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Schwerpunkt: Systemische Therapie - Übersichten

Psychotherapeut 2021 · 66:496–500


https://doi.org/10.1007/s00278-021-00538-x
Angenommen: 3. August 2021
Der Offene Dialog –
Online publiziert: 1. Oktober 2021
© Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Netzwerkgespräche als Leitidee
Springer Nature 2021
therapeutischen Handelns
Kolja Heumann1 · Julia Bröhling-Kusterer2 · Volkmar Aderhold3
1
Campus Neuruppin, Medizinische Hochschule Brandenburg, Neuruppin, Deutschland
2
Ivita Rheinland-Pfalz und Saarland gGmbH, Koblenz, Deutschland
3
Institut für Sozialpsychiatrie, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland

Zusammenfassung

In diesem Beitrag Der Offene Dialog ist eine in Finnland entwickelte multiprofessionelle, sektorübergrei-
fende psychiatrische Begleitung von Menschen in (schweren) psychischen Krisen unter
– Bedürfnisangepasste Behandlung und Of- konsequentem Einbezug der Familie und des weiteren sozialen Netzwerks. Er besteht
fener Dialog aus einer spezifischen flexiblen und gemeindebasierten Behandlungsstruktur und
– Therapeutische Kernelemente dialogi- -organisation sowie einer systemisch-dialogischen Gesprächskultur im therapeutischen
scher Netzwerkgespräche Vorgehen. Der Beitrag skizziert die strukturellen Rahmenbedingungen des Offenen
·
Polyphonie und Allparteilichkeit Dialogi- Dialogs und fokussiert die wichtigsten therapeutischen Elemente der dialogischen
·
sche Gesprächsführung Reflektierendes Arbeit, wie das Fördern von Vielstimmigkeit, eine dialogische Gesprächsführung und
·
Team Aushalten von Unsicherheit
Krisenerfahrung als sinnhaftes Erleben
· das reflektierende Team. Abschließend werden die Evidenz und die Verbreitung in
Deutschland dargestellt.
– Evidenz und Wirkweise
– Verbreitung und Umsetzung in Deutsch- Schlüsselwörter
land Bedürfnisangepasste Behandlung · Psychosoziale Versorgung · Mental Health · Psychosoziale
Krisen · Multiprofessionelle Teams

Schwere psychische Krisen stellen auch Bedürfnisangepasste Behandlung


eine Krise für das gesamte soziale Um- und Offener Dialog
feld der Patient:innen und die Lebens-
führung aller Beteiligten dar. Dement- Der Offene Dialog hat seine Ursprünge in
sprechend bekommen strukturüber- der seit den 1970er-Jahren in Finnland ent-
greifende Behandlungsmodelle im Le- wickelten bedürfnisangepassten Behand-
bensumfeld der Betroffenen einen zu- lung, einem Behandlungsmodell für Pa-
nehmenden Stellenwert (DGPPN 2018). tient:innen mit erstmaligen psychotischen
Während viele dieser Modelle v. a. die Krisen. In diesem werden schwere psy-
Behandlungsstruktur adressieren, ver- chische Krisen als Reaktion auf belasten-
knüpft der Offene Dialog eine kontinu- de Lebenssituationen verstanden und die
ierliche Versorgungsstruktur mit konse- gesamte Behandlungsplanung flexibel an
quentem Einbezug des sozialen Netz- den Bedürfnissen der Patient:innen und
werks und einer dialogisch-systemi- deren sozialem Umfeld orientiert (Alanen
schen Gesprächskultur. Der vorliegende et al. 2003). Mit einem Fokus auf Lebens-
Beitrag stellt das Modell vor und fokus- situation und -geschichte steht dieser An-
siert insbesondere auf das therapeu- satz im Gegensatz zu vielen damaligen und
tische Vorgehen, das auch in anderen auch heute noch praktizierten psychiatri-
psychotherapeutischen Settings Anwen- schen Versorgungsansätzen, in denen psy-
dung finden kann. chotische Symptome v. a. als unversteh-
bar und einem Gespräch nicht zugänglich
