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Zur Chronologie der Bücher

Versuchen wir nun einen Ausblick auf weiterreichende Probleme der


Aeneisanalyse sowie auf die gewonnenen Einsichten in Vergils Arbeitsweise
und die posthume Aeneisausgabe, so darf zunächst einmal festgehalten
werden, daß die im vorigen vorgetragene Analyse der Passagen, die das
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notorische Probleme der Stellung des dritten Buches betreffen, schlagend die
in der neueren Forschung immer wieder bestrittene Position Heinzes bestätigt
hat, das dritte Buch sei als eines der spätesten der Aeneis nach den Büchern I,
II, IV, VI, VII und VIII verfaßt 1 4 3 . Entgegen der häufig vorgetragenen
Behauptung des Gegenteils legt das unzweideutige Zeugnis der Halbverse in
den auf ΙΠ Rücksicht nehmenden, bzw. mit III kollidierenden Partien in I, Π,
VI, VII und VIII die Annahme nahe, daß die betreffenden Bücher mit
Rücksicht auf III umgearbeitet werden sollten 1 4 4 . Ich hoffe die im vorigen
gegebene Interpretation der betreffenden Partien hat zur Genüge klar gemacht,

143
S. Heinze 86ff. (zuerst vertreten von Schüler 8ff.) Gegen Heinze in neuerer Zeit etwa
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Büchner 34 Iff. = 1363ff., Berres 199ff. (zur älteren Forschung vgl. die Bibliographie bei
D'Anna 49 Anm. 1). Williams (Einleitung zu Buch III S. 22 Anm. 1) bezeichnet die auch
von ihm selbst gebilligte frühe Entstehung des dritten Buches als die 'generally held view'.
Büchner (343ff. = 1365f„ 405 = 1427; noch schärfer Horsfall 3, 92) hat im übrigen
Aussagen über die Chronologie der Bücher der Aeneis mit dem Argument zu relativieren
gesucht, Vergils nach Auskunft der antiken Quellen sprunghafte Arbeitsweise lasse nur
Aussagen über die chronologischen Verhältnisse einzelner Episoden, nicht ganzer Bücher zu.
Darin steckt gewiß etwas Richtiges; dennoch ist Büchners Position zu einem guten Teil auch
von seiner Polemik gegen Heinzes starke Betonung der inneren Einheit und
Abgeschlossenheit der Einzelbücher der Aeneis bestimmt (vgl. Büchners Einleitung zu
seinem Aeneisabschnitt 316f. = 1338f.) und hängt außerdem an einer Fehleinschätzung des
Wertes der Nachricht in VSD 23f. (s. unten S. 64). Gewiß dürften Pauschalaussagen über die
Chronologie ganzer Bücher - ganz abgesehen von der unvermeidlichen Unsicherheit aller
derartiger Hypothesen überhaupt - den wahren, für uns aus innerer Evidenz im einzelnen
nicht mehr erschließbaren Sachverhalt stark vergröbern. Gerade in der zweiten, weit weniger
von thematisch in sich abgeschlossenen Einzelbüchern bestimmten Aeneishälfte wird man
dem Einzelbuch auch als chronologischem Fixpunkt weniger Gewicht zumessen. Hier werden
wir im folgenden auch einen Fall für die selbständige Komposition einer Einzelszene
kennenlemen (s. unten S. 62; ähnliches wurde insbesondere für die Camillaepisode XI 539-
84 vermutet, s. Heinze 416; vgl. neuerdings auch Suerbaum WJbb 6a [1980] 139-160).
Bücher wie das zweite, vierte und sechste dürften hingegen doch auch als Einheit geschrieben
sein, und sie lassen sich ja auch schon aufgrund der Nachricht von ihrer Rezitation vor
Augustus als chronologische Fixpunkte verwerten (s. unten S. 60f.). Im übrigen wird
Heinzes Auffassung von Vergils Arbeitsweise aus der im folgenden versuchten Interpretation
der inneren Evidenz des Textes weitestgehende Bestätigung finden (s. unten S. 66f.).
144 Zu IV und VI s. unten.
Zur Chronologie der Bücher 55

daß es keinen Grund gibt, diese Evidenz nicht für das zu nehmen, was sie ist;
nichts zwingt dazu, den Sachverhalt künstlich umzukehren. Die mangelnde
Zustimmung, die Heinzes Auffassung in der Forschung gefunden hat, liegt
allerdings gewiß daran, daß Heinze selbst die für die richtige Beurteilung der
Stellung von Buch III zentralen Passagen, das Sau- und das Tischorakel,
gründlich mißinterpretiert hat, da er sich durch seine überzogene Hypothese
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von der schrittweisen Enthüllung des Reisezieles und mangelnde


