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anvanEyc

Welt der Kunst Janos Vegh

JanvanEyck
Mit fünfzehn farbigen Tafeln und zwei-
undzwanzig einfarbigen Abbildungen

Henschelverlag Berlin 1984


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Corvina Budapest
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Arkady Warszawa
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Originaltitel: Jan van Eyck
Corvina K.iad6, 1983
Übersetzt von Airnos Csongar
© Janos Vegh, 1983
Karel van Mander schilderte gegen Ende des 16. Jahrhunderts, mit sehen Revolution die vier Mitteltafeln und schickten sie nach Paris.
welch großem Interesse das städtische Publikum von dem berühmten Das könnte zwar auch auf die Wertschätzung der Gemälde hinweisen,
Van-Eyck-Altar der Kathedrale in Gent an jenen seltenen Feiertagen aber wie wenig sie in Wirklichkeit galten, wurde offenkundig, als die
Besitz ergriff, wenn er geöffnet wurde: "Da drängten sich die Leute Tafeln an ihren ursprünglichen Platz in Gent zurückkehrten: Die
dermaßen, daß man kaum herankommen konnte; denn die Kapelle, Flügel wurden abgetrennt und veräußert. D as wahre Interesse
in der [er] zu sehen war, war den ganzen Tag voll von allerlei Volk. brachte erst der Mittelalter-Kult der Romantik mit sich, wiewohl
Da sah man junge und alte Maler und alle Kunstfreunde das Bild um- Goethe bereits 1825 behauptete, alles, was er in seinem Leben ge-
schwärmen, gleichwie man im Sommer die Bienen und Fliegen schrieben habe, sei nicht soviel wert wie ein einziges Gemälde Jan
süßigkeitslüstern an den Feigen- und Traubenkörben haften und sie van Eycks -aber Goethe war seiner Zeit in vielem voraus.
umschwärmen sieht." Die immer breitere Schichten erfassende Aufmerksamkeit gegenüber
Das gleiche Bild bietet sich noch heute - nicht nur vor dem Genter der altniederländischen Malerei machte schließlich den Genter Altar
Altar, sondern mehr oder weniger vor allen Werken des Jan van zu einer der höchstgeschätzten nationalen Reliquien Belgiens. Das
Eyck, denn die frühen Niederländer stehen hoch in der Gunst des geht eindeutig aus der Tatsache hervor, daß die Belgier nach dem
Publikums. Niemand sagt Schlechtes über sie, nicht einmal die An- ersten Weltkrieg im Rahmen ihrer Schadenersatzansprüche von
hänger der ultramodernen Richtungen behaupten, sie wären lang- Deutschland auch die damals in Berlin aufbewahrten Flügelbilder
weilige Wirklichkeitsmaler gewesen - und das will schon etwas zurückverlangten. So gelang es 1920, das Polyptychon wieder zu
heißen. Man bedenke nur, wieviel Negatives über drei so große vereinen; seit 1934 allerdings ist es nicht mehr komplett, denn an der
Maler dreier großer Stilepochen wie Raffael, Rubens und David zu Stelle der in diesem Jahre gestohlenen Tafel "Die Gerechten Richter"
hören ist I Allerdings nicht von Kunsthistorikern, sondern in Ge- ist lediglich eine Kopie zu sehen. Doch das Bildensemble ist auch als
sprächen mit Künstlern oder auch im Urteil junger Leute, die diese Torso noch so überwältigend, daß es bis heute Millionen Besucher
Maler unverfroren mißachten und ihren eigenen Maßstäben unter- anzieht.
werfen. Van Eyck wird in der Regel von keinem geringgeschätzt, Am Rahmen des Genter Altars finden wir einen Vierzeiler, der auf
und das verdient immerhin unsere Aufmerksamkeit. Liegt es viel- Grund des Abriebs sowie wegen der seltsamen Verflechtung der
leicht daran, daß die Mehrheit der sich vor der nonfigurativen Kunst Buchstaben und der Verwendung ungewohnter Abkürzungen nicht
verschließenden Menschen ihn für den Bannerträger der "ordentli- leicht zu lesen ist. Erwin Panofsky folgend, lautet die Übersetzung so:
chen", die sichtbare Realität strikt respektierenden Malerei hält, die "Der Maler Hubert van Eyck, größer als er ward keiner gefunden,
als einzige Lob und Achtung verdient? Doch dann könnten ihn die begann [dieses Werk]; und Jan [sein Bruder], der zweite in der Kunst,
Anhänger der Moderne um so mehr angreifen und ihn einen lang- der es auf Kosten des Jodocus Vijd vollendet hat, lädt euch mit die-
weiligen Naturalisten nennen! Oder huldigt unser Zeitalter der sem Vers ein, das Getane am 6. Mai zu besichtigen." Die rot hervor-
Technik mit dieser Anerkennung einem Künstler, der stets vollkom- gehobenen Buchstaben der letzten Zeile geben, als römische Ziffern
men in seinem Metier war? Aber dann dürfte auch die Akademiker gelesen, das Jahr der Entstehung an: 1432. Der Wert dieses Verses
des vergangeneo Jahrhunderts kein Vorwurf treffen, deren Werke kommt also dem einer Signatur mit Datum gleich, die das Werk ein-
für uns doch so wenig anziehend sind. deutig beglaubigt; der Forschung liefert er ganz wesentliche Auf-
Man hat ein seltsames Gefühl, wenn man bedenkt, wie sehr sich die schlüsse.
Welt in den letzten zweihundert Jahren gewandelt hat! Noch 1781 Jan van Eyck ist übrigens der erste niederländische Künstler, der
wurden von dem Altar, den man heute als höchste Leistung der zahlreiche Bilder mit seinem Namen und manchmal auch noch mit
Brüder van Eyck verehrt, zwei Tafeln entfernt, weil Kaiser Joseph II., der Jahreszahl versah, zumeist allerdings auf dem Rahmen, der we-
der damals in Gent weilte, die unbekleideten Figuren von Adam und niger geschont wird als das eigentliche Gemälde. So verwundert es
Eva in einer Kirche als überaus unschicklich und der Würde des nicht, daß der Meister zwar in etlichen Eintragungen in verschiedenen
heiligen Ortes hohnsprechend empfand. Das war zwar kein ästheti- Quellen erwähnt ist, vor allem in den Rechnungsbüchern der Herzöge
scher Standpunkt, aber es ist sicher, daß man auch den künstlerischen von Burgund, daß abertrotzhandgreiflicher Fakten in einigen grund-
Wert der Bilder nicht gerade hoch veranschlagte, denn sonst hätte sätzlichen Dingen noch immer Unsicherheit herrscht. Nehmen wir
man sich darauf berufen. gleich die zitierte Inschrift, die den obligatorischen Ausgangspunkt
Mit diesem Ereignis begann der anderthalb Jahrhunderte währende der Forschungen über den Maler bildet. Von dem darin mit offen-
Leidensweg des Altars. I 794 demontierten Soldaten der Französi- sichtlicher Anerkennung erwähnten Hubert ist uns kaum etwas be-

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kannt. Die erste Zeile, die diesen Meister preist, gab Anlaß zu heftigen Bevor wir jedoch auf die einzelnen Werke zu sprechen kommen,
Debatten. Manche zogen nämlich daraus den Schluß, der Voll- wollen wir uns ein wenig in jener Umgebung umsehen, in der Jan
strecker der großen Wende in der Kunst sei Hubert gewesen, wäh- van Eyck gelebt hat, wollen wir ein paar Worte über die flandrischen
rend Jan- der zweite in der Kunst- ihm lediglich als Gehilfe, viel- Städte verlieren, in denen er gearbeitet hat, und über den burgundi-
leicht als begabter Schüler zur Seite gestanden habe. Doch die spä- schen Landesherrn, dessen Hofmaler er war. Es ist um so lohnender,
teren Bilder des jüngeren Bruders beweisen, daß er eines der größten damit zu beginnen, als wir bei dieser Gelegenheit auf die Rolle ver-
Genies der Geschichte der Malerei ist. Aber kamen in dieser Familie weisen können, die diese beiden Pole seines Lebens bei der Heraus-
die Genies gleich paarweise zur Welt? Kein Wunder, daß eine Sturz- bildung seines Stils gespielt haben. Die eindringliche Beobachtung
flut der Gegenargumente einsetzte, wonach Hubert eine legendäre von Personen und Dingen sowie ihres engeren oder weiteren Milieus
Gestalt wäre, die einzig in der Phantasie der Genter Lokalpatrioten und die äußerst getreue Darstellung des Wahrgenommenen pflegt
und in den von ihnen gefälschten Verszeilen zu finden sei; sie hätten man als einen Wesenszug des gründlich-zuverlässigen Bürgers anzu-
nicht zu ertragen vermocht, daß ein Künstler der benachbarten Stadt sehen, während die Vorliebe für vornehme Interieurs, festliche Klei-
Brügge dieses Meisterwerk für sie schuf. Deshalb hätten sie den nie- dung, für Glanz und Pomp dem Einfluß des burgundischen Hofes
mals existierenden älteren Bruder erfunden, der als Genter Bürger und zugeschrieben wird, der als Zentrum der späten ritterlichen Kultur
laut Inschrift sogar als die führende Künstlerpersönlichkeit erschiene. gilt. Wiewohl solche vereinfachende Gegenüberstellung unhaltbar
In den jüngsten Jahrzehnten äußert sich die Forschung weniger ist- denn der im Bürgerauftrag geschaffene Genter Altar ist genauso
extrem, der Vierzeiler wird allgemein für glaubwürdig gehalten, so prunkvoll wie die für den höchsten Würdenträger am Hof, für den
daß Hubert lebendige Gestalt annimmt. (Dabei gibt es eine neue Kanzler, gemalte "Rolin-Madonna", und auch bei den Porträts ist
Lesart des Textes, die seinen Namen überhaupt nicht enthält, sowie kein auffilliger Unterschied zwischen der Darstellung eines Ritters des
eine Rekonstruktion des Altars, die von der gegenwärtigen Präsenta- Goldenen Vlieses oder eines Kaufmanns aus Lucca - , sind diese
tion des Werkes stark abweicht und den älteren Bruder nur als Einflüsse zweifellos in der Kunst Jan van Eycks zu finden. Wollen
Schöpfer der nachmals vernichteten Statuen gelten läßt.) wir zunächst einmal seine Neigung zum Pomp und dessen von Fürsten
Die Autorio der aktuellsten umfassenden Monographie, Elisabeth und Bürgern gleich wichtig genommene Rolle näher untersuchen.
Dhanens, erklärt dagegen die Tatsache, daß Hubertin den Quellen, Johan Huizinga stellt in seinem Buch "Herbst des Mittelalters", das
in städtischen, Gerichts- und Erbschaftsakten, auffallend wenig er- die Kultur jener Epoche so einprägsam zusammenfaßt, nicht umsonst
wähnt wird, damit, daß er als eine Person geistlichen Standes kein fest: "Die französisch-burgundische Kultur des ausgehenden Mittel-
Geld für seine Arbeiten verlangte und somit sich nur seltener die alters zählt zu den Kulturen, in denen Pracht die Schönheit verdrängen
Gelegenheit bot, seinen Namen mit irgendwelchen juristischen Vor- will. Die Kunst des ausgehenden :Mittelalters spiegelt treulich den
gängen in Zusammenhang zu bringen und in Schriftstücken zu spätmittelalterlichen Geist wider." Die Menschen neigten zu allen
fixieren. Sie unternimmt sogar den Versuch, die stilistischen Unter- Zeiten dazu, ihr Vermögen vorzuzeigen, entweder, um damit zu
schiede im Schaffen der Brüder zu begründen: "Der erstere [Hubert], protzen, oder auch nur, um durch die Offenbarung ihres Reichtums
von kontemplativer Art, interessiert sich im kirchlichen Milieu für und ihrer Solidität sich um so besser in ein neues Unternehmen ein-
Werke mit liturgischer Funktion, der andere Oan], offenbar von be- lassen zu können. Diese beiden Gesichtspunkte kann man häufig im
weglicherem Geiste, widmete sich im Dienste eines mächtigen Für- Verhalten der burgundischen Herzöge beobachten, denn sie ragten
sten mehr der weltlichen Kunst, schuf seine religiösen Werke zum unter den anderen Herrschern des I 5. Jahrhunderts, die häufig unter
Zwecke privater Andacht und bestimmte dank seinem schöpferischen . Geldmangel litten, gerade durch ihr Vermögen hervor - vor allem
Genie wesentlich die Entwicklung der niederländischen Kunst." dank den von den prosperierenden flandrischen Städten eingetrie-
Wir wollen uns in diesen Fragenkomplex nicht weiter vertiefen, denn benen Steuern. Die vielen Söldner sowie das modernere Kriegsgerät
das würde bis ins kleinste Detail gehende Betrachtungen sowie histo- brachten den Erfolg so mancher Unternehmung, und durch freigebige
rische, theologische und andere Grundlegungen verlangen. Auch Geschenke wurde mehr als ein schlagkräftiger v~rbündeter gewon-
wenn wir von der Untersuchung jener winzigen stilistischen Unter,- nen. Der Prunk des Hofes blendete einerseits die in- und ausländi-
schiede absehen, die es möglicherweise einmal erlauben werden, das schen Beobachter, andererseits trug er unmittelbar zum Aufschwung
Schaffen beider Meister zuverlässig und für alle Teilnehmer des wis- einzelner Bereiche der Wirtschaft bei, da das Luxuswarenhandwerk
senschaftlichen Disputs akzeptabel voneinander zu trennen, bieten mit Aufträgen überhäuft wurde. Die Bürger, die Weber und Kaufleute
ihre Bilder dem Auge genug Sensationen. der vor allem in der ersten Hälfte des I 5. Jahrhunderts bedeutendsten

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S6dte Gent, Brügge und Ypern betrachteten mit Entzücken diese Es genügt, den Hintergrund des Gentee Altars mit seinen prangenden
Prachtentfaltung, und obwohl sie sehr wohl spürten, daß sie nicht südlichen Fruchtbäumen zu betrachten. Während des Aufenthaltes in
zuletzt auf ihre Kosten vonstatten ging, beteiligten ·auch sie selbst Portugal wurde übrigens jene Ehe gestiftet, auf die sich das obige
sich daran. Das geht deutlich hervor aus dem Bericht Chastellains, Zitat bezieht.) Jan van Eyck unternahm jedoch auch eine solche
des berühmten Historikers des burgundischen Hofes, über den Ein- Reise, die so sehr geheimgehalten wurde, daß nicht einmal die herzog-
zug des Herzogs Philipp des Guten in Gent. Das Bestreben der lichen Rechnungsbücher ihren Zweck, sondern lediglich den ange-
Bevölkerung, ihre Stadt so schön wie möglich auszugestalten, artiku- wiesenen Geldbetrag verzeichnen. Die neuesten Forschungen machen
liert sich ebenso wie ihre Befürchtung, die hohe Ehre werde sie allzu es wahrscheinlich, daß er bei dieser Gelegenheit auch nach Italien
viel Geld kosten: "Und sogleich nach der Hochzeit von Brügge brach kam. Der Herrscher mag außer Jans künstlerischen Fähigkeiten auch
er auf un d ging in reichem und vornehmem Aufzug mit der Herzogin sein Auftreten, seine Zuverlässigkeit sowie seine Bildung geschätzt
nach Gent, wo sie mit solchen Ehren und Zeremonien und mit sol- haben. Dies ersieht man einmal daraus, daß er ihn bei heiklen und
cher feierlichen Pracht empfangen wurden wie sonst kein Sterblicher offenbar wichtigen Angelegenheiten in Anspruch nahm, zum anderen
... Geistliche machten feierliche Prozessionen, mit prachtvollen Ge- kann man das einem seiner Briefe an das Rechnungsamt in Lilie ent-
wändern und Ornamenten bekleidet, und sie trugen reichverzierte nehmen, in dem er befiehlt, die ausgebliebenen Jahresbezüge des
und kostbare Reliquien, und alle Straßen waren voller Altäre, auf "Jehan" ohne Säumen zu überweisen, denn "wir würden niemanden
denen die heiligen und kostbaren Reliquien abgesetzt wurden .. . finden, der ... in der Kunst und in der Wissenschaft so sehr hervor-
Die Straßen waren von oben bis unten behangen und bespannt, und ragte wie er".
man sah wegen der Behänge nirgends ein Haus, wo man vorüber- Die Erwähnung von Kunst und Wissenschaft in einem Atemzug ist
kam, und kaum ein Stück des Himmels ... Und es gab Maskeraden keine Seltenheit im 15· Jahrhundert, da die Maler der anbrechenden
an einigen Straßenecken, an denen sie vorbeikamen, die sehr bedeu- Renaissance bestrebt waren, stets wachsende theoretische Kenntnisse
tungsvoll und schön anzusehen waren . .. so hielten sie Einzug in die zu erwerben, um schließlich nicht mehr zu den Handwerkern, sondern
Stadt und gingen durch die also geschmückten Straßen und kamen wie die höfischen Humanisten zu den angeseheneren "gebildeten
bis zu ihrem H otel, das sehr schön war. Und dorthin kamen am selben Menschen" gezählt zu werden. Hier handelt es sich jedoch vermutlich
Abend die Herren des Rates und die Vornehmsten der Stadt, um nicht um das Streben, das für die italienischen Künstler so charakte-
sehr ehrerbietig ihren Herzog und die Herzogin willkommen zu ristisch ist, sondern vielmehr um die Anerkennung der Leidenschaft
heißen und zu begrüßen. Und indem sie ihnen für ihren guten Besuch und Gründlichkeit des Meisters Jan bei der Erforschung der Wirk-
dankten, übergaben sie ihnen einige schöne und gute und reiche lichkeit, zu welcher Eigenschaft auch noch eine weitgefächerte theo-
Geschenke, jedenfalls als Anfang, denn sie wußten sehr wohl, daß logische Bildung hinzugekommen sein mag.
sie am Ende mehr zu geben hatten, was sie auch taten. Denn bevor er Der Maler war kraft seines Amtes Angehöriger des burgundischen
die Stadt verließ, billigte man ihm im ganzen Lande Hilfe in Form Hofes, aber er zog nicht mit diesem von Stadt zu Stadt, sondern lebte
von dreihundertfünfzigtausend Goldkronen als Hochzeitsgeschenk in Lilie und in Brügge. Seine Arbeit und seine persönlichen Bezie-
zu." hungen banden ihn fest an die Umgebung des Herzogs, aber er war
Jan van Eyck diente Phitipp dem Guten als "varlet de chambre" Bürger - obwohl in der mütterlichen Linie auch Adlige zu finden
(Kammerherr). Der Titel sowie die damit verbundenen Zuwendungen sind-, also Angehöriger des neuen Standes, der zu jener Zeit mehr
bedeuteten eher einen Rang als eine ständige Verpflichtung, denn der und mehr an Bedeutung gewann. So ist er auch der typische Vertreter
Maler arbeitete bei weitem nicht nur für den Herrscher oder für jenes Flanderns, das damals - neben einigen Gebieten Italiens -das
dessen Hofstaat. Gleichwohl mag ihr Verhältnis besonders eng ge- stärkste städtische Gepräge in Europa trug.
wesen sein. Der Herzog schätzte ihn offensichtlich al's einen unmittel- Reichtum und hoher Urbanisierungsgrad dieses Territoriums stehen
baren Vertrauten, so daß er ihn sogar mit diplomatischen Missionen in engstem Zusammenhang miteinander. Im Rahmen der das Mittel-
beauftragte. Wie Hofmaler allgemein, reiste Jan mehrfach als Mitglied alter bestimmenden feudalen Verhältnisse nahmen die Stadtbürger
von Gesandtschaften, die über die Eheschließung ihres Herrn zu ver- eine Sonderstellung ein, waren sie doch die einzigen, die nicht voll
handeln hatten, ins Ausland, denn ein verläßlicher Künstler war ja eingegliedert waren in jene Kette zwischen dem höchsten Feudal-
vonnöten, um das Konterfei der künftigen Braut festzuhalten und herrn und den Schichten, die mit ihrer Hände Arbeit die anderen
rasch nach Hause zu schicken. (Den Einfluß der Reisen nach Spanien ernährten. Wenngleich die schulmäßige Auffassung der "Feudal-
und Portugal bemerken auch die Nichtfachleute leicht in Jans Bildern: pyramide" unhaltbar ist und das Mittelalter mit seinen unzähligen

