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werden, dann wäre für die Lehrkräfte eine EU- schaft der Lehrer, die lateinische Tradition in allen

weite ,venia docendi anzustreben. Denn nichts Regionen des dateinischen Europa zu vertreten,
könnte die europäische Bedeutung des erneuerten wie es einst die Humanisten der Renaissance
Lateinunterrichts besser illustrieren als die Bereit- taten.
Wolfgang Schibel, Heidelberg

Phaedrianische Ambiguitäten
Zur Interpretation von De vulpe et uva (fab. 4,3)

1. Ambiguitäten als Deutungsanreize und anderen Fabeln, ähnlich wie in den Oden
Fame coacta vulpes alta in vinea des Horaz,3 auf kleinstem Raum konzentriert
uvam appetebat summis saliens viribus; finden. So ist das Epimythion nicht sehr konkret
quam tangere ut non potuit, discedens ait: formuliert. Eberhard Oberg hat zu Recht fest-
„Nondum matura est; nolo acerbam sumere.“ gestellt, dass es unpersönlich gehalten ist und
5 Qui, facere quae non possunt, verbis elevant, sein letzter Vers „rein formelhaft“ klingt, ohne
ascribere hoc debebunt exemplum sibi. eine spezielle Beziehung zur Fabelerzählung zu
haben.4 An anderer Stelle nennt er es „farblos“
Von Hunger getrieben, versuchte ein Fuchs und leitet aus ihm den Ratschlag ab: „Verhalte
hoch im Weinstock | die Traube zu erreichen dich so wie der Fuchs!“5 Aber ist es wirklich so
und sprang mit höchsten Kräften; | wie er sie einfach? Was will das Epimythion sagen? Sollen
nicht berühren konnte, sagte er im Weggehen: | wir so reden wie der Fuchs, also in aussichtslosen
„Sie ist noch nicht reif; eine saure will ich nicht Situationen sagen, dass wir eigentlich ohnehin
nehmen.“ 11 Die das, was sie nicht tun können, kein Interesse am Gelingen hatten, oder aber
mit Worten abwerten, | müssen dieses Beispiel eben gerade nicht wie der Fuchs, der sich mit
auf sich beziehen. seiner Ausrede lächerlich macht? Verhält sich
der Fuchs wie ein Weiser, der darauf verzichtet,
Phaedrus’ Fabel vom Fuchs und der Traube als nach Unerreichbarem zu streben, oder wie ein
nette, aber anspruchslose Geschichte zu lesen Narr, weil er sich nach seinem Misserfolg nicht
verbietet sich fast von selbst.1 Gerade in der jün- einmal die eigene Unfähigkeit einzugestehen
geren Forschung konnte nämlich gezeigt werden, vermag? Ist das Ziel des Fuchses „eine Verschlei-
wie ausgefeilt viele Fabeln des Phaedrus sind, erung von Unvermögen und Erfolglosigkeit“?6
wie er intertextuelle Bezüge strategisch einsetzt, Ein anderer Interpret formulierte eher allgemein:
wie sorgfältig er vieles bis in kleinste sprachlich- „So dienen falsche Urteile im Grunde genommen
stilistische Details formuliert, wie raffiniert und nur der Selbst-Täuschung, oder bestenfalls dem
überraschend er, oft couvriert, auf die eigene Selbst-Trost, und man möchte meinen, daß auch
Zeit Bezug nimmt und wie souverän er dabei mit die Welt manchmal von jenen schlecht gemacht
äsopischem Material verfährt, sofern er solches wird, die das Gute mangels ihrer Fähigkeiten
überhaupt zugrundelegt.2 Es empfiehlt sich daher, nicht erreichen können.“7 Gibt es andere mögli-
auch in diesem Fall mit einem anspruchsvollen che Lektüren der Fabel? Reagiert der Fuchs mit
Text zu rechnen und die Fabel sorgfältig darauf seinem Ausspruch angemessen auf die misslun-
zu untersuchen, was mit ihr ausgedrückt werden gene „Spätlese“?8 So bieten die Ambiguitäten
soll. Im Folgenden werden mehrere Ansätze für des Textes, die zunächst eine Erschwernis seiner
eine Deutung entwickelt, die zeigen, dass sich Interpretation darzustellen schienen, im Gegen-
eine solche Lektüre der Fabeln des Phaedrus sehr teil Deutungsanreize, aus denen heraus sich
lohnt. Fragen entwickeln lassen, die man dann wieder
Zunächst scheinbar erschwert wird die Inter- an den Text herantragen kann.
