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Emotionen, Behavioral Finance und Animal Spirits:


konventionelle Wirtschaftstheorie oder Chance für
eine kritische Analyse des Finanzmarkts
Brandi, Julius

Veröffentlichungsversion / Published Version


Zeitschriftenartikel / journal article

Zur Verfügung gestellt in Kooperation mit / provided in cooperation with:


Verlag Barbara Budrich

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:


Brandi, J. (2014). Emotionen, Behavioral Finance und Animal Spirits: konventionelle Wirtschaftstheorie oder Chance
für eine kritische Analyse des Finanzmarkts. Soziologiemagazin : publizieren statt archivieren, 7(2), 47-66. https://nbn-
resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-431787

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E M OTI ON EN, B E HA VIO RAL FINANCE & AN I M A L SPIRTITS

Emotionen, Behavioral
Finance und Animal Spirits
Konventionelle W irtschaftstheorie oder Chance für eine
kritische Analyse des Finanzmarktes?

von Julius Brandi

Die Wirtschaftswissenschaften haben zunehmendes Interesse an nicht-ökono­


mischen Motiven gezeigt. B eh av ioral Finance verwendet diese Erkenntnisse,
um die Funktionsweise von Finanzmärkten besser erklären zu können. Aber
auch der Ökonom John Maynard Keynes machte auf die bedeutsame Rolle
von Emotionen für die Praxis der Finanzmärkte aufmerksam. Jedoch lassen
sich Emotionen und wirtschaftliches Handeln theoretisch nicht ohne Weiteres
miteinander verbinden. Über das Verhältnis von Rationalität und Emotionen a

soll aus einer emotionssoziologischen Sicht dargelegt werden, unter welchen r


a
Voraussetzungen diese Integration im Post-Keynesianism us und in der B eh a- t

vioral-Finan ce-T heorie möglich ist. Für eine interdisziplinäre Forschung wird
deutlich, dass dies dem verhaltensorientierten Modell entweder nur m it einer
Reduzierung von Unsicherheit auf technische Problemlösungen gelingen kann
oder durch eine Marginalisierung von sozialen Emotionen als irrationale Phä­
nomene. Diese Beschränkungen lassen sich mit dem Post-Keynesianism us um­
gehen.

Emotionen in den Wirtschafts­ Pixley 2004, vgl. Neckel 2011). Während


wissenschaften - Zwischen Max Weber (1988 [1904]) im Aufkom­
Marktgesetzen und Finanzkrisen men des Kapitalismus die zunehmende
Trennung von Rationalität und irrati­
Dass Emotionen eine soziale Dimension onalen Emotionen erkannte, beschrieb
und ihr Zuhause auch am Finanzmarkt Albert Hirschmann (1980), wie sich der
haben, hat sich nicht erst in der Diskus­ frühe Kapitalismus gerade darum be­
sion über gierige Banker im Zuge der Fi­ mühte, die Leidenschaften in vorteilhafte
nanzkrise der letzten Jahre gezeigt (vgl. und interessengeleitete Bahnen zu lenken

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von Rationalität und Emotionen ist hat, untersucht daher nicht-ökonomische


für den Kapitalismus schon immer Motive anhand von Emotionen und an­
ein bedeutsames, wenngleich in der deren psychologischen sowie soziologi­
Theorie kein eindeutiges gewesen. schen Phänomenen in der Wirtschaft.
Der Begriff der A nim al Spirits geht auf
Fünf Jahre nach dem Ausbruch der Fi­
John Maynard Keynes (2006 [1936]) zu­
nanzkrise wurden im Jahr 2013 zwei
rück, der in diesen einen der wesentlichen
Wirtschaftswissenschaftler mit dem
Antriebe für das Handeln der Akteur_in-
Nobelpreis geehrt, die ein kaum gegen­
nen und die daraus folgenden Auf- und
sätzlicheres Verständnis von der Funkti­
Abwärtsbewgungen der Märkte sieht.
onsweise moderner Finanzmärkte haben
könnten. Eugen Fama (1970), Begründer Die Arbeit ist aber nicht nur in den W irt­
der Effizienzm arkthypothese, versteht den schaftswissenschaften, sondern auch in
Markt als einen effizienten Mechanismus der Soziologie auf Interesse gestoßen und
zur Verarbeitung von Informationen und wurde in dem von Konstanze Senge und
anderen Ressourcen. Rationale W irt­ Rainer Schützeichel (2013) herausgegebe­
schaftssubjekte sorgen durch ihr Handeln nen Band H auptwerke der Em otionssozio­
dafür, dass auf den Finanzmärkten die logie rezensiert. Will man sich die Emo­
Preise der Wertpapiere jederzeit alle rele­ tionssoziologie für eine Beschreibung des
vanten Kursinformationen widerspiegeln. heutigen Finanzmarktes nutzbar machen,
Den Emotionen kommt in diesen Mo­ scheint demnach eine Verbindung von
dellen keine Bedeutung zu. Dagegen hat keynesianischer Wirtschaftstheorie, B e­
der Finanzmarktforscher Robert Shiller havioral Finance und der Emotionssozio­
gezeigt, dass die Märkte regelmäßig in­ logie vielversprechend (vgl. Schluchter
effiziente Ergebnisse hervorbringen und 2013: 35). So teilen sowohl Soziologen
sich anders verhalten, als von der Neo­ als auch Wirtschaftswissenschaftler die
klassik vorhergesehen (vgl. Shiller 1981). Hoffnung, mit Behavioral Finance eine
Theorie gefunden zu haben, die den
Neben dieser empirischen Kritik an der Überschwang der Märkte interdiszipli­
Effizienzm arkthypothese ist Shiller für när zu erklären vermag. Lässt sich diese
seine interdisziplinäre Analyse der W irt­ Hoffnung teilen, wenn man diese Theorie
schaft bekannt. Er versucht, mithilfe und jene von Keynes jeweils auf ihr Emo­
psychologischer Einflussfaktoren wirt­ tionsverständnis in Bezug auf die Ratio­
schaftsrelevante Verhaltensweisen realis­ nalität der Akteur_innen untersucht? Für
tischer zu beschreiben und damit die In­ Keynes‘ Theorie zählt neben den Anim al
effizienz der Märkte zu begründen. Sein Spirits vor allem die Unsicherheit zu den
Werk A nim al Spirits, das er 2009 gemein­ zentralen Handlungsbedingungen des Fi­
sam mit George A. Akerlof veröffentlicht nanzmarktes, wohingegen die Behavioral-

