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[erschienen in: Hans Jürgen Scheuer/Justus von Hartlieb/Christina Salmen/Georg Höfner


(Hg.): Kafkas Betrachtung. Lektüren, Frankfurt a.M. 2003 (Peter Lang), S. 195-213.]

„Unglücklichsein

Als es schon unerträglich geworden war - einmal gegen Abend im November - und ich über
den schmalen Teppich meines Zimmers wie in einer Rennbahn einherlief, durch den Anblick
der beleuchteten Gasse erschreckt, wieder wendete, und in der Tiefe des Zimmers, im Grund
des Spiegels doch wieder ein neues Ziel bekam, und aufschrie, um nur den Schrei zu hören,
dem nichts antwortet und dem auch nichts die Kraft des Schreiens nimmt, der also aufsteigt,
ohne Gegengewicht, und nicht aufhören kann, selbst wenn er verstummt, da öffnete sich aus
der Wand heraus die Tür, so eilig, weil doch Eile nötig war und selbst die Wagenpferde unten
auf dem Pflaster wie wildgewordene Pferde in der Schlacht, die Gurgeln preisgegeben, sich
erhoben.
Als kleines Gespenst fuhr ein Kind aus dem ganz dunklen Korridor, in dem die Lampe noch
nicht brannte, und blieb auf den Fußspitzen stehn, auf einem unmerklich schaukelnden
Fußbodenbalken. Von der Dämmerung des Zimmers gleich geblendet, wollte es mit dem
Gesicht rasch in seine Hände, beruhigte sich aber unversehens mit dem Blick zum Fenster, vor
dessen Kreuz der hochgetriebene Dunst der Straßenbeleuchtung endlich unter dem Dunkel
liegenblieb. Mit dem rechten Ellbogen hielt es sich vor der offenen Tür aufrecht an der
Zimmerwand und ließ den Luftzug von draußen um die Gelenke der Füße streichen, auch den
Hals, auch die Schläfen entlang.
Ich sah ein wenig hin, dann sagte ich »Guten Tag« und nahm meinen Rock vom Ofenschirm,
weil ich nicht so halb nackt dastehen wollte. Ein Weilchen lang hielt ich den Mund offen,
damit mich die Aufregung durch den Mund verlasse. Ich hatte schlechten Speichel in mir, im
Gesicht zitterten mir die Augenwimpern, kurz, es fehlte mir nichts, als gerade dieser
allerdings erwartete Besuch.
Das Kind stand noch an der Wand auf dem gleichen Platz, es hatte die rechte Hand an die
Mauer gepreßt und konnte, ganz rotwangig, dessen nicht satt werden, daß die weißgetünchte
Wand grobkörnig war und die Fingerspitzen rieb. Ich sagte: »Wollen Sie tatsächlich zu mir?
Ist es kein Irrtum? Nichts leichter als ein Irrtum in diesem großen Hause. Ich heiße Soundso,
wohne im dritten Stock. Bin ich also der, den Sie besuchen wollen?«
2

»Ruhe, Ruhe!« sagte das Kind über die Schulter weg, »alles ist schon richtig.«
»Dann kommen Sie weiter ins Zimmer herein, ich möchte die Tür schließen.«
»Die Tür habe ich jetzt gerade geschlossen. Machen Sie sich keine Mühe. Beruhigen Sie sich
überhaupt.«
»Reden Sie nicht von Mühe. Aber auf diesem Gange wohnt eine Menge Leute, alle sind
natürlich meine Bekannten; die meisten kommen jetzt aus den Geschäften; wenn sie in einem
Zimmer reden hören, glauben sie einfach das Recht zu haben, aufzumachen und
nachzuschaun, was los ist. Es ist einmal schon so. Diese Leute haben die tägliche Arbeit
hinter sich; wem würden sie sich in der provisorischen Abendfreiheit unterwerfen! Übrigens
wissen Sie es ja auch. Lassen Sie mich die Türe schließen.«
»Ja was ist denn? Was haben Sie? Meinetwegen kann das ganze Haus hereinkommen. Und
dann noch einmal: Ich habe die Türe schon geschlossen, glauben Sie denn, nur Sie können die
Türe schließen? Ich habe sogar mit dem Schlüssel zugesperrt.«
»Dann ist gut. Mehr will ich ja nicht. Mit dem Schlüssel hätten Sie gar nicht zusperren
müssen. Und jetzt machen Sie es sich nur behaglich, wenn Sie schon einmal da sind. Sie sind
mein Gast. Vertrauen Sie mir völlig. Machen Sie sich nur breit ohne Angst. Ich werde Sie
weder zum Hierbleiben zwingen, noch zum Weggehn. Muß ich das erst sagen? Kennen Sie
mich so schlecht?«
»Nein. Sie hätten das wirklich nicht sagen müssen. Noch mehr, Sie hätten es gar nicht sagen
sollen. Ich bin ein Kind; warum soviel Umstände mit mir machen?«
»So schlimm ist es nicht. Natürlich, ein Kind. Aber gar so klein sind sie nicht. Sie sind schon
ganz erwachsen. Wenn Sie ein Mädchen wären, dürften Sie sich nicht so einfach mit mir in
einem Zimmer einsperren.«
»Darüber müssen wir uns keine Sorge machen. Ich wollte nur sagen: Daß ich Sie so gut
kenne, schützt mich wenig, es enthebt Sie nur der Anstrengung, mir etwas vorzulügen.
Trotzdem aber machen Sie mir Komplimente. Lassen Sie das, ich fordere Sie auf, lassen Sie
das. Dazu kommt, daß ich Sie nicht überall und immerfort kenne, gar bei dieser Finsternis. Es
wäre viel besser, wenn Sie Licht machen ließen. Nein, lieber nicht. Immerhin werde ich mir
merken, daß Sie mir schon gedroht haben.«
»Wie? Ich hätte Ihnen gedroht? Aber ich bitte Sie. Ich bin ja so froh, daß Sie endlich hier sind.
Ich sage ›endlich‹, weil es schon so spät ist. Es ist mir unbegreiflich, warum Sie so spät
gekommen sind. Da ist es möglich, daß ich in der Freude so durcheinander gesprochen habe
und daß Sie es gerade so verstanden haben. Daß ich so gesprochen habe, gebe ich zehnmal zu,
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ja ich habe Ihnen mit Allem gedroht, was Sie wollen. - Nur keinen Streit, um Himmels willen!
- Aber wie konnten Sie es glauben? Wie konnten Sie mich so kränken? Warum wollen Sie
mir mit aller Gewalt dieses kleine Weilchen Ihres Hierseins verderben? Ein fremder Mensch
wäre entgegenkommender als Sie.«
»Das glaube ich; das war keine Weisheit. So nah, als Ihnen ein fremder Mensch
entgegenkommen kann, bin ich Ihnen schon von Natur aus. Das wissen Sie auch, wozu also
die Wehmut? Sagen Sie, daß Sie Komödie spielen wollen, und ich gehe augenblicklich.«
»So? Auch das wagen Sie mir zu sagen? Sie sind ein wenig zu kühn. Am Ende sind Sie doch
in meinem Zimmer. Sie reiben Ihre Finger wie verrückt an meiner Wand. Mein Zimmer,
meine Wand! Und außerdem ist das, was Sie sagen, lächerlich, nicht nur frech. Sie sagen, Ihre
Natur zwinge Sie, mit mir in dieser Weise zu reden. Wirklich? Ihre Natur zwingt Sie? Das ist
nett von Ihrer Natur. Ihre Natur ist meine, und wenn ich mich von Natur aus freundlich zu
Ihnen verhalte, so dürfen auch Sie nicht anders.«
»Ist das freundlich?«
»Ich rede von früher.«
»Wissen Sie, wie ich später sein werde?«
»Nichts weiß ich.«
Und ich ging zum Nachttisch hin, auf dem ich die Kerze anzündete. Ich hatte in jener Zeit
weder Gas noch elektrisches Licht in meinem Zimmer. Ich saß dann noch eine Weile beim
Tisch, bis ich auch dessen müde wurde, den Überzieher anzog, den Hut vom Kanapee nahm
und die Kerze ausblies. Beim Hinausgehen verfing ich mich in ein Sesselbein.
Auf der Treppe traf ich einen Mieter aus dem gleichen Stockwerk.
»Sie gehen schon wieder weg, Sie Lump?« fragte er, auf seinen über zwei Stufen
ausgebreiteten Beinen ausruhend.
»Was soll ich machen?« sagte ich, »jetzt habe ich ein Gespenst im Zimmer gehabt.«
»Sie sagen das mit der gleichen Unzufriedenheit, wie wenn Sie ein Haar in der Suppe
gefunden hätten.«
»Sie spaßen. Aber merken Sie sich, ein Gespenst ist ein Gespenst.«
»Sehr wahr. Aber wie, wenn man überhaupt nicht an Gespenster glaubt?«
»Ja meinen Sie denn, ich glaube an Gespenster? Was hilft mir aber dieses Nichtglauben?«
»Sehr einfach. Sie müssen eben keine Angst mehr haben, wenn ein Gespenst wirklich zu
Ihnen kommt.«
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»Ja, aber das ist doch die nebensächliche Angst. Die eigentliche Angst ist die Angst vor der
Ursache der Erscheinung. Und diese Angst bleibt. Die habe ich geradezu großartig in mir.«
Ich fing vor Nervosität an, alle meine Taschen zu durchsuchen.
»Da Sie aber vor der Erscheinung selbst keine Angst hatten, hätten Sie sie doch ruhig nach
ihrer Ursache fragen können!«
»Sie haben offenbar noch nie mit Gespenstern gesprochen. Aus denen kann man ja niemals
eine klare Auskunft bekommen. Das ist ein Hinundher. Diese Gespenster scheinen über ihre
Existenz mehr im Zweifel zu sein, als wir, was übrigens bei ihrer Hinfälligkeit kein Wunder
ist.«
»Ich habe aber gehört, daß man sie auffüttern kann.«
»Da sind Sie gut berichtet. Das kann man. Aber wer wird das machen?«
»Warum nicht? Wenn es ein weibliches Gespenst ist z. B.«, sagte er und schwang sich auf die
obere Stufe.
»Ach so«, sagte ich, »aber selbst dann steht es nicht dafür.« Ich besann mich. Mein Bekannter
war schon so hoch, daß er sich, um mich zu sehen, unter einer Wölbung des Treppenhauses
vorbeugen mußte. »Aber trotzdem«, rief ich, »wenn Sie mir dort oben mein Gespenst
wegnehmen, dann ist es zwischen uns aus, für immer.«
»Aber das war ja nur Spaß«, sagte er und zog den Kopf zurück.
»Dann ist es gut«, sagte ich und hätte jetzt eigentlich ruhig spazierengehen können. Aber weil
ich mich gar so verlassen fühlte, ging ich lieber hinauf und legte mich schlafen.“

