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Irrwege einer Metapher

Von Gerald Krieghofer - Die Presse, 10.06.2017

"Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des
Feuers." Dieses berühmte Zitat von Jean Jaurès wird unterschiedlichsten
Urhebern zugeschrieben. Wie kam es dazu? Eine Recherche.

In uns allen leben Sprüche weiter, die wir unserer Mutter, dem Vater, dem
Kino, einem Buch oder einer alten Tante verdanken. Für uns sind diese Sprüche
Energieträger, mit denen wir uns in der Welt orientieren und sie verschönern.
Bonmots fallen uns auch ein, wenn wir entmutigt sind, und sie helfen uns
manchmal, das Verhalten unserer Mitmenschen zu verstehen oder abzukanzeln.

Diese kostbaren Elemente unseres Wortschatzes gehören zum Fundament


unserer Tradition, obwohl wir seit der Erfindung der Schrift alte Weisheiten
nicht mehr ausschließlich in unserem Gedächtnis bewahren. Wir vertrauen auf
Bücher und Spruchsammlungen, doch inzwischen gibt es eine Vielzahl von
Zitat-Anthologien, durchmischt mit völlig falsch zugeschriebenen und
entstellten Zitaten. Sie enthalten Unmengen von Pseudo-Einstein-, Pseudo-
Tucholsky- und Pseudo-Augustinus-Zitaten. Ernsthafte Wörterbuchmacher
sammeln diese Sprüche und wundern sich über die Evolution, die eine Metapher
im Laufe von ein paar Generationen nimmt.

Ich selbst sammle für eine größeres Projekt (ein Institut für Zitatforschung soll
gegründet werden) seit Jahren falsche Zitate und möchte hier von den
verschlungenen Abwegen eines besonders schönen erzählen. Sigmund Freud
spricht von der Zauberkraft der Wörter, und märchenhaft kommt mir die
Geschichte eines weltbekannten Gustav-Mahler-Zitats vor: "Tradition ist nicht
die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers". Der italienische
Sozialdemokrat Matteo Renzi zum Beispiel machte diesen Mahler-Spruch 2015
zum Zentrum einer Rede, und als Gustav-Mahler-Zitat wurde es im letzten
Jahrzehnt zum Lieblingszitat von Festrednern auf der ganzen Welt.

Namenskarussell

Dieser schöne Satz über unser wahres Verhältnis zur Tradition hat einen Haken:
er stammt nicht von Gustav Mahler, er ist in keiner seiner Schriften zu finden,
auch nicht von Experten der Gustav-Mahler-Gesellschaft. Und diese falsche
Zuschreibung ist all den Professoren und Politikern, die in Festreden unser
wahres Verhältnis zur Tradition beschwören, anscheinend nicht aufgefallen.
Das Zitat stammt auch nicht von Thomas Morus, wie manchmal zu lesen ist,
und alle Zuschreibungen an Benjamin Franklin, Konfuzius oder Ricarda Huch
stimmen nicht. Auch Papst Johannes XXIII. wurde nach seinem Tod eine
Variation dieses Spruchs unterschoben ("Tradition heißt: Das Feuer zu hüten
und nicht die Asche zu bewahren") - allerdings nur auf Deutsch, wie mir eine in
der italienischen Geschichte und Kultur bewanderte Kollegin versichert, die das
Papst-Zitat in italienischen Zeitungen und Büchern so wenig finden konnte wie
ich selbst.

Dieses Pseudo-Mahler-Bonmot wird in mehreren Varianten auch dem


französischen Sozialisten Jean Jaurès zugeschrieben. Er hat 1910 diese
Metapher tatsächlich geprägt, wenn auch nicht in jener Version, wie sie im
Duden steht.

Wer war Jean Jaurès? In Wien ist ein Gemeindebau und eine Straße nach ihm
benannt, in der "Wiener Zeitung" ist zu seinem 100. Todestag 2014 ein Artikel
über ihn erschienen, aber sonst ist er nahezu vergessen - im Gegensatz zu seiner
starken Metapher über unsere Beziehung zur Tradition als einem Verhältnis zu
Flamme oder Asche.