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F inance-T heorie m it irrationalen Em o­ tet. Der Emotionssoziologe Jack Barbalet


tionen und ambivalenten Situationen (2001) hat dazu passend in Emotion, So­
lediglich vorübergehende Krisenphäno­ cial Theory, and Social Structure drei ty­
mene beschreibt. Damit verschließt sie pische Ansätze, welche Emotionen, Rati­
sich gegenüber einer Kritik an der Neo­ onalität und die Handlungsbedingungen
klassik, die eine der Akteur_innen
grundlegende in der Praxis ins
soziale Konstitu­ „Die Erforschung des Sozi­ Verhältnis zuei­
tion der Märkte alen ist eine Untersuchung n an der setzen,
anerkennt, weil des Irrationalen, während identifiziert: Der
sie Emotionen die Wirtschaftswissenschaf­ konventi onel l e,
nur als kurz- bis der kritische und
ten die Aufgabe haben, die
mittelfristige der radikale An­
und irrationale
Gesetzmäßigkeiten der Ra­ satz. Diese sollen
Abweichungen tionalität zu ergründen.“ im folgenden Ka­
eines ansonsten pitel vorgestellt
effizienten Marktmechanismus interpre­ werden, um dann im dritten Abschnitt
tiert. Implizit wird damit eine Trennung das Verhältnis von Emotionen und Ra­
von Soziologie und Wirtschaftswissen­ tionalität in der Behavioral Finance be­
schaften mitvollzogen. Die Erforschung ziehungsweise bei Keynes und dem Post­
des Sozialen ist eine Untersuchung des Keynesianismus näher zu beleuchten.
Irrationalen, während die W irtschafts­ Mit diesem Vergleich sollen die beiden
wissenschaften die Aufgabe haben, die Theorien auf ihre Anschlussfähigkeit zur
Gesetzmäßigkeiten der Rationalität zu Emotionssoziologie geprüft werden.
ergründen. Die keynesianische Revolu­
tion hat an einem gesetzmäßigen Ver­ Irrational, funktional oder von
ständnis der W irtschaft Anstoß genom­ der Situation ergriffen?
men und hinterfragt die Annahmen der Emotionen in der Soziologie
Neoklassik, welche die Funktionalität Ein Blick auf das unruhige Treiben des
ökonomischer Marktgesetze gewährleis­ Börsenparketts verrät, wie sehr das Auf
ten sollen. In der Wirtschaftssoziologie und Ab der Märkte die Akteur_innen
hat hierzu analog Jens Beckert (1996) unter Strom zu setzen vermag. Im ­
die Frage gestellt, was denn an einer mer dann, wenn sich die Preise auf den
W irtschaftssoziologie soziologisch sei, Märkten in unvorhergesehene Richtun­
die sich als Erforschung des Irrationalen gen entwickeln und dem Finanzmarkt in
versteht und nicht zuerst die Handlungs­ den Medien besondere Aufmerksamkeit
bedingungen der Akteur_innen beach­ geschenkt wird, sieht man, wie sich Ak­

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teure über neue Rekordmarken freuen werkschaften in England kann durch die
oder verzweifelt auf ihre Monitore bli­ Angst vor sozialem Wandel beschrieben
cken. Dass Emotionen in solchen Aus­ werden (vgl. Barbalet 2001). Zudem fin­
nahmesituationen als Symbole für den det man Emotionen in erlernten Reakti­
Stand der Märkte herhalten, wirft die onsformen sozialer Rollenerwartungen
Frage auf, wie es denn um die empfun­ wieder. In der Dienstleistungsbranche
denen Emotionen wird etwa von den
der Akteure bestellt Akteur_innen ver­
ist. Denn gemein­
„Wie und in welchem langt, freundliche
hin gilt in der öko­ Verhältnis ist die Emoti­ und andere Gefühle
nomischen Theorie onalität in Bezug auf die zu vermitteln, um
der Finanzmarkt als Rationalität der Markt- den Rollenerwar­
der Prototyp eines teilnehmer_innen zu tungen des Berufs
effizienten Marktes, zu entsprechen. Zu­
denken?“
indem stets die Ra­ dem sind Gefühle
tionalität regiert und m it den sinnhaften
Emotionen keinen Platz finden. In der Deutungen der sozialen W irklichkeit
Soziologie wird versucht, die Bedeutung verwoben. Gleichzeitig haben sie eine
und Bedingungen der Emotionen von körperliche Seite, in der die affekthaf­
Akteur_innen zu beschreiben. Wie kann te und die leibliche Gebundenheit der
man den Emotionen der Finanzmarktak- Gefühle betont wird. Gerade die Kom­
teur_innen auf diesem Weg näher kom ­ bination von einem strukturalistischen,
men? konstruktivistischen und phänomeno­
Emotionen lassen sich entlang unter­ logischen Zugang macht aber das Po­
schiedlicher sozialer Dimensionen erfas­ tenzial von Emotionen aus. So erzeugt
sen In der Emotionssoziologie sind sie die makrosoziale Strukturbildung im ­
sowohl als Resultat von sozialstrukturel­ mer schon Kontexte, in denen wieder­
len Konstellationen als auch als Voraus­ kehrende Gefühle entstehen können.
setzung eben dieser beschrieben worden. Diese finden ihre soziale Ausgestaltung
Aus Status- und Machtgefügen ergeben und Konstitution in den Normen, Kon­
sich Emotionen, die aber auch wieder ventionen und Rollenerwartungen der
auf die soziale Ordnung zurückwirken Akteur_innen. Mit der erwartungskon­
können. Beispielsweise zeigt die Arbeits­ formen Darstellung von Emotionen ist
losenforschung, wie sich ein Statuswech­ aber nur eine oberflächliche Zurschau­
sel auf das Empfinden von Arbeitslosen stellung strategischer Selbstinszenierung
auswirken kann. Aber auch institutionel­ beschrieben, die sich von den tatsächlich
ler Wandel wie das Au&ommen der Ge­ empfundenen und leiblich vermittelten