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örtlichen Besonderheiten, seinen privilegierten kleineren und grö- Ergebnis der Verschmelzung der Eleganz der französischen Hof-
ßeren Gemeinschaften und seiner tausendjährigen D auer eine solche kunst mit der bereits damals auffälligen eindringlichen Naturbeob-
Vereinfachung nicht verträgt, ist es dennoch von Nutzen, dieses all- achtung der flämischen Meister pflegt man als franeo-flämische Kunst
gemein bekannte Bild ins Gedächtnis zu rufen, da so die Eigenart zu bezeichnen. Sie ist im Grunde ein Zweig jener kurzlebigen, aber
des Bürgertums und die Bedeutung der bürgerlichen Kunst plasti- sehr eigenständigen Richtung, die wir unter dem amen "interna-
scher veranschaulicht werden können. tionale Gotik" kennen und die um 1400 ihren Höhepunkt erreichte.
Die Stadtkommunen verdankten nämlich ihre privilegierte Lage dem Die Bezeichnung verweist darauf, daß die in relativ weit entfernten
Umstand, daß sie infolge ihrer handwerklichen und kaufmännischen Orten Europas zu jener Zeit entstandenen Kunstwerke einander
Tätigkeit Werte schufen, die die Adligen von ihren Leibeigenen mehr glichen, als es je zuvor oder danach der Fall war. Mitunter ist
keinesfalls erhalten konnten. Ihre Arbeit erwies sich zugleich als eine es fast unmöglich zu sagen, ob ein Gemälde in Prag, in der Lombardei,
Finanzquelle, die viel ergiebiger war als die landwirtschaftliche in Paris oder in Burgund, um nur die wichtigsten Zentren zu nennen,
Produktion. Der Wohlstand hatte die Städte stark und groß gemacht geschaffen wurde. Damals waren anstatt der kraftvollen D arstellungen
und es ihnen ermöglicht, alle Heimsuchungen und Rückschläge zu der Wirklichkeit die dem höfischen Geschmack entsprechenden
überstehen. Die reichen und unabhängigen flandrischen Städte sind strahlenden Farben und betörenden Linienrhythmen in Mode, die
das überzeugende Beispiel für diesen Prozeß. Ihre Waren- vor allem überwältigende Monumentalität wurde abgelöst von einer Tendenz
die weichen flandrischen Tuche- stellten die wichtigsten Artikel des zum Kleinformat und - damit zusammenhängend - zu einer ins
damaligen Fernhandels dar. Detail gehenden Ausführlichkeit.
Es ist kurios, sich vorzustellen, daß diese nüchterne, mit Recht Zu den bekanntesten Vertretern der franeo-flämischen Richtung, die
selbstbewußte bürgerliche Welt, die ihr beträchtliches Vermögen die besten Kräfte von Paris, Burgund und den niederländischen
durch fleißige Arbeit erworben hatte, zum burgundischen Herzogtum Provinzen miteinander verband, gehörten Melchior Broederlam und
gehörte, das eines der unter den absonderlichsten Bedingungen ent- die Brüder von Limburg. Der erstere arbeitete für Philipp den
standenen und existierenden feudalen Staatsgebilde gewesen ist. Kühnen in Dijon; er stellte seine überaus graziösen Figuren noch vor
Dieses umfaßte das heutige Nordostfrankreich und die Benelux- Landschaftsmotive, die sich kulissenförmig übereinander staffeln;
Staaten und erhielt seinen Namen nach jener Provinz, die das Lehns- die Innenraumgestaltung knüpft ganz eng an die Ergebnisse des
gut des französischen Prinzen Philipp des Kühnen war. Dessen italienischen Trecento an. Die Brüder von Limburg waren Miniaturi-
Nachfahren betrieben eine zunehmend selbständige Politik, die die sten; ihr bekanntestes Werk sind die _"Tres Riches Heures", das im
Interessen des französischen Königtums mitunter schwer verletzte. Auftrag des Herzogs von Berry, eines Mitglieds der französischen
Das ursprüngliche Territorium war in den hundert Jahren des Be- Königsfamilie, geschaffene "sehr reiche" Stundenbuch. Naturbeob-
stehens des Herzogtums um ein Vielfaches gewachsen. Durch kluge achtung und Landschaftsdarstellung sind in ihrer Kunst wesentlich
Heiratspolitik, mit ein wenig Glück und zuweilen auch mit Gewalt weiter entwickelt als in der Broederlams, trotzdem machen die feen-
fügten die Herzöge ihrem Land Gebiet um Gebiet hinzu. Doch am hafte Stimmung, die wunderbaren Farben und die unnachahmliche
folgen reichsten blieb der Erwerb Flanderns, der bereits in den Linienseligkeit noch immer ihren hauptsächlichen Reiz aus.
frühen Jahren vollzogen worden war. Die später an die Burgunder Diese Traumwelt hatte jedoch nur kurzen Bestand. Die Epoche
gelangten Territorien- oft ohne Verbindung zu den Stammlanden- brachte fast in Reaktion darauf den unbändigen Realitätsanspruch der
wurden nicht zum festen Bestandteil eines einheitlichen Staates. Viel- niederländischen Kunst hervor. In dieser Hinsicht scheint besonders
mehr können wir von einem ziemlich lockeren Bund von Grafschaf- jener in Tournai wirkende Maler von Bedeutung, den man als Meister
ten, Herzogtümern und anderen kleineren Gebieten sprechen, die ihre von Flemalle (sein ursprünglicher Name war, vielfach belegt, Robert
Privilegien zu wahren wußten; ja man hat zuweilen den Eindruck, Campin) kennt. Seine das Schöne nicht im Ätherischen, sondern in
daß dieses Konglomerat lediglich eine durch den gemeinsamen der Wirklichkeit suchenden Formen, seine zuweilen allzu stämmigen,
Herrscher zusammengehaltene Personalunion gewesen ist. plastischen Gestalten, seine den Raum nahezu greifbar vor Augen
Etwa so könnte man das Flandern Jan van Eycks charakterisieren. führenden Interieurs und seine Landschaften, die eine immer stärkere
Darüber hinaus sind nun noch einige Worte vonnöten über das Illusion der Perspektive vermitteln, mit einem Wort: sein kraftvoller
künstlerische Milieu, in dem sich sein Stil entwickelte. Die flämischen Realismus, waren eine bewußte Abrechnung mit dem Hang der vor-
Maler der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurden in erster Linie ausgegangenen Generation zur Idealisierung.
von Paris und den anderen französischen Zentren angezogen. Das Unter solchen Umständen begannen die Brüder van Eyck ihre künst-

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lerische Laufbahn. Hubert wird in den Quellen nur selten erwähnt, überwältigende Ausstrahlungskraft auf ihn ausübt? D as ist eine
dagegen wissen wir vom Leben Jans wesentlich mehr. Die einzelnen Frage, die man mit der Exaktheit einer naturwissenschaftlichen
Stationen seiner Biographie wollen wir hier nicht anführen, sie kön- Definition nicht zu beantworten vermag; und auch die Lektüre dieses
nen der Übersicht "Die Zeit und der Künstler" entnommen werden. Buches kann nur einen Teil der möglichen Gesichtspunkte dazu
Was seine Werke betrifft, so ist die Feststellung ihrer Chronologie bieten. Immerhin bringt uns ein Zitat des bekannten sowjetischen
sehr ungewiß, obwohl sie nicht selten vom Maler datiert wurden. Kunsthistorikers Michail W. Alpatow dem Wesen des Problems ein
Doch daran dürfen wir uns nicht stoßen. Die Tatsache, daß trotz der Stück näher: "Man kann die niederländischen Meister des 15. Jahr-
immer wieder neu unternommenen Bemühungen zahlreicher vor- hunderts ... als Realisten bezeichnen ... Im Gegensatz [zu den italie-
züglicher Kunsthistoriker die Übereinstimmung heute nicht größer nischen Künstlern] zogen [sie] es ... vor, Maria und viele Engel und
ist als vor einigen Jahrzehnten, weist bereits auf die Kompliziertheit Heilige vom Himmel auf die Erde herunterzuholen, sie in Kirchen
des Problems hin und zeigt, wie hoffnungslos es ist, eine einfache, alle oder Wohngemächer zu führen und in königlichen Gewändern und
zufriedenstellende Lösung finden zu wollen. Kronen darzustellen. Schon allein ihre Anwesenheit heiligte die Erde,
Da es im Zusammenhang mit dem Meister viele unsichere Daten gibt, die Bäume, Gräser, Blumen und Tiere und die Kleinigkeiten des
entstanden auch über seine Person nicht wenige Hypothesen. Wir Alltagslebens. Selbst auf den grausamen Kanzler Rolin oder den
wollen auf diese nicht weiter eingehen, aber eine von ihnen verdient häßlichen Kanonikus van der Paele fiel ein Abglanz von der Glück-
erwähnt zu werden, da sehr gewichtige Argumente für sie sprechen: seligkeit der neben ihnen thronenden Madonna." Das Wichtigste
Man darf wohl mit Recht annehmen, daß Jan van Eyck in Italien daran ist die Feststellung: "Schon allein ihre Anwesenheit heiligte
weilte: Auf verschiedenen seiner Bilder tauchen Lösungen auf, die die Erde ... " Bei genauer Betrachtung wird jedermann klar, daß
sich am besten mit italienischem Einfluß erklären lassen. Ganz deut- es auf diesen Bildern stets noch etwas gibt, das nicht sichtbar ist,
lich ist das bei den Porträts, die nicht die im Norden übliche Profil- etwas Heiliges- obwohl doch nur wenige Maler so viele Dinge der
ansicht bieten, sondern drei Viertel des Antlitzes zeigen. Diese sichtbaren Welt dargestellt haben wie Jan van Eyck. Welcher Reich-
Stellung, eindrucksvoller als das strenge Profil, ist- abgesehen von tum der Details in den Wohnräumen, wieviel verschiedene Bäume
einigen Werken des Meisters von Flemalle - vor allem in Florenz stehen in einem Wald, und wie unterschiedlich sind die Kieselsteine
beliebt, insbesondere begegnet man ihr in den Fresken der Brancacci- am Ufer eines Baches 1 Doch durch die Vielfalt der Gegenstände
Kapelle, jenem zukunftsweisenden Meisterwerk von Masolino und stoßen wir vor zu den wesentlichen Dingen : zu einer prunkvollen,
Mas,accio, das die Entwicklung der gesamten Renaissance bestimmte edelsteinverzierten Krone, einem anmutigen oder resoluten Gesicht,
und das kurz vor der für das Ende der zwanziger Jahre des I 5. Jahr- dem prächtigen Faltenwurf einer Festbekleidung oder dem furchtein-
hunderts angenommenen Italienreise Jans fertiggestellt worden war. flößenden Blitzen einer Rüstung. Hinzu kommt noch passionierte
Auch auf andere seiner Gemälde, so die großen Tafeln des Genter Beobachtung der Stofflichkeit und ihre sichere Darstellung; es tut
Altars, mögen die Werke der Brancacci-Kapelle und ähnliche italieni- einem wohl, die Augen am Glanz eines Pelzes, an der Elastizität eines
sche Freskenzyklen Einfluß ausgeübt haben, ebenso die großfor- kleinen Kinderkörpers oder an der runzligen Haut eines alten Mannes
matigen mehrgliedrigen Altarbilder, unter ihnen offenbar am stärk- zu weiden.
sten die des populären Meisters der internationalen Gotik, Gentile Darauf beruht die Argumentation jener, die die Brüder van Eyck
da Fabriano. D avon zeugt nicht nur die Komposition, sondern auch lediglich als die Begründer des neuzeitlichen Realismus, vielleicht als
die im Norden seltene Monumentalität der Ausführung, ferner die dessen vollkommenste Durchsetzer, feiern, die im Stil der Maler nur
Feierlichkeit ausstrahlende, gleichwohl nicht steife Haltung der nach der neuen Weltsicht des zunehmend an Bedeutung gewinnenden
Figuren, ihre trotz aller D ynamik gewahrte Symmetrie, die auch in Bürgertums fahnden und allein die auf den Bildern sichtbaren Gegen-
Italien seltene großformatige Aktdarstellung von Adam und Eva. stände zusammenzählen, um sie als Quelle ihrer kulturgeschichtlichen
Die Beglaubigung der Bilder durch Signatur und sogar durch Forschungen benutzen zu können. Aber wiewohl jedermanns Auge
Datierung ist ein Beweis des gewachsenen künstlerischen Selbstbe- sich bereits an diesen schon wegen der Plastizität ihrer Wiedergabe
wußtseins; die Übernahme dieses im Norden noch völlig unbekannten köstlichen Sehenswürdigkeiten erfreut- damit dürfen wir uns nicht
Brauchs kann ebenfalls am ehesten als achahmung des italienischen begnügen. Wir müssen weiter darüber nachdenken, was denn dieses
Vorbilds erklärt werden. in den Bildern der Brüder van Eyck Allgegenwärtige, doch Unsicht-
Was ist es nun, das in Gent - und an so vielen anderen Orten, wo bare sein mag.
der Besucher einem Bilde Jan van Eycks begegnet - eine derart Warum lassen uns heute Gemälde so gleichgültig, die ihren Modellen,

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egal ob lebensvoll oder leblos, wie Abbilder gleichen? Weil wir das Werkstatterfahrungen weiter zu gelangen. Auf diese Weise dauerte es
Gefühl haben, daß das Streben nach Ähnlichkeit den Meister so sehr länger, bis auch die letzte Phase des Weges zurückgelegt war.
beschäftigte, daß seine Energie dadurch ganz und gar in Anspruch Die flämischen Künstler waren zwar fast gleichzeitig mit den Italie-
genommen war und nicht mehr ausreichte für Dinge, die zum Eigent- nern, doch unabhängig von ihnen und sogar mit Hilfe ganz anderer
lichen der Kunst gehören. Die Personen oder Gegenstände sind in Methoden, auf die Regeln gekommen, wie der Raum darzustellen sei.
solchen Fällen meist sehr plastisch dargestellt, aber sie sind nicht Unsere Bewunderung kann nur noch wachsen, wenn wir bedenken,
schön genug: Also hat der achselzuckende und verdrossene Betrachter daß es selbst in der zweiten Hälfte des I4. Jahrhunderts noch sehr
recht, wenn er denkt, daß dieses Ergebnis mit dem Fotoapparat noch wenige Bilder gab, deren Figuren nicht vor einem neutralen Fond
perfekter hätte erreicht werden können. Im übrigen sind nicht nur standen. Erhielten sie schon einen gemalten Hintergrund, so war
die modernen Naturalisten enttäuschend, auch die vor der Ent- doch die Raumtiefe nur angedeutet. Zu jener Zeit war es außer für
wicklung der Fotografie entstandene akademische Malerei ist mit Italien allein für die Niederlande charakteristisch, daß hinter den
ihrer übertriebenen Naturtreue keineswegs sympathisch- offensicht- Figuren, zumindest in ihrer unmittelbaren Umgebung, nicht lediglich
lich aus dem Grund, weil schon damals die stoffliche Malweise, die die der obligatorische Goldgrund erstrahlte.
Darstellung von Menschen- und Tierfiguren absichernde Kenntnis Der goldene Grund der frühchristlichen Mosaiken und der byzantini-
der Anatomie sowie der auch komplizierte Aufgaben mit bravouröser schen Ikonen -die angemessene Umgebung der des himmlischen
Leichtigkeit lösenden Perspektive zum Lehrstoff geworden waren Glanzes teilhaftigen Gestalten und zur Zeit Jans ein seit tausend
und von einem durchschnittlich begabten Studenten zuverlässig an- Jahren beständiges, obwohl nicht ausschließliches Merkmal der euro-
geeignet werden konnten. päischen Malerei - taucht bis zum Ende des I 5. Jahrhunderts sehr
Zu Beginn des I 5. Jahrhunderts konnte davon noch nicht die Rede häufig auf den Flügelaltären auf, und es gibt auch noch im nächsten
sein. Die Künstler versuchten mit viel Eifer, die Wirkung ihrer Jahrhundert Beispiele dafür, daß sich bedeutende Künstler des Gold-
Bilder durch die Veranschaulichung der dritten Dimension zu stei- grundes bedienten.
gern und den so vorgestellten Raum geschickt mit Akteuren und Auch wir empfinden beim Betrachten der Bilder noch nach über fünf
Gegenständen zu füllen - vor allem mit Gestalten, deren Körper- Jahrhunderten, daß diese Wunder der Wirklichkeitsdarstellung nicht
proportionen immer genauer erfaßt waren und die sich stets über- selten auf der Anwendung von praktisch gewonnenen Werkstatter-
zeugender bewegten. Sie hielten es auch für wesentlich, · daß die fahrungen beruhen. Damals verlangte die treffende Wiedergabe der
Oberfläche der im Bilde sichtbaren Dinge möglichst stofflich an- Stofflichkeit, der Perspektive und der Anatomie noch eine ganz
mutete. Mehrere Generationen waren diesem Ziele zugestrebt, dabei besondere geistige Anstrengung. Der Schöpfer dieser Tafeln war sich
organisch auf den erreichten Ergebnissen aufbauend, doch ihre hart- anfangs selbst nicht ganz sicher, wie der eine oder andere Einfall von
näckigen Anstrengungen gelangten erst in der Kunst der Brüder ihm, den er bislang nur an kleinformatigeri Skizzen erprobt hatte,
van Eyck an das gesteckte Ziel; ihnen gelang es, die verschiedensten wirken würde, ja er konnte nicht einmal wissen, ob es ihm gelingen
Darstellungsprobleme zu lösen. Interessant und auf den ersten Blick würde, eine anderswo bereits bewährte Lösung zu wiederholen. Doch
vielleicht unglaublich erscheint die Tatsache, daß die Veranschau- ist es gerade das, was wir an ihren Werken so hoch schätzen; deshalb
lichung des Raumes - nach unseren später entstandenen Begriffen - betrachten wir, wenn wir einmal einem neuen Bild von Jan van Eyck
im Grunde nie perfekt ist, daß wir vielmehr in jedem Bild ein, zwei begegnen, seine Kunst mit unbändigem Interesse und mit fast arg-
Fehler finden würden, wenn wir die Komposition Zug für Zug wöhnischer Neugier.
durchbuchstabierten. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, daß das Bei eindringlicher Prüfung müssen wir im übrigen feststellen, daß
die Jahre waren, in denen sich die Praxis der Zentralperspektive diese Werke nicht in dem Maße Gipfelpunkte einer naturgetreuen
gerade herausbildete, die später zu einem lehrbaren und erlernbaren Darstellung sind, wie das die öffentliche Meinung gern glaubt. Es
System werden sollte. Vor I42o-I425 vermochten nicht einmal die wäre langwierig, in Worte zu fassen, wie sehr diese Bilder gerade das
Florentiner, die den Problemen der wirklichkeitsgetreuen Raum- nicht sind; aber vielleicht erübrigt sich das auch, denn schon ein ein-
gestaltung auf geometrischem Wege, durch Konstruktion, beizu- facher Versuch bringt alles ans Licht: Stellen wir in Gedanken die
kommen trachteten, eine Komposition in vollkommener Perspektive Illustration eines modernen botanischen Fachbuches neben ein ent-
zu lösen. Im Gegensatz zur Methode der Italiener, die man als wissen- sprechendes Detail aus einer Tafel van Eycks, etwa aus der Blumen-
schaftlich-theoretisch bezeichnen könnte, versuchten die Nieder- wiese der "Anbetung des Lammes". Beide sind gründliche Arbeiten,
länder in dieser Frage durch die Zusammenfassung aller gewonnenen beide sind bedeutende Leistungen der Erfassung der Wirklichkeit -

