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PASSAGEN FO RUM
Jacques Ranciere
Und die Müden haben Pech gehabt!
Interviews 1976—1999
Passagen Verlag
Deutsche Erstausgabe
Titel der Originalausgabe: Et tant pis pour les gensfatigués. Entretiens
Aus dem Französischen von Richard Steurer
® europ
assistance
live m cam
1976
1981
1985
1994
1995
Anmerkungen 165
1976
Das brüderliche Bild1
mit Serge Daney
und Serge Toubiana
Jacques Rancière: Ja, ich glaube, dass man damit beginnen kann,
wenn man sich die Frage stellt, was dort und hier ein Film der
revolutionären Linken oder über die revolutionäre Linke sein
kann. Kramer und Douglas können direkt die Linke sprechen
lassen, die Bildung eines Lagers, die Veränderungen der Formen
des Aktivismus und des aktivistischen Ideals spürbar machen, weil
eine bestimmte genealogische Tradition des amerikanischen Kinos
hinter ihnen steht. Während unsere Filmtradition, die zutiefst an
Gedächtnisschwund leidet, auf Codes und Typologien beruht und
doch alle sechs Monate jene leichte Verschiebung vollzieht, die es
erlaubt, einen neuen Ton in unserem Kino zu begrüßen, hat das
amerikanische Kino ständig die Legende der Codebildung, das
System der Gesten, der Verschiebungen und des Austauschs gespielt
und dargestellt. Damit wird erreicht, dass eine Gemeinschaft sich
als solche wiedererkennt, indem sie ihr Gesetz (an) erkennt.
Hinter dem Parcours, der von einer Entlassung aus dem Gefängnis
zu einer absichtlich symbolischen Geburt führt, kann man, wenn
man will, die Fiktion vom Typus Fluss ohne Wiederkehr {River ofno
returri) erkennen, wo man in der ersten Einstellung den ehemaligen
Sträfling sieht, der fiir den Hausbau einen Baum fällt, und an deren
Ende nach einer Reihe von Prüfungen die amerikanische Stadt,
das amerikanische Gesetz und die amerikanische Moral stehen.
Natürlich stellt diese genealogische Tradition nicht mehr dar als
den Diskurs der amerikanischen Gesellschaft über sich selbst, und
der Materialismus, den wir einst bewunderten, nicht mehr als die
materielle Kraft einer Nationalideologie, ihre Fähigkeit, Figuren
aufzustellen und Fiktionen zu organisieren. Doch damit wurde
ein bestimmter Typus der Verankerung von Ideen in den Körpern
bestimmt, der gewisse Umkehrungen oder das Stellen anderer
Fragen erlaubt.
Unser Kino hingegen reproduziert einen Grundzug unserer
politischen Kultur, nämlich die Gleichgültigkeit gegenüber der
Genealogie, die die Fiktionalisierung der Geschichte in den Bereich
der Gedenkfeier verbannt. Ich bin erstaunt darüber, wie sehr die
Debattenbegrifflichkeit, in der sich unsere politische Kultur be
wegt, mit den Fiktionsmodi übereinstimmt, die in unserem Kino
am Werk sind. Grob gesagt arbeitet das Kino mit einer extremen
Kodifizierung der sozialen Bedingungen, Figuren und Orte, und
zugleich mit dem kleinen Unterschied, mit dem Wirklichkeitseffekt,
der an diesen Code angewandt wird, der zugleich das zusätzliche
Quäntchen Traum ist, das der Wirklichkeit gewährt wird: kleine
Angestellte, die ihr Büro verlassen, um zu träumen; Arbeiter, die
die Leichtigkeit jener Liebeserregungen erlangen, die einst einer
träumerischen Bourgeoisie Vorbehalten waren; Figuren, die ihrer
gesellschaftlichen Rolle entkommen und deren Umherirren von
einer plötzlich mobil gewordenen Kamera verfolgt wird, deren
Sprache endlich dem Alltag angemessen zu sein scheint.
Dieses zusätzliche Quäntchen Seele, das man der Gesellschafts
typologie angedeihen lässt, ist ein wenig wie das Familienfoto, auf
dem es immer einen lustigen Cousin gibt, der sich verkleidet oder
Grimassen schneidet, damit das Bild nicht wie ein Familienfoto
wirkt. Grob gesagt verwirklicht sich dieses zusätzliche Quäntchen
Seele in Form einer Aufteilung in ein plumpes kommerzielles Kino,
das uns die geheimen Seelenschmerzen der Bourgeoisie (leitende An
gestellte, Ärzte, Kleinunternehmer ...) sehen lässt, und ein leichtes
kommerzielles Kino - die Rolle, die dem jungen Kino zukommt -,
das den Arbeiter aus der Fabrik oder aus dem politischen Kampf
herausholt, weil beide zu codiert sind, um sein Liebesleiden (Lily,
aime-moi, von Maurice Dugowson) oder seine sexuelle Bulimie
(Boß von Claude Faraldo) vorzuführen.
Dieses Spiel zwischen dem Befolgen des Codes und einem selbst
völlig codierten Decodieren finde ich in den Debatten von der Art
„Marx oder Traum“ wieder. Auf der einen Seite steht der Diskurs
des Apparats, auf der anderen die Frische der Wirklichkeit, das
Begehren, der Traum, die produktive oder aktivistische Kraft, die
sich in das Umherirren ausgeflippter Arbeiter und aus der Bahn
geworfener Aktivisten verwandelt hat. Beten nicht viele, die heute
vorgeben, den Diskurs der Apparate zu unterwandern, bloß neu
erlich einen sehr platten Diskurs über das zusätzliche Quäntchen
Wirklichkeit herunter, das ein zusätzliches Quäntchen Traum ist?
Die linksradikale3 Doxa ist stark von den kommerziellen Fiktions
modi abhängig, sie ist gefangen im Fetischismus, in der Illusion
von der Spontaneität, die von den neuen Archivierungsapparaten
erzeugt wird (Bild-Ton-Kamera).
Wie sich jedoch konkret ein aktivistisches Ideal bildet, wie die
Körpergesten sich verwandeln lassen, sodass aus Unterwerfung
Widerstand wird, wie man eine Kultur der Revolte einschließlich
ihrer Legende bilden und weitergeben kann, diese Fragen fehlen in
unserer Fiktion und werden in unserem Theorieraum von Stereo
typen über das „Leben“ verdeckt. Man ist immer im Bereich der
Mythologie, nicht in dem des Legendären, im Bereich des Effekts
der Wirklichkeit auf den Code und nicht im Bereich seiner Genea
logie. Die lange von der Kultur von oben ausgeübte Unterdrückung
hat die Formen der Kultur von unten sorgfältig zerstört und ersetzt,
und eine gedächtnislose Kultur erzeugt, welche die Gedenkfeiern
(die Kommune, das Lied der Lyoner Seidenarbeiter, die vergange
nen Leiden und Leistungen des Volkes ...) ermöglicht, aber kein
theoretisches Nachdenken und keine Fiktionalisierung der Macht
und der Revolte in ihrer materiellen Erfindung.
Wenn man sich einen Film wie Sondertribunal {Section spé
ciale) von Costa-Gavras ansieht, dann bemerkt man, dass die
Glucksmann sehe theoretische Figuration (die Macht und die Plebs)
gänzlich von diesem traditionellen Fiktionsmodus in unserem Kino
abhängt: einerseits die Macht, die Apparate, die Ministerien, die
hochgestellten Leute, das abgeschirmte Universum der Vorzimmer,
und dann unten die braven Leutchen und die guten kommunis
tischen Prolos von Costa-Gavras mit ihrer Lebenslust und ihrem
Arbeiterhumanismus.
In der Frage, wie die Macht dargestellt wird, kann man die
Begeisterung Julys in der Libération für Die Macht hat ihren Preis
{Cadaveri eccellenti:) von Francesco Rosi noch bezeichnender finden.
July scheint nicht zu ahnen, dass diese Figuration der Macht in Form
von okkulten Verschwörern, von weither kommenden Telefonanru
fen, versteckten Mikrofonen, geheimnisvollen Autos, die aus hinter
hohen Mauern versteckten Villenvorhöfen herauskommen und
plötzlich beschleunigen, um allzu Neugierige zu überfahren - dass
all das etwas mit der großen internationalen Verschwörung zu tun
hat, mit der sich der Reporter Tim (aus Tim und Struppi, A.d.Ü.)
misst. Er scheint sich auch nicht darum zu bekümmern, dass diese
bildliche Darstellung dazu dient, die plebejische Ehrlichkeit in
der Gestalt des guten Polizeikommissars zu verkörpern, der sich
an die alten plebejischen Methoden der Einschüchterung und der
Hausdurchsuchung hält und die zukünftige sozialistische Polizei
erahnen lässt.
Um zum Ausgangspunkt zurückzukommen: Die amerikanische
Linke kann durch den Film Milestones sprechen und ihre Geschichte
erzählen, weil er in einer Kultur angesiedelt ist, in der es ganz natür
lich ist, sich in einer Reiseerzählung darzustellen. Das heißt auch,
dass er nicht die Frage nach diesem „Darstellen“ stellt und das ist
dann doch auch ein wenig ärgerlich (täuschend), wenn man Figuren
sieht, die als wirklich und sich gegenseitig für die Kamera befragend
ausgegeben werden und zugleich in einer Fiktion der Hoffnung
organisiert sind. Umgekehrt verweigert Godard der Linken jede
Möglichkeit, eine Geschichte zu erzählen. Er nimmt radikal alle
Lügen der linken Figuration auseinander. Das heißt auch, dass er
jedes Nachdenken über die Geschichte des politischen Aktivismus
unmöglich macht, indem er von vornherein den aktivistischen
Diskurs auf seine Lüge verweist, auf seine Komplizenschaft mit all
den Fiktionsmodi der Macht und des Kapitals. Das ist eine ein
schneidende Pädagogik, aber sie ist in einer bestimmten Hinsicht
verdächtig. Sie scheint als Propädeutik aufzutreten und Fragen zu
stellen wie „Wie wirkt ein Ton, ein Bild und so weiter?“, um uns
sehen und sodann kämpfen zu lehren. Doch sie hat in Wirklich
keit viel eher die Wirkung eines Endspiels, der Eule der Minerva,
die sich zum Flug erhebt, wenn das Abenteuer beendet ist. Man
nehme zum Beispiel die Rede des alten Aktivisten, die eine außer
gewöhnliche Zusammenfassung all der Abenteuererzählungen der
Kommunisten der Komintern (insbesondere Valtins4) ist, die mit
einer Stimme gesprochen wird, die auch die Stimmen aller alten
kommunistischen Proletarier zusammenfasst, die wir je gehört
haben, die aber auch eine reine Todesrede ist: Es ist möglich ein
aktivistisches Ideal darstellen, eine Verkettung von Klängen, die
einen Code und ein Gedächtnis des Aktivismus bilden, weil es eine
„Sache der Vergangenheit“ ist.
Riskiert die Pädagogik von Godard, indem sie jedes „Recht auf
Geschichten“ verweigert, nicht in gewisser Weise eine pazifistische
Antwort auf die Gewalt der Bilder der Bourgeoisie zu geben? Aber
ist dieser zu perfekte Diskurs nicht auch selbst ein wenig gefälscht,
ein wenig gewalttätig, übertrieben in seinen Prinzipien (in seiner
Verzweiflung)?
Mir scheint, dass auch hier Marx ins Schwarze getroffen hat, als er
Histoire dun crime von Hugo kritisierte: Für den Repräsentanten
der Bergpartei, dieser neuen Linken, die die Macht im Namen des
Volkes beansprucht, auf das sie 1848 geschossen hatte, und die die
Erinnerung an die Arbeiter (die Kämpfer vom Juni 1848) unter
den Gedenkfeiern für die Märtyrer der Republik ersticken wird,
muss der bonapartistische Staatsstreich notwendigerweise als eine
Verschwörung erscheinen, als etwas, das der Gesellschaft von oben
oder von außen zustößt.
Das heißt auch, dass die Verantwortung der Linken uns viel weiter
zurück als auf die Geburt oder den Niedergang der Französischen
Kommunistischen Partei verweist und dass es sich um etwas ganz
anderes handelt als um eine Lücke oder auch nur um das unver
meidliche Gewicht des Apparats, das angeblich auf der Spontaneität
des Volksarchivs lastet. Die große linke politische Tradition, die
man bequemerweise auf 1793 und den Jakobinismus zurückführt,
entsteht in Wirklichkeit in dieser Bergpartei der 2. Republik, die
zweimal die Kämpfer des Juni 1848 getötet hat: zuerst durch die
Waffen und dann, indem sie ihnen den Platz der Opfer gestohlen
hat. Bei einem der ersten Male, als die Verbannten des 2. Dezember
1852 ihre Legitimität behaupteten, indem sie dem Begräbnis eines
im Exil gestorbenen Arbeiters gedachten, tauchte ein Provokateur
auf, der Arbeiterdichter Joseph Dejacque, und erinnerte sie daran,
dass sie im Juni auf den geschossen hatten, den sie an jenem Tag
ins Grab legten. Die Provokateure dieser Art sind in Elend oder
Wahnsinn gestorben, die große linke Tradition hat die Sache mit
ihren Gedenkfeiern regeln können.
Die Blässe der Bilder, die die Linke zu produzieren in der Lage
ist, hat also zwei Gründe. Einerseits überlässt die Rechte ihr frei
willig die Gedenkfeiern (siehe den 8. Mai), überlässt ihr die Bilder
der revolutionären Nationalgeschichte, aber sie werden durch den
Charakter des Bereits-Gesehenen (von den Soldaten des Jahres II12
bis zu den Aufmärschen der Volksfront), der vergilbten Fotografien,
der von vornherein der Stereotypie verdächtigten Bilder in Mit
leidenschaft gezogen. Die Linke kann sie nur produzieren, wenn
sie sie durch den Kommentar zu retten versucht. Andererseits hat
die Geschichte der Linken (außer in den kurzen Augenblicken, als
eine politische Arbeiterlinke sich zu bilden versucht hat, die im
Gegensatz zur Tradition der Bergpartei steht) eine ganz bestimmte
Funktion: Sie muss den Herrschaftsanspruch der Linken durch eine
Geschichte der Leistungen und Leiden des Volkes rechtfertigen,
deren Erbin oder Heilerin die Linke sei. Um die Beteiligung der
Linken an der gewaltsamen Unterdrückung auf der Straße oder
an der sanften Unterdrückung der Kulturformen des Volkes oder
seines Gedächtnisses zu maskieren, kann sie den Widerspruch kaum
anders darstellen denn als Gegensatz zwischen dem Leben und dem
verschwörerischen Todestrieb. In dieser Fiktion/Gedenkfeier werden
der Körper und die Stimme von unten niemals etwas anderes als die
plebejische Lebenslust, das Leiden in Zeiten schlechter Regierung
und die Forderung nach einer guten Regierung darstellen können.
Im Gegensatz zur Legende der Revolte (das Element einer auto
nomen Kultur, der auf seine Stimme bezogene Gesang, der Traum
oder das Gedächtnis, der/das in eine Praxis umgesetzt wird) schreibt
die Hagiografie des Volkes den Herrschaftsanspruch seiner Reprä
sentanten in die Gesten, die Stimmen und die Blicke des Volkes ein.
Man kann am Ende des Films von Tavernier eine bemerkenswerte
Verdichtung dieser hagiografischen Zeichen sehen: das Transparent
der bestreikten Fabrik, die die verantwortungsbewusste Arbeiterbe
wegung heraufbeschwört, das erhobene Haupt und die stolze Brust
der Frau aus dem Volk, die gegenüber den Uniformen der Macht
die Partei ihrer Brüder ergriffen hat, die Stimme, die die Kommune
und den Flieder besingt, die linke Rhetorik der Auflistung, die die
Zahl der Opfer des Verrückten mit der Zahl der Opfer des Kapitals
vergleicht. Nicht ein einziges Zeichen, das nicht dem linken oder
linksradikalen Zuschauer mit dem Vergnügen schmeichelt, sich auf
der richtigen Seite zu wissen.
Deswegen die Fragen, die ich mir über den Gebrauch des Begriffs
des Volksgedächtnisses stelle. Die Cahiers haben es in der Kritik des
Nostalgie-Kinos als Gedächtnis des Widerstandes gegen das Paar
Nostalgie/Unterwerfung ins Treffen geführt. Es hat auch ein wenig
als Rückgriff auf das eigene Erleben der Revolte gegen die Stereotype
des Aktivismus gedient. Doch wenn man über die Widersprüche
dieses Begriffes nicht nachdenkt, kann man leicht den revisionis
tischen Baum im Wald der Nostalgie (mit Leichtigkeit als Zeichen
des Niedergangs der alten leitenden Kräfte und des Wahnsinns der
schlechten Regierung vereinnahmt) aus dem Blick verlieren. Riskiert
man damit nicht, in die unanimistische Glückseligkeit zurückzu
fallen und den Gedenkfeiern der parlamentarischen Linken Geist
einzuhauchen? Mich hat erstaunt, wie in den Briefen, die Moati
bezüglich der Fernsehserie Le Pain noir erhalten hat, dieses „Volks
gedächtnis“, das keine Rechtfertigungsabsicht enthielt, spontan
von Leuten wie den Vertretern der Gewerkschaft: C G T 13anerkannt
wurde, die darin nicht ihre Erinnerung, sondern die abstrakte
Geschichte ihrer Klasse wiedererkannten. Ich habe den Film von
Bertolucci14nicht gesehen, aber ich war ein wenig erschrocken über
die Liebeserklärungen an die große Kommunistische Partei, die in
seinen Äußerungen mit der Verherrlichung des Volksgedächtnisses
mitschwingen.
Das Volksgedächtnis vereint die linksradikale Forderung nach
einem Ersatz des Codes mit der Forderung der Linken nach einem
Zusatz zum Code. Man muss wissen, was das heißen soll: „das
Gedächtnis wiederfinden“ . Einerseits wird das Gedächtnis des
Kampfes in der Zeit des Kampfes gewonnen oder verloren und das
ist Angelegenheit aktueller Politik. Doch wenn die Kultur von unten
nicht nur Opfer einer bloßen Verschüttung, sondern des zweifachen
Vorgangs der Zerstörung und der Umschreibung war, dann ist es
unnötig, das Volksgedächtnis wiederfinden zu wollen, denn man ris
kiert damit, nur die letzte Umschreibung zu veranschaulichen. Man
hat immer nur Bruchstücke der Geschichte von unten oder ihrer
Legende, mit denen man dann etwas Neues herstellen muss. Das
Problem ist nicht die Zurückerstattung, sondern die Herstellung.
Denn das Problem ist nicht die Vereinigung, sondern die Spaltung.
Uns von Révoltes logiques15 interessiert an der Vergangenheit nur ihre
Spaltkraft.
Einerseits scheint es uns nötig, Elemente eines wirklichen Wissens
über all diese Fragen beizusteuern, bei denen das arrogante Ge
schwätz der Unkultur unserer politischen Doxa vorherrscht. Zum
Beispiel: Was ist eine Arbeitermacht? Wie erhält sie die Fähigkeit zu
unterdrücken? Wie können die Arbeiter Gefallen finden an einem
(kommunistischen oder anderen) politischen Code, wie wirkt die
Unterwerfung unten und so weiter? Aber es geht nicht nur darum,
den Politikern und Theoretikern Material zu geben, sondern da
rum, eine Spaltung ihres Diskurses zu vollziehen. Wir wollen nicht
die unteren Stimmen wiedergeben, sondern ihre Spaltung hörbar
machen, ihre Rhetorik in ihrer aktuellen Provokation in Szene
setzen. Denn das Problem, das sich heute stellt, ist die Produktion
von Elementen einer neuen Kultur, und das Bild muss darin eine
entscheidende Rolle spielen.
Für die Sendungen über Sartre16 - die wir nicht beherrschten -
hätten wir sicher diese Praxis gehabt: die gegenseitige Provokation
der Vergangenheit und der Gegenwart zur Wirkung bringen.
Doch die Form vom Typus Diskurs/Veranschaulichung hätte es
wahrscheinlich nicht ermöglicht, sehr weit zu gehen. Man musste
aus dieser zweifachen Falle der Bezeugung und des Kommentars
herauskommen, und das ist eine Frage, die dazu zwingt, das Problem
der Fiktion neu zu formulieren.
