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Methylphenidat
Therapieoption bei ADHS und
Suchterkrankung im Erwachsenenalter?
Die Wirksamkeit von Methylphenidat der ADHS im Erwachsenenalter ist gut wie häufigerem und intensiverem Subs-
(MPH) zur Therapie der Aufmerk- belegt [23, 63]. tanzkonsum einhergeht [24, 79].
samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstö- Die Lebenszeitprävalenz von Suchter- Insbesondere Patienten mit einer
rung (ADHS) im Erwachsenenalter ist krankungen in der Allgemeinbevölkerung ADHS und komorbiden Störungen des
anhand einer Vielzahl von Studien wird mit bis zu 15% angegeben [28], wäh- Sozialverhaltens bzw. dissozialen Persön-
und einer Metaanalyse nachgewie- rend die Lebenszeitprävalenz für komor- lichkeitsstörungen weisen häufig komor-
sen [20, 44, 54]; die deutschen Leitli- bide Suchterkrankungen bei Erwachse- bide Suchterkrankungen auf und müs-
nien zur ADHS des Erwachsenenalters nen mit einer ADHS ca. 50% beträgt [68] sen als „Hochrisikogruppe“ mit beson-
empfehlen MPH als Medikament der und damit 2- bis 3fach höher liegt [25, 43] ders schwerem Verlauf und früherem Al-
1. Wahl [15]. Der Einsatz von MPH bei (Übersicht: [16]). Die Lebenszeitpräva- ter des Erstkonsums, hohem Schweregrad
ADHS und komorbider Suchterkran- lenzraten für komorbiden Alkoholmiss- und hoher Rückfallhäufigkeit der Suchter-
kung wird kontrovers diskutiert. brauch oder -abhängigkeit betragen 17– krankung eingeordnet werden [6, 17, 25].
Die folgende Übersicht stellt den ak- 45% und für komorbiden Drogenmiss-
tuellen Wissensstand zur Ätiologie brauch oder -abhängigkeit 9–30% [80]. Ätiologie von Suchterkrankungen
und Klinik von substanzgebundenen Hierbei konnten zwischen Patienten mit bei ADHS
Suchterkrankungen bei der ADHS im einer ADHS und Kontrollpersonen keine
Erwachsenenalter und zur pharma- signifikanten Unterschiede hinsichtlich Genetik
kologischen Behandlungsoption mit der Präferenz für einzelne Suchtmittel ge-
MPH dar. funden werden (Cannabis 67% vs. 72%, In allen bisher durchgeführten Zwil-
Kokain 23% vs. 21%, Stimulanzien 18% vs. lingsuntersuchungen fand sich bei mo-
Prävalenz und klinische 10%, Sedativa 14% vs. 10%), wobei ADHS- nozygoten Zwillingen in 60–90% eine
Charakteristika von Patienten tendenziell mehr Opioide (16% ADHS bei beiden Geschwistern (Über-
Suchterkrankungen bei ADHS vs. 3%) und Halluzinogene (18% vs. 7%) blick: [69]) mit einem gemittelten Wert
konsumierten und Cannabis in beiden Po- der Erblichkeit von 76% [19]. Damit ge-
Die ADHS ist durch Aufmerksamkeits- pulationen die am häufigsten konsumierte hört die ADHS zu den psychiatrischen
störungen, Hyperaktivität und impul- Substanz darstellte [9, 60]. Die Prävalenz Erkrankungen mit der höchsten Herita-
sives Verhalten gekennzeichnet und eine einer Nikotinabhängigkeit ist mit 40% bei bilität, wobei von einer komplexen Verer-
häufige, im Kindesalter beginnende Er- Erwachsenen mit ADHS allerdings we- bung mit dem Zusammenspiel vieler Ge-
krankung, die sich entsprechend der Er- sentlich höher als in einer Kontrollgrup- ne mit relativ geringem Effekt und Penet-
gebnisse von Verlaufsuntersuchungen bei pe (19%) [33]. In Untersuchungen an kli- ranz und Umwelteinflüssen ausgegangen
bis zu 60% der Betroffenen ins Erwachse- nischen Kollektiven von Suchtkranken wird. In mehreren Kopplungs-, Fall-Kon-
nenalter fortsetzt [8, 51, 79]. Aktuelle epi- fand sich in bis zu 25% der Patienten eine troll- oder Familienstudien fanden sich
demiologische Untersuchungen ergeben komorbide ADHS [18, 81]. Verschiedene Hinweise auf eine ätiologische Bedeutung
