ausdruck in einer Aussa-
ge verwendet wird, ist sogleich ein Allgemeines.
§ 45 Daher unterscheidet Aristoteles von dieser ersten Substanz ei-
ne zweite Substanz, nämlich die oÙs…a als das Allgemeine, das er auch
als Form (e doj) und Gestalt (morf») bezeichnet. Die zweite Substanz ist
also dasjenige Allgemeine, was man über die erste Substanz aussagt.
Damit aber ist die Möglichkeit einer dritten Substanz gegeben, die et-
was über die zweite Substanz aussagt:

47
Metaphysica V, 8; 1017b 23-26, Übers. H. Bonitz.
48
Categoriae 4; 2a 11-14, Übers. I. Rath.

69
Aristoteles von Stageira (384-322)

deÚterai d oÙs…ai lšgontai, ™n oŒj »Wesen im zweiten Sinn werden


e‡desin aƒ prètwj oÙs…ai legÒ- Formen genannt, in welchen die
menai Øp£rcousin, taàt£ te kaˆ t¦ zuerst genannten Wesen vor-
tîn e„dîn toÚtwn gšnh· oŒon Ð tˆj kommen, ebenso auch die Gat-
¥nqrwpoj ™n e‡dei m n Øp£rcei tù tungen dieser Formen. Zum Bei-
¢nqrèpJ, gšnoj d toà e‡douj ™stˆ spiel kommt dieser bestimmte
tÕ zùon· Mensch in der Form Mensch
vor, die Gattung dieser Form
aber ist Lebewesen.«
49

Die oÙs…a ist dann zweite Substanz und gibt die Form, die Art (e doj),
oder die Gattung (gšnoj) des Øpokeimšnon an. Sie ist dann gšnoj, wenn
dasjenige, wovon sie das Allgemeine ist, selbst bereits ein allgemeines,
also e doj ist. Diese Verbindung von e doj und gšnoj zeigt sich in der De-
finition (ÐrismÒj):
e‡per de‹ m n di¦ toà gšnouj kaˆ »Denn eine richtige Definition
tîn diaforîn Ðr…zesqai tÕn kalîj muss durch die Angabe der Gat-
ÐrizÒmenon tung und der Art-Unterschiede
erfolgen«.
50

Der gšnoj ist allgemeiner als der e doj und kann dann durch Angabe der
Wesenseigenschaft – die Aristoteles hier als Unterschiede bezeichnet –
so spezifiziert werden, daß damit der e doj genau bestimmt ist. Die We-
senseigenschaft aber ist genau dasjenige an einer oÙs…a, was dieser an
sich (kaq' aØtÒ) zukommt. Denn eben diese Eigenschaften oder Eigen-
heiten bestimmen ja das Sein der oÙs…a und damit auch des e doj. Im
Zuge einer stückweisen Abstraktion von diesen Eigenschaften, wird der
gšnoj immer allgemeiner. Das führt zu einer dynamischen Struktur der
Formen der oÙs…a.

49
Categoriae 4; 2a 14-17, Übers. I. Rath.
50
Topica VI, 4; 141b 25-27, Übers. H.J. von Kirchmann.

70
Aristoteles von Stageira (384-322)

Formen der oÙs…a

gšnoj

e doj
Øpokeimšnon

Als e doj ist sie zwar ein Allgemeines in Bezug auf das Øpokeimšnon, aber
ein Besonderes in Bezug auf den gšnoj. Die Dynamik der aus allgemei-
nem gšnoj und besonderem e doj bestehenden Struktur besteht darin,
daß das Allgemeine immer als etwas Besonderes eines noch Allgemei-
neren gesehen werden kann. Ebenso kann das Besondere als Allge-
meines eines noch Besondereren gesehen werden. Ausnahme bildet
hier das individuelle Einzelne, das Øpokeimšnon, was gewissermaßen ei-
nen Endpunkt und damit logischen Bezugspunkt der möglichen Ab-
straktionskette darstellt. Konkreter kann man in der Besonderung des
Allgemeinen nicht werden.
Aristoteles, der die Unterscheidung von gšnoj, e doj und Øpokeimšnon
für die Betrachtung konkreter Dinge entwickelte, berücksichtigte dabei
gar nicht, daß im Falle von Begriffen das Øpokeimšnon selbst auch etwas
Allgemeines sein kann. Es ist dann als Einzelnes zugleich ein Besonde-
res und ein Allgemeines. Ein solcher ideeller Gegenstand sprengt die
aristotelische Unterscheidung zwischen erster und zweiter Substanz,
denn er kann als erste Substanz dennoch präzise erfaßt werden.
§ 46 Eine zweite Hinsicht des Seins ist die der Beschaffenheit
(poiÕj). Die Beschaffenheit eines Øpokeimšnon, seine Eigenschaften, zer-
fallen in zwei grundlegende Arten. Zum einen gibt es jene Eigenschaft,
die ihm bloß zukommen, ohne daß dies Konsequenzen für es hat, zum

71
Aristoteles von Stageira (384-322)
anderen aber gibt es auch Eigenschaften, die es als solches von ande-
rem abgrenzen:
P©sa d oÙs…a doke‹ tÒde ti sh- »Jedes Wesen scheint ein Dieses-
ma…nein. ™pˆ m n oân tîn prètwn da zu bezeichnen. Bei den We-
oÙsiîn ¢namfisb»thton kaˆ ¢lh- sen im ersten Sinn ist es unbe-
qšj ™stin Óti tÒde ti shma…nei· ¥to- stritten und wahr, daß sie ein
mon g¦r kaˆ ›n ¢riqmù tÕ dhloÚ- Dieses-da bezeichnen. Das Auf-
menÒn ™stin. ™pˆ d tîn deutšrwn gezeigte ist nämlich unteilbar und
oÙsiîn fa…netai m n Ðmo…wj tù der Zahl nach eins. Bei den We-
sc»mati tÁj proshgor…aj tÒde ti sen im zweiten Sinn hingegen hat
shma…nein, Ótan e‡pV ¥nqrwpon À es zwar den Anschein, daß sie auf
zùon· oÙ m¾n ¢lhqšj ge, ¢ll¦ die gleiche Weise ein Dieses-da
m©llon poiÒn ti shma…nei, – oÙ g¦r bezeichnen –, aber das ist nicht
›n ™sti tÕ Øpoke…menon ésper ¹ wahr, vielmehr bezeichnen sie
prèth oÙs…a, ¢ll¦ kat¦ pollîn eher ein Wie-beschaffen. Denn
Ð ¥nqrwpoj lšgetai kaˆ tÕ zùon· – das Zugrundeliegende ist nicht
oÙc ¡plîj d poiÒn ti shma…nei, eines, wie das Wesen im ersten
ésper tÕ leukÒn· oÙd n g¦r ¥llo Sinn, sondern Mensch und Le-
shma…nei tÕ leukÕn ¢ll' À poiÒn, bewesen werden über vieles aus-
tÕ d e doj kaˆ tÕ gšnoj perˆ oÙs…an gesagt. Aber es bezeichnet kein
tÕ poiÕn ¢for…zei, – poi¦n g£r tina Wie-beschaffen in der einfachen
oÙs…an shma…nei. Weise, wie das Weiß-Sein. Das
Weiß-Sein bezeichnet nichts an-
deres als ein Beschaffen-Sein.
Aber die Form und die Gattung
grenzen innerhalb des Wesens
das Beschaffen-Sein ab. Denn als
so beschaffen bezeichnen sie ir-
gend ein Wesen.« 51

Art- und Gattungsbezeichnungen beschreiben keine Einzeldinge, denn


sie sind allgemein und – wie oben ausgeführt – für Aristoteles nicht zu-
reichend spezifisch zum Erfassen des Einzeldings. Daher drücken sie
nur eine Beschaffenheit dieser Dinge aus. Aber diejenige Beschaffen-
heit, die sie ausdrücken, ist die das Wesen bestimmende Beschaffen-
heit. Diese ist unterschieden von solchen Beschaffenheiten, die dem
Øpokeimšnon einfach so zukommen, wie etwa dessen Farbe.

51
Categoriae 5; 3b 10-21, Übers. I. Rath.

72
Aristoteles von Stageira (384-322)
Aristoteles gibt uns ein Kriterien dafür in die Hand, um zu erken-
nen, was eine Wesenseigenschaft ist und was nicht. Dieses liegt einfach
in unserem Sprachgefühl. Wenn wir einen Artbegriff auf etwas anwen-
den und dann davon ausgehen, wir hätten damit die betreffende Sub-
stanz erfaßt, dann drückt dieser Artbegriff eine Wesenseigenschaft aus.
Haben wir sie aber nicht erfaßt, dann handelt es sich dabei bloß um ei-
ne akzidentelle Eigenschaft.
§ 47 In der Analytica posteriora faßt Aristoteles diese Unterschei-
dung klar ontologisch. Wenn etwas, so sagt Aristoteles, eine Eigenschaft
aus sich heraus hat, dann ist es seine Wesenseigenschaft:
œti d' ¥llon trÒpon tÕ m n di' aØtÕ »Auch nenne ich noch in anderer
Øp£rcon ˜k£stJ kaq' aØtÒ, tÕ d Weise An sich dasjenige, was je-
m¾ di' aØtÕ sumbebhkÒj dem Gegenstände durch ihn
selbst einwohnt, und das, was
ihm nicht durch sich selbst ein-
wohnt, das Nebensächliche.«52

Diese Unterscheidung von kaq' aØtÒ und sumbebhkÒj haben wir bereits
oben bei der Analyse des Seins kennengelernt. kaq' aØtÒ ist alles, was
dem Gegenstand durch ihn selbst zukommt, was ihm also zukommt,
nur weil er der Gegenstand ist, der er ist. Die akzidentelle Eigenschaft
(sumbebhkÒj) hat der Gegenstand hingegen nur durch Zufall oder jeden-
falls durch äußere, nicht in ihm selbst begründete Umstände.

poiÕj

tina oÙs…an shma…nei ¥llo shma…nei


¢ll' À poiÒn

kaq' aØtÒ sumbebhkÒj

52
Analytica posteriora I, 4; 73b 10-11, Übers. H.J. von Kirchmann.

73
Aristoteles von Stageira (384-322)
Aristoteles unterscheidet also zwischen einem poiÕj, welches bloß ein
poiÕj bezeichnet und einem solchen, welches eine oÙs…a bezeichnet.
Wie beim Sein so können wir auch hier festhalten, daß die akziden-
tellen Eigenschaften lediglich Naturdinge betreffen während alle Eigen-
schaften von Begriffen Wesenseigenschaften sein müssen. Letzteres ist
deswegen zwingend, weil es für einen Begriff wesentlich ist, ein Begriff
zu sein und seine Eigenschaften sozusagen die Bedingungen der Mög-
lichkeit des Begrifflichen darstellen. Bei Naturdingen hingegen ist sogar
das Vorhandensein von Wesenseigenschaften für sie als Naturdinge ak-
zidentell. Selbst wenn sie ein anderes Wesen hätten, so blieben sie
noch Naturdinge; nur eben anders bestimmte Naturdinge.
§ 48 Die dritte zu untersuchende Hinsicht des Seins ist die der
Quantität. Auch bei der Quantität (posÕj) unterscheidet Aristoteles zwei
verschiedene Arten:
Toà d posoà tÕ mšn ™sti diwris- »Bei dem Wieviel ist zum einen
mšnon, tÕ d sunecšj· [...] œsti d das eine abgetrennt, das andere
diwrismšnon m n oŒon ¢riqmÕj kaˆ zusammenhängend [...]. Abge-
lÒgoj, sunec j d gramm», ™pi- trenntes sind zum Beispiel Zahl
f£neia, sîma und Ausdruck, Zusammenhän-
gendes zum Beispiel Linie, Flä-
che und Körper«.53

Bei der Quantität unterscheidet Aristoteles also solche, die diskret sind
(diwrismšnon) von solchen, die kontinuierlich (sunecšj) sind. Diskrete
Quantitäten sind dadurch gekennzeichnet, daß sie aus einer in sich be-
grenzten Vielheit bestehen, wie etwa die natürlichen Zahlen, deren jede
aus einer bestimmten Menge von Einheiten besteht, die jeweils vonein-
ander abgegrenzt sind. Kontinuierlich hingegen sind die rationalen
Zahlen, da sie gewissermaßen unendlich dicht nebeneinander liegen.
Zwischen zwei beliebigen dieser Zahlen findet sich immer wieder eine
weitere.
Aristoteles präzisiert diese Unterscheidung in seinem Begriffslexi-
kon noch einmal:

53
Categoriae 5; 4b 20-24, Über. I. Rath.

74
Aristoteles von Stageira (384-322)

PosÕn lšgetai tÕ diairetÕn e„j »Quantitatives nennt man dasje-


™nup£rconta ïn ˜k£teron À ›ka- nige, was in immanente zwei oder
ston ›n ti kaˆ tÒde ti pšfuken mehr Teile teilbar ist, deren jeder
e nai. plÁqoj m n oân posÒn ti ™¦n seiner Natur nach etwas Eines
¢riqmhtÕn Ï, mšgeqoj d ¨n metrh- und Bestimmtes ist. Menge nun
tÕn Ï. lšgetai d plÁqoj m n tÕ ist ein Quantum, wenn es zähl-
diairetÕn dun£mei e„j m¾ sunecÁ, bar, Größe wenn es meßbar ist.
mšgeqoj d tÕ e„j sunecÁ· Man nennt aber Menge, was der
Möglichkeit nach in Nicht-
stetiges, Größe, was in Stetiges
(Kontinuierliches) teilbar ist.«
54

Aristoteles unterscheidet hier also noch einmal bestimmte Bezeichnun-


gen für die beiden Arten des Quantitativen. Es ist eine Menge (plÁqoj),
wenn es diskret und zählbar ist und eine Größe (mšgeqoj), wenn es kon-
tinuierlich und meßbar ist.

posÕj

diwrismšnon sunecšj

plÁqoj mšgeqoj

Interessant ist hier am Rande die Frage, welche Eigenschaft von Begrif-
fen die Quantität darstellt. Ich hatten bereits bei der Diskussion des
Parmenides von Platon angedeutet, daß es sich anbietet, die Quantität
eines Begriffs als seine Extension, also als die Summe der Begriffe oder
Gegenstände, auf die er zutrifft, anzusehen. Hier ist die Unterscheidung
von Kontinuität und Diskretion durchaus produktiv. Eine Extension ist
insofern diskret, als es eine Vielheit klar abgegrenzter Begriffe oder Ge-
genstände gibt, auf die ein Begriff zutrifft. Zugleich ist sie aber ein Kon-

54
Metaphysica V, 12; 1020a 7-11, Übers. H. Bonitz.

75
Aristoteles von Stageira (384-322)
tinuum, wenn man sie nur in der in diesem Fall zentralen Hinsicht be-
trachtet, wonach alle ein und dieselbe Eigenschaft tragen.
§ 49 Die vierte Hinsicht, in der das Sein betrachtet wird, ist die Rela-
tion (prÒj ti). Die Relation ist die abstrakteste Form dessen, was Aristo-
teles in den Categoriae als Formen des Gegenüberliegens (¢ntike‹sqai)
bezeichnet. Wir werden sie hier getrennt von den anderen Formen des
Gegenüberliegens betrachten, da sie einen gewissen Sonderstatus hat.
Zugleich können wir aber festhalten, daß die anderen Formen, die wir
noch kennenlernen werden, ebenfalls als Relationen betrachtet werden
können. Wenn wir somit hier erst einmal nur die Relation betrachten,
dann schließen wir damit zumindest implizit auch jene anderen Formen
mit ein.
Die Relation steht nicht für ein beliebiges Verhältnis, sondern ein
solches, das eine ganz spezifische Bestimmung besitzt. Nach Aristoteles
ist es für sie wesentlich, daß die Bedeutung der einen Richtung der Re-
lation bereits in der Bedeutung der anderen enthalten ist:
“Osa m n oân æj t¦ prÒj ti »Bei dem also, das wie das In-
¢nt…keitai aÙt¦ ¤per ™stˆ tîn bezug-auf gegenüberliegend ist,
¢ntikeimšnwn lšgetai À Ðpwsoàn wird das, was es ist, in Hinsicht
¥llwj prÕj aÙt£· oŒon tÕ dipl£- auf das Gegenüberliegende ge-
sion toà ¹m…seoj aÙtÕ Óper ™stˆ nannt oder auf andere Weise in
dipl£sion lšgetai· kaˆ ¹ ™pist»mh bezug auf es. Zum Beispiel wird
d tù ™pisthtù æj t¦ prÒj ti das Doppelte in Hinsicht auf das
¢nt…keitai. Halbe das, was es ist, nämlich
doppelt genannt. Auch ist das
Wissen dem Wißbaren wie das
In-bezug-auf gegenüberliegend.«55

Die Relation (prÒj ti) ist also dadurch bestimmt, daß Gegenüberliegen-
de hier die Negation in einer ganz bestimmten Hinsicht ist. Zum Bei-
spiel ist die Hinsicht beim Doppelten die Multiplikation. Deren Nega-
tion, die Division, bestimmt also das dem Doppelten in dieser Hinsicht
Gegenüberliegende, das Halbe. Aristoteles nennt als weiteres Beispiel
das Wissen und das Wißbare. Hier ist die Modalität die Hinsicht. Das
Wissen ist Wirkliches und die Negation der Wirklichkeit (™nšrgeia), die

55
Categoriae 10; 11b 24-28, Übers. I. Rath.

76
Aristoteles von Stageira (384-322)
Möglichkeit (dÚnamij) als das Bestimmende des Gegenüberliegenden,
das in diesem Fall das Wißbare ist.
Die Möglichkeit kann – anders als dies Aristoteles später sieht – in-
sofern als Negation der Wirklichkeit gesehen werden, als es eben um
bestimmte Negationen geht. Die Hinsicht derselben ist hier die Seins-
weise. Das Nicht-Wirkliche hier als Negation anzusetzen wäre ebenso
leer und unbestimmt als würde man die Nicht-Multiplikation zur Nega-
tion der Multiplikation machen. Damit wäre die andere Seite der Rela-
tion dann nur als ein Beliebiges aber eben nicht mehr als das spezifi-
sche Gegenüberliegende betrachtet.
Das prÒj ti ist weiterhin dadurch bestimmt, daß wir es umkehren
können. Wenn A in der Relation X zu B steht, dann steht B in der
Relation X’ zu A. Aristoteles betont dies bei seiner ersten Diskussion
des prÒj ti:
P£nta d t¦ prÒj ti prÕj ¢nti- »Jedes In-bezug-auf wird auch
stršfonta lšgetai, oŒon Ð doàloj bezüglich der Umkehrung ausge-
despÒtou lšgetai doàloj kaˆ Ð de- sagt, wie zum Beispiel der Sklave
spÒthj doÚlou despÒthj lšgetai. in Hinsicht auf einen Herrn
Sklave genannt wird und der
Herr in Hinsicht auf einen Skla-
ven Herr genannt wird.«56

Der Grund für diese Umkehrbarkeit liegt natürlich in der engen Ab-
hängigkeit der beiden die Relation ausmachenden Bestimmungen. Mit
der einen ist die andere als deren Negation in Hinsicht der Grundbe-
deutung gegeben. Kehrt man das Verhältnis nun um, so kehrt sich we-
gen der Negation auch die Bedeutung der Relation um und gibt in der
betreffenden Hinsicht die andere Richtung an. Den Gegensatz der bei-
den könnte man also als konversen Gegensatz bezeichnen, da die eine
Richtung die Konversion der anderen darstellt.
§ 50 Diese vier Hinsichten des Seins sind nicht nur deswegen zen-
tral, weil sie in Aristoteles’ Begriffsapparat ständig auftauchen. Sie sind
auch für unser gegenwärtiges Vorgehen einer kohärenten Rekonstrukti-
on dieses Begriffsapparates wichtig, weil sich dieselben Hinsichten in
der Folge erneut als wesentliche Hinsichten ergeben werden. Die Ord-

56
Categoriae 7; 6b 28-30, Übers. I. Rath.

77
Aristoteles von Stageira (384-322)
nung dieser vier Hinsichten weist intern auch eine gewisse Logik auf.
Die oÙs…a ist direkt mit dem Sein verbunden indem sie das Seiende be-
zeichnet. Die Hinsicht des poiÒj macht auf diejenigen Eigenschaften
aufmerksam, die dieses Seiende als Seiendes möglich machen. Die
Hinsicht des posÒj leitet schließlich von den Eigenschaften zu der Trä-
gern der Eigenschaften über, zu den schließlich die Hinsicht des prÒj ti
eine logische Verbindung aufbaut.

iii. Das Eine und die Formen der Übereinstimmung


§ 51 Wenn wir nach dieser Analyse des Begriffs des Seins zurückkeh-
ren zu Aristoteles’ Frage nach der Möglichkeit einer Einheitswissen-
schaft, die er mit diesem Begriff begonnen hat, so können wir von hier
aus den nächsten Schritt unternehmen. Vom Begriff des Seins kommt
Aristoteles zum Begriff des Einen (tÕ ›n) indem er feststellt, daß das ›n
dem ×n überall hin folgt:
e„ d¾ tÕ ×n kaˆ tÕ ›n taÙtÕn kaˆ m…a »Nun sind das Eine und das Sei-
fÚsij tù ¢kolouqe‹n ¢ll»loij és- ende identisch und eine Natur,
per ¢rc¾ kaˆ a‡tion, ¢ll' oÙc æj indem sie einander folgen, wie
˜nˆ lÒgJ dhloÚmena Prinzip und Ursache, nicht inso-
fern als sie durch einen Begriff
bestimmt würden.« 57

Was ist damit gemeint, daß die beiden Begriffe einander folgen und
daß sie doch nicht durch einen Begriff bestimmt sind? Aristoteles gibt
uns hier ein Beispiel. Die Begriffe folgen sich wie Prinzip und Ursache
einander folgen. Was auch immer Prinzip von etwas ist, ist nach Aristo-
teles auch irgendwie Ursache davon und umgekehrt. Wo auch immer
wir also einen Fall von Sein vorliegen haben, haben wir es zugleich auch
mit dem Einen zu tun und umgekehrt. Das legt eine Identität nahe,
aber eben nur eine extensionale Identität. Alles Seiende ist auch eines
aber ×n bedeutet nicht ›n. Es gibt keinen Begriff, der die Bedeutungsge-
halte beider in sich faßt, sie sind also intensional unterschieden. Die
Beziehung von sein und Einem ist so also eine Analogie oder Bezie-
hung prÕj ›n, denn es gibt eine dahinter stehende Einheit, also einen

57
Metaphysica IV, 2; 1003a 22-25, Übers. H. Bonitz.

78
Aristoteles von Stageira (384-322)
Begriff, der beide Bedeutungen synthetisieren würde. Nur ist dieser
Begriff eben für Aristoteles nicht intensional explizit, sondern bloß ex-
tensional implizit. Aristoteles bemüht sich nicht nur nicht, ihn zu fin-
den, er hält ihn auch nicht für auffindbar.
Wenn wir uns auf den Ausgangspunkt der Überlegungen von Ari-
stoteles besinnen, so läßt sich leicht ein weiteres Argument für diesen
Übergang vom Sein zum Einen finden. Denn der Begriff des ›n hat sich
bei der Analyse des ×n als die Bedingung der Möglichkeit des Zusam-
menhangs des Seins gezeigt. Ohne die Idee des ›n wäre das Sein in eine
Vielheit verstreut und es gäbe keine Einheit. Die Untersuchung des ›n
ist also in diesem Sinne die logische Fortsetzung der Aufdeckung der
Bedingungen einer einheitlichen Wissenschaft.
§ 52 Aristoteles geht dann weiter und untersucht Arten oder Hin-
sichten des Einen. Die Arten, die er erwähnt, sind selbst auch dem
Reich der reinen Ideen zuzuordnen:
ésq' Ósa per toà ˜nÕj e‡dh, to- »So viel es also Arten des Einen
saàta kaˆ toà Ôntoj· perˆ ïn tÕ t… gibt, so viel gibt es auch Arten
™sti tÁj aÙtÁj ™pist»mhj tù gšnei des Seienden, deren Was zu un-
qewrÁsai, lšgw d' oŒon perˆ taÙtoà tersuchen die Aufgabe einer der
kaˆ Ðmo…ou kaˆ tîn ¥llwn tîn Gattungen nach einzigen Wissen-
toioÚtwn [kaˆ tîn toÚtoij ¢nti- schaft ist, ich meine z.B. die Un-
keimšnon]. scedÕn d p£nta ¢n-
58
tersuchung über das Identische,
£getai t¢nant…a e„j t¾n ¢rc¾n das Ähnliche und anderes der-
taÚthn· gleichen und das ihnen Entge-
gengesetzte. So gut wie alle Ge-
gensätze aber werden auf dies
Prinzip zurückgeführt.«59

Wenn Aristoteles uns hier mitteilt, daß das Eine so viele Arten haben,
wie das Seiende, dann sagt er damit indirekt, daß eben die Hinsichten,
die wir am Seienden untersucht haben, oÙs…a, posÒj, poiÒj und prÒj ti,
auch am Einen zu finden sind. Nur haben sie hier eben eine andere
Gestalt, bedingt durch die Bedeutung des Einen.

58
Dieser Teilsatz findet sich bei Alexandros von Aphrodisias nicht.
59
Metaphysica IV, 2; 1003b 33 – 1004a 1, Übers. H. Bonitz.

79
Aristoteles von Stageira (384-322)
Die Begriffe gšnoj als Bezeichnung für ×n sowie ›n und e doj für die
genannten Formen der Übereinstimmung kommen hier insofern als
Hilfskonzepte ins Spiel, als wir das ›n wegen seiner Analogie mit dem ×n
als oÙs…a betrachten müssen, jede oÙs…a jedoch als Art und Gattungsbe-
griff verstanden werden kann. Als Arten des Einen nennt Aristoteles
hier die Identität (tÕ taÙtÒn), die Ähnlichkeit (tÕ Ómoion) und anderes
dergleichen. Zunächst müssen wir klären, was er mit diesem Anderen
meint. Meines Erachtens bezieht er sich hier auf den Begriff der
Gleichheit (tÕ ‡son), was perfekt in die kategorialen Zuordnungen der
Hinsichten des Einen passen würde.

gšnoj

tÕ ›n tÕ ×n
e‡dh

tÕ taÙtÒn

tÕ Ómoion t¦ ™nant…a

tÕ ‡son

Zunächst müssen wir uns mit diesen Formen der Übereinstimmung be-
fassen und können die Gegensätze vorerst noch außer Acht lassen.
Warum und inwiefern sind nun diese drei Begriffe Arten des Einen?
Dazu müssen wir sie uns der Reihe nach ansehen, wobei sich dann
auch die Parallelen zu den Hinsichten des Seins aufklären werden.
§ 53 Die Identität (tÕ taÙtÒn) ist deswegen eine Art der Einheit, weil
Dinge, die identisch sind, eine Einheit bilden oder Eines sind:
kaˆ t¦ m n oÛtwj lšgetai taÙt£, »Einiges wird also in diesem Sin-
t¦ d kaq' aØt¦ Ðsacîsper kaˆ tÕ ne [in einem akzidentellen] das-
›n· kaˆ g¦r ïn ¹ Ûlh m…a À e‡dei À selbe genannt, anderes an sich,
¢riqmù taÙt¦ lšgetai kaˆ ïn ¹ wie es auch ebenso als Eines be-
oÙs…a m…a, éste fanerÕn Óti ¹ zeichnet wird; dasjenige nämlich
tautÒthj ˜nÒthj t…j ™stin À heißt dasselbe, dessen Stoff der

80
Aristoteles von Stageira (384-322)
pleiÒnwn toà e nai À Ótan crÁtai Art oder der Zahl nach einer ist,
æj ple…osin, oŒon Ótan lšgV aÙtÕ und das, dessen Wesen (Wesen-
aØtù taÙtÒn· æj dusˆ g¦r crÁtai heit) eines ist. Offenbar ist also
aÙtù. die Selbigkeit eine Einheit des
Seins, entweder unter mehreren
oder bei einem, wenn man es als
eine Mehrheit ansieht, z.B. wenn
man sagt, es sei etwas mit sich
selbst dasselbe; denn man sieht
es dann an, als seien es zwei.« 60

Die von der Identität gestiftete Einheit bezieht sich entweder darauf,
daß Dinge in Hinsicht der ersten Substanz identisch, also der Zahl nach
identisch sind, oder daß sie in Hinsicht der zweiten Substanz, also der
Art nach identisch sind. Die Identität ist also nach Aristoteles eine Ein-
heit, welche in jedem Fall die Hinsicht der oÙs…a betrifft.
Zugleich können wir aber auch bemerken, daß die Identität zu ihrer
Feststellung eine Vielheit voraussetzt. Selbst das mit sich Identische, das
der Zahl nach eines ist, muß gewissermaßen künstlich als eine Zweiheit
betrachtet werden, damit man dann eine Einheit daraus machen kann.
Diesen Blick auf die Vielheit können wir im Hinterkopf behalten; er
interessiert uns aber zunächst nicht.
§ 54 Gehen wir also weiter in unserer Betrachtung der Arten des
Einen und kommen zum Ähnlichen (tÕ Ómoion). Auch hier spielt natür-
lich die Einheit eine entscheidende Rolle:
Ómoia lšgetai t£ te p£ntV taÙtÕ »Ähnlich heißen die Dinge, wel-
peponqÒta, kaˆ t¦ ple…w taÙt¦ che in jeder Beziehung als selbige
peponqÒta À ›tera, kaˆ ïn ¹ (identische) bestimmt sind, und
poiÒthj m…a· die, welche mehr selbige als an-
dere Bestimmtheiten haben, und
die, deren Qualität eine ist.«
61

Von diesen drei Bestimmungen der Ähnlichkeit ist für uns vor allem
die letzte von Interesse, da die beiden ersten sehr stark von der Identi-
tät ausgehen. Die erste Bestimmung fällt gar mit der Identität zusam-

60
Metaphysica V, 9; 1018a 4-9, Übers. H. Bonitz.
61
Metaphysica V, 9; 1018a 15-17, Übers. H. Bonitz.

81
Aristoteles von Stageira (384-322)
men. Die zweite konstatiert eine überwiegende Identität. Erst die dritte
liefert uns eine unabhängige Bestimmung davon, was Ähnlichkeit heißt,
nämlich die Einheit hinsichtlich der Qualität (poiÒj). Ähnlichkeit ist so-
mit als die qualitative Art des Einen bestimmt.
§ 55 Die dritte Art des Einen, die Gleichheit (tÕ ‡son) betrifft nun
folgerichtig die Quantität:
”Idion d m£lista toà posoà tÕ »Am ehesten ist es eine Eigen-
‡son te kaˆ ¥nison lšgesqai. tümlichkeit des Wieviel, gleich
und ungleich genannt zu wer-
den.« 62

Wenn zwei Dinge eine und dieselbe Quantität haben, dann sind sie
gleich. Natürlich gibt es hier eine große Nähe zur Ähnlichkeit und es ist
eine rein terminologische Entscheidung von Aristoteles, die Begriffe
Ähnlichkeit und Gleichheit in dieser Weise zu unterscheiden.
§ 56 Die Relation als die vierte Hinsicht des Seins läßt sich nach
Aristoteles nur dann als eine Hinsicht des Einen interpretieren, wenn es
um Zahlenrelationen geht, denn die sind immer auf das Eine als Zahl
bezogen:
taàt£ te oân t¦ prÒj ti p£nta kat' »Alle diese Relationen also sind
¢riqmÕn lšgetai kaˆ ¢riqmoà p£qh, Zahlenverhältnisse und Be-
kaˆ œti tÕ ‡son kaˆ Ómoion kaˆ stimmtheiten der Zahl, und so
taÙtÕ kat' ¥llon trÒpon (kat¦ auch ferner noch in anderer
g¦r tÕ ›n lšgetai p£nta, taÙt¦ Weise das Gleiche und das Ähn-
m n g¦r ïn m…a ¹ oÙs…a, Ómoia d' liche und das Selbige; denn diese
ïn ¹ poiÒthj m…a, ‡sa d ïn tÕ alle stehen in Beziehung zum Ei-
posÕn ›n· nen. Selbig nämlich ist, was eine
Wesenheit, ähnlich, was eine
Qualität, gleich, was eine Quanti-
tät hat.« 63

Die Relation also ist zumindest als Zahlenverhältnis auf das Eine bezo-
gen. Zugleich aber erfahren wir hier auch noch, daß die bereits disku-
tierten drei Arten der Gleichheit, die Aristoteles hier noch einmal in
ihrem Bezug zu den Arten des Seins zusammenfaßt, ebenfalls von ihm

62
Categoriae 6; 6a 26-27, Übers. I. Rath.
63
Metaphysica V, 15; 1021a 8-12, Übers. H. Bonitz.

82
Aristoteles von Stageira (384-322)
als Zahlenverhältnisse verstanden werden, weil sie auf eines bezogen
sind. Damit ist zugleich festgestellt, daß die Relation als Hinsicht des
Einen hier zwar nicht eigens abgehandelt werden kann, da nicht jede
Relation diesen Bezug zum Einen aufweist. Zugleich ist diese Hinsicht
aber bereits am Werk, indem jede der anderen Arten des Einen eine
Relation ist. Das Relationale ist gewissermaßen die Einende der Hin-
sichten des Einen.
§ 57 Dieser relationale Charakter des Einen, der immer mehreres
zu einem verbindet, leitet über zu dem, was Aristoteles als die Grund-
bedeutung des Einen ausmacht, nämlich das Maß (tÕ mštron):
diÕ kaˆ tÕ ˜nˆ e nai tÕ ¢diairštJ »So bedeutet denn also Eines-
™stˆn e nai, Óper tÒde Ônti kaˆ „d…v sein unteilbar sein als dies be-
cwristù À tÒpJ À e‡dei À diano…v, stimmte einzelne Ding und ein-
À kaˆ tÕ ÓlJ kaˆ ¢diairštJ, zeln abgesondert dem Ort oder
m£lista d tÕ mštrJ e nai prètJ der Art oder dem Denken nach,
˜k£stou gšnouj oder ganz und unteilbar sein.
Namentlich bedeutet es das erste
Maß in jeder Gattung«.
64

Das Eine ist bei einem Vergleich eben nicht nur in dem Umstand zu
finden, das hier mehreres als Eines aufgefaßt wird, es taucht vor allem
auch als Maß des Vergleiches auf. Das liegt nach Aristoteles daran, daß
Eines zu sein auch bedeutet, unteilbar zu sein. Als unteilbares aber
taucht das Eine bei einem Vergleich im Maß als Grundeinheit, als letzte
unteilbare Größe auf. Das ist vor allem bei quantitativen Vergleichen
der Fall, es kann aber auch als qualitative Bezeichnung des Maßes ver-
standen, wie etwa das Gewicht, das immer »Gewicht« heißt, egal wie
schwer etwas ist. Eine Relation scheint ohne das als unteilbares Maß
verstandene Eine, auf das sie bezogen ist, nicht möglich zu sein.

iv. Die Vielheit und die Gegensätze


§ 58 Besinnen wir uns nun noch einmal darauf zurück, daß es Aristo-
teles bei diesen ganzen Überlegungen letztlich darum geht, zu zeigen,
daß die metaphysischen Grundbegriffe einer Wissenschaft angehören.
Nun tat sich uns oben aber noch eine Leerstelle in dieser Wissenschaft

64
Metaphysica X, 1; 1052b 15-18, Übers. H. Bonitz.

83
Aristoteles von Stageira (384-322)
auf, nämlich die Beschäftigung mit den Gegensätzen (t¦ ™nant…a) der
Arten des Einen. Es ist dabei klar, daß die Gegensätze der Arten des
Einen auch die Arten des Gegensatzes des Einen sein müssen; der Ge-
gensatz des Einen aber ist das Viele, die Vielheit oder Fülle (Ð plÁqoj):
[tù d' ˜nˆ plÁqoj ¢nt…keitai] – és- »Da also dem Einen die Vielheit
te kaˆ t¢ntike…mena to‹j e„rh- entgegengesetzt ist, so ist auch die
mšnoij, tÒ te ›teron kaˆ ¢nÒmoion Erkenntnis dessen, was den er-
kaˆ ¥nison kaˆ Ósa ¥lla lšgetai À wähnten Gegenständen entge-
kat¦ taàta À kat¦ plÁqoj kaˆ tÕ gengesetzt ist, (nämlich) des An-
›n, tÁj e„rhmšnhj gnwr…zein ™pis- deren, des Verschiedenen, des
t»mhj· ïn ™stˆ kaˆ ¹ ™nantiÒthj· Ungleichen und was noch sonst
diafor¦ g£r tij ¹ ™nantiÒthj, ¹ d nach diesem oder der Menge
diafor¦ ˜terÒthj. und dem Einen genannt wird,
Aufgabe der genannten Wissen-
schaft. Dazu gehört auch der
(konträre) Gegensatz; denn der
Gegensatz ist ein Unterschied,
der Unterschied eine Verschie-
denheit.«65

Die Arten der Vielheit bestimmt Aristoteles hier als das Andere (tÕ ›te-
ron), das Verschiedene (tÕ ¢nÒmoion), das wir hier aus Gründen der ter-
minologischen Konsistenz als das »Unähnliche« bezeichnen werden,
und das Ungleiche (tÕ ¥nison). Daß es sich hierbei um Arten der Viel-
heit handelt ist zunächst leicht einzusehen. Die Vielheit ist natürlich die
Grundlage des Andersseins, der Unähnlichkeit und der Ungleichheit,
eben dem Sinne, in dem das Eine die Grundlage der Identität, der
Ähnlichkeit und der Gleichheit ist. Indem etwas anders, unähnlich oder
ungleich ist, ist es zugleich eine Vielheit, denn das Anderssein, die Un-
ähnlichkeit und die Ungleichheit konstituieren eine neue Identität. Nur
im Vergleich mit dieser neuen Identität lassen sich diese Gegensätze
feststellen; damit aber haben wir es mit einer Vielheit von Dingen oder
Eigenschaften zu tun.
§ 59 Verwirrend aber ist hier zunächst die Feststellung, daß Aristo-
teles neben den genannten Gegensätzen auch noch den konträren Ge-

65
Metaphysica IV, 2; 1004a 16-22, Übers. H. Bonitz.

84
Aristoteles von Stageira (384-322)
gensatz (tÕ ™nant…on) diskutieren möchte. Er scheint offenbar davon aus-
zugehen, daß hier nur ein oder zwei bestimmte Gegensatzformen vor-
liegen. Aristoteles greift diesen Gedanken in Buch X der Metaphysica
wieder auf. Er bestimmt dort den hier vorliegenden Gegensatz dadurch,
daß er ihn als den Typ von Gegensatz, der zwischen dem Einen und
dem Vielen besteht, bestimmt. Das hat eine gewisse Logik für sich,
denn die genannten Gegensätze, ›teron, ¢nÒmoion und ¥nison, stehen ja
als Arten des Vielen im Gegensatz zu den Arten des Einen. Aristoteles
klärt die Frage nach dem vorliegenden Gegensatztyp nun durch den
Bezug des Einen und des Vielen auf ein anderes Kategorienpaar, näm-
lich den Gegensatz von Teil (mšroj) und Ganzem (Ólon). Wir haben
oben schon gesehen, daß Eines zu sein, nach Aristoteles ungeteilt zu
sein bedeutet. Entsprechend läßt sich das Viele mit dem Teilbaren
identifizieren. Aus dem Verhältnis des Unteilbaren und des Teilbaren
nun schließt Aristoteles auf die Form des Gegensatzes, der hier vorliegt:
'Ant…keitai d tÕ ›n kaˆ t¦ poll¦ »Das Eine und das Viele sind
kat¦ ple…ouj trÒpouj, ïn ›na tÕ ›n einander in mehreren Weisen
kaˆ tÕ plÁqoj æj ¢dia…reton kaˆ entgegengesetzt, von denen die
diairetÒn· tÕ m n g¦r À diVrhmšnon eine ist, daß sich das Eine und
À diairetÕn plÁqÒj ti lšgetai, tÕ die Menge entgegenstehen als
d ¢dia…reton À m¾ diVrhmšnon ›n. Unteilbares und Teilbares; das
™peˆ oân aƒ ¢ntiqšseij tetracîj, Geteilte nämlich oder Teilbare
kaˆ toÚtwn kat¦ stšrhsin lšgetai heißt eine Menge, das Unteilbare
q£teron, ™nant…a ¨n e‡h kaˆ oÜte oder Nicht-Geteilte heißt Eines.
æj ¢nt…fasij oÜte æj t¦ prÒj ti Da es nun vier Arten der Entge-
legÒmena. gensetzung gibt, und von diesen
beiden das eine Privation des an-
deren ist, so stehen sie in konträ-
rem Gegensatz, nicht aber in
Kontradiktion oder Relation zu-
einander.«66

Wir können hier, ohne die Details näher zu betrachten, die Schwierig-
keit erkennen, die Aristoteles’ Ausführungen an dieser Stelle mit sich
bringen. Er geht von vier Gegensatztypen aus, von denen der Gegensatz

66
Metaphysica X, 3; 1054a 20-26, Übers. H. Bonitz.

85
Aristoteles von Stageira (384-322)
von Einem und Vielem als einer, nämlich als eine Privation bestimmt
werden kann und deswegen dann auch als eine Kontrarität. Zugleich
soll das aber die anderen beiden Gegensatztypen ausschließen. Aristo-
teles argumentiert hier also offenbar sehr systematisch; aber das, ohne
ein explizites System zugrundezulegen. Wir müssen ein solches System
der Gegensätze also nachliefern.
™peˆ d tÕ n kaˆ tÕ ×n pollacîj »Da aber das Eine und das Sei-
lšgetai, ¢kolouqe‹n ¢n£gkh kaˆ ende in mehrfacher Bedeutung
t«lla Ósa kat¦ taàta lšgetai, gesagt werden, so muß notwendig
éste kaˆ tÕ taÙtÕn kaˆ tÕ ›teron auch alles andere, was diesen
kaˆ tÕ ™nant…on, ést' e nai ›teron gemäß ausgesagt wird, durch jene
kaq' ˜k£sthn kathgor…an. Verschiedenheit mit bestimmt
sein, also auch das Selbige, das
Andere und das Konträre; daher
es denn in jeder Kategorie ein
anderes sein muß.«67

Auch wenn das bei Aristoteles nirgendwo so einfach zu finden ist, so


können wir doch versuchen, seinen Forderungen hier nachzukommen
und jede Art des Vielen mit einem anderen Gegensatztypen zu indenti-
fizieren, so daß die Gegensatztypen in einer kategoriale Beziehung zu
den Arten des Seins und des Einen stehen. Aristoteles’ Ablehnung die-
ser Sichtweise, die sich an einzelnen Punkten findet, läßt sich meines
Erachtens leicht widerlegen.
In jedem Fall müssen wir zunächst klären, welche Typen von Ge-
gensätzlichkeit es überhaupt gibt. Eine systematische Betrachtung dazu
findet sich im zweiten Teil der Categoriae, wo Aristoteles die Formen
des Gegenüberliegens (¢ntike‹sqai) diskutiert. Hier grenzt er die zu-
nächst diskutierte und von uns bereits eingehender betrachtete Relation
von anderen Gegensatztypen ab:
Lšgetai d ›teron ˜tšrJ ¢nti- »Eines wird dem anderen auf
ke‹sqai tetracîj, À æj t¦ prÒj ti, vierfache Weise gegenüberlie-
À æj t¦ ™nant…a, À æj stšrhsij gend genannt, entweder wie das
kaˆ ›xij, À æj kat£fasij kaˆ ¢pÒ- In-bezug-auf oder wie das Entge-
fasij. ¢nt…keitai d ›kaston tîn gengesetzte, oder wie Entbehrung

67
Metaphysica V, 10; 1018a 35-38, Übers. H. Bonitz.

86
Aristoteles von Stageira (384-322)
toioÚtwn, æj tÚpJ e„pe‹n, æj m n und Ausstattung oder wie Be-
t¦ prÒj ti oŒon tÕ dipl£sion tù hauptung und Verneinung. Jedes
¹m…sei, æj d t¦ ™nant…a oŒon tÕ derartige ist, um es im Umriß zu
kakÕn tù ¢gaqù, æj d kat¦ sagen, gegenüberliegend, wie
stšrhsin kaˆ ›xin oŒon tuflÒthj beim In-bezug-auf zum Beispiel
kaˆ Ôyij, æj d kat£fasij kaˆ das Doppelte dem Halben, wie
¢pÒfasij oŒon k£qhtai – oÙ beim Entgegengesetzten zum
k£qhtai. Beispiel das Schlechte dem Gu-
ten, wie bei der Entbehrung und
Ausstattung zum Beispiel Blind-
heit dem Augenlicht, wie bei Be-
hauptung und Verneinung zum
Beispiel er sitzt – er sitzt nicht.«
68

Aristoteles unterscheidet also neben der Relation noch den konträren


Gegensatz (™nant…on), den komplementären Gegensatz von Entbehrung
(stšrhsij) und Ausstattung (›xij) und den kontradiktorischen Gegensatz
von Behauptung (kat£fasij) und Verneinung (¢pÒfasij). Wir werden
diese Gegensätze nun mit den Arten des Vielen in Verbindung setzen,
die wir dazu in umgekehrter Reihenfolge diskutieren werden.
§ 60 Die Diskussion der Relation (prÒj ti) können wir auf ein Mi-
nimum beschränken, da wir hier bereits bei der Diskussion der Arten
des Seins deren gegensätzlichen Charakter kennengelernt haben. Daher
ist es nicht verwunderlich, daß sich unter den Arten des Vielen keine
spezielle Unterart für den relationalen Gegensatz findet. Diese Unterart
des Seins scheint einfach beim Einen und beim Vielen identisch zu
sein. Wir können hier allerdings festhalten, daß die Relation bezogen
auf die anderen Gegensatztypen einerseits der konkreteste Gegensatz-
typ ist, da eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein müssen, damit A in
einer Relation zu B steht. Andererseits jedoch ist die Relation deswegen
auch derjenige Gegensatztyp, der dasjenige, was durch sie entgegenge-
setzt ist, am wenigsten betrifft. Das liegt eben daran, daß der Bereich,
auf den eine Relation zutrifft, sehr speziell ist und somit nie das ganze
Sein eines Gegenstandes einnimmt.

68
Categoriae 10; 11b 17-23, Übers. I. Rath.

87
Aristoteles von Stageira (384-322)

relational

A B

Leider stellt sich Aristoteles nirgendwo die Frage, ob es nicht dennoch


möglich wäre, einen Gegenstand vollkommen relational zu betrachten,
ihn also als die Summe der Relationen, in denen er steht, zu sehen.
Vermutlich läßt seine Fixierung auf die Bedeutung der oÙs…a als Øpo-
ke…menon das nicht zu.
§ 61 Die zweite Form des ¢ntike‹sqai ist der konträre Gegensatz
(™nant…on). Aristoteles gibt sich Mühe, diese Form von der Relation ab-
zugrenzen:
t¦ d æj t¦ ™nant…a, aÙt¦ m n »Bei dem aber, das wie das Ent-
¤per ™stˆn oÙdamîj prÕj ¥llhla gegengesetzte gegenüberliegend
lšgetai, ™nant…a mšntoi ¢ll»lwn ist, wird das, was es ist, niemals in
lšgetai· oÜte g¦r tÕ ¢gaqÕn toà bezug aufeinander genannt, wohl
kakoà lšgetai ¢gaqÒn, ¢ll' ™nan- aber wird es einander entgegen-
t…on, oÜte tÕ leukÕn toà mšlanoj gesetzt genannt. Denn weder wird
leukÒn, ¢ll' ™nant…on. éste dia- das Gute in Hinsicht auf das
fšrousin aátai aƒ ¢ntiqšseij ¢ll»- Schlechte gut genannt, sondern
lwn. entgegengesetzt, noch das Weiße
in Hinsicht auf das Schwarze
weiß, sondern entgegengesetzt.
Daher unterscheiden sich diese
Gegensätze voneinander.« 69

Die konträren Gegensätze unterscheiden sich also von Relationen da-


durch, daß die eine Seite dieser Relation die andere nicht zu einer
Festlegung zwingt. Man kann etwas Weiß nennen, ohne damit zugleich
etwas anderes Schwarz genannt zu haben. Der Gegensatz des Weißen
kann vielmehr irgendwo zwischen dem Weißen und dem Schwarzen
liegen. Aristoteles zeigt dies am Beispiel des Guten und des Schlechten:

69
Categoriae 10; 11b 33-38, Übers. I Rath.

88
Aristoteles von Stageira (384-322)

kakù d Ðt m n ¢gaqÕn ™nant…on »Einem Schlechten aber ist ein-


™st…n, Ðt d kakÒn· tÍ g¦r ™nde…v mal ein Gutes entgegengesetzt,
kakù Ônti ¹ Øperbol¾ ™nant…on einmal ein Schlechtes. Dem
kakÕn Ôn· Ðmo…wj d kaˆ ¹ mesÒthj Mangel nämlich, der ein Schlech-
™nant…a ˜katšrJ oâsa ¢gaqÒn. tes ist, ist der Überfluß, der ein
Schlechtes ist, entgegengesetzt.
Ähnlich ist auch das Mittelmaß,
das ein Gutes ist, beidem entge-
gengesetzt.« 70

Die Kontrarität der beiden besteht darin, daß es eben Abstufungen ge-
ben kann, die man wiederum als Gegensätze ansehen kann. Grund da-
für ist, daß sich die beiden Seiten eines solchen Gegensatzes eben nicht
ausschließen. Insofern können sie sich auch nicht gegenseitig bestim-
men. Wie gut jemand ist kann ich beispielsweise nur daran messen,
wenn ich weiß, wieviel Güte mir überhaupt vorstellbar ist. Habe ich
bislang in einer vom Schlechten beherrschten Welt gelebt, dann bin ich
hinsichtlich der Güte vermutlich recht anspruchslos und insofern ak-
zeptiere ich schon manches Schlechte als gut.
Diese Abstufungen sind aber nach Aristoteles beim konträren Ge-
gensatz nicht notwendig. Er nennt beispielsweise den Gegensatz von
ungerade und gerade bei Zahlen als Beispiel für einen solchen, der kei-
ne Abstufungen zuläßt:
kaˆ perittÕn d kaˆ ¥rtion ¢riqmoà »Sowohl ungerade als auch gera-
kathgore‹tai, kaˆ ¢nagka‹Òn ge de wird von der Zahl ausgesagt,
q£teron tù ¢riqmù Øp£rcein À pe- und es ist notwendig, daß das ei-
rittÕn À ¥rtion· kaˆ oÙk œsti ge ne der beiden der Zahl zu-
toÚtwn oÙd n ¢n¦ mšson. kommt, entweder ungerade oder
gerade. Und es gibt da kein Da-
zwischen«.71

Es ist allerdings fraglich, ob man diesen Gegensatz als einen konträren


auffaßt, oder nicht doch als einen komplementären, dessen Formen wir
sogleich diskutieren werden. Denn die Menge der Zahlen zerfällt eben
hier ganz klar in die Menge der geraden und die Menge derjenigen, auf

70
Categoriae 11; 14a 1-5, Übers. I. Rath.
71
Categoriae 10; 12a 6-9, Übers. I. Rath.

89
Aristoteles von Stageira (384-322)
welche die Negation des Geraden zutrifft. Daher sieht Aristoteles mei-
nes Erachtens zu Unrecht die Möglichkeit von Sonderfällen des konträr
Entgegengesetzten, wo es kein Zwischending gibt.
§ 62 Im Vergleich mit der Relation ist der konträre Gegensatz also
etwas abstrakter, da er den Bezug zwischen den Extremen lockert.

konträr

A B

In diesem konträren Gegensatz läßt sich nun meines Erachtens eine


Form des Vielen wiederfinden, nämlich das Ungleiche (tÕ ¥nison). Das
Ungleiche ist als Gegensatz zum Gleichen quantitativ bestimmt. Nur bei
einem quantitativen Gegensatz jedoch ist eine Kontrarität möglich,
denn nur das Quantitative läßt Abstufungen zu. Wann immer man bei-
spielsweise beim Qualitativen Abstufungen findet, indem etwas als
mehr oder weniger ähnlich bezeichnet, hat man schon einen quantitati-
ven Blick auf den Sachverhalt, denn nun betrachtet man nicht mehr die
Qualitäten, sondern deren Zahl. Wir dürfen uns dabei nicht von den
Vokabeln »Ähnlichkeit« und »Unähnlichkeit« täuschen lassen, die eben
für Aristoteles hier streng terminologisch nur Übereinstimmung oder
den Unterschied hinsichtlich der Qualität bedeuten.
§ 63 Die dritte Form des Gegensatzes ist die des Unterschieds von
Entbehrung (stšrhsij) und Ausstattung (›xij). Diese bestimmt Aristote-
les wie folgt:
Stšrhsij d kaˆ ›xij lšgetai m n »Entbehrung und Ausstattung
perˆ taÙtÒn ti, oŒon ¹ Ôyij kaˆ ¹ wird im selben Bereich ausgesagt,
tuflÒthj perˆ ÑfqalmÒn· kaqÒlou zum Beispiel das Augenlicht und
d e„pe‹n, ™n ú pšfuken ¹ ›xij g…g- die Blindheit im Augenbereich.
nesqai, perˆ toàto lšgetai ˜k£te- Um es allgemein zu sagen, wo
ron aÙtîn. ™sterÁsqai d tÒte von Natur aus die Ausstattung
lšgomen ›kaston tîn tÁj ›xewj entsteht, in diesem Bereich wird
dektikîn, Ótan ™n ú pšfuken Øp- beides ausgesagt. Entbehren
£rcein kaˆ Óte pšfuken œcein mh- nennen wir ein jedes, das zwar
damîj Øp£rcV· nwdÒn te g¦r die Ausstattung annehmen kann,

90
Aristoteles von Stageira (384-322)
lšgomen oÙ tÕ m¾ œcon ÑdÒntaj, kaˆ bei dem aber die Ausstattung, wo
tuflÕn oÙ tÕ m¾ œcon Ôyin, ¢ll¦ sie von Natur aus vorkommen
tÕ m¾ œcon Óte pšfuken œcein· tin¦ soll und wann man sie von Natur
g¦r ™k genetÁj oÜte Ôyin oÜte aus haben soll, nicht vorkommt.
ÑdÒntaj œcei, ¢ll' oÙ lšgetai nwd¦ Denn zahnlos nennen wir nicht
oÙd tufl£. das, was Zähne nicht hat, und
blind nicht das, was kein Augen-
licht hat, sondern das, was nicht
hat, wann es natürlich wäre zu
haben.« 72

Der Gegensatz von stšrhsij und ›xij setzt also eine Wesensbestim-
mung voraus. Nur wenn ein Gegenstand oder Lebewesen eine be-
stimmte ›xij qua Wesen hat oder haben sollte, kann sie eine stšrhsij
haben. Nur dann kann es dieses Wesens entbehren. Zugleich betont
Aristoteles hier, daß für diesen Gegensatz ein bestimmter Bereich cha-
rakteristisch ist, in dem er besteht. Es handelt sich nicht um einen ab-
soluten Gegensatz von etwas Bestimmtem, das dem übrigen Sein
schlechthin entgegengesetzt ist, sondern um einen Gegensatz nur in die-
sem Bereich. Dieser Gegensatz der stšrhsij kann somit als ein kom-
plementärer Gegensatz verstanden werden, bei dem die beiden Gegen-
satzpaare einen bestimmten Bereich des Seins voll ausfüllen. So füllen
beispielsweise die Sehenden und die Blinden den Bereich derjenigen
Wesen aus, die im Grunde sehen könnten.
Aristoteles beschreibt in seinem Begriffslexikon, wie man einen sol-
chen komplementären Gegensatz bildet:
kaˆ Ðsacîj d aƒ ¢pÕ toà a ¢po- »Und überhaupt in allen den Be-
f£seij lšgontai, tosautacîj kaˆ deutungen, in welchen man Ne-
aƒ ster»seij lšgontai· gationen durch ein vorgestelltes
un- aussagt, in diesen allen
spricht man auch von Privation.«73

Wir erhalten also einen komplementären Gegensatz dadurch, daß wir


einen bestimmten Begriff mit der Vorsilbe »un-« verneinen. Dies stellt
dann keine schlechthinnige Negation dar, wie wir sie bei der Kontradik-

72
Categoriae 10; 12a 26-34, Übers. I. Rath.
73
Metaphysica V, 22; 1022b 32-33, Übers. H. Bonitz.

91
Aristoteles von Stageira (384-322)
tion kennenlernen werden, sondern eine Verneinung eben gerade in
der Hinsicht, die für den zugrundegelegten Bedeutungsgehalt bestim-
mend ist. So ist eben der Gegensatz des Sehenden nicht das Nicht-
Sehende, zu dem alles nur Denkbare gehört, sondern das Un-Sehende,
also das Blinde. Gewiß braucht man im Einzelfall immer noch etwas
Sprachgefühl, um aus den so oft künstlich gebildeten Gegensätzen Be-
griffe zu machen, die sich auch in unserer Sprache finden, aber zumin-
dest ist das Kriterium dieses Gegensatzes, nämlich die Verneinung in
einer wesentlichen Hinsicht, logisch eindeutig.
§ 64 Aristoteles bemüht sich auch hier um eine Abgrenzung dieses
Gegensatzes von den beiden bereits diskutierten anderen ¢ntike‹sqai.
Der Gegensatz von stšrhsij und ›xij kann demnach nicht konträr sein,
denn er ist eben ausschließend.74 Die Relation soll insofern nicht mit
dem Gegensatz von stšrhsij und ›xij zusammenfallen, als letztere die
Bedeutung des einen in Hinsicht auf das andere nicht in beiden Rich-
tungen aufweist:
¹ g¦r Ôyij oÙk œsti tuflÒthtoj »Das Augenlicht nämlich ist nicht
Ôyij, oÙd' ¥llwj oÙdamîj prÕj in Hinsicht auf Blindheit Augen-
aÙtÕ lšgetai· æsaÚtwj d oÙd ¹ licht, auch wird es keineswegs
tuflÒthj lšgoit' ¨n tuflÒthj anders in bezug auf es genannt.
Ôyewj, ¢ll¦ stšrhsij m n Ôyewj ¹ Ebenso könnte die Blindheit
tuflÒthj lšgetai, tuflÒthj d nicht Blindheit in Hinsicht auf
Ôyewj oÙ lšgetai. Augenlicht genannt werden, wohl
aber wird die Blindheit Entbeh-
rung von Augenlicht genannt«. 75

Zwar ist die stšrhsij insofern durch die ›xij bestimmt, als sie eben
durch das Fehlen dieses bestimmten Aspektes zustande kommt. Es ist
aber keineswegs umgekehrt die ›xij durch die stšrhsij bestimmt, denn
beispielsweise bei einem Blinden würde man, gäbe es nur Blindheit, gar
nicht wissen können, was der Gegensatz zur Blindheit ist. Das Positive
hat hier ein Primat vor dem Negativen insofern als das Negative eben

74
Aufgrund unserer Kritik an Aristoteles’ Konzeption einer ausschließenden Kontra-
rität können wir uns seine Diskussion zur Unterscheidung dieser von der Privation
schenken.
75
Categoriae 10; 12b 18-21, Übers. I. Rath.

92
Aristoteles von Stageira (384-322)
als das Fehlen des Positiven bestimmt ist. Was Blindheit ist, das läßt sich
eben als stšrhsij der Sehkraft bestimmen. Umgekehrt läßt sich aus der
Blindheit nach Aristoteles aber nicht auf die Sehkraft schließen; in der
Blindheit steckt sozusagen nicht das affirmative, was die Sehkraft ausmacht.
Das zugrundeliegende Argument und die damit verbundene Problema-
tik wird hier deutlicher, wenn wir uns die Struktur des komplementären
Gegensatzes genauer ansehen. Er ist eben vor allem dadurch bestimmt,
daß er in einem bestimmten abgegrenzten Bereich stattfindet. Der Gegen-
satz von Sehkraft und Blindheit betrifft eben nur diejenigen Wesen, die im
Grunde sehen könnten.

komplementär

neutral A B

Es gibt also einen für den Gegensatz neutralen Bereich, der vorgängig vom
Bereich des Gegensatzpaares abgegrenzt ist. Diese Abgrenzung jedoch
muß bereits mit Bezug auf die Bedeutungshinsicht des Gegensatzes ge-
schehen. Insofern ist der affirmative Gehalt der diese Hinsicht ausmacht
erst einmal eine Vorbedingung des Gegensatzes überhaupt.
§ 65 Aristoteles meint nun, diese Vorbedingung würde damit zusam-
menfallen, daß der komplementäre Gegensatz nicht umkehrbar ist, wie das
bei der Relation der Fall ist.
œti t¦ prÒj ti p£nta prÕj ¢nti- »Ferner wird jedes In-bezug-auf
stršfonta lšgetai, éste kaˆ ¹ tu- bezüglich der Umkehrung ausge-
flÒthj e‡per Ãn tîn prÒj ti, ¢nt- sagt, so daß, wenn die Blindheit
šstrefen ¨n k¢ke‹no prÕj Ö lšge- auch zum In-bezug-auf gehörte,
tai· ¢ll' oÙk ¢ntistršfei· oÙ g¦r auch jenes sich umkehren ließe
lšgetai ¹ Ôyij tuflÒthtoj Ôyij. in bezug auf worauf es genannt
wird. Es läßt sich aber nicht um-
kehren, denn das Augenlicht
wird nicht in Hinsicht auf Blind-
heit Augenlicht genannt.«
76

76
Categoriae 10; 12b 21-25, Übers. I. Rath.

93
Aristoteles von Stageira (384-322)
Damit verfehlt Aristoteles jedoch meines Erachtens den Punkt. Die
Umkehrbarkeit der beiden Seiten ist durchaus gegeben. Die Blindheit
ist blind für das Sehen und das Sehen sieht, daß es nicht blind ist.
Grund dafür ist, daß der negative Teil des Gegensatzes ebensogut wie
der positive die beiden gemeinsam zugrundeliegende Bedeutungshin-
sicht zum Ausdruck bringt. Wäre das nicht der Fall, so wäre der negati-
ve Begriff gar kein Begriff.
Was den komplementären Gegensatz aber darüber hinaus von der
Relation unterscheidet, die ja auch eine solche Komplementarität an
den Tag legt, wird meines Erachtens aus der Rolle der Quantität in ei-
nem solchen Gegensatz deutlich. Eine Relation kann ebenso qualitative
wie auch quantitative Aspekte in Bezug zueinander setzen. Die Privati-
on als reine Komplementarität ist jedoch auf Qualitatives festgelegt. Die
Relation läßt somit auch Konträreres zu, das wir ja mit dem Quantitati-
ven parallelisiert haben. So ist beispielsweise der relationale Gegensatz
vom Halben und Doppelten durchaus ein solcher, der auch als konträ-
rer aufgefaßt werden kann, denn zwischen dem Doppelten und Halben
sind durchaus noch andere Grade denkbar. Dem gegenüber schließen
stšrhsij und ›xij einander streng aus und lassen keine Kontrarität zu.
Damit ist aber auch diejenige Art des Vielen, welche der Komple-
mentarität entspricht, nämlich die Unähnlichkeit (¢nÒmoion) bestimmt.
Die Unähnlichkeit ist ja bei Aristoteles Unähnlichkeit in qualitativer
Hinsicht und betrifft somit Eigenschaften, die nicht jedem Gegenstand
immer sinnvoll zugeschrieben oder nicht zugeschrieben werden kön-
nen. Dies konstituiert ein komplementäres Verhältnis hinsichtlich der
Frage, ob eine Zuschreibung möglich ist, wenn die entsprechende quali-
tative Hinsicht sich an diesem Gegenstand überhaupt findet.
§ 66 Als vierte Form der ¢ntike‹sqai diskutiert Aristoteles schließlich
den Gegensatz von Behauptung (kat£fasij) und Verneinung (¢pÒ-
fasij), den kontradiktorischen Gegensatz also.
“Osa d æj kat£fasij kaˆ ¢pÒ- »Bei dem, das wie Behauptung
fasij ¢nt…keitai, fanerÕn Óti kat' und Verneinung gegenüberlie-
oÙdšna tîn e„rhmšnwn trÒpwn gend ist, ist ersichtlich, daß es auf
¢nt…keitai· ™pˆ mÒnwn g¦r toÚtwn keine der erwähnten Weisen ge-
¢nagka‹on ¢eˆ tÕ m n ¢lhq j tÕ d genüberliegend ist. Einzig bei
yeàdoj aÙtîn e nai. diesen ist es notwendig, daß stets

94
Aristoteles von Stageira (384-322)
das eine davon wahr, das andere
falsch ist.«
77

Dieser Gegensatz ist trivialerweise kein konträrer Gegensatz, denn bei


ihm muß eines der beiden zutreffen. Er ist ebenso kein prÒj ti und kei-
ne stšrhsij denn die Hinsicht spielt hier keine Rolle. Ist etwas Doppelt,
so ist die kontradiktorische Negation davon das Nicht-Doppelte, was
aber nicht unbedingt das Halbe sein muß, sondern eine abstrakte Men-
ge ist, welche beispielsweise auch das Dreifache oder das Rote und vie-
les andere enthält. Ebenso ist die Negation des Sehenden nicht unbe-
dingt das Blinde, sondern das ganz abstrakte Nicht-Sehende, das in sich
unbestimmt bleibt.

kontradiktorisch

A B

Ebenso wie bei der Komplementarität sind die Gegensätze hier unver-
einbar. Jedoch ist diese Unvereinbarkeit eine prinzipielle. Daher kann
man in der Kontradiktion auch die Wurzel aller Gegensätze sehen,
denn sie ist die von den Voraussetzungen her einfachste Form des Ge-
gensatzes, die zugleich aber das strengste Verhältnis konstituiert. Jeder
Gegensatz muß gewissermaßen irgendwo seine Wurzel haben und diese
Wurzel ist immer ein Paar von sich zunächst absolut ausschließenden
Bestimmungen, die sich als solche unvereinbar gegenüber stehen.
§ 67 Diese Unvereinbarkeit hat für Aristoteles den Status eines Axi-
oms, das als solches für ihn auch zur Metaphysik als Einheitswissen-
schaft, die er hier als Philosophie bezeichnet, gehört:
fanerÕn d¾ Óti mi©j te kaˆ tÁj toà »Offenbar kommt die Untersu-
filosÒfou kaˆ ¹ perˆ toÚtwn ™stˆ chung der Axiome derselben ei-
skšyij· ¤pasi g¦r Øp£rcei to‹j nen Wissenschaft zu, nämlich
oâsin ¢ll' oÙ gšnei tinˆ cwrˆj „d…v der des Philosophen; denn sie
tîn ¥llwn. gelten von allem Seienden, nicht

77
Categoriae 10; 13a 37 – 13b 3, Übers. I. Rath.

95
Aristoteles von Stageira (384-322)
von irgendeiner Gattung insbe-
sondere, geschieden von den üb-
rigen.« 78

Die Axiome (t¦ ¢xièmata) also gelten von allem Seienden und gehö-
ren so zwingend zur Metaphysik als Einheitswissenschaft. Das erste sol-
che Axiom ist das Prinzip der auszuschließenden Kontradiktion:
tÕ g¦r aÙtÕ ¤ma Øp£rcein te kaˆ »Daß nämlich dasselbe demsel-
m¾ Øp£rcein ¢dÚnaton tù aÙtù kaˆ ben und in derselben Beziehung
kat¦ tÕ aÙtÒ (kaˆ Ósa ¥lla pros- (und dazu mögen noch die ande-
diorisa…meq' ¥n, œstw prosdiwris- ren näheren Bestimmungen hin-
mšna prÕj t¦j logik¦j dusce- zugefügt sein, mit denen wir logi-
re…aj)· schen Einwürfen ausweichen)
unmöglich zugleich zukommen
und nicht zukommen kann.« 79

Dieses Prinzip ist somit zugleich eine neuerliche Bestimmung dessen,


was überhaupt eine Kontradiktion ist, nämlich ein totaler Gegensatz in
jeder Hinsicht. Diese Totalität kann nur durch die formale Negation
einer Aussage erreicht werden.
Als Bedingung der Möglichkeit einer solchen Kontradiktion fügt
Aristoteles ein weiteres Axiom hinzu, nämlich den Satz vom ausge-
schlossenen Dritten:
'All¦ m¾n oÙd metaxÝ ¢nti- »Ebensowenig aber kann es zwi-
f£sewj ™ndšcetai e nai oÙqšn, ¢ll' schen den beiden Gliedern des
¢n£gkh À f£nai À ¢pof£nai ›n Widerspruchs etwas geben, son-
kaq' ˜nÕj Ðtioàn. dern man muß notwendig jeweils
Eines von Einem entweder beja-
hen oder verneinen«. 80

Dieser Satz ist insofern eine Bedingung der Möglichkeit einer Kontra-
diktion, als die Existenz eines Zwischengliedes, daß weder zur kat£-
fasij, noch zur ¢pÒfasij gehört, einen Widerspruch unmöglich macht.
Sehen wir jedoch genauer hin, so können wir erkennen, daß dieses
Axiom dem vorhergehenden im Grunde nichts hinzufügt. Es ist ledig-

78
Metaphysica IV, 3; 1005a 21-23, Übers. H. Bonitz.
79
Metaphysica IV, 3; 1005b 19-22, Übers. H. Bonitz.
80
Metaphysica IV, 7; 1011b 23-24, Übers. H. Bonitz.

96
Aristoteles von Stageira (384-322)
lich die formallogische Negation der Negation desselben. Ist vorher ge-
sagt worden, daß etwas nicht widersprüchlich, also zugleich kat£fasij
und ¢pÒfasij sein kann, so besagt das Prinzip des ausgeschlossenen
Dritten, daß es nicht möglich ist, daß etwas weder kat£fasij noch
¢pÒfasij ist, was die Verneinung der Verneinung des Zusammentref-
fens beider darstellt.
§ 68 Bei der Kontradiktion wird die Zuordnung zu einer der Arten
des Vielen nicht so leicht. Wir möchten es, unserer bisherigen Logik
folgend, dem Andern (tÕ ›teron) zuordnen. Aristoteles bestimmt dieses
Andere wie folgt:
kaˆ tÕ m n ¥llo ¢ntikeimšnwj kaˆ »Das Andere bildet einmal den
tÕ taÙtÒ, diÕ ¤pan prÕj ¤pan À Gegensatz zu dem Selbigen, da-
taÙtÕ À ¥llo· tÕ d' ™¦n m¾ kaˆ ¹ her ist jedes in Vergleich mit je-
Ûlh kaˆ Ð lÒgoj eŒj, diÕ sÝ kaˆ Ð dem entweder dasselbe oder ein
plhs…on ›teroj· anderes; ferner gebraucht man
das Andere, wenn nicht der Stoff
sowohl als auch der Begriff das-
selbe ist, daher du ein anderer
bist als dein Nachbar.«
81

Zunächst einmal stellt Aristoteles hier fest, daß der Gegensatz von Iden-
tität und dem Anderen ein Gegensatz ist, der sich an jedem Seiende
finden läßt. Das Andere muß dazu entweder ein anderes Individuum
sein, oder ihm muß eine andere Art zukommen. Das setzt im Grunde
unsere obigen Betrachtungen zum Begriff der Identität fort. Wir haben
dort bereits gesehen, daß der Gegensatz von Identität und Anderem als
ein Gegensatz hinsichtlich der oÙs…a zu verstehen ist. Es geht hier um
das Sein von Etwas. Wenn jedoch das Sein auf dem Spiel steht, so ist
konsequenter Weise das Nichtsein dasjenige, was diesem entgegensteht.
Demnach hätten wir es bei dem Gegensatz von taÙtÒn und ›teron mit
einer Kontradiktion zu tun. Allein, Aristoteles sieht das anders:
oÙ g¦r ¢nt…fas…j ™sti toà taÙtoà, »Das Andere ist nämlich nicht
diÕ oÙ lšgetai ™pˆ tîn m¾ Ôntwn der kontradiktorische Gegensatz
(tÕ d m¾ taÙtÕ lšgetai), ™pˆ d von dem Selbigen und wird da-
her nicht, wie das Nicht-Selbige,

81
Metaphysica X, 3; 1054b 14-17, Übers. H. Bonitz.

97
Aristoteles von Stageira (384-322)
tîn Ôntwn p£ntwn· À g¦r ›n À oÙc vom Nicht-seienden ausgesagt,
›n pšfuc' Ósa ×n kaˆ ›n. wohl aber von allem Seienden,
denn sowohl das Seiende als
auch das Eine ist von Natur ent-
weder Eines oder nicht Eines.«
82

Das Andere ist nach Aristoteles deswegen kein kontradiktorischer Ge-


gensatz des Identischen, weil es nicht mit dem Nicht-Identischen zu-
sammenfällt. Und das wiederum macht er daran fest, daß das Nicht-
Seiende nicht als ein Anderes bezeichnet wird. Es ginge hier beim Ge-
gensatz vom Identischen und Anderen, so Aristoteles, nicht um den
Unterschied von Sein und Nichtsein, sondern um den von Einem und
Nicht-Einem, also Vielem.
Mit dieser Argumentation muß man jedoch nicht einverstanden
sein. Meines Erachtens denkt Aristoteles hier nicht abstrakt genug. Daß
das Nicht-Seiende nicht als ein Anderes bezeichnet wird, was die
Grundlage seiner Argumentation ist, liegt nur daran, daß man in der
gewöhnlichen Sprache gar nicht über das Nichtseiende spricht. Wenn
man aber das Seiende überhaupt zum Gegenstand macht, damit die
Konkretheit der gewöhnlichen Sprache verläßt und nun einen Gegen-
satz zur Identität dieses Seienden als Ganzem sucht, so findet man un-
weigerlich das Nichtseiende als das einzige, was anders ist, als das Sei-
ende. Im Grunde gibt es generell keinen Unterschied zwischen dem,
was als das Andere des Identischen bezeichnet wird und dem Nicht-
Identischen. Würde man es, wie das Aristoteles zu wollen scheint, als
komplementären Gegensatz zum Identischen auffassen wollen, so
bräuchte man dafür eine Hinsicht, in der beide Gegensätze bestimmt
sind. Von etwas zu sagen, es sei Identisch, also gewissermaßen ein Die-
ses, konstituiert aber noch keine solche Hinsicht, sondern sagt nur aus,
daß etwas überhaupt als das ist, was es ist. Dies konstituiert keinen
komplementären Gegensatz, denn das Andere bliebt ganz abstrakt.
Entsprechend läßt sich der Gegensatz von Identität und Anderem doch
als Kontradiktion auffassen. Und so ist die Kontradiktion eine Form
der Vielheit, nämlich jener Vielheit, die durch das Andere konstituiert
wird.

82
Metaphysica X, 3; 1054b 19-20, Übers. H. Bonitz.

98
Aristoteles von Stageira (384-322)
§ 69 Damit können wir unser Schema der Arten des Einen und des
Vielen vervollständigen und die Gleichsetzung der letzteren mit den ih-
nen entsprechenden Formen des Entgegengesetztseins darstellen.

tÕ ›n Ð plÁqoj

tÕ taÙtÒn ¢pÒfasij tÕ ›teron

tÕ Ómoion stšrhsij tÕ ¢nÒmoion

tÕ ‡son ™nant…on tÕ ¥nison

Die Gegensatzformen, die wir hier sehr ausführlich diskutiert haben,


können wir uns nun noch einmal gesondert im Überblick und in ihrem
Zusammenhang miteinander ansehen:

¢ntike‹sqai

Negation in bestimmter Hinsicht


prÒj ti prÒj ti
konvers

™nant…on konträr ™nant…on

Negation in bestimmter Hinsicht


stšrhsij ›xij
komplementär

kat£fasij kontradiktorisch ¢pÒfasij

Der Aufstieg von der Kontradiktion zur Relation ist ein Aufstieg hin-
sichtlich der Komplexität des Gegensatzes, damit zugleich aber ein Ab-
stieg bezüglich der Frage, wie sehr das Wesen von etwas durch diesen

99
Aristoteles von Stageira (384-322)
Gegensatz betroffen ist. Wenn wir uns noch einmal die Bedingungen
vergegenwärtigen, die erfüllt sein müssen, damit etwas eine Kontradik-
tion ist, so können wir feststellen, daß die Kontradiktion, gerade weil sie
die Wurzel aller Gegensätze ist, in ihrer reinen Form auch die abstrak-
teste Form des Gegensatzes darstellt. Zugleich ist sie der Gegensatz, bei
dem die eine Seite nichts mit der anderen gemein hat, außer daß beide
eben in einem kontradiktorischen Verhältnis stehen. Wenn wir ein Mi-
nimum an Gemeinsamkeit zu den beiden Seiten hinzufügen, so erhal-
ten wir die Privation.
¹ d stšrhsij ¢nt…fas…j t…j ™stin· »Die Privation ist ein bestimmter
Widerspruch«. 83

Denn die Privation ist ja dadurch bestimmt, daß sie sich an einem und
dem selben Wesen befindet, daß einmal eine bestimmte Eigenschaft
haben kann, ein anderes mal diese aber nicht hat. Im Haben und nicht-
Haben dieser Eigenschaft ist die Privation als komplementärer Gegen-
satz aber gleichwohl ausschließend. Hinsichtlich der betreffenden Ei-
genschaft legt sie ihre kontradiktorische Wurzel an den Tag. Gleichzei-
tig konstituiert die Bestimmung der Hinsicht des Widerspruchs aber
einen gemeinsamen Bereich, eben dasjenige, worin kein Widerspruch
vorliegt.
Geben wir nun noch eine weitere Gemeinsamkeit hinzu, so kom-
men wir zur Kontrarität. Bei der Kontrarität ist der Gegensatz nicht
mehr ausschließend. Zwar kann etwas nicht die beiden Extreme des
Konträren annehmen, worin sich dessen kontradiktorische Wurzel
zeigt, aber es gibt hier die Möglichkeit eines dritten, das zwischen bei-
den liegt. Zugleich findet sich die Privation in der Kontrarität:
p©sa g¦r ™nant…wsij œcei stšrhsin »Jeder konträre Gegensatz näm-
q£teron tîn ™nant…wn lich enthält die Privation des ei-
nen von den beiden konträr ent-
gegengesetzten Gliedern.« 84

Was konträr ist, kann zwar wie die Privation beider Gegensätze erman-
geln, aber es kann sie nicht beide zugleich haben und ist so immer des

83
Metaphysica X, 4; 1055b 3-4, Übers. H. Bonitz.
84
Metaphysica X, 4; 1055b 18, Übers. H. Bonitz.

100
Aristoteles von Stageira (384-322)
einen beraubt. Zugleich kann das Konträre auch bloß einen Ausschnitt
eines Spektrums betreffen. Nehmen wir als Beispiel den Gegensatz von
Weiß und Grau. Dies ist ein Ausschnitt des Spektrum von Weiß bis
Schwarz und kann so bezüglich dieses Spektrums in seinen Extremen
ein komplementäres Verhältnis darstellen, von dem das Schwarze aus-
geschlossen ist.
Noch konkreter und damit komplexer wird der Gegensatz bei der
Relation, denn hier haben wir ein Verhältnis, dem eine Kontradiktion,
ein komplementärer Gegensatz oder eine Kontrarität, zugrunde liegen
kann und die dadurch zustande kommt, daß man die eine Seite des
Gegensatzes durch ihren Bezug zur anderen definiert. Die Komplexität
des Gegensatzes nimmt also vom kontradiktorischen zum relationalen
hin stückweise zu. Im inneren jedes Gegensatzes findet sich immer eine
Kontradiktion als der prinzipiellste Gegensatz. In der äußeren Form je-
des Gegensatzes jedoch findet sich immer eine Relation.
An dieser Stelle endet unser Versuch einer Systematisierung der ari-
stotelischen Grundbegriffe. Einerseits gestaltet sich eine solche Systema-
tisierung sehr viel schwieriger als bei Platon, da Aristoteles, wo er einen
Begriff analysiert, gleichsam in alle Richtungen des möglichen Ver-
ständnisses dieses Begriffs fliegt und eben selbst gar nicht darum be-
müht ist, einen konsistenten Zusammenhang der Begriffe zu erarbeiten.
Andererseits jedoch vermittelt gerade die Präzision der Begriffsanalysen
bei Aristoteles das Gefühl, daß man jeweils genau weiß, wie man die
einzelnen Begriffe zu verstehen hat. Der Versuch, diese beiden Strö-
mungen zusammenzubringen wird uns durch unsere gesamte Beschäf-
tigung mit den logischen Ideen hindurch begleiten.

v. Ein formales Argument gegen die Ideenlehre


§ 70 Insgesamt jedoch sind Aristoteles’ logische Überlegungen ganz
und gar nicht dazu geeignet sind, eine kohärente Ideenlehre darzustel-
len. Er bliebt jedoch nicht dabei stehen, logischen Fragen in der Regel
ganz formal zu klären, sondern geht sogar dazu über, sich explizit gegen
die Möglichkeit einer Ideenlehre zu wenden. Die allermeisten Kritik-
punkte, die er gegen die Ideenlehre vorbringt, sind jedoch Probleme,
die sich eher gegen die Ideen der Naturdinge richten. Nur ganz selten

101
Aristoteles von Stageira (384-322)
greift er den Gedanken der Existenz reiner Ideen an. Mit einigen von
diesen Kritikpunkten werden wir uns bei der Diskussion der aristoteli-
schen Naturphilosophie beschäftigen.
Ein solcher Angriff läßt auf einen ganz und gar formalistischen Hin-
tergrund schließen:
œti oÙ mÒnon tîn a„sqhtîn para- »Ferner würden die Ideen nicht
de…gmata t¦ e‡dh ¢ll¦ kaˆ aÙtîn, nur Vorbilder für das Sinnliche
oŒon tÕ gšnoj, æj gšnoj e„dîn· éste sein, sondern auch für die Ideen
tÕ aÙtÕ œstai par£deigma kaˆ selbst, z.B. die Gattung für die
e„kèn. Arten der Gattung; wonach denn
dasselbe zugleich Vorbild und
Nachbild sein müßte.«85

Aristoteles besteht darauf, daß Ideen nicht an anderen Ideen teilhaben


können und bringt hiergegen den Grund vor, daß sonst ein und diesel-
be Idee Vorbild (par£deigma) und Abbild (e„kèn) wäre. Das ist jedoch
ein Einwand, der nur unter ganz bestimmten Bedingungen überhaupt
berechtigt sein könnte, nämlich nur dann, wenn es eine klare Trennung
von par£deigma und e„kèn gäbe. Aristoteles versucht diese Trennung
herbeizuführen, indem er als par£deigma den gšnoj und als e„kèn den
e doj setzt. Dann wäre das e doj einmal e„kèn des gšnoj und ein anderes
mal par£deigma des wirklichen Dinges. Doch selbst das ist, platonisch
gedacht, kein zwingender Grund zur Trennung. Ganz und gar kein
Grund liegt jedoch im Reich der reinen Ideen vor, wo es völlig selbst-
verständlich ist, daß eine jede Idee zugleich an jeder anderen teil hat.
Der Versuch, hier ganz formalistisch logische Ebenen einzuführen, ist
durch nichts berechtigt.

vi. Der Unterschied von Möglichkeit und Notwendigkeit


§ 71 Es ist daher verständlich, daß sich nicht alle Begriffe, die für Ari-
stoteles wichtig sind, in ein systematisches Verhältnis bringen lassen.
Ein Beispiel hierfür ist Aristoteles’ Analyse der Begriffe Möglichkeit
(dunatÕn) und Notwendigkeit (¢nagka‹on). Diese findet sich in De inter-
pretatione und beschränkt sich ganz und gar auf das formallogische
Verhältnis dieser Begriffe. An keiner Stelle fragt sich Aristoteles, wel-

85
Metaphysica I, 9; 991a 29-31, Übers. H. Bonitz.

102
Aristoteles von Stageira (384-322)
chen ontologischen Status das Mögliche und das Notwendige haben.
Ihm geht es lediglich darum, die beiden Begriffe als mögliche Modal-
quantoren von Aussagen zu beschreiben. Dazu stellt er uns zunächst
alle möglichen Affirmationen und Negationen der Möglichkeit und der
Notwendigkeit vor und analysiert dann deren Verhältnis. Dabei kommt
er zu folgendem Ergebnis:86

dunatÕn e nai kaˆ dunatÕn m¾ e nai


konträr
oÙk ¢nagka‹on kaˆ
m¾ e nai oÙk ¢nagka‹on e nai

kontradiktorisch kontradiktorisch

oÙ dunatÕn e nai oÙk dunatÕn m¾ e nai


kaˆ konträr kaˆ
¢nagka‹on m¾ e nai ¢nagka‹on e nai

Wenn etwas möglich ist, so heißt das, daß es nicht notwendig ist, daß es
nicht der Fall ist; nicht möglich zu sein bedeutet, daß es notwendig ist,
daß es nicht der Fall ist. Diese beiden Modalitäten schließen sich als
kontradiktorische Gegensätze aus. Hingegen ist die Möglichkeit, daß
etwas der Fall ist, konträr zur Möglichkeit, daß es nicht der Fall ist,
denn, daß beides zugleich zutrifft, ist ausgeschlossen, es ist aber nicht
ausgeschlossen, daß keines der beiden zutrifft. Ebenso ist die Notwen-
digkeit, daß etwas der Fall ist, konträr zur Notwendigkeit, daß es nicht
der Fall ist, denn beides kann problemlos falsch sein, immer aber nur
eines von beiden zutreffen. Zugleich gibt es über die Diagonalen dieser
Aussagen Implikationsverhältnisse:

86
Vgl. De interpretatione 13, wobei ich in Aristoteles’ Schema einen Fehler korrigiert
habe, den er jedoch im Text nicht gemacht hat.

103
Aristoteles von Stageira (384-322)

tÕ m n g¦r ¢nagka‹on e nai du- »Denn es muss ja das Nothwen-


natÕn e nai· dige auch möglich sein«.
87

Wenn etwas notwendig der Fall ist, dann folgt daraus, daß es auch
möglich sein muß, daß es der Fall ist. Mithin impliziert die Notwendig-
keit das Gegenteil ihres Gegensatzes. Das gleiche gilt für die Notwen-
digkeit des Gegenteils, die eben auch die Möglichkeit des Gegenteils
impliziert. Leider beläßt es Aristoteles bei dieser ganz formalen Be-
trachtung der beiden Begriffe.
§ 72 Interessant für die Frage nach dem ontologischen Status dieser
Begriffe ist nun deren Bezug zum Begriff der Wirklichkeit (™nšrgeia):
FanerÕn d¾ ™k tîn e„rhmšnwn Óti »Es ist somit nach dem Gesagten
tÕ ™x ¢n£gkhj ×n kat' ™nšrgei£n klar, dass das Nothwendig-Sei-
™stin, éste e„ prÒtera t¦ ¢…dia, ende es in Bezug auf seine Wirk-
kaˆ ™nšrgeia dun£mewj protšra. lichkeit ist und wenn die ewigen
kaˆ t¦ m n ¥neu dun£mewj ™n- Dinge die früheren sind, so ist
šrgeia… e„sin, oŒon aƒ prîtai auch die Wirklichkeit früher als
oÙs…ai, t¦ d met¦ dun£mewj, § tÍ die Möglichkeit. Manches ist
m n fÚsei prÒtera, tù crÒnJ d wirklich, ohne die Möglichkeit,
Ûstera, t¦ d oÙdšpote ™nšrgeia… wie die höchsten und obersten
e„sin ¢ll¦ dun£meij mÒnon. Dinge; anderes ist wirklich und
auch möglich, wie das von Natur
Frühere, aber der Zeit nach Spä-
tere; Anderes endlich ist niemals
wirklich, sondern bloß möglich.«
88

Das Notwendige, verstanden als etwas Ontologisches, muß in sich seine


Wirklichkeit haben. Denn es muß etwas Wirkliches sein, daß aber zu-
gleich zum Bereich der ewigen Dinge (t¦ ¢…dia) gehört, denn aufgrund
seiner Notwendigkeit kann es nie unwirklich sein. Diese Dinge be-
zeichnet Aristoteles hier auch als die ersten oder höchsten Wesenhei-
ten (aƒ prîtai oÙs…ai). Zugleich sollen diese ohne Möglichkeit existieren
können. Ist es nun kein Widerspruch, wenn diese Wesenheiten zwar
immer wirklich, deswegen notwendig, trotz ihrer Notwendigkeit aber
nicht möglich sein sollen? Meines Erachtens müssen wir das hier so in-

87
De interpretatione 13; 22b 11, Übers. H.J. von Kirchmann.
88
De interpretatione 13; 23a 21-26, Übers. H.J. von Kirchmann.