Berücksichtigung der Halbverse den Weg zu einem richtigen Verständnis
verbaut hatte. Richtig an seiner These bleibt, daß Vergil mit der Ausarbeitung
des Reisebuches von einem ursprünglichen Plan abrückte, nach dem den
Aeneaden das Ziel von Anfang an bekannt war. Dieser ursprüngliche Plan läßt
sich unzweideutig aus der Creusaszene im zweiten Buch erschließen, und
diese Szene wäre in der Endfassung gefallen (s. oben S. 35ff.). Unbegründet
ist die Annahme, Vergil habe beabsichtigt, im dritten Buch als Reiseziel nur
Italien, nicht jedoch Latium zu nennen. Auffällig ist die Tatsache, daß der
Tiber in Buch III nur 500f. (si quando Thybrim uicinaque Thybridis arua
intraro...) von Aeneas wie nebenbei und nirgends an prominenterer Stelle in
einer Prophezeiung erwähnt wird, doch dürfte dies mit dem unfertigen Zustand
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gerade diesen späten Buches zusammenhängen. Die Stellen in den Büchern I,


IV, VI, die das Reiseziel als bekannt voraussetzen, dürften zwar noch unter
der Voraussetzung des ursprünglichen Planes gedichtet sein 145 , sind jedoch
mit der neuen Konzeption des dritten Buches ohne weiteres vereinbar. Ebenso
bestand kein Grund die Landungsszene im siebten Buch umzuschreiben, wie
Heinze angenommen hat 146 .
Eine relativ späte Entstehung des dritten Buches in seiner vorliegenden
Form wurde nach Heinze fast nur in Zusammenhang mit Sabbadinis
Hypothese von der doppelten Redaktion des dritten Buches vertreten 147 . Doch
145
Dies legen insbesondere IV 31 Iff., 345ff. und 376ff. nahe, die Gercke (60ff.) glaubte,
nicht mit ΙΠ vereinbaren zu können; vgl. dazu jedoch D'Anna 55.
146
Zu Gerckes und D'Annas Auffassung s. oben S. 21f. Anm. 37.
147
S. das im Literaturverzeichnis genannte Werk; Sabbadinis Hypothese wurde
angenommen von Pascal, Rend. Acc. Arch. Lett. Belle Arti Napoli 1908 (= Scritti vari di
letteratura latina [Turin 1920], 171-184); Crump 16ff., lOOff.; F. Richards, The Aeneid of
Virgil (London 1928) llff.; Mackail S. 89ff.; Columba 81ff„ Thaler 87ff., A. Rostagni,
Suetonio - De poetis e Biografi minori (Turin 1944) 102, A. Mazzarino, II racconto di Enea
(Turin 1955) 73ff., D'Anna 68ff., Eden zu VIII 41; selbst Williams äußert sich trotz seiner
zu Recht entschiedenen Ablehnung in einer Anmerkung der Einleitung zu seinem
Kommentar zu Buch III („but it must be stressed that there is no possibility whatsoever that
the bulk of book III is a third-person narrative slightly rewritten into the first person. If
anyone thinks that it is, let him try to write it back again into the third person, adding the
subjects Aeneas, Teucri, etc., where necessary", S. 2 Anm. 3) zuweilen zwiespältig (s.
bereits S. 3 der Einleitung und seine Anmerkung zu V. 698). Eine ähnliche Hypothese wurde
56 Zur Chronologie der Bücher

keines der von Sabbadini vorgetragenen Argumente für Relikte seiner


'narrativen' Fassung des dritten Buches ist wirklich stichhaltig 1 4 8 , und
schwere Bedenken sprechen a priori gegen einen ursprüngliche Beginn der
Aeneis mit dem Irrfahrtenbuch. Nicht nur daß die Irrfahrten schon im
homerischen Modell in der ersten Person erzählt sind 149 , der Einsatz des Epos
zu einem relativ frühen Zeitpunkt des Geschehens widerspricht fundamental
der Struktur beider homerischer Epen mit ihrer Tendenz zur Konzentration des
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Stoffes, und Vergils Werk zeigt unzweideutig, daß er dieses Strukturprinzip


