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Kayo Adachi-Rabe
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Der japanische Film
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Der japanische Film
Kayo Adachi-Rabe
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Inhalt
Vorwort7
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Vorwort
Das Bild auf dem Umschlag dieses Buchs zeigt den winzi-
gen Bruchteil eines magischen Moments in einem Film.
Ähnlich setzt sich die vorliegende Publikation selbst zur
Aufgabe, die japanische Filmgeschichte von ihren Anfän-
gen bis zur Gegenwart vorzustellen. Das Filmland Japan ist
außerordentlich vielfältig. Wegen des beschränkten Um-
fangs des Bandes musste hier eine sehr schmale Auswahl
der Werke getroffen werden, die das Raffinement der japa-
nischen Filmkunst dennoch repräsentieren soll.
Für die Geschichtsdarstellung wurde auf die einschlä-
gige Literatur zurückgegriffen. Neben der chronologischen
Darstellung habe ich der Kontinuität der Arbeit wichtiger
Regisseure eine Priorität gegeben und ihre ästhetischen
Stile eingeordnet. Zur Orientierung werden die Lebensda-
ten der Filmemacher angegeben, und zwar an der Stelle, an
der ihre Werke im Schwerpunkt diskutiert werden. Um die
Überlastung des Textes mit Namen zu vermeiden, kommen
nur die Künstler namentlich vor, deren Nennung unver-
meidlich zu sein scheint. Es handelt sich dabei nicht nur
um Regisseure, sondern natürlich auch um Darsteller und
andere Mitarbeiter. Bei der Reihenfolge der Vor- und Nach-
namen folge ich der westlichen Konvention.
In diesem Band spielen aber selbstverständlich die Filme
selbst die Hauptrolle. Nach dem Originalfilmtitel wird der
deutsche Verleihtitel oder, wenn dieser nicht vorhanden ist,
der Titel einer anderen westlichen Sprache angegeben. Die
Besonderheiten der epochenbildenden Werke werden mög-
lichst konkret beschrieben und Entstehungshintergründe
und historische Fakten anhand der Filme exemplarisch er-
läutert. Der Fokus liegt auf der Singularität und Universa
lität der Filme, die in Japan produziert wurden und empa-
thischer interkultureller Rezeption begegneten. Beachtet
werden dabei wahrnehmungsästhetische Traditionen, the-
matische Schwerpunkte, Reflexion des Zeitgeists, Stilent-
wicklung, Konfrontation mit der technischen Entwicklung
des Mediums sowie interne und externe Einflüsse.
Vorwort https://doi.org/10.5771/9783967074796 7
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Seit seiner Genese zeigt das fernöstliche Kino deutlich,
dass es sich immer im engen Kontext mit der internationa-
len Filmgeschichte entwickelt hat. So sollen die Beziehun-
gen zu anderen Filmländern transparent gemacht werden,
die in weiteren Publikationen der Reihe Filmgeschichte
kompakt beleuchtet werden. Auf diese Weise möchte der
vorliegende Band einen Diskurs eröffnen und einladen,
darüber nachzusinnen, was es überhaupt ist, das die Film-
kunst so einzigartig macht und uns über jegliche Grenzen
hinweg bewegt.
1 Yoshirô Irie, »Saiko no Nihon eiga ni tsuite – Konishi honten seisaku no katsudô-
shashin«, in: Tôkyô kokuritsu kindai bijutsukan kenkyû kiyô (2009), Nr. 13, S. 32–63.
2 Akira Tochigi, »Sono basho ni Meiji arite – Kobayashi Tomijirô sôgi ga sasou jidai to
machi«, in: NFC [Nihon Film Center] News Letter (2011), Nr. 97, S. 10–11. Der Film
ist unter folgendem Link veröffentlicht: https://meiji.filmarchives.jp/works/06_play.
html (letzter Zugriff: 15.2.2021).