104
Aristoteles von Stageira (384-322)
terpretieren, daß diese Wesenheiten sich nie im Zustand der bloßen
Möglichkeit befinden, sondern eben immer schon verwirklicht sind.
§ 73 Zugrunde liegt dieser Analyse ein doppelter Gegensatz des Be-
griffs der Möglichkeit. Dieser ist zum einen der kontradiktorische Ge-
gensatz des Notwendigen, zum anderen aber auch ein bestimmter Ge-
gensatz des Wirklichen. Das Mögliche als Negation des Notwendigen
ist ganz abstrakt, als Negation des Wirklichen hingegen haben wir es
mit einer bestimmten Negation, einer Privation zu tun, die nur dort
Sinn macht, wo man überhaupt von Wirklichkeit sprechen kann. Das
in diesem Sinne Mögliche kann im Grunde wirklich werden, ist es aber
noch nicht geworden. Aristoteles spricht hier von dem der Natur nach
früheren, der Zeit nach aber späteren. Damit meint er die Form der
Naturdinge, denn diese ist logisch gesehen – der Natur nach also – eine
Voraussetzung des Seins eines geformten Dinges, der Zeit nach aber ist
der Stoff dieses Dings früher da und dieser ist somit bloß der Möglich-
keit nach Träger einer bestimmten Form.
In der Metaphysica bestimmt er entsprechend all das, was eine Ver-
bindung von Möglichkeit und Wirklichkeit darstellt überhaupt als Na-
turgegenstand:
diVrhmšnou d kaq' ›kaston gšnoj »Indem in jeder Gattung des Sei-
toà m n dun£mei toà d' ™ntelece…v, enden das Mögliche von dem
t¾n toà dun£mei Î toioàtÒn ™stin Wirklichen geschieden ist, so
™nšrgeian lšgw k…nhsin. nenne ich die Wirklichkeit des
Möglichen, insofern es möglich
ist, Bewegung.« 89

Alles, was also erst ein Mögliches, dann aber ein Wirkliches ist, unter-
liegt der Bewegung. Das der Bewegung unterliegende aber ist ein Na-
turding.
Wenn wir also das Verhältnis von Möglichkeit, Notwendigkeit und
Wirklichkeit zusammenfassen, dann haben auf der einen Seite hier ei-
nen kontradiktorischen Gegensatz zwischen dunatÕn und ¢nagka‹on, der
rein logischer Natur ist und auf der anderen Seiten einen komplemen-
tären Gegensatz zwischen dÚnamij und ™nšrgeia, deren gemeinsame

89
Metaphysica XI, 9; 1065b 14-16, Übers. H. Bonitz.

105
Aristoteles von Stageira (384-322)
Grundlage ein Naturgegenstand ist. Letzterer gehört somit in die Na-
turphilosophie und wird von uns noch ausführlicher behandelt werden.

vii. Das höchste Wesen


§ 74 Diese obersten Dinge, die Aristoteles oben als Wirklichkeit, die
keiner Möglichkeit bedarf, charakterisiert hat, müssen wir uns jetzt
einmal genauer ansehen. Da die logischen Begriffe von Aristoteles nicht
wirklich als ewige Wesenheiten betrachtet werden, so ist der Blick auf
diese obersten Dinge vermutlich unsere einzige Chance, Aristoteles’
Vorstellungen über das Ideelle kennenzulernen.
Auch bei der Beschreibung des höchsten Wesens, was diesen Be-
reich der obersten Dinge ausmacht, ist Aristoteles’ Blick fest auf die
Welt der Dinge gerichtet. Seine Suche und Bestimmung eines höchsten
Wesens ist somit zugleich eine Suche nach einer Ursache der Natur
überhaupt. Im Blick auf die Bedingung der Möglichkeit des Seins der
Natur versucht Aristoteles nun zu zeigen, daß ein die Natur bewegendes
und hervorbringendes Wesen reine Wirklichkeit sein muß:
'All¦ m¾n e„ œsti kinhtikÕn À »Gäbe es nun ein Prinzip des
poihtikÒn, m¾ ™nergoàn dš ti, oÙk Bewegens und Hervorbringens,
œstai k…nhsij· ™ndšcetai g¦r tÕ aber ein solches, das nicht in
dÚnamin œcon m¾ ™nerge‹n. oÙq n Wirklichkeit wäre, so würde kei-
¥ra Ôfeloj oÙd' ™¦n oÙs…aj poi»- ne Bewegung stattfinden; denn
swmen ¢id…ouj, ésper oƒ t¦ e‡dh, e„ was bloß das Vermögen (die
m» tij dunamšnh ™nšstai ¢rc¾ me- Möglichkeit) hat, kann auch nicht
tab£llein· oÙ to…nun oÙd' aÛth in Wirklichkeit sein. Also würde
ƒkan», oÙd' ¥llh oÙs…a par¦ t¦ es nichts nützen, wenn wir ewige
e‡dh· e„ g¦r m¾ ™nerg»sei, oÙk Wesen annehmen wollten, wie
œstai k…nhsij. œti oÙd' e„ ™nerg»sei, die Anhänger der Ideenlehre,
¹ d' oÙs…a aÙtÁj dÚnamij· oÙ g¦r sofern nicht in ihnen ein Prinzip
œstai k…nhsij ¢ dioj· ™ndšcetai g¦r enthalten wäre, welches das Ver-
tÕ dun£mei ×n m¾ e nai. de‹ ¥ra mögen der Veränderung hat.
e nai ¢rc¾n toiaÚthn Âj ¹ oÙs…a Aber auch dies würde nicht ge-
™nšrgeia. nügen, noch die Annahme ir-
gendeines anderen Wesens ne-
ben den Ideen; denn sofern das
Wesen nicht in Wirklichkeit sich
befände, so würde keine Bewe-

106
Aristoteles von Stageira (384-322)
gung stattfinden. Ja, wenn es
selbst in Wirklichkeit sich befän-
de, sein Wesen aber bloßes
Vermögen wäre, auch dann wür-
de keine ewige Bewegung statt-
finden; denn was dem Vermögen
nach ist, kann möglicherweise
auch nicht sein.«90

Das höchste Wesen muß also zunächst »in Wirklichkeit« sein, das heißt
es muß etwas Wirkliches sein, sonst könnte es keine wirklichen Bewe-
gungen verursachen. Daher lehnt Aristoteles die Vorstellung platoni-
scher Ideen ab, denn diese sind bloße Möglichkeitsformen. Die Exi-
stenz beispielsweise der Idee der Katze ermöglicht die Existenz der
wirklichen Form der Katze, aber sie bringt sie nicht hervor. Zumindest
erklärt uns Platon nicht, wie eine solche ursächliche Hervorbringung
aussehen könnte. Das ist aber nach Aristoteles technisch auch gar nicht
möglich, denn ein bloß mögliches Wesen kann keine wirklichen Bewe-
gungen hervorrufen. Es reichte aber auch noch nicht, wenn man nun
die Ideen zu wirklichen Dingen machen würde, denn dann wären sie
immer noch Wesenheit, die zwar wirklich, aber auch möglich sein
könnten; sie entsprächen also hinsichtlich ihrer Modalität dem Sein der
Naturdinge. Die von ihnen hervorgebrachten Bewegungen jedoch hän-
gen dann davon ab, ob das betreffende Wesen gerade wirklich oder nur
möglich ist. Er fordert daher die Existenz einer Wesenheit, die reine
Wirklichkeit ist, deren Wesen Wirklichkeit ist (de‹ ¥ra e nai ¢rc¾n
toiaÚthn Âj ¹ oÙs…a ™nšrgeia). Gemeint ist damit die Existenz eines We-
sens, von dem überhaupt nicht denkbar ist, daß es nicht sei.
§ 75 Aristoteles versucht nun dieses Wesen näher zu bestimmen
und stellt zunächst fest, daß dieses Wesen keine Materie an sich haben
darf:
œti to…nun taÚtaj de‹ t¦j oÙs…aj »Ferner ist deshalb notwendig,
e nai ¥neu Ûlhj· daß diese Wesen ohne Stoff
sind.«91

90
Metaphysica XII, 6; 1071b 12-20, Übers. H. Bonitz.
91
Metaphysica XII, 6; 1071b 20-21

107
Aristoteles von Stageira (384-322)
Dies folgt aus der reinen Wirklichkeit der Wesen. Wie wir im folgen-
den noch sehen werden, steht der Stoff bei Aristoteles für die Möglich-
keit während die Form eines Naturdinges dessen Wirklichkeit aus-
macht. Wenn wir also ein materielles ewiges Wesen hätten, dann wäre,
weil die Materie beliebig formbar ist, jedes Stück Materie der Möglich-
keit nach ein ewiges Wesen und mithin gäbe es ein ewiges Wesen im
Zustande der bloßen Möglichkeit. Das jedoch ist ausgeschlossen.
§ 76 Aristoteles teilt die Bewegungen nun in zwei Gruppen ein.
Zum einen gibt es ewige Bewegungen und zum anderen solche, die an-
fangen und aufhören können. Das ewig Bewegte wäre nun zunächst ein
Kandidat für die Rolle des ewigen Wesens. Aber als Bewegtes ist es
eben auch ein Teil der Natur, da jede Bewegung etwas Mögliches zu
etwas Wirklichem macht. Daher muß das ewig Bewegte etwas anderes
sein:
kaˆ œsti ti ¢eˆ kinoÚmenon k…nhsin »Und es gibt etwas, das sich im-
¥pauston, aÛth d' ¹ kÚklJ (kaˆ mer in unaufhörlicher Bewegung
toàto oÙ lÒgJ mÒnon ¢ll' œrgJ bewegt, diese Bewegung aber ist
dÁlon), ést' ¢ dioj ¨n e‡h Ð die Kreisbewegung. Dies ist nicht
prîtoj oÙranÒj. nur durch den Begriff, sondern
auch durch die Sache selbst
deutlich. Also ist der erste Him-
mel ewig.« 92

Eine ewige Bewegung, das ist für Aristoteles sowohl logisch wie auch
empirisch evident, kann nur eine Kreisbewegung sein. Was wir also
damit über die ewige Bewegung wissen, ist, daß es eine Kreisbewegung
ist und daß sie in der Natur stattfindet. Damit ist es nicht mehr beson-
ders schwer, dieser Bewegung dann auch ein Naturphänomen zuzu-
ordnen. Dieses findet Aristoteles im oÙranÒj, und identifiziert die ewige
Kreisbewegung so mit den Bahnen der Planeten.
Damit befindet sich Aristoteles einerseits in der Tradition seiner pla-
tonischen Vorgänger, andererseits jedoch bricht er auch ein Stück weit
mit dieser Tradition. Der Bruch liegt natürlich darin, daß die Planeten-
bahnen in gewisser Weise auch als Naturgegenstände zu gelten haben.
Andererseits jedoch ist ihre Bewegung ewig und so stehen sie nur mit

92
Metaphysica XII, 7; 1072a 21-23, Übers. H. Bonitz.

108
Aristoteles von Stageira (384-322)
einem Bein in der Natur. Sie sind damit, ebenso wie bei den Platoni-
kern Zwischenwesen. In Aristoteles’ Naturphilosophie werden wir wie-
der auf dieses Zwischenwesen stoßen und sehen, wie Aristoteles ge-
schickt den Übergang vom Übernatürlichen zum Natürlichen konstru-
iert.
§ 77 Es muß also, wenn wir die Frage nach dem ewigen Wesen wie-
der aufnehmen, eine Größe geben, die sowohl Ursache der endlichen
wie auch der unendlichen Bewegung ist:
œsti to…nun ti kaˆ Ö kine‹. ™peˆ d tÕ »Also gibt es auch etwas, das be-
kinoÚmenon kaˆ kinoàn [kaˆ] mšson, wegt. Da aber dasjenige, was be-
[to…nun] œsti ti Ö oÙ kinoÚmenon ki- wegt wird und bewegt ein Mittle-
ne‹, ¢ dion kaˆ oÙs…a kaˆ ™nšrgeia res ist, so muß es auch etwas ge-
oâsa. ben, das ohne bewegt zu werden,
selbst bewegt, das ewig und We-
sen und Wirklichkeit ist.«
93

Das ewige Wesen wir hier als unbewegtes Bewegendes beschrieben, al-
so als der Ausgangspunkt aller natürlichen Bewegung, der selbst aber
nicht Teil des Bereich des Bewegten ist. Das mittlere Wesen, von dem
Aristoteles hier spricht, das sowohl bewegt, wie auch bewegend ist, ha-
ben wir ja bereits als die Planeten mit ihren ewigen Kreisbewegung
identifiziert.
Wir wissen damit also, daß es sich beim ewigen Wesen um einen
unbewegten Beweger handeln muß. Dies wirft zugleich aber auch ein
Problem auf. Alle uns empirisch bekannten Formen der Bewegung
scheinen zunächst durch etwas verursacht zu werden, das selbst auch
bewegt ist. Wie soll der unbewegte Beweger etwas in Bewegung setzen
können, wenn er selbst sich nicht bewegt? Aristoteles nimmt dieser
Frage sogleich auf und findet eine und vermutlich die einzige Lösung:
kine‹ d ïde tÕ ÑrektÕn kaˆ tÕ »So aber bewegt das Begehrte
nohtÒn· kine‹ oÙ kinoÚmena. toÚtwn und das Intelligible; es bewegt
t¦ prîta t¦ aÙt£. und wird nicht bewegt. Die ersten
[Prinzipien] von diesen sind die-
selben.« 94

93
Metaphysica XII, 7; 1072a 23-26, Übers. H. Bonitz.
94
Metaphysica XII, 7; 1072a 26-27

109
Aristoteles von Stageira (384-322)
Die einzigen empirischen Fälle eines unbewegten Bewegers finden wir
tatsächlich in einer Sache, die wir begehren und in einem intellektuel-
len Anlaß, wie beispielsweise einem logischen Grund, der uns etwas tun
läßt. Nach Aristoteles fallen diese beiden nun zusammen. Es ist nicht
sehr schwer Gründe hierfür zu finden. Wenn wir uns fragen warum wir
das Begehrte begehrten und warum wir das wiederum begehren, um
dessentwillen wir es begehren, so muß diese Kette, wenn das Begehren
nicht irgendwann grundlos wird, in allen Strängen auf einen gemeinsa-
men Grund hinauslaufen. Dieser letzte Grund unseres Antriebs ist
dann zugleich auch der letzte intellektuelle Grund unseres Tuns. Der
unbewegte Beweger bewegt also nicht durch Antrieb, sondern entweder
aus logischem Zwang oder aus einer Vorbildfunktion heraus, die bei
Wesen mit einer Fähigkeit zur Reflexion dazu führt, daß sie ihr Tun auf
dieses ewige Wesen hin ausrichten. Letzteres wird also nur auf den
Menschen zutreffen.
§ 78 Wir können daher unsere weiteren Überlegungen hinsichtlich
der Frage, wie der unbewegte Beweger bewegt auf die Konkretion der
Bewegung durch intellektuellen Zwang beschränken. Hier sind zwei
Hinsichten interessant. Zum einen erhalten wir hiermit eine genauere
Beschreibung dessen, was das höchste Wesen ausmacht, nämlich seine
Vernunft. Zum anderen aber interessiert uns natürlich, wie diese ewige
Vernunft die Naturdinge in Bewegung setzen könnte.
Zunächst werden wir uns mit der ersten Hinsicht beschäftigen, also
dem Verhältnis des unbewegten Bewegers zu seiner Vernunft:
¹ d nÒhsij ¹ kaq' aØt¾n toà kaq' »Die Vernunfttätigkeit an sich
aØtÕ ¢r…stou, kaˆ ¹ m£lista toà aber geht auf das an sich Beste,
m£lista. aØtÕn d noe‹ Ð noàj kat¦ die höchste auf das Höchste. Sich
met£lhyin toà nohtoà· nohtÕj g¦r selbst erkennt die Vernunft in
g…gnetai qigg£nwn kaˆ noîn, éste Ergreifung des Intelligiblen; denn
taÙtÕn noàj kaˆ nohtÒn. tÕ g¦r intelligibel wird sie selbst, den
dektikÕn toà nohtoà kaˆ tÁj oÙs…aj Gegenstand berührend und er-
noàj, ™nerge‹ d œcwn, ést' ™ke…nou fassend, so daß Vernunft und In-
m©llon toàto Ö doke‹ Ð noàj qe‹on telligibles dasselbe sind. Denn die
œcein, kaˆ ¹ qewr…a tÕ ¼diston kaˆ Vernunft ist das aufnehmende
¥riston. Vermögen für das Intelligible
und das Wesen. Sie ist in wirkli-

110
Aristoteles von Stageira (384-322)
cher Tätigkeit, indem sie das In-
telligible hat. Also ist jenes (das
Intelligible) noch in vollerem
Sinne göttlich als das, was die
Vernunft Göttliches zu haben
scheint, und die Betrachtung
(theoretische Tätigkeit) ist das
Angenehmste und Beste.« 95

Die Vernunft (nÒhsij) bezieht sich also, wie wir oben gesehen haben,
auf das Beste und Höchste. Da sie selbst aber dieses Höchste ist, denn
das Höchste ist ja ein einziges, erkennt sie sich im Bezug auf das Höch-
ste selbst. Ihre Ergreifung (met£lhyij) des Intelligiblen oder Vernünfti-
gen (noàj) ist nichts anderes als eine Selbsterkenntnis. Diese beständige
Selbsterkenntnis macht ihre Tätigkeit und Wirklichkeit (™nšrgeia) aus.
Unsere Vernunft ist daher nach Aristoteles göttlich, weil sie die Mög-
lichkeit zu dieser Selbsterkenntnis hat und diese bisweilen auch reali-
siert. Die Vernunft des unbewegten Bewegers ist aber in höchstem Ma-
ße göttlich, weil sie die ständige, immer wirkliche und nie nur mögliche
Selbsterkenntnis ist.
Was heißt das jetzt konkret? Meines Erachtens sagt Aristoteles hier
nichts anderes, als daß das höchste Wesen eben ein ideelles Wesen
sein muß, denn das Ideelle ist die einzige Seinsform, die Bewegung
hervorrufen und so das Natursein erklären kann, ohne selbst Teil die-
ses Naturseins zu sein. Das Ideelle braucht aber dazu selbst eine Bewe-
gung und zwar eine solche, die es nicht zu einem Natursein macht,
denn jede Bewegung ist eben immer ein Übergang von Möglichem zu
Wirklichem. Die einzige hierfür in Frage kommende Bewegung ist die
Selbsterkenntnis. Denn hier ist das Ziel der Bewegung zugleich der An-
fang. Das Zusammenfallen von Anfang und Ziel trifft zwar auch noch
auf die räumliche Kreisbewegung zu, wie wir sie bei den Planetenbah-
nen vorfinden, allein dabei sind die Planeten einmal hier und einmal
dort und es gibt immer noch eine Veränderung des Ortes, als einen Be-
reich indem Mögliches und Wirkliches sich abwechseln. Allein die

95
Metaphysica XII, 7; 1072b 18-24, Übers. H. Bonitz.

111
Aristoteles von Stageira (384-322)
Selbsterkenntnis ermöglicht eine reine Wirklichkeit. Der unbewegte Be-
weger ist somit also ein reines Vernunftprinzip, eine ideelle Größe.
§ 79 Aristoteles kann nun, dem platonischen Weg der Emanation fol-
gend, von dieser Vernunft als der Wesenseigenschaft des unbewegten Be-
wegers absteigend weitere Eigenschaften herleiten:
kaˆ zw¾ dš ge Øp£rcei· ¹ g¦r noà »Und Leben wohnt ihm ein; denn
™nšrgeia zw», ™ke‹noj d ¹ der Vernunft Wirklichkeit (wirkli-
™nšrgeia· ™nšrgeia d ¹ kaq' aØt¾n che Tätigkeit), seine Wirklichkeit
™ke…nou zw¾ ¢r…sth kaˆ ¢ dioj. (Tätigkeit) an sich ist bestes und
fam n d¾ tÕn qeÕn e nai zùon ¢ dion ewiges Leben. Der Gott, sagen wir,
¥riston, éste zw¾ kaˆ a„ën ist das ewige, beste Lebewesen, so
sunec¾j kaˆ ¢ dioj Øp£rcei tù qeù· daß dem Gott Leben und bestän-
toàto g¦r Ð qeÒj. dige Ewigkeit zukommen; denn
dies ist der Gott.«
96

Aristoteles schließt nun also aus der Vernunfttätigkeit des höchsten Wesens,
das er hier als Gott bezeichnet, auf dessen Leben (zw¾). Ähnlich wie die
Emanation bei Platon folgt also auch hier aus dem höheren Prinzip das
niedrigere. Anderes jedoch als bei Platon hat es bei Aristoteles den An-
schein, als denke er sehr viel konkreter. Das Leben wird hier nicht einfach
postuliert, sondern es wird als ™nšrgeia noà, also als das, was die Wirklichkeit
der Vernunft ausmacht, bezeichnet. Die Vernunft äußert sich im Leben.
§ 80 Diese Emanationsbewegung endet jedoch bei Aristoteles schon
nach ihrem ersten Schritt. Dennoch haben wir damit einen Schritt in Rich-
tung der Aufklärung der Frage getan, wie denn die göttliche Vernunft das
Natursein bewegen könnte. Sie enthält einfach die Formen des Naturseins.
Das jedoch bringt eine Aporie mit sich, die Aristoteles ganz klar formuliert:
'Episkeptšon d kaˆ potšrwj œcei »Es ist aber auch zu erwägen, auf
¹ toà Ólou fÚsij tÕ ¢gaqÕn kaˆ tÕ welche von beiden Weisen die
¥riston, pÒteron kecwrismšnon ti Natur des Alls das Gute und das
kaˆ aÙtÕ kaq' aØtÒ, À t¾n t£xin. Beste enthält, ob als etwas Abge-
trenntes, selbständig an sich Be-
stehendes, oder als die Ordnung
der Teile.« 97

96
Metaphysica XII, 7; 1072b 26-30
97
Metaphysica XII, 10; 1075a 11-13, Übers. H. Bonitz.

112
Aristoteles von Stageira (384-322)
Die Aporie ergibt sich hier im Blick auf die Forderung, der unbewegte
Beweger müsse die Naturdinge bewegen. Wenn er vollständig von die-
sen abgetrennt ist, dann kann er das nicht. Er muß also beispielsweise
als Ordnungsprinzip bereits irgendwie in ihnen sein. Das ist beispiels-
weise möglich, wenn er das Leben schlechthin, also gewissermaßen die
Idee des Lebens ist und sich als diese Form in allen Lebewesen befin-
det. Allein dann taucht das Problem auf, daß dieser Gott seine Integrität
als Wesen, das reine Wirklichkeit ist, verliert. Denn die konkreten
Formen können immer wieder in den Zustand der bloßen Möglichkeit
übergehen. Kurz, ist Gott von den Dingen vollkommen getrennt, dann
hat er nichts mit ihnen zu schaffen, ist er jedoch unter ihnen, dann ist er
nicht mehr Gott.
Aristoteles löst diese Aporie nicht zugunsten der einen oder der an-
deren Alternative, sondern er versucht zu zeigen, daß beide Annahmen
zugleich möglich sind:
À ¢mfotšrwj ésper str£teuma; »Oder wohl auf beide Arten zu-
kaˆ g¦r ™n tÍ t£xei tÕ eâ kaˆ Ð gleich, wie dies bei dem Heer der
strathgÒj, kaˆ m©llon oátoj· oÙ Fall ist; denn für dieses liegt das
g¦r oátoj di¦ t¾n t£xin ¢ll' Gute sowohl in der Ordnung als
™ke…nh di¦ toàtÒn ™stin. auch im Feldherrn, und mehr
noch in diesem. Nicht er ist
nämlich durch die Ordnung,
sondern die Ordnung durch
ihn.«98

Aristoteles versucht die Kompatibilität der beiden Annahmen durch


den Vergleich mit einem Feldherrn zu zeigen. Dieser ist zum einen
nicht Teil des Heers, da er selbst zumeist nicht mitkämpft, zugleich
aber stellt er das Heer auf und macht so aus den einzelnen Soldaten
erst ein Heer. Die Metapher ist sicherlich heute etwas weniger treffend
als in der Antike, wo das Heer aus einer Phalanx bestand, deren
Kampfkraft gerade ihre Ordnung (t£xij) bestimmte. Metaphysisch je-
doch heißt das, daß der unbewegte Beweger zugleich eben die Summe
aller Ordnungsprinzipien der Dinge, also ihrer Formen darstellt. Als
diese Summe ist er von den Dingen getrennt, denn sie ist in reiner

98
Metaphysica XII, 10; 1075a 13-15, Übers. H. Bonitz.

113
Aristoteles von Stageira (384-322)
Wirklichkeit in ihm als er selbst, als Formen und Ordnung der Einzel-
dinge aber ist er mit ihnen verbunden.
Dieser Schluß bereitet Aristoteles meines Erachtens mehr Proble-
me, als er uns bereitet. Er widerspricht hier all dem, was wir im Kapitel
über die Formen an Kritik des Platonismus von ihm zu hören bekom-
men werden. Denn letztlich ist dieser Gott damit nichts anderes als der
platonische Ideenhimmel, zusammengefaßt im Prinzip des Einen und
Guten.

viii. De divisione naturae


§ 81 Mit Hilfe der soeben behandelten Frage nach der Stellung der
Wesen in der Kette des Bewegens und Bewegtwerdens konstruiert Ari-
stoteles in der Physica eine allgemeine Einteilung der Welt in drei Be-
reiche. Er geht dabei aus von der Bestimmung desjenigen Bereiches,
mit dem sich die Naturphilosophie beschäftigt. Diese behandelt
Ólwj Ósa kinoÚmena kine‹ (Ósa d »überhaupt alles, was Verände-
m», oÙkšti fusikÁj· oÙ g¦r ™n rung in Gang setzt und dabei
aØto‹j œconta k…nhsin oÙd' ¢rc¾n selbst der Veränderung unterliegt
kin»sewj kine‹, ¢ll' ¢k…nhta Ônta· – Gegenstände, bei denen das
diÕ tre‹j aƒ pragmate‹ai, ¹ m n nicht so ist, gehören nicht mehr
perˆ ¢kin»twn, ¹ d perˆ kino- zur Aufgabe der Naturbetrach-
umšnwn m n ¢fq£rtwn dš, ¹ d perˆ tung: nicht indem sie an sich
t¦ fqart£). selbst Veränderung haben und
Ursprung von Veränderung, ge-
ben sie Anstoß zur Veränderung,
sondern als selbst unveränder-
lich; entsprechend sind es drei
Aufgabenfelder: Eines (ist befaßt)
mit dem Unveränderlichen, das
andere mit dem zwar Veränderli-
chen, aber Unvergänglichen, das
dritte mit dem Vergänglichen«. 99

Der erste Bereich ist also der des unbewegten Bewegers, mit dem wir
uns oben beschäftigt haben. Die sich mit ihm beschäftigende Wissen-
schaft ist für Aristoteles die Metaphysik; für uns jedoch nur der Teil

99
Physica II, 7; 198a 27-31, Übers. H.G. Zekl.

114
Aristoteles von Stageira (384-322)
derselben, der sich mit rein ideellen Strukturen beschäftigt. Ein zweiter
Bereich ist der von veränderlichen aber unvergänglichen Dingen. Im
antiken Weltbild können hiermit nur die Himmelskörper gemeint sein,
die zwar bewegt sind und ihre Position verändern, aufgrund ihrer
Kreisbahn aber zugleich den Anschein der Unvergänglichkeit haben.
Mit ihnen also beschäftigt sich die Astronomie, wobei man die Frage
aufwerfen kann, ob nicht auch die Mathematik hier ihr Aufgabenfeld
findet. Nach Vorstellung der antiken Denker sind es ja ideale Kreis-
bahnen, welche die Himmelskörper beschreiben, so daß diese gewis-
sermaßen mathematische Figuren hervorbringen. Ein dritter Bereich ist
schließlich die Natur selbst, mit der sich die Naturphilosophie beschäf-
tigt. Hier ist alles vergänglich und veränderlich.
Diese Einteilung eignet sich zu einem Vergleich mit der platoni-
schen Ontologie. Bei Platon würde man, wenn man dieselbe Einteilung
zugrundelegt, die Trias aus Ideen, Weltseele und Welt ohne Probleme
mit Aristoteles’ Modell in Übereinstimmung bringen können. Es gäbe
jedoch auch die Möglichkeit, noch einen Schritt zurück zu gehen und
das unbewegte Wesen mit dem Einen, das bewegte aber unvergängliche
dann mit den Ideen – die ja gewissermaßen aus dem Einen generiert
werde, als ideelle Wesenheiten jedoch dennoch unvergänglich sind –
und schließlich das dritte mit der Welt zu identifizieren. Eine solche
Auffassung wird uns im Neuplatonismus sehr oft begegnen.

Natur
i. Die erste Materie
§ 82 Wir haben bereits bei Diogenes von Apollonia ein Argument ge-
gen die Annahme der vier Elemente als Materie kennengelernt. Dioge-
nes geht davon aus, daß die Materie nicht aus völlig disparaten Elemen-
ten bestehen kann, denn diese könnten nie in Kontakt treten. Ein sol-
cher Kontakt setzt eine gemeinsame Grundlage voraus. Aristoteles
reicht dieses Argument nicht aus. Er setzt sich mit den verschiedenen
Naturphilosophen auseinander und stellt fest, daß eben viele von ihnen
nur ein Element als ¢rc» und damit als Grundlage des Materiellen an-
nehmen. Sie entgehen so der Kritik des Diogenes. Aristoteles fügt die-

115
Aristoteles von Stageira (384-322)
ser nun ein Argument hinzu, das auch die Auffassungen all jener von
einem einzelnen Element als Urstoff ausgehenden Naturphilosophen
aushebelt:
kaˆ prÕj toÚtoij tù ·vd…wj tîn »Wenn sie überdies so leichthin
¡plîn swm£twn lšgein ¢rc¾n jeden von den einfachen Kör-
Ðtioàn pl¾n gÁj, oÙk ™piskey£- pern für Prinzip erklären mit
menoi t¾n ™x ¢ll»lwn gšnesin pîj Ausnahme der Erde, so tun sie
poioàntai, lšgw d pàr kaˆ Ûdwr dies, weil sie die gegenseitige Ent-
kaˆ gÁn kaˆ ¢šra. t¦ m n g¦r sug- stehung derselben auseinander
kr…sei t¦ d diakr…sei ™x ¢ll»lwn nicht ihrer Art nach untersucht
g…gnetai haben. Ich meine Feuer, Wasser,
Erde und Luft; denn einiges von
diesen entsteht durch Verbin-
dung, anderes durch Trennung
auseinander.« 100

Wenn die Elemente auseinander entstehen, so ist es natürlich völlig


unmöglich, daß eines davon die Grundlage bildet, denn es kann ja aus
den anderen entstehen und diese sind somit ursprünglicher als es
selbst. Was aber zwingt uns zu der Annahme, daß die Elemente ausein-
ander beispielsweise durch Trennung und Verbindung entstehen kön-
nen? Hier kann meines Erachtens das Argument des Diogenes von
Apollonia hilfreich sein. Wenn die Elemente, um überhaupt in Kon-
takt treten zu können, einer gemeinsamen Grundlage bedürfen, dann
können sie auch aus dieser gemeinsamen Grundlage entstehen. Das
aber heißt, wenn man einen Schritt weiter geht, dann auch, daß jedes
Element durch Trennung und Neuverbindung der Grundbestandteile
in ein anderes übergehen kann.
§ 83 Damit ist ausgeschlossen, daß die vier Elemente das Wesen der
Materie bestimmen. Es muß also etwas anderes gefunden werden, was
die stoffliche Grundlage des Seins bildet. Aristoteles folgt uns hier lei-
der nicht in Richtung auf einen idealistischen Begriff der Materie. Etwas
derartiges kann er sich nicht vorstellen:

100
Metaphysica I, 8; 988b 29-33, Übers. H. Bonitz.

116
Aristoteles von Stageira (384-322)

¢ll¦ m¾n oÙd' ™k tîn e„dîn ™stˆ »Aber es ist auch auf keine der
t«lla kat' oÙqšna trÒpon tîn Weisen, die man gewöhnlich an-
e„wqÒtwn lšgesqai. führt, möglich, daß aus den Ideen
das andere werde.«101

Aristoteles macht hier nachdrücklich auf das schwierige Problem eines


Übergangs vom Ideellen zum Materiellen sein aufmerksam. Er weist
implizit darauf hin, daß ein solcher ungeheurer Übergang das Problem
lösen würde. Allein alle bisher vorgeschlagenen Konzepte dazu sind aus
seiner Sicht zu verwerfen. Dabei ist er als geübter Logiker sehr vorsich-
tig, denn er weiß sehr wohl, daß die Unmöglichkeit eines solchen Über-
gangs zu behaupten als Negation einer Einzelfallaussage nach seinen
Maßstäben nicht beweisbar ist.
§ 84 Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß Aristoteles die Ma-
terie, wenn sie nicht aus dem Begrifflichen herleitbar ist, nur negativ be-
stimmt. Sie ist die Abwesenheit aller Bestimmungen:
lšgw d' Ûlhn ¿ kaq' aØt¾n m»te tˆ »Ich nenne aber Materie das, was
m»te posÕn m»te ¥llo mhd n lšge- an sich weder als etwas, noch als
tai oŒj éristai tÕ Ôn. Quantitatives, noch durch ir-
gendeine andere der Aussagewei-
sen bezeichnet wird, durch wel-
che das Seiende bestimmt ist.«
102

Keine der Kategorien soll auf die Materie zutreffen. Sie ist also nicht
einmal so etwas wie eine formlose Masse, denn die wäre ja zumindest
noch durch Quantität bestimmt. Aristoteles stellt er sich damit hier ganz
in die Tradition Platons, der ebenfalls Aussagen über den Begriff der
Materie weitestgehend verweigert hat. So aber fällt er hinter den Ver-
such des Ekphantos zurück, die Materie wirklich zu erklären.
Die Begriffslosigkeit der Materie zeigt sich bei Aristoteles auch
dann, wenn er den Stoff als das Ungewordene darstellt, das aller Form-
gebung zugrundeliegt:
fqe…retai d kaˆ g…gnetai œsti m n »Dem Vergehen und dem Ent-
éj, œsti d' æj oÜ. æj m n g¦r tÕ ™n stehen unterworfen ist er (der

101
Metaphysica I, 9; 991a 19-20, Übers. H. Bonitz.
102
Metaphysica VII, 3; 1029a 20-21, Übers. H. Bonitz.

117
Aristoteles von Stageira (384-322)
ú, kaq' aØtÕ fqe…retai (tÕ g¦r Stoff) in einer Hinsicht wohl, in
fqeirÒmenon ™n toÚtJ ™st…n, ¹ anderer aber nicht. Wenn man
stšrhsij)· æj d kat¦ dÚnamin, oÙ ihn nämlich nimmt als das „an
kaq' aØtÒ, ¢ll' ¥fqarton kaˆ welchem“, so geht er im eigentli-
¢gšnhton ¢n£gkh aÙt¾n e nai. e‡te chen Sinne unter – ist doch das
g¦r ™g…gneto, Øpoke‹sqa… ti de‹ Vergehende „an ihm“, nämlich
prîton ™x oá ™nup£rcontoj· die fehlende Bestimmtheit –;
nimmt man ihn aber nach seiner
Leistung, so geht er nicht im
Wortsinn unter, sondern ist dann
notwendig unvergänglich und un-
geworden. Wenn er nämlich ent-
stünde, dann muß schon wieder
etwas Erstes zugrunde liegen, aus
dem als schon in ihm Vorhande-
nen (er entstünde).«103

Die Materie ist für Aristoteles deswegen ohne Entstehen und Vergehen,
weil sie sonst aus etwas entstehen müßte und das wäre dann eben die
eigentliche Materie. Vergehen kann die Materie nur als reine also
formlose Materie. Als formlose Materie findet sich eine Privation
(stšrhsij) in ihr, die durch die Formung verschwindet. Das aber heißt
nur, daß die Materie dann eben Teil einer aus Form und Materie be-
stehenden Ganzheit geworden ist. Die Materie ist somit der ewig vor-
handene Träger der Form, der aber selbst nicht mehr beschrieben
werden kann, weil er sonst ja eine Form hätte und es wiederum eine
Materie geben müßte, die dieser Form zugrundeliegt.
§ 85 Dennoch weist er der Materie als Zugrundeliegendes eine Sub-
stanz zu und bezeichnet sie gar als oÙs…a:
Óti d' ™stˆn oÙs…a kaˆ ¹ Ûlh, dÁlon· »Daß aber auch der Stoff Wesen
™n p£saij g¦r ta‹j ¢ntikeimšnaij ist, ist offenbar, da bei allen ge-
metabola‹j ™st… ti tÕ Øpoke…menon gensätzlichen Veränderungen et-
ta‹j metabola‹j was vorhanden ist, das den Ver-
änderungen zugrunde liegt.« 104

103
Physica I, 9; 192b 25-30, Übers. H.G. Zekl.
104
Metaphysica VIII, 1; 1042a 32-34, Übers. H. Bonitz.

118
Aristoteles von Stageira (384-322)
Die Materie wird jedoch hier auf eine rein negative Weise erschlossen.
Das ist in Abwesenheit eines konkreten Begriffs der Materie für Aristo-
teles nicht anders möglich. Materie ist das, was erhalten bleibt, wenn
sich die Art-Form ändert. Das kann sie beispielsweise bei einem Lebe-
wesen durch Tod, aber auch bei anderen Wesen durch Entstehen und
Vergehen. Die Materie ist das, was die Masse eines Dinges ausmacht,
an der die Form mehr oder weniger als eine veränderbare Eigenschaft
oder Konstellation der Materie erscheint. Auch hierin folgt Aristoteles
den Gedanken Platons.
Aus diesem Gedanken kommt Aristoteles nun aber zum Begriff ei-
ner ersten Materie:
e„ dš t… ™sti prîton Ö mhkšti kat' »Gibt es nun ein Erstes, was nicht
¥llo lšgetai ™ke…ninon, toàto prè- erst noch nach einem anderen als
th Ûlh· oŒon e„ ¹ gÁ ¢er…nh, Ð d' solchartiges bezeichnet wird, so
¢¾r m¾ pàr ¢ll¦ pÚrinoj, tÕ pàr ist dies erster Stoff; z.B. wenn die
Ûlh prèth oÙ tÒde ti oâsa. Erde aus Luft (luftartig), die Luft
nicht Feuer, sondern aus Feuer
(feuerartig) ist, so ist das Feuer
erster Stoff und ein einzelnes Et-
was, Wesen (Substanz).« 105

In einem Gedankenexperiment leitet Aristoteles hier eine erste Materie


(prèth Ûlh) her. Die Elemente nimmt er dabei einfach zur Veran-
schaulichung. Nicht, daß er behaupten würde, das Feuer sei das erste
Element, nein er spielt nur mit dem Feuer und so auch mit den ande-
ren Elementen und benutzt sie als anschauliche Beispiele für etwas, was
an sich viel abstrakter ist. Es wird sich später noch zeigen, daß dies sich
nach Aristoteles’ Auffassung bei den Elementen ganz anders verhält.
§ 86 Inhaltlich ist diese prèth Ûlh etwas ganz und gar abstraktes. Es
ist eben das Resultat der zuendegedachten Kette der Dinge, die wieder-
um aus anderen Dingen bestehen. Letztlich müssen wir hier, so Aristo-
teles, auf etwas Substantielles stoßen. Man könnte sich nun fragen, ob
das denn zwingend ist, oder ob nicht die Kette des Bestehens aus je-
weils noch grundlegenderem sich bis ins Unendliche fortsetzen ließe.
Aristoteles zeigt jedoch in De generatione et corruptione, daß die

105
Metaphysica IX, 7; 1049a 24-27, Übers. H. Bonitz.

119
Aristoteles von Stageira (384-322)
Grundbestandteile der Natur nicht bis ins Unendliche teilbar sein kön-
nen. Dies tut er wiederum mit einem ganz plausiblen Gedankenexpe-
riment:
”Ecei g¦r ¢por…an, e‡ tij qe…h »Denn es ist eine Aporie, wenn
sîm£ ti e nai kaˆ mšgeqoj p£ntV jemand annimmt, daß ein Körper
diairetÒn, kaˆ toàto dunatÒn. T… und eine Größe etwas ganz und
g¦r œstai Óper t¾n dia…resin dia- gar Teilbares ist und daß diese
feÚgei; e„ g¦r p£ntV diairetÒn, kaˆ [Teilung] möglich ist. Was wird
toàto dunatÒn, k¨n ¤ma e‡h toàto das sein, was der Teilung ent-
p£ntV diVrhmšnon geht? Wenn alles teilbar ist und
diese [Teilung] möglich ist, dann
ist es zugleich möglich daß es
ganz und gar geteilt ist.«
106

Wenn etwas unendlich oft teilbar ist, dann ist es auch erlaubt, es als de
facto unendlich Geteiltes, also als das Endresultat all dieser Teilungen,
zu betrachten. Was aber ist nun das Ergebnis dieser Teilung, so fragt
uns Aristoteles:
'Epeˆ to…nun p£ntV toioàtÒn ™sti tÕ »Weil daher der Körper ganz
sîma, diVr»sqw. T… oân œstai und gar derart [also teilbar] ist,
loipÒn; mšgeqoj; oÙ g¦r oŒÒn te· mag er geteilt sein. Was wird nun
œstai g£r ti oÙ diVrhmšnon, Ãn d übrigbleiben? Eine Größe? Na-
p£ntV diairetÒn. türlich nichts derartiges. Denn
das wird nicht etwas Geteiltes
sein, ein ganz und gar Teilbares
aber war er.«
107

Letztlich zeigt sich also, daß gar nichts übrig bleibt, wenn wir von einem
bis ins Unendliche teilbaren Körper ausgehen. Es gäbe dann also
nichts, woraus ein solcher Körper bestehen könnte und folglich könnte
es ihn als Körper auch nicht geben. Folglich muß es also ein letztes Zu-
grundeliegende geben, das einen substantiellen Charakter hat.
§ 87 Aber dieses Substantielle ist an sich nichts; es bedarf einer
Form um überhaupt zu existierten. Ein rechter Materiebegriff mag sich
auch hier nicht entwickeln. Es ist daher nicht ganz von der Hand zu

106
De generatione et corruptione I, 2; 316a 14-18
107
De generatione et corruptione I, 2; 316a 23-25

120
Aristoteles von Stageira (384-322)
weisen, wenn man die Auffassung vertritt, daß die einzige Funktion der
Materie als Materie, also als prèth Ûlh letztlich für Aristoteles darin be-
steht, ihm ein Prinzip der Individuation zu liefern. Materie sorgt dafür,
daß wesensmäßig identische Dinge dennoch unterschieden sein kön-
nen:
kaˆ ›teron m n di¦ t¾n Ûlhn (˜tšra »Und verschieden ist es durch
g£r), taÙtÕ d tù e‡dei (¥tomon den Stoff, denn dieser ist ein ver-
g¦r tÕ e doj). schiedener, identisch durch die
Art-Form, denn die Art ist un-
teilbar.«108

Was daran merkwürdig anmutet ist die Richtung der Erklärung. Indivi-
duation wird hier durch Materie erklärt. Aus idealistischer Sicht würden
wir dies eher umgekehrt sehen und das was die Materie ausmacht als
ein Resultat einer Individuation ansehen. Denn Individuation ist etwas,
was durch das Allgemeine sehr gut erklärt werden kann. Wir finden
durchaus bereits im Reich des Abstrakten Beispiele von Individuation
wie etwa die Zahlen. Zahlen können aus einfachen Prinzipien hergelei-
tet werden, ohne daß dabei Bezug zu einer materiellen Größe genom-
men werden muß. Auch im Bereich des Begrifflichen haben wir in Pla-
tons Parmenides bereits an einem Beispiel gesehen, wie man sich eine
Individuation vorstellen kann.

ii. Gibt es den Raum?


§ 88 Aristoteles findet eine ganze Reihe von Argumenten für die Exi-
stenz des Raumes. Drei dieser Argumente werden wir näher betrachten
und dabei sehen, daß es Aristoteles nicht gelingt, die Existenz des Rau-
mes als einer Naturgröße neben der Materie zu begründen. Wir wer-
den den Raumbegriff, den Aristoteles zu begründen versucht, mit unse-
rem bei der Diskussion der Fragmente von Ekphantos näher beschrie-
benen Begriff des Raumes konfrontieren. Demnach soll der Raum
nicht als etwas verstanden werden, was außerhalb der Dinge und unab-
hängig von ihnen existiert, sondern als ein Konstrukt der einfachsten
Naturdinge, der Monaden. Für Aristoteles hingegen ist der Raum ein-

108
Metaphysica VII, 8; 1034a 7-8, Übers. H. Bonitz.

121
Aristoteles von Stageira (384-322)
fach ein Behältnis, in dem sich die Dinge als an ihrem Ort (tÒpoj) be-
finden:
kaˆ g¦r doke‹ toioàtÒ ti e nai Ð »Somit scheint „Ort“ etwas Der-
tÒpoj oŒon tÕ ¢gge‹on artiges zu sein wie ein Gefäß«.
109

Daß Aristoteles dabei von tÒpoj und nicht direkt vom Raum spricht,
spielt für uns keine Rolle, da der Raum einfach die Summe der Orte
ist. tÒpoj ist also bereits ein räumlicher Begriff und zwar verstanden im
Sinne eines von den Dingen verschiedenen und diese enthaltenen
Raumes.
§ 89 Aristoteles’ erstes Argument zur Begründung dieses Raumbe-
griffs ist ein ganz einfaches. In ihm zeigt sich die Selbständigkeit des
Raumes noch nicht direkt, aber es dient dazu, auf diese zu schließen:
t£ te g¦r Ônta p£ntej Øpo- »Von dem, was ist, nehmen ja
lamb£nousin e na… pou (tÕ g¦r m¾ alle an, daß es irgendwo ist – was
×n oÙdamoà e nai· poà g£r ™sti es nicht gibt, sei auch nirgendwo:
tragšlafoj À sf…gx;) wo gibt es denn „Bockhirsch“
oder „Sphinx“?« 110

Aristoteles geht hier dem Sprachgebrauch nach, der immer dann, wenn
man von etwas sagt, es existiere, auch davon ausgeht, daß es einen Ort
gibt, an dem es ist. Daß aber alles an einem Ort ist, heißt dann auch,
daß es einen Raum geben muß, in dem sich diese Orte lokalisieren las-
sen.
Wir müssen diesem Argument nun nicht widersprechen, um den
von uns favorisierten Raumbegriff zu verteidigen. Daß jedes Naturding
an einem Ort ist, können wir Aristoteles und dem Sprachgebrauch ge-
trost zugestehen. Die Frage jedoch, ob dieser Ort in einem Raum ist,
der selbständig existiert, ist damit noch nicht beantwortet. Wir wollen ja
davon ausgehen, daß Räumlichkeit und Materialität beides Eigenschaf-
ten der einfachsten Formen des Naturseins, der Monaden, sind, welche
es diesen erlauben, sich dadurch voneinander zu unterscheiden. Eine
Monade kann sich die Existenz einer anderen vorstellen, sie kann sich
aber nicht vorstellen, daß diese andere Monade sie selbst ist. Daher

109
Physica IV, 2; 209b 28-29, Übers. H.G. Zekl.
110
Physica IV, 1; 208a 29-31, Übers. H.G. Zekl.

122
Aristoteles von Stageira (384-322)
stellt sie sich diese als woanders vor. Oder vielmehr: das Woanders
wird durch den Zwang der Monade, sich von einer anderen zu unter-
scheiden konstituiert. So entsteht ein Ort, aber dieser Ort entsteht nur
in der Vorstellung der Monaden und er ist nichts von ihrer Vorstellung
unabhängiges.
§ 90 Ein zweites Argument von Aristoteles versucht die Existenz des
Raumes aus dem Umstand zu begründen, daß zwei verschiedene Na-
turdinge zu verschieden Zeiten an demselben Ort sein können:
™n ú g¦r ¢¾r œsti nàn, Ûdwr ™n »Worin jetzt gerade Luft ist,
toÚtJ prÒteron Ãn, éste dÁlon æj darin war früher Wasser; es ist
Ãn Ð tÒpoj ti kaˆ ¹ cèra ›teron also klar, daß der Ort und Raum
¢mfo‹n, e„j ¿n kaˆ ™x Âj metšba- etwas von beiden Verschiedenes
lon. sein mußte, in welchem und aus
welchem sie wechselten.«
111

Ebenso wie Aristoteles die Materie als dasjenige bestimmte, was in al-
lem Wechsel konstant bleibt, so bestimmt er hier auch den Ort und
den Raum als dasjenige, was beim Ortswechsel konstant bleibt. Daraus
schließt er nun, daß der Raum von den beiden bewegten Materien ver-
schieden sein müsse. Dieses Argument ist jedoch bei Lichte besehen
eine petitio principii, da Aristoteles in seinem Gedankenexperiment ei-
nes Ortswechsels bereits die Vorstellung des Raumes in die Prämissen
seines Schlusses mit einbringt. Wenn man davon ausgeht, daß der
Ortswechsel bloß in der Vorstellung von Monaden stattfindet, dann ist
diese Prämisse verschwunden und der Schluß funktioniert nicht mehr.
Zwar läßt sich auch hier ein Ort klar bestimmen, denn wenn eine Mo-
naden ihren Ort relativ zu den anderen bestimmt, dann wird dieser Ort
zu einer Position, die eine Objektivität erlangt. Die Monaden verhalten
sich dann also alle wirklich so zueinander, als seien sie in einem Raum.
Allein dieser Raum existiert nur in ihrer gemeinsamen Vorstellung und
ist keineswegs unabhängig von ihnen.
§ 91 In einem dritten Argument betrachtet Aristoteles schließlich
den Umstand des Ortswechsels aus der Perspektive der Dinge und

111
Physica IV, 1; 208b 6-8, Übers. H.G. Zekl.

123
Aristoteles von Stageira (384-322)
schließt daraus darauf, daß der Raum weder in der Form, noch im Stoff
eines Dinges liegen kann:
¢ll¦ m¾n Óti ge ¢dÚnaton Ðpo- »Andererseits aber, daß „Ort“ un-
teronoàn toÚtwn e nai tÕn tÒpon, oÙ möglich eins von diesen sein
calepÕn „de‹n. tÕ m n g¦r e doj kaˆ kann, das ist nicht schwer zu se-
¹ Ûlh oÙ cwr…zetai toà pr£gmatoj, hen. Form und Stoff lassen sich
tÕn d tÒpon ™ndšcetai· ™n ú g¦r nämlich nicht von dem (aus ih-
¢¾r Ãn, ™n toÚtJ p£lin Ûdwr, nen gebildeten) Dinge ablösen,
ésper œfamen, g…gnetai, ¢nti- was hingegen den Ort angeht, so
meqistamšnwn ¢ll»loij toà te ist das möglich. Worin (eben)
Ûdatoj kaˆ toà ¢šroj, kaˆ tîn Luft war, darin tritt (jetzt) wieder,
¥llwn swm£twn Ðmo…wj, éste wie gesagt, Wasser ein, wobei
oÜte mÒrion oÜq' ›xij ¢ll¦ cwri- Wasser und Luft wechselseitig
stÕj Ð tÒpoj ˜k£stou ™st…. die Plätze tauschen, und mit den
übrigen Körpern ist es ähnlich; es
ist also der „Ort“ weder Teil
noch Beschaffenheit eines jeden,
sondern ablösbar davon.« 112

Aristoteles benutzt also hier das oben bereits angeführte Argument,


welches einfach im Faktum des Ortswechsels besteht, um zu zeigen,
daß der Ort dem Ding nicht beständig angehört, wie dies Form und
Stoff tun. Weil der Ort also ablösbar sein soll, kann er keine Form sein.
Wenn wir uns diese Überlegung jedoch genauer ansehen, so entsteht
das folgende Problem. Zwar läßt sich ein bestimmter Ort als solcher
von einem Ding ablösen, aber keinesfalls der Umstand, daß es über-
haupt an einem Ort ist, wie Aristoteles oben im ersten von uns behan-
delten Argument bereits ausführte. Er geht nun davon aus, daß jeder
einzelne Raumbestandteil oder Ort von dem Ding ablösbar ist und
deswegen der Raum als Ganzer etwas von den Dingen verschiedenes
sein muß. Wenn man jedoch den Ort als etwas bestimmt, das hinsicht-
lich seiner Bestimmung, die ja eine Position ist, von der Position der
anderen Orte abhängig ist, dann ist beim Wechsel des Ortes dieser Ort
noch nicht ganz verschwunden, denn er fungiert weiterhin als Element
bei der Bestimmung des neuen Ortes des bewegten Dinges. Der Ort ist

112
Physica IV, 2; 209b 21-28, Übers. H.G. Zekl.

124
Aristoteles von Stageira (384-322)
insofern also keineswegs ablösbar, denn jedes Ding steht immer in Be-
zug zu allen Orten. Es ist also nicht möglich, auf diese Weise zu zeigen,
daß der Ort keine Form oder Beschaffenheit eines Dinges ist.

iii. Die Zeitlichkeit


§ 92 Ebenso wie bezüglich des Raumes, so kann man auch bezüglich
der Zeit die Frage stellen, ob es sie gibt. Aristoteles gibt hier eine zwei-
schneidige Antwort. Einerseits gibt es die Zeit als eine das Natursein in
seiner Ganzheit bestimmenden Größe, andererseits jedoch ist nicht al-
les der Zeit unterworfen:
fqor©j g¦r a‡tioj kaq' ˜autÕn »Denn an und für sich genom-
m©llon Ð crÒnoj· ¢riqmÕj g¦r kin»- men ist die Zeit Urheberin eher
sewj, ¹ d k…nhsij ™x…sthsin tÕ von Verfall; sie ist doch das Zahl-
Øp£rcon· éste fanerÕn Óti t¦ a„eˆ (moment) an Bewegung, verän-
Ônta, Î a„eˆ Ônta, oÙk œstin ™n crÒ- dernde Bewegung aber bringt das
nJ· oÙ g¦r perišcetai ØpÕ crÒnou, Bestehende fort zum Umbruch.
oÙd metre‹tai tÕ e nai aÙtîn ØpÕ – Somit ist klar, daß das Immer-
toà crÒnou· seiende, insofern es immerseiend
ist, nicht in der Zeit ist: Es wird ja
nicht von Zeit eingefaßt, und es
wird nicht die Dauer seines Seins
von der Zeit gemessen.« 113

Die Zeit ist für Aristoteles eng mit der Bewegung verknüpft. Alles, was
in der Zeit ist, unterliegt auch der Bewegung und Veränderung. Das ist
ein durchaus sinnvoller Gedanke. Wenn nichts sich bewegen würde,
wie sollten wir dann sagen, daß Zeit vergeht? Auch die Vergänglichkeit
der Naturdinge hängt an dieser Verbindung von Bewegung und Zeit,
denn was auch immer vergeht, verändert sich dabei. Verändert es sich
jedoch, so wird irgend etwas in ihm bewegt. Daher ist es konsequent,
daß als einziges Wesen der unbewegte Beweger der Zeit enthoben ist,
da er ja auch einer Bewegung nicht unterliegt.
§ 93 Eine Frage, die sich jedoch hier stellt, ist, ob man wirklich an
Zeit und Bewegung im Doppelpack als Naturerscheinungen festhalten
kann. Meines Erachtens sieht Aristoteles ganz richtig, daß beide nur zu-

113
Physica IV, 12; 221b 1-5, Übers. H.G. Zekl.

125
Aristoteles von Stageira (384-322)
sammen vorkommen. Wir können uns dann zum einen eine Welt
denken, in der keine Zeit vergeht, in der sich aber Dinge bewegen und
Wesen, die eine Seele und Erinnerungsvermögen haben, diese Verän-
derung als Veränderung wahrnehmen und aufgrund dessen eine Vor-
stellung von Zeit entwickeln. So etwas scheint Aristoteles an einer Stelle
zunächst vorzuschweben:
e„ d mhd n ¥llo pšfuken ¢riqme‹n »Wenn aber nichts anderes von
À yuc¾ kaˆ yucÁj noàj, ¢dÚnaton Natur begabt ist zu zählen als das
e nai crÒnon yucÁj m¾ oÜshj, ¢ll' Bewußtsein (des Menschen), und
À toàto Ó pote ×n œstin Ð crÒnoj, von diesem (besonders) das Ver-
oŒon e„ ™ndšcetai k…nhsin e nai ¥neu standesvermögen, dann ist es
yucÁj. tÕ d prÒteron kaˆ Ûsteron unmöglich, daß es Zeit gibt, wenn
™n kin»sei ™st…n· crÒnoj d taàt' es Bewußtsein (davon) nicht gibt,
™stˆn Î ¢riqmht£ ™stin. außer etwa als das, was als Seien-
des der Zeit zugrundeliegt, etwa
wenn es möglich ist, daß es Ver-
änderungsvorgänge ohne Be-
wußtsein (davon) gibt. Das „frü-
her-und-später“ ist (wohl Be-
stimmungsstück) an der Verän-
derung, Zeit dagegen ist dies
(erst), insoweit es zählbar ist.«
114

Zunächst meint er hier, es gäbe die Zeit nur als zählbare Bewegung, als
eine Bewegung, die der menschliche noàj wahrnimmt. Er lenkt dann
jedoch ein und sieht den Unterschied zwischen prÒteron und Ûsteron als
etwas Objektives. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden, die oh-
ne Bewußtsein keine Zeit seien und der Zeit selbst ist dann allerdings
bloß noch eine terminologische Unterscheidung. Selbstverständlich gibt
es Zeit, wenn etwas früher ist als anderes. Aber immerhin rechnet Ari-
stoteles schon einmal mit der Möglichkeit, ganz ohne Zeit auszukom-
men und alles auf Bewegung zu reduzieren.
Zum anderen können wir uns aber auch eine Welt denken, in der
es keine Bewegung gibt, weil hier die Bewegung auf Zeit zurückgeführt
wird. Das käme dann eher unserer Welt der Monaden gleich, bei de-

114
Physica IV, 14; 223a 25-29, Übers. H.G. Zekl.

126
Aristoteles von Stageira (384-322)
nen sich ein vorher und nachher der inneren Zustände allein schon lo-
gisch unterscheiden läßt. Aufgrund dieses Umstandes kann eine sukzes-
sive räumliche Vorstellung innerhalb von Monaden als eine Bewegung
angesehen werden. Diese wird jedoch selbstverständlich – ebenso wie
die Zeit bei Aristoteles – erst als Bewegung wahrgenommen, wenn es
Wesen mit Erinnerungsvermögen gibt. Ziel eines konsequenten Idea-
lismus sollte es jedenfalls sein, Zeit, Raum und Materie auf eine ge-
meinsame Größe zurückzuführen. Und das kann dann nur eine solche
sein, die wie die Form einen ideellen Charakter hat. Die Diskussion
von Raum, Zeit und Materie ist so für uns immer nur ein Vorspiel zur
Diskussion der Form.

iv. Die Formen sind keine Ideen


§ 94 Einen Großteil der aristotelischen Ideenkritik konnten wir, wie be-
reits erwähnt, nicht als Betrag zur Ideenlehre behandeln, da hier nicht
im eigentlichen Sinne eines konsequenten Idealismus von reinen Ideen
die Rede ist. Vielmehr kritisiert Aristoteles hier nur solche Ideen, die
wir eigentlich als Formen bezeichnen müssen. Eine Kritik dieses aristo-
telischen Standpunkts aus der Sicht einer idealistischen Metaphysik
muß daher, obschon Aristoteles einem idealistischen Projekt nicht posi-
tiv gegenübersteht, durchaus nicht gänzlich negativ ausfallen. Seine Ar-
gumente wenden sich hier vor allem gegen die Existenz der Ideen von
konkreten Gegenständen. Eine Idee des Weißen oder des Pferdes hält
er für überflüssig. Das aber ist durchaus im Sinne eines konsequenten
Idealismus. Denn der geht davon aus, daß die Ideen die Materie konsti-
tuieren und kann indem er so das Materielle als etwas wesentlich Ide-
elles ansieht, auf zusätzliche Ideen verzichten. Aristoteles’ Denken über
die Ideen ist dem Idealismus insofern über weite Strecken nicht konträr
entgegengesetzt, sondern eher subkonträr. Wir werden nun im folgen-
den eine Reihe seiner Kritikpunkte an den Ideen von den Einzeldingen
detailliert betrachten.
§ 95 Aristoteles erklärt uns in der Analytica posteriora, daß die Ide-
en nichts beweisen könnten:
t¦ g¦r e‡dh cairštw· teret…smat£ »Denn den Ideen muss man den
te g£r ™sti, kaˆ e„ œstin, oÙd n Abschied geben; es sind nur leere

127
Aristoteles von Stageira (384-322)
prÕj tÕn lÒgon ™st…n· aƒ g¦r ¢po- Laute und beständen die Ideen
de…xeij perˆ tîn toioÚtwn e„s…n. wirklich, so wären sie doch nichts
für die Begründungen, und bei
den Beweisen handelt es sich
doch um diese Begründungen.« 115

Er schließt hier zwar die Möglichkeit von Ideen nicht vollständig aus,
konstatiert aber, daß diese völlig sinnlose Wesenheiten seinen, da man
aufgrund ihrer nichts beweisen könne. Die Verbindung von Ideen und
Dingen ist allenfalls über die Sprache vermittelt. Die Platoniker mögen
an Ideen denkend, diese in Bezug zu Dingen setzen, aber dieser Bezug
bleibt für Aristoteles äußerlich. Damit es substantiell wird, müßten aus
den Ideen Fakten werden, die sich auf die Naturdinge auswirken kön-
nen. Sonst bleiben die Ideen Für Aristoteles nur über die Sprache mit
den Dingen verbunden.
In Tat zeigt sich eben dieses Problem in der idealistischen Betrach-
tung der Natur. Sofern sie von abgetrennten Ideen ausgeht, kann sie
nicht zeigen, wie die Verbindung zwischen diesen Ideen und den Din-
gen zu denken ist, wie die Ideen ein Warum für das Sosein der Dinge
darstellen können. Dies wäre eben nur dann möglich, wenn gezeigt
wird, daß die Ideen irgendwie wesentlich mit den Dingen verbunden
sind, daß also die Dinge aus Ideen bestehen. Dann aber bedarf es der
abgetrennten Ideen zur Erklärung nicht mehr, denn die Ideen können
dann eben von Innen wirken.
§ 96 Die Ideen sind daher – so beginnt Aristoteles Ideenkritik in
der Metaphysica – aus naturphilosophischer Sicht ganz und gar unnöti-
ge Wesenheiten, denn sie tragen eben nichts zur Erklärung der Dinge
bei:
oƒ d t¦j „dšaj a„t…aj tiqšmenoi »Diejenigen aber, welche die
prîton m n zhtoàntej twndˆ tîn Ideen als Ursachen setzen, haben
Ôntwn labe‹n t¦j a„t…aj ›tera fürs erste, indem sie die Ursa-
toÚtoij ‡sa tÕn ¢riqmÕn ™kÒmisan chen der sinnlichen Dinge finden
wollten, andere an der Zahl ih-
nen gleiche hinzugebracht«.116

115
Analyitica posteriora I, 22; 83a 32-35, Übers. H.J. von Kirchmann.
116
Metaphysica I, 9; 989b 34 – 990b 2, Übers. H. Bonitz.

128
Aristoteles von Stageira (384-322)
Die Ideen können nach Aristoteles in keiner Weise als Ursache der
Dinge gesehen werden. Hier bezieht er sich natürlich auf Fälle, wo wir
nach Platon etwa die Idee des Pferdes als Ursache des Pferdes zu sehen
hätten. Es wird uns aber auf keine Weise verständlich, wie hier das Ide-
elle auf das Materielle wirken soll. Einen direkten Weg aus dem Ide-
enhimmel in die Materie gibt es nicht. Die Ideen der Naturdinge stellen
demnach nach Aristoteles bloß eine überflüssige Seinsart dar.
Auch diesem Argument können wir vorbehaltlos zustimmen. Wir
müssen uns nur fragen welches Sein beispielsweise die Idee eines We-
sen haben kann, das auf Erden nicht realisiert ist, das es als Wesen
nicht gibt. Wenn wir hier davon ausgehen, daß es diese Idee dann im-
mer noch in einem Ideenhimmel gibt, dann ist es völlig unmöglich, zu
erklären, wie dieses Wesen entstehen könnte. Was auch immer dieses
Wesen ins Sein bringt, muß auch in der Materie wirksam sein können.
§ 97 Auch der Begriff der Teilhabe kann diese geforderte Verbin-
dung von Ideen und Dingen nicht herstellen:
tÕ d lšgein parade…gmata aÙt¦ »Wenn man aber sagt, die Ideen
e nai kaˆ metšcein aÙtîn t«lla seien Vorbilder und das andere
kenologe‹n ™stˆ kaˆ metafor¦j nehme an ihnen teil, so sind das
lšgein poihtik£j. leere Worte und poetische Me-
taphern.«
117

Die Teilhabe (mšqexij) bezeichnet Aristoteles hier ganz harsch als meta-
for¦ poihtik£. Sie stellt die Verbindung zwischen den Dingen und Ide-
en nur mit Hilfe einer bloßen Geschichte her, wie Platon uns dies an-
hand des Mythos des dhmiourgÒj im Timaios vorgeführt hat. Dadurch
wird keinesfalls das verständlich, was Aristoteles hier zu recht fordert,
nämlich eine Einsicht in das Wirken der Ideen in der Wirklichkeit. So
einleuchtend der Gedanke der Teilhabe also auch im Verhältnis der
Ideen untereinander sein mag, so wenig plausibel ist er im als Verhält-
nis von Ideen und Dingen.
§ 98 Daher fordert Aristoteles zurecht, daß die Ideen, wenn sie
denn Ursachen der Dinge sein sollen, schon in diesen sein müßten:

117
Metaphysica I, 9; 991a 20-21, Übers. H. Bonitz.

129
Aristoteles von Stageira (384-322)

p£ntwn d m£lista diapor»seien »Am meisten aber müßte man


¥n tij t… pote sumb£lletai t¦ e‡dh wohl in Verlegenheit kommen,
to‹j ¢id…oij tîn a„sqhtîn À to‹j wenn man angeben sollte, was
gignomšnoij kaˆ fqeiromšnoij· oÜte denn Ideen für das Ewige unter
g¦r kin»sewj oÜte metabolÁj dem sinnlich Wahrnehmbaren
oÙdemi©j ™stˆn a‡tia aÙto‹j. ¢ll¦ oder für das Entstehende und
m¾n oÜte prÕj t¾n ™pist»mhn oÙq n Vergehende beitragen; denn sie
bohqe‹ t¾n tîn ¥llwn (oÙd g¦r sind ja weder irgendeiner Bewe-
oÙs…a ™ke‹na toÚtwn· ™n toÚtoij gung noch einer Veränderung
g¦r ¨n Ãn), oÜte e„j tÕ e nai, m¾ Ursache. Aber sie helfen auch
™nup£rcont£ ge to‹j metšcousin· nichts, weder zur Erkenntnis der
anderen Dinge (denn sie sind ja
nicht das Wesen derselben, sonst
müßten sie in ihnen sein), noch
zum Sein derselben, da sie ja
nicht in den an ihnen teilhaben-
den Dingen sind.«118

Folgen wir dieser Kritik, so müssen wir natürlich eine Antwort auf die
Frage finden, wie dann neue Seinsarten auf die Welt kommen können.
Dies ist vor allen Dingen an einem Punkt interessant, den Aristoteles
hier nicht berührt, nämlich dem Moment der Höherentwicklung der
Naturwesen. Wie kann aus einfachen Naturwesen ein höheres Natur-
wesen entstehen, wenn man jeglichen Kontakt dieser Wesen mit der
Idee des neuen Wesens ausschließt? Die Antwort ist ganz einfach; un-
ter diesen Bedingungen ist keine Höherentwicklung möglich. Die Idee
des neuen Wesens muß bereits in denjenigen Wesen aus denen oder
demjenigen Wesen aus dem es entsteht enthalten sein. Das ist letztlich
nur möglich, wenn bereits in der Materie alles Ideelle in verborgener
Form enthalten ist, wenn also die Materie letztlich etwas Ideelles ist.
§ 99 Ideen kann es nach Aristoteles nur von Wesensmerkmalen ei-
nes Naturdinges geben, nicht aber von seinen Akzidentien:
˜tšrwn, kaˆ ¥lla d mur…a sum- »Nach der Notwendigkeit aber
ba…nei toiaàta)· kat¦ d tÕ ¢na- und den herrschenden Ansichten
gka‹on kaˆ t¦j dÒxaj t¦j perˆ über die Ideen muß es, wenn es
aÙtîn, e„ œsti meqekt¦ t¦ e‡dh, eine Teilhabe an den Ideen gibt,

118
Metaphysica I, 9; 991a 8-14; Übers. H. Bonitz.

130
Aristoteles von Stageira (384-322)
tîn oÙsiîn ¢nagka‹on „dšaj e nai Ideen nur von den Wesen geben.
mÒnon. oÙ g¦r kat¦ sumbebhkÕj Denn nicht in akzidenteller Wei-
metšcontai ¢ll¦ de‹ taÚtV ˜k£s- se findet Teilhabe an ihnen statt,
tou metšcein Î m¾ kaq' Øpokeimšnou sondern diese muß insofern statt-
lšgetai (lšgw d' oŒon, e‡ ti aÙtodi- finden, als ein jedes nicht von
plas…ou metšcei, toàto kaˆ ¢id…ou einem Zugrundeliegenden (Sub-
metšcei, ¢ll¦ kat¦ sumbebhkÒj· jekt) ausgesagt wird. Ich meine
sumbšbhke g¦r tù diplas…J ¢id…J z.B., wenn etwas an dem Doppel-
e nai), ést' œstai oÙs…a t¦ e‡dh· ten-an-sich teilhat, so hat es auch
an dem Ewigen teil, aber in akzi-
dentellem Sinne; denn es ist ein
Akzidenz für das Doppelte, daß
es ewig ist. Also werden die Ide-
en nur Wesen sein.« 119

Die hier vorgetragene Kritik an der Ideenlehre ist etwas subtiler als das,
was wir vorher gehört haben. Aristoteles versucht hier zu zeigen, daß es
Ideen nur von den Wesenheiten (t¦ e‡dh) geben kann. Das Argument
dafür ist zunächst sehr einfach. Gäbe es auch vom Akzidentellen (sum-
bebhkÒj) Ideen und infolge dessen Teilhabe am Akzidentellen, so wür-
de sich diese akzidentelle Teilhabe fortsetzen. Was am Doppelten teil
hätte, hätte auch zugleich an allem teil, woran das Doppelte akzidentell
teil hat, wie beispielsweise am Ewigen. Alles, was doppelt so schwer wä-
re, wie etwas anderes, wäre somit ewig; ebenso wie sein Pendant, was
dann eben doppelt so leicht wäre.
Es kann also keine Teilhabe am Akzidentellen geben und daher wä-
re die Annahme von Ideen des Akzidentellen sinnlos. Das aber heißt
genaugenommen, daß die Annahme einer Teilhabe an Ideen über-
haupt sinnlos ist. Denn wenn es vom Akzidentellen keine Ideen gibt,
dann treffen sogleich zwei schwere Geschosse die Ideenlehre. Zum ei-
nen müssen die Dinge ihre akzidentellen Eigenschaften nicht durch
Teilhabe sondern anderswie haben und zum anderen gibt es eben dann
nicht von allem Ideen.
Gerade der zweite Punkt dieser Kritik ist so stark, daß er nicht bloß
Platons Ideenlehre, sondern auch unser Konzept einer idealistischen
Philosophie angreift. Was können wir ihm entgegenstellen? Meine Er-

119
Metaphysica I, 9; 990b 27-34, Übers. H. Bonitz.

131
Aristoteles von Stageira (384-322)
achtens gibt es hier nur eine Möglichkeit, die nicht nur sehr nahelie-
gend ist, sondern darüber hinaus auch ein klareres Licht auf die Natur-
philosophie wirft: p£ntoj e‡dÒj ™stin. Alles ist Wesenheit, es gibt kein
Akzidenz an sich. Was soll das heißen? Sind damit nicht auch offen-
sichtliche Akzidentien wie Farben als Wesenheit bestimmt? Das ist
nicht unbedingt der Fall, denn bereits die Erklärung, die Demokritos
uns von Farben gibt, bestimmt diese als bloße Relationen zwischen un-
seren Sinnesorganen und den Dingen. Dinge können so eine Eigen-
schaft für bestimmte andere Dinge haben, die ihnen an sich nicht als
Eigenschaft zukommt und somit als akzidentell erscheint. Wir müssen
also Aristoteles’ scharfsinnigen Kritikpunkt hier nicht widerlegen, um
diesem seine Spitze zu nehmen.
§ 100 Wenn es Ideen gibt, dann kann es nach Aristoteles’ Auffas-
sung keine Einzeldinge geben:
pÒteron oân œsti tij sfa‹ra par¦ »Gibt es nun eine Kugel außer
t£sde À o„k…a par¦ t¦j pl…nqouj; À den einzelnen Kugeln oder ein
oÙd' ¥n pote ™g…gneto, e„ oÛtwj Ãn, Haus außer den Steinen? Wenn
tÒde ti, ¢ll¦ tÕ toiÒnde shma…nei, es sich so verhielte, so würde
tÒde d kaˆ ærismšnon oÙk œstin, nicht einmal ein einzelnes Etwas
¢ll¦ poie‹ kaˆ genn´ ™k toàde entstehen, vielmehr bezeichnet
toiÒnde, kaˆ Ótan gennhqÍ, œsti (die Art-Form) etwas solcherart
tÒde toiÒnde. Beschaffenes, aber ist nicht ein
Etwas und ein Bestimmtes, son-
dern man macht und erzeugt aus
diesem Etwas ein so Beschaffe-
nes, und wenn es erzeugt ist, so
ist es ein so beschaffenes Et-
was.«120

Wenn es die Ideen, wie beispielsweise die Idee der Kugel oder die
Idee des Hauses gäbe, dann gäbe es keine konkreten Dingen, denn die
Ideen sind allgemein. Wenn das „Haus“ nun ein Allgemeines wäre,
dann wäre es nichts Konkretes, sondern es bliebe auch in seiner Kon-
kretion ein Allgemeines, ein Begriff. Als solches aber wäre es nie sinn-
lich wahrnehmbar. Die einzige denkbare Form einer solchen Konkre-

120
Metaphysica VII, 8; 1033b 19-24, Übers. H. Bonitz.

132
Aristoteles von Stageira (384-322)
tion sieht Aristoteles im Falle der künstlichen Produktion eines Gegen-
standes, wie etwa beim Bau eines Hauses gegeben, wo die Idee zuerst
im Kopf des Baumeisters ist und dann in die Natur umgesetzt wird.
Diese Kritik läßt sich meines Erachtens nicht aufrecht erhalten. Die
einzelne Form, kann durchaus in ihrer Konkretion ein Allgemeines
blieben, ohne daß dies zu einem Widerspruch führt; sie muß es streng-
genommen sogar. Nehmen als Beispiel einmal die Form eines Orga-
nismus. Diese Form formt ihre Materie, die ihrerseits aber durch
Stoffwechsel ständig verändert wird. Der Organismus als materieller
wird beständig ein anderer, dennoch ist er auf die immer gleiche Art
geformt. Was aber ist diese Eigenschaft der Form, Verschiedenes als
Gleiches unter sich zu fassen anderes, als die Eigenschaft der Allge-
meinheit? Was Aristoteles hier nicht mitzuberechnen scheint, ist die
Fähigkeit des Allgemeinen, sich selbst zu konkretisieren. Es kann ein
Allgemeines blieben, aber dennoch diese Allgemeinheit als ein Beson-
deres oder Einzelnes zum Ausdruck bringen. Damit ist wohlgemerkt
gerade nicht gesagt, daß es die Formen als von den Dingen abgetrennte
Ideen geben muß – hierin widersprechen wir Aristoteles keineswegs –
sondern daß sie als allgemeine und ideelle Wesenheit in den Dingen
sein und wirken können.

v. Die Ursachenlehre
§ 101 Aristoteles ersetzt die platonischen Ideen als die leitenden Prin-
zipien der Naturphilosophie durch vier Ursachen, welche für das Na-
tursein kennzeichnend sein sollen:
›na m n oân trÒpon a‡tion lšgetai »Auf eine Weise wird also Ursa-
tÕ ™x oá g…gneta… ti ™nup£rcontoj, che genannt das, woraus als
oŒon Ð calkÕj toà ¢ndri£ntoj kaˆ Ð schon Vorhandenem etwas ent-
¥rguroj tÁj fi£lhj kaˆ t¦ toÚtwn steht, z.B. das Erz Ursache des
gšnh· ¥llon d tÕ e doj kaˆ tÕ pa- Standbilds, das Silber der Schale,
r£deigma, toàto d' ™stˆn Ð lÒgoj Ð und die Gattungen dieser Begrif-
toà t… Ãn e nai kaˆ t¦ toÚtou gšnh fe (sind es auch). Auf eine andere
(oŒon toà di¦ pasîn t¦ dÚo prÕj ›n, aber die Form und das Modell,
kaˆ Ólwj Ð ¢riqmÒj) kaˆ t¦ mšrh d.i. die vernünftige Erklärung des
t¦ ™n tù lÒgJ. œti Óqen ¹ ¢rc¾ „was es wirklich ist“, und die Gat-
tÁj metabolÁj ¹ prèth À tÁj ºre- tung davon – z.B. beim Ok-

133
Aristoteles von Stageira (384-322)
m»sewj, oŒon Ð bouleÚsaj a‡tioj, tavklang das Verhältnis 2 zu 1,
kaˆ Ð pat¾r toà tšknou, kaˆ Ólwj und überhaupt der Zahlbegriff –
tÕ poioàn toà poioumšnou kaˆ tÕ und die Bestimmungsstücke, die
metab£llon toà metaballomšnou. in der Erklärung vorkommen,
œti æj tÕ tšloj· toàto d' ™stˆn tÕ auch. Des weiteren: Woher der
oá ›neka, oŒon toà peripate‹n ¹ anfängliche Anstoß zu Wandel
Øg…eia· di¦ t… g¦r peripate‹; famšn oder Beharrung kommt; z.B. ist
“†na Øgia…nV”, kaˆ e„pÒntej oÛtwj der Ratgeber Verursacher von
o„Òmeqa ¢podedwkšnai tÕ a‡tion. etwas, und der Vater Verursacher
des Kindes, und allgemein das
Bewirkende (Ursache) dessen,
was bewirkt wird, und das Ver-
ändernde dessen, was sich än-
dert. Schließlich: Als das Ziel, d.i.
das Weswegen; z.B. (Ziel) des
Spazierengehens (ist) die Ge-
sundheit. – „Weshalb geht er
doch spazieren?“ – Wir antwor-
ten: „Damit er sich wohlbefindet“
und indem wir so sprechen, mei-
nen wir, den Grund angegeben
zu haben.« 121

Gleich die erste diese Ursachen, die causa materialis (tÕ ™x oá), die
angibt, woraus etwas besteht oder entsteht müssen wir sehr vorsichtig
betrachten. Wenn wir uns die Beispiele ansehen, die uns Aristoteles
hier gibt, so wird deutlich, daß die causa materialis nicht die Materie
schlechthin meint, sondern offenbar nur die unmittelbare Materie eines
Dings. Wir haben oben ja schon gesehen, daß Aristoteles so etwas wie
eine prèth Ûlh annimmt. Würde er hier die Materie schlechthin als
causa materialis bezeichnen, so wäre es immer diese, welche die
Rolle dieser Ursache einnehmen würde. Er benennt jedoch Erz und
Silber, also bereits geformte Stoffe als causae materialis. Mithin ist
hier diejenige Materie gemeint, aus der ein Naturgegenstand unmittel-
bar besteht, also diejenige spezielle Materie, welche von seiner höchsten
Form geformt wird. In einem Organismus beispielsweise wären das die

121
Physica II, 3; 194b 23-35, Übers. H.G. Zekl.

134
Aristoteles von Stageira (384-322)
Organe, nicht aber das Material der Organe. Die causa materialis be-
zeichnet insofern eine Art Subform, welche der konkreten Form eines
Gegenstandes zugrundeliegt. Natürlich bleibt so die prèth Ûlh dann
doch als erste Materie die Ursache aller causae materialis. Aber auch
ohne eine konkrete Kenntnis dessen, was diese prèth Ûlh ist, können
wir in der Formlehre bereits Gebrauch von diesem Materieprinzip ma-
chen, denn es bezieht sich eben nur in letzter Instanz auf die prèth
Ûlh, zunächst jedoch auf das unmittelbare ™x oá.
Die zweite Ursache, die causa formalis entspricht zunächst den
platonischen Ideen insofern, als hier e doj und par£deigma eines Ge-
genstandes als Ursache desselben gesehen werden. Wir haben jedoch
oben gesehen, daß die Form für Aristoteles eben keine von den Dingen
getrennte Idee sein darf, sondern daß er sie nur insofern gelten lassen
kann, als sie in den Dingen selbst wirksam ist. Die Form und die Frage,
wie die Form ihre Materie organisiert sind daher die zentralen Themen
der Naturphilosophie.
Die dritte Ursache ist die causa efficiens, welche das Woher (Óqen)
angibt. Dies ist diejenige Ursache, die sich als die wesentliche bis in die
heutigen Naturwissenschaften, wo man bisweilen sogar versucht, alles
auf sie als Prinzip zurückzuführen, erhalten hat. Gleichwohl haben wir
es hier mit einer Ursache zu tun, die naturphilosophisch wenig Rele-
vanz hat. Uns interessiert weniger die Natur verstanden als ein System
aus Druck und Stoß, sondern das substantielle Wesen derselben. Die-
ses Wesen zeigt sich aber gerade in kausalen Prozessen – und kausale
Prozesse meinen eben in unserem heutigen Sprachgebrauch Prozesse,
die von der causa efficiens bestimmt sind – als etwas, das diese entwe-
der ganz bestimmt, oder doch nur nebenher von ihnen betroffen ist.
Wie genau ein Körper fällt ist für uns uninteressant angesichts der Fra-
ge, was überhaupt ein Körper ist. Und ob ein Sturz ihn zerschlägt hängt
eben weniger vom Sturz, sondern mehr von seiner Beschaffenheit als
Körper ab. Die causa efficiens, so naheliegend ihre Bedeutung also
auch zu sein scheint, spielt bei uns nur eine Nebenrolle.
Eine andere Nebenrolle des heutigen Denkens, die der causa fina-
lis, der vierten Ursache des Aristoteles, wird bei uns hingegen zu grö-
ßeren Ehren kommen. Die causa finalis, die das Ziel (tšloj) als das

135
Aristoteles von Stageira (384-322)
Weswegen (tÕ oá ›neka) ist seit der Neuzeit allein Handlungszusam-
menhängen vorbehalten. Um so interessanter wird es sein, zu sehen,
welche Rolle teleologische Prozesse in der noch nicht durch den Geist
beseelten Natur spielen.
§ 102 Aristoteles bleibt nun aber nicht dabei stehen, diese Ursa-
chenarten einfach aufzuzählen, sondern er zeigt auch ihre Verbindun-
gen auf. Dabei ist vor allem seine Behauptung des Zusammenfallens
der letzten drei Ursachenformen, der causa formalis, efficiens und
finalis für uns sehr interessant:
œrcetai d t¦ tr…a e„j [tÕ] ›n »Nun gehen aber die drei (letzt-
poll£kij· tÕ m n g¦r t… ™sti kaˆ genannten) oft in eins zusammen:
tÕ oá ›neka ›n ™sti, tÕ d' Óqen ¹ Das „was-es-ist“ und das „Wes-
k…nhsij prîton tù e‡dei taÙtÕ toÚ- wegen“ sind eines, und das „wo-
toij· ¥nqrwpoj g¦r ¥nqrwpon gen- her-zuerst-die-Veränderung“ ist
n´ – kaˆ Ólwj Ósa kinoÚmena kine‹ diesen (wenigstens) der Art nach
gleich: es ist ein Mensch der ei-
nen Menschen zeugt, und über-
haupt alles, was Veränderung in
Gang setzt und dabei selbst der
Veränderung unterliegt«.122

Viele Kommentatoren betonen hier aufatmend, daß Aristoteles diese


Ursachenformen »oft« und nicht prinzipiell zusammenfallen läßt. Wir
können jedoch einen Schritt weiter gehen und uns mit der Frage be-
schäftigen, ob nicht durchaus ein prinzipielles Zusammenfallen dieser
drei Ursachenformen denkbar ist.
Zunächst einmal beschäftigen wir uns hier mit dem Zusammenfall
von causa formalis und causa finalis. Was Aristoteles hierzu als
Grund anführt, ist, daß insofern sich etwas entwickelt, es ein bestimmtes
Ziel hat. Dies aber sei
tÕ t… ™stin kaˆ ¹ morf»· tšloj g¦r »das „was-es-ist“ und die Gestalt;
kaˆ oá ›neka· denn dies ist Ziel und Weswe-
gen.«123

122
Physica II, 7; 198a 24-27, Übers. H.G. Zekl.
123
Physica II, 7; 198b 3-4, Übers. H.G. Zekl.

136
Aristoteles von Stageira (384-322)
Die vollendete Form ist immer das Ziel der Entwicklung. Gemeint
scheint damit zunächst nur die Entstehung von Organismen zu sein, die
sich aus einem Keim zu ihrer vollendeten Gestalt als ihrem Ziel entwik-
keln. Verstehen läßt sich dies aber auch als generelle Eigenschaft von
Organismen, deren Ziel ihres inneren Geschehens ja immer die Erhal-
tung und beständige Erneuerung dieser Form ist. Bei anorganischen
Naturwesen jedoch fällt es uns schwer, von teleologischen Prozessen zu
sprechen, so daß auch hier keine Trennung von causa formalis und
causa finalis denkbar ist.
§ 103 Wie sieht es aber mit dem Zusammenfallen von causa for-
malis und causa efficiens aus? Hier gibt uns Aristoteles die Begrün-
dung, daß – ebenfalls beim Entstehen eines Naturwesens – nur ein We-
sen mit gleicher Form als causa efficiens in Frage käme. In der Tat
läßt sich dies aber erweitern. Ebenso wie wir den Satz des Demokritos,
wonach Gleiches nur auf Gleiches wirken könne, dahingehend erwei-
tert haben, daß dies für jede Naturform gelte und nicht nur für Atome,
so können wir auch Aristoteles’ Bestätigung dieses Satzes dahingehend
erweitern, daß sich diese Beschränkung des Wirkungsbereichs nicht
nur auf den Entstehungsprozeß bezieht. Jede Form konstituiert eben
eine Sinnebene, deren Aktionen nur auf dieser Sinnebene – das aber
heißt: nur für andere gleichartige Formen – verständlich sind. Hierbei
muß natürlich berücksichtigt werden, daß wir es zumeist mit mehreren
Formebenen in einem Wesen zu tun haben. Der gezielte Biß eines
Raubtieres in den Kehlkopf eines anderen, mag dem Opfertier auf der
Ebene der Empfindung und Wahrnehmung in aller Deutlichkeit mit-
teilen, daß dieses Raubtier Hunger hat, er teilt aber zugleich mit den
Zähnen dem zarten Fleisch des Kehlkopfes mit, daß dieses nunmehr
der härteren Materie der Zähne des Raubtieres Platz machen muß. Je-
de eintretende Wirkung tritt nur auf der Formebene ein, die sie unmit-
telbar verursacht. Dabei ist es natürlich möglich, daß einer organischen
Form durch eine rein physische Wirkung, wie ein Biß an einer sensi-
blen Stelle, die materielle Grundlage entzogen wird. Die unmittelbar
Wirkung jedoch ist eine Wirkung auf derselben Ebene. Es ist eben das
widrige Schicksal des Beutetieres, daß sein seelischer Apparat von ei-
nem Körper abhängt, der von anderen Tieren als Nahrung betrachtet

137
Aristoteles von Stageira (384-322)
und zerrissen werden kann. So hängt jede Wirkung einer causa effi-
ciens von der Form ab, die hier auf die andere wirkt und ist so eine
verdeckte causa formalis.

vi. Das Einzelding und seine Form


§ 104 Da Aristoteles also den Gedanken von Ideen, die für sich existie-
ren und an denen die Einzeldinge teilhaben, ablehnt, gewinnen die
Einzeldinge für ihn natürlich an Bedeutung. Auf Einzeldinge wirken die
Ursachen, die wir soeben diskutiert haben. Einzeldinge sind für Aristo-
teles für sich selbst existierende Entitäten:
œti aƒ prîtai oÙs…ai di¦ tÕ to‹j »Ferner werden die Wesen im
¥lloij ¤pasin Øpoke‹sqai kaˆ p£n- ersten Sinn deshalb im eigentli-
ta t¦ ¥lla kat¦ toÚtwn kathgo- chen Sinn Wesen genannt, weil
re‹sqai À ™n taÚtaij e nai di¦ toàto sie allem anderen zugrundeliegen
m£lista oÙs…ai lšgontai· und alles andere über sie ausge-
sagt wird oder in ihnen ist.«
124

Mit aƒ prîtai oÙs…ai meint Aristoteles hier die oben bereits erwähnten
ersten Substanzen, die nichts anderes sind, als die konkreten Einzeldin-
ge. Diese sind nicht nur die Voraussetzung für die Existenz von Eigen-
schaften, die eben an ihnen sein müssen, sondern ohne sie gäbe es
auch keine anderen oÙs…ai, also kein e doj und kein gšnoj.
Das einzige Argument, das wir hier in den Categoriae für diese Posi-
tion finden können, ist ein sprachphilosophisches. Wovon sollten wir
sprechen, wenn nicht von Einzeldingen? Alle Wesenheit sind bloß Ab-
straktionen von ihnen. Dieses Argument ist jedoch wenig überzeugend,
denn es denkt zu kurz. Es fragt nämlich ganz nicht danach, wie denn
das von Aristoteles sauber unterschiedene ontologische Sein der Be-
deutungsgehalte sprachlicher Ausdrücke einerseits und der konkreten
Gegenstände andererseits, in ein und dieselbe Welt kommen. Wir
müssen uns hier entscheiden, ob wir die Bedeutungsgehalte im Sinne
eines Materialismus aus den Gegenständen und ihrer Wechselwirkung
entstehen lassen, oder umgekehrt die Gegenstände aus dem ideellen
Sein der Bedeutungsgehalte.

