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Integration und Differenz:

Zur Beziehung von Psychotherapie mit Sozio- und Milieugestaltung. 1


Ulrich Kobbé

Die Reform der Einrichtungen des Maßregelvollzugs erforderte u. a. Professionalisierungen der


Berufsgruppen und Qualifizierungen von Behandlungsmethoden. Das Ziel, den Alltag im Frei-
heitsentzug therapeutisch zu nutzen und für den psychisch gestörten Rechtsbrecher nutzbar zu
machen, führte in der Vergangenheit insb. zu einer verstärkten Profilierung der forensischen
Pflegeberufe. Unbestimmt blieb allerdings weithin das Verhältnis von forensischer Psychothe-
rapie und forensischer Pflege.

Alltag und Therapie

Zunächst bewirkte die „Therapeutisierung" des bis in die achtziger Jahre verwahrenden Maßre-
gelvollzugs eine Art Totalisierung des Stationsalltags (Kobbé 1989), in dem alles irgendwie the-
rapeutisch, jedoch konzeptlos und insofern durch jeden mißbrauchbar war. Neuere Behand-
lungsansätze beinhalteten einerseits das Konzept „Therapie-als-Alltag", andererseits das Kon-
zept „Alltag-als-Therapie" (Hildenbrand 1991, 176-178). Wenn
Alltag und Wohngruppe pauschal "Milieu" und damit "therapeutisch" sind,
Psychotherapie als räumlich-zeitlich getrenntes, exklusives Angebot funktionalisiert wird,
die Zusammenarbeit der Behandler primär formalisiert organisiert ist,
dann wirft dies Fragen auf. Den therapeutischen Maßregelvollzug ausschliesslich psychothera-
peutisch oder rein sozio- und milieutherapeutisch organisieren zu wollen (Kobbé 1996, 121-
125), ist illusionär und ideologisch: Derartig einseitige Phantasien spielen sich ergänzende The-
rapiebereiche gegeneinander aus und beziehen sich nur argumentativ-legitimierend bzw. -
diskriminierend aufeinander, um sich Berufsgruppenkompetenz, Eigenständigkeit usw. zu be-
stätigen.

Anders ausgedrückt: Eine die Lebenswirklichkeit des Patienten vernachlässigende forensische


Psychotherapie ist ebenso arrogant, überheblich und "kopfgesteuert" wie sich der Versuch, den
Psychotherapeuten – nach der Devise „Der-Alltag-gehört-den-Pflegern!" – komplett aus dem
Wohngruppen- oder Stationsalltag zu evakuieren, als anmaßend, ignorant und militant erweist.
Konkret stellt sich die Frage,
ob das psychologische Interesse und psychotherapeutische Be-Handeln als Störung, als
Eindringen in den Alltagsraum in Szene gesetzt und empfunden werden oder
ob der Psychotherapeut dort erwünscht ist, ja, hineingewünscht wird und sich hinein-
wünscht, sodass Integration und Differenz möglich und therapeutisch werden Können.

„Und täglich grüsst das Murmeltier ..."

Im Freiheitsentzug ist der sozio- und milieutherapeutische Raum weitgehend mit dem reduzier-
ten Lebensraum des Patienten identisch, sodass professionalisierte Konzepte mitunter Gefahr
laufen, in Bevormundung und Totalisierung umzuschlagen (Kobbé 1989). Gerade mit der dra-
stischen Begrenzung des Raumes – und der damit verbunden „Verräumlichung" des Alltages –
riskiert Sozio- und Milieugestaltung im Maßregelvollzug, zum Entwurf einer starren Programma-
tik des inszenierten Alltags – zum Alltag als „Umschlagstelle der therapeutischen Inszenierung
in routiniert-milieuhafte Lebensweisen“ – zu geraten (Brücher 1988, 76). Denn ein veranstalte-
tes Milieu kann auf Beziehungs- und Inhaltsebenen gerade kein Milieu im eigentlichen Sinne
mehr sein.

