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Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius

Die späte Ausarbeitung insbesondere des dritten und des fünften Buches hat
durchaus einiges Interesse für unser Verständnis von Vergils Arbeitsweise und
unsere Wertung der antiken Berichte. Daß Vergil gerade die den Gesamtplan
des Werkes bestimmenden Bücher, insbesondere das dritte, zunächst
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ausgespart, sich vielmehr zuerst an die Ausarbeitung im wesentlichen auf sich


selbst gestellter Bücher wie II, IV und VI gemacht und dann mit Buch III
manch älteren Entwurf umgestoßen hat 170 , steht bei tieferem Nachdenken in
grundsätzlichem Widerspruch zu einer in den antiken Nachrichten über Vergils
ursprünglichen Prosaplan des Werkes erkennbaren Tendenz. Die Analyse der
Widersprüche zwischen Buch ΙΠ und den Büchern II, VII und VIII zeigt, daß
ein solcher Prosaplan, wenn es ihn gegeben haben sollte, entweder
außerordentlich grob gewesen sein muß oder daß Vergil offenbar, sobald er
sich emsthaft daran machte, die wesentlichen Grundpfeiler der Großstruktur
auch wirklich dichterisch zu gestalten, das bisher im einzelnen Geplante
weitgehend wieder umgestoßen hat 171 . In der uns überlieferten Form ist die
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Nachricht über den Prosaplan der Aeneis nichtssagend und letztlich


unglaubhaft 172 .
In seinem Überblick über die biographischen Zeugnisse zu Vergils
Arbeitsweise und der posthumen Aeneisausgabe hat Berres (Iff.)
verdienstlicherweise einen guten Teil der nur bei Servius überlieferten
Angaben als aus dem Zustand des Textes selbst erschlossene Fiktion entlarvt
(s. dazu unten S. 66). Die jüngere Forschung hat freilich im Anschluß an die
hervorragende Einleitung der Diehlschen Ausgabe 173 den dokumentarischen

170 v g l . Heinzes (95) zutreffende Beschreibung von Vergils Arbeitsweise: „Statt also
zuerst sozusagen das Gerüst des Baues herzustellen, hat Virgil dies weit hinausgeschoben und
zunächst Einzelpartien bearbeitet, ohne doch diesen Voraussetzungen großen Einfluß auf die
Gestaltung des einzelnen einzuräumen."
171
„B. macht zwar mehrfache Lippenbekenntnisse gegenüber der V S D 23 bezeugten
Prosafassung der Aeneis, faktisch rechnet er aber mit so vielen Abweichungen Vergils von
dem, was man bei der Filmproduktion 'Treatment' nennt, daß der Prosaplan praktisch zu
einem Phantom wird", Suerbaum 2 , 4 0 7 f . „Since we know that Virgil wrote out in advance a
prose version of the whole poem we have, on the one hand, a presumption against his
having made violent and capricious changes in the general plan", Pease S. 58.
172
Zum realen Hintergrund des Prosaplans s. unten S. 65f.
173
S. E. Diehl, Die Vita Vergilii und ihre antiken Quellen (Bonn 1911); vor ihm zu
Einzelfragen bereits Leo, Hermes 38 (1903) 1-18; Vollmer, SBAW IX 2 (1909), 5 - 1 1 ;
Kroll, RhM 64 (1909) 150-155. Diese Arbeiten weisen voraus auf eine Methode der
Interpretation antiken biographischen Materials, die in neuerer Zeit insbesondere M.
Lefkowitz mit ihren zahlreichen Arbeiten zur Biographie griechischer Dichter (neben
64 Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius

Wert auch des alten Kerns der Sueton-Donat-Vita äußerst vorsichtig bewertet
und die Dürftigkeit von Suetons Quellen herausgestellt 174 . Nun ist durchaus
anzunehmen, daß Sueton teilweise Nachrichten und Anekdoten verwertet hat,
die letztlich aus der unmittelbaren Umgebung Vergils stammen. Insbesondere
gilt dies wohl von den drei dem Dichter selbst zugeschriebenen Aussagen über
seine Arbeitsweise und Dichtung, dem Bärengleichnis ( V S D 22; Gellius XVII
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10, 2), dem Wort über Homer und die Keule des Hercules ( V S D 46) und den
vielberufenen tibicines (VSD 2 3 f . ) 1 7 5 . Ursprung einer Anekdote in der
Umgebung des Dichters garantiert natürlich noch keineswegs ihre Authentizität

zahlreichen Aufsätzen zusammenfassend in The Lives of the Greek Poets [London 1981]) mit
Erfolg durchgeführt hat und die, wie die in der folgenden Anmerkung zitierten Beiträge
zeigen, sich inzwischen auch in der Vergilforschung Bahn bricht.
174
Entgegen der früher verbreiteten Methode, unglaubwürdiges Material für Donatsche
Interpolation zu erklären (besonders energisch vertreten von Paratore; bequeme Übersicht über
die verdächtigten Passagen bei Brugnoli 576), hat Naumann in seinem ausgezeichneten
Artikel zur Donatvita in der Enciclopedia Virgiliana (572) im Anschluß insbesondere an die
Dissertation v. K. Bayer, Der suetonische Kern und die späteren Zusätze der Vergil-Vita
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(Diss, maschinenschriftlich München 1951; vgl. auch Naumann, RhM 87 [1938] 356-9; W.
Steidle, Sueton und die antike Biographie [Münchenl951] 171f.; neuerdings auch Naumann,
WS 13 [1979] 161 und Rieks in: ANRW II 31/2 [1981] 754-8) die Suetontreue der
Donatvita betont und dagegen den Wert der Suetonschen Berichte äußerst kritisch bewertet; s.
Naumann 572, 574 unter Verweis auf seine früheren Arbeiten:Vergi7, Hirtengedichte/
Bucolica (München 1968) 20; id. Der altsprachl. Unterricht 24 (1981) 10; id. Mnemosyne 35
(1982) 149-151; vgl. auch Suerbaum in: ANRW II 31/2 (1981) 1163 und Brugnoli 578ff.
175 £>as Bärengleichnis will Favorin bei Gellius (1. cit.) in his, quae de ingenio
moribusque eius tradiderunt gefunden haben. Alys, PhW 43 (1923) 645-648 von Büchner
(15f. = 1035f.), Berres (9) und neuerdings auch Brugnoli (575f.) akzeptierte Rekonstruktion
eines Buches der Freunde de ingenio moribusque Vergilii ist bereits von Bill, CPh 23 (1928)
65-68 und zuletzt auch von Naumann (574) zu Recht zurückgewiesen worden. Die
betreffenden Anekdoten hat Sueton über die Vergilapologeten des ersten Jahrhunderts
wahrscheinlich aus Asconius geschöpft (der explizit als Quelle des Herculeswortes genannt
wird); vgl. die Einleitung zu Hardies Ausgabe (Oxford 1957) XIV-XXI, Naumann,
Philologus 118 (1974) llf.; Brugnoli 577. Und selbst wenn Aly recht hätte, eine
Behauptung wie die von Berres (9), daß ein Buch der Freunde schon aus Pietät keine groben
Lügen habe enthalten könne, ist geradezu rührend naiv. Um zu begreifen, was fehlgeleitete
Pietät aus der näheren Umgebung großer Persönlichkeiten anrichten kann, braucht man nur
an das notorische Beispiel des Beethovenbiographen Schindler und seine von D. Beck und G.
Herre als Fälschungen entlarvte Eintragungen in Beethovens Konversationsheften, an die
Biographie Liszts und seine 'offiziellen' Biographin Lina Ramann (vgl. den Überblick bei A.
Walker, Franz Liszt: The Virtuoso Years 1811-1847 [London 1983] 3ff., insbesondere 7ff.)
oder etwa an die pseudobiographischen Werken von D' Annunzios Privatsekretär Tom
Antongini (La vita segreta diD'Annunzio [Mailand 1938]; D'Annunzio aneddotico [Mailand
1939]) zu denken. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.
Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius 65

und schon gar nicht ihre unentstellte Überlieferung176, das zeigt nicht zuletzt
die gänzlich abwegige und völlig unglaubwürdige Vergils librarius Erotes
zugeschriebene Nachricht von der spontanen Vollendung zweier direkt
aufeinander folgender Halbverse im sechsten Buch (VSD 34). Freilich gibt es
gute Gründe, in dem Bärengleichnis und, wie sich zeigen wird, auch in den
tibicines möglicherweise ein echtes Vergilwort zu sehen177.
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Nun taucht der Prosaplan für die Aeneis in der Donatvita eben im
Zusammenhang mit der Nachricht von Vergils sprunghafter Arbeitsweise und
eben jenen tibicines auf. In dieser Nachricht entspricht das Primat der Planung
der Handlungsführung mit späterer Versifizierung einem Stereotyp
peripatetischer Aesthetik, dem wir in Nachrichten zu dichterischer Gestaltung
auch sonst begegnen, etwa in dem berühmten bei Plutarch mitgeteilten
Menanderwort178. Dabei entspricht die Vergil unterstellte Arbeitsweise bis zu
einem gewissen Grade sicher dem, was wir über die Arbeitsweise
insbesondere antiker Prosaautoren aus direkten Mitteilungen wissen und
erschließen können.
Tiziano Dorandi hat in seiner hervorragenden Abhandlung zum Thema die
wichtigsten Zeugnisse zusammengestellt und im Zusammenhang mit der
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papyrologischen Evidenz interpretiert 179 . Insbesondere die von ihm