Wie soll man das spalten, dessen spontane Funktion das Zusam
menfügen ist, nämlich das Gedächtnis, das Kino? Wie soll man
die Spaltung darstellen? Diese Fragen sind dringlich angesichts
der schwindelerregenden Beschleunigung der Herausbildung einer
offiziellen „linken“ Kultur, angesichts dessen, was sich in der Logik
des Zusatzes dranhängt. Das jüngere italienische Kino ist uns ein
reichlich warnendes Beispiel durch die plötzliche Übereinstimmung
aller Fiktionen mit dem Machtanspruch der PCI: von den Bildern
des Niedergangs und der Anarchie der Macht (Die 120 Tage von
Sodom [Said] von Pasolini) zur Nutzlosigkeit des kleinbürgerli
chen Linksradikalismus (Allonsanfan der Brüder Taviani), vom
wiedergefundenen Gedächtnis des Volkes (1900 von Bertolucci)
zur Rechtfertigung der gesunden Volkspolizei (Die Macht hat ihren
Preis). Der Film von Rosi ist faszinierend, weil er nicht eine Fiktion
des historischen Kompromisses ist, sondern dieser Kompromiss
im fiktionalen Zustand. Die marxistische politische Doxa, die den
Filmen von Rosi früher Form gab (die Untersuchung, die von den
Tatsachen zu den sozialen Herrschaftsverhältnissen zurückführte),
reduziert sich nun auf die Magerkeit einer ganz literarischen und
apolitischen Fiktion der Macht. Doch die Fiktion vom Typus
Verschwörung/Untersuchung liefert ihrerseits ihre spontane Po
litik: die unmittelbare positive politische Besetzung des guten
Untersuchungsbeamten, der Ruf des verrotteten Apparats nach
dem gesunden Staat, der mit einer Volkspolizei ausgestattet ist,
und der manipulierten Massen nach den eut geführten Massen.
Die Produktion der Fiknon isi vxmxzn&Ær politische Doxa. Man
findet die Geschichte eines Verbrechens «¿'histoire dun crime) als
reine Fiktion des Machtanspruchs wieder.
Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass dieses gemeinsame
Fiktionsprogramm, diese offizielle Kultur der Linken bis 1978 in
unseren Kulturraum eindringt. Mitterand kürt in Le Monde bereits
die offiziellen Schriftsteller seiner künftigen Herrschaft. Wir können
erahnen, welche Auflösung es auf Seiten der Linksradikalen geben
wird, wenn man sich die Begeisterung ansieht, mit der Libération
jeden Ausdruck des neuen kulturellen Links-Unanimismus feiert,
ihre Liebe zu den neuen Helden des Sozial-Faschismus, zum Ar
beiter Potapov {Die Prämie \Premiya] von Mikaeljan) oder zum
Polizeikommissar Rogas {Die Macht hat ihren Preis).
Wie kommt es nun aber; dass sich die Macht (in Europa) so leicht
dem Medium Kino unterwirft? Geschichtlich gesehen weiß many dass
sich zuerst die Armee seiner bedient hat. Vor dem Weltkrieg dienten
die Nachrichtenfilme dazuy den nationalen Glanz im Ausland (in
den Kolonien) zu beweisen. Im Gegensatz zu anderen Künsten lässt
sich das Kino sehr leicht von der Macht einspannen. Heute sieht man
zum Beispiel, dass das Fernsehen alle französischen Zuschauer dazu
aufrufty ihre Familienfilmaufnahmen und ihre Amateurproduktionen
einzusendeny damit sie geschnitteny ausgestrahlt und codiert werden
könneny während eben diese Bilder außerhalb des Codes aufgenommen
worden waren. Es sieht so ausyals ob die Macht neben dem Monopol der
offiziellen Archive auch noch das der Amateuraufnahmen haben wolle.
Ich glaube nicht, dass das Kino von der Macht „im Gegensatz
zu anderen Künsten“ eingespannt wird. Es wird anders von ihr
eingespannt. Godard ist nicht eine offizielle Institution der Repu
blik geworden wie Boulez oder Vasarely. Dort, wo die Kunst jede
Funktion der gesellschaftlichen Darstellung verloren hat, kann die
Macht sie als Element des kulturellen Glanzes offiziell machen, ohne
im Übrigen von den Künstlern irgendwelche Zugeständnisse zu
verlangen. Die Beschlagnahme des Kinos hat offensichtlich einen
ganz anderen Sinn, da es die darstellende Kunst schlechthin ist, da
jeder mehr oder weniger ein Konsument und Produzent ist. Das
Kino ist der kürzeste Weg vom Archiv der Macht zu den Formen,
in denen sich jedes Individuum wiedererkennt. Es ist normal, dass
die Macht etwas von diesem voyeuristischen Delirium abbekom
men möchte, das unsere gegenwärtige Kultur kennzeichnet (die
Leidenschaft für die Live-Ubertragung, für die Dokumentation,
fürs Ethnologische und so weiter). Es gibt gegenwärtig keine Ecke
unseres Sozialraums, in dem sich nicht ein Blick, eine Kamera, ein
Tonbandrekorder auf die Suche nach einem Mehrwert macht, der
aus dem Wirklichkeitseffekt zu ziehen wäre. Die Macht will ihren
Anteil daran. Denn sie hat auch einen schrecklichen Nachholbe
darf. Unsere Macht stellt wenige Bilder her und setzt wenig auf die
Bilder. Selbst innerhalb des staatlichen Monopols der Bilder (des
Fernsehens) spielt die Teilung mit: Im Allgemeinen ist es die Linke,
die Fiktionen macht, vor allem über die Geschichte.
Die politischen Machthaber versuchen kaum, ihr Bild von den
Massen und ihren Kämpfen zu zeigen. Sie arbeiten eher daran, die
Bilder bedeutungslos zu machen. Die Bilder vom Machtdiskurs im
Fernsehen scheinen über die unterschiedlichen Gattungen hinweg
alle einem Gesetz zu gehorchen, nämlich viel eher der Beseitigung als
der Produktion von Sinn. Zuerst sind da die Bilder der Macht, die
sie nur auf ihr Spiegelbild verweisen (die Besuche von Staatschefs);
es gibt die Sendungen von Michel Droit, in denen sich alles in der
Stimme abspielt, die meistens unbedeutende Bilder kommentiert.
Diese Stimme hat ihre reaktionäre politische Wirkung nicht so sehr
durch ihr Denken als durch ihr Nicht-Denken. (Foucault lehnte
sich einst gegen die spontane These der Linken auf, dass die Macht
dumm sei. Dennoch glaube ich, dass der Verdummungseffekt unseres
Fernsehens nicht von der Intelligenz, sondern von der Dummheit
seiner leitenden Bauherren stammt.) Es gibt Sendungen vom Typus
Dossiers de l ’ecran, bei denen die oft nichtigen Bilder, die man alle
bereits gesehen glaubt und außerdem bloßer Vorwand sind, zu
einem Schauspiel von misstönenden Stimmen einleiten, die das
konfliktgeladene Gleichgewicht unserer Gesellschaft darstellen und
von denen man alles, was sie zu sagen haben, bereits gehört hat.
Man fügt also zum Bereits-Gesehenen das Bereits-Gesagte hinzu.
Entweder dient das Bild nur dazu, die Stimme in die Nähe der
Macht zu rücken, oder es stellt durch seine Bedeutungslosigkeit die
Macht der kommentierenden Stimme sicher, oder aber es verweist
die misstönenden Stimmen auf die Eitelkeit ihres Bereits-Gesagten
und auf das Schauspiel ihrer Komplizenschaft.
Aus eigenem Antrieb lässt unsere Macht das Bild nur als Träger und
Vorwandfü r die Stimme zu. Sie annulliert es oder sie lässt es die
anderen Stimmen annullieren. Sie gibt lieber die Bilder in Auftrag
(die Bilder der linken Fiktion oder die Bilder der Privatpersonen).
Diese Nachfrage ist in gewisser Weise ein Zeichen der Schwäche
oder vielmehr wäre sie es, wenn man ihr nicht entsprechen würde.
Das ist aber nicht wirklich der Fall. Das ist Teil eines größeren
Problems. Wir haben eine Macht, die eher besetzt als produziert
(im Fernsehen oder anderswo). Sie ist immer auf der Suche nach
Zusätzen, Bildern, Fantasien, die ihr die Linke und die Linksradi
kalen zugleich liefern. Das wirft ein Problem auf: Wenn man keine
Partei ist und wenn man weder dem Giscardismus noch der Linken
helfen will, wie soll man dann seine Erfahrungen, seine Bilder, seine
Fantasie behalten und verwenden?
Ich glaube nicht, dass das Kino mehr als die anderen Figurations
modi diesen Aspekt der Bestätigung des Bereits-Beurteilten besitzt.
Die Täuschungen des „Realen“ sind in gewisser Weise für seine
diffuse politische Funktion konstitutiver als die Tatsache, dass ihm
die Wiederholung eigentümlich ist. Wenn man all diese „linken“
Filme beiseitelässt, die nur durch die Spontaneität der Fiktion
politisch sind (das politische/kommerzielle Kino, für welches die
italienische Linke das beste Beispiel geliefert hat), dann kann man
sagen, dass es zwei große Arten des politischen Kinos gibt: das eine,
das im Dienste einer politischen Macht kämpft, um ihre Parolen
zu veranschaulichen, ihre Legende zu etablieren und allgemeiner
ihre Hegemonie sicherzustellen. Das ist der Fall des sowjetischen
Kinos, das natürlich auch die Kinopraxis aktivistischer Gruppen
inspirieren kann, die nicht die Macht innehaben, aber die sich
bereits als zukünftigen Staatsapparat sehen.
Und dann gibt es das engagierte Kino vom Typus Un simple
exemple, das versucht, durch seine eigene Wirkung Politik zu ma
chen, durch seine Teilnahme an einer Dynamik der Sammlung,
der Darstellung und des Austausches von Erfahrungen. Sein Titel
erklärt gut das Problem, das es formuliert: Was heißt Beispiel?
Eine erste Bedeutung ist die Veranschaulichung einer Theorie. So
rahmt man den Film etwa mit zwei Stücken eines Zitates aus dem
Kommunistischen Manifest über die „Revolte“ der Produktivkräfte
gegen die Produktionsverhältnisse und über den unvermeidlichen
Untergang des Kapitalismus ein. In den Begriffen Godards gesagt:
das Anderswo eines geheimnisvollen Zitats, das es doch wohl nötig
hat, dass man ihm ein wenig Körper verleiht, und das Hier17 eines
der unzähligen Kämpfe der industriellen Umstrukturierung, der
doch wohl des Beweises bedarf, dass er nicht eine dieser klassischen
letzten Zuckungen ist, die den definitiven Unternehmensauflösun
gen vorausgehen, dass er eine kleine Schraube18im großen Getriebe
der Revolution ist. Ist dieses Zitat nicht ein einfaches Mittel, das
Plus-Zeichen zu liefern: Marx’sche Theorie + Arbeiterkämpfe =
kommende Revolution?
Für sie war es eine ziemlich einfache Angelegenheit. A ufder Ebene der
Produktionsverbindung vom einen zum anderen war das nicht sehr
durchdacht. Sie mussten vor allem deutlich machen, dass das in einer
Krisenzeit passierte, dass es ein Krisenmoment war. Und das einzige
Mittel, das man gefunden hat, war dieser Satz mit den Bildern, die in
Wirklichkeit Bilder von ’68 sind. Das war nicht sonderlich ehrgeizig;
man hat es nicht als Projekt gedacht; und vielleicht wirft das rückwir
kend Fragen auf.
Ja, aber man wird dann auf die zweite Bedeutung des Wortes „Bei
spiel“ verwiesen und auf die politische Funktion, die es trägt: die
Bedeutung „es ist möglich“. Die Frage des Films ist auf dieser Ebene
die Frage nach seiner spontanen Politik, die auch die unsere ist, die
Frage nach der Politik des Linksradikalismus nach dem Mai ’68, der
beispielhafte Kämpfe und einzigartige Momente erlebte, wo Arbeiter
Neues erfunden und Macht übernommen haben. Diese Momente,
diese Erfindungen und Beispiele erschafft man neu, erweitert sie
und zeigt sie denen, die in der Lage sind, es ebenso zu machen. Man
fasst die Kämpfe in Bilder, um andere Kämpfe hervorzurufen. Aber
klammert man damit nicht das Problem des qualitativen Sprungs
aus, verdeckt man es nicht durch das Beispiel? Und dann zwingt
die Notwendigkeit des Beispiels dazu, die wichtigen Aspekte der
Errichtung einer Kampfes-Macht zu überdecken. Die Hauptfigur
des Films kommt nicht aus der Arbeitswelt, sondern von Vincen-
nes, von der studentischen Protestbewegung, von Mai ’68. Dann
handelt es sich nicht mehr nur um die Errichtung einer beispielhaf
ten Kampfes-Macht, sondern um den Weg, den die linksradikale
Anhängerschaft geht, um die Errichtung eines bestimmten Lagers.
Und dieser Aspekt wird unterschlagen. Was Bedeutsamkeit erlangt,
ist die Ungezwungenheit und die Fröhlichkeit der Figur, die ihr die
Gewichtigkeit der Gewerkschaftszugehörigkeit, der Klassenverwur
zelung verleihen.
Der Film offenbart ziemlich gut ein anderes beunruhigendes
Element unserer politischen Doxa: das Verhältnis zu den politisch
gewerkschaftlichen Apparaten. Einerseits fordert die darzustellende
Einmütigkeit (unanimité), dass man bestimmte Widersprüche
beseitigt, namentlich gewisse Spannungen mit der CG T gerade
innerhalb der Fabrik. Andererseits basiert der Film auf dem spon
tanen linksradikalen Gegensatz zwischen der Illusion der Linken
über die Wahlen und den wahren Kämpfen der Arbeiter an der Basis,
ohne sich zu fragen (aber auch hier ist nicht der Film verantwort
lich, sondern unsere ganze Doxa), ob diese „Wahrheit“ ùnd jene
„Illusion“ nicht zusammengehören und einander bedingen. Daher
diese ein wenig sonderbare Szene, in der man sich über die Leute
lustig macht, die Wahlplakate aufkleben. Man hat den Eindruck,
dass sie ein wenig als Ausgleich da ist, weil die Autoren des Films
etwas verlegen über die Tatsache sind, dass sie der lokalen Verei
nigung der CG T zu Dank verpflichtet sind. Doch daneben bleibt
das eigentliche Problem bestehen. Was ist dieser „wahre“ Kampf?
Ist das ein gewerkschaftlicher Kampf mit einem Quäntchen Seele?
Ist er etwas anderes? Wird sich durch die Verbreitung seiner Bilder
ein Lager bilden oder seine Illusion?
Das andere Problem ist für mich das der Kamera. In einem ge
wöhnlichen Kampf gibt es für gewöhnlich keine Kamera, die jede
Geste, jede Versammlung filmt. Die allzu natürliche Anwesenheit
des „Arbeiter“-Charakters der Hauptfigur verdeckt ein wenig das
Anderswo, das in diesem Arbeiterkampf gegenwärtig ist. Die Bei-
spielhaftigkeit eines Arbeiterkampfes wird nicht von einem Blick
gefilmt, sondern die Bilder sind von einem bestimmten Ort aus
aufgenommen, der auch der Ort ist, von dem der Hauptakteur
des Kampfes kommt. Ich bin einverstanden damit, dass die en
gagierte Kamera sich nicht mit den Problemen der Metasprache
herumzuschlagen braucht und kein schlechtes Gewissen haben
soll wegen ihrer Stellung, ihrem Recht darauf, da zu sein und so
weiter. Dennoch zwingt die Beispielhaftigkeit dazu, Probleme zu
verdecken, die Teil der Beschaffenheit dieses Lagers sind, das das
engagierte Kino zu bilden helfen soll.
Für mich besteht das große Problem darin, dass sich auf der Ebene
der Verbreitung der Filme Ghettos bilden. Zum Beispiel wird man
für den Arbeiter, den man für revolutionär hält und der in der Fabrik
oder im Streik ist, engagierte Filme machen, die Arbeiterkämpfe
zeigen. Für den Arbeiter, den man für kleinbürgerlich hält, der am
Samstagabend ins Kino geht, wird es Filme geben, die Arbeiter
zeigen, die ein bisschen blöd und ein bisschen lustig sind wie Rufus
zum Beispiel, Arbeiter, denen der Klassenkampf ziemlich egal ist.
Die Hegemonie der bürgerlichen Kultur basiert nun gerade auf der
scharfen Trennung der Gattungen, die zugleich eine Trennung des
Publikums ist: plumpe kommerzielle Filme für die Massen, leicht
füßige kommerzielle Filme für das intellektuelle Kleinbürgertum,
engagierte Filme für die Aktivisten. Das ergibt eine doppelte Gefahr.
Man lässt sich auf die bürgerliche Trennung ein, man bewohnt sein
Ghetto, aber man tut auch so, als würde man glauben, man richte
sich an ein anderes Publikum als das seine: wie die linksradikale
Presse neigen die engagierten Filme dazu, die Verkürzungen ihrer
Pädagogik durch die Behauptung zu rechtfertigen, dass sie sich
nicht an Intellektuelle richten, während diese in Wirklichkeit noch
immer ihre Hauptkonsumenten sind.
Schützt das linksradikale Wort und Bild nicht die Ausrede vor,
dass die Massen gewisse Schnörkel nicht verstehen, um die Einfäl
tigkeit der Intellektuellen zu bestätigen? Man müsste es schaffen,
die Wege zu kreuzen, für jedes Ghetto Filme zu machen, die seine
Gattung durchbrechen, die die Wahrnehmung seines eigenen
Publikums provozieren und verschieben. Jacques Fansten sagt in
seinem Interview in den Cahiers dazu etwas sehr Interessantes.
Aber das Schicksal seines Films (Lepetit Marcel) gibt offenbar zu
denken.
Du hast Hier und anderswo von Godard gesehen. Was hältst du von
der Art und Weise, wie er die Frage aufwirft, wie man einer Sache
dienen kann (oder wie man einer Sache nützlich sein kann — was
vielleicht etwas anderes ist)? Und auchy wie man sich einer politischen
Sache bedient, um eine Reflexion über das Kino in Gang zu bringen
(und sie anzuregen)?
Einer Sache nützlich sein, ich weiß nicht ... Er hat bereits das
Verdienst, ziemlich vielen „guten“ Sachen schädlich zu sein. Er ist
sicher der einzige gegenwärtige Film über unsere politische Situa
tion, der zur rechten Zeit kommt, um die Kultur des gemeinsamen
Programms in Frage zu stellen. Ich denke an die Einstellung, wo der
Regisseur die zu schöne Libanesin ihren Kopf heben lässt, damit sie
besser die Rolle der palästinensischen Aktivistin spielen kann, die
glücklich ist, der Revolution einen Sohn zu schenken. Das ist, glaube
ich, das genaue Gegenstück zu der Einstellung am Schluss von Der
Richter und der Mörder, wo eine ebenso zu schöne Schauspielerin
den Kopf zu hoch hält, um eine zu sehr nach Flieder riechende
Kommune zu besingen. Godard erfüllt eine Funktion, die heute
ganz wichtig ist, nämlich zu provozieren und zu spalten. Aber ich
glaube, dass er eher Leuten nützlich sein kann, nicht so sehr einer
Sache. Bleibt die Frage welchen Leuten. Bei Hier und anderswo ist
er wahrscheinlich mehr uns nützlich als den Palästinensern. Welche
Nützlichkeit?
Das kann einfach ein Dienst von der Art „uns helfen, nicht
dumm zu sterben“ sein. Das kann mehr sein, das Prinzip einer
neuen Wachsamkeit zum Beispiel. Es gibt aber einen Aspekt,
der mir problematisch erscheint: das, was ich vorhin als seinen
Pazifismus bezeichnet habe. Godard sagt uns: Es ist schändlich,
Bilder zu machen, schändlich, ihnen einen Ton beizufügen, der
sie lügnerisch macht, schändlich, diese Geschichten zu erzählen,
die tägliche Vergewaltigung durch die Darstellung der Macht zu
wiederholen. Das ist wahr, aber es ist nicht die ganze Wahrheit.
Man muss auch Bilder und Geschichten herstellen; man muss
spalten, aber man muss auch in gewisserWeise vereinen. Man kann
nicht bei der Position stehen bleiben, dass Schuldgefühle erzeugt
werden, was - auch wenn sie auf eine unendlich viel intelligentere
Praxis verweist - der Position der postlinksradikalen politischen
Diskurse ähnelt, die jede politische Aktion für schuldig erklären,
weil sie notwendigerweise eine Macht errichtet, die notwendiger
weise unterdrückt und so weiter.
Wenn man nicht ohnmächtig dastehen will, muss man eine
Macht errichten, Bilder erzeugen und Fiktionen, die immer ein
wenig verdächtig sein werden. Man muss spalten (das Hier und
das Anderswo), aber auch produzieren (also wiederum auf eine
bestimmte Art das Hier und das Anderswo verdichten). Die Stunde
der Dialektik hat geschlagen: Wie spalten, wen vereinen und worauf?