aufgefasst werden. Zentrales Element der
bedürfnisangepassten Behandlung stellen
regelmäßige gemeinsame Treffen mit den
QR-Code scannen & Beitrag online lesen Patient:innen und ihrem sozialen Netz-

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werk, d. h. der Familie und weiteren wich- ganisatorische Grundprinzipien (Seikkula Polyphonie und Allparteilichkeit
tigen Personen aus dem persönlichen Um- und Alakare 2015):
feld dar (Alanen 1997). Diese „Therapiever- – sofortige Hilfe in Krisen, d. h. innerhalb Der maßgebliche theoretische Hinter-
sammlungen“ sind strukturell in weitere von 24 h, unabhängig davon, wer die grund für den Offenen Dialog ist die
Behandlungsmöglichkeiten eingebunden, Hilfe anfragt; Dialogik nach Mikhail Bakhtin (Seikkula
die je nach individuellem Bedarf in An- – Einbezug des sozialen Netzwerks, d. h. und Olson 2003). Diese geht davon aus,
spruch genommen werden können (Ader- Netzwerkgespräche vom Anbeginn der dass zu keinem Sachverhalt auf der Welt
hold et al. 2003) und haben neben infor- Behandlung; nur eine Bedeutung existiert und sogar
mativen und diagnostischen Zwecken eine – Flexibilität und Mobilität hinsichtlich in einzelnen Individuen immer vielfäl-
im Kern therapeutische Funktion: Durch Frequenz, Ort und teilnehmenden tige Perspektiven vorhanden sind. Um
den aktiven Einbezug der Patient:innen Personen der Netzwerkgespräche einen echten Dialog herzustellen, ist es
und des Netzwerks in die Behandlungspla- entsprechend den Bedürfnissen des demnach unabdingbar, eine „Polyphonie“
nung und die Entscheidungsfindung wer- Netzwerks; vielfältiger und auch nichtvereinbarer Per-

Schwerpunkt
den Rollenzuschreibungen sowie stigmati- – Verantwortlichkeit für die Organisation spektiven nicht nur zuzulassen, sondern
sierende und Regression fördernde Effekte und Durchführung des gesamten aktiv zu erfragen. Dadurch können neue,
reduziert (Seikkula 2015). Behandlungsprozesses durch das gemeinsame Sichtweisen zu spezifischen
Aufbauend auf diesem Konzept wurde behandelnde Team (anstelle einer Lebenskontexten entstehen. Diese zu-
ab Anfang der 1990er-Jahre in Westlapp- Verantwortung für Entscheidungen) nächst theoretische Annahme hat eine
land das Modell des Offenen Dialogs sowie hohe Alltagsevidenz: Wenn ohnehin alle
entwickelt, mit dem zentralen Ziel, die – Sicherstellung von Beziehungskonti- Personen aus einem sozialen Netzwerk
Behandlung gemeinsam mit und im sozia- nuität und psychologischer Kontinuität unterschiedliche Perspektiven auf eine
len Umfeld der betroffenen Patient:innen (gemeinsames Verstehen) über den aktuelle Krise haben, sind diese auch im
zu gestalten. Zu diesem Zweck wurde gesamten Behandlungsverlauf, d. h. Alltag wirksam. Anstatt sie im Bemü-
die Versorgungsstruktur in eine sektoren- bei Bedarf auch über Jahre. hen um Eindeutigkeit und Konsens zu
übergreifende Behandlung mit Kontinuität verhindern – wie es gerade in psychiatri-
zwischen stationärer und ambulanter Be- Damit besteht der Offene Dialog im We- schen Behandlungssettings immer wieder
handlung und einem primären Fokus auf sentlichen aus zwei Elementen, die eng vorkommt –, können sie therapeutisch
aufsuchende Hilfen transformiert (Seikkula miteinander verknüpft sind: 1. einer fle- nutzbar gemacht werden und zu einem
und Alakare 2015). Anstelle von Thera- xiblen, multiprofessionellen, gemeindeba- neuen gemeinsamen Umgang mit der
pieversammlungen im klinischen Kontext sierten Behandlungsstruktur und 2. einer aktuellen Krise führen.