herangezogenen Passagen aus Lukian und in Marcellinus' Thukydidesvita

176
Das zeigt gerade auch die abwegige Ausdeutung des Bärengleichnisses in der
Donatvita; vgl. Berres 7ff.
177
Berres (7 Anm. 9) weist zu Recht auf Α. VIII643 hin; vgl. auch Horsfall 2, 15.
178
λέγεται δέ και Μενάνδρωι των ςυνήθων TIC ειπείν 'έγγϋς οδν. Μένανδρε, τα
Διονύαα, και cü την κωμωιδίαν ού πεποίηκας:' τόν δέ άποκρίναςθαι 'νή T O Ü C θεούς
έ'γωγε πεποίηκα τήν κωμωιδίαν ώικονόμηται γάρ ή διάθεςις. δεΤ δ' αύτήι τά ςτιχίδια
έπαιςαι', δτι και αύτοί τά πράγματα τών λόγων αναγκαιότερα και κυριώτερα
νομίζουαν (Plut. Mor. 347e), vgl. dazu E.W. Handley, The Dyskolos ofMenander (London
1965) S. 10 Anm. 2. Vgl. auch Philod. poet. V 13 (έτερα δέ Δημήτριος ό Βυζάντιος
πάλιν έγραψεν. έπε! δέ φηςιν οτι τό καλόν πόημα νοηθήναι δεί πρώτον άςτείως, είτα
δέ λόγους λαβείν μή παρηλλαγμένους τών ύποτεταγμένων. έ'ςχατον δέ τήν της
λέξεως έξεργαςίαν καλώς ςυνκεΐςθαι. [...] νοηθήναι γαρ αϋτά δεΤ καλώς και λόγους
οικείους λαβείν κα! κατά τήν λέξιν έζεργαςθήναι καλώς).
179
Dorandi stützt sich dabei insbesondere auf die beiden herculanensischen Fragmente
von Philodems Geschichte der Akademie (Philodems Revisionsexemplar P. Here. 1021 und
der Reinschrift P. Here. 164); zum Verhältnis der beiden Papyri und Philodems Arbeitsweise
vgl. auch Dorandi in: Proceed. XVI Intern. Congress of Papyrology (Chico 1981) 139-144;
G. Cavallo, Libri scritture, scribi a Ercolano I, Suppl. a CErc 13 (Neapel 1983) 26f., 61f.;
Gallo, CErc 13 (1983) 75-79; Giannattasio, CErc 13 (1983) 81-83; Cavallo, Scrittura e
Civiltä 8 (1984) 5-30; Dorandi in: Atti XVII Congr. Intern, di Papirologia (Neapel 1984) II,
577-582; Gaiser, CErc 15 (1985) 85-99; Dorandi, ZPE 73 (1988) 25-29; s. auch die
Einleitungen zu Gaisers und Dorandis (Neapel 1991) Ausgaben.
66 Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius

lassen sich sehr wohl auch im Hinblick auf das Vorgehen des Dichters
a u s w e r t e n 1 8 0 . Der Prosaplan der Aeneis als solcher ist nicht so sehr
unglaubwürdig, nur geht die Nachricht der Vita keineswegs auf unmittelbare
Kenntnis der Vergilschen Arbeitsweise zurück, sie unterstellt ihm mutatis
mutandis einfach das Vorgehen, das man für üblich erachtete und das bis zu
einem gewissen Grade ohnehin selbstverständlich ist. Natürlich hatte Vergil
zunächst ein Gesamtkonzept irgendeiner Art. Wie detailliert es war, wieviel
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zunächst offen blieb, wieviel er davon später umgestoßen hat, das wußten die
antiken Vergilbiographen ebensowenig, wie wir es wissen können 181 .
Die angeblich sprunghafte Arbeitsweise Vergils, d.h. das separate
Verfassen einzelner Blöcke könnte dagegen einfach aus dem offenkundig
unfertigen Zustand des Textes mit seinen Halbversen erschlossen sein. Die
architektonische Metaphorik für ein Dichtwerk ist dabei durchaus
traditionell 182 . Andererseits scheint der folgende Passus der Vita in gewisser
Weise durchaus dem zu entsprechen, was wir im vorigen als Vergils
Arbeitsweise aus der inneren Evidenz des Textes erschlossen haben 183 . Vergil
hat, wie wir gesehen haben, tatsächlich oft Einzelszenen, einzelne Reden oder
Kampfepisoden ausgearbeitet und ihre Integration in den Kontext auf später
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verschoben und dann offenbar zuweilen nur mangelhaft ausgearbeitet. Diese


Vorgehensweise wurde besonders deutlich in den Redeeinleitungen (s. oben
S. 51) und den beiden zuletzt besprochenen Kampfszenen des neunten Buches
(s. oben S. 52f.); ganz abgesehen von den Halbversen läßt sich diese Technik

180 y g j Luic. hist. scr. XLVIII (και έπειδάν άθροίςηι απαντα η τα πλεϊςτα. πρώτα
μέν υπόμνημα τι ς υ ν υ φ α ι ν έ τ ω α ύ τ ώ ν και ςώμα ποιείτω άκαλλές ετι και
ά δ ι ά ρ θ ρ ω τ ο ν εΐτα έπιθεϊο την τάζιν έπαγέτω τό κάλλος και χρωννύτω τήι λέξει και
ςχηματιζέτω και φυθμιζέτω) und Marcell. vita Thucyd. XLVII (άφ'οδ μέν γ α ρ ό πόλεμος
η ρ ζ α τ ο , έςημειοϋτο τ α λεγόμενα πάντα και τα π ρ α τ τ ό μ ε ν α . οϋ μήν κάλλους
έφρόντιςε την άρχήν. άλλα τοϋ μόνον ςώςαι τήι ςημειώςει τα πράγματα· ϋςτερον δέ
μετά κάλλουο ü έζ άρχής μόνον έςημειοΰτο διά τήν μνήμην). Vgl. dazu G. Avenarius,
Zu Lukians Schrift zur Geschichtsschreibung (Meisenheim/ Glan 1956) 85ff.
181
Daß Planung und Ausführung eines Sichtwerkes jedenfalls wesentlich weniger
geradlinig und simpel vor sich gegangen sein dürfte (eines in jeder Hinsicht derart komplexen
Gebildes wie der Aeneis allemal), als es die Annahme 'zuerst Ausarbeitung eines endgültigen
detaillierten Prosaplans, dann Verifizierung' nahelegt, das exemplifizieren etwa die
verschiedenen Entwürfe und 'Schemata' Goethes zu seiner Achilleis (vgl. dazu zuletzt die
oben [S. 13 Anm. 7] genannte Arbeit Dreisbachs) oder die Entstehungsgeschichte der Dramen
Schillers (s. die eben genannte Anmerkung).
182
Vgl. Pi. Ο VI Iff., fr. 194, S. F 159 (mit Pollux' VII 117 Kommentar), Ar. Ran.
1004, Thesm. 49ff„ Pax 749f„ V. G. III 12ff. (vgl. Thomas, CQ 33 [1983] 96ff.); im
übrigen s. G. Kuhlmann, De poetae et poematis Graecorum appellationibus (Marburg 1906)
9ff.
183
Eine verständige Interpretation des Passus bietet Heinze 261 f.
Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius 67

durchaus auch sonst beobachten, insbesondere in den mangelhaft integrierten


B l ö c k e n zu B e g i n n d e s achten B u c h e s 1 8 4 . Vergil scheint j e d o c h die so
entstandenen Stücke kaum j e völlig isoliert gelassen, sondern schon bald
danach zumindest eine vorläufige Einbettung in den Kontext vorgenommen zu
haben, auch wenn diese u.U. nicht einmal metrisch vollständig war. Hätte er
dies nicht getan, wäre e s nicht möglich g e w e s e n in der posthumen Ausgabe
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ohne nachträgliche Zusätze einen durchgängig lesbaren Text herzustellen. In


unserer Besprechung der Tiberszene haben wir in der Tat vermutet, daß an
einer S t e l l e V e r g i l s Text eine unheilbare Lücke ließ, und wir hatten
angenommen, daß Varius sich mit einer Umstellung zu helfen suchte (s. oben
S. 33ff.). Ansonsten weisen jedoch gerade die unvollständigen Verse darauf
hin, daß der Text der Aeneis, so wie wir ihn lesen, im wesentlichen auf Vergil
zurückgeht. Hätte Vergil öfter nur unzusammenhängende E i n z e l s z e n e n
hinterlassen und hätte ein posthumer Herausgeber den Text ergänzen müssen,

184
S. oben S. 26ff.; in der älteren Forschung vgl. etwa Heinze 335 (zur nachträglichen
Motivation von Einzelszenen). Auch die unklare Chronologie des zehnten Buches (s. oben S.
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60 Anm. 162) dürfte zum Teil auf die am Anfang des achten Buches noch direkt greifbare
Kompositionsweise zurückgehen; im zehnten Buch konnten wir ja gerade auch die mangelnde
Integration der Reihen besonders häufig beobachten. Wenn D'Anna (45ff.) nun die
Chronologie durch Ausscheidung der Götterversammlung zurechtzubiegen sucht, so legt er
damit den Finger durchaus auf die Ursache der Unklarheiten. Nur muß die Götterversammlung
keineswegs ein späterer Zusatz sein; die Unklarheiten erklären sich einfach daraus, daß Vergil
zunächst unabhängige Blöcke, d.h. auch die Götterversammlung des zehnten Buches separat
verfaßt und dann mehr oder weniger provisorisch nebeneinandergestellt hat; zu ihrer
widerspruchsfreien Koordination ist er nicht mehr gekommen. Auf diese Weise erklären sich
m.E. glänzend zahlreiche der subtileren Widersprüche der Aeneis, die zum Teil zu
weitreichenden Umarbeitungshypothesen geführt haben (insbesondere etwa im ersten Buch;
vgl. dazu oben S. 45f. Anm. 115 und Berres 282ff.). Es handelt sich häufig um kleinere
Unstimmigkeiten, wie sie bei einer derartigen Arbeitsweise unweigerlich entstehen, und die
grundsätzlich durchaus in einer durchdachten und voll ausgearbeiteten Gesamtkonzeption
aufgehen können, nur daß der uns erhaltene Aeneistext diese Auflösung zum Teil nur
mangelhaft gibt. Bei einer letzten Revision wären diese Unstimmigkeiten weniger Anlaß zu
einer völligen Umarbeitung Anlaß, als vielmehr zu einer sorgfältigeren Koordination
gewesen, wobei durchaus nicht unbedingt alles geglättet worden wäre. Gercke (lOf.) hat zu
recht die Parallele zu Schiller gezogen, der in mancher Hinsicht ähnlich wie Vergil gearbeitet
hat (ich verweise hier nur auf die Entstehungsgeschichte der Räuber und des Don Karlos\ s.
Bd. 3 [Weimar 1953] S. 260ff. und Bd. 7 II [Weimar 1986] S. 12ff. der Schiller-
Nationalausgabe), und manche Unebenheiten selbst in der Endfassung der Frühdramen
stehenließ (s. Gercke 6).Gerade der Vergleich mit Schiller zeigt jedoch auch das Streben des
Autors, bei aller Toleranz gegen unvermeidliche Unebenheiten doch das Maß an inneren
Widersprüchen durch beständige Revision so gering wie möglich zu halten (vgl. etwa
Schiller-Nationalausgabe Bd. 3 S. 287f.).
68 Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius

so hätte er das gewiß nicht in Halbversen getan 185 . Nein, ein Teil der
unvollendeten Halbverse legt Zeugnis ab von Vergils Bestreben, auch die
zunächst isoliert ausgearbeiteten Einzelpassagen von vornherein zumindest
provisorisch irgendwie auch in den Kontext zu integrieren.
Was sagt uns nun der Text der Donatvita? Vergil habe: particulatim
componere instituit, prout liberet quidque, et nihil in ordinem arripiens. ac ne
quid impetum moraretur, quaedam imperfecta transmisit, alia leuissimis
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uersibus (v.l. uerbisiu) uelutifulsit, quae per iocum pro tibicinibus interponi
aiebat ad sustinendum opus, donec solidae columnae aduenirent. Bei
genauerem Zusehen scheint der Passus verschiedene nicht ganz kompatible
Vorstellungen zu vermengen. Daß Vergil nihil in ordinem arripiens gedichtet
haben soll, paßt nicht recht zu der folgenden Aussage, er habe im Fluß der
Inspiration weitergedrängt, und dabei manches zunächst unvollendet oder nicht
völlig ausgearbeitet hinterlassen. Dies hat im Grunde genommen auch mit
particulatim componere gar nichts zu tun. Bemerkenswert ist auch, daß
unvollendete Partien (imperfecta), d.h. doch wohl die Halbverse und die
tibicines scharf getrennt werden. Die Schwierigkeiten, die mancher
Vergilforscher mit dieser Angabe der Donatvita zu Vergils Arbeitsweise
hatte 187 , erklären sich einfach daraus, daß sich uns hier ein wahrer Kern,
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wahrscheinlich durchaus ein echtes Vergilwort, gründlich von späteren


