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Halbverse als Indizien späterer Zusätze

Ausgehend von dieser Voraussetzung können nun die Halbverse der Aeneis
im Überblick behandelt und nach ihren Entstehungsursachen katalogisiert
werden. Nur eine Auswahl soll im folgenden unter typisierenden
Gesichtspunkten näher besprochen werden. Auf eine ausführliche Behandlung
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will ich verzichten; ich hoffe, die Evidenz spricht für im wesentlichen sich
selbst. Wo das Richtige bereits erkannt ist, mache ich in einer Anmerkung die
diesbezüglichen Angaben, ansonsten gebe ich in den Fußnoten einige knappe
Hinweise. Die folgende Liste enthält diejenigen Passagen, die sich durch
unvollständige Halbverse als spätere Zusätze erweisen. In deutlich über der
Hälfte der überlieferten Halbverse (37) läßt sich ein Passus glatt als Zusatz
heraustrennen. In vier Fällen (hier kursiv gedruckt) weist freilich der
Textbefund doch möglicherweise auf eine lückenhafte Ausarbeitung des
Textes. Die bereits behandelten Stellen sind in die Liste mitaufgenommen.
Außer bei den beiden mit * gekennzeichneten und im vorigen bereits
behandelten Passagen, steht der unvollständige Halbvers jeweils am Ende des
For personal use only.

Einschubs (s. oben S. 1 Iff.); fett gedruckt sind Zusätze die mit einer
Streichung ursprünglichen Textbestandes einhergehen (6 Fälle).

I 530-534 (s. oben S. 35)


559-560 (s. unten S. 45)
631-63684
II 63-66 (s. unten S. 42, 46, 78)
199-234 (s. unten S. 47)
342/345-346 (s. unten S. 42f.)
463-468 85

84
Wahrscheinlich ist der Vers wie III 340 auch syntaktisch unvollständig, wie bereits in
DServ. ad loc. richtig erkannt; vgl. Georgii 96; dann kann der direkten Überlieferung dei
gelesen werden, vgl. Walter 26f., Conington-Nettleship, Mackail und Austins verständige
Diskussion ad loc.; femer unten S. 49, 69,74.
Di e Gründe für den Zusatz sind offenkundig. Heinze (41) hat zu Recht das Peinliche,
geradezu Komische der Situation bemerkt, in der Aeneas zum hilflosen Zuschauer der
Greueltaten des Neoptolemos wird. Die betreffenden Verse sind ein erster Versuch, dies zu
mildern und Aeneas eine weniger passive Rolle spielen zu lassen. Berres (95f.), der das
folgende Gleichnis ausscheiden will, weist zu Recht auf die Tatsache hin, daß unvollständige
Halbverse mehrfach den nachträglichen Einschub eines Gleichnisses markieren. VII 702
wurde oben (S. 15) bereits behandelt, zu V 595 und X 728 unten S. 41, 49. Wie er jedoch
dazu kommt, diese Stelle oder II 623 (Berres 91f. vgl. auch unten S. 47f.) hierherzurechnen,
ist unbegreiflich. Der Halbvers steht ja nicht einmal direkt vor den Gleichnissen in II 47 Iff.
Halbverse als Indizien späterer Zusätze 41

6 0 4 - 6 1 4 (s. unten S. 4 8 )
6 2 1 - 6 2 3 (s. unten S. 45, 48)
7 1 7 - 7 2 0 (s. unten S. 4 4 )
7 5 5 - 7 6 7 (s. oben S. 36f.)
7 8 7 (s. unten S. 42f.)
III 214-21886
660-661 (s. unten S. 4 6 mit Anm. 1 1 7 , 4 9 , 51)
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IV 39-44 87
3 6 0 - 3 6 1 (s. unten S. 4 4 )
50388
515-51689
V 2 9 5 - 2 9 6 a * (s. oben S. 29f.)
573-57490
5 9 4 - 5 9 5 9 1 (s. unten S. 46)
65392
79293
814—815 9 4
VI 8 3 - 9 4 (s. oben S. 38)
For personal use only.