werden im Offenen Dialog sog. Netzwerk- spezifischen dialogischen Gesprächskultur Die dialogische Gesprächsführung ist
gespräche im häuslichen Umfeld geführt im therapeutischen Vorgehen (Seikkula entsprechend darauf ausgelegt, dieser na-
und sind nun das entscheidende Forum und Alakare 2015). türlichen Polyphonie Raum zu geben, was
für alle therapeutischen Entscheidungen, durchaus einen Bruch zur klassischerweise
wobei neben dem sozialen Netzwerk Therapeutische Kernelemente eher monologischen Gesprächsführung
bei Bedarf auch weitere relevante Perso- dialogischer Netzwerkgespräche in klinischen Kontexten darstellt. Dies
nen eingeladen werden (beispielsweise beinhaltet einerseits, die verschiedenen
Kolleg:innen oder ambulante Psycho- Während „Angehörigengespräche“ klassi- Sichtweisen zwischen allen Netzwerkteil-
therapeuten). Daneben zeichnen sich die scherweise eher ein Zusatz der psychia- nehmer:innen zu moderieren und auch
Netzwerkgespräche v. a. durch eine zuneh- trischen und psychotherapeutischen Be- zwischen den Mitgliedern des thera-
mend entwickelte dialogisch-systemische handlung sind oder häufig gar nicht statt- peutischen Teams sichtbar zu machen.
Gesprächskultur aus. Die Behandlung finden, sind Netzwerktreffen mit der Fa- Andererseits werden unterschiedliche
wird durchgeführt von multiprofessionel- milie, dem sozialen Netzwerk und den Pa- und widersprüchliche Ideen innerhalb
len ambulanten Teams, in die im Laufe der tient:innen von Beginn an der zentrale jeder anwesenden Person erfragt, welche
internationalen Verbreitung auch zuneh- Rahmen für die dialogische Arbeit. Ziel oftmals gar nicht bewusst oder Teil alltägli-
mend psychiatrie- und krisenerfahrene dieser Netzwerkgespräche ist ein vertief- cher Ambivalenzen sind. Dieses Vorgehen
Menschen (in Deutschland Genesungsbe- tes Verstehen der subjektiven Sichtwei- kann durchaus zu einer vorübergehenden
gleiter:innen) integriert wurden. Ergänzt sen aller Gesprächsteilnehmer:innen, um Polarisierung und intensiven Gefühlen
wird das Behandlungsmodell durch wei- so einen gemeinsamen Prozess der Verän- zwischen den Anwesenden führen. Ent-
tere strukturelle Elemente, wie einen derung anzustoßen. Die inhaltlichen Kern- sprechend verlangt dieser Ansatz von den
24-h-Krisendienst, eine Akutstation im elemente des dialogischen Ansatzes sind Mitgliedern des therapeutischen Teams
Krankenhaus, sowie weitere Therapiean- im Folgenden näher beschrieben: das durchgehende Bemühen um Allpar-
gebote (Individualpsychotherapie, Kunst- teilichkeit während der Netzwerktreffen:
und Bewegungstherapie, unterstütztes Ar- Jede Perspektive hat ihren Wert und ge-
beiten). Handlungsleitend für die Arbeit rade die Stimmen derjenigen, die still
im Offenen Dialog sind verschiedene or- oder zögernd teilnehmen und oft auch

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Schwerpunkt: Systemische Therapie - Übersichten
im Alltag ungehört bleiben, sollten so zelner Personen und daraus entstehende den erneut zur Sprache gebracht und kön-
viel Vertrauen in die Teammitglieder ent- Dialoge werden immer mehr Sichtweisen nen bereitwilliger aufgenommen werden.
wickeln können, dass sie ihre eigene zusammengetragen, die sich gegenseitig Andererseits führt das Hören der eigenen
Sichtweise aussprechen. bereichern, wobei es keine Rangordnung Worte oft dazu, dass auch gegensätzliche
der Personen und keinen Unterschied zwi- innere Perspektiven bewusst werden kön-
Dialogische Gesprächsführung schen krank und gesund gibt (Olson et al. nen. Empathische oder eigene emotionale
2014). Reaktionender Reflektierenden sind für die
Primäres Ziel der gemeinsamen Treffen Diese Art zu arbeiten, erfordert eine Teilnehmenden oft besonders wertvoll.