pretation durch Ambiguitäten, die sich in dieser

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2. Eine sexuelle Deutung vermögen, in ihren erotischen Gedichten behan-
Prominent ist eine sexuelle Deutung der Fabel: deln.“
„Ganz fern deutet sich die Vorstellung an, der Ich habe diese Deutung als erste behandelt,
Fuchs unserer Fabel könnte ein verschmähter weil sie ein gutes Beispiel für eine grotesk miss-
und unfähiger Liebhaber sein. Dagegen steht, daß lungene Interpretation darstellt. Wenn man
das Femininum vulpes eher Weibliches assoziie- lange genug sucht, findet man für viele Wörter
ren läßt.“9 Letzteres ist unzutreffend, da vulpes sexuelle (und noch viele andere) Konnotationen.
ein Epicoenum ist, wie z. B. „die Schwalbe“ im Wenn man diese Konnotationen dann assoziativ
Deutschen, also ein Wort, bei dem Maskulinum aneinanderreiht und verbleibende Lücken mit
und Femininum gleiche Formen aufweisen und kühnen Hypothesen füllt, kann man alles Mögli-
„von der Unterscheidung des Sexus als belanglos che aus einem Text herauslesen und sensationelle
abgesehen wird.“10 Entdeckungen machen. Von einer methodisch
Mit Hilfe einer geeigneten Assoziationstech- begründeten und textbasierten Interpretation ist
nik lassen sich freilich viele zumindest potentiell man dann allerdings noch weit entfernt.20
sexuelle Anspielungen aus der Fabel herauslesen.
So heißt einmal bei Petron in einer von ähnli- 3. Eine metapoetisch-polemische Deutung
chen Zweideutigkeiten reichen Passage (sat. 9-10) Wenn man fames als Terminus für die Ärmlich-
fame mori, „vor Geilheit vergehen“.11 Die unreife keit oder Magerkeit eines bestimmten Rede- oder
Traube (uva immatura) vergleicht Horaz (c. Dichtungsstils21 auffasst, könnte man den Versuch
2, 5, 10) mit dem noch nicht geschlechtsreifen des Fuchses, sich die Trauben einzuverleiben,
Mädchen; im Griechischen gibt es Belege für eine auch dahingehend deuten, dass er sich darum
anatomische Bedeutung („the unripe hard breasts bemüht, seinen Stil zu verbessern, indem er
of a young girl“),12 während eine alte Rebe mit einen reicheren anstrebt. Als ihm dies trotz
einer alten Frau verglichen werden kann.13 Salire großer Anstrengung nicht gelingt, verwirft er
kann für den männlichen Part des Geschlechts- den angestrebten Stil als unreif und zu herb.22
aktes verwendet werden („besteigen“),14 tangere Als möglicher Sitz im Leben der Fabel ließe sich
(„anrühren“) ebenso.15 Sowohl (im-)maturus dabei an eine Situation denken, in der Phaedrus
als auch acerbus können vom Zustand der Frau auf die Polemik eines unfähigen Konkurrenten
vor der Geschlechtsreife gebraucht werden,16 (oder Kritikers) reagiert. Der Fuchs stünde in
acerbus außerdem im Sinne von „Liebesschmerz diesem Fall für den Konkurrenten, die Trauben
bereitend“.17 Auch facere („es tun“) gehört zu für die Dichtung des Phaedrus. Gewichtet man
den potentiell auf Sexuelles beziehbaren Verben; die Unklarheit des Bezugs von verbis in V. 5 stark
Petron verwendet es sogar speziell mit Bezug (facere [im Sinne von nosiv] ... verbis oder verbis
auf den Samenerguss,18 was in den gedanklichen elevant), würde auch dies gut zu einer poetologi-
Zusammenhang passen würde, in dem V. 5, wollte schen Deutung passen.