Zum Beispiel würde ich dem Film La Cecilia von Jean-Louis Co-
molli nicht vorwerfen, sich Freiheiten zu nehmen in Bezug auf die
Frage von Godard, sondern ich würde ihm vielleicht vorwerfen, zu
einfach mit einer Idee zu vereinen (die Anarchie, der schöne Traum:
Bilder, die vom anarchistischen Lied getragen werden), um danach
mit derselben Idee zu einfach zu spalten (die Grenze des Traums,
der außerhalb des wahren Klassenkampfes liegt): Man müsste in
der einen oder anderen Weise deutlich machen, dass dieser wahre
Kampf auch seine Grenzen und sein Scheitern hat (den Heiligen
Bund zum Beispiel).
Man muss die Provokation von Godard akzeptieren und dennoch
Mittel und Wege finden, darüber hinauszugehen. Denn hinter dem
Anschein einer Rückkehr zum Positiven (das ist es, was die palästi
nensischen Kämpfer sagten, deren Stimme wir mit unserer schrillen
Internationalen überdeckt haben; man muss lernen hinzusehen,
zuzuhören und so weiter) liegt ein Aristokratismus, der ein wenig
selbstmörderisch ist.
1981
Und die Müden haben Pech gehabt!19
mit Edmond El Maleh
***
Jacques Rancière: Ich bin von Berufs wegen nicht Historiker, sondern
Philosoph. Ich bin auf das Gebiet der Geschichte gelangt infolge der
Sackgassen, in welche die große Idee von 1968-70 führte, nämlich
die Vereinigung von intellektueller Kritik und Arbeitskampf. Um
das Scheitern oder die Verirrung der marxistischen Diskurse und
Praktiken zu verstehen, wollte ich zu den Jahren 1840-50 zurück
kehren, als die marxistische Theorie sich auf die Arbeiterproteste
pfropfte und den Hoffnungen und den Plänen der Utopie das
Bewusstsein von der „wahren Bewegung“ entgegenstellte.
Die Mentalitätsgeschichte diente mir zugleich als Modell und
als Vogelscheuche. Ihrer Vorliebe für die lange Dauer der „unbe
weglichen“ Geschichte, für die Ernährungsgewohnheiten oder die
Einstellungen gegenüber dem Tod wollte ich eine Anthropologie
des Arbeitskampfes entgegensetzen: spontane Vergesellschaftungen
gegen geregelte Organisationen, alltägliches Flüstern gegen große
Parolen, die Kenntnis des Werkzeugs gegen die Kenntnis der Waffe.
Ich musste bald meine Illusionen aufgeben: Die Hefte und Zeitun
gen der Arbeiter unterrichteten uns vor allem darüber, wie sie selbst
gesehen werden wollten. Von den Praktiken des Widerstands oder
der Arbeitergesellschaften erfuhren wir nur durch die Beschreibun
gen der verzweifelten Unternehmer oder der Philanthropen, die
über die Promiskuität des Elends oder die Orgien in den Kneipen
fantasierten.
Konkrete Gestalt ja, aber man muss sich darüber einigen, was man
darunter versteht. Der herrschende Positivismus hat auch seine
konkreten Gestalten: „Kinder des Volkes“ oder,Antihelden“, deren
Eigenheit die approximativen Allgemeinheiten des gelehrten Dis
kurses bestätigt, ja mehr noch, sie verkörpert. Es handelt sich hier
im Gegenteil um gespaltene Figuren, um Gesichter im Spiegel, um
Arbeiter, die ihrem Bild trotzen und ihrem Begriff Lebewohl sagen.
Sie spielen auf den Schreiner Gauny an. Er hat uns ziemlich
außergewöhnliche Manuskripte hinterlassen, Briefwechsel, Artikel,
Gedichte. Das sind keine Erinnerungen eines Kindes aus dem Volk,
sondern die gelebte Erfahrung einer eigentlich philosophischen
Fragestellung: Wie kann man Arbeiter sein?
Er beschreibt uns seinen Arbeitstag, Stunde für Stunde. Und es
geht dabei nicht um das „schöne Werk“ der Nostalgiker, auch nicht
um den Mehrwert, sondern um die fundamentale Wirklichkeit der
proletarischen Arbeit, um die gestohlene Zeit. Wir spüren dabei,
dass unsere Wörter wie Ausbeutung, Bewusstsein, Revolte und so
weiter immer an der Erfahrung dieses „verwüsteten“ Lebens Vor
beigehen.
Er macht sich daran, sich zu befreien, sich und die anderen, denn
unsere Gegensätze sind auch hier lächerlich: die „Ketten der Skla
verei“ müssen von bereits befreiten Individuen gesprengt werden.
Er nimmt eine Arbeit als Parkettleger an, die am Stück bezahlt
wird, bei der er frei von einem Meister ist und dennoch weiß, dass
er ausgebeutet wird. Und er zeigt uns, dass wir Philosophen nichts
von den Beziehungen zwischen der Illusion und dem Wissen, der
Freiheit und der Notwendigkeit verstanden haben.
Er treibt das Paradox auf die Spitze. Er schmiedet sich eine
Philosophie der Askese. In einer Zeit, als die Arbeiter so gut wie
nichts zu konsumieren haben, lehnt er die Konsumgesellschaft ab.
Er erfindet eine Ökonomie der Freiheit anstelle einer Ökonomie
des Wohlstands.
Er zeigt uns den Nerv der aktivistischen Leidenschaft, die in Sei
nesgleichen wohnt: nicht, sich der Ausbeutung „bewusst zu werden“
(die kannten sie von vornherein), nicht die Solidarität unter den
Arbeitern (die anderen sind zuerst die Komplizen des Meisters),
sondern der Wunsch, zu sehen, was sich auf der anderen Seite ab
spielt, ein anderes Leben kennenzulernen. Sie neiden den Bourgeois
nicht die Positivität ihres Wohlstands, sondern die Negativität ihres
„Leerlaufs“, ihre Muße, ihre Nacht. Der Ursprung des Diskurses
der Arbeiteremanzipation liegt im Begehren, kein Arbeiter mehr zu
sein: sich nicht mehr seine Hände und seine Seele abzunutzen, aber
auch nicht mehr Arbeit oder Lohn verlangen und seine Interessen
verteidigen zu müssen; nicht mehr die Stunden des Tages zu zählen
und nicht mehr zu schlafen in der Nacht ...
Gauny hat die Kraft, seinen Traum und seinen Widerspruch zu
leben: Arbeiter zu sein, ohne es zu sein. So macht es auch seine
Schwester in der Utopie, die Schneiderin Désirée Véret. Andere,
wie die Schneiderin Reine Guindorff oder der Schriftsetzer Adolphe
Boyer sterben daran. Manche, wie der Schlosser Gilland versuchen,
nachdem sie von der „Harfe Davids“ geträumt haben, ihr Absolutes
auf das Maß der „moralischen und materiellen Interessen der Arbei
ter“ zu reduzieren. Andere werden an Malaria sterben, in Texas, wo
sie Ikarien suchten. Es gibt schließlich solche, die reich werden ...
aus Verzweiflung.
Das ist ein einzigartiges Experiment: gegenüber den utopistischen
Theoretikern und den gutwilligen jungen Bürgerlichen, die ihr
Elend lindern und die Arbeit der Zukunft fördern wollen, spielen
diese Handwerker die Frage der Philosophie noch einmal durch,
die an ihrem Anfang steht: Wer hat ein Recht auf Denken? Anhand
welcher Merkmale unterscheidet man jene, die zur Arbeit ihrer
Hände geboren sind, von denen, die zum Denken geboren sind?
Sie fallen uns somit in den Rücken.
Anstatt die Begriffe unserer Wissenschaft zu verkörpern, drama
tisieren sie unsere Philosophie. Sie funktionieren nicht mehr, sie
denken. Und damit werden nicht nur unsere Dummheiten über die
Arbeit, das Bewusstsein und die Revolte zurückgewiesen, sondern
es wird ihrerseits die Funktionsweise dessen, was wir uns nicht
scheuen, unser Denken zu nennen, in Frage gestellt.
Man spürt, dass in Ihrer Arbeit die Erfahrung des M ai 168 sehr gegen-
wärtig ist. Wie passt sie mit der Forschungsarbeit über das 19. Jahr
hundert zusammen?
Das Verhältnis ist ganz natürlich: Hat man nicht 1968 von einer
Rückkehr zum 19. Jahrhundert gesprochen? 1967 sahen uns die
Bescheidwisser bereits auf dem Weg ins 21. Jahrhundert: Die Stu
denten kümmerten sich nur noch um ihr Studium und ihre Berufs
aussichten, die Arbeiter verbürgerlichten sich, überwältigt von den
Freuden an der Waschmaschine. Und dann fand man sich ein paar
Monate später mitten im 19. Jahrhundert wieder: Barrikaden und
rote Fahnen. Natürlich wurde mit der Rückkehr zur Ordnung das
große Geschütz der Theorie aufgefahren, die uns daran erinnerte,
dass die Ernsthaftigkeit der würdigen und verantwortungsbewussten
Arbeiterbewegung ganz entschieden nichts mit diesem Fieberanfall
von Kleinbürgern zu tun hatte, die Revolution spielten.
Der Punkt ist nun aber, dass die Geschichte uns lehrt, dass die
Arbeiter sich immer wie „Kleinbürger“ verhalten haben. Nehmen
Sie den Juli 1830: In der Vorstellungswelt einer ganzen Arbeiter
generation spielt er genau dieselbe Rolle wie der Mai ’68. Das ist
der Moment, als man entscheidet, dass „nichts mehr wie vorher“
sein wird. Alles wird an diesen drei Tagen des Kampfes und des
Festes, der Sonne, des Ruhmes und der Freundschaft gemessen,
als das Volk gezeigt hat, was es war. Und doch hatten sie oft viel
zu verlieren: Die Geschäfte gingen ziemlich gut, sie hatten einen
kleinen Notgroschen angespart, sie waren vielleicht sogar dabei,
sich selbstständig zu machen. Und nach der Revolution ging es
mit dem Geschäft bergab, während die Repression nicht auf sich
warten ließ. Ein Jahr später treffen die Saint-Simonisten auf früher
wohlhabende Arbeiter, die noch keine Arbeit gefunden haben oder
irgendeine Arbeit machen - im Übrigen fristen diese „Handwerker“,
die angeblich so sehr an ihrer „Qualifizierung“ hängen, meistens das
Dasein unseres vorgeblich so neuen „Prekariats“ und nehmen, mehr
als man gemeinhin glaubt, Abstand von der Ideologie der Arbeit.
Diese Waisen des Juli 1830 klammern sich an den neuen saint-
simonistischen Glauben. Zwar bricht auch dieser bald zusammen,
aber das macht nichts: In der Verkettung ihrer Hoffnungen werden
sich die Worte der saint-simonistischen Liebe an die Reliquie der
drei Tage heften und durch allerlei Versuche und Rückschläge die
nunmehr unausweichliche Entscheidung stärken: nicht dumm zu
sterben.
Sobald man die Kruste des Repräsentationsdiskurses durchdringt,
findet man eine gewisse faszinierende Familienähnlichkeit wie
der, manchmal sogar innerhalb dieses Diskurses: eine bestimmte
ursprüngliche Abweichung, eine bestimmte Vorstellung vom zu
verändernden Leben ... Denn diese Zeit ist auch die der Aufrichtig
keit: Der Lack der Schmeichelei gegenüber den Arbeitern verdeckt
noch nicht die Verzweiflung angesichts des Arbeiterdaseins oder der
Verachtung für eben jene „Brüder“, die man verteidigt.
Am Anfang war mein Interesse für das 19. Jahrhundert archäo
logischer oder genealogischer Art: Ich wollte die Widersprüche, die
unserer Gegenwart geerbt hat, in ihren Ursprüngen erfassen. Auf
dieser Reise hat sich mein Interesse verschoben: Ich wurde immer
mehr empfänglich für die Ähnlichkeit der existentiellen Verhältnisse,
für die Art des Erlebens der geschichtlichen Zeit, der großen Mo
mente, fiir die Zyklen der Hoffnung, der Mutlosigkeit, der Rückkehr
zum Ausgangspunkt, der unangebrachten Hoffnung. Irgendwie ist
es die intellektuelle Geschichte einer Generation geworden: Wie
die Arbeiter, die 1830 sagten, dass sie nicht mehr wie vorher leben
würden, ihre Absicht umsetzten.
Wenn das positive Wissen mit seiner Blindheit konfrontiert wird.\ bleibt
dann nicht am Ende nur die Verzweiflung oder die Skepsis? Und doch
wollten Sie „den Rebellen ihre Gründe, den verliebten Kindern ihre
Karten und Kupferstiche zurückgeben
***
Cahiers: 1976 hatten wir gemeinsam über die linke Fiktion disku
tiert. Heute ist die Linke keine Fiktion mehr. Doch zugleich sind ihre
Fiktionen seltener geworden. Dennoch gibt es Themen} die man in
ihnen fan d und die man heute in einem Genre-Kino wiederfindety
das besonders im Krimi und in der Komödie verkörpert wird. Was ist
denn da genau passiert?
Jacques Rancière: In den Jahren von 1975 bis 1980 hat der Aufstieg
der Vereinigung der Linken22 einen bestimmten Fiktionstypus und
Darstellungstypus von einem linken Volk unterstützt, indem es die
unanimistischen Figuren und Bilder im Stil der Volksfront über
die Gefühlslage des kulturellen Linksradikalismus umcodierte. Der
Volksball wurde mit der Commedia dell’arte vereinigt, das Herauf
beschwören der Bodenständigkeit des Volks mit der sexuellen und
der sprachlichen Freizügigkeit des modernen Städters: ein festlicher
Populismus, der von den Ideologien des Genusses geprägt war,
dessen Archetyp René Férets La Communion solennelle war. Offen
sichtlich musste diese Art der Darstellung, die den Machtanspruch
der linken Parteien in der Tiefe der Volksinstinkte verankert, mit
der Befriedigung dieser Forderung verschwinden. Doch vor allem
hatte sich diese Forderung nur durch die Umcodierung der Themen
des kulturellen Linksradikalismus ausdrücken können. Der poli
tische Sieg der Linken bestand vor allem in der Erschöpfung des
Linksradikalismus, in jedem Sinne des Wortes. Die sozialistische
Macht hatte von vornherein das Beste „ihrer“ Kultur hergegeben.
Der Zusammenbruch der linken Fiktion - deren Prunkentfaltung
übrigens immer diskret geblieben war - hat dieselben Ursachen wie
das „Schweigen“ der Intellektuellen. Insbesondere die Fiktionen der
Verwurzelung scheinen das Kino zur selben Zeit im Stich gelassen
zu haben, wie sie die geschichtswissenschaftliche Produktion ver
lassen haben. Es bleiben aber tatsächlich gewisse Themen übrig, die
nunmehr zur Erbmasse gehören, die der gewöhnliche kommerzielle
Spielfilm ausschlachtet: die Untergründe und Ränder, die Opfer
und die Ausgestoßenen der Gesellschaft, der Rassismus, die Ein
wanderer, die Kleinkriminellen, die Drogen ... Es hat eine gewisse
Neudefinition der Landschaft des Volkes und des populistischen
Bildes stattgefunden: die Goutte d’Or, die Vorstädte, die besetz
ten Häuser, die Motorrad-Beurs,23 die Dealer und die Verkäufer
gestohlener Uhren, die in Das Attentat oder in Die Bestechlichen,
in Zwei Fische a u f dem Trockenen oder in Am Rande der Nacht
{ Tchao Pantin) von Claude Berri ausgebreitet werden, das sind alles
Pflichtstationen des modernen Besuchs beim Volk. Die Einwan
derer sind auf der einen Seite Elemente dieses Besuchs beim Volk
{Die Bestechlichen, Zwei Fische a u f dem Trockenen), auf der anderen
Seite werden sie politisch als Opfer des Rassismus definiert (Train
d ’enfer, Das Attentat). Doch sie sind nur im sozialen Sinn Opfer,
nicht in der Dynamik eines Dramas, wie es die schuldigen Opfer
oder die zwiespältigen Helden vom Typus Liliom, Die Hündin {La
Chienne) oder Goldhelm {Casqued’or)2Awaren. Das Problem ist, dass
Goldhelm heute Araberin wäre. Damit könnte der Film nicht mehr
die Identifizierung des Durchschnittspublikums mit der Notlage
des schuldigen Opfers tragen. Der Bezug zur Herkunft würde den
Bezug zum Gesetz versperren. Das Resultat ist, dass der Einwanderer
als pittoreske Figur oder als Gesellschaftsopfer dasteht. Es ist ihm
nicht möglich - nicht erlaubt -, Subjekt eines Dramas zu sein. Die
Araber sind in Train d ’Enfer somit eine Bevölkerungsgruppe, die
geschützt werden muss. Ihr Sprecher macht immer den Eindruck,
als würde es ihm nicht gelingen, im Feld der Repräsentation einen
Platz zu finden, dem Kameraobjektiv schräg gegenüberzutreten,
eine Bewegung zu machen, um sich abzuwenden und aus dem
Bild herauszutreten. Die populistische Fiktion vom Individuum als
Träger des Gesellschaftsdramas ist somit blockiert. Auf der anderen
Seite geht auch die Anklage der Gesellschaftsmaschine tendenziell
verloren ...
Sie sagten vorhin, dass auch die Stellung des Gesetzes sich geändert
hat. Das würde tatsächlich erklären, warum es heute keine möglichen
Subjekte mehr gibt, nicht im Sinn von sozialen Opfern, von Opfern
der Manipulation und so weiter, sondern mögliche Subjekt-Figuren
gegenüber einem Gesetzesstatus, dessen Sinn sich komplettgeändert hat.
Das ist dasselbe wie in Das Attentat. Da gibt es auch die Vorstellung
von einer Manipulation, von denjenigen, die das Gesetz repräsentieren
sollten, es aber nicht mehr tun, ebenso wenig wie die M oral Und man
versteht auch nicht recht, wo die Moral angesiedelt sein soll. Es gibt
keine positiven Bezüge mehr. In Die Spezialisten sieht man, dass die
Polizei, die gegen die Drogen kämpfen sollte, das nicht wirklich tut,
und auch hier ist der einzige Ausweg, sich zu helfen zu wissen und sich
durchzuschlagen.
Mir scheint tatsächlich, dass von dem Moment an, wo es keine for
mulierbare Moral und nirgends mehr ein verkörpertes Gesetz gibt,
jedes Element des Begehrens und der Liebe völlig zusammenbricht.
So ist in Die Spezialisten die weibliche Präsenz bloß ein Kulissen
element. Mit dem restaurierten typisch provenzalischen Haus des
Hinterlandes von Nizza ist sie Teil des Cote-d’Azur-Luxus, der dem
Film sein Markenimage verleiht. Zwei Fische au f dem Trockenen ist da
noch bezeichnender. Wenn Sophie Duez ins Bild kommt, erwartet
man immer, dass sie gleich Werbung fiir irgendein Produkt macht.
In den Tanzszenen zum Beispiel erwartet man sich ein Standbild,
das uns das Geheimnis der außergewöhnlichen Energie all dieser
jungen Leute verraten wird. Eine gewisse Aufwertung der Frau als
Verkörperung der gesellschaftlichen Selbstsicherheit stammt heute
von ihrer privilegierten Rolle als Vorführerin, die das Produkt
präsentiert, das sie schön oder glücklich macht. Diese in die Filme
hineinkatapultierten Frauen, deren erster Satz im Allgemeinen
aussagt, dass ihnen das Ganze (die Probleme der Männer) „scheiß
egal“ ist, erinnern mich an die junge Frau in der Supermarktwer
bung („Der hat Probleme, der Typ!“). In all diesen Filmen sind sie
Fremdkörper, oft mit einem bestimmten Kulissenstil verbunden:
eine sehr stereotype, modernistische Hochglanzmagazin-Kulisse.
Sie haben keinerlei Platz in der Struktur der Handlung, die auf
dem männlichen Paar gründet, und sie sind jeglichem Begehren
der Figuren so sehr fremd, dass man sie oft, um ein Minimum an
Erotik zu bewahren, die sich immer gut verkauft, ein Bad nehmen
oder duschen lässt. „Erotik“ des sauberen Körpers. Das Bild von
der Frau, das einst Träger des Verbotes oder des Unmöglichen war,
ist nur noch da, um umgekehrt zu sagen, dass es weder Unmögli
ches noch Verbotenes gibt, sondern einfach Konsumgüter, deren
Hierarchie die Fähigkeit des Tandems testet, sich durchzuschlagen.
Das sexuelle Symbol wurde völlig von der Funktion des Aussendens
einer Werbebotschaft aufgesogen.
Die Städte werden in diesen Filmen a u f eine bestimmte Art dargestellt.
