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Einführung in die Arbeitswissenschaft

Lehreinheit 8
Produktionsergonomie
Sommersemester 2016

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt.-Ing. Christopher M. Schlick


Lehrstuhl und Institut für Arbeitswissenschaft
RWTH Aachen
Bergdriesch 27
52062 Aachen
Tel.: 0241 80-99440
E-Mail: c.schlick@iaw.rwth-aachen.de

© Lehrstuhl und Institut für Arbeitswissenschaft, RWTH Aachen


Lernziele

Ziel dieser Lehrveranstaltung ist es:

 Energetische Arbeitsformen kennenzulernen

 Formen der Muskelarbeit unterscheiden zu können

 Prinzipien zur physiologischen Arbeitsgestaltung kennenzulernen

 Methoden zur Beurteilung der Belastung und Gefährdung der Wirbelsäule


kennenzulernen

 Einflussfaktoren für potenzielle Schädigungen der Wirbelsäule aufzeigen zu


können

 Grundsätze und Beispiele zur ergonomisch günstigen Gestaltung von


Arbeitsplätzen (hinsichtlich Muskelarbeit und hinsichtlich Wirbelsäulenbelastung)
kennenzulernen

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Physische Arbeitsbedingungen und Belastungen
Arbeit unter Lärm
Arbeit im Stehen
24% betroffen
56% betroffen
13% belastet
14% belastet Heben, Tragen schwerer Lasten
23% betroffen
12% belastet
Starke Erschütterungen,
Stöße, Schwingungen Arbeit im Sitzen
5% betroffen 54% betroffen
2% belastet 11% belastet

Umgang mit gefährlichen Kälte, Feuchtigkeit, Nässe, Zugluft


Stoffen, Strahlung 21% betroffen
7% betroffen 11% belastet
2% betroffen Rauch, Gase, Staub, Dämpfe
Tragen von Schutzkleidung, 14% betroffen
-ausrüstung 8% belastet
21% betroffen Arbeit unter Zwangshaltungen
3% belastet 14% betroffen
Grelles Licht, 7% belastet
schlechte Beleuchtung Öl, Schmutz, Fett, Dreck
9% betroffen 18% betroffen
5% belastet 6% belastet
Quelle:
Grundauswertung der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2005/2006
(http://www.baua.de/cae/servlet/contentblob/1286430/publicationFile/95425/Gd58.pdf)
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Arbeitsformen des Menschen
Typ der Arbeit Energetische Arbeit
Informatorische Arbeit

Art der Arbeit mechanisch motorisch reaktiv kombinativ kreativ

Kräfte Bewegungen
Was verlangt abgeben ausführen
die
Erledigung "Mecha- Genaue und
der Aufgabe nische schnelle Häufige Kennzeichen:
vom Arbeit“ im Bewegungen  repetitive Tätigkeiten mit geringer Zykluszeit
Menschen? Sinne der bei geringer  weitreichende Zeitvorgaben bzw. getaktete
Physiologie Kraftabgabe Prozesse
Welche
• Muskeln • Sinnes-
Organe
• Sehnen organe
oder einseitige körperliche Belastung
• Skelett • Muskeln
Funktionen
• Atmung • Sehnen und geringe Handlungsspielräume
werden be-
• Kreislauf • Kreislauf
ansprucht?
• Lasten- • Manuelle
transport Bearbeitung mit
Beispiele • Maschinen- handgeführten
beschickung Werkzeugen
• Feinmechanische
Montagearbeiten

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Engpassbetrachtung des menschlichen Körpers bei
mechanischen Arbeitsformen

Metabolisches System
Herz-Kreislaufsystem (O2-Umsatz und Nährstoffverarbeitung)
(Energietransportfunktion
und Wärmeausgleich)

...durch die Umgebung


z.B.
Wirbelsäule
(Tragen von Lasten und Lärm,
Teilen des Körpers)
Arbeitsstoffe,
Fokus dieser Vorlesungseinheit
Klima
Muskeln und Sehnen
(statische und dynamische
Muskelarbeit)