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und dennoch bemerken wir einen Unterschied. Es klingt seltsam, nicht bemerkt. Sein Stil mutet so malerisch an, wie das zu jener Zeit
wenn wir bekennen, daß der unübertreffliche Meister der Wirklich- nur bei wenigen der Fall ist.
keitsdarstellung in der Naturtreue hinter dem Illustrator des Lehr- Von den Porträts im engen Sinne lassen sich bestimmte Bilder reli- .
buches zurückbleibt. Die Arbeit des einen ist schön, die des anderen giösen Gehalts nicht ganz scheiden, hat man doch den Eindruck, als
fachgerecht. Wir könnten vielleicht sagen, daß der Botaniker einen paßten die Madonnen des Kanzlers Rolin und des Kanonikus van der
Grashalm oder ein Blatt deshalb verewigt hat, weil sie ihn als Pflanzen Paele in beide Kategorien hinein. Der Künstler hat sich von einer
interessierten, während Jan es deshalb tat, weil er sie besonders schön traditionellen religiösen Darstellung schon durch die Hervorhebung
fand, weil sie in die formale und gedankliche Ordnung seines Bildes der Figur des Stifters merklich entfernt. Solche Tafeln waren zum
hineinpaßten. Erst wenn wir uns das vor Augen halten, können wir Schmuck.. der Kirchen bestimmt, sie waren Altarbilder und mußten
ermessen, wie sehr Jan van Eyck bereits in seinem Frühschaffen über die sie betrachtenden Gläubigen zur Andacht anregen. Der Schaf-
den Naturalismus hinausgeht. Genauer gesagt: Erst dann können wir fung dieser Stimmung diente die Darstellung von heiligen Personen
richtig würdigen, wie sehr ihm die wirklichkeitsgetreue Darstellung oder Ereignissen, und es war auch das Ziel der neuartigen Malweise,
nicht Zweck ist, sondern nur ein Mittel, das bei seinen Porträts zur die Gläubigen die Anwesenheit der himmlischen Personen wahr-
Steigerung der Ausdruckskraft und bei seinen religiösen Bildern zur haftiger empfinden zu lassen, ihnen ein besseres Bild von ihnen zu
Steigerung der Andacht dient. geben, damit sie es um so intensiver und mit größerer Hingabe anzu-
Wir wollen zunächst die Porträts der Reihe nach betrachten, bedeu- beten vermochten.
teten sie doch zu jener Zeit eine große Neuheit. In der vorhergehenden Auf der Suche nach dem ideellen Hintergrund der neuen Malerei
Phase des Mittelalters noch wäre die Verewigung der sterblichen müssen wir an jene mittelalterliche philosophisch-theologische Rich-
menschlichen Hülle überflüssig, ja geradezu sinnlos gewesen. Sogar tung denken, die die Schönheit der Welt pries und darin den Beweis
die Herrscher, die primär nicht sich selbst, sondern ihre Dynastie der Vollkommenheit ihres Schöpfers erblickte. Das war ein gewaltiger
repräsentierten, wurden erst nach ihrem Tode auf Grabmälern fest- Wandel: Früher hatte man die Welt als Jammertal empfunden, jetzt
gehalten. (Für die auf Siegeln und Münzen vorkommenden Darstel- dagegen ergötzte man sich an ihr. Wenn die vor den Augen der
lungen trifft die Bezeichnung "Porträt" im eigentlichen Sinne nicht Menschen sich ausbreitende Realität nun so interessant war, dann
zu.) Von der Mitte des 14. Jahrhunderts an fertigte man auch von war sie auch wert und würdig, schön und wahrhaftig gemalt zu
lebenden Personen Abbilder an, aber es waren zunächst ausschließ- werden. Die Prädikate "schön" und "wahrhaftig" stehen hier als
lich Fürsten und Könige. Beispiele für Bürgerporträts gibt es nicht Schlüsselworte. Denn alles, was uns auf diesen Bildern bezaubert -
vor dem Anfang des 1 s. Jahrhunderts, und auch dann sind die so die Geschlossenheit des Eindrucks, die Sicherheit des Stils, die keine
Erhobenen wiederum die reichsten Vertreter ihrer Epoche, in Wahr- Unruhe zuläßt, der Reichtum der Erscheinung, der satte Glanz der
heit Repräsentanten eines neuartigen Adels - der Geldaristokratie. Farben sowie die unübertreffliche Feinheit der Modeliierung - , all
Die Tatsache, daß sie gemalt wurden, beweist überzeugend, wie rasch das gilt der Schönheit der Welt. Der im Denken der Epoche einge-
ihre Bedeutung in der Gesellschaft und ihre S~lbsteinschätzung ge- tretene und in der Entwicklung der scholastischen Philosophie
wachsen waren. Schritt für Schritt nachweisbare Wandel mag erheblich zur steigenden
Jans Porträts sind nach italienischem Vorbild durch betont kräftigen Achtung, zum gründlichen Studium und zur künstlerischen Dar-
Knochenbau, über den sich- besonders an den Jochbeinen- straff stellung der früher wenig relevanten Requisiten der alltäglichen
die Haut spannt, sowie durch eine infolge der direkten Lichtführung Umgebung beigetragen haben. Die Menschen dachten vielleicht:
eindringliche Plastizität gekennzeichnet, doch wird diese Wirkung Wenn die Heilige Jungfrau Maria die Erde für würdig befunden hat,
gemildert durch eine natürliche Lebendigkeit. Die Gemälde des Mei- um hier in ihrer himmlischen Herrlichkeit zu erscheinen, dann muß
sters hinterlassen beim Betrachter nicht selten den Eindruck, als das schon ein sehr schöner Ort sein. Doch wie schön auch die Welt
wären sogar die einzelnen Gegenstände suggestive Individualitäten, an sich sein mag - der Künstler muß bestrebt sein, sie von ihren
und es versteht sich von selbst, daß diese Wirkung in den Porträt- vorteilhaftesten Seiten zu zeigen. Deshalb sehen wir lauter blühende
figuren noch eine Steigerung erfährt. Die Grundlage dafür lieferte eine Felder, den blauen Himmel, reiche Paläste, kostbare Möbel, Ord-
gründliche, ja strenge Analyse der Gesichter, die er nicht einmal bei nung, Sauberkeit und Heiterkeit.
seiner eigenen Frau versäumte. Doch seine Darstellungsweise ist so Die vom zeitgenössischen Denken angeregte Lust an der Beobachtung
natürlich, daß man die Anstrengungen, die ihn die Erzielung der und möglichst reizvollen Wiedergabe der kleinen Dinge eröffnete ein
Plastizität und der Trefflichkeit seiner Analyse gekostet haben, gar neues Kapitel in der Geschichte d"er religiösen Malerei. Früher war,

I I
besonders in der romanischen Kunst, das Streben vorherrschend, die fühl auf, seine Bilder wären trockene, hohle Symbolgebäude. Den-
Heiligen monumental und suggestiv, ja fast magisch darzustellen. ken wir nur an das Beispiel der Pfl.anzendarstellung: Van Eyck hat
In den Werken des späten Mittelalters wurden die Gestalten nach und - hinausgehend über die getreue Wiedergabe und die Umsetzung
nach lebensnaher, liebenswürdiger und menschlicher, der die von ideellen Gehalten in künstlerische Form - stets der Schönheit
Figuren umgebende Raum und die Gegenstände darin gewannen den Vorrang gegeben. Seine Gemälde sind ausnahmslos wunderbare
immer mehr Wichtigkeit. So findet man in den Gemälden schon Kunstschöpfungen, die das Auge des Betrachters mit ihrem nie ver-
wahrhaftige kleine Stilleben, Landschafts-, Genre- und Porträtdar- siegenden Zauber erfreuen.
stellungen - allerdings nur im Hintergrund, in den Ecken und beim Sehen wir uns ein Beispiel dieser "versteckten" Symbolik an, die in
Festhalten der Züge des Stifters. Die Wurzeln dieser Gattungen, die der Tat ganz anders ist als die frühere "handgreifliche" Symbolik
später autonom wurden, können wir ganz deutlich schon in der etwa der Flügel, die die Engel auszeichnen, oder des Glorienscheins,
frühen niederländischen Malerei erkennen, und gerade Jan van Eyck der das Haupt eines Heiligen umgibt. Die Verkündigungsszene des
gibt uns davon genügend Beispiele. Doch trotz dieser nicht zu Genter Altars wird von rechts her von einem schönen, gleichmäßigen
leugnenden Momente darf man nicht voreilig von einer Verwelt- Licht erfüllt (das gesteuerte Licht gehört zu den euerungen dieser
lichung der Kunst der Epoche sprechen. Es ist noch immer eine Schule), was genau der Richtung entspricht, aus der das natürliche
religiöse Malerei, wenngleich von anderer Art als bei den früheren Licht durch das Fenster am Aufstellungsort des Altars einfällt. An der
Generationen. Der Prozeß, in dem sich die Kunst mehr und mehr rechten Wand des mehr in der Tiefe gelegenen Raumes hinter der
dem Diesseits zuwendet, schreitet äußerst langsam voran, worauf Maria sieht man jedoch einen scharf umrissenen Fleck, der die Form
Panofsky sehr geistreich hinweist: " ... die Welt der Kunst konnte eines Fensters nachzeichnet- also an einer Stelle, wohin sich nur aus
nicht mit einem Schlag zu einer Welt der bedeutungslosen Dinge der Richtung des Engels Licht ergießen kann. Seine Quelle mag der
werden. Es konnte keinen direkten Übergang geben von der Defini- Entsender des Engels, Gottvater, sein; davon zeugt auch die Inten-
tion des heiligen Bonaventura, wonach ein Bild ,belehrt, andächtige sität des Flecks, der Umstand, daß dieser Teil des wahrlich hellen
Gefühle weckt und Gedanken wachruft', ZU Zolas Definition des Zimmers weitaus am stärksten leuchtet.
Bildes als ,ein Stück Natur, gesehen durch ein Temperament'." Auf D as Licht galt bereits in der religiösen Dichtung der früheren Jahr-
irgendeine Weise mußte man den neuentstandenen aturalismus mit hunderte als Offenbarung Gottes. Man betrachtete es als Künder
der mehr als tausendjährigen christlichen Tradition vereinbaren: "wahren Wissens", als dessen Mittler, man empfand es als Vorge-
Diesen Versuch können wir im Gegensatz zur offenkundigen und schmack des strahlenden Glanzes des Himmels. D as Licht, das durch
handgreiflichen Symbolik früherer Zeiten als versteckte Symbolik Glas drang, ohne es zu zerstören, galt auf der damaligen Ent-
bezeichnen. Die volle Entfaltung dieser Methode sieht Panofsky wicklungsstufe der Physik als eine derart unerklärliche Erscheinung,
gerade bei Jan van Eyck: "Bei [ihm) hat jegliche Symbolik reale daß man es zur Symbolisierung der auch nach der Geburt Christi auf
Form angenommen; oder, anders ausgedrückt, alle Wirklichkeit ist wunderbare Weise bewahrten Jungfräulichk~it Marias verwendete.
angefüllt mit Symbolik." Deshalb zeigen die Madonnenbilder Jans so häufig dieses Licht, das
Jedenfalls lohnt es, gründlich über den tieferen Gehalt der einzelnen durch das Fensterglas strömt, auf Wasserkrügen aufleuchtet und auf
Werke nachzudenken. Das fällt dem heutigen Betrachter nicht gerade Edelsteinen oder polierten Metallgegenständen erglänzt.
leicht. Denn in unseren Tagen verfügen nur noch wenige über die Das Licht war freilich für van Eyck nicht nur deshalb wichtig, um
dazu erforderliche religiöse Bildung. Wir müssen vieles lernen, was diesen geistigen Gehalt auszudrücken: Es war für ihn darüber hinaus
die Menschen im Mittelalter durch Schule, regelmäßiges Anhören auch eine der grundlegenden Quellen der Schönheit seiner Bilder.
der Sonntagspredigt und religiöse Ausrichtung der gesamten da- Bei ihm ist die Luft stets von großer Klarheit; er entdeckte eine jener
maligen Kultur selbstredend wußten und auch einem Gemälde ohne Wahrheiten neu, die der hellenistischen Kunst schon bekannt, danach
Mühe entnehmen konnten. Dieses Wissen würde sich zweifellos aus- jedoch in Vergessenheit geraten waren: daß das Licht auch im Schat-
zahlen, genießen wir doch eine künstlerische Schöpfung um so mehr, ten gegenwärtig ist und daß an keinem beleuchteten Ort die Dunkel-
je mehr wir schon beim ersten Anblick von der Gedankenwelt hinter heit völlig fehlt. Im 14. Jahrhundert befaßte sich nicht einmal die
der schönen Oberfläche begreifen. Malerei Italiens mit dem Licht, damals fand die Lichtsymbolik ledig-
Um auf Jan van Eyck zurückzukommen: Mögen wir aus unter- lich in Vergleichen der Theologen Verwendung. Sobald man das
schiedlichster Lektüre noch so viele seltsame, vielleicht sogar ver- Licht jedoch auf Gemälden sichtbar zu machen verstand, erhielt es
schroben anmutende Argumente kennen, niemals kommt das Ge- gleich einen wichtigen Platz unter den versteckten Symbolen.