Kafkas Gespenst. Vom Unglück der Lektüre

„Denn mein Unglück ist ein schwankendes Unglück und berührt man es, so fällt es auf den Frager:“
Franz Kafka (Belustigungen)

„Tritt rasch ein, denn ich fürchte mich vor meinem Glück“
Pierre Klossowski (Die Gesetze der Gastfreundschaft)

Wird im folgenden von etwas anderem als dem Unglück der Lektüre die Rede sein können?
Die Lektüre - schon beginnt sie, sich selbst zu thematisieren, schon entfernt sie sich von dem,
was zu lesen ihr aufgegeben wurde - fügt sich dem Unglücklichsein direkt an. Bereits durch
ihre bloße Position teilt sie uns mit, daß sie aus dem gelesenen Text natürlich und notwendig
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hervorgeht. Sie inszeniert sich als close reading: als wäre sie nahe am Gelesenen, als würde
sie dieses aufgreifen, forttragen und wieder auf sich zurück beziehen. Erst die Lektüre ließe
den Text zu sich selbst kommen. Dem Verhältnis von Gelesenem und Lektüre wird ein Schein
von Nähe und geglückter Kommunikation verliehen, der uns skeptisch stimmen sollte. Als
Gastgeber, die Kafkas Text in ihrem Lesezimmer empfangen, werden wir ständig in der
Gefahr schweben, die Gebote der Gastfreundschaft zu mißachten. Als Gäste im Text
verwandeln wir uns demgegenüber nur zu leicht in Parasiten.
Die räumliche Nähe ist so groß, daß der Text und seine Lektüre optisch zu verschmelzen
drohen. Um sich überhaupt von ihm zu unterscheiden, muß das Protokoll des Lesers das
Gelesene in Anführungszeichen setzen; diese rahmenden, zugleich trennenden und
verbindenden Anführungszeichen überführen den Text in die Bewegung des Gelesen-
Werdens, bringen ihn auf einen Kurs, kursivieren1 ihn. Erst vor dem Hintergrund des in eine
Schräglage gestellten Gelesenen vermag sich die Lektüre selbst als Text aufzurichten. Doch
wird der Unterschied zwischen dem Gelesenen und der Lektüre vielleicht nur deshalb
markiert, um ihn anschließend wieder aufheben zu können? Bevor wir hier ganz explizit zu
lesen beginnen, haben wir bereits gelesen, sind im Text als dessen in den Anführungszeichen
verborgene Schräge, die ihrer Begradigung harrt, präsent. Glücklich enthält die Lektüre schon
vor ihrem Anfang, was zu lesen ihr erst aufgegeben wurde. Sie empfiehlt sich dem geneigten
Leser durch ihre Position als gelungene und vollständige Auslegung des Textes. Im Vorhinein
geben wir den Text selbst zu lesen, an dem sich unsere Lektüre unmittelbar bewahrheiten soll.
Wort für Wort übersetzen wir, eignen an, setzen den Gast gefangen. Doch erst in der Distanz
könnte der Gast wirklich Gast sein, erst wenn wir von ihm abließen, würden wir lesen können.
Die Gesetze der Gastfreundschaft und der Lektüre leben von der Möglichkeit ihrer
Übertretung. Dieser Möglichkeit des Scheiterns der Kommunikation zwischen Gast und
Gastgeber durch eine Relation der Unmittelbarkeit, durch ein Zuschütten aller trennenden
Gräben, vorbeugen zu wollen, würde jede Kommunikation im vorhinein unterbinden. Gerade
als allzu geglückte würde eine Lektüre des Unglücklichseins mißglücken. „Wenn die
Beziehung glückt, perfekt, optimal, unmittelbar, dann hebt sie sich als Beziehung auf. Wenn