Mißverständnissen überlagert präsentiert. Mit tibicines hat Vergil die von uns
im vorigen identifizierten Versatzstücke gemeint, d.h. nicht Halbverse
schlechthin, sondern diejenigen mit Halbversen abschließende Partien, die
notdürftig einen im Zusammenhang lesbaren Text herstellen, ja ganz allgemein
weniger ausgearbeitete Versatzstücke, die uns, wo sie sich nicht durch
unvollständige Verse zu erkennen geben, kaum mehr mit Sicherheit
nachweisbar sind 1 8 8 , particulatim componere ist dabei durchaus eine
zutreffende Interpretation des Bildes im Sinne der oben gegebenen
Interpretation der Evidenz des Textes. Es bedeutet, wie Heinze 189 völlig
richtig herausgestellt hat, keineswegs, daß Vergil heute am Didomonolog und
morgen an einer Kampfszene gearbeitet hat, es bedeutet nur, daß Vergil etwa
bei der Komposition der Götterversammlung des zehnten Buches vielleicht
zunächst die Reden selbst verfaßt und sie erst dann zu einem

185
Zu möglichen Zusätzen des Varius im Text der Aeneis s. unten S. 74.
186
Zum Text vgl. Sparrow 8.
187 v g l . etwa Sparrow 8ff. Der Widersprüche bewußt scheint sich Paratore 2 3 I f f . zu
sein, der den Passus für unsuetonianisch erklärt, vgl. dazu oben S. 64 Anm. 174.
188
Die Identifizierungen von vergilschen tibicines bei Servius (ad VI 186 und I 560)
sind selbstverständlich aus dem Textbefund erschlossene Spekulationen ohne Interesse.
189 v g l . Heinze 261f.; nihil in ordinem arripiens erklärt er für starke Übertreibung.
Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius 69

zusammenhängenden Text verbunden hat; dabei blieb zum Zeitpunkt seines


Todes an einer Stelle (v. 17) ein Provisorium stehen, nihil in ordinem arripiens
stellt eine gedankenlose Paraphrase des particulatim componere dar 190 , das
Folgende eine unreflektierte Interpretation der Metapher von den tibicinesm.
Der uns überlieferte Text der Aeneis mit seinen metrisch, ja zuweilen selbst
syntaktisch unvollständigen Versen (ΠΙ340 s. oben S. 38 und eventuell auch I
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636 s. S. 40 Anm. 84) weist so deutliche Spuren der Unfertigkeit auf wie
kaum ein anderes posthum herausgegebenes Werk der antike Literatur192. Dies
darf als Beweis dafür gelten, daß Varius bei der Edition des Vergilschen
Manuskripts sich bemüht hat, den originalen Text so rein wie möglich zu
bewahren, und wir dürfen sicher sein, daß er uns Vergils Werk weitgehend
unentstellt durch Redaktion bieten wollte. Die im vorigen bereits erwähnten
Ausführungen von Berres (19ff.) erlauben es, auf eine ausführliche
Diskussion der antiken Zeugnisse zu Varius' Aeneisausgabe zu verzichten; es
mag der Hinweis genügen, daß das bei Servius (SV 29-42) überlieferte
Verfahren des superflua demere sed nihil addere allein aus dem Textbefund
herausgesponnen ist193: nihil addere aus der Existenz der Halbverse, superflua
demere aus der mangelhaften Bezeugung der als echt betrachteten
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Interpolationen. Letzteres Verfahren würde, so formuliert, auch grundlegend


allem widersprechen, was wir von antiker Editionstechnik mit ihrem Bemühen

Zu particulatim componere und nihil in ordinem arripiens vgl. auch Quintilians


Bemerkungen inst. X 33 (debet uacare etiam locus in quo notentur quae scribentibus solent
extra ordinem, id est ex aliis quam qui sunt in manibus loci, occurrere. Inrumpunt enim
optimi nonnumquam sensus, quos neque inserere oportet neque differre tutum est, quia
interim elabuntur, interim memoriae sui intentos ab alia inuentione declinant: ideoque
optime sunt in deposito).
191
Vgl. dazu Quint, inst. X 17 (Diuersum est huic eorum uitium, qui primo decurrere
per materiam stilo quam uelocissimo uolunt et sequentes calorem atque impetum ex tempore
scribunt; hanc siluam uocant. Repetunt deinde et componunt quae effuderant [...]. Aliquando
tarnen adfectus sequemur, in quibus fere plus calor quam diligentia ualet), 20 (über langsame
librarii: inhibetur cursus atque omnis quae erat concepta mentis intentio mora et interdum
iracundia excutitur) und 31 (über Schreiben mit Tinte: calami morantur manum et
cogitationis impetum frangunt).
192
Syntaktisch unvollständige Fragmente, die auf Notizen des Autors zurückgehen,
lesen wir meines Wissens sonst nur in Aristoteles (vgl. I. Düring, Aristoteles [Heidelberg
1966] 34f.). Für die Herstellung der posthumen Ausgabe seiner esoterischen Schriften gilt
mutatis mutandis ähnliches wie für Varius' Aeneisausgabe.
193
Für derartige Fiktionen bei Servius vgl. Goold 1323ff.; zu analogen Erfindungen in
griechischen Dichterscholien vgl. Günther 27 mit Anm. 41.
70 Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius

nach möglichst vollständiger Erhaltung des Überlieferten wissen 194 . Es wird


gerade auch durch das Vorhandensein einer so offenkundigen Dublette wie
dem ganz zu Anfang (s. S. 15ff.) besprochenen Fall VII 699ff. widerlegt 195 .
Varius hat ganz offenbar auch Partien, die Vergil zu streichen beabsichtigte
neben der neuen Fassung in seinen Text aufgenommen, jedenfalls dann, wenn
die Kombination ein zusammenhängendes Lesen nicht völlig unmöglich
machte. Nichts zwingt uns zu der Annahme, Varius sei über die Absicht
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Vergils, Partien wie II 59-62 (s. oben S. 42), 768ff. (S. 36), VII 122-7 (S.
20ff.), 703-5 (S. 15) und VIII 40f. (S. 31f.) auszuscheiden, im unklaren
gewesen. Man darf mit Sicherheit annehmen, daß Vergils Manuskript
zumindest in einem Falle wie VII 699ff. die obsolete Fassung eindeutig
bezeichnete. Das Bestreben nach möglichst vollständiger Erhaltung des
Textbestandes läßt sich übrigens auch in VII 243ff. (s. S. 43) erkennen, wo
Varius auch auf einen nicht in den Kontext integrierten Zusatz nicht verzichten
wollte und ihn mehr schlecht als recht ans Ende des betreffenden Textstückes
setzen mußte 196 . Passagen wie IV 402ff. (s. S. 50) und X 707ff. (s. S. 40f.
Anm. 85) zeigen, daß Varius im Interesse einer weitestgehenden Erhaltung der
Überlieferung u.U. sogar einen syntaktisch unvollständigen Text in Kauf
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nahm.
Die Bewahrung alternativer Fassungen im Text ist ein bewährtes Prinzip
alexandrinischer Editionstechnik, das uns gerade in der Tragikerüberlieferung
auf Schritt und Tritt begegnet, und das bis in die Spätantike hinein gang und
gäbe war 197 . Was die römische Literatur anbelangt, so erinnere ich nur an den
Ovidtext mit seinen zahlreichen Ersatzfassungen gerade in den Metamorpho-
sen198. Wenn wir uns das ganz offenbar von Zusätzen und Streichungen

194
Vgl. B. Neuschäfer, Origenes als Philologe (Basel 1987), Reeve in: L.D. Reynolds
(td.)Texts and Transmission (Oxford 1983) 244 Anm. 42, O. Zwierlein, Zur Kritik und
Exegese des Plautus I, Abh. Mainz 1990 Nr. 4, S. 7f.; S. auch unten S. 71f. Anm. 199.
195
Der deutlichste Fall einer nicht mit einem Halbvers einhergehenden Dublette in der
Aeneis ist der Vers IX 85, der wahrscheinlich einen ersten Entwurf für eine Ersatzfassung von
86f. darstellt.
196
Das Zusetzen von Textstücken von zweifelhafter Lokalisierung am Ende einer
größeren Einheit ist nicht nur ein an sich plausibles Verfahren, es läßt sich in der Tat in der
handschriftlichen Überlieferung bei der nachträglichen Integration ausgelassener Partien
regelmäßig beobachten, die regelmäßig ans Ende des Werkes oder eines Buches gesetzt werden
(Beispiele aus der Überlieferung Claudians gibt J.B. Hall in seiner kommentierten Ausgabe
von De raptu Proserpinae (Cambridge 1969) S. 57 Anm. 2 und 58 Anm. 2; für weitere Fälle
s. meine in Vorbereitung befindlichen Quaestiones Propertianae). Mit Tib. I 5 , 7 1 - 7 6 sind
Verse, die, wie Ovids Imitation in Trist. II 447ff. zeigt, nach 6, 32 gehören (trans. Scaliger),
ans Ende der vorhergehenden Elegie geraten.
197
S. meine diesbezüglichen Ausführungen in Günther 92ff.
198
Vgl. dazu auch unten S. 71f. Anm. 199.
Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius 71

erfüllte Manuskript der Aeneis vorstellen (s. unten S. 77f.), dürfen wir freilich
mit einiger Gewißheit annehmen, daß Varius weit mehr alternative Fassungen
kannte, als uns seine Ausgabe überliefert hat. Der Textbefund an unserem
Aeneistext zeigt, daß er alternative Fassungen nur da aufgenommen hat, w o sie
auch kombiniert immer noch einen irgendwie verständlichen Text ergaben.
Sich gegenseitig grob ausschließende Fassungen, wie wir sie etwa aus der
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Tragikerüberlieferung kennen, hat er nicht nebeneinandergestellt. Nun habe ich


in meiner oben S. 6 9 Anm. 193 genannten Arbeit zu zeigen versucht, daß
auch die Alexandriner Ersatzfassungen nicht unterschiedslos in den T e x t
aufgenommen haben. Gerade in der Homerüberlieferung zeigen die Plusverse
der ptolemäischen Papyri, daß die alexandrinische Vulgata nicht nach Erhalt
alles Überlieferten strebte; sie konnte es auch gar nicht, das im Versbestand
chaotische Bild der frühalexandrinischen Homerüberlieferung hätte einen
derartigen Text unbenutzbar gemacht 1 9 9 . Auch für die Tragikerüberlieferung