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Gefühlen abheben kann. Diese stellen je ­ m it lässt sich die Frage nach der sozia­
doch keineswegs natürliche Phänomene len Einbettung von Finanzmärkten auch
dar, sondern sind auch immer schon aus anders formulieren: Wie und in welchem
ihrer sozialen Konstitution zu verstehen Verhältnis ist die Emotionalität in Bezug
(vgl. Neckel 2006: 128-132). auf die Rationalität der Marktteilneh-
Obwohl die Strukturalist_innen oder mer_innen zu denken? Was ist emotio­
auch Phänomenolog_innen ebenfalls nal an der Rationalität der Finanzmärk­
auf die körperliche bzw. leibliche Ge­ te? Barbalets Kategorisierung greift die
bundenheit von Emotionen aufmerksam unterschiedlichen Interpretationen von
machen, ist ihr Emotionsverständnis Emotionen auf, um eine grundlegende
von einer behavioristischen Deutung Einteilung von Rationalität und Em otio­
von Gefühlen zu unterscheiden. Die nen zu erarbeiten. Entlang der drei fol­
verhaltensorientierten Ansätze leiten genden Ansätze versucht er, Emotionen,
Emotionen aus strukturellen Status- und Rationalität und unterschiedliche Hand­
Machtkonstellationen direkt ab. Aus lungsbedingungen aufeinander zu bezie­
spezifischen sozialen Ereignissen folgen hen. Das Vorgehen scheint generell dafür
dann jeweils bestimmte physiologische geeignet zu sein, die unterschiedlichen
und natürliche Reaktionen. Problema­ emotionssoziologischen Ausprägungen
tisch ist dieses Verständnis von Em o­ zu erfassen, auch wenn die kritische
tionen, weil es die kognitive Seite und Abhandlung dieser Ansätze eine Bevor­
den rationalen Gehalt von Emotionen zugung des rad ikalen Ansatzes nahelegt.
vernachlässigt. Sind es doch gerade Ge­ Jedoch hat die Verwendung dieser Ein­
fühle, die entgegen von Instinkten starre teilung, unabhängig davon welcher An­
Reiz-Reaktionsmuster entkoppeln, ein satz bevorzugt wird, Anerkennung er­
reflexartiges Verhalten verhindern und fahren, sodass es sich lohnt, dieser weiter
Reflexivität ermöglichen (vgl. Scherer zu folgen (vgl. Scherke 2009: 17 -27 ; vgl.
1994; vgl. Neckel 2006: 130). von Scheve 2009: 181ff.)
Das Bild des emotionalen Ritts auf dem
Börsenthermometer gewinnt unter B e­ Natürliche Gefühle und rationale
rücksichtigung der Emotionssoziologie Handlungen - ein konventionel­
eine neue Perspektive. Wenn Em otio­ ler Gegensatz
nen nicht nur Symbol, sondern auch ein „Der Markt hat immer Recht!“ D ie­
aktiver Teil der Handlungen und Hand­ se Binsenweisheit der Märkte, welche
lungsbedingung sind und damit auch auch auf der Effizienzmarkthypothese
soziale Phänomene, dann werden sie beruht, muss nach falschen Entschei­
nicht die Konstitution und Entwicklung dungen schon einige Investor_innen
der Finanzmärkte unberührt lassen. So­ m it einem unguten Gefühl der eigenen

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„Im kritischen Ansatz wird daher die Funktionalität von


Em otionen bei beschränkten H andlungsm öglichkeiten
betont. Barbalet sieht diesen Ansatz als typisch für neu­
ere Beschreibungen von Em otionen an, wie sie sich in
den Neurow issenschaften (vgl. D am asio 1994) oder der
Ökonom ie (vgl. Kahnem an 2003) wiederfinden.“

Irrationalität zurückgelassen haben. Die rationalen Wahrheit der Entscheidungs­


freudige Erwartung steigender Preise situation zu tun haben. Dieses Bild von
einer hinterher vom Markt als wertlos Emotionen versucht Barbalet durch eine
eingeschätzten Aktie wirkt rückblickend Analyse von Webers Texten zum Kapi­
wie ein Betrug durch die eigenen Em oti­ talismus aufzulösen. Dem nach sind für
onen. Hätte man doch nur seine Em oti­ Weber Handlungen, die man als rational
onen unter Kontrolle gehabt, dann wäre bezeichnet, das Ergebnis des menschli­
eine rationale Analyse möglich gewesen, chen Bewusstseins. Daher ist die Kultur
die das tatsächliche Verlustpotenzial des - ein Produkt eben dieses menschli­
Wertpapiers erkannt hätte. Emotionen chen Bewusstseins und nicht das einer
mögen in solchen Situationen wie eine natürlichen Entwicklung - der Ort der
natürliche Kraft wirken, die einem/r Ak- Rationalität. Jede Beeinflussung dieser
teur_in widerfährt und nichts m it der Bewusstseinsvorgänge wird von Weber
sonstigen Rationalität zu tun hat. Dieses als externe Einschränkung verstanden.
Verständnis von Emotionen und Ratio­ Emotionen werden so als natürliche Phä­
nalität ist von Barbalet als konventionel­ nomene interpretiert. Als solche haben
ler Ansatz beschrieben worden. sie irrationale Handlungen zur Folge.
Der Ansatz versteht Emotionen als hin­ Dagegen zeigt Barbalet anhand Webers
derlich für die Rationalität der Akteur_ These, wonach der neue Geist des Kapi­
innen. Die Emotionen sind außerhalb talismus die Emotionen verdrängt hätte,
der Rationalität anzusiedeln. Sofern sie dass sich die Zügelung der Emotionen
nicht von einer vernunftgeleiteten Hand­ nur durch den gleichzeitigen religiösen
lung getrennt werden können, wirken Eifer und Hass gegenüber der Sünde ver­
sie also störend auf die Rationalität der stehen lässt. Die Emotionen der Akteur_
Akteur_innen. Emotionen lenken ab, so- innen sind somit die Voraussetzung für
dass wichtige Informationen unberück­ die Bildung von Motiven und damit kei­
sichtigt bleiben. Oder die Gefühle lassen neswegs eine zu vernachlässigende Rest­
Neigungen entstehen, die nichts m it der kategorie (vgl. Barbalet 2001: 3 3 -3 8 ).

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Der Betrug durch die eigenen Em otio­ geschichten über Menschen, die infolge
nen wiegt damit nicht mehr so schwer. von Unfällen, Operationen und Krank­
Wenn nun ohne die motivierende Kraft heiten an Gefühlsarmut und Schwierig­
der Emotionen Erwartungen erst gar keiten im täglichen Handeln litten, hat
nicht auf angemessene Art und Weise er die Rolle von Emotionen für soziales
gebildet werden können, dann müssen Verhalten und die Entscheidungsfindung
Emotionen auch ihre Berücksichtigung in ein neues Licht gerückt. Maßgeblich
am Finanzmarkt finden. Man muss also für seine Analyse von Emotionen im
m it ihnen leben, weil Entscheidungen täglichen Leben sind die neurologischen
sonst nicht durchführbar wären und da­ Aktivitäten im Gehirn der Patient_innen
m it die Preisfindung nicht funktionieren in Verbindung mit den erklärenden Ge­
würde. sprächen der Angehörigen und den Pa-
Im kritischen Ansatz wird daher die tient_innen selbst. Dies erleichtert nicht
Funktionalität von Emotionen bei be­ nur den Zugang zu den neurologischen
schränkten Handlungsmöglichkeiten Vorgängen und Erkenntnissen, sondern
betont. Barbalet sieht diesen Ansatz als erlaubt zudem einen Einblick in die Fol­
typisch für neuere Beschreibungen von gen für das gesellschaftliche Leben der
Emotionen an, wie sie sich in den Neuro- Patient_innen und den sozialen Kontext
wissenschaften (vgl. Damasio 1994) oder von Emotionen aus der Perspektive der
der Ökonomie (vgl. Kahneman 2003) Neurowissenschaften.
wiederfinden. Nach diesem Ansatz prä­
sentiert sich die Umwelt als eine kom ­ Emotionen zwischen sozialer
plexe, schwer zu interpretierende Umge­ Wirklichkeit, Funktionalität und
bung, in der Menschen ihr Wissen und irrationalem Verhalten
ihre Entscheidungen nicht ohne Em o­ Einem Patienten, den Damasio unter
tionen treffen können. Entscheidungs­ dem Pseudonym „Elliot“ vorstellt, wur­
situationen, wie man sie zum Beispiel de infolge einer Krebserkrankung ein
auf dem Finanzmarkt vorfindet, bieten Teil seines vorderen Gehirns entfernt.
unzählige Reaktionsmöglichkeiten mit In Untersuchungen nach der Operati­
scheinbar ebenso vielen und zum Teil on wurde Elliot ein sehr guter Gesund­
verästelten Konsequenzen. Emotionen heitszustand attestiert. In Intelligenztests
können diese Probleme abfangen, indem zeigte er normale, zum Teil auch über­
sie Ziele und Präferenzen in den Ent­ durchschnittliche Ergebnisse und auch
scheidungen entstehen lassen, gewichten Elliots Wahrnehmung, Gedächtnisleis­
oder vernachlässigen. Der Neurobiologe tung oder Sprachfähigkeit waren nicht in
Antonio Damasio (1994) befasst sich mit Mitleidenschaft gezogen worden. Auffäl­
diesem Ansatz. In einer Reihe von Fall­ lig war dagegen eine Abschwächung des

