Sie sind auf Seite 1von 17

Stephanie Marx

Schreiben über Exil und Shoah


Fred Wanders Korrespondenz mit dem Aufbau Verlag
zu Hôtel Baalbek

1 Kostbare Notizen
Die SERO, die Sekundär-Rohstofferfassung, der in der DDR die Annahme und
Weiterverteilung von Altstoffen oblag, zahlte für ein Kilo unsortierter Papier- und
Pappenabfälle 20 Pfennig (SERO o.J.). Für Kinder ein nicht unerheblicher Betrag:
20 Pfennig waren immerhin in etwa so viel, wie eine Kugel Eis in der DDR kostete.
Wer Kindern also einen Gefallen tun wollte, gab ihnen alte Flaschen, Dosen, aber
auch Zeitungen und Altpapier aus den Haushalten, damit sie sich ihr Taschengeld
aufbessern konnten. Dies tat auch der österreichische Schriftsteller Fred Wander
(1917–2006), der zwischen 1955 und 1984 in der DDR lebte. Seine Freigiebigkeit
erklärt, dass sich zu seinen Werken kaum Notizen finden lassen; diese überließ er
den Kindern der Nachbarschaft. Gleichzeitig lässt sich daran das Selbstverständ-
nis eines Autors ablesen, der nicht davon ausging, dass die Skizzen zu seinen
literarischen Arbeiten überhaupt für irgendwen von Interesse sein könnten. Dem-
entsprechend wurden Wanders Typoskripte und konzeptuellen Überlegungen
erst in dem Moment kostbar, als sie, auf ihre Materialität reduziert, keinen Zweck
mehr als Notizen erfüllten; als sie zu Altpapier wurden und sich so in Eise
umrechnen ließen.1
Ab den 1980er Jahren begann Susanne Wander die Vorarbeiten zu den
literarischen Werken ihres Mannes zu sammeln und zu archivieren; konsequent
setzte sie dies spätestens seit den 1990ern um. Ihr ist es zu verdanken, dass
überhaupt Unterlagen erhalten sind, anhand derer die Entstehung von Wanders
Publikationen nachvollzogen werden kann. Für das in diesem Beitrag besproche-
ne Werk, Wanders Roman Hôtel Baalbek (1991), ist dies seine Korrespondenz mit
dem Aufbau Verlag.2 Sie ist Teil von Wanders Nachlass, der seit 2015 im Literatur-

1 So erzählte seine Frau Susanne Wander bei einem Treffen am 07. März 2019. Ihr gilt mein
herzlicher Dank für ihre Unterstützung und die Erlaubnis zur Verwendung der Korrespondenz
zwischen Fred Wander und dem Aufbau Verlag in diesem Beitrag.
2 Bei Aufbau waren bereits Wanders Erzählungen Der siebente Brunnen und Ein Zimmer in Paris
erschienen. Auch nachdem er nach Österreich zurückgekehrt war, gab es einen regelmäßigen
Austausch mit dem Verlag, bei dem Hôtel Baalbek schlussendlich auch erstveröffentlicht wurde.

https://doi.org/10.1515/yejls-2019-0013

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
Schreiben über Exil und Shoah 251

archiv der Akademie der Künste in Berlin liegt. Die Verlagskorrespondenz ver-
deutlicht, dass Wander bei allem ‚sachlichen‘ Umgang mit den eigenen Aufzeich-
nungen kein Autor war, der eine einmal gefasste Idee nur noch sprachlich
abarbeiten würde. Seine Schreiben an den Verlag zeugen von einem kreativen
Schaffensprozess, der nicht teleologisch vonstattenging, sondern durch ein be-
ständiges Changieren gekennzeichnet war – ein Changieren, das nicht nur nicht
aufgelöst wird, sondern das auch die Besonderheit von Hôtel Baalbek ausmacht.3

2 Exil und Shoah


In Hôtel Baalbek berichtet ein namenloser Erzähler rückblickend von seiner Zeit
im titelgebenden Hotel Baalbek in Marseille und den darauffolgenden Jahren.
Nachdem er aus Österreich geflüchtet ist und bereits mehrere Jahre im französi-
schen Exil verbracht hat, findet er sich im August 1942 in diesem heruntergekom-
menen Haus im Hafenviertel der Stadt wieder. Im Baalbek ist eine Vielzahl vor
allem jüdischer Emigrant_innen untergekommen, die vor den Nazis geflohen sind
und von Marseille aus Europa verlassen wollen. Ausführlich berichtet der Erzäh-
ler von diesem Sommer und den Lebensumständen auf der Flucht; und er erzählt
von den Gästen des Hotel Baalbek, von den Geschichten derer, die ihm hier
begegnet sind, aber auch von ihrem Tod. Denn für den Erzähler und fast alle
Bewohner_innen dieses Hauses endet der Aufenthalt mit der Deportation in
deutsche Konzentrationslager. Die Romanhandlung hat eine große Nähe zu Wan-
ders Biographie: 1938 war er aus Österreich geflohen und hatte mehrere Jahre im
französischen Exil verbracht, bis er 1942 verhaftet und nach Auschwitz und später
in die Lager Groß-Rosen und Buchenwald deportiert wurde (Mortier 2009).
Dem Aufbau Verlag kündigt Wander seinen Roman erstmals 1985 an. In
einem Brief vom 18. August 1985 spricht er gegenüber seiner Ansprechperson
Helga Thron von einem Hotelbuch, das er zu schreiben gedenkt (Wander 1985, Bl.
2). Als sich Thron im Dezember 1986 danach erkundigt, antwortet Wander, dass
er begonnen hat, an einer Geschichte vom Exil in Marseille zu arbeiten (Wander
1986). Der Roman erhält in der Folge den Arbeitstitel Marseille 42 (Wander 1988b).
1988 möchte er dem Aufbau Verlag das erste Kapitel zukommen lassen. Er ver-
fasst hierfür gleich zwei Begleitschreiben, eines mit Datierung vom 1. Mai 1988

3 Der vorliegende Beitrag basiert auf den Ergebnissen der Masterarbeit Erinnerndes Erzählen von
Exil und Shoah. Narrative Räume bei Fred Wander, eingereicht im Bereich Neuere deutsche
Literatur bei Univ.-Prof. Dr. Annegret Pelz am Institut für Germanistik der Universität Wien. Für
diesen Artikel wurden die Überlegungen überarbeitet, neu zusammengestellt und um die Aus-
führungen zur Verlagskorrespondenz zu Hôtel Baalbek erweitert. Vgl. dazu Marx 2018.

