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Venezuela
Aktuelle Lage
Stand: 9/2019
Länderanalysen
Länderreport Venezuela
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Abstrakt
Venezuela befindet sich in einer tiefen wirtschaftlichen, politischen, sicherheitspolitischen und gesellschaftli-
chen Krise. Zusätzlich zu der bereits seit Jahren andauernden Wirtschaftskrise verschärften sich die staatlichen
Repressionen gegen Oppositionelle spätestens seit der Präsidentschaftswahl 2018. Der politische Machtkampf
entspannt sich zwischen der Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas (PSUV) und dem breit aufgestellten Op-
positionsbündnis Mesa de la Unidad Democratica (MUD), die beide unterschiedliche Teile des venezolanischen
Staatsaufbaus dominieren. Die aktuelle Situation ist zudem geprägt von weitergehenden Engpässen, Massen-
protesten, zunehmender Kriminalität sowie einer sich verstärkenden Emigration.
Die nachfolgenden Kapitel beschreiben die verschiedenen Konfliktherde in Venezuela, ihre Hintergründe sowie
die maßgeblich beteiligten Akteure. Es handelt sich um eine umfassende Ausarbeitung, die neben der politi-
schen und wirtschaftlichen Lage auch die davon untrennbaren Sektoren, wie die Infrastruktur des Landes, die
Lebensmittelversorgung der Bevölkerung oder das Sozialversicherungssystem in den Blick nimmt.
Länderreport Venezuela
Inhaltsverzeichnis
1. Hintergründe zum Konflikt .............................................................................. 1
2. Aktuelle Lage ....................................................................................................... 3
3. Maßgebliche Akteure/Institutionen............................................................... 3
3.1. Der Präsident ........................................................................................... 4
3.2. Die Asamblea Nacional ............................................................................ 4
3.3. Die verfassungsgebende Versammlung ................................................... 5
3.4. Der Oberste Gerichtshof .......................................................................... 5
5. Versorgungsnetze/Infrastruktur ..................................................................... 8
6. Landwirtschaft/Lebensmittelversorgung ...................................................... 9
7. Soziale Sicherungssysteme ............................................................................. 10
10. Fazit.....................................................................................................................15
Länderreport Venezuela 1
Seit 1999 wird das Präsidentenamt von einem Anhänger der sogenannten „bolivarischen Revolution“ gehalten.
Bis 2013 war das zunächst Hugo Chávez und nach dessen Tod 2013 bekleidete Nicolás Maduro dieses Amt
(beide seit der Zusammenführung verschiedener linker Parteien 2006 Partido Socialista Unida de Venezuela,
PSUV). Unterbrochen wurde diese Phase nur für einen Tag, nämlich beim Versuch eines durch die USA und
Spanien unterstützten Putsches im Jahr 2002.
Die Geschichte dieser Präsidentschaften ist einerseits von zunehmender politischer Repression gegenüber den
Angehörigen der Opposition, andererseits von einem zunächst erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung ge-
prägt. Dieser leitete sich aus hohen Weltmarktpreisen für Rohöl her, die zeitweilig 98% der Exporteinnahmen
6
ausmachten. Gestützt auf diese wurde eine an eine Rentenökonomie erinnernde Wirtschaftspolitik durchge-
führt, in der Investitionen in Infrastruktur und Wirtschaft zugunsten von ausgedehnten neuen Sozialleistungen
und eines parallelen Systems der Gesundheitsversorgung, den „Bolivarischen Missionen“, gering gewichtet
wurden, was zunächst die allgemeine Lebensqualität steigen ließ. So reduzierte sich der Anteil der relativ Ar-
men an der Bevölkerung von über 40% auf etwa 20%. Es gab also sicht- und spürbare ökonomische Vorteile für
große Teile der armen Bevölkerung, aus der sich auch die Unterstützerbasis für die Präsidentschaft von Hugo
Chávez ergab. Es wurde in erheblichem Maße auf Import, aber nicht auf wirtschaftliche Diversifikation gesetzt.
Auch Modernisierungen der Ölförderanlagen unterblieben weitgehend. Bereits früh begannen die Chavisten
damit, Betriebe zu verstaatlichen und ihre Leitung an Chavisten zu übergeben.
Parallel zu den wirtschaftlich vordergründigen Erfolgen kam es zunehmend zu Einschränkungen der Meinungs-
und Pressefreiheit, v.a. durch propagandistisches Vorgehen gegen unabhängige Medien, Repressionen und die
stückchenweise Verstaatlichung der meisten regierungskritischen Medien. Diese geschahen jedoch nach und
nach über die 2000er Jahre und haben die kritischen Medienstimmen auch nie vollständig ausgeschaltet, son-
dern arbeiteten eher mit einer Kulisse der permanenten Drohung, die von vornherein zur Selbstzensur vieler
Journalisten führte. Bis heute gibt es mit der Tageszeitung El Nacional ein Sprachrohr der Opposition.
Die außenpolitische Orientierung wurde in ihrem stark antiamerikanischen Grundton deutlich davon bestärkt,
dass es im April 2002 in Folge des Austauschs eines Großteils der Führungsriege des staatlichen venezolani-
1
WKO: Länderprofil Venezuela, Stand: Juli 2019, https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-venezuela.pdf; International Monetary Fund:
República Bolivariana de Venezuela: Country Data, Stand: April 2019, https://www.imf.org/en/Countries/VEN#countrydata, abgerufen am
19.09.19
2
Tremaria, Stiven; Caracas, Violent: Understanding Violence and Homicide in Contemporary Venezuela. In: International Journal of Conflict
and Violence, Vol 10 (2016), S. 62-75, http://www.smallarmssurvey.org/fileadmin/docs/U-Reports/SAS-Report-GVD2017.pdf, abgerufen
am 26.08.19.
3
Mújica, Jesús Manuel Ares: The dramatic increase of violent crime in Venezuela since 1999: The Relationship between homicide and the
country’s new role in drug trafficking, Barcelona 2015, http://www.ibei.org/ibei_studentpaper23_71976.pdf, abgerufen am 26.08.19
4
Runrun.es (18.02.2018): Muere joven que había sido herido en las protestas de 2017 en Ejido, http://runrun.es/nacional/339024/muere-
joven-que-habia-sido-herido-en-las-protestas-de-2017-en-ejido/, abgerufen am 19.09.19
5
Amnesty International (20.09.2018): Venezuela: Authorities must stop criminalizing and killing young people living in poverty,
https://www.amnesty.org/en/latest/news/2018/09/venezuela-authorities-must-stop-criminalizing-and-killing-young-people-living-in-
poverty/, abgerufen am 19.09.19
6
OPEC: Annual Statistical Bulletin 2019: Venezuela facts and figures, https://www.opec.org/opec_web/en/about_us/171.htm, abgerufen
am 19.09.19
Länderreport Venezuela 2
schen Erdölkonzerns PDVSA zu einem Putschversuch kam, der nach Auffassung der meisten Beobachter und
ausweislich diverser Indizien durch die USA unterstützt wurde. Chávez wurde allerdings von einer breiten
Mehrheit der Bevölkerung getragen und die Putschisten nach kurzer Zeit festgesetzt. Spanien hat seine Beteili-
7
gung an dem Putschversuch 2004 offiziell zugegeben. Die starke antiamerikanische Rhetorik und das Narrativ
des gegen Venezuela geführten Wirtschaftskrieges, das von Anhängerinnen und Anhängern Maduros gepflegt
wird, müssen in diesem Kontext betrachtet werden und fallen aufgrund der historischen Erfahrung vieler süd-
amerikanischer Länder mit Interventionen der USA, v.a. gegen linksgerichtete Regierungen, auf fruchtbaren
Boden. Im Rahmen der sich anschließend verschärfenden Spannungen zwischen Chávisten und Opposition
begann eine Säuberungswelle in der öffentlichen Verwaltung sowie vielen Staatsbetrieben. Ton und Schärfe
der Auseinandersetzung nahmen beständig zu. Zudem wandte sich Venezuela verstärkt anderen außenpoliti-
schen Partnern zu, insbesondere Kuba, China und Russland sowie in geringerem Maße Iran. Gerade mit Kuba
wurde eine intensive Kooperation vereinbart, die die Lieferung von Öl gegen die Entsendung von Ärztinnen und
Ärzten sowie Militärberaterinnen und -beratern zum Gegenstand hatte. Mit Russland wurden in hohem Maße
Rüstungsgeschäfte abgeschlossen.