832-835 (s. unten S. 4 2 mit Anm. 99, 43)


Vn 128-129 (s. oben S. 21f.)
243-248 (s. oben S. 18f.)
699-702 (s. oben S. 15, 18)
759-760 (s. oben S. 20)
Vm 42-49a* (s. oben S. 28, 30ff.)
IX 166-167 (s. unten S. 4 6 )

oder 626ff. und schon gar nicht am Ende eines Gleichnisses wie V 595, X 728. Richtig ist
freilich, daß die mit ac uelut(i) eingeleiteten Gleichnisse II 626ff. und VI 707ff., denen beiden
die Apodosis fehlt, nachträglich eingelegt sind (zu IV 402ff. und X 707ff. s. unten S. 70 und
oben S. 18); Nordens (zu VI 707ff.) Erklärung von ac uelut kann nicht überzeugen; PI. Cas.
860 steht ut pleonastisch neben ac = quam (s. Kühner-Stegmann Π 20).
86
Richtig Cartault 242 Anm. 3; vergeblicher Widerlegungsversuch in Berres 23 Iff.
87
Nach A.R. 1677-9 gestaltet (vgl. Cartault 342); vgl. Walter 44.
88
S. Cartault 357, Sparrow 33, Walter 46; vgl. auch Austin ad loc. („The broken line is
perhaps a note, to remind Vergil that an insertion is needed").
89
Vgl. Sparrow 33; überzeugender als Walters (46f.) Ausscheidung von 512-516.
90
Vgl. Walter 48f.
91
Der Halbvers 595 ist nur in Ree überliefert. An seiner Echtheit kann natürlich
keinerlei Zweifel bestehen - wer hätte einen Halbvers interpolieren sollen?
92
S. Cartault 389 Anm. 2, Berres 73ff.
93
S. Walter 50; die partizipiale Phrase ist nach fr eta (791) ein unschönes Anhängsel.
94
S. Walter 51.
42 Halbverse als Indizien späterer Zusätze

572/57J-520 95
X 284 (s. unten S. 44, 49)
7231726-728 (s. unten S. 46f.)
XI 371-375 (s. unten S. 44f.)
383-391

Streichung von ursprünglichem Versbestand betrifft im wesentlichen bereits


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diskutierte Stellen. Ferner gehören auch II 63-6 hierher. 63 dürfte für den
Anschluß an 58 verfaßt sein, und mit dem Zusatz von 63-6 war zumindest die
Streichung von 59-62 verbunden. Vv. 63-6 dienen einmal der lebhafteren
Ausgestaltung der Szene96, zum andern dürfte Vergil beabsichtigt haben, die
aus seiner griechischen Quelle97 übertragenen und genauer betrachtet für seine
Zwecke weniger geeignete Charakterisierung Sinons in 61f. durch eine
passendere, negativere im Anschluß an 66 zu ersetzen98.
In VII 759f.(s. oben S. 20) wie auch bei dem formal untypischen Fall V
295-296a (s. oben S. 30) trafen wir auf die Zufügung weiterer Angaben zur
Vorstellung einer Person; strikt parallel zu der zusätzlichen Apostrophe in VII
759f. sind VI 832-5. Auch hier ist unverkennbar, daß 835 schon aus
For personal use only.

inhaltlichen Gründen wesentlich besser an 831 als an 835 anschließt. Ganz


unabhängig von der metrischen Unvollständigkeit kann die Perikope über
Caesar und Pompeius so abrupt kaum enden.99 Nähere Personenbeschreibung
in einem nachträglichen Zusatz finden wir außerdem II 342-6, 787 und III
214-8. II 342-6 stellen den letzten Helden der Reihe Rhipeus (339), Epytus,
Hypanis, Dymas (340) und Coroebus (341) näher vor 100 . Angesichts seiner
prominenten Rolle in 384ff. verdient er das natürlich; überhaupt ist eine
Erwähnung seiner Beziehung zu Kassandra zum Verständnis von 402ff.
unabdingbar. Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß diese Information

