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Die Halbverse des siebten Buches

D i e Erforschung der Entstehung der Aeneis ist in neuerer Zeit durch die
Monographie von Berres um einen wichtigen Beitrag bereichert worden. Auch
w e n n ich manches an Berres' Methode s o w i e seine Ergebnisse im einzelnen
für verfehlt halte 1 , so hat seine scharfsinnige Arbeit doch nicht nur das
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Verdienst, den beruhigenden Frieden der harmonisierenden Vergilinterpreta-


tion erheblich gestört zu haben 2 ; Berres hat zu Recht seinen Ausgang v o n den
unvollendeten Halbversen, d.h. den unübersehbaren konkreten Spuren der
U n f e r t i g k e i t d e s V e r g i l s c h e n W e r k e s 3 , g e n o m m e n und e n e r g i s c h und
konsequent versucht, sie als Indizien späterer Einschübe zu verwerten 4 .

1
Ich will im folgenden auf unnötige Polemik verzichten und Berres eher für seine
positiven Beiträge zitieren; um meine Kritik auf das Unabdingbare beschränken zu können,
schicke ich voraus, daß ich Berres' Versuch, im Anschluß an die Mahnung Büchners (405 =
1427) verwandte Formulierungen in einzelnen vergilschen Versen genetisch zu verwerten, für
keiner Widerlegung wert halte (vgl. auch Suerbaum 2,406), und ebensowenig kann ich seine
daraus abgeleitete Behauptung von der sukzessiven Entstehung der Aeneis ernst nehmen („if,
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one should add, it were taken seriously, it would invalidate virtually all writing on the
growth of the Aeneid that there has ever been", Horsfall 2, 15; zur Datierung der einzelnen
Bücher s. unten S. 54ff.). Ich möchte es jedoch nicht versäumen darauf hinzuweisen, daß
Reichel (376ff.), der mit gutem Grund eine sukzessive Abfassung der Ilias in
erzählchronologischer Folge vertritt, auf ein interessantes Indiz der Lexikostatistik verweist
(378 Anm. 23): der erstaunlich geringe Anstand der nur an zwei Stellen belegten Iterata (s.
F.X. Strasser, Zu den Iterata der frühgriechischen Epik [Beiträge zur Klassischen Philologie
156, Königstein 1984] 66); für Vergil gilt genau das Gegenteil (s. meinen demnächst im
Hermes erscheinenden Beitrag zur Vergilinterpolation). Ebenso unglücklich ist Berres'
Verfechtung der unseligen Überarbeitungshypothese des vierten Georgicabuches (in neuerer
Zeit immerhin noch verteidigt von Jocelyn in: Atti del convegno mondiale di studi su
Virgilio [1981], Milano 1984, I 439ff. und Leffevre, WS 20 [1986] 183-192;
bezeichnenderweise wird sie selbst von einem der Zuverlässigkeit der antiken Vergilerklärung
eher positiv gegenüberstehenden Gelehrten wie Timpanaro abgelehnt; s. Timpanaro 56 Anm.
8, ansonsten s. jetzt die Einleitung zu R.F. Thomas' Kommentar [Cambridge 1988] 13ff.;
zur Struktur der Bugonie-Passage vgl. auch Horsfall in der Einleitung zu A. Biottis neuem
Kommentar zum vierten Buch [Bologna 1994] 24ff. und Biotti zu 315-558 [S. 248f.]).
Leider hat er auch gerade das Verfehlte in seiner in vielem durchaus verdienstvollen Analyse
der Halbverse (s. dazu unten S. 23 Anm. 40) in einem neueren Beitrag (Vergil und die
Helenaszene [Heidelberg 1992]) in unfruchtbarer Weise weiterentwickelt, den ich im
folgenden unberücksichtigt lasse. Trotz aller schweren Bedenken überwiegt jedoch der
positive Beitrag von Berres' Arbeit und stellt einen durchaus schätzenswerten Stimulus für
die moderne Vergilanalyse dar.
2
Gute methodische Diskussion bei Berres 25Iff.
3
Auch in neuster Zeit wird im Anschluß an das Standardwerk Sparrows noch vereinzelt
die Ansicht vertreten, die unvollständigen Halbverse könnten zumindest teilweise von Vergil
12 Die Halbverse des siebten Buches

Grundsätzlich wäre es gewiß denkbar, daß Vergil in einem ersten


Durchgang durch den Text Verse zunächst unvollendet gelassen hat, wie die
antiken Nachrichten über seine Arbeitsweise nahezulegen scheinen 5 . Ein
derartiges Vorgehen läßt sich auch in der Tat anderswo gut belegen; ich
verweise hier nur auf die unvollendet hinterlassenen Werke von Solomos
(Κρητικός,'Ελεύθεροι Πολιορκημένοι, Πορφύρας 6 ), die aus einer Serie von
mit zahlreichen unvollständigen Versen durchsetzten Entwürfen bestehen,
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Schillers Dramenfragmente oder auf Hölderlins Empedoklesdramen und


fragmentarische Gedichte. Freilich zeigt gerade der Vergleich des
Textbefundes in der Aeneis mit den unvollendeten Versen bei Solomos,
Schiller oder Hölderlin, daß der Hintergrund der Vergilschen Halbverse im
allgemeinen ein anderer ist. Läßt der Dichter bei einem ersten Durchgang
Lücken, wo er um das passende Wort oder die passende Phrase verlegen ist,
so führt dies nicht unbedingt zum Fehlen des Versendes, sondern zu Lücken

intendiert gewesen sein (s. etwa Geymonat 287), und in der Tat mag man trotz des Fehlens
echter Parallelen für eine derartige Technik (vgl. Peases konzisen Überblick über die
Halbverstheorien der älteren Forschung zu IV 44; neuerdings auch Baldwin, SO 68
[1993] 144ff.) eine Neuerung Vergils vielleicht nicht a priori ausschließen können.
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Angesichts der Tatsache, daß zumindest Halbverse wie etwa III 340 gewiß als unvollständig
angesehen werden müssen, kann eine derartig revolutionäre Neuerung jedoch nicht einfach
daraus erschlossen werden, daß einige Halbverse manchem an ihrer Stelle wirkungsvoll
scheinen mögen („It must also be said that the fact that hemistichs were not intended to be
permanent is not necessarily incompatible with a modern response which may find some of
them effective", Gransden S. 48; vgl. auch die vernünftige Argumentation Crumps 8ff.).
Zumindest müßten die Verfechter dieser Interpretation objektiv nachvollziehbare Kriterien zu
entwickeln suchen, an welchen Stellen und zu welchem Zweck Vergil unvollständige Verse
zugelassen hat. Sparrow 41 leistet dies nicht, und mir jedenfalls fällt es schwer, die
sentimentalen Ergüsse mancher Vergilkommentatoren zu einzelnen angeblich eindrucksvollen
Halbversen nachzuvollziehen. Wenn die Halbverse eine bewußte Neuerung darstellten, würde
man gewiß auch eine größere metrische Einförmigkeit erwarten (zur metrischen Struktur der
Halbverse s. Sparrow 27).
4 „Es hat sich gezeigt, daß die Halbverse, die trotz umfangreicher Literatur nie tiefgreifend