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Gefühlslebens von Elliot. Der ehemals es ihm schwer, Ziele bei der Entschei­
fürsorgende Ehemann und erfolgreiche dungsfindung im Auge zu behalten. All
Geschäftsmann verlor jegliches Verant­ dies führt Damasio auf die Gefühls-
wortungsgefühl, die Fähigkeit zu planen losigkeit von Elliot zurück. Elliot war
und angemessen auf seine Umwelt zu re­ nicht nur anderen gegenüber emotional
agieren. Er verbrachte ganze Tage damit, zurückhaltend, sondern auch in Erzäh­
Akten abzulegen und sich das geeignete lungen über seine Lebensgeschichte
Ordnungsprinzip zu überlegen oder ver­ vollkommen gefühllos und distanziert.
tiefte sich ganz und gar in die Lektüre Dabei unterdrückte er keine Formen des
einzelner Papiere. Durch seine emotio­ Anstands einer emotionalen Zurück­
nale Distanz und seine unvernünftigen haltung und Angemessenheit. Vielmehr
Entscheidungen verlor er ein um das an­ berührten ihn diese Erzählungen nicht.
dere Mal seinen Job und wurde geschie­ Man könnte den Zustand von Elliot als
den. Bemerkenswert ist, dass sich Elliot „Wissen ohne zu fühlen“ (vgl. Damasio
in Gesprächen seines Fehlverhaltens 1994: 78) umschreiben. Auf der Grund­
und des Missachtens von Konventionen lage dieser Befunde stellt Damasio meh­
bewusst war bzw. dass er moralische rere Hypothesen auf. Es gebe demnach
Werte und soziale Konventionen kann­ im Gehirn bestimmte Regionen, die für
te. Trotzdem war er in der Praxis nicht Gefühlsreaktionen zuständig seien und
in der Lage, angemessene rationale Ent­ gleichzeitig gespeichertes Wissen in den
scheidungen zu treffen. In Experimenten passenden Situationen abrufen würden.
gelang es ihm, Handlungsstrategien für Diese Gehirnregionen seien im Wesent­
finanzielle und für zum Teil moralisch lichen dafür verantwortlich, dass in der
schwierige Handlungsoptionen zu ent­ Praxis vernünftige Entscheidungen ge­
werfen. Sein Wissen und sein logisches troffen werden können. Ein Wechselspiel
Denken waren also nicht beeinträchtigt. von Kognition und Gefühlen sorgt da­
In der Praxis und in einer komplexen, für, dass Menschen Informationen und
ungeordneten und durch soziale Inter­ ihr Wissen ordnen, um angemessen und
aktionen bestimmten Umwelt war es ihm vernünftig auf die jeweiligen Entschei­
dagegen nicht möglich, in angemessener dungssituationen zu reagieren.
Zeit eine der für ihn unzähligen Hand­
lungsalternativen zu wählen. In den Bei­ Dies gilt jedoch nicht für technische
spielen aus den Experimenten musste Problemstellungen, welche - wie in den
Elliot die Problemstellung durchdenken, Experimentsituationen - schon immer
aber letztlich keine Entscheidungen mit eindeutige und objektive Lösungen be­
realen Konsequenzen in angemessener reithalten. Hier besteht die Gefahr, dass
Zeit treffen. In der Realität dagegen fiel Gefühle irrationale Abweichung hervor­

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rufen, weil sie emotionale Neigungen konkurrierenden Bedeutungssystemen


gegen objektive Fakten entstehen lassen. Tatsachen geschaffen werden (vgl. ebd.:
Diese Unterscheidung gelingt im kriti­ 39-45).
schen Ansatz durch die Trennung von
primären und sekundären Emotionen. Die gefü h lte U n s ic h e r h e it der
Sekundäre Emotionen lassen sich durch P ra xis - d e r r a d ik a le A n s a t z
Erfahrungen modifiziert und haben so­ Für den schlauen Investor entsteht nun
mit eine soziale Dimension. Die primä­ ein Dilemma: In einigen Situationen
ren Emotionen werden als angeborene kann er sich auf seine Emotionen ver­
Reaktionsformen interpretiert. Die Un­ lassen, während er sie in anderen Situa­
terscheidung von spezifischen Emotio­ tionen zugunsten einer objektiven, tech­
nen nach primären oder sekundären ist nischen und langfristigen Orientierung
aber weder in der Theorie noch Empirie ignorieren sollte. Es herrscht emotionale
unstrittig. Beispielsweise gilt die Furcht Unsicherheit über das Verhältnis von
als eine Basisemotion, wenngleich sich Rationalität und Emotionen.
Menschen auch vor dem Klimawan­ Während der kritische Ansatz Emoti­
del oder Finanzkrisen fürchten. Dieses onen als der Rationalität vorgelagerte
Modell funktionaler Vermittlung von Prozesse interpretiert, sieht dagegen Bar-
Normen und subjektiver Handlungs­ balet in William James‘ (1897) Beschrei­
orientierung nimmt daher an, dass sich bung von Gefühlen der Rationalität eine
prinzipiell ein konfliktfreies System von Möglichkeit, diese als kontinuierliche
Rationalitätskriterien finden lässt. Bar- Phänomene darzustellen. Das Emotions­
balet betont aber, dass eine Trennung verständnis des radikalen Ansatzes folgt
von natürlichen und sozialen Emotionen damit nicht der üblichen Interpretati­
wenig sinnvoll und die Beschreibung on von James‘ Texten (insbesondere in
von Entscheidungen in sozialen Situatio­ den Neurowissenschaften, vgl. Damasio
nen als kalkulierend nur schwer vorstell­ 1994), welche die Priorität von Emotio­
bar ist: nen gegenüber der Kognition betonen.
„[The] supposition that rational calcu­ Dagegen beschreibt Barbalet mit James
lation would be an inordinately lengthy eine Art von Rationalität, die jedes Han­
procedure must be replaced with the deln der Akteur_innen immer schon
proposition that rational calculation is in als durch Emotionen begleitet ansieht.
fact not possible for most social and in­ Nur ein praktisches Vertrauen, welches
teractive situations.“ (Barbalet 2001: 42) es erlaubt, in unsicheren Situationen zu
Emotionen reduzieren demnach nicht handeln, kann eine rationale Handlung
nur die Komplexität, sondern sind selbst ermöglichen. Erst wenn handlungsver­
erst die Voraussetzung dafür, dass aus hindernden Emotionen, wie der Angst,

