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Diplom-Psychologe Jens Corssen

PERSÖNLICHKEIT
IHR WEG ZU BERUFLICHEM UND PRIVATEM ERFOLG
  ZEIT Akademie GmbH
Impressum
Diplom-Psychologe Jens Corssen

PERSÖNLICHKEIT
Geschäftsführung: Angela Broer, Nils von der Kall
Wissenschaftliche Leitung: Matthias Naß

Autor: Jens Corssen/Ulrich Schnabel


Redaktion: Jennifer Knappheide, Stephanie Wilde IHR WEG ZU BERUFLICHEM UND PRIVATEM ERFOLG
Grafische Konzeption: Ingrid Wernitz
Umsetzung: Madlen Domann
Fotografie: Felix Amsel/Martin Schoberer
Korrektorat: Thomas Worthmann (Leitung)
Herstellung: Torsten Bastian (verantwortlich), Dirk Woschei
Satz und Reproduktion: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG
Druck und Bindung: optimal Media GmbH, Röbel

© ZEIT Akademie GmbH, Hamburg 2017


www.zeitakademie.de

  ZEIT Akademie GmbH
»» Ich bin grundsätzlich für das was ist -
also für das Leben -,
und jetzt ändere ich es, so gut ich kann,
hin auf mein Ziel und meine Ethik .

««
Ich bin ein glücklicher Mensch,
weil ich mich noch immer weiter
entwickeln und Neues erleben kann.

Jens Corssen
»» Mich treibt die Frage an :
Was macht den Menschen aus?

««
Woher kommt er, wohin geht er
und warum steht er sich
zwischendurch so häufig selbst im Weg?

Ulrich Schnabel
Vo r wor t

Warum hat sich die Spezies Mensch im Laufe der Evolution als so erfolgreich
erwiesen? Das verdankt sie vor allem zwei Fähigkeiten: Zum einen können wir
Erfahrungen an nachfolgende Generationen weitergeben und somit einen immer
größeren Schatz bewährten Wissens aufbauen. Zum anderen sind Menschen in
der Lage, kreative Gedanken und neuartige Strategien zu entwickeln, um auch
mit unerwarteten Problemen und Herausforderungen fertig zu werden.
Leider passen diese beiden Fähigkeiten nicht immer gut zusammen. Im
Gegenteil: In Umbruchsituationen stehen uns oft gerade die überlieferten Ge-
wohnheiten im Wege. Insbesondere wenn sich die Welt so dramatisch verändert
wie zu Beginn des dritten Jahrtausends, hilft es wenig, sich nur auf Bewährtes zu
besinnen. Dann ist vielmehr der Mut gefragt, eingefahrene Denkgewohnheiten
infrage zu stellen und, wenn nötig, über Bord zu werfen.
Doch die Macht unserer Gewohnheiten ist enorm. Um sie zu verändern, braucht
es klugen Rat und eine gute Strategie. Für beides ist Jens Corssen prädestiniert.
Der erfahrene Verhaltenstherapeut kennt sich bestens aus mit allem (Allzu-)
Menschlichen. Und als gefragter Coach von Führungskräften ist er zudem ver-
traut mit den typischen Problemen im Business-Bereich.
Die Essenz seiner über 40-jährigen Tätigkeit als Konfliktberater und Ver-
änderungsbegleiter vermittelt er in diesem Seminar. Sie werden sehen: Mit ihm
zu arbeiten ist nicht nur erhellend, sondern auch sehr unterhaltsam.
Bei den folgenden Lektionen wünsche ich Ihnen daher ebenso viel Vergnügen
wie Erfolg.

Ihr

Ulrich Schnabel

  10
 Volle Aufmerksamkeit: Positive Veränderungen  Wie kommt man in einen Zustand »gehobener Gestimmheit«?
sind für Jens Corssen auch eine Frage der Bei der Erörterung solcher Fragen haben Jens Corssen und
inneren Haltung. Ulrich Schnabel sichtlich Spaß miteinander.
In h a lt

Lektion 1 Erfolg durch Veränderung15 Lektion 5 Vom Wert der »gehobenen Gestimmtheit«53
Warum neue Herausforderungen ein neues Denken Mit der richtigen Stimmung zu Zufriedenheit und Erfolg
benötigen
Lektion 6 Beziehungen und Respekt61
Lektion 2 Veränderung beginnt im Kopf25 Warum es sinnvoll ist, sich mit »strahlenden Sternen«
Der Selbst-Entwickler und seine vier Werkzeuge zu umgeben

Lektion 3 Wie man Gewohnheiten durchbricht35 Lektion 7 Sinn und Zufriedenheit71


Hilfreiche Strategien auf dem Weg der inneren Wie Sie zum Sieger Ihres »inneren Spieles« werden
Veränderung

Lektion 4 Haltung und Gelassenheit43


Wie man eine grundlegend positive Haltung entwickelt Leseempfehlung 81
Lebenslauf 93
Quellen 96
Lektion 1

Erfolg durch Veränderung


Warum neue Herausforderungen
ein neues Denken benötigen

Nichts ist beständiger als der Wandel. Diese Erkenntnis ist zu Beginn des 3. Jahr-
tausends unserer Zeitrechnung aktueller denn je. Wir leben in einer Zeit dra-
matischer wirtschaftlicher, politischer und technischer Umbrüche, von denen
wir vor allem eines wissen: dass sie die uns bekannte Welt in enormem Maß
verändern.
Kulturwissenschaftler und Ökonomen sprechen bereits von der »großen
Transformation«, um anzuzeigen, dass wir es nicht einfach nur mit dem üblichen
Zeitenwandel zu tun haben, sondern mit einer tief greifenden Umwälzung, die
nahezu alle Bereiche unseres Lebens erfasst.
»Was an der Oberfläche wie eine Wirtschaftskrise aussieht, sind in Wahrheit
die Geburtswehen einer neuen Welt, in der fast alles anders sein wird als bisher.
Wir werden eine grundlegende Änderung von fast allem erleben, was wir tun, wie
wir es tun und warum wir es tun. In gewisser Weise wird sich sogar ändern, wer
wir sind«, prophezeit etwa der Ökonom und Managementforscher Fredmund
Malik.1
Durch die Globalisierung der Wirtschaft, die Digitalisierung aller Infor-
mationen (auch unseres genetischen Codes) und die weltweite Vernetzung ist
unser aller Leben schneller und dynamischer geworden, zugleich komplexer
und unüberschaubarer. Wir sehen uns dramatischen ökologischen Herausfor-
derungen wie etwa dem Klimawandel ebenso gegenüber wie terroristischen oder
fundamentalistischen Gruppierungen, die unsere Werte und unser politisches
System infrage stellen, und die gesamte Weltlage scheint in hochgradigem Maße
instabil. Dabei hatten Politologen noch Anfang der 1990er Jahre, nach dem
Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, das »Ende
der Geschichte« prophezeit und gemeint, nun stehe dem weltweiten Siegeszug
des westlichen Demokratie- und Wirtschaftsmodells nichts mehr im Wege.

  16
Erfolg
Heute kann man über diese These nur noch lächeln. Die Zukunft erscheint Allerdings wissen Psychologen auch: Kaum etwas scheuen Menschen so sehr
ungewisser und unvorhersagbarer denn je, kaum jemand wagt noch langfristige wie Veränderungen. Meist versuchen sie mit allen Mitteln am Gewohnten, Alt-
Prognosen (und wenn doch, erweisen sie sich meist sogleich als falsch). bewährten festzuhalten; denn das vermittelt Sicherheit und Geborgenheit. Neues
Typisch für die Signatur unserer Zeit sind vier Begriffe, die Zeitdiagnostiker und Unbekanntes hingegen empfinden wir als bedrohlich und beängstigend.
gerne in dem Kürzel VUCA zusammenfassen: Besonders groß ist der Widerstand gegen Veränderungen, wenn sie uns von
außen aufgezwungen werden und wir das Gefühl haben, nicht selbst darüber
für engl. Volatility – also Volatilität. Die Gegenwart ist gekennzeichnet mitentscheiden zu können.
durch eine enorme Dynamik, die gewaltige Kräfte entfaltet und Kataly- Dieser Fehler aber wird in vielen Unternehmen gemacht: Notwendige Ver-
sator für radikale Veränderungen ist. änderungen werden von oben diktiert, ohne dass die Belegschaft dazu überhaupt
gefragt wird. Die Folge: Viele Arbeitnehmer reagieren auf den angeordneten
für Uncertainty, Ungewissheit. Diese resultiert aus dem Mangel an Bere- Wandel bockig oder ablehnend. Sie engagieren sich nicht für das neue Denken,
chenbarkeit und einem hohen Maß unkontrollierbarer Ereignisse – wobei das sich auf neue Werte und einen neuen Kontext bezieht, sondern bleiben in
häufig das Verständnis für diese Dynamik fehlt, was den Umgang damit ihren alten Denkbahnen und sabotieren so das Neue. So zeigt etwa der »Gallup
noch erschwert. Engagement Index 2017«,2 dass nur 15 Prozent der Mitarbeiter tatsächlich engagiert
in ihrem Unternehmen arbeiten. 70 Prozent geben an, sie hätten nur eine geringe
für Complexity, also Komplexität. Diese entsteht aus der Dynamik un- Bindung, und 15 Prozent fühlen sich ihrem Unternehmen sogar nicht verbunden
serer Systeme und die zunehmende Vernetzung, die häufig unerwartete und sind aktiv unengagiert. Solche Zahlen müssen jeden Manager bekümmern,
Wirkungen hervorbringt und für Chaos und Verwirrung sorgt. der in seinem Unternehmen etwas zum Positiven verändern möchte. Sie zeigen
zugleich, wie viele Angestellte unglücklich mit ihrer Situation sind – aber offenbar
für Ambiguity – Mehrdeutigkeit. Es gibt keine einfachen Ursache-Wir- nicht den Schwung aufbringen, daran nachhaltig etwas zu verändern.
kungs-Zusammenhänge mehr. Die Realität erscheint vielmehr verwirrend
und unverständlich. Missdeutungen und Fehlinterpretationen nehmen zu, Wichtig für Führungskräfte ist es also, dass sie ihre Angestellten mitnehmen
es fällt zunehmend schwer, Wissen in Handeln zu übersetzen. auf den Weg der Veränderung. Ebenso wichtig für sie ist es aber auch, sich
selbst führen zu können – und das gilt für alle gleichermaßen, für Führungs-
Unter solchen Umständen stellt sich uns allen, sowohl auf der beruflichen als kräfte und Angestellte, für Selbstständige und Hausfrauen oder -männer. Wer
auch der privaten Ebene, die Frage, wie man damit am besten umgeht. Wie soll mehr Freude, Gelassenheit und Erfolg in sein Tun bringen möchte, muss die
man sich in einer unsicheren, komplexen und sich schnell verändernden Welt am Fähigkeiten erlernen, negative Verhaltensmuster loszulassen und neue, positivere Albert Einstein (1879–1955)
besten verhalten? Was kann man tun, um trotz aller Unwägbarkeiten das Heft Gewohnheiten zu etablieren. hätte sicherlich nicht das
seines Handelns selbst in der Hand zu behalten und möglichst auch noch Freude Nun könnte man natürlich einwenden, dass der Einzelne ja machtlos ist, physikalische Weltbild verändert,
an seinem Tun zu empfinden? solange sich nicht die großen Strukturen ändern, solange nicht Politik und Wirt- wenn er in seinen gewohnten
schaft neue Rahmenbedingungen schaffen, in denen die »große Transformation« Denkbahnen verharrt hätte.
Von Albert Einstein stammt der kluge Satz: »Man kann ein Problem nicht mit gelingt. Aus Sicht des Psychologen ist dies allerdings ein Irrtum. Neue Struktu-
derselben Denkweise lösen, durch das es entstanden ist.« Mit einem simplen ren werden nur entstehen, wenn die daran beteiligten Menschen – und das sind
»Weiter so« werden wir die vor uns liegenden Herausforderungen nicht bewäl- wir letztlich alle – ihre Art zu denken ändern und mit dem neuen Verhalten bei
tigen können. Das geht nur, wenn wir fähig sind, alte Denkmuster loszulassen sich selbst beginnen. Solange es nicht zu einem solch individuellen Umdenken
und uns auf Veränderungen einstellen – als Einzelne wie auch als Gesellschaft und dem Leben neuer Werte kommt, nützt es wenig, äußere Strukturen und
im Ganzen. Instanzen zu verändern.

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Lektion 1 Erfolg

Wie also fängt man bei sich selbst an? Vielleicht am besten, indem man sich diese uu Wenn Sie langfristig etwas von diesem Seminar mitnehmen möchten,
kluge Einsicht aus dem Talmud vor Augen führt: ist es wichtig, dass Sie die vorgeschlagenen Übungen auch tatsächlich
machen. Denn alles Wissen und alle Informationen nützen nichts, wenn Sie
»Achte auf deine Gedanken, denn sie werden zu Worten. nicht selbst die Voraussetzungen schaffen, das Gewollte auch umzusetzen.
Achte auf deine Worte, denn sie werden zu Taten. Und viele kluge Tipps und Ratschläge laufen ins Leere, weil die jeweiligen Er-
Achte auf deine Taten, denn sie werden zu Gewohnheiten. kenntnisse und Vorgaben nicht oft genug wiederholt werden. Die permanente
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Wiederholung ist die »Mutter des Lernens«. Deshalb sollten Sie die für Sie
Achte auf deinen Charakter, denn er bestimmt letztendlich dein Schicksal.« relevanten Informationen immer wieder lesen – am besten zu einer regel-
mäßigen Zeit, sagen wir: 15 bis 30 Minuten am Sonntagmorgen als Ritual.
In Kurzform heißt das also: Oder Sie lesen sich täglich eine zentrale Information laut vor. Und erst wenn
Sie merken, dass diese Information gegriffen hat, wählen Sie eine neue für Sie
förderliche Erkenntnis.
Unsere Gedanken bestimmen unser Schicksal. Nehmen Sie sich also nicht zu viel auf einmal vor. Wer Gewohnheiten ver-
ändern will, tut das am besten in kleinen Schritten. Es ist besser, zunächst
eine Übung oder einen Schlüsselsatz so lange zu verinnerlichen, bis daraus
Unsere Gedanken hängen eng zusammen mit unserer inneren Haltung, so- eine selbstverständliche Gewohnheit wird, als sämtliche Übungen auf ein-
wohl die geistige als auch die konkrete Körperhaltung. Wer sich verändern will, mal anzugehen – und nach vier Wochen erschöpft das Handtuch zu werfen.
muss auch seine Haltung verändern. Das klingt nach einer Banalität. Aber
tatsächlich ist das der Schlüssel zum Erfolg. Denn all die Tipps und Tricks, die Ebenso wichtig ist eine dezidierte, bewusste Entscheidung. Eine gezielte Ent-
uns in Ratgebern aller Art immer wieder empfohlen werden, greifen meist aus wicklung der eigenen Persönlichkeit lässt sich in gewisser Weise mit einer Berg-
einem Grunde nicht: weil sie in der gewohnten Haltung, im gewohnten Kon- wanderung vergleichen: Wer ziellos umherirrt, wird nicht plötzlich eines Tages
text angewendet werden und somit nicht wirklich in der Tiefe zu veränderten auf dem Gipfel stehen. Dazu braucht es vielmehr eine klare Vorstellung der Route,
Erfahrungen führen. es braucht die passende Ausrüstung und in den meisten Fällen auch geeignete
Zu neuem Denken kommen Sie nicht allein durch neue Informationen, Helfer. Und es empfiehlt sich, den Weg zum Erreichen seiner Ziele in möglichst
sondern indem Sie neue Erfahrungen machen. Der Schlüsselsatz dafür lautet: überschaubare Etappen einzuteilen.
Wer sich verändern und entwickeln will, muss sich also bewusst dafür ent-
scheiden, alte Muster abzulegen und neues Denken zu üben. Zu diesen hin-
Der Weg des Seins ist der Weg des Tuns. derlichen Mustern gehört etwa das weit verbreitete Ohnmachtsdenken (»Man
kann ja doch nichts tun«), das einen beim Blick auf die komplexe Weltlage leicht
ergreift. Zumindest eine Sache kann man immer tun: seine eigene Haltung zu
Neue Erkenntnis und eigene Erfahrungen führen zu neuronalen Verknüpfungen. den Dingen verändern. Statt an einer Schwierigkeit zu verzweifeln, kann man
Denn für neues Verhalten muss das Gehirn regelrecht umgebaut werden – und sich auch aktiv dafür entscheiden, die Situation als Trainingseinheit anzusehen
das ist ein längerer Prozess, der nur durch sich ständig wiederholende Erfah- und damit als Möglichkeit, an ihr zu wachsen.
rungen in Gang kommt. Mit neuen Verhaltensweisen und Denkmustern ist es
ähnlich wie mit einer neuen Sprache: Die lernt man nur durch Üben und stetes
Wiederholen. Die Situation ist dein Coach.

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Lektion 1 Erfolg
Die Philosophie des Selbst-Entwicklers ist im Kern eine positive, dem Leben zieht eine Nummer, die den entsprechenden Platz bezeichnet. Und plötzlich
zugewandte. Sie geht davon aus, dass dem Leben grundsätzlich ein positiver Wert ist alles durcheinandergewirbelt. So werden aus üblichen Positionskämfen In-
zukommt und dass selbst schwierige oder gar ausweglos erscheinende Situationen teressensauseinandersetzungen. Schon allein diese kleine Änderung hilft, eine
noch einen Sinn beinhalten können. Das soll nun allerdings nicht bedeuten, dass andere Diskussionsdynamik in Gang zu bringen – die häufig auch zu völlig
man stets gute Laune zu haben hat. Im Zuge des sogenannten positiven Denkens unerwarteten, kreativen Ideen führt.
kommt es häufig zu dem Missverständnis, dass alle negativen Gefühle abge-
lehnt oder verdrängt werden. Im Gegenteil. Zur Entwicklung der eigenen Per- Dasselbe Prinzip der gezielt herbeigeführten neuen Erfahrung kann man natür­
sönlichkeit gehört es auch, all die unterschiedlichen Gefühle anzuerkennen, die lich auch auf andere Bereiche übertragen. Brechen Sie einmal aus Ihren ein-
im Laufe eines Lebens in uns entstehen – von der Freude über die Angst bis zur gefahrenen Gewohnheiten aus, indem Sie zum Beispiel:
Trauer oder gar Verzweiflung. All diese Gefühle sind richtig, weil sie da sind. Das
einzige, das real ist, ist das Gefühl, nicht die Gedanken. Es ist nur die Frage, wie uu bewusst andere Arbeitswege als sonst nehmen (auch wenn es Umwege sind),
wir damit umgehen – ob wir uns in der Angst oder der Wut genüsslich einrichten,
oder ob wir es schaffen, sie auch wieder loszulassen. uu neue Lokale aufsuchen (gerade dann, wenn Sie eigentlich denken: »Das ist
nichts für mich!«) oder indem Sie in Ihrem Stammlokal einmal nicht auf
Die Selbst-Entwicklung der Persönlichkeit bedeutet nicht, dass man stets erfolg- Ihrem Stammplatz sitzen,
reich wäre. Denn auch trotz größter Anstrengung kann man in der dynamischen,
ungewissen, komplexen und mehrdeutigen VUCA-Welt nicht immer erfolgreich uu Dinge essen, die Sie nicht kennen oder die Ihnen suspekt sind,
sein. Scheitern und Misserfolge gehören notwendigerweise zum Leben dazu. Wer
sich dies allerdings bewusst macht, steht nach Niederlagen schneller auf und uu neue Urlaubsziele als die gewohnten ansteuern,
nimmt ein Scheitern nicht so persönlich. Das führt einerseits zu größerer Ge-
lassenheit und ist andererseits die Voraussetzung dafür, vielleicht beim nächsten uu sich in anderer Reihenfolge ankleiden als gewohnt oder bei anderen Dingen
Mal aus den Fehlern zu lernen und dann erfolgreicher zu sein – also in jeder neue Bewegungsabläufe erproben,
Hinsicht eine gute Strategie.
uu den Kontakt zu anderen Altersgruppen und Kulturen suchen, die Ihnen
Beginnen wir daher gleich mit einer einfachen Übung, quasi zum Auflockern fremd sind,
unserer Gewohnheiten. Es geht darum, neue Erfahrungen zu machen, die dann
zu neuen Veränderungen führen. Die Übung kommt aus dem Business-Bereich, uu oder indem Sie täglich eine kleine Mutprobe wagen (zum Beispiel: zwei
kann aber ebenso zu Hause erprobt werden. verschiedenfarbige Socken tragen, beim Metzger Tulpen bestellen),

uu Sich umsetzen bringt Umsatz: Für gewöhnlich sitzen wir in Meetings uu fremde Menschen auf der Straße um Geld bitten
im Büro oder auch zu Hause am Küchen­tisch immer am selben Platz.
In der Mitte sitzt der Chef, daneben der Stellvertreter. Dann kommen uu für ganz Mutige: Mit erhobenen Armen auf einer belebten Straße herum-
vielleicht die altgedienten, oft schon konservativen Kollegen; daneben laufen, in die Luft springen und dabei laut »Kuckuck« rufen.
die aufstrebend-ehrgeizigen Jungen, dann die Kollegen von der Technik
und vielleicht hinten in der Ecke die jungen Wilden, die eigentlich ganz
andere Ideen haben, aber oft nicht bis zum Chef durchdringen. Jeder
hat seinen gewohnten Platz und immer denselben Ausblick, und dem-
entsprechend vorhersehbar verlaufen dann oft auch die Diskussionen.
Um das aufzubrechen und neues Denken zu fördern, ist es sehr wirkungsvoll,
die Sitzordnung zu ändern – und zwar indem man das Los bestimmen lässt.
Bevor man in den Konferenzraum geht, greift man also in einen Kasten und

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Lektion 1 Erfolg
Sie finden das albern? Da geht es schon los mit dem inneren Widerstand und
dem Beharren auf dem Gewohnten, Sicheren. Dabei sind all diese Dinge weder
gefährlich noch ruinös. Selbst das »Kuckuck«-Rufen wird Ihnen – außer einigen
verwunderten Blicken – nichts Nachteiliges einbringen. Das Einzige, was es
erfordert, ist etwas Mut und die Bereitschaft, eine neue Erfahrung zu machen.
Sie müssen dran bleiben, es nicht nur einmal machen, sondern mehrmals, bis es
Ihnen nichts mehr ausmacht, bis Sie unerschütterlich sind.

Diese Mutprobe stetig zu wieder-


holen, macht auf Dauer allgemein
widerstandsfähiger gegen
jegliche Art von Abweisung.

Auf den Punkt  Transformation bestimmt unseren Alltag.

 VUCA regiert unsere Zeit und erfordert Flexibilität im Denken


und Handeln.

 Machen Sie sich Ihre eigenen Gedanken bewusst, denn diese


bestimmen auch das eigene Schicksal (Talmud).

