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Dieses Buch stellt eine Art Kartografie

des Denkens von Jacques Rändere


dar. Es ist ein unerlässliches Werkzeug
für all jene, die sich darum bemühen,
die gegenwärtigen Bedingungen einer
radikal demokratischen Politik zu
bestimmen.
Die Interviews aus der Zeit zwischen
1976 und 1999 sind ein wesentlicher
Bestandteil der Arbeit von Jacques
Rändere. Von Gespräch zu Gespräch
hat Rändere sich immer bemüht,
seinen Werdegang und seine Stel­
lungnahmen zu kommentieren und
zu verdeutlichen, indem er die Abbie­
gungen und Kontinuitäten darlegte.
Es handelt sich um eine Arbeit der
Definition, der Neudefinition und
der Abgrenzung gegenüber anderen
Theorien. Es geht darum, aufzuzeigen,
dass seine Texte über die Politik, die
Ästhetik, die Kunst, das Kino und die
Literatur nicht voneinander zu trennen
sind, und darum, Antworten auf Ein­
wände und Fragen zu geben, die seine
Schriften aufgeworfen haben.

Jacques Rändere, geboren 1940, ist


emeritierter Professor für Philosophie
und Kunsttheoretiker in Paris.
U N D DIE M Ü D EN H A BEN PECH GEHABT!

PASSAGEN FO RUM
Jacques Ranciere
Und die Müden haben Pech gehabt!
Interviews 1976—1999

Aus dem Französischen


von Richard Steurer

Herausgegeben von Peter Engelmann

Passagen Verlag
Deutsche Erstausgabe
Titel der Originalausgabe: Et tant pis pour les gensfatigués. Entretiens
Aus dem Französischen von Richard Steurer

Ouvrage publié avec le concours du Ministère français


chargé de la culture - Centre national du livre.
Cet ouvrage a bénéficié du soutien des Programmes d’aide à la publication
de l’institut français et de l’aide à la traduction de l’ambassade de France en
Autriche dans le cadre du „Programme Musil“.

Mit freundlicher Unterstützung von Europ Assistance Österreich, Mäzen der


Passagen Freunde - Freundeskreis des Passagen Verlages.

® europ
assistance
live m cam

Die deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen


Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://www.dnb.de/ abrufbar.

Alle Rechte Vorbehalten


ISBN 978-3-7092-0021-6
© 2009 by Éditions Amsterdam, Paris
© der dt. Ausgabe 2012 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
http://www.passagen.at
Grafisches Konzept: Gregor Eichinger
Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Druck: Ferdinand Berger & Söhne GmbH, Horn
Inhalt

1976

Das brüderliche Bild


mit Serge Daney und Serge Toubiana 13

1981

Und die Müden haben Pech gehabt!


mit Edmond El Maleh 37

1985

Der Besuch beim Volk


mit Serge Le Péron und Charles Tesson 47

1994

Politik der Schrift


mit Monica Costa Netto 67

Geschichte der Wörter, Wörter der Geschichte


mit Martyne Pierrot und Martin de la Soudière 83

1995

Die Namen der Kinogeschichte


mit Antoine de Baecque
1999

Ist die Politik nur Polizei?


mit Jean-Paul Monferran 125

Der unwissende Lehrmeister


mit Mathieu Potte-Bonneville und Isabelle Saint-Saëns 131

Die Menschen als literarische Tiere


mit Christian Delacroix und Nelly Wolf-Cohn 145

Anmerkungen 165
1976
Das brüderliche Bild1
mit Serge Daney
und Serge Toubiana

Les Cahiers du cinéma: Wenn wir zwei Filme miteinander vergleichen,


und zwar Milestones von Robert Kramer und Numero 2 (Numéro
deux)2 von Jean-Luc Godard, dann scheint unsy dass es im ersten eine
genealogische Dimension gibt, die im zweiten völligfehlt. Man könnte
sagen, dass Milestones in einer Geschichte der »Gattungen' (ameri­
kanisches Kino) angesiedelt ist und Numero 2 in einer Geschichte der
„Formen' (europäisches Kino). Das Ergebnis ist, Milestones, aber
vielleicht auch das amerikanische Kino im Allgemeinen, weniger von
der Geschichte der USA abgeschnitten ist als das unsrige, dass es in
gewisser Weise » materialistischer “ ist.
Das Erstaunliche am amerikanischen Kino sind die Figuren: Sie sind
niemals in durchgekauten Diskursen gefangen, sie sind frei in ihren
Praktiken, Gesten und Verhaltensweisen. Sie sind Träger von Gesten
und nicht von Ideen, von Verhaltensweisen und nicht von politischen
Idealen. Das hindert sie nicht daran, mit einer umfassenden, ideolo­
gischen und mythischen Darstellung von Amerika in Bezug zu stehen.
Sie sind die Kinder des großen ideologischen Diskurses vom freien
Unternehmergeist, den der Einzelne Ju r sich genommen nicht völlig
bejahen muss (weil er selbstverständlich ist).

Jacques Rancière: Ja, ich glaube, dass man damit beginnen kann,
wenn man sich die Frage stellt, was dort und hier ein Film der
revolutionären Linken oder über die revolutionäre Linke sein
kann. Kramer und Douglas können direkt die Linke sprechen
lassen, die Bildung eines Lagers, die Veränderungen der Formen
des Aktivismus und des aktivistischen Ideals spürbar machen, weil
eine bestimmte genealogische Tradition des amerikanischen Kinos
hinter ihnen steht. Während unsere Filmtradition, die zutiefst an
Gedächtnisschwund leidet, auf Codes und Typologien beruht und
doch alle sechs Monate jene leichte Verschiebung vollzieht, die es
erlaubt, einen neuen Ton in unserem Kino zu begrüßen, hat das
amerikanische Kino ständig die Legende der Codebildung, das
System der Gesten, der Verschiebungen und des Austauschs gespielt
und dargestellt. Damit wird erreicht, dass eine Gemeinschaft sich
als solche wiedererkennt, indem sie ihr Gesetz (an) erkennt.
Hinter dem Parcours, der von einer Entlassung aus dem Gefängnis
zu einer absichtlich symbolischen Geburt führt, kann man, wenn
man will, die Fiktion vom Typus Fluss ohne Wiederkehr {River ofno
returri) erkennen, wo man in der ersten Einstellung den ehemaligen
Sträfling sieht, der fiir den Hausbau einen Baum fällt, und an deren
Ende nach einer Reihe von Prüfungen die amerikanische Stadt,
das amerikanische Gesetz und die amerikanische Moral stehen.
Natürlich stellt diese genealogische Tradition nicht mehr dar als
den Diskurs der amerikanischen Gesellschaft über sich selbst, und
der Materialismus, den wir einst bewunderten, nicht mehr als die
materielle Kraft einer Nationalideologie, ihre Fähigkeit, Figuren
aufzustellen und Fiktionen zu organisieren. Doch damit wurde
ein bestimmter Typus der Verankerung von Ideen in den Körpern
bestimmt, der gewisse Umkehrungen oder das Stellen anderer
Fragen erlaubt.
Unser Kino hingegen reproduziert einen Grundzug unserer
politischen Kultur, nämlich die Gleichgültigkeit gegenüber der
Genealogie, die die Fiktionalisierung der Geschichte in den Bereich
der Gedenkfeier verbannt. Ich bin erstaunt darüber, wie sehr die
Debattenbegrifflichkeit, in der sich unsere politische Kultur be­
wegt, mit den Fiktionsmodi übereinstimmt, die in unserem Kino
am Werk sind. Grob gesagt arbeitet das Kino mit einer extremen
Kodifizierung der sozialen Bedingungen, Figuren und Orte, und
zugleich mit dem kleinen Unterschied, mit dem Wirklichkeitseffekt,
der an diesen Code angewandt wird, der zugleich das zusätzliche
Quäntchen Traum ist, das der Wirklichkeit gewährt wird: kleine
Angestellte, die ihr Büro verlassen, um zu träumen; Arbeiter, die
die Leichtigkeit jener Liebeserregungen erlangen, die einst einer
träumerischen Bourgeoisie Vorbehalten waren; Figuren, die ihrer
gesellschaftlichen Rolle entkommen und deren Umherirren von
einer plötzlich mobil gewordenen Kamera verfolgt wird, deren
Sprache endlich dem Alltag angemessen zu sein scheint.
Dieses zusätzliche Quäntchen Seele, das man der Gesellschafts­
typologie angedeihen lässt, ist ein wenig wie das Familienfoto, auf
dem es immer einen lustigen Cousin gibt, der sich verkleidet oder
Grimassen schneidet, damit das Bild nicht wie ein Familienfoto
wirkt. Grob gesagt verwirklicht sich dieses zusätzliche Quäntchen
Seele in Form einer Aufteilung in ein plumpes kommerzielles Kino,
das uns die geheimen Seelenschmerzen der Bourgeoisie (leitende An­
gestellte, Ärzte, Kleinunternehmer ...) sehen lässt, und ein leichtes
kommerzielles Kino - die Rolle, die dem jungen Kino zukommt -,
das den Arbeiter aus der Fabrik oder aus dem politischen Kampf
herausholt, weil beide zu codiert sind, um sein Liebesleiden (Lily,
aime-moi, von Maurice Dugowson) oder seine sexuelle Bulimie
(Boß von Claude Faraldo) vorzuführen.
Dieses Spiel zwischen dem Befolgen des Codes und einem selbst
völlig codierten Decodieren finde ich in den Debatten von der Art
„Marx oder Traum“ wieder. Auf der einen Seite steht der Diskurs
des Apparats, auf der anderen die Frische der Wirklichkeit, das
Begehren, der Traum, die produktive oder aktivistische Kraft, die
sich in das Umherirren ausgeflippter Arbeiter und aus der Bahn
geworfener Aktivisten verwandelt hat. Beten nicht viele, die heute
vorgeben, den Diskurs der Apparate zu unterwandern, bloß neu­
erlich einen sehr platten Diskurs über das zusätzliche Quäntchen
Wirklichkeit herunter, das ein zusätzliches Quäntchen Traum ist?
Die linksradikale3 Doxa ist stark von den kommerziellen Fiktions­
modi abhängig, sie ist gefangen im Fetischismus, in der Illusion
von der Spontaneität, die von den neuen Archivierungsapparaten
erzeugt wird (Bild-Ton-Kamera).
Wie sich jedoch konkret ein aktivistisches Ideal bildet, wie die
Körpergesten sich verwandeln lassen, sodass aus Unterwerfung
Widerstand wird, wie man eine Kultur der Revolte einschließlich
ihrer Legende bilden und weitergeben kann, diese Fragen fehlen in
unserer Fiktion und werden in unserem Theorieraum von Stereo­
typen über das „Leben“ verdeckt. Man ist immer im Bereich der
Mythologie, nicht in dem des Legendären, im Bereich des Effekts
der Wirklichkeit auf den Code und nicht im Bereich seiner Genea­
logie. Die lange von der Kultur von oben ausgeübte Unterdrückung
hat die Formen der Kultur von unten sorgfältig zerstört und ersetzt,
und eine gedächtnislose Kultur erzeugt, welche die Gedenkfeiern
(die Kommune, das Lied der Lyoner Seidenarbeiter, die vergange­
nen Leiden und Leistungen des Volkes ...) ermöglicht, aber kein
theoretisches Nachdenken und keine Fiktionalisierung der Macht
und der Revolte in ihrer materiellen Erfindung.
Wenn man sich einen Film wie Sondertribunal {Section spé­
ciale) von Costa-Gavras ansieht, dann bemerkt man, dass die
Glucksmann sehe theoretische Figuration (die Macht und die Plebs)
gänzlich von diesem traditionellen Fiktionsmodus in unserem Kino
abhängt: einerseits die Macht, die Apparate, die Ministerien, die
hochgestellten Leute, das abgeschirmte Universum der Vorzimmer,
und dann unten die braven Leutchen und die guten kommunis­
tischen Prolos von Costa-Gavras mit ihrer Lebenslust und ihrem
Arbeiterhumanismus.
In der Frage, wie die Macht dargestellt wird, kann man die
Begeisterung Julys in der Libération für Die Macht hat ihren Preis
{Cadaveri eccellenti:) von Francesco Rosi noch bezeichnender finden.
July scheint nicht zu ahnen, dass diese Figuration der Macht in Form
von okkulten Verschwörern, von weither kommenden Telefonanru­
fen, versteckten Mikrofonen, geheimnisvollen Autos, die aus hinter
hohen Mauern versteckten Villenvorhöfen herauskommen und
plötzlich beschleunigen, um allzu Neugierige zu überfahren - dass
all das etwas mit der großen internationalen Verschwörung zu tun
hat, mit der sich der Reporter Tim (aus Tim und Struppi, A.d.Ü.)
misst. Er scheint sich auch nicht darum zu bekümmern, dass diese
bildliche Darstellung dazu dient, die plebejische Ehrlichkeit in
der Gestalt des guten Polizeikommissars zu verkörpern, der sich
an die alten plebejischen Methoden der Einschüchterung und der
Hausdurchsuchung hält und die zukünftige sozialistische Polizei
erahnen lässt.
Um zum Ausgangspunkt zurückzukommen: Die amerikanische
Linke kann durch den Film Milestones sprechen und ihre Geschichte
erzählen, weil er in einer Kultur angesiedelt ist, in der es ganz natür­
lich ist, sich in einer Reiseerzählung darzustellen. Das heißt auch,
dass er nicht die Frage nach diesem „Darstellen“ stellt und das ist
dann doch auch ein wenig ärgerlich (täuschend), wenn man Figuren
sieht, die als wirklich und sich gegenseitig für die Kamera befragend
ausgegeben werden und zugleich in einer Fiktion der Hoffnung
organisiert sind. Umgekehrt verweigert Godard der Linken jede
Möglichkeit, eine Geschichte zu erzählen. Er nimmt radikal alle
Lügen der linken Figuration auseinander. Das heißt auch, dass er
jedes Nachdenken über die Geschichte des politischen Aktivismus
unmöglich macht, indem er von vornherein den aktivistischen
Diskurs auf seine Lüge verweist, auf seine Komplizenschaft mit all
den Fiktionsmodi der Macht und des Kapitals. Das ist eine ein­
schneidende Pädagogik, aber sie ist in einer bestimmten Hinsicht
verdächtig. Sie scheint als Propädeutik aufzutreten und Fragen zu
stellen wie „Wie wirkt ein Ton, ein Bild und so weiter?“, um uns
sehen und sodann kämpfen zu lehren. Doch sie hat in Wirklich­
keit viel eher die Wirkung eines Endspiels, der Eule der Minerva,
die sich zum Flug erhebt, wenn das Abenteuer beendet ist. Man
nehme zum Beispiel die Rede des alten Aktivisten, die eine außer­
gewöhnliche Zusammenfassung all der Abenteuererzählungen der
Kommunisten der Komintern (insbesondere Valtins4) ist, die mit
einer Stimme gesprochen wird, die auch die Stimmen aller alten
kommunistischen Proletarier zusammenfasst, die wir je gehört
haben, die aber auch eine reine Todesrede ist: Es ist möglich ein
aktivistisches Ideal darstellen, eine Verkettung von Klängen, die
einen Code und ein Gedächtnis des Aktivismus bilden, weil es eine
„Sache der Vergangenheit“ ist.
Riskiert die Pädagogik von Godard, indem sie jedes „Recht auf
Geschichten“ verweigert, nicht in gewisser Weise eine pazifistische
Antwort auf die Gewalt der Bilder der Bourgeoisie zu geben? Aber
ist dieser zu perfekte Diskurs nicht auch selbst ein wenig gefälscht,
ein wenig gewalttätig, übertrieben in seinen Prinzipien (in seiner
Verzweiflung)?