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Verwandelt diese verborgene Kursivierung unseren Text nicht auch in einen kursus, in eine Rennbahn, auf der
wir Leser endlose Runden drehen werden, ohne an ein Ziel zu kommen? In einen ebenso endlosen Kurs,
als dessen Teilnehmer wir am Ende eingestehen müssen, daß wir nichts gelernt haben? In einen circus,
einen abgezirkelten, außeralltäglichen Ort, der nicht nur als Renn- sondern auch als Schauplatz gelten
kann, als Schaubühne seiner eigenen undarstellbaren Darstellung? In einen „Dis-cursus - das meint
ursprünglich die Bewegung des Hin-und-Her-Laufens, das ist Kommen und Gehen, das sind »Schritte«,
»Verwicklungen«“ (Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a.M. 1988, S. 15)?
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sie da ist, existiert, so weil sie mißlungen ist.“2 Einen Text zu lesen, der, wie wir sehen
werden, sein Unglücklichsein mit sich, seine Unangemessenheit an sich selbst thematisiert,
kann nur bedeuten, daß sich auch die Lektüre ihre Unangemessenheit, ihre konstitutive
„Ferne“ zum Text, bewußt zu halten hätte. Auch die Lektüre überkommt ein Unglücklichsein,
ein Bewußtsein falscher Distanz, zu großer Nähe und zu großer Ferne. Sich zunächst selbst
lesend, sich damit vom zu lesenden Text fortschreibend, findet sich die Lektüre schon in
ihrem Anfang in der Gefahr einer doppelten Unangemessenheit vor: einer Unangemessenheit
an den Kafkaschen Text und damit auch an sich selbst. Nur im ständigen Bewußtsein dieser
doppelten Unangemessenheit, vermöchte sie dem Text, welchem sie doch so fern steht, näher
zu kommen, ohne ihn um sein Eigenes zu bringen. Im unmöglichen Versuch, die richtige
Distanz zu wahren, wird die Lektüre, wenn schon nicht zum getreuen Abbild, so doch zum
Echo oder Gespenst des Textes, ein unscharfes Nachbild oder spectrum, gebrochen im selbst
schon brüchigen Medium des Gelesenen. So wie die Lektüre ein Gespenst des Textes ist,
verwandelt sie umgekehrt den Text in ein Gespenst der Lektüre, wird auch ihn in ein
spectrum3 zerlegen, in eine Sequenz isolierter Farben, aus denen sich das ursprüngliche Bild
nicht mehr rekonstruieren läßt.
Doch lesen wir, stürzen wir uns kopfüber ins Unglücklichsein.4 Der Text, so scheint uns der
Titel anzudeuten, handelt vom Unglücklichsein, von einem Zustand. Das Unglücklichwerden
interessiert den Text nicht. Er liefert keine Anleitung zum Unglücklichsein, die zumindest
noch ex negativo an der Möglichkeit eines Glückes partizipieren würde. Dem Unglück, von
dem wir lesen werden, fehlt jede Vorgeschichte, kein Initialereignis, keine Erfahrung einer
Abwesenheit von Garanten des Glücks steht in Relation zu diesem Unglücklichsein. Es hat
nicht nur keine Ursache (Unglücksgüter oder Unglücksbedingungen), sondern auch kein
Subjekt. Niemand (der Erzähler stellt sich später selbst als Soundso vor, als nicht weiter
wichtiger Protagonist einer nicht ganz bei sich seienden Erzählung) fungiert eindeutig als
Subjekt des Unglücks. Das Urteil S ist unglücklich würde bereits eine Trennung von Subjekt

2
Michel Serres: Der Parasit. Frankfurt a.M. 21984. S. 120.
3
In seiner Farbenlehre verwendet Goethe das Substantiv Gespenst häufig als Synonym für das optische
spectrum: „kehren wir dagegen das geöffnete Auge nach einer Wand und betrachten das uns
vorschwebende Gespenst [...].“ Johann Wolfgang von Goethe: Zur Farbenlehre. In: Goethes Werke.
Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. II Abteilung:
Naturwissenschaftliche Schriften. 1. Band. Zur Farbenlehre, Didaktischer Teil. Weimar 1890. S. 9.
4
Wie ein Schwimmer vom Beckenrand stürzen auch wir uns nun in ein dichteres Medium, das unsere Bewegung
jäh hemmen, uns in eine andere Zeitordnung versetzen wird, in ein Zeitlupentempo. Doch wer garantiert
uns, daß das Wasser nicht zurückweicht, daß wir nicht auf dem Boden aufschlagen: „zieht doch der
Leser mit seinen Gedanken [...] mitten durch das Buch, wie einmal die Juden durch das rote Meer“.
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und Prädikat, von demjenigen, der unglücklich ist, und seinem Unglück selbst implizieren und
somit die Erstreckung des Unglücklichseins einschränken. Unglücklichsein, ohne jede weitere
Bestimmung, erscheint als ab-solutes, von allen Kontexten losgelöstes Unglücklichsein. Der
Titel kündigt keine Geschichte an, da jede Geschichte ein Geschehen entwickeln würde.
Unglücklichsein wäre aber bereits das Resultat eines Geschehens, sein Ende. In der Sequenz
des Buches steht das Unglücklichsein nicht zufällig an letzter Stelle. Nach dem Ende, nach
ihrem eigenen Ende, setzt diese Erzählung ein und wird somit zu ihrem eigenen Gespenst.
Als es schon unerträglich geworden war, beginnt der Text. Ein Geschehen, über das wir
nichts erfahren werden, hat seinen Höhepunkt längst überschritten. Wir befinden uns in einer
Nachzeit. Das Als markiert allerdings auch einen Beginn: den Beginn der Nachzeit, gerade als
es unerträglich geworden war, beginnt etwas. Da wir uns schon im Unerträglichen befinden,
könnte das, was jetzt folgen wird, nur noch unerträglicher als das Unerträgliche sein; schon
weist darauf hin, daß es - was anders als das Unglücklichsein? - in der gleichen Richtung
weiter läuft, daß ein noch mehr an Unglück bevorsteht. Die Interjektion - einmal gegen Abend
im November - situiert das Unglücklichsein in nicht sehr bestimmter Weise: einmal,
irgendwann, wir haben den genauen Termin vergessen, an einen nicht weiter
hervorstechenden, aber doch einmaligen Datum, gegen Abend, der Tag neigt sich dem Ende
entgegen, ein Tag, an dem sich die Unerträglichkeit bis zu ihrem Maximum gesteigert hat, im
November, dem Monat der Dämmerung, in dem auch das Jahr sich seinem Ende entgegen
neigt, im per se trüben, melancholischen Monat.
In die Unerträglichkeit und das Unglück eines Novemberabends gesellt sich nun zu uns
Lesern ein ich, ein Erzähler. Doch dieser stellt sich nicht einfach in den Novemberabend,
sondern läuft gleich über den schmalen Teppich seines Zimmers wie in einer Rennbahn
einher, nimmt uns, die wir mit unseren Augen die Zeilen entlangeilen, um an ihrem Ende zu
wenden (häufig nur, um noch einmal mit der gleichen Zeile von vorn zu beginnen), dabei an
der Hand, läßt uns an einer Bewegung teilhaben, welche sowohl die des Erzählers ist, als auch
diejenige des von ihm erzählten Textes. Nicht auf, sondern in einer Rennbahn, nicht auf,
sondern in dem Erzählten drehen wir im folgenden unsere Runden.5

Franz Kafka: Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hg. v. Malcolm Pasley.
Frankfurt a.M. 1993. S. 48.
5
Bereits Robert Musil, einer der ersten Leser der Kafkaschen Betrachtung, gerät im Zuge seiner Lektüre auf
diese Kreisbahn. Musil findet in Kafkas Sätzen „etwas von der gewissenhaften Melancholie, mit der ein
Eisläufer seine langen Schleifen und Figuren ausfährt.“ Robert Musil: Franz Kafka. In: ders.:
Literarische Chronik [August 1914]. In: ders.: Gesammelte Werke. Prosa und Stücke, Kleine Prosa,
Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg
1978. S. 1468-1469. Hier: S. 1468.
8

In einem schmalen Zimmer seine Kreise ziehend, umrundet der Erzähler eine Rennbahn.6 Er
tritt auf - in Der Verschollene bildet die Rennbahn in Clayton den Vorraum des Naturtheaters
von Oklahoma, von dem sich Karl den Anfang einer anständigen Laufbahn7 verspricht - ,
indem er in eine kreisförmige Bahn eintritt, die weder Anfang noch Ende kennt. Diese
Rennbahn, deren Kurs wir mit dem Erzähler folgen, wollen wir als diejenige seines eigenen
Textes lesen. Wie der Erzähler folgt auch der Text keinem Ziel. Beide haben jede mögliche
Ziellinie längst überschritten und können gerade deshalb nicht mehr anhalten. Sie kreisen um
ihre eigene leere Mitte.
Auf dem Weg zum Fenster wird der Erzähler durch den Anblick der beleuchteten Gasse
erschreckt, so daß er wendet. Das amorphe Draußen, das Leben auf der Gasse8, wirft ihn
zurück, läßt ihn nach innen fliehen. Die Schrecken der Welt jenseits der Rennbahn treiben die
Bewegung auf der Rennbahn an, ja, die Fluchtbewegung auf der Rennbahn umreißt und
errichtet allererst die Grenzen jenes Innenraumes, in den der Erzähler und seine Erzählung zu
fliehen trachten. Die Konstitution dieser Innenraumes vollzieht sich, systemtheoretisch