 Machen Sie neue Erfahrungen, denn der Weg des Seins ist der
Weg des Tuns.

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Lektion 2

Veränderung beginnt im Kopf


Der Selbst-Entwickler
und seine vier Werkzeuge

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dem Leben gegenüberzutreten. Man kann es


als Jammertal sehen, das es zu durchschreiten gilt; als Selbstbedienungsladen, der
nur für einen ganz persönlich geöffnet ist; oder auch als eine Abfolge von Enttäu-
schungen und Demütigungen, die einen in die Depression treiben. Die Philoso-
phie des Selbst-Entwicklers ist eine andere: Diese Perspektive ignoriert negative
Ereignisse nicht, sondern begreift sie als unabänderlichen Teil des Lebens – ohne
sich davon niederdrücken und verbittern zu lassen. Der Selbst-Entwickler sieht
sich dem Leben gegenüber nicht in der Position des Ohnmächtigen, sondern in
der des aktiv Gestaltenden. Er ist Zeuge und Kostenberechner seines eigenen
Denkens und Verhaltens.
Natürlich bedeutet das nicht, dass man alles im Griff hätte. Auch der Selbst- E p i k tet
Entwickler wird vom Leben nicht verschont und erlebt unerwartete Situationen,
Krankheiten oder das Scheitern von Projekten und Beziehungen. Aber er weiß (ca. 50–138 n. Chr.) zählt
auch, dass es letztlich nicht auf die Tatsachen ankommt, sondern, wie er sich zu den einflussreichsten
innerlich dazu stellt. Zu dieser Erkenntnis gelangte der griechische Philosoph Vertretern der sogenann-
Epiktet schon vor fast zweitausend Jahren: »Es sind nicht die Dinge selbst, die ten stoischen Schule.
uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen.«3 Der Philosoph lehrte, dass
dem Menschen seine
Wir mögen zwar den Lauf des Lebens nicht im Griff haben, aber unsere Hal-
innere Freiheit auch durch
tung dazu können wir sehr wohl beeinflussen. Der Weg des Selbst-Entwicklers
äußere Unfreiheit nicht
beginnt daher mit der Entscheidung: Was auch immer kommen möge, ich nehme genommen werden kann.
mir vor, daran zu wachsen, und betrachte jede Situation als eine Trainingsein- Dabei wusste Epiktet,
heit innerhalb meines mentalen Fitnesscenters. Das heißt: Als Selbst-Entwickler wovon er sprach: Bevor er
bestimme ich selbst, was eine Situation für mich bedeutet und wie ich sie nutze. als Philosoph bekannt
Ob Sie sich für diese Haltung entscheiden (oder für eine andere), liegt natür­ wurde, hatte er als Sklave
lich ganz bei Ihnen. Sie sollten sich nur klarmachen: Auch die Entscheidung, dienen müssen.
keine klare Haltung einzunehmen, ist eine Entscheidung. Es ist dann eben der

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Lektion 2 Veränderung
Entschluss dazu, sich ohne klare Orientierung irgendwie durchzuwursteln und passieren?« – solche Gedanken kennen wir alle. Wenn wir bei solch negativen Re-
bei jedem Problem erneut vor der Frage zu stehen, mit welcher Haltung Sie ihm aktionen nicht stehen bleiben, sondern konstruktiver mit Herausforderungen um-
gegenübertreten wollen. gehen wollen, müssen wir uns dies bewusst vornehmen und uns diesen Entschluss
immer wieder vergegenwärtigen. So wird die Entscheidung zum Selbst-Etwickler
Wenn Sie sich jedoch sagen: zu einer inneren Verpflichtung, die uns in schwierigen Momenten Halt gibt.

Das zweite Werkzeug des Selbst-Entwicklers ist die Selbst-Verantwortung.


Ja , ich will ein Selbst-Entwickler sein Das bedeutet, sich klarzumachen: Ich bin zu 100 Prozent verantwortlich für das,
was ich tue. Denn häufig fühlen wir uns unbewusst in einer Opferrolle – ich muss
und entscheide mich dafür, zur Arbeit, ich muss mein Kind vom Kindergarten abholen, ich muss dieses und
am Leben zu wachsen jenes – so als ob irgendeine fremde Macht über unser Leben bestimmte und uns
jeden Tag mit neuen Schikanen quälte. Diese Art der Opferhaltung ist einerseits
und nicht zu verzagen. bequem, aber auch lähmend. Um aus dieser Haltung herauszukommen, gibt es
eine sehr einfache, aber wirkungsvolle Methode: die Ersetzung der Wörter »ich
muss« durch »ich will«.
Dann sollten Sie diesen Entschluss ganz bewusst fassen und schriftlich festhalten. Ich will zur Arbeit, weil ich mich irgendwann einmal für diese Arbeitsstelle
Denn diese Selbst-Bewusstheit ist bereits das erste Werkzeug, das Sie auf dem entschieden habe (sonst würde ich mir eine andere suchen oder mich arbeits-
Weg zum Selbst-Entwickler brauchen, wenn Sie zum Kostenberechner Ihres eige- los melden). Ich will mein Kind abholen, weil ich mit ihm leben möchte (sonst
nen Denkens werden möchten. Notieren Sie Ihre Entscheidung an prominenter würde ich es ja zur Adoption freigeben). Immer wenn uns das »ich muss noch« auf
Stelle, sodass Sie sie immer wieder nachlesen können. Das ist eine wichtige Hilfe, den Lippen liegt, sollten wir überlegen, ob wir es wirklich müssen. Wir werden
um nicht ständig in alte Denkgewohnheiten zurückzufallen. feststellen: Nein, das meiste könnten wir auch sein lassen – wenn wir bereit
Denn konfrontiert mit Problemen oder für sie unangenehme Gegebenheiten, sind, die Konsequenzen zu tragen. Deshalb ist es hilfreich, sich klarzumachen,
reagieren die meisten Menschen automatisch mit Ärger oder Verzagtheit. »So dass man letztendlich nur eines muss: sterben. Alles andere ist, in der einen oder
ein Mist! Das darf doch nicht wahr sein! Warum muss ausgerechnet mir das anderen Weise, unsere eigene Entscheidung. Machen Sie sich klar:

Selbst-
Wo ich bin, will ich sein,
Bewusstheit alles andere war mir bisher zu teuer.
Um das zu verinnerlichen, empfehle ich gerne folgende, sogenannte »Bettkanten-
Übung«:
Selbst- Selbst- uu Bevor Sie morgens aufstehen, setzen Sie sich ein paar Minuten auf die
Überwindung Verantwortung Bettkante. Richten Sie sich auf, setzen Sie sich gerade hin, und machen Sie
sich klar: Ich übernehme jetzt bewusst die Verantwortung für das, was ich
heute tue. Will ich wirklich aufstehen? Will ich zur Arbeit? Will ich mich um
meine Kinder kümmern? Und wenn Sie dann zu dem Schluss kommen: Nein,
Die vier Werkzeuge des das will ich alles nicht – dann können Sie sich wieder ins Bett fallen lassen und
Selbst-Entwicklers für Selbst- weiterschlafen. Sie müssen dann nur die Verantwortung für die Folgen tragen.
Veränderung und Eigenmacht. Vertrauen

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Lektion 2 Veränderung
Entscheidend ist, dass Sie sich klarmachen: So oder so übernehme ich heute die Dieser Versuch zeigt exemplarisch, dass es wirklich klug ist, sein Bestes zu geben –
Verantwortung für mein Handeln – und niemand anderes. Am nächsten Morgen nicht nur für andere, sondern auch für einen selbst. Denn in dem Moment, in
machen Sie dasselbe Spiel. Das können Sie jeden Morgen tun und jeden Tag neu dem ich voll konzentriert bei der Sache bin, aktiviere ich meine ganze Energie
entscheiden, wie Sie sich verhalten wollen. Niemand zwingt Sie zu irgendetwas. und fühle mich allein dadurch lebendiger – wobei es zunächst nichts zur Sache
Wenn Sie sich aber bewusst dafür entscheiden, aufzustehen, zu arbeiten oder tut, welche Tätigkeit ich genau verrichte. Selbst beim Putzen kann man, wie
sich um ihre Familie zu kümmern, dann entscheiden Sie sich auch dafür, dies Ellen Langers Experiment zeigt, positive Erfahrungen machen.
nicht halbherzig zu tun, sondern dabei Ihr Bestes zu geben. Zudem sorgt die richtige Konzentration dafür, dass wir gegenwärtig sind,
Wenn wir nicht unser volles Potenzial abrufen, sondern, bildlich gesprochen, statt in die üblichen negativen Gedankenschleifen zu verfallen (»Was machst du
stets nur mit angezogener Handbremse durch das Leben gehen, dürfen wir uns eigentlich hier? Gibt es nichts Schöneres? Warum muss immer ich mich um so
nicht wundern, wenn wir keine Glücksgefühle erleben und uns insgesamt eher etwas kümmern? …). Widerstehen Sie diesem Hang zur Opferrolle, und rufen
träge und missmutig fühlen. Glück ist auch eine Überwindungsprämie. Sie sich immer wieder ins Gedächtnis: Sie haben sich heute Morgen für diese
Sache entschieden und geben nun Ihr Bestes.
Welch großen Einfluss unsere Einstellung sowohl auf unsere Psyche als auch
auf unseren Körper hat, zeigen viele psychologische Studien. Einen der ver- Das dritte Werkzeug des Selbst-Entwicklers ist das Selbst-Vertrauen. Ohne
blüffendsten Versuche dazu hat die Harvard-Psychologin Ellen Langer 2007 mit ein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wird Ihnen wenig gelingen. Im Gegen-
Zimmermädchen in Boston durchgeführt: teil: Wer sich selbst nichts zutraut, dem trauen auch andere wenig zu – was sich
wiederum negativ auf die Selbstachtung auswirkt. Wie kann man diesen Teufels­
Fakten aus der Wissenschaft
kreis durchbrechen? Indem man bewusst Selbstvertrauen aufbaut. Und wie
Eine Frage der Einstellung gelingt dies? Indem man sich Dinge vornimmt, die man auch wirklich umsetzt.
Langer teilte die Hotelangestellten in zwei Gruppen. Der ersten wurde in einem

Walk the Talk .


mitreißenden Motivationsvortrag erklärt, dass ihre tägliche Arbeit ein wahres
Fitnessprogramm sei – sie müssten sich dessen nur bewusst sein. Täglich 15 Ho-
telzimmer zu putzen in jeweils 20 bis 30 Minuten, das würde den Kreislauf in
Schwung bringen und hätte gesundheitsfördernde Effekte. Dabei wurde ihnen
detailliert vorgerechnet, dass zum Beispiel 15 Minuten Staubsaugen 50 Kalorien
verbrauche, Betten beziehen 40 und das Schrubben eines Bades 60 Kalorien.
Die zweite Gruppe dagegen bekam in derselben Zeit einen neutralen Vortrag Sagen die Briten dazu: Tue das, was du sagst.
über arbeitsrechtliche Bestimmungen zu hören. Danach gingen alle Zimmer-
mädchen wie gewohnt an ihre Arbeit. Dabei empfiehlt es sich, realistisch zu bleiben und sich nicht gleich unerreichbare
Nach vier Wochen zeigte sich, dass die aufmunternden Worte ein kleines Wun- Ziele zu setzen. Statt zum Beispiel als ungeübter Wanderer den Mount Everest
der bewirkt hatten. Allein die veränderte Einstellung führte dazu, dass die Zim- besteigen zu wollen, wäre ein realistisches Ziel: Heute nehme ich im Büro nicht
mermädchen der ersten Gruppe im Schnitt zwei Pfund Gewicht verloren hatten, den Fahrstuhl, sondern die Treppe. Oder: Ich fahre nicht den ganzen Arbeitsweg
dass ihr Body-Mass-Index um einen Drittel Punkt und der systolische Blutdruck mit der U-Bahn, sondern gehe ein Stück zu Fuß. Das mögen kleine Ziele sein,
um 10 Prozent gesunken waren. Bei der Kontrollgruppe hingegen, die ebenso aber auch sie erfordern den Bruch mit bisherigen Gewohnheiten und stellen so-
viel gearbeitet hatte, war – wie zu erwarten – keine Veränderung zu verzeichnen.4 mit eine Herausforderung dar. Und man kann dabei die Erfahrung machen:
Ich setze um, was ich mir vorgenommen habe, ich kann mir vertrauen. Nach
und nach kann man dann die Anforderungen höher schrauben – einmal eine
ganze Woche lang auf den Fahrstuhl zu verzichten, den ganzen Arbeitsweg zu
Fuß gehen – bis man am Ende, wer weiß, vielleicht tatsächlich noch zum Gipfel-
stürmer im Hochgebirge wird.

29    30
Lektion 2 Veränderung
Um dahin zu gelangen, braucht es allerdings noch ein viertes Werkzeug und das Von der Ohnmacht zur Eigenmacht
heißt: Selbst-Überwindung.
In der Regel weichen wir unangenehmen Situationen oder Anstrengungen so Die vier bisher vorgestellten Werkzeuge – Selbst-Bewusstsein, Selbst-Ver-
gut es geht aus. Das ist verständlich, bringt uns aber meist nicht weiter, sondern antwortung, Selbst-Vertrauen und Selbst-Überwindung – sind sozusagen
macht negative Entwicklungen häufig nur schlimmer. Das Credo des Selbst-Ent- die Grundausrüstung des Selbst-Entwicklers, jene Fähigkeiten, die man braucht,
wicklers heißt daher: um sich überhaupt auf den Weg machen zu können. Daneben gibt es aber noch
den Notfallkoffer für schwierige Situationen: Hilfreiche Methoden, um auch

Schmerz, ja sofort.
unter ungünstigen Umständen nicht zu verzweifeln. Diese Methoden nenne ich
»die glorreichen Fünf«, weil sie helfen, von einer Haltung der Ohn-Macht in
die Eigen-Macht zu kommen und auch dann die innere Kontrolle zu bewahren,
wenn äußerlich alles zusammenzubrechen scheint.
Stellen Sie sich vor, Sie freuen sich über Ihr neues Auto, fahren auf der Auto-
Er geht Schwierigkeiten an, solange sie noch klein sind – statt so lange zu warten, bahn, und plötzlich, bei Tempo 120, setzt mit einem Schlag die Zündung aus.
bis sie unüberwindlich werden. Sie können gerade noch nach rechts steuern, kommen auf dem Standstreifen zum
Also: Lieber einmal im Jahr zur Prophylaxe beim Zahnarzt, als zu warten, bis Halten und stehen da nun, der Motor funktioniert nicht mehr. Ein klarer Fall
alle Zähne Karies haben. Oder: Lieber bei Verstimmungen mit dem Partner oder von enttäuschter Erwartung. Die klassische Reaktion darauf wäre, in den Klage-
den Kollegen das Gespräch frühzeitig suchen, als so lange zu warten, bis sich der modus zu verfallen – Warum muss das mir passieren? Warum gerade ich? – und
gegenseitige Ärger zur dauerhaften Abneigung ausgewachsen hat. sich dabei ähnlich hilflos zu fühlen wie ein Kind, das gegen ein übermächtiges
Das erfordert natürlich die Fähigkeit, sich ungemütlichen Situationen aus- Schicksal nichts ausrichten kann. Um innerlich die Kontrolle wiederzugewinnen,
zusetzen und eventuell auch mit Abweisung umzugehen. Und hier kommt die helfen die folgenden fünf glorreichen Schritte.
Selbst-Überwindung ins Spiel. Denn unser normales, übliches Reaktionsschema
lautet: Widerstand vermeiden, Abweisungen möglichst aus dem Weg gehen.
Der bessere, konstruktive Umgang damit heißt: Sich auf den Widerstand ein- »Die glorreichen Fünf«
stellen und sich möglichst schon vorab eine gute Antwort oder Gegenstrategie
einfallen lassen. Wer etwa eine Tanzpartnerin auffordern möchte und eine uu Schritt eins: Gefühle rauslassen
Abfuhr erhält, kann natürlich wie ein geprügelter Hund davonschleichen. Er Wer wütend oder ärgerlich ist, sollte diese Gefühle nicht herunterschlucken,
kann ihr aber auch freundlich in die Augen schauen und etwa sagen: »Schade, sondern darf (und soll) ihre Energie ruhig nutzen. Die Kunst besteht aller-
ich hätte gerne mit Ihnen getanzt. Vielleicht ein anderes Mal.« Auf diese Weise dings darin, die Wut oder den Ärger nicht bei anderen abzuladen – etwa
bewahrt man nicht nur die Selbstachtung, sondern hält auch dem anderen die dem armen Beifahrer, was die schlechte Stimmung noch verstärkt –, sondern
Tür offen, beim nächsten Zusammentreffen möglicherweise anders zu reagieren, den Gefühlen freien Abzug zu gewähren, ohne dass sie Schaden anrichten
da der Abgang sympathisch war. können. Also: Denken oder sagen Sie. »Das stinkt mir.« Oder: »So habe ich
Das gilt natürlich im übertragenen Sinne bei jeder menschlichen Begegnung – mir das nicht vorgestellt!« Steigen Sie zum Beispiel aus, und treten Sie gegen
ob zu Hause mit dem Partner oder im Job bei Kundengesprächen. Gerade im einen Reifen. Körperliche Betätigung hilft, die Emotionen abzubauen. Aber
geschäftlichen Bereich ist es entscheidend, sich etwa vor Verhandlungen auf Sie werden auch merken: Wenn Sie Ihren Gefühlen Ausdruck verschaffen,
Schwierigkeiten einzustellen, seinen inneren Drang zum Ausweichen zu über- nehmen diese ab. Dann wird es Zeit für …
winden und der Situation mit Würde zu begegnen – egal, wie unangenehm sie
sein mag. Und selbst wenn es nicht auf Anhieb gelingen mag, ein Problem zu Schritt zwei: Das gehört dazu
lösen, verfehlt eine solch gefasste Haltung ihre Wirkung nicht. Gut möglich, dass Sagen Sie ruhig laut: »Das gehört dazu!« Es ist normal, dass Sie sich darüber
sie den Grundstein legt, beim zweiten (oder dritten) Anlauf doch noch zum Ziel ärgern. Sie müssen eine Autopanne nicht toll finden. Aber: Das Unvorherge-
zu kommen. sehene ist nun einmal Teil des Lebens, und zur Technik gehört es, dass sie ab

31    32
Lektion 2 Veränderung
und zu versagt. Der Witz ist: In dem Moment, in dem Sie das anerkennen
und »Das gehört dazu« sagen können, kommen Sie schon ein Stück weit aus
der Opferrolle und dem lähmenden Ohnmachtsgefühl heraus. Das ist die
Voraussetzung für

Schritt drei: Die Situation ist mein Coach


Erinnern Sie sich an Ihre Entscheidung als Selbst-Entwickler: Ich habe mich
entschieden, am Leben zu wachsen – auch in unangenehmen Situationen.
Deshalb ist diese Autopanne nun meine Trainingseinheit. Ich werde jetzt
gewissermaßen auf mentale Stabilität geprüft. Wenn Sie sich das klarmachen,
verändern Sie bereits die innere Bewertung der Situation: Aus dem Ärgernis
wird die Möglichkeit, daran zu wachsen, ihr einen anderen Sinn zu geben. Die
Situation ist gewissermaßen Ihr Coach. Nun sind Sie bereit für

Schritt vier: Lösungen suchen


Überlegen Sie sich möglichst viele Optionen, wie Sie mit der Situation umgehen
könnten. Wichtig ist, dass man sich nicht nur eine oder zwei Möglichkeiten
überlegt, sondern dass Sie bewusst Ihr Repertoire an Lösungen erweitern. Da-
mit zwingen Sie sich selbst, kreativ zu werden und auch auf Ideen zu kommen,
die nicht so nahe liegen. Wenn Sie in einer komplexeren Situation stecken –
etwa wenn in Ihrer Firma der Absatz sinkt oder zu Hause der Ehesegen schief
hängt –, dann ist es sehr hilfreich, nicht nur an die erstbesten Möglichkeiten
zu denken (Wir entlassen Mitarbeiter oder: Ich lasse mich scheiden), sondern
sich noch andere Optionen zu überlegen, die eventuell weiter führen. Nun
folgt

Schritt fünf: Entscheiden Sie sich


Führen Sie sich Ihre Optionen vor Augen, und wählen Sie bewusst eine aus.
Es mag sein, dass die Situation keine wirklich optimale Lösungsmöglichkeit
zulässt. Dennoch ist es besser, sich zu entscheiden, als keine Entscheidung zu
treffen. Übrigens eine Entscheidung nicht zu treffen, ist ja auch eine Entschei-
dung. Übernehmen Sie die Verantwortung, und wählen Sie jene Option, die
Ihnen unter den gegebenen Umständen als die beste erscheint. Selbst wenn
sich im Nachhinein eine andere Option als die bessere herausstellt, sollten Auf den Punkt  Der Selbst-Entwickler gestaltet sein Leben aktiv, er ist Zeuge und
Sie sich davon nicht beirren lassen. Solange Sie nach bestem Wissen und Kostenberechner seines Denkens.
Gewissen aufgrund der aktuell verfügbaren Erkenntnisse entscheiden, haben
Sie sich nichts vorzuwerfen. Und sollte später tatsächlich eine andere Option  Jede Situation ist eine Trainingseinheit, in der man sich entwickelt.
besser erscheinen: Dann trifft man eben eine neue Entscheidung.
 Die vier Werkzeuge des Selbst-Entwicklers: Selbst-Bewusstheit,
Selbst-Verantwortung, Selbst-Bestimmtheit, Selbst-Überwindung
fördern die Eigenmacht.

33    34
Lektion 3

Wie man Gewohnheiten durchbricht


Hilfreiche Strategien
auf dem Weg der inneren Veränderung

Es gibt viele Studien, die zeigen, welch enormen Einfluss unsere Erfahrungen
und unsere Einstellungen auf die Art und Weise haben, wie wir die Welt sehen.
Das vielleicht extremste Experiment dazu aber wurde Anfang der 1970er Jahre
von zwei britischen Hirnforschern durchgeführt.
Fakten aus der Wissenschaft

Einfluss von Gewohnheiten auf unsere Wahrnehmung


Sie wollten erforschen, welchen Einfluss frühe Sehgewohnheiten auf das
spätere Verhalten haben. Dazu setzten sie neugeborene Katzen zwei sehr
unterschiedlichen Umwelten aus: Die einen Kätzchen wurden in einem Raum
mit lauter Längsstreifen aufgezogen, die anderen in einer ausschließlich quer
gestreiften Umgebung.
Fünf Monate lang bekamen die Kätzchen jeweils nur Längs- oder Querstreifen
zu sehen, danach wurde getestet, wie sie die Welt außerhalb wahrnahmen.
Ergebnis: Die ersten sahen nur Dinge in Längsrichtung  – die zweiten nur in
Querrichtung. Die Tiere waren »praktisch blind für jene Konturen, die recht-
winklig waren zu denjenigen, die sie erfahren hatten«, wie die Wissenschaftler
in ihrem Bericht notierten.5 Hielt man zum Beispiel jenen Katzen, die in der
längs gestreiften Welt aufgewachsen waren, einen langen Stab horizontal hin,
ignorierten sie ihn; drehte man den Stab in die Vertikale, begannen sie prompt
damit zu spielen. Bei den quer gestreift geprägten Kätzchen war es umgekehrt:
Sie übersahen einen vertikalen Stab und nahmen ihn erst wahr, wenn er ihnen
horizontal präsentiert wurde.