Was verstehst du genau unter einem „Diskurs einer Gesellschaft über


sich selbst“? Und wie unterwirft dieser Diskurs über sich selbst die
Kinopraxis und zu welchen Zwecken?
Anstatt von einem „Diskurs über sich selbst“ sollte man besser von
dominanter Fiktion sprechen: Ich meine damit ganz einfach die
bevorzugte Art der Darstellung, durch die den Mitgliedern einer
sozialen Gruppierung das Bild eines Gesellschaftskonsens angeboten
wird, mit dem sie sich identifizieren sollen. Die dominante Fiktion
fungiert als Arsenal von Bildern und als Operator von Geschichten
für die unterschiedlichen Arten der bildlichen Darstellung (in Bil­
dern, in Romanen, im Kino und so weiter). Der Gedächtnisverlust,
von dem ich gesprochen habe, scheint mir auf die Besonderheiten
unserer dominanten Fiktion zu verweisen. Die dominante ame­
rikanische Fiktion, die Fiktion von der „Geburt einer Nation“,
kann die Codes als das Ergebnis einer Geschichte darstellen und
die Widersprüche dieser Geschichte in unterschiedlichen Gestalten
nachspielen (Weiße/Indianer, Norden/Süden, Gesetz/Gesetzlose
und so weiter). Doch die Besonderheiten unserer Geschichte hier
haben eine solche Fiktion als Darstellung der gesellschaftlichen Ein­
tracht unmöglich gemacht. Denn es ist unmöglich, die Blicke in der
Fiktion eines „von da kommen wir her“ zu bündeln, ohne auf den
Juni 1848 oder auf die Pariser Kommune zu stoßen, auf Bilder des
Klassenkampfes, die schwerlich als Faktor eines konfliktgeladenen
Gleichgewichts darzustellen sind gerade aufgrund des Verlaufs dieses
Kampfes, seiner relativen Stabilisierung seit der 3. Republik und
abhängig von einer sehr ungleichmäßigen Entwicklung.
Wenn die Bourgeoisie den Arbeiterwiderstand gänzlich gebrochen
oder gezähmt hätte, dann könnte sie vielleicht positive Bilder von
Versailles5 anbieten und die Kommunarden mit derselben Leich­
tigkeit in die Luft sprengen, wie es die bedeutendsten Hersteller
von Western mit den Indianern machen. Die Art des ideologischen
Kompromisses (die Schule für alle) und danach des politischen
Kompromisses (die unterschiedlichen Formen des Heiligen Bundes6
und der Vertragspolitik), den sie seit dem Ende des letzten Jahr­
hunderts mit der Arbeiterklasse zu schließen versucht hat, hindert
sie daran, solche Bilder zu produzieren oder auch nur positive ge­
schichtliche Bilder der Versöhnung anzubieten. Die Macht möchte
bei uns kaum in der Form des Gesetzes geliebt werden, in der Fiktion
vom Typus „da kommen wir her“, sondern versucht eher, diskret
in einer Fiktion vom Typus „so sind wir“ akzeptiert/vergessen zu
werden, in einer Überblicksdarstellung des sozialen Unterschieds,
wo der Polizist zum Beispiel weniger der Repräsentant des Gesetzes
als vielmehr ein Voyeur ist, der die Liste der Gesellschaftstypen
durchgeht und zugleich ein Element der Typologie ist.
In dieser Fiktion, die unser Kino nicht erfunden hat, aber die es
mit dem Prestige seines spezifischen Wirklichkeitseffekts verstärkt
hat, wird der Klassenkampf weder dargestellt noch unterdrückt,
sondern in einer Systematik angeordnet. Mir scheint, dass Marx in
seinem erbitterten Kampf gegen Die Geheimnisse von Paris7 ziem­
lich genial die Herausbildung dieser Fiktionsart vorausgeahnt hat.
Denn dort wird nicht nur der erste große demokratische Modus der
figurativen Darstellung etabliert, der ein Bild von der Gesellschaft
liefern soll, das unmittelbar für alle Klassen lesbar ist (und speziell
für die Arbeiter, die beginnen, in den Genuss von Guizots Gesetz
über die Grundschulausbildung zu kommen). Er ist auch eine
Fiktionsstruktur, deren Erbe das Kino antreten wird, indem es vom
Feuilleton-Roman die Funktion der dominanten Figuration über­
nimmt. Das nenne ich die voyeuristisch-unanimistische8 Fiktion,
die das Schauspiel der gesellschaftlichen Verschiedenartigkeit und
besonders dasjenige der Armenviertel sowohl vor dem doppelten
Blick eines Voyeurs ausbreitet, der sich ebenso oben wie unten be­
findet, als auch eines Reformers, der die Wunden der Gesellschaft
kennt und Heilmittel gegen sie findet.
Marx erfasst jenen Moment, als jener voyeuristische/unanimis-
tische Blick, der seinen Ursprung bei der Rechten hat - und zwar
im neugierigen Blick des jungen Literatur-Löwen, des Liebhabers
der „Physiologien“ und des Philanthropen, der die Wunden der
Gesellschaft heilen will - , sich in eine politische Doxa der Linken
verwandelt, indem er zur Schrift der Liebe wird: im politisch-
fiktionalen Unanimismus, der sich durch die „Bergpartei“ der
2. Republik, die große Legende der Verbannten des 2. Dezembers
und die in den 1880ern gespielte große nationale Versöhnung
herausbildet. Er lastet noch heute auf uns, sowohl in Mitterands
Deklarationen der universellen Liebe während des Wahlkampfes
als auch in der unendlichen Zärtlichkeit, mit welcher der über­
haupt nicht wahltaktisch denkende Truffaut die unglückliche
Kindheit in Thiers9 oder anderswo filmt. Was auch immer Truffaut
macht, Mitterand ist der Arzt, der die Wunden behandelt, die er
aufzeigt.
Dieser Fiktionsmodus konnte dominant und auch als linke Kul­
tur dominant werden wegen der Niederschlagungen (Juni 1848,
Kommune) oder wegen des Niederwalzens (1914—18) der Arbei­
terlinken, aber auch aufgrund der relativen Schwäche der Fiktionen
der bürgerlichen Macht bei uns. Einerseits ist der Film wegen seiner
Kosten völlig vom Kapital abhängig, andererseits hat die Macht das
Fernsehmonopol errichtet. Doch sie benützt dieses Monopol kaum
(so sind die Bilder der Macht im Fernsehen meist unbedeutend und
bloßer Vorwand für die Stimme). Die Rechte, die die politische
Macht innehat, konnte keine positive Politik der Bilder bestimmen
und ihr Misstrauen gegenüber dem Wirklichkeitseffekt des Kinos
nicht überwinden. Sie hat die Kontrolle der einzigen darstellbaren
nationalen Fiktion - der unanimistischen Fiktion - nach und nach
der Linken überlassen.
Bilder live aufzunehmen, Bilder zu schneiden, ein Fresko des
Volkes daraus zu machen - diese Funktionen sind auf dominante
Weise zu „linken“ Funktionen geworden. Es gibt eine Begeisterung
für die Wirklichkeit, für die Reise durch die Gesellschaftsschichten,
für die Typen, die ein wenig neben sich stehen, fur die Clochards, die
Freudenmädchen oder die melancholischen kleinen Angestellten,
die „Zünftige Bande“10 oder die Bohème der Zwischenkriegszeit,
für die vulgären Arbeiter, die Halbstarken oder Außenseiter von
heute, diese ganze kleine Welt, die unsere nationale Brüderlichkeit
bildlich darstellt. Die Linke hat dieses Kapital verwaltet, indem sie
ihre kulturelle Hegemonie innerhalb der politischen Hegemonie
der Bourgeoisie und als Teil dieser Hegemonie errichtet hat. Im
Klassen-Gleichgewicht/Kampf ist die Kraft, die den Klassenkampf
auf Arbeiterseite führt, tendenziell auch die Kraft, die die nationale
Fiktion verwaltet.
Das Kino hat in diesem geschichtlichen kulturellen Kompromiss
eine vorrangige Rolle erlangt und ist zugleich die dominante Figu­
ration unserer Zeit geworden, weil offensichtlich der Voyeurismus
seines Prinzips und der Unanimismus seiner Wirkungen seiner Exis­
tenz so natürlich, so innerlich sind, dass niemand mehr verpflichtet
ist, das zu bemerken (zumindest bis Godard ins Fettnäpfchen tritt).
Die Kamera kommt zur rechten Zeit, um die Schrift der Liebe von
ihren Redundanzen zu befreien, und zwar aus einem einfachen
Grund: Die Kamera ist selbst Liebe, ja die Zärtlichkeit, die unser
Kino ausschwitzt.
Das Kino ist die Kunstform, der immer ein zusätzliches Quäntchen
Wirklichkeit oder Traum zur Verfiigung steht. Meist kommt dieser
Zusatz einfach durch den Ton zum Bild hinzu. Der Tonfilm war
nötig, damit ein unanimistisches Kino als Hauptbaustein der neuen
linken Kultur (die selbst durch die zunehmende Hinwendung der
Kommunistischen Partei zum Nationalen ermöglicht wurde, die nach
1930 stattfand) entstehen konnte. Oder aber es ist ein Zusatz von
Bild zu Bild, wie in Der Richter und der Mörder (Le juge et Vassassin)
von BertrandTavernier, wo die Üppigkeit der Landschaft die links­
radikale Fiktion (das Umherirren des Außenseiters im neuen Ikarien
der Ardeche11) mit der revisionistischen Hagiografie vereint (der
Niedergang der alten leitenden Klassen, der veraltete Widerspruch
zwischen unmenschlicher Bürokratie und verrücktem Anarchismus,
der stolze Gesang der Frau aus dem Volk, welcher den ruhigen und
verantwortungsbewussten Streik mit der Legende der Kommune
verbindet). Die Kraft Godards und seine Wichtigkeit in jener Zeit,
da der Unanimismus auf dem Kadaver des Mai ’68 zu neuen Ehren
gelangt, liegen in seiner Kritik jenes Zusatzeffekts.