bearbeitet und als Randerscheinung oft auch vernachlässigt wurden, offenkundiges Zeugnis
sind für den stark überarbeiteten Zustand der Aeneis. Jede Aeneisanalyse hätte von hier ihren
Anfang nehmen müssen" (Berres 106). Dies ist ein richtiger methodischer Ansatz. Berres'
(VIII) hartes Urteil über die ältere Forschung ist freilich durch nichts gerechtfertigt.
Gegenüber dem wichtigen Werk Cartaults, der tüchtigen und höchst verdienstlichen
Dissertation Walters und auch dem trotz einer gewissen Oberflächlichkeit insgesamt doch
äußerst klugen Sparrow stellt Berres geradezu einen Rückschritt dar (s. unten S. 23 Anm.
40). Gute Einzelbeobachtungen auch allenthalben bei Mackail.
5 Zu den antiken Berichten über Vergils Arbeitsweise s. unten S. 63ff.
6 Weitere Fragmente im Anhang ('Επίμετρο, S. 239ff.) des zweiten Bandes der

Gesamtausgabe von L. Politis (Athen 1955, mehrfach nachgedruckt); vgl. auch id.,
Διωνισίου Σωλομοΰ αυτόγραφα εργα (Thessaloniki 1964).
Die Halbverse des siebten Buches 13

an jeder beliebigen Stelle des Verses. Insbesondere führt dieses Verfahren zu


zahlreichen auch syntaktisch unvollständigen Versen, und genau dieses Bild
bieten die unvollständigen Verse bei Solomos, Hölderlin und Schiller7. Bei
Vergil hingegen fehlt stets das Versende, und es ist auch wohlbekannt, daß
fast alle der immerhin 58 Halbverse in Vergil syntaktisch vollständig sind,
wobei der syntaktische Einschnitt fast immer nach dem Halbvers eintritt und
zumeist nicht einmal eine grobe inhaltliche Lücke entsteht8.
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Nun könnte der Textbefund in der Aeneis natürlich u.U. von der Politik der
posthumen Ausgabe bestimmt sein, und bis zu einem gewissen Grade dürfte
dies auch tatsächlich der Fall sein. Wir werden weiter unten (S. 77ff.) noch
darauf zu sprechen kommen. In einzelnen Fällen ist es sicher denkbar und
plausibel, daß ein unvollendeter Halbvers einen lückenhaften Erstentwurf
Vergils bezeugt, zunächst einmal weist der Textbefund jedoch prima facie auf
eine andere Erklärung, und eine Prüfung der einzelnen Passagen wird zeigen,
daß lückenhafte Ausarbeitung eindeutig nicht die Ursache für die Mehrzahl der
unvollendeten Verse ist. Selbst dort, wo wir tatsächlich mit einer lückenhaften
Ausführung eines Textentwurfes durch Vergil rechnen müssen, liegen zumeist
spezifische Bedingungen vor, die auf sukzessive Stadien in der Ausarbeitung
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7
Zur Evidenz bei Solomös vgl. S. 197ff. des ersten Bandes der Gesamtausgabe von
Politis (Athen 1948, mehrfach nachgedruckt). Beispiele für syntaktisch grob unvollständige
Verse etwa Κρητικός 22.45,49; fehlender Versanfang etwa ΕΠ 5. 1, in Politis' Apparat S.
215; Lücke in der Versmitte etwa im Apparat zu ΕΠ 3 (S. 213). Weitere Beispiele finden sich
in Politis' kritischem Anhang (Σημίιώσεις) zu Εις τό θάνατο τοϋ Λόρδ Μπάιρον S. 345,
zum Λαμπρός S. 352f. und zu ΕΠ S. 355, und zahlreich im Anhang des zweiten Bandes (s.
die vorige Anmerkung). Zu Hölderlin vgl. e.g. Vv. 1363,1576,1592 der ersten Fassung des
Empedokles oder die zahlreichen unvollendeten Gedichte und Entwürfe in Bd. 2 der
Beissnerschen Ausgabe. Beispiele aus Schiller finden sich in den Bänden 11 (Demetrius) und
12 (Dramatische Fragmente) der Schiller-Nationalausgabe (Weimar 1971 bzw. 1982).
Lehrreich im Vergleich mit Vergil ist im übrigen in vieler Hinsicht ein Blick auf die
Entstehung von Goethes Achilleis (vgl. auch unten S. 66 Anm. 181), wo wir in der auf
Goethes Diktat von seinem Sekretär Geist geschriebenen Erstfassung (H a in der
Akademieausgabe [Bd. 9, 2; Berlin 1963]) einige später von Goethe (G^ und G c ) ergänzte
Lücken vorfinden (vgl. dort S. 307ff.; vgl. neuerdings auch E. Dreisbach, Goethes
„Achilleis" [Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte 130, Heidelberg 1994] 39ff.). V. 34
liegt in der Tat ein den Halbversen in der Aeneis strikt paralleler Fall vor; hier wird der Vers
einfach von G^ aufgefüllt. In V. 50-1 fehlt im Erstentwurf wieder das Versende von V. 50;
doch geht im Gegensatz zu den meisten Halbversen in der Aeneis der Satz über die Lücke
hinweg, und Goethes Ergänzung von 50 ändert zugleich den Anfang von 51. Mit Vv. 73 und
259f. werden auch ganze Verse zugesetzt; 145f. wird ein Vers in H a von G c durch zwei neue
ersetzt. 225f. sind zwar ebenfalls syntaktisch vollständig doch fehlt in H a jetzt der Beginn
von 226, und die Ergänzung G c ' s in 226 greift auch in den Text von 225 ein.
8
S. die Übersicht bei Goold 150ff. = 109ff.; Verzeichnis der Halbverse etwa auch bei
Berrcs 332; vgl. auch meine Listen unten S. 40ff. und 49.
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weisen (s. unten S. 77ff.). Da in der neueren Forschung, insbesondere auch in