Und auch die mittlerweile patientenbezogene Praxis droht mitunter zur ausschließlich indikati-
ons- und interventionsbezogenen Behandlungstechnik sowie zur u. U. äußerst bruchstückhaf-

1
Übersichtsartikel für ein ursprünglich geplantes ›Pflegehandbuch Forensik‹ (2004).
2

ten Arbeitsorganisation verschiedener Berufsgruppen zu werden, deren vorgeplante Zeitstruktur


totaler Milieutherapie unter Einschlussbedingungen jedes Erleben zeitlich unterbricht, zerstük-
kelt und stört. Beruhigend bleibt dabei, dass sich durch verselbständigende Alltagsroutinen so-
wie durch Unterlaufen der therapeutischen Praxen „neben" oder „unterhalb" dieses künstlichen
Milieus "Unterleben der Klinik“ als anderes Milieu etabliert (Goffman 1973, 202-289). „Damit hat
sich ein Milieu restituiert, das von den Strategen der Milieutherapie gerade nicht kalkuliert wer-
den kann [...] Insofern Milieutherapie also meint, das gesamte Feld des Lebens in der Institution
gestalten zu können, unterliegt sie einem grundsätzlichen Irrtum. Dieser ist bedeutsam, weil das
‚echte’ Milieu einen entscheidenden Einfluss auf das Therapieergebnis haben dürfte und eine
therapeutische Institution sich also fragen muss, welche Rahmenbedingungen sie abgibt für die
Konstitution eines solchen Milieus“ (Brücher 1988, 76).

Zur Sprache kommen

Seit der Professionalisierung psychiatrischer Pflege wird mehr mit Patienten gesprochen: Diese
Entwicklung vom handlungsbezogenen „Arbeiten" zum „Schwätzen" (Konrad 1985) beinhaltet u.
U. auch, dass im Maßregelvollzug – wie sich exemplarisch aufzeigen lässt (Kobbé 1999b, 82-
84) – weniger Zwang ausgeübt wird. Dabei sind sowohl alltagsbezogen-pflegerische Reflekti-
onsgespräche wie psychotherapeutische Behandlungsstunden willkürlich gesetzte – bestenfalls
vereinbarte – Unterbrechungen des Alltagshandelns: Sie eröffnen Möglichkeiten, unhinterfragte
oder erstarrte Denk-, Einstellungs-, Verhaltensgewohnheiten zur Sprache zu bringen, ggf. in
Frage zu stellen und eine Alternative oder sinnvollere Antwort zu entwickeln. Wenn es dabei ge-
lingt, inhaltliches Sprechen aus der üblichen Stationsroutine zu befreien, dann stellen pflegeri-
sche Reflektionsgespräche wie psychologische Therapiestunden einen Bruch im Alltagsleben
und Grenzsituationen dar: Sie „eröffnen, indem sie sich vom routinisierten Gerede abheben,
Reflexionsmöglichkeiten“ (Alheit 1983, 55-56). Und sie stellen – was dabei wichtiger erscheint –
Gelegenheit zur Überraschung durch den Therapeuten, motivationale Momente des Neugierig-
Machens des Patienten dar (Pfäfflin 1997, 151).