  36
Lektion 3 Gewohnheiten
Dieses Experiment zeigt, wie stark das Gehirn von Gewohnheiten bestimmt hinterlassen zwar die Erlebnisse in Kindheit und Jugend die tiefsten Spuren im
wird: Es nimmt nur das wahr, was es zu sehen gelernt hat. Tatsächlich zeigte die Gehirn. Doch das heißt nicht, dass unser Denkorgan irgendwann starr und
Analyse der britischen Neuroforscher, dass sich im Gehirn der Katzen jeweils nur unbeweglich wäre. Selbst im Alter kann sich das Gehirn noch verändern, wie
bestimmte neuronale Verknüpfungen gebildet hatten – eben jene, die entweder wir seit einigen Jahren wissen, selbst bei Erwachsenen können noch neue Nerven-
auf Quer- oder Längsstreifen reagierten. Das jeweils gegenteilige Muster wurde zellen sprießen und sich neue Synapsen bilden – wenn auch in der Regel lang-
vom Gehirn schlichtweg ignoriert. samer als bei Kindern (weshalb uns etwa das Erlernen einer neuen Sprache oder
eines Musikinstrumentes im Alter so viel schwerer fällt).
Zum Glück stellt man solche Versuche nicht mit Menschen an. Dennoch wissen
wir heute, dass unser Gehirn ganz ähnlich funktioniert: Es passt sich den Auf- Wer sich also verändern will, wer die Welt mit neuem Blick betrachten möch-
gaben an, die es gestellt bekommt, und wird von lange andauernden Gewohn- te, muss daher immer auch sein Gehirn verändern. Er muss das »neuronale
heiten regelrecht physiologisch geformt6. Vor allem in den ersten Lebensjahren Gitterbett« verlassen und dafür sorgen, dass neue Verknüpfungen in unserem
wird das Gehirn »personalisiert«, es orientiert sich an den Bedürfnissen seines Denkorgan entstehen. Er muss nicht nur im übertragenen, sondern auch im
jeweiligen Besitzers. konkret-biologischen Sinne neue Denkwege beschreiten, muss gewissermaßen
Das Denkorgan eines Neugeborenen wiegt nur etwa ein Viertel von dem eines neue Pfade im Dickicht der Neuronen bahnen, die sich im Laufe der Zeit und bei
Erwachsenen, enthält aber bereits eine ähnlich große Zahl an Nervenzellen, näm- häufiger Benutzung nach und nach zu neuronalen Schnellstraßen auswachsen
lich rund 100 Milliarden Neuronen. Was sich nach der Geburt zusehends aus- können.
bildet, sind die Verknüpfungen zwischen diesen Nervenzellen, die sogenannten
Synapsen. Diese werden je nach Umgebung und Erfahrungen optimiert: Dabei Doch wie bewerkstelligt man den Ausbruch aus dem »neuronalen Gitterbett«?
werden Verbindungen, die häufig benutzt werden, immer stärker und schneller; Wie wird man bereit für neue Sicht- und Verhaltensweisen? Dass dies gar nicht
jene, die nicht benutzt werden, verkümmern zusehends und werden vom Gehirn so einfach ist, weiß jeder, der schon einmal versucht hat, einen Silvestervorsatz
irgendwann regelrecht »entsorgt« – wie bei den Kätzchen die Verbindungen für länger als ein paar Tage umzusetzen. Denn kaum etwas wirkt stärker als die Ge-
das jeweilige Muster, das in ihrer »Welt« nicht gebraucht wurde. Solche Muster wohnheiten, die wir im Laufe unseres Lebens entwickelt haben.
können dann vom Gehirn schlicht nicht mehr erkannt werden. Das Denkorgan Psychologen gehen heute davon aus, dass 30 bis 50 Prozent unseres täglichen
ist quasi in ein »neuronales Gitterbett« gepresst worden, das fortan all seine Verhaltens über Gewohnheiten läuft. Sie helfen uns, Energie und Zeit zu sparen,
Reaktionen bestimmt. weil wir in der Regel nie mehr über sie nachdenken – etwa wenn wir immer
Dieses »Gitterbett« wird bei uns Menschen zwar in der Regel nicht von denselben Weg zur Arbeit nehmen, zu Hause am Küchentisch oder beim Mee-
Längs- oder Querstreifen bestimmt, aber zum Beispiel von den Eigenheiten ting in der Firma immer am selben Platz sitzen –, und sind damit ebenso bequem
unserer Kultur. Wir alle kommen mit Gehirnen auf die Welt, die prinzipiell für wie hartnäckig.
sämtliche Sprachen gleichermaßen begabt sind. Wer allerdings in einer deutsch- Gewohnheiten funktionieren sogar ähnlich wie kleine Süchte. »Wenn wir die
sprachigen Umgebung aufwächst und vorwiegend deutsche Laute hört, lernt Erfahrung machen, dass ein bestimmtes Verhalten zu einer Belohnung führt,
zwar mühelos deutsch – hat dafür aber ab einem gewissen Alter immer größere wiederholen wir es möglichst oft«, erklärt etwa der Neurowissenschaftler Wolf-
Mühe mit der richtigen Aussprache des Chinesischen oder von Kisuaheli. »Egal, ram Schultz.8 Dabei verstärkt das Gehirn jene Verhaltensweisen, die es wieder-
welche Gen-Ausstattung ein menschlicher Säugling mitbringt – wenn er in Afri- erkennt: Es schüttet Botenstoffe aus, durch die wir uns besonders wohlfühlen.
ka, Europa oder Japan aufwächst, wird er eben zum Afrikaner, Europäer oder »Belohnungen erzeugen ein neuronal verankertes Verlangen, sie verändern das
Japaner«, erklärt der Hirnforscher Gerhard Roth. »Und wer erst einmal in einer Gehirn«, sagt Schultz – sie erhalten sich so selbst. Das Ärgerliche ist nur: Dieser
Kultur aufgewachsen (ist) und, sagen wir, 20 Jahre alt ist, wird nie mehr ein Mechanismus funktioniert bei positiven genauso wie bei negativen Gewohn-
volles Verständnis für andere Kulturen erwerben – weil das Gehirn durch diesen heiten. Deshalb ist es so schwer, Letztere zu verändern. Wir müssen dabei im
Flaschenhals der Kulturalisierung gegangen ist.«7 wahrsten Sinne des Wortes unser Gehirn umbauen. Wie kann das gelingen?
Auch andere Einflüsse – etwa die Erziehung unserer Eltern, die Erfahrungen
mit Freunden, Lehrern oder Vorbildern – prägen uns und bewirken, dass wir Der erste Schritt zur Veränderung von Gewohnheiten besteht zunächst einmal
die Welt stets durch einen bestimmten neuronalen Filter wahrnehmen: Dabei darin, sie sich bewusst zu machen. Das heißt: sich selbst aufmerksam beobachten

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Lektion 3 Gewohnheiten
und feststellen, wie man sich eigentlich so den ganzen Tag verhält. Zum Beispiel: einem eine bestimmte Art von automatisierten Gedanken bewusst wird. Etwa
wie man isst oder trinkt, wie man geht, redet und vor allem: wie man denkt. wenn man merkt: Jetzt klage ich wieder. Für jede Klage – über den Stau,
Denn im Kopf läuft vieles so automatisiert und routiniert ab, dass wir es in der die Nachbarn, Gott oder die Welt – gibt es einen Klick. Manche Menschen
Regel gar nicht registrieren. Vorurteile und Denkschubladen sind schnell bei der kommen bei dieser Übung auf fast 60 Klicks am Tag. Das heißt: Sie sind
Hand – »Das haben wir schon immer so gemacht!«, »Das haben wir noch nie so 60-mal dagegen, fühlen sich 60-mal als Opfer. Eine Denkgewohnheit, die
gemacht!« – und bestimmen häufig unsere automatischen Reaktionen, bevor wir wirklich nicht hilfreich ist.
unsere Gedanken gründlich überprüft haben.
Bei Schwierigkeiten zum Beispiel tendieren wir häufig dazu, uns über die uu Falls Ihnen das mit dem Zähler zu aufwendig erscheint, können Sie auch
ungerechte Welt da draußen zu beklagen und uns selbst als deren Opfer zu sehen. andere Methoden nutzen: zum Beispiel ein Armband, das sie bei jeder Klage
Geraten wir etwa in einen Stau, geht schnell das Klagen los: »Ach, so ein blöder von einem Arm zum anderen wechseln. Wichtig ist nur, dass Sie sich das
Stau. Das gibt’s doch nicht, das darf doch nicht wahr sein. Warum fahren die Auftauchen des »inneren Quatschi« in einer bestimmten Situation bewusst
denn nicht« und so weiter. Achten Sie einmal darauf: Diese Art von Klagen machen, z. B. wenn Sie im Stau stehen und ihn ersetzen durch: Die Situation
kommt von ganz allein in unseren Kopf, wir brauchen sie uns gar nicht bewusst ist mein Coach. Denn alleine die Tatsache, seine automatisierten Gedanken
vorzunehmen. Denn dieser Denkreflex ist letztlich Ausdruck der Bequemlich- klar zu erkennen und zu benennen, hat einen enormen Effekt: Sie verschwin-
keit: Indem ich mich selbst als armes Opfer stilisiere, schiebe ich die Verant- den dann nämlich allmählich ganz von selbst.
wortung von mir weg – und bin damit auch der Verpflichtung enthoben, selbst
tätig zu werden und die Sache zum Besseren zu verändern. Tatsächlich ist dieses Bewusstwerden häufig wirkungsvoller als der brachiale Ver-
Man könnte meinen, dass Menschen alles unternehmen, um aus dem Leiden such, es »ab heute ganz anders zu machen«. Denn in dem Fall erklären Sie Ihren
und Klagen herauszukommen. Aber oft ist das gar nicht der Fall: Denn auch bisherigen Denkgewohnheiten den Krieg. Sie treten gewissermaßen zum Kampf
das Leiden, vor allem das bekannte Leid, bietet eine Art von Vertrautheit und gegen sich selbst und Ihre eigenen neuronalen Muster an – und dieser Kampf ist
Sicherheit, die auf paradoxe Weise Geborgenheit vermittelt. Vor allem wenn die extrem ermüdend. Sinnvoller ist es, die Muster erst einmal nur zu beobachten;
Außenwelt bedrohlich erscheint, zieht man sich gerne in seine vertraute Höhle schon alleine das durchbricht den üblichen Automatismus, hebt ihn aus dem Un-
des Leidens und Klagens zurück. Und da hilft es wenig, das diesen Menschen bewussten ins Bewusstsein – und schafft so die Möglichkeit zum Gegensteuern.
ausreden zu wollen. Je mehr man dagegen argumentiert, umso störrischer werden Und jedes Mal, wenn der Denkautomatismus durchbrochen wird, schwächt er
sie meist in ihrem Reflex der Beharrung und des Rechthabenwollens. Das Leiden sich ab und andere Verknüpfungen werden durch neues Tun im Gehirn aktiviert
und Klagen ist für sie zu einem inneren Automatismus geworden, über den sie in und gestärkt – so lange, bis sich ein neues Verhalten ergibt. Letztlich ist es die Bewusstheit
der Regel keine Kontrolle haben. Man könnte auch sagen: Also seien Sie nicht garstig gegen Ihren »inneren Quatschi« – er ist schließlich über das eigene Verhalten,
auch ein Teil von Ihnen. Besser ist es, ihn mit Humor zu nehmen, ihn innerlich die zur Veränderung führt und

Es denkt mich.
zu begrüßen – »Ach hallo, Quatschi, du schon wieder« – und ihn dann ohne nicht der brave Wille, es doch
großen Kampf wieder ziehen zu lassen. Dann vergeuden Sie keine Energien in endlich ändern zu wollen.
einem sinnlosen Kampf gegen sich selbst, sondern schaffen allmählich den Raum
für neue, andere Gewohnheiten.

Die zweite wichtige Rolle beim Einüben neuer für Sie förderlichen Gedanken
Da ist ein »innerer Quatschi« am Werk, der alles tut, um uns selbst in bestem und Verhaltensweisen spielt unsere Haltung – sowohl die geistige als auch
Licht erscheinen zu lassen und es zugleich möglichst bequem für uns zu machen. die körperliche. Eine bestimmte geistige Disposition schlägt sich auf lange
Sicht in der Körperhaltung nieder; umgekehrt wirken Mimik, Gestik und
uu Um diese Automatismen zu durchbrechen, hilft es enorm, das Auftauchen körperliches Verhalten unmittelbar auf unsere Stimmung zurück. So ist an
einer bestimmten typischen Opfer-Situation zu erkennen und bewusst zu einem langsamen, schlurfenden Gang und leicht nach vorn geneigtem Rumpf
machen. Man kann dies zum Beispiel mit einem kleinen Zähler tun, den man schon von Weitem eine niedergeschlagene Stimmung erkennbar. Und durch
sich um den Zeigefinger bindet und auf den man jedes Mal drückt, wenn das Einnehmen dieser Haltung kann man sich gezielt in eine trübe Stimmung
versetzen.

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Lektion 3 Gewohnheiten
Nutzen Sie also diese einfache Methode der körperlichen Beeinflussung! Zum Und noch ein letzter Rat:
Beispiel, wenn Sie merken: Jetzt »denkt es mich«, jetzt beginnt das automati-
sche Klagen, dann ist es sehr wirksam, sich körperlich aufzurichten, sozusagen In vielen Experimenten wurde gezeigt, wie stark wir unsere Handlungen mit
Haltung anzunehmen. Alleine dadurch aktivieren Sie innerlich jene Energien, bestimmten Situationen verknüpfen. Beispiel: Immer, wenn ich abends nach
die Ihnen helfen, aus der Klagelitanei herauszukommen und andere, positive Hause komme, schalte ich den Fernseher ein. Diese Verknüpfung einer Hand-
Aspekte der Situation zu erkennen. lung mit einer äußeren Situation kann sehr stark, fast zwanghaft werden. Am
Ende kann ich mein Wohnzimmer gar nicht mehr betreten, ohne nicht gleich
Die dritte Methode, neben dem Bewusstmachen und einer aufrechten automatisch den Fernseher einzuschalten. Wer solche Verhaltensweisen ändern
Körperhaltung, ist die Konzentration auf die Gegenwart. Ganz im Sinne des möchte, sollte die dafür spezifischen Auslöse-Sitationen verändern. Das heißt:
Philosophen Hermann Graf Keyserling, der in den 1920er Jahren in Darmstadt Wer weniger fernsehen möchte, kann zunächst einmal den Fernseher in den
eine »Schule der Weisheit« gründete und dem wir die Einsicht verdanken: »Die Keller bringen, um den üblichen Automatismus zu durchbrechen.
größte Tugend, um Glück zu erlangen, ist die eigene Konzentrationsfähigkeit.« Und wenn Sie neue Verhaltensweisen einüben möchten, dann denken Sie auch
Wenn man sich intensiv auf seine jeweils aktuelle Tätigkeit konzentriert, daran, sich zu belohnen, wenn es Ihnen gelungen ist. Denn wie bereits erklärt,
rutscht man nicht so leicht in seine Denkautomatismen. Deshalb ist die voll- funktionieren Gewohnheiten ähnlich wie kleine Süchte: Wenn im Gehirn die
ständige Konzentration auf die Gegenwart eines der besten Mittel gegen den Erfahrung verankert wird, dass ein bestimmtes Verhalten zu einer Belohnung
inneren Dauermonolog des »Quatschi«. führt, will es dieses Verhalten möglichst oft wiederholen. Auf diese Weise können
Sie durch kleine Anreize ganz allmählich von schlechten zu guten Gewohnheiten
uu Hilfreich kann unter Umständen auch das Notieren seiner Gedanken kommen.
sein. Das gilt zum Beispiel dann, wenn Sie nachts um 2.30 Uhr wach werden
und ihr Gehirn pausenlos in einer negativen Gedankenschleife rattert – wenn
Sie also dem »Es denkt mich« verfallen sind, nicht mehr schlafen können und
sich gedanklich andauernd im Kreis drehen. Statt nun innerlich dagegen an-
zukämpfen, stehen Sie lieber auf, holen Sie sich Stift und Papier, und schreiben
Sie Ihre Gedanken auch immer wieder nieder. Das ist ein gutes Mittel, aus
dem Automatismus auszusteigen, in die Gegenwart zu kommen und die
Hermann Graf Keyserling Gedanken wieder selbst zu lenken.
(1880–1946) wurde als Philosoph
vor allem durch sein »Reisetage- uu Wir alle haben unsere typischen Klagesätze, die uns ganz automatisch
buch« bekannt. 1920 gründete überfallen. »Das gibt’s doch nicht« oder »So ein Sauladen« oder »Immer ich!« …
er in Darmstadt die »Schule der Einer meiner Klienten, ein viel beschäftigter Manager, sagte solche Sätze meist,
Weisheit«, die zur Begegnungs- wenn er nach Hause kam und sich über seine Kinder ärgerte, die wieder einmal Auf den Punkt  Unser Gehirn wird von Gewohnheiten bestimmt: Es nimmt nur das wahr,
stätte für maßgebliche Persönlich- nicht aufgeräumt hatten oder ihm anderweitig auf die Nerven gingen. Natürlich was es zu sehen gelernt hat (»neuronales Gitterbett«).
keiten des geistigen Lebens hatten seine ständigen Vorwürfe keinerlei Wirkung – außer dass die Stimmung
in der Weimarer Republik wurde. immer schlechter wurde, wenn der Manager sein Heim betrat. Da half die  Machen Sie sich Ihre Gewohnheiten bewusst und durchbrechen Sie sie,
Hitliste-Übung und sein Humor: Er identifizierte seine häufigsten Vorwürfe um neue Erfahrungen machen zu können 
und nummerierte diese gemeinsam mit der Familie durch. Also Nr. 1: »So ein
Sauladen«, Nr. 2: »Immer ich«, Nr. 3: »Das gibt’s doch nicht« und so weiter.  Erkennen Sie Ihre Automatismen, begrüßen Sie Ihren »Quatschi«, und
Wenn er nun nach Hause kam, rief er nur noch eine Zahl in den Raum – alle lassen Sie ihn anschließend ziehen.
lachten und wussten, was gemeint war. Dadurch änderte sich zunächst einmal
die Stimmung. Und nach einiger Zeit fanden die Kinder tatsächlich von sich  Die Konzentration auf das »Hier und Jetzt« lässt keine automatischen
aus Gefallen daran, aufzuräumen, um dem Vater eine Freude zu machen. Gedanken entstehen.

41    42
Lektion 4

Haltung und Gelassenheit


Wie man eine grundlegend positive
Haltung entwickelt

Ein häufiger Irrtum in unserer Wissensgesellschaft ist der Glaube an die Ver-
änderungskraft von Wissen und Informationen. Viele meinen, dass man für die
Veränderung seines Verhaltens vor allem neue Informationen brauche. Dabei
ist es oft eher umgekehrt: Nicht die Informationen an sich sind entscheidend,
sondern vielmehr die Veränderung der inneren Haltung, die in der Folge dann
zu neuen Einsichten führt.
Wir haben in der vorangegangenen Lektion die Macht eingefahrener Denk-
und Verhaltensgewohnheiten thematisiert. Um diese zu überwinden, braucht es
einerseits eine größere Bewusstheit über die eigenen Denkmechanismen; zum
anderen hilft es, neue Rituale in sein Leben einzubauen, die alte Routinen durch-
brechen und neue Erfahrungen ermöglichen – und auf diese Weise allmählich
die innere Einstellung verändern, die ja die Quelle unserer Gedanken ist.

uu Eines dieser Rituale ist zum Beispiel das »zweite Aufwachen« am Morgen.
Statt einfach mechanisch aufzustehen, ins Bad zu trotten und all die üblichen
morgendlichen Gewohnheiten abzuspulen, sollte man sich – wenn auch nur
kurz – Zeit nehmen, den Tag ganz bewusst zu beginnen und sich auf ihn ein-
zustimmen. Wenn wir uns diese Zeit nicht nehmen, rutschen wir ganz leicht
in den Automatik-Modus des »Es macht mich« oder »Es denkt mich«. Um das
zu verhindern, ist es wichtig, sich in einen Zustand der Bewusstheit zu brin-
gen, sich an sich zu erinnern. Wer möchte, kann sich dabei zugleich die vier
Prinzipien des Selbst-Entwicklers in Erinnerung rufen: Selbst-Bewusstheit,
Selbst-Verantwortung, Selbst-Vertrauen und Selbst-Überwindung.

Noch wirksamer für das »zweite Erwachen« ist das folgende Ritual, das mittler­
weile auch als das »Corssen-Ritual« bekannt ist.

  44
Lektion 4 Haltung und Gelassenheit
uu Man stellt sich dazu auf einen Stuhl, nimmt eine aufrechte, offene Hal- Eine Minute reicht für dieses Morgenritual völlig aus. Dieses tägliche »Stuhl-
tung ein und begrüßt ganz bewusst den Tag. Man kann zum Beispiel den Stehen« hat eine große Wirkung.
kurzen Text sprechen: Man wacht wirklich bewusst auf und kommt in der Gegenwart an und erzeugt
zugleich eine Haltung der Wertschätzung dessen, was ist. Dadurch, dass man
sich auf einen Stuhl stellt, erhebt man sich gleichsam über die Dinge und richtet
Willkommen Tag! Ich begrüße dich sich auch körperlich auf. Es ist hilfreich, innerlich Abstand zu bekommen und
sich so nicht im Alltag zu verlieren.
mit allem, was du bringst. Ich öffne mich
dem Leben und allen Menschen. Ich beende Das mag Ihnen vielleicht beim ersten Lesen oder Hören seltsam erscheinen. Aber
denken Sie daran: Wichtig ist nicht, ob Ihnen dieses Ritual intellektuell ein-
mein Klagen. Wo ich bin, will ich sein. leuchtet, sondern dass Sie es selbst ausprobieren – und möglichst über einen
längeren Zeitraum praktizieren. Dann erst sollten Sie entscheiden, was Sie davon
halten.
Rituale haben seit je eine wichtige Funktion im menschlichen Leben: Sie
geben uns Sicherheit und helfen, positive Gewohnheiten zu etablieren und nega-
tive Gewohnheiten aufzulösen. Dabei ist Wiederholung die Mutter des Lernens.
Ausschließlich die Erfahrungen, die wir immer wieder machen, verändern auf
Dauer unser Gehirn. Und ein etabliertes Ritual hilft uns dabei enorm: Indem
wir ihm einfach folgen, sparen wir uns so den täglichen Entscheidungskampf, ob
wir uns nun so oder so verhalten wollen – eine Entscheidung, die sonst viel Zeit,
Denkarbeit und Willenskraft binden würde. Rituale sind, so gesehen, kognitive
Energiesparmaßnahmen, die das Leben vereinfachen.

