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David-Christopher Assmann, Nicola Menzel (Hg.

TEXTGEREDE
Interferenzen Von Mündlichkeit
und Schriftlichkeit in der
Gegenwartsliteratur

Wilhelm Fink

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Wenn die Schrift gehört gehört
Fingierte Mündlichkeit und inszenierte Schriftlichkeit am Beispiel des
Textgenres Slam Poetry

Eva Fauner

Wenn die Schrift gehört gehört, entstehen hybride Textgenres, die zwischen
Stimme und Schrift changieren, auf Redetexten basieren und Textreden
evozieren. Ein solch hybrides literarisches Genre zwischen Prosa, Lyrik und
Dramatik ist jenes der Slam Poetry. Bei Slam Poetry handelt es sich um Kurz-
texte, die schriftlich verfasst und mündlich vermittelt werden. Slam Poetry
wird bei Poetry Slams vorgetragen, die nach Prinzipien der Eventkultur funkti-
onieren und sich mittlerweile als ein konstitutiver Bereich der Literaturszene
etabliert haben. Poetry Slams rekurrieren auf die Idee des mittelalterlichen
Dichterwettstreits und erleben seit den 1980er Jahren ausgehend von den USA
eine Konjunktur auch im deutschsprachigen literarischen Feld. Mittlerweile
stellt die deutschsprachige Poetry-Slam-Szene nach der englischsprachigen
die zweitgrößte dar und hat sich von einer selbstorganisierten Randerschei-
nung zu einem institutionalisierten Format innerhalb des Literaturbetriebs
entwickelt, das die Grenzen zwischen so genannter high- und low-culture
verschwimmen lässt. Vielerorts finden die Poetry Slams in monatlichen Ab-
ständen statt, zusätzlich werden nationale und internationale Meisterschaften
veranstaltet. Ein Poetry Slam folgt klaren Regeln: Slam-Poeten und -Poetinnen
tragen selbst verfasste Texte vor, die maximal fünf Minuten dauern. Requisiten
und Kostüme sind nicht erlaubt. Die Aufführung darf kein reines Gesangsstück
sein, sondern muss hauptsächlich aus dem gesprochenen Wort bestehen, das
es durch Mimik und Gestik wirkungsmächtig zu inszenieren gilt. Die Bewer-
tung der Performance erfolgt durch eine Publikumsjury.1
Im Folgenden soll es aber nicht um das Veranstaltungsformat des Poetry
Slams gehen, sondern um die ästhetischen Verfahren der Slam Poetry, die aus
diesem Format resultieren und wiederum darauf einwirken. So widmet sich
der vorliegende Beitrag ausgewählten poetologischen und poetischen Aspek-
ten der Slam Poetry, die insbesondere das intrinsische Verhältnis von Stimme
und Schrift betreffen. In einem ersten Schritt werden den medialen Bedingun-
gen entsprechende texttypologische Merkmale von Slam Poetry als Subgenre
der Gattung ›Akustische Literatur‹ skizziert. Der zweite Abschnitt schlägt

1 Vgl. Petra Anders: Slam Poetry: Inszenierte Bühnen-Poesie. Berlin 2007, S. 1–4. http://www.
slam2007.de/slam/docs/SlamPoetry.pdf [Stand: 2.6.2017].

© WILHELM FINK VERLAG, 2018 | DOI:10.30965/9783770563876_011


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eine medientheoretische Bestimmung dieses relativ jungen und wandelbaren


Genres vor, die ihren Ausgangspunkt in der phonographischen Schreibweise
und deren schriftstimmlichen Hybridität nimmt. Im zweiten Teil wird die
methodische Relevanz der theoretischen Ansätze für die Textanalyse präzi-
siert. Einen zentralen Stellenwert nimmt hierfür die intermodale Kategorie des
Rhythmus ein, in der sich – wie zu zeigen ist – die schriftstimmliche Hybridität
manifestiert. Daran anschließend werden die theoretischen Ausführungen an-
hand der Slam Poetry des österreichischen Autors Markus Köhle entlang der
Leitbegriffe ›Reflexivität‹ und ›Performativität‹ konkretisiert. Auch der Sprach-
rhythmus stellt ein zentrales ästhetisches Movens der Slam Poetry Köhles dar
– dies wird am Beispiel seines Textes Sprecht analysiert. Der abschließende Teil
dieses Beitrags widmet sich dem materialen Phänomen der Stimme als Kon-
vergenzpunkt der literarischen Strategien von Slam Poetry. Konturiert wird,
welche spezifischen Qualitäten die akustische Materialität produziert, welche
rezeptionsästhetischen Konsequenzen der erklingende Text mit sich bringt
und welche Analysetools es hierfür zu entwickeln gilt.

Texttypologische Merkmale: Slam Poetry im Kontext der


Gattung ›Akustische Literatur‹

Bei Slam Poetry handelt es sich um eine medien- und gattungsübergreifende


Hybridform, die sich durch Aktualität, Pointierung, Rhetorik und Klanglich-
keit auszeichnet. Aus dem Artikel Texttypen und Schreibweisen von Rüdiger
Zymner lassen sich einige Klassifikationsmerkmale für Slam Poetry ableiten.
Demnach nimmt Slam Poetry im Hinblick auf Sprachgebrauch Anleihen
aus der Popliteratur, die etwa durch Rhythmik, Refrainförmigkeit, ironische
Sprachspielereien oder alltags- und umgangssprachliche Ausdrücke geprägt
ist. Slam Poetry ist verwandt mit literarischen Kleinformen wie Aphorismus,
Feuilleton, Essay oder poetischem Journalismus. Sie changiert zwischen fik-
tionaler und faktualer Rede, die sowohl individuell-private als auch sozial-
politische Gegenwartsthemen verhandelt. Die dezidiert subjektive Perspektive
der Slam Poetry dient dabei nicht nur der Selbstinszenierung des erzählen-
den Ich, sondern entspricht auch der erwarteten Sprechrolle. Diese Rolle er-
möglicht Slam-Poeten und -Poetinnen, ihr auf das Wesentliche reduziertes
persönliches Mitteilungssubstrat aus der privaten Sphäre in die Öffentlichkeit
zu bringen und somit an gesellschaftlich relevante Themen anzudocken.2 Die

2 Vgl. Rüdiger Zymner: Texttypen und Schreibweisen. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Litera-
turwissenschaft. Bd 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2007, S. 25–80, hier
S. 74–77.

