Sie sind auf Seite 1von 3

Musterinterpretation „Der Nachbar“

„Der schöne Weg hinauf, die Stille dort, von einem Nachbar trennt mich nur eine sehr dünne
Wand, aber der Nachbar ist still genug“, schreibt Franz Kafka 1916 an seine Schwester Ottla.
Während er hier von seiner einträchtigen Verbindung zu einem Nachbarn spricht, so handelt
seine Parabel „Der Nachbar“, die 1917 veröffentlicht wurde, doch von einem jungen
Kaufmann, der davon erzählt, wie seine bislang vorherrschende Selbstsicherheit dadurch
zerstört wird, dass neben seinem Büro ein Konkurrent einzieht. Bei näherer Betrachtung
stellt man als Leser fest, dass es dabei nicht nur um die Rivalität zwischen zwei Männern
geht, sondern ganz allgemein um Lebensängste, um existentielle Unsicherheit, die sich auch
darin äußert, dass man seinen Mitmenschen gegenüber äußerst misstrauisch ist.
In der Parabel berichtet der Erzähler zunächst von seinem Büro, dessen Geschäfte nach
eigener Aussage gut laufen. Dies ändert sich jedoch mit der Eröffnung eines Nachbarbüros,
dessen Räume der Ich-Erzähler nicht gewagt hatte, zu mieten. Nun fühlt er sich in seiner
Existenz bedroht, da der sein Nachbar ein ähnliches Geschäft wie er führt. Die Bedrohung
durch den Nachbarn wird insofern verstärkt, als dass der Ich-Erzähler ein Mithören von
Telefongesprächen befürchtet, was sich negativ auf die Entwicklung seiner Geschäfte
auswirken könnte. Die Verunsicherung endet schließlich darin, dass der Ich-Erzähler seinem
Konkurrenten unterstellt, ihm entgegenzuarbeiten.

Die Beziehung zwischen dem jungen Ich-Erzähler und seinem Nachbarn Harras entwickelt
sich stufenweise. Anfangs erzählt der Erzähler von seiner Firma, die „ganz auf [seinen]
Schultern“ ruht (Z. 1f.). Er betont zwar, dass die Geschäfte allein in seinen Händen liegen, er
ist aber bemüht zu unterstreichen, dass alles „so einfach zu überblicken, so leicht zu führen“
ist (Z. 6f.). Der junge Mann versucht selbstsicher zu wirken, indem er die Leichtigkeit seiner
Aufgabe hervorhebt. Er sagt, dass er trotz seiner Verantwortlichkeit „nicht klage“ (Z. 8f.).
Diese Wiederholung scheint jedoch, als wolle er sich selbst Mut machen, d. h. es gibt
offensichtlich Grund zum Klagen, aber er wagt es nicht, zu jammern. Dass es mit seinem
Geschäft nicht allzu weit her sein kann, zeigt auch dessen Ausstattung „zwei Fräulein mit
Schreibmaschinen" (Z. 2), zwei Zimmern. Sein Betrieb ist demnach ziemlich klein, die Arbeit
erscheint durch die Aufzählung der Gegenstände, die sich im Büro befinden, eher eintönig (Z.
2ff.). Aber das gesteht er sich nicht ein.
Nun kommt der neue Nachbar ins Spiel. Im Plauderton schildert er den Einzug des
Konkurrenten: Dieser hat die Nachbarwohnung „frischweg gemietet“ (Z. 13), die der Erzähler
nicht mit angemietet hatte. In diesem Abschnitt – Z. 10 bis 33 – zeigt sich, dass sich der
Erzähler und Harras sehr ähnlich sind. Beide scheinen in der gleichen Branche zu arbeiten (Z.
25f.) – wobei nicht eindeutig gesagt wird, welche dies ist. Beide sind junge, aufstrebende
Männer (Vgl. Z. 28) in unsicherer wirtschaftlicher Situation, die vermutlich um die Gunst der
Kunden buhlen müssen, um zu überleben. Doch auch wenn der Ich-Erzähler seinen
Nachbarn Harras, dessen Namen er verächtlicht wiederholt (Z. 21 und 23), verspottet, indem
er – sich auf Hörensagen berufend - meint, von Geschäften mit diesem könne man nur
abraten (Z. 26ff.), so wird doch klar, dass dieser Harras weitaus selbstsicherer auftritt als der