man einer sexuellen Deutung folgen, stehen Diese ins Metapoetische gehende allegorische
müsste. Den Ausdruck verbis elevare könnte man, Deutung ist in der Neuzeit mehrfach vertreten
wenn man es mit der Musa levis der Liebesdich- worden: Heinrich Bebel (1512) bezieht die Fabel
tung (Prop. 2, 12, 22)19 assoziativ verbindet, als auf inkompetente Kritiker der „Poeterey“, „die
Umschreibung für „in einem erotischen Gedicht nichts gelesen oder gelernet haben“;23 Voltaire
behandeln“ deuten. Die Fabel wäre dann ungefähr in einem Brief vom 28.12.1774 an Friedrich II.
so zu lesen: „Ein listiger Mensch vergeht vor sexu- auf untalentierte Kritiker, wobei er sich auf die
eller Lust und hat Verkehr mit einer ihm attraktiv Fassung bei La Fontaine beruft.24 Die Fabel so
scheinenden Frau, kommt aber trotz größter zu lesen ist nicht zuletzt insofern attraktiv, als
Anstrengung nicht zum Höhepunkt. Danach Phaedrus auch in anderen Fabeln, teils ganz aus-
erklärt er, dass die Frau unreif und ungenießbar drücklich, auf sich und seine Situation als Dichter
sei. Das sollten sich diejenigen ins Stammbuch Bezug nimmt. Überdies wird an vielen Stellen in
schreiben, die das, was sie sexuell nicht zu leisten der antiken Dichtung die Qualität von Dichtung

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mit der von Wein, also einem Traubenprodukt, Gegen diese Deutung spricht allerdings, dass in
verglichen.25 Letztlich bleibt diese Interpretation den Versionen der Fabel bei „Äsop“, Babrios und
aber trotz ihrer, wie ich meine, vergleichsweise „Romulus“ der Fuchs nicht stirbt, sondern ein-
größeren Attraktivität ähnlich spekulativ wie die fach weggeht.
sexuelle.
5. Eine handlungstheoretische Deutung
4. Eine existentielle Deutung Andreas Fritsch hat gezeigt, dass in den Fabeln
Wenn man unter discedere nicht „weggehen“, son- des Phaedrus, gerade auch nach dessen eigener
dern „sterben“ versteht, erhält die Fabel noch eine Auffassung, die Behandlung der Gefühlswelt eine
andere Wendung. Der Fuchs, der am Verhungern wichtige Rolle spielt.28 Zum Zweck einer über-
ist (fame coacta deutet auf sehr starken Hunger), sichtlicheren Einteilung im Rahmen einer Tex-
sieht über sich Trauben hängen. In der Hoffnung, tanalyse legt er „als Suchinstrument“ das in der
durch sie dem Hungertod zu entgehen, sammelt frühen Kaiserzeit verbreitete stoische Raster der
er alle Kräfte noch ein letztes Mal und versucht, affectus bzw. na0n zugrunde, das vier jeweils als
sie springend zu erreichen. Aber sie hängen zu Paar aufeinander bezogene Grundaffekte kennt:
hoch. Jetzt sind seine Kräfte verbraucht; er stirbt. Freude und Leid, Begehren und Furcht (volup-
Sterbend (discedens) aber sagt er, die Trauben tas/laetitia, aegritudo, cupiditas, metus; ^Sov^,
seien ja noch gar nicht reif, und saure wolle er Xünn, £ni0u^a, ^oyoc;). Nach stoischer Ansicht