Prävalenzraten für das Erwachsenenal- Untersuchungen weisen darauf hin, dass bestimmter Polymorphismen des Dopa-
ter von ca. 4% weltweit [21, 27]. Eine ho- die ADHS den Verlauf der Suchterkran- mintransporters (VNTR, 10-Repeat), Do-
he Lebenszeitprävalenz weiterer psychia- kung moduliert und mit früherem Erster- pamin-D4-Rezeptors (Exon III, VTNR,
trischer Erkrankungen in bis zu 90% bei krankungsalter, rascherer Progression von 7-Repeat), Dopamin-D5-Rezeptors (CA-
Substanzmissbrauch zu -abhängigkeit so- Repeat, 148 bp), Dopamin-β-Hydroxyla-
lich – bediente man sich zur Operationa- Normalisierung der Aktivität dopaminer- keine der Untersuchungen an Patienten
lisierung des Suchtpotenzials klassischer ger Neurone, während gesunde Ratten ei- mit ADHS durchgeführt. In den Studien
Paradigmen wie der Eigenverabreichung ne Zunahme der dopaminergen Neuro- an Kindern mit einer ADHS waren kei-
und der Stimulusdiskrimination. Bei der transmission im ventralen Tegmentum ne derartigen subjektiven Effekte zu be-
Eigenverabreichung konnten sich Ver- zeigten. Diesem Vorgang kommt bei der obachten. In einer späteren Arbeit ka-
suchstiere über einen Katheter – in 10 von Sensitivierung gegenüber Suchtmitteln ei- men Kollins et al. [31] unter Berücksich-
11 Studien intravenös und in einer Studie ne Schlüsselbedeutung zu. Unter Sensiti- tigung der pharmakokinetischen Eigen-
intraperitoneal – selbst MPH applizieren. vierung wird eine Steigerung der Anreiz- schaften von MPH zu dem Ergebnis, dass
Dabei zeigte sich über alle Studien hin- qualität einer Substanz bei wiederholtem im klinischen Setting, d. h. bei Vorliegen
weg eine gesteigerte Selbstverabreichung, Konsum und eine damit verbundene Zu- einer ADHS und oraler Applikation, kei-
die dosisabhängig war. In 6 Studien wurde nahme der Verstärkerintensität verstan- ne Hinweise für ein Missbrauchspotenzi-
parallel Kokain getestet. Dabei erwiesen den, woraus ein zunehmendes Verlangen al von MPH zu finden sind.
sich die Applikationskurven von MPH („Craving“) nach weiterem Substanzkon- Eine Metaanalyse einer retrospektiven
und Kokain als nahezu identisch. Bei der sum resultiert. und 5 prospektiver Studien, die den Zu-
sog. Stimulusdiskrimination wurden Ver- sammenhang einer MPH-Behandlung
suchstiere für eine Substanz (z. B. Koka- Klinische Ergebnisse zum im Kindesalter und einer späteren Such-
in) trainiert und es wurde daraufhin un- Missbrauchspotenzial von MPH terkrankung im Jugendalter im Vergleich
tersucht, ob sie diese von Methylphenidat zu einer im Kindesalter unbehandel-
unterscheiden können. Bei 15 von 17 der In der bereits erwähnten Übersichtsarbeit ten ADHS-Kontrollgruppe untersuchte,
analysierten Studien zur Stimulusdiskri- werteten Kollins et al. [30] auch 32 kli- zeigte ein 1,9fach erhöhtes Risiko für ei-
mination fanden Kollins et al. hohe Über- nische Studien zum Missbrauchspotenzial ne Suchterkrankung in der unbehandel-
einstimmungen im Stimulusdiskriminati- von MPH aus. Ähnlich wie bei den tierex- ten im Vergleich zur behandelten Grup-
onstest für MPH, Kokain und Ampheta- perimentellen Studien wurden Substanz- pe. Die Studien, bei denen der Nachun-
min, was auf eine ähnliche Wirkung bzw. selbstverabreichung, Substanzdiskrimi- tersuchungszeitraum im Jugendalter lag,
ein ähnliches Suchtpotenzial deutet. Bei nation und das Auftreten von subjektiven zeigten stärkere protektive Effekte als die
der Interpretation dieser Ergebnisse ist al- Effekten von MPH wie Euphorie- („high“) Studien, bei denen die Nachuntersuchung
lerdings zu berücksichtigen, dass MPH 1.) oder Aktivierungsgefühle („stimulated“) im jungen Erwachsenenalter lag [82].