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Auseinandersetzung mit den Produktions- und Rezeptionsbedingungen von


Slam Poetry folgt der Überzeugung, dass »mit den Mitteln der Poesie anderes
und mehr in intensiverer Weise gesagt werden könne«.3 Damit impliziert Slam
Poetry auch die Grenzziehungsproblematik zwischen Literatur und Nicht-
Literatur. Als »theoretisch interessantes Genre« mit »Medienaffinität«4 ex-
emplifiziert Slam Poetry die zentralen Fragen nach der Intermedialität von
Stimme und Schrift und der thematisch-strukturellen Verarbeitung von Klang-
ereignissen in Texten.
In diesem Sinne gestaltet sich Slam Poetry als Subgenre der Gattung ›Akus-
tische Literatur‹.5 Akustische Literatur wird in zwei Textformen realisiert,
nämlich als Schrifttext und als Hörtext. Diese »bimediale Verfasstheit«6 stellt
die medienästhetische Eigenleistung Akustischer Literatur dar – dementspre-
chend bildet die bimediale Edition die idealtypische Publikationsform. Der
Schrifttext fingiert Stimme und Klang im Medium der Schrift, die das Klanger-
eignis imitiert, reflektiert und antizipiert. Der Hörtext bringt den Schrifttext als
tatsächliches Klangereignis zur Aufführung, die wiederum auf ihre schriftliche
Genese verweist. Die Verarbeitung von Klangstrukturen in literarischen Texten
gestaltet sich als Medienreflexion par excellence. Akustische Literatur ist somit
ein Paradebeispiel für literarische Schreibpraktiken, die »das Mediale reflexiv
werden lassen, indem sie es aussetzen«.7 Wenn Medienreflexion zur poeti-
schen Strategie avanciert, tritt das Sprachmaterial in den Vordergrund. In ihrer
Fokussierung auf die Materialität der Medien evoziert Akustische Literatur in
besonderer Weise theoretische Reflexion und/als poet(olog)ische Praxis. Dies
eröffnet differenzierte Perspektiven auf die »widerspenstige Kategorie«8 des
Literarischen und bespielt das Forschungsfeld der literaturwissenschaftlichen

3 Ebd., S. 77.
4 Anders: Inszenierte Bühnen-Poesie, S. 1.
5 Zur Etablierung eines literarischen Genres ›Akustische Literatur‹ vgl. Klaus Schöning: Akus-
tische Literatur: Gegenstand der Literaturwissenschaft? In: Rundfunk und Fernsehen 27
(1979), S. 464–475; Reinhard Döhl: Akustische Literatur als Gattung. 28.10.1987. http://doehl.
netzliteratur.net/mirror_uni/hspljapan.htm [Stand: 2.6.2017] und Eva Fauner (ehem. Gru-
ber): Stimme und Schrift. Studien zur Akustischen Literatur am Beispiel von Friederike
Mayröcker. Masterarbeit. Graz 2011.
6 Natalie Binczek: Einen Text ›zu umschneiden und von seiner Unterlage abzupräparieren‹.
Elfriede Jelineks »Moosbrugger will nichts von sich wissen«. In: Natalie Binczek/Cornelia
Epping-Jäger (Hg.): Das Hörbuch. Praktiken audioliteralen Schreibens und Verstehens. Mün-
chen 2014, S. 158–177, hier S. 172–173 und S. 177.
7 Dieter Mersch: Transmediale Strategien im Ästhetischen. Das Literarische und sein Anderes.
In: David Bathrick/Heinz-Peter Preußer (Hg.): Literatur inter- und transmedial. Inter- and
Transmedial Literature. Amsterdam, New York 2012, S. 89–111, hier S. 92.
8 Ebd., S. 89.

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Gretchen-Frage ›Was ist Literatur?‹ mit alternativen (Selbst-)Beobachtungen.


Akustische Literatur in ihrer Funktion als epistemologisches Instrument zur
Medienreflexion ermöglicht, den Fokus in der Diskussion zum Verhältnis von
Stimme und Schrift auf deren strukturelle und funktionelle Aspekte zu len-
ken, wodurch die dem Zielmedium zugeordneten typischen Eigenschaften
einer Revision unterzogen werden. Vor dem Hintergrund, dass Akustische Li-
teratur auf Verbindungsmomenten zwischen Lesen und Hören bzw. Schreiben
und Sprechen basiert, werden hybride Texte generiert, die das jeweils nicht-
evidente Medium imitieren: Lesetexte loten im Medium der Schrift stimmlich-
akustische Phänomene aus, Hörtexte verlauten in Anlage und Ausführung
ihre schriftliche Genese. Die durch Imitations- und Transformationsprozesse
modifizierten medialen Textoberflächen enthalten Irritationspotentiale, die
unhinterfragte Denkweisen aufbrechen und eine Beobachtung sprachlicher
Phänomene abseits konventioneller Normen ermöglichen.

Medientheoretische Aspekte: Phonographische Schreibweise und


schriftstimmliche Hybridität

Den Ausgangspunkt für eine medientheoretische Bestimmung der Slam Poetry


bilden die phonographische Schreibweise und deren Rekurs auf das Dispositiv
des Phonographen. Als ›Sprechmaschine‹ faszinierte der Phonograph ursprüng-
lich aufgrund seiner Fähigkeit, die Synchronizität von Er- und Verklingen einer
sprachlichen Äußerung aufzuspalten. Erstmals war es möglich, einen gespro-
chenen Satz als ebensolchen zu speichern und identisch zu wiederholen. Die
Reproduzierbarkeit von akustischen (Sprach-)Ereignissen entzieht ihnen ihre
bis dato irreversible Flüchtigkeit, wodurch der Schrift ihr Fixierungsprivileg
aberkannt wird. Spätestens seit der Erfindung des Phonographen kann von
einer »Interferenz zwischen medialer Mündlichkeit und konzeptionel-
ler Schriftlichkeit«9 gesprochen werden, was gleichzeitig die medienthe-
oretische Bestimmung der Slam Poetry darstellt.10 Die phonographische

9 Uwe Wirth: Akustische Paratextualität, akustische Paramedialität. In: Natalie Binczek/


Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Das Hörbuch. Praktiken audioliteralen Schreibens und Ver-
stehens. München 2014, S. 215–229, hier S. 220.
10 Siehe hierzu auch Petra Anders’ Definitionsversuch der Slam Poetry: »Die auf einem Po-
etry Slam vorgetragenen Texte sind – abgesehen von den wenigen mündlich basierten
Freestyles – konzeptionell schriftlich und medial mündlich.« Petra Anders: Intermedia-
lität der Slam Poetry. In: David Bathrick/Heinz-Peter Preußer (Hg.): Literatur inter- und
transmedial. Inter- and Transmedial Literature. Amsterdam, New York 2012, S. 281–310,
hier S. 282.