sowieso nicht nehmen. lassen sich alle anderen Gefühlsregungen diesen
Zu Anfang der Fabel ist der Fuchs nicht sou- Grundaffekten zuordnen.29 An fab. 4, 18 und
verän, sondern ein Getriebener, nicht autark, anderen Stellen zeigt Fritsch im Detail, welche
sondern aufgrund seiner inneren Disposition, Affekte von Phaedrus thematisiert werden. Dieser
dem Hunger, abhängig von äußeren Gütern, die Ansatz ist vielversprechend und für eine Behand-
er begehrt, um seinen Hunger zu stillen. Am lung im Unterricht gut geeignet, erlaubt er doch
Anfang steht also ein Mangelzustand, der durch nicht nur, gerade auch in heutiger Zeit relevante
die Kopfstellung von fame coacta deutlich betont Fragen nach dem Umgang mit „Emotionen“ im
wird.26 Am Ende aber gewinnt der Fuchs Sou- Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern
veränität, indem er über das Kontrolle ausübt, zu diskutieren, sondern auch, die Fabeltexte mit
was er beeinflussen kann, während er von dem einer Auswahl aus philosophischer Prosa - zu
ablässt, was er nicht beeinflussen kann. Damit ist denken wäre z. B. an Ciceros De officiis, Tus-
er, zumindest im Moment seines Todes, wieder culanae disputationes oder Senecas De ira - in
Herr seiner selbst. fruchtbare Beziehung zu setzen.
So verstanden wäre der Tod des Fuchses gera- Daher soll die Fabel im Folgenden aus dieser
dezu der Tod eines Philosophen, der am Ende Perspektive untersucht werden.30 Aus affektthe-
des Lebens über alle materiellen Bedürfnisse oretischer Sicht ist ein für die Deutung der Fabel
ebenso triumphiert wie über Hunger und sogar wichtiges Wort die erste finite Verbform: appete-
Todesfurcht. Wenn dies dem Fuchs tatsächlich bat (V. 2). Zunächst kann das Verb schlicht den
gelungen wäre, stünde es ihm wohl an, von der Versuch des Fuchses ausdrücken, die Trauben
heiteren Warte des abgeklärten Denkers über zu erreichen. Liest man die Fabel jedoch affekt-
das soeben noch verspürte existentielle Begehren theoretisch, so findet man in appetebat einen der
einen (selbst-)ironischen Witz zu machen. Aller- zentralen Begriffe der antiken Handlungstheorie,
dings tut diese Deutung dem Fuchs vielleicht zu appetitus bzw. öps^ic, was oft, doch nicht ganz
viel philosophische Ehre an, zumal es sich bei ihm zutreffend, mit „Begierde“ übersetzt wird; ein
um ein „unheroisches“ Tier handelt.27 Immerhin eher neutraler Begriff wie „Begehren“ oder „Stre-
aber kann diese Interpretation formuliert werden, ben“ wäre diesem vorzuziehen.31
ohne dass man sich vom Wortlaut des Textes Nach einer z. B. von Cicero in De officiis
allzu sehr entfernen muss; vorausgesetzt wird referierten, stoisch geprägten Ansicht32 sollen
freilich ein bestimmtes Verständnis von discedens. wir allen Menschen gegenüber reverentia üben.