maßgeblichen Vergilkommentaren immer noch vielfach die naive Ansicht
perpetuiert wird, Vergil habe mit den unvollständigen Halbversen einfach
Lücken gelassen, die er später auszufüllen gedachte 9 , ist es ein nicht zu
unterschätzendes Verdienst der Arbeit von Berres, entschieden dagegen
argumentiert zu haben. Nun ist freilich in der recht umfangreichen älteren
Forschung zu den unvollendeten Halbversen inzwischen doch ein Stand
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erreicht, bei dem m.E. die korrekte Erklärung des Sachverhalts für die meisten
Fälle bereits von irgend jemandem gefunden ist 10 , und ich glaube, daß mit
einigen wenigen Präzisierungen und Zusätzen eine umfassende Überschau
möglich ist.
Zunächst scheint es freilich sinnvoll, von der Diskussion einiger
Einzelstellen auszugehen, um einen Einstieg in die Problematik zu gewinnen.
Einen guten Eindruck von den verschiedenen Ursachen für unvollendete Verse
in Vergils Epos vermittelt ein Blick auf die Halbverse des siebten Buches, die
ich hier zunächst einmal kurz besprechen will, auch wenn meine Diskussion
kaum über das in der älteren Forschung bereits Gesagte hinausgeht. Im siebten
Buch finden sich nebeneinander eine Reihe von besonders deutlichen Fällen
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für die verschiedenen Entstehungsursachen für unvollendete Verse; außerdem


wird es sich im Verlauf der Untersuchung auch zeigen, daß die unvollendeten
Halbversen nicht nur hinsichdich ihrer Anzahl, sondern auch hinsichtlich ihrer
Ursache durchaus ungleichmäßig auf die verschiedenen Bücher der Aeneis

9
Besonders simplizistisch etwa Eden zu VIII41 oder auch (unter Berufung auf die antiken
Nachrichten) ein so hervorragender Kenner wie W.A. Camps, An Introduction to Vergil's
Aeneid (Oxford 1969) 129; doch selbst Austin, dessen Kommentare zur Natur der Halbverse
der Wahrheit recht nahe kommen, drückt sich seltsam unklar aus; so etwa zu II 66: „some
(sc. half-lines) look as if Virgil had not yet found exactly what he wanted to complete them
(e.g. 346, 614, 640, 757), others support a completed run of thought that he has not yet
integrated with the context (e.g. 233, 468, 623, 720)." Verständlicher äußert er sich
immerhin zu IV 44, wo er im Anschluß an Mackail (S. lif.) die verschiedenen
Erklärungsmöglichkeiten für Halbverse folgendermaßen zusammenfaßt: „1) few can be
detached, forming notes at the beginning or end of a speech (e.g. V 653, IX 295), 2) a few
others, though not resembling such notes, could be easily removed without any obvious gap
resulting (e.g. 503 'ergo iussa parat'), and a somewhat greater number form part of a line and
a half which could be similarly detached (e.g. 515-16), the rest, by far the majority, are part
of the structure and could not be removed without breaking the sense or the connection (here,
germanique minas is needed to explain the previous line)." Sobald man Ablösungen von
mehr als anderthalb Versen ins Auge faßt, wird die zweite Gruppe auf Kosten der dritten die
größte. Recht umsichtig in der Beurteilung der Halbverse verfährt im übrigen der neue
Kommentar zum zehnten Buch von Harrison.
10
Insbesondere Cartault, Walter und Sparrow haben oft das Richtige erkannt (s. unten S.
22f.).
Die Halbverse des siebten Buches 15

verteilt sind, und wir werden daraus noch die entsprechenden Schlüsse ziehen
(s. unten S. 58f.). Beginnen wir mit einem besonders eindeutigen Fall eines
nicht integrierten, ja überhaupt nicht integrierbaren Zusatzes in der Aeneis, VII
698ff.:

ibant aequati numero regemque canebant:


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ceu quondam niuei liquida inter nubila cycni


cum sese e pastu referunt et longa canoros 700
dant per colla modos, sonat amnis et Asia longe
pulsa palus.
nec quisquam aeratas acies examine tanto
misceri putet, aeriam sed gurgite ab alto
urgeri uolucrum raucarum ad litora nubem. 705

Hier gibt sich der Vergleich 699-702 eindeutig als späterer Zusatz zu
erkennen, da er neben 703-5 überhaupt nicht stehen kann 11 . 699-702 ist
zweifelsohne eine Ersatzfassung für 703-5; offenbar hat sich der Dichter
später entschlossen, statt 704bf.(nach A.R. IV 238ff. 12 ) einen regelrechten
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Vergleich (in Anlehnung an Horn. II. II 459ff. 13 und A.R. IV 1300ff. 14 )


einzuführen 15 , den er jedoch nicht mehr bis zu Ende ausgeführt hat16. Die hier
zu beobachtende Verbindung von Halbvers und Dublette kann bei
vorurteilsloser Betrachtung nur die Annahme nahelegen, daß der Halbvers hier

11
Diese in der Forschung seit Cartault (561 Anm. 4, vgl. auch Walter 56) bekannte und
allgemein akzeptierte Tatsache (vgl. etwa Fordyce ad loc.) hat Berres (97ff.) mit Argumenten
zu erschüttern gesucht, die kaum im einzelnen widerlegt werden müssen.
12
ούδέ κε φαίηο/ TÖCCOV νηίτην ο τ ό λ ο ν εμμεναι. ό λ λ ' οιωνών/ ίλαδόν α ο π ε τ ο ν
εθνοο έπιβρομεειν π£λάγεccιv. Zu einer möglichen ennanischen Zwischenstufe vgl. S.
Wiemer, Ennianischer Einfluß in Vergils Aeneis VII-XII (Diss. Greifswald 1933) 34.
13
τ ω ν 6' coc τ' όρνίθων πετεηνών ϊθνεα π ο λ λ ά , / χηνών η γ ε ρ ά ν ω ν η κύκνων
δουλιχοδείρων./ Άςίωι έν λειμώνι. Καυοτρίου άμφΐ ρέεθρα./ ενθα και ενθα π ο τ ώ ν τ α ι
ά γ α λ λ ό μ ε ν α τ τ τ ε ρ ΰ γ ε ς α . / κ λ α γ γ η δ ό ν προκαθιζόντων, ςμαραγεΐ δέ τε λειμών./ coc
κτλ. Vgl. auch//. III 1-7 (αύτσρ έπε'ι κόομηθεν αμ' ήγεμόνεοαν έκαςτοι,/ Τρώεο μέν
κλαγγηι τ' ένοπήι τ' ϊοαν. όρνιθες ώο./ ήύτε π ε ρ κ λ α γ γ ή γ ε ρ ά ν ω ν πέλει ούρανόθι
π ρ ό . / αϊ τ' έπε'ι οδν χειμώνα φ ύ γ ο ν και ά θ έ ο φ α τ ο ν ό'μβρον./ κ λ α γ γ η ι ταί γ ε
π έ τ ο ν τ α ι έττ' ΌκεανοΤο £ ο ά ω ν . / άνδράοι Πυγμαίοιοι φ ό ν ο ν καϊ κήρα φέρουοαι:/
ήέριαι δ' δρα ταί γ ε κακήν έριδα προφέρονται); vgl. Knauer 1 , 4 0 2 .
14
η δτε καλά νάοντοο έπ' όφρύοι Πακτωλοϊο/ κύκνοι κινήοωοι έόν μέλοο, άμφΐ δέ
λειμών/ έροήειο βρέμεται ποταμοΐό τε καλά φέεθρα.
15
Heyne (ad loc.) weist zu Recht auf die starke Komprimierung des Gedankens in 704f.
hin, die an andere wenig ausgearbeiteten Partien erinnert; vgl. dazu unten S. 19 Anm. 32.
16
Vgl. auch M. Hügi, Vergils Aeneis und die hellenistische Dichtung (Diss. Bern 1951)
32 und Rieks 1045f.
16 Die Halbverse des siebten Buches