124
Categoriae 5; 2b 15-17, Übers. I. Rath.

138
Aristoteles von Stageira (384-322)
Aristoteles entscheidet sich zumindest hier für die materialistische
Variante. Das macht ihn jedoch für unsere idealistische Philosophie
nicht ganz wertlos. Denn Aristoteles vermeidet es so, ähnlich wie Pla-
ton, sich fast ausschließlich dem Ideellen zu widmen und in der Kom-
bination von Unterschätzung des Materiellen und Überschätzung des
Ideellen den Blick auf den notwendigen Kontaktpunkt der beiden zu
verlieren. Aristoteles konzentriert sich ganz auf die Welt der Dinge, auf
die Natur. Er ist jedoch nicht so vollkommen materialistisch, daß er
nicht gezwungen wäre, ideelle Gehalte an die Natur heranzutragen. Wir
können Aristoteles aus dieser Perspektive als jemanden betrachten, der
dem Platonismus eine Naturphilosophie hinzufügt, welche die Einzel-
dinge ins Zentrum stellt.
§ 105 In diesem Sinne konzentriert Aristoteles in der Metaphysica
seine Bestimmung des Wesens (oÙs…a), welches wir oben noch als eine
logische Kategorie betrachtet haben, auf die konkreten Dinge. Ihn in-
teressiert vor allem die oÙs…a als das einzelne und konkrete Zugrunde-
liegende (Øpoke…menon), er fragt also danach, auf was man sich konzen-
trieren muß, wenn man ein Einzelding betrachtet, was derjenige Teil
des Einzeldings ist, der für es charakteristisch ist:
toioàton d trÒpon mšn tina ¹ Ûlh »Als Zugrundeliegendes (Sub-
lšgetai, ¥llon d trÒpon ¹ morf», strat) nun wird in gewisser Weise
tr…ton d tÕ ™k toÚtwn. die Materie bezeichnet, in ande-
rer die Gestalt und drittens das
aus beiden (Zusammengesetz-
te).«125

Wir haben also drei Kandidaten für die Rolle der oÙs…a, die Materie
(Ûlh), die Form (morf») – die beiden konkreten Ursachen also – und
die Zusammensetzung der beiden. Aristoteles fragt sich nun, welches
dieser drei Elemente am ehesten als oÙs…a zu bezeichnen ist. Dabei
kommt ihm zunächst die Materie in den Sinn, denn es sieht so aus, als
bliebe nach Abstraktion von allem nur noch die Materie übrig. Die Ma-
terie war ja bei ihm – wir haben oben gesehen, wie er sie an eben dieser

125
Metaphysica VII, 3; 1029a 2-3, Übers. H. Bonitz.

139
Aristoteles von Stageira (384-322)
Stelle hier bestimmt – das schlechthin abstrakte Sein, dem keine Kate-
gorie zukommt:
™k m n oân toÚtwn qewroàsi sum- »Wenn man also von diesem Ge-
ba…nei oÙs…an e nai t¾n Ûlhn· ¢dÚ- sichtspunkt aus die Sache be-
naton dš· kaˆ g¦r tÕ cwristÕn kaˆ trachtet, so ergibt sich, daß die
tÕ tÒde ti Øp£rcein doke‹ m£lista Materie Wesen ist. Das ist aber
tÍ oÙs…v, diÕ tÕ e doj kaˆ tÕ ™x unmöglich. Denn selbständige
¢mfo‹n oÙs…a dÒxeien ¨n e nai Abtrennbarkeit und Bestimmt-
m©llon tÁj Ûlhj. t¾n m n to…nun ™x heit (das Dies-da) wird am mei-
¢mfo‹n oÙs…an, lšgw d t¾n œk te sten dem Wesen zugeschrieben.
tÁj Ûlhj kaˆ tÁj morfÁj, ¢fetšon, Demnach dürfte man der An-
Østšra g¦r kaˆ d»lh· sicht sein, daß die Form und das
beiden (Zugrundeliegende) mehr
Wesen ist als die Materie. Das
aus beiden zusammengesetzte
Wesen nun, ich meine das aus
der Materie und der Form beste-
hende, müssen wir beiseite las-
sen, da es später und sinnenfällig
ist.«
126

Die Materie kann also deswegen nicht die oÙs…a sein, weil sie nicht ab-
trennbar und selbständig ist. Materie gibt es nach Aristoteles – wie auch
für Platon – nur als geformte Materie, nicht aber als etwas Eigenständi-
ges. Denn als Eigenständiges hat sie ja keine Bestimmung. Das Wesen
aber muß etwas Eigenständiges sein; für Aristoteles schon aus logischen
Gründen, denn es ist Subjekt von Aussagen. Das aus Materie und Form
zusammengesetzte Ding kann aber auch nicht das Wesen sein, denn es
ist der Form und der Materie nachgeordnet. Erst müssen Form und
Materie da sein, dann erst kann es ein aus diesen Zusammengesetztes
geben. Das Wesen jedoch muß für ihn etwas Grundlegendes sein, das
nicht erst durch Zusammensetzung entsteht. Es bleibt also nur die
Form als dasjenige übrig, als das wir die oÙs…a bestimmen können.

126
Metapyhsica VII, 3; 1029a 26-32, Übers. H. Bonitz.

140
Aristoteles von Stageira (384-322)
§ 106 In der Physica fügt Aristoteles diesem Argument noch hinzu,
daß vor allem die Form die Naturbeschaffenheit des Naturdings dessen
Sein als Naturding bestimmt:
kaˆ m©llon aÛth fÚsij tÁj Ûlhj· »Und diese (Form) ist in höhe-
›kaston g¦r tÒte lšgetai Ótan ™n- rem Maße Naturbeschaffenheit
telece…v Ï, m©llon À Ótan dun£- als der Stoff; ein jedes wird doch
mei. dann erst eigentlich als es selbst
angesprochen, wenn es in seiner
zweckhaft erreichten Form da ist,
mehr als wenn es bloß der Mög-
lichkeit nach ist.«
127

Solange etwas eben nur Materie ist, ist es zwar der Möglichkeit nach ein
Naturding, aber nicht wirklich. Erst die Form macht es zu einem richti-
gen Naturding. Die Materie ist hierzu bloß eine Ermöglichungsbedin-
gung, keineswegs aber etwas Substantielles. Daher sieht Aristoteles die
Materie als etwas, das notwendig vorhanden sein muß, damit es ein
Einzelding geben kann, das aber nur um der Form willen da ist:
fanerÕn d¾ Óti tÕ ¢nagka‹on ™n »Einsichtig ist also, daß die Be-
to‹j fusiko‹j tÕ æj Ûlh legÒmenon stimmung „notwendig“, und zwar
kaˆ aƒ kin»seij aƒ taÚthj. kaˆ im Sinne des Stoffs ausgesagt, im
¥mfw m n tù fusikù lektšai aƒ Bereich der Naturvorgänge (ih-
a„t…ai, m©llon d ¹ t…noj ›neka· ren Platz hat), und die Verände-
a‡tion g¦r toàto tÁj Ûlhj, ¢ll' rung an diesem auch. Und beide
oÙc aÛth toà tšlouj· Ursachenformen sind von dem
Natur-Forscher anzugeben, be-
sonders aber die „um-etwas-
willen“; denn diese ist Ursache
des Stoffs, nicht er für das Ziel.«
128

Die Materie ist also nur eine Art notwendiges Hilfsmittel für die Reali-
sation der Form, welche sich im tšloj ausdrückt. Wir können also im-
mer von dem Vorhandensein einer Form auf den Stoff schließen, nie
ist aber umgekehrt der Stoff hinreichend für die Existenz einer Form.

127
Physica II, 1; 193b 6-8, Übers. H.G. Zekl.
128
Physica II, 9; 200a 30-34, Übers. H.G. Zekl.

141
Aristoteles von Stageira (384-322)
§ 107 Aristoteles betrachtet nun die Form zunächst als das Sosein
(tÕ t… Ãn e nai) eine Dinges:
kaˆ prîton e‡pwmen œnia perˆ »Zuerst nun wollen wir darüber
aÙtoà logikîj, Óti ™stˆ tÕ t… Ãn einiges in begrifflicher Weise sa-
e nai ˜k£stou Ö lšgetai kaq' aØtÒ. gen, nämlich daß das Sosein für
jedes Ding das ist, was (von ihm)
an sich ausgesagt wird«.
129

Als ein solches Sosein hat die Form sogleich eine begriffliche Gestalt.
Es bezeichnet das Wesen in der Weise, in der es auch zum Gegenstand
einer Aussage werden kann. Das Sosein erscheint so aber als etwas All-
gemeines. Aristoteles versucht nun zu zeigen, daß es doch etwas Einzel-
nes ist, daß es mit dem Einzelding zusammenfällt:
kaˆ e„ m n ¢polelumšnai ¢ll»lwn, »Sind diese nun getrennt vonein-
tîn m n oÙk œstai ™pist»mh t¦ d' ander, so würde es von dem ei-
oÙk œstai Ônta [...]· ™pist»mh te nen keine Wissenschaft geben,
g¦r ˜k£stou œstin Ótan tÕ t… Ãn und das andere würde nichts Sei-
™ke…nJ e nai gnîmen endes sein [...]; denn Wissen-
schaft findet bei einem jeden Ge-
genstande dann statt, wenn wir
sein Sosein erkannt haben.« 130

Aristoteles zeigt die Identität von Sosein und Einzelding hier durch eine
Widerlegung der Annahme des Gegenteils. Wenn beide nicht identisch
wären, so würden wir nur über das Sosein verfügen, wenn wir über die
Dinge reden. Das reichte dann aber nicht aus, um über sie zu reden,
denn beides ist eben getrennt. Wir wissen nun aus Aristoteles’ Ideen-
kritik, daß er gute Gründe hat, die dagegen sprechen, hier eine bloße
Entsprechungsrelation zwischen dem bloß abstrakten Sosein, was dann
die Rolle einer Idee hätte und den Einzeldingen anzunehmen. Es gäbe
also keine Möglichkeit, die Einzeldinge überhaupt zu erkennen. Die-
sem erkenntnistheoretischen Argument können wir ganz leicht ein on-
tologisches hinzufügen: Es gäbe dann auch keine Möglichkeit, daß das
Einzelding am Sosein, an den Wesenheiten partizipiert und mithin wä-
re die Welt der Dinge nicht nur für uns, sondern auch für die Dinge

129
Metaphysica VII, 4; 1029b 13-14, Übers. H. Bonitz.
130
Metaphysica VII, 6; 1031b 3-7, Übers. H. Bonitz.

142
Aristoteles von Stageira (384-322)
selbst vollkommen unbestimmt. Das Ding würde dann wahrlich zu dem
werden, was sich Platon und Aristoteles als Materie vorstellen. Es gibt
also die Form nur im Einzelding selbst als dessen Sosein.

vii. Das Werden der Einzeldinge


§ 108 Bei seiner Analyse der Entstehung der Einzeldinge unterscheidet
Aristoteles zwei Hinsichten, die wir jedoch hier zu einer gemeinsamen
Hinsicht verbinden können:
Tîn d gignomšnwn t¦ m n fÚsei »Das Werdende wird teils durch
g…gnetai t¦ d tšcnV t¦ d ¢pÕ Natur, teils durch Kunst, teils von
taÙtom£tou ungefähr (spontan).« 131

Die letztere Hinsicht, die spontane Entstehung der Dinge, können wir
getrost vernachlässigen, da sie im Grunde nichtssagend ist. Sie relativiert
nur all das, was Aristoteles über das Werden sagt. Aus dem über Ein-
zeldinge oben schon Gesagten folgt nun, daß das Werden im wesentli-
chen zwei Voraussetzungen hat. Jedes Einzelding braucht Materie und
Form. Diesen Voraussetzungen fügt Aristoteles hier im Sinne seiner
Ursachenlehre noch eine dritte, welche sich auf die causa efficiens be-
zieht, hinzu. Bei dem durch Natur Werdenden aber zeigt sich schon,
daß die letzteren beiden Voraussetzungen, causa efficiens und causa
formalis, zusammenfallen, was wir schon bei unserer Diskussion der
Ursachenlehre des Aristoteles gesehen haben:
kaqÒlou d kaˆ ™x oá fÚsij kaˆ kaq' »Überhaupt aber ist sowohl das,
Ö fÚsij (tÕ g¦r gignÒmenon œcei woraus etwas wird, wie das, wo-
fÚsin, oŒon futÕn À zùon) kaˆ Øf' nach es wird, Natur (denn das
oá ¹ kat¦ tÕ e doj legomšnh fÚsij Werdende, z.B. Pflanze oder
¹ Ðmoeid»j (aÛth d ™n ¥llJ)· Lebewesen, hat Natur) und eben-
¥nqrwpoj g¦r ¥nqrwpon genn´· so auch das, wodurch etwas wird,
nämlich das als formgebend be-
zeichnete, gleichartige Wesen;
dieses aber ist in einem anderen.
Denn der Mensch erzeugt einen
Menschen.« 132

131
Metaphysica VII, 7; 1032a 12-13, Übers. H. Bonitz.
132
Metaphysica VII, 7; 1032a 22-25, Übers. H. Bonitz.

143
Aristoteles von Stageira (384-322)
Das woraus etwas wird (™x oá) ist die Materie, die wir bereits als causa
materialis kennengelernt haben, das wonach es wird (kaq' Ö) ist die
Form oder die causa formalis, die Aristoteles hier nicht als morf»,
sondern als e doj bezeichnet und das wodurch etwas wird (Øf' oá) ist die
dieses bewirkende causa efficiens. Alle drei Momente des Einzeldin-
ges, das von Natur aus hervorgebracht wird sind selbst Elemente der
Natur; es bedarf also keines übernatürlichen Zusatzes. Interessant ist
nun, daß Aristoteles hier für die Entstehung eines Wesens ein gleichar-
tiges (Ðmoeid»j) anderes Wesen voraussetzt. Als Beispiel nennt er hier
den Menschen, der in der Tat als einziges Wesen auf natürliche Weise
einen Menschen hervorbringen kann. Der erzeugende Mensch ist hier-
bei dann gewissermaßen die causa formalis und die causa efficiens
des erzeugten Menschen. Naturdinge entstehen so auf natürliche Weise
aus Materie und der Form, die vom sie erzeugenden Wesen zur Verfü-
gung gestellt wird.
§ 109 Eine Frage, die sich daraufhin sofort stellt, ist natürlich die
nach der prinzipiellen Entstehung von Naturwesen. Wie konnte der
Mensch überhaupt entstehen, wenn es keinen Menschen gab, der ihn
erzeugte? Diese Frage ist aus der Perspektive Aristoteles’ nicht mehr zu
beantworten. Hier würde er vermutlich auf die spontane Entstehung
zurückgreifen, um der Frage so auszuweichen.133 Man kann jedoch eine
andere Antwort auf diese Frage geben. Eine Form könnte nicht spontan
entstehen, wenn es in der Materie nicht bereits eine Disposition zur
Entstehung dieser Form gäbe. Indem wir unserem idealistischen Ansatz
folgen, gehen wir jedoch immer schon davon aus, daß die Materie letzt-
lich ideell ist und somit alle Formen in sich trägt. Die Frage ist dann
nur, wie sich eine in der Materie liegende Form zu Geltung bringen
kann? Wesentlich dabei ist natürlich, daß eine solche Form nicht von
einer unteren Naturstufe aus wirken kann. Indem sie aktiv wird, konsti-
tuiert sie sofort eine höhere Naturstufe und die kann nicht von einer
niedrigeren hervorgebracht werden. Das Ganze muß vielmehr als ein
Zusammenspiel gedacht werden. Wenn die Materie durch äußere Um-
stände in eine bestimmte Form gebracht worden ist, dann existiert diese

133
Seine Feststellung zur spontanen Entstehung in Metaphysica VII, 9; 1034b 4-6 deu-
tet darauf hin.

144
Aristoteles von Stageira (384-322)
Form, sie wird wirksam. Das ist keine spontane Entstehung, denn die
Möglichkeit dieser Form muß ja bereits in der Materie liegen, es kann
also nicht Beliebiges geschehen, was bei einer bloßen Spontanität nicht
ausgeschlossen wäre. Zugleich ist die Materie hierbei nur passiv betei-
ligt; sie bewirkt die Form nicht. Die Form bewirkt sich genaugenom-
men vielmehr auch hier selbst, denn ihr eigenes plötzliches Vorhan-
densein führt sofort zu einem stabilen und aktiven Vorhandensein.
§ 110 Kommen wir jedoch zurück zu Aristoteles und der zweiten
Art der Entstehung der Dinge. Dabei handelt es sich um die Entste-
hung durch Kunst (tšcnh). Hierfür gibt Aristoteles die folgende Bedin-
gung an:
¢pÕ tšcnhj d g…gnetai Óswn tÕ »Durch Kunst aber entsteht das-
e doj ™n tÍ yucÍ jenige, dessen Form in der Seele
vorhanden ist.« 134

Was er zunächst damit meint ist ganz und gar einfach. Jemand baut ein
Haus, es entsteht also durch ihn und vor diesem Hausbau hat sich die
Form des Hauses in seiner Seele befunden. Dieser Umstand berechtigt
Aristoteles dazu, seine oben angegebene These, wonach das Entstehen
einer Form ein Ðmoeid»j voraussetzt, bestätigt zu sehen:
éste sumba…nei trÒpon tin¦ t¾n »Es ergibt sich also, daß gewis-
Øg…eian ™x Øgie…aj g…gnesqai kaˆ sermaßen die Gesundheit aus der
t¾n o„k…an ™x o„k…aj, tÁj ¥neu Ûlhj Gesundheit hervorgeht, und das
t¾n œcousan Ûlhn· Haus aus dem Hause, nämlich
das Stoffliche aus dem Nicht-
stofflichen.«135

Indem der Baumeister das Haus, das er zu bauen gedenkt, als Form in
seiner Seele trägt, ist eben dieses Haus die causa formalis des Hauses,
das der Baumeister baut. Nur eben ist hier das eine Haus nicht materi-
ell, das andere wohl, was insgesamt nur die Bedeutung der Form ge-
genüber der Materie unterstreicht. Die künstliche Entstehung von Din-
gen besteht also nach Aristoteles darin, daß etwas aus einer nichtstoffli-

134
Metaphysica VII, 7; 1032a 32 – 1032b 1, Übers. H. Bonitz.
135
Metaphysica VII, 7; 1032b 11-12, Übers. H. Bonitz.

145
Aristoteles von Stageira (384-322)
chen Form entsteht. Diese Sichtweise bestätigt auch der folgende Ver-
gleich der künstlichen Entstehung mit dem Samen:
tÕ m n g¦r spšrma poie‹ ésper t¦ »Denn der Same bringt (etwas) in
¢pÕ tšcnhj œcei g¦r dun£mei tÕ der Weise hervor, wie (der
e doj, kaˆ ¢f' oá tÕ spšrma, ™st… Künstler) das Kunstwerk. Er hat
pwj Ðmènumon nämlich die Form dem Vermö-
gen nach in sich, und dasjenige,
wovon der Same ausgeht, ist in
gewisser Weise ein Gleichnami-
ges.«136

Hier scheint es sich nach unserem Verständnis jedoch eher um den


klassischen Fall einer natürlichen Entstehung zu handeln, bei der ein
Gleiches ein Gleiches hervorbringt. Was Aristoteles dazu bringt, den
Vergleich mit der tšcnh anzustellen, ist der Umstand, daß in beiden
Fällen, beim Künstler oder Baumeister, wie auch beim Samen
(spšrma), die Form als abstraktes Vorbild in der Natur vorliegt, ohne
aber wie das konkrete Haus in Steinen realisiert zu sein.
§ 111 Dieser Auffassung müssen wir jedoch widersprechen, denn in
welcher Form soll die Form beispielsweise einer Pflanze in deren Sa-
men denn existieren, wenn sie einerseits kein materielles Substrat ha-
ben soll, andererseits aber auch jegliche Form von Platonismus vermei-
den werden soll, wonach die Form neben den Dingen als Naturidee
existiert? Wir wissen heute, daß die im Samen vorliegende Form ganz
und gar materiell in den Genen codiert ist; eine Einsicht, die nicht zu
einem Materialismus verleiten darf, denn was hier codiert ist, das sind
abstrakte Informationen, eben Naturformen. Ähnlich wird auch der
Plan eines Hauses in der Seele des Baumeisters irgendein stoffliches
Substrat haben. Dies sind zwar keine Mauern, aber irgendwie muß der
Plan auch physikalisch im Körper oder gar im Gehirn des Baumeisters
vorhanden sein.
Denkt man dies etwas weiter, so wird ersichtlich, daß dieser Gedan-
ke nicht notwendig im Widerspruch zu dem steht, was Aristoteles uns
sagt. Daß der Plan in der Seele des Baumeisters uns nicht als etwas
Physikalisches erscheint liegt einzig und allein daran, daß die Form der

136
Metaphysica VII, 9; 1034a 33 – 1034b 1, Übers. H. Bonitz.

146
Aristoteles von Stageira (384-322)
Seele die niedrigen Formen der Materialität beherrscht. Deswegen
kann die Seele hier beliebig mit der Materie umgehen und sich Varian-
ten beim Bau eines Hauses ausdenken, ohne daß es diese bauen muß,
um eine genauere Vorstellung davon zu erhalten. Die künstliche Ent-
stehung von Dingen würde demnach nicht dann gegeben sein, wenn die
causa formalis nichtstofflich ist, sondern dann, wenn die Wirkung der
einen Form auf die andere gleichartige, des Hausplans auf das Haus,
durch eine höhere Form, wie die Seele, vermittelt ist. Das würde jedoch
das aristotelische Beispiel widerlegen, wonach auch der Same wie ein
Künstler vorgeht, denn im Fall des Samens finden wir keine höhere
Ebene am Werk, sofern wir den Samen als materialisierte Information
ansehen.
Die nicht unbedeutende Veränderung der Sichtweise gegenüber
Aristoteles, wird deutlich, wenn wir ein Beispiel betrachten. Nehmen
wir einmal den Wasserkreislauf, den wir bereits bei Platon als etwas be-
trachtet haben, dem durchaus eine eigene Form zugeschrieben werden
kann und der nicht bloß auf seine physikalischen Bestandteile reduziert
werden darf. Dieser Wasserkreislauf vermittelt die einzelnen chemi-
schen und physikalischen Prozesse, die ihn bilden. Wir können dann
also nicht mehr sagen, daß das Wasser, sofern es Teil eines solchen
Kreislaufes ist, sich natürlich verhält, sondern es ist in gewisser Weise
künstlich. Es fließt in einem Fluß nicht, weil es fließt, sondern es fließt
weil es im Gebirge regnete und es regnet, weil es vorher verdunstete.
Der Wasserkreislauf bringt dieses Geschehen natürlich nicht wie ein
Baumeister bewußt hervor, aber er stellt es dennoch sicher. Es ist na-
türlich eine Dehnung des Begriffes der tšcnh, dem Wasserkreislauf ei-
ne solche zuzuschreiben, aber es macht zugleich deutlich, daß die Natur
eben nicht bloßes Material ist, sondern von Ideellem durchdrungenes
Material. Die Natur selbst in Gestalt einer höheren Form kann hier als
Agent der Kunst angesehen werden.
§ 112 Wenn wir mithin Aristoteles’ Unterscheidung zwischen natür-
licher und künstlicher Entstehung zwar als sehr hilfreich ansehen, seine
Kriterien zur Differenzierung derselben jedoch nicht teilen, so bleibt
uns doch ein Grundkonsens bezüglich der Frage nach der Entstehung
der Form erhalten. Diese selbst kann nämlich nach Aristoteles’ Auffas-

147
Aristoteles von Stageira (384-322)
sung in keinem Fall entstehen und muß daher bei der Entstehung der
Dinge vorausgesetzt werden.
fanerÕn ¥ra Óti oÙd tÕ e doj, À »Es ist also offenbar, daß die
Ðtid»pote cr¾ kale‹n t¾n ™n tù Form, oder wie man sonst die
a„sqhtù morf»n, oÙ g…gnetai, oÙd' Gestaltung am sinnlich Wahr-
œstin aÙtoà gšnesij, oÙd tÕ t… Ãn nehmbaren nennen soll, nicht
e nai wird, und daß es keine Entste-
hung derselben gibt, und das
ebensowenig das Sosein ent-
steht«. 137

Damit schließt Aristoteles alle Möglichkeiten einer darwinistischen


Entwicklung der Naturformen aus den bloßen äußeren Gegebenheiten
der Natur aus. Naturformen muß es immer schon geben. Wir sind uns
auch mit Aristoteles darüber einig, daß diese Naturformen eben in den
Dingen irgendwie bereits vorhanden sein müssen. Offen bleibt also le-
diglich die Frage nach der Art und Weise, in der die noch nicht reali-
sierten Naturformen vor dem Werden der Gegenstände existieren.
Diese Frage müssen wir zunächst einmal zurückstellen.

viii. Eine Theorie der Technik


§ 113 Wir haben oben gesehen, daß wir unter bestimmten Bedingun-
gen auch natürliche Gegenstände in ihrer inneren Funktion als künst-
lich verstehen können, nämlich genau dann, wenn die Gegenstände von
einer höheren Form benutzt werden. Das wirft nun die Frage danach
auf, ob es denn genuin natürliche Gegenstände gibt. Aristoteles liefert
uns nun in seiner Physica einen Gedanken, der nicht nur zu erklären
versucht, was denn genuin natürliche Gegenstände sind, sondern auch
die künstlichen Gegenstände auf die natürlichen zurückführt. Dabei
entwickelt Aristoteles am Rande so etwas wie eine Theorie der Tech-
nik. Doch sehen wir uns zunächst einmal seine Definition dessen an,
was einen natürlichen Gegenstand ausmacht:
Tîn Ôntwn t¦ mšn ™sti fÚsei, t¦ »Unter den vorhandenen (Din-
d di' ¥llaj a„t…aj, fÚsei m n t£ gen) sind die einen von Natur
te zùa kaˆ t¦ mšrh aÙtîn kaˆ t¦ aus, die anderen sind auf Grund

137
Metaphysica VII, 8; 1032b 5-7, Übers. H. Bonitz.

148
Aristoteles von Stageira (384-322)
fut¦ kaˆ t¦ ¡pl© tîn swm£twn, anderer Ursachen da. Von Natur
oŒon gÁ kaˆ pàr kaˆ ¢¾r kaˆ Ûdwr aus: Die Tiere, deren Teile, die
(taàta g¦r e nai kaˆ t¦ toiaàta Pflanzen und die einfachen unter
fÚsei famšn), p£nta d taàta den Körpern, wie Erde, Feuer,
fa…netai diafšronta prÕj t¦ m¾ Luft, und Wasser; von diesen
fÚsei sunestîta. toÚtwn m n g¦r und Ähnlichen sagen wir ja, es sei
›kaston ™n ˜autù ¢rc¾n œcei von Natur aus. Alle diese er-
kin»sewj kaˆ st£sewj, t¦ m n scheinen als unterschieden ge-
kat¦ tÒpon, t¦ d kat' aÜxhsin genüber dem, was nicht von Na-
kaˆ fq…sin, t¦ d kat' ¢llo…wsin· tur aus besteht. Von diesen hat
nämlich ein jedes in sich selbst
einen Anfang von Veränderung
und Bestand, teils bezogen auf
Raum, teils auf Wachstum und
Schwinden, teils auf Eigen-
schaftsveränderung.«138

Natürliche Gegenstände sind demnach also ganz einfach solche, die in


sich selbst die Bedingungen und Ursachen ihrer Veränderung und ihres
Bestehens haben (™n ˜autù ¢rc¾n œcei kin»sewj kaˆ st£sewj). Diese
Dinge lassen sich, berücksichtigen wir die oben entwickelten Gedan-
ken, in zwei Gruppen einteilen. Zum einen kann es dann genuine Na-
turformen geben, also solche die sich wirklich selbst bestimmen und
insofern von Natur aus (fÚsei) sind. Zum anderen aber kann es auch
solche geben, die zwar in ihrem inneren künstliche Prozesse aufweisen,
die aber als Ganzes dennoch selbstbestimmt sind. Aristoteles nennt uns
hierfür Beispiele. So ist das Tier als Tier vollkommen selbstbestimmt.
Die Teile des Tieres jedoch sind nur als Teile des Tieres betrachtet
selbstbestimmt; sie sind also selbstbestimmt, insofern das Tier sie be-
stimmt und sie das Tier sind. Der Magen jedoch als Beispiel ist für sich
genommen fremdbestimmt, denn das Tier bestimmt den Einsatz des
Magens.
§ 114 Aristoteles klärt uns hier nicht darüber auf, wie dieses selbst-
bestimmte Sein der genuinen Naturdinge konkret zu denken ist. Er
grenzt sie erneut nur von den künstlichen Dingen ab, an denen er hier
eine neue Seite entdeckt, nämlich ihre Naturseite:

138
Physica II, 1; 192b 8-15, Übers. H.G. Zekl.

149
Aristoteles von Stageira (384-322)

kl…nh d kaˆ ƒm£tion, kaˆ e‡ ti »Hingegen, Liege und Kleid, und


toioàton ¥llo gšnoj ™st…n, Î m n was es dergleichen Gattungen
tetÚchke tÁj kathgor…aj ˜k£sthj sonst noch geben mag, hat, inso-
kaˆ kaq' Óson ™stˆn ¢pÕ tšcnhj, fern ihm eine jede solche Be-
oÙdem…an Ðrm¾n œcei metabolÁj zeichnung eignet und soweit es
œmfuton, Î d sumbšbhken aÙto‹j ein kunstmäßig hergestelltes Ding
e nai liq…noij À gh noij À mikto‹j ™k ist, keinerlei innewohnenden
toÚtwn, œcei, kaˆ kat¦ tosoàton, Drang zur Veränderung in sich;
æj oÜshj tÁj fÚsewj ¢rcÁj tinÕj insofern es aber diesen (Gegen-
kaˆ a„t…aj toà kine‹sqai kaˆ ständen) nebenbei auch zutrifft,
ºreme‹n ™n ú Øp£rcei prètwj kaq' aus Holz oder aus Erde oder aus
aØtÕ kaˆ m¾ kat¦ sumbebhkÒj Stoffen, die aus einer Mischung
beider sind, zu bestehen, haben
sie (ihn), und zwar genau so weit;
denn Naturbeschaffenheit ist
doch eine Art Anfang und Ursa-
che von Bewegung und Ruhe an
einem Ding, dem sie im eigentli-
chen Sinne, an und für sich, nicht
nur nebenbei zukommt.« 139

Auch die künstlichen Dinge sind also Naturdinge. Nur sie sind es nur
nebenbei, denn wenn man über sie spricht, spricht man nicht über sie
als Naturdinge, sondern als dasjenige, was sie als Kunstdinge funktional
macht. Die Liege besteht aus Holz und dieser Stoff ist ihre Naturseite.
Sie verrottet, wenn man sie lange genug sich selbst überläßt. Wenn wir
den Sachverhalt nun einfach umgekehrt aus der Sichtweise der Natur-
seite des Kunstdings betrachten, dann wird der entscheidende Punkt
klar. Erst dadurch, daß etwas als Kunstding benutzt wird, wird es also
von einem banalen Naturding zu einem Kunstding. An sich ist es Na-
turding.
§ 115 Tšcnh liegt also immer dort vor, wo ein Ding nicht als das was
es ist, sondern als etwas anderes, seiner Natur im Grunde fremdes be-
nutzt wird. Dies kann zum einen auf eine organische Art geschehen,
indem das Kunstding bereits ein Teil des Benutzers ist, es kann aber
auch auf eine rein anorganische Art geschehen, wenn der Benutzer ei-

139
Physica II, 1; 192b 16-23, Übers. H. G. Zekl.

150
Aristoteles von Stageira (384-322)
nem Ding von außen her für seine Zwecke benutzt. Eine weitere Unter-
scheidung, die ich als eine eigentliche Unterscheidung zwischen einer
natürlichen und einer technischen Nutzung bezeichnen möchte, hängt
von der konkreten Form der beiden ab. Eine natürliche Nutzung wäre
demnach die Nutzung eines Naturdinges, dessen Form die unmittelba-
re Vorstufe der eigenen Form darstellt. Dies finden wir beispielsweise
in Organismen am Werk, wo eine höhere Ebene eine niedrigere be-
stimmt. Eine rein technische Nutzung hingegen findet sich beispielswei-
se, um einen Extremfall zu bemühen, beim Computer. Er wird als gei-
stiges Werkzeug benutzt, ist jedoch als Naturgegenstand ganz und gar
kein Geistwesen, sondern bloß ein aus verschiedenen Stoffen zusam-
mengeflickter Körper, dem jede innere organische Struktur fehlt.

ix. Die Teile des Einzeldings


§ 116 Hinsichtlich der Frage nach den Teilen des Einzeldings gerät
Aristoteles in eine Aporie. Denn einerseits müßten die Teile früher das
sein als das Ganze, weil es ja aus ihnen besteht. Das führt jedoch zu ei-
nem Problem:
œti d e„ prÒtera t¦ mšrh toà Ólou, »Ferner, wenn die Teile früher
tÁj d ÑrqÁj ¹ Ñxe‹a mšroj kaˆ Ð sind als das Ganze, und von dem
d£ktuloj toà zóou, prÒteron ¨n e‡h rechten Winkel der spitze, von
¹ Ñxe‹a tÁj ÑrqÁj kaˆ Ð d£ktuloj dem Lebewesen der Finger ein
toà ¢nqrèpou. Teil ist, so würde der spitze
Winkel früher sein, als der rechte
und der Finger früher als der
Mensch.« 140

Es wäre aber vollkommen widersinnig sich vorzustellen, daß Finger frü-


her da sind als der Mensch, denn sie sind ja allein nicht lebensfähig.
Ebenso heißt der spitze Winkel nur deswegen spitzer Winkel, weil er
spitzer ist als der rechte. Er ist also in seinem Begriff von diesem ab-
hängig und es wäre sinnlos ihn ohne diesen Bezug als spitz zu bezeich-
nen.
§ 117 Aristoteles löst diese Aporie dadurch, daß er zunächst den
Begriff des Teils in zwei Hinsichten unterscheidet:

140
Metaphysica VII, 10; 1034b 28-30, Übers. H. Bonitz.

151
Aristoteles von Stageira (384-322)

e„ oân ™stˆ tÕ m n Ûlh tÕ d e doj tÕ »Wenn nun eines Materie ist, ein
d' ™k toÚtwn, kaˆ oÙs…a ¼ te Ûlh anderes Form, ein anderes deren
kaˆ tÕ e doj kaˆ tÕ ™k toÚtwn, œsti Vereinigung, und Wesen sowohl
m n æj kaˆ ¹ Ûlh mšroj tinÕj lšge- die Materie ist, wie die Form und
tai, œsti d' æj oÜ, ¢ll' ™x ïn Ð toà das aus beiden Zusammengesetz-
e‡douj lÒgoj. te, so kann in einer Hinsicht die
Materie Teil von etwas genannt
werden, in anderer nicht, son-
dern nur dasjenige, woraus der
Begriff der Art-Form besteht.«141

Der Begriff des Teils kann also zum einen so gebraucht werden, daß
damit ein materieller Teil von etwas gemeint ist und zum anderen so,
daß damit ein begrifflicher Teil gemeint ist. Diese Unterscheidung löst
die genannte Aporie auf:
tÕ g¦r ¹mikÚklion tù kÚklJ »Denn der Halbkreis wird durch
Ðr…zetai kaˆ Ð d£ktuloj tù ÓlJ· den Kreis definiert und der Fin-
“tÕ” g¦r “toiÒnde mšroj ¢nqrèpou” ger durch das Ganze des Kör-
d£ktuloj. ésq' Ósa m n mšrh æj pers; denn als den so und so be-
Ûlh kaˆ e„j § diaire‹tai æj Ûlhn, schaffenen Teil des Menschen
Ûstera· Ósa d æj toà lÒgou kaˆ definiert man den Finger. Was
tÁj oÙs…aj tÁj kat¦ tÕn lÒgon, also stoffliche Teile eines Dinges
prÒtera À p£nta À œnia. sind und worin es als in den Stoff
zerlegt wird, das ist später; was
aber Teile des Begriffes sind und
des begrifflichen Wesens, das ist,
entweder alles oder doch einiges,
früher.« 142

Aus einer begrifflichen Perspektive ist also nicht der Finger ein Teil des
Menschen, sondern der Mensch ein Teil des Fingers. Denn der
Mensch taucht in der Definition des Fingers auf, nicht aber umgekehrt
der Finger in der Definition des Menschen, denn er ist als Teil nicht
wesentlich. Als solches ist der Mensch früher da als der Finger, der oh-
ne ihn zwecklos wäre. Nun ist aber der Finger zugleich auch noch ein
stofflicher Teil des Menschen. Auch hier ist der Finger später da, als

141
Metaphysica VII, 10; 1035a 1-4, Übers. H. Bonitz.
142
Metaphysica VII, 10; 1035b 9-14, Übers. H. Bonitz.

152
Aristoteles von Stageira (384-322)
der Mensch, denn man erhält einen Finger nur, indem man einen
Menschen zerlegt und findet ihn nicht ohne Menschen in der Natur
vor.
§ 118 Aristoteles votiert hier also ganz klar für ein idealistisches
Verhältnis von Form und Materie, wonach die Form das Frühere und
Prinzipiellere ist und die Materie dieser nachgeordnet bleibt und von
ihr abhängt. Erst der Begriff des Ganzen macht die Teile zu Teilen.
Dies wird noch deutlicher, wenn wir betrachten, wie Aristoteles diesen
Zusammenhang auf das Zusammenspiel von Leib und Seele überträgt:
™peˆ d ¹ tîn zówn yuc» (toàto »Da nun die Seele der Lebewe-
g¦r oÙs…a toà ™myÚcou) ¹ kat¦ tÕn sen (denn sie ist die Wesenheit
lÒgon oÙs…a kaˆ tÕ e doj kaˆ tÕ t… des Belebten) das begriffliche
Ãn e nai tù toiùde sèmati (›ka- Wesen und die Art-Form und
ston goàn tÕ mšroj ™¦n Ðr…zhtai das Sosein für den so und so be-
kalîj, oÙk ¥neu toà œrgou Ðrie‹- schaffenen Leib ist (denn wenn
tai, Ö oÙc Øp£rxei ¥neu a„sq»se- man irgendeinen Teil recht defi-
wj), éste t¦ taÚthj mšrh prÒtera nieren will, so kann man ihn
À p£nta À œnia toà sunÒlou zóou, nicht ohne Bezeichnung seiner
kaˆ kaq' ›kaston d¾ Ðmo…wj, tÕ d Wirksamkeit definieren, und die-
sîma kaˆ t¦ toÚtou mÒria Ûstera se kann nicht stattfinden ohne
taÚthj tÁj oÙs…aj, kaˆ diaire‹tai Wahrnehmung), so werden die
e„j taàta æj e„j Ûlhn oÙc ¹ oÙs…a Teile desselben, entweder alle
¢ll¦ tÕ sÚnolon, – toà m n oân oder einige, früher sein als das
sunÒlou prÒtera taàt' œstin éj, gesamte, konkrete Lebewesen,
œsti d' æj oÜ. und dasselbe gilt auf gleiche Wei-
se in jedem einzelnen Falle. Der
Leib aber und seine Teile sind
später als das Wesen, und in sie
als in seinen Stoff wird nicht das
Wesen, sondern die konkrete
Vereinigung von Stoff und Form
zerlegt. Für die konkrete Vereini-
gung also sind diese in gewissem
Sinne früher, in gewissem auch
wieder nicht.«
143

143
Metaphysica VII, 10; 1035b 14-22, Übers. H. Bonitz.

153
Aristoteles von Stageira (384-322)
Die Seelenteile des Lebewesens sind also vor dem Leib da. Ich denke,
Aristoteles meint hier mit den Seelenteilen die verschiedenen mögli-
chen Formen der Seele, wie die Pflanzenseele, die Tierseele und die
menschliche Geistseele, die ja nicht unbedingt bei jedem Lebewesen
alle vorhanden sind. Diejenigen aber, die vorhanden sind, sind zumin-
dest aus begrifflicher Sicht vor dem Leib da und der Leib macht so als
Leib betrachtet nur Sinn, wenn man die Seele bereits voraussetzt.
Wird nun der Leib in seine materiellen Bestandteile zerlegt, so wird
damit nicht das Wesen zerlegt, sondern das aus Wesen und Materie
zusammengesetzte. Bei einer solchen Zerlegung kann man zwei Hin-
sichten unterscheiden, die es uns erlauben, die materiellen Teile das
eine mal als etwas dem Ganzen gegenüber Früheres, das andere mal als
etwas Späters zu betrachten. Wird nämlich wie beim Finger der Teil
des Körpers als etwas gesehen, was in seinem eigenen Wesen als Finger
nur an einem Körper vorkommen kann, so ist dieser Teil etwas Späte-
res, welches das Ganze voraussetzt. Wird jedoch der Finger nur ganz
abstrakt als Fleisch gesehen, so ist er etwas Früheres, denn das Lebewe-
sen als Ganzes entsteht erst, wenn eine so und so geformte Materie
vorliegt.
§ 119 Da aber der Finger noch keinen Menschen macht, wäre das
hypothetisch angenommene bloße Vorhandensein des Fleisches eines
Fingers nichts, was zur Konstitution eines Menschen einen Beitrag lei-
stete. Es gibt jedoch Teile des Lebewesens, die zugleich wesentliche
sind:
œnia d ¤ma, Ósa kÚria kaˆ ™n ú »Manche Teile bestehen zugleich
prètJ Ð lÒgoj kaˆ ¹ oÙs…a, oŒon e„ mit dem Ganzen, nämlich die
toàto kard…a À ™gkšfaloj· dia- entscheidenden, in welchen als
fšrei g¦r oÙq n pÒteron toioàton. dem ersten der Begriff und die
Wesenheit sich zeigt, z.B. etwa
das Herz oder das Gehirn; wel-
ches von beiden so beschaffen
sei, ist gleichgültig.«
144

Diese wesentlichen Teile bezeichnet Aristoteles hier als kÚria, also als
entscheidend und bestimmend für das betreffende Wesen. Sie erkennt

144
Metaphysica VII, 10; 1035b 25-27, Übers. H. Bonitz.

154
Aristoteles von Stageira (384-322)
man daran, daß sich an ihnen das Wesen zeigt. Ist das Wesen des
Menschen beispielsweise das Seelische, dann zeigt es sich nach Aristo-
teles Auffassung am Herzen, so ist das Herz als ein solches entschei-
dendes Organ bestimmt. Es ist sozusagen der Sitz oder das ausführende
Organ der höchsten Seinsstufe eines bestimmten Wesens.
Hier befinden wir uns an einer Grenze des Teilbegriffs, die aber zu-
gleich die aristotelische Unterscheidung von begrifflichen und materi-
ellen Teilen noch einmal auf eine andere Art und Weise deutlich
macht. Gehen wir statt wie Aristoteles vom Herzen einmal von unserer
zeitgenössischen Sichtweise aus, wonach die Geistseele im Gehirn be-
herbergt ist.145 Das Gehirn ist nun nicht der begriffliche Teil eines Men-
schen, sondern der materielle. Nicht die Masse des Gehirns ist Träger
der Geistseele, sondern das System der elektronischen Kommunikation
der Neuronen. Vermutlich wird es hier auf der Softwareebene noch
einmal eine ganze Reihe von Stufen des Naturseins geben, die wir von
außen so gar nicht wahrnehmen und unterscheiden können. Ein besse-
res weil noch anschaulicheres Beispiel mag hier das Hormonsystem ei-
nes Lebewesens sein. Es ist als solches wesentlich das System der
Kommunikation der Zellen untereinander. Genaugenommen ist also
der ganze Körper für dieses System ein entscheidender materieller Teil,
weil eben jede Zelle an diesem Kommunikationssystem beteiligt ist. Es
sind jedoch auch hier nur bestimmte Teile einer Zelle, welche die
Kommunikation abwickeln, also Botenstoffe produzieren oder deco-
dieren. Somit wäre die Summe dieser Zellenteile in einem eigent-
licheren Sinne ein entscheidender Teil. Diese Teile der Zelle jedoch
sind nur im jeweiligen organischen Zusammenhang der Zelle als ganzes
überhaupt funktionsfähig. Was würde es bringen, wenn der Botenstoff
der Zelle befiehlt, ein bestimmtes Enzym zu produzieren, die Produk-
tionsstätte dieses Enyzms jedoch nicht in der Zelle vorhanden ist? Die
Kommunikation würde leerlaufen. Wir sehen also, daß wir die ent-
scheidenden Teile nicht nur in diesem oder jenem Teil auszumachen
haben, die wir als Sitz und Organ eines organischen Systems oder Sub-
systems bestimmen können, sondern daß wir als entscheidende Teile

145
Aristoteles zufolge besteht die einzige Aufgabe des Gehirns in der Kühlung des Blu-
tes. Vgl. De partibus animalium II, 10; 656a 14 ff.

155
Aristoteles von Stageira (384-322)
immer auch noch all jene Teile auszeichnen müssen, die entscheidende
Teile der Teile sind.
Wir würden so letztlich bei der Suche nach den entscheidenden
Teilen in einem Reduktionismus enden. Daher dürfen wir an keiner
Stelle die Form an der Materie festmachen, so daß letzterer eine inhalt-
lich entscheidende Rolle für die Form und deren Prozessualität zu-
kommt. Die Materie mag zwar notwendig sein, aber sie darf keinesfalls,
wenn man den Reduktionismus vermeiden will, als hinreichend ange-
sehen werden.

x. Gibt es eine spezifische Materie?


§ 120 Aristoteles geht nun zunächst aber in die Gegenrichtung. Wir
haben gesehen, daß er davon ausgeht, daß es materielle Teile eines
Wesens geben kann, auf die nicht verzichtet werden kann, da sie gewis-
sermaßen mit dem Wesen zusammenfallen. Aristoteles erweitert diese
Frage nun noch und fragt, ob es so etwas wie ein spezifisches Material
geben kann, aus dem die Wesen gemacht sind. Es ist offensichtlich, daß
sich diese Frage im Falle von geometrischen Wesen verneinen läßt. Das
Material aus dem ein Kreis gemacht ist, ändert nichts daran, daß es sich
bei ihm um einen Kreis handelt. Wie ist es jedoch beispielsweise bei
Lebewesen? Hier scheinen wir an eine Grenze zu stoßen:
oŒon tÕ toà ¢nqrèpou e doj ¢eˆ ™n »Z.B. die Form des Menschen
sarxˆ fa…netai kaˆ Ñsto‹j kaˆ to‹j findet sich immer dargestellt in
toioÚtoij mšresin· «r' oân kaˆ ™stˆ Fleisch und Knochen und sol-
taàta mšrh toà e‡douj kaˆ toà chen Teilen; sind diese nun auch
lÒgou; À oÜ, ¢ll' Ûlh, ¢ll¦ di¦ tÕ Teile der Art-Form und des Be-
m¾ kaˆ ™p' ¥llwn ™pig…gnesqai griffs? Doch wohl nicht, sondern
¢dunatoàmen cwr…sai; Stoff, und wir sind nur nicht im-
stande es zu trennen, weil die
Form des Menschen nicht auch
an anderem Stoff vorkommt.« 146

Aristoteles fragt hier, ob es nicht denkbar wäre, daß es beispielsweise


Holzmenschen oder Metallmenschen gibt und wir eben nur davon aus-
gehen, sie müßten aus Fleisch und Knochen bestehen, weil wir es nicht

146
Metaphysica VII, 11; 1036b 3-7, Übers. H. Bonitz.

156
Aristoteles von Stageira (384-322)
anders kennen, weil es empirisch nicht anders vorkommt. Er findet je-
doch ein ganz interessantes Argument gegen die Annahme eines
Holzmenschen:
¢p£gei g¦r ¢pÕ toà ¢lhqoàj, kaˆ »Denn sie führt von der Wahr-
poie‹ Øpolamb£nein æj ™ndecÒmenon heit ab und läßt uns als möglich
e nai tÕn ¥nqrwpon ¥neu tîn annehmen, daß es einen Men-
merîn, ésper ¥neu toà calkoà tÕn schen gebe ohne seine Teile, wie
kÚklon. tÕ d' oÙc Ómoion· a„sqhtÕn einen Kreis ohne Erz. Doch der
g£r ti tÕ zùon, kaˆ ¥neu kin»sewj Fall ist nicht gleich. Denn das
oÙk œstin Ðr…sasqai, diÕ oÙd' ¥neu Lebewesen ist etwas Sinnliches
tîn merîn ™cÒntwn pèj. oÙ g¦r und nicht ohne Bewegung zu de-
p£ntwj toà ¢nqrèpou mšroj ¹ ce…r, finieren, darum auch nicht ohne
¢ll' À dunamšnh tÕ œrgon ¢po- Teile von bestimmter Beschaf-
tele‹n, éste œmyucoj oâsa· m¾ fenheit; denn nicht die irgendwie
œmyucoj d oÙ mšroj. beschaffene Hand ist ein Teil des
Menschen, sondern die, welche
ihr Werk vollbringen kann, also
die lebendige. Die nicht lebendi-
ge aber ist nicht Teil.«
147

Gäbe es, so sagt Aristoteles hier, die Möglichkeit, das Wesen eines Le-
bewesens einfach auf anderes Material zu übertragen, so hieße das ja,
daß die Form auch ganz allein für sich existierte. Sie wäre gewisserma-
ßen eine platonische Idee, an der verschiedenes Material teilhaben
könnte. So könnte es dann Fleischmenschen und Holzmenschen ge-
ben. Das aber soll nicht möglich sein, weil die Form nicht als Idee,
sondern immer als konkretes Wesen existiert, das konkreter Organe
von einer bestimmten Beschaffenheit bedarf.
§ 121 Was Aristoteles hier aus einer offensichtlich übertriebenen
Angst vor dem Platonismus übersieht, ist die Frage nach der Funktio-
nalität. Natürlich kann es deswegen keine Holzmenschen geben, weil
eine menschliche Geistseele in einem hölzernen Gebilde schlechthin
nicht das vorfände, was ihre Lebendigkeit stützt, nämlich funktionale
Glieder. Der mit einem Sinnesapparat und Stoffwechselfunktionen aus-
gestattete menschliche Körper allein erfüllt diese Funktion. Wie aber

147
Metaphysica VII, 11; 1036b 26-32, Übers. H. Bonitz.

157
Aristoteles von Stageira (384-322)
wäre es, wenn man all das aus Holz bauen könnte, wenn man also ei-
nen hölzernen Sinnesapparat hätte – einen Stoffwechsel mit hölzernem
Material finden wir ja bereits in Bäumen –, wäre dann eine Geistseele
als Erweiterung dieses Wesens denkbar? Meines Erachtens spricht
nichts dagegen. Die Form ist hier dann keineswegs abgetrennt vom
Körper, denn sie kann nur auf der Basis dieses Körpers existieren; wir
vermeiden also den von Aristoteles hier zurecht gefürchteten Platonis-
mus. Natürlich würden wir dabei, dem für Aristoteles wesentlichen
Prinzip der Zurückgebundenheit der Form an die Materie folgend,
letztlich doch zu dem Ergebnis kommen, daß Zellen aus Holz oder gar
Erz für Informationsverarbeitung nicht sonderlich geeignet sind und
daß hier eben gerade das Material, welches den Menschen bildet, sich
durch eine besondere Funktionalität hervortut. Damit aber gehört das
Fleisch noch nicht zum Wesen des Menschen, sondern es fördert und
begünstigt die Möglichkeit der Existenz dieses Wesens lediglich.
§ 122 In einer anderen Hinsicht jedoch sieht es so aus, als würde
Aristoteles zumindest in Ansätzen eine solche funktionale Sichtweise
der Materie berücksichtigen. Das ist nämlich dort der Fall, wo er nicht
die Form von der Materie her denkt, sondern umgekehrt die Materie
von der Form her. Wenn er oben vor allem fragt, wie wichtig das Mate-
rial für die Form ist, so denkt er von der Materie her indem er gedank-
lich ausprobiert, ob verschiedene Stoffe eine bestimmte Form entste-
hen lassen. Dieser Ansatz ist nicht ganz falsch, aber man braucht hier
im Grunde schon die Idee einer funktionalen Definition der Materie,
einer bestimmten Form im Hinterkopf, um diesen Zusammenhang zu
sehen. Wenn man den Blickwinkel umkehrt und die Materie von der
Form her betrachtet, dann wird dieser Aspekt leichter sichtbar. Folgen-
de Beispiele veranschaulichen das:
œoike d Ö lšgomen e nai oÙ tÒde »Es scheint nun das Wirkliche,
¢ll' ™ke…ninon – oŒon tÕ kibètion oÙ wovon wir reden, nicht jenes
xÚlon ¢ll¦ xÚlinon, oÙd tÕ xÚlon selbst, Stoff, zu sein, sondern
gÁ ¢ll¦ g»inon, p£lin ¹ gÁ e„ nach der Art von jenem, z.B. der
oÛtwj m¾ ¥llo ¢ll¦ ™ke…ninon – Kasten nicht Holz, sondern höl-
¢eˆ ™ke‹no dun£mei ¡plîj tÕ Ûs- zern, das Holz nicht Erde, son-
terÒn ™stin. oŒon tÕ kibètion oÙ dern irden. Und wenn so wie-
g»inon oÙd gÁ ¢ll¦ xÚlinon· toàto derum die Erde nicht ein ande-

158
Aristoteles von Stageira (384-322)
g¦r dun£mei kibètion kaˆ Ûlh res, sondern aus einem anderen
kibwt…ou aÛth, ¡plîj m n toà ist, so ist immer jenes andere
¡plîj toudˆ d todˆ tÕ xÚlon. schlechthin nach dem Vermögen
das Spätere. Z.B. der Kasten ist
nicht irden noch Erde, sondern
hölzern, denn dies das Holz ist
der Möglichkeit nach ein Kasten
und der Stoff des Kastens, und
zwar Holz schlechthin der Stoff
des Kastens schlechthin, und dies
bestimmte Holz der Stoff dieses
bestimmten Kastens.« 148

Hier wird die Materie aus der Perspektive der Form betrachtet, näm-
lich insofern sie Teil eines auf bestimmte Art geformten Dinges ist. Ari-
stoteles’ Beispiel mit dem Kasten ist hier ganz anschaulich, auch wenn
dieser keine besondere Naturform, sondern eine artifizielle Form hat.
Die Form des Kastens setzt als Form eine bestimmte Materialität vor-
aus, in der sie realisiert ist. Aus Erde würde man so ohne weiteres kei-
nen Kasten konstruieren können. Sie setzt vielmehr als Form eine Ma-
terie voraus, die bereits zu etwas vorgeformt worden ist, was der Mög-
lichkeit nach Teil eines Kastens ist. Dies ist – abstrahieren wir einmal
davon, daß es in diesem artifiziellen Fall viele Stoffe gibt, die eine äqui-
valente Funktion haben – das Holz. Der Kasten ist aber nicht Holz,
sondern hölzern, das heißt er besteht zwar aus Holz, das Holz allein
reicht jedoch nicht aus, um einen Kasten zu bilden, denn die Form des
Kastens muß hinzutreten.
Was diese Reflexion nun interessant macht, ist die Stufung der Ma-
terialebenen. Denn das Holz besteht wiederum – zumindest für die An-
tike – aus Erde, aber der Umstand, daß es aus Erde besteht, läßt sich
nicht auf den Kasten übertragen. Der Kasten ist nicht irden. Natürlich
kann er in Erde zerlegt werden, wenn man ihn zunächst in sein Holz
und dieses dann in seine Erde zerlegt. Wenn man jedoch die Materie
von der Form her denkt, wie dies Aristoteles hier tut, dann ist Materie
nicht mehr schlechthin Materie, sondern sie ist die von einer bestimm-

148
Metaphysica IX, 7; 1049a 18-24, Übers. H. Bonitz.

159
Aristoteles von Stageira (384-322)
ten Form zu ihrer Existenz erforderte Materie. Diese Materie selbst
kann wiederum als Form betrachtet werden und hat als Form dann er-
neut eine Materie, die als ihre Materie ihren funktionalen Anforderun-
gen genügen muß.

Kasten

Holz als Holz als


Materie Form

Erde

Die dabei zum Ausdruck kommende Doppelfunktion des Holzes als


Materie des Kastens und als Form der Erde, wird zwar von Aristoteles
hier nicht eigens ausgesprochen, aber er verwendet diesen Zusammen-
hang dennoch in seinem Beispiel. Indem er jedoch nicht eigens auf ihn
hinweist und ihn auch nicht als solchen im Sinn hatte, ist es wenig ver-
wunderlich, daß ihm die natürliche Transitivität der Eigenschaften der
beteiligten Formen und Materien entgeht. Denn natürlich muß jede
niedrigere Form auch eine Bedeutung für die höheren haben. Der Ka-
sten muß zumindest insofern irden sein, als sein Material einen festen
Aggregatzustand haben muß. Jede höhere Form setzt so niedrigere
Formen und Materien voraus, welche diejenigen Eigenschaften haben,
die für ihr Sein als Form wesentlich sind. Diese Materien müssen zwar
der Spezifität der Form genügen, aber eine funktionale Spezifität reicht
hierbei aus.
§ 123 Verbinden wir diesen Gedanken nun mit dem Konzept der
prèth Ûlh, das wir oben bereits kennengelernt haben, so läßt sich dar-
aus ein Argument für den funktionalen Charakter der spezifischen Ma-
terie machen. Zunächst einmal könnte man als einfaches Argument
vorbringen, daß alles letztlich aus der prèth Ûlh besteht. Wenn aber
alles eine gemeinsame gleichartige Materie besitzt, dann kann diese
nicht zugleich spezifisch sein. Diesem Argument kann Aristoteles je-
doch die obige Überlegung entgegenhalten, wonach nicht die Erde,

160
Aristoteles von Stageira (384-322)
sondern das aus Erde bestehende Holz die spezifische Materie des Ka-
stens ist. Die spezifische Materie kann also ein Zwischenglied zwischen
der prèth Ûlh und dem Gegenstand selbst sein. Dieses Zwischenglied
besteht zwar letztlich aus der prèth Ûlh, aber nicht diese materielle Sei-
te macht es zur spezifischen Materie, sondern seine Form. Und eben
hier schlägt der Funktionalismus ein. Wenn die Form der spezifischen
Materie nämlich wichtig ist, nicht aber ihre letztendliche Materie, dann
ist sie funktional bestimmt. Jede andere Materie, welche dieselbe Form
annehmen kann, taugt ebensogut als spezifische Materie.
§ 124 Ein weiteres Argument dafür finden wir in der Physica. Aristo-
teles beschäftigt sich hier mit der Frage, wie weit nach unten eine be-
stimmte Form ihre Materie bestimmt. In einem Organismus beispiels-
weise ist klar, daß keines der Organe allein überleben kann. Ihre Form
ist also vollständig an die Form des Organismus als der höchsten Form
angepaßt. Wie aber sieht es mit noch niedrigeren Stufen aus. Aristote-
les diskutiert dies hier erneut am Beispiel von künstlichen Gegenstän-
den. Da wir jedoch oben gesehen haben, daß der Unterschied zwischen
künstlichen und natürlichen Gegenständen keine strenge Dichotomie
ist, können wir diese Diskussion durchaus als Antwort auf die Frage
nach dem Zusammenhang der natürlichen Formen sehen:
Ð m n g¦r kubern»thj po‹Òn ti tÕ »Der Schiffssteuermann besitzt
e doj toà phdal…ou gnwr…zei kaˆ ein Wissen, wie beschaffen die
™pit£ttei, Ð d' ™k po…ou xÚlou kaˆ Form des Steuerruders sein muß,
po…wn kin»sewn œstai. ™n m n oân und erteilt entsprechend Auftrag;
to‹j kat¦ tšcnhn ¹me‹j poioàmen der andere aber weiß, aus wel-
t¾n Ûlhn toà œrgou ›neka, ™n d chem Holz und mit Hilfe wel-
to‹j fusiko‹j Øp£rcei oâsa. cher Arbeitsvorgänge es zu ma-
chen ist. In den handwerklichen
Zusammenhängen stellen wir
selbst den Stoff her um des
Werkes willen; im Bereich der
Natur ist er schon vorhanden.«149

Übertragen wir dieses Beispiel aus dem Reich der Handwerkskunst auf
die Natur, so sagt uns Aristoteles hier, daß jede Form eben genau weiß,

149
Physica II, 2; 194b 5-8, Übers. H. G. Zekl.

161
Aristoteles von Stageira (384-322)
welche Materie sie braucht, um zu sein, was sie ist. Diese Materie je-
doch besitzt selbst wiederum eine Form und diese Subform weiß, wel-
che Materie sie braucht, um als diese betreffende Subform zu sein. Für
den Organismus als Beispiel heißt das, daß seine Form bestimmte Or-
gane fordert. Diese Organe selbst sind so in ihrer Form als Subform
des Organismus von diesem abhängig. Als Form jedoch erfordern die
Organe selbst eine bestimmte Materie und die wiederum ist nicht vom
Organismus, sondern von ihnen als Form abhängig.
Konkret bedeutet das, daß ebenso wie der Schiffssteuermann nicht
wissen muß, wie man das Holz für sein Schiff zuschneidet, ebenso muß
in der Form den Organismus nicht festgelegt sein, wie ein Magen sich
selbst als Magen erhält. Es reicht, wenn er das selbst vermag und als
Magen für den Organismus zur Verfügung steht. Er ist also rein funk-
tional definiert. Aristoteles rückt hier so ganz in die Nähe einer funk-
tionalen Erklärung der Materie; vermag diesen Gedanken jedoch nicht
in eine konkrete naturphilosophische Erklärung umzusetzen.

xi. Die Verbindung von Form und Materie


§ 125 Interessant bei der Frage, wie sich denn nun Form und Materie
miteinander verbinden, ist der Frage nach der Einheit der beiden. Hier
stellt Aristoteles zunächst fest, daß diese Einheit nicht in den Teilen
liegt:
FanerÕn d Óti kaˆ tîn dokousîn »Offenbar ist von dem, was für
e nai oÙsiîn aƒ ple‹stai dun£meij Wesen gilt, das meiste nur Ver-
e„s…, t£ te mÒria tîn zówn (oÙq n mögen; so die Teile der Lebewe-
g¦r kecwrismšnon aÙtîn ™st…n· sen (denn keiner von diesen exi-
Ótan d cwrisqÍ, kaˆ tÒte Ônta æj stiert getrennt, und wenn sie ge-
Ûlh p£nta) kaˆ gÁ kaˆ pàr kaˆ trennt sind, dann sind sie alle nur
¢»r· oÙd n g¦r aÙtîn ›n ™stin, wie Stoff) und Erde und Feuer
¢ll' oŒon swrÒj, prˆn À pefqÍ kaˆ und Luft; denn keiner von ihnen
gšnhta… ti ™x aÙtîn ›n. ist eine Einheit, sondern ist nur
wie ein Haufen Getreidekörner,
ehe sie gekocht sind und aus ih-
nen eins geworden ist.«150

150
Metaphysica VII, 16; 1040b 5-10, Übers. H. Bonitz.

162
Aristoteles von Stageira (384-322)
Keines der Teile eines Wesens ist also dasjenige, welches die Einheit
desselben darstellt. Die Teile liegen vielmehr nebeneinander und stel-
len in Bezug auf das Ganze eine bloße Möglichkeit (dÚnamij) desselben
dar. Die Einheit des ganzen Wesens aber ist die Wirklichkeit, die sich
demnach nicht aus den Teilen ergibt.
§ 126 Als mögliche Kandidaten, die diese Einheit zustande bringen,
schließt Aristoteles abstrakte Prinzipien aus; zumindest solche, die sich
in Platons Überlegungen zu den abstraktesten Prinzipien finden:
™peˆ d tÕ ›n lšgetai ésper kaˆ tÕ »Da aber das Eine in derselben
Ôn, kaˆ ¹ oÙs…a ¹ toà ˜nÕj m…a, kaˆ Weise ausgesagt wird wie das
ïn m…a ¢riqmù ›n ¢riqmù, fanerÕn Seiende und das Wesen des Ei-
Óti oÜte tÕ ›n oÜte tÕ ×n ™ndšcetai nen eines ist, und dasjenige, des-
oÙs…an e nai tîn pragm£twn, sen Wesen der Zahl nach eines
ésper oÙd tÕ stoice…J e nai À ist, selbst eines der Zahl nach ist,
¢rcÍ· so ist offenbar, daß weder das
Eine noch das Seiende Wesen
der Dinge sein kann, sowenig wie
Element-sein oder Prinzip-
sein.«151

Abstrakte Prinzipien wie das Eine oder das Seiende können deswegen
nicht für die Einheit der Wesen verantwortlich sein, weil jedes Wesen
als einzelnes für sich seine besondere Einheit hat, die Einheit des Einen
aber nur eine abstrakte Einheit ist. Wenn so abstrakte Prinzipien wie
das Eine oder das Seiende die Einheit der verschiedenen Wesen zu-
stande bringen würden, dann wären diese Wesen alle gleich, denn sie
hätten die gleiche Einheit.
§ 127 Dieselbe Kritik bringt Aristoteles auch in der Topica vor.
Hier weist er darauf hin, daß verschiedene Verbindungen von Elemen-
ten zu ganz verschiedenen Ergebnissen führen können:
P£lin e„ t¾n toÚtwn sÚnqesin »Wenn ferner die Definition ein
e‡rhke tÕ Ólon, oŒon tÁj yucÁj kaˆ Ganzes als eine Verbindung be-
toà sèmatoj sÚnqesin zùon, prî- stimmter Theile angiebt, z.B. die
ton m n skope‹n e„ m¾ e‡rhke po…a des Geschöpfes als eine Verbin-
sÚnqesij, kaq£per e„ s£rka Ðri- dung der Seele und des Leibes,

151
Metaphysica VII, 16; 1040b 16-19, Übers. H. Bonitz.

163
Aristoteles von Stageira (384-322)
zÒmenoj À Ñstoàn t¾n purÕj kaˆ gÁj so muss man zunächst prüfen, ob
kaˆ ¢šroj e pe sÚnqesin. oÙ g¦r etwa die Art der Verbindung
¢pÒcrh tÕ sÚnqesin e„pe‹n, ¢ll¦ nicht angegeben worden ist, z.B.
kaˆ po…a tij prosdioristšon· oÙ g¦r wenn das Fleisch, oder die Kno-
Ðpwsoàn sunteqšntwn toÚtwn s¦rx chen als eine Verbindung von
g…netai, ¢ll' oØtwsˆ m n sun- Feuer, Erde und Luft definirt
teqšntwn s£rx, oØtwsˆ d' Ñstoàn. worden sind. Denn es nützt
nichts, blos die Verbindung zu
nennen, man muss auch ange-
ben, welche Art von Verbindung
es sei, da nicht aus jeder beliebi-
gen Verbindung dieser Stücke
Fleisch entsteht, sondern Fleisch
durch eine Verbindung dieser
und Knochen durch eine Ver-
bindung jener Art«. 152

Aristoteles behandelt diese Frage zunächst in der Topica deswegen, um


verschiedene Möglichkeiten des Angriffs auf strittige Thesen darzustel-
len. Eine Art der Definition mag die Angabe einer Verbindung ver-
schiedener Teile zu einem Ganzen sein. Wie etwa der Verbindung von
Leib und Seele zum Menschen. Eine solche Definition reicht nun nach
Aristoteles nicht aus, denn man muß immer auch angeben, um welche
Art von Verbindung es sich handelt. Die Dinge lassen sich eben auf
verschiedene Weise zur Einheit bringen und werden dann etwas ganz
anderes. Ein Finger ist eben eine spezifische Verbindung des im Grun-
de selben Materials, welches auch einen Knochen darstellen könnte. Es
kommt alles darauf an, die Art der Verbindung zu beschreiben. Hier
bloß ein abstraktes Prinzip anzugeben oder gar nur von einer Einheit
ohne Angabe der Details zu sprechen, würde uns nicht weiterbringen.
§ 128 Das Ergebnis dieser Überlegungen hinsichtlich des aus Mate-
rie und Form zusammengesetzten ist für Aristoteles nun, daß die Ein-
heit und Verbindung derselben in einem individuellen Wesen liegen
muß:
dÒxeie d' ¨n e nai tˆ toàto kaˆ oÙ »Man wird daher die Ansicht fas-
stoice‹on, kaˆ a‡tiÒn ge toà e nai sen, daß dies etwas Bestimmtes

152
Topica VI, 14; 151a 20-25; Übers. H.J. von Kirchmann.

164
Aristoteles von Stageira (384-322)
todˆ m n s£rka todˆ d sullab»n· sei und nicht Element, und daß
Ðmo…wj d kaˆ ™pˆ tîn ¥llwn. es Ursache davon sei, daß dies
oÙs…a d ˜k£stou m n toàto (toàto Fleisch und dies Silbe. Ähnlich
g¦r a‡tion prîton toà e nai) verhält es sich auch bei den übri-
gen. Das aber nun ist das Wesen
eines jeden; denn dieses ist die
erste Ursache des Seins.«153

Das Privatwesen eines jeden einzelnen Gegenstandes oder Lebewesens


also, ¹ oÙs…a ˜k£stou, ist Aristoteles’ Antwort auf die Frage nach der
Verbindung von Form und Materie. Das aber ist zunächst scheinbar
gleichbedeutend damit, keine wirkliche Antwort auf die Frage zu geben.
Wir wissen damit zwar, daß es in jedem Wesen jene private oÙs…a ge-
ben muß, die es formt und seine Materie organisiert, aber wir können
zugleich nicht allgemein über diese oÙs…a reden, denn das Allgemeine
trifft sie nicht. Zumindest bleibt das Allgemeine ein abstrakter Artbe-
griff, der uns nicht zu erklären vermag, warum gerade dieser Zellver-
band ein Lebewesen ist.
§ 129 Aristoteles liefert uns eine sehr vage Idee davon, wie wir diese
private oÙs…a so verstehen können, daß jener Widerspruch, der zwi-
schen ihrer privaten und ihre allgemeinen Seite besteht, aufgehoben
scheint. Er entwickelt diese Idee an einer Stelle, wo er die Einheit zwi-
schen der Definition eines Wesens und dem wirklichen Wesen zu er-
klären versucht:
e„ d' ™st…n, ésper lšgomen, tÕ m n »Ist aber, wie wir behaupten, das
Ûlh tÕ d morf», kaˆ tÕ m n eine Stoff, das andere Form, das
dun£mei tÕ d ™nerge…v, oÙkšti eine dem Vermögen nach, das
¢por…a dÒxeien ¨n e nai tÕ zhtoÚme- andere der Wirklichkeit nach, so
non. scheint in der Frage gar keine
Schwierigkeit mehr zu liegen.« 154

Die Einheit des abstrakten Wesens und des konkreten und privaten
Wesens zeigt sich hier im Begriff der Wirklichkeit (™nšrgeia). Der Stoff
stellt, wie wir bereits oben gesehen haben, die bloße Möglichkeit (dÚna-
mij) es Vorhandenseins eins Wesens dar. Tritt dann die Form hinzu, so

153
Metaphysica VII, 17; 1041b 25-28, Übers. H. Bonitz.
154
Metaphysica VIII, 6; 1045a 23-25, Übers. H. Bonitz.

165
Aristoteles von Stageira (384-322)
wird das Wesen wirklich. Was aber meint hier Wirklichkeit, ™nšrgeia
genau? Wörtlich bedeutet ™nšrgeia »Im-Werk-sein« und wird bisweilen
als Wirksamkeit oder Tätigkeit übersetzt. Was Aristoteles aus dieser
Perspektive über das Zusammenspiel von Form und Materie sagt, ist
dann sehr aufschlußreich. Die Materie ist als dÚnamij die reine Fähig-
keit, ein bestimmtes Wesen zu sein. Die Form tritt hier aber nicht als
abstrakte Idee hinzu, sondern als Realisation dieser Fähigkeit in einem
Prozeß. Dieser Prozeß ist es, was die ™nšrgeia der Form ausmacht.
Hier wird verständlich, warum Aristoteles glaubt, an dieser Stelle ab-
straktes und konkretes Wesen miteinander verbunden zu haben. Denn
einerseits ist das Tun der ™nšrgeia etwas, was schlechthin konkret ist.
Der Stoffwechsel einer Pflanze ist dieser konkrete Stoffwechsel; er be-
steht nicht in etwas abstraktem, sondern in Stoffen, die aktiv in einem
bestimmten Prozeß ausgetauscht werden. Zugleich aber hat dieser Aus-
tausch eine abstrakte und allgemeine Seite, denn die Aufnahme be-
stimmter Stoffe stellt zugleich die Bedingungen und dÚnamij für das
Weitergehen des Prozesses dar. Die Allgemeinheit der ™nšrgeia besteht
darin, daß jeweils auch die Teile des Prozesses, die gerade nicht aktiv
und wirksam sind, im Prozeß implizit am Werk sind.

Form und Materie


™nšrgeia

dÚnamij

™nšrgeia

Die beiden Hinsichten dÚnamij und ™nšrgeia sind somit nicht getrennte,
sondern zusammenarbeitende Seiten eines einzigen Wesens. Hierin

166
Aristoteles von Stageira (384-322)
aber liegt die Verbindung von Form und Materie. Wir können somit
dasselbe Schema, welches wir bereits zur Darstellung des Harmoniebe-
griffs der Pythagoräer nutzen konnten, auch zur Verdeutlichung des
Zusammenhangs von Form und Materie bei Aristoteles nutzen.

xii. Die Bestimmung des Wesens


§ 130 Das Verhältnis von Form und Materie ist für Aristoteles nun
auch die erste Hinsicht, die uns ein Kriterium zur Bestimmung des
Wesens eines Naturdings liefert:
kaˆ ™peid» ™sti tÕ m n lÒgoj tÕ d' »Und indem nun etwas teils Be-
Ûlh, Ósai m n ™n tù lÒgJ e„sˆn griff ist, teils Stoff, so bringen die
™nantiÒthtej e‡dei poioàsi diafo- den Begriff treffenden Gegensät-
r£n, Ósai d' ™n tù suneilhmmšnJ ze Artunterschiede hervor, die
tÍ ÛlV oÙ poioàsin. diÕ ¢nqrèpou mit dem Stoff zusammengefaßten
leukÒthj oÙ poie‹ oÙd melan…a, oÙ- dagegen nicht. Daher bringt wei-
d toà leukoà ¢nqrèpou œsti dia- ße und schwarze Farbe keine
for¦ kat' e doj prÕj mšlana Artverschiedenheit hervor, und
¥nqrwpon, oÙd' ¨n Ônoma ›n teqÍ. der weiße Mensch steht zu dem
æj Ûlh g¦r Ð ¥nqrwpoj, oÙ poie‹ d schwarzen nicht in einer Unter-
diafor¦n ¹ Ûlh· oÙd' ¢nqrèpou g¦r schiedenheit der Art nach, auch
e‡dh e„sˆn oƒ ¥nqrwpoi di¦ toàto, dann nicht, wenn man für jeden
ka…toi ›terai aƒ s£rkej kaˆ t¦ einen Namen setzt. Denn der
Ñst© ™x ïn Óde kaˆ Óde· Mensch ist hier nur als Stoff ge-
nommen, der Stoff aber bewirkt
keinen Unterschied; deshalb sind
ja auch die einzelnen Menschen
nicht Arten des Menschen, ob-
wohl das Fleisch und die Kno-
chen, aus denen dieser besteht,
andere sind als die, aus denen
jener besteht.« 155

Unterscheidet man also an einem Naturding Form und Materie, so gibt


uns die Form die Artunterschied an, die Materie aber nicht. Wollen wir
also das Wesen eines Naturdings bestimmten, so müssen wir uns im-
mer fragen, ob die betreffende Bestimmung ein Teil der Form oder der

155
Metaphysica X, 9; 1058a 37 – 1058b 8, Übers. H. Bonitz.

167
Aristoteles von Stageira (384-322)
Materie eines Naturdings ist. Wir wissen nun aber aus unseren vorheri-
gen Überlegungen, daß auch die Materie wieder aus Formen besteht.
Dasjenige aber, was leitend für den Begriff eines Naturdings ist, kann
somit nur seine höchste Form sein, denn die allein hat keinerlei Funk-
tion als Materie im Stufenbau von Form und Materie.
§ 131 Nun ist es aber gerade aufgrund des Umstandes, daß die Ma-
terie selbst wieder aus Formen besteht, gar nicht so leicht, zu bestim-
men, worin die höchste Form eines Naturwesens besteht, die demnach
sogleich ihr Wesen ausmacht. Betrachten wir beispielsweise ein Lebe-
wesen, so sehen wir allenthalben Formen am Werk und können nicht
sogleich erkennen, welche dieser Formen denn nun die höchste ist.
Hierzu gibt uns Aristoteles ein weiteres Hilfsmittel in die Hand. Er hat
sich mit dieser Frage in seinen logischen Schriften beschäftigt. Seine
Diskussion der Definition des Art-Unterschiedes als Wesensmerkmal
in der Topica ist hier auf einem ganz abstrakten Niveau sehr hilfreich,
um Kriterien für die Bestimmung von Wesensmerkmalen und damit
auch der Bestimmung der höchsten Naturform auszumachen. Aristo-
teles präsentiert uns hier dazu eine Reihe von Kriterien, von denen wir
drei näher betrachten werden.
Zunächst, so sagt uns Aristoteles, darf der Art-Unterschied, also das
Wesen, in nichts Nebensächlichem liegen:
Skope‹n d kaˆ e„ kat¦ sumbebhkÕj »Auch muss man prüfen, ob der
Øp£rcei tù ÐrizomšnJ ¹ diafor£. angegebene Unterschied dem
oÙdem…a g¦r diafor¦ tîn kat¦ definirten Gegenstande nur ne-
sumbebhkÕj ØparcÒntwn ™st…, kaq- bensächlich anhaftet; denn kein
£per oÙd tÕ gšnoj· Art-Unterschied gehört zu den
nebensächlichen Bestimmungen
eines Gegenstandes so wenig wie
die Gattung«. 156

Daß nichts Nebensächliches (sumbebhkÒj) Grundlage einer Wesensde-


finition sein kann ist ein ganz grundlegender und aber deshalb auch fast
schon selbstverständlicher Gedanke. Interessanter wird dieses, wenn
wir es auf die konkrete Bestimmung der höchsten Form eines Lebewe-
sens anwenden. Hier gibt es andere Gründe, die nicht bloß auf Be-

156
Topica VI, 6; 143a 23-25; Übers. H.J. von Kirchmann.

168
Aristoteles von Stageira (384-322)
griffsdefinitionen beruhen, welche zur Unmöglichkeit dieser Annahme
führen. Ein sumbebhkÒj ist eine Eigenschaft, die auch fehlen kann. Was
aber passiert, wenn bei einem Naturwesen dessen höchste Form fehlt?
Die darunter befindliche Stufe übernimmt automatisch das Komman-
do. Das aber bedeutet, daß wenn diese Stufe aus mehreren Teilen be-
steht, das Geschöpf dies nunmehr auch tut. Es zerfällt. Daher muß die
höchste Form etwas sein, das dem Wesen immer zukommt. Sie muß
also die Wesenseigenschaften eines Geschöpfes in sich fassen.
§ 132 Einen zweiten Punkt, auf den uns Aristoteles hinweist, ver-
sieht er meines Erachtens zu Unrecht mit Einschränkungen. Der Art-
Unterschied darf nichts sein, was an kontingente Bestimmungen wie
den Ort gebunden ist:
`Or©n d kaˆ e„ tÕ œn tini diafor¦n »Auch muss man prüfen, ob etwa
¢podšdwken oÙs…aj· oÙ doke‹ g¦r bei der Definition als Art-Unter-
diafšrein oÙs…a oÙs…aj tù poÝ schied des Wesens eine Ortsbe-
e nai. diÕ kaˆ to‹j tù pezù kaˆ tù stimmung aufgestellt worden ist;
™nÚdrJ diairoàsi tÕ zùon ™pi- denn das Wesen eines Dinges
timîsin æj tÕ pezÕn kaˆ tÕ œnudron kann sich von dem eines andern
poÝ shma‹non. À ™pˆ m n toÚtwn nicht durch einen Unterschied
oÙk Ñrqîj ™pitimîsin· oÙ g¦r œn im Orte unterscheiden. Deshalb
tini oÙd poÝ shma…nei tÕ œnudron, tadelt man es auch, wenn die Ge-
¢ll¦ poiÒn ti. kaˆ g¦r ¨n Ï ™n tù schöpfe in Land- und Wasser-
xhrù, Ðmo…wj œnudron· Ðmo…wj d tÕ Geschöpfe eingetheilt werden,
cersa‹on, k¨n ™n Øgrù, cersa‹on weil dieser Unterschied nur einen
¢ll' oÙk œnudron œstai. ¢ll' Ómwj Unterschied des Ortes angiebt.
™£n pote shma…nV tÕ œn tini ¹ dia- Indess ist der Tadel hier wohl
for£, dÁlon Óti dihmarthkëj nicht begründet, denn das „im
œstai. Wasser lebend“ bedeutet weder,
dass etwas in einem Wasser oder
an einem Orte lebe, sondern
vielmehr eine Beschaffenheit;
denn selbst wenn das Geschöpf
auf dem Trocknen ist, bleibt es
doch ein Wasserthier, und eben-
so bleibt ein Landthier selbst im
Wasser ein Landthier und wird
kein Wasserthier. Dessen-unge-
achtet bleibt es ein Fehler, wenn

169
Aristoteles von Stageira (384-322)
der Umstand wirklich einen Un-
terschied im Orte bezeichnet.«
157

Zunächst kritisiert Aristoteles hier zurecht die Auffassung, daß man ein
Wesen nicht danach bestimmen kann, an welchem Ort es sich befindet
oder vorwiegend befindet. So wie ich ihn verstehe, hat er dafür zunächst
logische Gründe. Ein Ort kann deswegen keine Wesenseigenschaft
sein, weil er vollkommen kontingent ist. Ein Stück Holz ebensogut an
einem bestimmten Ort befinden, wie ein Fisch und beide sind – außer
daß sie zu größten Teil aus Kohlenstoff bestehen – nicht nur in ihren
Weseneigenschaften, sondern selbst in den Akzidentien vollkommen
verschieden.
Daher scheint es falsch zu sein, so Aristoteles, die Tiere in Land-
und Wassertiere einzuteilen, denn hier wird der Ort zur Bestimmung
des Wesens verwendet. Aristoteles rettet jedoch diese Einteilung da-
durch, daß er in ihr etwas anderes als eine Ortsbestimmung ausmacht.
Etwas als Wassertier zu bezeichnen gibt nach Aristoteles eine ganze
Reihe von Eigenschaften dieses Tieres an und legt es damit darauf fest,
nur im Wasser zu leben. Es kann zwar auch an Land gehen und bleibt
aufgrund dieser stabilen Eigenschaften dennoch ein Wassertier, das
Beispielsweise nach einiger Zeit ins Wasser zurückkehren muß um zu
atmen.
§ 133 Die Frage, die wir uns daher stellen müssen, betrifft die Art
der Eigenschaften, die von einem Ort herrühren können. Was macht
Landtiere zu Landtieren, Wassertiere zu Wassertieren und Lufttiere zu
Lufttieren? Im letzteren Fall ist es die bloße Möglichkeit, sich durch die
Luft fortzubewegen, einen bestimmten Lebensraum zu bevölkern. Bei
den Wassertieren entweder dasselbe Kriterium oder es ist enger gefaßt
die Notwendigkeit, zur Atmung immer wieder in diesen Lebensraum
zurückkehren zu müssen. Die Landtiere scheinen demgegenüber eine
Art Restegruppe zu sein, welchen eben die Möglichkeit des Lebens in
einem anderen Lebensraum gänzlich fehlt.
Von hier aus ist es ein ganz kleiner Schritt, zu zeigen, daß diese Ei-
genschaften unmöglich Wesenseigenschaften in dem Sinne sein kön-

157
Topica VI, 6; 144b 31 – 145a 2; Übers. H.J. von Kirchmann.

170
Aristoteles von Stageira (384-322)
nen, daß dadurch die höchste Form des Geschöpfes angegeben wird.
Das Fliegenkönnen der Vögel ist keineswegs deren höchste Eigenschaft.
Es ist vielmehr nur ein Hilfsmittel. Viel zentraler sind hier kognitive
Funktionen, die im übrigen auch für das Fliegen notwendig sind. Denn
warum und wohin sollte ein Vogel fliegen, wenn dies nicht bloß ein Mittel
etwa zur Flucht und Selbsterhaltung oder zur Nahrungsbeschaffung ist?
Ähnlich verhält es sich mit den Fischen. Deren Atmung ist bloß eine un-
tergeordnete Funktion im Stoffwechsel. Man könnte sich einen Vogel
ohne Flügel vorstellen, der, wenn er genügend Futter und keine natürli-
chen Feinde findet, immer noch als Lebewesen voll funktionstüchtig ist.
Ebenso könnte man sich einen Fisch mit anderer Atmung vorstellen, der
immer noch leben kann. Die Ortsbestimmung kann also, wenn es darum
geht, die höchste Form eines Lebewesens zu bestimmen, keinesfalls auch
nur in einer untergeordneten Weise in Frage kommen.
§ 134 Ein weiteres Kriterium zur Bestimmung des Wesens, welches
wir bei Aristoteles finden, ist in der allgemeinen Weise, in der er es ver-
wendet sehen möchte, durchaus problematisch. Er warnt uns davor, ei-
nen Zustand als Art-Unterschied aufzufassen:
P£lin e„ tÕ p£qoj diafor¦n ¢po- »Auch ist es ein Fehler, wenn ein
dšdwken· p©n g¦r p£qoj m©llon Zustand des definirten Gegen-
ginÒmenon ™x…sthsi tÁj oÙs…aj, ¹ d standes als Art-Unterschied des-
diafor¦ oÙ toioàton· m©llon g¦r selben aufgestellt wird. Denn je-
sózein doke‹ ¹ diafor¦ oá ™sti der Zustand tritt, wenn er über
diafor£, kaˆ ¡plîj ¢dÚnaton e nai einen bestimmten Grad gesteigert
¥neu tÁj o„ke…aj diafor©j ›kaston· wird, aus dem Wesen des Ge-
pezoà g¦r m¾ Ôntoj oÙk œstai genstandes heraus, während der
¥nqrwpoj. Art-Unterschied dies nicht thut;
denn der Art-Unterschied dient
mehr der Erhaltung seines Ge-
genstandes und kein Gegenstand
kann ohne den ihm zugehörigen
Art-Unterschied bestehen; denn
wenn es kein auf dem Lande Le-
bendes giebt, giebt es auch kei-
nen Menschen.« 158

158
Topica VI, 6; 145a 3-7; Übers. H.J. von Kirchmann.

171
Aristoteles von Stageira (384-322)
Ein Zustand (p£qoj) soll deswegen kein Art-Unterschied sein können,
weil er sich schlicht verändern kann und damit würde sich auch das
Wesen verändern. Was Aristoteles hiermit meint ist recht klar. Zustän-
de wie Betrunkensein etc. eignen sich nicht als Art-Unterschiede, weil
sie mehr oder weniger schnell vorüber sind. Damit aber wäre dann das
zugrundeliegende Wesen, das so definiert worden ist, ein ganz anderes.
Diese Sichtweise ist jedoch meines Erachtens nicht verallgemeiner-
bar. Es ist durchaus denkbar, daß es Zustände gibt, die ein Wesen zu
dem machen, was es ist. Das Argument, daß jeder Zustand vergänglich
ist, ist dabei recht unproblematisch, denn jedes Naturwesen ist ebenso
vergänglich. Diejenigen Zustände, die solche Wesenseigenschaften
ausmachen, müssen dann natürlich über eine relative Stabilität verfü-
gen. Meines Erachtens ist die Harmonie, die von einigen Denkern als
das Wesen der Seele bestimmt worden ist, nichts anderes als solch ein
Zustand; in diesem Fall eben ein Zustand, der gerade auf Stabilität ab-
zielt. Das Wesen eines Geschöpfes, seine höchste Formebene, muß
nichts Festes im Sinne einer materiellen Substanz sein. Sie kann durch-
aus im günstigen Zusammenspiel der Materiebestandteile bestehen.

xiii. Die Einteilung der Naturwesen


§ 135 Die Frage nach der Einteilung der Naturwesen in verschiedene
Gattungen und Arten schließt sich unmittelbar an die Bestimmung des
Wesens an. Dies scheint zunächst eine ganz einfache Angelegenheit zu
sein, wenn man Aristoteles’ Konzept der Definition betrachtet:
oÙd n g¦r ›terÒn ™stin ™n tù Ðris- »Es finden sich nämlich in der
mù pl¾n tÕ prîton legÒmenon Wesensdefinition nichts weiter
gšnoj kaˆ aƒ diafora…· als die erste Gattung und die Un-
terschiede«.159

Die Definition besteht aus genus proximum (prîton gšnoj) und diffe-
rentia specifica. Wenn wir nun in den spezifischen Differenzen eben
diejenige Form ausmachen, welche die höchste Form eines Wesen ist,
dann ist die Sache ganz einfach. Die Gattung ist dann nichts anderes als
die nächstniedrigere Form, die dieses Wesen mit vielen anderen ge-

159
Metaphysica VII, 12; 1037b 29-30, Übers. H. Bonitz.

172
Aristoteles von Stageira (384-322)
mein hat. Dieses Verfahren läßt sich iterieren und wir erhalten insge-
samt eine lineare Einteilung der Naturdinge mit dem jeweiligen Kriteri-
um ihrer höchsten Form.
Aristoteles’ Diskussion der Einteilungskriterien für die Lebewesen
in De partibus animalium ist vom Gedanken einer Orientierung dersel-
ben an den Wesenseigenschaften geleitet und paßt daher zunächst in
unser Schema:
”Eti diaire‹n cr¾ to‹j ™n tÍ oÙs…v »Es ist zudem nötig, gemäß den
kaˆ m¾ to‹j sumbebhkÒsi kaq' aØtÒ Wesen einzuteilen und nicht ge-
mäß den Akzidentien«.160

Der Ausschluß alles Nebensächlichen läßt nur noch die höchste Form
übrig die dann als spezifische Differenz zu anderem das Wesen eines
Dings und zugleich auch seinen Ort in der Stufenordnung der Natur-
dinge bestimmt. Aristoteles scheint also unserer linearen Einteilung der
Natur zuzustimmen.
So einfach ist die Sache jedoch nicht. Denn ein dichotomisches Ver-
fahren, welches Naturwesen durch immer weitere Unterscheidung
zweier Eigenschaften bestimmt, schließt er aus. Unser hier favorisiertes
Verfahren arbeitet aber mit solchen Dichotomien. Einem Naturwesen
kommt ja eine bestimmte Form entweder zu oder nicht zu. Es ist bei-
spielsweise entweder ein Tier oder nicht. Wenn es nun ein Tier ist,
dann gibt es die Möglichkeit, daß es noch die nächsthöhere Stufe be-
sitzt, wenn nicht, dann besitzt es womöglich die nächstniedrigere. Mit
einem solchen einfache Ausschlußverfahren läßt sich schließlich die
Stufe bestimmen, die einem Naturwesen zukommt. Da Aristoteles dies
aber für falsch hält, müssen wir uns seine Gründe dafür genauer anse-
hen.
§ 136 Er präsentiert uns die Begründung seiner Ablehnung als eine
Serie von Aporien, in die man gerät, wenn man dichotomisch vorgeht:
ToÚtwn d' ›kaston polla‹j éri- »Von diesen [Gattungen der Tie-
stai diafora‹j, oÙ kat¦ t¾n dico- re] ist jede durch viele Unter-
tom…an. OÛtw m n g¦r ½toi tÕ scheidungen gekennzeichnet, je-
par£pan oÙk œsti labe‹n (tÕ aÙtÕ doch nicht durch eine Dichoto-

160
De partibus animalium I, 3; 643a 27-28

173
Aristoteles von Stageira (384-322)
g¦r e„j ple…ouj ™mp…ptei diairšseij mie. Denn auf diese Weise ist es
kaˆ t¦ ™nant…a e„j t¾n aÙt»n), À nicht möglich entweder die einen
m…a mÒnon diafor¦ œstai, kaˆ aÛth überhaupt zu erfassen (denn das-
½toi ¡plÁ, À ™k sumplokÁj tÕ selbe fällt unter viele Unterschei-
teleuta‹on œstai e doj. dungen und die Gegensätze unter
dieselben), oder es gibt für die
anderen nur eine Unterscheidung
und diese wird entweder einzeln
oder verknüpft die letzte Art
sein.«
161

Die erste Aporie besteht hier darin, daß man mittels eines dichotomi-
schen Verfahrens entweder in der Unterteilung nicht zu allen Gattun-
gen der Tiere vordringt, oder aber aufgrund des binären Charakters der
Dichotomie würde man die Vielfalt der Tierarten übersehen. Um den
komplexeren ersten Teil dieser Aporie besser zu verstehen, sollten wir
mit dem zweiten Teil derselben beginnen. Wenn wir uns die üblicher-
weise angenommenen Tierarten ansehen, dann wird schnell klar, daß
man diese nicht durch eine Dichotomie bestimmen kann, denn jede
Gattung zerfällt hier in eine Fülle von Arten. Will man das nun unter
Beibehaltung eines dichotomischen Verfahrens vermeiden, so braucht
man mehr Unterscheidungskriterien, denn man muß die Möglichkeit,
eine Gattung etwa in zehn Arten zu unterteilen nun ja durch ein binäres
Verfahren ersetzen. Dabei drohen nach Aristoteles zwei sich gegenseitig
bedingende Gefahren. Durch die Fülle der Unterscheidungskriterien
können nun die üblicherweise zusammengefaßte Tiergruppen, wie Fi-
sche oder Vögel, getrennt werden und damit zugleich Gegensätze in die
gleiche Gruppe geraten. Es ist ja leicht möglich, daß an manchen Stel-
len Fische und Vögel dieselben Eigenschaften aufweisen, an anderen
Stellen aber Fische sich von Fischen signifikanter unterscheiden als von
Vögeln. Das Problem besteht ja nun darin, so etwas wie einen Vogel
überhaupt zu bestimmen. Bestimmt man ihn als ein fliegendes Wesen,
so hat man schon einige Fische in Klassifizierung.