Spannungsbogen Pflege – Psychotherapie

Bisher wurde bereits deutlich, dass es sich um ein z. T. wenig ausgearbeitetes, z. T. span-
nungsreiches Verhältnis von Alltag und Behandlung, Patient und Institution, Pflege und Psycho-
therapie handelt. Angeben ließe sich zumindest, dass
Sozio- und Milieugestaltung innerhalb des Wohngruppen- oder Stationsalltags ihre Wirkung
entfaltet, dabei u. a. aktuelle Probleme und Konflikte der Gegenwart – im Hier-und-Jetzt –
sozusagen „live" aufgreift, zu verstehen, zu bearbeiten oder Hilfestellung bei der Problemlö-
sung zu geben versucht, soziale Kompetenz im weitesten Sinne zu verstärken plant und ei-
nen bewussten, verantwortlichen Umgang des Patienten mit sich und anderen fördern und
einüben will,
Psychotherapie ausserhalb des Wohngruppen- oder Stationsalltags stattfindet, dabei u.U.
gezielt lebensgeschichtliche Erfahrungen der Vergangenheit – im Dort-und-Damals – auf-
greift, am Beispiel gegenwärtiger Alltagskonflikte typische Verhaltens- und Reaktionsweisen
zu verdeutlichen, ihren subjektiven Sinn zu verstehen, chronifiziert-stereotype und mitunter
zwanghafte Wiederholungen aufzulösen sucht, deliktrelevante Persönlichkeitsanteile in den
Behandlungsmittelpunkt rückt und zugleich sog. „korrigierende emotionale Erfahrungen" in
der vertrauensvollen Zweierbeziehung ermöglichen soll.

Insofern ist der Alltag Bezugsfeld beider Behandlungsansätze. Als Basis der therapeutischen
Intervention geht es offensichtlich um den Alltag als solchen, nämlich „Beziehungen zum Pati-
enten aufzunehmen und das zu tun, was Pflege in der Forensik sein soll", sprich, im „‘unorgani-
sierten Kontakt' [...] ständiger Ansprechpartner zu sein, nicht nach Plan in der Gruppe oder im
Einzelgespräch" (Trampe 1984, 73). Andererseits hat forensische Krankenpflege (Robin-
son/McGregor-Kettles 1999) nur dann professionelle Qualität, wenn sie geplant und nicht belie-
big erfolgt, wenn sie mit anderen Behandlungsmaßnahmen abgestimmt und in sie integriert ist
(Kobbé 1999a, 391-397). Dabei "lebt" und erlebt psychiatrische Pflege die Ängste und Konflikte,
die Fort- und Rückschritte des Patienten, indem sie – orientiert an ihrer Pflegeplanung – direkt

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eingreift, modellhaft vormacht, ermutigend unterstützt, reflektierend begleitet und sprachlich


kommentiert, dabei ggf. auch Grenzen setzt und konkrete Forderungen stellt. Forensische Psy-
chotherapie hingegen arbeitet vorwiegend im Sprechen, Erinnern, in Frage-Antwort-
Suchprozessen ohne fertige Lösung, mit individuell dosierten Konfrontationen, in spezifischen –
z.T. intimen – Beziehungen mit Aspekten des Haltens und Aushaltens („holding"), des Anneh-
mens und – verbal benennenden – Integrierens („containing") von Affekten und Phantasien
(Kobbé 1999a, 375-377).

Beiden Behandlungsformen gemeinsam ist dabei die Ressourcenorientierung an der


sozialen Selbstwirksamkeitskompetenz (z.B. Verbesserung der Beziehungsfähigkeit),
emotionalen Kompetenz (z.B. Förderung der Selbstwahrnehmung, der Empathiefähigkeit),
kognitiv-antizipatorischen Kompetenz (z.B. Entfaltung des Phantasiespielraums),
motivationalen Kompetenz (z.B. Aufrechterhaltung einer therapeutischen Beziehung),
moralischen Kompetenz (z.B. Übernahme von Verantwortung für sich und andere),
praktischen Handlungskompetenz (z.B. Erweiterung von alltagspraktischen Fähigkeiten, von
Verhaltensalternativen).
Wenn es also darum geht, ein therapeutisches Arbeitsbündnis herzustellen, um Entwicklungs-
prozesse anzustoßen, um gefühlsmäßig und gedanklich-intellektuell – affektiv und kognitiv –
wirksame Behandlungssequenzen zu ermöglichen (vgl. 1.3), dann bedarf es hierfür eines
grundsätzlich therapeutischen Milieus. Gerade dieses therapeutische Selbstverständnis der Kli-
niken oder Abteilungen des Maßregelvollzugs (und der Sozialtherapeutischen Anstalten des
Justizvollzugs) macht erst – im Unterschied zum Regelstrafvollzug – eine effektive Behandlung
von Rechtsbrechern möglich.