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Schreibweise der Slam Poetry greift die technische Aufzeichnungs- und Wie-
dergabefunktion des Phonographen ästhetisch auf und integriert sie in den
Schreibprozess. Diese Aufnahme- und Wiedergabefunktion kann mit einer
Schreibtechnik analogisiert werden, die im Hinblick auf den lauten Textvor-
trag angewandt wird. Durch die Schreibtechnik der Slam Poetry kommen
lautstilistische, rhetorische und performative Mittel derart zum Einsatz, dass
mündlich-stimmliche Qualitäten des Sprachgebrauchs in den Schrifttext im-
plementiert werden – dies wird unter dem Terminus ›fingierte Mündlichkeit‹
subsummiert. Umgekehrt verweist die Textperformance auf der Bühne auf
Merkmale der schriftlichen Textproduktion – dafür steht das Schlagwort ›in-
szenierte Schriftlichkeit‹. Insofern ereignet sich Slam Poetry in einem Span-
nungsfeld von fingierter Mündlichkeit und inszenierter Schriftlichkeit. In
diesem Spannungsfeld entstehen hybride Textformen, die die medialen und
konzeptionellen Eigenschaften von Stimme und Schrift permanent durch-
kreuzen, wie dies bei avancierten Ausprägungen der Slam Poetry der Fall ist.
Mit Uwe Wirth lässt sich diese als »weiche Intermedialität« des Typs »konzep-
tionelle Übertragung« klassifizieren, was die »Grundlage poetologischer Pro-
gramme«11 darstellt: Die den akustischen Medien inhärenten Wirkungsweisen
bleiben konzeptionell erhalten, wodurch die visuellen medialen Eigenschaf-
ten der Schrift modifiziert werden.
Die schriftstimmliche Hybridität der Slam Poetry basiert darauf, dass ein
explizit zum mündlichen Vortrag bestimmter Text schriftlich konstruiert
wird. Die linear verlaufende Irreversibilität der akustischen Rezeption steht
in einem Spannungsverhältnis zur schriftlichen Produktion eines Textes. Ein
schriftlicher Text zeichnet sich dadurch aus, dass er strukturierbar, reflektier-
bar und korrigierbar ist, bevor er zur Rezeption freigegeben wird. Der expo-
nierte Konstruktionscharakter stellt ein zentrales Charakteristikum von Slam
Poetry dar: Ihre auf Unmittelbarkeit, Originalität, Esprit und Rasanz bauende
Performanz entspringt einer schriftlichen Konzeption, die Raum für Sprach-
spielkonstruktionen gibt, um klangtechnische Wirkungsweisen von Sprache
bestmöglich im Text zu installieren. Mit Ludwig Jäger lässt sich eine solche
»audioliterale«12 Konstruktion als »Form des Schreibens im strengen Sinne«13

11 Uwe Wirth: Intermedialität. In: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe


der Medientheorie. Paderborn 2005, S. 114–121, hier, S. 118.
12 Ludwig Jäger: Audioliteralität. Eine Skizze zur Transkriptivität des Hörbuchs. In: Natalie
Binczek/Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Das Hörbuch. Praktiken audioliteralen Schreibens
und Verstehens. München 2014, S. 231–253, hier S. 232.
13 Ebd.

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auffassen. Ein akustisch zu rezipierender Text erfordert eine an den Hörmo-


dus angepasste Produktionsästhetik, da andere kognitive Mechanismen zum
Tragen kommen, als beim visuellen Lesen. Umgekehrt entziehen sich zum Hö-
ren bestimmte audioliterale Konstruktionen der Logik situativen Sprechens
und lassen sich somit nicht mit pragmalinguistischen Kommunikations- und
Verständnisprinzipien analogisieren. Vielmehr generiert jene Hybridität zwi-
schen Mündlichkeit und Schriftlichkeit neue Sprachräume, »in denen skrip-
turale und vokal-auditive Anteile der Kommunikation in verschiedenen
Hinsichten miteinander verwoben oder aufeinander bezogen sind, derart dass
sich der Sinnkonstitutionsprozess als das genuine Ergebnis der intermedialen
Bewegungen verstehen lässt«.14 Ein solches sinnkonstituierendes bzw. Münd-
lichkeit und Schriftlichkeit fusionierendes Element ist der Rhythmus.

Sprachrhythmus: Ästhetische Strategien und analytische


Herausforderungen der Slam Poetry

Der Begriff ›Rhythmus‹ leitet sich vom griechischen ›rhein‹ = ›fließen‹ ab und
bedeutet »eine nach einem Zeitmaß geregelte Bewegung oder Abfolge […]
von Elementen« bzw. »eine strukturierte Folge innerhalb definierter Zeiträu-
me«.15 Diese sehr weit gefasste Rhythmusdefinition ermöglicht, Rhythmus als
landläufig musikalisch verstandenes Prinzip auch auf nicht-musikalische Me-
dien zu beziehen. In diesem Sinne erachtet Michael Lommel Rhythmus als
»intermodale Kategorie«, die »[…] mehrere Sinne durchqueren und dabei je
eigene Rhythmus-Formen generieren [kann; EF], ohne zwangsläufig Medien
zu kombinieren«.16 Diese Auffassung korreliert mit dem »weichen Intermedi-
alitätsbegriff«,17 dem nicht die Kombination zweier unterschiedlicher Medi-
en, sondern die Imitation bzw. Transformation konzeptioneller Eigenschaften
eines Mediums in einem anderen zugrunde liegen. In Bezug auf die Sprache
bedeutet das, dass sich Sprachrhythmus nicht nur in der Linearität des laut-
lichen Sprechens manifestiert. Auch ein Schrifttext kann durch den Einsatz
graphischer, metrischer und rhetorischer Stilmittel so aufgebaut sein, dass
rhythmische Strukturen ein konstitutives Merkmal darstellen. Sprachrhythmus
ist ein suprasegmentales Merkmal von Äußerungen, das sich in der Phonematik,

14 Ebd., S. 245.
15 Michael Lommel: Der Rhythmus als intermodale Kategorie. In: Joachim Paech/Jens
Schröter (Hg.): Intermedialität analog – digital. Theorien – Methoden – Analysen. Mün-
chen 2008, S. 79–89, hier S. 80.
16 Ebd., S. 83.
17 Wirth: Intermedialität, S. 119.