Seit der Wirtschaftskrise 2009 änderten sich jedoch die Vorzeichen erheblich, als der mit der Krise einherge-
hende Ölpreisschock erstmals das venezolanische Modell in Frage stellte. Die zunehmende Verstaatlichung
profitabler Betriebe erhöhte weiter die Abhängigkeit von Importen, während sie die Notwendigkeit der Devi-
senbeschaffung verstärkte. Demgegenüber stand - anstelle einer Diversifizierung der Wirtschaft - eine Mono-
strukturierung, da zunehmend die Ölproduktion zum fast einzigen Exportgut wurde und der Bedarf an Kon-
sumgütern nicht durch einheimische Produktion und Handel unabhängig vom Öl gedeckt werden konnte. An-
ders als oftmals dargestellt, beginnen wesentliche Wirtschaftsindikatoren bereits ab etwa 2009, auf die sich
abzeichnende Krise, die ab 2014 eskalierte, hinzudeuten. So kehrte sich etwa ab diesem Jahr der jahrzehnte-
lange Trend zum Absinken der Kindersterblichkeit um.
Im Jahr 2013 starb Hugo Chávez, Nachfolger wurde Nícolas Maduro. Es wurde bereits damals gemutmaßt, dass
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bei der Auswahl des neuen Präsidenten Kuba ein maßgebliches Wort mitzureden hatte. Maduro galt innerhalb
der Regierung Chávez bereits als stark ideologisch im Sinne des kubanischen Regimes orientierter Politiker.
In der Folge sorgte das Absinken der Fördermenge zusammen mit dem erneuten Abfall der Rohölpreise im Jahr
2014 dafür, dass die Basis der Ökonomie Venezuelas noch stärker getroffen wurde. Da in den Jahren zuvor
durch hohe Exportgewinne die Landeswährung stark aufgewertet und Importe in diversen Bereichen billiger
geworden waren als einheimische Produkte, schlossen viele venezolanische Firmen schon vor der Krise. Ver-
stärkt wurde dieser Effekt beträchtlich durch die bereits erwähnten Verstaatlichungen und folgendes staatli-
ches Missmanagement.
Die wirtschaftliche Krise verstärkte die parallel stattfindende politische Krise. In den nicht umstrittenen Wahlen
vom Dezember 2015 hatte die Opposition eine deutliche Mehrheit in der Nationalversammlung gewonnen. In
Reaktion darauf wurde der Staatsumbau in Richtung einer auf Maduro hin ausgerichteten autoritären Regie-
rung mit deutlicher Schwächung, teilweise Aufhebung der Gewaltenteilung, energisch vorangetrieben. Durch
Druck und Urteile des präsidententreu besetzten Obersten Gerichtshofes wurde zunächst eine Zweidrittel-
mehrheit für die Opposition verhindert. Verschiedene Maßnahmen zur Bekämpfung der ökonomischen Krise
verstärkten diese noch weiter. Diese Gemengelage führte ab Februar 2016 zu Massenprotesten. Nachdem im
März 2017 der Oberste Gerichtshof die Immunität oppositioneller Parlamentsmitglieder aufgehoben hatte,
entwickelte sich die angespannte Lage zur Verfassungskrise. Am 14. April 2017 kam es zu den bisher größten
Massenprotesten, bei denen allein in Caracas von mehreren Hunderttausend Teilnehmenden ausgegangen
werden konnte. Im Laufe der Proteste kam es zu mehreren Toten. Nachdem Präsident Maduro am 1. Mai 2017
eine neue verfassungsgebende Versammlung ankündigte, deren Mitglieder aus kommunalen Gremien und
damit de facto von Seiten der Sozialistischen Einheitspartei ausgesucht werden sollten, gab dies den Protesten
erheblichen Aufschwung und sorgte für eine deutliche Eskalation. Sicherheitskräfte und paramilitärische Colec-
7
Egurbide, Peru: Moratinos reitera que Aznar legitimó el golpe de Estado en Venezuela y pide perdón "por las formas". In: El Pais Online
vom 02.12.2004, https://elpais.com/diario/2004/12/02/espana/1101942001_850215.html, abgerufen am 19.09.19.
8
Moisés, Naim: Cuba fed a president’s fears and took over Venezuela. In: Financial Times Online vom 15.04.2014,
https://www.ft.com/content/b7141b78-c497-11e3-b2fb-00144feabdc0, abgerufen am 19.09.19
Länderreport Venezuela 3
tivos (s.u.) gingen verstärkt mit Gewalt gegen die Protestierenden vor. Unter letzteren bildeten sich ebenfalls
militante Gruppen, die mit Steinwürfen und Setzschilden gegen die Sicherheitskräfte vorgingen. Straßen-
schlachten waren die Folge. Ende Mai eskalierten die Proteste in Barinas, dem Heimatort von Hugo Chávez,
soweit, dass sein Geburtshaus niedergebrannt und mehrere Statuen gestürzt wurden. Es gab mehrere Tote und
hunderte Verletzte. Nachdem allerdings im Juli die neue verfassungsgebende Versammlung bestimmt und auch
die Kommunalwahlen im Oktober zugunsten von Maduro ausgegangen waren, erlahmte die Protestbewegung.
Im gleichen Maße wie der wirtschaftliche Abstieg und der politische Umbau des Staates voranschritten, ver-
stärkte sich der Exodus großer Teile der venezolanischen Bevölkerung. Diese Tendenzen setzen sich 2018 deut-
lich fort: Seit Anfang des Jahres war eine deutlich erhöhte Rate an Desertionen aus den Sicherheitskräften
sowie an Verhaftungen von Angehörigen der Sicherheits- und Streitkräfte zu beobachten. Ebenso haben die
sogenannten OLPs („Volksbefreiungsoperationen“) deutlich zugenommen, die darauf hinauslaufen, dass als
oppositionell geltende Straßenzüge und Straßenviertel systematisch von Sicherheitskräften durchforstet und
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dabei überwiegend junge Männer verhaftet und zum Teil auch illegal exekutiert werden.
2. Aktuelle Lage
Nachdem sowohl die USA als auch die Limagruppe in erheblichem Maße Hilfslieferungen bereitgestellt hatten,
eskalierte die Lage im Februar 2019 nachdem Venezuela seine Grenzen für diese Hilfsgüter schloss. Im Rahmen
mehrtägiger Auseinandersetzungen kam es zu Straßenschlachten, hunderten Desertionen und vielen Toten.
Dennoch konnte sich Maduro behaupten. Im März 2019 kam es zu einem mehrtägigen landesweiten Stromaus-
fall, der den Zustand der Infrastruktur drastisch ins Bewusstsein rückte und zusammen mit der politischen Krise
die Situation weiter verschärfte.