3 Junichirô Tanaka, Nihon eiga hattatsu-shi, II, Tokyo 1975, S. 11–13. Tadao Satô, »Ni-
hon eiga no seiritsu shita dodai«, in: Kôza Nihon Eiga, Bd. 1., hg. von Shôhei Ima-
mura / Tadao Satô / Kaneto Shindô / Shunsuke Tsurumi / Yôji Yamada, Tokyo 1995,
3. Aufl. S. 2–52, hier S. 51.
4 Über das Schwertkampf-Genre und Orochi: Kenji Iwamoto, Jidaigeki no tanjô, Tokyo
2016, S. 209–216.
2 Verlängerte Stummfilmzeit
5 Ryûichi Kanô, »Kinugasa Teinosuke to sono shûhen«, in: Kôza Nihon Eiga, Bd. 2, hg.
von Shôhei Imamura / Tadao Satô / Kaneto Shindô / Shunsuke Tsurumi / Yôji Yamada,
Tokyo 1995, 4. Aufl., S. 94–115, hier S. 108.
2 Verlängerte Stummfilmzeit
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wirtschaftskrise 1929 und die zunehmende Militarisierung
des Landes. In dieser Phase entstand die Gattung des soge-
nannten »Tendenzfilms« (keikô eiga) unter dem Einfluss
des russischen Revolutionsfilms und des deutschen Films
der Neuen Sachlichkeit. Der Tendenzfilm ist charakterisiert
durch seine links-ideologische Botschaft, scharfe Kapitalis-
muskritik und realistische Milieuschilderungen. Daisuke Itô
drehte seinen Schwertkampf-Film Zanjin Zanba Ken (Man-
Slashing, Horse-Piercing Sword, 1929) als modernes
Drama eines Volksaufstands. Ryûnosuke Tsukigata verkör-
pert einen Rônin – einen herrenlosen Samurai –, der in der
Konvention des Jidaigeki einen rebellischen Geist repräsen-
tiert. Itô, der für seine Vorliebe für Kamerafahrten bekannt
ist, imitiert hier das Wagenrennen in Ben Hur (1925) von
Fred Niblo. So findet er in den schwindelerregenden Fahr-
ten ein Bild für die aufständische Kraft des Tendenzfilms.
Das Gegenwartsdrama Nani ga Kanojo o sô Sasetaka (Das
Mädchen Sumiko – Warum hat sie das getan?, 1930) von
Shigeyoshi Suzuki (1900–1976) erzählt vom Schicksal
eines elternlosen Mädchens. Die realistische Schilderung
der Armut und die groteske Darstellung des Klassenkampfs
in diesem Film übertreffen seine Vorbilder von Sergej M.
Eisenstein (z. B. Streik, 1925) und G. W. Pabst (Die freud-
lose Gasse, 1925). Im Kontrast dazu wird die innere Zer-
brechlichkeit der unschuldigen Protagonistin durch fein
strukturierte Kulissen versinnbildlicht. Die abwechselnde
Annäherung und Distanzierung der Kamera zur Hauptfigur
evoziert einen dramatischen, emotionalen Sog.
Durch eine verschärfte Zensur ging die Bewegung des
Tendenzfilms bald zu Ende. Zeitgleich begann die 1902 ge-
gründete Produktionsfirma Shôchiku ein Programm mit
vergleichsweise apolitischen »Kleinbürgerfilmen« (shôshi-
min eiga), welche das Alltagsleben des zeitgenössischen
Durchschnittsbürgers thematisiert. Otona no Miru Ehon
– Umarete wa Mita keredo (Ich wurde geboren, aber…,
1932) war bereits der 24. Film des damals 28 Jahre alten
Regisseurs Yasujirô Ozu (1903–1963). Die Welten der Kin-
der und der Erwachsenen werden ironisch parallel zuei-
nander gesetzt. Die Körpersprache der Kinder intensiviert
2 Verlängerte Stummfilmzeit
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erhellt das Antlitz der Filmheldin und erzeugt einen zarten,
weichzeichnerhaften Effekt. Während die realen Lebens-
räume der Protagonisten trostlos finster erscheinen, reflek-
tiert die Sonne in Momenten des Glücks schillernd auf
einer Wasseroberfläche. Die Szenen springen aus der sub-
jektiven Sicht der Protagonistin abrupt von der Gegenwart
zur Vergangenheit und von der Realität zum Traum. Vogel-
perspektiven und fließende Fahrten lassen das Geschehen
der Menschenwelt rührend schön und dadurch vergänglich
erscheinen. Dieser Film bildet einen Höhepunkt der japani-
schen Stummfilmkunst.