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
252 Stephanie Marx

und ein weiteres vom 14. Juni 1988, die den Roman allerdings sehr unterschied-
lich ankündigen. Im Brief vom 1. Mai formuliert Wander:

Das Thema? Ein Emigrantenhotel[,] Marseille, Sommer 1942, der verzweifelte Versuch von
vielleicht 40 Menschen, die ich unter die Lupe nehme, den Deutschen zu entkommen. [...]
Mein Stoff ist – wie ich die Juden entdecke. Im Parterre und 1. Stock, die Marktjuden, weiter
oben die Dichter und Denker, jüdische Ärzte, Ingenieure, Spinner, Träumer, Weltverbesserer
und immer wieder ein Dichter. (Wander 1988 a, kursiv i. O. gesperrt)

Wander betont hier die Aspekte Flucht und Exil. Das Hotel als Handlungsort
und Fragen nach jüdischer Identität stehen als zentrale Themen im Vorder-
grund. Dass viele der „jüdische[n] Ärzte, Ingenieure, Spinner, Träumer, Welt-
verbesserer“ im Konzentrationslager sterben werden, findet keine Erwähnung.
Im Begleitschreiben vom 14. Juni setzt Wander einen anderen Schwerpunkt:
Dass vom Exil erzählt wird, tritt hier stark zurück und fungiert entsprechend
Wanders Darstellung nur noch als äußerer Rahmen, denn „das zentrale Thema“
von Hôtel Baalbek sei, „[w]ie im Siebenten Brunnen, [...] einigen von den Dort-
gebliebenen ein Gesicht [zu] geben“ (Wander 1988b).4 Er wolle „in die abstrakte
Zahl sechs Millionen Juden, ein Stück Leben einhauchen“ (Wander 1988b). In
diesem Schreiben wird Hôtel Baalbek als ein Roman über die Shoah und deren
Opfer angekündigt.
Welches der beiden Schreiben schließlich die Sendung des ersten Kapitels
an den Verlag begleitet hat, konnte bisher nicht festgestellt werden.5 Doch die
wechselnde Darstellung von Hôtel Baalbek – als Roman über Flucht und Exil
oder als Roman über die Shoah – findet sich auch in der Folgezeit in den Briefen
an den Verlag. Was sich hingegen nicht finden lässt, ist eine Beschreibung von
Hôtel Baalbek als einem Roman, der von Flucht und Exil und von der Shoah
handelt.

4 Der siebente Brunnen wurde 1971 veröffentlicht und ist Wanders meistbesprochenes literari-
sches Werk. Hierin erinnert sich ein namenloser Ich-Erzähler an seine Zeit in den Konzentrations-
lagern Groß-Rosen und Buchenwald und legt umfassend Zeugnis ab von denen, die selbst nicht
mehr sprechen können (Wander 2005). Die Erzählung ist autobiographisch gefärbt und wird in
der Forschung als Zeugnisliteratur von der Shoah rezipiert (bspw. Reiter, 1995; Schneider, 2012).
5 Susanne Wander vermutet, dass beide Schreiben an den Aufbau Verlag geschickt wurden, dass
das angekündigte Manuskript allerdings erst mit dem Schreiben vom 14. Juni 1988 übermittelt
wurde (E-Mail von Susanne Wander vom 06.05.2019).

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
Schreiben über Exil und Shoah 253

Abb.: Zwei Begleitschreiben zur Übermittlung des ersten Kapitels von Hôtel Baalbek an den
Aufbau Verlag. Vorne vom 01. Mai 1988, darunter vom 14. Juni 1988 (Wander 1988 a, 1988b).

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
254 Stephanie Marx

Auch wenn Wander dies in der Korrespondenz nicht thematisiert, die Trennung
der verhandelten Thematiken ist aus literaturwissenschaftlicher Perspektive
durchaus stimmig. Entsprechend der etablierten Kategorien werden Exilliteratur
und Literatur über die Shoah vornehmlich getrennt voneinander behandelt. Dass
zwischen beidem unterschieden wird, hängt dabei mit der Festlegung der Gegen-
standsbereiche zusammen. So wurden die längste Zeit nur diejenigen Werke
unter den Begriff Exilliteratur subsumiert, die zwischen 1933 und 1945 verfasst
wurden – und in denen die Shoah entsprechend kaum thematisiert werden
konnte (Bannasch et al. 2016, 9–14). Doch auch wenn Exilliteratur nicht über den
Zeitpunkt ihrer Entstehung fixiert wird, fällt auf, dass sich kaum literarische
Werke finden lassen, die davon erzählen, dass die Zeit des Exils mit der Deporta-
tion endet.6 Tatsächlich gibt es auch kaum Zeitzeug_innen, die eine solche miss-
glückte Flucht erlebt bzw. überlebt haben: Von den aus Frankreich deportierten
Jüd_innen, so der Historiker Henry Rousso (2009, 102–103), überlebten überhaupt
nur knapp drei Prozent. Wenn also der Erzähler von Hôtel Baalbek von seinem
Schicksal im französischen Exil und vom Konzentrationslager erzählen kann,
dann ist dies nicht nur literaturgeschichtlich ungewöhnlich, sondern stellt auch
historisch eine Besonderheit dar. Gerade dieses Extraordinäre ist es allerdings,
dem bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.7 Dabei verspricht eine
Lektüre, die der Verbindung der Themen im Roman nachgeht, ein neues Licht auf
das Erzählen von Flucht und Exil sowie von der Shoah werfen zu können.

3 Eine schwierige Chronologie


Hôtel Baalbek beginnt mit einer Episode im Hotel Anfang August 1942. Es wird
geschildert, wie einer der Hotelgäste, der Schneider Jablonsky, verstört ins Baal-

6 Im internationalen Jahrbuch der Exilforschung mit dem Ausgabenschwerpunkt Exil und Shoah
(2016) wird in keinem der besprochenen Texte das Erzählen von Exil und Shoah wie bei Wander
miteinander verbunden (Bannasch et al. 2016). Auch im Handbuch der deutschsprachigen Exil-
literatur (2013), in dem 60 Einzelanalysen von kanonischen, teilweise aber auch wenig bekannten
Texten der Exilliteratur vorgenommen werden, lässt sich kein vergleichbares Werk finden (Ban-
nasch und Rochus 2013).
7 Silvia Ulrich (2014, 121) spricht davon, dass in Hôtel Baalbek „beide Motive – Deportation und
Exil – deutlich miteinander verflochten“ sind, geht allerdings nicht näher auf diesen Umstand
ein. Insgesamt lassen sich nur wenige literaturwissenschaftliche Besprechungen zu Hôtel Baalbek
finden. Abgesehen von einigen kürzeren Rezensionen wird der Roman in vielen Arbeiten zu
Wander neben seinen anderen Publikationen miterwähnt. Eine Ausnahme stellen die Aufsätze
von Maria Kublitz-Kramer dar, in denen das Erzählen vom Exil und das Hotel als zentraler
Handlungsort im Vordergrund stehen (Kublitz-Kramer 2005, 2017).