Im Rahmen des verstärkten Vorgehens gegen die Opposition nahmen extralegale Tötungen, v.a. in Stadtvier-
teln und Städten, deren Bewohner sich von Maduro abzuwenden scheinen, zu. Auch Repressionen gegen die
Pressefreiheit und die politische Betätigung der Opposition wurden weiter verstärkt. Das bedeutet aber nicht,
dass z.B. oppositionelle Strukturen systematisch zerschlagen worden sind, sondern vielmehr eine allgemeine
10
Drohkulisse aufgebaut wurde. Ende April 2019 kam es zu einem erneuten Versuch der Machtübernahme
durch Maduro, bei dem einige Soldaten die Seiten wechselten und SEBIN-Agenten den in Hausarrest gehalte-
nen Oppositionsführer Leopoldo López befreiten. Dieser fiel aber binnen einiger Stunden in sich zusammen und
führte zu einer Fluchtbewegung beteiligter Personen, aber nicht zur Inhaftierung Guaidós. Die aktuelle Situati-
on ist geprägt von weitergehenden Engpässen und einer zunehmenden Kriminalität sowie einer sich verstär-
kenden Emigration. Beide Seiten haben erhebliche Unterstützung, die Armee als Schlüsselinstanz hält aller-
dings derzeit zu Maduro.
3. Maßgebliche Akteure/Institutionen
Der politische Konflikt in Venezuela und der Machtkampf, der sich seit Januar 2019 deutlich verschärft hat und
nach verschiedenen Versuchen der friedlichen zu einem Versuch der gewaltsamen Machtübernahme führte,
entspannt sich zwischen der Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas einerseits und dem breit aufgestellten
Oppositionsbündnis Mesa de la Unidad Democrática (MUD) andererseits. Beide Seiten dominieren unter-
schiedliche Teile des venezolanischen Staatsaufbaus.
9
UNHCR (Juni 2018): Human rights Violations in the Bolivarian Republic of Venezuela: a downward spiral with no end in sight,
https://www.ohchr.org/Documents/Countries/VE/VenezuelaReport2018_EN.pdf, abgerufen am 26.08.19
10
Amnesty International (20.09.2018): This is no way to live, https://www.amnesty.org/en/documents/amr53/8975/2018/en/; Amnesty
International (30.10.2017): Venezuela: Repression taken into people’s living rooms as home raids surge,
https://www.amnesty.org/en/latest/news/2017/10/venezuela-allanamientos-ilegales-en-aumento-mientras-la-represion-llega-a-hogares/,
abgerufen am 19.09.19
Länderreport Venezuela 4
Mit dem 10. Januar 2019 endete die erste Amtszeit Maduros und seine offizielle Vereidigung für die zweite
Amtszeit wurde durchgeführt. Da die das Parlament dominierende Opposition (genauer gesagt die sehr diverse
Sammelbewegung „Mesa de la Unidad democrática“, MUD, die versucht, alle gegen die Herrschaft der PSUV
gerichteten Kräfte zu bündeln) die Präsidentschaftswahl nicht als legitimierend betrachtete, berief sie sich auf
Artikel 233 der Verfassung. Dieser sieht im Falle des Todes, der Unfähigkeit zur Ausübung des Amtes oder an-
derer Umstände, die zum Fehlen eines legitimen Präsidenten führen, die Wahl eines Interimspräsidenten durch
12
das Parlament vor. Ein entsprechendes Votum fand am Sitzungstag nach Maduros Vereidigung statt. Die
Vereidigung Guaidós wurde auf den 23. Januar 2019 terminiert, das Datum des Putsches von 1956, das symbo-
lisch für die Usurpation der Macht durch Maduro (aus Sicht des Parlamentes) steht. Maduro seinerseits rief zu
Gegendemonstrationen am 25. Januar 2019, dem 20. Jahrestag des ersten Wahlsieges von Chávez, auf. Beide
Seiten brachten eine erhebliche Anhängerschaft auf die Straßen, wobei deutlich mehr Anhänger für Guaidó
demonstrierte, während von Seiten der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) systematisch
Unterstützer und z.B. Angestellte von Staatsbetrieben zur Teilnahme verpflichtet wurden. Daraus kann jedoch
nicht geschlossen werden, dass Maduro keine (wenn auch signifikant weniger als Guaidó) Unterstützung in der
Bevölkerung hatte.
International gewann Guaidó schnell umfangreiche Unterstützung. Die weite Mehrheit der amerikanischen und
viele EU-Staaten erkannten ihn als Übergangspräsidenten an.
11
BpB (20.05.2018): Präsidentschaftswahl in Venezuela, http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/269419/praesidentschaftswahl-in-
venezuela, abgerufen am 26.08.19.
12
OAS.org: CONSTITUCIÓN DE LA REPÚBLICA BOLIVARIANA DE VENEZUELA, https://www.oas.org/juridico/mla/sp/ven/sp_ven-int-
const.html, abgerufen am 19.09.19
Länderreport Venezuela 5
richtshof dann alle Beschlüsse des Parlamentes für verfassungswidrig, die unter Beteiligung der aus seiner Sicht
unrechtmäßig vereidigten Abgeordneten entstanden. Diese traten daraufhin zurück, um das Parlament wieder
handlungsfähig zu machen. Daraufhin wurden durch verschiedene Dekrete des Präsidenten die Entscheidungs-
befugnisse des Parlamentes praktisch aufgehoben und durch die Einberufung einer verfassungsgebenden Ver-
sammlung eine parallele Legislative geschaffen, die am 18. August 2017 eine Resolution annahm, die sie zur
alleinigen Legislative machte und die Nationalversammlung somit der Gesetzgebungskompetenz beraubte. Das
Parlament ist derzeit nicht in der Lage, die Exekutive zur Umsetzung seiner Beschlüsse zu bringen, aber die
einzige Institution, deren demokratische Legitimation weitgehend anerkannt ist. Obwohl die Legislaturperiode
regulär im Jahr 2020 endet, kündigte Präsident Maduro bereits vorzeitige Wahlen an. Da unter den derzeitigen
Umständen eine freie Wahl als ausgeschlossen betrachtet werden kann, ist davon auszugehen, dass nach einer
Neuwahl die Nationalversammlung von madurotreuen Abgeordneten dominiert sein wird.