Gibt es diesbezüglich nicht eine große Verantwortung von Seiten der


politischen und gewerkschaftlichen Apparate, der Apparate der Spei-
cherungy der Archivierung, aber auch des Vergessens, der Verdrängung
(in Frankreich die Kommunistische Partei)fü r diese Hagiografisierung,
diesen Verlust der Legende? Du hast vorher gerade in einem Satz un­
gefähr das gesagt, was wir in einem Artikel in den Cahiers über den
Film Sondertribunal zu sagen versucht haben: Er ist die Geschichte
des großen Apparats, der verfilzten Ministerien und des Subjekts, das
eingesperrt wird, unterworfen wird. Warum wird das ganze linke Kino
von dieser Art der Darstellung der Macht strukturiert? Um welche
Tradition handelt es sich da?

Mir scheint, dass auch hier Marx ins Schwarze getroffen hat, als er
Histoire dun crime von Hugo kritisierte: Für den Repräsentanten
der Bergpartei, dieser neuen Linken, die die Macht im Namen des
Volkes beansprucht, auf das sie 1848 geschossen hatte, und die die
Erinnerung an die Arbeiter (die Kämpfer vom Juni 1848) unter
den Gedenkfeiern für die Märtyrer der Republik ersticken wird,
muss der bonapartistische Staatsstreich notwendigerweise als eine
Verschwörung erscheinen, als etwas, das der Gesellschaft von oben
oder von außen zustößt.
Das heißt auch, dass die Verantwortung der Linken uns viel weiter
zurück als auf die Geburt oder den Niedergang der Französischen
Kommunistischen Partei verweist und dass es sich um etwas ganz
anderes handelt als um eine Lücke oder auch nur um das unver­
meidliche Gewicht des Apparats, das angeblich auf der Spontaneität
des Volksarchivs lastet. Die große linke politische Tradition, die
man bequemerweise auf 1793 und den Jakobinismus zurückführt,
entsteht in Wirklichkeit in dieser Bergpartei der 2. Republik, die
zweimal die Kämpfer des Juni 1848 getötet hat: zuerst durch die
Waffen und dann, indem sie ihnen den Platz der Opfer gestohlen
hat. Bei einem der ersten Male, als die Verbannten des 2. Dezember
1852 ihre Legitimität behaupteten, indem sie dem Begräbnis eines
im Exil gestorbenen Arbeiters gedachten, tauchte ein Provokateur
auf, der Arbeiterdichter Joseph Dejacque, und erinnerte sie daran,
dass sie im Juni auf den geschossen hatten, den sie an jenem Tag
ins Grab legten. Die Provokateure dieser Art sind in Elend oder
Wahnsinn gestorben, die große linke Tradition hat die Sache mit
ihren Gedenkfeiern regeln können.
Die Blässe der Bilder, die die Linke zu produzieren in der Lage
ist, hat also zwei Gründe. Einerseits überlässt die Rechte ihr frei­
willig die Gedenkfeiern (siehe den 8. Mai), überlässt ihr die Bilder
der revolutionären Nationalgeschichte, aber sie werden durch den
Charakter des Bereits-Gesehenen (von den Soldaten des Jahres II12
bis zu den Aufmärschen der Volksfront), der vergilbten Fotografien,
der von vornherein der Stereotypie verdächtigten Bilder in Mit­
leidenschaft gezogen. Die Linke kann sie nur produzieren, wenn
sie sie durch den Kommentar zu retten versucht. Andererseits hat
die Geschichte der Linken (außer in den kurzen Augenblicken, als
eine politische Arbeiterlinke sich zu bilden versucht hat, die im
Gegensatz zur Tradition der Bergpartei steht) eine ganz bestimmte
Funktion: Sie muss den Herrschaftsanspruch der Linken durch eine
Geschichte der Leistungen und Leiden des Volkes rechtfertigen,
deren Erbin oder Heilerin die Linke sei. Um die Beteiligung der
Linken an der gewaltsamen Unterdrückung auf der Straße oder
an der sanften Unterdrückung der Kulturformen des Volkes oder
seines Gedächtnisses zu maskieren, kann sie den Widerspruch kaum
anders darstellen denn als Gegensatz zwischen dem Leben und dem
verschwörerischen Todestrieb. In dieser Fiktion/Gedenkfeier werden
der Körper und die Stimme von unten niemals etwas anderes als die
plebejische Lebenslust, das Leiden in Zeiten schlechter Regierung
und die Forderung nach einer guten Regierung darstellen können.
Im Gegensatz zur Legende der Revolte (das Element einer auto­
nomen Kultur, der auf seine Stimme bezogene Gesang, der Traum
oder das Gedächtnis, der/das in eine Praxis umgesetzt wird) schreibt
die Hagiografie des Volkes den Herrschaftsanspruch seiner Reprä­
sentanten in die Gesten, die Stimmen und die Blicke des Volkes ein.
Man kann am Ende des Films von Tavernier eine bemerkenswerte
Verdichtung dieser hagiografischen Zeichen sehen: das Transparent
der bestreikten Fabrik, die die verantwortungsbewusste Arbeiterbe­
wegung heraufbeschwört, das erhobene Haupt und die stolze Brust
der Frau aus dem Volk, die gegenüber den Uniformen der Macht
die Partei ihrer Brüder ergriffen hat, die Stimme, die die Kommune
und den Flieder besingt, die linke Rhetorik der Auflistung, die die
Zahl der Opfer des Verrückten mit der Zahl der Opfer des Kapitals
vergleicht. Nicht ein einziges Zeichen, das nicht dem linken oder
linksradikalen Zuschauer mit dem Vergnügen schmeichelt, sich auf
der richtigen Seite zu wissen.
Deswegen die Fragen, die ich mir über den Gebrauch des Begriffs
des Volksgedächtnisses stelle. Die Cahiers haben es in der Kritik des
Nostalgie-Kinos als Gedächtnis des Widerstandes gegen das Paar
Nostalgie/Unterwerfung ins Treffen geführt. Es hat auch ein wenig
als Rückgriff auf das eigene Erleben der Revolte gegen die Stereotype
des Aktivismus gedient. Doch wenn man über die Widersprüche
dieses Begriffes nicht nachdenkt, kann man leicht den revisionis­
tischen Baum im Wald der Nostalgie (mit Leichtigkeit als Zeichen
des Niedergangs der alten leitenden Kräfte und des Wahnsinns der
schlechten Regierung vereinnahmt) aus dem Blick verlieren. Riskiert
man damit nicht, in die unanimistische Glückseligkeit zurückzu­
fallen und den Gedenkfeiern der parlamentarischen Linken Geist
einzuhauchen? Mich hat erstaunt, wie in den Briefen, die Moati
bezüglich der Fernsehserie Le Pain noir erhalten hat, dieses „Volks­
gedächtnis“, das keine Rechtfertigungsabsicht enthielt, spontan
von Leuten wie den Vertretern der Gewerkschaft: C G T 13anerkannt
wurde, die darin nicht ihre Erinnerung, sondern die abstrakte
Geschichte ihrer Klasse wiedererkannten. Ich habe den Film von
Bertolucci14nicht gesehen, aber ich war ein wenig erschrocken über
die Liebeserklärungen an die große Kommunistische Partei, die in
seinen Äußerungen mit der Verherrlichung des Volksgedächtnisses
mitschwingen.
Das Volksgedächtnis vereint die linksradikale Forderung nach
einem Ersatz des Codes mit der Forderung der Linken nach einem
Zusatz zum Code. Man muss wissen, was das heißen soll: „das
Gedächtnis wiederfinden“ . Einerseits wird das Gedächtnis des
Kampfes in der Zeit des Kampfes gewonnen oder verloren und das
ist Angelegenheit aktueller Politik. Doch wenn die Kultur von unten
nicht nur Opfer einer bloßen Verschüttung, sondern des zweifachen
Vorgangs der Zerstörung und der Umschreibung war, dann ist es
unnötig, das Volksgedächtnis wiederfinden zu wollen, denn man ris­
kiert damit, nur die letzte Umschreibung zu veranschaulichen. Man
hat immer nur Bruchstücke der Geschichte von unten oder ihrer
Legende, mit denen man dann etwas Neues herstellen muss. Das
Problem ist nicht die Zurückerstattung, sondern die Herstellung.
Denn das Problem ist nicht die Vereinigung, sondern die Spaltung.
Uns von Révoltes logiques15 interessiert an der Vergangenheit nur ihre
Spaltkraft.
Einerseits scheint es uns nötig, Elemente eines wirklichen Wissens
über all diese Fragen beizusteuern, bei denen das arrogante Ge­
schwätz der Unkultur unserer politischen Doxa vorherrscht. Zum
Beispiel: Was ist eine Arbeitermacht? Wie erhält sie die Fähigkeit zu
unterdrücken? Wie können die Arbeiter Gefallen finden an einem
(kommunistischen oder anderen) politischen Code, wie wirkt die
Unterwerfung unten und so weiter? Aber es geht nicht nur darum,
den Politikern und Theoretikern Material zu geben, sondern da­
rum, eine Spaltung ihres Diskurses zu vollziehen. Wir wollen nicht
die unteren Stimmen wiedergeben, sondern ihre Spaltung hörbar
machen, ihre Rhetorik in ihrer aktuellen Provokation in Szene
setzen. Denn das Problem, das sich heute stellt, ist die Produktion
von Elementen einer neuen Kultur, und das Bild muss darin eine
entscheidende Rolle spielen.
Für die Sendungen über Sartre16 - die wir nicht beherrschten -
hätten wir sicher diese Praxis gehabt: die gegenseitige Provokation
der Vergangenheit und der Gegenwart zur Wirkung bringen.
Doch die Form vom Typus Diskurs/Veranschaulichung hätte es
wahrscheinlich nicht ermöglicht, sehr weit zu gehen. Man musste
aus dieser zweifachen Falle der Bezeugung und des Kommentars
herauskommen, und das ist eine Frage, die dazu zwingt, das Problem
der Fiktion neu zu formulieren.
Wie soll man das spalten, dessen spontane Funktion das Zusam­
menfügen ist, nämlich das Gedächtnis, das Kino? Wie soll man
die Spaltung darstellen? Diese Fragen sind dringlich angesichts
der schwindelerregenden Beschleunigung der Herausbildung einer
offiziellen „linken“ Kultur, angesichts dessen, was sich in der Logik
des Zusatzes dranhängt. Das jüngere italienische Kino ist uns ein
reichlich warnendes Beispiel durch die plötzliche Übereinstimmung
aller Fiktionen mit dem Machtanspruch der PCI: von den Bildern
des Niedergangs und der Anarchie der Macht (Die 120 Tage von
Sodom [Said] von Pasolini) zur Nutzlosigkeit des kleinbürgerli­
chen Linksradikalismus (Allonsanfan der Brüder Taviani), vom
wiedergefundenen Gedächtnis des Volkes (1900 von Bertolucci)
zur Rechtfertigung der gesunden Volkspolizei (Die Macht hat ihren
Preis). Der Film von Rosi ist faszinierend, weil er nicht eine Fiktion
des historischen Kompromisses ist, sondern dieser Kompromiss
im fiktionalen Zustand. Die marxistische politische Doxa, die den
Filmen von Rosi früher Form gab (die Untersuchung, die von den
Tatsachen zu den sozialen Herrschaftsverhältnissen zurückführte),
reduziert sich nun auf die Magerkeit einer ganz literarischen und
apolitischen Fiktion der Macht. Doch die Fiktion vom Typus
Verschwörung/Untersuchung liefert ihrerseits ihre spontane Po­
litik: die unmittelbare positive politische Besetzung des guten
Untersuchungsbeamten, der Ruf des verrotteten Apparats nach
dem gesunden Staat, der mit einer Volkspolizei ausgestattet ist,
und der manipulierten Massen nach den eut geführten Massen.
Die Produktion der Fiknon isi vxmxzn&Ær politische Doxa. Man
findet die Geschichte eines Verbrechens «¿'histoire dun crime) als
reine Fiktion des Machtanspruchs wieder.
Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass dieses gemeinsame
Fiktionsprogramm, diese offizielle Kultur der Linken bis 1978 in
unseren Kulturraum eindringt. Mitterand kürt in Le Monde bereits
die offiziellen Schriftsteller seiner künftigen Herrschaft. Wir können
erahnen, welche Auflösung es auf Seiten der Linksradikalen geben
wird, wenn man sich die Begeisterung ansieht, mit der Libération
jeden Ausdruck des neuen kulturellen Links-Unanimismus feiert,
ihre Liebe zu den neuen Helden des Sozial-Faschismus, zum Ar­
beiter Potapov {Die Prämie \Premiya] von Mikaeljan) oder zum
Polizeikommissar Rogas {Die Macht hat ihren Preis).

