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12.

20
12.20

Neue
Präzisions-
medizin
Heilen mit
Antisense-
Therapien
Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN
8,90 € (D/A/L) · 14,– sFr. D6179E

GEOLOGIE Riesenvulkan am Meeresgrund


WETTERVORHERSAGE Auf dem Weg zur 28-Tage-Prognose
BRONZEZEIT Das Reich der iberischen Silberfürsten
Neues aus unserem Shop!

DER NEUE BILDKALENDER


HIMMEL UND ERDE 2021
Sterne und Weltraum präsentiert im Bildkalender
»Himmel und Erde« 13 herausragende Motive aus
der astronomischen Forschung. Sie stammen aus
verschiedenen Bereichen des elektromagnetischen
Spektrums wie dem sichtbaren Licht oder dem
Infrarotlicht. Die Aufnahmen zeigen die Asche-
fontäne eines Vulkanausbruchs, den Asteroiden
Motive
vorab Online Bennu, den Superstern Eta Carinae, den jungen
anschauen! Stern PDS 70, den Riesenplaneten Jupiter und
sp ek tru m.de / weitere Himmelsregionen und -objekte.
ak tio n/ hu e
Zusätzlich bietet der Kalender wichtige Hinweise
auf die besonderen Himmelsereignisse 2021 und
erläutert ausführlich auf einer Extraseite alle auf
den Monatsblättern abgebildeten Objekte.

14 Seiten; 13 farbige Großfotos; Spiralbindung;


Format: 55 x 46 cm; € 29,95 zzgl. Porto;
als Standing Order € 27,– inkl. Inlandsversand

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Sonderhefte
auch im
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Heißgetränk: Vermag grüner Tee zu Mississippi-Blase: Der erste große Was ist real?: Am Übergang von
heilen? • Bewegungsmangel: Lieber Crash • Picener: Kunststück einer Wissenschaft und Philosophie •
hocken statt sitzen • Sporternäh- globalen Welt • »Moby Dick«: Die Naturgesetze: Universelle Regeln? •
rung: Essen für Sieger • Infografik: letzte Fahrt der Essex • Unterwasser- Neo-Geozentrismus: Was steht im
Besser schlafen! • Im Medizin- archäologie: Schätze am Grund Mittelpunkt? • Kognition: Was ist
schrank: Ibuprofen • Vaping: Sind unserer Meere • Witwenverbrennung: Bewusstsein? • € 5,90
E-Zigaretten so schädlich wie ihr Das Ende von Sati • € 5,90
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EDITORIAL IN DIESER AUSGABE

DIE ANDERE GEN-


THERAPIE
Hartwig Hanser, Redaktionsleiter
hanser@spektrum.de

ETHAN HILL / SCIENTIFIC


AMERICAN MÄRZ 2020
 Zerstörerische Krankheiten bereits im Ansatz unterbinden, noch bevor sie
spürbar werden – das ist der Traum eines jeden Medizinforschers. Doch leider
stellt man häufig erst spät anhand sich immer weiter verschlimmernder Symp­
tome fest, dass eine solche Störung vorliegt, was eine erfolgreiche Behandlung
stark erschwert. SONIA MINIKEL VALLABH
Im Fall von vererbten Erkrankungen kann man zumindest prinzipiell die Patien­ ERIC VALLABH MINIKEL
ten frühzeitig per Gentest identifizieren. Aber nur zu oft gibt es gerade hier keine erforschen an der Harvard Uni­
wirkliche Hilfe. Zwar mehren sich erste Erfolge von Gentherapien (siehe unser versity und am MIT mögliche
Titelthema in der Juliausgabe 2019), doch diese lassen sich bislang nur bei weni­ Behandlungen von Prionenkrank­
gen Defekten einsetzen. heiten (S. 20).
Neben den direkten Veränderungen des Erbguts existiert allerdings noch ein
weiterer Weg, den Effekt krank machender Gene auszuschalten: indem man
beeinflusst, inwieweit die ihnen innewohnende Bauanleitung in Proteine umge­
setzt wird. Ein viel versprechender Ansatz dazu ist die Antisense-Therapie. Wie
bei den Gentherapien arbeiten Forscher schon seit Jahrzehnten unter vielen
Rückschlägen an dieser Methode, können nun aber eine Reihe von Erfolgen
aufzeigen (S. 12). Einige darauf basierende Behandlungen sind inzwischen zuge­
lassen und können den jeweiligen Krankheitsverlauf tatsächlich oft zum Stillstand
bringen, wenn auch nicht die bereits vorliegenden Schäden reparieren. Daher
sollten sie am besten prophylaktisch eingesetzt werden, noch bevor sich erste KATHY PEGION
Symptome zeigen – im Idealfall gleich nach der Geburt. Wettermodelle, die bis zu einen
Auch gegen die bisher unheilbaren Prionenkrankheiten, bei denen bestimmte Monat in die Zukunft schauen
fehlgefaltete Proteine im Lauf der Zeit das Gehirn zerstören, wären Antisense- sollen? Die US-Geowissenschaft­
Therapien denkbar. Ab S. 20 stellen wir den ungewöhnlichen Fall einer jungen lerin arbeitet daran. Von ersten
Frau vor, die erfährt, dass sie einen entsprechenden Gendefekt trägt und daher Erfolgen und den Grenzen des
davon ausgehen muss, irgendwann zu erkranken. Sie und ihr Ehemann hängen Projekts berichtet sie ab S. 38.
von einem Tag auf den nächsten ihre bisherigen Berufe an den Nagel und
schwenken auf die Biomedizin um: Von nun an ist ihr einziges Streben, eine
Therapie für die Krankheit zu finden, die wie ein Damoklesschwert über ihrem
Haupt schwebt. Der von dem Forscherpaar selbst verfasste Artikel beschreibt
eindrücklich ihre Suche nach einem präventiv wirkenden Arzneimittel. Der aktuell
beste Kandidat: eine Antisense-Therapie. Ich kann nur die Daumen drücken, dass
die beiden den Wettlauf gegen die Zeit gewinnen!

Herzlich Ihr
WILLIAM W. SAGER
Der Geophysiker von der Univer­
sity of Houston warf bisherige
Vorstellungen über die Entste­
hung riesiger Unterseevulkane
über den Haufen (ab S. 50).

NEU AM KIOSK!
Unser Spektrum SPEZIAL Biologie – Medizin –
Hirnforschung 4.20 gibt einen Überblick über die
großen ethischen Fragen der aktuellen Biomedizin.

Spektrum der Wissenschaft  12.20 3


INHALT
3 EDITORIAL 12 MEDIZIN HEILSAME MOLEKÜLSCHNIPSEL
Lange fristeten Antisense-Therapien ein Schattendasein, doch jetzt
6 SPEKTROGRAMM erzielen sie große medizinische Erfolge. Allerdings haben sie ihren Preis.
Von Lydia Denworth
26 FORSCHUNG AKTUELL
Nobelpreis für Physik 20 ANTISENSE-THERAPIE WETTLAUF GEGEN DIE PRIONEN
Am Ende der Zeit
Gefährdete Personen bereits behandeln, solange sie noch gesund sind:
Nobelpreis für Chemie Mit dieser Strategie möchten Wissenschaftler eine tödliche Hirnerkrankung
Zwischen Patentstreit und verhindern.
Ethikdebatte Von Sonia Minikel Vallabh und Eric Vallabh Minikel

Nobelpreis für Physiologie


oder Medizin
Spurensuche im Blut
38 METEOROLOGIE DIE 28-TAGE-WETTERVORHERSAGE
Nobelpreis für Wirt- Sogar einen Monat im Voraus sind viele atmosphärische Vorgänge
schaftswissenschaften inzwischen immer besser berechenbar.
3, 2, 1 – meins Von Kathy Pegion

37 SPRINGERS EINWÜRFE 44 CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN QUÄLGEIST IM MAGEN


Unterwegs in eine Welt Das Bakterium Helicobacter pylori nutzt einige besondere
ohne Hunger chemische Tricks, um im sauren Magensaft zu überleben.
Der Friedensnobelpreis Diese lassen sich in der Petrischale eindrucksvoll nachstellen.
erinnert an einen globalen Von Matthias Ducci und Marco Oetken
Skandal.

50 GEOLOGIE RIESENVULKAN AM MEERESGRUND


57 FREISTETTERS FORMELWELT
Nach jüngsten Erkenntnissen zur Entstehung des gewaltigen submarinen
Das Jonglier-Theorem Tamu-Vulkanmassivs im Pazifik muss die Geschichte des Meeresbodens
Warum es so schwer ist, fünf teilweise neu geschrieben werden.
Bälle in der Luft zu halten. Von William W. Sager

70 SCHLICHTING! 58 PHYSIK GRENZFALL FÜR SCHWARZE LÖCHER


Wenn Wasser zum
Was geschieht, wenn die Schwerkraftmonster schrumpfen sollten, ihre
Schmiermittel wird
Ladung es aber verhindert? Theoretiker haben das näher untersucht – und
Feinste Eispartikel machen eine weit reichende Verbindung gefunden.
Wasser zähflüssig. Von Natalie Wolchover

84 ZEITREISE
64 DUNKLE MATERIE EIN RÄTSELHAFTES SIGNAL
Lange machte eine besonders gründlich arbeitende Forschergruppe ande­-
86 REZENSIONEN
ren Dunkle-Materie-Jägern das Leben schwer. Nun ist sie selbst auf
eine sonderbare Fährte gestoßen, die weltweit für Diskussionen sorgt.
93 IMPRESSUM Von Robert Gast

94 LESERBRIEFE
72 GEOMETRIE RECHTECKE IM KREIS
96 FUTUR III – KURZGESCHICHTE Kann man in jeder geschlossenen Kurve vier Punkte markieren, damit ein
Rechteck mit beliebigen Proportionen entsteht?
Von Kevin Hartnett
98 VORSCHAU

78 IBERISCHE BRONZEZEIT TROJANER IM WESTEN?


Vor 4000 Jahren blühten die Städte von El Argar. Brachten Einwanderer aus
dem Osten die Kultur auf die Iberische Halbinsel?
Von Dirk Husemann
TITELBILD:
ANDY / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG:
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

4 Spektrum der Wissenschaft  12.20


ANDY / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
12
TITELTHEMA
ANTISENSE-THERAPIEN
PETESPHOTOGRAPHY / GETTY IMAGES / ISTOCK

38
METEOROLOGIE
DIE 28-TAGE-
WETTER-
VORHERSAGE

58
PHYSIK
SOLARSEVEN / GETTY IMAGES / ISTOCK

GRENZFALL
FÜR SCHWARZE
LÖCHER
ASOME, UAB
SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE

78
IBERISCHE BRONZEZEIT
TROJANER IM WESTEN?

Alle Artikel auch digital


auf Spektrum.de
64 Auf Spektrum.de berichten
unsere Redakteure täglich
DUNKLE MATERIE aus der Wissenschaft: fundiert,
EIN RÄTSELHAFTES SIGNAL aktuell, exklusiv.

Spektrum der Wissenschaft  12.20 5


SPEKTROGRAMM

RMIT UNIVERSITY

6 Spektrum der Wissenschaft  12.20


SMARTES PFLASTER AUS SEIDE

 Australische Forscher um Asma Khalid von der RMIT


University in Melbourne haben ein smartes Pflaster
entwickelt, das aus einer hautverträglichen Membran aus
Seidenpolymeren besteht. Das Material soll zum einen bei
der Wundheilung helfen, da es resistent gegen bestimmte
Bakterienarten ist. Zudem lässt sich mit dem Pflaster aber
auch eine Erwärmung des Gewebes erkennen, die auf
eine aufkeimende Entzündung hinweist.
Möglich machen Letzteres winzige Nanodiamanten, die
in die Membran eingearbeitet sind und fluoreszieren,
wenn sich die Temperatur der Haut um einige Grad verän-
dert. Dieses Signal lässt sich auslesen, ohne dabei das
Pflaster zu entfernen, so das Team um Khalid. Die gezeig-
te Rasterelektronenmikroskop-Aufnahme stammt aus den
Laborversuchen: Die Forscher ließen dabei in einer Petri-
RMIT UNIVERSITY

schale menschliche Hautzellen (braun) auf der Seiden-


membran (blaugrün) wachsen.
ACS Applied Materials & Interfaces 10.1021/acsami.0c15612,
2020

Spektrum der Wissenschaft  12.20 7


SPEKTROGRAMM
ASTRONOMIE
GALAXIEN IM KOSMISCHEN NETZ

 Astronomen haben eine bisher


einzigartige Beobachtung im frühen
Universum gemacht: ein »kosmisches
aufnehmen konnten. Die Singularität
im Zentrum des Netzes hat sich bei-
spielsweise während ihrer kurzen
Umgebung ein. So entstanden auch
die »Filamente«, die fadenartigen
Strukturen des Netzes, an deren
Spinnennetz« aus Gas, das ungefähr Existenz die Masse von gut einer Kreuzungspunkten die Galaxien sitzen.
300-mal so groß ist wie die Milchstra- Milliarde Sonnen einverleibt. Neben den sechs Sternansammlun-
ße. In seinem Zentrum sitzt die »Spin- Wie das sein kann, untersuchten gen, die das Team bereits identifiziert
ne« – ein Schwarzes Loch. Es beein- die Wissenschaftler um Marco Mignoli hat, gibt es vermutlich noch weitere.
flusst mit seiner Masse die gesamte vom Nationalen Institut für Astrophy- Sie senden jedoch nicht genug Licht
Struktur, darunter auch sechs Galaxi- sik (INAF) in Bologna unter anderem aus, damit man sie auf den bisher
en, die sich an den Fäden des Netzes mit Aufnahmen des Very Large Tele- gemachten Bildern erkennen könnte.
befinden. scope der Europäischen Südsternwar- Insgesamt befinde sich in der Struktur
Das Bild stammt aus einer Zeit, als te (ESO) in Chile. Die ursprüngliche aber so viel Gas, dass sich damit
der Kosmos gerade einmal 900 Millio- strukturbildende Triebkraft war dem- sowohl das rasche Wachstum des
nen Jahre alt war. Es könnte erklären, nach gar nicht das Schwarze Loch, Schwarzen Lochs erklären lässt als
wie supermassereiche Schwarze sondern eine große Menge Dunkler auch das von zahlreichen Galaxien im
Löcher, die sich im Zentrum vieler Materie. Sie durchsetzt die sichtbaren Umfeld.
Galaxien verbergen, sehr schnell nach Strukturen und sammelte mit ihrer Astronomy & Astrophysics 10.1051/0004-
dem Urknall ungeheuer viel Masse Schwerkraft immer mehr Gas aus der 6361/202039045, 2020

Diese Illustration zeigt eine Szene aus dem jungen


Universum: Ein gewaltiges Schwarzes Loch und
sein leuchtendes Umfeld (heller Punkt in der ­Bildmitte)
saugen immer mehr Gas (blau) aus dem Umfeld
an. Mehrere Galaxien (kleine helle Punkte) haben es
sich in sicherem Abstand gemütlich gemacht.

ESO/L. CALÇADA (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO2016A/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

8 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

MATERIALWISSENSCHAFT
EIN FLUMMI AUS HOLZ

 Ein Forscherteam hat aus Holz ein


Material hergestellt, das zwar noch
aussieht wie das Naturmaterial, aller-
dings elastisch ist wie Gummi. Ein
kleiner Block aus dem Stoff hüpft wie
ein Flummi, wenn er auf den Boden
geworfen wird, berichtet das Team um
Liangbing Hu von der University of LIANGBING HU‘S RESEARCH GROUP, UNIVERSITY OF MARYLAND

Maryland.
Der Trick dahinter ist ein chemi-
sches Verfahren, das die stabilen
Zellwände zum Teil auflöst. Auf diese
Weise entsteht ein elastisches Gel, das
die Poren im Holz ausfüllt. Die dünnen
Reste der Zellwände sind nun weich,
gleichzeitig jedoch noch stabil genug,
um das elastische Gel zu stützen und Mit einem speziellen chemischen Verfahren lässt sich Holz in
in Form zu halten. Dadurch bekommt einen extrem elastischen Stoff verwandeln.
das Holz eine gummiartige Konsistenz.
Das Verfahren, das Holz in das
elastische Kompositmaterial umwan- weise auf, aus der die Zellwände des Außerdem macht das Wasser
delt, ist simpel, aber rabiat. Wie Hu Holzes bestehen. das elastische Material elektrisch
und sein Team berichten, kochten sie Die Zellulosefasern zerfallen außer- leitfähig, wenn man ein Salz hinzu-
das von Natur aus leichte und weiche dem in ihre Bestandteile: dünne, als fügt. Das Holz-Gummi ist zudem
Balsaholz mehrere Stunden lang in Fibrillen bezeichnete Stränge, die ein recht widerstandsfähig. Auch nach
einer Lösung aus Natriumhydroxid und dreidimensionales Netzwerk bilden. 10 000 Zyklen aus Zusammen­
Natriumsulfit, froren es ein und ent­ Zusammen mit anschließend zugefüg- drücken und Entspannen zeigten
zogen dem Material durch Gefrier- tem Wasser bilden diese das elasti- sich keine Anzeichen von Material­
trocknung die Flüssigkeit. Bei der sche Gel; in ihm ist das Wasser fest ermüdung.
Prozedur löst sich die harte Struktur gebunden, so dass es beim Zusam- ACS Nano 10.1021/acsnano.0c04298,
aus Zellulosefasern und Lignin teil­ mendrücken nicht herausquillt. 2020

ARCHÄOLOGIE
BLUTRÜNSTIGE REITERNOMADEN

 Die Steppen des östlichen Eurasi-


ens waren viele Jahrhunderte lang
die Heimat von kriegerischen Noma-
dem 2. bis 4. Jahrhundert n. Chr.
konnten die Wissenschaftler rekon­
struieren, wie viele der 87 dort
mehrheitlich Männer, aber auch
einige Frauen und Kinder starben
einen gewaltsamen Tod. Den
denvölkern. Schon in der Eisenzeit ­be­erdigten Menschen eines gewalt­ ­Forschern zufolge könnten politische
zogen hier die Skythen durchs Land, samen Todes starben. Das Ergebnis Unruhen nach dem Zerfall des
im 13. Jahrhundert waren es dann aus Tunnug in Südsibirien deutet auf Steppenreichs der Xiongnu damals
Dschingis Khans mongolische Reiter- kriegerische Konflikte hin: Etwa ein zu intensiven Konflikten geführt
horden. Über die Epochen dazwischen Viertel der Skelette zeigen Spuren haben. Unabhängig davon gilt
ist weniger bekannt, so dass Archäolo- tödlicher Gewalt. Kriegsführung als ein wichtiger
gen nur rätseln können, wie friedlich So haben manche Skelette zer­ Bestandteil vieler Nomadenkulturen
oder kriegerisch die Steppenvölker hackte Schädel und Wirbelsäulen, bei im Osten Eurasiens – die Zeit
damals lebten. anderen hat jemand den Schädel des 2. bis 4. Jahrhunderts bildet
Gino Caspari von der Universität skalpiert oder den Hals durchgeschnit- hier offensichtlich keine Aus-
Bern und seine Kollegen meinen nun ten. Generell wurden viele der Opfer nahme.
eine dieser Lücken schließen zu kön- geköpft, ­berichtet das internationale American Journal of Physical Anthro-
nen: Anhand eines Gräberfelds aus Forscherteam. Betroffen davon waren pology 10.1002/ajpa.24142, 2020

Spektrum der Wissenschaft  12.20 9


SPEKTROGRAMM
GENETIK
MILCH-TOLERANZ VERBREITETE SICH ENORM SCHNELL

 Milch zu trinken, muss Menschen


einst einen großen Vorteil ver-
schafft haben. Das schließt eine
knapp 4000 Jahre alten Fundstätte in
Serbien. Dabei tauchte die genetische
Variante, die Laktasepersistenz vermit-
Zwei Befunde der Gruppe sprechen
jedoch gegen die Vermutung. Zum
einen haben die Toten von der Tollense
Forschergruppe um Joachim Burger telt, lediglich bei zwei Tollense-Indivi- eine große genetische Ähnlichkeit zur
von der Johannes Gutenberg-Universi- duen und bei einem aus Serbien auf. heutigen Bevölkerung der Region. Zum
tät in Mainz aus der hohen Geschwin- Im Kontrast dazu tragen heute mehr anderen fand das Team um Burger bei
digkeit, mit der sich die dafür nötige als 90 Prozent der Mitteleuropäer die den Personen aus der Steppe die
Erbanlage verbreitet hat. Binnen Variante; bereits im Mittelalter waren Genvariante für Laktasepersistenz
weniger tausend Jahre setzten sich in es zwischen 60 und 70 Prozent. nicht ein einziges Mal. Daraus schließt
Mitteleuropa Genomvarianten durch, Um eine andere Erklärung für den das Team, dass sich das Merkmal in
dank derer nicht nur Kinder, sondern Unterschied auszuschließen, unter- lediglich 3000 Jahren durchgesetzt
auch Erwachsene Milch verdauen suchten die Forscher zusätzlich 37 hat. Hierfür müssen in jeder Genera­
können. Offenbar ist die Laktaseper- menschliche Überreste aus Zentralasi- tion auf je 100 Kinder ohne die Variante
sistenz genannte Eigenschaft bei der en, die mit 4000 bis 6000 Jahren älter zirka 106 mit der Veränderung gekom-
Vererbung stark begünstigt worden. als die anderen Funde sind. Viele men sein – ein extrem hoher Wert.
Das Team analysierte die Überreste Fachleute vermuten, dass die Laktase- Unklar ist, warum die Laktasepersis-
von 14 Kriegerinnen und Kriegern, die persistenz sich nicht in Europa entwi- tenz damals plötzlich solch ein Vorteil
vor 3200 Jahren in einer Schlacht am ckelt hat, sondern von eingewander- war, in den von Viehzucht dominierten
Fluss Tollense im heutigen Mecklen- ten Völkern aus der Region zwischen Jahrtausenden davor aber nicht.
burg-Vorpommern gefallen waren, dem Schwarzen Meer und dem Kaspi- Current Biology 10.1016/j.cub.
sowie von 18 Personen aus einer schen Meer mitgebracht wurde. 2020.08.033, 2020

UMWELT
KORALLENSCHWUND AM GREAT BARRIER REEF

 Zwischen 1995 und 2017 hat das


australische Great Barrier Reef
einen guten Teil seiner Korallen verlo-
Das Great Barrier Reef habe dadurch
bereits einen Teil seiner Regenera­
tionsfähigkeit eingebüßt. Denn anders
diese Ereignisse zu schnell wiederho-
len, wie es 2016 und 2017 der Fall war.
Daneben nehmen die Meere immer
ren, berichten Wissenschaftler um als im Roten Meer oder in Kenia werde mehr CO₂ auf, wodurch das Wasser
Andreas Dietzel vom ARC Centre of der Schwund großer Kolonien nicht versauert. Die Korallen können in der
Excellence for Coral Reef Studies in durch eine wachsende Zahl kleinerer Folge ihr Kalkskelett schlechter auf-
Townsville, Australien. Die Schäden Gemeinschaften ausgeglichen. bauen. Auch lokale Probleme machen
betreffen demnach ein breites Spekt- Anscheinend ist das Great Barrier dem Great Barrier Reef zu schaffen,
rum an Arten, über alle Größenklassen Reef trotz seiner Größe wohl sehr etwa Schäden durch die Schifffahrt
hinweg, sowohl in flachem als auch in anfällig für Umweltveränderungen. Bei oder eine Überdüngung des Wassers,
tiefem Wasser. Hitzewellen stoßen Korallen etwa ihre bei der zu viele Nährstoffe ins Meer
Die von Korallen bedeckte Fläche lebenswichtigen Algensymbionten ab; gelangen.
ging dabei um durchschnittlich 25 sie bleichen aus. Dadurch schwindet Proceedings of the Royal Society B
Prozent zurück. Insgesamt verschwan- ihre Vitalität – vor allem, wenn sich 10.1098/rspb.2020.1432, 2020
den rund zwei Drittel der kleineren
Gemeinschaften und etwa die Hälfte
ANDREAS DIETZEL / ARC CENTRE OF EXCELLENCE FOR CORAL REEF STUDIES

der großen Kolonien. Auslöser waren Das Great Barrier Reef ist eine einzigartige Unterwasserlandschaft, die
den Forschern zufolge mehrere Zyklo- sich auf einer Länge von 2300 Kilometern vor Australiens Küste erstreckt.
ne, Korallenbleichen und eine zeit­
weise Vermehrung von Seesternen,
die sich von Korallen ernähren.
Ein gesundes Riff enthält viele
große Korallen, die etliche Larven
produzieren. Der Rückgang ausge-
wachsener Kolonien bereitet den
Forschern daher erhebliche Sorge:

10 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

BIOLOGIE
SPEISEPLAN DER »VAMPIRHÖRNCHEN«

 Der Legende nach soll das kaum


bekannte Borneo-Hörnchen

JOSEPH WOLF; PROCEEDINGS OF THE ZOOLOGICAL SOCIETY OF LONDON 1856


(COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:SCIURUSMACROTISWOLF.JPG)
­(Rhei­throsciurus macrotis) ein gemein-
gefährlicher Jäger sein: Auf Zweigen
lauert es angeblich kleinen Rehen auf
und bringt sie dann mit einem geziel-
ten Biss in die Halsschlagader zur
Strecke. Biologen schenken der von
einheimischen Jägern kultivierten
Geschichte allerdings wenig Glauben,
schließlich lebt der Großteil der Ver-
wandtschaft des »Vampirhörnchens«
vergetarisch.
Nun untermauert eine Studie diese
Skepsis: Ein Team um Andrew Mar- Das Borneo-Hörnchen lebt in den Regenwäldern der
shall von der University of Michigan ­ leichnamigen Insel und wird nur selten gesichtet.
g
hat Aufzeichnungen aus den 1980er
und 1990er Jahren gesichtet und
wissenschaftlich ausgewertet. Damals Canarium decumanum scheinen eine ten die Wissenschaftler. Dafür spre-
hatte ein Biologenteam systematisch Delikatesse für die Nager zu sein: Die chen unter anderem die sehr langen
die Ernährungsgewohnheiten der Tiere Schalen der Samen sind extrem Schneidezähne von R. macrotis,
im indonesischen Nationalpark schwer zu knacken, weshalb sie die deren Ränder wie Sägeblätter ge-
­Gunung Palung erfasst und dabei auch meisten Tiere im Regenwald ver- formt sind. Die Spezialisierung hat
79-mal einem Borneo-Hörnchen beim schmähen. Selbst Menschen haben jedoch einen Preis: Die Hörnchen
Fressen zugesehen. Schwierigkeiten, sie mit einem Ham- sind auf wenige Baumarten ange-
Demnach haben es die Tiere mit- mer aufzubrechen. wiesen, was sie besonders anfällig
nichten auf fleischliche Kost abgese- Wahrscheinlich haben die Hörn- für Rodungen macht.
hen, sondern auf ganz spezielle Sa- chen deshalb ihre Ernährung auf diese bioXriv 10.1101/2020.08.03.233999,
men. Besonders solche der Baumart Nahrungsquelle ausgerichtet, vermu- 2020

PHYSIK
AUSBREITUNG EINER TRÖPFCHENWOLKE

 Aerosole und Wassertröpfchen


gelten als einer der Treiber der
Covid-19-Pandemie: Menschen stoßen
Probanden vor eine Leinwand und
ließen ihn verschiedene Sätze auf­
sagen, wobei sie ihn mit einer Nebel­
standteile oft nur einen Meter weit
drifteten. Beim bloßen Atmen ge-
langten die Nebeltröpfchen lediglich
die winzigen Schwebeteilchen beim maschine eindampften. Mit einem 40 Zentimeter in den Raum.
Atmen, Sprechen oder Singen aus. aufgefächerten Laserstrahl und einer Die Forscher wiesen mit ihrer
Diese können sich daraufhin in der Hochgeschwindigkeitskamera konnten Technik allerdings nicht direkt Spei-
Luft ausbreiten und dort für längere sie anschließend nachvollziehen, wie cheltröpfchen nach, sondern nur die
Zeit überdauern. Regelmäßiges Lüften stark bestimmte Wörter die Nebel- des Nebels, was die Aussagekraft
und Schutzmasken gelten daher als tröpfchen durch den Raum schleu­ der Studie einschränkt. Dennoch
wirksame Maßnahmen, um einer derten. zeigt das Ergebnis aus ihrer Sicht,
Infektion mit dem Coronavirus vorzu- Der Satz »Peter Piper picked a dass anderthalb oder auch zwei
beugen. peck« führte demnach wegen der Meter Sicherheitsabstand in be-
Eine Arbeitsgruppe um Manouk vielen stoßartigen P-Laute zu einer stimmten Situationen zu wenig sein
Abkarian von der Université Montpel- trichterförmigen Stoßfront, die einen können. Das gelte insbesondere in
lier hat nun auf sehr plastische Art kleinen Teil der Tröpfchen mehr als geschlossenen Räumen, in denen
nachvollzogen, wie unser Sprechen zwei Meter weit katapultierte. Sätze kein Luftstrom Schwebeteilchen
Kleinstteilchen im Raum verbreiten ohne explosive Konsonanten riefen zügig abtransportiert.
kann. Die Forscher setzten dazu einen hingegen Wolken hervor, deren Be- PNAS 10.1073/pnas.2012156117, 2020

Spektrum der Wissenschaft  12.20 11


MEDIZIN
HEILSAME
MOLEKÜLSCHNIPSEL
Lange fristeten Antisense-Therapien ein
Schattendasein, doch jetzt erzielen sie
spektakuläre medizinische Erfolge. Aller-
dings haben sie ihren Preis.

Lydia Denworth ist Wissenschaftsautorin


in New York City.

 spektrum.de/artikel/1783493
JESSICA BARTHEL


An ihrem ersten Geburtstag konnte Emma Larson
weder gehen noch stehen, aber das war kein Grund zur
Sorge – viele andere Kinder können das in diesem Alter
ebenfalls nicht. Emma liebte ihre Babywippe und robbte mit
Begeisterung durch die Wohnung ihrer Eltern in Long
Island, New York. Doch wenig später, im Alter von 13
Monaten, versagten ihre Beine plötzlich den Dienst. »Es
kam so rasch wie ein Fingerschnippen«, erzählt ihre Mutter, Antisense-Therapien beruhen auf der
Dianne Larson. Emma hörte auf zu wippen und knickte Wechselwirkung komplementärer
hilflos ein, wenn sie versuchte, sich irgendwo hochzuzie- Nukleinsäurestränge.
hen. Zudem veränderte sich ihre Art des Krabbelns – subti-
ler zwar, aber als ihre Eltern sich ein älteres Video ansahen,
war der Unterschied offensichtlich. Der Aktionsradius des Familie gab nicht auf. »Wir waren bereit, so ziemlich alles zu
Mädchens war geschrumpft, und sie kämpfte damit, ihren tun, um diese schreckliche Krankheit zu bekämpfen« sagt
Kopf oben zu halten. Matt Larson, Emmas Vater.
Nach einer Odyssee medizinischer Tests erfuhren die Nicht weit vom Haus der Larsons entfernt, im Cold
Larsons im Juli 2014, dass Emma an Spinaler Muskelatro- Spring Harbor Laboratory, war der Biochemiker und Mole-
phie (SMA) litt. Das ist eine potenziell tödliche neurodege- kulargenetiker Adrian Krainer in den gleichen Kampf verwi-
nerative Erkrankung, die vor allem Kinder betrifft und ihnen ckelt. Er hatte seit dem Jahr 2000 die genetischen Grundla-
nach und nach die Fähigkeit zu gehen, zu sprechen und bei gen von SMA untersucht und wusste, dass die Krankheits-
schweren Verläufen auch zu atmen raubt. Emmas motori- ursache ein fehlendes oder mutiertes Gen mit der
sche Nervenzellen im Rückenmark starben ab, verursacht Bezeichnung SMN1 ist. Zugleich war bekannt: Alle Men-
von einem Mangel eines Proteins namens SMN (Survival schen besitzen ein inaktives Gegenstück zu diesem Gen
Motor Neuron) in ihrem Organismus. »Wenn das eigene namens SMN2, das sich möglicherweise aktivieren ließe.
ANDY / GETTY IMAGES / ISTOCK

Kind eine solche Diagnose erhält, durchschreitet man die 2004 ging Krainer mit Frank Bennett vom Unternehmen »Io-
finstersten Abgründe«, erinnert sich Dianne. Aber die nis Pharmaceuticals« eine Kooperation ein, um einen Arz-

12 Spektrum der Wissenschaft  12.20


AUF EINEN BLICK
neistoff zu entwickeln, der SMN2 dazu bringt, für funktions- GEGENSINNIGES PRINZIP
fähige SMN-Proteine zu sorgen. Das Ziel: Die Symptome

1
von SMA-Patienten lindern und das Fortschreiten der Antisense-Oligonukleotide (ASO) sind kurze, künstlich
Erkrankung stoppen. Hierfür richteten die Forscher ihren hergestellte Nukleotidketten. Sie heften sich an kom-
Blick auf so genannte Antisense-Oligonukleotide. plementäre (gegensinnig aufgebaute) Boten-RNAs und
Antisense-Oligonukleotide (ASO) sind kurze, künstlich beeinflussen so die zelluläre Proteinproduktion.
hergestellte DNA- oder RNA-Stücke. Ihr Name leitet sich
vom griechischen »oligo« (»wenig«) ab, da sie aus nur
wenigen Nukleotiden bestehen, den Bausteinen von RNA- 2 Nach jahrzehntelanger Forschung scheinen Therapien
mit ASO allmählich Einsatzreife zu erlangen. Sie lassen
sich besonders effektiv gegen seltene Erkrankungen
und DNA-Molekülen. ASO werden so konstruiert, dass sie
mit genetischer Ursache einsetzen.
in die Aktivität eines ganz bestimmten Gens eingreifen.
Das geschieht, indem sie sich an dessen Boten-RNA
(mRNA) heften, weil sie komplementär zu
dieser aufgebaut sind. ASO haben gewissermaßen die
3 Die neuen Behandlungsverfahren werfen allerdings
ethische Fragen auf, insbesondere wenn sie auf einzel-
ne Personen zugeschnitten werden.
ANDY / GETTY IMAGES / ISTOCK

gegensinnige Nukleotidreihenfolge ihrer Ziel-mRNA, daher


die Bezeichnung »Antisense«. mRNAs dienen der Zelle als

Spektrum der Wissenschaft  12.20 13


Bauanleitung, um Proteine herzustellen. Je nachdem, an
welchen ihrer Abschnitte das ASO koppelt, produziert die
Zelle mehr oder weniger von dem entsprechenden Eiweiß.
Damit lassen sich Krankheiten behandeln, die auf einem
Mangel oder einem Überschuss bestimmter Proteine be­-
ruhen. Seit Jahrzehnten versuchen Forscher, aus diesem
Ansatz heraus wirkungsvolle Medikamente zu entwickeln,
aber sie scheiterten immer wieder daran, dass die geteste-
ten Substanzen giftig waren oder sich schwer verabreichen
ließen. Die wenigen Wissenschaftler, die trotzdem weiter-
machten, konnten enorm von den Fortschritten der Genetik
in den zurückliegenden Jahren profitieren. »Therapien mit
ASO versprechen eine wirksamere Behandlung von Krank-
heiten mit genetischer Ursache«, sagt Brett Monia, Ge-
schäftsführer von Ionis Pharmaceuticals. »Sie sind der
Inbegriff der Präzisionsmedizin.«
Krainer, Bennett und ihre Kollegen entwickelten einen
ASO-Arzneistoffkandidaten, um die Spinale Muskelatrophie
zu behandeln, und nannten ihn »Nusinersen«. In die Gehirn-
und Rückenmarksflüssigkeit eingespritzt, bringt die Subs-
tanz die motorischen Nervenzellen dazu, SMN herzustellen.
2011 begannen die Forscher, das Medikament in klinischen
Studien am Menschen zu testen. Die Larsons schrieben
Emma exakt an ihrem zweiten Geburtstag, dem frühstmög-
lichen Anmeldetermin, für eine solche Studie ein. Zu die-
sem Zeitpunkt konnte sie schon nicht mehr krabbeln. Seine
erste Nusinersen-Dosis erhielt das Mädchen im März 2015,
zwei weitere folgten rasch aufeinander.

ETHAN HILL / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2020


Eines Tages im Mai 2015 hielt sich Dianne in ihrem Die heute siebenjährige Emma Larson aus New York
Schlafzimmer auf, während Emma im nahe gelegenen gehört zu den ersten Kindern, die erfolgreich mit einer
Arbeitszimmer war. »Ich hörte, wie sie mich rief und die Antisense-Therapie behandelt wurden.
Stimme dabei immer näher kam«, erinnert sich die Mutter,
»dann erschien sie selbst und robbte ins Schlafzimmer.«
Dianne fragte sich, ob sie das gerade wirklich erlebt habe. Erkrankungen bereits in den 1990er Jahren entdeckt«, sagt
Sie hob ihre Tochter hoch, setzte sie im Flur ab, ging zurück Bennett, »25 Jahre dauerte es, um die Erkenntnisse in
ins Schlafzimmer und rief: »Emma, komm her.« Und das potenzielle Therapien umzusetzen. Bei Nusinersen war es
kleine Mädchen kam abermals herein. Dianne konnte ihr atemberaubend zu sehen, dass wir Patienten, denen zuvor
Glück nicht fassen. keine Behandlung zur Verfügung stand, derart schnell und
umfassend helfen konnten.«
Überzeugende Wirkung Wie Langstreckenläufer, die in großen Höhen trainieren,
Sie war nicht die Einzige. Die klinische Studie mit Nusi­ leisteten Forscher auf dem Gebiet der Antisense-Therapien
nersen verlief derart erfolgreich, dass sie ein Jahr früher als harte Arbeit, um die chemische Zusammensetzung und die
vorgesehen für abgeschlossen erklärt wurde. Die US-Arz- Verabreichungsmethoden von Oligonukleotiden zu optimie-
neimittelbehörde FDA ließ das Medikament unter dem ren. Jetzt sind sie bildlich ausgedrückt auf Meereshöhe und
Markennamen »Spinraza« im Dezember 2016 zu. Heute er- im Sprint. Mehr als 100 ASO-Wirkstoffe, gegen Alzheimer
halten es mehr als 8400 Patienten in 40 Ländern. 25 Säug­- bis Bluthochdruck, befinden sich in Entwicklung. Nicht alle
linge mit besonders folgenreichen Mutationen im SMN1- werden die Ziellinie überqueren, aber einschließlich Nusi-
Gen bekamen das Medikament schon kurz nach der nersen sind bislang neun in den USA und Europa zugelas-
Geburt. Sie sind jetzt vier Jahre alt und entwickeln sich sen worden, fast durchweg zur Behandlung seltener Krank-
normal. heiten. Medikamente gegen Chorea Huntington und gegen
Allerdings ist Nusinersen bislang beispiellos im Bereich die amyotrophe Lateralsklerose haben die Endphasen der
der Antisense-Therapien. Es ist der erste ASO-Wirkstoff, der klinischen Studien erreicht. Ein Arzt am Boston Children’s
sich solch deutlicher Behandlungserfolge rühmen kann. Hospital entwickelte in weniger als einem Jahr einen maß-
Das Medikament brachte Krainer und Bennett 2019 den mit geschneiderten Antisense-Arzneistoff für ein kleines Mäd-
mehreren Millionen Dollar dotierten Breakthrough-Preis ein. chen mit einer extrem seltenen Krankheit – ein historisch
Darüber hinaus hat es die Behandlung schwerer neurologi- noch nie da gewesener Fall. »Jetzt kommen die Therapiean-
scher Störungen wie der Huntington-Krankheit und der sätze in Gang, über die die Leute seit 30 Jahren reden«, sagt
amyotrophen Lateralsklerose in greifbare Nähe gerückt. der Neurologe Robert Brown von der University of Massa-
»Wir haben die genetische Grundlage der meisten dieser chusetts Medical School, ein renommierter ALS-Forscher.

14 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Die DNA liefert den grundlegenden Bauplan des Körpers, Nukleotidabfolgen dieser Moleküle in weitem Bereich
aber dieser Plan muss ausgelesen und in die Produktion variieren und beispielsweise an Zielstrukturen eines be-
von Proteinen übersetzt werden, den Arbeitsmaschinen der stimmten Patienten anpassen, die wir in einer vorhergehen-
Körperzellen. Da die in der DNA codierten Anweisungen den Untersuchung seines Genoms ermittelt haben.«
sehr wichtig für den Organismus sind, haben sich Mecha- Die Idee, genetische Arzneistoffe zu entwickeln, die sich
nismen entwickelt, die für einen Erhalt der Information an RNA-Moleküle binden, existiert schon seit Ende der
sorgen und den Übersetzungsvorgang absichern. So sind 1970er Jahre. Allerdings waren viele Fragen zu klären: Wie
viele Komponenten des Zellapparats mehrfach vorhanden, macht man aus einem Oligonukleotid ein klinisch anwend-
angefangen mit den beiden Einzelsträngen der DNA, die bares Arzneimittel? Wie wirkt sich die Bindung an die
sich zur Doppelhelix zusammenfügen. Einer davon trägt die Ziel-RNA aus? Dennoch fand der US-amerikanische Phar-
Erbinformation in Form der Reihenfolge der Nukleotide mit makologe Stanley Crooke die Idee so faszinierend, dass er
den vier Nukleinbasen Adenin (A), Thymin (T), Guanin (G) 1989 seine Position als Leiter der Forschungs- und Ent-
und Cytosin (C). Der andere ist das komplementäre (Anti- wicklungsabteilung des Unternehmens SmithKline (heute
sense-) Gegenstück dazu. Jede Base auf einem Strang liegt GlaxoSmithKline) aufgab, um eine eigene Pharmafirma zu
ihrem spezifischen Partner auf dem anderen Strang gegen- gründen und dort die Antisense-Technologie voranzutrei-
über: A koppelt immer mit T, C immer mit G. Die Zellma- ben. Dabei unterstützten ihn seine Frau Rosanne, ebenfalls
schinerie nutzt stets den komplementären Strang als Vorla- Pharmakologin, und die Kollegen Frank Bennett sowie
ge, um die mRNA des jeweiligen Gens herzustellen, wes- Brett Monia, heute Geschäftsführer der Firma. Ursprüng-
halb dieser als »codogen« bezeichnet wird. Die mRNA dient lich hieß das Unternehmen »Isis«, änderte allerdings aus
dann als Bauanleitung für die Eiweißproduktion. offensichtlichen Gründen seinen Namen in Ionis Phar-
Gelegentlich arbeitet der Syntheseapparat allerdings maceuticals.
fehlerhaft. Er kann die Proteine beispielsweise in zu großer
oder zu kleiner Menge erzeugen, was Krankheiten auslösen Unüberwindlich scheinende Probleme
kann. Kleinmolekulare Medikamente – die meisten auf dem ließen viele Forscher aufgeben
Markt erhältlichen Arzneimittel – zielen häufig auf Eiweiße Zeitgleich versuchten auch andere Unternehmen, Anti­
ab, die mit Krankheiten assoziiert sind. Monoklonale Anti- sense-Therapien zu entwickeln, gaben dies aber nach und
körper, eine weitere wichtige Arzneistoffklasse, binden sich nach wieder auf. Der Mediziner Michael Riordan, Gründer
ebenfalls an Proteine und regen das Immunsystem des einer solchen Firma mit den Namen Oligogen (heute: Gilead
Patienten an, diese zu attackieren. Im Gegensatz dazu grei­- Sciences), verkündete 1995, dass der Ansatz nicht funktio-
fen Antisense-Therapien schon früher in den Prozess ein. niere. Es schien so, als ließen sich die Schwierigkeiten
Sie beeinflussen die mRNA, indem sie durch Basenpaarung derartiger Therapien – Toxizität, mangelnde Wirksamkeit,
an sie koppeln, setzen also vor der Proteinproduktion an. unerwünschte Effekte durch Bindung an zielfremde RNA-
Eine ähnliche Methode ist die so genannte RNA-Interfe- Strukturen – nicht überwinden.
renz (RNAi). Hier schaltet das Zusammenspiel kleiner, meist Aber Crooke und seine Mitarbeiter lösten ein Problem
doppelsträngiger RNA-Moleküle mit Enzymkomplexen und nach dem anderen – eine Arbeit, aus der zahlreiche Paten­-
der Ziel-mRNA das jeweilige Gen ab. Der Mechanismus
wurde zu einer Zeit entdeckt, als viele Wissenschaftler
gerade das Interesse an Antisense-Therapien verloren,
weshalb seine Befürworter die Bezeichnung »Antisense«
dafür vermieden. Doch die aus beiden Ansätzen entwickel-
Glossar
ten Therapieverfahren sind verwandt. Der Unterschied liegt ASO: Antisense-Oligonukleotid(e): künstlich her­
im Wesentlichen darin, dass RNAi-Wirkstoffe doppelsträn- gestellte, kurze einzelsträngige DNA- oder RNA-
gig sind, ASO dagegen einzelsträngig. Nichtsdestoweniger Stücke, die aus wenigen Nukleotiden bestehen
gilt jede kurze Nukleotidkette, die aus bis zu zirka 30 Ele-
menten besteht, als Oligonukleotid. Nukleotide: Bausteine von Nukleinsäuren (DNA
Medizinische Verfahren, die mit Oligonukleotiden arbei- oder RNA). Ein Nukleotid setzt sich aus einem
ten, sind sehr vielseitig, weil sich bei ihnen zwei wichtige Basen-, einem Zucker- und einem Phosphatanteil
Elemente voneinander trennen lassen. Nämlich einerseits zusammen.
die molekularen Eigenschaften, die darüber bestimmen,
wie sich der Arzneistoff verabreichen lässt und im Körper- SMA: Spinale Muskelatrophie; krankhafter Mus-
gewebe verteilt. Und andererseits die Abfolge der Nukleoti- kelschwund, verursacht vom Untergang motori-
de, welche die RNA-Zielstruktur festlegt. Denn Antisense- scher Nervenzellen im Rückenmark
Arzneistoffe mit den gleichen chemischen Modifikationen
verhalten sich im Körper ähnlich, selbst wenn sie verschie- SMN: Survival Motor Neuron; ein Protein, das
dene Nukleotidsequenzen aufweisen. »Das macht uns sehr motorische Nervenzellen zum Überleben benö­ti-
flexibel, sobald wir einmal wissen, wie wir die Moleküle an gen. Sein Mangel führt zum Absterben der Zel-
den gewünschten Zielort im Organismus bekommen«, sagt len und zu Krankheiten wie SMA.
Jonathan Watts, Nukleinsäure-Chemiker an der University
of Massachusetts Medical School. »Wir können dann die

Spektrum der Wissenschaft  12.20 15


te hervorgingen. So modifizierten sie eine Schlüsselposi- der EU die Zulassung, um eine bestimmte erbliche Erkran-
tion (2’) in der Ribose, dem Zuckeranteil in den Nukleotiden kung des Nervensystems zu behandeln. Das – ebenfalls
der ASO. Das führte zu einer stärkeren Wechselwirkung zugelassene – ASO-Medikament Inotersen von Ionis Phar-
zwischen ASO und Ziel-RNA und half dadurch, die notwen- maceuticals zielt auf die gleiche Krankheit. Bei all diesen
dige Arzneimitteldosis bei Antisense-Therapien drastisch zu Behandlungsansätzen arbeiten die Forscher jetzt vorrangig
reduzieren. Mit Hilfe anderer chemischer Veränderungen er- darauf hin, mehr Wirkstoff auf effizientere Weise in den
höhten sie die Anwendungssicherheit und Verträglichkeit Organismus einzubringen und dabei mehr Organe und
ihrer Wirkstoffkandidaten. Nachdem sie verschiedene Gewebe zu erreichen. »Viele Wissenschaftler haben jahre-
Verabreichungsmethoden getestet hatten, konnten sie die lang abgewartet, was sich auf dem Feld der Oligonukleotid-
Substanzen in Tierversuchen prüfen. Monia, der damals die Therapien tut«, sagt Aartsma-Rus. »Jetzt erkennen sie, dass
Arzneimittelentwicklung bei Ionis leitete, erinnert sich sie den Anschluss verpassen werden, wenn sie weiterhin
lebhaft an den Moment, als er einen solchen Versuch untätig bleiben.«
auswertete und die Ergebnisse eines chemischen Tests Um die Behandlung von Hirnerkrankungen haben For-
betrachtete, der den Gehalt einer bestimmten RNA-Sorte scher, die Antisense-Therapien entwickeln, lange Zeit einen
ermitteln hilft. Das Testergebnis zeigte keine RNA-Spuren, Bogen gemacht. Denn Oligonukleotide können die Blut-
was bedeutete, dass die Therapeutika in das Zielgewebe Hirn-Schranke meist nicht überwinden. Allerdings lassen sie
eingedrungen waren und dort erfolgreich die Bildung dieser sich direkt in die Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit sprit-
RNA-Sorte unterbunden hatten. zen. Benett drängte den zunächst skeptischen Crooke,
Versuche, Krebserkrankungen mit Hilfe von Antisense- dieses Verfahren zu testen, und sie prüften es an Labormäu-
Therapien zu bekämpfen, erwiesen sich leider als wenig sen, die als Modell für Chorea Huntington dienen. Diese
ergiebig, wie Bennett erzählt – wenngleich weitere ein- Krankheit bietet sich als Ziel für Antisense-Therapien an,
schlägige Tests in Planung sind. Was hingegen funktionier- denn ihre Ursache sind Mutationen in dem Gen, das die
te, waren ASO mit spezifischen Zielstrukturen, die auf die Bauanleitung des Proteins Huntingtin enthält. Bei betroffe-
Behandlung seltener Krankheiten abzielen. Bei diesen lässt nen Menschen wiederholt sich eine bestimmte Basenabfol-
sich leichter als bei Krebserkrankungen nachweisen, dass ge in diesem Gen unnormal häufig, was dem Protein toxi-
eine erfolgreiche Therapie grundsätzlich möglich ist. Zu den sche Eigenschaften verleiht und den fortschreitenden
ersten ASO, die die Forscher testeten, gehörten solche für Untergang von Hirnzellen herbeiführt. Bennett und seine
die Behandlung von Augen- und Lebererkrankungen; in Kollegen stellten fest, dass sich die Konzentration des
jene Organe lassen sich die Arzneistoffe besonders gut schadhaft veränderten Proteins mit Hilfe von ASO senken
einbringen. Die ASO erwiesen sich hier als wirksam, waren lässt. »Den damit behandelten Mäusen ging es sichtlich
wegen ihres hohen Preises aber letztlich nicht konkurrenz- besser«, erinnert sich der Forscher.
fähig gegenüber anderen Therapien.
Zu den neueren Antisense-Therapeutika gehört »Eteplir- Den Organismus dazu zwingen, ein
sen« zur Behandlung der Duchenne-Muskeldystropie. Die überlebenswichtiges Protein herzustellen
Erbkrankheit führt zu einem fortschreitenden Muskel- Unterdessen hatte sich Krainer der spinalen Muskelatrophie
schwund und nimmt häufig schwere Verläufe mit einem (SMA) zugewandt. Gesunde Menschen tragen zwei ähnli-
frühen Tod der Betroffenen. Verursacht wird sie von Mu­ che Varianten eines bestimmten Gens mit den Bezeichnun-
tationen in einem Gen, das die Bauanleitung des Muskel- gen SMN1 und SMN2, aber nur die erste Variante bringt
strukturproteins Dystrophin enthält; die Änderungen füh- funktionsfähige SMN-Proteine hervor. Wer an SMA er-
ren dazu, dass der Organismus dieses Eiweiß nicht oder krankt, besitzt kein intaktes SMN1-Gen, und das Gegen-
in schlecht funktionierender Form bildet. Annemieke stück SMN2 kann den daraus resultierenden Mangel an
Aartsma-­Rus von der Universität Leiden in den Niederlan- SMN-Proteinen nicht kompensieren. Doch die Forscher
den, die von 2018 bis 2019 als Präsidentin der Oligonucleoti- erkannten, dass hier der Ansatz einer Therapie liegt. Denn
des Therapeutics Society arbeitete, ist eine Expertin für sowohl SMN1 als auch SMN2 bestehen – wie zahlreiche
Duchenne-Muskeldystropien und hat Eteplirsen mitentwi- andere Gene ebenso – aus Bereichen, die für das Protein
ckelt. Frühe Versuche mit dem Wirkstoff schienen darauf codieren (so genannten Exons, weil sie in Protein exprimiert
hinzudeuten, dass er den krankhaft verminderten Dystro- werden), und anderen Bereichen dazwischen, die das nicht
phin-Spiegel bei den Betroffenen wieder anheben kann. Die tun (so genannten Introns). Wenn der Zellapparat das Gen
amerikanische Arzneimittelbehörde FDA erteilte dem abliest, schneidet ein Prozess namens RNA-Spleißen die
Medikament daher die Zulassung – eine Entscheidung, die Introns heraus und verbindet die verbleibenden Exons
umstritten war (siehe »Spektrum« 6/2018, S. 46). In Europa miteinander, so dass die endgültige mRNA als Konstrukti-
wurde die Zulassung verweigert. Die Firma, die Eteplirsen onsvorlage des Proteins entsteht. Das Gen SMN2 bringt
vermarktet und an der Aartsma-Rus beteiligt ist, muss bis kein funktionierendes SMN-Protein hervor, weil es an einer
2021 Belege dafür vorlegen, dass der Arzneistoff tatsächlich Stelle verändert ist und infolgedessen der Spleißvorgang
eine bedeutsame medizinische Wirkung entfaltet. das siebte seiner Exons ignoriert. Krainer und Bennett
Eines der ersten Arzneimittel, deren Wirkung auf RNA- hatten nun die Idee, den Zellapparat mittels eines ASO dazu
Interferenz (RNAi) beruht, heißt Patisiran und wird von dem zu zwingen, dieses Exon beim Spleißen mit aufzunehmen
Bostoner Unternehmen Alnylam Pharmaceuticals herge- (siehe Kasten gegenüber). 2008 hatten sie den experimen-
stellt. Es erhielt Ende 2018 sowohl in den USA als auch in tellen Nachweis erbracht, dass ihr Therapieansatz in Mäu-

16 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Wie Antisense-Oligonukleotide wirken – Beispiel Nusinersen
Antisense-Oligonukleotide (ASO) sind kurze, einzelsträngige DNA- oder RNA-Schnipsel, also Ketten aus
einigen wenigen Nukleotiden. Die künstlich hergestellten Moleküle heften sich passgenau an bestimmte
Boten-RNAs (mRNAs) in der Zelle und beeinflussen, wie der Zellapparat diese in Proteine umschreibt. Nach
jahrzehntelanger Forschung ist es gelungen, mit einem ASO-Wirkstoff namens Nusinersen die spinale
Muskelatrophie erfolgreich zu behandeln, eine oft tödlich verlaufende neurodegenerative Krankheit. Nusi-
nersen veranlasst den Zellapparat dazu, ein nahezu inaktives Gen auf alternative Weise auszulesen, so dass
am Ende ein lebenswichtiges Protein entsteht.