das Ende einer nicht voll ausgearbeiteten Partie bezeichnet, die mit in den
ursprünglichen Text aufgenommen wurde. Die Verse beweisen zudem, daß
Varius 17 gelegentlich auch konkurrierende Textfassungen aufgenommen hat,
jedenfalls dann, wenn sie wie hier das zusammenhängende Lesen des Textes
nicht allzusehr stören. Wir werden auf die Methode der posthumen
Aeneisedition noch zurückkommen. Jedenfalls muß die Frage der Halbverse in
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der Aeneis ebensosehr unter dem Aspekt der Herstellung der Ausgabe und der
physischen Beschaffenheit ihrer handschriftlichen Grundlage wie unter dem
der Arbeitsweise des Dichters betrachtet werden (s. unten S. 63ff.).
Die soeben behandelte Passage wirft ein neues Licht auf einen in vieler
Hinsicht parallelen, freilich weit komplizierteren Fall im zehnten Buch, den ich
hier nicht versäumen will zu behandeln, auch wenn dafür eine längerer Passus
ausgeschrieben werden muß, X 689ff.:

At Iouis interea monitis Mezentius ardens


succedit pugnae Teucrosque inuadit ouantis. 690
concurrunt Tyrrhenae acies atque omnibus uni,
uni odiisque uiro telisque frequentibus instant,
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ille (uelut rupes uastum quae prodit in aequor,


obuia uentorum furiis expostaque ponto,
uim cunctam atque minas perfert caelique marisque 695
ipsa immota manens) prolem Dolichaonis Hebrum
sternit humi, cum quo Latagum Palmumque fugacem,
sed Latagum saxo atque ingenti fragmine montis
occupat os faciemque aduersam, poplite Palmum
succiso uolui segnem sinit, armaque Lauso 700
donat habere umeris et uertice figere cristas,
nec non Euanthen Phrygium Paridisque Mimanta
aequalem comitemque, una quem nocte Theano
in lucem genitore18 Amyco dedit et face praegnas
Cisseis regina Parim; Paris urbe patema 705
occubat, ignarum Laurens habet ora Mimanta.
ac uelut ille Canum morsu de montibus altis
actus aper, multos Vesulus quem pinifer annos
defendit multosque palus Laurentia silua

17
Zur alleinigen Verantwortung des Varius für die posthume Ausgabe s. Berres 21ff.;
Suerbaum 2,409; Timpanaro 18 Anm. 7.
18
Der Text in 704ff. verdankt seine Herstellung an mehreren Stellen Bentley: 704
genitore] genitori codd.\ Parim; Paris] Parim creat codd. (Geymonat zieht Ellis' creat: Paris
vor); pauit sive pascit Bentley] pastus codd:, s. Harrison ad loc.
Die Halbverse des siebten Buches 17

pauit19 harundinea, postquam inter retia uentum est, 710


substitit infremuitque ferox et inhorruit armos,
nec cuiquam irasci propiusue accedere uirtus,
sed iaculis tutisque procul clamoribus instant;
haud aliter, iustae quibus est Mezentius irae,
non ulli est animus stricto concuirere ferro, 715
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missilibus longe et uasto clamore lacessunt


ille autem impauidus partis cunctatur in omnis
dentibus infirendens et tergo decutit hastas.

717f. werden seit Scaliger allgemein nach 713 gestellt, und bereits die
Mehrzahl von Mynors Minuskelcodices stellt 716-8 nach 713. Die
Untragbarkeit der überlieferten Reihenfolge muß nach den neueren
Behandlungen der Stelle durch Courtney (18) und Harrison (ad loc.) gewiß
nicht erneut begründet werden. Fraglich scheint mir allerdings, ob der von
Scaliger hergestellte Text wirklich befriedigt. Mir scheint die Apodosis
zunächst einmal insgesamt unpassend; das tertium comparationis ist
Mezentius, nicht seine Gegner20. Außerdem sind 714-6 in der Formulierung
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anstößig; dabei ist der Bezug quibus (714) - ulli (715) noch das geringste
Problem. Schlecht sind die beiden Dative mit esse nebeneinander, umso mehr
nach derselben Konstruktion in 712 (nec cuiquam ... uirtus). Im zweiten iustae
... irae ist zudem das qualifizierende Adjektiv störend, wie Nisbet 21 gezeigt

19
Zum Text vgl. die vorige Anm.
20
Auf dem tertium comparationis zu bestehen, mag nach der auch über die
Homerforschung hinaus leider als Standardwerk geltenden Arbeit H. Frankels (Die
homerischen Gleichnisse [Göttingen 1921]) pedantisch erscheinen. Angesichts des
ungeheuren Einflusses dieser Arbeit bis heute (man lese etwa Äußerungen wie die von Rieks
109 Iff. über homerische und vergilsche Gleichnisse) kann ich nur emphatisch auf Jachmanns
(Der homerische Schiffskatalog und die Ilias [Köln 1953] 259ff.) vernichtende Kritik
verweisen. Eine umfassende systematische (!) Untersuchung der vergilschen Gleichnisse
(insbesondere der Doppelgleichnisse) unter formalen Gesichtspunkten, die die von Jachmann
gelegten Grundlagen beherzigt, wäre dringend erforderlich und könnte auch für die
Aeneisanalyse fruchtbar sein (zu nachträglich eingelegten Gleichnissen vgl. auch unten S.
46, 50 und S. 40f. Anm. 85). Wichtige Vorarbeiten sind die beiden Arbeiten Wests (JRS 59
[1969] 40ff. = ORVAe 429ff.; Philologus 114 [1970] 262ff.; nicht erwähnt in Rieks 101 Iff.
eingehendem Forschungsbericht), vgl. auch W.W. Briggs (in Enc. Virg. s.v. 'similitudini'),
Harrison (Papers of the Liverpool Latin Seminar 5 [1985] 99ff.), Van den Bergh (Lampas 20
[1987] 265ff.) und R.O.A.M. Lyne (Words and the Poet [Oxford 1989] 63ff.); einen
nützlichen Überblick über die moderne Gleichnisforschung zu Homer bis Vergil bietet U.
Gärtner, Gehalt und Funktion der Gleichnisse bei Valerius Flaccus [Hermes Einzelschriften
67] 2 Iff.).
21
S. Nisbet in AJPh 47 (1926) 259-271.
18 Die Halbverse des siebten Buches