nur parenteral, 2.) in sehr hohen und weit für die Auswertung herangezogen. Bei der In der sog. Multimodal Treatment Stu-
über den beim Menschen üblichen thera- Interpretation dieser Resultate ist zu be- dy of Children with ADHD (MTA-Studie)
peutischen Dosierungen liegenden Men- rücksichtigen, dass es sich bei den ausge- in den USA [70, 71] wurden 579 Kinder
gen verabreicht wurde und 3.) die suchter- werteten Studien überwiegend um Stu- mit einer ADHS über 14 Monaten pro-
zeugenden Effekte bei gesunden Tieren dien bei Personen ohne ADHS handelte; spektiv untersucht. Die Kinder waren
nachzuweisen waren. Bei der Übertra- nur insgesamt 4 dieser Studien wurden 4 Therapiearmen zugeordnet: Therapie
gung der tierexperimentellen Befunde an Patienten mit einer ADHS durchge- mit MPH, Verhaltenstherapie, Kombina-
auf den Menschen gibt es außerdem auch führt. Bei 22 von 32 Studien wurde MPH tion aus MPH-Behandlung und Verhal-
gewisse Einschränkungen; so ist beispiels- oral verabreicht. Keine dieser Studien war tenstherapie und schließlich hausärztliche
weise die Halbwertszeit von MPH bei Rat- randomisiert und doppelblind placebo- Grundversorgung (z. T. auch mit Medika-
ten kürzer als beim Menschen [32, 76]. kontrolliert. tion, jedoch ohne regelmäßige Kontrolle).
Weitere tierexperimentelle Untersu- Die Ergebnisse der klinischen Studien Die Kinder wurden nach 24 und 36 Mo-
chungen bei Ratten lieferten widersprüch- sind im Vergleich zu den präklinischen naten nachuntersucht. Ein protektiver Ef-
liche Ergebnisse: Während Brandon und Daten heterogener. Nur zwei der 4 Studi- fekt einer MPH-Behandlung auf den spä-
Mitarbeiter [10] bei Ratten nach MPH- en zur Substanzselbstverabreichung erga- teren Substanzkonsum konnte in den
Behandlung eine erhöhte Neigung zu Ko- ben Hinweise für ein Missbrauchspoten- Nachuntersuchungen nicht eindeutig re-
kainkonsum fanden, lieferten Studien im zial von MPH. Dieses den Tierexperi- pliziert werden. So gaben nach 24 Mona-
gleichen experimentellen Design Ergeb- menten widersprechende Ergebnis wurde ten 11,7% aller MTA-Kinder im Vergleich
nisse, die gegen eine suchterzeugende auf die unterschiedlichen Applikations- zu 5,6% der Kinder einer Kontrollgruppe
Wirkung von Methylphenidat sprechen wege zurückgeführt. Andererseits zeigten Substanzkonsum an. Auch nach 36 Mona-
[3, 12, 38]. In einem alternativen Unter- alle 3 Studien zu Substanzdiskriminati- ten fand sich bei den zu diesem Zeitpunkt
suchungsdesign behandelten Shen und onseffekten, dass MPH Dextroampheta- 11- bis 13-jährigen Kinder der MTA-Studie
Choong [62] Ratten, die pränatal Etha- min und Kokain voll ersetzen konnte. In ein im Vergleich zur Kontrollgruppe häu-
nol ausgesetzt wurden, mit MPH. Hierbei 18 von 25 Studien zu subjektiven Effek- figerer Substanzkonsum (17,4% vs. 7,8%).