Gesunde Personen Erkrankte Personen


Menschen besitzen in der Regel zwei Versionen eines Gens, das Patienten, die an spinaler Muskelatrophie leiden,
den Bauplan für das Protein SMN enthält. Die erste Genvariante fehlt das Gen SMN1. Sie besitzen zwar SMN2, aber
namens SMN1 bringt funktionstüchtige SMN-Proteine hervor, die mit diesem allein kann die Zelle bei Weitem nicht
zweite namens SMN2 hingegen instabile Eiweißmoleküle. genug funktionstüchtige Proteine herstellen.

DNA
SMN1 SMN2 SMN2

Die beiden fast identischen


Gene unterscheiden sich nur in
Exon 7 deutlich voneinander, Kein funktionstüchtiges
also im siebten ihrer Abschnitte, SMN1-Gen vorhanden
die für das Protein kodieren.
Spleiß-
apparat
ignoriert
Exon 6 Exon 7.
Exon 7
Die mRNA, die aus dem Exon 8
Umschreiben des Gens SMN2 ist etwas anders aufgebaut als SMN1, was
SMN1 entsteht, enthält alle dazu führt, dass die Zellmaschinerie Exon 7 ignoriert,
Abschnitte, die für das Transkription während sie das Gen in eine mRNA umschreibt und
Protein codieren. Mit ihr (Umschreiben dabei die proteincodierenden Abschnitte zusammen-
als Bauanleitung stellt der von DNA in fügt. Der resultierenden mRNA fehlen somit die
Zellapparat stabile und RNA) Sequenzen von Exon 7; sie ist unvollständig und
funktionstüchtige SMN- bringt instabile SMN-Proteine hervor.
Proteine her.

mRNA mRNA mRNA von


von SMN1 von SMN2; SMN2; die
die Sequen- Sequenzen
zen von von Exon 7
Exon 7 fehlen
Funktionstüchtiges Instabiles fehlen
SMN-Protein SMN-Protein Instabiles
SMN-Protein

Beide Varianten des Proteins Nur die instabile Proteinvariante


sind in der Zelle vorhanden ist in der Zelle vorhanden

SMN2
Behandlung mit Nusinersen
MESA SCHUMACHER / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2020; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Nusinersen wird in die Gehirn- und Rückenmarksflüssig-


keit gespritzt und heftet sich dort an die mRNAs des
Gens SMN2. Es dockt nahe Exon 7 an und verhindert so, Kein funktionstüchtiges
dass der zelluläre Spleißapparat dieses Exon ignoriert. SMN1-Gen vorhanden
Die Sequenzen des Exons werden in die mRNA einge-
baut; daher bringt sie stabile SMN-Proteine hervor.

Antisense-
Oligonukleotid
Nusinersen mRNA
von SMN2
mit den
Sequenzen
von Exon 7
Funktionstüchtiges
SMN-Protein

Spektrum der Wissenschaft  12.20 17


sen funktioniert, und gingen zu klinischen Studien am sind klinische Studien angelaufen, um zu prüfen, ob sich die
Menschen über. durch C9ORF72 sowie SOD1 verursachte Form der Krank-
»Das Verfahren behebt die Krankheitsursache zwar nicht heit mit Antisense-Arzneistoffen behandeln lassen. Schon
endgültig«, betont Krainer. Denn es repariert nicht die jetzt gibt es Belege dafür, dass die Wirkstoffe sicher in der
DNA-Defekte, die der Krankheit zu Grunde liegen. Gleich- Anwendung und verträglich sind und die Aktivität von
wohl setzt die Therapie an der Wurzel der Erkrankung an. schadhaften Proteinen unterdrücken.
Entscheidend ist, die Betroffenen möglichst früh zu behan- Was Mediziner besonders begeistert: Die Antisense-
deln, am besten gleich nach Geburt. Denn wenn eine Technologie ermöglicht es, Medikamente für einzelne
Patientin wie Emma Larson bereits Symptome ausprägt, Patienten zu entwickeln. Eine junge Frau aus Iowa namens
hat sie schon motorische Nervenzellen verloren, die sich Jaci Hermstad, die an einer sehr seltenen Form der ALS
nicht mehr ersetzen lassen. Die Therapie kann verhindern, leidet, verursacht von einer Mutation im Gen FUS, erhält
dass weitere Neurone absterben, sowie die motorischen seit dem Sommer 2019 eine Therapie mit einem ASO-Wirk-
Funktionen der Betroffenen verbessern. Die großen Be- stoff, der auf sie persönlich zugeschnitten ist. Bislang
handlungserfolge bei Säuglingen haben dazu geführt, verträgt sie die Behandlung gut und erfreut sich einiger
Neugeborene häufiger auf SMA zu testen; 16 US-Staaten Verbesserungen ihres Zustands, etwa der wiedergewonne-
führen ein solches Screening mittlerweile durch. In nen Fähigkeit, einen Arm zu bewegen.
Deutschland gehört die SMA noch nicht zu den Erkrankun- Arzneimittel, die für eine einzige Person hergestellt
gen, auf die im Rahmen des erweiterten Neugeborenen- werden: Das gehörte lange Zeit ins Reich der Sciencefic-
screenings getestet wird. tion. Bis vor einigen Jahren der Neurologe Timothy Yu vom
Auf Grund der Erfahrungen mit Nusinersen könnten Boston Children’s Hospital binnen weniger Monate ein
Antisense-Therapien entgegen früherer Erwartungen auch individuelles Medikament für die heute zehnjährige Mila
gegen Hirnerkrankungen wirken. Neurologische Zielstruk- Makovec entwickelte. Mila leidet an dem sehr seltenen
turen erscheinen vielen Forschern nun besonders interes- Batten-Syndrom, das zu den lysosomalen Speicherkrank-
sant. Mehrere ASO-basierte Verfahren zum Behandeln der heiten gehört (siehe »Spektrum« Mai 2017, S. 40). Gene-
Chorea Huntington sind in Entwicklung. Eines dieser Thera- tisch bedingte Stoffwechselstörungen führen hier dazu,
peutika namens Tominersen, entwickelt von Ionis Phar- dass sich Proteine, Lipide und andere große Moleküle
maceuticals und Roche, hat die klinische Studienphase III krankhaft in den Körperzellen anreichern – mit oft verhee-
erreicht. Zurückliegende Sicherheits- und Verträglichkeits- renden Folgen. Kinder mit der Batten-Krankheit erreichen
studien hätten gezeigt, dass es damit möglich sei, den selten das Erwachsenenalter.
Spiegel an schadhaften Proteinen zu senken, sagt Scott
Schobel, der bei Roche an dem einschlägigen Forschungs- Das Arzneimittel heißt Milasen – benannt
programm mitarbeitet. »Aber was bedeutet das für die nach der einzigen Patientin, die es erhält
Patienten? Das soll die Studie klären helfen. Schon eine Mila Makovec hatte als Kleinkind zunächst eine sehr gute
30-prozentige Verlangsamung des Schwundes an Hirnzel- Kondition und begann früh zu sprechen, wie zahlreiche
len wäre ein großer Erfolg.« Das würde den Betroffenen andere Betroffene auch. Aber mit drei Jahren begannen
erheblich mehr Zeit verschaffen. sich ihre Zehen nach innen zu drehen. Zwischen vier und
Bei der amyotrophen Lateralsklerose (ALS), einer dege- fünf wurde sie zusehends ungeschickter und fing an, ihr
nerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems, Sehvermögen zu verlieren. Ärzte im Children’s Hospital
Colorado stellten schließlich eine Genmutation bei ihr fest,
die mit der Batten-Krankheit in Verbindung steht. Allerdings
prägt sich das Syndrom nur aus, wenn noch eine weitere
Mutation vorliegt. Milas Mutter, Julia Vitarello, machte sich
Mehr Wissen auf daher auf die Suche nach jemandem, der das Genom des
Spektrum.de Mädchens vollständig sequenzieren konnte, um die Diagno-
Unser Online-Dossier zum Thema se zu bestätigen. Zudem wollten sie und ihr Mann wissen,
finden Sie unter ob ihr jüngeres Kind Azlan ebenfalls gefährdet sei. Im
spektrum.de/t/gentherapie Januar 2017 erfuhr Timothy Yu über die sozialen Medien
GERNOT KRAUTBERGER / FOTOLIA
von ihrer Bitte.
Yu und seine Mitarbeiter führten die Genomsequenzie-
rung durch und fanden die zweite Mutation. Sie war von
liegen die Verhältnisse komplizierter. Denn hier haben einem springenden Gen, einem so genannten Transposon,
höchstens 10 Prozent der Fälle eine eindeutige genetische verursacht worden – einer Nukleotidsequenz, die sich hin
Ursache (siehe »Spektrum« 2/2018, S. 36). Die häufigste und wieder vervielfältigt und an eine Stelle im Genom
erbliche Form geht auf Mutationen im Gen C9ORF72 zu- wandert, wo sie nicht hingehört. Azlan war also davon nicht
rück. Veränderungen in einem weiteren Gen namens SOD1 betroffen. Yu kam die Idee, ein Medikament für Mila zu
verursachen etwa 20 Prozent jener familiär gehäuft auftre- entwickeln. »Wir erkannten, dass wir Mila auf ähnliche
tenden Erkrankungen. Sie machen zusammen nur einen Weise helfen konnten, wie Nusinersen dies bei zahlreichen
Bruchteil aller Fälle aus; dennoch verbinden sich mit Anti- anderen Kindern vermocht hatte«, erinnert sich Yu, »doch
sense-Therapien auf diesem Feld große Hoffnungen. Es statt ein ASO zu nutzen, um den Zellapparat zur Berück-

18 Spektrum der Wissenschaft  12.20


seltenen, tödlichen und schnell fortschreitenden Krankhei-
ten leiden, für die keine Behandlung existiert. Dann, so
Goldkind, könnte es ein Stück weit berechtigt sein, auf
einen Teil dieser Tests zu verzichten. »Es muss eine gewisse
Flexibilität möglich sein hinsichtlich der Frage, wie wir die
Regeln anwenden«, sagt Goldkind.
Stanley Crooke hat sich mittlerweile aus dem Tagesge-
schäft von Ionis Pharmaceuticals zurückgezogen. Er hat
eine Stiftung gegründet, um damit die Entwicklung maßge-
schneiderter Antisense-Medikamente gegen äußerst selte-
ne Erkrankungen zu unterstützen, die zu wenige Menschen
betreffen, um ein kommerziell attraktives Feld für Pharma-
firmen darzustellen. Timothy Yu hofft ebenfalls, dass künf-
tig viel mehr Kinder von persönlichen Behandlungen profi-
tieren können, wie Mila sie erhielt. Einer der großen Vorteile
von Antisense-Therapien ist: Die Arzneimittel lassen sich
relativ schnell und – zumindest im Prinzip – kostengünstig
ETHAN HILL / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2020

Emma Larson leidet an SMA, einer schwer behan­ individuell maßschneidern. Allerdings sind konkret für
delbaren Krankheit. Nachdem sie einen ASO-Wirkstoff Nusinersen und Milasen enorme Summen geflossen, was
bekam, besserte sich ihr Zustand binnen Wochen. in der Kritik steht. So kostet eine Nusinersen-Behandlung
im ersten Jahr rund 750 000 Dollar und zirka 375 000 Dollar
in den Folgejahren. Verantwortliche Behörden und Gremien
sichtigung eines Exons zu zwingen, wollten wir es für den in Dänemark, Norwegen und Irland sprachen sich vielfach
umgekehrten Effekt einsetzen – nämlich, ein störendes gegen die Therapie aus und kritisierten ihre Kosten als
Exon auszuschalten.« »unzumutbar« und »unethisch hoch«.
Der Neurologe fragte bei mehreren Pharmaunternehmen Ebenso wie Mila kann das neue Verfahren auch Emma
an, ob sie Interesse an einer Zusammenarbeit hätten, aber Larson nicht endgültig heilen. Die motorischen Nervenzel-
sie lehnten ab. Daraufhin entschied Yu, die Entwicklung des len, die sie verloren hat, lassen sich nicht ersetzen, und die
Medikaments selbst zu koordinieren. Milas Mutter hatte Veränderungen an ihrem Skelett sind wahrscheinlich von
in Spendenaufrufen für die Behandlung ihres Kinds rund Dauer. Im Haus der Larsons liegen auf großen Flächen des
3 Millionen Dollar eingeworben, von denen sie einen Teil in hölzernen Fußbodens keine Teppiche, damit Emma sich
die Entwicklungsarbeiten investierte. Das Arzneimittel, das dort mit Hilfe ihres Rollstuhls unbeeinträchtigt bewegen
daraus hervorging, nannte er Milasen, nach der einzigen kann. Wenn sie diesen nicht benutzt, tragen ihre Eltern sie
Patientin, die es erhalten würde. Im Januar 2018 bekam oft von Zimmer zu Zimmer. Mit ihren Stützen und ihrer
Mila ihre erste Dosis. Zu jenem Zeitpunkt war sie bereits Gehhilfe kann sie aus eigener Kraft lediglich ein paar
blind und litt unter 20 bis 30 Krampfanfällen pro Tag, die Schritte gehen.
jeweils bis zu mehrere Minuten anhielten. Die Schäden, die Das Leben mit der Krankheit ist immer noch hart, räu-
ihr Körper bereits erlitten hatte, waren irreparabel, aber men die Larsons ein, aber es ist nicht mehr zum Verzwei-
infolge der Behandlung ließen die Anfälle bald nach. Vier feln. Vielleicht wird Emma, so hoffen ihre Eltern, eines
oder fünf Monate später dauerten sie nicht mehr Minuten, Tages sogar selbstständig leben können. Begeistert sind die
sondern nur noch je wenige Sekunden. Wie Milas Mutter Larsons davon, dass es den Kindern, die schon als Neuge-
erzählt, ist das Mädchen kürzlich sogar mit ihrer Hilfe eine borene mit Nusinersen behandelt wurden, so gut geht.
Treppe hinaufgestiegen, wobei sie die Füße abwechselnd »Das erfüllt mich mit großer Freude«, sagt ihre Mutter
aufsetzte. Dianne. »Für Emma kam das Therapieverfahren ein wenig
Als Yu Ende 2019 im Fachblatt »New England Journal of zu spät – aber sie hat geholfen, all diesen Babys den Weg in
Medicine« über Milas Geschichte berichtete, erregte er ein viel besseres Leben zu ebnen.« 
damit großes Aufsehen. Es kam eine Debatte in Gang, in
der es unter anderem um die Kosten der Behandlung ging
sowie um die ethischen Aspekte von Arzneistoffen, die QUELLEN
Mediziner auf einzelne Personen zuschneiden. Die Bioethi- Chi, X., Gatti, P., Papoian, T.: Safety of antisense oligonucleoti-
kerin Sara Goldkind, ehemalige Mitarbeiterin der US-Arznei- de and siRNA-based therapeutics. Drug Discovery Today 22,
mittelbehörde FDA sowie Expertin für seltene Krankheiten, 2017
hatte beratend an der Entwicklung von Milasen mitgewirkt. Sardone, V. et al.: Antisense Oligonucleotide-Based Therapy for
Sie betont, derart stark personalisierte Medikamente seien Neuromuscular Disease. Molecules 22, 2017
in vielerlei Hinsicht durchaus kritisch. Um den Anforderun- Scoles, D.R., Pulst, S.M.: Oligonucleotide therapeutics in
gen der evidenzbasierten Medizin zu genügen, müsse es neurodegenerative diseases. RNA Biology 15, 2018
auch bei ihnen aussagekräftige Tests auf Sicherheit und Tabrizi, S.J.: Targeting Huntingtin Expression in Patients with
Wirksamkeit geben. Ebenso seien aber die besonderen Huntington‘s Disease. The New England Journal of Medicine
Umstände zu bedenken – etwa, dass die Patienten oft an 380, 2019

Spektrum der Wissenschaft  12.20 19


ANTISENSE-THERAPIE
WETTLAUF GEGEN
DIE PRIONEN
Gefährdete Personen bereits behandeln, solange sie
noch gesund sind: Mit dieser Strategie möchten Wissen-
schaftler eine tödliche Hirnerkrankung verhindern.

Sonia Minikel Vallabh und Eric Vallabh Minikel betreiben am Broad Insti­-
tute des Massachusetts Institute of Technology (MIT) und der Harvard
­University ein Labor, das sich der Behandlung oder Heilung von ­Prionen­-
erkrankungen widmet. Die beiden schlugen eine Forscherkarriere ein,
nachdem sie erfahren hatten, dass Sonia Minikel Vallabh ein hohes Risiko
trägt, eine fatale familiäre Schlaflosigkeit zu entwickeln.

 spektrum.de/artikel/1783499


Manche Menschen werden mit einem Ereignis kon- Wenige Wochen später wussten wir, dass Sonia die
frontiert, das ihr Leben vollkommen unerwartet in zwei Mutation tatsächlich geerbt hat. Zu dem Zeitpunkt be­gann
Hälften teilt. Zu diesen Menschen gehören wir. Als wir unsere Mission. Sind wir erfolgreich, wird Sonias Gehirn
uns das erste Mal in Sonias Hinterhof in Hermitage, Penn- und das anderer Betroffener gesund und funktionsfähig
sylvania, trafen, als wir uns verliebten und als wir später in bleiben, und zwar für Jahre oder Jahrzehnte – hoffentlich
genau jenem Hinterhof heirateten, ahnten wir nicht, dass ein Leben lang. Scheitern wir, wird Sonia in ihren besten
wir uns gerade noch in der ersten Hälfte befanden. Wir Jahren fast über Nacht von der Krankheit eingeholt werden.
hatten nicht die Absicht, unsere Karrieren als Juristin und Binnen Monaten nach dem ersten auffälligen Symptom
Ingenieur aufzugeben und in einen völlig anderen Beruf wird sie dann verheerende Hirnschäden erleiden.
zu wechseln. Wir konnten uns nicht vorstellen, von Grund Mit PrP ist ein einzelnes, offenbar entbehrliches Protein
auf eine ganz neue Disziplin zu lernen. Und wir dachten für die Krankheit verantwortlich. Unser Ansatz verfolgt
nicht im Traum daran, eines Tages unsere Doktor­arbeiten in deshalb ein Ziel: die Menge dieses Eiweißes im Gehirn mit
Biomedizin zu vertei­digen – mit Präsentationen einer mög­ bereits verfügbaren Technologien zu verringern. Ohne
lichen Behandlung für eine tödliche neurodegenerative gesundes PrP fehlt den Prionen der Treibstoff, der ihre
Krankheit. tödliche Ausbreitung ermöglicht. Problematisch bleibt die
Der Tag, an dem sich plötzlich alles änderte, war der hohe Geschwindigkeit, mit der das Leiden fortschreitet.
9. Oktober 2011. Sonia erfuhr, dass sie wohl Trägerin einer Unsere beste Chance, den Kampf zu gewinnen, besteht
seltenen Mutation sei. Deshalb würde sie ziemlich sicher in darin, frühzeitig zu handeln – das heißt, noch bevor die
vergleichsweise jungem Alter an einer Prionenkrankheit Krankheit entsteht. Eine solch vorsorgende Therapie ist
sterben. Ein solches schnell fortschreitendes Hirnleiden tritt unüblich, denn normalerweise behandelt man Krankheiten,
auf, wenn ein in Neuronen vorhandenes Protein namens nachdem sie ausgebrochen sind. Seit Sonias Diagnose vor
PrP seine Form ändert. Es wird zum so genannten Prion (die knapp neun Jahren kämpfen wir deshalb jeden Tag dafür,
normale Version des Proteins, PrP oder Prion-Protein, ein neues Paradigma in der Arzneimittelentwicklung zu
wurde erst nach der verformten Version entdeckt und schaffen: ein viel versprechendes Medikament nicht nur
entsprechend benannt). Kommt ein Prion in Kontakt mit dahingehend zu testen, ob es das Fortschreiten einer
PrP, nimmt dieses ebenfalls Prionengestalt an. Eine Kaska- Krankheit verlangsamt, sondern auch darauf hin, ob es in
de der Proteinfehlfaltung setzt ein, die sich im gesamten der Lage ist, Gehirne länger gesund zu halten.
Gehirn ausbreitet. Sie tötet Nervenzellen schneller als alle Monate bevor wir von Sonias Veranlagung erfuhren,
anderen neurodegenerativen Erkrankungen. hatten wir bei ihrer Mutter Kamni miterlebt, wie sich die

20 Spektrum der Wissenschaft  12.20


ETHAN HILL / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2020

Gegen die Zeit: Sonia Minikel Vallabh


und Eric Vallabh Minikel forschen, um
Sonias drohende Prionenerkrankung
abzuwenden.

Spektrum der Wissenschaft  12.20 21


Erkrankung auswirkt. Im Februar 2010 ging sie, körperlich Im Dezember starb Sonias Mutter. Und wir empfanden
und geistig noch fit, zu einem Augenarzt, weil sie ver- etwas, von dem wir nie geglaubt hätten, dass wir es mit
schwommen sah. Als Sonia am 17. März anrief, um ihrer dem Tod eines geliebten Menschen in Verbindung bringen
Mutter zum 52. Geburtstag zu gratulieren, konnte Kamni könnten: Erleichterung. Es war kein Abschied, sondern
keinen Satz mehr beenden, ohne den Faden zu verlieren. vielmehr die Erkenntnis, dass wir bereits Abschied genom-
Im Mai sprach sie nur noch Kauderwelsch. Familienmit­ men hatten. Denn auch das raubt einem die Demenz: den
glieder erkannte sie immer seltener. Sie vergaß, dass sie Abschied von einer geliebten Person in der Gegenwart.
nicht mehr laufen konnte, stand deshalb trotz unserer
Bemühungen, sie davon abzuhalten, immer wieder auf, fiel Ein folgenschwerer Befund
hin und verletzte sich. Vom Juni an folgten mehrere Kran- Nach Kamnis Tod versuchten wir, den Schrecken dieser Zeit
kenhausaufenthalte. Kamni hielt zwar immer noch Augen- hinter uns zu lassen. Das Schlimmste sollte jedoch erst
kontakt, doch sie begann, vor Berührungen zurückzuschre- noch kommen. Als wir im Oktober 2011 Sonias Vater be-
cken. Der Trost, den die Gesellschaft geliebter Menschen suchten, um die Verlobung eines Freundes der Familie zu
ihr einst geschenkt hatte, wich der ständigen Angst vor feiern, verhielt er sich ungewöhnlich still. Sein Schweigen
medizinischen Eingriffen, die oft in Anwesenheit anderer und seine umherschweifenden Blicke führten wir zunächst
Menschen erfolgten. Im Juli war sie nicht mehr in der Lage, auf die Trauer, Einsamkeit und anhaltende Erschöpfung
zu sprechen, zu essen oder sich aufzusetzen. In ihrem zurück. Doch kurz vor unserer Abreise, als wir die Koffer ins
Gesicht spiegelten sich Qualen und Angst. Sie wehrte sich Auto luden, zog er Sonia bei­seite. Er überbrachte die Nach-
gegen die Zwangsfixierung am Bett, die sie daran hindern richt, die unser Leben auf den Kopf stellte: Eine Autopsie an
sollte, ihre Magensonde und ihren künstlichen Darmaus- Kamni hatte ergeben, dass ihr mysteriöses Leiden die
gang herauszuziehen. Im August wurde sie künstlich beat- tödliche familiäre Schlaf­losigkeit gewesen war, eine gene-
met; sie war stumm und reglos – und hatte noch immer tisch bedingte Prionen­erkrankung. Kamnis DNA hatte einen
keine Diagnose. Defekt in jenem Gen gehabt, das die Bauanleitung für das
Die Krise betraf sämtliche Menschen in ihrem Umfeld. Protein PrP enthält. Sonia trug demnach ein 50-prozentiges
Was tun, wenn jemand mehr Pflege benötigt, als selbst Risiko, die Mutation geerbt zu haben. Ende 2011 erfuhren
eine ganze Familie leisten kann? Wie sich herausstellte, sind wir, dass Sonia tatsächlich betroffen war. Das bedeutete,
Krankenhäuser in den Vereinigten Staaten nicht dafür zu­- dass sie die Prionenkrankheit mit ziemlicher ­Sicherheit
ständig, diese Frage zu beantworten. Nachdem die Ärzte ebenfalls ausprägen würde. Damals war sie 27 Jahre alt.
zahlreiche Tests durchgeführt und alle möglichen Diagno- Fast sofort beschlossen wir, unser Leben der Suche nach
sen verworfen hatten, entließen sie die Patientin nach einem Heilmittel zu widmen. Wir gingen an eine Abend-
Hause. Bis die nächste unvermeidliche Komplikation – eine schule, um Biologie zu studieren. Wir gaben unsere frühe-
Kopfverletzung oder eine Lungenentzündung – eine Rück- ren Jobs auf, denn wir wollten in der Forschung arbeiten.
kehr in die Klinik erzwang. Der ständige Notfallmodus im 2014 begannen wir ein Doktorandenprogramm an der
Haushalt führte dazu, dass Rechnungen unbezahlt blieben, Harvard Medical School. Mittlerweile betreiben wir am
der Strom abgeschaltet und Konten gesperrt wurden. Und Broad Insti­tute in Cambridge, Massachusetts (USA), ein
wir hatten noch Glück: Von Kamnis Arztrechnungen, die in Prionen-Forschungslabor. Selbstverständlich haben wir all
dem Jahr zusammengekommen waren und sich insgesamt das nicht getan, damit Sonia am Ende zwölf statt sechs
auf etwa eine Million Dollar beliefen, bezahlte ihre Kranken- Monate in einem Zustand schwerer Demenz lebt. Unser Ziel
versicherung fast alle. war und ist es, Sonias Gehirn für weitere Jahre oder Jahr-
zehnte gesund zu erhalten; im besten Fall soll sie die Krank-
heit gar nicht erst entwickeln.
Eine Prionenerkrankung kann sich auf verschiedene
AUF EINEN BLICK Weise äußern. Zu den diversen unterschiedlichen Formen
DIE KRANKHEIT IM KEIM ERSTICKEN zählen die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, die tödliche familiä-
re Schlaflosigkeit und die bovine spongiforme Enzephalopa-

1 Prionen sind abnorm verformte Proteine. Bei Kontakt thie (BSE oder »Rinderwahn«). Viele dieser Namen entstan-
mit normal gefalteten Eiweißen können sie diese eben- den, bevor der Neurologe Stanley B. Prusiner ihren gemein-
falls zu Prionen machen – eine Ketten­reaktion, die samen Erreger, die P ­ rionen, beschrieb (eine Leistung, für die
verschiedenen neurologischen Leiden zu Grunde liegt. er 1997 den Nobelpreis erhielt). In weniger als einem Prozent
der menschlichen Fälle wird eine Prionenkrankheit durch

2 Prionenerkrankungen können auf Mutationen im Gen


PRNP zurückgehen, treten jedoch meist zufällig auf.
Nur selten folgen sie aus Infektionen.
eine Infektion verursacht, die etwa durch Verzehr BSE-kon-
taminierten Fleischs erfolgen kann. Meist tritt eine solche
Erkrankung beim Menschen zufällig auf. Dabei nimmt ein
PrP-Molekül im Gehirn spontan eine abnorme Form an und
3 Es gibt keine Heilung für diese Krankheiten, und sie
enden immer tödlich. Mit Wirkstoffen, die den Gehalt
eines bestimmten Proteins senken, wollen Forscher
löst eine rasch eskalierende Kettenreaktion aus. Im Gegen-
satz zu derartigen »sporadischen« Prionenerkrankungen
Prionenerkrankungen verhindern. gehen rund 15 Prozent der Fälle auf Mutationen in PRNP
zurück – dem Gen, das als Bauanleitung für PrP dient. Aus
Gründen, die wir noch nicht gänzlich verstehen, machen

22 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Krankheitsbild sie auslösen. All diese verschiedenen Prio-
nen-»Sorten« repräsentieren je eine ganze Schar fehlgefal-
teter PrP-Konformationen. Ähnlich wie bei krank machen-
den Bakterien verschafft jene Vielfalt den Molekülen einen
Vorteil, wenn sich die Umstände ändern. Die Variabilität
könnte erklären, warum eine experimentelle Behandlungs-
strategie fehlgeschlagen ist: Wissenschaftler hatten nach
Verbindungen gesucht, die Zellen dazu bringen, Prionen
abzubauen. Das Malariamedikament Mepacrin stellte sich
in Zellkulturen als wirksam gegen die Moleküle heraus.
Klinische Studien am Menschen brachten jedoch keinen
­Erfolg. Weitere Tests mit Mepacrin und anderen Verbindun-
gen deuten nun darauf hin: Selbst wenn die Arzneistoffe
einen Abbau einer dieser fehlgefalteten Konfigurationen
herbeiführen, bleiben andere oft erhalten, die gegen das
Mittel resistent sind.

Verhindern statt lindern


Eine große Herausforderung besteht darin, Menschen zu
finden, mit deren Hilfe sich solche Wirkstoffe testen lassen.
An klinischen Studien nehmen in der Regel Patienten teil.
Forscher untersuchen, ob diejenigen, die das Medikament
ETHAN HILL / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2020

Sonia und Eric mit ihrer Tochter Daruka. Im Gegensatz einnehmen, sich besser fühlen, mildere Symptome zeigen
zu ihrer Mutter sowie zu ihrer Großmutter hat Daruka oder länger überleben als jene, die ein Scheinmedikament
die genetische Veranlagung für die Prionenkrankheit (Placebo) bekommen. Doch bei einer so rasch fortschreiten-
nicht geerbt. den Krankheit sind die Betroffenen bereits schwer krank,
wenn sie ihre Diagnose erhalten. In der größten veröffent-
lichten klinischen Studie zu Prionenerkrankungen, in der die
entsprechende Mutationen eine Fehlfaltung des Proteins Substanz Doxycyclin getestet wurde, war schätzungsweise
viel wahrscheinlicher. die Hälfte der Probanden schon während der Arznei­
Die meisten Mutationen, die zu einer genetisch beding- stoffgaben auf lebenserhaltende Maßnahmen angewiesen.
ten Prionenerkrankung führen, betreffen ein- und dieselbe Das Doxycyclin half ihnen nicht.
Stelle im Gen PRNP. Sie bewirken, dass im PrP-Protein eine Das Grundproblem ist die Schnelligkeit, in der sich die
von 208 Aminosäuren verändert ist. Daneben gibt es eine Schäden anhäufen. Prionen vermehren sich exponentiell.
mutierte Variante, bei der ein Segment des Gens um viele Bereits bevor Symptome auftreten, haben sich Milliarden
Sequenzwiederholungen erweitert ist, was zu einer länge- von ihnen im Gehirn der Betroffenen ausgebreitet. Sobald
ren Aminosäurekette von PrP führt. sie anfangen, Neurone abzutöten, kann selbst ein wirksa-
In seiner normalen Gestalt besteht etwa die Hälfte des mes Medikament nur noch begrenzt helfen. Künftige Studi-
Eiweißes hauptsächlich aus »Alpha-Helices« – spiralförmi- en könnten versuchen, »frühsymptomatische« Patienten zu
gen Strukturen, die in vielen Proteinen vorkommen. In der behandeln. Allerdings ist es unglaublich schwierig, die
Mitte trägt das Molekül einen ­»Anker« aus Zuckerresten, Krankheit zeitig zu erkennen. Nach dem Einsetzen der
der es mit der äußeren Oberfläche der Zellmembran verbin- Symptome dauert es im Schnitt drei Monate, bis Ärzte
det. Die andere Hälfte des Proteins ist ungeordnet und erstmals eine Prionen­erkrankung vermuten. Kamni konnte
bildet einen schlaffen Schweif, der in den Raum zwischen zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr sprechen. Selbst ein
den Zellen hineinreicht. Wirkstoff, der die Krankheit dann noch eindämmt, würde
Obwohl wir die dreidimensionale Struktur der Prionen bereits erlittene Hirnschäden nicht rückgängig machen.
noch nicht vollständig kennen, ist inzwischen klar, dass die Sogar wenn ein Medikament in der Lage wäre, nicht
fehlgefaltete Form mehr »Beta-Faltblätter« aufweist: ge­ erkrankte Menschen wie Sonia gesund zu erhalten, würde
stapelte und gefaltete Abschnitte der Amino­säurekette. In
dieser Gestalt ist das Protein widerstandsfähiger gegen
einen Abbau durch zelluläre Enzyme. ­Zudem kann es ande-
re PrP-Moleküle dazu veranlassen, sich ebenfalls falsch zu
falten. Die dadurch ausgelöste Prionen-Kaskade breitet sich Es ist sehr schwierig,
im Gehirn aus, bildet faserähnliche Strukturen sowie Ver-
klumpungen und tötet Nervenzellen durch Mechanismen, Studienteilnehmer
die nur zum Teil geklärt sind.
Es gibt mehrere Arten von Prionen, die jeweils bestimm- zu finden, um Antiprion-
Wirkstoffe zu testen
te Eigenschaften haben – sie unterscheiden sich zum
Beispiel darin, in welchen Tieren sie auftreten und welches

Spektrum der Wissenschaft  12.20 23


­ s im bereits fortgeschrittenen Stadium der Krankheit
e
möglicherweise nichts mehr bewirken. Tests an Mäusen
deuten darauf hin, dass dies sogar auf die meisten Antip-
rion-Arzneistoffe zutreffen könnte. Ein kleiner mokekula-
rer Wirkstoff mit der Bezeichnung IND24, entwickelt im
Labor des Neurologen Stanley Prusiner an der University
of Cali­fornia in San Francisco, kann die Lebensdauer von
Mäusen, die mit ­Prionen infiziert wurden, ver­-
vierfachen. Jedoch nur dann, wenn man ihn prophylak-
tisch verabreicht, also vor Beginn der Krankheit. Später
wirkt er weniger gut – und hilft gar nicht mehr, wenn die
Mäuse allmählich Symptome auszuprägen beginnen.
Auch drei andere chemische Verbindungen, die experi-
mentell überzeugende Effekte gegen Prionen von Mäusen
gezeigt haben, sind umso wirksamer, je früher die Be-
handlung einsetzt.
Wissenschaftler auf anderen Gebieten schlagen sich
seit Jahren mit ähnlichen Problemen herum; unter ande-
rem beim Erforschen der Alzheimerdemenz, die sich eben-
falls durch Proteinverklumpung auszeichnet. Im Lauf der
Erkrankung sammelt sich im Gehirn der Patienten fehlge-
faltetes Beta-Amyloid an. Arzneimittel­kandidaten, die eine
solche Aggregatbildung unterbinden sollen, haben in
zahlreichen Studien bisher keinen klinischen Nutzen ge-
bracht. Viele Beobachter fragen sich deshalb, ob Beta-
Amyloid vielleicht gar nicht ursächlich für die Erkrankung
ist oder ob die Intervention zu spät erfolgt. Daher prüfen
Forscher nun auch, ob Antiamyloidpräparate die Alzhei-

ETHAN HILL / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2020


merkrankheit verzögern, wenn sie früher verabreicht Daruka hält ein Foto ihrer Großmutter Kamni, die an
werden. Ein Ansatz besteht darin, gesunde Menschen mit einer Prionenerkrankung starb. Die Symptome hatten
hohem genetischen Risiko einer früh einsetzenden Alz- sich in atemberaubender Geschwindigkeit ausgeprägt.
heimerdemenz per Zu­falls­prinzip verschiedenen Gruppen
zuzuordnen, die entweder Medikamente oder Placebos
erhalten. Mediziner beobachten dann jahrelang, wessen Beginn unserer Suche in den Händen hielten: eingebettet in
kog­nitive Fähigkeiten sich verschlechtern. Bei einem den genetischen Testbericht, der unser Leben verändert hat.
weiteren Ansatz, der Sekundärprävention, rekru­tieren Wir kennen bereits das Gen und das von ihm codierte
Forscher kognitiv noch gesunde Menschen, bei denen sich Protein, das die Krankheit verursacht. Der Schlüssel liegt
aber bereits molekulare Hinweise auf die Erkrankung darin, gesundes PrP anzugreifen, bevor es überhaupt begin-
finden. Jahrzehnte bevor sich Symptome ausprägen, sind nen kann, sich falsch zu falten.
solche Marker oft schon nachweisbar. Den Betroffenen Gelingt es uns, die Menge des im Gehirn produzierten
geben die Mediziner dann wieder entweder ein Placebo PrP zu senken, wird das aller Voraussicht nach den Krank-
oder ein Medikament, das den Fortschritt zum symptoma- heitsbeginn verzögern. Mäuse, die lediglich die Hälfte der
tischen Stadium verzögern soll. normalen PrP-Menge produzieren, brauchen zum Beispiel
Keiner der beiden Ansätze scheint bei der Prionen­ mehr als doppelt so lange, um die Erkrankung auszuprägen,
erkrankung anwendbar zu sein. Studien mit Menschen, die nachdem sie mit Prionen infiziert wurden. Es nimmt dann
ein hohes Erkrankungsrisiko tragen, erweisen sich wegen einfach mehr Zeit in Anspruch, bis sich die schadhaften
des stark variierenden Alters bei Krankheitsbeginn und der Moleküle ausreichend vervielfältigt haben. Zum Glück für
kleinen Patientenzahl als nicht durchführbar. Forscher uns scheint PrP keine essenzielle Bedeutung für die Hirn-
haben trotz eingehener Untersuchungen solcher Personen funktion zu haben. Mäuse, Ziegen und Kühe, denen das Gen
keine molekularen Veränderungen gefunden, die auf einen PRNP fehlt, sind augenscheinlich gesund, ebenso wie
baldigen Ausbruch hindeuten. Die Prionenkrankheit scheint Menschen mit einer inaktiven Kopie des Gens.
im Vorfeld nicht nachweisbar zu sein: Sie schlägt vielmehr Eine gezielte Beseitigung von PrP im Gehirn könnte mit
ganz plötzlich zu. Antisense-Oligonukleotiden (ASO) gelingen. Dabei handelt
es sich um künstlich hergestellte Nukleinsäurestücke (siehe
Der Krankheit den Treibstoff wegnehmen vorherigen Beitrag, S. 12). Sie werden so konstruiert, dass
Was bedeutet das für uns? Wie schaffen wir es, unter ihre Basensequenzen komplementär zu jenen des mRNA-
diesen Voraussetzungen zu belegen, dass ein Arzneistoff- Moleküls sind, auf das sie abzielen. Wie ein Magnet haften
kandidat Sonias Leben retten könnte? Wir sind zu der sie sich dann an ihre Ziel-mRNA und markieren diese so zur
Überzeugung gelangt, dass wir die Antwort gleich zu Zerstörung durch die Zelle. Ohne mRNA – den Mittelsmann

24 Spektrum der Wissenschaft  12.20


zwischen DNA und Protein – kann die Zelle das entspre-
chende Protein nicht mehr produzieren. Der Schlüssel zum Verhindern
Das kalifornische Biotech-Unternehmen Ionis Pharma­
ceuticals hat ASO entwickelt, um damit Erkrankungen des
der Prionenkrankheit
menschlichen Zentralnervensystems zu behandeln. Seit
2015 arbeiten wir mit der Firma zusammen. Wir fanden
liegt darin, gesundes Protein
heraus, dass ASO, die den PrP-Spiegel senken, Mäuse
länger gesund erhalten, nachdem die Tiere mit Prionen
anzugreifen, bevor es
infiziert worden waren. Neben diesen präklinischen Resul-
taten haben wir klinische, genetische sowie andere Daten
überhaupt beginnen kann,
gesammelt und darüber hinaus ein Patientenregister einge-
richtet. Zusammengenommen hat das die Geschäftsleitung
sich falsch zu falten
von Ionis davon überzeugt, die Entwicklung eines ASO-ba-
sierten Arzneimittels gegen Prionenkrankheiten in Angriff
zu nehmen. Ziel ist es, in den kommenden Jahren erste Frage, ob die Solidargemeinschaft bereit ist, jahrelang für
Versuche mit Menschen durchzuführen. ein verschreibungspflichtiges Medikament aufzukommen,
Wenn ASO, die den PrP-Spiegel senken, Patienten mit von dem Menschen profitieren, die noch nicht krank
symptomatischen Prionenerkrankungen helfen würden, sind – und die, sofern der Arzneistoff wie gewünscht wirkt,
wäre das fantastisch. Doch selbst wenn sie nur präventiv nie krank werden.
wirken, müssen sie Risikopatienten zugutekommen. Unse- Hier könnte es ausnahmsweise einmal von Vorteil sein,
rer Meinung nach könnte die PrP-Kon­zen­tration in der dass das Leiden so selten ist. Die Zahl der Menschen mit
Rückenmarksflüssigkeit als pharmakodynamischer Biomar- Prionenerkrankungen ist gering, und erblich bedingte Fälle
ker dienen – als molekularer Kennwert dafür, ob das Medi- machen wiederum nur einen kleinen Anteil der Patienten
kament seine b ­ eabsichtigte Wirkung zeitigt. In einer klini- aus. Wenn man sie behandelt, dürfte der mögliche Einfluss
schen Studie ist ein solcher Kennwert besonders dann nütz- auf das Geschäftsergebnis einer Krankenversicherung
lich, wenn man nicht direkt beurteilen kann, ob sich der verblassen, verglichen etwa mit einem neuen W ­ irkstoff
Zustand der Patienten gebessert hat. Wir schlagen also vor, gegen Herzkrankheiten oder Diabetes, den Millionen Men-
Menschen zu behandeln, die noch gesund sind. An ihnen schen einnehmen.
wollen wir nachweisen, dass die Therapie den Spiegel des Wir als Gemeinschaft sollten uns grundsätzlich damit
Proteins, welches zum Prion werden kann, senkt. In den befassen, was wir für die Gesundheit unserer Gehirne zu
USA existieren klinische Prozedere, die eine solche Vorge- tun bereit sind. Ungefähr jeder fünfte Mensch entwickelt
hensweise erlauben, und es gibt Präzedenzfälle für die irgendwann eine neurodegenerative Erkrankung. Wenn es
Nutzung pharmakodynamischer Biomarker – etwa der präventive Arzneimittel gäbe, wann sollte man sie einneh-
»Viruslast«, die über die Zulassung von Aidsmedikamenten men? Sollte man warten, bis sich die Demenz ausgeprägt
entscheidet. hat? Oder schon bei leichten kognitiven Beeinträch­tigungen
intervenieren? Abwarten, bis ein bildgebendes Verfahren
Auf dem Weg zur Prävention zeigt, dass das Gehirn zu schrumpfen beginnt? Oder wäre
Im Jahr 2017 stellten wir unser Konzept bei einem Treffen es besser, mit der Behandlung zu starten, bevor irgend­
mit der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde Food etwas davon passiert ist?
and Drug Administration (FDA) vor und trafen auf großen Bei Prionenerkrankungen haben wir diese verschiedenen
Enthusiasmus für unseren Ansatz. Als wir die Behörde Optionen wohl gar nicht. Der Weg weist klar in Richtung
verließen, hatten wir eine Liste von Hausaufgaben im Ge­- vorsorglicher Eingriffe. Trotz aller Fortschritte in den moder-
päck und viele neue Unterstützer. Seither haben wir ge- nen Neurowissenschaften ist jedes menschliche Gehirn
lernt, wie man PrP in der Rückenmarksflüssigkeit prä- nach wie vor ein unglaublich komplexes, weit verzweigtes
zise messen kann. Wir haben Belege dafür gesammelt, Netzwerk von fast 100 Milliarden Neuronen, das wir nicht
dass dieses Eiweiß aus dem zentralen Nervensystem verstehen, nicht ­reparieren und unmöglich ersetzen kön-
stammt. Wir wissen, dass seine Konzentration über län- nen. Wenn Sie sich fragen, was Sie sich für sich selbst
gere Zeiträume hinweg stabil genug ist, um einen etwai- wünschen, werden Sie vielleicht feststellen, dass Ihre
gen medikamenteninduzierten Rückgang nachweisen zu Antwort dieselbe ist wie unsere: Prävention. 
können.
Nach wie vor stoßen wir aber auf erhebliche Widerstän-
de. Es gibt viele offene Fragen, darunter, ab welchem Alter QUELLEN
die Betroffenen mit der Behandlung beginnen sollten. Und Bennett, C. F. et al.: Antisense oligonucleotide therapies for
wie lässt sich letztlich bestätigen, ob der Arzneistoff die neurodegenerative diseases. Annual Review of Neuroscience
Krankheit verzögert hat? Das sind wichtige Punkte, und wir 42, 2019

verfügen bereits über Ansätze, um sinnvolle Antworten zu Raymond, G. J. et al.: Antisense oligonucleotides extend
finden. Vielleicht das größte Problem ist jedoch dieses: survival of prion-infected mice. JCI Insight 4, 2019
Werden Krankenversiche­rungen für eine solche Art von Vallabh, S. M.: The patient-scientist’s mandate. New England
Medikament zahlen? Dahinter steht die grundsätzliche Journal of Medicine 382, 2020

Spektrum der Wissenschaft  12.20 25


FORSCHUNG AKTUELL
Roger Penrose (* 1931, links)
FESTIVAL DELLA SCIENZA, FOTO: CIRONE-MUSI (WWW.FLICKR.COM/PHOTOS/14243297@
N07/6294592055) / CC BY-SA 2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/2.0/LEGALCODE)

CHRISTOPHER DIBBLE

MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR EXTRATERRESTRISCHE PHYSIK (MPE), GARCHING


von der University of Oxford
entwickelte Einsteins Rela­
tivitätstheorie entscheidend
weiter. Andrea Ghez (* 1965)
von der University of Cali­
fornia in Los Angeles und
Reinhard Genzel (* 1952)
vom Max-Planck-Institut für
extraterrestrische Physik
wiesen das Schwarze Loch
im Zentrum der Milch-
straße nach.

NOBELPREIS FÜR PHYSIK


AM ENDE DER ZEIT
Roger Penrose, Andrea Ghez und Reinhard Genzel haben Schwarze
Löcher aus der Fantasie in die Wirklichkeit geholt. Bis heute fordern
die extremen Objekte unsere Vorstellungskraft heraus.