hat, der deshalb einen Genitiv annimmt 22 . Und überhaupt: Was soll der
Vergleich mit dem Eber im Netz am Ende der Metzelserie 696ff.? Er scheint
eine seltsame Dublette zu dem die Reihe einleitenden Vergleich in 693ff. 23
In einem demnächst im Hermes erscheinenden Aufsatz zur
Vergilinterpolation habe ich darauf hingewiesen, daß Störungen der
Versordnung u.U. als externe Evidenz für Interpolation in Anspruch
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genommen werden können, und habe drei Beispiele für dieses Phänomen in
der Aeneis behandelt 24 . Ich denke, auch hier weist die Verstellung von 714-
6 2 5 auf Interpolation. Offenbar hat der Interpolator eine fehlende Apodosis
ergänzt. Wahrscheinlich hat er dabei durchaus an 713 anschließen wollen; aus
712 hat er stupiderweise die Dative übernommen. 717f. wollte er streichen.
Die Verse 'wiederholen' gewissermaßen das bereits in 711 Gesagte;
Streichungen derartiger Pleonasmen lassen sich auch sonst reichlich
nachweisen, und ich habe andernorts zahlreiche, darunter auch
dokumentarische Fälle zusammengestellt 26 . Mit ac uelut(i) eingeleitete
Gleichnisse ohne Apodosis finden sich in der Aeneis auch an drei anderen
Stellen 27 ; offenbar hat Vergil zuweilen gerade mit ac uelut(i) eingeleitete,
jeweils besonders lange Gleichnisse sich zunächst noch ohne Apodosis notiert,
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und wir müssen annehmen, daß Varius in diesen Fällen selbst derartig
unvollständige Entwürfe in den Text aufgenommen hat. In X 707ff. - und
darin liegt die Parallele zu VII 699ff. - haben wir es mit einer
Alternativfassung für das Gleichnis in 693ff. zu tun. Offenbar dachte Vergil
daran, den ganzen Passus völlig umzugestalten. Varius wollte die jüngere und
somit gültigere Fassung nicht ganz missen, auch wenn sie noch zu mangelhaft
ausgearbeitet war, um die alte zu ersetzen. So hat er das Stück am Ende der
Passage zugesetzt 28 . Genau dasselbe Verfahren können wir im nächsten Fall
eines Zusatzes im siebten Buch beobachten.
Zwei Passagen des siebten Buches weisen, wenn nicht wie die beiden eben
besprochenen Partien auf eine Ersatzfassung, so doch deutlich auf einen
späteren Zusatz hin. Zunächst Vv. 239ff.:

22
Dagegen zu Recht Hanison (ad loc.).
7 0 2 - 6 stellen im übrigen einen guten Abschluß einer Perikope dar.
24
VI 242 (habet RBy : om. cett. : ante 241 γ ) , V 777 (post 778 Paef), X 79 (ante 78
dht).
25 D i e Passage 707ff. wird im übrigen von Statius zweimal imitiert; beidesmal finden
sich nur Anklänge an 712f. (~ Silv. V 442f„ VI 61 lf.), nicht an 714-6.
26
S. Günther 19ff.
27
II 626ff. (s. unten S. 41 Anm. 85, S. 48 Anm. 124 und 129), IV 402ff. (S. 50, 70)
und VI 707ff. (41 Anm. 85; dort auch zu Nordens Versuch, die Konstruktion zu
rechtfertigen).
28
Zu diesem Verfahren s. unten S. 70ff.
Die Halbverse des siebten Buches 19

sed nos fata deum uestras exquirere terras


imperiis egere suis, hinc Dardanus ortus, 240
hue repetit iussisque ingentibus urget Apollo
Tyrrhenum ad Thybrim et fontis uada sacra Numici.
dat tibi praeterea fortunae parua prions
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munera, reliquias Troia ex ardente reeeptas.


hoc pater Anchises auro libabat ad aras, 245
hoc Priami gestamen erat cum iura uocatis
more daret populis, seeptrumque sacerque tiaras
Iliadumque labor uestes.'
Talibus Ilionei dictis etc.

Der unvermittelte Subjektswechsel in 243 (dat sc. Aeneas) erweist 243-7 als
fremden Zusatz (die letzte Erwähnung des Aeneas in 234f. ist fast zehn Verse
entfernt 29 ); vor allem sind die Verse überhaupt kein passender Abschluß der
Rede, die freilich sehr wohl mit 242 enden konnte. 243-7 sind klärlich ein
Nachtrag des Dichters, der offenbar beabsichtigte, das 155 30 erwähnte
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Geschenkangebot an Latinus nachträglich irgendwo in die Rede einzuschieben,


vielleicht nicht einmal unbedingt am Ende. Selbstverständlich setzt die
Reaktion des Latinus (251f. und 261 31 ) die Verse voraus 32 ; dennoch zeigt der
schließende Halbvers und der mangelnde Anschluß des Passus nach oben, daß
Vergil für eine Erwähnung der Geschenke durch Ilioneus nur einen nicht