Deshalb sollten Sie sich die für Sie aus diesem Seminar wichtigen Erkenntnis-
se ziehen und regelmäßig in Erinnerung rufen. Sie können sich zum Beispiel
selbst Stichpunkte herausschreiben und diese als Ritual jeden Sonntagvormittag
wiederholen. Nach einiger Zeit werden Sie merken, dass sich diese Einsichten
und Ideen automatisch auf die Verhaltensebene auswirken.

Vom Wert der Körperhaltung


Eine wichtige Funktion des morgendlichen »Auf-dem-Stuhl-Stehens« ist, neben
der Wiederholung, auch das ganz praktische, körperliche Aufrichten. Denn
Psyche und Körper sind nicht getrennt. Psychische Probleme können sich physio­
logisch niederschlagen, und umgekehrt können körperliche Probleme nachhal-
tig unser seelisches Erleben beeinträchtigen oder verändern. Deshalb spielt die
Haltung eine zentrale Rolle beim Einüben neuer Gewohnheiten.
Wie eng Psyche und Körper miteinander verbunden sind, hat auch die Wissen-
Das tägliche Morgenritual: schaft in den vergangenen Jahren zunehmend gezeigt. Der Körper denkt mit – so
Das Leben und sich selbst von könnte die Quintessenz aus moderner Hirnforschung, Psychologie und Medizin
oben betrachten. lauten9. Eine bestimmte geistige Disposition schlägt sich auf lange Sicht in der

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Lektion 4 Haltung und Gelassenheit
Fakten aus der Wissenschaft

Körperliches Verhalten ändert das Empfinden


Eine rein körperliche Veränderung kann auch die gute Laune anregen. Am
augenfälligsten zeigte dies ein berühmter Versuch des Psychologen Fritz
Strack an der Universität Würzburg:10 Er bat seine Probanden, einen Stift
im Mund zu halten  – entweder mit ihren Zähnen, wodurch das Lächeln er-
leichtert wurde, oder mit ihren Lippen, wodurch das Lächeln erschwert wurde.
Danach sollten sie Cartoons beurteilen. Ergebnis: Wer den Stift mit den Zähnen
gehalten hatte – sich also zum Lächeln gezwungen hatte – fand die Cartoons
lustiger als jene Probanden, die sich das Lächeln erschwert hatten.

Mimik und Körperhaltung schlagen sich jedoch nicht nur auf unsere Stimmung
nieder, sondern beeinflussen selbst unser Denk- und Erinnerungsvermögen: Wer
Schlurfen Sie doch selbst mal sich aufrecht hält, denkt eher positiv, wer in sich zusammensackt, neigt auto-
einige Zeit in gebückter Haltung matisch zu einer pessimistischeren Sicht.
und beobachten Sie, welche
Fakten aus der Wissenschaft
Gedanken und Gefühle sich dabei
einstellen. Zudem werden Sie Die Körperhaltung beeinflusst das Denken und die Gefühle
wahrscheinlich einen großen Das ist jedenfalls das Ergebnis eines Experiments, das der Psychologe
Unterschied merken, wenn Sie Johannes Michalak von der Universität Witten/Herdecke zusammen mit kana-
sich anschließend lächelnd dischen Kollegen anstellte: Dazu luden sie 47 Studenten in ein Bewegungslabor
aufrichten. und brachten ihnen dort verschiedene Gangarten bei – vom niedergedrückten
Schlurfen bis zum fröhlich-beschwingten Gehen. Danach erhielten alle ver-
schiedene negative und positive Kommentare (»schön«, »mutig«, »freundlich«,
Körperhaltung nieder; umgekehrt wirken Mimik, Gestik und körperliches Ver- »ängstlich«, »still«, »dumm«). Acht Minuten später wurden die Versuchsper-
halten unmittelbar auf unsere Stimmung zurück. sonen gefragt, an welche Begriffe sie sich noch erinnerten. Ergebnis: Nach froh-
Beispielsweise ist an einem langsamen Gang und leicht nach vorn geneigten gemuter Gangart hatten sich die Probanden mehr positive Begriffe gemerkt;
Rumpf schon von Weitem eine niedergeschlagene Stimmung erkennbar. Und schlurften sie depressiv dahin, merkten sie sich eher die negativen Wörter.11
durch das Einnehmen einer entsprechenden Haltung kann man sich sogar gezielt
in eine trübe Stimmung versetzen. Wenn Sie daran zweifeln, dann erproben Sie
doch einmal diese Anleitung zum Traurigsein: Es lohnt sich also, diese einfache Methode der körperlichen Beeinflussung zu
nutzen! Wenn Sie zum Beispiel merken, wie Sie in negative (Denk-)Gewohn-
uu Schlurfen Sie in gebeugter Haltung durch Ihr abgedunkeltes Schlafzim- heiten rutschen, etwa in die Litanei des Klagens oder der automatischen Ge-
mer, ziehen Sie dabei Ihre Mundwinkel nach unten und Ihre Augenbrauen dankenschleifen, dann ist es sehr wirksam, sich körperlich aufzurichten. Allein
leicht zusammen und summen Sie dabei leise Eleanor Rigby von den Beatles dadurch aktivieren Sie in sich positive Impulse, die Ihnen helfen, aus dem Klagen
oder einen ähnlich melancholischen Song vor sich hin. Wenn Sie diese Übung herauszukommen und in aufrechte Haltung des Selbst-Entwicklers Ihre Wachs-
einige Zeit durchhalten, werden Sie wahrscheinlich tatsächlich zunehmend tumschance und Trainingseinheit zu erkennen.
eine gewisse Traurigkeit in sich verspüren – eine Traurigkeit, die keinerlei Dabei geht es nicht darum, eine militärische Hab-acht-Stellung anzunehmen.
äußere Ursache hat, sondern lediglich darauf beruht, dass Ihr expressiver Das körperliche Aufrichten, von dem hier die Rede ist, hat nichts mit erzwungener
Ausdruck auf Ihr emotionales Innenleben zurückwirkt. Anstrengung zu tun, es geht eher um die Erinnerung an jene natürlich-aufrechte

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Lektion 4 Haltung und Gelassenheit
Körperhaltung, die uns zum Beispiel kleine Kinder oder Naturvölker vorführen. Ich nehme die Hände vom Steuer (Loslassenkönnen ist eine große Tugend)
Auch auf alten Gemälden lässt sich gut studieren, wie eng Haltung und Status und lege sie locker auf meine Oberschenkel. Ich konzentriere mich auf meinen
miteinander zusammenhängen. Wer es schafft, auch unter schwierigen Umstän- Atem, fühle das Ein- und Ausströmen der Luft und lasse dabei meine Schultern
den die Haltung nicht zu verlieren, hat bereits einen entscheidenden Schritt auf hinuntersinken. Bei Grün fahre ich entspannt weiter. Wer also das Glück hat,
dem Weg zu den Prinzipien des Selbst-Entwicklers gemacht. häufig »vor Rot zu stehen« (eine Metapher für »das Leben will nicht so wie ich«),
hat dadurch immer wieder die Möglichkeit, entspannte Gelassenheit einzuüben.
Um sich an diese notwendige Haltungs- und Einstellungsveränderung immer
wieder zu erinnern und nicht ständig in alte Muster zurückzufallen, sind so- uu Der Samurai fährt Auto
genannte Erinnerungsanker eine wichtige Hilfe. Das sind kleine Mini-Rituale, Bekanntlich diente der Samurai im vorindustriellen Japan mit all seiner ver-
die wir mit bestimmten Situationen oder Tätigkeiten verknüpfen – etwa morgens feinerten Kampfkunst, seiner achtsamen Gegenwärtigkeit und seiner hohen
mit dem Aufstehen, mit dem Essen oder Klingeln des Telefons – und die uns re- Moral einer Idee, die größer als sein Ego war. Daran angelehnt, kann man für
gelmäßig und automatisch immer wieder an unsere Ziele und Vorhaben erinnern. die Zeit im Auto mit sich folgende Vereinbarung treffen: »Ich fahre achtsam
Wenn wir keine solchen Anker benutzen, ist eine dauerhafte Verhaltensänderung und respektiere alle Verkehrsteilnehmer, auch wenn sie sich nicht meinen Vor-
sehr schwierig. In aller Regel werden wir nach einigen Tagen oder Wochen wie- stellungen entsprechend verhalten.« Da ich weiß, dass alle Menschen Fehler
der in die üblichen, zum Teil jahrzehntelange eingefahrenen neuronalen Ver- machen, kann ich sie mir und anderen verzeihen. In einer für mich schwie-
knüpfungen und Verhaltensweisen zurückfallen. rigen Situation denke ich: »Das gehört zum Leben dazu und ich gebe mein
Wirksam ist es auch, während des normalen Tagesablaufs immer wieder solche Bestes, um sie auf mein Ziel hin zu verändern.«
kleinen Anker zu setzen und sich diese hilfreichen Rituale anzugewöhnen. Wer
zum Beispiel täglich mit dem Auto zur Arbeit fährt, kann jede Autofahrt zu einer Natürlich ist es wichtig, dass man die Übungen nicht lustlos abspult, sondern sie
positiven Trainingseinheit machen. (Fahrradfahrer können natürlich dasselbe bei wirklich bei klarer Bewusstheit macht. Nur dann hat man eine Chance, aus der
jeder Fahrradfahrt machen.) Routine und aus dem automatisierten »Es denkt mich«-Modus herauszukommen.
Denn das ist vor allem anfangs alles andere als einfach.
Bewährt haben sich für mich folgende Übungen: Das beginnt schon bei der Frage nach der verfügbaren Zeit. Viele Menschen
uu Die innere Haltung bewahren stecken in einem so engen Zeit- und Tätigkeitskorsett, dass sie das Gefühl haben,
Kurz bevor ich das Auto starte, nehme ich eine aufrechte Haltung ein und keinerlei Zeit für zusätzliche Übungen aufbringen zu können. Wer so denkt,
erinnere mich zum Beispiel an das erste Werkzeug des Selbst-Entwicklers, an sollte sich klarmachen, dass es letztlich »nur« um eine Einstellungsveränderung
die Selbst-Bewusstheit. Statt also die anderen Verkehrsteilnehmer für meinen geht und nicht darum, irgendwelche zeitaufwendigen Übungen zu machen. In
Ärger und Frust verantwortlich zu machen, erinnere ich mich daran, dass ich der Regel bedeutet das oft nur ein kurzes Innehalten – etwa morgens nach dem
mit dem Losfahren all diese Folgen bewusst in Kauf genommen habe: mögliche Aufstehen oder vor dem Einschalten der Autozündung – die nicht länger dauert
Staus, unerwartete Verkehrssituationen und Baustellen oder Ähnliches. Natür- als ein paar Atemzüge. Diese Zeit hat wirklich jeder.
lich darf ich in so einem Falle meine negativen Gefühle herauslassen; aber nicht Was hinter der Klage über die »fehlende Zeit« oft steckt, ist vielmehr der unbe-
mit Schimpfworten gegen das Leben und andere, sondern als Ich-Äußerungen: wusste Versuch, in der bequemen Opferhaltung zu bleiben. In diesem Fall fühlt
»Ich bin jetzt stocksauer«, »Das hab ich mir ganz anders vorgestellt« oder Ähn- man sich als Opfer der fehlenden Zeit, gegen die man – leider, leider – nichts
liches. Selbst wenn ich eine Panne habe, erinnere ich mich daran, dass ich sie ausrichten könne. Dabei ist es die eigene Lebenszeit, über die man verfügt, und
beim Autokauf als Möglichkeit mitgekauft habe. Diese Bewusstheit ermöglicht die Frage der Zeiteinteilung ist letztlich die Frage nach den eigenen Prioritäten.
mir, gelassen zu bleiben und schneller Lösungen zu finden. Hinzu kommt: Wer über »fehlende Zeit« klagt, meint damit häufig nur, dass
er seine gängige Routinen aufrechterhalten möchte. Denn Routinen zu durch-
uu Die Ampelübung brechen erfordert Anstrengung, und die scheuen wir in der Regel. Tatsächlich
Immer wenn ich mit meinem Auto vor einer auf Rot geschalteten Ampel stehe, gibt es Menschen, die sich angesichts der hier vorgestellten Übungen beschweren,
nehme ich den Gang heraus und denke: »Ich bin dafür, dass jetzt Rot ist.« (Die dass diese sie »aus ihrer gewohnten Routine« brächten. Stimmt. Denn genau das
Ampel würde ja nicht plötzlich auf Grün schalten, nur weil ich dagegen bin.) sollen sie auch!

49    50
Lektion 4 Haltung und Gelassenheit
Zur Selbst-Verantwortung des Selbst-Entwicklers gehört auch die Einsicht:
Ich kann in jedem Moment meines Lebens entscheiden, was ich mache und mit
welcher Einstellung ich dies tue. Und wenn ich mich verändern will, muss ich
mich dazu verpflichten, sozusagen eine Vereinbarung mit mir selbst eingehen,
mich während des Tages immer wieder an diesen Entschluss erinnern und
meine üblichen automatisierten Gewohnheiten durchbrechen – wozu es der
entsprechenden Rituale und Erinnerungsanker bedarf. Machen Sie sich also
noch einmal bewusst:

Wo ich bin, will ich sein,


alles andere war mir bisher
in meiner Vorstellung zu teuer.

Das ist eigentlich das ganze Geheimnis. Es verlangt keine horrenden Geldaus­
gaben und auch nicht das Lesen komplizierter Bücher. Alles, was zu tun ist:
Mich achtsam auf den Weg begeben und entsprechende Erfahrungen machen;
denn nur Erfahrungen verändern das Gehirn, und jede Persönlichkeitsentwick-
lung ist immer eine Gehirnentwicklung.

Wir haben uns heutzutage angewöhnt, alle Verpflichtungen und Rituale als Ein-
engung zu begreifen. Während früher das Leben der Menschen durch religiöse
und kulturelle Rituale und Traditionen weitgehend reguliert wurde, tendiert der
moderne Mensch dazu, solche Traditionen für überkommen zu halten und sich
nach Möglichkeit davon frei zu machen. Freiheit statt Ritual ist sozusagen der
Schlachtruf des postmodernen Subjekts.
Vielen Menschen ist allerdings vor lauter Sich-frei-machen von allen Zwängen
etwas Entscheidendes abhandengekommen: nämlich die Antwort auf die Frage,
wofür sie sich frei machen und was sie mit ihrer neu gewonnenen Freiheit an- Auf den Punkt  Veränderung der inneren Haltung führt zu neuen Einsichten und
Viktor Frankl fangen wollen. Der Psychiater Viktor Frankl hat den modernen Menschen ein- zu neuem Verhalten.
(1905–1997) war österreichischer mal zutreffend als »ein Wesen auf der Suche nach Sinn« beschrieben und in
Neurologe und Psychiater. Obwohl diesem Zusammenhang an ein Zitat von Friedrich Nietzsche erinnert: »Wer ein  Sich wiederholende Rituale erleichtern die Veränderung.
er während des Zweiten Welt- Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie …«. Am Anfang jeder Veränderung
krieges drei Jahre in verschiedenen steht daher die Frage nach dem Warum. Für welches Ziel will ich meine Freiheit  Die eigene Haltung bestimmt das Denken und darüber, ob ich froh,
Konzentrationslagern überstehen einsetzen, was vermittelt meinem Dasein Sinn? mutig oder traurig bin.
musste, ließ er sich nicht brechen: Wenn man diese Frage für sich geklärt hat, werden die dazu hilfreichen Rituale
»Jede Situation bietet uns eine nicht mehr als Einengung empfunden, sondern vielmehr als hilfreiche Stützen  Dem Selbst-Entwickler ist bewusst: In jedem Moment seines Lebens
Sinnmöglichkeit.« auf dem Weg, diesen Sinn zu verwirklichen. kann er selbst entscheiden, wie er es beurteilt und gestalten möchte.

51    52
Lektion 5

Vom Wert der »gehobenen Gestimmtheit«


Mit der richtigen Stimmung
zu Zufriedenheit und Erfolg

Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Virtuose im Gitarrenspiel. Sie haben jahre-, jahr-
zehntelang geübt, haben alle technischen Schwierigkeiten gemeistert und stehen
nun vor Ihrem ersten großen Auftritt in der Öffentlichkeit. Sie betreten die
Bühne, greifen den ersten Akkord – und stellen fest, dass die Gitarre fürchterlich
verstimmt ist. Ein Debakel.
Natürlich wird es einem echten Könner niemals passieren, mit ungestimmter
Gitarre auf die Bühne zu gehen. Doch im psychologischen Bereich ist dieses
Phänomen gar nicht selten zu beobachten: Menschen versuchen mit hohem Auf-
wand, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, strengen sich dafür unglaublich an –
sind dabei aber innerlich so grundsätzlich »verstimmt«, dass sich ein positives
Gefühl bei ihnen selbst dann nicht einstellen will, wenn sie ihr Ziel erreichen.
In dem Falle ist es zunächst einmal wichtig, die Stimmung in den Fokus zu
nehmen. Statt auf das Erreichen konkreter Ziele hinzuarbeiten – etwa »Ich möchte
Karriere machen« oder »Ich möchte eine gelingende Beziehung haben« –, sollte
man sich klarmachen: Zufriedenheit erreicht man nicht durch Zielerreichung.
Zufriedenheit erreicht man durch einen grundsätzlichen Stimmungswandel.

Denn wenn wir etwas erreicht haben, währt die Freude darüber in der Regel nur
kurz. Schon bald peilen wir das nächste Ziel an, wollen mehr. So führt das Erreichen
eines Ziels oft nur zu neuer Unzufriedenheit. Dabei werden wir Opfer einer grund-
legenden Asymmetrie in unserem neuronalen Erleben: Unser Gehirn gewichtet
den Schmerz über einen Verlust stets höher als die Freude über einen vergleich-
baren Gewinn. Das führt zur sogenannten »Verlustaversion«, die der Psychologe
und Nobelpreisträger Daniel Kahneman nachgewiesen hat.12 Selbst das Erreichen
eines langgehegten Ziels sichert kein dauerhaftes Glücksgefühl, sondern führt im
Gegenteil dazu, dass eher die Angst zunimmt, das Erworbene wieder zu verlieren.

  54
Lektion 5 Gehobene Gestimmtheit
Statt sich also an fernen (Traum-)Zielen abzuarbeiten, ist es sinnvoller, an der Eine verstimmte Haltung des Dagegenseins führt nur zur trotzigen Beharrung,
persönlichen Grundstimmung zu arbeiten. Erst wenn man sich selbst in eine zur Abkapselung und zur Verweigerung. Eine selbst-bestimmte »gehobene Ge-
positive oder »gehobene Gestimmtheit« gebracht hat, kann man, um im Bild zu stimmtheit« hingegen ist eine essenzielle Voraussetzung, um Herausforderungen
bleiben, auch wohlklingende Ergebnisse abliefern. anzugehen und sich selbst zu verändern. Denn sie hat gleich mehrere Vorteile.

Was heißt nun Ge- oder Verstimmtheit im psychologischen Sinne? Die Vorteile der »gehobenen Gestimmtheit«
Eine dauerhafte Verstimmung ist die Folge einer grundsätzlich negativen Hal- Erster Vorteil: Man kann leichter loslassen von seinen Wahrheiten und ist
tung dem Leben gegenüber. Man ist leicht genervt, ärgert sich über nichtige weniger rechthaberisch. Häufig klammern sich Menschen mit großer Kraft an
Anlässe und fokussiert sein Denken und Erleben vorwiegend auf unerfreuliche ihr Rechthaben, weil dies das vermeintlich Einzige ist, das ihnen bleibt. Wer
Ereignisse und schlechte Nachrichten. Der oder die Verstimmte nimmt die Welt jedoch auf seinem Recht beharrt, blockiert sich selbst und nimmt sich die
nur noch durch eine dunkle Brille wahr, sieht ausschließlich das Negative und ist Möglichkeit, die Dinge und sich zu verändern. Wer dem Leben generell in einer
außerstande, auch positive Entwicklungen oder Aspekte wahrzunehmen. »gehobenen Gestimmtheit« gegenübertritt, ist offener und weniger besorgt um
In positiver Gestimmtheit hingegen tritt man dem Leben generell aufgeschlossen seine Sicherheit. Er muss seine vermeintlichen Wahrheiten nicht verbissen ver-
gegenüber und hat eher das Helle und Mutmachende im Blick als das Dunkle teidigen, sondern kann auch die der anderen gelten lassen, etwa die der Kollegen
und Bedrohliche. Wer positiv gestimmt ist, ignoriert schlechte Nachrichten nicht, oder der Kunden – und auf diese Weise zu neuen Lösungen kommen.
versucht allerdings, damit konstruktiv umzugehen. Das bedeutet nicht, um einem
möglichen Vorurteil vorzubeugen, dass man permanent gute Laune haben soll. Zweiter Vorteil: Wer »gehoben gestimmt« ist, wird automatisch risikofreudiger
Natürlich ist das Leben wechselhaft. Und ebenso wie die Freude gehören auch und mutiger. Und das sind in der modernen, sich schnell wandelnden Welt un-
Gefühle der Trauer, der Wut oder der Angst zum Leben dazu. Die Frage ist jedoch, abdingbare Voraussetzungen für das Bewältigen von Herausforderungen. Wer
wie wir mit diesen Gefühlen umgehen, ob wir in ihnen stecken bleiben und sie sich verändern will, wer innovativ sein will, muss seine Komfortzone verlassen.
durch entsprechende Denk- und Grübelschleifen noch verstärken und regelrecht Das aber tut man nur, wenn man die Hoffnung auf ein positives Ergebnis hat.
pflegen – oder ob wir Trauer, Wut und Angst auch wieder loslassen können. Wer verstimmt ist und vom Leben grundsätzlich nur Negatives erwartet, wird
Der erste Schritt, um solche Gefühle loszulassen, ist, so paradox es klingt, lieber auf Sicherheit setzen und möglichst in seiner Komfortzone verbleiben.
sie erst einmal richtig anzunehmen. Solange wir uns gegen die Trauer oder die
Angst wehren – etwa indem wir denken oder sagen: »Das darf doch nicht wahr Dritter Vorteil: Man verarbeitet Niederlagen besser. Und das ist eine ent-
sein«, »Das gibt’s doch nicht« –, erzeugen wir einen inneren Widerstand, und der scheidende Voraussetzung für Erfolg. Studien haben gezeigt, dass erfolgreiche
wiederum blockiert. Je länger wir gegen ein trauriges Gefühl ankämpfen, anstatt Menschen nicht unbedingt begabter, intelligenter oder disziplinierter sind als
es auszuleben, umso größer wird in der Regel das Leid. Die Überwindung des andere. Ihr Vorteil ist vielmehr, dass sie Niederlagen schneller wegstecken. Man
quälenden Leids beginnt also daher damit, dass wir unsere Gefühle akzeptieren nennt das mentale Stabilität oder Resilienz. Ursprünglich bezeichnet der eng-
und ihnen auch Ausdruck verleihen. Dabei hilft der Satz: lische Begriff resilience (»Spannkraft, Belastbarkeit«) in der Materialkunde die
Eigenschaft von Werkstoffen, nach starker Verformung wieder die ursprüngliche
Gestalt anzunehmen. Heute wendet man diesen Begriff in der Psychologie auch
Das habe ich mir ganz anders vorgestellt. auf Menschen an, die von Krisen nicht aus der Bahn geworfen werden, sondern
diese unbeschadet – oder sogar stärker noch als zuvor – überstehen.13 Man denke
nur an Nelson Mandela, der 27 Jahre im Gefängnis saß und daran nicht zerbrach.
Denn man kann ihn einerseits sehr emotional formulieren – traurig, wütend Er blieb »resilient«, behielt seine Hoffnung und den Glauben an seine politische
oder ängstlich – und zugleich zum Ausdruck bringen, dass die entsprechenden Mission und war nach seiner Freilassung innerlich so gereift, dass er die Apart-
Gefühle auch etwas mit den eigenen, enttäuschten Vorstellungen zu tun haben. heid überwand und zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas wurde. Für so
Dann fällt es leichter, die irrationalen Annahmen – und damit den häufigsten einen resilienten Umgang mit Niederlagen braucht es jedoch eine starke innere
Grund für das Leiden – loszulassen. Grundlage, eine generell positive Sicht auf das Leben.