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Hierbei sind die Bewegungen des Körpers nicht vom Hund und dem Wagen. Ein Hund, an einem
so wichtig wie die der Seele, bei denen es ebenfalls Wagen festgebunden, hat die Wahl, entweder mit
gilt, die Schranken des decorum zu beachten (1, diesem mitzulaufen oder sich gegen das Mitlaufen
100). Hierfür ist wichtig, dass das Seelenvermö- zu sträuben. Auch wenn er an der Richtung des
gen der Vernunft (ratio) das Seelenvermögen des Wagens selbst nichts ändern kann, so gilt doch:
Strebens, die Strebekraft (appetitus), lenkt und Läuft er mit, ist das weniger schmerzhaft für ihn,
ihm vernünftige Grenzen setzt (1, 101). Um dies als wenn er nicht mitläuft und dem Zwang des
zu erreichen, muss die Strebekraft der Vernunft rollenden Gefährts ausgesetzt ist.37
gehorchen. Wenn sie dies nicht tut, wie beim Liest man Phaedrus’ Fabel in dieser Weise,
Zornigen oder sonst von einer Leidenschaft Hin- dann kann sie zur Klärung der Frage beitragen,
gerissenen, geraten Geist und Körper in Unruhe was beim Menschen richtiges Handeln aus-
(1, 102). Daraus ergibt sich, dass die Strebekräfte macht und in welchem Verhältnis menschliches
klug eingedämmt werden müssen, damit wir, wie Erkennen zu menschlichem Handeln steht. Eine
Cicero sagt, nicht unbedacht und aufs Gerate- solche Deutung ist schon insofern den anderen
wohl, ohne Überlegung und nachlässig handeln hier erwähnten überlegen, als die sexuelle, poe-
(ne quid temere acfortuito, inconsiderate neglegen- tologisch-polemische und sogar die existentielle
terque agamus).33 Deutung gleichsam Sonderfälle der handlungs-
Der Fuchs in der Fabel beendet sein Streben theoretischen Aussage darstellen, die aus der
mit der Aussage, dass es sich bei dem zunächst Fabel gewonnen wurde.38
von ihm erstrebten Gegenstand (in aristotelischer In diesem Sinne bestätigt sich auch die Bemer-
Diktion: dem öpsKTÖv),34 den Trauben, gar nicht kung des Didaktikers Klaus Doderer, dass
um etwas Süßes und Angenehmes gehandelt Fabeln eine ihrer wichtigsten Grundkonstellatio-
hat, wie er dachte, sondern etwas Saures. Er kor- nen (nämlich: eine oder mehrere Figuren geraten
rigiert damit das von ihm zunächst getroffene in eine Zwangslage) u. a. in die Demonstration
Urteil über den erstrebten Gegenstand. Anders enden lassen können, dass die in einer Zwangs-
handeln z. B. die Hunde in einer weiteren Fabel lage befindlichen Figuren sich aus dieser mit den
des Phaedrus (1, 20). Sie haben ihren appetitus ihnen jeweils eigenen Mitteln und Fähigkeiten
so wenig unter Kontrolle, dass sie schließlich an befreien können. Insofern stellen Fabeln unprä-
ihrem Streben, oder genauer: an ihrer Unfähig- tentiöse „Anweisungen zum Überleben“ dar bzw.
keit, ihrem Streben mit Hilfe ihrer Urteilskraft lehren „ein kritisches Verhältnis zur Welt“ und zu
wirksam eine Grenze zu ziehen, zugrunde gehen. sich selbst.39
Der Fuchs aber überwindet seine eigene Begierde Versteht man die Fabel auf die hier skizzierte
(eniBugta), indem er der Strebekraft das Motiv Weise, also gleichsam als Mittel zur education
entzieht; damit zeigt er sich als selbstbeherrscht sentimentale ihres Publikums,40 so bietet sie zum
(eyKparpc;) - aus affekttheoretischer Sicht, etwa einen ganz konkrete Lebenshilfe in einer Art, die
des Aristoteles, ist dies ein Zeichen von prakti- auch von jüngeren Schülerinnen und Schülern
scher Klugheit (^pövnmc;).35 Genau genommen gut verstanden und diskutiert werden kann,
liegt die Sache noch komplizierter, da der Fuchs andererseits regt sie zu einem allgemeineren
ja nicht seine tatsächliche Meinung über die Nachdenken über den Umgang des Menschen
Trauben geändert hat. Im Endeffekt jedoch ist mit seinen Gefühlen an und bietet damit, wie
es richtig, wie er sich verhält; es bewahrt ihn vor schon gesagt, einen möglichen Ansatzpunkt für
Schaden und liegt insofern auch in seinem ratio- die Lektüre anderer Texte, z. B. Ciceros oder
nalen Interesse. Ein solches Verhalten wird unter Senecas, vor einem weiteren Horizont, sei es
dem Stichwort „sour grapes“ in der Sozialtheorie im Lateinunterricht selbst oder in Form eines
als Möglichkeit diskutiert, die Effekte kognitiver fächerübergreifenden Unterrichtsprojekts zum
Dissonanz zu vermindern.36 Das stoische Pendant Umgang des Menschen mit seinen Emotionen.
