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Halbverse in lückenhaften Entwürfen

Es bleibt, die restlichen Fälle von unvollständigen Halbversen zu


betrachten, wo eine glatte Ablösung eines Textstücks unmöglich scheint.
Mitaufgenommen sind die vier oben (S. 40ff.) bereits erwähnten Stellen, wo
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zwar eine saubere Abtrennung eines Zusatzes möglich wäre, die jedoch
trotzdem in die folgende Kategorie zu gehören scheinen; die betreffenden
Halbverse sind in der folgenden Liste kursiv gedruckt. Neben den beiden oben
diskutierten Stellen aus dem siebten Buch (439 und 455) handelt es sich um
folgende, insgesamt 25 Halbverse:

Π 640
ΠΙ 316
340
470
527
640
For personal use only.

661 (s. oben S. 41,46 mit Anm. 117)


IV 400
V 322
Vm 469
536
IX 295
467
520
721
761
X 17
284 (s. oben S. 42, 44)
490
580
728 (s. oben S. 40f. Anm. 85)
876
XII 631

Nun muß natürlich zunächst einmal der Vorbehalt gemacht werden, daß
grundsätzlich auch dort, wo keine glatte Abtrennung eines Textstückes
möglich ist, nachträgliche Zusätze vorliegen können, die einen früheren Text
ganz oder teilweise verdrängt haben (s. oben S. 40ff.). Eine derartige
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Hypothese ist in einigen der hier aufgelisteten Fälle nicht völlig


ausgeschlossen, doch haben einerseits die beiden zu Beginn besprochenen
Halbverse aus dem Redeaustausch Turnus-Allecto im siebten Buch (439 und
455) gezeigt, daß Halbverse durchaus auch ursprüngliche Lücken im
Erstentwurf darstellen können, und eine nähere Analyse des Textbefundes
spricht in den meisten der hier aufgelisteten Fällen mehr oder weniger
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eindeutig für eine derartige Interpretation. In der Mehrzahl der Fälle wird sich
zwar zeigen, daß die unvollständigen Verse unseres Textes letztendlich doch
auf sukzessive Stadien in Vergils Ausarbeitung des Textes schließen lassen, im
Gegensatz zu den oben aufgelisteten Fällen bleibt hier jedoch eine lückenhafte
Ausführung des Erstentwurfs durch den Dichter zurück.
Den krassesten Fall einer unausgefüllten Lücke stellt gewiß der bereits
erwähnte Halbvers III 340 dar, der auch syntaktisch unvollständig ist 130 . Die
Stelle wurde oben bereits im Zusammenhang mit der Creusaszene besprochen
(s. oben S. 35ff.); es ist klar, daß der Text hier in höchstem Grade skizzenhaft
blieb. Besonders starke Spuren von Unfertigkeit und Lückenhaftigkeit zeigt
auch die Umgebung des Halbverses IV 400 131 . Dem mit ac uelut eingeleiteten
Gleichnis 402-407 fehlt die Apodosis (s. oben S. 40f. Anm. 85). Die Lücke
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in V 322 wurde oben bereits im Zusammenhang behandelt (s. oben S. 30).


Interessanterweise endet auch im neunten Buch ein Halbvers mit den Namen
des Nisus und Euryalus (467). Die Lückenhaftigkeit des Textes ist
offenkundig; die Genitive Euryali et Nisi sind über den vorhergehenden
Halbsatz (multo clamore sequuntur) kaum mehr mit dem Vorigen
koordiniert 132 .
Auch der nicht weit entfernte Halbvers IX 520 steht in einem nur
skizzenhaft ausgearbeiteten Kontext. Hier könnte man zwar daran denken,
515-20 (u.U. sogar 512-20) als Zusatz zu betrachten, doch eine nähere
Analyse des Passus legt die Vermutung nahe, daß der gesamte Passus 503ff.
mangelhaft ausgearbeitet ist. Nach der achtzehn Verse in Anspruch nehmenden
Bestürmung des trojanischen Lagers durch Rutuler und Volsker (503-20)
kann die Perikope (vor dem die Aristie des Turnus einleitenden Musenanruf
525ff.) kaum mit vier Versen (521-4) über die Aktivitäten von Mezentius und
Messapus parte alia (521) enden, pars in 507 bleibt ohne Pendant; dagegen
130
Zu einem weiteren möglicherweise syntaktisch unvollständigen Vers s. oben S. 40
Anm. 84; vgl. auch unten S. 69.
131
Zu den inhaltlichen Problemen s. Georgii 220, Walter 45f.
132
S. Walter 59. Die Integration des Halbverses ist so mangelhaft, daß Heynes Verdacht
auf Interpolation der Genitive durchaus Berechtigung hat; freilich müßte in jedem Falle eine
Lücke in Vergils Text angenommen werden, da eine Identifikation der aufgespießten Köpfe
unentbehrlich ist. Zu den möglichen weiteren Implikationen des Halbverses hinsichtlich der
Datierung des neunten Buches s. unten S. 62.
Halbverse in lückenhaften Entwürfen 51