6
Die Texte der Betrachtung scheinen das Rennen als Bewegungs- bzw. Verlaufsform zu favorisieren. Die Kinder
auf der Landstraße bekommen in die Beine einen Galopp wie niemals; während des plötzlichen
Spaziergangs beantworten die Glieder die schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit
besonderer Beweglichkeit und tragen den Erzähler die langen Gassen hin; auf dem Nachhauseweg
maschiert er und sein Tempo ist das Tempo dieser Gassenseite, dieser Gasse; die Vorüberlaufenden
laufen so schnell, daß man nichts Konkretes über sie sagen kann; der Fahrgast ist vollends Passagier,
Bewohner eines „Nichtortes“ reiner Übergängigkeit, der ihn unsicher in bezug auf seine Stellung in
dieser Welt macht; in der Abweisung huscht ein schönes Mädchen so schnell vorbei wie die Passantin im
berühmten Gedicht Baudelaires: Un éclair...puis la nuit! (Vgl. Charles Baudelaire: A UNE PASSANTE.
In: Ders.: Sämtliche Werke/Briefe. Hg. v. Friedhelm Kemp et al. Bd. 3. Les Fleurs du Mal/Die Blumen
des Bösen. München/Wien 1975. S. 244). Erst recht die Herrenreiter reiten, auch wenn dem Sieger eine
Verlustrechnung aufgestellt wird, um die Wette; die Indianer schließlich reiten so schnell, daß sich
ihnen die Welt auflöst. Die Texte gebärden sich wie Rasende, wie Mänaden. Sie scheinen sich selbst
fliehen, nicht bei sich selbst stehen bleiben zu wollen. Um nicht stillgestellt werden zu können, beginnen
sie zu rasen, sich zu überschlagen, in reine Übergängigkeit aufzugehen bzw. (in) nicht(s) mehr
aufzugehen. Das unterscheidet einen Zyklus wie die Betrachtung etwa von den Tableaux Parisiens
Baudelaires, die sich bemühen, Übergänge klassizistisch auf Dauer zu stellen, sie einzurahmen und zu
beherrschen.
7
Franz Kafka: Der Verschollene. In: ders.: Kritische Ausgabe. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt a.M. 1983. S.
388 - In seinem Sonett Abend vergleicht bereits Andreas Gryphius das Leben mit einer Rennbahn: Diß
Leben kommt mir vor alß eine renne bahn. Die vergebliche Bewegung des Lebens wird bei Gryphius
angetrieben von pracht, lust und angst. Aus eigener Kraft vermag der Mensch nicht, aus der zirkulären
Analytik seiner Endlichkeit auszuscheren; erst Gott könnte ihn am letzten Abend, auf der letzten Runde,
aus dem thal der Finsternuß zu sich hinaufreißen. (Andreas Gryphius: Abend. In: Werke I. Sonette. Das
Zweite Buch. 1650. Hg. v. Marian Seyrocki u. Hugh Powell. Tübingen 1963. S. 66).
8
Drei Texte zuvor, in Das Gassenfenster, gilt das Leben unten dem einsamen Betrachter noch als Arm, an dem
er sich halten könnte und das Fenster erscheint als Einfallstor der menschlichen Eintracht. Doch wird
diese positive Konnotation sofort dadurch gebrochen, daß das Fenster, die Eintracht in eine ästhetische
Distanz rückt. Als Beobachter ist der Erzähler immer schon verlassen, immer schon vom Draußen
getrennt, welches er literarisch ins Bild bringt. - Wieder rufen sich die Tableaux Parisiens in
Erinnerung, insbesondere das Mansardenfenster in Paysage, durch das der Dichter während der
Dämmerung auf die Straßen schaut, die Vorhänge und Läden anschließend dicht schließt, um so erst
9

gesprochen, als Ausschluß einer überkomplexen Umwelt, als Ausgrenzung jeder Andersheit,
die nur noch als Bedrohung der inneren Ordnung wahrgenommen wird. Weder Erzähler noch
Text vermögen die Schwellen ihrer Innenräume zu überschreiten, beide werden zu
Gefangenen ihrer selbst: kein Anderer, mit dem der Erzähler in Kommunikation stünde, kein
Textexternes, auf das hin sich die Erzählung beziehen ließe. Die erzählerische Ordnung des
Unglücklichseins bleibt eine Ordnung der Immanenz. Sie steht für eine Welt ohne Alterität,
die insofern selbst ganz im Anderen steht, sich selbst gänzlich fremd wird. Die Flucht in die
Immanenz, in den hermetischen Innenraum des Erzählers9 und des Textes, beschreibt eine
tragisch-vitiöse Kreisbahn, da gerade der Versuch, das Fremde zu fliehen, die Fliehenden um
ihr Eigenes bringt. Nur dasjenige, was geflohen wird, so läßt der Text bereits an dieser Stelle
ahnen, vermöchte die Flucht zu beenden: als Kehrseite der Flucht gibt sich ein Begehren zu
erkennen, das sich auf die Ursache der Flucht selbst richtet, auf das Draußen.
Nach seiner ersten Wendung bekommt der Erzähler in der Tiefe des Zimmers, im Grund des
Spiegels doch wieder ein neues Ziel. Vom Licht der Gasse in die Dunkelheit des Zimmers
zurückgeworfen, stoßen die Bewegungen des Ichs und seiner Erzählung auf einen Spiegel.
Dieser Spiegel in der Tiefe des Zimmers kann nichts anderes zeigen, als das Bild des
Erzählers selbst, der auf sich zuläuft, sowie das Fenster, durch welches das Licht der Gasse
fällt, um das Ich nun auch von der anderen Seite des Raumes, aus dem Spiegel heraus, auf
seine Kreisbahn zurückzuwerfen. Spiegel und Fenster bilden die Pole, zwischen die sich die
Textbewegung spannt. Der Spiegel wiederholt das Fenster, da er dessen Licht reflektiert, das
Fenster wiederholt den Spiegel, da es den Raum der Erzählung eher abschließt, als daß es ihn
auf ein Außen hin öffnen würde, er erweitert (und schließt) den Raum, die Rennbahn, das
Stadion, Lacan antizipierend, zu einem stade du miroir. Intransparent gegenüber der Welt,
durchlässig nur für ein bedrohlich diffuses Licht, das von einem ebenso bedrohlichen und
diffusen Draußen zeugt - die ganze Szene spielt an einem Novemberabend, in der
Dämmerung, die alle Grenzen aufhebt, den Dingen ihren Dingcharakter nimmt und das Ich
mit Dämmerungsangst schlägt - , spiegelt das Fenster den ihm gegenüberliegenden Spiegel,
setzt Erzählung, Erzähler und Leser - doch wer vermöchte zu unterscheiden? - gefangen im

wirklich sehen zu können. (Vgl. Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal/Die Blumen des Bösen. A.a.O.
S. 220).
9
„Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich. Diese Tatsache kann man sogar durch das Gehör nachprüfen. Wenn
einer schnell geht und man hinhorcht, etwa in der Nacht - wenn alles ringsherum still ist, so hört man
z.B. das Scheppern eines nicht genug befestigten Wandspiegels“. - Franz Kafka: Oktavheft B. In: ders.:
Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente I. A.a.O., S. 310.
10