Gelenke & Knochen

...durch die
Tätigkeit

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Formen körperlicher Arbeit

Vorwiegend körperliche Arbeit

Statische Arbeit Dynamische Arbeit

Kontraktionsart: Isometrisch Isotonisch Auxotonisch

schwere einseitig Kombination


Haltungs- statische Kontraktions-
Form: dynamische dynamische isotonisch und
arbeit Haltearbeit arbeit
Arbeit Arbeit isometrisch

innerer äußerer große Muskel- kleine Muskellänge


Differenzierungs- konstanter konstanter
Kraft
massen und Muskel- und Kraft
merkmal: veränderlich
Kraftfluss Kraftfluss Kreislauf massen* veränderlich

Andrücken
Halten von Lasten manuelle Betätigung
Beispiele: Stehen einer
Lasten transportieren Montage einer Presse
Bohrmaschine

* = < 1/7 der gesamten Muskelmasse


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Kontraktionsformen des Muskels

Ruhedehnungskurven

Isometrische Muskelkontraktion Isotonische Muskelkontraktion Auxotonische Muskelkontraktion


(Arbeit = Kraft  Dauer) (Arbeit = Kraft  Weg)
Kraft

Kraft

Kraft
Muskellänge Muskellänge Muskellänge

© Lehrstuhl und Institut für Arbeitswissenschaft, RWTH Aachen Quelle: Silbernagl & Despopoulos 2007 8-7
Blutversorgung und Blutbedarf bei
arbeitenden Muskeln

Dynamische Statische
Ruhe
Arbeit Arbeit

Blut- Durch- Blut- Durch- Blut- Durch-


bedarf blutung bedarf blutung bedarf blutung

© Lehrstuhl und Institut für Arbeitswissenschaft, RWTH Aachen Quelle: Schlick et al. 2010 8-8
Maximale Haltezeit bei statischer Muskelarbeit
Bereits ab 15% der Maximalkraft können bei statischer
Arbeit Muskelermüdungen auftreten!

2,1 0,6 0,1


Maximale Haltezeit (T) in Minuten
T  1,5   2
 3
[min]
k k k
     
K  K  K 
6009 Messungen an 13 Arm-, Rumpf-
und Beinmuskeln bei 13 Frauen und
25 Männern
Streubereich σ

Haltekraft (k) in Bruchteilen der Maximalkraft (K)

© Lehrstuhl und Institut für Arbeitswissenschaft, RWTH Aachen Quelle: Rohmert 1960 8-9
Körperkräfte des Menschen nach DIN 33411-1

„Körperkraft [...] ist die Kraft, die im Zusammenhang mit dem menschlichen Körper entsteht.
Körperkräfte können in Muskel-, Massen- und Aktionskräfte eingeteilt werden.“ (DIN 33411-1)
Muskelkraft: Wirkt durch Aktivität der Muskeln innerhalb des Körpersystems
Massenkraft: Kraft, die durch die Körpermasse als Eigengewichts- oder Trägheitskraft wirkt
Aktionskraft: Die Körperkraft, die nach außen vom Körper aus wirkt,
z.B. Arm-, Hand-, Finger-, Bein, Knie-, Fuß- und Ganzkörperkraft

Eine Körperkraft wird durch folgende


Aktionskraft Bestimmungsgrößen festgelegt:
(wirkt auf den Griff) Muskelkraft
 Betrag der Kraft F in Newton [N],
Muskel-  Lage des Kraftangriffspunktes relativ zum
moment Körper,
der Kraft
Massenkraft  Richtung der Wirkungslinie der Kraft relativ
(Unterarm) zum Körper sowie
 Kraftrichtungssinn (mit oder gegen die
Schwerkraft).

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Begriffe und Zusammenhänge der Körperkräfte des
Menschen nach DIN 33411-1

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Ermittlung maximaler statischer Aktionskräfte nach
DIN 33411-4

Die hier dargestellten Isodynen sind Kurven, welche


Kraftangriffspunkte in einer vertikalen Ebene durch
Schultergelenkbezugspunkte im Bewegungsraum des
Armes verbinden, in denen gleich große Mittelwerte
maximaler statischer Aktionskräfte gleicher Art ermittelt
wurden.
Kraftrichtung P1: Kraftangriffspunkt der
Armkräfte
P2: Handmittelpunkt
P3: Schultergelenkbezugspunkt

α: Höhenwinkel zwischen
Verbindungslinie P1-P3 und
Horizontalebene
β: Seitenwinkel zwischen
Verbindungslinie P1-P3 und
Körpersymmetrieebene

a: Abstand P1-P3
amax: maximaler Abstand P1-P3
(gestreckter Arm)
a/amax: relative Arm-Reichweite
Das Koordinatensystem legt den Bewegungsraum
des Armes mit Winkel α und relativer Arm-Reichweite
a/amax fest. Die Kraftrichtung und der Winkel β
müssen separat angegeben werden.
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Ermittlung maximaler statischer Aktionskräfte nach
DIN 33411-4 am Beispiel der Kraftrichtung –B

 Für Armkräfte horizontal, parallel zur Körpersymmetrieebene, vorwärts ergibt sich


bei einem Seitenwinkel β = 0o, einem Höhenwinkel  = 10o und einer relativen
Reichweite a/amax = 90% eine maximale Aktionskraft von 170 N.