Selbstversorgung

Die Wirksamkeit des therapeutischen Milieus lässt sich beispielhaft sehr gut an dem – schein-
bar banalen – Beispiel des gemeinsamen Kochens, der sog. Selbstversorgung forensischer Pa-
tienten verdeutlichen. Wenn Verantwortungsübernahme nicht nur Thema der psychotherapeuti-
schen Arbeit sein soll, dann muss sie parallel auch konkret möglich sein und eingeübt werden.
Prinzipiell bieten psychiatrische Kliniken mit ihrem (über-)versorgenden System, ihrer hospitali-
sierenden Struktur und ihrem insofern regressiven Klima hierzu wenig Möglichkeiten an. Mo-
derne forensisch-psychiatrische Einrichtungen mit Wohngruppenkonzept bieten jedoch die
Möglichkeit, Patienten zur Selbstversorgung anzuhalten. Im Sinne konkreten sozialen Lernens
sind sie für das Zusammenleben innerhalb der Wohngruppe, für die Sauberkeit der Räumlich-
keiten, für das Waschen ihrer Kleidung und für die Selbstverpflegung eigenverantwortlich. Am
Beispiel der Selbstversorgung lassen sich exemplarisch alltagspraktisch und zugleich psycholo-
gisch wirksame Aspekte dieser Tätigkeit aufzeigen, die über den technischen Aspekt des Be-
griffs ‚Selbstversorgung‘ weit hinausgehen:

Wenn in Kochgruppen organisierte Patienten pro Tag einen zweckgebundenen Geldbetrag


für die Finanzierung ihrer Mahlzeiten erhalten, so ergeben sich hieraus zwangsläufig Pro-
bleme der Verantwortungsübernahme für Geldeinteilung und -verwaltung, für sparsame und
vorausplanende Haushaltsführung, auch Probleme der ehrlichen Abrechnung.
Für den aufzustellenden Essenplan bedarf es einer Einigung, sprich, Kompromissbildung,
bezüglich der Mahlzeiten, bedarf es weiter vorausschauenden Denkens und Einkaufens im
Rahmen des zur Verfügung stehenden Geldes.
wenn von den Anforderungen her tatsächlich gekocht werden soll, dann beinhaltet dies die
abgestimmte Vor- und Zubereitung unterschiedlicher Speisen und schließt dies das Erhitzen
von Doseninhalt definitiv aus. Mit dieser Vorgabe sollen Patienten keineswegs Kochen als
Selbstzweck lernen: Zunächst machen sie neue Erfahrungen mit einer Vielfalt von Nah-
rungsmitteln, weiter mit ihren eigenen Fähigkeiten, einfache Rezepte erfolgreich in Mahlzei-
ten umzusetzen, mit ihrer Selbstwirksamkeitskompetenz (s. o.).
Über die Stärkung des Selbstbewusstseins hinaus fördert das Kochen die Entwicklung oder
Wiedergewinnung differenzierter Wahrnehmungsqualitäten (Geschmack, Geruch, aber auch
Aussehen und Berührung unterschiedlicher Rohstoffe oder Gerichte), von Sinnlichkeit also.