Grabe der Identität eines textuellen Spiegelstadiums, einer „Identität“10 des Textes, der sich in
einen geschlossenen Raum stellt, der das amorphe Draußen flieht, der nichts anderes ist als
die narzißtische Flucht in das Gefängnis seines eigenen Innenraumes. Doch auch aus dem
Textinnenraum, aus dem Spiegel, scheint das amorphe Licht des Draußen. Jede
Selbstabschließung mißlingt.11 Was sich zu lesen gibt, bringt sich, indem es sich unablässig
auf sich selbst bezieht, um genau die Geschlossenheit, die es erschreiben wollte. Der Text
selbst beginnt zu dämmern, in einer reinen Übergängigkeit zu zergehen, die jede
Unterscheidung von innen und außen bedroht.
Ganz in sich zurückgenommen, hält sich die Erzählung selbst nicht aus. Nachdem sich der
Kreis geschlossen hat - wir wissen nicht, zum wievielten Male -, schreit der Erzähler auf, um
etwas zu hören, um die verlorene Alterität zurückzugewinnen. Der Schrei soll alle Spiegel
springen lassen. Als reiner, bedeutungsloser Ausdruck ruft er nach einem Anderen, will gehört
werden und setzt sich gleichzeitig an die Stelle jeder möglichen Antwort, nimmt die Antwort
des Anderen vorweg und schließt ihn dadurch gerade aus. Der Erzähler versucht sich in der
Ekstasis des Schreis selbst ein Anderer zu sein, er schreit, um sich etwas anderes zu hören zu
geben. Doch dem Schrei antwortet nichts, er zeugt von absoluter Einsamkeit, absoluter
Internität. Der Schrei, ein zum äußersten gesteigerter Ausdruck des Begehrens, gehört zu
werden, kündet gleichzeitig von dem Bewußtsein, daß er nicht gehört werden wird. Aus dem
Schrei, dem nichts antwortet und dem auch nichts die Kraft des Schreiens nimmt, der also
aufsteigt, ohne Gegengewicht, und nicht aufhören kann, selbst wenn er verstummt, entspringt
der gesamte nun folgende Text. Bereits dieser erste, sehr lange Satz der Erzählung scheint,
wie der Schrei, nicht enden zu wollen.
Der Schrei bleibt echolos. Er stößt auf keinen Widerstand und wird somit endlos, ein
stillgestellter Augenblick höchster Ekstase und höchsten Unglücklichseins: Ekstase ohne Ex-,
ohne Außen, bloße Stase; ein Schrei, wie ihn vorher vielleicht ganz ähnlich Edvard Munch ins

10
Erinnert sei an jene vier Fragen, die Jacques Derrida seiner Lektüre von Vor dem Gesetz vorangestellt hat: Hat
der Text eine Selbstidentität, Singularität und Einheit? Hat der Text einen Autor? Gibt es im Text
Erzählung und gehört diese Erzählung zu dem, was wir Literatur nennen? Was ist ein Titel? - Diese
Fragen zu durchdenken, geben Kafkas Texte auf. Sie zitieren die Literatur vor ihr eigenes Gesetz: „Aber
ist es nicht für jede Literatur statthaft, über die Literatur hinauszugehen? Was wäre eine Literatur, die
nur das wäre, was sie ist, Literatur? Sie wäre nicht mehr sie selbst, wenn sie sie selbst wäre.“ (Jacques
Derrida: Préjugés. Vor dem Gesetz. Wien 1992. S. 87).
11
Von nichts anderem zeugt die Philosophie der Moderne, die Philosophie Hegels und Schellings. Letzterer
schreibt: „Nicht das in sich hinein, das außer sich Gesetztwerden ist dem Menschen Noth. Eben durch
das in sich selbst Hineingehen ist er zuerst um das gekommen, was er seyn sollte.“ (F.W.J. Schelling:
Ueber die Natur der Philosophie als Wissenschaft (1821). In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Hg. v.
Manfred Frank. Bd. 4. 1807-1834. Frankfurt a.M. 1985. S. 392). Unglücklich wird aus der Sicht Hegels
11

Bild gebracht hatte. Da der Schrei nicht aufhören kann, bleiben wir von nun an im Schrei, der
ganze folgende Text schreibt sich aus dem Schrei heraus, ohne ihn je verlassen zu können.
Der Schrei wird zum ausschließlichen Inhalt des Textinnenraums, der Text zum Inneren des
Schreis. Dort innen befinden wir uns, mitten im Zimmer, mitten im Text, mitten im Schrei.
Dort innen öffnete sich aus der Wand heraus die Tür, wird vom Schrei eine Tür geöffnet. Aus
dem Zentrum des Schreis heraus tut sich ein Riß auf. Das aufs äußerste verdichtete
Unglücklichsein scheint sich öffnen, sich überschreiten zu wollen. Neben Fenster und Spiegel
tritt eine dritte räumliche Marke, eine Tür, durch die der in sich abgeschlossene Raum des
Unglücks betreten oder verlassen werden könnte.
Weil die Krise schon ihren Höhepunkt erreicht hat, weil es schon unerträglich geworden war,
öffnet sich die Tür so eilig, weil doch Eile nötig war. Die Tür, die sich öffnet, erschüttert die
Ordnung der Erzählung, erschüttert die Natur der erzählten Welt. Ein Wunder scheint
bevorzustehen, eine Epiphanie kündigt sich an, da selbst die Wagenpferde unten auf dem
Pflaster wie wildgewordene Pferde in der Schlacht, die Gurgeln preisgegeben, sich erhoben.
Die Wagenpferde geben in Erwartung ihres möglichen Todes ihre Gurgeln preis, sie
kapitulieren im Moment höchster Dramatik, in dem sie sich zu wildgewordenen Pferden in
der Schlacht verwandeln. Die Pferde wiederholen das bisher Erzählte invers. Im Moment
höchster Intensität erheben sie sich aus einer Erstarrung zu einem bewegten Agon, der
augenblicklich wieder in Agonie umschlägt; sie erheben sich, um zu kapitulieren, während die
Geschichte bereits kapituliert hat, um sich aus dem Zentrum ihrer Kapitulation heraus zu ihrer
höchsten negativen Intensität zu erheben. Die Stimmung des Erzählers bestimmt das
Geschehen „draußen“ vollständig. Wie im Traum verschwimmen auch hier die Grenzen
zwischen Träumer und Geträumtem; die den Erzähler umgebende Welt wird als die Welt
seiner Erzählung explizit gemacht; beide sind bis zur Ununterscheidbarkeit verwoben. Der
Erzähler, der seine Erzählung ist, kann sich wie der Träumer nur als unfrei erfahren, als
unfähig zur Handlung im emphatischen Sinne. Kafkas Erzähler erleidet sich selbst.
Etwas Überirdisches steht bevor, ein Wunder oder Ereignis, das auch die Natur „draußen“
mitbetrifft. Eine andere, außeralltägliche Ordnung kündigt sich an. Doch was erscheint?
Welcher Besucher betritt unseren Text? Als kleines Gespenst fuhr ein Kind aus dem ganz
dunklen Korridor. Was dort genau durch die Tür tritt, bleibt uneindeutig: ein Kind, als
Gespenst verkleidet, oder das Gespenst eines Kindes? Die Erscheinungsweise, die Epiphanie,

und Schellings derjenige Mensch, welcher sich gegenüber seinem unvordenklichen Grund, dem Tod
oder dem Anderen in seiner radikalen Andersheit, in seiner Selbstidentität abzuschließen sucht.
12