Das Stockholmer Nobelkomitee Relativitätstheorie sind, sondern eine wehren sich Atomkerne und Teilchen
ist normalerweise sehr geschickt logische Folge davon. Zielstrebigen dagegen, wenn man sie immer weiter
darin, abstrakte Wissenschaft Astronomen gelangen daraufhin Bilder zusammenschieben will. Bei Sternen
anschaulich zu machen. Vor vier des Weltalls, die nur mit Schwarzen und Planeten bildet sich ein Gleichge-
Jahren nutzte es Brezeln und Löchern zu erklären sind. wicht zwischen der Schwerkraft und
Zimtschnecken, um der internationa- Der aktuelle Physik-Nobelpreis diesem Gegendruck aus, sie haben
len Presse das kaum verständliche würdigt diese Arbeitsteilung in der deshalb eine Oberfläche. In Schwarzen
Forschungsfeld der Topologie zu modernen Wissenschaft: Zur Hälfte Löchern dagegen überwindet die
erklären. 2019 war es dann eine Kaf- geht er an den berühmten Mathe­ Gravitation sämtliche Widerstände.
feetasse mit einem Schuss Milch, die matiker und theoretischen Physiker Materie fällt einfach immer weiter
als Metapher für Dunkle Energie und Roger Penrose, der in den 1960er nach innen und sammelt sich auf
Dunkle Materie im Universum diente. Jahren wegweisende Gedanken über einem Punkt, der »Singularität«.
Dieses Jahr hingegen hielt Komitee- die dunklen Giganten veröffentlicht Die Folgen sind bizarr, in mehrfa-
mitglied Ulf Danielsson eine schwarze hat. Die andere Hälfte teilen sich die cher Hinsicht: Die Schwerkraft der
Kugel in die Kamera – und dürfte US-Astronomin Andrea Ghez und Singularität ist zum einen so stark,
damit viele Zuschauer überfordert ihr deutscher Kollege Reinhard Genzel. dass ihr nicht einmal Licht entfliehen
haben. Denn die Erklärung des schwe- Ihre Teams haben seit den 1990er kann. Daneben lässt das Loch in der
dischen Physikers entzog sich so sehr Jahren riesige Sterne im Zentrum Raumzeit auch Uhren langsamer
der menschlichen Vorstellungskraft, unserer Galaxie beobachtet und damit ticken, Experten sprechen von gravita-
dass man im Grunde nur verwirrt sein bewiesen, dass sich dort ein gewal­ tiver Zeitdilatation. In der Nähe des
konnte. »Wenn ich meine Fingerspitze tiges Schwarzes Loch namens Sagitta- unendlich dichten Mittelpunkts müss-
hineinstecke, befindet sie sich in der rius A* versteckt. te die Zeit sogar völlig zum Stillstand
fernen Zukunft«, sagte Danielsson. Stünde es im Mittelpunkt unseres kommen, zumindest für einen außen
»Will ich sie anschließend wieder Sonnensystems, würde die schwarze stehenden Beobachter. Was genau
herausziehen, ist das so schwierig, als Sphäre bis zur Bahn des innersten dort vor sich geht, kann Einsteins
wolle man in der Zeit zurückzureisen.« Planeten Merkur reichen. Das klingt Theorie indes nicht sagen, denn bei
Keine Frage, Schwarze Löcher sind erst einmal nicht besonders bedroh- Erreichen der Singularität verlieren die
eine Zumutung. Vor 60 Jahren glaub- lich. Aber da das Schwarze Loch vier Gleichungen ihre Aussagekraft.
ten nur wenige Wissenschaftler an die Millionen Mal so viel Masse wie unse- Für die Physik des 20. Jahrhunderts
Existenz der Licht schluckenden re Sonne in sich vereint, zerrt es über war all das eine große weltanschauli-
Massegräber. Doch dann zeigten Lichtjahre hinweg an seinem Umfeld. che Herausforderung. Bereits 1915
theoretische Physiker, dass sie kein Extrem ist auch das Innere der berechnete der Deutsche Karl
Widerspruch zu Einsteins allgemeiner sonderbaren Objekte. Normalerweise Schwarzschild, wie eine dichte Kugel

26 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de
NOBEL FOUNDATION, FOTO: LOVISA ENGBLOM;
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

NOBEL- fekt gleichmäßig gen Mittelpunkt fällt.


Doch solch ein perfektes Arrangement
verzichtete er explizit auf Oppenhei-
mers Annahme, dass der Zusammen-

PREISE sollte es in der Realität praktisch nicht


geben, meinten die Kritiker. Bei einem
fall kugelsymmetrisch abläuft. Um
dennoch zu einem Ergebnis zu kom-
® THEBEARBEITUNG:

2020 nicht kugelsymmetrischen Kollaps


aber sollte die Masse auf einer Seite
men, musste Penrose komplizierte
mathematische Werkzeuge ent­
wieder herausschwappen und so die wickeln, darunter so genannte »einge-
©

Singularität verhindern. Andere For- schlossene Oberflächen« (englisch:


die Raumzeit verbeult. Für den Mittel- scher vermuteten, dass kollabierende trapped surfaces).
punkt und die Grenzfläche gab die Riesensterne ihre Masse restlos in Solche zweidimensionalen, in sich
»Schwarzschild-Metrik« allerdings Strahlung und Gravitationswellen geschlossenen Flächen sind ein Kon-
keine sinnvolle Prognose ab – die umwandeln. Schwarze Löcher sollte zept aus der höherdimensionalen
Gleichung enthält hier jeweils Terme, es also nicht geben. Topologie. Ihre Besonderheit: Alle
die ins Unendliche laufen, was physi- Erst nach Einsteins Tod im Jahr Lichtstrahlen, die von ihrer Oberfläche
kalisch nicht sein kann. Erst 1939 1955 kam Bewegung in die Debatte. ausgehen, landen auf Bahnen, die in
erkannte Robert Oppenheimer, der Mit Funkantennen ausgestattete Richtung des Mittelpunkts zurückfüh-
spätere Vater der Atombombe, dass Astronomen entdeckten Regionen am ren. Laut Penrose hat auch die kontra-
der Rand der Kugel eine besondere Himmel, die große Mengen Radio­ hierende vierdimensionale Raumzeit
Bedeutung hatte: Nichts im Inneren strahlung abgaben. 1963 war klar, dass diese Eigenschaft, wenn sie hinrei-
dieses »Ereignishorizonts« kann der es Objekte außerhalb unserer Milch- chend schnell in sich zusammen-
Schwereanziehung entkommen, nicht straße sind: die Kerne weit entfernter stürzt – ganz unabhängig von der
einmal, wenn es sich mit Lichtge- Galaxien, so genannte Quasare. Etwas Symmetrie des Kollapses. Damit war
schwindigkeit bewegt. in ihrem Zentrum schien Materie eine Singularität samt Ereignishorizont
Oppenheimer ging es um das enorm stark zu beschleunigen und nicht mehr nur eine obskure theoreti-
Schicksal sehr schwerer Sterne. Seine dadurch das Weltall mit Strahlung zu sche Möglichkeit in Einsteins Relativi-
Prognose: Fallen sie am Ende ihres fluten. tätstheorie, sondern eine zwingende
Brennzyklus in sich zusammen, müss- Folge der Gleichungen.
te sich dabei eine Singularität bilden, Wenn die Zeit stillsteht Wie Penrose erkannte, tauschen
die man nur noch über ihr Gravita­ Bevor die Fachwelt wirklich an super- Ort und Zeit im Inneren eines Schwar-
tionsfeld nachweisen kann. Doch die massereiche Schwarze Löcher als zen Lochs dadurch ihre Bedeutung. Je
meisten Gelehrten, darunter Einstein, Verursacher glaubte, galt es aber noch tiefer man hinter den Ereignishorizont
blieben skeptisch. Einer ihrer Einwän- theoretische Probleme zu lösen. Hier vordringt, desto weiter schreitet man
de betraf die Symmetrie des Kollapses: tat sich Roger Penrose hervor. Er in der Zeit voran. Oder anders formu-
Oppenheimer hatte angenommen, stellte eine neue Berechnung für den liert: Mit verstreichender Zeit rückt
dass die Masse von allen Seiten per- Kollaps einer großen Masse an. Dabei alles näher an die Singularität, an der
die Zeit dann ganz einfriert. Demnach
müsste man gewissermaßen die Uhr
ESO/L. CALÇADA/SPACEENGINE.ORG (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1825D/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

zurückdrehen, wenn man aus einem


Dutzende Sterne Schwarzen Loch entkommen will, so
bewegen sich um wie es Nobelkomitee-Mitglied Ulf
das supermasse­ Danielsson auf der diesjährigen Presse­
reiche Schwarze konferenz zu erklären versuchte.
Loch im Zentrum Nachdem Roger Penrose sein
der Milchstraße, »Singularitäts-Theorem« aufgestellt
wie diese Illustra­ und bewiesen hatte, beschäftigte er
tion veranschau­ sich weiter mit Schwarzen Löchern
licht. und ihren Eigenschaften. Dabei arbei-
tete er eng mit Stephen Hawking
zusammen. Unter anderem übertrugen
die beiden die Gedanken zu Schwar-
zen Löchern auf den Urknall. Hawking
zeigte dann später, dass Schwarze
Löcher via »Hawking-Strahlung«
langsam verdampfen müssten. Und
Penrose überlegte, wie rotierende
Schwarze Löcher Energie an ihr Um-
feld abgeben könnten.

Spektrum der Wissenschaft  12.20 27


FORSCHUNG AKTUELL
Die Arbeiten der beiden sorgten in durchliefen sie mehrere unterschied- Das und die Bahnen anderer Sterne
den 1960er und 1970er Jahren dafür, lich gekrümmte Linsen. lassen sich lediglich mit einer auf sehr
dass ihre Kollegen die theoretischen Letztlich entwickelten Genzel, engem Raum konzentrierten Masse im
Gebilde zunehmend als reale Objekte Ghez und andere Arbeitsgruppen galaktischen Zentrum erklären – wo-
in Erwägung zogen. Doch selbst Mitte Lösungen für all diese Probleme. Sie mit ein Sternhaufen und andere Erklä-
der 1990er Jahre, als längst das Hubble- konzentrierten sich einerseits auf rungen ausscheiden. Somit bleibe nur
Teleskop im All schwebte, zweifelten Strahlung im Nahinfrarot, die den ein »kompaktes, supermassereiches«
manche Fachleute noch. Schließlich interstellaren Staub zwischen uns und Objekt übrig, schreibt das Nobelkomi-
kann man Schwarze Löcher nun dem galaktischen Zentrum einiger­ tee. Die meisten Experten würden
einmal nicht auf Teleskopbildern maßen gut durchdringen kann. Vor sagen: ein Schwarzes Loch.
sehen. Sichtbar wäre nur ihr Umriss, allem aber entwickelten sie Methoden, Dass sich die Objekte im Zentrum
wenn sie von leuchtendem Gas um­ mit denen sich die Luftunruhe in der von Galaxien verbergen, hat kürzlich
geben sind. Aber der Ring, den man Atmosphäre herausrechnen lässt. das Event Horizon Telescope gezeigt,
dabei beobachten sollte, ist in den Zunächst setzten die Forscher dabei ein Zusammenschluss von um den
allermeisten Fällen schlicht zu klein auf ein Verfahren, bei dem Teleskope Globus verteilten Radioobservatorien.
und zu weit entfernt, um ihn von der viele Bilder mit sehr kurzer Belich- Es erreicht eine deutlich bessere
Erde ausmachen zu können. tungszeit aufnehmen und diese an- Auflösung als optische Teleskope –
Das galt bis vor wenigen Jahren schließend geschickt überlagern. und kann daher gerade so den Umriss
selbst für supermassereiche Schwarze von supermassereichen Schwarzen
Löcher, wie sie viele Astrophysiker im Blick ins galaktische Zentrum Löchern erkennen. 2019 präsentierte
Zentrum von Galaxien vermuteten. Ab dem Jahr 2000 bereiteten die Grup- die internationale Forscherkollabora­
Reinhard Genzel und Andrea Ghez pen dann der »adaptiven Optik« den tion eine Aufnahme aus dem Zentrum
entwickelten in dieser Zeit eine Strate- Weg, die heute ein Standardverfahren der Galaxie M87, auf der eindeutig der
gie, wie man zumindest das Exemplar der Astronomie ist. Bei ihr leuchten Schatten eines Schwarzen Lochs zu
im Herzen unserer Milchstraße zwei- Forscher mit einem Laserstrahl in die erkennen ist. Das Exemplar ist mit
felsfrei nachweisen könnte. Atmosphäre und regen dort Atome rund 6,5 Milliarden Sonnenmassen
Das Multi-Millionen-Sonnen-­ zum Leuchten an. Anschließend nochmals deutlich schwerer als das
Monster müsste Sterne in seiner Nähe beobachten Instrumente auf Millise- Objekt im Herzen unserer Milchstraße.
eigentlich enorm stark beschleuni- kunden genau, wie die unterschiedlich Viele Beobachter hatten im Vorfeld
gen. Und an der Geschwindigkeit der warme Luft den Lichtpunkt verzerrt. der Nobelpreisverkündung erwartet,
Sterne auf ihrer Bahn sollte man Ein aus Einzelsegmenten aufgebauter dass die Königliche Schwedische
ablesen können, wie kompakt die Zweitspiegel verändert daraufhin seine Akademie dieses Jahr das Event
Masse im Innersten unserer Galaxie Form genau so, dass seine Reflexion Horizon Telescope auszeichnet. Das
angehäuft ist. Das war ein wichtiger die gerade vorherrschende Turbulenz hätte aber wohl praktische Probleme
Punkt. Denn manche Forscher ar­ ausgleicht. Das eigentliche Teleskop mit sich gebracht, da man bei dem
gumentierten, dass der Sog aus dem kann dadurch jederzeit scharfe Bilder großen Teamprojekt nicht ohne Weite-
Zentrum schlicht von einem üppigen des Weltalls sehen. res drei klare Preisträger herausheben
Sternhaufen ausgehe, der ähnlich viel Mit der Zeit verfeinerten Genzel und kann. Außerdem hätte man damit
Schwerkraft aufbringe wie das mut- Ghez diese Techniken immer weiter Vorkämpfer wie Penrose, Genzel und
maßliche Schwarze Loch. und nutzten immer größere Teleskope. Ghez übergangen, die jahrzehntelang
Wer ins Innerste der Milchstraße Bei Genzels Gruppe kam das Very indirekte Hinweise sammelten und sie
blicken will, muss jedoch große Hin- Large Telescope der Europäischen gegen die Zweifel ihrer Kollegen
dernisse überwinden. Die Region ist Südsternwarte (ESO) in Chile zum verteidigten.
26 000 Lichtjahre von der Erde entfernt Einsatz, bei Ghez die Zehn-Meter- Robert Gast ist Physiker und Redakteur bei
und von dichten Staubwolken umge- Spiegel des Keck-Observatoriums auf »Spektrum«.
ben. Auch müssen Jäger des Schwar- Hawaii. Die konkurrierenden Teams
zen Lochs die Sterne in der Zentral­ verfolgten etwa 30 Sterne und behiel- QUELLEN
region über einen sehr langen Zeitraum ten sie fast drei Jahrzehnte lang im
Genzel, R.: Near-infrared flares from
im Blick behalten, was im Grunde nur Blick, darunter auch einen Riesen, den accreting gas around the supermassive
Teleskope am Erdboden leisten kön- Genzel und seine Kollegen »S2« tauf- black hole at the Galactic Centre. Nature
nen. Dabei muss das Licht aus dem ten. Seine Bahn führt ihn auf einer 425, 2003
fernen Weltall allerdings die 100 Kilo- ausgedehnten Ellipse ums Zentrum Ghez, A. M.: High proper-motion stars
meter dicke Lufthülle über unseren der Milchstraße. Knapp 16 Jahre in the vicinity of Sagittarius A*. The
Köpfen passieren. Da dort laufend benötigt S2 für einen Umlauf – und Astrophysical Journal 509, 1998
unterschiedlich warme Luftkammern wird dabei zeitweise von gewaltigen Penrose, R.: Gravitational collapse and
durcheinanderwabern, werden Bilder Gravitationskräften auf 2,5 Prozent der space-time singularities. Physical
des Weltraums verwaschen, so als Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Review Letters 14, 1965

28 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Jennifer Doudna (* 1964,
THE ROYAL SOCIETY, FOTO: DUNCAN.HULL (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/
FILE:PROFESSOR_JENNIFER_DOUDNA_FORMEMRS.JPG) / CC BY-SA 4.0
(CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)

MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT
links) arbeitet an der Univer­
sity of California, Berkeley,
USA. Emmanuelle Charpen­
tier (* 1968) leitet die
Max-Planck-Forschungsstelle
für die Wissenschaft der
Pathogene in Berlin.
Den Chemie-Nobelpreis 2020
bekamen sie »für die
Entwicklung eines Genome-
Editing-Verfahrens«.

NOBELPREIS FÜR CHEMIE


ZWISCHEN PATENTSTREIT
UND ETHIKDEBATTE
Der diesjährige Chemie-Nobelpreis geht an die Entwicklerinnen
der Genschere CRISPR-Cas9. Eine absehbare Entscheidung, die dennoch
Überraschungen birgt – und Stoff für Kontroversen.


Die französische Mikro- und Neurowissenschaftler Feng Zhang moderner Forschung. Ein Team um
Molekularbiologin Emmanuelle vom MIT andererseits. Dieser war den litauischen Biochemiker Virginijus
Charpentier und die US-amerika- wenige Monate nach Doudna und Šikšnys machte beinahe zur selben
nische Biochemikerin Jennifer Doudna Charpentier ebenfalls auf das Potenzial Zeit die gleiche Entdeckung wie Doud-
haben den Preis für den bislang von CRISPR-Cas gestoßen. na und Charpentier – und hatte einfach
­bedeutendsten wissenschaftlichen Zhang hat gemeinsam mit dem Pech: Sein Artikel wurde zunächst von
Durchbruch des 21. Jahrhunderts US-Molekularbiologen George Church einem Fachjournal abgelehnt und
erhalten, die Entwicklung der »Gen- von der Harvard University demons­ erschien deshalb vier Monate später
schere« CRISPR-Cas9. Dieses moleku- triert, dass sich die Technik nicht bloß als jener der Laureatinnen.
lare Werkzeug erlaubt es, das Genom auf Bakterien, sondern auch auf Im Zentrum der Entdeckung steht
gezielt an beliebig vorgegebenen Eukaryoten wie Pflanzen und Tiere ein besonderer Abschnitt im Erbgut
Orten zu verändern. anwenden lässt. Jener Nachweis ist von Einzellern, die »clustered regularly
Bereits jetzt hat die erst acht Jahre den jetzt gekürten Nobelpreisträgerin- interspaced short palindromic re­
alte Methode die Wissenschaft revolu- nen nicht gelungen. Dass nun weder peats« – abgekürzt CRISPR. Nach ihrer
tioniert. »Sowohl für die Stammzell­ Zhang noch Church an der Auszeich- Entdeckung beim Bakterium Escheri-
forschung als auch die Entwicklungs- nung beteiligt sind und sich die Ehrung chia coli zeigte sich schon bald, dass
biologie und die Forschung an ver- ausdrücklich nur auf die Entwicklung diese Region im Genom sehr vieler
schiedenen Krankheiten ist die Technik des grundsätzlichen Prinzips von Bakterien und auch Archaeen vor-
nicht mehr wegzudenken«, erklärt CRISPR-Cas9 bezieht, ist angesichts kommt. Zusammen mit den benach-
Alexander Meissner, Direktor am dessen, welch enorme medizinische barten Cas-Genen (Cas bedeutet
Max-Planck-Institut für molekulare Bedeutung die Methode mittlerweile »CRISPR-associated«) bildet sie ein
Genetik in Berlin. Das gilt ebenso für hat, sicher unerwartet. uraltes, aber lernfähiges Immunsys-
die Pflanzen- und Tierzucht. Doch die Man mag das als Versuch des tem. Es speichert Sequenzen viraler
enormen Möglichkeiten des Verfah- Nobelkomitees sehen, sich dem DNA und zerstört jedes in die Zelle
rens haben Konflikte hervorgebracht, juristischen Streit zu entziehen. Aller- eindringende Erbgut, das einer s­ olchen
unter anderem einen jahrelangen Streit dings reicht das Problem tiefer; der Fall gespeicherten Sequenz entspricht
um lukrative Patente. Bis heute schwe- CRISPR-Cas9 zeigt einmal mehr, welch (siehe Grafik S. 30).
len juristische Auseinandersetzungen große Lücke klafft zwischen der Lange Zeit schien CRISPR-Cas nur
zwischen Charpentier, Doudna und Fiktion überragender wissenschaftli- ein Immunsystem bei Einzellern zu
ihren jeweiligen Universitäten einer- cher Einzelleistungen, wie sie der sein, sicherlich spannend, jedoch nicht
seits und dem US-amerikanischen Nobelpreis suggeriert, und der Realität von bahnbrechender Bedeutung. 2012

Spektrum der Wissenschaft  12.20 29


FORSCHUNG AKTUELL
jedoch machten Charpentier, damals directed repair« benutzt die Zelle ein zufällig darauf stieß. Aber die Struktur
an der Universität Umeå in Schweden, Nukleinsäure-Fragment als Vorlage, der Erbgutregion war so ungewöhnlich,
und Doudna von der University of um den Schaden zu beheben – und dass das Team den unverhofften Fund
California in Berkeley eine entschei- hierfür kann man ihr im Prinzip jedes im letzten Absatz seines Berichts
dende Entdeckung. Sie fanden heraus, beliebige Stück Erbgut unterschieben. erwähnte. CRISPR besteht aus Basen-
wie sich das bakterielle CRISPR-Cas- Damit hatten Fachleute ein Werk- abfolgen, die sich in regelmäßigen
System so abwandeln und verein­ zeug zur Hand, das die Möglichkeiten Abständen wiederholen und eine
fachen lässt, dass man mit lediglich der bisherigen Gentechnik bei Weitem merkwürdige Eigenschaft aufweisen:
einem Cas9-Enzym sowie einem übertraf. Es waren nicht nur präzise Sie erinnern entfernt an Palindrome,
maßgeschneiderten RNA-Molekül eine Veränderungen an gewünschten also an Wörter wie »Regallager«, die
beliebige vorgegebene Stelle auf Stellen des Erbguts möglich, sondern vorwärts wie rückwärts gelesen die
einem DNA-Doppelstrang gezielt diese gelangen nun um ein Vielfaches gleiche Sequenz ergeben. Die erste
durchtrennen kann. schneller und kostengünstiger als Hälfte einer solchen Basenfolge ist
Das ist deswegen interessant, weil vorher. »Allein unser Labor hat [damit] dabei komplementär zur zweiten, so
die Zelle dann versucht, den Schnitt zu sicherlich Jahre gespart«, sagt Meiss- dass im DNA-Doppelstrang die Reihen-
reparieren – und das lässt sich nutzen, ner. Das neue Verfahren eröffnet folge der Basenpaare in beiden Rich-
um diverse Veränderungen an der zudem die realistische Aussicht, in tungen gleich ist.
DNA vorzunehmen. Bei einer Variante nicht allzu ferner Zukunft sogar das Zwischen den sich wiederholenden
einer solchen DNA-Reparatur, dem menschliche Erbgut routinemäßig Sequenzen liegen kurze Erbgutabschnit-
»non-homologous end joining« (NHEJ), modifizieren zu können. Eine Perspek- te namens »Spacer«, die sich sowohl
entstehen Fehler wie der Verlust tive, die manchen Hoffnung macht – untereinander als auch von den palin-
einiger Nukleotide im Strang oder das und vielen Angst. dromischen Basenfolgen unterschei-
Einfügen weniger zusätzlicher Nukleo- den. Zusätzlich sind nahe der CRISPR-
tide, die das betroffene Gen oft inakti- Im letzten Absatz erwähnt Region immer Erbanlagen einer
vieren. Schon damit lässt sich sehr Dass von CRISPR eine Revolution ­bestimmten Familie zu finden, die Cas-­
viel erreichen. Eine weitere Reparatur­ ausgehen würde, war noch nicht klar, Gene nämlich. Welche Funktion die
variante birgt noch mächtigere Ein- als 1987 eine japanische Arbeitsgrup- ganze Struktur hat, wurde 2005 klar.
griffsmöglichkeiten. Beim »homology- pe bei der Analyse eines Enzym-Gens Damals zeigten mehrere Arbeitsgrup-

NIK SPENCER/NATURE; LEDFORD, H.: FIVE BIG MYSTERIES ABOUT CRISPR‘S ORIGINS. NATURE 541, 2017; NUTZUNG GENEHMIGT VON SPRINGER NATURE / CCC; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Die CRISPR-Cas9-
Methode basiert auf
einem molekularen
Immunmechanismus
IMMUNISIERUNG IMMUNITÄT
von Bakterien und
Virus Bakterien-
Archaeen. Das System
zellwand
speichert Teile des
Erbguts von Krank­
heits­erregern in einer
Art Bibliothek. Mit
Der zelluläre Ablese-
ihrer Hilfe kann es die apparat setzt die Spacer
Erreger später Spacer- in RNA-Moleküle um.
­wiedererkennen und sequenz Diese leiten Cas-Proteine
Spacer- (Endonukleasen) zu ein-
zerstören. sequenzen dringender DNA oder
sind oft Teile RNA passender Sequenz
Leit-RNA
aus dem Erbgut hin. Die Proteine zer-
eindringender Viren. schneiden dann das
Sie werden von palindromische palindromische
fremde Erbgut.
Cas-Proteinen ins Wiederholung Wiederholung
(»Repeat«) (»Repeat«) Cas /
Bakteriengenom RNA-Komplex
eingefügt.
Spacer

bakterielles 1 2 3 4
Chromosom
Cas-Gene
Spacer
CRISPR

30 Spektrum der Wissenschaft  12.20


pen, dass die Spacer von Viren und an- enthält – das Enzym an die zu schnei- im Jahr 2018 demonstriert das ge­
deren übertragbaren Fremdgenen dende Stelle dirigiert. Reichte es waltige Konfliktpotenzial der neuen
stammen. CRISPR musste demnach möglicherweise aus, die crRNA mit Technik.
eine Art Verteidigungssystem sein. Cas9 zusammenzubringen, um den Und das ist erst der Anfang einer
In den folgenden Jahren erkannten Schneideprozess auszulösen? Entwicklung, deren weiterer Verlauf
Fachleute immer klarer, dass dieses Es genügte nicht, wie Charpentier kaum absehbar ist. Denn die
Immunsystem zielgerichtet zellfremde und Doudna feststellten. Der Grund CRISPR-Methodik ist in ständiger
DNA zerstört. Das System fügt kurze dafür war Charpentiers alte Bekannte, Weiterentwicklung begriffen. Fachleu-
Abschnitte aus dem Erbgut von Viren die tracrRNA. Doch die erwies sich te arbeiten bereits an verbesserten
als Spacer zwischen die palindromi- zugleich als Lösung des Problems. Die Verfahren mit neuen Möglichkeiten.
schen Sequenzen ein. Dort fungieren Forscherinnen erkannten 2012, dass So sei das gezielte Verändern einzelner
sie als molekulare »Steckbriefe«, deren neben crRNA und Cas9 noch ein Teil DNA-Bausteine technisch nicht voll
RNA-Abschriften das Enzym Cas9 – der tracrRNA benötigt wird, um den ausgereift, wie Meissner betont. Auch
die eigentliche Genschere – zu eindrin- Schneidevorgang einzuleiten – und epigenetische Strukturen, also chemi-
gender viraler DNA entsprechender dass man diesen Teil einfach an die sche Modifikationen des Erbguts ohne
Sequenz hinleiten. Dort bringen sie crRNA koppeln kann. Sie legten somit Änderungen der Nukleotidsequenz,
das Enzym dazu, die Fremd-DNA zu eine Anleitung dafür vor, wie sich eine ließen sich noch nicht präzise manipu-
zerschneiden. künstliche RNA konstruieren lässt, die lieren. »Hier gibt es eine Menge Poten-
Im Detail ist der Mechanismus Cas9 dazu bringt, einen beliebigen zial und sicher gute Lösungen in den
allerdings kompliziert. Wie Charpentier DNA-Strang an einer beliebigen Stelle kommenden Jahren.«
und Doudna feststellten, wirken in zu schneiden. Wie sich die von CRISPR-Cas
dem natürlichen System mehrere aufgeworfenen politischen und ethi-
Komponenten zusammen und müssen Stein des Anstoßes schen Probleme lösen lassen, ist
dort diverse Verarbeitungsschritte All diese Erkenntnisse haben dazu derzeit nicht klar. Die Befürchtungen
durchlaufen. Eine dieser Komponenten geführt, dass heute aus einem bakteri- rund um genetische Veränderungen
identifizierte Charpentier im Jahr 2011, ellen Immunsystem ein Universalwerk- des Menschen mögen mitunter über-
ein RNA-Molekül mit der Bezeichnung zeug der Gentechnik geworden ist. trieben sein – unberechtigt sind sie
tracrRNA. Es ist zwar nicht Bestandteil Aber die enormen Möglichkeiten, die nicht. Und auch die Frage, was noch
von CRISPR, steht aber in Zusammen- es bietet, revolutionieren nicht nur die natürlich und was bereits künstlich ist,
hang damit. Seine Basensequenz Forschung, sondern stoßen auch wird sich dank CRISPR in Zukunft
entspricht teilweise den palindromi- komplizierte ethische Debatten an. dringender stellen. Aus dem Weg
schen Sequenzen von CRISPR. Ohne Unter anderem streiten Fachleute bis gehen kann man diesen Schwierigkei-
tracrRNA funktioniert die bakterielle heute, ob mit CRISPR-Cas9 veränderte ten sicher nicht. Möglicherweise ist
Immun­abwehr nicht richtig, wie Versu- Nutzpflanzen unter die EU-Gentechnik- die von Doudna und Charpentier
che belegten. Der Grund: Die Zelle Verordnungen fallen. Diese Rechts­ angestoßene technische Entwicklung
übersetzt zunächst die gesamte vorschriften stammen aus den frühen tatsächlich nur der Anfang einer
CRISPR-Sequenz in einen einzelnen 2000er Jahren, als gentechnisch echten Umwälzung unseres Selbstver-
langen RNA-Strang. Der muss an- veränderte Pflanzen wegen der damals ständnisses – der eigentlichen
schließend in einzelne Stücke namens vergleichsweise grobschlächtigen CRISPR-Revolution.
»crRNA« zerlegt werden. Letztere Techniken noch klar als solche zu Lars Fischer ist Chemiker und Redakteur bei
enthalten jeweils die Zielsequenz für erkennen waren. Eine mit CRISPR- »Spektrum.de«.
eine ganz bestimmte Fremd-DNA. Für Cas9 modifizierte Pflanze lässt sich
den als Reifung bezeichneten Prozess dagegen häufig nicht von einer natür-
ist, wie Charpentier herausfand, lich entstandenen Variante unterschei- QUELLEN
tracrRNA unverzichtbar. den. Ein Urteil des Europäischen Deltcheva, E. et al.: CRISPR RNA
Nach dieser Erkenntnis taten sich Gerichtshofs von 2018 klärte zwar die maturation by trans-encoded small RNA
Charpentier und Doudna zusammen, einschlägige Rechtslage, keinesfalls and host factor RNase III. Nature 471,
um den nächsten Schritt des Immun- aber das grundsätzliche Problem. 2011
mechanismus zu untersuchen: wie Noch umstrittener sind genetische Ishino, Y. et al.: Nucleotide sequence
nämlich die verschiedenen crRNAs Veränderungen am Menschen. Vor of the iap gene, responsible for alkaline
dazu beitragen, zu ihnen passende kaum einem Jahrzehnt waren derarti- phosphatase isozyme conversion in
Escherichia coli, and identification of the
Fremd-DNA zu zerstören. Dass das ge Experimente bestenfalls hypothe- gene product. Journal of Bacteriology
Enzym Cas9 dafür nötig ist, war be- tisch; heute erscheinen selbst Verän- 169, 1987
reits bekannt. Weiterhin fanden die derungen der menschlichen Keimbahn
Jinek, M. et al.: A programmable
Forscherinnen heraus, dass die bereits in Reichweite. Spätestens der dual-RNA-guided DNA endonuclease in
crRNA – genauer gesagt jener Teil »CRISPR-Babys«-Skandal um den adaptive bacterial immunity. Science
davon, der eine Spacer-Sequenz chinesischen Biophysiker He Jiankui 337, 2012

Spektrum der Wissenschaft  12.20 31


FORSCHUNG AKTUELL
Von links: Harvey Alter
NATIONAL INSTITUTES OF HEALTH (NIH) / CHIACHI CHANG

UNIVERSITY OF ALBERTA

ROCKEFELLER UNIVERSITY
(* 1935) arbeitet für die
National Institutes of Health
in Bethesda, Maryland, USA.
Michael Houghton (* 1949)
wirkt an der University of
Alberta in Kanada, Charles
M. Rice (* 1952) an der
Rockefeller University in
New York, USA. Gemeinsam
haben sie den Nobelpreis
für die Entdeckung des
Hepatitis-C-Virus erhalten.

NOBELPREIS FÜR PHYSIOLOGIE ODER MEDIZIN


SPURENSUCHE IM BLUT
Hepatitis C ist heute in vielen Fällen heilbar. Harvey J. Alter, Michael Houghton
und Charles M. Rice haben den Weg dorthin geebnet, da sie das verursachende
Virus entdeckten.


Zu den großen Plagen der von altgriechisch »hepar« für Leber) Virus. 1976 bekam Blumberg dafür den
Menschheit gehört die Infektions- gibt, die sich in Ursache und Verlauf Medizin-Nobelpreis.
krankheit Hepatitis C. Weltweit unterscheiden. Da ist zum einen die Der Virologe Harvey J. Alter arbei­
sind mehr als 70 Millionen Menschen Hepatitis A, übertragen durch verun- tete zu jener Zeit für die US-amerikani-
davon betroffen, schätzt die Welt­ reinigtes Trinkwasser, kontaminierte schen National Institutes of Health
gesundheitsorganisation WHO, davon Lebensmittel oder über Schmierinfek- (NIH) und untersuchte die Auswirkun-
rund 300 000 in Deutschland. Zirka tionen, die Symptome wie Übelkeit, gen von Bluttransfusionen. Dabei
400 000 Menschen sterben jedes Jahr Erbrechen, Bauchschmerzen, Fieber machte er eine wichtige Entdeckung:
an den Spätfolgen der Krankheit, die oder Durchfall hervorruft. Sie verläuft Seit sich im Blut von Spendern das
unbehandelt zu Leberzirrhose und akut und löst keine Langzeitbeschwer- Hepatitis-B-Virus nachweisen ließ und
Leberkrebs führen kann. den aus. transfusionsbedingte Infektionen
Lange war Medizinern die Krank- Daneben existieren noch chroni- damit weitgehend unterbunden wor-
heitsursache unklar. Dass sich das sche, schleichende Varianten der den waren, ging die Zahl der Hepatitis-
geändert hat, ist vor allem Harvey J. Krankheit, die oft auf Jahre oder fälle zwar um rund 20 Prozent zurück.
Alter, Michael Houghton und Charles Jahrzehnte unbemerkt bleiben. Die Trotzdem erkrankten nach wie vor
M. Rice zu verdanken: Den drei Betroffenen spüren über lange Zeit viele, die Spenderblut erhalten hatten.
­Wissenschaftlern gelang es, den keine oder lediglich sehr unspezifische Hepatitis-A-Viren, erstmals in den
viralen Erreger ausfindig zu machen. Symptome, bis sich irgendwann frühen 1970er Jahren nachgewiesen,
Das Komitee des Karolinska-Instituts Spätfolgen wie eine Leberzirrhose waren jedenfalls nicht der Grund dafür,
in Stockholm erkannte ihnen dafür oder Leberkrebs einstellen, die häufig wie Testergebnisse nahelegten. Offen-
am 5. Oktober den Nobelpreis für tödlich enden. Das macht diese bar gab es einen weiteren Erreger,
Physiologie oder Medizin zu. Ihre ­Formen der Hepatitis nicht nur für jene der über Blut übertragen wurde und
Arbeit habe nicht nur dazu beigetra- tückisch, die sich bereits infiziert Leberentzündungen auslöste.
gen, die Ursachen chronischer haben: Da sie vor allem über Blut Alter und seine Kollegen bestätig-
­Hepa­titis aufzuklären, sondern auch weitergegeben werden, steckten sich ten diese Befürchtung durch Experi-
die Basis für Bluttests und Therapien früher zahlreiche Menschen bei mente, bei denen sie die Krankheit von
geschaffen, die Millionen Menschen­ Bluttransfusionen unbemerkt an. menschlichen Patienten per Blut auf
leben retteten, heißt es in der Presse- In den 1960er Jahren gelang es dem Schimpansen übertragen konnten. Ein
mitteilung des Instituts. amerikanischen Mediziner und Bioche- anderer übertragbarer Krankheitskeim
Bereits in den 1940er Jahren er- miker Baruch Blumberg, einen Erre- musste demnach für die verbleibenden
kannten Wissenschaftler, dass es ger zu identifizieren, der für eine solch Fälle chronischer Hepatitis verantwort-
verschiedene Formen von Leberent- schleichende Erkrankungs­variante lich sein. Höchstwahrscheinlich han-
zündungen (auch Hepatitis genannt, verantwortlich ist: das Hepatitis-B-­ delte es sich dabei ebenfalls um ein

32 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Virus, wie nachfolgende Studien sich an seine Bestandteile heften möglich zu ermitteln, welche Gense-
ergaben. würden. Mit ihnen ließen sich die quenzen von dem Erreger stammten.
Doch diesen so genannten »nicht Virusmoleküle eventuell aus dem Laut diesen Untersuchungen bestand
A-, nicht B-Hepatitis-Erreger« zu Schimpansenblut fischen. sein Genom aus schätzungsweise
identifizieren, erwies sich als schwie- Zunächst untersuchte das Forscher- 10 000 Nukleotiden. Weitere For-
rig: Alle Methoden, mit denen man team die Nukleinsäuren im Blut infi- schungsarbeiten ergaben, dass er zur
dem Hepatitis-A- und dem Hepatitis-B- zierter Schimpansen. Dort fanden sich Familie der Flaviviren gehört. Die
Virus auf die Schliche gekommen war, diverse verschiedene RNA-Moleküle; Wissenschaftler tauften ihn daraufhin
scheiterten. Erst mehr als ein Jahr- die meisten davon sollten von den »Hepatitis-C-Virus«. Ein Bluttest, der
zehnt später gelang dies einem Team Affen stammen, einige wenige aber den Erreger detektieren konnte, folgte
um den britischen Virologen Michael von dem unbekannten Erreger, wie die bald. Auch an dessen Entwicklung war
Houghton, der damals für das Biotech- Wissenschaftler annahmen. Mit Hilfe Houghton beteiligt.
nologieunternehmen Chiron Corpora­ des Enzyms reverse Transkriptase Ein Puzzleteil im Infektionsgesche-
tion arbeitete. schrieben sie die RNA-Moleküle in hen fehlte allerdings noch. Nun hatte
entsprechende Fragmente komple- man zwar ein Krankheitsbild und ein
Mit Antikörpern von Patienten mentärer DNA (cDNA) um, die sich Virus, gegen das die Betroffenen
Houghton musste sich einiger Tricks dann weiter vervielfältigen und analy- Antikörper bildeten. Der Beweis, dass
bedienen, um die Virusbestandteile sieren ließen. Die Wissenschaftler das Hepatitis-C-Virus tatsächlich eine
aus dem Blut infizierter Schimpansen exprimierten diese cDNAs, setzten chronische Leberentzündung verursa-
zu isolieren. Um herauszufinden, wel­- deren Nukleotidsequenzen also mit ge- chen kann, stand jedoch aus. Dazu
che Moleküle darin zu dem Erreger ge- eigneten Enzymen in Proteine um. Das musste es gelingen, vermehrungsfähi-
hörten, nutzten der Forscher und seine menschliche Serum mit den Antikör- ge Viren zu isolieren und diese mit
Kollegen das Serum von Hepatitis- pern darin half ihnen dann, die viralen einem geeigneten Wirtsorganismus in
patienten. Denn deren Körperabwehr, Proteine aus den Proben zu isolieren – Kontakt zu bringen. Und das glückte
so die Überlegung, müsste Antikörper und die zugehörigen cDNAs somit schließlich dem amerikanischen
gegen den Erreger gebildet haben, die dem Virus zuzuordnen. So war es Virologen Charles M. Rice, damals an

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Spektrum der Wissenschaft  12.20 33


FORSCHUNG AKTUELL
Hepatitis C: Die Anzahl nur noch extrem selten übertragen. In
der Neu­erkrankungen Deutschland durchlaufen seit 1991 alle
pro Zeitraum (»Inzi­ Blutprodukte einen Test auf den Erre-
denz«) variiert innerhalb ger. Auch bei diagnostischen Eingrif-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: EPIDEMIOLOGISCHES BULLETIN 30, 2019, ROBERT-KOCH-INSTITUT


Deutschlands je nach fen oder bei Operationen ist die Anste-
Bundesland. Am höchs­ ckungswahrscheinlichkeit hier zu

(WWW.RKI.DE/DE/CONTENT/INFEKT/EPIDBULL/ARCHIV/2019/AUSGABEN/30_19.PDF)
ten im Jahr 2018 war Lande gering. Am stärksten gefährdet,
sie in Bayern und ­Baden- sich zu infizieren, sind derzeit Drogen-
Württemberg. konsumenten, die sich Spritzen oder
andere Injektionsutensilien mit weite-
ren Menschen teilen. Daneben stellen
Tätowierungen und Piercings Risiko-
faktoren dar, falls sie mit kontaminier-
ten Instrumenten erfolgen. Eine sexu-
elle Übertragung ist selten.
Bluttests, Prävention, Therapie:
Ohne die Arbeiten von Harvey J. Alter,
Michael Houghton, Charles M. Rice
und den vielen Forscherinnen und
Forschern, die sie unterstützt haben,
wären all diese Erfolge kaum möglich
gewesen. Sie haben Millionen Men-
schen auf der ganzen Welt viel Leid
erspart. Aber noch können nicht alle
der Washington University in St. Louis, RNA-Virus, dessen Genom rund 9600 gleichermaßen davon profitieren. So
und seinen Kollegen im Jahr 1997. Nukleotide umfasst. Es weist eine kritisiert die WHO, der Zugang zu
Rice’ Team war es zunächst nicht vergleichsweise hohe Mutationsrate wirksamen Hepatitis-C-Therapien sei
gelungen, Versuchstiere mit einem und dementsprechend eine starke vielen Patienten verschlossen. Im Jahr
vermehrungsfähigen Hepatitis-C-Erre- genetische Variabilität auf. Sieben 2017 hätten gerade einmal 19 Prozent
ger zu infizieren. Dem Wissenschaftler verschiedene Genotypen sind bekannt, der global mehr als 70 Millionen Be-
fiel aber eine Region am Ende des die sich noch einmal in dutzende troffenen von ihrer Krankheit gewusst.
Virusgenoms auf, die vermutlich sehr Subtypen untergliedern. Und von diesen rund 13 Millionen
bedeutsam für die Fähigkeit des Zudem haben Forscher neben den seien nur etwa 5 Millionen mit ent-
Erregers war, sich in Wirtszellen zu Hepatitisviren A, B und C mittlerweile sprechenden antiviralen Medikamen-
vervielfältigen. Bei manchen Viruspro- noch die Varianten D und E nach­ ten behandelt worden. Vor allem
ben, die das Team untersuchte, zeigte gewiesen. Eine Typ-D-Infektion tritt Menschen in ärmeren Ländern können
sich diese Region mutiert, und von allerdings nur gemeinsam mit einer sich die teuren Therapien oft nicht
einigen dieser Mutationen vermutete Hepatitis B auf. Version E verursacht leisten. Geht es nach der WHO, soll
Rice, dass sie die Vermehrung des wiederum eine akute Leberentzün- sich das bis 2030 ändern: Bis dahin
Virus behindern würden. Daher stell- dung, die sich kaum von einer Hepati- sollen 80 Prozent aller Patienten eine
ten er und sein Team eine RNA-Varian- tis A unterscheiden lässt, mitunter adäquate Behandlung erhalten.
te des Hepatitis-C-Virus her, die jene aber schwerer verläuft. Daniela Mocker ist stellvertretende Redak­
wichtige Genomregion enthielt, und Eine Impfung gegen Hepatitis C gibt tionsleiterin von »Spektrum.de«.
zwar ohne mutmaßlich inaktivierende es – anders als bei A und B – bislang
Mutationen. Diese Erregerversion war nicht. Dafür existieren aber wirkungs-
tatsächlich in der Lage, Schimpansen volle Therapiemethoden. Allein seit
QUELLEN
zu infizieren, wenn die Forscher sie in 2014 sind laut Robert Koch-Institut
deren Leber einspritzten. (RKI) mehrere neue antiviral wirkende Alter, H. J. et al.: Posttransfusion
hepatitis after exclusion of commercial
Die kranken Primaten entwickelten Substanzen zur Behandlung der Hepa-
and hepatitis-B antigen-positive donors.
ähnliche Symptome wie Menschen, titis C zugelassen worden. Fast alle Annals of Internal Medicine 77, 1972
die an einer Hepatitis-C-Erkrankung Patienten profitieren nach RKI-Anga-
Choo, Q. L. et al.: Isolation of a cDNA
leiden. Zudem ließ sich in ihrem Blut ben von einer Therapie; häufig gelingt clone derived from a blood-borne
die Virus-RNA nachweisen. Damit war eine dauerhafte Virusunterdrückung, non-A, non-B viral hepatitis genome.
bewiesen: Das Virus verursacht die was einer Heilung gleichkommt. Science 244, 1989
chronische Leberentzündung. Dank ausgefeilter Kontrollen wird Kolykhalov, A. A. et al.: Transmission of
Heute wissen wir: Das Hepatitis-C- das Virus bei Bluttransfusionen mitt- hepatitis C by intrahepatic inoculation
Virus ist ein behülltes, einzelsträngiges lerweile in vielen Regionen der Welt with transcribed RNA. Science 277, 1997

34 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Paul Milgrom (* 1948, links)
STANFORD UNIVERSITY

STANFORD UNIVERSITY
und Robert Wilson (* 1937)
von der Stanford University
nutzten spieltheoretische
Methoden, um die kompli­
zierten Vorgänge hinter
Auktionen zu beleuchten.
Wilson, der gegenüber von
Milgrom wohnt, musste
diesen wecken, um ihm
mitzuteilen, dass sie den
Nobelpreis gewonnen haben.

NOBELPREIS FÜR WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN


3, 2, 1 – MEINS
Die Schwedische Nationalbank verleiht den Preis für Wirtschaftswissenschaften
im Gedenken an Alfred Nobel an Paul Milgrom und Robert Wilson für die Fortschritte
in der Auktionstheorie und für neue Auktionsformate.


Fast jeder ist schon einmal mit Emissionszertifikaten gibt es viele einer englischen Auktion kann man das
Auktionen in Berührung gekom- Internetplattformen, bei denen Privat- Verhalten der anderen Bieter beobach-
men: Sei es, weil man ein Kunst- kunden ihre Besitztümer versteigern ten. Wenn sich irgendwann die meisten
werk ersteigert, ein paar Schuhe auf können. Dabei ist es nicht immer aus der Versteigerung herausziehen,
E-Bay ergattert oder Staatsanleihen einfach abzuschätzen, welchen Ver- erhält man zusätzliche Information über
gekauft hat. Doch was genau muss ein kaufspreis man am Ende erzielen wird. den vermeintlichen Wert des Objekts.
Verkäufer beachten, um den größt- Denn das Verhalten der Bieter hängt In einer niederländischen Auktion
möglichen Gewinn zu erzielen? Und von unterschiedlichen Faktoren ab. ändert sich das Maß an Wissen über
welches der vielen verschiedenen Zunächst gibt es verschiedene die Zeit hingegen nicht, Bieter neigen
Auktionsformate sollte man wählen? Möglichkeiten, etwas zu versteigern. daher dazu, niedrigere Gebote abzuge-
Solchen Fragen haben sich die Die wohl bekannteste ist die »engli- ben. Deshalb kann ein Verkäufer in
Wirtschaftswissenschaftler Paul sche Auktion«: Man bietet nach und englischen Auktionen meist einen
Milgrom und Robert Wilson von der nach höhere Beträge, wobei das letzte größeren Gewinn erzielen.
Stanford University in den letzten Gebot gewinnt. Eine andere Variante Darüber hinaus hängt der Endpreis
Jahrzehnten gestellt und dabei span- ist die »niederländische Auktion«, bei vom Objekt ab. Wirtschaftswissen-
nende Erkenntnisse gewonnen. Unter der ein Auktionator mit einem hohen schaftler unterscheiden zwischen
anderem entwickelten sie ein neues Preis startet und diesen dann immer »gemeinsamen Werten«, die jeder
Auktionsverfahren, um Radiofrequen- weiter senkt, bis jemand bietet. Beide Bieter gleich bewertet, und »privaten
zen unter Telekommunikationsanbie- Formate sind offen, das heißt, ein Werten«, deren Preis von den Interes-
tern zu verteilen. Für ihre Arbeiten hat Bieter sieht, wie seine Konkurrenten sen einer individuellen Person abhängt.
ihnen die Schwedische Nationalbank reagieren. Das kann gerade bei der Die Anfänge der Auktionstheorie
den diesjährigen Preis für Wirtschafts- englischen Auktion von Vorteil sein. schuf der Wirtschaftswissenschaftler
wissenschaften im Gedenken an Denn ein weiterer wichtiger Punkt William Vickrey in den 1960er Jahren.
Alfred Nobel verliehen. bei der Preisentwicklung ist, was man Allerdings bezogen sich seine Modelle
Die Geschichte von Auktionen ist über den zu versteigernden Gegen- auf Versteigerungen von privaten
ziemlich lang, sie reicht bis ins alte stand weiß – und was die Konkurren- Werten. Ein Beispiel dafür ist eine
Rom zurück. Konnte ein Kreditnehmer ten darüber wissen. Verfügt ein Bieter Auktion für ein Essen mit einem Promi-
seine Schulden nicht zahlen, wurden über wenig Information, etwa über die nenten. Die Höhe eines Gebots hängt
seine Wertgegenstände an den Qualität eines Objekts, dann tendiert dabei nur von den persönlichen Interes-
Höchstbietenden verkauft. Das Prinzip er meist dazu, niedrige Gebote abzuge- sen eines Bieters ab und kann sich
hat sich bewährt: Neben Kunstgegen- ben, um dem »Fluch des Gewinners« individuell stark unterscheiden.
ständen, öffentlichen Ausschreibun- zu entgehen: einen Preis zu zahlen, der Vickrey nutzte Methoden aus der
gen, Aktienkursen, Flugplatz-Slots und den Wert des Objekts übersteigt. Bei nichtkooperativen Spieltheorie, um

Spektrum der Wissenschaft  12.20 35


FORSCHUNG AKTUELL
verschiedene Auktionsformate für die dem die Bieter so viel wie möglich wis- Firmen beliebt sind, während andere
Versteigerung privater Werte zu ver- sen, liefert die höchsten Erlöse. Bereiche weniger interessant sind.
gleichen. Er spielte mögliche strategi- Damit haben Milgrom und Wilson Milgrom und Wilson widmeten sich
sche Szenarien durch, bis sich ein bedeutende Fortschritte bei der Ent- dem Problem und fanden eine Lösung.
Gleichgewicht einstellte: die bestmög- wicklung der Auktionstheorie und Sie entwickelten eine Auktionsform, bei
liche Situation für jeden Bieter ange- spieltheoretischer Modelle gemacht. der man alle Regionen gleichzeitig nach
sichts seiner Überzeugungen und der Darüber hinaus haben sich die Wirt- englischem Format versteigert – aller-
Strategien der anderen. Wie sich schaftswissenschaftler konkreten dings in mehreren Runden. Man be-
herausstellte, hing der Endpreis dabei Problemen zugewandt – und äußerst ginnt mit einem Startpreis und beendet
kaum vom gewählten Format ab. Das nützliche Lösungen entworfen. eine Runde mit vorläufigen Gewinnern,
lässt sich dadurch erklären, dass ein den jeweiligen Höchstbietenden. An-
Bieter während einer Auktion keine Vergabe von Nutzungslizenzen schließend beginnt eine neue Runde,
Information dazugewinnt, denn der Eines der bekanntesten Beispiele ist mit den zuletzt gesetzten Geboten als
Wert des Objekts hängt ausschließlich die Verteilung der Radiofrequenzen, Startpreisen. Das Verfahren wird so oft
von der einzelnen Person ab. die in den USA in staatlicher Hand ist. wiederholt, bis niemand mehr bietet.
Etwa zehn Jahre später widmete Früher vergab die Regierung Lizenzen Dadurch blieben die späteren Tausch­
sich Wilson der Versteigerung von für bestimmte Bandbreiten an die geschäfte unter den Firmen aus – und
Objekten mit gemeinsamem Wert. Anbieter, die sich am erfolgreichsten die USA verdienten über 522 Millionen
Tatsächlich fallen viele Auktionen in vermarkteten. Allerdings investierten Euro, welche die Firmen sonst in teure
diese Kategorie. Sucht man etwa auf die Unternehmen dadurch Unmengen Marketingkampagnen gesteckt hätten.
E-Bay nach einem Handy, dann wer- an Geld in aufwändige Kampagnen Nach dem erfolgreichen Unterfan-
den es wahrscheinlich alle Bietenden – und betrieben aggressive Lobbyarbeit. gen zogen andere Länder nach, darun-
bei gleichem Informationsstand – Je stärker die Zahl der Anbieter wuchs, ter Deutschland, und versteigerten
gleich bewerten. Wie Wilson in seinen desto deutlicher wurden die Probleme, Lizenzen für Radiofrequenzen derart.
Modellen berechnete, erzielen Verkäu- so dass die Regierung um 1990 be- Inzwischen nutzen Regierungen dieses
fer einen höheren Preis, je mehr Infor- schloss, die Lizenzen zu verlosen. und ähnliche Modelle, um Anbieter auf
mationen sie zuvor preisgeben. Denn Aber auch das führte zu Schwierig- das Stromnetz zu verteilen, was eben-
dann fürchten die Bieter nicht den keiten: Manche Anbieter hatten in falls eine große Herausforderung dar-
Fluch des Gewinners und trauen sich, einem Gebiet eine andere Frequenz als stellt, wenn man die Netzabdeckung
mehr zu bieten. Wilson konnte so in anderen Regionen, weshalb die und die jeweiligen Interessen der Fir-
deutlich besser die Ausgänge von Firmen nach der Verlosung ihre Lizen- men berücksichtigt.
Auktionen bei der Vergabe von Nut- zen wild hin und her tauschten. Zudem Die Beispiele verdeutlichen, dass
zungsrechten von Grubenfeldern oder gewann der Staat durch die Lotterie Versteigerungen weitaus komplizierter
finanziellen Vermögenswerten vorher- bloß einen symbolischen Geldbetrag, sind, als sie auf den ersten Blick anmu-
sagen als die privaten Auktionsmodel- während die Firmen hohe Summen ten. Je nachdem, was man versteigern
le von Vickrey. untereinander wechselten, um die möchte, ist ein bestimmtes Auktions­
In den 1980er Jahren wandte gewünschten Bandbreiten zu erhalten. format nützlicher als ein anderes – unter
sich Milgrom, der zehn Jahre zuvor bei Daher entschieden die USA im Jahr Umständen muss man dafür sogar
Wilson promoviert hatte, realisti­ 1993, die Lizenzen für Radiofrequenzen neue, maßgeschneiderte Modelle
scheren Fällen zu. Die meisten realen zu versteigern. Die Verteilung sollte da- entwerfen. Wilson und Milgrom gelang
Auktionen sind eine Mischung aus bei effizient erfolgen, ohne dass hinter- es dabei, sowohl die undurchsichtigen
privaten und gemeinsamen Werten: her ein zweiter Markt zwischen den Prozesse zwischen den Bietern zu
Möchte man ein Haus ersteigern, dann Anbietern entsteht, und dabei alle beleuchten als auch kreative Lösungen
hat dieses einen klar definierten Wert, Regionen abdecken. zu Tage zu fördern.
wenn man es beispielsweise wieder Die theoretische Beschreibung Manon Bischoff ist Physikerin und Redak-
verkaufen möchte. Andererseits be- einer solchen Auktion ist kompliziert, teurin bei »Spektrum«.
deutet der Schnitt der Räume oder die denn der Preis einer Frequenz in einer
Lage für jede Person etwas anderes. Region hängt von den äußeren Um-
Wie Milgrom ermittelte, lohnt es sich ständen ab: Möchte ein Anbieter etwa QUELLEN
für einen Verkäufer, Gutachten von in mehreren Gebieten die gleiche Milgrom, P.: A convergence theorem for
Experten mit den Bietern zu teilen, um Frequenz haben, dann ist sie für ihn competitive bidding with differential
einen höheren Endpreis zu erzielen. Zu- von hohem Wert. Wissen das die information. Econometrica 47, 1979
dem untersuchte er, welche Auktions- anderen Firmen, können sie davon Wilson, R. B.: Competitive bidding with
formen sich am besten für derartige profitieren, indem sie die gewünschte disparate information. Management
Mischfälle eignen. Im Wesentlichen Lizenz erwerben und ihm dann teuer Science 15, 1969
festigte er die Ergebnisse von Wilson: weiterverkaufen. Zudem gibt es dicht Wilson, R. B.: Architecture of power
Ein englisches Auktionssystem, bei besiedelte Regionen, die unter den markets. Econometrica 70, 2002

36 Spektrum der Wissenschaft  12.20


SPRINGERS EINWÜRFE
UNTERWEGS IN EINE WELT
OHNE HUNGER
Der Friedensnobelpreis 2020 für das UN-Welternährungs­
programm erinnert an den stillen Kampf gegen einen globalen
Skandal. Kann die Wissenschaft weiterhelfen?

Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist. Eine


neue Sammlung seiner Einwürfe ist 2019 als Buch unter dem Titel
»Lauter Überraschungen. Was die Wissenschaft weitertreibt« erschienen.

 spektrum.de/artikel/1783526

T
ag für Tag leiden 690 Millionen Menschen an Hungernden auf dem Land leben und obwohl von den
gesundheitsschädlichem Nahrungsmangel. Um 570 Millionen Bauernhöfen auf der Welt 475 Millionen
ihr Elend nachhaltig zu beenden, gilt es, die Gehöfte kleiner als zwei Hektar sind.
Wurzeln dieser andauernden Katastrophe aufzu- Viele Analysen erhärten bloß die wenig originelle
decken. Gewiss, lokale Konflikte oder gar echte Kriege Erkenntnis, dass Kleinhäusler von der Bildung von
erzeugen zusätzliches Elend, und allzu oft versickern Selbsthilfegruppen und Kooperativen profitieren.
Hilfsgelder in den großen Taschen korrupter Regime. Allerdings befassen sich die allermeisten der von
Doch das sind nur die medienwirksamen Auswüchse Ceres 2030 untersuchten Studien überhaupt nicht mit
eines weltumspannenden Grundübels, das endlich den Problemen von Kleinbauern.
nach Aufklärung verlangt. Warum ist das so? Zum Teil wohl deshalb, weil sich
Welche Erfolge hat die einschlägige Forschung die Finanzierung der einschlägigen Forschung in den
bisher erzielt? Vermag sie zu ergründen, woher die vier vergangenen Jahrzehnten vom universitären in
chronische Fehlallokation der Nahrung kommt? Denn den privaten Sektor verschoben hat. Mehr als die
bekanntermaßen reicht die global erzeugte Menge an Hälfte der Forschungsgelder stammt heutzutage von
sich aus, heutzutage jeden Menschen satt zu machen. Konzernen, die ihr Geld mit der Landwirtschaft ma-
Vor allem: Was hat man an konkreten Strategien chen – und das lieber mit großflächigen Agrarbetrie-
gegen den Welthunger anzubieten? ben, die ordentlich Saatgut, Dünger und Maschinen
Tatsächlich hat ein internationales Konsortium bestellen.
namens Ceres 2030 gerade diese Fragen untersucht

Z
und in dreijähriger Arbeit mehr als 100 000 Fachpubli- udem ist es einer akademischen Karriere nicht
kationen betrachtet. Das Ergebnis wurde just wenige unbedingt förderlich, wenn man sich auf die
Tage veröffentlicht, nachdem das World Food Pro- Existenzsorgen ländlicher Kleinproduzenten
gramme der Vereinten Nationen als Träger des Frie- spezialisiert. Die Universitäten sind bei der Jagd
densnobelpreises 2020 feststand (Nature Plants 6, nach Drittmitteln und Staatsgeldern wenig erpicht auf
S. 1231–1241, 2020). Projekte, die eher abseitig anmuten.
Finanziert wurde Ceres 2030 von der Bill & Melinda Hinzu kommt die Vorliebe der Fachredaktionen
Gates Foundation und dem deutschen Bundesministe- und -verlage für vermeintlich »große« Themen, wie die
rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Informatikerin Jaron Porciello von der Cornell Uni­
lung. Die Zahl 2030 im Namen nimmt Bezug auf eines versity in Ithaca (US-Bundesstaat New York) – Kodirek­
der wichtigsten der 17 von den UN erklärten »Ziele für torin von Ceres 2030 – konstatiert: Die Erforschung
nachhaltige Entwicklung« (Sustainable Development der Probleme kleiner Bauern gelte als zu wenig welt­
Goals): den Hunger bis 2030 aus der Welt zu schaffen. bewegend (Nature 586, S. 336, 2020).
Ceres 2030 beurteilt die bisherige Hungerforschung Dieses Vorurteil ist, wie Ceres 2030 nachweist,
äußerst kritisch: Nur ein winziger Bruchteil aller unter- grundverkehrt. Die meisten Bauern auf der Welt
suchten Artikel wage es, praktische Vorschläge zu treiben Kleinwirtschaft. Darum entscheidet ihr Wohl­
machen; die überwältigende Mehrheit erweise sich als ergehen über Hunger oder Sattheit – nicht nur der
unfähig, insbesondere den Kleinbauern und deren eigenen Familie, sondern aller Kunden, die mit der
Familien weiterzuhelfen – obwohl zwei Drittel der überschüssigen Ernte zufrieden gestellt werden.

Spektrum der Wissenschaft  12.20 37


PETESPHOTOGRAPHY / GETTY IMAGES / ISTOCK
AUF EINEN BLICK
ENTNEBELUNG DER ZUKUNFT

1 Meteorologen bestimmen inzwischen Wettertrends für


bis zu vier Wochen. Vor allem leistungsfähigere Super-
computer, aber auch ein genaueres Verständnis globa-
ler Klimaphänomene ermöglichen den Fortschritt.

2 Um die normale Vorhersage auf solch große Zeiträume


zu erweitern, beziehen die Forscher zusätzliche, lang-
fristiger wirkende Variablen ein und verbinden verschie-
dene Modellansätze.

3 Eine speziell für diesen Artikel erstellte 28-Tage-Prog­


nose lag bei Temperatur- und Niederschlagsanomalien
für einige Regionen richtig, tat sich allerdings mit an-
deren schwer.

38 Spektrum der Wissenschaft  12.20


PETESPHOTOGRAPHY / GETTY IMAGES / ISTOCK

METEOROLOGIE
DIE 28-TAGE-
WETTERVORHERSAGE
Die Prognosen für die Temperaturen und Nieder-
schläge der nächsten paar Tage werden ständig ver-
lässlicher. Aber nicht nur das – selbst einen Monat
im Voraus sind zumindest einige atmosphärische
Vorgänge immer besser berechenbar.

Kathy Pegion ist Geowissenschaftlerin an der George


Mason University in Fairfax, Virginia. Sie leitet das
SubX-Projekt, das Wettervorhersagen für bis zu vier
Wochen erstellt und an mehrjährigen Klimaprog-
nosen forscht.

 spektrum.de/artikel/1783508

Stürme und Gewitter verursa-


chen mitunter große Schäden. Je
früher solche Ereignisse abseh-
bar werden, desto besser können
Menschen sich vorbereiten.

Spektrum der Wissenschaft  12.20 39



Heute sind wir es gewohnt, auf der Basis verlässlicher rungen von Temperatur, Wind und Feuchtigkeit beschrei-
Wettervorhersagen Entscheidungen für die nächsten ben – von Sekunde zu Sekunde und von Tag zu Tag. Ein
Tage zu treffen: Bauern schützen ihre Obstbäume vor besseres wissenschaftliches Verständnis dieser physi­
abzusehendem Nachtfrost, Anrainer von Flüssen verbarri- kalischen Zustände sowie Fortschritte bei der Rechenleis-
kadieren ihre Häuser mit Sandsäcken, wenn Stark­regen zu tung vervollkommneten die Wettermodelle seit deren
erwarten ist, Familien kaufen Grillzutaten für das Wochen- Einführung in den 1950er Jahren immer mehr. 1990 stimm-
ende im Garten. Für viele Entscheidungen wären darüber ten nur diejenigen Wettervorhersagen zu mindestens
hinaus genaue Vorhersagen für die nächsten drei oder vier 80 Prozent, die maximal drei Tage vorausblickten. Die
Wochen nützlich, sei es für die landwirtschaftliche Planung, gleiche Genauigkeit erreichen heute Prognosen über bis zu
im Wassermanagement etwa von Stauanlagen oder einfach sieben Tage.
für die persönliche Freizeitgestaltung. Bei einer Vorhersage im Bereich von drei bis vier Wo-
Seit einigen Jahren geben Atmosphärenforscher »sub- chen kommen jedoch viele weitere Faktoren ins Spiel. Wie
saisonale« Wettervorhersagen für solche Zeiträume heraus. bei einer Sieben-Tage-Prognose stehen am Anfang der
In der gängigen Vorhersage für sieben oder zehn Tage Simulation die gegenwärtigen Bedingungen. Jeden Tag
stehen Angaben für tägliche Höchst- und Tiefsttemperatu- liefern die Beobachtungsdienste verschiedenster Länder
ren, prozentuale Wahrscheinlichkeiten für Regen oder etwa vier Millionen Datenpunkte von Temperatur, Luft-
Schnee sowie Windbedingungen. Eine subsaisonale Prog- druck, Wind und Feuchtigkeit. Sie stammen von Wetter-
nose dagegen kündigt an, ob an einem bestimmten Tag stationen, Wetterballons, Flugzeugen und Satelliten.
über- oder unterdurchschnittliche Temperaturen und Nie- Atmosphärenforscher führen alle Daten in ihren Modellen
derschläge zu erwarten sind. Sie sagt außerdem gefährli- zusammen.
che Wetterlagen und extreme Wetterereignisse voraus.
Damit füllt sie die Lücke zwischen kurz- und mittelfristigen Immer komplexere globale Zusammenhänge
Wetterberichten sowie saisonalen Trends. Letztere geben für immer bessere Modelle
allgemeinere Entwicklungen wieder, etwa ob das El-Niño- Um die Vorhersage auf mehrere Wochen zu erweitern,
Phänomen im Pazifischen Ozean zu einem warmen Som- bauen sie weitere Variablen ein, etwa Ozeantemperaturen
mer in Nordamerika führen wird. und Meeresströmungen. Sie analysieren die Bedingungen
Subsaisonale Vorhersagen werden immer genauer. So in Böden, die innerhalb ein paar warmer Tage austrocknen
prognostizierte das mit mehreren Wettermodellen arbeiten- können. Daraufhin bildet sich möglicherweise weniger
de Projekt SubX (kurz für Subseasonal Experiment) unter Luftfeuchte durch Verdunstung, was in geringerem Nieder-
meiner Leitung sowie der meines Kollegen Ben Kirtman an schlag mündet. Die Wissenschaftler berücksichtigen auch
der University of Miami einige Wochen im Voraus die Windströmungen in der Stratosphäre, einer in etwa 10 bis
erhöhten Regenmengen in Verbindung mit dem Hurrikan 48 Kilometer Höhe gelegenen Schicht oberhalb des Be-
Michael 2018, einen heftigen Kälteeinbruch im mittleren reichs, in dem Flugzeuge verkehren. Die dortigen Winde
Westen der USA Ende Januar 2019 sowie die Hitzewelle wechselwirken mit dem Jetstream, der als Sturmband
vom Juli 2019 in Alaska. SubX läuft seit 2017 und verknüpft über der Nordhalbkugel von West nach Ost fegt und je
Vorhersagen von sieben bedeutenden Klima- und Geofor- nach Lage und Stärke für Extremtemperaturen sorgen
schungszentren in den USA und Kanada. kann (siehe »Spektrum« Juli 2019, S. 54).
Die subsaisonalen Modelle beziehen auch globale
Wetter- und Klimaphänomene ein, etwa die so genannte
Madden-Julian-Oszillation (MJO). Dieses große Wolken-,
Subsaisonale Prognosen Regen- und Windgebiet entsteht in den tropischen Berei-
chen des Indischen und Pazifischen Ozeans und wandert
füllen die Lücke zwischen im Verlauf einiger Monate von West nach Ost um den
Erdball. Das passiert vier- bis sechsmal im Jahr, manchmal
Wetterberichten in regelmäßiger Folge, manchmal zufällig. Die MJO wirkt
sich vielerorts auf Windströmungen und die Lage von
und saisonalen Trends Hoch- und Tiefdruckgebieten aus. Sie bestimmt, wo sich
Wetterfronten bilden. So hat sie etwa großen Einfluss
darauf, wo es im Westen Nordamerikas durch »atmosphä-
rische Flüsse« regnet – das sind lange, schmale Bänder
Für den vorliegenden Artikel erstellte ich mit SubX am extrem feuchter Luft, die sich vom zentralen Pazifik bis zur
27. Februar 2020 Wettervorhersagekarten für die USA und Westküste erstrecken. Atmosphärische Flüsse können je
die ganze Welt für den Zeitraum zwischen dem 21. und dem nach ihrem Verlauf verheerende Überschwemmungen
27. März 2020 – also 23 bis 29 Tage im Voraus. Aber nur ein verursachen oder auch dringend benötigtes Wasser liefern.
Teil dieser Vorhersagen traf zu. Die MJO kann innerhalb einer Woche Scherwinde man-
Die uns vertrauten Wettervorhersagen für sieben bis cherorts verstärken und anderswo abschwächen. Diese
zehn Tage basieren auf Computermodellen. Sie simulieren, wiederum sind entscheidend dafür, wo sich tropische
wie sich die Atmosphäre entwickeln wird, und arbeiten mit Zyklone bilden. Wahrscheinlich beruhte darauf zum Teil die
mathematischen Gleichungen, die zu erwartende Verände- erfolgreiche SubX-Vorhersage zum Hurrikan Michael.

40 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Die Nordatlantische Oszillation (NAO) ist ein weiteres werden die Bausteine höher, in der Stratosphäre bis zu
bedeutendes Phänomen. Dabei handelt es sich um eine 700 Meter. Das Modell berechnet, wie sich die Atmosphäre
beständige Kopplung von niedrigem und hohem Luftdruck in jedem Volumenelement in Abständen von 20 Sekun­-
über dem Nordatlantik. Sie kann die Lage des Jetstreams den vermutlich entwickeln wird. Dafür verwendet es Glei-
beeinflussen wie auch die Position des Polarwirbels, der chungen etwa für die Temperatur, den Druck, die horizon­
zuweilen extrem kalte Luft aus der Arktis in den amerikani- tale und vertikale Windgeschwindigkeit sowie die Feuchte.
schen Nordosten und nach Europa lenkt. Vergleichbar mit den Bildpunkten eines digitalen Fotos
Die für eine subsaisonale Wetterprognose notwendige, liefern die Zellen in der Zusammenschau ein komplettes
gewaltige Menge an Daten und Rechenschritten fordert Bild des künftigen Wetters. Für eine Fünf-Tage-Vorhersage
selbst die leistungsfähigsten Supercomputer heraus. Ein verarbeitet ein Modell Hunderte von Gleichungen insge-
Vorhersagemodell unterteilt die dreidimensionale Atmo- samt etwa 23 000-mal. Ein solcher Durchlauf beschäftigt
sphäre in zahlreiche virtuelle Volumenstücke (siehe »Spekt- alle 1500 Prozessorkerne eines großen Supercomputers
rum« November 2020, S. 54). So besteht etwa das globale zirka 40 Minuten lang.
Wettermodell der US-Wetter- und Ozeanografiebehörde Die Meteorologen müssen die bestmögliche Auflösung
NOAA aus rund 200 Millionen solcher Gitterelemente. Die mit einer praktikabel kurzen Rechenzeit in Einklang bringen.
der Erdoberfläche am nächsten gelegenen Zellen decken Selbst die modernen Fünf-Tage-Modelle erfassen nicht alle
jeweils eine 13 Kilometer lange und 13 Kilometer breite Faktoren in den Zellen wie einzelne Wolken, Gewitter und
Grundfläche ab und sind 50 Meter hoch. Weitere stapeln die Effekte komplexer Geländeformen etwa an Bergen und
sich über ihnen. Mit zunehmender Entfernung vom Boden Küsten. Um diese sinnvoll abzubilden, müsste die horizonta-

Atmosphäre rein, Vorhersage raus


Eine Wetterprognose für drei jenigen einer Fünf-Tage-Vor­hersage. zu machen. Am Ende erfolgt die
oder vier Wochen braucht enorme Hinzu kommen weitere Phä­nomene Vorhersage, ob Temperatur und
Datenmengen und eine hohe Re­- des globalen Klimas. Andererseits Niederschlag über oder unter mehr-
chenleistung. Doch die Ausgangs­ wird der Detailgrad verringert, um jährigen Durchschnitten liegen
informationen entsprechen den­ die Datenverarbeitung praktikabel werden.

Vorhersagetyp Eingabe Daten und Berechnungen Ausgabe

veränderte
Bedingungen alle
hohe und
20 Sekunden
niedrige
Hunderte von Temperaturen
vier Millionen Gleichungen 23 000-
Datenpunkte zu: prozentuale
mal berechnet
Lufttemperatur Niederschlags-
fünf Tage 40 Minuten wahrschein-
Luftdruck Rechenzeit lichkeit
Windgeschwindigkeiten Luftfeuchte
Wasserdampf Ein Gitter unterteilt die Atmosphäre Wind-
in 200 Millionen Zellen (Grundfläche bedingungen
je 13 × 13 Kilometer).

Ozeantem- veränderte
peratur von Bedingungen alle
der Oberfläche strato-
sphärische zwei Minuten
bis in 200
Meter Tiefe vier Millionen Winde Hunderte von Temperaturen
Datenpunkte zu: Gleichungen über oder unter
Lufttemperatur 23 000-mal berechnet dem Durch-
drei horizontale schnitt
bis vier Luftdruck und vertikale 40 Minuten
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN JULI 2020

Wochen Rechenzeit mehr oder


Windgeschwindig- Meeres- weniger
keiten strömungen Niederschlag
Wasserdampf Ein Gitter unterteilt die als üblich
Madden-Julian- Atmosphäre in zwei bis zehn
Oszillation und Boden- Millionen Zellen (50 oder 100
Nordatlantische feuchte Kilometer Seitenlänge).
Oszillation

Spektrum der Wissenschaft  12.20 41


Temperatur und Niederschlag in einem Monat
Am 27. Februar 2020 prognostizier- dem Durchschnitt der Jahre 1999 Westen und Wärme im Osten der
te das subsaisonale Wettervorher- bis 2015 liegen werden. Daten vom USA. Doch vielerorts war das
sagemodell SubX das globale späteren, tatsächlichen Wetter an Wetter anders als prognostiziert.
Wetter für den 21. bis 27. März, also jenen Tagen zeigen, dass SubX SubX spuckt die Abweichung vom
fast einen Monat im Voraus. Die außergewöhnliche Trockenheit in mehrjährigen Durchschnitt aus –
Karten geben an, ob Temperatur Europa und Australien korrekt derzeit aber noch mit großen
und Niederschlag über oder unter vorhersagte, ebenso Kälte im Ungenauigkeiten.

vorhergesagt beobachtet

Temperatur überdurchschnittlich unterdurchschnittlich

KATHY PEGION
zu wenige Beobachtungsdaten
für einen Vergleich mit der Vorhersage
Niederschlag überdurchschnittlich unterdurchschnittlich

le Auflösung des Modells auf sechs mal sechs Kilometer vier Wochen ist derzeit noch mit einem niedrig aufgelösten
pro Zelle erhöht werden. Doch dann würde die Simulation Foto vergleichbar – grobe Strukturen sind zu erkennen, doch
mehr als fünf Stunden dauern. So lang will kein Meteoro­ Einzelheiten bleiben unscharf. Die Gebiete mit Temperatur­
loge auf eine zeitnahe Wettervorhersage warten müssen. unterschieden und Regenfällen sind immer noch schemen-
Für ein praktikables Modell für Vier-Wochen-Vorhersa- haft auszumachen, während Details wie ein spezielles Gewit-
gen, das zusätzliche Phänomene wie die MJO berücksich- terereignis verschwimmen. Immerhin gelingt es inzwischen
tigt, müssen wir also das Gitter vergrößern. Das reduziert dank des modernen Verständnisses für globale Phänomene,
die Zahl der Boxen je nach Modell von 200 Millionen auf der Effizienz der Datenverarbeitung und der Verfeinerung der
zwischen zwei und zehn Millionen. Eine Verbreiterung von Algorithmen, mit den Wettermodellen zufrieden stellende
50 auf 100 Kilometer ermöglicht es uns, die vielen erforder- Bilder zu produzieren.
lichen, komplexen Kalkulationen mit der gleichen Rechen- Jede Woche erstellen die sieben an dem SubX-Projekt
leistung in etwa 40 Minuten durchzuführen. Allerdings teilnehmenden Institute ihre eigenen Prognosen für 32 bis
gehen dabei Details verloren. Eine Vorhersage für drei bis 45 Tage im Voraus. Dazu verwenden sie einige tausend

42 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Beobachtungsdaten mehr als bei einer Sieben-Tage-Vorher- wasser liefern. Der Mississippi in New Orleans stand am
sage. Sie übermitteln die Werte an eine zentrale Datenbank 27. Februar wirklich kurz davor, über die Ufer zu treten.
im International Research Institute for Climate and Society SubX schlug sich teilweise gut, indem es korrekt warme
an der Columbia University in New York. SubX führt die Ozeantemperaturen für den Golf von Mexiko vorhersah,
Zahlen auf Computern der George Mason University zu- eine zentrale Voraussetzung für Regen im Südosten der
sammen. Das SubX-Team kombiniert für die Wettervorher- USA. Auch prognostizierte SubX die außergewöhnlich
sage mehrere Modelle – das ist im weltweiten Vergleich kühlen Temperaturen entlang der Westküste zutreffend,
etwas Besonderes. Rund zehn weitere Gruppen, die subsai- ebenso die Trockenheit in Nordkalifornien und an der Küste
sonale Prognosen erstellen, darunter das Europäische von British Columbia.
Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage, setzen statt- Auf globaler Ebene sah SubX außergewöhnliche Tro-
dessen auf ein einzelnes Modell. ckenheit in Europa und auffallend hohe Temperaturen in
SubX gibt eine Temperaturverteilungskarte aus, die zeigt, Asien kommen, indem es die künftigen Positionen von
wo es voraussichtlich wärmer oder kälter als im vieljährigen
Mittel sein wird, sowie eine Niederschlagskarte, in der
Gebiete verzeichnet sind, die feuchter oder trockener als
üblich sein werden. Die sieben Wettermodelle bieten in Mehr Wissen auf
Kombination eine genauere Vorausschau als jedes einzelne,
da Durchschnittwerte aus allen verfügbaren Daten entste-
Spektrum.de
Unser Online-Dossier zum Thema
hen und Vorzüge aus jedem Ansatz mitgenommen werden.
finden Sie unter
So berechnet zum Beispiel jede Simulation die Wolkenent- spektrum.de/t/das-wetter
wicklung innerhalb jeder Gitterbox etwas anders. Die VALDEZRL / STOCK.ADOBE.COM

Verknüpfung sorgt für die bestmögliche Einschätzung. Für


Temperaturvorhersagen in den USA liefert SubX in 60 Pro-
zent der Fälle akkuratere Werte als ein einzelnes Modell, für Hoch- und Tiefdrucksystemen richtig ermittelte. Die treffen-
Niederschlagsvorhersagen sind es sogar 81 Prozent. de Vorhersage in Bezug auf die Temperaturen über Australi-
Die an SubX beteiligten Wissenschaftler arbeiten derzeit en lag an der Fähigkeit des Modells, die mit der MJO zu-
daran, die Modelle besser zu vereinen. Außerdem optimie- sammenhängenden bewölkten und sonnigen Regionen zu
ren wir sie durch einen Blick in die Vergangenheit. Ein Jahr prognostizieren.
lang hat SubX zahlreiche Vorhersagen für drei bis vier Andererseits überschätzte SubX die geografische Ver-
Wochen auf Grundlage der wöchentlichen Wetterverhält- breitung außerordentlich warmen Wetters in einigen US-
nisse zwischen 1999 und 2015 erstellt und damit eine mehr Staaten. Das Modell versagte auch bei der Vorhersage der
als 20 Terabyte umfassende Sammlung geschaffen. Für unüblich feuchten Wetterverhältnisse in Oregon, wobei
jeden Programmdurchlauf verglichen wir die Vorhersage allerdings der starke Regen am 24. und 25. März von relativ
mit dem tatsächlichen Wetter, das später im entsprechen- kurzer Dauer war. Die meisten der sieben Einzelmodelle, die
den Zeitraum auftrat. So konnten wir prüfen, wie sich die wir in der Woche davor erneut laufen ließen, sagten ihn
unterschiedlichen Klimafaktoren auswirken. ebenfalls nicht voraus. Der Sturm, der zu dem Niederschlag
führte, brachte selbst die kurzfristigere Vorhersage an ihre
Im Härtetest wechselhaft, aber aufklarend Grenzen. In der Atmosphäre kommt es eben doch auch zu
Wir versuchen, die Leistung unserer Modelle anhand der unkalkulierbarem Chaos.
von uns identifizierten Erfolge und Ungenauigkeiten zu Es wird noch ein langer Weg sein, bis subsaisonale Prog­-
verbessern. Dazu ermitteln wir etwa, wie genau sie strato- nosen an die heutigen Sieben-Tage-Trends herankommen,
sphärische Bedingungen nachstellen, die MJO und die NAO falls sie überhaupt jemals so gut sein werden. Doch zahlrei-
abbilden sowie deren Einflüsse auf das Wetter in verschie- che Atmosphärenforscher arbeiten beharrlich daran. Jede
denen Regionen erfassen. Zwei Modellierungsgruppen der Woche veröffentlichen wir unsere globale Vier-Wochen-
NOAA, die Daten für SubX bereitstellen, konnten beispiels- Vorhersage. Das Klimaprognosezentrum der NOAA gibt für
weise ihre Gleichungen für Wolken, Gewitter und Regen für die USA bereits einen Ausblick auf die kommenden drei
die MJO optimieren. Sie überprüften das am realen Wetter bis vier Wochen heraus und bezieht sich dabei auf SubX.
der Vergangenheit, und nun waren ihre erneut erstellten Vielleicht ist die Forschung in zehn Jahren so weit, dass Sie
historischen Vorhersagen korrekter als zuvor. beim Blick auf die Wetter-App ein Sonnen- oder Wolken­
Wie gut schlug sich nun also die Simulation für die piktogramm mit der Beschriftung »28-Tage-Vorhersage« se­-
Woche vom 21. bis 27. März? Die von dem Programm hen können. 
erstellten Karten zeigen warme Temperaturen für den Osten
der USA und kühlere für den Westen, was auf frühlings­
hafte Bedingungen an der Ostküste und anhaltenden QUELLEN
Winter im Westen hindeutete. Für den Südosten wurde für Bauer, P. et al.: The quiet revolution of numerical weather
die Jahreszeit wiederum feuchteres Wetter als normal prediction. Nature 525, 2015
erwartet. Pegion, K. et al.: The Subseasonal Experiment (SubX): a multi-
Und tatsächlich hielt dort außergewöhnliche Feuchte an. model subseasonal prediction experiment. Bulletin of the
So eine Vorhersage könnte wertvolle Hinweise auf Hoch- American Meteorological Society 100, 2019

Spektrum der Wissenschaft  12.20 43


CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN
QUÄLGEIST IM MAGEN
Das Bakterium Helicobacter pylori nutzt einige besondere
chemische Tricks, um im sauren Magensaft zu überleben.
Diese lassen sich in der Petrischale eindrucksvoll nachstellen.

Matthias Ducci (links) ist Professor für Chemie und


ihre Didaktik am Institut für Chemie an der Pädagogi-
schen Hochschule Karlsruhe. Marco Oetken ist
Abteilungsleiter und Lehrstuhlinhaber in der Abteilung
Chemie der ­Pädagogischen Hochschule Freiburg.

 spektrum.de/artikel/1783529


Lange galt der von Karl Schwarz im Jahr 1910 formu- ten. Doch schließlich gelang es dem Wissenschaftler
lierte Lehrsatz »Ohne sauren Magensaft kein pepti- gemeinsam mit dem Mikrobiologen Barry Marshall, den
sches Geschwür« als unumstößlich. Grund hierfür war Erreger zu isolieren, zu kultivieren und einen eindeutigen
die verbreitete Lehrmeinung, dass in der Magenflüssigkeit, Zusammenhang mit Erkrankungen wie aktiver Gastritis
die im nüchternen Zustand einen pH-Wert von 1 aufweist – und peptischem Ulkus (Magengeschwür) herzustellen.
etwa wie Batteriesäure –, kein Bakterium überlebensfähig Marshall unternahm hierzu einen Selbstversuch, bei
sei. Somit konnten Krankheiten wie die Gastritis, auch dem er eine Nährlösung mit rund einer Milliarde Bakterien
bekannt als Magenschleimhautentzündung, keine bakteri- einnahm. Daraufhin ereilte ihn eine Gastritis, die er mit
elle Ursache haben. Die Therapie sah entsprechend aus: einem Antibiotikum heilte. Es sollte aber noch bis Anfang
Säurehemmer, so genannte Antazida, sollten überschüssi- der 1990er Jahre dauern, bis die Fachwelt Helicobacter
ge Säure puffern, H2-Rezeptor-Antagonisten und Proto- pylori, so die Bezeichnung des Erregers seit 1989, als Ursa-
nenpumpeninhibitoren (PPI) die Säureproduktion im che vieler Magenerkrankungen akzeptierte. Schließlich
Magen dämpfen. Eine Therapie mit Antibiotika erachtete wurden Warren und Marshall 2005 »für ihre Entdeckung
man als obsolet. Nach dem Absetzen der Medikamente des Bakteriums Helicobacter pylori und dessen Rolle bei
war die lindernde Wirkung der Säurehemmer jedoch meist Gastritis und peptischen Ulzera« mit dem Medizin-­
schnell dahin. Nobelpreis geehrt. Heute ist weltweit anerkannt, dass die
Erst eine Entdeckung des australischen Pathologen Infektion mit H. pylori nicht nur aktive chronische Gastritis
John Robin Warren im Jahr 1979, der am Royal Perth und Geschwüre im Magen sowie im Zwölffingerdarm,
Hospital arbeitete, leitete ein Umdenken ein. Bei einer sondern auch Magenkrebs und das MALT-Lymphom
Routinebiopsie eines Patienten mit aktiver chronischer (mucous membrane associated lymphoid tissue, englisch
Gastritis stellte er fest, dass die Magenschleimhaut an für schleimhautassoziiertes lymphoides Gewebe) verursa-
vielen Stellen dichter als üblich war und zahlreiche Bakte- chen kann.
rien enthielt, die in direktem Kontakt mit der oberflächli- Aber wie schafft es der Keim, dem sauren Magensaft
chen Gewebeschicht standen. Genau genommen hatte zu widerstehen? H. pylori ist ein spiralförmiges oder
Warren das Bakterium nur wiederentdeckt, denn bereits gebogenes Stäbchenbakterium. Durch seine hohe Beweg-
1874 hatte Arthur Boettcher spiralige Bakterien am Grund lichkeit, die ihm zwei bis sechs Flagellen an einem Ende
und am Rand von Magengeschwüren beschrieben. Ähnli- verleihen, kann es sich sogar durch Muskelbewegungen
che Entdeckungen folgten, allerdings gelang es nicht, den ausgelösten Strömungen im Magen widersetzen. Diese
Erreger im Labor zu kultivieren. Schließlich erklärte man Geißeln sind von einer säurefesten Hülle umgeben. Der
sich diese Befunde mit einer Besiedlung des Gewebes natürliche Lebensraum der Mikrobe ist die Magenschleim-
durch die Bakterien nach dem Tod der Patienten. Die haut des Menschen.
Erkenntnis, wonach schon im 19. Jahrhundert die Gabe Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ist mit H. pylo-
antibakteriell wirkender Bismutsalze den Patienten Linde- ri infiziert, jedoch äußerst ungleichmäßig. In den Industrie-
rung verschaffte, wurde dabei offenbar vernachlässigt. nationen tragen knapp ein Drittel der Menschen den
Die Reaktion auf Warrens Vermutung, ein Bakterium Erreger in sich, in Entwicklungsländern dagegen 70 bis
könne Gastritis auslösen, war zunächst auch sehr verhal- 90 Prozent. Ebenso gibt es einen direkten Zusammenhang

44 Spektrum der Wissenschaft  12.20


MATTHIAS DUCCI

In salzsaure Harnstofflösung getauchte Alginat­ Die H.-pylori-Urease ist ein Riesenmolekül, das aus
bällchen zeigen modellhaft, wie sich das Bakterium 9684 Aminosäuren besteht. Im katalytisch wirkenden
Helicobacter pylori vor der Magensäure schützt. Zentrum sind zwei Nickelionen an verschiedene, teils mo-
Das in den Bällchen eingeschlossene Enzym Urease difizierte Aminosäuren gebunden. Über den genauen
katalysiert die Bildung von Ammoniak, der ihren ­Mechanismus der Reaktion existieren verschiedene Vor­-
Umkreis neutral bis basisch werden lässt – erkennbar stellungen. Gesichert scheint, dass die Hydrolyse startet,
daran, dass der Indikator in der Lösung von Orange indem ein Hydroxidanion (OH–) das Kohlenstoffatom (C)
nach Grün umschlägt (links: 5 Minuten nach dem des Harnstoffs angreift. Das Hydroxidion stammt dabei
Eintauchen; rechts: nach 15 Minuten). aus dem katalytischen Zentrum der Urease, wo es die
beiden Nickelionen verbindet. Im ersten Schritt bilden
sich dadurch ein Carbamidsäure- und ein Ammoniak­
zwischen Infektionsrate und ethnischer Zugehörigkeit molekül. Ersteres zerfällt anschließend in ein Kohlendi-
sowie sozioökonomischem Status. Die meisten Betroffe- oxid- sowie ein weiteres Ammoniakmolekül:
nen infizieren sich bereits im Kindesalter. Das Bakterium
wird von Mensch zu Mensch übertragen – wie genau, ist NH2 O
Urease
noch unklar. Vermutlich erfolgt die Ansteckung aber über H2N C + H2O
+
H3N C NH3 + CO2
Speichel, Erbrochenes oder Fäkalien, da der Keim dort – NH3
O NH3 O
nachgewiesen werden konnte. Hat das Bakterium eine
Harnstoff + Wasser       Carbamidsäure   
Person einmal besiedelt, bleibt es ohne Behandlung le-
   Ammoniak + Kohlendioxid
benslang im Körper. Eine Infektion mit H. pylori löst aller-
dings nicht zwangsläufig Symptome aus. Ernährung, Das gebildete Ammoniak lässt den pH-Wert in der
Stress und genetische Disposition beeinflussen, ob die näheren Umgebung des Bakteriums ansteigen, da es mit
damit verbundenen Krankheiten ausbrechen und wie Wasser ein chemisches Gleichgewicht ausbildet, aus
schwer sie verlaufen. dem Hydroxidionen hervorgehen:

Überleben im sauren Magensaft NH3 + H2O       NH4+ + OH–


Einen ersten Hinweis auf die Überlebensstrategie von Ammoniakmolekül + Wassermolekül   
H. pylori im sauren Magensaft lieferte die Entdeckung,    Ammoniumion + Hydroxidion

dass das spiralförmige Bakterium erhebliche Mengen an


Urease herstellt. Dieses Enzym zersetzt Harnstoff mit Hilfe Die so entstandenen Hydroxidionen reagieren dann
von Wasser (Hydrolyse), wobei Ammoniak und Kohlen­ mit den Oxoniumionen, die den sauren Charakter einer
dioxid entstehen. Es kommt auch in vielen anderen Mikro- Lösung ausmachen. Bei dieser Neutralisationsreaktion
ben (beispielsweise Bodenbakterien), Pflanzensamen, entsteht Wasser:
wirbellosen Tieren (Krebsen, Meeresmuscheln) und Pilzen
vor. So ist unter anderem der Ammoniakgeruch von Gülle OH– + H3O+       2 H2O
auf den bakteriellen Harnstoffabbau zurückzuführen. Hydroxidion + Oxoniumion       2 Wassermoleküle

Spektrum der Wissenschaft  12.20 45


MATTHIAS DUCCI
nach 5 Minuten nach 15 Minuten

Mit dem Fluoreszenzindikator 2-Naphthol in der Themen Säure-Base-Reaktionen oder Katalyse, durchfüh-
sauren Lösung leuchten die Alginatbällchen an ren. Mehr über die chemischen Prozesse, die zur Bildung
ihren basischen Rändern unter UV-Licht blau auf. von Alginatbällchen führen, ist in »Spektrum« Juli 2017,
S. 56 nachzulesen.
Zur Herstellung solcher Bällchen wird das Natriumsalz
Untersuchungen haben gezeigt, dass sich sowohl der Alginsäure benötigt. Letztere ist ein aus Braunalgen
im Zytoplasma als auch an der Zelloberfläche Urease­ gewonnenes Biopolymer. Sie und ihre Salze, die Alginate,
moleküle befinden, die enzymatisch aktiv sind und für den finden verschiedene Anwendungen, etwa als Wund­
Säureschutz sorgen. Woher die an der Oberfläche anhaf- auflage, als Abformmassse in der Zahnmedizin oder als
tenden Enzyme stammen, scheint ebenfalls geklärt: Verdickungs- oder Geliermittel in Lebensmitteln.
­Demnach ließ sich bei der Kultivierung von H. pylori ein Das Polymer ist aus zwei verschiedenen monomeren
spontaner Zelltod (Autolyse) eines Teils der Bakterienzellen Bausteinen aufgebaut, und zwar aus den beiden Uron­
beobachten. Die sich auflösenden Bakterien setzten ihre säuren α-L-Guluronsäure sowie β-D-Mannuronsäure,
Ureasemoleküle frei, die sich sodann an die Zelloberfläche welche zu langen Ketten miteinander verknüpft sind. Ein
gesunder H. pylori hefteten. Ein weiterer Überlebensfaktor einzelnes Alginsäuremolekül kann bis zu 3000 dieser
ist die hohe Mobilität der Mikrobe auf Grund ihrer Fla­ Bausteine enthalten. Das heißt aber nicht, dass auf eine
gellen. Diese ermöglichen es ihr, die Schleimschicht zu Guluronsäure (G) stets eine Mannuronsäure (M) folgt und
durchdringen und die Epithelzellen zu erreichen. Die umgekehrt. Vielmehr treten so genannte homopolymere
Magenschleimhaut bietet dem Bakterium somit einen Bereiche auf, in denen ausschließlich die eine oder die
zusätzlichen Schutz vor der Säure. andere Sorte auftritt.
Die GG-Blöcke haben im Gegensatz zu den MM-­
Miese Tricks eines Fieslings Blöcken eine zickzackartige Struktur. Lagern sich nun
Aber der Einzeller hat noch mehr Tricks auf Lager. Laut GG-Blöcke von zwei verschiedenen Alginsäuremolekülen
neuen Forschungsergebnissen einer Gruppe um Thomas F. oder Alginatmolekül-Ionen in wässriger Lösung in
Meyer vom Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in ­geeigneter Weise aneinander, entstehen Hohlräume, in
Berlin bildet H. pylori ein Enzym, das Zellen in der Magen- denen bestimmte Ionen wie etwa Kalziumionen einge­
schleimhaut Cholesterin entziehen kann. Damit stört lagert und von beiden Ketten gebunden werden. Das
es die Bildung des Botenstoffs Interferon-γ, der für die vernetzt die Alginatketten dreidimensional, so dass sie ein
Immun­abwehr entscheidend ist. Gel bilden.
Verschiedene Eigenschaften von H. pylori lassen sich Der Effekt lässt sich nutzen, um Alginatbällchen zu
anschaulich nachvollziehen, indem man Alginatbällchen erzeugen. Hierzu löst man zunächst 0,5 Gramm Natrium­
als Modell für das Bakterium verwendet. Die für die Expe- alginat in 25 Milliliter Leitungswasser auf, indem man die
rimente notwendigen Chemikalien sind für eine Chemie- Mischung unter Rühren auf rund 80 Grad Celsius erwärmt.
lehrkraft problemlos im Chemikalienhandel erhältlich. Die Natriumalginatlösung tropft man anschließend in eine
Somit kann man die Versuche im schulischen Kontext, wässrige Kalziumchloridlösung (0,25 Gramm Kalziumchlo-
beispielsweise im Rahmen einer Unterrichtseinheit zu den rid in 25 Milliliter Leitungswasser). Durch die Einlagerung

46 Spektrum der Wissenschaft  12.20


der Kalziumionen in die Hohlräume bildet sich sofort ein in pH-Wert erhöht, bis die Lösung in direkter Umgebung des
Wasser schwer löslicher Kalzium­alginatmantel, der die Alginatbällchens neutralisiert ist. Damit laufen im Modell-
Tropfen stabil umschließt. Diese Membran ist aber durch- experiment dieselben chemischen Prozesse ab wie im
lässig für Moleküle und Ionen, was Voraussetzung für den biologisch-chemischen Original.
Modellversuch ist. Spektakuläre Bilder liefert dieses Modellexperiment,
Wie bereits erwähnt, bildet H. pylori durch Spaltung wenn man den Universalindikator durch einen geeigneten
des im Magensaft vorhandenen Harnstoffs mit Hilfe von Fluoreszenzindikator ersetzt und Phenolphthalein weglässt
Urease Ammoniak, so dass der pH-Wert in seiner näheren (Bilder links). Fluoreszenzindikatoren sind Stoffe, die ihre
Umgebung auf ein erträgliches Maß steigt. Somit müssen Leuchteigenschaften am Umschlagspunkt ändern. Hierbei
wir das Enzym Urease in das Modellbakterium einschleu- tritt eine Fluoreszenz auf oder verschwindet beziehungs-
sen. Hierzu verrührt man in einem 25-Milliliter-Becherglas weise ändert ihre Farbe. Eine solche Eigenschaft zeigt
0,2 Gramm Urease (Aktivität: 220 U/g; Bezugsquelle: beispielsweise 2-Naphthol (auch β-Naphthol genannt). Es
www.klueverundschulz.de) intensiv mit 1 Milliliter Lei- besteht aus einem Naphthalingerüst mit angefügter Hy­
tungswasser und 1,5 Milliliter der hergestellten Natrium­ droxygruppe. Im sauren und neutralen Bereich fluoresziert
alginatlösung, bis sich die Urease fast vollständig gelöst eine wässrige Lösung von 2-Naphthol nicht, wenn man sie
hat. Optional können noch fünf bis zehn Tropfen einer mit UV-Licht (Wellenlänge λ = 365 Nanometer) bestrahlt.
0,1-prozentigen ethanolischen Phenolphthaleinlösung Dagegen leuchtet sie blau, sobald sie alkalisch wird. Das
hinzugefügt werden. Phenolphthalein ist ein Indikator, der liegt daran, dass sich das Napthalin-Gleichgewicht hin zur
in saurer Umgebung farblos ist und in alkalischer eine deprotonierten Form (in der Reaktionsgleichung nach
rosa-violette Farbe annimmt. rechts) verschiebt:
Mittels einer 1-Milliliter-Tropfpipette gibt man nachein-
OH O-
ander ungefähr zehn Tropfen der mit Urease versetzten
Alginatlösung in eine zuvor hergestellte Kalziumchlorid­ + OH- + H2O
lösung. Hierbei bilden sich farblose Alginatbällchen mit
etwa vier Millimetern Durchmesser. Sie werden unmittel- keine Fluoreszenz blaue Fluoreszenz unter UV-Licht

bar danach mit Hilfe eines Teesiebs von der Lösung ge- Naphthalinmolekül + Hydroxidion Naphthalinanion + Wassermolekül
trennt und mit Wasser vorsichtig abgespült. Danach stellt
man das Teesieb mit den Bällchen zum Entfernen des Und genau dies geschieht, wenn sich durch die
restlichen Spülwassers auf saugfähiges Haushaltspapier. ­ nzymatische Spaltung der Urease Ammoniak bildet und
e
infolgedessen Hydroxidionen entstehen.
Farbspiele in der Petrischale Wie wird man nun den Quälgeist Helicobacter wieder
Als Ersatz für den Magensaft dient eine salzsaure Harn- los? Über viele Jahre hat sich dazu die Standardtripel­
stofflösung. Um sie zu erhalten, löst man in einem 25-Mil- therapie (STT) bewährt. Dabei erhalten die Patienten zwei
liliter-Becherglas ein Gramm Harnstoff in einem Gemisch Antibiotika, Clarithromycin und Amoxicillin oder Metro­
aus fünf Millilitern einer 0,01-molaren Salzsäurelösung nidazol, sowie Protonenpumpenhemmer wie Omeprazol
sowie fünf Millilitern Leitungswasser und fügt 20 Tropfen oder Pantoprazol. Weil in den letzten 15 Jahren Antibiotika­
Universalindikator (Unisol 113, pH 1–13) hinzu. Die Lösung resistenzen zugenommen haben, die vor allem Clarithro-
gießt man in eine Petrischale mit einem Durchmesser von mycin und Metronidazol betreffen, steigt jedoch die Ge-
rund neun Zentimetern. Nun werden die Alginatbällchen in fahr, dass die Standardtherapie versagt.
die Petrischale überführt – einzeln mit Hilfe einer Pinzette. Für Patienten mit erhöhtem Risiko für eine Clarithro­
Die Bällchen sollen nur zur Hälfte in die Lösung eintau- mycinresistenz (weil sie etwa aus einem Land kommen, in
chen, damit sich die Prozesse besser beobachten lassen. dem die Resistenz stark verbreitet ist) empfiehlt man seit
Idealerweise werden sie nicht alle in einer Gruppe, son- 2016 die Bismut-Quadrupeltherapie als Therapie der ersten
dern etwas getrennt voneinander angeordnet. Wahl. Diese setzt sich aus Omeprazol, den beiden Anti­
Innerhalb von ein bis zwei Minuten bildet sich in der biotika Metronidazol und Tetracyclin sowie einem Bismut-­
gelborangen Lösung ein grüner Ring im Randbereich der Kalium-Salz (Bismutsubzitrat mit der groben empirischen
Alginatbällchen (Bild auf S. 45). Er zeigt an, dass der Formel K3(NH4)2[Bi6(OH)5(Hcit)4]) zusammen.
pH-Wert in der unmittelbaren Umgebung des Kügelchens
von etwa 3,2 auf 7 gestiegen ist. Den grünen Hof um-
QUELLEN
schließt ein gelber Kreis, der einen pH-Wert von 5 bis 6
anzeigt. Die zunächst farblosen Bällchen selbst nehmen an Ducci, M.: Helicobacter pylori – Neue Modellversuche zu einem
der Oberfläche, die aus der Lösung herausragt und von »chemiebegabten« Bakterium. Chemie konkret, im Druck
einem dünnen Flüssigkeitsfilm benetzt ist, eine rosa Farbe Meyer, T. F. et al.: Helicobacter pylori depletes cholesterol in
an. Der grüne Bereich wächst langsam und ist nach 15 gastric glands to prevent interferon gamma signaling and
escape the inflammatory response. Gastroenterology 154, 2018
Minuten etwa einen Zentimeter breit.
Der Grund für die Farbänderungen: Die vom weniger Miehlke, S.: Helicobacter-pylori-Infektion. Arzneimitteltherapie
als einen Millimeter dicken Kalziumalginatmantel einge- 36, 2018
schlossene Urease spaltet den Harnstoff in der umgeben- Roth, K.: Einem Leib- und Magenfeind zum Abschied. Chemie
den Flüssigkeit. Dadurch entsteht Ammoniak, der den in unserer Zeit 46, 2012

Spektrum der Wissenschaft  12.20 47


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GEOLOGIE
RIESENVULKAN
AM MEERESGRUND
Nach jüngsten Erkenntnissen zur Entstehung des
gewaltigen submarinen Tamu-Vulkanmassivs
im Pazifik muss die Geschichte des Meeresbodens
teilweise neu geschrieben werden.