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der Syntax, der Interpunktion, der Lexik und vielen weiteren sprachlichen
Momenten manifestiert, die schließlich die Semantik einer sprachlichen Äu-
ßerung präfigurieren. In Bezug auf die Sprechsprache organisiert der Sprach-
rhythmus die prosodischen Komponenten Akzent, Intonation, Tempo und
Zäsur. Sprachrhythmus lässt sich nicht auf formale Aspekte reduzieren, die das
metrische Schema eines Textes definieren. Vielmehr ist der Sprachrhythmus
ein bedeutungsgenerierendes Gliederungsprinzip, das zwischen Form und
Sinn angesiedelt ist.18
Texte, die im Fokus rhythmischer Effekte stehen, reizen die prosodi-
schen Gegebenheiten der Sprache in besonderem Maße aus und koppeln
die Differenzierung zwischen betonten und unbetonten Sequenzen an den
inhaltlichen Aussagewert. Der Sprachrhythmus stellt somit ein zentrales Klas-
sifikationsmerkmal phonographischer Schreibweisen dar und basiert auf
Techniken der Repetition und der Variation. Sprachliche Wiederholungs- und
Abwandlungsformen durchziehen einen auf Sprachrhythmus ausgelegten
Text von der Mikro- bis zur Makroebene und betreffen somit die Anordnung
und Gestaltung von Silben, Wörtern, Sätzen und Absätzen.
Es ist unter anderem die metasprachliche Omnipräsenz des Sprachrhyth-
mus, die eine Analyse von Slam Poetry vor Herausforderungen stellt. Akzen-
tuierung, Tempo, Atmung, Zäsuren – all diese Koordinaten der Sprechkunst
stehen letztlich mit dem Sprachrhythmus in Verbindung. In Kombination
mit der medientheoretischen Komplexität von Slam Poetry schlägt sich das
schwer fassbare Phänomen des Sprachrhythmus in nach wie vor ungelösten
Analyseproblematiken nieder. So verwundert es nicht, dass die Notwendigkeit
eines adäquaten Analyseinstrumentariums in der einschlägigen Forschungs-
literatur (auch jüngeren Datums) als Desiderat formuliert ist.19 Auch wenn
die Auffassung, Akustische Literatur sei lediglich der Überbegriff für eine
Literatur beliebigen Inhalts, die nicht geschrieben und gelesen, sondern ge-
sprochen und gehört wird,20 weitgehend eliminiert werden konnte, existieren

18 Vgl. Magdalena Maria Jezek: Rhythmus und Sprache. Zusammenhänge und gegenseitige
Beeinflussung von musikalischem und sprachlichem Rhythmus. Wien 2011, hier S. 10–13;
Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede. Linguistische und literaturwissenschaftliche
Aspekte des Sprachrhythmus. Tübingen 1999, S. 143.
19 Zu den »Herausforderungen einer literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit
Slam Poetry« vgl. Franziska Holzheimer: Strategien des Authentischen. Herausforderun-
gen einer literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Literatur sekundärer Ora-
lität am Beispiel von Slam Poetry. Paderborn 2014, S. 11–24.
20 Vgl. Armin Schäfer: Unterwegs zur akustischen Literatur: Karl Kraus. In: Natalie Binczek/
Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Das Hörbuch. Praktiken audioliteralen Schreibens und Ver-
stehens. München 2014, S. 117–136, hier S. 117.

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dennoch hauptsächlich Analysen, die sich entweder mit dem Lesetext oder
mit dem Hörtext auseinandersetzen. Solche Analysen müssen als fragmen-
tarisch gewertet werden, weil dadurch der »bimedialen Verfasstheit«21 als
zentrales Charakteristikum Akustischer Literatur nicht Rechnung getragen
wird.
Die Aufgabe einer genregerechten Analyse besteht darin, die sich unter-
schiedlicher Instrumentarien bedienenden Einzelanalysen miteinander zu
verknüpfen und ineinandergreifen zu lassen. Eine erfolgreiche Durchfüh-
rung dieser analytischen Verknüpfung soll gleichzeitig die Tragfähigkeit der
erläuterten theoretischen Konzepte verifizieren, die von jener intrinsischen
Verbindung zwischen Stimme und Schrift ausgehen. Den Ausgangspunkt für
diese Verbindung bildet die paramediale Rahmung.22 Uwe Wirth erläutert den
Begriff der »Paramedialität« als »ein Ensemble von Rahmungsverfahren für
Prozesse medialer transkriptiver Bearbeitung […], die von einem schriftlichen
oder mündlichen textuellen Rahmen aus protokolliert, kommentiert und re-
flektiert werden«.23 Bei der Analyse gilt es zu beachten, dass bei aller Medien-
koexistenz gerade die Medienkonkurrenz ein produktives Spannungsfeld für
die Genese Akustischer Literatur induziert. Wenngleich Begriffe wie Inter- und
Transmedialität dem theoretischen Gattungsprinzip Rechnung tragen, bedarf
es in analytischer Hinsicht einer Mediendifferenz, die – wie auch Sybille Krä-
mer ausführt – kategorial trennt, was phänomenal zusammenhängt.24 Die
materiell wahrnehmbare Basis der bimedialen Verfasstheit selbst basiert para-
doxerweise auf dem mediendifferenzierenden (Ideal der) bimedialen Edition.
Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich diese Publikations-
form, deren prominenteste Variante jene des ›Buch+CD‹ ist, dem produktiven
Vorgang akustisch-visueller Texttransformationen verdankt. In diesen beiden
materiell greifbaren Medien manifestiert sich ein prozessuales Textkontinu-
um, das auf permanenten Verweismechanismen basiert.

21 Binczek: Einen Text ›zu umschneiden und von seiner Unterlage abzupräparieren‹, S. 172–
173 und S. 177.
22 Zur Entwicklung des Analysetools der ›paramedialen Rahmung‹ siehe den instruktiven
Aufsatz von Wirth: Akustische Paratextualität, akustische Paramedialität.
23 Ebd., S. 222.
24 Zum methodischen Umgang mit Mediendifferenz bei gleichzeitiger Medieninterferenz
vgl. Sybille Krämer: Sprache, Stimme, Schrift. Zur impliziten Bildlichkeit sprachlicher
Medien. In: Arnulf Deppermann/Angelika Linke (Hg.): Sprache intermedial. Stimme und
Schrift, Bild und Ton. Berlin, New York 2010, S. 13–28, hier S. 13.