161
De partibus animalium I, 3; 643b 12-17

174
Aristoteles von Stageira (384-322)
§ 137 Diese erste Aporie läßt sich Aristoteles zufolge vermeiden,
wenn man die inhaltlichen Bezüge bei der Einteilung aufgibt. Dazu gibt
uns Aristoteles folgendes Beispiel:
Lšgw d' oŒon sumba…nei to‹j diai- »Ich nehme zum Beispiel an, aus
roumšnoij tÕ m n ¥pteron tÕ d den Einteilungen in das Ungeflü-
pterwtÒn, pterwtoà d tÕ m n gelte und das Geflügelte ergibt
¼meron tÕ d' ¥grion, À tÕ m n sich die Unterteilung des Geflü-
leukÕn tÕ d mšlan· oÙ g¦r dia- gelten in zahm und wild oder in
for¦ toà pterwtoà tÕ ¼meron oÙd weiß und schwarz: Weder zahm
tÕ leukÒn, ¢ll' ˜tšraj ¢rc¾ dia- noch weiß aber ist eine Unter-
for©j, ™ke‹ d kat¦ sumbebhkÒj. scheidung am Geflügelten, son-
dern es sind Anfänge anderer
Unterscheidungen und hier nur
akzidentell.«
162

Die erste Aporie läßt sich hier deswegen vermeiden, weil man nach
dem hier von Aristoteles vorgeschlagenen Verfahren trivialerweise alle
gesuchten Tierarten herleiten kann. Dieses Verfahren verwendet ja nun
beliebige Dichotomien und macht sich den Umstand zu Nutze, daß je-
de Einteilung natürlich auch als eine binäre Einteilung darstellbar ist.
Das Problem eines solchen mit beliebigen Dichotomien arbeitenden
Einteilungsverfahren jedoch, welches damit zugleich aus der Alternative
zur ersten Aporie eine zweite Aporie macht, liegt in deren inhaltlichem
Defizit. Wenn man die Tiere in geflügelte und ungeflügelte einteilt und
die geflügelten dann wieder in zahme und wilde, dann hat die Zahmheit
nichts mit den Flügeln zu tun. Man könnte hier jede beliebige andere
Unterscheidung einfügen. Wir haben hier nicht mehr so etwas wie eine
Einteilungslinie vorliegen, die zugleich ein Ordnungsschema darstellt.
Dazu müßte das erste Einteilungskriterium dem zweiten inhaltlich
übergeordnet sein; es müßte eine Art gemeinsamer Wesenseigenschaft
aller Lebewesen darstellen, die dem zweiten Kriterium gemäß sind.
Aristoteles sieht den einzigen Ausweg aus diesen Aporien in der
Aufgabe einer dichotomischen Einteilung:

162
De partibus animalium I, 3; 643b 19-23

175
Aristoteles von Stageira (384-322)

DiÕ polla‹j tÕ n eÙqšwj diai- »Daher, so sagen wir, müssen wir


retšon, ésper lšgomen. die eine geradewegs in viele ein-
teilen.«
163

Wenn man jede Gattung in beliebig viele Arten einteilen kann, dann
vermeidet man alle diese Probleme. Man erhält so nach Aristoteles ja
ein geordnetes Schema von Gattungen und Arten, das der Linie der
Wesenseigenschaften folgt und dabei die üblicherweise angenommenen
Tierarten abbildet.
§ 138 Wir müssen uns nun fragen, ob unser Einteilungsschema
wirklich das Problem hat, welches Aristoteles hier aufzeigt? Meines Er-
achtens läßt sich das Problem nämlich durchaus vermeiden; dies ge-
schieht gleichwohl um einen Preis, den Aristoteles offensichtlich nicht
zu zahlen bereit wäre. Die von uns favorisierte Einteilung geht zwar di-
chotomisch vor, sie versucht aber gar nicht die Artenvielfalt der Tiere
zu erfassen, sondern lediglich deren höchste Formebenen und damit
die gesamte Formvielfalt in der Natur. Wenn es zutrifft, daß es eine li-
neare Folge von Formen in der Natur gibt, dann ist eine dichotomische
Einteilung der Natur sogar das perfekte Vorgehen, um alle diese For-
men zu erfassen. Die einfachste Naturform kommt dann allem Natur-
sein zu und ab der nächsten Form kann man jeweils zwischen den We-
sen unterscheiden, die diese Form auch noch aufweisen und denen, bei
denen die vorhergehende Form bereits die höchste Organisationsebene
ist.
Die von Aristoteles gefürchtete Beliebigkeit droht hier an keiner
Stelle. Im Gegenteil läßt sich aus dem zweiten Teil der zweiten aristote-
lischen Aporie sogar ein schlagkräftiges Argument für unsere Einteilung
gewinnen. Hier wird nämlich genaugenommen kritisiert, daß immer da
ein Fehler in der Einteilung vorliegen muß, wo Form und Materie nicht
zusammenpassen. Die Zahmheit in seinem Beispiel ist weder eine
Form der Organisation der Flügel, noch ist das Geflügeltsein eine Form
der Zahmheit. Wenn aber kein solches Verhältnis von Form und Ma-
terie vorliegt, dann handelt es sich bei der betreffenden Einteilung auch
nicht um eine solche, die das Wesen der einzuteilenden Dinge trifft.

163
De partibus animalium I, 3; 643b 23-24

176
Aristoteles von Stageira (384-322)
Dies kann nur bei einer Einteilung der Fall sein, wo man vom Wesen
zum Metawesen usw. fortschreitet und in jedem Schritt eine neue For-
mebene findet.
§ 139 Mit dem ersten Teil dieser Aporie bekommen wir jedoch an
einer Stelle ein Problem. Gerade der Aspekt der fehlenden Unter-
scheidungsvielfalt, die nach unserem Schema droht, scheint hier für
Aristoteles ganz wichtig zu sein. Wenn wir uns die gängige Einteilung
der Naturdinge nach allgemeinen Formen zu Aristoteles’ Zeit verge-
genwärtigen, dann sehen wir ja schnell, daß diese im Bereich des Orga-
nischen nicht sehr viel hergibt. Die Unterscheidungen von Mensch,
Tier, Pflanze und Elementen sind so ziemlich die einzigen, die sich hier
finden lassen. Aristoteles möchte jedoch vor allem auch die üblicher-
weise angenommenen Tierarten aus einem solchen Schema hervorge-
hen sehen:
'AdÚnaton g¦r m…an Øp£rcein dia- »Denn es ist unmöglich, daß eine
for¦n tîn kaq' ›kaston diairetîn Unterscheidung für jede einzelne
der Unterteilungen ausreicht.«
164

Jeweils nur eine Unterscheidung zu haben, reicht aber nicht zum Erfas-
sen der Vielfalt der Arten aus. Das ist eine ganz und gar einfache
Überlegung. Aber ebenso einfach ist es, ein Gegenargument gegen den
Einwand von Aristoteles vorzubringen. Wenn bestimmte Unterschei-
dungen, wie wir sie in der Unterteilung Tierarten finden, für eine Be-
trachtung der Naturformen nicht wesentlich sind, dann darf man sie
auch nicht zu etwas Wesentlichem machen. Entweder eine weitere Un-
terteilung, die dann auch nicht Wesentliches berücksichtigt erweist spä-
ter, daß die Tierarten doch eine sinnvolle Unterteilung darstellen, oder
aber man muß sie aus der Naturphilosophie verbannen. Eine größere
Fülle erhält man jedenfalls in der Naturphilosophie auch dadurch, daß
man nach Zwischenformen sucht, die zwischen der klassischen Unter-
scheidung von Element, Pflanze, Tier und Mensch liegen. Wir werden
sehen, daß man hier bei Aristoteles durchaus fündig werden kann.
§ 140 Zugleich können wir aber festhalten, daß für einen Artunter-
schied offenbar nicht zwingend eine ganz andere Form vorliegen muß.

164
De partibus animalium I, 3; 643b 28-29

177
Aristoteles von Stageira (384-322)
So gelten beispielsweise Pferde und Katzen als artunterschieden; sie
haben aber gleichwohl vermutlich dieselbe höchste Form, denn ihre
intellektuellen Fähigkeiten sind nicht so vollkommen andere, daß man
annehmen müßte, das eine Wesen verfüge hier über eine höhere Form
als das andere. Worin also liegt ihr vermeintlicher Artunterschied be-
gründet? Die Biologie liefert uns hier die zwischen Katzen und Pferden
nicht bestehende Fortpflanzungsgemeinschaft als Kriterium. Die Se-
xualität mag nun zwar eine für die Erhaltung der Formen notwendige
Eigenschaft eines Lebewesens sein; allein bei Tieren, die über Empfin-
dungen und Vorstellungen verfügen, ist es nicht die höchste. Die höch-
ste Ebene müssen wir vielmehr in den Seelen dieser Tiere suchen und
hier stellen wir eben fest, daß sie vermutlich keinen prinzipiellen Un-
terschied aufweisen. Zumindest, um den Charakter der Vermutung hier
verschwinden zu lassen, findet man bestimmt Wesen, die keine Fort-
pflanzungsgemeinschaft bilden, aber dennoch eine gleiche höchste
Form besitzen; gehen wir also einfach einmal davon aus, daß dies auf
Pferd und Katze zutrifft. Die beiden wären demnach nicht artunter-
schieden. Zwar mögen sie sexuell inkompatibel sein, aber die gemein-
same höchste Form erlaubt es ihnen, eben auf dieser Ebene in Kontakt
zu treten. Es ist beiden Tieren möglich, sich vorzustellen, daß das ande-
re auch Vorstellungen und Empfindungen hat und entsprechend auf
diese Empfindungen zu reagieren. Ein Pferd wird so mit einer wüten-
den Katze, auch wenn diese ihre Wut nur durch Laute und Mimik zum
Ausdruck bringt, eben so umgehen, als sei sie wütend. In dieser Hin-
sicht – und sie allein ist die wesentliche Hinsicht – sind beide artgleich.
Im übrigen ist auch nur von dieser Basis der höchsten Form ausgehend
eine Höherentwicklung zu erwarten.
§ 141 Aristoteles bringt nun in der Metaphyisca noch einen weiteren
interessanten Einwand gegen unsere Sichtweise der Einteilung der Na-
turwesen vor. Dabei geht es ihm weniger um die Art der Einteilung,
sondern um die Frage, ob sich das Schema so auch in der Natur wie-
derfindet. Aristoteles bestreitet dieses und trifft eine strikte Unterschei-
dung zwischen der logischen Definition eines Wesens und dessen rea-
ler Form:

178
Aristoteles von Stageira (384-322)

éste fanerÕn Óti Ð ÐrismÕj lÒgoj »Offenbar also ist die Wesensde-
™stˆn Ð ™k tîn diaforîn, kaˆ finition der aus den Unterschie-
toÚtwn tÁj teleuta…aj kat£ ge tÕ den gebildete Begriff, und zwar,
ÑrqÒn. dÁlon d' ¨n e‡h, e‡ tij me- bei richtiger Einteilung, der aus
tat£xeie toÝj toioÚtouj ÐrismoÚj, dem letzten dieser Unterscheide.
oŒon tÕn toà ¢nqrèpou, lšgwn zùon Dies würde sich deutlich zeigen,
d…poun ØpÒpoun· per…ergon g¦r tÕ wenn jemand solche Wesensde-
ØpÒpoun e„rhmšnou toà d…podoj. finitionen umstellen wollte, z.B.
t£xij d' oÙk œstin ™n tÍ oÙs…v· pîj die von Mensch, und sagte ein
g¦r de‹ noÁsai tÕ m n Ûsteron tÕ d zweifüßiges, befußtes Lebewesen;
prÒteron; denn das „befußt“ ist dann über-
flüssig, da schon zweifüßig ange-
geben ist. Eine Stellung aber und
Ordnung findet in dem Wesen
nicht statt; denn wie sollte man
denken, daß in ihm das eine frü-
her, das andere später sei?«
165

Die Ordnung (t£xij) von Gattung und Metagattung ist also, wie Aristo-
teles uns hier zeigt, essentiell für die Wesensdefinition. Zugleich aber
soll das in den Wesen vollkommen gleichgültig sein. Aristoteles meint
hier, es mache keinen Sinn, das eine früher existieren zu lassen, als das
andere. Denn beides muß ja immer da sein.
§ 142 Es fällt aber vor allen Dingen auf, daß Aristoteles hier sein
Beispiel so wählt, daß es in der Tat evident scheint, daß ein Wesen
nicht zuerst Füße überhaupt und dann zwei Füße hat, während diese
Unterscheidung logisch gesehen für die Einteilung der Wesen durchaus
sinnvoll scheint. Betrachtet man jedoch andere Beispiele, so läßt sich
dem entgegenhalten, daß eine solche Ordnung durchaus Sinn macht.
Denn die verschiedenen Gattungen, die sich an einem Lebewesen fin-
den, stellen, so wie wir sie hier fassen wollen, auch verschiedene Natur-
stufen dar. Da ist es dann sinnvoll, davon zu sprechen, daß die pflanzli-
che Stufe eines Organismus vor der tierischen kommt, denn erst die
letztere gibt dem Organismus eine Einheit seiner verschiedenen Stoff-
wechselkreisläufe. Erst dadurch ist der Organismus eins und so dieser
bestimmte (tÒde ti) Organismus. Die höhere Seinsstufe aber konstitu-

165
Metaphysica VII, 12; 1038a 28-34, Übers. H. Bonitz.

179
Aristoteles von Stageira (384-322)
iert nicht nur die Einheit des Organismus, sie beherrscht auch die nied-
rigere und ist so nicht nur früher, sondern auch eminenter.
Wir sehen schnell, warum Aristoteles hier zu einem anderen Er-
gebnis gekommen ist, wenn wir seine Beispiele betrachten. Er spricht
zwar von Wesensdefinition des Menschen, richtet seinen definitiori-
schen Blick aber auf deren Füße statt auf deren Kopf. Natürlich kann,
wenn man die Füße zum Maßstab der Unterscheidung von Naturwesen
macht, jegliche Ordnung gedacht und ebensogut verworfen werden.
Aber darf man denn überhaupt den Menschen an den Füßen definie-
ren? Meines Erachtens findet sich hier ein Verstoß gegen die Gebote
einer Wesensdefinition statt, die Aristoteles in der Topica aufzählt. Es
muß – und das scheint mir unter allen die wesentliche Hinsicht zu sein
– bei einer Wesensdefinition immer gefragt werden, ob die spezifische
Differenz denn auch die höchste Seinsstufe der durch sie unterschiede-
nen Wesen erfaßt. Der Mensch ist so durch die Geistseele von den üb-
rigen Tieren unterschieden und in wesentlicher Hinsicht nur durch sie.

xiv. Gibt es Teleologie in der Natur?


§ 143 Nachdem wir uns ausführlich mit dem Zusammenhang von
Form und Materie beschäftigt haben, können wir zu einer Spezialfrage
bezüglich der aristotelischen Ursachenlehre zurückkehren. Aristoteles
sieht sich gezwungen, die Existenz seiner vierten Ursache, der causa
finalis, ausführlich zu begründen, da es eine ganze Reihe von Gegnern
dieser Auffassung im antiken Denken gegeben hat. Die beiden zentra-
len Figuren dieser Gegnerschaft waren sicherlich Empedokles und
Demokritos. Vor allem der Darwinismus des Empedokles, den wir be-
reits im ersten Band kennengelernt haben, widerspricht jedem Versuch,
ein teleologisches Geschehen in der Natur zu behaupten. Daher ist es
auch nicht verwunderlich, daß Aristoteles seine Begründung der Te-
leologie zugleich als eine Kritik an Empedokles formuliert.
Drei Argumente sind dabei besonders erwähnenswert. Zum einen
versucht Aristoteles die Teleologie aus der Regelmäßigkeit der Natur zu
beweisen. Empedokles’ Beschreibung der zufälligen Entstehung von
Fabelwesen, hält er entsprechend folgendes entgegen:

180
Aristoteles von Stageira (384-322)

¢dÚnaton d toàton œcein tÕn trÒ- »Es ist jedoch unmöglich, daß es
pon. taàta m n g¦r kaˆ p£nta t¦ sich auf solche Weise verhalten
fÚsei À a„eˆ oÛtw g…gnetai À æj kann. Diese (beschriebenen Vor-
™pˆ tÕ polÚ, tîn d' ¢pÕ tÚchj kaˆ gänge) und überhaupt alle natur-
toà aÙtom£tou oÙdšn. haften Ereignisse vollziehen sich
entweder immer so oder in aller
Regel so, von den Ereignissen
infolge von Fügung oder Zufall
aber keins.«166

Indem sich also etwas immer oder zumeist so verhält wie es sich ver-
hält, kann es sich nicht zufällig verhalten. Dem würde auch der darwini-
stischen Biologe unserer Tage zustimmen; nur daß er eben einwenden
würde, daß das regelhafte Geschehen immer noch bloß gesetzmäßig
und insofern nicht geplant und in der Absicht eines Zieles gesehen
würde.
§ 144 Hier bringt Aristoteles ein zweites Argument ins Spiel, wel-
ches das erste zu stützen vermag, indem es genau diesem Einwand be-
gegnet:
oŒon e„ o„k…a tîn fÚsei gignomšnwn »Wenn z.B. ein Haus zu den Na-
Ãn, oÛtwj ¨n ™g…gneto æj nàn ØpÕ turgegenständen gehörte, dann
tÁj tšcnhj· e„ d t¦ fÚsei m¾ mÒ- entstünde es genau so, wie jetzt
non fÚsei ¢ll¦ kaˆ tšcnV g…gnoito, aufgrund handwerklicher Fähig-
æsaÚtwj ¨n g…gnoito Î pšfuken. keit; wenn umgekehrt die Natur-
›neka ¥ra qatšrou q£teron. Ólwj dinge nicht allein aus Naturanla-
d ¹ tšcnh t¦ m n ™pitele‹ § ¹ ge, sondern auch aus Kunstfer-
fÚsij ¢dunate‹ ¢perg£sasqai, t¦ tigkeit entstünden, dann würden
d mime‹tai. e„ oân t¦ kat¦ tšcnhn sie genau so entstehen, wie sie
›nek£ tou, dÁlon Óti kaˆ t¦ kat¦ natürlich zusammengesetzt sind.
fÚsin· Wegen des einen ist also das an-
dere da. Allgemein gesprochen,
die Kunstfertigkeit bringt teils zur
Vollendung, was die Natur nicht
zu Ende bringen kann, teils eifert
sie ihr (der Natur) nach: Wenn
nun die Vorgänge nach Maßgabe

166
Physica II, 8; 198b 34-36, Übers. H.G. Zekl.

181
Aristoteles von Stageira (384-322)
der Kunstfertigkeit auf Grund des
„wegen etwas“ ablaufen, so ist es
klar, daß auch die Vorgänge ge-
mäß der Natur (dies tun).«
167

Zunächst einmal scheint ein Evolutionsbiologe mit diesem Argument


leichtes Spiel zu haben. Aristoteles sagt hier nichts anderes, als daß
auch der planvoll und mit Absichten vorgehende Mensch sich letztlich
in die Natur integrieren und seine Pläne am Geschehen und den Gege-
benheiten der Natur ausrichten muß. Dies aber tut auch die Natur und
daher erscheint sie in ihrem Vorgehen ebenso mit Zwecken behaftet,
wie der Mensch. Hier jedoch würde unser Biologe ein wenden – und er
könnte sich dabei sogar auf Empedokles stützen –, daß es einen Unter-
schied zwischen dem Schein, einem Zweck zu folgen und dem wirkli-
chen Verfolgen eines Zweckes gibt. Und schon Empedokles’ einfacher
Darwinismus erklärt uns, warum im struggle for life diejenigen Wesen
übrig bleiben, die eben so beschaffen sind, als würden sie für ihr Leben
zweckhaft eingerichtet sein.
Nun hatten wir aber oben gesehen, daß die Trennung zwischen
dem, was von Natur aus entsteht und dem was technisch entsteht in der
Natur gar nicht so leicht ist. Auch in einem Organismus findet in gewis-
ser Weise eine technische Nutzung der Organe durch den Organismus
statt. Wenn wir nun Aristoteles’ zweites Argument noch einmal aus die-
ser Perspektive betrachten, dann erhält es einen leicht veränderten
Sinn, der es durchaus schlagkräftiger macht. Hier besteht nämlich wirk-
lich kein Unterschied mehr zwischen dem Anschein des Planens und
dem menschlichen Planen. Der Organismus sammelt beispielsweise
Informationen über die Nahrung, die er zu sich nimmt und bereitet auf
der Basis dieser Informationen den Magen mit entsprechenden Säuren
auf die Verdauung vor. Wollte man diese in Organismen ablaufenden
Prozesse, bei denen ein Wechselspiel von Information und Aktion
stattfindet, nicht als zweckhaftes Handeln bezeichnen, dann muß man
so reduktionistisch sein und auch dem Menschen die Fähigkeit zu sol-
chem Handeln absprechen.

167
Physica II, 8; 199a 12-18, Übers. H.G. Zekl.

182
Aristoteles von Stageira (384-322)
Wir hatten oben gesehen, daß die causa formalis und die causa
finalis zusammenfallen. Dieser Umstand ist von diesem zweiten Ar-
gument benutzt worden, denn die Informationsverarbeitung ist Teil ei-
ner höheren Form. Wann immer etwas als Information vorliegt, ist die
Informationsebene eine höhere Ebene als diejenige Ebene, von denen
die Informationen handeln. Dies entspricht einfach dem Verhältnis von
Form und Materie.
§ 145 Aristoteles liefert uns nun ein drittes Argument, welches mei-
nes Erachtens sein stärkstes ist und sowohl die Existenz von Zwecken in
der Natur, wie auch die Existenz von Formen nachzuweisen imstande
ist:
e„ d¾ œstin œnia kat¦ tšcnhn ™n oŒj »Wenn es also unter den Er-
tÕ Ñrqîj ›nek£ tou, ™n d to‹j zeugnissen gemäß Kunstfertigkeit
¡martanomšnoij ›neka mšn tinoj welche gibt, bei denen das richti-
™piceire‹tai ¢ll' ¢potugc£netai, ge „wegen etwas“ erreicht ist, bei
Ðmo…wj ¨n œcoi kaˆ ™n to‹j fusiko‹j, den mißlungenen Dingen aber
kaˆ t¦ tšrata ¡mart»mata ™ke…- das „wegen etwas“ wohl versucht,
nou toà ›nek£ tou. aber verfehlt worden ist, dann
dürfte sich das bei den natürli-
chen Dingen ähnlich verhalten,
und Mißbildungen sind Verfeh-
lungen jenes „wegen etwas“.« 168

Fehler und Mißbildungen sind in der Tat der beste Beweis der Existenz
von Zwecken in der Natur. Wenn man davon spricht, daß ein Wesen
eine Mißbildung aufweist, dann hat es diese nur in Bezug auf ein Ideal,
das es zu erreichen trachtete. Wenn es nun aber ein Ideal gegeben hat
und es die Chance gehabt hätte, dieses Ideal zu erreichen, so hätte es
zwingend Informationen über die Form dieses Ideals besitzen müssen.
Die Ausbildung dieser Form, auch wenn sie verfehlt wird oder ganz
scheitert, ist dann aber nichts anderes als das Verfolgen eines Zweckes.
Ebenso ist jeder Fehler, den man einem Naturwesen in seinen Prozes-
sen zuschreibt, ein Hinweis darauf, daß man dieses Naturwesen als ein
an Zwecken orientiertes Wesen ansieht.

168
Physica II, 8; 199b 1-4, Übers. H.G. Zekl.

183
Aristoteles von Stageira (384-322)
Zugleich läßt sich mit diesem Argument die Existenz von Formen
nachweisen. Geht man nämlich von einem ontologischen Flachland
aus, in dem es keine formhaften Stufen gibt, sondern etwa nur Atome,
die sich beliebig verbinden können, wie Demokritos das gemacht hat,
dann darf man nicht von Fehlern sprechen. Die Rede von Fehlern
kommt nämlich der Behauptung von formhafter Stufen gleich, auf der
diese Fehler gemacht werden. In einer Welt der Atome hingegen sind
alle Verbindungen derselben beliebig und weder richtig noch falsch.
Erst wenn etwas beispielsweise ein Tier sein sollte oder könnte, kann es
darin fehlen, ein Tier zu sein oder zu werden.

xv. Die Grundkategorie der Natur


§ 146 Wie wir an der grundlegenden Rolle der vier Ursachen erkennen
können und im ersten Teil bei Aristoteles’ allgemeiner Einteilung der
Wissenschaften gesehen haben, sind die Begriffe der Bewegung
(k…nhsij) und Veränderung (metabol») für ihn die Grundkategorien der
Naturphilosophie. Er unterscheidet zwar noch einmal zwischen beiden,
wir werden aber sehen, daß diese Unterscheidung eher nebensächlich
ist, so daß wir beide Begriffe unter der einen Grundkategorie der
k…nhsij zusammenfassen können. Seine ganze Physica dreht sich um
diesen Begriff der k…nhsij. Daß die Natur dasjenige ist, was in der Lage
ist, sich zu bewegen und zu verändern, dem ist nicht zu widersprechen.
Es ist jedoch fraglich, ob hierin die Grundkategorie des Naturseins ge-
funden ist. Da wir davon ausgehen, daß diese Grundkategorie die Form
ist, so müssen wir sehen, ob sich die verschiedenen Arten der Bewe-
gung und Veränderung auf das Konzept der Form zurückführen lassen.
Die grundlegende Frage ist dabei die, ob man die Natur vor allem als
etwas Unbeständiges oder als etwas Substantielles auffaßt. Vom Antipla-
toniker Aristoteles könnte man zunächst letzteres erwarten. Er zeigt sich
jedoch auch hier wieder als verkappter Platoniker. Wir hingegen kön-
nen die Natur insofern als etwas Substantielles ansehen, als wir dahinter
zu sehen trachten und dort ihr beständiges ideelles Wesen suchen.

184
Aristoteles von Stageira (384-322)
§ 147 Aristoteles listet alle Arten von Veränderung, die er für denkbar
hält, in Buch III seiner Physica auf:
œsti d¾ [ti] tÕ m n ™ntelece…v mÒ- »Es ist also vorhanden das eine
non, tÕ d dun£mei kaˆ ™ntelece…v, allein im Modus der Wirklich-
tÕ m n tÒde ti, tÕ d tosÒnde, tÕ d keit, das andere nach Möglichkeit
toiÒnde, kaˆ tîn ¥llwn tîn toà und Wirklichkeit, eines ist ein
Ôntoj kathgoriîn Ðmo…wj. „dieses da“, anderes ein „so viel“,
anderes „so geartet“ und, was die
übrigen Grundaussageweisen von
„seiend“ angeht, so weiter.«169

Zunächst ist eine Hinsicht, die Aristoteles hier an der Veränderung


ausmacht, die Frage, ob diese im Modus der Möglichkeit oder Wirk-
lichkeit stattfindet. Diese Hinsicht können wir jedoch als Einteilungskri-
terium vernachlässigen, zumal der Übergang von der Möglichkeit zur
Wirklichkeit sogleich in anderer Weise thematisch werden wird. Eine
wesentliche Hinsicht der Einteilung der Arten der Veränderung bilden
dann die Kategorien. Für jede Kategorie, so meint er, müsse es eine
Form der Veränderung geben. Das ist ein sehr logischer Gedanke; sind
doch die Kategorien prinzipielle Hinsichten der Betrachtung der Din-
ge. Wenn also Naturdinge wesentlich dadurch charakterisiert sind, daß
sie sich verändern, dann bilden diese kategorialen Hinsichten eben die
möglichen Formen der Veränderung.
Wie lassen sich nun diese Hinsichten auf die unterschiedlichen
Formen zurückführen? Dazu ist zunächst einmal ein wichtige Unter-
scheidung nötig. Nicht alle Kategorien sind rein logische Kategorien.
oÙs…a, posÒj und poiÒj sind zwar logische Kategorien, poÝ verweist je-
doch eindeutig auf raumzeitliches Sein der Natur. Wir werden also
zum einen diejenigen von diesen Kategorien abhängenden Arten der
Veränderung, die von rein logischen Kategorien abgeleitet sind, auf all-
gemeine Strukturen des Naturseins zurückführen können, die andere
jedoch auf eine konkrete Form in der Natur, da sie von einer solchen
Formen abgeleitet ist.

169
Physica III, 1; 200b 26-28, Übers. H.G. Zekl.

185
Aristoteles von Stageira (384-322)
§ 148 Wenn wir mit der oÙs…a beginnen, so taucht sofort eine
scheinbare Schwierigkeit auf. Nach Aristoteles kann es keine Bewegung
hinsichtlich der Form geben:
Kat' oÙs…an d' oÙk œstin k…nhsij »Bezüglich des Wesens gibt es
di¦ tÕ mhd n e nai oÙs…v tîn Ôntwn keine Bewegung, da nichts Sei-
™nant…on. endes dem Wesen entgegenge-
setzt ist.«
170

Eine Bewegung der Form kann es deswegen nicht geben, da Formen


substantielle Größen sind, die keine Gegensätze haben. Etwas kann sich
nicht von einer Form zur anderen bewegen und dabei eventuell noch
Mittelwerte durchlaufen. Formen sind diskrete Größen, die einem Na-
turding entweder zukommen oder nicht. Damit aber ist zumindest doch
eine Art von Veränderung (metabol») beschrieben, die auch auf For-
men zutreffen kann, nämlich der Übergang von Möglichkeit zu Wirk-
lichkeit oder auch vom Sein zum Nichtsein. Es zeigt sich hier also bei
genauer Betrachtung, daß die von Aristoteles gemacht Unterscheidung
von metabol» und k…nhsij von uns vernachlässigt werden kann.
Ist nun hier das Moment der Veränderung bestimmend, oder das
Moment der Form? Eine Veränderung in der Hinsicht der oÙs…a ist ei-
ne Veränderung ums Ganze, die ein Naturding als tÒde ti betrifft; hier
geht es um Entstehen und Vergehen und das kann eben als Übergang
von einer bloßen Möglichkeit zu einer Wirklichkeit aufgefaßt werden.
Es ist somit also nicht der Umstand der Veränderung, der hier bestim-
mend ist, sondern die Frage nach dem Vorliegen einer bestimmten
Form. Anders formuliert: Wenn eine Form entsteht, dann entsteht sie
deshalb, weil sie als Form in der Lage ist, die von ihr geordnete Materie
entsprechend zu formen. Es ist also nicht eine Veränderung, welche ei-
ne Form entstehen läßt, sondern das Aktivwerden der Form bedingt die
Veränderung. Eben dies war meines Erachtens auch der Hauptgedanke
der aristotelischen Kritik an Empedokles, mit der wir uns oben beschäf-
tigt haben.

170
Physica V, 2; 225b 10-11

186
Aristoteles von Stageira (384-322)

§ 149 Das nämliche Argument läßt sich für den Fall derjenigen Ver-
änderung anführen, die von der Kategorie des poiÒj abhängt. Wenn ein
Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft erhält, dann betrifft das entwe-
der seine wesentliche Form, oder eben eine akzidentelle Eigenschaft.
Der erstere Fall deckt sich mit dem vorher diskutierten. Im zweiten Fall
findet sich an dieser Form etwas, was nicht nötig wäre, was aber auf je-
den Fall selbst auch eine Form besitzt. Die Veränderung, das Entstehen
und Vergehen dieser Subform hat aber dieselbe Gestalt, wie die Verän-
derung der höchsten Form eines Naturwesen. Also ist auch hier die
Form-Perspektive für die Veränderung bestimmend.
Bei der als Wachstum und Verminderung bezeichneten Verände-
rung, welche die Hinsicht des posÒj ausmacht haben wir es im Grunde
entweder mit einer getarnten Form der Ortsveränderung oder dem
Entstehen und Vergehen zu tun. Denn wenn etwas vermindert wird, so
heißt das bloß, daß ein Teil von ihm aufhört ein solcher Teil zu sein.
Das kann durch Ortsveränderung oder durch Vergehen dieses Teils
geschehen. Der zweite Fall entspricht den obigen und den ersten wer-
den wir sogleich behandeln.
Die Ortsveränderung nun, die von Aristoteles aus der Kategorie des
poÝ hergeleitet wird, scheint eine genuine Art der Veränderung zu sein.
Hier müssen wir uns fragen, was Raum ist. Da wir nun – anders als Ari-
stoteles – davon ausgehen wollen, daß nicht die Naturdinge in einem
leeren Raum sind, sondern vielmehr, daß der Raum bloß als Vorstel-
lung der abstraktesten Naturdinge existiert, so ist die Ortsveränderung
nicht einmal eine Veränderung einer Form, sondern gar nur die Aktion
einer bestimmten Form. Wir haben uns oben bei der Diskussion des
aristotelischen Raumbegriffs bereits mit dieser Frage beschäftigt. Dieser
Gedanken hat hier gleichwohl noch einen sehr spekulativen Charakter.
Einzig bei Ekphantos haben wir bislang Ansätze zu einem solchen Ge-
danken gefunden, der hier daher leider noch nicht zureichend entwik-
kelt ist.
Als grundlegende Kategorie des Naturseins müssen wir also die
Form und nicht die Veränderung ansehen. Es ist zwar eine Gemein-
samkeit aller Naturformen, veränderbar zu sein. Doch diese Gemein-

187
Aristoteles von Stageira (384-322)
samkeit schulden sie dem Umstand, daß sie eben als Naturformen nicht
die Perfektion des Systems der Ideen aufweisen, nach der sie gleich-
wohl streben.

xvi. Die Ordnung der Elemente


§ 150 Wenn wir nun zur Betrachtung konkreter Formen in der Natur
übergehen, so stoßen wir zunächst auf die Elemente. Aristoteles kennt
hier ebenso wie Philippos fünf Elemente. Im Unterschied zu Philippos’
Ansatz können wir jedoch bei Aristoteles die Naturalisierung des Plato-
nismus ganz gut studieren. Werden bei Philippos die Elemente als
Sinnbilder und spezifische Materie verschiedener Seinsstufen zwischen
dem Menschen und der Weltseele aufgefaßt, so kommt es bei Aristo-
teles unter Beibehaltung der Struktur zu einer Abschaffung aller mythi-
schen Elemente.
In De caelo unterscheidet Aristoteles zunächst zwei Formen der
Bewegung, nämlich die kreisförmige und die lineare und sieht in dieser
Unterscheidung eine prinzipielle Einteilung der Arten der Elemente.
Die kreisförmige Bewegung nämlich ist eine ewige Bewegung, so daß
sowohl die Bewegung wie auch die auf diese Art bewegten Körper ewig
sind.
`Omo…wj d' eÜlogon Øpolabe‹n perˆ »Es ist ebenso richtig von ihnen
aÙtoà kaˆ Óti ¢gšnhton kaˆ ¥fqar- [den kreisförmig bewegten Kör-
ton kaˆ ¢naux j kaˆ ¢nallo…wton, pern] anzunehmen, daß sie so-
di¦ tÕ g…gnesqai m n ¤pan tÕ wohl unentstanden und unzer-
gignÒmenon ™x ™nant…ou te kaˆ Øpo- störbar als auch unvermehrbar
keimšnou tinÒj, kaˆ fqe…resqai æs- und unveränderbar sind, weil al-
aÚtwj Øpokeimšnou tš tinoj kaˆ Øp' les, was entsteht, seine Entste-
™nant…ou kaˆ e„j ™nant…on, kaq£per hung aus dem Gegenteil und in
™n to‹j prètoij e‡rhtai lÒgoij· tîn einem Zugrundeliegenden nimmt
d' ™nant…wn kaˆ aƒ foraˆ ™nant…ai. und ebenso in einem Zugrunde-
liegenden durch ein Gegenteili-
E„ d¾ toÚtJ mhd n ™nant…on
ges, das auf ein Gegenteiliges
™ndšcetai e nai di¦ tÕ kaˆ tÍ for´
wirkt, vergeht, wie in der anfäng-
tÍ kÚklJ m¾ e nai ¥n tin' ™nant…an
lichen Erörterung ausgeführt. Die
k…nhsin, Ñrqîj œoiken ¹ fÚsij tÕ
Bewegungen der Gegenteile aber
mšllon œsesqai ¢gšnhton kaˆ ¥f-
sind entgegengesetzt. Wenn es zu
qarton ™xelšsqai ™k tîn ™nant…wn· diesem [Körper] nun kein Ge-

188
Aristoteles von Stageira (384-322)
™n to‹j ™nant…oij g¦r ¹ gšnesij kaˆ genteil gibt, weil es zur Kreisbe-
¹ fqor£. wegung keine entgegengesetzte
Bewegung gibt, so hat die Natur
zurecht vor Gegenteilen bewahrt,
was unentstanden und unzerstör-
bar sein soll. Denn in den Gegen-
teilen liegt Entstehung und Zer-
störung.« 171

Der Grund dafür, daß die Kreisbewegung ewig ist, liegt also darin, daß
es im Gegensatz zur linearen Bewegung bei der Kreisbewegung keine
Gegenbewegung gibt. Man könnte zwar denken, auch die Kreis-
bewegung habe eine Gegenbewegung, eben die Bewegung anders her-
um im Kreis, aber diese Bewegung muß Aristoteles in seinem kosmi-
schen Modell, das wir noch kennenlernen werden, nicht als Gegenbe-
wegung ansehen. Denn wenn sich etwas anders herum im Kreis bewegt,
so bleibt es in der selben Sphäre. Bewegt es sich hingegen linear, so
sinkt es herab oder steigt auf.
§ 151 Es ist daher klar, daß die Kreisbewegung jenen Körpern vor-
behalten ist, die ewig bewegt sind, also den Planeten und Gestirnen. Als
ewig Bewegtes stehen sie somit nicht nur räumlich, sondern auch on-
tologisch über den gewöhnlichen Naturdingen:
'All¦ m¾n kaˆ prèthn ge ¢n- »Außerdem ist diese Bewegung
agka‹on e nai t¾n toiaÚthn for£n. [die kreisförmige] notwendig
TÕ g¦r tšleion prÒteron tÍ fÚsei auch die frühere. Denn das Voll-
toà ¢teloàj, Ð d kÚkloj tîn te- endete ist von Natur aus früher
le…wn, eÙqe‹a d gramm¾ oÙdem…a· als das Unvollendete, der Kreis
aber gehört zum Vollendeten,
keinesfalls aber die Linie.«
172

Die kreisförmigen Bewegungen und daher auch diejenigen Körper, die


sie vollziehen, sind für Aristoteles perfekter, als die linearen Bewegun-
gen. Sie betreffen also eine Sphäre, die der Welt des körperlichen in
gewisser Weise entrückt ist, obschon sie noch denselben Naturgesetzen
gehorchen.

171
De caelo I, 3; 270a 12-22
172
De caelo I, 2; 269a 18-21

189
Aristoteles von Stageira (384-322)
Um die ontologische Überlegenheit dieser himmlischen Welt der
Planeten und Gestirne mit dem Umstand in Einklang zu bringen, daß
auch diese ontologisch höherstehenden Dinge nicht wie bei Platon eine
rein ideelle Wesenheit sind, sondern trotzdem bewegte Körper bleiben,
muß Aristoteles sie noch in einer anderen Hinsicht von den irdischen
Körpern unterscheiden, nämlich in Hinsicht ihrer körperlichen Sub-
stanz (oÙs…a sèmatoj). Da sich nämlich die in unserer natürlichen Um-
gebung vorkommenden Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde nicht
natürlicherweise im Kreis bewegen, und alles aus diesen Elementen be-
stehende vergänglich ist, so muß für Aristoteles ein weiteres Element
geben, dessen natürliche Bewegung die Kreisbewegung ist und aus dem
folglich unvergängliche Körper gebildet sein können.
”Ek te d¾ toÚtwn fanerÕn Óti »Aus diesen [Überlegungen] zeigt
pšfukš tij oÙs…a sèmatoj ¥llh sich, daß es in der Natur eine
par¦ t¦j ™ntaàqa sust£seij, körperliche Substanz mit einem
qeiotšra kaˆ protšra toÚtwn anderen Bestand als die hiesigen
¡p£ntwn gibt, die göttlicher und früher als
all diese ist.«
173

Dieses Element, das damit die Substanz des Göttlichen ausmacht, be-
stimmt Aristoteles im Anschluß an die Tradition als Äther (a„qšr):
DiÒper æj ˜tšrou tinÕj Ôntoj toà »Weil der erste Körper ein ande-
prètou sèmatoj par¦ gÁn kaˆ pàr res Sein als Erde, Feuer, Luft
kaˆ ¢šra kaˆ Ûdwr, a„qšra pros- und Wasser habe, benannten sie
wnÒmasan tÕn ¢nwt£tw tÒpon, [Denker vor Aristoteles] den
¢pÕ toà qe‹n ¢eˆ tÕn ¢ dion crÒnon höchsten Ort als Äther, ihm die-
qšmenoi t¾n ™pwnum…an aÙtù. se Bezeichnung beilegend, weil er
sich immer für ewige Zeit be-
wegt.« 174

Aristoteles erfindet das Element des a„qšr hier also nicht neu, sondern
borgt es von nicht näher benannten Vordenkern. Damit übernimmt er
zunächst auch ausdrücklich die mythische Konnotation dieses Aus-
drucks, der eben von jenen Vordenkern als die Substanz des Göttlichen
bestimmt worden sei.

173
De caelo I, 2; 269a 30-32
174
De caelo I, 3; 270b 20-24

190
Aristoteles von Stageira (384-322)
Zunächst heißt dies, daß der a„qšr in gewisser Weise der Naturge-
setzlichkeit enthoben ist. Dies ist er insofern, als ihm nach Aristoteles
ausdrücklich keine Schwere zukommt.
BarÝ m n oân œstw tÕ fšresqai »Als schwer wird dasjenige be-
pefukÕj ™pˆ tÕ mšson, koàfon d tÕ zeichnet, was sich von Natur aus
¢pÕ toà mšsou zum Zentrum bewegt, als leicht,
was sich vom Zentrum wegbe-
wegt.«175

Die Definition der Schwere und der Leichtigkeit trifft also nur auf die-
jenigen Elemente zu, die sich linear bewegen. Der a„qšr ist aufgrund
seiner natürlichen Kreisbewegung kein Teil dieser Natur, die durch ein
Hin und Her ihrer Bewegungen aufgrund des Ausgleichs der Schwere-
verhältnisse bestimmt ist. Dennoch ist der a„qšr eben aufgrund seiner
natürlichen Bestimmtheit den unter den anderen Elementen herr-
schenden Naturgesetzen entzogen. Es ist also keine mythische Eigen-
schaft, die den a„qšr zu etwas Besonderem macht, sondern seine eigene
natürliche Eigenschaft als eine besondere Substanz.
§ 152 Daher braucht Aristoteles nicht unbedingt einen Vergleich
der Planeten und Gestirne mit Göttern vorzubringen, um deren Son-
derstellung zu begründen. Im Gegenteil versucht er sogar zu zeigen, daß
der Himmel nicht nur keiner Weltseele bedarf um in Bewegung zu
bleiben, sondern daß er sogar gar keine haben kann, weil seine Existenz
dem Sein einer Seele völlig zuwider wäre:
'All¦ m¾n oÙd' ØpÕ yucÁj eÜlogon »Noch ist es wahrscheinlich, daß
¢nagkazoÚshj mšnein ¢ dion· oÙd er [der Himmel] durch Zwang
g¦r tÁj yucÁj oŒÒn t' e nai t¾n toi- einer Seele ewig fortbesteht.
aÚthn zw¾n ¥lupon kaˆ makar…an· Denn ein solches ist nicht das
¢n£gkh g¦r kaˆ t¾n k…nhsin met¦ schmerzfreie und glückselige Le-
b…aj oâsan, e‡per kine‹ fšresqai ben der Seele: Denn Zwang und
pefukÒtoj toà prètou sèmatoj Bewegung mit Gewalt wird der
¥llwj kaˆ kine‹ sunecîj, ¥scolon natürlicherweise anderen Be-
e nai kaˆ p£shj ¢phllagmšnhn wegung des ersten Körpers ange-
·astènhj œmfronoj, e‡ ge mhd' tan und er wird ununterbrochen
ésper tÍ yucÍ tÍ tîn qnhtîn bewegt, ohne Muße und von je-

175
De caelo I, 3; 269b 23-24

191
Aristoteles von Stageira (384-322)
zówn ™stˆn ¢n£pausij ¹ perˆ tÕn der vernünftigen Erholung ge-
Ûpnon ginomšnh toà sèmatoj ¥ne- trennt seiend, wenn es selbst
sij, ¢ll' ¢nagka‹on 'Ix…onÒj tinoj nicht, wie bei der Seele der
mo‹ran katšcein aÙt¾n ¢ dion kaˆ sterblichen Lebewesen, die Rast
¥truton. des Körpers gibt, die durch den
Schlaf entsteht, sondern sie ewig
und unablässig das Schicksal je-
nes Ixions teilt.« 176

Hätte also der Himmel eine Seele, so erginge es dieser wie dem mythi-
schen Ixion, der von Zeus wegen mehrerer Vergehen bestraft an ein
brennendes Rad gebunden wurde, das sich ewig am Himmel bewegt.
Zur Seele gehört eben wesentlich, daß sie Entscheidungen treffen und
Dinge tun kann. Dies kann aber der Himmel nicht. Daher lehnt Aristo-
teles die Vorstellung des Himmels als eines Ortes, an dem sich die
Weltseele befindet, ab.
Das ist aber für Aristoteles keineswegs eine Abwertung der Dignität
der Himmelsbewegungen, die er ja nach wie vor als etwas göttliches an-
sieht. Vielmehr braucht der Himmel, gerade weil er perfekter ist als die
Seele, die Vielheit von Möglichkeiten und die unsägliche Unberechen-
barkeit eines Körpers, der von einer mit Willensfreiheit ausgestatteten
Seele gelenkt wird, gar nicht:
'All' ¹me‹j æj perˆ swm£twn »Aber wir haben ihrer (der
aÙtîn mÒnon, kaˆ mon£dwn t£xin Himmelskörper) bislang nur als
m n ™cÒntwn, ¢yÚcwn d p£mpan, Körper gedacht, die zwar geord-
dianooÚmeqa· de‹ d' æj metecÒntwn nete Einheiten, aber vollkommen
Øpolamb£nein pr£xewj kaˆ zwÁj· unbeseelt sind: Es aber nicht
oÛtw g¦r oÙq n dÒxei par£logon zwingend, sie als an Handlung
e nai tÕ sumba‹non. ”Eoike g¦r tù und Leben teilhabend zu den-
m n ¥rista œconti Øp£rcein tÕ eâ ken: Denn diesbezüglich er-
¥neu pr£xewj scheint das Folgende nicht als
Überraschung. Denn es scheint
dem Besten vergönnt zu sein, das
Gute ohne Handeln zu haben.« 177

176
De caelo II, 1; 284a 27-35
177
De caelo II, 12; 292a 18-23

192
Aristoteles von Stageira (384-322)
Daß also die Himmelskörper ohne viel Handeln ihr Ziel erreichen, ist
gerade Ausdruck ihrer Perfektion. Inhaltlich ist das nur allzu verständ-
lich, denn bei der immerwährenden Kreisbewegung ist keine beson-
derne Handlung von Nöten, zumal, wie wir erfahren haben, dies ja die
natürliche Bewegung der im Himmel befindlichen Substanz, des a„qšr,
ist.
§ 153 Gleichwohl enthält diese einfache Bewegung der Himmels-
körper die weniger perfekte der natürlichen Dinge:
DiÒper kalîj œcei sumpe…qein »Daher tut man gut daran, sich
˜autÕn toÝj ¢rca…ouj kaˆ m£lista von der Wahrheit der alten und
patr…ouj ¹mîn ¢lhqe‹j e nai am meisten angestammten An-
lÒgouj, æj œstin ¢q£natÒn ti kaˆ sichten zu überzeugen, daß es
qe‹on tîn ™cÒntwn m n k…nhsin, unter dem Bewegung habenden
™cÒntwn d toiaÚthn éste mhq n etwas Unsterbliches und Göttli-
e nai pšraj aÙtÁj, ¢ll¦ m©llon ches gibt, das eine Bewegung hat,
taÚthn tîn ¥llwn pšraj· tÒ te eine solche aber, die keine Gren-
g¦r pšraj tîn periecÒntwn ™st…, ze hat, sondern vielmehr selbst
kaˆ aÛth tšleioj oâsa perišcei t¦j die Grenze aller anderen ist:
¢tele‹j kaˆ t¦j ™coÚsaj pšraj kaˆ Denn die Grenze ist etwas Um-
paàlan, aÙt¾ m n oÙdem…an oÜt' fassendes und sie [die Bewegung]
¢rc¾n œcousa oÜte teleut»n, ¢ll' umfaßt als perfektes die Unper-
¥paustoj oâsa tÕn ¥peiron crÒnon, fekten, die eine Grenze und ein
tîn d' ¥llwn tîn m n a„t…a tÁj Ende haben, während sie selbst
¢rcÁj, tîn d decomšnh t¾n weder Anfang noch Ende hat,
paàlan. sondern unaufhörlich für endlose
Zeit den anderen, für einige die
Ursache des Anfangs, für andere
das Ziel ist.«
178

Aristoteles schwört also der Emanationstheorie keineswegs ab, sondern


geht nach wie vor davon aus, daß das Perfektere, welches wie bei den
Platonikern – und nach Aristoteles’ Zeugnis gar noch älteren Denkern
– die Bewegung der Himmelskörper ist, das weniger Perfekte in sich
enthält.

178
De caelo II, 1; 284a 2-11

193
Aristoteles von Stageira (384-322)
§ 154 Damit stehen wir zunächst vor einem Problem. Wie kann die
ganz und gar einfache und an struktureller Komplexität so gut wie nichts
aufweisende Bewegung der Himmelskörper diejenige eines beseelten
Körpers enthalten? Zunächst können wir festhalten, daß wir bei den Plato-
nikern auf das nämliche Problem hätten stoßen müssen, denn die Platoni-
ker behaupten inhaltlich im Grunde dasselbe. Nur eben ist der Unter-
schied bei den Platonikern der, daß sie nicht den Versuch einer komplet-
ten Naturalisierung der Himmelsbewegungen machen. Wenn sie diese als
Ausdruck der Weltseele beschreiben, dann lassen sie damit zugleich Platz
für ein interpretatorisches Niemandsland, in dem man all dasjenige veror-
ten kann, was wir den Seelen gegenüber den Planeten an struturellem Sur-
plus zuschreiben. Die Planetenbewegungen bleiben bei den Platonikern
sozusagen nur eine Metapher für das Seelische, ebenso wie die Kreisbewe-
gung bei ihnen nur eine Metapher für die Perfektion bleibt. Das Substanti-
elle sind nicht die Himmelskörper, es ist die Weltseele selbst und wir kön-
nen den Platonikern nicht vorwerfen, diese zwar theoretisch zu postulieren,
sie aber nur metaphorisch beschreiben zu können.
Anders sieht die Sache bei Aristoteles aus. Aristoteles naturalisiert den
ganzen Bereich der Astronomie und macht ihn zum Gegenstand einer
physikalischen Betrachtung, die ausdrücklich vom Himmel und nicht von
einer Weltseele handelt. Wenn er nun zumindest implizit behauptet, das
Seelische müßte sich dennoch aus den Bewegungen der Himmelskörper
erklären lassen, so macht er sich eines Reduktionismus schuldig, denn er
versucht hier das Komplexere auf etwas Einfaches zurückzuführen und
damit dessen Komplexität zu leugnen und zu beseitigen.
§ 155 Es gibt jedoch zwei Umstände, die diesen Reduktionismus des
Aristoteles an dieser Stelle ganz und gar unschädlich machen. Der eine
Umstand liegt darin, daß wir in seinen Schriften eine sehr elaborierte See-
lenlehre finden, die keineswegs kurzen Prozeß mit allem Seelischen macht,
sondern dessen Komplexität durchaus gerecht zu werden versucht. Aristo-
teles mag also zwar hier andeuten, daß sich die Bewegung des Seelischen
auf diejenigen der Himmelskörper zurückführen lassen, er verzichtet aber
an entscheidender Stelle auf die Ausführung des damit verbundenen Pro-
jektes. Der Reduktionismus ist somit nur ein theoretischer, der aber prak-
tisch nicht umgesetzt wird.

194
Aristoteles von Stageira (384-322)
Der zweite Umstand, der den aristotelischen Reduktionismus entlastet
liegt einfach darin, daß die Vorstellung von einer Weltseele in der Form, in
der sie uns bislang präsentiert worden ist, ganz und gar unsinnig ist. Eine
idealistische Philosophie kann getrost auf die Annahme einer Weltseele,
die über dem menschlichen Geist steht, verzichten. Wenn Aristoteles da-
her die traditionell als Heimat der Weltseele verstandene Sphäre der Pla-
neten und Gestirne auf einen rein physikalische Sachverhalt reduziert, so
hat er damit dem idealistischen Denken einen großen Dienst getan.
§ 156 Was sich nun aber nach Aristoteles aus der Bewegung der
Himmelskörper herleiten läßt, ist das Verhalten und die Ordnung der üb-
rigen Elemente. Um zu sehen, wie sich Aristoteles dies vorstellt, müssen
wir jedoch recht weit ausholen. Das lohnt sich jedoch an dieser Stelle, da
Aristoteles’ Naturphilosophie zur Grundlage so vieler Ansätze in der Gei-
stesgeschichte geworden ist.
Zunächst müssen wir uns mit der Ordnung derjenigen Elemente be-
schäftigen, die nicht wie der a„qšr ewig sind, sondern vergänglich. Aristote-
les setzt diese Elemente nicht wie Empedokles als immerwährende Grö-
ßen voraus, sondern er leitet sie aus verschiedenen Naturgegebenheiten ab.
Dabei spielt vor allem die Bewegung als Grundbegriff der Naturphiloso-
phie eine tragende Rolle. Die erste Unterscheidung, die er trifft, ist daher
sogleich eine solche, die sich auf den Bewegungsbegriff zurückführen läßt
und die obige Betrachtung des a„qšr vervollständigt. War der a„qšr als ein
Element bestimmt worden, das sich von Natur aus kreisförmig bewegt, so
war in der Folge dieser Bewegungsform die Existenz einer linearen Bewe-
gung postuliert worden. Diese lineare Bewegung teilt Aristoteles in zwei
Bewegungsformen ein, die Aufwärts- und die Abwärtsbewegung:
T¦ m n g¦r ¢eˆ pšfuken ¢pÕ toà »Denn die einen bewegen sich
mšsou fšresqai, t¦ d' ¢eˆ prÕj tÕ von Natur aus vom Zentrum weg,
mšson. ToÚtwn d tÕ m n ¢pÕ toà die anderen aber immer zum
mšsou ferÒmenon ¥nw lšgw fšres- Zentrum hin. Von diesen aber
qai, k£tw d tÕ prÕj tÕ mšson. nenne ich die Bewegung vom
Zentrum weg aufwärts und die zu
ihm hin abwärts.« 179

179
De caelo IV, 2; 308a 14-17

195
Aristoteles von Stageira (384-322)
Wir sehen also, daß beide Bewegungen durchaus von der Kreisbewe-
gung abhängen und abgeleitet sind, denn sie sind relativ zu einem Zen-
trum definiert. Dieses Zentrum aber ist der Mittelpunkt des durch die
Kreisbewegung beschriebenen Kreises.
§ 157 Diese linearen Bewegungsformen ermöglichen es Aristoteles
dann, die Unterscheidung von schwer und leicht als eine Eigenschaft
einzuführen, die Körper aufgrund ihrer natürlichen Bewegungstendenz
haben:
`Aplîj m n oân koàfon lšgomen tÕ »Schechthin leicht nennen wir
¥nw ferÒmenon kaˆ prÕj tÕ œsca- das sich nach oben und zum Äu-
ton, barÝ d ¡plîj tÕ k£tw kaˆ ßersten Bewegende, schlechthin
prÕj tÕ mšson· prÕj ¥llo d koàfon schwer aber das nach unten und
kaˆ koufÒteron, Óte, duo‹n ™cÒn zur Mitte hin; mit Leicht aber
twn b£roj kaˆ tÕn Ôgkon ‡son, und leichter, daß von zwei [Kör-
k£tw fšretai q£teron fÚsei pern], deren Gewicht und Masse
q©tton. gleich ist, der eine in seiner na-
türlichen Abwärtsbewegung
schneller ist.«
180

Wir müssen uns also das aristotelische Universum als eine Kugel vor-
stellen, deren Oberfläche die Kreisbahnen der Himmelskörper bilden
und deren inneres je nach Schwere – also Bewegungstendenz – der
Elemente geschichtet ist.
oŒon fa…netai purÕj m n tÕ tucÕn »So zeigt sich, daß Feuer in be-
mšgeqoj ¥nw ferÒmenon, ™¦n m» ti liebiger Größe nach oben steigt,
tÚcV kwlàon ›teron, gÁj d k£tw· solange nicht anderes es daran
tÕn aÙtÕn d trÒpon kaˆ q©tton tÕ hindert, Erde aber nach unten; so
ple‹on. ”Allwj d barÝ kaˆ koà- verhält es sich und [gar] schneller
fon, oŒj ¢mfÒtera Øp£rcei· kaˆ ist es als mehreres. Anders aber
g¦r ™pipol£zous… tisi kaˆ Øf…stan- Schwere und Leichtigkeit bei de-
tai, kaq£per ¢¾r kaˆ Ûdwr· ¡plîj nen, denen beides zukommt:
m n g¦r oÙdšteron toÚtwn koàfon À denn sie steigen sowohl höher als
barÚ· gÁj m n g¦r ¥mfw koufÒ- einige, sinken aber auch tiefer,
tera (™pipol£zei g¦r aÙtÍ tÕ wie etwa Luft und Wasser. Kei-
tucÕn aÙtîn mÒrion), purÕj d nes von diesen ist schlechthin
barÚtera (Øf…statai g¦r aÙtîn leicht oder schwer; beide sind

180
De caelo IV, 2; 308a 29-33

196
Aristoteles von Stageira (384-322)
ÐpÒson ¨n Ï mÒrion), prÕj ˜aut¦ d zwar leichter als Erde (denn ein
¡plîj tÕ m n barÝ tÕ d koàfon· beliebiger Teil von ihnen steigt
¢¾r m n g¦r ÐpÒsoj ¨n Ï, höher als diese) aber schwerer als
™pipol£zei Ûdati, Ûdwr d ÐpÒson Feuer (denn ein beliebiger Teil
¨n Ï, ¢šri Øf…statai. von ihnen sinkt tiefer als es); für-
einander sind sie jedoch das eine
schlechthin leicht, das andere
schwer; Luft in beliebiger Quanti-
tät steigt höher als Wasser, Was-
ser aber sinkt in beliebiger Quan-
tität tiefer als Luft.«
181

Die beiden Extreme der Bewegung nach oben und nach unten bilden
die Erde, die sich immer zum Zentrum bewegt – ein geozentrisches
Weltbild ist hier mithin das einzig denkmögliche – und das Feuer, daß
immer nach oben zur Grenze des Bereichs des endlichen Seins steigt.
Dazwischen findet sich das Wasser, was leichter als Erde aber schwer
als Luft ist, wobei letztere schwerer als Feuer aber leichter als Wasser
ist.

a„qšr

pàr
¢¾r
Ûdwr

gÁj

181
De caelo IV, 4; 311a 19-29

197
Aristoteles von Stageira (384-322)
Idealtypisch ordnen sich folglich die Elemente in fünf verschiedenen
Sphären. Was Aristoteles hier also geleistet hat, ist eine Art Systemati-
sierung und Erweiterung der bei Platon angedeuteten Ordnung der
Elemente.
§ 158 Wir werden nun sehen, daß er auch Platons Überlegungen
zum Übergang der Elemente ineinander zu systematisieren versucht,
dabei aber dessen geometrische Spekulationen völlig vernachlässigt und
sich ganz auf den konservativen Ansatz konzentriert. Die Elemente
würden sich nämlich nicht mischen, gäbe es da nicht eine weitere Be-
wegung, nämlich die Verwandlung der Elemente ineinander. Das Ent-
stehen eines Elementes aus einem anderen führt dann dazu, daß dieses
neu entstandene Element seinem neuen natürlichen Ort zustrebt.
Wie dieser Übergang von einem Element in ein anderes zu denken
ist, beschreibt Aristoteles in De generatione et corruptione. Zunächst
stellt er hierzu fest, welcher Aspekt der Dinge überhaupt veränderbar
ist:
diaforaˆ tîn stoice…wn e„s…n, »Veränderungen sind Sache der
lšgw d' oŒon qermÕn yucrÒn, leukÕn Elemente, ich meine solcherart
mšlan, xhrÕn ØgrÒn, malakÕn wie heiß-kalt, weiß-schwarz, trok-
sklhrÕn kaˆ tîn ¥llwn ›kaston ken-feucht, weich-hart und ande-
re dergleichen.«182

Es sind also nur die Elemente, die sich ändern können. Das aber, was
sich an einem Element ändert, ist eine oder sind mehrere der hier auf-
gelisteten Eigenschaften. Aristoteles bestimmt nun einige dieser Eigen-
schaften als grundlegend für die Elemente:
De‹ d poihtik¦ kaˆ paqhtik¦ e nai »Es ist nötig, daß die Elemente
¢ll»lwn t¦ stoice‹a· m…gnutai aktiv und passiv sind; denn sie
g¦r kaˆ metab£llei e„j ¥llhla. verbinden sich und verwandeln
QermÕn d kaˆ yucrÕn kaˆ ØgrÕn kaˆ sich ineinander. Von heiß und
xhrÕn t¦ m n tù poihtik¦ e nai t¦ kalt aber, sowie von feucht und
d tù paqhtik¦ lšgetai· trocken sind die einen aktiv, die
anderen werden für passiv gehal-
ten.« 183

182
De generatione et corruptione I, 1; 314b 18-20
183
De generatione et corruptione II, 2; 329b 21-25

198
Aristoteles von Stageira (384-322)
Die Eigenschaften, welche für die Elemente zentral sind, müssen also
aktive Eigenschaften sein, das heißt solche, die auf andere Elemente
wirken, weil sie sich mit anderen verbinden und Teil größerer Körper
werden können. Aristoteles sieht die Aktivität im Unterschied von heiß
(qermÒn) und kalt (yucrÒn) gegeben. Das einzige plausible Argument da-
für ist, daß Hitze und Kälte von einem Körper auf den anderen über-
tragen werden kann. Passiv müssen die Elemente aber sein, weil sie in-
einander übergehen können, weil also aus einem Element ein anderes
entstehen können muß. Diese Eigenschaft sieht er im Unterschied von
trocken (xhrÒn) und feucht (ØgrÒn) gegeben, da das Feuchte etwas belie-
big formbares und das Trockene etwas begrenzbares ist. Diese Argu-
mente müssen uns aber hier im Detail nicht hinsichtlich ihrer Haltbar-
keit beschäftigen, da es hier nur um eine Darstellung des aristotelischen
Gedankenganges geht.
§ 159 Aus diesen Eigenschaften leitet Aristoteles nun die vier Ele-
mente her, die alle denkbaren Permutationen dieser Eigenschaften ab-
decken:
fanerÕn Óti tšttarej œsontai aƒ »Es zeigt sich, daß die Verbin-
tîn stoice…wn suzeÚxeij, qermoà dungen der Elemente vier sind,
kaˆ xhroà, kaˆ qermoà kaˆ Øgroà, heiß und trocken, sowie heiß
kaˆ p£lin yucroà kaˆ Øgroà, kaˆ und feucht und wiederum kalt
yucroà kaˆ xhroà. Kaˆ ºkoloÚqhke und feucht, sowie kalt und trok-
kat¦ lÒgon to‹j ¡plo‹j faino- ken. Und logischerweise folgt,
mšnoij sèmasi, purˆ kaˆ ¢šri kaˆ daß sie in den einfachen Kör-
Ûdati kaˆ gÍ· tÕ m n g¦r pàr qer- pern, Feuer, Luft, Wasser und
mÕn kaˆ xhrÒn, Ð d' ¢¾r qermÕn kaˆ Erde erscheinen. Das Feuer ist
ØgrÒn (oŒon ¢tmˆj g¦r Ð ¢»r), tÕ d' heiß und trocken, die Luft heiß
Ûdwr yucrÕn kaˆ ØgrÒn, ¹ d gÁ und feucht (denn Luft ist eine Art
yucrÕn kaˆ xhrÒn von Dunst), das Wasser kalt und
feucht, die Erde kalt und trok-
ken.« 184

Hierbei handelt es sich nicht um eine Reduktion der Elemente auf die-
se Eigenschaften. Zwar bestimmen die Eigenschaften vollends, um wel-
ches Element und damit um welche Substanz es sich bei etwas handelt,

184
De generatione et corruptione II, 3; 330a 33 – 330b 5

199
Aristoteles von Stageira (384-322)
aber die Verbindungen der Eigenschaften haben eben als Substanz
dennoch einen ganz eigenen Charakter.
§ 160 Aristoteles leitet nun aus dieser Beschreibung der Elemente
durch ihre Eigenschaften deren mögliche Transformationen ineinander
ab:
oŒon ™k purÕj m n œstai ¢¾r qa- »So wird Luft durch Verände-
tšrou metab£llontoj (tÕ m n g¦r rung des anderen [des Feuers]
Ãn qermÕn kaˆ xhrÒn, tÕ d qermÕn (denn diese war heiß und trok-
kaˆ ØgrÒn, éste ¨n krathqÍ tÕ ken, jenes aber ist heiß und
xhrÕn ØpÕ toà Øgroà, ¢¾r œstai), feucht, so daß es zu Luft wird,
p£lin d ™x ¢šroj Ûdwr, ™¦n wenn das Trockene durch das
krathqÍ tÕ qermÕn ØpÕ toà yucroà Feuchte überwunden wurde),
(tÕ m n g¦r Ãn qermÕn kaˆ ØgrÒn, ebenso entsteht Wasser aus Luft,
tÕ d yucrÕn kaˆ ØgrÒn, éste me- wenn das Warme durch das Kal-
tab£llontoj toà qermoà Ûdwr te überwunden wird (denn dieses
œstai). TÕn aÙtÕn d trÒpon kaˆ ™x war heiß und feucht, dieses aber
Ûdatoj gÁ kaˆ ™k gÁj pàr· œcei g¦r ist kalt und feucht, so daß durch
¥mfw prÕj ¥mfw sÚmbola· tÕ m n die Veränderung des Heißen das
g¦r Ûdwr ØgrÕn kaˆ yucrÒn, ¹ d Wasser entsteht). Auf die gleiche
gÁ yucrÕn kaˆ xhrÒn, éste krath- Weise entsteht auch aus dem
qšntoj toà Øgroà gÁ œstai. Kaˆ Wasser die Erde und aus Erde
p£lin ™peˆ tÕ m n pàr xhrÕn kaˆ Feuer. Denn beide haben gegen-
qermÒn, ¹ d gÁ yucrÕn kaˆ xhrÒn, seitige Gemeinsamkeiten. Denn
™¦n fqarÍ tÕ yucrÒn, pàr œstai ™k Wasser ist feucht und kalt, Erde
gÁj. “Wste fanerÕn Óti kÚklJ te kalt und trocken, so daß durch
œstai ¹ gšnesij to‹j ¡plo‹j sèma- Überwindung des Feuchten Erde
si entsteht. Und ebenso ist das Feu-
er trocken und heiß, die Erde
aber kalt und trocken, so daß,
wenn das Kalte vergeht, aus Erde
Feuer wird. So zeigt sich, daß das
Entstehen der einfachen Körper
zyklisch ist.«
185

Der Übergang der Elemente ineinander geschieht also einfach dadurch,


daß sich eine Eigenschaft ändert. Jedes Element hat so gewissermaßen
zwei Nachbarelemente, in die es mit Leichtigkeit übergehen kann.

185
De generatione et corruptione II, 4; 331a 26 – 331b 3

200
Aristoteles von Stageira (384-322)

pàr ¢¾r Ûdwr gÁj


qermÒn qermÒn yucrÒn yucrÒn

xhrÒn ØgrÒn ØgrÒn xhrÒn

Der vollständige Prozeß aller möglichen Übergänge von Substanzen in-


einander ist zyklisch, so daß nicht die Gefahr besteht, daß es am Ende
nur noch ein Element gibt. Gleichzeitig stellt das eben auch sicher, daß
die im Bereich des Irdischen ablaufenden Prozesse ewig am Laufen
bleiben.
§ 161 Diese zyklische Bewegung findet nun innerhalb des Reichs
der linearen Bewegungen statt, welches zum einen die Bewegung von
einem Element zum anderen Element und damit verbunden zum an-
deren die Aufwärts- und Abwärtsbewegung aufgrund der veränderten
Schwere des neue entstandenen Elements enthält. Nach Aristoteles
ahmen die Elemente so die Verhältnisse im Reich der ewigen Bewe-
gung der Himmelskörper nach:
“Wste kaˆ ¹ eÙqe‹a for¦ mimou- »Demnach ist auch die gerade
mšnh t¾n kÚklJ sunec»j ™stin. Bewegung durch Nachahmung
der zyklischen ununterbro-
chen.« 186

Aristoteles beläßt es aber nicht bei dieser Feststellung der Nachahmung,


sondern er schreibt den Himmelskörpern und deren Bewegung hierbei
eine aktive Rolle zu:
e„ g¦r tÕ kÚklJ kinoÚmenon ¢e… ti »Denn weil das sich kreisförmig
kine‹, ¢n£gkh kaˆ toÚtwn kÚklJ bewegende immer etwas bewegt,
e nai t¾n k…nhsin ist es notwendig, daß die Bewe-
gung desselben kreisförmig ist.«
187

Das Irdische muß also kreisförmig bewegt sein, weil es ein Produkt der
Bewegung der kreisförmigen Himmelskörper ist.