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Ermittlung maximaler statischer Aktionskräfte nach
DIN 33411-4 am Beispiel der Kraftrichtung + C

 Für Armkräfte horizontal, senkrecht zur Körpersymmetrieebene hin ergibt sich bei
einem Seitenwinkel β = 90o, einem Höhenwinkel  = -10o und einer relativen
Reichweite a/amax = 70% eine maximale Aktionskraft von 160 N.

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Prinzipien zur physiologischen Arbeitsgestaltung (I)
1. Prinzip: Gestaltung der Arbeitsabfolge mit dem Ziel der minimalen Ermüdung

5 min Arbeit, 7,5 min Pause (Gesamtarbeit 117680 Nm) Erholungswirkung in Anfangsphase
Vp. nach 10 min Arbeit erschöpft
Arbeit (Radfahren ca. 200W) der Pausenzeit am größten, weil
Pause Erholungsverlauf exponentielle
Charakteristik aufweist

2 min Arbeit, 3 min Pause (Gesamtarbeit 282430 Nm)


Vp. nach 24 min Arbeit erschöpft

0,5 min Arbeit, 0,75 min Pause (Gesamtarbeit 282430 Nm)


Vp. arbeitet 24 min ohne Erschöpfung

Gestaltungsempfehlung:
 statt seltener, langer Pausen besser
kurzzyklische Arbeits- und Erholungszeiten
© Lehrstuhl und Institut für Arbeitswissenschaft, RWTH Aachen Quelle: Schlick et al. 2010 8 - 15
Prinzipien zur physiologischen Arbeitsgestaltung (II)
2. Prinzip: Wahl des Arbeitsverfahrens mit dem günstigsten Wirkungsgrad

Beispiel: Beschickung
eines Durchlaufofens
Der menschliche Energie-
umsatz lässt sich durch die
Verringerung der Hubhöhe
beim Be- und Entladen von
Lasten erheblich senken.
Die physikalischen Arbeits-
integrale sind in allen drei
Fällen bei einem konservati-
ven Kraftfeld gleich Null, da
sie nur vom Anfangs- und
Endpunkt des Werkstücks
abhängig sind. In Bezug auf
die menschliche Arbeit ist
jedoch eine positiv gerichtete
Arbeit beim Heben der
Werkstücke und eine negativ
gerichtete Arbeit beim
Gestaltungsempfehlungen:
Absenken der Werkstücke zu
 Wahl der Muskelgruppe nach maximaler Kraftentfaltung leisten.
 Wahl einer optimalen Gelenkstellung für den Krafteinsatz
 Wahl einer günstigen Arbeitsgeschwindigkeit

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Gelenkstellung und Kraftentfaltung
120
Beugekraft senkrecht zur Unterarm-Längsachse in %

100
der Kraft bei Beugungswinkel 90°

80

60

40

20

0
0 15 30 45 60 75 90 105 120 135 150 165 180
Beugewinkel α im Ellenbogengelenk in Grad
(Winkel zwischen Oberarm- und Unterarm-Längsachse)

© Lehrstuhl und Institut für Arbeitswissenschaft, RWTH Aachen Quelle: Rohmert 1962 8 - 17
Zusammenhang von Muskelkraft und Verkürzungs-
geschwindigkeit und daraus berechneter Leistung
8 Verkürzungsgeschwindigkeit Leistung 150

7
Verkürzungsgeschwindigkeit in m/s

6 Berechnung der
Leistung erfolgt über
100 den empirisch
5

Leistung in W
bestimmten
Zusammenhang von
4 Kontraktions-
geschwindigkeit und
Kraft:
3
50
𝑃 = 𝐹 ∙ 𝑣
2

0 0
0 50 100 150 200 250
Kraft in N

© Lehrstuhl und Institut für Arbeitswissenschaft, RWTH Aachen Quelle: Wilkie 1950 8 - 18
Prinzipien zur physiologischen Arbeitsgestaltung (III)
3. Prinzip: Vermeidung energetisch ungünstiger Arbeitsformen

Beispiel: Gewichtsentlastende Drahtfederaufhängung Gegengewicht Rollfeder


Aufhängung von Werkzeugen

m
Aufhängung

Fstatisch = Ds Fstatisch = const. Fstatisch = const.