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Des weiteren führt die Beschäftigung mit Kochrezepten häufig sowohl zu einer vielseitige-
ren, gesünderen Ernährung, dabei zunehmend auch zur Entwicklung von Kreativität und In-
teresse im Umgang mit Rezepten. Ein Anfang ist hier oft das eigene Backen von Brot, das
manche Patienten auch zu völlig neuen Erfahrungen mit vegetarischer Kost verhilft.
Dies beinhaltet nicht nur einen Abbau von Vorurteilen als Aufgabe von Sicherheit vermit-
telnden Stereotypien des Denkens, sondern auch den allmählichen Wandel des eigenen -
oft machohaften - männlichen Rollenverständnisses hin zu einem emanzipierteren Männer-
bild, was zwangsläufig allmählich auch andere - weniger sexistische - Frauenbilder mitbe-
dingt.
Zur Selbstversorgung gehört weiterhin das anschließende gemeinsame Essen selbst ein-
schließlich Kritik (Geben und Aushalten von Lob ebenso wie von Kritik) sowie die Notwen-
digkeit des Abwaschens, Aufräumens usw.

Wie an diesem Exkurs ersichtlich, geht es um die Auseinandersetzung mit sozialen Regeln und
sozialen Rollen. Wesentlich ist hierbei, daß der Patient weder angehalten wird noch sich selbst
aufgrund seines ‚tyrannischen‘ Gewissens zu zwingen sucht, Regeln quasi krampfhaft einzuhal-
ten: Eine Auseinandersetzung mit Regeln kann nur im konflikthaften Umgang mit ihnen - mithin
auch der gelegentlichen Überschreitung - erfolgen, wenn der Patient diese sozialen Normen
nicht als ich-fremde Vorschriften im Sinne einer strafenden Gewissensinstanz übernehmen und
im Sinne vorauseilenden Gehorsams einhalten, sondern die Chance zu ihrer identifikatorischen
Verinnerlichung erhalten soll. Anders ausgedrückt, ist ein Maßregelvollzug, der die strikte Befol-
gung der Regel fordert, in diesem Sinne nicht als therapeutische Institution zu betrachten. Ge-
rade hier eröffnet die milieutherapeutische Wohngruppe ein wesentliches Übungs- und Erpro-
bungsfeld.

Selbstbehandlung

Ein anderer Bereich der Verantwortungsübernahme beinhaltet die Förderung von dem, was
Fiedler (1981) „Selbstbehandlungskompetenz“ genannt hat. Wenn ressourcenorientiertes Arbei-
ten an bereits vorhandene Fähigkeiten und Fertigkeiten des Patienten anknüpfen soll, dann be-
darf es gerade im Behandlungsalltag eines prinzipiell partnerschaftlichen Akzents im Verhältnis
von Behandler und Patient, um in der Psychotherapie als „reflexives Subjekt“ ebenso ernst wie
in die Pflicht genommenen Patienten direkt anzusprechen und zu unterstützen. Ein Beispiel für
die aktive, selbstverantwortliche und selbstbestimmte Reflexion gibt das kürzlich veröffentlichte
‚Arbeitsbuch Täterhilfe‘ von Vanhoeck und van Daele (2000).

Das Arbeitsbuch richtet sich primär an den Täter selbst: Es bietet eine konkrete, didaktische
Aufbereitung und lebendige Darstellung komplexer Sachverhalte, indem problembehaftete Ge-
danken, Gefühle, Phantasien, Eigenschaften, Verhaltens- und Handlungsweisen in eher
schnörkelloser, griffiger Sprache zum Thema gemacht werden. Indem die 20 Lektionen des Bu-
ches als therapiebegleitende Hausaufgaben verwendet werden können, liegt hierin die Schnitt-
stelle von Psychotherapie und Pflege. Denn die Arbeit mit den Lektionen ermöglicht, die Zeit
zwischen Behandlungsstunden therapeutisch zu nutzen, zur strukturierten Selbstkonfrontation
mit dosierten Inhalten zu verwenden und Patienten in Verantwortung für die Auseinanderset-
zung mit sich und seinen Emotionen, Kognitionen wie Handlungen zu bringen. Hier bietet es
sich an, den Patienten als Bezugspfleger in dieser Arbeit zu begleiten, erlebnis- und praxisbe-
zogene Inhalte zu diskutieren, an den zahlreichen Fallbeispielen entlang zu arbeiten.