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handlungsleitendes Vertrauen begegnet, tionen und Rationalität könnte eine


kann die Unsicherheit der Entscheidungs­ Einschätzung über das Potenzial inter­
situation überwunden werden: disziplinärer Theoriebildung ermög­
„The role of emotion in practical rati­ lichen. Die orthodoxe Effizienzmarkt­
onality [...] is to permit action which hypothese sieht im Finanzmarkt den
would be inhibited if it were to rely on Prototypen eines rationalen Marktes und
logic or calculation alone. The emotional folgt dem konventionellen Ansatz. Aus
contribution to rationality is to provide dem historisch gewachsenen Selbstver­
a feeling of certainty concerning the fu­ ständnis der Wirtschaftswissenschaften
ture, which is necessary if action is to oc­ als eine quasi-objektive Naturwissen­
cur and the actor to proceed.“ (Barbalet schaft ergibt sich, dass es sich bei Stö­
2001: 49) rungen der Rationalität stets um exogene
Faktoren oder die Unvollkommenheiten
Nicht nur die Rationalität, die sich durch eines unfreien Marktes handelt. Emotio­
das Wissen über Erfahrungsgegenstände nen selbst haben daher keine Bedeutung
definiert, ist relevant für die soziale Pra­ am Markt. Entweder sind sie Teil ratio­
xis, sondern auch die Fähigkeit, wie öko­ naler Entscheidungen und haben daher
nomische Praktiken unter ambivalenten keinen Erklärungsgehalt oder sie treten
Bedingungen erst möglich werden. Man als unsystematischer Faktor auf. Doch
könnte Emotionen auch als rational be­ wie verhält es sich mit der Theorie von
zeichnen (vgl. ebd.: 45-54). Keynes und Behavioral Finance?
Beachtet man also die Bedingungen un­
ter denen Finanzmarktakteur_innen ihre Em o tio nen in der B e h a v io r a l -
Entscheidungen treffen, dann dürfte die F in a n c e - T h e o r ie - ein u n g e k l ä r ­
bedeutsame Rolle von Emotionen für die t e s V e r h ä ltn is
Praxis der Märkte klar werden. Zudem Um die Behavioral-Finance-Theorie in­
rücken soziale Beziehungen, Macht­ nerhalb der drei unterschiedlichen An­
strukturen, Kultur, Normen und Institu­ sätze zu verorten, muss ihre Methodik
tionen in den Blickpunkt einer Analyse genauer untersucht werden. Ausgangs­
der Finanzmärkte. Wie werden aber die punkt für Behavioral Economics wie auch
Handlungssituationen in der Theorie der Behavioral Finance ist das Modell rationa­
Finanzmärkte beschrieben, sodass sich ler Entscheidungsfindung der neoklassi­
daraus etwas über das Verhältnis von Ra­ schen Theorie:
tionalität und Emotionalität sagen ließe? „Theories in behavioural economics have
Eine Einteilung von wirtschaftswissen­ generally retained the basic architecture
schaftlicher Theorie entlang der unter­ of the rational model, adding assump­
schiedlichen Konzeptionen von Emo­ tions about cognitive limitations desig-

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ned to account for specific anomalies.“ Entscheidungen als irrational oder bes­
(Kahneman 2003: 41) Dies bedeutet, tenfalls exogene Störungen zu verste­
dass der Referenzmaßstab jeder Ent­ hen. Folglich müssen auch Emotionen,
scheidung zunächst das Rationalitäts­ die ein solches Verhalten begründen, als
modell der zu kritisierenden Theorie irrationale und externe Faktoren einge­
bleibt, sodass stets impliziert wird, man stuft werden. Behavioral Finance stellt
könne sich gemäß den Annahmen dieses demnach eine Systematisierung von ir­
Modells entscheiden. Normative Gel­ rationalen Verhaltensmustern bereit,
tung hat die Vorstellung eines gleichge­ die den Markt als natürliche Störungen
wichtigen Marktes, der stabile, eindeuti­ irritieren. Die Emotionen tragen nichts
ge und zeitlos vorhersagbare Ergebnisse zum Marktgeschehen selbst bei, außer
ermöglicht. Dies sind die Annahmen, dass sie vorübergehend die Preise gegen­
aus denen sich durch die Beobachtun­ über den normalen Werten verzerren.
gen verhaltenswissenschaftlicher Expe­ Jedoch lassen sich in der Behavioral-
rimente systematische Abweichungen Finance-Theorie auch Ansätze finden,
von der Norm finden lassen. Die Ent­ die die funktionale Rolle von Emotio­
scheidungssituation des Experimentes nen ernst nehmen. Sie sind dem kriti­
hat dabei genügend Ähnlichkeit mit dem schen Ansatz zuzuordnen. Indem sie auf
Modell eines rationalen Marktes, sodass die Bedeutung von Emotionen für eine
man die Abweichungen im Analogie­ schnelle und einfache Entscheidungsfin­
schluss auf den Finanzmarkt übertragen dung hinweisen, erkennen sie die Kom­
kann. Dies soll zum einen eine realisti­ plexität der Wirklichkeit an (vgl. Kahne­
schere Beschreibung des Verhaltens der man 2003). Gerade auf dem Finanzmarkt
Akteur_innen ermöglichen, da sich in verlassen sich viele Akteur_innen immer
den Experimenten zeigt, dass regelmäßig wieder auf Heuristiken oder andere in­
die Axiome der Entscheidungstheorie tuitive und emotionale Einschätzungen
verletzt werden. Zum anderen sollen die um Entscheidungen zu treffen. Eine
Erkenntnisse ermöglichen, Anomalien Folge dieser Vorgehensweise ist, dass
in Form von beispielsweise Preisblasen sowohl Finanzmarktprofis als auch die
zu erkennen. Legt man dieses Verständ­ Forschung eine zusätzliche Professiona-
nis zugrunde, dann muss Behavioral Fi­ lisierung erfahren. Zudem erhält die Po­
nance zum konventionellen Ansatz von litik den Auftrag, diesen Verhaltensano­
Emotionen und Rationalität gezählt wer­ malien mit einer geeigneten Regulierung
den. Unter der Annahme einer immer zu begegnen (vgl. Thaler/Sunstein 2009
möglichen und problemlosen, rationalen oder siehe das vom Bundeskanzleramt
Entscheidung im Sinne der Effizienz­ ins Leben gerufene Projekt wirksam re­
markthypothese sind alle abweichenden gieren). Während also Gefühle für tech-