Kleinteil-
ablage Elektromyografische Untersuchung am musculus biceps (elektrische Aktivität)

ohne Gewichtsentlastung mit Gegengewicht mit Rollfeder

μV

Montagearbeitsplatz
Zeit
Gestaltungsempfehlungen:
 Minimierung statischer Arbeit
 Optimierung der Kraftflüsse
 Vermeiden von Körperhaltungen gegen die Schwerkraft
 Nutzung der Schwerkraft von Körper- und Lastgewicht
© Lehrstuhl und Institut für Arbeitswissenschaft, RWTH Aachen 8 - 19
Skelettapparat in Vorderansicht und
Wirbelsäule in Seitenansicht
Bandscheibe
C1-C2
C2-C3
C2-C3
C4-C5
Die Wirbelsäule in
 mehr als 600 C5-C6
Seitenansicht
C6-C7
Muskeln C7-Th1
Th1-Th2
 alleine 43 im Th2-Th3

Gesicht Th3-Th4
Th4-Th5

 ca. 40% der Th5-Th6


Th6-Th7
Körpermasse
Th7-Th8
bei Männern, Th8-Th9
25% bei Frauen Th9-Th10

 ca. 230 Th10-Th11

Th11-Th12
bewegliche
TH12-L1 Wirbelkörper
Gelenke
L1-L2

 Hand hat 27 L2-L3

Freiheitsgrade L3-L4

der Bewegung L: Lendenwirbel


L4-L5 Th: Brustwirbel
C: Halswirbel
Skelett L5-S1

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Berufskrankheit Rückenbeschwerden

Befragte, die in den letzten 12 Monaten an In Deutschland anerkannte bandscheiben-


Rückenschmerzen gelitten haben: bedingte Berufskrankheiten:
1998 2006 2008  BK 2108: Bandscheibenbedingte
80 Erkrankungen der
Quelle: www.bkk.de, 2008
70 Lendenwirbelsäule durch
70 71
60
68 67 langjähriges Heben und Tragen
schwerer Lasten oder durch
in Prozent

50 53 53 55 54 53
40
langjährige Tätigkeiten in extremer
30
Rumpfbeugehaltung.
20  BK 2109: Bandscheibenbedingte
n = 6341

n = 6016

n = 6013

n = 1673

n = 1865

n = 1811
n = 458

n = 472

n = 484

10 Erkrankungen der Halswirbelsäule


0 durch langjähriges Heben und
Total 14-19 Jahre 60+ Jahre Tragen schwerer Lasten auf der
Schulter.

Verpflichtung für Arbeitgeber (EU-Richtlinie 90/269/EWG):


 Arbeitsplätze bezüglich Gefährdungen beurteilen (siehe LE 6)
 Präventive Maßnahmen ergreifen

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Präventive Beurteilung der Wirbelsäulenbelastung

Gründe für präventive Beurteilung:

1) Die mögliche Krafterzeugung der 2) Die Belastung der Wirbelkörper und


Skelettmuskulatur übersteigt in der Regel der Bandscheiben ist nicht direkt
die Schädigungsgrenze der Wirbelsäule wahrnehmbar

Überbelastungen werden erst bei Schädigung, in der Regel nach längerer Belastungszeit bei
großer Belastung, deutlich (starke Schmerzen; keine medizinischen Maßnahmen zur
Schädigungsminderung gegeben)

Erfordernis zum präventiven Schutz vor Überbelastung


Kenntnis der zulässigen Kenntnis der Belastung der
Belastbarkeit der Wirbelsäule bei einer
Wirbelsäule bestimmten Tätigkeit

Beurteilung der Belastung

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Biomechanische Modellbetrachtung der
Wirbelsäulenbelastung (I)
Biomechanisches Ersatzmodell für das körpernahe Halten einer Last im Stehen
bei Vereinfachung des Eigengewichts der Körperteile:

aL (Hand-Wirbelsäule) aM

aG

FLast FGewicht

FMuskel
FBandscheibe
(Lenden-Kreuzbein-Übergang L5-S1)

Verstärkung der Lastwirkung auf die Bandscheiben durch Hebelwirkung!

