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Filmgeschichte kompakt

Kayo Adachi-Rabe

Der japanische Film

https://doi.org/10.5771/9783967074796
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Der japanische Film
Kayo Adachi-Rabe

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische ­
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96707-478-9 E-ISBN 978-3-96707-479-6


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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, ­


München 2021
Levelingstraße 6a, 81673 München
www.etk-muenchen.de

Umschlagabbildung: Kiyoshi Kurosawa: Journey to the Shore (2015)/


Comme des Cinémas
Satz und Bildbearbeitung: Olaf Mangold Text & Typo, 70374 Stuttgart
Druck und Buchbinder: Laupp & Göbel GmbH, Robert-Bosch-Straße 42,
72810 Gomaringen

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Inhalt

Vorwort7

1 Anfänge und Stummfilm-Experimente 8


2 Verlängerte Stummfilmzeit 13
3 Frühe Tonfilme und Vorkriegszeit 16
4 Kriegszeit und Neubeginn 20
5 Das Goldene Zeitalter in den 1950er Jahren
und seine Regisseure 25
6 Entwicklung des Genre-Kinos und Vorläufer
der Nouvelle Vague 41
7 Nouvelle Vague I – Politik und Eros 45
8 Nouvelle Vague II – Kunstavantgarde 55
9 Entwicklung des Unterhaltungsfilms
und neue Autoren der 1970er Jahre 63
10 Spätwerke der Meisterregisseure 68
11 Neue Perspektiven und Dekonstruktion 76
12 Gewalt, Poesie und Virtualität 82
13 Die cineastische Schule 93
14 Dokumentarismus und Fiktion 100
15 Die neue Generation 106

Kleiner Kanon des japanischen Films 117


Weiterführende Literatur 118
Dank119
Personenregister120

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Vorwort

Das Bild auf dem Umschlag dieses Buchs zeigt den winzi-
gen Bruchteil eines magischen Moments in einem Film.
Ähnlich setzt sich die vorliegende Publikation selbst zur
Aufgabe, die japanische Filmgeschichte von ihren Anfän-
gen bis zur Gegenwart vorzustellen. Das Filmland Japan ist
außerordentlich vielfältig. Wegen des beschränkten Um-
fangs des Bandes musste hier eine sehr schmale Auswahl
der Werke getroffen werden, die das Raffinement der japa-
nischen Filmkunst dennoch repräsentieren soll.
Für die Geschichtsdarstellung wurde auf die einschlä-
gige Literatur zurückgegriffen. Neben der chronologischen
Darstellung habe ich der Kontinuität der Arbeit wichtiger
Regisseure eine Priorität gegeben und ihre ästhetischen
Stile eingeordnet. Zur Orientierung werden die Lebensda-
ten der Filmemacher angegeben, und zwar an der Stelle, an
der ihre Werke im Schwerpunkt diskutiert werden. Um die
Überlastung des Textes mit Namen zu vermeiden, kommen
nur die Künstler namentlich vor, deren Nennung unver-
meidlich zu sein scheint. Es handelt sich dabei nicht nur
um Regisseure, sondern natürlich auch um Darsteller und
andere Mitarbeiter. Bei der Reihenfolge der Vor- und Nach-
namen folge ich der westlichen Konvention.
In diesem Band spielen aber selbstverständlich die Filme
selbst die Hauptrolle. Nach dem Originalfilmtitel wird der
deutsche Verleihtitel oder, wenn dieser nicht vorhanden ist,
der Titel einer anderen westlichen Sprache angegeben. Die
Besonderheiten der epochenbildenden Werke werden mög-
lichst konkret beschrieben und Entstehungshintergründe
und historische Fakten anhand der Filme exemplarisch er-
läutert. Der Fokus liegt auf der Singularität und Universa­
lität der Filme, die in Japan produziert wurden und empa-
thischer interkultureller Rezeption begegneten. Beachtet
werden dabei wahrnehmungsästhetische Traditionen, the-
matische Schwerpunkte, Reflexion des Zeitgeists, Stilent-
wicklung, Konfrontation mit der technischen Entwicklung
des Mediums sowie interne und externe Einflüsse.

Vorwort https://doi.org/10.5771/9783967074796 7
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Seit seiner Genese zeigt das fernöstliche Kino deutlich,
dass es sich immer im engen Kontext mit der internationa-
len Filmgeschichte entwickelt hat. So sollen die Beziehun-
gen zu anderen Filmländern transparent gemacht werden,
die in weiteren Publikationen der Reihe Filmgeschichte
kompakt beleuchtet werden. Auf diese Weise möchte der
vorliegende Band einen Diskurs eröffnen und einladen,
darüber nachzusinnen, was es überhaupt ist, das die Film-
kunst so einzigartig macht und uns über jegliche Grenzen
hinweg bewegt.

1 Anfänge und Stummfilm-Experimente

1896 erreichten Thomas A. Edisons Kinetoskop und im


Folgejahr der Kinematograph der Brüder Lumière Japan.
Ihre ersten lebenden Bilder von der westlichen Welt ver-
breiteten sich schlagartig im fernöstlichen Inselland. Dieses
befand sich in einer enormen Welle der Modernisierung
und Liberalisierung infolge der Meiji-Restauration (1868).
Als erster Einheimischer drehte der Fotograf Shirô Asano
1898 eine Reihe von Filmaufnahmen von tanzenden Gei-
shas, Stadtlandschaften sowie die kurzen Sketche Shinin
no Sosei (Resurrection of a Corpse) und Bake Jizô (Jizo
the Ghost) und führte diese 1899 der Öffentlichkeit vor.1
Der älteste erhaltene japanische Film ist die sechs Minuten
lange Aufzeichnung des Kabuki-Stücks Momijigari (1899)
von Tsunekichi Shibata. Diese ist mit der Aufnahme einer
Serpentinentänzerin (1895) des Edison-Studios vergleich-
bar, welche die zauberhaften Momente der Bewegungser-
zeugung an sich hervorhebt. Eine der ältesten erhaltenen
Dokumentaraufnahmen Japans, Kobayashi Tomijirô Sôgi
(The Funeral of Tomijiro Kobayashi, 1910, vermutlich
von Ryô Konishi), beeindruckt durch die dynamische Fort-

1 Yoshirô Irie, »Saiko no Nihon eiga ni tsuite – Konishi honten seisaku no katsudô-
shashin«, in: Tôkyô kokuritsu kindai bijutsukan kenkyû kiyô (2009), Nr. 13, S. 32–63.

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bewegung von ca. 1.000 Menschen, die gemischt traditio-
nell und westlich gekleidet ihre individuellen Gesichter
zeigen.2 Die diagonale Bildordnung des Films erinnert an
La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon (Arbeiter verlas-
sen die Lumière-Werke, 1895) der Brüder Lumière. Die
Faszination der Bewegung, die Raumdynamik und die le-
bendige Repräsentation des Realen, welche die westlichen
Filme erschlossen haben, wurden in der beginnenden japa-
nischen Kinematografie fortgeführt. Zu jener Zeit war die
soziale Lage noch relativ stabil, das Land hatte sowohl in
den Kriegen gegen China (1894–1895) und gegen Russland
(1904–1905) als auch im Ersten Weltkrieg (1914–1918)
noch keine Niederlage erfahren.
Die Anfangsphase des japanischen Films ist durch Kon-
flikte und Fusionen zwischen einheimischen kulturellen
Traditionen und den von außen kommenden Einflüssen
gekennzeichnet. Das Kabuki, ein spektakuläres Theater mit
Actionelementen, fand nahtlosen Anschluss an das neue
Medium. Der »Vater des japanischen Films«, Shôzô Makino
(1878–1929), übertrug das Bühnenbild des Kabuki-Epos
Chûshingura (1910) direkt auf das filmische Format. Um
die alten Stoffe zu modernisieren, griff er später Techniken
von Trickaufnahmen auf. Im Ninja-Film Gôketsu Jiraiya
(Jiraiya the Hero, 1921) verschwindet und verwandelt
sich Matsunosuke Onoe durch einen Stopp-Trick à la George
Méliès in einen Frosch.
Als eine Besonderheit der japanischen Stummfilmvor-
führung entwickelte sich das System des Kinoerzählers
(benshi). Ein (oder mehrere) Sprecher erläuterte(n) die
Handlung und sprach(en) die Dialoge live ein. Die Vorfüh-
rung ließ sich auch musikalisch begleiten. Die Funktion des
benshis basiert auf Traditionen der Erzähl- und der Büh-
nenkunst. Im Kabuki, Nô und Jôruri-Puppentheater werden
Schauspiel und Erzählen mehr oder weniger voneinander

2 Akira Tochigi, »Sono basho ni Meiji arite – Kobayashi Tomijirô sôgi ga sasou jidai to
machi«, in: NFC [Nihon Film Center] News Letter (2011), Nr. 97, S. 10–11. Der Film
ist unter folgendem Link veröffentlicht: https://meiji.filmarchives.jp/works/06_play.
html (letzter Zugriff: 15.2.2021).

1 Anfänge und Stummfilm-Experimente


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getrennt. Die Filmvorführung mit einem benshi war beim
Publikum äußerst beliebt, sodass man sagt, ein wirklich
»stummer« Film habe in Japan nie existiert.
Die Taishô-Ära (1912–1926) brachte eine kurze Blütezeit
einer liberalen, modernen Kultur, in deren Mittelpunkt die
Kinematografie stand. Das Große Kantô-Erdbeben im Jahr
1923 führte zu verheerenden, nachhaltigen Zerstörungen,
doch der Wiederaufbau der Hauptstadt begünstigte den Bau
von Kinos.3 Der Filmregisseur Norimasa Kaeriyama (1893–
1964) und der Schriftsteller Junichirô Tanizaki befürworte-
ten ein »reines Filmtheater« (jun-eigageki), das nach dem
Vorbild des westlichen Kunstfilms auf ein natürliches
Schauspiel und eine Beherrschung der Filmtechnik ab-
zielte. In Kaeriyamas Sei no Kagayaki (The Glow of Life,
1919) tritt mit Harumi Hanayagi erstmals eine Schau­spie­
lerin anstelle der männlichen Frauendarsteller des Kabuki
auf. Rojô no Reikon (Souls on the Road, 1921) von­
Minoru Murata (1894–1937) zeigt eine moderne, theatrale
Kunstwelt. Nach dem Vorbild von Intolerance (Intole-
ranz, 1916) von D. W. Griffith besteht der Film aus vier
Handlungssträngen in Parallelmontage. Ein gescheiterter
Geiger kehrt mit Frau und Tochter zu seinem wohlhaben-
den Vater zurück. Die leidvolle Reise der verarmten Familie
im Schnee und die Vorbereitungen einer luxuriösen Weih-
nachtsfeier in einer Villa werden in Kontrast zueinander
gestellt. Impressive Großaufnahmen erinnern ebenfalls an
Griffith. Der Film zitiert auch die Technik der Doppelgän-
ger-Aufnahme, erfunden vom Kameramann Guido Seeber
in Der Student von Prag (1913) von Stellan Rye. Vor dem
verzweifelten Protagonisten erscheint sein jüngeres Selbst,
um ihn aufzufordern, wieder Geige zu spielen. Der Film
veranschaulicht, wie tiefgreifend die internationale Film-
kunst auch den japanischen Filmstil prägte, und markiert
einen Wendepunkt des japanischen Films zu eigenen, mo-

3 Junichirô Tanaka, Nihon eiga hattatsu-shi, II, Tokyo 1975, S. 11–13. Tadao Satô, »Ni-
hon eiga no seiritsu shita dodai«, in: Kôza Nihon Eiga, Bd. 1., hg. von Shôhei Ima-
mura / Tadao Satô / Kaneto Shindô / Shunsuke Tsurumi / Yôji Yamada, Tokyo 1995,
3. Aufl. S. 2–52, hier S. 51.

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dernen Repräsentationsformen, verbunden mit großem Ex-
perimentiergeist.
Orochi (Die Riesenschlange, 1925) von Buntarô Futaga­
wa (1899–1966) ist ein epochales Werk, welches den Stil
des Historienfilms, »Jidaigeki«, in kongenialer Weise im
neuen Medium etablierte. Die stilisierte Choreografie des
Schwertkampfs wurde durch die kinematografische Be-
schleunigung vitalisiert. Tsumasaburô Bandô, der einen
tragischen Antihelden verkörpert, hat eine dramatische,
filmogene Physiognomie, die in den Nahaufnahmen einen
Ausdruck der tiefen Verzweiflung entfaltet. Immer wieder
ereignen sich grandiose Kampfszenen zwischen dem Pro-
tagonisten und einer großen Zahl von Gegnern, in denen er
sich in einer vollkommen irrealen Art und Weise durch-
schlägt. Der Kampf sprengt den Rahmen der Filmeinstel-
lung. Kontinuierliche Bewegungen werden durch mitei-
nander verkettete lange Einstellungen erzeugt. Die Kamera
schwenkt und fährt zügig mit den Figuren mit. Aktion und
Reaktion werden durch die Montage zum Zusammenstoß
gebracht. Die dadurch entstehende sinnliche Wirkung von
Dehnung und Schrumpfung der Zeit und des Raums über-
trägt das Geschehen als ein atemberaubendes Echtzeit-Er-
lebnis.4
Mit Kurutta Ippêji (Eine Seite des Wahnsinns, 1926)
von Teinosuke Kinugasa (1896–1982) erreichte das japa­
nische Kino unversehens den internationalen Rang des
Avantgarde-Films. Der Regisseur war ursprünglich Frauen­
darsteller im Theater gewesen. Der spätere Literatur-No-
belpreisträger, Yasunari Kawabata, wirkte als Drehbuch-
autor mit. Der Wächter einer Psychiatrie, dessen Ehefrau
dort eingewiesen ist, träumt von ihrer Befreiung. Als erste
Inspirationsquelle für den Film kann Das Cabinet des
Dr. Caligari (1920) von Robert Wiene genannt werden.
Die verzerrten, gemalten Kulissen bei Wiene transformiert
Kinugasa durch schiefe Einstellungen, Mehrfachbelich-
tungen und kameratechnische Deformationen. Das tiefe,

4 Über das Schwertkampf-Genre und Orochi: Kenji Iwamoto, Jidaigeki no tanjô, Tokyo
2016, S. 209–216.

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Kurutta Ippêji (Eine Seite kontrastreiche Schattenreich
des Wahnsinns, 1926) der Kulissen ist ebenso dem
von Teinosuke Kinugasa deutschen Expressionismus
nachempfunden. Als weite-
res konkretes Vorbild gilt Der letzte Mann (1924) von
Friedrich Wilhelm Murnau. Eine Seite des Wahnsinns
kommt auch ohne Zwischentitel aus, obgleich seine Ur-
aufführung vom Star-benshi Musei Tokugawa begleitet
wurde. Die somnambule Kamerabewegung von Kôhei Su-
giyama ist mit der »entfesselten Kamera« von Karl Freund
vergleichbar. Für die Trickaufnahmen war Eiji Tsuburaya
zuständig, dem eine lange Karriere als Special-Effect-
Fachmann bevorstand. Kinugasas Film, der sich von der
Darstellung des Schauspiels weitgehend löst und syn­
ästhetisch Rhythmen und Melodien visualisiert, erinnert
an französische Filme des cinéma pur wie René Clairs
Entr’acte (1924) und an Oskar Fischingers Experimente.
Kinugasa, der für die Promotion seines Films Jûjiro
(Crossways / Im Schatten des Yoshiwara, 1928) nach
Europa reiste, hatte jedoch erst dort die Gelegenheit, die
europäische Filmavantgarde umfassender kennenzuler-

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nen.5 Crossways ist eine Perle der Kameraästhetik. In je-
dem der finsteren Bilder zittert kontrastreich etwa das
Funkeln der Augen oder der Glanz der Haarsträhnen eines
jungen Geschwisterpaars. Endlose Kameraschwenks, dy-
namische Perspektivwechsel und illusionäre Bilder er­
zeugen einen traumähnlichen Zustand der Unbeständig-
keit des Lebens. Der Augenblick, in dem das Herz des
Protagonisten bricht, wird in einer grandiosen Art verbild-
licht, wie es in anderen Formen als in dieser synthetischen
Fusion der Kunst des Kabuki und des Stummfilms nicht
denkbar wäre.

2 Verlängerte Stummfilmzeit

Während die westliche Welt schon um 1927 vom Stumm-


zum Tonfilm wechselte, verspätete sich Japan mit der opti-
malen Entwicklung der Technik. So dauerte die dortige
Stummfilmzeit bis in die Mitte der 1930er Jahre hinein an,
wobei auch die Beliebtheit der benshi-Darbietung eine
Rolle gespielt hat. In dieser verlängerten Stummfilmzeit
erreichte die »rein visuelle Kunst« eine besondere ästhe­
tische und inhaltliche Reife. Die restaurierte Teilfassung
der ursprünglichen Trilogie Chûji Tabinikki (A Diary of
Chuji’s Travels, 1927) vom »Vater des Jidaigeki«, Daisuke
Itô (1898–1981), zeigt eine souveräne Bildgestaltung. Ob-
gleich der Film eine komplexe Handlung hat, sehen wir im
Wesentlichen eine freie Entfaltung von fotogenen Phäno-
menen. Itô schlägt den Zuschauer mit der Modernität seiner
Bildästhetik, die den filmischen Raum und die fein darge-
stellten Gefühlswelten dynamisiert, in den Bann.
Der Anfang der Shôwa-Periode (1926–1989) stand im
Zeichen der Depression, bedingt durch die Folgen der Welt-

5 Ryûichi Kanô, »Kinugasa Teinosuke to sono shûhen«, in: Kôza Nihon Eiga, Bd. 2, hg.
von Shôhei Imamura / Tadao Satô / Kaneto Shindô / Shunsuke Tsurumi / Yôji Yamada,
Tokyo 1995, 4. Aufl., S. 94–115, hier S. 108.

2 Verlängerte Stummfilmzeit
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wirtschaftskrise 1929 und die zunehmende Militarisierung
des Landes. In dieser Phase entstand die Gattung des soge-
nannten »Tendenzfilms« (keikô eiga) unter dem Einfluss
des russischen Revolutionsfilms und des deutschen Films
der Neuen Sachlichkeit. Der Tendenzfilm ist charakterisiert
durch seine links-ideologische Botschaft, scharfe Kapitalis-
muskritik und realistische Milieuschilderungen. Daisuke Itô
drehte seinen Schwertkampf-Film Zanjin Zanba Ken (Man-
Slashing, Horse-Piercing Sword, 1929) als modernes
Drama eines Volksaufstands. Ryûnosuke Tsukigata verkör-
pert einen Rônin – einen herrenlosen Samurai –, der in der
Konvention des Jidaigeki einen rebellischen Geist repräsen-
tiert. Itô, der für seine Vorliebe für Kamerafahrten bekannt
ist, imitiert hier das Wagenrennen in Ben Hur (1925) von
Fred Niblo. So findet er in den schwindel­erregenden Fahr-
ten ein Bild für die aufständische Kraft des Tendenzfilms.
Das Gegenwartsdrama Nani ga Kanojo o sô Sasetaka (Das
Mädchen Sumiko – Warum hat sie das getan?, 1930) von
Shigeyoshi Suzuki (1900–1976) erzählt vom Schicksal­
eines elternlosen Mädchens. Die realistische Schilderung
der Armut und die groteske Darstellung des Klassenkampfs
in diesem Film übertreffen seine Vorbilder von Sergej M.
Eisenstein (z. B. Streik, 1925) und G. W. Pabst (Die freud-
lose Gasse, 1925). Im Kontrast dazu wird die innere Zer-
brechlichkeit der unschuldigen Protagonistin durch fein
strukturierte Kulissen versinnbildlicht. Die abwechselnde
Annäherung und Distanzierung der Kamera zur Hauptfigur
evoziert einen dramatischen, emotionalen Sog.
Durch eine verschärfte Zensur ging die Bewegung des
Tendenzfilms bald zu Ende. Zeitgleich begann die 1902 ge-
gründete Produktionsfirma Shôchiku ein Programm mit
vergleichsweise apolitischen »Kleinbürgerfilmen« (shôshi-
min eiga), welche das Alltagsleben des zeitgenössischen
Durchschnittsbürgers thematisiert. Otona no Miru Ehon
– Umarete wa Mita keredo (Ich wurde geboren, aber…,
1932) war bereits der 24. Film des damals 28 Jahre alten
Regisseurs Yasujirô Ozu (1903–1963). Die Welten der Kin-
der und der Erwachsenen werden ironisch parallel zuei-
nander gesetzt. Die Körpersprache der Kinder intensiviert

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das filmische Geschehen. Otona no Miru Ehon –
Ozu, der Ernst Lubitsch ver- Umarete wa Mita keredo
ehrte, schuf hier eine Ko- (Ich wurde geboren, aber…, 1932)
mödie voller Bildwitz, der von Yasujirô Ozu
durch variierende Wieder-
holungen beflügelt wird. Der Reichtum der visuellen Er-
zählung bestätigt die Überzeugung des Regisseurs, der sich
der Einführung des Tons lange verweigerte.
Taki no Shiraito (Die weissen Fäden des Wasserfalls,
1933) nach einer Erzählung von Kyôka Izumi war der
55. Film von Kenji Mizoguchi (1898–1956). Während der
Schriftsteller von der deutschen Romantik beeinflusst war,
ist Mizoguchis Stil vom Expressionismus geprägt. Die Ar-
tistin einer Zirkustruppe, Shiraito (Takako Irie), verliebt
sich in einen jungen Jura-Studenten, Kinya (Tokihiko
Okada), und unterstützt sein Studium finanziell. Später
gerät sie wegen ihrer Gutherzigkeit in eine Krise und wird
vor Gericht gestellt, wo Kinya als Staatsanwalt erscheint.
Mizoguchi, der Malerei studiert hatte, modelliert dieses
Melodram in einem ästhetischen Spiel von Licht und
Schatten, was unmittelbar an Murnau erinnert. Mondlicht

2 Verlängerte Stummfilmzeit
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erhellt das Antlitz der Filmheldin und erzeugt einen zarten,
weichzeichnerhaften Effekt. Während die realen Lebens-
räume der Protagonisten trostlos finster erscheinen, reflek-
tiert die Sonne in Momenten des Glücks schillernd auf
einer Wasseroberfläche. Die Szenen springen aus der sub-
jektiven Sicht der Protagonistin abrupt von der Gegenwart
zur Vergangenheit und von der Realität zum Traum. Vogel-
perspektiven und fließende Fahrten lassen das Geschehen
der Menschenwelt rührend schön und dadurch vergänglich
erscheinen. Dieser Film bildet einen Höhepunkt der japani-
schen Stummfilmkunst.

3 Frühe Tonfilme und Vorkriegszeit

Der Tonfilm, der sich in Japan – wie erwähnt – mit Verzöge-


rung durchsetzte, brachte eine Reihe von individuellen
Konzeptionen dafür hervor, wie man die akustische Realität
im Film umsetzt. Die ersten Filme, die zu klingen und spre-
chen begannen, sind meist sehr humorvoll und humanis-
tisch. Der erste vollständige Tonfilm Japans war Madamu
to Nyôbô (Madame und meine Frau, 1931) von Heinosuke
Gosho (1902–1981). In der Eröffnungsszene wird die Tech-
nik der Soundperspektive adaptiert, welche René Clair in
Sous les toits de Paris (Unter den Dächern von Paris,
1930) benutzt hatte. In der japanischen Version geht ein
Straßenwerber musizierend über ein Feld. Die Kamera
schwenkt nach links, wobei die Laute des Instruments ent-
sprechend seiner Entfernung immer leiser werden. Gosho
versucht, der Plastizität der akustischen Räume, die in
westlichen Filmen bereits vervollkommnet wurde, nach-
zueifern. Der Toneinsatz bei ihm wirkt oft noch wider-
sprüchlich und wenig differenziert. Trotzdem gelang ihm
eine ideenreiche Tonfilm-Komödie, die aus einer Serie von
akustisch motivierten Witzen besteht. Ein Dramatiker, der
dringend ein Stück schreiben muss, wird von der lauten
Umgebung gestört. In der Nacht rennen Ratten über das

16 3 Frühe Tonfilme und Vorkriegszeit


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Dach. Als er wie eine Katze maunzt, um sie zu vertreiben,
antwortet ein echter Kater von draußen. Der Starschau­
spielerin Kinuyo Tanaka als Ehefrau, die eine zarte Stimme
hatte und banale Alltagsgespräche temperamentvoll vor-
trug, flog die Sympathie des Publikums förmlich zu.
Der erste Tonfilm Yasujirô Ozus, Hitori Musuko (Der
einzige Sohn, 1936), handelt vom Besuch einer Mutter bei
ihrem Sohn in Tokyo. In der Eröffnungssequenz in einem
leeren Wohnzimmer hört man das Ticken und das Schlagen
einer nicht sichtbaren Wanduhr. Mit der Vertonung der Zeit
unterstreicht Ozu dieses zentrale Element seiner Filmwelt.
So wie er eine schlichte Bildkomposition bevorzugte, er-
zeugte er eine simple Tonkulisse. Die Mutter ist in einer
Spinnerei tätig, in der alle Mitarbeiterinnen synchron im
Rhythmus der Maschinengeräusche arbeiten. Mutter und
Sohn sehen zusammen einen deutschen Musikfilm oder
schlürfen Nudelsuppe. Wir hören zum ersten Mal Ozus
knappe, aber intensive Gesprächsführung. Der Sohn gesteht
der Mutter sein Heimweh, während fröhlicher Lerchenge-
sang zu hören ist. Der Ton wird eingesetzt, um die Stille zu
intensivieren und die evozierte Emotion nachklingen zu
lassen.
Arigatô-san (Herr Dankeschön, 1936) ist ein originel-
ler Beitrag des frühen Tonfilms von Hiroshi Shimizu (1903–
1966). Aus der Sicht eines Busfahrers (Ken Uehara) sehen
wir Passanten auf der Straße heranrücken. Beim Ertönen
der Hupe springen sie zur Seite. Ruft der Fahrer »Danke
schön« aus dem Off, erfolgt ein Schnitt, sodass der Kamera-
blick nun vom hinteren Fenster des Busses auf die sich ent-
fernenden Passanten gerichtet ist. Hier wird das klassische
Stopp-Trick-Verfahren angewandt, durch das der Bus, der
die Passanten einholt, sich in ein körperloses akustisches
Wesen wandelt. Dieses Verfahren wird vom Anfang bis zum
Ende dieses Roadmovies als Running Gag verwendet. Als
sich eine koreanische Zwangsarbeiterin bei Herrn Danke-
schön verabschiedet, wird ihre Gestalt in weißer Tracht vor
dem Eingang eines Tunnels immer kleiner. In diesem hallt
eine stumpfe Hupe zum Abschied wider. Die scheinbare
Naivität im Umgang mit der Tonfilmtechnik löst eine stille

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Rührung aus, welche bereits Yasunari Kawabatas Vorlage
innewohnt.
Teinosuke Kinugasa drehte Yukinojô Henge (Yukinojos
Verwandlung, 1935–1936) mit dem großen Star Chôjirô
Hayashi als Yukinojô, einem Schauspieler der Edo-Zeit
(1603–1868). Die Technik der rapiden Verwandlung (haya-
gawari) im Kabuki wird hier im Film umgesetzt. Chôjirô
erscheint dadurch fast gleichzeitig als verschiedene Perso-
nen, auch mithilfe von Doppelgänger-Aufnahmen. Zudem
nutzt Kinugasa den Theaterbau als Klangkörper. Die Musik
wirbelt, das Publikum jubelt Yukinojô enthusiastisch zu.
Die »Live-Musik« des Theaters untermalt auch die Dramen
hinter der Bühne. Die wandelnde Dynamik in der Tonku-
lisse steigert die Spannung einer Rachegeschichte. Kinu-
gasa repräsentiert hier das Kabuki als Tonkunst, so wie es
auch Eisenstein, den er in Moskau getroffen hatte, in seiner
Theorie der Tonmontage getan hat.
Die Jidaigeki-Komödie Akanishi Kakita (Capricious
Young Man, 1936) von Mansaku Itami (1900–1946) enthält
viele originelle audiovisuelle Experimente. Chiezô Kataoka
spielt in einer Doppelrolle einen hässlichen Agenten sowie
einen hübschen Samurai. Vieles ereignet sich auf raffinierte
Weise akustisch und im Off. Die Kommunikation zwischen
Innen und Außen des Bildfelds erzeugt immer wieder­
witzige Situationen. Verschiedene markante und lustige
Sprechakte werden als tonfilmspezifische Attraktion ent-
deckt. Auditiv verbreiten sich Gerüchte, Assoziationen und
Stimmungen. Ein Brief wird durch die mittels einer Dop-
pelbelichtung erzeugte virtuelle Absenderin mündlich vor-
getragen, was humorvoll auf die Stummfilm-Konvention
der Schrifteinblendung anspielt. Auch die Musik von Cho-
pin und Wagner trägt dazu bei, das Jidaigeki in spielerischer
Weise zu modernisieren.
Tange Sazen Yowa: Hyakuman Ryô no Tsubo (The
Million Ryo Pot, 1935) von Sadao Yamanaka (1909–1938)
wirkt bereits wie ein Gegenwartsdrama in Jidaigeki-Kos­
tümen. Der nihilistische, einäugige Rônin Sazen (Denjirô
Ôkôchi) aus der populären Vorgängerserie von Daisuke Itô
wird hier als gutmütiger, witziger Stadtbürger modifiziert.

18 3 Frühe Tonfilme und Vorkriegszeit


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Die Kulisse in diesem heiteren, musikalischen Film hat
eine verträumte Jahrmarkt-Stimmung. Ein aus der Perspek-
tive eines Kindes gezeigter Tumult um einen wertvollen
Topf entfaltet sich auf märchenhafte und warmherzige
Weise. Yamanakas Filmwelt wurde jedoch zunehmend düs-
terer. In Kôchiyama Sôshun (1935) und Ninjô Kamifûsen
(Menschlichkeit und Papierballon, 1937) ist es jeweils
die leichtsinnige Tat eines jungen Menschen, die das gesell-
schaftliche Verhängnis unaufhaltsam in Schwung bringt.
Diese auf Kabuki-Stücken basierenden Jidaigeki-Filme wir-
ken von ihrer Ästhetik her bereits wie Film noir. Yamanaka
verwendet ein beeindruckendes Verfahren der Verschie-
bung der Sicht von den wesentlichen Ereignissen weg, wo-
bei sich Bild und Ton voneinander abspalten.6 In Kôchi­
yama Sôshun findet dies in einer Szene statt, in der eine
Verkäuferin (Setsuko Hara) ihren Bruder ohrfeigt. Es folgt
ein langes Schweigen der beiden Figuren zu einer kontra-
punktisch eingesetzten fröhlichen Musik. Ein Kind, das
gerade einen Papierballon gekauft hat, verlässt erschrocken
den Laden und läuft durch Schneegestöber auf einer Straße.
Diese Szene spielt sich trotz der musikalischen Unterma-
lung im Wesentlichen als Stummfilm ab. Am Ende in
Menschlichkeit und Papierballon löst sich ein Ballon aus
der Hand eines Kindes. Wir hören nur seine Stimme aus
dem Off und verfolgen den Ballon, der durch eine Gosse
treibt. Das vieldeutige Schlussbild wurde zum Vermächtnis
des Regisseurs, der mit 28 Jahren an der Front in China
starb. Für Setsuko Hara hingegen, die bei den Dreharbeiten
von Arnold Fanck für seinen deutsch-japanischen Propa-
gandafilm Atarashiki Tsuchi (Die Tochter des Samurai,
1937) entdeckt wurde, begann eine Karriere, in der sie dem
Wandel der Zeit folgend immer wieder eine gänzlich neue
Idealfigur der Gesellschaft verkörperte.

6 Noël Burch erklärt die Diskontinuität im japanischen Film vor allem unter dem Be-
griff »cutaway« ausführlich: Noël Burch, To the Distant Observer. Form and Meaning
in the Japanese Cinema, London 1979, S. 18–23, zu Yamanaka siehe S. 192–197.

3 Frühe Tonfilme und Vorkriegszeit


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4 Kriegszeit und Neubeginn

1937 begann der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg, der


bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs andauerte. Japan fiel
in die asiatischen Nachbarländer ein und führte zugleich
einen Krieg gegen die Alliierten. Unter diesen Bedingungen
wurden zunehmend Filme zum Zweck der Propaganda pro-
duziert. Nach dem Krieg unterlag die Filmproduktion wie-
derum zunächst der Kontrolle der Besatzungsmacht. Hier
wird im Folgenden denjenigen Werken aus dieser Zeit Be-
achtung geschenkt, die trotz der strengen Zensur bzw. ihrer
inhaltlichen Fragwürdigkeit besondere filmische Qualitä-
ten aufweisen.
Als vorbildlicher Kriegsfilm galt damals Gonin no Sek-
kôhei (Fünf Armeekundschafter, 1938) von Tomotaka
Tasaka (1902–1974), obwohl er sich aus heutiger Sicht äu-
ßerst kritisch mit dem Thema auseinandersetzt. In einem
dokumentarischen Stil scheint die Kamera den Alltag einer
in China stationierten Truppeneinheit sachlich und distan-
ziert zu beobachten. Die Soldaten bilden eine anonyme, ge-
horsame Masse, die meist in einer Totale als Gruppe er-
scheint. Als fünf Soldaten auf Kundschaftsgang geschickt
werden, begleitet die Kamera sie wie ein Berichterstatter,
um die Lebensgefahr hautnah zu vermitteln. Anstatt Dialo-
gen werden ein Kriegstagebuch und spätere Berichte der
handelnden Personen vorgetragen. Die Protagonisten ver-
ständigen sich wortlos durch akustische Signale. Der Film
ist dazu noch als ein düsteres Musical inszeniert, in dem
die Figuren Instrumente spielen oder singen und so von
einem vorübergehenden Frieden im Krieg fantasieren. In
der Manier von All Quiet on the Western Front (Im
Westen nichts Neues, 1930) von Lewis Milestone vermit-
telt er das Gefühl einer nicht enden wollenden Misere.
Der vom Militär beauftragte Dokumentarfilm über die In-
vasion Chinas Tatakau Heitai (Kämpfende Soldaten,
1938) von Fumio Kamei (1908–1987) durfte nicht vorge-
führt werden. Der Regisseur, der in Leningrad Film studiert
hatte, konstruiert die Szenen der Kriegsrealität mit einer

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intensiven audiovisuellen Kraft und eloquenter Montage-
technik. Der Kameramann Shigeru Miki, der für Mizoguchi
gearbeitet hatte, verlieh den dokumentarischen Aufnahmen
poetische Qualität. Plakative Sprüche auf Schrifttiteln wir-
ken im Zusammenhang mit den kontrapunktisch gestalte-
ten Bildern wie scharf schneidende Ironie. Von diesem
Film lernt man lediglich, dass Krieg absolut nichts Hero-
isches hat. Kamei, der 1941 Berufsverbot erhielt, schuf nach
dem Krieg weitere kompromisslose Dokumentarfilme zu
Tabuthemen.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs drehte Masahiro Ma-
kino (1908–1993, Sohn von Shôzô Makino) das Operetten-
Jidaigeki Oshidori Utagassen (Die Liederschlacht der
Mandarinenten, 1939). Eine fröhliche Liebesgeschichte
wird mit vielen einfachen Witzen und begleitet von heiterer
Musik dargestellt. Die von Figuren der Edo-Zeit vorgetrage-
nen, vom Jazz beeinflussten Lieder und die revueartigen
Tänze wirken schon als solche ausgesprochen amüsant. Der
junge Kameramann Kazuo Miyagawa zeigt bereits hier seine
markante Klarheit der Bildgestaltung und Dreidimensiona-
lität. Im Kontrast dazu realisierte Tomu Uchida (1898–1970)
mit Tsuchi (Die Erde, 1939) einen Film, der die bitterste
Armut der Bauern schildert, obwohl die Firma Nikkatsu
(gegründet 1912) wiederholt den Abbruch der Dreharbeiten
forderte. Der schlicht gehaltene Spielfilm wirkt realisti-
scher als jeder Dokumentarfilm. Man fühlt sich mitten ins
Leben eines Dorfs entführt, in dem man die Härte der land-
wirtschaftlichen Arbeit in einem lebendig inszenierten Ver-
lauf der Jahreszeiten sinnlich erlebt.
Kajirô Yamamoto (1902–1974) legte mit Hawai Marê
Oki Kaisen (Die Schlacht von Hawaii und in der Ma-
laien-See, 1942) einen Film vor, der einen großen Propa-
gandaeffekt auf das zeitgenössische Publikum gehabt haben
soll. Ein junger Mann bewirbt sich als Militärflieger. Doku-
mentarische Aufnahmen der Ausbildungsstätte erinnern
unmittelbar an Leni Riefenstahls Filme über den NSDAP-
Parteitag (1934) und die Olympiade (1938). Setsuko Hara
verkörpert die verständnisvolle Schwester des Filmhelden.
In die Handlung eingebettete Botschaften in Form von Re-

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den, Dialogen, Liedern, Briefen usw. sind unmittelbar an
das Publikum adressiert. Es herrscht eine eigentümliche,
mystische Stimmung. Als eine große Masse ein Militärlied
singt, schwebt die Kamera gespenstisch in der Luft. In ei-
nem surrealistisch gestalteten Traum fliegt die Seele des
Protagonisten in seine Heimat. Ein anderer Soldat erzählt
von einer Art Jenseits-Erlebnis. Das Ableben der Flieger
wird nicht individuell verfolgt, da ihr Leben nicht ihnen,
sondern dem Staat gehört. Zum Ende werden die Angriffe
auf Pearl Harbor und auf britische Kriegsschiffe vor Malay-
sia mit Hilfe der Trickaufnahmen von Eiji Tsuburaya in
fragwürdiger Weise spannend und ästhetisierend rekon-
struiert.
Auch Genroku Chûshingura (Die getreuen 47 Ronin,
1941/42) von Kenji Mizoguchi war ein offiziell geförderter
sogenannter »nationalpolitischer Film«, der Loyalität und
Selbstopferung thematisiert. In diesem Kabuki-Epos ist die
direkte Darstellung des Todes ebenso tabuisiert wie in Ya-
mamotos Propagandafilm, was die Sensibilität des Publi-
kums und der Zensur widerspiegelt. Als Fürst Asano zum
befohlenen Harakiri geht, muss sein Gefolgsmann vor ei-
nem Tor bleiben, während die Kamera den Todeskandida-
ten über dem Bauwerk noch eine Weile begleitet. Dieser
zweiteilige, vierstündige Film besteht lediglich aus einer
langen, leeren Wartezeit auf die Racheaktion von Asanos
Vasallen, während der ihre Gemütsverfassung subtil ge-
schildert wird. Die reichlich zur Verfügung gestellten Pro-
duktionsgelder wurden in die massiven Bauten von Kaneto
Shindô, der später als Regisseur die Generation der Nou-
velle Vague anführen wird, investiert. Der Film ist auch
durch die virtuose Gestaltung der Plansequenzen seines
Kameramanns Kôhei Sugiyama berühmt.
Mitten im Krieg wagte Hiroshi Inagaki (1905–1980) das
humane Drama Muhômatsu no Isshô (Der Rikschamann,
1943) mit Tsumasaburô Bandô als naivem Rikscha-Fahrer
in der Meiji-Zeit (1868–1912). Mit seiner energiegeladenen,
gutmütigen Ausstrahlung fasziniert er die Menschen, zum
Beispiel, wenn er bei einem Wettrennen rasend schnell läuft
oder bei einem Straßenfest seine Trommelkünste vorführt.