des homerischen Vorbilds voll gewürdigt und in seinem Sinne fruchtbar
gemacht hat 150 . Die jahrelangen Irrfahrten der Aeneaden in einem Buch zu

im übrigen für die Bücher κ-μ der Odyssee von Kirchhoff (Die homerische Odyssee [^Berlin
1879) aufgestellt; sie hat bis R. Merkelbachs wichtigen Untersuchungen zur Odyssee
[Zetemata 2, München 1951] 67 Anm. 1,206 Anm. 2 Nachfolge gefunden); weitere Literatur
bei Suerbaum 1, 158 Anm. 14.
148
Das Wesentliche ist gesagt von Helm in Bursians Jahresbericht 113 (1902) 49-56,
dessen Argumente teilweise auch von D'Anna (68) anerkannt werden. Insbesondere
Sabbadinis scheinbar stärkstes Indiz für eine Erzählung in der dritten Person, die dritten
Personen in 686 und 352f. beweisen gar nichts. In 352f„ wo die Trojaner gastliche
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Aufnahme in einer Miniaturnachbildung ihrer alten Heimat finden, ist Teucri auch im Munde
des Aeneas unanstößig. In 684-6 gehen die Schwierigkeiten des überlieferten Textes über die
dritte Person in 686 hinaus; entweder ist der Text hoffnungslos korrupt, oder man wird mit
Williams (ad loc.) einen nur in Ansätzen formulierten Entwurf Vergils vermuten (wenn dies
richtig ist, so dürfte m.E. Page [ad loc.] mit seiner Erklärung des Textes auf der richtigen
Spur sein). Zwar sollte man gegenüber derartigen Hypothesen mißtrauisch sein, doch
angesichts der fragmentarischen Ausarbeitung der vorausgehenden Achaemenidesszene (s.
oben S. 51) und der Tatsache, daß wir uns am Ende eines besonders wenig ausgearbeiteten
Buches befinden, ist Williams Vermutung nicht ganz von der Hand zu weisen. Man tut
Vergil keinen Gefallen, wenn man den unschönen Wechsel zum Singular in 698 aus der
Übertragung aus der dritten Person erklärt; er bleibt unentschuldbar. Hätte Vergil im dritten
Buch tatsächlich so primitiv gearbeitet, wäre das nicht die einzige Stelle, wo ein derartiger
Text entstanden wäre. 704 mag man ebenso wie 702 oder auch 13ff., 75, 334, 506, 55 Iff.
und 688ff. überhaupt (als Beleg für die narrative Fassung angeführt etwa von Mackail 90 und
Thaler 88) im Munde Aeneas für weniger passend halten als im Munde des Dichters, doch
wird man es Vergil kaum verübeln, wenn er auf derartige Gepflogenheiten epischer Erzählung
auch in Aeneas' Bericht nicht ganz verzichten will (zum Schluß des dritten Buches vgl. jetzt
Geymonat, HSCP 95 [1993] 323ff.). Wenn die Erzählung im dritten Buch insgesamt
wesentlich unpersönlicher wirkt als im zweiten, Aeneas sich selbst weit weniger ins Licht
setzt, die Zuhörerin Dido im Gegensatz zu II 2, 65f., 506 nie ins Blickfeld rückt, so hängt
dies einerseits gewiß mit dem Stoff der Erzählung selbst zusammen. Doch mag durchaus
auch die mangelnde Ausarbeitung des Buches eine Rolle spielen.
149
Richtig Helm 50; vgl. auch F. Mehmel 93 Anm. 19.
150
„Die Übersicht lehrt zugleich eines: daß Vergil danach gestrebt hat, die Handlung auf
einen möglichst kleinen Zeitraum zusammenzudrängen; sieht man von den handlungslosen
und handlungsarmen Zwischenräumen ab, so sind es nur einige zwanzig Tage, von denen
Zur Chronologie der Bücher 57