werden dann Mezentius und Messapus viel weiter unten eben mit parte alia
eingeführt, und 523f. (IX 523 = VII 691!) sind eine seltsame Dublette zu
506f. Zudem sollte man, denke ich, bereits vor dem die Metzelszene der
Turnusopfer einleitenden Musenanruf eine kurze Erwähnung des Turnus
erwarten. 503-20 und 521-4 dürften zwei unkoordinierte Entwürfe für den
Auftakt der Schlacht um das Lager darstellen 133 .
Ein weiterer Halbvers des dritten Buches (III 316) sowie II 640 und X
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876 1 3 4 gehören jedesmal an den Anfang einer kurzen Rede, der mit einem
Halbvers abbricht 135 . Dies erinnert deutlich an die unvollendeten Reden des
Turnus und der Allecto in Buch VII, und ich denke, man wird auch VIII 536
hierherrechnen dürfen 1 3 6 . Bezeichnenderweise steht III 316 nahe bei dem
soeben erwähnten Halbvers III 340 in der besonders lückenhaften
Andromacheszene, und auch die Achaemenidesszene weist mit III 640 und
661 zwei Halbverse in kurzem Abstand auf. Der zweite könnte auf einen
Zusatz zurückgehen (s. oben S. 49), doch im ersten Falle sehe ich keine
andere Möglichkeit als die Annahme einer Lücke.
Besonders deutlich ist die mangelnde Ausarbeitung einer kurzen Rede in X
875f.; die eineinhalb Verse bieten nur einen ersten Entwurf für Aeneas' Gebet,
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das nicht weiter ausgearbeitet wurde. Genau umgekehrt steht es mit einer
ganzen Reihe von Fällen, wo Vergil offenbar zunächst eine direkte Rede voll
ausgearbeitet, sie jedoch noch nicht voll in den Kontext integriert hat: III 527,
VIII 469, IX 295, X 17, 490, 580 und XII 631. Hier schließt der Vers, der
das redeeinleitende verbum dicendi enthält, nicht an den folgenden Redeanfang
an 137 . Bedenkt man, daß Vergil in der Gestaltung der Redeeinleitung und des
Redeabschlusses sich einer wohldurchdachten Formeltechnik bedient, die eine

133
S. auch P. Deuticke, Vergils Gedichte III (Berlin 1904) 285. Vgl. ferner die anderen
beiden mangelhaft ausgearbeiteten Schlachtszenen im neunten Buch 717ff. und 756ff. (s.
unten S. 52f.).
134
Vgl. Walter 62.
135
Zu III 316 vgl. die plausiblen Vermutungen Walters 39.
136
Die inhaltlichen Mängel der ganzen die Schildbeschreibung einleitenden Partie
(520ff.) hat Walter (58) im Anschluß an Ladewig (Über einige Stellen des Vergil [Grat. Sehr.
Neustrelitz 1853] 3ff.) richtig hervorgehoben. Auch hier dürfte der Text ähnlich wie in der
Tiberszene noch in einem gewissen Rohzustand sein. Auch Eden (zu 532ff.) spricht unter
Verweis auf seine Anmerkungen zum Einzelnen von einer „number of obscurities" in der
Rede, die den Eindruck mangelnder Vollendung entstehen lassen; ich würde weniger von
„obscurity" sprechen, doch erweckt die Ellipse in 5 3 4 - 6 den Eindruck extremer
Komprimierung, die u.U. als Zeichen mangelnder Vollendung gewertet werden könnte (s.
oben S. 19 Anm. 32). Kein Problem sehe ich in 533: Olympo gehört eindeutig zum
Vorigen.
137
Vgl. Sparrow 37f.
52 Halbverse in lückenhaften Entwürfen

empfindliche Mitte zwischen Formelhaftigkeit und variatio einhält 138 , so ist es