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
Schreiben über Exil und Shoah 255

bek zurückkehrt. Dieser glaubt auf den Straßen von Marseille seine Tochter Katja
gesehen zu haben – doch Katja hatte Marseille wenige Tage zuvor mit dem Schiff
nach Martinique verlassen. Die Hotelbewohner_innen, die sich „in dem nach
Essig und Zigarettenasche stinkenden Frühstücksraum“ (Wander 2010, 5)8 auf-
halten, diskutieren das Ereignis heftig. Schnell erhalten die Leser_innen so einen
Eindruck vom Hotel Baalbek, diesem „Wespennest“, „Gespensterhaus“ und „Get-
to, eine[r] versunkene[n] Welt“ (12), das in diesen Tagen von einer „Inflation von
Nachrichten und Latrinengerüchten, die einander jagten, steigerten und wieder
entwerteten“ (9), heimgesucht wird. Eindrücklich beschreibt der Erzähler die sich
in der Hitze Marseilles steigernde Gereiztheit und Unsicherheit der Geflüchteten,
ihre verzweifelten Versuche, sich in ständiger Angst vor den näher rückenden
Deutschen Schiffstickets und die benötigten Papiere zu beschaffen. Diese Schil-
derungen stellen den umfangreichsten Teil des Romans dar, doch umfassen die
Erinnerungen des Erzählers, wenn auch nur kursorisch, auch die Inhaftierung in
deutschen Konzentrationslagern und die Folgezeit bis ins Jahr 1963.
Von der Zeit in Marseille und der anschließenden Deportation und Lagerhaft
wird in Hôtel Baalbek nicht chronologisch berichtet. Stattdessen überkreuzen sich
das Erzählen von Flucht und Exil und von der Shoah vielfach. Diese Diskontinui-
tät in der Darstellung wird vom Erzähler auch problematisiert, der beständig um
die Rekonstruktion der Ereignisse ringt: Er schweift ab – „Und wie kam ich
eigentlich dahin? Apropos, die Worte Untergrund und Kellergewölbe des mensch-
lichen Wesens sagen gar nichts“ (70) –, korrigiert sich – „Nein, ich muß diese
Geschichte ganz anders aufziehen“ (79) – und versucht den roten Faden zu
behalten – „Katja hatte mich ins Baalbek geschleppt, richtig, ich sagte es schon“
(71). Zudem wird die Erzählchronologie wiederholt unterbrochen, um die Ge-
schichte einzelner Hotelgäste zu erzählen. Die Schilderung des Streits eines
älteren Ehepaars, den der Erzähler – wie in diesem Hotel üblich – durch eine nur
angelehnte Zimmertür mithört, schließt beispielsweise mit den Worten:

Ich hab die beiden Alten wenige Wochen später im Zug gesehen, in dem langen Zug nach
Auschwitz. Sie sind nicht angekommen, sind auf dem Transport gestorben. Man konnte von
Glück sagen, wenn man dort nicht ankam, wenn es einem erspart blieb, was wir gesehen
haben. (16)

Der Erzähler nimmt die Erinnerung an das Aufeinandertreffen im Hotel Baalbek


zum Anlass, Informationen über die Personen bruchstückhaft in den Erzählver-
lauf einzubinden. So auch die Geschichte Paul Friedländers, dem der Erzähler

8 Zitatnachweise aus diesem Werk werden im Folgenden unter Nennung der Seitenzahl (in
Klammern) angegeben.

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
256 Stephanie Marx

erstmals im französischen Internierungslager Meslay-du-Maine und nun in Mar-


seille begegnet. Bei Friedländers Ankunft im Baalbek – „Auch ich habe unter den
Neuen einen Bekannten entdeckt, erst höre ich unten, im Treppenhaus des Hotels,
nur seine tiefe, melodische Stimme“ (37) – wird ausführlich dessen ganze (Famili-
en-)Geschichte bis zu Friedländers Tod berichtet, den der Erzähler „ein halbes
Jahr später, [...] auf einer Baustelle des Lagers Groß-Rosen“ (44) miterlebt hat.
Die für den Erzähler bestehende Schwierigkeit, die Reihenfolge des Erlebten
zu behalten, spiegelt sich auch in der Erzählzeit. So wechselt er häufig zwischen
Vergangenheitsformen und Präsens, wodurch bis zu einem gewissen Grad ver-
unklart wird, zu welchem Zeitpunkt eigentlich erzählt wird. Dabei lassen die
Tempuswechsel eine gewisse Logik erkennen. Der Erzähler weist den September
1963 als Zeitpunkt seines Erzählens aus und spricht entsprechend retrospektiv.
Wenn er von einer Episode im Baalbek berichtet, verwendet er allerdings häufig
das Präsens. So etwa bei der Schilderung seiner ersten Nacht im Hotel. Er trifft
hier auf Joschko, mit dem zusammen er das Hotelzimmer bewohnt und der bald
ein enger Freund werden wird: „Ein paar Stunden später, es ist inzwischen Nacht
geworden, da werde ich geweckt, von einer im Dunkeln riesig wirkenden Gestalt
vor meinem Bett. Jemand betrachtet mich, betatscht mich vorsichtig und unbe-
holfen“ (105).
Noch auffälliger ist der Wechsel der Erzählzeit, wenn von den Gästen des
Baalbek berichtet wird. Auch hier entspricht die verwendete Zeitform nicht dem
biographischen Verlauf im Leben der vorgestellten Personen. Während die Episo-
den aus dem Baalbek im Präsens erzählt werden, werden die vorhergehenden
und nachfolgenden Ereignisse um das dergestalt vergegenwärtigte 1942 herum
organisiert. Beispielsweise beim Sprechen über die Familie Lederer. Als der
Erzähler von einem Spaziergang durch Marseille zurückkehrt, ist die Familie
gerade im Hotel angekommen:

Das Baalbek war sehr beliebt in Emigrantenkreisen, noch am Tag nach der Abfahrt der
Deventer waren neue Gäste gekommen, das brachte einige Bewegung ins Haus [...]. Jakob
Lederer von Zimmer 58, Bäcker von Beruf, ist verblüfft, als er hört, im zweiten Stock auf 25
sind auch Lederers angekommen. (35)

In dem Moment, in dem der Fokus auf die Familie Lederer verschoben wird,
wechselt der Erzähler vom Präteritum ins Präsens und im Präsens wird vom
Aufeinandertreffen der beiden Familien im Baalbek erzählt. Das Perfekt verwen-
det der Erzähler erst wieder, als er die Vorgeschichte beider vorstellt: „Aber auch
sie waren verblendet, haben zu lange gewartet, haben in Hamburg gelebt, in
Berlin oder Wien, haben geglaubt, bessere Menschen als die Deutschen gäbe es
nicht“ (36). Und direkt im Anschluss fährt er fort:

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
Schreiben über Exil und Shoah 257

Und auch jetzt wissen sie nichts, schon sterben Tausende von den dort Zurückgebliebenen
einen unwürdigen Tod, und wenn sie davon hören, glauben sie es nicht. Und auch sie
werden sterben. Die beiden Lederers werden im Widerstand sterben. (36)

Die Familie Lederer wird im Hotel Baalbek in eine Gegenwart versetzt, auf die
sowohl ihre Vergangenheit – „auch sie waren verblendet, haben zu lange gewar-
tet“ (36) – als auch ihre Zukunft – „Und auch sie werden sterben“ (36) – eindringen.
„Es ist ja mit der Chronologie sehr schwierig“ (Wander 1990 b, Bl. 1), schreibt

Wander am 27. Februar 1990 über Hôtel Baalbek an seine Lektorin Sigrid Töpel-
mann vom Aufbau Verlag. Er wolle versuchen „die Spannung und die Logik der
Story auf die Ebene des tragischen Zeitablaufs zu verlegen.“ (Wander 1990 b,  

Bl. 1). Dies wird insofern realisiert, als das Hotel Baalbek in der Erinnerung des
Erzählers nicht nur räumlicher, sondern auch zeitlicher Knotenpunkt ist. Zwar
berichtet der Erzähler 1963, doch schafft er im Marseille von 1942 eine Gegenwart,
in der die Erinnerung an die Ermordeten aufgehoben werden kann. Im Hotel
Baalbek werden auf diese Weise die beiden Stränge der Romanhandlung mit-
einander verbunden. Indem die Chronologie immer wieder aufgebrochen wird
und das Erzählen vom Exil und von der Shoah ineinandergeschoben werden,
wird beides miteinander in Bezug gesetzt. Eine Betrachtung der Spezifik des
Erzählens von Flucht und Exil und von der Shoah in Hôtel Baalbek muss die
Verwobenheit der Thematiken entsprechend berücksichtigen.

4 Erzählen vom Exil


Die Schilderung der Exilzeit in Hôtel Baalbek ist durchaus ambivalent. Zum einen
wird von der Mühsal für die Exilant_innen erzählt, der ständig drohenden Gefahr
durch die näher rückenden Deutschen und das kollaborierende Vichy-Regime
und das Hasten nach Affidavits oder Ausreisegenehmigungen. So erinnern viele
Passagen an Anna Seghers Transit, vor allem die Schilderungen der Geflüchteten,
die tagein tagaus die Wege zu Botschaften und Konsulaten antreten und ver-
suchen, die bürokratischen Hürden zu überwinden, die ihnen für eine legale
Weiterreise auferlegt werden:

Beim spanischen Konsulat in Perpignan und Toulouse konntest du, wenn du einen gültigen
Paß mit portugiesischem Visum hattest, ein spanisches Transitvisum bekommen. Das
portugiesische Transit jedoch bekamst du nur, wenn du in deinem Paß irgendein Visum
hattest, das deine Weiterreise aus Portugal garantierte. (76)

In Hôtel Baalbek wird darüber hinaus von der Internierung in französischen


Lagern berichtet, von denen der Erzähler „ungefähr dreizehn“ (182) kennenge-

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
258 Stephanie Marx

lernt hat. Er erzählt von den katastrophalen Zuständen bei seiner Inhaftierung zu
Kriegsbeginn im Stade de Colombe in Paris:

Schlafen unter freiem Himmel oder auf den Tribünen, keine Decken, kein Stroh und als
Verpflegung nur Leberpastete in großen runden Konservendosen, sonst nichts, eine Dose
für je fünf Mann pro Tag, ohne Brot, was eine mittlere Katastrophe bewirkte [...]. (46)

Im Roman finden sich aber auch Passagen, in denen der Erzähler von seiner Zeit
in Frankreich als einer Zeit des Genusses berichtet: „Die Leute bestellten also
Couscous oder eine enorme Bouillabaisse, die wunderbarste Fischsuppe der Welt,
und mehrere Flaschen Wein, das Leben war schön, trotz allem!“ (92) Auch von
den Liebesgeschichten, von denen der Erzähler in diesem Sommer in Marseille
gleich zwei erlebt, wird überschwänglich erzählt. Einerseits ist da Katja, die
Tochter des Schneiders Jablonsky, die in einer Widerstandsgruppe aktiv ist und in
die der Erzähler heftig verliebt ist. Andererseits trifft er im Baalbek Lily wieder,
die er bereits aus Paris kennt und mit der er einige gemeinsame Tage verbringt.
Die Begeisterung, mit der sich der Erzähler an die Verhältnisse erinnert, droht
stellenweise gar ins Kitschige zu kippen. So heißt es von der Zeit mit Lily, dass
beide „Hand in Hand oder umschlungen durch die Straßen von Marseille oder die
Corniche entlang“ (165) gingen. „Und da wir auch glücklich waren, liebten wir
alle Menschen“ (165).
Insgesamt wechselt die Darstellung des Exils zwischen zermürbender Bedrü-
ckung und leidenschaftlicher Lebensbejahung. Der Erzähler lässt keinen Zweifel
an der Beschwerlichkeit des Lebens als Exilant, das darüber hinaus von Erinne-
rungen an die deutschen Konzentrationslager durchkreuzt wird:

Und nun die Bilder dieser Stadt, Marseille, lebendig, lachend und gleichgültig, im Verrecken
schön. Die Bilder der alten Häuser, Häuser, die Gesichter haben wie Menschen, die schmun-
zeln konnten und mit den Kiefern mahlen, den Mund voll Asche. (128)

In Marseille, der lebendigen und lachenden Stadt, wird die Exilzeit von ihrem
drohenden Ende her perspektiviert; die Münder voll Asche nehmen die Kremato-
rien von Auschwitz vorweg.
Umgekehrt wird die Zeit in Marseille geradezu glorifiziert. Dem kommt vor
dem Hintergrund des gewaltsamen Endes der Exilzeit eine besondere Bedeutung
zu. Als der Erzähler vom Marsch nach Buchenwald berichtet, zeigt sich die
lebensrettende Funktion der Erinnerung ans Exil:

Ich war noch erfüllt von der Schönheit der vergangenen Monate, war noch trunken von
meinem Glück, die Menschen des Baalbek arbeiteten in mir, das Hotel war mir eine innere
Welt geworden, ein Universum, eine Schaubühne, auf der ich die Figuren weiterreden hörte.
(200)

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
Schreiben über Exil und Shoah 259

In der Erinnerung wird die Exilzeit übersteigert und erhöht. Dies nicht etwa nur,
weil sie ein geringeres Übel darstellen würde, sondern weil sie für den Erzähler
als imaginativer Fluchtpunkt dient: „In all den Jahren, in Auschwitz und in den
anderen Lagern, hab ich diese Bilder vor mir gesehen, hab sie mir nachts an die
schwarze Barackenwand gespannt“ (115). In dem Moment, in dem das Dasein des
Erzählers auf die notwendigsten Körperfunktionen reduziert wird und in dem es
kaum noch etwas gibt außer Hunger, Krankheit und den allgegenwärtigen Tod,
rettet er sich in die Erinnerung an die soziale Gemeinschaft des Baalbek, an
Genuss und an intensives Erleben.