führt eine pränatale Ethanolexposition zu ten von MPH wurden Effekte wie „high“ Kinder, die während der ersten 14 Monate
einer reduzierten Aktivität dopaminerger oder Craving nachgewiesen. In 8 dieser der MTA-Studie ausschließlich eine medi-
Neurone und gilt als ein Tiermodell für 18 Studien wurde MPH allerdings intra- kamentöse Behandlung mit MPH erhiel-
die ADHS. Bei den ethanolexponierten venös appliziert, 3 von 18 Studien wurden ten, wiesen hierbei der Routinegrundver-
Ratten kam es nach MPH-Gabe zu einer an Patienten mit Kokainmissbrauch und sorgung („community care“) vergleich-
bare Prävalenzraten von Substanzkonsum ergab eine Zunahme des Stimulanzien- kokainabhängigen Patienten mit ADHS
auf (21,9% bzw. 19%), während Kinder, die missbrauchs unter Studenten von 6,2% eine signifikante Reduktion der ADHS-
eine intensive Verhaltenstherapie bzw. ei- auf 9,9% zwischen 1990 und 1993, wo- Symptomatik gegenüber Placebo bei al-
ne Kombinationsbehandlung aus Verhal- bei der MPH-Missbrauch mit 1% kons- lerdings unverändertem Kokainkonsum
tenstherapie und MPH-Behandlung er- tant blieb [29]. In der Studie von Arria et und Kokain-Craving – andererseits auch
halten hatten, im Nachuntersuchungs- al. [4] gaben 18% der 1208 befragten Stu- keine Verschlechterung des Kokainkon-
zeitraum die geringsten Prävalenzraten denten ohne eine ADHS an der Univer- sumverhaltens. Dahingegen berichten
von Substanzkonsum aufwiesen (13% bzw. sität von Maryland Erfahrungen mit der Levin et al. [35] in einer 14-wöchigen pla-
16%) [47]. Sicherlich ist aber anhand der nichtindizierten Einnahme von Stimu- cebokontrollierten Studie an 106 kokain-
vorhandenen Daten eindeutig die Schluss- lanzien an; zusätzlich bestand eine posi- abhängigen Patienten über eine klinische
folgerung gerechtfertigt, dass eine MPH- tive Assoziation zu Alkohol- bzw. Can- Verbesserung der ADHS-Symptomatik in
Behandlung einer ADHS im Kindesalter nabiskonsummustern. Aus diesen Studi- sowohl der Verum- als auch der Placebo-
nicht die Entwicklung einer Suchterkran- endaten ist nicht auf ein prinzipiell hohes gruppe – beide Gruppen erhielten paral-
kung im Jugendalter begünstigt. Suchtpotenzial von ADHS-Medikamen- lel wöchentlich kognitive Verhaltensthe-
Zwei weitere aktuell publizierte, pro- ten bei Nichterkrankten zu schließen, sie rapie – und über eine signifikante Reduk-
spektiv und kontrolliert durchgeführ- legen jedoch nahe, dass Stimulanzien von tion des Kokainkonsums unter MPH-Be-
te Studien konnten dagegen weder einen Personen mit Drogenerfahrung miss- handlung im Vergleich zu Placebo. In ei-
positiven, noch einen negativen Einfluss bräuchlich verwendet werden. ner weiteren placebokontrollierten 12-
einer Medikation von Kindern mit einer wöchigen Behandlungsstudie an 98 me-
ADHS auf die Entstehung einer Suchter- Medikation suchtkranker thadonsubstituierten Patienten wurde
krankung im Erwachsenenalter belegen. Patienten mit MPH der Einfluss von MPH auf ADHS-Symp-