zu dieser Auffassung findet seinen Ausdruck in So erweist sich die handlungstheoretische
dem Chrysipp und Zenon zugeschriebenen Bild Deutung der Fabel auch in didaktischer Hinsicht

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einer primär auf das Sexuelle gerichteten Lektüre 9) Oberg (wie Anm. 4) 165.
als überlegen: Statt zu grundlegenden Fragen 10) Hofmann, J.B./Szantyr, A.: Lateinische Syntax und
wie den soeben erwähnten etwas beizutragen, Stilistik, München 1972, 7 (§ 13).
würde sich eine sexuelle Deutung letztlich darin 11) Zu cogere vgl. Pichon, R.: Index verborum ama-
toriorum, Paris 1902 (Ndr. 1991), 105.
erschöpfen, bestimmte Wortgleichungen herzu-
12) LSJ s.v. op^a^ II.2.; in gleichem Sinne
stellen und sich schließlich an den sensationellen
öp^aKiov.
Ergebnissen dieses „Einsetzspiels“ zu delektieren.
13) Epigonos von Thessalonike, Anth. Pal. 9, 261.
Gelernt würde dabei - wenn überhaupt etwas
14) Vgl. Adams, J.N.: The Latin Sexual Vocabulary,
- dann vor allem die Trivialität, dass uferlose London 1982, 206.
Allegorese prinzipiell immer möglich ist. Eine 15) Vgl. Adams (wie Anm. 14), 185f.
Hilfe zum Nachdenken über sich selbst und zur 16) Für (im-)maturus siehe OLD s. v. maturus 2a
klareren Bestimmung der Position des Menschen und s. v. immaturus 2; für acerbus OLD s. v. 2a,
(und damit auch der eigenen) in der Welt hin- besonders die dort genannte Stelle Varr. Men. 11
gegen wäre auf diesem Weg wohl eher nicht zu Astbury: virgo de convivio abducatur ideo quod
erzielen. maiores nostri virginis acerbae auris veneriis voca-
bulis imbui noluerunt.
Anmerkungen: 17) Vgl. Pichon (wie Anm. 11), 78.
1) Für eine aktuelle Interpretation der Fabel, die 18) Vgl. Adams (wie Anm. 14), 204.
auch einen Vergleich mit den entsprechenden 19) Für weitere Belege von levis im Zusammenhang
Versionen in den Fabeln des „Äsop“ (fab. 15 mit erotischer Dichtung vgl. Pichon (wie Anm.
Perry), bei Babrios (fab. 19 Perry) und „Romulus“ 11), 188.
(fab. 4, 1 = 71 Thiele) bietet, vgl. Dunsch, B.: Nolo 20) Für eine Diskussion möglicher Prinzipien einer
acerbam sumere: Phaedrus’ Fabel vom Fuchs und solchen methodisch begründeten Interpretation
der Traube, in: Der altsprachliche Unterricht 56 vgl. v. a. Eco, U.: Die Grenzen der Interpretation,
(2013), H. 3, S. 36-40; in diesem Heft finden sich München 1995, sowie Heath, M.: Interpreting
viele weitere Beiträge zur Behandlung der Fabeln Classical Texts, London 2002. Eine engagierte
des Phaedrus im Unterricht. Vgl. auch Fritsch, A.: Kritik an der Applikation der assoziativen
Fabeln im Lateinunterricht, in: Dithmar, R. (Hg.), Methode und ähnlicher Verfahren („Herantragen
Fabeln und Parabeln im fächerverbindenden moderner Ansichten“, „Herantragen von Sym-
Unterricht, Ludwigsfelde 2002, 136-167. bolismen“, „Veränderung der Gewichte“ u.a.) auf
2) Vgl. z.B. Dunsch, B.: In cothurnis prodit Aesopus: antike Texte hat Maurach, G.: Methoden der Lati-
Phaedrus’ literarische Selbstverteidigung (Fab. 4, nistik, Darmstadt 1998, 99-115, formuliert; vgl.