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»Schreiben, um gehört zu werden.« Zur Reflexivität und


Performativität der Slam Poetry von Markus Köhle

Anhand von Ausschnitten aus der Slam-Poem-Anthologie Ping-Pong-Poetry25


werden nun die theoretisch-methodischen Ausführungen durch Textbeispiele
des Autors Markus Köhle konkretisiert. Das auf seiner Homepage formulierte
Mission-Statement lautet: »Markus Köhle schreibt, um gehört zu werden«.26
Aus methodischer Perspektive verortet dieses Mission-Statement seine Tex-
te in den Bereichen Lautstilistik, Rhetorik und Ästhetik des Performativen,
die zugleich die Analysekategorien für die Textinterpretation darstellen. Als
»Wortschichtarbeiter«27 weiß er um die »Sogwirkung der Worte«,28 die einen
»Rauschzustand«29 herbeiführen können. Er verpackt Alltagsbeobachtun-
gen und banale Rituale in eine »unübliche Form«,30 die beispielsweise das
Kaffeekochen und -trinken am Morgen zu einem – wie er es nennt – »poe-
tologischen«31 Erlebnis macht. Vor diesem Hintergrund entstehen literarische
Texte, denen auf Inhaltsebene eine theoretische Auseinandersetzung mit der
Frage nach der Intermedialität von Stimme und Schrift eingewoben ist. Der
»Sprachinstallateur«32 – so eine von Köhles Selbstbeschreibungen – spürt
den Genrebedingungen von Slam Poetry nach und reflektiert Schreib- und
Sprechprozesse im performativen Vollzug. Dieses multidirektionale Verhältnis
zwischen theoretischer Grundlegung und praktischer Anwendung der vermit-
telten Inhalte bildet ein Klassifikationsmerkmal von Akustischer Literatur, die
sich in besonderer Weise dazu eignet, ›Theorie-Literatur‹ zu sein, da sich die
Verarbeitung von Klangstrukturen in literarischen Texten als Medienreflexion
par excellence gestaltet: Theoretisch-praktische Feedbackschleifen evozieren
eine selbstreferenzielle Schreibpraxis, die Akustische Literatur ihr Material,
ihre Entstehungsformen und ihre Wirkungsweisen beobachten lässt. Dadurch

25 Mieze Medusa/Markus Köhle (Hg.): Ping Pong Poetry. Die neuen besten Slamtexte. Mit
CD. Wien 2013.
26 Markus Köhle: Markus Köhle – Sprachinstallateur. http://www.autohr.at/ [Stand:
2.6.2017].
27 Zu den folgenden Zitaten siehe Christa Eder: Markus Köhle über Poesie. Die Sogwirkung
der Wörter. 17.2.2012. http://oe1.orf.at/artikel/298126 [Stand: 2.6.2017].
28 Ebd.
29 Ebd.
30 Ebd.
31 Ebd.
32 Köhle: Sprachinstallateur (Homepage).

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entstehen Texte, denen ihre Analyse partiell eingeschrieben ist, der wiederum
das Literarische innewohnt.
Ping-Pong-Poetry ist ein Sammelband, in dem Markus Köhle und Doris Mit-
terbacher alias Mieze Medusa ihre – wie der Untertitel verlautet – neuen besten
Slamtexte als Buch mit CD veröffentlichen. Köhles Text Anstelle eines Vorwor-
tes33 ist ein Beispiel für die soeben skizzierte selbstreferenzielle Schreibpra-
xis. In der für Slam Poetry spezifischen Form und Ausdrucksweise werden auf
Inhaltsebene genretypische Merkmale vermittelt: Slam Poetry »klopft die
Sprache auf ihren Rhythmus ab«, »baut auf Wiederholungen«, »spielt mit
Worten«, »experimentiert mit Formen«, »horcht tief ins Wortinnere« und
erzeugt dadurch »einen eigenen Sound« (AeV 17–18). Diese hybride Textform
»ist nicht Lyrik, nicht Prosa, nicht Theater« (AeV 17) und entzieht sich insofern
einer klassischen Gattungszuordnung und dem dazugehörigen Analyseinstru-
mentarium. Sie enthält metrische und rhetorische Figuren, wie sie für Lyrik
charakteristisch sind, zählt aber auch zur Erzählprosa in ungebundener Spra-
che, die »[…] vom Vortrag [lebt; EF]« (AeV 17). Daraus folgt: »Slam Poetry muss
gehört werden. Slam Poetry muss gelesen werden« (AeV 17).34

Fingierte Mündlichkeit: Sprachrhythmus in Markus Köhles


Text Sprecht!

Wie weiter oben erwähnt ist Rhythmus das konstitutive Merkmal der Slam
Poetry. Ausgangspunkte für eine sprachrhythmische Analyse sind die Mittel
der Repetition und der Variation. Im Folgenden wird der Slamtext Sprecht!35

33 Die folgende Merkmalsauflistung ist dem selbstreferenziellen Slamtext. Anstelle eines


Vorworts von Markus Köhle entnommen: Markus Köhle: Anstelle eines Vorworts. In: Mie-
ze Medusa/Markus Köhle (Hg.): Ping Pong Poetry. Die neuen besten Slamtexte. Mit CD.
Wien 2013, S. 17–18. In der Folge zitiert als Fließtextzitat mit der Sigle AeV und Seitenzahl
in runden Klammern.
34 Weitere Texte des Bandes Ping Pong Poetry, die auf ähnliche Art Schreib- und Sprechwei-
sen der Slam Poetry im performativen Vollzug reflektieren, sind: ÜABC und dDiA (Über
Authentizität, Bühnenkompatibilität, Charme und das Dichten im Allgemeinen) oder: So
wird das Nichts. Das wird so nichts. Aus der Serie: Innere Zwiespaltdialoge (AeV 83–86),
Warum noch immer kein Schwein weiß, was ein Gedicht ist, aber jeder Trottel glaubt, es wis-
sen zu müssen! (AeV 93–96), Durch/Schnitt/Kunst (AeV 107–109), Dieser Text ist käuflich
(AeV 113–115), Grummel. Gram. Grammatik (AeV 120–122) und Nichts ist stärker als Sätze
(AeV 176–177).
35 Markus Köhle: Sprecht! In: Mieze Medusa/Markus Köhle (Hg.): Ping Pong Poetry. Die neu-
en besten Slamtexte. Mit CD. Wien 2013, hier S. 14–16. In der Folge zitiert als Fließtextzitat
mit der Sigle Spr. und Seitenzahl sowie ggf. Zeitangaben in runden Klammern.