Wie kommt es nun aber; dass sich die Macht (in Europa) so leicht
dem Medium Kino unterwirft? Geschichtlich gesehen weiß many dass
sich zuerst die Armee seiner bedient hat. Vor dem Weltkrieg dienten
die Nachrichtenfilme dazuy den nationalen Glanz im Ausland (in
den Kolonien) zu beweisen. Im Gegensatz zu anderen Künsten lässt
sich das Kino sehr leicht von der Macht einspannen. Heute sieht man
zum Beispiel, dass das Fernsehen alle französischen Zuschauer dazu
aufrufty ihre Familienfilmaufnahmen und ihre Amateurproduktionen
einzusendeny damit sie geschnitteny ausgestrahlt und codiert werden
könneny während eben diese Bilder außerhalb des Codes aufgenommen
worden waren. Es sieht so ausyals ob die Macht neben dem Monopol der
offiziellen Archive auch noch das der Amateuraufnahmen haben wolle.

Ich glaube nicht, dass das Kino von der Macht „im Gegensatz
zu anderen Künsten“ eingespannt wird. Es wird anders von ihr
eingespannt. Godard ist nicht eine offizielle Institution der Repu­
blik geworden wie Boulez oder Vasarely. Dort, wo die Kunst jede
Funktion der gesellschaftlichen Darstellung verloren hat, kann die
Macht sie als Element des kulturellen Glanzes offiziell machen, ohne
im Übrigen von den Künstlern irgendwelche Zugeständnisse zu
verlangen. Die Beschlagnahme des Kinos hat offensichtlich einen
ganz anderen Sinn, da es die darstellende Kunst schlechthin ist, da
jeder mehr oder weniger ein Konsument und Produzent ist. Das
Kino ist der kürzeste Weg vom Archiv der Macht zu den Formen,
in denen sich jedes Individuum wiedererkennt. Es ist normal, dass
die Macht etwas von diesem voyeuristischen Delirium abbekom­
men möchte, das unsere gegenwärtige Kultur kennzeichnet (die
Leidenschaft für die Live-Ubertragung, für die Dokumentation,
fürs Ethnologische und so weiter). Es gibt gegenwärtig keine Ecke
unseres Sozialraums, in dem sich nicht ein Blick, eine Kamera, ein
Tonbandrekorder auf die Suche nach einem Mehrwert macht, der
aus dem Wirklichkeitseffekt zu ziehen wäre. Die Macht will ihren
Anteil daran. Denn sie hat auch einen schrecklichen Nachholbe­
darf. Unsere Macht stellt wenige Bilder her und setzt wenig auf die
Bilder. Selbst innerhalb des staatlichen Monopols der Bilder (des
Fernsehens) spielt die Teilung mit: Im Allgemeinen ist es die Linke,
die Fiktionen macht, vor allem über die Geschichte.
Die politischen Machthaber versuchen kaum, ihr Bild von den
Massen und ihren Kämpfen zu zeigen. Sie arbeiten eher daran, die
Bilder bedeutungslos zu machen. Die Bilder vom Machtdiskurs im
Fernsehen scheinen über die unterschiedlichen Gattungen hinweg
alle einem Gesetz zu gehorchen, nämlich viel eher der Beseitigung als
der Produktion von Sinn. Zuerst sind da die Bilder der Macht, die
sie nur auf ihr Spiegelbild verweisen (die Besuche von Staatschefs);
es gibt die Sendungen von Michel Droit, in denen sich alles in der
Stimme abspielt, die meistens unbedeutende Bilder kommentiert.
Diese Stimme hat ihre reaktionäre politische Wirkung nicht so sehr
durch ihr Denken als durch ihr Nicht-Denken. (Foucault lehnte
sich einst gegen die spontane These der Linken auf, dass die Macht
dumm sei. Dennoch glaube ich, dass der Verdummungseffekt unseres
Fernsehens nicht von der Intelligenz, sondern von der Dummheit
seiner leitenden Bauherren stammt.) Es gibt Sendungen vom Typus
Dossiers de l ’ecran, bei denen die oft nichtigen Bilder, die man alle
bereits gesehen glaubt und außerdem bloßer Vorwand sind, zu
einem Schauspiel von misstönenden Stimmen einleiten, die das
konfliktgeladene Gleichgewicht unserer Gesellschaft darstellen und
von denen man alles, was sie zu sagen haben, bereits gehört hat.
Man fügt also zum Bereits-Gesehenen das Bereits-Gesagte hinzu.
Entweder dient das Bild nur dazu, die Stimme in die Nähe der
Macht zu rücken, oder es stellt durch seine Bedeutungslosigkeit die
Macht der kommentierenden Stimme sicher, oder aber es verweist
die misstönenden Stimmen auf die Eitelkeit ihres Bereits-Gesagten
und auf das Schauspiel ihrer Komplizenschaft.
Aus eigenem Antrieb lässt unsere Macht das Bild nur als Träger und
Vorwandfü r die Stimme zu. Sie annulliert es oder sie lässt es die
anderen Stimmen annullieren. Sie gibt lieber die Bilder in Auftrag
(die Bilder der linken Fiktion oder die Bilder der Privatpersonen).
Diese Nachfrage ist in gewisser Weise ein Zeichen der Schwäche
oder vielmehr wäre sie es, wenn man ihr nicht entsprechen würde.
Das ist aber nicht wirklich der Fall. Das ist Teil eines größeren
Problems. Wir haben eine Macht, die eher besetzt als produziert
(im Fernsehen oder anderswo). Sie ist immer auf der Suche nach
Zusätzen, Bildern, Fantasien, die ihr die Linke und die Linksradi­
kalen zugleich liefern. Das wirft ein Problem auf: Wenn man keine
Partei ist und wenn man weder dem Giscardismus noch der Linken
helfen will, wie soll man dann seine Erfahrungen, seine Bilder, seine
Fantasie behalten und verwenden?

Es stimmt, dass das französische Kino völlig ungenealogisch ist. Aber


wenn das Kino direkt der Politik dient, sei es nun das engagierte Kino
bei uns oder das offizielle Kino der sozialistischen Länder; hat es im-
mer zugleich die Funktion der Gedenkfeier, als ob es das, was bereits
erreicht und beurteilt ist, neu in Szene setzen und in gewisser Weise
wieder behaupten müsste (das galt ebensofü r das sowjetische Kino, wie
esfü r das chinesische Kino heute gilt). Das wirft zwei Fragen a u f Ist
das unvermeidlich, wenn man politisches Kino macht (engagiertes oder
propagandistisches, offizielles oder inoffizielles)? Und andererseits: Liegt
das nicht auch an der Besonderheit des Kinos als Medium?
Übrigens, du hast Darboy gesehen, was hältst du davon? Kann das
engagierte Kino deiner Meinung nach eine positive Rolle in der Er­
richtung eines Gedächtnisses spielen, in einer Re-Genealogisierung (!)
des Kinos?

Ich glaube nicht, dass das Kino mehr als die anderen Figurations­
modi diesen Aspekt der Bestätigung des Bereits-Beurteilten besitzt.
Die Täuschungen des „Realen“ sind in gewisser Weise für seine
diffuse politische Funktion konstitutiver als die Tatsache, dass ihm
die Wiederholung eigentümlich ist. Wenn man all diese „linken“
Filme beiseitelässt, die nur durch die Spontaneität der Fiktion
politisch sind (das politische/kommerzielle Kino, für welches die
italienische Linke das beste Beispiel geliefert hat), dann kann man
sagen, dass es zwei große Arten des politischen Kinos gibt: das eine,
das im Dienste einer politischen Macht kämpft, um ihre Parolen
zu veranschaulichen, ihre Legende zu etablieren und allgemeiner
ihre Hegemonie sicherzustellen. Das ist der Fall des sowjetischen
Kinos, das natürlich auch die Kinopraxis aktivistischer Gruppen
inspirieren kann, die nicht die Macht innehaben, aber die sich
bereits als zukünftigen Staatsapparat sehen.
Und dann gibt es das engagierte Kino vom Typus Un simple
exemple, das versucht, durch seine eigene Wirkung Politik zu ma­
chen, durch seine Teilnahme an einer Dynamik der Sammlung,
der Darstellung und des Austausches von Erfahrungen. Sein Titel
erklärt gut das Problem, das es formuliert: Was heißt Beispiel?
Eine erste Bedeutung ist die Veranschaulichung einer Theorie. So
rahmt man den Film etwa mit zwei Stücken eines Zitates aus dem
Kommunistischen Manifest über die „Revolte“ der Produktivkräfte
gegen die Produktionsverhältnisse und über den unvermeidlichen
Untergang des Kapitalismus ein. In den Begriffen Godards gesagt:
das Anderswo eines geheimnisvollen Zitats, das es doch wohl nötig
hat, dass man ihm ein wenig Körper verleiht, und das Hier17 eines
der unzähligen Kämpfe der industriellen Umstrukturierung, der
doch wohl des Beweises bedarf, dass er nicht eine dieser klassischen
letzten Zuckungen ist, die den definitiven Unternehmensauflösun­
gen vorausgehen, dass er eine kleine Schraube18im großen Getriebe
der Revolution ist. Ist dieses Zitat nicht ein einfaches Mittel, das
Plus-Zeichen zu liefern: Marx’sche Theorie + Arbeiterkämpfe =
kommende Revolution?

Für sie war es eine ziemlich einfache Angelegenheit. A ufder Ebene der
Produktionsverbindung vom einen zum anderen war das nicht sehr
durchdacht. Sie mussten vor allem deutlich machen, dass das in einer
Krisenzeit passierte, dass es ein Krisenmoment war. Und das einzige
Mittel, das man gefunden hat, war dieser Satz mit den Bildern, die in
Wirklichkeit Bilder von ’68 sind. Das war nicht sonderlich ehrgeizig;
man hat es nicht als Projekt gedacht; und vielleicht wirft das rückwir­
kend Fragen auf.

Ja, aber man wird dann auf die zweite Bedeutung des Wortes „Bei­
spiel“ verwiesen und auf die politische Funktion, die es trägt: die
Bedeutung „es ist möglich“. Die Frage des Films ist auf dieser Ebene
die Frage nach seiner spontanen Politik, die auch die unsere ist, die
Frage nach der Politik des Linksradikalismus nach dem Mai ’68, der
beispielhafte Kämpfe und einzigartige Momente erlebte, wo Arbeiter
Neues erfunden und Macht übernommen haben. Diese Momente,
diese Erfindungen und Beispiele erschafft man neu, erweitert sie
und zeigt sie denen, die in der Lage sind, es ebenso zu machen. Man
fasst die Kämpfe in Bilder, um andere Kämpfe hervorzurufen. Aber
klammert man damit nicht das Problem des qualitativen Sprungs
aus, verdeckt man es nicht durch das Beispiel? Und dann zwingt
die Notwendigkeit des Beispiels dazu, die wichtigen Aspekte der
Errichtung einer Kampfes-Macht zu überdecken. Die Hauptfigur
des Films kommt nicht aus der Arbeitswelt, sondern von Vincen-
nes, von der studentischen Protestbewegung, von Mai ’68. Dann
handelt es sich nicht mehr nur um die Errichtung einer beispielhaf­
ten Kampfes-Macht, sondern um den Weg, den die linksradikale
Anhängerschaft geht, um die Errichtung eines bestimmten Lagers.
Und dieser Aspekt wird unterschlagen. Was Bedeutsamkeit erlangt,
ist die Ungezwungenheit und die Fröhlichkeit der Figur, die ihr die
Gewichtigkeit der Gewerkschaftszugehörigkeit, der Klassenverwur­
zelung verleihen.
Der Film offenbart ziemlich gut ein anderes beunruhigendes
Element unserer politischen Doxa: das Verhältnis zu den politisch­
gewerkschaftlichen Apparaten. Einerseits fordert die darzustellende
Einmütigkeit (unanimité), dass man bestimmte Widersprüche
beseitigt, namentlich gewisse Spannungen mit der CG T gerade
innerhalb der Fabrik. Andererseits basiert der Film auf dem spon­
tanen linksradikalen Gegensatz zwischen der Illusion der Linken
über die Wahlen und den wahren Kämpfen der Arbeiter an der Basis,
ohne sich zu fragen (aber auch hier ist nicht der Film verantwort­
lich, sondern unsere ganze Doxa), ob diese „Wahrheit“ ùnd jene
„Illusion“ nicht zusammengehören und einander bedingen. Daher
diese ein wenig sonderbare Szene, in der man sich über die Leute
lustig macht, die Wahlplakate aufkleben. Man hat den Eindruck,
dass sie ein wenig als Ausgleich da ist, weil die Autoren des Films
etwas verlegen über die Tatsache sind, dass sie der lokalen Verei­
nigung der CG T zu Dank verpflichtet sind. Doch daneben bleibt
das eigentliche Problem bestehen. Was ist dieser „wahre“ Kampf?
Ist das ein gewerkschaftlicher Kampf mit einem Quäntchen Seele?
Ist er etwas anderes? Wird sich durch die Verbreitung seiner Bilder
ein Lager bilden oder seine Illusion?
Das andere Problem ist für mich das der Kamera. In einem ge­
wöhnlichen Kampf gibt es für gewöhnlich keine Kamera, die jede
Geste, jede Versammlung filmt. Die allzu natürliche Anwesenheit
des „Arbeiter“-Charakters der Hauptfigur verdeckt ein wenig das
Anderswo, das in diesem Arbeiterkampf gegenwärtig ist. Die Bei-
spielhaftigkeit eines Arbeiterkampfes wird nicht von einem Blick
gefilmt, sondern die Bilder sind von einem bestimmten Ort aus
aufgenommen, der auch der Ort ist, von dem der Hauptakteur
des Kampfes kommt. Ich bin einverstanden damit, dass die en­
gagierte Kamera sich nicht mit den Problemen der Metasprache
herumzuschlagen braucht und kein schlechtes Gewissen haben
soll wegen ihrer Stellung, ihrem Recht darauf, da zu sein und so
weiter. Dennoch zwingt die Beispielhaftigkeit dazu, Probleme zu
verdecken, die Teil der Beschaffenheit dieses Lagers sind, das das
engagierte Kino zu bilden helfen soll.