äußerst plausibel, daß er öfters zunächst einmal auf die Formulierung der
Redeeinleitung und, wie wir oben gesehen haben (s. oben S. 45f.) auch des
Redeabschlusses, verzichtet hat und zunächst nur die Rede selbst
ausformulierte. Die Integration der Rede in den Kontext durch die
Redeeinleitung mag er sich für einen späteren Zeitpunkt aufgespart haben,
wenn er bereits einen weiteren Überblick über die Bedürfnisse des
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Gesamtwerks haben würde 139 . Die erhaltenen Halbverse dürften erste Skizzen
für eine Redeeinleitung darstellen 140 . In diesen Zusammenhang gehört, wie
wir oben gesehen haben auch III 470, wo wir in 463^470 den Redeabschluß
samt eines Entwurfes zur Überleitung ähnlich dem Zusatz I 631-635 fassen.
Nur daß im Gegensatz zu den oben (S. 45f.) aufgelisteten Stellen, der
ursprüngliche Textentwurf grob lückenhaft bleibt; der auf den Halbvers 470
folgende Vers stellt gewiß den Abschluß der Überleitung dar, schließt jedoch
noch nicht nach oben an. Somit weist diese Gruppe von Halbversen doch
wieder auf sukzessive Stadien in der Ausarbeitung, nur daß hier der
Erstentwurf keinen wie auch immer im Zusammenhang lesbaren Text ergab.
Dasselbe gilt für die beiden noch verbleibenden Halbverse aus dem neunten
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Buch (721 und 761). Auf beide Halbverse folgt unvermittelt der Einsatz einer
Einzelkampfszene, der im ersten Falle jede Verbindung zum Vorigen fehlt. Es
scheint, daß Vergil zuweilen zunächst Einzelkämpfe und Aristien
ausgearbeitet, die Einordnung in den größeren Kampfzusammenhang jedoch
ausgespart hat 1 4 1 . 717-21 und 756-761 scheinen erste Ansätze zu
verbindenden Versatzstücken zu sein, die Vergil zunächst ausgespart hatte 142 .

138 v g j dazy di e neueste, in der Sammlung des Materials umfassendste, jedoch leider
recht oberflächliche Arbeit von W. Moskalew, Formular Language and Poetic Design in the
Aeneid, Mnemosyne Suppl. 73 (Leiden 1982), insbesondere 63ff. ('Speaking Formulae');
ansonsten bereits Heinze 366 Anm. 2, 462ff. Die Sensibilität gegen die leere
Formalhaftigkeit traditioneller epischer Redeeinleitungen illustriert Lucil. fr. 18.
139
Vgl. auch Walter 42.
140
Es ist bemerkenswert, daß alle Lücken im zehnten Buch gleichermaßen zu erklären
sind.
141
Ein weiteres Indiz dieser Technik scheinen XI636-654 zu sein, in denen Mackail (ad
loc.) mit einiger Wahrscheinlichkeit einen nicht integrierten Entwurf Vergils für eine
Einzelkampfszene vermutet hat, den Varius an dieser Stelle eingeschoben hat.
142
Im Falle von 717-21 ist das Provisorium besonders deutlich zu erkennen. Das
Subjekt zu conueniunt (720) ist unerträglich unklar; man kann höchstens die beiden Armeen
verstehen, und schon das ist nach Teucris in 719 schlecht. Der Kontext freilich legt eher die
Rutuler nahe (Hardie ad loc. behauptet ohne nähere Erklärung: „undique conueniunt
applies only to the Latins"); vgl. Conington-Nettleship Kommentar ad loc.: „The meaning
seems to be that the two armies join battle, though one is inspirited, the other disheartened.
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Z u s a m m e n f a s s e n d wird man sagen dürfen, daß in den oben (S. 4 9 )


aufgelisteten, mit VII 439und 4 5 5 , 2 5 Fällen unvollendeter Halbverse der uns
überlieferte T e x t in der R e g e l aus einer mehr oder w e n i g e r g r o b e n
Z u s a m m e n s t ü c k u n g separat ausgearbeiteter Einzelpassagen beruht, ganz
ähnlich d e m Textbefund am Anfang des achten Buches, w i e wir ihn oben
interpretiert haben (s. oben S. 26ff.).
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It is conceivable however that we may be meant to think of the Rutulians alone, which
would agree better with the next line." Ferner vgl. Walter 60.
Die beiden Versatzstücke 717-21 und 756-761 sind kläriich aufeinander abgestimmt. Die
allgemeine Flucht, die die 'Beinahe-Episode' 756ff. (s. dazu H.-G. Nesselrath,
Ungeschehenes Geschehen [Beiträge zur Altertumskunde 27, Stuttgart 1992] 12ff„ 76, s.
auch Hardie ad loc.) einleitet, wird 717-21 vorbereitet; freilich wird sie durch die
dazwischenstehende Einzelepisode 'Turnus-Pandarus' nicht hinreichend motiviert, und 756
schließt so recht vage an das Vorhergehende an.

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