In der Studie von Mannuzza et al. [39] tomatik und Kokainbeikonsum unter-
wurden 176 Jungen mit einer ADHS im Da bei den meisten pharmakologischen sucht, wobei keine klare Überlegenheit
Alter zwischen 6 und 12 Jahren mit MPH Behandlungsstudien komorbide Suchter- von MPH gegenüber Placebo bezüglich
behandelt und in der Spätadoleszenz bzw. krankungen ein Ausschlusskriterium dar- der Reduktion der ADHS-Symptomatik
im frühen Erwachsenenalter (18,4 und stellen, ist die Datenlage zur MPH-Be- belegt werden konnte, andererseits in der
25,3 Jahre im Durchschnitt) geblindet handlung von erwachsenen Patienten mit MPH-Gruppe auch kein Missbrauch des
nachuntersucht und mit einer Kontroll- einer ADHS und Suchterkrankungen li- Medikaments oder Exazerbation der Ko-
gruppe ohne ADHS verglichen. Hierbei mitiert. Erste Einzelfallberichte deuteten kainsucht auftrat [36]. In einer placebo-
fand sich ein Zusammenhang zwischen aber darauf hin, dass eine MPH-Behand- kontrollierten Studie im Cross-over-De-
spätem Alter bei Behandlungsbeginn und lung von Erwachsenen mit einer ADHS sign über 8 Wochen mit 0,6 mg MPH/kg
Auftreten einer Suchterkrankung, die al- Substanzkonsum und Craving reduziert Körpergewicht [13] an 25 drogenabhän-
lerdings durch das gleichzeitige Vorhan- bzw. die Abstinenz stabilisiert. In einer of- gigen Patienten reduzierte die MPH-Be-
densein einer antisozialen Persönlich- fenen Studie an 12 kokainabhängigen Pati- handlung die ADHS-Symptomatik und
keitsstörung erklärt wurde. Die Studie von enten, die 12 Wochen lang mit 40–80 mg den Substanzkonsum zwar klinisch rele-
Biederman et al. [7] umfasste einen Beob- MPH behandelt wurden, zeigte sich eine vant, aber statistisch nicht signifikant. In
achtungszeitraum von 10 Jahren mit 112 deutliche Verringerung der ADHS-Symp einer randomisierten, placebokontrol-
ursprünglich 6- bis 17-jährigen Kindern tomatik sowie des Suchtmittelkonsums lierten 6-wöchigen Studie an 146 erwach-
mit einer ADHS, wobei nur eine Gruppe [37]. In einer offenen Studie von Somoza senen Patienten die mit 1,1 mg MPH/kg
davon mit Stimulanzien behandelt wor- et al. [65] an 41 Erwachsenen mit einer Körpergewicht eine höhere MPH-Do-
den war. In dieser Untersuchung fand ADHS und komorbider Kokainabhän- sis erhielten, zeigte sich eine signifikante
sich kein signifikanter Zusammenhang gigkeit zeigte sich unter 10-wöchiger Be- Überlegenheit der MPH-Behandlung bez.
zwischen einer Stimulanzienbehandlung handlung mit MPH sowohl eine Redukti- der Verbesserung der ADHS-Symptoma-
und einer späteren Suchterkrankung. on der ADHS-Symptomatik als auch des tik gegenüber Placebo. Komorbide Stö-
In einer Stellungnahme hat die Bundes Kokainkonsums. Schubiner et al. berich- rungen – u. a. auch Suchterkrankungen
ärztekammer [11] die geringe Bedeutung teten [59] über eine langfristige Abstinenz – hatten keinen signifikanten Einfluss auf
von MPH in der Drogenszene und die le- von 3 alkohol- und drogenabhängigen Pa- das Behandlungs-Outcome [66].