Beginn zusammenzufassen, um dann zu weiteren Büchern überzugehen, die


außer dem vierten Buch 151 die Ereignisse weniger Tage schildern, hätte zu
einem unerträglich lahmen Anfang und zu einer unerträglichen Inkongruenz
mit dem Folgenden geführt, während die Einbettung in Aeneas' Bericht zu der
von Vergil erstrebten Konzentration und Zeitraffung geeignet ist 152 . Es
scheint mir unglaublich, daß Vergil ohne Not eine grundsätzlich so völlig
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Virgil erzählt. Dazu hat nicht nur das Vorbild von Ilias und Odyssee geführt: das Streben
nach konzentrierter Wirkung mußte das gleiche Resultat haben", so kommentiert Heinze
(342) seine Zeittafel der Aeneis\ des weiteren vgl. auch seine Einführung (173) in die
Struktur der zweiten Hälfte der Aeneis: „Virgils erstes Bedürfnis war die Konzentrierung des
Stoffes: aus den drei oder vier Fehlschlägen der Tradition macht er einen, der allerdings
mehrere Treffen umfaßt, und drängt die Ereignisse einer Reihe von Jahren in wenigen Tagen
zusammen; lückenlos reihen sich die Begebnisse aneinander, ohne Einschnitt, der die
Teilnahme des Lesers unterbräche. So hatte ja auch der Dichter der Ilias eine Fülle von Stoff,
die sich auf Jahre verteilen ließ, in die wenigen Tage der μήνκ zusammengedrängt". Die
Konzentration des Stoffes und die besondere von Rückblenden und Vorverweisen geprägte
Struktur der homerischen Epen, die in der neueren Forschung seit Schadewaldts IHasstudien
(vgl. insbesondere 160f., zu Vergil auch 158; ansonsten verweise ich nur auf A. Lesky,
Homeros [Stuttgart 1967] 94 und neuerdings Latacz in: Zweihundert Jahre Homer-
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Forschung, Colloquium Rauricum 2 [Stuttgart 1991) 381ff. und Reichel mit bequemem
Überblick über die Forschung S. Iff. und 12ff„ vgl. neuerdings auch Davies SIFC 82 [1989]
7ff„ Tsagarakis, SIFC 85 [1992] 781ff.; zur Odyssee s. U. Hölscher, Untersuchungen zur
Form der Odyssee [Hermes-Einzelschriften 6, Berlin 1939), Kulimann, Poetica 2 [1968]
16f„ Suerbaum 1; eine Behandlung der von der Neoanalyse aufgeworfenen Strukturprobleme
vom oralistischen Standpunkt bietet Notopoulos, ΤΑΡΑ 82 [1951] 81-101 und HSCP 68
[1964] 1-77) ein Gemeinplatz geworden ist, hat schon die antike Literaturkritik gewürdigt (s.
Brink [Cambridge 1971] zu HOT. AP 140-52 und 148 mit Zitat der einschlägigen Stellen und
Bibliographie, zu ergänzen durch Richardson, CQ 30 [1980] 265-287, M. Heath, Unity in
Greek Poetics (Oxford 1989), insbesondere S. 56ff„ 102ff. und Hunter 190ff.), ebenso wie
Vergils Nachahmung der homerischen Erzähltechnik; vgl. DServ. zu Α. I 34 (ut Homerus
omisit initia belli Troiani, sie hic non ab initio coepit erroris); zur Wirkungsgeschichte der
von Vor- und Rückverweisen geprägten homerischen Erzähltechnik in der Epik s. G.E.
Duckworth, Foreshadowing and Suspense in the Epics of Homer, Apollonios, and Vergil
(Diss. Princeton 1933); zu Apollonius vgl. neuerdings auch Hunter 119ff. Zu Vor-und
Rückverweisen in den Homerscholien s. Duckworth, AJP 52 (1931) 320-338, S. Nannini,
Omero e il suo pubblico (Rom 1986) 26ff., Schadewaldt 15 Anm. 1 und Reichel 3. Zu
Vergils Verhältnis zu den Homerscholien vgl. auch R.R. Schlunk, The Homeric Scholia and
the Aeneid (Ann Arbor 1974; zur Benutzung griechischer Dichterscholien durch lateinische
Dichter vgl. auch Jocelyn, The Tragedies of Ennius [Cambridge 1967] 46 Anm. 4; Zetzel,
AJP 95 [1974] 137ff„ ibid. 99 {1978] 332f.), zur Benutzung homerischer Scholien durch
Servius s. Fraenkel, JRS 39 (1949) 145ff. und M. Mühmelt, Griechische Grammatik in der
Vergilerklärung (Zetemata 37; 1965).
151 z u Vergils Methode der Zeitraffung in diesem Buch, die die Inkongruenz nicht mehr
fühlbar werden läßt vgl. Heinze 343ff.
152
S. Heinze 347f.; vgl. auch Horsfall 1,468f.
58 Zur Chronologie der Bücher