199
Die Bedeutung der Alexandriner für die Entstehung der Homervulgata (besonders
energisch vertreten von G. Jachmann, Vom frühalexandrinischen Homertext, NGG 1949, 7
S. 167-224 = Textgeschichtliche Studien [Beiträge zur Klassischen Philologie 143,
Königstein 1982] 826-883) ist seit der einflußreichen Arbeit Ludwichs (Die Homervulgata
For personal use only.

als voralexandrinisch erwiesen [Leipzig 1898]) bis in die jüngste Zeit umstritten (vgl.
besonders S. West, The Ptolemaic Papyri of Homer, Papyrologica Coloniensia 3 [Köln-
Opladen 1967] 15ff., etwas anders in ihrer Einleitung zum Odysseekommentar (ed.
Haynsworth-Heubeck-West; Fondazione G. Valla 1981) S. LVIIf.). Eine besonnene
Beurteilung des Textbefunds wird überzogene Positionen in beide Richtungen fernhalten
müssen (vgl. etwa die vermittelnde Position der neuen Arbeit von A. Rengakos, Der
Homertext und die hellenistischen Dichter [Hermes Einzelschriften 64, Stuttgart 1983] 15f.);
gewiß haben die Alexandriner nach allem, was wir über ihre Editionsarbeit und kritische
Methode wissen können, keine völlig neue Textvulgata aus dem nichts geschaffen, sie haben
vielmehr eine tendenziell immer schon existente Vulgata verfestigt und kanonisiert. Im Falle
der homerischen Epen war der voralexandrinische Text gewiß weniger fest als für andere
Autoren, insbesondere was den Versbestand anbelangt; die quantitative Differenz zwischen
friihptolemäischer und nachalexandrinischer Überlieferung ist ja auch völlig unbestritten, und
auch die Argumente Ludwichs zur qualitativen Einheitlichkeit der Überlieferung sind m.E.
weniger beeindruckend als häufig behauptet. Der relativ geringe Einfluß der alexandrinischen
Gelehrten auf die Konstituierung des Wortlautes ergibt sich schon aus der Tatsache, daß
Zenodots Text, wie zuletzt Nickau in einer sorgfältigen Untersuchung der Zeugnisse
zweifellos richtig hervorgehoben hat (Untersuchungen zur textkritischen Methode des
Zenodotos von Ephesus, UaLG 16 [Berlin-New York 1977] Iff., id. REX A Sp. 30; vgl.
auch Wilson, CR 83 [1969] 369), wahrscheinlich allein auf mündliche Überlieferung
zurückgeht und Aristarchs Homerausgabe bloß in den Lemmata seines Kommentars bestand
(richtig Erbse, Hermes 87 [1959] 275ff.). Den Einfluß dieser gelehrten Arbeit auf die
Konstitution der im Umlauf befindlichen Lesetexte muß man sich auf dem Wege über die
Annotation und Expurgierung von Schülerexemplaren vorstellen. Doch selbst dieser indirekte
Einfluß mußte in die chaotische Situation im Versbestand entscheidend einschneiden, denn
offenbar haben sich die Lehre Zenodots sowie auch ein Kommentar wie der Aristarchs auf
72 Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius

habe ich zu zeigen versucht, daß die Alexandriner bei allem Konservativismus
größere Überarbeitungen in der Regel nur dort aufgenommen haben, w o diese
den ursprünglichen Text völlig verdrängt hatten 2 0 0 . Eine g e w i s s e Rücksicht
auf die Lesbarkeit des gewonnenen Textes ist somit auch hier erkennbar.
G a n z ä h n l i c h w i e der c h a o t i s c h e Zustand d e s S o n d e r f a l l s der
Homerüberlieferung die Alexandriner veranlaßte, hier in der Auswahl des
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Versbestandes weniger konservativ als bei dem weniger disparat überlieferten


Tragikertext v o r z u g e h e n , so dürfte gerade der b e s o n d e r s stark v o n
Überarbeitung und Korrektur geprägte Zustand des vergilschen A e n e i s m a n u -
skripts Varius dazu b e w o g e n haben, so gut es ging, einen reinen Lesetext zu
erstellen. Hätte er erst einmal damit angefangen, auch sich g e g e n s e i t i g
ausschließende Alternativfassungen aufzunehmen, so hätte er eine kritische
A u s g a b e nach den Prinzipien einer modernen kritischen A u s g a b e erstellen
müssen; für die Gepflogenheiten und technischen Möglichkeiten der Antike
wäre ein unbenutzbares Textmonstrum entstanden 2 0 1 . Mögen wir e s uns auch

einen begrenzten Versbestand bezogen und eine Anbindung des Lesetextes an die gelehrte
Erklärung führte somit notgedrungen zu einer Beschränkung auf das in Zenodots Lehre und
For personal use only.

Aristarchs Kommentaren berücksichtigte Material.


200 Man denke etwa an die nur in der Hypothesis überlieferten unechten Prologe des
Rhesus (vgl. dazu Ritchie, The Authenticity of the Rhesus of Euripides [Cambridge 1964]),
die offenbar nicht in den Text aufgenommen wurden.
201
Der mit den Problemen der modernen Editionstechnik bei historisch kritischen
Ausgaben moderner Autoren weniger vertraute klassische Philologe kann sich anhand des
Sammelbandes von G. Martens/ H. Zeller, Texte und Varianten (München 1971) einen
bequemen Überblick verschaffen. Einen Eindruck von den graphischen Erfordernissen zur
adäquaten Darstellung von KoiTekturvorgängen in Autorenmanuskripten, divergierenden
Fassungen und unvollendeten Entwürfen vermittelt etwa ein Blick in die Frankfurter
Hölderlinausgabe von D.E. Sattler (Frankfurt 1975-) oder in die Traklausgabe W. Killys und
H. Szklenars (Salzburg 1969).
Die Tatsache, daß Varius bei der posthumen Herausgabe der Aeneis einen einheitlichen
Lesetext hergestellt hat, hat durchaus ihr Interesse für die Methode posthumer
Dichterausgaben in der Antike und das notorische Problem der Präsenz von Autorenvarianten
in unseren Texten. Selbstverständlich können posthume Ausgaben in jedem Einzelfalle nach
anderen Prinzipien veranstaltet worden sein, doch scheint mir die Tatsache, daß Vergils
Aeneis trotz der besonders starken Spuren der Unfertigkeit kaum eklatante Doppelfassungen
aufweist und zudem auch keine Schwankungen im Versbestand nachweisbar sind, die auf
ursprüngliche Varianten zurückgehen (die Schwankungen im Verbestand der Aeneis beziehen
sich bekanntermaßen ausschließlich auf die Konkordanzinterpolation, vgl. meinen Beitrag in
«Hermes»), muß die häufig geäußerte Ansicht, in einem guten Teil der Doppelfassungen oder
uneinheitlich bezeugten Passagen etwa in Ovids Metamorphosen oder Lucans Pharsalia seien
Autorenvarianten zu greifen, zweifelhaft erscheinen lassen (zu Ovid vgl. K. Dursteier, Die
Doppelfassungen in Ovids Metamorphosen [Diss. Hamburg 1940]; zu den uneinheitlich
bezeugten Versen bei Lucan und ihrer Beurteilung vgl. die praefatio zu Housmans Ausgabe
Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius 73