29
Die Erklärung Conington-Nettleships zur Stelle („The sovereign whose ambassadors
they are is easily understood") ist gänzlich unbefriedigend; „the omission of the subject - his
leader, for whom he is acting - makes the sentence somewhat abrupt", Fordyce ad loc. Vgl.
auch Walter 54. Schon Heyne (ad loc.) empfand den Übergang als 'durum' und betrachtet
deshalb 222-242 als nachträgliche Zutat, doch kann 243 keinesfalls glatt an 221 anschließen
(praeterea}.).
30
tum satus Anchisa delectos ordine ab omni/ centum oratores augusta ad moenia regis/
ire iubet, ramis uelatos Palladis omnisj donaque ferre uiro pacemque exposcere Teucris (152-
5).
nec purpura regeml picta mouet nec seeptra mouent Priameia tantum ... (251f.);
munera nec sperno (261).
32
Ich habe allerdings den Verdacht, daß die gesamte Partie 249ff. noch zahlreiche Spuren
mangelnder Vollendung zeigt. Ich weiß nicht, ob Vergil tatsächlich beabsichtigte, das
Faunusorakel aus 96ff. zweimal in so kurzem Abstand (255-8 und 270-3) ausführlich zu
wiederholen. 255ff. sind zudem ungeschickt formuliert: man erwartet gewiß keinen A.c.I.,
eher einen indirekten Fragesatz („er überlegte, ob jener etwa..."). Besonders störend ist uocari
(256). Der Stil zeigt eine starke Komprimierung, die u.U. ein Zeichen skizzenhafter
Komposition sein könnte (s. unten S. 51 Anm. 136). Die Wiederholung intentos uoluens
oculos (251) - uoluit sub pectore sortem (254) erscheint mir unschön.
20 Die Halbverse des siebten Buches

integrierten Entwurf hinterlassen hat. Das Provisorium wird besonders


dadurch deutlich, daß sich der Vers ohne Eingriff in den Wortbestand hier nur
schwer vollenden läßt. Varius hat jedenfalls keinen besseren Platz für den
Nachtrag gefunden als den am Ende der Rede. Der Fall bietet wiederum
interessante Einsichten in die Herstellung der Ausgabe der Aeneis und wird
uns im folgenden noch beschäftigen (s. unten S. 70ff.). Doch zunächst ein
weiterer Zusatz im siebten Buch (750ff.):
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Quin et Marruuia uenit de gente sacerdos 750


fronde super galeam et felici comptus oliua
Archippi regis missu, fortissimus Umbro,
uipereo generi et grauiter spirantibus hydris
spargere qui somnos cantuque manuque solebat,
mulcebatque iras et morsus arte leuabat. 755
sed non Dardaniae medicari cuspidis ictum
eualuit neque eum iuuere in uulnera cantus
somniferi et Marsis quaesitae montibus herbae.
te nemus Angitiae, uitrea te Fucinus unda,
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te liquidi fleuere lacus. 760


Ibat et Hippolyt! proles etc.

Wiederum haben wir es mit einem späteren Zusatz am Ende eines


Sinnabschnitts zu tun. Ganz abgesehen von der metrischen Unvollständigkeit
von 760 würde die plötzliche Apostrophe in dieser so knappen Form einen
wenig befriedigenden Abschluß der Vorstellung des Umbro bilden. Man muß
die Absicht voraussetzen, nach 760 mit noch einigen Versen fortzufahren.
Andererseits könnte die Perikope gewiß mit 758 anstandslos enden. Wiederum
dürften 759f. ein flüchtig hingeworfener Entwurf des Dichters für eine
Erweiterung der Umbropassage durch eine pathossteigernde Apostrophe sein,
die Varius am Ende des Abschnitts mit in den Text aufgenommen hat. Wir
werden weiter unten (S. 43) noch weitere Beispiele für derart motivierte
Zusätze finden 33 .
In denselben Zusammenhang gehört auch die folgende vieldiskutierte
Passage vom Anfang des Buches (120ff.):

continuo 'salue fatis mihi debita tellus 120


uosque' ait 'o fidi Troiae saluete penates:
hic domus, haec patria est. genitor mihi talia namque

33
Norden (zu VI 14ff.) weist darauf hin, daß Vergil die Apostrophe insgesamt durchaus
sparsam verwendet, in der zweiten Hälfte der Aeneis jedoch deutlich häufiger.
Die Halbverse des siebten Buches 21

(nunc repeto) Anchises fatorum arcana reliquit:


"cum te, nate, fames ignota ad litora uectum
accisis coget dapibus consumere mensas, 125
tum sperare domos defessus, ibique memento
prima locare manu molirique aggere tecta."
haec erat ilia fames, haec nos suprema manebat
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exitiis positura modum.


quare agite etc. 130

Der Text bietet für sich betrachtet, so wie er steht, gewiß keinen Anstoß, doch
könnte die Erklärung des Orakels in 128f. ohne weiteres fortbleiben 34 . Nach
dem, was wir aus den beiden eben behandelten Beispielen gelernt haben, darf
der Halbvers 129 als Indiz dafür gelten, daß 128f. ein späterer Zusatz sind.
Der Verdacht, daß Vergil tatsächlich vorhatte, die ganze Stelle umzuschreiben,
läßt sich erhärten, wenn man bedenkt, daß die Zuweisung des Tischorakels an
Anchises mit der Verkündung des Orakels durch Celaeno im dritten Buch
(255ff.) in eklatantem Widerspruch steht.
Die Widersprüche zwischen der Verkündigung des Tischorakels im dritten
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Buch der Aeneis und seiner Darstellung im siebten Buch sind seit Heinzes
klassischer Analyse (9Iff.) vieldiskutiert, und Berres (212ff.) hat zulezt die
harmonisierenden Interpretationen von Grassmann-Fischer 35 und Büchner
(343 = 1365) überzeugend zurückgewiesen 36 . Die weiteren Fälle von
Unstimmigkeiten zwischen Buch III und anderen Büchern der Aeneis und die
Stellung des ersteren im Gesamtwerk werden uns weiter unten noch
beschäftigen (s. unten S. 26ff.). VII 128f. könnten jedenfalls im Rahmen
eines ersten Versuches entstanden sein, VII 122ff. mit III 255ff. zu
harmonisieren. Zwar scheinen VII 128f. selbst den Widerspruch nicht zu
berühren, doch könnten sie u.U. aus einem Entwurf stammen, der VII 122ff.
zu ersetzen suchte. 37 Die Absichten des Dichters sind gewiß nicht mit