das Herausfahren aus der Dunkelheit im Moment höchster negativer Intensität sprechen für
ein Gespenst. Auch später, gegenüber dem Mieter auf der Treppe, wird der abendliche
Besucher ohne Zögern als Gespenst bezeichnet. Doch unheimlicher Weise scheint das
Gespenst nicht sehr unheimlich zu sein. Sich selbst als Kind bezeichnend - ich bin ein Kind - ,
wählt es nicht die Geisterstunde, sondern die Stunde der Abenddämmerung für sein
Erscheinen. Es benutzt ganz konventionell, wenn auch ohne anzuklopfen, eine Tür.
Unvermittelt und doch, wie wir später erfahren werden, schon lange erwartet betritt es die
Bühne eines Textes, der sich gleich bemüht, es möglichst vollständig zu rationalisieren, ihm
alle Andersheit/Unheimlichkeit zu nehmen, es als Gespinst, ganz im eigenen textum zu
verflechten. Das Gespenst kommt von draußen, durch die Tür, aus der Dunkelheit und gibt
sich doch als Effekt des Drinnen, des Schreis, der Erwartungen des Erzählers zu erkennen.
Weder dem Eigenen noch dem Anderen eindeutig zurechenbar, bleibt es konstitutiv
ambivalent und teilt seine Ambivalenz dem gesamten Text mit.
In der Ordnung des Textes erscheint das Gespenst als optische Verlängerung des akustischen
Schreis. Es verkörpert die stumme Antwort auf den Schrei, dem doch nichts antworten sollte.
Im Gespenst tritt sich der Text/Schrei selbst gegenüber, verdoppelt oder spiegelt sich und
versucht im folgenden, mit sich ins Gespräch zu kommen. Vor lauter Unglück über sich selbst
entzweit sich die Geschichte von sich und entläßt sich in einen gespenstischen Zustand. Sie
begibt sich in die Dämmerungszone der Literatur, ins Feld der Gespenstergeschichten. Das
Gespenst wiederholt den schon im Schrei unternommenen Versuch des Textes, sich zu ent-
setzen, sich auf ein Außen hin zu öffnen. Doch wie dem Schrei gelingt es auch dem Gespenst
nicht, der Geschichte eine Andersheit einzuschreiben, sie über sich hinauszuführen. Im
Gegenteil: Im Gespenst faltet sich der Schrei, dem nichts Einhalt gebieten konnte, auf sich
zurück. Die Erscheinung in der Tür, ein speculum dessen, was sich im Schrei ausdrückt, ein
speculum also vor allem des Erzählers und seiner Erzählung, aber auch ein spectrum, ein
Gespenst, wird zum Echo des Schreis, zu seiner optischen Metamorphose. Echo besucht
Narziß, vermag ihn aber nicht aus seiner Selbstbezüglichkeit zu erlösen, wird, sobald sie ins
textuelle Spiegelkabinett tritt, selbst zu einem Teil seines Selbstbezugs. Beide werden
vergehen müssen, einer Entropie erliegen, in Schweigen und Schlaf. Ein Echo auf den Mythos
von Echo und Narziß. Ein Echo auf den Mythos.
Das Gespenst, dem Grimm auch als Eingebung, Beredung, Verlockung, Verführung,
Versuchung, Blendwerk, Täuschung, Trug, Trugbild, Blendwerk, bloßer Schein, Scheinbild,
Schatten, Abstraktion, Traumbild, Schrecken und Grauen erregende Erscheinung bekannt -
13

all dies wäre in unseren Text mit einzulesen -, gilt primär als Geist, als körperlose
Verkörperung einer toten Seele, als Nachbild eines längst Verstorbenen. Im Text erscheint das
Gespenst zunächst als Geist des Erzählers: mein Gespenst, gleichzeitig mein Eigentum und
mein Nachbild, das, was ich aus mir entlassen habe, was nach meinem Tod in mein Zimmer
zurückkehrt. Der Erzähler ist dem Gespenst vollständig transparent: Kennen Sie mich so
schlecht? [...] Daß ich Sie so gut kenne, schützt mich wenig. Gespenst und Erzähler teilen eine
Natur: Ihre Natur ist meine. Auch der Erzähler, der das Gespenst aus seinem Schrei (und
seiner Erzählung) entläßt, verwandelt sich somit rückwirkend in ein Gespenst. Die Natur, die
das Gespenst mit dem Erzähler verklammert, bringt die beiden einander allerdings nicht nur
nah, sondern entfremdet sie auch von einander: So nah, als Ihnen ein fremder Mensch
entgegenkommen kann, bin ich Ihnen schon von Natur aus. Die Nähe ist immer schon von
einer Fremde getrübt. Fremd bleibt sich der Erzähler selbst: Ich heiße Soundso, ich bin nicht
ganz bei mir, bin nicht ganz ernst gemeint.
Letztlich stellt sich die gesamte Erzählung in eine gespenstische, sich selbst fremde Ordnung:
ein Text und sein eigenes Gespenst, schizophren, zugleich lebend und tot, ein Zombie der
Narration. Sich selbst unerträglich, nicht ganz an sich glaubend, nichts wirklich von sich
wissend, nicht genau auf sich schauend - Ich sah ein wenig hin -, schreibt sich der Text
seinem eigenen Verenden entgegen. Er weiß nicht, ob Kind oder Gespenst, Junge oder
Mädchen. Ob die Tür geschlossen oder offen ist. Ob man vertrauen kann oder mißtrauen muß.
Ob der Gastgeber ein Freund ist oder ein Feind, der Besucher ein Gast oder ein Parasit. Ob der
Besuch erwartet wurde oder unangekündigt kommt. - Aus Gespenstern wie aus
Gespenstergeschichten kann man ja niemals eine klare Auskunft bekommen. Das ist ein
Hinundher - wie auf einer Rennbahn. Gespenster und Gespenstererzählungen scheinen über
ihre Existenz mehr im Zweifel zu sein als wir, was übrigens bei ihrer Hinfälligkeit kein
Wunder ist.
Die Geschichte verspielt ihre eigene Logik. Sie inszeniert ihre Unangemessenheit an sich, ihre
Selbstdifferenz. Deutlich zeigt das der Disput um die Tür. Der Erzähler fordert: »Dann
kommen Sie weiter ins Zimmer herein, ich möchte die Tür schließen.« Daraufhin das Kind:
»Die Tür habe ich jetzt gerade geschlossen. Machen Sie sich keine Mühe.« Der Erzähler:
»Lassen Sie mich die Türe schließen.« Das Kind: »Ich habe die Türe schon geschlossen,
glauben Sie denn, nur Sie können die Türe schließen? Ich habe sogar mit dem Schlüssel
zugesperrt.« Wir haben keine Möglichkeit zu überprüfen, wie es sich „wirklich“ verhält. In
der Sprache des Kindes/Gespenstes ist die Tür geschlossen, das Kind hat die Tür performativ
14

für geschlossen erklärt. Davon unberührt, wird es vom Erzähler erneut zum Schließen der Tür
aufgefordert. Und erneut behauptet das Kind, die Tür sei bereits geschlossen worden. Das
Gespenst will sogar sehr gründlich zugesperrt haben, mit dem Schlüssel. Doch woher könnte
es den Schlüssel von Soundsos Tür erhalten haben? - Wir fragen falsch, denn was wir lesen,
entzieht sich der Ordnung traditioneller Geschichten, welche die „Fiktion einer
Selbstpräsentation des Geschehens“12 in ihnen selbst nähren, welche vorgeben, sich erzählend
auf ein ihnen selbst vorgängiges Geschehen zu beziehen. Wir lesen keine Geschichte. - Und
doch bezieht sich unsere Lektüre auf die Erzählung wie eine Geschichte auf ein Geschehen;
wir selbst erzählen eine Geschichte, erzeugen die Fiktion einer Selbstpräsentation des
Gelesenen in unserer Lektüre, erzählen, wovon Kafkas Erzählung handeln soll, die doch jedes
Erzählen verleugnet: Unglück des Lesers.
Wir spekulieren und überspringen die Zeilen, wo wir gewissenhaft lesen sollten. Was dort
durch die Tür tritt, kommt nicht wirklich an. Das Gespenst blieb auf den Fußspitzen stehn, auf
einem unmerklich schaukelnden Fußbodenbalken. Es verharrt auf der Schwelle, hält mitten im
Schritt inne, nistet sich dort ein, wo es am schwankendsten, am bedrohlichsten ist. Der
Besucher zögert, einzutreten. Wie der Erzähler wird auch das Gespenst, daß aus dem Dunklen
kommt, von der Gasse erschreckt und gleich geblendet. Das schwache Licht der Dämmerung
empfindet es als grell. Kaum ist es da, wollte es mit dem Gesicht rasch in seine Hände, fühlt
sich bedroht, möchte sich wie der Erzähler und seine Erzählung in sich zurückziehen. Doch
auch das Licht zieht sich zurück, wird von der Dunkelheit vertrieben. Eine
Rückzugsbewegung spiegelt die andere. Das Gespenst beruhigte sich aber unversehens mit
dem Blick zum Fenster, vor dessen Kreuz der hochgetriebene Dunst der Straßenbeleuchtung
endlich unter dem Dunkel liegenblieb. Das Dunkel drückt wie eine Decke auf das Licht der
Gasse, es senkt sich darüber. Die Dämmerung des Abends schlägt im Augenblick der
Epiphanie vollends in Dunkelheit um. Die Dunkelheit stabilisiert die Erscheinung, läßt das
Gespenst bleiben. Die Übergängigkeit geht vom Außen auf das Innen über, von der Gasse auf
das Zimmer, von der Welt auf den Text.
Mit dem rechten Ellbogen hielt es sich vor der offenen Tür aufrecht an der Zimmerwand - die
Lage des Besuchers bleibt instabil - und ließ den Luftzug von draußen um die Gelenke der
Füße streichen, auch den Hals, auch die Schläfen entlang. Das kleine Dämmerungsgespenst
steht noch in Verbindung mit dem Draußen, der Luftzug aus dem Korridor zieht an ihm
vorbei, betont somit sein Innehalten. Gleichzeitig könnte der Luftzug, der fast zärtlich über