In zwei Abschnitte gegliedert, klärt das ‚Arbeitsbuch Täterhilfe‘ im ersten Teil zunächst Fragen,
was die Behandlung von Sexualstraftätern für den einzelnen beinhalten und bedeuten kann,
welche Forderungen und Herausforderungen, welche Entwicklungschancen und Probleme
hiermit verbunden sein können. Damit greift diese Arbeitshilfe latente und offene Fragen auf.
Sie leistet einen Beitrag zur Motivationsklärung bzw. Selbstmotivation im Vorfeld und im Velauf
von Behandlung. Der zweite Teil hingegen konkretisiert Zielsetzungen von Behandlung im wei-
testen Sinne – und zwar subjektbezogene, individuelle Ziele wie Auswirkungen von Therapie.
Erarbeitet werden u.a. folgende Themen:
Ursachen und Verantwortung,

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Motivation für Therapie,


Rekonstruktion der Tat(en) und Interpretationen dieser Tatsachen(n),
Missbrauchsdefintion und Beschreibung der Folgen für das Opfer,
Erarbeitung einer Missbrauchskette,
Risikosignale und Rückfallprävention,
Verantwortung, Haftung und Schuld,
Einfühlungsvermögen,
Zuverlässigkeit, Vertrauen und Respekt,
Selbstkenntnis und Selbstwahrnehmung,
Unterschiede von Denken / Wissen, Fühlen und Verhalten / Handeln,
Lebensqualität und eigene Zielsetzungen,
Schuld, Entschuldigung, Reue und Vergebung.

Da sich die Autoren dem Patienten in einer eher schnörkellosen, griffigen Sprache zuwenden,
da sie nicht über ihn schreiben, sondern ihn sozusagen anschreiben, den einzelnen direkt an-
sprechen, machen sie mit einer akzeptierenden, respektvollen, einfühlsamen und dennoch kon-
frontierenden Haltung und in einem Wechsel von Erläuterung, Herstellung von Betroffenheit und
Ermutigung zur Auseinandersetzung ein niedrigschwelliges Angebot zur Selbstproblematisie-
rung. So stellt das Buch konkrete Anforderungen: Es nimmt den Patienten einerseits in die
Pflicht zur aktiven Auseinandersetzung anstelle passiver Lektüre, andererseits ermöglicht bzw.
provoziert es eine schrittweise Entwicklung selbstbestimmten Arbeitens anstelle fremdbestimm-
ter Abhängigkeitsbeziehungen. Gerade für die parallel zur Psychotherapie sinnvolle Reflexion
praktisch-konkreter Aspekte der Täterseite zeigt dieses Arbeitsmaterial bislang nur wenig ge-
nutzte Möglichkeiten eines inhaltlich strukturierten Dialogs auf: Hier könnten sich für die Pflege
Impulse zur Entwicklung eines kooperativen Arbeitsbündnisses ergeben.

„Spaltspiele"

Dabei kommt der interdisziplinären Zusammenarbeit eine wesentliche Rolle zu und wird allen
Beteiligten abverlangt, nicht nur formal zu kooperieren, sondern wechselseitig Akzeptanz, Re-
spekt und Partnerschaft zu verwirklichen. Das heißt, es ist mehr – und z.T. anderes – gefordert
als nur „eine enge Kooperation mit anderen Berufsgruppen in Tolerierung der berufsspezifi-
schen Aufgaben sowie Anerkennung der eigenverantwortlichen Tätigkeit" (Trampe 1984, 74).
Denn „Tolerieren" beinhaltet weder überzeugte Selbstverständlichkeit noch Anerkennung, „Ei-
genverantwortung" spaltet die Gemeinsamkeit der Verantwortung auf und verweist auf Abgren-
zung und Konkurrenz. Jedoch entkommt man dem durch die Dynamik der Patienten (vgl. 1.3)
verstärkten „Spaltspiel" im forensischen Team (Rasch 1990, 191-204) nur durch Selbstbeschei-
dung und Selbstbegrenzung, durch Verzicht auf Auf- und Abwertungen einzelner Tätigkeiten,
Funktionen oder Berufsgruppen.