Trotz der Möglichkeit zur Abtrennung eines Zusatzes gehört der Fall eindeutig zu den
mangelhaft ausgearbeiteten Passagen und wird unten S. 50f. behandelt werden.
96
Ähnliche Zusätze s. unten S. 46f.
97
Vgl. Q.S. XII 250ff.(T0 γ α ρ νύ μοι εϋαδε θυμώι/ η θανέειν δ η ί ο ι α ν ύπ'
ά ν δ ρ ά α ν η ύπαλύξαι/ Άργείοιο μέγα KÜSOC έελδομένοια φέροντα).
98
Richtige Beobachtungen bei Walter 28f., obwohl er den Zusatz nicht korrekt abgrenzt.
99
Grundlos ist die Annahme, die gesamte Perikope über Caesar und Pompeius sei
späterer Zusatz, vgl. Norden, Hermes 28 (1893) 506 (aufgegeben im Kommentar zur Stelle,
gebilligt von Walter 53). Gerade jedoch ein Blick auf das Folgende erweist die Apostrophe
832-5 als Zusatz. Der Katalog der Helden Roms läuft mit 84Iff. in eine Reihe von
Apostrophen aus; 832-5 nehmen dies störend vorweg.
100
quos (347) schließ nahtlos an 340f., kaum jedoch an 346 an.
Halbverse als Indizien späterer Zusätze 43

unbedingt in Vergils Erstentwurf gegeben worden sein m u ß 1 0 1 . Man könnte


freilich parallel zu der zugesetzten Apostrophe in VI 8 3 2 - 5 und VII 759f.
auch nur 345f. als pathossteigernden Zusatz ansehen 1 0 2 . 347 schließt zwar am
besten direkt an 341 an, doch nach Ausscheidung von 345f. ist der Text gewiß
erträglich. Π 7 8 7 1 0 3 bringt eine zusätzliche Angabe zu Creusas Status, der ihre
Sonderbehandlung rechtfertigt. III 2 1 4 - 8 bieten eine schaurige fc'tccppacic der
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Harpyie Celaeno 1 0 4 .
In VII 243ff. hatten wir einen von Varius ans Ende der Rede des Ilioneus
gestellten Zusatz vermutet, wobei es durchaus Vergils Absicht g e w e s e n sein
mag, die Rede am Ende durch ein neues Detail zu bereichern, auch w e n n 2 4 3
so nicht an 2 4 2 anschließt. Zusätze am Ende einer R e d e 1 0 5 finden wir in der
For personal use only.

101
Vgl. oben (S. 29f.) zu V 295f. Vergil mag, ja wird unweigerlich in einem ersten
Durchgang nicht jede Forderung einer bis in jedes Detail durchdachten Gesamtkonzeption
berücksichtigt haben. Selbst wenn er sich, wie man annehmen darf, der Tatsache von Anfang
an bewußt war, daß Coroebus hier einer nähere Bestimmung bedarf, er muß das nicht alles
sofort ausgearbeitet haben.
Erwogen von Walter 31.
103
Richtig erklärt von Walter 37. Cartaults (205 Anm. 3) Ausscheidung von 785-7
weist Berres (115ff.) im Anschluß an De Piceis Polver (Annali dell' Islitulo Sup. di Mag. del
Piemonte 3 [1929] 82 Anm. 1; zitiert von Berres, mir nicht zugänglich) zu Recht zurück.
Sein Einwand gegen Walters Ausscheidung von 787 ist freilich gegenstandslos; 787 ist nach
non ego (785) keineswegs unentbehrlich; ego ist allein aus dem Übergang von der dritten
Person (lacrimas dileclae pelle Creusae 784) vollauf gerechtfertigt. 787 kann im übrigen
ohne weiteres sinnvoll ergänzt werden; zu der bei Servius mitgeteilten Ergänzung et tua
coniunx bemerkt Austin (ad loc.) zu Recht: „a more felicitous supplement than most of
those recorded on other incomplete lines." Zu Berres' Deutung vgl. oben S. 36f. Anm. 73.
hue (219) steht wesentlich besser direkt nach der Erwähnung der Strophaden in 210-3
als nach einer längeren Passage über Celaeno (vgl. Walter 39). Der Einschub wurde bereits
richtig abgegrenzt von Cartault 242 Anm. 3. Berres' (209ff.) Versuch, aus dem Halbvers die
gesamte Celaenoprophezeiung als nachträgliche Zutat zu erweisen, hängt mit seiner irrigen
Interpretation des Verhältnisses von Sau- und Tischorakel in den Büchern III, VII und VIII
zusammen (vgl. dazu oben S. 26ff. und 20ff.; zur Stellung des dritten Buches im
Gesamtwerk vgl. auch unten S. 54ff.) und verdient angesichts der einfachen und
offenkundigen Lösung Cartaults kaum eine ausführliche Widerlegung.
105
Vgl. auch Sparrow 37ff.
44 Halbverse als Indizien späterer Zusätze