22 4 Kriegszeit und Neubeginn


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Kazuo Miyagawa eröffnet hierfür ein großes Feld kamera-
ästhetischer Experimente. Ein traumartiger Rückblick auf
Muhômatsus Leben wird durch eine komplexe Mehrfach-
belichtung illustriert, die bis zu vier Schichten hat und
manuell mit der Kamera durchgeführt wurde. Die japani-
sche und später die amerikanische Zensur hat diesen vom
damaligen jungen Publikum begeistert aufgenommenen
Film mehrfach gekürzt (insgesamt um 18 Minuten), die ei-
nen wegen seines apolitischen Romantizismus, die anderen
wegen seiner Kampfszenen.7
Akira Kurosawa (1910–1998), der bei Kajirô Yamamoto
als Regieassistent gearbeitet hatte, drehte mit Sugata San­
shirô (Judo Saga – Die legende vom grossen Judo) im
Jahr 1943 seinen ersten Film. Die Titelfigur ist ein junger
Judo-Kämpfer der Meiji-Zeit. Kurosawa inszeniert die Kampf-
szenen mit dem spannungsgeladenen Rhythmus, welcher
der traditionellen Sportart innewohnt. Man erlebt die sub-
jektive Wahrnehmung der Kämpfenden aufgrund von ver-
schiedenen Perspektiven und audiovisuellen Effekten. Ein
Höhepunkt des Films liegt in einer Szene, in der Sanshirô
angesichts des Aufgehens einer Lotusblüte eine Erleuch-
tung erfährt. Der geistige Aspekt der Sportart und der Ge-
horsam vor Autoritäten, den dieser Judo-Film vermittelt,
werden dem pädagogischen Ideal der Kriegszeit nicht wi-
dersprochen haben.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs drehte Kurosawa Tora
no O o Fumu Otoko-tachi (Die Männer, die auf des ­Tigers
Schwanz traten, 1945). Angesichts der inzwischen einge-
tretenen materiellen Not wurde der nur 58 Minuten lange
Film in einer reduzierten theatralen Form hergestellt. Er
adaptiert das Kabuki-Stück Kanjinchô und das Nô-Stück
Ataka, welche auf einem historischen Ereignis aus dem
12. Jahrhundert basieren. Auf der Flucht vor dem Macht-
haber Yoritomo Minamoto will sein Bruder Yoshitsune mit
Gefolgsleuten eine Landesgrenze passieren. Kurosawa in-

7 Eine restaurierte Fassung in 4K-Auflösung wurde 2020 von Kazuo Miyagawas Assis-
tent Masahiro Miyajima mit Unterstützung der Martin-Scorsese-Stiftung erstellt. Aus-
führliche Informationen über die Restauration: https://creators.yahoo.co.jp/yamaza
kiema/0200077833 (letzter Zugriff: 15.2.2021).

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szenierte den Stoff als Musical, wobei die Lieder des tra­
ditionellen Theaters in eine westliche Chormusik übertra-
gen wurden. Denjirô Ôkôchi verkörpert den Leibwächter
Benkei im typischen Kabuki-Stil. Der »König der Komödie«,
Kenichi Enomoto, spielt einen Narren wie im komödianti-
schen Kyôgen-Spiel. Yoshitsune (Shûhô Nishina), die kaum
zu Wort und ins Bild kommt, wirkt wie ein minimalisti-
scher Nô-Darsteller. Hier verdeutlicht sich eine seltsame Art
der »Tabuisierung« im Sinne von Nicht-Zeigen und Nicht-
Sagen als Symptom für die Filme der Kriegszeit, in der die
Freiheit des Ausdrucks zunehmend eingeschränkt wurde.
Kurosawas ideenreiche Neuinterpretation der tra­ditionellen
Theaterkunst mit schwermütigem Nachklang, die auch ein
Grundmuster seiner Spätwerke bildet, missfiel den japani-
schen und später auch den amerikanischen Zensurbehör-
den, sodass der Film erst 1952 veröffentlicht wurde.
Als die amerikanische Besatzungsmacht die Filmzensur
übernahm, wurde das Jidaigeki-Genre, das mit der nationa-
len Identität verbunden sei, untersagt. Gefordert wurden
Filme, die Demokratie vermitteln. Bald wurden auch poli-
tisch links orientierte Produktionen eingeschränkt. Unter
diesen Bedingungen entstanden gleichwohl Filme, die den
künstlerischen Neuanfang des japanischen Films manifes-
tierten. In Anjô-ke no Butôkai (Der Ball der Familie
Anjo, 1947) von Kôzaburô Yoshimura (1911–2000) wird
die letzte Zusammenkunft einer untergehenden adligen
Familie gefeiert. Kaneto Shindô schrieb das Drehbuch in
Anlehnung an Anton Tschechows Der Kirschgarten. Die
filmische Umsetzung des Stücks wirkt wie Jean Renoirs
La Règle du Jeu (Die Spielregel, 1939). In einer großen
Villa folgt die Kamera verschiedenen Figuren und ihren­
Geschichten in einer breiten zeiträumlichen Kontinuität.
Sowohl die Kulisse als auch die Inszenierung lassen den
Film ganz unjapanisch wirken. Die Kamera schwingt mit
der Tanzmusik gänzlich vom Boden befreit und in einer er-
frischenden Leichtigkeit. Setsuko Hara mit ihrem strahlen-
den Lächeln fungiert als Botin der Liberalisierung und der
Hoffnung auf die Zukunft. Yoshimura ist der Regisseur, den
der Avantgardist Seijun Suzuki wegen seines individuellen,

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eleganten Stils mit freizügigen Formexperimenten als sein
einziges Vorbild benennt.8
In Yoidore Tenshi (Engel der Verlorenen, 1948) von
Akira Kurosawa wurde der Star Toshirô Mifune geboren,
der hier einen tuberkulosekranken Gangster einzigartig und
intensiv verkörpert. Der musikalische Film noir repräsen-
tiert die Zweideutigkeit des Lebens der Nachkriegszeit als
Ende und Neubeginn. Kurosawa probiert hier eine freie,
kreative Stilmischung aus. Seine Schattenmalerei orientiert
sich an Josef von Sternberg, wobei eine an Luis Buñuel er-
innernde Traumsequenz surreale Elemente seiner eigenen
Spätwerke vorformuliert. Eine Duellszene hingegen simu-
liert eine Inszenierung des Jôruri-Puppentheaters. In dieser
Stilkondensation wurde die Vision der Stunde Null eines
japanischen Neorealismus geschaffen.
Tadashi Imai (1912–1991) realisierte Mata Au Hi made
(Bis wir uns wiedersehen, 1950) nach dem Roman Pierre
et Luce von Romain Rolland. Berühmt ist der Film wegen
einer Szene, in der sich ein durch eine Fensterscheibe ge-
trenntes Paar küsst, was für die junge Nachkriegsdemo­
kratie Japans symbolhaft erschien. Das intellektuelle Anti-
kriegs-Melodrama unterstreicht die Bedeutung der Liebe
und der Träume der jungen Menschen, die in der Kriegszeit
zunichte gemacht wurden.
Mit dem Ende der Besatzung Japans im Jahr 1952 endete
auch die Kontrolle des Films durch die US-amerikanische
Zensur.

5 Das Goldene Zeitalter in den 1950er Jahren


und seine Regisseure

In den 1950er Jahren wurde Japan plötzlich auf internatio-


nalen Filmfestspielen als exotisches Filmland entdeckt.
Akira Kurosawa, Kenji Mizoguchi, Yasujirô Ozu, Mikio

8 Siehe den Interviewfilm »Tom Mes im Interview mit Seijun Suzuki April 2006«, in:
DVD Branded to Kill von Seijun Suzuki, Rapid Eye 2011.

5 Das Goldene Zeitalter inhttps://doi.org/10.5771/9783967074796


den 1950er Jahren 25
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Naruse, Keisuke Kinoshita und Kon Ichikawa entwickelten
ihren markanten Autorenstil in diesem Goldenen Zeitalter
des Studiokinos. Im Folgenden werden Werke aus ihrer
reifen Schaffensperiode vorgestellt.
Akira Kurosawas Rashômon (Rashomon, 1950), der
den Goldenen Löwen in Venedig gewann, eröffnete eine
neue Ära der japanischen Filmgeschichte. Der Film basiert
auf zwei Erzählungen von Ryûnosuke Akutagawa, die im
Mittel­alter verankert sind. Ein adliges Ehepaar wird von
einem Banditen überfallen. Der Film besteht aus drei zeit-
lich-räumlichen Ebenen, die einander kontrastieren. In der­
filmischen Gegenwart steht ein verregnetes Tempeltor in
einer reichen Skala von Grauwerten. In Rückblenden wird
ein Prozess in einem abstrakt weiß gehaltenen Gerichtshof
eingespielt. Die Szenen im Wald sind mit dichten Schatten
und grellem Licht gestaltet. Der Kameramann Kazuo Miya-
gawa, der den Erfolg des japanischen Films im Goldenen
Zeitalter begründete, orientierte seine expressive Schwarz-
Weiß-Ästhetik hier an der Kameraarbeit von Carl Hoffmann
in Die Nibelungen (1924).9 Der Suspense des psychologi-
schen Jidaigeki wird durch die an Maurice Ravels Boléro
erinnernde Musik von Fumio Hayasaka noch gesteigert. Das
heraus­ ragende Schauspiel von Toshirô Mifune, Machiko
Kyô und Masayuki Mori präsentiert die undurchdringliche
Tiefe der einzelnen Charaktere. Anders als bei Orson Welles
(Citizen Kane, 1941) stellen Kurosawas Rückblenden auch
Unwahrheiten in den Aussagen der Beteiligten dar. Die
trügerische Zeitkonstruktion des Films soll Alain Robbe-
Grillet zum Drehbuch für L’Année dernière à Marienbad
(Letztes Jahr in Marienbad, 1961) inspiriert haben.10
Kurosawa erlangte große internationale Popularität durch
seine Action-Jidaigeki. Shichinin no Samurai (Die sieben
Samurai, 1954) konzipierte er im Stil des Westerns von
John Ford. In dem in der Originalfassung 203 Minuten lan-

9 Über Miyagawas Kameraarbeit: Kayo Adachi-Rabe, »Der Kameramann Miyagawa­


Kazuo«, in: Japonica Humboldtiana 8, Wiesbaden 2004, S. 177–214. http://edoc.hu-
berlin.de/japonica-hu/8/adachi-rabe-kayo-177/PDF/adachi-rabe.pdf (letzter Zugriff:
15.2.2021).
10 Tadao Satô, Kurosawa Akira sakuhin kaidai, Tokyo 2002, S. 412.

26 5 Das Goldene Zeitalter in den 1950er Jahren


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gen Film werden diverse menschliche Dramen innerhalb
einer Schicksalsgemeinschaft von den ausdrucksstarken
Schauspielern im wahrsten Sinne des Wortes »verkörpert«
und bewegend erzählt. Der Kameramann Asakazu Nakai
bedient hier zum ersten Mal Teleobjektive aus einer großen
Entfernung von den Akteuren. Damit wollte Kurosawa er-
reichen, dass die Schauspieler die Kamerapräsenz verges-
sen und mit ihrem ganzen Körper spielen, auch wenn diese
nur zum Teil im fertigen Bild sichtbar sein würden. Das
Tele­objektiv ermöglichte zudem in den vielschichtig auf-
gebauten Totalen eine klare Tiefenschärfe. Vorder- und Hin-
tergrund sind dadurch spannungsvoll und eng aufeinander
bezogen. Auch das System der multiplen Kamera führte
Kurosawa hier ein. Die schwer wiederholbaren Actionsze-
nen wurden durch drei bis acht Kameras aus verschiedenen
Winkeln gleichzeitig gefilmt, sodass die Kameraarbeit das
Schauspiel nicht unterbricht und große Gestaltungsmög-
lichkeiten beim Schnitt gewonnen wurden. In Kombination
mit dem Einsatz des Teleobjektivs bezweckte dieses Ver-
fahren, das Publikum mitten ins Geschehen hineinzuzie-
hen.11 Toshirô Mifunes Darstellung von Kikuchiyo, dem
wilden Möchtegern-Samurai mit kindlicher Seele, der­
wütend durchs Bild tobt, ist das Glanzstück der visuellen
Strategie des Films.
Dabei sind Kurosawas Jidaigeki äußerst variabel. Kumo-
nosu-jô (Das Schloss im Spinnwebwald, 1958) ist als
Übertragung von William Shakespeares Macbeth ins Nô-
Theater bekannt. Toshirô Mifune (Macbeth), Isuzu Yamada
(Lady Macbeth) und Minoru Chiaki (Banquo), die ein in-
tensives Kammerspiel entfalten, sollten für die Vorberei-
tung ihrer Rollen jeweils eine Nô-Maske studieren, welche
die Charakterzüge eines Kriegers, Wahnsinnigen und Ge-
spenstes trägt.12 Das Schloss versinkt in der Finsternis der
Nacht, die durch unheimliche, surreale Toneffekte vertieft
wird. Yoshirô Muraki, der für die Ausstattung von fast allen
Filmen Kurosawas verantwortlich war, realisierte Bauten,

11 Takeshi Yamaguchi, Eiga satsuei towa nanika, Tokyo 1997, S. 38–41.


12 Masaaki Tsuzuki, Kurosawa Akira zen sakuhin to zen shôgai, Tokyo 2010, S. 277.

5 Das Goldene Zeitalter inhttps://doi.org/10.5771/9783967074796


den 1950er Jahren 27
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Kumonosu-jô (Das Schloss die nicht nur eine histori-
im Spinnwebwald, 1958) sche und lebenspraktische
von Akira Kurosawa Authentizität, sondern auch
die Metaphysik der filmi-
schen Welt mitmodelliert. In den Außenaufnahmen herrscht
die Macht der Natur wie bei Shakespeare. Die ekstatisch-
ästhetische Vision des Untergangs erreicht einen Höhe-
punkt mit Mifunes Agonie im Pfeilregen.
Yôjinbô (Yojinbo – Der Leibwächter, 1961) hingegen ist
äußerst spielerisch inszeniert, wobei die dynamische Ent-
faltung der Actionszenen durch die Kamera von Kazuo
Miyagawa und Takao Saitô großartige Unterhaltung ist. Zu-
gleich geht von den blutigen Gewaltdarstellungen eine in-
tensive körperliche Wirkung auf den Zuschauer aus. Die
Fortsetzung Tsubaki Sanjûrô (Sanjuro, 1962) ist eine sti-
listisch feine, heitere Komödie, die jedoch das Gebaren des
Helden kritisch als das eines gewalttätigen Außenseiters
betont. Der Jidaigeki ist hier nicht mehr ein formales Spiel
mit dem Schwert, sondern führt eine ernste, körperliche
und mentale Auseinandersetzung mit dem Töten.

28 5 Das Goldene Zeitalter in den 1950er Jahren


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Kurosawas moderne Dramen sind natürlich nicht minder
sehenswert. Die transkulturelle Adaption von Der Idiot von
Fjodor Dostojewskij, Hakuchi (Der Idiot, 1951) mit Mifune
(Rogoschin), Setsuko Hara (Nastassja) und Masayuki Mori
(Myschkin), welche in der verschneiten Stadt Sapporo auf
der Insel Hokkaidô im Norden Japans spielt, ist ein für japa-
nische Verhältnisse außergewöhnlich tiefgreifender, leiden-
schaftlicher Liebesfilm. Vom ursprünglichen Zweiteiler mit
einer Dauer von 265 Minuten ist heute lediglich eine ver-
kürzte Version von 166 Minuten erhalten, die aber dennoch
eindrücklich wirkt.
Ikiru (Ikiru – Einmal wirklich leben, 1952) zeigt einen
krebskranken Beamten, der nach dem Sinn seines Lebens
fragt. Mitten im Film springt die Handlung abrupt zu seiner
Trauerfeier. Durch Rückblenden, beruhend auf den frag-
menthaften Erinnerungen der Gäste, werden die letzten
fünf Monate seines Lebens rekonstruiert. Ikiru ist vom be-
redten Gesicht des Hauptdarstellers, Takashi Shimura, ge-
prägt. Traditionen des Stumm- und Tonfilms, etwa in der
Zeichendarstellung, werden miteinander verknüpft. Ähn-
lich wie in M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) von
Fritz Lang wird die Geschichte des Protagonisten, hier ver-
mittels eines Liedes und seines Huts, anhand seiner akusti-
schen und materiellen Spuren aufgedeckt.
Mit Tengoku to Jigoku (Zwischen Himmel und Hölle,
1963) adaptierte Kurosawa einen Kriminalroman von
Ed McBain, der von einer Kindesentführung handelt. Der
143 Minuten lange Cinemascope-Film zeigt eine stilistisch
kühne, weiträumige Bilderwelt. Die Handlung entwickelt
ihre Dynamik durch die Rauminszenierung der Architektur
und der Stadtgeografie. Die Spannung erhöht sich in einer
rasanten Sequenz, die dokumentarisch in einem fahrenden
Zug gedreht wurde. Ein weiterer Höhepunkt für den Zu-
schauer ist sicherlich die teil-kolorierte Szene, in der der
farbliche Ausschnitt auf den Standort des Täters hinweist.
Dieser Moment antizipierte Steven Spielbergs Konzept in
Schindler’s List (Schindlers Liste, 1993).
Kurosawas erster vollständiger Farbfilm war Dodesuka-
den (Dodesukaden – Menschen im Abseits, 1970). Erst-

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mals arbeitete er hier mit dem Komponisten Tôru Take-
mitsu zusammen. Die märchenhafte, aber zugleich
realistische Vision der Nachkriegszeit ist in Eastmancolor
wie mit dem Pinselstrich ausgeführt. Durch die Trümmer-
landschaft fährt ein junger, geistig zurückgebliebener Mann
mit seiner imaginären Lokomotive an den absurden
menschlichen Schicksalen in seiner Nachbarschaft vorbei.
Ein Obdachloser entwirft mit seinem Sohn ein Haus, das sie
in Zukunft bauen wollen. Die Träume der Figuren werden
audiovisuell als Illusion vergegenwärtigt, um die Diskre-
panz zur Realität hervorzuheben.
Dersu Uzala (1975) drehte Kurosawa in der Sowjet-
union. Der im 70-mm-Breitbandformat gedrehte Farbfilm
zeigt eine mystische Naturlandschaft mit glühender Abend-
sonne über dem bläulichen Eisboden Sibiriens in der sub-
tilen Mattheit des russischen Svema-Filmmaterials. Dieser
erhabene Naturfilm, der von einer tiefen Freundschaft
zweier sehr unterschiedlicher Menschen erzählt, gewann
den Goldenen Preis auf den Moskauer Filmfestspielen so-
wie den »Auslands-Oscar«. Auf dem Höhepunkt seiner
Schaffensperiode geriet Kurosawa jedoch wegen seines Per-
fektionismus mit dem Studio Tôhô (gegründet 1932), Mos-
film und schließlich auch mit Hollywood in Konflikt und
musste lange auf die Realisierung seines nächsten Films
warten.
Kenji Mizoguchi folgte Anfang der 1950er Jahre Akira
Kurosawa auf der internationalen Bühne. Saikaku Ichidai
Onna (Das Leben Oharus, 1952), der in Venedig einen »In-
ternational Award« gewann, basiert auf einer Erzählung
aus dem 17. Jahrhundert von Saikaku Ihara. Der Drehbuch-
autor Yoshikata Yoda strukturierte Oharus verhängnisvol-
len Lebensweg mit einer ungewöhnlich langen Rückblende.
Die Kamera folgt Kinuyo Tanakas zierlicher Gestalt zögernd,
aber beharrlich, sodass ihre Bewegung wie der endlose
Gang einer Figur auf einer Bühne des Jôruri-Puppentheaters
wirkt. Die höfische Musik (gagaku) erklingt sowohl von
außerhalb als auch innerhalb der Diegese. Die inszenierte
audiovisuelle Instabilität erhöht die zarte elegische Stim-
mung des Films.

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Mit Ugetsu Monogatari (Ugetsu – Erzählungen un-
ter dem Regenmond, 1953) errang Mizoguchi einen Sil­
bernen Löwen in Venedig. Dieser Film basiert auf einer
Gespenster­geschichte von Akinari Ueda aus dem 18. Jahr-
hundert. Der Töpfer Genjûrô (Masayuki Mori) begegnet ei-
ner mysteriösen, adligen Frau Wakasa (Machiko Kyô). Mit
Kazuo Miyagawa treibt Mizoguchi sein der Malerei ent-
lehntes Konzept zur Vervollkommnung. Eine Vogelperspek-
tive strukturiert die Räume in einer abstrakten Plastizität
im Stil der Yamato-e-Malerei der Heian-Zeit (794–1192).
Lange Kamerafahrten entfalten die Bilder von rechts nach
links, wobei Raum und Zeit nach dem Modell eines­
Rollbilds (emaki) inszeniert werden. Miyagawa nahm den
Essay Lob des Schattens (1933) von Junichirô Tanizaki als
Lehrbuch für seine Kameraarbeit.13 Demnach gleicht der ­
japanische schattenreiche Wohnraum der Darstellung einer
Tuschmalerei, die aus reichen Stufen von Grauwerten be-
steht. Die Unheimlichkeit der Szene, in der Genjûrô in­
Wakasas Anwesen geführt wird, hebt die zitternde und
schwankende Kranaufnahme noch hervor, während zu-
gleich die Dämmerung hereinbricht. Kamera und Beleuch-
tung schaffen einen nahtlosen Übergang vom Dies- zum
Jenseits.
Sanshô Dayû (Sansho Dayu – Ein Leben ohne Frei-
heit, 1954) basiert auf der gleichnamigen Novelle von Ôgai
Mori, in der er eine volkstümliche Legende von der Tragö-
die einer adligen Familie im Mittelalter neu interpretierte.
Eine Mutter und zwei Kinder werden von Menschenhänd-
lern voneinander getrennt. Die musikalische Inszenierung
des Komponisten Fumio Hayasaka verleiht der Mutterfigur
(Kinuyo Tanaka) den Anschein einer vom Schicksal fortge-
tragenen Puppe. Jedoch besitzt das Lied, das sie singt, die
magische Kraft, die die Familie Zeit und Raum überwin-
dend verbindet.14 Kazuo Miyagawa folgte hier dem parado-
xen Prinzip, helle Bereiche zu verdunkeln und dunkle Be-
reiche aufzuhellen, um eine Anmutung der geheimnisvollen

13 Kayo Adachi-Rabe, »Der Kameramann Miyagawa Kazuo«, a. a. O.


14 Michel Chion, The Voice in Cinema, New York 1999, S. 109–122.

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Sanshô Dayû (Sansho Dayu – Atmosphäre des Mittel-
Ein Leben ohne Freiheit, 1954) alters zu erzeugen. Der
von Kenji Mizoguchi letzte lange Panorama-
schwenk dehnt die weite
Landschaft maximal aus und verleiht ihr einen intensiven
emotionalen Nachklang. Bekanntlich imitierte Jean-Luc­
Godard dieses Verfahren in der Schlussszene seines Films
Pierrot le Fou (Elf Uhr Nachts, 1965).15
Ein weiterer monumentaler Kostümfilm für das Studio
Daiei (gegründet 1942), Chikamatsu Monogatari (Eine Er-
zählung nach Chikamatsu, 1954), zeichnet sich durch
seine realistische, klar strukturierte Bildgestaltung aus.
Eine melodramatische Geschichte für das Jôruri-Puppen-
theater wird durch die kontrastreiche Besetzung mit der
jungen Kyôko Kagawa und dem etablierten Star Kazuo Ha-
segawa (früher: Chôjirô Hayashi) lebendig und würdevoll
repräsentiert. Mizoguchis Thema der harten Frauenschick-

15 Über Sansho Dayu – Ein Leben ohne Freiheit: Kayo Adachi-Rabe, »Die Ewigkeit des
Vergänglichen – Zeitdarstellung im Film Sanshô Dayû von Mizoguchi Kenji«, in:
Klaus Kracht (Hg.), »Ôgai« – Mori Rintarô. Begegnungen mit dem japanischen homme
de lettres, Wiesbaden 2014, S. 111–121.

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sale setzt sich in seinen Gegenwartsfilmen wie Gion
Bayashi (Die Festmusik von Gion, 1953), Uwasa no Onna
(Eine Frau, von der man spricht, 1954) und Akasen Chi-
tai (Die Strasse der Schande, 1956) fort, die den unver-
änderten Konservatismus der Gesellschaft illustrieren.
1953 gewann der Eastmancolor-Film Jigokumon (Das
Höllentor) von Teinosuke Kinugasa den Grand Prix in
Cannes. Dieser Film wirkt wie eine Mischung von Rasho-
mon und Ugetsu Monogatari. Ein Samurai (Kazuo Ha­
segawa) umwirbt eine verheiratete Frau (Machiko Kyô).
Kinugasa rekonstruiert hier die Welt der Hofmalerei der
Heian-Zeit mit einer fein glänzenden, nuancenreichen Far-
bigkeit. Der Protagonist schleicht aus der blauen Finsternis
der Nacht in eine Residenz hinein, in der lauter durchsich-
tige Vorhänge in warmen Farben hängen (Ausstattung:
Kishô Itô). Es scheint dabei, als ob sich eine mystische Zeit-
lichkeit des Mittelalters vor uns eröffne.
Hiroshi Inagaki schuf 1958 ein Remake seines durch
Zensoren verstümmelten Films Muhômatsu no Isshô (Der
Rikschamann, 1943) mit Toshirô Mifune, für den er in Ve-
nedig den Goldenen Löwen erhielt. Der Agfa-Color-Film im
Tôhô-Scope-Format entfaltet eine dezente, warme Farbig-
keit der nostalgisch gezeichneten Meiji-Zeit. Die avantgar-
distischen Kameraexperimente der Schwarz-Weiß-Version
wurden in ein traumhaftes Farbenspiel umgesetzt.
Yasujirô Ozu bleibt konsequent beim Genre des Famili-
endramas der Gegenwart. Ozus Hauptwerke mit seiner
Muse Setsuko Hara sind auch bekannt als »Noriko-Trilo-
gie«. Banshun (Später Frühling, 1949) erzählt die Ge-
schichte eines verwitweten Vaters (Chishû Ryû) und seiner
Tochter, Noriko. Ihr Vater und ihre Tante (Haruko Sugi-
mura) sorgen dafür, dass Noriko bald verheiratet wird. Ozu
behandelt dieses scheinbar banale Motiv mit einer ähnli-
chen Figurenkonstellation und denselben Darstellern wie-
derholt in seinen Werken, sodass es eine metaphorische
Bedeutung entfaltet. Das Thema des Verheiratens der Toch-
ter rückt eine komplexe Form von Abschied und Neuanfang
im menschlichen Lebenszyklus in den Fokus. Später
Frühling, in dem die Ästhetik der tradierten Kunstgattun-

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gen Japans filmisch integriert ist, repräsentiert Ozus Stil in
seiner Vollendung. Die ritualisierte Verhaltensweise der
Figuren simuliert die Prozedur der Teezeremonie, die am
Anfang des Films demonstriert wird. In der Szene der Vor-
führung eines Nô-Stücks findet eine formale Verschmel-
zung der Bühnen- und Filmkunst durch den Akt des An-
schauens statt. Wie der maskierte Nô-Darsteller offenbaren
die handelnden Figuren ihre Emotionen nur in reduzierter
Form. Ein Steingarten wird mit der Gefühlslage der Figur
des Vaters gleichgestellt. Ozus ständiger Kameramann Yû-
haru Atsuta komponierte die Bilder mit einer ausgewoge-
nen Symmetrie oder auch einer gewagten Asymmetrie aus
der Froschperspektive, um eine flach wirkende, grafische
Schönheit wie im Ukiyo-e-Holzschnitt zu erzeugen. Die Fi-
guren sitzen überwiegend frontal zur Kamera, vermeiden
aber einen schlüssigen Blickkontakt mit ihrem Gegenüber
im Gegenschuss.16 Zwischen den Szenen werden men-
schenleere, stilllebenartige Einstellungen eingeblendet, die
aus einer nicht personifizierten Perspektive erfasst werden.
So entsteht immer wieder eine abstrakte Öffnung zur Meta-
physik. In einem sanften Rhythmus schildert der Film die
ewige Wiederkehr des Alltags und dessen subtile Differen-
zen. Auf diese Weise setzt sich Ozus Film auf feinfühlige Art
mit dem Thema des Seins und Nichtseins auseinander.
In Bakushû (Weizenherbst, 1951) wird das gleiche
Thema in einer fröhlicheren Stimmung wiederaufgenom-
men. Noriko lebt in einer größeren Familie und trifft bezüg-
lich ihrer Heirat eine überraschende Entscheidung. In die-
sem Film kommen Elemente aus Ozus früheren Filmen Ich
wurde geboren, aber… und Der einzige Sohn zusammen,
sodass er seinen komödiantischen Stil wiederbelebt. Der
Drehbuchautor Kôgo Noda entwarf eine symphonisch ver-
flochtene, rührende Geschichte. Tôkyô Monogatari (Die
Reise nach Tokyo, 1953) ist eine Adaption von Make way
for Tomorrow (Kein Platz für Eltern, 1937) von Leo
McCarey. Während dieser sich auf die Bindung in der Ehe

16 Über den Schuss- und Gegenschuss sowie über die »mismatched eyeline« bei Ozu
siehe: David Bordwell, Ozu and the Poetics of Cinema, New Jersey 1988, S. 73–108.

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fokussiert, erweitert Ozu die Perspektive auf die ganze Fa-
milie. Ein älteres Ehepaar (Chishû Ryû und Chieko Higa­
shiyama) reist aus dem Städtchen Onomichi nach Tokyo,
um seine erwachsenen Kinder zu besuchen. Die Kinder
nehmen sich jedoch kaum Zeit für ihre Eltern. Nur die
Witwe des zweiten, im Krieg gefallenen Sohns, Noriko, ver-
bringt herzliche Stunden mit ihren Schwiegereltern. Die
Geschichte der Auflösung einer Familie ist hier von einem
unwiderruflichen Verlust abgeleitet. Der Film beschreibt
wiederholt scheinbar belanglose Passagen des Alltags, wäh-
rend wichtige Ereignisse übersprungen werden. Diese El-
lipsen und die akustische Inszenierung verdeutlichen, wie
schnell eine Welt vergehen kann, die ewig und unveränder-
bar erschien. Dennoch wird der innere Zusammenhalt der
Menschen auf subtile Art filmisch angedeutet.
Ozu filmte ähnliche Familiengeschichten noch wieder-
holt in seinen späteren Farbfilmen, obgleich er seinen Stil
sowohl durch die Einführung des Tons als auch der Farbe
grundsätzlich nicht veränderte. Entsprechend des Titels
seines ersten Farbfilms Higanbana (Sommerblüten, 1958;
wörtlich »Spinnenlilie«), stellt Ozu das »Rosarot der Spin-
nenlilie«, das in Agfa-Color speziell zum Tragen kommt,
heraus, indem er ein buntes Hochzeitsbankett zeigt. Uki-
gusa (Abschied in der Dämmerung, 1959), bei dem Ozu
das einzige Mal mit Kazuo Miyagawa zusammenarbeitete,
stellt eine Variante der Bildästhetik dar, die mit der des
Farbholzschnitts von Hiroshige Utagawa vergleichbar ist.
Seine weiteren Farbfilme sind von gereifter grafischer Ele-
ganz, so Akibiyori (Spätherbst, 1960) und Sanma no Aji
(Ein Herbstnachmittag, 1962). Diese setzen Norikos Ge-
schichte in einer immer verinnerlichteren Lebensbetrach-
tung fort. Ozu übt einen immens nachhallenden Einfluss
auf die Filmgeschichte aus. Wim Wenders, Aki Kaurismäki,
Jim Jarmusch, Hou Hsiao-Hsien, Abbas Kiarostami und
viele andere griffen seine Ästhetik auf und trafen dabei mit
den einheimischen Erben zusammen.
Etwas später als Ozu startete Mikio Naruse (1905–1969)
seine Karriere im Genre des »Kleinbürger-Films« bei Shô-
chiku und wechselte später zu Tôhô. Die Werke der beiden

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Regisseure, in denen gleiche Schauspieler ähnliche Rollen
spielen, stellen Parallelwelten dar. Naruse zeigt das Leben
jedoch viel realistischer, wobei er bewusst einen Gegensatz
zur stilistischen Reduktion und zur platonischen Grund-
stimmung bei Ozu anstrebt. Naruses Hauptwerke sind Ver-
filmungen der Literatur von Fumiko Hayashi. In Meshi
(Reis, 1951) befindet ein Ehepaar sich in einer Beziehungs-
krise. Setsuko Hara, die hier eine Hausfrau verkörpert,
wohnt in einer kleinen, bescheidenen Gasse, die von Naru-
ses ständigem Ausstatter Satoru Chûko stimmungsvoll ge-
staltet wurde. Die Filmheldin trägt einen Topf mit Miso-
Suppe und entwickelt eine hysterische Eifersucht, was bei
Ozus Noriko undenkbar wäre. Psychologische Prozesse
werden durch ein nonverbales Zeichensystem im Alltag
lebendig veranschaulicht. Die Kulissenszenen sind über
dokumentarische Außenaufnahmen miteinander verbun-
den, sie vermitteln eine lebendige und realistische Atmo-
sphäre der Nachkriegszeit. Ukigumo (Schwebende Wol-
ken, 1955) erzählt vom langen, leidvollen Lebensweg eines
Paares. Yukiko (Hideko Takamine), die während des Zwei-
ten Weltkriegs in einem japanischen Amt in Indochina ge-
arbeitet hatte, sucht ihren ehemaligen Vorgesetzten und
Geliebten Tomioka (Masayuki Mori) in Tokyo auf. Sie set-
zen ihr Verhältnis fort und verlieren sich in der Ernüchte-
rung der Nachkriegszeit. Der Kameramann Masao Tamai
inszeniert mit einer variablen Lichtführung Glanz und
Schatten des Lebens. Chûko entwarf die provisorischen Be-
hausungen der Hauptfiguren wie fein gewebte, psychologi-
sierte Kulissen eines Film noir. Rückblenden auf die Zeit in
den lichtdurchströmten Tropen beginnen wiederholt und
unvermittelt mit einer exotischen Tanzmusik, die Yukikos
anhaltende Sehnsucht wachruft. Wie auch in Bangiku
(Späte Chrysanthemen, 1954) und Midareru (Midareru –
Sehnsucht, 1964) wird die Schwäche des männlichen Ge-
schlechts im Kontrast zum aufrichtigen Verlangen einer
Frau nach Liebe erbarmungslos herausgestellt. Alle Filme
Mikio Naruses sind emotional höchst differenziert, sie ru-
fen eine breite Skala von Leidenschaften, Gefühlen und
Schmerzen in uns hervor.