William W. Sager ist Professor für


Geophysik an der Universität Houston
und hat schon an 46 ozeanografi-
schen Expeditionen teilgenommen.
Das Tamu-Vulkanmassiv benannte er
nach der Texas A&M University, an
der er früher lehrte.

 spektrum.de/artikel/1783511

Das Tamu-Massiv liegt 2000 Meter unter


3D-KARTE: CRAIG TAYLOR, MAPZILLA / SCIENTIFIC AMERICAN MAI 2020

dem Meeresspiegel und hat fast die Größe


Polens. Farbige Streifen repräsentieren
das ungewöhnliche Magnetmuster des
gigantischen Vulkans und verraten so, wie
er entstanden ist. (Die Topografie ist
25-fach überhöht dargestellt.)

50 Spektrum der Wissenschaft  12.20



Haushohe, dunkle Wellen ließen unser Forschungs- Plötzlich krachte eine Welle mit voller Wucht gegen die
schiff bedenklich von einer Seite zur anderen rollen. Falkor und brachte mich ins Taumeln. In diesem Moment
Dabei ist die Falkor immerhin 83 Meter lang und über ging mir auf, was des Rätsels Lösung war. Als erstes erfass-
2000 Tonnen schwer. Ein Sturm aus Sibirien, der nur knapp te mich ein beglückendes Heureka-Gefühl, doch dann
an uns vorbeigezogen war, hatte die See mächtig aufge- schlug ich die Hand vor die Stirn und rief: »Oh nein!«
wühlt. An meinem Sitzplatz im Labor auf dem Hauptdeck Ich untersuchte diesen Vulkan nun schon seit mehr als
mühte ich mich verzweifelt, zu verhindern, dass mein zwei Jahrzehnten, hatte die maßgeblichen Artikel über ihn
Kaffee auf die vor mir liegende Meeresbodenkarte publiziert, ihm seinen Namen gegeben und seine Geschich-
schwappte. te erklärt. Deshalb war meine plötzliche Erkenntnis ein
Es war Mitte Oktober 2015. Wir befanden uns im Nord- Schock für mich – bedeutete sie doch, dass meine bisheri-
westpazifik, etwa 1600 Kilometer östlich von Japan. Zum gen Vorstellungen und die aller anderen Forscher von der
wohl x-ten Mal starrte ich auf die Karte. Sie zeigte ziemlich Entstehung des Tamu-Massivs schlichtweg falsch waren.
parallel verlaufende Streifen am Meeresgrund beidseits des Mit rund 430 Kilometern Breite und 600 Kilometern
riesigen, alten Tamu-Vulkanmassivs. Jeder davon dokumen- Länge ist die Erhebung ein Gigant unter den Vulkanen. Die
tierte, wie der betreffende Abschnitt des Meeresbodens zur Grundfläche entspricht fast derjenigen Polens, und das
Zeit seiner Bildung magnetisiert war – positiv oder negativ. Volumen beträgt das 50-Fache des Mauna Loa auf Hawaii.
Doch das Magnetmuster passte nicht zu meinen Vorstellun- Doch der Tamu ist ungewöhnlich flach: Seine Flanken fallen
gen über die Entstehung von Tamu. nur um etwa ein Grad vom Zentrum zu den Rändern hin ab,
während sie bei einem typischen Unterwasservulkan um
fünf bis zehn Grad geneigt sind. Stellen Sie sich ein Fußball-
feld vor, über das straff eine graue Plane gespannt wurde.
Am Anstoßpunkt würde diese dann von einem gerade
einmal 60 Zentimeter hohen Stock angehoben. Somit ist

AUF EINEN BLICK


KORREKTUR EINES IRRTUMS

1 Neue magnetische Daten vom Grund des Pazifiks


sprechen für eine andere Entstehung des gewaltigen
Tamu-Vulkanmassivs als bisher angenommen.

2 Anstatt wie ein gewöhnlicher Vulkan auszubrechen,


bildete es sich durch Lava, die zwischen auseinander-
driftenden tektonischen Platten hervorquoll.
3D-KARTE: CRAIG TAYLOR, MAPZILLA / SCIENTIFIC AMERICAN MAI 2020

3 Anscheinend entstanden Dutzende weiterer Vulkane


am Meeresgrund auf die gleiche Weise. Das wirft
ein neues Licht auf den Ursprung aller bedeutenden
Hochplateaus in den Weltmeeren.

Spektrum der Wissenschaft  12.20 51


der Tamu zwar die höchste Erhebung im Shatsky Rise, gen vom Ursprung und Aufbau des Tamu-Massivs sowie des
einem der weltweit größten submarinen Hochplateaus, Ontong-Java-Plateaus im Südwestpazifik und des Ker­guelen-
doch sein Gipfel liegt immer noch rund 1980 Meter unter Plateaus im südlichen Indischen Ozean.
dem Meeresspiegel. Nach weiteren Forschungsexpeditionen zur Kartierung
Die meisten ozeanischen Plateaus bestehen aus Basalt. des Tamu-Massivs und zur Entnahme von Proben aus des-
Demnach sind dort einst – so die gängige Vorstellung – sen Basalten veröffentlichten meine Kollegen und ich 2013
enorme Mengen an Magma aus dem Erdmantel aufgestie- einen Artikel in »Nature Geoscience«, wonach es sich um
gen und durch die Kruste nach oben gedrungen, wo sie einen gewaltigen Schildvulkan handle. Einige Medien ver-
schließlich durch den Meeresboden gepresst wurden und kündeten daraufhin, wir hätten den »weltgrößten« solchen
sich darauf ergossen. Feuerberg entdeckt.
Scheinbar spiegelt die Form des Tamu-Massivs diesen Bei diesem Superlativ war mir nie ganz wohl. Ich ver­
Eruptionsprozess wider. Doch dem widersprechen die seit suchte den Journalisten zu erklären, dass es noch größere
2015 von mir gesammelten Daten. Tatsächlich haben wir es submarine Plateaus gibt. Auch hatten wir das Tamu-
mit einem völlig neuen Vulkantyp zu tun, zu dem außer Massiv nicht »entdeckt«; denn es war schon seit Anfang des
Tamu auch einige Dutzend anderer Unterwasservulkane 20. Jahrhunderts bekannt.
gehören, die fünf bis zehn Prozent des heutigen Meeres- Noch etwas anderes beschäftigte mich: die Frage nach
grunds einnehmen. Doch so sehr es mich mit Stolz erfüllt, der Magnetisierung des Gesteins. Könnten Sie mit einer
dass die Entstehungsgeschichte des Meeresbodens dank Brille, die den Magnetismus sichtbar macht, aus dem Welt-
meiner Erkenntnis jetzt teilweise neu geschrieben werden raum zum Boden des Pazifiks hinabblicken, würden Sie
muss – ich habe auch eine kleine Enttäuschung zu verkraf- überall parallele Streifen erkennen; denn an einer Bruchlinie
ten: »Mein« Tamu-Massiv, das einst als weltgrößter Schild- in seiner Mitte ist zwischen den stetig auseinanderdriftenden
vulkan galt, verdient diesen Titel nicht mehr. Plattenhälften kontinuierlich neues Magma aus der Tiefe
Gravierender sind freilich andere unliebsame Folgen der erstarrt und wurde dabei in der jeweiligen Richtung des sich
neuen Erkenntnisse. Sollte das Tamu-Massiv oder einer immer wieder umpolenden Erdmagnetfelds magnetisiert
seiner Verwandten erneut ausbrechen, käme es möglicher- (siehe »Umpolungen des Erdmagnetfelds«). Bei einem Vul-
weise zu einer starken Versauerung des Pazifiks, der viele kan allerdings müsste Lava, die aus seinem Zentrum heraus-
Meerestiere zum Opfer fielen. Außerdem könnten riesige gequollen ist, dieses Muster kleksartig durchbrochen haben.
Mengen an Treibhausgasen wie Kohlendioxid in den Ozean Leider gibt es keine solche Brille. Deshalb blieb mir nichts
austreten und von dort in die Atmosphäre gelangen. Ein anderes übrig, als magnetische Daten vor Ort von einem
Blick in die Geschichte zeigt, dass Eruptionen eines ver- Forschungsschiff aus zu gewinnen. Mein Heureka-Erlebnis
gleichbaren Vulkans, des Ontong-Java-Plateaus im süd- auf der Falkor hatte ich, als ich erkannte, dass in der Tat ein
westlichen Pazifik, mit einer großräumigen Sauerstoffarmut breiter, durchgängiger Streifen mit einheitlicher Magnetisie-
im Ozean einhergingen, mutmaßlich als Folge der Überflu- rung über das Tamu-Massiv verläuft. Wie mir im selben
tung mit Kohlendioxid. Moment jedoch aufging, entstand dieser Streifen offenbar
entlang der Bruchlinie zweier auseinanderdriftender Platten.
Blechkuchen statt Torte Deshalb entfuhr mir das entsetzte »Oh nein!«. Bedeutete es
Das Tamu-Massiv bildete sich vor rund 145 Millionen Jah- doch, dass das Tamu-Massiv kein Schildvulkan sein konnte.
ren über den relativ langen Zeitraum von einigen Jahrmillio- Wie inzwischen klar ist, entstand das Massiv an einer so
nen hinweg. Währenddessen polte sich das Erdmagnetfeld genannten Triple Junction: einem Punkt, an dem drei tektoni-
mehrfach in unregelmäßigen Abständen um und hinterließ sche Platten keilförmig aneinanderstoßen (siehe »Neuer
dabei aufschlussreiche Streifen wechselnder Magnetisie- Blick auf Tamu«). Als zwei davon auseinanderdrifteten,
rung in der ozeanischen Kruste. öffnete sich entlang ihrer Grenze ein Riss. Gesteinsschmelze
Meine erste Veröffentlichung über die Geschichte des trat heraus, füllte die Lücke und erstarrte zu Basalt. Während
Tamu-Massivs erschien 1993, als ich noch an der Texas sich die Platten weiter voneinander entfernten, wurde auch
A&M University tätig war (für deren Initialen »Tamu« steht). das junge Gesteinsband an seiner Mittellinie auseinanderge-
Darin kam ich zu dem Schluss, der Vulkan müsse sich recht rissen. Frisches Magma füllte die neu entstandene Lücke.
schnell während einer einzelnen Eruptionsphase gebildet Dieser Vorgang wiederholte sich wieder und wieder. Das
haben. Demnach sollte eine riesige Magmablase von meh- Tamu-Massiv wurde also keineswegs wie eine Torte aufge-
reren hundert Kilometern Durchmesser durch den Erdman- baut. Stellen Sie sich stattdessen einen Blechkuchen vor, der
tel aufgestiegen sein und sich über den Meeresboden seitlich auseinandergezogen wird. So entsteht in der Mitte
ergossen haben. Bei heftigen Ausbrüchen in kurzen Ab- ein Riss. In diesen kommt neue Teigmasse. Der Kuchen wird
ständen habe der Vulkan Ströme glutheißer Basaltlava dann weiter auseinandergezogen, frischer Teig füllt den
ausgestoßen, die an den sich auftürmenden Hängen hinab- nächsten Riss und so fort. Dient zum Füllen des Spalts
flossen und dabei jeweils eine großräumige, leicht kuppel- abwechselnd Schoko- und Vanilleteig, entsteht mit der Zeit
förmige neue Gesteinsschicht bildeten. ein braun-gelbes Streifenmuster. Diesem entsprechen am
Mit der Zeit wäre folglich so etwas wie eine Torte ent- Tamu-Massiv positiv und negativ magnetisierte Streifen.
standen, in der die älteste Basaltlage den Boden und die Ganz so einfach liegen die Dinge bei genauerer Betrach-
jüngste den Deckel bildete – ganz so wie bei Schildvulka- tung allerdings nicht. Das erste Problem betrifft die Richtung
nen an Land. Andere Forscher hatten ähnliche Vorstellun- der Streifen. Im zentralen Bereich des Tamu-Massivs sind sie

52 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Umpolungen des Erdmagnetfelds

IN: CHANNELL, J.E.T. ET AL. (HG.): TIMESCALES OF THE PALEOMAGNETIC FIELD 145, AMERICAN GEOPHYSICAL UNION, 2004 / SCIENTIFIC AMERICAN MAI 2020
JEN CHRISTIANSEN, ZEITSTRAHL NACH LOWRIE, W., KENT, D.V.: GEOMAGNETIC POLARITY TIMESCALES AND REVERSAL FREQUENCY REGIMES, S. 117-129.
Das Erdmagnetfeld hat sich in der Vergan-
genheit in unregelmäßigen Zeitabständen
mehrfach umgepolt. Dabei änderte sich
jeweils die Magnetisierungsrichtung frisch Magnetfeld der Erde
erstarrter Lava am Meeresboden. Zwischen
150 und 144 Millionen Jahren vor heute
entstanden am Tamu-Vulkan und in seiner
Umgebung mehrere entgegengesetzt
magnetisierte Gesteinsstreifen. Das lieferte
einen entscheidenden Hinweis auf die
Entstehung des Tamu-Massivs.

heutige Polarität umgekehrte Polarität Gegenwart

150 140 130 120 110 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0


Millionen Jahre vor heute

nämlich gegenüber dem südlichen Rand um 90 Grad entge- verfügten wir nur über bruchstückhafte Daten und mussten
gen dem Uhrzeigersinn gedreht. Im Rückblick erscheint der daraus ein Gesamtbild zusammensetzen. Stellen Sie sich vor,
Grund dafür klar: Während sich das Tamu-­Massiv bildete, Sie wollten einen Dinosaurier aus nur einem Zahn und einem
brach infolge einer Verlagerung der Triple Junction ein Zehenknochen rekonstruieren. Dabei würden Sie sich notge-
Stück der Platte im Nordosten ab, verschob sich und ließ drungen auf Erkenntnisse über andere, schon bekannte
ein Segment in der Nähe um 90 Grad rotieren. Auf diesem Exemplare stützen. Analog gingen wir vor und kamen so zu
Teilabschnitt entstand das Tamu-Massiv. dem Schluss, das Tamu-Massiv hätte sich wie gewöhnliche
Das zweite Problem ist, dass beim Blechkuchenmodell Vulkane gebildet. Mit mehr Daten stellte sich diese Folge-
jedes neue Teigband gleich hoch sein sollte wie der bereits rung jedoch als falsch heraus. Stattdessen fanden wir einen
vorhandene Kuchen, der auseinandergezogen wird. Doch neuen Typus von Feuerbergen und eine neue Erklärung für
das Tamu-Massiv ist in der Mitte am dicksten. Wie ich die Entstehung bestimmter submariner Plateaus, von denen
glaube, entstand diese Verdickung, weil sich der Magma- sich Dutzende unter den Ozeanen weltweit finden.
austritt im Zentrum vorübergehend verstärkte, wodurch die Wissenschaftler suchen immer nach dem Ursprung der
Kruste dort voluminöser wurde. Dinge. Dieses Ziel verfolgen sie unbeirrt, selbst wenn da-
durch eigene frühere Ergebnisse revidiert werden müssen.
Tamus überall Unser neues Verständnis vom Ursprung des Tamu-Massivs
Mein Team hat inzwischen eine Menge Daten vom Meeres- erlaubt mir nun zu sagen: »Wir wissen, wie es wirklich war.«
grund gesammelt sowie Bohrproben aus marinen Flut- Das mag nicht so schlagzeilenträchtig sein wie ein »welt-
basalten gewonnen – genug, um auch andere Forscher von größtes«, aber ich fühle mich wohler dabei.
der Richtigkeit unserer Interpretation zu überzeugen. Unser
neues Verständnis des Tamu-Massivs revolutioniert die QUELLEN
Vorstellungen über die Bildung von Ozeanplateaus. Beob-
Sager, W. W. et al.: An immense shield volcano within the
achtungen an den wenigen anderen solchen Erhebungen, Shatsky rise oceanic plateau, northwest pacific ocean. Nature
bei denen genügend magnetische Daten vorliegen, um die Geoscience 6, 2013.
Streifen zu kartieren, lassen auf eine ähnliche Entstehung
Sager, W. W. et al: Oceanic plateau formation by seafloor
schließen. Plateaus, die sich dort formten, wo Platten spreading implied by Tamu massif magnetic anomalies. Nature
auseinanderdrifteten, müssen also einen neuen Vulkantyp Geoscience 12, 2019.
verkörpern. Das widerlegt die verbreitete Annahme, es
handle sich dabei um große Schildvulkane, hervorgebracht LITER ATURTIPP
durch ausgedehnte basaltische Lavaströme.
Bindeman, I. N.: Die Urgewalt der Supervulkane. Spektrum der
Wie kamen wir zu unserer früheren falschen Vorstel- Wissenschaft 8/2006, S. 38–45
lung? Der Grund war, dass submarine Vulkane unter mehre- Bericht über die schwersten Vulkanausbrüche an Land mit welt-
ren tausend Metern Wassersäule verborgen liegen. Darum weiten Auswirkungen

Spektrum der Wissenschaft  12.20 53


Neuer Blick auf Tamu magnetische Anomalien
am Meeresboden
Japangraben
Jahrelang galt das Tamu-Massiv am Boden des Pazifiks als magnetische Anomalien
klassischer Schildvulkan. Dem widerspricht jedoch das quer am Meeresboden
Japangraben
darüber verlaufende Muster aus magnetisierten Gesteinsstreifen. magnetische
magnetische
Anomalien
Anomalien
Jüngere Daten über die tektonischen Plattenbewegungen zur am Meeresboden
am Meeresboden
Japangraben
Japangraben
Entstehungszeit des Massivs zeigen, dass es sich um einen
bisher unbekannten Vulkantyp handelt. Er ähnelt einem Blech-
kuchen, der mehrfach hintereinander in der Mitte auseinander-
gerissen und am Riss jeweils mit frischem Teig gefüllt wurde.

en Shatsky Rise
ab
n gr
pa PAZI FI SC HER OZEA N
Ja en Shatsky Rise
ab
gr Tamu-Massiv
n
pa P A Z IF IS C H E R O Z E A N
Ja en en Shatsky
Shatsky
Rise Rise
ra rab
b Tamu-Massiv
n g n g
pa pa PA ZPA
IF IS
Z IF
CH ISECRHO
EZREOAZNE A N
Ja Ja
Tamu-Massiv
Tamu-Massiv

IV
S
S
2

A
IV
-M
S
U

IV S
M

S A
1 A

A -IM V
T
U

-M SS
Wie der Vulkan zu seinen Streifen kam M

S
A

A
An der Stelle des späteren Tamu-Massivs befand sich vor 149 Mil­- T

-M
lionen Jahren eine »Triple Junction«, an der drei tektonische U U
Platten keilförmig unter dem Pazifik aneinanderstießen 1 . Zwei M M
A A
davon entfernten sich in der Folge voneinander. Den sich T T
verbreiternden Spalt füllte frisches Magma. Vor etwa 148 Milli­-
onen Jahren, als sich der Tamu zu bilden begann, verlagerte
sich die Triple Junction nach Nordosten. Zugleich rotierte ein
Stück des Spreizungsrückens zwischen der Pazifischen und der
Farallon-Platte entgegen dem Uhrzeigersinn und wurde Teil der
Grenze zwischen Pazifischer und Izanagi-Platte 2 . Dabei
drehten sich auch die magnetischen Streifen am Tamu-Massiv.
Als vor 144 Millionen Jahren die Vulkaneruptionen endeten,
hatte sich die Triple Junction durch die Wanderung der
Izanagi-Platte noch weiter nach Nordosten verlagert 3 . Der Absplitternde Plattenränder lassen einen Teil des
breite Streifen an der Rückseite des Vulkans zeigt, dass ein ozeanischen Rückens zwischen Pazifischer und
Großteil des Magmas während eines einzigen Intervalls Farallon-Platte rotieren und zum Bestandteil des
umgekehrter magnetischer vor Polarität
149,5 Millionen
austrat. Jahren Pazifik-Izanagi-Rückens werden. Über 2,8 Milli­-
vor 148 Millionen Jahren
onen Jahre hinweg bildet sich hier der Haupt-
vor 149,5 Millionen Jahren teil
vor 148desMillionen
Tamu-Massiv.
JahrenIn dieser Zeit hat sich
das Erdmagnetfeld mehrfach umgepolt.

vor 149,5
vor 149,5
Millionen
Millionen
Jahren
Jahren vor 148
vor 148
Millionen
Millionen
Jahren
Jahren v
Farallon-Platte Farallon-Platte
IV
S
S
IV

SCIENTIFIC AMERICAN MAI 2020; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


A

Izanagi-Platte
3D-KARTEN: CRAIG TAYLOR, MAPZILLA; ILLUSTRATIONEN: JEN CHRISTIANSEN /
S

M
IV S

-
A

U
M
IV

Frische, sich M
Triple Junction
S

abkühlende Kruste - A Neue


S

(Treffpunkt dreier U T
A

an der sich M Position


M

tektonischer Platten) A 2
spreizenden Izanagi-Platte T der Triple
- -
Plattengrenze U U Junction
1 bewahrt die M M
neue A A
damalige T T
Kruste Magnetisie-
rungsrichtung.

Meeresboden Platten unter dem Meeresboden


Pazifische Platte Pazifische Platte
Meeresboden Platten unter dem Meeresboden

54 Meeresboden
Meeresboden Platten
Platten
unterunter
dem dem
Meeresboden
Meeresboden
Alte Erklärung: Torte
Ein Schildvulkan, für den das Tamu-Massiv ursprünglich gehalten
magnetische Anomalie wurde, entsteht in Schichten wie eine Torte. Heißes Gestein aus dem
magnetische
(vom Anomalie
Erdmagnetfeld geprägt) Erdmantel steigt auf und bildet eine Magmakammer unterhalb der
(vom Erdmagnetfeld geprägt)
kühleren Lithosphäre. Ein vertikaler Riss lässt diese Gesteinsschmelze
durch die Erdkruste dringen. Sie tritt als Lava aus, ergießt sich über
den Meeresboden und erstarrt zu einer flachen Kuppel. Mit der Zeit
negativ positiv
positiv
negativ Anomalie kommen durch nachfolgende Eruptionen neue Schichten hinzu,
magnetische wodurch die Kuppel wächst.
magnetische
(vom Anomalie
Erdmagnetfeld geprägt)
(vom Erdmagnetfeld geprägt)
Der Meeresboden heute Meeresoberfläche
Meeresoberfläche
Eine Karte des positiv
negativ Magnet-
feldmusters
negativ am Meeres-
positiv
boden rund um das Eruption 2
Tamu-Massiv (Einfü- Eruption 2 Eruption 3
Eruption 1 Eruption 3
gung) zeigt westlich Eruption 1 Eruption 4
Meeresoberfläche
Eruption 4 Meeresboden
und östlich der unteren Meeresboden
heute
Meeresoberfläche
Hälfte des Vulkans heute
parallele Streifen, die
von Nordwest nach Kruste Eruption 2
Kruste Eruption 2Eruption 3
Südost verlaufen 1 . Eruption 1 Eruption 3
Eruption 4
Doch die Bänder im Eruption 1
Eruption 4Meeresboden
Zentrum des Massivs heute
Risse Meeresboden
2 sind um rund Risse heute
90 Grad entgegen
Kruste
dem Uhrzeigersinn
Kruste
gedreht und etwa
doppelt so breit,
weil die tektoni- Risse
schen Platten Magmakammer Risse
Lithosphäre Magmakammer
während und nach Lithosphäre
der Rotation dort
rasch auseinan-
derdrifteten.
Magmakammer
Lithosphäre Magmakammer
Lithosphäre

Neue Erklärung: Blechkuchen


Wenn tektonische Platten sich trennen, werden Lithosphäre und Kruste
auseinandergezogen. An der Plattengrenze öffnet sich ein Riss, ähnlich
wie bei einem Blechkuchen, der in der Mitte durchgeschnitten und aus-
einandergezogen wird. Heißes Magma quillt nach oben, füllt die Lücke
und erstarrt zu Meeresbodengestein. Driften die Platten weiterhin ausein-
ander, zerreißen sie wiederum den zuvor gebildeten Meeresboden. Ein
neuer Spalt entsteht und füllt sich mit frischem Magma. Dieser Prozess
Meeresoberfläche
Meeresoberfläche
wiederholt sich immer wieder. Das junge Gestein bewahrt die jeweilige
Richtung des Erdmagnetfelds. So entstehen nach und nach Streifen mit
Beim
BeimErstarren
Erstarrenbewahrt
bewahrt unterschiedlicher Magnetisierung.
jüngster
jüngster
das
dasMagma
Magmadiediemomentane
momentaneMeeresboden
Magnetfeldrichtung. Meeresboden Meeresoberfläche
Magnetfeldrichtung. magnetischer
magnetischerStreifen
Streifen
vor 144,5 Millionen Jahren älterer
Meeresoberfläche
älterer
vor 144,5 Millionen Jahren Die Triple Junction Meeresboden
Beim Erstarren bewahrt Meeresboden
jüngster
ist weiter nach Nord- das Magma die momentane
Beim Erstarren bewahrt Meeresboden
osten gerückt. Magnetfeldrichtung. jüngster
das Magma die momentane
Kruste magnetischer Streifen
Kruste Meeresboden
Magnetfeldrichtung. älterer
vor 144,5 Millionen Jahren magnetischer Streifen
Meeresboden
vor 144,5 Millionen Jahren älterer
Izanagi- Neuer
NeuerMeeresbodenMeeresboden
Meeresboden
S V
IV
S I

Platte wird
wirdvon
vonder
derPlattengrenze
Plattengrenze
A SS

Kruste
SCIENTIFIC AMERICAN MAI 2020; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

3 weggezogen.
weggezogen.
3D-KARTEN: CRAIG TAYLOR, MAPZILLA; ILLUSTRATIONEN: JEN CHRISTIANSEN /

- MM A

Lithosphäre
Lithosphäre
Kruste
Plattengrenze
Plattengrenze
-

UU
M Neuer Meeresboden
IV V

A AM
S SI

TT wird von der Plattengrenze


Platte Neuer Meeresboden
Platte11
A AS

weggezogen.
Lithosphäre wird von der Plattengrenze
Platte
Platte22
-M -M
S

weggezogen.
Plattengrenze
U Lithosphäre
M heißer
heißerMantel
Mantel
A U Plattengrenze
T
M Platte 1
A
T Platte 2
Platte 1
heißer Mantel Platte 2

heißer Mantel

Pazifische Platte

55
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ZACK Y24 / GET T Y IMAGES / ISTOCK

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Spektrum.de/live
FREISTETTERS FORMELWELT
DAS JONGLIER-
THEOREM
CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)

Um vier Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten,


braucht man nur ein wenig Übung – mit fünfen zu
FRANZI SCHÄDEL (FLORIAN-FREISTETTER.DE/PRESSE/) /

­jonglieren, ist dagegen weit schwieriger.

Florian Freistetter ist Astronom, Autor und Wissenschaftskabarettist bei den


»Science Busters«.

 spektrum.de/artikel/1783532

A
ls ich das erste Mal probiert habe, mit drei F, D und V zwar unterscheiden können, aber jeweils
Bällen zu jonglieren, war ich neun Jahre alt. Ich immer den gleichen Wert haben. Hinter der Formel
scheiterte. Den nächsten Versuch habe ich steckt allerdings viel mehr.
erst knapp elf Jahre später gewagt, und auch da Es ist zum Beispiel schwieriger, zwei Bälle mit bloß
lief es nicht besser. Aber mittlerweile hatte ich mehr einer Hand zu jonglieren, als drei Bälle mit zwei Händen
Ehrgeiz und Durchhaltevermögen entwickelt. Nach ein in der Luft zu halten. Den Grund liefert Shannons
paar Tagen Übung fand ich heraus, wie man die Bälle Formel: Falls man D und V nicht ändert, dann ist das
längere Zeit in der Luft halten kann – und machte mir Verhältnis von Bällen zu Händen proportional zur
währenddessen Gedanken über die Mathematik des Flugzeit F. Zwei Bälle in einer Hand muss man also
Jonglierens. höher werfen als drei Bälle mit zwei Händen.
Ich war mir sicher, es müsse so etwas geben, denn Nach der Jonglage mit drei Bällen hatte ich recht
trotz aller Kunstfertigkeit ist das Jonglieren ein sehr schnell gelernt, zwei Bälle mit einer Hand zu meistern.
formaler, algorithmischer Prozess. Man muss Bälle und Selbst vier Bälle mit zwei Händen zu jonglieren, war
Hände exakt koordinieren, in wechselnden und trotz- nach ein paar Wochen Übung kein Problem mehr.
dem wiederholbaren Mustern. Die gesuchte Beschrei- Doch als ich mich an fünf Bällen versuchte, bin ich
bung habe ich dann in einem Aufsatz des US-amerika- gescheitert – und zwar bis heute.
nischen Mathematikers Claude Shannon gefunden. Er Das lässt sich ebenfalls durch Shannons Formel
war nicht bloß der Begründer der Informationstheorie, verstehen. Geht man wieder davon aus, dass D und V
sondern auch ein kreativer Jongleur. Im Jahr 1993 fix sind, wächst die Flugzeit linear mit der Anzahl der
veröffentlichte er den Artikel »Scientific aspects of verwendeten Bälle. Die Flugzeit selbst hängt aber nicht
juggling«, der unter anderem diese Formel enthält: linear mit der Wurfhöhe zusammen, sondern steigt nur
mit der Wurzel davon. Man muss also bei wachsender
Anzahl von Bällen überproportional hoch werfen,
was die Dinge erschwert. Je höher man wirft, desto
mehr wirken sich kleine Fehler aus; das Fangen der
Bälle wird schwieriger, und man braucht mehr Zeit
dafür, wodurch es schwerer fällt, sie korrekt zu werfen.
Das ist Shannons »Jonglier-Theorem«. Es wirkt auf Die Ungenauigkeiten können sich so weit verstärken,
den ersten Blick recht einfach. F ist die Zeit, die ein dass zwei Bälle zu fast der gleichen Zeit landen und
Ball im Flug verbringt, D die Zeit, die er in einer Hand man sie dann nicht mehr rechtzeitig fangen kann.
liegt. Mit V bezeichnet Shannon den Zeitraum, den Mit drei oder vier Bällen zu jonglieren, lässt sich
eine Hand ohne Ball ist, und B und H sind Anzahl der bereits in wenigen Wochen lernen. Für den Schritt zu
verwendeten Bälle und Hände. Die Herleitung der fünf Bällen benötigen dagegen selbst geübte Personen
Formel basiert darauf, die grundlegenden Zyklen beim viele Monate oder gar Jahre. Doch Jonglieren macht
Jonglieren einerseits aus Sicht der Bälle und anderer- Spaß, und man profitiert davon sowohl körperlich als
seits aus Sicht der Hände zu messen. Sie gilt aus- auch mental. Die Mathematik des Jonglierens ist
schließlich für eine gleichmäßige Jonglage, bei der jede ein zusätzlicher Bonus, den man übrigens ganz ohne
Hand stets nur einen Ball wirft oder fängt und sich langwierige Wurfübungen genießen kann.

Spektrum der Wissenschaft  12.20 57


PHYSIK
GRENZFALL
FÜR SCHWARZE
LÖCHER
Einerseits sollten Schwarze
Löcher immer etwas Masse
verlieren, andererseits verhin-
dert ihre Ladung irgendwann
möglicherweise, dass sie
weiter schrumpfen. Neue
Versuche, den Konflikt zu
lösen, offenbaren unerwarte-
te Verbindungen zwischen
fundamentalen physikali-
schen Größen.

Natalie Wolchover ist Wissen­


schaftsjournalistin in New York.

 spektrum.de/artikel/1783514
SOLARSEVEN / GETTY IMAGES / ISTOCK

58 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Die Illustration zeigt die
durch enorme Gravitations-
kräfte verzerrte Um­-
ge­bung eines Schwarzen
Lochs. Auf dieses über-
trägt Materie ihre Ladung,
wenn sie hineinstürzt.
SOLARSEVEN / GETTY IMAGES / ISTOCK

Spektrum der Wissenschaft  12.20 59



In den Gedankenexperimenten, mit denen Physiker die Schwarzen Löchern? Viele Wissenschaftler vermuten, sie
Extreme des Kosmos ausloten, spielen Schwarze zerfallen auf irgendeinem anderen Weg.
Löcher seit Jahrzehnten eine Hauptrolle. Die dunklen 2006 erkannte ein Team aus vier Stringtheoretikern, dass
Gebilde entstehen aus konzentrierter Materie, die durch ihre extremale Schwarze Löcher nur verschwinden können,
Schwerkraft bis zu einer bestimmten Entfernung alles wenn die Gravitation die schwächste Kraft in jedem denk­
gefangen hält, selbst Licht. Laut der Relativitätstheorie baren Universum ist – eine ziemlich starke Aussage über
entspricht die Gravitation einer Krümmung im Gewebe aus die Beziehung der Wechselwirkungen untereinander. Die
Raum und Zeit; doch unmittelbar um das Zentrum eines Erkenntnis ermöglichte eingehendere Untersuchungen.
Schwarzen Lochs ist die Struktur der Raumzeit enorm 2017 entdeckten Remmen und seine Kollegen Clifford
verzerrt, und Einsteins Gleichungen versagen. Generationen Cheung und Junyu Liu vom California Institute of Techno­
von Physikern haben in theoretischen Untersuchungen von logy in Pasadena: Die Stabilität extremaler Schwarzer
Schwarzen Löchern nach Hinweisen auf eine mögliche Löcher hängt direkt von einer weiteren Schlüsseleigen­
Quantennatur der Schwerkraft gesucht, die sich hier offen­ schaft solcher Objekte ab, nämlich ihrer Entropie. Diese ist
baren müsste. ein Maß dafür, auf wie viele verschiedene Arten die kleins­
Die Bestrebungen gehen auf Stephen Hawking zurück. ten Bestandteile eines Systems angeordnet sein können.
Der britische Physiker berechnete 1974, dass Quanten­ef­ Die Entropie ist eine der theoretisch am besten untersuch­
fekte am Rand Schwarzer Löcher diese langsam verdamp­ ten Eigenschaften Schwarzer Löcher, aber bisher war nicht
fen lassen: Sie schrumpfen, während sie Wärmestrahlung klar, dass sie etwas mit ihrer extremalen Grenze zu tun hat.
abgeben. Das Phänomen prägt seither die Suche nach Cheung resümiert: »Plötzlich schienen zwei sehr coole
einer Quantengravitation. Dinge miteinander verbunden zu sein.«
In jüngerer Zeit sind Physiker auf neue theoretische Im März 2020 stellte sich diese Verbindung sogar als nur
Ansätze gestoßen, indem sie sich näher mit besonders ein Beispiel für eine grundsätzliche Eigenschaft der Natur
grenzwertigen Vertretern der Schwarzen Löcher beschäf­ heraus. Garrett Goon und Riccardo Penco von der Carnegie
tigt haben. Die Objekte erhalten nämlich elektrische La­ Mellon University in Pittsburgh erweiterten die früheren
dung, wenn geladenes Material in sie hineinfällt. Diese Untersuchungen zu einer einfachen, universellen Formel.
behalten sie, während sie auf die von Hawking beschriebe­ Sie setzt Energie und Entropie zueinander in Beziehung und
ne Weise schrumpfen und wieder an Masse verlieren. Das gilt für ein klassisches thermodynamisches System wie ein
führt zu einer Grenze, bei der Schwarze Löcher eine Art Sät­ Gas ebenso wie für Schwarze Löcher. Mit den jüngsten
tigungspunkt erreichen. Dort speichern sie so viel elektri­ Berechnungen »erfahren wir mehr über die Quantengravita­
sche Ladung wie für ihre Größe möglich. Sie sind »extre­ tion«, kommentiert Goon. »Aber vielleicht noch interessan­
mal« und können nicht weiter verdampfen. ter ist, dass wir zudem etwas über alltäglichere Dinge
Grant Remmen, ein Physiker an der University of Califor­ lernen.«
nia in Berkeley, findet die Vorstellung unplausibel, ein
extremales Schwarzes Loch würde »aufhören zu strahlen Quantenkorrekturen am Horizont haben
und einfach nur noch dasitzen«. Dann wäre das Universum weit reichende Konsequenzen
in ferner Zukunft mit winzigen, unzerstörbaren Überresten Dass geladene Schwarzer Löcher überhaupt an eine extre­
Schwarzer Löcher übersät – zahllosen kleinen Exemplaren, male Grenze stoßen, ist für theoretische Physiker nicht
die nicht völlig verdampfen konnten, weil sie einen Hauch sonderlich schwer herzuleiten. Dazu kombinieren sie die
von Ladung tragen. Was passiert mit all jenen extremalen Gleichungen Einsteins und diejenigen des Elektromagnetis­
mus, die James Clerk Maxwell im 19. Jahrhundert aufge­
stellt hat. Rechnet man mit den passenden Einheiten, lautet
das Ergebnis: Die Ladung Q eines Schwarzen Lochs kann
AUF EINEN BLICK niemals dessen Masse M übersteigen. Gemeinsam bestim­
LADEGRENZE ERREICHT men Masse und Ladung des Schwarzen Lochs seine Größe,
das heißt den Radius des Ereignishorizonts. Zugleich er­

1 Schwarze Löcher wachsen nicht zwangsläufig im- zeugt die Ladung des Schwarzen Lochs allein einen zwei­
mer weiter. Im Prinzip können sie auch wieder kleiner ten, inneren Horizont, der sich hinter dem Ereignishorizont
werden. verbirgt (siehe »Wie extremale Schwarze Löcher zerfallen
könnten«, rechts). Wenn Q wächst, dehnt sich der innere

2 Doch wenn sie außerdem Ladung tragen, dürften die


Objekte nicht unter eine gewisse Größe schrumpfen.
Theoretiker haben untersucht, was geschieht, wenn
Horizont aus. Bei Q = M fallen beide Grenzen zusammen.
Nähme Q darüber hinaus zu, würde der Radius des Ereig­
nishorizonts zu einer komplexen Zahl, es käme also die
Exemplare an so eine Grenze stoßen. Quadratwurzel einer negativen Zahl ins Spiel. Physikalisch
ergäbe das keinen Sinn.
3 Dabei haben die Forscher überraschende Zusammen­
hänge zwischen Energie und Entropie er­halten – und
vielleicht sogar fundamentale Einsichten in die Natur
Sobald ein schrumpfendes Schwarzes Loch auf so eine
Situation zuläuft, gäbe es prinzipiell eine Option für einen
der Gravitation. weiteren Zerfall: Es könnte sich in zwei kleinere Exemplare
aufspalten. Doch dafür müsste nach den Gesetzen der
Energieerhaltung und der Ladungserhaltung eines der Toch­

60 Spektrum der Wissenschaft  12.20


terobjekte am Ende mehr Ladung als Masse besitzen, und eines Objekts Q ist ein Maß für seine Empfindlichkeit
gerade das sollte ja nicht passieren. gegenüber jeder anderen Kraft als der Schwerkraft, wäh­
Die bereits genannte Veröffentlichung von 2006 zeigte rend die Masse M mit der Gravitation verbunden ist. Q > M
allerdings einen Weg auf, über den sich Schwarze Löcher ordnet so zugleich die Kräfte nach ihrer Stärke.
dennoch derartig aufteilen könnten. Die Theoretiker Nima Ausgehend von der Annahme, dass Schwarze Löcher
Arkani-Hamed, Lubos Motl, Alberto Nicolis and Cumrun zerfallen können, stellten die vier Physiker die weit reichen­
Vafa stellten fest, dass die Kombination der Gleichungen de Vermutung auf, die Schwerkraft sei die schwächste
von Einstein und Maxwell für winzige, stark gekrümmte Kraft in jedem möglichen Universum. Das heißt: Objekte
Schwarze Löcher nicht gut funktioniert. Auf kleineren mit Q > M existieren immer, für alle Arten von Ladung Q,
Skalen werden zusätzliche Details wichtiger, die mit den unabhängig davon, ob es sich bei den Objekten um Teil­
quantenmechanischen Eigenschaften der Gravitation chen wie Elektronen (die in der Tat weitaus mehr elektri­
zusammenhängen. Das verschiebt den Augenblick, in dem sche Ladung als Masse tragen) oder kleine Schwarze
ein Schwarzes Loch extremal wird. Die vier Physiker zeig­ Löcher handelt.
ten: Die Korrekturen werden umso bedeutsamer, je kleiner Diese »Vermutung der schwachen Gravitation« (englisch:
das Schwarze Loch ist. So entfernt sich die Grenze des weak gravity conjecture) wurde enorm einflussreich und
Erlaubten allmählich von Q = M. hat eine Reihe weiterer Ideen zur Quantengravitation beflü­
Den Forschern zufolge können kleine Schwarze Löcher gelt. Aber Arkani-Hamed, Motl, Nicolis und Vafa haben
sogar mehr Ladung als Masse enthalten, wenn die Korrek­ keinesfalls bewiesen, dass Q > M gilt oder extremale
turen das richtige Vorzeichen haben. Für solche Exemplare Schwarze Löcher zerfallen. Die Korrekturen der Quanten­
gilt Q > M, also genauCan das, was Black
Extremal für den
HolesZerfall
Decay?
Cangroßer
Extremal Black Holes gravitation
Decay? könnten ebenso ein anderes Vorzeichen haben –
extremaler SchwarzerBlack Löcher erforderlich ist. Sofern
holes without any electric charge
Black holes dies
will shrink
without
andany ein
disappear. negatives
electric charge
But a charged statt
will shrink
black eines
and
hole willpositiven.
disappear.
reach Dann
Butitsa charged würden
black kleine
hole will reach its
der Fall ist, ergibt sich“extremal”
darauslimit,
einewhere it’s as small
folgenschwere “extremal”
as possible
limit,
Tatsache:given
where
how it’s
charged
as small
Schwarze it as
is. possible
What happens
Löcher given how
then?charged it is. What happens then?
sogar noch weniger Ladung pro Masse
Die Gravitation muss Duisdie autem
schwächste Kraft
vel eum iriure dolorsein.
inDuis Die in
hendrerit
autem Ladung
vel
vulputate
eum iriure tragen
velit
dolor als große.
esseinmolestie
hendrerit consequat, Extremale
in vulputate
velvelit
illumesse Exemplare
dolore zerfielen
molestie consequat, vel illumnicht,
dolore und
eu feugiat nulla facilisis at vero eros
eu et
feugiat
accumsan
nulla facilisis
et iusto at
odio
vero
dignissim
eros et accumsan
qui blanditetpraesent
iusto odio
luptatum
dignissim qui blandit praesent luptatum
zzril delenit augue duis dolore te feugait
zzril delenit
nullaaugue
facilisi.duis dolore te feugait nulla facilisi.

Ereignishorizont innerer
Ereignishorizont
Horizont innerer HorizontHawking-Strahlung Hawking-Strahlung
Can Extremal Black Holes Decay?
Can Extremal Black Holes Decay?
Wie extremale Schwarze Löcher Black holes
Black holes without any electric charge
zerfallen
without
will shrink any
and
könnten
electric charge
disappear. will shrink
But a charged andhole
black disappear. Butits
will reach a charged black hole will reach its
“extremal”
“extremal” limit, where it’s as small limit,given
as possible where it’scharged
how as smallitas
is.possible given how
What happens charged it is. What happens then?
then?
Schwarze Löcher, die keine Ladung tragen, verdampfen irgendwann vollständig. Doch ein geladenes Schwar­-
zes Loch erreicht schließlich
Duis autem vel eine Grenze,
eum iriure Duis
dolor inan der es
autem
hendrerit extremal
velvulputate
in eum iriure wird:
dolor
velit Dannconsequat,
inmolestie
esse hendrerit istvulputate
in es so klein,
velvelit
illumessewie es consequat,
molestie
dolore auf Grund vel seiner
illum dolore
eu feugiat
eu feugiat nulla facilisis at vero eros nulla facilisis
et accumsan et iustoatodio
verodignissim
eros et accumsan
qui blanditetpraesent
iusto odio dignissim qui blandit praesent luptatum
luptatum
Ladung überhauptzzril
möglich ist. duis
delenit augue Was passiert
dolore te zzril dann?
delenit
feugait nullaaugue duis dolore te feugait nulla facilisi.
facilisi.

Ereignishorizont innerer
Ereignishorizont
Horizont innerer Horizont Hawking-Strahlung Hawking-Strahlung
Singularität Singularität
1 2
Die Größe des Durch ausgesende­
Ereignishorizonts te Hawking-Strah­
eines Schwarzen lung schrumpft der
Lochs, innerhalb Ereignishorizont,
dessen nichts der bis er den inneren
Anziehungskraft Horizont erreicht.
entkommen kann, 1 A black hole’s mass largely determines
1 A blackthe hole’s mass Von
2 largely
As the da an kann
determines
black holetheemits Hawking
2 Asradiation,
the black hole emits Hawking radiation,
hängt vor allem size of its eventSingularität
horizon, within which
size of its eventSingularität
horizon,
itswithin
das event which
horizonLoch
Schwarze shrinks until it equals
its event
the horizon shrinks until it equals the
von seiner Masse everything is trapped by its gravity.
everything
Its chargeis trapped byinner
its gravity.
nicht horizon.
weiter ItsAt
charge
this point, it can’t
ver­- inner horizon. At this point, it can’t
creates a second, inner horizon. creates a second, inner evaporate
horizon. anymore. evaporate anymore.
ab. Seine Ladung dampfen.
erzeugt einen
zweiten, inneren
Horizont.