© Anja Haase
Musterinterpretation „Der Nachbar“

Ich-Erzähler. Harras hat im Gegensatz zu diesem nicht gezögert, als es um das Anmieten der
Wohnung ging, die der Ich-Erzähler „ungeschickterweise“ ausgeschlagen hat (Z. 11f.). Sich
selbst verteidigend und sich seiner selbst vergewissernd fragt er rhetorisch, wozu ihm die
Küche der Wohnung gedient hätte (Z. 17f.). Diese sich hier andeutende Unsicherheit wird in
den folgenden Abschnitten noch deutlicher.
Der dritte Sinnabschnitt (Z. 34 - 43) thematisiert die Begegnungen mit Harras. Dieser huscht
dermaßen schnell, also eifrig, am Erzähler vorbei, dass er kaum zu sehen ist. Harras wirkt
umso bedrohlicher, weil er als Person nicht zu fassen ist. Der Erzähler vergleicht seinen
Nachbarn mit einer Ratte (Vgl. Z. 40), d. h. er unterstellt ihm, dass er sich auf Kosten von
anderen bereichert und demnach eine Gefahr darstellt. Auch wenn der Erzähler schon oft
vor der Tür seines Nachbarn stand, wie er verächtlich betont (Z. 41ff.), so vermeidet er die
direkte Begegnung mit seinem Konkurrenten jedoch. Auch hier wird die existentielle
Unsicherheit, die sich insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem scheinbar
mächtigeren Gegenüber äußert, deutlich.
Abschließend thematisiert der Erzähler nun „die elend dünnen Wände, die den ehrlich
tätigen Mann verraten, den Unehrlichen aber decken“ (Z. 44f.) und somit zu einem
möglichen Niedergang des Geschäfts des Erzählers führen könnten. Wie der Erzähler auch
musste Kafka befürchten, durch die dünnen Wände seiner Wohnung gestört oder gar
abgehört zu werden. Die geringe Dicke der Wände macht ein Abschotten schwer – aber
genau das ist es, was der Erzähler sich wünscht. Die Geschäfte – bei Kafka das kreative
Arbeiten – werden erschwert, wenn man mit dem Ohr so nah beim Nachbarn ist. Gleichzeitig
wird in dem letzten Abschnitt deutlich, wie übertrieben die Bedenken des Ich-Erzählers sind.
Fast panisch berichtet er von seiner Angst, er könne abgehört werden. Diese sich immer
weiter ausbreitende Unsicherheit stellt Kafka hier am damals neuen Medium des Telefons
dar. Dabei formuliert der Erzähler seine Ängste als Fakten: „Harras braucht kein Telefon, er
benutzt meines, er hat sein Kanapee an die Wand gerückt und horcht“ (Z. 67ff). Nichts davon
kann der Erzähler wirklich wissen. Seine Gedanken überschlagen sich, wie durch den
hypotaktischen Satzbau deutlich wird (Vgl. Z. 77ff.); sie kreisen nur noch um den Nachbarn.
Durch die Erzählperspektive kann der Leser insbesondere im letzten Teil die Gedanken des
Ich-Erzählers nachvollziehen. Es wird klar, dass sich diese fast krankhaft um den
Konkurrenten Harras drehen, nichts Anderes scheint Platz in seinem Kopf zu haben. Dieses
Zwanghafte vermittelt nicht zuletzt die Erzählperspektive. Geht es zunächst darum, sich als
Opfer zu positionieren, d. h. zu erklären, warum der Ich-Erzähler seine Selbstsicherheit
verloren hat, zeigt diese Perspektive dann die Ich-Fixierung des Protagonisten. Die Person
des Harras wird nur aus subjektiver Sicht geschildert und gedacht. Der Ich-Erzähler versucht
nicht, sich mit Harras als Person auseinanderzusetzen und ihn kennenzulernen, so dass die
Konzentration auf die Ich-Perspektive eine logische Konsequenz ist.
Weiterhin ist zu bemerken, dass die Veränderung der Hauptfigur im letzten Abschnitt
deutlich herausgearbeitet wird: „Von Unruhe gestachelt“ (Z. 58) umtanzt er das Telefon,
seine Stimme ist „zittrig“ (Z. 65). Er selbst sagt, dass er in seinen Entscheidungen „unsicher“