unbefriedigende Anordnung wie die Anfangsstellung des Irrfahrtenbuches


auch nur erwogen haben soll, wo ihm das homerische Vorbild mit Odysseus'
Irrfahrtenerzählung doch das Gegenteil nahelegte153. Nachdem Knauer Vergils
sorgsame Analyse Vergils Umgestaltung homerischer Motivik und
Erzählstruktur so eindrucksvoll nachgezeichnet hat 154 , wird heute wohl kaum
mehr jemand an einen annalistischen ersten Plan Vergils glauben155.
Nun läßt sich für die relativ späte Entstehung des dritten Buches aus dem
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oben gegebenen Überblick über die unvollendeten Halbverse noch ein weiteres
Indiz gewinnen. Wirft man einen Blick auf die beiden oben vorgestellten
Listen unvollständiger Halbverse, so springt nicht nur die ungleiche Verteilung
derselben überhaupt über die einzelnen Bücher, sondern auch die ungleiche
Verteilung zwischen nachträglichen Zusätzen und unausgefüllten Lücken ins
Auge. Bei weitem die stärkste nachträgliche Überarbeitung weist das zweite
Buch auf (9 Zusätze), dagegen besitzt es nur eine Lücke (640). Gefolgt wird
es von den Büchern V, VII und IV mit 5 bzw. 4 Zusätzen und einer, was VII
angeht zwei Lücken. Die Bücher I, VI und XI weisen nur zwei bis drei
Zusätze, jedoch keine Lücken auf. Ganz anders als in II, IV, V und VII sieht
das Verhältnis zwischen Zusätzen und Lücken in den Büchern III, VIII, IX
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und X aus. In IX stehen fünf Lücken einem Zusatz gegenüber, in X fanden


wir neben vier sicheren Lücken zwei Stellen, wo die Entscheidung zwischen
Lücke und Zusatz schwerfällt. In VIII steht der eine Zusatz nicht nur den zwei
Lücken in 468 und 536, sondern vor allem dem grob lückenhaften Zustand der
Tiberszene, wie wir sie oben interpretiert haben, gegenüber. Ebenso weist
Buch III fünf oder gar sechs Lücken gegen nur ein oder zwei geringfügige
Zusätzen auf.
Nun wäre es zwar übereilt, den Grad von Unfertigkeit oder nachträglicher
Überarbeitung eines Buches nur an seinen unvollständigen Halbversen zu

153
Die in der Donatvita (42) mitgeteilte Nachricht des Nisus von Varius Umstellung des
dritten Buches vom Anfang an seine jetzige Stelle steht im Zusammenhang mit der
Behauptung der Streichung der unechten Anfangsverse der Aeneis, und verdient
selbstverständlich keinen Glauben. Geymonat (289) verweist zu Recht auf den Hintergrund
derartiger Kritik der posthumen Aeneisausgabe in der klassikfeindlichen Grammatik des ersten
nachchristlichen Jahrhunderts.
154
S. Knauer 1 passim und besonders den ganz strukturellen Fragen gewidmeten
Überblick in Knauer 2.
155
„The complete structure of the Homeric epics, not simply occasional quotations, was
no doubt the basis for Vergil's poem. I cannot explain these findings otherwise than by the
suggestion that Vergil must have intensively studied the structure of the Homeric epics
before he drafted in prose his famous first plan for the whole Aeneid " (Knauer 2, 81 =
409f.).
Zur Chronologie der Bücher 59

messen 1 5 6 , doch scheint die hier vorgelegte Evidenz doch darauf hinzudeuten,
daß insbesondere das zweite Buch, das höchste Maß an Bearbeitung erfahren
hat, und dies ist gewiß auch in doppelter Hinsicht einleuchtend, nicht nur
deshalb, weil es aufgrund äußerer und innerer Evidenz (die Creusaszene!)
gewiß ein frühes Buch ist 1 5 7 . Heinze (3ff.) hat zu Recht darauf hingewiesen,
vor welch gewaltiger Aufgabe sich Vergil gerade im zweiten Buch gestellt sah,
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und daß er, um die vielbewunderte Vollkommenheit seiner Lösung zu