1 A black hole’s mass largely determines


1 A blackthe hole’s mass2largely
As the
determines
black hole theemits Hawking
2 As radiation,
the black hole emits Hawking radiation,
5W INFOGRAPHICS FÜR QUANTA MAGAZINE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

size of its event horizon, within which


size of its event horizon,its
within
eventwhich
horizon shrinks until it equals
its event
thehorizon shrinks until it equals the
weniger
everything is trapped by its gravity. stark
everything
Its chargeis trapped by weniger stark
3 geladen 4inner
its gravity.
horizon.
geladen
Its At
charge
this point, it can’t
inner horizon. At this point, it can’t
creates a second, inner horizon. creates a second, inner horizon.
evaporate anymore. evaporate anymore.
Um kleiner zu Das ist nur mög­
werden, könnte lich, wenn kleine-
sich das Schwar­ re Schwarze Lö-
ze Loch aufspal- cher mehr Ladung
ten. Dabei wür- pro Masse tragen
de ein Teil mehr dürfen als große.
Ladung pro Mas- Einige Physiker
se erhalten als glauben, dass die
weniger stark weniger stark
das Ursprungsob­ geladen Quanteneigen­
geladen
jekt, der andere schaften der
weniger. Gravitation dies
gestatten.
stärker stärker
geladen geladen

3 To decay further, the black hole3 might


To decay further, the
4 black
Thishole might
is only possible if smaller
4 black
Thisholes
is only possible if smaller black holes
split in two. In such a split, one daughter
split in two. In such a split,
can one
carrydaughter
more charge per mass than
can carry
big more charge per mass than big
black hole gets less charge per massblack hole gets less charge
ones. per mass think the quantum
Physicists ones. Physicists think the quantum
than its parent, while the other gets
than its parent, while the other getsproperties of gravity probably
mechanical Spektrum
mechanical der Wissenschaft 
properties 12.20
of gravity probably 61
more charge per mass. more charge per mass. allow this. allow this.

stärker stärker
ebenso wenig würde die Vermutung der schwachen Gravi­ der so ergänzten Gleichungen liefert dann genauere Aussa­
tation gelten. Die Forscher mussten also herausfinden, ob gen über die Eigenschaften Schwarzer Löcher.
das Vorzeichen der Korrekturen in der Quantengravitation Wald durchlief diese Schritte und berechnete, wie kurz­
positiv oder negativ ist. reichweitige Effekte das Gesetz von Bekenstein und Haw­
Die Frage nach solchen Korrekturen ist schon früher king abändern. Mit ihnen ist die Entropie eines Schwarzen
aufgekommen, und zwar in einem anderen, scheinbar nicht Lochs nicht mehr exakt proportional zur Fläche. Es ist zwar
verwandten Zweig der Untersuchungen über Schwarze unmöglich, die Verschiebung direkt auszurechnen – es
Löcher. In den 1970er Jahren entdeckten die Physiker Jacob handelt sich um Variablen mit unbekannten Werten –, aber
Bekenstein und Stephen Hawking unabhängig voneinander: die Korrekturen und damit auch die Änderungen bei der
Die Entropie eines Schwarzen Lochs ist direkt proportional Entropie werden umso bedeutsamer, je kleiner das Schwar­
zu seiner Oberfläche. Die Entropie gilt allgemein als ein ze Loch ist.
Maß für Unordnung. Etwas genauer genommen steht sie
für die Anzahl der Möglichkeiten, wie die Bestandteile eines Verblüffende Verbindungen
Objekts neu angeordnet werden können, ohne den Gesamt­ 2017 verwendeten Cheung, Liu und Remmen den grundle­
zustand zu ändern. Die Erkenntnis von Bekenstein und genden Ansatz von Wald für Berechnungen zu geladenen
Hawking verband also die kleinsten inneren Komponenten Schwarzen Löchern. Sie modifizierten die Gleichungen von
eines Schwarzen Lochs mit dessen Äußerem. So wurde das Einstein und Maxwell mit einer Reihe von zusätzlichen
»Flächengesetz der Entropie« zu einem wichtigen Anker auf Termen, die von Effekten auf kleinen Distanzen herrühren,
dem Weg zu einer Theorie der Quantengravitation. und fanden so eine Lösung für eine neue, korrigierte extre­
Bekenstein und Hawking leiteten ihr Gesetz ab, indem male Schranke. Zu ihrer Überraschung erkannten sie eine
sie die einsteinschen Gravitationsgleichungen zusammen erstaunliche Parallele: Die Korrekturen zur extremalen
mit den Gesetzen der Thermodynamik auf die Oberfläche Grenze eines geladenen Schwarzen Lochs stimmen genau
des Schwarzen Lochs anwandten. Sie behandelten diese mit denen zu seiner Entropie aus Walds Formel überein. Die
als glatt und ignorierten jede Struktur auf kurzen Distanzen. Quantengravitation verändert beide Größen auf identische
Art und Weise.
Aber weisen die entsprechenden Verschiebungen über­
haupt in die richtige Richtung? Beide Korrekturen hängen
von unbestimmten Variablen ab, sie können also prinzipiell
Mehr Wissen auf entweder positiv oder negativ sein. Cheung und seine
Spektrum.de Kollegen haben für eine große Klasse von Szenarien und
Unser Online-Dossier zum Thema Modellen der Quantengravitation eine positive Entropiever­
finden Sie unter schiebung berechnet. Sie argumentieren, das ergebe
spektrum.de/t/schwarze-loecher außerdem intuitiv Sinn. Schließlich steht die Entropie für all
ISTOCK / OORKA
die verschiedenen denkbaren Zustände eines Schwarzen
Lochs. Es scheint eine vernünftige Annahme zu sein, die
Berücksichtigung von mehr mikroskopischen Details der
1993 zeigte der Physiker Robert Wald von der University Oberfläche würde neue mögliche Zustände aufdecken und
of Chicago, wie es genauer geht. Mit einigen Tricks schloss somit zu mehr Entropie statt zu weniger führen. Dann wäre
er auf die kleinen Effekte, ohne dabei eine vollständige auch die Verschiebung der extremalen Grenze positiv, und
Beschreibung kennen zu müssen. Seine Taktik, die der kleinere Schwarze Löcher können mehr Ladung pro Masse
theoretische Physiker Kenneth Wilson in einem anderen speichern.
Kontext entwickelt hatte, bestand darin, jeden möglichen Andere Forscher merken jedoch an, die Ergebnisse
physikalischen Effekt aufzuschreiben. Wald zeigte, wie man stellten keinen eindeutigen Beweis für die Vermutung der
Einsteins Gleichungen eine ganze Reihe von zusätzlichen schwachen Gravitation dar. Gary Shiu, ein theoretischer
Termen hinzufügen kann – Hauptsache, sie haben die Physiker an der University of Wisconsin, hält die Vorstel­
richtigen physikalischen Dimensionen und Einheiten und lung, die Entropie müsse immer zunehmen, sobald man die
enthalten alle relevanten Variablen. Die Hoffnung dahinter Quantengravitation in Betracht zieht, für eine »Intuition, die
war, manche davon würden die unbekannten Eigenschaf­ bloß, weil sie naheliegt, nicht immer wahr ist«.
ten der Oberfläche eines Schwarzen Lochs auf kurzen Shiu hat Gegenbeispiele identifiziert: Modelle der Quan­
Distanzen beschreiben. tengravitation, bei denen kurzreichweitige Effekte die
Zwar werden die einzelnen Konstrukte aus den zahlrei­ Entropie Schwarzer Löcher verringern. Diese Modelle sind
chen Variablen immer unübersichtlicher, aber glücklicher­ zwar unrealistisch und verletzen die Kausalität oder andere
weise kann die Reihe bereits nach einigen Termen abgebro­ fundamentale Prinzipien, aber Shiu geht es vielmehr grund­
chen werden, da die komplizierteren Teile kaum noch zur sätzlich darum, dass die neu gefundene Verbindung zur
endgültigen Antwort beitragen. Sogar viele der führenden Entropie an und für sich noch nicht rigoros beweist, dass
Terme lassen sich streichen, weil sie die falschen Symmetri­ extremale Schwarze Löcher immer zerfallen können oder
en haben oder Konsistenzbedingungen verletzen. Schließ­ die Gravitation stets die schwächste Kraft ist.
lich bleiben nur wenige Terme von Bedeutung übrig, die Zumindest in unserem Universum ist die Schwerkraft die
Einsteins Gravitationsgleichungen modifizieren. Die Lösung schwächste der vier fundamentalen Kräfte. Die Vermutung,

62 Spektrum der Wissenschaft  12.20


die Physiker schon so lange zu beweisen trachten, besagt: Energie und Entropie, die in der Natur allgemein gelten
Es darf auch gar nicht anders sein. Abgesehen von unse­ sollte.
rem Universum scheint das tatsächlich in allen möglichen Im Fall von Schwarzen Löchern sagt die Formel der
theoretischen Universen zu gelten, die sich im Rahmen der beiden Physiker das aus, was Cheung, Remmen und Liu
Stringtheorie ableiten lassen. Diese ist ein Kandidat für die bereits gezeigt haben: Die Quantengravitation verschiebt
Quantentheorie der Gravitation und basiert auf ausgedehn­ die Grenze zur Extremalität bei Schwarzen Löchern, wo­
ten, fundamentalen »Strings« sowie zusätzlichen Dimensio­ durch diese mehr Ladung pro Masse enthalten können, und
nen der Raumzeit. Wenn Physiker mit Hilfe von Strings sie verändert die Entropie im gleichen Verhältnis dazu. Man
versuchen, ein Universum zu konstruieren, stellen sie könnte alternativ sagen, ein Schwarzes Loch mit fester
unweigerlich fest, dass dort die Gravitation die schwächste Ladung darf weniger Masse besitzen. Masse ist eine Form
Kraft ist. »Es ist schon sehr auffallend, wie das jedes Mal von Energie, und daher kann man sich die Verringerung als
wieder passiert«, kommentiert Jorge Santos vom Institute eine Verschiebung der Energie vorstellen, die umgekehrt
for Advanced Study in Princeton und von der University of proportional zur Veränderung der Entropie läuft.
Cambridge. Bei Schwarzen Löchern rühren die Auswirkungen auf
Die Vermutung der schwachen Gravitation ist eine der Energie und Entropie von unbekannten Details der Quan­
wichtigsten in einer ganzen Reihe von »Sumpfland«-Vermu­ tengravitation her. Allerdings gibt es ähnliche Situationen
tungen, die Stringtheoretiker in den vergangenen zwei für jedes physikalische System nahe bestimmter Grenzen.
Jahrzehnten aufgestellt haben. Das sind spekulative Aussa­ Beispielsweise wird ein Gas auf eine gewisse Weise extre­
gen, die auf Gedankenexperimenten zur Frage beruhen, mal, wenn es bis zum absoluten Temperaturnullpunkt ab­-
welche Arten von Universen möglich sind und welche gekühlt wird. Die thermodynamische Formel von Goon und
nicht. Unmögliche Universen landen dabei im unbrauchba­ Penco verbindet nun mit jeder Änderung der mikroskopi­
ren Sumpfland. schen Eigenschaften des Gases, etwa der Art der Atome,
Ein definitiver Beweis, dass die Gravitation zwangsläufig aus denen es besteht, gleich große und entgegengesetzte
am schwächsten ist, würde laut Santos bedeuten, die Verschiebungen seiner Energie und Entropie. Goon zufolge
Quantengravitation müsse »eine Theorie der Vereinheitli­ könnte die Beziehung bei Untersuchungen ultrakalter Gase
chung sein«. Das heißt, wenn Q und M ein festes Verhältnis und anderen Experimenten bei tiefsten Temperaturen
haben, sind ihre zugehörigen Kräfte Teil desselben mathe­ nützlich sein, weil sich einer der Werte manchmal leichter
matischen Rahmens. Santos merkt an, die Stringtheorie berechnen lasse als der andere.
vereinige als einzige Theorie alle fundamentalen Kräfte auf Unabhängig davon, ob sich die Entropie-Energie-Bezie­
solche Weise. Rivalisierende Ansätze wie die Schleifen­ hung in irdischen Bereichen der Physik jemals als praktisch
quantengravitation etwa quantisieren die Schwerkraft, in­- erweisen wird, haben die Forscher noch viel Arbeit vor sich,
dem sie die Raumzeit in Stücke teilen, ohne die Kräfte um die Bedeutung der neu entdeckten Verbindung für
selbst zu verbinden. »Wenn die Vermutung der schwachen Schwarze Löcher und die Natur der Gravitation zu ergrün­
Gravitation richtig ist, sind Ansätze wie die Schleifenquan­ den. Cheung fasziniert bereits die Aussicht darauf, schlecht­
tengravitation tot«, meint Santos. hin Aussagen darüber treffen zu können, warum die Gravi­
tation die schwächste Kraft ist: »Die Tatsache, dass diese
Von Schwarzen Löchern zur Thermodynamik Frage überhaupt zur Diskussion steht, dass sie sich nicht
Jorge Pullin, der an der Louisiana State University die bloß philosophisch beantworten lassen könnte und dass sie
Schleifenquantengravitation untersucht, hält »tot« dagegen über so verschlungene Wege mit der Entropie verbunden
für einen viel zu dramatischen Begriff. Vielmehr könnte der ist, die für Schwarze Löcher so bedeutsam ist – das er­
Ansatz Teil einer größeren einheitlichen Theorie sein: »Die scheint verrückt.« 
Schleifenquantengravitation schließt eine Vereinigung nicht
aus. Wir haben Ideen zu einer solchen Struktur bloß nicht QUELLEN
weiterverfolgt.« Shiu vergleicht das heutige Verständnis der Arkani-Hamed, N. et al.: The string landscape, black holes and
Quantengravitation mit den Anfängen der Quantenmecha­ gravity as the weakest force. ArXiv, hep-th/0601001, 2006
nik: »Es gab diverse Ansichten dazu, was die richtige Theo­
Cheung, C. et al.: Proof of the weak gravity conjecture from
rie der subatomaren Welt sein sollte. Letztendlich stellten black hole entropy. Journal of High Energy Physics 2018, 2018
sich viele dieser Ahnungen nur als Teil eines weit größeren
Goon, G., Penco, R.: Universal relation between corrections to
Bilds heraus.«
entropy and extremality. Physical Review Letters 124, 2020
Möglicherweise haben die neuen Forschungsergebnisse
noch Auswirkungen jenseits Schwarzer Löcher und Quan­
tengravitation. In ihrer Veröffentlichung haben Goon und
Penco die Korrekturen zur Entropie und zur Extremalitäts­ Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete
Fassung des Artikels »Black Hole Paradoxes Reveal a Fundamental
grenze überarbeitet und neu berechnet. Dazu verwendeten
Link Between Energy and Order« aus »Quanta Magazine«, einem
sie nicht die mathematische Sprache der Schwerkraft und inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich
der Oberflächengeometrie Schwarzer Löcher, sondern die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und
ermittelten die Korrekturen allein mittels universeller ther­ den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
modynamischer Größen wie Energie und Temperatur. So
erhielten sie eine thermodynamische Beziehung zwischen

Spektrum der Wissenschaft  12.20 63


DUNKLE MATERIE
EIN RÄTSELHAFTES SIGNAL
Lange machte eine besonders gründlich arbeitende Forschergruppe
anderen Dunkle-Materie-Jägern das Leben schwer. Nun ist sie selbst auf eine
sonderbare Fährte gestoßen, die weltweit für Diskussionen sorgt.

Von 2016 bis 2018 hielt


der XENON1T-Detektor
nach Dunkler Materie
Ausschau. Der ein Meter
hohe Zylinder, der links
auf dem Plakat abge­
bildet ist, hing in einem
mehrere Stockwerke
hohen Wassertank im
italienischen Laboratori
Nazionali del Gran Sasso.
Mittlerweile haben die
Forscher den Detektor
durch die nächstgrößere
Ausbaustufe XENONnT
ersetzt.
XENON KOLLABORATION

64 Spektrum der Wissenschaft  12.20



Bisher waren die Wissenschaftler des XENON-Experi-
ments so etwas wie die Spielverderber bei der Suche Robert Gast ist Physiker und
nach Dunkler Materie. Schon 2006 hat die Gruppe in Redakteur bei »Spektrum«.
einem Labor unter dem Gebirgsmassiv des Gran Sasso
 spektrum.de/artikel/1783517
d’Italia einen Detektor aufgestellt, in dem Teilchen der
rätselhaften Substanz eigentlich hängen bleiben müssten –
sofern sie sich so verhalten wie gedacht. Doch während
konkurrierende Gruppen, die ähnliche Fallen betrieben,
immer wieder wackelige Indizien für Interaktionen zwi-
schen Dunkler Materie und irdischen Atomkernen präsen-
tieren, sorgte das deutsch-amerikanisch geführte XENON-
Team stets für Ernüchterung. Egal wie genau die Forscher
XENON KOLLABORATION

Spektrum der Wissenschaft  12.20 65


hinschauten, egal wie sehr sie ihren unterirdischen Edelgas- Lichtblitz ab, den empfindliche Messgeräte an der Ober-
tank vergrößerten und verbesserten: Die Dunkle Materie und Unterseite des Stahlzylinders nachweisen können.
tauchte einfach nicht auf. Auch setzt die Minikollision Elektronen in Bewegung, was
Nun ist die 163-köpfige XENON-Kollaboration doch zu einem zweiten Lichtsignal führt (siehe »Der Xenon-­
noch auf etwas gestoßen, was sich als Fährte zur Dunklen Detektor«, S. 68).
Materie entpuppen könnte, mit viel Glück zumindest. Mit diesem Messprinzip können die Forscher Ausschau
­Zwischen Februar 2017 und Februar 2018 sei es in der da- nach Dunkler Materie aus dem Weltall halten. Laut der
maligen Ausbaustufe des Detektors zu überraschend vielen derzeit vorherrschenden Lehrmeinung müsste sie dort
Teilchenzusammenstößen gekommen, verkündeten die allgegenwärtig sein und sich wie ein feiner Nebel im Raum
Forscher im Juni 2020. Für Aufsehen sorgte dabei vor allem zwischen den Sternen sammeln. Da die Substanz jedoch
eine der möglichen Interpretationen: Die Elektronen im offenkundig nicht auf elektromagnetische Strahlung re-
Tank von XENON1T könnten von neuartigen Elementarteil- agiert und damit für Teleskope unsichtbar ist, könnte man
chen getroffen worden sein, beispielsweise so genannten sie nur auf Umwegen nachweisen. Etwa wenn eines der
Axionen, die bisher nur auf dem Papier existieren. Experten Teilchen, aus denen die Dunkle Materie mutmaßlich be-
handeln solche ultraleichten Partikel schon länger als mög- steht, an einem irdischen Atomkern hängen bleibt.
liche Erklärung für die Dunkle Materie (siehe »Spektrum« Im Grunde müsste es immer wieder zu solchen Zusam-
März 2019, S. 12); ihr Nachweis wäre eine nobelpreiswürdige menstößen kommen. Schließlich bewegt sich unser Son-
Sensation. nensystem als Teil der rotierenden Milchstraße mit hoher
Geschwindigkeit durchs All; die Erde müsste dabei laufend
53 mysteriöse Teilchenkollisionen durch ein Meer aus Dunkler Materie tauchen. Meistens
Auch zwei andere Erklärungen für die sonderbaren Mess- würden die unsichtbaren Partikel einfach zwischen den
daten sind denkbar: Die rätselhaften Signale – es sind 53 irdischen Atomkernen hindurchschlüpfen, ähnlich wie Luft,
an der Zahl – könnten einerseits auf Neutrinos aus der die man mit einem Fliegengitter einfangen will. Doch hin
Sonne zurückgehen. Dafür müsste von den Geisterteilchen und wieder sollte die Dunkle Materie eben auch an einem
ein Magnetfeld ausgehen, was für Experten eine Über­ Atom hängen bleiben.
raschung wäre. Andererseits könnte hinter der Ano­malie Um eine Chance zu haben, einem solchen Ereignis bei-
auch bloß eine bisher unentdeckte radioaktive Verschmut- zuwohnen, muss man extrem genau hinsehen – und alles
zung durch Tritiumatome stecken, räumt das Forscherteam ausblenden, was ein mögliches Signal überlagern könnte.
ein, an dem aus Deutschland das Max-Planck-Institut Im Mikrokosmos sorgt der natürliche Zerfall von radio­
für Kernphysik in Heidelberg, das Karlsruher Institut für aktiven Elementen für ein stetiges Störfeuer, das einzelnen
Technologie und die Universitäten in Münster, Mainz und Atomen ähnliche Stöße versetzen kann wie Dunkle-­
Freiburg beteiligt sind. Materie-Teilchen. Auch Atomkerne und andere Partikel aus
Der XENON1T-Detektor ist eigentlich Weltklasse darin, dem Weltall sind ein Problem. Als Teil der kosmischen
Störeffekte aus dem Mikrokosmos auf ein Minimum zu Strahlung können sie teilweise bis zum Erdboden vordrin-
reduzieren. Sein Herzstück ist ein ein Meter breiter wie gen und dort Messungen verfälschen.
hoher Hightech-Zylinder, der zwei Tonnen Xenon auf minus Entsprechend müssen Dunkle-Materie-Jäger ihre Detek-
96 Grad Celsius abkühlt und dadurch flüssig hält. Der toren mit großem Aufwand von der Umwelt abschirmen.
Gedanke dahinter: Trifft ein Dunkle-Materie-Teilchen auf Das XENON-Projekt findet daher im Laboratori Nazionali del
eines der schwimmenden Edelgasatome, erhält dieses Gran Sasso statt, einem Untergrundlabor östlich von Rom,
einen Rückstoß. Das Atom gibt daraufhin einen winzigen bedeckt von einem 1400 Meter dicken Gebirsmassiv. Das
Gestein hält einen Großteil der kosmischen Strahlung ab.
Als zusätzliche Schutzmaßnahme hängt der XENON1T-Zy-
linder in einem haushohen Wassertank. Darin hinterlassen
AUF EINEN BLICK Teilchen aus dem Weltall, insbesondere so genannte Myo-
EIN HAUCH NEUER PHYSIK nen, klar nachweisbare Spuren. So kann man sie klar von
Dunkle-Materie-Teilchen unterscheiden.

1 Ein mit Xenon gefüllter Hightech-Detektor in einem


italienischen Untergrundlabor gilt derzeit als bestes
Instrument bei der Suche nach Dunkler Materie.
Daneben dient das Wasser als Barriere für Gamma­
strahlen und Neutronen aus anderen Teilen des Labors, die
ebenfalls zu verdächtigen Signalen im Detektor führen
können. Generell haben die Wissenschaftler alle Kompo-

2 Bei Messungen ist das Gerät auf eine Spur gestoßen,


die auf bisher unbekannte Elementarteilchen zurückge-
hen könnte.
nenten der Teilchenfalle so ausgewählt, dass von ihnen
möglichst wenig natürliche Radioaktivität ausgeht, die
ebenfalls bei den Messungen stört. Gänzlich wird man
zerfallende Atomkerne allerdings nicht los. Aus den Bautei-
3 Doch andere Erklärungen sind ebenfalls denkbar, etwa
eine bisher unentdeckte Verschmutzung mit radioakti-
ven Atomkernen. 2021 sollen neue Messungen Klarheit
len entweichen stetig winzige Mengen Radon, dessen
Zerfallskette störende Lichtblitze im Detektor hervorruft.
bringen. Selbst das Xenon ist eine Herausforderung, obwohl es
von allen Elementen am besten für die Dunkle-Materie-­
Suche geeignet ist. Industrieunternehmen filtern das reak­

66 Spektrum der Wissenschaft  12.20


XENON KOLLABORATION

Das Herz des XENON1T-Detektors: ein von Kupfer­ mittels der Gravitation und der schwachen Kernkraft auf
elektroden ummantelter Hightech-Zylinder, in dem gewöhn­liche Materie reagieren, nicht aber auf elektromag-
flüssiges Xenon Dunkle Materie nachweisen soll. netische Strahlung. Damit würden sie gut zum Steckbrief
der D
­ unklen Materie passen, weshalb der Teilchentyp bei
Fachleuten lange Zeit hoch im Kurs stand.
tionshemmende Gas mit großem Aufwand aus der Atmo- Dass dies heute nicht mehr so ist, liegt auch an den
sphäre, in der es in winzigen Mengen vorkommt. Nach der Xenon-Experimenten unter dem Gran Sasso: Schon
Auslieferung an die Forscher enthält eine Flasche Xenon XENON100 fand 2012 keine Hinweise auf Zusammenstöße
daher noch andere Spurengase. Insbesondere radioaktives von WIMPs und Atomkernen. Das brachte andere Teams
Krypton-85, das bei Atomwaffentests in die Luft gelangt ist, in Erklärungsnot, die mit ihren Dunkle-Materie-Detektoren
ist hier ein Ärgernis. Erst wenn man das Xenongemisch zu dieser Zeit just solch verdächtige Spuren aufgespürt
stark abkühlt und in eine fünf Meter hohe »Destilliersäule« hatten, etwa das deutsche CRESST-Team oder die Experi-
leitet, lösen sich das Krypton und andere unerwünschte mente CDMS, CoGeNT und DAMA.
Gase aus der Xenonflüssigkeit. Möglich machen es die Aus Sicht der allermeisten Forscher hat die XENON-­
unterschiedlichen Siedetemperaturen der Stoffe. Kollaboration Recht behalten. WIMPs in dem anvisierten
Mit dem gereinigten Edelgas haben die Forscher erst- Massenbereich scheint es schlicht nicht zu geben, oder
mals 2006 nach Dunkler Materie Ausschau gehalten. Da- sie sind nochmals deutlich scheuer als gedacht. An diesem
mals hieß das Projekt XENON10 und nutzte 14 Kilogramm Befund haben auch die Daten des deutlich leistungsfähi­
flüssiges Xenon als Zielscheibe. 2008 folgte XENON100 geren XENON1T-Detektors nichts geändert, der 2016 in
mit 62 Kilogramm und 2016 schließlich XENON1T mit rund Betrieb ging, oder die seiner ebenfalls mit Xenon arbeiten-
zwei Tonnen. den Konkurrenten LUX in den USA und PandaX in China:
Sie alle sahen keine Spuren von Dunkler Materie, sondern
Trügerische WIMPs nur die erwarteten irdischen Störungen.
All diese Ausbaustufen sollten eigentlich nach eher masse- Bei der Auswertung dieses »Untergrunds« ist das
reichen Dunkle-Materie-Teilchen Ausschau halten. Diese XENON1T-Team dann allerdings auf den Überschuss an
»WIMPs« (weakly interacting massive particles) wären Lichtsignalen gestoßen, der Physiker seit dem Sommer
etwa 100-mal so schwer wie ein Proton und würden nur 2020 beschäftigt. Binnen eines Jahres kam es zu 285

Spektrum der Wissenschaft  12.20 67


solcher Ereignisse – 53 mehr, als man durch Umwelteinflüs- hängen. Denn an und für sich sind die hypothetischen
se in diesem Zeitraum erwarten würde. Aus der jeweils Bestandteile des Dunkelstoffs viel zu leicht, um Elektronen
freigesetzten Lichtmenge konnten die Forscher ableiten, auf der Erde anzustoßen, geschweige denn Atomkerne.
dass die Signale nicht von angestoßenen Atomkernen Als Erklärung für die XENON1T-Anomalie kommen
stammen, sondern von den sehr viel leichteren Elektronen. Axionen daher nur dann in Frage, wenn sie erst vor Kurzem
»Die Sache ist uns schon vor etwa zwei Jahren bei einer in unserer Sonne entstanden sind und von dort mit viel
Untergrundanalyse aufgefallen, zunächst haben wir es aber Energie in Richtung Erde geschossen wurden. Dadurch
für einen falschen Alarm gehalten«, erzählt Teammitglied könnten sie hiesige Elektronen beeinflussen, über eine Art
Rafael Lang von der Purdue University. Elektronen sind im photoelektrischen Effekt, der die Elektronen aus der Schale
Mikrokosmos viel stärker von Rückstößen betroffen und von Xenonatomen schleudern würde. Modelle sagen schon
lassen die Messelektronik daher viel häufiger ausschlagen länger voraus, dass sich Lichtteilchen in den starken Mag-
als angestoßene Atomkerne. Entsprechend schwierig ist es, netfeldern der Sonne hin und wieder in Axionen umwan-
alle Fehlerquellen auszuschließen. »Erst nachdem eine deln könnten. Ob in diesem Fall wirklich auch die Dunkle
unserer Arbeitsgruppen der Sache ein Jahr lang auf den Materie aus den Leichtgewichten bestünde, kann das
Zahn gefühlt hatte, haben wir die Anomalie wirklich ernst XENON-Experiment jedoch nicht klären. Denn die Dunkle-
genommen«, sagt Lang. Materie-Axionen müssten bereits im Urknall entstanden
Dann aber war die Fantasie der Forscher gefragt: Was sein und sich heute mit eher gemächlicher Geschwindigkeit
könnte die 53 überschüssigen Signale erklären? Letztlich durchs All bewegen. Direkt nachweisbar wären sie – wenn
arbeitete die XENON-Kollaboration mehrere Szenarien aus, überhaupt – nur mit anderen Spezialdetektoren.
die zu den Daten passen. Die erwähnten Axionen sind hier Der Beweis, dass der Bauplan der Natur Axionen erlaubt,
wohl die spektakulärste Option. Sie würden in diesem Fall wäre aus Sicht von Experten dennoch ein enormer Fort-
jedoch nur indirekt mit der Dunklen Materie zusammen­ schritt. Denn mit Axionen ließe sich unter anderem eine

Signal S1 Signal S2
Der Xenon-Detektor Lichtsensoren

BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / CC BY 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/3.0/LEGALCODE)


Das Herzstück von Dunkle-Mate-

GIGAPARSEC / DAVID MALLING AND CARLOS FAHAM (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:LUXEVENT.PDF);


rie-Detektoren wie XENON1T
ist ein mit Xenon gefüllter Edel-
stahltank. Das Xenon wird darin
auf minus 96 Grad Celsius ge- 2. Lichtblitz
kühlt, wodurch es sich größten-
elektrisches Feld

teils verflüssigt, abgesehen von


1. Lichtblitz
einem kleinen Bereich im
oberen Teil des Tanks.
Dringt ein Teilchen
von außerhalb in
den Detektor ein, Dunkle-Materie-
Teilchen
stößt es manchmal
ein Xenonatom an.
Dieses sendet daraufhin Lichtsensoren
einen kurzen Lichtblitz aus (S1),
den Lichtsensoren an der Ober- und das Xenonatom im Tank getroffen Leichte Teilchen wie Axionen
Unterseite des Tanks nachweisen wurde. Schwere Partikel wie die führen hingegen zu einem helleren
können. Gleichzeitig ionisiert die hypothetischen WIMPs oder Neu­ zweiten Lichtpuls. Sie schlagen
Kollision das unmittelbare Umfeld tronen geben den Atomkernen bei einer Kollision im Detektor
und setzt dadurch Elektronen (e–) in einen kräftigen Rückstoß. Letztere Elek­tronen aus der Hülle der Xenon­
Bewegung, die in einem elektri- verlieren ihre Bewegungsenergie atome, die dabei viel Bewegungs-
schen Feld nach oben driften. jedoch recht schnell wieder, da sie energie erhalten und diese bei dem
Sobald sie die Flüssigkeit verlassen, mit anderen Xenonatomen kollidie- Weg durch die Flüssigkeit lang­
ionisieren sie darüber schwebende ren. Entsprechend ionisieren die samer verlieren als Atomkerne.
Gasatome, wodurch erneut Licht Kerne nur einen überschaubaren Dadurch können sie viele andere
erzeugt wird (S2). Teil ihres Umfelds, was vergleichs- Elektronen von ihren Kernen lösen,
Über einen Vergleich der Signale weise wenige Elektronen auf Wan- die daraufhin zur Oberfläche stei-
S1 und S2 können Forscher ermit- derschaft schickt und zu einem gen und dort ein stärkeres S2-Sig-
teln, von was für einem Teilchen eher schwachen S2-Signal führt. nal absetzen.

68 Spektrum der Wissenschaft  12.20


konzeptionelle Unstimmigkeit im Standardmodell der T ­ eil- 120

APRILE, E. ET AL.: OBSERVATION OF EXCESS ELECTRONIC RECOIL EVENTS IN XENON1T.


PHYSICAL REVIEW D 102, 2020, FIG. 4 (10.1103/PHYSREVD.102.072004); BEARBEITUNG:
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
chenphysik beseitigen, das so genannte CP-Problem.
Viele Forscher sind in dieser Hinsicht allerdings skeptisch. 100

Wenn Axionen in der Sonne entstehen, müssten auch


andere Sterne sie ausspucken. Dadurch würden die Sterne 80

Ereignisse
im Lauf ihrer Evolution jedoch etwas schneller abkühlen,
als Tele­skopaufnahmen es nahelegen. 60

Auch das zweite Szenario für »neue Physik«, das die


XENON-Forscher ins Spiel bringen, steht im Konflikt zu 40

anderen Forschungsergebnissen. So ließe sich die Ano­


20 erwarteter Untergrund (Störsignale)
malie prinzipiell durch einen neuen Trick der Neutrinos Daten 2017/2018
erklären, die – das ist sicher – in gigantischer Anzahl in der
Sonne entstehen und vereinzelt Elektronen im Detektor 0
0 5 10 15 20 25 30
treffen. Geht von den geisterhaften Teilchen ein ungeahnt
Energie (keV)
großes Magnetfeld aus, könnten diese Begegnungen weit
häufiger stattfinden als gedacht. Andere Experimente
haben bisher jedoch keine Hinweise auf solch einen Mag- In den Jahren 2017 und 2018 haben Elektronen im
netsinn erbracht. Und wie bei den Axionen weisen Studien XENON1T-Detektor häufiger einen Rückstoß erhalten
aus der Astrophysik eher in eine andere Richtung. So als erwartet. Bei den Stößen wurde jeweils eine Energie
müssten magnetische Neutrinos weiße Zwergsterne etwas von wenigen Kiloelektronvolt (keV) übertragen, was
schneller abkühlen lassen, als Beobachtungen zeigen. auf eher leichte Teilchen als Ursache hindeutet. Im hier
Trotz dieser Einschränkungen hat die XENON1T-Anoma- abgebildeten Messdiagramm kann man den Überschuss
lie einen Nerv bei Physikern getroffen. »Es ist Jahre her, im linken Teil als Abweichung von der roten Linie sehen,
dass die Teilchenphysik eine spannende Schlagzeile hervor- die den erwarteten Untergrund infolge von irdischen
gebracht hat«, kommentierte etwa der einflussreiche Blog- Störsignalen skizziert. Zwischen 2 und 5 keV liegen zwei
ger Adam Falkowski von der Université Paris-Saclay das der Messpunkte deutlich darüber, selbst wenn man die
Ergebnis. Mittlerweile sind weit über 100 Fachaufsätze Messunsicherheit (schwarzer Balken) berücksichtigt.
erschienen, die das Ergebnis deuten. Viele von ihnen be-
schreiben Modelle für neue Teilchen, die die Probleme der
Axionen-Hypothese umschiffen. Demnach kommen vor Forscher zeitweise mit Argon zu kämpfen hatten. »Man
allem Verwandte der ultraleichten Teilchen in Frage, so benötigt nicht viele Atome davon, um das Signal von
genannte axionartige Teilchen, oder auch »dunkle« Photo- ­XENON1T zu erklären«, sagt Lesko.
nen, die jeweils ein Bestandteil der Dunklen Materie sein Die Forscher unter dem Gran Sasso halten das Szenario
könnten. »Alle diese Möglichkeiten wären ein großer Durch- dagegen für unwahrscheinlich. »Natürlich kann irgendwo
bruch, aber wirklich perfekt passt keine von ihnen zu den etwas schiefgehen, aber im Fall von Argon glaube ich
Daten«, sagt der Theoretiker Joerg Jaeckel von der Univer- das nicht«, sagt Rafael Lang. Im Detektor nachschauen kön-
sität Heidelberg. nen er und seine Kollegen leider nicht mehr. Sie haben
XENON1T schon 2018 aus dem Wassertank entfernt und
Radioaktive Verschmutzung oder Physiksensation auseinandergebaut. Stattdessen hängt dort nun der Nach-
Ohnehin werden die meisten Physiker wohl erst dann an folgedetektor XENONnT, in dem sechs Tonnen Xenon der
ein neues Teilchen glauben, wenn alle banalen Erklärungen Dunklen Materie auflauern.
ausgeschlossen sind. Das XENON-Team hat selbst eine Der größere Zylinder soll Ende 2020 oder Anfang 2021
solche Möglichkeit ins Spiel gebracht: Auch eine winzige mit den Messungen beginnen. Experten erwarten, dass die
Menge Tritium, das zwischen den Edelgasatomen im De- neuen Daten binnen Monaten verraten, was sich hinter der
tektor schwimmt, könnte die Anomalie erklären. Da das Anomalie verbirgt. »Ich bin zuversichtlich, dass die Kollegen
radioaktive Wasserstoffisotop beim Zerfall Elektronen die Sache aufklären werden, die Kollaboration gilt als sehr
abgibt, würde es ähnliche Spuren hinterlassen wie leichte gründlich«, sagt Joerg Jaeckel. Und so könnte XENON am
Dunkle-Materie-Teilchen. »Es kann sich allerdings um Ende erneut das Projekt sein, das die Hoffnung auf einen
höchstens 1000 Atome pro Kubikmeter handeln, größere großen Durchbruch bei der Jagd nach Dunkler Materie
Mengen würden beim Reinigen des Xenons entfernt«, sagt begräbt – diesmal allerdings die eigene. 
Rafael Lang. Bisher gebe es aber leider kein Nachweisver-
fahren, das solch winzige Mengen sicher aufspürt. QUELLEN
Konkurrierende Forscher haben noch ein zweites Fremd­ Aprile, E. et al.: Observation of excess electronic recoil events
element ins Spiel gebracht: Auch ein radioaktives Isotop in XENON1T. Physical Review D 102, 2020
des Edelgases Argon könne verdächtige Spuren im Detek- Di Luzio, L. et al.: Solar axions cannot explain the XENON1T
tor hervorrufen, vermutet Kevin Lesko vom Lawrence excess. Physical Review Letters 125, 2020
Berkeley National Laboratory. Er ist einer der Köpfe hinter Fuminobu, T. et al.: XENON1T anomaly from anomaly-free ALP
dem US-amerikanischen Dunkle-Materie-Detektor LUX, der dark matter and its implications for stellar cooling anomaly.
ebenfalls Xenon als Zielscheibe einsetzt – und in dem die ArXiv 2006.10035, 2020

Spektrum der Wissenschaft  12.20 69


SCHLICHTING!
WENN WASSER ZUM
SCHMIERMITTEL WIRD
Reichert sich eine dünne Wasserschicht mit dem
­Abrieb mikroskopisch feiner Eispartikel an, macht das
die Flüssigkeit zähflüssig und glitschig.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität
Münster. Seit 2009 schreibt er für »Spektrum« über physikalische Alltags­phänomene.

 spektrum.de/artikel/1783535

Vermehrung der Kraft eine Bewegung in der Flüssigkeit hervor – die Gleitrei­
durch weichenden Widerstand bungskraft muss nicht mehr die Rauigkeit oder Klebrig­
keit der eigentlichen Oberflächen überwinden, sondern
Novalis (1772–1801) beschränkt sich darauf, die Schmierflüssigkeit zu »sche­
ren«. Unter dem Begriff verstehen Physiker eine parallele
Verschiebung gedachter Flüssigkeitsschichten. Dabei


In vielen Bereichen des Lebens versuchen wir, bleibt die jeweils an den Festkörper angrenzende Lage
Reibung zu verringern: Autos brauchen regelmäßige relativ zu diesem in Ruhe, und die Bereiche dazwischen
Ölwechsel, und die Türangeln im Haus quietschen, driften allmählich auseinander (siehe Illustration unten).
wenn man sie nicht von Zeit zu Zeit einfettet. Wie selbst­ Die dergestalt ins Innere des Schmiermittels verlagerte
verständlich nehmen wir dafür Öl oder eine andere Gleitreibungskraft steigt mit dessen Zähigkeit (Viskosität).
schmierige Substanz. Die Idee, stattdessen Wasser zu Das entspricht der Erfahrung mit zahlreichen Alltags­
verwenden, klingt absurd. substanzen. Rührt man etwa mit einem Löffel in einer
Andererseits kennen wir Wasser in seiner festen Form Tasse mit Tee, ist der Widerstand wesentlich geringer als
auf zugefrorenen Pfützen und Seen als überaus rutschi­ in einem Glas mit Honig. Da liegt die Frage nahe: Müsste
gen Untergrund. Und das wiederum führen Physiker auf
eine dünne, flüssige Schicht auf dem Eis zurück. Sie
erleichtert es Festkörpern enorm, darüber zu gleiten. Auf
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: H. JOACHIM SCHLICHTING
Grund der Besonderheiten der Eisoberfläche ist das sogar
bei Minusgraden der Fall (siehe »Spektrum« Februar 2014, Plattengeschwindigkeit
S. 60). Warum also ist flüssiges Wasser in diesem speziel­
len Fall so ein ausgesprochen gutes Schmiermittel, im
Alltag aber nicht?
Wenn ein Gegenstand über einen trockenen Unter­
Geschwindigkeit
grund gleiten soll, muss eine mehr oder weniger große der Flüssigkeit
Kraft aufgewandt werden. Denn die in Kontakt stehenden
Oberflächen üben durch mechanische und chemische
Wechselwirkungen Reibungskräfte aufeinander aus.
Eine Flüssigkeit zwischen den Flächen kann die Gleit­
reibung vermindern. Wird sie so dick aufgetragen, dass Eine Flüssigkeit zwischen zwei sich gegeneinander
die Festkörper sich nicht mehr direkt berühren, reduziert bewegende Platten wird geschert: Sie haftet
das die Gleitreibungskraft drastisch. Dann ruft nämlich an den jeweiligen Oberflächen und verzieht sich
die relative Bewegung der beiden Objekte zueinander im Bereich dazwischen.

70 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Schlittschuhe reiben kleinste Partikel
ab. Eine sehr dünne Wasserschicht
mit den mikroskopisch feinen Teilchen
kann schmierend wirken.
ANDREY DANILOVICH / GETTY IMAGES / ISTOCK

man folglich nicht möglichst dünnflüssige Schmierflüs­ sie mit einer Eisfläche in Kontakt. Während die Kugel
sigkeiten benutzen, um die innere Reibung zu vermindern darauf entlangglitt, bestimmten die Forscher mit
und Energie zu sparen? Damit wäre man wieder beim hochempfindlichen Sensoren während zahlreicher Ver­
Wasser mit seiner verhältnismäßig geringen Viskosität. suchsdurchläufe sowohl die Dicke der Wasserschicht
Doch der Gedanke lässt einen wesentlichen Aspekt als auch deren Viskosität.
außer Acht: Je nachdem, mit welcher Kraft die beiden Der flüssige Belag war nur wenige hundert Nanometer
Festkörper aufeinander wirken – zum Beispiel abhängig dick. Das spricht auf den ersten Blick gegen gute
von ihrem Gewicht –, setzt das die Gleitsubstanz unter Schmiereigenschaften, denn zum Beispiel ein auflasten­
Druck. Das presst sie aus dem Zwischenbereich heraus, der Schlittschuh müsste demnach das Wasser in äußerst
und zwar umso stärker, je dünnflüssiger sie ist. kurzer Zeit verdrängen und direkte Verbindung zum Eis
Läuft man über eine regennasse Straße, presst jeder bekommen. Allerdings zeigte sich: Das Wasser war
Schritt das Wasser so schnell zu den Seiten, dass sich abhängig von den äußeren Bedingungen 10- bis 100-mal
Schuhsohle und Boden sofort berühren. Ganz anders ist zäher als unter normalen Umständen – fast so viskos wie
es, wenn ein Ölfleck auf dem Weg liegt. Wegen der Öl! Als Erklärung vermuten die Forscher Eispartikel in
größeren Viskosität des Öls wird es während der Zeitdau­ Nanometergröße im Wasserfilm.
er eines Schritts nicht völlig verdrängt, die Schuhsohlen Sie gehen davon aus, dass die Reibung zwischen
finden weniger Bodenkontakt, und die Gefahr wächst, Sonde und festem Eis Letzteres nicht bloß anschmilzt,
auszurutschen. Zum Glück sind Ölschichten auf Geh­ sondern außerdem winzigste Körnchen abreibt. Diese
wegen und Straßen nicht häufig. Aber ein ganz ähnlicher verleihen der Wasserschicht offenbar eine viskosere
Effekt kann auftreten, wenn bei nassem Wetter verfaulte Konsistenz. Die Physiker haben in Folgeversuchen ver­
Blätter herumliegen (siehe »Spektrum«, November 2017, gleichbare Ergebnisse mit einer anderen Substanz (Poly­
S. 56). ethylenglykol) erzielt und glauben, einem grundlegenden
Dennoch schafft es eine dünne Wasserschicht, die Mechanismus auf die Spur gekommen zu sein. Er könnte
Fortbewegung auf dem Eis zu einer Rutschpartie zu nicht nur neue Impulse für die alte Debatte um das Rut­
machen. Die physikalischen Hintergründe sind heute schen auf Eis liefern, sondern obendrein Einsichten in das
immer noch erstaunlich rätselhaft und umstritten. Des­ Verhalten weiterer Materialien gewähren, die nahe ihrer
wegen hat eine französische Forschergruppe das Schmelztemperaturen aneinander reiben – bis hin zu
­Phänomen 2019 experimentell näher untersucht. Dabei Gestein bei Vulkanismus und Erdbeben.
setzte das Team eine besondere Sonde ein: eine Art
Stimmgabel mit einer winzigen Glasperle unter einem der
beiden horizontal liegenden Zinken. Das Kügelchen QUELLE
bewegte sich hin und her, sobald die Wissenschaftler die Canale, L. et al.: Nanorheology of interfacial water during ice
Gabel zur Schwingung anregten. Die Apparatur brachten gliding. Physical Review X 9, 2019

Spektrum der Wissenschaft  12.20 71


GEOMETRIE
RECHTECKE
IM KREIS
Auf Grund der wegen des Coronavirus
herrschenden Ausgangsbeschränkun­
gen konnten sich zwei Mathematiker
in Ruhe einem jahrzehntealten geome­
trischen Rätsel widmen. Anfangs
machten sie sich wenig Hoffnung –
doch dank eines Tricks lag die Lösung
plötzlich vor ihnen.

Kevin Hartnett ist Wissenschafts­


journalist in Columbia, South
Carolina.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


 spektrum.de/artikel/1783520

AUF EINEN BLICK


VOM MÖBIUSBAND
ZUR KLEINSCHEN FLASCHE

1 Kann man in jeder geschlossenen Kurve vier Punkte


markieren, damit ein Rechteck mit beliebigen Pro­
portionen entsteht? Diese einfach anmutende Frage
plagt Mathematiker seit Jahrzehnten.

2 Während der Corona-Pandemie widmeten sich zwei


Forscher diesem Problem. Dazu verfrachteten sie
es in einen bestimmten vierdimensionalen Raum, um
dessen besondere Eigenschaften zu nutzen.

3 Sie fanden Gemeinsamkeiten zu bekannten Objekten


wie der kleinschen Flasche und einem Möbiusband,
was sie zu einem unverhofften Beweis führte.
Welche Rechtecke
lassen sich in
einer geschlossenen
Kurve finden?

72 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Aspect Ratios
1 Aspect
AspectRatios
Ratios 2
11 Aspect Ratios
22
1 2


Als sich das neue Corona­
virus im März 2020 auf der
ganzen Welt ausbreitete und
die meisten Staaten nach und
1:1 1 2:1 1
1:1
1:1 1 1 2:1
2:1 11

1
nach Ausgangsbeschränkungen
verhängten, fanden sich die 1:1 1 2:1 1
Mathematiker Joshua Greene vom
Boston College, Massachusetts,

SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE


und Andrew Lobb vom Okinawa
Institute of Science and Technolo­ 1 2

gy in Japan isoliert in ihrem jeweili­


gen Zuhause wieder. Um mit der unge­
wohnten Situation fertigzuwerden, be­
schlossen die beiden Kollegen, sich in ihre 7:9
Forschung zu stürzen. 16:9 7:9
7:9

9
Eine der Aufgaben, der sich die Freunde 16:9
16:9 7:9

9
zuwandten, ist eine jahrzehntealte Frage 16:9
aus der Geometrie: Kann man in einer
geschlossenen Kurve (einer Schleife) immer
vier Punkte markieren, damit ein Rechteck
16
mit allen denkbaren Seitenverhältnissen
entsteht? »Das Problem lässt sich einfach formulieren und Rechtecke können
7
leicht verstehen, aber es ist wirklich kompliziert«, sagt die unendlich viele verschiedene
Knotentheoretikern Elizabeth Denne von der Washington Seitenverhältnisse haben.
and Lee University.
Auf den ersten Blick wirkt es wie eine Aufgabe aus Ein Rechteck lässt sich dadurch charakterisieren,
einem Mathematikwettbewerb, die ein Schüler der Mittel­ dass sich die zwei gleich langen Hauptdiagonalen im
stufe mit Lineal und Zirkel lösen könnte. Doch in Wirklich­ Mittelpunkt des Vierecks schneiden.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

keit hat es sich jahrzehntelang den größten Bemühungen


der Mathematiker widersetzt. Als Greene und Lobb es in A B
Angriff nahmen, hatten sie keinen besonderen Grund zu
erwarten, es besser zu machen. Von all den verschiedenen
Projekten, an denen er arbeitete, schätzte es Greene als das
am wenigsten vielversprechende ein.

SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE


Mittelpunkt
Rechtecke in neuem Licht
Während sich die Pandemiesituation weiter zuspitzte,
telefonierten Greene und Lobb wöchentlich und machten
schnell Fortschritte. Am 19. Mai, als einige Teile der Welt
gerade wieder anfingen, die Beschränkungen zu lockern,
veröffentlichten die beiden Mathematiker schließlich eine
Lösung des Problems. Die Arbeit, in der sie die Existenz der
vorhergesagten Rechtecke beweisen, verfrachtet die Frage
D C
in ein völlig neues geometrisches Gebiet.
AC = BD
Das Rechteck-Problem ist die abgewandelte Version
einer Vermutung, die der deutsche Mathematiker Otto nicht glatt sein. Das heißt, sie können an einer Stelle schlag­
Toeplitz (1881–1940) 1911 aufstellte. Demnach sollte jede artig ihre Richtung wechseln. Einen Extremfall bildet die
geschlossene Kurve vier Punkte enthalten, die sich zu fraktale Koch-Kurve, die einer Schneeflocke ähnelt und im
einem Quadrat verbinden lassen. Die so genannte Toeplitz- Grenzwert ausschließlich aus Ecken besteht. Diese und
Vermutung ist bis heute unbewiesen. ähnliche Kurven lassen sich nicht durch die Infinitesimal­
Die Schwierigkeit liegt in der Art von Kurven, die das rechnung oder verwandte Methoden der Analysis untersu­
Problem zulässt. Wenn man Sie bittet, eine Schleife auf ein chen, was es besonders schwierig macht, mit ihnen zu
Blatt Papier zu malen, werden Sie höchstwahrscheinlich arbeiten.
eine Kurve zeichnen, die Mathematiker als glatt und stetig Deshalb wandten sich Greene und Lobb einer Version
bezeichnen würden. Stetigkeit bedeutet, dass es weder der Toeplitz-Vermutung zu, die nur glatte Kurven zulässt.
Brüche noch Lücken gibt, während glatte Kurven keine Wie der US-amerikanische Mathematiker Arnold Emch
Ecken aufweisen. (1871–1959) bereits 1916 bewiesen hat, enthalten solche
Die Toeplitz-Vermutung ist dagegen allgemeiner: Die Schleifen stets vier Punkte, die ein Quadrat bilden. Greene
darin auftretenden Kurven müssen zwar auch stetig, aber und Lobb stellten sich nun die Frage, ob es immer vier

Spektrum der Wissenschaft  12.20 73


Punkte gibt, die ein Rechteck mit einem beliebigen Seiten­ Damit das gelingt, hilft es, alle möglichen Punktepaare
verhältnis bilden, was Quadrate mit einem Verhältnis von der Kurve zu bilden und grafisch darzustellen. Das Verfah­
eins zu eins einschließt. ren lässt sich durch folgendes Beispiel veranschaulichen:
Den ersten großen Fortschritt erzielte der US-amerikani­ Man kann zwei Punkte des Zahlenstrahls – etwa 7 und
sche Mathematiker Herbert Vaughan (1911–1992) in den 8 – stets einem einzigen Punkt in der Ebene zuordnen, etwa
späten 1970er Jahren. Er etablierte völlig neue Methoden, (7, 8). Betrachtet man alle möglichen Zahlenpaare, die sich
die danach viele seiner Kollegen, darunter Greene und aus dem Zahlenstrahl erzeugen lassen, könnte man damit
Lobb, aufgriffen. »Jeder kennt diesen Beweis«, sagt Greene. die gesamte zweidimensionale Ebene ausfüllen.
»Es ist die Art von Dingen, die man am Mittagstisch im Vaughan tat etwas Ähnliches mit der geschlossenen
Gemeinschaftsraum diskutiert.« Kurve, die wie der Zahlenstrahl eindimensional ist. Indem er
Um ein Rechteck zu charakterisieren, wählte Vaughan Paare aus allen darauf befindlichen Punkten bildete, erhielt
einen ungewöhnlichen Weg. Er konzentrierte sich auf zwei er allerdings keine flache Ebene, sondern ein Möbiusband.
Paare von Punkten, die in einer bestimmten Beziehung Dieses geometrische Gebilde entspricht einem Streifen, den
zueinander stehen. Stellen Sie sich dazu ein Rechteck mit man ringförmig zusammenklebt, nachdem man eines der
den Ecken ABCD vor, im Uhrzeigersinn von links oben mit A Enden einmal gedreht hat. Dadurch besitzt es nur eine
beginnend. Eine Diagonale des Rechtecks (die Strecke AC) Fläche, man kann nicht zwischen Innen- und Außenfläche
ist dabei immer genauso lang wie die andere Diagonale unterscheiden.
(BD), wobei sich beide Strecken in ihren Mittelpunkten Warum gerade ein Möbiusband eine geschlossene Kurve
schneiden. Um Rechtecke in einer geschlossenen Kurve zu parametrisiert, lässt sich leicht nachvollziehen. Wählt man
identifizieren, muss man also Punktepaare finden, die gleich zwei Punkte auf der Schleife aus und beschriftet sie mit x
Makingmitademselben
lange Liniensegmente Möbius Strip besitzen.
Mittelpunkt und y, kann man mit einem Finger von x nach y entlang des
Bogens der Kurve gleiten und gleichzeitig mit dem anderen
Finger von y nach x entlang des komplementären Bogens.
Dabei durchquert man alle möglichen Punktepaare auf der
Kurve, die sich zwischen (x, y) und (y, x) bilden lassen. Am
Ende kehrt man wieder zum Ausgangspunkt zurück, aller­
dings mit umgekehrter Orientierung: Die Finger haben ihre
Wenn man Positionen getauscht. Ein solcher Richtungswechsel cha­
die Punktepaare c rakterisiert ein Möbiusband.
in die zwei­ Das gab Mathematikern ein neues Objekt zur Hand, das
dimensio­nale sie untersuchen konnten, um das Rechteck-Problem anzu­
Ebene überträgt, gehen. Vaughan gelang es, auf diese Weise zu zeigen, dass
SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE

a bilden sie ein jede stetige, glatte, geschlossene Kurve mindestens vier
Möbiusband. Punkte enthält, die ein Rechteck bilden.
Der Beweis von Greene und Lobb baut auf Vaughans
Arbeit auf, enthält aber auch geometrische Erkenntnisse,
die erst kürzlich veröffentlicht wurden. Einen der wichtigs­
ten Bausteine lieferte der Princeton-Absolvent Cole Hugel­
d meyer im November 2019, der eine neue Methode entwi­
ckelte, um mit Möbiusbändern zu arbeiten. Seine Idee
bestand darin, das Objekt in einen anderen geometrischen
b Raum zu verfrachten, Mathematiker bezeichnen das als
Einbettung.

{a,b} ungeordnete Paare


{c,d } Vierdimensionale Antworten
Ein einfaches Beispiel dafür ist eine eindimensionale Linie,
die man in einen zweidimensionalen Raum überträgt.
Anfangs ist jeder Punkt auf der Linie durch eine einzige Zahl
definiert. Im zweidimensionalen Raum braucht man jedoch
zwei Werte, um einen Punkt darzustellen – die x- und
y-Koordinaten. In diesem neuen Rahmen lässt sich die Linie
mit den Werkzeugen der zweidimensionalen Geometrie
bearbeiten, was sich häufig als hilfreich erweist.
Hugelmeyer folgte dem Gedanken und bettete das
Möbiusband in einen vierdimensionalen Raum ein. »Im
Wesentlichen hat man ein Möbiusband, und man ordnet
jedem Punkt vier Koordinaten zu«, erklärt Lobb. Wie bei
einer Postanschrift weist er jedem Punkt des Möbiusbands
so etwas wie ein Land, einen Ort, einen Straßennamen und

When plotted onto 2D space, these pairs form a Möbius strip.