7), in: Millennium 7 (2010) 37-50; Gärtner, U.: dazu aber auch die Kritik z.B. in der Besprechung
Maske, Perle, Feile, Lyra - Phaedrus, die litera- von R.F. Glei, Göttinger Forum für Altertums-
rische Gattung und die klassische Bildung, in: wissenschaft 2 (1999) 1071-1076. Vgl. überdies
Hermes 139 (2011) 216-248. ein jüngeres Buch von G. Maurach mit ähnlicher
3) Vgl. Wimmel, W.: Sprachliche Ambiguität bei Zielsetzung: Interpretation lateinischer Texte. Ein
Horaz, München 1994, und ders., Art. „ambigu- Lehrbuch zum Selbstunterricht, Darmstadt 2007.
ita“, in: Mariotti, S. (Hg.), Enciclopedia Oraziana, Eine Fundamentalkritik der „projektiv-aneignen-
Bd. 2, Rom 1997, 789-795. den Interpretation“ bietet Tepe, P.: Kognitive Her-
4) Vgl. Oberg, E.: Phaedrus-Kommentar, Stuttgart meneutik, Würzburg 2007, 109-132 und passim;
2000, 164f. dieses Werk sei mit Nachdruck allen empfohlen,
die sich mit der methodischen Begründung des
5) Oberg, E. (Hg.): Phaedrus. Fabeln. Lateinisch-
Interpretierens von Literatur beschäftigen möch-
deutsch, Düsseldorf/Zürich 21999, 225.
ten.
6) Vgl. Köhler, I.: Fuchs und saure Trauben, in:
21) So Cic. Tusc. 2, 3.
Enzyklopädie des Märchens, Bd. 5 (1987), Sp.
527-534, hier 529. 22) Vom Stil wird maturitas Quint. Inst. or. 12, 10,
11 und Tac. Dial. 26, 1 gebraucht; acerbitas als
7) Pietsch, W. J.: Der Fuchs und die Traube. Ein
Stilqualität, allerdings im positiven Sinne, Quint.
Plädoyer für die Fabel, in: Jahresbericht Akademi-
Inst. or. 10, 1,94 und 117, im negativen bei Gell.
sches Gymnasium Graz 1988/89, 3-12, hier 8.
Noct. Att. 13, 2, 3.
8) Zu dieser sowie einer Reihe anderer Interpreta-
23) Zitiert bei Köhler (wie Anm. 6), 529.
tionsfragen vgl. Dunsch (wie Anm. 1).

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24) Vgl. Ages, A.: Voltaire and La Fontaine. The Use 34) Vgl. Krewet, M.: Die Theorie der Gefühle bei
of the Fables in the Correspondence, in: Revue Aristoteles, Heidelberg 2011, 504f.
de l’Universite d’Ottawa 39 (1969), S. 577-583, 35) Zur „praktischen Klugheit“ nach Aristoteles vgl.
der die Stelle zitiert (582): „Vous me comparerez Krewet (wie Anm. 34) 522-531.
peut-etre au renard de La Fontaine qui trouvait les 36) Vgl. Elster, J.: Sour Grapes. Studies in the Sub-
raisins trop aigres auxquels il ne pouvait atteindre. version of Rationality, Cambridge 1991, 109-124,
Non, ce nest pas cela, mais de reflexions, que la hier 118: „[I]t is better to adapt to the inevitable
conaissance de l’histoire et ma propre experience through choice than by non-conscious resigna-
me fournissent.“ tion.“
25) Vgl. z.B. Lill, A.: Wine and a Trial of Character 37) SVF II 975 = 506 Nickel.