6 Noël Burch erklärt die Diskontinuität im japanischen Film vor allem unter dem Be-
griff »cutaway« ausführlich: Noël Burch, To the Distant Observer. Form and Meaning
in the Japanese Cinema, London 1979, S. 18–23, zu Yamanaka siehe S. 192–197.
7 Eine restaurierte Fassung in 4K-Auflösung wurde 2020 von Kazuo Miyagawas Assis-
tent Masahiro Miyajima mit Unterstützung der Martin-Scorsese-Stiftung erstellt. Aus-
führliche Informationen über die Restauration: https://creators.yahoo.co.jp/yamaza
kiema/0200077833 (letzter Zugriff: 15.2.2021).
8 Siehe den Interviewfilm »Tom Mes im Interview mit Seijun Suzuki April 2006«, in:
DVD Branded to Kill von Seijun Suzuki, Rapid Eye 2011.
15 Über Sansho Dayu – Ein Leben ohne Freiheit: Kayo Adachi-Rabe, »Die Ewigkeit des
Vergänglichen – Zeitdarstellung im Film Sanshô Dayû von Mizoguchi Kenji«, in:
Klaus Kracht (Hg.), »Ôgai« – Mori Rintarô. Begegnungen mit dem japanischen homme
de lettres, Wiesbaden 2014, S. 111–121.
16 Über den Schuss- und Gegenschuss sowie über die »mismatched eyeline« bei Ozu
siehe: David Bordwell, Ozu and the Poetics of Cinema, New Jersey 1988, S. 73–108.
17 Nach Ôshimas Kommentar in seinem Film 100 Years of Japanese Cinema (1995).
18 Nach einem Zerwürfnis mit Arnold Fanck hatte Itami eine andere Version des Films
Atarashiki Tsuchi (Die Tochter des Samurai, 1937) erstellt.
20 Tadao Satô, »Kiki to mosaku«, in Kôza Nihon Eiga Bd. 6, hg. von Shôhei Imamura /
Tadao Satô / Kaneto Shindô / Shunsuke Tsurumi / Yôji Yamada, Tokyo 1995, 2. Aufl.,
S. 2–75, hier S. 14.
23 Über die Selbstreflexivität des Films: Christian Metz, Die unpersönliche Enunziation
oder der Ort des Films, Münster 1997, S. 69–76.
24 Tomiko Yokota (Hg.), Imamura Shôhei no eiga. Zen sagyô no kiroku, Tokyo 1971,
S. 152.
25 Über Shinsuke Ogawas Arbeiten: Shinsuke Ogawa / Sadao Yamane (Hg.), Eiga o toru.
Dokyumentarî no shifuku o motomete, Tokyo 1993.
In der Ära der Nouvelle Vague lässt sich erkennen, dass die
japanische Filmkunst eine besondere Bereicherung durch
Regisseure erfahren hat, die Aspekte aus anderen Kunst-
gattungen in ihre Werke einfließen ließen. An erster Stelle
zu nennen sind hier vor allem der Ikebana-Künstler Hi-
roshi Teshigahara und der Dichter und Theaterregisseur
Shûji Terayama. Auch der Komponist Tôru Takemitsu
spielte eine entscheidende Rolle für die Erneuerung der
Filmakustik. Masaki Kobayashi und Toshio Matsumoto
stammen ursprünglich aus den Bereichen der Kunstge-
schichte und der bildenden Kunst. Seijun Suzuki entwi-
ckelte seinen avantgardistischen Stil in Kooperation mit
dem Filmarchitekten Takeo Kimura. All diese Künstler
trugen maßgeblich zu filmischen und ästhetischen Innova-
tionen bei.