55    56
Lektion 5 Gehobene Gestimmtheit
Fakten aus der Wissenschaft
Vierter Vorteil: In »gehobener Gestimmtheit« sind wir auch offener für andere
und haben mehr Mitgefühl. Das zeigt deutlich das sogenannte Gute-Samariter- Wie sich die Haltung auch auf die Gesundheit auswirkt
Experiment, das die Psychologen John M. Darley und C. Daniel Batson 1973 an Wie sehr die Wirkung von vermeintlich stressigen Situationen von der indi-
der Universität Princeton durchführten. viduellen Bewertung  – oder der eigenen Gestimmheit  – abhängt, zeigt eine
bemerkenswerte Studie der University of Wisconsin: Dabei wurden 29 000
Fakten aus der Wissenschaft
Erwachsene gefragt, wie vielen Stresssituationen sie ausgesetzt seien und wie
Der gute Samariter sie damit umgehen. Zugleich wollten die Interviewer wissen: »Glauben Sie, dass
Theologiestudenten wurde erklärt, sie sollten in einer Radiosendung über das Stress gesundheitsschädlich ist?« Acht Jahre später durchforsteten die Wissen-
Thema vom guten Samariter sprechen. Dazu müssten sie jedoch in ein Gebäude schaftler die Sterberegister, um zu ermitteln, wer von den Befragten gestorben
gehen, das auf der anderen Seite eines Innenhofes lag. Dabei wurden die Stu- war. Ergebnis: Jene, die viel Stress erlebt und zugleich angegeben hatten, Stress
denten in drei Gruppen eingeteilt: Die eine bekam gesagt, sie könnten sich ruhig gefährde ihre Gesundheit, wiesen ein um 43 Prozent höheres Sterberisiko auf.
Zeit lassen und müssten drüben eventuell noch ein wenig warten; den anderen Jene Untersuchten hingegen, die ebenfalls großen Stressfaktoren ausgesetzt
wurde mitgeteilt, der Assistent im nächsten Gebäude sei bereit und es ginge waren, sie aber für unbedenklich hielten, wiesen das niedrigste Sterberisiko
gleich los; und den Studenten der dritten Gruppe wurde alarmiert zugerufen, auf – niedriger noch als diejenigen, die in ihrem Leben wenig oder gar keinen
sie seien zu spät und müssten sich mächtig beeilen. Während die Probanden Stress hatten.15
nun über den Hof liefen, sahen sie einen zusammengesunkenen Mann am Bo-
den liegen, der jämmerlich hustete und stöhnte. Wer blieb stehen und wurde
dadurch selbst zum guten Samariter? Vor allem diejenigen Studenten, die ent- Das zeigt wieder: Auch Stress hängt von unserer Betrachtung ab. Wer den jewei-
spannt waren und dachten, sie hätten noch viel Zeit. Am wenigsten hilfsbereit ligen Stresssituationen positiv gestimmt begegnet, leidet darunter weit weniger
hingegen waren diejenigen, die unter Zeitdruck standen und sich gestresst als jene, die sie nur als negatives Übel betrachten.
fühlten. Mancher Seminarist war sogar so in Eile, dass er »auf dem Weg zu
seinem Vortrag über die Parabel vom guten Samariter buchstäblich das Opfer Der Weg zur »gehobenen Gestimmtheit« beginnt also mit der Einsicht, dass wir
über den Haufen rannte«, wie die Psychologen in ihrem Bericht schrieben.14 zwar die Unwägbarkeiten des Lebens nicht beeinflussen können, aber immer die
Das zeigt eindrucksvoll, wie sehr die Fähigkeit zum Mitgefühl von den Um- Wahl haben, wie wir darauf reagieren. Es hilft dabei, sich klarzumachen, dass
ständen abhängt und davon, in welcher Verfassung wir uns gerade befinden. wir alle immer wieder mit unerfreulichen Situationen konfrontiert sind, dass
Misserfolge und Scheitern notwendig zum Leben dazugehören. Niemand kann stets
nur strahlend und erfolgreich durchs Leben gehen. Im Gegenteil, gerade aus der
Wer also gestresst ist, denkt in der Regel nur an sich und nicht an andere. Wer Erkenntnis, dass sogenannte Rückschläge unvermeidlich sind, kann eine Haltung
dagegen entspannt und in positiver Stimmung ist, hat automatisch auch mehr der Gelassenheit erwachsen.
Empathie für andere.
Johann Wolfgang von Goethe hat das in seinem berühmten Satz aus dem West-
Fünfter Vorteil: »Gehobene Gestimmtheit« ist gesund. Wer gestresst und ängst- östlichen Divan schön ausgedrückt:
lich ist, belastet das körpereigene Abwehrsystem und ist damit anfälliger für
Krankheiten aller Art. Das gilt vor allem für Menschen, die sich dauernd unter »Und so lang du das nicht hast, dieses Stirb und Werde,
Druck gesetzt und chronisch gestresst fühlen. Die Betonung liegt dabei auf dem bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.«
Wort »fühlen«. Denn was wir als »Stress« empfinden, ist höchst subjektiv. Der
eine stürzt sich freiwillig beim Bungeejumping mit Lust in die Tiefe, dem ande-
ren bricht schon beim Besteigen des Fahrstuhls der kalte Schweiß aus.

57    58
Lektion 5 Gehobene Gestimmtheit
Wer den Wechselfällen des Lebens Rechnung trägt, wird sich auch nicht ver- begriffen, dass er schlicht seinem Bauchgefühl zu folgen braucht. An der ers-
bissen auf ein konkretes Ziel versteifen und sich in der Folge über alles ärgern, ten Kreuzung zum Beispiel rechts, weil es da schöner aussieht, an der nächsten
was diesem konkreten Ziel in die Quere kommt. Besser ist es, gerade in der vielleicht links, weil diese Straße verheißungsvoller wirkt. Im Laufe der Zeit
heutigen Umbruchszeit eine grobe Zielrichtung anzusteuern und zugleich eine kam er automatisch auf immer kleinere Straßen, zuletzt landete er auf einem
gewisse Flexibilität zu bewahren, man spricht da von Agilität. So kann man zum Waldweg und hielt auf einer Lichtung an. Dort legte er sich ins Gras, blickte
Beispiel davon träumen, eines Tages im sonnigen Süden zu leben – ob man dann in den Himmel – und plötzlich liefen ihm die Tränen über die Wangen, weil
am Ende in Athen, Rom oder Lissabon landet, spielt für das Lebensglück keine er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einfach »da« war und sich über das
so bedeutende Rolle. »Hier und Jetzt« und das Leben freuen konnte.

Vom Über-lebensmodus in den Er-lebensmodus Und noch ein letzter Tipp:


Der Über-lebensmodus ist jener evolutionär bedingte Zustand der beständigen uu Man kann auch mitten im Alltag in den Er-lebensmodus kommen. Neh-
Sorge ums eigene Über-leben. Man fühlt sich von allen Seiten bedroht, sieht men Sie sich zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit morgens ein paar Augen-
überall nur Gegner oder Konkurrenten und hat das Gefühl, sich keine Sekunde blicke Zeit, bleiben Sie einmal stehen, schließen Sie die Augen und achten Sie
entspannen zu können. »Die Konkurrenz schläft nicht«, »Müßiggang ist aller nur auf Ihre Sinne – zum Beispiel auf das, was Sie gerade hören, dann auf das,
Laster Anfang« – all diese Merksätze der modernen Wettbewerbsgesellschaft was Sie auf der Haut fühlen, und zuletzt öffnen Sie die Augen und nehmen
künden von einem andauernden Daseinskampf, in dem angeblich nur die Ihre Umgebung achtsam wahr. Auf diese Weise schaffen Sie sich eine kleine
Fittesten überleben. Doch erstens leben wir heute nicht mehr im Dschungel, »Er-lebensinsel«, die Sie aus dem Über-lebensmodus holt und daran erinnert,
in dem uns jederzeit von hinten ein wildes Tier anfallen könnte, sondern in dass es im Leben letztlich nicht nur um das Erreichen bestimmter Ziele geht,
weitaus zivilisierteren Zeiten. Und zweitens führt die beständige innere Kampf- sondern um einen positiven inneren Zustand, eben die »gehobene Gestimmt-
Mit einer durchgehend bejahen- haltung irgendwann auch beim härtesten Kämpfer zur Erschöpfung. Wer nicht heit«. Ist das vielleicht das Glück nach dem wir streben?
den Lebenshaltung ist man auch weiß, wie er sich (zumindest zwischendurch) einmal entspannen kann, ist
dem Auf und Ab gegenüber gut irgendwann ausgebrannt und dauerhaft verstimmt – und vermag dann auf eine
aufgestellt. wirklich neue Herausforderung eventuell nicht mehr angemessen zu reagieren.
Auf den Punkt  Erlangen Sie Zufriedenheit durch einen selbstinduzierten positiven
Der Er-lebensmodus hingegen beschreibt jene bewusst freudvolle Art des Daseins, die Stimmungswandel.
unabhängig von äußeren Bedingungen und Voraussetzungen ist und die Tat­
sache des Lebens an sich wertschätzt. Wenn es einem gelingt, das Leben, sich  Statt ungeduldig fernen (Traum-)Zielen entgegenzufiebern, ist es
selbst und auch andere zu lieben, obwohl vieles nicht so ist, wie man sich das sinnvoll, das »Hier und Jetzt« zu genießen.
vorstellt, tut man viel für sein seelisches Gleichgewicht und sein Wohlbefinden.
Denn egal was wir tun: Wenn es nicht diese Grundfreude in unserem Leben gibt,  »Positive Gestimmtheit« heißt, dem Leben gegenüber aufgeschlossen zu
wird alles mühsam und anstrengend – oder langweilig. sein, konstruktiv mit schlechten Nachrichten und den eigenen Gefühlen
umzugehen.

Wie kommt man in den Er-lebensmodus?  Akzeptieren Sie das Leben als Achterbahnfahrt.
Einem erfolgreichen Manager, der vor lauter Über-lebenskampf seinen ganzen Erfolg
und Reichtum nicht genießen konnte, habe ich im Coaching Folgendes geraten:  Der Über-lebensmodus ist ein steter Zustand der Sorge ums eigene
Über-leben.
uu Sich auf sein Motorrad zu setzen und einen ganzen Tag einfach ohne
Ziel loszufahren. Zuerst hat er protestiert: Ich brauche doch ein Ziel, ich  Der Er-lebensmodus ist die bewusste Wahrnehmung und Wertschätzung
kann doch nicht einfach so drauflos fahren, das geht doch nicht. Dann hat er des Lebens in freudvoller Gestimmtheit.

59    60
Lektion 6

Beziehungen und Respekt


Warum es sinnvoll ist,
sich mit »strahlenden Sternen«
zu umgeben

Leben besteht aus Beziehungen. Was wir sind und was wir wollen, wird maß-
geblich von den Menschen um uns herum bestimmt – und lässt sich meist auch
nur mit anderen verwirklichen, so wie die Liebe, die Freundschaft, gemeinsames
Feiern etc. Für unser Glück und unseren Erfolg ist es daher maßgeblich, wie wir
mit unseren Mitmenschen umgehen. Wenn bisher die Rede vom Selbst-Ent-
wickler war, dann konnte man auf die Idee kommen, dass es dabei um eine
narzisstische Philosophie ging, bei der das »Ich« im Mittelpunkt steht. Doch
das wäre ein großes Missverständnis. Ein gelingender Umgang mit sich selbst
ist vielmehr die Voraussetzung für einen gelingenden Umgang auch mit anderen.
Wer nicht mit sich selbst im Reinen ist, wer keine »positive Gestimmtheit« gegen-
über dem Leben und sich selbst aufbauen kann, wird auch kaum in der Lage
sein, positive Beziehungen zu anderen zu entwickeln. Beziehungsfähigkeit und
Selbst-Entwicklung gehen daher Hand in Hand.
Zentral für die Beziehungsfähigkeit ist das Vermögen, sich auf andere Per-
spektiven einstellen zu können. Normalerweise gehen wir davon aus, dass unsere
Sichtweise die einzig richtige und wahre ist – und wundern uns darüber, dass
andere dieselben Dinge oft ganz anders sehen und beurteilen. Das führt leicht
zum Streit und zu erbitterten Auseinandersetzungen, in denen jeder auf seinem
Standpunkt beharrt und recht haben möchte. Dieses Recht-haben-Wollen ist
letztendlich das vielleicht größte Beziehungshindernis. Eine positive Beziehungs-
fähigkeit beginnt daher mit dem Abschied von der Vorstellung, dass man selbst
im Besitz der alleinigen Wahrheit sei.

  62
Lektion 6 Beziehungen und Respekt
Wer will, kann sich dazu ein Beispiel aus der Quantenphysik nehmen. Denn die- Das mag recht banal klingen. Entscheidend aber ist, wie schon öfter betont, nicht
se zeigt, dass selbst auf der untersten Ebene der Materie die Dinge nicht eindeutig die Theorie, sondern die praktische Erfahrung: Nur wenn man die Erkenntnis,
sind. Im Gegenteil: Erstaunt stellten die Physiker Anfang des 20. Jahrhunderts dass jeder in seinem Angst- und Denksystem recht hat, in ein entsprechendes
fest, dass in der Mikrowelt kein Entweder-oder gilt, sondern ein entschiedenes Verhalten übersetzt, kann man erleben, wie sich dadurch angespannte Situatio-
Sowohl-als-auch. Atome und Elementarteilchen verhalten sich sowohl wie feste nen auflösen. Und diese Erfahrung wiederum wird im sogenannten Belohnungs­
Partikeln als auch wie räumlich nicht begrenzte Wellen. Sie lassen sich mal ein- zentrum des Gehirns als positives Erlebnis abgespeichert und fördert so eine
deutig dingfest machen und scheinen ein anderes Mal an verschiedenen Orten entsprechende Verhaltensänderung. Die Erkenntnis allein führt dagegen zu
gleichzeitig zu sein – je nachdem, aus welcher Perspektive man sie betrachtet. keiner dauerhaften Veränderung.
»Komplementarität« nennt man heute diese merkwürdige Eigenschaft, die besagt,
dass scheinbar sich ausschließende Tatsachen gleichzeitig gültig sein können. In Die Einsicht, dass jeder seine eigene Wahrheit hat und diese aus seiner jeweiligen
den Worten des Physikers Niels Bohr: »Das Gegenteil einer richtigen Behaup- Sicht auch für berechtigt hält, hilft übrigens sowohl im Familien- wie auch im
tung ist eine falsche Behauptung; aber das Gegenteil einer tiefen Wahrheit kann Berufsleben. Denn nicht nur das familiäre Zusammensein, sondern auch der
wieder eine tiefe Wahrheit sein.« Umgang in Betrieben krankt häufig daran, dass zwar jeder die anderen von seiner
Wahrheit überzeugen möchte, aber kaum jemand sich für die Wahrheiten der
Was auf der materiellen Ebene der Atome und Elementarteilchen gilt, gilt erst anderen interessiert.
recht im psychologischen Bereich: Je nach Sichtweise können verschiedene Jeder kennt diese Art von Konferenzen, in denen der Chef endlos mono-
Ansichten etwas Wahres beschreiben, obwohl sie sich rein objektiv widersprechen. logisiert und andere oder gar abweichende Meinungen nie gehört werden. Das
Um sich das klarzumachen, hilft es, sich folgenden Satz einzuprägen: führt auf Dauer zu einer intellektuellen Monokultur, in der bald nur noch eine
Ansicht vorherrscht (die des Chefs) und andere mögliche Perspektiven gar nicht
mehr gehört werden. Das dient dann zwar kurzzeitig dem Betriebsfrieden, för-
Jeder hat recht in seinem Angst - und Denksystem. dert aber auf lange Sicht nicht das kreative Denken. Denn dieses bezieht seine
Spannung häufig aus dem Zusammenprall verschiedener, auch gegensätzlicher
Positionen. Zudem warnt in einer Gemeinschaft von Ja-Sagern auch niemand
Das bedeutet: Für jeden Menschen gibt es einen bestimmten Grund, so zu den- mehr vor eventuellen Fehlentwicklungen – selbst wenn das eigentlich nötig wäre.
ken, wie er denkt. Selbst wenn seine Ansichten objektiv betrachtet unsinnig sein
mögen, können diese Gründe für diese Person so wichtig sein, dass sie davon Wenn Sie weiter an Ihrer Beziehungsfähigkeit arbeiten wollen, dann sollten Sie
nicht abrücken kann – sei es, weil sie es nicht anders gelernt hat, sei es auch nur, darauf achten, bestimmte Verhaltensregeln einzuhalten. Die wichtigsten vier
weil sie fürchtet, sich zu blamieren oder lächerlich zu machen, wenn sie zugibt sind die folgenden:
falschzuliegen.
Wenn man sich den Satz »Jeder hat recht in seinem Angst- und Denksys-
tem« immer wieder vor Augen hält, dann entsteht automatisch mehr Toleranz »Die günstigen vier«
und Verständnis und man kann anderen länger zuhören. Es kommt allmäh- 1. Jemandem nichts einreden wollen.
lich zu einer Einstellungsveränderung und in der Folge auch zu Verhaltens- 2. Jemandem nichts ausreden wollen.
änderungen. 3. Keine ungebetenen Ratschläge erteilen.
Denn sobald man sich in einer Auseinandersetzung klarmacht, dass der 4. Keine ungefragten Kommentare abgeben.
andere aus seiner Sicht heraus ebenfalls das Gefühl hat, im Recht zu sein, hört
man ihm aufmerksamer zu. Dadurch fühlt sich der andere angenommen und So simpel diese vier auch klingen mögen, so häufig rutschen wir doch alle immer
wertgeschätzt – und hört umgekehrt ebenfalls länger zu. So entsteht mehr gegen- wieder in ungünstige Verhaltensweisen. Wir meinen zu wissen, was für unseren
seitiges Verständnis und eine Atmosphäre, in der man eher auf einen gemein- Partner oder Kollegen gut ist, und versuchen ihn mit allen Mitteln davon zu
samen Nenner kommt als in einer Konkurrenzsituation, in der jeder nur auf sein überzeugen (etwas einreden). Oder wir wollen ihn partout von etwas abbringen,
Rechthaben beharrt. obwohl er oder sie vielleicht gute Gründe hat, so zu handeln (etwas ausreden).

63    64
Lektion 6 Beziehungen und Respekt
Noch fataler sind die ungefragten Ratschläge. Denn die signalisieren dem ande- können Sie ein Codewort festlegen oder eine diskrete Geste (z. B. dass er
ren unterschwellig: »Du bist dumm. Ich weiß es besser als du.« Und das führt demonstrativ seinen Kopf auf seine Hände stützt oder sich mit der Hand
auf Dauer zu massiven Beziehungsstörungen, denn niemand will sich permanent auffällig zum Ohr greift oder Ähnliches), die Sie in unbedachten Momenten
unwissend und unterlegen fühlen. Das heißt nicht, dass man niemals Ratschläge an Ihren Entschluss erinnert und Sie darauf aufmerksam macht, dass zum
geben soll. Aber bitte nur, wenn diese auch vom Anderen erwünscht sind. Das Beispiel gerade wieder im Rechthabe-Kampf sind. Durch solche, auch von
ist dann der Fall, wenn er um Rat bittet – oder wenn man zuvor gefragt hat, ob außen gegebene Erinnerungsanker wird es allmählich möglich, selbst ein-
die eigene Meinung dazu gewünscht ist. gefahrene Verhaltensmuster zu durchbrechen und zu verändern.
In dieselbe Kategorie fallen die ungefragten Beurteilungen und Kommentare:
Auch die hört niemand gerne. Und doch lassen wir uns alle immer wieder dazu
hinreißen, das Verhalten anderer aus der Sicht des Besserwissenden zu kom- Man könnte meinen, das Thema Beziehungen sei hauptsächlich im Privatleben
mentieren. Tatsächlich ist es häufig viel einfacher, von außen die Fehler und von Bedeutung. Tatsächlich aber entstehen gerade im beruflichen Bereich
Schwächen anderer zu sehen und zu benennen. Viel schwieriger ist es dagegen, viele Probleme aus misslingenden Beziehungen. Darunter leidet nicht nur das
die eigenen Fehler zu sehen. Betriebsklima, sondern letztlich auch die Qualität der Arbeit. Wenn Kollegen
schlecht aufeinander zu sprechen sind, sich möglicherweise nicht ausstehen
Könnten wir uns diese vier günstigen Verhaltensweisen aneignen, würden viele können, werden sie auch nicht gut kommunizieren und daher schlecht zu-
Beziehungen sehr viel harmonischer und letztlich gewinnbringender verlaufen, sammenarbeiten.
als es heute vielfach der Fall ist. Solange solche Beziehungsstörungen nicht benannt und geklärt werden, ist
Doch das ist natürlich leichter gesagt als getan, denn damit sind wir wieder meist auch keine gute inhaltliche Lösung möglich. Dann wird zwar vordergrün-
beim Thema der automatisierten Gewohnheiten. Um das zu vermeiden, helfen dig um technische oder inhaltliche Fragen gestritten – »Also, Herr Kollege, Sie
die ebenfalls schon erwähnten »Erinnerungsanker«. Sie können sich zum Beispiel haben da den völlig falschen Ansatz. Wir müssen vielmehr …« –, doch dahinter
für einige Zeit eine rote Vier auf den Handrücken malen, um sich immer wieder steht letztlich ein persönlicher Konflikt auf der Beziehungsebene, der sich nur
an die »günstigen vier« zu erinnern und diese Verhaltensweisen zu vermeiden. äußere Anlässe sucht, um ausgetragen zu werden.
Nach einiger Zeit haben Sie dies dann so verinnerlicht, dass oft auch schon der Die Psychologin Ruth Cohn, die Begründerin der sogenannten Themen­
Blick auf Ihren leeren Handrücken reicht, um sie sich wieder in Erinnerung zu zentrierten Interaktion (TZI), hat dazu die wichtige Formel geprägt: Störungen
rufen und sich dementsprechend zu verhalten. haben Vorrang vor Inhalt. Das bedeutet: Wenn es in einem Betrieb eine Störung
auf der Beziehungsebene gibt, dann kann man nicht gemeinsam wirklich erfolg-
reich zusammenarbeiten. Denn jede inhaltliche Diskussion wird unterschwellig
Beziehungsverbesserung durch festgelegtes Codewort zu einem Austragungsort der Beziehungsprobleme. Bevor man also auf der Sach-
uu Sie können das alles natürlich auch mit Ihrem Partner besprechen und sich ebene weiterkommt, ist es in solchen Fällen nötig, erst einmal die Beziehungen
gegenseitig verpflichten, sich zum Beispiel durch ein Codewort darauf in Ordnung zu bringen. Der Respekt vor der Person und die Wertschätzung der
aufmerksam zu machen, wenn Sie wieder in eine Ihrer automatischen anderen Meinung gilt auch noch immer in der neuen Welt.
Verhaltensweisen rutschen. Etwa »Bingo«, wenn einer dem anderen einmal
wieder einen ungefragten Ratschlag erteilt hat. Wenn es gelingt, sich auf
diese Weise immer wieder humorvoll an den gemeinsamen Entschluss zur
Beziehungsverbesserung zu erinnern, kann man allmählich die »ungünstigen«
in lauter »günstige« Momente verwandeln.