diglich sporadisch berichteten Fälle von tienten über 2 bis 3 Jahre unter MPH-Be- Insofern ist die Studienlage bez. ei-
MPH-Missbrauch im Verhältnis zu der handlung. ner Reduktion der ADHS-Symptoma-
mehr als 40 Jahre andauernden Verord- Aktuellere placebokontrollierte Studi- tik durch eine MPH-Behandlung und
nung hervorgehoben. Uneinigkeit be- en, in denen erwachsene Patienten mit des Einflusses auf eine komorbide Sucht
steht jedoch darüber, welchen Anteil die ADHS und komorbider Suchterkran- erkrankung derzeit uneinheitlich, wobei
missbräuchliche Verwendung des Medi- kung mit MPH behandelt wurden, er- sich in keiner Studie Hinweise auf schwer-
kaments an der verordneten Gesamtmen- bringen weniger einheitliche Ergebnisse. wiegende Nebenwirkungen unter Medi-
ge darstellt. Eine an der Universität von Schubiner et al. [58] beschreiben unter ei- kation mit MPH, noch auf MPH-Miss-
Michigan durchgeführte Untersuchung ner 12-wöchigen MPH-Therapie bei 48 brauch oder eine Exazerbation der beste-
henden Suchterkrankung finden. Auch in der 1. Wahl eingesetzt werden. Patienten Fazit für die Praxis
der klinischen Praxis berichten Patienten mit ADHS und komorbider Abhängigkeit
mit ADHS und Drogenmissbrauch häu- sind der „High-risk-Gruppe“ zuzuord- Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von
fig, dass der Drogenkonsum keine eu- nen. Es besteht Konsens darüber, dass vor MPH im Einsatz bei einer ADHS und ko-
phorisierenden Effekte bewirkt hätte und einer Medikation mit MPH erst eine Ent- morbider Suchterkrankung kann aktu-
dass sie sich klar und geordnet unter MPH giftung erfolgen und die Abstinenz regel- ell nicht abschließend geklärt werden.
fühlen. mäßig kontrolliert bzw. bei schwerer Aus- MPH zeigt im Vergleich zu anderen The-
Im klinischen Alltag wird derzeit bei prägung der Suchtsymptomatik neben ei- rapieoptionen mit Abstand die beste
Patienten mit ADHS und komorbider ner erfolgreichen Entgiftung ggf. auch ei- Wirkung auf die Zielsymptome. Bei ex-
Suchterkrankung MPH sehr zurückhal- ne Entwöhnungsbehandlung durchge- akter Diagnostik und kontrollierter The-
tend eingesetzt; dies ist neben der inkon- führt werden sollte. Derzeit wird nach Ex- rapie der komorbiden Suchterkrankung
sistenten Datenlage auch durch die derzeit pertenkonsensus weiterhin davon ausge- scheint kein zusätzliches Suchtpotenzi-
in Deutschland im Gegensatz zu anderen gangen, dass nach einem Monat stabiler al von einer sachgerechten Behandlung
Ländern, z. B. den USA, noch notwen- Abstinenz das Vorliegen einer ADHS- (retardiert, oral) mit MPH auszugehen.
dige Off-Label-Verordnung von MPH bei Symptomatik reliabel eingeschätzt wer- Insofern ist unserer Ansicht nach eine Be-
Erwachsenen mit ADHS begründet. Für den kann. Bei Patienten mit diesen Cha- handlung mit MPH unter der Vorausset-
den klinischen Umgang schlagen Wolf et rakteristika und relevanter Beeinträchti- zung einer erfolgreichen Entgiftung und
al. [84] vor, die Behandlung mit MPH bei gung durch ADHS sind erst Therapiever- ggf. Entwöhnung, Abstinenz und regel-
Suchterkrankten erst dann zu beginnen, suche mit Medikamenten aus der Nicht- mäßigen Nachsorge auch als Mittel der
wenn zwei Medikamente der 1. Wahl, z. B. stimulanziengruppe (z. B. Atomoxetin 1. Wahl zur Therapie der ADHS bei ko-
trizyklische Antidepressiva, MAO-Hem- oder Bupropion) durchzuführen. Atom- morbider Suchterkrankung zu diskutie-
mer und/oder selektiv noradrenerge An- oxetin wurde bei Erwachsenen mit ADHS ren. Verhaltenstherapeutische Ansätze
tidepressiva erfolglos geblieben sind. Von bereits mit Erfolg eingesetzt [1, 45, 46]. ergänzen dabei die Pharmakotherapie.