noch so bedauern, nicht mehr als die bescheidenen Fingerzeige auf Vergils
Arbeitsweise und das Wachsen des Werkes in unserem Text zu finden, der
Zustand des uns überlieferten Textes muß uns jedenfalls zuversichtlich
machen, daß Varius in der Auswahl dessen, was er in seinen Text aufnahm,
mit Sorgfalt, Kompetenz und Respekt vor dem Willen des Dichters
vorgegangen ist. Wir haben jeden Grund, zu glauben, die Aeneis in einer den
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(Oxford 21927) S. xviiiff. mit Fraenkels Rezension, Gnomon 2 [1926] 517ff. = Kleine
Beiträge zur Klassischen Philologie II (Rom 1964) 291ff.; G. Bernstein, Die
Versauslassungen in Lucans Bellum civile (Diss. Jena 1930) und Luck, RhM 112 (1969)
254ff.). Ja die hier rekonstruierte Methode des Varius spricht durchaus ganz allgemein gegen
die Annahme von der Überlieferung von Autorenvarianten in größerem Umfang sowohl in
der Aeneis als auch sonst. Selbst die posthume Ausgabe des prominenstesten und schon zu
Lebzeiten zum Schulautor avancierten Dichters scheint kein Interesse an der Überlieferung
ursprünglicher Varianten gehabt zu haben, und auch der Rückgriff auf das Manuskript des
Dichters selbst über die kanonische Ausgabe hinaus ist nicht nachweisbar (zu den
angeblichen Autographen Vergils s. Goold 160f. = 119f., Zetzel 233ff., Timpanaro 5 Iff., 62
dazu Horsfall, CR 101 [1987] 177-180, Jocelyn, Gnomon 60 [1988] 199-201; L. Holford-
Strevens, Aulus Gellius [London 1988] 139ff.).
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Die reichste Fundgrube für antike Editionstechnik und für genuine Autorenvarianten
sollten gewiß die aristotelischen Schriften darstellen, doch ist hier die Lage aufgrund der
ungeheuren sachlichen Probleme des Textverständnisses so komplex, daß man kaum zu
Ergebnissen kommen dürfte, auf die man anderswo bauen könnte; zur Forschungslage vgl.
Flashar in: H. Flashar (ed.), Die Philosophie der Antike, Bd. 3: Ältere Akademie,
Aristoteles, Peripatos (Basel-Stuttgart 1983), 256-262, 376-385; ausgezeichnet die kurzen
Bemerkungen von Barnes in: J. Barnes (ed.), The Cambridge Companion to Aristotle
(Cambridge 1995), 1 Iff.; bezeichnend scheint mir jedenfalls, daß in neuerer Zeit ein eher
kritischer Standpunkt zu Entstehungs- sowie auch Echtheitsfragen gerade von
philosophischer Seite eingenommen wird, man denke nur an das höchst provokante und
stimulierende Werk von H. Schmitz; Die Ideenlehre des Aristoteles (Bonn 1985). Doch auch
abgesehen davon dürfte sich in der Prosa reicheres und sichereres Material zur Frage der
Erhaltung von antiken Autorenvarianten finden. Die besten Argumente Doppelfassungen
unserer Überlieferung tatsächlich auf den Autor zurückzuführen lassen sich nach bisherigem
Kenntnisstand m.E. für Prosawerke anführen, insbesondere Ciceros De officiis (vgl. die
tüchtige Dissertation K.B. Thomas, Textkritische Untersuchungen zu Ciceros Schrift De
officiis [Münster 1971; mit guter methodischer Diskussion Iff.], der mit Umsicht und
Kompetenz den konservativen Standpunkt gegen W J . Brüser, Der Textzustand von Ciceros
Büchern de officiis [Diss. Köln 1948] vertreten hat; s. ferner A. Goldbacher, Sitzungsber.
Wien, Phil.-hist. Klasse 196 [1922] Abh. 3); hier gibt es gute Gründe selbst eine
uneinheitlich überlieferte Doppelfassung wie 140 für echt zu halten (s. Winterbottom in der
praefatio S. xii des neuen OCT). Für weniger überzeugend halte ich die konservative Option
allerdings bei Cato und Laktanz, wo sie ebenfalls in jüngerer Zeit energisch und
kenntnisreich vertreten wurde (s. A.E. Astin, Cato the Censor [Oxford 1978] 191ff.; E.
Heck, Die dualistischen Zusätze und die Kaiseranreden bei Lactantius, Abh. Heidelberg phil.
hist. Kl. 1972, 2).
74 Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius

Form zu besitzen, die Vergils Intentionen zum Zeitpunkt seines Todes in größt
möglichem Umfang entspricht.
Bei allem offenkundigen Konservativismus der posthumen Aeneisausgabe
kann dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden, daß Varius sich in
einzelnen Fällen genötigt sah, den ihm vorliegenden Urtext zu ergänzen. Die
Tatsache, daß er metrisch, ja in ein bis zwei Fällen selbst syntaktisch
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unvollständige Verse stehenließ, stellt es außer Zweifel, daß Varius mit


eigenen Zusätzen zum Text mehr als zurückhaltend war. Doch auch wenn
Varius sich der Ergänzung der Halbverse offenbar enthalten hat, so ist es doch
möglich, daß er etwa bei der Vereinigung zweier Alternativfassungen in den
Text eingegriffen hat, wie wir dies in einer unserer Hypothesen zu X 728f.
vermuteten (s. S. 46f.); hier wäre sonst ein in seiner ersten Hälfte
unvollständiger Vers stehengeblieben. In neuerer Zeit hat etwa Courtney 2 0 2
auch sonst vereinzelt die Ergänzung unvollendeter Verse in der posthumen
Aeneisausgabe vermutet, und unabhängig von der Beurteilung der von
Courtney herangezogenen Einzelfälle mag man durchaus ein offenes Auge für
derartige Vorgänge behalten 203 . Die uns erhaltenen Halbverse sind, wie oft
hervorgehoben wurde, zum allergrößten Teil schwer zu ergänzen, wenn man
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sich auf Zusätze innerhalb des einen Verses beschränkt. Dies muß Varius
bewußt gewesen sein, und wir dürfen ihm gewiß mehr Verstand zutrauen als
den späteren Autoren der uns in einzelnen Zeugen erhaltenen Ergänzungen. Es
wäre durchaus möglich, daß Varius in Fällen, wo eine Ergänzung zur
Herstellung eines zusammenhängenden, verständlichen Textes notwendig und
zugleich leicht und in aller Kürze vorzunehmen war, eine solche Ergänzung
geliefert hat. Insbesondere könnte er auch am Anfang oder in der Versmitte
lückenhafte Verse, wie wir sie im Hinblick auf die oben (S. 12f.) in Solomös
bezeugten unvollständigen Verse vermuten könnten, ergänzt haben. In III 340
mag er trotz der syntaktischen Unvollständigkeit darauf verzichtet haben, da
eine sinnvolle Ergänzung einen recht bedeutenden Umfang hätte in Anspruch
nehmen müssen und zugleich weiterreichende Probleme der Textrevision
betroffen hätte, deren Varius sich wohl bewußt gewesen sein wird 204 .

202 vgl. auch Geymonat 287. Besonders weit ging bekanntlich in der Annahme durch
Interpolation gefüllter Halbverse in der Vergangenheit Ribbeck.
203
Selbstverständlich müssen derartige Zusätze auch gar nicht unbedingt auf Varius
zurückgehen; auch spätere Zusätze können in den Text unserer Handschriften eingedrungen
sein.
204
Es wäre durchaus plausibel, wenn unheilbare Lücken im Text in Varius' Ausgabe in
irgend einer Weise als solche gekennzeichnet worden wären. Auch jenseits der
Unvollständigkeit eines Halbverses darf man annehmen, daß Varius die Anstößigkeit des
Anschlusses von I 535 an 534 (s. oben S. 35) und II 589 an 566 (s. S. 48) empfunden hat;
Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius 75

Bleibt zuletzt die Frage, was uns der im vorigen interpretierte Textbefund
über die physische Beschaffenheit von Vergils Aeneismanuskript lehren kann.
Selbst die so geringen Einblicke, die uns der Textbefund in die
Redaktionsarbeit des Varius noch vermittelt, stellen es außer Zweifel, daß
Varius nicht einfach eine Reinschrift von Vergils letztem Gesamtentwurf
unverändert herausgegeben hat; zumindest die Präsenz von Ersatzfassungen,
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doch auch eine Passage wie VII 243ff. zeigen, daß Varius sich mit alternativen
Entwürfen des Dichters konfrontiert sah, aus denen er nach bestem Wissen
und Gewissen einem lesbaren und den letztgültigen Absichten des Freundes
entsprechenden Text zu erstellen versuchte 205 . Bei der Untersuchung
analytischer Fragen in der Aeneis sollte man sich stets bewußt sein, daß die
posthume Ausgabe von einem Mann besorgt wurde, dessen Kompetenz man
gar nicht zu hoch veranschlagen kann. Dieser Kompetenz dürfte es zum guten
Teil zuzuschreiben sein, daß wir die Aeneis bei aller Unfertigkeit doch in
einem insgesamt so genießbaren Zustand lesen; gerade dies erschwert jedoch
unsre Rekonstruktion der Vorstadien des Textes.
Leider sind unsere Informationen zu den materiellen Grundlagen der
Arbeitsweise antiker Dichter und Schriftsteller äußerst dürftig. Die jüngste
For personal use only.

oben (S. 65) bereits erwähnte Arbeit Dorandis hat nachzuweisen versucht, daß
antike Autoren häufig oder gar regelmäßig ihre Werke diktierend verfaßten.
Dorandi hat zunächst einmal gezeigt, daß es keine tragfähige äußere Evidenz
für die bis in jüngste Zeit vertretene Ansicht gibt, daß größere Werke der
Antike von ihren Autoren zunächst auf einer Anzahl von Einzelblättern
schriftlich niedergelegt und so hinterlassen wurden 206 . Dorandi hat auch

wenn er die Lücke markiert hat, so erklärt dies die Interpolation der Helenaepisode. Zu einer
anderen Interpolation einer - syntaktischen - Lücke s. oben S. 18 zu X 714-6.
205
„The draft or drafts left by Virgil, so much is certain, presented the poem in a very
incomplete and disordered shape; and the task of the editors was intricate and difficult. When
we reflect how the Aeneid was, on its publication, received and acclaimed as a complete
poem, how it has been and is accepted as such by thousands of readers in all countries and
ages, how little in fact it suffers from the irrelevances, displacements, inconsistencies,
incompletions, which yield themselves to a more minute scrutiny, we are bound to conclude
that the editors did their work with remarkable skill and judgement", Mackail xlviii.
206
S. Dorandi l l f f . (zu antiken Nachrichten über derartige Autographe Dorandi 30);
diese insbesondere für das Geschichtswerk des Thukydides erschlossene Arbeitsweise (zuerst
Prentice, CPh 25 [1930] 117-127) wurde in neuerer Zeit insbesondere von L. Canfora in
seiner Thukydidesmonographie (Tucidide continuato [Padua 1970] 9ff.) wiederaufgenommen;
derselbe Autor hat das Thema dann auch in einem hochinteressanten Beitrag (Traslocazioni
testuali in testi greci e latini) in dem von E. Flores herausgegebenen Band La critica testuale
greco-latina oggi: Metodi e problemi (Rom 1981) 299-315 weiterentwickelt (vgl. auch die
anderen von Dorandi S. 12 Anm. 3 , 4 und 5 genannten Beiträge). Es ist im Rahmen der hier
vorgelegten Untersuchung unmöglich, auf die Fülle der angesprochenen Probleme und seine
76 Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius

sicherlich recht, wenn er das Diktat durch den Autor als eine durchaus
verbreitete Arbeitsweise herausstellt, doch schießt er m. E. in seiner allzu
starken Betonung dieser Kompositionsweise etwas über das Ziel hinaus.
Gerade für die augusteische Zeit beweist schon die Tatsache, daß scribere der
gewöhnliche Ausdruck für Dichten ist207, daß dabei vorzüglich an schriftliches
Arbeiten gedacht ist, und wenn seit der hellenistischen Zeit das Schreiben auf
der Schreibtafel selbst in die Metaphorik des Berufungserlebnisses und der
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dichterischen Inspiration eindringt und das geläufige Bild des Singens