186
De generatione et corruptione II, 10; 337a 6-7
187
De generatione et corruptione II, 11; 338b 1-3

201
Aristoteles von Stageira (384-322)
§ 162 Damit ist aber die Emanationstheorie nicht weit. Nur unter-
scheidet sich diese bei Aristoteles inhaltlich deutlich von der platoni-
schen Emanationstheorie. Gemeinsam ist beiden Theorien, daß wir
zum einen in der Bewegung der Himmelskörper eine höhere, allem
Irdischen überlegene Seinsform vorfinden und daß diese zum anderen
das irdische Sein hervorbringt. War jedoch bei Platon die Himmelsbe-
wegung dadurch ausgezeichnet, daß sie eine Weltseele beherbergte, so
ist sie bei Aristoteles nur noch eine Bewegung. Entsprechend ist auch
das aus ihr ausfließende Sein nur noch das Sein einer Bewegung. Die
Himmelsbewegung bringt die Elemente selbst nicht hervor, weder ihre
Form, noch ihre Materie. Sie setzt sie bloß in Bewegung.
feromšnou d toà prètou stoice…ou »Durch die kreisförmige Bewe-
kÚklJ kaˆ tîn ™n aÙtù swm£twn, gung des ersten Elements und
tÕ prosec j ¢eˆ toà k£tw kÒsmou der Körper in ihm wird das in
kaˆ sèmatoj tÍ kin»sei dia- der Nähe befindliche immer von
krinÒmenon ™kpuroàtai kaˆ poie‹ ihm getrennte des unteren Kos-
t¾n qermÒthta. mos und Körpers mittels Bewe-
gung entzündet und Hitze er-
zeugt.«188

Die Emanation ist so rein mechanisch; sie entsteht gewissermaßen durch


Reibung. Und die so angestoßenen Elemente bewegen sich dann auch
und bewegen sich eben kreisförmig, ebenso wie ihre causa efficiens.
§ 163 Indem Aristoteles so das Gerüst der platonischen Emanati-
onslehre übernimmt, dieses aber auf ein bloßes Bewegungsprinzip re-
duziert, höhlt er die zwar sehr mystisch gebliebene, in ihrer Erklä-
rungsmacht aber dennoch vielversprechende Theorie der Emanation
aus. Vergleichen wir Aristoteles mit Philippos von Opus, so wird dies
besonders deutlich. Über Platon hinausgehend hatte Philippos ver-
sucht, verschiedene Seinsstufen als Stufen der Emanation aus der Welt-
seele auszumachen. Inhaltlich können wir mit diesem Ansatz und den
mythischen Gestalten, die er hervorbringt, wenig anfangen. Formal je-
doch liefert uns Philippos hier einen Ansatz, der die Generation der
Formen aus höheren Formen erklärt. Auch wenn – hierin haben wir
Aristoteles ja zugestimmt – Formen in der Natur immer nur als konkre-

188
Meteoroglogica I, 3; 340b 10-14

202
Aristoteles von Stageira (384-322)
te Formen konkreter Dinge aktiv werden können, so ist doch die in ei-
ner bestimmten Form vorliegende logische Struktur eine Implikation
einer höheren Form. Nur das macht umgekehrt Höherentwicklung
möglich. Aristoteles läßt diese Formen ganz beiseite und konzentriert
sich auf die Elemente, die Philippos fast leichtfertig mit den Formen
assoziierte. Er naturalisiert so die Emanationslehre.
Was bleibt ist eine Reihe physikalischer und chemischer Überlegun-
gen, die so zwar in ein in sich geschlossenes System von erstaunlicher
Ausprägung münden, die scheinbar jedoch nicht mehr durch naturphilo-
sophische Prinzipien gestützt sind. Wir werden jedoch sehen, daß diese
Aushöhlung Aristoteles nicht ganz gelingt. Indem immerhin das Prinzip
des besonderen Status zyklischer Prozesse bewahrt hat, findet sich im
Zentrum seiner naturphilosophischen Schriften ein Strukturelement, was
nichts weniger als die Grundlage des Organischen ist. Da Aristoteles das
selbst nicht erkannt hat, sondern die Kreisläufe nur wegen ihrer Eigen-
schaft, ewig zu sein – die aber durchaus auch eine wesentliche Eigen-
schaft von organischen Prozessen ist – auszeichnete, ist es eher zufällig,
wenn er in seinem Gedankengang auf etwas für uns Wesentliches stößt.
Daher wechseln sich im Folgenden Kritik und Lob seines Denkens ab.

xvii. Die Elemente zwischen Materie und Organismen


§ 164 In Aristoteles’ Naturphilosophie sind die Elemente das einzige
Bindeglied zwischen Materie und Organismen. Da Materie aber bloße
Möglichkeit ist, decken sie einen immensen Seinsbereich ab, nämlich
den gesamten Bereich des anorganischen Seins.
Zunächst beschäftigen wir uns daher mit dem Verhältnis der Ele-
mente zur Materie. Dieses Verhältnis stellt Aristoteles wie folgt dar:
“Wste ¢n£gkh kaˆ t¦j Ûlaj to- »Demnach ist es zwingend, daß
saÚtaj e nai Ósaper taàta, tšt- die Materien ebenso viele sind
taraj, oÛtw d tšttaraj æj m…an wie diese [Körper], vier, diese
m n ¡p£ntwn t¾n koin»n, ¥llwj te vier aber wie eine allen gemein-
kaˆ e„ g…gnontai ™x ¢ll»lwn, ¢ll¦ same, wenn sie ineinander über-
tÕ e nai ›teron. gehen, so daß jedes ein anderes
ist.«
189

189
De caelo IV, 5; 312a 30-33

203
Aristoteles von Stageira (384-322)
Materie, so hatten wir schon gesehen, bestimmt er ebenso wie Platon
als dasjenige, was in allem Wechsel beharrt. Er kann jedoch hier einen
Schritt weiter gehen, denn wir wissen ja nun schon, was es ist, das da
wechselt. Es sind eben die Elemente. Die Materie ist also dasjenige, was
insbesondere dem Übergang der Elemente ineinander als ihnen ge-
meinsames zugrundeliegt.
`Hme‹j d fam n m n e na… tina »Wir aber sagen, daß es zwar ei-
Ûlhn tîn swm£twn tîn a„sqhtîn, ne Materie der sichtbaren Körper
¢ll¦ taÚthn oÙ cwrist¾n ¢ll' ¢eˆ gibt, aus der auch die sogenann-
met' ™nantièsewj, ™x Âj g…netai t¦ ten Elemente bestehen, aber
kaloÚmena stoice‹a. nicht von diesen getrennt, son-
dern immer mit Gegensätzen.« 190

Die letztere Feststellung von Aristoteles können wir nunmehr ent-


schlüsseln. Wenn die Materie nur mit Gegensätzen wirklich existiert,
dann existiert sie eben mit jenen Gegensätzen, welche für die Unter-
schiede der Elemente verantwortlich sind, deren oben angeführte Ei-
genschaften also. Materie gibt es also nur in der Form von Elementen,
nie aber in reiner Form. Das aber heißt nichts anderes, als daß wir es in
der Natur immer schon mit Elementen zu tun haben. Materie selbst hat
somit scheinbar kein natürliches Sein, sondern nur ein philosophisches.
Es ist diejenige Größe, die es dem Denker ermöglicht, sich an sich ver-
schiedene Elemente als Formen ein und desselben vorzustellen.
Wir können also von Aristoteles nicht erwarten, daß er uns erklärt,
wie die Elemente aus Materie bestehen; wir erfahren nur, daß es so ist
und so sein muß. Zugleich erfahren wir damit aber indirekt auch, daß
die Elemente die grundlegenden Formen des Naturseins sind. Einfa-
chere Formen können nicht mehr existieren, denn sie wären reine Ma-
terie.
§ 165 Wenn wir uns nun auf die andere Seite der Elemente bege-
ben und danach fragen, wie denn aus den Elementen die Organismen
entstehen, so erhalten wir von Aristoteles zunächst eine verblüffende
Antwort. Scheinbar spielen hier die Elemente nämlich keine Rolle
mehr. Zunächst belehrt uns Aristoteles, daß die organische Materie ei-

190
De generatione et corruptione II, 2; 329a 24-27

204
Aristoteles von Stageira (384-322)
ne ganz besondere Form hat, wenn er sich fragt, wie organisches
Wachstum möglich ist:
kaˆ g¦r ¹ Ûlh lšgetai kaˆ tÕ e doj »Sowohl die Materie, wie auch
s¦rx À Ñstoàn. TÕ oân Ðtioàn mšroj die Form werden Fleisch und
aÙx£nesqai kaˆ prosiÒntoj tinÕj Knochen genannt. Es ist zwar
kat¦ m n tÕ e dÒj ™stin ™n- annehmbar, daß irgendein Teil
decÒmenon, kat¦ d t¾n Ûlhn oÙk durch Zuwachs von etwas wächst
œstin· de‹ g¦r noÁsai ésper e‡ tij gemäß der Form, nicht aber ge-
metro…h tù aÙtù mštrJ Ûdwr· ¢eˆ mäß der Materie. Man muß es
g¦r ¥llo kaˆ ¥llo tÕ ginÒmenon. sich wie etwa Wasser, gemessen
OÛtw d' aÙx£netai ¹ Ûlh tÁj sar- mit demselben Maß, vorstellen.
kÒj, kaˆ oÙc ÐtJoàn pantˆ pros- Denn es entsteht eines nach dem
g…netai, ¢ll¦ tÕ m n Øpekre‹ tÕ d anderen. So aber wächst die Ma-
prosšrcetai, toà d sc»matoj kaˆ terie des Fleisches nicht so, daß
toà e‡douj ÐtJoàn mor…J. zu jedem [Teil] etwas hinzu-
kommt, sondern, das eine fließt
hinweg, das andere kommt hinzu
zur Gestalt und Form eines jeden
Teiles.«
191

Zunächst einmal erfahren wir hier etwas ganz befremdliches: Beim


Fleisch und bei den Knochen, bei organischem Material also, fallen of-
fenbar Materie und Form zusammen. Es ist zunächst unklar, ob Aristo-
teles hier meint, daß Form und Materie eins sind, oder ob es jeweils ei-
ne Materie und eine Form gibt, die man als organisches Material be-
zeichnet. Im ersten Fall hätten wir eines der Ðmoiomšreiai von Anaxago-
ras vor uns. Da Aristoteles diesen Ansatz jedoch kritisiert, können wir
diese Interpretation verwerfen. Fleisch darf also nicht als eine untrenn-
bare Einheit von Form und Materie verstanden werden.
Im zweiten Fall, den wir mithin Aristoteles als Überzeugung zu-
schreiben, müssen wir davon ausgehen, daß es organisches Material auf
mehreren Seinsstufen gibt. Es gibt demnach einzelne organische Parti-
kel, Gewebe und Organe und all diese werden gleichermaßen als
Fleisch bezeichnet. Daher ist sowohl ihre Form, wie auch ihre Materie
Fleisch. Strenggenommen haben wir es hier also nicht mit zwei getrenn-
ten Formebenen zu tun, denn dann müßte auf der höheren Ebene eine

191
De generatione et corruptione I, 5; 321b 21-28

205
Aristoteles von Stageira (384-322)
neue Form zu finden sein. Das ist zumindest beim Gewebe nach Ari-
stoteles nicht der Fall, da er die komplexe Struktur der Zellen, aus de-
nen dieses besteht, noch nicht kannte.
§ 166 Nun aber geht Aristoteles einen Schritt weiter. Wenn bei-
spielsweise ein Gewebe wächst, so wächst nicht das organische Basisma-
terial, die organischen Partikel, sondern dem Gewebe kommen mehr
und mehr Partikel zu. Offenbar sind aber die hinzukommenden Parti-
kel selbst bereits organischer Natur, denn Aristoteles spricht hier nicht
nur von einer organischen Form, die anorganische Elemente zu etwas
organischem formt, sondern er spricht auch von einer organischen Ma-
terie. Es liegt also die Vermutung nahe, daß es so etwas wie ein Element
des Organischen gibt, eine Vermutung, die Aristoteles bestätigt:
Kaˆ prîton oÛtw t¦ stoice‹a me- »So verändern sich zuerst die
tab£llei, ™k d toÚtwn s£rkej kaˆ Elemente und daraus entstehen
Ñst© kaˆ t¦ toiaàta, toà m n qer- Fleisch, Knochen und derglei-
moà ginomšnou yucroà, toà d yu- chen, das heiße wird kalt, das kal-
croà qermoà, Ótan prÕj tÕ mšson te wird heiß, sooft zu einer Mitte
œlqV· ™ntaàqa g¦r oÙdšteron, tÕ d kommt; denn dort ist keines von
mšson polÝ kaˆ oÙk ¢dia…reton. beiden; die Mitte ist groß und
`Omo…wj d kaˆ tÕ xhrÕn kaˆ ØgrÕn nicht unteilbar. Indem auf diese
kaˆ t¦ toiaàta kat¦ mesÒthta Weise das trockene und feuchte
poioàsi s£rka kaˆ Ñstoàn kaˆ und derartiges zur Mitte kommt,
t«lla. stellen sie Fleisch, Knochen und
derlei her. «
192

Aristoteles gibt uns hier sogar eine Anleitung zur Herstellung von orga-
nischem Material. Dieses entstehe dann, wenn die Eigenschaften der
Elemente, also vor allem heiß und kalt, sowie trocken und feucht nicht
in Extremform vorlägen, sondern zu einem Mittelwert zwischen den
beiden tendieren würden. Organisches Material wird so hier doch wie-
der als eine Art spezifische Materie verstanden. Wir haben es also doch
mit etwas ähnlichem wie den Ðmoiomšreiai des Anaxagoras zu tun.
Wenn man beispielsweise Fleisch zerlegt, so findet man auch nach Ari-
stoteles immer wieder Fleisch. Der einzige Unterschied besteht, daß
dieses organische Material keine Materie schlechthin ist, sondern be-

192
De generatione et corruptione II, 7; 334b 23-29

206
Aristoteles von Stageira (384-322)
reits eine Form hat. Nur eben entsteht diese Form nicht durch Zusam-
mensetzung von Elementen, sondern durch eine Transformation der
Elemente oder ihrer Eigenschaften.
§ 167 Wenn Aristoteles also an anderer Stelle sagt, die Ðmoiomšreiai
bestünden aus den Elementen, dann dürfen wir dies also nicht als eine
additive Zusammensetzung interpretieren:
Deutšra d sÚstasij ™k tîn »Die zweite Form aber ist die Zu-
prètwn ¹ tîn Ðmoiomerîn fÚsij ™n sammenfügung der gleichteiligen
to‹j zóoij ™st…n, oŒon Ñstoà kaˆ Naturen in den Lebewesen, wie
sarkÕj kaˆ tîn ¥llwn tîn Knochen, Blut und anderes der-
toioÚtwn. gleichen, aus den ersten [den
Elementen].«193

Aristoteles sagt hier, die Ðmoiomšreiai entstünden durch eine sÚstasij


der Elemente. Wir müssen den Ausdruck sÚstasij hier aber wohl eher
im Sinne einer chemischen Zusammensetzung verstehen, bei der die
Elemente nicht als Bestandteile weiterhin enthalten sind, sondern bei
der sie ihre spezifischen Eigenschaften durch von außen auf sie wirken-
de Hitze aufgegeben haben.
Entsprechend können nach Aristoteles auch ganze Lebewesen bei-
spielsweise durch Hitze, die verwesende Körper absondern, entstehen:
kaˆ zùa ™gg…gnetai to‹j shpo- »Auch Lebewesen entstehen in
mšnoij di¦ tÕ t¾n ¢pokekrimšnhn den Verwesenden wegen der ab-
qermÒthta fusik¾n oâsan sun- gesonderten Hitze, die natürlich
ist£nai t¦ ™kkriqšnta. seiend das Abgesonderte verbin-
det.«
194

Hier sehen wir ganz deutlich, daß Aristoteles – zumindest was die In-
sekten angeht, die man häufig in verwesendem organischem Stoffen
findet – ein sehr unausgeprägtes Bewußtsein für die innere Komplexität
der Organismen hat. Ebenso klein wie die Insekten scheint ihm auch
die Ursache ihres Entstehens zu sein. Und da reicht es schon aus, daß
die vorhandene Hitze – die für ihn eine Ursache des Verwesungspro-
zesses ist – das verwesende organische Material nur neu ordnet, damit

193
De partibus animalium II, 1; 646a 21-23
194
Meteorologica IV, 1; 379b 6-8

207
Aristoteles von Stageira (384-322)
daraus dann Lebewesen entstehen. Es ist hier nicht eine bestimmte
Form, welche die organischen Partikel zu einem neuen Organismus zu-
sammenfügt, sondern bloß die Hitze als eine causa efficiens.
§ 168 Diese Ausführungen deuten zunächst darauf, daß wir hinter
der Erklärung des Organischen bei Aristoteles keinen systemtheoreti-
schen Ansatz vermuten dürfen. Am Ende der Meteorologica jedoch
präsentiert uns Aristoteles eine Sichtweise, die eine konsequente sy-
stemtheoretische Interpretation wieder möglich macht. Er versucht hier
erneut zu erklären, woraus organisches Material wie Fleisch gebildet ist.
Zunächst erhält dabei das Wesen und damit der lÒgoj wieder eine akti-
ve Rolle in seiner Erklärung:
™k m n g¦r tîn stoice…wn t¦ »Denn die Gleichteiligen beste-
ÐmoiomerÁ, ™k d toÚtwn æj Ûlhj hen aus den Elementen und aus
t¦ Óla œrga tÁj fÚsewj. œstin d' ihnen bestehen als aus ihrer Ma-
¤panta æj m n ™x Ûlhj ™k tîn terie alle Werke der Natur. Sie
e„rhmšnwn, æj d kat' oÙs…an tù bestehen zwar alle aus Materie
lÒgJ. aus den genannten [Elementen],
gemäß dem Wesen jedoch aus
ihrem Begriff.« 195

Aristoteles verwendet hier erneut den anaxagorischen Begriff der


Ðmoiomšreiai, den er als eine Sammelbezeichnung für all das verwendet,
was, wenn man es zerlegt, eben wieder aus dem gleichen Material zu
bestehen scheint. Er setzt sich nämlich sogleich von Anaxagoras ab und
zerlegt die Ðmoiomšreiai in zwei verschiedene Bestandteile, nämlich Ûlh
und lÒgoj. Es mag so zwar sein, daß die materielle Seite beispielsweise
des Fleisches auf jene Elemente zurückgeführt werden kann, die oben
als Zwischenelemente beschrieben worden sind. Die Formseite jedoch
bleibt etwas Strukturelles.
§ 169 Nun unterscheidet Aristoteles mehrere Strukturebenen. Etwas
kann aus Materie bestehen und eine Form haben. Dieses Geformte
kann aber wieder zur Materie einer höheren Form werden. Diesen Zu-
sammenhang haben wir oben ausführlich diskutiert. Nach Aristoteles ist
dabei allerdings dasjenige, was sich in dieser Hierarchie weit unten be-
findet, schwerer zu bestimmen:

195
Meteorologica IV, 12; 389b 26-29

208
Aristoteles von Stageira (384-322)

tÕ g¦r oá ›neka ¼kista ™ntaàqa »Denn das Weswegen ist dort am


dÁlon, Ópou d¾ ple‹ston tÁj Ûlhj· wenigsten offenbar, wo es am
ésper g¦r e„ kaˆ t¦ œscata meisten Materie gibt. Denn wenn
lhfqe…h, ¹ m n Ûlh oÙd n ¥llo es möglich wäre, die Extreme zu
par' aÙt»n, ¹ d' oÙs…a oÙd n ¥llo nehmen, so wäre die Materie
À lÒgoj, t¦ d metaxÝ ¢n£logon nichts anderes als sie selbst, das
tù ™ggÝj e nai ›kaston Wesen nichts anderes als Begriff
und die dazwischen sind [was sie
sind] entsprechend ihrem Ver-
hältnis der Nähe zu jedem.« 196

Etwas also, was unmittelbar geformte Materie ist, befindet sich als sol-
ches sehr nah an der unbestimmbaren reinen Materie. Daher ist seine
causa finalis, das also, was es seiner Form nach werden soll und kann,
recht unbestimmt. Umgekehrt ist die reine Form das bestimmteste
schlechthin.
Aristoteles diskutiert diesen Zusammenhang hier so, als könne man
Form und Materie trennen und bleibt deswegen hypothetisch. Das real
existierende Natursein hingegen beschreibt er so, als befände es sich
zwischen Ûlh und lÒgoj als zwei Polen. Seine Ausführungen machen
jedoch gerade auch dann Sinn, wenn man die Verschachtelung von
Form und Materie berücksichtigt. In der Tat kann ja etwas sehr Einfa-
ches, also eine unmittelbar geformte Materie – wobei anzumerken ist,
daß nach unserer Auffassung ja jedes Natursein immer schon und nur
Form ist – Teil vieler verschiedener Formen werden. Ein Atom kann
ebenso Teil eines Organismus, wie Teil eines Steines sein. So ist schwer
zu sagen, was es eigentlich ist, wenn man davon ausgeht, daß seine Ver-
wendung zur Bestimmung seines Seins wesentlich ist. Betrachtet man
hingegen eine Materie, die mehrfach überformt worden ist, so ist mit
jeder Formebene, die es enthält, ein bestimmter Zweck hinzugekom-
men, der es weiter bestimmt; damit aber hinsichtlich seiner Verwend-
barkeit in höheren Formen weiter einschränkt. Einschränkung und Be-
stimmung fallen hier jedoch als Spezifikation zusammen. Der End-
punkt dieser Entwicklung wäre dann in der Tat der Geist, der – für Ari-
stoteles ist das natürlich nicht möglich – reine Form ist.

196
Meteorologica IV, 12; 390a 3-7

209
Aristoteles von Stageira (384-322)
§ 170 Die Rolle des Zwecks führt Aristoteles alsdann weiter aus und
bestimmt das Sein eines Naturdings, sofern dieses natürlicherweise als
Teil eines anderen gesehen wird, wie das beim Fleisch der Fall ist, als
dessen Funktion:
¤panta d' ™stˆn ærismšna tù »Das Sein ist bei allem durch sei-
œrgJ· t¦ m n g¦r dun£mena poie‹n ne Funktion bestimmt. Denn das,
tÕ aØtîn œrgon ¢lhqîj ™stin ›ka- was seine Funktion erfüllen kann
ston, oŒon ÑfqalmÕj e„ Ðr´, tÕ d ist wahrhaft, wie das Auge, wenn
m¾ dun£menon ÐmwnÚmwj, oŒon Ð es sieht; kann es das aber nicht,
teqneëj À Ð l…qinoj· oÙd g¦r pr…wn so ist es nur dem Namen nach,
Ð xÚlinoj, ¢ll' À æj e„kèn. oÛtw wie ein totes oder steinernes [Au-
to…nun kaˆ s£rx· ¢ll¦ tÕ œrgon ge]. Denn ebensowenig ist eine
aÙtÁj Âtton dÁlon À tÕ tÁj hölzerne Säge etwas anderes als
glètthj. eine in einem Bild. Ebenso auch
das Fleisch; nur das seine Funk-
tion weniger deutlich ist, als die
der Zunge.« 197

Hier kommt zum ersten Mal ein Funktionalismus klar zum Ausdruck.
¤panta d' ™stˆn ærismšna tù œrgJ; alles ist bestimmt durch sein Werk
(œrgon), also seine Funktion. Zwar kann es auch dann noch aufgrund
seiner äußeren Form als das erkannt werden, was es sein sollte, aber es
ist es eben nicht mehr; wie ein totes Auge.
Das Problem, was Aristoteles nun hier für die Frage nach dem Sein
des einfachen organischen Materials ausmacht, liegt eben in dessen ba-
saler funktionaler Unbestimmtheit. Für ihn als antikem Denker, der
noch nichts von Zellen wußte, war nicht klar, was das organische Gewe-
be auszeichnet und welche Substrukturen in ihm zu finden sind. Er
dachte sich dieses, wie wir auch oben bemerkt haben, einfach als eine
Art homogenes Zwischenelement, das ähnlich wie bei Anaxagoras zwar
immer wieder aus Fleisch besteht, aber dessen Sein als Fleisch nicht vor
allem materiell, sondern vielmehr funktional bestimmt ist. Er gelangt
somit auch ganz in Abwesenheit der ganzen uns heute zur Verfügung
stehenden biologischen Einsichten zu einer Sichtweise, die auf einer
prinzipiellen Ebene auch heute noch ganz und gar zeitgemäß ist. Alles,

197
Meteorologica IV, 12; 390a 10-15

210
Aristoteles von Stageira (384-322)
was eine Modernisierung der aristotelischen Sichtweise hier noch lei-
sten kann, ist Schritt für Schritt zu erklären, worin der funktionale Cha-
rakter des jeweiligen organischen Seins besteht.
§ 171 Eine vorläufige Zusammenfassung der dabei auftretenden Stu-
fen des Naturseins finden wir in De partibus animalium:
“Wste t¾n m n tîn stoice…wn Ûlhn »So gibt es die Materie der Ele-
¢nagka‹on e nai tîn Ðmoiomerîn mente der Gleichteiligen wegen.
›neken. “Ustera g¦r ™ke…nwn taà- Denn diese entstehen später als
ta tÍ genšsei, toÚtwn d t¦ jene; ebenso aber die Ungleich-
¢nomoiomerÁ· taàta g¦r ½dh tÕ teiligen. Denn diese, deren Zu-
tšloj œcei kaˆ tÕ pšraj, ™pˆ toà sammensetzung von der dritten
tr…tou labÒnta t¾n sÚstasin Art ist, sind das Ziel und die
¢riqmoà, kaq£per ™pˆ pollîn sum- Grenze, so daß sie häufig mit der
ba…nei teleioàsqai t¦j genšseij. Vollendung der Entstehung zu-
sammenfallen.« 198

Aristoteles berichtet uns hier nicht nur von drei verschiedenen Form-
ebenen, sondern er klärt uns auch über den ontologischen Zusammen-
hang dieser Formebenen auf. Die erste Ebene besteht aus den Elemen-
ten, die in einem organischen Gebilde nur um des organischen Stoffes,
der Ðmoiomšreiai willen da sind. Wir haben ja schon diskutiert, wie diese
Zusammensetzung zu denken ist. Die Ðmoiomšreiai selbst sind nun nach
Aristoteles nur um der ¢nomoiomšreiai willen da. Unter ¢nomoiomšreiai
versteht Aristoteles diejenigen organischen Teile, die nicht mehr durch
eine Gleichteiligkeit gekennzeichnet sind. Die Hand beispielsweise be-
steht zwar aus Ðmoiomšreiai insofern sie aus Fleisch besteht, aber sie be-
steht eben auch aus Fingern und der Handfläche, Teilen also, die ver-
schieden sind, so daß sie zu den ¢nomoiomšreiai zählt.
Diese drei Stufen nun, Elemente, Ðmoiomšreiai und ¢nomoiomšreiai
bilden so etwas wie die ersten Formstufen, die uns Aristoteles präsen-
tiert. Wir müssen uns daher fragen, ob wir diese Formstufen, vor allem
die beiden Organischen, akzeptieren können. Meines Erachtens spricht
einiges dagegen. Aristoteles bringt diese zwar hier in einen funktionalen
Zusammenhang, indem die Elemente um des Fleisches und das Fleisch
um der Hand willen da ist. Dabei wird klar, daß sie Mittel sind, offen

198
De partibus animalium II, 1; 646b 5-10

211
Aristoteles von Stageira (384-322)
jedoch bleibt der Zweck. Denn auch die Hand ist ja kein Zweck an
sich; sie ist dies nur als Teil eines Körpers. An diesem jedoch stellt sie
keine eigenständige Subebene dar, sondern nur ein funktionales Glied.
Sie ist per Definition Teil und somit nur Mittel und kein Zweck.
§ 172 Aristoteles selbst bringt dies in einer Kritik an Anaxagoras
zum Ausdruck:
'AnaxagÒraj m n oân fhsi di¦ tÕ »Anaxagoras sagt, daß der
ce‹raj œcein fronimètaton e nai Mensch weil er Hände habe un-
tîn zówn ¥nqrwpon· eÜlogon d ter den Lebewesen das intelligen-
di¦ tÕ fronimètaton e nai ce‹raj teste sei. Richtig aber ist, daß er
lamb£nein. Aƒ m n g¦r ce‹rej Ôr- sich der Hände bedienen kann,
ganÒn e„sin, ¹ d fÚsij ¢eˆ dia- weil er der klügste ist. Die Hände
nšmei, kaq£per ¥nqrwpoj frÒnimoj, nämlich sind Werkzeuge und die
›kaston tù dunamšnJ crÁsqai. Natur ebenso wie kluge Men-
schen gibt diese immer nur je-
nen, welche die Möglichkeit ha-
ben, sie zu benutzen.«199

Es ist also nicht das Werkzeug (ÔrganÒn), was ein Naturwesen zu dem
macht, was es ist, sondern es ist seine höchste Formebene, die beim
Menschen dessen Intelligenz ist. Ein bloßes Werkzeug reicht noch
nicht aus, um diese Form ins Leben zu rufen. Gerade die Hand als
Universalwerkzeug wäre an vielen Lebewesen vollkommen sinnlos.
Das trifft aber nicht nur auf die Hand zu, sondern auf alle organi-
schen ¢nomoiomšreiai. Die bloße Bestimmung derselben als organisch,
also als Teil eines Körper und als ungleichteilig reicht keineswegs aus,
um damit eine Formebene zu konstituieren. Daher finden wir hier zwar
organisches Material, nicht aber die Erklärung einer Form, die uns den
Übergang vom Anorganischen zum Organischen deutlich machen
könnte.
§ 173 An einer Stelle geht Aristoteles sogar so weit, den diskreten
Charakter des Übergangs vom Anorganischen zum Organischen ganz
zu leugnen und beschreibt diesen als ein Kontinuum:

199
De partibus animalium IV, 10; 687a 8-12

212
Aristoteles von Stageira (384-322)

`H g¦r fÚsij metaba…nei sunecîj »Denn die Natur geht kontinu-


¢pÕ tîn ¢yÚcwn e„j t¦ zùa di¦ ierlich vom Unbeseelten über
tîn zèntwn m n oÙk Ôntwn d diejenigen, die zwar keine Tiere
zówn, oÛtwj éste doke‹n p£mpan sind, aber Lebewesen, hin zu
mikrÕn diafšrein qatšrou q£teron den Lebewesen, so lehrend wie
tù sÚnegguj ¢ll»loij. ganz und gar klein der Unter-
schied des einen vom der ande-
ren ist, wenn sie nahe beieinan-
der liegen.«
200

Aristoteles benutzt hier ein ganz unterschwelliges Argument. Er bringt


dieses Argument vor, wenn er von verschiedenen Tierarten redet.
Dasjenige also, was hier sehr nah beieinander ist, sind die Tierarten.
Und hier kann man sich sicherlich vorstellen, daß man bei der Betrach-
tung der Eigenschaften verschiedener Tierarten von der einen zur an-
deren übergehend immer nur einen kleinen Unterschied findet;
schließlich aber ganze Naturstufen überschritten hat. Wie Aristoteles
sich den kontinuierlichen Übergang von der Materie zu einfachen Tie-
ren vorstellt haben wir an seiner Überlegung zur spontanen Entstehung
von Insekten ja bereits gesehen. Die Elemente können durch Trans-
formation zu organischem Material werden und daraus entstehen dann
Insekten. Ebenso kann man sich dann auch einen kontinuierlichen
Übergang hin zu den höheren Lebewesen und schließlich bei diesen
vorstellen.
Diese Vorstellung ist aber eine sehr oberflächliche, die sich eben
nur am äußeren Schein der Eigenschaften orientiert und dabei die ge-
waltigen Unterschiede in der inneren Form außer Acht läßt. Hier ist in
der Tat der darwinistische Gedanken einer bloß äußerlichen Mutation
der Naturwesen, der keine Formentwicklung entsprechen muß, nicht
sehr weit. Eine zureichende Kritik dieses Gedankens finden wir in Ari-
stoteles eigener Kritik am Darwinismus von Empedokles. Sofern Ari-
stoteles von einer causa finalis und der Existenz bestimmter Formen
spricht, muß er auch deren deutliche Differenz annehmen.

200
De partibus animalium IV, 5; 681a 12-15

213
Aristoteles von Stageira (384-322)
xviii. Der Wasserkreislauf
§ 174 Auch wenn Aristoteles sich hier noch schwer tut, ein wirkliches
Verbindungsglied zwischen den Elementen und den Organismen zu
liefern, so können wir doch extrapolieren, denn er beschreibt in seiner
Meteorologica einen Prozeß, den wir – als konkretes Beispiel neben
vielen anderen – für die unmittelbare Vorstufe organischen Naturseins
halten können. Wir hatten schon gesehen, daß Aristoteles darauf insi-
stiert, daß auch die anorganische Natur letztlich kreisförmige Bewegun-
gen enthalten muß. Diese Insistenz finden wir auch bei seiner Be-
schreibung des Wasserkreislaufes am Werk:
menoÚshj d tÁj gÁj, tÕ perˆ aÙt¾n »Die Erde bleibt, aber das Feuch-
ØgrÕn ØpÕ tîn ¢kt…nwn kaˆ ØpÕ tÁj te wird von den Sonnenstrahlen
¥llhj tÁj ¥nwqen qermÒthtoj und von anderer Hitze von oben
¢tmidoÚmenon fšretai ¥nw· tÁj d zum verdunsten gebracht und
qermÒthtoj ¢polipoÚshj tÁj ¢na- steigt nach oben. Von der Hitze,
goÚshj aÙtÒ, kaˆ tÁj m n diaske- die es emporhob, jedoch verlas-
dannumšnhj prÕj tÕn ¥nw tÒpon, sen und teils im oberen Bereich
tÁj d kaˆ sbennumšnhj di¦ tÕ me- zerstreut, teils vernichtet indem
tewr…zesqai porrèteron e„j tÕn das Wasser von der Erde weit
Øp r tÁj gÁj ¢šra, sun…statai fort nach oben in die Luft gezo-
p£lin ¹ ¢tmˆj yucomšnh di£ te t¾n gen wurde, kühlt der Dunst
¢pÒleiyin toà qermoà kaˆ tÕn durch das Schwinden der Hitze
tÒpon, kaˆ g…gnetai Ûdwr ™x ¢šroj· und den [kalten] Ort, zieht sich
genÒmenon d p£lin fšretai prÕj wieder zusammen und wird aus
t¾n gÁn. [...] g…gnetai d kÚkloj Luft zu Wasser. Es geworden
oátoj mimoÚmenoj tÕn toà ¹l…ou seiend fällt es zurück auf die Er-
kÚklon· ¤ma g¦r ™ke‹noj e„j t¦ de. [...] Es entsteht ein Kreislauf,
pl£gia metab£llei kaˆ oátoj ¥nw der den Kreislauf der Sonne
kaˆ k£tw. de‹ d noÁsai toàton nachahmt. Denn ebenso wie je-
ésper potamÕn ·šonta kÚklJ ¥nw ner sich zu den Seiten bewegt, so
kaˆ k£tw, koinÕn ¢šroj kaˆ Ûdatoj· bewegt sich auch dieser auf und
plhs…on m n g¦r Ôntoj toà ¹l…ou Ð ab. Wir müssen uns dieses wie
tÁj ¢tm…doj ¥nw ·e‹ potamÒj, einen Fluß, der im Kreis auf und
¢fistamšnou d Ð toà Ûdatoj k£tw. ab fließt, denken, der aus beiden,
kaˆ toàt' ™ndelec j ™qšlei g…gnes- aus Wasser und Luft besteht.
qai kat£ ge t¾n t£xin· Wenn die Sonne nah ist, fließt
der Fluß des Dunstes aufwärts, ist
sie jedoch entfernt, so fließt der

214
Aristoteles von Stageira (384-322)
des Wassers nach unten. Und
dieses pflegt fortdauernd gemäß
der Ordnung so zu werden.«201

Die Sonne als Himmelskörper setzt hier den Wasserkreislauf in Gang


und hält ihn in Gang. Im Grunde ist diese Beschreibung bloß eine An-
wendung der allgemeinen aristotelischen Lehre der Transformation der
Elemente auf zwei besondere Elemente, nämlich Wasser und Luft.
Auch wenn die technische Beschreibung dieses Vorgangs hier ganz und
gar angepaßt an Aristoteles’ geozentrisches Weltbild präsentiert wird,
denn es ist die Drehung der Sonne um die Erde, die hier den Wechsel
von Erhitzen und Abkühlung bewirken, so sind doch einige interessante
Aspekte zu bemerken, die über eine naturwissenschaftliche Interpreta-
tion dieses Zusammenhangs hinausweisen. Der hier beschriebene
Kreislauf ist nicht einfach nur ein Kreislauf, sondern er ist die Nachah-
mung eines quasi ideellen Kreislaufes der Sonne. Es ist so der Aspekt
des potentiell ewigen dieses Kreislaufs, den Aristoteles betont und der
uns mehr interessiert als die genauen Vorgänge bei der Verdunstung
und der Kondensation.
§ 175 Aristoteles macht hier aus der anorganischen Natur eine Art
Organismus. Dieser ist hier freilich noch nichts Funktionales, sondern
besteht aus rein chemischen Abläufen. Aber es ist leicht zu zeigen, daß
ein solcher anorganischer Organismus mit seinen Kreisläufen eine not-
wendige Voraussetzung und damit sogar letztlich die Materie der Orga-
nismen darstellt. Da die Prozesse von Organismen immer Kreisläufe
sind, setzen sie eine Natur als Umwelt voraus, die einerseits Verände-
rungen unterliegt, andererseits aber ein zureichendes Maß an Konstanz
aufweist. Eine solche Konstanz im sich verändernden kann aber nur
durch zirkuläre Prozesse garantiert werden. Auch wenn Aristoteles die-
se enge Verbindung zum Organischen noch nicht gesehen hat, sondern
die anorganischen Kreisläufe wohl nur deswegen postulierte, weil er so
die Ewigkeit des Naturseins überhaupt behaupten konnte, ohne dem
einzelnen Natursein eine Ewigkeit zuzuschreiben, so ist dies doch eine
Entdeckung, die wir nicht vernachlässigen sollten. Wir haben hierin

201
Meteorologica I, 9; 346b 23 – 347a 8

215
Aristoteles von Stageira (384-322)
nichts weniger vor aus, als die Stufe des Naturseins die den einfachsten
Organismen unmittelbar vorhergeht. Nur in einer derart konstanten
Umwelt und nur auf der Basis derart konstanter Kreisläufe können Or-
ganismen entstehen.

xix. Argumente gegen die Harmonielehre


§ 176 Vom anorganischen können wir nun zum Organischen und da-
mit zum Beseelten übergehen und hier zunächst eine allgemeine Frage
diskutieren, die alle organischen Formen betrifft, nämlich die Frage, ob
diese eine Form von Harmonie sind. In seiner Behandlung der Seele
versucht Aristoteles über seine Vordenker hinauszugehen. Deren An-
sprüche reichen ihm zur Erklärung des Phänomens der Seele nicht aus:
oƒ d mÒnon ™piceiroàsi lšgein po‹Òn »Die (genannten Denker) aber
ti ¹ yuc», perˆ d toà dexomšnou versuchen nur zu sagen, wie be-
sèmatoj oÙq n œti prosdior…zousin, schaffen die Seele sei, während
ésper ™ndecÒmenon kat¦ toÝj Pu- sie über den Körper, der sie auf-
qagorikoÝj mÚqouj t¾n tucoàsan nehmen soll, nicht noch weitere
yuc¾n e„j tÕ tucÕn ™ndÚesqai Bestimmungen geben, wie wenn
sîma. doke‹ g¦r ›kaston ‡dion – [z.B.] nach den Pythagorei-
œcein e doj kaˆ morf»n schen Mythen – eine beliebige
Seele in einen beliebigen Körper
eingehen könne. Es scheint näm-
lich [vielmehr] jeder Körper sei-
ne eigene Form und Gestalt zu
haben.«202

Er richtet sich hier vor allem gegen die Vorstellung, man müsse zur Er-
klärung der Seele nur deren allgemeine Struktur angeben. Die Seele sei
dann eine Wesenheit, deren Körper austauschbar ist, die also wie bei
der Seelenwanderungslehre des Pythagoras angenommen, ebenso die
Seele dieses wie jenes Körpers sein könnte. Hierin spiegelt sich Aristo-
teles’ allgemeine Vorstellung davon wieder, daß jedes Naturding über-
haupt seine eigene Form haben müsse. Wenn ein Körper also eine
Seele hat, so hat er als dieser bestimmte Körper diese bestimmte eigene

202
De anima I, 3; 407b 20-24, Übers. W. Theiler.

216
Aristoteles von Stageira (384-322)
Seele als ‡dion e doj; nicht aber irgend eine Seele. Seelenwanderung ist
also für Aristoteles ausgeschlossen.
§ 177 Daher kritisiert Aristoteles die pythagoräische Auffassung der
Seele, die wir oben bereits kennengelernt haben:
ka…toi ge ¹ m n ¡rmon…a lÒgoj t…j »Gleichwohl, wenn auch die
™sti tîn micqšntwn À sÚnqesij, Harmonie ein gewisses rationales
t¾n d yuc¾n oÙdšteron oŒÒn t' e nai Verhältnis der gemischten (ge-
toÚtwn. gensätzlichen Elemente) oder ei-
ne Zusammensetzung ist, kann
doch die Seele keines von beiden
sein.«203

Danach wird die Seele als eine ¡rmon…a, in Form einer Mischung
(kr©sij) und Zusammenfügung (sÚnqesij) der körperlichen Gegensätze
verstanden. Gegen diese Auffassung bringt Aristoteles eine Reihe von
Argumenten vor, von denen wir uns drei näher ansehen werden. Dabei
fällt auf, daß Aristoteles aus einer ganz anderen Perspektive gegen die
Harmonielehre argumentiert, als sein Lehrer Platon. Ging es diesem
vor allem darum, die Seele davor zu bewahren, als ¡rmon…a zu sehr in
eine Abhängigkeit des Körpers zu geraten, so steckt für Aristoteles ge-
rade umgekehrt im Harmoniebegriff zu wenig Bezug zum Körper.
§ 178 Das erste Argument stellt sofort ein solches Defizit der Seele
in bezug zum Körper fest:
œti d tÕ kine‹n oÙk œstin ¡rmon…aj, »Ferner ist der Harmonie nicht
yucÍ d p£ntej ¢ponšmousi toàto zu eigen [etwas] zu bewegen,
m£lisq' æj e„pe‹n. während der Seele dies alle sozu-
sagen am meisten zuschreiben.« 204

Während die Seele offensichtlich den Körper bewegt, könne dies eine
bloße Harmonie nicht, weswegen sie also zumindest mehr als eine ¡r-
mon…a sein müsse. Natürlich hat Aristoteles recht, wenn er die ¡rmon…a
bloß als eine Mischung versteht. Wir müssen jedoch den Harmoniebe-
griff nicht auf ein solch niedriges Niveau reduzieren. Eine Entgegnung
kann sich dazu bereits einfachster Mittel bedienen, die uns die aristote-

203
De anima I, 4; 407b 32-34, Übers. W. Theiler.
204
De anima I, 4; 407b 34 – 408a 1, Übers. W. Theiler.

217
Aristoteles von Stageira (384-322)
lische Philosophie zur Verfügung stellt. Einerseits also wollen wir die
Seele als eine ¡rmon…a im Sinne Pythagoras, also als ein harmonisches
Verhältnis bestimmter Entitäten sehen, die ihre Materie bilden. Ande-
rerseits jedoch ist die Seele zweifelsfrei etwas komplexeres als der oben
beschriebene Wasserkreislauf. Die Materie, die hier in ein harmoni-
sches Verhältnis gebracht wird, hat also mindestens die Komplexität ei-
nes solchen Kreislaufes. Wenn wir nun aber davon ausgehen, daß jenes
harmonische Verhältnis eben auch zumindest darin besteht, eine Art
Steuerungsfunktion auszuüben – hier reicht ja schon die Annahme, daß
die ¡rmon…a darüber entscheidet, wann der Prozeß eines gewissen Kreis-
laufes aktiviert oder forciert wird –, dann ergibt sich daraus, daß man
sich bereits im aristotelischen Denken relativ leicht vorstellen kann, daß
eine ¡rmon…a eben doch einen Körper zu bewegen vermag. Denn zir-
kuläre Prozesse von der Art des Wasserkreislaufes sind eben Bewegun-
gen.
§ 179 Ein zweites Argument zeigt uns, daß Aristoteles letztlich doch
nicht ganz weit vom Harmoniebegriff entfernt ist, ihn jedoch lieber an-
ders verorten würde, als ihm zum Inbegriff der Erklärung des Seeli-
schen zu machen.
¡rmÒzei d m©llon kaq' Øgie…aj lš- »Es paßt besser, bei der Gesund-
gein ¡rmon…an, kaˆ Ólwj tîn sw- heit von Harmonie zu sprechen,
matikîn ¢retîn, À kat¦ yucÁj. und überhaupt bei den besten
fanerètaton d' e‡ tij ¢podidÒnai Verfassungen des Körpers, als
peiraqe…h t¦ p£qh kaˆ t¦ œrga tÁj bei der Seele. Dies würde deutli-
yucÁj ¡rmon…v tin…· calepÕn g¦r cher werden, wenn einer versuch-
™farmÒzein. te, die Affekte und die Werke
(Leistungen) der Seele in Form
einer Harmonie wiederzugeben.
Es wäre schwierig einen Einklang
zu erreichen.«
205

Zunächst sehen wir hier ganz deutlich, welches Problem Aristoteles an


dieser Stelle mit der ¡rmon…a hat. Scheinbar kann er sich einfach nicht
vorstellen, wie ein solcher Begriff erklärungsmächtig werden kann. Das
aber bedeutet, daß er eine zu einfache Vorstellung dieses Begriffs hat,

205
De anima I, 4; 408a 1-5, Übers. W. Theiler.

218
Aristoteles von Stageira (384-322)
daß er also nicht sieht, daß die Harmonie von komplexen Elementen
selbst etwas sehr komplexes werden kann.
Entsprechend versucht er hier den Harmoniebegriff an die Ge-
sundheit zu koppeln. Da Gesundheit hier einfach als ein Gleichgewicht
der Körperkräfte angesehen wird, die als ungleiche den Körper zu zer-
stören beginnen, scheint hier ein recht einfacher Ort gefunden, wo die
¡rmon…a in Aristoteles’ Konzeption paßt. Fragt man sich jedoch genauer,
was Gesundheit ist, so kommt man unweigerlich zum Ergebnis, daß
diese nichts anderes sein kann, als der Ausdruck der Lebendigkeit und
Beseeltheit eines Körpers. Daß ein Körper gesund ist bedeutet, daß fast
alle lebendigen Prozesse dieses Körpers funktionieren. Das aber heißt,
daß seine Seele aktiv ist. Wenn nun eben dies mit dem Harmoniebe-
griff beschreiben werden können soll, so ist damit im Grunde die ¡rmo-
n…a mit der Seele gleichgesetzt; zumindest wird sie dann als das œrgon,
also das Werk oder die Funktion der Seele verstanden. In einem funk-
tionalistischen Verständnis jedoch, welches wir Aristoteles oben atte-
stiert haben, fallen dann beide zusammen.
§ 180 Das dritte Argument richtet sich nun direkt gegen die mit dem
Harmoniebegriff verbundene Vorstellung, daß das Seelische in der Zu-
sammensetzung körperlicher Elemente besteht:
polla… te g¦r aƒ sunqšseij tîn »Denn es gibt viele Zusammen-
merîn kaˆ pollacîj· t…noj oân À setzungen von Teilen und auf
pîj Øpolabe‹n tÕn noàn cr¾ sÚnqe- vielfache Weise. Wovon oder
sin e nai, À kaˆ tÕ a„sqhtikÕn À wie nun sollen wir die Vernunft
ÑrektikÒn; als Zusammensetzung anneh-
men? Und auch das Wahrneh-
mungsvermögen oder das Stre-
bevermögen? « 206

Aristoteles stellt hier fest, daß er sich schlicht und ergreifend nicht vor-
stellen kann, wie die Vernunft (noàj), das Wahrnehmungsvermögen
(a„sqhtikÒn) oder das Strebevermögen (ÑrektikÒn) als eine Zusammen-
setzung verstanden werden können. Zunächst einmal können wir hier-
bei die Vernunft außen vor lassen, da diese den Geist betrifft und der
Geist gewissermaßen ein Sonderproblem darstellt. Was die anderen

206
De anima I, 4; 408a 11-13, Übers. W. Theiler.

219
Aristoteles von Stageira (384-322)
genannten Vermögen angeht, so ist es aber überhaupt nicht schwer, den
Harmoniebegriff hier zur Erklärung derselben zu verwenden. Nehmen
wir einmal einen ganz einfachen Organismus als Beispiel. Dessen
Wahrnehmungsvermögen kann darin bestehen, daß der Anblick einer
bestimmten Farbe eine Fluchtreaktion auslöst, während der Anblick
einer anderen Farbe in Zusammenhang mit der Wahrnehmung eines
inneren Hungerzustandes den Organismus dazu bringt, sich dem wahr-
genommenen Objekt zu nähern. Letzteres kann dabei schon als ein
einfaches Strebevermögen interpretiert werden. Ein solches Verhalten
läßt sich sehr leicht als Ausdruck einer ¡rmon…a verstehen. Es handelt
sich hierbei jedoch nicht in erster Linie um eine Harmonie von materi-
ellen Entitäten, sondern um eine doppelte Harmonie von Informatio-
nen. Zum einen bedarf ein solcher Körper eines harmonischen Ver-
hältnisses von Informationen und den dazu passenden Reaktionen.
Wahrnehmungsvermögen und Strebevermögen müssen also ausglei-
chen sein. Der Organismus darf, um ein einfaches Beispiel zu geben,
nicht mehr fressen wollen, als er verarbeiten kann, sondern er muß
eben genausoviel zu sich nehmen, wie er braucht. Zugleich muß es in-
sofern eine Harmonie zwischen ihm und seiner natürlichen Umwelt
geben, daß er zum einen die richtigen Informationen aufnimmt und
entsprechend richtig auf die Umwelt reagiert. Eine Katze, der beim
Anblick eines Bären ein Hungergefühl überkommt und dieses am Bä-
ren zu stillen versucht, mag entsprechend von der Natur als ein nicht
mit dieser in einer Harmonie befindliches Wesen widerlegt werden.
Wir sehen hier insgesamt, daß mit jeder Kritik an den verschieden
Kritiken des Begriffs der ¡rmon…a als einem gemeinsamem Nenner ei-
nes Begriffs der Form im Bereich des Organischen, als eines Begriffs
der Seele also, unser Verständnis dieses Begriffs geschärft wird. Die
Vielfalt die er zu fassen vermag, wir deutlicher, indem seine Facetten so
klarer hervortreten. Wir gewinnen so ein immer differenzierteres Ver-
ständnis von den Zusammenhängen im Bereich des Organischen.

xx. Der Grundbegriff der Seele


§ 181 Wenn nun die ¡rmon…a nicht der Grundbegriff der Seele ist, so
braucht Aristoteles einen anderen Begriff, der sein differenziertes Ver-

220
Aristoteles von Stageira (384-322)
ständnis all dessen, was als Seele bezeichnet werden kann, auf den
Punkt bringt. Diesen Begriff findet Aristoteles im Begriff der Form
(e doj):
¢nagka‹on ¥ra t¾n yuc¾n oÙs…an »Notwendig also muß die Seele
e nai æj e doj sèmatoj fusikoà ein Wesen als Form(ursache) ei-
dun£mei zw¾n œcontoj. nes natürlichen Körpers sein, der
Möglichkeit zum Leben hat.« 207

Als e doj ist die Seele gleichwohl sehr viel allgemeiner bestimmt, denn
als ¡rmon…a, denn als e doj wird ja jede Form jedes Naturseins bezeich-
net. Dennoch vermag es Aristoteles hieraus eine ganze Reihe von Kon-
sequenzen zu ziehen.
Eine erste Konsequenz ist natürlich, daß auf den Unterschied von
Körper und Seele als Materie und Form die Unterscheidung von dÚna-
mij und ™nšrgeia anwendbar ist. Die Seele wird sozusagen als Wirklich-
keit des Leibes, als das, wo der Leib in seiner Entwicklung hin möchte,
gesehen. Dies deutete Aristoteles oben schon an. Denn nicht jeder
Körper ist in der Lage beseelt zu sein. Er muß die Möglichkeit dazu
haben, also so beschaffen sein, daß eine Seele an ihm auch etwas zum
verwirklichen hat. Diese Voraussetzung muß näher betrachtet werden,
denn wir wissen ja nun schon aus dem Vorhergehenden, daß es sich bei
einem solchen Körper nicht schlechthin um eine Art spezifischer Mate-
rie handeln kann, sondern daß eine komplexe Struktur von Formebe-
nen vorliegt, damit die Seele als die oberste Form die in ihnen liegende
Möglichkeit verwirklichen kann:
¹ d' oÙs…a ™ntelšceia· toioÚtou ¥ra »Das Wesen aber ist Vollendung
sèmatoj ™ntelšceia. aÛth d lš- (Entelechie). Also ist sie Vollen-
getai dicîj, ¹ m n æj ™pist»mh, ¹ dung eines solchen Körpers. Die-
d' æj tÕ qewre‹n. fanerÕn oân Óti se aber wird in zweifacher Bedeu-
æj ™pist»mh· ™n g¦r tù Øp£rcein tung verstanden, in der einen wie
t¾n yuc¾n kaˆ Ûpnoj kaˆ ™gr»- [z.B.] eine Wissenschaft, in der
gors…j ™stin, ¢n£logon d' ¹ m n anderen wie das Betrachten. Of-
™gr»gorsij tù qewre‹n, Ð d' Ûpnoj fensichtlich ist sie nun [Vollen-
tù œcein kaˆ m¾ ™nerge‹n· protšra dung] wie die Wissenschaft. Mit
d tÍ genšsei ™pˆ toà aÙtoà ¹ dem Dasein der Seele gibt es

207
De anima II, 1; 412a 19-21, Übers. W. Theiler.

221
Aristoteles von Stageira (384-322)
™pist»mh. diÕ ¹ yuc» ™stin ™nte- auch Schlaf und Wachen. Das
lšceia ¹ prèth sèmatoj fusikoà Wachen ist analog dem Betrach-
dun£mei zw¾n œcontoj. toioàton d ten, der Schlaf dem Besitzen,
Ö ¨n Ï ÑrganikÒn. ohne Betätigung. Früher aber,
der Entstehung nach, ist bei dem-
selben (Subjekt) die Wissen-
schaft. Deshalb ist die Seele die
erste Vollendung der Seele eines
natürlichen Körpers, der in
Möglichkeit Leben hat, und zwar
von der Art, wie es der organi-
sche ist.«
208

Aristoteles bezeichnet die Wirklichkeit, welche die Seele hier darstellt


mit dem viel eindruckvolleren und auch von ihm stammenden Begriff
„™ntelšceia“. Das meint wörtlich etwas, das sein Ziel in sich hat. Dieser
Begriff ist jedoch bei ihm nicht auf die Seele beschränkt, sondern meint
die Wirklichkeit einer jeden oÙs…a. Dennoch paßt der Begriff hier au-
ßerordentlich gut und verdeutlicht das, was wir oben in der Interpreta-
tion des Begriffs „™nšrgeia“ ausgeführt haben. Denn die Seele tut wirk-
lich etwas dafür, daß sie ihre Form verwirklicht.
Nun trifft Aristoteles hier aber sofort eine Unterscheidung und
spricht von zwei Begriffen der Wirklichkeit. Die eine sei mit der Wis-
senschaft (™pist»mh) vergleichbar, die andere mit dem Betrachten (qe-
wre‹n). Deutlich wird das, was er mit dieser neuerlichen Unterscheidung
meint, durch den weiteren Vergleich mit Schlaf- und Wachzustand. Die
Seele mag zwar immer Verwirklichung einer Möglichkeit sein, bisweilen
aber schläft sie. Sie nutzt dann gewissermaßen nicht das volle Potential
ihrer Möglichkeiten. Eine solches Wesen bleibt lebendig, aber seine
Lebendigkeit ist gewissermaßen auf ein notwendiges Minimum redu-
ziert. Ähnlich liegt der Fall bei einem Wissenschaftler. Seine Seele
bleibt wissenschaftsfähig, auch wenn er gerade nicht wissenschaftlich be-
trachtend tätig ist.
Diese Unterscheidung, deren tiefere Bedeutung wir an dieser Stelle
noch nicht ganz ergründen wollen, wird bei Aristoteles erst bei der Dis-

208
De anima II, 1; 412a 21 – 412b 1, Übers. W. Theiler.

222
Aristoteles von Stageira (384-322)
kussion der Tierseele und später auch der Geistseele wirklich bedeu-
tend. Pflanzen haben diese doppelte Wirklichkeit noch nicht. Es ist da-
her naheliegend, sie mit den reizbaren aber nicht unbedingt ständig ge-
reizten Nervensystemen in Verbindung zu bringen. Das erklärt uns
auch, warum Aristoteles an dieser Stelle die Seele zunächst nur ganz
allgemein als die erste ™ntelšceia bezeichnet. Er will mit dem Seelenbe-
griff alle Lebewesen erfassen, also auch Pflanzen, die jene zweite
™ntelšceia nicht besitzen.
§ 182 Wesentlich für den Körper, damit er die Möglichkeit dazu
hat, beseelt zu werden, ist seine organische (ÑrganikÒn) Struktur. Eine
Seele braucht also Elemente, die sie als Werkzeuge benutzen kann, die
ihr als Mittel zur Verwirklichung des Seelischen dienen. Sie ist damit
umgekehrt selbst immer schon als eine gewisse Intelligenz bestimmt.
Zugleich aber ist sie selbst damit kein Werkzeug, oder zumindest kein
bestimmtes Werkzeug:
éste ¹ yuc¾ ésper ¹ ce…r ™stin· »So ist die Seele wie die Hand;
kaˆ g¦r ¹ ceˆr ÔrganÒn ™stin Ñrg£- denn auch die Hand ist das Or-
nwn gan der Organe«. 209

Aristoteles bezeichnet sie sogar als ÔrganÒn Ñrg£nwn. Die Seele ist somit
als etwas bestimmt, das seinen eigenen Wirkungsbereich erweitern
kann, indem es anderes als Mittel zu Realisierung seiner Zwecke ver-
wendet. Wenn sie aber in dieser Weise planvoll vorgeht, dann reagiert
sie nicht einfach in der Welt, sondern sie agiert. Dies aber kann sie nur
aufgrund eines Bildes, was sie sich von der Welt macht; zumindest von
ihrer Umwelt. Dieses Bild aber ist eine zweite Wirklichkeit, womit wir
vermutlich schon den tieferen Sinn der aristotelischen Rede von einer
zweiten ™ntelšceia entschlüsselt haben.
§ 183 Betrachten wir diese noch sehr allgemeinen Gedanken, die ja
nichts weiter als eine erste Näherung an der Begriff der Seele sind, mit
etwas Distanz, so wird der Unterschied zu den im platonischen Sinne
idealistischen Sichtweisen der Seele deutlich. Im Platonismus wurde die
Seele vor allem gewissermaßen von oben, aus der Perspektive des Per-
fektesten mit dem Mittel der Emanation erschlossen. Dies gilt in ähnli-

209
De anima III, 8; 432a 1-2, Übers. W. Theiler

223
Aristoteles von Stageira (384-322)
cher Weise auch für die meisten Vordenker Platons, die ja noch ab-
straktere Sichtweisen an den Tag legten. Diese Abstraktionen und de-
ren Systematisierung durch den Platonismus krankten vor allem an ei-
ner Stelle: Sie kamen nicht sehr weit und blieben im Abstrakten stek-
ken.
Aristoteles hingegen präsentiert uns hier eine ganz neue Sichtweise,
die gewissermaßen von unter her die Seele zu erschließen versucht.
Nicht das Denken ist seine erste Kategorie, sondern die ganz banale
Organisation der Materie. Dabei verliert er dennoch nicht den Blick
nach oben. Er bleibt sich dessen bewußt, daß diese Seele, die er da zu-
nächst als etwas ganz einfaches konstruiert, schließlich zu einer res co-
gitans werden soll. Der Blick von unten macht Aristoteles also nicht
zum Materialisten, sondern er dient dazu, den Idealismus an einen Ort
zu bringen, wo dieser bislang nicht viel ausrichtete, nämlich als Seele
mitten in die Materie.
§ 184 Daher ist es nicht verwunderlich, daß für Aristoteles – ganz
anderes als für Platon – die Seele nicht vom Körper, zu dem sei gehört,
abtrennbar ist:
Óti m n oân oÙk œstin ¹ yuc¾ »Daß also die Seele nicht ab-
cwrist¾ toà sèmatoj, À mšrh tin¦ trennbar vom Körper ist, oder
aÙtÁj, e„ merist¾ pšfuken, oÙk ein gewisser Teil (Vermögen) von
¥dhlon· ™n…wn g¦r ¹ ™ntelšceia ihr, wenn sie von Natur aus (in
tîn merîn ™stˆn aÙtîn. oÙ m¾n Vermögen) teilbar ist, erweist sich
¢ll' œni£ ge oÙq n kwlÚei, di¦ tÕ als deutlich; denn von einigen ist
mhqenÕj e nai sèmatoj ™nte- die Vollendung die der Teile
lece…aj. selbst. Indes bei einigen Teilen
(Vermögen) hindert nichts (daß
sie abtrennbar sind), weil sie von
keinem Körper mehr Vollen-
dung sind.«210

Die Seele kann für Aristoteles gar nicht vom Körper abtrennbar sein,
denn sie ist ja die Verwirklichung eben dieses Körpers. Ohne Körper
wäre gar nichts da, was verwirklicht werden müßte oder könnte. Sie ist –
zumindest für einige Teile des Seelischen – nichts anderes als der Aus-

210
De anima II, 1; 413a 3-7, Übers. W. Theiler

224
Aristoteles von Stageira (384-322)
druck dieses lebendigen Körpers. Die Seele als Form wäre schlechthin
sinnlos, wenn es keine Materie mehr gibt, die von ihr geformt wird,
wenn sie keine reale Grundlage mehr hat. Die platonische Vorstellung
einer frei schwebenden Seele, die sich vom Körper befreien kann, liegt
Aristoteles ganz fern. Vom Körper befreit fehlten dieser vielmehr ihre
Werkzeuge, mit denen sie als Seele tätig und so in ihrer Tätigkeit wirk-
lich sein kann.
Hier räumt Aristoteles jedoch durchaus die Möglichkeit ein, daß es
Seelenteile geben kann, die abtrennbar sein könnten. Das ist genau
dann der Fall, wenn sie nicht mehr sèmatoj ™ntelšceia, also die Ver-
wirklichung eines Körpers sind. Das heißt natürlich nichts anderes, als
daß ihre Materie dann nicht mehr die Materie eines Körpers sein kann.
Da aber jede Form einer Materie bedarf, kommt als Materie dann kon-
sequenterweise nur die Form selbst in Betracht. Als sich so auf sich
selbst beziehende Form jedoch ist dieser Teil der Seele dann der Geist,
auf den wir später zu sprechen kommen werden.
Zunächst jedoch werden wir uns nun ausführlich mit dem beschäfti-
gen, was Aristoteles hier als die Teile der Seele bezeichnet hat. Solche
Teile haben wir ja schon bei anderen Denkern, vor allem bei Philolaos
und Platon kennengelernt. Wir werden sehen, daß auch Aristoteles sich
hier an die Ordnung dieser Teile hält, welche eine Pflanzenseele, eine
Tierseele und eine Geistseele vorsieht. Gleichzeitig ist seine Herange-
hensweise jedoch sehr viel detaillierter.

xxi. Die Nährseele


§ 185 Es ist daher wohl dem an den Einzeldingen interessierten und
von unten her argumentierenden Ansatz Aristoteles’ geschuldet, daß
dieser sich wirklich für die Seele der Pflanzen zu interessieren scheint.
Er ist daher der erste Denker, bei dem wir wirkliche Einsichten in das
Wesen dieser Entwicklungsstufe des Naturseins finden können. Bei der
Betrachtung dieser Pflanzenseele müssen wir natürlich immer im Hin-
terkopf behalten, daß es uns um Prinzipien und nicht um konkrete Na-
turphänomene geht. Hier wird also nicht vor allem die Pflanze be-
schrieben, sondern ein abstraktes Prinzip, daß sich hauptsächlich in
Pflanzen findet, wohl aber auch in Einzellern und anderen Lebewesen.

225
Aristoteles von Stageira (384-322)
Wichtig ist also nicht die Zuordnung, sondern das Prinzip. Erst die Er-
kenntnis desselben wird dann eine genaue Zuordnung erlauben. Wenn
wir also im folgenden von Nährseele reden, so meinen wir damit nicht
unbedingt Pflanzen. Insofern ist es treffender hier von der Nährseele
(qreptik» yuc») zu sprechen.
Aristoteles bestimmt die Pflanzenseele demgemäß zunächst ganz ab-
strakt als die einfachste Form der Seele:
tÍ d' ÓlV yucÍ æj oÙ diairetÍ »Es scheint auch das (Lebens-)
oÜsV. œoike d kaˆ ¹ ™n to‹j futo‹j Prinzip in den Pflanzen eine
¢rc¾ yuc» tij e nai· mÒnhj g¦r Seele zu sein; denn nur in ihr ha-
taÚthj koinwne‹ kaˆ zùa kaˆ fut£, ben die Lebewesen und die
kaˆ aÛth m n cwr…zetai tÁj Pflanzen Gemeinschaft. Und die-
a„sqhtikÁj ¢rcÁj, a‡sqhsin d' se Seele trennt sich von der Sin-
oÙq n ¥neu taÚthj œcei. nesseele ab, während ohne sie
kein Wesen Wahrnehmung
hat.« 211

Die Pflanzenseele ist also insofern die einfachste Form der Seele, als sie
sich in allen Lebewesen findet. Sie ist als solche eine Voraussetzung der
Sinnesseele des Tieres. Das Tier ist also auch eine Pflanze, nur eben
eine Pflanze, die zusätzlich ein Mehr an Organisation hat.
Dieser Umstand, daß das Vorhandensein der Pflanzenseele eine
Voraussetzung der anderen Seelentypen ist, liegt an ihrer wesentlichen
Funktion, welche Aristoteles als das Nährvermögen bestimmt:
T¾n m n oân qreptik¾n yuc¾n »Notwendig hat sicherlich jedes
¢n£gkh p©n œcein Óti per ¨n zÍ kaˆ Wesen, das lebt, die nährfähige
yuc¾n œcV, ¢pÕ genšsewj kaˆ Seele und besitzt Seele von der
mšcri fqor©j· ¢n£gkh g¦r tÕ Entstehung an bis zu seinem
genÒmenon aÜxhsin œcein kaˆ ¢km¾n Vergehen; denn notwendig muß,
kaˆ fq…sin, taàta d' ¥neu trofÁj was entsteht, Wachstum haben
¢dÚnaton· ¢n£gkh ¥ra ™ne‹nai t¾n und Blüte und Dahinschwinden,
qreptik¾n dÚnamin ™n p©si to‹j dies ist aber ohne Ernährung
fuomšnoij kaˆ fq…nousin· a‡sqhsin unmöglich. Folglich muß not-
d' oÙk ¢nagka‹on ™n ¤pasi to‹j wendig das Nährvermögen in al-
zîsin· len Wesen sein, die wachsen und
dahinschwinden. Wahrnehmung

211
De anima I, 5; 411b 27-30, Übers. W. Theiler

226
Aristoteles von Stageira (384-322)
hingegen muß nicht in allem Le-
bendigen sein.« 212

Die Pflanzenseele ist also insofern eine Voraussetzung der wahrneh-


mungsfähigen Seele, als diese aufgrund ihrer Funktion, die darin be-
steht die Ernährung des Organismus zu organisieren, eine Vorausset-
zung des Lebens überhaupt ist. Das Lebendige ist hier als das bestimmt,
was wächst und vergeht. Wachstum jedoch setzt notwendig Ernährung
voraus.
§ 186 Bis hierhin befinden wir uns noch ganz und gar auf der Ebene
dessen, was auch Philolaos bereits über das Verhältnis dieser beiden
Seelenformen gesagt hat. Aristoteles geht jedoch nun einen Schritt wei-
ter und betrachtet die Funktion der Pflanzenseele, die Ernährung, etwas
genauer. Zunächst, wenn man das Phänomen der Ernährung ganz ab-
strakt betrachtet, präsentiert uns dieses nämlich ein Problem. Die Nah-
rung ist nämlich zunächst etwas Körperfremdes, das zu einem Teil des
Körpers verwandelt werden soll. Hierin findet Aristoteles eine Streitfra-
ge seiner Vordenker wieder:
™n m n oân to‹j ¡plo‹j sèmasi »Bei den einfachen Körpern nun
taàt' e nai doke‹ m£lista tÕ m n scheint sich dies so zu verhalten,
trof¾ tÕ d trefÒmenon. ¢por…an d' daß das eine Nahrung ist, das an-
œcei· fasˆ g¦r oƒ m n tÕ Ómoion tù dere das Genährte. Doch gibt es
Ðmo…J tršfesqai, kaq£per kaˆ aÙ- eine Schwierigkeit: Die einen näm-
x£nesqai, to‹j d' ésper e‡pomen lich behaupten, das Gleiche nähre
toÜmpalin doke‹, tÕ ™nant…on tù sich vom Gleichen, den anderen
™nant…J, æj ¢paqoàj Ôntoj toà aber scheint sich, wie wir sagten,
Ðmo…ou ØpÕ toà Ðmo…ou, t¾n d das Gegenteil zu ergeben, daß sich
trof¾n de‹n metab£llein kaˆ pšt- das Entgegengesetzte vom Entge-
tesqai· ¹ d metabol¾ p©sin e„j tÕ gengesetzten nähre, da das Gleiche
¢ntike…menon À tÕ metaxÚ. vom Gleichen nichts erleide, die
Nahrung aber verwandelt und ver-
daut werde. Die Umwandlung aber
geschieht bei allem zum Entgegen-
gesetzten oder zum Dazwischenlie-
genden.«213

212
De anima III, 12; 434a 22-27, Übers. W. Theiler
213
De anima II, 4; 416a 27-34, Übers. W. Theiler

227
Aristoteles von Stageira (384-322)
Das hier zugrundeliegende Problem ist das folgende. Es wird einerseits
behauptet, daß nur Gleiches auf Gleiches wirke; ein Satz, dessen sy-
stemtheoretischen Sinn wir bereits bei der Diskussion der Thesen des
Demokritos beleuchtet haben. Andererseits aber ist die Nahrung dem
Körper entgegengesetzt; sie ist zunächst körperfremd, so daß es empi-
risch gesehen bei der Ernährung kein Gleiches gibt, das auf den Körper
wirken könnte, sondern ein entgegengesetztes Körperfremdes. Zudem
gibt es den Prozeß der Verdauung, der die Natur des Nahrungsmittels
umkehrt. Wäre dieses also ein dem Körper Gleiches, so würde es
durch die Verdauung zu einem Ungleichen gemacht.
§ 187 Aristoteles’ Lösung dieses bei genauerer Betrachtung sehr
künstlich anmutenden Paradoxons liegt in einer Verbindung beider
hier gewissermaßen nur aneinander vorbei redender Forderungen:
Î m n g¦r ¥peptoj, tÕ ™nant…on tù »Sofern sie nämlich unverdaut ist,
™nant…J tršfetai, Î d pepemmšnh, nährt sich das konträr Entgegen-
tÕ Ómoion tù Ðmo…J. gesetzte vom Entgegengesetzten,
sofern sie aber verdaut ist, (nährt
sich) das Gleiche vom Glei-
chen.«214

Die Nahrung muß also zunächst empirisch als etwas Körperfremdes be-
trachtet werden. Dann setzt allerdings die Verdauung ein und verwan-
delt sie in etwas Körpereigenes, assimiliert sie und erhält so die Konsi-
stenz der systemtheoretischen Betrachtungsweise, derzufolge nur etwas
Gleiches auf etwas Gleiches wirken kann.
Diese Fähigkeit zur Assimilation ist zugleich eine weitere besondere
Fähigkeit der Seele überhaupt. Sie ist in der Lage, Fremdes in Eigenes,
Entgegengesetztes in Gleiches zu verwandeln. Die Pflanzenseele ist
nach Aristoteles die abstrakteste Form dieser Fähigkeit:
oÙq n aÙtÕ ˜autÒ, ¢ll¦ sèzei. »Daher ist ein solches Prinzip der
ésq' ¹ m n toiaÚth tÁj yucÁj Seele ein Vermögen, ihren Trä-
¢rc¾ dÚnam…j ™stin o†a sèzein tÕ ger als solchen zu erhalten, die
œcon aÙt¾n Î toioàton, ¹ d trof¾ Nahrung aber macht das [Ver-
paraskeu£zei ™nerge‹n· diÕ sterh- mögen] bereit, tätig zu sein.
q n trofÁj oÙ dÚnatai e nai. [™peˆ Wenn deshalb [das Beseelte]

214
De anima II, 4; 416b 6-7, Übers. W. Theiler

228
Aristoteles von Stageira (384-322)
d' œsti tr…a, tÕ trefÒmenon kaˆ ú seiner Nahrung beraubt ist, kann
tršfetai kaˆ tÕ tršfon, tÕ m n es nicht (weiter) bestehen. Da
tršfon ™stˆn ¹ prèth yuc», tÕ d drei Faktoren vorliegen: das Er-
trefÒmenon tÕ œcon taÚthn sîma, nährte, das, wodurch es ernährt
ú d tršfetai, ¹ trof».] ™peˆ d wird, und das Ernährende, ist das
¢pÕ toà tšlouj ¤panta prosago- Ernährende die erste (unterste
reÚein d…kaion, tšloj d tÕ gennÁ- Form von) Seele, das Genährte
sai oŒon aÙtÒ, e‡h ¨n ¹ prèth aber der Körper, der sie besitzt,
yuc¾ gennhtik¾ oŒon aÙtÒ. und die Nahrung das, wodurch er
genährt wird. Da mit Recht alles
von seinem Zweck her benannt
wird, und der Zweck (hier) das
Erzeugen eines artgleichen (We-
sens) ist, dürfte die erste (Form
von) Seele die zur Erzeugung ei-
nes Artgleichen befähigte sein.«
215

Das Nahrungsvermögen erhält den Körper als Körper und damit auch
die Seele. Daher interpretiert Aristoteles diese Fähigkeit der Pflanzen-
seele, sich körperfremdes Material zu assimilieren und sich dadurch zu
erhalten als das Vermögen, ein artgleiches Wesen hervorzubringen.
Denn die Pflanzenseele erzeugt so ihren Körper und damit sich selbst
ständig neu als ein artgleiches Wesen. Die Art dieses Wesens bleibt er-
halten, aber die Materie wird durch den Stoffwechsel ausgetauscht. Die
Art ist damit als dasjenige bestimmt, was im Fluß der sich ständig wech-
selnden Materie erhalten bleibt.
§ 188 Was also unterscheidet die Pflanzenseele oder Nährseele
(qreptik» yuc») vom Wasserkreislauf oder ähnlichen chemischen und
physikalischen Kreisläufen? Dieser ist immerhin auch in der Lage, im-
mer neue Elemente aufzunehmen und sie zu einem Teil seiner selbst
zu machen. Was jedoch bei der Pflanze darüber hinaus an Fähigkeit
vorhanden ist, ist das Vermögen zur Verwandlung der Natur dieser
Elemente. Während das Wasser im Wasserkreislauf zwar inkorporiert
wird, aber dennoch Wasser bleibt, wird der Nährstoff in der Pflanze zu
etwas Pflanzlichem. Was heißt das? Wo liegt hier genau der Unter-
schied? Die folgenden Diagramme können uns das verdeutlichen:

215
De anima II, 4; 416b 17-25, Übers. W. Theiler

229
Aristoteles von Stageira (384-322)

Wasserkreislauf

Ûdwr

Beim Wasserkreislauf wirken bloß äußere Kräfte auf die zugrundelie-


gende Materie, also das Wasser. Diese führen dazu, daß das Wasser im
Kreislauf bleibt. Der Wasserkreislauf ist also ein äußeres Prinzip, ganz
anderes als die Pflanzenseele.

Nährseele

qreptik»
yuc»

Die Pflanzenseele ist ein inneres Prinzip. Die Kräfte, die auf die Mate-
rie wirken, die Teil der Pflanze werden, sind keine äußeren Kräfte
mehr, sondern innere. Wie können wir uns das vorstellen? Hierzu
können wir, auch wenn Aristoteles sicherlich nicht an derartiges gedacht

230
Aristoteles von Stageira (384-322)
hat, Anleihen bei der modernen Biologie machen. Das Material, was
Teil der Pflanze wird, ist eben nicht bloß kausal von außen zu manipu-
lierendes Material, das gewissermaßen durch einen äußeren Kräfterah-
men zusammengehalten wird, sondern es kann selbst Teil derjenigen
Instanzen werden, die den inneren Kräfterahmen der Pflanze bestim-
men. Am deutlichsten ist das sicherlich dann, wenn etwa ein Nah-
rungsmittel dazu verwendet wird, um als Informationsträger in einem
genetischen Prozeß zu wirken. Hier ist es als Materie zugleich ein be-
deutungstragender Teil für die Form geworden. So läßt sich der Unter-
schied zwischen dem äußerlichen Prinzip des Wasserkreislaufes und
dem inneren Prinzip der Pflanzenseele am besten auf den Punkt brin-
gen. Der Unterschied zeigt sich jedoch – und hier müssen wir die mo-
derne Biologie nicht bemühen – auch schon darin, daß beispielsweise
bei einem Baum umgewandelte Nahrungsmittel zum Bau von Trans-
portkanälen für Wasser verwendet werden. Das ist beim Wasserkreis-
lauf nicht möglich. Hier wäre es undenkbar, das wiederum Wasser zum
leiten des Wassers in einem Fluß Verwendung findet. Alles leitende
Material, wie etwa das Flußbett, liegt außerhalb.
Der Unterschied vom physikalisch-chemischen Kreislauf zu jenem
sich selbst erhaltenden System, welches Aristoteles als Nährseele be-
zeichnet besteht also darin, daß die Bedingungen des eigenen Beste-
hens und Erhalts verinnerlicht worden sind. Hier haben wir es mit ei-
nem echten Sprung zu tun. Die Natur hat sich beim Übergang von der
einen Stufe zur nächstens eben dessen bemächtigt, was vorher äußere
Bedingung ihrer Existenz war. So bedingt sich der zirkuläre Stoffwech-
sel dieses Systems selbst.
§ 189 Auch wenn Aristoteles hier ein wesentliches Prinzip des Na-
turseins erkannt hat, so fehlt seiner doch bereits sehr weit gehenden
Beschreibung dieses Systems dennoch eine genaue Erklärung der
Funktionsweise desselben. Wie schafft es beispielsweise eine Pflanze,
Nahrung zu assimilieren? Es ist dies ja ein ungeheuer komplexer Pro-
zeß. Eine solche genauere Beschreibung würde – wir haben es oben
schon angedeutet – ergeben, daß die doppelte Ebene des pflanzlichen
Systems darin besteht, daß diese zum einen als materieller Körper über
eine bestimmte Ausstattung wie spezialisierte Zellen verfügt, zum ande-

231
Aristoteles von Stageira (384-322)
ren aber auch ein Informationssystem besitzt, welches perfekt Ge-
brauch von dieser Ausstattung macht und diese und sich selbst erhält.
Diesen doppelten Charakter der Pflanzenseele hat Aristoteles allenfalls
auf einer prinzipiellen Ebene erahnt, aber keineswegs auch nur annä-
hernd beschrieben. Nur indem man die Form der Pflanzenseele als et-
was Ideelles betrachtet, kann man diese Auslassung die selbstverständ-
lich einem Fehlen des naturwissenschaftlichen Hintergrundes geschul-
det ist, mit modernen Einsichten füllen.
§ 190 Damit haben wir beschreiben, was der Fortschritt der Pflan-
zenseele ist. Sie ist jedoch von Aristoteles als einfachste Form der Seele
beschrieben worden, so daß wir zugleich eine Hinsicht finden werden,
in der sie beschränkt ist. Was ihr fehlt, ist die Wahrnehmung. Hier
stellt er nun die Frage,
di¦ t… pote t¦ fut¦ oÙk a„s- »warum die Pflanzen nicht wahr-
q£netai, œcont£ ti mÒrion yucikÕn nehmen, obwohl sie doch einen
kaˆ p£scont£ ti ØpÕ tîn ¡ptîn Seelen-Teil (-Vermögen) haben
(kaˆ g¦r yÚcetai kaˆ qerma…netai)· und von dem Tastbaren selbst
a‡tion g¦r tÕ m¾ œcein mesÒthta, etwas erleiden; denn sie werden
mhd toiaÚthn ¢rc¾n o†an t¦ e‡dh kalt und warm. Der Grund davon
dšcesqai tîn a„sqhtîn, ¢ll¦ ist nämlich der, daß sie keine
p£scein met¦ tÁj Ûlhj. (wahrnehmungsfähige) Mitte und
kein derartiges Prinzip haben,
das die Formen des Wahrnehm-
baren aufzunehmen vermag,
sondern sie erleiden mit der Ma-
terie.«
216

Wir sehen hier, daß der Umstand, daß den Pflanzen die Wahrneh-
mung fehlt, sehr eng mit dem vorher Analysierten zusammenhängt.
Aristoteles gibt als Grund für das Fehlen der Wahrnehmung das Feh-
len einer Mitte (mesÒthj) an, die in der Lage wäre, die wahrnehmbaren
Formen aufzunehmen. Nun haben wir aber oben gesagt, daß Pflanzen
als Organismen eben doch über so etwas wie Informationsverarbeitung
verfügen. Bereits einfachste genetische Prozesse, wie wir sie etwa im
Modell des Hyperzyklus finden, verleihen einem Organismus bereits

216
De anima II, 12; 424a 32 – 424b 3, Übers. W. Theiler.

232
Aristoteles von Stageira (384-322)
eine solche zweite Ebene, die man durchaus als das verstehen kann,
was Aristoteles hier mesÒthj nennt. In einem Hyperzyklus – der hier
nur ganz grob beschrieben werden soll – katalysieren Nukleinsäuren
die Bildung von Proteinen, die ihrerseits wiederum die Bildung von
Nukleinsäuren katalysieren. Schließen sich nun eine Reihe solcher Pro-
zesse zu einem Kreis zusammen, so haben wir bereits ein ganz rudi-
mentäres Lebewesen vorliegen, bei dem der Kreislauf der Nukleinsäu-
ren als ein Informationskreislauf angesehen werden kann, während der
Kreislauf der Proteine gewissermaßen den Körper bildet. Ein solches
Lebewesen verfügt also bereits über eine mesÒthj, also eine zweite Or-
ganisationsebene in der die Moleküle die Rolle von Bedeutungsträgern
übernehmen können.
§ 191 Es ist daher auch relativ leicht vorstellbar, daß ein solcher Hy-
perzyklus ohne eine wesentliche Veränderung seiner prinzipiellen Or-
ganisationsstruktur zu einem wahrnehmungsfähigen System ausgebaut
wird. In der Tat verfügen bereits prokaryontische Zellen über die Mög-
lichkeit, Umweltgegebenheiten in Signale zu transformieren und mit
ihrer genetisch gesteuerten Proteinproduktion darauf zu reagieren.
Prokaryonten sind aber vom Prinzip her nichts sehr viel anderes als
sehr komfortabel ausgestattete Hyperzyklen.
Aristoteles liegt also falsch mit seiner Annahme, die einfachste Form
des Seelischen oder Lebendigen sei dadurch gekennzeichnet, daß sie
nicht wahrnehmen könne. Er setzt Wahrnehmung hier wohl einfach
vorschnell mit der an ein Nervensystem gekoppelten Sinneswahrneh-
mung gleich. Man könnte Aristoteles nun verteidigen indem man ein-
wendet, daß er mit a„sqhtÒj ja schließlich so etwas bildliche Wahrneh-
mung meinte. Dieser Einwand scheitert aber daran, daß er eben davon
ausgeht, daß die Pflanzen als diejenigen Wesen, die eine solche Wahr-
nehmung nicht hätten, eben p£scein met¦ tÁj Ûlhj, also mit der Mate-
rie leiden. Gemeint ist damit natürlich, daß Stoffe nur als Stoffe in der
Pflanze kommen, nie aber als Information. Und das trifft offensichtlich
nicht zu.

233
Aristoteles von Stageira (384-322)
xxii. Die Pflanze im Unterschied zu Nährseele
§ 192 Wir haben gesehen, daß Aristoteles’ Charakterisierung der Nähr-
seele als eines Wesens, dem die Mitte fehlt und das deswegen keine
Wahrnehmung hat, auf einzellige Lebewesen, die ja noch eine einfa-
chere Struktur haben, als die Pflanze, nicht zutrifft. Gehen wir nun da-
von aus, daß die Pflanze komplexer ist, so müssen wir darauf schließen,
daß Aristoteles auch hier falsch liegen würde. Dennoch macht seine
Rede von der fehlenden Mitte Sinn, wenn man sie nicht auf Einzeller
als Inbegriff derjenigen Wesen, die nur über eine Nährseele verfügen,
sondern ganz konkret auf Pflanzen bezieht. Diese sind nämlich wesent-
lich, wie Aristoteles an anderer Stelle ausführt, dadurch charakterisiert,
daß sie dezentral organisiert sind. Aristoteles beschreibt in De longitu-
dine et brevitate vitae, daß die Pflanzen aufgrund dieses Umstandes
langlebiger sind als Tiere:
nša g¦r ¢eˆ t¦ fut¦ g…netai· diÕ »Die Pflanzen erneuern sich ja
polucrÒnia. [...] œoike d t¦ fut¦ ständig, deswegen leben sie so
to‹j ™ntÒmoij, ésper e‡rhtai prÒ- lange. [...] Die Pflanzen gleichen,
teron· diairoÚmena g¦r zÍ, kaˆ dÚo wie bereits gesagt, den Insekten.
kaˆ poll¦ g…netai ™x ˜nÒj. t¦ d' Denn man kann sie zerschnei-
œntoma mšcri m n toà zÁn Ãlqen, den, und sie leben dennoch wei-
polÝn d' oÙ dÚnatai crÒnon· oÙ g¦r ter, und es entstehen zwei oder
œcei Ôrgana, oÙd dÚnatai poie‹n mehr aus einem. Die Insekten
aÙt¦ ¹ ¢rc¾ ¹ ™n ˜k£stJ. ¹ d' ™n vermögen zwar weiterzuleben,
tù futù dÚnatai· pantacÍ g¦r aber nicht sehr lange. Denn es
œcei kaˆ ·…zan kaˆ kaulÕn dun£mei. fehlen ihnen die Organe, und das
[...] a‡tion d' Óti ™nup£rcei p£ntV ¹ jedem Individuum inhärente Le-
¢rc¾ dun£mei ™noàsa. bensprinzip vermag diese Organe
nicht neu hervorzubringen. Bei
den Pflanzen ist dieses Vermögen
jedoch gegeben, denn sie enthal-
ten in jedem Teil potentiell Wur-
zel und Stamm. [...] Der Grund
dafür liegt darin, daß das Lebens-
prinzip in jedem Teil potentiell
vorhanden ist.« 217

217
De longitudine et brevitate vitae 6; 467a 12; 18-23; 29-30, Übers. E. Dönt.

234
Aristoteles von Stageira (384-322)
Im Gegensatz zu Tieren können Pflanzen sich also nach Aristoteles aus
einem Teil ganz erneuern. Daher können sie auch alle lebenswichtigen
Organe wiederherstellen. Bei Tieren krankt es eben daran. Man könn-
te also sagen, daß das Lebensprinzip (¢rc») bei den Tieren über den
Organen steht. Es ist zwar an diese zurückgebunden um existieren zu
können; deren Bestehen aber ist materielle Voraussetzung und keine
formale Funktion des Tieres. Bei Pflanzen hingegen scheint diese ¢rc»
in jedem Teil vorzuliegen, so daß es zum funktionieren der Pflanze auf
ihrer höchsten Formebene gehört, alles immer wieder neu herzustellen.
§ 193 Aristoteles beschreibt hier einen Umstand, der auch ohne ge-
nauere naturwissenschaftliche Einsichten den Menschen schon lange
bekannt war. Aus einem Teil einer Pflanze kann die gesamte Pflanze
wieder entstehen. Die Biologie geht heutzutage davon aus, daß dies ge-
gebenenfalls sogar einer einzelnen Pflanzenzelle möglich ist. Was nun
aber an dieser Feststellung verblüfft und zugleich verwirrt ist der Um-
stand, daß unserer Ordnung der Naturformen hier ein Widerspruch zu
drohen scheint. Denn einerseits ist das Wiederherstellen des Ganzen
eine Funktion, welche eine sehr zentrale Eigenschaft gerade der ersten
Stufe des Lebendigen beschreibt. Das beständige Herstellen des eige-
nen Körpers ist, wie wir gesehen haben, gerade das Charakteristikum
der Nährseele und durchaus kein triviales Vermögen. Indem diese Stu-
fe des Lebendigen durch die Fähigkeit charakterisiert ist, sich ganz wie-
derherzustellen, ist diese Fähigkeit zugleich aber auch kein wesentliches
Charakteristikum der folgenden Stufen mehr. Zwar enthalten alle kom-
plexeren Lebewesen notwendig Elemente, die sich wiederherstellen
können, aber daraus folgt nicht, daß sie damit zugleich auch die über-
geordnete Einheit des Organismus, dessen materieller Teil sie sind,
wiederherstellen. Das Phänomen des Tumors zeigt vielmehr, daß diese
Fähigkeit hier durchaus auch in kontraproduktiver Form auftreten
kann. Wie kann also gerade diese Eigenschaft hier bei der Pflanze, die
ja komplexer sein soll als ein Einzeller, wiederum charakteristisch wer-
den?
Auflösen läßt sich verwickelte Zusammenhang mit Hilfe des Mo-
ments der Dezentralität der Pflanzen. Pflanzen sind natürlich nur inso-
fern dezentral, als sie eine Vielheit bilden; biologisch gesehen eben eine

235
Aristoteles von Stageira (384-322)
Vielzahl von Zellen. Diese Zellen stehen jedoch – das ist Bedingung
der Einheit des Organismus – in einer Kommunikation miteinander.
Sofern Pflanzen nun wirklich komplexer sind als Einzeller, ist das Sy-
stem dieser Kommunikation eine höhere Formebene als die durch es
verbundenen Zellen. Wir wissen nun aus der Biologie, daß die Pflan-
zenzellen über kein zentralisiertes Kommunikationssystem verfügen,
wie das bei Tieren mit dem Blutkreislauf der Fall ist. Vielmehr wirken
die Botenstoffe von Zelle zu Zelle, also zunächst in der unmittelbaren
Nachbarschaft. Das jedoch heißt, daß die höhere Formebene hier eine
dezentrale Ebene ist. Die Information, welche die Pflanze als Ganze
organisieren, ihren Zusammenhalt ausmachen, liegen nicht zentral vor,
was nichts anderes heißt, als daß sie auf der höchsten Ebene gar nicht
wirklich vorliegen; ebenso wie im Wasserkreislauf der Zusammenhalt
als Information nie wirklich in Erscheinung tritt. Jede Zelle verfügt in
ihrem Genprogramm über die nötigen Anweisung, die sie zu einer
funktional ausdifferenzierten Zelle des Gesamtsystems Pflanze werden
lassen kann. Ist sie dieses geworden, dann arbeitet sie allein durch die
Nachbarschaft mit den anderen und den Bestand des Ganzen zum
Wohle des Gesamtsystems. So ist es nicht verwunderlich, daß verschie-
dene Pflanzenarten durch Pfropfen zu einem funktionstüchtigen Orga-
nismus verbunden werden können.