Aeneis an fünf Stellen: II 7 1 7 - 7 2 0 1 0 6 , IV 3 6 0 - 1 1 0 7 , V 8 1 4 - 5 , Χ 2 8 4 1 0 8 , XI


3 7 1 - 5 . In allen Fällen kann der betreffende Passus ohne Schaden wegbleiben,
so daß ein fortlaufender Text ohne metrische Lücke entsteht. In X 276ff.
könnte man j e d o c h auch mangelnde Ausarbeitung des ganzen Passus
vermuten. Turnus' Rede fehlt die Einleitung 1 0 9 . D i e s muß natürlich nicht
unbedingt auf Unfertigkeit deuten, doch erinnert der Textbefund an einige
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andere nicht voll ausgearbeitete kürzere Reden, die unten (S. 51f.) noch zu
besprechen sein werden.
Eine nähere Betrachtung verdienen XI 3 7 1 - 5 , die mit 3 8 3 - 3 9 1 in
Zusammenhang stehen. Die schneidende Ironie in 37 Iff. paßt nicht zu dem
sonstigen Ton der Rede und steht zu 364f. (primus ego, inuisum quem tu tibi
fingis (et esse/ nihil moror), en supplex uenio) in krassem Gegensatz.
Wahrscheinlich handelt es sich um einen unkoordinierten Entwurf zu einer
Umarbeitung der gesamten Rede, um ihr einen schärferen Ton zu geben und
Drances unsympathischer erscheinen zu lassen. Insbesondere scheinen 3 7 3 - 5
(etiam tu, si qua tibi uis,! sipatrii quid Martis habes, illum aspice contra/ qui