Der Sozialdemokrat Jaurès wurde als junger Mann mit der Dissertation "Über
die Realität der Sinnenwelt" zum Doktor der Philosophie promoviert, und wer
will, kann ihn mit guten Gründen in die philosophiegeschichtliche Schublade
der Pantheisten einsortieren. Jean Jaurès’ philosophische Absicht: Synthesen
von entgegengesetzten philosophischen Positionen zu bilden, setzt er in seiner
politischen Arbeit fort. Wie Victor Adler in Österreich gelingt es ihm in
Frankreich, unterschiedliche linke Strömungen zu vereinen und eine
sozialdemokratische Partei zu formen. Auch als Historiker versucht er
marxistischen Determinismus mit idealistischen Positionen zu versöhnen.

Außerdem gilt Jaurès als einer der besten parlamentarischen Redner


Frankreichs. Vier Jahre bevor er von einem 29-jährigen Rechtsextremen am 30.
Juli 1914 in dem Pariser "Café du Croissant" ermordet wird, antwortet Jean
Jaurès im französischen Parlament dem antisemitischen, rechtsnationalen
Schriftsteller und Politiker Maurice Barrès mit einer großartigen Rede: "Herr
Barrès fordert uns öfter auf, in die Vergangenheit zurückzugehen; für die, die
nicht mehr sind und die, die zur Unbeweglichkeit erstarrt, gleichsam heilig
geworden sind, hegt er eine Art pietätvolle Verehrung. Nun, meine Herren, auch
wir verehren die Vergangenheit. Aber man ehrt und achtet sie nicht wirklich,
indem man sich zu den verloschenen Jahrhunderten zurückwendet und eine
lange Kette von Phantomen betrachtet: die richtige Art, die Vergangenheit zu
betrachten, ist, das Werk der lebendigen Kräfte, die in der Vergangenheit
gewirkt haben, in die Zukunft weiterzuführen."

Der Ur-Wortlaut
Einige Absätze weiter gebiert Jaurès dann die noch heute lebendige Metapher:
"Nicht vergeblich hat die Flamme im Herd so vieler menschlicher Generationen
gebrannt und gefunkelt; aber wir, die wir nicht stillstehen, die wir für ein neues
Ideal kämpfen, wir sind die wahren Erben der Herde unserer Vorfahren: wir
haben daraus ihre Flamme geholt, ihr habt nur die Asche bewahrt."

Aus diesem ursprünglichen Gedanken wird im Laufe der Jahrzehnte die


Version: "Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der
Flamme", die in diesem Wortlaut auch im aktuellen Zitate-Duden Jean Jaurès
(ohne Quellenangabe) zugeschrieben wird.

Die abenteuerlichste Variante dieser Metaphern-Evolution bringt dann ohne


Zweifel die englische Ausgabe eines österreichischen Ratgeberbuches für
Manager, "Maximen unternehmerischen Handelns": "Being conservative
doesn’t mean keeping the ashes but preserving the flame. Jean Jaures"! Dass
man dem Sozialisten Jaurès, der diese Metapher gegen eine konservativen
Nationalisten wendet, eine aufmunternde Botschaft für Konservative zutraut, ist
ein Zeichen, wie wurstig und ahnungslos man ungestraft mit unserer Geschichte
umgeht. Einer der Autoren dieses Buches wurde immerhin mit dem
österreichischen "Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst" ausgezeichnet.

Falsche Zitate werden also nicht nur auf dümmlichen rechten Webseiten, auf
Facebook und auf dem Boulevard verbreitet, sondern auch anerkannte
Professoren scheinen ihre Verbundenheit mit unserer Tradition mehr zu
simulieren als zu kennen.