236
Aristoteles von Stageira (384-322)

Die Pflanzenseele als dezentrales System

Die genetische Prädisposition jeder einzelnen Pflanzenzelle, die sie zu


einem beliebigen Teil des Gesamtsystems werden lassen kann, stellt zu-
gleich jenen Aspekt dar, den Aristoteles als das Vorhandensein des um-
fassenden Lebensprinzips in jedem Teil beschreibt. Dies dürfen wir uns
allerdings nicht so vorstellen, daß jenes Prinzip explizit vorliegt. Es liegt
vielmehr implizit im individuellen Lebensprozeß der Zelle vor, insofern
diese darauf hin ausgerichtet ist, Teil eines Gesamtsystems von Zellen
zu werden oder ein solches System durch Vermehrung aus sich hervor-
zubringen.

xxiii. Biologische Information


§ 194 Wir kennen heute die Mechanismen der genetische Informati-
onsverarbeitung, die bereits bei ganz einfachen Lebewesen und schließ-
lich auch in Pflanzen am Werke sind. Aristoteles verfügte nicht über
ein solches Wissen. Er konnte insofern nicht wissen, daß Einheiten be-
stimmter Formen bereits in einfachen Organismen über codierte In-
formationen mit anderen gleichgeformten Einheiten kommunizieren

237
Aristoteles von Stageira (384-322)
können. Ein derartiger Zusammenhang trat für einen antiken Denker
vermutlich erst in der Form der Sprache so richtig plastisch in Erschei-
nung.
Dennoch gibt es einen Bereich in der Natur, anhand dessen Beob-
achtung Aristoteles bereits einen erstaunlich weit entwickelten Begriff
einer biologischen Information entwickelt hat. Dies ist der Bereich der
Fortpflanzung. Nach Aristoteles’ Auffassung gibt es bei der Fortpflan-
zung eine klare Arbeitsteilung:
¢eˆ d paršcei tÕ m n qÁlu t¾n »Immer bringt das Weibliche die
Ûlhn tÕ d' ¥rren tÕ dhmiourgoàn· Materie hervor und das Männli-
[...] œsti d tÕ m n sîma ™k toà che den Baumeister. [...] Der
q»leoj ¹ d yuc¾ ™k toà ¥rrenoj· Körper ist aus dem Weiblichen,
die Seele aber aus dem Männli-
chen.« 218

Diese aus heutiger Sicht völlig falsch gesehene Arbeitsteilung des


männlichen und weiblichen Geschlechts bei der Fortpflanzung ist inso-
fern für uns sehr produktiv, als diese Arbeitsteilung eben gerade die
Unterscheidung der Form- und der Materieseite betrifft. Indem das
Weibliche immer nur die Materie liefert, das Männliche aber die Form
– und zwar nicht nur als eine abstrakte Form, sondern als eine Form
die als dhmiourgÒj die Materie aktiv formt – können wir hier ganz allge-
mein etwas über die Wirkung der Form erfahren.
Nach Aristoteles’ Auffassung wird der männliche Samen nicht zum
Teil des neu entstehenden Lebewesens, sondern er ist nur die causa
efficiens der Formbildung desselben. Der folgende Vergleich macht
dies deutlich:
dÁlon ¥ra Óti oÜt' ¢n£gkh ¢pišnai »Es folgt also, daß notwendig we-
ti ¢pÕ toà ¥rrenoj, oÜt' e‡ ti der etwas vom Männlichen verlo-
¢pšrcetai di¦ toàto ™k toÚtou æj ren geht, noch, wenn doch etwas
™nup£rcontoj tÕ gennèmenÒn ™stin wegkommt, daraus folgt, daß die-
¢ll' æj ™k kin»santoj kaˆ toà ses im Entstehenden vorhanden
e‡douj, æj kaˆ ¢pÕ tÁj „atrikÁj Ð ist, es sei denn als das in Bewe-
Øgiasqe…j. gung setzende und die Form;
ebenso auch der durch die Heil-

218
De generatione animalium II,4; 738b 20-21; 25-26

238
Aristoteles von Stageira (384-322)
kunst gesund gewordene [Körper
des Menschen].« 219

Was Aristoteles hier meint, ist, daß der männliche Samen nicht als ma-
terieller Bestandteil in das neu entstehende Lebewesen eingeht, son-
dern nur als dessen Form. Er vergleicht dies, um es ganz deutlich zu
machen, mit der Heilung eines Patienten. Es ist nicht der Arzt selbst,
der zu einem Teil des Patienten wird, wenn dieser gesundet, sondern er
hat nur qua Heilkunst auf diesen und vor allem auf dessen Form ge-
wirkt. Wir können also den männlichen Samen hier als einen bloßen
Informationsträger betrachten, der formend auf die Materie wirkt, wel-
che das Weibliche zur Verfügung stellt.
§ 195 Etwas später vergleicht Aristoteles diesen Zeugungsprozeß mit
der Arbeit eines Schreiners, der selbst nicht das Holz hervorbringt,
sondern dieses nur durch seine Kunst entsprechend formt:
Ðmo…wj d kaˆ ¹ fÚsij ¹ ™n tù »Ebenso benutzt auch die Natur
¥rreni tîn spšrma pro emšnwn in den Samen ergießenden
crÁtai tù spšrmati æj Ñrg£nJ Männlichen, den Samen als
kaˆ œconti k…nhsin ™nerge…v, ésper Werkzeug und als etwas, das in
™n to‹j kat¦ tšcnhn gignomšnoij t¦ Wirklichkeit Bewegung besitzt,
Ôrgana kine‹tai· ™n ™ke…noij g£r wie Werkzeuge bei den gemäß
pwj ¹ k…nhsij tÁj tšcnhj. einer Technik Entstehenden be-
nutzt werden. Denn in jenen liegt
die Bewegung der Technik.« 220

Der hier von Aristoteles unternommene Vergleich des spšrma mit dem
technischen Werkzeug ist insofern sehr aufschlußreich, als er uns Ein-
blick in seine Vorstellung des spšrma als Informationsträger gibt. Dieses
gleicht in seinem Informationscharakter dem Werkzeug, das an sich
nur einfach da liegt, das aber sobald ein Mensch es erblickt, diesem so-
fort eine Idee von seiner Benutzung eingibt. Sicherlich ist das bei den
technisch hochentwickelten Geräten unserer heutigen hochgradig ar-
beitsteiligen Welt nicht mehr der Fall. In der antiken Welt jedoch, wo
noch jeder prinzipiell alles konnte und allein die Frage der Geübtheit
und eventuell des Körperbaus eine Eignung für ein bestimmtes Hand-

219
De generatione animalium I, 21; 729b 18-21
220
De generatione animalium I, 22; 730a 19-23

239
Aristoteles von Stageira (384-322)
werk ausmachten, lag dieser unmittelbare Zugang zum technischen Ge-
rät sehr nahe. Denken wir also nicht an Computer, sondern an Ham-
mer, wenn Aristoteles hier von t¦ Ôrgana spricht.
Er geht also davon aus, daß es materielle Objekte gibt, deren äußere
Form bereits Informationen über deren Verwendungsweise enthält.
Dies mag hier eine große Konjektur sein, aber meines Erachtens sind
wir da nicht sehr weit vom Informationscharakter der Botenstoffe ent-
fernt, die wir in Organismen finden. Auch diese besitzen mitunter auf-
grund ihrer äußeren Form einen gewissen Informationscharakter; nur
eben, daß diese Form auf einer molekularen Ebene vorliegt.
Daß es nun keinen wirklichen Handwerker gibt, der das spšrma als
Werkzeug benutzt ist nicht weiter problematisch. Wenn Aristoteles die
Natur selbst hier als Agenten einführt, dann tut er damit nichts anderes
als die heutige Naturwissenschaft, die eben davon ausgeht, daß derlei
Botenstoffe durch rein naturgesetzliche Abläufe entschlüsselt werden.
In eben diesem Sinne können wir Aristoteles’ Feststellung, daß dieses
Werkzeug seine Bewegung in Wirklichkeit besitze, verstehen. Wenn
das spšrma die passende Materie antrifft, auf die es wirken kann, dann
tut es das ohne eine Hilfe von außen. Wir müssen uns nun nicht in ei-
nen Streit darüber einlassen, ob nun der Botenstoff oder die entschlüs-
selnde Instanz die entscheidende Rolle bei einem solchen Information-
stransfer spielt. Aus systemtheoretischer Sicht gehören beide ja ohnehin
untrennbar als Teile zu einem System, daß erst als ganzes wirklich exi-
stiert.
§ 196 Interessant ist gerade aus dieser Perspektive Aristoteles’ Stel-
lungnahme zur Frage, ob das spšrma beseelt sei:
PÒteron d' œcei yuc¾n tÕ spšrma À »Hat der Samen eine Seele oder
oÜ; Ð aÙtÕj lÒgoj kaˆ perˆ tîn nicht? Hier trifft dasselbe Argu-
mor…wn· oÜte g¦r yuc¾ ™n ¥llJ ment zu wie bezüglich der Teile:
oÙdem…a œstai pl¾n ™n ™ke…nJ oá g' Denn keine Seele wird in ande-
™st…n, oÜte mÒrion œstai m¾ rem sein, außer in jenem, dessen
metšcon ¢ll' À ÐmwnÚmwj ésper Seele sie ist, ebenso wie kein Teil
teqneîtoj ÑfqalmÒj. dÁlon oân Óti ein Teil sein wird, der nicht an
kaˆ œcei kaˆ œsti dun£mei. der Seele teilhat, außer als ho-
monym, so wie das Auge eines
Toten. Folglich hat er sowohl

240
Aristoteles von Stageira (384-322)
Seele und ist Seele der Möglich-
keit nach.«
221

Einerseits ist das spšrma so etwas wie reine Form und Seele ohne Ma-
terie, denn das macht ja gerade die Information aus, welche in ihm
liegt. Andererseits betont Aristoteles aber zurecht, daß etwas nur eine
Form haben kann, was eine Materie formt und somit auch nur eine
Seele haben kann, was einen beseelten Körper hat. Das ist beim spšrma
nicht der Fall. Die Lösung dieser Aporie liegt darin, daß das spšrma
eben der Möglichkeit nach beseelt ist; also auch der Möglichkeit nach
eine Form – auf der ihm eigentlich zukommenden Formebene – hat.
Dasselbe trifft auch auf Botenstoffe zu. Diese haben ihre Form insofern
der Möglichkeit nach, als erst die Dekodierung der Botschaft sie zu ei-
nem Teil der Form macht.

xxiv. Die Sinnesseele


§ 197 Die Seele des Tieres ist, wie wir aus dem Vorhergehenden ver-
muten können, bei Aristoteles vor allem durch ihre Fähigkeit zu
Wahrnehmung charakterisiert. Diesen Gedanken haben wir ja bereits
ebenso schon bei Philolaos und Platon vorgefunden. Auch wenn wir
ihm nicht in reiner Form zustimmen können, so ist doch das, was Ari-
stoteles hier über das Wahrnehmungsvermögen zu sagen weiß, immer-
hin Ausdruck einer bestimmten Stufe des Naturseins, der wir alsdann
auf den Grund gehen werden.
Er definiert die Wahrnehmung zunächst ganz allgemein als die Fä-
higkeit der Seele, Formen aufzunehmen:
KaqÒlou d perˆ p£shj a„sq»sewj »Man muß aber allgemein von
de‹ labe‹n Óti ¹ m n a‡sqhs…j ™sti jeder Wahrnehmung [das fol-
tÕ dektikÕn tîn a„sqhtîn e„dîn gende] erfassen: Die Wahrneh-
¥neu tÁj Ûlhj, oŒon Ð khrÕj toà mung ist das aufnahmefähige für
daktul…ou ¥neu toà sid»rou kaˆ toà die wahrnehmbaren Formen oh-
crusoà dšcetai tÕ shme‹on, lam- ne die Materie, wie das Wachs
b£nei d tÕ crusoàn À tÕ calkoàn vom Ring das Zeichen (Siegel)
shme‹on, ¢ll' oÙc Î crusÕj À cal- aufnimmt ohne das Eisen oder
kÒj· Ðmo…wj d kaˆ ¹ a‡sqhsij das Gold. Es nimmt das goldene

221
De generatione animalium II, 1; 735a 4-9

241
Aristoteles von Stageira (384-322)
˜k£stou ØpÕ toà œcontoj crîma À oder eherne Zeichen auf, aber
cumÕn À yÒfon p£scei, ¢ll' oÙc Î nicht insofern es Gold oder Erz
›kaston ™ke…nwn lšgetai, ¢ll' Î ist. Ebenso leidet die Wahrneh-
toiond…, kaˆ kat¦ tÕn lÒgon. mung (der Sinn) von jedem Ob-
jekt, das Farbe, Geschmack oder
Ton hat, aber nicht, sofern es je-
des einzelne von ihnen ist, son-
dern sofern es von solcher Art
und gemäß dem Begriff ist.« 222

Bei der Wahrnehmung wirkt also nicht das Material auf die Seele ein,
sondern die Information. Diese bezeichnet Aristoteles hier als a„sqhtÒj
e doj, als wahrnehmbare Form. Sein Beispiel ist hier sehr eindrucksvoll:
An einem Sigel nehmen wir nicht das Material wahr, sondern das Zei-
chen (shme‹on). Was in der Seele ankommt ist so nichts konkretes, kein
konkreter Gegenstand, sondern etwas abstraktes, eben eine Informati-
on.
§ 198 Diesen Umstand benutzt Aristoteles nun dazu, zu beschrei-
ben, wie denn das Sinnesorgan beschaffen sein muß, wenn es dieses lei-
sten kann:
a„sqht»rion d prîton ™n ú ¹ toi- »Erstes (eigentliches) Sinnesorgan
aÚth dÚnamij. œsti m n oân taÙtÒn, ist das, worin sich ein solches
tÕ d' e nai ›teron· mšgeqoj m n g¦r Sinnesvermögen befindet.
¥n ti e‡h tÕ a„sqanÒmenon, oÙ m¾n [Wahrnehmungssinn und Organ]
tÒ ge a„sqhtikù e nai oÙd' ¹ machen dasselbe aus, doch ist ihr
a‡sqhsij mšgeqÒj ™stin, ¢ll¦ Sein verschieden; denn [sonst]
lÒgoj tij kaˆ dÚnamij ™ke…nou. wäre das Wahrnehmbare eine
ausgedehnte Größe. Das eigentli-
che Sein des Wahrnehmungsfä-
higen wie auch der Wahrneh-
mung ist jedoch nicht Größe,
sondern ein gewisser Begriff
(Verhältnis) und Vermögen jenes
(Organs).«223

222
De anima II, 12; 424a 17-24, Übers. W. Theiler.
223
De anima II, 12; 424a 24-28, Übers. W. Theiler.

242
Aristoteles von Stageira (384-322)
Das Sinnesorgan ist etwas Doppeltes. Zum einen ist es der physische
Apparat, der die Sinneswahrnehmung leistet; also beispielsweise das
Auge. Dann aber muß das Sinnesorgan in einem eigentlicheren Sinne
die Fähigkeit (dÚnamij) zur Wahrnehmung sein. Das Auge als physi-
scher Apparat nimmt ja nur die Eindrücke als physische Eindrücke
wahr. Es muß aber eine Fähigkeit im Organ geben, die aus diesen phy-
sischen Eindrücken die Informationen zieht. Dieses eigentliche Organ
bezeichnet Aristoteles als lÒgoj tij, als einen Begriff oder ein begriffli-
ches Verhältnis. Er erkennt damit, das spätestens hier das Ideelle in die
materielle Wirklichkeit einbricht. Das Wahrgenommene ist als Wahr-
genommenes ein Ideelles, es konstituiert eine andere Systemebene als
diejenige des Trägers der Information, die es darstellt. Das eigentliche
Wahrnehmungsorgan oder Wahrnehmungsvermögen operiert ganz auf
dieser Ebene der Information. Es muß mithin selbst auch aus Informa-
tionen bestehen, nicht aber aus etwas Materiellem. Natürlich liegt die-
sem etwas Materielles zugrunde, aber das Zugrundeliegende ist eben
nur die Materie, nicht aber seine Form.
§ 199 Wenn wir auf der ganz einfachen Ebene der eben erwähnten
Prokaryonten bleiben, so läßt sich dies bereits verdeutlichen. Die In-
formationsebene, die Form, wird hier von Nukleinsäuren besorgt, die
aber nicht als Nukleinsäuren, sondern als abstrakte Bestandteile eines
Kreislaufes Informationsträger sind. Daher sind sie als einzelne Nu-
kleinsäuren austauschbar durch etwas chemisch analoges, was entspre-
chend die gleiche Information transportiert. Was auch immer von
solch einer einfachen Lebensform wahrgenommen wird, muß in die
Sprache der Nukleinsäuren übersetzt werden. Ansonsten stellt das
Wahrgenommene keinen Informationsgehalt dar, was nichts anderes
bedeutet, als das keine Wahrnehmung stattgefunden hat.
Wir sehen also insgesamt, daß wir auch nach Aristoteles’ genauerer
Definition der Sinnesseele noch nicht unbedingt bei spezifisch tieri-
schen Organismen mit Nervensystem angekommen sind. Die beschrie-
benen Sachverhalte lassen sich alle noch auf einer abstrakteren Vorstu-
fe, nicht nur der Tiere, sondern auch der Pflanzen, nämlich bei zell-
kernlosen Prokaryonten finden. Wir bleiben also zunächst noch auf
der Ebene dieser einfachen organischen Formen.

243
Aristoteles von Stageira (384-322)
§ 200 Diese Unterscheidung zwischen Materieebene und Informati-
onsebene ist für Aristoteles in einem doppelten Sinne eine Unterschei-
dung von Möglichkeit und Wirklichkeit:
™peid¾ d tÕ a„sq£nesqai lšgomen »Da wir vom Wahrnehmen im
dicîj (tÒ te g¦r dun£mei ¢koàon zweifachem Sinne sprechen –
kaˆ Ðrîn ¢koÚein kaˆ Ðr©n lšgomen, denn wir sagen sowohl vom in
k¨n tÚcV kaqeàdon, kaˆ tÕ ½dh Möglichkeit Hörenden und Se-
™nergoàn), dicîj ¨n lšgoito kaˆ ¹ henden, daß es höre und sehe,
a‡sqhsij, ¹ m n æj dun£mei, ¹ d wenn es gerade schläft, als auch
æj ™nerge…v. Ðmo…wj d kaˆ tÕ vom schon tätigen –, dürfte eben-
a„sqhtÒn, tÒ te dun£mei ×n kaˆ tÕ so das Wahrnehmungsvermögen
™nerge…v. prîton m n oân æj toà in zweifacher Weise so heißen,
aÙtoà Ôntoj toà p£scein kaˆ toà teils in Möglichkeit und teils in
kine‹sqai kaˆ toà ™nerge‹n lšgw- Wirklichkeit. Gleicherweise auch
men· kaˆ g¦r œstin ¹ k…nhsij ™nšr- das Wahrnehmen, das sowohl in
gei£ tij, ¢tel¾j mšntoi, kaq£per Möglichkeit, als auch in Wirk-
™n ˜tšroij e‡rhtai. p£nta d p£s- lichkeit ist. Zuerst wollen wir
cei kaˆ kine‹tai ØpÕ toà poihtikoà hierüber sprechen, wie wenn das
kaˆ ™nerge…v Ôntoj. diÕ œsti m n æj Erleiden, Bewegtwerden und Tä-
ØpÕ toà Ðmo…ou p£scei, œsti d æj tigsein dasselbe seien; denn es ist
ØpÕ toà ¢nomo…ou, kaq£per e‡po- ja die Bewegung eine Art Tätig-
men· p£scei m n g¦r tÕ ¢nÒmoion, keit, wenn auch eine unvollende-
peponqÕj d' ÓmoiÒn ™stin. te, wie in anderen (Schriften) ge-
sagt worden ist. Alles (Leidensfä-
hige) aber erleidet und wird be-
wegt von dem Wirkfähigen und
in Akt Befindlichen. Daher erlei-
det es einerseits von dem Glei-
chen, andererseits von dem Un-
gleichen, wie wir gesagt haben. Es
erleidet nämlich das Ungleiche,
nach dem Erleiden aber ist es ein
Gleiches.«224

Was Aristoteles hier anspricht, ist so etwas wie die Verdauung im


Wahrnehmungsprozeß. Das wahrgenommene Objekt ist zunächst ein
der Seele Ungleiches. Es ist ein körperlicher Gegenstand, aber eben

224
De anima II, 5; 417a 9-20, Übers. W. Theiler.

244
Aristoteles von Stageira (384-322)
nichts Seelisches, nichts Ideelles. Als Körper wirkt es nun auf das Sin-
nesorgan und zwar zunächst auf das physische Sinnesorgan. Hierbei
wirkt Gleiches auf Gleiches, insofern zwei Körper aufeinander wirken,
es wirkt aber auch schon der Möglichkeit nach ein Ungleiches auf ein
Ungleiches, nämlich der körperliche Gegenstand auf die Seele. Bei die-
ser Wirkung des körperlichen Gegenstandes als Gleiches des physi-
schen Sinnesorgans, aber als Ungleiches des seelischen Organs, erleidet
dieser ungleiche Körper, der Wahrnehmungsgegenstand also, etwas
(p£scei tÕ ¢nÒmoion) und wird so zu einem der Seele gleichen. Er wird
von Materie in Information verwandelt indem das Sinnesorgan die in
ihm steckende ideelle Information abstrahiert. So kann der verwandelte
Körper als nunmehr dem Seelischen Gleiches doch wieder auf ein
Gleiches wirken. Darin liegt dann die Wirklichkeit der Wahrnehmung.
Die erste Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit ist also ei-
ne Unterscheidung für das Sinnesorgan. Als bloß physisches Organ
produziert dieses mögliche Wahrnehmungen und erst als seelisches
Organ wirkliche, indem das Wahrnehmungsobjekt verdaut worden ist.
§ 201 Eine weitere Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklich-
keit findet sich aber dann auch am Wahrnehmungsobjekt. Denn bereits
Aristoteles wußte, daß das wesentliche Moment der Wahrnehmung ein
Decodierungsprozeß ist. Entsprechend beschreibt er den Vorgang des
Hörens:
¹ d toà a„sqhtoà ™nšrgeia kaˆ tÁj »Die Wirklichkeit des Wahr-
a„sq»sewj ¹ aÙt¾ mšn ™sti kaˆ nehmbaren und der Wahrneh-
m…a, tÕ d' e nai oÙ tÕ aÙtÕ aÙta‹j· mung ist ein und dieselbe, das
lšgw d' oŒon Ð yÒfoj Ð kat' Sein aber ist für sie nicht dassel-
™nšrgeian kaˆ ¹ ¢ko¾ ¹ kat' be. Ich meine z.B. den Ton in
™nšrgeian· œsti g¦r ¢ko¾n œconta Wirklichkeit und das Gehör in
m¾ ¢koÚein, kaˆ tÕ œcon yÒfon oÙk Wirklichkeit; denn man kann das
¢eˆ yofe‹, Ótan d' ™nergÍ tÕ Gehör haben und nicht hören,
dun£menon ¢koÚein kaˆ yofÍ tÕ und was den Ton besitzt, tönt
dun£menon yofe‹n, tÒte ¹ kat' ™n- nicht immer. Wenn aber das zu
šrgeian ¢ko¾ ¤ma g…netai kaˆ Ð hören Vermögende sich verwirk-
kat' ™nšrgeian yÒfoj, ïn e‡peien licht (wirklich tätig ist), und das
¥n tij tÕ m n e nai ¥kousin tÕ d zu tönen Vermögende tönt, dann
yÒfhsin. e„ d» ™stin ¹ k…nhsij (kaˆ stellt sich zugleich das Gehör in
¹ po…hsij kaˆ tÕ p£qoj) ™n tù kino- Wirklichkeit und der Ton in

245
Aristoteles von Stageira (384-322)
umšnJ, ¢n£gkh kaˆ tÕn yÒfon kaˆ Wirklichkeit ein, von denen man
t¾n ¢ko¾n t¾n kat' ™nšrgeian ™n das eine Hören, das andere Tö-
tù kat¦ dÚnamin e nai· ¹ g¦r toà nen nennen könnte. Wenn nun
poihtikoà kaˆ kinhtikoà ™nšrgeia ™n die Bewegung, das Einwirken
tù p£sconti ™gg…netai· diÕ oÙk und das Erleiden in dem von der
¢n£gkh tÕ kinoàn kine‹sqai. Einwirkung Betroffenen ist, so
muß auch der Ton und das Ge-
hör der Wirklichkeit nach in
dem der Möglichkeit nach Hö-
renden sein; denn die Wirklich-
keit des Wirkfähigen (Aktiven)
und Bewegungsfähigen stellt sich
in dem Erleiden (Passiven) ein.
Daher braucht das Bewegende
nicht bewegt zu werden.«
225

Das Hörbare als Wirklichkeit dessen, was zu tönen vermag und tat-
sächlich tönt und das Gehörte als Wirklichkeit dessen, das als Sinnes-
organ zu hören vermag und tatsächlich hört fallen nach Aristoteles zu-
sammen. Sie fallen aber nur im Akt des Wahrnehmungsprozesses zu-
sammen, sozusagen auf einer ideellen Ebene, nicht aber dem Sein
nach. Der Ton, obwohl er gehört wurde, bleibt ein selbständiges Seien-
des und das ihn hörende Sinnesorgan bleibt ebenfalls selbständig. Was
zusammenfällt ist eben lediglich die am Ton als Schallwelle dekodier-
bare Information und die tatsächlich vom Hörvermögen dekodierte In-
formation. Diese ist als Begriff ein und dieselbe. So stellt sich aus einer
ontologischen Perspektive die Wahrheitsfrage gar nicht erst; sie redu-
ziert sich auf die Frage nach dem korrekten Funktionieren der Sinnes-
organe.
Der Ton entwickelt so seine Wirklichkeit, also seinen Informations-
gehalt erst im Akt der Wahrnehmung. Er trägt ihn zwar in sich, aber
nur der Möglichkeit nach. Womöglich wird er ja nie gehört. Erst wenn
er wahrgenommen wird, wirkt er tatsächlich. Das heißt aber im Um-
kehrschluß auch, daß der Ton als das Bewegende nicht noch einmal
bewegt werden muß. Die Seele muß also den Ton nicht in ihrem Inne-

225
De anima III, 2; 425b 26 – 426a 6, Übers. W. Theiler.

246
Aristoteles von Stageira (384-322)
ren noch einmal erzeugen, sie muß ihn nur decodieren, denn nicht der
Ton, sondern die Information ist entscheidend.
§ 202 Beim Gehör geht Aristoteles nun der genauen Form dieser
Information sogar auf den Grund.
e„ d' ¹ fwn¾ sumfwn…a t…j ™stin, ¹ »Wenn der Zusammenklang eine
d fwn¾ kaˆ ¹ ¢ko¾ œstin æj ›n bestimmte Stimme ist, die Stim-
™sti [kaˆ œstin æj oÙc n tÕ aÙtÒ], me aber und das Gehör in gewis-
lÒgoj d' ¹ sumfwn…a, ¢n£gkh kaˆ ser Weise Eines sind – und ge-
t¾n ¢ko¾n lÒgon tin¦ e nai. wisser Weise dasselbe nicht Ei-
nes –, und wenn der Zusammen-
klang ein Verhältnis ist, so muß
auch das Gehör ein gewisses
Verhältnis sein.« 226

Die Stimme ist eine sumfwn…a und als solches zeigt sich in ihr ein be-
stimmtes Verhältnis der Töne zueinander. Nicht aber die Töne selbst
sind es, welche die Seele, die diese Stimme hört und versteht aus ihr
entnimmt, sondern das Verhältnis der Töne zueinander; also deren
ideellen Gehalt, der hierbei sogar eine mathematische Form hat. Das
Wahrnehmungsobjekt selbst hat so ebenfalls eine ideelle Ebene, die
ihm aber nicht als Objekt zukommt, sondern nur als dekodierte Infor-
mation.

Seele Objekt

Sinnes- Information
vermögen
Dekodierung
Sinnes-
organ Materie

Dies ist eine Form der Vergeistigung der materiellen Welt, welche die
Seelen zu leisten Imstande sind. Die Objekte existieren eben nicht nur
in ihrer Welt der Objekte, sondern sie existieren unter den Bedingun-

226
De anima III, 2; 426a 27-30, Übers. W. Theiler.

247
Aristoteles von Stageira (384-322)
gen des Vorhandenseins von wahrnehmungsfähigen Seelen nun auch
noch im Reich des Seelischen. Mit jeder neuen Formstufe erhält so
nicht nur ein bestimmtes Wesen, das über die Form verfügt, sondern
jedes Seiende in der Natur ebenfalls eine neue Ebene. Allerdings hängt
diese Ebene in ihrer Wirklichkeit ganz und gar von der Existenz dieser
neuen Formen ab. Sobald es keine Menschen mehr gibt, werden zwar
Bücher noch eine geistige Ebene besitzen, aber bloß der Möglichkeit
nach, da es niemanden mehr gibt, der sie als geistige Objekte ansieht
und behandelt.
Auch wenn also das Wahrnehmungsvermögen keine über das
Nährvermögen hinausgehende formale Ebene des Naturseins konsti-
tuieren kann, so liefert es uns dennoch die Einsicht in einen wesentli-
chen Aspekt dieser Ebene des Lebendigen. Diese Fähigkeit ist zugleich
etwas prinzipiell Neues was sich nur am Lebendigen findet. Ein Was-
serkreislauf beispielsweise hat nicht die Möglichkeit in ähnlicher Weise
Anderes, ihm Fremdes, Ungleiches, auf seine Ebene zu heben.

xxv. Der Gemeinsinn und die Seele des Tieres


§ 203 Suchen wir nun nach einer nächsthöheren Ebene der Naturfor-
men, so liefert uns Aristoteles sogleich einen Kandidaten. Eine etwas
komplexere Form der Beschreibung der Wahrnehmung finden wir in
jenen Argumenten, die Aristoteles zur Annahme der Existenz eines
Gemeinsinnes veranlassen. Wenn wir uns die Sinne genauer ansehen,
dann stellen wir fest, daß wir ganz verschiedene Dinge wahrnehmen.
Wie aber wissen wir, daß sie verschieden sind?
˜k£sth m n oân a‡sqhsij toà Øpo- »Jede Wahrnehmung bezieht
keimšnou a„sqhtoà ™st…n, Øp- sich also auf den wahrnehmbaren
£rcousa ™n tù a„sqhthr…J Î Gegenstand. Sie liegt im Sinnes-
a„sqht»rion, kaˆ kr…nei t¦j toà organ als Organ und sichtet (un-
Øpokeimšnou a„sqhtoà diafor£j, terscheidet) die Unterschiede des
oŒon leukÕn m n kaˆ mšlan Ôyij, gegenständlichen Wahrnehmba-
glukÝ d kaˆ pikrÕn geàsij· Ðmo…wj ren, z.B. der Gesichtssinn Wei-
d' œcei toàto kaˆ ™pˆ tîn ¥llwn. ßes und Schwarzes, der Ge-
™peˆ d kaˆ tÕ leukÕn kaˆ tÕ glukÝ schmackssinn Süßes und Bitteres.
kaˆ ›kaston tîn a„sqhtîn prÕj Und ebenso verhält es sich bei
›kaston kr…nomen, tinˆ kaˆ a„s- den übrigen Sinnen. Da wir auch

248
Aristoteles von Stageira (384-322)
qanÒmeqa Óti diafšrei. ¢n£gkh d¾ das Weiße und das Süße, und
a„sq»sei· a„sqht¦ g£r ™stin. jedes Wahrnehmbare gegenüber
jedem unterscheiden, [fragt sich]:
mit welchem (Vermögen) neh-
men wir wahr, daß dies sich un-
terscheidet? Notwendigerweise
mit einem Wahrnehmungssinn;
denn es ist Wahrnehmbares.« 227

Es muß also einen Wahrnehmungssinn geben, der den Überblick über


die akkumulierten Wahrnehmungen eines Organismus behält. Dies
muß nach Aristoteles ein Wahrnehmungsvermögen sein, denn das Un-
terschiedene selbst ist ein Wahrnehmungsgehalt. Hier müssen wir zu-
nächst eine wichtige Unterscheidung klären. Es gibt im Informationsge-
halt der Wahrnehmung offenbar zwei Hinsichten, die Unterschieden
werden können. Zum einen kann der Gehalt selbst dies oder das be-
deuten. Eine Wahrnehmung eines Tieres durch ein anderes kann in
einem Fall Flucht, in einem anderen aber Essenszeit bedeuten. Das
selbe Tier nun, welches ein anderes sieht, das ihm Furcht einjagt, kann
gleichzeitig ein Geräusch hören und wahrnehmen, daß nichts mit die-
sem Tier zu tun hat. Neben dem Bedeutungsunterschied, den eine
Wahrnehmung haben kann, kann es also zugleich so etwas wie einen
Artunterschied der Wahrnehmungsgehalte geben. Aus Reiz-Reaktions-
Experimenten weiß man heutzutage, daß Tiere dann allerdings dazu
neigen, diese Wahrnehmungsgehalte – und seien sie auch noch so art-
verschieden – miteinander zu assoziieren und die Bedeutung des Un-
bedeutenderen an das Bedeutendere zu knüpfen. Tiere müssen also
offenbar in der Lage sein, Wahrnehmungen von physikalisch ganz ver-
schiedener Natur zu machen und diese dann miteinander zu verknüp-
fen. Die Verknüpfung jedoch darf den Artunterschied der Wahrneh-
mung nicht ganz löschen.
§ 204 Das Problem für Aristoteles besteht nun darin, zu erklären,
wie verschiedene Wahrnehmungen hier zu einer Wahrnehmung wer-
den können, ohne ihre Verschiedenheit zu verlieren. Er präsentiert uns
entsprechend eine geometrische Lösung dieses Problems:

227
De anima III, 2; 426b 8-15, Übers. W. Theiler.

249
Aristoteles von Stageira (384-322)

¢ll' ésper ¿n kaloàs… tinej stig- »Vielmehr [verhält es sich so] wie
m»n, Î m…a kaˆ dÚo, taÚtV <kaˆ das, was man Punkt nennt: Inwie-
¢dia…retoj> kaˆ diairet». Î m n fern er einer oder zwei ist, inso-
oân ¢dia…reton, n tÕ kr‹nÒn ™sti fern ist er auch teilbar. Sofern
kaˆ ¤ma, Î d diairetÕn Øp£rcei, nun das unterschiedene Vermö-
dˆj tù aÙtù crÁtai shme…J ¤ma· gen unteilbar ist, ist es Eines und
Î m n oân dˆj crÁtai tù pšrati, dÚo zugleich (tätig), sofern hingegen
kr…nei kaˆ kecwrismšna, œstin æj teilbar, liegt es nicht als Eines vor;
kecwrismšnwj· Î d ˜n…, n kaˆ denn es gebraucht (sofern es teil-
¤ma. bar ist) dasselbe Unterschei-
dungsmerkmal (Zeichen) zwei-
mal zugleich. Sofern es (das Un-
terscheidende) also dieselbe
Grenze als zwei gebraucht, unter-
scheidet es zwei getrennte Merk-
male in gewisser Weise mit ei-
nem getrennten Vermögen; so-
fern es aber (dieselbe Grenze) als
Eines gebraucht, unterscheidet es
(mit einem teilbaren Vermögen)
und zugleich.« 228

Den Gemeinsinn, der alle Sinne zusammenfaßt, stellt sich Aristoteles


hier wie eine Linie vor, die an einigen Stellen durch Punkte getrennt
werden kann.

Gemeinsinn

Sehen Hören Riechen Tasten Schmecken

Zum Einen kann hier jeder Sinn als etwas Getrenntes aufgefaßt werden,
zum anderen kann er aber auch als ein Teil des Gemeinsinns verstan-
den werden. Der Gemeinsinn, der damit aus den verschiedenen
Wahrnehmungsvermögen besteht kann so verschiedene Wahrneh-
mungen als eine einzige Wahrnehmung, in welcher die innere Ver-
schiedenheit derselben erhalten geblieben ist, aufnehmen. So ist dann

228
De anima III, 2; 427a 9-14, Übers. W. Theiler.

250
Aristoteles von Stageira (384-322)
auch zu erklären, daß gerade Lebewesen, die über einen Gemeinsinn
verfügen, die Verknüpfung verschiedener Wahrnehmungsarten lernen
können.
§ 205 Der Tatbestand verschiedener Wahrnehmungen ist einerseits
bereits bei einfachsten Lebewesen wie Prokaryonten zu konstatieren.
Auch sie verfügen über taktile, rudimentäre optische und chemische
Sinne. Die so gewonnenen Sinnesdaten werden – nur so kann man
wirklich von Wahrnehmung sprechen – in eine Form umgewandelt,
welche dem Code des genetischen Programms dieser einfachen Lebe-
wesen entspricht. Indem nun verschiedene Sinnesdaten in denselben
Code umgewandelt werden können, müssen wir bereits den Prokaryon-
ten einen Gemeinsinn zusprechen.
Andererseits aber dachte Aristoteles beim Gemeinsinn nicht an
Prokaryonten, sondern an komplexere Lebewesen. Wenn wir uns die
oben dargestellte dezentrale Struktur der Pflanze vergegenwärtigen,
dann sehen wir, daß hier ein Gemeinsinn durchaus ein Fortschritt wäre.
Eine Pflanze kann zwar Eindrücke von außen aufnehmen, aber sie
kann immer nur lokal und dezentral auf diese Eindrücke reagieren.
Diese können zwar in einer Zelle zusammengeführt werden, aber sie
stehen nie dem ganzen Organismus in seiner Einheit als Information zu
Verfügung, weil es eben diese Einheit nicht gibt.
Genau im Entstehen einer solchen Einheit mag nun der Fortschritt
von der Pflanzenstruktur, dem dezentralen Vielzeller, zu einem zentra-
lisierten Vielzeller liegen. Strukturell schwebt genau dieses Aristoteles
vor:
fa…netai g¦r œconta a‡sqhsin t¦ »Denn Lebewesen, die man zer-
diairoÚmena aÙtîn. ¢ll¦ prÕj tÕ teilt, verfügen offenbar weiterhin
sózesqai t¾n fÚsin, t¦ m n fut¦ über Wahrnehmung. Freilich,
dÚnatai, taàta d' oÙ dÚnatai di¦ tÕ ihre Lebensfunktionen (nach der
m¾ œcein Ôrgana prÕj swthr…an, Teilung) weiterhin zu erfüllen,
™nde© t' e nai t¦ m n toà lhyo- dazu sind nur die Pflanzen in der
mšnou t¦ d toà dexomšnou t¾n Lage, die Insekten nicht, weil sie
trof»n, t¦ d' ¥llwn te kaˆ toÚtwn dann nicht über alle zum Wei-
¢mfotšrwn. ™o…kasi g¦r t¦ toi- terleben erforderlichen Organe
aàta tîn zówn pollo‹j zóoij verfügen, vielmehr den einen der
sumpefukÒsin (t¦ d' ¥rista su- Teil fehlt, der die Nahrung auf-

251
Aristoteles von Stageira (384-322)
nesthkÒta toàt' oÙ p£scei tîn nimmt, anderen derjenige, wel-
zówn di¦ tÕ e nai t¾n fÚsin aÙtîn cher sie zu verarbeiten bestimmt
æj ™ndšcetai m£lista m…an). ist, wieder anderen diese beiden
und noch andere Teile. Denn
solche Tiere gleichen einer aus
zahlreichen Exemplaren gemein-
sam gebildeten Kolonie (bei den
am höchsten organisierten Tieren
ist dies nicht der Fall, da ihr Or-
ganismus in höchstmöglichem
Maße eine Einheit bildet).« 229

Insekten nehmen nach dem Zerteilen noch wahr. Insofern sind sie
nach Aristoteles mit den Pflanzen vergleichbar; jedoch mit dem großen
Unterschied, daß auch bei Insekten die lebenswichtigen Funktionen
durch Zerteilen getrennt werden. Daher können sie zwar noch ein we-
nig leben, aber nicht mehr sehr lange. Die Insekten bilden insofern ein
unperfekte Zwischenklasse von Lebewesen, denn sie sind fast so etwas
wie wahrnehmungsfähige Pflanzen. Insofern würden sie einer Kolonie
von Lebewesen gleichen, bei der es im Grunde nebensächlich und in
jedem Fall für die Gesamtheit unschädlich ist, wenn einige Exemplare
abgetrennt werden. Allein den Insekten fehlt letztlich dann eben doch
die Fähigkeit die wichtigen Lebensfunktionen zu substituieren.
Es sind insofern dann doch die Pflanzen, deren Fähigkeit zur
Wahrnehmung wir ja gegen Aristoteles’ Auffassung oben herausgestellt
haben, die hier mit einer solchen dezentralen Kolonie von Exemplaren
verglichen werden. Im Gegensatz dazu stehen nach Aristoteles nun die
höchst organisierten (¥rista sunesthkÒta) Tiere, die in ihrem Gesam-
torganismus eine Einheit aufweisen, welche durch Zerteilen zum Tode
führt.
§ 206 Wenn wir uns nun fragen, worin diese Einheit des Organis-
mus der nach Aristoteles höheren Tiere – von denen wir aber pro-
blemlos auch behaupten können, daß es sich hierbei um alle Tiere
handelt – besteht, dann springt uns schnell wieder der Gemeinsinn ins
Auge. Denn Aristoteles setzt den Gemeinsinn mit eben dem organi-

229
De Juventute et Senectude, de vita et morte 2; 468b 4-12, Übers. E. Dönt

252
Aristoteles von Stageira (384-322)
schen System gleich, welches die pflanzliche Dezentralität aufhebt. Er
kommt nämlich auf den Gemeinsinn zu sprechen, wenn er die Funkti-
on des Herzens diskutiert. Diese besteht zum einen darin, die Ernäh-
rung des Organismus zu gewährleisten:
¹ d kard…a Óti ™stˆn ¢rc», tîn »Daß das Herz der Ursprung der
flebîn ™n to‹j perˆ t¦ Pšrh tîn Adern ist, haben wir früher in
zówn e‡rhtai prÒteron· kaˆ Óti tÕ den Ausführungen über die Teile
aŒma to‹j ™na…moij ™stˆ teleuta…a der Tiere gesagt, ferner, daß das
trof», ™x oá g…netai t¦ mÒria. Blut bei den blutführenden Tie-
ren die endgültige Quelle für die
Ernährung darstellt; daraus ent-
wickeln sich die Teile des Kör-
pers.«230

Mit dieser Feststellung liegt Aristoteles biologisch gesehen nicht falsch,


ist doch der Blutkreislauf in der Tat das zentrale System des Stofftrans-
ports in tierischen Organismen. Er geht jedoch weiter und schreibt dem
Herzen eine darüber hinausgehende Funktion zu:
¢ll¦ m¾n tÒ ge kÚrion tîn a„s- »Nun, bei allen blutführenden
q»sewn ™n taÚtV to‹j ™na…moij Lebewesen liegt das den einzel-
p©sin· ™n toÚtJ g¦r ¢nagka‹on nen Sinnen übergeordnete Zen-
e nai tÕ p£ntwn tîn a„sqhthr…wn trum im Herzen [in diesem]. In
koinÕn a„sqht»rion. diesem Zentrum muß ja das alle
speziellen Sinnesorgane übergrei-
fende Wahrnehmungsorgan lie-
gen.«231

Biologisch gesehen werden Aristoteles’ Ausführungen, so wie sie unmit-


telbar gemeint sind, wenn man ihnen nur ein wenig weiter folgt, recht
fraglich. Denn er sieht das Herz als das Zentrum des Geschmacks- und
Tastsinns und schließlich auch der übrigen Sinne an. Dies führt dann
zur Annahme, daß die Sinnesseele letztlich im Herzen beheimatet sei.
§ 207 Vergegenwärtigen wir uns jedoch den Stand unserer Überle-
gungen, so läßt sich mit Aristoteles’ Gedanken durchaus ein Sinn ver-
binden. Ist die Pflanze ein System, welches nur über eine dezentrale

230
De Juventute et Senectude, de vita et morte 3; 468b 31 – 469a 2, Übers. E. Dönt
231
De Juventute et Senectude, de vita et morte 3; 469a 10-12, Übers. E. Dönt

253
Aristoteles von Stageira (384-322)
Verarbeitung von Wahrnehmungen und eine dezentrale interne Kom-
munikation verfügt, so fragt man sich zurecht sofort, ob es denn dann
nicht auch eine zentralisiertes Wahrnehmungs- und Kommunikations-
system geben könnte? Nur eben ist hier die Wahrnehmung noch keine
an das Vorhandensein eines Nervensystem gebundene, sondern einfach
eine solche, die von einzelnen Körperzellen ausgeführt wird. Zentral für
ein solches Kommunikationssystem ist ein Code, in dem die Kommu-
nikation stattfindet. Die geschieht bei Zellen in Form von Botenstoffe
wie Hormonen. Selbst Pflanzen verfügen über solche Botenstoffe. Aber
erst das Vorliegen eines zentralen Systems zum Transport der Boten-
stoffe vermag es, eine gewisse Einheit der Kommunikation herzustellen.
Die Reaktionen sind nun nicht mehr an lokale Übermittlungen der In-
formationen von Zelle zu Zelle gebunden, sondern sie können zentral
zur Verfügung gestellt werden. Die über einen Gemeinsinn verfügende
Tierseele ist in diesem Sinne die zentralisierte Weiterentwicklung der
dezentralen Pflanzenseele.

Die Tierseele als zentrales System

kard…a

Ähnlich wie beim Übergang vom Wasserkreislauf zur Nährseele ist hier
die in der dezentralen Struktur bloß der Prozessualität des Organismus
anheimgestellte Einheit der Kommunikation des Ganzen zu etwas vom
Organismus selbst initiiertem geworden. Er stellt diese Einheit nun
selbst her, indem er beispielsweise mittels des Herzens den Kommuni-

254
Aristoteles von Stageira (384-322)
kationsprozeß zentral am laufen hält. Die so entstandene höhere und
explizite Einheit des Organismus schafft zugleich auch die Möglichkeit,
daß diese Einheit zerstört wird und mit ihr eben dann auch der Orga-
nismus, den sie konstituiert.
Hinsichtlich der Frage, bei welchen Wesen wir eine solche zentrale
Tierseele finden können, können wir eine ganz einfache Antwort ge-
ben. Es sind alle diejenige Wesen, bei denen vielleicht zwar schon ein
rudimentäres Nervensystem vorliegen mag, bei denen aber dieses Ner-
vensystem nicht die Herrschaft über das den Körper über den Blut-
kreislauf steuernde hormonale System der Zellkommunikation über-
nommen hat. Wir finden ein solches zentrales Kommunikationssystem
somit zwar vielleicht in allein Tieren, aber es stellt nicht überall die
höchste Formebene dar und ist somit nicht für alle Tiere wesentlich.

xxvi. Das Strebevermögen


§ 208 Ein nächstes höheres Vermögen, welches Aristoteles wie das Sin-
nesvermögen ebenfalls nur den Tieren zuschreibt, ist das Strebevermö-
gen. Dieses steht daher auch für ihn in einem engen Zusammenhang
mit der Wahrnehmung:
e„ d tÕ a„sqhtikÒn, kaˆ tÕ Ñrekti- »Wenn aber das Wahrneh-
kÒn· Ôrexij m n g¦r ™piqum…a kaˆ mungsvermögen [einem Lebewe-
qumÕj kaˆ boÚlhsij, t¦ d zùa sen zukommt], dann auch das
p£nt' œcousi m…an ge tîn a„s- strebende. Das Streben ist näm-
q»sewn, t¾n ¡f»n· ú d' a‡sqhsij lich Begierde, Mut und Wille,
Øp£rcei, toÚtJ ¹don» te kaˆ lÚph und die Lebewesen haben alle
kaˆ tÕ ¹dÚ te kaˆ luphrÒn, oŒj d wenigsten einen Wahrnehmungs-
taàta, kaˆ ™piqum…a· toà g¦r ¹dšoj sinn, den Tastsinn. Wem aber
Ôrexij aÛth. Wahrnehmung zukommt, dem
kommen auch Lust und
Schmerz, sowie das Lustvolle
und Schmerzvolle zu. Den Le-
bewesen aber, denen dieses zu-
kommt, auch die Begierde; denn
diese ist ein Streben nach dem
Lustvollen.«
232

232
De anima II, 3; 414b 1-6, Übers. W. Theiler.

255
Aristoteles von Stageira (384-322)
Das Wahrnehmungsvermögen (tÕ a„sqhtikÒn) bringt also nach Aristo-
teles das Strebevermögen (tÕ ÑrektikÒn) automatisch mit sich. Wer
wahrnimmt, der muß wenigstens tasten können, wer aber tastet, der
kann auch Schmerz empfinden und ihm ist mithin ein Vermögen zuzu-
schreiben, daß diesem Schmerz flieht.
§ 209 Sehen wir uns also einmal genauer an, wo wir diese Prozesse
in unserer belebten Umwelt genau verorten können. Zunächst einmal
können wir den hier von Aristoteles beschriebenen Prozeß ja als einen
einfachen Reiz-Reaktions-Mechanismus verstehen. Ein Wesen nimmt
wahr und je nach dem ob diese Wahrnehmung für seinen Organismus
etwas Positives oder Negatives bedeutet, ist es so programmiert, daß es
entsprechend reagiert. Eine solche einfache Reaktion könnte man be-
reits als ein Streben interpretieren und somit auch schon einfachsten
Lebewesen zuschreiben.
Was Aristoteles hier jedoch beschreibt ist komplexer. Wahrneh-
mung und Streben sind nicht direkt verknüpft, so daß ein bestimmter
Reiz eine bestimmte Reaktion hervorruft. Sie sind vielmehr über eine
Empfindung, nämlich den Schmerz (lÚph), oder die Lust (¹don») ver-
knüpft und erzeugen eine Begierde (™piqum…a). Schmerz und Lust kön-
nen wir einem Prokaryonten aber nicht so einfach zuschreiben. Hierzu
bedarf es einer komplexeren Struktur. Auch die dezentrale Struktur ei-
ne Pflanze ist hierzu nicht in der Lage. Die gesuchte Struktur muß ja
mindestens darin bestehen, daß der Organismus nicht nur die Außen-
welt wahrnimmt, sondern auch seine eigene Innenwelt. Das ermöglicht
es Lebewesen, die Außenwelt vor dem Hintergrund einer inneren Zu-
standsbeschreibung wahrzunehmen. So sieht der Wolf, wenn er lange
keine Nahrung mehr aufgenommen hat, nicht die schönen langen Oh-
ren des Hasen, sondern er sieht nur etwas, was seinen Magen füllen
kann. Er sieht gewissermaßen mit dem Hungergefühl die Außenwelt
und diese besondere Wahrnehmung setzt automatisch sein Strebever-
mögen in Gang.
§ 210 Wir können uns nun fragen, ob die oben beschriebene zen-
tralen Tierseele mit einem solchen Strebevermögen ausgestattet sein
kann. Was braucht ein Organismus, damit man sinnvoll von Schmerz
sprechen kann? Er braucht mindestens eine Instanz, welche nicht nur

256
Aristoteles von Stageira (384-322)
den Zustand der Umsetzung des genetischen Planes prüft, sondern sich
sogar ein Bild dieses Zustandes macht und den Organismus dann auf-
grund dieses Bildes agieren läßt. Betrachten wir im Vergleich dazu un-
sere zentralisierte Tierseele, so sehen wir, daß die Bedingungen dafür
hier noch nicht unbedingt vorliegen. Zwar verfügt ein solcher Organis-
mus über Botenstoffe, die den gesamten Körper seinen eigenen Zu-
stand erfassen lassen, aber dieser Zustand ist hier nicht als ein Bild er-
faßt, sondern er ist mit den Botenstoffen identisch. Das wird deutlich,
wenn wir uns die Funktionsweise des Hormonsystems kurz etwas näher
ansehen. Ein gutes Beispiel ist hier die Steuerung des Hungergefühls.
Alles, was das Hormonsystem dazu beiträgt ist der Versuch, den Zuk-
ker- und damit Brennstoffgehalt im Blut konstant zu halten. Der Um-
stand, daß wir essen wollen, wird dadurch zwar verursacht, unser Stre-
ben nach Essen ist aber erst eine sekundäre Wirkung. Das Hormonsy-
stem versucht zunächst das vorhandene Problem, einen möglichen
Brennstoffmangel, selbst zu lösen und gegebenenfalls körperinterne
Reservoire zu öffnen. Daß dabei dann auch noch das Gehirn über eine
drohende Versorgungskatastrophe informiert wird, ist nicht mehr als
eine ganz willkommener Zusatzfunktion für all diejenigen Wesen, die
ein Gehirn haben. Wenn so der Hungernde nach Nahrung strebt, dann
betreibt er auf einer höheren Formebene lediglich Vorsorge für sein
internes Versorgungssystem.
Ebenso wie beim Hunger, so ist auch beim Schmerz das Wesentli-
che dessen indirekte Natur. Wenn wir Schmerzen haben, dann han-
deln wir wegen des Schmerzes, dabei aber folgen wir indirekt den Wei-
sungen des Körpers, der uns den Schmerz als ein Signal für komplexe
innere Verfehlungen eines Idealzustands liefert. Wir können also dar-
auf schließen, daß das Strebevermögen insgesamt eine dem hormona-
len Kommunikationssystem der Zellen übergeordnete Formebene im
Organismus voraussetzt.
§ 211 Spätestens hier wird es nötig sein, von Lebewesen auszuge-
hen, die mindestens über ein Nervensystem verfügen. Dies mag dann
auch zugleich die erste Leistung eines solchen Nervensystems ausma-
chen, daß es über den tatsächlichen körperlichen Bedürfnissen ste-
hend, ein vorsorgliches Streben erzeugt, welches drohenden Katastro-

257
Aristoteles von Stageira (384-322)
phen vorbeugt. Das Strebevermögen impliziert so eine weitere Forme-
bene, auf der über die im zentralen Kommunikationssystem des Orga-
nismus vorliegenden Beschreibung des aktuellen Zustands, die zugleich
selbst Teil dieses Zustands ist und aktiv auf ihn einwirkt, ein abstraktes
Bild dieses aktuellen Zustands erzeugt wird.

Bild des aktuellen Lust Strebe-


Zustands vermögen
Schmerz

zentrale Zustandsbeschreibung
des Organismus

materieller Organismus

Der Organismus selbst sowie die zentrale Beschreibung seines aktuel-


len Zustands in Form von Hormonen wird von jener Instanz, die ein
Bild des aktuellen Zustands des Organismus enthält ständig beobachtet.
Diese Beobachtung erzeugt Schmerz oder Lust, die wiederum das
Strebevermögen dazu veranlassen auf die Außenwelt oder Einfluß zu
nehmen.
§ 212 Eine Funktion der Lebewesen, an denen wir in der Regel er-
kennen können, ob sie Schmerz oder Lust empfinden, ist ihre Stimme
(fwn»). Hierin vermag ein Lebewesen seinen Empfindungen, die ein
Spiegel des inneren Bildes sind, das es sich von seinem eigenen Zu-
stand macht, Ausdruck zu verleihen. Aristoteles’ Beschreibung der
Stimme konzentriert sich vor allem auf deren Bedeutungsgehalt.
éste ¹ plhg¾ toà ¢napneomšnou »Daher ist die Stimme das An-
¢šroj ØpÕ tÁj ™n toÚtoij to‹j schlagen der eingeatmeten Luft
mor…oij yucÁj prÕj t¾n kaloumšnhn an die sogenannte Luftröhre, das
¢rthr…an fwn» ™stin (oÙ g¦r p©j durch die diesen Teilen inne-
zóou yÒfoj fwn», kaq£per e‡po- wohnende Seele bewirkt wird.
men – œsti g¦r kaˆ tÍ glèttV yo- Nicht jeder Ton eines Lebewe-
fe‹n kaˆ æj oƒ b»ttontej – ¢ll¦ sens ist nämlich Stimme, wie wir
de‹ œmyucÒn te e nai tÕ tÚpton kaˆ sagten – man kann ja auch mit

258
Aristoteles von Stageira (384-322)
met¦ fantas…aj tinÒj· shmantikÕj der Zunge und wie die Husten-
g¦r d» tij yÒfoj ™stˆn ¹ fwn»)· den einen Ton erzeugen –, son-
dern das Anschlagende muß be-
seelt sein und mit einer gewissen
Vorstellung begabt; denn die
Stimme ist bedeutungsvoller
Ton.« 233

Lebewesen haben sowohl unwillentliche wie auch willentlich Lautäuße-


rungen. Die einen werden produziert, die anderen produzieren sie
selbst. Letztere haben immer eine Funktion. Sie können beispielsweise
der Kommunikation mit anderen Tieren dienen, diese abschrecken
oder auch anlocken. Sie können aber auch dazu dienen, das Tier selbst
mit dem Ausdruck des eigenen inneren Zustands zu konfrontieren.
Diese Funktionen verleihen dem Ausdruck eine Bedeutung und die
Bedeutung macht sie so zur Stimme.
Nach Aristoteles muß die Stimme nun immer von einer bestimmten
Vorstellung begleitet sein, damit sie bedeutungstragend (shmantikÕj)
wird. Ob dies unbedingt nötig ist, ist – zumindest bezüglich des aristo-
telischen Begriffs der Vorstellung, mit dem wir uns sogleich beschäfti-
gen werden – in Frage zu stellen. Zumindest muß es aber irgend eine
Art von Repräsentation eines inneren Zustands geben, welche in der
Stimme zum Ausdruck kommt. Meines Erachtens reicht es hier durch-
aus, wenn diese Repräsentation von der Komplexität jenes oben ange-
sprochenen Bildes des aktuellen Zustands eines Organismus ist. Als
Ausdruck ist die Stimme dann nichts sehr viel anderes, als ein chemi-
scher Botenstoff, den ein Lebewesen abgibt. Was ihr lediglich eine Be-
sonderheit verleiht ist der Umstand, daß sie über weitere Distanzen
wirken kann. Daher kommt sie vermutlich häufiger bei solchen Wesen
vor, die mit räumlicher Vorstellung ausgestattet sind und denen so Lau-
täußerungen über größere Distanzen von Nutzen sein können. In dieser
Form wäre sie in der Tat an das Vorhandensein eines Vorstellungsver-
mögens gebunden.

233
De anima II, 8; 420b 27-33, Übers. W. Theiler.

259
Aristoteles von Stageira (384-322)
xxvii. Das Vorstellungsvermögen
§ 213 Eine Form eines Bildes des aktuellen inneren Zustands eines
Organismus und seiner Außenwelt finden wir beim Vorstellungsvermö-
gen (fantas…a). Aristoteles beschreibt dieses als etwas neben der
Wahrnehmung eigenständiges im Organismus und gibt eine Reihe von
Gründen dafür an:
Óti m n oân oÙk œstin a‡sqhsij, »Daß sie [die Vorstellung] nun
dÁlon ™k tînde. a‡sqhsij m n g¦r nicht Wahrnehmung ist, wird aus
½toi dÚnamij À ™nšrgeia, oŒon Ôyij folgendem klar: Die Wahrneh-
kaˆ Órasij, fa…netai dš ti kaˆ mung ist nämlich entweder Mög-
mhdetšrou Øp£rcontoj toÚtwn, oŒon lichkeit oder Wirklichkeit, z.B.
t¦ ™n to‹j Ûpnoij. [...] e ta aƒ m n Gesichtssinn (als Vermögen) und
¢lhqe‹j ¢e…, aƒ d fantas…ai Sehen. Es erscheint aber etwas
g…nontai aƒ ple…ouj yeude‹j. (als Vorstellung), auch wenn kei-
nes von beidem vorliegt, wie im
Schlaf. [...] Sodann sind die
Wahrnehmungen immer wahr,
von den Vorstellungen hingegen
erweisen sich die meisten als
falsch.«
234

Zwei der von Aristoteles genannten Gründe sind für uns sehr interes-
sant. Erstens kann man im Schlaf Vorstellungen haben, ohne zugleich
eine Wahrnehmung zu haben. Vorstellungen werden also von ihm als
etwas rein Inneres, als innere Bilder aufgefaßt, die auch in Abwesenheit
von Wahrnehmungen entstehen können. Man könnte hier gewisser-
maßen sagen, daß die Vorstellung nur auf der Ebene der Wirklichkeit
der Wahrnehmung, also der Wahrnehmungsbilder, der gesammelten
Information operiert und die physikalische Seite der Wahrnehmung,
welche den Kontakt zur Außenwelt herstellt, ganz außer Acht läßt. Dies
bestätigt sich auch beim Blick auf das zweite Argument. Die Vorstellun-
gen seien meistens falsch, die Wahrnehmungen aber immer wahr. Was
Aristoteles hier meint, ist keineswegs, daß das Vorstellungsvermögen
per se defekt ist, sondern er beschreibt vielmehr dessen Funktion. Man
stellt sich eben zumeist nicht das vor, was zugleich auch wirklich ist,

234
De anima III, 3; 428a 5-12, Übers. W. Theiler

260
Aristoteles von Stageira (384-322)
sondern anderes, was nicht mehr oder noch nicht wirklich ist. Tech-
nisch gesehen ist die Vorstellung daher erst einmal falsch; was nicht
heißt, daß sie nicht durchaus sinnvoll sein kann. Auch hier zeigt sich,
daß die Vorstellung zwar nicht von den Wahrnehmungsbildern, wohl
aber vom Organ der Wahrnehmung abgekoppelt ist.
§ 214 Entsprechend beschreibt uns Aristoteles die Vorstellung als
ein Vermögen, das durch die Wirklichkeit der Wahrnehmung hervor-
gebracht werde:
e„ oân mhq n ¥llo œcei t¦ e„rhmšna »Wenn nun die Vorstellung
À fantas…a (toàto d' ™stˆ tÕ nichts anderes befaßt als die ge-
lecqšn), ¹ fantas…a ¨n e‡h k…nhsij nannten Eigenschaften, und in
ØpÕ tÁj a„sq»sewj tÁj kat' dem liegt, was wir angegeben ha-
™nšrgeian gignomšnh. ben, dann dürfte die Vorstellung
eine Bewegung sein, welche
durch die in Wirklichkeit sich
vollziehende Wahrnehmung ent-
steht.«235

Wie aber ordnen wir die Vorstellung nun biologisch ein? Sie bloß als
eine um eine Stufe erhöhte Form der Wahrnehmung, sozusagen eine
zusätzliche und nochmalige innere Wahrnehmung der Wahrneh-
mungsbilder anzusehen, ist meines Erachtens zu einfach. Was wir oben
als Bild des aktuellen Zustands eines Organismus beschrieben haben,
ist sicherlich nicht komplex genug, um damit das Phänomen der Vor-
stellung zu fassen. Denn schließlich kann ein Wesen ja auch eine Vor-
stellung von Schmerzen, also von einem inneren Zustand haben, ohne
sich aktuell in einem solchen Zustand zu befinden. Auch bei der inne-
ren Wahrnehmung also operiert die Vorstellung nur im Reich der
Wirklichkeit derselben, nicht aber im Reich der Möglichkeit, also im
Reich derjenigen inneren Wahrnehmungen, deren Wahrnehmungs-
prozesse physisch aktuell ablaufen. Hiervon kann sie vielmehr abstra-
hieren. Daher ist es naheliegend, der Vorstellung wiederum eine eigene
und weitere Formebene zuzuschreiben, die über jene Ebene, welche
das Strebevermögen beherrscht, hinausgeht. Die Vorstellung ist sozusa-

235
De anima III, 3; 428b 30 – 429a 2, Übers. W. Theiler.

261
Aristoteles von Stageira (384-322)
gen eine zweite Wirklichkeit der Wahrnehmung, deren Realisierung
unabhängig von konkreten Realisierungsbedingungen ist.

xxviii. Die soziale Welt der Tiere


§ 215 Im neunten Buch der Historia Animalium behandelt Aristoteles
in Ansätzen einen Bereich, in dem wir eine weitere Formebene des Na-
turseins erkennen können, nämlich den Bereich des Sozialverhaltens
der Tiere. Was uns dabei interessiert ist lediglich dasjenige Sozialver-
halten, welches zur Koordination von Tieren untereinander oder insge-
samt zur Steigerung der Möglichkeiten eines Tieres dienen könnte.
Hierzu finden wir nur eine ganz spärliche Anmerkung, die jedoch in-
teressante Implikationen hat:
”Enia d koinwne‹ tinÕj ¤ma kaˆ »Einige aber haben sowohl Anteil
maq»sewj kaˆ didaskal…aj, t¦ m n an einer Form des Lernens und
par' ¢ll»lwn, t¦ d kaˆ par¦ tîn Lehrens, die einen voneinander,
¢nqrèpwn, Ósaper ¢koÁj metšcei, die anderen vom Menschen, wie
m¾ mÒnon Ósa tîn yÒfwn, ¢ll' eben diejenigen, die hören kön-
Ósa kaˆ tîn shme…wn diaisq£netai nen, nicht aber nur insofern sie
t¦j diafor£j. Geräusche sondern auch insofern
sie die Unterschiede der Zeichen
voneinander abgrenzen kön-
nen.«236

Aristoteles trifft hier drei Unterscheidungen. Erstens sollen einige Tiere


lernen und lehren können, zweitens können sie dies voneinander sowie
von Menschen und drittens können sie akustische Signale oder auch
andere Zeichen verstehen. Wenn wir mit der ersten Unterscheidung
beginnen, so stellt sich uns die Frage, was hier genau mit Lernen
(m£qhsij) und Lehren (didaskal…a) gemeint sein kann? Nahe liegt die
Vermutung, daß Aristoteles hier vor Augen hat, daß man beispielsweise
Haustieren gewisse Verhaltensweisen beibringen kann. Meines Erach-
tens sollten wir die hochtrabenden Ausdrücke hier nicht allzu ernst
nehmen und uns darauf beschränken, daß Tiere zu einer gewissen
Form von Kommunikation in der Lage sind, die Aristoteles hier als er-
stem Denker auffällt. Konstituiert aber diese Kommunikation eine

236
Historia animalium IX, 1; 608a 17-21

262
Aristoteles von Stageira (384-322)
neue Ebene des Naturseins? Ein Argument spricht dafür, daß dies der
Fall ist. Sofern Tiere zu Kommunikation in der Lage sind, dient diese
Kommunikation nicht zum Austausch von Belanglosigkeiten, sondern
sie stellt einen wahren Sprechakt dar. Ein Tier möchte ein anderes da-
zu bringen, etwas zu tun, wie etwa auf einen Feind aufmerksam zu wer-
den und zu fliehen oder den Übertritt in ein Territorium aufzeigen und
den Artgenossen vertreiben. Es verlangt so von seinem Artgenossen,
daß dieser etwas tut, sein Verhalten hat eine normative Dimension.
Wenn nun das so zum Handeln aufgeforderte Tier das Geforderte
auch wirklich tut, dann folgt es einer Norm. Damit aber ist eine neue
Ebene konstituiert, nämlich die Ebene der Normen, die über beiden
Tieren steht. Es geht nämlich genaugenommen hier nicht um den
Willen des auffordernden Tieres; das wäre eine allzu subjektivistischer
Trugschluß. Wenn ein Artgenosse in das Territorium eines Tieres ein-
dringt, so möchte ich behaupten, dann gehorcht dieses Tier, wenn es
den Artgenossen vertreibt, ebenso einer Norm, wie das vertriebene
Tier, wenn es sich vertreiben läßt. Es folgt dann der Norm, daß es ge-
fälligst sein Territorium zu schützen hat. Dieses normative Spiel be-
herrscht beide Tiere; nicht sie beherrschen es. Insofern konstituiert
diese ebenso wie jede andere Kommunikation mit normativen Implika-
tionen eine neue Formebene, die über den Subjekten steht.
§ 216 Inwiefern können zweitens Menschen an dieser Welt der
Normen teilhaben? Meines Erachtens kann man so weit gehen, zu be-
haupten, daß Menschen als bloße Naturwesen nur in dieser Welt leben.
Erst die Sprache hebt sie aus dieser Welt heraus und gibt ihnen die
Möglichkeit, die Normen zu explizieren, über sie zu reden und sich
somit normativ bezüglich der Normen zu verhalten, also Normen auf
Normen anzuwenden. Ein Tier hat nur die Möglichkeit, eine Norm
physisch in Frage zu stellen, indem es sich den Konsequenzen aussetzt
und probt, ob das andere Tier die Norm durchsetzen kann. Ein
Mensch kann dies rein diskursiv, er kann Normen hinterfragen. Indem
er aber zunächst einmal ganz dieser Welt der Normen angehört, ist ei-
ne Kommunikation mit Tieren für ihn problemlos möglich. Er versteht
deren Drohgebärden intuitiv. Erst insofern er rationaler wird und sein
normatives Verhalten mehr und mehr explizit hinterfragt und dadurch

263
Aristoteles von Stageira (384-322)
selbst bestimmt, erst insofern er sich der Normen bemächtigt, kann das
unmittelbar normative Verhalten der Tiere ihm fremd werden.
§ 217 Drittens stellt Aristoteles die Frage nach dem Medium der
Kommunikation und stellt dabei sogleich fest, daß dieses gewisserma-
ßen offen ist. Scheinbar reicht nach Aristoteles jede Fähigkeit zur Un-
terscheidung von Zeichen dazu aus, ein Tier kommunikationsfähig zu
machen. Das ist aber wenig überzeugend. Es ist offenbar etwas anderes,
was das Tier kommunikationsfähig macht. Nicht das Hören eines Ru-
fes, sondern das Verstehen der Norm, die damit ausgedrückt wird, ist
hier entscheidend. Das können nicht alle Tiere. Schlage ich einen
Hund, wann immer er eine bestimmte Wiese betritt, dann wird er nach
kurzer Zeit die Regel meines Handelns verstehen und die Wiese mei-
den. Ein Käfer hingegen wird nie dazu in der Lage sein. Ein Tier
braucht offenbar zumindest eine rudimentäre Vorstellung davon welche
Konsequenzen sein Verhalten haben kann, damit es eine Norm ver-
steht. Normen und damit Kommunikationsverhalten überhaupt muß
mithin in Vorstellungen übersetzbar sein. Wird die Norm so beispiels-
weise in eine Vorstellung von möglichem Schmerz übersetzt, dann hat
der Körper, einen Anreiz, die Norm zu befolgen. Die soziale Welt der
Tiere ist so nicht freischwebend, sondern immer zurückgebunden an
niedrigere Formebenen.

xxix. Das Verhältnis der Seelenformen zueinander


§ 218 Damit haben wir uns einen Überblick über diejenigen Seelen-
formen verschafft, die wir nach Aristoteles in der Natur finden können.
Wir sehen hierbei zweierlei. Zum einen stützt Aristoteles die Sichtwei-
se, die wir von Philolaos her kennen und die von einer wesentlichen
Unterscheidung zwischen Pflanze und Tier, zwischen Ernährung und
Wahrnehmung als Achse der Naturphilosophie ausgeht. Die Anschau-
lichkeit dieses Unterschieds, zu dem noch verfestigend hinzu kommt,
daß Tiere die Wahrnehmung für ihre Fortbewegung brauchen, Pflan-
zen aber angewachsen sind und deshalb scheinbar gar nichts wahrneh-
men müssen, ist zu erdrückend, um hier eine Opposition entstehen zu
lassen. Zum anderen jedoch finden wir bei Aristoteles eine sehr feine
Analyse der einzelnen Funktionen der Lebewesen, die es uns erlaubt,

264
Aristoteles von Stageira (384-322)
entlang dieser Analysen Zwischenformen zu entdecken. Die folgende
Übersicht faßt diese Stufen zusammen und gibt an, wo sie sich nach
Aristoteles finden, wobei wir auf die soziale Ebene, da sie nur wenig
elaboriert ist, verzichten:

fantas…a operieren mit


Wahrnehmungsbildern

ÑrektikÒn Reaktionen aufgrund eines Bildes des


aktuellen Zustands

zùon zentrales Kommunikationssytem


von Zellen

futÒn dezentrales Kommunikationssystem


von Zellen

qreptikÒn Selbstreproduktion und


Wahrnehmung

Interessant ist nun das, was Aristoteles zum Verhältnis dieser Seelen-
formen zueinander sagt. Zunächst befinden sich diese Seelenformen in
einer gewissen ontologischen Abhängigkeit voneinander:
(paraplhs…wj d' œcei tù perˆ tîn »Auf vergleichbare Weise verhält
schm£twn kaˆ t¦ kat¦ yuc»n· ¢eˆ es sich im Bereich der Figuren
g¦r ™n tù ™fexÁj Øp£rcei dun£mei und dem der Seele. Immer näm-
tÕ prÒteron ™p… te tîn schm£twn lich liegt der Möglichkeit nach
kaˆ ™pˆ tîn ™myÚcwn, oŒon ™n te- das Frühere im Nachfolgenden
tragènJ m n tr…gwnon, ™n a„s- vor, sowohl bei den Figuren, als
qhtikù d tÕ qreptikÒn.) auch beim Beseelten, wie z.B. im
Viereck das Dreieck, und (eben-
so) im Wahrnehmungs- das
Nährvermögen.« 237

Wir haben nun schon gesehen, daß wir Aristoteles hinsichtlich der
Trennung von a„sqhtikÒn und qreptikÒn nicht zustimmen können. Ach-

237
De anima II, 3; 414b 28-32, Übers. W. Theiler.

265
Aristoteles von Stageira (384-322)
ten wir also nur auch die formale Beschreibung. Diese formale Be-
schreibung sagt uns, daß das höhere Vermögen immer das Vorhanden-
sein des niedrigeren voraussetzt. Es gibt also keine fantas…a ohne Ñrek-
tikÒn und kein ÑrektikÒn ohne qreptikÒn.
§ 219 Dieses Abhängigkeitsverhältnis der höheren Seelenformen
von den niedrigeren zeigt sich bei Aristoteles vor allem in der Frage der
Vergänglichkeit derselben:
Ð d noàj œoiken ™gg…nesqai oÙs…a »Die Vernunft aber scheint als
tij oâsa, kaˆ oÙ fqe…resqai. eine gewisse Substanz einzutreten
m£lista g¦r ™fqe…ret' ¨n ØpÕ tÁj und nicht zu vergehen. Am mei-
™n tù g»rv ¢maurèsewj, nàn d' sten würde sie vergehen unter
ésper ™pˆ tîn a„sqhthr…wn sum- dem dahinwelkenden Alter, nun
ba…nei· e„ g¦r l£boi Ð presbÚthj aber verhält es sich wohl so, wie
Ômma toiond…, blšpoi ¨n ésper kaˆ es bei den Sinnesorganen ge-
Ð nšoj. éste tÕ gÁraj oÙ tù t¾n schieht: Wenn der Greis ein ent-
yuc»n ti peponqšnai, ¢ll' ™n ú, sprechendes Auge erhielte, wür-
kaq£per ™n mšqaij kaˆ nÒsoij. kaˆ de er sehen wie der Jüngling. So
tÕ noe‹n d¾ kaˆ tÕ qewre‹n ma- besteht das Alter nicht darin, daß
ra…netai ¥llou tinÕj œsw fqei- die Seele etwas erlitten hat, son-
romšnou, aÙtÕ d ¢paqšj ™stin. dern [vergleichsweise] in dem,
wie es in rauschhaften und kran-
ken Zuständen geschieht. Das
vernünftige Einsehen und Be-
trachten welkt dahin, weil etwas
anderes innen (im Menschen)
vergeht, es selbst dagegen ist lei-
densunfähig.« 238

Aristoteles spricht hierbei vor allem über die Vernunft, den noàj, das
Denkvermögen also. Er bezieht aber in seinem Beispiel auch aus-
drücklich das Wahrnehmungsvermögen mit ein und spricht hinsichtlich
der Frage nach demjenigen, was durch Alter etwas erleidet von yuc»
schlechthin. Daher müssen wir davon ausgehen, daß er die Seelenver-
mögen schlechthin als unvergänglich ansieht. Das ist auch nicht ver-
wunderlich, wo er sie doch beim Wahrnehmungsvermögen als diejeni-
ge Instanz, welche für die Wirklichkeit der Wahrnehmung, also die In-

238
De anima I, 4; 408b 18-25, Übers. W. Theiler.

266
Aristoteles von Stageira (384-322)
formationsverarbeitung zuständig ist, als lÒgoj tij, also als etwas Ideelles
bezeichnet.
Dennoch werden die Seelenvermögen de facto immer schlechter
mit zunehmendem Alter. Das liegt nach Aristoteles daran, daß sie ent-
weder eine Materiekomponente besitzen, oder an eine solche gebun-
den sind. Bei der Wahrnehmung ist etwa das Auge als das physische
Organ der Sinneswahrnehmung der schwache Punkt. Dieses untersteht
eben nicht nur als Organ dem Wahrnehmungsvermögen, sondern es
befindet sich auch in Kontakt mit anderer Materie und kann sich so
verändern und unfunktional werden. Nur so kann jemand ein einge-
schränktes Wahrnehmungsvermögen haben.
Indem nun, wie uns Aristoteles hier erklärt, das Denkvermögen als
höheres Vermögen vom Wahrnehmungsvermögen abhängt, wird es
durch eine Schädigung desselben mit geschädigt. Auch dieser Gedanke
läßt sich dahingehend verallgemeinern, daß eben jedes höhere Vermö-
gen, auch wenn es als ideelle Form an sich unvergänglich ist, dadurch
vergänglich oder anfällig wird, daß es von niedrigeren Vermögen mate-
riell abhängt.
§ 220 Daß die höheren Vermögen so von den niedrigeren für ihre
Funktionalität – nicht aber in ihrer Funktionalität – abhängig sind ist
aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite besteht darin,
daß die niedrigeren Formen überhaupt nur um der höheren Willen da
sind, wie es Aristoteles in De partibus animalium ausdrückt:
“Wste kaˆ tÕ sîm£ pwj tÁj yucÁj »Gleichwie der Körper der Seele
›neken, kaˆ t¦ mÒria tîn œrgwn wegen da ist, so sind auch die
prÕj § pšfuken ›kaston. Teile wegen der Funktionen da,
in bezug auf die sie jeweils von
Natur aus eingerichtet sind.«
239

Alle Teile des Körpers also sind funktional nur für die Seele als die
Form des Körpers da. Auch wenn also die Seele und deren Funktionen
materiell vom Körper abhängen und ebenso jede höhere Stufe materi-
ell jeweils von einer niedrigeren, so müssen wir doch immer den Kör-
per aus der Sicht der Seele betrachten. Er ist nur um der Seele willen

239
De partibus animalium I, 5; 645b 19-20

267
Aristoteles von Stageira (384-322)
da und seine spezifische Beschaffenheit ist nicht anders zu verstehen als
teleologisch, also mittels der Frage, welchen Zweck er für die Seele er-
füllt.
§ 221 Von daher ist es nicht überraschend, daß für Aristoteles die
Seele überhaupt den Körper und deren höhere Formen die niedrige-
ren beherrscht. Die ontologische Ordnung der verschiedenen Vermö-
gen konstituiert so eine wahre Hierarchie:
fÚsei d ¢eˆ ¹ ¥nw ¢rcikwtšra kaˆ »Von Natur aber ist immer das
kine‹· höhere Vermögen das gebietende
und bewegt.« 240

Diesen Gedanken, den wir bereits von Platon her kennen, können wir
gleichwohl bei Aristoteles besser einsehen. Er beschreibt uns, wie bei-
spielsweise die Vorstellung die Wahrnehmung voraussetzt, indem sie
deren Material zu ihrer eigenen Existenz braucht. Gleichzeitig haben
wir beim Übergang vom chemisch-physikalischen Kreislauf zum einfa-
chen Lebewesen gesehen, daß dieses Beherrschen eben auch als ein
methodisches Element des Entwicklungsschrittes verstanden werden
kann. Die neue Formebene des Lebens bestand eben gerade darin, daß
sich dieses die Kontrolle über dasjenige erobert hat, was auf der Ebene
davor von außen gesteuert ablief, wo es also der Natur anheim gestellt
ist, ob der betreffende Prozeß weiterläuft oder nicht. Ich denke wir
können diesen Gedanken durchaus verallgemeinern und behaupten,
daß zumindest im Reich des Organischen jede neue Stufe eben gerade
darin besteht, sich der vorhergehenden und ihrer Bedingungen zu be-
mächtigen.
§ 222 Dieses Herrschaftsverhältnis drückt sich aber vor allem auch
darin aus, daß die höhere Ebene eine Deutungsmacht über die Elemen-
te der niedrigeren gewinnt. Aristoteles zeigt dies sehr eindrucksvoll am
Zusammenspiel von Wahrnehmung, Vorstellung und Vernunft:
t¦ m n oân e‡dh tÕ nohtikÕn ™n to‹j »Das vernünftige Vermögen er-
fant£smasi noe‹, kaˆ æj ™n ™ke…- faßt die (intelligiblen) Formen in
noij éristai aÙtù tÕ diwktÕn kaˆ den Vorstellungsbildern, und wie
feuktÒn, kaˆ ™ktÕj tÁj a„sq»sewj, in ihnen das Erstrebbare und Zu-

240
De anima III, 11; 434a 14-15, Übers. W. Theiler.

268
Aristoteles von Stageira (384-322)
Ótan ™pˆ tîn fantasm£twn Ï, ki- Meidende für dieses (Vermögen)
ne‹tai· oŒon, a„sqanÒmenoj tÕn in bestimmter Weise vorliegt, so
fruktÕn Óti pàr, tÍ koinÍ Ðrîn ki- wird es auch innerhalb der
noÚmenon gnwr…zei Óti polšmioj· Wahrnehmung, wenn es bei den
Vorstellungsbildern verweilt, in
Bewegung versetzt: z.B. sieht
man die Fackel, weil sie Feuer ist,
und erkennt mit dem Gemein-
sinn, indem man sie sich bewe-
gen sieht, daß es der Feind ist.«
241

Hier zeigt sich die Deutungshoheit der höheren Stufe in mehreren


Schritten. Zunächst nimmt man das Feuer wahr. Die Wahrnehmung
wird sodann in der Vorstellung mit den bekannten Formen des Feuers
verglichen und das Feuer wird als Fackel erkannt. Die Wahrnehmung
hat diese Fackel nicht gesehen, aber die Vorstellung vermag sie ihr auf-
zuerlegen, indem sie die zur Verfügung gestellten Sinnesdaten in einen
Zusammenhang bringt; und zwar in ihren Vorstellungszusammenhang.
Alsdann übernimmt die Vernunft das Ruder des Deutungsprozesses
und setzt die Fackel in einen politischen Zusammenhang, indem sie aus
ihr auf die Präsenz von Feinden schließt. Die Vorstellung weiß aus sich
heraus nichts von Politik und Feinden. Erst die Vernunft kennt diese
Kategorie und kann sie anwenden. So aber herrscht die Vernunft über
die Vorstellung und diese über die Wahrnehmung, denn der betreffen-
de Mensch wird nun nicht versuchen, sich an dem gesehenen Feuer zu
wärmen, sondern es aus guten Gründen zu meiden wissen.
§ 223 Besonders gut läßt sich dieser Aspekt der Herrschaft an
Handlungen studieren. Denn hier ist es die Seele die etwas tun möchte
und ihr Wille wird letztlich durch alle Instanzen des Körpers bis in die
Materie übersetzt:
ÐpÒtan sumbÍ ést' e nai tÕ m n »Wann immer es zusammentrifft,
poihtikÕn tÕ d paqhtikÒn, kaˆ daß das eine ein Aktives und das
mhd n ¢pol…pV aÙtîn ˜k£teron andere ein Passives ist und keines
tîn ™n tù lÒgJ, eÙqÝj tÕ m n poie‹ von beiden seinen Begriff ver-
tÕ d p£scei. di¦ toàto d' ¤ma æj fehlt, so wird, sobald das eine

241
De anima III, 7; 431b 2-6, Übers. W. Theiler.

269
Aristoteles von Stageira (384-322)
e„pe‹n noe‹ Óti poreutšon kaˆ po- handelt, die andere dieses erlei-
reÚetai, ¨n m» ti ™mpod…zV ›teron. den. Deswegen denkt man, daß
t¦ m n g¦r Ñrganik¦ mšrh paras- man gehen muß und geht sozusa-
keu£zei ™pithde…wj t¦ p£qh, ¹ d' gen zugleich, wenn das nicht
Ôrexij t¦ p£qh, t¾n d' Ôrexin ¹ durch etwas anderes behindert
fantas…a· aÛth d g…netai À di¦ wird. Denn die Affekte bereiten
no»sewj À di' a„sq»sewj. ¤ma d die organischen Teile passend
kaˆ tacÝ di¦ tÕ <tÕ> poihtikÕn vor, das Strebevermögen aber die
kaˆ paqhtikÕn tîn prÕj ¥llhla Affekte und die Vorstellung das
e nai t¾n fÚsin. Strebevermögen. Diese aber ent-
steht entweder durch Denken
oder Anschauung. Dies geschieht
gleichzeitig und schnell, weil das
aktive und passive von Natur aus
füreinander da sind.«242

Aristoteles zeigt uns hier wie eine Handlung vom Denken zur Materie
durchgereicht wird. Die einzelnen von ihm erwähnten Stufen wollen wir
nicht mehr en détail betrachten, da wir diese schon hinreichend analy-
siert haben. Interessant ist vielmehr, wie Aristoteles das Verhältnis die-
ser Stufen hier beschreibt. Die herrschende Stufe ist jeweils das poihti-
kÒn und die beherrschte das paqhtikÒn. Das Aktive ist die Formseite
und das Passive die Materie dieser Form. Was auch immer in der
Form geschieht, geschieht in der Materie gewissermaßen automatisch
mit. Folgendes Beispiel erklärt dies ganz anschaulich: Wenn jemand
Buchstaben aufschreibt, dann zieht er automatisch auch Linien. Er ver-
steht sein Handeln gleichwohl nicht als ein Ziehen von Linien, denn
sein Denken ist ganz auf der Formebene oder gar in einem Text, den
er schreibt, gefangen. Die Linien sind nur das Material der Buchstaben
und kommen in Konstellationen mit ihnen einher, ohne das ihr Auftre-
ten bewußt herbeigeführt wird. Ebenso werden beim Handeln auch die
Muskelbewegungen nicht einzeln reflektiert hervorgebracht, sondern
das Handeln ist Muskelbewegen en bloc.
§ 224 Aristoteles verwendet die Metapher eines Staates um dies
deutlich zu machen:

242
De motu animalium 8; 702a 13-21

270
Aristoteles von Stageira (384-322)

Øpolhptšon d sunest£nai tÕ zùon »Man muß annehmen, daß das


ésper pÒlin eÙnomoumšnhn. œn te Lebewesen sich so verhält wie
g¦r tÍ pÒlei Ótan ¤pax sustÍ ¹ eine gut regierte Stadt. Denn
t£xij, oÙd n de‹ kecwrismšnou mon- wann immer ein für alle mal die
£rcou, Ön de‹ pare‹nai par' ›kas- Ordnung aufgestellt worden ist,
ton tîn ginomšnwn, ¢ll' aÙtÕj braucht es keinen abgesonderten
›kastoj poie‹ t¦ aØtoà æj tštak- Alleinherrscher mehr, der bei
tai, kaˆ g…netai tÒde met¦ tÒde di¦ allem, was geschieht, anwesend
tÕ œqoj· œn te to‹j zóoij tÕ aÙtÕ ist, sondern jeder Einzelne macht
toàto di¦ t¾n fÚsin g…netai kaˆ tù das ihm Befohlene und das eine
pefukšnai ›kaston oÛtw sust£n- geschieht nach dem anderen ge-
twn poie‹n tÕ aØtoà œrgon, éste mäß dem Brauch. In den Lebe-
mhd n de‹n ™n ˜k£stJ e nai yuc»n, wesen geschieht dasselbe auf-
¢ll' œn tini ¢rcÍ toà sèmatoj grund der Natur und weil sie so
oÜshj t«lla zÁn m n tù prospe- zusammengefügt sind, daß jeder
fukšnai, poie‹n d tÕ œrgon tÕ Teil von Natur aus seine Aufgabe
aØtîn di¦ t¾n fÚsin. erfüllt, so daß es nicht nötig ist,
daß in jedem Teil eine Seele ist,
sondern weil sie in einem prinzi-
piellen Teil des Wesens des
Körpers ist, leben die anderen
Teile gemäß ihrer Verwachsen-
heit mit ihm und verrichten die
Aufgaben, die ihnen durch die
Natur zukommen.« 243

Ebenso wie im Staat der Herrscher nur ein Gesetz erlassen muß, damit
etwas geschieht und nicht selbst das Geschehen aktiv bestimmen und
kontrollieren muß, so kann nach Aristoteles auch im Körper eines Le-
bewesens von einer höheren Instanz gewissermaßen eine Verhaltens-
weise ersonnen werden, welche die niedrigeren Teile des Körpers dann
ausführen. Ganz treffend ist hier der Ausdruck des Verwachsenseins
(prospefukšnai). Die Teile sind eben so mit dem Körper zu einer Ein-
heit verwachsen, daß eine Handlung auf einer höheren Ebene automa-
tisch die niedrigeren mit bewegt. Es ist daher im Grund ganz falsch, zu
fragen, wie denn unsere Seele unseren Arm bewegen kann. Der Arm

243
De motu animalium 10; 703a 29 – 703b 2

271
Aristoteles von Stageira (384-322)
ist vielmehr immer schon Teil einer beseelten Ganzheit und seine Be-
wegung nur ein Ausdruck einer Seelenbewegung. Die Seele selbst als
die jeweils höchste Form des Körpers kann sich dabei durchaus an ei-
ner zentralen Stelle befinden, mit der die anderen jedoch so verbunden
sind, daß die Bewegung der Seele auch ihre Bewegung ist. Letztlich ist
aber so der ganze Körper Seele.

Handlung auf der höchste Ebene

Subebene Subebene

Materie Materie Materie Materie

Schließlich bewegen sich so bei einer Handlung wirklich nur die Ato-
me; allein die Zusammensetzung der Ganzheit, deren Atome sich da
bewegen, geben dieser Bewegung qua Form einen Bedeutungsgehalt,
der aus bloß mechanischen Bewegungsgesetzen nicht mehr herleitbar
ist.