5 Erzählen von der Shoah


Das Erzählen vom Exil nimmt in Hôtel Baalbek insgesamt sehr viel mehr Raum ein
als die Darstellung der darauffolgenden Deportation und Gefangenschaft. Ende
August 1942 verlassen der Erzähler und Joschko auf Anraten des Hotelbesitzers
Monsieur Haschami Marseille. Sie schlagen sich als Gelegenheitsarbeiter durch,
verlieren sich aber bald. Der Erzähler wird später, beim Versuch aus dem besetz-
ten Frankreich zu fliehen, in der Schweiz aufgegriffen und an die französischen
Behörden ausgeliefert. Kurz darauf wird er vom Lager Perpignan über Rivesaltes
nach Drancy gebracht und schließlich nach Auschwitz deportiert. Die Schil-
derung dieser Ereignisse, ebenso wie die der folgenden Jahre in Auschwitz, Groß-
Rosen und Buchenwald sind ausgesprochen gerafft und umfassen im Roman nur
ein paar wenige Seiten. Diese leitet der Erzähler mit dem Hinweis ein, dass es ihn
drängt „zum Ende zu kommen, drum machen wir es kurz, es ist zu beschämend“
(193). Kurz darauf setzt das folgende Kapitel mit den Worten an: „Doch wir wollen
nicht zu lange abschweifen, ich befinde mich in meinem Hotelzimmer, in der Rue
Marignane, und blicke, während ich auf Sascha warte, aus dem Fenster, über die
Dächer hinweg.“ (202) Diese Szene ist eine Erinnerung an Paris, wohl zu Beginn
der 1960er, mehrere Jahre nach der Gefangenschaft.
Diese fast schon ausweichende Geste verweist auf einen Aspekt, der häufig
im Zuge der Diskussion von Überlebenszeugenschaft und insbesondere bezüglich
des Erzählens von der Shoah virulent wird: die für die Opfer bestehende Schwie-
rigkeit, zu verbalisieren, was ihnen in den deutschen Konzentrationslagern ange-
tan wurde.9 Auch der Erzähler von Hôtel Baalbek erklärt, dass „wer dort war, wer

9 Sybille Krämer, Sibylle Schmidt und Johannes-Georg Schülein (2017, 16) halten in Philosophie
der Zeugenschaft zur Auseinandersetzung mit Überlebenszeugenschaft fest: „So gelten Hemm-
nisse, über das Erlebte überhaupt objektivierend sprechen zu können oder zu wollen, nicht als
Mangel oder Defizit, sondern werden zur charakteristischen Signatur des Überlebenszeugnisses.“

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
260 Stephanie Marx

es gesehen hat, wer diese Hölle überlebt hat, kann es also auch nicht, kann nicht
darüber reden, weil es ihn erstickt, weil ihm vor Scham die Stimme versagt, auch
wenn er es immer wieder versucht“ (70). Doch dieser Unmöglichkeit der Ver-
sprachlichung entgeht der Erzähler durch einen erzählerischen Umweg: Dass er
in verschiedenen Lagern war, und was er hier erleben musste, erfahren die
Leser_innen indirekt: aus den Geschichten über die Gäste des Hotel Baalbek.
Wenn von dem streitenden Ehepaar im Baalbek berichtet wird, das der
Erzähler „wenige Wochen später im Zug gesehen [hat], in dem langen Zug nach
Auschwitz“ (16); wenn er von der Ermordung Joschkos erzählt, der in einem
Außenlager von Groß-Rosen „morgens, auf dem Marsch zum Arbeitsplatz, er-
schossen“ (53) wurde; wenn er sich an Friedländers Tod erinnert, der „unter
heruntergestürzten Eisenbahnschienen begraben“ wurde, und im Moment seines
Todes „keine Laute von sich gab“ (45); wenn der Erzähler also detailliert vom
Schicksal der Mitwohnenden des Baalbek überhaupt berichten kann, dann nur,
weil er in den jeweiligen Situationen, im Zug nach Auschwitz, in dem polnischen
Wald und dem Außenlager von Groß-Rosen, anwesend war. Der Erzähler von
Hôtel Baalbek ist selbst Opfer der Shoah, doch seine Darstellung thematisiert fast
ausschließlich die Schicksale der Mitgefangenen.10
In Der lange Schatten der Vergangenheit spricht Aleida Assmann (2014, 88)
davon, dass Zeitzeug_innen eine doppelte Rolle zukommt: einerseits sind sie
Opfer eines Verbrechens, andererseits legen sie Zeugnis ab von denen, die selbst
nicht mehr sprechen können.11 Der Erzähler von Hôtel Baalbek ist Überlebens-
zeuge, wobei im Rückgriff auf Assmanns Überlegung deutlich wird, dass er damit
in besonderer Weise umgeht. Er nimmt die Haltung eines Beobachters ein,12
wodurch er weniger als Opfer denn als Zeuge spricht. In Anbetracht des ganz

10 Hierin unterscheiden sich Wanders Werke auch von anderen literarischen Zeugnissen von der
Shoah. In Primo Levis Ist das ein Mensch? berichtet der Erzähler umfassend von erlittenen
Verletzungen und ruft das Erlebte im erinnernden Hineinversetzen wieder ins Gedächtnis (Levi
2010). Auch in Imre Kertész‘ Roman eines Schicksallosen berichtet der jugendliche Erzähler, was er
im Zuge seiner Lagerhaft ertragen musste (Kertész 1996).
11 Eine ähnliche Unterscheidung findet sich bei Giorgio Agamben, der in Was von Auschwitz
bleibt (2013) den Unterschied zwischen dem lateinischen testis (den Augenzeug_innen als unbe-
teiligten Dritten) und superstes (den Überlebenszeug_innen) seiner Lektüre von Primo Levi und
den daran anschließenden Überlegungen zur Zeugenschaft zugrunde legt. Agamben arbeitet auf
der Grundlage dieser Unterscheidung heraus, dass die Überlebenszeug_innen der Shoah weder
als testis noch superstes fungieren können: sie können nicht als unbeteiligte Beobachter_innen
berichten, als Überlebende aber auch kein Zeugnis von der Vernichtung ablegen (Agamben 2013,
29–35).
12 In der Forschung ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass die Haltung von Wanders
Erzählern vielfach die des zusehenden Beobachters ist (vgl. beispielsweise Müller 2006, 253–259).