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Keisuke Kinoshita (1912–1998) assistierte zunächst Kô-
zaburô Yoshimura bei Shôchiku und wurde schließlich
selbst ein Starregisseur der 1950er Jahre. Karumen Kokyô
ni Kaeru (Carmen kehrt in die Heimat zurück, 1951) war
der erste abendfüllende Farbfilm Japans. Farbenfroh geklei-
det kommt die Striptease-Tänzerin »Lily Carmen« (Hideko
Takamine) mit einer Kollegin aus Tokyo ihr Heimatdorf be-
suchen. Der Film wurde fast ausschließlich im Freien ge-
dreht, da das Fujicolor-Verfahren noch eine intensive Licht-
quelle benötigte. Der Bruder des Regisseurs, Chûji Kinoshita,
wirkte bei ihm dauerhaft als Komponist mit. Die Tänzerin-
nen führen in der Natur kuriose Tänze auf, die sie für ernste
Kunst halten. Diese musikalische Komödie wirkt wie ein
Gemisch aus verschiedenen westlichen Filmen mit Mar-
lene Dietrich (Der Blaue Engel, 1930) und Lilian Harvey
(Der Kongress tanzt, 1931) sowie René Clairs Chanson-
Filmen, verbunden mit Elementen des Western-Genres. Der
beinahe surreale Kontrast zwischen der städtisch-modernen
und der ländlich-traditionellen Kultur sorgt für eine aus-
gesprochene Heiterkeit, welche die Friedenseuphorie dieser
Zeit reflektiert. Die scheinbar naiven Tänzerinnen, die mit
ihren aberwitzigen Gedanken Wahrheiten aufdecken und
Glück verbreiten, erweisen sich letztlich als sehr klug.
Mit Nijûshi no Hitomi (24 Augen, 1954, nach der No-
velle von Sakae Tsuboi) hingegen brachte Kinoshita das
ganze Land dazu, Tränen zu vergießen. Er erzählt das Leben
auf der kleinen Insel Shôdoshima im Zeitraum von 1928 bis
1948 aus der Perspektive einer Grundschullehrerin (Hideko
Takamine). Sie bekommt ihre erste Anstellung bei den
zwölf Erstklässlern einer Dorfschule. Dieser 155 Minuten
lange Schwarz-Weiß-Film ist großenteils am Originalschau-
platz mit Laien-Kinderdarstellern gedreht. Nach Ende des
Zweiten Weltkriegs geht die Protagonistin den einzelnen,
meist tragischen Schicksalen ihrer ehemaligen Schülerin-
nen und Schüler nach. Ihre persönliche Beziehung zu ih-
nen wird in Rückblenden gezeigt, wobei ein Foto, ein
Schulaufsatz oder ein Lied als emotionaler Auslöser der Er-
innerung fungieren. Hier zeigt das Gefühlskino sein starkes
Potenzial als pazifistischer Botschafter.

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Kinoshitas nächster Erfolgsfilm Yorokobi mo Kanashimi
mo Ikutoshitsuki (Monate und Jahre in Freuden und
Schmerz, 1957) ist ein Epos über die Familie eines Leucht-
turmwärters, die von einer entlegenen Ortschaft zur nächs-
ten zieht. Hideko Takamine und Keiji Sata verkörpern ein
Ehepaar in einer Zeitspanne von 25 Jahren. Das bewegende
Melodram in Shôchiku-Eastman-Color entfaltet eine dyna-
mische Ästhetik, enthält musikalische Steigerungen und
viele dramatische Wendungen. Das Publikum der 1950er
Jahre, das sich nach heiterer Unterhaltung, starken emotio-
nalen Regungen und Reisen in ferne Gegenden sehnte, fand
bei Kinoshita vollkommene Erfüllung. Ungewöhnlicher
war seine Inszenierung des Shôchiku-Grandscope-Films
Narayama Bushikô (Die Ballade von Narayama, 1958)
in einem experimentellen Kabuki-Stil. Der Stoff beruht auf
der Legende, dass altgewordene Bewohner armer Bauern-
dörfer zum Sterben ausgesetzt werden. Der leidvolle Weg
eines Sohnes, der seine Mutter (Kinuyo Tanaka) in die
Berge tragen muss, wird wie das endlose Gehen auf einer
Drehbühne inszeniert. Die Szenen wechseln auf nahezu
magische Weise durch das Fallen von Vorhängen oder die
Veränderung der Lichtverhältnisse. Die intensive ästheti-
sche Stilisierung ­arbeitet die tiefe Gefühlswelt und den
metaphorischen Reichtum der Romanvorlage von Shichirô
Fukazawa weiter aus.
Kinoshita, der mit flexibler Gewandtheit in unterschied-
lichsten Genres operierte und innovative Unterhaltungs-
formen des Kinos entwickelte, scheint im Wesentlichen ein
Avantgardist gewesen zu sein. Wichtige Nouvelle-Vague-
Regisseure Japans begannen als seine Assistenten. Kino-
shitas Onna no Sono (The Garden of Women, 1954), der
von einer kleinen Revolution an einer Mädchenschule han-
delt, brachte Nagisa Ôshima dazu, den Film als ein politi-
sches Mittel zu begreifen.17
Kon Ichikawa (1915–2008) ist ein modernistischer Fil-
memacher, der die Generation des Studiokinos mit der
des Autorenfilms verbindet. Er begann seine Karriere be-

17 Nach Ôshimas Kommentar in seinem Film 100 Years of Japanese Cinema (1995).

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reits in den 1930er Jahren im Genre des Zeichentrickfilms,
ausgelöst durch seine Begeisterung für Walt Disney. Ab den
1950er Jahren realisierte er in Zusammenarbeit mit seiner
Ehefrau, der Drehbuchautorin Natto Wada, mehrere Verfil-
mungen von literarischen Meisterwerken für das Studio
Daiei. Das Paar konzipierte raffinierte formale Transforma-
tionen der Vorlagen in Kokoro (1955) nach Sôseki Na­
tsume, Enjô (Der Tempel zur Goldenen Halle, 1958) nach
Yukio Mishima, Kagi (Der Schlüssel, 1959) nach Junichirô
Tanizaki und Hakai (The Outcast, 1962) nach Tôson Shi-
mazaki.
Mit den Kriegsfilmen Biruma no Tategoto (Freunde bis
zum letzten oder Die Harfe von Burma, 1956) und Nobi
(Nobi / Feuer im Grasland, 1961) erlebte Ichikawa seinen
internationalen Durchbruch. Der erstere basiert auf einem
Jugendroman von Michio Takeyama. Im Sommer 1945 er-
gibt sich eine japanische Truppe in Burma (dem heutigen
Myanmar) den Alliierten. Ein Soldat, der zahlreiche Men-
schen sinnlos sterben sah, entscheidet sich, Mönch zu wer-
den und zurückzubleiben. Wie eine Märchenfigur erscheint
er im Mönchsgewand mit einem Papagei auf der Schulter
und einer Saung, der burmesischen Harfe, in der Hand, um
ein Abschiedslied für seine Kameraden zu spielen. Ergrei-
fend wirkt der Film durch die starke Kraft der audiovisuel-
len Symbole, die eine unaussprechliche Tiefe der Gefühle
andeuten. Nobi, nach einem Roman von Shôhei Ôoka, be-
handelt die Unmenschlichkeit in der Endphase des japani-
schen Invasionskriegs auf der Philippinen-Insel Leyte, bis
hin zu Kannibalismus. Der Film ist aus der Perspektive ei-
nes Soldaten (Eiji Funakoshi) erzählt, der als im Bild sicht-
barer Protagonist sowie als Voice-Over-Sprecher subjektiv
und objektiv zugleich erscheint. Ebenso zwiegespalten
schaltet das Daiei-Scope-Format zwischen Großaufnahme
und Totale um und veranschaulicht so das sinnlose Treiben
der einzelnen, lebensgierigen Menschen in einer endlosen,
undurchdringlichen Naturlandschaft. Die dynamischen
Bildwechsel ermöglichen einen ironischen Erzählrhythmus
und eine schockierende Szenenentfaltung. Ohne viel zu
reden oder heftige Gewalt zu zeigen, wird durch die inten-

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sive suggestive Kraft der Bilder eine intensive Alptraum­
vision hervorgebracht. Dargestellt ist ausschließlich die ab-
solute Wertlosigkeit eines Individuums im Krieg, das bei
hellwachem Verstand unter elendigsten Bedingungen un-
tergehen muss.
Bei der Verfilmung des Romans von Aya Kôda Otôto
(Bruder, 1960) realisierte Ichikawa in Zusammenarbeit mit
Kazuo Miyagawa das Verfahren des Silbertons, bei dem ein
Bestandteil des Silberhalogens in der Emulsion, die zerfal-
len soll, auf dem Farbfilmpositiv fixiert wird. Die so er-
zeugte, dezent schimmernde Farbtextur zusammen mit ei-
ner klaren Bildkomposition im Breitwandformat zeigt eine
Synthese von Miyagawas traditionell-malerischer Kamera-
ästhetik und Ichikawas modernem Grafik-Design. Weitere
Beispiele von Ichikawas Farbfilm-Kunst im Cinemascope-
Format sind Yukinojô Henge (Yukinojos Rache, 1963),
ein Remake von Teinosuke Kinugasas Film von 1935, und
der Dokumentarfilm Tôkyô Orinpikku (XVIII. Olympische
Sommerspiele Tokyo, 1965), welcher teilweise die Bild-
komposition von Leni Riefenstahls Olympiafilmen (1938)
nachempfindet. Ichikawa arbeitete noch bis 2007 ununter-
brochen weiter. Seine Verfilmungen von Seishi Yokomizos
Kriminalromanen, darunter Inugami-ke no Ichizoku (The
Inugami Family, 1976), beeindruckten wegen ihrer un-
heimlichen Figurenzeichnung und der Szenen mit den
sensationellen Aufdeckungen der Serienmorde das zeitge-
nössische Publikum ungemein. Mit seinem Film Ichikawa
Kon Monogatari (Die Geschichte von Kon Ichikawa,
2006) sollte Shunji Iwai seinen Respekt für den Regisseur
zum Ausdruck bringen. Shinya Tsukamoto wagte ein Re-
make von Nobi (Fires on the Plain, 2014), in dem er selbst
die Hauptrolle spielte. Bei den Filmemachern der jüngeren
Generation, die besonders auf die visuelle Kraft des Me­
diums bauen, genießt Ichikawa Kultstatus, angefangen bei
seinem stilvollen Vorspann-Design bis hin zu den überra-
schend originellen Anblicken.

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6 Entwicklung des Genre-Kinos und
Vorläufer der Nouvelle Vague

Jenseits der künstlerischen Mainstreamfilme der 1950er


Jahre etablierte sich ein Genrekino mit Gespenster-, Mons-
ter- und Science-Fiction-Filmen, welches das Massenpubli-
kum, aber auch den Regienachwuchs nachhaltig prägte. In
dieser Vielfalt der Gattungen entwickelte sich auch eine
neue Generation von Filmschaffenden, welche Entwicklun-
gen der japanischen Nouvelle Vague bereits vorwegnahm.
Das Gespenster-Genre existierte schon lange in den Tra-
ditionen der Literatur, der Malerei und des Theaters und
wurde bereits in seiner Frühzeit im Film übernommen.
Auch Mizoguchi, Kurosawa und Kinoshita verwenden be-
reits ganz selbstverständlich Elemente des Horrors als äs-
thetisches und sensuelles Mittel. Nobuo Nakagawa (1905–
1984), der zahlreiche volkstümliche Dramen drehte, gilt für
seine wenigen Werke in diesem Genre als größter Meister
des Gespensterfilms. Der schrille Eastmancolor-Cinema-
scope-Film Tôkaidô Yotsuya Kaidan (The Ghost of Yot-
suya, 1959) lehnt sich an das Kabuki-Stück von Nanboku
Tsuruya an. Der Rônin Iemon vergiftet seine Frau Iwa, um
sich mit einer reicheren Frau zu liieren. Ein aufgefaltetes
rot-goldenes Papier enthält Giftpuder. Feuerwerk explo-
diert am nächtlichen Himmel. Unter einem Moskitonetz
führt Iwa einen Becher zum Mund, wobei die Kamera mit
ihrer Trinkbewegung kippt. Daraufhin durchläuft ihr Ge-
sicht eine grauenhafte Metamorphose, bis sie schließlich
qualvoll ablebt. Shigeru Amachi, der den bösesten Frauen-
feind der Nation verkörpert, spielt den alptraumhaften Pro-
zess seines Untergangs eigentümlich charmant. Er spielt
auch im Gegenwartshorrorfilm Jigoku (Jigoku – Das Tor
zur Hölle, 1960) von Nakagawa. In der Hölle, die aus einer
Mischung von Jenseitsvorstellungen unterschiedlicher Kul-
turen besteht, versucht der Protagonist, sich in spektakulä-
ren Aktionen von seinem Karma zu erlösen. Das Genre er-
möglicht dem Regisseur eine grenzenlose surrealistische
Entfaltung der Bilder in einer sinnlich-schönen Groteske.

6 Genre-Kino und Vorläufer der Nouvelle Vague


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Das Genre des Monsterfilms wurde zum Kassenschlager
des Studios Tôhô. Ishirô Honda (1911–1993) schuf Gojira
(Godzilla, 1954) als japanischen King Kong, entstanden
durch einen amerikanischen Atomversuch. Für die Spezial-
effekte war Eiji Tsuburaya zuständig, der wegen seiner Mit-
wirkung an den Propagandafilmen einige Jahre Berufsver-
bot hinter sich hatte. Für die Trickaufnahmen, in denen das
Monster eine Stadt zerstört, setzte er die Verfahren der
Rückprojektion und der Miniaturbauten ein, die er auch in
den Propagandafilmen von Arnold Fanck, Mansaku Itami18
und Kajirô Yamamoto genutzt hatte. Das gespaltene Ge-
schöpf der Nostalgie und Traumata des Kriegs hat seither
endlose Revivals erlebt, bis hin zum postkinematografi-
schen Spektakel Shin Gojira (Shin Godzilla, 2016) von
Hideaki Anno (geb. 1960). Mosura (Mothra bedroht die
Welt, 1961) vom gleichen Team ist ein weniger aggressiver,
märchenhafter Monsterfilm. Außergewöhnlich wirkt die
Trilogie Daimajin (1966), die von Kimiyoshi Yasuda, Kenji
Misumi und Kazuo Mori als Jidaigeki für Daiei hergestellt
wurde. Aus Zorn über die Ungerechtigkeit in der Men-
schenwelt steht eine Gottesstatue auf, wobei sich ihr fried-
liches Antlitz zu einem teuflischen wandelt. Der Gigant,
gebaut nach dem Modell von Le Golem (Golem, 1936) von
Julien Duvivier, bestraft die bösen Menschen mit gnadenlo-
ser Grausamkeit. Die Szenen der Zerstörung durch die
Monster korrespondieren mit den später populär werden-
den Katastrophenfilmen.
Auch den Science-Fiction-Film bereicherte Eiji Tsubu-
raya technisch. Nachdem er Tômei Ningen Arawaru (Invi­
sible Man Appears, 1949, Regie: Nobuo Adachi) nach dem
Vorbild von James Whales The Invisible Man (1933) ge-
staltet hatte, widmete er sich der »Serie der Verwandlung«,
in der sich Menschenkörper in Wasser, Elektrizität und Gas
auflösen. Diese Serie wurde in intensiv farbigem Cinema-
scope expressiv gestaltet und mit ausgefeiltem Produc­
tion-Design ausgestattet. Densô Ningen (The Secret of the

18 Nach einem Zerwürfnis mit Arnold Fanck hatte Itami eine andere Version des Films
Atarashiki Tsuchi (Die Tochter des Samurai, 1937) erstellt.

42 6 Genre-Kino und Vorläufer der Nouvelle Vague


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Telegian, 1960, Regie: Jun Fukuda) nimmt Shinya Tsuka-
motos Eisenmann Tetsuo vorweg: Der Protagonist verwan-
delt sich hier in elektronische Signale, um sich selbst durch
die vierte Dimension an jeden beliebigen Ort schicken zu
können. Ein realistischer Vulkanausbruch erinnert an Tsu-
burayas Zusammenarbeit mit Arnold Fanck. Kiyoshi Kuro-
sawa bezeichnet Matango (1963, Regie: Ishirô Honda), in
dem Menschen in Pilze verwandelt werden, als sein erstes
Gruselerlebnis.19 Dieser Südseefilm mit seinen halluzinato-
rischen Visionen ruft Tsuburayas Mitwirkung an Josef von
Sternbergs Die Sage von Anatahan (1953) und Teinosuke
Kinugasas Eine Seite des Wahnsinns in Erinnerung.
Mehrere Regisseure, die in den 1950er Jahren in unter-
schiedlichen Genres durch ihren originellen Stil auffielen,
lassen sich als Vorläufer der japanischen Nouvelle Vague
betrachten. Kô Nakahira (1926–1978) drehte Kurutta Ka-
jitsu (Crazed Fruit, 1956), der dem damals populären
Halbstarkenfilm (Taiyôzoku-Film), hauptsächlich produ-
ziert von der Firma Nikkatsu, zuzurechnen ist. Der fein
schattierte Film noir soll René Clément als Inspiration zu
Plein Soleil (Nur die Sonne war Zeuge, 1960) gedient
haben. Mit Bakumatsu Taiyô-den (Sun in the Last
Days of the Shogunate, 1956) modernisierte Yûzô Ka-
washima (1918–1963) das Jidaigeki als heitere Komödie
in einer Fusion von Techniken der traditionellen komi-
schen Erzählung rakugo mit dem Temperament des Halb-
starkenfilms. Der große Wandel der Gesellschaft am Vor-
abend der Meiji-Restauration, welcher als Hintergrund der
Handlung diente, wirkt bereits wie ein Sinnbild für den
Generationswechsel im japanischen Kino. Verschiedene
Handlungsstränge, die in einem Bordell stattfinden, wer-
den in dynamischer Gleichzeitigkeit inszeniert. Ursprüng-
lich plante Kawashima, die historische Fiktion noch viel
mehr mit der realen Gegenwart zu verbinden. Diese Idee
nahm eine häufige Verfremdungstechnik der japanischen
Nouvelle Vague vorweg.

19 Kiyoshi Kurosawa, Kurosawa Kiyoshi no kyôfu no eigashi, Tokyo 2003, S. 10.

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Yasuzô Masumura (1924–1986), der in Rom Film studiert
hatte, bringt in Kyojin to Gangu (Giganten und Spiel-
zeuge, 1958) das Frische und die Leichtigkeit des euro­
päischen Drehstils ein. Das Daiei-Scope wird in poppiger
Farbigkeit für die dynamische Bewegung der grafischen
Formationen und die musikalische Performanz genutzt.
Die Modernität und Urbanität der filmischen Welt, die vom
Konkurrenzkampf von Werbeagenturen handelt, erneuer-
ten die Darstellungskonvention des Angestelltenalltags.
Kihachi Okamoto (1924–2005) schuf seinen Kriegsfilm­
Dokuritsu Gurentai (Der Deserteur, 1959) als eine am
Stil des Westerns angelehnte satirische Komödie. Das
schwarz-weiße Tôhô-Scope entfaltet sich hier nicht in die
Breite, sondern in die Tiefe und nach vorn, was zu einer
eigentümlichen Dynamik der Bildgestaltung und Montage
führt. Mit anarchistischem Zynismus macht sich der­
unterhaltsame Actionfilm über die Sinnlosigkeit des Kriegs
lustig. Susumu Hani (geb. 1928), Dokumentarregisseur der
Produktionsfirma Iwanami-Eiga, drehte seinen ersten Spiel-
film Furyô Shônen (Die Bewährung, 1960) über die Ju-
gendkriminalität mit Laiendarstellern. Ihr improvisiertes
Spiel an Originalschauplätzen lässt den Film gänzlich do-
kumentarisch erscheinen. Jedoch wurde er durch Rück-
blenden und irreale Elemente sowie analytische Beobach-
tungen, die an Robert Bresson erinnern, feinfühlig fiktiona-
lisiert. Hanis vitaler Dokumentarismus steht gleichfalls im
Einklang mit der Stilrichtung der aufkommenden Nouvelle
Vague.
1958 erreichte das Kino in Japan den höchsten Stand an
Zuschauerzahlen mit ca. 1,127 Milliarden Kinobesuchen.
Das Aufkommen des Fernsehens ließ die Filmindustrie
schon bald stagnieren. Die Zahl der Kinobesuche reduzierte
sich im Jahr 1963 (511 Mio.) und 1970 (254 Mio.) jeweils um
die Hälfte.20 So ging das Goldene Zeitalter des japanischen
Kinos, in dem die großen Studios dominierten, zu Ende.

20 Tadao Satô, »Kiki to mosaku«, in Kôza Nihon Eiga Bd. 6, hg. von Shôhei Imamura / ­
Tadao Satô / Kaneto Shindô / Shunsuke Tsurumi / Yôji Yamada, Tokyo 1995, 2. Aufl.,
S. 2–75, hier S. 14.

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7 Nouvelle Vague I – Politik und Eros

In den 1960er Jahren kam eine neue Generation des Auto-


renfilms auf, die man mit der französischen Nouvelle Vague
in Verbindung setzt. Die ästhetischen Konzepte des italie-
nischen Neorealismus und des französischen Autorenkinos
waren bereits verbreitet. Man kann trotzdem sagen, dass die
japanische neue Welle zeitgleich mit der Geburt des inter-
nationalen Autorenkinos spontan durch die Anforderungen
der Zeit entstand.21 Viele Regisseure machten sich von den
etablierten Studios unabhängig und gründeten eigene Pro-
duktionsfirmen, um ihre Konzepte kompromisslos verwirk-
lichen zu können. Ihre Filme sind intellektuell, provokativ,
ästhetisch, sinnlich und vor allem politisch.
Der Initiator der japanischen Nouvelle Vague war Nagisa
Ôshima (1932–2013). Er hatte Jura an der Kyoto-Universität
studiert, wo er zu einem Anführer der Studentenbewegung
wurde. Sein zweiter Spielfilm Seishun Zankoku Mono-
gatari (Nackte Jugend, 1960) brachte die Bezeichnung
»Shôchiku-Nouvelle-Vague« hervor. Takashi Kawamata,
zuvor Kameraassistent bei Filmen Ozus, bildete die unru-
hige, aggressive Welt eines jungen Paares im Shôchiku-
Grandscope und in Eastmancolor ab. Lange, unregelmäßig
fortschreitende Plansequenzen zeichnen abrupte Aktionen
der Figuren nach. Die breite Leinwand fängt die Gesichter
des Paares aus verschiedenen Winkeln und stark dezen-
triert ein. In den Streitszenen bebt und springt das Bild
mit. Harte Schnitte trennen das Paar immer wieder vonei-
nander. So versuchte Ôshima, die tradierten, harmonisch
gestalteten Bilder der Studiokinos gründlich zu dekon-
struieren. Die Protagonisten, die die Liebe als Ideal ohne
gesellschaftlichen Zwang verwirklichen wollen, sind ty-
pisch für die Nouvelle Vague als Antihelden charakterisiert.
Im Hintergrund der Handlung wird die reale Großstadt im
dokumentarischen Stil gezeigt, geprägt von einem rasanten
wirtschaftlichen Wachstum und politischen Unruhen. Im

21 Tadashi Iijima, »Nûveru Vâgu Kôgi«, ebd., S. 76–85.

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Kontrast zum apolitischen jungen Liebespaar steht ein älte-
res, inzwischen getrenntes Paar. Dabei wirkt der Einsatz der
Schauspielerin Yoshiko Kuga, die in Filmen wie Engel der
Verlorenen von Akira Kurosawa und Bis wir uns wie­
dersehen von Tadashi Imai die Hoffnung der Nachkriegs-
demokratie verkörpert hatte, wie ein Zitat. In der Jetztzeit
des Films Nackte Jugend erscheint sie als desillusionierte
ehemalige Freiheitskämpferin. Auf diese Weise brachte­
Ôshima mit diesem Film stellvertretend den »Abschied von
Gestern« seiner Generation zum Ausdruck.
Nihon no Yoru to Kiri (Nacht und Nebel über Japan,
1960) behandelt direkt die Studentenrevolte. Auf einer
Hochzeit streiten sich zwei Generationen, die eine, die in
den 1950er Jahren gegen die Entstehung des »Gesetzes ge-
gen subversive Aktivität« (1952) gekämpft hatte, und die
andere, die sich aktuell gegen die Ratifizierung des Sicher-
heitspakts (1960) mit den USA einsetzt. Weder die voll­
kommene Souveränität des Staats noch die Freiheit des In-
dividuums waren erreicht worden. Heftige ideologische
Diskussionen entfalten sich in schlängelnden, langen Ein-
stellungen. In Rückblenden gehen die Figuren immer wie-
der zu zentralen Momenten der Revolution und des Verrats
zurück. Ôshima erschuf hier einen einzigartigen, radikal
politischen Diskussionsfilm, der so spannend wie Alfred
Hitchcocks Rope (Cocktail für eine Leiche, 1948) gestaltet
ist und Theo Angelopoulos’ Kameraführung und Béla Tarrs
Zeitstruktur vorwegnimmt. Shôchiku nahm diesen monu-
mentalen Film nach vier Tagen aus den Kinos, woraufhin
der Regisseur diese Firma verließ.
1962 wurde Ôshima Mitbegründer der unabhängigen
Filmproduktion »Art Theatre Guilde« (ATG). Sein Film
Kôshikei (Tod durch Erhängen, 1968), in dem er sein
künstlerisches Konzept mit einem minimalen Budget äu-
ßerst effizient realisierte, gilt als eine der erfolgreichsten
ATG-Produktionen. Inspiriert von einem authentischen
Fall thematisiert Ôshima die Hinrichtung eines in Japan ge-
borenen Koreaners. Er überlebt die Exekution und verfällt
in Amnesie. Im Stil des Brecht’schen epischen Theaters
bemühen sich die Vollzugsbeamten, den Todeskandidaten

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zur Selbsterkenntnis zu- Nihon no Yoru to Kiri
rückzubringen. Schließ- (Nacht und Nebel über Japan, 1960)
lich stellen sie jedoch von Nagisa Ôshima
fest, dass sie in die exis-
tenzialistische Antinomie zwischen Realität und Imagina-
tion geraten sind. Ôshima bringt seine juristische Ausbil-
dung ein, um das gesellschaftlich-politische System, das
sowohl die Diskriminierung von Minderheiten als auch die
Todesstrafe befördert, transparent zu machen. Shônen (Der
Junge, 1969) porträtiert eine Kleinverbrecherfamilie, die
durch das ganze Land zieht. Aus der Perspektive eines Kna-
ben werden seine tiefe Verzweiflung und zugleich seine
kindliche Welt der Imagination in rührend schönen, bunten
Landschaften reflektiert. Der Film verweigert aber strikt das
Mitfühlen und Mitleiden. Im Mittelpunkt steht kein Einzel-
schicksal, sondern welche Auswirkungen es hat, sich selbst
als Opfer der Gesellschaft zu verstehen und in dieser Rolle
zu verweilen. Das trostlose Roadmovie, das zugleich ein
lebendiges, scharf beobachtetes Zeitdokument ist, überwäl-
tigt durch die Komplexität des politischen Denkens des Re-
gisseurs.
Gishiki (Die Zeremonie, 1971) stellt eine Familienchro-
nik der Nachkriegszeit in einer streng stilisierten Bildästhe-
tik dar. Die Mitglieder einer mächtigen Großfamilie mit
unterschiedlichsten politischen Orientierungen, angefan-
gen vom Kriegsverbrecher bis hin zum Kommunisten, ver-

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sammeln sich immer wieder bei Hochzeiten und Trauerfei-
ern. Das Anwesen der Familie tritt immer deutlicher als
künstliche Kulisse hervor, und die Handlung entwickelt
sich zunehmend absurder und metaphorischer. Der Film ist
eine direkte Anspielung auf die Tatsache, dass derartige
Erbpolitikerfamilien trotz ihrer von Skandalen belasteten
Geschichte unabänderlich an der Macht bleiben. Der avant-
gardistische Musikfilm Kaette Kita Yopparai (Die Rück-
kehr der drei Trunkenbolde, 1968) thematisiert die Tei-
lung Koreas, die der japanische Invasionskrieg mitverursacht
hat. 1972, im Jahr der Rückgabe des von den USA besetzten
Okinawa an Japan, drehte Ôshima dort Natsu no Imôto
(Kleine Sommerschwester, 1972), um das komplizierte
Verhältnis zwischen der südlichen Inselgruppe und der
Hauptinsel zu diskutieren. Der erste japanische Film mit
Hardcore-Sexszenen Ai no Korîda (Im Reich der Sinne,
1976), den Ôshima mit einer französischen Produktion­
realisierte, löste eine große Kontroverse über die Freiheit
des künstlerischen Ausdrucks aus. Wie in Noboru Tanakas
(1937–2006) Softcore-Verfilmung Jitsuroku Abe Sada (Die
Geschichte der Abe Sada, 1975), die von der gleichen­
authentischen Person handelt, wird die Präsentation der
weiblichen Sexualität weitgehend individualisiert. Ôshi-
mas äußerst gruseliger Gespensterfilm Ai no Bôrei (Im
Reich der Leidenschaft, 1978) zeigt ebenfalls eine Umkeh-
rung der traditionellen Beziehung der Geschlechter im Ge-
spenster- und Erotik-Genre: Auch hier fällt ein Mann der
Begierde einer Frau zum Opfer. Hierfür reinkarniert Taka-
hiro Tamura, der Sohn von Tsumasaburô Bandô, dessen
Rolle als Rikscha-Fahrer, der keine Erwiderung seiner Liebe
erwarten darf.
Auch Yoshishige Yoshida (geb. 1933) stammt aus der
Shôchiku-Nouvelle-Vague. Nach einem Romanistikstu-
dium an der Tokyo-Universität hatte er bei Keisuke Kino-
shita assistiert. Mit Akitsu Onsen (Akitsu Springs, 1962)
im farbigen Shôchiku-Grandscope erneuerte Yoshida den
Studio-Stil des Melodrams mit seiner innovativen Erzähl-
weise und Bildgestaltung. International berühmt wurde er
für seinen ATG-Film Erosu Purasu Gyakusatsu (Eros

48 7 Nouvelle Vague I – Politik und Eros


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plus Massacre, 1969). Dieser 261-minütige, schwarz-weiße
Cinemascope-Film porträtiert den Anarchisten Sakae Ôsugi
(Toshiyuki Hosokawa) und drei Frauen, die mit ihm Bezie-
hungen hatten, darunter Noe Itô, eine der Anführerinnen
der ersten Emanzipationsbewegung Japans Seitô, dargestellt
von Mariko Okada. Der Film besteht aus zwei Handlungs-
zeiten, die ineinandergreifen: Die erstere spielt in einem
Lebensabschnitt der historischen Personen in der Taishô-
Ära, die letztere ist in der Gegenwart der späten 1960er
Jahre verankert, in denen eine junge Journalistin über Ôsu-
gis Leben recherchiert. In der Zeitstruktur und mise en
scène des Films sind der Einfluss von Alain Resnais und
Jean-Luc Godard deutlich zu erkennen. Durch komplexe
Plansequenzen und Choreografien in labyrinthischen Bau-
ten wird die Qual der Frauen im Kampf um die Liebe illus-
triert. Das von Ôsugi intendierte Ideal der freien Liebe, die
das gesellschaftliche System zerstören soll, scheint schwer
realisierbar zu sein. Durch eine nüchterne Verfremdung in
der Darstellung der Legende des Anarchisten wird nicht
nur die von Ôsugi konzipierte Revolution, sondern auch
der von der Staatsgewalt ausgeübte Mord an ihm und Noe
Itô kritisch erforscht.
Als unabhängiger Autor realisierte auch Masahiro Shi-
noda (geb. 1931) ein individuelles Filmexperiment. Er hatte
Literaturwissenschaft an der Waseda-Universität studiert
und kam dann zur Firma Shôchiku, der er aber bald den
Rücken kehrte. Für die Art Theatre Guild verfilmte er ein
Puppentheaterstück von Monzaemon Chikamatsu, Shinjû
Ten no Amijima (Doppelselbstmord in Amijima, 1969).
Die erste Szene hinter einer Jôruri-Bühne, in der sich
Puppen­ spieler auf eine Aufführung vorbereiten, wurde
doku­mentarisch gefilmt. Dann beginnt ein von Menschen
vorgetragenes Puppenspiel. Tôru Takemitsu beseelt den
klassischen Stoff mit dem vielfältigen Klang verschiedens-
ter, exotischer Instrumente.22 Geführt von einem schwarz
gekleideten Bühnenassistenten, kuroko, wird die Figur des

22 Über Takemitsus Filmmusik: Atsushi Kobayashi, Nihon eiga-ongaku no kyosei-tachi,


Tokyo 2001, S. 148–193.

7 Nouvelle Vague I – Politik und Eros


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Jihei zu einer Geisha gebracht. Shinoda aktualisiert Chika-
matsus Konzept, in Form des Puppentheaters die Macht des
Schicksals und der Gesellschaft, die Verwirklichung der
Liebe zu verhindern, zu veranschaulichen. Dass die kosten-
reduzierte Produktion der ATG den Vorgang der Dreharbei-
ten oft durchscheinen ließ, begünstigte ihre Tendenz der
Selbstreflexivität, das Filmemachen oder das Filmsein
selbst zu thematisieren.23 Dieser Aspekt erscheint charakte-
ristisch auch in der französischen Nouvelle Vague und ist
ebenso in der japanischen Theatertradition verwurzelt, wie
Shinodas Film veranschaulicht.
Shôhei Imamura (1926–2006) kam nach einem Studium
der Geschichtswissenschaften an der Waseda-Universität
ebenfalls zur Shôchiku. Er verstand sich selbst sofort als
Antipoden zu Yasujirô Ozu, bei dem er anfangs assistierte.
Nach einem Wechsel zu Nikkatsu arbeitete er unter Yûzô
Kawashima. Später gründete Imamura seine eigene Produk-
tionsfirma. Nippon Konchûki (Das Insektenweib, 1963)
erzählt die Geschichte einer Bauerntochter (Sachiko Hidari),
die in Tokyo zur Bordellbesitzerin avanciert. Im Stil des
dokumentarischen Realismus wurde der Film an Original-
schauplätzen und mit O-Ton gedreht. Imamura, der für
seine gründliche Recherche bekannt ist, gab das dörfliche
Leben und das Milieu der Prostitution bis ins Detail unver-
blümt authentisch wieder. Die mobilen Cinemascope-Bil-
der des Nikkatsu-Kameramanns Shinsaku Himeda sind
dicht mit wild agierenden Figuren angefüllt. Niedriger
noch als Yûharu Atsuta bei Ozu situiert Himeda seine­
Kamera in Insektenperspektive, um die Menschenwelt­
mitleidlos von ganz unten zu beobachten. Die Biografie der
Protagonistin wird parallel zur Nachkriegsgeschichte er-
zählt, sodass das offizielle und das inoffizielle Bild des
Landes ironisch miteinander kontrastiert werden.
In Akai Satsui (Verbotene Leidenschaft, 1964, Nik-
katsu) steht eine Hausfrau, Sadako, im Mittelpunkt, die von
ihrem Mann als Objekt der Demütigung behandelt und von

23 Über die Selbstreflexivität des Films: Christian Metz, Die unpersönliche Enunziation
oder der Ort des Films, Münster 1997, S. 69–76.