erreichen, auf dieses Buch besondere Sorgfalt und Nachbesserung verwendet
hat, ist wohl glaublich 1 5 8 .
Daß das maius opus der zweiten Aeneishälfte im allgemeinen eher nach der
ersten Hälfte gedichtet ist, ist nicht nur aus sich selbst heraus plausibel 1 5 9 , der
insgesamt weniger ausgefeilte Zustand der zweiten Hälfte ist auch aus der
zumindest in den Büchern Χ - Χ Π zu beobachtenden metrischen Einförmigkeit
geschlossen worden 1 6 0 . Bei aller gebotenen Vorsicht läßt die Evidenz der
Halbverse doch die Beobachtung zu, daß sich Buch ΙΠ in seinem von vielen
Lücken und wenig späterer Überarbeitung geprägten Zustand zu den Bücher
IX und X und, wenn man an die Tiberszene denkt, auch des achten Buches
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156
„It is hardly possible to draw any firm conclusion about the date or the state of
revision of individual books from the incomplete lines: the highest number (ten) is in book
II which in some respect is one of the most carefully finished books, but clearly was
undergoing yet further revision", Williams zu V 294. Vgl. aber auch Crump 12f.
157
Zur äußeren Evidenz s. unten S. 60f.
158
Bereits G. Bernhardy (Grundriss der römischen Litteratur [^Braunschweig 1872]
483f.) hat das besonders häufige Voikommen von Halbversen in Π so interpretiert.
159
Gerckes leider auch in neuerer Zeit von Paratore (210f.; Virgilio [^Florenz 1953]
327ff., 336f. und zuletzt in: Atti Acc. Properziana del Subasio, Assisi, serie V, n. 5 [1957]
lf.) und in dem wichtigen und höchst intelligenten Buch von D'Anna wiederaufgenommene
These von der Priorität der zweiten Aeneishälfte geht von einer völlig abwegigen Deutung
von Prop. II 34 61-66 aus (zu dieser Stelle vgl. den im Literaturverzeichnis genannten
Artikel Tränkles). Die wörtlichen Anklänge des Properzschen Text beweisen Kenntnis des
Prooemiums der Aeneis sonst nichts (noch nicht einmal Kenntnis des achten Buches). Die
von Paratore (s. oben) und D'Anna (13ff.) angeführten Argumente sind schlechter als die
Gerckes und verdienen keine Widerlegung. Die von Gercke aus dem Text der Aeneis
herangezogenen Hinweise auf die Priorität der zweiten Hälfte sind ebenso wie seine
Interpretation der Properzstelle bereits von Heinze (GGA 177 [1915] 153-171; vgl. auch
Thaler 71ff.) hinreichend widerlegt worden, und auch hier fügt D'Anna (21 ff.) Gerckes
Argumentation nichts Wesentliches hinzu; bezeichnend für die Qualität der analytischen
Argumentation ist sein Eingeständnis, daß letztendlich doch nur das Zeugnis Properz' den
Ausschlag für die Priorität der zweiten Aeneishälfte geben kann.
160
Vgl. G.E. Duckworth, ΤΑΡΑ 95 (1964) 49-53 und Vergil and Classical Hexameter
Poetry (Ann Aibor 1969) 53ff.
60 Zur Chronologie der Bücher

gesellt, und so in scharfen Kontrast zu dem frühen zweiten Buch tritt161. Den
Büchern III und X ist zudem die nachlässige Behandlung der zeitlichen
Struktur gemeinsam, die u.U. auch durch die mangelnde Ausfeilung bedingt
ist 162 .
Was das neunte Buch anlangt, so stellt sich allerdings, wie oben (S. 29f.)
bereits angedeutet, das Problem seines zeitlichen Verhältnisses zum fünften
Buch. Das fünfte Buch weist, wie sich gezeigt hat, starke Spuren von
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Überarbeitung auf, doch ist das Buch gegenüber den anderen Büchern der
ersten Aeneishälfte gewiß eher spät anzusetzen163. Mit Sicherheit ist das fünfte
Buch insgesamt nach dem sechsten entstanden164, und bei aller gebotenen
Vorsicht darf aus der Nachricht der Donatvita (VSD 32) 165 über die Rezitation
der Bücher II, IV und VI vor Augustus doch mit einiger Wahrscheinlichkeit
auf die zeitliche Priorität dieser Bücher geschlossen werden166; die frühe