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Es ist kein Zufall, daß die Maler des vorangegangenen Jahrhunderts Hervorgehoben werden muß auch folgendes: Die sorgfältige Stufung
nicht die Absicht gehabt hatten, derart viele Details wiederzugeben feinster Tonwerte war geeignet, vollkommener denn je die Luft-
und ähnlich feine Lichtwirkungen zu erproben, wie das ihre Kollegen perspektive zu veranschaulichen. Die Miniaturisten am Anfang des I 5.
im I 5. Jahrhundert taten. Die damals verbreitete Temperamalerei Jahrhunderts wußten schon, daß man die Ausdehnung der Land-
wäre weder für das eine noch für das andere geeignet gewesen. Die schaft bis an den Horizont wirksam gestalten konnte, wenn man ihre
Entdeckung der "neuen Technik" der Ölmalerei schrieb man- der Farbigkeit zunehmend heller und kraftloser hielt. Diese Methode
Autorität Vasaris folgend- jahrhundertelang Jan van Eyck zu, doch führte Jan van Eyck zur Perfektion - vor allem im Hintergrund der
ist das nur teilweise wahr. Das Öl diente an den verschiedensten "Anbetung des Lammes" auf dem Genter Altar und in dem sich
Orten als Bindemittel für die Farben, aber es entsprach nicht den durch die Arkaden der "Rolin-Madonna" eröffnenden Ausblick, der
Bedürfnissen der Künstler, weil es sich nicht zeichnerisch verwenden sich fast bis ins Unendliche dehnt und ganz fern sogar noch eine
ließ. Man konnte mit Öl nicht fein genug arbeiten, außerdem ver- verschneite Gebirgskette aufleuchten läßt.
gilbte es nach einiger Zeit. Dank der Verfeinerung der Öle und der Man hat ein wunderbares Gefühl, wenn man in diese blendende
sorgfältigen Erforschung der beimischbaren Zusatzstoffe eröffnete Weite schaut. Ebenso wunderbar sind aber auch die Gegenstände,
sich nach und nach die Möglichkeit dafür, daß das Öl auch von den die auf anderen Gemälden des Meisters aus unmittelbarster Nähe
anspruchsvollsten Malern verwendet werden konnte, allerdings gesehen sind. In Jans Werken ist einfach alles staunenswert - die
kombinierten sie es lange Zeit - bis ins I6. Jahrhundert - mit Wiedergabe der Realität und ihre symbolische Deutung, die Per-
Temperaschichten. Es war einer der größten Vorteile der Ölfarbe, spektive wie auch die Stofflichkeit und die tiefdringende Beobach-
daß sie sich auch dünn und transparent auftragen ließ, so daß der tung. Doch am stärksten bzeindruckt, wie er diese Probleme alle
Betrachter im Ergebnis das Zusammenwirken mehrerer Schichten auf einmal gelöst hat und wie malerisch dabei die von ihm erreichte
spüren konnte. Zunächst bedeckte man die Tafel mit einer strahlend Synthese ist.
weißen, glatten Kreidegrundierung, die die aufgetragenen Farben Mit den Worten von Ludwig Baldass, dem Autor einer der geschätzte-
in ihrem Glanz kraftvoll steigerte. Darauf wurde nun die Komposi- sten Monographien über Jan van Eyck, können wir am besten ver-
tion gezeichnet. Die Helldunkelmodellierung bereitete man hier schon gegenwärtigen, wie einzig der Meister in seiner Epoche war: "Alle
durch die äußerst detaillierte, aber monochrome Untermalung vor. großen Errungenschaften der vaneyckischen Kunst . . . finden wir
Danach folgten die einzelnen Farbschichten, und zwar zuerst die in Italien höchstens gleichzeitig, meist später, vor allem aber jede bei
dunkleren, darüber die helleren und durchsichtigeren. Obwohl die andern Künstlern. Jan van Eyck hat sie alle zugleich ausgebildet.
Vorzeichnung bis ins kleinste ging, zeugen zahlreiche Änderungen In der malerischen Vollendung der Naturwiedergabe steht er in
davon, daß auch die weitere Arbeit ein echter schöpferischer Prozeß seiner Zeit allein."
war und sich nicht mit dem Ausmalen des Vorwurfs beschied. In der Tat: Selbst die bedeutendsten italienischen Zeitgenossen Jans
Wir wissen nicht genau, welchen Anteil Jan van Eyck an dieser Ent- vermochten im Vergleich mit seiner künstlerischen Leistung eher
wicklung hatte, aber es ist gewiß, daß wir auf seinen Bildern zum nur malerische Teilaufgaben zu lösen: Der eine verblüffte mit ge-
erstenmal die umfassende Nutzung der neuen Möglichkeiten beob- wagten Verkürzungen, der andere schuf Gestalten von imponieren-
achten können. Er brachte die Wiedergabe alles Sichtbaren ganz der Körperlichkeit, der dritte nahm für sich ein durch besonders zarte
wesentlich voran, in seinen Werken können wir auch die kleinsten oder kraftvolle Farben. All das zugleich jedoch erscheint nur auf den
Dinge noch nach Lust studieren. Auf diese Weise vermag er uns den Bildern ihres großen flämischen Berufskollegen. Jan faßte die ein-
einen oder anderen Gegenstand - nicht einmal unbedingt die im dringlich studierten Details zu einer Wiedergabe in prächtiger Farbig-
Vordergrund befindlichen- so plastisch vor Augen zu stellen, wie keit zusammen, die sich durch die klare, von allen Zufälligkeiten freie
damals wohl ein Reliquienschrein weit vorne im Chor der Kirche Komposition zu schier ewiger Gültigkeit erhebt. Das ist der Ursprung
erstrahlt sein mag. (Denken wir nur an die an exponierten Stellen der magnetischen Ausstrahlung, von der jeder Betrachter in den
plazierten Kronen auf dem Genter Altar beziehungsweise der "Rolin- Bann geschlagen wird, und deshalb ist es auch nur gerecht, daß Jans
Madonna" oder an die an weniger auffälligen Orten angebrachten, Kunst in seinem Jahrhundert die höchste Würdigung nicht durch
aber dennoch sehr wichtigen Glaskannen oder auch an die Pantoffeln einen Landsmann erfuhr, der der Voreingenommenheit bezichtigt
Arnolfinis.) Stets bietet sich so auch die Möglichkeit, das mal strah- werden könnte, sondern durch den italienischen Humanisten Barto-
lende, mal dämmrige, doch stets überaus wichtige Licht darzu- lommeo Fazio, der ihn "saeculi nostri pictorum princeps", das heißt
stellen. "Fürst der Maler unseres Jahrhunderts", genannt hat.
Die Zeit und der Künstler von Phiiipp dem Kühnen geführte burgundische Partei, ein andermal die von
Es sind nur die datierten Werke Jans angeführt d'Orlians geführte Armagnac-Partei die Macht.
1394-1397 Der in Ypern ansässige Maler Melchior Broederlam fertigt für
den burgundischen Herzog den Flügelaltar der Kartause von Champmol.
13 56 Vernichtende Niederlage der Franzosen in der Schlacht bei Maupertuis 1396 Schlacht bei Nikopoi: Sultan Bqjasid bringt dun zu bedeutenden
( Poitiers) gegen die Engländer. Teilen aus französischen und burgundischen Rittern bestehenden Heer König
13 56- 13 58 Aufstand des Pariser Bürgertums unter Führung von Etienne Sigismunds von Ungarn eine schwere Niederlage bei.
Marcel; die Generalstände verlangen mehr Beteiligung an der Regierung. 1 39 7-1 400 Rogier van der W ryden geboren.
13 58 Der bedeutendste franzö'sische Bauernaufstand ( Jacquerie) wird mit I4o1 jo2 Wettbewerb um die Anfertigung der zweiten Bronzetij} des
grausamer Härte niedergeschlagen. Baptisteriums in Florenz, aus dem Lorenzo Ghiberti als Sieger hervorgeht.
1363 König Johann II. von Frankreich gibt seinem Sohn Phitipp dem Kühnen 1404 Tod Philipps des Kühnen; ihm folgt sein Sohn Johann ohne Furcht.
für seine Tapferkeit in der Schlacht bei Maupertuis (Poitiers) das Herzogtum 1409 Konzil von Pisa: Das zur Beendigung der Kirchenspaltung zusammen-
Burgund zum Lehen. gerufene Konzil wählt anstelle der zwei Päpste einen neuen. Da jedoch keiner
13 70 Friede von Strafsund: Die Hanse erreicht den Gipfel ihrer militäri- der herrschenden Päpste bereit ist abzudanken, gibt es ihrer nun drei. -Grün-
schen Macht. dung der Universität Leipzig.
1378 Ciompi-Aufstand in Florenz. 1410 Schlacht von GrunwaidfTannenberg: Die vereinigten polnisch-litaui-
13 78-1417 "Großes Schisma": Seit dem Beginn des Jahrhunderts hielt sich schen Heere bringen dem Deutschen Orden eine Niederlage bei und setzen damit
der päpstliche Hof in Avignon auf. Als Gregor XI. dennoch nach Rom seiner Expansion ein Ende. - Der Erzbischof von Prag und später der römi-
zurückgekehrt war, kam es nach seinem Tod zu einer doppelten Papstwahi. sche Papst belegen ]an Hus wegen seiner die Praxis der offiziellen Kirche im
Die Gruppe der in Frankreich verbliebenen Kardinäle bestimmte ein eigenes Geiste Wiciifs kritisierenden Predigten mit den1 Bann. - Sigismund von
Kirchenoberhaupt, so daß sich das bis dahin einheitliche westliche Christentum Luxemburg, bislang nur König von Ungarn, wird zum deutschen Kö'nig gewählt.
in zwei Lager spaltete. 1414-1418 Konzil von Konstanz zur Beseitigung des Schismas, der Ketzerei
1379-1393 Triforiumsbüsten des Prager Doms von Peter Par/er. und der innerkirchlichen Mißstände; zusammengerufen auf Betreiben König
13 So-1 390 (?) Hubert van E yck geboren. Sigismunds, vereinte es außer den Bischöfen auch die Vertreter der Universi-
13 81 Bauernaufstand England: Die von Wat Ty ier und John Ball ge- täten, Mönchsorden usw.
führten Bauernheere ziehen siegreich in London ein, aber die Bewegung bricht 1415 Heinrich V. von England schlägt das französische Heer bei Azincourt
nach der Ermordung Ty lers rasch zusammen. vernichtend. - ]an Hus, mit dem Freibrief Sigismunds nach Konstanz ge-
1 3 8 2 Schiacht bei Roosebeke : Dem Grafen von F Iandern Louis de Maie kommen, wird durch das Konzil als rückfälliger Sünder auf detn Scheiter-
gelingt es nur mit Hilfe der von Phitipp dem Kühnen geführten französischen haufen verbrannt.
Truppen, den Aufstand der Bürger von Gent niederzuschlagen. Um 1415 Die "Vier Büchlein von der Nachfolge Christi" des Thomas von
13 84 Info/ge der mit der Tochter des Grafen I J 69 geschlossenen Ehe gelangt Kempen erscheinen, eine der wirksamsten Schriften der spätmittelalterlichen
Flandern in den Besitz Phitipps des Kühnen. - John Wiciif> Professor zu Mystik.
Oxford, gestorben, der die Grundgedanken der religiösen Reformbewegungen 1416 Das "sehr reiche" Stundenbuch des Herzogs von Berry der Brüder
des späten Mittelalters bereits im Keime vorwegnahm. von Limburg.
1386 Die Tochter Ludwigs des Großen von Ungarn, die polnische Kö'nigin 1417 Wahl des Papstes Martin V. durch das Konzil; Wiederherstellung
Hedwig, heiratet den litauischen Fürsten Wladyslaw Jagieilo; Beginn der der Einheit der Kirche.
Jahrhunderte währenden Union beider Staaten. 1419 Herzog Johann von Burgund wird bei Montireau ermordet. Sein Nach-
1 3 8 8 Durch die vorübergehende Schließung ihres Kontors in Brügge und die folger, Phitipp der Gute, schließt sogleich ein Bündnis mit den Engländern. -
Handelsblockade Flanderns erreicht die Hanse die größte Ausweitung ihrer Gründung der Universität Rostock. - Fiiippo Brunelleschi beginnt den Bau
Privilegien. des Findelhauses in Florenz.
1390- 14oo (?) Jan van Eyck wahrscheinlich in Maaseyck geboren. 1419-1436 Hussiten-Kriege in Böhmen.
1391-1397 Der aus Holland stammende Claus Siuter in Dijon tätig; 1420 Vertrag von Troyes: Der debile französische König Kar/ V I. erklärt
er war einer der größten Bildhauer seiner Zeit (Hauptwerke: "Moses- im Einvernehmen mit dem Herzog von Burgund den Dauphin für illegitim und
Brunnen" und Grabmal Philipps des Kühnen der Kartause von Champmol). schließt ihn von der Thronfolge aus; zu seinem Erben bestimmt er den engli-
13 92 In Frankreich verstärkt sich die feudale Anarchie; einmal ergreift die schen König.