Die Methode mit dem Codewort können Sie übrigens ebenso im beruflichen
Umfeld nutzen. Wenn Sie zum Beispiel merken, dass Sie eine Tendenz zum
Recht-haben-Wollen zeigen, was Sie eigentlich ablegen wollen, dann ist es
extrem hilfreich, sich einen eingeweihten Vertrauten zu suchen. Gemeinsam

65    66
Lektion 6 Beziehungen und Respekt
ES meiner Sicht nicht das vereinbarte Thema.« Auf diese Weise muss Herr Meier
Thema, um das es geht sich nicht persönlich entwertet fühlen und wird sich erheblich leichter tun, den
Fehler zu korrigieren.
Auch in anderen Konfliktsituationen macht die Art der Formulierung und
Umfeld auch der Ton die Musik. Wenn Sie dem Vorschlag eines Kollegen nicht zustim-
strukturell, sozial, men, können Sie das auch freundlich formulieren.
politisch, wirtschaftlich,
kulturell, ökologisch
Darüber hinaus ist es sinnvoll, sich immer wieder den schon vorgestellten Schlüs-
selsatz in Erinnerung zu rufen: »Jeder hat recht in seinem Angst- und Denk-
system.« Auch wenn Meiers Papier Ihnen nicht gefallen hat, mag es aus seiner
TZI ist ein Konzept und eine Sicht gute Gründe dafür gegeben haben, dass er es so und nicht anders verfasste.
Methode zur Arbeit in Gruppen. ICH WIR Wenn man sich diese Möglichkeit vor Augen führt, fällt es leichter, eine Kritik in
Jede Gruppe ist dabei durch vier Biografie + Tagesform Beziehungsgefüge wohlwollendem Ton zu formulieren, sodass der andere sie besser annehmen kann.
Faktoren bestimmt, die in Balance der Gruppe
gehalten werden sollen, in einer Man kann in diesem Zusammenhang – um einmal etwas pathetischer zu wer-
Zusammenarbeit. den – auch die Perspektive der Astrophysik einnehmen: Diese lehrt uns schließ-
lich, dass die irdische Materie auf kosmische Ursprünge zurückzuführen ist und
wir Menschen daher letztlich alle aus Sternenstaub bestehen.16 Stellen Sie sich
Der Ton macht die Musik. Das heißt nun nicht, dass man all seine Kollegen
also vor, wenn Ihr Kollege Meier mal wieder richtig Bockmist gebaut hat, dass
oder Chefs mögen muss und dass in einer Firma immer eitel Harmonie
auch er aus Sternenstaub besteht! Anders ausgedrückt:
herrschen sollte. Im Gegenteil:
Natürlich müssen im beruflichen Umfeld mitunter auch harte Kontroversen
ausgetragen werden, muss deutliche Kritik an mangelhaften Produkten oder an
fehlerhaften Ideen möglich sein. Die Kunst besteht darin, solche Mängel Herr Meier ist ein »» strahlender Stern«« .
einerseits anzusprechen, andererseits aber dennoch ein positives Beziehungs-
klima zu wahren. Wie kann das gehen?
Und in diesem Falle mit einem ungünstigen Verhalten. So ein Satz wird, wenn
Zwischen Verhalten und Person unterscheiden Sie ihn im beruflichen Umfeld äußern, vermutlich zunächst einmal Lacher her-
vorrufen. Doch zugleich verändert er auch das Betriebsklima: Denn er bewertet
Wichtig dafür ist die Unterscheidung zwischen sachlicher und persönlicher nur das Verhalten, nicht die Person. Die beste Anleitung für erfolgreiche Mit-
Kritik. Die meisten Menschen machen den Fehler, dass sie bei einem Miss- arbeiterführung lautet daher:
geschick oder einem Misserfolg die dafür verantwortliche Person kritisieren.
»Mensch, Meier, da waren Sie mal wieder zu nachlässig« oder Ähnliches. Bei
einer solchen Formulierung liegt der Fehler quasi in Herrn Meiers Natur
begründet (er ist einfach zu nachlässig) – wodurch sich der Betreffende in Mit den Menschen freundlich
seinem Selbstwertgefühl getroffen und als Mensch entwertet fühlt. Auf solche
Vorwürfe reagieren die meisten Menschen daher mit Verstocktheit oder
und in der Sache klar und konsequent.
Beleidigtsein – was ihre Leistung nicht verbessert, sondern eher noch ver-
schlechtert.
Und wenn so ein »strahlender Stern« leider auf Dauer ein ungünstiges Verhalten
Besser ist es, klar zwischen Verhalten und Person zu unterscheiden. Also nicht zeigt, dann muss man sich auch einmal von diesem trennen können – wobei im
Herrn Meier persönlich zu kritisieren, sondern lediglich das Ergebnis seiner Entlassungsgespräch klar zwischen Person und Verhalten getrennt wird und der
Arbeit. Etwa so: »Herr Meier, ich schätze Sie sehr und Ihr Bericht trifft aus gekündigte »strahlende Stern« respektvoll behandelt werden sollte.

67    68
Lektion 6 Beziehungen und Respekt
Und noch als Ergänzung:
Natürlich ist die Trennung von Person und Verhalten auch im privaten Bereich
und in der Liebe sinnvoll. Das mag zunächst kurios klingen, denn in der Liebe
geht es doch, nach landläufigem Verständnis, gerade um die geliebte Person.
Motto: »Du bist mein ganzes Herz.« Viele Menschen hängen der Illusion an, dass
man nur die eine geliebte Person finden müsse, und dann werde automatisch
alles gut im Leben.
Doch spätestens wenn die erste Phase der großen Verliebtheit vorbei ist und
man im Beziehungsalltag angekommen ist, stellt man fest, dass auch die schein-
bare Traumfrau oder der scheinbare Traummann gewisse Macken hat. Nun
kommt es darauf an, damit einen guten Umgang zu entwickeln. Und da hilft
die Entkopplung von Person und Verhalten enorm: Das macht es uns möglich,
einen Menschen in seinem ganzen Sein, sozusagen als Gesamtpaket zu lieben –
und zugleich freundliche Kritik an bestimmten Dingen zu äußern, über die wir
uns ärgern.
Und gerade in der Liebe kann man natürlich besonders gut sagen: »Du bist
mein »strahlender Stern« und dieses eine Verhalten ist für mich leider sehr
ungünstig.« Nutzen Sie also besser ein »und« (Augenhöhe), anstelle eines »aber«
(Konfrontation).

Auf den Punkt  Jeder hat recht in seinem Angst- und Denksystem: Lassen Sie los vom
kämpferischen Recht-haben-Wollen.

 »Die günstigen vier« als wirksamer Ratgeber für gelingende


Beziehungen.

 Jeder Mensch ist ein »strahlender Stern«: Klare Trennung zwischen


Verhalten und Person.

69    70
Lektion 7

Sinn und Zufriedenheit


Wie Sie zum Sieger
Ihres »inneren Spieles« werden

Was macht ein gelingendes Leben aus? Was braucht es, damit wir das Gefühl
haben, unser Leben sei in irgendeiner Weise erfüllend? Über diese Frage
denken wir vielleicht selten ganz konkret und zielgerichtet nach. Und doch liegt
sie letztlich all unseren Vorstellungen und Überzeugungen zugrunde und ist der
heimliche Antriebsmotor unseres Tätig-Seins. Im letzten Kapitel dieses Buches
wollen wir uns daher dieser Frage annähern und einige Strategien diskutieren,
die helfen, mit sich und der Welt ins Reine zu kommen und eine Haltung der
Zufriedenheit zu fördern.
Beim Nachdenken über die Kriterien für ein gelingendes Leben ist es auf-
schlussreich, zunächst einen kurzen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Denn
noch bis weit ins Mittelalter hinein beschäftigte dieses Thema die Menschen
kaum. Warum? Weil Religion und Tradition eine für alle gültige Antwort vor-
gaben. Der Sinn des Lebens bestand demnach – stark verkürzt – darin, sich
in die vorgefügten Strukturen einzufügen, ein guter Christ zu sein und auf
das Leben im Jenseits zu hoffen. Für weitergehende individuelle Überlegungen
bestand schon deshalb wenig Anlass, weil das Leben des Einzelnen weitgehend
vorgezeichnet war und ihm in vielem gar keine Wahl blieb. Wer als Bauer
geboren wurde, der blieb sein Leben lang Bauer, der Sohn eines Schmieds wurde
in der Regel ebenfalls Schmied, und als Frau hatte man sowieso kaum eine
andere Wahl, als sich um Kinder, Küche und Kirche zu kümmern.
Erst mit der Neuzeit und der Aufklärung begann sich all dies zu ändern. Reli-
gionen und Traditionen verloren an Bindekraft, der »Ausgang des Menschen aus
der selbstverschuldeten Unmündigkeit« wurde propagiert, und fortan war jeder
seines eigenen Glückes Schmied. Das erzeugte einen enormen Raum an neuen
Freiheitsgraden und Wahlmöglichkeiten, der durch immer neue technische und
wissenschaftliche Möglichkeiten noch vergrößert wurde. Spätestens heute, da

  72
Lektion 7 Sinn und Zufriedenheit
uns alles möglich und nichts mehr verbindlich scheint, wird uns aber auch die anzustrengen und bereit zu sein, aus den eigenen Fehlern zu lernen. Wichtig dabei
Kehrseite der Moderne bewusst: Das moderne Individuum hat in nahezu allem ist, dass man das nicht nur will, sondern dann auch wirklich macht. Dieses com-
die Wahl – Beruf, Lebensführung, politische oder sexuelle Orientierung –, ist mitment, diese Selbstverpflichtung, ist die Voraussetzung für das »innere Spiel«.
damit aber auch für alles selbst verantwortlich und muss sich selbst entscheiden, Wenn wir dies tun, sind wir mit uns innerlich im Reinen. Und egal, ob man äu-
was es möchte und anstrebt. Das gilt auch für die Frage nach Sinn und Lebens- ßerlich Erfolg hatte oder scheiterte, kann man sich abends beim Nachhausekom-
glück. Wir können (oder wollen) uns nicht mehr einfach auf die überkommenen men bewusst machen: Ich habe heute gewonnen. Ich habe mein Bestes gegeben
Regeln von Religion oder kultureller Tradition zurückziehen, sondern müssen und mehr war heute nicht drin. Wer das »innere Spiel« spielt, konzentriert sich
versuchen, in einer sich dramatisch wandelnden Welt neue Antworten zu finden, auf das Optimum, also sein Bestes zu geben. Perfektion ist das Ziel des »äußeren
die für unsere individuelle Situation passend und überzeugend sind. Spiels«, was dazu führt, dass man sich verkrampft, weil man Angst vor Fehlern
hat. Und so bringt auf Dauer der Optimum-Spieler bessere Leistung als der
Dabei gilt heute als das »gute Leben« allgemein das »reiche« oder »erfüllte« Leben. Perfektionist.
Was aber heißt »erfüllt«? Die übliche Antwort in der modernen Konsum- und Dadurch wird man auch unabhängig vom Urteil anderer, schaltet gewisser-
Wettbewerbsgesellschaft lautet: möglichst erfolgreich zu sein und möglichst viel maßen von der Außensteuerung auf die Innensteuerung. Und selbst wenn man
von dem, was die Welt zu bieten hat, auszukosten. Das heißt: möglichst viel Fehler gemacht hat oder wenn sich andere darüber aufregen, was man tat oder
materiellen Besitz, Macht, Anerkennung und Status anzuhäufen. Einfach gesagt: sagte, muss einen das nicht groß bekümmern. Wenn man wirklich nach bestem
von allem immer mehr. Das allerdings führt notgedrungen dazu, dass man sich Wissen und Gewissen gehandelt hat, hat man sich nichts vorzuwerfen. Wenn
ständig im Wettbewerbs- oder Kampfmodus befindet und häufig unzufrieden sich andere darüber echauffieren, ist das letztendlich so, weil ihre persönlichen
ist: Wer noch wenig erreicht hat, beneidet die anderen und konkurriert jeden Erwartungen enttäuscht werden.
Tag von Neuem um Karriere, Besitz und Macht. Wer schon viel erreicht hat,
fürchtet hingegen, das Erworbene wieder zu verlieren, und kämpft gegen die
unaufhaltsam nachrückende Konkurrenz. Wirklich dauerhafte Zufriedenheit
kann sich in diesem Kampf- oder Über-lebensmodus nicht einstellen. Denn Zu-
friedenheit erfahren wir vor allem im Er-lebensmodus, in dem wir das Dasein in Das »äußere Spiel« Das »innere Spiel«
der Gegenwart genießen und nicht ständig von Angst und Sorge vor dem Verlust
oder Nichterreichen unserer Ziele getrieben sind. b
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Hinzu kommt: In der modernen, globalisierten Welt ist äußerer Erfolg immer Sta
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weniger plan- und herstellbar. Die heute erfolgreiche Geschäftsidee wird schon et
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morgen von der Konkurrenz überholt, der momentan gefeierte Unternehmer, Perspektivwechsel: Statt sich
Star oder Politiker kann morgen schon als Gescheiterter geschmäht werden. An- Zufriedenheit Stabilität von äußeren Faktoren abhängig
gesichts der Komplexität und der Schnelligkeit moderner Entwicklungen wird zu machen, ist es sinnvoller,
es immer schwieriger, langfristige Pläne zu machen und Erfolge auf Dauer zu Ziele erreichen g elo sich an den eigenen Werten und
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stellen. Dieses »äußere Spiel« ist also immer schwerer gewinnbar, führt immer e rd
en inneren Erfolgen zu orientieren.
häufiger zu Rückschlägen und damit Unzufriedenheit.

Anders sieht es hingegen aus, wenn wir uns auf das »innere Spiel« konzentrieren:
Das ist eine hervorragende Methode, auch in einer sich schnell wandelnden Diese Fokussierung auf das »innere Spiel« ermöglicht also selbst dann innere Zu-
Welt, in der vieles unvorhersehbar ist, zu innerer Stabilität und Zufriedenheit zu friedenheit, wenn die äußeren Umstände chaotisch oder ungünstig erscheinen. Und
kommen. dabei geht es nicht etwa um eine clevere Methode des inneren Selbstbetrugs: Denn
Denn das »innere Spiel« orientiert sich nicht an äußeren Errungenschaften, letztlich ist die Konzentration auf das »innere Spiel« auch die beste Art und Wei-
sondern am inneren Erfolg. Das heißt: Man nimmt sich jeden Morgen vor, sein se, Fehler schnell zu verbessern, also: trotz Widerstände leistungsfähig zu bleiben.
Bestes zu geben, möglichst all seine Fähigkeiten und Talente einzusetzen, sich Wer sich hingegen am »äußeren Spiel« orientiert, wird notgedrungen unzufrieden,

73    74
Lektion 7 Sinn und Zufriedenheit
wenn er nicht schafft, was er sich vorgestellt hat. Die Folge: Man ärgert sich und und Reue vermeiden. Wenn man sich an diesen Versprechen und den Regeln des
wird verstimmt – was die Leistung eher schmälert und dazu führt, dass dann selbst »inneren Spiels« orien­tiert, statt am »äußeren Spiel«, ist man jeden Tag ein Gewinner.
positive Eigenschaften und Fähigkeiten nicht zum Tragen kommen. Denn das »innere Spiel« hat man nach Einhaltung der Regeln immer gewonnen.
Wer sich dafür entscheidet, das »innere Spiel« zu gewinnen, sollte sich dabei an
folgende Regeln und Prinzipien orientieren: Wer wirklich zur Zufriedenheit gelangen will, muss allerdings – neben dem
Erfolg im »inneren Spiel« – auch eine Antwort auf die Frage nach der Sinnhaftig-
keit des eigenen Tuns finden. Wie schon eingangs erklärt, ist eine der großen
Regeln des »inneren Spiels« Herausforderungen der Moderne der Umgang mit der Frage: Wozu mache ich
1. Orientiere dich an eigenen Kriterien und Fähigkeiten. eigentlich etwas?
2. Tue das, was du tust, mit ganzem Herzen, also konzentriert. Umfragen zeigen, dass viele Menschen auf diese Frage keine Antwort wissen.
3. Gib stets dein Bestes, wachse an Fehlern. Vor allem unter jungen Menschen vermögen fast 50 Prozent keinen tieferen
4. Nutze das Leben als Coach und schwierige Situationen Sinn in ihrem Dasein zu entdecken; zugleich geben sie an, die Frage nach dem
als Trainingseinheit. Sinn sei ihnen weitgehend egal.18 »Existenziell indifferent« nennen Psychologen
diese Gruppe von Menschen. Kennzeichnend für sie ist, dass sie tendenziell
Zu diesen Regeln des »inneren Spiels« passen auch die Ratschläge des mexika- das Gefühl haben, wenig Kontrolle über das eigene Leben zu haben und den
nischen Autors Miguel Ruiz, die dieser 1997 in seinem Buch »Die vier Verspre- Anforderungen der modernen Welt nicht gewachsen zu sein. Häufig fällt bei
chen« beschrieb17. Heilsam sind demnach folgende vier Versprechen, die man ihnen der Satz: »Man kann ja eh nichts tun.« Kein Wunder, dass sie der Sinn-
sich selbst immer wieder geben kann: frage gleichgültig gegenüber sind – und deshalb auch weniger zufrieden mit
ihrem Leben.
»Die vier Versprechen« Und es stimmt ja auch: Nach einer pauschalen Antwort auf die Sinnfrage, die für
» Wählen Sie Ihre Worte mit Bedacht, und seien Sie untadelig mit alle gleichermaßen gültig wäre, kann man lange suchen. Denn wer keine Idee hat,
Ihrem Wort.« wie die Antwort aussehen könnte, wird sie auch nicht finden. Dem modernen
Sprechen Sie mit Integrität. Sagen Sie nur das, was Sie meinen. Vermeiden Sie es, Individuum, das nicht einfach die althergebrachten Antworten von Religion
Ihr eigenes Wort gegen sich selbst oder andere zu richten. Benutzen Sie die Macht oder Tradition übernehmen möchte, bleibt nur eine Wahl: den eigenen Lebens-
Ihres Wortes im Namen von Wahrheit und Liebe. sinn selbst zu definieren. Man könnte sogar sagen: den eigenen Sinn selbst zu
definieren oder zu schaffen. Denn es reicht nicht, vorgegebene Antworten in
»Nehmen Sie die Dinge nicht persönlich.« Ratgebern oder Philosophiebüchern zu lesen. Damit ein Sinn wirklich als gültig
Was andere Menschen tun, hat nichts mit Ihnen zu tun. Die Worte und Taten und motivierend erfahren wird, braucht es genau dies: die Entscheidung für den
anderer sind eine Projektion ihrer eigenen Realität, ihres eigenen Traumes. Wenn eigenen Sinn.
Sie den Meinungen und Handlungen anderer Menschen gegenüber immun sind, Wer solche innere Ausrichtung gefunden hat, wer weiß, wozu er etwas tut,
werden Sie nie das Opfer unnötiger Leiden sein. lässt sich von Schwierigkeiten nicht so leicht aus der Bahn werfen. Das bringt
der schon in Lektion 4 zitierte Satz von Nietzsche auf den Punkt: »Wer ein
»Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse.« Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie …«. Diese Einsicht erweist sich
Finden Sie den Mut, Fragen zu stellen und auszudrücken, was Sie wirklich wollen. gerade in der heutigen, schnelllebigen Zeit als wichtig für uns: Statt uns ange-
Kommunizieren Sie mit anderen so klar, wie es Ihnen möglich ist, um Missver- sichts der Komplexität und Veränderlichkeit der Dinge ohnmächtig zu fühlen,
ständnisse und Traurigkeit zu vermeiden. können wir innerlich Haltung annehmen und uns entscheiden, dazu auf unsere
Weise Stellung zu nehmen. Und wer gar keinen Sinn für sich zu formulieren
»Tun Sie immer Ihr Bestes.« weiß, kann die Philosophie des Selbst-Entwicklers vorerst als seinen Sinn
Ihr Bestes wird sich von Augenblick zu Augenblick verändern; wenn Sie krank deklarieren: »Ich entscheide mich, das Leben als Ganzes zu leben und an ihm
sind, wird es anders sein, als wenn Sie gesund sind. Tun Sie in jedem Fall immer zu wachsen und Schwierigkeiten als Trainingseinheit anzusehen. Die Situation
Ihr Bestes. Auf diese Weise werden Sie Selbstbeschuldigung, Selbsterniedrigung ist mein Coach.«

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Lektion 7 Sinn und Zufriedenheit
»Die Studienlage jedenfalls ist eindeutig«, resümiert das Fachblatt Gehirn &
Geist: »Für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit scheint es wichtiger
zu sein, an Stelle des schnellen, oberflächlichen Glücks den umfassenden Sinn
anzustreben.«19