161
Im wesentlichen völlig richtig erkannt von Walter 39ff., der überhaupt das Verdienst
für sich beanspruchen kann, einer der wenigen Verfechter der Heinzeschen Spätdatierung des
dritten Buches zu sein.
162
Zum dritten Buch vgl. Heinze 347ff„ Mehmel 85ff„ D'Anna 49ff„ Williams in der
Einleitung S. 21f., Perret I 169f.; zum zehnten Buch Heinze 386ff., Mehmel 70ff., D'Anna
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37ff. (mit gutem Überblick über die Forschungsgeschichte), Harrison S. xxxiiif.; vgl. jetzt
auch die Übersicht Deila Cortes in: Enc. Virg. II s.v. Eneide' 236ff. Wie Heinze (zu III
neuerdings auch Perret) gezeigt hat, sind die Schwierigkeiten in beiden Fällen nicht
unüberwindbar, und eine gewisse Lässigkeit im Umgang mit der Chronologie wird jeder dem
Dichter zugestehen wollen. Freilich darf man doch vermuten, daß Vergil bei der Endrevision
einiges geglättet hätte, hätte er Gelegenheit dazu gehabt. Zum zehnten Buch und D'Annas
Hypothese s. unten S. 67 Anm. 184.
163
Dies ist seit Conrads (23f.) in der Vergilanalyse trotz unterschiedlicher
Interpretationen im einzelnen im wesentlichen unbestritten; s. Heinze 146 Anm. 1; Williams
in der Einleitung S. xxvff. Heinze 1. cit. hat im Anschluß an Conrads klar gemacht, daß die
notorischen Widersprüche zwischen der Palinurusepisode im sechsten Buch (295ff.) mit dem
Ende des fünften (779ff.) zeigen, daß erstere zunächst ohne Rücksicht auf eine vorausgehende
Erzählung vom Tode des Palinurus verfaßt ist und nichts mehr. Umstellungshypothesen, wie
sie zuletzt wieder D'Anna 85ff. (im Anschluß an Kettner, Zeilschr.f. d. Gymnasium 1879,
641; Kroll, Jahrb. f . class. Phil. Suppl. 27 [1902] 155f.; Sabbadini und Columba 81f.)
vertreten hat, sind ebenso verfehlt (ablehnend auch Monaco S. 18ff.) wie die neueste
Hypothese zum Ende des fünften Buches von Berres (250ff.; vgl. bereits Büchner 405 =
1427); vgl. auch Horsfall 2, 16; Horsfall 3, lOOf. Zu der 'Dublette' Palinurus-Misenus s.
Knauer 1,135ff. und Knauer 2 , 6 6 = 395; Hunter 183.
164
Neben den in der vorigen Anmerkung genannten Arbeiten vgl. auch Norden zu VI lf.
165 Di e Version bei Servius (zu IV 323), die das zweite Buch durch das dritte ersetzt,
beruht gewiß auf Irrtum; u.U. gar einfach auf Korruptel (s. Williams in der Einleitung zum
dritten Buch S. 2 Anm. 3; „absichtliche Korrektur" vermutet Heinze 261 Anm. 1).
166
So bereits Schüler 20; vgl. auch Häberlin, Philologus 47 (1888) 310 und Noack,
Hermes 27 (1892) 407. Ganz phantastische sind die Spekulationen D'Annas (15f.) über
mehrere Rezitationen, mit denen er die Priorität der zweiten Aeneishälfte zu retten sucht.
Zur Chronologie der Bücher 61