Es kommt uns so vor; als ob das engagierte Kino aktuell dadurch


legitimiert wird, dass es Filme in streikenden Unternehmen zeigt, an
Orten, wo es kein Kino gibt, wo es ein Monopol der Darstellung des
Kampfes gibt (wie 1968 die CG T bei Renault Ich und die Kuh [La
Vache et le prisonnier] zeigte). Aber man weiß nicht recht, welche
Art von Nachfrage nach der Arbeiterrepräsentation es bei einem großen
Publikum, einem Kinopublikum, Fernsehpublikum, auch bei einem
linksradikalen Publikum g ib t... Man hat eher den Eindruck einer
Arbeitsteilung: Das engagierte Kino zeigt die Kämpfe, das Fernsehen
entschärft sie, jemand wie Godard denkt darüber nach, „wie ein Kampf
sich bildlich darstellt", und das kommerzielle Kino (Lily aime-moi
und so weiter) inszeniert ein spielerisches, demotivierendes Bild vom
Prolo. Als objeder au f seine Weise den Arbeiterkörper verwalten würde.

Für mich besteht das große Problem darin, dass sich auf der Ebene
der Verbreitung der Filme Ghettos bilden. Zum Beispiel wird man
für den Arbeiter, den man für revolutionär hält und der in der Fabrik
oder im Streik ist, engagierte Filme machen, die Arbeiterkämpfe
zeigen. Für den Arbeiter, den man für kleinbürgerlich hält, der am
Samstagabend ins Kino geht, wird es Filme geben, die Arbeiter
zeigen, die ein bisschen blöd und ein bisschen lustig sind wie Rufus
zum Beispiel, Arbeiter, denen der Klassenkampf ziemlich egal ist.
Die Hegemonie der bürgerlichen Kultur basiert nun gerade auf der
scharfen Trennung der Gattungen, die zugleich eine Trennung des
Publikums ist: plumpe kommerzielle Filme für die Massen, leicht­
füßige kommerzielle Filme für das intellektuelle Kleinbürgertum,
engagierte Filme für die Aktivisten. Das ergibt eine doppelte Gefahr.
Man lässt sich auf die bürgerliche Trennung ein, man bewohnt sein
Ghetto, aber man tut auch so, als würde man glauben, man richte
sich an ein anderes Publikum als das seine: wie die linksradikale
Presse neigen die engagierten Filme dazu, die Verkürzungen ihrer
Pädagogik durch die Behauptung zu rechtfertigen, dass sie sich
nicht an Intellektuelle richten, während diese in Wirklichkeit noch
immer ihre Hauptkonsumenten sind.
Schützt das linksradikale Wort und Bild nicht die Ausrede vor,
dass die Massen gewisse Schnörkel nicht verstehen, um die Einfäl­
tigkeit der Intellektuellen zu bestätigen? Man müsste es schaffen,
die Wege zu kreuzen, für jedes Ghetto Filme zu machen, die seine
Gattung durchbrechen, die die Wahrnehmung seines eigenen
Publikums provozieren und verschieben. Jacques Fansten sagt in
seinem Interview in den Cahiers dazu etwas sehr Interessantes.
Aber das Schicksal seines Films (Lepetit Marcel) gibt offenbar zu
denken.

Du hast Hier und anderswo von Godard gesehen. Was hältst du von
der Art und Weise, wie er die Frage aufwirft, wie man einer Sache
dienen kann (oder wie man einer Sache nützlich sein kann — was
vielleicht etwas anderes ist)? Und auchy wie man sich einer politischen
Sache bedient, um eine Reflexion über das Kino in Gang zu bringen
(und sie anzuregen)?

Einer Sache nützlich sein, ich weiß nicht ... Er hat bereits das
Verdienst, ziemlich vielen „guten“ Sachen schädlich zu sein. Er ist
sicher der einzige gegenwärtige Film über unsere politische Situa­
tion, der zur rechten Zeit kommt, um die Kultur des gemeinsamen
Programms in Frage zu stellen. Ich denke an die Einstellung, wo der
Regisseur die zu schöne Libanesin ihren Kopf heben lässt, damit sie
besser die Rolle der palästinensischen Aktivistin spielen kann, die
glücklich ist, der Revolution einen Sohn zu schenken. Das ist, glaube
ich, das genaue Gegenstück zu der Einstellung am Schluss von Der
Richter und der Mörder, wo eine ebenso zu schöne Schauspielerin
den Kopf zu hoch hält, um eine zu sehr nach Flieder riechende
Kommune zu besingen. Godard erfüllt eine Funktion, die heute
ganz wichtig ist, nämlich zu provozieren und zu spalten. Aber ich
glaube, dass er eher Leuten nützlich sein kann, nicht so sehr einer
Sache. Bleibt die Frage welchen Leuten. Bei Hier und anderswo ist
er wahrscheinlich mehr uns nützlich als den Palästinensern. Welche
Nützlichkeit?
Das kann einfach ein Dienst von der Art „uns helfen, nicht
dumm zu sterben“ sein. Das kann mehr sein, das Prinzip einer
neuen Wachsamkeit zum Beispiel. Es gibt aber einen Aspekt,
der mir problematisch erscheint: das, was ich vorhin als seinen
Pazifismus bezeichnet habe. Godard sagt uns: Es ist schändlich,
Bilder zu machen, schändlich, ihnen einen Ton beizufügen, der
sie lügnerisch macht, schändlich, diese Geschichten zu erzählen,
die tägliche Vergewaltigung durch die Darstellung der Macht zu
wiederholen. Das ist wahr, aber es ist nicht die ganze Wahrheit.
Man muss auch Bilder und Geschichten herstellen; man muss
spalten, aber man muss auch in gewisserWeise vereinen. Man kann
nicht bei der Position stehen bleiben, dass Schuldgefühle erzeugt
werden, was - auch wenn sie auf eine unendlich viel intelligentere
Praxis verweist - der Position der postlinksradikalen politischen
Diskurse ähnelt, die jede politische Aktion für schuldig erklären,
weil sie notwendigerweise eine Macht errichtet, die notwendiger­
weise unterdrückt und so weiter.
Wenn man nicht ohnmächtig dastehen will, muss man eine
Macht errichten, Bilder erzeugen und Fiktionen, die immer ein
wenig verdächtig sein werden. Man muss spalten (das Hier und
das Anderswo), aber auch produzieren (also wiederum auf eine
bestimmte Art das Hier und das Anderswo verdichten). Die Stunde
der Dialektik hat geschlagen: Wie spalten, wen vereinen und worauf?
Zum Beispiel würde ich dem Film La Cecilia von Jean-Louis Co-
molli nicht vorwerfen, sich Freiheiten zu nehmen in Bezug auf die
Frage von Godard, sondern ich würde ihm vielleicht vorwerfen, zu
einfach mit einer Idee zu vereinen (die Anarchie, der schöne Traum:
Bilder, die vom anarchistischen Lied getragen werden), um danach
mit derselben Idee zu einfach zu spalten (die Grenze des Traums,
der außerhalb des wahren Klassenkampfes liegt): Man müsste in
der einen oder anderen Weise deutlich machen, dass dieser wahre
Kampf auch seine Grenzen und sein Scheitern hat (den Heiligen
Bund zum Beispiel).
Man muss die Provokation von Godard akzeptieren und dennoch
Mittel und Wege finden, darüber hinauszugehen. Denn hinter dem
Anschein einer Rückkehr zum Positiven (das ist es, was die palästi­
nensischen Kämpfer sagten, deren Stimme wir mit unserer schrillen
Internationalen überdeckt haben; man muss lernen hinzusehen,
zuzuhören und so weiter) liegt ein Aristokratismus, der ein wenig
selbstmörderisch ist.
1981
Und die Müden haben Pech gehabt!19
mit Edmond El Maleh

„Die Handwerker von 1840 stellten die Frage,


mit der die Philosophie anfiingt:
Wer hat ein Anrecht au f das Denken?“

Die kombinierte Wirkung von marxistischer Theorie und empirischen


historischen und soziologischen Forschungen hat dazu geführt, dass
man meint, die Identität des Proletariats könne nunmehr definitiv
ab gesichert gelten. Das Bild vom Proletarier würde in dieser Hinsicht
getreu, ohne Verfremdungseffekt und ohne trügerische Rückspiegelungen
wiedergegeben werden. Jacques Rancière teilt diese Ansicht nicht. Seine
Forschungen zeigen den Wegzu einer neuen Sicht a u f das Arbeiterden­
ken. Seine Forschungsarbeit zielt darauf ab, „abseits und jenseits der
dogmatischen Gewissheiten über das Volk, den Staat und die Revolution
die geschichtliche Komplexität und die Spiegelungseffekte der Praktiken
und der Diskurse der gesellschaftlichen Akteure“ zu rekonstruieren.
Jacques Rancière istfederführend am Kollektiv Les Révoltes logiques
beteiligt, das die Ergebnisse der Arbeiten veröffentlicht, die Teil dessel­
ben Bemühens sind\ den „schädlichen Auswirkungen der Ideologie“die
„fleischlichen Offensichtlichkeiten “ entgegenzusetzen.

***

Edmond El Maleh: Es wäre bequem, Sie unter die Historiker der


Arbeiterbewegung einzureihen. Sie lehnen diese Bezeichnung jedoch
ab. Sie träumen von einer Arbeit, die darauf abzielt, „die Ware aus
dem Gleichgewichtzu bringen, die Schilder abzureißen, die Wegweiser
wegzureißen

Jacques Rancière: Ich bin von Berufs wegen nicht Historiker, sondern
Philosoph. Ich bin auf das Gebiet der Geschichte gelangt infolge der
Sackgassen, in welche die große Idee von 1968-70 führte, nämlich
die Vereinigung von intellektueller Kritik und Arbeitskampf. Um
das Scheitern oder die Verirrung der marxistischen Diskurse und
Praktiken zu verstehen, wollte ich zu den Jahren 1840-50 zurück­
kehren, als die marxistische Theorie sich auf die Arbeiterproteste
pfropfte und den Hoffnungen und den Plänen der Utopie das
Bewusstsein von der „wahren Bewegung“ entgegenstellte.
Die Mentalitätsgeschichte diente mir zugleich als Modell und
als Vogelscheuche. Ihrer Vorliebe für die lange Dauer der „unbe­
weglichen“ Geschichte, für die Ernährungsgewohnheiten oder die
Einstellungen gegenüber dem Tod wollte ich eine Anthropologie
des Arbeitskampfes entgegensetzen: spontane Vergesellschaftungen
gegen geregelte Organisationen, alltägliches Flüstern gegen große
Parolen, die Kenntnis des Werkzeugs gegen die Kenntnis der Waffe.
Ich musste bald meine Illusionen aufgeben: Die Hefte und Zeitun­
gen der Arbeiter unterrichteten uns vor allem darüber, wie sie selbst
gesehen werden wollten. Von den Praktiken des Widerstands oder
der Arbeitergesellschaften erfuhren wir nur durch die Beschreibun­
gen der verzweifelten Unternehmer oder der Philanthropen, die
über die Promiskuität des Elends oder die Orgien in den Kneipen
fantasierten.

Und von diesem Scheitern her bestimmt sich Ihre Orientierung...