© Anja Haase
Musterinterpretation „Der Nachbar“

werde (Z. 63). Er fragt sich ständig, was Harras wohl macht und kann sich scheinbar auf
nichts konzentrieren. Diese kaum nachvollziehbare Panik zeigt, dass der Ich-Erzähler geplagt
ist von Furcht und dass sein Selbstbewusstsein weit weniger ausgeprägt ist, als er sich
eingesteht. Zwar spricht er immer noch davon, dass er „schwerwiegende Entschlüsse fassen“
und „großangelegte Überredungen ausführen“ muss (Z. 72ff.), aber die Angst, dass der durch
die Stadt huschende und somit unfassbare Harras (Vgl. 80) sein Ende bedeuten könnte, ist in
jeder Äußerungen spürbar. Der ehemals selbstsichere Mann hat sich in verwandelt in ein
Häufchen Elend.
Dabei kann man fragen, ob er jemals so selbstsicher gewesen ist. Wie kann er sich so aus
dem Gleichgewicht bringen lassen? Fühlt er sich Harras derart unterlegen, dass er sich
komplett verliert? Fühlt er sich vielleicht prinzipiell anderen Menschen unterlegen? Auch
Kafka kämpfte stets mit Unsicherheiten, insbesondere bezüglich seines Berufes. Auch er war
sich nie sicher genug, ob seine Literatur seinen eigenen hohen Ansprüchen wohl standhalten
könne. Insbesondere in diesem Bereich kämpfte er mit seiner Unsicherheit. Und auch in
zwischenmenschlichen Beziehungen – sei es zu seinem Vater oder seinen Geliebten – war
Kafka nur wenig erfolgreich. Doch können wir Kafka nicht mit dem Protagonisten
gleichsetzen, wenngleich Parallelen nicht von der Hand zu weisen sind.
Abschließend kann man sagen, dass „Der Nachbar“ die Bekenntnisse eines fiktiven
Geschäftsmannes sind, dem Wahrnehmung und Verhalten aus den bürgerlichen Fugen
geraten, der, „um sich Klarheit zu verschaffen“ (Z. 66f), sich in Angstphantasien verliert, so
dass nichts mehr von seiner anfangs vorgetragenen Selbstsicherheit übrig bleibt. Der erste
und der letzte Satz belegen die Entwicklung beispielhaft: Ein Mensch, der selbstständig zu
sein scheint, erkennt erschrocken, dass der „Nachbar“ dabei ist, ihm seine Existenz zu
zerstören. Dabei zeigt die Kommunikation zwischen dem Ich-Erzähler und Harras, dass keine
Kommunikation zwischen den beiden stattfindet, dass also auch mögliche Ängste nicht
abgebaut werden können. Hier kann man auch Parallelen zu anderen Parabeln Kafkas
ziehen, beispielsweise zur „Kleine[n] Fabel“, denn statt einen anderen Weg zu wählen, z. B.
durch die Suche nach einem Gespräch, läuft der Ich-Erzähler geradezu in sein Unglück. Man
mag nun sagen, dass der Ich –Erzähler doch eine Wahl gehabt hätte, doch frage ich mich, ob
es uns nicht oft auch selbst so geht. Wir fühlen uns selbstsicher in dem, was wir tun, und
plötzlich taucht jemand auf, der die Dinge scheinbar doch so besser versteht. Ich finde es
menschlich, dass sich der Ich-Erzähler verunsichern lässt und ich bin der festen
Überzeugung, dass auch eine gewisse Lebensangst zu unser aller Alltag dazu gehört.

Wörter: 1442

© Anja Haase

Das könnte Ihnen auch gefallen