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Biomechanische Modellbetrachtung der
Wirbelsäulenbelastung (II)
Zweidimensionales biomechanisches Modell für symmetrische manuelle Tätigkeiten in Bezug
auf die Körpermittelebene zur Beschreibung der Vorgehensweise bei der Berechnung von
Kräften und Momenten an einer Zwischenwirbelscheibe der Lendenwirbelsäule – hier Lenden-
Kreuzbein-Übergang (L5-S1)

Gesamtkraft
auf L5-S1
Druck-
komponente

Scher-
komponente
L5-S1

i: Körperteil
ai Gi: Eigengewicht Körperteil
ai: körperstellungsabhängige Hebelarme

© Lehrstuhl und Institut für Arbeitswissenschaft, RWTH Aachen Quelle: Jäger 1987 8 - 24
Biomechanische Modellbetrachtung der
Wirbelsäulenbelastung (III)
Scherkraft FS

Druckkraft FD

M  F A  a A   Gi  ai  FAbd  aP  FM  aM  0
i 1
n

 F F    G   F
A,
i 1
i, Abd ,  FM ,  FD  0
n

 F  F A,   Gi ,  FAbd ,  FM ,  FS  0
i 1

FA  a A  i1 Gi  ai  FAbd  aP
n
 
 FD  FA ,  i1 Gi ,  FAbd ,   cos ( FM ; FD )
n

am
ai
FM
FA  a A  i1 Gi  ai  FAbd  aP
n

i: Körperteil  
FS  FA ,  i1 Gi ,  FAbd ,   sin ( FM ; FD )
n

Gi: Eigengewicht Körperteil am


ai: körperstellungsabhängige Hebelarme

|FAbd|=pAbd·A FM

© Lehrstuhl und Institut für Arbeitswissenschaft, RWTH Aachen Quelle: Jäger 1987 8 - 25
Kräfte auf die Wirbelsäule in Abhängigkeit von der
momentanen Körperhaltung (statische Betrachtung)

kN kN kN
Kraft auf L5-S1[kN]

10 10 10

5 500 [N] 5 500 [N] 5 500 [N]


400 400 400
300 300 300
Grenzwert
200 200 200
nach NIOSH
(3,4 kN) 100 100 100
0 0 0

0 0 0
0° 30° 60° 90° 0° 30° 60° 90° 0° 30° 60° 90°
0° 30° 60° 90° 0° 30° 60° 90° 0° 30° 60° 90°
Neigungswinkel des Körpers [°]

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Wirbelsäulenbelastung: Innere Querkräfte
bei Beugung

Schematische Darstellung der unterschiedlichen


Flächenpressung der Bandscheibe bei geradem
und gebeugtem Rücken.

Die elastische Bandscheibe zwischen den


einzelnen Wirbeln ist wegen der geringen
m=50 kg
Fläche enorm hohen Drücken ausgesetzt.

Bei der Beugung des Rückens entstehen


darüber hinaus erhebliche innere Querkräfte.
Gefahren:
R = 300N/cm2
R =145N/cm2
• Bandscheibenschäden (bis hin zum
"Bandscheibenvorfall" bei sehr hohen
Querkräften)

• Reißen einzelner Muskelfasern oder ganzer


D D
Muskelteile durch zu starke
Zugbeanspruchung

• Verformung der Wirbelkörper


D = Druckbeanspruchung; Z = Zugbeanspruchung;
R = Oberflächenpressung

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Kräfte auf die Wirbelsäule in Abhängigkeit von der
momentanen Körperhaltung (dynamische Betrachtung)
Druckkraft auf L5-S1
in kN Vergleich unterschiedlicher
Zeitlicher Verlauf der Druckkraft auf L5-S1 Hebetechniken in Bezug auf die
Druckkraft auf die in kN Belastung der Wirbelsäule beim
Bandscheibe L5-S1 Heben einer 20 kg schweren
Last „aus dem Rücken“ oder
„aus den Beinen“ und
variierender Armhaltung

Grenzwert
nach NIOSH
(3,4 kN)