Dieses Scheitern erlaubte gerade ein Nachdenken über die kritische


Funktion, die der Geschichte zugebilligt wird, über die gegenwär­
tige Rolle des Historikers in unserer Kultur: Er ist derjenige, der
„desillusioniert“, der die Illusionen der linksradikalen Subversion
auf die materiellen Bedingungen und auf die Verhaltensweisen
verweist, die sie erlauben. Doch diese kritische Funktion wird von
einer Herstellung von Offensichtlichkeiten begleitet, die im Grun­
de noch dogmatischer ist als die zerstörten Ideologien. Einerseits
besitzt der Historiker Gewissenhaftigkeit: Er hat vom Ethnologen
die Kunst gelernt, wie man seine Gegenstände funktionieren lässt,
wie man die Praktiken als Diskurse und die Diskurse als Praktiken
behandelt. Doch diese Gegenstände begnügen sich nicht damit, die
Funktionalität der Wissenschaften zu verifizieren, sie verkörpern sie
mit dem Gewicht ihrer fleischlichen Offensichtlichkeit. Sie zeigen
uns in schönen Bildern, dass die Gesellschaftsordnung vernünftig
ist und dass sie sich in der Vergangenheit wie in der Gegenwart in
den Verteilungen der existierenden ideologischen und politischen
Ordnung widerspiegelt. Der Historiker gibt uns zugleich die Ver­
nünftigkeit des Begriffs und die Offensichtlichkeit des Bildes: Er
markiert das Gesellschaftsgebiet mit Leuchtzeichen, vom Zentrum
zur Peripherie.
Sonderbarerweise funktioniert das in der Arbeitergeschichte
weniger gut, obwohl der Arbeiter doch der Held unseres funktio-
nalistischen Denkens ist: der Mann des berühmten „Gewusst-Wie“,
das die Materie in Übereinstimmung mit dem Denken und mit
dem Zweck des Gegenstandes bringt; der Kämpfer, der der Unter­
drückung Widerstand leistet, der sich der Ausbeutung bewusst wird
und sich organisiert, um sie zu bekämpfen. Doch darin liegt eben zu
viel Ideologie, als dass sie jemals in der Ethnologie der Geselligkeit
des Volks oder in den Praktiken der Arbeiter aufgehen könnte. Man
muss immer eine in der Kultur oder der Strategie marxistische oder
anarcho-syndikalistische Interpretation liefern, die sich als solche
ausweist.
Gerade darin liegt die Möglichkeit, die „Wegweiser wegzurei­
ßen“. Die Sonntagsrede des Arbeiter-Dichters oder -Aktivisten der
1840er-Jahre benennt das, dass sie nicht mehr mitmachen, dass sie
weder im „Gewusst-Wie“ der „Arbeiterkultur“ ihre Befriedigung
erlangen noch in der Geborgenheit des Kollektivs ihre Identität.
Hinter der Schmeichelei, die dem Geschwätz und der Träumerei
des Kleinbürgertums die Positivität ihres Schaffens entgegensetzt,
erkennen sie eben die Stellung, die Platon einst dem Handwerker
zugedachte: die Stellung einer Seele dritter Klasse. Bereits Platon
musste, um dem Handwerker zu verbieten, sich um Politik zu küm­
mern, seine Überlegenheit als Produzent über die Hersteller von
Trugbildern (Maler oder Sophisten) preisen. Diejenigen, über die
ich geforscht habe, wollten jedoch gerade Hersteller von Schatten
sein (Maler, Dichter, Philosophen). Und dennoch sind sie es, die
am Ende das Bild vom stolzen Arbeiter abgeben. Mein Gegenstand
ist der paradoxe Weg dieser Identifikation.

Was an Ihrer Vorgangsweise verführerisch wirkt, ist diese Durchquerung


der Wüste der Abstraktionen, seien sie nun marxistisch und nicht. Sie
schaffen es, konkrete Gestalten von Arbeitern zu erfassen, wie die eines
saint-simonistischen Schreiners und Dichters. Zu welchem Perspekti­
venwechselführt das?

Konkrete Gestalt ja, aber man muss sich darüber einigen, was man
darunter versteht. Der herrschende Positivismus hat auch seine
konkreten Gestalten: „Kinder des Volkes“ oder,Antihelden“, deren
Eigenheit die approximativen Allgemeinheiten des gelehrten Dis­
kurses bestätigt, ja mehr noch, sie verkörpert. Es handelt sich hier
im Gegenteil um gespaltene Figuren, um Gesichter im Spiegel, um
Arbeiter, die ihrem Bild trotzen und ihrem Begriff Lebewohl sagen.
Sie spielen auf den Schreiner Gauny an. Er hat uns ziemlich
außergewöhnliche Manuskripte hinterlassen, Briefwechsel, Artikel,
Gedichte. Das sind keine Erinnerungen eines Kindes aus dem Volk,
sondern die gelebte Erfahrung einer eigentlich philosophischen
Fragestellung: Wie kann man Arbeiter sein?
Er beschreibt uns seinen Arbeitstag, Stunde für Stunde. Und es
geht dabei nicht um das „schöne Werk“ der Nostalgiker, auch nicht
um den Mehrwert, sondern um die fundamentale Wirklichkeit der
proletarischen Arbeit, um die gestohlene Zeit. Wir spüren dabei,
dass unsere Wörter wie Ausbeutung, Bewusstsein, Revolte und so
weiter immer an der Erfahrung dieses „verwüsteten“ Lebens Vor­
beigehen.
Er macht sich daran, sich zu befreien, sich und die anderen, denn
unsere Gegensätze sind auch hier lächerlich: die „Ketten der Skla­
verei“ müssen von bereits befreiten Individuen gesprengt werden.
Er nimmt eine Arbeit als Parkettleger an, die am Stück bezahlt
wird, bei der er frei von einem Meister ist und dennoch weiß, dass
er ausgebeutet wird. Und er zeigt uns, dass wir Philosophen nichts
von den Beziehungen zwischen der Illusion und dem Wissen, der
Freiheit und der Notwendigkeit verstanden haben.
Er treibt das Paradox auf die Spitze. Er schmiedet sich eine
Philosophie der Askese. In einer Zeit, als die Arbeiter so gut wie
nichts zu konsumieren haben, lehnt er die Konsumgesellschaft ab.
Er erfindet eine Ökonomie der Freiheit anstelle einer Ökonomie
des Wohlstands.
Er zeigt uns den Nerv der aktivistischen Leidenschaft, die in Sei­
nesgleichen wohnt: nicht, sich der Ausbeutung „bewusst zu werden“
(die kannten sie von vornherein), nicht die Solidarität unter den
Arbeitern (die anderen sind zuerst die Komplizen des Meisters),
sondern der Wunsch, zu sehen, was sich auf der anderen Seite ab­
spielt, ein anderes Leben kennenzulernen. Sie neiden den Bourgeois
nicht die Positivität ihres Wohlstands, sondern die Negativität ihres
„Leerlaufs“, ihre Muße, ihre Nacht. Der Ursprung des Diskurses
der Arbeiteremanzipation liegt im Begehren, kein Arbeiter mehr zu
sein: sich nicht mehr seine Hände und seine Seele abzunutzen, aber
auch nicht mehr Arbeit oder Lohn verlangen und seine Interessen
verteidigen zu müssen; nicht mehr die Stunden des Tages zu zählen
und nicht mehr zu schlafen in der Nacht ...
Gauny hat die Kraft, seinen Traum und seinen Widerspruch zu
leben: Arbeiter zu sein, ohne es zu sein. So macht es auch seine
Schwester in der Utopie, die Schneiderin Désirée Véret. Andere,
wie die Schneiderin Reine Guindorff oder der Schriftsetzer Adolphe
Boyer sterben daran. Manche, wie der Schlosser Gilland versuchen,
nachdem sie von der „Harfe Davids“ geträumt haben, ihr Absolutes
auf das Maß der „moralischen und materiellen Interessen der Arbei­
ter“ zu reduzieren. Andere werden an Malaria sterben, in Texas, wo
sie Ikarien suchten. Es gibt schließlich solche, die reich werden ...
aus Verzweiflung.
Das ist ein einzigartiges Experiment: gegenüber den utopistischen
Theoretikern und den gutwilligen jungen Bürgerlichen, die ihr
Elend lindern und die Arbeit der Zukunft fördern wollen, spielen
diese Handwerker die Frage der Philosophie noch einmal durch,
die an ihrem Anfang steht: Wer hat ein Recht auf Denken? Anhand
welcher Merkmale unterscheidet man jene, die zur Arbeit ihrer
Hände geboren sind, von denen, die zum Denken geboren sind?
Sie fallen uns somit in den Rücken.
Anstatt die Begriffe unserer Wissenschaft zu verkörpern, drama­
tisieren sie unsere Philosophie. Sie funktionieren nicht mehr, sie
denken. Und damit werden nicht nur unsere Dummheiten über die
Arbeit, das Bewusstsein und die Revolte zurückgewiesen, sondern
es wird ihrerseits die Funktionsweise dessen, was wir uns nicht
scheuen, unser Denken zu nennen, in Frage gestellt.
Man spürt, dass in Ihrer Arbeit die Erfahrung des M ai 168 sehr gegen-
wärtig ist. Wie passt sie mit der Forschungsarbeit über das 19. Jahr­
hundert zusammen?

Das Verhältnis ist ganz natürlich: Hat man nicht 1968 von einer
Rückkehr zum 19. Jahrhundert gesprochen? 1967 sahen uns die
Bescheidwisser bereits auf dem Weg ins 21. Jahrhundert: Die Stu­
denten kümmerten sich nur noch um ihr Studium und ihre Berufs­
aussichten, die Arbeiter verbürgerlichten sich, überwältigt von den
Freuden an der Waschmaschine. Und dann fand man sich ein paar
Monate später mitten im 19. Jahrhundert wieder: Barrikaden und
rote Fahnen. Natürlich wurde mit der Rückkehr zur Ordnung das
große Geschütz der Theorie aufgefahren, die uns daran erinnerte,
dass die Ernsthaftigkeit der würdigen und verantwortungsbewussten
Arbeiterbewegung ganz entschieden nichts mit diesem Fieberanfall
von Kleinbürgern zu tun hatte, die Revolution spielten.
Der Punkt ist nun aber, dass die Geschichte uns lehrt, dass die
Arbeiter sich immer wie „Kleinbürger“ verhalten haben. Nehmen
Sie den Juli 1830: In der Vorstellungswelt einer ganzen Arbeiter­
generation spielt er genau dieselbe Rolle wie der Mai ’68. Das ist
der Moment, als man entscheidet, dass „nichts mehr wie vorher“
sein wird. Alles wird an diesen drei Tagen des Kampfes und des
Festes, der Sonne, des Ruhmes und der Freundschaft gemessen,
als das Volk gezeigt hat, was es war. Und doch hatten sie oft viel
zu verlieren: Die Geschäfte gingen ziemlich gut, sie hatten einen
kleinen Notgroschen angespart, sie waren vielleicht sogar dabei,
sich selbstständig zu machen. Und nach der Revolution ging es
mit dem Geschäft bergab, während die Repression nicht auf sich
warten ließ. Ein Jahr später treffen die Saint-Simonisten auf früher
wohlhabende Arbeiter, die noch keine Arbeit gefunden haben oder
irgendeine Arbeit machen - im Übrigen fristen diese „Handwerker“,
die angeblich so sehr an ihrer „Qualifizierung“ hängen, meistens das
Dasein unseres vorgeblich so neuen „Prekariats“ und nehmen, mehr
als man gemeinhin glaubt, Abstand von der Ideologie der Arbeit.
Diese Waisen des Juli 1830 klammern sich an den neuen saint-
simonistischen Glauben. Zwar bricht auch dieser bald zusammen,
aber das macht nichts: In der Verkettung ihrer Hoffnungen werden
sich die Worte der saint-simonistischen Liebe an die Reliquie der
drei Tage heften und durch allerlei Versuche und Rückschläge die
nunmehr unausweichliche Entscheidung stärken: nicht dumm zu
sterben.
Sobald man die Kruste des Repräsentationsdiskurses durchdringt,
findet man eine gewisse faszinierende Familienähnlichkeit wie­
der, manchmal sogar innerhalb dieses Diskurses: eine bestimmte
ursprüngliche Abweichung, eine bestimmte Vorstellung vom zu
verändernden Leben ... Denn diese Zeit ist auch die der Aufrichtig­
keit: Der Lack der Schmeichelei gegenüber den Arbeitern verdeckt
noch nicht die Verzweiflung angesichts des Arbeiterdaseins oder der
Verachtung für eben jene „Brüder“, die man verteidigt.
Am Anfang war mein Interesse für das 19. Jahrhundert archäo­
logischer oder genealogischer Art: Ich wollte die Widersprüche, die
unserer Gegenwart geerbt hat, in ihren Ursprüngen erfassen. Auf
dieser Reise hat sich mein Interesse verschoben: Ich wurde immer
mehr empfänglich für die Ähnlichkeit der existentiellen Verhältnisse,
für die Art des Erlebens der geschichtlichen Zeit, der großen Mo­
mente, fiir die Zyklen der Hoffnung, der Mutlosigkeit, der Rückkehr
zum Ausgangspunkt, der unangebrachten Hoffnung. Irgendwie ist
es die intellektuelle Geschichte einer Generation geworden: Wie
die Arbeiter, die 1830 sagten, dass sie nicht mehr wie vorher leben
würden, ihre Absicht umsetzten.