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
Schreiben über Exil und Shoah 261

prinzipiellen Zweifels an der sprachlichen Vermittelbarkeit des Erfahrenen stellt


der Erzähler sein Erleben in der Narration zurück und findet so einen umwegigen
Modus, um nicht zu verstummen.
Hôtel Baalbek ist nicht das einzige literarische Werk Wanders, in dem in der
dargestellten Weise von der Shoah erzählt wird. Auch in Der siebente Brunnen
berichtet ein namenloser Erzähler von den Gräueln der deutschen Konzentrati-
onslager; und auch hier stehen die Geschichten und Schicksale der Mithäftlinge
im Zentrum. In Der siebente Brunnen wird allerdings ausnahmslos aus dem Lager
erzählt. Obwohl retrospektiv berichtet wird, gibt es zudem keinen Hinweis auf
den Zeitpunkt des Erzählens. Um Zeugnis ablegen zu können, begibt sich der
Erzähler erinnernd ins Konzentrationslager, ohne jedoch einen Ort oder eine Zeit
außerhalb dessen zu haben. Darüber hinaus nimmt sich der Erzähler in Der
siebente Brunnen nicht nur hinsichtlich des eigenen Erlebens, sondern auch seine
Erzählstimme stark zurück. Er berichtet von den Mitgefangenen, indem er sich
intensiv in diese hineinversetzt und nimmt dabei auch ihre Dialekte und Rede-
weisen an.13 Dies führt so weit, so hält auch Erin McGlothlin (2005, 113) fest, dass
sich das erzählende Ich „fast bis zur Selbstauslöschung zurück[zieht]“. Die Situie-
rung der Erinnerung im Lager bedingt in Der siebente Brunnen, dass sich die hier
erlebte Bedrohung in der Art und Weise des Erzählens niederschlägt.
Der Vergleich der Erzählsituationen ist für die Lektüre von Hôtel Baalbek
insofern aufschlussreich, als er die Besonderheit des Erzählens von der Shoah im
Roman verdeutlicht. Der Erzähler von Hôtel Baalbek nimmt seine Rolle als Zeitzeu-
ge im Sinne Assmanns vornehmlich aus der Position des Zeugen wahr und geht in
sehr viel geringerem Maß auf sein Erleben als Opfer ein. Jedoch ist die Integrität
des Erzählers auf narrativer Ebene weit weniger verunsichert als in Der siebente
Brunnen. Indem das Erzählen von der Shoah ins Hotel Baalbek und damit örtlich
und zeitlich in die Peripherie der Katastrophe verschoben wird, vermag der Erzäh-
ler sehr viel präsenter aufzutreten. Neben dem Sprechen als Überlebenszeugen ist
es ihm damit auch möglich, eine weitere erzählerische Aufgabe wahrzunehmen.
Beim Berichten von den Gästen des Hauses bezieht sich der Erzähler auch auf
Informationen, die er von anderen Bewohner_innen erhalten hat. Er beschränkt
sich also nicht darauf wiederzugeben, was er selbst miterlebt oder direkt von den
jeweiligen Personen erfahren hat. Zudem wird das soziale Gefüge im Baalbek in

13 Treffend hält Hans Höller (2001, 5) dazu fest, dass Wanders Erzählen hier als widerständige
Praxis verstanden werden kann, das die Individualität der Gefangenen betont, die durch die Nazis
vernichtet werden sollte: „Gegen die Reduktion auf die Auschwitz-Nummer stellt es die Namen
wieder her“. Wird allerdings der Fokus der Betrachtung auf den Erzähler selbst gelegt, muss
dieser Befund eingeschränkt werden. Vgl. dazu auch die detaillierte Darstellung in Marx 2018,
Kap. 4.2.

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
262 Stephanie Marx

Anlehnung an die Gemeinschaft eines Schtetls charakterisiert. So heißt es über


einen der Hotelbewohner, dass die meisten anderen Gäste ihn „Schwarzseher“
nannten, „von dem es jedoch in jeder jüdischen Gemeinde, in jedem Schtetl und
in jedem Haus ein Exemplar geben müsse“ (22). Das Bemerkenswerte daran ist,
dass der Erzähler in Wien aufgewachsen ist und eine solche Gemeinschaft nie
selbst kennengelernt haben kann. Er greift hier auf die Erinnerung der Gäste des
Baalbek zurück, die einander „erzählten [...] von ihrem fast vergessenen Schtetl,
dem kleinen jüdischen Städtchen in Galizien oder der Ukraine, wo sie Kinder
waren.“ (12).14 In Hôtel Baalbek kommen dem Erzähler damit zwei Sprechrollen
zu: die des Überlebenszeugens und die eines Geschichtenerzählers, der über-
liefern und erinnern möchte. Beide Sprechrollen sind eigentlich unvereinbar mit-
einander, denn indem der Erzähler die Geschichten Anderer weitergibt, geht
seinem Sprechen die der Zeugenschaft eigene Unmittelbarkeit verloren.15 Doch
nur so kann er von etwas erzählen, das faktisch nicht mehr ist, aber in der
Überlieferung erhalten werden soll. Die Lokalisierung des Erzählten im Hotel
erlaubt dabei, jüdische Lebenswelten und die Gemeinschaft des jüdischen
Schtetls wiederaufleben zu lassen.

6 „Und wenn sie das Baalbek einst finden


werden“
In Wanders Nachlass lassen sich von 1985 bis 1990 Schreiben an den Aufbau
Verlag finden, in denen er über seine Pläne zu und das Vorankommen mit Hôtel

14 An dieser Stelle wird in Hôtel Baalbek auf den historischen Umstand verwiesen, dass die
Schtetl Osteuropas bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert im Verschwinden begriffen
waren und schließlich im Zuge der nationalsozialistischen Vernichtung restlos zerstört wurden
(Windsperger 2014, 83–86).
15 Das Zeugnis Überlebender ist an unmittelbares Erleben gebunden und ist immer ein Zeugnis
aus erster Hand. Shoshana Felman legt das in „Im Zeitalter der Zeugenschaft: Claude Lanzmanns
Shoah“ (2000) dar. Eine Äußerung Elie Wiesels, der zufolge er seine Geschichte nicht erzählt
hätte, wenn eine andere Person sie hätte erzählen können, dient ihr als Ausgangspunkt ihres
Nachdenkens: „Was bedeutet es, daß ein Zeugnis, um als Zeugnis zu gelten, nicht einfach von
einer anderen Person abgelegt oder wiedergegeben werden kann? Was bedeutet es, daß eine
Geschichte – oder Geschichte als solche – nicht von jemand anderem erzählt werden kann?“
(Felman 2000, 174) Ebenso macht Sigrid Weigel (2000, 116) in ihrer Auseinandersetzung mit
Zeugnisliteratur und mit der Frage, welcher Anspruch an ein Zeugnis gestellt werden kann, darauf
aufmerksam, dass sich „das Zeugnis allein auf die vergangene, dem allgemeinen Bewußtsein und
kollektiven Gedächtnis unzugängliche Erfahrung bezieht, die dem Individuum zugestoßen ist“.