13
UNHCR (05.07.2019): Annual reports: Human rights in the Bolivarian Republic of Venezuela
14
Der venezolanische Staatsapparat ist überwiegend stark korruptionsanfällig, ebenso die Sicherheitsdienste. Im Korruptionswahrneh-
mungsindex von Transparency International belegte Venezuela für 2017 den Platz 169 von 180 Ländern, vergleichbar mit Irak, Libyen oder
Turkmenistan, https://www.transparency.org/country/VEN; Insightcrime.org (2018): Venezuela, a Mafia State?,
https://www.insightcrime.org/investigations/venezuela-mafia-state/, abgerufen am 26.08.19
15
Zu Funktionsweise und Kritik exemplarisch: Lares Martiz, Valentina: Carnet de la patria, el documento del control social en Venezuela. In:
Eltiempo.com vom 01.09.2018, https://www.eltiempo.com/mundo/venezuela/carnet-de-la-patria-el-documento-del-control-social-en-
venezuela-263224, abgerufen am 26.08.19
16
Anliker, Nicole: Venezuelas verratene Revolution: «Maduro ist nicht Chávez – in keiner Weise». In: Neue Zürcher Zeitung Online vom
13.02.2019, https://www.nzz.ch/international/die-verlorenen-kinder-der-bolivarischen-revolution-
ld.1458508?fbclid=IwAR2k2ApSG2bXxOnXh-hp80c90T7Si1xIaBaPXpCS-CxDQn7icvggXzCQtX0, abgerufen am 19.09.2019
17
Human Rights Watch (29.11.2017): Crackdown on Dissent, https://www.hrw.org/report/2017/11/29/crackdown-dissent/brutality-
torture-and-political-persecution-venezuela, abgerufen am 19.09.19; HRW (09.01.2019): Venezuela: Suspected plotters tortured,
https://www.hrw.org/news/2019/01/09/venezuela-suspected-plotters-tortured, abgerufen am 19.09.19
Länderreport Venezuela 7
heitskräfte vorgingen. 18 Hier verschwimmen teilweise die Grenzen von politischer Verfolgung und Strafverfol-
gung. Eine besondere Bedeutung erlangten die Colectivos, die keine einheitlich organisierte Truppe darstellen,
sondern sich aus diversen Unterstützenden des Regimes rekrutieren und letztlich straffrei Gewalt gegenüber
Gegnern des Systems ausüben dürfen. Diese Gruppen sind üblicherweise lokal organisiert und informell an das
System angeschlossen. Es gibt also keine klar benennbaren Kontaktleute und nachvollziehbaren Befehlsket-
ten. 19 Allerdings ist eine Koordination mit den Sicherheitskräften dergestalt deutlich, dass die Einsätze gegen
Regimegegner im Kontext von Demonstrationen zentral gesteuert und befohlen werden. Deutlich wurde dies
spätestens im Januar 2019, als die Colectivos zwar deutlich Präsenz zeigten, aber genau wie die Sicherheitskräf-
te in vielen Fällen nicht einschritten und insgesamt diszipliniert auftraten. Angehörige der Colectivos gehen
auch abseits von Demonstrationen gegen Teilnehmende und teilweise auch gegen Zufallsopfer in bekannter-
maßen oppositionell gesinnten Straßen/Stadtvierteln vor. Dabei vermischen sich kriminelle und politische Be-
tätigung, da oft unklar ist, ob die Motivation etwa hinter einem Einbruch oder einem Raubüberfall Einschüchte-
rung oder schlichte Bereicherung ist.
In der Vergangenheit erhielten mehrere Massaker, die im Rahmen dieser Operationen von verschiedenen Si-
cherheitskräften durchgeführt wurden, besondere mediale Aufmerksamkeit. 20 Die Einsätze haben sich nach den
Recherchen des UNHCR deutlich verschärft. Allein für das Jahr 2018 meldete die Regierung 5.287 Todesfälle
junger Männer, die angeblich im Rahmen von „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ umgekommen seien. Dage-
gen sprechen die nahezu einhelligen protokollierten Aussagen von Verwandten, die den UN-Institutionen und
NGO immer wieder einen Modus Operandi beschreiben, demzufolge systematisch nach jungen Männern ge-
sucht werde. Sie würden vom Rest der Familie getrennt und anschließend regelmäßig mit Schüssen im Brustbe-
reich aufgefunden. Abweichend von den Zahlen der Regierung kommt die NGO „Obervatorio Venezolano de la
Violencia“ (OVV) auf mindestens 7.523 Tötungen in diesem Kontext. Allein zwischen dem 1. Januar 2019 und
dem 19. Mai 2019 liegen diese Zahlen bei 1.569 (Regierung) und 2.124 (OVV). 21; 22
Im Rahmen des Wahlkampfes von 2005 entwickelte eine Pro-Chávez Gruppe das sogenannte „Maisanta-
Programm“, das im Gegensatz zur Tascón-Liste keine reine Auflistung von Namen, sondern eine Datenbank mit
detaillierten Informationen über 12 Millionen wahlberechtigter Bürger darstellte. Sie enthielt u.a. Angaben
darüber, ob die Person die Petition für das Referendum von 2004 unterschrieben, an früheren Wahlverfahren
teilgenommen oder irgendwann im Auftrag des Staates gearbeitet hatte. Sowohl die Weiterleitung als auch die
Veröffentlichung der Tascón-Liste und die Nutzung des Maisanta-Programms sind Maßnahmen, die geeignet
sind, dem Staat politisch motivierte Repressalien zu ermöglichen.
5. Versorgungsnetze/Infrastruktur
Spätestens seit dem mehrtägigen, landesweiten Stromausfall im März 2019 ist das Thema des Ausbaus und der
Wartung der Infrastruktur in Venezuela ins Blickfeld der Berichterstattung getreten. Das vollständige Ausmaß
des Ausfalles, bei dem große Teile des Landes für bis zu sieben Tage keinen oder einen extrem eingeschränkten
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Zugang zu Strom hatten, ist auch im Nachhinein kaum festzustellen. Während die Regierung Maduro für
Stromausfälle regelmäßig Sabotage durch die Opposition oder elektronische Angriffe der USA (wahlweise
durch Cyberangriffe oder angebliche Einsätze von EMP-Waffen) verantwortlich macht, zeigt die Entwicklung
der letzten Jahre ein anderes Bild: Schon lange vor der aktuellen politischen Krise wurde die Stromversorgung
in Venezuela sichtbar schlechter, was u.a. Satellitenaufnahmen belegen. Danach konnte schon seit Jahren ein
25
zunehmendes Erblassen der nächtlichen Beleuchtung venezolanischer Städte festgestellt werden. Der große
Stromausfall ab dem 7. März 2019 erscheint so als logischer (zeitweiliger) Höhepunkt einer längeren Entwick-
lung. Dies ist umso bemerkenswerter vor dem Hintergrund, dass das venezolanische Stromnetz in den 90er
Jahren als vorbildlich und außergewöhnlich gut ausgebaut galt. Ähnlich wie im Ölsektor kam es auch im Bereich
der Strombranche seit 2007 zu Verstaatlichungen und Enteignungen. In den Folgejahren wurde zwar ein Ener-
gienotstand ausgeschrieben und hohe Geldsummen für Reparatur und Wartung bereitgestellt, aber viele der in
Auftrag gegebenen Arbeiten nie fertiggestellt. Korruptionsvorwürfe standen dabei im Raum, wonach angeblich
Milliardenbeträge in die Unternehmen von der Regierung nahestehenden Personen geflossen seien, ohne dass
die entsprechenden Arbeiten ausgeführt wurden. Verstärkt wurden diese Probleme durch die in den letzten
Jahren wiederholt niedrigen Niederschläge, durch die die Wasserstände der Stauseen Venezuelas teilweise auf
ein kritisches Niveau abgesunken sind.