verschiedenen anderen Autoren wird da- Bei allen beschriebenen Patientengrup-
hingegen ein risikoadaptierter Behand- pen sollte unretardiertes MPH aufgrund Korrespondenzadresse
lungsansatz unter Beurteilung der Sucht- der Gefahr der missbräuchlichen Verwen- Dr. G. Paslakis
gefährdung vor Behandlungsbeginn emp- dung nicht verordnet werden. Klinik für Abhängiges Ver-
fohlen [42, 72]. Grundsätzlich sind für die Entschei- halten und Suchtmedizin,
Zentralinstitut für Seelische
So sind Patienten mit jahrelanger Abs- dung einer Medikation mit MPH immer Gesundheit Mannheim,
tinenz von Suchtmitteln hinsichtlich ihrer die Qualität der Arzt-Patient-Beziehung Universität Heidelberg
Suchtgefährdung einer „Low-risk-Popu- und die Stabilität des Abstinenzwunsches J5, 68159 Mannheim
lation“ zuzuordnen und bei dieser Zuord- des Patienten von großer Bedeutung. Wei- Georgios.Paslakis@
nung MPH als Medikament der 1. Wahl terhin ist von Relevanz, welche Substanz zi-mannheim.de
zur Behandlung einer ADHS einzuset- konsumiert wurde. Mit Zurückhaltung
Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor
zen. Dabei wird dringend empfohlen, Re- sollte MPH polytoxikomanen Patienten weist auf folgende Beziehungen hin: Esther Sobanski:
tardpräparate zu verwenden, um das Risi- mit parenteralem Drogenkonsum, Pati- Advisory Boards: Janssen Cilag, Eli Lilly, Referententä-
tigkeit für Medice, Janssen Cilag, Eli Lilly, Novartis. Bar-
ko eines Missbrauchs zu minimieren, und enten, die in der Vorgeschichte mit Dro-
bara Alm: Advisory Board: Eli Lilly, Referententätigkeit
ein regelmäßiges Monitoring der Behand- gen gedealt haben oder Patienten mit dis- für Eli Lilly, Novartis, Wyeth. Alle weiteren Autoren be-
lungs-Adherence sowie eine eingehende sozialen Persönlichkeitsstörungen verord- stätigen: Es besteht kein Interessenkonflikt.
Beratung und Information der Patienten net werden. Problematisch kann die Tat-
durchzuführen. Patienten mit aktuellem sache sein, dass substanzabhängige Pati- Literatur
Substanzmissbrauch sind der Gruppe enten oft höhere Dosen ihrer ADHS-Me-
mittleren Risikos („moderate risk“) zuzu- dikation benötigen. Eine komorbid vorlie- 1. Adler LA, Spencer T, Brown TE et al (2009) Once-
daily atomoxetine for adult attention-deficit/hy-
ordnen. Entsprechend kann auch bei die- gende ADHS sollte in jedem Fall in den peractivity disorder: a 6-month, double-blind trial.
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eines hochfrequenten und eng überwach- krankung einbezogen und spezifisch be- 2. Albayrak O, Friedel S, Schimmelmann BG et al
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ten Monitorings mit regelmäßigen Dro- handelt werden [41], da eine zeitnahe Be- activity disorder. J Neural Transm 115:305–315
genscreenings, sorgfältiger Dokumenta- handlung der ADHS nach einer Entgif- 3. Andersen SL, Arvanitogiannis A, Pliakas AM et al
tion der ausgestellten MPH-Rezepte und tung auch die Prognose der Suchterkran- (2002) Altered responsiveness to cocaine in rats
exposed to methylphenidate during development.
unter Verwendung von Retardpräparaten kung entscheidend bessern kann [83]. Die Nat Neurosci 5:13–14
sowie der regelmäßigen Überprüfung auf konsequente Inanspruchnahme von Psy- 4. Arria AM, Caldeira KM, O’Grady KE et al (2008)
Hinweise eines möglichen MPH-Miss- chotherapie (Verhaltenstherapie) ist ne- Nonmedical use of prescription stimulants among
college students: associations with attention-defi-
brauchs (mehrfach verlorene Rezepte, ben den medikamentösen Interventionen cit-hyperactivity disorder and polydrug use. Phar-
Veränderung von Stimmung und An- unabdingbarer Bestandteil einer Behand- macotherapy 28:156–169
trieb, Psychosezeichen oder Zeichen ei- lung von allen Patienten mit ADHS und
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288 | Der Nervenarzt 3 · 2010