Sie spielen alle in mittelgroßen undgroßen Städten. Die amerikanischen
Fiktionen funktionieren überhaupt nicht in Frankreich (Country,
Menschen am Fluss [The River]). In Die Bestechlichen hat man den
Eindruck, ein Viertel existieren zu sehen, und zugleich existiert dieses
Viertel nur durch die kleinen Berufe, die mit den Bullen in Verbindung
stehen, mit der Korruption, den fliegenden Straßenverkäufern.
Rohmer ist ein Moralist, das heißt einfach jemand, der es sich er
laubt, einen Standpunkt zu haben. Anderswo ist die Möglichkeit,
eine Geschichte zu erzählen und Figuren zu erschaffen, durch eine
Art von umgekehrter Zensur versperrt. Das Drehbuch reproduziert
in seiner Moral eine kommerzielle Logik, die das berühmte „es ist
verboten zu verbieten“ auf eine Konsumentenmoral banalisiert
und reduziert. Der Film muss eine bestimmte Anzahl von Verhal
tensweisen, die von Werbezeichen übermittelt werden, als normale
Verhaltensweisen ausgeben, und damit jedes Urteil ausschließen,
das den Blick auf das Produkt trüben könnte. Und dann, auf der
politischen Ebene, ist es ein Kino der Sicherheit, nicht im Sinn
des von der Sicherheit besessenen Rassismus, sondern im Sinn der
Umgestaltung des gesellschaftlich Darstellbaren. Die Dinge gehen
nicht glatt, wenn man Risiken eingehen muss mit dem Gesetz, dem
Anderen und dem Begehren.
Das ist im Grunde bereits das, was in der linken Fiktion fehlte. Es gab
kein wahrhaft moralisches Verhältnis zu den dargestellten Figuren.
Wir kehren zu dem zurück, was wir damals gesagt haben: Der As
pekt der „Entstehung einer Gesellschaft“ war im französischen Kino
niemals sehr stark ausgeprägt, selbst bei den Autoren wie Renoir, die
es verstanden hatten, das Opfer der Gesellschaft zu dramatisieren.
Die Spielregel ist immer etwas, das bereits vorgegeben ist, in Bezug
auf das die Rechtmäßigkeit der Distanz oder der Revolte beurteilt
wird. Das ist die „anarchistische“ Dimension der französischen
Fiktion, die gestörte Familienfeier. Die Unsicherheit des Gesetzes,
das erst gemacht wird, die Zwiespältigkeit des Gesetzlosen, der
ehrenwerten Leute, des Gesetzesrepräsentanten, das alles war hin
gegen Sache der amerikanischen Fiktion. Nun, da das moralische
Element dieses fiktionalen Anarchismus (die Rechtmäßigkeit gegen
das Gesetz) selbst auf das Gewinn- und Verlustkonto der Geschichte
verbucht wurde, kommt man zu einer Verknappung des Sinns, die
ebenso in der versicherten Gleichgültigkeit der Fiktion gegenüber
der „Korruption“ wie in den verzweifelten Versuchen politischer
Fiktionen im Stile von Train d ’enferzu spüren ist. Es ist unmöglich,
nicht den Abstand zwischen dem Halbkreis um den Kommissar und
dem Angriff auf den Saloon in Gejagt, gehasst, gefürchtet (Johnny
Guitar) von Nicholas Ray zu sehen. Selbst wenn der hysterische
Gestus von Mercedes McCambridge auf die banale Geschichte einer
eifersüchtigen Frau verwies, hatte er die Glaubwürdigkeit einer
politischen Botschaft, die jene Geschichte über die Masse, die von
den Rechtsradikalen manipuliert wird, absolut nicht hat. Philip
Yordan und Nicholas Ray haben im Tandem der Meuchelmörder
ein dramatisches Element gefunden, das einen Film schuf, den die
Leute nach Belieben als politische Botschaft interpretieren konnten
oder auch nicht. Der Fremde war wahrhaftig in diesem Saloon
anwesend, ebenso stark und zerbrechlich wie der Traum von Joan
Crawford. Jetzt bildet der Fremde keine Figur, er steht vor der Tür,
man steckt ihn in den Käfig, man holt ihn aus dem Käfig, man
«iiützt ihn, aber er verkörpert nicht. Es ist für eine Gesellschaft,
die niemals die Gelegenheit hatte, über das Gesetz des Lynchens
nachzudenken, sicherlich schwierig, dem Rassismus eine Gestalt zu
geben. Und dann gibt es den Zwang zum Glück, der das Feld des
Darstellbaren genau umgrenzt und die Gewalt erlaubt, aber nicht
die Grausamkeit. In Die Spezialisten oder in Die Bestechlichen merkt
man genau, dass um der Schönheit der Sache willen die schwächste
Figur geopfert werden müsste. Aber die Schönheit ist zu grausam.
Offensichtlich denkt der Drehbuchautor oder der Produzent,
dass der Tod die Zuschauerzahlen senkt, dass ein Kino, das Erfolg
haben will, ein Bild des Erfolges bieten müsse. Es liegt etwas sehr
Verkrampftes in den Versicherungen, dass das französische Kino
bei bester Gesundheit sei. Man denke an die Rede von Zidi bei
der Preisverleihung der Césars. Einerseits belohnt die Branche
denjenigen, der Erfolg hat, indem er Filme macht, die behaupten,
dass das einzige Problem der Erfolg sei. Andererseits sagt Zidi mit
zu viel Nachdruck: „In Frankreich haben wir Glück, wir haben ein
Publikum, ein großartiges Publikum.“ Man spürt dabei ein sehr
defensives Spiegelverhältnis, bei dem der Produzent, der Dreh
buchautor und der Regisseur ängstlich das glückliche Verhältnis
zum Publikum vorwegnehmen, von dem man annimmt, dass es
Glück ohne Begehren, Gewalt ohne Grausamkeit und Bewegung
ohne Geschichte will. Der Zynismus des Sicherheitsdenkens verleiht
dem Film seinen Inhalt und der Produktion ihre Formel. Beide sind
gepanzert gegen alles, was an die Grausamkeit des Sinns und an die
Risiken der Geschichte erinnern könnte. Es ist wie am Anfang von
Die Spezialisten, wo Lanvin sagt: „Wer weiß ...“ und Giraudeau
antwortet: „Ich weiß schon.“
Man könnte sich auch ansehen, wie der Staat (das Kultusministerium
in Form der Direktförderung) seine Präferenzen in Sachen Kino for
muliert hat. Eine Politik der großen Namen, international, mit ein
paar Achsen wie die Geschichtey die Französische Revolution, (Dan
ton von Wajda)y die Trauer um die Kolonieny das Kaiserreich (Adieu
Bonaparte von Chahine) und so weiter. Dann ist da noch Das Geld
(L’argent) von Bresson.
Das Geld vollzieht das, was Bresson immer gemacht hat: eine Ein
schreibung der Zeitzeichen. Die Zeichen zirkulieren dann, wenn
und insofern sie beurteilt werden. Die theologische Bestimmung der
Signifikanten - das heißt die Anwendung einer Dämonenlehre -
macht ihre Wirksamkeit als Geschichte aus. Das Geld entspricht der
sozialistischen Regierung, insofern sie symmetrisch zur Erschöpfung
des moralischen und kulturellen Linksradikalismus ist. Der Film
ist zu einem Zeitpunkt herausgekommen, als eine Generation, die
unsere, ihr „Soziales“ in die Hände von linken Politikern gelegt und
das Problem des Bösen wiedergefunden hat.
Bresson ist ein wenig der Vorläufer dieser Begriffe von Gut und Böse.
Warum sind diese großen Begriffe in den durchschnittlichen Fiktionen
desfranzösischen Kinos nicht präsenter?
***
Der Gegensatz zwischen Rhetorik und Poetik spielt eine wichtige Rolle
in Ihrem Buch. Wird dadurch eine neue Anordnung der alten., von
Platon vollzogenen Wahrheitsaufteilung zwischen den Philosophen
einerseits und den Sophisten und Dichtern andererseits vorgeschlagen?
Und inwiefern passen in dieser Hinsicht Philosophie und Gedicht
zusammen?
Sie schreiben, dass sich die Revolution der Historiker um die Französi
sche Revolution herum konstituiert. Sie kämpft mit dem Tod des Königs
und mit dem Überschuss der Wörter; mit der von den revolutionären
Unruhen entfesselten Rede. Heißt das, dass die Revolution als Ereignis
mit ihrem Gewicht die gesamte nichtereignishafte Geschichte prägt?
Die Romantik, die das Ende der mimetischen Herrschaft und die De-
konstruktion des alten Kanons der poetischen Künste bedeutet, nimmt
in Ihrer Argumentation eine revolutionäre Stellung ein. Deswegen
spielt auch die Michelet’sche Erzählung eine grundlegende Rollefü r die
neue Geschichte. Könnte es sein, dass die Romantikfü r die Philosophie
dieselben Wirkungen gehabt hat?
Ist die Poetik des Wissens also eine kritische Hermeneutik? Stimmen
darin der Sinn und die Wahrheit der Geschichte überein?
Was in der gewöhnlichen Sprache gesagt wird, kann auch immer als
Gedicht gedacht werden, das heißt als intellektuelles Abenteuer, das
jedem Beliebigen erzählt werden kann unter der Voraussetzung, dass
es genügt, ein sprechendes Wesen zu sein, damit man es versteht.
Seit Platon weiß man, dass die Schrift die Stellung des Vaters des
Diskurses und die Situation beseitigt, in der der Diskurs als spezifi
sches Vermögen hinsichtlich eines spezifischen Empfängers ausgeübt
wird. Es besteht also immer die Möglichkeit, einen philosophischen
Diskurs als ein Gedicht aufzufassen, das heißt ihn als Ausübung ei
nes gemeinsamen Vermögens der Sprache unter der Annahme einer
Wahrheit (und nicht eines bloßen Spiels von wirksamen Regeln)
zu denken und zu schreiben. Das bedeutet nicht, die Philosophie
auf das Gedicht oder die Erzählung „zu reduzieren“, sondern das
bedeutet, sie an dem Punkt zu erfassen, an dem das Denkvermögen
sich in einer Verbindung zum Sprechvermögen (und auch zu einer
Aufteilung der Körper, das heißt einer Politik) bestimmt. Eine
solche Schrift ist dazu in der Lage, die Philosophie außerhalb ihrer
selbst zu denken, zum Beispiel eben die wilden Philosophien der
Human- und Sozialwissenschaften, oder an ihren Grenzen, dort,
wo sie sich selbst ausspricht, einen Mythos und einen Logos geltend
zu machen, um ihre Eigenheit als Ausrichtung des Denkens zu
bestimmen. Dort, wo es sich, wie im Phaidros, darum handelt,
„Wahres zu sagen, wenn man von der Wahrheit spricht“31, muss das
Gedicht abgelehnt werden, insofern es unfähig ist, die Hymne zu
singen, die dem Ort des Wahren eigen ist, und zugleich muss die
Form des Mythos verwendet werden. Man muss zugleich der Schrift
Lebewohl sagen, die ungeeignet dafür ist, die lebendige Rede zu
bekunden, und alle Formen ihrer Paideia entfalten. Der platonische
Dialog ist die platonische Dialektik und ist sie auch nicht; er ist die
Philosophie Platons und ist sie auch nicht. Es handelt sich nicht um
ein billiges Paradox, das von der modernen Narratologie erfunden
worden wäre. Es handelt sich um die notwendigerweise paradoxe
Situation der eigentümlichen philosophischen Ausrichtung im
gemeinsamen Abenteuer der Sprache, das die Wahrheit erfordert.
Wie soll man Ihre Wahl der Gattung des Essays in der Perspektive einer
Poetik des Wissens und einer Politik der Schrift ansiedeln? Ich würde
Ihnen damit auch gern die allgemeinere Frage nach der Schrift der
Philosophie und ihrer Signatur stellen.
Die Frage nach der Signatur ist die Frage danach, wie ein Subjekt
in „seinem“ Diskurs anwesend ist. Diese Frage stellt sich bei Platon
im Begriff der Lexis oder in der Anwesenheit oder Abwesenheit
des „Vaters“ im Diskurs. Wer bietet sich an, eine Gesamtheit von
Aussagen zu unterstützen und in welcher Gestalt? Eine Signatur
verpflichtet ein Subjekt, seine Anwesenheit in seinem Diskurs und
die Eigenschaft dieser Anwesenheit. Ich bin das Problem in meinem
Buch auf umschreibende Weise angegangen: Ich habe gezeigt, wie
die oft so genannten „Stileffekte“ des Historikers nicht Ausschmü
ckungen sind, mit denen die Wissenschaft sich angenehmer gestal
tet, sondern eigentlich seine Signatur. Sie sagen, wer schreibt und
in welcher Eigenschaft. Sie verfügen die ganze Erzählung hindurch
über den Stempel, der sie als Diskurs der Wissenschaft ausweist.
Die Effekte der Signatur vollziehen eine Identifizierung und eine
Legitimierung. Nicht dieser oder jener unterstützt diese oder jene
Gesamtheit an Aussagen, sondern die Wissenschaft, die Soziologie,
die Geschichte oder die Philosophie. Der Eigenname ist zugleich
ein Gattungsname, ein Zeichen der Zugehörigkeit.
Man kann diesbezüglich sagen, dass der Essay die Signatur auf den
bloßen Eigennamen reduziert. Er ist im Grunde also in der Theorie,
was der Roman im Verhältnis zur Poetik ist, die Gattung dessen,
was ohne Gattung ist. Der Essay ist der Diskurs, der keine Legiti
mitätsposition unterstützt, keinerlei legitime Identifizierung. Jedoch
kann das Fehlen von Eigentümlichkeit selbst zwei gegensätzliche
Formen annehmen. Einerseits kann es sich als „Stil, der der Mensch
ist“ geben, als das Ergebnis eines Essayisten-„Temperamenis“. Der
Essay ist dann selbst nur eine Signatur: Er signiert die clowneske
Gestalt des Intellektuellen, der von der heroischen Identität eines
Denkens und eines Charakters aus jedes Fachgebiet überschaut. An
dererseits ist der Essay das intellektuelle Abenteuer, das die Grenzen
der Fachgebiete in der einzigartigen und gewagten Verifizierung der
Annahme eines gemeinsamen Denkvermögens überschreitet. Der
Essay bezeichnet dann kein Objekt irgendeiner spezifischen Wahl.
Im gegebenen Fall habe ich mich nicht entschieden, einen Essay zu
verfassen. Dieses Buch ist aus einem Seminar entstanden, also aus ei
ner gewöhnlichen Form der universitären Arbeit. Es ist das Ergebnis
einer Forschungsarbeit und nicht eine persönliche Stellungnahme
zum Zustand der Welt. Was ihn zu einem „Essay“ macht, sind
letztlich bestimmte formale Charakteristika: seine Gedrängtheit,
die Abwesenheit von Anmerkungen und einem wissenschaftlichen
Apparat, ja sogar sein Format. Bestimmte formale Charakteristika
sind aber natürlich auch Entscheidungen im Sinne der Politik der
Schrift. Sie lehnen klassische Formen der Legitimierung und der
Identifizierung ab. Sie versuchen, die Erzählungen der Wissenschaft
zu schwächen und ihren Positionen Legitimität zu entziehen. Le
gitimität wiederum kann man auf zwei Arten beseitigen. Es gibt
die „Entmystifizierung“, die sich eine bestimmte Soziologie zur
Spezialität gemacht hat, die darin besteht, hinter den mehr oder
weniger grandiosen Wörtern die Banalität der sie tragenden Körper
und Körperzustände zu finden. Das ist eine nur wenig interessante
Ersetzung der Legitimität. Die andere Art ist jene, die zwischen
den Wissenschaften den Verlauf einer singulären Reise in der ge
wöhnlichen Sprache herstellt, der sie auf die poetische Bedingung
der Gleichheit verweist, auf die Bedingung eines Diskurses, der sich
Satz für Satz in einer unendlichen Annäherung aufbaut, in der die
Signatur eines Eigennamens dasjenige kennzeichnet, was ein Subjekt
sich verpflichtet, als das Seine auf dem Territorium der gemeinsamen
Sprache und des gemeinsamen Denkens zu unterstützen.
Eine Politik der Schrift, die Wahl des Körpers, die man den
Wörtern gibt, die Wahl der Signatur, die ein Subjekt bezüglich ihrer
Stichhaltigkeit verpflichtet, ist immer die Wahl dessen, was eine
Schrift in Bezug auf die Verhältnisse zwischen dem „Eigenen“ des
Denkens und der Anordnung der Körper in der Gemeinschaft ent
scheidet. Die Stellung der Philosophie kann nur paradox sein, nicht
aufgrund des modernen Katastrophendiskurses, sondern durch ihr
Wesen selbst. Das „Eigene“ der Philosophie, das Denken der Selbig-
keit von Denken und Sein, äußert sich immer uneigentlich. Die
Geste, die dieses Eigene abgrenzt, ist immer mit einer Entscheidung
über die Aufteilung der Sprache und über die Aufteilung der Körper
verknüpft. Die Philosophie kann weder auf die Abgrenzung ihres
Eigenen verzichten, noch sich dem entziehen, was sie außerhalb
ihrer selbst versetzt und ihr Äußeres ins Innere ihrer selbst zurück
versetzt. Es gibt also mehrere Schriften und mehrere Signaturen der
Philosophie, aus Notwendigkeit und nicht aus Eklektizismus.
Geschichte der Wörter,
Wörter der Geschichte32
mit Martyne Pierrot
und Martin de la Soudière
Jacques Rancière: Es gab eigentlich zwei Momente, bei denen sich fur
mich die Frage der Geschichtsschreibung gestellt hat: ein erstes Mal
praktisch und ein zweites Mal eher theoretisch. Ich war dabei, La
Nuit des Prolétaires zu schreiben. Am Anfang dachte ich, zu einem
Verständnis der Arbeitersprache gelangen zu können, das sie auf eine
bestimmte Seinsart, auf eine bestimmte Kultur verweist. Aber ich
habe schnell bemerkt, dass diese Art Erklärung nicht der in Frage
stehenden Wirklichkeit angemessen war, und dass ich eigentlich
den entsprechenden Wahrheitstypus beseitigen würde, wenn ich
jene Ausdrücke in eine Art Arbeiterkollektiv einsperren würde. Das
Problem der Schrift stellte sich also folgendermaßen: Ich konnte
keinen realistischen, naturalisierenden Erzähltypus verwenden. Ich
konnte nicht diesen Erzähltypus verwenden, der in gewisser Weise
einen Körper aus einem Ort und eine Stimme aus diesem Körper
hervorgehen lässt. Dieser Modus der Erzählung, den man realis
tisch nennen könnte, „autorisiert“ die Position der Sprecher, die er
inszeniert, indem sie sie in „seiner“ Welt unterbringt. Es ging hier
nun aber darum, die Errichtung eines Netzwerks unrechtmäßiger
Diskurse zu erklären, die eine bestimmte Identität, ein bestimmtes
Verhältnis zwischen den Körpern und den Wörtern sprengten. Infol
gedessen musste ich das anders beschreiben, um diesem Universum
des Wortes seinen sowohl unautorisierten als auch lückenhaften
Charakter zukommen zu lassen, auch um diesen Erfahrungen ihre
Zwiespältigkeit und ihre Unentscheidbarkeit zuzugestehen. Ich
habe sodann bemerkt, dass es unmöglich war, das in der Art der
Erzählung eines Hugos oder eines Zolas zu machen.
Ich musste also einen Erzähltypus anwenden, der scheinbar nicht
für das Sprechen über das Volk geeignet war. Ich musste andere
Modelle zum Vorbild nehmen (Proust oder Virginia Woolf zum
Beispiel), das heißt ein Erzählmodell wählen, das nicht zu verorten
und zu verankern beginnt, sondern das vom fragmentarischen,
lückenhaften, unentscheidbaren und nur teilweise entscheidbaren
Charakter jener Worte ausgeht, einen Erzähltypus wie bei Virgi
nia Woolf wählen, bei dem es Stimmen gibt, die sich allmählich
verflechten und in gewisser Weise ihren ganzen Wirkungsraum
erzeugen. Es ging darum, eine Erzählung zu konstruieren, bei der
sichtbar wird, wie Stimmen allmählich eine Art kollektiven Raum
bilden, und nicht wie ein Körper Stimmen produziert. Ich bin
also zuerst dem praktischen Problem des Schreibens begegnet, das
aber natürlich auch darauf verwies, was man eine „diffuse Politik“
nennen könnte, weil die Zeit, in der ich La Nuit des prolétaires
schrieb, auch die Zeit war, in der eine bestimmte ethnologische
„Note“ vorherrschte, nämlich die politische Applikation der Sozial
wissenschaften und insbesondere der Geschichte: eine Idee der
Gemeinschaft, die auf Identitäten, auf Bodenständigkeiten und
Berufen und so weiter gründete. Die Kritik dieses banalisierten
Ethnologismus stand am Horizont meiner Arbeit.