Wenn das positive Wissen mit seiner Blindheit konfrontiert wird.\ bleibt
dann nicht am Ende nur die Verzweiflung oder die Skepsis? Und doch
wollten Sie „den Rebellen ihre Gründe, den verliebten Kindern ihre
Karten und Kupferstiche zurückgeben

Sicherlich, man könnte die Sache damit zusammenfassen, dass alles


gescheitert ist, der Saint-Simonismus, die Arbeitervereine, die ikari-
sche Gemeinschaft. Und die List der Vernunft hat diese verträumten
Arbeiter auf die richtigen Wege in die Zukunft geführt, auf die Wege
der Disziplin - und der Diktaturen - des Königs Arbeit.
Doch die Geschichte endet anders. Sie endet mit den Liebes­
briefen, die eine alte Frau dem Theoretiker und Liebhaber schickt,
mit dem sie in der Zeit nach dem Juli 1830 zusammen war. Sie
hat immer im Traum gelebt und erst die Blindheit zwingt sie am
Ende des Jahrhunderts und ihres Lebens, sich an die Wirklichkeit
„anzupassen“. Das ist nicht die Allegorie der Verzweiflung, sondern
im Gegenteil einer unbesiegbaren Standhaftigkeit, an der anfäng­
lichen Nicht-Einwilligung festzuhalten, in einem Leben, das den
Zwängen der proletarischen Notwendigkeiten und den Risiken der
politischen Unterdrückung ausgesetzt ist; die Standhaftigkeit, den
Tod der Utopie und zugleich die Ablehnung der Wirklichkeit zu
leben.
Denn die Utopie ist tot, weil man mit den zwiespältigen Gründen
der Proletarier eine positive Welt errichten wollte. Es gibt keinen
neuen Menschen, sondern nur Leute, die versuchen, zwei Leben zu
leben. Deswegen geben sie auch nicht die Hoffnung auf, sind sie
nicht verzweifelt. Ihr Glaube ist unendlich viel gewitzter, als es die
wichtigtuerischen Verzweiflungen unserer reichen Waisen vermu­
ten lassen. Das ist die Lehre einer beibehaltenen Ablehnung, einer
anspruchsvolleren Weisheit, sagen wir eines bestimmten Maßes an
Unmöglichem.
Mein Projekt wie das der Révoltes logiques ist, das Gedächtnis dieser
unwahrnehmbaren Kämpfe, die Spur dieser Wege und den Abdruck
dieser Brüche aufzuzeichnen. Das hat nichts mit den „Volks“-
Sammlungen des historischen oder soziologischen Positivismus zu
tun. Es handelt sich nicht um eine Nostalgie der Erinnerungen,
sondern um die Inständigkeit von Fragen, das Weitertreiben einer
Bresche. Das ist auch etwas anderes als der bloße Rückzug des
kritischen Denkens: Wissen und Erzählungen, die die Arbeit des
Negativen miteinschließen (das Aus-dem-Gleichgewicht-Bringen,
das Abreißen von Wegweisern ...); eine Diskursordnung, die die
Nicht-Versöhnung, den Unterschied der Gesellschafts-„Objekte“ zu
sich selbst anzeigt. Karten und Kupferstiche, aber keine Fotografie,
keine Radiografie.
Damit ist keinerlei Verzweiflung verbunden, sondern eine starke
Spannung. Viel Arbeit liegt vor denen, die nicht dumm sterben
wollen. Und die Müden haben Pech gehabt!
1985
Der Besuch beim Volk20
mit Serge Le Péron
und Charles Tesson

Welches Gesellschaftsszenariopräsentieren heute diefranzösischen Filme?


Wie stellen die meistgesehenen Spielfilme (die Krimis und die Komödien
im Kleinkunstbühnen-Stil) die Bewegungen dar; die tiefreichend a u f
das Gesellschaftsgewebe einwirken? Inwiefern hat die Tatsache, dass die
Linken an die Macht gekommen sind, die Sozialtypisierung im fran­
zösischen Kino verändert? Wir hatten große Lust, diese Fragen Jacques
Rancière zu stellen, der zugleich außerhalb der Zeitschrift steht (er ist
von BerufPhilosoph und nicht dem Rhythmus unterworfen, der von
dm Filmneuerscheinungen diktiert wird) und uns nahe steht aufgrund
seiner Vorliebe fu r das Kino und seiner Mitarbeit an der Zeitschrift
Les Révoltes logiques über die Genealogie der Ideologien und des
Arbeiterdenkens. Der Name Jacques Rancière, Autor des Buches La
Leçon cTAlthusser (1975) und Lehrender am Institutfü r Philosophie
an der Universität Vincennes und später Saint-Denis11, ist den treuen
Lesern der Cahiers vielleicht nicht unbekannt. Seine Mitarbeit an
ihnen geht bereits a u f eine Zeit zurück, als sich die Cahiers, angeregt
von den Arbeiten Michel Foucaults, kurzfristigfu r das Phänomen der
Retro-Mode und langfristig fü r die Darstellung der Geschichte des
Kinos interessierten.
In der logischen Fortführung dieserArbeit wurde die Sonderausgabe der
Cahiers mit dem Titel „Images de marque“ (Nr. 286-269, Juli-August
1976) mit einem langen Interview mitJacques Rancière eröffnet: „Das
brüderliche Bild“. Die vorliegende Sonderausgabe „Scénario “ hat uns
die Gelegenheitgeliefert, den Dialog mitJacques Rancière wiederaujzu-
nehmen und zwar gerade a u f den Grundlagen, au f denen er begonnen
worden war: Was ist seit 1981 aus der linken Fiktion geworden? Was
hat sich oben getan, a u f der Seite des Staates und des Gesetzes, und un-
ten, beim „braven linken Volk “ dem brüderlichen undfeierlichen? Wir
haben Jacques Rancière zu diesem Zweck gebeten, sich ein paar Filme
anzusehen. M it viel Wohlwollen hat er sich an einem Wochenende dem
Spiel und der Idee dieses Interviews hingegeben und hat hintereinander
Die Bestechlichen (Les Ripoux) von Claude Zidi, Das Attentat (Ur­
gence) von Gilles Béhat, Train d’enfer (von Roger Hanin), Zwei Fische
auf dem Trockenen (Marche à l’ombre) von Michel Blanc und Die
Spezialisten (Les Spécialistes) von Patrice Leconte gesehen.
Im Laufe einer Diskussion, bei der wir vom Hundertsten ins Tau­
sendste kamen, sind sofort ein paar Hauptachsen aufgetaucht: In den
genannten Filmen ist oben das Gesetz abwesend, und unten taucht das
a u f wasJacques Rancière in einer schönen Formulierung den „Besuch
beim Volk“ nennt, die Pflichtübung des neuen Sozialtourismus, der
dem französischen Kino eigen ist. (C.T.)

***

1. Die Sozialthemen in den französischen Spielfilmen

Cahiers: 1976 hatten wir gemeinsam über die linke Fiktion disku­
tiert. Heute ist die Linke keine Fiktion mehr. Doch zugleich sind ihre
Fiktionen seltener geworden. Dennoch gibt es Themen} die man in
ihnen fan d und die man heute in einem Genre-Kino wiederfindety
das besonders im Krimi und in der Komödie verkörpert wird. Was ist
denn da genau passiert?

Jacques Rancière: In den Jahren von 1975 bis 1980 hat der Aufstieg
der Vereinigung der Linken22 einen bestimmten Fiktionstypus und
Darstellungstypus von einem linken Volk unterstützt, indem es die
unanimistischen Figuren und Bilder im Stil der Volksfront über
die Gefühlslage des kulturellen Linksradikalismus umcodierte. Der
Volksball wurde mit der Commedia dell’arte vereinigt, das Herauf­
beschwören der Bodenständigkeit des Volks mit der sexuellen und
der sprachlichen Freizügigkeit des modernen Städters: ein festlicher
Populismus, der von den Ideologien des Genusses geprägt war,
dessen Archetyp René Férets La Communion solennelle war. Offen­
sichtlich musste diese Art der Darstellung, die den Machtanspruch
der linken Parteien in der Tiefe der Volksinstinkte verankert, mit
der Befriedigung dieser Forderung verschwinden. Doch vor allem
hatte sich diese Forderung nur durch die Umcodierung der Themen
des kulturellen Linksradikalismus ausdrücken können. Der poli­
tische Sieg der Linken bestand vor allem in der Erschöpfung des
Linksradikalismus, in jedem Sinne des Wortes. Die sozialistische
Macht hatte von vornherein das Beste „ihrer“ Kultur hergegeben.
Der Zusammenbruch der linken Fiktion - deren Prunkentfaltung
übrigens immer diskret geblieben war - hat dieselben Ursachen wie
das „Schweigen“ der Intellektuellen. Insbesondere die Fiktionen der
Verwurzelung scheinen das Kino zur selben Zeit im Stich gelassen
zu haben, wie sie die geschichtswissenschaftliche Produktion ver­
lassen haben. Es bleiben aber tatsächlich gewisse Themen übrig, die
nunmehr zur Erbmasse gehören, die der gewöhnliche kommerzielle
Spielfilm ausschlachtet: die Untergründe und Ränder, die Opfer
und die Ausgestoßenen der Gesellschaft, der Rassismus, die Ein­
wanderer, die Kleinkriminellen, die Drogen ... Es hat eine gewisse
Neudefinition der Landschaft des Volkes und des populistischen
Bildes stattgefunden: die Goutte d’Or, die Vorstädte, die besetz­
ten Häuser, die Motorrad-Beurs,23 die Dealer und die Verkäufer
gestohlener Uhren, die in Das Attentat oder in Die Bestechlichen,
in Zwei Fische a u f dem Trockenen oder in Am Rande der Nacht
{ Tchao Pantin) von Claude Berri ausgebreitet werden, das sind alles
Pflichtstationen des modernen Besuchs beim Volk. Die Einwan­
derer sind auf der einen Seite Elemente dieses Besuchs beim Volk
{Die Bestechlichen, Zwei Fische a u f dem Trockenen), auf der anderen
Seite werden sie politisch als Opfer des Rassismus definiert (Train
d ’enfer, Das Attentat). Doch sie sind nur im sozialen Sinn Opfer,
nicht in der Dynamik eines Dramas, wie es die schuldigen Opfer
oder die zwiespältigen Helden vom Typus Liliom, Die Hündin {La
Chienne) oder Goldhelm {Casqued’or)2Awaren. Das Problem ist, dass
Goldhelm heute Araberin wäre. Damit könnte der Film nicht mehr
die Identifizierung des Durchschnittspublikums mit der Notlage
des schuldigen Opfers tragen. Der Bezug zur Herkunft würde den
Bezug zum Gesetz versperren. Das Resultat ist, dass der Einwanderer
als pittoreske Figur oder als Gesellschaftsopfer dasteht. Es ist ihm
nicht möglich - nicht erlaubt -, Subjekt eines Dramas zu sein. Die
Araber sind in Train d ’Enfer somit eine Bevölkerungsgruppe, die
geschützt werden muss. Ihr Sprecher macht immer den Eindruck,
als würde es ihm nicht gelingen, im Feld der Repräsentation einen
Platz zu finden, dem Kameraobjektiv schräg gegenüberzutreten,
eine Bewegung zu machen, um sich abzuwenden und aus dem
Bild herauszutreten. Die populistische Fiktion vom Individuum als
Träger des Gesellschaftsdramas ist somit blockiert. Auf der anderen
Seite geht auch die Anklage der Gesellschaftsmaschine tendenziell
verloren ...

2. Die Manipulationen: Archetypus des sozialen Drehbuchs

Die Schlussfolgerung hat sich ein wenig verlaufen. Früher gab es in


vielen Filmen eine Bewusstwerdung. Das ist eine Möglichkeit, die
nicht mehr besteht. In Train d’Enfer besteht noch etwas von diesem
Kinotypusfort.