34
S. Cartault 542 Anm. 1.
35
S. Grassmann-Fischer 39ff.
36
Vgl. auch Thalers (45ff., ähnlich Mackail ad loc.) kluge, doch letztlich nicht
überzeugende Argumentation. Selbst wenn man Thalers Interpretation von fatorum arcana
reliquit zustimmen könnte, nach Helenus' Versicherung in III 394f. hätte Anchises kaum
Wesentliches zum Verständnis der Celaenoprophezeiung hinzufügen können. Thaler zeigt
hingegen gut auf, daß Celaenoprophezeiung und Tischorakel insgesamt in VII aufeinander
abgestimmt sind. Vergil hätte in einer Endredaktion nur die Zuweisung des Orakels in VII
mit III harmonisieren müssen, ansonsten konnte VII neben III ohne weiteres bestehen
bleiben; zu Horsfall 1,472 und 3 , 9 9 s. unten S. 27 Anm. 45.
37
Sicherlich vermittelt die Darstellung des Eintritts des Tischorakels in VII den
Eindruck, daß die Szene zunächst unter der Voraussetzung allgemeiner Unkenntnis des
22 Die Halbverse des siebten Buches

genügender Sicherheit nachzuweisen, doch könnte 128f. zur N o t an 121


anschließen. Selbstverständlich müßte man annehmen, daß die eineinhalb
Verse nur einen ersten Ansatz darstellen, darauf müßte ein Rückgriff auf die
C e l a e n o p r o p h e z e i u n g f o l g e n . Der A n s c h l u ß ist f r e i l i c h nicht recht
befriedigend. Ich denke aber, auch haec nos s- m- e- p- m- schließt nicht
sonderlich gut an fames an ( s u p r e m a l ) ; man könnte sich vorstellen, daß eher
ein neues Bezugswort folgen sollte 3 8 . Unter der Voraussetzung, daß 128b/9
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unvollständig sind, schlössen die eineinhalb Verse gut an 122a (hic domus,
haec patria est) an. Könnte haec erat ilia fames interpoliert sein, um den Vers
neben 127 voll zu machen? 3 9
W i e d e m auch sei, in allen bisher besprochenen Fällen w e i s t ein
unvollendeter Halbvers auf das Ende einer nachträglich eingeschobenen Partie.
S i c h e r l i c h - und das soll hier a b s c h l i e ß e n d mit aller D e u t l i c h k e i t
hervorgehoben werden - ist in keinem der hier besprochenen Fälle, außer

Orakels komponiert ist (so richtig Büchner 373 = 1395). Dennoch ist die Darstellung bis 121
keineswegs mit der Verkündung des Orakels coram publico in Buch III unvereinbar und hätte
m.E. von Vergil nicht unbedingt geändert werden müssen. Warum sollte Ascanius nicht in
gedankenloser knabenhafter Naivität das allen bekannte Orakel unabsichtlich gedeutet haben,
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und Aeneas war - selbstverständlich - der erste, dem der Zusammenhang mit Celaenos
Prophezeiung aufging und der die Anwesenden an das gemeinsam vernommene Omen
erinnerte. In jedem Fall geht die Unstimmigkeit zwischen Buch III und der Landungsszene in
VII nicht über die unterschiedliche Zuweisung des Tischorakels hinaus. Daß die
Landungsszene in VII zunächst unter der Voraussetzung komponiert worden sei, daß die
Trojaner das Ziel ihrer Fahrt überhaupt nicht kennen, wie nach Gercke (60ff.) in neuerer Zeit
auch D'Anna (55ff.) angenommen hat, ist gewiß abzulehnen. D'Anna hat selbst mit Recht
auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die eine derartige Konzeption mit sich brächte („sarebbe
stato molto difficile descrivere un itinerario dei Troiani privi sino alia fine di ogni conoscenza
della meta, destinata a manifestarsi loro in una terra assolutamente ignota per il compimento
del prodigio delle mense", D'Anna 73) und die seiner Ansicht nach Vergil dazu veranlaßt
haben, diesen ursprünglichen Plan wieder aufzugeben. Ich denke, sie dürften es Vergil von
Anfang an verboten haben, eine derartige Konzeption auch nur ins Auge zu fassen. Die
Landungsszene in VII ist so komponiert, daß die Aeneaden zunächst nur von der einladenden
Landschaft an der Rußmündung zur Landung aufgefordert werden, ohne zu wissen, wo sie
sich befinden (25ff.). Der Eintritt des Tischorakels gibt ihnen dann die Sicherheit, im
verheißenen Land angekommen zu sein (107ff.). Am folgenden Tag (148ff.) erfahren sie, wo
sie sich befinden. Daß Aeneas auch nach dem Tischorakel, aber ohne weitere Aufklärung über
die Örtlichkeit noch zu den adhuc ignota flumina betet (137f.), bedeutet doch nicht, daß er
sein Reiseziel nicht kannte. Und daß der Dichter nach dem Tischorakel dann, wenn die
Trojaner die Gegend erkundet haben, eine Erklärung nachschieben soll, daß dies ja nun
wirklich der Ort, den dies oder jenes Orakel verheißen hat, wird doch wohl niemand emstlich
erwarten (vgl. auch Grassmann-Fischer 50). Zu Berres' Versuch, das Celaenoorakel in III als
spätere Zutat zu erweisen s. unten S. 43 Anm. 104.
38
Zu syntaktisch unvollständigen Halbversen s. unten S. 38, 50, 69.
39
Zur Ergänzung unvollständiger Halbverse und Varius' Ausgabe s. unten S. 74.
Die Halbverse des siebten Buches 23

vielleicht im ersten, die vorgeschlagene Erklärung zwingend. Im Gegenteil, ich


habe die vier im vorigen besprochenen Beispiele bewußt in absteigender
Reihenfolge besprochen, wobei im ersten Falle für die hier vorgetragene - und
ja auch weitgehend Gemeingut bildende - Hypothese eindeutige, in den
folgenden beiden Fällen mehr oder minder deutliche Indizien sprechen. Im
letzten Fall bleibt sie eine, wenn auch attraktive, so doch auch unweigerlich
spekulative Möglichkeit, mehr nicht. Was hier mit Entschiedenheit behauptet
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werden soll, ist jedoch dies: in allen diesen Fällen liefert die Annahme, ein
Halbvers markiere das Ende eines später, wie auch immer integrierten
Zusatzes, eine unkomplizierte am materiellen Textbefund orientierte Erklärung
für mehr oder minder schwerwiegende Unstimmigkeiten des Textes, und sie
hat den Vorteil subtilere Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit dem
konkreten physischen Befund der Unfertigkeit in einem Halbvers zu erklären.
Zumindest darf man sagen, daß dasselbe Erklärungsmodell in allen genannten
Fällen glatt aufgeht und dabei das handgreifliche Indiz der Unfertigkeit, den
Halbvers einfach erklärt. Es ist der Mühe wert, es versuchsweise weiter
anzuwenden, und, wie sich zeigen wird, geht es bei der überwiegenden Zahl
von unvollendeten Halbversen auf. Sie erlauben jeweils eine Ausscheidung
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einer vorausgehenden Versreihe als nachträgliche Zutat, und insbesondere


Cartault kann das Verdienst für sich beanspruchen, dies zuerst energisch und
konsequent durchgeführt zu haben.40
Freilich nicht überall geht diese Hypothese auf; das zeigen schon die
verbleibenden beiden Halbversen im siebten Buch (439 und 455)! Sie stehen
in unmittelbarer Nachbarschaft, und beide Stellen müssen im Zusammenhang
betrachtet werden:

Hic iuuenis uatem inridens sie orsa uicissim 435


ore refert: 'classis inuectas Thybridis undam
non, ut rere, meas effugit nuntius auris;

40
Vgl. die Auflistung und Diskussion der so zu erklärenden Halbverse unten S. 40ff.
Daß Vergil zuweilen Zusätze unvollendet und mitten im Vers abbrechen ließ, ist eine so
überaus einleuchtende Erklärung für die Entstehung von Halbversen, daß sie, soweit sie sich
nur irgendwie mit dem Textbefund vereinbaren läßt, a priori alle Wahrscheinlichkeit für sich
hat, und in der Tat wird sich zeigen, daß sich der Textbefund in einer Mehrzahl der Fälle sogar
glänzend zu dieser einfachen Annahme fügt. Wenn Berres nun dagegen nachzuweisen
versucht, daß Halbverse im allgemeinen eher das Ende des ursprünglichen Textes vor einem
mit vollem Vers beginnenden Einschub anzeigen, so ist dies ein bedauerlicher Rückschritt
und Berres' 'Erklärungen* (vgl. etwa 89f., 105) dieses - außer in einigen wohlbegründeten
und von ganz bestimmten Bedingungen begleiteten Sonderfällen (s. unten S. 28, 30ff., 42) -
absurden Verfahrens zeigen, was eine darauf bauende Theorie wert ist (vgl. auch Suerbaum 2,
407).
24 Die Halbverse des siebten Buches

ne tantos mihi finge metus. nec regia Iuno


immemor est nostri.
sed te uicta situ uerique effeta senectus, 440
ο mater, curis nequiquam exercet, et arma
regum inter falsa uatem formidine ludit.
cura tibi diuum effigies et templa tuen;
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bella uiri pacemque gerent quis bella gerenda.'

uerberaque insonuit rabidoque haec addidit ore:


'en ego uicta situ, quam ueri effeta senectus
arma inter regum falsa formidine ludit.
respice ad haec: adsum dirarum ab sede sororum,
bella manu letumque gero.' 455
sic effata etc.

In beiden Fällen ist die Annahme eines späteren Zusatzes gewiß


ausgeschlossen. Beide Reden, insbesondere die zweite, sind ja überhaupt sehr
kurz, und es scheint, als ob hier der Dichter in der Tat nur zwei Fragmente
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verfaßt hat, die jeweils auch noch unvollendete Verse enthalten. Man wird
zwar nicht sagen dürfen, daß 436-444 - von der metrischen Lücke abgesehen
- als zusammenhängender Text völlig undenkbar sind, und 452-5 sind gewiß
ohne Anstoß. Heinze hat jedoch darauf hingewiesen, daß Turnus' Worte auch
inhaltlich nicht ganz vollständig sind41, und man erwartet eine Ausfüllung von
mehr als nur der zweiten Hälfte von 439 (ein derart kurzes sinnvolles Füllsel
ist auch schwer vorstellbar). 452ff. beschränken sich praktisch auf die
höhnende Nachäffung von Turnus Worten in 441 f., und es muß auffallen, daß
ein unvollständiger Halbvers zweimal in enger Nachbarschaft neben einer fast
identischen Versreihe auftritt. Es scheint, daß Vergil das Ende der Allectoszene
mit dem Redeaustausch 'Turnus-Allecto' zunächst einmal nur in seinem
äußeren Verlauf voll ausgestaltet hat. Für die beiden Reden hat er nur eine
grobe Skizze hinterlassen. Offenbar hat er sich hauptsächlich den Gedanken
notiert, Allecto höhnisch mit Turnus' eigenen Worten antworten zu lassen.
Und so beschränkt sich der erhaltene Text der Allectorede fast ganz auf die
wörtliche Wiederholung von 441 f.; 454f. fügen nur das Allernötigste hinzu,

41
„...uns freilich scheint es nicht recht glücklich, wenn Turnus diese Offenbarung
zurückweist und sich dann selbst auf Iuno beruft, die ihn nicht vergessen werde. Die Verse
sind nicht zum Abschluß gebracht, wie der Halbvers 439 lehrt: Turnus sollte wohl sagen, er
glaube nicht an die vorgebliche Mahnung der Iuno, denn diese werde es nicht soweit kommen
lassen, daß seine Braut ihm vorenthalten werde" (Heinze 180); zustimmend Walter 54f.
Die Halbverse des siebten Buches 25

um einen vollständigen Gedanken zu gewinnen, und stellen zugleich eine


höhnische Anspielung auf 444 dar 42 .
Dieser Überblick über die Halbverse des siebten Buches hat uns, so denke
ich, einiges über Vergils Kompositionstechnik und den Zustand der Aeneis
beim Tode des Dichters gelehrt. Bevor wir nun die unvollständigen Halbverse
des Werks im Überblick betrachten und gemäß den soeben entwickelten
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Kriterien sortieren, wird es nützlich sein, noch drei weitere Stellen genauer in
den Blick zu nehmen, die weiterreichende Probleme der Entstehung der Aeneis
berühren. Es handelt sich um drei Stellen, an denen ein unvollständiger
Halbvers in einem Kontext auftritt, der zugleich inhaltliche oder anderweitige
Unstimmigkeiten mit anderen Passagen des Werkes aufweist und so größere
analytische Zusammenhänge betrifft. Hier kann man m.E. zum Teil durchaus
über die bisherigen Lösungsversuche hinauskommen; eine Betrachtung dieser
Stellen wird sowohl unsere Annahme späterer nicht voll integrierter
Zufügungen als auch die eines teilweise grob lückenhaften Zustand des
Aeneistextes entschieden stützen und unsere Einsichten in Vergils Arbeitsweise
und den Zustand des Manuskripts der Aeneis beim Tode des Dichters weiter
vertiefen.
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42
„Vergil hatte die Antwort der Allecto genau an die Worte des Turnus angepaßt (vgl.
Heinze 489 Anm. 1). Man darf vielleicht vermuten, daß er bei Vers 455 absichtlich eine
Lücke im Vers gelassen und die Rede der Allecto nicht „prima labore" zu Ende geführt hat,
weil er die Rede des Turnus ja auch nur stichwortartig entworfen hatte", Walter 55. Vergils
Vorgehen wird besonders einleuchtend vor dem Hintergrund von Fraenkels Analyse der
Motivwiederholung und -variation in der Allectoszene (s. JRS 35 [1945] 6f. = ORVAe
261f.).

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