ist also das Fördern eines vielstimmigen große Aufmerksamkeit für den gegenwär- Um eine geeignete Resonanz zu er-
Dialogs zwischen allen Teilnehmer:innen. tigen Moment. Dabei geht es nicht nur zeugen, sollten die geäußerten Reflexio-
Nur nachrangig geht es darum, direkte um einen rein inhaltlichen Austausch über nen möglichst kurz sein und das sub-
Veränderungen bei den Netzwerkteilneh- unterschiedliche Perspektiven. Vielmehr jektiv Wichtige wiedergeben, statt Hypo-
mer:innen zu bewirken. Oft können die An- ermöglicht die unmittelbare Reaktion thesen oder Interpretationen der Mode-
wesenden dabei unterstützt werden, über- auf das, was gegenwärtig im Gespräch rator:innen zu beinhalten. Zur Förderung
haupt wieder in einen Dialog zu kommen geschieht, das Anstoßen und Aufgrei- von Vielstimmigkeit und inneren Dialogen
und eine gemeinsame Sprache für das zu fen z. T. starker Emotionen. Die dadurch sollten die Reflexionen zudem kein Dia-
finden, was empfunden wird und gesche- gemeinsam erlebten Gefühle schaffen log oder Übereinstimmung zwischen den
hen ist. oft neue Verbundenheit und ein tieferes einzelnen Moderator:innen sein, sondern
Anstatt sich nach einer eigenen Agen- Verständnis der Anwesenden füreinander. eine Reihe einzelner Aussagen (mit kurzen
da zu richten (beispielsweise durch di- Derartige „Begegnungsmomente“ stel- Pausen von etwa 5 s dazwischen), die the-
agnostische oder lösungsorientierte Fra- len oft den entscheidenden Wendepunkt matisch nicht aufeinander bezogen sind.
gen), folgt das professionelle Team bei in einem zuvor polarisierten Netzwerk- Jede:r Netzwerkteilnehmer:in sollte min-
der Gesprächsführung v. a. den Themen gespräch dar (Stern 2007). Wie in der destens einmal in einer Reflexion der Mo-
der Gesprächsteilnehmer:innen und ver- einzelpsychotherapeutischen Arbeit auch, derator:innen vorgekommen sein, bevor
sucht selbst, die Sprache des Netzwerks zu entsteht die zentrale Entwicklung also sich diese wieder dem Netzwerk zuwen-
verwenden. Dafür ist ein genaues, geduldi- durch emotionale Beteiligung der Anwe- den. So kann sich jede:r Teilnehmer:in wie-
ges und empathisches Zuhören von hoher senden und nicht durch reines Verstehen. derfinden, und es tritt keine „Konkurrenz“
Relevanz. Anstatt das Gesagte zu interpre- Daher ist das Aussprechen belastender unter den Beteiligten auf; auch führt dies
tieren, achtet das Team darauf, genau zu und z. T. traumatischer Lebenserfahrun- zu einer weiteren Bereitschaft der Teilnah-
hören, was jede:r Anwesende wortwört- gen und ihrer persönlichen Bedeutungen me an folgenden Netzwerkgesprächen.