Abschaltungen und zeitweise Stromausfälle haben in Venezuela seit 2010 zugenommen. Der große Stromaus-
fall seit dem 7. März 2019 war aber in seiner Intensität mit den vorherigen Versorgungsengpässen nicht ver-
23
Human Rights Watch (2008): A Decade Under Chavez: Political Intolerance and Lost Opportunities for Advancing Human Rights in Vene-
zuela, www.hrw.org/reports/2008/venezuela0908/2.htm, abgerufen am 26.08.19
24
Das Blog „Netblock“ hat in mehreren Berichten dazu den Internet-Traffic aus Venezuela gesichtet und darüber einen indirekten Eindruck
über das Ausmaß des Stromausfalles sowie mehrerer fliegender Stromausfälle gegeben. Siehe: https://netblocks.org/reports/venezuela-
knocked-offline-amid-nationwide-power-outage-PW801YAK; https://netblocks.org/reports/venezuela-knocked-offline-after-nationwide-
power-outage-3AnwjoB2, abgerufen am 26.08.19
25
Poon, Linda: Mapping Where the Lights Are Brighter, And Where They're Going Dark, 25.04.2017,
https://www.citylab.com/life/2017/04/mapping-where-lights-have-brightened-and-dimmed-esri/524130/, abgerufen am 19.09.19
Länderreport Venezuela 9
26
gleichbar. Der mehrtägige Stromausfall hatte Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens und der Infrastruk-
tur: Sowohl die Pumpen für das Trinkwassersystem als auch die Benzinpumpen an Tankstellen sind vom Strom
abhängig, der Wasserdruck lies schnell nach, in Hochhäusern und Großstädten war die Wasserversorgung akut
gefährdet. Auch Notstromaggregate waren aufgrund der Länge des Stromausfalls nicht in der Lage, dessen
Auswirkungen etwa auf Krankenhäuser zu kompensieren. Es werden unterschiedliche Zahlen über dadurch
verursachte Tote angegeben. Sicher ist aber, dass es mindestens einige Dutzend Tote aufgrund des Stromaus-
falles gegeben haben muss. Zudem wurde die Straßenbahn, die die Hauptlast des öffentlichen Personennah-
verkehrs in den venezolanischen Großstädten stellt, effektiv außer Funktion gesetzt, was das Geschäfts- und
Wirtschaftsleben zum Erliegen brachte. Ebenso gab es erhebliche Auswirkungen auf Kühlketten, die durch die
unsichere Stromversorgung schon zuvor unsicher geworden waren, sodass viele kühlungsbedürftige Waren,
wie beispielsweise Fleisch und Medikamente, verkamen. Kommunikationsnetzwerke, wie Telefon und Internet,
waren in weiten Teilen des Landes tagelang nicht nutzbar und Schulen oder Banken geschlossen. Der Ausfall
großer Teile des Vertriebes und der Verteilung von Benzin hatte in erheblichem Maße Auswirkungen z.B. auf
27
die Landwirtschaft (siehe auch das folgende Kapitel). Seither sind landesweite Stromausfälle wiederholt vor-
gekommen, wobei noch unklar ist, ob die Schäden eventuell (vorerst) irreparabel sind.
6. Landwirtschaft/Lebensmittelversorgung
Exakte Daten über die landwirtschaftliche Produktion und die Importe und Exporte Venezuelas sind derzeit
schwer zu ermitteln, da die Regierung selbst diese – wie auch z.B. im Gesundheitssektor - kaum öffentlich zu-
gänglich macht. Jedoch ist Venezuela niemals ein Agrarstaat gewesen und musste in seiner Geschichte stets in
erheblichem Maße Lebensmittel importieren.
Aktuell können nur aus allgemein zugänglichen Quellen Schätzungen über die Eigenproduktion und die mögli-
che Kompensation durch Importe gemacht werden. Eines ist aber sicher: Venezuela ist nicht in der Lage, seine
Bevölkerung angemessen zu ernähren. Hierzu tragen eine ganze Reihe von Faktoren bei: 28
- Ein erheblicher Teil der bewirtschaftbaren Fläche des Landes befindet sich trotz aller Ansätze zu Bo-
denreformen in den Händen einer kleinen Schicht von Großgrundbesitzenden und wird eher extensiv
bewirtschaftet. Kleinere und mittlere Betriebe gibt es dagegen nur selten. Die Produktion ist immer
weit unter den Möglichkeiten des Landes geblieben.
- Durch die Wirtschaftskrise und den Mangel an Devisen sind dem Import von Düngemitteln, Saatgut,
landwirtschaftlichen Geräten und Ersatzteilen enge Grenzen gesetzt.
- Die geringen Niederschlagsmengen in den letzten Jahren erschwerten den Anbau gerader wasserin-
tensiver Getreidesorten, wie z.B. Reis.
- Gesetzliche Regelungen machen den Anbau mancher Getreidesorten unrentabel. So müssen z.B. die
Ernten von Reis und Mais zu etwa 50% zu festgelegten Preisen an den Staat abgeliefert werden, was
ihren Anbau effektiv wenig rentabel macht.
- Viele Betriebe wechseln den Anbau von düngungsintensiven Sorten zu solchen, die nicht stark regu-
liert sind und die weniger Aufwand benötigen, wie Kartoffeln, Schwarze Bohnen oder Cassava.
- Aufgrund der weniger rentablen bis unrentablen Produktion geht die Anbaufläche insgesamt zurück.
- Die Fleischproduktion wird generell stark zurückgefahren, da auch die Verfügbarkeit von Futterpflan-
zen deutlich abnimmt und diese eher direkt für den menschlichen Verzehr verwendet werden. Die
Produktion von Hühnerfleisch und Eiern ist deutlich eingebrochen, gleiches gilt für die von Rindfleisch.
26
Bericht über die Auswirkungen eines begrenzten Stromausfalles (Spanisch), September 2018, http://www.el-
nacional.com/noticias/servicios/metro-caracas-afectado-varias-estaciones-por-apagon_251105, abgerufen am 26.08.19
27
https://www.nytimes.com/2019/07/06/world/americas/venezuela-gas-shortage.html, abgerufen am 26.08.19
28
Eine Sammlung verschiedener Schätzungen aufgrund der verfügbaren Zahlen findet sich hier: https://gro-
intelligence.com/insights/articles/how-deep-is-venezuelas-food-crisis#Venezuela, abgerufen am 26.08.19
Länderreport Venezuela 10
7. Soziale Sicherungssysteme
Der Ausbau sozialer Sicherungssysteme war zwar Programm der Chavistas, lief jedoch weniger über eine Stär-
kung entsprechender staatlicher Institutionen, sondern vielmehr über die Etablierung paralleler Strukturen. So
wurde mittels der misiones bolívares, einer Art mobiler Sozialstationen, zwar Hilfe in arme Regionen und Stadt-
teile gebracht, dies jedoch nicht in einer einklagbaren Form. Mit dem Fortschreiten der ökonomischen Krise
sind nicht nur die geschwächten staatlichen Systeme, sondern auch Nebensysteme zunehmend nicht mehr in
der Lage, ihre Aufgabe zu erfüllen. Beispiel Gesundheitssystem: Viele Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegepersonal
haben das Land verlassen und Medikamente sowie andere Versorgungsgüter stehen nur rudimentär zur Verfü-
gung.
Parallel wurde die Verteilung politisiert. So wurde im Jahr 2016 das System der CLAPs eingeführt (Comité Local
de Abastecimiento y Producción, Lokale Komitees für Versorgung und Produktion), das über die sogenannten
CLAP-Boxen eine Basislieferung an Lebensmitteln für armen Haushalte ermöglichen sollte. Diese CLAP-Boxen
beinhalten üblicherweise Mais- oder Weizenmehl, Milchpulver, Pasta, Reis, Zucker und/oder Essig, allerdings in
relativ kleinen Mengen. Die Kontrolle über die Verteilung diverser Güter, auch der für die CLAPs gedachten,
wurde der Armee übertragen. Das damit erlangte erste Verfügungsrecht über die Waren sicherte ihre Loyalität.
Es gibt regelmäßig Berichte darüber, dass CLAPs unvollständig oder gar nicht ausgeliefert werden.
Zugang zum CLAP-System haben aber nur als bedürftig Geltende, die sich registrieren lassen (was üblicher-
weise bedeutet, dass sie eine Carnet de la patria beantragen müssen). Die Boxen müssen – allerdings zu einem
extrem stark subventionierten Preis – im Voraus bezahlt und, je nach Kreis, zu bestimmten Zeitpunkten abge-
holt werden. Auf diese Weise war es möglich, die Ausgabe in die Zeiten oppositioneller Demonstrationen zu
legen. Die innerhalb einer CLAP-Box befindlichen Nahrungsmittel sind nicht geeignet, eine dreiwöchige Perio-
de lang ausreichend ernährt zu werden. Sie stellen lediglich eine Basisversorgung dar, die anderweitig ergänzt
werden muss.