Später wurde diese Bemühung von der Richtung, die meine Ar
beit eingeschlagen hat, in den Hintergrund gedrängt. In La Nuit
des prolétaires hatte ich untersucht, wie die Arbeiter die Sprache
der anderen (der Bürgerlichen, Gelehrten, Dichter) entwenden
konnten, um den Platz in Frage zu stellen, den die Ordnung des
Diskurses ihnen in der Gesellschaftsordnung zuteilte. Ihre Sub
version erfolgte durch die Ablehnung einer Sprechweise, die dem
Arbeitersein eigen sein sollte. Davon ausgehend musste ich allge
meiner über die Verhältnisse zwischen der Aufteilung der Diskurse
und der Aufteilung der Gesellschaft nachdenken, nämlich darüber,
wie die Philosophie die Bedeutung der Tätigkeit des Handwerkers in
Begriffe fasst, die ihm den Platz zuweist, der seinem Sein entspricht;
wie die Geschichte oder die Soziologie den Status des „richtigen“
Wissenschaftsobjekts mit der Repräsentation eines Verhältnisses
zwischen einem Seinsmodus, einer Machart und einer Sprechweise,
die der Volksidentität entsprechen sollen, verbindet; wie sich das in
der Aufteilung der Wissenschaften spiegelt und wie die Aufteilung
der Wissenschaften auf die Gesellschaftsaufteilung einwirkt. Ich
habe mich ganz besonders für die diskursiven Orte und Momente
interessiert, wo diese Aufteilungen problematisch werden, wo zum
Beispiel die Philosophie oder die Wissenschaft durch den Modus
der Erzählung hindurchgehen muss, um die Frage nach der Stel
lung der Wissenschaft oder des Denkens mit der Frage nach den
gesellschaftlichen Aufteilungen zu verbinden, oder wo die Wahrheit
im Modus der Fiktion ausgesagt werden muss.
Ja. Und diese Frage der Erzählung und des Textes wurde als erstes
und auf ursprüngliche Weise von Platon gestellt. Platon interessiert
mich besonders, weil dieser Philosoph regelrecht ein Dispositiv der
Schrift ist. Er „verurteilt“ die Schrift, aber zugleich rückt er eine
Reihe von Schriften und Schriftkritiken ins Blickfeld: die Dichter,
die die Dichtertraditionen kritisierenden Historiker, die die Dichter
kritisierenden Philosophen und so weiter. In diesem Schriftdispo
sitiv gibt es spezifische Formen des Übergangs vom Argument zur
Erzählung. Dieser Übergang vollzieht sich ganz besonders an zwei
Knoten des Denkens. Erstens dort, wo das Verhältnis zwischen dem
Denken und der Wahrheit in Frage steht. Denn schließlich gibt es
eine Heterogenität der Wahrheit in Bezug auf alles, was der Diskurs
hersteilen kann. Im Grunde bezieht sich der philosophische Diskurs
nur insofern auf die Wahrheit, als er sich selbst fremd wird. Platon
spricht im Phaidros, als sich die große Erzählung von der Seele als
geflügeltem Gespann anbahnt, von diesem Ort der Wahrheit, den
kein Dichter besungen hat, noch jemals besingen wird, und er
sagt, dass das der Moment ist, da man wahr sprechen muss, wenn
man von der Wahrheit spricht. Doch er erzählt eine Geschichte,
um „Wahres zu sagen, wenn man von der Wahrheit spricht“33.
Der zweite Moment, bei dem die Argumentation der Erzählung
den Platz überlässt, ist jener, da die Frage nach der Aufteilung des
Denkens sich mit der Frage nach der gesellschaftlichen Aufteilung
verbindet. Ich weise dabei auf die großen politischen „Mythen“
hin, die versuchen, die Formen der politischen Verteilung mit der
ungleichen Teilhabe der Seelen am Denkvermögen und Diskurs
vermögen in Verbindung zu setzen, jene Mythen, die die einen zur
gesetzgebenden Funktion bestimmen, die anderen zur Macht der
Krieger und die letzten zum Stand der Handwerker.
Wenn Sie erlauben, bleiben wir noch ein wenig bei den Griechen.
Sie haben den Ausdruck „Poetik“ im Untertitel Ihres letzten Werket
gewählt: Können Sie ihn genauer bestimmen? Stellen Sie ihn in einen
Gegensatz zur „Rhetorik “ oder zur „Ästhetik “?
Wenn ich von „Poetik“ spreche, dann denke ich vor allem in aris
totelischer Begrifflichkeit; ich denke oft in griechischen Kategorien,
die aber immer noch funktionieren. Das Wort „Poetik“ schafft einen
Begriff für den Aktivitätsmodus, den Aristoteles Mythos nennt.
„Poetik des Wissens“ bedeutet, dass es eine narrative Konstruktion
des Wissens und einen Diskurs gibt, der über diese Konstruktion
nachdenkt. Unter „Ästhetik“ wiederum verstehe ich Aisthesis\
eine Weise, von einem Gegenstand, einem Akt, einer Vorstellung
affiziert zu sein, eine Art, das Sinnliche zu bewohnen. „Ästhetik“
ist für mich, wenn Sie so wollen, auf der Seite der Rezeption und
„Poetik“ auf der Seite der Aktivität.
Ja. Bei der Poetik geht es um die eigentliche Absicht des Diskurses.
Wenn man das Beispiel der Geschichtserzählung bei Braudel her
nimmt (die ich in Die Namen der Geschichte behandle), dann geht
es eigentlich um die Funktion der Erzählung in der Wissenschaft
selbst. Man berührt dabei allgemeiner die Art und Weise, wie die
Wissenschaft den Wahrheitskörper ihres Wortes herstellt. Das geht
viel weiter als die Vorstellung von der Rhetorik als Ausschmückung
der Rede oder auch als Macht der Ähnlichkeit mit der Wahrheit.
Übrigens ist die „Rhetorik“ traditionell auch die Kunst, eine Rede
zu halten, die auf eine spezifische Wirkung auf einen Zuhörer
abzielt, auf einen Richter oder Zuschauer und so weiter. „Poetik“
bezeichnet zumindest in meinem Verständnis eine Operation, die
sich in die Perspektive einer Wahrheit versetzt und nicht in die
Perspektive einer Wirkung, die man erhält, wenn man bestimmte
Regeln befolgt.
Es ist interessant, dass der Ausdruck „Poetik “aktuell auch von anderen
verwendet wird, zum Beispiel vom amerikanischen Soziologen Richard
Brown (Autor von A Poetic for SociologyJ. Aber kehren wir zu Ihrem
Interesse an dieser Wissenskonstruktion zurück, die die Poetik ausmacht,
zu Ihrer Aufmerksamkeitfü r das Verhältnis zwischen dem Wissen und
dem Diskurs. Weshalb zeigen unsere Disziplinen ein solches Misstrauen
gegenüber dem Text und der Textanalyse der Geisteswissenschaften, ja
sogar eine solche Furcht davor? Wir haben das in der Soziologie und
in der Ethnologie festgestellt. Sie haben wiederum in Bezug a u f den
Historiker Lawrence Stone durchblicken lassen, dass gewisse Historiker
letztlich die „unheilvolle Herrschaft des Texts und seiner Dekonstruk-
tion “furchten oder die „fatale Ununterscheidbarkeit von Realem und
Imaginärem “35.
Kommen wir nun zum Text in der Geschichte. Ihre Definition scheint
uns derjenigen Roland Barth es ähnlich zu sein, wenn Sie vom spezi
fischen Diskurs der Geschichte sprechen (dery wie Sie schreiben, einen
„dreifachen Vertrag“ „artikulieren“ muss: einen „ wissenschaftlichen“
einen „narrativen “ und „politischen “36). Stimmt das?
Sie sagen: „sprechende Wesen “; und in Ihrem Buch schreiben Sie: „der
Mensch ist ein literarisches Tier“. Diese Bezugnahme a u f die Literatur
ist ganz sicher gewollt. Könnten Sie diese Idee ausführen, zum Beispiel
ausgehend von jener anderen Behauptung: „ Weil der Mensch ein li
terarisches Tier ist, ist die Geschichtswissenschaft unmöglich und die
Geschichte möglich. “38?
Sie schreiben, dass die neue Definition der Literatur zur gleichen Zeit
wie die neue Definition der Geschichtserzählung und die Errichtung
der Demokratie entstanden ist. Ist es ein und derselbe Vorgang, der
die drei Dinge aufkommen lässt? Wie genau haben diese drei Ebenen
miteinander interagiert?
Ich versuche zu erklären, dass die Epoche, in der sich die Geschichts
wissenschaft herausgebildet und auf einer bestimmten Vorstellung
von Wissenschaft gegründet hat, auch der Augenblick der Demo
kratie war und, genauer gesagt, eines politischen Systems, das die
Tatsache berücksichtigt, dass der Mensch ein literarisches Tier ist
und das politische Tier ein literarisches. Der große Augenblick
des wissenschaftlichen und wissenschaftsgläubigen Denkens, der
Augenblick, in dem die Geschichtswissenschaft sich zu etablieren
versucht, ist also auch derjenige, in dem die Literatur Bewusstsein
über sich selbst erlangt, indem sie sich von einem Universum trennt,
das von dem genormt ist, was man die Belletristik nennt. Doch diese
Koexistenz kann Konflikte hervorrufen. Nehmen wir zum Beispiel
eines der herrschenden Paradigmen der Geistes- und Sozialwis
senschaften her, das soziologische Paradigma: Es ist als Reaktion
gegen die Demokratie entstanden. In der Überzeugung, dass der
Gesellschaftskörper von einem illegitim zirkulierenden Sprechen
auseinandergerissen wurde, ist dieses Paradigma mit der Vorstel
lung entstanden, dass man das Gesellschaftsgewebe neu denken
müsse, mit der Absicht, im Glauben, der das Gemeinschaftsband
ausdrückt, eine Art Einheit zwischen dem Individuum und dem
Kollektiv wiederzufinden. Man beobachtet also eine Zeitgleichheit,
die ebenso das Konflikthafte wie die eventuell gegenseitige Berei
cherung definiert. Ich denke, dass die Geschichte dieser besonderen
Zeit von einer Konflikthaftigkeit gekennzeichnet war, die auch
dann weiterbestand, als der Konflikt vergessen worden war. Das
heißt, dass alle Durkheim’schen Paradigmen der Kollektivität, des
Glaubens und so fort funktionierten und die Mentalitätsgeschichte
bildeten, obwohl ihr konflikthafter Aspekt vergessen worden war.
Die Geschichte des demokratischen Zeitalters wurde weiterhin von
einer Idee der Wissenschaft durchkreuzt, von der man schematisch
sagen kann, dass sie antidemokratisch ist. Daher das Paradox, dass
die Geschichtswissenschaft, die die Wissenschaft des Zeitalters der
Massen sein wollte, im Allgemeinen ihr wahres Objekt in der Zeit
der Könige und Priester gesucht hat. Dieses „soziologische“ Para-
digma hat immer eine eigentliche Geschichte des demokratischen
Zeitalters verhindert.
Sie spielen oft au f die Rede der Individuen an. Sie schreiben „ Was das
Leben der sprechenden Wesen (...) bestimmt, ist (...) das Gewicht der
gesagten und geschriebenen, gelesenen und gehörten Wörter; (...) die
hartnäckiger sind als die Tatsachen “40. Und anderswo: „Die der Ge
schichte eigentümliche Art, das heißt das Wortereignis, ist die Reise, a u f
der sich die sprechenden Wesen der Wahrheit ihres Wortes widmen “41.
Es scheint, als versuchten Sie die wahrscheinlichste Entsprechung oder
Bestimmung des Wortes wiederzufinden ...
Ich habe zu sagen versucht, dass es geradezu eine Geschichte der
Wörter gibt, eine Geschichte bedeutsamer Wortreihen, eine Ge
schichte dessen, was die Wörter in den Körpern in Ordnung brin
gen. Das ist eine Geschichte, die schwerer wiegt als die störrischen
Tatsachen, von denen im Allgemeinen der Historiker spricht. Ich
war erstaunt darüber, dass ich mich manchen Historikern nicht
verständlich machen konnte, mit denen ich Auseinandersetzungen
über die Beziehungen zwischen der Handwerkerkultur und dem
symbolischen Ausdruck der Arbeiter im 19. Jahrhundert hatte. Ich
habe relativ erfolglos versucht, darauf hinzuweisen, dass es doch
sonderbar ist, dass es immer bestimmte Arbeitervereine sind, die
an der Spitze der Konflikte stehen. Im Groben beginnt es immer
mit den Schneidern und Schustern. Man ist also versucht zu
denken (das sagen die Historiker), dass das deshalb der Fall ist,
weil diese Berufe mit Qualifikationsproblemen zu kämpfen haben.
Das kann man immer sagen. Es hat nicht viel Sinn, von „Über
qualifizierung“ des Schuster- oder Schneiderberufs im Frankreich
der 1830er- bis 1840er-Jahre zu sprechen. Sicherlich gab es die
Konfektionsanfertigung neben der traditionellen Werkstattarbeit,
aber meistens machten die „qualifizierten“ Arbeiter die Konfektion
während der Nebensaison. Hingegen ist es eine wichtige Tatsache,
dass „Schuster“ ein Name ist, der während der ganzen Antike stig
matisierend war. Das geht zumindest auf Asop zurück! Er erzählt,
wie die Gottheit die Qualitäten (Wahrheit oder Lüge) unter den
unterschiedlichen Berufsständen und Tätigkeiten aufgeteilt hat.
Als die Schuster dran waren, war nur noch die Lüge übrig. Das
Thema des Schusters scheint bei Platon auf. Dann ist da Apelles.42
Bei den Zünften ist der Schuster ein Ausgestoßener. Und so weiter.
Schließlich gibt es die ständige Gleichsetzung des Schusters mit
dem Juden (oft auch des Schneiders mit dem Juden) und so weiter.
Der Platz in der Gesellschaftsordnung richtet sich also nach einer
Zuweisung, die diskursiv ist. Das muss man auch im Verhältnis zu
der Tatsache sehen, dass diese Berufe die am wenigsten struktu
rierten sind, wenig anerkannt; Berufe, in denen es viel Fluktuation
gibt, daher viel Unsicherheit. Doch die Stigmatisierung lässt sich
durch das Verhältnis zwischen einer tatsächlichen Situation und
einer symbolischen Position erklären, und keineswegs durch das,
was man über die Phänomene der Überqualifizierung erzählt, die
man in alle Richtungen verdrehen kann, sodass sie jedes Mal das
Gegenteil sagen. Die Benennung wirkt sich auf so etwas wie das
Schicksal eines Individuums und einer Gemeinschaft aus, sie ist
eine gesellschaftliche Zuweisung.
Wir und Sie, wir haben uns vorläufig a u f die Geschichte bezogen. Wie
weit könnten Sie ihre Überzeugungen a u f andere Disziplinen über
tragen? Das ist eine zentrale Fragefü r diese Nummer von Communi
cations und sie brennt uns a u f der Zunge, denn viele Soziologen oder
Ethnologen können sich, wie uns scheint, in bestimmten Positionen,
die Sie in Ihrem Werk vertreten, wiedererkennen.
Es ist nicht so, dass ich mir zu einem bestimmten Zeitpunkt intensiv
die Frage gestellt hätte: Wie schreibt man Geschichte? Ich musste
über die Begegnung zwischen meiner eigenen Arbeit und einem
Fragetypus nachdenken, den man „philosophisch“ nennen könnte,
über eine allgemeinere Frage, die die Praxis der Sprache in einem
vorherrschenden historiografischen Modell betraf (das Modell der
Geschichte der Annales, wenn Sie so wollen). Ich habe also die
Weise, wie ich mit den sprechenden Wesen zu tun hatte, derjenigen
gegenübergestellt, wie die Schule der Annales (in der Nachfolge
eines bestimmten Modells, nämlich des soziologischen Modells der
„Gesamtgesellschaftstatsache“, das letztlich ein politisches Modell
ist) vorgegangen war. Ich habe mich eigentlich nie um das Problem
der Schrift im Allgemeinen gekümmert - aber ich weiß, dass ich hier
bin, um eventuell auch auf Fragen zu antworten, die ich nicht selbst
gestellt habe! Ich bin mir nicht sicher, ob es andere gibt, die sich
in anderen Bereichen dieselben Fragen stellen wie ich. Ich denke,
dass man diesen Methodentypus und diese Art der Beschäftigung
besonders in den Bereichen der Ethnologie, der Soziologie und der
Geschichte finden kann. Eine gemeinsame Frage lautet: Wie kann
man Rechenschaft ablegen darüber, wie die Wortgeflechte Wahrheit
produzieren? Wie kann man die Vorgangsweise entkräften, die das
Wort des anderen als das nimmt, als was es sich gibt, und zugleich
jene, die es in das umwandelt, was der Gelehrte weiß? Wie kann
man die doppelte Falle vermeiden, ihm unsere Gründe zu geben
oder nach „seinen“ Gründen zu interpretieren, die immer die einer
idiomatisch untergeordneten Vernunft sind?
Ja, wir haben auch den Eindruck, dass eine gemeinsame Frage, wie
Sie sagen, in gewisser Weise die Geistes- und Sozialwissenschaften
durchzieht. Aber zugleich: Sollte eine Disziplin wie die Ethnologie (wir
denken an die amerikanische textualistische Strömung) nichtfü r diese
Art der Problematik empfänglicher und durchlässiger sein?
Ich glaube, dass die Frage sich nicht so sehr den einzelnen Dis
ziplinen stellt, sondern eher Arten der Thematisierung von und
Operationen an Objekten der Wissenschaft. Das Problem des
Schreibens der Erzählung betrifft Gegenstände, Gegenstandsthe-
matisierungen und Interpretationsarten, die die Grenzen zwischen
den Wissenschaften überschreiten. Es ist klar, dass es kein allgemei
nes Problem der Geistes- und Sozialwissenschaften gibt, weil die
Geistes- und Sozialwissenschaften sich auf unterschiedliche, völlig
heterogene Rationalitätsmodelle beziehen. Es gibt übrigens keinerlei
Stichhaltigkeit im Begriff „Human- und Sozialwissenschaften“ (in
dem Sinne, dass er eine Gemeinschaft bezeichnen würde, die ein
Einheitsprinzip hätte). Aber ich denke, dass es eine gewisse Anzahl
von Bereichen, eine gewisse Anzahl von Gegenständen gibt, die
gemeinsame Probleme betreffen und zu gemeinsamen Problemen
oder im Grunde zu Problemen der Gestaltung des Gegenstandes
oder der Behandlung dieses Gegenstandes führen. Ich denke, dass
es eine Reihe von Disziplinen (oder zumindest eine Reihe von
Diskursen) und thematischen Operationen gibt, die eine gewisse
Anzahl von Fragen aufwerfen, die die philosophischen Kategorien
des Selben und des Anderen betreffen. Man kann sagen, dass die
Soziologie, die Ethnologie und die Geschichte ein gemeinsames
Problem haben: eine Andersheit zu bestimmen, die in der Begriff-
lichkeit einer Selbigkeit denkbar sein soll. Es ist leicht ersichtlich,
dass die Geschichte sich deshalb ständig auf die Ethnologie (auf
mehr oder weniger gute Ethnologien, oft sogar katastrophale) be
zieht, weil der Historiker mit seinem Gegenstand (das sprechende
Wesen und das sprechende Wesen in der Zeit) immer dazu tendiert,
sich auf ein vorgeblich sicheres Modell zu beziehen, nämlich auf die
Ethnologie, weil der Ethnologe dem Gegenstand gegenübersteht
und mit ihm kommunizieren kann, selbst wenn er weit entfernt ist,
selbst wenn er anders ist. Zwischen dem Selben und dem Anderen
ist ein Dialog möglich, bei dem in gewisser Weise das Selbe die
Sprache des Anderen lernt und damit zugleich das Andere in seiner
Selbstidentität konstituieren kann. Der Historiker ist von dieser
Situation besessen. Es gibt eine Reihe von Wissenschaften, die dem,
was man die „Operationen“ nicht nur der Alltagssprache, sondern
auch des Gemeinsinns nennen könnte, näher sind als andere, die
aber zugleich mit einer bestimmten Andersheit konfrontiert sind.
Es besteht ein kompliziertes Verhältnis zwischen der Tatsache,
dass man Operationen des Gemeinsinns anwendet, dass man mit
einer bestimmten Andersheit zu tun hat, und der Tatsache, dass
man damit Wissenschaft betreiben und mit der Andersheit einen
Gegenstand machen muss, der mit sich selbst gleich ist.