lich sagt und darauf zu reagieren. Die- weitaus wichtiger als die Fokussierung auf
se Reaktionen bestehen teilweise nur im akute Symptome. Aushalten von Unsicherheit
Wiederholen (nicht Paraphrasieren) ein-
zelner Wörter als eine Art Aufforderung Reflektierendes Team Dieser Fokus auf Vielstimmigkeit, Ausspre-
zum Weitersprechen, darüber hinaus auch chen von belastenden Erfahrungen und
in vertiefenden Fragen nach noch unver- Ein weiteres zentrales Element der Mode- dem gemeinsamen Verstehen in einer Kri-
ständlichen oder besonders bedeutsam er- ration im Offenen Dialog ist das reflek- se steht im Widerspruch zu den Gewohn-
scheinenden Formulierungen („Schlüssel- tierende Team (Andersen 1990), also der heiten psychiatrischer Versorgung, aber
wörtern“) sowie im Ansprechen wahrge- Austausch der anwesenden Teammitglie- auch vieler therapeutischer Denkweisen
nommener Gefühle. So kann eine beson- der über das Gehörte in Anwesenheit des (erst stabilisieren). Damit innere und äuße-
dere Tiefe der persönlichen Bedeutung der Netzwerks. Dabei wurde das ursprüngli- re Dialoge entstehen können, vermeiden
eigenen Wörter anklingen und zu einem che Modell zunehmend den strukturellen die Teammitglieder voreilige Schlüsse und
besseren eigenen Verstehen anregen. Die- Bedingungen (aufsuchende Behandlung, Entscheidungen und stellen die eigenen
ses Vorgehen ermöglicht den beteiligten 2er-Teams) angepasst, sodass die Team- Gedanken, Gefühle und möglichen Sor-
Gesprächsteilnehmer:innen oftmals einen mitglieder, die das Netzwerkgespräch mo- gen oder evtl. Handlungsoptionen in Re-
Zugang zu belastenden Lebenserfahrun- derieren, gleichzeitig die reflektierenden flexionen zur Verfügung. Auf diese Weise
gen und relevanten biografischen Episo- Personen sind. Im Laufe eines 90-minüti- kommendieAnwesendenselbstauf Verän-
den, die dann (evtl. erstmals) ausgespro- gen Gesprächs üblicherweise werden ein- derungsideen, gewinnen dadurch wieder
chen und vollständiger verstanden werden bis 2-mal Reflexionen angeboten, als Me- Handlungsfähigkeit in ihrem eigenen Le-
können. Um ein vielstimmiges Bild die- takommunikation über den Gesprächspro- ben und werden in ihrem „therapeutischen
ser Ereignisse und Erfahrungen entstehen zess (nicht den Inhalt) auch häufiger. Durch Selbst“ gestärkt (Seikkula und Olson 2003).
zu lassen, werden die übrigen Anwesen- die Reflexionen wird allen Teilnehmenden Diese therapeutischen Räume werden an-
den um Kommentare und Gedanken zum verdeutlicht, wie aufmerksam die geführ- sonsten häufig durch eine frühzeitige Dia-
Gesagten gebeten, auch mithilfe von sys- ten Dialoge verfolgt werden, zugleich sind gnostik und die Suche nach schnellen Lö-
temischen, beispielsweise zirkulären, Fra- sie eine gelebte Umsetzung des Polypho- sungen verengt. Damit die Unsicherheit in
gen. Durch wiederholtes Ansprechen ein- niekonzepts: Vielfältige Sichtweisen wer- einer Krise durch das Netzwerk ausgehal-

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ten werden kann, braucht es zudem einen ne gleichwertige Relevanz für den Dialog Diese Ergebnisse unterstreichen die Re-
Sicherheit gebenden Rahmen. Dieser be- im Netzwerk haben. Der wertschätzende levanz der strukturellen Elemente des Of-
steht im Wesentlichen aus wiederkehren- und sichere Rahmen kann die Narrative der fenen Dialogs, insbesondere von schneller
den Netzwerkgesprächen in gemeinsam Teilnehmenden zu einer gemeinsamen Er- Intervention in Krisen, Netzwerkorientie-
vereinbarten Abständen, zu Beginn mög- zählung zusammenführen und einen Hei- rung und Beziehungskontinuität. Wenn es
licherweise sogar täglich. lungsprozess einleiten (Seikkula und Arn- in einer schwierigen Lebenssituation ge-
kil 2007). Alle Behandlungsschritte werden lingt, die (meisten) wichtigsten Bezugsper-
Krisenerfahrung als sinnhaftes gemeinsam besprochen und abgestimmt, sonen an einen Tisch zu bringen, sind dia-
Erleben auch die pharmakotherapeutischen Optio- logisch geführte Netzwerkgespräche eine
nen. der wirksamsten therapeutischen Krisen-
Der Offene Dialog wurde zunächst für die interventionen, da die inneren Bewegun-
Krisenbegleitung von ersterkrankten Men- Evidenz und Wirkweise gen aller Beteiligten leichter zu verstehen
schen in akutem Psychoseerleben entwi- sind und somit zu tragfähigen Veränderun-

Schwerpunkt
ckelt. Recht bald wurden jedoch Psycho- Im Sinne einer Prozessevaluation und gen im täglichen Leben führen (können).