106
Recht betrachtet ist eine Erwähnung der Mitnahme der Penaten (vgl. dazu Wissowa,
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Hermes 22 [1887] 29ff.) angesichts der hohen Bedeutung des Aktes natürlich höchst
angebracht, doch muß dies keineswegs bedeuten, daß Vergil den Text unbedingt von Anfang
an in dieser Form gestaltet hat. Daß Aeneas die Penaten mitgerettet hat, geht schon aus 747
unmißverständlich hervor. Wie sie aus der brennenden Stadt herausgetragen wurden, kann in
einem Erstentwurf ebenso ausgelassen worden sein, wie unser Text des zweiten Buches seit
der Rettung der sacra ... uictosque deos (320) durch Panthus zu deren Verbleib bis zum
Auszug des Aeneas nichts zu berichten weiß.
107
Gute Besprechung bei Walter 44f. Prof. Lefövre weist mich auf Williams (zu 381)
Beobachtung hin, daß 381 in seiner ersten Hälfte an 361 (ähnlich bereits Pease ad loc.), in der
zweiten an 350 anklingt (zu derartigen Bezügen vgl. auch Lefövre WS 8 [1974] 99-115). Ich
denke, gerade der doppelte Bezug von 381 erklärt sich gut mit der Annahme, 361 sei später
mit Rücksicht auf 381 eingelegt. Man hat im übrigen Aeneas Rede an Dido oft als kalt
getadelt, und Lefövre (1. cit.) hat Aeneas zu Recht gegen den Vorwurf der Gefühlskälte in
Schutz genommen. Ohne 360f. wird mancher seine Rede vielleicht als noch kälter
empfinden. Wie weit ist eine Zeit von den Werten der Dichtung Vergils entfernt, in der man
Aeneas nur noch als sympathisch empfinden kann, wo er verliebt ist oder seine Mission
vergißt, und bei jeder Regung der Pflicht von vornherein argwöhnt, hier stehe einer vielleicht
doch zu schnell stramm. Aeneas' Sachlichkeit hier zu verteidigen sehe ich keinen Anlaß; die
Rede kann fur mein Empfinden passend mit 359 enden.
108
„... dagegen scheint mir der Halbvers an der Stelle, wo er jetzt steht, etwas
unglücklich nachzuhinken; er ist ja auch nur eine Wiederholung des in Vers 280
ausgedrückten Gedankens", Walter 61. Auch Walters Idee, der Halbvers könnte u.U. ein
Altemativentwurf für die erste Hälfte von 280 (in manibus Mars ipse uiris) sein, den Varius
ans Ende der Rede gesetzt hat, ist ansprechend.
109
Nachgeholt in einer Konkordanzinterpolation in R und einigen Minuskelcodices; zur
Interpolation von Redeeinleitungen s. meinen demnächst erscheinenden Aufsatz im Hermes.
Halbverse als Indizien späterer Zusätze 45

uocat) darauf hinzuweisen, daß Vergil vorhatte, Aeneas' implizites Angebot


zum Einzelkampf in 115ff. (aequius huic Turnum fuerat se opponere mortiJ si
bellum finire manu, si pellere Teueres! apparat, his meeum deeuit eoneurrere
teils:! uixet cui uitam deus aut sua dextra dedisset) in Drances' Rede nochmals
explizit zu machen, um Turnus' Anspielung auf Aeneas' Angebot in 442
(solum Aeneas uocat?) besser zu motivieren. Die Einlage in Turnus' Antwort,
383-91, scheint in Abstimmung mit 371-5 verfaßt zu sein. 383f. (proinde
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tona eloquio (solitum tibi) meque timoris! argue tu, Drance) nehmen auf 373-5
Bezug; nur da kann Turnus den Vorwurf der Feigheit heraushören110.
Hier fügen sich vielleicht auch drei weitere Fälle an, wo Vergil nachträglich
ein verbum dicendi am Ende einer Rede zugesetzt zu haben scheint: 1 5 5 9 f . m ,
II 621-3, V 653. Daß eine ganze Reihe von Halbversen das verbum dicendi in
Redeeinleitung oder -abschluß betrifft, ist seit langem bekannt.112 Die Fälle,
die die Redeeinleitung betreffen, können nicht einfach als nachträgliche
Zusätze zu einem vollständigen Text angesehen werden und sollen weiter
unten noch näher besprochen werden (s. unten S. 51f.); sie zeigen, daß Vergil
ab und an zuerst die Rede ausgearbeitet und für die Redeeinleitung nur ein
Provisorium verfaßt hat. Beim Redeabschluß steht dies etwas anders. Hier
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könnte grundsätzlich auch auf ein verbum dicendi verzichtet werden, und in
den genannten Fällen ist der Text ohne den betreffenden Zusatz vollständig.
Vergil schließt längere Reden zwar in der Regel durch ein verbum dicendi in
der ein oder anderen Form ab, doch gibt es Ausnahmen113. Es muß auffallen,
daß zwei der drei Beispiele im ersten Buch stehen; hier findet sich in der Tat
ein eklatantes Beispiel für eine lange Rede ohne anschließendes verbum
dicendi (Venus in 229-253). Die Ergänzung haec effata in V 653 ist kaum
mehr als eine flüchtig hingeworfene Randnotiz für einen Versanfang mit dem
partieipium coniunctum. I 559f. und 631-6 lassen das Bestreben zu einer
näheren Ausgestaltung des szenischen Hintergrunds erkennen. 559bf. (nach
Horn. II. I 22 1 1 4 ) sind dabei aus V 385f. geborgt. 115 In 631-6 ist mit