Wenn wir Sie recht verstehen, dann sehen Sie das Soziale eher als
Diskontinuität (und seine Geschichte als Unterbrechungen) denn als
Kontinuität, Ordnung oder Kohärenz. Ist das richtig?
Ja, ich denke tatsächlich, dass das, was die Geschichte ausmacht, die
Bruchlinien sind. Was die Politik (und die demokratische Politik)
ausmacht, sind die Bruchlinien im Verhältnis zu dem, was eine in
gewisser Weise vorherbestimmte Ordnung der Gemeinschaft wäre.
Meiner Auffassung nach gibt es zwei Typen von Gemeinschaft: die
Gesellschaften, die als organisch und funktional gedacht werden,
als Übereinstimmung von Sein, Tun und Sagen; und dann die
Gemeinschaften, die auf der einfachen Gleichheit der sprechenden
Wesen, auf der Kontingenz ihrer Vereinigung beruhen.
Kehren wir nun zum Problem der Schrift zurück. Kann man sagen, dass
jede Art von Definition, die man der Gemeinschaft gibt, einer Art von
Schrift, einerArt von Erzählung entspricht? Das ist als Schlussfolgerung
vielleicht ein wenig einfach, aber es ist eine absichtlich naive Frage.
Ja, das ist der ständige Konflikt zwischen der Schrift und der
lebendigen Rede. Es gibt tatsächlich eine Spannung, die die Ge
schichte der Schrift durchzieht, eine Spannung, die die Schrift
auf eine „wahrhafte“ Schrift verweist, auf eine Rede, die vor der
Schrift und jenseits von ihr wäre, eine Rede der Wahrheit, eine
Rede des Lebens. Tatsächlich ist bei Platon im Phaidros die le
bendige Rede diejenige, die sich selbst zu Hilfe kommen kann,
die eigentlich die Rede des Herrn ist oder die Rede dessen, der
dialogiert. Und dann ist da die tote Schrift. Das Paradox ist na
türlich, dass das Privileg der lebendigen Sprache selbst in einer
schriftlichen Anordnung gefangen ist, von der Platon sagt, sie sei
ein „Spiel“. Es bleibt jedoch bestehen, dass die Philosophie im
Phaidros begonnen hat, einen Krieg gegen die Schrift zu inszenie
ren, der immer noch andauert, einen Krieg, der im Kontext der
jüdisch-christlichen Tradition und der christlichen Problematik
der Fleischwerdung als Wahrheit der Heiligen Schrift erneuert
wurde. Dieser philosophisch-theologische Streit sucht weiterhin
die wissenschaftliche und politische Moderne heim.
Was ist die Utopie im 19. Jahrhundert anderes als die Vorstellung
einer Sprache, die lebendiges Fleisch der Gemeinschaft geworden
wäre, beziehungsweise die Hoffnung darauf? Die Utopie ist nämlich
ein ganz besonderer Traum, der Traum von einer Sprache, die nicht
mehr aus Wörtern besteht, sondern die, wie die saint-simonistischen
Eisenbahnen, sich wirklich im Gelände und in einer Gemeinschaft
verkörpert.
Ja, aber wie soll man dann die Dauerhaftigkeit dieser Spannung, ja
dieses Konflikts zwischen dem Mündlichen und dem Schriftlichen
erklären, wenn das Schriftliche seit Langem legitimiert, ja sogar über
bewertet ist, sowohl soziologisch als auch politisch oder intellektuell?
„Die Wissenschaft bedient sich nur der Schrift“, schreibt zum Beispiel
Pividal43 ...
Vorhin schienen Sie uns eher optimistisch. Aber es wäre nun zum Ab
schluss interessant, zu erfahren, wie Die Namen der Geschichte von
den Historikern aufgenommen wurde, denn in anderen Disziplinen
der Geistes- und Sozialwissenschaften ist die „Dekonstruktion “ der
Wissenschaft und ihrer Poetik nicht selbstverständlich. Sie ruft mehr
oder weniger starke Verteidigungsreaktionen und Misstrauen hervor,
weil man damit den Text in Frage zu stellen und die Schrift anzugreifen
scheint...
Ich würde sagen, dass es sehr verständlich ist, dass die Schrift
irritiert ... Die ursprüngliche Vorstellung, das Postulat der Sozi
alwissenschaft: ist, dass die Gesellschaft an der Schrift krankt. Ich
meine damit, dass dieses implizite Urteil, das man am Ursprung
der Soziologie findet - die Gesellschaft krankt an der Schrift -,
weitgehend im Dunstkreis einer post- und eventuell gegenrevolu
tionären Bestimmung der am Protestantismus erkrankten Gesell
schaft angesiedelt ist, das heißt der Religion der bloßen Schrift.
Die soziologische Wissenschaft hat ursprünglich diese Krankheit
der Gemeinschaft ohne Körper, die der bloßen Schrift ausgeliefert
ist, zum Behandlungsgegenstand genommen. Es ist daher normal,
dass die Schrift dem sozialen Wissen Angst macht.
Das ist in etwa der Vorwurf, den man der universitären Disziplin „Kino
und Geschichte“ machen kann, die in Frankreich in den 1970er-Jahren
um die Person von Marc Ferro gegründet wurde. Es besteht heute also
tatsächlich die Schwierigkeit, eine Geschichte ausgehend vom Kino zu
schreiben. Man steckt in der Falle der Gelehrsamkeit, wenn man interne
Kriterien nimmt, und in der Falle des Signifikats, des Wissens, wenn
man das Kino als kulturelles Element einer Gesellschaft ins Augefasst.
Die Geschichte ist eine Frage der Auswahl, also der Einschnitte
und Zuschnitte: Es ist die Einteilung, die einen Gegenstand als
historisch erweist. Man muss sehen, welche Gegenstände man zu
sammensetzen kann und will, um einen Moment der Geschichte
des Sichtbaren zu erzählen. Es geht darum, „feste Gegenstände“ zu
finden, Objekte, die zugleich der Gelehrsamkeit und dem Wissen
widerstehen, und mit denen Erzählstrategien, Formen des Sicht
baren, ästhetische Politiken Zusammenhängen, in denen das Kino
seinen Platz und all seine ihm eigenen Kräfte behält. Zum Beispiel:
Was bedeutet es genau, eine Geschichte im Kino zu erzählen? Diese
Frage beschränkt sich nicht auf die Frage danach, wie Einstellun
gen und Szenen erzählerisch miteinander verknüpft werden. Die
Erzählung gründet klassischer Weise auf dem Geheimnis, dem
Rätsel, dem Versteckten, und wenn man sehen will, wie das Kino
sie einsetzt, braucht man einen doppelten Bezug zur Politik und
den Erzählformen. Das Kino hat andauernd Politisches erzählt,
indem es mit seinen eigenen Mitteln die Beziehungen zwischen dem
Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Hohen und dem Niedri
gen, dem Vordergrund und dem Hintergrund, dem Öffentlichen
und dem Privaten behandelt hat. Es hat dadurch andauernd seine
eigenen Fähigkeiten in Frage gestellt, sie anderen gegenübergestellt
und ihre Grenzen aufgezeigt. Mir scheint, dass es ganz besonders
interessant wäre, über die filmischen Formen der Aufdeckung des
Versteckten zu arbeiten, indem man sich ansieht, wie sie beständig
das Verhältnis zwischen den Fähigkeiten des Wortes und denen
des Bildes umgestellt haben. Es ist zum Beispiel klar, dass das vom
Psychoanalytiker „erhellte“ Bild in Geheimnisse einer Seele (Georg
Wilhelm Pabst) dasselbe Bild wie das bleibt, das den Kranken
leiden lässt. Man muss also Bilder von sommerlicher Gesundheit
und Familienglück hinzufügen - die daraus eine unlesbare Er
zählung machen würden -, um die Heilung sichtbar zu machen.
Umgekehrt gesteht die Fähigkeit von Jenseits allen Zweifels (Beyond
a reasonable doubt) von Fritz Lang, uns die Inszenierung eines ge
stellten Verbrechens zeigen, definitiv allein den Worten die Macht
zu, das Geheimnis der ganzen Affäre aufcudecken, nämlich das
wahre Verbrechen hinter dem gestellten. Oder die Szene, die uns
zeigt, wer wirklich der Mann, der Liberty Valance erschoss ( The man
who shot Liberty Valance, John Ford) ist, liefert uns die „Wahrheit“
in Form eines zusätzlichen Bildes (eines Fremdkörpers), das nicht
nur die Heldenlegende zerstört, sondern das auch gerade die Form
der Rückblende als filmisches Gegenstück zur Romanerzählung
„falsifiziert“. Eine Geschichte des Geheimnisses im Kino wäre also
eine Art, die internen Spiele des Wortes und des Bildes neu zu un
tersuchen und zugleich die Formen des Kinos mit der Geschichte
der Formen des Politischen in Verbindung zu bringen.
Ich glaube, dass es allgemein wichtig ist, Gegenstände zu wählen,
die das Innen mit dem Außen kommunizieren lassen, ohne über die
Kategorien des „Kulturellen“ zu verlaufen, die eine bereits fix und
fertige Interpretation von diesem Verhältnis mitbringen. Ich denke
zum Beispiel an ästhetische/erzählerische Objekte, die zugleich das
Kino versinnbildlichen: die Schienen und die Lokomotive, die die
Zugehörigkeit des Kinos zur Maschinenutopie bezeichnen; das
Fernrohr und das Gewehr, die Teil des Projekts einer totalen Beherr
schung des Sichtbaren sind. Es ist klar, dass zum Beispiel das Bild
der Helden in Gehetzt (You only live once, Fritz Lang) im Fadenkreuz
des Gewehrs, das auf sie zielt, seine Fähigkeit, das Pathetische einer
erzählerischen Situation zu vereinen, einer Art großen Abkürzung
verdankt, die die Kamera zu ihrem wissenschaftlichen Vorfahren,
dem chronofotografischen Gewehr, zurückführt. Es wäre der Mühe
wert, den Weg einiger dieser besonderen Objekte nachzuverfolgen.
Sicherlich ist das, was sichtbar gemacht wurde, eine Sache, und
das, was in der Black Box des Zuschauersaals gesehen wurde, eine
andere, und eine dritte Sache ist, wie dieses Sehen mit dem Regime
des Sichtbaren in Verbindung steht und sie verändert hat. Im Kino
schließt man zu einfach von dem, was gezeigt wurde, auf das, was
gesehen wurde, und vor allem vom Sinn dessen, was zu sehen
gegeben wurde, auf die Interpretation dessen, was gesehen wurde.
Es wäre der Mühe wert, eine notwendig fragmentarische und „sub-
jektivistische“ Geschichte zu versuchen - eine des Kinozuschauers
und der Art, wie sein Lernprozess auf die Veränderung der anderen
Sichtbarkeitsformen traf.
Die Zeit der Geschichten des Kinos ist also zu Ende, wenn man eine
Periode nimmt, die von 1895 bis 1995 geht. Dennoch werden diese
Geschichten, sicher aus Gründen, die der Zeit geschuldet sind, hie und
da in diesem Hundertjahrjubiläum bei den Herausgebern aufl?lühen...
Gehen wir zuerst von der Tatsache aus, dass das Hundertjahrjubi-
läum des Kinos keineswegs ein Ereignis in der Geschichte des Kinos
ist, genauso wenig wie jedes andere Hundertjahrjubiläum. Was die
überhandnehmende Historisierung betrifft, so ist klar, dass sie mit
einer Normalisierung des Denkens zusammengeht, die mit jener
der Politik einhergeht: die Verwaltung des Erbes anstelle von Unter
nehmungen, die - zu Recht oder zu Unrecht - beanspruchten, die
Subversion durch die Aufdeckung der Spielregeln, des unter dem
Anschein verdeckten Geheimnisses und so weiter zu begleiten. Im
Übrigen ist weniger die Ersetzung der einen Disziplin durch eine
andere beunruhigend als vielmehr die Disziplinen-Herrschaft. Die
Geschichte ist aber auch nicht bloß eine Disziplin, sondern eine
Denkfigur, die zu einem bestimmten Zeitpunkt einen herrschen
den Sinn für Geschichte als allgemeinen Rahmen der Erfassung
der Objekte durchsetzt. Die Herrschaft der Geschichte ist die
Herrschaft eines bestimmen Geschichtssinns. Die Richtung, die
heute die Geschichte als Denkfigur beherrscht, die das Verhältnis
des Politischen zum Wissenschaftlichen bestimmt, ist der Nachruf.
Der Nachruf hat selbst zwei Aspekte: das neuerliche Begräbnis der
Toten, das Ressentiment, der Tadel am Grab von allem, was sich
als Bruch in der Geschichte zu verstehen versucht hat; und dann
die Sammlung, die Enzyklopädie. Die museale Erklärung und
Klassifizierung stellt sicher, dass jede Institution, jede Form, jedes
Denken oder jeder Glaube zu ihrer Zeit und an ihrem Platz stattfin
det. Indem sie die „kulturellen“ Kennzeichen dieser Zugehörigkeit
anhäufen, schützen sie sich gegen jede Schreibpraxis, die eine wilde
Transversalität zwischen den Objekten, „Kulturen“, Zeiten und so
weiter hersteilen würde. Es besteht dabei das Risiko, jede Schreib
praxis in eine museale Betätigung zu verwandeln.
Diese Frage betrifft besonders das Kino, weil sich dieses ja als
lebendige Kunst des demokratischen Zeitalters verstanden hat,
als jene Kunst, die sich gänzlich im Kontext der Demokratie des
20. Jahrhunderts etabliert hat, also als neue ästhetisch-politische
Form schlechthin. In gewisser Weise ist das Kino so etwas wie ein
Anti-Museum. Es gibt zwei große Formen der ästhetischen Ein
schreibung im demokratischen Zeitalter: einerseits die Musealisie-
rung, andererseits den Traum von einer neuen Kunst der bewegten
Bilder. Heute (über) das Kino zu schreiben, bedeutet, die Prekarität
des Bildes und seine Flucht in alle Richtungen fortzusetzen oder
aber an seiner Stelle die letzte große kulturelle Form einzuschreiben.
Aber hat das Kino nicht schon sehr lange, seit den 1920er-Jahren, fü r
sich selbst eine Art Museum, einen Ort gefordert, an dem sein Gedächt
nis bewahrt wird, nämlich ein Filmmuseum, eine Cinémathèque?
Ja, das ist in gewisser Weise eine Kunst, die aus dem Museum
entstanden ist, das heißt aus einer untypischen Art Museum. Die
Stärke der Cinephilie dieser Zeit war, die existierenden Orientie
rungspunkte durcheinander gebracht zu haben, oft geringgeschätzte
lebendige Kunstformen wie das Populärkino, den Western oder das
Musical mit einem Gedächtnis des Kinos in Verbindung gebracht
zu haben, das die Cinémathèque sichtbar gemacht hat. In diesem
Augenblick begegnet das „Geschichtliche“ der lebendigen Kunst
der Gegenwart und das hat Delegitimierungs- und Umschrei
bungseffekte, die sehr spannend sind. Was wir heute mitansehen,
ist was anderes. Wir sind in eine Welt zurückgekehrt, in der die
Kinokultur abgeschirmt ist und in der wir von vornherein wissen,
was legitim ist und was nicht. Die Cinephilie war eine Bewegung der
Rehabilitierung, die die Legitimitäten in eine Krise brachte. Heute
aber ist die Rehabilitierung für die Errichtung des Erbes da, eine
offizielle Legitimationsmaschinerie. Das Phänomen, das sich auf das
Gedächtnis auswirkt, ist von der gleichen Art wie dasjenige, das den
Produktionsmarkt betrifft. Man sieht kaum noch unvorhersehbare
Kreuzungen zwischen dem „Populären“ und dem „Künstlerischen“,
die die 1950er- und 1960er-Jahre kennzeichneten - und die Kreu
zungen zwischen dem System der Genres und dem der Autoren
waren. Damals konnte tatsächlich ein „B-Movie“, das einem Lang
oder Walsh anvertraut wurde, Objekt einer vielfältigen Aneignung
unterschiedlicher Zuschauerschaften sein. Das kommerzielle Kino,
das gelernt hat, sich zu verfeinern, hat sich die ,Autorenpolitik“
erneut angeeignet. Es präsentiert auf dem Markt kulturell und
ästhetisch für dieses oder jenes Publikum gekennzeichnete Filme.
Es macht „Intellektuelles“ für mehrere Ebenen der Intellektualität.
Und es irrt sich kaum noch.
Die Cinephilie hatjedoch eine Geschichte des Kinos ausgehend von den
„Autoren “ neu zusammengestellt. Sie hat die Chronologie des Kinos
abhängig von diesem oderjenem Autor neu durchdenken können. Sagen
wir; dass sie eine Erzählung des Kinos vorgeschlagen haty die a u f dem
Begriff'des Geschmacksurteils gründet.
Jedes Mal\ wenn wir uns der Definition dessen anzunähern versuchen,
was eine „Kinogeschichte“ sein könnte, müssen wir darauf verzichten,
weil der Gegenstand sich entzieht...
Der Historiker ist heute besessen von der Idee des Museums und
des Erbes. Man möchte die Lücken füllen, im Namen der Idee,
dass man zuerst die komplette Sammlung konstituieren muss, aus
gehend von der Tatsache, dass es die Sache der Ästheten wäre, die
Auswahl zu treffen, und die Sache der Forscher, zu interpretieren.
Die Geschichte ist nur lebendig, wenn sie diese Prioritätenordnung
ablehnt. Die Geschichtlichkeit des Kinos ist beispielhaft mit der
Auswahl und den vorgreifenden Interpretationen entstanden. Wenn
man Geschichtsschreibung betreibt, muss man mit Löchern arbei
ten, sich weigern, bestimmte Abstände aufzufüllen, eben jene, die
gerade eine Abweichung, eine Verschiedenartigkeit, eine Anachronie
gebildet haben, durch die etwas passiert ist. Die Geschichtsschrei
bung macht Kahlschläge und stellt ihrem Wesen nach Fragen zu
den Leerstellen. Dieses Schreiben zielt vor allem darauf ab, ein
System von Übergängen und Brücken zwischen einzelnen Inseln
anzubieten. Der Historiker konstruiert ein Objekt, und damit dieses
Objekt lebendig und interpretierbar bleibt, muss es wesentlich aus
verschiedenartigen Materialien bestehen, aus Fragmenten möglicher
Geschichte, die auf hypothetische Weise versammelt werden, um
zu sehen, wie sie eine Geschichte bilden. Die Kinogeschichte oder
vielmehr die Geschichten, in denen das Kino Platz nimmt, werden
vom Vergessen und vom Verlust aus geschrieben.
1999
Ist die Politik nur Polizei?46
mitJean-Paul Monferran
Jacques Ranciere: Ich habe vor gut zehn Jahren an diesem Buch zu
schreiben begonnen, als das Thema des „Endes“ sehr in Mode war:
Ende der Politik, Ende der Utopien, Ende der Ideologien ... Ich
wollte diesen Diskurs in einen allgemeineren Rahmen stellen, indem
ich fragte, was die Grenzen, seine „Ränder“ sind, und daher gerade
das in Frage stellte, was man unter Politik überhaupt versteht. Man
setzt sie im Allgemeinen entweder mit dem Kampf um die Macht
oder mit der Ausübung und dem Gegenstand jener Macht gleich,
mit der Verwaltung der Gesellschaft, der Verteilung der Güter und
der Macht zwischen den sozialen Gruppen. Ich habe zu zeigen ver
sucht, dass die Politik weder die Herrschaft noch die Verwaltung
ist, sondern dass sie eine Tätigkeit definiert, die über deren Logik
hinausgeht. Die Politik beginnt mit dem Dasein von Subjekten,
die „nichts“ sind, die bei jeder Zählung der Teile der Bevölkerung
überzählig sind. Der Proletarier ist nicht der Repräsentant einer
Gesellschaftsgruppe, sondern ein politisches Subjekt, dessen Wort
eine Übertretung darstellt, weil es das Wort jener ist, die nichts zu
reden haben ...
Ihre Frage bezieht sich auf meinen eigenen Lebensweg. Ich war als
Student von den Texten Marx’ fasziniert, und auch von der Person
und dem Diskurs von Louis Althusser. Ich war also mit Das Kapital
lesenA9 an jenem Ehrgeiz beteiligt, dem Marxismus seine wahrhafte
Theorie zu verleihen. Im Grunde legte diese Vorgehensweise mit
ihrer Trennung von Politik und Ideologie nahe, dass die sozialen
Handlungsträger ihre Lage verkennen müssen. Letztlich lief unsere
hochkomplizierte „Wissenschaft“ darauf hinaus, zu behaupten, dass
es dem Intellektuellen oder dem Gelehrten zukommt, den unglück
lichen Beherrschten die wahrhafte Erklärung der Gründe zu liefern,
warum sie beherrscht werden. Um 1968 habe ich begonnen, diese
hartnäckige, wissenschaftsgläubige Vorannahme zu hinterfragen.