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nische Problemlösungen hinderlich sein gelingt dies nur bedingt:


können, berücksichtigen professionelle „Einerseits soll [...] das Argument ge­
Finanzmarktteilnehmer_innen, Verhal- führt werden, dass auch die Wirtschaft
tensforscher_innen oder Finanzmarkt- in ihrem Innersten von normativen,
regulierer_innen die Emotionen auf ad­ kulturell wohlverankerten Codes, die
äquate Art und Weise, sodass rationale sich in Gestalt von Rollenerwartungen
Entscheidungen möglich und damit ein zu erkennen geben, durchherrscht ist
Marktgleichgewicht langfristig als realis­ und konstituiert wird [...]. Andererseits
tisch angesehen wird. Um die systema­ aber scheitert dieses Argument in auf­
tische Irrationalität zu erfassen, braucht fälliger, und von den Autoren [Parsons
es nur bessere Anreizmodelle, die die und Smelser; A.d.V.] selbst eingestan­
Optimierungspotentiale der Märkte aus­ dener, Weise an der Investitionsfunktion
schöpfen. Damit ist beiden Interpreta­ im Wirtschaftssystem“ (Langenohl 2013:
tionen der Behavioral-Finance-Theorie, 332; Hervorhebung im Original).
konventioneller und kritischer Lesart, Demnach sind Investoren nicht nur
gemein, dass sie letztlich von der Mög­ schwer mit kulturellen Werten und nor­
lichkeit eines gleichgewichtigen und mativen Erwartungen des Gemeinwe­
eindeutigen Marktergebnisses ausgehen, sens in Einklang zu bringen, sondern
auf dem sich durch Lösung technischer ihre Rolle scheint sich auch gerade durch
Probleme handeln lässt. Ein ähnliches die unstrukturierte Handlungssituation
Vorgehen findet sich, so Andreas Lan­ auszuzeichnen. Das Problem unzurei­
genohl (2013), bei Talcott Parsons‘ und chender normativer Strukturierung löst
Neil Smelsers‘ Versuch, die Investiti­ Parsons, indem er den Investor durch
onsfunktion als Teil einer Wirtschaft zu irrationale Handlungen und Wertemp­
beschreiben, die sich auf kulturelle Wer­ findungen bestimmt sieht. Der Mangel
te und normative Erwartungen stützt. an normativer Stabilität führt zu emoti­
Gemäß dem AGIL-Modell muss jede onalen Abweichungen und irrationalem
Gesellschaft vier Funktionen erfüllen, Verhalten durch die Investoren. Andreas
welche er in der Differenzierung von Langenohl (ebd.: 333) sieht in Parsons
Ökonomie (Anpassungsfunktion), Politik daher einen Vorläufer der Behavioral-
(Zielfunktion), Gemeinwesen (Integrati­ Finance-Theorie . Diesem hält er entge­
onsfunktion) und Kultur (Latenzfunkti­ gen, dass das Handeln am Finanzmarkt
on ) erkennt. gerade als „[...] Außerkraftsetzung von
Diese Systeme sind anders als in der an Normen orientiertem Handeln [. ]“
Luhmann‘schen Systemtheorie aneinan­ (ebd.: 340; Hervorhebung im Original)
der gekoppelt, sodass die Wirtschaft auf zu beschreiben sei und auf eigene Wei­
andere Subsysteme Bezug nimmt. Jedoch se sozial bedingt ist. Dies müsste dann

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„Damit ist beiden Interpretationen der Behavioral-


Finance-Theorie, konventioneller und kritischer Lesart,
gemein, dass sie letztlich von der Möglichkeit eines gleich
gewichtigen und eindeutigen Marktergebnisses ausgehen,
auf dem sich durch Lösung technischer
Probleme handeln lässt.“
auch Konsequenzen für die Behavioral- wirksame Wertbildung demnach in der
Finance-Theorie haben, da sie von der Realwirtschaft statt. Geld und der Fi­
langfristigen Gültigkeit des Marktme­ nanzmarkt haben die Funktion, diesen
chanismus als stabiler Norm ausgeht. Prozess adäquat abzubilden, damit das
Wie problematisch das Vorgehen der Geld auch dahin fließt, wo die Wertbil­
Wirtschaftswissenschaften ist, zeigt sich dung entsteht. Dies wird durch die Ra­
aber schon in einer Gegenüberstellung tionalität der Akteur_innen ermöglicht.
von Behavioral Finance als Krisentheorie Wenn am Finanzmarkt die Bedingungen
und der gleichzeitigen Beibehaltung der einer freien, rationalen Entscheidungs­
neoklassischen Rationalität als Normal­ findung erfüllt werden, kann man also
zustand. davon ausgehen, dass die Wertpapiere
alle relevanten Informationen über die
B e h avio ral Finance zw isch en Re­ Wertbildung auch korrekt wiedergeben.
alism u s un d M a rk tgläu b igk eit Der Finanzmarkt erfüllt seine Informati­
Die neoklassische Theorie versucht die onsfunktion und ist der Ort der Rationa­
Optimalität von Marktergebnissen zu lität. Das heißt, dass die fundamentalen
begründen, indem sie immer schon an­ Werte der Realwirtschaft, welche den
nimmt, dass ein Marktergebnis optimal Preisen an den Finanzmärkten zugrunde
sein muss. Sofern sich Behavioral Fi­ liegen, durch eine technische Problemlö­
nance der Norm neoklassischer Theorie sung korrekt bewertet werden. Um aber
bedient, gerät sie in Schwierigkeiten, überhaupt die Bedingungen, welche eine
wenn man den Blick über den Finanz­ technische Problemlösung erlauben, zu
markt hinaus wagt. verwirklichen, dürfen die Einschätzun­
So reproduziert der Verweis auf lang­ gen der Akteur_innen am Finanzmarkt
fristige Stabilität der Märkte auch die keinen Einfluss auf die Stabilität der
klassische Unterscheidung von Real- Realwirtschaft haben. Wenn dies aber
und Finanzwirtschaft. In der klassischen durch die Rationalität der Akteur_innen
und neoklassischen Theorie findet die erst garantiert ist, dann stellt die Kritik