50 7 Nouvelle Vague I – Politik und Eros


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einem Einbrecher vergewaltigt wird. Die mollige Gestalt
und das runde, kindliche Gesicht der Hauptdarstellerin
Masumi Harukawa füllen das schwarz-weiße Cinemascope,
wobei sich das anfänglich Groteske allmählich zu einer
anrührenden Schönheit wandelt. Es sind die egoistischen,
schwachen Männer, die völlig von ihrer Sinnlichkeit ge-
knechtet sind. Die Protagonistin wohnt an einer Bahnlinie,
die vorbeifahrenden Lokomotiven fungieren als allgegen-
wärtiges audiovisuelles Symbol der Bedrohung und Befrei-
ung zugleich. In einer Traumsequenz fällt ihr runder Leib
schier endlos aus einem Zug in ein dunkles, wildes Meer.
Imamura zielt auf eine Synthese zwischen dem Realisti-
schen und dem Illusionären, um das vitale Bild einer Frau
mit ihrer festen, physischen Daseinsform und ihrer geheim-
nisvollen Psyche herauszukristallisieren.
In seinem Dokumentarfilm Ningen Jôhatsu (Ein Mann
verschwindet, 1967) sucht eine Frau ihren vermissten Ver-
lobten. Im Stil des cinéma vérité greift das Drehteam nach-
haltig in das Geschehen ein. Hier wird eine Fiktion in den
Dokumentarfilm eingebaut, um die Wahrheit zu erschlie-
ßen.24 Imamura drehte seinen ersten Farbfilm Kamigami no
Fukaki Yokubô (Die tiefe Sehnsucht der Götter, 1968)
zwei Jahre lang auf den Inseln Okinawas. Eine mythologi-
sche, primitive Gesellschaft mit unersättlichen Trieben, die
in Harmonie mit der mystischen Natur lebt, wird durch das
Vordringen der Zivilisation zerstört.
Eine ähnlich schillernde Gestalt der Strömung, Kaneto
Shindô (1912–2012), begann seine Karriere bei Kenji Mizo-
guchi als Ausstatter und Drehbuchautor. Schon 1951 grün-
dete er eine unabhängige Produktionsfirma, die jedoch bald
in finanzielle Schwierigkeiten geriet. Hadaka no Shima
(Die nackte Insel, 1960) musste unter sehr reduzierten
Produktionsbedingungen innerhalb eines Monats an einem
Originalschauplatz gedreht werden. Der Film beschreibt
das Leben eines Ehepaars auf einer kleinen Insel in schwarz-
weißem Cinemascope. Bis auf Nobuko Otowa und Taiji To-

24 Tomiko Yokota (Hg.), Imamura Shôhei no eiga. Zen sagyô no kiroku, Tokyo 1971,
S. 152.

7 Nouvelle Vague I – Politik und Eros


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noyama sind alle Darsteller Laien. Kein Wort wird in die-
sem Film gesprochen, wobei der Originalton der Umgebung
allgegenwärtig ist. Eine von Hikaru Hayashi komponierte
Melodie, die sich wiederholt und nur gering variiert, be-
gleitet den Film. Das Ehepaar trägt Wasserfässer einen Berg
hinauf, um ihre trockenen Felder zu bewässern. Diese äu-
ßerst mühsame Arbeit in einer endlos weiten Naturland-
schaft wird aus verschiedenen Blickwinkeln wieder und
wieder gezeigt. So werden wir zu einer meditativen Kon-
templation über die Arbeit und das Leben geführt. Der Film
gewann 1960 den Großen Preis des Internationalen Film-
festivals Moskau und hat in Osteuropa Kultstatus, unter
anderem soll er Béla Tarr beeinflusst haben. Ein weiterer
berühmter Film von Shindô, Onibaba (Onibaba – die Tö-
terinnen, 1964), basiert auf dem Nô-Theaterstück Kuro-
zuka. Wir erleben hier wiederum die rein visuelle Entfal-
tung eines stummen Arbeitsvorgangs. Eine Witwe (Nobuko
Otowa) und ihre Schwiegertochter (Jitsuko Yoshimura) tö-
ten von der Schlacht fliehende Krieger und rauben sie aus.
Als die Schwiegertochter mit einem Nachbarn ein Verhält-
nis beginnt, empfindet die Ältere glühende Eifersucht. Der
säuselnde, wallende Schilfwald und die animalischen
Triebe der menschlichen Körper, zu töten und zu lieben,
kreieren zusammen die vitale, sinnlich erlebte Vision eines
elenden Untergangs der Menschlichkeit.
Der große Einzelgänger der Nouvelle Vague, der ihren
Geist im Sinne von Politik und Eros am radikalsten weiter-
führte, war Kôji Wakamatsu (1936–2012). Er drehte mit
seiner eigenen Produktionsfirma zahlreiche politische
»Pink-Movies« mit geringem Budget. Kabe no Naka no
Himegoto (Geschichten hinter den Wänden, 1965) alle-
gorisiert die soziale Realität Japans in der Phase des wirt-
schaftlichen Wachstums, die sich durch Dekadenz und­
Perversion kennzeichnet. In einem Wohnhaus hat eine
Hausfrau ein Rendezvous mit einem ehemaligen Freiheits-
Aktivist, der nun Geschäfte mit dem Vietnamkrieg macht.
Die Affäre wird von einem jungen Voyeur beobachtet, der
wegen seines Prüfungsdrucks frustriert ist. Wakamatsu und
der Drehbuchautor Masao Adachi provozieren hier ganz

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klar die öffentliche Moral. Okasareta Hakui (Violated
Angels, 1966) erzählt von einer Nacht in einem Schwes-
ternheim, in der eine Frau nach der anderen von einem
Psychopathen ermordet wird. Es wird zum markanten Stil-
mittel von Wakamatsu, mitten im schwarz-weißen Film
Szenen mit grellen Farben einzusetzen, um der Handlung
eine surreale Wendung zu geben. Die extrem frauenfeindli-
che Gewaltanwendung wird mit dem Ödipuskomplex ver-
bunden, um die unlösbaren Konflikte einer unerfüllten
jungen Seele in der zeitgenössischen politischen Situation
des Landes zu versinnbildlichen. In Wakamatsus erstem
ATG-Beitrag Tenshi no Kôkotsu (Ecstasy of the Angels,
1971) steht eine Extremistengruppe im Mittelpunkt, die
Bombenanschläge in Tokyo ausübt. Nach der Aufführung
des Films ereigneten sich tatsächlich Anschläge nach die-
sem Vorbild, was zum Boykott des Films führte. Der Nihi-
lismus nach der Niederlage der Revolte gipfelt in diesem
Werk mit vieldeutigen Dialogen. Die Ekstase des Liebes-
akts wird mit der Explosion von Bomben und dadurch der
Todessehnsucht der Terroristen gleichgestellt. Wakamatsu
brachte revolutionäre Filme hervor, mit denen er die men-
tale und physische Befreiung des Menschen zu verwirkli-
chen trachtete.
Der Dokumentarfilmer Shinsuke Ogawa (1935–1992)
nimmt eine Sonderstellung innerhalb der Nouvelle Vague
ein. Er hatte Politik und Wirtschaft an der Kokugakuin-Uni-
versität studiert und gründete 1966 seine eigene Produkti-
onsfirma, die die politischen Widerstandsbewegungen der
1960er und 1970er Jahre dokumentierte. Mit seinem Team
lebte er vor Ort bei den Aktivisten, um eine Langzeitbeob-
achtung aus der Insider-Perspektive zu ermöglichen. As-
satsu no Mori: Takasaki Keizai Daigaku to Sono Kiroku
(The Oppressed Students, 1967) nimmt eine Führungs-
gruppe der Studentenbewegung an einer Wirtschaftshoch-
schule in den Fokus. Lange, tiefgehende Diskussionen, die
sich um den Sinn des Widerstands und des Lebens zugleich
drehen, werden ausführlich verfolgt. Gezeigt werden der
Enthusiasmus und das Leiden der Aktivisten in einem dra-
matischen Prozess mitten im Konflikt mit der Universitäts-

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verwaltung und mit der schließlich eingeschalteten Staats-
gewalt. Ab 1966 lebte das Filmteam mit den Bauern der
Ortschaft Sanrizuka zusammen, die gegen den Bau des in-
ternationalen Flughafens Narita protestierten. Man befürch-
tete, dass dieser von der US-Armee als Zwischenstation für
den Vietnamkrieg verwendet werden würde. Ohne Mitspra-
cherecht mussten die Bauern ihr Land abgeben. Sanrizuka:
Dai Ni Toride no Hitobito (Die Bauern der Zweiten Fes-
tung, 1972) dokumentiert die schweren Zusammenstöße
der Bauern und Studenten mit der Bereitschaftspolizei.
Masaki Tamura bedient seine Kamera aus der Distanz, um
das große Ausmaß der Protestbewegung in langen, weiten
Einstellungen einzufangen. Er steht aber immer im Mittel-
punkt des Tumults, wenn eine heftige körperliche Ausei-
nandersetzung beginnt. Mit seiner inten­ siven filmischen
Ausdruckskraft formuliert Ogawa einen unnachgiebigen
Willen der Auflehnung gegen die nicht sichtbare, autoritäre
Staatsmacht.25
Als Ogawas Gesinnungsgenosse ist der Dokumentarfil-
mer Noriaki Tsuchimoto (1928–2008) bekannt. Wegen der
Studentenbewegung brach er sein Literaturstudium an der
Waseda-Universität ab. Später setzte er sich intensiv mit
dem Thema der Minamata-Krankheit auseinander. In Mina-
mata – Kanja-san to Sono Sekai (Minamata – The Vic-
tims and Their World, 1971) porträtiert er die Opfer der
katastrophalen Umweltschäden mit seiner berühmten
»transparenten Kamera«, der die gefilmten Personen großes
Vertrauen schenkten. Auch über ihren Kampf um Entschä-
digung wird aus unmittelbarster Nähe berichtet. Äußerst
schockierend wirken die unwürdigen Zustände, die den
Menschen durch die Industrialisierung zugemutet werden,
und die dreiste Durchsetzung der Tabuisierung dieses
Skandals durch die Unternehmen und die Regierung. Tsu-
chimoto führte der Öffentlichkeit die Wahrheit über die
Umweltverschmutzung unbeirrt und unmittelbar vor Au-
gen.

25 Über Shinsuke Ogawas Arbeiten: Shinsuke Ogawa / Sadao Yamane (Hg.), Eiga o toru.
Dokyumentarî no shifuku o motomete, Tokyo 1993.

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8 Nouvelle Vague II – Kunstavantgarde

In der Ära der Nouvelle Vague lässt sich erkennen, dass die
japanische Filmkunst eine besondere Bereicherung durch
Regisseure erfahren hat, die Aspekte aus anderen Kunst-
gattungen in ihre Werke einfließen ließen. An erster Stelle
zu nennen sind hier vor allem der Ikebana-Künstler Hi-
roshi Teshigahara und der Dichter und Theaterregisseur
Shûji Terayama. Auch der Komponist Tôru Takemitsu
spielte eine entscheidende Rolle für die Erneuerung der
Filmakustik. Masaki Kobayashi und Toshio Matsumoto
stammen ursprünglich aus den Bereichen der Kunstge-
schichte und der bildenden Kunst. Seijun Suzuki entwi-
ckelte seinen avantgardistischen Stil in Kooperation mit
dem Filmarchitekten Takeo Kimura. All diese Künstler
trugen maßgeblich zu filmischen und ästhetischen Innova-
tionen bei.
Hiroshi Teshigahara (1927–2001) ist ein Ikebana-Meister
der Sôgetsu-Schule, die von seinem Vater Sôfû gegründet
wurde und für ihren modernistischen Stil bekannt ist. Nach
einem Studium der Malerei arbeitete er für die Regisseure
Keisuke Kinoshita und Fumio Kamei und begann selbst, ex-
perimentale Dokumentarfilme zu drehen. Ebenso war er in
der linkspolitischen Szene und in einer avantgardistischen
Künstlergruppe aktiv. Seine Hauptwerke entstanden in­
Zusammenarbeit mit Tôru Takemitsu. Es handelt sich um
Verfilmungen von Romanen Kôbô Abes. Otoshiana (The
Pitfall, 1962, ATG) ist ein in einem dokumentarischen Stil
gedrehter surrealistischer Kriminalfilm, in dessen Zentrum
eine Bergarbeitergewerkschaft steht. Das abstrakte Sound-
Design, das eindrücklich die Stille miteinbezieht, wirkt zu-
gleich dramatisierend und stark befremdend. Verschiedene
Handlungsebenen werden zeitlich versetzt montiert, sodass
eine merkwürdige Verdopplung der dargestellten Dimen-
sionen entsteht. Aus einer sich real abspielenden Szene
entspringt ein surreales Geschehen anhand von einfachen,
klassischen Tricks wie Doppelbelichtung und Zurückspu-
len des Films. Die jeweils hyperrealistisch dargestellten

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Suna no Onna Welten der Lebendigen
(Die Frau in den Dünen, 1964) und der Toten spalten
von Hiroshi Teshigahara sich in Ton und Bild. Hier
finden eine immense Dy-
namisierung der Fiktion und eine realistische Haptik der
Sinneserfahrung statt: Es ist, als ob der Zuschauer das­
Geschehen in einem halbschlafähnlichen Zustand wahr-
nimmt. In diesem durchlebt er die Geschichte einer kaf-
kaesken Selbstvernichtung der Arbeiterbewegung in einer
scharf konzipierten, bildlichen Logik.
In Suna no Onna (Die Frau in den Dünen, 1964) wird
ein Insektenforscher im Haus einer Frau, das sich in einer
tiefen Sandgrube befindet, gefangen genommen. Eiji Okada,
der zuvor bei Alain Resnais in Hiroshima Mon Amour
(1959) mitgewirkt hatte, und Kyôko Kishida verkörpern in
diesem Film eine spannende Dualität zweier gegensätz­
licher Menschentypen. Takemitsus elektronische Kompo­
sition verbindet sich synästhetisch mit dem mystischen
Kosmos der Mineralien. Eine Totale von Windwellenmus-
tern in der Wüste und die Großaufnahme von verschwitzter
Haut überlappen sich. In der ästhetischen Zusammenstel-

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lung verschiedener Elemente kommt der Gestaltungswille
des Ikebana-Künstlers zum Ausdruck. Auch der Frage des
Seins des Individuums wird nachgegangen, und wie sein
Wesen in einer Welt verortet werden kann, deren sichere
Existenz fraglich erscheint. Teshigaharas weitere Verfilmun-
gen von Kôbô Abe, Tanin no Kao (Das Gesicht des Ande-
ren, 1966) und Moetsukita Chizu (Der Mann ohne Land-
karte, 1968) führen diese bereichernden Experimente zur
filmischen Weltwahrnehmung in vielfältiger Weise weiter.
Auch Masaki Kobayashi (1916–1996) war durch sein
Studium der Kunstgeschichte an der Waseda-Universität
mit der traditionellen Ästhetik vertraut. Nach einer Assis-
tenzzeit bei Keisuke Kinoshita drehte er zunächst eine
Reihe politischer Filme. Der mehrteilige Antikriegsfilm
Ningen no Jôken (Barfuss durch die Hölle, 1959–61) er-
zählt von einem Mann, der in der von Japan kolonialisier-
ten Mandschurei als Verwaltungsbeamter angestellt ist. In
diesem damals längsten Film der Welt (579 Min.) wird der
Prozess seines leidvollen Persönlichkeitswandels vom Pa-
zifisten zum Unmenschen in einem faschistischen Gesell-
schaftssystem geschildert.
Nach diesem Film beginnt Kobayashi mit dem Kamera-
mann Yoshio Miyajima, dem Hauptdarsteller Tatsuya Na­
kadai und dem Komponisten Tôru Takemitsu eine neue
Schaffensphase von ästhetisch betonten Kunstfilmen. Sep-
puku (Harakiri, 1962) berichtet von einem Rônin (Naka-
dai), der eine Fürstenresidenz aufsucht, um dort Harakiri
zu begehen. Durch einen präzis entworfenen Lichtplan
wird der Ablauf eines Spätnachmittags sichtbar gemacht.
Der Hintergrund der Geschichte wird in Rückblenden Stück
für Stück enthüllt. Das zeitlich und räumlich sehr dicht er-
zählte Rachedrama wird kameratechnisch streng stilisiert.
Die symmetrische Bildkomposition und die schwerelos
gleitenden Kamerafahrten bilden die Autorität des Fürsten-
hauses ab. Traditionelle Instrumente und elektronische
Töne werden eingesetzt, um dem Tempo der Kamerafahrten
zu folgen und die dramaturgischen Wendungen zu unter-
streichen. Kobayashi aktualisiert den rebellischen Geist des
Rônin-Genres bis zur äußersten Konsequenz. Wenig später

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veröffentlichte Tadashi Imai den Film Bushidô Zankoku
Monogatari (Bushido – Sie lieben und sie töten, 1963),
der ebenso die Grausamkeit des Samurai-Kodex heraus-
stellt. Er erzählt die immer wiederkehrende absurde Tragö-
die einer Familie, die sich über sechs Generationen hin-
zieht.
Kobayashis weiteres Jidaigeki Kaidan (Kwaidan, 1964)
basiert auf Erzählungen von Lafcadio Hearn, der japanische
Gespenstergeschichten überarbeitete. Der Ausstatter Shige-
masa Toda baute eine Serie von surrealistischen Kulissen,
gefilmt im bunten Eastmancolor-Tôhô-Scope. Der Sound
setzt spärlich und etwas versetzt zum Bildgeschehen ein. Es
geht unter die Haut, wenn eine starke Farbe in warmem
Licht erscheint, ein undefinierbares Geräusch aus dem Off
entspringt und der Kamerablick haltlos in den leeren Räu-
men schwebt. Der Film präsentiert ein breites Repertoire
japanischer Gespensterfilme. Vor allem erinnert er an die
Farbästhetik und die Romantik von Nobuo Nakagawa. Der
erste Akt »Das schwarze Haar« ist mit Kenji Mizoguchis
Ugetsu – Erzählungen unter dem Regenmond und Ka-
neto Shindôs Yabu no Naka no Kuroneko (Kuroneko,
1968) verwandt. Die zauberhafte Szene der Verwandlung
der »Schneefrau« im zweiten Akt wurde später von Akira
Kurosawa in Yume (Akira Kurosawas Dream, 1990) er-
neut aufgegriffen. Die Figuren des dritten Akts »Die Ge-
schichte vom ohrenlosen Hôichi« antizipieren die Furcht
und Mitleid erregende Erscheinung des männlichen Ge-
spensts in Nagisa Ôshimas Im Reich der Leidenschaft. Der
vierte Akt »In einer Schale Tee« nimmt die strategische Un-
vollständigkeit der J-Horrors der 1990er Jahre vorweg, die
den imaginären Schrecken nicht enden lässt.
Kobayashis 200 Minuten langer Film nach einem Roman
von Yasushi Inoue Kaseki (Das Fossil, 1975) hingegen
widmet sich der europäischen Kunstgeschichte. Ein krebs-
kranker Unternehmer (Sô Yamamura) reist durch Europa,
wobei der Tod ihn in der illusionären Gestalt einer Frau
(Keiko Kishi) begleitet. Die Todesgedanken des Protagonis-
ten werden durch Kunstwerke, Architektur und Landschaf-
ten, denen er begegnet, dargestellt. Hier ist ein origineller

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Reisefilm geschaffen worden, der den Zuschauer zu einem
intellektuellen und ekstatischen Vanitas-Diskurs einlädt.
Als sein letztes Werk stellt Kobayashi den 277 Minuten
langen, monumentalen Dokumentarfilm Tôkyô Saiban
(Der Prozess von Tokyo, 1983) zusammen, der eine Fülle
von Filmmaterialien zu den internationalen Gerichtsver-
handlungen über die japanischen Kriegsverbrechen in einer
diskursiven Art zusammenfasst.
Toshio Matsumoto (1932–2017), ein Pionier des japani-
schen Avantgarde-Films, studierte Kunstgeschichte an der
Tokyo-Universität und drehte Dokumentar- und Experi-
mentalfilme. Berühmt wurde er durch seinen abendfüllen-
den, dokumentarischen Avantgarde-Film Bara no Sôretsu
(Funeral Parade of Roses / Pfahl in meinem Fleisch,
1969). Angeregt von Pier Paolo Pasolinis Edipo Re (Edipo
Re – Bett der Gewalt, 1967) erzählt der Film eine umge-
kehrte Variante der Geschichte von Ödipus, in der der Pro-
tagonist seine Mutter tötet und mit seinem Vater schläft. Ein
fiktives Eifersuchtsdrama um die Dragqueen Eddie ver-
mischt sich mit der Realität der Tokyoter Stadtviertel Shin-
juku und den Dreharbeiten des Films selbst. Realität und
Fiktion greifen wie ein Möbiusband ineinander. Der Kame-
ramann Tatsuo Suzuki, der ursprünglich auf Dokumentar-
filme spezialisiert war, filmt die unterschiedlichen Dimen-
sionen vom zart Erotischen bis zum hart Realistischen in
einem kontinuierlichen Bilderfluss. Der Hauptdarsteller,
Peter, der aus einer Familie stammt, die seit Generationen
klassischen japanischen Tanz lehrt, und von Matsumoto
entdeckt wurde, übernimmt später in Akira Kurosawas Ran
(1985) die Rolle des Hofnarren Kyôami. Matsumoto unter-
richtete Filmtheorie und übte mit seiner Filmpraxis großen
Einfluss auf seine Nachfolger aus.
Schon in seiner Schulzeit machte sich Shûji Terayama
(1935–1983) als Poet traditioneller Kurzgedichte, Haiku
und Tanka, einen Namen. Nach dem Abbruch seines Litera-
turstudiums an der Waseda-Universität arbeitete er als viel-
seitiger Medienkünstler. Für bedeutende Autorenfilme wie
Masahiro Shinodas Kawaita Mizuumi (Ausgetrockneter
See, 1960), Susumu Hanis Hatsukoi: Jigokuhen (Das Mäd-

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chen Nanami, 1968) und Yôichi Higashis (geb. 1934) Sâdo
(Third Base, 1979) verfasste er die Drehbücher. 1967 grün-
dete er das Theaterlabor Tenjô Sajiki, das rasant zu inter­
nationalem Ruhm gelangte. In den 1970er Jahren realisierte
er eine Reihe von 16-mm-Experimentalfilmen. Tomato
Kecchappu Kôtei (Kaiser Tomatenketchup, 1971) erkun-
det die Monarchie eines Kindes unter dem Zeichen seines
Lieblingsgewürzes. Der Modefotograf Hajime Sawatari
filmte die Welt der dekadenten Utopie mit einer sich aktiv
bewegenden Handkamera. Der Film besteht aus einer kalei-
doskopischen Collage aus dichterischen Fantasien sowie
Zitaten aus der Literatur und Subkultur. Terayamas spätere
Experimentalfilme zeigen deutlich eine Parallele zur zeitge-
nössischen amerikanischen Avantgarde. In Shinpan (Der
Prozess, 1975) werden überall Nägel eingeschlagen, was
einen Akt der epidemisch sich verbreitenden anarchisti-
schen Bewegung darstellt. Am Ende des Films wird das
Publikum aufgefordert, in die Leinwand Nägel einzuschla-
gen, im Sinne des expanded cinema, das die Realität des
Kinos in die Fiktion einbezieht. In Keshigomu (Radier-
gummi, 1977) wird versucht, die Erinnerungsbilder einer
Frau mit einem Radiergummi zu retuschieren. Dabei wird
das Verfahren des structural film, das Filmmaterial selbst
zu bearbeiten, poetisch angewendet.
Zu Beginn von Terayamas Spielfilmdebüt Sho o Suteyo,
Machi ni Deyô (Werft die Bücher weg und geht auf die
Strasse, 1971) spricht der Protagonist das Publikum direkt
an und fordert es auf, seine Passivität im Kino zu durch-
brechen. Der Film besteht aus der Gedankenwelt eines jun-
gen Menschen, die in einer gigantischen medialen Umge-
bung mit den Gefühlswelten der anderen verschmilzt.
Den’en ni Shisu (Sterben auf dem Land, 1974) basiert auf
dem gleichnamigen Gedichtband von Terayama, der seine
surrealistischen visuellen Imaginationen mit autobiografi-
schem Bezug rezitiert. Ein Regisseur filmt die Geschichte
seiner eigenen Jugend und reist mit dem jüngeren Ich zu-
sammen in die Vergangenheit zurück, um diese zu korrigie-
ren. Terayama zeigt die Kraft der Imagination auf, mit der
man die Wirklichkeit und seine eigene Identität zu fiktio­

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nalisieren und neu zu erschaffen vermag. Kusameikyû
(Das Graslabyrinth, 1979) ist eine spitzfindige, lakoni-
sche Fassung von Sterben auf dem Land, in der die äs-
thetische Bildführung, die musikalische Steigerung und
lyrische Abstraktion zur Perfektion getrieben wird. Sein
letztes Werk ist die Verfilmung von Gabriel García Márquez’
Roman Hundert Jahre Einsamkeit unter dem Titel Saraba
Hakobune (Lebewohl, Arche, 1984), in dem der Schau-
platz von Macondo nach Okinawa verlegt wird. Terayama
führt hier eine dichterische Auseinandersetzung mit dem
Gedächtnis, das allein es ermöglicht, sein ephemeres Da-
sein in der nicht fasslichen Zeit zu verankern.
Seijun Suzuki (1923–2017), der bei Nikkatsu serienweise
»B-Pictures« drehte, gewann eine große Fangemeinde, die
seine innovative, kathartische Filmsprache schätzte. Er ar-
beitete mit dem Ausstatter Takeo Kimura zusammen, um
sein außergewöhnliches Raumkonzept zu verwirklichen.26
Suzukis Inszenierung steht der des Kabuki-Theaters nahe,
in dem jegliche alogische Wendung erlaubt ist. Wie in
der Aufführungstradition des Kabukis entwickelten seine
Filme eine virtuelle Interaktion mit ihrem zeitgenössischen
Publikum, das Filmlieder mitsang und Dialogtexte mit-
sprach. Die Generation der verlorenen Studentenrevolte
identifizierte sich mit der Welt der Antihelden in Seijuns
Filmen.
Tôkyô Nagaremono (Tokyo Drifter – Der Mann aus
Tokio, 1966) wurde als kolorierter Film noir entworfen.
Die Figuren, die jeweils durch eine bestimmte Farbe ihrer
Kostüme charakterisiert sind, werden als sich bewegende,
eingefärbte Bauteile im Cinemascope-Format behandelt.
Kimura baute kitschige, aber voll funktionsfähige Kulissen,
die kuriose Türöffnungen, Fenster, Halbetagen und Fallen
beinhalteten. Bei einer Schießerei in einem Büro beispiels-
weise bewegen sich alle beteiligten Personen in einer chao-
tischen Ordnung, während die Bauten umorganisiert wer-
den. Ein Büro mit byzantinischer Wandmalerei verwandelt

26 Über Kimuras Arbeiten: Takeo Kimura / Kunihiko Arakawa (Hg.), Eiga Bijutsu. Gikei,
Shakkei, Usohyakkei, Tokyo 2004.

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sich in einen Steingarten, dessen Wand sich auf einmal rot
färbt. Die Szenen werden äußerst frei geschnitten. Nach ei-
nem Schuss tastet eine Hand in einer Großaufnahme nach
einer Sonnenbrille auf dem Boden. In einer Totale schließt
sich eine Tür von allein. Von oben wird schließlich gezeigt,
wer von der Kugel getroffen wurde. In einer solcherart kom-
plex aufgebauten Szene wird das Geschehen auch als sich
wandelndes räumliches Phänomen dargestellt. Der Film ist
dazu noch als eine Art Musical inszeniert, sodass auch der
akustische Raum nicht logisch konstruiert ist. So kann man
etwa Musik hören, die gar nicht zu dem aktuellen Ort ge-
hört und gehören kann. Ein Nachtclub in der letzten Szene
wird durch seine farbige Beleuchtung und die verschieb-
bare Einrichtung ständig umgeformt, in der sich schließlich
eine irreale Actionszene entfaltet. Das Ganze geschieht aus-
schließlich zur spielerischen Sinnesfreude. Seijun zerstörte
die beständige Raumlogik des Films, um den Geist des Zu-
schauers vom Zwang der Wahrnehmungskonvention zu
befreien.
Kenka Erejî (Lied der Gewalt, 1966) erzählt die Ge-
schichte eines Schülers namens Kiroku in den 1930er Jah-
ren, der leidenschaftlich in Michiko verliebt ist, die Tochter
der Familie, bei der er zur Untermiete wohnt. Um das phy-
sische Verlangen zu ihr zu kompensieren, beteiligt er sich
ständig an Schlägereien. Durch einen Wandschrank (!) er-
reicht er direkt den Kampfort. Als Kiroku sich dem Mäd-
chen nahe fühlt, als es in der unteren Etage Klavier spielt,
erscheinen beide in einem Bild nebeneinander. In dem
Haus sind die Dimensionen verzerrt, um die Verwirrungen
der großen pubertären Liebe herauszuarbeiten. Kaneto
Shindô, der das Drehbuch dieses Films schrieb, war verant-
wortlich für die Darstellung des für diese Zeit so typischen
politischen Erwachens Kirokus.
Koroshi no Rakuin (Branded to Kill, 1967) ist ein ero-
tischer Film noir. Kazue Nagatsukas Kamera schafft mini-
mal ausgeleuchtete, fein komponierte Schwarz-Weiß-Bilder
in langsamen, fließenden Schwenks. Die Kulissen gestalten
ein komplexes Labyrinth von Schatten. Ein Killer wird dar-
gestellt, der den Duft von kochendem Reis zum Fetisch er-

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hebt. Wasser und Feuer sind dementsprechend die Haupt-
elemente des Films. Eine mysteriöse Auftraggeberin
erscheint im Regen und wird wie Jeanne d’Arc mit Feuer
gefoltert. Ein Schmetterling stört die Arbeit des Killers, in-
dem er im Visier von dessen Gewehr erscheint. Mit einem
Werbeballon flüchtet der Mörder vom Tatort. Alle Gescheh-
nisse neigen zum Absurden und werden noch durch Ani-
mation, Negativfilme und Film im Film erweitert. Dadurch
schwankt der Film unablässig zwischen dem Nihilistischen
und dem Komischen. Dieses »Fest für Augen und Sinne«
brachte dem Regisseur die Entlassung von der Firma Nik-
katsu ein. Der Film sei zu unverständlich für das normale
Publikum. Allerdings fanden große Protestaktionen gegen
diese Entlassung statt.
Die japanische Nouvelle Vague war insgesamt eine äu-
ßerst breite, vielfältige Bewegung. Ein definitives Ende ist
schwer zu bestimmen, da die meisten Regisseure in ihrer
langen Schaffenszeit ihre Konzepte weiterentwickelten.

9 Entwicklung des Unterhaltungsfilms und


neue Autoren der 1970er Jahre

Parallel zur Blütezeit der Nouvelle Vague setzte sich die


Genrevielfalt im Unterhaltungskino in den Bereichen von
Yakuza-, Kriminal- und Erotikfilmen fort, die für das Über-
leben der Produktionsfirmen im Zeitalter des Fernsehens
entwickelt wurden. In diesem Kontext entstanden viele
Werke, die von namhaften Künstlern geschaffen wurden.
Ihr weitreichender Einfluss hatte bereits die Filme der Nou-
velle Vague erreicht. Es handelt sich um ein professionelles
Entertainment von hohem Niveau, das ein Massenpubli-
kum faszinierte. In dieser populären Kinokultur nahm eine
neue Generation des Autorenfilms ihren Anfang.
Das Genre des Ninkyô- oder Yakuza-Films behandelt ein
historisches oder modernes kriminelles Milieu, in dem
strikte Regeln für Gerechtigkeit und Loyalität herrschen.

9 Unterhaltungsfilm und neue Autoren der 1970er Jahre


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Nikkatsu bot moderne Gangsterfilme mit jungen Schauspie-
lern wie die von Seijun Suzuki an. Daiei startete die Jidai-
geki-Serie Zatôichi (1962–1989, Regie: Kenji Misumi u. a.)
mit Shintarô Katsu als blindem Masseur, Würfelspieler und
Killer in einer Person. Tôei (gegründet 1938) lieferte vielfäl-
tige Ninkyô-Programme. Ken Takakura, der einen tätowier-
ten, hartgesottenen Yakuza in Shôwa Zankyôden: Kara-
jishi Botan (1966, Regie: Kiyoshi Saeki) verkörperte, wurde
zum Idol seiner Zeit. Nicht nur die Studenten auf den Bar-
rikaden sangen das Titellied, sondern auch der Rechtsextre-
mist Yukio Mishima und seine Anhänger auf dem Weg zu
ihrer Selbsthinrichtung. Auch Nagisa Ôshima und Shûji
Terayama zitierten es in ihren Filmen.
Sadao Yamanakas Neffe, Tai Katô (1916–1985), drehte
drei besonders erfolgreiche Folgen der Serie Hibotan Ba-
kuto (Red Peony Gambler, 1968–1972) mit Junko Fuji.
Dieser Meisterregisseur des ästhetischen Jidaigeki, der für
seine extremen Großaufnahmen und Froschperspektiven
bekannt ist, bringt die avantgardistisch komponierten, farb-
kräftigen Bilder im Format des Cinemascope zu eindrucks-
voller Wirkung. In der Serie, die in einer nostalgischen
Kulisse der Meiji-Zeit spielt, haben weitere Ninkyô-Stars
wie Ken Takakura, Bunta Sugawara und Tomisaburô Wa-
kayama Gastauftritte als Bewunderer der Hauptdarstellerin,
die scheinbar mühelos im Kimono kämpft und dabei immer
unversehrt bleibt. Sowohl die Handlung als auch die In-
szenierung ist surreal und alogisch und versteht sich als
reines Vergnügen an der Stilschönheit des Genres. Die Se-
rien Joshû Sasori (1972–1974, Regie: Shunya Itô) und
Shurayuki-hime (1973, 1974, Regie: Toshiya Fujita) mit
Meiko Kaji sind konzeptuell von Yakuza-Serien abgeleitet.
Auch die volkstümliche Komödienserie Otoko wa Tsurai
yo (It’s Tough Being a Man, 1969–1997) mit Kiyoshi At-
sumi soll als Parodie des Außenseiter-Genres entstanden
sein. Der Regisseur Yôji Yamada (geb. 1931) variiert auch
die beliebte Serie des Gefängnisausbruch-Genres Abashiri
Bangaichi (Abashiri Prison, 1965–1967, Regie: Teruo Ishii
u. a.) mit Ken Takakura als Melodram Shiawase no Kiiroi
Hankachi (The Yellow Handkerchief, 1977). Schließlich

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entwickelt sich das Yakuza-Genre hin zu realistischen Ge-
waltfilmserien wie beispielsweise Jingi Naki Tatakai
(Battles Without Honor and Humanity, 1973–1976)
von Kinji Fukasaku (1930–2003).
Anstelle historischer Filme wurden immer mehr moderne
Dramen nach populären Kriminalromanen als aufwendige
Produktionen mit Starbesetzungen realisiert. Tomu Uchida,
der seit der Periode des Tendenzfilms sozialkritische
Filme und auch die erfolgreiche Jidaigeki-Serie Miyamoto
Musashi (1961–1965) geschaffen hatte, veröffentlicht das
183 Minuten lange monumentale Werk Kiga Kaikyô (A
Fugitive From the Past, 1965, nach Tsutomu Mizugami).
Im Zentrum des schwermütigen Kriminalfilms steht ein
Wohltäter, den Rentarô Mikuni eindrucksvoll verkörpert.
Durch ein (sich tatsächlich 1954 ereignetes) Schiffsunglück
konnte er seine düstere Vergangenheit verschleiern, die
durch eine flüchtige Bekanntschaft jedoch zutage tritt.
Durch die Umformatierung des Filmmaterials von 16 mm
auf 35 mm wird eine harte Textur des schwarz-weißen Ci-
nemascope-Bildes erzeugt, um den trostlosen Hintergrund
der in den Nachkriegsjahren spielenden Geschichte zu il-
lustrieren. Die an Sutren erinnernde Musik von Isao Tomita
vibriert mit den dunklen Wogen der Meerenge, an der sich
das Schicksal der handelnden Personen entscheidet.
Vergleichbar mit diesem Meisterwerk ist Suna no Utsu­
wa (The Castle of Sand, 1974, nach Seichô Matsumoto)
von Yoshitarô Nomura (1919–2005), der auf ergreifende Art
von der Tragödie eines leprakranken Mannes (Yoshi Katô)
und seines Sohns erzählt. Der langwierige Prozess der Er-
mittlungen in einem Mordfall und dessen uneindeutig er-
scheinender Hintergrund werden parallel dargestellt. Am
Ende fließt die filmische Gegenwart dramatisch in die Ge-
fühlswelt des Vaters und des Sohns ein. Akira Kurosawas
Drehbuchautor Shinobu Hashimoto sorgte für die unge-
wöhnliche Handlungskonstruktion. Yasushi Akutagawa
komponierte eine pathetische Klaviersuite, die der Protago-
nist (Gô Katô) spielt. Takashi Kawamata, der bei Ozu und
Ôshima die Kamera bediente, schuf die Landschaftsbilder,
die die emotionale Stimmung des Films prägen.