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
Schreiben über Exil und Shoah 263

Baalbek Auskunft gibt. Selbst gegen Ende des Schreibprozesses lässt sich hierin
noch sein Schwanken zwischen einer Einordnung des Romans entweder als Exil-
literatur oder als Literatur über die Shoah beobachten. Am 25. Januar 1990 spricht
Wander in einem Brief an Joachim Meinert davon, dass ein Hotel in Marseille das
Thema seines Buches sei, ohne darauf einzugehen, dass fast alle Figuren depor-
tiert und getötet werden (Wander 1990a). Am 26. Juni desselben Jahres schreibt er
wiederum an Töpelmann, dass er nichts anderes beabsichtige, als einige indivi-
duelle Geschichten von den in der Shoah Ermordeten zu erzählen (Wander
1990c). Wander stellt Hôtel Baalbek auch in eine Reihe mit kanonischen Werken
der Exilliteratur oder der Zeugnisliteratur. Im Dezember 1986 bezeichnet er den
Roman gegenüber Thron als sein Transit (Wander 1986). Diese Parallele hebt er
ebenfalls gegenüber Meinert hervor, wo er von der Ähnlichkeit des Settings mit
dem von Seghers Exilroman spricht (Wander 1990a). Gleichzeitig beschreibt er
den Roman in Anlehnung an Der siebente Brunnen, der zur Zeugnisliteratur zählt
(Wander 1988b).
Die changierende Schwerpunktsetzung in der Verlagskorrespondenz macht
die Schwierigkeiten deutlich, die mit dem Verfassen von Hôtel Baalbek ver-
bunden waren. Flucht, Exil, Deportation und Lagerhaft, dies alles ist in Wan-
ders literarisches Schaffen eingeflossen, denn es war Teil seiner Geschichte.
Doch in Anbetracht der Pluralität verhandelter Themen konnte er nicht an
bestehende literarische Konventionen anknüpfen. Dass Wander nach der Fertig-
stellung des ersten Teils von Hôtel Baalbek die eingangs vorgestellten Begleit-
schreiben verfasste, die den Roman jeweils als Exilliteratur oder als Literatur
über die Shoah ankündigen, erweist sich damit als symptomatisch: Für sich
genommen wird in jedem der Briefe eine Ausschließlichkeit postuliert, gegen-
einandergehalten zeigt sich, dass beide Aspekte im Schreiben präsent waren.
Indem Wander den Roman bis zu seinem Erscheinen je wechselnd ausweist,
erhält die Verlagskorrespondenz Entwurfscharakter. Wander gibt hier eine
Schreibauskunft „jenseits der Finalität“ (Krauthausen 2010, 15), probiert sich im
Sprechen über sein Werk und aktualisiert dabei unablässig beide Kategorien.
Seinem Changieren liegt also keine Unentschlossenheit zugrunde, sondern es
ist das Resultat einer Gleichzeitigkeit – die schlussendlich bedingt, dass im
fertigen Roman die Grenzen literarisch-literaturwissenschaftlicher Kategorien
überschritten werden.
„Und wenn sie das Baalbek einst finden werden, versunken am Meeres-
grund, dann hocken diese kleinen Leute immer noch beisammen und reden,
schreien, debattieren.“ (19) Im Hotel Baalbek schafft sich Wander die Möglich-
keit, von einer versunkenen Welt zu erzählen, die zwar verschwunden ist, aber
nicht vergessen werden soll. Es ist weder eine heile Welt, noch ist die Erinne-
rung nostalgisch oder naiv; die erlittene Tragödie, die Erinnerung an Deportati-

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
264 Stephanie Marx

on und Lagerhaft brechen immer wieder in die Schilderungen ein. Über die
besondere zeitliche Struktur des Romans werden das Erzählen vom Exil und das
Erzählen von der Shoah jeweils durcheinander perspektiviert. Dadurch werden
Darstellungsformen des Exils erweitert und neu akzentuierte Erzählweisen von
der Shoah realisiert. Mit dem Erzähler wird ein Überlebenszeuge in Szene
gesetzt, der sowohl als Zeuge als auch innerhalb einer Überlieferungstradition
spricht. So findet Wander mit dem Hotel Baalbek in der Narration einen Ort, an
dem, so wenig idyllisch er auch sein mag, die Erinnerung an die Toten lebendig
gehalten werden kann.

Abbildungsnachweis
Zwei Begleitschreiben von Fred Wander an den Aufbau Verlag vom 01. Mai 1988
und vom 14. Juni 1988: Brief an Helga Thron, 01. Mai 1988, ein Blatt, Wander-Fred
313 und Brief an Helga Thron, 14. Juni 1988, ein Blatt, Wander-Fred 313. Nachlass
Fred Wander, Literaturarchiv Akademie der Künste, Berlin, Deutschland. 2016/
2017. ©Susanne Wander.

Literaturverzeichnis
Agamben, Giorgio. Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III) (5. Aufl.;
S. Monhardt, Übers.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2013.

Bannasch, Bettina und Gerhild Rochus (Hg.). Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von
Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin, Boston: De Gruyter, 2013.
Bannasch, Bettina, Schreckenberger, Helga und Alan. E. Steinweis (Hg.). Exil und Shoah. Mün-
chen: edition text + kritik, 2016.
Felman, Shoshana. „Im Zeitalter der Zeugenschaft: Claude Lanzmanns ‚Shoah‘“. „Niemand zeugt
für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah. Hg.
Ulrich Baer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000. 173–193.