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der Behavioral-Finance-Theorie nicht von den Akteur_innen hervorgebrach­


nur die kurz- bis mittelfristige Effizienz ten Konventionen, den Bedingungen
der Märkte infrage, sondern auch die und Resultaten sozialer Interaktion und
von ihr benötigte eindeutige Norm der der Dynamik praktischen Vertrauens.
langfristigen Wirksamkeit des Markt­ Es stehen nicht technische Problemlö­
mechanismus. Das Problem lässt sich sungen in Form quantitativer Risiko­
auch anders formulieren: Die rationale modelle im Mittelpunkt seiner Analyse.
Binsenweisheit „Der Markt hat immer Das rechnerische Risiko als Handlungs­
Recht!“ gilt nicht mehr ultimativ. Wenn bedingung ist demnach die Ausnahme
überhaupt hat sie nur noch in der lan­ und als Sonderfall von der fundamenta­
gen Frist Gültigkeit. Wann diese lange len Unsicherheit zu unterscheiden. Die
Frist aber eintritt, kann man nur erken­ Handlungsfähigkeit der Akteur_innen
nen, wenn alle Akteure rational handeln unter Unsicherheit Investitionen zu tä­
und systematisch irrationales Verhalten tigen und so den Wirtschaftskreislauf
ausgeschlossen ist. Entweder sind also im Gang zu halten, kann nur berück­
Emotionen nicht systematisch irrational sichtigt werden, wenn man von einer
im Sinne der Neoklassik - was aber die Marginalisierung von ambivalenten
Behavioral-Finance-Experimente wider­ Entscheidungen als ein vorübergehen­
legen - oder der Markt ist nicht optimal des Informationsproblem absieht. Erst
im Sinne der neoklassichen Rationali­ die Anerkennung von Unsicherheit und
tätsannahmen. Behavioral Finance ist der damit verbundenen Gefahr eines Zu­
selbst sammenbruchs von Konventionen und
„,weder Fisch noch Fleisch‘: Kernan­ handlungsleitenden Erwartungen macht
nahmen der Markteffizienzthese werden die Bedeutung von Emotionen für die
angegriffen, jedoch als Referenzmaßstab Akteur_innen aus.
herangezogen, ohne dass das Zustande­
kommen der Preise in ein eigenständiges Die B e d e u t u n g v o n A n im a l Spirits
Theoriegebäude eingebettet wird, das E m o t i o n e n a ls Teil e i n e r u n s i c h e ­
ein alternatives aber rationales Entschei­ ren Praxis
dungskalkül und eine dazu passende In diesem Kontext müssen auch für
Gleichgewichtsvorstellung spezifiziert“ Keynes Emotionen eine ganz andere
(Cymbalista 1998: 111). Rolle spielen, als nur irrationale Ab­
John Maynard Keynes ist dagegen nicht weichungen zu sein. Das folgende Zitat
davon überzeugt, dass sich Märkte allein von ihm verdeutlicht analog zur radika­
durch Risikomodelle und Gleichgewich­ len Beschreibung von Emotionen, dass
te beschreiben lassen. Vielmehr basiert Keynes die Rolle von Unsicherheit und
die Praxis des Finanzmarktes auf den Emotionen als kontinuierliche Hand-

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lungsvoraussetzungen anerkennt und von Risikomodellen zu treffen, betont


zudem hieraus keine zusätzliche Profes- Keynes immer wieder die Bedeutung
sionalisierung der Finanzbranche ablei­ des Wandels, der Ambivalenz und Un­
tet: sicherheit. Auch wenn sich die Ak-
„The practice of calmness and immobi­ teur_innen nach den Bedingungen und
lity, of certainty and security, suddenly Methoden von rationalen Risikomodel­
breaks down. New fears and hopes will, len entscheiden würden, so ist durch die
without warning, take charge of human Behavioral-Finance-Theorie deutlich
conduct. The forces of disillusion may geworden, dass dies keinesfalls für alle
suddenly impose a new conventional Marktteilnehmer_innen gilt. Auch hier
basis of valuation. All these pretty, poli­ hat Keynes schon auf die neu entstehen­
te techniques, made for a well-panelled den Kontingenzen hingewiesen. Erschei­
board room and a nicely regulated mar­ nen die Fundamentalwerte der Realwirt­
ket, are liable to collapse. At all times the schaft nicht mehr als Richtschnur für
vague panic fears and equally vague and die Entscheidungen der Akteur_innen,
unreasoned hopes are not really lulled, dann müssen sie das Verhalten anderer
and lie but a little way below the surface.“ Marktteilnehmer_innen beobachten,
(Keynes 1973 [1937]: 114f.) antizipieren, vorwegnehmen und dann
Keynes reduziert die Handlungen und außer Kraft setzen, um Preisentwicklun­
Entscheidungen der Akteur_innen nicht gen auszunutzen. Die Rationalität aller
auf eine technische Problemlösung, son­ Marktteilnehmer ist nicht mehr einein­
dern sieht die Finanzwirtschaft: als eine deutig. (vgl. Keynes 2006 [1936]: 132f.).
inhärent emotionale und unsichere Pra­ Indes legt das Konzept der Animal Spi­
xis an. Demnach lässt sich das tägliche rits und die generelle konventionelle Be­
Marktgeschehen nicht als abweichend schreibung von Emotionen nahe, dass
von einem ansonsten gleichgewichtigen Keynes diese als irrational angesehen
Markt verstehen, sondern als mehr oder hat. Jedoch entgeht ihm die grundsätz­
weniger beständig unsicher. Barbalet liche Notwendigkeit von Emotionen für
betrachtet daher auch Keynes‘ Beschrei­ die Praxis der Wirtschaft nicht. Die Defi­
bung von Handlungen, Vertrauen und nition von Animal Spirits muss daher vor
Animal Spirits als adäquate Emotionsbe­ dem Hintergrund der unsicheren Orien­
schreibung (vgl. Barbalet 2001: 90-94). tierungsmöglichkeiten der Akteur_in-
Während also die Behavioral-Finance- nen gelesen werden:
Forschung von einem Marktmechanis­ „Wahrscheinlich können die meisten
mus ausgeht, der es zumindest vor dem unserer Entschlüsse, etwas Positives zu
Horizont langfristiger Planung erlaubt, tun, dessen volle Wirkung sich über vie­
eindeutige Entscheidungen gemäß le künftige Tage ausdehnen werden, nur