9 Unterhaltungsfilm und neue Autoren der 1970er Jahre


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Sehr populär war auch Kimi yo Fundo no Kawa o Wa-
tare (Notwehr, 1976) von Junya Satô (1932–2019). Ken
Takakura spielte hier einen unschuldigen Mann, der plötz-
lich als Verbrecher gesucht wird. Der realistisch gehaltene,
romantische Actionfilm im bunten Cinemascope überrascht
mit drastischen, irrealen Szenenentfaltungen sowohl in der
Natur als auch mitten in der Stadt. Dieser Film, der 1979
in China als erster ausländischer Film nach der Kultur­
revolution lief, erlangte dort einen eigentümlichen Kult-
status. Auch Shôhei Imamuras dekadenter Kriminalfilm
Fukushû Suru wa Ware ni Ari (Vengeance is Mine, 1979,
nach Ryûzô Saki) war so erfolgreich, dass er die finanziel-
len Probleme löste, die Imamura wegen der hohen Produk-
tionskosten seiner vorangegangenen Filme hatte. Der Film
veranschaulicht das dämonische Innenleben eines kom-
plex charakterisierten Serienkillers (Ken Ogata) durch dicht
und bunt gestaltete, spannungsgeladene Bilder. Auch die
bereits erwähnten Kriminalfilme von Akira Kurosawa und
Kon Ichikawa stehen im Kontext zur Entwicklung dieses
Genres.
Die Produktionsfirmen wollten das Suspense-Genre
noch durch landesspezifische, sensationelle Katastrophen-
filme im Cinemascope-Format nach amerikanischem­
Modell ausbauen. Nippon Chinbotsu (Der Untergang­
Japans, 1975, nach Sakyô Komatsu) von Shirô Moritani
(1931–1984) zeigt, wie Japan durch Erdbeben und Vulkan-
ausbrüche zerstört wird und am Ende vollständig im Meer
versinkt. Wissenschaftliche Erklärungen, politische Ent-
scheidungen und Szenen der Zerstörung wirken äußerst
präzise und überzeugend. In Shinkansen Daibakuha (Pa-
nik im Tokyo-Express, 1975) von Junya Satô hält der Zu-
schauer den Atem an, als ein Erpresser in einem Hochge-
schwindigkeitszug eine Bombe deponiert, die explodieren
soll, sobald der Zug langsamer als 80 km/h fährt. Spannend
werden die verschiedenen Standpunkte der Menschen ver-
netzt, die an der Aufklärung des Falls und der Entschär-
fung der Bombe arbeiten. Die Täter charakterisieren sich als
Verlierer in einer Gesellschaft im wirtschaftlichen Auf-
­
schwung, was dem Actionfilm emotionale Tiefe verleiht.

66 9 Unterhaltungsfilm und neue Autoren der 1970er Jahre


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Kôtei no Inai Hachigatsu (August Without the Empe-
ror, 1978, nach Kyûzô Kobayashi) von Satsuo Yamamoto
(1910–1983) kombiniert eine Zugkatastrophe mit einem
Militärputsch in einer dynamischen und klaren Bildper-
spektive. Die Haupthandlung erzählt eine politische Nach-
kriegsgeschichte, um die herum sich diverse Dramen ran-
ken.
Von 1971 bis 1988 nahm Nikkatsu den »romantischen
Erotikfilm« (roman porno) in ihr Programm auf. Er bot
Nachwuchsregisseuren die Chance, mit einer relativ guten
Ausrüstung Filme zu drehen, und so entstanden in diesem
Zusammenhang eine Reihe von bemerkenswerten Werken.
Hachigatsu no Nureta Suna (Wet Sand in August, 1971)
von Toshiya Fujita (1932–1997) stellt die nihilistische Vi-
sion einer Teenager-Gruppe dar. Ihre unruhigen Triebe be-
stimmen ihre sinnlosen Taten. Die Kamera agiert leicht und
frei in einer weiten Meereslandschaft, die die Leere ihres
Inneren zum Ausdruck bringt. Mit der dominanten Farbe
Rot, die auch in dem berühmten Titellied impliziert ist,­
ertönt der Film als melancholisches Echo auf Pierrot le
Fou. In Seishun no Satetsu (Bitterness of Youth, 1974,
nach Tatsuzô Ishikawa) visualisiert Tatsumi Kumashiro
(1927–1995) hingegen die geistlose Welt nach der Studen-
tenbewegung durch eine Fülle dokumentarischer Alltags-
bilder. In langen Einstellungen verfolgt der Kameramann
Shinsaku Himeda die inneren Schwankungen eines Jura-
studenten zwischen glühender Begierde und nüchternem
Ehrgeiz.
Kazuhiko Hasegawa (geb. 1946), der Drehbücher für Fu-
jita und Kumashiro schrieb, hatte mit Seishun no Satsu-
jinsha (The Youth Killer, 1975) sein Regiedebüt bei der
Imamura Production und ATG. Diese bemerkenswerte
Kenji-Nakagami-Verfilmung erzählt von einem Elternmord.
Takeo Kimura konstruierte einige simpel anmutende Kulis-
sen, die allerdings durch kaum merkliche Perspektivwech-
sel der Kamera von Tatsuo Suzuki endlose Verwandlungen
als Orte der Verbrechen erfahren. Ein exzentrisch vorgetra-
genes Kammertheaterspiel wird nahtlos mit dokumenta­
rischen Außenaufnahmen verbunden. Hasegawa zeigt hier

9 Unterhaltungsfilm und neue Autoren der 1970er Jahre


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eine realistische Vision der Orientierungslosigkeit seiner
zeitgenössischen jungen Menschen. Taiyô o Nusunda
Otoko (The Man Who Stole The Sun, 1979), ebenfalls
von Hasegawa, stellt einen Höhepunkt der Entwicklung des
Autoren- und Unterhaltungsfilms in den 1970er Jahren dar.
Ein Chemielehrer (Kenji Sawada) baut eine Atombombe und
bedroht die Regierung mit seiner Forderung, ein Konzert
der Rolling Stones zu veranstalten. Der scheinbar unpoliti-
sche Film wirkt radikal politisch durch seine ultimative
Anarchie. Der 147 Minuten lange, breite VistaVision-Film
(Seitenverhältnis von 1,96 : 1) realisiert außergewöhnliche
Ideen des Regisseurs für aberwitzige Action-Szenen und
realistische Paniksituationen, die dokumentarisch an Ori-
ginalschauplätzen mit Menschenmassen gedreht wurden.
Der Film wurde zu einem Meilenstein für die Autorenfilme
der nächsten Generation. Shinji Sômai, Kiyoshi Kurosawa
und Tatsuya Mori waren bei diesem Werk unter den Mitar-
beitern von Hasegawa.

10 Spätwerke der Meisterregisseure

In den 1980er Jahren erregten japanische Filme wieder Auf-


sehen auf den internationalen Filmfestspielen. Es handelte
sich vor allem um die Spätwerke der Meisterregisseure, die
ihre neuen Stilrichtungen präsentierten. Im Folgenden
wird auf ihre letzten Schaffensphasen eingegangen, in de-
nen sie sich vor allem dafür engagierten, den ästhetischen
Traditionen nachzugehen und ihre Antikriegsbotschaften
zu verkünden.
Akira Kurosawa konnte seine äußerst aufwendigen Spät-
werke nur durch ausländische Finanzierung realisieren.
Kagemusha (Kagemusha – Der Schatten des Kriegers,
1980) entstand durch die Unterstützung von George Lucas
und Francis Ford Coppola. Das im 16. Jahrhundert angesie-
delte Jidaigeki erzählt die Geschichte eines Mannes, der die
Rolle des Doppelgängers des verstorbenen Fürsten Shingen

68 10 Spätwerke der Meisterregisseure


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Takeda annimmt. Tatsuya Nakadai übernahm diese Doppel-
rolle. Kurosawa komprimiert die Darstellungstechnik und
die Themen seiner früheren Jidaigeki in diesem mit VistaVi-
sion gedrehten Farbfilm. Das Format, das als Negativ dop-
pelt so groß wie der Standardfilm ist, ermöglichte eine hohe
Qualität und Intensität der Bilder. Die Szenen in den Innen-
räumen wirken durch lange Einstellungen mit statischer
Kamera wie eine Nô-Aufführung, während die Außen-
räume wie historische Panorama-Gemälde mit vielfältigen
Bewegungen von Menschenmengen inszeniert werden. Die
historischen Personen sind markant und attraktiv von der
äußeren, modischen Erscheinung bis ins Detail ihrer feinen
Gemütsbewegungen charakterisiert. Eine Masse an Indivi-
duen stirbt sinnentleert für die Würde eines toten Fürsten.
Die innere Spaltung des Doppelgängers und die Sinnlosig-
keit des Machtkampfs kulminieren in einer gigantischen
Monumentalität der Bilder und im düsteren Pathos des Re-
quiems von Tôru Takemitsu.
Der Film Kagemusha gewann die Goldene Palme in
Cannes, indes heißt es, er sei nur eine Fingerübung für Ran
(1985), den nächsten Film Kurosawas, gewesen. In diesem
ist die Qualität der VistaVision perfektioniert, durch die
komprimierten, streng komponierten Bilder wird eine klare
Tiefenschärfe und harmonische Farbgebung erreicht. Diese
Nô-Theater-Version von King Lear spielt überwiegend im
Freien, wo der dem Wahn anheimgefallene Fürst Hidetora
(Tatsuya Nakadai) durch die Gegend irrt. Die weit entfernt
von den Figuren positionierte Kamera mit Zoomobjektiv
erreicht auf diese Weise eine Abstraktheit der Distanz ver-
gleichbar der Situation bei der Vogelbeobachtung. Dieses
Verfahren hat eine deutliche Parallele zur Theorie des Nô-
Meisters Zeami, nach der der Schauspieler sich selbst aus
der Ferne betrachten und steuern soll (riken no ken), um
eine Aura der Mystik (yûgen) auszustrahlen.27 Die Tele­
objektiv-Aufnahme erlaubt uns nicht, die Schlüsselfigur

27 Zum Begriff »riken no ken«: Motokiyo Zeami, »Kakyô« und »Kyûi«, in: Nihon shisô
taikei, hg. von Akira Omote / Shûichi Katô, Tokyo 1974, S. 83–109, bes. S. 88, und
S. 173–182, bes. S. 174.

10 Spätwerke der Meisterregisseure


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Tsurumaru (gespielt vom heutigen Kyôgen-Meister Mansai
Nomura) aus der Nähe zu betrachten. Dieser junge Mann,
den Hidetora früher aus Machtgier blenden ließ, begegnet
ihm nun wieder in Gestalt eines furchteinflößenden Heili-
gen. Der religiöse Unterton lässt diesen Film apokalyptisch
und ohne jeglichen Hoffnungsschimmer erscheinen.
Als Kompensation bietet Kurosawa den Fantasiefilm
Akira Kurosawas Träume an, zu dem er sich von Sôseki
Natsumes Erzählung Yume Jûya (Träume aus zehn Näch-
ten) und seinen eigenen Träumen inspirieren ließ. Zugleich
ist dieser Film eine künstlerische Reflexion über traditio-
nelle und moderne innere Visionen der Menschen Japans.
An diesem mit Steven Spielbergs Unterstützung realisier-
ten Werk beteiligten sich der Godzilla-Regisseur Ishirô
Honda und George Lucas’ Team ILM im Bereich der Visual
Effects. Des Weiteren drehte Kurosawa noch den Anti-
Atomkriegs-Film Hachigatsu no Rapusodî (Rhapsodie im
August, 1991) und eine Hommage an den Schriftsteller
und Germanisten Hyakken Uchida, Mâdadayo (Mada-
dayo, 1993). Seine unerschöpfliche, expressive Bildfanta-
sie und seine unermüdlichen künstlerischen Erkundungen
gehören heute zum Erbe des Weltkinos.
Anfang der 1980er Jahre begann schließlich die Ära von
Seijun Suzuki mit seiner »Trilogie der Taishô-Romantik«.
Der erste Film Tsigoineruwaizen (Zigeunerweisen, 1980)
wurde von der unabhängigen Produktionsfirma Cinema
Placet und ATG finanziert und in einem Zelt unter dem
Tokyo Tower aufgeführt. Basierend auf einer Kurzerzählung
von Hyakken Uchida erzählt er eine unheimliche Ge-
schichte, die auf sinnlichen und übersinnlichen Wahrneh-
mungen wie von Geschmacks- und Tastsinn, akustischen
Halluzinationen, Träumen und Gespenstererscheinungen
beruht. Takeo Kimura baut kein Studioset mehr auf, son-
dern arrangiert vorhandene Innen- und Außenräume als
trickreiche Kulissen, in denen eine dichte Kunstwelt in äs-
thetischer Perfektion herrscht. Der Filmregisseur Toshiya
Fujita und der Schauspieler Yoshio Harada repräsentieren
geheimnisvolle, gegensätzliche Wissenschaftler-Tempera-
mente. Die für Suzuki typische Unschlüssigkeit der Räume

70 10 Spätwerke der Meisterregisseure


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wirkt nicht mehr alogisch, sondern Tsigoineruwaizen
eher natürlich, da die Grenze zwi- (Zigeunerweisen, 1980)
schen Diesseits und Jenseits aufgeho- von Seijun Suzuki
ben wird, genauso wie es im Kabuki-
und Nô-Theater geschieht. Mit diesem Film gewann Suzuki
eine »Lobende Erwähnung« auf der Berlinale 1981. Der
zweite Film der Trilogie Kagerô-za (1981) basiert auf eini-
gen Erzählungen des »japanischen Hoffmanns«, Kyôka
Izumi. Ein Dramatiker (Yûsaku Matsuda) verliebt sich in
die Ehefrau (Michiyo Ôkusu) seines Mäzens. Wie in Bran-
ded to Kill stellt der Film eine Liebesgeschichte dar, die
sich als bodenlose Falle entpuppt. Räume erweisen sich auf
radikale Weise als falsch verbunden, um die innere Distanz
zwischen den Liebenden beliebig auszudehnen oder zu
überwinden. Der Raum, den die Filmheldin bewohnt, ge-
staltet sich als ein ästhetischer Mikrokosmos wie die Welt
von Kyôka, der beispielsweise die Schönheit eines Kimo-
nos in einer manischen Detailbesessenheit beschreibt. Beim
Wechsel von Schuss- und Gegenschuss der Figuren ändern
sich die Farben des Hintergrunds, was an Kôzaburô Yoshi-
mura und Alain Resnais erinnert. Jede Szenenentwicklung

10 Spätwerke der Meisterregisseure


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ist überraschend avantgardistisch, sodass man sich wehrlos
in diese hineingeworfen fühlt. Der Protagonist gerät in den
Traum der Liebe seiner Theaterwelt, die nur imaginär und
flüchtig existiert. Der letzte Film der Trilogie Yumeji (1991)
erzählt die Geschichte des Malers Yumeji Takeshita (Kenji
Sawada), wodurch die Verbindung von Seijuns Bildkon-
zept mit der Malerei erklärt wird. In der Bezugnahme von
Yumejis Stil zum europäischen Ästhetizismus, wie er von
Gustav Klimt und Aubrey Beardsley veranschaulicht wird,
offenbart der Regisseur seine Sympathie für den liberalen
Geist der europäischen Moderne und der Taishô-Zeit.
Als letztes Werk drehte Seijun Operetta Tanuki ­Goten
(Princess Raccoon, 2005), das auf eine beliebte Serie von
Operetten-Jidaigeki (1939–1961, von Keigo Kimura u. a.)
zurückgreift. Zhang Ziyi verkörpert Prinzessin Raccoon
(Marderhund), die sich in einen menschlichen Prinzen ver-
liebt. Takeo Kimura bearbeitete Bilder der Azuchi-Momo­
yama-Zeit (1573–1603) mit Computergrafik, um eine mit
Gold überzogene dekorative Naturstudie von Kôrin Ogata
und einen transparenten Kiefernwald aus Tusche von­
Tôhaku Hasegawa als zweidimensionale Kulissen zu ver­
wenden. Die Protagonisten agieren wie Zeichentrickfiguren
grenzenlos und Dimensionen überschreitend. Der Film
zeigt, dass Seijuns Kunst im Zeitalter der Postkinematogra-
fie nahtlos fortgeführt werden konnte und seiner Zeit weit
voraus war. Heute gilt er als Legende der Filmgeschichte
und hat Verehrer in allen Teilen der Welt, wie beispiels-
weise Jim Jarmusch, Wong Kar-wai, Quentin Tarantino,
John Woo und Damien Chazelle.
Hiroshi Teshigahara, der sich wegen seiner Tätigkeit als
Ikebana-Meister von der Filmproduktion zurückgezogen
hatte, kommt nun mit Filmen zum Thema traditionelle
Künste zurück. Seine Spätwerke Rikyû (Rikyu – Der Tee-
meister, 1989) und Gôhime (Seide und Schwert, 1992)
thematisieren das Leben der Teemeister der Azuchi-Momo­
yama-Ära, Sen no Rikyû und Oribe Furuta. Auch in einer
Schrift führt Teshigahara einen Diskurs über die Verwandt-
schaft zwischen Film und Teezeremonie als Prozeduren ei-
ner zeitlich sich entfaltenden Kunst, was seine individuelle

72 10 Spätwerke der Meisterregisseure


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Filmästhetik theoretisch erhellt.28 Ebenfalls zeitgleich zum
Todestag von Rikyû drehte Kei Kumai (1930–2007) Sen no
Rikyû Honkakubô Ibun (Der Tod eines Teemeisters,
1989), der auf einem Roman von Yasushi Inoue basierend
die Rebellion des Künstlers gegen die Tyrannei des Feudal-
fürsten Hideyoshi Toyotomi in einer komplexen Zeitstruk-
tur erzählt. Takeo Kimura rekonstruiert hier die legendären
Teehäuser, während der Ikebana-Meister Toshirô Kawase
Rikyûs Blumenarrangements imaginativ nachbildet. Auch
dieser Gewinner des Silbernen Löwen in Venedig zeigt die
Intention, den aufrührerischen Geist der früheren Kunst-
epochen und deren avantgardistische Ästhetik in die Film-
kunst zu transformieren, wie wir es schon bei Teshigahara,
Suzuki und Kurosawa gesehen haben.
Nach der Niederschlagung der Studentenbewegung hatte
sich die Ogawa-Produktion in ein kleines Dorf in der Yama-
gata-Präfektur zurückgezogen, um sich mit dem Reisanbau
zu beschäftigen. Als Ergebnis daraus entstanden die Doku-
mentarfilme Nippon-koku Furuyashiki-mura (Das Dörf-
chen Furuyashiki, 1982) und Sennen Kizami no Hidokei.
Magino-mura Monogatari (Geschichten aus dem Dorf
Magino, 1987). In diesen beiden über drei Stunden langen
Filmen wird der Prozess des Reisanbaus wissenschaftlich
erläutert. Mikroaufnahmen und Zeitraffertechnik wurden
angewendet, um das Leben und die Zeitlichkeit der Pflan-
zen sichtbar zu machen. In langen, statischen Einstellungen
erzählen die Bauern von ihrer Erlebniswelt mit der ihnen
eigenen, lebendigen Erzählkunst. Sie spielen einen Bauern-
aufstand der Bewohner des Dorfes im Stil eines Historien-
films nach. Auf diese Weise übertrug der Dokumentarist die
Revolte in die Landwirtschaft, welche hier eine friedliche
Symbiose der Menschen mit der Natur verwirklicht.
In seinen Spätwerken setzte Nagisa Ôshima seinen Dis-
kurs zu Politik und Eros im Machtverhältnis der Männer-

28 Hiroshi Teshigahara, Watashi no sadō hakken. Nihon no bi no genten towa, Tokyo


1991. Zu diesem Thema: Kayo Adachi-Rabe, »Die Ästhetik der Unvollkommenheit im
Teeweg und im Film«, in: Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung, Nr. 8, 2016,
S. 41–66. http://www.rabbiteye.de/2016/8/adachi-rabe_teeweg.pdf (letzter Zugriff:
15.2.2021).

10 Spätwerke der Meisterregisseure


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welt fort. Senjô no Merî Kurisumasu (Furyo – Merry
Christmas, Mr. Lawrence, 1983) spielt in einem japani-
schen Kriegsgefangenenlager auf Java im Jahr 1942. David
Bowie spielte die Rolle eines britischen Gefangenen, der
durch seine charismatische Persönlichkeit den von Ryûichi
Sakamoto verkörperten japanischen Hauptmann emotional
überwältigt. Für diesen Film komponierte Sakamoto seine
erste Filmmusik. Als letztes Werk filmte Ôshima das Jidai-
geki Gohatto (Tabu, 1999) über die Samurai-Miliz Shin-
sen-gumi, die in der Endphase der Tokugawa-Ära für das
Weiterbestehen des Shôgunats kämpfte. In der blutrünsti-
gen Killergruppe entsteht eine verhängnisvolle Dreiecks-
beziehung. In beiden Filmen wird die politische und se-
xuelle Unfreiheit der Menschen in der Gesellschaft explizit
dargelegt. Als ein unermüdlicher, provokanter Diskutant
der politischen Realität des Landes ist Ôshima bis heute
unersetzt geblieben.
Für Narayama Bushikô (Die Ballade von Narayama,
1983) und Unagi (Der Aal, 1997) wurde Shôhei Imamura
zwei Mal mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Im Ge-
gensatz zu Die Ballade von Narayama, Keisuke Kinoshi-
tas Erstverfilmung des gleichen Stoffs, stellt Imamura die
grausame Geschichte der Verbannung der alten Menschen
aus ihrer Gemeinschaft in hartem Realismus dar. Durch die
sexuellen Konnotationen betont er, dass es auch um die
Aufrechterhaltung des Lebenszyklus und stetigen Werdens
geht. Gerade dadurch tritt die Kaltherzigkeit dieser Legende
vielschichtiger zutage.
Der Aal wiederum thematisiert das Thema der Trieb-
haftigkeit des menschlichen Tuns und dessen Überwin-
dung. Kuroi Ame (Schwarzer Regen, 1989, nach Masuji
Ibuse) ist als ein orthodoxer Schwarz-Weiß-Film im Stil von
Yasujirô Ozu gedreht, in dem Imamura aufzeigt, wie grau-
sam es ist, nach dem Atombomben-Abwurf auf Hiroshima
von der Heirat der Tochter zu sprechen. Der in greller Farbe
gedrehte, für die Kinoversion jedoch gestrichene zweite
Teil des Films zeigt, dass die verstrahlte Hauptfigur (Yos-
hiko Tanaka), ebenso emanzipiert charak­terisiert wie Ima-
muras andere Filmheldinnen, bis in die 1970er Jahre hinein

74 10 Spätwerke der Meisterregisseure


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überlebt. In seinem letzten, kurzen Beitrag im Omnibusfilm
11′09′′01 – September 11 (2002, Episode: Japan) steht ein
Mann im Mittelpunkt, der ebenso wie der Verlobte der Pro-
tagonistin in Schwarzer Regen psychisch krank ist, um
eine resolute Antikriegsbotschaft abzugeben.
Der aus Hiroshima stammende Regisseur Kaneto Shindô
produzierte wiederholt den Atombomben-Abwurf themati-
sierende Antikriegsfilme wie Genbaku no ko (Die Kinder
von Hiroshima, 1952) und Sakura-tai Chiru (Sakuratai
8.6, 1988). Sein letzter Film Ichimai no Hagaki (Postcard,
2011) basiert auf seiner eigenen Kriegserfahrung, die er mit
seiner uneingeschränkten Affirmation des Lebens, die er in
Die nackte Insel offenbarte, in Zusammenhang bringt.
Konsequent setzte sich Kôji Wakamatsu in seiner weite-
ren Arbeit mit den Problemen des Körpers und des Geistes
des Menschen auseinander. Als Produzent unterstützte er
künstlerische Erotikfilme wie Nagisa Ôshimas Im Reich der
Sinne und Tatsumi Kumashiros Akai Kami no Onna (The
Woman with Red Hair, 1979). In Mizu no Nai Pûru (A
Pool Without Water, 1982) porträtiert er einen Bahnhofs-
angestellten (Yûya Uchida), der ein typisches transparentes
Dasein in der wachsenden Massengesellschaft führt und
versucht, auf exzentrische Weise seine unerfüllbaren se-
xuellen Fantasien zu verwirklichen.
Mit Beginn des neuen Jahrhunderts konzipiert Waka-
matsu eine neue, noch weiter gesteigerte Radikalität. Jitsu­
roku Sekigun. Asama Sansô e no Michi (United Red
Army, 2007) analysiert die Geschichte der Japanischen Ro-
ten Armee vom Blickwinkel eines Insiders aus. Kyatapirâ
(Caterpillar, 2010) zeigt einen Kriegsinvaliden, der am
Nanking-Massaker teilnahm und ohne Gliedmaßen zurück-
kehrte. 11.25 Jiketsu no Hi. Mishima Yukio to Waka-
mono-tachi (11:25 The Day He Chose his Own Fate, 2012)
beleuchtet den psychologischen Prozess des rechtsextre-
mistischen Schriftstellers Yukio Mishima bis hin zu seinem
skandalträchtigen Selbstmord. Wakamatsu zeigt uns das
Leiden der politisch aktiven Menschen zwischen ihrem
Ideal und der Realität mit beeindruckender intellektueller
Klarheit und emotioneller Unmittelbarkeit. Sein letzter

10 Spätwerke der Meisterregisseure


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Film, Sennen no Yuraku (The Millennial Rapture,
2012), war eine Kenji-Nakagami-Verfilmung, in der er das
System der Diskriminierung einer sozialen Minderheit
schonungslos analysiert und offenlegt. Seine Filme sind
immer eine direkte Stellungnahme zur politischen Situa-
tion des Landes und richten sich gegen das unpolitische
Filmemachen der Gegenwart.

11 Neue Perspektiven und Dekonstruktion

Parallel zur Renaissance der Meisterregisseure in den


1980er Jahren wuchs eine gänzlich neue Generation von
Filmautoren heran. Sie begannen mit 8-mm-Film zu drehen
und nahmen an Wettbewerben für unabhängige Filme wie
beispielsweise dem 1979 ins Leben gerufenen »Pia Film-
festival« teil. Kazuhiko Hasegawa gründete mit seinen Mit-
streitern eine gemeinsame Produktionsfirma, die »Directors
Company«. Auch ATG, die noch bis 1992 fungierte, unter-
stützte den Nachwuchs. Der Kadokawa-Verlag investierte
in Verfilmungen von Populärliteratur. Die neueren Filme
reflektieren unmittelbar das wirtschaftliche Wachstum des
Landes, das ein leistungsorientiertes, entpolitisiertes Ge-
sellschaftsbild hervorbringt. Die jüngeren Regisseure ver-
suchten, innovative Erzählformen für die Realität ihrer Zeit
zu finden und die Konventionen der filmischen Konstruk-
tion zu erneuern.
Einige Regisseure fokussierten sich auf das Leben der
jungen Menschen und waren dadurch besonders erfolg-
reich bei ihrem Zielpublikum. Kazuki Ômori (geb. 1952)
zeigt in Hipokuratesu-tachi (Disciples of Hippocrates,
1980) ein Gruppenporträt von Medizinstudenten. Die Rea-
lität des Studienfachs wird humorvoll aus der subjektiven
Sicht der Figuren vorgestellt. Die frei agierende Kamera ver-
folgt die Vitalität des Alltags der jungen Menschen, wäh-
rend ihre Ausbildungspraxis sachlich dokumentarisch auf-
gezeichnet wird. Zitate aus der Subkultur und das Spiel mit

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dem Film im Film, welche das mediale Leben der zeitge-
nössischen Menschen reflektieren, verlebendigen die dar-
gestellte Wahrnehmungswelt. Das Thema der Dignität des
Lebens, das die werdenden Ärzte psychologisch belastet,
rückt allmählich ins Zentrum des Films. Charakteristisch
für die neue Generation des Autorenfilms ist, dass sie das
Publikum mit einem spezifischen Aspekt eines Themas
konfrontieren, der einen individuellen Diskurs eröffnet.
Nobuhiko Ôbayashi (1938–2020) debütierte mit dem ex-
perimentellen Horrorfilm HOUSE (1978), der heute als kul-
tischer Vorläufer des J-Horrors angesehen wird. Sein Ruf
etablierte sich durch die »Onomichi-Trilogie«: Tenkôsei (I
Are You, You am ME, 1982), Toki o Kakeru Shôjo (The
Girl Who Leapt Through Time, 1983) und Sabishinbô
(Lonely Heart, 1985). Die Filme spielen in der alten Ha-
fenstadt Onomichi, aus der Ôbayashi stammt und in der
auch Yasujirô Ozu und Kaneto Shindô drehten. Für die in
Form eines SF-Films erzählten Geschichten über die Puber-
tät verwendet Ôbayashi märchenhafte Filmtricks und eine
ästhetische Kolorierung. The Girl Who Leapt Through
Time basiert auf dem Bestseller von Yasutaka Tsutsui, der
zuerst als TV-Serie (1972) und 2006 von Mamoru Hosoda
(geb. 1967) als Anime erfolgreich adaptiert wurde. Der Ka-
dokawa-Verlag produzierte Ôbayashis Version sehr effizient,
indem er die Vorlage, den Film, einen Song und dessen
Sängerin, zugleich die Hauptdarstellerin, parallel vermark-
tete. Heute ist es üblich, Heimatfilme in einer Kooperation
mit der Film-Kommission einer Region zu realisieren.
Ôbayashi nahm diese Idee vorweg. Seine Filme erfüllen
den Wunsch der breiten Schicht des Kinopublikums nach
Nostalgie und Romantik.
Auch Shinji Sômai (1948–2001) schuf zwei populäre
Filme in Zusammenarbeit mit dem Kadokawa-Verlag,
Tonda Kappuru (Tonda Couple, 1980) und Sêrâfuku to
Kikanjû (Sailor Suit and Machine Gun, 1981). Sein Name
verewigte sich aber durch Taifû Kurabu (Taifun Club,
1985), den die Directors Company produzierte. Er handelt
von vier Sommertagen einer Mittelschul-Klasse, an denen
die einzelnen Schüler und ein Lehrer ihre eigenen Auswege

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Dekonstruktion 77
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aus verschiedenen Konflikten suchen. Die Kamera zeigt die
Figuren aus der Distanz in maximal langen Einstellungen,
wie sie improvisierend infantile und exzentrische Rollen-
porträts darstellen. Begleitet vom Herannahen eines Taifuns
eskaliert ein Fest der Jugendlichen mit Musik, Liebe und
Fragen an die raison d’être.
1981 entstanden drei Filme, die bewegende Dramen un-
ter besonderen sozialen Gesichtspunkten darstellen und im
individuellen Autorenstil gehalten sind. Doro no Kawa
(Schmutziger Fluss, 1981) war der Debütfilm von Kôhei
Oguri (geb. 1945) nach einem Roman von Teru Miyamoto,
der mit kleinem Budget in Schwarz-Weiß gedreht wurde.
Aus der Perspektive eines Kindes wird die Nachkriegszeit
in Osaka betrachtet. Der Kameramann Shôhei Andô, der
bei Shôhei Imamura und Toshiya Fujita arbeitete, zeichnet
hier eine anrührend schöne, elegische Flusslandschaft. Der
lebendige Ausdruck der Kinderdarsteller und die ein-
drucksvolle Präsenz von Takahiro Tamura und Mariko Kaga
werden in einem feinen Lichtkontrast festgehalten. Der
Ausstatter Akira Naitô, der einst bei Kenji Mizoguchi und
Kôzaburô Yoshimura mitwirkte, entwarf die realistischen,
stimmungsvollen Bauten, welche als Blickachsen der Figu-
ren fungieren, die die Handlung dramatisch steuern.
In Enrai (Distant Thunder, 1981) von Kichitarô Negishi
(geb. 1950) spielt ein junger Bauer die Hauptrolle. Der Re-
gisseur und auch der Kameramann Shôhei Andô nutzen
ihre Erfahrungen im Erotikfilm der Firma Nikkatsu, um die
intime Stimmung einer provinziellen Gesellschaft zu zeich-
nen und schöne Körperfotografien mit nuancenreicher Be-
leuchtung in Szene zu setzen. Ein Gewächshaus mit dichter
Vegetation und reifen Tomaten versinnbildlicht Frustration
und Leidenschaft des Protagonisten. Ein schwerer Gewit-
terregen erscheint zum Höhepunkt des Films, wie um seine
Selbstverwirklichung zu feiern. Das attraktive Schauspie-
lerpaar Toshiyuki Nagashima und Eri Ishida verkörpert
neuzeitliche Menschen, die keine Tugend mehr kennen,
aber den starken Willen haben, ihre Zukunft mit eigener
Hand zu gestalten.