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im Hinblick auf die Dimension des Sprachrhythmus untersucht. Sein zentra-


les Rhythmisierungselement ist jenes der Wortwiederholung. Bereits der Titel
kündigt an, dass der Wortstamm ›sprech‹ eine konstitutive Rolle spielt: Er wird
insgesamt 35 Mal wiederholt. Wird ein Begriff derart häufig verwendet, geht
dies mit einer semantischen Reduktion einher, wodurch Raum für ästhetische
Effekte – nämlich Rhythmisierung – geschaffen wird.36 Die leitmotivische
Funktion von ›sprech‹, die die formale und inhaltliche Ausrichtung des Tex-
tes steuert, wird dadurch verstärkt, dass das Morphem in diversen Komposita
und grammatischen Derivationen variiert wird, zum Beispiel: »Fernsprecher«,
»Gernsprecher«, »Schönsprecher«, »Ich bin kein Schul-, aber ein klasse Spre-
cher« (Spr. 14), »Ich verspreche mich der Ferne sowie Sonne, Mond und Sterne
und der Sprache sowieso.« (Spr. 15) Dem thematischen Grundtenor entspre-
chend nimmt auch das Wort »Wort« eine prominente Position ein:

Ich habe keine Angst vor Worten,


Worte sind auch nur Sprechknoten der Stimmbänder.
[…]
Gut, Worte können schon auch Prankenhiebe im
Verständigungsgetriebe und Pollerbrüste der Artikulationsgelüste sein.
[…]
Worte sind zwar die verbale Munition der Kommunikation, aber Worte
schießen nicht!
[…]
Ich bin kein Wortverbrecher, ich bin kein Wortversprecher […] (Spr. 14–
15; Min. 01:33–02:06)

Ähnlich verhält es sich mit dem Wort »Satz«, das im Satz »Ich bin ein Satz-
Satz-Satz-Satz-Repetier-Repetier.« (Spr. 14; Min. 00:51–00:55) vier Mal hin-
tereinander in steigernder Schriftgröße wiederholt wird.37 Form und Inhalt
dieses Satzes stehen selbstreferenziell und performativ für die Programma-
tik des Textes und exponieren die Eindringlichkeit der Wiederholung und/
als Rhythmisierung. Die semantische Ebene dieses Satzes findet sein Pendant

36 Vgl. hierzu die verdienstvolle Aufarbeitung klanggenerierender literarischer Mittel in


Axel Diller: »Ein literarischer Komponist?«. Musikalische Strukturen in der späten Prosa
Thomas Bernhards. Heidelberg 2011, hier S. 115. Siehe dort außerdem insbesondere die
Kapitel »Wiederholung als Form-Generator«, S. 114–116 und »›...das muss halt auf die Silbe
genau stimmen!‹ – Rhythmus«, S. 116–124.
37 Siehe zur typographischen Umsetzung von Mündlichkeitsmerkmalen auch den Beitrag
von Thomas Boyken in diesem Band.

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in der tatsächlichen Wiederholung von Sätzen im Textverlauf, nämlich: »Ich


bin ein Fernsprecher, ein Fürsprecher der Ferne.« (Dieser Satz kommt zwei
Mal vor: Spr. 14; Min. 00:05–00:10 und Spr. 15; Min. 02:15–02:18.) Anhand des
Satz-Repetier-Zitats sei auch auf die Möglichkeit der Rhythmisierung bzw. Ver-
klanglichung durch typographische Mittel hingewiesen: Die kontinuierliche
Steigerung der Schriftgröße transportiert ein stetes Anheben der Lautstärke
(dieses Crescendo kann über eine Höranalyse der akustischen Textrealisierung
(Spr. Min. 00:51–00:55) verifiziert werden). Ähnlich verhält es sich mit Wörtern
in Majuskeln, die Betonungen evozieren und dadurch weitere Rhythmusbewe-
gungen in den Text einführen:

Ich bin ein SPRECHT! SPRECHT! SPRECHT! SPRECHT!


Ich klopfe, picke, poche auf Worte, und insofern bin ich nah dran, an
dem, was mir wichtig: Ich spreche nicht verhalten,
ICH SPRECHE MICH AUS! (Spr. 16; Min. 04:07–04:20)

Im letzten Textabschnitt passiert ein Sonderfall der Wortwiederholung –


verbum contra verbum:38 Hierbei handelt es sich um eine quasi kontrapunkti-
sche Anordnung zweier Konträrbegriffe, wodurch eine antithetische Struktur
evoziert wird. Das Wort »fern«, das im Textverlauf insgesamt 21 Wiederholun-
gen aufweist, wird in der Abschlusspassage in Opposition zu »nah« gestellt.
Das abwechselnde Aufgreifen dieser beiden Wörter erzeugt ein »Fließen im
Duktus der Regelmäßigkeit«,39 was in der Philosophie der griechischen Antike
den Bedeutungskern des Rhythmusbegriffes darstellt.40

Ich bin keine Fernzugauskunftsstelle und auch keine


Nahtoderfahrungsendtunnelhelle.
Ich bin ein Ferndiagnosen-pauschal-in-Frage-Steller und ein
Naheverhältnismäßiger Megaseller.
Ich bin kein Fernmünzsprechanlageberater und auch kein
Nahkampffußgängerzonenmaronibrater.
Ich bin ein Fernbeziehungsschlichter und
Nahgeschlechtsverkehrsverrichter.
Ich bin nicht für Fernreisezielrohrblattschüsse.
Ich bin für Nahversorgungsküsse. (Spr. 16; Min. 03:42–04:06)

38 Vgl. Diller: Ein literarischer Komponist, S. 230–246.


39 Lommel: Der Rhythmus als intermodale Kategorie, S. 80.
40 Vgl. ebd.

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Rhythmisierung stellt sich außerdem durch die Wiederholung gleicher


Silbenzahlen verschiedener Wörter ein, wie beispielsweise die Analogisierung
der Viersilbigkeit bei »Ich bin ein Sprachbilderbuch, bin ein Sprechblasen-
bruch« (Spr. 14) zeigt. Ferner entsteht Rhythmisierung auf phonemisch-
graphematischer Ebene durch Assonanzen, Alliterationen und konsonantische
Rekurrenzen sowie durch syntaktische Parallelführungen, was sich in folgen-
der Passage akkumuliert:

Ich bin ein Mini-Sprech-Stück für Hinz und Kunz.