110
Daß die Halbverse in Drances' und Turnus' Rede im Zusammenhang betrachtet
werden müssen, hat Walter (63) richtig erkannt.
111
Vgl. Austin ad loc.
112
S. Sparrow 1. cit. (S. 43 Anm. 105). Nur gehören die hier und unten (S. 51f.)
diskutierten Fälle nicht strikt zu derselben Gruppe wie die Anfügungen am Ende einer Rede,
denn dort betrifft die Umarbeitung nicht die Einbettung der Rede in den Kontext.
113
Vgl. die Auflistung bei Berres 72 Anm. 3, der zugleich den Versuch einer
Klassifizierung macht.
114
ϊνθ' ϋλλοι μέν πάντεο έττευφήμηοαν 'Αχαιοί.
115
Erkannt von Walter 25f. Berres' (295ff.) Versuch, aus dem Halbvers 560
weitreichende analytische Schlußfolgerungen abzuleiten, geht von seiner verfehlten Annahme
aus, daß Halbverse im allgemeinen einen folgenden Zusatz anzeigen. Die Didorede als
46 Halbverse als Indizien späterer Zusätze

Einführung des Redeabschlusses sie memorat (631) eine Ausgestaltung der


S z e n e v o n immerhin sieben Versen verbunden. Leichte Inkongruenzen mit
6 4 3 f f . stützen unsere Annahme, daß 6 3 1 - 6 im Erstentwurf fehlten. In d e m
Text, den wir lesen, sind die Didogeschenke an die Gefährte des Aeneas ( 6 3 3 -
6) und die Mission des Achates, Ascanius und Geschenke für Dido zu bringen
(643ff.) schlecht koordiniert.
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A u c h bei den übrigen B e i s p i e l e n für spätere Zusätze, die mit e i n e m


unvollständigen Halbvers abschließen, handelt e s sich zumeist um lebhaftere
Ausgestaltung der Erzählung wie oben in II 6 3 - 6 oder etwa in IX 1 6 6 - 7 1 1 6 ,
und vielleicht gehören auch III 6 6 0 - 1 hierher 1 1 7 . V 5 9 4 - 5 1 1 8 und X 7 2 3 / 6 -
8 1 1 9 wird, w i e in VII 6 9 8 - 7 0 2 (s. oben S. 15, 35), ein Gleichnis eingelegt.
Der zweite Fall ist schwer zu beurteilen; drei Erklärungsmöglichkeiten bieten
sich an: 1) man könnte sich auf die Ausscheidung v o n 7 2 6 - 8 beschränken.
D a ß der Vergleich so nicht zu einem vollen Vergleichssatz ausgedehnt wird, ist
i m Hinblick auf den Bezug des vorausgehenden Temporalsatzes auf 7 2 9 gewiß
ein Gewinn. Freilich führt die Einlage eines längeren Vergleichs zwischen 7 2 2
und 7 2 9 s o w i e die Einleitung der A p o d o s i s mit sie zu einer äußerst
umständlichen Periode. Man wird den Verdacht nicht los, daß 2) entweder die
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nachträgliche Einlage zu betrachten, löst überhaupt nichts von den durchaus bestehenden
kleineren Unstimmigkeiten im ersten Buch, wie Berres ja auch selbst zugeben muß, daß auch
die Ilioneusrede überarbeitet sein muß, wenn man die zunächst feindliche Aufnahme der Troer
in Carthago aus dem Erstentwurf verbannen will. Den Widerspruch zwischen Iuppiters
Auftrag an Merkur (297-303) und der zunächst feindlichen Aufnahme der troischen Rotte,
den Berres im Anschluß an ältere Beiträge (vgl. Berres 296 Anm. 71) herausstellt, halte ich
nicht für unüberwindlich (Stahls, Hermes 97 [1969] 357, Verteidigung des vergilschen
Textes ist allerdings nicht voll befriedigend). Der Akzent von Merkurs Mission liegt ganz auf
der Vorbereitung Didos; ponunt ferocia Poeni corda (302f.) wird nur ganz nebenbei
hingeworfen, und so gewalttätig, wie Ilioneus das Verhalten der Carthager -
verständlicherweise - ausmalt (539-541), scheint es ja in Wirklichkeit gar nicht gewesen zu
sein. Keinem Trojaner wird doch ein Haar gekrümmt; ihre Gesandtschaft wird anstandslos zur
Königin vorgelassen. Was die Carthager taten, war doch wirklich nicht mehr als finis custode
tueri (564). Sobald die Trojaner sich und ihre friedliche Absicht zu erkennen geben, werden
sie ganz im Sinne Merkurs behandelt.
116
Vgl. Walter 58.
117
So Walter 43 (bereits Heyne hielt 660f. für interpoliert). In diesem Fall vom Ende
des besonders mangelhaft ausgearbeiteten dritten Buches (s. unten S. 54ff.) könnte man u.U.
aber auch eher einen lückenhaften Entwurf der Szene als einen späteren Zusatz vermuten.
118
S. Norden zu VI 270ff.; Cartault 387 Anm. 4, Sparrow 34, Walter 49f. Rieks (1075)
lehnt es ab, das Delphingleichnis als Zusatz zu betrachten, und verweist auf die angeblich
symmetrische Komposition ab; angesichts der Einbeziehung eines Halbverses sind derartige
Berechnungen hinfällig.
119
Vgl. auch Sparrow 37ff., Walter 62 und Berres lOOff. Zu den homerischen Vorbildern
vgl. Knauer 1,418f.
Halb verse als Indizien späterer Zusätze 47