Dies beinhaltet für die Praxis auf Seiten der Pflege,


die ansprüchliche Haltung aufzugeben, der Alltag müsse „eine klare Priorität vor der Thera-
pie haben" (Trampe 1984, 74),
sich bspw. nicht zu Psychologisierungen (= zu „Interpretationen" bzw. „Deutungen", zu Tips
und Ratschlägen) verführen oder zu co-therapeutischen Hilfsfunktionen missbrauchen zu
lassen,
dabei den intimen Charakter psychotherapeutischer Einzelgespräche anzuerkennen, d.h.
nicht „löchernd" vermeintlich interessant-pikante Details herausfragen zu wollen,
andererseits aber bei Psychotherapeuten die Psychodynamik zu erfragen, um Kontraindika-
tionen pflegerischer Maßnahmen berücksichtigen zu können.

Dies erfordert auf Seiten der Psychotherapie,


die berufs- und machtpolitische Rivalität von Psychologen und Ärzten anders auszutragen
als durch hierarchisches oder komplizenhaftes Verhalten gegenüber den pflegerisch-
erzieherischen Berufsgruppen,

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z.B. von dem häufig gehegten Anspruch abzulassen, Psychologen oder Psychiater seien
zugleich die Supervisoren des Pflegeteams,
forensische Pflege als gleichberechtigte Behandlungsform sowie als unabdingbare Grund-
lage und Ergänzung von forensischer Psychotherapie zu begreifen,
sich nicht nur partnerschaftlich zu verhalten, sondern sich tatsächlich für Pflegeplanung und
sozio- und milieutherapeutische Maßnahmen zu interessieren, ohne es immer schon „bes-
ser" zu wissen (Dörner 1996).

Bezogen auf die beiden vorhergehenden Praxisseiten forensischer Behandlung könnte dies be-
züglich der aufeinander bezogenen und dennoch abgegrenzten Verantwortlichkeiten von Pflege
und Psychotherapie beinhalten,
dass die Selbstversorgung als Beispiel milieutherapeutischer Praxis zwar in die Planungs-
und Durchführungsverantwortung der Bezugspflege fällt, jedoch von psychotherapeutischer
Seite interessiert mitverfolgt und hinsichtlich konkreter Einstellungs- oder Verhaltensaspekte
auch in die Psychotherapie einbezogen werden sollte,
dass die Indikationsstellung für einen Einsatz therapiebegleitender Hausaufgaben von Sei-
ten der Psychotherapeuten zu stellen ist, die praktische Beratung und Begleitung aber in der
Beziehung von Patient und Bezugspfleger verwirklicht werden könnte und sollte.

Ganzheitlichkeit

Ganzheitlichkeit der psycho- und milieutherapeutischen Behandlung beinhaltet einerseits Prin-


zipien der Vermittlung von Hoffnung und Akzeptanz, der Ermöglichung von Distanz und Nähe,
der Entlastung und Progression (als Gegensatz zu Überforderung und Regression), der Unter-
stützung und Grenzsetzung (i.S. von Ja- und Nein-Antworten), die Entwicklung von Fremd- zu
Selbstbestimmung (Kobbé 1988; 1989). Sie erfordert aber insbesondere, diese Prinzipien real
zu verwirklichen, sprich, eine aufeinander bezogene Kooperation von MitarbeiterInnen ver-
schiedener Berufsgruppen im Alltag vorzuleben, eine Verschränkung von Psychotherapie und
Pflege zu entwickeln, in der formale und inhaltliche Macht (Konrad 1985, 73-75) nicht gegen-
einander ausgespielt werden.