Der staatlich festgelegte Mindestlohn ist nicht geeignet, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern,
zumal er durch die sehr hohe Inflation sehr schnell aufgebraucht wird. Darauf wird mit der Anhebung des Min-
destlohnes reagiert, die kompensiert das Problem aber nicht, zumal immer wieder Zwischenperioden entste-
hen, in denen der Lohn schneller an Wert verliert als er angehoben wird. Die Bevölkerung reagiert darauf mit
unterschiedlichen Strategien. So werden beispielsweise nicht unmittelbar notwendige Ausgaben, wie für Mö-
bel, Kleidungsstücke oder höherwertige Lebensmittel, gekürzt oder vollständig unterlassen. Man konzentriert
sich auf die Beschaffung von Nahrungsmitteln. Auch Medikamente, die nicht zum unmittelbaren Überleben
notwendig sind, werden oft abgesetzt, zumal die Versorgung mit Medikamenten nicht gesichert ist. Wo immer
es möglich ist, werden Devisen statt Bolivar genutzt, etwa, indem man 1. von im Ausland lebenden Verwandten
harte Währung (Dollar, Euro, in letzter Zeit zunehmend auch kolumbianische Peso) beschafft oder 2. in Vene-
zuela subventionierte Waren ins Ausland bringt und dort gegen harte Währung verkauft, was gerade in den
Grenzregionen üblich ist. So wird beispielsweise Fleisch – sofern man es erhält - oft in Kolumbien wiederver-
kauft, um an Peso zu gelangen. Somit kann man in Venezuela auch in den folgenden Wochen zuverlässig z.B.
Mehl kaufen. Ein wichtiges Schmuggelgut ist das nach wie vor massiv subventionierte Benzin, das in Venezuela
billiger als Wasser ist. Daneben werden auch nicht unbedingt benötigte Gegenstände aus dem Haushalt ver-
kauft und die Nahrung rationiert. Ausgenommen hiervon ist üblicherweise der Mann, der in Venezuela als
Hauptversorger seine Arbeitskraft erhalten muss.
Die schlechte wirtschaftliche Lage führt dazu, dass kriminelle Banden, die mit Überfällen, Erpressungen und
Entführungen ihr Geld verdienen, starken Zulauf haben. Gerade junge Männer erhoffen sich auf diese Weise,
schnell an Geld zu kommen. Die Überforderung der Polizei durch das explosive Anwachsen dieser Form der
Bandenkriminalität hat mit dazu beigetragen, dass Caracas heute als eine der unsichersten Städte der Welt gilt.
2017 wurden 111,19 Tötungsdelikte auf 100.000 Einwohner registriert, nur die mexikanische Stadt Los Cabos,
in der 2017 ein Drogenkrieg eskalierte, lag weltweit vor Caracas. Hierzu muss angemerkt werden, dass sich die
Zahl überwiegend aus kriminellem Unrecht herleitet und es bei den Demonstrationen und den folgenden ge-
waltsamen Ausschreitungen zwar immer wieder zu Todesfällen kommt, aber diese nicht die Hauptquelle für
Opfer tödlicher Gewalt darstellen.
Länderreport Venezuela 11
Anders ist die Situation für die Oberschicht bzw. die dem Regime nahestehenden Personen- und Berufsgrup-
pen. Diese haben Zugang zu Devisen (Dollar) und Versorgungsgütern, die anderen Bürgern nicht zugänglich
sind. Sie erlauben es, ihre unmittelbare familiäre Umgebung mitzuversorgen sowie - bei höheren Rängen - ein
durchaus luxuriöses Leben zu führen. Gerade innerhalb der Sicherheitskräfte, etwa der Guardia Nacional, die für
die Grenzsicherung zuständig ist, ist eine Beteiligung am lukrativen Schmuggel weit verbreitet. Dementspre-
chend besteht gerade unter den Sicherheitskräften und den oberen Rängen der Verwaltung ein erhebliches
Interesse am Fortbestehen der aktuellen Verhältnisse. Dies gilt in sehr begrenztem Umfang auch für die unte-
ren Ränge, sodass derzeit gerade in Bezug auf die Armee unter Beobachterinnen und Beobachtern große Unei-
nigkeit über die Loyalität der Mannschaftsränge herrscht. 29
Diese Reserven müssen durchaus kritisch hinterfragt werden. Sie stiegen von 76.1 Milliarden Barrel in 1998
über 172.3 Milliarden Barrel in 2008 auf 302.8 Milliarden Barrel im Jahr 2017 an. Hierzu muss man wissen, dass
die zugrundeliegende Definition nach aktuellem Kenntnisstand und Marktumfeld mit vorhandenen Technolo-
gien rentabel förderbare Mengen bedeutet und nicht etwa die real sich im Boden befindliche Menge an Erdöl,
die erheblich höher ist. Steigende Ölpreise und sich entwickelnde Technologien erhöhen so regelmäßig die
Menge der Ölreserven. Venezuela verfügte im Jahr 2017 über 17,5% der weltweiten Ölreserven. 30 Darauf entfiel
allerdings der größte Teil auf das Orinoco-Becken, das eine erhebliche Menge schwerer Ölsande enthält, die
nur mit hohem technischem Aufwand gefördert werden können und auf dem Weltmarkt niedrigere Preise
erzielen. Das „heavy crude oil“, das dort gefördert werden kann, wird vor allem als Beimischung zu leichteren
Ölsorten in Raffinerien verwendet.
PDVSA (Petróleos de Venezuela, S.A.) ist der staatliche Öl- und Gaskonzern Venezuelas. Er entstand 1976 im
Zuge der Bemühungen zur Verstaatlichung der Ölindustrie, die stets einer der Kernsektoren der venezolani-
schen Wirtschaft war. Nach einer Phase sinkender Förderung und fehlender Expertise, auch aufgrund einer
Rechtslage, die Kooperationen mit ausländischen Firmen verbot, erholte sich die Fördermenge im Zuge einer
Öffnung in den 90er Jahren.
PDVSA agierte selbständig als Unternehmen im Besitz des venezolanischen Staates, war aber nicht weisungs-
gebunden. Da der Konzern mit Abstand der größte Devisenbringer des Landes war und praktisch den Export
dominierte, war die Kontrolle über den Konzern gleichbedeutend mit der Kontrolle über die Einnahmen des
Landes. Daher änderte sich die Situation kurz nach dem Amtsantritt von Hugo Chávez als Präsident im Jahr
1999. PDVSA wurde weisungsgebunden und darauf ausgerichtet, die Gelder für Wohlfahrtsprogramme sowie
Versorgungsposten für verdiente Chavisten bereitzustellen. Dies stattete die Regierung Chávez mit einem
Großteil der Gelder aus, die die umfangreichen Sozialprogramme der 2000er-Jahre finanzierten. Zusätzlich
wurde PDVSA gezwungen, den Kraftstoff im Inland zu viel niedrigeren, sich in keiner Weise rentierenden Prei-
sen, abzusetzen und einen erheblichen Teil der Förderung als Sicherheit für Kredite einzusetzen. 31 Als sich im
Rahmen der großen Streiks 2002 auch die Belegschaft von PDVSA beteiligte, wurden Arbeiterinnen und Arbei-
ter sowie andere Angestellte, u.a. ein Großteil der Ingenieure, entlassen. Insgesamt verließen ca. 18.000 Perso-
nen den Konzern, womit rund die Hälfte der Belegschaft ausgetauscht wurde. Seitdem ist eine beständige Ab-
nahme der Ölfördermenge zu erkennen.