Entstehung (vor 26) des Prooemiums des ersten Buches ergibt sich aus
Properz Π 34, 61ff. (s. oben S. 59 Anm. 159)167.
Bei der chronologischen Verwertung der Suetonschen Nachricht muß sicher
in Rechnung gestellt werden, daß bei der Wahl der Augustus zur Kenntnis
gebrachten Bücher auch innere Faktoren eine Rolle gespielt haben mögen.
Gewiß eignen sich die genannten Bücher aufgrund ihrer inneren
Geschlossenheit besonders zum Einzelvortrag (weit mehr als das u.U. bereits
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ebenfalls vollendete erste Buch oder gar das siebte, neunte oder elfte, selbst
wenn diese Bücher bereits vorgelegen hätten), und vor allem das sechste -
jedoch auch das zweite und bis zu einem gewissen Grade auch das vierte Buch
- kann gewiß auch unter patriotischen Aspekten besondere Aufmerksamkeit
beanspruchen 168 . Andererseits ist es nicht einzusehen, warum gerade das
durchaus eine gewisse Einheit bildende fünfte Buch mit seiner Aetiologie der
ludi funerales und insbesondere des Augustus so ans Herz gewachsenen lusus
Troiae dem Kaiser hätte vorenthalten werden sollen, hätte es zu diesem
Zeitpunkt bereits fertig vorgelegen, und dasselbe gilt im Grunde genommen
auch für das unter patriotischen Gesichtspunkten durchaus ergiebige dritte
Buch, vom achten ganz zu schweigen. Das dritte und das achte Buch erweist
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der Textbefund als besonders wenig ausgearbeitet und somit eher spät;
wahrscheinlich muß auch das fünfte Buch als spät angesehen werden. Und
überhaupt, wären das erste, dritte und das fünfte Buch genügend ausgearbeitet
gewesen, hätte Vergil gewiß die ganz erste Hälfte des Werkes zum Vortrag
gebracht 169 . Die Nachricht der Donatvita von der Lesung der Bücher II, IV,
VI vor Augustus verträgt sich in jedem Falle so gut mit den chronologisch

167
Daß der Seesturm und die Iuppiter-Venus-Szene vor dem Jahre 27 entstanden sind,
wie zuletzt Berres 295f. und Büchner 403 = 1425 nach Ribbeck 64, Sabbadini, Studi critici
sulla Eneide (Lonigo 1889) 133, Cartault 24, 110 und Friedrich, Philologus 94 (1941) 174
annehmen, ist nicht beweisbar, s. D'Anna in Enc. Virg. II s.v. 'Eneide' 240f. (zur Iuppiter-
Venus-Szene vgl. aber auch Tränkle 62 Anm. 16). Zu den Parallelen mit dem Panegyricus
Messallae vgl. jetzt Tränkles Kommentar zum Corpus Tibullianum, Texte und Kommentare
16 (Berlin-New York 1991) S. 179ff.
168 Vgl Pease S. 58 der Einleitung seines Kommentars zum vierten Buch. Künstlerische
Qualität (so etwa Büchner 39 = 1059) sollte man freilich als Auswahlgrund fernhalten. Ich
habe größte Zweifel daran, daß Vergils und Augustus' Urteil mit modernem (oder auch nur
spätantikem) Geschmack übereingestimmt hätte, und ich glaube kaum, daß der Dichter dem
vierten Buch den Rang eingeräumt hätte, den ihm die moderne Vergilrezeption zuweist (auf
Ovid wird sich hoffentlich niemand ernsthaft als Zeugen des Zeitgeschmacks berufen wollen).
Jedenfalls halte ich das fünfte für ein hinreißend schönes Buch das dem vierten um nichts
nachsteht, ganz im Gegenteil (neben der schönen Würdigung des Buchs durch Heinze 145ff.
vgl. etwa Monaco 47f.).
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Ähnlich mit Bezug auf das erste Buch Heinze 261 Anm. 1, der völlig zu Recht die
chronologische Interpretation vertritt.
62 Zur Chronologie der Bücher

verwertbaren Daten der inneren Evidenz, daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach
historisch ist und für die chronologische Priorität dieser Bücher verwertet
werden darf.
Ob das fünfte Buch allerdings nach dem neunten Buch als ganzem liegt, ist
fraglich. Es wäre durchaus möglich, daß die Nisus-und-Euryalus-Episode
des neunten Buches zunächst als Einzelszene komponiert wurde; dann könnte
das neunte Buch insgesamt dem fünften folgen. Als ein Indiz dafür, daß dies
Überlegungen zur Entstehung von Vergils Aeneis downloaded from www.vr-elibrary.de by Eduardo Aubert on March, 7 2023

tatsächlich so war, könnte der Halbvers 467 angesehen werden (s. oben S.
50). Hier scheint ebenso wie bei den beiden Halbversen V 294 und 322 (s.
oben S. 29f.) eine nähere Charakterisierung des Freundespaares mit Rücksicht
auf eine später vorzunehmende Harmonisierung ausgespart zu sein. Dies rückt
die DC 467 enthaltende Passage in die Nähe des fünften Buches und weist
darauf hin, daß sie später als DC 176ff. verfaßt ist.
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