Geist
i. Der Unterschied von Wahrnehmung und Geist
§ 225 Bereits bei der Analyse des Wahrnehmungsvermögens sind eine
Reihe von Eigenschaften zutage getreten, welche den ideellen Charakter
dieses Vermögens herausstellen. Aristoteles beginnt daher seine Analy-
se des Geistes mit einem Vergleich der beiden:
Perˆ d toà mor…ou toà tÁj yucÁj ú »Hinsichtlich des Seelenteils, mit
ginèskei te ¹ yuc¾ kaˆ frone‹, dem die Seele erkennt und ver-
e‡te cwristoà Ôntoj e‡te m¾ cwri- ständig ist, sei er nun abtrennbar
stoà kat¦ mšgeqoj ¢ll¦ kat¦ oder auch räumlich nicht ab-
lÒgon, skeptšon t…n' œcei diafor£n, trennbar, sondern nur dem Be-
kaˆ pîj pot g…netai tÕ noe‹n. e„ d» griffe nach, muß man untersu-

272
Aristoteles von Stageira (384-322)
™sti tÕ noe‹n ésper tÕ a„sq£- chen, welches unterschiedene
nesqai, À p£scein ti ¨n e‡h ØpÕ toà Merkmal er hat, und wie sich
nohtoà ½ ti toioàton ›teron. ¢pa- denn das vernünftige (intellekti-
q j ¥ra de‹ e nai, dektikÕn d toà ve) Erfassen vollzieht. Wie das
e‡douj kaˆ dun£mei toioàton ¢ll¦ Wahrnehmen dürfte es entweder
m¾ toàto, kaˆ Ðmo…wj œcein, ésper ein Erleiden sein von seiten des
tÕ a„sqhtikÕn prÕj t¦ a„sqht£, intelligiblen Gegenstandes oder
oÛtw tÕn noàn prÕj t¦ noht£. etwas anderes dergleichen. Also
muß es leidensunfähig sein und
doch aufnahmefähig für die (in-
telligible) Form und in Möglich-
keit ein solches sein (wie das
Objekt der Form nach), aber
nicht dieses (konkrete Objekt
selbst), und ähnlich, wie das
Wahrnehmungsfähige sich zum
Wahrnehmen verhält, so muß
sich auch die Vernunft (der In-
tellekt) zum Intelligiblen verhal-
ten.« 244

Aristoteles stellt hier drei Eigenschaften des Wahrnehmungsvermögens


heraus, die man auch dem Denkvermögen zuschreiben kann. Zunächst
muß das Denkvermögen leidensunfähig (¢paq j) sein. Es soll ja durch
die gedachten Inhalte nicht selbst verändert oder gar beschädigt wer-
den, sondern nur mit diesen operieren. Dann muß es natürlich auf-
nahmefähig für intelligible Formen, also für die Inhalte sein, die es zu
denken hat. Schließlich muß es der Möglichkeit nach sogar diese For-
men sein, ohne sie aber wirklich zu sein. Denn das Denken muß die
Formen ja irgendwie aufnehmen, in sich kopieren, ohne aber dadurch
zu dem Ding zu werden, dessen Form es da denkt.
§ 226 Ebenso wie das Wahrnehmungsvermögen ist somit das
Denkvermögen in der Lage, die Formen der Dinge zu seinen eigenen
zu machen, sie zu abstrahieren und so in sich aufzunehmen. Auf diesen
Aspekt beschränkt sich dann aber auch schon die Gemeinsamkeit von
Wahrnehmung und Geist. Im Unterschied zum Wahrnehmungsver-

244
De anima III, 4; 429a 10-18, Übers. W. Theiler.

273
Aristoteles von Stageira (384-322)
mögen jedoch hat der Geist einen ganz anderen Umgang mit seinen
Objekten:
diafšrei dš, Óti toà m n t¦ poih- »Es besteht aber ein Unterschied
tik¦ tÁj ™nerge…aj œxwqen, tÕ Ðra- [zwischen sinnlicher und intellek-
tÕn kaˆ tÕ ¢koustÒn, Ðmo…wj d kaˆ tueller Erkenntnis], weil von der
t¦ loip¦ tîn a„sqhtîn. a‡tion d' ersteren das, was (ihre) wirkliche
Óti tîn kaq' ›kaston ¹ kat' ™n- Tätigkeit bewirkt, außerhalb liegt,
šrgeian a‡sqhsij, ¹ d' ™pist»mh nämlich das Sichtbare und Hör-
tîn kaqÒlou· taàta d' ™n aÙtÍ bare und ebenso die übrigen
pèj ™sti tÍ yucÍ. wahrnehmbaren Objekte. Der
Grund davon ist der, daß die
wirkliche Wahrnehmung auf das
Einzelne geht, die Wissenschaft
dagegen auf das Allgemeine. Die-
ses aber ist in gewisser Weise in
der Seele.«245

Während die Wahrnehmung sich also auf wirkliche Objekte bezieht,


die außerhalb ihrer in der physikalischen Welt existieren, beschäftigt
sich der Geist mit Objekten, die bereits in der Seele vorliegen.
Es hat hier zunächst den Anschein, als würde damit das Geistige von
Aristoteles so bestimmt, wie wir es aus idealistischer Perspektive sehen,
nämlich als eine Form, die sich selbst auf sich selbst als Form bezieht
und nicht mehr auf etwas anderes, das sie versucht auf ihre Ebene zu
heben. Doch so weit geht der aristotelische Idealismus nicht. Wenn er
davon spricht, daß die Seele ihre Gegenstände ™n aÙtÍ findet, dann
meint er damit, daß diese Formen in einem anderen Seelenteil als dem
Denkvermögen vorliegen, wie beispielsweise der Vorstellung oder der
Wirklichkeit der Wahrnehmung. Das Denkvermögen ist dann in der
Lage, aus diesen einzelnen Inhalten die für es selbst spezifische Form,
das Allgemeine (Ð kaqÒlou) derselben zu abstrahieren.
§ 227 Dies bringt zwei Beschränkungen des Geistes mit sich. Eine
erste Beschränkung des Geistes liegt darin, daß der Geist gar nicht un-
mittelbar über das Allgemeine verfügt. Der Geist verfügt vielmehr ge-
nau anderes herum zunächst über Einzelerkenntnisse, die er der

245
De anima II, 6; 417b 19-23, Übers. W. Theiler.

274
Aristoteles von Stageira (384-322)
Wahrnehmung entnimmt und aus denen er erst nach und nach das
Allgemeine erschließt:
oÙ g¦r taÙtÕn prÒteron tÍ fÚsei »Denn das der Natur nach Frü-
kaˆ prÕj ¹m©j prÒteron, oÙd here ist nicht dasselbe mit dem
gnwrimèteron kaˆ ¹m‹n gnwri- Früheren für uns und ebenso ist
mèteron. lšgw d prÕj ¹m©j m n das der Natur nach Bekanntere
prÒtera kaˆ gnwrimètera t¦ nicht dasselbe mit dem für Uns
™ggÚteron tÁj a„sq»sewj, ¡plîj Bekannterem. Unter dem für
d prÒtera kaˆ gnwrimètera t¦ Uns Früheren und Bekannteren
porrèteron. œsti d porrwt£tw verstehe ich das, was der sinnli-
m n t¦ kaqÒlou m£lista, ™g- chen Wahrnehmung näher liegt;
gut£tw d t¦ kaq' ›kasta· kaˆ unter dem schlechthin Früheren
¢nt…keitai taàt' ¢ll»loij. und Bekannteren das davon Ent-
ferntere. Am entferntesten ist das
am meisten Allgemeine; am
nächsten das Einzelne; beide sind
einander entgegengesetzt.« 246

Das für uns Bekanntere und damit auch das, worüber unser Geist zu-
nächst verfügt, ist also erst einmal das, was aus der sinnlichen Wahr-
nehmung kommt. Es sind die konkreten Einzelwahrnehmungen, die
vom Allgemeinen noch weit entfernt liegen. Alsdann setzt die Abstrak-
tion ein und gewinnt daraus das Allgemeine.
§ 228 Dabei zeigt sich jedoch zugleich auch die zweite Beschrän-
kung des Geistes:
FanerÕn d kaˆ Óti, e‡ tij a‡sqhsij »Es ist auch klar, dass wenn ir-
™klšloipen, ¢n£gkh kaˆ ™pist»mhn gend ein Sinn Jemandem fehlt,
tin¦ ™kleloipšnai, ¿n ¢dÚnaton nothwendig ihm auch ein Wissen
labe‹n, e‡per manq£nomen À ™p- fehlen muss. Dasselbe kann dann
agwgÍ À ¢pode…xei, œsti d' ¹ m n unmöglich erlangt werden, da
¢pÒdeixij ™k tîn kaqÒlou, ¹ d' ™p- man überhaupt nur durch Induk-
agwg¾ ™k tîn kat¦ mšroj, ¢dÚna- tion oder durch Beweis ein Wis-
ton d t¦ kaqÒlou qewrÁsai m¾ di' sen erlangen kann; nun wird der
™pagwgÁj (™peˆ kaˆ t¦ ™x ¢fai- Beweis zwar aus allgemeinen Sät-
ršsewj legÒmena œstai di' ™pagw- zen abgeleitet, und die Induktion
gÁj gnèrima poie‹n, Óti Øp£rcei aus Einzelnen; aber es ist un-

246
Analytica posteriora I, 2; 71b 34 – 72a 5, Übers. H.J. von Kirchmann.

275
Aristoteles von Stageira (384-322)
˜k£stJ gšnei œnia, kaˆ e„ m¾ möglich, das Allgemeine anders,
cwrist£ ™stin, Î toiondˆ ›kaston), als durch Induktion kennen zu
™pacqÁnai d m¾ œcontaj a‡sqhsin lernen, da man auch die durch
¢dÚnaton. tîn g¦r kaq' ›kaston ¹ abtrennendes Denken gewonne-
a‡sqhsij· nen Begriffe nur vermittelst der
Induktion verständlich machen
und zeigen kann, dass jeder Gat-
tung Bestimmungen einwohnen,
durch die, wenn sie auch nicht
getrennt für sich bestehen, doch
das Einzelne als solches zu dieser
Gattung gehört.« 247

Aristoteles geht davon aus, daß man aus der sinnlichen Wahrnehmung,
wo wir die allgemeinen Sachverhalte in der Form der Einzelheit ken-
nenlernen, mittels der abstrahierenden Induktion (™pagwg») zum All-
gemeinen aufzusteigen muß. Von diesen allgemeinen Sätzen und Er-
kenntnissen aus, die so gewonnen worden sind, können wir dann durch
Deduktion (¢pÒdeixij) wieder zum Konkreten zurückkehren. Hier tritt
nun aber ein Problem auf, welches Aristoteles uns beschreibt. Gehen
wir davon aus, einem Menschen fehlt ein bestimmtes Sinnesorgan.
Dann hat er keine Möglichkeit des empirischen Zugangs zu den kon-
kreten Dingen in dem Bereich, der durch dieses Wahrnehmungsorgan
erkannt wird. Er wird also auch nicht in der Lage sein, sich durch Ab-
straktion die allgemeinen Grundsätze, die in diesem Bereich gelten, zu
eigen zu machen. Folglich ist es ihm dann auch nicht möglich, diesen
Bereich deduktiv, ausgehend von den allgemeinen Sätzen zu erschlie-
ßen, denn dazu bedürfte es mindestens der Möglichkeit der Vorstellung
des betreffenden Gegenstandes:
di¦ toàto oÜte m¾ a„sqanÒmenoj »Deshalb könnte jemand ohne
mhq n oÙq n ¨n m£qoi oÙd xune…h, Wahrnehmung nichts lernen
Ótan te qewrÍ, ¢n£gkh ¤ma f£n- noch auch begreifen. Und wenn
tasm£ ti qewre‹n· t¦ g¦r fant£s- man etwas betrachtet, dann muß
mata ésper a„sq»mat£ ™sti, man es zugleich mit einem Vor-
pl¾n ¥neu Ûlhj. stellungsbild betrachten. Die Vor-
stellungsbilder sind nämlich wie

247
Analytica posteriora I, 18; 81a 38 – 81b 6, Über. H.J. von Kirchmann.

276
Aristoteles von Stageira (384-322)
die Wahrnehmungsobjekte, nur
ohne Materie.« 248

Selbst wenn man also begriffllich einen Bereich erschließen könnte, der
einem empirisch verborgen bleibt, dann wären die so gewonnenen Ein-
sichten leere allgemeine Hülsen, denn ihnen würden die Vorstellungs-
bilder (fant£smata), die sie tragen müssen, fehlen. Es gibt also für Ari-
stoteles eine ganz klare Grenze der Erkenntnis, sobald einem Men-
schen die untersten Grundlagen dieser Erkenntnis fehlen. Hier zeigt
sich der Geist also in einer sehr deutlichen Abhängigkeit von der
Wahrnehmung.
§ 229 Diese Abhängigkeit widerspricht aber unserer Vorstellung von
der Freiheit des Geistes, die darin begründet liegt, daß der Geist als ei-
ne sich auf sich selbst beziehende Form jegliche allgemeine Form aus
sich selbst erschließen kann. Wir hatten diesen Gedanken bei Heraklei-
tos kennengelernt. Herakleitos geht davon aus, daß ein Mensch, sofern
er über den Geist verfügt, zugleich auch über alle Möglichkeiten des
Geistigen verfügt. Das grundlegende Argument dabei ist, daß das Gei-
stige einen Zusammenhang bildet und daß so jedes Element des Geisti-
gen jedes andere voraussetzt und auch impliziert.
Diese Sichtweise teilt Aristoteles offenbar nicht. Für ihn ist das All-
gemeine und Geistige zersplittert in verschiedene Gattungen, deren jede
einen eigenen imkommensurablen Bereich bildet. Diese Beschränkung
des Geistigen bei Aristoteles geht einher mit seiner ganz und gar for-
malen Sichtweise des Denkens, das nur über analytische Fähigkeiten
verfügt. Die ™pagwg» ist letztlich ja nichts anderes als die Analyse eines
Wahrnehmungsgehaltes daraufhin, welche allgemeinen Gehalte in ihm
stecken. Die ¢pÒdeixij schließlich ist ein Verfahren, daß ganz auf der
formallogischen Ebene verbleibt und nur den Teil des Konkreten in
der Konklusion zuläßt, der bereits in den Prämissen auftaucht.

ii. Der Selbständigkeit des Geist


§ 230 Wenn Aristoteles den Geist somit wegen der Gebundenheit an
die Wahrnehmung auch als ein Wesen mit beschränktem Zugang zum

248
De anima III, 9; 432a 7-10, Übers. W. Theiler.

277
Aristoteles von Stageira (384-322)
Reich des Geistigen ansieht, so erkennt er doch, daß dem Geist als
Denken eine Reihe von Eigenschaften zukommen müssen, die diesem
eine gewisse Eigenständigkeit geben und sie aus der Sphäre des Kör-
perlichen herausheben:
¢n£gkh ¥ra, ™peˆ p£nta noe‹, »Folglich muß sie, da sie alles er-
¢migÁ e nai, ésper fhsˆn 'Anax- faßt, unvermischt sein, wie Anax-
agÒraj, †na kratÍ, toàto d' ™stˆn agoras sagt, um zu herrschen, das
†na gnwr…zV (paremfainÒmenon g¦r heißt um zu erkennen; denn das
kwlÚei tÕ ¢llÒtrion kaˆ ¢nti- Fremde, das dazwischen er-
fr£ttei)· éste mhd' aÙtoà e nai scheint, hindert und versperrt.
fÚsin mhdem…an ¢ll' À taÚthn, Óti Daher besitzt sie auch keine an-
dunatÒj. Ð ¥ra kaloÚmenoj tÁj dere Natur als diese, daß sie
yucÁj noàj (lšgw d noàn ú dia- vermögend (zum Erkennen) ist.
noe‹tai kaˆ Øpolamb£nei ¹ yuc») Die sogenannte Vernunft der
oÙqšn ™stin ™nerge…v tîn Ôntwn Seele also – ich nenne Vernunft
prˆn noe‹n· diÕ oÙd mem‹cqai eÜlo- das, womit die Seele nachdenkt
gon aÙtÕn tù sèmati· poiÒj tij und Annahmen macht – ist nicht
g¦r ¨n g…gnoito, À yucrÕj À qer- (identischerweise) von dem Sei-
mÒj, k¨n ÔrganÒn ti e‡h, ésper tù enden in Wirklichkeit, bevor sie
a„sqhtikù· nàn d' oÙq n œstin. erkennt. Daher hat es auch sei-
nen guten Grund, daß sie nicht
mit dem Körper vermischt ist;
denn dann nähme sie eine be-
stimmte Beschaffenheit an, wür-
de kalt oder warm, und hätte ein
(körperliches) Organ, wie das
Wahrnehmungsvermögen. Nun
kommt ihr aber nichts (derarti-
ges) zu.«
249

Der Gedanke, daß die Seele herrscht indem sie erkennt fügt sich naht-
los in das ein, was wir am Ende der Formenlehre zum Verhältnis der
Vermögen der Seele zueinander gesagt haben. Jedes Vermögen be-
herrscht das ihm untergebene und ihm vorausgehende. Und diese
Herrschaft wird natürlich nicht anders als eben durch die für das betref-
fende herrschende Vermögen charakteristische Tätigkeit ausgeübt, die

249
De anima III, 4; 429a 18-27, Übers. W. Theiler.

278
Aristoteles von Stageira (384-322)
eben beim Geist das Erkennen ist. Das besondere des Geistes besteht
nun nach Aristoteles darin, daß er eben über alles herrscht und eine
oberste Instanz darstellt. Es kann logischerweise nur ein Vermögen ge-
ben, dem diese Rolle zukommt. Daraus erschließt Aristoteles nun, daß
der Geist etwas Körperloses sein muß. Hätte er einen Körper, so gäbe
es ein Mittelglied zwischen ihm und den Dingen, die er erkennt. Ein
solches Mittelglied würde den blinden Fleck der Erkenntnis des Geistes
darstellen und kann folglich nicht existieren.
Wie sollen wir uns diese Körperlosigkeit des Geistes vorstellen?
Wird er damit zu einer Art freischwebenden Form? Aristoteles, von
dem wir Bodenständigkeit gewohnt sind, hebt auch hier nicht ins Mysti-
sche ab und erklärt uns diese Körperlosigkeit damit, daß der Geist kein
Organ habe, welchem sie ihre Tätigkeit verdankt. Es gibt also nicht so
etwas, wie ein „Auge der Seele“. Während also bei der Sinneswahr-
nehmung das Auge als Organ derselben die Möglichkeit der Wahr-
nehmung darstellt und das Wahrnehmungsvermögen selbst die Wirk-
lichkeit, kann beides beim Denkvermögen nicht getrennt sein. Der
Geist ist somit sowohl Möglichkeit als auch Wirklichkeit.
§ 231 Damit kommt Aristoteles hier schließlich doch in die Nähe
unseres Geistbegriffs, denn wenn so der wirkliche Teil des Geistes die
Formen, die seinen Inhalt bilden, aus dem möglichen Teil seiner selbst
entnimmt, dann stellt der Geist eine sich selbst formende Form dar. In
der Tat ist dies nach Aristoteles an die Wirklichkeit des Geistes ge-
knüpft:
Ótan d' oÛtwj ›kasta gšnhtai æj Ð »Wenn sie aber zu jedem wird,
™pist»mwn lšgetai Ð kat' ™n- wie man es vom Wissenschaftler
šrgeian (toàto d sumba…nei Ótan der Wirklichkeit nach sagt – dies
dÚnhtai ™nerge‹n di' aØtoà), œsti ist der Fall, wenn er von sich aus
m n kaˆ tÒte dun£mei pwj, oÙ m¾n wirklich tätig sein kann (in der
Ðmo…wj kaˆ prˆn maqe‹n À eØre‹n· erlernten Wissenschaft) –, so be-
kaˆ aÙtÕj di' aØtoà tÒte dÚnatai findet sie sich auch dann noch
noe‹n. gewissermaßen in Möglichkeit
(gegenüber der wirklichen Betäti-
gung der Wissenschaft), jedoch
nicht mehr in gleicher Weise wie
früher, bevor sie (die Wissen-

279
Aristoteles von Stageira (384-322)
schaft) lernte und entdeckte. Und
dann vermag sie auch sich selbst
zu erkennen.«250

Wenn der Geist oder die Geistseele zu jeder Form wird, dann ist die
Wirklichkeit des Geistes erreicht. Diese besteht darin, daß der Geist,
wie ein Wissenschaftler, der eine wissenschaftliche Ausbildung genos-
sen hat, in der Lage ist, jene Formen, die in Möglichkeit dem Geist
vorliegen zur Wirklichkeit zu bringen, sie also zu einem Gegenstand
des Denkens zu machen. Wo kommen diese Formen denn aber her,
die in Möglichkeit vorliegen? Wir haben oben gesehen, daß der Geist
seine Nahrung aus der Wahrnehmung und der Vorstellung erhält. Die-
se Vorstellungsbilder und Wahrnehmungsinhalte sind es, die in Mög-
lichkeit geistig sind. Einen wirklichen Geist zu haben heißt nun, daß
man diese Inhalte zu etwas Geistigem machen kann, daß man also die
intelligiblen Formen, das Allgemeine aus ihnen abstrahieren kann.
Dann liegen die Formen als wirkliche geistige Inhalte im Geist vor.
Hier ist aber Aristoteles’ Beschreibung des Geistes noch nicht an ihr
Ende gelangt. Denn zu jener ersten Wirklichkeit des Geistes gesellt sich
eine zweite. Aristoteles führt diese wiederum mit seinem Beispiel des
Wissenschaftlers ein. Die erste Wirklichkeit des Geistes entspricht dem
Wissenschaftler, der seine Wissenschaft gelernt hat, der also weiß, wie
man aus der Wahrnehmung allgemeine Inhalte ableitet; die zweite
Wirklichkeit entspricht dem Wissenschaftler, der dies wirklich tut.
Eben hier sei der Geist an einen Punkt gekommen, wo Selbsterkennt-
nis für ihn möglich ist.
§ 232 Ich lese das so, daß im ersten Schritt mögliche geistige For-
men zu wirklichen geistigen Formen verwandelt werden. Wer dies
kann, weiß wie man geistige Formen herstellt. Wenn man es dann
kann, dann kann man es nicht nur auf die möglichen geistigen Formen,
also die Wahrnehmungsbilder anwenden, sondern auch auf die wirkli-
chen geistigen Formen. Die zweite Wirklichkeit des Geistes besteht so
darin, daß die geistige Formen durch geistige Formen geformt werden,

250
De anima III, 4; 429b 5-9, Übers. W. Theiler.

280
Aristoteles von Stageira (384-322)
daß also die geistigen Formen sich selbst zum Gegenstand werden. Ent-
sprechend bezeichnet Aristoteles den Geist als Form der Formen:
Ð noàj e doj e„dîn »Der Geist ist die Form der
Formen.« 251

Ich habe bereits ausgeführt, daß ich eben dies in der Sprache realisiert
sehe. Bei Aristoteles ist es gleichwohl die Denkfähigkeit des Menschen,
die in dieser zweiten Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Wir werden
noch sehen, daß Aristoteles das Phänomen der Sprache als etwas dem
Denken gegenüber sehr viel niedrigeres ansieht; hierin ist er ein Schüler
Platons geblieben.
Die Leistung des aristotelischen Begriffs des Denkens besteht nun
darin, daß er dessen Doppelnatur gerecht wird. Zum einen bezieht sich
das Denken auf konkrete natürliche Formen, zum anderen aber be-
zieht es sich auf geistige Formen. Aristoteles erklärt uns, wie eben die-
ses auf zwei verschiedenen Niveaus ein und desselben Vermögens
denkbar ist.

Möglichkeit erste Wirklichkeit zweite Wirklichkeit

f£ntasma
nÒhma
a„sqhtÒj e doj

Vorstellungsgehalt (f£ntasma) oder ein Wahrnehmungsgehalt


(a„sqhtÒj e doj) bildet die Möglichkeit des noàj. Dieser wird sodann in
eine intelligible Form, ein nÒhma umgewandelt, welches die erste Wirk-
lichkeit des noàj bildet. Die zweite Wirklichkeit besteht dann darin, daß
sich dieses nÒhma auf es selbst als nÒhma bezieht.

251
De anima III, 9; 432a 2

281
Aristoteles von Stageira (384-322)
iii. Der abgetrennte Geist
§ 233 Indem der Geist nun frei von einem körperlichen Organ ist,
durch das er etwas erleiden könnte, durch das etwas auf ihn einwirken
könnte, gibt es bei ihm auch keine Trennung von Erkenntnissubjekt
und Erkenntnisobjekt mehr:
kaˆ aÙtÕj d nohtÒj ™stin ésper »Und sie selbst ist erkenn-
t¦ noht£. ™pˆ m n g¦r tîn ¥neu bar/intelligibel wie die intelligi-
Ûlhj tÕ aÙtÒ ™sti tÕ nooàn kaˆ tÕ blen Objekte. Bei dem, was ohne
nooÚmenon· Materie besteht, ist das vernünfti-
ge Erkennen und das Erkannte
dasselbe.« 252

Das Geistige bewegt sich einfach im Raum des Geistigen. Hier gibt es
keinen Unterschied mehr zwischen dem geistigen Inhalte und dem
Geist, der diesen erkennt. Dies alles befindet sich auf einer Ebene.
Zunächst einmal scheint hier jene Abhängigkeit des Geistes von der
Wahrnehmung nicht mehr zu bestehen. Aristoteles präsentiert uns hier
ja so etwas wie einen frei beweglichen noàj. Doch wir sollten keine vor-
schnellen Schlüsse ziehen, denn auch hier gibt es für Aristoteles eine ge-
waltige Einschränkung, die deutlich wird, wenn wir uns seine Analyse des
Unterschieds zwischen einem aktiven und einem passiven noàj ansehen:
'Epeˆ d' [ésper] ™n ¡p£sV tÍ »Da es aber, wie in der ganzen Na-
fÚsei ™stˆ [ti] tÕ m n Ûlh ˜k£stJ tur, einerseits Materie gibt für jede
gšnei (toàto d Ö p£nta dun£mei Gattung – sie ist das, was alles jenes
™ke‹na), ›teron d tÕ a‡tion kaˆ (zur Gattung Gehörige) in Mög-
poihtikÒn, tù poie‹n p£nta, oŒon ¹ lichkeit ist – andererseits das Ur-
tšcnh prÕj t¾n Ûlhn pšponqen, sächliche und Wirkende, dadurch
¢n£gkh kaˆ ™n tÍ yucÍ Øp£rcein daß es alles wirkt, wie die Kunst
taÚtaj t¦j diafor£j· kaˆ œstin Ð sich zu ihrem Material verhält,
m n toioàtoj noàj tù p£nta müssen auch der Seele diese Un-
g…nesqai, Ð d tù p£nta poie‹n terschiede vorliegen, und es gibt
eine Vernunft, von solcher Art, daß
sie alles (Intelligible) wird, und eine
andere von solcher, daß sie alles
(Intelligible) wirkt/macht. «253

252
De anima III, 4; 430a 2-4, Übers. W. Theiler.
253
De anima III, 5; 430a 10-15, Übers. W. Theiler.

282
Aristoteles von Stageira (384-322)
Zwar gibt es also kein Objekt mehr in der Außenwelt, auf welches sich
der noàj bezieht, aber es gibt so etwas wie ein inneres Objekt. Ebenso
wie die Dinge in der Natur aus Materie und Form bestehen, so beste-
hen auch die geistige Dinge aus Materie und Form. Die Materie wird
dabei gewissermaßen vom passiven noàj simuliert, so daß der aktive
noàj, der noàj poihtikÒj dieser ihre Form geben kann. Form gibt es also
auch im Geist immer nur als Form eines bestimmten Gegenstandes. Sie
wird zwar von diesem Gegenstand abstrahiert, der Geist muß aber dann
gewissermaßen selbst einen Ersatz für den wirklichen Gegenstand lie-
fern, welcher der Abstraktion zugrundelag.
§ 234 Diese Vorstellung erklärt uns zunächst ganz allgemein, warum
der von Aristoteles beschriebene Geist unbedingt doch der Wahrneh-
mungen bedarf. Zwar kann er sich im Reich des Geistigen frei Bewe-
gen, aber seine geistigen Objekte bedürfen einer Art geistiger Materie,
an der sie festgemacht sind. Wir können uns diese zunächst etwas un-
verständlich erscheinende Überlegung so verdeutlichen, daß jeder Ge-
danke immer der Gedanke von etwas ist. Am anschaulichsten wird das
sicherlich im Extremfall von ganz abstrakten Begriffen, von reinen Ide-
en. Wenn wir beispielsweise den Begriff des Unterschieds denken,
dann denken wir ihn nach Aristoteles immer als den Unterschied von
etwas Konkretem. Zwar kann ich mit dem abstrakten Konzept etwas
jonglieren, es hier und dort festmachen, aber will ich es denken, so muß
ich ihm immer eine konkrete Gestalt geben, immer so etwas wie ein
Beispiel mitschleppen. Aristoteles zeigt dies am Beispiel geometrischer
Schlüsse:
kaˆ noe‹n oÙk œstin ¥neu fant£- »Es ist unmöglich zu denken oh-
smatoj – sumba…nei g¦r tÕ aÙtÕ ne ein Vorstellungsbild. Denn
p£qoj ™n tù noe‹n Óper kaˆ ™n tù beim Denken tritt dasselbe Phä-
diagr£fein· ™ke‹ te g¦r oÙq n nomen auf wie bei einem geome-
proscrèmenoi tù tÕ posÕn æris- trischen Beweis. Auch hier
mšnon e nai toà trigènou, Ómwj zeichnen wir ein Dreieck von ei-
gr£fomen ærismšnon kat¦ tÕ po- ner bestimmten Größe, obwohl
sÒn, kaˆ Ð noîn æsaÚtwj, k¨n m¾ wir mit der bestimmten Größe
posÕn noÍ, t…qetai prÕ Ñmm£twn des Dreiecks uns nicht zu schaf-
posÒn, noe‹ d' oÙc Î posÒn· fen zu machen brauchen. Ebenso
ist es beim Denken: Man stellt

283
Aristoteles von Stageira (384-322)
sich eine bestimmte Größe vor
Augen, auch wenn man an die
Größe gar nicht denkt, die be-
stimmte Größe spielt für das
Denken keine Rolle.« 254

Der Geist braucht also selbst bei abstrakten Beweisen immer eine kon-
krete Vorstellung; auch wenn diese hinsichtlich ihrer konkreten Gestalt
ganz und gar unwichtig ist. Die Vorstellung liefert dem Geist lediglich
das Material, an dem er seine Gedanken festmacht.
§ 235 Doch wir müssen die Hoffnung auf die Existenz eines ganz
und gar freien Geistes, der in seinem Tun nur Geistigem begegnet, dem
idealistischen Inbegriff des Geistes also, noch nicht ganz aufgeben. Es
gibt eine Stelle, wo Aristoteles sich darum bemüht, uns zu zeigen, daß
es einen solchen Geist gibt. Wir finden ihre Beschreibung dort, wo sich
Aristoteles mit dem göttlichen Denken, dem Geistes des unbewegten
Bewegers, in der Metaphysica beschäftigt. Dessen Geist beschreibt er
fast emphatisch wie folgt:
aØtÕn ¥ra noe‹, e‡per ™stˆ tÕ »Die Vernunft also denkt sie
kr£tiston, kaˆ œstin ¹ nÒhsij no»- selbst, wenn sie überhaupt das
sewj nÒhsij. Beste ist, und die Vernunft ist
Denken der Vernunft.« 255

Die göttliche Vernunft also besteht, wie wir im ersten Teil auch schon
gesehen haben, darin, sich selbst als Vernunft zu denken. Sie unter-
scheidet sich nun gerade von der menschlichen Vernunft dadurch, daß
diese immer einen Gegenstand des Denkens haben muß; ein Objekt,
auf das es sich bezieht:
fa…netai d' ¢eˆ ¥llou ¹ ™pist»mh »Nun haben jedoch offenbar die
kaˆ ¹ a‡sqhsij kaˆ ¹ dÒxa kaˆ ¹ Wissenschaft und die Sinnes-
di£noia, aØtÁj d' ™n paršrgJ. wahrnehmung, die Meinung und
die Vorstellung immer etwas an-
deres zum Objekt, sich selbst
aber nur nebenbei.« 256

254
De memoria et reminiscentia 1; 449b 31 – 450a 5, Übers. E. Dönt.
255
Metaphysica XII, 9; 1074b 33-35
256
Metaphysica XII, 9; 1074b 35-36, Übers. H. Bonitz.

284
Aristoteles von Stageira (384-322)
Das Problem, das sich also der Reinheit der göttlichen Vernunft in ih-
rem denkenden Selbstbezug in den Weg stellt, ist das Erkenntnisobjekt,
was hierbei immer gewissermaßen mitgeschleppt wird. Alle Formen der
Erkenntnis haben dieses Erkenntnisobjekt, wie wir oben gesehen ha-
ben; und wenn es sich nicht um ein materielles Erkenntnisobjekt han-
delt dann ist es eben ein Geistiges. Indem sich das Erkenntnissubjekt so
auf das Objekt konzentriert, wird seine eigene Subjektivität zu einer
Nebensache.
§ 236 Dies stellt ein gewaltiges Problem für die göttliche Erkenntnis
dar, denn sie muß frei von einem solchen Objekt sein, um sich selbst in
einem reinen Erkenntnisakt zu erkennen und so kein Moment der
Möglichkeit an den Tag zu legen. Denn ein Objekt mag zwar in Wirk-
lichkeit erkannt werden, aber der Möglichkeit nach ist es immer auch
nicht Gegenstand der Erkenntnis.
Aristoteles löst dieses Problem hier dadurch, daß er auf eine Er-
kenntnisform verweist, die kein Objekt benötigt, das den Bereich des
Geistigen verläßt:
À ™p' ™n…wn ¹ ™pist»mh tÕ pr©gma, »Doch bei manchen ist ja die
™pˆ m n tîn poihtikîn ¥neu Ûlhj ¹ Wissenschaft die Sache selbst.
oÙs…a kaˆ tÕ t… Ãn e nai, ™pˆ d tîn Bei den hervorbringenden Wis-
qewrhtikîn Ð lÒgoj tÕ pr©gma kaˆ senschaften ist dies das Wissen
¹ nÒhsij; oÙc ˜tšrou oân Ôntoj toà ohne den Stoff und das Sosein,
nooumšnou kaˆ toà noà, Ósa m¾ Ûlhn bei den betrachtenden der Be-
œcei, tÕ aÙtÕ œstai, kaˆ ¹ nÒhsij griff (als die Sache) und die Er-
tù nooumšnJ m…a. kenntnistätigkeit. Da also das Er-
kannte und die Vernunft nicht
verschieden sind bei allem, was
keinen Stoff hat, so wird es das-
selbe sein, und Vernunfterkennt-
nis mit dem Erkannten ein einzi-
ges.«257

Wenn das Erkenntnisobjekt selbst ohne Stoff ist, wenn es keinen mate-
riellen Träger mehr hat, sondern selbst etwas rein Geistiges ist, dann
kann es auch diesen reinen Selbstbezug haben. Es hat dann zwar noch

257
Metaphysica XII, 9; 1074b 38 – 1075a 5, Übers. H. Bonitz.

285
Aristoteles von Stageira (384-322)
ein logisch vom Subjekt unterschiedenes Objekt und die Betrachtung
dieses Objekts konstituiert auch eine logische Metaebene. Betrachten-
des und Betrachtetes jedoch sind dann substantiell dasselbe; der Geist
betrachtet etwas Geistiges, das aber als Geistiges dasjenige ist, das den
betrachtenden Geist zum Geist macht. Wir haben eine strikte Reflexivi-
tät vorliegen.
Aber hatten wir nicht oben gesehen, daß der Geist selbst bei reinen
Ideen wie dem Begriff des Unterschieds noch ein Objekt mitschleppen
muß? Was also soll hier, wenn die Wissenschaft die Sache selbst ist (¹
™pist»mh tÕ pr©gma) anders sein? Folgende Erklärung gibt uns eine
Möglichkeit dies als einen Spezialfalls zu verstehen. Wenn die idealisti-
sche Vorstellung eines in sich geschlossenen Systems von reinen Ideen
richtig ist, dann müßte es möglich sein, aus den konkreten Beispielen,
die wir auch bei den reinen Ideen zu deren Konkretisierung immer
mitdenken müssen, ganz und gar abstrakte zu machen. Man kann dann
sozusagen als Materie der reinen Ideen wieder andere reine Ideen
nehmen, bis sich am Ende der Kreis schließt. So wären wir trotz des
Zwangs zum Konkretisieren unsere Ideen ganz und gar im Reich des
Geistigen. Und hier wäre der noàj dann auch als seine zweite Wirklich-
keit vollends realisiert und somit ganz und gar von Wahrnehmungsge-
halten befreit.
§ 237 Dies soll nach Aristoteles der göttliche unbewegte Beweger,
wie wir im ersten Teil gesehen haben ständig in reiner Wirklichkeit an
den Tag legen. Indem er hier zeigt, daß dies trotz der Probleme, die
sich uns im Blick auf die menschliche Erkenntnis bei dieser Vorstellung
stellen, möglich ist, zeigt er aber zugleich auch, daß die menschliche
Vernunft, der menschliche Geist als Vernunft prinzipiell zu dieser Lei-
stung in der Lage ist. Wann immer er sich auf etwas rein Geistiges be-
zieht, bezieht er sich damit zugleich auf sich selbst als Geist.
Zumindest an einer Stelle setzt Aristoteles den menschlichen Geist
auch in Verbindung mit dem göttlichen Geist. Dies tut er in De genera-
tione animalium, wenn er die Frage diskutiert, wie denn der Geist in
das entstehende Lebewesen kommt. Allein der menschlichen Vernunft
(noàj) kommt nach Aristoteles hierbei die Sonderstellung zu, nicht im
Körper heranzuwachsen:

286
Aristoteles von Stageira (384-322)

le…petai d¾ tÕn noàn mÒnon qÚraqen »Es bliebt also nur übrig, daß die
™peisišnai kaˆ qe‹on e nai mÒnon· Vernunft von außen hinein-
oÙq n g¦r aÙtoà tÍ ™nerge…v ko- kommt und allein göttlich ist.
inwne‹ <¹> swmatik¾ ™nšrgeia. Denn keine Körperfunktion hat
Gemeinschaft mit ihrer Funkti-
on.«258

Der noàj muß also von außen (qÚraqen) in den Körper gelangen, weil
seine Funktion (™nšrgeia) eine völlig andere ist, als die Funktionen des
Körpers. Hier deutet sich an, daß Aristoteles sehr wohl in der Lage ist,
sich einen reinen Geist vorzustellen.
Er begibt jedoch sofort im Anschluß an diese Aussage auf die Suche
nach einer passenden Materie und findet diese im Ätherischen:
p£ntwn m n g¦r ™n tù spšrmati »Denn alle haben in ihrem Sa-
™nup£rcei Óper poie‹ gÒnima e nai men das, was macht, daß die Sa-
t¦ spšrmata, tÕ kaloÚmenon qer- men fruchtbar sind und Hitze
mÒn. toàto d' oÙ pàr oÙd toiaÚth genannt wird. Das ist aber kein
dÚnam…j ™stin ¢ll¦ tÕ ™mperi- Feuer oder eine ähnliche Kraft,
lambanÒmenon ™n tù spšrmati kaˆ sondern der umfassende Geist im
™n tù ¢frèdei pneàma kaˆ ¹ ™n tù Samen und im Schaumartigen
pneÚmati fÚsij, ¢n£logon oâsa tù und die Natur im Geistigen, die
tîn ¥strwn stoice…J. vergleichbar mit dem Element
der Sterne ist.« 259

Was also den Geist in den Samen und dadurch in den Menschen
bringt, ist ein gewisses pneàma, hier auch als Geist übersetzt, das sozusa-
gen das Element des Geistigen bereits in der Samenzelle ist. Aristoteles
geht also offenbar davon aus, daß dieses Element, welches er mit dem
Äther, dem Element der Sterne vergleicht, als Träger des Geistes benö-
tigt wird und kann sich so letztlich doch nicht zu einem Begriff eines
reinen menschlichen Geistes durchringen.

iv. Die Sprache


§ 238 Nach der Auffassung unserer idealistischen Metaphysik müßte
der einzig reine Geist, den Aristoteles also im göttlichen Geist sieht, mit

258
De generatione animalium II, 3; 736b 27-29
259
De generatione animalium II, 3; 736b 33 – 737a 1

287
Aristoteles von Stageira (384-322)
der Sprache gleichgesetzt werden. Das stimmt aber, wie bereits
angedeutet, nicht mit Aristoteles’ Sprachauffassung überein. Diese
präsentiert sich nämlich zunächst als etwas, das ganz und gar in
Abhängigkeit der menschlichen Vorstellung steht. Aristoteles Herange-
hensweise an die Sprache ist ähnlich, wie sein Umgang mit allen übri-
gen Bereichen. Er analysiert zunächst die Teile und versucht aus diesen
das Ganze zu rekonstruieren. Das zeigt sich gleich zu Beginn in seiner
Schrift über die Urteile:
”Esti m n oân t¦ ™n tÍ fwnÍ tîn »Die gesprochenen Worte sind
™n tÍ yucÍ paqhm£twn sÚmbola, die Zeichen von Vorstellungen in
kaˆ t¦ grafÒmena tîn ™n tÍ der Seele und die geschriebenen
fwnÍ. kaˆ ésper oÙd gr£mmata Worte sind die Zeichen von ge-
p©si t¦ aÙt£, oÙd fwnaˆ aƒ sprochenen Worten. So wie nun
aÙta…· ïn mšntoi taàta shme‹a die Schriftzeichen nicht bei allen
prètwn, taÙt¦ p©si paq»mata Menschen die nämlichen sind, so
tÁj yucÁj, kaˆ ïn taàta Ðmoiè- sind auch die Worte nicht bei
mata pr£gmata ½dh taÙt£. allen Menschen die nämlichen;
aber die Vorstellungen in der
Rede, deren unmittelbare Zei-
chen die Worte sind, sind bei
allen Menschen dieselben und
eben so sind die Gegenstände
überall dieselben, von welchen
diese Vorstellungen die Abbilder
sind.« 260

Aristoteles geht also davon aus, daß die Bedeutung eines Wortes einer
Vorstellung oder auch einem mentalen Vorgang oder Zustand in der
Seele (paq»ma tÁj yucÁj) entspricht. Zwar gibt es unter den Menschen
verschiedene Sprachen, da aber alle Menschen dieselben Seelen haben,
haben auch diese dieselben Zustände. Und so können die den Seelen-
zuständen entsprechenden Bedeutungsgehalte über die Sprachgrenzen
hinweg identisch sein. Dies entspricht nach Aristoteles dem Umstand,
daß wir alle in derselben äußeren Umwelt leben, in der wir denselben
Gegenständen begegnen, über die wir dann mit unterschiedlichen Lau-
ten aber denselben Gedanken sprechen.

260
De interpretatione 1; 16a 3-8, Übers. H.J. von Kirchmann.

288
Aristoteles von Stageira (384-322)
§ 239 Diese recht einfache Bedeutungstheorie hat gleichwohl ihre
Probleme. Für uns liegt das Hauptproblem dieses Ansatzes in seinem
Atomismus. Die Sprache wir hier vom einzelnen Wort her rekonstru-
iert. Damit ist sie jedoch streng an den individuellen menschlichen
Geist gebunden, der somit Hüter der Worte ist. Es gibt keine Selbstän-
digkeit der sprachlichen Gehalte. Damit aber stellt Aristoteles gleich zu
Beginn seines Buches De interpretatione das in Frage, was er im Fol-
genden bis ins Detail ausführt, nämlich die sprechaktunabhängige Gül-
tigkeit logischer Relationen. Wenn ich nach Aristoteles aus der Wahr-
heit eines Satzes wie »Sokrates ist tot« allein durch logische Reflexion
auf die Falschheit des Satzes »Sokrates ist nicht tot« schließen kann,
dann stellt sich uns unweigerlich die Frage, was hier die Notwendigkeit
dieses Schlusses ausmacht? Konsequenterweise müßte Aristoteles hier
davon ausgehen, daß es zwei mentale Zustände sind, die hier in einer
Notwendigkeitsrelation stehen, daß aber keineswegs der eine Satz aus
dem anderen notwendig folge.
Geschickt könnte sich Aristoteles nun darauf zurückziehen, daß
doch die mentalen Zustände eben als Vorstellungen verstanden nicht
als etwas Physiologisches aufzufassen seien, sondern vielmehr eben in
jenen Gedanken bestünden, die durch die Sätze zum Ausdruck ge-
bracht werden. Dann jedoch hätte er zugegeben, daß unsere Gedanken
bereits sprachlichen Inhalts seien und daß ihre Relationen zueinander
durch die Logik bestimmt werden. Mehr noch, er hätte auch zugege-
ben, daß alles Physiologische und Psychologische, was hier mit der
Form der Seele vor sich geht, logisch bestimmt ist. Die Sprache wäre
aber dann eine Ebene höher anzusiedeln, als die mentalen Zustände
und ihre Elemente wären vor allem sprachliche Elemente, keineswegs
aber nur tîn ™n tÍ yucÍ paqhm£twn sÚmbola.
§ 240 Dasselbe Problem erhält Aristoteles auch, wenn er den Ur-
sprung der Worte in Übereinkünften sieht:
tÕ d kat¦ sunq»khn, Óti fÚsei »Die Worte beruhen auf Ue-
tîn Ñnom£twn oÙdšn ™stin, ¢ll' bereinkommen, weil es von Na-
Ótan gšnhtai sÚmbolon· ™peˆ tur keine Worte giebt, sondern
dhloàs… gš ti kaˆ oƒ ¢gr£mmatoi nur dann, wenn sie zu einem
yÒfoi, oŒon qhr…wn, ïn oÙdšn ™stin Zeichen gemacht werden; denn
Ônoma. auch die unartikulirten Laute of-

289
Aristoteles von Stageira (384-322)
fenbaren zwar etwas, wie bei den
Thieren, aber es fehlen ihnen
doch die Worte.« 261

Offensichtlich geht Aristoteles davon aus, daß es zuerst Bedeutungsge-


halte in Form von Gedanken, Vorstellungen oder auch nur Empfin-
dungen in der Seele des Menschen und auch des Tieres gibt. Diese
können dann geäußert werden. Das Tier beispielsweise mag schreien
und damit zum Ausdruck bringen, daß es Schmerzen hat oder sich be-
droht fühlt. Was dem Tier jedoch zur Sprache fehlt, ist das Wort, das
als Zeichen verwendet ganz klar diesen und nur diesen Bedeutungsge-
halt ausdrückt. Dazu bedarf es nach Aristoteles der Übereinkunft
(sunq»kh). Man muß sich einigen, welches Wort welchen Bedeutungs-
gehalt bezeichnet.
Das Problem dieser Sichtweise kann man sich leicht ausmalen: Wie
soll diese Übereinkunft jemals in einem Urzustande zustande kommen,
in dem es noch keine Wort gibt? Aristoteles hatte dieses Problem frei-
lich nicht, da er davon ausgeht, daß es schon immer sprechende Men-
schen gab. Aus unserer heutigen Sicht müssen wir jedoch davon ausge-
hen, daß die Sprache eben aus den Lauten der Tiere entstanden ist.
Diese aber können sich nicht einigen, denn ihnen fehlt ja nach Aristo-
teles der Begriff der sunq»kh. Es muß also eine Möglichkeit geben, wie
dieser Begriff wirksam ist, ohne als Zeichen, ohne als Wort, das für ei-
nen Bedeutungsgehalt steht, im Spiel zu sein. Es muß eine Art implizite
Übereinkunft geben. Bei einer solchen impliziten Übereinkunft ist es
jedoch dann auch gar nicht mehr so wichtig, daß das einzelne an der
Übereinkunft beteiligte Wesen sich des Aktes der Übereinkunft bewußt
ist. Es reicht, daß es begreift, daß dieses Zeichen jetzt für etwas Be-
stimmtes steht. Erst einem Philosophen wie Aristoteles wird dann Jahr-
tausende später bewußt, daß dies ja eine Übereinkunft gewesen sein
muß, erst er macht den impliziten Akt explizit. Das aber heißt nichts
anderes, als daß er als impliziter Akt bereits ebenso effizient im Gene-
rieren von Sprache war, wie er es später in einer entwickelten Sprache
bei der expliziten Definition eines neuen Wortes ist. Sprache muß so-

261
De interpretatione 2; 16a 26-29, Übers. H.J. von Kirchmann.

290
Aristoteles von Stageira (384-322)
mit zwar jene Wesen, die heute dank ihr Menschen sind, zu ihrer Ent-
stehung benutzt haben, aber sie muß diese nicht über den Sinn und
Zweck des Geschehens aufgeklärt haben.
§ 241 Der einzige Punkt an dem Aristoteles eine Sichtweise präsen-
tiert, welche dieser recht bodenständigen Sprachauffassung entgegenge-
halten werden kann, findet sich in seiner Diskussion des noàj poihtikÒj.
Betrachtet man seine Beschreibung des aktiven Geistes als eines We-
sens, in dem sich die Bedeutungsgehalte auf sich beziehen können, so
stellt sich nämlich eine zentrale Frage. Warum brauchen wir dann noch
Subjekte, die diese Gehalte denken, warum lassen wir nicht die Gehalte
sich frei auf sich beziehen, wie dies nach der idealistischen Sprachauf-
fassung geschieht, die hier vertreten wird? Aristoteles’ Beschreibung des
noàj poihtikÒj kommt nun ganz in die Nähe einer solchen Auffassung:
kaˆ oátoj Ð noàj cwristÕj kaˆ »Und diese Vernunft ist abtrenn-
¢paq¾j kaˆ ¢mig»j, tÍ oÙs…v ín bar, leidensunfähig und unver-
™nšrgeia· ¢eˆ g¦r timièteron tÕ mischt und ist ihrem Wesen
poioàn toà p£scontoj kaˆ ¹ ¢rc¾ nach in Wirklichkeit. Immer
tÁj Ûlhj. [...] cwrisqeˆj d' ™stˆ nämlich ist das Wirkende ehr-
mÒnon toàq' Óper ™st…, kaˆ toàto würdiger im Vergleich zum Lei-
mÒnon ¢q£naton kaˆ ¢ dion (oÙ denden, und das Prinzip zur Ma-
mnhmoneÚomen dš, Óti toàto m n terie. [...] Abgetrennt nur ist sie
¢paqšj, Ð d paqhtikÕj noàj fqar- das, was sie (ihrem Wesen nach)
tÒj)· kaˆ ¥neu toÚtou oÙq n noe‹. ist, und nur dieses (Prinzip) ist
unsterblich und ewig. Wir haben
(dann) aber keine Erinnerung,
weil dieses leidensunfähig ist, die
leidensfähige Vernunft hingegen
vergänglich ist, und ohne diese
jenes nichts (von dem Erinnerba-
ren) erkennt.«262

Der noàj poihtikÒj wird hier nicht nur als leidensunfähig und mit den Din-
gen nicht vermischt angesehen, sondern vor allem auch als abgetrennt
(cwristÒj). Als solchem kommt ihm eine ähnliche Rolle zu, wie der Spra-
che. Sie ist unvergänglich und kann auch ohne den konkreten Menschen,
der sterblich ist, weiter existieren. Allerdings bedarf sie des Menschen, um

262
De anima III, 5; 430a 17-25, Übers. W. Theiler.

291
Aristoteles von Stageira (384-322)
ihre Wirklichkeit zu erlangen. Natürlich sagt Aristoteles, wenn er hier vom
noàj poihtikÒj spricht, nichts über die Sprache. Im Gegenteil haben wird
gesehen, daß ähnlich wie bei Platon auch für Aristoteles die Sprache an das
Empirische zurückgebunden ist. Doch es ist sehr naheliegend, daß das, was
er meint ein strukturelles Analogon ist. Denn es handelt sich dabei um ei-
nen Geist, der offenbar nicht in dem einzelnen Menschen festgemacht ist,
seiner aber dennoch bedarf, um seinen Ausdruck zu finden. Dieser Geist
ist so aber, ganz wie ihn uns Aristoteles beschrieben hat, kein Subjekt
mehr, sondern nur noch ein Zusammenhang des Geistigen überhaupt.

v. Der Zusammenhang des Geistigen


§ 242 Eine der idealistischen Sprachauffassung nahe kommende holisti-
sche Sichtweise des Geistes präsentiert uns Aristoteles bei seiner Untersu-
chung des Erinnerungsvermögens in De memoria et reminisentia. Hierbei
geht er zunächst von dem ganz einfachen und alltäglich erfahrbaren Um-
stand aus, daß wir uns an das besser erinnern, was einen inneren Zusam-
menhang aufweist:
æj g¦r œcousi t¦ pr£gmata prÕj »Denn wie sich die Sachverhalte im
¥llhla tù ™fexÁj, oÛtw kaˆ aƒ Zusammenhang zueinander verhal-
kin»seij. kaˆ œstin eÙmnhmÒneuta ten, so ist es auch mit den Bewe-
Ósa t£xin tin¦ œcei, ésper t¦ gungen. Am leichtesten erinnert
maq»mata· t¦ d faÚlwj kaˆ ca- man sich an Dinge, die einer gewis-
lepîj. kaˆ toÚtJ diafšrei tÕ sen Ordnung folgen, wie es etwa bei
¢namimn»skesqai toà p£lin man- den Gegenständen der Mathematik
q£nein, Óti dun»seta… pwj di' aØtoà der Fall ist. Bei Dingen, wo dies
kinhqÁnai ™pˆ tÕ met¦ t¾n ¢rc»n. nicht der Fall ist, gelingt die Erinne-
Ótan d m», ¢ll¦ di' ¥llou, oÙkšti rung schlecht und schwer. Und
mšmnhtai. darin unterscheidet sich die Erinne-
rung von neuerlichem Lernen, daß
man die Bewegung vom Ausgangs-
punkt weiter in gewissem Sinne aus
eigener Kraft zu vollziehen vermag.
Vermag man das nicht, sondern mit
Hilfe einer anderen Person, liegt
keine Erinnerung mehr vor.« 263

263
De memoria et reminisentia 2; 452a 1-7, Über. E. Dönt.

292
Aristoteles von Stageira (384-322)
Zunächst können wir am Rande eine subtile Kritik an Platon konstatie-
ren, der eben in seinem Menon, sich einen Sklaven an ihm vorher of-
fensichtlich unbekannte geometrische Zusammenhänge erinnern läßt
und so die ¢n£mnhsij-Lehre zu begründen versucht. Nach Aristoteles
handelt es sich bei dieser Vorführung nicht um einen Fall von Erinne-
rung, weil Sokrates den Sklaven tatkräftig bei seinem Unternehmen un-
terstützte. Nach Aristoteles lernt der Sklave in diesem Beispiel, das wir
oben diskutiert haben, von Sokrates die Geometrie.
Es geht Aristoteles hier also nicht darum, zu zeigen, daß das Geistige
prinzipiell durch anderes Geistiges erschlossen werden kann, wie wir
das aus den Ausführungen Platons herausgelesen haben. Aristoteles
versucht lediglich zu zeigen, daß all das, was wir bereits wissen, insofern
leichter für uns zugänglich ist, als es in einem Zusammenhang oder
wörtlich in einer Reihenfolge (™fexÁj) im Gedächtnis vorliegt und daher
eine innere Ordnung (t£xij) aufweist.
§ 243 Aristoteles schließt nun aus diesem Umstand auf die Arbeits-
weise der Erinnerung:
a‡tion d' Óti tÕ ¢namimn»skesqa… »Erinnerung ist nämlich gleich-
™stin oŒon sullogismÒj tij· Óti g¦r sam eine Art Schluß: Denn der-
prÒteron e den À ½kousen ½ ti jenige, der sich erinnert, vollzieht
toioàton œpaqe, sullog…zetai Ð den Schluß, daß er schon früher
¢namimnhskÒmenoj, kaˆ œstin oŒon das und das gesehen, bzw. gehört
z»ths…j tij. toàto d' oŒj kaˆ tÕ hat oder was dergleichen Erfah-
bouleutikÕn Øp£rcei, fÚsei mÒnoij rungen mehr sind, und es handelt
sumbšbhken· kaˆ g¦r tÕ bouleÚes- sich dabei gleichsam um eine Art
qai sullogismÒj t…j ™stin. von Forschung. Dies kommt von
Natur aus nur denjenigen Lebe-
wesen zu, die auch die Fähigkeit
zur Überlegung besitzen. Auch
das Überlegen ist ja eine Art
Schluß. «264

Aus der Überlegung, daß die Erinnerung am besten bei logisch geord-
neten Zusammenhängen funktioniert leitet Aristoteles hier den Gedan-

264
De memoria et reminisentia 2; 453a 9-14, Übers. E. Dönt.

293
Aristoteles von Stageira (384-322)
ken ab, daß die Erinnerung gleichsam ein sullogismÒj ist. Überhaupt
setzt er dann sogar das Überlegen mit dem Schließen gleich.
Damit spricht sich Aristoteles zuletzt doch für eine holistische Struk-
tur des Geistes aus. Die geistigen Gehalte sind wesentlich Gehalte, die
auf andere geistige Gehalte bezogen sind. Je enger dieser Bezug ist, je
mehr er sich von kontingenten äußeren Einflüssen freizumachen weiß,
desto leichter fällt den zur Überlegung fähigen Wesen die Navigation in
diesem geistigen Medium.
Der Unterschied zur platonischen Auffassung, die Aristoteles, wie
ausgeführt, hier unterschwellig kritisiert hat, ist dann genaugenommen
gar nicht mehr so groß. Auch Aristoteles müßte dem Sklaven im Me-
non zu gestehen, daß er einen geometrischen Zusammenhang wie die
Frage nach der Verdopplung eines Quadrates leichter zu erschließen
vermag, als einen solchen, der weniger geordnet ist, der also weniger
geistige Strukturen aufweist. Insofern müßte auch Aristoteles zugeben,
daß das Vorhandensein solcher geistigen Strukturen auch bei dem Wis-
sen, was wir noch nicht haben, gewissermaßen als Andockstelle dem
Erwerb dieses Wissens behilflich sein kann. Hier ist somit der reprä-
sentationale Charakter, den Aristoteles’ Behandlung des Wissens sehr
oft an den Tag legt, wonach das Gewußte einfach nur einen empiri-
schen Umstand abbildet, gegenüber dem holistischen Charakter in den
Hintergrund getreten. Dieser holistische Charakter aber ist es, an dem
der idealistische Geistbegriff hängt.

vi. Die Erkennbarkeit der Einzelformen


§ 244 Wir haben bislang versucht, der aristotelischen Beschreibung des
Geistes möglichst viele idealistische Gedanken abzugewinnen. Eine
sehr interessante Überlegung jedoch, die sich in der Metaphysica findet,
zeigt definitiv, daß dies letztlich nicht das Ziel des aristotelischen Den-
kens ist. Wenn er die Fähigkeit des Geistes herausstellt, immer weiter
zu abstrahieren, dann ist dies für ihn nicht insofern eine besondere Fä-
higkeit, als der sich Geist dann auf dieser abstrakten Ebene einrichten
und dort allein seine geistige Nahrung gewinnen könnte. Aristoteles will
vielmehr immer zurück zum Einzelnen. Und so zeigt sich die besonde-

294
Aristoteles von Stageira (384-322)
re Fähigkeit des Geistes vor allem darin, daß es ihm gelingen kann, aus
dem Abstrakten wieder mit Gewinn zum Konkreten zurückzukehren.
Die Erkennbarkeit der konkreten einzelnen Formen durch den
Geist ist nämlich für Aristoteles durchaus ein Problem. Wir haben
oben gesehen, daß die allgemeinen Artbegriffe die konkreten Formen
der Dinge keineswegs zu erfassen vermögen, da diese Formen in ihrer
konkreten Wirklichkeit immer eine ganz spezielle Ausprägung haben,
die sich nicht im Allgemeinen erschöpft. Hier liegt der fundamentale
Unterschied zur Auffassung Platons, dessen Ideen eben solche rein ab-
strakten Allgemeinbegriffe waren. Für Aristoteles aber ist es für sein
Verständnis der Dinge zurecht wichtig, daß die Formen in den konkre-
ten Dingen aktiv sind. Wie aber sollen wir die Formen erkennen, wenn
sie in diesem Sinne wesentlich Einzelne sind?
e„ m n g£r tij m¾ q»sei t¦j oÙs…aj »Wollte man nämlich die Wesen
e nai kecwrismšnaj, kaˆ tÕn trÒpon nicht als selbständig abtrennbar
toàton æj lšgetai t¦ kaq' ›kasta aufstellen, und zwar in der Wei-
tîn Ôntwn, ¢nair»sei t¾n oÙs…an se, wie man von dem einzelnen
æj boulÒmeqa lšgein· ¨n dš tij qÍ Seienden spricht, so würde man,
t¦j oÙs…aj cwrist£j, pîj q»sei wie wir einmal sagen wollen, das
t¦ stoice‹a kaˆ t¦j ¢rc¦j aÙtîn; Wesen aufheben; wenn man da-
gegen die Wesen als abgetrennt
aufstellt, wie soll man dann ihre
Elemente und Prinzipien auf-
stellen?«265

Aristoteles befindet sich hier also in einem Dilemma. Entweder er wird


zum Platoniker und trennt die Formen wieder von den Dingen, sie so
als allgemeine habend, oder aber er läßt die Formen als Einzelne in den
Dingen, trennt sie so aber von deren Abstraktion in unserem Geist.
§ 245 Aristoteles schlägt nun eine Lösung dieses Problems vor, wel-
che ebenso wie die erkenntnistheoretische Frage analog auch eine on-
tologischen Frage beantwortet. Wir hatten oben gesehen, daß die Form
zwar als Möglichkeit etwas Allgemeines ist, in den konkreten Dingen
jedoch etwas Einzelnes, indem sie ihre konkrete ™nšrgeia als Prozeß des
Seins einer geformten Materie an den Tag legt. Ebenso soll auch die

265
Metaphysica XIII, 10; 1086b 16-20, Übers. H. Bonitz.

295
Aristoteles von Stageira (384-322)
Erkenntnis in der Allgemeinheit bloß die Seite der Möglichkeit der
Formen erkennen, in der Konkretheit jedoch deren prozessuale Wirk-
lichkeit:
tÕ d t¾n ™pist»mhn e nai kaqÒlou »Daß aber alle Wissenschaft auf
p©san, éste ¢nagka‹on e nai kaˆ das Allgemeine gehe, so daß des-
t¦j tîn Ôntwn ¢rc¦j kaqÒlou halb notwendig auch die Prinzi-
e nai kaˆ m¾ oÙs…aj kecwrismšnaj, pien des Seienden allgemein und
œcei m n m£list' ¢por…an tîn lec- nicht selbständig abgetrennte
qšntwn, oÙ m¾n ¢ll¦ œsti m n æj Wesen sein müßten, das enthält
¢lhq j tÕ legÒmenon, œsti d' æj freilich die größte Schwierigkeit
oÙk ¢lhqšj. ¹ g¦r ™pist»mh, unter den erwähnten, indessen ist
ésper kaˆ tÕ ™p…stasqai, dittÒn, die Behauptung in gewissem Sin-
ïn tÕ m n dun£mei tÕ d ™nerge…v. ¹ ne wahr, in anderem dagegen
m n oân dÚnamij æj Ûlh [toà] nicht wahr. Die Wissenschaft
kaqÒlou oâsa kaˆ ¢Òristoj toà nämlich ist so wie auch das Wis-
kaqÒlou kaˆ ¢or…stou ™st…n, ¹ d' sen von zweierlei Art, einmal der
™nšrgeia ærismšnh kaˆ ærismšnou, Möglichkeit nach, dann der wirk-
tÒde ti oâsa toàdš tinoj lichen Tätigkeit (Verwirklichung)
nach. Die Möglichkeit nun, wel-
che wie (der) Stoff allgemein und
unbestimmt ist, geht auch auf das
Allgemeine und Unbestimmte,
die wirkliche Tätigkeit aber geht
als begrenzte auf Bestimmtes, als
Einzelnes auf etwas Einzelnes.«
266

Wir lernen hier erst einmal ein ganz neues und scheinbar anderes Ver-
ständnis der Unterscheidung von Wissen der Möglichkeit nach und Wis-
sen der Wirklichkeit nach. Wie können wir diese Unterscheidung hier
verstehen? Die folgende Überlegung mag dazu hilfreich sein. Im einen
Fall erkennen wir etwas und erkennen darin seinen allgemeinen Charak-
ter, wie beispielsweise ein Arzt anhand der Symptome eines Patienten
eine bestimmte Krankheit erkennt. Er erkennt diese Krankheit jedoch
zunächst nur als etwas Allgemeines. Das heißt er kann aus dem Vorliegen
der Krankheit darauf schließen, daß der Patient möglicherweise auch
noch diese und jene Symptome haben mag. Hier zeigt sich der Bereich

266
Metaphysica XIII, 10; 1087a 10-18, Übers. H. Bonitz.

296
Aristoteles von Stageira (384-322)
der Möglichkeit, denn es ist gar nicht zwingend, daß diese Symptome
auch beim Patienten vorhanden sind. Erst dann, wenn er die Wirklich-
keit der Krankheit zu erkennen beginnt, wenn er von der Erkenntnis des
Allgemeinen dazu übergeht, genauer zu betrachteten, wie die Krankheit
bei diesem Patienten arbeitet, wie der Krankheitsprozeß genau verläuft,
erst dann erkennt er ihre wirkliche Form.
§ 246 Hier mag man einwenden, daß eben die Krankheit aufgrund
der vielen Möglichkeiten eines unterschiedlichen Krankheitsverlaufs ein
allzu günstiges Beispiel ist. Meines Erachtens jedoch paßt dieses Beispiel
ganz genau. Im Gegenteil scheint mit eher bei anderen Erkenntnisgegen-
ständen, wie etwa der Betrachtung eines linearen chemischen Prozesses
oder gar mechanischen Abläufen und Zusammenhängen der Bereich der
Möglichkeit mit dem Bereich der Wirklichkeit zusammenzufallen. Hier
hat die Prozessualität der Form wenig Spielraum und die Erkenntnis des
Allgemeinen, die sich in Formeln ausdrücken läßt, garantiert die Er-
kenntnis des Konkreten. Bei allem jedoch, was komplexer ist, ist Aristo-
teles’ Unterscheidung überaus hilfreich und man mag sogar so weit ge-
hen, in der bloßen Erkenntnis des Allgemeinen, ohne die Fähigkeit zur
Konkretisierung derselben ein niedrigeres Erkenntnisvermögen zu sehen.
Wie sieht es aber mit dem im Vergleich zu dem vorher gehörten, fast
schon umgekehrten Verhältnis des Wissens der Möglichkeit nach und
Wissens der Wirklichkeit nach aus? Es handelt sich hier durchaus nicht
um einen Widerspruch. Wir hatten das wirkliche Wissen oben so inter-
pretiert, als sei diese eine weitere Abstraktion des möglichen Wissens,
welches an eine Vorstellung oder einen Wahrnehmungsgehalt geknüpft
ist. Das ist aber keineswegs zwingend. Man kann eben den aus dem Vor-
stellungsbild abstrahierten Gehalt, der ja bereits einen allgemeinen Cha-
rakter hat, durchaus auch zur Grundlage einer Präzision und Konkreti-
sierung machen. Anstatt dann bei ganz abstrakten Begriffen wie dem Sein
zu landen, kommt man dann eben zu ganz spezifischen und konkreten
Auffassungen des Wirklichen. Aristoteles scheint dieses so gewonnene
praktische Wissen nun einfach mehr am Herzen gelegen zu haben, als
jene idealistischen Spekulationen, denen wir uns hier hinzugeben pfle-
gen. Immerhin aber haben wir gesehen, daß seine Philosophie dennoch
das Potential enthält, einen großen Beitrag zum Idealismus zu leisten.

297
Theophrastos von Eresos (370-285)
Theophrastos von Eresos (370-285)
Theophrastos war zunächst ein Schüler von Platon und wurde schließ-
lich zum Schüler von Aristoteles. Als Aristoteles um 323 aus Athen
floh, übernahm Theophrastos die Leitung der aristotelischen Schule
und nach dessen Tod erbte gar dessen Bibliothek. Wir können daher
erwarten, bei Theophrastos auf eine interessante Auseinandersetzung
mit den Philosophien seiner bedeutenden Lehrer zu stoßen. Diese Er-
wartung wird aber durch zwei Umstände enttäuscht. Zum einen überlie-
fert uns Diogenes Laertios zwar eine Liste von 225 Schriften, die er ver-
faßt haben soll, aber leider sind davon nur ganz wenige erhalten. Zum
anderen besteht der Großteil der erhaltenen Texte zur Naturphiloso-
phie fast nur aus Detailbetrachtungen, die zwar wissenschaftsgeschicht-
lich sehr interessant sein mögen, aber kaum prinzipielle, philosophisch
interessante Fragen aufwerfen.

Ideen
§ 247 Das wenige, was wir über das theoretische Gerüst der Philoso-
phie des Theophrastos erfahren, finden wir in seiner Metaphysica, die
jedoch insgesamt mehr Fragen aufwirft als beantwortet und daher ver-
mutlich nur das Fragment eines viel umfangreicheren Textes ist. Er be-
ginnt diesen kurzen Text mit einer Untersuchung der ersten Prinzipien:
¹ d tîn prètwn ærismšnh kaˆ ¢eˆ »Die [Untersuchung] der ersten
kat¦ taÙt£· diÕ d¾ kaˆ ™n nohto‹j, [Prinzipien] ist bestimmt und
oÙk a„sqhto‹j, aÙt¾n tiqšasin æj ewig in Bezug auf alles. Daher
¢kin»toij kaˆ ¢metabl»toij befinden sie sich folglich unter
dem Gedanklichen und nicht
dem Sinnlichen, da diese unbe-
weglich und unveränderlich
sind.«
267

Was Theophrastos hier den Prinzipien als Eigenschaften zuschreibt


trifft ebenso auf den Gegenstand der Prinzipien der aristotelischen Me-
taphysica wie auch der platonischen Ideenlehre zu. Wir haben es mit

267
Metaphysica I, 1; 4a 5-8

298
Theophrastos von Eresos (370-285)
gedanklichen Dingen (noht£) zu tun, mit Begriffen und Zusammenhän-
gen, deren Bedeutung unveränderlich ist.
§ 248 Folgen wir nun dem Gedankengang des Theophrastos weiter,
so sehen wir, daß er sich zwar nicht von Platon, wohl aber von dessen
Schülern Speusippos und Xenokrates absetzt:
e„ m n g¦r ™n to‹j maqhmatiko‹j »Wenn sich die Gedanklichen
mÒnon t¦ noht£, kaq£ pšr tinšj nur unter den Mathematischen
fasin, oÜt' ¥gan eÜshmoj ¹ sun- finden, wie das einige behaupten,
af¾ to‹j a„sqhto‹j, oÜq' Ólwj so ist weder deren Verbindung
¢xiÒcrea fa…netai pantÒj· oŒon g¦r mit den Sinnlichen sehr ver-
memhcanhmšna doke‹ di' ¹mîn e nai ständlich, noch erscheinen sie
sc»mat£ te kaˆ morf¦j kaˆ lÒgouj überhaupt in jeder Beziehung
peritiqšntwn, aÙt¦ d di' aØtîn geeignet. Denn man nimmt an,
oÙdem…an œcein fÚsin· e„ d m», oÙc sie seien von uns bei der Anwen-
oÛtwj ge sun£ptein to‹j tÁj fÚse- dung mit Schemata, Formen und
wj ést' ™mpoiÁsai kaq£ per zw¾n Begriffen belegt worden, sie
kaˆ k…nhsin aÙto‹j· selbst aber hätten von sich aus
keinerlei Natur. Wenn aber
nicht, so sind sie zumindest nicht
mit denen verbunden, die von
Natur Leben und Bewegung her-
vorgebracht haben.« 268

Zunächst einmal finden wir hier bei Theophrastos ein vernichtendes


Argument gegen alle auf mathematische Objekte zurückgreifenden Ide-
enlehren. Mathematische Objekte sind nach Theophrastos rein formale
Größen, denen eine wesentliche Eigenschaft von Begriffen fehlt. Sie
haben ihre Bedeutung nicht aus sich heraus, sondern nur durch uns.
Wir legen die Zahlen fest, wenn wir zählen und wir denken uns beim
Vermessen Flächen und Körper aus, die aber keinen eigenständigen
Status haben. Theophrastos geht hier in seinem Angriff auf das Ma-
thematische sehr weit; ein Umstand der vermutlich widerspiegelt, wie
bedeutend die Lehren der Platonschüler in der Akademie geworden
waren.
Das zentrale Argument, welches wir festhalten können, ist die feh-
lende begriffliche Dimension der mathematischen Größen. Diese kön-

268
Metaphysica I, 3; 4a 18 – 4b 4

299
Theophrastos von Eresos (370-285)
nen sich nicht selbst bestimmen, sondern müssen immer durch ande-
res; sei es durch uns oder sei es – wie bei Platon – durch übergeordnete
andere Ideen bestimmt werden. Daher scheidet das Mathematische als
Kandidat für die Rolle der Ideen aus, denn nur Begriffe sind in der La-
ge, sich selbst zu bestimmen und zu erfassen.
Daß das Mathematische darüber hinaus nur unsere Konstruktion
sei, ist eine Annahme Theophrastos’, auf die wir uns argumentativ hier
nicht weiter stützen müssen. Auch Theophrastos selbst tut dies nicht,
indem er dem ersten Kritikpunkt einen zweiten gewissermaßen zur Ab-
sicherung hinzufügt. Er kritisiert dabei, daß die mathematischen Grö-
ßen das Entstehen der Naturdinge nicht erklären können. Wir haben ja
im ersten Band bereits gesehen, wie Pythagoras und im Anschluß daran
die Platonschüler versucht haben, aus dem Mathematischen die Natur-
dinge abzuleiten und wo hierbei das Problem liegt. Leider führt Theo-
phrastos seine Kritik hier nicht weiter aus.
§ 249 Er geht nun weiter in seiner Bestimmung des Wesens der
Prinzipien:
eÙlogèteron d' oân ¢rcÁj fÚsin »Es ist besser davon auszugehen,
™coÚsaj ™n Ñl…goij e nai kaˆ perit- daß die eine Natur der Prinzipien
to‹j, e„ m¾ ¥ra kaˆ prètoij kaˆ ™n Habenden in wenigem und über
tù prètJ. das gewöhnliche Maß hinausge-
hendem liegt, wenn nicht nur in
den ersten und im ersten.«
269

Theophrastos plädiert also dafür die Prinzipien in außergewöhnlichen


(perittÒj) Dingen zu suchen und kommt so zu dem Ergebnis, daß es im
Grunde nur ganz wenige Prinzipien geben kann. Diese erkennt man am
treffendsten in der Beschreibung desjenigen Wesens, welches das erste
unter allen ist. Was damit gemeint sein kann, macht wenige Zeilen spä-
ter deutlich:
¢n£gkh d' ‡swj dun£mei tinˆ kaˆ »Es ist vermutlich notwendig, sie
ØperocÍ tîn ¥llwn lamb£nein, anhand einer Kraft und einer
ésper ¨n e„ tÕn qeÒn· qe…a g¦r ¹ Überlegenheit über anderes zu
p£ntwn ¢rc», di' Âj ¤panta kaˆ erkennen, so als wenn sie Gott
œstin kaˆ diamšnei. t£ca m n oân wäre. Denn göttlich ist das Prin-

269
Metaphysica I, 4; 4b 8-11

300
Theophrastos von Eresos (370-285)
·®dion tÕ oÛtwj ¢podoànai, ca- zip von allem, durch welches al-
lepÕn d safestšrwj À peisti- les ist und Bestand hat. Leicht ist
kwtšrwj. es zwar, sie auf diese Weise
schnell zu beschreiben, schwer
aber deutlicher und überzeugen-
der.«270

Das erste und außergewöhnliche Prinzip, von dem Theophrastos oben


sprach, ist natürlich Gott. Aber er führt diesen Gott hier auf eine ganz
eigenartige Art und Weise in den Diskurs über die obersten Prinzipien
ein. Dieser Gott wird als eine Art überlegene Kraft angesehen die zwar
leicht vorstellbar, aber nur schwer zu begreifen ist. Nun gibt es aber zu
Theophrastos’ Zeiten reihenweise Erzählungen über die Götter und wir
haben bereits gesehen, daß einige Philosophen diese Götter auch als
Prinzipien in ihrer eigenen Philosophie nutzen. Theophrastos ist hier
vorsichtiger, denn er geht offenbar davon aus, daß, wo auch immer man
für die theoretische Philosophie Anleihen bei den religiösen Mythen
macht, man zugleich an Klarheit des Ausdrucks verliert. Zwar versteht
man so das Prinzip und seinen Status, aber gewissermaßen nur als eine
Metapher für die philosophische Wahrheit, die dahinter steckt. Die re-
ligiöse Metaphorik bietet so zwar den richtigen Zugang zur Wahrheit
der obersten Prinzipien, sie verstellt ihn jedoch zugleich. Wir sahen das
sehr deutlich an Platons Mythos des dhmiourgÒj. Man versteht zwar so
schnell, daß die Welt durch ein höheres Wesen entsteht, aber die Frage
nach dem Wie dieses Vorgangs rückt um so mehr ins Dunkel.

Natur
i. Das Verhältnis von Prinzipien und Natur
§ 250 Hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Ideen und Natur
finden wir bei Theophrastos eine Konfrontation des aristotelischen An-
satzes mit dem platonischen:
'Arc¾ dš, pÒtera sunaf» tij kaˆ »Der Anfang aber ist die Frage,
oŒon koinwn…a prÕj ¥llhla to‹j te ob es eine Verbindung und eine

270
Metaphysica I, 4; 4b 13-18

301
Theophrastos von Eresos (370-285)
nohto‹j kaˆ to‹j tÁj fÚsewj, À Gemeinsamkeit miteinander bei
oÙdem…a ¢ll' ésper ˜k£tera ke- den Gedanklichen und denen
cwrismšna sunergoànta dš pwj e„j der Natur gibt, oder nichts derlei,
t¾n p©san oÙs…an. sondern sie, als wäre jedes von
beiden getrennt, zusammen ir-
gendwie das ganze Sein bewir-
ken.«271

Gemäß der aristotelischen Sichtweise besteht eine enge Verbindung von


noht£ und Natur. Die noht£ sind ja als Formen in der Natur aktiv. Bei
Platon hingegen finden wir den corismÒj von Idee und Natur. Beide
sind getrennt, aber was in der Natur geschieht, wird doch zum Teil per
Zufall durch Natürliches, zum Teil aber auch mit Notwendigkeit durch
Ideelles bestimmt. Das einschränkende »pwj« deutet schon an, für wel-
che der beiden Sichtweisen sich Theophrastos entscheidet.
eÙlogèteron d' oân e na… tina »Es ist besser anzunehmen, daß
sunaf¾n kaˆ m¾ ™peisodiîdej tÕ es eine Verbindung gibt und das
p©n, ¢ll' oŒon t¦ m n prÒtera t¦ All nicht unzusammenhängend
d' Ûstera, kaˆ ¢rc¦j t¦ d' ØpÕ t¦j ist, sondern, daß es gleichsam
¢rc£j, ésper kaˆ t¦ ¢…dia tîn zum einen Früheres und zum
fqartîn. anderen Späteres gibt und Prin-
zipien sowie Prinzipien Gehor-
chendes, so wie das Ewige in be-
zug auf das Vergängliche.« 272

Was Theophrastos Platons Sichtweise des Verhältnisses von Ideen und


Natur hier vorwirft, ist, daß dabei der Zusammenhang beider fehlt. Was
er genau damit meint, erfährt man aus seinen Gegenbeispielen. Frühe-
res und Späteres, sowie Prinzipien und Prinzipiiertes haben einen Zu-
sammenhang. Nun würde natürlich auch Platon nicht bestreiten, daß
ein solcher Zusammenhang besteht. Nur ist dieser nach Platon eben
nur ein logischer Zusammenhang. Dabei bleibt der platonische coris-
mÒj bestehen, denn man fragt sich dann zurecht, wie die Prinzipien es
schaffen, das Prinzipiierte zu prinzipiieren. Theophrastos sieht die ein-
zige Lösung in Aristoteles’ Annahme eines kausalen Zusammenhangs:

271
Metaphysica I, 2; 4a 9-13
272
Metaphysica I, 2; 4a 13-17

302
Theophrastos von Eresos (370-285)

dÁlon æj a„t…an qetšon taÚthn tÁj »Es ist einleuchtend anzuneh-


kin»sewj· ™peˆ d' ¢k…nhtoj kaq' men, daß diese [die Prinzipien]
aØt»n, fanerÕn æj oÙk ¨n e‡h tù die Ursachen der Bewegung sind.
kine‹sqai to‹j tÁj fÚsewj a„t…a, Weil sie aber selbst unbewegt
¢ll¦ loipÕn ¥llV tinˆ dun£mei sind, ist evident, daß sie nicht als
kre…ttoni kaˆ protšrv· toiaÚth d' ¹ Bewegende die Ursache des Na-
toà Ñrektoà fÚsij, ¢f' Âj ¹ ku- turhaften sein können, sondern
klik¾ ¹ sunec¾j kaˆ ¥paustoj. durch eine andere Kraft, die stär-
ker und früher ist: derart aber ist
die Natur der Begierde, von der
die zirkuläre [Bewegung ab-
stammt], die kontinuierlich und
ununterbrochen ist.« 273

Theophrastos fordert also, daß die Prinzipien, so wie auch Aristoteles


das sieht, direkt in der Natur wirksam sind. Hier taucht aber dann das
umgekehrte Problem auf, das wir schon von Aristoteles her kennen:
Wenn die Prinzipien sich zu den Dingen herab begeben würden, dann
würden sie allzuviele ihrer ideellen Eigenschaften verlieren; denn ir-
gendwo muß ja eine Schnittstelle zu finden sein. Auch hier folgt Theo-
phrastos Aristoteles in zwei Theoriestücken und behauptet, daß die
Prinzipien erstens nicht durch eine causa efficiens wirken, sondern als
causa finalis nur Vorbild sind und daß sie zweitens zunächst das Vor-
bild der himmlischen Kreisbewegung der Gestirne sind.
§ 251 An dieser Stelle jedoch verläßt Theophrastos den uns von
Aristoteles her bekannten Gedankengang und folgt einer Serie von kri-
tischen Anmerkungen zu demselben. Zunächst stellt er sich – als Teil
einer Aporie von der uns nur der erste Teil interessiert – das Problem,
wie ein Prinzip, wie das des unbewegten Bewegers das Vorbild ver-
schiedener Bewegungen sein kann:
e‡te g¦r n tÕ kinoàn, ¥topon tÕ m¾ »Denn wenn das Bewegende ei-
p£nta t¾n aÙt»n· nes ist, dann ist es merkwürdig,
daß es nicht alles gleicherart [be-
wegt].«274

273
Metaphysica I, 5; 4b 21 – 5a 4
274
Metaphysica II, 7; 5a 17-18

303
Theophrastos von Eresos (370-285)
Wir wissen von Aristoteles ja noch, daß es zwei Arten von Bewegung
gibt; zum einen die Kreisbewegung der Gestirne und zum anderen die
lineare Bewegung der Elemente. Wie kommt es nun, so fragt uns
Theophrastos, daß diese unterschiedlichen Bewegungen aus dem sel-
ben Prinzip resultieren sollen? Dieser Kritikpunkt ist meines Erachtens
noch recht leicht zu entkräften, denn Aristoteles behauptet ja gar nicht,
daß die lineare Bewegung vom unbewegten Beweger her stamme, son-
dern vielmehr durch die Planetenbewegungen verursacht werde. Der
unbewegte Beweger ist hier also nur indirekt im Spiel und es ist recht
unproblematisch anzunehmen, daß die perfekte Gestalt der Kreisbewe-
gung in der niedrigeren Sphäre der Elemente nicht in ihrer ganzen Per-
fektion erhalten bleibt. Zudem hatten wir aber gesehen, daß der Über-
gang der Elemente ineinander für Aristoteles ohnehin eine zirkuläre
Angelegenheit ist.
Wenn wir uns nun auf die strukturelle Ähnlichkeit der aristoteli-
schen Argumentation mit den platonischen Emanationslehre besinnen,
so können wir in Theophrastos’ Kritik an Aristoteles einen analogen
Angriff auf die Emanationslehre sehen. Wie können die perfekten Ide-
en unperfektes und ganz heterogenes Sein hervorbringen? Die Entkräf-
tung dieses Angriffs erfolgt daher auch analog, indem wir einfach sagen
können, daß die Einheit der Ideen in ihren Abbildern, wie auch immer
diese zustande kommen, weniger perfekt und daher vielfältiger ist. We-
niger perfekt aber können diese Abbilder deswegen sein, weil das Un-
perfekte im Perfekten enthalten ist.
§ 252 Ein zweiter Kritikpunkt an Aristoteles ist viel aussichtsreicher.
Er betrifft einen Punkt, den wir oben bereits an Aristoteles’ Ansatz kri-
tisiert haben:
E„ d kaˆ tÕ ¥riston ¢pÕ toà »Wenn aber das Beste vom Be-
¢r…stou, k£llion ¥n ti par¦ toà sten kommen soll, dann müßten
prètou dšoi tÁj kuklofor…aj dieses etwas Schöneres vom er-
sten bekommen als eine Kreis-
bewegung.«275

275
Metaphysica II, 10; 5b 26-28

304
Theophrastos von Eresos (370-285)
Theophrastos kritisiert also, daß das höchste Naturwesen, welches in
seiner formhaften Perfektion direkt nach den obersten und über die
Natur hinausgehenden Prinzipien kommt und sowohl nach aristoteli-
scher wie auch nach platonischer Auffassung von diesen Prinzipien in
seinem Sein verursacht oder aus ihnen abgeleitet wird, nur eine simple
Kreisbewegung sei. Dies reicht seiner Meinung nach nicht aus.
Er gibt nun zwei Gründe für diese Überzeugung an, die beide in
dieselbe Richtung gehen. Der erste Grund liegt darin, daß selbst die ari-
stotelische Sichtweise die Existenz einer Seele impliziert:
e„ d' ¹ œfesij ¥llwj te kaˆ toà »Wenn es aber das Verlangen
¢r…stou met¦ yucÁj, e„ m» tij sowohl aus anderen Gründen als
lšgoi kaq' ÐmoiÒthta kaˆ meta- auch aus diesem nur als das einer
for£n, œmyuc' ¨n e‡h t¦ kinoÚmena· Seele gibt und wenn nicht je-
yucÍ d' ¤mv doke‹ kaˆ k…nhsij mand in Gleichnissen oder Me-
Øp£rcein· taphern spricht, so sind die sich
Bewegenden beseelt. Aber man
glaubt, daß mit der Seele auch
die Bewegung kommt.« 276

Selbst wenn also Aristoteles recht damit hätte, zu behaupten, die ober-
sten Dinge würden durch ein Verlangen (œfesij) oder eine Begierde
(Órexij) bewegt, dann würde gerade dies das Vorhandensein einer Seele
im höchsten Naturwesen voraussetzen, denn die Begierde finden sich
nach Theophrastos nur in beseelten Wesen und diese sind dann so-
gleich auch zur Bewegung fähig. Nur in einer metaphorischen Rede
kann man nicht beseelten Dingen eine Begierde nach einem höheren
Prinzip zuschreiben. Wir haben dieses Argument oben bereits kurz
diskutiert und gesagt, daß im Grunde sogar nur Menschen, also nur der
menschliche Geist für die Rolle eines solchen nach höchsten Prinzipien
strebendem und sich an diesen orientierenden Wesen in Frage kommt.
Nun haben wir in unserer Diskussion von Aristoteles’ Überlegungen
zur Teleologie gesehen, daß es durchaus Sinn macht, auch vom Nicht-
seelischen zu sagen, es strebe nach etwas. Daher kann man diesen Ge-
danken erweitern und feststellen, daß die dem Geist vorhergehende Na-
turstufe nach dem Geist strebt, und die dieser vorhergehende nach die-

276
Metaphysica II, 8; 5a 28 – 5b 3

305
Theophrastos von Eresos (370-285)
ser und so fort. So strebt dann implizit bereits die erste Materie nach
den höchsten Prinzipien.
Dennoch, wenn man nach dem höchsten Wesen in der Natur fragt,
trifft Theophrastos’ Kritik hier. Die Kreisbewegung der Planeten ist si-
cherlich nicht dieses höchste Wesen. In diesem Sinne fügt er nun die-
sem im Grunde nach dem aristotelischen Gedankengang immanenten
Argument ein weiteres und sehr viel allgemeineres hinzu:
e„ d' oân tÁj kuklikÁj a‡tion tÕ »Wenn der erste [unbewegte Be-
prîton, oÙ tÁj ¢r…sthj ¨n e‡h· weger] die Ursache der Kreisbe-
kre‹tton g¦r ¹ tÁj yucÁj, kaˆ wegung ist, so wäre er nicht die
prèth d¾ kaˆ m£lista ¹ tÁj dia- des Besten: denn die [Bewegung]
no…aj, ¢f' Âj kaˆ ¹ Ôrexij. der Seele ist stärker und die erste
und beste ist die der Vernunft,
von der die Begierde stammt.« 277

Er geht also wie wir auch davon aus, daß die Seele in jedem Fall über
den Kreisbewegungen der Planeten stehen muß. Daß die Seele stärker
(kre…ttwn) als eine Kreisbewegung sei, kann natürlich nur heißen, daß
sie in einer logischen Ordnung der Naturformen über dieser steht. Das
wiederum bedeutet, daß die Seele zwar über eine Kreisbewegung verfü-
gen kann, eine Kreisbewegung aber aus sich heraus weder etwas Seeli-
sches hervorbringen, noch solches beeinflussen kann. Theophrastos’
Vorstellung, daß hierbei die Vernunft die höchste Stufe sei, deckt sich
vollkommen mit der unseren. Dabei ist jedoch noch nicht ganz ausge-
schlossen, daß er eine platonische Weltseele deren Körper die Plane-
tenbewegungen darstellen voll und ganz ausschließt. Er fordert hier le-
diglich die Existenz einer Seele.
Durch diese Argumentation zeigt uns Theophrastos hier erneut et-
was, was wir schon im ersten Band bemerkt haben. Die antike Vorstel-
lung, daß Universum gewissermaßen von außen nach innen als einen
Abstieg vom höchsten zum niedrigsten Wesen zu lesen, läuft immer
wieder gegen die Grenzen einer inhärenten Aporie. Diese besteht drin,
daß man davon ausgeht, die höchste Naturform müßte zugleich auch
einem Natursein zukommen, das zuerst da ist und unabhängig von al-
len anderen existieren kann.