Höller, Hans. „Erzählen als Erinnern und Widerstand. Fred Wanders ‚Der siebente Brunnen‘ im
Kontext der Literatur über die Shoa“. Vortrag vom 14. Juni 2001, gehalten auf der Konferenz
Judentum und Antisemitismus in der Literatur und Germanistik Österreichs – Studien zum
20. Jahrhundert, Wien. http://www.literaturepochen.at/exil/multimedia/pdf/wanderhan-
nes.pdf (02. April 2019).
Kertész, Imre. Roman eines Schicksallosen (C. Viragh, Übers.). Reinbek: Rowohlt, 1996.
Krauthausen, Karin. „Vom Nutzen des Notierens. Verfahren des Entwurfs“. Notieren, Skizzieren.
Schreiben und Zeichnen als Verfahren des Entwurfs. Hg. Karin Krauthausen und Omar
W. Nasim. Zürich: Diaphanes, 2010. 7–26.
Kublitz-Kramer, Maria. „‚Das Baalbek war zwar nur ein schäbiges Hotel, aber es war eigentlich
viel mehr als das.‘ Zu Fred Wanders Roman Hôtel Baalbek“. Fred Wander. Leben und Werk.
Hg. Walter Grünzweig und Ursula Seeber. Bonn: Weidle, 2005. 207–222.

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
Schreiben über Exil und Shoah 265

Kublitz-Kramer, Maria. „Reisen mit leichtem Gepäck. Fred Wander und sein Roman Hotel Baal-
bek“. Fluchtorte – Erinnerungsorte. Sanary-sur-Mer, les Milles, Marseille. Hg. Irene Below,
Hiltrud Häntzschel, Inge Hansen-Schaber und Maria Kublitz-Kramer. München: edition text
+ kritik, 2017. 168–178.
Krämer, Sybille, Schmidt, Sibylle und Johannes-Georg Schülein. Philosophie der Zeugenschaft.
Eine Anthologie. Münster: mentis, 2017.
Levi, Primo. Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht (6. Aufl.; H. Riedt, Übers.).
München: dtv, 2010.
Marx, Stephanie. Erinnerndes Erzählen von Exil und Shoah. Narrative Räume bei Fred Wander.
Unveröffentlichte Masterarbeit, Universität Wien, Wien, 2018.
McGlothlin, Erin. „‚Das eigene Leid begreift man nicht.‘ Fred Wanders Der siebente Brunnen und
die Geschichte des Selbst“. Fred Wander. Leben und Werk. Hg. Walter Grünzweig und Ursula
Seeber. Bonn: Weidle, 2005. 97–118.
Mortier, Jean. „Wander, Fred“. Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten.
Hg. Michael Opitz und Michael Hofmann. Stuttgart: Metzler, 2009. 358–359.
Müller, Karl. „‚Es ist eine Welt und ich lebe weiter im Exil‘: Zu einigen Bausteinen der Poetik Fred
Wanders“. Echo des Exils. Das Werk emigrierter österreichischer Schriftsteller nach 1945.
Hg. Jörg Thunecke. Wuppertal: Arco, 2006. 249–267.
Reiter, Andrea. „Auf daß sie entsteigen der Dunkelheit“. Die literarische Bewältigung von KZ-
Erfahrung. Wien: Löcker, 1995.
Rousso, Henry. Vichy. Frankreich unter deutscher Besatzung 1940–1944. München: C. H. Beck,
2009.
Schneider, Ulrike. Jean Améry und Fred Wander. Erinnerung und Poetologie in der deutsch-
deutschen Nachkriegszeit. Berlin: De Gruyter, 2012.
Seghers, Anna. Transit (16. Aufl.). Berlin: Aufbau-Verlag, 2015.
Sekundär-Rohstofferfassung (SERO). Preisliste für nichtmetallische Sekundärrohstoffe aus Haus-
halten. O.J. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b0/Preisliste_SERO.jpg
(29. März 2019).
Ulrich, Silvia. „Angekommensein ist Unterwegssein. Zur Neudeutung der Begriffe ‚Flucht‘ und
‚Wohnen‘ bei Fred Wander“. Begegnungen und Bewegungen: Österreichische Literaturen.
Hg. Anna Babka, Renata Cornejo und Sandra Vlasta. Wien: Praesens, 2014.
119–136.
Wander, Fred, Brief an Helga Thron, 18. August 1985, zwei Blatt, Wander-Fred 313, Nachlass Fred
Wander, Literaturarchiv Akademie der Künste, Berlin, Deutschland. 2016/2017. ©Susanne
Wander.
Wander, Fred, Brief an Helga Thron, 24./25. Dezember 1986, ein Blatt, Wander-Fred 313, Nach-
lass Fred Wander, Literaturarchiv Akademie der Künste, Berlin, Deutschland. 2016/2017.
©Susanne Wander.
Wander, Fred, Brief an Helga Thron, 01. Mai 1988 a, ein Blatt, Wander-Fred 313, Nachlass Fred

Wander, Literaturarchiv Akademie der Künste, Berlin, Deutschland. 2016/2017. ©Susanne


Wander.
Wander, Fred, Brief an Helga Thron, 14. Juni 1988 b, ein Blatt, Wander-Fred 313, Nachlass Fred

Wander, Literaturarchiv Akademie der Künste, Berlin, Deutschland. 2016/2017. ©Susanne


Wander.
Wander, Fred, Brief an Joachim Meinert, 25. Januar 1990 a, ein Blatt, Wander-Fred 313, Nachlass

Fred Wander, Literaturarchiv Akademie der Künste, Berlin, Deutschland. 2016/2017. ©Su-
sanne Wander.

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30
266 Stephanie Marx

Wander, Fred, Brief an Sigrid Töpelmann, 27. Februar 1990 b, zwei Blatt, Wander-Fred 313, Nach-

lass Fred Wander, Literaturarchiv Akademie der Künste, Berlin, Deutschland. 2016/2017.
©Susanne Wander.
Wander, Fred, Brief an Sigrid Töpelmann, 26. Juni 1990 c, ein Blatt, Wander-Fred 313, Nachlass

Fred Wander, Literaturarchiv Akademie der Künste, Berlin, Deutschland. 2016/2017. ©Su-
sanne Wander.
Wander, Fred. Der siebente Brunnen. Göttingen: Wallstein, 2005.
Wander, Fred. Hôtel Baalbek. München: dtv, 2010.
Weigel, Sigrid. „Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage. Die Geste des Bezeugens in der
Differenz von ‚identity politics‘, juridischem und historiographischem Diskurs“. Zeugnis
und Zeugenschaft. Hg. Rüdiger Zill. Berlin: Akademie Verlag, 2000. 111–135.
Windsperger, Marianne. „Retelling the Shtetl: Recovering Yiddish in Contemporary American
Literature“. Ex(tra)territorial: Reassessing Territory in Literature, Culture and Languages.
Hg. Didier Lassalle und Dirk Weissmann. Amsterdam: Brill, 2010. 83–95.

Bereitgestellt von | Universität Wien


Angemeldet
Heruntergeladen am | 11.12.19 05:30

Das könnte Ihnen auch gefallen