Mir ist jedoch klar, dass einige, deren Arbeit ich selber sehr schätze, auch schon
auf dieses Mahler-Zitat hereingefallen sind, und Häme über diese Irrtümer ist
nicht meine Absicht. Oft wird diese Metapher der ursprünglichen Intention
gemäß richtig angewendet, und der Zuschreibungsirrtum ist am wenigsten die
Schuld derer, die schlampig gemachten Büchern, Zeitungen und Zitat-Lexika
vertrauen.

Vor dem Jahr 1910 gibt es weder auf Englisch, Französisch, Deutsch noch auf
Italienisch eine Version dieser Metapher. Erst Jahrzehnte, nachdem Jean Jaurès
sie geprägt hat, wird sie fälschlich Benjamin Franklin oder Thomas Morus -
immer ohne genaue Quellenangabe - zugeschrieben.

Wie kam Gustav Mahler zu der Ehre dieses Zitats? Der österreichische Sänger,
Fernsehmoderator und Kabarettist Herbert Prikopa schreibt 1999: "In einem
Interview im Mai 1992 hatte Klaus Bachler schon einmal einen wunderbaren
Satz von Gustav Mahler zitiert: ‚Tradition ist Weitergabe des Feuers ohne
Anbetung der Asche’." Vor 1990 wird unser Zitat (laut Suchen bei Google
Books, in Zeitungsarchiven und bei Forschungsstellen) niemals Gustav Mahler
zugeschrieben, aber im deutschen Sprachraum (außer korrekt: Jaurès) öfters
Papst Johannes XXIII. Das Zitat könnte also über den Umweg eines falsch
erinnerten, falsch zugeschriebenen Papst-Zitats in einem Interview irrtümlich
Gustav Mahler unterschoben worden sein; Gustav Mahler vielleicht auch
deswegen, weil sein Name schon lange mit einem sarkastischen Wort über
Tradition in Verbindung steht: "Tradition ist Schlamperei". Sein Bühnenbildner
Roller hat die Aussage Gustav Mahlers 1920 etwas differenzierter überliefert:
"Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und
Schlamperei."

Unser Mahler-Zitat könnte also durch einen - meiner Meinung nach


verzeihlichen - Irrtum bei einem Interview oder ein, zwei Jahre davor
entstanden sein: Seine spätere Weltkarriere verdankt es allerdings hauptsächlich
der Wurstigkeit im Umgang mit Zitaten.

Ein anderer Fall

Es gibt noch einen Aktivisten, der selbst vergessen ist, und dessen prägnantester
Spruch weltweit erfolgreich jemand anderem zugeschrieben wird: "Zuerst
ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und
dann gewinnst du." Dieser Spruch wurde jahrzehntelang Mahatma Gandhi
unterschoben, bis man erstens draufkam, dass Gandhi zwar ähnliches erlebt und
beschrieben hat, aber dieser prägnante Satz in seinen Schriften nicht
nachzuweisen ist, und zweitens, dass der Spruch erstmals 1918 auf einem
amerikanischen Gewerkschaftstag auftaucht.

Der Gewerkschafter Nicholas Klein macht im Mai 1918 den Textilarbeiter-


Vertretern mit folgender Erkenntnis Mut: "Zuerst ignorieren sie dich. Dann
machen sie dich lächerlich. Dann greifen sie dich an und wollen dich
verbrennen. Und dann errichten sie dir Denkmäler."

Wenn wir nichts gegen die Flut der falschen Zitate unternehmen, müssen wir
diesen Spruch irgendwann um zwei Sätze ergänzen: Und eine Generation später
vergessen sie dich wieder. Dann behaupten sie, dein Denkmal sei für jene
errichtet worden, die du besiegt hast.

Information:

Quellen und Nachweise zu diesem Artikel finden Sie auf Gerald Krieghofers
Blog "Zitaträtsel". Auf dieser Seite stehen über 100 im deutschen Sprachraum
verbreitete Falschzitate. Früher oder später sollen dort alle populären
Falschzitate erfasst und dokumentiert werden.

http://falschzitate.blogspot.co.at

Gerald Krieghofer, geboren 1953, lebt als Philosoph und freier Autor in Wien.

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