277
Metaphysica II, 9; 5b 7-10

306
Theophrastos von Eresos (370-285)
§ 253 Es ist nicht ganz klar, ob Theophrastos diese Sichtweise über-
haupt teilt, ob also sein Votum für eine Seele als das höchste Natursein
eine menschliche Seele oder eine Art Weltseele meint. In jedem Fall
scheint er die Vorstellung einer Abwärtsbewegung von den höchsten
Prinzipien über das höchste Natursein zum niedrigsten Natursein mit
Platon und Aristoteles zu teilen. Er sieht jedoch eine Schwierigkeit im
realisieren dieses Argumentationsgangs:
toÚtoij kat£loipon t£ te prîta »Diesen bliebt zu erklären die
kinoànta kaˆ tÕ t…noj ›neka lšgein ersten Beweger, weswegen sie
kaˆ t…j ¹ fÚsij ˜k£stou kaˆ ¹ prÕj sich bewegen, welche Natur jedes
¥llhla qšsij kaˆ ¹ toà sÚmpantoj davon hat, welche Stellung sie
oÙs…a kaˆ Øpoba…nonti d¾ prÕj t¦ zueinander haben, die Substanz
¥lla kaq' ›kaston tîn e„dîn À des Ganzen und absteigend zu
merîn ¥cri zówn kaˆ futîn. den anderen jede der Formen
oder Teile bis zu den Tieren und
Pflanzen.«
278

Theophrastos listet hier die ungeheure Aufgaben auf, welche auf denje-
nigen warten, der im Sinne Platons und Aristoteles’ die Natur als ganze
von Prinzipien her erklären möchte. Es geht nicht nur darum, jeweils
die einzelnen Wesen der Naturformen zu erfassen; man muß sie auch
in ihrer Ordnung erfassen um so vom höchsten Natursein Stufe für Stu-
fe zu den niedrigeren abzusteigen.
Wir teilen zwar die von Theophrastos hier beschriebene Sichtweise
einer linearen Ordnung der Natur. Wir teilen jedoch nicht seine For-
derung, man müsse sich beim Erkennen dieser Formen auch an deren
Ordnung halten. Vielmehr möchte ich davon ausgehen, daß man ge-
stützt auf prinzipielle Annahmen bezüglich der Beschaffenheit von Na-
turformen verteilt über die ganze Stufenordnung Wissensinseln er-
obern kann, die sich dann möglicherweise irgendwann als direkte
Nachbarn verbinden lassen. Ein solches hermeneutisches Vorgehen
legt sich nicht der Zwang auf, immer fehlerfrei zu sein, sondern produ-
ziert auch im Zustand einer relativen Unwissenheit bereits interessante
Einsichten.

278
Metaphysica VIII, 27; 9b 27 – 10a 5

307
Theophrastos von Eresos (370-285)
ii. Der Unterschied von tšcnh und Natur
§ 254 Wir haben bereits bei Aristoteles den Unterschied zwischen sol-
chen Dingen, die von Natur aus entstehen und solchen, die mit techni-
schen Hilfsmitteln erstellt werden, diskutiert und kritisiert. Theophra-
stos gibt uns Gelegenheit dazu, diese Unterscheidung etwas zu verfei-
nern. Er stößt in De causis plantarum auf eine Frage, die sich in eben
diesen Zusammenhang stellen läßt, nämlich die Frage nach dem Unter-
schied von kultivierten und natürlich wachsenden Pflanzen. Theophra-
stos präsentiert uns dabei die Unterscheidung von Natur und Kunst als
eine Aporie.
Zunächst definiert Theophrastos, was wir unter natürlichem Wachs-
tum zu verstehen haben und wodurch eine natürliche Pflanze von einer
kultivierten abgegrenzt ist:
¹ m n g¦r fÚsij ™n aØtÍ t¦j ¢rc¦j »Denn die Natur hat ihre Anfän-
œcei kaˆ lšgomen tÕ <m n> kat¦ ge in sich und wir sprechen bei
fÚsin, tÕ ™k tîn aÙtom£twn toi- dem von „natürlich“, was eben
oàton, tÕ d' œxwqen ¥llwj te kaˆ aus sich selbst heraus geschieht,
<tÕ> kat¦ tšcnhn· ¢f' ˜tšraj g¦r anders aber bei dem was von au-
¢rcÁj. ßen und durch Kunst geschieht.
Denn es hat einen anderen An-
fang.«
279

Natürlich ist eben dasjenige, was in Abwesenheit von tšcnh geschieht


von Natur aus geschieht. Theophrastos’ Argument ist hier, daß der
Ausgangspunkt der Bewegung (¢rc») bei natürlichen Dingen von innen,
also aus dem System selbst komme und bei künstlichen Vorgängen von
außen.
Wir hatten die aristotelische Unterscheidung von Künstlichem und
Natürlichem oben dahingehend kritisiert, daß eben alles Künstliche in
sich auch natürlich sei und daß es in allem Natürlichen durch die Ver-
mischung verschiedener Formebenen, von denen die höheren die
niedrigeren für ihre Zwecke benutzen, auch künstliches Geschehen gä-
be. Theophrastos ist in seiner Unterscheidung hier etwas präziser und
hebelt so zumindest den letzteren unserer Kritikpunkte aus. Denn
wenn auch in einem aus mehreren Formebenen bestehenden Naturwe-

279
De causis plantarum I, 16, 10, 5-7

308
Theophrastos von Eresos (370-285)
sen eine höhere Ebene eine niedrigere verwendet, dann bleibt dies
doch noch im Zusammenhang des Systems und ist somit ein natürli-
cher Vorgang. Hingegen sind alle solchen Vorgänge künstlich, bei de-
nen verschiedene Systeme aufeinander wirken.
§ 255 Bevor wir uns nun fragen können, ob Theophrastos Unter-
scheidung zutreffend ist, müssen wir uns zunächst die andere Seite sei-
ner Aporie ansehen, welche eben dieses kritisiert:
¹ d' ¢eˆ prÕj tÕ bšltiston Ðrm´ kaˆ »Sie [die Natur] treibt immer
toàq' ésper ÐmologoÚmenÒn ™stin, zum besten und darüber ist man
taÚtV d kaˆ t¦ tÁj qerape…aj· sich einig. Das gleiche gilt für das
¤ma g¦r kaˆ tele…wsij g…netai tÁj durch Pflege [geschehende]:
fÚsewj Ótan ïn ™llip¾j tugc£nV Denn die Vollendung geschieht
taàta prosl£bV di¦ tšcnhj gleichzeitig auch gemäß der Na-
tur, wenn ihr zufällig durch Kunst
aus dem Mangel geholfen wor-
den ist«.
280

Auch künstliche Vorgänge, so korrigiert Theophrastos hier sogleich


seine Position, sind insofern natürlich, als der wohlgemeinte Eingriff
von außen, die qerape…a, nur einen natürlichen Prozeß in Gang setzt.
Die Pflanze, die sich nicht mehr ihr Wasser selbst besorgen muß, son-
dern auf dem trockenen Boden einer Wüstenregion auf eine vom
Menschen organisierte Wasserzufuhr angewiesen ist, entscheidet im-
mer noch selbst über ihre natürlichen inneren Prozesse. Wann etwas
ihr zuträglich ist und wann nicht, bestimmt die Natur der Pflanze, nicht
aber der sie züchtende Mensch. Die Kunst muß sich in die Natur der
Dinge integrieren und so bleibt gewissermaßen auch bei scheinbar
künstlichen Vorgängen das Natürliche das Maßgebende.
§ 256 Theophrastos’ ist hier ganz und gar systemtheoretisch. Der
Einfluß von außen ist zwar da und er tut etwas, aber was er tut bestimmt
das System, welches für die Zwecke der Außenwelt – wie etwa den
Wunsch des Menschen nach produktiveren Pflanzen – ganz und gar
blind ist. Das System gibt den von außen kommenden Einflüssen einen
von ihm selbst diesen zugeschriebenen Sinn und verarbeitet sie ent-
sprechend.

280
De causis plantarum I, 16, 11, 3-5

309
Theophrastos von Eresos (370-285)
Nur dadurch, daß der Mensch die Pflanze versteht und deren Sinn-
zuschreibungen vorwegnehmen kann, kann er diese dann überhaupt
für seine Zwecke benutzen. Wir sehen aber, daß gerade die empirische
Forschung der Biologie, die gewissermaßen eine Hermeneutik der Le-
bewesen betreibt, hier oft zunächst auch blind vorgeht und beispielswei-
se ein Gen mutiert künstliche Stoffe zuführt und sich dann ansieht, wel-
che Veränderung sie damit hervorgerufen hat; welchen Sinn oder Un-
sinn sie dabei produziert hat. Gravierende Nebenwirkung liegen hier in
der Logik der Sache.
Nach dieser Auffassung, die analog zu unserer Kritik an der aristo-
telischen Unterscheidung von Kunst und Natur ist, gibt es gar nichts
wirklich Künstliches. Jeder sogenannte künstliche Eingriff hat ja nur
Konsequenzen, die sich an den Natur der Zusammenhänge, in die ein-
gegriffen wird, orientieren; er hat also nur natürliche Konsequenzen.
§ 257 Theophrastos findet nun eine ganz interessante Auflösung
dieser Aporie des Künstlichen. Er unterscheidet zwei verschiedene Na-
turen:
fa…netai d kaˆ ™k tîn protšrwn »Es zeigt sich aber auch, daß aus
e nai dÁlon Óti diairetšon t¦j dem Vorhergehenden klar wird,
fÚseij ésper kaˆ t¦j pšyeij lšgo- daß wir die Naturen unterschei-
men. to‹j m n g¦r ¹ aÙtÒmatoj ¹ den müssen, ebenso wie wir es
o„keiotšra, to‹j d ¹ tÁj qerape…aj auch bei den Verdauungen gesagt
kaˆ gewrg…aj, œnia d' ¢mfotšrwj. haben. Denn den einen selbst-
bewegten ist das Eigenständige
zuträglicher, den anderen aber
die Pflege und Agrikultur, weni-
gen aber beides.« 281

Er trifft hier eine etwas perfidere Unterscheidung zwischen Künstli-


chem und Natürlichem, die es ihm erlaubt, diesen Unterschied über
die Aporie hinaus zu machen. Er unterscheidet die beiden Formen des
Natürlichen und des Künstlichen nun nicht mehr als Prozesse des Ent-
stehens und Entwickelns von Dingen, sondern er betrachtet sie als Cha-
rakteristika ganzer Systeme. Eine Pflanze als ganze ist entweder ein auf
natürliches oder ein auf künstliches Wachstum hin angelegtes Wesen.

281
De causis plantarum I, 16, 13, 1-4

310
Theophrastos von Eresos (370-285)
Die Mischform schließt er zwar nicht aus, aber sie soll selten anzutref-
fen sein. Es ist nun sehr leicht, eine Pflanze als ein natürliches Wesen
zu verstehen, was aber bedeutet es, wenn man von einer Pflanze sagt,
sie auf qerape…a angewiesen? Nach Theophrastos bedeutet das, daß sol-
che Pflanze, wenn sie von Menschen gepflegt werden, entweder über-
haupt in der Form und an dem Ort, an dem sie sich befinden, überle-
ben können, oder aber, daß sie durch den gezielten Eingriff des Men-
schen einfach produktiver sind. Ein gutes Beispiel ist der Kopfsalat in
der Wüste. Ohne vom Menschen orientierte Bewässerung welkt er
schnell dahin. Mit dem Menschen jedoch können ganze Salatkulturen
nicht nur überleben, sondern gar die höchst mögliche Blüte ihres Da-
seins erreichen.
Wenn wir diesen, sehr an einem Beispiel orientierten Gedanken
nun wieder auf die generelle Unterscheidung zwischen Künstlichem
und Natürlichem beziehen, dann führt das zu einem sehr produktiven
Resultat. Theophrastos macht uns hier auf einen Sinn des Künstlichen
aufmerksam, der über das hinausgeht, was wir bei Aristoteles festgestellt
hatten. Zunächst einmal ist seine Aporie ganz und gar mit unserer dort
vorgestellten Sichtweise vereinbar. Jedes System muß zunächst als ein
natürliches System betrachtet werden. Nun können wir aber bei einem
aus mehreren Formebenen bestehenden System dessen Subebenen als
eigenständige Systeme betrachten. Insofern nun diese Subebenen von
den höheren Ebenen benutzt werden, werden sie aus ihrer Sicht von
außen affiziert. Sie werden somit zum Gegenstand einer tšcnh. Das Ge-
samtsystem ist dann natürlich, aber im Inneren gibt es gewissermaßen
künstliche Prozesse.
Theophrastos macht uns nun aber darauf aufmerksam, daß es sich
bei solchen inneren System durchaus um solche handeln kann, die al-
lein gar nicht zu überleben in der Lage sind. Das beste Beispiel sind
hier die Organe eines Menschen. Die Lunge für sich genommen würde
nicht atmen sondern faulen. Wir hatten bei unserer Diskussion des Be-
griffs der tšcnh von Aristoteles solche Dinge, die allein für sich ge-
nommen nicht das sind, als was man sie bezeichnet Maschinen ge-
nannt. Die Maschine ist dadurch gekennzeichnet, daß sie durch eine
höhere Naturebene für etwas benutzt werden kann, was ihr gemäß ihrer

311
Theophrastos von Eresos (370-285)
eigenen Natur nicht zukommt; wie etwa die Benutzung eines Compu-
ters zu geistigen Zwecken. Theophrastos’ Überlegungen erweitern nun
den Begriff der Maschine dahingehend, daß auch Organisches, wenn es
nur mit Hilfe von anderem überleben kann, als eine Maschine verstan-
den werden kann. Der Kopfsalat in der Wüste ist also eine Maschine,
nicht mehr aber etwas Natürliches.

iii. Die Verwandtschaft von Mensch und Tier


§ 258 Daß wir bei Theophrastos keine Philosophie des Geistes finden,
spiegelt sich auch in einer sehr naturalisierten Sicht auf den Geist wie-
der, die uns Porphyrios überliefert. Demnach ist für Theophrastos der
Unterschied von Mensch und Tier nur ein gradueller und vor allem die
Gemeinsamkeiten müssen hervorgehoben werden:
oÛtwj d kaˆ toÝj p£ntaj ¢nqrè- »Wir gehen davon aus, daß eben-
pouj ¢ll»loij t…qemen kaˆ sugge- so wie alle Menschen einander
ne‹j, kaˆ m¾n <kaˆ> p©si to‹j verwandt sind, sie auch mit allen
zóoij· aƒ g¦r tîn swm£twn ¢rcaˆ Tieren verwandt sind. Denn die
pefÚkasin aƒ aÙta…· lšgw d oÙk Prinzipien der Körper sind von
™pˆ t¦ stoice‹a ¢nafšrwn t¦ prî- Natur aus dieselben. Ich behaup-
ta· ™k toÚtwn m n g¦r kaˆ t¦ te das aber nicht, indem ich die
fut£· ¢ll' oŒon dšrma, s£rkaj kaˆ ersten Elemente heranziehe.
tÕ tîn Øgrîn to‹j zóoij sÚmfuton Denn aus diesen bestehen auch
gšnoj· polÝ d m©llon tù t¦j ™n die Pflanzen. Sondern [ich be-
aÙto‹j yuc¦j ¢diafÒrouj pefukšnai haupte es] bezüglich der Haut,
des Fleisches und den Säften,
welche der Gattung der Lebewe-
sen eigen sind. Und mehr noch
weil die Seelen in ihnen von Na-
tur aus nicht unterschieden
sind«.
282

Was Theophrastos hier behauptet geht sehr weit. Zum einen kann po-
sitiv angemerkt werden, daß er anerkennt, daß Mensch und Tier nicht
nur physiologisch sehr ähnlich gebaut sind, sondern auch hinsichtlich
der psychischen Ausstattung sehr viele Übereinstimmungen an den Tag
legen. Der Mensch als Naturwesen ist eben nicht ein anderes Wesen,

282
De Abstinentia III, 25, 16-23

312
Theophrastos von Eresos (370-285)
sondern vielmehr nur ein Tier unter anderen. Dabei vermeidet Theo-
phrastos ganz bewußt den Reduktionismus eines Empedokles oder gar
der Atomisten, welche die Ununterschiedenheit der Wesen in einer
Reduktion dieser Wesen auf ihre Grundbestandteile begründen wür-
den. Statt dessen erkennt er Naturstufen an und unterscheidet das
Animalische deutlich vom Pflanzlichen.
Zum anderen aber läßt er die Feinheit seiner Betrachtung dann aber
auf der Ebene der Naturstufen enden. Einen Unterschied von Geist
und Natur zieht er nicht mehr in Betracht. Vielmehr wird der Mensch
auf sein Naturwesen reduziert und jenes Surplus, welches ihm der Geist
zuführt, der eben dieses Naturwesen aus der Natur herauszuheben
vermag, findet bei Theophrastos keine Beachtung. Er ebnet die Welt
ab der Natur ein und kann so vermutlich keine Philosophie des Geistes
entwickeln.

313
Pyrrhon von Elis (360-270)
Pyrrhon von Elis (360-270)
Pyrrhon, so berichtet uns Diogenes Laertios, sei von Beruf Maler gewe-
sen. Dies war wohl seine einzige konstruktive Tätigkeit, denn als Philo-
soph war er nur destruktiv tätig indem er eine skeptische Schule be-
gründete. Die Philosophie der Skepsis ist natürlich eher eine praktische
Philosophie, welche die Lebenshaltung der Menschen anspricht, als ei-
nen Beitrag zum theoretischen Denken. Pyrrhon scheint, wenn wir
Diogenes Laertios Glauben schenken können, in den praktischen Kon-
sequenzen seines Strebens nach Urteilsenthaltung und Gemütsruhe
(¢tarax…a) so weit gegangen zu sein, daß er, als sein Lehrer Anaxarchos
einmal in einen Sumpf fiel, teilnahmslos weiterging. Über diesen
Anaxarchos wissen wir nur, daß er mit Alexander dem Großen be-
freundet war und daß diese Freundschaft offenbar auch Pyrrhon an den
Hof Alexanders und mit diesem nach Indien brachte, wo er mit der
dortigen Philosophie in Kontakt kam. Da Pyrrhon nichts geschrieben
hat, sind wir, was sein Denken angeht, vollkommen auf spätere Quellen
angewiesen und es herrscht allgemein eine Unklarheit, welche Gedan-
ken ihm und welche späteren Schülern zuzuschreiben sind.

Geist
§ 259 Da der Skeptizismus keine produktive Philosophie ist, ist er für
uns nur von ganz marginalem Interesse. Im Grunde ist er nur dort
dienlich, wo er festgefahrene Denkmuster, denen wir nicht zustimmen
können, in Frage stellt und so den Weg für neue theoretische Ansätze
öffnet, denen er sich selbst aus seiner grundlegenden Geisteshaltung
heraus ebenfalls verweigern würde. Alle Skepsis in Bezug auf Fragen
der Wahrnehmung und Erkenntnis finden sich schon bei dem ein oder
anderen Philosophen wie Protagoras oder Demokritos. Die einzig
wirklich neue Skepsis, die wir im Gedankengut Pyrrhons finden kön-
nen, richtet sich gegen den Zeichenbegriff. Dabei ist natürlich völlig un-
klar, ob es sich hierbei um Pyrrhons eigene Gedanken oder um die
seiner Schüler handelt. All dieser Unwägbarkeit zum Trotz möchte ich
Pyrrhon die folgenden Passagen, die Diogenes Laertios als eine der

314
Pyrrhon von Elis (360-270)
Schulmeinungen der Skeptiker in seiner Lebensbeschreibung des
Pyrrhon darstellt, in Ermangelung eines passenderen Autors zuschrei-
ben:
Shme‹Òn te oÙk e nai· e„ g£r ™sti, »Auch das Zeichen gibt es nicht;
fas…, shme‹on, ½toi a„sqhtÒn ™stin denn gebe es eines, so wäre es
À nohtÒn· entweder durch die Wahrneh-
mung oder durch den Verstand
zu erfassen«.
283

Bezeichnend für den skeptischen Ansatz ist hier natürlich, daß aus der
Erkennbarkeit auf das Sein, vom erkenntnistheoretischen auf das On-
tologische geschlossen wird. Sehen wir uns aber die Begründung einmal
im Detail an. Zunächst versucht Pyrrhon zu zeigen, daß Zeichen un-
möglich wahrnehmbar sein können:
a„sqhtÕn m n oân oÙk œstin, ™peˆ tÕ »Nun ist es aber nicht wahr-
a„sqhtÕn koinÒn ™sti, tÕ d shme‹on nehmbar, denn das Wahrnehm-
‡dion. kaˆ tÕ m n a„sqhtÕn <tîn> bare ist ein allgemeines, das Zei-
kat¦ diafor£n, tÕ d shme‹on tîn chen dagegen ein besonderes.
prÒj ti. nohtÕn d' oÙk œstin Und das Wahrnehmbare gehört
zu dem gesondert für sich Seien-
den, das Zeichen zu dem, was in
bezug auf etwas anderes ist.«
284

Er faßt hier meines Erachtens die besondere Nuance des Zeichens ganz
richtig. Dieses ist kein einfach so wahrnehmbarer Gegenstand, denn
wenn man das Zeichen als das, was es ist, den Buchstaben als Konglo-
merat von Linien ansieht, dann verpaßt man den Zeichencharakter des-
selben. Der besteht eben gerade im Bezeichnen und das Bezeichnende
am Zeichen ist nicht sichtbar.
§ 260 Folglich geht man davon aus, daß es eben eine Art Arbeits-
teilung gäbe wobei die Wahrnehmung das Zeichen aufnimmt und das
Denken den Zeichencharakter erkennt. Doch auch das schließt
Pyrrhon aus:
nohtÕn d' oÙk œstin, ™peˆ tÕ nohtÕn »Durch Denken zu erfassen aber
½toi fainÒmenÒn ™sti fainomšnou À ist es nicht, denn das Denkbare

283
Vitae philosophorum IX, 96, 1-2, Übers. O. Apelt.
284
Vitae philosophorum IX, 96, 2-4, Übers. O. Apelt.

315
Pyrrhon von Elis (360-270)
¢fan j ¢fanoàj À ¢fan j faino- ist Entweder Erscheinung eines
mšnou À fainÒmenon ¢fanoàj· oÙd n Erscheinenden oder Nichter-
d toÚtwn ™stin· oÙk ¥r' ™stˆ sh- scheinung eines nicht zum Vor-
me‹on. fainÒmenon m n oân faino- schein Kommenden oder Nicht-
mšnou oÙk œstin, ™peˆ tÕ fainÒmenon erscheinung eines Erscheinenden
oÙ de‹tai shme…ou· ¢fan j d' ¢fa- oder Erscheinung eines nicht
noàj oÙk œstin, ™peˆ de‹ fa…nesqai zum Vorschein kommenden; es
tÕ ™kkaluptÒmenon ØpÒ tinoj· ist aber nichts von dem. Nämlich
¢fan j d fainomšnou oÙ dÚnatai, Erscheinung eines Erscheinen-
kaqÒti de‹ fa…nesqai tÕ ˜tšrJ den ist es nicht, da das Erschei-
paršxon ¢form¾n katal»yewj· nende keines Zeichens bedarf;
fainÒmenon d' ¢fanoàj oÙk œstin, Nichterscheinung eines nicht
Óti tÕ shme‹on tîn prÒj ti ×n sug- zum Vorschein Kommenden ist
katalamb£nesqai Ñfe…lei tù oá es nicht, da das, was durch etwas
™sti shme‹on, tÕ d m¾ œstin. enthüllt wird, zum Vorschein
kommen muß; Nichterscheinung
eines Erscheinenden aber kann
es nicht sein, weil dasjenige doch
sichtbar sein muß, was einem an-
deren den Anlaß dazu geben soll,
daß man es erfassen kann; Nicht-
erscheinung endlich eines nicht
zum Vorschein Kommenden
kann es nicht sein, weil das Zei-
chen als zu den relativen Dingen
gehörig immer in Gemeinschaft
mit dem aufgefaßt werden muß,
dessen Zeichen es ist, was hier
nicht zutrifft.«285

Von den vier Fällen, die Pyrrhon hier unterscheidet lassen sich zwei so-
fort ausschließen. Das Zeichen kann natürlich nicht als ein Nichter-
scheinendes gefaßt werden, denn der Sinn eines Zeichens besteht ja ge-
rade darin, etwas zur Erscheinung zu bringen. Es bleiben also die bei-
den Fälle übrig, in denen das Zeichen als Erscheinendes gesehen wird.
Pyrrhon schließt nun aus, daß das Zeichen für ein Erscheinendes er-
scheint, denn das, was an sich selbst zur Erscheinung kommen kann,

285
Vitae philosophorum IX, 96, 4 – 97, 4, Übers. O. Apelt.

316
Pyrrhon von Elis (360-270)
braucht keinen Bedeutungsgehalt, der es zur Erscheinung bringt; es ist
sozusagen sein eigenes Zeichen. Anders formuliert könnte man sagen,
daß wenn die Welt der Zeichen darin bestünde, die Welt der Dinge
nur zu verdoppelt, dann bräuchte man keine Zeichen, denn man hat ja
an den Dingen schon alles.
§ 261 Dieses Argument ist nicht ganz selbstverständlich, denn es gibt
durchaus Vertreter der Ansicht, Zeichen seien eben nur Stellvertreter
der Dinge für den Gebrauch in einer Kommunikation. Diese Sichtwei-
se soll hier auch nicht widerlegt werden – Pyrrhon tut das letztlich auch
nicht; er widerspricht ihr nur –, sondern es soll lediglich ein Gegenmo-
dell entwickelt werden, welches besser zu den hier bereits entwickelten
Grundzügen einer idealistischen Metaphysik paßt. Wenn wir uns die
eben erwähnte Ansicht genau ansehen, dann springt deren Inkompati-
bilität geradezu ins Auge. Demnach haben wir es nämlich mit voll-
kommen selbständig denkenden Menschen zu tun, die außerdem noch
kommunizieren möchten und nur dafür Zeichen entwickeln müssen.
Der Idealismus behauptet dem entgegen, daß das Denken immer
schon Zusammenhänge voraussetzt, die nicht im einzelnen Menschen
erst entstehen, sondern in sich bestehen. Daher ist jeder Gedanke, den
ein Mensch hat, in einem gewissen Sinne bereits ein Kommunikati-
onsergebnis, nämlich das Ergebnis einer impliziten Kommunikation
mit jenem vorgängigen Zusammenhang. Würden hier nun die Zeichen
nur für die einzelnen Dinge stehen, so wäre fraglich, wie sie in diesen
Zusammenhang gelangen können, dessen sie bedürfen, um ihn uns erst
zu vermitteln.
§ 262 Pyrrhon geht nun noch auf einen vierten Fall ein, wonach ein
Zeichen nicht die Erscheinung eines Nichterscheinenden sein kann.
Hieran kritisiert er, daß das Zeichen eben immer in Bezug zu etwas
steht, daß es immer Zeichen von etwas ist, das jedoch, wenn es nicht
erscheint, diesen Bezug nicht herstellbar macht. Meines Erachtens läßt
sich dieses Argument wie folgt rekonstruieren. Es wird deutlich, wenn
wir uns fragen, woher wir wissen, wofür ein Zeichen steht. Diese Frage
können wir gemäß dem oben ausgeführten nur dann beantworten,
wenn wir seinen Bezug zu anderen Zeichen verstehen. Selbst bei einem
einfachen deiktischen Ausdruck, dessen Bedeutung man durch Zeigen

317
Pyrrhon von Elis (360-270)
auf das Bezeichnete zu erklären können glaubt, muß man sich verge-
genwärtigen, daß das Zeigen selbst auch ein Zeichen ist, das erst ver-
standen werden will. Aus diesem hermeneutischen Zirkel der Zeichen
kann man nicht entkommen; man muß es aber auch nicht. Er konsti-
tuiert die Sinnebene unserer Sprache und ist als solches der Geist.
Pyrrhon zieht hieraus natürlich den Schluß, daß es Zeichen gar nicht
geben kann, wenn sie in keiner Weise direkt für Dinge stehen können
– weder als Erscheinende noch als Nichterscheinende. Unsere Überle-
gung zeigt jedoch, daß dieser radikale skeptische Schluß keineswegs nö-
tig ist.
Insgesamt hilft uns die pyrrhonische Kritik also dazu, unsere
Sprachauffassung zu präzisieren. Zeichen stehen in diesem Sinne weder
für etwas Erscheinendes noch für etwas Nichterscheinendes. Sie stehen
zunächst für andere Zeichen, sie stehen in Bezug zu anderen Zeichen
und als Summe der Zeichen, als Geist, verfügen sie über die Dinge. Als
solcher können sie die Dinge nicht nur in ihrer Welt des Geistes zur
Erscheinung bringen, sie können sie auch in der Welt der Dinge ver-
ändern.

318
Epikuros von Samos (342-271)
Epikuros von Samos (342-271)
Epikuros ist eigentlich Athener aber als Kolonist in Samos aufgewach-
sen und dann als Jugendlicher nach Athen zurückgekehrt. Nachdem er
mit dem Denken der damals existenten Philosophenschulen in Kontakt
gekommen war, beschloß er, eine eigene Schule zu gründen. Seine
Lehre scheint dabei alles zu vergessen, was durch Platon und Aristote-
les im philosophischen Denken geleistet worden ist und einfach die
Auffassung des Demokritos und des Leukippos – dessen Existenz er
nach Diogenes Laertios gar leugnete – zu kopieren. Entsprechend läßt
Cicero seinen Kritiker der Epikuräismus Cotta in De natura deorum
sagen:
atque si haec Democritea non »Und selbst wenn er diese Theo-
audisset, quid audierat, quid rien Demokrits wirklich nicht ge-
est in physicis Epicuri non a hört hätte, was hatte er dann ge-
Democrito? hört, was in Epikurs Naturphilo-
sophie stammt nicht von Demo-
krit?«286

Wir können tatsächlich Leukippos’ und Demokritos’ im ersten Band


dargestellte Auffassungen problemlos auch als die seinen ansehen. Nur
in ganz wenigen Punkten geht er ein wenig über deren Lehren hinaus.
Diogenes Laertios überliefert nicht nur einen ausführlichen Grund-
riß von Epikuros’ Lehre, sondern auch drei Briefe, welche seine Philo-
sophie zusammenfassen. Wir finden jedoch in diesen spärlichen Zeug-
nissen seiner schriftstellerischen Tätigkeit, die überaus Umfangreiches
hervorgebracht haben soll, nur wenige Aspekte, die aus der Sicht der
idealistischen Metaphysik von Interesse sind.

Ideen
§ 263 Natürlich entwickelt Epikuros als ausgewiesener Materialist keine
eigene Ideenlehre. Statt dessen gibt er aber einen interessanten Grund
dafür an, warum man keiner Ideen bedürfe:

286
De natura deorum I, 73, Übers. U. Blank-Sangmeister.

319
Epikuros von Samos (342-271)

T¾n dialektik¾n æj paršlkousan »Die Dialektik verwerfen sie als


¢podokim£zousin· ¢rke‹n g¦r toÝj überflüssig; es genüge, daß die
fusikoÝj cwre‹n kat¦ toÝj tîn Physiker sich nach der natürli-
pragm£twn fqÒggouj. chen Sprache der Dinge selbst
richteten.«
287

Zunächst müssen wir klären, was unter Dialektik zu verstehen ist. Mei-
nes Erachtens ist damit eben das ganze Feld gemeint, was wir hier als
Ideenlehre behandeln. Dem kommen ganz grob gesagt vor allem zwei
Aufgaben zu. Die eine Aufgabe ist eine Klärung aller logischen Begriffe
und ihres inneren Zusammenhangs um ihrer selbst willen. Die Grundi-
dee dabei ist es, wie in der Einleitung ausgeführt, ein sich selbst konsti-
tuierendes System logischer Bedeutungsgehalte zu entwickeln. Die an-
dere damit verbundene Aufgabe aber, auf die Epikuros hier anspielt, ist
die Vorbereitung des logischen Werkzeugs für eine Analyse des Natur-
seins.
Epikuros behauptet hier nun, daß eine solche Vorbereitung voll-
kommen überflüssig sei, denn mit der natürlichen Sprache könne man
aus sich heraus Naturphilosophie betreiben. Man könne sich, – wört-
lich – nach den Tönen der Dinge (kat¦ toÝj tîn pragm£twn fqÒggouj)
richten. Eine Grundidee dieser Behauptung ist erst einmal sehr begrü-
ßenswert. Die natürliche Sprache, die wir alle sprechen lernen, muß
dasjenige Feld sein, in dem sich eine Philosophie entwickelt. Die Dia-
lektik darf keine Kunstsprache erzeugen, die zwar abstrakte philosophi-
sche Probleme löst, als Sprache aber nicht mehr verständlich ist. Jeder
logische Begriff muß vielmehr immer wieder an die Basis der natürli-
chen Sprache zurückgebunden werden. Wo das nicht geschieht,
kommt es zu einem Lehrlauf und die entsprechende Philosophie wird
einfach nicht verstanden und so zu recht vergessen. Aber auch das Um-
gekehrte geschieht. Die Sprache kann vom dialektischen Denken ler-
nen und so kompliziert erdachte Begriffe in sich aufnehmen. Da dies
aber ein ganz und gar langsamer hermeneutischer Prozeß ist, hat es
mitunter Jahrtausende gedauert, bis bestimmte philosophische Ideen,
die ihren Ursprung in dialektischen Problemen nahmen, in unserer na-

287
Vitae philosophorum X, 31, 1-3, Übers. O. Apelt.

320
Epikuros von Samos (342-271)
türlichen Sprache angekommen sind, bis bestimmte Konzepte ihren
Status Stück für Stück von dem einer gewagten Theorie zum common
sense gewandelt haben.
§ 264 Doch Epikuros fordert nicht nur eine solche Rückbindung
der Dialektik an die natürliche Sprache, er fordert eine Abschaffung
derselben. Die Ideenlehre ist immer schon in der natürlichen Sprache
zu finden und die natürliche Sprache selbst findet sich im Betrachten
der Natur. Dabei baut er vor allem auf die bereits bei Demokritos, Ari-
stoteles und Pyrrhon zu findende These, daß die Wahrnehmung im-
mer richtig ist:
p©sa g£r, fhs…n, a‡sqhsij ¥logÒj »„Denn“, heißt es da, „jede
™sti kaˆ mn»mhj oÙdemi©j dektik»· Wahrnehmung gilt rein für sich
oÜte g¦r Øf' aØtÁj kine‹tai oÜte und hängt nicht ab von Verstand
Øf' ˜tšrou kinhqe‹sa dÚnata… ti und Gedächtnis; denn sie wird
prosqe‹nai À ¢fele‹n· weder durch sich selbst bewegt
noch kann sie, von etwas ande-
rem bewegt, irgend etwas hinzu-
setzen oder wegnehmen.«288

Der Hintergedanke scheint also darin zu liegen, daß es eine Art natürli-
cher Begriffsbildung gibt, welche die Dialektik ersetzt. Wir müssen nur
auf die Dinge schauen und sehen dann schon wie sie sind. Die passen-
den Begriffe finden sich ganz von allein.
Dabei übersieht Epikuros jedoch, daß diese naive Begriffsbildung an
vielen Stellen vorbelastet ist. Schon von Speusippos haben wir gelernt,
daß in denkenden Wesen die Wahrnehmung immer dem Denken ge-
horcht und sich an dessen Erwartungen anpaßt. Es ist überaus zweifel-
haft, daß es eine solche naive Wahrnehmung überhaupt gibt. Aber
selbst wenn es sie gäbe, dann führt sie logischerweise gerade an den
Stellen in begriffliche Abseits, wo für die Begriffe ein Zusammenhang
gefordert werden kann, der so einfach eben nicht ersichtlich ist. Ein gu-
tes Beispiel ist hier die menschliche Subjektivität. Das naive Bewußtsein
nimmt den Menschen als Einzelwesen wahr und schließt sogleich dar-
auf, daß er als solcher auch in seinem Denken und Handeln selbständig
sei. Sieht man sich dieses jedoch genauer an, so erkennt man, daß es

288
Vitae philosophorum X, 31, 7 – 32, 1, Übers. O. Apelt.

321
Epikuros von Samos (342-271)
nur in einem übergeordneten Zusammenhang möglich ist und Sinn
macht. Die Begriffe hängen vor allem von anderen Begriffen ab und
unser Denken bewegt sich nicht so sehr im Bereich der empirischen
Wirklichkeit, sondern vor allem im abgeschlossenen Bereich des Den-
kens selbst; in einem Bereich den nicht die Empirie, sondern die Spra-
che hervorgebracht hat. Epikuros’ Sensualismus führt hier zu einem
Atomismus der Begriffe, der diese Zusammenhänge nicht sieht und
dem so ein Großteil des begrifflichen Denkens gar nicht erschließbar
wird. Die einfache Behauptung, diesen Bereich gäbe es dann gar nicht
ist nichts weiter als platter Reduktionismus.

Natur
§ 265 Jegliche Existenz der Ideen ablehnend läßt Epikuros ebenso wie
Leukippos und Demokritos alles aus Atomen bestehen. Nun hatten wir
bei Leukippos ein Problem angesprochen, daß diese Atomlehre in ei-
nem bestimmten Punkt aufweist. Die Atome, die aus unteilbarer Mate-
rie bestehen sollen, weisen Leukippos und Demokritos zufolge den-
noch verschiedene Formen und Gestalten auf. Das ist ein Wider-
spruch, denn warum soll das, was unterschiedliche Gestalt hat, nicht
teilbar sein?
Epikuros scheint dieses Problem der Atomlehre bemerkt zu haben,
denn er versucht eben diesen Punkt plausibel zu machen. Dazu greift
er zu einer Analogie. Er vergleicht die Atome mit kleinen Gegenstän-
den, die wir noch wahrnehmen können, um zu veranschaulichen, wie
ein Atom aussieht:
“TÒ te ™l£ciston tÕ ™n tÍ a„sq»sei »Und das Kleinste, das in der
de‹ katanoe‹n Óti oÜte toioàtÒn sinnlichen Anschauung noch
™stin oŒon tÕ t¦j metab£seij œcon vorkommt, muß man sich so
oÜte p£ntV p£ntwj ¢nÒmoion, ¢ll' denken, daß es weder gleichartig
œcon mšn tina koinÒthta tîn meta- ist dem, was Veränderungen zu-
batîn, di£lhyin d merîn oÙk läßt, noch auch völlig ungleichar-
œcon· ¢ll' Ótan di¦ t¾n tÁj ko- tig mit ihm ist, nur daß es keine
inÒthtoj prosemfšreian o„hqîmen Teile erkennen läßt. Aber wenn
dial»yesqa… ti aÙtoà, tÕ m n wir wegen der aus der Gemein-
™pit£de, tÕ d ™pškeina, tÕ ‡son schaft sich ergebenden Ähnlich-

322
Epikuros von Samos (342-271)
¹m‹n de‹ prosp…ptein. ˜xÁj te qe- keit uns etwas davon begreiflich
wroàmen taàta ¢pÕ toà prètou zu machen glauben, so bezieht
katarcÒmenoi kaˆ oÙk ™n tù aÙtù, sich die Gleichheit für uns tat-
oÙd mšresi merîn ¡ptÒmena, ¢ll' sächlich nicht auf beiden Seiten,
À ™n tÍ „diÒthti tÍ ˜autîn t¦ sondern nur entweder auf die
megšqh katametroànta, t¦ ple…w diese oder auf jene Seite. Wir
ple‹on kaˆ t¦ ™l£ttw œlatton. sehen, vom ersten beginnend,
TaÚtV tÍ ¢nalog…v nomistšon kaˆ wie diese (kleinsten wahrnehm-
tÕ ™n tÍ ¢tÒmJ ™l£ciston kecrÁs- baren Körperchen) der Reihe
qai· mikrÒthti g¦r ™ke‹no dÁlon æj nach sukzessiv und nicht konti-
diafšrei toà kat¦ t¾n a‡sqhsin nuierlich, auch nicht Teile mit
qewroumšnou, ¢nalog…v d tÍ aÙtÍ Teilen berührend, sondern nur
kšcrhtai. ™pe…per kaˆ Óti mšgeqoj in ihrer besonderen Eigentüm-
œcei ¹ ¥tomoj kat¦ t¾n ™ntaàqa lichkeit die Größen messen, die
¢nalog…an kathgor»samen, mikrÒn größeren als größer und die klei-
ti mÒnon makr¦n ™kbalÒntej. neren als kleiner. Dem analog –
so muß man annehmen – wird
auch das, was im Atomgebiet das
Kleinste ist, sich verhalten. Denn
offenbar unterscheidet sich dieses
von dem in der sinnlichen Wahr-
nehmung Geschauten, doch sind
die Beziehungen auf beiden Sei-
ten analog. Haben wir doch auch
nach der in der Anschauung vor-
liegenden Analogie vom Atom
ausgesagt, daß es Größe hat, in-
dem wir etwas Kleines in seiner
Kleinheit nur möglichst herab-
drückten.«289

Diese schwierige Textstelle müssen wir uns genau ansehen. Zunächst


einmal ist hier selbst umstritten, was mit diesem Kleinsten (tÕ
™l£ciston) gemeint ist. Es gibt hier zwei Weisen der Verwendung des
Kleinsten. Zum einen spricht Epikuros vom Kleinsten in unserer
Wahrnehmung (tÕ ™n tÍ a„sq»sei ™l£ciston). Damit meint er einfach
kleine Gegenstände, wie beispielsweise Münzen. Zum anderen aber

289
Diogenes Laertius, Vitae philosophorum X, 58, Übers. O. Apelt. Die Übersetzun-

323
Epikuros von Samos (342-271)
spricht er vom Kleinsten im Bereich der Atome (tÕ ™n tÍ ¢tÒmJ
™l£ciston) und meint damit nichts anderes als die Atome selbst.290 Diese
beiden Gegenstände werden hier verglichen. Das kleinste Wahrneh-
mungsobjekt erscheint uns dabei zunächst als ein solches, das in sich
keine Teile mehr hat, denn sonst wären die Teile ja das kleinste Wahr-
nehmungsobjekt. Es ist eben so klein, daß ihm die metab£seij, die
Übergänge (Apelt und Yonge übersetzen dies meines Erachtens etwas
sinnentstellend als „Veränderungen“) von einem Teil zum anderen
nicht mehr sichtbar sind. Dennoch gibt es natürlich solche Übergänge,
aber sie bleiben eben für uns unsichtbar. Und eben diese für unsere
Wahrnehmung hier unsichtbar bleibende Geteiltheit der kleinsten
Wahrnehmungsobjekte zieht Epikuros nun zum Vergleich mit den
Atomen heran. Dann sehen wir vor uns Objekte, betrachten sie aber
nicht als aus Teilen bestehende Größen, sondern wir sehen ihre Größe
dann als eine eigentümliche Ganzheit (™n tÍ „diÒthti tÍ ˜autîn t¦
megšqh), die entweder als relativ groß oder kleiner sein kann. Ebenso
wie dann die kleinsten Wahrnehmungsobjekte in unserer Anschauung
verschiedene aber homogene Formen an den Tag legen, so Epikuros’
Analogie, so tun dies auch in der Wirklichkeit die Atome.
Daraus ergibt sich nun für Epikuros ein Argument für Annahme
von Atomen, die einerseits homogen sind, andererseits aber doch eine
gewisse Ausdehnung haben und so auch unterschiedliche Formen an
den Tag legen können. Meines Erachtens ist dieses Argument aber
nicht stichhaltig. Ich würde sogar bezweifeln, daß ich mir wirklich auf
bestimmte Weise geformte und ausgedehnte Objekte hypothetisch als
solche vorstellen kann, die in sich homogen sind und keine Teile ha-
ben. Irgendwie kann man sich hier immer die Frage stellen, wie das be-
treffende Objekt denn aussähe, wenn man es in der Mitte teilte. Epi-

gen dieser Textstelle sind sehr heterogen. Die hier wiedergegebene Übersetzung ist
sehr viel näher am Text als die englische von Yonge, aber die englische Überset-
zung, die in sich schon eine starke Interpretaton ist, ist sehr viel verständlicher.
290
David Sedley vertritt die Auffassung, Epikuros spreche hier von noch kleineren
Partikeln als den Atomen. Meines Erachtens ist das nicht der Fall und derartige
Partikel kommen hier bei Epikuros noch nicht zur Sprache, sondern erst viel später
bei Lucretius.

324
Epikuros von Samos (342-271)
kuros tut hier nichts anderes, als seinen Leser Herodotos, an den der
Brief gerichtet ist, der diesen Vergleich enthält, in eine Falle zu locken.
Er leistet aber nichts zur Aufklärung der zugrundeliegenden philosophi-
schen Frage.

Geist
§ 266 Auch wenn wir die naive Sprachtheorie Epikuros’ schon aus
Gründen ihrer Unfähigkeit, passende philosophische Ideen zu entwik-
keln, in ihre Schranken gewiesen haben, so lohnt es sich dennoch, uns
deren innere Widersprüchlichkeit genauer anzusehen. Wie denkt sich
Epikuros das Entstehen eines Begriffs? Eine entscheidende Rolle spie-
len dabei Sinnesdaten, welche uns von den Dingen gesandt werden. In
seinem Brief an Herodotos beschreibt er diese Sinnesdaten:
Kaˆ m¾n kaˆ tÚpoi Ðmoiosc»monej »Auch gibt es Abdrücke von glei-
to‹j steremn…oij e„s…, leptÒthsin cher Gestalt wie die festen Kör-
¢pšcontej makr¦n tîn faino- per, die aber an Feinheit die von
mšnwn. [...] toÚtouj d toÝj tÚpouj uns wahrgenommenen Dinge
e‡dwla prosagoreÚomen. kaˆ m¾n weit überragen. [...] Diese Ab-
kaˆ ¹ di¦ toà kenoà for¦ kat¦ drücke nennen wir Bilder (Ido-
mhdem…an ¢p£nthsin tîn ¢nti- le). Ihre Bewegung durch den
koyÒntwn ginomšnh p©n mÁkoj pe- leeren Raum bewältigt, da sich
rilhptÕn ™n ¢perino»tJ crÒnJ ihnen nichts entgegenstellt, was
suntele‹. ihren Lauf hemmen könnte, jede
erdenkliche Entfernung in einer
für unseren Verstand unfaßbar
kurzen Zeit.« 291

Die Dinge selbst erzeugen also e‡dwla, die dann als real existierende
Sinnesdaten unsere Wahrnehmung affizieren. Das ist zunächst nichts
neues, denn bereits Demokritos hatte sich den Vorgang der Wahr-
nehmung so gedacht. Die Wahrheit der Wahrnehmung wird so da-
durch sichergestellt, daß die Sinnesdaten eben authentische Produkte
der Dinge selbst sind.

291
Vitae philosophorum X, 46, 1-2; 6-7, Übers. O. Apelt.

325
Epikuros von Samos (342-271)
Aus diesen e‡dwla, die von den Dingen her aus uns einströmen ent-
stehen, so berichtet Diogenes Laertios, unter bestimmten Umständen
Begriffe:
T¾n d prÒlhyin lšgousin oƒoneˆ »Was aber ihre sogenannte Pro-
kat£lhyin À dÒxan Ñrq¾n À œnnoian lepsis (Vorherbestimmung = Be-
À kaqolik¾n nÒhsin ™napokeimšnhn, griff) betrifft, so ist sie gleichsam
toutšsti mn»mhn toà poll£kij ein geistiges Ergreifen des Wirk-
œxwqen fanšntoj lichen oder wahre Meinung oder
Gedanke oder allgemeine in uns
liegende Vorstellung, d.h. Erin-
nerung an das oft vor der An-
schauung Erschienene«. 292

Wenn wir also wiederholt die gleichen e‡dwla wahrnehmen, dann führt
das zu einer prÒlhyij, einer Begriffsbildung. Ein Begriff ist also nichts
weiter als das Resultat einer gewissen Konstanz im Strom der Bildchen.
Die Lücke in dieser Ansicht ist offensichtlich. Allein der Begriff der
Wiederholung, der Gleichheit, der hier in Anschlag gebracht werden
muß, um überhaupt behaupten zu können, daß zwei e‡dwla in dieser
bestimmten Beziehung zueinander stehen können, selbst nicht aus der
Wahrnehmung gewonnen werden. Dieses Argument Platons taucht in
dessen Schriften immer wieder auf; vermutlich aber nicht oft genug,
damit Epikuros es begriffen hat. Gerade hier zeigt sich aber die Schlag-
kraft dieses Arguments, das zur Verteidigung der Ideenlehre konzipiert
worden ist, jedoch gerade auch zur Verteidigung einer holistischen
Sprachauffassung sehr dienlich ist. Wenn bestimmte Begriffe, wie der
der Gleichheit, als bekannt vorausgesetzt werden müssen, damit der
Prozeß der Begriffsbildung im einzelnen Menschen ablaufen kann,
dann können zumindest diese Begriffe nicht auf dem Weg dieser näm-
lichen Begriffsbildung gewonnen worden sein. Hierzu bedarf es entwe-
der einer apriorischen prÒlhyij, wie sie Platon vorschlägt, oder aber ei-
ner uns näher liegenden Auffassung, wonach die Sprache ein in sich ge-
schlossenes System ist, das nicht vom Menschen Wort für Wort her-
vorgebracht wird, sondern den Menschen in sich aufnimmt.

292
Vitae philosophorum X, 33, 1-3, Übers. O. Apelt.

326
Epikuros von Samos (342-271)
§ 267 Der Hintergedanke Epikuros’ ist aber ein noch sehr viel
weiter gehender. Er scheint eine ganz und gar reduktionistische
Sprachtheorie vertreten zu haben. Sextos Empeirikos stellt ihn zu-
sammen mit dem Aristoteliker Straton von Lampsakos, auf dessen
Philosophie wir nicht näher eingehen werden, als einen Leugner des
Bedeutungsgehalts von Begriffen dar. Während man gemeinhin von
einer Dreiheit von Bezeichnetem, materiellem Zeichen und dem
Bedeutungsgehalt desselben ausgehe, gingen diese nur von den er-
sten beiden aus:
oƒ d perˆ tÕn 'Ep…kouron kaˆ »Die aber gemäß Epikuros und
Str£twna tÕn fusikÕn dÚo mÒnon dem Physiker Straton (Denken-
¢pole…pontej den) behalten nur zwei davon
übrig, das Zeichen und das
Ding«293

Epikuros geht damit also letztlich davon aus, daß die Sprachentstehung
und Verwendung eine rein mechanische Angelegenheit sei. Es muß die
Sprachebene erst gar nicht geben. Was die e‡dwla als Begriffe erzeu-
gen, sind nicht Bedeutungsgehalte, sondern direkt Laute oder andere
materielle Zeichen. Sprechen ist so bloß eine ganz und gar kausale Re-
aktion auf das Affiziertwerden durch die Dinge. Aus dieser Perspektive
läßt sich jedoch nicht einmal von so etwas wie einem Begriff reden. Wir
haben ja dann überhaupt kein Kriterium mehr dafür, daß zwei getätigte
Äußerungen identisch sind. Die so hervorgebrachten Zeichen sind
dann vielmehr immer Unikate, denn sie sind Einzelheiten, zu denen es
kein Allgemeines geben kann.
§ 268 So wird verständlich, daß Epikuros keinerlei logischen Zu-
sammenhang zwischen Begriffen annehmen möchte. Ein Argument für
diese Auffassung der Sprache findet sich im Blick auf unsere natürliche
Verwendungsweise von Begriffen:
'Ep…kou[r]oj t¦ ÑnÒmat£ fhs[i]n »Epikuros sagt, daß die Namen
safšstera e nai tîn Órwn, kaˆ klarer sind als die Definitionen
mšntoi kaˆ gelo‹on e nai, e‡ tij ¢ntˆ und daß es wirklich lächerlich
toà e„pe‹n ‘Ca‹re Sèkratej’ lšgoi ist, wenn jemand anstelle von
‘Ca‹re zîion lo[g]ikÕn qnhtÒn’. „Sei gegrüßt Sokrates“ sagt, „Sei

293
Adversus mathematicos VIII, 13, 1-3

327
Epikuros von Samos (342-271)
gegrüßt denkendes und sterbli-
ches Lebewesen“.« 294

Das hierin vorgebrachte Argument läßt sich wie folgt rekonstruieren:


Epikuros sagt hier, daß die Definition notwendig etwas Nachrangiges sei
und man erst über die Empirie die Einzeldinge genau und klar kennen-
gelernt haben müsse, bevor man überhaupt eine Definition derselben
versteht. Das begründet er dadurch, daß er mit Hilfe eines Beispiels
zeigt, daß die Substitution einer Definitionen anstelle eines Eigenna-
mens in vielen Fällen dem Sprachgefühl zuwider läuft und als gelo‹on
bezeichnet werden muß. Demnach geht Epikuros hier davon aus, daß
Definitionen im Grunde überhaupt keine Rolle spielen. Die empirische
Ebene, der direkte Bezug zur Empirie ist für die Sprache das Wesentli-
che und alles Logische ist nachrangig. Zwar mag es so etwas wie Defini-
tionen geben, aber sie entstehen immer nur auf der Basis der Empirie
und können nur in Ausnahmefällen Sinn machen.
Man kann sich die Definitionen hierbei gewissermaßen als eine Me-
tasprache vorstellen. Ist die natürliche Sprache der Eigennamen bereits
eine Metaebene zu den Dingen und nur im Sonderfall der kommunika-
tiven Verwendung eines Dings für dieses substituierbar, so ist die Defi-
nition eine erneute Metaebene innerhalb der Sprache. Diese inner-
sprachliche Metaebene ist dann erneut nur in Spezialfällen, wie etwa
bestimmten philosophischen Diskursen überhaupt sinnvoll.
§ 269 Das Problem der dieser Argumentation Epikuros’ erkennt
man am leichtesten dadurch, daß man ihre theoretischen Hinter-
grundannahmen in Frage stellt. Epikuros geht hier in der Sprache von
einer Menge von Ebenen und klaren Anweisungen zur Trennung die-
ser Ebenen aus. Dieses Spiel von basalen Ebenen, deren Begriffe un-
mittelbar klar sein sollen, und Metaebenen, die alles Logische und De-
finitorische enthalten, schränkt die Flexibilität der natürlichen Sprache
jedoch unnötig ein. Die Grundfrage, die wir stellen müssen, um dies
einzusehen, ist die Frage nach dem Warum der Lächerlichkeit des
Grußes aus dem Beispiel des Epikuros’. Der zweite Gruß, ca‹re zîion
logikÕn qnhtÒn, ist nicht deswegen lächerlich, weil er eine Definition

294
Anonymi Commentarius in Platonis Theaetetum XXII, 39-47

328
Epikuros von Samos (342-271)
enthält, sondern deswegen, weil er schlicht in dieser Form ungebräuch-
lich ist. Die einzelnen verwendeten Begriffe können in ihrer als einzel-
ne oder in Verbindung in bestimmten Situationen durchaus den nor-
malen Sprachgebrauch treffen. Auch kann man sich vorstellen, daß sich
die Sprache so ändert, daß dieser Gruß zu etwas normalem wird und
nicht mehr lächerlich wirkt. An vielen Stellen ist ein ähnlicher über
Umwege konstruierter Gruß durchaus nicht lächerlich, wie beispiels-
weise »Sei gegrüßt, König von Sparta« anstelle von »Sei gegrüßt, Agesi-
laos«.
Um dem zu widersprechen müßte Epikuros annehmen, daß es ge-
nuin logische Begriffe gibt, die einen festgeschriebenen Sonderstatus
haben. Dazu aber braucht er etwas, was weit über unser hier vorgetra-
genes Verständnis des Platonismus hinausgeht und damit ganz und gar
über seinen platten Empirismus. Er braucht nämlich so etwas wie Ide-
en, die zugleich Teil der natürlichen Sprache sind. Wie sollten die logi-
schen Begriffe ansonsten per se in der natürlichen Sprache als solche
festgeschrieben sein. Die Sprache kann sich ja wandeln. Das eine mal
nennt man etwas so, das andere mal anders. Das ist auch bei logischen
Begriffen in der natürlichen Sprache nicht anderes. Nimmt man solche
konstanten Begriffe aber nicht an, dann bedarf es zumindest einer In-
stanz, die feststellen kann, was in der Sprache einer logischen Struktur
entspricht und was einen eher empirischen Bedeutungsgehalt hat. Eine
solche Fähigkeit aber, die wir hier allein dem Geist und damit der
Sprache selbst zuschreiben wollen, muß eine Fähigkeit des Verstandes
sein, die weit über alles hinaus geht, was Epikuros’ dem Menschen zu-
zuschreiben bereit ist.
Wir sehen also insgesamt, daß seine Kritik der logischen Strukturen
und deren Bedeutung in der Sprache einer ganzen Reihe von logischen
Strukturierungen bedarf, um eine dies leistende Theorie der Sprache
aufzustellen. Hier zeigt sich also erneut, wie zuvor so oft, daß der Re-
duktionismus, wenn man versucht, seinen Gedankengang auszuführen,
an irgend einer Stelle immer diejenigen Strukturen doch verwenden
muß, von denen er sich zu verabschieden versucht.

329
Inhaltsregister
Inhaltsregister
Philippos von Opus (420-345)
Ideen
§1 Mathematik als höchste Wissenschaft 13
§2 Das All als Gott und sich selbst erhaltendes System 15
§3 Die Verborgenheit der Ideen 16
Natur
i. Die mathematische Harmonie
§4 Die Mathematik als Grundlage der Naturformen 17
§5 Die Mathematik als das Gute in der Natur 18
ii. Die Ordnung der Natur und die Zwischenwesen
§6 Das Seelische 19
§7 Die fünf Elemente 20
§8 Menschen, Tiere und Pflanzen 21
§9 Götter und Dämonen 22
§ 10 Kritik der Wesenheiten 24
§ 11 Zwei produktive Interpretationen 25
§ 12 Ein Lösungsvorschlag zum corismÒj-Problem 26
§ 13 Kritik des Lösungsvorschlags 28
§ 14 Eine Kommunikationstheorie der Naturwesen 28
Geist
§ 15 Dämonen als Metapher für die Sprache 30
§ 16 Die Möglichkeit eines rein geistigen Wesens 31

Ekphantos von Syrakus (um 375)


Natur
§ 17 Atome als Monaden 33
§ 18 Die Welt als Schauspiel der Monaden 34
§ 19 Die Interpretation von Ekphantos 35

Speusippos von Athen (408-339)


Ideen
§ 20 Die obersten Prinzipien 38
§ 21 Zahlen statt Ideen 39
§ 22 Kritik an der Willkür der platonischen Ideenlehre 40

330
Inhaltsregister
§ 23 Das Eine als Eins 41
§ 24 Aristoteles’ Kritik an Speusippos 42
§ 25 Die Mathematik als Grundlage der Natur 42
Natur
i. Das Problem der Entstehung von Lebewesen
§ 26 Das Prinzip der Lebewesen ist unbestimmt 44
§ 27 Kritik an Speusippos 45
ii. Die ausgebildete Wahrnehmung
§ 28 Die wissenschaftliche Wahrnehmung 47
§ 29 Wie ist wissenschaftliche Wahrnehmung trotz der Auto-
nomie der Naturstufen möglich? 48

Xenokrates von Chalkedon (396-314)


Ideen
i.. Die Identifikation von Ideen und Zahlen
§ 30 Ideen und mathematische Gegenstände fallen in eins 50
§ 31 Kritik der Gleichsetzung von Zahl und Idee 52
ii. Die Form ist sich selbst ihre Form
§ 32 Lösung des Problems des Ideenkonstitutionsprogresses 53
Natur
i. Zahlen als Formen der Dinge
§ 33 Körper entstehen aus Materie und Zahl 54
§ 34 Die Seele als Zahl 55
ii. Der Bezug der Natur zum Ewigen
§ 35 Lebewesen haben einen Bezug zu den Ideen 57
Geist
§ 36 Der Geist hat keinen Sitz im Körper 58

Aristoteles von Stageira (384-322)


Ideen
i. Die Möglichkeit einer Ideenlehre bei Aristoteles
§ 37 Ideen bei Aristoteles 61
§ 38 Aristoteles’ Metaphysikbegriff 62
ii. Das Sein und seine kategorialen Hinsichten
§ 39 Das Sein und dessen Analogie 63

331
Inhaltsregister
§ 40 An-sich und Akzidenz 64
§ 41 Die Kategorien 65
§ 42 Sind die Kategorien Ideen? 67
§ 43 Die ersten vier Kategorien als Ideen 67
§ 44 Die Substanz als das Zugrundeliegende 68
§ 45 Die zweite Substanz als Art und Gattung 69
§ 46 Die Qualität als wesentlich und akzidentell 71
§ 47 Der ontologische Unterschied von Wesenseigenschaft
und Akzidenz 73
§ 48 Die Quantität als kontinuierlich und diskret 74
§ 49 Die Relationen 76
§ 50 Zusammenfassung der Kategorien 77
iii. Das Eine und die Formen der Übereinstimmung
§ 51 Die Analogie von Sein und Einem 78
§ 52 Die Kategorien des Einen 79
§ 53 Die Identität als substantielle Einheit 80
§ 54 Die Ähnlichkeit als qualitative Einheit 81
§ 55 Die Gleichheit als quantitative Einheit 82
§ 56 Alle Hinsichten des Einen sind Relationen 82
§ 57 Das Maß als Grundbedeutung des Einen 83
iv. Die Vielheit und die Gegensätze
§ 58 Die Arten der Vielheit 83
§ 59 Die Systematisierung der Gegensätze 84
§ 60 Die Relation als Gegensatz 87
§ 61 Der konträre Gegensatz 88
§ 62 Das konträre als Form des Vielen 90
§ 63 Der komplementäre Gegensatz 90
§ 64 Der Primat des Positiven im komplementären Gegensatz 92
§ 65 Kritik an Aristoteles’ Unumkehrbarkeitsthese 93
§ 66 Der kontradiktorische Gegensatz 94
§ 67 Das Widerspruchsprinzip als Grundlage der Metaphysik 95
§ 68 Die Kontradiktion als Form des Vielen 97
§ 69 Zusammenfassung der Gegensatzformen 99
v. Ein formales Argument gegen die Ideenlehre
§ 70 Das Problem der Ideen der Ideen 101

332
Inhaltsregister
vi. Der Unterschied von Möglichkeit und Notwendigkeit
§ 71 Möglichkeit und Notwendigkeit 102
§ 72 Die Wirklichkeit 104
§ 73 Möglichkeit im Verhältnis zur Wirklichkeit und
Notwendigkeit 105
vii. Das höchste Wesen
§ 74 Die Ursache der Natur als reine Wirklichkeit 106
§ 75 Das höchste Wesen muß ohne Materie sein 107
§ 76 Das ewig Bewegte als Zwischenwesen 108
§ 77 Das höchste Wesen als unbewegten Beweger 109
§ 78 Der unbewegte Beweger als Vernunft 110
§ 79 Abteilung eines weiteren Prinzips 112
§ 80 Das aporetische Verhältnis des unbewegten Bewegers
zur Natur 112
viii. De divisione naturae
§ 81 Die drei Seinsbereiche 114
Natur
i. Die erste Materie
§ 82 Welches ist das Urelement? 115
§ 83 Materie entsteht nicht aus Ideen 116
§ 84 Die Unbestimmtheit der Materie 117
§ 85 Die erste Materie 118
§ 86 Materie ist nicht unendlich teilbar 119
§ 87 Materie als Individuationsprinzip 120
ii. Gibt es den Raum?
§ 88 Der Raum als Gefäß 121
§ 89 Alles muß an einem Ort sein 122
§ 90 Der Raum als Gefäß wechselnden Inhaltes 123
§ 91 Die Unabhängigkeit des Raumes von den Dingen 123
iii. Die Zeitlichkeit
§ 92 Zeit und Bewegung 125
§ 93 Zeit ist abhängig von Bewegung oder Bewußtsein 125
iv. Die Formen sind keine Ideen
§ 94 Aristoteles’ Kritik der Naturideen 127
§ 95 Aus den Ideen läßt sich nichts beweisen 127

333
Inhaltsregister
§ 96 Ideen tragen nichts zur Erklärung der Dinge bei 128
§ 97 Die Teilhabe als bloße Metapher 129
§ 98 Ideen müßten in den Dingen sein 129
§ 99 Ideen kann es nur von Wesen geben 130
§ 100 Kann Allgemeines wirklich sein? 132
v. Die Ursachenlehre
§ 101 Die vier Ursachen 133
§ 102 Das Zusammenfallen der causa formalis und der
causa finalis 136
§ 103 Das Zusammenfallen der causa formalis und der
causa efficiens 137
vi. Das Einzelding und seine Form
§ 104 Einzeldinge als Voraussetzung der allgemeinen Wesen 138
§ 105 Das Einzelding aus Materie und Form 139
§ 106 Die wesentliche Rolle der Form 141
§ 107 Die Form als Sosein und Einzelnes 142
vii. Das Werden der Einzeldinge
§ 108 Die Bedingung des Entstehens eines Einzeldings 143
§ 109 Die prinzipielle Entstehung von Naturwesen 144
§ 110 Die Entstehung durch Kunst 145
§ 111 Natur als Agent der Kunst 146
§ 112 Die Formen entstehen nicht 147
viii. Eine Theorie der Technik
§ 113 Was ist ein natürlicher Gegenstand 148
§ 114 Artefakte als Naturdinge 149
§ 115 Eine Definition des Unterschieds von Technik und Natur 150
ix. Die Teile des Einzeldings
§ 116 Aporie der Priorität des Teiles 151
§ 117 Begrifflicher und stofflicher Teil 151
§ 118 Teil und Ganzes bei Leib und Seele 153
§ 119 Die wesentlichen Teile sind stofflich und begrifflich
zugleich 154
x. Gibt es eine spezifische Materie?
§ 120 Das spezifische Material des Menschen 156
§ 121 Der funktionale Aspekt des Stoffes 157

334
Inhaltsregister
§ 122 Die Stufung der Materieebenen 158
§ 123 Der funktionale Charakter der spezifischen Materie 160
§ 124 Die Unabhängigkeit der Form von der Materie ihrer
Materie 161
xi. Die Verbindung von Form und Materie
§ 125 Die Einheit des Wesens liegt in keinem der Teile 162
§ 126 Abstrakte Prinzipien bilden nicht die Einheit eines
Naturwesens 163
§ 127 Dasselbe Prinzip könnte zu verschiedenen Einheiten
führen 163
§ 128 Die Form als das private Wesen 164
§ 129 Das private Wesen als ™nšrgeia 165
xii. Die Bestimmung des Wesens
§ 130 Die Form bestimmt die Artunterschiede 167
§ 131 Wesentlichkeit als Kriterium, zur Bestimmung des Art-
unterschieds 168
§ 132 Die Ortsungebundenheit des Wesens 169
§ 133 Kritik an Aristoteles’ Rettung des Ortsbegriffs in seiner
Rolle für die Bestimmung des Wesens 170
§ 134 Die Zustandsunabhängigkeit des Wesens 171
xiii. Die Einteilung der Naturwesen
§ 135 Die Definition als Ausgangspunkt der Einteilung 172
§ 136 Die ungenügende Differenziertheit eine dichotomischen
Einteilung 173
§ 137 Einteilungskriterium und Subeinteilungskriterium müssen
eine inhaltliche Abhängigkeit haben 175
§ 138 Eine dichotomische Einteilung, die Aristoteles’ Pro-
bleme vermeidet 176
§ 139 Das Problem der Artenvielfalt 177
§ 140 Ein anderer Zugang zu Artunterschieden 177
§ 141 Aristoteles’ Kritik an der Ordnung der Wesensmerkmale
realer Naturwesen 178
§ 142 Verteidigung der Ordnung der Wesensmerkmale 179
xiv. Gibt es Teleologie in der Natur?
§ 143 Die Regelmäßigkeit der Natur 180

335
Inhaltsregister
§ 144 Zielgerichtetes Handeln orientiert sich an der Natur 181
§ 145 Nachweis des Zwecks aus dem Mißlingen 183
xv. Die Grundkategorie der Natur
§ 146 Bewegung oder Form 184
§ 147 Die Formen der Bewegung 185
§ 148 Die Bewegung der Substanz 186
§ 149 Bewegung und Form bei den übrigen Kategorien 187
xvi. Die Ordnung der Elemente
§ 150 Lineare Bewegung und Kreisbewegung 188
§ 151 Der Äther als Element der Kreisbewegung 189
§ 152 Man muß keine Weltseele annehmen 191
§ 153 Alles entsteht aus den Himmelsbewegungen 193
§ 154 Das Problem der aristotelischen Naturalisierung 194
§ 155 Die positiven Aspekte des aristotelischen Reduktionismus 194
§ 156 Das Produkt der Himmelsbewegung 195
§ 157 Die Schwere und das geozentrische Weltbild 196
§ 158 Die Eigenschaften der Elemente 198
§ 159 Die Elemente aus den Eigenschaften bestimmt 199
§ 160 Der Übergang der Elemente ineinander 200
§ 161 Das irdische Abbild des Himmlischen 201
§ 162 Die Wirkung des Himmlischen auf das Irdische 202
§ 163 Vergleich von Aristoteles und Philippos 202
xvii. Die Elemente zwischen Materie und Organismen
§ 164 Materie als Beharrendes im Wechsel der Elemente 203
§ 165 Was ist organische Materie? 204
§ 166 Das Element des Organischen 206
§ 167 Die chemische Entstehung des organischen Materials 207
§ 168 Organisches Material besteht aus Materie und Struktur 208
§ 169 Materie und Form als Pole 208
§ 170 Der Begriff der Funktion 210
§ 171 Drei Naturstufen 211
§ 172 Die Funktionsabhängigkeit der Hände 212
§ 173 Ein kontinuierlicher Übergang zum Organischen 212
xviii. Der Wasserkreislauf
§ 174 Der Wasserkreislauf als anorganische Organismus 214

336
Inhaltsregister
§ 175 Die Bedeutung der anorganischen Kreisläufe für das
Organische 215
xix. Argumente gegen die Harmonielehre
§ 176 Jeder Körper hat seine eigene Seele 216
§ 177 Aristoteles’ Kritik des pythagoräischen Harmoniebegriffs 217
§ 178 Die Harmonie kann nichts bewegen 217
§ 179 Harmonie als Gesundheit 218
§ 180 Kann der Harmoniebegriff Wahrnehmung und Strebe-
vermögen erklären? 219
xx. Der Grundbegriff der Seele
§ 181 Die Seele als Form und ™ntelšceia 220
§ 182 Die Seele als Organ der Organe 223
§ 183 Aristoteles’ Herangehensweise von unten 223
§ 184 Die Abhängigkeit der Seele vom Körper 224
xxi. Die Nährseele
§ 185 Die Pflanzenseele als Nährseele 225
§ 186 Das Problem der Ernährung 227
§ 187 Die Assimilation 228
§ 188 Der Unterschied von Nährseele und Wasserkreislauf 229
§ 189 Was Aristoteles’ Pflanzenseele fehlt 231
§ 190 Fehlt der Pflanze eine Mitte? 232
§ 191 Kritik am Fehlen der Wahrnehmung 233
xxii. Die Pflanze im Unterschied zu Nährseele
§ 192 Eine andere Interpretation der fehlenden Mitte bei
Pflanzen 234
§ 193 Die Dezentralität der Pflanze 235
xxiii. Biologische Information
§ 194 Aristoteles’ Sicht der Fortpflanzung 237
§ 195 Samen als Informationsträger 239
§ 196 Samen als der Möglichkeit nach beseelt 240
xxiv. Die Sinnesseele
§ 197 Die Unabhängigkeit der Wahrnehmung vom Material 241
§ 198 Die Beschaffenheit des Sinnesorgans 242
§ 199 Sinnesseele als Naturstufe der Prokaryonten 243
§ 200 Die Verdauung als Wahrnehmung 244

337
Inhaltsregister
§ 201 Dekodierung als Zusammenfallen der Wirklichkeiten
von Sinn und Gegenstand 245
§ 202 Das Gehöhr nimmt das Verhältnis der Töne wahr 247
xxv. Der Gemeinsinn und die Seele des Tieres
§ 203 Die Vielfalt der Sinne und die Notwendigkeit einer
Einheit 248
§ 204 Der Gemeinsinn als Einheit und Vielheit der Sinne 249
§ 205 Wo findet sich der Gemeinsinn in der Natur? 251
§ 206 Gemeinsinn und Blutkreislauf 252
§ 207 Der Blutkreislauf als zentralisiertes System 253
xxvi. Das Strebevermögen
§ 208 Strebevermögen und Schmerzempfinden 255
§ 209 Innenwahrnehmung als Voraussetzung des Strebe-
vermögens 256
§ 210 Das Strebevermögen verlangt mehr als eine Tierseele 256
§ 211 Die Notwendigkeit des Nervensystems 257
§ 212 Die Stimme 258
xxvii. Das Vorstellungsvermögen
§ 213 Vorstellung als inneres Bild 260
§ 214 Die Vorstellung als zweite Wirklichkeit der Wahr-
nehmung 261
xxviii. Die soziale Welt der Tiere
§ 215 Kommunikation bei Tieren konstituiert eine Normebene 262
§ 216 Menschen haben eine zweistufige Normebene 263
§ 217 Vorstellung als Voraussetzung tierischer Kommunikation 264
xxix. Das Verhältnis der Seelenformen zueinander
§ 218 Die aristotelischen Naturstufen und ihr Verhältnis
zueinander 264
§ 219 Das Vergehen der Formstufe 266
§ 220 Niedrigere Formen sind um der höheren Willen da 267
§ 221 Die Hierarchie der Natur 268
§ 222 Die logische Herrschaft der höheren Ebene 268
§ 223 Handlung 269
§ 224 Die Handlung am Beispiel des Staates 270

338
Inhaltsregister
Geist
i. Der Unterschied von Wahrnehmung und Geist
§ 225 Die gemeinsame Eigenschaft von Wahrnehmung und
Denken 272
§ 226 Der Unterschied von Wahrnehmung und Denken 273
§ 227 Wahrnehmung kommt vor dem Denken 274
§ 228 Ein fehlender Sinn ist durch das Denken nicht ersetzbar 275
§ 229 Kritik an Aristoteles’ Vorstellung einer Abhängigkeit des
Denkens von der Wahrnehmung 277
ii. Der Selbständigkeit des Geist
§ 230 Die Geistseele als mit dem Körper unvermischt 277
§ 231 Die erste und zweite Wirklichkeit des Geistes 279
§ 232 Die doppelte Struktur des Denkens 280
iii. Der abgetrennte Geist
§ 233 Keine Trennung von Objekt und Subjekt 282
§ 234 Die Zweckgebundenheit des Denkens an das Konkrete 283
§ 235 Vergleich der göttlichen und menschlichen Vernunft 284
§ 236 Der Geist, der sich auf den Geist bezieht 285
§ 237 Kann der menschliche Geist den göttlichen erreichen? 286
iv. Die Sprache
§ 238 Zeichen und Vorstellung 287
§ 239 Kritik an Aristoteles’ Sprachatomismus 289
§ 240 Sprachzeichen als konsensabhängig 289
§ 241 Der noàj poihtikÒj als Sprache 291
v. Der Zusammenhang des Geistigen
§ 242 Erinnerung und Zusammenhang 292
§ 243 Erinnern als Schließen 293
vi. Die Erkennbarkeit der Einzelformen
§ 244 Die Unzugänglichkeit der konkreten Form 294
§ 245 Wie kann eine Erkenntnis des Einzelnen funktionieren? 295
§ 246 In einfachen Fällen könnten Allgemeines und Einzelnes
zusammenfallen 297

339
Inhaltsregister
Theophrastos von Eresos (370-285)
Ideen
§ 247 Die Charakteristika der obersten Prinzipien 298
§ 248 Kritik der mathematischen Ideenlehre 299
§ 249 Der Zugang zu den Prinzipien durch den Begriff Gottes 300
Natur
i. Das Verhältnis von Prinzipien und Natur
§ 250 Natur und Prinzipien sind kausal verbunden 301
§ 251 Kritik am Konzept des unbewegten Bewegers 303
§ 252 Kritik am Status der Kreisbewegung bei Aristoteles 304
§ 253 Die Aufgabe der Naturphilosophie 307
ii. Der Unterschied von tšcnh und Natur
§ 254 Die Definition des Natürlichen 308
§ 255 Auch das Künstliche ist natürlich 309
§ 256 Theophrastos’ systemtheoretische Einsichten 309
§ 257 Organische Maschinen 310
iii. Die Verwandtschaft von Mensch und Tier
§ 258 Mensch und Tier sind als Naturwesen gleich 312

Pyrrhon von Elis (360-270)


Geist
§ 259 Zeichen sind nicht wahrnehmbar 314
§ 260 Zeichen dürfen die Welt nicht nur verdoppeln 315
§ 261 Kritik der Repräsentationstheorie der Zeichen 317
§ 262 Zeichen setzen einen Zusammenhang voraus 317

Epikuros von Samos (342-271)


Ideen
§ 263 Dialektik und natürliche Sprache 319
§ 264 Muß man der naiven Wahrnehmung vertrauen? 321
Natur
§ 265 Die Gestaltunterschiede der Atome 322
Geist
§ 266 Von Sinnesdaten zu Begriffen 325
§ 267 Zweifel an der Existenz des Bedeutungsgehaltes 327

340
Inhaltsregister
§ 268 Die Unnatürlichkeit der Definitionen 327
§ 269 Die Untrennbarkeit von Empirie und Logik in der
Sprache 328

341
Literatur
Literatur
Das Literaturverzeichnis enthält ausschließlich Angaben zu den Quel-
len der Originaltexte. Für Übersetzungen ist jeweils der Übersetzer am
Ort des Zitates angegeben; so dies nicht der Fall ist wurden die Zitate
von mir übersetzt.

Aetios, De placitis reliquiae (Stobaei excerpta), ed. H. Diels, Doxogra-


Aetios
phi Graeci. Berlin: Reimer, 1879 (repr. De Gruyter, 1965)
Aristoteles Analytica priora et posteriora, ed. W.D. Ross, Aristotelis
Aristoteles,
analytica priora et posteriora. Oxford: Clarendon Press, 1964 (repr.
1968): 24a10-31b38, 71a1-100b17.
Aristoteles Categoriae, ed. L. Minio-Paluello, Aristotelis categoriae et
Aristoteles,
liber de interpretatione. Oxford: Clarendon Press, 1949 (repr.
1966): 3-45 (1a1-15b32)
Aristoteles De anima, ed. W.D. Ross, Aristotle. De anima. Oxford:
Aristoteles,
Clarendon Press, 1961 (repr. 1967): 402a1-435b25.
Aristoteles De caelo, ed. P. Moraux, Aristote. Du ciel. Paris: Les Belles
Aristoteles,
Lettres, 1965: 1-154 (268a1-313b22).
Aristoteles De generatione animalium, ed. H.J. Drossaart Lulofs, Ari-
Aristoteles,
stotelis de generatione animalium. Oxford: Clarendon Press, 1965
(repr. 1972): 1-204 (715a1-789b20).
Aristoteles De generatione et corruptione, ed. C. Mugler, Aristote. De
Aristoteles,
la génération et de la corruption. Paris: Les Belles Lettres, 1966:
314a1-338b19.
Aristoteles De interpretatione, ed. L. Minio-Paluello, Aristotelis cate-
Aristoteles,
goriae et liber de interpretatione. Oxford: Clarendon Press, 1949
(repr. 1966): 49-72 (16a1-24b9).
Aristoteles De juventute et senectute, de vita et morte, ed. W.D. Ross,
Aristoteles,
Aristotle. Parva naturalia. Oxford: Clarendon Press, 1955 (repr.
1970): 467b10-470b5.
Aristoteles De longitudine et brevitate vitae, ed. W.D. Ross, Aristotle.
Aristoteles,
Parva naturalia. Oxford: Clarendon Press, 1955 (repr. 1970):
464b19-467b9.

342
Literatur
Aristoteles De memoria et reminiscentia, ed. W.D. Ross, Aristotle.
Aristoteles,
Parva naturalia. Oxford: Clarendon Press, 1955 (repr. 1970): 449b4-
453b11
Aristoteles De motu animalium, ed. W. Jaeger, Aristotelis de animali-
Aristoteles,
um motione et de animalium incessu. Ps.-Aristotelis de spiritu li-
bellus. Leipzig: Teubner, 1913: 3-18 (698a1-704b2)
Aristoteles De partibus animalium, ed. P. Louis, Aristote. Les parties
Aristoteles,
des animaux. Paris: Les Belles Lettres, 1956: (639a1-697b30)
Aristoteles Historia animalium, ed. P. Louis, Aristote. Histoire des
Aristoteles,
animaux, vols. 1-3. Paris: Les Belles Lettres, 1964-1969 (486a5-
638b36)
Aristoteles Metaphysica, ed. W.D. Ross, Aristotle's metaphysics, 2 vols.
Aristoteles,
Oxford: Clarendon Press, 1924 (repr. 1970 [of 1953 corr. edn.]):
1:980a21-1028a6; 2:1028a10-1093b29.
Aristoteles Meteorologica, ed. F.H. Fobes, Aristotelis meteorologi-
Aristoteles,
corum libri quattuor. Cambridge, Mass.: Harvard University Press,
1919 (repr. Hildesheim: Olms, 1967): 338a20-390b22
Aristoteles Physica, ed. W.D. Ross, Aristotelis physica. Oxford: Cla-
Aristoteles,
rendon Press, 1950 (repr. 1966 (1st edn. corr.)): 184a10-267b26.
Aristoteles Topica, ed. W.D. Ross, Aristotelis topica et sophistici elen-
Aristoteles,
chi. Oxford: Clarendon Press, 1958 (repr. 1970 (1st edn. corr.)): 1-
189 (100a18-164b19)
Asclepius In Aristotelis metaphysicorum libros A-Z commentaria, ed.
Asclepius,
M. Hayduck, Asclepii in Aristotelis metaphysicorum libros A-Z
commentaria [Commentaria in Aristotelem Graeca 6.2. Berlin:
Reimer, 1888]: 1-452.
Cicero, De natura deorum, ed. U. Blank-Sangmeister, Stuttgart: Reclam
2003
Alexandria Stromata, ed. O. Stählin, L. Früchtel and U.
Clemens von Alexandria,
Treu, Clemens Alexandrinus, vols. 2, 3rd edn. and 3, 2nd edn. [Die
griechischen christlichen Schriftsteller 52(15), 17. Berlin: Akademie-
Verlag, 2:1960; 3:1970]
Laeritos Vitae Philosophorum, ed. H.S. Long, Diogenis La-
Diogenes Laeritos,
ertii vitae philosophorum, 2 vols. Oxford: Clarendon Press, 1964
(repr. 1966)

343
Literatur
Hippolytos, Refutatio omnium haeresium (= Philosophumena), ed. M.
Hippolytos
Marcovich, Hippolytus. Refutatio omnium haeresium [Patristische
Texte und Studien 25. Berlin: De Gruyter, 1986]
Lactantius, De opificio Dei , Patrologia Latina VI, ed. J.P. Migne, Paris
1844
Platon, Epinomis [Dub.] (fort. auctore Philippo Opuntio), ed. J. Bur-
net, Platonis opera, vol. 5. Oxford: Clarendon Press, 1907 (repr.
1967): St. II.973a-992e.
Platon, Timaeus, ed. J. Burnet, Platonis opera, vol. 4. Oxford: Claren-
Platon
don Press, 1902 (repr. 1968): St III.17a-92c.
Porphyrios, De abstinentia, ed. A. Nauck, Porphyrii philosophi Plato-
Porphyrios
nici opuscula selecta, 2nd edn. Leipzig: Teubner, 1886 (repr. Hil-
desheim: Olms, 1963): 85-269.
Empeirikos, Adversus mathematicos, ed. H. Mutschmann and J.
Sextos Empeirikos
Mau, Sexti Empirici opera, vols. 2 & 3 (2nd edn.). Leipzig: Teubner,
2:1914
Suidae lexicon,
lexicon ed. A. Adler, 4 vols. Leipzig: Teubner, 1928-1935
(repr. 1967-1971)
Theophrastos, De causis plantarum (lib. 1), ed. R.E. Dengler, Theo-
Theophrastos
phrastus. De causis plantarum, book one. Philadelphia: University
of Pennsylvania Press, 1927: 12-138.
Theophrastos, Metaphysica, ed. W.D. Ross and F.H. Fobes, Theo-
phrastus. Metaphysics. Oxford: Clarendon Press, 1929 (repr. Hil-
desheim: Olms, 1967): 2-38.
anonym Commentarius in Platonis Theaetetum (fort. auctore Eudoro
anonym,
Alexandrino) (P. Berol. inv. 9782), ed. H. Diels and W. Schubart,
Anonymer Kommentar zu Platons Theaetet (Papyrus 9782). Berlin:
Weidmann, 1905: 3-51.

344

Das könnte Ihnen auch gefallen