seteams in allgemeine Krisenteams um- kontinuierlichen Weiterentwicklung wur- Oft kann schon ein Netzwerkgespräch eine
gewandelt, und so wird das Modell bis de der Offene Dialog von Beginn an deutliche Wirkung haben, erfahrungsge-
heute bei Patient:innen mit unterschiedli- wissenschaftlich begleitet und in 3 Kohor- mäß sind jedoch mehrere Gespräche über
chen Krisenerfahrungen (und im weiteren tenstudien (Katamnese: 2 bzw. 5 Jahre) einen längeren Zeitraum notwendig.
Behandlungsverlauf) angewandt. Krisen- über insgesamt 19 Jahre untersucht (Leh- Nach der Erfahrung der Autoren hat
hafte Zustände werden grundsätzlich als tinen et al. 2000; Seikkula et al. 2006, 2011; diese Art zu arbeiten auch auf die be-
eine verstehbare Reaktion auf unerträgli- Bergstrom et al. 2017). Dabei zeigten sich handelnden Mitarbeiter:innen eine positi-
che, sehr belastende Lebensprobleme auf- eine signifikante Reduktion stationärer ve Wirkung. Die Belastung durch die Arbeit
gefasst, für die noch keine verstehbare Aufenthalte, psychotischer Symptome so- und die Verantwortung für Veränderun-
Sprache gefunden wurde. Beispielsweise wie eine geringere Rückfallhäufigkeit im gen verteilt sich auf mehrere Schultern.
wird eine psychotisch veränderte Mittei- zeitlichen Verlauf aller Kohorten. Zudem Der Fokus auf Erfahrungen und der spe-
lung als ein sinnhafter Versuch verstanden, zeigten sich eine (Re-)Integration in Arbeit zifische Umgang mit Sprache haben zu-
eine auf andere Weise nicht mögliche Kom- und Ausbildung von ca. 75 % der Teilneh- dem einen entpathologisierenden Effekt.
munikation herzustellen, und wird dem- mer:innen und eine im Verhältnis sehr Und nicht zuletzt führen Netzwerkgesprä-
entsprechend möglichst offen diskutiert. geringe und seltene neuroleptische Me- che zu einem vertieften Verständnis und
Dafür ist es wichtig, nicht die Orientie- dikation sowohl initial (28–50 %) als auch somit zu einem aufrichtigen Wohlwollen
rung, Geduld und Unsicherheitstoleranz im Verlauf (11–28 %). Mit zunehmender gegenüber den Teilnehmenden, das auf
zu verlieren. Gerade hier kommt die dialo- Behandlungsexpertise nach dem Modell weitere Entwicklungen neugierig macht.
gische Grundhaltung zum Tragen, indem des Offenen Dialogs, d. h. im Vergleich
das Gesprochene sehr ernst genommen zwischen den einzelnen Kohorten, kam Verbreitung und Umsetzung in
und wortwörtlich nachgefragt wird, im- es zu einer signifikanten Reduktion der Deutschland
mer in der Erwartung eines Wechsels in Dauer unbehandelter Psychosen, einer
verständliche Sprache über bedeutsame Abnahme der Nutzung psychiatrischer Die Entwicklung des Offenen Dialogs war
Erfahrungen. Werden die Professionellen Angebote insgesamt sowie vermehrt zu mit einer schrittweisen und tiefgreifen-
als vertrauenswürdige Gesprächspartner kürzeren psychotischen Episoden anstelle den Neuorganisation der psychiatrischen
erlebt, wird oft eine kohärente Sprache von langen und schweren Krankheitsver- Dienste verbunden (Seikkula et al. 2006).