verdrängt208, so zeigt dies mit aller Deutlichkeit, daß die Autoren der Zeit ihre
Werke im allgemeinen schreibend verfaßt haben, und auch Dorandi übersieht
die Rolle des Schreibens gerade bei der dichterischen Komposition keineswegs
(21ff.)· Unbedingt richtig ist an Dorandis Ausführungen, daß die
papyrologische Evidenz nahelegt, daß die zunächst in einem Notizheft 209
niedergeschriebenen oder diktierten Textstücke, sobald sie in einen größeren
Kontext integriert wurden, sofort auf eine Rolle übertragen wurden. Inwieweit
dabei der Autor selbst mit Hand anlegte oder sich eines librarius bedienen
konnte, wird in jedem einzelnen Fall anders gewesen sein und ist von
untergeordneter Bedeutung210.
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Lösungen mit der nötigen Ausführlichkeit einzugehen, und ich kann hier nur auf die Kritik
Dorandis (1. cit.) vom Standpunkt der papyrologischen Evidenz her verweisen. Das Problem
erfordert eine eingehendere Prüfung, und ich muß mir vorbehalten, an anderer Stelle darauf
zurückzukommen.
207
scribere uersus regelmäßig Horaz (vgl. epist. II 1, 111; II 2,54; ep. II 2; scribere =
componere auch sonst häufig) und ebenso Cicero (vgl. e.g. fin. I 3, Tusc. II 17, div. II 122,
Flacc. 65 und besonders Cluent. 140 [M. Antonium aiunt solitum esse dicere idcirco se
nullam umquam orationem scripsisse] und Plane. 66). Man vgl. auch bereits PI. Theait.
143a (άλλ' έγραγάμην μέν τότ' εύθϋο οϊκαδ' έλθών υπομνήματα, ϋοτερον δέ κατά
οχολήν άναμιμνηιοκόμενοο εγραφον, και όοάκις Άθήναζε άφικοΐμην. έπανηρώτων
τόν Σωκράτη ö μή έμεμνήμην. και δεΰρο έλθών έπηνορθούμην, coctc μοι σχεδόν τι näc
ό λόγοο γέγραττται). Auch Briefe wurden in der Regel eigenhändig geschrieben, nicht
diktiert; das beweist e.g. Cie. Att. VII 13a, 3; VIII 12, 1 (richtig auch Norden 954, der im
folgenden ansonsten Dorandis These vom Diktat als der gewöhnlichen Kompositionsform,
freilich mit fast ausschließlich kaiserzeitlichen und frühmittelalterlichen Belegen,
vorwegnimmt).
208
Das Material ist gesammelt in der schönen Arbeit von P. Bing, The Well-read Muse
(Hypomnemata 90, Göttingen 1988).
209
Vgl. Hör. A.P. 385ff., S. II 3, lf.; dazu Skeat-Roberts, The Birth of the Codex
(Oxford 1983) 20 und Dorandi 30f.
210
In seinem Bericht über die Arbeitsweise seines berühmten Onkels schildert Plinius'
(epist. III 5) einen vielbeschäftigten und mit übermenschlicher Arbeitskraft begabten Mann
des öffentlichen Lebens, der um maximale Ausnutzung seiner Freizeit bemüht nihil umquam
legit quod non excerpserit; auch die Arbeitsweise Philodems als des Hauptes eines
organisierten Philosophiebetriebs darf nicht unbedingt verallgemeinert werden. Schriftliches
Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius 77

In jedem Falle erklärt diese Arbeitsweise gut, warum Vergil, wie wir oben
angenommen haben (s. S. 66ff.), einzelne zunächst separat verfaßte Partien,
fast immer zumindest notdürftig in einen größeren Zusammenhang integrierte.
Nach der Übertragung der in seinem Notizheft ausgearbeiteten Einzelteile in
die Rolle hielt es Vergil verständlicherweise für angebracht, schon bald auch
dem Gesamtzusammenhang irgendwie zu skizzieren. Dabei wird er zunächst
zuweilen durchaus noch nicht recht verbundene Blöcke - wohl unter
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Freilassung von Zwischenräumen211 - einfach nebeneinandergesetzt haben,


wie wir dies am Anfang des achten Buches noch nachvollziehen können (s.
oben S. 30ff.). Gerade auch die Stellen wie der Anfang des achten Buches mit
dem fehlenden Iunogebet (s. S. 31 f.) oder der Redeaustausch Turnus-Allecto
(VII 435ff.; s. S. 23f.) bezeugen Vergils Bemühen, selbst in nur ganz grob
ausgearbeiteten Passagen, sogleich in irgendeiner Weise den Handlungsverlauf
zu skizzieren. Verbindende Versatzstücke wie Redeeinleitungen und Schlüsse

Exzerpieren würde ich übrigens für Diogenes Laertius vermuten; die bekannten
Verwechslungen von Abkürzungen von Namen in der Überlieferung dürften m.E. doch am
ehesten auf fehlerhafte Übertragung von Aufzeichnungen des Autors durch einen Librarius
zurückzuführen sein (vgl. J. Mejer, Diogenes Laertius and his Hellenistic Background,
For personal use only.

Hermes-Einzelschriften [Wiesbaden 1978] 25ff.). VSD 22 beweist nicht, daß Vergil seine
Werke diktierte; die abwegige Ausdeutung des Bärengleichnisses (s. oben Anm. 175) erweist
den Text als Fiktion; die Erfindung zeigt allerdings in der Tat, daß das Diktat anscheinend als
ein übliches Verfahren eines Dichters angesehen wurde. Aufschlußreich für die Verbreitung
des Diktats scheint mir Quintilians Kritik dieser Arbeitsweise im zehnten Buch der Institutio
(3,19ff.); Petersen (Oxford 1891, ad loc.) weist zu Recht darauf hin, daß seine Formulierung
quid de Ulis dictandi deliciis sentiam (3, 19) nahelegt, daß Quintilian das Diktieren als
Modeerscheinung betrachtet, die in der Kaiserzeit offenbar immer verbreiteter wurde: Petersen
verweist auf Pers. 152, wo zum ersten Mal dictare statt scribere für 'dichten' verwendet wird
(diese Stelle ist nicht erfaßt bei Norden 957f., der die späteren Belege behandelt; vgl. femer
E.P. Arns, La technique du livre d'apris Saint Jirome (Paris 1953) 37ff„ ThlL s.v. dicto Β
2, wo nicht ganz zu Recht bereits Hör. epist. 110,49 und II 1,100 angeführt wird; dort liegt
jedesmal eine besondere Färbung des Begriffs vor; zu ersterer Stelle gut J. Pr6aux [Paris
1968] ad loc.). In diesem Zusammenhang müssen auch die zahlreichen Zeugnisse für das
Diktat bei kaiserzeitlichen und christlichen Autoren gesehen werden; vgl. Dorandi 22; vgl.
auch bereits Norden 953ff.). Vor diesem Hintergrund versteht man Horazens ironische
Beschreibung der Arbeitsweise des Lucilius (Sat. 14,9f.): der mondäne Lebemann Lucilius
diktiert Vers um Vers zwischen Tür und Angel, der fleißige kleine Handwerker Horaz feilt
monatelang an seinen schriftlichen Entwürfen (S. II 3, lf.). Sie spricht, recht betrachtet, eher
dafür, daß das Diktat ein zu dieser Zeit - zumindest für einen Dichter - noch recht
ungewöhnliches Verfahren war; zudem dürfte die Methode gewiß auch mit dem sozialen
Status und den materiellen Verhältnissen des Autors zusammenhängen. Goethe, der sich
einen eigenen Schreiber leisten konnte, hat häufig diktiert (zur Achilleis vgl oben S. 13
Anm. 7); anderen dichtenden Zeitgenossen war dies schon aus äußeren Gründen versagt. In der
Antike dürfte dies kaum anders gewesen sein.
211
Vgl. die oben S. 69 Anm. 190 zitierte Quintilianpassage.
78 Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius

wird er dann in der Rolle in ähnlicher Form am Rand oder bei längeren
Stücken auch auf dem verso notiert haben, wie wir dies in den von Dorandi
analysierten Revisionsexemplaren Philodems noch greifen können 2 1 2 .
Selbstverständlich wurden diese Zusätze von Zeit zu Zeit in neuen Abschriften
des Gesamttextes in den Text integriert, doch ist es höchst wahrscheinlich, daß
das Varius zur Verfügung stehende Manuskript immer noch derartige noch
nicht integrierte Randnotizen enthielt. Diese Vermutung drängt sich zumindest
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für die von Varius an eine andere Stelle versetzten Verse vom Anfang des
achten Buches (79f., s. S. 32), ein nicht integriertes Stück wie VII 243ff. 213
oder Alternativfassungen wie das Gleichnis VII699-702 und 1530-534 (s. S.
35), II 63-66, 755-767, VI ?83-94 (s. S. 38), VII 128-129, VIII 42-49a
auf 2 1 4 . Sie liegt auch gerade für die wörtlichen Wiederholungen in I 530ff.
und VIII 42ff. nahe, in denen wir einen Verweis auf die Parallelstelle vermutet
haben. Im zweiten Fall wird dies ja auch durch die Bewahrung der in der
Neufassung zu streichenden Verse VIII 39f. bewiesen. Überhaupt scheint es
mir außerordentlich wahrscheinlich, daß Halbverse bzw. in Halbverse
auslaufende Passagen überhaupt in der Regel auf Randbemerkungen
zurückgehen, und diese Vermutung wurde in der älteren Forschung
For personal use only.

insbesondere von Cartault und Walter für einzelne Halbverse ja auch immer
wieder vertreten215. Die metrische Unvollständigkeit ist das deutlichste äußere
Zeichen der mangelnden Integration dieser Verse oder Versreihen, die als
Vergils erste Entwürfe zur Umgestaltung des Textes angesehen werden
müssen. Solche Zusätze und Umgestaltungen in einer Abschrift fortlaufend in
den Text aufzunehmen hatte jeweils erst Sinn, wenn eine gewisse Kohäsion
des resultierenden Textstücks erreicht war. Auch an den Stellen, wo wir es
nicht mit glatt ablösbaren Stücken zu tun haben, haben wir oben in den meisten
Fällen zeigen können, daß sich letztlich in den mit Halbversen durchsetzten
Partien doch sukzessive Stadien der Ausarbeitung fassen lassen (S. 52). Selbst
in der geringen Zahl von Fällen, wo dies nicht mehr nachvollziehbar ist und
wir tatsächlich einfach einem lückenhaften Text gegenüberzustehen scheinen
(s. S. 49ff.), könnten die gesamten betreffenden Partien in der Varius zur
Verfügung stehenden Rolle noch nicht ganz fortlaufend geschrieben gewesen
sein, sondern in einzelnen Stücken direkt auf von Vergils Notizheft
212
S. Dorandi 15ff. und die oben S. 65 Anm. 179 genannten Werke, insbesondere das
Vorwort von Dorandis Ausgabe (Neapel 1991) und Gaiser 32ff. (Verzeichnis der Zusätze
39ff.), dessen Ausgabe ein Faksimile der Umschrift enthält.
213
Vgl. dazu wieder den oben S. 69 Anm. 190 zitierten Passus aus Quintilian.
214
Vgl. auch IX 85ff. (oben S. 70 Anm. 195)
215
S. zuletzt auch Geymonat 287. Walter (39, 47, 61) hat auch bereits die Vermutung
ausgesprochen, daß ab und an erst Varius versucht haben mag, eine nicht integrierte
Randnotiz sinnvoll im Text unterzubringen.
Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius 79

übertragene Marginalien oder auch auf nachträgliche Eintragungen in


Freiräume im Text zurückgehen, nur daß uns der physische Zustand des
Manuskripts kaum mehr rekonstruierbar ist. In einem Fall wie der Turnus-
Allecto-Szene könnte man allerdings vermuten, daß die beiden fragmentarisch
skizzierten Reden nachträglich in den Text eingetragen wurden, und
entsprechende Vorgänge könnte man sich auch bei den oben (S. 5 lf.)
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angeführten parallelen Fällen kurzer Redefragmente denken.