ganz Passage 719 aus drei unkoordinierten Entwürfen (d.h. 719-22, 723-8,
729) zusammengestückt ist, oder daß 3) der lange Vergleich 723-8 ein erster
Entwurf zu einer Umgestaltung der Passage ist und eine andere Fortsetzung
von 722 verdrängt hat. Letztere Möglichkeit scheint allerdings weniger
wahrscheinlich, da die nach 721f. unpassende Einleitung der Apodosis mit sie
dann zum ursprünglichen Text gehören müßte.
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Bevor noch zwei Passagen des zweiten Buches erwähnt werden sollen, wo
wir Spuren einer besonders weitreichenden Überarbeitung fassen, will ich
nicht versäumen darauf hinzuweisen, daß die im vorigen versuchte
Typisierung der Vergilschen Selbstinterpolation deutliche Parallelen zu
geläufigen Typen der antiken Interpolation aufweist, wie sie gerade neuerdings
Tarrant wieder in einem hervorragenden Beitrag zusammengestellt hat 120 .
Insbesondere die weitverbreiteten Typen der Schlußinterpolation 121 und der
explikativen Interpolation sind prominent vertreten.
Die Probleme der Laokoonepisode (II 35-56 und 199-233) sind in der
älteren Forschung viel diskutiert worden, und die mangelnde Koordination mit
der Sinonepisode ist wohlbekannt 1 2 2 . Heinze (12ff.) - der die
Unstimmigkeiten ausführlich diskutiert und zusammenfaßt - hat die Gründe,
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die Vergil bewogen haben, die Episode neben der Sinonrede aufzunehmen
sowie ihre Teilung in zwei getrennte Szenen mit dem ihm eigenen
Einfühlungsvermögen in Vergils Kunstwollen mustergültig herausgestellt.
Dies muß jedoch keineswegs bedeuten, daß die Laokoonepisode unbedingt
zusammen mit der Sinonepisode verfaßt sein muß. Vergil kann die
Sinonepisode durchaus erst später durch die Laokoonepisode erweitert haben;
er mag durchaus auch von Anfang an geplant haben, Laokoon neben Sinon
auftreten zu lassen, doch weist der Textbefund mit dem Halbvers 234 darauf
hin, daß die Laookonszene nicht in einem Zuge mit der Sinonepisode gedichtet
ist 123 . Man darf annehmen, daß auch die leichten Unstimmigkeiten in der
Koordinierung der Szenen in seiner Endredaktion weiter geglättet worden
wären.
Starke Spuren von Überarbeitung weist auch die Venusbegegnung 589ff.
auf. Zwei auf engem Raum aufeinander folgende Halbverse (614 und 623)