möglich, und es entsteht ein zunehmend läufen (Aaltonen et al. 2011; Bergstrom Es ist ersichtlich, dass nicht alle die-
verständliches Gespräch. et al. 2017; Seikkula et al. 2011). Durch die ser strukturellen und therapeutischen
Der:die Patient:in wird gebeten, mehr Prozessorientierung dieser und weiterer Elemente in Deutschland umzusetzen
über diese Erfahrungen mitzuteilen, Bei- Studien in anderen Ländern war eine sind. Durch die starke Fragmentierung
spiele zu erzählen und eine genauere Erklä- Randomisierung bislang nicht umsetzbar. des Versorgungssystems werden ambu-
rung für sie zu geben. Im Fall von Stimmen- Seit 2019 wird in Großbritannien eine lant arbeitende, gemeindepsychiatrische
hören kann er:sie auch gefragt werden, ob erste cluster-randomisierte Studie zum Teams und Behandlungskontinuitäten
genug Vertrauen besteht, um deren In- Offenen Dialog mit diagnoseübergreifen- über einen längeren Zeitraum weitgehend
halte auszusprechen. Je mehr Stimmen in dem Krisenfokus durchgeführt, die vom verhindert. Entsprechend wird der Offene
die Dialoge aufgenommen werden, umso National Health Service (NHS) finanziert Dialog in Deutschland häufig nur unter
mehr Möglichkeiten für ein sich langsam wird. Aber auch so haben die konsistent modellhaften Versorgungsbedingungen
entwickelndes Verstehen können entste- positiven Ergebnisse über einen langen oder unter hohem Engagement einzelner
hen. Nehmen die Moderator:innen auch Zeitraum unter Realbedingungen zu ei- Teams innerhalb der Regelversorgung
hier das Gehörte in Reflexionen auf, zeigt ner weltweiten Verbreitung des Ansatzes umgesetzt (Von Peter et al. 2020). Dabei
dies den Teilnehmenden, dass psychotisch geführt. bestimmen die wirtschaftlichen Rahmen-
und krisenhaft geäußerte Gedanken ei- bedingungen wesentlich darüber, welche

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Abstract

Elemente im Alltag Anwendung finden The Open Dialogue—Network meetings as the central idea of
können. Umso erfreulicher sind die Ergeb- therapeutic actions
nisse eines internationalen Projekts zur
Verbreitung des Offenen Dialogs (www. The Open Dialogue is a multiprofessional, cross-sectoral mental health service for
hopendialogue.net/survey), nach der in people in (severe) mental health crises. It collaborates with the family and other
Deutschland annähernd 50 (sozial-)psy- members of the patient’s social network. The Open Dialogue originated in Finland
chiatrische Organisationen den Offenen and consists of a specific flexible and community-based treatment structure and
Dialog zumindest in Teilen umsetzen und organization with a systemic dialogical conversational culture. This article sketches this
Netzwerkgespräche zumindest zeitweise structural framework of Open Dialogue and focuses on the most important therapeutic
möglich sind. Um das gesamte Modell in elements of the dialogical work, such as cultivating polyphony, dialogical conversation
and the reflecting team. Finally, the evidence and dissemination of Open Dialogue in
der Regelversorgung zu implementieren
Germany are presented.
und wirksam werden zu lassen, fehlt es
allerdings schlichtweg an einer hinrei- Keywords
chenden und langfristigen Finanzierung Need-adapted treatment · Community based treatment · Mental Health · Psychosocial crisis ·
sowie politisch gewollter Unterstützung Multiprofessionell care teams
einer sektorenübergreifenden, gemeinde-
spsychiatrischen (Krisen-)Versorgung.
Seikkula J, Arnkil TE (2007) Dialoge im Netzwerk. Neue
Literatur Beratungskonzepte für die psychosoziale Praxis.
Fazit für die Praxis Paranus, Neumünster
Aaltonen J, Seikkula J, Lehtinen K (2011) The Seikkula J, Olson M (2003) The open dialogue approach
4 Jede Krise/Behandlung ist einmalig. comprehensive Open-Dialogue approach in to acute psychosis: its poetics and micropolitics.