Hinz: Grinst.
Kunz: Grunzt.
Hinz: Spinnst?
Kunz: KUNST! (Spr. 15; Min. 02:29–02:39)

Wie die rhetorisch-lautstilistische Untersuchung zeigt, können in diesem Slam


Poem Merkmale identifiziert werden, die ob ihrer Klanglichkeit darauf hin-
weisen, dass der Text mit Rücksicht auf den lauten Vortrag verfasst wurde. Die
stimmlich-auditive Performanz stellt ein konstitutives Merkmal von Slam Po-
etry dar und ruft folgende theoretisch-methodische Fragen auf: Welche klan-
glichen Aspekte sind im Schrifttext grundgelegt? Inwiefern transportiert der
Hörtext Merkmale seiner schriftlichen Genese? Und was passiert, »wenn der
geschriebene Text Stimme wird«?41

Inszenierte Schriftlichkeit: Akustische Textperformanz und das


Phänomen Stimme – ein Analyseausblick

Die erklingende Stimme als »so etwas wie der archimedische Punkt«42 von
Akustischer Literatur im Allgemeinen und Slam Poetry im Besonderen bedient
semiotisch betrachtet drei Zeichenkategorien: Als verbales Zeichen korreliert
die Stimme mit dem Zeichensystem ›Sprache‹; als paraverbales Zeichen kann
sie dieses durch Idiolekt, Dialekt und Intonation affirmieren, unterminieren
oder auch konterkarieren; als nonverbales Zeichen in Form von Schluchzen,

41 Dieser Ausgangspunkt rekurriert auf ein Diktum Paul Zumthors, das er in seinem pro-
grammatischen Aufsatz Körper und Performanz formuliert: »Wenn der geschriebene Text
Stimme wird, wandelt er sich grundlegend.« Siehe Paul Zumthor: Körper und Perfor-
manz. In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunika-
tion. Frankfurt am Main 1988, S. 703–713, hier S. 708–709.
42 Werner Klippert: Elemente des Hörspiels. Stuttgart 1977, S. 11.

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Seufzen, Lachen, Stöhnen etc. erfüllt sie Funktionen der Stimmungsvermitt-


lung, Affektgestaltung und Figurencharakterisierung.43
Im Zuge der Verstimmlichung tritt ein Text tatsächlich in den Bereich der
Performativität ein, die dadurch von einem theoretischen Konzept zu einem
unmittelbar wahrnehmbaren Phänomen wird. Die Stimme als »Spur unseres
individuellen wie auch sozialen Körpers« ist ein »performatives Phänomen
par excellence«.44 Zusätzlich zum Aspekt der Verkörperung kommt es in
Stimmereignissen zur effektiven Verschränkung der zwei zentralen Koordi-
naten des Performanzbegriffes ›Ausführung‹ und ›Aufführung‹: Das Erheben
der Stimme evoziert Hic-et-Nunc-Situationen, »in denen etwas sagen etwas
tun heißt«.45 Bedeutungsvermittlung kann nur in Anwesenheit Anderer (und
sei dies die »Selbstspaltung zwischen mir als Sprechendem und mir als Hö-
rendem«46) erfolgen, die dem Stimmereignis beiwohnen. So ist der Stimme
ein Aufführungscharakter inhärent, der mit einer Exponierung – also einer
Ausstellung und einem Ausgestelltsein – der Sprechenden einhergeht.47 Die
Stimme bringt dabei eine psycho-physische Verfasstheit nicht nur zum Aus-
druck, sondern ist Teil dieser Verfasstheit. Sie verdankt sich internen kör-
perlichen Bewegungen und tritt insofern als ›E-Motion‹ zutage, die sich der
Kontrolle in letzter Konsequenz auch entziehen kann.48 Gleichermaßen in
den Akt der Aufführung involviert sind die Hörenden, die sich der Wirkung
einer Stimme kaum entziehen können, denn »es gibt keine menschliche Stim-
me auf der Welt, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder des Abscheus«.49
Stimmen betreffen uns affektiv und unmittelbar und werden mit dem ganzen

43 Vgl. Götz Schmedes: Medientext Hörspiel. Ansätze einer Hörspielsemiotik am Beispiel


der Radioarbeiten Alfred Behrens. Münster 2002, S. 74–77.
44 Doris Kolesch/Sybille Krämer: Stimmen im Konzert der Disziplinen. Zur Einführung in
diesen Band. In: Doris Kolesch/Sybille Krämer (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phäno-
men. Frankfurt am Main 2006, S. 7–15, hier S. 11.
45 John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Zweite Vorlesung. Aus dem Englischen von
Eike von Savigny. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kul-
turwissenschaften. Frankfurt am Main 2002, S. 63–71, hier S. 63.
46 Bernhard Waldenfels: Stimme am Leitfaden des Leibes. In: Cornelia Epping-Jäger/Erika
Linz (Hg.): Medien/Stimmen. Köln 2003, S. 19–35, hier S. 24.
47 Vgl. Kolesch/Krämer: Stimmen im Konzert der Disziplinen, S. 11.
48 Vgl. Sybille Krämer: Die ›Rehabilitierung der Stimme‹. Über die Oralität hinaus. In: Do-
ris Kolesch/Sybille Krämer (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am
Main 2006, S. 269–295, hier S. 275.
49 Roland Barthes: Die Musik, die Stimme, die Sprache. In: Roland Barthes: Der entgegen-
kommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Aus dem Französischen von Dieter
Hornig. Frankfurt am Main 1990, S. 279–285, hier S. 280.