Alfred Adler (1870–1937) Das zentrale Element für das Erleben von Sinn war für Viktor Frankl der Wechsel
hat die Individualpsychologie von der »Ego- zur Sinnorientierung«. Der Begriff Ego-Orientierung beschreibt
begründet. Er wollte eine dabei die übliche Nabelschau, die alles Geschehen stets nur im Hinblick auf die
Psychologie schaffen, die es dem eigene Person interpretiert (Warum passiert das gerade mir? Wie geht es mir
Menschen ermöglicht, seine damit? Wie werde ich glücklich?). Dieses unablässige Kreisen um sich selbst führt
Mitmenschen aus deren jeweils fast zwangsläufig zu einer Haltung steter Besorgnis. Ganz anders dagegen die
individueller Lebensgeschichte Haltung der »Sinnorientierung«, die z. B. mit der Frage beginnen könnte: Wie
heraus zu verstehen. kann ich anderen helfen? Was kann ich beitragen, um die Situation zu verbessern?
Damit aktiviert man automatisch jene Kräfte, die für eine positive Einstellung
Sigmund Freud (1856–1939) nötig sind – ähnlich wie ein Arzt, der angesichts eines Schwerkranken nicht in
war Begründer der Psychoanalyse Jammern verfällt, sondern sich um dessen Rettung kümmert. Das Besondere
und gilt als einer der bedeutend- an dieser Haltung: Sie hilft nicht nur anderen, sondern beschert einem zugleich
sten Denker des 20. Jahrhunderts. auch selbst erhabene Gefühle. Statt Ohn-Macht erlebt man Eigen-Macht und
erfährt sich selbst als nützlich und sinnvoll – was letzten Endes ein tiefes Gefühl
der Zufriedenheit auslöst.
Der erste und für lange Zeit einzige Wissenschaftler, der in der Psychologie das Provokant formuliert könnte man sagen:
menschliche Streben nach Sinn thematisierte, war der österreichische Neurologe
und Psychiater Frankl. Die von ihm begründete »Logotherapie« wird, nach den
Lehren Sigmund Freuds und Alfred Adlers, auch die »Dritte Wiener Schule der
Psychotherapie« genannt.
Dienen ist der neue Hedonismus.
Zuvor hatte Sigmund Freud in einem Geniestreich die Rolle der Religion
nahezu durch die Psychologie abgelöst. Wer an die religiösen Dogmen nicht Statt sich nur um sich selbst zu drehen, erkennt gerade der Selbst-Entwickler
mehr glauben wollte, konnte einen neuen Halt finden in den wissenschaftlichen die Notwendigkeit, sich auch um andere zu kümmern und etwas zum Wohl des
Theorien Freuds. Dabei war Freuds Augenmerk vor allem auf die Wirkungen großen Ganzen beizutragen.
einer unterdrückten Sexualität gerichtet, woraus die These entstand: Die Trieb- Diese Haltung des Dienens ist allerdings nicht zu verwechseln mit einem
feder des Menschen sei vor allem sein Wille nach Lust. Darauf antwortete unterwürfigen Dienen aus einer Position der Schwäche heraus. Wer nur dient,
Alfred Adler mit der Gegenthese, es sei vor allem der Wille zur Macht, der den weil er sich dazu gezwungen fühlt, weil er Angst vor den anderen hat oder sich
L o g ot h e r a p i e/ Menschen antreibe. beliebt machen will, wird dies in der Regel nicht als wohltuend und zufrieden-
E x i s te nz a n a l ys e
Vielleicht liegt es an der Krisenhaftigkeit unserer Zeit, dass das Denken des stellend erleben, sondern sich eher gestresst fühlen. Das führt zu Verstimmung
Im Mittelpunkt stehen die
österreichischen Psychiaters ein erstaunliches Revival erlebt. Denn nachdem und zu vermindertem Selbstwertgefühl.
geistige Dimension des die sogenannte »positive Psychologie« sich jahrelang vor allem damit beschäf-
Menschen und sein exis­-
tenzielles Streben nach
tigte, wie Menschen glücklich werden, ist in jüngster Zeit ein Umschwung zu
beobachten. Zunehmend wird den Psychologen klar, dass die Fokussierung
Das selbstbestimmte, freudvolle Dienen entsteht aus
Sinn im Leben als primäre
Motivationskraft.
auf Glück und Freude alleine nicht zu einem gelingenden Leben führt. Was einer Position der Starke heraus.
mehr zählt, ist eine positive Grundhaltung, die hilft, auch unvermeidliche
Lebenskrisen zu verarbeiten. Und genau dafür ist die Sinnfrage entscheidend.

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Lektion 7 Sinn und Zufriedenheit
Man dient aus der Fülle, weil man etwas abzugeben hat und sich selbst dabei
als hilfreich und sinnvoll erlebt. Wenn man sich auf diese Weise entscheidet,
anderen zu helfen und zu dienen, wird man sich innerlich gestärkt fühlen und
erleben, dass es Freude macht. So führt das Dienen zu »gehobener Gestimmt-
heit« – und damit zur Zufriedenheit.
Und zum Abschluss noch eine letzte wichtige Empfehlung:
Nähren Sie die Dankbarkeit. Denn üblicherweise sind wir in unserem Erleben,
wie in Lektion 5 erklärt, häufig stark Defizit-orientiert. Wir haben vor allem
das im Blick, was uns fehlt oder was andere uns voraushaben. All das hingegen,
was wir können und was wir schon erreicht haben, erscheint uns schnell selbst-
verständlich und damit unwichtig. Um diese Asymmetrie unseres Erlebens zu
durchbrechen, ist es sehr hilfreich, sich immer wieder bewusst an all das zu
erinnern, was wir auf der Sein- und Haben-Seite verbuchen können.

uu Machen Sie dazu abends vor dem Einschlafen ein kleines Dankbarkeits-
ritual: Denken Sie dabei an all das, was an diesem Tag erfreulich war und
was ganz generell in Ihrem Leben positiv ist – etwa in puncto Gesundheit,
Beziehung, Sicherheit, Freunde, Beruf und so weiter. Statt darüber nach-
zudenken, was alles fehlt oder verbesserungsfähig wäre, konzentrieren Sie sich
auf das, wofür Sie bereits dankbar sein können. Dadurch stabilisieren Sie
eine Lebenshaltung: Die »gehobene Gestimmtheit«. Und Sie lassen sich von
den (unvermeidlichen) Widrigkeiten des Lebens nicht so schnell frustrieren.
Außerdem schlafen Sie nach dem Dankbarkeitsritual besser und fördern Ihre
Gesundheit – lauter gute Gründe, es zu erproben.

uu Die Dankbarkeit können Sie natürlich auch tagsüber fördern. Dabei


können Sie Ihre Armbanduhr als Erinnerungsanker nehmen: Gewöhnen Sie
sich an, beim Blick auf die Uhr nicht nur an die Uhrzeit zu denken, sondern
auch an Ihre Lebenszeit. Machen Sie sich explizit bewusst, dass Sie jetzt gerade
leben und dass dies an sich schon ein hervorragender Grund zur Freude ist.
Denn unser Leben ist ein kostbares Geschenk, von dem wir nicht wissen, wie
lange es in unserem Besitz sein wird. Wichtig ist daher letztlich nicht so sehr Auf den Punkt  Enormer Freiheitsgrad und sehr viele Wahlmöglichkeiten erschweren es
Glück oder Erfolg, sondern vor allem: dass wir leben. Also schauen Sie auf dem Einzelnen, Entscheidungen zu treffen.
Ihre Uhr, lächeln Sie, und denken Sie: Wie schön, ich lebe!
 Spielen Sie das »innere Spiel« (innere Zufriedenheit), orientieren Sie sich
nicht primär am »äußeren Spiel« (Beurteilungen, Werte und Kriterien).

Schaffen Sie sich einen Sinn im Leben.

 Seien Sie dankbar für das, was ist: Sie leben!

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Leseempfehlung ZEITmagazin
ZEITmagazin | 2. Juni 2016 
Achtsamkeit

Du bist, was du denkst


Alles eine Frage der Einstellung? Wie unsere Gedanken unser Leben verändern können.
Von Ilka Piepgras

K
ann man durch Denken ab- deren Arbeit zum Sport erklärt wor- den »wichtigen Neuerscheinungen«,
nehmen? Man kann. den war, durchschnittlich ein Kilo und sie tritt im Fernsehen auf.
Oder exakter: Man kann abgenommen – allein durch eine ver- Warum leben wir, wie wir leben?
bei einer Tätigkeit mehr oder weniger änderte Einstellung zur Arbeit. Die Wieso sind wir, wie wir sind? Können
Gewicht verlieren, je nachdem, wie Kontrollgruppe machte ihren Job mit wir etwas ändern oder nicht? Im Mit-
man über sie denkt. Was wie eine neue derselben Haltung wie zuvor – und telalter hätte man solche Fragen dem
Diätmarotte klingt, ist in Wahrheit die blieb gleich schwer. »Schicksal«, dem »Willen Gottes« und
Erkenntnis einer Harvard-Professorin Das Experiment ist einer von zahl- der »Herkunft« überlassen, mit den
namens Ellen Langer. 2007 untersuch- losen Versuchen, welche die mittler- Psychoanalytikern Freud und C. G.
te sie, ob es sich positiv auf die Fitness weile 69-jährige Langer unternommen Jung kam im 20. Jahrhundert das Un-
von Zimmermädchen auswirke, wenn hat, um ihrem Lebensthema »Wie viel bewusste ins Spiel, jene geheimnisvolle
man ihren Job zum sportlichen Trai- Macht haben Gedanken über uns?« auf Unterströmung von Trieben und Prä-
ning umdefinieren und ihnen dieses den Grund zu gehen. In Hunderten gungen aus der frühen Kindheit, die
mitteilen würde. Das Aufschütteln von von Studien erforscht sie schon seit den uns an erstaunliche und schreckliche
Betten und das Schrubben von Bädern achtziger Jahren, wie sich Gedanken Orte tragen kann. Ellen Langer hat
sollten als eine Art Training an un- über uns und unsere Umwelt auf unse- nichts gegen Freud, sie räumt dem Un-
konventionellen Fitnessgeräten begrif- re Befindlichkeit auswirken. Heute lie- bewussten aber einen weit geringeren
fen werden. Das Ergebnis: Nach vier gen Langers Bücher in amerikanischen Stellenwert ein, als die Analytiker es
Wochen hatten jene Teilnehmerinnen, Buchhandlungen auf den Tischen mit tun. Sie interessiert sich für die Frage:

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Leseempfehlung ZEITmagazin
ZEITmagazin | 2. Juni 2016 
Achtsamkeit

Wie beeinflussen uns Informationen, veröffentlicht hat und dessen Thema und gepflegt zu werden. Jetzt lebten ein anderes Gebäude geschickt, und Warum beim Schach nicht mal die Langers Methode ist einfach: Sie
die wir im Hier und Jetzt empfangen sie seither variiert: Mindfulness. Doch sie plötzlich eine Woche lang in einer die Forscher stoppten heimlich die Dame zur entscheidenden Figur ma- stellt grundsätzlich alles infrage. Aus
und auf bestimmte Weise interpretie- Langers Verständnis von »Achtsam- Umgebung, die in keiner Weise dem Zeit, die jeder für den Weg benötigte. chen? In einer anderen Übung schalten ihrer Sicht ist der Grat zwischen dem
ren? Langers Ziel ist es, das Bewusst- keit« hat mit dem heute verbreiteten entsprach, was als »altersgerecht« galt: Und siehe da: Diejenigen, die sich mit Rechtshänder eine Zeit lang auf die Urteil und der sich selbst erfüllenden
sein der Menschen dafür zu schärfen, Trend der im Buddhismus verankerten Mahlzeiten etwa wurden nicht zur Begriffen aus der Welt der Senioren linke Hand um und Linkshänder auf Prophezeiung schmal. Wer hat fest-
dass ihre Handlungen größtenteils auf Meditationspraxis wenig zu tun. Mit festgelegten Stunde serviert, sondern beschäftigt hatten, liefen nachweislich die rechte – mal schauen, was passiert. gelegt, dass etwas so und nicht anders
Annahmen über die Welt beruhen, die Mindfulness meint sie, sensibel zu wer- mussten selbst zubereitet werden, und langsamer als die anderen. »Priming- »Man aktiviert dabei die jeweils andere ist? Wer hat bewiesen, dass mit dem
ihnen im Laufe der Zeit beigebracht den: dafür, ob das, was ich über mich anschließend machten die Achtzigjäh- Effekte« nennen Psychologen das Phä- Gehirnhälfte und kommt auf neue Ge- Alter zwangsläufig Sehvermögen und
oder eingeredet wurden – und die im und die Welt denke, auch tatsächlich rigen den Abwasch. Und, o Wunder: nomen, dass Wörter oder Bilder beim danken«, so Langer. Obendrein übt sie Kurzzeitgedächtnis nachlassen? Oder
Leben nicht unbedingt weiterhelfen. so ist. Nach sieben Tagen in der Zeitkapsel Menschen spezifische Assoziationen an mit den Teilnehmern ihrer Kurse das liegen diese Schwächen eher darin
Besucht man Frau Professor Langer In einem ihrer berühmtesten Ex- waren die Probanden beweglicher frühere Erfahrungen auslösen und so »Reframing«, eine verblüffend einfache begründet, dass alle Schwierigkeiten
in ihrem Haus unweit des Harvard- perimente lud sie Anfang der achtziger geworden, schnitten in den Hör-, Seh- sein Verhalten beeinflussen. »Priming Technik, die aus der Systemischen von alten Leuten ferngehalten werden
Campus, begegnet man einer un- Jahre alte Herren um die achtzig in und Intelligenztests deutlich besser ab aktiviert Gedanken, die wir unauf- Familientherapie stammt und heute und sie dadurch kaum noch Erfolgs-
gestümen älteren Dame, die sich einen ein ehemaliges Kloster in New Hamp- als die Kontrollgruppe. Als sei auch merksam aufgenommen und ver- von Therapeuten aller Richtungen erlebnisse haben? Ist körperlicher Ver-
Hundewelpen im Tragetuch vor den shire ein. Dort war alles so eingerichtet das Altern bloß eine Frage der eigenen innerlicht haben«, sagt Ellen Langer. angewandt wird. Es geht darum, Er- fall womöglich – zum Teil – eine sich
Bauch gebunden hat wie ein Baby. wie zu jener Zeit, als die Probanden Einstellung. Solche unterschwelligen Gedanken eignisse – also das, was die meisten selbst erfüllende Prophezeiung?
»Das ist Sofie«, stellt sie den winzigen zwanzig Jahre jünger waren. Uralte In welchem Ausmaß der Geist den zu entdecken, meint sie mit Achtsam- Menschen Realität nennen – aus einem »Mindless automata« nennt Langer
Terrier vor. Eben ist sie von einer Bücher und Magazine lagen herum, Körper beeinflusst, zeigen auch die keit: »Was wir sehen, hängt davon ab, veränderten Blickwinkel zu betrachten jene Überzeugungen, die unser Leben
Reise zurückgekehrt. Wenn sie nicht im Fernsehen lief Rauchende Colts, und Versuche des amerikanischen Sozial- worauf zu achten wir gelernt haben. und sich dadurch alternative Ver- steuern, ohne dass wir es bemerken –
gerade in Harvard unterrichtet, ist die abends diskutierten die Testpersonen psychologen John Bargh: Er ließ die Mindfulness bedeutet: in dem, was haltensmöglichkeiten zu eröffnen. Ein als seien wir darauf programmiert,
Wissenschaftlerin dauernd unterwegs – scheinbar zeitgenössische Themen wie Teilnehmer einer Experimentalgruppe wir bereits zu kennen glauben, etwas Beispiel: Ob wir jemanden, der sehr fremde Gedanken ungeprüft zu über-
als Referentin für internationale die kubanische Revolution. Kreuzworträtsel lösen, die negative Neues entdecken.« korrekt auftritt, als langweilig (nega- nehmen. Eine weitverbreitete unbe-
Organisationen oder Wirtschaftsun- Die Männer waren aufgefordert Stereotype über das Älterwerden ent- Seit einiger Zeit bietet Langer Kurse tive Einschätzung) oder zuverlässig wusste Annahme besteht zum Beispiel
ternehmen. Oder um Auszeichnungen worden, sich über die Ereignisse jener hielten – etwa »schwerhörig«, »grau«, an, in denen man lernt, das alte Leben (positive Einschätzung) wahrnehmen, darin, dass Menschen glauben, bei
entgegenzunehmen. Langers Populari- Zeit so zu unterhalten, als fänden sie »Hautfalten«. Eine Kontrollgruppe mit neuen Augen zu betrachten. Zum hängt von unserer Sichtweise ab – und Gymnastik grundsätzlich zu ermü-
tät hängt im Kern mit einem Buch zu- ganz aktuell statt. Eigentlich waren löste Rätsel mit neutralen Wörtern. Beispiel überlegen sich die Teilnehmer führt zu sehr unterschiedlichem Ver- den, wenn zwei Drittel der Übungen
sammen, das sie vor fast dreißig Jahren die Probanden es gewohnt, betreut Danach wurden alle Probanden in neue Regeln für bekannte Spiele: halten gegenüber dieser Person. absolviert sind. Als Beweis für diese

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Leseempfehlung ZEITmagazin
ZEITmagazin | 2. Juni 2016 
Achtsamkeit

Regel ließ Langer drei Gruppen von würden gemeinsam mit asiatischen Mentaltrainer in Anspruch nimmt freundlich. Man gewinnt den Ein- zu denken. Bei anschließenden phy- ausgedrückt: Oettingen entdeckte die
Probanden unterschiedlich viele Kommilitonen schreiben und die oder ein Kommunikationsseminar druck: Hier lebt jemand planvoll. siologischen Tests stellte sich heraus, Kraft des negativen Denkens.
Hampelmannsprünge machen: Alle Leistungen würden später verglichen. besucht, gilt nicht mehr als krank Am Anfang von Oettingens For- dass der Blutdruck der Teilnehme- Für die Anwendung ihrer For-
drei Gruppen kamen nach etwa zwei All diese Experimente zeigen: Nicht oder gestört – sondern als klug und schung stand der Begriff »Hoffnung«: rinnen gesunken war, ihr Energie- schung hat sie eine Technik entwickelt,
Dritteln der Übung aus der Puste – nur was wir über uns selbst, sondern bestrebt, etwas für das eigene Glück Von klein auf hat es die Psychologin pegel also niedriger war als vor dem mit welcher der Mensch im Alltag ei-
absolut unabhängig davon, ob sie hun- auch das, was wir über andere den- zu tun. Heute beschäftigen sich viele interessiert, was Menschen dazu bringt, Tagtraum. Eine andere Studie zeigte, gene Gedanken so steuern kann, dass
dert, dreihundert oder fünfhundert ken, hat enorme gesellschaftliche Psychologen mit der Frage, wie es sein in scheinbar aussichtslosen Situationen dass Jobsuchende, die sich bildhaft sie zum Ziel führen. »Woop« heißt
Sprünge absolvieren sollten. Konsequenzen. kann, dass positive Gefühle wie Hoff- nicht aufzugeben. Aber hilft Hoffnung vorgestellt hatten, wie sie in einem diese Methode, die man sich sogar
Ähnliches gilt für Vorurteile über Langer gilt als Mitbegründerin nung und Optimismus Kraft in uns auch, wenn es um die Verwirklichung Einstellungsgespräch brillierten, als App aufs Handy laden kann. Der
bestimmte gesellschaftliche Grup- der »Positiven Psychologie«, einer auslösen. Gabriele Oettingen, Pro- von Träumen geht? Als junger Wissen- später weniger Angebote hatten und Name setzt sich aus den Anfangsbuch-
pen. Frauen, heißt es beispielsweise, Richtung, die sich weniger für das in- fessorin für Psychologie an der New schaftlerin fiel Oettingen auf, dass sogar weniger verdienten als die Teil- staben der einzelnen Komponenten
seien schlecht in Mathematik. Wer teressiert, was Menschen krank macht, York University und der Universität die Psychologie unter den Begriffen nehmer derselben Studie, die negative zusammen: wish, outcome, obstacle,
dieses Vorurteil – oder andere Fälle und mehr für das, was sie zufrieden Hamburg, ist der Auffassung, dass po- Hoffnung und Optimismus fast das Gedanken zugelassen hatten. Von hier plan (Wunsch, Ergebnis, Hindernis,
von Voreingenommenheit – ver- und gesund macht. Eine regelrechte sitives Denken längst nicht ausreicht, Gleiche versteht. Also machte sie sich aus war es nicht mehr weit bis zur Er- Plan). Die Idee des Programms ist es,
innerlicht hat, neigt dazu, es durch Bewegung wurde daraus Anfang der um ans Ziel zu kommen. Ende der daran, den feinen Unterschied heraus- kenntnis: Wer von einer besseren Zu- sich Ziel und Hindernis innerlich so
sein Handeln unbewusst zu bestäti- neunziger Jahre, als der amerika- achtziger Jahre gehörte sie eine Zeit zuarbeiten – und fand heraus, dass kunft träumt, denkt, er sei schon am anschaulich vor Augen zu führen, als
gen. So haben Experimente gezeigt, nische Psychologe Martin Seligman lang zu Martin Seligmans Team in positives Denken nicht, wie allgemein Ziel. Positive Fantasien entspannen so erlebe man beides tatsächlich – mit-
dass Teilnehmerinnen, die zu Beginn Präsident der einflussreichen Ameri- den USA, dann schlug sie ihren eige- angenommen, automatisch zu guten sehr, dass sie die Energie absorbieren, samt den damit verbundenen Gefüh-
eines Mathematiktests auf einem can Psychological Association wurde. nen Weg in der Motivationsforschung Ergebnissen führt. Jahrelang forschte die man braucht, um die Dinge an- len. »Mentale Kontrastierung« nennt
Fragebogen ihr Geschlecht angeben »Wir brauchen eine Wissenschaft, die ein. Auf dem Konferenztisch in Frau Oettingen, warum Menschen es zupacken. Oettingen dieses gedankliche Gegen-
müssen, eine deutlich schlechtere sich mit menschlichen Stärken be- Oettingens Hamburger Büro stehen einfach nicht schaffen, ihre Träume – In Folgestudien fand Oettingen überstellen von positiver Zukunft und
Leistung zeigen als in einem Test, bei schäftigt«, sagte Seligman. Es war der Teller mit Cocktailtomaten, Trauben etwa mit dem Rauchen aufzuhören heraus, dass diejenigen Testpersonen dem Hindernis in der Realität. Der
dem das Geschlecht nicht zur Spra- entscheidende Schub für die »Positive und Paprika – gesunde Snacks für oder Karriere zu machen – zu realisie- am erfolgreichsten waren, die sich letzte Schritt ihrer Methode sieht dann
che kommt. Ähnliches gilt für weiße Psychologie«, der sich dreißig Jahre die gertenschlanke, ganz in Schwarz ren. zwar die Erfüllung ihrer Wünsche vor- den konkreten Plan vor, das Hindernis
Amerikaner, die in einer Arbeit auf- später in einer veränderten Haltung gekleidete 62-Jährige. Die Sitzmöbel Zu diesem Zweck bat sie beispiels- gestellt, in einem nächsten Schritt aber zu überwinden.
fallend schlechter abschnitten, nach- zur »professionellen Hilfe« zeigt: Wer sind weiß, auf dem Tisch ein frischer weise eine Gruppe von Probandinnen, auch die Hindernisse auf dem Weg zur »Woop verbindet Zukunft und
dem man ihnen mitgeteilt hatte, sie heute einen Coach, Therapeuten oder Strauß Tulpen, die Atmosphäre ist intensiv an die Schuhe ihrer Träume Erfüllung ausgemalt hatten. Überspitzt Realität miteinander, ohne dass wir