Hiroshi Teshigahara (1927–2001) ist ein Ikebana-Meister
der Sôgetsu-Schule, die von seinem Vater Sôfû gegründet
wurde und für ihren modernistischen Stil bekannt ist. Nach
einem Studium der Malerei arbeitete er für die Regisseure
Keisuke Kinoshita und Fumio Kamei und begann selbst, ex-
perimentale Dokumentarfilme zu drehen. Ebenso war er in
der linkspolitischen Szene und in einer avantgardistischen
Künstlergruppe aktiv. Seine Hauptwerke entstanden in
Zusammenarbeit mit Tôru Takemitsu. Es handelt sich um
Verfilmungen von Romanen Kôbô Abes. Otoshiana (The
Pitfall, 1962, ATG) ist ein in einem dokumentarischen Stil
gedrehter surrealistischer Kriminalfilm, in dessen Zentrum
eine Bergarbeitergewerkschaft steht. Das abstrakte Sound-
Design, das eindrücklich die Stille miteinbezieht, wirkt zu-
gleich dramatisierend und stark befremdend. Verschiedene
Handlungsebenen werden zeitlich versetzt montiert, sodass
eine merkwürdige Verdopplung der dargestellten Dimen-
sionen entsteht. Aus einer sich real abspielenden Szene
entspringt ein surreales Geschehen anhand von einfachen,
klassischen Tricks wie Doppelbelichtung und Zurückspu-
len des Films. Die jeweils hyperrealistisch dargestellten
26 Über Kimuras Arbeiten: Takeo Kimura / Kunihiko Arakawa (Hg.), Eiga Bijutsu. Gikei,
Shakkei, Usohyakkei, Tokyo 2004.
27 Zum Begriff »riken no ken«: Motokiyo Zeami, »Kakyô« und »Kyûi«, in: Nihon shisô
taikei, hg. von Akira Omote / Shûichi Katô, Tokyo 1974, S. 83–109, bes. S. 88, und
S. 173–182, bes. S. 174.
29 Hayao Miyazaki, Hon e no tobira. Iwanami shônen bunko o kataru, Tokyo 2011.
30 Isao Takahata, 12 seiki no animêshon. Kokuhô emakimono ni miru eigateki animeteki
naru mono, Tokyo 1999. Im weiten Bereich der experimentellen Kunstanimation
waren und sind ebenso zahlreiche, individuelle japanische Künstler wie Noburô
Ôfuji (1900–1961), Kihachirô Kawamoto (1925–2010), Yôji Kuri (geb. 1928), Fusako
Yusaki (geb. 1937), Maya Yoneshô (geb. 1965), Takeshi Yashiro (geb. 1969), Kôji Ya-
mamura (geb. 1974) und Akino Kondô (geb. 1980) tätig.
31 Generell über Oshiis Arbeiten: Mamoru Oshii, Kore ga boku no kaitô dearu. 1995–
2004, Tokyo 2004. Über Tarkowski z. B. S. 254.
32 Zur cineastischen Schule: Yôsuke Akaishi (Hg.), Sôtokushû Hasumi Shigehiko. Yu-
riika (eine Sonderausgabe der Zeitschrift Yuriika), Okt. 2017, Nr. 710.
34 Nobuhiro Suwa, Dare mo hitsuyô to shite inai kamo shirenai, eiga no kanôsei no ta-
meni, Tokyo 2020.
14 Dokumentarismus undhttps://doi.org/10.5771/9783967074796
Fiktion 101
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spielen beeindruckende Nebenrollen. Die Figuren wachsen
in die filmische Welt hinein, um gemeinsam ein authenti-
sches Gefühl für das Sujet zu entwickeln.