29
Siehe z.B.: https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2019/02/01/will-venezuelas-military-back-or-abandon-maduro-
here-are-the-4-things-theyll-consider/?noredirect=on&utm_term=.58eae5ee93d0, abgerufen am 26.08.19.
30
BP Statistical Review of World Energy, 68/2019, S. 14
31
Beispielhafte Zahlen für Russland, Stand Anfang 2019: https://www.reuters.com/article/us-venezuela-politics-russia-factbox/factbox-oil-
loans-military-russias-exposure-to-venezuela-idUSKCN1PI1T4, abgerufen am 26.08.2019
Länderreport Venezuela 12
Ein weiterer Schlag gegen die Produktivität des Konzerns erfolgte in den Jahren 2005-2007, als durch die Re-
gierung Chávez mehrere Verträge mit ausländischen Firmen teilweise einseitig gekündigt bzw. deren Bedin-
gungen neu vorgegeben wurden. Einige dieser Firmen verloren ihre venezolanischen Tochterfirmen durch Ent-
eignung. Dies ließ die nach wie vor existierenden Auslandsinvestitionen in den venezolanischen Ölsektor stark
zurückgehen. ExxonMobil und ConocoPhilipps zogen sich aus dem Land zurück. 32 In den 2000er Jahren wurde
dies durch den deutlich schneller steigenden Rohölpreis ausgeglichen. Seit der Weltwirtschaftskrise zeigten
sich jedoch die negativen Folgen dieses Vorgehens. Parallel dazu wurden wichtige Positionen ausschließlich mit
Mitgliedern der sozialistischen Einheitspartei nachbesetzt, in den letzten Jahren auch zunehmend mit Angehö-
rigen des Militärs. Reinvestitionen in die Anlagen fanden nur in geringem Maße statt, während die Einnahmen
überwiegend für die Finanzierung des venezolanischen Staates (einschließlich der Wohlfahrtsprogramme und
Nahrungsmitteleinfuhren), die Führungsriege um Maduro sowie für die Spitzen und Angehörigen der verschie-
denen Sicherheitsdienste verwendet wurden. Die Kombination aus stagnierenden bis fallenden Erdölpreisen,
aus dem Ruder laufenden Kosten für Nahrungsmittelimporte und andere Konsumgüter sowie die sinkende
Qualität und Förderkapazität der Anlagen reduzierten zunehmend die ökonomische Grundlage, auf der das
System Chávez/Maduro basierte. Hierbei ist besonders anzumerken, dass sich die Förderung der verschiedenen
Ölsorten in ihrem Anteil stark verschoben haben: Die Förderung von (hochpreisigem) Leichtöl sinkt deutlich
schneller als die Gesamtförderleistung Venezuelas. Dies liegt in der häufigen Produktion des Leichtöls auf
schon lange ausgebeuteten Feldern begründet, sodass neben dem Kapazitätsverlust durch mangelnde Wartung
auch das schlichte Versiegen von Quellen hohe Bedeutung hat. Gleichzeitig sind die neu erschlossenen Quellen
überwiegend solche von (weniger profitablem) Schweröl, dessen Anteil zunächst bis 2016 beständig stieg, seit-
her aber ebenfalls im Fallen begriffen ist. D.h., dass sich die Basis der venezolanischen Ölproduktion selbst bei
guter Wartung und ausreichendem Personal verschiebt und auch bei einem gleich bleibenden Preisniveau für
die gleiche Fördermenge weniger Einnahmen zu erwarten sind. 33 Zudem musste Venezuela inzwischen selbst
Leichtöl für die eigenen Raffineriekapazitäten importieren, um Benzin herstellen oder das heavy crude oil zu
sogenannten synthetischem Rohöl aufwerten zu können.
Seit 2017 wirken sich auch die Sanktionen der USA gegen den Ölsektor Venezuelas aus. Der Export in die USA
ist stark eingebrochen. Die Einnahmen aus den US-Dependancen von PDVSA und anderen venezolanischen
Staatsunternehmen kommen deutlich schwerer nach Venezuela. Es wurden neue bedeutende Absatzmärkte,
wie der Export v.a. nach China und Indien, erschlossen. Dies führte aber auch zu erheblichen Preisabschlägen,
da das Öl über weitere Strecken transportiert und in Konkurrenz zu regionalen Lieferanten billiger angeboten
werden muss. 34
Dennoch handelt es sich nach wie vor um den wichtigsten ökonomischen Aktivposten Venezuelas, dessen Kon-
trolle und Modernisierung wesentlich für die Versorgung Venezuelas sein wird, unabhängig davon, wie sich die
politische Lage ansonsten entwickelt.
32
Monaldi, Francisco: The Collapse of the Venezuelan Oil Industry and ist Global Consequences, März 2018,
https://www.atlanticcouncil.org/in-depth-research-reports/report/the-collapse-of-the-venezuelan-oil-industry-and-its-global-
consequences/, abgerufen am 19.09.19
33
Ebd.
34
Einige Zahlen zum veränderten Exportverhältnis: https://www.reuters.com/article/us-venezuela-oil-exports/venezuelas-june-oil-exports-
recover-to-over-1-million-bpd-data-idUSKCN1TX1MH, abgerufen am 26.08.19
Länderreport Venezuela 13
Nach der Beteiligung mehrerer Generäle am Putschversuch gegen Hugo Chávez im Jahr 2001 wurden in erheb-
lichem Maße Personen in den Generalsrang befördert, die der chavistischen Regierung gegenüber loyal waren.
Nach inzwischen 20 Jahren verdanken praktisch alle aktiven Inhaberinnen und Inhaber eines Generalsrangs
ihre Macht und Position entweder Chávez oder Maduro. Insgesamt soll Venezuela ein 2.000 Personen starkes
Generalkorps unterhalten, von dem allein Maduro seit 2013 etwa 1.000 ernannt hat (zum Vergleich: Die Streit-
36
kräfte der USA haben etwa 660).
Seit 2016 ist die Armee zentral für die Versorgung mit Lebensmitteln und Verbrauchsgütern in Venezuela zu-
ständig, was ihr eine außergewöhnliche Machtfülle und Zugriff auf ansonsten sehr rare Ware ermöglicht. Zu-
dem sind diverse Militärs an der Regierung beteiligt oder in staatseigenen Betrieben in lukrative Positionen
gebracht worden. Bei allen bisherigen Unruhen stand die Armeeführung stets an der Seite Maduros, zumal sie
teilweise mit der Regierung identisch ist. Aktuell ist die Rolle der Armee aber deutlich unklarer geworden, da
die Privilegien der Generals- und höherer Offiziersränge keineswegs auch die Mannschaftsdienstgrade und
Unteroffiziersränge betreffen und diese ebenfalls von der Krise betroffen sind.
35
Zu Aufbau und Ausrüstung siehe: https://www.globalsecurity.org/military/world/venezuela/index.html, abgerufen am 26.08.19
36
Glüsing, Jens: Die Methode Maduro. In: Spiegel Online vom 04.02.2019, http://www.spiegel.de/politik/ausland/venezuela-machtkampf-
mit-juan-guaido-die-methode-nicolas-maduro-a-1251392.html, abgerufen am 26.08.19
Länderreport Venezuela 14
kämpfung der organisierten Kriminalität in Caracas und Umgebung eingesetzt. Inzwischen wurde sie deutlich
ausgebaut und verfügt mit den Fuerzas de Acciones Especiales (F.A.E.S.) über spezialisierte Truppen für diverse
Einsatzszenarien. Ihr kommt inzwischen eine erhebliche Rolle bei der Eindämmung von Protesten zu, wobei v.a.
den F.A.E.S. ein brutales Vorgehen nachgesagt wird. Seit 2017 haben die F.A.E.S. weitgehend die Leitung der
OLPs übernommen. Aufgrund ihrer Maskierung ist unklar, inwieweit sie durch andere Truppen unterstützt
werden. Sie sind militärisch ausgerüstet und führen die OLPs überwiegend mit Kurz- und Langwaffen, ein-
schließlich Sturmgewehren, durch.