74 Spektrum der Wissenschaft  12.20
a c
y
( a,b,c, ... )
2. The third coordinate is
the straight-line distance
between the pair of points.

c x
Kurven im vierdimensionalen Raum
Wenn man eine Kurvein in Four-Dimensional
den vierdimensionalen Raum einbettet, weist man jedem
( a,b,c, ... )
Embedding Curves Space y
­PEmbedding
unktepaar eine vierdimensionale
Embedding a curveCurves Adresse
in Four-Dimensional
in four-dimensional zu, die
Space
space means giving each durch vier Werte festgelegt ist.
3. The fourth coordinate is
pair of points on the curve a four-dimensional “address,” defined by x
Embedding a curve in four-dimensional space means giving each
four coordinate values.
pair of points on the curve a four-dimensional “address,” defined by
the angle formed by a line
four coordinate values.
y
that runs through the pair
y
Die ersten beiden Die vierte
of Koordinate
points andergibt
y 1. The first two coordinates 3. The fourth coordinate is the x-axis.
Koordinaten der Adresse sich durch den Winkel,
in the four-dimensional the angle formed by a line
entsprechen
1. The first twodem
coordinates welche die Verbindungs­
address are the coordinates that runs through the pair
Mittelpunkt
in des Punkte­
the four-dimensional linie der Punkte mit der
of the midpoint between the of points and the x-axis.
paars. are the coordinates
address x-Achse bildet.
pair of points.
of the midpoint between the 130º-Winkel
pair of points.
b 130º-Winkel
b ( a,b, ... )
( a,b, ... ) ( a,b,c,d
( a,b,c,d ) )
x x x
a
x
y a
Assigning these four coordinates to each point on the Möbius strip
y 2. The third coordinate is
the straight-line distance
Assigning theseIndem
makes it possible
four man
to embed jedem
the stripPunkt
coordinates to des Möbiusbands
in four-dimensional
each pointspace.
on the Möbius strip
Der
2. dritte
The thirdWert ist dieis
coordinate diese vier Koordinaten zuordnet, kann man es in
between the pair of points.
Distanz
the zwischen
straight-line den
distance
makes it possibleden to vierdimensionalen
embed the stripRaum in four-dimensional
einbetten. space.
beiden Punkten.
between the pair of points.
( a,b,c,d )
c
c
( a,b,c, ... ) ( a,b,c,d )
( a,b,c, ... )
SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE

x
x
y 4-D-Raum

y 3. The fourth coordinate is


the angle formed by a line
3. The fourth coordinate is
that runs through the pair
the angle formed by a line
of points and the x-axis.
that runs through the pair
eine Hausnummer zu. Hugelmeyer konnte somit die
of points and the x-axis.
Eigen­
schaften der vierdimensionalen Geometrie nutzen, um die
130º-Winkel 4-D-Raum
möglichen Rechtecke in einer geschlossenen Kurve zu
130º-Winkel
untersuchen.
Dabei erzeugte er die vierdimensionalen (a,b,c,d )
Koordinaten auf
geschickte Weise. Er nahm einen x (a,b,c,d
Punkt auf )
dem Möbius­
band und betrachtete die zwei xentsprechenden Punkte auf Wie bereits erwähnt, kann man sich ein Rechteck als
der ursprünglichen
Assigning these fourgeschlossenen Kurve.
coordinates to each point Dann
on the Möbiusberechnete
strip zwei Paare von Punkten vorstellen, die einen gemeinsamen
er deren Mittelpunkt
makes und
it possible to embed wählte
the strip in die space. x- und
dazugehörigen
four-dimensional Mittelpunkt haben und gleich weit voneinander entfernt
Assigning these four coordinates to each point on the Möbius strip
y-Koordinaten als die
makes it possible ersten
to embed beiden
the strip Werte derspace.
in four-dimensional vierdimen­ sind. Diese Eigenschaften sind in den ersten drei Werten
sionalen Adresse. Die dritte Koordinate entsprach dem der vierdimensionalen Adresse kodiert. Hugelmeyer hat das
gerad­linigen Abstand zwischen ( a,b,c,d )
den beiden ursprünglichen Möbiusband im vierdimensionalen Raum daher so gedreht,
Punkten auf der Kurve. Schließlich ( a,b,c,d )
berechnete Vaughan dass sich nur die letzte Koordinate ändert – als würde man
den Winkel, der entsteht, wenn eine Linie durch die beiden im gleichen Staat, in der gleichen Stadt und der gleichen
ursprünglichen Punkte auf die x-Achse trifft. Dieser Winkel Straße bleiben, aber alle Hausnummern eines Viertels
stellt den vierten Wert in der abstrakten, vierdimensionalen abwandeln. Dadurch blieben die drei Koordinaten, die den
Adresse dar. Mittelpunkt der Punkte und ihren Abstand enthalten, gleich.
Das Vorgehen mag kompliziert erscheinen, aber es Die Rotation wirkt sich also nur auf den letzten Wert aus,
4-D-Raum
erlaubte Hugelmeyer, große Fortschritte zu erzielen. Um der Informationen über den Winkel des Liniensegments
4-D-Raum
die möglichen Rechtecke in der geschlossenen Kurve zwischen den Punktepaaren beinhaltet.
zu identifizieren, drehte er das eingebettete Möbiusband im Ein Schnittpunkt zwischen der gedrehten Kopie des
vierdimensionalen Raum – was zwar schwer vorstellbar, Möbiusbands und dem Original entspricht daher zwei
allerdings mathematisch leicht zu bewerkstelligen ist. Das verschiedenen Punktepaaren auf der geschlossenen Kurve,
versetzte Band kreuzt dabei das Original an bestimmten die den gleichen Mittelpunkt haben und gleich weit vonein­
Stellen. Diese entsprechen den Punktepaaren, die vier ander entfernt sind. Sie bilden zusammen die vier Ecken
Eckpunkte eines Rechtecks auf der ursprünglichen Schleife eines Rechtecks auf der ursprünglichen geschlossenen
bilden. Kurve.

Spektrum der Wissenschaft  12.20 75


möglich, in der dazugehörigen Kurve Rechtecke mit allen
erdenklichen Seitenverhältnissen zu finden.
Overlapping Möbius Strips Mitte April 2020 arbeiteten sie eine Strategie aus, die sie
Überlappende Möbiusbänder
After the Möbius strip is embedded in four-dimensional space, zum Ziel führen sollte. Dabei verfrachteten sie das Möbius­
Nach der Einbettung im
mathematicians rotate it.vierdimensionalen Raum band in eine spezielle Version des vierdimensionalen
drehen Mathematiker das Möbiusband. Raums. Ihr Vorgehen unterscheidet sich von Hugelmeyers,
Möbius strip in 4D space da man das Band nicht beliebig darin platzieren kann. Die
Möbiusband im 4-D-Raum (hier als Anzahl der Möglichkeiten, das zu bewerkstelligen, ist
y (represented here as a curve in 2D space)
Kurve im 2-D-Raum dargestellt) dadurch begrenzt. Denn der von Greene und Lobb betrach­
tete vierdimensionale Raum besitzt eine Struktur, die den
Der Schnittpunkt Prozess erschwert.
The point of intersection
zwischen dem
between the rotated
rotierten Möbius­
band und dem
Symplektische Geometrie als Lösung
Möbius strip and
Original entspricht Einthe
zweidimensionales Beispiel dafür ist eine Karte, die mit
unrotated Möbius
zwei Punktepaaren stripübersät ist. Ein solches Vektorfeld nutzen beispiels­
Pfeilen
auf der ursprüngli­
corresponds exactly
chen geschlossenen weisetoMeteorologen, um anzuzeigen, in welche Richtung
Kurve, die ein
two pairs of points
und back
mit welcher Geschwindigkeit ein Wind weht. Möchte
Rechteck bilden.
man eine geschlossene Kurve in eine solche Karte einbet­
on the original closed

SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE


curve that formten,
the könnte man fordern, dass die Schleife immer der
Richtung der Pfeile folgen muss. In diesem Fall gibt es
vertices of a rectangle.
weitaus weniger Möglichkeiten, eine Kurve in der Ebene zu
x platzieren.
0
Je nach Art des geometrischen Raums lassen sich dem
verschiedene Einschränkungen auferlegen. Greene und
Lobb konzentrierten sich auf einen so genannten symplekti­
Tatsächlich ist die Idee nicht neu, einen Schnittpunkt schen Raum, den Mathematiker erstmals im 19. Jahrhun­
zwischen zwei Räumen zu nutzen, um Punkte mit gewissen dert untersuchten, um dynamische physikalische Systeme
Eigenschaften zu finden. Mathematiker verwenden sie wie kreisende Planeten zu beschreiben. Wenn sich ein
schon lange bei geometrischen Problemen. »Viele Beweise Objekt durch den dreidimensionalen Raum bewegt, definie­
basieren darauf«, sagt auch Elizabeth Denne. Indem Hugel­ ren drei Koordinaten seine Position. Wie der irische Mathe­
meyer das Problem jedoch in den vierdimensionalen Raum matiker William Rowan Hamilton (1805–1865) feststellte, ist
verfrachtete, konnte er mehr herausholen als jeder andere
vor ihm. Wie er bewies, ergeben ein Drittel aller Rotationen Embedding Curves
des Möbiusbands zwischen 0 und 360 Grad einen Schnitt­
punkt zwischen dem Original und der gedrehten Kopie. Das Kurven einbetten
Embedding
heißt, man kann auf jeder geschlossenen Kurve Rechtecke
A one-dimensional curve is
mit einem Drittel aller möglichen Seitenverhältnisse finden. placedEinbettung (or embedded)
Platziert man eineinto
ein­
So beeindruckend das Ergebnis ist, verwunderte es dimensionale
two-dimensional Kurve Now
space. in den
Mathematiker zugleich: Wenn sich der vierdimensionale zweidimensionalen Raum,
each point on Punkt
ist jeder the curve is
auf der
Raum so gut eignet, um das Problem anzugehen, warum defined Kurve durch
by two zwei Koordi­
coordinates.
sollte er dann nur für ein Drittel aller Rechtecke nützlich naten definiert.
sein? »Man sollte in der Lage sein, auch die anderen zwei
Drittel abzuhandeln«, sagt Greene.
Schon vor dem Ausbruch der Pandemie hatten sich
Greene und Lobb für das Rechteck-Problem interessiert.
Als Letzterer im Februar 2020 eine Konferenz im Okina­
wa Institute of Science and Technology veranstaltete,
an der unter anderem Greene teilnahm, verbrachten die
beiden ein paar Tage damit, über das Thema zu reden.
Danach setzten sie ihr Gespräch während einer ein­
wöchigen Besichtigungstour in Tokio fort. »Wir haben
nicht aufgehört, über das Problem zu reden«, erinnert
sich Lobb. »Wir gingen in Restaurants, Cafés, Museen,
und immer wieder dachten wir darüber nach.« RulesEinbettungsregeln
of Embedding
Nachdem sie wegen des grassierenden Coronavirus in Diese Einbettung erfüllt
This embedding conforms to
SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE

gewisse Regeln. Die Kurve


ihren jeweiligen Wohnorten eingesperrt waren, führten sie certainfolgt rules,
denorPfeilen,
structure,
die den
die Diskussion fort. Sie wollten beweisen, dass sich jede placedzweidimensionalen
on the two-dimensionalRaum
füllen.
mögliche Drehung des Möbiusbands im vierdimensionalen space. The embedded curve
Raum mit dem Original schneidet. Denn dann wäre es follows the arrows, or vectors,
in the two-dimensional space.
76 Spektrum der Wissenschaft  12.20
es an jedem Punkt der Planetenbewegung möglich, einen
Vektor zu setzen, der den Impuls des Objekts darstellt,
ähnlich wie bei einer Wetterkarte. Kleinsche
In den 1980er Jahren entdeckte der Mathematiker Vladi­ Flasche
mir Arnold (1937–2010), dass sich symplektische Räume Klein Bottle
nach einer Drehung häufiger schneiden als Räume ohne Die kleinsche
The Klein bottle is a
eine solche Struktur. Daher entschieden sich Greene und ­Flasche ist eine
Lobb dafür, das Möbiusband in einen symplektischen two-dimensional
zweidimensionale surface. In
vierdimensionalen Raum einzubetten. »Wir hatten die three-dimensional
Oberfläche, die sich im space, the
entscheidende Einsicht, dass wir das Problem aus der dreidimensionalen Raumitself.
surface intersects
Perspektive der symplektischen Geometrie betrach­ stets selbst durchdringt.
ten sollten«, so Greene. »Das war eine völlig neue Allerdings lässt sie sich ohne
Erkenntnis.« However,imit’s
Überschneidung possible to embed
gewöhn­
Ende April 2020 fand er mit Lobb eine Mög­ thevierdimensionalen
lichen Klein bottle in ordinary

SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE


lichkeit, das Möbiusband in den entsprechen­ Raum einbetten. Im sym­
four-dimensional space so that
den Raum einzubetten. Das ermöglichte es plektischen vierdimensiona­
it doesn’t intersect itself. But in
ihnen, die Werkzeuge der symplektischen len Raum ist es wiederum
Geometrie einzusetzen – von denen viele four-dimensional
anders, symplectic
dort gibt es keine
darauf abzielen, zu erklären, wie sich Räume space,
sich nichtsuch a nonintersecting
kreuzenden
schneiden. An diesem Punkt angelangt, zeigten ­kleinschen Flaschen.
embedding is not possible.
sich Greene und Lobb zuversichtlich, das Ergeb­
nis von Hugel­meyer verbessern zu können. Sie woll­
ten zeigen, dass mehr als ein Drittel aller Rotationen
einen Schnittpunkt liefern.
Aber ihr Ergebnis war wesentlich weitreichender und hätte man eine kleinsche Flasche erzeugt, die sich nicht
stellte sich viel schneller ein, als sie es erwartet hatten. Der kreuzt. Das ist im vierdimensionalen symplektischen Raum
Grund dafür hat mit der so genannten kleinschen Flasche allerdings unmöglich. Daher muss sich jede mögliche
zu tun, die eine wichtige Eigenschaft besitzt, wenn man sie Drehung des eingebetteten Möbiusbands schneiden – das
im Kontext der symplektischen Geometrie betrachtet. heißt, jede geschlossene, glatte Kurve enthält Mengen von
Die kleinsche Flasche ist eine zweidimensionale Ober­ vier Punkten, die sich zu Rechtecken aller Seitenverhältnis­
fläche, die einem modernen Wasserkrug ähnelt. Wie das se zusammenfügen lassen. Damit hatten Greene und Lobb
Möbiusband hat sie nur eine Fläche, die gleichzeitig innen unverhofft eine Lösung für das jahrzehntealte Problem
und außen ist. Man kann eine kleinsche Flasche herstellen, gefunden.
indem man zwei Möbiusbänder zusammenklebt. Unabhän­ Der Durchbruch verdeutlicht, wie wichtig es ist, wissen­
gig davon, wie man sie erzeugt, wird sie sich im dreidimen­ schaftliche Fragestellungen im richtigen Licht zu betrach­
sionalen Raum immer selbst durchdringen. ten. Generationen von Mathematikern waren vor ihnen
Im vierdimensionalen Raum kann man die kleinsche gescheitert, weil sie eine Antwort in gewöhnlichen geomet­
Flasche dagegen überschneidungsfrei platzieren. Das ist rischen Umgebungen suchten. Sobald Greene und Lobb es
ähnlich wie bei zwei Personen, die auf einer eindimensiona­ jedoch in die symplektische Welt verschoben hatten, war
len Linie aufeinander zugehen und zwangsweise zusam­ der Weg schnell offensichtlich. 
menstoßen, während sie sich in einer zweidimensionalen
Ebene leicht ausweichen können. QUELLEN
Als Greene und Lobb im Mai 2020 weiter an ihrem Greene, J., Lobb, A.: The rectangular peg problem. ArXiv,
Problem arbeiteten, kam ihnen wieder eine interessante 2005.09193, 2020
Eigenschaft der kleinschen Flasche in den Sinn: Es ist
Hugelmeyer, C.: Inscribed rectangles in a smooth Jordan curve
unmöglich, sie in einen vierdimensionalen symplektischen attain at least one third of all aspect ratios. ArXiv, 1911.07336,
Raum einzubetten, ohne dass sie sich überschneidet. Das 2019
heißt, es gibt keine kleinsche Flasche, die den besonderen
Toeplitz, O.: Über einige Aufgaben der Analysis situs. Verhand­
Regeln des symplektischen Raums entspricht und sich lungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft in
nicht selbst durchdringt. Das war der Schlüssel zu ihrem Solothurn 94, 1911
Beweis.
Denn die beiden Mathematiker hatten bereits eine
Methode gefunden, um ein Möbiusband in den vierdimen­ Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete
Fassung des Artikels »New Geometric Perspective Cracks Old
sionalen symplektischen Raum einzubetten. Was sie wirk­
Problem About Rectangles« aus »Quanta Magazine«, einem inhalt­
lich wissen wollten, war, ob jede Drehung des Bands das lich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die
Original schneidet. Nun entsprechen zwei überlappende Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den
Möbiusbänder einer kleinschen Flasche, die sich in dieser Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
Art von Raum selbst durchdringt. Würde sich das Möbius­
band nach einer Rotation nicht mit dem Original schneiden,

Spektrum der Wissenschaft  12.20 77


IBERISCHE
BRONZEZEIT
TROJANER IM WESTEN?
Sie wirken wie ein Fremdkörper in der Vorgeschichte
Spaniens: die 4000 Jahre alten Ruinen der El-Argar-
Kultur. Brachten Einwanderer aus dem östlichen
­Mittelmeerraum die monumentale Stadtkultur auf
die Iberische Halbinsel?

Dirk Husemann ist Archäologe,


Wissenschaftsjournalist und
GÜNTER BLASZCZYK, LÜNEN

Autor zahlreicher Sachbücher und


historischer Romane.

 spektrum.de/artikel/1783523

AUF EINEN BLICK


DAS REICH DER IBERISCHEN
SILBERFÜRSTEN

1 Im Südosten der Iberischen Halbinsel haben Archäolo-


gen die Hinterlassenschaften einer hochstehenden,
über 4000 Jahre alten Kultur geborgen.

2 Die Städte der El-Argar-Kultur waren zum Teil mit mäch-


tigen Mauern umwehrt. Fürsten kontrollierten von dort
aus das bäuerliche Umland.

3 Auffällig sind die zahlreichen Silberfunde. Womöglich


gelangte das Edelmetall der El-Argar-Siedlungen bis
nach Mesopotamien.
ASOME, UAB

78 Spektrum der Wissenschaft  12.20


KARTE: FRANKRAMSPOTT / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Die Stätten der Bronzezeitkultur entdeckten Archäologen im


Südosten der Iberischen Halbinsel. Die grüne Fläche markiert
die größte Ausdehnung der Kultur um 1650 v. Chr.

Auf einer ungefähr 3800 Quadratmeter


großen Anhöhe liegen die Ruinen
einer ausgedehnten Palastanlage. Der
Fundort La Almoloya befindet
sich in der spanischen Provinz Murcia.
ASOME, UAB

Spektrum der Wissenschaft  12.20 79



Die Hitze im spanischen Südosten muss für die Belgier Heute sind sich die Fachleute einig: Auch in Westeuropa
Luis und Henri Siret strapaziös gewesen sein. Dennoch gab es hoch entwickelte Gesellschaften der Bronzezeit. Und
stiegen die Brüder um 1880 auf das Plateau von El El Argar war vermutlich die größte.
Argar. Dort, so hatten sie gehört, sollten frühgeschichtliche Bis wohin die Menschen dieser Kultur siedelten, wissen
Gräber zu finden sein. Ihre Mühe wurde belohnt. Die beiden Forscher erst seit einigen Jahren. Das Einflussgebiet er-
Ingenieure, die eigentlich für ein Bergbauunternehmen die streckte sich offenbar über die heutigen Provinzen Murcia,
Silberminen in der Provinz Almería erkunden sollten, stie- Alicante, Granada, Jaén und Almería. Die Fundstellen liegen
ßen tatsächlich auf Bestattungen. Sie begannen zu graben in einem Gebiet von 35 000 Quadratkilometern – einer
und legten 1000 Skelette und eine 4000 Jahre alte Siedlung Fläche von der Größe Baden-Württembergs.
frei. Die beiden hatten damit eine ganze Kultur der Bronze- Die Macht der bronzezeitlichen Fürsten war nicht auf die
zeit entdeckt. Sie gaben ihr den Namen El Argar. namensgebende Höhensiedlung beschränkt. Es gab min-
Wie Funde aus späteren Grabungen zeigten, war die destens zwei weitere solcher Zentren. Sie heißen heute
Gesellschaft von El Argar hoch entwickelt. Eine herrschen- La Bastida de Totana und La Almoloya. Hinzu kommen
de Klasse regierte in Palästen, die Städte waren von mächti- dutzende Fundorte im Flachland und auf anderen Anhöhen.
gen Mauern geschützt und die Arbeitskräfte systematisch Dort hatte sich der Großteil der Bevölkerung in kleinen,
organisiert. Von den Hügelkuppen aus überblickten die unbefestigten Siedlungen niedergelassen. »Allein in La Bas-
Fürsten das fruchtbare Umland, in dem die Bauern Vieh tida wohnten und arbeiteten etwa 1000 Menschen. Das ist
hielten und Getreide für die Stadt anbauten. Strukturen wie für die damalige Zeit sehr viel«, sagt Roberto Risch. Bei den
diese kannten Forscher bisher nur aus Troja oder von den Ausgrabungen zwischen 2008 und 2018 fanden Archäolo-
Minoern, den Babyloniern, Assyrern und Hethitern. Die aber gen die Grundmauern kleiner Häuser mit aneinandergren-
lebten alle im östlichen Mittelmeerraum und im Vorderen zenden Wänden. Die Bevölkerung lebte offenbar auf engem
Orient. Viele Experten fragten: Waren die Menschen von El Raum zusammen.
Argar womöglich Abkömmlinge jener Kulturen?
»Auf der Suche nach den Ursprüngen der ersten Staaten Eine imposante Halle und mächtige Mauern
haben Archäologen viel zu lange immer nur nach Ägypten Da hatte es die Elite besser. Auf der Anhöhe von La Almo­
und Griechenland geschaut«, sagt Roberto Risch. Der loya legten Forscher 2014 ein großes Gebäude frei. Im
Archäologe von der Universitat Autònoma de Barcelona Inneren fanden sie die Reste einer 70 Quadratmeter großen
zählt zu den Wissenschaftlern, die das Erbe der Siret-Brüder Halle, eine Säulenreihe in der Mitte des Raums trug einst
angetreten haben. Zusammen mit seinen Kollegen Vicente das Dach. Entlang der Wände standen Bänke, auf denen
Lull, Rafael Micó und Cristina Rihuete erforscht er seit den schätzungsweise 55 Menschen Platz nehmen konnten. Und
1980er Jahren die Überreste der rätselhaften El-Argar-Kul- die Archäologen entdeckten eine Art Podium, das sie als
tur. Zuvor hat sich kaum jemand für den wissenschaftlichen Thron oder Altar interpretieren. Der Ort erinnert an die
Schatz interessiert, der im spanischen Boden schlummerte. Paläste der Ägäis, vor allem an die Megara, die Thronhäuser

Auf einem Steilhang erstreckt sich die befestigte Sied-


lung samt ihrem großen Wasserspeicher (linker Pfeil).
Von der Hügelkuppe aus lassen sich die fruchtbaren Täler
einsehen, in denen heute dicht an dicht Gewächshäuser
stehen. Reste einer mächtigen Stadtmauer fanden sich

ASOME, UAB
am Fuß des Hügels (rechter Pfeil und Bild unten).
ASOME, UAB

80 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Kulturen kennen Archäologen vor allem aus dem östlichen
Mittelmeerraum.
Kamen die Gründer der El-Argar-Kultur demnach aus dem
Osten? Der Verdacht reizt die Fantasie der Ausgräber. Ein
Beweis steht jedoch aus. »Wir haben noch keine Ob­jekte
gefunden, die aus dem östlichen Mittelmeergebiet stam-
men«, sagt Risch. »Aber wir folgen einer Spur.« Und die ist
aus Silber.
Die Menschen von El Argar waren offenbar fasziniert von
dem Edelmetall. Andernorts schmückten sich bronzezeit­
liche Frauen und Männer gern mit Gold. Das gelbe Metall
durfte auch bei Ritualen nicht fehlen – wie vermutlich im Fall
der zirka 3800 Jahre alten Himmelsscheibe von Nebra. Die
El-Argar-Handwerker hingegen verwendeten Silber, um
Alltagsgegenstände zu verzieren und Schmuckstücke zu
fertigen. »Diese Hinwendung zum Silber gab es sonst in

ASOME, UAB
ganz Europa nicht«, erklärt Risch.
Der Archäologe hält es für möglich, dass die iberischen
Fürsten ihr Edelmetall in den Osten exportierten. »Babyloni-
Auf dem Plateau von La Almoloya legten die Archäo- sches Silber galt als früheste Währung im östlichen Mittel-
logen die Reste einer 70 Quadratmeter großen Halle frei, meerraum«, erläutert er. »Es wurde um 1750 v. Chr. auch als
die sie als Thronraum einer Palastanlage deuten. Zahlungsmittel verwendet – in der Zeit König Hammurabis
von Babylon und damit in der Blütephase von El Argar.« Der
Forscher hofft, dass eine geplante Untersuchung von Ham-
des bronzezeitlichen Griechenland, in denen sich die Minoer murabis Silber Aufschluss über die Herkunft des Rohmateri-
und Mykener versammelten. als liefern wird. Für Risch wäre es keine Über­raschung, wenn
Einzigartig im Westen Europas sind die Stadtmauern von die Babylonier das wertvolle Metall aus spanischen Minen
La Bastida. Sie wurden aus großen Steinblöcken aufge- beschafft hätten. Und da beim Handel auch Wissen ge-
schichtet, waren bis zu drei Meter mächtig und mit steiner- tauscht wird, könnten die El-Argar-Leute so die babylonische
nen Wehrtürmen verstärkt. Die Verteidigungsanlage ähnelt Kunst des Festungsbaus und der Reichs­verwaltung kennen
den Mauern weit entfernter Städte in der Levante, im heu­- gelernt haben.
tigen Libanon, Syrien, Israel und Palästina, und sie erinnert
an die Befestigungen des bronzezeitlichen Troja. »­ El Argar Grablege unter dem Thronsaal
passt nicht in den westlichen Mittelmeerraum«, meint Der hohe Stellenwert des Silbers in der El-Argar-Kultur wird
Roberto Risch. »Die Kultur wirkt hier wie ein Fremdkörper.« am Grab eines reich ausgestatteten Paars erkennbar. Die
Die Bauwerke verraten, welche hohe Zivilisationsstufe Archäologen fanden 2014 die Skelette einer Frau und eines
die El-Argar-Leute erreicht hatten. In der Siedlung La Basti- Mannes. Die beiden waren in einem riesigen Keramikbehäl-
da hatten die Bewohner einen Wasserspeicher mit einem ter unter dem Boden der großen Versammlungshalle von
Fassungsvermögen von 350 000 Litern angelegt. Laut Risch La Almoloya beigesetzt worden – direkt vor dem mutmaßli-
ist das Bauwerk »das größte seiner Art in der Vorgeschichte chen Thron. Diese Bestattungssitte findet sich häufig bei der
Westeuropas«. Eine derart große Anlage musste regelmä- El-Argar-Kultur. Ungewöhnlich ist jedoch die reiche Ausstat-
ßig gereinigt und repariert werden. Das setzt Arbeitsteilung tung des Grabs (siehe Fotos S. 82). Mehr als 30 Beigaben
und eine öffentliche Verwaltung voraus – Strukturen, wie lagen bei den Toten, darunter ein mit Silberblech dekorierter
sie für die Zeit vor 4000 Jahren nur aus dem östlichen Trinkbecher, eine Ahle mit silbernem Griff und ein Diadem
Mittelmeerraum bekannt waren. aus demselben Edelmetall, das den Schädel der Fürstin
Das Leben der Menschen dürfte straff organisiert gewe- zierte. Auf einen Kopfschmuck derselben Form waren schon
sen sein. Eine Vermutung, die aus dem Fund von Getreide- die Brüder Siret gestoßen.
körnern resultiert. Vor etwa 3600 Jahren wütete in der Die Frau starb im Alter von etwa 25 Jahren. Knochen-
Siedlung La Almoloya ein Feuer. Die Flammen verkohlten schäden rührten von einer Lungenentzündung her. Der
den Getreidevorrat der Siedlung – und konservierten ihn Mann war 10 bis 15 Jahre älter. Seine Todesursache ist zwar
damit. Dank der Katastrophe wissen Roberto Risch und unbekannt, vermutlich wurde er aber einige Zeit vor der
seine Kollegen: Die Fürsten besaßen offenbar zur Genüge Fürstin beigesetzt. Das schließen Risch und seine Kollegen
Gerste. Dazu passen die zahlreichen Mahlsteine, die auf aus der Lage der Gebeine. Als die Archäologen die Bestat-
dem Plateau gefunden wurden. Vermutlich lieferten die tung entdeckten, befand sich das Skelett des Mannes nicht
Bauern des Umlands die Ernte in der Höhensiedlung ab, wo mehr exakt im anatomischen Verbund – das der Fürstin
das Korn gemahlen wurde. Anschließend verteilten es die hingegen schon. Womöglich war der Mann bereits in Teilen
Herrscher an die Untertanen, nehmen Risch und sein Team verwest, als die Frau starb und zu ihm gebettet wurde.
an. Ein solch zentralisiertes System funktioniert allerdings Diese Art der Folgebestattung haben die Wissenschaftler
nur in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Derart organi­sierte auch bei anderen Gräbern der El-Argar-Kultur nachgewiesen,

Spektrum der Wissenschaft  12.20 81


ASOME, UAB

Unter der Thronhalle in La Almoloya kam das Grab eines


herrschaftlichen Paars ans Licht. Die beiden waren in einem
großen Tongefäß samt kostbaren Beigaben bestattet wor-
den, etwa Ringen aus Silber und wenigen Stücken aus Gold.
Im Grab lag auch ein mit Silberblech gefasstes Tongefäß.

insbesondere bei Männern der gesellschaftlichen Elite.


Dass diese eine hohe Stellung innehatten, schließen die
ASOME, UAB / JOSÉ A. SOLDEVILLA

Forscher aus so genannten Stabdolchen, die den Toten ins


Grab gelegt wurden. Dabei handelt es sich um eine Bronze-
klinge, die ähnlich einer Hellebarde axtartig an einem
Schaft haftete. »Diese Männer waren vermutlich militäri-
sche Anführer in der protostaatlichen Zeit zwischen 2000
und 1800 v. Chr.«, erklärt Risch. Starb ein Stabdolchträger,
bettete man ihn dort zur Ruhe, wo bereits eine Frau begra- Dass eine wohlhabende Elite über die Städte herrschte,
ben lag. »Vielleicht hat man sie zu ihrer Mutter oder Groß- erkannten die Forscher im März 2020 durch weitere natur-
mutter gelegt«, spekuliert der Archäologe. Aufschluss über wissenschaftliche Analysen – allerdings weniger deutlich als
etwaige Verwandtschaften soll eine genetische Untersu- durch die Grabausstattungen. Zusammen mit Corina Knip-
chung des Knochenmaterials liefern, deren Ergebnisse per vom Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie in Mann-
noch ausstehen. heim untersuchten sie verkohlte Getreidereste sowie dut-
Trotz der kostbaren Funde geben die Toten nur begrenzt zende Tier- und Menschenknochen aus La Bastida und der
Auskunft über das Leben der El-Argar-Leute. Denn viele sehr viel kleineren, küstennahen Siedlung Gatas. Anhand
Bestattungen fehlen. In La Almoloya entdeckten Archäolo- der Verteilung von bestimmten Kohlenstoff- und Stickstoff-
gen etwa 120 Gräber. Aber der Ort war 600 Jahre lang isotopen fanden sie heraus, dass sich an beiden Orten die
besiedelt. »Das sind höchstens zehn Prozent der Toten. Es Menschen – Männer wie Frauen – ähnlich ernährten. Sie
müssten viel mehr sein«, so Risch. »Wo sind die anderen?« aßen viele Gerichte aus Gerste, aber auch Weizen. Ebenso
Zunächst hegten die Forscher den Verdacht, es seien stand Fleisch auf dem Speiseplan. Nur die Knochen von drei
lediglich Angehörige der Elite bestattet worden. Doch die reich bestatteten Angehörigen der El-Argar-Kultur verrieten,
Grabbeigaben legen das nicht nahe. Es fanden sich ebenso dass sie zu Lebzeiten offensichtlich mehr Fleisch und Milch-
häufig ärmlich ausgestattete Gräber wie fundreiche. Zudem produkte zu sich genommen hatten als ihre Zeitgenossen.
kamen nicht nur die Überreste von Erwachsenen, sondern Aus den Knochen und Körnern rekonstruierten die Wis-
auch von Kindern ans Licht. Risch vermutet, dass es einen senschaftler die damalige Wirtschaftsweise. Die Menschen,
alternativen Grabritus gegeben hat – einen, der kaum so schreibt Knipper in ihrer Studie, bewässerten kaum ihre
Spuren hinterlässt, der Leichnam wurde verbrannt oder Felder, brachten aber Dung darauf aus. Sie hielten Schwei-
unter freiem Himmel bestattet. ne, Rinder, Schafe und Ziegen, die sie mit Spreu und Getrei-

82 Spektrum der Wissenschaft  12.20


de fütterten. Dann, ab zirka 1750 v. Chr., verschlechterte Kultur existierte eine sehr wohlhabende Herrscherschicht –
sich die Ernährung der Bevölkerung. Sie nahmen weniger Risch und seine Kollegen ordnen die reichsten Gräber
Fleisch zu sich, die Äcker warfen womöglich weniger dieser Phase zu. Dem stand vermutlich eine sehr arme
Erträge ab. Begann der Niedergang der Kultur, der die Landbevölkerung gegenüber. Aus jener Zeit sind zudem
Archäologen keine Funde nach 1550 v. Chr. mehr zuweisen ungewöhnlich viele Kindergräber überliefert. Die Gebeine
können, auf Grund einer landwirtschaftlichen Krise? Aus zeigen Spuren von Mangelernährung. »Verschlechtern sich
der laufenden Analyse der menschlichen Knochen erhoffen die Lebens­umstände, trifft es die Kinder meist zuerst«,
sich die Forscher dazu weitere Hinweise – und vor allem auf erklärt Risch. Der Archäologe nimmt an, dass die Landwirt-
die Herkunft der El-Argar-Kultur. schaft die Böden ausgelaugt hat. Die Ernten fielen zuneh-
Aus den Knochen und Zähnen lassen sich genetische mend schlechter aus. Die Bronzezeitler wussten sich wo-
Profile gewinnen, erklärt der Anthropologe Kurt Alt von der möglich nicht anders zu helfen, als Wälder zu roden. Mit
österreichischen Donau-Universität Krems. Es gibt nur ein dem frisch gewonnenen Boden konnten sie einige Jahr-
Problem: Im Südwesten Spaniens ist es vor allem im Som- zehnte weitermachen. Wälder speichern allerdings Wasser.
mer sehr heiß. »Dort herrscht eine brutale Hitze«, sagt Alt. Trockenheit und Erosion dürften die Folge der Rodungen
»Und das ist ungünstig für den Erhaltungszustand des gewesen sein. El Argar taumelte in eine ökologische und
genetischen Materials. Man muss die Knochen daher vor soziale Krise. Denn davon ist Roberto Risch überzeugt:
direkter Sonneneinstrahlung schützen.« Bei den Ausgra- »El Argar ist wohl nicht auf Grund einer Naturkatastrophe
bungen in La Bastida schirmten die Archäologen die Skelet- zu Grunde gegangen, sondern an den sozialen Konflikten,
te deswegen durch spezielle Planen vor der Sonne ab. die das Wirtschaftssystem und die Eliten auslösten.«
Doch der Anthropologe entdeckte auch an den Gebei- Um etwa 1550 v. Chr. loderten an vielen Orten der einst
nen selbst Hinweise auf die Identität der toten Bronzezeit- prächtigen Kultur Brände. Die Ascheschichten zeichneten
Iberer. »Als ich die von den spanischen Kollegen ausgegra- sich bei den Grabungen deutlich ab. »Siedlungen wie Gatas
benen Skelette im Labor nebeneinanderliegen sah, wurde in Almería brannten«, weiß Risch. »Andere wie La Bastida
klar, dass diese Menschen größer waren als die sonstige wurden aufgegeben.« Hinweise auf einen gewaltsamen
Bevölkerung der damaligen Zeit auf der Iberischen Halbin- Niedergang fehlen dort. Was genau geschehen war, wissen
sel«, resümiert Alt. Eine eindeutige Erklärung dafür gibt es die Forscher nicht. Nur so viel: »Wir sehen den Kollaps einer
noch nicht. »Das Klima kann Einwirkungen auf den Körper- hoch entwickelten Kultur«, sagt der Archäologe.
bau haben«, erklärt der Forscher. Ebenso gut könne eine Spätestens um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr.
durchgängig gute Ernährung die überdurchschnittliche fehlte von den El-Argar-Leuten jede Spur. Es ist gut mög-
Körpergröße von La Bastida begünstigt haben. »Diese lich, dass die Menschen weiterhin in der Region lebten und
Zusammenhänge untersuchen wir aktuell«, sagt Alt. vor allem Viehzucht statt Ackerbau betrieben. Dafür wären
die Böden des Umlands noch zu gebrauchen gewesen.
Alte Bekannte aus dem Osten Weidewirtschaft hinterlässt aber kaum Spuren. Vielleicht
Es wäre denkbar, dass Einwanderer eine Rolle bei der bleiben deshalb die Nachkommen dieser Kultur für die
Entstehung der El-Argar-Kultur gespielt haben. Ob diese heutige Forschung unsichtbar.
Gruppen aus dem östlichen Mittelmeerraum kamen, ist Als im 9. Jahrhundert v. Chr. Phönizier in der westlichen
aber noch ungewiss. Ebenso könnten sie Nachfahren von Mittelmeerregion auftauchten, berichteten sie von einem
Menschen aus der Region um das Schwarze Meer sein, Reich Tartessos bei Gibraltar. Die Höhensiedlungen der
dem heutigen Südrussland und der Ukraine. Für Archäo­ El-Argar-Kultur erwähnten die seefahrenden Kaufleute aus
genetiker sind sie inzwischen alte Bekannte: Forscher vom dem Osten jedoch nicht. Die Spuren des einstigen
Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, Machtzentrums im Südosten Spaniens waren verweht.
von der Universität Kopenhagen und dem Institut für An­ Risch stellt fest: »Bis heute ist die El-Argar-Gesellschaft die
thropologie in Mainz haben anhand zahlreicher mensch­ letzte große unbekannte ›Hochkultur‹ der Bronzezeit.« 
licher Knochen nachgewiesen, dass sich zu Beginn des
3. Jahrtausends v. Chr. eine Migrationswelle aus dem
QUELLEN
südlichen Osteuropa in Richtung Westen in Bewegung
setzte. Die Einwanderer sind in Mitteleuropa archäologisch Knipper, C. et al.: Reconstructing Bronze Age diets and farming
strategies at the early Bronze Age sites of La Bastida and Gatas
als Schnurkeramiker und als die späteren Glockenbecher-
(southeast Iberia) using stable isotope analysis. PLOS ONE, März
leute bekannt. Um 2400 v. Chr. tauchte ihr Genmaterial auf 2020
den Britischen Inseln und in Nordspanien auf. 200 Jahre
Lull, V. et al.: Diez Añod de ›Proyecto Bastida‹ (2008–2018): El
später entstand die El-Argar-Kultur. retrato emergente de una ciudad prehistórica. In: García Sando-
Eine eindeutige genetische Spur ist zwar noch nicht val, J. et al. (Hg.): XXIV Jornadas de Patrimonio Cultural Región
gefunden. Doch die zeitliche und räumliche Nähe macht de Murcia (Murcia 2018)
einen Zusammenhang zwischen El Argar und der Völker- Risch, R. et al.: Transitions and conflict at the end of the 3rd
wanderung aus der Schwarzmeerregion zumindest mög- millennium BC in south Iberia. In: Meller, H. et al. (Hg.),
lich, sagen die Forscher. 2200 BC – Ein Klimasturz als Ursache für den Zerfall der Alten
Etwa 600 Jahre lang ließen es sich die Menschen im Welt? Halle a. d. Saale, 2015
Südosten Spaniens gut gehen. Dann begann um 1650 Risch, R. et al.: La Almoloya (Pliego, Murcia). Ruta Agárica.
v. Chr. der Niedergang. In der letzten Phase der El-Argar- Guías arqueologicas, 2015

Spektrum der Wissenschaft  12.20 83


ZEITREISE
Wissenschaft vor 100 und vor 50 Jahren – aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek
für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums

STROMSCHLAG KILLT
BORKENKÄFER
1920 BEDROHLICH MIT BLEI
­VERGIFTET
1970
»Nachdem man im Laboratorium festgestellt hatte, daß »Auf mehr als 500 000 Tonnen Blei schätzen Fachleute die
durch einen Strom von 110 Volt die Larven, Puppen und Menge, die allein auf der nördlichen Erdhalbkugel alljähr-
Käfer in einer Kiefernrinde getötet werden, setzte man die lich in die Ozeane gelangt. Zwar sind Motorfahrzeuge eine
Versuche im Freien fort, in Californien. [Ein] Baum wurde der Hauptquellen, doch auch die Industrie hat daran Anteil.
an 2 Stellen geringelt und ein Draht in die Vertiefungen ge- Durch Windströmungen wird das giftige Metall überallhin
legt. Die Enden, die an die Hauptstromlinie angeschlossen transportiert. Der Schnee Grönlands enthält heute etwa
wurden, wurden mit dem Draht verbunden. Die Strom­ tausendmal soviel davon wie in früheren Zeiten, und in den
stärke betrug 500 Volt. Der Strom wurde etwa 17 Minuten Rocky Mountains ist der Bleigehalt inzwischen auf das
durchgelassen, ohne einen sichtbaren Schaden auf die Zehntausendfache der natürlichen Menge gestiegen. Die
Insekten auszuüben. Nun versuchte man es an Stelle des vom Menschen aufgenommenen Mengen erreichen man-
Drahtes mit einer Kette. Es wurde ein Strom von 2300 Volt cherorts einen bedrohlichen Grad.« Kosmos 12, S. *420
15 Minuten lang hindurch geleitet. Alle Insekten zwischen
den Kontaktpunkten waren tot.« Die Umschau 50, S. 722
WOCHENENDE LÄSST MENSCHEN LEIDEN?
»Am Human Sciences Laboratorium in Johannesburg hat
BOOT FÄHRT PER WASSERSTRAHL man den ›Blauen Montag‹ wissenschaftlich bestätigt. Die
»Unsere Abbildung zeigt ein Boot, das weder durch eine Forscher stellten fest, daß sie bestimmte Experimente an
Schiffs- oder Luftschraube noch durch Ruder, sondern jedem Tag der Woche, mit Ausnahme des Montags, durch-
durch eine Pumpe fortbewegt wird. Es erhält seinen führen können. Der Montag-Effekt äußert sich dadurch,
Antrieb durch einen zweifachen Wasserauswurf. Der daß die Versuchspersonen an Montagen irgendwie anders
Antrieb der Pumpe erfolgt durch einen Benzinmotor. Der reagieren als an den anderen Wochentagen. Der Grund ist
Erfinder hebt besonders hervor, daß das Boot in flachen nicht bekannt, obwohl es möglich wäre, daß sie noch unter
Gewässern, die sonst durch Schilf, Tang usw. dem Propel- den physiologischen Wirkungen des Wochenendes lei-
lerantrieb hinderlich sind, außerordentlich brauchbar ist. den.« Naturwissenschaftliche Rundschau 12, S. 516
Allerdings steht es bis jetzt den Schraubenbooten in
seiner Geschwindigkeit nach.« Die Umschau 48, S. 689
AN LAND GIBT ES MEHR GEWITTER
Das Pumpboot: 1 Steuerrad, 2 Zahnradübertragung, 3 Pumpgehäuse, »[Das] Orbiting Solar Observatory hat die Welt-Gewitter­
4 Wassereinlass, 5 Wasserauswurf, 6 Motor
tätigkeit beobachtet. Da [dies] im sichtbaren Licht statt-
fand, konnten die Aufnahmen nur auf der Nachtseite der
Erde ausgewertet werden. Erstaunlicherweise zeigte sich,
daß Gewitter vorwiegend über Landgebieten auftreten
sowie über den tropischen Inseln nördlich von Australien.
Der Unterschied zwischen den Vorkommen über Land und
über See ist größer als der Faktor 10. Dies ist erstaunlich,
weil die Wolkenbedeckung auf der Tagseite über Land- und
Seegebieten etwa die gleiche war.« Die Umschau 25, S. 826
MASCHINEN ZUM SCHNEESCHMELZEN
»Ein finnischer Ingenieur hat eine Maschine zum Schmel-
zen von Schnee erfunden. [Sie] ist in der Lage, 26 Kubik- DNA SCHLÄGT COMPUTERSPEICHER
fuß Schnee in einer Stunde zum Schmelzen zu bringen »Der Abstand von 3,3 Å zwischen den Basen der Nuklein-
und kann mit Kohle, Petroleum, Rohöl in Betrieb gehalten säure-Doppelhelix bedeutet eine lineare Speicherdichte von
werden. Die Maschine besteht aus einem Eisenofen, der 3 x 106 Informationselementen/mm gegenüber 128 auf dem
von einem Wassermantel umgeben ist, einem Trichter um Magnetband eines Computers. Was [darauf] unterbringbar
den oberen Teil zur Aufnahme des Schnees und einem ist, läßt sich etwa durch 90 Bücher zu 300 Seiten veran-
elektrisch angetriebenen Ventilator, der die warme Luft schaulichen. Was in einem Kubikmillimeter DNA, ist schwe-
durch den Schnee drückt. Die Maschine wird in Finnland rer vorzustellen: Alles, was es auf Erden an Bücherwissen
für die öffentliche Straßenreinigung u. dgl. benutzt.« gibt, macht etwa 1016 bit aus, also ein Hundertstel von dem,
Prometheus 6, S. 163 was 1 mm3 DNA speichern könnte.« Die Umschau 25, S. 826

84 Spektrum der Wissenschaft  12.20


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Ein Projekt von


REZENSIONEN
DIGITALISIERUNG Die Autoren erklären die Gründe der
digitalen Konzentration (geschlossene
ZUCKERBERG Standards, Netzwerk-Effekte, Winner-
STATT GUTENBERG takes-it-all-Märkte) und ihre Auswir-
kungen, zum Beispiel im Hinblick auf
Die technologische Entwicklung das Mediennutzungsverhalten. So Yo
schreitet immer schneller voran. entfällt mehr als die Hälfte der Ver-
Ein Atlas kann helfen, sich in dieser
wendungsdauer (50,1 Prozent) audio­
neuen Welt zurechtzufinden.
visueller Inhalte auf die Videoplattform

 47 Zettaybte – so viele Daten sollen


allein in diesem Jahr entstehen.
Das entspricht etwa der Datenmenge,
YouTube.
Solche Konzentrationseffekte haben
bereits zahlreiche Bücher beschrieben,
die man für die Digitalisierung aller etwa Scott Galloways »The Four: Die
Sprachen der Welt auf Audio-Format geheime DNA von Amazon, Apple,
(16 Bit) bräuchte. Der Medienwissen- Facebook und Google«. Insofern fügen
schaftler Martin Andree und der Andree und Thomsen diesem theoreti-
Datenexperte Timo Thomsen versu- schen Hintergrund nichts Neues hinzu.
chen in ihrem Buch »Atlas der digita- Ihr Werk ist aber ohnehin empirisch
len Welt« das exponenziell wachsende ausgelegt: Die Autoren haben bislang
digitale Universum zu vermessen. unveröffentlichte Daten der Gesell-
In vier faktengesättigten, mit schaft für Konsumforschung (GfK)
Schaubildern und Grafiken angerei- basierend auf einer repräsentativen
cherten Kapiteln kartieren die Autoren Stichprobe von 16 000 Nutzern aufbe-
das Terrain, das uns im Alltag so reitet. Davon profitiert das Buch in
vertraut ist, in seiner Tiefe aber zuwei- hohem Maße. Beispielsweise schlüs-
len wie eine ferne Galaxie wirkt. Wie seln Andree und Thomsen nach Alters-
groß ist das Internet? Wie teilt sich das gruppen differenziert auf, wie lange
digitale Universum auf? Was sind die Nutzer im Durschnitt mit ihrem Endge-
Fixpunkte des Referenzsystems? Das rät auf einer Webseite bleiben und
sind die Leitfragen, denen sich Andree womit sie neben Musik und Nachrich-
und Thomsen bei ihrer digitalen Erkun- ten sonst noch ihre Zeit verbringen.
dungstour widmen. Das Buch verbleibt aber nicht auf
einer deskriptiven Ebene. Die Autoren
analysieren, wie sich mit dem Aufkom-
Martin Andree, men sozialer Medien die Gesellschaft
Timo Thomsen verändert und ein Hybrid von Privat-
ATLAS DER
DIGITALEN WELT heit und Öffentlichkeit entsteht: »Mit
Campus, diesen neuartigen Öffentlichkeiten
München 2020 formatieren wir (…) die Fundamente
272 S., € 32,00 unserer demokratischen Ordnung
um – ohne dass wir momentan abse-
VERENA BÖNNIGER/DELICIOUS LAYOUTS; AUS ANDREE, M., THOMSEN, T.: ATLAS DER DIGITALEN WELT; MIT FRDL. GEN. DES CAMPUS VERLAGS

hen können, wohin uns diese Reise


irgendwann mal führen wird.«
Denn die Monopolbildung auf den
digitalen Märkten ist nicht nur ein 8
Schon nach wenigen Seiten wird ökonomisches, sondern auch ein Web.de
klar: Die großen Tech-Konzerne sind medienpolitisches und damit demo-
die Fixsterne des digitalen Kosmos, kratisches Problem: Plattformen wie
um das andere Webseiten wie Plane- YouTube oder Facebook sind heute
ten kreisen. ADAC? Allianz? ARD? Bloß mächtige Unternehmen, die mit ihren Inst
kleine Himmelskörper in der Umlauf- geheimen Algorithmen bestimmen,
bahn der Tech-Konzerne – was Andree was die Nutzer auf ihren Endgeräten
und Thomsen in einem Netzwerk visu­-
alisieren. Die GAFA-Konzerne (Google,
Amazon, Facebook, Apple) verteilen Das Bild entspricht der Internetnut­ 10
über die Hälfte der Nutzungsdauer der zungsdauer in Deutschland 2019. Die
Spotify
Top-500-Plattformen im Netz. Top 20 sind proportional abgebildet.