Nach einem Studium der Filmwissenschaft an der Wa-
seda-Universität arbeitete Hirokazu Koreeda (geb. 1962) bei
einer Fernsehproduktionsfirma. Zunächst drehte er eine
Reihe von für seine späteren Spielfilme signifikanten Do
kumentarfilmen. Kioku ga Ushinawareta Toki (Without
Memory, 1996) schildert den Alltag eines Mannes, der we-
gen einer Amnesie nur noch über ein Kurzzeitgedächtnis
verfügt. An jedem Drehtag stellt sich das Team erneut bei
ihm vor. Die Thematisierung eines individuellen Aspekts
der gesellschaftlichen Realität und die Reflexion des fil-
menden Subjekts charakterisieren seine Werke. Sein Spiel-
film Wandafuru Raifu (After Life, 1998) erfindet die Fa-
bel, dass man nach dem Tod bei einer Station ankommt, in
der man seine schönste Erinnerung verfilmen lässt, um
dann ins Jenseits überzugehen. Im Stil eines Interviews
werden fiktive und auch reale Personen nach dem schöns-
ten Erlebnis ihres Lebens befragt. Wer sich nicht entsinnen
kann, bekommt ein VHS-Archiv mit Aufnahmen aus seiner
gesamten Lebenszeit zur Verfügung gestellt. In Form eines
Making-ofs werden dann die Dreharbeiten geschildert. Nach
der Aufführung des fertigen Films verschwindet dessen
»Hauptdarsteller«. Der Film beleuchtet viele Aspekte des
Lebens und des Filmemachens als Summe von Gedächtnis,
Gefühl, Liebe, Lüge und Wahrheit und stiftet das Publikum
zum innerlichen Mittun bei diesem Denkspiel an.
In Distance (2001) entwickelt sich die Filmhandlung
sehr langsam aus dokumentarischen Alltagsbeschreibun-
gen heraus. Eine Gruppe Hinterbliebener von Anhängern
einer religiösen Sekte, die terroristische Taten begingen
und danach ausgelöscht wurden, treffen sich zu deren ge-
meinsamen Todestag bei ihrer letzten Bleibe. Die Akteure
spielen improvisierend, als ob alle Gespräche vor der
Kamera entstünden. Fragile, eindrucksvolle Rückblenden,
die unvermittelt eingefügt werden, wirken ebenso doku-
mentarisch. Durch das langsame, sensible Verfolgen der Zu
sammenkunft offenbart sich das unaussprechliche Innere
14 Dokumentarismus undhttps://doi.org/10.5771/9783967074796
Fiktion 103
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dem Koreeda seine Hochachtung schenkt. Nach und nach
ähnelt das Porträt dieser Verbrecherbande dem einer tradi-
tionellen, harmonischen Familie. In Frankreich realisierte
Koreeda anschließend Shinjitsu (La Vérité – Leben und
Lügen lassen, 2019) mit Catherine Deneuve und Juliette
Binoche. Er greift auf das Konzept von After Life zurück,
um die Wechselbeziehung der Fiktion und der Realität im
Leben in Bezug auf die internationale Filmgeschichte zu
diskutieren.
Im Anschluss an ihr Kunstgeschichte-Studium an der
Waseda-Universität sammelte Miwa Nishikawa (geb. 1974)
Praxis bei Suwa und Koreeda. Sie entwickelte einen indi
viduellen, verfeinerten Stil, in dem die Schauspieler sou
verän spielen und die Bilder selbst sprechen. Dennoch
sind ihre Filme durch ihre Drehbücher strikt funktional
strukturiert, um die Komplexität der menschlichen Psyche
aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Yureru
(Sway, 2006) ist ein neuzeitliches Rashomon, in dem der
Film selbst die dargestellte Wahrheit variiert. Nagai iiwake
(The Long Excuse, 2016) setzt sich mit dem Thema des
Verlusts einer Lebenspartnerin auseinander. Mit ihrer sub-
tilen Erzählweise veranschaulicht Nishikawa, welch einen
tiefen Abgrund ein scheinbar geringfügiges Problem auf-
reißen und was für fatale Wendungen das Leben bereithal-
ten kann.
Naomi Kawase (geb. 1969) absolvierte eine Fachschule
für Fotografie und erregte durch ihre fotopoetischen, auto-
biografischen Arbeiten erste Aufmerksamkeit auf dem Do-
kumentarfilmfest in Yamagata. Mit ihrem ersten Spielfilm
Moe no Suzaku (Suzaku, 1997) wurde sie die jüngste Ge-
winnerin der Caméra d’Or in Cannes. Der Film schildert
den Alltag einer Familie in einem Berggebiet in einem
schlichten realistischen Stil. Kawase kooperierte mit dem
kongenialen Kameramann Masaki Tamura, um eine mysti-
sche Berglandschaft und eine sanfte Zeitlichkeit im ländli-
chen Leben einzufangen. Äußerst feinfühlig entwickelt sich
die Geschichte der ersten Liebe einer Schülerin, die dann
leise ausklingt.