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In Saraba Itoshiki Daichi (Abschied von der geliebten
Erde, 1981) hingegen porträtiert Mitsuo Yanagimachi (geb.
1945) einen absoluten Versager. Ein Lastwagenfahrer (Jin-
pachi Nezu), der früher Bauer gewesen war, verliert zwei
Kinder bei einem Unfall. Er flüchtet mit seiner Geliebten
(Kumiko Akiyoshi) vor der Realität und gibt sich dem Dro-
genkonsum hin. Dem Kameramann Masaki Tamura, der in
der Ogawa-Produktion jahrzehntelang den Reisanbau doku-
mentiert hatte, gelingt es, in diesem Film zu visualisieren,
wie eine verlorene Seele im Wahnzustand untergeht – eins
werdend mit der großen, windigen Naturlandschaft.
Yoshimitsu Morita (1950–2011) und Jûzô Itami (1933–
1997) sind Regisseure, die die konventionelle Darstellungs-
und Erzählweise des einheimischen Kinos regelrecht
durchbrochen haben. In Moritas ATG-Film Kazoku Gêmu
(Familienspiele, 1983) spielte Itami als Familienvater mit.
Dieser engagiert einen Nachhilfelehrer (Yûsaku Matsuda)
für seinen Sohn. Wie ein Messias nimmt der Fremde die
Mitte einer langen Abendmahltafel ein, an der die Famili-
enangehörigen dicht nebeneinander in einer Reihe frontal
zur Kamera sitzen. Durch diese Sitzordnung wird die Illu-
sion der Harmonie an dem im Familiendrama üblicher-
weise runden Tisch vernichtet. Der Film veranschaulicht
die Entfremdungen im Alltag durch die Hervorhebung ku-
rioser Details und durch die Trennung zwischen Bild und
Ton. Schließlich wird auf das Jüngste Gericht für die unver-
besserlich eitle Menschenwelt hingedeutet.
Jûzô Itami war der Sohn des japanischen René Clair, Man-
saku Itami. Sein erster Spielfilm Osôshiki (Beerdigungs­
zeremonie, 1984) begründete ein eigenes Genre, in dem ein
Thema so ausführlich erforscht wird, als ob ein imaginäres
Handbuch darüber erstellt werden solle. Die dadurch ent-
stehende objektiv-analytische Betrachtungsweise eines Er-
eignisses ruft satirischen Humor hervor und schafft großen
Freiraum in der narrativen Konstruktion. In Beerdigungs-
zeremonie werden verschiedene Anekdoten, die für das
Sujet typisch erscheinen, lose zusammengestellt. Die Figu-
ren werden von einem Bestatter und anhand eines (von
Itami zusammengestellten) Lehrvideos in die Gebräuche

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Dekonstruktion 79
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des Rituals eingeführt. Die familiäre Zusammenkunft wird
vom Fotografen Shinpei Asai im Stil eines Home-Movie in
schwarz-­weißen, stummen Bildern aufgezeichnet. So insze-
niert Itami die Trauerfeier als ein Ereignis, das innerfilmisch
weiter mediatisiert und reproduziert wird. Der Kamera-
mann Yonezô Maeda, der auch Familienspiele filmte, fokus-
siert hier auf seltsame Aspekte eines Ereignisses und por-
trätiert die Figuren aus einer befremdenden Distanz. Itamis
Film war eine der ersten direkten Reaktionen auf seinen
zeitgenössischen, vom Filmkritiker Shigehiko Hasumi an-
geregten cineastischen Diskurs, in dem das filmgeschichtli-
che Wissen eine wichtige Rolle spielte, und der den »Film«
selbst thematisierte. Verblüffend wirkt, wie Itami den sub-
jektiven point of view eines Toten aus dem Sarg in Vampyr –
Der Traum des Allan Gray (1932) von Carl Theodor Dreyer
in seinem Begräbnisfilm zitiert. Bisweilen meint man, ein
Déjà-vu an Alfred Hitchcock zu erleben, während das Ganze
offensichtlich Yasujirô Ozu parodiert. Trotz der medialen
Verfremdung des Geschehens und der Oberflächlichkeit der
durchgeführten Zeremonie strömen letzten Endes die Wahr-
heiten der Familie und des Lebens hervor.
Itamis nächster Film Tanpopo (Tampopo, 1985) lehrt,
wie man gute Nudelsuppe kocht, wobei die Geschichte des
Wiederaufbaus eines Râmen-Imbisses im Stil eines Wes-
terns inszeniert wird. Parallel zu dieser Haupthandlung
werden voneinander unabhängige Episoden zum Thema
»Essen« entfaltet. Masaki Tamura entwarf hierfür weiträu-
mige Plansequenzen, in denen eine Episode nahtlos in die
andere übergeht. Die Welt der Feinschmecker ist extrava-
gant dargestellt, wobei die Sinnlichkeit des Akts des Spei-
sens audiovisuell herausgestellt wird. Dieser Film kann als
Prototyp für das heutige populäre Genre des Gourmet-Films
angesehen werden, der den Appetit des Publikums anregt.
Nachdem Itami provokante Filme zu spezifischen Aspekten
wie Steuerfahndung und Gewaltbekämpfung drehte, starb
er 1997, scheinbar durch Freitod.
In den 1980er Jahren ereignete sich ein Ausbruch der
neuen Filmavantgarde aus der konventionellen Bildlichkeit
des japanischen Films, mittels ihres dekonstruktiven, ver-

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stärkt auditiven Stils. Den Film Kuruizaki Sandârôdo
(Crazy Thunder Road, 1980) drehte Sôgo Ishii (geb. 1957)
als seine Abschlussarbeit im Fach Kunstwissenschaft an
der Nihon-Universität. Dieser 16-mm-Film wurde in 35 mm
umformatiert und durch die Firma Tôhô verliehen. Im Kino
donnerten und krachten Motorräder und Rockmusik. Der
Film handelt von einem gewalttätigen Streit zwischen zwei
Gruppen von Motorradrowdys. Der Regisseur schneidet
diesen Actionfilm in einem heftigen, musikalisch anmuten-
den Tempo. Dunkle Bilder werden durch Scheinwerfer und
Kunstlicht grell beleuchtet und dezentral komponiert. Die
hier realisierte avantgardistische Gewaltdarstellung nahm
die Tendenz der nächsten Phase der japanischen Filmge-
schichte vorweg.
Kaizô Hayashi (geb. 1957) realisierte seinen Debütfilm
Yume Miru yô ni Nemuritai (To Sleep so as to Dream,
1986) als expressionistischen Stummfilm. In flackerndem
Schwarz-Weiß und unter dem Rattern eines Projektors läuft
die in den 1950er Jahren im Tokyoter Stadtteil Asakusa an-
gesiedelte Detektivgeschichte. Dialoge werden durch Zwi-
schentitel eingefügt, während Geräusche und Musik nur
punktuell eingesetzt werden. Takeo Kimura arrangiert für
diesen Film märchenhafte Kulissen. Der Plot ist folgender:
Ein Detektiv erhält von einer älteren Dame den Auftrag,
ihre entführte Tochter zu finden. Bei der Untersuchung
werden die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangen-
heit sowie Realität und Fiktion immer wieder überschrit-
ten. Der Detektiv sucht in Wirklichkeit nicht die vermisste
Frau, sondern das Ende eines Films, der aufgrund der Zen-
sur nicht fertiggestellt werden konnte. Diese an Sunset
Boulevard (Boulevard der Dämmerung, 1950) von Billy
Wilder angelehnte Hommage an die frühe Kinematografie
stellt einen traumhaften Film über den Film dar.
Wie Sôgo Ishii absolvierte Shinya Tsukamoto (geb. 1960)
ein Studium der Kunstwissenschaften an der Nihon-Uni-
versität. Mit dem Film Tetsuo (Tetsuo – The Iron Man,
1989), der auf dem Fantasy-Filmfestival in Rom den Grand
Prix gewann, wurde er schlagartig weltberühmt. Der Regis-
seur ist auch der Produzent, Drehbuchautor, Kameramann,

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Cutter, Ausstatter und Hauptdarsteller dieses schwarz-wei-
ßen 16-mm-Films. »Er« (Tsukamoto) fusioniert seinen Kör-
per mit Industrieteilen, um sich in den starken Eisenmen-
schen »Tetsuo« zu verwandeln. Doch das Phänomen der
metallischen Erosion setzt bei ihm ein und überträgt sich
ansteckend wie bei einer Epidemie auf andere. Tsukamoto
resümiert hier die medialen Erlebnisse seiner Generation
mit Monster-, Katastrophen- und SF-Filmen sowie TV-Ju-
gendserien, Horror-Comics usw. Konzeptuell ist der Film
auch mit surrealistischen Avantgarde-Filmen wie den Wer-
ken von David Cronenberg und Sôgo Ishii verwandt. An-
ders als David Lynch, der in The Elephant Man (Der Ele-
fantenmensch, 1980) die Industrialisierung als Bedrohung
für den menschlichen Körper darstellte, inszeniert Tsuka-
moto diese als ekstatische Faszination. Die dicht ornamen-
tale, metallische Welt wird durch die Zeichentricktechnik
zerstückelt und in einen beschleunigten Prozess des Wach-
sens gebracht. Die personifizierte Kamera lässt uns Zeit und
Raum der mechanisierten Kunstwelt immersiv erleben.
Chû Ishikawas Industrial Music ist mit der Stofflichkeit der
dargestellten Materialien und der Gewalt-Eskalation syn-
chronisiert, sodass dem Film selbst eine vitale, vibrierende
Körperlichkeit verliehen wird. Tetsuos absolute Zerstö-
rungswut reflektiert die Zeit der Dekonstruktion, in der die
Weltordnung im Zeichen des Kalten Krieges verloren geht.
Tsukamotos Film, der handwerklich-analog hergestellt
wurde, gilt heute noch als Vorbild für die explosive Sinnes-
entfaltung der Postkinematografie, wie sie insbesondere bei
Quentin Tarantino und Darren Aronofsky zu finden ist.

12 Gewalt, Poesie und Virtualität

1990 begann in Japan die Heisei-Dynastie (bis 2019), die


das Ende der Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs mit
sich brachte und durch verheerende Naturkatastrophen
und terroristische Anschläge durch die religiöse Aum-

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Sekte, Verbrechen von beispielloser Brutalität, Jugendkri-
minalität usw. überschattet wurde. In dieser Zeit genossen
solche Regisseure besondere Popularität, die das Gewalt-
potenzial der Welt reflektierten und zugleich eine poetische
Anschauungsweise entfalteten, die dem Zuschauer eine
Zuflucht in der Imagination anbot. Gemeint sind Autoren
wie Takeshi Kitano, Takashi Miike, Sion Sono, Shunji Iwai
und Mamoru Oshii. Die Gewalttendenz dieser Phase steht
offensichtlich in einer Wechselbeziehung mit Blockbustern
aus Hollywood. Ab Mitte der 1990er Jahren wurden die
Filme zunehmend durch einen »Produktions-Ausschuss«
(seisaku iinkai) finanziert, an dem sich verschiedenste­
Institutionen wie Produktions- und Verleihfirmen, TV-­
Sender, Verlage, Musik-Labels, Werbeagenturen usw. betei-
ligten. Die Autoren profitierten von diesem System, um
unabhängigere, individuelle Werke zu realisieren. In den
1990er Jahren wurde der Film zunehmend digital erzeugt,
was die Produktionsbedingungen veränderte und die tech-
nischen Möglichkeiten des Mediums erweiterte. Im Zeital-
ter der Postkinematografie verstärkte sich die Tendenz des
japanischen Films, die Virtualität explizit als Thema oder
als ästhetisches Stilmittel zu behandeln.
Der charismatische Komiker und TV-Showmaster Beat
Takeshi wurde durch eine Verkettung von Zufällen zum
Filmemacher Takeshi Kitano (geb. 1947). Nagisa Ôshima
entdeckte ihn als Schauspieler für den Film Furyo – Merry
Christmas, Mr. Lawrence. Anstelle des beschäftigten
Meisters des Yakuza-Films Kinji Fukasaku übernahm Beat,
der bereits als Hauptdarsteller vorgesehen war, die Regie
für Sono Otoko Kyôbô ni tsuki (Violent Cop, 1989). Der
»Amateurfilmer« realisierte dabei einen unkonventionel-
len, wirkungsintensiven Gewaltfilm. Er drehte danach den
gegensätzlichen, ruhigen Film Ano Natsu Ichiban Shizu-
kana Umi (Das Meer war Ruhig, 1991) über ein junges,
taubstummes Paar. Der Film besteht aus der andauernden
Wiederholung einiger Motive und Witze darüber, wie es ist,
wenn man anfängt, surfen zu lernen, und wie das Paar non-
verbal miteinander kommuniziert. Der Film eröffnet so
auch dem Kinopublikum die Möglichkeit, ohne Worte zu

12 Gewalt, Poesie und Virtualität


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verstehen und die Stille zu hören. Hierfür erfand der­
Regisseur seinen markanten Farbton, das sogenannte »Ki-
tano Blue«, das eine eigentümlich rührende Emotionalität
in sich trägt. Sonatine (1993) ist eine synthetische Mi-
schung aus Genre-Krimi und dem leisen Vorgängerfilm.
Eine Yakuza-Gruppe vertrödelt ihre Zeit in Okinawa bis
zum finalen Kampf gegen ihre Konkurrenz mit albernen
Kinderspielen, wodurch die Ambivalenz des Lebens als
Komödie und Tragödie allegorisiert wird. Der Film zeichnet
sich durch freie Formenspiele und malerische Experimente
aus. Jô Hisaishis monotone, aber sich komplex entfaltende
Musik verdichtet die Atmosphäre eines unaufhaltsamen,
ekstatischen Untergangs.
Hana-bi (1997), der mit dem Goldenen Löwen ausge-
zeichnet wurde, führt eine kontemplative Reflexion über
das Leben und den Tod. Ein Ex-Polizist (Beat Takeshi) ver-
strickt sich immer tiefer im Gangstermilieu, während sein
teilweise gelähmter Ex-Kollege (Ren Ôsugi) im Malen sei-
nen Lebenssinn entdeckt. Die beiden konträren Lebens-
wege werden durch die Motive der (von Kitano) gemalten
Bilder assoziativ verbunden. Eine Serie von einfachen Bild-
witzen fungiert als endlose Liebeserklärung des Protago-
nisten an seine kranke Ehefrau (Kayoko Kishimoto). Dolls
(2002) wurde als ein von Menschen gespieltes, aber aus der
Perspektive der Puppen betrachtetes, surreales Bunraku-
Theaterstück konzipiert. Ein von der Gesellschaft ausge­
stoßenes Paar geht auf Wanderschaft, die sie durch bunte
jahreszeitentypische Szenerien führt. Parallel dazu werden
zwei weitere tragische Geschichten erzählt. Die eine wirkt
wie eine Fortsetzung von Tokyo Drifter von Seijun Su-
zuki, während die andere an den Roman Shunkinshô (The
Story of Shunkin) von Junichirô Tanizaki erinnert. Das Leit-
motiv ist eine bedingungslose Liebe, die in den Ruin führt.
Bei Zatôichi (2003) adaptiert Kitano die populäre Filmserie
über einen blinden Masseur, den der Regisseur selbst als
einen Killer mit blond gefärbten Haaren (Kitanos Wortspiel:
»blond« anstatt »blind«) verkörpert. Der Film lehnt sich an
Die Sieben Samurai und das Genre des Jidaigeki-Musicals
an. Kitanos Stil erinnert an Ozus Lakonik, Kurosawas Dyna-

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mik, Mizoguchis Bildlichkeit und Suzukis Avantgarde.
Sein Wagnis, die bekannten Ereignisse zu verschieben und
von ihnen abzuweichen, sowie Leerlauf und Konfrontation
aufeinanderprallen zu lassen, assoziiert die traditionelle
Redekunst des Komikers (rakugo) und öffnet dennoch ei-
nen neuen Horizont unserer filmischen Wahrnehmung.
Zeitgleich zum Aufkommen Kitanos entstanden eine
Reihe von innovativen Actionfilmen wie Tokarefu (1994)
von Junji Sakamoto (geb. 1958) und Dangan Runner (1996)
von Sabu (geb. 1964). GO (2001) von Isao Yukisada (geb.
1968) und Pacchigi! (Break Through!, 2005) von Kazu­yuki
Izutsu (geb. 1952) schildern in einer erfrischenden Entfal-
tungsweise Konflikte und Versöhnung zwischen koreani-
schen und japanischen Schülern. Lee Sang-il (geb. 1974)
debütierte mit dem anrührenden Roadmovie Border Line
(2002), das auf dem Muttermord eines Schülers basiert. Beat
Takeshi verkörpert als Schauspieler geradezu das Genre des
Gewaltfilms, indem er zentrale Rollen in der Serie von
Schulmassaker-Filmen Batoru Rowaiaru (Battle Royale,
2000, 2001, 2003) von Kinji Fukasaku und in Chi to Hone
(Blood & Bones, 2004) von Yôichi Sai spielte. Wie Kitano
begannen auch Stars wie Tamasaburô Bandô (geb. 1950,
z. B. Gekashitsu / Der Operationssaal, 1992) und Kaori
Momoi (geb. 1951, Ichijiku no Kao / Faces of a Fig Tree,
2006), originelle, künstlerische Filme zu drehen.
Takashi Miike (geb. 1960) durchlief eine Ausbildung an
der von Shôhei Imamura gegründeten Filmschule (dem
heutigen Japan Institute of the Moving Image) und wurde
sein Assistent. Als routinierter Unterhaltungsfilmer drehte
er ab 1991 bis heute bereits über 100 Filme, Videos und
Animes fürs Kino und Fernsehen. International bekannt
wurde er durch seine Ryû-Murakami-Verfilmung Ôdishon
(Audition, 1999). Ein Videoproduzent lernt bei einem Vor-
sprechen eine attraktive Bewerberin kennen. Wir beobach-
ten dabei eher die Haltung des ahnungslosen Opfers seiner
Libido als das Objekt seiner Begierde selbst. Dadurch wird
der maskuline Blick, der in den Medien Weiblichkeit kon-
sumieren will, ironisch beleuchtet. Schauderhaft erscheint
die fortschreitende Verfinsterung der Umwelt des Protago-

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nisten, die ihm jedoch gänzlich entgeht. Schließlich wird er
selbst Ziel einer extremen Gewaltaktion, die zentral im
Bildfeld geschieht. Mehr als haarsträubend wirkt die Erfah-
rung, dass das filmische Medium einen solchen entsetzlich
realen Phantomschmerz stimulieren kann.
Mit Bijitâ Q (Visitor Q, 2001) geht der Regisseur noch
weiter. Ein Fremder besucht eine Familie, in der sich alle
möglichen Probleme wie Inzest, Gewalt, Drogen, Prostitu-
tion, Mobbing usw. ansammeln. Das abnormale Treiben der
Familienmitglieder wird mit der von den Figuren bedien-
ten Home-Movie-Kamera und mit einer weiteren dokumen-
tarisch filmenden Videokamera aufgenommen, sodass der
Effekt von Reality-Shows erzielt wird, wie etwa bei C’est
arrivé près de chez vous (Mann beisst Hund, 1992) von
Rémy Belvaux u. a. Unverkennbar lehnt sich der Film auch
an Teorema (Teorema – Geometrie der Liebe, 1968) und
Salò o le 120 giornate di Sodoma (Die 120 Tage von
Sodom, 1975) von Pier Paolo Pasolini an. In Visitor Q er-
lebt man alle möglichen Tabubrüche und Untergrabungen
der menschlichen Würde. Das ist Miikes Vision der zeitge-
nössischen Gesellschaft, die tatsächlich so grausam und
pervers und dazu noch der ständigen, gnadenlosen Gewalt
der Medien ausgesetzt ist.
Sion Sono (geb. 1961) begann seine Künstlerkarriere als
Dichter und 8-mm-Filmer, der bereits Mitte der 1980er
Jahre auf dem Pia Filmfestival auffiel. Mit Heya (Heya –
The Room, 1993) erregte er internationales Aufsehen. In
diesem minimalistischen, schwarz-weißen 16-mm-Film
geht ein Killer mit einer Immobilienhändlerin auf Woh-
nungssuche. Der legendäre Butô-Tänzer Akaji Maro und
Yoriko Dôguchi, die für Kiyoshi Kurosawa (Do-re-mi-fa-
Musume no Chi wa Sawagu / Bumpkin Soup, 1985) und
Jûzo Itami (Tampopo) ikonische Rollen spielte, erscheinen
in langanhaltenden Großaufnahmen mit meditativer Inner-
lichkeit. Flüsternd tauschen sie wenige Worte über die
Wohnbedingungen aus, die eine feine, witzige Poesie ent-
wickeln. Statische Einstellungen bei Bahnfahrten mit den
beiden stehenden Figuren dauern mehrere Stationen lang.
Durch die Wieder­holungen des Suchvorgangs vertieft sich

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die Vorstellung der beiden Figu- Heya (Heya – The Room, 1993)
ren, die schließlich in uns Zu- von Sion Sono
schauern entsteht. Sion Sono ist
ein einzigartiger japanischer Filmemacher, der den Stil von
Rainer Werner Fassbinder verinnerlicht hat. Heya strahlt
die Ästhetik der Melancholie von Katzelmacher (1969)
aus. Ai no Mukidashi (Love Exposure, 2008) zeigt eine
freie Modifikation von In einem Jahr mit 13 Monden (1978),
in dem ein Transvestit aus tiefer Verzweiflung nach Liebe
schreit. Im Gegensatz zu Heya ist der 237 Minuten lange
Mammutfilm Love Exposure ein redseliger, explosiver
Action­film. Als Sasori, die von Meiko Kaji verkörperte
Kämpferin aus der gleichnamigen Serie verkleidet, versucht
ein junger Mann, seine Freundin von der Gehirnwäsche ei-
ner religiösen Sekte zu befreien. Der Film formt sich vielfäl-
tig wie ein psychologischer Workshop, in dem die Figuren
tabulos ihre Traumata, Emotionen und Liebe offenbaren.
Zum 45-jährigen Jubiläum des Bestehens der Programm-
Sektion roman porno des Studios Nikkatsu drehte Sono
Anti-Porno (2017). Der feministisch gesinnte, farbenfrohe
Film, der das Innenleben einer Schriftstellerin illustriert,

12 Gewalt, Poesie und Virtualität


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wirkt wie ein imaginäres Making-of von Die bitteren Trä-
nen der Petra von Kant (1972).
Shunji Iwai (geb. 1963) arbeitete nach einem Studium
der bildenden Künste in den Bereichen Musik-, Werbe- und
Fernsehfilm. Bereits durch seinen ersten Spielfilm Love
Letter (1995) wurde er ein Starregisseur in Asien. Die Pro-
tagonistin schreibt einen Brief an die alte Adresse ihres ver-
storbenen Verlobten. Ihre Botschaft wird von einer Frau
empfangen, die ihr Ebenbild ist (Doppelrolle von Miho
Nakayama). Der Regisseur inszeniert den Film, der von
Krzysztof Kieślowskis La Double vie de Véronique (Die
zwei Leben der Veronika, 1991) inspiriert ist, in einem pur
romantischen Gewand. Die Doppelgängerinnen bewohnen
die ästhetische »Shunji-Iwai-World«, die aus geschmack-
voll dekorierten Wohnungen, hübschen Städten (Kôbe und
Otaru) und modischen Kleidern besteht. Bezeichnend für
Iwais Konzept ist, dass er die mediale Kommunikation im-
mer in den Mittelpunkt der Handlung stellt und zugleich in
das primäre filmische Medium integriert. In Love Letter
fungieren Briefe und Karteikarten als nostalgische Analog-
medien, die die Figuren zeit- und raumübergreifend mitei-
nander verbinden. Der Film erinnert an die literarischen
Mädchen-Manga von Yumiko Ôshima und Moto Hagio, die
einen ebensolchen Kult um Handschrift und die Doppel-
gänger-Thematik beinhalten. Iwai, der genauso wie seine
Fans in der zeitgenössischen Medienkultur verankert ist,
gelingt es, anhand deren spezifischer Kommunikationska-
näle mit ihnen innerliche Kontakte aufzubauen.
In den 1990er Jahren gab es eine Welle von Filmen zum
Thema Multikulturalität. Als repräsentative Beispiele lie-
fern World Apartment Horror (1991) von Katsuhiro
Ôtomo (geb. 1954), Ai ni tsuite Tôkyô (About Love, To-
kyo, 1992) von Mitsuo Yanagimachi, Tsuki wa Docchi ni
Deteiru (All Under the Moon, 1993) von Yôichi Sai und
Junk Food (1998) von Masashi Yamamoto (geb. 1956) je-
weils individuelle Aspekte zur Globalisierung der Gesell-
schaft als Folge der inzwischen geplatzten »Blasenwirt-
schaft«. Iwais Beitrag dafür, Suwarôteiru (Swallowtail
Butterfly, 1996), stellt die Dystopie »Yen-Town« dar, die

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durch das märchenhafte Production-Design von Yôhei Ta-
neda konstruiert wurde.
Bei Rirî Shushu no Subete (All About Lili Chou-Chou,
2001) entwarf Iwai eine intermediale und interaktive Aus-
weitung der filmischen Repräsentation. Der Film basiert auf
einem Online-Roman in Form einer fiktiven Fan-Website
der Sängerin Lili Chou-Chou, den der Regisseur mit seinen
Followern zusammen entwickelt hat. Der Film selbst wird
durch Chat-Einträge von anonymen Teilnehmern erzählt,
die als Schriften auf dem Bildfeld eingeblendet erscheinen.
Die farbenfrohen Bilder mit ihrer grafischen Verzerrung
entlehnen Effekte von Werbeplakaten und Musikvideos.
Der Kameramann Noboru Shinoda, der auch bei Shinji Sô-
mai, Tatsumi Kumashiro und Sôgo Ishii arbeitete, verwirk-
lichte bei Iwai mit einer HDCAM-Kamera eine atemberau-
bende Schönheit der digitalen Fotografie. Zum Teil wurde
der Film mit den von den Rollenpersonen bedienten Han-
dycams gedreht, um die Subjektivität der Erlebnisse zu re-
flektieren. Die Jugendlichen im Film leben in einer harten
Realität mit Mobbing, Gewalttaten, Nötigung und Vergewal-
tigung. Die musikalische Welt von Lili Chou-Chou bietet
ihnen die einzige Oase des Friedens. Wir hören sie aus dem
point of hearing der Figuren, die durch ihre »Discman«-
Kopfhörer von der Außenwelt abgekapselt sind. Durch die
imaginative Vernetzung unterschiedlicher Kommunikati-
onsmedien wird die Zerbrechlichkeit der virtuell kon-
struierten Innenwelt der Jugendlichen herausgearbeitet.
Der in Kanada gedrehte Film Vampire (2012) verbindet
das traditionelle Horror-Genre mit der Problematik von
Suizid­kandidaten-Websites. Der Regisseur führt selbst die
Kamera, wobei er mit dem Format des Smartphones als
flexibles, ästhetisches Kompositionsmittel experimentiert.
Rippu van Winkuru no Hanayome (A Bride for Rip Van
Winkle, 2016) behandelt den Menschenhandel im Internet.
Die Vorherrschaft des Virtuellen in der physischen Realität
wird im Stil eines grausamen Märchens dargestellt, das die
reale Gefahr der medialen Welt transparent macht und zu-
gleich poetisiert. Mit Last Letter (2020) gibt Iwai eine
Antwort auf Love Letter aus dem Zeitalter der SMS.

12 Gewalt, Poesie und Virtualität


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Wie Iwai trachtet auch die filmende Starfotografin Mika
Ninagawa (geb. 1972) danach, kreativ mit dem Filmlook
(dem Oberflächeneffekt des Films) umzugehen. Ihre Werke
charakterisieren sich durch bunte Farbästhetik, nuancen-
reiche Lichtführung und avantgardistische Bildkomposi-
tion. Sie thematisiert hauptsächlich die vergängliche
Schönheit des weiblichen Geschlechts. Sakuran (Saku-
ran – Wilde Kirschblüte, 2006) visualisiert die Welt der
Oiran (Kurtisanen) nach dem Manga von Moyoko Anno.
Herutâ Sukerutâ (Helter Skelter, 2012) nach einem­
Comic von Kyôko Okazaki zeigt den grotesken Untergang
eines Supermodells, das seinen ganzen Körper Schönheits-
operationen unterzog.
Auch der ehemalige 8-mm-­Autorenfilmer Makoto Tezuka
(geb. 1961) schuf medienästhetische Fantasyfilme wie Ha-
kuchi (Der Idiot, 1991) nach einem Roman von Ango Saka-
guchi und Barubora (Tezuka’s Barbara, 2020) nach dem
Manga seines Vaters Osamu Tezuka. Der Werbefilmemacher
Daihachi Yoshida (geb. 1963) arbeitet ebenso an den
Schnittstellen zwischen dem Film und den anderen Unter-
haltungsmedien. Seine erfolgreiche Verfilmung des Romans
von Ryô Asai, Kirishima, Bukatsu Yamerutteyo (The Ki-
rishima Thing, 2012), beschreibt den Schulalltag in einer
auf Samuel Becketts Warten auf Godot und Elephant
(2003) von Gus van Sant Bezug nehmenden Struktur.
Das Genre des japanischen Films, das nach wie vor den
größten kommerziellen Erfolg bringt, ist zweifelsohne die
Animation. Die Fundamente für die heutige Manga- und
Anime-Kultur wurden von Osamu Tezuka (1928–1989) er-
schaffen. Die von ihm produzierten TV-Anime-Serien wie
Tetsuwan Atomu (Astro Boy, 1952–1968) und Dororo
(1969) werden immer wieder in Versionen für Kino, Theater
und Gamesoftware neu aufgegriffen. Reiji Matsumoto (geb.
1938, Ginga Tetsudô 999 / Galaxy Express, 1979), Katsu-
hiro Ôtomo (Akira, 1988) und Satoshi Kon (1963–2010,
Perfect Blue, 1997) sind faszinierende Animatoren, die
ein dynamisches virtuelles Universum kreierten. Hayao
Miyazaki (geb. 1941) indes intendiert, den essenziellen­
Euphorie-Effekt der Kinderliteratur in seinen Werken wie

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Tonari no Totoro (Mein Nachbar Totoro, 1988) zu
transformieren.29 Isao Takahata (1935–2018), der für Ho-
taru no Haka (Die letzten Glühwürmchen, 1988) be-
kannt ist, führte auch eine theoretische Auseinanderset-
zung mit dem Potenzial des Zeichentrickfilms.30
Mamoru Oshii (geb. 1951) erweiterte die Horizonte des
Genres, indem er die Grenzen zwischen dem kommerziel-
len und dem künstlerischen Zeichentrickfilm sowie zwi-
schen der Animation und dem Realfilm öffnete und ihre
weitere Entwicklung im Zeitalter der Postkinematografie
förderte. Ghost in the Shell (1995), der nach einem Manga
von Masamune Shirô entstand, erzählt von einem Zeitalter,
in dem der menschliche Körper weitgehend durch künstli-
che Bestandteile ersetzbar geworden ist und sein Gehirn
extern gesteuert und mit einem Netzwerk verbunden wer-
den kann. Motoko Kusanagi, die gegen Cyberterror kämpft,
ist bis auf ihren Geist ein kompletter Cyborg. Diese noch in
der klassischen Methode aus gezeichneten Einzelbildern
zusammengesetzte Animation zeigte die höchste Perfektion
beim Kreieren einer zeitlos kühn durchgestylten Science-
Fiction-Welt.
Oshii realisierte außerdem in Polen den Realfilm Ava-
lon (Avalon – Spiel um dein Leben, 2001). Der bläulich
dunkle Farbton und das Variieren der Farbe erinnert an
Stalker (1979) von Andrej Tarkowski, den Oshii verehrt.31
Die Verwendung eines mythologischen Sopran-Gesangs
deutet wiederum auf Kieślowskis Die zwei Leben der Ve-
ronika hin. Motokos polnisches Double Ash kämpft mit
dem Anbieter eines illegalen Virtual-Reality-Spiels, in dem
die Teilnehmer verschwinden. Oshii verarbeitet das ge-
drehte Material genauso wie die grafischen Vorlagen der

29 Hayao Miyazaki, Hon e no tobira. Iwanami shônen bunko o kataru, Tokyo 2011.
30 Isao Takahata, 12 seiki no animêshon. Kokuhô emakimono ni miru eigateki animeteki
naru mono, Tokyo 1999. Im weiten Bereich der experimentellen Kunstanimation
waren und sind ebenso zahlreiche, individuelle japanische Künstler wie Noburô
Ôfuji (1900–1961), Kihachirô Kawamoto (1925–2010), Yôji Kuri (geb. 1928), Fusako
Yusaki (geb. 1937), Maya Yoneshô (geb. 1965), Takeshi Yashiro (geb. 1969), Kôji Ya-
mamura (geb. 1974) und Akino Kondô (geb. 1980) tätig.
31 Generell über Oshiis Arbeiten: Mamoru Oshii, Kore ga boku no kaitô dearu. 1995–
2004, Tokyo 2004. Über Tarkowski z. B. S. 254.

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Animation. Durch die Fusion zwischen dem Real- und dem
Zeichentrickfilm wird hier die für Computerspiele charak-
teristische Verschachtelung der Dimensionen der Wirklich-
keit und Fiktion überdimensional entfaltet.
Inosensu (Ghost in the Shell 2 – Innocence, 2004)
modelliert mit dem Licht, um Schatten, Reflexion, Trans-
parenz, Plastizität, Stofflichkeit und Emotionalität zu evo-
zieren. Als erster in Japan wurde der Film im IMAX-Format
hergestellt. Die gigantischen Bauten, die ein barock-deka-
dentes Weltbild repräsentieren, wurden vom Ausstatter von
Iwais Swallowtail, Yôhei Taneda, entworfen. Der Kom-
ponist Kenji Kawai ließ 75 Volkslied-Sängerinnen im Chor
singen und ein Glockenspiel in einem Kellergewölbe mit
überwältigendem Hall aufnehmen, um die Illusion der
räumlichen Unendlichkeit in die Klangwelt zu übertragen.
Der Film erfindet seine eigene Geschwindigkeit und Moto-
rik. Die gewaltigste Kampfszene ereignet sich in Zeitlupe,
wobei die Glieder der sich bewegenden Figuren willenlos
flackern. Motoko existiert hier nur als Geist, der vorüber-
gehend einen unvollständigen künstlichen Körper besetzt,
um mit ihrem Kollegen Batou zu kommunizieren. Oshii
greift auf das daoistische Denkmodell des Schmetterlings-
traums von Zhuangzi zurück, in dem ungewiss ist, ob man
von einem Schmetterling träumt oder von diesem geträumt
wird. So erschuf der Regisseur eine transzendentale, aber
zugleich sinnliche, reine Erfahrung der Virtualität.
Die Animation erfährt stetig große technische Innovatio-
nen. Kimi no Na wa. (Your Name. – Gestern, heute und
für immer, 2016, IMAX) von Makoto Shinkai (geb. 1973)
zeichnet sich durch eine hyperrealistische, prächtige Re-
präsentation einer utopisch-nostalgischen Welt und von
Details der Alltagswahrnehmung aus. Stofflich verbindet
der moderne Zeichentrickfilm die klassischen Realfilme,
das populäre Nachkriegsmelodram Kimi no Na wa (What
is Your Name?, 1953–54) von Hideo Ôba (1910–1997) und
I Are You, You am Me von Nobuhiko Ôbayashi miteinan-
der. Konzeptuell wurde das traditionelle Handwerk des
Flechtens mit der physikalischen Stringtheorie korreliert,
um eine neue Lösung für die Aufflechtung der komplexen

92 12 Gewalt, Poesie und Virtualität


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Dimensionen des Universums zu finden. In einer Compu-
terspiel-ähnlichen Manier avancieren die Figuren, die
durch eine starke Empathie miteinander verbunden sind,
zu Rettern der Welt vor einem Disaster. Zwischen Gewalt
und Poesie, Altem und Neuem sowie Realität und Virtuali-
tät pendelnd entwickelt sich die Kraft der Fantasie der Au-
toren im Genre des Animes drastisch und aufsehenerregend
weiter.

13 Die cineastische Schule

In den 1980er Jahren entstand eine spezifische Kultur der


Cinephilie, die der Professor der Romanistik und Film­
kritiker Shigehiko Hasumi auslöste. Er gab Vorlesungen
und Seminare zum Thema der »filmischen Repräsentation«
an der Rikkyô- und der Tokyo-Universität. Von seinen Stu-
denten ist eine Reihe von Filmemachern hervorgegangen.
Hasumi privilegierte das Sichtbare im Film, das ohne Kon-
notation mit dem Nicht-Sichtbaren (wie narrativem Zusam-
menhang, technischen Bedingungen oder gesellschaftli-
chem Kontext) souverän existiere und die essenzielle
Qualität des Filmischen ausmache. Der Akt des Sehens
bzw. der Blick an sich sind seine zentralen Forschungsge-
genstände. Dieser dem semiotischen Ansatz von Roland
Barthes nahestehende filmästhetische Diskurs öffnete die
Augen der jungen Cineasten. In der Hasumi-Schule wird
gefordert, ein immenses filmhistorisches Gedächtnis und
einen feinen Filmgeschmack zu entwickeln. Die Absolven-
ten versuchten, die Vorbilder zu verarbeiten, um ihren je-
weils eigenen Autorenstil herauszubilden.32
Ein Mitgründer der sogenannten »Rikkyô-Nouvelle-Va-
gue«, Masayuki Suô (geb. 1956), arbeitete zunächst bei Kôji
Wakamatsu und Jûzô Itami. Sein Erstling Hentai Kazoku

32 Zur cineastischen Schule: Yôsuke Akaishi (Hg.), Sôtokushû Hasumi Shigehiko. Yu-
riika (eine Sonderausgabe der Zeitschrift Yuriika), Okt. 2017, Nr. 710.