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142o-1434 Kuppel des Doms zu Florenz von Brunellescbi. 143 3 Sigismund wird zum Kaiser gekrönt. - Die Konzilsteilnebmer, die
1422 Tod des französischen und des englischen Kö"nigs; der erst einjährige es erreicht hatten, daß der Papst die Bulle zur Auflösung des Konzils zurück-
Heinrieb VI. wird auch zum Herrscher Frankreichs ausgerufen, doch im süd- zog, schließen mit dem gemäßigten Flügel der Hussiten, den Kalixtinern,
lieben Teil des Landes wird der Dauphin als König Kar/ VII. anerkannt. Frieden ("Prager Kompaktaten"). - Hans Memling geboren.
1422-1424 Jan van Eyck wird erstmals in den Rechnungsbüchern Philipp der Gute besucht Jans Atelier in Brügge. "Der Mann mit
Johanns von Bayern, Grafen von Holland, erwähnt. Er ist bereits ein dem roten Turban" (London).
angesehener Meister, der nicht nur Schüler, sondern auch Gesellen 1434 Die böhmischen Katholiken und die Kalixtiner bringen dem radikalen
hat. Möglicherweise ist er schon viel früher, vielleicht um 141 ~, in Flügel der Hussiten, den Taboriten, die keinen Ausgleich wollen, bei Lipa'!}
den Dienst der Grafen getreten. Vermutlich arbeitete er als Minia- eine vernichtende Niederlage bei. - Cosimo de' Medici gewinnt die tatsäebliebe
tor; einige Seiten des "Turin-Mailänder Stundenbuches" könnten Macht über Florenz.
von seiner Hand stammen. Jan van Eyck wird ein Sohn geboren; die Patenschaft übernimmt
1423 König Sigismund belehnt das Haus Wettin mit dem Kurfürstentum Herzog Philipp. "Das Bildnis des Ehepaars Arnolfini (?)" (London).
Sacbsen-Wittenberg. - Gentile da Fabriano: Altar "Anbetung der 143 ~ Friede von Arras: Pbilipp der Gute bricht mit den Engländern und
Könige" (Florenz, Uffizien). versöhnt sich mit König Kar/ VII. von Frankreich, nachdem er sieb aus den
1424 Gbiberti vollendet die zweite Bronzetür des Baptisteriums zu Florenz. feudalen Banden gelöst und territoriale Zugeständnisse erbalten bat. - Hugo
1424-1426 Masolino und Masaccio schaffen die Fresken der Brancacci- van der Goes geboren.
Kapelle der Kirche SantaMariadel Carmine in Florenz. 1436 Die Truppen des franzö"siscben Königs erobern Paris zurück.
1425 Jan van Eyck wird am 19. Mai in den Rechnungsbüchern des "Die Madonna des Kanonikus van der Paele" (Brügge) und das "Bild-
Herzogs von Burgund erwähnt. nis des Jan de Leeuw" (Wien).
1426 Gründung der Universität Löwen, der einzigen der Niederlande im 143 7 Tod Kaiser Sigismunds; sein Nachfolger Albrecht ist der erste Habs-
späten Mittelalter. burger, der die böhmische und die ungarische Krone zugleich trägt.
Hubert van Eyck am 8. September gestorben. Jan unternimmt im Reisealtäreben (Dresden) und "Die heilige Barbara" (Antwerpen).
Auftrag des Herzogs eine "weite geheime Reise". Wahrscheinlich 1437-144~ Papst Bugen IV. befiehlt das Konzil nach Ferrara. Der von
weilte er bei dieser Gelegenheit in Italien, manche vermuten, er den Türken bedrohte Kaiser von Byzanz ist bereit, eine Union mit der westli-
habe auch das Heilige Land besucht. eben Kirche einzugeben, doch bleibt die auf dem Konzil getroffene Einigung
1427 Jan van Eyck reist in einer Gesandtschaft, die die (nicht zu- am Ende leeres Papier.
stande gekommene) Ehe des Herzogs mit einer spanischen Grafen- 1438 Die "Pragmatica Sanctio" von Bourges entzieht die französische
tochter vorbereiten soll, nach Aragonien. Am 27. Oktober, dem Tag Kirche bis zu einem gewissen Grade dem unmittelbaren Einfluß der päpstli-
des heiligen Lukas, nimmt er in Tournai an einer Feierlichkeit der chen Kurie.
Malerzunft teil; dort begegnete er sehr wahrscheinlich Robert Campin 1438-1440 Das frühe Meisterwerk Rogiers van der Wryden: "Die Kreuz-
und Rogier van der Weyden. abnahme" (Madrid, Prado) .
1428/29 Jan reist mit einer Gesandtschaft nach Portugal und in die 1439 Das in Basel weiter tagende Konzil wählt einen neuen Papst (Felix V.,
benachbarten spanischen Provinzen (Galizien, Kastilien, Andalusien), der letzte Gegenpapst in der Geschichte der Kirche).
um die Vermählung des Herzogs von Burgund mit Isabella, der "Die Madonna am Springbrunnen" (Antwerpen) und "Bildnis der
Tochter des portugiesischen Königs, auszuhandeln. Margarete van Eyck" (Br,ü gge).
1429 Die englischen Truppen belagern Orleans, als Jeanne d' A re auftritt 1440 Das Buch "De docta ignorantia" des Nikolaus von Kues erscheint- der
und das Kriegsglück wendet. Die Krönung des Dauphins zum König stärkt den erste Beleg dafür, dqß auch in der kirchlichen Wissenschaft schon versucht wird,
Kampfwillen der Franzosen. · . mit der scholastischen Metbode zu brechen.
1430 Der Orden des Goldenen Vlieses wird gegründet. - Jeanne d' Are von 1441 Jan van Eyck gestorben.
den burgundiscben Truppen gefangengenommen und den Engländern ausgeliefert. 1444 Robert Campin gestorben. PetrtiS Christus läßt sieb in Brügge nieder.
- Franfois Viiion geboren. Obwohl er offenbar nicht ]an van Eycks Schüler war, beteiligt er sieb an der
143 I ]eanne d' Are als Hexe und Ketzerin verbrannt. - Das nach Basel Vollendung einiger Werke des Meisters und benutzt auffallend viele kompo-
zusammengerufene Konzillöst sieb entgegen dem Wunsch des Papstes nicht auf; sitorische Details desselben,· manche folgern daraus, daß er die Werkstatt,
es droht eine neue Kirchenspaltung. die Entwürfe van Eycks geerbt habe. - Genfer Altar des Konrad Witz
1432 Der Altar "Die Anbetung des Lammes" in Gent. vollendet.
1 Die Geburt Johannes des Täufers eindeutig zeitgenössischen Charakterisierung des Interieurs und der
und die Taufe Christi darin agierenden Gestalten. Besonders gut sind die in ihrer Momenta-
nität sehr natürlich anmutenden Bewegungen getroffen, während die
Seite der "Tres Beiles Heures du duc de Berry" Abstimmung der Proportionen von Figuren, Raum und Möbeln
(Turin-Mailänder Stundenbuch) weniger gelungen ist.
28 X 19 cm. 1417-1424. Turin, Museo Civico d'Arte Antica Das untere Bild bietet uns noch mehr, es bedeutet einen großen
Schritt voran auf dem G ebiet der Landschaftsmalerei, denn es ge-
Die Diskussionen über einige unversehrt gebliebene Miniaturen währt uns eine in allen Teilen stimmige Naturansicht. In der franzö-
dieser mit prächtigen Malereien geschmückten Handschrift haben sischen Buchmalerei war es bereits im 14. Jahrhundert üblich, in der
sich noch immer nicht gelegt. Es wurden zahlreiche beachtenswerte Fußleiste kleine Szenen anzubringen. Das entwickelte sich nach und
Argumente sowohl für eine frühe wie für eine späte Datierung vor- nach zu einer skizzenhaften Landschaftsdarstellung. Aber nicht ein-
gebracht, man erklärte die Illuminationen als die Arbeit eines Schü- mal bei den berühmtesten Illuminatoren zu Beginn des 1 5. Jahr-
lers, aber auch als ein Werk des Jan beziehungsweise des Hubert. hunderts - den Brüdern von Limburg - kam es vor, daß die vielen
Doch wir wollen von der Untersuchung dieser Argumente absehen Details sich zu einer so natürlichen Landschaft gerundet hätten;
und uns erfreuen an der schönsten der reich gezierten Seiten, einer dabei ist hier zur Veranschaulichung der Weite des Hintergrundes
hervorragenden Schöpfung der im 15. Jahrhundert noch ein letztes nicht mehr die hoch gelegte Horizontlinie notwendig, hingegen wird
Mal aufblühenden Kunst der Buchmalerei. bereits die Luftperspektive erprobt. Wie wunderbar erglänzt das Licht
Die beiden Darstellungen beanspruchen fast das ganze Format, auf dem Wasser hinter den beiden Hauptfiguren, wie wirkungsvoll
außer ihnen haben nur noch vier Textzeilen Platz. D ie größere spiegelt sich darin das Burgschloß, wie liebenswürdig sind die von
Miniatur oben zeigt einen Innenraum, in dem gerade ein Kind rechts nahenden, halb verdeckten Gestalten ! Dieser Einfall läßt an
geboren wurde. Nach damaligen Begriffen ist unzulässige Unordnung die Tafel mit der "Anbetung des Lammes" vom Genter Altar denken,
auf dem Bilde vermieden, lediglich die offene Truhe sowie die aus und auch sonst stützen mehrere Kleinigkeiten die These von der
der Vielzahl von Figuren und Gegenständen resultierende Fülle frühen Entstehung der Miniatur: Der goldene Strahlenkranz der
deuten etwas davon an. Die Einrichtung ist anspruchsvoll: Wir sehen Taube des Heiligen Geistes erinnert noch an die traditionellen Mei-
schön geschnitzte und gedrechselte Möbel und glänzendes Metall- ster, da er die Flächigkeit betont und das Gefühl von der Wirklichkeit
geschirr, aber der Gesamteindruck fälit bescheidener aus, als er bei des Raumes mindert, während die unerwartete, nicht ganz begrün-
einem aristokratischen Wohnraum gewesen wäre. Die Darstellung dete Plastizität des in der Initiale thronend gezeigten Gottvaters uns
löst in schöner Weise das damals häufig angegangene Problem der den Meister von Flemalle ins Gedächtnis ruft.
2 Kreuzigung und Jüngstes Gericht so sind Maria und ihre Begleitung förmlich vom Kreuz abgeschnitten
und Himmel und Hölle untereinander geraten, statt wie üblich auf der
Jedes Bild 56,5 X 19,5 cm. Von Holz auf Leinwand übertragen. linken beziehungsweise auf der rechten Seite plaziert zu sein.
1420-J425. New York, Metropolitan Museum Einer der Besitzer der Gemälde aus dem vergangeneu Jahrhundert
war der Meinung, daß beide ursprünglich eine Mitteltafel flankierten,
Die Forscher sind sich im Grunde darin einig, daß dieses Diptychon die die "Anbetung der Könige" zum Inhalt hatte. Wenn dieser Spur
keine eigenhändige Arbeit Jans ist, doch ob es sich nun auch um eine gefolgt wird, beruft man sich in der Regel auf eine Zeichnung, die
Kopie oder sogar um das" unter seiner Anleitung entstandene Werk das Vorbild oder die Kopie des vermuteten einstrnaligen Hauptbildes
eines Schülers "oder Mitarbeiters handeln mag - die Bilder wider- sein könnte; das daraus ersichtliche Verhältnis von Höhe zu Breite
spiegeln den unmittelbaren Einfluß der Kunst des Meisters. Das entspricht tatsächlich annähernd dem der beiden Tafeln zusammen,
Interesse für sie wird dadurch gesteigert, daß sie der frühen Periode, denn diese mußten ja, falls sie die Flügel eines Triptychons waren,
den Entstehungsjahren des Turin-Mailänder Stundenbuches ent- über dem Mittelbild geschlossen worden sein. Allerdings paßt zwi-
stammen; und so zeigen sie, wie sich der Stil des Malers ausgebildet schen "Kreuzigung" und "Jüngstes Gericht" die "Anbetung der
hat. Man erkennt deutlich das Bestreben der genauen Beobachtung Könige" ganz und gar nicht, denn es ergibt sich so kein einleuchtendes
der Wirklichkeit - etwa in den seltsamen Wolkengebilden oder theologisches Programm. Sollte also die These aus dem vorigen
der den Tiefenzug steigernden Stadtansicht auf dem linken oder den Jahrhundert zutreffen, dann bewahrt sie lediglich die Erinnerung an
nicht mehr mechanisch aneinandergereihten weißen Wellenkämmen die nachträgliche Umgestaltung des einst dreiteiligen Altars. In stili-
auf dem rechten Bild. Auch die Komposition ist reifer geworden: stischer Hinsicht gehört aber die Zeichnung zweifellos hierher. Mit
Das Chaos der Hölle mutet überschaubarer an, und die erhabene, ihren an die Brüder von Limburg erinnernden, phantastisch geklei-
aber ein wenig spröde Ordnung des Himmels wird durch kleine deten Gestalten und mit der im Vergleich dazu außerordentlich fort-
Asymmetrien gemildert. geschrittenen Darstellung des aus der Tiefe kommenden feierlichen
Die ungewöhnliche Schmalheit der Bildfelder hat zur Separierung Zuges führt sie uns plastisch vor Augen, inwieweit beider Stil einander
der einzelnen Szenen und zu gewissen Umgruppierungen geführt; gleicht, aber auch, welcher Weg seitdem zurückgelegt worden ist.
3 Die Kreuztragung Christi (Kopie) schnellem Lauf sehen, wofür es auf ,keinem anderen Bild Jans ein
Beispiel gibt. Indem der Künstler den Zug scharf nach rechts ab-
97,5 X 130,6 cm. Holz. Kopie aus der ersten Hälfte biegen läßt, gelingt es ihm zu veranschaulichen, daß der Weg jäh
des 16. Jahrhunderts nach Original von 1420-1425. ansteigt. Auf der Kuppe machen sich winzige Gestalten emsig zu
Budapest, Museum der Bildenden Künste schaffen, und ein Mann auf einem Kamel - damals sehr ungewöhn-
lich - erteilt Anweisungen; noch mehr frappiert, wie anatomisch
Die Tafel ist wahrscheinlich eine in der ersten Hälfte des 16. Jahr- genau dieses in Buropa überaus seltene Tier gezeichnet ist.
hunderts gefertigte Kopie nach einem seither vermißten Bild Jans. In der Tiefe kann unser Auge bis ins Unendliche schweifen, allerdings
Das Original begründete eine anderthalb Jahrhunderte währende scheinen Mittel- und Hintergrund zu scharf voneinander getrennt.
Tradition in der flämischen Kunst; noch in der Bruegel-Nachfolge Auch die vielleicht allzu massive Stadt separiert sich zu stark vom
begegnen wir diesem vielfigurigen, die Aufmerksamkeit in verschie- Umland, aber das überraschte den Betrachter im Mittelalter nicht
dene Richtung lenkenden bewegten Zug. Festliche Einmärsche und so stark wie uns heute, waren doch damals die Städte in die Ringe
Prozessionen gehörten in den Niederlanden zum Leben der Zeit. ihrer Mauern gezwängt und sonderten sich eindeutig von der sie
.Was Wunder, wenn sogar die "Kreuztragung" in dieser Weise ge- umgebenden Landschaft ab. Vom Hauptplatz rings um die gewaltige
staltet wurde, so daß man die Hauptfigur buchstäblich suchen muß Kirche des im Mittelgrund des Bildes dargestellten Jerusalem, die
unter den prächtigen Reitern, den wunderlich gekleideten, exotisch durch ihre gotischen Strebepfeiler und ihre im übrigen romanisie-
anmutenden Soldaten und Zuschauern. renden Formen ein bizarres Stilgemisch zeigt, sind es nur wenige
Die Farbenpracht der Szene wird durch den kahlen Hügel der Häuserblöcke bis zur Mauer und zum Tor mit der Brücke über den
Schädelstätte, den schauderhaft-gruseligen Schauplatz der Hin- Graben. Das ist ein Anblick, wie er sich den Einwohnern Flanderns
richtung, gesteigert, der den größten Teil der Bildfläche einnimmt: im 1 5. Jahrhundert von den ihnen groß scheinenden, im V er gleich
Die Zuschauer beobachten mit echter mittelalterlicher Neugier das mit unseren heutigen Metropolen jedoch kleinen Städten häufig
blutverheißende Schauspiel, und wir können sogar Menschen in geboten haben dürfte.
4 Die drei Marien am Grabe konform, daß es sich um eine Schöpfung Huberts handelt, an der
Jan eventuell kleinere Ergänzungen vorgenommen hat. (Doch ist
72 X 89 cm. Holz. Nach 1420. die Übereinstimmung nicht ·vollkommen, manche halten die Tafel
Rotterdam, Museum Boymans- van Beuningen unter Berufung auf Detailformen der Waffen für die Arbeit eines
Nachfolgers aus der Mitte des Jahrhunderts.) Die Archaismen sprin-
Die Bibel berichtet, daß die heiligen Frauen nach dem Festtag des gen tatsächlich ins Auge, und es lohnt sich, sie näher zu untersuchen.
Sabbat bereits am frühen Morgen zur Grabstätte gingen, wo sie am Am meisten fällt die von den reifen Bildern abweichende Raumge-
Freitagabend den Leichnam Christi nur flüchtig geborgen hatten, staltung auf; die Akteure werden vom Raum nicht umgeben, er
um ihn zu salben. Doch sie fanden das Grab leer, der Stein war scheint vielmehr nur hinter ihnen zu existieren. Die Landschaft
weggewälzt, und auf der rechten Seite saß ein Jüngling in weißem schließt sich der Handlung ohne rechten Übergang an, und Jerusalem,
Gewand (nach Lucas x6). Diese Szene hat der Maler festgehalten. das den allzu hoch liegenden Horizont beherrscht, ist eher eine phan-
Die in der unteren rechten Ecke in einem Winkel von etwa fünf- tastische Märchenvision. Die seltsame Gestalt der Soldaten und das
undvierzig Grad einfallenden goldenen Strahlen zeugen Init Sicher- weiche Spiel der Linien auf den Gewändern der Frauen erinnern an
heit davon, daß zu dieser Tafel früher einmal ein Pendant mit der die franeo-flämische Kunst, während der Engel auf dem Sarkophag-
Gestalt des Auferstandenen gehörte, denn dieses Licht kann ja nur deckel an den himmlischen Gesandten des " Merode-Altars" des Mei-
der Glanz sein, der von Christus ausgeht. Die Tafel verlangt av ch sters von Flemalle denken läßt. Dennoch ist das Gesamtbild trotz der
in ihrer Komposition nach diesem Gegenstück, ohne das sie unbe- vielen Komponenten nicht chaotisch und zerfällt nicht; der sich vor
holfen und asymmetrisch wirkt. unseren Augen entwickelnde Stil Jans zeitigt hier bereits ein wahres
Bei diesem Werk gehen die Forscher am stärksten in der Meinung Meisterwerk.
5 Die Verkündigung ("Friedsam-Verkündigung") zwei er Stile, des romanischen und des gotischen: So sieht man rechts
von Maria das Veraltete und Überholte, während links- in Richtung
77,5 x 66,5 cm. Holz. des Engels und somit Gottes, der ihn entsandt hat- das Zeitgemäße
Mitte der zwanziger Jahre des I 5. Jahrhunderts. gezeigt wird. Am rechten Rand des Bildes hockt auf einer schlanken
New York, Metropolitan Museum Halbsäule ein Affe, der eigentlich Satan v~rkörpert, hier aber gegen
seinen Willen ein heiliges Gebäude mittragen muß. Darüber folgen
Die Tafel gehört zu jenen Stücken, die man dem Frühschaffen zu- zwei rötliche Sä~len, die in den heiligen Texten häufig genannten
rechnet, doch sind sich auch hier die Fachleute uneinig, ob es eine Zierden des alttestamentarischen Tempels. Die Verbindung der dem
Arbeit Huberts oder Jans ist. Das von einem hochgelegenen Stand- Alten Bund zugeordneten romanischen und der das Christentum
punkt aus gesehene Gebäude erinnert an die Darstellung, wie sie repräsentierenden gotischen Elemente unterstreicht, daß das letztere
gegen Ende des 14. Jahrhunderts üblich war, und an den Stil der organisch aus der jüdischen Religion hervorgegangen ist. Die Maria
Broederlam-Generation, obwohl sich nichts mehr findet von jener umfangende Kirche steht prachtvoll und fest, während der Garten
Grazie und Zartheit der spielzeugartigen Bauelemente. Auch das außerhalb verwildert ist, die Einhegung umzustürzen droht und all-
reine Profil des Engels kommt in anderen Fassungen dieses so häufig mählich von Kletterpflanzen überwuchert wird. Das ist der irdische
behandelten Themas bei Jan nicht vor, und die mehr plastischen, in Bereich, die unvollkommene, ihrem V erderb entgegenschreitende
schwere Gewänder gehüllten Figuren fügen sich in den späteren Welt, die der Errettung beziehungsweise zunächst einmal der Fleisch-
Werken dem Raum organischer ein, während dieser hier wiederum werdung des Erlösers bedarf. Darauf deutet auch ein Detail an dem
nur hinter ihnen zu existieren scheint. Gebäude hin: Unter dem Torbogen, genau zu Häupten Marias, ist
Auf den ersten Blick genießen wir nur die Schönheit der Farben und eine Statuennische leer - es ist der Platz Jesu Christi, der durch
Formen, die seltsame Traumstille der Kunst dieses Meisters; aber es seinen Abstieg zur Erde das große Werk der Schöpfung vollenden
lohnt sich, darüber nachzudenken, wie sehr die Szene bereits von wird. Daß dieser Platz nicht lange frei bleiben wird, ist offensichtlich,
versteckter Symbolik bestimmt ist. Das Gemälde enthält Elemente denn der Heilige Geist schwebt schon über der Jungfrau.
6 Die Verkündigung ("Mellon-Verkündigung") Regenbogens auf seinem Flügelgefieder spiegelnden Engel neben
der schlichteren Maria in Demutshaltung. Die Szene spielt - zum
93 X 37 cm. Von Holz auf Leinwand übertragen. 1428-1432· erstenmal in der Geschichte der Verkündigungsdarstellungen - in
Washington, National Gallery of Art einem Kirchenraum und symbolisiert das Bestreben, Maria mit der
Ecclesia zu identifizieren.
Auf dem Bild, an das sich wahrscheinlich rechts eine zweite Tafel Die Architektur weist unten leicht spitzbogige, also frühgotische
anschloß, sehen wir einen prächtig gekleideten, sämtliche Farben des Arkaden auf, während darüber romanische Formen herrschen; da-
durch entsteht der Eindruck, als wäre das Gebäude in falscher Stil-
folge erbaut worden. Aber das entspricht eben dem symbolischen
Gehalt, denn so kann gezeigt werden, daß sich die Heilige Dreifaltig-
keit herleitet aus dem einzigen Gott des Alten Testaments, der hoch
zu Häupten Marias thront (die Darstellung des Farbglasfensters). Aus
seinen Regionen strömt das Licht hernieder, auf dessen Strahlen sich
der Heilige Geist herbeiläßt, durch dessen Vermittlung später der
Sohn in Marias Körper fleischliche Gestalt annehmen wird. Auf die
in der unteren Sphäre bereits Tatsache gewordene Heilige Dreifaltig-
keit weist die Dreizahl der Fenster im Hintergrund hin. Ein anderes
typisches Beispiel der versteckten Symbolik können wir am Boden
sehen. Die schwarzen Zeichnungen, die die großen weißen Fliesen
zieren, stellen alttestamentarische Szenen dar, die auf Christus voraus-
weisen, so die Zusammengehörigkeit der beiden Epochen betonend.
In der Rahmung dieser Szenen bringen die Tierkreiszeichen, die
üblicherweise zum plastischen Schmuck der Kathedralen gehörten,
zum Ausdruck, daß die in dem Gebäude verehrte Gottheit Herr über
die vergängliche Zeit ist. Wichtig ist die Anordnung der Zeichen:
Der Engel neigt das Knie genau über dem Medaillon mit dem Widder,
denn die Verkündigung wird von der Kirche gerade unter diesem
Zeichen am 25 . März gefeiert. Maria nimmt den Platz über der Jung-
frau ein, die mühelos auf sie bezogen werden kann; in unmittelbarer
Nähe würde sich der Steinbock, das auf Weihnachten deutende Zei-
chen, befinden, doch ist dieser auf dem Bild nicht mehr zu sehen.
Der Raum ist ein wenig unsicher erfaßt, die Farben werden später
strahlender, und die Komposition lehnt sich noch unmittelbar an den
um 1410 unter der Hand der Miniaturmaler entstandenen Typus an
- das macht übrigens die frühe Ansetzung des Werkes plausibel - ,
aber ein wichtiges Merkmal der Bilder des Künstlers, die versteckte
Symbolik, ist bereits in feinsten Nuancen ausgedrückt.
Ein noch reiferes und vollkommeneres Bild der Gleichsetzung
Maria- Ecclesia ist die Tafel, die den Titel "Madonna in der Kirche"
trägt, kann doch der große Maßstab der Gestalt kein Zufall sein
oder gar die Folge einer Ungeschicklichkeit. Eine gewachsene Rolle
spielt das wiederum von links einfallende Licht, das van Eyck aber
differenziert: Es ist ein Licht, das durch das Fensterglas schimmert,
und ein anderes, das direkt durch das Seitenportal dringt. Der Stil des
Gebäudes deutet auf die zeitgenössische Kirchenbaukunst hin; die
gotische Auflösung der architektonischen Formen sowie das liebe-
volle Festhalten der Lichtwirkungen ergänzen einander vorzüglich.

Madonna in der Kirche.


32 X 14 cm. Holz. Mitte der zwanziger Jahre des 15. Jahrhunderts.
Berlin (West), Staatliche Museen, Gemäldegalerie
7 Der Genter Altar- Innenseite im übrigen ist diese Dominanz der göttlichen Gestalten nicht einmal
überraschend. (Die leuchtende Farbigkeit, die Mannigfaltigkeit der
Höhe 350 cm, Breite geschlossen 223 cm, geöffnet 461 cm. Vor 1432. Formen, die Schönheit der Landschaftsdarstellung sowie die Aus-
Gent, St. Bavo druckskraft der Gesichter und der Bewegungen bieten ohnehin ein
so totales Erlebnis, daß der Besucher der Kapelle einzig von dem
Dieser Altar ist die grandioseste Schöpfung der altniederländischen Gefühl hingerissener Begeisterung erfaßt wird.)
Malerei, nicht nur wegen der Anzahl der Tafeln und des Ausmaßes Um zu verdeutlichen, wie kompliziert diese Fragen, wie interessant
des Ensembles, sondern auch hinsichtlich der künstlerischen Voll- die dazu vertretenen Meinungen sind, wollen wir nur zwei neue
kommenheit sowie der Mannigfaltigkeit und des Gedankenreichtums Rekonstruktionsversuche erwähnen: Während Lotte Brand-Philip
des Programms. Man bezeichnet ihn häufig als eine "Miniaturen- der Ansicht ist, die Tafeln könnten gegeneinander ausgetauscht, also
Galerie", aber wir kommen vermutlich näher an sein Wesen heran, in verschiedenen Kombinationen präsentiert werden, geht Elisabeth
wenn wir an die Fresken-Zyklen der italienischen Kirchen denken, Dhanens davon aus, daß sich unterhalb der zu Füßen Gottvaters
die Jan van Eyck selbst kennengelernt haben mag. Die Vielfalt der liegenden Krone eine von einem Eisengitterverschlossene Sakraments-
Bilder sowie ihre unterschiedlichen Formate und Figurengrößen nische befunden haben kann.
beschäftigten so manchen Forscher, hauptsächlich aus dem Grunde, Das Programm des Altars scheint auch ohnedem verständlich zu sein.
weil uns durch die Aufschrift die Mitarbeit Huberts bezeugt ist; so Es zeigt anschaulich die Erlösungsgeschichte der Menschheit: Auf
konnte man gewisse Differenzen sowie die stellenweise nicht ganz der Außenseite ist die Erlösung noch ein Versprechen, während auf
zusammenpassenden Lösungen mit der Doppelautorschaft erklären. den geöffneten Flügeln die Erfüllung dieses Versprechens zu sehen
Doch vor dem Original spürt man diese Unterschiede nicht in dem ist - die paradiesisch schöne Wiese, der gütige, segenspendende
Maße, wie das bei einem genauen Studium der Reproduktionen der Vater, das sein Blut in den Kelch ergießende Lamm Gottes sowie die
Fall ist, weil der nicht zu leugnende größere Maßstab der Haupt- mit ausgebreiteten Flügeln schwebende, goldene Strahlen aussen-
figuren infolge ihrer Entfernung vom Betrachter kleiner erscheint; dende Taube des Heiligen Geistes.
8 Der Genter Altar- Außenseite figurenist natürlicher. Überhaupt läßt sich an diesem Ensemble be-
obachten, daß die weniger wichtigen Figuren farbiger ausfallen: Wäh-
350X236 cm. Holz. Vor 1432. Gent, St.Bavo rend Maria sowie die beiden Johannes fast gänzlich weiß sind, sind
die Flügel des Engels schon farbiger, und noch mehr trifft das auf
Auf den geschlossenen Tafeln gelangten im Gegensatz zur Innenseite die alttestamentarischen und die zeitgenössischen Gestalten zu.
die monumentaleren Gestalten in die untere Reihe, die stärkere Räum- Wie es sich für mittelalterliche Gläubige geziemt, sind die Stifter ins
lichkeit hingegen ist in der oberen Zone gegeben. In vier Nischen Gebet versunken, jeweils dem zunächst stehenden Johannes zuge-
sehen wir vier Figuren, darunter zwei monochrome - das heißt in wendet. Es scheint aber, als neigten sich die statuenhaften Gestalten
feinster Stufung allein des Grau gemalte- Statuen und zwei farbigere den Knienden zu, um zwischen Himmel und Erde zu vermitteln. Zu
Figuren- die Stifter. Die Statuen stellen Johannes den Täufer sowie ihren Köpfen nimmt das heilige Drama seinen Anfang, so, wie die
Johannes den Evangelisten dar. Der erstere war zu jener Zeit der einzelnen Szenen der Erlösungsgeschichte der Menschheit nicht
Schutzheilige der Kirche; an einem Feiertag Johannes des Evangeli- selten auch im mittelalterlichen Mysterienspiel zum Leben erweckt
sten, dessen "Apokalypse" die Quelle für die Szene mit der Anbetung wurden: "Und das Wort ward zum Leib .. . " - der Engel, der das
des Lammes ist, wurde der Altar geweiht. Wiewohl die Statuen nur verkündet, erscheint Maria in ihrem Gemach. In der obersten Zone
in der Fläche gemalt sind, scheinen sie doch überaus plastisch, und erwarten die Gestalten diesen großen Augenblick gespannt und
das nicht allein durch die Zuhilfenahme betont zeichnerischer Ele- erregt - zwei Propheten in Vertretung des Judentums und zwei
mente, was zu jener Zeit so häufig war, sondern dank der Bravour Sibyllen in Vertretung des Heidentums. Diese Paarung kennt die
eines wirklichen Malers, der diesen Effekt durch die Hell-Dunkel- Welt am besten durch Michelangeles Deckengemälde in der Sixtirri-
Variierung einer einzigen Farbe erreicht hat. Das Kolorit der Stifter- schen Kapelle des Vatikan.
9 Die Verkündigung (Haupttafeln) sah der Hintergrund anders aus: Eine Infrarotaufnahme hat erwiesen,
daß der Künstler auch hier-solche Rundbogen geplant hatte, wie man
Genter Altar - Außenseite sie unten bei den Nischen der Statuen und der Stifter findet. Vielleicht
r 84 X 213 cm (Gesamtmaße, Höhe mit den Lunetten). Holz. kann man mit dieser nachträglichen Änderung erklären, daß beide
Vor I432· Gent, St. Bavo Gestalten, vor allem der Engel, im Vergleich zur Höhe der Decke
allzu groß geraten sind. Aber es ist auch möglich, daß diejenigen im
Der Engel und Maria sind auffallend weit voneinander entfernt Recht sind, die den Stil dieser Szene mit dem Einfluß des Meisters
plaziert, doch ist das offenkundig ganz bewußt geschehen: Dadurch von Flemalle erklären und - sich darauf berufend - diese Arbeit
konnte der Künstler die Räumlichkeit plastisch veranschaulichen. Hubert zuschreiben. Tatsache ist, daß bei diesen Figuren die Ge-
Damals mag es als besonderes Bravourstück gegolten haben, daß van wänder eine wichtigere Rolle spielen als zuvor urid mit ihren
Eyck den Raum auf vier Tafeln verteilte und ihn dadurch weitete. schweren Falten die Körperformen viel stärker verdecken.
Fußboden und Balkendecke sind durchgängig gestaltet, um die Das Gemach erinnert an den Schauplatz der berühmtesten Ver-
Kontinuität des Raumes auf den Tafeln zu unterstreichen. Die leere kündigung des Meisters von Flemalle, doch ist auch wichtig, die
Mitte hat nicht nur die Funktion, zwischen den Figuren Luft zu Abweichungen zur Kenntnis zu nehmen. Dort sind die beiden
schaffen; die offene Arkade beziehungsweise die Nische auf diesen Figuren relativ groß, der Raum wirkt vollgestopft, die Einrichtungs-
beiden Tafeln haben auch eine symbolische Bedeutung. Werfen wir gegenstände machen einen viel alltäglicheren Eindruck. Hier dagegen
einen Blick durch die Fenster, so erkennen wir, daß das Gemach ist- auf Grund der erwähnten Annahme- in dem von Jan gemalten
höher liegt als die ganze Stadt - auch das verkündet die seelische und veränderten Interieur alles viel dezenter und kühler, die in der
Erhabenheit Marias, so, wie das in der Nische befindliche Geschirr Nische untergebrachten Dinge sind nicht gegenwärtig zum Ge-
und das Handtuch von ihrer Reinheit zeugen. Doch ursprünglich brauch, sondern weil sie eine fast sakrale Bedeutung haben.