Das erzeugte in mir den Wunsch, über das historische Verhältnis
zwischen der Konstituierung des Marxismus und der Herausbildung
von Figuren der Arbeiteremanzipation zu arbeiten. Ich habe also gut
zehn Jahre damit verbracht, in den Archiven des Arbeiterdenkens des
19. Jahrhunderts zu arbeiten, mit der ursprünglichen Absicht und
Bemühung, eine Art authentisches Arbeiterdenken zu finden, das
dem marxistischen Denken entgegengesetzt werden könnte. Und
dann habe ich beim Arbeiten bemerkt, dass die Problemstellung
falsch war ...
Weshalb?
Ich misstraue immer ein wenig dem Diskurs, der die Utopie als
Seelenzusatz verlangt. Ich versuche zwei Dinge zu unterscheiden.
Tatsächlich gibt es keine Politik, wenn man nicht die Grenzen
überschreitet, die als die Grenzen des Möglichen gelten, weil sie
von der von mir so genannten „polizeilichen“ Ordnung festge
legten wurden. Aber muss man sich deswegen auf Fourier oder
Saint-Simon berufen? Die Utopien sind schließlich Diskurse, die
postulieren, dass es keiner Politik bedarf, dass der demokratische
oder egalitäre Konflikt letztlich auf einem Missverständnis grün
det. Zugleich hatten sie in gewisser Weise immer die Funktion,
einen Abstand herzustellen. Und im 19. Jahrhundert brauchte
man zuerst Figuren des Abstandes, damit die Arbeiterbewegung
entstehen konnte. Ich bin immer erstaunt gewesen über dieses
zwiespältige Verhältnis der damaligen Proletarier zu den Utopien:
Sie waren Anhänger der Utopie als polemischer Neugestaltung der
Ordnung der Möglichkeiten, aber sie waren viel weniger angetan
von den konkreten Organisationsformen, die die Utopisten ihnen
anboten. Sie politisierten die Utopie, die selbst doch vorgab, mit
den politischen Konflikten Schluss zu machen.
Vacarme: Wir würden mit Ihnen gern über eine Reihe von Verschie
bungen reden, oder sagen wir doppelte Verschiebungen. Einerseits
haben Sie in Ihrem Werk die Begrifflichkeit des politischen Denkens
grundlegend verschoben: Ihre Kritik an der Stellung des Intellektuellen
im Kampffeld, Ihre Analyse des Sinns und der Funktion des Konsenses
und Ihre Unterscheidung zwischen der „polizeilichen “ Verwaltung
der Gesellschaft und der Unterbrechung durch politische Bewegungen
bringen unsere Denkgewohnheiten durcheinander. Andererseits haben
Sie diese Analysen und Unterscheidungen in einem ganz bestimmten
theoretischen und politischen Kontext ausgearbeitet. Der Kontext hat
sich nun aber seit Ihren ersten Schriften reichlich verändert. Beginnen
wir vielleicht mit der Frage nach der Rolle und Stellung des Intellek
tuellen, des Gelehrten oder Philosophen in Bezug a u f die Politik. Wie
ist diese Fragefü r Sie wichtig geworden und was wird aus ihr in einer
Zeit, in der die politische Debatte sich nicht mehr, wie das vor dreißig
Jahren der Fall war, in der Theorie abzuspielen scheint?
Der fragliche Rückzug ist das Dilemma, das die Theorie der intel
lektuellen Emanzipation aufwirft. Gerade die Radikalität, die sie
der Gleichheit verleiht (sie ist eine zu aktualisierende Vorannahme,
nicht ein zu erreichendes Ziel), verbietet, dass sie in der kollektiven
Ordnung Gestalt annehmen kann. Mein Problem bestand also
darin, dieses Verbot zu übertreten und ausgehend von bestimmten
Emanzipationspraktiken über die politischen Formen nachzuden
ken, die die Vorannahme der Gleichheit annehmen kann. Die Arbeit
an dieser allgemeinen Frage hat sich mit den Anforderungen des
Zeitgeschehens der 1990er-Jahre gekreuzt, mit all diesen Formen
der Rückentwicklung der politischen und sozialen Praxis, die sich
im Begriff Konsens zusammenfassen lassen. Die Arbeit an der
politischen Gestalt der Gleichheit ist also mit einem Nachdenken
über die gegenwärtigen Manifestationen des öffentlichen Lebens
verbunden, ohne deshalb das Verhältnis einer politischen Praxis zu
„ihrer“ Theorie zu bestimmen.
Kehren wir zum Problem des Intellektuellen zurück. Zwei Dinge schei
nen seit dem Kontext der 1970er-Jahre, den Sie vorhin ansprachen,
passiert zu sein: zuerst ein gewisses Verblassen der Figur des Intellektuel
len in der öffentlichen Debatte zugunsten von Experten, die einen ganz
anderen Diskurs führen. Sodann und wie als Reaktion darauf rufen
jene, die damals einen gelehrten und entlarvenden Diskurs über das
Politische führten (angefangen bei Bourdieu), zur politischen Aktion
a u f und begeben sich in eine Rolle, die mehr der des Volkstribuns als
der des Gelehrten ähnelt. Was ist von so einer Verschiebung zu halten?
Kommen wir zu den Formen der Rückbildung der Politik, die Sie am
Begriff„Konsens“festgemacht haben. Bereits in einem in der Libération
(vom 12.7.1993) erschienenen Artikel unterstreichen Sie, wie sehr der
Konsens zum Beispiel über die „notwendige Kontrolle der Einwan
derung“ der Leugnung jeglicher Spaltung innerhalb der Gesellschaft
gleichkommt und mit der Bestimmung eines Anderen (des Einwande
rersy des Illegalen) durch die Leidenschaft zusammenhängt, gegen den
der politische Körper seine Einheit stärkt. Seitdem ist die Kritik des
Konsenses nun aber ein Modethema geworden, ebenso bei den Linken
(in der Kritik des yyalternativlosen Denkens“)53 wie bei den Rechten (in
der zur Schau getragenen Feindschaftgegen die yypolitische Korrektheit“).
Inwiefern unterscheidet sich Ihre Kritik von diesen Diskursen?
Sie betonen immer wieder den zugleich singulären, lokalen und mi-
noritären Charakter dieser Praktiken und den Universalitätshorizonty
dessen Träger sie sind—ein Horizont, der ihnen die eigentlich politische
Eigenschaft verleiht und sie von einer einfachen Teilnahme an der Ver
waltung der Gesellschaft unterscheidet. Aber wie soll man den Anfang
machen? Anders gesagt, an welchen Eigenschaften erkennt man eine
politische Intervention?
Ich habe mich auch einen Augenblick lang zu wenig vom Republi-
kanismus abgegrenzt, der die oft verspürte Abneigung gegenüber der
Idee der Minderheit zu seinen Gunsten systematisiert. Die Republi
kaner stellen dem republikanischen Universalen die Gemeinschaften
entgegen. Der Vorstellung, dass die politische Gemeinschaft nur
die Summe unterschiedlicher Gemeinschaften wäre, setzen sie ein
rechtsstaatliches Universales entgegen. Aber ihr Universales ist
ein bestimmter Typus des modellhaften Intellektuellen, des euro
päischen universellen Menschen, das heißt im Wesentlichen des
Franzosen. Insofern ist der republikanische Diskurs grob partiku-
laristisch. Für mich verläuft die Grenze woanders: nicht entlang des
Gegensatzes zwischen Universalem und Partikularem, sondern in
den Formen der Singularisierung des Universalen. Das Universale
der Politik ist nicht das Universale des Staates, der Vernunft oder
des Vertrags, sondern das Universale der Konstruktion von Fällen.
Die Subjekte universalisieren ihre Aktion in der Weise, wie sie Fälle
konstruieren. Auf dieser Ebene unterscheiden sich die politischen
Subjekte von einfachen ethnischen, sozialen, religiösen oder se
xuellen Gemeinschaften. Die Grenze zwischen dieser Vorstellung
vom singularisierten Universalen und dem staatlichen Universalen
ist brüchig, aber sie existiert und zeigt sich in der Praxis ganz klar.
In Ihren Arbeiten betonen Sie den diskontinuierlichen Charakter
des Politischen, sein unbeständiges und unvorhersehbares Auftreten
innerhalb der institutioneilen Verwaltung und Verteilung der Antei
le —einer Ordnung, die man aus Gewohnheit „politisch “ nennt, die
Sie aber polizeilich nennen. Wenn man Ihre Texte liest, hat man den
Eindruck, dass diese zwei Logiken so unterschiedlich sind, dass die erste
zurückgehen oder in der zweiten verschwinden muss. Stimmt es also,
dass angesichts der Politik alle „polizeilichen “ Optionen gleichwertig
sind? Um ein sehr aktuelles Beispiel herzunehmen, kann man zum
Beispiel annehmen, dass angesichts des emanzipatorischen Unterrichts,
wie er in Der unwissende Lehrmeister beschrieben wird, sich alle
pädagogischen Optionen oder Reformen gleichen? Andererseits, was
bleibt, wenn die Welle der politischen Bewegung verebbt?
Mouvements: Könnten Sie als Erstes das genauer bestimmen, was un
serer Ansicht nach alle Ihre Arbeiten durchzieht, nämlich das, was Sie
demokratische Geschichtlichkeit, demokratische Häresie, überschüssige
Rede und so weiter nennen?
Auch das Wort „ Würde“? Nehmen wir die Bewegung der Sans-Papiers
her und weiter gefasst die Bewegung derer; die Sie die Anteillosen
(sans-part) nennen. Hat diese Art von Bewegung fü r Sie an der de
mokratischen Geschichtlichkeit teil?
Sie hat daran teil, weil sie mehr bedeutet als das, was man allge
mein den Kampf um Anerkennung oder Würde nennt. Papiere
bekommen zu können, wo man lebt und arbeitet, über dieses Recht
diskutieren zu können, kurz gesagt, in der Welt des gemeinsamen
Wortes zu zählen, das alles unterliegt der politischen Kategorie
der Gleichheit und nicht der bloß ethischen Kategorie der Wür
de. Die Sans-Papiers sprechen gern die Sprache der Würde. Aber
sie verlangen Papiere, nicht Anerkennung. Eine demokratische
Geschichtlichkeit impliziert die Idee eines kollektiven Lebens,
das auf ein paar großen kollektiven Signifikaten gründet. Freiheit
oder Gleichheit gehören dazu, Würde nicht. Ich misstraue einer
gegenwärtigen Tendenz, ethische Wertschätzung anstatt politischer
Rechte zu gewähren.
Der szientistische Marxismus, was war das? Das war die Vorstel
lung, dass die Herrschaft einfach auf dem Besitz oder der Enteig
nung des Wissens gründet, dass den Proletariern das Wissen um
ihre Lage fehlte, das Wissen darum, was sie verursachte, und dass
folglich die Rolle der Intellektuellen darin bestünde, ihnen dieses
Bewusstsein zu liefern, das ihnen fehlte. Die Arbeit, die ich in La
N uit des prolétaires (1981) geleistet habe, bestand eben darin, aus
dieser Problematik herauszukommen. Ich versuchte insbesondere
zu zeigen, dass die Kenntnis des berühmten Geheimnisses der
Ware, des Geheimnisses des Kapitals und des Mehrwertes etwas
ist, das den Proletariern eigentlich niemals gefehlt hat. Was ihnen
fehlte oder zumindest, was sie sich in den Texten, die ich unter
sucht habe, anzueignen versuchten, war etwas anderes, nämlich
das Gefühl von der Möglichkeit eines anderen Schicksals, das
Gefühl, auch sprechende Wesen zu sein. Ihr Problem war nicht,
von einer Unwissenheit zu einem Wissen überzugehen, sondern
mit einer traditionellen Aufteilung zu brechen, die die Menschen
des Denkens und des Regierens auf die eine Seite stellt und die
Menschen der Arbeit auf die andere, oder auf die eine Seite die
Menschen des Wortes und auf die andere die Menschen des Lärms.
Aristoteles sagt in einem berühmten Text, dass die Politik sich auf
die Eigenschaft des Menschen gründet, ein sprechendes Wesen
zu sein. Doch diese Eigenschaft des sprechenden Wesens wird
andauernd einem immer noch mehrheitlichen Teil der Mensch
heit verweigert. Diese ursprüngliche Aufteilung zwischen den
Menschen des Wortes und der Sichtbarkeit und den Menschen
des Lärms und der Dunkelheit dient als Sockel für die Aufteilung
in Wissende und Unwissende.
Das ist das Paradox des Szientismus. Oft möchte er durch die
Wissenschaft die Beherrschten aus ihrer Lage befreien. Aber er
kann sie nur als Unwissende denken. Der Szientismus ist die
Vorstellung, dass die Wissenschaft des Gelehrten die Wissenschaft
von der Unwissenheit des Unwissenden ist. Das heißt, dass das
Objekt der Wissenschaft zugleich ihr Anderes ist, das Opfer der
herrschenden Ideologie im Marxismus, das Opfer der Verkennung
in der Soziologie von Bourdieu, der Mensch des Glaubens in der
Mentalitätsgeschichte. Mit dem marxistischen Szientismus zu bre
chen, bedeutete in Wahrheit, im Voraus mit allen abgeschwächten
Gestalten des Szientismus, die seine Nachfolge angetreten haben,
zu brechen.
Aber sie drücken keine Mentalität aus. Sie lehnen die Vorstellung ab,
dass sie so etwas wie ein kollektives Bewusstsein ausdrücken würden.
Im Zentrum der großen Bücher von Bourdieu stand für mich eine
Variante dessen, was ich in der Form des Althusser sehen szientisti-
schen Marxismus bekämpft hatte. Es liegt in ihm der Beweis, dass
die Beherrschten immer beherrscht werden, und dass folglich diese
Formen der Aneignung der gemeinsamen Sprache, des gemeinsa
men Denkens und der gemeinsamen Kultur, die ich untersucht
hatte, nur Illusionen sein konnten, die jene, die ihnen folgten,
in den Zirkel der legitimen Kultur aufnehmen würden, der dafür
gemacht war, die Herrschaft über sie fortzusetzen. Anders gesagt,
der Diskurs von Bourdieu zeigte - zum Beispiel in Die feinen Un
terschiede -, dass das Universum der ästhetischen Werte ein Univer
sum der Legitimierung der Herrschaft und der Durchsetzung eines
Habitustyps sei, der für den Armen unerreichbar sei oder zu dem er
nur Zugang finden könne, wenn er sich selbst verleugne. Folglich
zeigte er eine Art unerbittlicher Logik der Herrschaft auf, die sich
legitimierte, indem sie die Formen ihrer Legitimierung aufzwang,
und jene, die sich ihr widersetzen wollten, in die Formen dieser
Legitimierung einbezog. Ich hatte jedoch durch die Forschung über
das Arbeiterdenken des 19. Jahrhunderts gesehen, dass die Art des
ästhetischen Aneignungswillens, eines Willens zur Aneignung der
Rede des anderen - man könnte sagen „der großen Rede“ - durch
die Arbeiteraktivisten gerade das war, was einen Bruch mit der
Lebensweise, mit dem Habitus des Arbeiters ausmachte. Bourdieu
hingegen ließ nur die Wahl zwischen populärem Habitus und
distinguiertem Habitus. Bei ihm wurde jede Form der Aneignung
der kulturellen Werte als ein Schwindel angesehen, weil der Nicht-
Distinguierte es niemals schaffen werde, sich die distinguierten
Werte anzueignen, und nur schmerzvoll seine endlose Verbannung
erleben könne. Das widersprach gänzlich dem, was ich gesehen hatte
und zu zeigen versuchte: welchen Wert dieser verbotene Versuch der
Arbeiteraktivisten des 19. Jahrhunderts, sich die Werte des anderen
anzueignen, auf politischer Ebene hatte.
Der von Bourdieu geführten Gruppe von Intellektuellen, die ehrlich die
Bestrebungen der Bewegung widerspiegeln wollten, stand jene andere
Gruppe von Intellektuellen gegenüber; die das Standesdenken und die
Rückständigkeit der Bewegung anprangerten und eher a u f der Seite der
Verwaltung waren, wie Sie das nennen. Aber man hat den Eindruck,
dass es zwischen diesen zwei Polen nicht vielgab. Kann man dem Den
ken der Sozialbewegung, dieses auftauchenden Wortüberschusses anders
Rechnung tragen als einerseits in der Weise des Diskurses der Verkennung
und der Illusion, oder andererseits indem man die Rückständigkeit
von Gesellschaftskategorien anklagty die ohnehin bald verschwinden
werden? Sie erkennen sich ja offenbar weder in der einen noch in der
anderen wieder ...
Ich erkenne mich auf theoretischer Ebene in keiner der beiden Rich
tungen wieder, außer 1995, als ich mich politisch im Lager derer
wiederfand, die die Bewegung unterstützten. Was war das Problem?
Einerseits ist da diese Intelligenzija vom Dienst, die einfach den
Diskurs der Mächtigen wiederholt, mit einem Fuß im Realismus
der wirtschaftlichen Notwendigkeiten, mit dem anderen in einem
Neo-Moralismus des „Gemeinwohls“, wobei die Verfechter des Rea
lismus und die des Gemeinwohls sowieso dieselben waren, nämlich
die Etablierten, die „mutig“ gegen die egalitäre Rückständigkeit der
Sozialbewegungen kämpften. Auf der anderen Seite ein „kritisches“
Denken, das eine Sozialbewegung unterstützte, ohne die Möglich
keit zu haben, die politische Bedeutung dieser Bewegung zu denken.
Was ist denn eine Sozialbewegung? Das ist eine Bewegung, die die
gegebene Aufteilung des Sinnlichen in Frage stellt, das heißt die
Konfiguration der Gegebenheiten, der „sinnlichen Gewissheiten“,
die die Herrschaft unterstützen —das heißt auch die Aufteilung
zwischen denen, die die Fähigkeit haben, die Gegebenheiten zu
sehen und über sie zu argumentieren, und denen, die diese Fähig
keit nicht haben. Das macht eigentlich das aus, was in der Politik
selbst auf dem Spiel steht: Wer legt eine Situation fest? Wer hat die
Befähigung zu sagen, was man sieht und was der Sinn dessen ist,
was man sieht? Das stand 1995 auf dem Spiel. Der Diskurs der
„Reform“ lautet ungefähr so: Es gibt Leute, die fähig sind zu sehen
und vorauszusehen, und es gibt andere, die dazu nicht in der Lage
sind. Es gibt Menschen der Rede und Menschen des Lärms. Die
Demonstration der Fähigkeit der „Unfähigen“ gestaltete diese Auf
teilung um. Genau das kann das kritische Denken nicht denken. Es
bleibt in dem Schema gefangen, nach dem das Politische der Schein
ist, dessen verborgene Wahrheit das Soziale ist - verborgen vor allem
den Akteuren dieser Bewegung. Für das kritische Denken ist eine
Sozialbewegung eine Bewegung, die den Gesellschaftszustand und
die Lüge der Herrschaft zeigt. Sie ist Trägerin einer W ahrheit, die
allein die Gelehrten erkennen können, denen die „Mittellosen“
gegenüberstehen, die unweigerlich Opfer ihrer Unwissenheit sind.
Sie haben a u f die Konsenslogik angespielt, der Sie die Logik des Unver
nehmens als konstitutiv fü r die demokratische Politik entgegensetzen,
die es erlaubt, dem Anteil der Anteillosen gerecht zu werden. Können
Sie ausgehend von der sogenannten „Einwanderungsfrage“ genauer
bestimmen, was a u f dem Spiel steht in dieser Konfrontation zwischen
Konsenslogik und Logik des Unvernehmens?
Die Frage betrifft die Stellung dessen, was zusätzlich ist. Die Logik
des Unvernehmens - oder des Dissenses - behauptet, dass die Po
litik von Subjekten gemacht wird, die nicht Gesellschaftsgruppen
sind, sondern Agenten der Aussage und des Sichtbarmachens, die in
Bezug auf die Zählung der Gesellschaftsgruppen immer überzählig
sind. Der Demos der Demokratie ist weder die Bevölkerung noch
ihr ideales Wesen. Es ist die zusätzliche Zählung der Nichtigen,
die Zählung derer, die keinen besonderen Rechtsanspruch aufs
Regieren haben. Genauso sind die Proletarier nicht die arbeitende
Bevölkerung, sondern jene, die deren Verkörperung auflösen. Die
Konsenslogik ist umgekehrt eine Logik der Vollständigkeit. Sie
identifiziert die politischen Subjekte mit den wirklichen Teilen der
Gesellschaft und beansprucht, die optimale Verteilung der Anteile,
die jedem zugeteilt werden können, zu verwalten. Folglich ist der
jenige, der zusätzlich ist, für sie überzählig. Der „Einwanderer“ ist
also so etwas wie das Verdrängte der Politik in der Konsensordnung.