4 Behandlungsprozesse sollten gemein- WesternLapland: I. Theincidenceofnonaffective Fam Proc 42(3):403–418
sam mit den Klienten und ihrem sozialen psychosis and prodromal states. Psychosis Seikkula J, Aaltonen J, Alakare B, Haarakangas K (2006)
Netzwerk in dialogischen Netzwerkge- 3:179–191 Five-years experiences of first-episode nonaf-
sprächen strukturiert werden. Aderhold V, Alanen YO, Hess G, Hohn P (Hrsg) fective psychosis in open-dialogue approach:
4 Der Einbezug des sozialen Netzwerks ist (2003) Psychotherapie der Psychosen. Integra- Treatment principles, follow up outcomes, and
tive Behandlungsansätze aus Skandinavien. two case studies. Psychother Res 16(2):214–228
für langfristige, tragfähige Veränderun-
Psychosozial Verlag, Gießen Seikkula J, Alakare B, Aaltonen J (2011) The compre-
gen zentral; Lösungen im alltäglichen Alanen YO (1997) Schizophrenie. Entstehung, Er-
Leben haben Vorrang vor Maßnahmen in- hensive open-dialogue approach (II). Longterm
scheinungsformen und die bedürfnisangepaßte stability of acute psychosis outcomes in ad-
nerhalb des psychiatrischen Hilfesystems. Behandlung. Klett-Cotta, Stuttgart vanced community care: the Western Lapland
4 Ein kontinuierlicher und flexibler Rahmen Alanen Y, Lehtinen V, Lehtinen K, Aaltonen J, Räk- Project. Psychosis 3:192–204
ermöglicht den Beteiligten das Tragen köläinen V (2003) Das bedürfnisangepasste Stern DN (2007) Der Gegenwartsmoment. Verände-
und Aushalten von zunächst sehr unsi- Behandlungsmodell. Das integrierte Modell der rungsprozesseinPsychoanalyse,Psychotherapie
cheren Situationen. Behandlung schizophrener und verwandter Psy- und Alltag. Brandes & Apsel, Frankfurt
4 Im Dialog soll ein Raum für Verstehen, Ver- chosen. In: Aderhold V, Alanen Y, Hess G, Hohn P Von Peter S, Heumann K, Kuhlmann M, Aderhold V
(Hrsg) Psychotherapie der Psychosen. Integra- (2020) Der Offene Dialog und seine Anwen-
ständigung und Begegnung entstehen.
tive Behandlungsansätze aus Skandinavien. dung in Deutschland. Psychiatr Pflege Heute
Veränderungen können durch gemeinsa- Psychosozial Verlag, Gießen, S 65–88
mes Nachdenken und geteilte emotionale 26:191–198
Andersen T (Hrsg) (1990) Das reflektierende Team.
Erfahrungen entstehen. Modernes Leben, Dortmund
4 Vielstimmigkeit ermöglicht die Stärkung BergstromT, AlakareB, AaltonenJetal(2017)Thelong-
eigener Ideen und innerer Stimmen. term use of psychiatric services within the Open
Dialogue treatment system after first-episode
psychosis. Psychosis 9:310–321
DGPPN (Hrsg) (2018) S 3-Leitlinie Psychosoziale
Korrespondenzadresse Therapien bei schweren psychischen Er-
krankungen. Springer, Berlin (https://www.
Kolja Heumann awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/038-020l_
Campus Neuruppin, Medizinische Hochschule S3_Psychosoziale_Therapien_bei_schweren_
Brandenburg psychischen_Erkrankungen_2019-07.pdf)
Fehrbelliner Str. 38, 16816 Neuruppin, Lehtinen V, Aaltonen J, Koffert T et al (2000) Two-
Deutschland year outcome in first episode psychosis treated
Kolja.Heumann@mhb-fontane.de according to an integrated model. Is immediate
neuroleptisation always needed? Eur psychiatr
15:312–320
Olson M, Seikkula J, Ziedonis D (2014) The key
Einhaltung ethischer Richtlinien elements of dialogical practice in open dia-
logue: fidelity criteria. https://www.umassmed.
Interessenkonflikt. K. Heumann und J. Bröhling-Kus- edu/globalassets/psychiatry/open-dialogue/
terer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. keyelementsv1.109022014.pdf. Zugegriffen:
V. Aderhold gibt ab, dass er Fortbildungen im Offenen 15.06.2021
Dialog durchführt. Seikkula J (2015) Open Dialogue with clients with
mental health problems and their families.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Context 138:2–4
Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Seikkula J, Alakare B (2015) Bedürfnisangepaßte
Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort Behandlung und offener Dialog. Psychother
angegebenen ethischen Richtlinien. Dialog 16(3):28–33

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