Meister von Flemalle (Robert Campin ?) :


Die Verkündigung ("Merode-Altar").
6r X64 cm. Holz. Um I425- 1430.
New York, Metropolitan Museum
10 Die Stifter Eyck gehörte. Vielleicht bot diese Reise Gelegenheit, dem Künstler
den Wunsch nahezubringen, den Genter Altar zu schaffen beziehungs-
Genter Altar - Außenseite weise zu vollenden.
Jede Tafel 149 X 54 cm. Holz. Vor 1432. Gent, St. Bavo Die beiden Fig uren sind die frühesten Beispiele für Jans Porträt-
kunst, sie sind ein Meisterwerk eindringlicher Beobachtung und der
Es ist seltsam zu denken, daß einer der prachtvollsten Flügelaltäre, individuellen Charakterisierung. Der Maler mag seine Modelle so-
ja eines der großartigsten Ensembles in der Geschichte der Malerei, wohl in des Wortes konkretem wie auch übertragenem Sinne aus
seine Entstehung einer Privatinitiative verdankt. Die Errichtung unmittelbarer Nähe studjert haben: Wie sehr unterscheidet sich das
eines gewaltigen Altars dürfte ein kostspieliges Unterfangen gewesen eine Antlüz von dem anderen I Sogar beider Haltung im Gebet ist
sein, aber der Stifter Jodocus Vydt und seine Gemahlin Elisabeth verschieden, von ganz persönlicher Eigenart. Geschickt versteht es
Borluut gehörten zu den wohlhabenden Bürgern einer der reichsten der Künstler, ihren Blicken Inbrunst zu verleihen. Die ein wenig
Städte Europas; Vydt besaß außerdem beträchtliche Ländereien. schielenden Augen des Mannes sowie die Stoppeln auf seinem Ge-
Kurz nach der Weihe des Altars -vielleicht waren seine Mitbürger sicht zeigen deutlich, wie wichtig es für van Eyck war, die Wirklich-
auch von djesem Werk so angetan- wurde er für zwei Jahre zum keit gewissenhaft und ohne jede Beschönigung wiederzugeben. Ihre
Stadtoberhaupt von Gent gewählt. Einige Zeit davor, 1425/26, Tracht ist die des wohlhabenden Bürgertums, ilie mit gebührendem
hatte er den Herzog von Burgund auf dessen Reise in dje Graf- Abstand der berühmten, vom herzoglichen Hof iliktierten burgunili-
schaften Holland und Zeeland begleitet. Diese Ehrung darf wohl als schen Mode folgt. Das kann man vor allem an der Kopfbedeckung
ein unmittelbarer Hinweis auf ilie Wichtigkeit seiner Person gewertet der Frau beobachten, deren "Schläfenhörner" deutlich zu erkennen
werden. Auch aus anderer Sicht noch mag das lange Zusammensein sind, obgleich sie nur eine bescheidenere Variante jenes Schmuckes
mit dem Landesherrn bedeutsam scheinen, zu dessen Hof Jan van sind, den die aristokratischen Damen trugen.
I I, I 2 Maria, Gottvater und Johannes der Täufer des Altars. Ihre Schwere, ihre gemessenen Bewegungen sowie die
gewaltigen Falten ihrer Gewänder sind dem Stil des Meisters von
Genter Altar - Innenseite Flemalle sehr verwandt. Deshalb meint man darin allgemein den
168 X 75 cm, 212 X 83 cm, 168 X 75 cm. Holz. Vor 1432. Pinsel Huberts zu erkennen, indem man sich darauf beruft, daß der
Gent, St. Bavo Stil des älteren Bruders dem des führenden Meisters der vorangegan-
genen Generation nähersteben müsse. Auf den ersten Blick scheinen
Die drei nahezu lebensgroßen Gestalten erinnern - durch die sich diese Gestalten außerhalb des realen Raumes zu befinden, so wie
strahlenden Farben, den Goldgrund sowie den oberen Abschluß sich dies traditionell für die Bewohner des Himmels geziemt; aber
des ihnen vorbehaltenen Raumes - an die Figuren romanischer ihre Häupter werfen Schatten, und das gehört wiederum zu den
Reliquienschreine. Infolge ihrer Unbewegtheit und des ihnen zuge- höchstentwickelten zeitgenössischen Mitteln räumlicher Gestaltung.
wiesenen hervorragenden Platzes sind sie die wichtigsten Figuren Fortsetzung Tafel r2
Fortsetzung von Tafel I I - mentarischen Namen Gottvaters, und die Schriftstreifen darüber ver-
Die zarte Schönheit Marias, der asketische Ernst des Johannes sowie herrlichen die göttliche Güte. Ja mehr noch: Wenn wir uns eine
die Harmonie der Farben ihrer Gewänder dienen dazu, die zentrale senkrechte Achse durch das gesamte Ensemble vorstellen, erkennen
Figur hervorzuheben. Es ist interessant zu fragen, wen diese Figur wir auf ihr die Heilige Dreifaltigkeit. Unmittelbar unter der Haupt-
eigentlich darstellt: Der auf sie weisende Finger des Täufers, ihr gestalt sehen wir den Heiligen Geist in Gestalt der Taube, die über
relativ junges Gesicht sowie die päpstliche Tiara lassen an Jesus dem Symbol des sich opfernden Christus - dem auf dem Altar
Christus denken; die rechteckigen Felder des hinter ihr ausgespannten stehenden Lamm - schwebt. Es ist denkbar, daß Jan, der ja die
Vorhanges zeigen den sich für seine Jungen opfernden Pelikan- ein Arbeit an diesem Werk erst später übernahm, die ursprünglich als
allgemein verbreitetes Symbol des Erlösers. Doch das mit Perlen Christus gedachte Figur umformte zu Gottvater - und zwar mit der
auf den Mantel gestickte Wort "SABAOTH" gehört zu den alttesta- Absicht, eine Achse der Trinität zu schaffen.
I 3 Die Anbetung des Lammes haftig werden können; das Bett des kleinen Baches, der daraus ent-
springt, is.t Init Perlen, Rubinen und Diamanten ausgelegt. Dieses auf
Genter Altar - Innenseite Erden Wirklichkeit gewordene Himmelreich darf freilich nicht leer
138 Xz4z cm. Holz. Vor 1432. Gent, St. Bavo sein. Links stehen die alttestamentarischen Patriarchen, und vor ihnen
knien zwölf Propheten. Vor den Märtyrern rechts entdecken wir
Wir sehen vor uns eine jede Phantasie übertreffende schöne Land- überraschenderweise nicht zwölf, sondern gleich vierzehn Apostel;
schaft. Die Genter Bürger des 1 5. Jahrhunderts dürften zuversicht- ergänzt vielleicht um die Heiligen Paulus und Barnabas. Von hinten
lich empfunden haben, nunmehr einen Begriff von der Schönheit aus dem Gesträuch nähern sich eine Gruppe von Märtyrer-Bischöfen
des himmlischen Paradieses zu besitzen. Auf die Zeitgenossen übte und eine von jungfräulichen Märtyrerinnen.
wahrscheinlich die Perspektive eine starke Wirkung aus, eine Land- Die Sträucher - und überhaupt die Pflanzenwelt auf dieser Tafel -
schaft, die nicht aus i=er höher gestaffelten Raumzonen bestand, verdienen ebenfalls Beachtung. Der Rasen ist der Flanderns, dank
sondern sich tatsächlich in die Tiefe zu ziehen schien, obwohl die den ausgiebigen Niederschlägen dort ist er prächtig und frisch; diese
Plazierung des Hügels in der Mitte nicht ganz gelungen ist. Blumenfülle freilich ist nur im Paradies möglich. Aber auch die
Dort steht das Lamm Gottes, eines der beliebten Symbole des christ- Bäume südlicher Länder fehlen nicht. So erhebt zum Beispiel über
lichen Zeichensystems, das das Opfer verkörpert, das Christus für den Häuptern der Bischöfe eine stattliche Palme ihre Krone zum
die Menschheit gebracht hat. Die um diesen erhöhten Ort knienden Himmel. Als besondere Zierden ragen am Horizont prächtige
Engel, die die Leidenswerkzeuge tragen oder Weihrauchfäßchen Paläste und Kirchen auf, die stellenweise schwebend-leicht gemalt
schwingen, verherrlichen das Lamm. Der Brunnen davor versinn- sind und den Eindruck erwecken, als gehörten sie zu dem auf die
bildlicht das Wasser des Lebens, das heißt die Gnade, deren alle teil- Erde herabgekommenen Jerusalem.
14 Einsiedler und Pilger Riese, der der Legende nach den kleinen J esus auf der Schulter über
den angeschwollenen Fluß trug. Obzwar die größte Gestalt auf den
Genter Altar - Innenseite unteren Tafeln, mißt er dennoch kaum mehr als einen halben Meter,
Jede Tafel 149 X 54 cm. Holz. Vor 1432. Gent, St. Bavo so daß er viel kleiner ist als die Hauptfiguren der oberen Reihe. Die
Landschaft hinter den Einsiedlern und Pilgern setzt den Hinter-
Zur Anbetung des Lammes strömen von rechts und links die Gläu- grund der Mitteltafel fort, daraus ergibt sich der bemerkenswerte,
bigen herbei. Wir sehen hier nicht nur die Bewohner des Himmel- in Tiefe und Weite unvergleichliche Anblick.
reiches, sondern auch die Bürger der "Civitas Dei" des heiligen Aber auf den Flügeln soll unser Auge weniger in die Tiefe dringen,
Augustinus, das heißt alle Menschen, die Gott lieben, nach seinen deshalb wird der Vordergrund durch Hügel und auffallend steile
Gesetzen leben und den Anbruch seines Reiches vorantreiben, dar- Felswände abgeriegelt. Und es gibt noch einen Unterschied zwischen
unter Personen aus dem Alten Testament, ja sogar Heiden. (Deshalb der mittleren und den äußeren Tafeln: Statt auf prächtigem Rasen
ist die Zahl der Heiligen, die man an ihren Attributen eindeutig er- müssen sich die Akteure hier auf ödem, steinigem Boden vorwärts-
kennt, derart gering.) Die Identifizierung der seitlichen Gruppen wird bewegen, offensichtlich, damit ihre Anstrengungen um so opferrei-
durch die Beschriftung auf den Rahmen erleichtert. Die Einsiedler cher ausfallen und ihr Endziel um so anziehender ist. Über den Ein-
werden von einem sich auf seinen Stock stützenden Abt, dem heiligen siedlern und Pilgern kann man die schönsten Pflanzen des Südens
Antonius, angeführt, ihnen schließen sich, hinter den Felsen hervor- sehen, außer Palmen auch Zypressen und Pinien, ja auf den anein-
tretend, die heilige Magdalena und die heilige Maria von Ägypten an. anderstoßenden Teilen der beiden Tafeln sogar einen prächtigen
An der Spitze der Pilger schreitet der heilige Christophorus, ein Orangenbaum mit goldleuchtenden Früchten.
I 5 Adam und Eva gebühren die reale Körperlichkeit und die Untersicht, beides weist
auf die Zufälligkeit ihres Daseins und auf ihre klägliche Sterblichkeit
Genter Altar - Innenseite hin; auch das gesteuerte Licht ruft jedem die irdischen Verhältnisse
212,9 X 37,1 cm, 213,3 X 32,3 cm. Holz. Vor 1432. Gent, St. Bavo vor Augen. Die formalen Vorbilder dafür begegnen uns auf den
Miniaturen der Brüder von Limburg. Die Statuen an den Fassaden
Dies sind die frühesten großformatigen Aktbilder in der Geschichte der Schlösser versuchten auch sie in Untersicht zu zeigen, doch ist
der Malerei; ihre überraschende Wirkung wird noch dadurch ge- diese Tendenz bei ihnen längst nicht so stark ausgeprägt. Die Fuß-
steigert, daß die Fig uren nicht idealisierend und abstrahierend, stellung Adams ist übrigens noch aus einem anderen Grund bemer-
sondern überaus wirklichkeitsgetreu dargestellt sind, so daß die kenswert: Wie Röntgenaufnahmen zeigen, entsprach sie ursprünglich
Illusion sehr überzeugend ist. Ein vielgerühmtes Beispiel dafür ist genau der von Eva, aber später mag die Symmetrie Jan van Eyck
der scheinbar über den unteren Rahmen vorgeschobene Fuß Adams, allzu steif und leer erschienen sein. Das war nur eine kleine Neuerung,
dessen Sohle sichtbar wird; eine derart suggestive Veranschaulichung und doch bedeutete sie viel für das Bild - gerade diese Fähigkeit ist
der Untersicht begegnet uns vor dem Barock sonst kaum. Übrigens es, die den großen Künstler auszeichnet.
kommen die Untersicht und die Adam und Eva umgebenden schat- Über Adam und Eva erblicken wir die beiden Hauptszenen der Ge-
tigen Nischen in der oberen Reihe der Innenseite des Altars allein schichte von Kain und Abel - die gemeinsame Darbringung des
hier vor- und das ist kein Zufall. Die mit Glorienschein ausgezeich- Opfers und den Brudermord. Die Darstellung der sündigen Söhne
neten Hauptfiguren sowie die für sie musizierenden Engel sind ül er den sündigen Ureltern sowie die Anspielung auf die Erbsünde
frontal und in einem gleichmäßigen, die Zeitlosigkeit betonenden an den Seiten des Altars dienen dazu, die Gläubigen die Notwendig-
Licht dargestellt; Adam und Eva, die die Erbsünde begangen haben, keit der Erlösung um so stärker empfinden zu lassen.
16 "Timotheos" (Gilles Binchois ?) gen offenbar leicht mit dem Musiker des burgundischen Hofes
Binchois gleichgesetzt wurde. Der letztere wurde um 1400 geboren,
24,3 X 19 cm. Holz. 1432. London, National Gallery also entsprach sein Alter etwa dem des Dargestellten. Der verträumte,
Insichgekehrtsein verratende Gesichtsausdruck charakterisiert tref-
Die in sehr strenger Auffassung gemalte Figur, der der Künstler fend die Haltung eines Künstlers und mildert dabei zugleich die sich
offenkundig eine besonders statuenhafte Wirkung geben wollte, aus der statuarischen Gestaltung ergebende Steifheit. Auf dem
erhebt sich über einer unteren, einen gemeißelten Stein imitierenden gerollten Papier, das der Porträtierte in der Hand hält, erkennen wir
Zone. Die vielfach angeschlagene und gesprungene Platte mutet an, allerdings keine Noten, sondern Buchstaben. Zwar schließt dieser
als wäre sie das Postament einer antiken Grabstatue. Der große Mei- Umstand nicht aus, daß es sich um einen Musiker handelt, aber er
ster der Illusion malte darauf Inschriften, die den Anschein erwecken, stützt auch nicht gerade diese Annahme. So ist also das Fragezeichen
als stammten sie von verschiedener Hand; in der untersten Zeile hinter dem Namen Binchois einstweilen noch angebracht.
brachte er das Datum der Fertigstellung und seinen eigenen Namen Baudouin de Lannoy gehörte zu den angesehensten Persönlichkeiten
an, in der mittleren in Großbuchstaben die Worte "Leal Souvenir" des burgundischen Hofes; ein deutlicher Beweis dafür ist die um seinen
("Treue Erinnerung"), und in der obersten in griechischer Schrift Hals gelegte Kette des Ordens des Goldenen Vlieses, dessen Mitglied
den Namen Timotheos. Mit Hilfe der Inschriften gelang es, über die er von Anfang an war, denn er hatte sich Verdienste erworben in
Person des Porträtierten eine Hypothese von relativer Zuverlässigkeit einer delikaten Angelegenheit, die den Grund zu dieser Stiftung bot:
aufzustellen. Denn unter den Griechen dieses Namens war gegen Phitipp der Gute war stolz auf den neuen Orden, weil dieser die
Ende des Mittelalters ein Dichter und Musiker am meisten bekannt, Erinnerung an seine Vermählung mit Isabella von Portugal wachhielt,
der um 400 v. u. Z. lebte und wegen seiner musikalischen Neuerun- und der Ritter Baudouin hatte die Gesandtschaft geleitet, die zur
Vorbereitung dieser dritten Ehe des Landesherrn eine weite Schiffs-
reise unternahm. Unter den Mitgliedern der _Mission befand sich,
wie bereits erwähnt, auch Jan van Eyck als Maler. Das lange Bei-
sammensein machte beide Männerenger bekannt miteinander. Dies
freilich läßt das Gemälde kaum erkennen, aber es war in der ersten
Hälfte des I 5. Jahrhunderts doch ein seltenes Ereignis, daß jemand
porträtiert wurde. Der Anlaß ist jedenfalls so bedeutsam und feier-
lich, daß sich zu einer unmittelbaren Behandlung kein Anlaß bot.
Der Dargestellte wird mit allen Würden gezeigt, in der Hand den
Stab, das Zeichen seines hohen Amtes. Es ist bekannt, daß der Herzog
ihm einen prächtigen Mantel aus Goldbrokat schenkte; möglicher-
weise ließ sich Baudouin de Lannoy gerade in diesem verewigen.
(Unter den von Jan gemalten Personen trägt er zumindest die prunk-
vollste Tracht.) Das Bildnis mag im Zusammenhang mit der Auf-
nahme in den Orden (1429) oder der späteren feierlichen Über-
reichung der Kette (1431) entstanden sein.