Fortschrittszeit in s
Fortschrittszeit in s

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Grenzwerte für Kompressionsbelastung
der Wirbelsäule
Die Grenzwerte für die Kompressionsbelastung der Wirbelsäule gelten für zweihändig,
symmetrisch, gleichmäßig und frontal zum Körper durchgeführte Hebetätigkeiten

1 Ansatz nach NIOSH (1981-1993) 2 Ansatz nach JÄGER et al. (2002):


(National Institute for Occupational Hierbei handelt es sich um eine biomechanische
Safety and Health, USA) Betrachtung. Empfohlene Grenzwerte:

Hierbei handelt es sich um eine Alter Frauen Männer


empirische Risikobetrachtung. 6,0 kN
20 Jahre 4,4 kN
Empfohlene Grenzwerte: 30 Jahre 3,8 kN 5,0 kN
Als Belastungsgrenzwerte werden 3,2 kN 4,1 kN
40 Jahre
Druckkräfte ≤ 3,4 kN als tolerabel
angesehen (= Action Limit). 50 Jahre 2,5 kN 3,2 kN
(Bedingung: Alter < 50 Jahre) > 60 Jahre 1,8 kN 2,3 kN

Pauschalangaben wie von NIOSH


Für bestimmte gesundheitlich bedenkliche Bewegungen, z.B.
werden den unterschiedlichen
Seitenneigung, Torsion etc. sind folgende Abschläge
physiologischen Randbedingungen
vorzunehmen:
(Geschlecht, Alter) und der
Bewegungsart nur unzureichend -10 % bei Seitenneigung bzw. Verdrehung um 15..30°
gerecht. -15 % bei Verdrehung um 30..60 °
-25 % bei Verdrehung um 60..90°
-25 % bei ruckartigen Bewegungsabläufen

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Beurteilung manueller Handhabung von Lasten nach
DIN EN 1005-2 (2009)

 Reduzierung der Risiken für Gesundheit und Sicherheit der Arbeitsperson


beim Heben, Senken und Tragen (< 2 Meter) durch:
1. Vermeidung manueller Handhabung von Lasten, wann immer dies möglich ist
2. Anwendung technischer Hilfsmittel
3. Verminderung des Restrisikos durch Optimierung Handlungsabläufe
 Risikobeurteilung manueller Handhabung von Lasten nach DIN EN 1005-2

Detailstufe 1 Nein Detailstufe 2 Nein Detailstufe 3 Nein


Grobanalyse vor- Maßnahme zur Detaillierte Risiko- Maßnahme zur Weitere Einfluss- Um-
gesehener Designs Verbesserung der beurteilung Verbesserung der größen beachten /Neugestaltung ist
ergonomischen ergonomischen erforderlich
Gestaltung Gestaltung
Kriterien durchführen
Kriterien durchführen
Kriterien
erfüllt? erfüllt? erfüllt?
Ja Ja Ja

Die Beurteilung ergibt ein Risiko innerhalb annehmbarer Grenzen

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Risikobeurteilung manueller Handhabung von
Lasten nach DIN EN 1005-2, Detailstufe 3

 Berechnung Risikoindex RI
 Vergleich zwischen tatsächlicher Masse M der Last und Massegrenze RML
 Risikoindex liefert eine Größe für relative Abschätzung des körperlichen
Beanspruchungsgrades für eine bestimmte Tätigkeit manueller Handhabung
von Lasten

M
RI =
RML

 RI ≤ 0,85 vertretbares Risiko


 0,85 < RI < 1,0 signifikantes Risiko (Um-/Neugestaltung empfohlen)
 RI ≥ 1,0 Um-/Neugestaltung erforderlich
 Massegrenze RML ist Gewicht der Last, welches nahezu alle gesunden
Arbeitspersonen über eine bestimmte Dauer (z.B. 8 Stunden) ohne
erhöhte Gefahr von Rückenverletzungen bewältigen können
 Massegrenze RML gibt sozusagen als zulässige Masse eine Maximallast für die
herrschenden Arbeitsbedingungen an

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Berechnung der Massegrenze RML nach DIN EN 1005-2
für ein bestimmtes Set an Arbeitsbedingungen

 RML = Mref ∙ VM ∙ DM ∙ HM ∙ AM ∙ CM ∙ FM ∙ OM ∙ PM ∙ AT
 Bezugsmasse Mref
- Auswahl entsprechend der anvisierten Anwenderpopulation nach DIN EN 1005-2
- z.B. Mref = 25 kg für 85 % der erwachsenen Arbeitsbevölkerung zulässig
 Höhenmultiplikator VM
Mref
- Vertikaler Abstand V