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Körper wahrgenommen. Gernot Böhme spricht hier von »eigenleiblichem


Spüren«50 und betont dadurch die Körpergebundenheit der Wahrnehmung.
So elaboriert das geistes- und kulturwissenschaftliche Theoriegebäude
zum Phänomen Stimme errichtet ist, so diffizil erweist sich die methodi-
sche Umsetzung in der konkreten Textanalyse. Oft bleibt die Beschreibung
von Klangereignissen in metaphorischen Sphären verhaftet. Die begriffliche
Fassbarkeit der erklingenden literarischen Erzählstimme stellt eine Heraus-
forderung für die Performanzanalyse von Slam Poetry dar. Es bedarf eines
Stimmbegriffes, der weniger die anthropologische Bedeutung der Stimme in
den Blick nimmt, sondern die Stimme als Werkzeug51 fokussiert. Hier kommen
Aspekte der Sprechkunst und der Sprechwirkung zum Tragen, deren Basis ein
phonetischer Stimmbegriff bildet. Die Beschreibungssysteme des phoneti-
schen Stimmbegriffs stammen großteils aus empirischen Studien und bündeln
anatomisch-physiologische, artikulatorische und ausdruckspsychologische
Komponenten. Im Sinne der Entwicklung eines literaturwissenschaftlich
profitablen Analysemodells gilt es, die jeweiligen Potentiale von abstrakter
Theorie einerseits und von empirischem Experiment andererseits zu einem
produktiven Beschreibungsinstrumentarium für Stimmtexte bzw. Textstim-
men interdisziplinär zu verknüpfen.52 In der noch ausstehenden Aufarbei-
tung dieses Desiderats sollten Untersuchungsdesigns entwickelt werden, die
danach fragen, inwiefern das erstellte Stimmprofil mit Form und Inhalt des
Schrifttextes in Verbindung steht.
In einem Sprechstil bündelt sich die Gesamtheit aller individuellen, sozia-
len, situativen, habituellen und konventionellen Faktoren, die eine Äußerung
beeinflussen. Folgende stimmlich-artikulatorischen Parameter sind für den
Ausdruck einer Äußerung verantwortlich: Sprechtonhöhe, Stimmklang,
Lautheit, Sprechgeschwindigkeit, Akzentuierung, Sprechrhythmus, Sprech-
spannung und Artikulation. Bei sprechkünstlerischen Äußerungen ist davon
auszugehen, dass einzelne Parameter überformt werden, um gestalterische
Effekte zu erzielen.53 Der Personalstil eines Autors/einer Autorin steht mit

50 Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt am Main 1995, S. 93.
51 Vgl. Cornelia Epping-Jäger: Stimmwerkzeuge. In: Natalie Binczek/Till Dembeck/Jörgen
Schäfer (Hg.): Handbuch Medien der Literatur. Berlin, Boston 2013, S. 79–98, hier S. 80.
52 Dieser Ansatz greift ein von Ines Bose formuliertes Desiderat auf: »Insbesondere sind die
zahlreichen geisteswissenschaftlichen Perspektiven, aus denen Stimme und stimmlich-
artikulatorischer Ausdruck aktuell thematisiert wird, zu berücksichtigen und miteinan-
der in Beziehung zu bringen«. Ines Bose: Stimmlich-artikulatorischer Ausdruck in der
Sprache. In: Arnulf Deppermann/Angelika Linke (Hg.): Sprache intermedial. Stimme und
Schrift, Bild und Ton. Berlin, New York 2010, S. 29–68, hier S. 60.
53 Vgl. ebd., S. 29 und S. 36 sowie Eva-Maria Krech u.a.: Sprechwirkung. Grundfragen, Metho-
den und Ergebnisse ihrer Erforschung. Berlin 1991. Siehe insbesondere das von Eva-Maria

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dem Texttyp und -genre in Verbindung, in dem der Sprechakt artikuliert wird.
Wenngleich Rhetorik, Phonetik, Sprechwissenschaft und ähnliche Diszipli-
nen, die mit einem anatomisch-physiologischen Stimmbegriff operieren, den
stimmlich-artikulatorischen Ausdruck zu beschreiben vermögen, lassen sich
die auditiven Perzeptionsvorgänge empirisch nur sehr schwer fassen. Die
Wahrnehmung des flüchtigen Klangereignisses ist ein komplexer Prozess,
der sich nicht immer in einzelne Komponenten aufschlüsseln lässt, aber trotz
aller Komplexität seiner Genese einen relativ klaren Gesamteindruck bei den
Rezipienten und Rezipientinnen evoziert.54 So sei abschließend noch einmal
auf den akustischen Gesamteindruck verwiesen, den der Sprach- und Sprech-
künstler Markus Köhle hinterlässt: Sein Slam-Poetry-Sprechstil zeichnet sich
durch eine schnelle Sprechgeschwindigkeit, eine starke Akzentuierung und
eine präzise Artikulation aus. Einen zentralen Stellenwert nimmt der Sprech-
rhythmus ein, indem er durch starke Akzentsetzungen hervorgestrichen
wird.55

Zusammenfassung

Am Beispiel des Genres Slam Poetry wurde gezeigt, wie Interferenzen zwi-
schen Mündlichkeit und Schriftlichkeit als poetische Strategien für literarische
Textpraxen fruchtbar gemacht werden können. Sie generieren eine Akustische
Literatur, die auf dem systemhaften Zusammenhang zwischen Sprache und
Klanglichkeit und der thematisch-strukturellen Verarbeitung von Lauter-
eignissen beruht. Es entsteht ein bimediales Geflecht aus Schrifttext und
Hörtext. Der Schrifttext fingiert Stimme und Klang im Medium der Schrift,
die das Klangereignis imitiert, reflektiert und antizipiert. Der Hörtext insze-
niert den Schrifttext und bringt ihn als tatsächliches Klangereignis zur Auf-
führung, die wiederum auf ihre schriftliche Genese verweist. Die Performanz
von Klangstrukturen in literarischen Texten gestaltet sich als Medienreflexion
par excellence. Die spezifische Anordnung von Buchstaben, Worten, Sätzen

Krech verfasste 4. Kapitel »Wirkungen und Wirkungsbedingungen sprechkünstlerischer


Äußerungen«, S. 193–250.
54 Vgl. Bose: Stimmlich-artikulatorischer Ausdruck, S. 29.
55 Diese Charakterisierung von Köhles Slam-Poetry-Sprechstil basiert auf einer Höranalyse
seiner Ping-Pong-Poetry-Sprechtexte, die mit den von Ines Bose zur Disposition gestellten
Parametern zur Beschreibung des stimmlich-artikulatorischen Ausdrucks klassifiziert
wurden – siehe Bose: Stimmlich-artikulatorischer Ausdruck, S. 35–36.

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und Absätzen erzeugt rhythmische Effekte, die den Wortsinn überschreiten-


de Bedeutungshorizonte eröffnen. Insofern erweist sich das für Slam Poetry
konstitutive Merkmal des Sprachrhythmus’ als bedeutungsgenerierendes
Gliederungsprinzip zwischen Form und Sinn, dessen stimmliche Performanz
gleichsam Ursprung und Ziel des ästhetischen Erlebens ist.

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