Bildnis des Baudouin de Lannoy.


26 X 19,5 cm. Holz. 1429-143 I.
Berlin (West), Staatliche Museen, Gemäldegalerie
17 Mann mit rotem Turban (Selbstbildnis?) vater Jans, da sein Gesicht dem der Frau des Künstlers auffallend
ähnelt (Abbildung unten). Die Aufschrift des Rahmens identifiziert
25,7 X 19 cm. Holz. 1433. London, National Gallery die Dargestellte eindeutig, ihr kann man sogar entnehmen, daß sie
dreiunddreißig Jahre zählte, als ihr Mann sie malte. Betrachten wir
Dieses Bildnis eines suggestiv blickenden Mannes mit Turban ist das Konterfei genau, so sind wir geneigt, die Frau für älter zu halten.
überaus bemerkenswert. Die größte Sensation für die Zeitgenossen Auch dieses Bildnis ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, daß der
mag wohl gewesen sein, daß der Porträtierte sie direkt ansah. Diese Künstler nichts beschönigte und seinem Modell keineswegs schmei-
Tafel ist nämlich das erste uns bekannte Beispiel dafür, daß der chelte, sondern es nur gründlich beobachtete. So erscheint uns
Dargestellte aus dem Bild heraus und dem Betrachter in die Augen Margarete van Eyck eher als eine biedere Hausfrau und weniger als
sieht. Zwar beweist die Stellung allein noch nicht zwingend, daß der eine Lebensgefährtin, die mit ihrer Schönheit und ihrem Lächeln
Künstler sich selbst nach seinem Abbild im Spiegel malte, aber sie zum Frohsinn verlockt. Trotzdem hat man den Eindruck, daß der
macht dies immerhin wahrscheinlich. Die bewegte Drapierung des Ehemann den Pinsel mit Liebe führte. Eine jeder Pose bare Natür-
Turbans trägt dazu bei, daß das Antlitz ruhig und intelligent-selbstsi- lichkeit und eine aus vertrautem Zusammenleben herrührende Innig-
cher wirkt. Die makellose Harmonie zwischen dem Rot des Gesichts keit zeichnen dieses Bildnis vor allen anderen Halbfigurporträts des
und dem anderen der Kopfbedeckung ist eine bravouröse Leistung. Meisters aus. Das macht diese Gestalt so anziehend, daß man sogar
Die bräunlichen Schatten deuten auf die Vergänglichkeit hin, nicht über die steife Haltung der Hand hinwegsieht. Ursprünglich wollte
anders als die Falten und Adern. Jan offenbar ganz darauf verzichten; als er jedoch seine Absicht än-
Manche nehmen an, die porträtierte Person wäre eher der Schwieger- derte, konnte er nur noch diese wenig befriedigende Lösung wählen.

Margarete van Eyck.


32,5 X z6 cm. Holz. 1439·
Brügge, Groeningemuseum
r 8 Das Ehepaar Arnolfini ( ?) Kerze, die also eindeutig symbolische Bedeutung hat. Sie versinn-
bildlicht hier, wie sie das auch während der Messe auf dem Altar tut,
82 X 59,5 cm. Eichenholz. 1434. London, National Gallery den Licht spendenden und sich dadurch opfernden Christus. Die
Gebrauchsgegenstände, die die häusliche Sphäre andeuten, sind
Man spürt gleich, daß dieses Werk Porträtcharakter hat. Wennschon übrigens größtenteils religiös inspirierte Symbole, die sich auf das
die Meinungen über die Identität der Dargestellten auseinander gehen, eheliche Leben beziehen: Der anwesende Hund weist auf die Treue
ist die Tafeltrotz dieser Unsicherheit von großer Bedeutung, handelt hin; der Besen dient als Garant der Reinheit; die Tatsache, daß die
es sich doch um das älteste ganzfigurige Doppelbildnis in der Ge- Holzpantoffeln von den Füßen gestreift wurden, unterstreicht die
schichte der Malerei und um das erste Beispiel eines in einem stim- Heiligkeit des Ereignisses und erinnert an die abgelegten Sandalen
mungsvollen Innenraum plazierten Porträts. Betrachten wir das Bild des Moses. Die neben dem Spiegel hängende Gebetsschnur (eine
gründlicher, so wird uns klar, daß die feierliche Stille, die es be- Vorläuferin des Rosenkranzes) bestätigt nicht nur die Frömmigkeit
herrscht, den Rahmen für ein außerordentlich wichtiges Ereignis ab- der Eheleute, sondern besitzt auch einen speziellen lokalen Wert,
gibt. Wir erleben die Entstehung jenes Bündnisses, das seit jeher als glänzen doch die einzelnen Perlen deshalb so leuchtend gt:lb, weil sie
das wichtigste Band zwischen Mann und Weib galt. Es muß uns aus Bernstein gefertigt sind. Dieses kostbare Material verkaufte der
nicht verwundern, daß sich die Szene nicht in der Kirche abspielt Deutsche Ritterorden, dem die Fundstätten im Baltikum gehörten,
und daß kein Priester anwesend ist - war doch die Eheschließung allein den Städten Lübeck und Brügge - kein Wunder also, daß es
nach damaliger Auffassung allein die Angelegenheit zweier Men- sich in verarbeiteter Form im Heim eines Ehepaares in dieser flan-
schen, die dazu nichts weiter als der Anwesenheit von Zeugen be- drischen Stadt findet.
durften - sie erkennen wir in dem an der Stirnwand hängenden Noch ein Wort zum Spiegel: Er ist konvex, weil Spiegel damals aus
stark verkleinernden Konvexspiegel. Der eine ist wahrscheinlich der mundgeblasenem Glas hergestellt wurden; aus diesem Grunde kann
Künstler selbst; denn der Text an der Wand, der sich eher zum Be- er auch das ganze Zimmer reflektieren. Was die Konstruktion des
glaubigen eines Protokolls als zum Nachweis der Autorschaft des Raumes anbelangt, so war der Meister ebenfalls ein Neuerer. Wenig
Bildes eignet, lautet: "Johannes de Eyck fuit hic"- "Jan van Eyck früher noch hatte die wirklichkeitsgetreue Wiedergabe des Innen-
war hier". raumes ein kaum zu lösendes Problem bedeutet, Jan van Eyck jedoch
Aber außer den beiden Zeugen im Spiegel gibt es noch einen drit- macht es mit Hilfe seines geistreichen Spiegel-Tricks sogar möglich,
ten - die im Leuchter am hellichten Tag überflüssig brennende die gesamte Szene zugleich von vorne und von hinten zu sehen.
I 9 Die Madonna des Kanzlers Rolin tendsten Persönlichkeiten des Herzogtums emporgearbeitet hatte,
war er nüchtern und berechnend. Die besondere Haltung der Figur
66 X 6z cm. Holz. Um 143 5. Paris, Musee National du Louvre kann man möglicherweise damit erklären, daß wahrscheinlich nicht
der Kanzler selbst der Donator gewesen ist, sondern sein Sohn J ean
Das Gemälde verbindet auf eine derart natürliche und selbstver- das Gemälde in Auftrag gegeben hat, um die Autuner Stiftungen des
ständliche Weise religiöse Gefühle und Realitätsnähe eines Porträts, Vaters zu ergänzen. Der Nachkomme, der die geistliche Laufbahn
Pomp und Zwanglosigkeit, Interieur und nahezu unendliche Land- eingeschlagen hatte, verbrachte viele Jahre in der Stadt, vor 1431 als
schaftsaussicht, wie wir das in der Geschichte der Malerei kaum ein Mitglied des Domkapitels und seit 1436 als Bischof. Wenn sich die
zweites Mal finden. Wir können dabei eine wichtige Phase in der Annahme, daß Jean der Auftraggeber war, als stichhaltig erweisen
Herausbildung des autonomen Porträtgenres durch die wachsende sollte, könnte sich auch die Datierung dieses Bildes ändern.
Verselbständigung der Stifterfigur beobachten. Nicolas Rolin hält Vielleicht entsprach dem Wesen des D argestellten auch besonders
sich ganz offensichtlich bei der Madonna auf, und die luftige Halle, der allgemeine Zug der K unst Jans, zur stillen Kontemplation anzu-
geschmückt mit kostbaren Steinen, mit prächtiger Bauplastik und regen. Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen spielen bei van E yck
mit farbigen Glasfenstern, ist mit ihrem herrlichen Ausblick ein Teil Emotionen nur eine geringe Rolle. D azu trugen die ruhige, klare
des himmlischen Palastes der Mutter Gottes; das läßt uns auch der Komposition, das äußerst gründliche Studiu m der Details sowie ihre
erhöhte Platz der Szene, von dem man auf die Welt herabschaut, bis ins feinste genaue Wiedergabe bei. Die minutiöse Arbeitsweise
ahnen. Die Darstellung der himmlischen und der irdischen Person ist verringert entschieden die Möglichkeit, sich mit dem Modell zu
jedoch gleichermaßen wirklichkeitsgetreu, höchstens die von einem identifizieren, doch ist die kalte Objektivität durch die weichtonige
schwebenden Engel über Marias Haupt gehaltene Krone - ein Ge- und warme Farbigkeit gemildert. Und Genauigkeit bedeutet nirgends
genstück zu der, die Gottvater auf dem Genter Altar zu Füßen liegt, Kleinlichkeit, auch in der kleinsten Form noch erkennt man das
allerdings noch prunkvoller und noch feiner gearbeitet - macht Streben nach Großzügigkeit; manchmalläßt sich sogar eine wahrhaft
etwas von der übernatürlichen Sphäre für die Augen sichtbar. (Die malerische Bravour beobachten, so etwa bei dem über den spiegel-
romanischen Formen des Gebäudes, die er konsequent handhabt, glatten Fluß dahingleitenden Boot und seinen winzigen Figuren, die
verweisen bei Jan van Eyck in der Regel auf ein alttestamentarisches, in einem Pinselzug festgehalten sind. Panofsky bemerkt geistreich,
besonderes beziehungsweise überaus heiliges Milieu.) Die beiden daß das Auge des Meisters zugleich als Fernrohr und als Mikroskop
Gestalten sind nach gleichem Maßstab geformt; dies kam seit Ende gewirkt habe; diese Feststellung fühlen wir angesichts der "Rolin-
des 14. Jahrhunderts bei hochgestellten Persönlichkeiten in der Madonna" am besten bestätigt. Der schönste Teil dieses wunderbaren
franeo-flämischen Kunst wiederholt vor, doch ist im Falle des Kanz- Gemäldes ist wohl die Fernsicht, die sich uns durch die dreifache
lers Rolin der Schutzheilige fortgelassen. Arkade eröffnet. Der breite Fluß, der die große Stadt teilt, führt
Der würdige Mann kniet am Betpult, aber sein Blick scheint durchaus unseren Blick mit seinen Windungen bis zu den Füßen der an die
nicht so demütig, wie es die Situation erheischt, ja wir finden ihn schneebedeckten Gipfel der Alpen erinnernden Gebirgsriesen; alles
eher forschend. Sein Verhalten scheint zu bekräftigen, was wir über ist verschmolzen zu einem grandiosen Landschaftsbild, wie wir es
sein Leben wissen: Da er sich aus niederer Herkunft unter die bedeu- bei keinem von Jans Zeitgenossen finden.
20 Bildnis eines Kardinals Seltsam muten die altertümlichen Züge dieses Werkes an: Durch die
ein wenig primitive Steigerung der Monumentalität - der Kopf ist
34,1 X27,3 cm. Eichenholz. 1435 (?). zu groß geraten, die Hände wurden fortgelassen - erinnert es noch
Wien, Kunsthistorisches Museum an die Porträts des Meisters von Flemalle. Unter den zahlreichen
Bildnissen Jans befinden wir uns lediglich bei diesem einen in der
Auf Grund des von der Sammlung des Erzherzogs Leopold Wilhelm glücklichen Lage, das Gemälde mit einer dazu gefertigten Zeichnung
von Habsburg 1659 angefertigten Inventarverzeichnisses hielt man -es ist übrigens seine einzige beglaubigte- vergleichen zu können.
den Dargestellten bis jüngst für den Kardinal Niccolo Albergati. Sie bewahrt, gerade weil es sich um eine Skizze handelt, mehr von den
Die Entstehung des Porträts brachte man damit in Zusammenhang, zufälligen, kleinen individuellen Merkmalen. Der Künstler wollte das
daß der hohe geistliche Würdenträger sich 143 I in diplomatischer Bild markanter und kraftvoller, straffer und feierlicher gestalten,
Mission in den Niederlanden aufhielt. Doch diese Identifizierung offensichtlich mit Hilfe jener heute nur noch teilweise entzifferbaren
wurde in letzter Zeit von mehreren Forschern in Zweifel gezogen. genauen Angaben, die auf der linken Seite des Blattes die mit Silber-
Allerdings schließt die Tracht eines Kardinals auch die Annahme aus, stift nicht auszudrückenden Farbwerte in einem flämischen Dialekt
es handele sich um das Bildnis des alten Jodocus Vydt, obwohl der festhalten, der in der engeren Heimat Jans, in der Maas-Gegend, ge-
Gesichtsausdruck wie auch die künstlerische Ausführung zweifellos sprochen wurde. Doch gelang dem Meister nicht, seine Absicht auf
denen der Stifterfigur des Genter Altars ähnlich sind. Somit bleibt dem Bild ganz zu verwirklichen; uns scheint der außerordentlich
die Identität des Dargestellten einstweilen ungewiß (Elisabeth feine, zuweilen geradezu malerische Wirkungen hervorrufende Ent-
Dhanens kehrte sogar später zurück zu dem Namen Albergati). wurf schöner zu sein.

Bildnis eines Kardinals.


zr,z .X I8 cm. Silberstiftzeichnung. 1431.

·~
Dresden, Staatliche Kunstsammlungen,
Kupferstich-Kabinett
2I Die Madonna des Kanonikus van der Paele Höhepunkte dieses Bestrebens, wahrscheinlich sogar seiner ganzen
Kunst, präsentiert gerade dieses Bild. Donatian, der Patron der
122 X 157 cm. Eichenholz. 1436. Kirche des Kanonikus, und sein Schutzheiliger, Georg, stehen so
Brügge, Groeningemuseum unverrückbar da wie die Säulen hinter ihnen; die kompositorische
Ordnung ist von beinahe geometrischer Strenge. Die pyramidal
Die Kunstgeschichte benennt nicht wenige Werke nach dem einstigen aufragende Madonna erhielt ihren Platz in dem im Halbkreis des
Auftraggeber, doch tut sie es selten mit mehr Recht als im Falle dieses heiligen Raumes durch den erhöhten Thron sowie durch den Teppich
Gemäldes: Wir sehen - obwohl sich das Werk bei oberflächlicher und den Baldachin gebildeten, von einem Rechteck umschriebenen
Betrachtung nahtlos in die Reihe der Bilder mit ähnlicher Thematik Streifen. Die Madonna selbst jedoch wirkt- obwohl die Falten ihres
aus dem späten Mittelalter einfügt - tatsächlich die Madonna des Mantels schwer und schroff brechen und obwohl sie nicht den Be-
Kanonikus, sind wir doch Zeugen des Moments, in dem die Gottes- trachter, sondern den Stifter anblickt - gar nicht unnahbar: Dank
mutter sich dem betagten Kleriker in einer Vision offenbart. Wenn- dem seltsamen Ausschnitt haben wir den Eindruck, als würden wir
gleich seine Augen geöffnet sind, wendet er sich Maria und dem Kind uns unmittelbar vor ihr befinden - deshalb sind auch die Schutz-
nicht zu, so daß nicht zu bezweifeln ist, daß der Künstler seine Vision heiligen so groß, und deshalb sind Teppich und Baldachin vom
festgehalten hat. Er wählte hier zwar eine seltsame, aber einleuchtende Rahmen überschnitten. Die Klarheit der Komposition wird durch
Methode, die Person auf die Leinwand zu bannen. die genau gemalten Details gut ergänzt: Sehen wir nur einmal die
Jan van Eyck neigte im Laufe der Zeit mehr und mehr zu feierli- Rüstung des heiligen Georg sowie die subtil wiedergegebenen ein-
cheren, erhabeneren und- in Übereinstimmung damit- weniger zelnen Glieder seines Kettenhemdes! Hinzu kommt die unnachahm-
bewegten, eher monumentalen, symmetrischen Lösungen. Einen der liche Leuchtkraft der Kombination von Gold und Blau.
2.2. Madonna auf dem Thron ("Lucca-Madonna") Testament an. (König Salomo saß auf einem Löwenthron, und der
Bezug darauf erhöht die Würde Marias.) Diese Tafel ist eines der
65,5 X49,5 cm. Holz. 1435-1437. seltenen Werke Jans, auf denen die Perspektive der gemusterten
Frankfurt am Main, Städelsches Kunstinstitut Fliesen, der von Fußboden und Wand gebildeten Linie und des
Thronsockels - diese von den italienischen Zeitgenossen so oft ver-
Der Meister hat die Madonna oft gemalt, aber jede Darstellung weist wendeten Motive- ebenfalls die Räumlichkeit formen helfen. Es ist
einen besonderen, individuellen Charakter auf; diese gehört zu denen allerdings bezeichnend für den Meister aus dem Norden, daß er diese
des intimeren, man könnte sagen bürgerlichen Typs, denn Maria und Elemente gerade nur andeutet, ohne sie mit jenem Nachdruck her-
das Kind befinden sich nicht in einem feierlichen Kirchenraum mit vorzuheben, wie das die Kollegen im Süden tun: So werden zum
Säulenarkaden, und auch die die erhabene Sphäre der Szene beto- Beispiel gerade die Fliesen, obwohl sie den Tiefenzug am besten
nenden Schutzheiligen fehlen hier. Der Thron mit Baldachin und veranschaulichen würden, weitgehend von dem bunten Teppich
der kostbare orientalische Teppich heben jedoch die beiden Figuren verdeckt.
aus der schlichten Umgebung heraus, während das Fenster und die Die zweite Madonna stammt wahrscheinlich nicht von Jans Hand,
ihm symmetrisch genau entsprechende Wandnische die hieratische sondern stellt eine zeitgenössische Kopie dar; immerhin ist es ein
Strenge des Ensembles unterstützen. Die auf dem Bild sichtbaren Glücksfall, daß eine liebenswürdige Komposition des Brügger Mei-
Gebrauchsgegenstände sind zwar von ganz alltäglicher Natur, zu- sters auf diese Weise bewahrt wurde. Man sieht Maria zwar unter
gleich aber Mariensymbole. Sogar die Messinglöwen auf den Lehnen einem Baldachin, aber sie sitzt nicht auf einem Thron, sondern ledig-
des Throns haben eine zweifache Rolle: Sie veranschaulichen die lich auf einer niedrigen Bank, ja es kommt einem so vor, als hätte sie
Tiefenausdehnung des Raumes, spielen aber auch auf das Alte sich direkt auf dem Boden niedergelassen. Dieser italienische Bildty-
pus, der symbolisch die Demut der Mutter Gottes ausdrückt, hatte
sich in den Jahren um 1400 in der flämischen Malerei verbreitet. Der
in dem aufgeschlagenen Buch blätternde Knabedünkt einen bei flüchti-
ger Betrachtung lediglich ein liebenswürdiges Genremotiv, aber er
soll hier nicht nur die Stimmungshaftigkeit steigern, er hat auch eine
wichtige inhaltliche Funktion. Diese scheinbare Nebensächlichkeit
zeugt nämlich von der Außerordentlichkeit des künftigen Herrn der
Welt, sie hebt hervor, daß bereits der Knabe sich einer Tätigkeit hin-
gab, die unter den damaligen Verhältnissen nur besonders fromme
und weise Erwachsene auszeichnete.