„Beispiele für die Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Pflege und Therapie kennen wir al-
le: Der Patient geht in die Gruppe, Thema ist »Selbständigkeit und Eigenverantwortung«. Aber
niemandem fällt auf, dass sein Bett seit Tagen nicht gemacht worden ist und er sein Umfeld
nicht sauber hält, er seine eigenen Kleider verkauft und barfuss über die Station läuft" (Trampe
1984, 74).
Literatur

Alheit, P., Alltagsleben. Zur Bedeutung eines gesellschaftlichen »Restphänomens«, Frankfurt a.M. 1983
Brücher, K., Wohnheimstrukturen als Mittel der Therapie, in: Psychiat. Prax. 1988, 71-77
Dörner, K., Brief an einen Anfänger in der Psychiatrie, in: Wollschläger, M. et al (Hg.), Klaus Dörner. Kieselsteine.
Ausgewählte Schriften, Gütersloh 1996, 165-175
Fiedler, P.A. (Hrsg.), Psychotherapieziel Selbstbehandlung. Grundlagen kooperativer Psychotherapie. Texte zur kli-
nischen Psychologie, Weinheim 1981
Goffman, E., Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a.M. 1973
Hildenbrand, B., Alltag als Therapie. Ablöseprozesse Schizophrener in der psychiatrischen Übergangseinrichtung,
Bern 1991
Kobbé, U., Milieugestaltung: Über den Alltag mit psychisch kranken Rechtsbrechern, in: Wege zum Menschen 1988,
484-490
Kobbé, U., Alltag in der Zwangsunterbringung. Der totalen Institution mit totaler Milieutherapie begegnen, in: Deut-
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Kobbé, U., Psychiatrie als Stundenhotel oder Das forensische Subjekt als Zeitwaise. Autodafé zur Fragmentierung,
Stigmatisierung, Serialisierung im Maßregelvollzug, in: Forensische Psychiatrie und Psychotherapie 1/1996, 117-
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Kobbé, U., Klinik, Praxis, Ethik der Behandlung psychisch gestörter Rechtsbrecher - ein Überblick, in: Deegener, G.
(Hg.), Sexuelle und körperliche Gewalt. Therapie jugendlicher und jungerwachsener Täter, Weinheim 1999a, 361-
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Kobbé, U., „No cure, but control“: Resozialisierungsunwillige und therapieresistente Straftäter als Adressaten des
Zwangs heute?, in: Nickolai, W.; Reindl, R. (Hg.), Renaissance des Zwangs. Konsequenzen für die Straffälligen-
hilfe, Freiburg 1999b, 71-90

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Konrad, M., Bändigen, pflegen, therapieren. Die psychiatrische Krankenpflege seit 1945 anhand berufsbiographi-
scher Interviews, Frankfurt a.M. 1985
Pfäfflin, F., Günstige und ungünstige Rahmenbedingungen für Psychotherapie im Maßregelvollzug, in: Forensische
Psychiatrie und Psychotherapie 1/1997, 143-156
Rasch, W., Regeln des Spalt-Spiels, in: Schumann, V.; Dimmek, B. (Hg.), Kommunikation und Zusammenarbeit,
Werkstattschriften zur Forensischen Psychiatrie Bd. 1, Lippstadt 1991, 191-204
Robinson, D.K.; McGregor-Kettles, A., Forensic nursing: a profession without a career, in: Forensische Psychiatrie
und Psychotherapie 2/1999, 39-53
Trampe, W., Therapeutische Funktionen des Pflegepersonals im Maßregelvollzug, in: Forensische Psychiatrie und
Psychotherapie 1/1994, 67-77
Vanhoeck, K.; Van Daele, E., Arbeitsbuch Täterhilfe. Therapie bei sexuellem Mißbrauch, Lengerich 2000

Dr. Ulrich Kobbé


iwifo-Institut Lippstadt
Postfach 30 01 25
D-59543 Lippstadt
ulrich.kobbe@iwifo-institut.de
ulrich@kobbe.de

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