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Geschichte der Metropolen: Trinken, Sex, Shopping, Klatsch und Spiel | Tages-Anzeiger 22.11.

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Geschichte der Metropolen

Trinken, Sex, Shopping,


Klatsch und Spiel
Der Historiker Ben Wilson hat den urbanen Alltag untersucht. Und eine
fulminante Liebeserklärung an den Lebensraum Stadt geschrieben.

Laura Weissmüller
Publiziert heute um 13:32 Uhr

Strassenszene in der nigerianischen 14-Millionen-Stadt Lagos (2005).


Foto: Keystone

Das Chaos erscheint mörderisch, vermutlich ist es das sogar. Eine endlose
Schlange verbeulter gelber privater Danfo-Minibusse zerpflügt jeden Tag La-
gos, Nigerias frühere Hauptstadt und mit mehr als 14 Millionen Einwohnern
eine der grössten Metropolen der Welt. Tendenz: weiter stark wachsend. Be-
reits um vier Uhr morgens verlassen hier Menschen ihr Zuhause, um pünkt-

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lich im Büro zu sein. 

«Ordnung ist im Grunde antiurban», schreibt Ben Wilson in seinem famosen


Buch über Metropolen und erklärt dann auf den folgenden 500 Seiten, was
ihn zu dieser Ansicht führt, die man als Merksatz am liebsten jeder Baube-
hörde, sämtlichen Angehörigen der Stadtplanungsgilde und sonstigen urba-
nen Denkerinnen und Denkern über den Schreibtisch hängen möchte. Denn
tatsächlich liegt eines der grössten Übel heutiger Städte ja in der herrischen
Grossmannssucht ihrer Planer, wobei das Maskulin hier durchaus bewusst
gewählt ist, Frauen waren in dieser Disziplin lange Zeit kaum, man könnte
auch behaupten nicht existent.

«Die Konzentration menschlicher


Gehirne befeuert Ideen und
sozialen Wandel.»
Ben Wilson

Doch Wilson geht es in seiner «Weltgeschichte der Menschheit in den Städ-


ten» nicht um architektonische Masterpläne und ihre Schöpfer, es geht ihm
darum, welche Art von Leben Metropolen durch die Jahrtausende hindurch
ermöglicht haben, es geht ihm also um das, was sich zwischen Stein, Holz, Be-
ton und Stahl abgespielt hat. 

Der britische Autor und Journalist macht auf kluge, aber auch unterhaltsame
Weise klar, warum unsere Spezies nicht auf die urbane Lebensform verzich-
ten kann: «Die Konzentration menschlicher Gehirne auf engem Raum ist die
beste Möglichkeit, Ideen, Kunst und sozialen Wandel zu befeuern.»

Die Befürchtung, seine Liebeserklärung an die Stadt sei vielleicht etwas zu


grobkörnig geraten, kann der Historiker schnell beseitigen. Erstens, weil er
sich wirklich chronologisch durch die Jahrtausende, von Uruk, eine der ers-
ten grossen Städte der Welt, bis hin zu den Megacitys der Gegenwart ackert
und dabei auch die Schattenseite nicht ausblendet. Und zweitens, weil er ge-
nau diese Chronologie immer wieder aufbricht und die Parallelen durch die
Jahrtausende zieht, vom mittelalterlichen Bagdad ins heutige London, vom
antiken Rom zur Megacity Tokio, vom Singapur der Gegenwart zurück ins
kosmopolitische Palembang aus dem elften Jahrhundert.

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Ruinen in Uruk: Der Ort war wohl erste Metropole der Welt, entstand circa 4000 vor unser Zeitrechnung in Mesopotamien und
hatte bis zu 80 000 Einwohner.
Foto: AFP

Es ist erstaunlich, wie viele Anknüpfungspunkte es für diese Art der Stadtge-
schichtsschreibung, für dieses urbane Ping-Pong zwischen den Jahrhunder-
ten gibt. Etwa weil sichtbar wird, wie Klimaveränderungen seit jeher Städte
beeinflusst haben, indem diese dafür sorgten, dass Metropolen sich an einem
Ort angesiedelt haben oder aufgegeben werden mussten.