9.5. Colectivos
Colectivos ist eine Sammelbezeichnung für diverse kleinere bis mittelgroße (in manchen Fällen Bataillons- oder
Regimentsgröße, etwa bei den Tupamaros) irreguläre Einheiten, die zutreffend als regierungsnahe paramilitäri-
sche Banden charakterisiert werden können und inoffiziell eng mit dem Sicherheitsapparat verzahnt sind. Ihren
Ursprung haben sie einerseits in Bewegungen der Stadtguerilla sowie andererseits in genossenschaftlichen
Wohnformen linker Bewegungen in Südamerika. In Venezuela bewohnen manche Colectivos bestimmte Stra-
ßenzüge oder Compounds zusammen mit ihren Familien, in denen die Versorgungslage erheblich besser ist. Je
nach Größe kontrollieren sie Straßenzüge oder gar eigene Siedlungen, haben Zugang zu Devisen und sind prak-
tisch straffrei für Taten, die sie im Rahmen von Aktionen gegen Oppositionelle begehen. Sie sind bewaffnet und
als eine Art Schlägertruppe des Regimes anzusehen. Präsident Maduro kündigte 2017 an, die Zahl der Colec-
tivos von ca. 100.000 auf etwa 500.000 zu erhöhen. Die Mitgliedschaft in einem Colectivo bedeutet eine gesi-
cherte Versorgung, sodass es für viele junge Venezolaner attraktiv ist, sich ihnen anzuschließen. Mit offensicht-
licher Billigung der Sicherheitskräfte gehen sie auf Demonstrationen brutal vor, um die Demonstrierenden zu
zerstreuen. Andererseits halten sie sich, anscheinend auch auf Anweisung des Regimes, zurück, sodass von
37
einem klaren Befehlsempfängerverhältnis zum Präsidenten ausgegangen werden muss. Bei den Handlungen
der Colectivos vermischen sich kriminelle Energie, wirtschaftliche Interessen von Schutzgelderpressung bis hin
zum Drogenhandel, politische Ideologie und reale Abhängigkeit vom Regime.
37
Beispielhaft: https://www.bbc.com/news/world-latin-america-47118139, abgerufen am 26.08.19
38
Eine Zusammenfassung bietet https://www.voanews.com/americas/ex-venezuela-spy-chief-says-maduro-ordered-illegal-arrests, abgeru-
fen am 26.08.19
Länderreport Venezuela 15
10. Fazit
Die Situation in Venezuela ist differenziert zu betrachten. Während dem Regime treu gegenüberstehende,
vermögende Personen sowie höhere Dienstgrade der Verwaltung und des Sicherheitsapparates oder staatli-
cher Unternehmen ein relativ normales Leben führen können, auch wenn die rasant steigende Gewaltkriminali-
tät sie ebenfalls betrifft, lebt die Mehrheit der Bevölkerung in relativer, teilweise absoluter Armut und leidet
massiv unter der Versorgungskrise. Nach wie vor sind aber viele der wesentlichen Parameter der Entwicklung
für Venezuela besser als für einen Großteil der Welt. So liegt Venezuela beim Human Development Index 2017
auf Platz 78 und damit höher als beispielsweise der Irak oder Indonesien. Allerdings müssen die zugrundelie-
genden Daten zumindest teilweise in Zweifel gezogen werden oder sind nicht mehr aktuell. Zwar lagen die
letzten verfügbaren Daten z.B. zur Kindersterblichkeit in Venezuela mit 32 auf 1.000 Lebendgeburten noch
unter dem weltweiten Schnitt von ca. 40, jedoch sind diese Zahlen nicht aktuell und es gibt keine Anzeichen
dafür, dass sich der sehr negative Trend seitdem abgeschwächt hat. Als 2017 kurzfristig erneut Zahlen veröf-
fentlicht wurden, enthob man der zuständigen Ministerin ihres Amtes. In Anbetracht der sich verschärfenden
Krise und des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems muss seither von einem sprunghaften Anstieg ausge-
gangen werden. Zudem ist der Absturz von einem der reichsten Länder Südamerikas, das eine erhebliche Zahl
von Krankheiten besiegt und die Armut im Lande binnen eines Jahrzehnts halbiert hatte, umso deutlicher spür-
und sichtbar. Auch dass Hunger ein zunehmendes Problem darstellt (der Welthungerindex platziert Venezuela
derzeit als Land mit „mäßigen Hungerwerten“, während er ansonsten in der Region flächendeckend zurück-
geht), ist ein deutliches Zeichen für die gegenseitige Verstärkung der negativen Tendenzen. Mit zunehmender
Verschlechterung der Versorgungslage verstärkt das Regime auch seine Repressionsmaßnahmen.
Da derzeit aber die wichtigsten Polizeieinheiten und offenkundig auch die Armee zu erheblichen Teilen auf
Seiten der Regierung stehen und die bisherigen Versuche zur Machtübernahme durch Guaidó keine Breiten-
wirkung in der Armee entfalteten, scheint eine baldige Änderung der Situation bzw. ein Systemwechsel, der die
überwiegend durch Missmanagement verursachten Probleme beseitigt, nur schwer vorstellbar. Die inneren
Dynamiken der Armee sind kaum von außen nachvollziehbar, werden aber aller Wahrscheinlichkeit nach ent-
scheidend für den weiteren Verlauf sein. Ein Bürgerkrieg scheint jedoch im Moment sehr unwahrscheinlich,
nicht nur, weil die Bewaffnung der Opposition quasi nicht existent ist, sondern auch, weil dieses Szenario von
den meisten Beteiligten nicht gewünscht ist.
Im Moment ist davon auszugehen, dass sich die Migrationsneigung der Venezolanerinnen und Venezolaner
noch deutlich verstärken wird. Ein Blick in einschlägige soziale Netzwerke offenbart täglich eine große Zahl an
informellen Hilferufen nach teilweise einfachen Medikamenten sowie Dutzende Videos, in denen die Modalitä-
ten und Voraussetzungen für Auswanderungen in diverse Länder im Detail erläutert werden. Darüber hinaus
dürfte die deutlich verstärkte politische Repression den Migrationsdruck weiter erhöhen.
Da es keine Anzeichen dafür gibt, dass sich die wirtschaftliche 39 oder politische Lage in absehbarer Zeit ent-
spannen wird, muss davon ausgegangen werden, dass der Exodus der venezolanischen Bevölkerung weiter-
geht. Der IWF schätzt die derzeitige Bevölkerung Venezuelas inzwischen nur noch auf 28 Millionen (von 31
Millionen in 2015). Wahrscheinlich wird es eher zu einer Zunahme der Migration kommen, sofern die Nachbar-
länder den Zustrom nicht unterbinden. Selbst ein sofortiger Rücktritt Maduros und der Beginn umfangreicher
Hilfslieferungen könnten in Anbetracht der zusammengebrochenen Wirtschaft, des mangelnden Kapitals, der
heruntergewirtschafteten Infrastruktur und der Ineffizienz der Verwaltung die Situation nur perspektivisch
grundlegend verbessern.
39
Der IWF rechnet für das Jahr 2019 mit einem Einbruch des BIP um 25%, https://www.imf.org/en/Countries/VEN#countrydata, abgerufen
am 26.08.19
Länderreport Venezuela 16
Stand
9/2019
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