Er ist der Zusatz, der nicht mehr symbolisierbar ist, er wird zu einer
auszuschließenden Gefahr für die Extremisten und zu einem „un
lösbaren“ Problem für die Regierenden: zugleich der Überschuss,
den man nicht loswerden kann, und der Andere, dem gegenüber
sich die imaginäre Deckung mit dem politischen Raum durch die
genaue Zählung der Teile und Anteile absichert.
Kehren wir zur Soziologie zurück. Sie hat sich doch weiterentwickelt.
Ein Teil der Soziologen hat sich in einer Strömung zusammengefunden,
die mit der kritischen Soziologie bricht, ich denke da insbesondere an
die Arbeiten von Soziologen wie Luc Boltanski und Laurent Thevenot55
zum Beispiel, die die Begriffe des Habitus oder der Reproduktion ab
lehnen und die Fähigkeiten der Akteure zur Erfindung stark betonen,
ihre Kompetenzen, sich in unterschiedlichen sozialen Bezugsuniversen
zu bewegen. Denken Sie, dass diese Entwicklung ein Versuch ist, das
zu begreifen, was Sie immer analysieren wollten, nämlich diese Rede,
diese überschüssigen Subjektivierungen, die von der Tradition der
wissenschaftlichen „großen Sozialwissenschaft“ im Allgemeinen beisei
tegeschoben und erdrückt werden?
Ich würde nicht sagen, dass die Literatur ein Hilfsmittel ist, so als ob
es sich darum handeln würde, Lösungen zu finden. Die Frage der Li
teratur stellt sich auf zwei Ebenen. Die erste Ebene ist das Schreiben
des Wissens. Die Geschichte praktiziert immer eine bestimmte Form
von Literatur. Diese Form von Literatur gestaltet eine bestimmte
Landschaftsanordnung und, wenn man die Landschaftsanordnung
der Gegenstände des Wissens verändern will, dann muss man auch
andere Schreibverfahren anwenden. Das ist ein Aspekt der Frage.
Der andere ist, dass der Großteil der Verständlichkeitsmodalitäten,
die von den Sozialwissenschaften angewandt werden - die auch die
des kritischen Denkens sind, das im weitesten Sinne ihr Gebiet
ist -, zuerst in der Literatur entstanden sind. Folglich muss sich die
Geschichte, um denken zu können, was sie macht, auch über die
literarischen Ursprünge ihrer Interpretationsweisen Gedanken ma
chen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Der Gegensatz zwischen
der Geschichte der Ereignisse und der Geschichte der Sitten ist
zuerst von Schriftstellern wie Hugo und Balzac formuliert worden.
Sie haben auch die Interpretationsweisen definiert, die zu dieser
Veränderung der Sichtweise gehören: die Erklärung des Oberen
durch das Untere, der Rückgriff auf „stumme Zeugen“ (die Kanali
sation in Die Elenden), das Lesen der Zeichen der Gesellschaft und
der Geschichte auf einem Körper oder einem Gegenstand und so
weiter. Der Gegensatz zwischen einer Wahrheit stummer Zeichen
und dem Diskurs der großen Ereignisse und großen Figuren war
zuerst der Gegensatz zwischen der literarischen Wissenschaft: und
der historischen Chronik, bevor die Geschichte sich selbst ihrer
bemächtigte. Wenn sie ein Hilfsmittel ist, dann handelt es sich also
um ein Nachdenken über die Quellen, und ganz und gar nicht um
einen Seelenzusatz.
Aber die Literatur ist nicht nur ein Hilfsmittelfü r den Historiker. Ist
sie nicht auch gerade der Ort, an dem sich die demokratischeAufteilung
des Wortes vollzieht?
Eine letzte Frage: Sind die Formen des Wissens, die Sie analysiert haben,
dazu verurteilt, den Überschuss des Wortes der Wortlosen zu verfehlen
und das Selbe zu reproduzieren, gesellschaftliche Kohärenz zu erzeugen?
Es sei zuerst gesagt, dass ich mich nicht in einer ethischen Problema
tik der Andersheit verorte. Mein Problem ist eher die Betrachtung
des Typs „Anderer“, den die Gelehrsamkeiten errichten, um sich
ihrer eigenen Gewissheit zu versichern. Das heißt aber auch, dass
ich denke, dass die Gelehrsamkeiten durchaus die Risse in dieser
gesellschaftlichen Kohärenz bezeichnen können. Ich habe als His
toriker in La Nuit des prolétaires den Raum der Erscheinung und
der Zirkulation einer gewissen Anzahl von Wörtern, Bildern und
Diskursen zu umreißen versucht, die der Konstruktion der Identifi
zierungen des Proletariers und der Arbeiterbewegung gedient haben.
Ich habe aber auch die Zufälligkeit dieser Konstruktion aufgezeigt.
Es handelte sich für mich darum, die szientistische Fabrikation des
„Anderen der Wissenschaft“ zu verlassen, aber auch die kritische
Tradition, die immer den Punkt zu zeigen versucht, an dem die
Herrschaft und die Unterdrückung sichtbar sind, an dem die Lüge
offenbar wird, kurz, die immer ein Geständnis will. Die kritische
Tradition hat oft ihre Berufung verfehlt, weil sie immer versucht
hat, ihren Gegenstand zu einem Geständnis zu bringen. Ich habe
es vorgezogen, die Momente der Aufteilung zu gestalten, die nicht
Momente des Geständnisses sind, sondern Momente, bei denen
die Konstruktion des Sinns der Gemeinschaft selbst das ist, was in
der Polemik auf dem Spiel steht. Ich habe versucht zu zeigen, dass
es so lange Politik gibt, wie es eine Uneinigkeit über die Bedeutung
von Politik an sich gibt, darüber, was die gemeinsame Gegebenheit
ist. Ich habe versucht, eine Geschichte zu praktizieren, die zeigt,
wie sich ein Gemeinschaftssinn gestaltet und Geschichtstypen und
mögliche politische Traditionstypen bestimmt, ohne deswegen ein
neues Verständlichkeitsmuster der Geschichte zu bestimmen, das
ein Gedächtnis und eine Legitimation nährt, die wiederum einen
Konsens hersteilen. Ich habe ebenfalls versucht, zu den Wider-
Sprüchen der Literatur zu arbeiten, zu ihrem Anspruch, das Wahre
über die Gesellschaft zu sagen. Für mich ist es interessant, zu den
Aporien zu arbeiten. Ich denke, dass die Aporien nichts sind, was
einen Diskurs verurteilt, sondern etwas, das erkennen lässt, was
in ihm auf dem Spiel steht. Ich denke, dass die Forschung absolut
nicht in diesem Gegensatz gefangen ist, der der Albtraum vieler
Historiker und Sozialwissenschaftler ist, demzufolge man entweder
die Sache selbst habe oder es nur den Diskurs gebe. Diese Art von
Gegensatz ist kindisch. Er nährt eingebildete Ängste, um jede Frage
zu vermeiden. Denken wir zum Beispiel an den französischen Im
port des amerikanischen Phantasmas von der dekonstruktivistischen
Gefahr, der großen Furcht, dass es im Gebiet der Wissenschaft „nur
Diskurs“ gebe. Die Angst ist immer und überall das Gegenteil des
Denkens, so wie die Wissenschaftsgläubigkeit das Gegenteil der
wissenschaftlichen Einstellung ist.
Anmerkungen
1 Das Interview „Das brüderliche Bild“ wurde von Serge Daney und Serge
Toubiana geführt und in Les Cahiers du cinéma, Nr. 268-9, Juli-August
1976, S. 7-19 veröffentlicht.
2 Film- sowie Buchtitel werden, wenn es einen offiziellen deutschen Titel gibt,
mit diesem genannt, ansonsten im Original. Bei der ersten Nennung wird
in Klammern der Originaltitel mit angeführt, bei den weiteren nicht mehr.
(A.d.Ü.)
3 Was hier mit „linksradikal“ wiedergegeben wird, heißt im Original gauchiste.
In Frankreich gab und gibt es ein großes politisches Spektrum (von den
Trotzkisten über die Maoisten zu den Anarchisten) links von der Kommu
nistischen Partei. (A.d.Ü.)
4 Jan Valtin war in den 1920er- undl930er-Jahren deutscher Agent für den
sowjetischen Geheimdienst. Von seinen Vorgesetzten enttäuscht und verraten
floh er in die USA, wo er 1940 seine Autobiografie Tagebuch der Hölle (Out
ofthe Night) veröffentlichte, die zu einem Bestseller wurde. (A.d.Ü.)
5 Versailles steht hier für die bürgerliche Regierung, die in dieser Stadt ihren
Sitz hatte, als 1870-71 in Paris die Kommune herrschte. (A.d.Ü.)
6 Der Heilige Bund (Union sacrée) bezeichnet die Aussetzung des Klassen
kampfes während des Ersten Weltkriegs. In Deutschland gab es analog
den sogenannten Burgfrieden, der die Konflikte zwischen Sozialisten und
Bürgerlichen während des Krieges auf Eis legte. (A.d.Ü.)
7 Les Mystères de Paris ist ein 1842-43 erschienener Feuilleton-Roman von
Eugène Sue. (A.d.Ü.)
8 Der Unanimismus ist die Anfang des 20. Jahrhunderts von Jules Romains
begründete literarische Schule, die die Beseeltheit und Einmütigkeit der
Gemeinschaft annimmt bzw. anstrebt. Rancière verwendet den Begriff in
einem etwas weiteren Sinne, in Entsprechung zum gebräuchlichen Wort
unanime („einstimmig“). (A.d.Ü.)
9 Thiers ist eine kleine Stadt in der Auvergne im Zentrum Frankreichs, wo
François Truffauts 1976 entstandener Film Taschengeld (Vargent de poche)
angesiedelt ist. (A.d.Ü.)
10 Film von Julien Duvivier aus dem Jahr 1936, Originaltitel: La belle équipe.
(A.d.Ü.)
11 Ikarien ist der sowohl fiktionale wie in den USA real gegründete Ort der
Utopie von Etienne Cabet. Ardèche ist der Name des Departements in
Südfrankreich, in dem Taverniers Film angesiedelt ist. (A.d.Ü.)
12 Jahr II der republikanischen Zeitrechnung der Französischen Revolution:
22. September 1793 bis 21. September 1794. (A.d.Ü.)
13 Die CGT ist die Confédération générale du travail, der Allgemeine Gewerk
schaftsbund, der der französischen Kommunistischen Partei nahe steht.
(A.d.Ü.)
14 Gemeint ist der Film 1900 (Novecento), der 1976 erschien. (A.d.Ü.)
15 Rancière war Mitarbeiter der Zeitschrift Les Révoltes logiques, die von 1975
bis 1981 bestand. (A.d.Ü.)
16 Es handelt sich um eine geplante Sendung des französischen Fernsehens, in
die Sartres Sekretär Benny Lévy unter anderem die Aktivisten von Révoltes
logiques einbeziehen wollte. Die Sendung wurde nicht realisiert. (A.d.Ü.)
17 Bezugnahme auf Godards 1976 erschienen Film Hier und anderswo (Ici et
ailleurs). (A.d.Ü.).
18 Der Film des Kollektivs Cinélutte mit dem Titel Un simple exemple (Ein
einfaches Beispiel, A.d.Ü.) widmete sich dem Kampf von Arbeitern der
Druckerei Darboy in Montreuil.
19 „Und die Müden haben Pech gehabt!“ (Et tant pis pour les gensfatigués!) ist
der Titel, der der vorliegenden Ausgabe des „Interviews mit Jacques Rancière“
gegeben wurde, das 1981 von Edmond El Maleh für die Zeitung Le Monde
geführt wurde und 1984 in einem Sammelband erschien (Entretiens avec
„Le Monde“, IPhilosophies, Einleitung von Christian DELACAMPAGNE,
Paris: La Découverte / Le Monde 1984, S. 158-164).
20 „La visite au peuple“, Interview mit Serge Le Péron und Charles Tesson, in:
Les Cahiers du cinéma, Nr. 371-372, Mai 1985, S. 106-111.
21 Die Universität Paris 8, an der Jacques Rancière bis ins Jahr 2000 unterrich
tete, wurde in Vincennes (im Park von Vincennes in Paris) 1969 gegründet
und übersiedelte 1980 nach Saint-Denis, einem Vorort von Paris. (A.d.Ü.)
22 Die Vereinigung der Linken (Union de la Gauche) bezeichnet das Wahl-
kampf- und Regierungs-Bündnis zwischen der Sozialistischen Partei, den
Kommunisten und teilweise der Radikalen Linkspartei in den Jahren 1972
bis 1984. (A.d.Ü.)
23 Die Goutte d ’Or (wörtlich „Goldtropfen“) ist ein sehr armes, von unteren
Gesellschaftsschichten bewohntes Viertel des Pariser 18. Bezirks. Beurs ist
ein Name für französische Araber oder Berber. (A.d.Ü.)
24 Liliom ist ein 1934 von Fritz Lang in Frankreich gedrehter Spielfilm. Die
Hündin (1931) ist von Jean Renoir, Goldhelm (1952) von Jacques Becker.
(A.d.Ü.)
25 „Politique de récriture“, Interview mit Monica Costa Netto, geführt im
Januar 1993, in: Philosophie, philosophie, der Studentenzeitung von Paris 8,
1994, S. 48-54.
26 Jacques RANCIÈRE, Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des
Wissens. Aus dem Französischen von Eva MOLDENHAUER, Frankfurt am
Main: S. Fischer 1994, S. 17. Die Klammerausdrücke stammen von mir.
(A.d.Ü.)
27 Im Original: états. Das Wort bezeichnet sowohl „Zustände“ als auch die
gesellschaftlichen „Stände“. (A.d.Ü.)
28 Jacques RANCIERE, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die
intellektuelle Emanzipation, aus dem Französischen von Richard STEURER,
Wien: Passagen Verlag, 2. Auflage 2009. (A.d.Ü.)
29 Im Original événement deparole. Ich folge hier der Übersetzung des Terminus
durch Eva Moldenhauer in Die Namen der Geschichte. Es sei daraufhingewie
sen, dass das Wort parole anderswo, aber auch in diesem Text kontextbedingt
auch mit „Sprache“, „Sprechen“, „Sprechweise“ oder „Rede“ übersetzt wird,
und dass es von den „Wörtern“ {mots) zu unterscheiden ist. (A.d.Ü.)
30 Ich habe den Satz neu, gemäß dem Wortlaut bei Rancière übersetzt
(„L’historien a presque l’horreur des événements.“) (vgl. Fernand BRAU-
DEL, Schriften zur Geschichte 1. Gesellschaften und Zeitstrukturen. Aus dem
Französischen von Gerda KURZ und Siglinde SUMMERER, Stuttgart:
Klett-Cotta 1992, S. 54; bzw. ders., Ecrits sur l ’histoire, Paris: Flammarion
1969, S. 46). (A.d.Ü.)
31 PLATON, Phaidros, 127c. In der Übersetzung von Ludwig von GEORGII
{Sämtliche Werke, Bd. 2, Berlin: Lambert Schneider 1940, S. 437) lautet der
Satz: „Denn wagen wenigstens muss man, das Wahre zu sagen, zumal wer
von der Wahrheit spricht.“ (A.d.Ü.)
32 „Histoire des mots, mots de l’histoire“, Interview mit Martyne Pierrot und
Martin de la Soudière, in: Communications, Nr. 58, 1994, S. 87-101.
33 PLATON, Phaidros, 127c. Vgl. Anm. 30. (A.d.Ü.)
34 Die „Poetik des Wissens“ ist darin definiert als „Untersuchung aller litera
rischen Verfahren, durch die eine Rede {discours, A.d.Ü.) sich der Literatur
entzieht, sich den Status einer Wissenschaft gibt und ihn bezeichnet.“ In:
Jacques RANCIERE, Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des
Wissens. Aus dem Französischen von Eva MOLDENHAUER, Frankfurt
am Main: S. Fischer 1994, S. 17.
35 Ebenda, S. 150.
36 Ebenda, S. 19. (A.d.Ü.)
37 Mimesis und Diegesis beziehen sich auf die von Platon im 3. Buch des Staates
getroffene Unterscheidung zwischen der Mimesis, die Form und Zeichen
der tragischen Darstellung ist, und der Diegesis, bei der der Erzähler seine
Stimme zwischen die Figur und das Publikum stellt. In Die Namen der Ge
schichte wendet Jacques Rancière diese Kategorien darauf an, wie Michelet
das mimetische Sprechen der Berichte von den Revolutionsfesten behandelt,
das heißt einsetzt.
38 Das Zitat wird im Interview frei wiedergegeben und auch dementsprechend
frei nachübersetzt. Vgl. Jacques RANCIERE, Les noms de l'histoire. Essai de
poétique du savoir, Paris: Seuil 1993, S. 108, und Die Namen der Geschichte,
S. 80. (A.d.Ü.)
39 Vgl. Paul VEYNE, Geschichtsschreibung - Und was sie nicht ist. Aus dem
Französischen von Gustav ROSSLER, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990,
S. 39. (A.d.Ü.) ^
40 Jacques RANCIÈRE, Die Namen der Geschichte, S. 141 und 142. (A.d.Ü.)
41 Neu übersetzt vom Übersetzer dieses Buches, vgl. Les noms de l’histoire, S. 194.
(A.d.Ü.)
42 Maler der Antike, dem man einen Satz zuschreibt, der die Redewendung
sutur ne ultra crepidam („Was über dem Schuh ist, kann der Schuster nicht
beurteilen.“, das heißt: „Schuster, bleib bei deinem Leisten!“) hervorgebracht
hat.
43 Rafaël PIVIDAL, La Maison de l’écriture. Paris: Seuil 1976.
44 „Les mots de l’histoire du cinéma“, Interview mit Antoine de Baecque, in: Les
Cahiers du cinéma, Nr. 496, 1995, S. 48-54.
45 Georges SADOUL, Histoire générale du cinéma, 6 Bände, Paris 1950-75.
(A.d.Ü.)
46 „La politique n est-elle que de la police?“ Interview mit Jean-Paul Monferran,
veröffentlicht in L’Humanité, 1. Juni 1999.
47 Jacques RANCIÈRE, Aux bords dupolitique. Paris: La Fabrique 1998. (Ad.Ü.)
48 Sans-Papiers werden in Frankreich allgemein die Personen ausländischer Her
kunft genannt, die in Frankreich leben (eventuell offiziell arbeiten, studieren,
deren Kinder zur Schule gehen und so weiter), aber über keine gültigen Auf
enthaltstitel verfügen. Sie sind „ohne“ („sans“) Papiere („papiers“). (A.d.Ü.)
49 Louis ALTHUSSER, Étienne BALIBAR, Roger ESTABLET, Pierre MACHE-
REY und Jacques RANCIERE, Das Kapital lesen. Aus dem Französischen von
Klaus-Dieter THIEME, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972.
50 „Le Maître ignorant, entretien avec Jacques Rancière“, Interview mit Mathieu
Potte-Bonneville und Isabelle Saint-Saëns, in: Vacarme, Nr. 9, Herbst 1999,
S. 4-8.
51 Aux bords du politique. (A.d.Ü.)
52 Jacques RANCIERE, Das Unvernehmen. Aus dem Französischen von Richard
STEURER, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. (A.d.Ü.)
53 Im Original „pensée unique(\ wörtlich „Einheitsdenken“ oder „einziges Den
ken“. Das sollte man hier mitbedenken, auch wenn im Deutschen der Aspekt
der angeblichen „Alternativlosigkeit“ im Vordergrund steht. (A.d.Ü.)
54 „Les hommes comme animaux littéraires“, Interview mit Christian Delacroix
undNelly Wolf-Cohn, in: Mouvements, Nr. 3, März-April 1999, S. 133-145.
55 Luc BOLTANSKI und Laurent THÉVENOT, Über die Rechtfertigung Eine
Soziologie der kritischen Urteilskraft, aus dem Französischen von Andreas
PFEUFFER, Hamburg: Hamburger Edition 2007.
56 Emmanuel LE ROY LADURIE, Montaillou. Ein Dorfvor dem Inquisitor 1294
bis 1324. Aus dem Französischen von Peter HAHLBROCK, Frankfurt am
Main: Propyläen Verlag 1980.
57 Lucien FEBVRE, Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert: die Religion
des Rabelais. Aus dem Französischen von Gerda KURZ, Stuttgart: Klett-Cotta
2002 .
58 Jacques RANCIERE, Die stumme Sprache. Aus dem Französischen von Richard
STEURER, Berlin-Zürich: Diaphanes 2010. (A.d.Ü.)
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