12
Kurt Röttgers: Spuren der Macht. Freiburg/München 1990. S. 282.
15

Hals und Schläfen streicht, ein Begehren ausdrücken. Wer dort und so erzählt, möchte wie der
Luftzug sein, möchte das Kind liebkosen. Grammatisch ist es allerdings das Kind selbst, das
dort etwas um seine Schläfen und seinen Hals streichen läßt. Das Kind/Gespenst, das sich
liebkosen läßt, inszeniert sich als Objekt einer Begierde, weckt ein mimetisches Begehren in
dem, der den Luftzug beobachtet und ihn erzählend wiederholt. Das Gespenst so erinnert uns
der Grimm, bedeutet auch Verlockung, Verführung und Versuchung: »Wenn Sie ein Mädchen
wären, dürften Sie sich nicht so einfach mit mir in einem Zimmer einsperren.« Und später:
»Ich habe aber gehört, daß man sie auffüttern kann. [...] Wenn es ein weibliches Gespenst ist
z. B.«. Mit dem Begehren stellt sich gleich ein Verwehren ein, mit dem offenen Mund und den
zitternden Augenwimpern verbindet sich schlechter Speichel. Der Verlockung, die das
Gespenst darstellt, darf nicht nachgegeben werden, im Gegenteil: Der Ankömmling wird
förmlich, dem kalten Protokoll des bürgerlichen Anstandes gemäß, behandelt: dann sagte ich
»Guten Tag«, wie zu einem beliebigen Besucher. Ein eilig übergezogener Rock und ein paar
schnell hingeworfene Floskeln halten das Kind auf Distanz, eine Distanz, die zunächst nur mit
dem Vorsatz aufgebaut wird, sie später desto sicherer überbrücken zu können. Alle folgenden
Versuche, Brücken zu schlagen, werden die Distanz nur weiter vergrößern, weil, wie wir
sehen werden, in letzter Konsequenz keine Brücke gebaut werden darf.
Der Erzähler begehrt das Gespenst. Ihm zittern im Angesicht seines Gastes vor Erregung die
Augenwimpern, der Mund steht offen, damit ihn die Aufregung verlasse. Dem Gast wird seine
Bedeutung direkt mitgeteilt: Ich bin ja so froh, daß Sie endlich hier sind. Sein Erscheinen
verspricht eine Erlösung vom Unglücklichsein. Die Geschichte läßt das Gespenst somit post
festum als mögliche negative Ursache des Unglücklichseins erscheinen. Unerträglich wäre
dann das Warten auf diesen allerdings erwarteten Besuch gewesen, der sich nur verspätet
hat.13 Das Kind/Gespenst verspricht durch seine bloße Anwesenheit eine mögliche Erlösung
vom Unglück, welches sich nun wesentlich als Unglück eines Einsamen zu erkennen gibt:
weil ich mich gar so verlassen fühlte, bemerkt der Erzähler im letzten Satz, ging ich lieber
hinauf und legte mich schlafen.
Die Erzählung schreibt sich vom Augenblick der Epiphanie an als Dialog fort, als Disput, ja,
schließlich als Prozeß, den Soundso und das Kind gegeneinander führen. Den Gegenstand
dieses Prozesses bildet ihre Kommunikation selbst. Der Dialog überführt die Geschichte in
ein juridisches (und somit auch rhetorisches) Universum. Die Kommunikation, auch die
16

zwischen Text und Lektüre, sitzt über sich zu Gericht. Der Erzähler versucht, eine Architektur
des Vertrauens zu errichten, die Bedingungen für eine reine, ungetrübte Kommunikation zu
schaffen. Er möchte das Gespenst von der Schwelle holen, möchte es ganz bei sich haben, die
Tür hinter ihm schließen: Und jetzt machen Sie es sich nur behaglich [...]. Sie sind mein Gast.
Vertrauen Sie mir völlig. Machen Sie sich nur breit ohne Angst. Ich werde Sie weder zum
Hierbleiben zwingen, noch zum Weggehn. [...] Ich bin ja so froh, daß Sie endlich hier sind.
Die Tür hinter dem Gast zu schließen, bedeutet gleichzeitig, die Anderen auszuschließen.
Heißt es gegenüber dem Gespenst noch Mein Zimmer, meine Wand, wird später gegenüber
dem Mieter das Gespenst selbst zum Eigentum erklärt: mein Gespenst, also nicht das
Gespenst der Anderen; wenn Sie mir dort oben mein Gespenst wegnehmen, dann ist es
zwischen uns aus.
Die Tür muß vor den Anderen dort draußen geschlossen werden. Die Mieter stehen auf einer
Bedeutungsebene mit dem amorphen Licht der Gasse. Sie drohen ungefragt von außen
einzudringen, zu lärmen, den Innenraum der Kommunikation zu besetzen und zu trüben. Die
anderen Mieter erscheinen als potentielle Parasiten, die an einer starken, unmittelbaren
Kommunikation, einer versöhnenden und erlösenden Rede schmarotzen könnten. Jedes
„Kollektiv ist der Ausschluß des Fremden, des Feindes, des Parasiten. Die Gesetze der
Gastfreundschaft werden zu Gesetzen der Feindschaft. Wie groß die Gruppe auch sein mag,
ob sie zwei oder viele oder die ganze Menschheit umfaßt, wie man sagt, die transzendentale
Bedingung ihrer Konstitution ist die Existenz des Dämons.“14 Das, was aus der Sicht des
Erzählers die Kommunikation zu unterbinden droht, würde Kommunikation erst möglich
machen: das Dazwischentretende, Amorphe und Unbestimmte, das Störgeräusch, der Parasit.
„Sobald wir zwei sind, gibt es eine Umwelt, eine Mitte, ein Milieu zwischen uns, der
Lichtstrahl verliert sich in den Luftströmen, die Botschaft verliert sich in den Störungen, alles
ist Transformationsraum. Der Torus, der Kranz, verschlingt das System.“15 Jeder Versuch,
Unmittelbarkeit zu schaffen, potenziert die Entzweiung, verstärkt das Rauschen. Der
Ausschluß der Anderen verheißt das Pfingstfest einer starken Kommunikation. Doch die
Kommunikation ohne die Anderen, ohne das Rauschen, ohne die Differenz, wird gewaltsam,
zerstört sich selbst.