in Horace’s Poems, in: Journal of Wine Research 38) Dass eine gezielte Selbsttäuschung - oder besser:
11 (2000), 35-47. Korrektur des Urteils - auch in einer erotischen
26) Vgl. Pietsch (wie Anm. 7) 8. Beziehung nützlich sein kann, ist ein auch sonst in
27) Vgl. Köves-Zulauf, Th.: Die Verehrung von Tieren der lateinischen Literatur zu findender bekannter
in der griechisch-römischen Antike. Die römische Gedanke, vgl. Ov. Rem. 325f.: Qua potes, inpeius
Fuchshetze, in: Roth, H. (Hg.): Zum Problem dotes deflecte pueUae/iudiäumque brevi limitefalle
der Deutung frühmittelalterlicher Bildinhalte, tuum mit dem Kommentar von Geisler, H.J.: P.
Sigmaringen 1986, 57-65, hier 61. Ovidius Naso. Remedia amoris mit Kommentar
28) Vgl. Fritsch, A.: Die Gefühlswelt in den Fabeln zu Vers 1-396, Diss. Berlin 1969, 324-326.
des Phaedrus, in: Bormann, D./Wittchow, F. 39) Vgl. Doderer, K.: Fabeln. Formen, Figuren,
(Hgg.), Emotionalität in der Antike. Zwischen Lehren, München 1977, 109-115 (die Zitate: 114
Performativität und Diskursivität. Festschrift für und 115); Fabeln können nach Doderer, grob
Johannes Christes, Berlin 2008, 225-245; zu Phae- gesagt, in dreierlei Demonstration enden: (1)
drus’ eigener Auffassung vgl. 3 prol. 33-40 (bes. der entstandene Zustand ist eine berechtigte,
Vers 36). angemessene Folge falschen Verhaltens; (2) die in
29) Vgl. Fritsch (wie Anm. 28) 230 mit Hinweis auf einer Zwangslage befindlichen Figuren befreien
Cic. Tusc. 3, 24. sich mit Hilfe eigener Ressourcen aus dieser; (3)
30) Hierzu vgl. auch die kurze Analyse bei Dunsch die Fabel zeigt die Unabänderlichkeit bzw. Aus-
(wie Anm. 1), 39. weglosigkeit einer Situation und die Ohnmacht
31) Vgl. Jakobi, K.: Aristoteles über den rechten derjenigen, die sich in ihr befinden.
Umgang mit Gefühlen, in: Craemer-Ruegenburg, 40) Zur anthropologischen Begründung der Auffas-
I. (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl, Freiburg i.Br./ sung der Dichtung als Mittel zur Kultivierung
München 1981, 21-52, hier 34 Anm. 24. von Gefühlen vgl. z.B. die Deutung des 9. Kapi-
32) Bei den Untersuchungen zu den vier Tugenden, tels der aristotelischen Poetik durch Schmitt,
die den Hauptteil des ersten Buches von De officiis A.: Aristoteles. Poetik, Berlin 2008, 372-426, die
bilden (1, 18-151), nimmt die Erörterung der tem- förderlich ist, auch wenn man ihr in einer Reihe
perantia den größten Raum ein (1, 93-151); vgl. von Einzelheiten nicht folgen muss; vgl. dazu jetzt
Lefevre, E.: Panaitios’ und Ciceros Pflichtenlehre. auch Schwinge, E.-R.: Kunst und Wirklichkeit in
Vom philosophischen Traktat zum politischen Aristoteles’ Poetik, in: Rheinisches Museum N.F.
Lehrbuch, Stuttgart 2001, 52-74. 155 (2012), 41-64, besonders 47-49.
33) Vgl. Dunsch, B.: Homo an liber? Zur Ethik des Boris Dunsch, Marburg
Scherzens in Cicero, De officiis 1, 103f., in: Hyper-
boreus 18 (2012), 87-106.

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