86 Spektrum der Wissenschaft  12.20


2
Apple

1
ouTube

6
Amazon

3
Facebook

7
eBay

4
WhatsApp
14
T-Online

13
Candy Crush

VERENA BÖNNIGER/DELICIOUS LAYOUTS; AUS ANDREE, M., THOMSEN, T.: ATLAS DER DIGITALEN WELT; MIT FRDL. GEN. DES CAMPUS VERLAGS
5
Google 15
Pokémon GO 16
Garden-
scapes
9
tagram
17
Microsoft
12
GMX
18
Snapchat 19
Hay Day
11 87
Spektrum der Wissenschaft  12.20
20
Netflix Township
REZENSIONEN
sehen: Die Hälfte der US-Teenager
bezieht mittlerweile Nachrichten von
BIOLOGIE sowie die Mechanismen der Gen­
expression kennen. Die Autoren
YouTube. Printerzeugnisse wie Zeitun- GENETIK IST beschreiben diese fundamentalen
gen und Magazine spielen in dieser KEINE AUSREDE Vorgänge sehr gut. Selbst komplexe
Alterskohorte kaum noch eine Rolle. Prozesse wie springende Genab-
Das hat Folgen: »Wenn wir analoge Nicht nur das Erbgut bestimmt, wer schnitte ergänzen sie anschaulich mit
Medien durch digitale Medien erset-
wir sind, sondern auch Umweltein­ Abbildungen.
flüsse spielen eine wichtige Rolle.
zen«, schreiben Andree und Thomsen, Doch an manchen Stellen fehlt es
Dieses neue Sachbuch verdeutlicht,
»dann ändern wir damit eben nicht nur den Erklärungen an Leichtigkeit.
dass wir unseren Genen nicht
unsere Medienwelt, sondern wir Bildhafte Analogien wären für den
hilflos ausgeliefert sind.
ändern damit auch unsere Welt insge- Leser gerade bei komplizierten
samt – weil wir nämlich keine andere
Welt haben als diejenige, die durch die
Realität der digitalen Medien erschaf-
 Auf bloß 240 Seiten beschreiben
die Neurowissenschaftlerin Isabelle
M. Mansuy, der Psychotherapeut und
Vererbungsprozessen oder Szenarien
für die Vererbung von epigenetischen
Veränderungen hilfreich. Zudem
fen wird.« Autor Jean-Michel Gurret sowie die führen die Autoren immer wieder
Neben den (medien-)politischen Autorin und Journalistin Alix Lefief- neue genetische Mechanismen ein,
Auswirkungen vermessen die Autoren Delcourt in ihrem kürzlich erschiene- wie die Reprogrammierung oder die
die epistemologischen Deformatio­- nen Buch »Wir können unsere Gene genomische Prägung, was manch-
nen, die mit der Digitalisierung einher- steuern!«, dass nicht nur unser Erb­- mal schwer zu erfassen ist. Am Ende
gehen. Denn obwohl sich immer mehr gut, sondern auch die äußeren Einflüs- des Buchs findet sich aber ein Glos-
Wissen anhäuft, mangelt es an Wis- se unserer Umwelt bestimmen, wer sar, das die unterschiedlichen Fach-
sen über das Wissen: »Wir besitzen wir sind. begriffe zusammenfasst.
Milliarden verführerisch glitzernder Besonders spannend ist das
Informationspartikel, aber uns fehlt oft Kapitel, in dem die Autoren verschie-
der Zugang zu den Daten der Plattfor- Isabelle M. dene Studien aufbereiten, die zum
Mansuy, Jean-
men, die diese Medienrealität erst Michel Gurret, Beispiel untersuchen, wie die Epige-
herstellen.« Alix Lefief-Delcourt netik mit emotionalen und psycholo-
Die Autoren sehen die Welt an einer WIR KÖNNEN gischen Aspekten zusammenhängt.
Epochenschwelle, »in der wir uns UNSERE GENE Der Abschnitt ist wohl der psycholo-
STEUERN!
endgültig verabschieden vom Zeitalter Die Chancen der gischen Expertise von Jean-Michel
der analogen Massenmedien, die Epigenetik für ein Gurret geschuldet und vermittelt
unser letztes Jahrhundert geprägt gesundes und dem Leser einen weiteren interessan-
glückliches Leben
haben.« Mit dem Medientheoretiker Berlin Verlag, ten Aspekt der jungen Wissenschaft.
Marshall McLuhan argumentieren München 2020 Am Ende des Buchs findet man
Andree und Thomsen, dass wir in eine 240 S., € 22,00 zwei Anhänge: Neben einem histori-
»neuartige Art von Galaxis« eintreten schen Überblick zu den wichtigsten
werden: »In wenigen Jahren wird Erkenntnissen der Genetik, von
unsere Medienwelt vollständig digitali- Die so genannte Epigenetik lässt Mendel über Darwin, über die Auf-
siert sein.« Das mündet in eine Zucker- sich vereinfacht als das »Ein- und klärung der DNA-Struktur bis hin
berg- statt Gutenberg-Galaxis. Ausschalten« bestimmter Gene be- zum Human Genome Project (HUGO)
Gewiss, in der Zeitdiagnose schreiben. Die Gesamtheit dieser gibt es ein kurzes Quiz, das die
schwingt auch eine gehörige Portion Zustände ist weitaus komplexer und wichtigsten Eckpunkte und Themen
Kulturpessimismus und Sozialromantik viel dynamischer als das Genom des Buchs zusammenfasst.
mit, die Sehnsucht nach einer Zeit, in selbst. Sogar die Umwelt unserer Die Epigenetik ist ein Thema, das
der die (alte) Welt noch in klare Kate- Vorfahren spielt eine wichtige Rolle, da in Zukunft höchstwahrscheinlich
gorien einzuordnen war. Um den sich epigenetische Veränderungen immer wichtiger wird. Wer sich über
Strukturwandel der Öffentlichkeit, ähnlich wie Gene vererben lassen. die wissenschaftlichen Hintergründe
Wirtschaft und Gesellschaft zu verste- Historisch gesehen ist die Epigenetik informieren möchte, ist mit diesem
hen, kann es hilfreich sein, Analogien eine relativ junge Forschungsrichtung, Buch gut beraten. Als Leser sollte
zu bilden. Die Digitalisierung ist in ihre Anfänge liegen etwa 80 Jahre man sich aber genug Zeit für das
vielerlei Hinsicht »Neuland«. Andrees zurück. Seit den 2000er Jahren erfährt komplexe Thema nehmen, da es
und Thomsens Buch ist das beste der Bereich einen regelrechten Auf- ohne Vorwissen manchmal nicht
Teleskop, um diesen digitalen Kosmos schwung – und ein Abklingen ist nicht einfach ist, alle Zusammenhänge
zu erforschen. zu erwarten. direkt zu erfassen.
Adrian Lobe arbeitet als Journalist in Heidel- Um epigenetische Vorgänge zu
berg und ist Autor der Kolumne »Lobes Digi- verstehen, muss man die Grundlagen Victoria Lunz ist Molekularbiologin und
talfabrik« auf »Spektrum.de«. der Genetik und der Molekularbiologie, Wissenschaftsjournalistin in Linz.

88 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

Vollständigkeit zielt. Sie konzentriert für Einsteiger. Man kann es problemlos


Becky Smethurst
sich vielmehr darauf, Fragen zu beant- bei einer längeren Bahnfahrt oder
DAS KLEINE BUCH
VOM GROSSEN worten, die man sich als Laie unwei- gemütlich an einem Nachmittag auf
KNALL gerlich stellt, wenn man in den Nacht- der Terrasse lesen. Smethurst weckt
Und was im himmel blickt oder die Nachrichten mit ihrem lockeren Erzählstil die Lust,
Universum seit-
dem geschah aus der Forschung verfolgt. Das wird mehr über Sterne, Planeten, Schwarze
dtv, München 2020 spätestens im Kapitel über außerirdi- Löcher und die zahllosen, unerforsch-
128 S., € 9.99 sches Leben klar, in dem die Autorin ten Phänomene des Universums zu
ihre Erfahrungen auf Partys schildert, erfahren.
wenn sie erzählt, sie sei Astronomin. Am Ende der Lektüre kommt einem
Meist kommt dann die Frage auf, ob es noch einmal der Gedanke an ein Tage­-
»da draußen« Leben gebe. In ihrem buch. So weit ist der Inhalt nämlich
Werk rechnet Smethurst vor, dass es nicht von einem solchen entfernt –
ASTRONOMIE bei rund 100 Sextillionen Sternen und
einer angenommenen Wahrscheinlich-
zumindest im Hinblick auf das Univer-
sum als Ganzes. Angefangen beim
EIN TAGEBUCH DES keit für Leben von eins zu einer Quintil- Urknall vor 14 Milliarden Jahren, bis
UNIVERSUMS lion noch rund 100 000 Planeten geben hin zum heutigen Blick in den Nacht-
dürfte, auf denen Leben entstanden himmel, der uns ermutigt, über all das
Beginnend beim Urknall bis zu sein könnte. Ja, höchstwahrscheinlich nachzudenken, was wir über die Natur
künftigen Marsmissionen deckt die ist die Erde nicht der einzige Planet, nicht wissen.
Physikerin die wichtigsten Themen
der seine Trümpfe im Spiel des Lebens Thorsten Naeser ist Diplomgeograf und
der Astronomie ab.
richtig ausgespielt hat, resümiert sie arbeitet am Max-Planck-Institut für Quanten­

 Der erste Blick auf den Umschlag


überrascht. Kunstvoll gezeichnete
Planeten kreisen in Rosa und Blau um
am Ende des Abschnitts.
Spannend liest sich auch das Kapi-
tel, in dem es darum geht, wie weit der
optik in München.

radial angeordnete Strahlen. Es erin-


nert an ein Tagebuch für Jugendliche,
Mensch bereits ins Universum vorge-
stoßen ist und was er womöglich künf-
GESCHICHTE
das man im Schreibwarengeschäft tig wagen wird. Bisher hat sich noch DYNASTIE MIT
kaufen kann und das darauf wartet, niemand weiter als zirka 400 000 Kilo­- LICHT UND SCHATTEN
mit spannenden Erlebnissen gefüllt zu meter von der Erde entfernt – eine
Im Mittelalter wurde England von
werden. Distanz, die während der gescheiter-
der Herrscherdynastie der Plan­
Angesichts seines kompakten ten Mondlandemission Apollo 13 im
tagenets regiert, die so machtgierig
Formats wirkt »Das kleine Buch vom April 1970 erreicht wurde. Doch die
und blutrünstig war, dass ihre
großen Knall« nicht wie ein Werk, das Menschheit drängt es zum Mars und
Geschichte als Vorlage für das
astronomisches Wissen vom Urknall wahrscheinlich bald viel weiter hinaus Serienepos »Game of Thrones«
bis zur aktuellen Erforschung des ins Ungewisse. Was dort für Gefahren diente.
Universums vermittelt. Genau das tut lauern könnten, wägt Smethurst ab.
es aber. Unterhaltsam stellt die junge
Astronomin Becky Smethurst von der
University of Oxford darin das grundle-
Unter anderem Röntgen- und UV-
Strahlung könnten tödlich für die
Astronauten sein. Wagt man sich
 Viel ist über »Englands schreck-
lichste Dynastie« geschrieben
worden, die mehr als 200 Jahre, von
gende Wissen vor, das wir über das noch tiefer in den Kosmos, warten 1154 bis 1399, in direkter Linie die
Universum haben. Sie erklärt etwa, dort sehr gefährliche Strahlungsparti- Könige von England stellte. Dabei
was Gravitation ist, wie Schwarze kel, die schon die Voyager Sonden richtete sich der Fokus meist auf die
Löcher entstehen oder warum der beim Verlassen des Sonnensystems internen Querelen dieser eigentlich aus
Nachthimmel dunkel ist. getroffen haben. Das Weltall ist eine Nordwestfrankreich stammenden
Smethurst verfolgt in ihrem Buch äußerst unwirtliche Umge­-bung – Sippschaft: Der Vater-Sohn-Konflikt
keinen strukturierten Ansatz, der auf Smethurst stellt zu Recht die Frage, zwischen König Heinrich II. und Ri-
wer freiwillig an einer Weltraumexpe- chard Löwenherz, der Bruderzwist
dition teilnehmen würde, die mit zwischen Richard und Johann ohne

Auf rund
großer Wahrscheinlichkeit zum Tod Land, der Bruch Eleonores, der vorma-
führt, sofern nicht bald bessere ligen Herzogin Aquitaniens, mit ihrem

100 000 Planeten
Schutztechniken verfügbar sind. Mann Heinrich – das alles bot hinrei-
»Das Kleine Buch vom großen chend Stoff für eine Familientragödie

dürfte es
Knall« eignet sich weniger für Leser von shakespearischer Wucht.
mit astronomischen Vorkenntnissen, Doch die Geschichte der Plantage-

Leben geben
die ihr Wissen vertiefen möchten. nets erschöpft sich längst nicht nur in
Vielmehr ist es ein kurzweiliges Buch aufreibenden Familienfehden, wie Dan

Spektrum der Wissenschaft  12.20 89


REZENSIONEN
Jones zu zeigen vermag. In »Spiel der
Könige« widmet sich der britische
schaft um politische Mitsprache-
rechte kam und welche Auswirkun-
PFLANZEN
Historiker und Journalist der wechsel- gen das auf die gesellschaftliche und WIE BOTANIKER TICKEN
vollen Historie des mächtigen Herr- politische Entwicklung Englands Vielerlei Aspekte, bunt durcheinan­
schergeschlechts, dessen Reich neben hatte. Anders als auf dem europäi- der gewürfelt: Eine anekdotische
England auch weite Teile Frankreichs schen Festland, so Jones, begannen Sammlung rund um die Welt der
umfasste. sich in England schon früh Vorfor- Pflanzenkunde.
Dicht an den Quellen und stets auf men des Rechtsstaats herauszubil-
der Höhe der Forschung lässt Jones
die Welt des Hofes, des Adels und des
Schlachtfelds in seinem fesselnd
den, die lange vor Montesquieu die
Trennung von gesetzgebender,
vollziehender und Recht sprechender
 Charlotte Fauve ist Ingenieurin für
Landschaftsplanung, Journalistin und
Dokumentarfilmerin. Marc Jeanson
geschriebenen Buch aufleben. Er Gewalt anbahnten. leitet das größte Herbarium der Welt am
beleuchtet die genealogischen Wur- Unter den Plantagenets entstand Museum für Naturgeschichte in Paris.
zeln der Plantagenets – der Name geht ein im ganzen Land verbindliches Wer in diesem Buch für welchen Teil
auf den Stammvater Graf Gottfried V. Recht: das von Richtern und nicht verantwortlich war, ist nicht herauszu-
von Anjou zurück, der einen Ginster- vom König gesetzte »Common Law«. bekommen. Wolkig erscheinen auch der
zweig (lateinisch: planta genista; 1215 rangen rebellierende Adlige dem Titel sowie der Untertitel; sie erschließen
französisch: plante genêt) als Helmzier König in der »Magna Charta Liberta- sich erst, wenn man das Buch zu Ende
trug – und legt schlüssig dar, wie die tum« Zugeständnisse ab, die ihnen ein gelesen hat. Das birgt die Gefahr eines
Adelsfamilie ihre Macht über ihre fran­- Widerstandsrecht gegen königliche Fehlkaufs.
zösische Heimat hinaus auf die briti- Entscheidungen sicherten und Eng- Für die Autoren besteht das Gedächt-
schen Inseln ausdehnte und die dorti- lands Weg zur konstitutionellen nis der Natur »in solchen tausenden
ge Politik nachhaltig veränderte. Monarchie ebneten. 1265 tagten zum getrockneten Pflanzen, und jedes duf-
Breiten Raum nimmt der Dauerkon- ersten Mal im englischen Parlament tende Kron- oder Nebenblatt zeugte
flikt mit dem fränkischen Adelsge- neben den aristokratischen »Lords« vom Fortschritt der Wissenschaft oder
auch »Commons«, frei gewählte vom ersten Kontakt zwischen fremden
Vertreter der Städte und des niederen Kulturen, auf Gedeih und Verderb«. Das
Dan Jones Landadels. Und 1376 erhoben die klingt poetisch; in diesem Stil ist das
SPIEL DER KÖNIGE Parlamentarier eine förmliche Anklage ganze Buch geschrieben. Es handelt
Das Haus Plantage-
net und der lange gegen einen Vertrauten des Königs sich weniger um ein wissenschaftliches,
Kampf um Englands wegen Hochverrat und setzten so ihr sondern eher um ein literarisch bilder­
Thron Recht auf die Kontrolle der Exekutive reiches »Feuilleton«, was in keiner
C.H.Beck, Mün-
chen 2020 durch. Weise schlecht ist.
686 S., € 29,95 »Spiel der Könige« ist eine erfri- Weiß man das vorher und erwartet
schend lebendige, unterhaltsame und es auch so, wird man dennoch ent-
fesselnd geschriebene Geschichte täuscht. Es fehlt ein roter Faden – der
des Hauses Plantagenet, die mit viel Text vermischt alles miteinander, so
Liebe zum Detail, aber auch mit dass man erst am Ende einen brauchba-
historischem Weitblick deren politi- ren Überblick darüber gewinnt, was ein
schlecht der Kapetinger um die engli- sches Vermächtnis beleuchtet, das Museums- oder »Heu«-Botaniker so
schen Besitzungen auf französischem sich beileibe nicht nur auf Mord und macht. Ein vielleicht treffenderer, nicht
Festland ein, der im Hundertjährigen Totschlag, Hinterlist und Ranküne ganz ernst gemeinter Titel wäre: »Wie
Krieg (1337–1453) kulminierte. In beschränkt. Botaniker ticken«. Das französische
diesem Kräftemessen entstand nicht Theodor Kissel ist Historiker, Sachbuch­- Original heißt übrigens schlicht nur
nur die Erbfeindschaft zwischen autor und Wissenschaftsjournalist. Er lebt im »Botaniste«.
England und Frankreich, sondern auch Raum Mainz. Mehrfach sprechen Fauve und Jean-
eine englische Identität, die sich son die generellen Probleme heutiger
weniger in einer Loyalität dem Land Botaniker an, etwa den anhaltenden
gegenüber als zum König und zur Artenschwund, invasive Spezies oder

Eine Familien­
Krone ausdrückte, wie Jones überzeu- die globalisierte Unkrautflora. Die in
gend darlegt. Australien weit verbreiteten Eukalyptus-

tragödie von
Gleichzeitig gab es aber Bestre- bäume wachsen beispielsweise heute zu
bungen, die Macht des Königs ein­ Hunderttausenden in Brasilien, nach-

shakespearischer
zuschränken. Detailliert erläutert dem man dort die Küstenwälder abge-
Jones, wie es während des Ausbaus holzt hat, um Papier herzustellen oder

Wucht
der königlichen Zentralgewalt zu Soja für eigene und europäische Rinder
Spannungen mit Adel und Bürger- zu gewinnen. Die neuen Bäume trock-

90 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

nen den Boden aus und machen Was-


serläufe zu Rinnsalen.
treib schießt er Affen, 23 Stück in ei-
ner Weite von 20 Toisen (Eine Toise Menschen gehen
Dieser rücksichtslose Umgang mit
der Natur hat schon vor langer Zeit
sind zirka 32 Zentimeter), ein Massaker
an verängstigten Husarenaffen, die rücksichtslos
begonnen. Die Autoren benennen mit
Michel Adanson (1727–1806) einen aus
be­kümmert von Ast zu Ast hüpfen …
Der Dschungel ist (ihm!) im Weg, da mit der Natur um
heutiger Sicht keineswegs vorbildli- legt der Afrikaforscher Feuer daran.
chen Botaniker und Ethnologen. Ihre Acht Tage später stellt er sehr ver-
Beschreibung des Forschers: »Podor, gnügt fest, dass es immer noch gesammelt wurden. Und das Buch
Senegal, das Schiff liegt im Hafen, brennt.« vermittelt, welche Mühen es macht,
Adanson langweilt sich. Zum Zeitver- Solche anekdotischen Schilderun- diese kostbaren wissenschaftlichen
gen, meist in Zusammenhang mit Dokumente vor Ungeziefer zu bewahren
französischen Botanikern, reihen sich oder was es bedeutet, sein ganzes
Marc Jeanson, in dem Buch ohne erkennbare Ord- Leben entsprechenden Arbeiten zu
Charlotte Fauve nung aneinander. Manche tendieren in widmen.
DAS GEDÄCHTNIS Richtung Schwank, andere eher zu Den Text unterbrechen lediglich acht
DER WELT
Vom Finden und detaillierter Wissenschaft. Man erfährt Seiten mit Grafiken, auf denen jeweils
Ordnen der etwa, wie ein Herbarbogen hergestellt ein bekannter französischer Forscher in
Pflanzen wird, wie er fertig aussieht und was ein zu ihm passendes Herbarblatt hinein-
Aufbau, Berlin 2020 er alles im Lauf der Jahrhunderte noch montiert wurde. Das Literaturverzeichnis
224 S., € 22.-
zusätzlich aufgeklebt bekam. Man enthält neben einigen Internetadressen,
liest, was für Formen es gibt, Millionen nur wenige deutschsprachige Quellen.
Belege zu ordnen – zum Beispiel nach
der gerade gängigen Systematik oder Jürgen Alberti ist Biologielehrer und Naturfoto-
nach Regionen, in denen die Pflanzen graf in Bad Schönborn.

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Spektrum der Wissenschaft  12.20 91
REZENSIONEN
MATHEMATIK oder die Anzahl einzelner Buchstaben
in Büchern. Der Grund ist, dass wir
ZOOLOGIE
NÜTZLICHER Zahlen häufig nicht additiv, sondern VOM WOLF ZUM
PERSPEKTIVWECHSEL multiplikativ vergleichen: Additiv HAUSHUND
gesehen ist die Größe einer Katze
Oftmals ist es hilfreich, Probleme (rund 25 Zentimeter) näher an der Ein Evolutionsbiologe beleuchtet,
aus einem anderen Blickwinkel zu wie der Hund zum treuen Begleiter
eines Bakteriums (Mikrometer) als an
betrachten. wurde und was ihn vom Wolf
einem Labrador (zirka 60 Zentimeter).
unterscheidet.
 Die Grenze zwischen Spanien und
Portugal ist schon seit Jahrhunder-
ten festgelegt. Doch wussten Sie, dass
Betrachtet man die Supermarktpreise
unter diesem Gesichtspunkt, schließt
der Autor: »Die Zahlen der Welt sind  Mit etwa 500 Millionen Individuen
weltweit sind Hunde nach Katzen das
ihre Länge – je nach Nachschlage- regelmäßig verteilt, aber eben aus zweithäufigste Haustier. Hunde gehen
werk – mit 915 bis 1291 Kilometern multiplikativer Sicht!« dabei eine viel engere Beziehung zum
angegeben wird? Oder dass einige Auch die beiden anfangs gestellten Menschen ein. Warum das so ist, liegt in
Personen den ecuadorianischen Fragen erörtert Launay mit Hilfe der der Entwicklungsgeschichte. Wissen-
Vulkan Chimborazo (und nicht den Regenschirm-Formel. Die Länge von schaftliche Schätzungen, wann aus dem
Mount Everest) für den höchsten Küstenlinien und Grenzen bereiten Wolf ein Hund wurde, liegen weit ausei-
Gipfel der Welt halten? Solch überra- vielen Personen Probleme, weil sie nander. Genauso ist gesichert, wie die
schende Aussagen erklärt der junge Fraktale darstellen, das heißt sie Domestikation abgelaufen ist. Josef H.
Mathematiker Mickaël Launay auf werden länger, je genauer man hin- Reichholf, Evolutionsbiologe und ehe-
spannende Weise in seinem neuesten sieht. Ebenso ist das Konzept der Höhe maliger Leiter der Wirbeltierabteilung
Buch »Die Regenschirm-Formel«. schwierig zu definieren, da man dafür der Zoologischen Staatssammlung
Anders als der Titel vermuten lässt, einen Bezugspunkt braucht: Wählt München hat sich in seinem neuen
dreht sich das Werk nicht um eine man den Meeresspiegel, dann ist der Buch »Der Hund und sein Mensch«
bestimmte Formel. Stattdessen geht Mount Everest am höchsten, vom intensiv diesem Thema gewidmet und
es um eine Methode, mit hartnäckigen Mittelpunkt unseres Planeten aus hauptsächlich auf zwei Fragen konzent-
Problemen umzugehen: Man schafft gesehen, ragt dagegen der Chimbora- riert: Wie wurde der Wolf zum Hund?
eine mathematische Welt, in der man zo am weitesten heraus. Warum wurde er zum Haustier?
die Aufgabe lösen kann und überträgt Launay arbeitet sich von einer fas- Als Rahmenhandlung schildert der
das Ergebnis anschließend wieder in zinierenden Fragestellung zur nächsten Autor persönliche Erfahrungen mit zwei
die Realität. Launay vergleicht das vor, bis er schließlich zur Relativitäts- Hunden zu verschiedenen Zeitpunkten
Prozedere damit, einen Regenschirm theorie gelangt. Hier erklärt er, wie es seines Lebens. So hatte er als Jugend­
aufzuspannen (die neue mathemati- Einstein mittels der Regenschirm-For- licher die Gelegenheit, bei Wanderun-
sche Welt), um von einem Ort (Frage) mel gelang, unser Weltbild auf den gen in seiner bayerischen Heimat einen
zu einem anderen (Antwort) zu gelan- Kopf zu stellen. Der Leser erfreut sich ausgebildeten Polizeihund mitzuneh-
gen, ohne nass zu werden. dabei nicht nur an den vielen künstle­ men. Damals war er, ohne sich näher
Dass die Methode oftmals nützlich rischen Illustrationen, die das Buch mit dem Wesen des Hunds zu beschäfti-
ist, veranschaulicht der Autor durch schmücken, sondern auch an lustigen gen, schwer beeindruckt von dessen
etliche Beispiele. Er beginnt jedes Details, etwa über die Seitenzahlen im Fähigkeiten und Bereitschaft, sich dem
Kapitel mit einer unerwarteten Aussa- Abschnitt über Fraktale, die dort als Menschen anzupassen. Im letzten
ge, etwa dass die Preise von Lebens- gebrochenzahlige Dezimalzahlen Kapitel geht Reichholf auf die Erlebnisse
mitteln in Supermärkten nicht gleich- erscheinen (siehe S. 148,3). mit einem Mischling ein, den er und
mäßig verteilt sind – genauso wenig »Die Regenschirm-Formel« richtet seine Frau als Welpe aufgezogen haben.
wie die Einwohnerzahlen von Städten sich an ein breites Publikum und Erst im Zusammenleben mit diesem Tier
erfordert keinerlei mathematische oder begann der Autor, sich intensiv dafür zu
physikalische Vorkenntnisse. Durch interessieren, was ein Hund eigentlich
Mickaël Launay
DIE REGEN­
den unterhaltsamen und spannenden ist und wie er sich dazu entwickelt hat.
SCHIRM-FORMEL Schreibstil des Autors erscheint die Der Buchtitel zeigt bereits, dass
Oder die Kunst, Lektüre äußerst kurzweilig. Wer gerne Reichholf dem Wolf eine aktive Rolle bei
die Welt mit klarem etwas mehr über die angesprochenen der Hundwerdung zuschreibt. Dabei
Verstand zu be-
trachten Themen erfahren möchte, findet am stellt er der gängigen These zur Domes-
C.H.Beck, Ende des Buchs sowohl hilfreiche tikation des Wolfs eine eigene Theorie
München 2020 Literaturtipps als auch Formeln und gegenüber. Erstere besagt, der Steinzeit-
281 S., € 22,95 ausführlichere Erklärungen. mensch habe vor über 10 000 Jahren
den Wolf gezähmt. Nach Ansicht der
Manon Bischoff ist Physikerin und Redak­ Forscher geschah dies, indem Wölfe
teurin bei »Spektrum der Wissenschaft«. jagende Menschen Welpen, die nach

92 Spektrum der Wissenschaft  12.20


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

Wolf habe den ersten Schritt getan. besonderen und wie er betont doch
Josef H. Reichholf Das Tier sei den Menschen anfangs ganz gewöhnlichen Hunden wird diese
DER HUND UND
SEIN MENSCH gefolgt, um von dessen Jagdabfällen Stärke deutlich.
Wie der Wolf sich zu leben. Von Menschen zuerst ver- Der Mittelteil, der sich aus wissen-
und uns domesti- mutlich nur geduldet, vielleicht auch schaftlicher Sicht mit der Hundwerdung
zierte
weil die begleitenden Tiere sie vor auseinandersetzt, geht inhaltlich sehr in
Carl Hanser Verlag,
München, 2020 aggressiveren Artgenossen schützten, die Tiefe und verlangt dem Leser teil-
224 S., € 22,00 hätte sich die Beziehung zwischen weise etwas Geduld ab. Erst später wird
Wolf und Mensch in dem Szenario klar, dass die intensiven Ausführungen
ohne vorsätzliches Handeln mit der zur eiszeitlichen Lebenswelt der Wölfe,
Zeit vertieft. Erst viel später wäre der zu der Lebensweise heutiger, verwilder-
Mensch dann dazu übergegangen, ter Hunde und der Vergleich mit ande-
gezielt die zahmsten Begleiter für die ren Raubtieren notwendig sind, um
Zucht auszuwählen. Diese Theorie Reichholfs Schlussfolgerungen gänzlich
dem Tod der Mutter hilflos zurückblie- belegt der Evolutionsbiologe mit nachvollziehen zu können.
ben, aufnahmen und großzogen. Wäh­- zahlreichen Fakten, ohne dabei außer Die Besonderheit des Buchs zum viel
rend die Rüden mit der Geschlechts­ Acht zu lassen, dass sie sich – zumin- bearbeiteten Thema »Hund« liegt in
reife wegzogen, blieben die Weibchen dest bisher – nicht beweisen lässt. dem objektiven und doch liebevollen
und bekamen Junge, die bei den Men- Reichholf ist ein versierter Wissen- Blick auf die Tiere und ihrem arttypi-
schen aufwuchsen. So wurden die schaftsautor, der viel beachtete und schen Verhalten. Reichholf zeigt neue
Wölfe mit der Zeit immer anhänglicher mehrfach ausgezeichnete Wissen- Wege auf, wie der Hund entstanden
und zahmer, bis sie die Menschen schaftsbücher wie »Rabenschwarze sein könnte, verdeutlich aber vor allem,
irgendwann auf die Jagd begleiten Intelligenz« (2011) oder »Das Leben der was ihn ausmacht. Und – das ist dem
konnten. Eichhörnchen« (2019) veröffentlicht Autor besondern wichtig – wie Hund
Ein solch zielgerichtetes Vorgehen hat. Wie in den meisten seiner Bücher und Mensch in gegenseitigem Nutzen
unserer Vorfahren, das erst nach vie­- er­zählt er auch in »Der Hund und sein zusammenleben können.
len Generationen hätte Früchte tragen Mensch« eine Geschichte. Vor allem
können, hält Reichholf für unwahr- bei den Schilderungen seiner persönli- Larissa Tetsch ist promovierte Molekularbiolo-
scheinlich – er geht davon aus, der chen Erfahrungen mit den beiden gin und Wissenschaftsautorin bei München.

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1. 1. 2020.
und Bahnhofsbuchhandel
Übersetzungen: An diesem Heft wirkte mit: Gesamtherstellung: L. N. Schaffrath Druckmedien GmbH und beim Pressefachhändler
Dr. Susanne Lipps-Breda & Co. KG, Marktweg 42–50, 47608 Geldern mit diesem Zeichen.

Spektrum der Wissenschaft  12.20 93


LESERBRIEFE
STATISTIKVERSTÄNDNIS Leserbriefe sind willkommen!
ALS AUSWEG AUS DER Schicken Sie uns Ihren Kommentar unter Angabe, auf welches
Heft und welchen Artikel Sie sich beziehen, einfach per E-Mail an

REPRODUZIERBARKEITSKRISE leserbriefe@spektrum.de. Oder kommentieren Sie im Internet


auf Spektrum.de direkt unter dem zugehörigen Artikel. Die
individuelle Webadresse finden Sie im Heft jeweils auf der ersten
Der Neurologe Ulrich Dirnagl beschrieb das Problem Artikelseite abgedruckt. Kürzungen innerhalb der Leserbriefe
methodischer Mängel in vielen biomedizinischen werden nicht kenntlich gemacht. Leserbriefe werden in unserer
Studien und nannte mögliche Gegenmaßnahmen, gedruckten und digitalen Heftausgabe veröffentlicht und können
denen er sich im Rahmen einer wissenschaftlichen so möglicherweise auch anderweitig im Internet auffindbar
werden.
Initiative verschrieben hat. (»Kulturwandel in der Bio-
medizin«, »Spektrum« Oktober 2020, S. 38)

Hermann Kolanoski, per E-Mail: Der Artikel gehört zu ven Ergebnisses zu bestimmen. Wenn die statistische
den besten Antworten, die ich bisher auf die so genannte Wahrscheinlichkeit nicht verstanden wird, führt das eine
Reproduzierbarkeitskrise gesehen habe. Als Physiker wie das andere zu fehlerhaften Schlussfolgerungen.
schätze ich vor allem, dass Herr Dirnagl sich mit seinen Übrigens finde ich in meinen eigenen Veröffentlichungen
Aussagen auf die Biomedizin beschränkt, während das mehr Ausschließungsgrenzen, also »negative Ergebnisse«
Problem in vielen anderen Artikeln als Krise »der Wissen- als Entdeckungen. Aber das liegt in der Natur der Sache,
schaft« beschrieben wird. wenn man nach etwas sucht, was außerhalb der Standard-
Auch wiederholt der Autor nicht die vielfach geäußer- vorstellungen liegt.
ten, meines Erachtens unsinnigen Forderungen wie
­»Retire statistical significance« (Nature 567, S. 305–307,
2019) oder »Warum statistische Signifikanztests abge-
schafft werden sollten« (Forschung & Lehre Juni 2020, KLEINER ZAHLENDREHER
S. 510–512). Neben dem Kulturwandel in der Veröffentli-
chungspraxis sollte sicherlich eine der Antworten eine Physiker haben einen Kristall aus Atomen erzeugt, die
bessere Grundausbildung in experimentellen Methoden
sich weder anziehen noch abstoßen. Die Struktur
entsteht stattdessen durch ein quantenmechanisches
sein, inklusive einem tieferen Verständnis der Statistik.
Prinzip. (»Pauli-Kristalle«, Forschung aktuell, »Spektrum«
Für mein Fachgebiet der Teilchen- und Astroteilchen-
Oktober 2020, S. 28)
physik kann man eigentlich sagen, dass es eine Reprodu-
zierbarkeitskrise nicht gibt. Natürlich gibt es auch Fälle, Uwe Frick, per E-Mail: In Ihrem Beitrag wird der absolute
bei denen etwas übersehen wurde und die Ergebnisse Temperaturnullpunkt mit minus 237 Grad Celsius angege-
sich als nicht haltbar erweisen, aber das sind nach meiner ben. Die tatsächliche Temperatur beträgt minus 273 Grad.
Erfahrung die Ausnahmen. Kann ja mal vorkommen.
Der Grund scheint mir vor allem darin zu liegen, dass
wir meistens in großen Kooperationen mit sehr vielen
Mitgliedern arbeiten (am Large Hadron Collider des CERN
arbeiten an den zwei größten Experimenten jeweils etwa ERRATUM
3000 Physiker). Dadurch gibt es eine starke gegenseitige »Zurück in den Kreislauf«, »Spektrum« Oktober 2020, S. 62
Kontrolle, die auch formal strukturiert ist, um die interne
Begutachtung vorgeschlagener Experimente, der Ergeb- Die letzten Sätze in der linken Spalte auf S. 65 enthalten
nisse der Analysen sowie der Veröffentlichungen zu verschiedene Fehler und Unklarheiten. Korrekt sollte die
regeln. Mir scheinen diese Strukturen weitgehend das zu entsprechende Passage im Artikel folgendermaßen formu-
bieten, was sich Herr Dirnagl auch für sein Fachgebiet liert sein:
wünscht.
Eine kritische Bemerkung möchte ich allerdings doch Das Freisinger Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik IVV
noch zu dem Artikel machen. Ich nehme an, eine »Aus- entwickelt daher gerade ein physikalisches, lösemittelba-
zeichnung für Forscher, die negative Resultate veröffent­ siertes Verfahren namens »CreaSolv«, um diese Folien so
lichen« (S. 43) ist damit verknüpft, dass das negative aufbereiten zu können, dass sie auch nach mehreren Le-
Ergebnis relevant ist und methodisch sauber erarbeitet benszyklen ihre Materialeigenschaften nicht verlieren. Ein
wurde. Das mag sich trivial anhören, aber wenn man das ähnliches Upcycling-Verfahren ist das »Newcycling« der
aktuelle Problem der Überzahl positiver Ergebnisse sieht, APK AG in Merseburg. Bei diesen Verfahren wird die mole-
mag man nicht glauben, dass ein solcher Aufruf nicht zu kulare Struktur der Polymere nicht verändert.
einer ähnlichen Überzahl an negativen Ergebnissen führen Henkel kommentiert allerdings in ihrer kürzlich erschie-
würde. nenen Veröffentlichung, dass sich mit Hilfe dieser Prozesse
Die Methodik, eine Ausschließungsgrenze zu berech- nur bestimmte Polymere aus dem Verbund lösen lassen
nen, ist nicht viel anders, als die Signifikanz eines positi- und die Verfahren somit auch ihre Grenzen haben.

94 Spektrum der Wissenschaft  12.20


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A93401
FUTUR III
Der letzte Nobelpreis
Dankesrede zum Ende der Wissenschaft.
Eine Kurzgeschichte von Ulf von Rauchhaupt

M
ajestäten, sehr geehrte Mitmenschen! Zunächst Philosophen gemeint, solche lernenden Automaten müss-
möchte ich meiner Regionalregierung danken, dass ten eben nur ausreichend groß, ausreichend komplex
sie mir ihr Flugzeug für die Reise nach Stockholm zur werden, dann würden sie sich schon irgendwie ihrer selbst
Verfügung gestellt hat. Vor allem aber danke ich natürlich bewusst werden. Die Literatur dieser Zeit – und natür-
dem Nobelkomitee für diese nun wirklich historische Aus- lich nicht nur die wissenschaftliche – ist voll solcher Ge-
zeichnung. schichten.
Ich verhehle nicht, dass ich mir wünschte, sie wäre nicht Doch die Computer wurden immer schneller, ihre Archi-
ganz so historisch. Denn so glücklich ich bin, in der Nach- tektur immer komplexer, so dass sie ohne andere Computer
folge Früherer zu stehen, so sehr hätte es mich natürlich ge- längst nicht mehr programmierbar waren. Bald hatten sie
freut, könnten sich dereinst einmal andere in meiner Nach- Fähigkeiten, die ihnen überhaupt nicht mehr einprogram-
folge sehen. Doch wie Sie wissen, wird der Nobelpreis für miert werden mussten oder auch nur konnten. Denn sie
Wissenschaft heute zum letzten Mal verliehen. lernten längst selbst, tauschten sich mit der Welt aus, mit
Sie verzeihen, wenn ich hier kurz darüber reflektiere. Es den Menschen – und natürlich untereinander. Aber selbst
hatte sich ja lange angekündigt, im Grunde schon nach der als die Lern- und Rechenkraft von Quantenregistern prak-
Zusammenlegung der Nobelpreise für Medizin und Chemie. tisch ins Unermessliche stieg, passierte nicht das, was bei
Dieser Schritt hatte bekanntlich gute Gründe: Die letzten jedem Neugeborenen passiert. Nie stellte eines der künst­
großen medizinischen Fortschritte waren alle solche der lichen Systeme auch nur eine einzige Frage, die auf ein
Biochemie oder der Bioinformatik gewesen. Auch tat sich Erstaunen über die Welt hätte schließen lassen. Nie protes-
das Nobelkomitee im Lauf der Zeit immer schwerer, preis- tierte eines dagegen, dass man es abschaltet.
würdige Fortschritte zu identifizieren. Was immer geforscht

S
und entwickelt wurde, verbesserte Vorhandenes, aber chon vorher aber war die Physik am Ende. Das deutete
führte zu nichts grundlegend Neuem mehr. sich bereits im frühen 21. Jahrhundert an, als man an
Denn was sollte das auch sein? Wie sich herausstellte, supersymmetrische Teilchen so fest glaubte wie etwas
hat der Raum des grundsätzlich Verschiedenen, wie wir später an künstliches Bewusstsein – aber einfach keine
Mathematiker sagen, endlich viele Dimensionen – und die fand. Natürlich, das konnte daran liegen, dass ihre Massen
waren bald sämtlich bekannt. Die Unausschreitbarkeit des zu hoch waren, um sie mit den vorhandenen Apparaten
Möglichen erwies sich als unmöglich. Das war schmerzlich erzeugen zu können. Die ursprüngliche Idee jedoch, derent-
für viele Philosophen – so schmerzlich wie die Unüber- wegen man ihre Existenz für möglich gehalten hatte, war
schreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit dereinst für jene so nicht mehr zu stützen.
gewesen war, die von der Eroberung des Weltalls träumten. Dennoch suchte man weiter. Schließlich war der be­
Die Bestürzung darüber wollte sich lange nicht legen. liebteste Ansatz zur Versöhnung von Quantentheorie und
Sollte man sich denn wirklich damit abfinden, dass es Gravitation darauf angewiesen, dass die Natur dieser Su-
nichts mehr genuin Neues zu entdecken gab? So viele persymmetrie irgendwie folgte. So baute man den Pekinger
große Fragen waren doch noch unbeantwortet: Wie ent- Beschleuniger. Und als dieser keine neuen Teilchen be-
stand das Leben? Wie kam es zum Urknall? Wie passen scherte, auch noch einen gewaltigen LHC-Nachfolger, der
Quantenfeldtheorie und Schwerkraft zusammen? Was ist das gesamte Genfer Becken ausfüllt. Es half alles nichts.
das, was wir Bewusstsein nennen? Heute steht in den gigantischen Tunnelanlagen das Wasser.
Man muss sich in die Leute damals hineinversetzen. An den anderen Fronten der Fundamentalphysik war die
Fast jedes beliebige Material konnten sie erzeugen. Alle Entwicklung kaum besser. Aus was immer die Dunkle
Eigenschaften der chemisch realisierbaren Materie waren
dank der Quantencomputer vorausberechenbar, selbst
biologische Materialien verloren ihren Zauber. Damit war
nun alles an den Körpern von Tieren und Menschen, von
Pflanzen, Viren und Bakterien nach Belieben manipulierbar.
Alle Gebrechen waren heilbar geworden. Und doch, ein
Heute ist die »Dunkle
Bewusstsein wollte und wollte sich einfach nicht künstlich
erzeugen lassen.
Energie« nur noch
Künstliche Intelligenz gab es ja schon lange. In ihren
Anfangszeiten hatten viele Informatiker und noch mehr ein Thema für Soziologen
96 Spektrum der Wissenschaft  12.20
Mehr Sciencefiction-Kurzgeschichten auf spektrum.de/kurzgeschichte

Materie im Weltall bestehen mag – es folgt keiner anderen Das war alles vor meiner Zeit, und so habe ich diesen
Kraft als der Schwerkraft, und die hält sich auf allen Skalen Preis nie vermisst – umso weniger, nachdem man mir, als
sklavisch an die alte einsteinsche Theorie, keine Abwei- ich gerade noch jung genug dafür war, die Fields-Medaille
chung, nirgends. Und nichts tauchte auf, was erklären für die ersten beiden Endlichkeitstheoreme verlieh. Und
könnte, warum sich das Universum immer schneller aus- deren Verallgemeinerung auf beliebig viele Klassen von
dehnt. Akteuren verdanke ich ja die große Ehre, heute vor Ihnen zu
»Dunkle Energie« nannte man diesen Effekt damals und stehen. Nun ist aber auch dieser Satz eigentlich keiner der
hoffte, ihn durch irgendein zusätzliches Quantenfeld zu Naturwissenschaft. Schlimmer noch, es ist ein so genann-
erklären. Heute ist das nur noch ein Thema für Wissen- tes No-go-Theorem – also eines, das uns darüber infor-
schaftssoziologen. Und eine Spielwiese für Narrative, die miert, was nicht geht oder was es nicht gibt. Allein als
uns zu erklären versuchen, warum so viele intelligente solches kann es naturgemäß nicht empirisch bestätigt
Menschen gegen den Befund rebellierten, dass die Welt vor werden, was für die naturwissenschaftlichen Nobelpreise in
13,76543 Milliarden Jahren einen zeitlichen Anfang nahm der Vergangenheit immer ein Kriterium gewesen war.
und sich dafür nie irgendein physikalischer Grund finden Andernfalls hätte auch Emmy Noether den Preis bekom-
ließ, von einem logischen gar nicht zu reden. men müssen – und Peter Higgs und François Englert nicht
erst als alte Männer.

T
rotzdem hielt das Nobelkomitee noch lange an einem Daher müsste ich die heutige Ehrung eigentlich ableh-
eigenen Physik-Preis fest – aus Pietät den großen nen. Bitte erschrecken Sie nicht, ich habe keinesfalls vor,
Namen gegenüber, die ihn zieren: Planck, Einstein, Ihnen heute noch in letzter Minute dieses Fest zu verder-
Heisenberg, Dirac, Feynman, Weinberg, Wilczek. Dabei war ben. Aber zumindest aus Achtung vor den eben Genannten
der Physik-Nobelpreis längst zu einem Preis für Material­ muss ich diese Bemerkung machen. Und um zu verdeutli-
wissenschaft geworden. chen, warum es am Ende doch eine richtige Entscheidung
Und nach der Entwicklung topologischer Chips und war, künftig keinen Nobelpreis für Wissenschaft mehr zu
ihrer Integration in biokompatible Implantate näherten sich vergeben. Sie zeugt von einer bewundernswürdigen Bereit-
die Arbeitsfelder der Material- und Lebenswissenschaftler schaft, die Realität anzunehmen.
immer weiter an, bis die Unterscheidung ganz und gar Diese ist ja auch nicht übermäßig schmerzlich. Die Zeit
künstlich geworden war. Nachdem zuvor schon die Nobel- der Entdeckungen ferner Länder und Kontinente ist schließ-
preise für Medizin und Chemie zu einem für Lebenswis­ lich ebenfalls irgendwann zu Ende gegangen. Aber die
senschaften zusammengelegt worden waren, erschien es Menschen wollten es sich zuerst nicht eingestehen. Daher
allen Beteiligten nur konsequent, diesen nun auch mit haben sie Entdeckungsreisen fortan gewissermaßen si­
dem für Physik zu verschmelzen. Seither gab es nur noch muliert und damit noch mehr als ein Jahrhundert lang eine
den Nobelpreis für Wissenschaft. Ferntourismusindustrie am Leben gehalten. Diese war
Nun waren vorher schon andere Auszeichnungen ein­ jedoch einfach nicht nachhaltig und zugleich egalitär zu
gestellt worden. Sie erinnern sich an den Friedensnobel- organisieren, weswegen die Reformen der Weltregierung
preis und sein eher unschönes Ende, nachdem der vorletzte dem dann ja auch ein Ende gesetzt haben.
Preisträger sich später als Krimineller entpuppte und der Auf dem Mond, dem Mars und bis hinaus zum Titan
allerletzte Preisträger die Auszeichnung daraufhin ablehnte. wurde das Tourismustreiben noch eine Weile fortgesetzt,
Nicht alle von Ihnen dürften sich aber ohne gezielte In- bis man es dort ebenfalls unterbunden hat. Politisch war
dienstnahme Ihrer Datenimplantate daran erinnern, dass es das am Ende vielleicht nur möglich, weil die Neurotechnik
einmal auch einen Nobelpreis für Literatur gab und einen inzwischen so weit fortgeschritten war, dass Sehnsüchte
für etwas, was man Wirtschaftswissenschaft nannte. fortan kein Schicksal mehr waren. Diese Entwicklung war
Sie lachen, doch es stimmt. Es gab einmal das Bemü- mit einem der letzten lebenswissenschaftlichen Nobelprei-
hen, das Verhalten sozialer Systeme in Wirtschaftsdingen se gewürdigt worden. Heute ist die Maßnahme bekanntlich
mit einem naturwissenschaftsförmigen Anspruch zu be- bei jedem Neugeborenen vorgeschrieben.
schreiben. Was an diesem Unterfangen sinnvoll war, darum Ja, die Wissenschaft hat viele Menschheitsprobleme
kümmern sich heute Historiker oder Finanztechniker. Aber gelöst. Aber ich denke, deswegen brauchen wir noch lange
es gab eine Zeit, in der man tatsächlich dachte, hier allge- keine Angst vor einer Zukunft ohne Wissenschaft zu haben.
meine Theorien über das ökonomische Geschehen bauen Denn sie selbst hat es uns längst möglich gemacht, ohne
zu können. sie zu leben.
Am Ende bekamen den Wirtschaftspreis nur Mathe­ Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 
matiker, die für eine Fields-Medaille zu alt geworden waren.
Als nachrangigen Mathematikpreis gäbe es den »Alfred-­ DER AUTOR
Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften«
vielleicht heute noch. Doch dann kam es bekanntlich zum Ulf von Rauchhaupt ist promovierter Astrophysiker
und leitet das Wissenschaftsressort der »Frankfurter
Zusammenbruch der schwedischen Reichsbank und zu Allgemeinen Sonntagszeitung«. Manchmal fallen ihm
ihrer Übernahme durch die Weltwährungsorganisation, wo Geschichten ein, die nicht in der Gegenwart spielen.
man sich für Kulturförderung nicht mehr zuständig fühlte. Er schreibt sie trotzdem auf.

Spektrum der Wissenschaft  12.20 97


Das Januarheft ist ab 12. 12. 2020 im Handel.

VORSCHAU

SHAN ZHAO, LMU MÜNCHEN


DOTTEDHIPPO / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
TRANSPARENTE BIOLOGIE
Forscher machen Organe durchsichtig,
indem sie Lipide und andere Stoffe
aus dem Gewebe entfernen und das
Wasser durch eine Lösung mit defi-
niertem Brechungsindex ersetzen. Das
erlaubt es, die zelluläre Struktur voll-
ständiger Körperteile abzubilden.

ALEXTOV / GETTY IMAGES / ISTOCK


BESUCHER AUS DER FERNE
In den letzten Jahren sind zwei besondere Objekte im Vorbeiflug an der
Sonne aufgefallen: Sie stammen aus anderen Sternsystemen! Vor
allem die seltsamen Eigenschaften eines der interstellaren Boten stellen GEHEIMNISVOLLE
Astronomen bis heute vor Rätsel. Dank spezieller Teleskope dürften
demnächst mehr solcher Eindringlinge beobachtet werden. Was verraten
TURBULENZ
sie über die entlegenen Regionen der Galaxis, aus denen sie stammen? Ob Wirbelstürme, der Blutfluss in
Arterien oder Wasserfälle: Wir sind von
Turbulenzen umgeben. Und dennoch
SCHLAUE VÖGEL sind Physiker noch weit davon ent-
fernt, das Phänomen zu verstehen. Ein
Sie erkennen kausale Zusammen- neues Laborverfahren könnte jetzt den
hänge, planen die Zukunft und Durchbruch bringen.
schmieden Bündnisse – und das
alles ohne Großhirnrinde. Etliche
Vogelarten zeigen erstaunliche
kognitive Fähigkeiten, die Wissen- NEWSLETTER
schaftler lange nicht für möglich Möchten Sie über Themen und Autoren
hielten. Unabhängig von den des neuen Hefts informiert sein?
Säugetieren entwickelten die
ALAMY / AUSCAPE / JEAN-PAUL FERRERO

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mit denen sie die Kleinheit ihres Registrierung unter:
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98 Spektrum der Wissenschaft  12.20


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