13 Die cineastische Schulehttps://doi.org/10.5771/9783967074796 93


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Aniki no Yomesan (Abnormal Family, 1984) ist ein Ero-
tikfilm, der die Filme von Yasujiô Ozu parodiert. Es ist
frappierend, wie treffsicher der Stil und die Details des
Klassikers karikiert werden. Shiko Funjatta (Lust auf
Sumo, 1992) fokussiert auf die Wiederbelebung eines
Sumô-Clubs an einer Universität. Eine Art Screwball-Ko-
mödie wird in einer Kombination mit dem Genre des Sport-
Films inszeniert, wobei mit heiterem Humor ein Entwick-
lungsprozess der individuellen Charaktere geschildert
wird. Shall We Dance? (1998), der als eine Hommage an
den Musicalfilm The King and I (Der König und ich, 1956)
von Walter Lang konzipiert wurde, wurde zum Welterfolg.
Es entstand auch ein US-Remake (2004) von Peter Chelsom.
Die völlige Konzentration auf ein einziges Themenfeld wie
Sumô und Gesellschaftstanz ist auch eine Tendenz, die der
cineastischen Schule eigen ist, welche Kazuki Ômori und
Jûzô Itami bereits vorwegnahmen. In Soredemo Boku wa
Yatte Inai (I Just Didn’t Do It, 2007) kämpft ein junger
Mann, der wegen der Belästigung einer Frau angeklagt
wurde, darum, seine Unschuld zu beweisen. Aufgrund ei-
ner gründlichen Recherche entfaltet Suô präzise analysie-
rend den Vorgang eines Prozesses nach der Konvention des
Gerichtsfilms. Seine letzten Werke widmen sich den Sujets
der Ausbildung von traditionellen Tänzerinnen (Maiko wa
Redî / Lady Maiko, 2014) und Filmerzählern, also benshi
(Katsuben! / Talking the Pictures, 2019).
Heute fungiert Kiyoshi Kurosawa (geb. 1955) als zentra-
ler Akteur der cineastischen Schule. Er assistierte zunächst
Kazuhiko Hasegawa und Shinji Sômai in der Directors
Company und arbeitete mit Jûzô Itami zusammen. Der all-
gemein als Vertreter des J-Horrors bekannte Regisseur inter-
pretiert das Unheimliche als das, was nicht allein dem
Genre, sondern im Wesentlichen der grundlegenden Aus-
drucksform der Filmkunst selbst immanent ist.33 So beab-
sichtigt er, vor allem die ambivalenten Momente der Wirk-
lichkeit, in der das Gewöhnliche befremdend erscheint,
einzufangen. Sein internationaler Durchbruch CURE (1997)

33 Kiyoshi Kurosawa, Kurosawa Kiyoshi no kyôfu no eigashi, a. a. O, bes. S. 30–47.

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behandelt serielle Mordfälle, die von einem Hypnotiseur
veranlasst werden. Die Hypnose wirkt wie der Biss von
Vampiren ansteckend. Hier sieht man wie bei Itami den
Einfluss von Carl Theodor Dreyer. Die Bilder des Blutbads
erinnern an Dario Argento. Harte Schnitte weisen auf den
Godard-Kult der Hasumi-Schule hin. Die Szenen eines Zu-
hauses hingegen wurden nach dem Muster von Yasujirô
Ozu strukturiert. In der synthetischen Stilmischung wie in
der Hybridisierung von Genres wird ein spannungsvoller
Raum geschaffen, in dem eine Unheimlichkeit prozessual
fortschreitet. Das Besondere dieses Films liegt darin, dass er
einen Effekt erzeugt, als ob das Zeichen, das der Hypnoti-
seur seinem Opfer erteilt, auch die Wahrnehmung des Zu-
schauers unmittelbar »angreife«. Wir erleben einen Auf-
stand von Zeichen, die aus banalen Gegenständen bestehen,
aber im Mechanismus einer filmischen Hypnose zum Leben
erweckt werden. Hier bestätigt Kurosawa die Macht der
Wirkung des kinematografischen Textes, welche sein Leh-
rer Shigehiko Hasumi predigte.
Mit Doppelgänger (2003) aktualisiert Kurosawa das
klassische Motiv des Doubles beim erwähnten Stellan Rye
und bei Richard Fleischer (The Prince and the Pauper /
Der Prinz und der Bettler, 1977). Der nun digital erzeugte
Doppelgänger eines Ingenieurs (Kôji Yakusho) ist ein per-
fektes, aber entmythologisiertes Ebenbild. Die Erscheinung
des Doubles, das unvermittelt in den gewöhnlichen Alltag
der Gegenwart tritt, stiftet gerade in ihrer Banalität die
Furcht des Protagonisten und des Zuschauers vor dem
Fremden in seinem eigenen Ich.
Tokyo Sonata (2008) ist hingegen ein Familiendrama,
das die seltsame Stimmung des Zeitalters der Rezession
präzise zeichnet. Die bedrohliche Krise einer Familie wird
aus den verschiedenen Perspektiven ihrer Mitglieder er-
hellt und in einer stillen, erhabenen Art überwunden. In
Kishibe no Tabi (Journey to the Shore, 2015) unternimmt
eine Frau (Eri Fukatsu) eine Reise mit ihrem verstorbenen
Mann (Tadanobu Asano). Sowohl die Grenze zwischen den
Lebenden und den Toten als auch zwischen dem Realen
und Imaginären wurden durch erstaunlich simple filmische

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Konzeptionen aufgehoben, sodass eine sinnlich wahrnehm-
bare Ambiguität des Seins zum Vorschein kommt. (Siehe
das Coverbild des vorliegenden Bandes.)
Als Hommage an La Chute de la Maison Usher (Der
Untergang des Hauses Usher, 1928) von Jean Epstein ent-
stand Dagereotaipu no Onna (Daguerreotype, 2016) in
Frankreich. Während Epstein die gleichnamige Erzählung
und zugleich Das ovale Porträt von Edgar Allan Poe adap-
tierte, greift Kurosawa auf die erste Technik der Fotografie
als furchterregendes, aber auch romantisches Medium zu-
rück, das zwischen Dies- und Jenseits vermittelt. Sanpo
Suru Shinryakusha (Before We Vanish, 2017) ist eine
Neuinterpretation von klassischen SF-Filmen mit dem Mo-
tiv der Invasion aus dem Weltall. Die Außerirdischen in
Menschengestalt zerstören die Gesellschaft der Erdbevölke-
rung, indem sie ihr das Verständnis von Begriffen wie »Fa-
milie« oder »Ich« stehlen. Dieser Vorgang entwickelt sich
rasant zur globalen Katastrophe. Hinterfragt wird hier die
raison d’être des Menschen, weswegen »ich« das Selbst bin
und wozu ich existiere, was ich für die Anderen oder der
Andere für »mich« bedeutet. Kurosawas Filme beinhalten
grundsätzlich einen Diskurs, in dem sich der Film als Me-
dium der Virtualität manifestiert, welches die Daseinsform
des Menschen erschüttert und sie dadurch zugleich zu kon-
struieren hilft.
Tabi no Owari Sekai no Hajimari (To the Ends of the
Earth, 2019) wurde in Usbekistan gedreht. Dieses frisch
wirkende, naturalistische Roadmovie vermittelt in einer
spezifischen Art der filmischen Sprache die Botschaft, dass
das Sichtbare in der Realität nicht alles ist, dass man durch
die Kamera in die Tiefe der Dinge sehen kann, und dass die
Welt an sich wunderschön und unerschöpflich ist. Der Re-
gisseur scheint das Filmische als Schlüssel anzuwenden,
der die Welt in die Tiefe hin öffnet. Mit dem Blick eines
Thanatos erhellt er das Schöne und das Glanzvolle des Le-
bens. Sein erster historischer Film (in 8K-Auflösung) Supai
no Tsuma (The Wife of A Spy, 2020) gewann einen Silber-
nen Löwen.

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Der Dokumentarfilmer Tatsuya Mori (geb. 1956) gehörte
mit Kurosawa zusammen zur studentischen Filmprodukti-
onsgruppe »Parodias Unity« an der Rikkyô-Universität.
Seine Filme A (1997) und A2 (2001) beobachten aus un-
mittelbarer Nähe die Aktivitäten der verbliebenen Anhän-
ger der Aum-Sekte nach ihren terroristischen Attentaten
(vor allem den Giftgas-Anschlägen in Tokyoter U-Bahn­
höfen 1995). Dadurch entsteht paradoxer Weise eine­
Dokumentation über das ethisch fragwürdige Verhalten der
Medien. Fake (2014) begleitet den Alltag von Mamoru Sa-
muragôchi, der als »japanischer Beethoven« eine Schwer-
hörigkeit vortäuschte und dabei einen Ghostwriter für seine
Kompositionen engagiert hatte. Der Regisseur geht auf seine
alogischen Argumentationen konsequent ein, um das durch
die Medien erschaffene Feindbild in Frage zu stellen. Als
Filmemacher, Buchautor und Aktivist setzt Mori sich tat-
kräftig gegen die aktuellen Verwerfungen der Gesellschaft
und deren mediale Widerspiegelung ein.
Für Akihiko Shiota (geb. 1961) ist der analytische Blick
von Robert Bresson, der mit subtilen Gebärden der Schau-
spieler ein Universum konstruiert, ein Vorbild. Shiotas
Filme zeichnen sich durch die naturalistische Entfaltung
komplexer emotionaler Prozesse aus. Gekkô no Sasayaki
(Moonlight Whispers, 1999) stellt die sadomasochistische
Beziehung eines Schülerpaars dar. Kanaria (Canary, 2005)
beleuchtet in einer feinfühligen Annäherungsweise die
enigmatische Innenstruktur der Aum-Sekte aus der Per-
spektive eines Kindes. Das Roadmovie Sayonara Kuchi-
biru (Farewell Song, 2019) thematisiert eine Dreiecksbe-
ziehung in einer Musikband. Unabhängig von der Schwere
des Themas erforscht der Regisseur mit seiner scharfen Fo-
kussierung den inneren Mikrokosmos des Menschen.
Der Meister des J-Horrors, Hideo Nakata (geb. 1961), war
ein Hasumi-Schüler an der Tokyo-Universität. Er formte
seinen ersten Horrorfilm Joyû-rei (Don’t Look up, 1996)
nach einer Inspiration durch La Nuit américaine (Die ame-
rikanische Nacht, 1973) von François Truffaut. In beiden
Filmen wird der Prozess des Filmemachens dargestellt. In
der japanischen Fassung bemerkt ein Regisseur bei einer

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Sichtung, dass in dem gedrehten Material noch ein anderer
Film durchscheint, den er als Kind gesehen hat. Die rätsel-
hafte Erinnerung wird so dargestellt wie ein immer wieder-
kehrender Kindheitstraum des von Truffaut selbst verkör-
perten Regisseurs in seinem Film. Während in diesem ein
Schauspieler verunglückt, stirbt bei Nakata eine Schauspie-
lerin eines unnatürlichen Todes. Das Filmstudio ist von­
einem Gespenst und vom virtuellen Medium des Films
selbst verflucht. Mit der Fusion des Spirituellen und des
Medialen begründete Nakata regelrecht ein gänzlich neues
Horrorgenre.
Ringu (Ring – Das Original, 1998) treibt den Schauder
dieses Genres auf die Spitze. Wer ein verfluchtes Video an-
sieht, stirbt innerhalb einer Woche. Der Akt des Sehens, der
im Mittelpunkt der cineastischen Schule steht, wird hier
zur Fesselung des Publikums instrumentalisiert. Unser
Blick simuliert automatisch den der ahnungslosen Figuren
und kann nicht mehr umhin, diesen in unserer eigenen
Imagination fortzusetzen. Hautnah empfinden wir dann die
Bedrohung der allgegenwärtigen elektronischen Medien,
die sich zum Jenseits hin öffnen. Schließlich kriecht ein
verstorbenes Mädchen physisch aus dem Monitor heraus,
wie bei der Laterna Magica der frühen Kinematografie. Die-
ser Moment der imaginativen Überschreitung des Horrors
aus dem Medium hinaus ist ein Gipfel an neuen Schreck-
erlebnissen im Kino. Das Gefühl der nicht aufzulösenden
Unbegreiflichkeit, das der Film hinterlässt, macht seine be-
sonders furchterregende Qualität aus. Ring wurde im An-
schluss als Serie vervielfacht und machte den J-Horror zur
internationalen Mode, in der viele Remakes entstanden, die
aber niemals die sensuelle Zuspitzung des Originals er-
reichten. Nakata schuf später Kaidan (2007) als Hommage
an Nobuo Nakagawas ersten und bereits exzellenten Ge-
spensterfilm Kaidan Kasanegafuchi (Ghost Story of
Kasane Swamp, 1957). Wie der Vorgänger lotete auch Na-
kata die Tiefe des Genres und eine feine Ästhetik des Ver-
schwindens aus.
Der jüngere Rikkyô-Cineast Shinji Aoyama (geb. 1964)
zeichnet sich durch seine bildästhetische und musikalische

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Filmwelt aus. Seinen ersten Spielfilm Helpless (1996)
drehte er mit dem Kameramann Masaki Tamura. Geschil-
dert wird ein einziger Sommertag, an dem ein junger Mann
(Tadanobu Asano) die Kontrolle über sein Leben verliert.
Die Kamera wandelt völlig losgelöst von den agierenden
Figuren, um die Gleichzeitigkeit ihrer unterschiedlichen
Erfahrungen zu markieren. Wie Godard verwendet Aoyama
eine destruktive Montage und dissonante Musik. Die zer-
brochene Formation von Zeit und Raum widerspiegelt die
Bestürzung des Protagonisten vor einer befremdlich er-
scheinenden Welt und kreiert einen Freiraum der Imagina-
tion für den Zuschauer.
Mit dem 217 Minuten langen Panavision-Cinemascope-
Film Yuriika (Eureka, 2000) erreichte Aoyama einen Welt-
erfolg. Ein Fahrer (Kôji Yakusho) und ein Geschwisterpaar
überleben eine blutige Bus-Entführung. Aoyama stellt in
einem langsamen, filmästhetischen Prozess präzise dar, wie
tief die Opfer eines Verbrechens traumatisiert und stigmati-
siert werden. Die drei Figuren schließen sich zusammen
und brechen zu einer langen Busreise auf, um ihr zerbro-
chenes Inneres zu heilen. An dieser Stelle scheint der Film
in der Mitte erneut anzufangen. Der Roadmovie-Teil erin-
nert an die Darstellung des reinen Vergehens von Zeit beim
frühen Wim Wenders. Die feine Oberflächenästhetik und
der Einsatz von Farbe in diesem monochromen Film ori-
entieren sich an Andrej Tarkowski. Masaki Tamuras dyna-
mische Panoramaaufnahmen der Landschaften verweisen
offenbar auf Theo Angelopoulos. Die drei Künstler stellten
die Ikonen des Hasumi-Seminars dar. Hier wird durch eine
monumentale Zusammensetzung der großen Stile der Kon-
templation ein neuer Mythos des Auffindens der lebendi-
gen, hoffnungserfüllten Welt geschaffen.
Eine abstraktere Fortsetzung dieses Films findet sich in
Eli, Eli, Lema Sabachthani? (My God, My God, Why
Hast Thou Forsaken Me?, 2005). Es herrscht eine Virus-
Epidemie, welche die Menschen mit Suizidsucht infiziert.
Nur die Musik eines Duos wirkt als Immunisierung. Tada-
nobu Asano und der Noise-Künstler Masaya Nakahara er-
zeugen einen tobend lauten Sound-Mix, der unter freiem

13 Die cineastische Schulehttps://doi.org/10.5771/9783967074796 99


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Himmel dröhnt. Die von Tamura gefilmten idyllischen
Landschaften zerfallen in magischen VFX-Effekten. Durch
die affirmative Kraft der Kunst wird versucht, eine Welt
der Transzendenz zu erreichen, die das irdische Leid erlö-
sen soll. Mariko Okada und Yûsuke Kawazu, die den Geist
der Shôchiku-Nouvelle-Vague verkörpern, werden in die-
sem neuzeitlichen Experimentalfilm mit Gastauftritten ge-
ehrt. Aoyamas späteres Werk Tôkyô Kôen (Tokyo Park,
2011) zeigt erneut eine kreative Modifikation von filmhis-
torischen Mustern. Ein Amateurfotograf wird beauftragt,
eine Frau, die immer in verschiedenen Parks auftaucht,
heimlich zu fotografieren, wie in Blow Up (1966) von Mi-
chelangelo Antonioni. Tokyo Park ist auch unverkennbar
eine Hommage an Yasujirô Ozu. Das Schuss-Gegenschuss-
Verfahren sowie der Blickaustausch aus einer großen
Ferne, welche typisch für den Altmeister waren, werden
eingesetzt, um die heimliche, kontaktlose Kommunikation
unter den Figuren zu charakterisieren. Der Film erinnert
erneut an die Lehre der cineastischen Schule, dass der
Film die Kunst ist, die uns einen Diskurs über das Sehen
eröffnet.

14 Dokumentarismus und Fiktion

Die Tradition des Dokumentarfilms wurde von Vorläufern


wie Fumio Kamei, Susumu Hani, Shinsuke Ogawa, Noriaki
Tsuchimoto und Kazuo Hara (geb. 1945) an die nächste Ge-
neration weitergegeben. Hara erregte Aufsehen durch Yuki
Yukite Shingun (Vorwärts, Armee Gottes!, 1987), der
einen radikalen Kaisergegner porträtiert. Ogawa trug tat-
kräftig dazu bei, das internationale Dokumentarfilmfestival
von Yamagata im Jahr 1989 als Forum zur Entdeckung von
neuen Talenten zu etablieren. Auch die Kameraästhetik von
Masaki Tamura von der Ogawa-Produktion unterstützte die
Nachwuchsregisseure in diesem Genre entscheidend. In
den 1990er Jahren traten Autorinnen und Autoren hervor,

100 14 Dokumentarismus und Fiktion


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die im Bereich des Dokumentarfilms begannen und später
innovative, dokumentarische Spielfilme drehten, allen vo-
ran Hirokazu Koreeda und Naomi Kawase. Diese Strömung
stellt eine Parallele zur taiwanesischen Nouvelle Vague der
1980er und 1990er Jahre dar. Die ruhige, kontemplative
Szenenführung bei Hou Hsiao-Hsien und Edward Yang be-
einflusste die dokumentarisch inszenierten Spielfilme die-
ser Autoren unmittelbar. Eine Querverbindung zum däni-
schen Dogma-95-Manifest ist ebenfalls ersichtlich. Heute
sind die Regisseure der dokumentarischen Schule interna-
tional, vor allem in Frankreich, erfolgreich, sodass sie dort
vielerlei Kooperationsmöglichkeiten wahrnehmen.
Der Kategorie des Dokumentarismus ist auch Nobuhiro
Suwa (geb. 1960) zuzuordnen, der an der Tokyo-Zôkei-­
Universität Film studierte. Seine frühen Spielfilme 2/Duo
(1997) und M/OTHER (1999) machten ihn durch seine Me-
thode des »Films ohne Drehbuch« bekannt. Die Schauspie-
ler spielen die Figuren in einer freien Improvisation. Der
Kameramann Masaki Tamura wurde zur intensiven Beob-
achtung und Spontaneität aufgefordert. Eine vom Zwang
des Erzählens losgelöste filmische Realität entsteht in einer
vitalen Jetztzeit. Dieser Drehstil zeigt eine Nähe zu Jacques
Rivette und zum amerikanischen Dokumentarfilmer Robert
Kramer, den Suwa als Lehrer ansieht.34 In seiner französi-
schen Produktion Le Lion est Mort ce Soir (The Lion
Sleeps Tonight, 2017) filmt ein Kinder-Drehteam Jean-
Pierre Léaud, der die Rolle eines alternden Schauspielers
spielt. Kaze no Denwa (Voices in the Wind, 2020) ist ein
Roadmovie, in dem eine nach Hiroshima evakuierte Schü-
lerin in ihren Heimatort Ôtsuchi (Präfektur Iwate) fährt, wo
sie ihre Familie durch den Tsunami verloren hat. Suwas
unveränderte Methode der Improvisation bietet hier ein er-
staunlich reiches Potenzial des freien Erzählens für das
schwer behandelbare Thema des Tôhoku-Erdbebens 2011.
Die herausragenden Schauspieler seiner Frühwerke (Ma-
kiko Watanabe, Tomokazu Miura und Hidetoshi Nishijima)

34 Nobuhiro Suwa, Dare mo hitsuyô to shite inai kamo shirenai, eiga no kanôsei no ta-
meni, Tokyo 2020.

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Fiktion 101
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spielen beeindruckende Nebenrollen. Die Figuren wachsen
in die filmische Welt hinein, um gemeinsam ein authenti-
sches Gefühl für das Sujet zu entwickeln.
Nach einem Studium der Filmwissenschaft an der Wa-
seda-Universität arbeitete Hirokazu Koreeda (geb. 1962) bei
einer Fernsehproduktionsfirma. Zunächst drehte er eine
Reihe von für seine späteren Spielfilme signifikanten Do­
kumentarfilmen. Kioku ga Ushinawareta Toki (Without
Memory, 1996) schildert den Alltag eines Mannes, der we-
gen einer Amnesie nur noch über ein Kurzzeitgedächtnis
verfügt. An jedem Drehtag stellt sich das Team erneut bei
ihm vor. Die Thematisierung eines individuellen Aspekts
der gesellschaftlichen Realität und die Reflexion des fil-
menden Subjekts charakterisieren seine Werke. Sein Spiel-
film Wandafuru Raifu (After Life, 1998) erfindet die Fa-
bel, dass man nach dem Tod bei einer Station ankommt, in
der man seine schönste Erinnerung verfilmen lässt, um
dann ins Jenseits überzugehen. Im Stil eines Interviews
werden fiktive und auch reale Personen nach dem schöns-
ten Erlebnis ihres Lebens befragt. Wer sich nicht entsinnen
kann, bekommt ein VHS-Archiv mit Aufnahmen aus seiner
gesamten Lebenszeit zur Verfügung gestellt. In Form eines
Making-ofs werden dann die Dreharbeiten geschildert. Nach
der Aufführung des fertigen Films verschwindet dessen
»Hauptdarsteller«. Der Film beleuchtet viele Aspekte des
Lebens und des Filmemachens als Summe von Gedächtnis,
Gefühl, Liebe, Lüge und Wahrheit und stiftet das Publikum
zum innerlichen Mittun bei diesem Denkspiel an.
In Distance (2001) entwickelt sich die Filmhandlung
sehr langsam aus dokumentarischen Alltagsbeschreibun-
gen heraus. Eine Gruppe Hinterbliebener von Anhängern
einer religiösen Sekte, die terroristische Taten begingen
und danach ausgelöscht wurden, treffen sich zu deren ge-
meinsamen Todestag bei ihrer letzten Bleibe. Die Akteure
spielen improvisierend, als ob alle Gespräche vor der­
Kamera entstünden. Fragile, eindrucksvolle Rückblenden,
die unvermittelt eingefügt werden, wirken ebenso doku-
mentarisch. Durch das langsame, sensible Verfolgen der Zu­
sammenkunft offenbart sich das unaussprechliche Innere

102 14 Dokumentarismus und Fiktion


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der anwesenden Figuren. Die kolossale Distance (2001)
Einsamkeit der Menschen, die ihre unbe- von Hirokazu Koreeda
dingt benötigte Erlösung in irrationalem
Fanatismus suchten, und die profunde Fassungslosigkeit
der Hinterbliebenen finden hier eine offene, sensibilisie-
rende Form der Rekonstruktion.
Koreedas weitere, diskursive Ansätze für Familiendra-
men Dare mo Shiranai (Nobody Knows, 2002), Aruitemo
Aruitemo (Still Walking, 2008) und Soshite Chichi ni
Naru (Like Father, Like Son, 2013) kulminieren in Man-
biki Kazoku (Shoplifters – Familienbande, 2018), der mit
der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Die Rezession
und der daraus resultierende mentale Verfall der Gesell-
schaft sind nun so weit fortgeschritten, dass die Familie
nicht mehr als solche funktioniert. Nicht verwandte Men-
schen bilden eine Lebensgemeinschaft, die durch kleine
Verbrechen überlebt. Hier sind alle aktuellen Probleme Ja-
pans zusammengefügt; wie Vernachlässigung der Kinder,
Jugendkriminalität sowie Isolation der alten Menschen und
Rentenbetrug. Die von Enge und Unordnung geprägten Bil-
der drücken die reale, latente Armut im Lande des ehema-
ligen Wirtschaftswunders aus. Man fühlt sich an die Misere
der Nachkriegszeit erinnert, die Mikio Naruse visualisierte,

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Fiktion 103
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dem Koreeda seine Hochachtung schenkt. Nach und nach
ähnelt das Porträt dieser Verbrecherbande dem einer tradi-
tionellen, harmonischen Familie. In Frankreich realisierte
Koreeda anschließend Shinjitsu (La Vérité – Leben und
Lügen lassen, 2019) mit Catherine Deneuve und Juliette
Binoche. Er greift auf das Konzept von After Life zurück,
um die Wechselbeziehung der Fiktion und der Realität im
Leben in Bezug auf die internationale Filmgeschichte zu
diskutieren.
Im Anschluss an ihr Kunstgeschichte-Studium an der
Waseda-Universität sammelte Miwa Nishikawa (geb. 1974)
Praxis bei Suwa und Koreeda. Sie entwickelte einen indi­
viduellen, verfeinerten Stil, in dem die Schauspieler sou­
verän spielen und die Bilder selbst sprechen. Dennoch
sind ihre Filme durch ihre Drehbücher strikt funktional
strukturiert, um die Komplexität der menschlichen Psyche
aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Yureru
(Sway, 2006) ist ein neuzeitliches Rashomon, in dem der
Film selbst die dargestellte Wahrheit variiert. Nagai iiwake
(The Long Excuse, 2016) setzt sich mit dem Thema des
Verlusts einer Lebenspartnerin auseinander. Mit ihrer sub-
tilen Erzählweise veranschaulicht Nishikawa, welch einen
tiefen Abgrund ein scheinbar geringfügiges Problem auf-
reißen und was für fatale Wendungen das Leben bereithal-
ten kann.
Naomi Kawase (geb. 1969) absolvierte eine Fachschule
für Fotografie und erregte durch ihre fotopoetischen, auto-
biografischen Arbeiten erste Aufmerksamkeit auf dem Do-
kumentarfilmfest in Yamagata. Mit ihrem ersten Spielfilm
Moe no Suzaku (Suzaku, 1997) wurde sie die jüngste Ge-
winnerin der Caméra d’Or in Cannes. Der Film schildert
den Alltag einer Familie in einem Berggebiet in einem
schlichten realistischen Stil. Kawase kooperierte mit dem
kongenialen Kameramann Masaki Tamura, um eine mysti-
sche Berglandschaft und eine sanfte Zeitlichkeit im ländli-
chen Leben einzufangen. Äußerst feinfühlig entwickelt sich
die Geschichte der ersten Liebe einer Schülerin, die dann
leise ausklingt.

104 14 Dokumentarismus und Fiktion


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In Tarachime (Tarachime – Geburt und Mutter-
schaft, 2006) dokumentiert die Regisseurin den Tod ihrer
Adoptivmutter und die Entbindung ihres eigenen Kindes,
wodurch sie die Ansätze von Stan Brakhage (Window­
Water Baby Moving, 1959) und Kazuo Hara (Kyokushi-
teki Erosu Koiuta 1974 / Extreme Private Eros: Love
Song 1974, 1974), eine Geburt als Elternteil aus unmittel-
barer Nähe zu filmen, noch weiter radikalisierte. Mogari
no Mori (Der Wald der Trauer, 2007), der den Grand Prix
in Cannes erhielt, thematisiert das Altern und den Tod.
Kawase rief eine Filmemacher-Kooperative zum Tôhoku-
Erdbeben im Jahr 2011 ins Leben. Für den Omnibusfilm
3.11 Sense of Home (2011) wurden 21 Beiträge geliefert,
die jeweils 3 Minuten 11 Sekunden lang sind. Die Namen
der Teilnehmer wie Jonas Mekas, Apichatpong Weerasetha-
kul und Jia Zhangke verweisen auf den Kontext von Kawa-
ses Arbeit in der internationalen Avantgarde. Anschließend
filmte sie erzählerischer und sozial engagierter mit euro-
päischen Produzenten und mit renommierten Schauspiele-
rinnen wie Kirin Kiki (An / Kirschblüten und rote Boh-
nen, 2015) und Juliette Binoche (Vision / Die Blüte des
Einklangs, 2018). Kawase sollte auch den offiziellen Doku-
mentarfilm zur ursprünglich im Jahr 2020 geplanten Tokyo-
Olympiade drehen.
Auch Yang Yong-hi (geb. 1964) ist für ihre autobiografi-
schen Dokumentarfilme bekannt. Sie gehört zur zweiten
Generation der in Japan lebenden Koreaner und Koreane-
rinnen und studierte Medienwissenschaften in New York.
In Dear Pyongyang (2005) richtet sie ihre Kamera auf ih-
ren Vater, der als überzeugter Kommunist seiner Heimat
Nordkorea treu bleibt, und versucht, seine innersten Wahr-
heiten zu erkunden. Der Spielfilm Kazoku no Kuni (Our
Homeland, 2012) basiert auf der tatsächlichen Geschichte
ihres Bruders, der als Jugendlicher nach Pjöngjang ge-
schickt worden war und nun kurz seine Familie in Osaka
besuchen darf. Diese bewegenden Filme erhellen die his-
torischen und gegenwärtigen Probleme zwischen Nordko-
rea und Japan, die man noch nie in dieser unmittelbaren
Art hatte erfahren können.

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Fiktion 105
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Mit einem ganz anderen Fokus arbeitet Naoko Ogigami
(geb. 1972), die Visuelle Technologie an der Universität
Chiba und Film an der University of Southern California
studiert hat. Sie begründete ihr eigenes Genre von märchen-
haften Filmen, in denen die Erscheinungsformen der Reali-
tät nur minimal arrangiert werden. In ihnen begegnet man
stets einer kleinen, utopischen Gesellschaft, in der Be­
teiligte und Betrachter in einem langsamen Prozess dahin
versetzt werden, sich selbst zu öffnen. Bâbâ Yoshino (Yo­
shino’s Barber Shop, 2004) stellt den Widerstand von
Grundschul-Schülern gegen eine traditionelle Frisurvor-
schrift dar. In Kamome Shokudô (Kamome Diner, 2006)
wird ein japanischer Imbiss in Helsinki eröffnet. Hier zeigt
Ogigami ihre Nähe zum schlichten Erzählstil von Aki Kau-
rismäki, in dem die Typologie der Figuren an sich schon
die wesentlichen Züge der filmischen Welt trägt. Megane
(Glasses, 2007) präsentiert ein Modell der meditativen
Selbstanschauung durch die inneren Resonanzen in einer
Gemeinschaft und in der Natur. In Karera ga Honki de
Amu Toki wa (Close-Knit, 2017) wird ein von ihrer Mutter
vernachlässigtes Mädchen von einem schwulen Paar auf-
genommen. Das Thema der Transsexualität wird aus einer
konstruktiven, fantasievollen Alternativperspektive ange-
gangen. Die subtile, poetisch-emotionale Anschauungsform
der Regisseurin zeigt eine zarte Heilwirkung, die den Zu-
schauer zu Intersubjektivität einlädt.

15 Die neue Generation

Der Lehman-Schock (2008) und das Tôhoku-Erdbeben


(2011) haben beide eine langanhaltende Nachwirkung in
der Filmproduktion Japans hinterlassen. Die Rezession
brachte eine zunehmende Tendenz des Konservatismus der
Politik zum Vorschein, die strikt wirtschaftsorientiert ist
und den Bereich Film weiterhin wenig fördert. In dieser
schweren Phase ist jedoch oder erst recht eine Reihe von

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innovativen Künstlern hervorgetreten. Bereits international
bekannt sind die erfolgreichen Nachkommen der cineasti-
schen Schule wie Ryûsuke Hamaguchi und Kôji Fukada.
Eine weitere große Schule entstand an der Kunsthoch-
schule Osaka (Ôsaka geijutsu daigaku), zu der Kazuhiro
Kumakiri und Nobuhiro Yamashita gehören. Die Autoren
dieser neuen Generation suchen sowohl organisatorisch als
auch ästhetisch neue Wege des Filmschaffens.
Eine glänzende Fusion der cineastischen und der doku-
mentarischen Schule findet sich bei Ryûsuke Hamaguchi
(geb. 1978). Er studierte Literaturwissenschaft an der To-
kyo-Universität und Filmpraxis an der Kunsthochschule
Tokyo (Tôkyô geijutsu daigaku) bei Kiyoshi Kurosawa und
Nobuhiro Suwa. Mit Kô Sakai (geb. 1979) zusammen reali-
sierte er die Dokumentarfilme der Tôhoku-Trilogie Nami no
Oto (The Sound of Wave, 2011), Nami no Koe Kesen-
numa (Voices of the Waves: Kesennuma, 2013) und Nami
no Koe Shinchimachi (Voices of the Waves: Shinchi­
machi, 2013). Das Mammutwerk konzentriert sich auf die
Dialoge von Menschen, die das Erdbeben und den Tsunami
vom 11.3.2011 erlebt haben. Als eine Fortsetzung filmte das
Team 2013 Utau Hito (Storytellers), der die Aktivitäten
einer Volkssagen-Forscherin dokumentiert. Das Sensatio-
nelle an diesem ganzen Projekt ist, dass das Schuss-Gegen-
schuss-Verfahren von Yasujirô Ozu für die dokumentari-
sche Situation von Interviews benutzt wurde. Die frontale,
etwas seitlich versetzte Gegenüberstellung von zwei Men-
schen, die das berühmte, nicht eintretende Eye-Line-Match
verursacht, erweist sich hier als Mittel, die Gespräche of-
fen, unmittelbar und bewegend in Szene zu setzen. Da-
durch wurde das lebendige Gedächtnis der persönlichen
Erfahrungen und deren authentische Artikulation aufge-
zeichnet.
Die Erfahrung mit seinen Dokumentarfilmen überzeugte
den Regisseur davon, dass ein Film auch mit minimaler
Ausrüstung realisierbar ist. Hamaguchi drehte den 315 Mi-
nuten langen Film Happy Hour (2015) mit den Mitteln­
einer Künstlerresidenz in Kôbe und zum Teil als Crowd­
funding-Projekt. Es handelt sich um eine feministische

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Version von Husbands (1970) von John Cassavetes, in dem
ein äußerst professionelles, improvisatorisches Schauspiel
entfaltet wird. Vier Hauptdarstellerinnen, die bei Hamagu-
chi zum ersten Mal Filmrollen übernahmen, bekamen die
Preise als beste Schauspielerinnen auf dem Locarno Film
Festival. Der Betrachter fühlt sich gänzlich in den dynami-
schen Echtzeit-Prozess der Selbstfindung der Heldinnen
verwickelt. Hamaguchis Cannes-Beitrag Netemo Sametemo
(Asako I & II, 2018) ist eine romantische Liebesgeschichte
mit dem Doppelgänger-Motiv und auch mit einer interes-
santen Art der Integration der Erdbeben-Erfahrungen. Die
Kultur des Blicks und die Selbstreflexion des Films, die
von der cineastischen Schule ererbt wurden, zeigen sich in
einer erfrischenden, neuartigen Ausführung. Mit Gûzen to
Sôzô (Wheel of Fortune and Fantasy) gewann Hamagu-
chi einen Silbernen Bären 2021.
Parallel zu seinem Literaturstudium an der Taishô-Uni-
versität besuchte Kôji Fukada (geb. 1980) die Film School of
Tokyo (Eiga Bi Gakkô), an der u. a. die Regisseure der cine-
astischen Schule unterrichten. Zunächst arbeitete er bei
Shinji Aoyama, dessen Einfluss in seinem Werk unverkenn-
bar ist. Erfahrungen sammelte er auch im Theater und im
Animationsfilm. Fukada erneuert durch seine individuelle
Ästhetik und Erzählweise tatkräftig den japanischen Film.
Der vitale Look seiner Werke zeigt endlose Variationen der
malerischen und fotografischen Finesse. Der akustische
Raum seines Films wird durch ein subtiles Sound-Design
voluminös und luftig geformt. Seine dynamische Anwen-
dung der Aufnahme- und Montagetechnik deutet stets auf
unbekanntes Potenzial der filmischen Gestaltungsweise
hin. Der Regisseur zeigt eine besondere Fähigkeit, das Mys-
terium der Welt in einer komplexen Implikation offenzule-
gen. Er behandelt globale Probleme und politische Themen,
ohne eine eindeutige Botschaft oder Schlussfolgerung an-
zubieten; vielmehr regt er einen metaphysischen Diskurs
darüber an.
Hotori no Sakuko (Au Revoir L’Été, 2013) zeigt die
Grundlage seiner Filmwelt, die sich durch symbolische
Wasserlandschaften, lange Konversationen bei Spazier­

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gängen und anrührend schöne Fi- Sayônara (Sayonara, 2015)
gurendarstellungen kennzeichnet, von Kôji Fukada
wobei er Éric Rohmer als Vorbild
nennt.35 Sayônara (Sayonara, 2015, nach einem Theater-
stück von Oriza Hirata) visualisiert die melancholische
Endzeit eines Japans nach einer Atomkatastrophe in einer
nahen Zukunft in der Bildlichkeit von Andrew Wyeth, An-
drej Tarkowski und Alexander Sokurow. Die Filmheldin
wartet mit einem Androiden auf eine Asylgenehmigung,
während sie eine vieldeutige Unterhaltung zum Thema
memento mori führen.
Das Psychodrama Fuchi ni Tatsu (Harmonium, 2016)
versucht die unergründliche Tiefe der Innenwelt des Men-
schen zu veranschaulichen, wobei der Prozess ihrer Offen-
barung rein filmästhetisch vollzogen wird. Der Aufstand
der Zeichen, mit dem Kiyoshi Kurosawa experimentiert,
erzielt hier einen intensiven, realistischen Effekt. Umi o
Kakeru (The Man from the Sea, 2018), der auf der Insel
Sumatra gedreht wurde, gleitet gänzlich in die Fantasie ab,

35 Kôji Fukada, »Ouchi de miru Romêru / matawa kokonotsu no gûzen«, auf der Website
einer Éric-Rohmer-Retrospektive 2020: https://www.thecinema.jp/special/rohmer/
column/ (letzter Zugriff: 15.2.2021).