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auf animalische Instinkte [Animal Spi­ Die wesentlichen Inhalte der Theorie
rits] zurückgeführt werden - auf einen von Keynes sind die Unsicherheit, die
plötzlichen Anstoß zur Tätigkeit, statt grundlegende Zyklizität der Wirtschaft
Untätigkeit, und nicht auf den gewoge­ und die Betonung von Investitions- ge­
nen Durchschnitt quantitativer Vorteile, genüber Sparentscheidungen einer sich
multipliziert mit quantitativen Wahr­ reproduzierenden Geldwirtschaft. Diese
scheinlichkeiten.“ (Ebd. 137) Eckpunkte seiner Theorie müssen unter
Somit geht es hier eher um die grund­ Berücksichtigung der Treatise on Proba­
sätzliche Praktikabilität von Handlungen bility (1921) gelesen werden, auf die er
im unsicheren Zeitverlauf als um den im Kapitel über Animal Spirits verweist
Ausschluss oder (vgl. Keynes 2006
die Befeuerung [1936]: 126). In
von irrationa­ „Damit ist Behavioral Fi­ seiner Disserta­
len Emotionen. nance auch nur bedingt in tionsschrift ver­
Denn nicht nur die post-keynesianische The­ sucht er eine lo­
die rationalen
K alk u latio n en
orie integrierbar, weil diese gisch-relationale
W ahrscheinlich­
der Marktteil- von unsicheren Handlungs­ keitstheorie zu
nehm er_innen, bedingungen ausgeht.“ fo rm a lis ie re n ,
sondern die mo­ die sich mit den
tivierend wirkenden Emotionen der Ak- Schwierigkeiten praktischer Handlun­
teure_innen erlauben es, Erwartungen gen in unsicheren Situationen auseinan­
zu bilden, so dass es über diesen Weg dersetzt (vgl. Kessler 2008). Die Kombi­
auch erst zur Strukturbildung am Markt nation von praxisrelevanter Unsicherheit
kommen kann. Dass Keynes neben phy­ im Gegensatz zum rechnerischen Risiko
siologischen auch kognitive Elemente und die Betonung von Emotionen als
von Emotionen vor Augen hatte, lässt eine Voraussetzung für wirtschaftliches
sich aus handgeschriebenen Notizen Handeln macht es möglich, ihn dem ra­
erahnen, wenn er zu Animal Spirits be­ dikalen Ansatz zuzuordnen. Gleichzeitig
merkt, dass diese „unconscious mental kann man den theoretischen Schwierig­
action“ seien (Keynes zitiert nach Ca- keiten der konventionellen und funktio­
rabelli 1988: 298). Darüber hinaus zeigt nalen Ansätzen entgehen (vgl. Barbalet
die Begriffsgeschichte der Animal Spirits, 2001: 90-94).
dass sie zu Zeiten von Keynes keinesfalls Damit ist Behavioral Finance auch nur
wörtlich, sondern von ihrer kartesisch bedingt in die post-keynesianische Theo­
Bedeutung abweichend benutzt worden rie integrierbar, weil diese von unsiche­
sind (vgl. Barens 2011). ren Handlungsbedingungen ausgeht.

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Jedoch liefert sie eine erste Annahmen­ strukturellen Vorgaben des Finanzmark­
kritik, die sowohl die rationale Entschei­ tes mit einem Wissen über emotionales
dungstheorie als auch die allgemeine Handeln zu verbinden. Die implizierte
Gültigkeit der Effizienz freier Märkte und relative Logik unsicheren Handelns
erheblich infrage stellt. Keynes‘ Entwurf im Umfeld eines inhärent ambivalenten
eines offenen Theoriegebäudes erlaubt Finanzmarktes könnte sich durch be­
es dagegen auch die emotionale und stimmte Emotionen der Akteur_innen
konflikthafte Praxis des modernen Fi­ auszeichnen. Emotionen habitualisieren
nanzmarktes einzubinden. Diese stellt sich im Praxisvollzug und sind Teil von
eine widersprüchliche Situation dar, Gewohnheiten und Routinen, verwei­
weil die spekulative Praxis immer wie­ sen aber auch, gerade wenn sie explizit
der eine Außerkraftsetzung von Normen werden, auf die Reproduktion oder den
erzwingt, bei dem gleichzeitigen Bestre­ Wandel von sozialen Praktiken (vgl. Ad-
ben, die Unsicherheit der Zukunft zu be­ loff/Jörke 2013: 24f.). Sie sind damit wie
wältigen und zu kontrollieren. geschaffen, die ambivalente Struktur der
Finanzmärkte zu analysieren.
P r a x is t h e o r ie n und Keynes - Der radikale Ansatz legt daher nahe, dass
E m o tio n en a ls gem ein sam er es für den Finanzmarkt typische Emoti­
N enner? onen und Formen des Umgangs mit Ge­
Folgt man der Interpretation von Emo­ fühlen gibt. Jocelyn Pixley (2004) hat in
tionen als praxisrelevante und soziale Emotions in Finance gezeigt, wie Unsi­
Phänomene, welche die Rationalität der cherheit, Vertrauen und Misstrauen die
Akteur_innen ermöglichen, dann ließe Organisation von Finanzmarktinstitutio­
sich mit Keynes und der Emotionsso­ nen beeinflussen und sich in den Institu­
ziologie gleichwohl mehr über die Praxis tionalisierungsprozessen wiederfinden.
von Finanzmärkten sagen, als er dies mit Auch das Aufkommen von Emotionali­
dem Begriff der Animal Spirits konnte. sierungsprozessen kann als ein inhären­
Der Fokus auf praktische Urteile in einer ter Teil von widersprüchlichen Praktiken
Situation der Unsicherheit, in der auch einer Geldwirtschaft verstanden wer­
kein vollständiges Wissen über die Zu den. Die Narrative von Finanzmarkt-
kunft möglich ist, erlaubt es, die Rolle von teilnehmer_innen verdeutlichen, dass
Emotionen in den Blickpunkt zu holen. sich die Akteur_innen immer wieder
Versteht man Post-Keynesianismus als in emotional konflikthaften Situationen
eine Theorie wirtschaftlicher Praktiken befinden,in denen es nicht Auseinander­
in einem sozialen Rahmen, der von Un­ setzung mit Emotionen, sondern auch
sicherheit beherrscht ist, dann eröffnet einer spezifischen Emotionalisierung
sich durch Emotionen die Chance, die von „phantastischen“ Objekten (Inves­

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„Versteht man Post-Keynesianismus als eine Theorie


wirtschaftlicher Praktiken in einem sozialen Rahmen,
der von Unsicherheit beherrscht ist, dann eröffnet sich
durch Emotionen die Chance, die strukturellen Vorga­
ben des Finanzmarktes mit einem Wissen über
emotionales Handeln zu verbinden.“

titionsobjekte/Ideen/W ertpapiere/Bran- markt. Zu seinen wissenschaftlichen


chen etc.) bedarf (vgl. Tuckett 2012). In Interessenschwerpunkten zählen: Post­
Internet- oder Immobilienblasen werden Keynesianismus, Behavioral Finance,
Wertpapiere vorübergehend zu außer­ Finanzmarkt- und Geldpolitik, Finanz­
gewöhnlichen Investitionsobjekten, die soziologie und Emotionssoziologie. 65
gleichzeitig eine glorreiche oder sichere
Zukunft versprechen und damit die bis­
herigen Normen außer Kraft zu setzen LITERATUR
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