Oder weil Pandemien wie der «Schwarze Tod», also die Pest, stets in Städten
am härtesten zuschlugen, was Corona noch einmal drastisch vor Augen ge-
führt hat, danach aber nicht selten die Lebensbedingungen in Metropolen
verbessert wurden, weil man etwa das Abwassersystem modernisiert hat.
Oder auch, wie Städte von Beginn an Innovationskraft ankurbelten, schon
Uruk sorgte für die Erfindung von Rad, Webstuhl und Keilschrift. Und natür-
lich, weil das urbane Versprechen schlechthin – Wohlstand und besseres Le-
ben – durchgehend die Menschen in Metropolen getrieben hat bis zum heuti-
gen Tag, an dem – zumindest statistisch – täglich 200'000 Menschen in Städte
ziehen.

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Blick auf die Metropolregion von Tokio.


Foto: AFP

Wilson widmet sich vor allem dem Alltag in Städten, guckt sich Schwimmbä-
der, Cafés und Strassenverkäufer auf ihre Bedeutung hin an, geht auf Märkte,
in Kaufhäuser und Rotlichtviertel. «Ein Grossteil der Geschichte hat sich das
urbane Leben nämlich um das Sinnliche gedreht: Essen und Trinken, Sex und
Shopping, Klatsch und Spiel.» Interessant ist dabei, wie unterschiedlich der
Westen im Vergleich zu anderen Gesellschaften durch die Geschichte hin-
durch auf die Stadt geblickt hat: «Westeuropäer und Amerikaner hegen eine
ererbte Antipathie gegen das Stadtleben, die in vielen anderen Kulturen fehlt.
Dort wird das urbane Leben bereitwilliger angenommen. In mesopotami-
schen Gesellschaften, in Mesoamerika, China und Südostasien galt die Stadt
seit jeher als heilig, als Geschenk der Götter an die Menschheit. In der jü-
disch-christlichen Weltsicht stehen Städte dagegen im Widerspruch zu Gott,
sind allenfalls ein notwendiges Übel.»

Die urbane Spezies findet sich eben nicht erst seit Chinas gewaltiger Urbani-
sierungswelle im Osten. «Im gesamten Mittelalter waren neunzehn der zwan-
zig grössten Städte der Welt entweder muslimisch oder befanden sich im Kai-
serreich China.»

Was Technologie und Hygiene anbelangte, aber auch globaler Handel waren
die Metropolen dort denen in Europa weit überlegen. Half nur nichts, wie
Wilsons Kapitel über das kriegerische Lübeck oder über Lissabon verdeut-
licht, deren Geschichte zum Beispiel die einer Weltstadt sei, «die ihre Rivalin-
nen niederringt und sich an ihren Kadavern fett frisst». Wer einmal im Kut-
schenmuseum Lissabons war, der weiss, wie prächtig diese Völlerei auf Kos-
ten anderer aussehen kann.

Die Geschichte der Städte ist immer


auch die Geschichte der
Weltpolitik.

«Die skorbutischen europäischen Seeleute mit ihrer mickrigen Ladung aus


wertlosem Tand hatten dieser raffinierten, polyethnischen urbanen Welt, die
mit den Reichtümern Asiens und Afrikas Handel trieb, nicht viel zu bieten.
Was sie stattdessen im Gepäck hatten, war die aggressive, hasserfüllte Vorein-
genommenheit gegen alles Muslimische, die sie in den zermürbenden Kreuz-

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zügen in Marokko und Tunesien gelernt hatten.»

Womit sich schon deutlich abzeichnet, dass der Aufstieg des europäischen
Stadttyps «in den Ruinen von Tenochtitlan, Calicut, Mombasa, Malakka und
anderen Städten» begann. Was wiederum ja nichts anderes bedeutet als: Die
Geschichte der Städte ist immer auch die Geschichte der Weltpolitik. Und da
sich die Zukunft der Menschheit wohl oder übel in den Metropolen entschei-
den wird, macht es doppelt Sinn, ihre Vergangenheit so gut wie nur möglich
zu kennen.

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