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um die komplexe historische Problematik zwischen Indo-
nesien und Japan in einer rätselhaften, magischen Vision zu
allegorisieren. Yokogao (A Girl Missing, 2019; wörtlich:
Seitenprofil) erforscht auf bemerkenswerte Weise die Dop-
peldeutigkeit der Realität. Die Figuren werden vornehm-
lich von der Seite gezeigt, die Handlungszeit ist in parallel
laufende Vergangenheit und Gegenwart gespalten. Durch
diese Darstellungsweise wird zunehmend die Ambiva-
lenz in den menschlichen Eigenschaften und Gefühlen ent-
hüllt. Eine Verfilmung des Mangas von Mochiru Hoshisato,
Honki no Shirushi (The Real Thing, 2020), wurde zu-
nächst als TV-Serie und dann als 232-minütige Kinofassung
zusammengestellt. Die höchst nervenaufreibende, absurde
Liebesgeschichte, in der eine neuzeitliche Femme fatale das
Leben eines Mannes in unwiderstehlich koketter Art und
Weise ruiniert, wird spritzig und spannend erzählt. Ange-
sichts der Corona-Krise gründete Fukada mit Ryûsuke Ha-
maguchi 2020 die Crowdfunding-Initiative »Mini Theater
Aid Fund«.
Auch der interessante Einzelgänger Shinichirô Ueda
(geb. 1984) beweist, dass ein Low-Budget-Film mit einer­
innovativen Idee Welterfolg erlangen kann. In Kamera o
Tomeruna! (One Cut of the Dead, 2017) arbeitet ein­
Drehteam an einem Zombie-Film, wobei es von »echten«
Zombies überfallen wird. Der Lauf der Ereignisse wird
durch eine einzige, 37 Minuten lange Plansequenz verfolgt.
Daran schließt sich ein Making-of an, das preisgibt, wie
diese einzige Einstellung entstanden ist.
Die Souveränität und Leichtigkeit beim Akt des Film-
drehens, die Hamaguchi, Fukada und Ueda demonstrieren,
tritt auch bei Tetsuya Mariko (geb. 1981) dynamisch zutage.
Er studierte Literaturwissenschaften an der Hôsei-Uni­
versität und Film an der Kunsthochschule Tokyo. Er lässt
die Akteure an einem realen Schauplatz spielen, um die
Grenze zwischen der Fiktion und der Realität aufzulockern.
In Destruction Babies (2016) randaliert ein junger Mann
ohne jegliche Gründe unablässig in der Küstenstadt­
Matsuyama. Die Gewaltaktionen werden bald von den
Nachrichten­medien übertragen, wobei sich das Reale und

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dessen aufbereitete Wiedergabe rasant ineinander ver-
schachteln. Der Kameramann Yasuyuki Sasaki, der von der
gleichen Kunstuniversität stammt, verfolgt den Prozess mit
leichtfüßiger Spontaneität im dokumentarischen Stil. Zu-
gleich komponiert er mit nuancenreichen Lichteffekten
eine nostalgische Stadtlandschaft. Das feine Sound-Design
hallt in der geografischen Größe der Ortschaft nach. Der
Film veranschaulicht die zeitgenössischen Parallelwelten
der physischen und der virtuellen Realitäten in einer kon-
zeptuellen, abstrakten Form, um ein handfestes Lebensge-
fühl unserer Zeit in dieser Ambiguität zu konstituieren. Auf
ein Manga von Hideki Arai aus den frühen 1990er Jahren
greift er als Vorlage für die Fernsehserie Miyamoto kara
Kimi e (From Miyamoto to You, 2018, Kinofassung 2019)
zurück, um die Geschichte des leidenschaftlichen Lebens
eines jungen Angestellten in voller Aktion und Emotion
wiederzubeleben.
In den zuletzt entstandenen Zweigen der cineastischen
Schule bleibt das Prinzip des Experimentierens im Vor­
dergrund. Yui Kiyohara (geb. 1991) veranschaulicht in­
ihrem Abschlussfilm an der Kunsthochschule Tokyo,­
Watashitachi no Ie (Our House, 2017), wie es aussieht,
wenn ein Haus in verschiedenen Dimensionen gleichzeitig
­existiert. Die Architektur befindet sich in einer labyrin­
thischen Dehnung anhand audiovisueller Andeutungen
ohne aufwendige Tricks. Die Protagonistin begibt sich in
einer imaginativen Erweiterung ihrer Umgebung auf die
Suche nach einer handfesten Realität. Die Regisseurin rea-
lisiert eine vierte Dimension des filmischen Raums, indem
sie die Tradition von Yasujirô Ozu und Kiyoshi Kurosawa
erneuert.
Von der Filmabteilung der Kunsthochschule Osaka, an
der Kazuki Ômori und Kazuo Hara lehren, ist eine Reihe
von Nachwuchsregisseuren hervorgegangen, die sich durch
harten Realismus, eine tiefgründige Dramaturgie und in-
tensive Emotionalität charakterisieren. Sie reflektieren un-
mittelbar die Realität der »Lost Generation« in der Zeit der
Dauerrezession. Wegen ihrer Tendenz zu einer lockeren
und persönlichen Erzählweise wird diese Schule nach der

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seit dem Millenium aufgekommenen New Yorker Indepen-
dent-Film-Welle »Osaka-geidai-Mumblecore« genannt.36
Der Initiator dieser Schule ist Kazuyoshi Kumakiri (geb.
1974), der schon im Jahr 1998 mit seiner Abschlussarbeit
Kichiku Dai Enkai (Kichiku – Banquet of the Beast) de-
bütierte. Dieser an die Geschichte der Selbstjustiz der japa-
nischen Roten Armee angelehnte Splatterfilm schockierte
das Publikum der internationalen Filmfestspiele. Inzwi-
schen schuf er eine Reihe von humanistischen Dramen,
denen jedoch dämonische und surreale Züge innewohnen.
Bevorzugt dreht er in seiner Heimat Hokkaidô mit gut orga-
nisierten lokalen Filmkommissionen. Kaitan-shi Jokei
(Sketches of Kaitan City, 2010) ist die erste Folge einer
Trilogie, die in der Stadt Hakodate spielt und nach den Vor-
lagen des Schriftstellers Yasushi Satô von zwei Regisseuren
und einer Regisseurin der Osaka-Schule realisiert wurde.
Kumakiris Beitrag besteht aus fünf Episoden, die lose­
miteinander zusammenhängen. Es wird jeweils im strikt­
realistischen Stil die tiefe Trauer der Menschen über die
Unwiederholbarkeit der Glücksmomente in der Familie ge-
schildert. Kumakiri nutzt die Stadtgeografie bildästhetisch,
akustisch und dramaturgisch effektiv aus. Durch das Mit-
wirken der tatsächlichen Stadtbewohner und auch mittels
der echten Kulissen wird ein lebendiges, heimeliges Gefühl
vermittelt. Mit seiner nachklingenden, tiefen Emotionalität
und metaphorischen Komplexität wirkt der Film so über-
wältigend wie eine Mischung zwischen dem Dekalog
(1989) von Krzysztof Kieślowski und Still Life (2006) von
Jia Zhangke.
Der in Moskau mit dem Hauptpreis (Goldener Georg)
ausgezeichnete Film Watashi no Otoko (My Man, 2014)
behandelt eine inzestuöse Beziehung zwischen einem Vater

36 Naoto Mori, »Nihon eiga no nyû fêzu e (zenpen)«, in: https://realsound.jp/movie/


2018/10/post-265239_2.html (letzter Zugriff: 15.2.2021). »Geidai« ist eine Abkürzung
von »Geijutsu Daigaku« (Kunsthochschule). Der Begriff »Mumblecore« wurde aus
dem Wort »mumble« (murmeln) geschöpft. Der New Yorker Mumblecore charakteri-
siert sich durch seine Low-Budget-Produktionen, Improvisation und soziale Themen-
behandlung. Als vertretende Regisseure seien Andrew Bujalski und Mark Duplass
genannt. Siehe: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&
id=6588 (letzter Zugriff: 15.2.2021)

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(auch hier Tadanobu Asano) und seiner Tochter (Fumi Ni-
kaidô). Kumashiros Ex-Kommilitone und Kameramann
Ryûto Kondô verwendete drei verschiedene Filmmateria-
lien in Cinemascope-Breite – je nach den einzelnen Phasen
der Handlung. Die düstere, aber auch etwas verträumte
Kindheit der Heldin auf der Insel Okushiri wird auf 16-mm-
Film grobkörnig und leicht verwischt eingefangen. Ihre zu-
nächst heitere und folgenschwere Pubertät in der Hafen-
stadt Monbetsu hingegen wird in 35 mm in einer frischen
Klarheit dokumentiert. Die befremdende Zuflucht des Paa-
res in Tokyo erscheint kühn in einer digitalen Glattheit. Die
akustische Umgebung der Handlung dringt in das Innere
der Figuren ein wie ein Schall aus den Tiefen des Univer-
sums. Die filigrane, plastische Musikkomposition von Jim
O’Rourke, der auch bei Kôji Wakamatsu mitarbeitete, fließt
in die magische Klangwelt organisch hinein. Dieser Film
der reinen Dekadenz wirft ein verstörendes Schlaglicht da-
rauf, wie viele unterschiedliche Realitäten unsere Welt um-
fasst.
Die zweite Folge der Hakodate-Trilogie Soko nomi nite
Hikari Kagayaku (The Light Shines Only There, 2014)
wurde von Mipo Ô (geb. 1977) realisiert. Es handelt sich um
eine Liebesgeschichte, die auf der schweren Depression ei-
nes Mannes und der extremen Hilfsbedürftigkeit der Fami-
lie einer Frau fußt. Hemmungslos, dabei subtil werden die
Wirklichkeit von Altenpflege und Prostitution geschildert.
Ryûto Kondô zeigt hier eine variable, agile Kameraarbeit,
um die Tiefe des Bildes, dynamische Wandlungen der Sze-
nen und eine intensive Lichtdramaturgie zu verwirklichen.
Der Glanz des élan vital, der aus dem Tiefpunkt des Lebens
herausscheint, wird als die primäre Botschaft der Trilogie
herausgestellt.
Der »japanische Jim Jarmusch«, Nobuhiro Yamashita
(geb. 1976), ist durch seine trockenen, befremdenden Reali-
tätsdarstellungen bekannt. Seine Abschlussarbeit Donten
Seikatsu (Hazy Life, 1999) schildert die Verlorenheit der
zeitgenössischen jungen Menschen in einem schlichten,
aber treffend illustrierenden Stil. Linda Linda Linda (2005)
verfolgt die Entwicklung einer Mädchen-Rockband in einer

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dokumentarischen Kontinuität und Objektivität. Die Hand-
lung beinhaltet Öffnungen zu Abschweifungen und zur Ima-
gination, was die realistische Darstellung abrupt verfremdet
und einen intensiven Katharsis-Effekt auslöst. Kueki Ressha
(The Drudgery Train, 2012, nach Kenta Nishimura) be-
schreibt einen von Minderwertigkeitskomplexen schwer
belasteten Menschen. Die Misere seines Innenlebens wird
durch eine Ästhetik des an die 1980er Jahre erinnernden
Verfalls in der Ausstattung getragen. Geschildert wird der
lange Tiefflug seines Lebens, von dem er sich jedoch durch
seine eigene Aufrichtigkeit erholen kann. Ôbâ Fensu (Over
the Fence, 2018) ist das abschließende Werk der Hakodate-
Trilogie der Osaka-Schule. Wie in seinen anderen Filmen
behandelt Yamashita Konflikte in einer Gemeinschaft ana-
lytisch exakt. Sowohl die Schwäche der Menschen als auch
die wundersamen Augenblicke des Lebens werden mit einer
kühnen Weitsicht betrachtet.
Yûya Ishii (geb. 1983) drehte Fune o Amu (The Great
Passage, 2014) nach einem Bestseller von Shion Miura mit
großer Akribie. Die Handlung kreist um das Herausgeben
eines Lexikons am Vorabend der Digitalisierung der Welt.
In einer nostalgischen Kulisse anno 1995 startet eine Re-
daktion einen analogen, extrem aufwendigen Arbeitspro-
zess, in dem der sprachliche Standard und dessen Wand-
lung untersucht und sortiert werden soll. Dieser Vorgang
assoziiert unweigerlich den Wandel der Filmtechnik. In der
neuen Generation scheint eine Selbstreflexion der Film­
geschichte auch auf der Ebene des Castings Mode gewor-
den zu sein. Misako Watanabe, Kaoru Yachigusa, Hiroko
Isayama, Gô Katô, Kaoru Kobayashi und Shingo Tsurumi,
die hier renommierte Nebenrollen spielen, sind Ikonen
verschiedener Ären und Genres des japanischen Kinos.
Eiga Yozora wa Itsu demo Saikô Mitsudo no Aoiro da
(The Tokyo Night Sky is Always the Densest Shade of
Blue, 2017) stellt ein junges Paar dar, das sich im Wirbel
der Zeit zwischen der Erholung nach der Naturkatastrophe
von 2011 und der Umgestaltung der Hauptstadt für die be-
vorstehende Olympiade verloren fühlt. Der Film basiert auf
der »Blog-Dichtung« von Tahi Saihate, was zu einer freien

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Entfaltung der Dialoge und der Bilder inspirierte. In die
Realität dringt ständig das Imaginative ein. Ästhetische Ar-
tefakte wie Unschärfe und Zeitlupe illustrieren die insta-
bile emotionale Gegenwart der Figuren. Schriften, Anima-
tionen, Splitscreens und Songs erweitern die Innenwelt der
Fiktion. In der Dynamik der zeitgenössischen Wahrneh-
mung wird die Unmittelbarkeit der Fragestellung der Pro-
tagonisten nach den Wahrheiten der Welt ausformuliert.
Die Konstruktion des Films erinnert unweigerlich an Shûji
Terayama und Wong Kar-wai.
An diesen Film schließt sich Kimi no Tori wa Utaeru
(And Your Bird Can Sing, 2018) von Shô Miyake (geb.
1984) in vielerlei Hinsicht, etwa Themen, Akteuren und
Stimmungen, an. Der Film gilt als eine Fortsetzung der Ha-
kodate-Trilogie. Miyake stammt aus dieser Hafenstadt und
absolvierte die Film School of Tokyo. Mit diesem Film
bringt er die Konzepte der cineastischen und realistischen
Schule zusammen. Eine Frau und zwei Männer genießen
unbekümmert ihr Zusammensein in einem Sommer. Die
Kamera fängt die Figuren bei ihren Handlungen in einem
klar komponierten Cinemascope sowohl in der Stadt als
auch in einer kleinen Wohnung naturalistisch ein, wodurch
eine stimmungsdichte Kontinuität der Bilder gewahrt
bleibt. So wird die letzte Stunde der Freiheit im Leben in
konzentrierter Form gefeiert und eine zeitlose, lebensbeja-
hende Gefühlswelt hervorgerufen.
Zur beginnenden zweiten Dekade unseres Jahrhunderts
zeigt der japanische Film eine besondere Vielfalt, mannig-
faltige Querverbindungen und Offenheit. Parallel existieren
mehrere filmische Generationen von Filmemachern und
verschiedenen Stilrichtungen, die aktiv aufeinander reagie-
ren. Einheimische Kunst- und Filmtraditionen sowie inter-
nationale Einflüsse wurden unablässig weitergegeben und
in den Werken der Gegenwart intensiv akkumuliert. Stil
und Geist der epochalen Werke leben weiter fort. Das japa-
nische Kino veranschaulicht beispielhaft, wie dynamisch
die Filmkunst intertextuell expandiert, indem sie sowohl
mit anderen Kunstgattungen und Medien als auch mit der
Realität und mit der Rezeption des Publikums in einer­

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regen Wechselbeziehung steht. Dadurch evolviert das Fil-
mische unaufhörlich weiter. Wir können in die vitale Erleb-
niswelt des japanischen Films als Teil unseres eigenen
Wahrnehmungsfelds eintauchen und diese immer wieder
neu entdecken, um dessen Geschichte individuell und da-
bei auch gemeinsam weiterzuschreiben.

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Kleiner Kanon des japanischen Films

Kurutta Ippêji (Eine Seite des Wahnsinns, 1926) von Teinosuke ­


Kinugasa
Tange Sazen Yowa: Hyakuman Ryô no Tsubo (The Million Ryo
Pot, 1935) von Sadao Yamanaka
Rashômon (Rashomon, 1950) von Akira Kurosawa
Ugetsu Monogatari (Ugetsu – Erzählungen unter dem Regen-
mond, 1953) von Kenji Mizoguchi

Tôkyô Monogatari (Die Reise nach Tokyo, 1953) von Yasujirô Ozu
Ukigumo (Schwebende Wolken, 1955) von Mikio Naruse
Yorokobi mo Kanashimi mo Ikutoshitsuki (Monate und Jahre in
Freuden und Schmerz, 1957) von Keisuke Kinoshita
Hadaka no Shima (Die nackte Insel, 1960) von Kaneto Shindô
Nobi (Nobi / Feuer im Grasland, 1961) von Kon Ichikawa
Suna no Onna (Die Frau in den Dünen, 1964) von Hiroshi Teshiga-
hara
Akai Satsui (Verbotene Leidenschaft, 1964) von Shôhei Imamura
Gishiki (Die Zeremonie, 1971) von Nagisa Ôshima
Tsigoineruwaizen (Zigeunerweisen, 1980) von Seijun Suzuki
Tetsuo (Tetsuo – The Iron Man, 1989) von Shinya Tsukamoto
CURE (1997) von Kiyoshi Kurosawa
Hana-bi (1997) von Takeshi Kitano
Yuriika (Eureka, 2000) von Shinji Aoyama
Distance (2001) von Hirokazu Koreeda
Kaitan-shi Jokei (Sketches of Kaitan City, 2010) von Kazuyoshi ­
Kumakiri
Fuchi ni tatsu (Harmonium, 2016) von Kôji Fukada

Kleiner Kanon des japanischen Films


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Weiterführende Literatur

Adachi-Rabe, Kayo/Becker, Andreas/Mundhenke, Florian (Hg.), ­


Japan – Europa. Wechselwirkungen zwischen den Kulturen im Film
und den darstellenden Künsten, Darmstadt 2010.
Adachi-Rabe, Kayo/Becker, Andreas (Hg.), Körperinszenierungen im
japanischen Film, Darmstadt 2016.
Becker, Andreas (Hg.), Yasujirô Ozu und die Ästhetik seiner Zeit,
Darmstadt 2018.
Becker, Andreas, Yasujiro Ozu, die japanische Kulturwelt und der
westliche Film. Resonanzen, Prämissen, Interdependenzen, Biele-
feld 2019.
Bordwell, David, Ozu and the Poetics of Cinema, New Jersey 1988.
Burch, Noël, To the Distant Observer. Form and Meaning in the ­
Japanese Cinema, Berkeley 1979.
Desser, David, Eros Plus Massacre. An Introduction to the Japanese
New Wave Cinema, Bloomington/Indianapolis 1988.
Dym, Jeffrey A., Benshi, Japanese Silent Film Narrators, and their ­
Forgotten Narrative Art of Setsumei. A History of Japanese Silent
Film Narration, Lewiston, New York 2003.
Färber, Helmut, Soshun – Früher Frühling von Ozu Yasujiro. Über den
Anfang des Films, München/Paris 2006.
Fujiki, Hideaki/Phillips, Alastair (Hg.), The Japanese Cinema Book,
London 2020.
Freunde der Deutschen Kinemathek, Filme aus Japan. Retrospektive
des japanischen Films, Berlin 1993.
Lewinsky, Mariann, Eine verrückte Seite. Stummfilm und filmische
Avantgarde in Japan, Zürich 1997.
Mes, Tom/Sharp, Jasper, The Midnight Eye Guide to New Japanese
Film, Berkeley 2004.
Miyao, Daisuke, The Aesthetics of Shadow. Lighting and Japanese ­
Cinema, Durham 2013.
Nornes, Abe Mark, Japanese Documentary Film. The Meiji Era
Through Hiroshima, Minneapolis 2003.
Turim, Maureen, The Films of Ôshima Nagisa. Images of a Japanese
Iconoclast, Berkeley 1998.
Yamamoto, Naoki, Dialectics without Synthesis. Japanese Film Theory
and Realism in a Global Frame, Oakland 2020.
Yamane, Keiko, Das japanische Kino. Geschichte, Filme, Regisseure,
München 1985.
Yomota, Inuhiko, Im Reich der Sinne. 100 Jahre japanischer Film,
Frankfurt/M. 1997.
Yomota, Inuhiko, What Is Japanese Cinema? A History, New York
2019.

118 https://doi.org/10.5771/9783967074796 Weiterführende Literatur


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Dank

Für die Entstehung dieser Publikation bedankt sich die Autorin von
ganzem Herzen bei Andreas Becker, Astrid Brochlos, Reglindis Helmer,
Kenji Iwamoto, Kumiko Ogasawara, Henning Rabe, Masa Sawada und
Claudia Waltermann.

Dank https://doi.org/10.5771/9783967074796 119


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Personenregister

Abe, Kôbô, 55–57 Chûko, Satoru 36


Adachi, Masao 52–53 Clair, René 12, 16, 37, 79
Adachi, Nobuo 42 Clément, René 43
Akiyoshi, Kumiko 79 Coppola, Francis Ford 68
Akutagawa, Ryûnosuke 26 Cronenberg, David 82
Akutagawa, Yasushi 65
Amachi, Shigeru 41 Deneuve, Catherine 104
Andô, Shôhei 78 Dietrich, Marlene 37
Angelopoulos, Theo 46, 99 Disney, Walt 39
Anno, Hideaki 42 Dôguchi, Yoriko 86–87
Anno, Moyoko 90 Dostojewskij, Fjodor 29
Antonioni, Michelangelo 100 Dreyer, Carl Theodor 80, 95
Aoyama, Shinji 98–100, 108, 117 Duvivier, Julien 42
Arai, Hideki 111
Argento, Dario 95 Edison, Thomas A. 8
Aronofsky, Darren 82 Eisenstein, Sergej M. 14, 18
Asai, Ryô 90 Enomoto, Kenichi 24
Asai, Shinpei 80 Epstein, Jean 96
Asano, Shirô 8
Asano, Tadanobu 95, 99, 113 Fanck, Arnold 19, 42, 43
Atsumi, Kiyoshi 64 Fassbinder, Rainer Werner 87–88
Atsuta, Yûharu 34, 50 Fischinger, Oskar 12
Fleischer, Richard 95
Bandô, Tamasaburô 85 Ford, John 26
Bandô, Tsumasaburô 11, 22, 48 Freund, Karl 12
Barthes, Roland 93 Fuji, Junko 64
Beardsley, Aubrey 72 Fujita, Toshiya 64, 67, 70–71, 78
Beat, Takeshi 83–85 Fukada, Kôji 107, 108–110, 117
Belvaux, Rémy 86 Fukasaku, Kinji 65, 83, 85
Beckett, Samuel 90 Fukatsu, Eri 95
Binoche, Juliette 104, 105 Funakoshi, Eiji 39
Bowie, David 74 Furuta, Oribe 72
Brakhage, Stan 105 Futagawa, Buntarô 11
Bresson, Robert 44, 97
Buñuel, Luis 25 Godard, Jean-Luc 32, 49, 67, 95,
99
Cassavetes, John 108 Gosho, Heinosuke 16–17
Chazelle, Damien 72 Griffith, David Wark 10
Chelsom, Peter 94
Chiaki, Minoru 27 Hagio, Moto 88
Chikamatsu, Monzaemon 32, Hamaguchi, Ryûsuke 107–108,
49–50, 110
Chopin, Frédéric 18 Hanayagi, Harumi 10

120 https://doi.org/10.5771/9783967074796 Personenregister


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Hani, Susumu 44, 59–60, 100 Ishii, Teruo 64
Hara, Kazuo 100, 105, 111 Ishii, Yûya 114–115
Hara, Setsuko 19, 21, 24, 29, Ishikawa, Chû 82
33–35, 36 Ishikawa, Tatsuzô 67
Harada, Yoshio 70 Itami, Jûzô 79–80, 86, 93, 94, 95
Harukawa, Masumi 51 Itami, Mansaku 18, 42, 79
Harvey, Lilian 37 Itô, Daisuke 13, 14, 18
Hasegawa, Kazuhiko 67–68, 76, Itô, Kishô, 33
94 Itô, Shunya 64
Hasegawa, Kazuo 32, 33 Iwai, Shunji 40, 83, 88–89, 90, 92
Hasegawa, Tôhaku 72 Izumi, Kyôka 15, 71
Hashimoto, Shinobu 65 Izutsu, Kazuyuki 85
Hasumi, Shigehiko 80, 93, 95, 97,
99 Jarmusch, Jim 35, 72, 113
Hayasaka, Fumio 26, 31
Hayashi, Chôjirô 18, 32 Kaeriyama, Norimasa 10
Hayashi, Fumiko 36 Kaga, Mariko 78
Hayashi, Hikaru 52 Kagawa, Kyôko 32
Hayashi, Kaizô 81 Kaji, Meiko 64, 87
Hearn, Lafcadio 58 Kamei, Fumio 20–21, 55, 100
Hidari, Sachiko 50 Kataoka, Chiezô 18
Higashi, Yôichi 60 Katô, Gô 65, 114
Higashiyama, Chieko 35 Katô, Tai 64
Himeda, Shinsaku 50, 67 Katô, Yoshi 65
Hirata, Oriza 109 Katsu, Shintarô 64
Hisaishi Jô 84 Kaurismäki, Aki 35, 106
Hitchcock, Alfred 46, 80 Kawabata, Yasunari 11, 18
Hoffmann, Carl 26 Kawai, Kenji 92
Hoffmann, E. T. A. 71 Kawamata, Takashi 45, 65
Honda, Ishirô 42, 43, 70 Kawamoto, Kihachirô 91
Hoshisato, Mochiru 110 (Fußnote)
Hosoda, Mamoru 77 Kawase, Naomi 101, 104–105
Hosokawa, Toshiyuki 49 Kawase, Toshirô 73
Hou, Hsiao-Hsien 35, 101 Kawashima, Yûzô 43, 50
Kawazu, Yûsuke 100
Ibuse, Masuji 74 Kieślowski, Krzysztof 88, 91, 112
Ichikawa, Kon 26, 38–40, 66, 117 Kiki, Kirin 105
Ihara, Saikaku 30 Kimura, Keigo 72
Imai, Tadashi 25, 46, 58 Kimura, Takeo 55, 61–63, 67,
Imamura, Shôhei 50–51, 66, 67, 70–72, 73, 81
74–75, 78, 85, 117 Kinoshita, Chûji 37
Inagaki, Hiroshi 22–23, 33 Kinoshita, Keisuke 26, 37–38, 41,
Inoue, Yasushi 58, 73 55, 57, 74, 117
Irie, Takako 15 Kinugasa, Teinosuke 11–13, 18,
Isayama, Hiroko 114 33, 40, 43, 117
Ishida, Eri 78 Kishi, Keiko 58
Ishii, Sôgo 81, 82, 89 Kishida, Kyôko 56

Personenregister https://doi.org/10.5771/9783967074796 121


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Kishimoto, Kayoko 84 Matsuda, Yûsaku 71, 79
Kitano, Takeshi 83–85, 117 Matsumoto, Reiji 90
Kiyohara, Yui 111 Matsumoto, Seichô 65
Klimt, Gustav 72 Matsumoto, Toshio 55, 59,
Kobayashi, Kaoru 114 McBain, Ed 29
Kobayashi, Kyûzô 67 McCarey, Leo 34
Kobayashi, Masaki 55, 57–59 Mekas, Jonas 105
Kôda, Aya 40 Méliès, George 9
Komatsu, Sakyô 66 Mifune, Toshirô, 25, 26–29, 33
Kon, Satoshi 90 Miike, Takashi 83, 85–86
Kondô, Akino 91 (Fußnote) Miki, Shigeru 21
Kondô, Ryûto 113 Mikuni, Rentarô 65
Konishi, Ryô 8 Milestone, Lewis 20
Koreeda, Hirokazu 101, 102–104, Mishima Yukio 39, 64, 75
117 Misumi, Kenji 42, 64
Kramer, Robert 101 Miura, Shion 114
Kuga, Yoshiko 46 Miura, Tomokazu 101
Kumai, Kei 73 Miyagawa, Kazuo, 21, 23, 26, 28,
Kumakiri, Kazuhiro 107, 31–32, 35, 40
112–113, 117 Miyajima, Yoshio 57
Kumashiro, Tatsumi 67, 89 Miyake, Shô 115
Kuri, Yôji 91 (Fußnote) Miyamoto, Teru 78
Kurosawa, Akira 23–25, 26–30, Miyazaki, Hayao 90–91
41, 46, 58, 59, 65, 66, 68–70, Mizoguchi, Kenji 15–16, 21, 22,
73, 84–85, 104, 117 25, 30–33, 41, 51, 58, 78, 85,
Kurosawa, Kiyoshi 43, 68, 86, 117
94–96, 97, 107, 109, 111, 117 Mizugami, Tsutomu 65
Kyô, Machiko 26, 31, 33 Momoi, Kaori 85
Mori, Kazuo 42
Lang, Fritz 26, 29 Mori, Masayuki 26, 29, 31, 36
Lang, Walter 94 Mori, Ôgai 31
Léaud, Jean-Pierre 101 Mori, Tatsuya 68, 97
Lee, Sang-il 85 Morita, Yoshimitsu 79
Lubitsch, Ernst 15 Moritani, Shirô 66
Lucas, George 68, 70 Murakami, Ryû 85
Lumière, Auguste Marie Louis Muraki, Yoshirô 27
Nicolas 8, 9 Murata, Minoru 10–11
Lumière, Louis Jean 8, 9 Murnau, Friedrich Wilhelm 12,
Lynch, David 82 15

Maeda, Yonezô 80 Nagashima, Toshiyuki 78


Makino, Masahiro 21 Nagatsuka, Kazue 62
Makino, Shôzô 9, 21 Naitô, Akira 78
Mariko, Tetsuya 110–111 Nakadai, Tatsuya 57, 69
Maro, Akaji 86–87 Nakagami, Kenji 67, 76
Márquez,Gabriel García 61 Nakagawa, Nobuo 41, 58, 98
Masumura, Yasuzô 44 Nakahara, Masaya 99

122 https://doi.org/10.5771/9783967074796 Personenregister


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Nakahira, Kô 43 Ozu, Yasujirô 14–15, 17, 25,
Nakai, Asakazu 27 33–36, 45, 50, 65, 74, 77, 80,
Nakata, Hideo 97–98 84, 94, 95, 100, 107, 111, 117
Nakayama, Miho 88
Naruse, Mikio 25–26, 35–36, 103, Pabst, Georg Wilhelm, 14
117 Pasolini, Pier Paolo, 59, 86
Natsume, Sôseki 39, 70 Peter 59
Negishi, Kichitarô 78 Poe, Edgar Allan 96
Nezu, Jinpachi 79
Niblo, Fred 14 Ravel, Maurice 26
Nikaidô, Fumi 113 Renoir, Jean 24
Ninagawa, Mika 90 Resnais, Alain 26, 49, 56, 71
Nishijima, Hidetoshi 101 Riefenstahl, Leni 21, 40
Nishikawa, Miwa 104 Rivette, Jacques 101
Nishimura, Kenta 114 Rohmer, Éric 109
Nishina, Shûhô 24 Rolland, Romain 25
Noda, Kôgo 34 Rye, Stellan 10, 95
Nomura, Mansai 70 Ryû, Chishû, 33, 35
Nomura, Yoshitarô 65
Sabu 85
Ô, Mipo 113 Saeki, Kiyoshi 64
Ôba, Hideo 92 Sai, Yôichi 85, 88
Ôbayashi, Nobuhiko 77, 92 Saihate, Tahi 114
Ôfuji, Noburô 91 (Fußnote) Saitô, Takao 28
Ogata, Ken 66 Sakaguchi, Ango 90
Ogata, Kôrin 72 Sakai, Kô 107
Ogawa, Shinsuke 53–54, 73, 79, Sakamoto, Junji 85
100 Sakamoto, Ryûichi 74
Ogigami, Naoko 106 Saki, Ryûzô 66
Oguri, Kôhei 78 Sasaki, Yasuyuki 111
Okada, Eiji 56 Sata, Keiji 38
Okada, Mariko 49, 100 Satô, Junya 66
Okada, Tokihiko 15 Satô, Yasushi 112
Okamoto, Kihachi 44 Sawada, Kenji 68, 72
Okazaki, Kyôko 90 Sawatari, Hajime 60
Ôkôchi, Denjirô 18, 24 Seeber, Guido 10
Ôkusu, Michiyo 71 Sen no Rikyû 72–73
Ômori, Kazuki 76, 94, 111 Shakespeare, William 27–28, 69
Onoe, Matsunosuke 9 Shibata, Tsunekichi 8
O’Rourke, Jim 113 Shimazaki, Tôson 39
Oshii, Mamoru 83, 91–92 Shimizu, Hiroshi 17
Ôshima, Nagisa 38, 45–48, 58, Shimura, Takashi 29
64, 65, 73–74, 75, 83, 117 Shindô, Kaneto, 22, 24, 51–52,
Ôshima, Yumiko 88 58, 62, 75, 77, 117
Ôsugi, Ren 84 Shinkai, Makoto 92–93
Ôtomo, Katsuhiro 88, 90 Shinoda, Masahiro 49, 50, 59
Otowa, Nobuko 51, 52 Shinoda, Noboru 89

Personenregister https://doi.org/10.5771/9783967074796 123


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Shiota, Akihiko 97 Tomita, Isao 65
Shirô, Masamune 9 Tonoyama, Taiji 51–52
Sokurow, Alexander 109 Truffaut, François 97–98
Sômai, Shinji 68, 77–78, 89, 94 Tschechow, Anton 24
Sono, Sion 83, 86–88 Tsuboi, Sakae 37
Spielberg, Steven 29, 70 Tsuburaya, Eiji 12, 22, 42, 43
Sternberg, Josef von 25, 43 Tsuchimoto, Noriaki 54, 100
Sugawara, Bunta 64 Tsukamoto, Shinya 40, 81–82,
Sugimura, Haruko 33 117
Sugiyama, Kôhei 22 Tsukigata, Ryûnosuke 14
Suô, Masayuki 93–94 Tsuruya, Nanboku 41
Suwa, Nobuhiro 101–102, 104, Tsutsui, Yasutaka 77
107
Suzuki, Seijun 24–25, 55, 61–63, Uchida, Hyakken 70
64, 70–72, 73, 84, 85, 117 Uchida, Tomu 21, 65
Suzuki, Shigeyoshi 14 Uchida, Yûya 75
Suzuki, Tatsuo 59, 67 Ueda, Akinari 31
Ueda, Shinichirô 110
Takahata, Isao 91 Uehara, Ken 17
Takakura, Ken 64, 66 Utagawa, Hiroshige 35
Takamine, Hideko 36, 37, 38
Takemitsu, Tôru 30, 49, 55–57, Van Sant, Gus 90
69
Takeshita, Yumeji 72 Wagner, Richard 18
Takeyama, Michio 39 Wakamatsu, Kôji 52–53, 75–76,
Tamai, Masao 36 93, 113
Tamura, Masaki 54, 79, 80, 99, Wakayama, Tomisaburô 64
100, 101, 104 Wenders, Wim 35, 99
Tamura, Takahiro 48, 78 Welles, Orson 26
Tanaka, Kinuyo, 17, 30, 31, 38 Wong, Kar-wai 72, 115
Tanaka, Noboru 48 Woo, John 72
Tanaka, Yoshiko 74 Robbe-Grillet, Alain 26
Taneda, Yôhei 89, 92 Wada, Natto 39
Tanizaki, Junichirô 10, 31, 39, 84 Watanabe, Makiko 101
Tarantino, Quentin 72, 82 Watanabe, Misako 114
Tarkowski, Andrej 91, 99, 109 Weerasethakul, Apichatpong 105
Tarr, Béla 46, 52 Whale, James 42
Tasaka, Tomotaka 20 Wiene, Robert 11
Terayama, Shûji 55, 59–61, 64, Wilder, Billy 81
115 Wyeth, Andrew 109
Teshigahara, Hiroshi 55–57,
72–73, 117 Yachigusa, Kaoru 114
Teshigahara, Sôfû 55 Yakusho, Kôji 95, 99
Tezuka, Makoto 90 Yamada,Isuzu 27
Tezuka, Osamu 90 Yamada, Yôji 64
Toda, Shigemasa 58 Yamamoto, Kajirô 21–22, 23, 42
Tokugawa, Musei 12 Yamamoto, Masashi 88

124 https://doi.org/10.5771/9783967074796 Personenregister


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Yamamoto Satsuo 67 Yoshida, Daihachi 90
Yamamura, Kôji 91 (Fußnote) Yoshida, Yoshishige 48–49
Yamamura, Sô 58 Yoshimura, Jitsuko 52
Yamanaka, Sadao, 18–19, 64, 117 Yoshimura, Kôzaburô 24, 37, 71,
Yamashita, Nobuhiro 107, 78
113–114 Yukisada, Isao 85
Yanagimachi, Mitsuo 79, 88 Yusaki, Fusako 91 (Fußnote)
Yang, Edward 101
Yang Yong-hi 105 Zeami, Motokiyo 69
Yasuda, Kimiyoshi 42 Zhang, Ziyi 72
Yoda, Yoshikata, 30 Zhangke, Jia 105, 112
Yokomizo, Seishi 40 Zhuangzi 92
Yoneshô, Maya 91 (Fußnote)

Personenregister https://doi.org/10.5771/9783967074796 125


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