D
 Hubmultiplikator DM
- Hubdistanz D
 Abstandsmultiplikator HM
- Horizontaler Abstand H

V
 Asymmetriemultiplikator AM
- Asymmetriewinkel A
 Greifmultiplikator CM
H
- Greifqualität A
 Frequenzmultiplikator FM
- Hubfrequenz F und Arbeitsdauer d
Greifqualität
 Multiplikatoren für einhändiges Arbeiten OM,
für Arbeiten zu zweit PM und für Nebenarbeiten AT
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Erweiterte Analyse durch Modellierung und Simulation

 AnyBody
 System zur biomechanischen Simulation
menschlicher Bewegungen
 simuliert das muskulo-skeletäre System
oder den Gesamtkörper mit detailliertem Modell
der Muskeln und Knochen des Körpers
 kein Programm, sondern Rahmenwerk zur
Simulation auf PC (quasi Scriptsprache)
 derzeitige Anwendungsfelder:
- Automobil
- Medizin/Rehabilitation
- Flugzeug/Aerospace
- Produktionsergonomie
- Sportwissenschaft
 entwickelt von der Aalborg
University in Dänemark
 www.anybodytech.com
(Bildquelle: http://www.anybodytech.com)

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Lernerfolgsfragen

 Welche energetischen Arbeitsformen kennen Sie?

 Wie unterscheidet sich statische von dynamischer Muskelarbeit?

 Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Formen der Muskelarbeit


und der Muskelermüdung?

 Wie sind Pausen im Arbeitsablauf zu gestalten, um eine optimale


Erholungswirkung zu erzielen?

 Warum ist die Wirbelsäule bei körperlicher Arbeit besonders gefährdet?

 Welche Gestaltungsgrundsätze bzgl. der Lastenhandhabung sind bei der


Gestaltung von Arbeitsplätzen zu berücksichtigen?

 Welche Einflussgrößen auf die Belastung der Wirbelsäule gehen in die


Berechnung von zu hebenden Maximallasten nach dem NIOSH-Verfahren
ein?

© Lehrstuhl und Institut für Arbeitswissenschaft, RWTH Aachen 8 - 34


Literatur
 Caffier, G.; Steinberg, U.; Liebers, F.: Praxisorientiertes Methodeninventar zur Belastungs- und
Beanspruchungsbeurteilung im Zusammenhang mit arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen.
Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund/ Berlin 1999.
 Schlick, C., Bruder, R., Luczak, H.: Arbeitswissenschaft, 3.Aufl. Springer, Berlin, Heidelberg, 2010.
 Luczak, Volpert [Hrsg.]: Handbuch Arbeitswissenschaft. Schäffer-Poeschel, Stuttgart, 1997.
 Reichel et al.: Grundlagen der Arbeitsmedizin. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, 1985.
 Rohmert; W.; Rutenfranz; J. [Hrsg.]: Praktische Arbeitsphysiologie. Georg Thieme, Stuttgart, 1983.
 Jäger, M.: Biomechanisches Modell des Menschen zur Analyse und Beurteilung der Belastung der
Wirbelsäule bei der Handhabung von Lasten. Dissertation TU Dortmund, VDI-Verlag GmbH,
Düsseldorf, 1987
 Jäger, M.: Biomechanical aspects concerning the assessment of lumbar load during heavy work ans
uncomfortable postures with special emphasis to the justification of NIOSH’s biomechanical criterion.
In: Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin: Problems and Progress in Assessing Physical
Load and Musculoskeleton Disorders. Tagungsbericht 10 Berlin 1996.
 Jäger, M., Göllner, R., Jordan, C., Theilmeier, A., & Luttmann, A. (2002). Belastung der Lendenwirbel-
säule beim Heben und Umsetzen von Lasten. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 56(1-2), 93-105.
 Silbernagl , S.; Despopoulos , A.: Taschenatlas der Physiologie, Georg Thieme, Stuttgart, 2007.
 Strasser, H.: Ergonomische Qualität handgeführter Arbeitsmittel - elektromyographische und
subjektive Beanspruchungsermittlung. Ergon, Stuttgart 2000.
 Wilkie, D. R.: The relation between Force and Velocity in human muscle. J Physiol 110:249–280,
1950.

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