120 Ygi r t Tarrant, The Reader as Author: Collaborative Interpolation in Latin


Poetry, in: J.N. Grant (ed.), Editing Greek and Latin Texts (New York 1989) 121-162.
121
Zu diesem besonders weit verbreiteten Interpolationstyp s. insbesondere Jachmann in:
Festschrift F. Schulz (Weimar 1951) II 179-187.
122
Vgl. insbesondere Bethes (RhM 46 [1891] 511-527) im wesentlichen richtige
Darlegungen.
123
Richtig beurteilt von Walter 29f.
48 Halbverse als Indizien späterer Zusätze

stehen am Ende jeweils glatt ablösbarer Zusätze 124 . Der Zusatz am Ende der
Rede (621-3) gehört zu dem verbreiteten, oben besprochenen Typ der
nachträglichen Anfügung des verbum dicendi. 604-14 sind zugleich
erklärender Zusatz und weitere Ausgestaltung der kühnen Vergilschen
Erfindung, Aeneas den Untergang Trojas direkt aus der übernatürlichen
Perspektive miterleben zu lassen 125 . Der Venusauftritt folgt direkt auf die
interpolierte Helenaszene (567-88) 1 2 6 , die man im allgemeinen für die
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Interpolation einer Lücke hält. Freilich könnte 589 direkt an das Praesens in
564 anschließen 127 . Kraggerud 128 hat in der Tat argumentiert, daß die
Venusbegegnung ohne nähere Vorbereitung mit einem kurzen Übergang auf
566 folgen könnte. Dies scheint möglich, doch gewiß mehr schlecht als recht.
Venus' Worte in 594f. (nate, quis indomitas tantus dolor excitat iras?/ quid
furis...?) blieben schlecht motiviert. Gut vorstellbar ist freilich, daß Vergil in
einem ersten Durchgang diese Motivierung noch nicht geboten hat. 565f.
dürften ein späterer Zusatz sein und einen ersten Ansatz zur Einfügung einer
die Venusbegegnung vorbereitenden Partie sein. Die Aufnahme dieses
Fragments in den Text zerstört den Anschluß von 589 129 .
For personal use only.

124
Man beachte auch den unmittelbar auf die Rede folgenden Vergleich mit fehlender
Apodosis (626ff.; s. oben S. 40f. Anm. 85)
125
Vgl. Heinze 5Iff.
126
Die Unechtheit halte ich nach Goolds grundlegendem Beitrag für erwiesen (vgl. auch
die neueren Beiträge Murgias, CSCA 4 [1971] 203-274 und Zetzels, neuerdings auch
Gransden, G&R 32 [1985] 69f.; vgl. auch die Diskussion bei Geymonat 290); neuere
Verteidigungsversuche (s. etwa die oben Anm. 2 genannte Abhandlung von Berres) gehen am
Überlieferungsbefund vorbei und verdienen keine Widerlegung.
127
Vgl. Austin ad loc. Zu cum inuersum nach Praesens in Vergil vgl. X 261, mutatis
mutandis auch VII166; nach Inf. Praes. V 657.
128
SO 50 (1975) 108ff.
129
Die mangelnde Ausarbeitung der Venusbegegnung zeigt sich auch in dem Fehlen der
Apodosis zu dem Gleichnis in 626-31 (s. oben S. 40f. Anm. 85). In 640 folgt ein Halbvers,
der lückenhafte Ausführung des Textes verrät (s. unten S. 58).

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