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ZEITmagazin | 2. Juni 2016 
Achtsamkeit

uns dessen bewusst werden«, sagt herauszufinden, was ich eigentlich das, was sich im Kopf abspielt. Hat Auch Schlaganfallpatienten absol- Längst haben sich in der Medizin Arno Schimpf regelmäßig mit ein-
Oettingen. Wer sich die blühende Zu- will.« man Angst, verkrampfen sie.« Und: vieren bei Schimpf gedankliche Trai- eigene Felder wie die Psychoendo- fachen Ritualen. Noch im Bett legt er
kunft ausmalt und dann im Geiste die Oettingens Methode klingt »Der Mensch ist in der Lage, allein ningsprogramme. Um wieder in Form krinologie entwickelt, die den Zusam- eine Hand aufs Herz und macht sich
Hürden imaginiert, kann nicht mehr schlicht und unspektakulär. Die meis- durch Gedankenkraft die Muskeln zu kommen, trainieren sie mit ihm menhang von Hormon-, Immun- und bewusst, welch großartige Arbeit die-
unbegrenzt schwelgen – er denkt die ten Menschen glauben immer noch, zu aktivieren. Und zwar so intensiv, Muskel-Innervation – also die Ver- Nervensystem mit Psyche und Ver- ses Organ leistet. Steht ein harter Tag
Widrigkeiten automatisch mit und mit Disziplin und Willenskraft ans als führe er die Tätigkeit tatsächlich sorgung eines Muskels mit Impulsen halten untersuchen. Vieles deutet bevor, packt er sich fünf Kaffeebohnen
analysiert mögliche Verhaltensweisen, Ziel zu gelangen. Wir sind es gewohnt, aus.« Schimpf bringt den Sportlern über das Nervensystem. Zu diesem darauf hin, dass Krankheit und Ge- in die linke Hosentasche. Jedes Mal,
mit denen er diese effektiv überwinden uns nur das als Erfolg zuzurechnen, auch bei, wie sie mit Tiefenentspan- Zweck stellen sie sich verschiedene sundheit viel mehr mit dem Kopf zu wenn ihm etwas Gutes widerfährt,
kann. Ein Beispiel der Psychologin: was mit Schweiß und Anstrengung nungstechniken den Herzschlag Bewegungsabläufe intensiv vor, sodass tun haben, als die Schulmedizin sich wandert eine Kaffeebohne hinüber
Die überstrapazierte berufstätige Mut- errungen wurde. Stellt der Erfolg sich drosseln und die Blutgefäße weiten intakte Hirnregionen die Aufgaben der träumen lässt. Einer der Versuche von in die andere Hosentasche. Sind alle
ter träumt von Ruhe und Gelassenheit. beiläufig ein, sind wir misstrauisch. können. »Kommunikation mit den geschädigten Region mitübernehmen. Ellen Langer mit Diabetes-2-Patienten Bohnen in der rechten Tasche wieder
Malt sich gedanklich aus, wie herrlich Weil wir schlechte Gewohnheiten lie- Organen« nennt er diese Methode, in An der Universität Tübingen haben zeigte, welchen Einfluss unbewuss- vereint, fühlt er sich gestärkt und gut
es wäre, entspannt und locker durch ber mit einer unerfüllten oralen Phase der er dazu anleitet, sich mit geschlos- Wissenschaftler untersucht, wie sich te Erwartungen auf den Verlauf von gelaunt. Er hat sich bewusst gemacht:
den Alltag zu gehen. Dann realisiert entschuldigen, statt einer simplen senen Augen in das Gefäßsystem des Fakire, Meister der Selbstbeherrschung, Krankheiten haben können. Langer »Das Gute überwiegt.« Und auch sei-
sie, dass es vor allem die eigene Ord- Strategie zu vertrauen, die erst unsere Körpers hineinzudenken und sich durch Gedankenkraft autohypnotisch manipulierte das Zeitgefühl ihrer zu- nen Sportlern bringt Schimpf als Ers-
nungssucht ist, die das Hindernis Gedanken, dann unser Handeln und vorzustellen, wie mit jedem Atem- in eine Art »Mikroschlaf« versetzen ckerkranken Probanden mithilfe prä- tes bei, sich für sich selbst zu begeistern.
darstellt. Und macht einen konkreten schließlich unser Selbstbild verändert. zug Energie durch jede Verästelung und gleichzeitig ihren Blutdruck nach parierter Uhren, auf denen die Zeiger Er hilft ihnen, Einstellungen, die über
Plan: Wenn der Aufräumzwang in mir Der Sportpsychologe Arno Schimpf hindurchströmt. Der Coach arbeitet oben regulieren, um unempfindlich langsamer liefen. Erstaunlicherweise viele Jahre – vielleicht noch von den
aufkommt, ignoriere ich bewusst die begleitet seit über dreißig Jahren auch mit »Ruhebildern«. Dafür bittet gegen Schmerzen zu werden. Auch reagierte die Biochemie des Körpers Eltern – geprägt wurden, zu ändern.
Unordnung. Vorausgesetzt, sie hat die Spitzensportler in der Wettkampfvor- er die Sportler, sich Erinnerungen an Schmerzpatienten lernen heute über auf die behauptete und nicht auf die Wertfrei an Dinge heranzugehen und
einzelnen Stufen konzentriert und in bereitung. Er coacht beispielsweise die eine angenehme Umgebung – eine sogenanntes Biofeedback, ihre Muskel- echte Zeit: Der Blutzuckerspiegel fiel, festgefahrene Gedankenmuster (mind
der vorgegebenen Reihenfolge mental deutsche Fußballnationalmannschaft Landschaft, ein Kaminzimmer, ein spannung oder ihren Blutdruck selbst wenn die Uhr den gewohnten Zeit- set) zu durchbrechen – etwa wenn man
durchgespielt, prägt diese Strategie der Damen und diverse Fechter, Gol- Himmelbett – mindestens eine Mi- zu verändern und den eingeübten punkt vorgaukelte, und nicht etwa, auf einen Gegner trifft, gegen den
nun ihr Handeln, ohne dass sie sich fer und Hockeyspieler. Die Kraft der nute lang vor Augen zu rufen. »Da ist Vorgang an ein bestimmtes, schnell wenn der gewohnte Zeitpunkt tatsäch- man bislang stets verloren hat. Auch in
dessen bewusst wird. Oettingen Gedanken, sagt der 62-Jährige, spiele man sofort in einem Zustand, in dem abrufbares Bild zu koppeln – etwa die lich erreicht war. solch scheinbar aussichtslosen Fällen
selbst »woopt« jeden Morgen: »Es eine zentrale Rolle bei seiner Arbeit: einen nichts mehr stört. Muss man Vorstellung, sich einen Eiswürfel an Kann man sich positiv program- motiviert Schimpf die Sportler, indem
hilft mir, integrativer zu handeln und »Muskeln reagieren sehr sensibel auf aber üben.« die Schläfe zu legen. mieren? Dies probiert der Sportcoach er sie innerlich Bilder erfolgreicher

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Leseempfehlung ZEITmagazin
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Achtsamkeit

Wettkampfsituationen aufrufen lässt – das er wiederum ein bisschen anders Jugend ab, daran hat sich seit Sigmund Gedanke eines Menschen löst eigene ein Jahr lang wurden der Mittzwan- das, was er darstellt, selbst glaubt«, sagt
zum Beispiel einen Läufer, der an allen interpretiert als Ellen Langer: »Wir Freud nichts geändert. Und nichts ist Handlungen (und Haltungen) aus, auf zigerin nach und nach all ihre letzten Renate Volbert, 58, die am Institut für
Konkurrenten vorbeizieht und ins Ziel Achtsamkeitslehrer legen großen Wert wirkmächtiger als das Selbstbild, mit die dann andere Menschen reagieren – Wünsche erfüllt – sie wollte das Leben Forensische Psychiatrie der Berliner
sprintet. Oder ganz allgemein das auf die Unterscheidung von Gedanken dem jemand durch die Welt läuft. und uns wiederum in dem bestätigen, in seiner ganzen Fülle noch einmal Charité unter anderem Glaubhaftig-
Bild eines kraftvollen Tieres. Oder die und Wirklichkeit. Wie ich mit einer Noch dazu, wenn er es – zweite Fehl- was wir zu sein glauben. Ein unsicherer durch den Reiz gefährlicher oder ver- keitsgutachten erstellt, etwa im Auf-
triumphierende Becker-Faust. Situation umgehe, kann ich mir aus- annahme – für seine wahre Natur hält. Jugendlicher provoziert Ablehnung bei botener Dinge erspüren. Gleitschirm- trag von Gerichten. Die eingebildete
Aber was ist zu tun, wenn der suchen. Das ist die Macht der Gedan- Hinderliche Selbstbilder versucht den Altersgenossen, weil sein Verhalten fliegen, Haschischrauchen – solche Kranke konnte ihr Leiden also deshalb
Wunsch nach Veränderung diffus ist ken.« Kopp-Wichmann im Coaching zu ver- von der Selbsteinschätzung geprägt ist: Sachen. Die Frau schilderte ihr Leid so überzeugend präsentieren, weil sie
und das Ziel nicht so simpel wie Sieg Die Wirklichkeit ist – nach Kopp- ändern. Das funktioniert nicht in zwei, »Mich mag eh keiner.« Und wer sich und die Diagnose so überzeugend, wie sich selbst getäuscht hatte – bis hin zu
in einem Wettkampf? Wichmann – das, was ich sehen will. drei Sitzungen, aber es kann der Be- im Job nichts zutraut und sich wie ein es nur Menschen fertigbringen, die sichtbarer körperlicher Veränderung.
Der Führungskräftetrainer Roland Welche Bedeutung wir Ereignissen ge- ginn einer langsamen Umorientierung Praktikant aufführt, bekommt auto- echte Empfindungen am Lebensende Selbstbild und Lüge waren hier iden-
Kopp-Wichmann veranstaltet in einer ben, hängt von unseren Erfahrungen sein. »Jemand, der immer der Herde matisch die Hilfsarbeit zugewiesen. formulieren. Anrührend sprach sie tisch. So gesehen hat die junge Frau
alten Villa oberhalb des Neckars in ab, daraus entsteht eine »innere Land- gefolgt ist, stellt sich nicht plötzlich an Und selbst wer seine Gedanken verber- über Sehnsüchte und Ängste. Man Ellen Langers berühmte Studie mit
Heidelberg Seminare für Menschen, karte«. Wer mit dieser Karte vertraut die Spitze der Bewegung. Aber wenn gen möchte, drückt sie unwillkürlich hing gläubig an ihren Lippen, Beden- den alten Herren förmlich umgekehrt:
die unzufrieden mit sich sind, aber ist, kann laut Kopp-Wichmann nicht er sich die Gründe klarmacht, warum aus: Die meisten Ladendiebe werden ken gingen allenfalls in die Richtung, Die Greise identifizierten sich mit ihrer
nicht genau wissen, warum. Kopp- nur einzelne Verhaltensweisen verän- er immer in der dritten Reihe steht, von guten Detektiven laut einem die Leidende könnte sich in ihrem Lebensweise aus früheren Zeiten und
Wichmann bringt sie dazu, sich zu dern, sondern sein gesamtes Selbstbild. kommt etwas in Bewegung, und neue Ausbilder bereits beim Betreten des fragilen Zustand überanstrengen. Bis wurden dadurch munter. Die junge
verändern – was das angeht, ist er In den Seminaren ruft er den Teilneh- Handlungsspielräume öffnen sich.« Geschäfts erkannt – an ihrer Körper- sich herausstellte: Die ganze Geschich- Frau versetzte sich gedanklich intensiv
selbst ein gutes Beispiel. Angefangen mern zum Beispiel einen Satz zu und Am Ende des Prozesses steht im besten sprache. Auch pathologische Lügner te war eine Lüge, die junge Frau kann ans Lebensende und verkörperte da-
hat der 67-Jährige als Bankkaufmann, lässt sich ihre spontanen Reaktionen Fall, ohne dass der Klient es so richtig sind ein Beispiel für die Wirkmächtig- hundert Jahre alt werden. Und die sich durch Siechtum. »Anfangs war es
später arbeitete er als Werbetexter und schildern. »Dein Leben gehört dir!« – gemerkt hat, ein – mehr oder weniger – keit des Selbstbildes. In Berlin sorgte täuschen ließen, fragen sich nun: Wie wohl Spiel, später Identität«, vermutet
Versicherungsvertreter, holte dann das mit dieser Phrase fördert der Coach zum Guten verändertes Leben. kürzlich eine junge Frau für Aufsehen, konnte das passieren? Wie gelang der Volbert. Mit anderen Worten: Gute
Abitur nach und wartete in einem Kib- Erstaunliches über das Selbstbild Auch im Alltag, ganz ohne wissen- die sich mit der Bitte um Sterbebeglei- eingebildeten Kranken diese perfekte Lügner machen sich auf pathologische
buz in Israel auf einen Studienplatz für seiner Klienten zutage: Ob sie ängst- schaftliche Studien, ist die Wirkmäch- tung an ein Hospiz gewandt hatte. Sie Täuschung über derart lange Zeit? Weise eine Kraft zunutze, die jeder
Psychologie. Über den Buddhismus lich oder optimistisch auf den Satz tigkeit des eigenen Selbstbildes für sei unheilbar krebskrank, hatte die »Am überzeugendsten täuscht, wer von uns hat. Sie erzählen sich so lange
kam er vor langer Zeit mit dem Kon- reagieren, ratlos oder tatkräftig, hängt jedes Ich erkennbar: nämlich daran, Frau beteuert, daher stellte man ihr ein sich möglichst intensiv in die Rolle hi- selbst eine Geschichte, bis sie daran
zept der Achtsamkeit in Berührung, von ihren Prägungen aus Kindheit und wie die Umwelt auf mich reagiert. Jeder Begleiterteam ambulant zur Seite. Fast neinversetzt, die er zu spielen hat. Bis er glauben – und alle anderen auch.

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Fuß noten

1 F. Malik: Interview in: WertePraxis Nr. II/2013. S. 13–16


2 www.gallup.de
3 Epiktet: Handbüchlein der Moral. Diogenes, 2000
4 Crum & Langer: Mind-set matters: Exercise and the placebo effect. Psychological
Science Vol. 18, No. 2, S. 165–171, (2007). Siehe auch: I. Piepgras: Du bist, was du
denkst. Wie unsere Gedanken unser Leben verändern können. ZEITmagazin
Nr. 22/2016. (Auch als Abdruck S. 81)
5 C. Blakemore/G. Cooper: Development of the Brain depends on the visual environ-
ment. Nature, Vol. 228, S. 477 (1970)
6 U. Schnabel: Knetmasse der Kultur, DIE ZEIT Nr. 07/2005
7 G. Roth, H. Welzer: Die Seele gehört nicht mir. DIE ZEIT Nr. 09/2006
8 K. Zeug: Mach es anders. ZEIT Wissen Nr. 02/2013
9 U. Schnabel: Was kostet ein Lächeln? Blessing Verlag, 2015
10 F. Strack et. al: Inhibiting and Facilitating Conditions of the Human Smile, Journal of
Personalitand Social Psychology, Vol. 54 (5), 1988, S. 768–777
11 H. Albrecht: Haltung bewahren. DIE ZEIT, Nr. 45/2014
12 D. Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken. Siedler Verlag, 2012
13 U. Schnabel: Die Kraft aus der Krise. DIE ZEIT, Nr. 45/2015
14  J. M. Darley, C. D. Batson: From Jerusalem to Jericho. Journal of Personality and
Social Psychology, 1973, Vol. 27, Nor. 1, S. 100–108
15 U. Willmann: Schöner Stress. DIE ZEIT, Nr. 18/2016
16 Siehe z. B. The Elements of Life Mapped Across the Milky Way, SDSS/APOGEE,
Jan. 2017, http://www.sdss.org/press-releases/the-elements-of-life-mapped-across-
the-milky-way-by-sdssapogee
17 M. Ruiz: Die vier Versprechen. Heyne Verlag, 2012
18 T. Schnell: Psychologie des Lebenssinns, Springer-Verlag, 2016
19 J. Retzbach: Sinn schlägt Glück. Gehirn & Geist, Nr. 08/2017

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Le b e n s l a u f

Jens Corssen

1942 Geboren in Berlin


1963 Studium der Psychologie an der Universität München
1969 Abschluss als Diplompsychologe
1971 Eröffnung der ersten Praxis für kognitive Verhaltenstherapie
in Deutschland, private Persönlichkeitsberatung
seit 1982 Kolumnist
1985–1996 Radio- und Fernsehsendungen für psychologische Lebenshilfe
seit 1990 Dozent für das Daimler-Schulungszentrum sowie verschiedene Akademien
seit 1995 Persönlichkeitstrainer und Coach für Führungskräfte aus den Bereichen
Wirtschaft (Dax- und mittelständische Unternehmen), Medien und
Spitzensport

Bücher:
J. Corssen, S. Gröner, S. Ehrenschwendner: Der Team-Entwickler.
Gemeinsam gewinnen lernen. München, 2017
Das Corssen-Prinzip. Die vier Werkzeuge für ein freudvolles Leben.
München, 2016
Der Selbst-Entwickler. Das Corssen Seminar. Wiesbaden, 2004
Als Selbst-Entwickler zu privatem und beruflichem Erfolg. 4 CDs, 2006
Als Selbst-Entwickler zu Gelassenheit und gehobener Gestimmtheit durch
Erkenntnis und Erleben. 4 CDs, 2015

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Le b e n s l a u f

Ulrich Schnabel

1982–1990 Studium der Physik und Publizistik in Karlsruhe und Berlin


1986 Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung für Wissenschaftsjournalismus
1990 ASA-Stipendium der Carl Duisberg Gesellschaft für Recherche- und
Studienreise in Indien (1991)
1990–1993 Freier Journalist
seit 1993 Redakteur im Ressort Wissen der ZEIT in Hamburg
1996 Stipendium der United States Information Agency für eine vierwöchige
Studienreise durch die USA zum Thema Hirnforschung
2002–2005 Stellvertretender Ressortleiter Wissen
seit 2005 ZEIT-Redakteur, Autor und Moderator

Auszeichnungen:
Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus (2006)
Theophrastus-Paracelsus-Preis für ganzheitliche Medizin (2009)
Werner und Inge Grüter-Preis für Wissenschaftsvermittlung (2010)

Bücher:
Wie kommt die Welt in den Kopf? Reise durch die Werkstätten,
der Bewusstseinsforscher (mit A. Sentker). Rowohlt, 1997
Die Vermessung des Glaubens. Forscher ergründen, wie der Glaube
entsteht und warum er Berge versetzt. Blessing, 2008
Muße. Vom Glück des Nichtstuns. Blessing, 2010
Was kostet ein Lächeln? Von der Macht der Emotionen in unserer
Gesellschaft. Blessing, 2015

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Q u e ll e n

Textnachweise

Ilka Piepgras, Du bist, was du denkst, ZEITmagazin Nr. 22, 2. Juni 2016, S. 16–23

Bei dem ZEITmagazin-Artikel wurden Orthografie und Schreibweisen des Originals beibehalten.

Bildnachweise

Lektion  1: Lambert/Keystone/Getty Images; Lektion  3: Imagno/Getty Images Lektion  4: Imagno/


Getty Images Lektion 7: Imagno/Getty Images; Bourgeron Collection/RDA/Hulton Archive/Getty Images
Fotografien: Martin Schoberer, Felix Amsel Grafiken: Michael Kalkowski, Madlen Domann, Ingrid Wernitz

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Sie möchten den Herausforderungen des Lebens und der stetigen Veränderung
gelassener begegnen? Und mit einer neuen Sichtweise zu mehr Freude im Beruf
gelangen? Diplom-Psychologe Jens Corssen, der als profilierter Berater hochrangige
Spitzensportler und Manager im Bereich Persönlichkeitsentwicklung coacht, wird
Ihnen in sieben Lektionen seine Philosophie des Selbst-Entwicklers vorstellen. Sie
lernen, wie Sie gewohnte Denk- und Verhaltensweisen durchbrechen und warum
die bloße Zielerreichung nicht zufrieden macht. Jens Corssens Intervention ist
einzigartig, da seine sportlich-pragmatischen Methoden Ihnen helfen, Ihr Ver-
PERSÖNLICHKEIT halten nachhaltig zu verändern. In Erfahrungsberichten aus seiner langjährigen
IHR WEG ZU BERUFLICHEM verhaltenstherapeutischen Praxis zeigt er anschaulich, wie sich die vermeintlichen
UND PRIVATEM ERFOLG
Krisen des Lebens durch die Veränderung der eigenen Haltung mit einem Lächeln
meistern lassen.

Inhalt Business-Seminar
7 Lektionen: Online • DVD • Buch

Ihr Dozent: Diplom-Psychologe Jens Lektion 1: Erfolg durch Veränderung


Corssen eröffnete 1971 die erste Praxis Warum neue Herausforderungen ein neues Denken benötigen
für Verhaltenstherapie in Deutschland.
Lektion 2: Veränderung beginnt im Kopf
Der Selbst-Entwickler und seine vier Werkzeuge
1 Lektion 3: Wie man Gewohnheiten durchbricht
Hilfreiche Strategien auf dem Weg der inneren Veränderung
Lektion 4: Haltung und Gelassenheit
Wie man eine grundlegend positive Haltung entwickelt

Emotionalisierendes Erleben: Lektion 5: Vom Wert der »gehobenen Gestimmtheit«


Erkenntnisse und Übungen aus Warum die richtige Stimmung zu Zufriedenheit und Erfolg führt
der Praxis vertiefen das Gelernte.
Lektion 6: Beziehungen und Respekt
2 Warum es sinnvoll ist, sich mit »strahlenden Sternen«
zu umgeben
Lektion 7: Sinn und Zufriedenheit
Wie Sie zum Sieger Ihres »inneren Spieles« werden

Experten im Gespräch: Jede Lektion


wird abgerundet durch ein Interview Laufzeit: 190 Minuten · Ländercode: 2 · Sprache: Deutsch · Audio: Dolby Digital 2.0 · Bildformat: 16 : 9
mit ZEIT-Redakteur Ulrich Schnabel. © ZEIT Akademie GmbH, Hamburg

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