14 Dokumentarismus undhttps://doi.org/10.5771/9783967074796
Fiktion 105
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Mit einem ganz anderen Fokus arbeitet Naoko Ogigami
(geb. 1972), die Visuelle Technologie an der Universität
Chiba und Film an der University of Southern California
studiert hat. Sie begründete ihr eigenes Genre von märchen-
haften Filmen, in denen die Erscheinungsformen der Reali-
tät nur minimal arrangiert werden. In ihnen begegnet man
stets einer kleinen, utopischen Gesellschaft, in der Be
teiligte und Betrachter in einem langsamen Prozess dahin
versetzt werden, sich selbst zu öffnen. Bâbâ Yoshino (Yo
shino’s Barber Shop, 2004) stellt den Widerstand von
Grundschul-Schülern gegen eine traditionelle Frisurvor-
schrift dar. In Kamome Shokudô (Kamome Diner, 2006)
wird ein japanischer Imbiss in Helsinki eröffnet. Hier zeigt
Ogigami ihre Nähe zum schlichten Erzählstil von Aki Kau-
rismäki, in dem die Typologie der Figuren an sich schon
die wesentlichen Züge der filmischen Welt trägt. Megane
(Glasses, 2007) präsentiert ein Modell der meditativen
Selbstanschauung durch die inneren Resonanzen in einer
Gemeinschaft und in der Natur. In Karera ga Honki de
Amu Toki wa (Close-Knit, 2017) wird ein von ihrer Mutter
vernachlässigtes Mädchen von einem schwulen Paar auf-
genommen. Das Thema der Transsexualität wird aus einer
konstruktiven, fantasievollen Alternativperspektive ange-
gangen. Die subtile, poetisch-emotionale Anschauungsform
der Regisseurin zeigt eine zarte Heilwirkung, die den Zu-
schauer zu Intersubjektivität einlädt.
35 Kôji Fukada, »Ouchi de miru Romêru / matawa kokonotsu no gûzen«, auf der Website
einer Éric-Rohmer-Retrospektive 2020: https://www.thecinema.jp/special/rohmer/
column/ (letzter Zugriff: 15.2.2021).
Tôkyô Monogatari (Die Reise nach Tokyo, 1953) von Yasujirô Ozu
Ukigumo (Schwebende Wolken, 1955) von Mikio Naruse
Yorokobi mo Kanashimi mo Ikutoshitsuki (Monate und Jahre in
Freuden und Schmerz, 1957) von Keisuke Kinoshita
Hadaka no Shima (Die nackte Insel, 1960) von Kaneto Shindô
Nobi (Nobi / Feuer im Grasland, 1961) von Kon Ichikawa
Suna no Onna (Die Frau in den Dünen, 1964) von Hiroshi Teshiga-
hara
Akai Satsui (Verbotene Leidenschaft, 1964) von Shôhei Imamura
Gishiki (Die Zeremonie, 1971) von Nagisa Ôshima
Tsigoineruwaizen (Zigeunerweisen, 1980) von Seijun Suzuki
Tetsuo (Tetsuo – The Iron Man, 1989) von Shinya Tsukamoto
CURE (1997) von Kiyoshi Kurosawa
Hana-bi (1997) von Takeshi Kitano
Yuriika (Eureka, 2000) von Shinji Aoyama
Distance (2001) von Hirokazu Koreeda
Kaitan-shi Jokei (Sketches of Kaitan City, 2010) von Kazuyoshi
Kumakiri
Fuchi ni tatsu (Harmonium, 2016) von Kôji Fukada
Für die Entstehung dieser Publikation bedankt sich die Autorin von
ganzem Herzen bei Andreas Becker, Astrid Brochlos, Reglindis Helmer,
Kenji Iwamoto, Kumiko Ogasawara, Henning Rabe, Masa Sawada und
Claudia Waltermann.