Ich habe zu Anfang (S. 12f.) die unvollendeten Werke und Entwürfe
Schillers, Hölderlins und Solomös' zum Vergleich herangezogen und auf das
Fehlen von Textlücken zu Beginn oder im Innern des Verses bei Vergil
hingewiesen. Davon ausgehend habe ich behauptet, die Mehrzahl der
Halbverse könne nicht einfach einen lückenhaften Textentwurf markieren.
Wenn die Untersuchung dann jedoch gezeigt hat, daß derartige lückenhafte
Entwürfe teilweise doch vorliegen, so bleibt die Frage, warum wir nur Lücken
am Versende im Vergiltext begegnen. Unwahrscheinlich ist gewiß die
Annahme, Varius habe derartige Verse durchweg durch Interpolation gefüllt;
daß Varius, wenn überhaupt, nur selten Zusätze im Text gemacht hat, haben
wir bereits gesehen (S. 74). Ebenso ist es unglaubhaft, daß Varius eine große
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Zahl derartiger Verse kannte und dann darauf verzichtete, sie in seine Ausgabe
aufzunehmen. Hätte Vergil das Werk in einem von einer großen Zahl von an
beliebiger Stelle lückenhaften durchsetzten Zustand hinterlassen, so dürfte es
kaum möglich gewesen sein, unter Auslassung all dieser Verse einen auch nur
einigermaßen kohärenten Text herzustellen. Nein, Vergil hat die Aeneis in
einem schon recht weit fortgeschrittenen Stadium der Ausarbeitung
hinterlassen. Das Stadium, in dem Vergil bloß erste einzelne und
unzusammenhängende Entwürfe, die durchaus auch metrisch lückenhaft
gewesen sein mögen, in seinem Notizheft notierte, war für das gesamte Werk
längst Vergangenheit. Beim Tode Vergils lag offenkundig bereits ein im
wesentlichen zusammenhängender Text der gesamten Aeneis auf Rollen
geschrieben vor. Dieser Text war zwar an einigen Stellen noch vorläufig bis
skizzenhaft, doch grobe Lücken metrischer oder inhaltlicher Art enthielt er
nicht mehr. Dieser Text unterlag dabei selbstverständlich immer noch der
beständigen Revision, und Vergil notierte sich laufend Verbesserungen und
Entwürfe für Zusätze am Rand oder auf der Rückseite.
Die der Hypothesenfreudigkeit der kritischen Philologie des 19. Jhs. zum
Teil so ablehnend gegenüberstehende moderne Forschung hat zuweilen den
Hinweis auf die Unsicherheit und das Chaos der verschiedenen
Bearbeitungstheorien der Vergilanalyse mit grundsätzlichen Zweifeln am Sinn
und an der Möglichkeit dieses Zugangs zu den Problemen des Aeneistextes
80 Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius

verbunden 216 , und es dabei nicht versäumt, die Parallelen zu der heute im
allgemeinen totgesagten Homeranalyse zu ziehen 217 . Ich habe im vorigen im
Sinne des zu Beginn zitierten richtigen methodischen Ansatzes von Berres (s.
S. 11 Anm. 2) versucht, einige weiterreichende Probleme von den
unbezweifelbaren und konkreten Spuren der Unfertigkeit im Text der Aeneis
her aufzurollen und zuletzt den aus innerer Evidenz erschlossenen
Textumgestaltungen Vergils vor dem Hintergrund der materiellen Evidenz für
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die Arbeitsweise antiker Autoren eine konkrete historische Basis zu geben 218 .
In den unvollendeten Halbversen greifen wir die oberste Schicht der
Überarbeitung, die noch physische Spuren im Text hinterlassen hat, und erste
Aufgabe der Analyse muß es sein, diese Schicht abzutrennen. Dabei sollte sich
die Interpretation des Textbefundes zunächst möglichst eng an den
Bedürfnissen des materiellen Befundes orientieren, und so habe ich mich im
vorigen bemüht, aufbauend auf den Lösungen der älteren Forschung zunächst
stets die einfachste, sich unmittelbar aus der Lückenhaftigkeit des Textes
ergebende Hypothese zu suchen und erst dann größere Zusammenhänge in den
Blick zu nehmen. Ob es möglich sein wird, tiefer in die Entstehung des Werks
einzudringen, muß sich noch zeigen. Aufgabe weiterer Forschung scheint es
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mir zu sein, die im vorigen empfohlenen Lösungsvorschläge auf ihre


Tragfähigkeit hin zu prüfen und zu versuchen, in der Typologisierung der
Arbeitsvorgänge und Änderungsmotive, vor allem aber auch in der Erhellung
von Vergils künstlerischen Absichten voranzukommen. Die so gewonnenen
Ergebnisse könnten dann versuchsweise auf andere Stellen übertragen werden,
wo die Beurteilung ganz auf inhaltliche Elemente angewiesen und aufgrund
des höheren Grades der Vollendung unsicherer ist. Hilfreich könnten u.U.

216
Vgl. Schanz-Hosius, Geschichte der Römischen Literatur II (München 4 1935) 58;
Pease S. 58; Büchner 405 = 1427f.; Lloyd 133f.; vgl. auch Monaco 1 Iff.; von der
„Sackgasse" der bisherigen Aeneisanalyse spricht auch Berres VIII; ganz zu schweigen von
der frontalen Kritik der modernen harmonisierenden Aeneisinterpretation, für die ich hier
stellvertretend nur Buchheits Von der Entstehung der Aeneis (Nachr. d. Gießener
Hochschulgesellschaft 33 [1964] 131-143) erwähne. Neuerdings hat auch Horsfall (471ff.
und 3, 91-102) seine exemplarische Quellenforschung allenthalben energisch in den Dienst
einer 'neoanalytischen' Erklärung der Unstimmigkeiten der Aeneis gestellt (vgl. auch unten
S. 81f. Anm. 220).
217
S. Horsfall 3, 91 und Pease 1. cit. Auch die unitarische Homerforschung hat freilich
zuweilen versucht, von der alten Analyse aufgezeigte Unstimmigkeiten auch unter der
Voraussetzung einheitlicher Verfasserschaft genetisch zu verwerten; ich verweise hier nur auf
Goold, ICS 2 (1977) 1-34, dessen Arbeit besonders enge Parallelen zur Aeneisanalyse
aufweist; einen kurzen Überblick und eine Kritik dieses Ansatzes bietet Reichel 376
(Bibliographie 377 Anm. 20).
218
Daß jede derartige Rekonstruktion stark vergröbern und mit großen Unsicherheiten
belastet bleiben muß, braucht wohl nicht ausdrücklich betont zu werden.
Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius 81

auch tiefer eindringende sprachliche und metrische Analysen jüngerer und


möglicherweise weniger vollendeter Partien sein219; jedenfalls können sich
derartige Untersuchungen heute auf eine im großen und ganzen recht gute
Kommentierung des Textes und weit bessere Erforschung von Vergils Sprache
und Vers stützen als die Vergilanalyse der Vergangenheit. Das meiste wird
aufgrund der mangelnden äußeren Evidenz gewiß immer beunruhigend
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unsicher bleiben, dennoch scheint mir übertriebene Skepsis nicht


angebracht220, und auch das gängige Urteil über die traditionelle Vergilanalyse

219
Dabei könnte man einen Ausgang nehmen von den ganz offenkundig mangelhaft
ausgearbeiteten Büchern III, V und X; einen ersten Einstieg vermitteln etwa die in Williams
Indices unter dem Stichwort 'Unrevised Passages' aufgelisteten Stellen; s. ferner oben S. 15
Anm. 15, S. 19 Anm. 32 und S. 51 Anm. 136. Bedenkenswerte Einzelbeobachtungen finden
sich auch verstreut in Mackails Kommentar. Es müßten freilich vernünftige Kriterien
entwickelt werden, welche Phänomene wirklich auf mangelnde Ausarbeitung weisen, im
Gegensatz zu Korruptel oder Unechtheit. Zur Metrik vgl. den S. 59 Anm. 160 zitierten
Arbeiten von Duckworth und neuerdings auch M. Giesche, Die Differenzierung des
Rhythmus als Gliederungsprinzip bei Vergil (Frankfurt 1980); interessante Beobachtungen,
die weitere Verfolgung verdienen, auch in der Appendix Β (S. 191f.) in Gransdens
Kommentar zum achten Buch.
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220
Ausdrücklich möchte ich betonen, daß ich das oben (S. 80 Anm. 216) bereits
erwähnte 'neoanalytische' Erklärungsmodell für inhaltliche Unstimmigkeiten in der kruden
Form, in der es im allgemeinen angewandt wird, in der Aeneis noch weit weniger
einleuchtend finde als bei Homer. Die Tatsache, daß zwei konkurrierende Versionen desselben
Ereignisses in der Vergil vorausliegenden Tradition vorgeprägt sind, erklärt gewiß die beiden
vergilschen Alternativentwürfe, sie gibt keinerlei Anhaltspunkt dafür, daß Vergil jemals daran
dachte, sie nebeneinander zu verwenden. Selbstverständlich weisen auch vollendete Werke der
antiken wie modernen Literatur beabsichtigte und unbeabsichtigte Inkongruenzen auf, sie
können jedoch nur im Rahmen einer Untersuchung der dichterischen Technik des Autors
erklärt und gerechtfertigt werden, wie dies für Vergil vor allem eben Heinze geleistet hat (für
exemplarische Untersuchungen zu anderen antiken Autoren und Genera verweise ich nur auf
T. v. Wilamowitz - Moellendorffs Die dramatische Technik des Sophokles [Berlin 1917] und
Süss, RhM 97 [1954] 115-159, 229-254, 289-316; vgl. auch die richtigen methodischen
Bemerkungen in der neuen Arbeit von B. Court, Die dramatische Technik des Aischylos
[Beiträge zur Altertumskunde 53, Stuttgart-Leipzig 1994] 9ff.). Die bloße Konstatierung der
Existenz von Parallelversionen in der Tradition besagt ebensowenig wie das Wegdiskutieren
der Widersprüche in der harmonisierenden Aeneisinterpretation. Pauschalerklärungen wie die
folgende werden der Kunst eines „sorgsam planenden" Dichters m £ . nicht gerecht, selbst
wenn sie aus dem Munde eines der bedeutendsten Vergilforscher unserer Tage kommen: „It
would not be true to say that Virgil's narrative is wholly clear and coherent in all details;
careful analysis of the subject-matter reveals, at times, I believe, that Virgil was not
passionately interested in antiquarian or technical minutiae, and we have already seen that
consistency mattered much less than effect. The disorder that survives is the diversity or
disdain of great art, not the quibbling of antiquarians and pedants" (Horsfall 1,477). Ganz im
Gegenteil, ich könnte es nicht besser als mit Cartaults (45) Worten ausdrücken: „Les
nombreuses contradictions qu'on a signages dans 1 'Eniide porteraient ä croire qu'il n'en avait
82 Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius

des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts ist viel zu


negativ 221 . Vor allem aber kann ein so offenkundig unvollendetes Werk wie
die Aeneis ohne Berücksichtigung ihres unfertigen Zustands nicht sinnvoll
interpretiert werden222. Darüber hinaus ist unsere Evidenz für die Arbeitsweise
antiker Autoren so gering, daß wir es uns schon aus diesem Grunde nicht
erlauben können, das Material, das uns gerade die Aeneis in dieser Hinsicht
bietet, unbenutzt zu lassen. Doch vor allem: wie können wir freiwillig auf die
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faszinierende Möglichkeit verzichten, Einblicke nicht einfach in die

eure et qu'il plagait le m6rite d'un poüme ailleurs que dans la concordance exacte des parties.
Ce serait lä une vue superficielle et erronde. II a 6t6 un assembleur plutöt qu'un cr6ateur; il
opörait sur des matiriaux multiples et divers; son ambition a 6t6 de les riduire ä l'unit6 et de
les fondre si exactement qu'on n'aper;ut qu'un tout. Et e'est un tour de force extraordinaire
que d'avoir fait sortir ΙΈηέίάβ des 616ments disparates et incohörents qu'il avait ä sa
disposition; e'est encore lä une manifere de creation, la crdation d'une unit6 qui n'existait que
dans son esprit. II entendait que VEniide format un ensemble r6gulier, oü le lecteur n'aper9flt
ni heurt ni lacune et fut frappi tout d'abord par l'aspect de grandes lignes harmonieuses. Les
contradictions de VEniide ne sont pas l'effet de son insouciance; elles n'ont jamais choquö
personne plus que lui. Elles sont la consdquence d'abord de l'h6tirog6n6it6 des matdriaux
employes, ensuite de l'6tat d'inachfevement dans lequel nous est parvenu le poöme."
For personal use only.

221
Das von Schanz-Hosius (1. cit.) beschworene Chaos ist weit weniger verwirrend,
wenn man die Arbeiten und Hypothesen der älteren Forschung nicht nur aufzählt, sondern
auch kritisch sichtet. Es läßt sich dann durchaus auch ein Konsens der gewichtigeren
Stimmen in manchen Fragen feststellen. So haben sich etwa die von den maßgeblichen
Vertretern der älteren Vergilforschung vertreten Ansichten zur chronologischen Priorität der
Bücher II, IV, VI (s. S. 60ff.) und der relativ späten Datierung von V (s. S. 61) bestätigt;
unter den Unstimmigkeiten, die weiterreichende Bearbeitungshypothesen provoziert haben,
sind es die kardinalen und in den maßgeblichen Werken allgemein als unüberwindlich
angesehenen Widersprüche zwischen Buch ΙΠ und dem Rest des Werkes, die Creusaszene (S.
35ff.), Sau- und Tischorakel (S. 26ff. und S. 20ff.), die - bei allem Dissens in der Lösung
des Problems im einzelnen - ohne Zweifel Zeichen einer die Gesamtkonzeption betreffenden
Umgestaltung sind. Kläglich scheitern müssen dagegen überzogene Hypothesen wie die von
der Priorität der zweiten Aeneishälfte (S. 59 Anm. 159) oder der Umstellung des dritten (S.
55f. Anm. 147) und fünften Buches (S. 60 Anm. 163). Die Argumentation über das
angebliche Chaos der älteren Vergilanalyse hat übrigens so ungefähr dieselbe Qualität wie die
Behauptungen Baumerts (ENIOI ΑΘΕΤΟΥΙΙΝ: Untersuchungen zu Athetesen bei Euripides
am Beispiel der Alkestis und Medea [Diss. Tübingen 1968]) oder Neitzels (Gnomon 59
[1987] 481), Tilgungen bzw. Konjekturen im Text der griechischen Tragiker hätten von
vornherein wenig Aussicht auf Erfolg, da offenbar die überwiegende Mehrzahl der in der
Vergangenheit vorgeschlagenen Tilgungen und Konjekturen falsch ist; zu Baumert vgl. die
Antwort Reeves, GRBS 12 (1972) 247ff., zu Neitzel M.L. West, Studies on Aeschylus,
Beiträge zur Altertumswissenschaft 1 (Stuttgart 1990) 371ff.
222
Dies beginnt beim unmittelbaren Textverständnis; selbst Urteile über
Textverderbnisse oder Echtheitsfragen müssen sich unweigerlich mit dem unfertigen Zustand
auseinandersetzen, und Verteidiger der Überlieferung argumentieren immer wieder mehr oder
weniger unreflektiert mit der mangelnden Vollendung des Werks.
Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius 83

Arbeitsweise irgend eines antiken Autors, sondern gerade in das Werden eines
der überragenden Werke abendländischer Dichtung und die Werkstatt eines der
größten Dichter der Weltliteratur zu gewinnen? Es ist nicht nur unmöglich, die
Aeneis ohne Rücksicht auf ihre Entstehung zu verstehen, nein, gerade die
Unfertigkeit des Werks bietet uns bei aller Dürftigkeit des Materials eine
Chance zu einem tieferen Verständnis von Vergils Kunst, als wir es ohne den
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so gewonnenen Zugang zum dichterischen Schaffensprozess je erreichen


könnten223.
Es ist die Verbindung souveräner, unprätenziöser Beherrschung der
kritischen Methode, eines ausgeprägten Sinnes für Handwerklichkeit und eines
feinen Gespürs für die eigentümlichen Gesetze dichterischen Schaffens, wie es
gerade auch in zeitgebundenen und subjektiv beschränkten Urteilen zum
Ausdruck kommt, die Heinzes Vergilmonographie nicht nur zu einem
Pionierwerk und zu einer Großtat der klassischen Philologie unseres
Jahrhunderts macht, sie macht sie - die ketzerische Äußerung möge man mir
verzeihen - bis heute zu der maßgeblichen umfassenden Darstellung von
Vergils Kunst 224 . Daß es der späteren Forschung bei allen bedeutenden
Fortschritten im einzelnen nicht gelungen ist, Heinzes Buch etwas
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Vergleichbares zur Seite zu stellen, liegt nicht nur daran, daß es uns
verständlicherweise schwer fallen muß, neben einem Giganten wie Heinze zu
bestehen, es liegt auch daran, daß die von ihm in so mustergültiger Weise

223
„The Aeneid, as we possess it, is the product of an immense mass of material, all of
it worked upon, but still in process of undergoing large revision; yet in the main so nearly
approaching to its final shape that it has been ever since, for the world at large, a completed
work of art. Careful study and minute analysis enable us to distinguish in it what may be
called strata of composition, and to surmise, with greater or less probability, a good deal of
Virgil's actual processes. We can assign the relative dates of certain parts; we can trace the
insertion or expansion, the recasting or cancellation of certain episodes or passages. That
inquiry is perilous to pursue too far, but is fascinatingly interesting. It can be pursued
effectively only by highly trained investigators; and only by those among them whose
scholarship is combined with delicate artistic sense and with some faculty of imaginative
divination", Mackail xxxvii.
224
„Per una buona introduzione generale alle tecniche ed ai metodi di composizione dell'
Eneide, il lettore b ancora costretto a risalire alio Heinze; la prima edizione di Virgils epische
Technik δ del 1902! Tutto ciö che viene dopo έ troppo breve ο troppo dettagliata, ο troppo
polemico", immerhin Horsfall 3, 10. Für eine moderne Würdigung von Heinzes Leistung
vgl. jetzt auch Wlosok in der Einleitung (x-xiv) zu Virgil's Epic Technique trad, by Hazel
and David Harvey and Fred Robertson (Bristol 1993) mit Bibliographie. Den größten
einzelnen Fortschritt über Heinze hinaus in der Erforschung von Vergils dichterischer
Technik und Kunst stellt gewiß das monumentale Werk Knauers dar („Heinze's book was
epoch-making in its novelty and largeness of view. Knauer's is a worthy Ergänzung", Hardie
in CR 17 [1967] 161).
84 Vergils Arbeitsweise und die Ausgabe des Varius

verkörperte Einheit von historisch-kritischer Philologie und Sensibilität für


dichterisches Kunstwollen in der Generation nach ihm zerbrochen ist225.
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Zum philologiegeschichtlichen Hintergrund vgl. den erhellenden Beitrag Vogts zur


Rebellion der Generation der Wilamowitzschüler in: W.M. Calder III, H. Flashar, Th.
Lindken (ed.), Wilamowitz nach SO Jahren (Darmstadt 1985) 613ff. Aufschlußreich für das
veränderte Klima ist etwa ein Vergleich der zeitgenössischen Reaktionen (besonders Leos und
Nordens) auf Heinzes Werk, die eben auf Heinzes wachen Verstand in der Interpretation des
Künstlerischen abheben, mit der Klage Pöschls (Die Dichtkunst Virgils: Bild und Symbol in
der Äneis [^Berlin-New York 1977] 5), Heinzes Buch sei zwar „ f ü r s e i n e Zeit
eine hohe Leistung (Sperrung von mir)", verfahre jedoch „immer noch viel zu
rationalistisch".

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