Madonna mit dem lesenden Jesusknaben


("Ince-Hall-Madonna").
z6,5 X 19,5 cm. Holz. 1433 (?).
Melbourne, National Gallery of Victoria
23 Bildnis des Jan de Leeuw wahrt den Namen, ja sogar Ort und Datum der Geburt des Porträ-
tierten. Es erweckt ferner unser Interesse, daß der Name des Auf-
24,5 X 19 cm. Holz. 1436. Wien, Kunsthistorisches Museum traggebers nicht mit Buchstaben festgehalten ist, sondern stellver-
tretend durch einen kleinen gemalten Löwen. Diese spielerische, an
Jan de Leeuw, eines der einflußreichsten Mitglieder der Gold- Bilderrätsel erinnernde Lösung dürfte den zeitgenössischen Be-
schmiedezunft von Brügge und in den späteren Jahren sogar ihr trachtern keine Schwierigkeit verursacht haben, denn der Name des
Vorsteher, erscheint hier zur Monumentalität stilisiert. Die Groß- Königs der Wüste lautet flämisch "leeuw", so daß es nicht schwer
formigkeit und Glätte bringen das Porträt in die Nachbarschaft der fiel, auf die Identität des Porträtierten zu schließen, das heißt, das
"Madonna des Kanonikus van der Paele", allerdings ist es malerischer Zeichen durch das richtige Wort zu ersetzen. (Möglicherweise ist der
als das letztere Bild: Das zeichnerische Element fehlt ganz, und auf Löwe auch das Meisterzeichen dieses Goldschmiedes gewesen.)
die Charakterisierung der Umgebung ist - wie in der damaligen Die kraftvolle Plastizität des Kopfes kennzeichnet auch ein anderes
Porträtkunst üblich - verzichtet. Der Blick des Dargestellten ist Bildnis, das man wegen des in der Hand präsentierten Ringes eben-
direkt auf den Betrachter gerichtet- und dies widerlegt schlagend falls als das eines Goldschmiedes ansieht. Forscher, die das Bild nur
die allgemein verbreitete Ansicht, eine aus dem Bild herausschauende von Reproduktionen kennen, halten es nicht für eine eigenhändige
Gestalt müsse das Selbstbildnis des Künsders, zumindest sein ver- Arbeit des Meisters, aber die Feinheit der Pinselführung und der
stecktes Selbstbildnis sein. Wir wissen nämlich von dem Dargestellten Farbgebung schließt jeden Zweifel aus. Die Geschichte des Porträts
nicht nur auf Grund des Ringes, den er in der Hand hält, daß er beweisteinmal mehr, wie sehr der Name Jans am Ende des 18. Jahr-
keinesfalls der Maler sein kann. Die originale Rahmeninschrift be- hunderts in Vergessenheit geraten war. Damals konnte Baron
Samuel Brukenthal, Gouverneur von Siebenbürgen, das Bild für die
Sammlung seines Stammsitzes in Nagyszeben (heute Sibiu, SRR)
kaufen. Die außerordentliche Qualität war für alle offensichtlich,
doch war man der Ansicht, daß eine solche Leistung außer den italie-
nischen Malern nur Dürer zuzutrauen war. Die spätere Forschung
fand zwar den Schöpfer des Bildes, aber das gefälschte Dürer-
Monogramm auf der Tafel hat das Andenken an diesen Irrtum kon-
serviert.

Bildnis eines Goldschmieds.


27,5 X 15,5 cm. Holz. Um 1430. Bukarest, Muzeul de Artä
24 Die Verkündigung die Flügelaltäre geschlossen bleiben. Der zweite Grund ist, daß die
Aufeinanderfolge der heiligen Ereignisse veranschaulicht werden
Dresdener Reisealtäreheu - Außenseite konnte: Durch Christi Herabkunft auf die Erde wird es möglich, daß
33 X 27,5 cm (mit Originalrahmen). Eichenholz. 1437. das auf den Innentafeln gezeigte Geschehen, das dank seinem Reich-
Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie Alte Meister tum und seiner Farbenpracht einen Abglanz des Himmels vorstellt,
Wirklichkeit wird. Im Falle der Außenseite befinden wir uns jedoch
Wir sehen hier die Außenseite eines Triptychons mit der Darstellung erst bei der vorbereitenden Phase, so daß die Figuren von zurück-
der Verkündigung an Maria durch den Engel. Es gibt mehrere Grün- haltender Farbigkeit sind.
de für das häufige Vorkommen dieser Anordnung bei Flügelaltären. Auf dem noch eleganteren Bild aus Lugano schimmert hinter den
Der formale Grund ist offenkundig, wenn wir nur daran denken, wie Figuren ihr gemaltes Spiegelbild hervor, obwohl solche Skulpturen
vorteilhaft sich zwei nebeneinander stehende längliche Felder mit in den Altarnischen nie vor Spiegel gestellt wurden - eine Glas-
dieser Szene füllen lassen, die es verträgt, daß die Gestalten ein platte von dieser Abmessung war damals technisch gar nicht mög-
wenig voneinander entfernt postiert werden. Unter den inhaltlichen lich; aber diese Kleinigkeit trägt zusammen mit dem vor den pro-
Gründen hängt der eine mit dem Kalender zusammen: Der Feier- filierten Rahmen gesetzten Flügel des Engels wesentlich dazu bei,
tag der Verkündigung, der 2 5. März, fällt in die Fastenzeit, zu der dem Betrachter eine Illusion der Tiefenausdehnung zu geben.

D ie
Verkündigung.
Jede Tafel
39 X 24 cm. Holz.
Mitte der
dreißiger Jahre
des 15. Jahr-
hunderts.
Lugano,
Sammlung
Thyssen-
Bornemisza
2 5 Madonna mit Stifter und Heiligen dieses Werk sei früher entstanden. Allerelings ist schon allein die
Sicherheit der Raumkomposition ein Grund zur späteren Ansetzung
Dresdener Reisealtärchen- Innenseite des Altärchens. Der Künstler hat sich seine Aufgabe erheblich da-
33 X 53,5 cm (mit Originalrahmen). Holz. 1437· durch erschwert, daß er auf den drei getrennten Tafeln das Innere
Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, ein und derselben Kirche zeigt. Unser Auge kann über zahlreiche
Gemäldegalerie Alte Meister Detailschönheiten schweifen, so über die verschiedenen farbigen
Säulenschäfte, den feinen Bauschmuck - die Kapitelle und Sta-
Nach dem Öffnen der Flügel strahlt uns die zauberhafte Farbenpracht tuen-, die auf zweifache Art verglasten Fenster- oben Farbglas-
des Inneren entgegen. Und da die Figuren im Vergleich mit denen fenster romanischen Stils, in der unteren Zone dagegen Butzen-
der Verkündigung spürbar kleiner sind, werden die Dimensionen scheiben - sowie die hinter dem Rücken Katharinas sich öffnende
der Kirche gesteigert. Marias Mantel setzt ziemlich genau den Tep- Landschaftsdarstellung. Die größte Tugend des Triptychons ist viel-
pich fort; dadurch wird die Madonna fast auf den Thron hinange- leicht die einfache, mit selbstverständlichen Mitteln erreichte Schön-
hoben und scheint in der Tat zu schweben. Gegenüber den Außen- heit. Bei aller Feinheit, die auch in Jans <Euvre kaum ihresgleichen
tafeln ist hier alles kleiner und zierlicher. Am subtilsten ist wohl das hat, sind die Hauptträger der malerischen Wirkung doch die großen
Spiel der Hände. Die liebliche Anmut der Gesichter ist in Jans spä- Farbflächen im gleichmäßigen, gefilterten Licht - die weichselrote
tem <Euvre so einzig, daß man bis 1958, als die Inschrift mit Datum der Maria, die weiß-blaue der Katharina und die dunkelgrüne des
auf dem Rahmen der Mitteltafel entdeckt wurde, der Ansicht war, Stifters Michele Giustiniani.
26 Die heilige Barbara hung zur Hauptfigur, aber seine Gewichtigkeit und das dreifache
Fenster in seinem oberen Teil machen seinen symbolischen Cha-
34X18,5 cm. Eichenholz. 1437. rakter offenkundig.
Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten Doch das ist nicht einmal das Auffallendste an diesem kleinen Bild,
noch mehr besticht die Technik, in der es gemalt wurde. Die nur mit
Im Vordergrund des Bildes sitzt auf einer sanften Erhebung Barbara, der Pinselspitze aufgetragene, überaus feine Zeichnung ist vermut-
mit ihrer Rechten in einem illuminierten Kodex (vielleicht einem lich die schönste von allen, die unter den Händen der frühen nieder-
Stundenbuch) blätternd, in der Linken das Zeichen ihres Märtyrer- ländischen Meister entstanden sind. Die farbige Anlage auf glatt-
tums, einen langen Palmenzweig, haltend. Auf Grund des kleinen weißem Grund entsprach zwar der Gepflogenheit der Tafelmaler,
Kopfes, des lieblichen, von Kontemplation gezeichneten Gesichtes aber eine solche Detailgenauigkeit wie bei dem Faltenwurf des Ge-
und des losen, fast struppig auseinanderstrebenden Haars ist sie viel- wandes am Ellenbogen oder bei den Architekturformen des T urmes
leicht Jans anmutigste Frauenfigur. Das Attribut der Heiligen ist hätte als Vorzeichnung eines Gemäldes keinen Sinn gehabt. Der Mei-
der Turm, der darauf hinweist, daß ihr Vater sie, ähnlich wie die ster mag wohl diese Pinselzeichnung gar nicht als eine vorbereitende
Danae der antiken Mythologie, in den Turm sperrte. Als er jedoch Phase, sondern als das Endergebnis seiner Arbeit gedacht haben.
entdeckte, daß seine Tochter bei einem Umbau ein dreifaches Fenster Darauf deutet auch hin, daß er den Rahmen sorgfältig signierte und
in die Mauer ihres Gefängnisses schlagen ließ, war ihm sogleich datierte. Die später im Bereich des Himmels aufgetragenen Farb-
klar, daß seine strengen Maßnahmen zu spät gekommen waren, tupfer stammen nicht von ihm. Wir können glücklich sein, daß die-
denn Barbara bekannte sich bereits zum Christentum und wollte ser Eingriff von fremder Hand nicht weiter getrieben wurde, denn
sich mit dem Symbol der Heiligen Dreifaltigkeit umgeben. es hätte dem Bild zum Schaden gereicht, wenn man das genrehafte
In der Regel malte man den Turm in kleinem Maßstab und modell- Gewimmel im Mittelgrund - das übrigens hervorragend die Bau-
artig der Heiligen zu Füßen, doch jetzt wurde für die versteckte techniken vor Augen führt-, wenn man die emsigen Arbeiter und
Symbolik eine neuartige Lösung benötigt. Das Bauwerk befindet die neugierig sich umsehenden, modisch gekleideten Städter auch
sich hinter Barbaras Rücken und steht scheinbar in keinerlei Bezie- nur einen Deut weniger genau sehen könnte.
27 Die Madonna am Springbrunnen standen; sie versuchten sogar, das Datum auf dem Rahmen in speku-
lativer Weise anders zu deuten. Doch diese überzeugend in den Raum
19X12 cm. Holz. 1439· gestellte, fester als die früheren Figuren Jans auf der Erde stehende
Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten Madonna führt solche Thesen ad absurd um- denken wir nur an die
Werke, die vor dem Genter Altar entstanden sind. Zwar fehlt bei
Den Besucher des Antwerpener Museums frappiert vor allem das diesem Madonnenbild in der Tat der Raum, der sich entlang der Ar-
kleine Format dieses Bildes, das kaum die Maße einer Ansichtskarte kaden gleichmäßig in die Tiefe zu erstrecken scheint oder bis zum
übersteigt. (Der Betrachter von Kunstbüchern merkt das gar nicht, unendlich entfernten Horizont reicht- dennoch markieren der Him-
da die Tafel in den Bildbänden üblicherweise vergrößert reproduziert mel, die Rosenhecke davor, sodann der von Engeln gehaltene Vor-
wird. Dadurch kann er das Werk gründlicher studieren und die hang, die stehende Figur und der kleine, in geistreicher Asymmetrie
Arbeit des Pinsels besser genießen.) plazierte Springbrunnen jeweils eine eigene Raumschicht.
Man hat den Eindruck, als stünde hier wieder der Miniaturenmaler Offensichtlich stiftete auch die Mischung von Merkmalen des früheren
Jan van Eyck vor uns, und dieses Gefühl wird durch einige bewußt und des späteren Stils Verwirrung unter den Forschern. Das kleine
genutzte Archaismen verstärkt. Der Blick kann nicht in die Tiefe Bild verschmilzt die reizvollsten Eigenarten des Meisters; man kann
schweifen, die Zahl der Details ist gering, es fehlen die Gegenstände gleichzeitig den anmutigen Flug der Engel bewundern, den Glanz
des Alltagslebens; die stehende Madonna bietet weniger plastische der kostbaren Textilien und des Messings, die Üppigkeit des Pflanzen-
Probleme als die sitzende, und sogar die Farbe ihres Mantels ist wuchses, die künstlerisch vollendete Einheit von Körper und Ge-
traditionsgemäß blau statt rot (wie allgemein auf den späteren Ge- wand der Maria, die Anmut ihrer Hände, die ein wenig übertriebene,
mälden des Meisters). Aus diesem Grunde vertrat mehr als ein For- aber doch niedliche Bewegung des Jesusknaben, der bereits als
scher die Ansicht, das Bild sei um zehn oder mehr Jahre früher ent- Säugling die Gebetsschnur hält.
28 Die Madonna des Propstes van Maelbeke noch eher wie ein offener Arkadengang an). Wir haben es mit einer
Fortführung der Bildkomposition der "Rolin-Madonna" zu tun, was
172 X 99 cm. Holz. 1441. Warwiek Castle, Privatsammlung übrigens auch dadurch unterstrichen wird, daß der Stifter ohne
Schutzheiligen erscheint. Die stehende Maria kommt auf mehreren
Nicolaes van Maelbeke war von 1429 bis 1445 Provost der Abtei späten Tafeln vor, außer bei der "Madonna am Springbrunnen" auch
St. Martin in Ypern. Er bestellte das Bild bei Jan van Eyck, das bei der "Rothschild-Madonna" (New York, Frick Collection); ganz
dieser aber nicht mehr vollendete. Das letzte Werk des Meisters neu auf dem Maelbeke-Bild ist die liebenswürdige Unmittelbarkeit
gehört zu den großformatigen Tafeln mit sehr erhabener Aus- ihrer Haltung.
strahlung. Am nächsten verwandt scheint es der "Madonna des Ka- Wie alte Zeichnungen bezeugen, blieb dieses Werk lange in unferti-
nonikus van der Paele". Doch ist der Eindruck ein ganz anderer, gem Zustand. Die "Vollendung" von fremder Hand bedeutete dann
weil der Blick hier frei in die Landschaft schweifen kann - obwohl allerdings entsprechend den Gewohnheiten des r6. Jahrhunderts
der architektonische Rahmen in beiden Fällen an den Chor einer nicht nur, daß die leer belassenen Partien ergänzt wurden, sondern
mittelalterlichen Kirche denken läßt (bei der "Maelbeke-Madonna" daß man stellenweise auch Übermalungen vornahm. So trug zum
mutet die luftige Konstruktion von Säulen und gotischem Gewölbe Beispiel der Stifter nach der Zeichnung eine Tonsur, die man jetzt
vergeblich sucht. Bis in unser Jahrhundert hatte er einen "spani-
schen" Spitzbart, der aber während einer Restaurierung beseitigt
wurde; weitere Eingriffe könnten noch merkwürdigere Verwandlun-
gen zur Folge haben. Es scheint, daß beim Tode von Meister Jan
nur die wesentliche Komposition fertiggestellt war. Die Ergän-
zungen, die einer Veränderung gleichkommen, zeugen vom traurigen
Schicksal des herrenlos gewordenen Bildes.

Kopie der "Madonna des Propstes van Maelbeke".


Zeichnung.
Wien, Graphische Sammlung Albertina
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I. Auflage. Alle Verlagsrechte dieser deutschsprachigen Ausgabe bei Henschel- Reihenentwurf: Henry Götzelmann
verlag Kunst und Gesellschafr, DDR - Berlin I984 Printed in I-Iungary 1984. Gesamtherstellung: Druckerei Kossuth, Budapest.
Lizenz-Nr. 4I4.235/109/84. LSV- r. 8156 62 5 542 0 OI400
1t . lf{J
Für die Kunstgeschichtsschreiber früherer Jahrhunderte hebt die
Geschichte der Malerei im Norden mit dem Schaffen der Brüder van
Eyck an. Das Neue, das hier in der Tat wie mit einem Schlag da ist,
wurde lange auf eine technische Erfindung zurückgeführt, die man
seit Vasari Jan van Eyck zuschrieb, die der Ölmalerei. In Wahrheit
war das Öl als Bindemittel der Farbe auch den voreyckischen Malern
des Spätmittelalters bekannt gewesen, richtig ist nur, daß es in der .
I
eyckischen Kunst zu einer Anwendung gelangte, die ganz neue künst- ...
lerische Möglichkeiten zu entwickeln gestattete.
' .
Nicht die Erfindung eines bisher unbekannt 'gewesenen Malrezeptes
hat Epoche gemacht, sondern eine neue bildhafte Anschauung des
Wirklichen, die sich dann freilich, um im Kunstwerk in Erscheinung
zu treten, auch neuer technischer Mittel bedient hat. Die Eycks ge-
hören zu den großen Entdeckern des Sichtbaren. Vieles, was uns
Heutigen seit langem ein selbstverständlicher Besitz und Genuß
unseres Auges ist, hat ihr malerisches Schaffen den abendländischen
....
Menschen überhaupt erst sehen gelehrt. Hermann Beenken •'

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Auf der Vorderseite: Maria. Ausschnitt aus dem Genter Altar

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