13
Bereits die Kreisbewegung des einsamen Protagonisten in seinem Zimmer ließe sich als Ausdruck eines
Begehrens deuten: „Der Liebende hört in der Tat nicht auf, in seinem Kopf hin und her zu laufen“
(Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. A.a.O., S. 15).
14
Michel Serres: Der Parasit. A.a.O. S. 88.
15
Michel Serres: Der Parasit. A.a.O. S. 108
17

Bevor es überhaupt zur Kommunikation kommt, soll deren Rechtmäßigkeit abgesichert


werden. Ich sagte: »Wollen Sie tatsächlich zu mir? Ist es kein Irrtum? Bin ich also der, den
Sie besuchen wollen?« Die Möglichkeit des Irrtums wird nur angesprochen, um sie
auszuschließen. Doch alles, was verdrängt werden soll, kehrt zurück, so auch der Streit. Nur
keinen Streit, muß der Erzähler flehen, nachdem der Dialog längst zu einem Streitgespräch
geworden ist. Der Versuch, die Rahmen der Kommunikation zu bereinigen, führt zu
Verunreinigungen, der Versuch, Vertrauen zu schaffen, führt zu Mißtrauen. Vertrauen Sie mir
völlig. Diese selbstdestruktive Aufforderung muß Mißtrauen erregen. Gerade indem er sie in
extenso thematisiert, verletzt der Erzähler die Gesetze der Gastfreundschaft. Alles was zum
Thema der Kommunikation und des Textes gemacht wird, verliert seine
Selbstverständlichkeit. Die Versuche, das Vertrauen des Gastes zu gewinnen, indem die
eigene Vertrauenswürdigkeit betont wird, werden vom Gast mit Mißtrauen beantwortet. Der
Gast tritt nicht ins Zimmer ein, bleibt auf seiner Schwelle, bereit, sofort wieder zu
verschwinden, bereit, das ganze Haus hereinzulassen, sich den Parasiten hemmungslos
hinzugeben. »Ja, was ist denn? Was haben Sie? [...] Nein. Sie hätten das wirklich nicht sagen
müssen. Noch mehr, Sie hätten es gar nicht sagen sollen. [...] Trotzdem aber machen Sie mir
Komplimente. Lassen Sie das, ich fordere Sie auf, lassen Sie das. [...] Immerhin werde ich mir
merken, daß Sie mir schon gedroht haben.« Der Ton wird zunehmend dramatischer, agonaler.
Die Situation spitzt sich zu. Das Gespenst/Kind wirft dem Erzähler vor, ihm gedroht zu
haben. Was hat es als Drohung empfunden? Vielleicht eine latente Mißbrauchsdrohung, die
sich in folgender Warnung versteckt: »Wenn Sie ein Mädchen wären, dürften Sie sich nicht so
einfach mit mir in einem Zimmer einsperren.«? Sich nah und doch vollständig fremd,
entzweien sich der Erzähler und „sein“ Gespenst vollständig. Sie entzweien sich im Rahmen
einer Kommunikation, welche ausschließlich die Bedingungen der Möglichkeit ihres
Gelingens zum Gegenstand hat. Eine wirkliche Kommunikation findet nie statt. Das Gespräch
bewegt sich im Vorfeld einer Kommunikation, deren Verwirklichung aussteht. Mit der
aufgeschobenen Kommunikation verendet auch das Gespenst. Es verlöscht wie die Flamme
einer Kerze, verschwindet spurlos aus dem Text und erweist sich somit erneut als Projektion
des Erzählers.
Nicht ohne noch einmal zu stolpern, verläßt der Erzähler schließlich seinen Raum, will zu
einem Spaziergang aufbrechen, zu dem es nie kommen wird. Auf der Treppe trifft er einen
18

Mieter16, einen jener potentiellen Parasiten. Wieder entspinnt sich ein Dialog. Gegenstand ist
das Gespenst, die Angst vor dem Gespenst, das Gespenst als Ursache des Unglücklichseins.
Nicht an Gespenster zu glauben, so der Erzähler, schützt uns nicht vor ihrem Erscheinen: »Ja,
meinen Sie denn, ich glaube an Gespenster? Was hilft mir aber dieses Nichtglauben?« Das
Gespenst bleibt, auch wenn wir aufhören, an es zu glauben.
Der Text bricht mit jener aufklärerischen Logik, welche besagt, daß Dämonen desto weniger
Macht über uns haben, je weniger wir an sie glauben. Die Angst vor der Erscheinung ist doch
die nebensächliche Angst. Die eigentliche Angst ist die Angst vor der Ursache der
Erscheinung. Und diese Angst bleibt. Die habe ich geradezu großartig in mir. Das Gespenst
erweist sich als Symptom der Angst vor der Ursache des Gespenstes. Wir mißverstehen die
Angst, wenn wir sie als Angst vor etwas, vor etwas Bestimmten, deuten. Eine klare Ursache,
so lehren uns etwa Kierkegaard, Freud und Heidegger, hat nur die Furcht. Das, wovor wir
Angst haben, entzieht sich dagegen unvermeidlich unserem identifizierenden Zugriff. Die
vordergründige Ursache der Angst könnte zunächst das Unglücklichsein selbst sein, das
unerfüllte Begehren, die Sehnsucht nach dem Anderen, der von außen als Gast in unser
Zimmer tritt. Doch die eigentliche Angst, so ließe sich weiter spekulieren, wäre gerade die
Angst vor der Erfüllung des Begehrens, die Angst vor dem Glück. Das geschlechtslose
Kind/Gespenst darf kein Mädchen sein, darf nicht liebkost werden, darf nicht hineinkommen.
„Angst tritt nicht auf, wenn die Objekt-Ursache des Begehrens fehlt; nicht das Fehlen des
Objekts löst sie aus, sondern, im Gegenteil, die Gefahr, sich dem Objekt zu sehr zu nähern
und dadurch des Mangels selbst verlustig zu gehen - anders gesagt, das Verschwinden des
Begehrens zu erleiden.“17 Kurz gesagt: alle Angst ist immer auch Angst vor dem erfüllten
Begehren, Angst vor dem Ankommen des begehrten Anderen, vor der Ekstasis, die uns um
alles Eigene bringen, uns hinter die Spiegel werfen würde. Um den Anderen auszuschließen,
schließt sich der Erzähler ein, schließt sich in seinem Text ab, und wird doch eingeholt vom
diffusen Licht der Gasse, vom Gespenst seiner Angst vor dem Anderen.

16
Der „begrüßende“ Vorwurf des Mieters - »Sie gehen schon wieder weg, Sie Lump?« - stellt auch dieses
Gespräch unter das Vorzeichen eines Konfliktes. Das Fortgehen, das Verlassen der eigenen vier Wände,
stempelt Soundso aus der Sicht des Mieters zu einem Lump, weil er ihm unterstellt, draußen auf der
Straße einem Genießen nachzugehen, von dem er selbst ausgeschlossen bliebe. Zum eigentlichen
Gegenstand des Konfliktes avanciert aber das Gespenst, welches sich mit dem Vorschlag des Mieters,
es, sollte es sich um ein weibliches Gespenst handeln, aufzufüttern, zu einem Objekt möglichen
Genießens, bzw. eines sich von Soundso und dem Mieter wechselseitig unterstellten Genießens
verwandelt.
17
Slavoj Zizek: Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur. Wien 1992. S. 11.
19

Schon, nach wenigen, flüchtig gelesenen Zeilen, naht das Ende der Lektüre, naht die Stunde,
in der uns das Licht ausgedreht wird. Ob wir uns verrannt haben? Unsere Lesearbeit, unser
Versuch zu zeigen, daß alles was in der Geschichte geschieht, mit dem Text, durch den Text,
am Text und dem Text selbst geschieht, verwandelt diesen Text vielleicht selbst nur in ein
textexternes Abstraktum, in ein Gespenst, ein Symptom unserer Angst vor jenem dämmrigen
Licht, das aus Franz Kafkas Erzählung in unser Lesezimmer fällt. Nichts wissen wir.

A. Hetzel

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