Es bleibt die nackte Idee einer „Manipulation“, die dramaturgische


Übersetzung des politischen Themas der Provokation ins Drama,
die sich in der linken Fiktion durchgesetzt hatte, besonders über
die Filme von Rosi: das Bild von der Mafia, die Vorstellung von
einer umfangreichen Organisation der sozialen Korruption, die von
oben durch eine okkulte und allmächtige Maschine gesteuert wird.
Diese Idee einer „Manipulation“ reduziert sich tendenziell auf eine
reine Abstraktion, die mechanisch das Substitut einer politischen
Aktion und einer Filmerzählung produziert. Die Vorstellung von
der Maschine zehrt das Thema und die Figuren auf. So ist in Train
d ’Enfer das angebliche Thema des Films, der Mord, eigentlich ein
Fremdkörper in der Handlungslogik. Es ist Teil dieser Logik, dass
das Drehbuch den Zeugen der Tat selbst opfert und beseitigt (im
Gegensatz zu den großen Filmen Lang’schen oder Hitchcock’schen
Typs, wo die Suche des Zeugen und die Verfolgung des Zeugen
einander durchdringen). Das, was den Regisseur interessiert, die ei­
gentliche Handlung des Films, ist nicht der rassistische Mord mit all
dem, was er an bloßer Anwesenheit des Anderen und als Anstieg der
Gewalt gegen den Anderen voraussetzt, sondern die leere Idee der
Gewalt, die von den Politikern inszenierte Provokation, die ablenken
soll. Damit können weder die Meuchelmörder noch die Araber
Subjekte der Handlung sein. Bleibt nur die Figur des Kommissars
und ihm gegenüber das leere Schema des rechtsgerichteten Volkes,
der Halbkreis der Rassisten um das Kommissariat im Schlepptau
der drei archetypischen Provokateure im Dienst der zwei Anführer.
Der Film schafft es übrigens genauso wenig, die Polizisten in Szene
zu setzen wie die Algerier. Als sie die Meuchelmörder durchsuchen,
erlauben sie sich nicht die geringste gewalttätige Geste, die fehl am
Platz wäre. Das ist nicht der Fall, wie man naiv denken könnte,
weil die Polizei nun im Dienst der linken Macht steht und man als
Linker nicht einen prügelnden Polizisten darstellen kann. Es ist viel
radikaler: man weiß nicht mehr, wie man die Polizei als Subjekt der
Gewalt darstellen soll. Die Gewalt der Ordnung fällt in den Bereich
des Undarstellbaren. Das Attentat ist ein weiterer Schritt in der
Entblößung des Szenarios der Manipulation. Diese Manipulation
ist in der politischen Kategorie der Provokation nicht einmal mehr
verständlich. Sie ist auf ihre eigene Idee reduziert, die eine gewisse
Anzahl von Szenen wie Autoverfolgungsjagden, geheimnisvolle
Anrufe und so weiter nötig macht. Auch hier wird die Figur, die
der Untersuchung einen Körper verleihen und die Idee in eine
Erzählung verwandeln könnte, nämlich der Journalist im Stil von
Die Bestie (While the City sleeps), gleich am Anfang beseitigt. Die
Manipulation vollzieht sich mit der Geschwindigkeit der Autos. Ihre
abstrakte Idee ersetzt ihren Inhalt (den Rassismus) und ihre Form
(die Erzählung). Das Drehbuch kann niemals Gestalt annehmen. Da
ist die Idee der Manipulation, die die obligaten Szenen und Figuren
herstellt, die eventuell sogar im Widerspruch zur Lesbarkeit der
Handlung stehen (man weiß niemals genau, für wen die Polizisten
arbeiten). Da ist die Figur des Nachforschers, der die Stelle eines
anderen einnimmt, den man geopfert hat. Da ist der traditionelle
hysterische Gestus der weiblichen Figur, die mehr oder weniger
mechanisch mit der Figur des verfolgten Zeugen zusammenfallt.
Dem wird ein politisches Thema angehängt, der rechte Terrorismus.
Er könnte genauso gut auch links sein. Er ist rechts - das heißt, der
Film ist „links“ - durch die Trägheit des Sinns: Der rechte Terro­
rismus hat seinen Sinn durch Vorwegnahme, insofern seine Opfer
bereits bekannt sind (die Juden, die Einwanderer, die „A nderen“),
während die Zielscheibe des Linken Terrorismus nicht bekannt ist.
Inmitten von all dem versuchen die Motorrad-Beurs erfolglos, das
„Terror“-Szenario in ein „SoziaT-Szenario umzuwandeln. In Zum
Beispiel Balthasar (Au hasard Balthazar) hatte Bresson die Motorrad­
bande zu einem Herrensignifikanten der terroristischen Moderne
gemacht. Hier sind die Reiter der Apokalypse zu Vorläufern der
Tour de France verkommen.

3. Die Stärke als Ersatz des Gesetzes

Sie sagten vorhin, dass auch die Stellung des Gesetzes sich geändert
hat. Das würde tatsächlich erklären, warum es heute keine möglichen
Subjekte mehr gibt, nicht im Sinn von sozialen Opfern, von Opfern
der Manipulation und so weiter, sondern mögliche Subjekt-Figuren
gegenüber einem Gesetzesstatus, dessen Sinn sich komplettgeändert hat.

In dieser Hinsicht ist ein Film wie Die Bestechlichen beispielhaft.


Die klassischen Verkörperungen der Spannung zwischen dem Gesetz
und der Schuld (der großzügige Bandit; der gesetzlose Rächer; der
Kleinkriminelle, der ein Opfer der Gesellschaft ist; der kriminelle
Polizist; der ehemalige Bandit als Sheriff, der noch immer darunter
leidet ...) sind alle in der Gestalt des korrupten Bullen als neuem
positiven Helden aufgesogen und annulliert worden. Ich habe Die
Bestechlichen als Anti-Western gesehen. Philippe Noiret stellt darin
die Figur des Sheriffs dar (James Cagney in Im Schatten des Galgens
\Run for Cover] oder Henry Fonda in Der Stern des Gesetzes [ The
Tin Star]), der - mit seiner Erfahrung als ehemaliger Bandit - dem
jungen Bürschchen, das man ihm zur Seite gestellt hat, das Schießen
und den Sinn für das Gesetz beibringt. Hier geht die Initiation in
umgekehrter Richtung vor sich: Der Mann der Ordnung lehrt das
Bürschchen, dass es kein Gesetz gibt, dass, wenn man daran glauben
würde, keine Gesellschaft möglich wäre, aber dass, wenn man das
Gesetz beiseitelässt, man mittels Bakschisch zu einem friedlichen
und toleranten Zusammenleben mit dem niederen Volk der Ein­
wanderer gelangen kann, mit den Hehlern gestohlener Uhren, den
betrügerischen Marabouts, den kleinen Dealern und so weiter. Die
„politische“ Botschaft ist, dass die wohlverstandene Korruption
den Rassismus entschärft und auf ihre Art die Demokratie sicher­
stellt. Bloß entschärft dieses Prinzip der friedlichen Koexistenz
auch jegliche Geschichte. Philippe Noiret, der von seinem Schüler
überforderte Lehrer, der sich auf seinen letzten Coup vorbereitet,
ist in einer ähnlichen Lage wie der Protagonist von Vogelfrei (Colo­
rado Territory), Wes Mac Queen, der reuige Bandit, der aus Treue
zu seinem Beschützer und fiir die absurde Liebe zu einer egoisti­
schen Kleinbürgerin seinen letzten Coup wagt. Doch die Welt des
Westerns verlangt, dass der Bandit, auch wenn er sympathisch ist,
durch die Kugeln eines Gesetzes stirbt, dessen Vertreter in jenem Fall
verabscheuenswert sind. Wes Mac Queen nimmt das Schicksal auf
sich, durch das es eine Erzählung und Figuren gibt. Der von Noiret
gespielte Inspektor hingegen hört am Ende des Films, nachdem er
zwei Jahre im Gefängnis gesessen hatte, auf dem Straßenpflaster
das Geräusch des Trabers, den Gegenstand seiner Träume, den sein
treuer Komplize ihm mit dem in Sicherheit gebrachten Geld der
Drogendealer gekauft hat. Weder Verurteilung noch Grausamkeit
sind möglich. Der Wunsch, mit den Mitteln, die nur der korrupte
Polizist sich leisten kann, ein mittelmäßiges populistisches Ideal zu
verwirklichen (das Pferd und das kleine Café für Pferdeliebhaber),
lässt alles verzeihen. So werden die Ordnung und das Gewinnstreben
in der Apotheose des korrupten Bullen miteinander versöhnt. Das
einzige Vergehen, das absolute Böse, ist, ein Opfer zu sein, sich nicht
zu helfen zu wissen. „Bonjour Zola“, ruft Philippe Noiret aus, als
ihm sein Komplize seinen Ruin verkündet. Dieses Bonjour ist die
Verabschiedung sowohl eines bestimmten Fiktionstypus als auch
der Möglichkeit eines moralischen Blicks. Dort, wo das Gesetz
zusammenbricht, wo nicht einmal mehr das linksradikale Spiel
mit dem Gesetz übrigbleibt (die Revolte des Legitimen gegen das
Legale), bleibt nur noch entweder die Betreuung der zu schützenden
Opfer oder aber jene in den aktuellen Fiktionen allgegenwärtige
Gestalt des Bullen, der ein echter Gauner ist, oder des Gauners,
der in Wirklichkeit ein Bulle ist. Was bleibt, ist der Diskurs, der
als einzigen moralischen Wert die Notwendigkeit aufzeigt, sich
durchzuschlagen. So erklärt in Die Spezialisten der von Bernard
Giraudeau verkörperte Bulle, der ein falscher Gauner ist, in einem
Müllauto dem kleinen Gauner (Gérard Lanvin), den er in den
Einbruch, den er für die Polizei organisiert, mit hineingezogen
hat: „Letztlich sind wir gleich: Wir sind zwei Idioten auf einem
Müllhaufen.“ Darauf antwortet der andere: „Ja, aber ein reicher
Idiot ist ein Reicher, während ein armer Idiot ein Idiot ist.“ Der
gewöhnliche Zynismus bewirkt eine entschärfte Erzählung. „Es
war unmöglich, aber sie haben es geschafft“, das versichert uns die
Filmvorschau im Vorhinein. Der Bulle als Gauner, der doppelt
abgesichert ist - durch die Ordnung, der er dient, und durch das
Wissen um die Korruption, das von jedem Skrupel befreit -, wird
immer davonkommen. Es ist unmöglich, ja verboten, ein Opfer
zu sein. In diesen Drehbüchern tötet man nur die Zeugen. Dem
Schlaukopf kann der Drehbuchautor hingegen nichts abschlagen.
Wenn er eine Geschichte machen wollte, müsste er einen aus dem
Tandem opfern. Das ist eine Grausamkeit, die er sich nicht leisten
kann. Das Bild des Reingelegten (Philippe Noiret), der alleine aus
dem Gefängnis rauskommt, ist nicht länger als ein paar Sekunden
erträglich. Dann hört man die Hufe des Pferdes. Und Giraudeau
und Lanvin gelingt ihr Einbruch mühelos. Sie begegnen ihrem
Gegner nur von einem Schaufellader aus, der es erlaubt, alles zu
säubern. Die Frage ist, ob die Stellung des Kinos als Kunst nach
der Entstehung des Tonfilms nicht mit einem Minimum an Moral
verknüpft war: mit dem eingegangenen Risiko in Bezug auf das Bild
als Träger des Begehrens: Themen des Gesetzes und der Übertre­
tung, Funktionen der Veranschaulichung oder der Sublimierung.
Es gibt eine Beziehung zwischen der Standardisierung des aus dem
von der Werbung zugesicherten Glück stammenden Bildes und der
Beseitigung der moralischen Spannung der Erzählung. Es gibt kein
Gesetz mehr, es passiert nichts mehr, das Bild ist weiß.

Das ist dasselbe wie in Das Attentat. Da gibt es auch die Vorstellung
von einer Manipulation, von denjenigen, die das Gesetz repräsentieren
sollten, es aber nicht mehr tun, ebenso wenig wie die M oral Und man
versteht auch nicht recht, wo die Moral angesiedelt sein soll. Es gibt
keine positiven Bezüge mehr. In Die Spezialisten sieht man, dass die
Polizei, die gegen die Drogen kämpfen sollte, das nicht wirklich tut,
und auch hier ist der einzige Ausweg, sich zu helfen zu wissen und sich
durchzuschlagen.

Zugleich ist die Polizei auch da, um die Macht zu verkörpern.


Giraudeau kann seinen schönen Coup als Polizist verwirklichen,
da er als Verbrecher davon profitiert. Die Polizei verkörpert nicht
mehr das Gesetz, sondern die nackte Macht. Polizist zu sein ist
ein hochgradig geeignetes Mittel, um sich durchzuschlagen. Diese
Verflachung ebnet auch jedes Drehbuch ein. Das so sehr gelobte
Drehbuch von Die Bestechlichen wiederholt eine Stunde lang diesel­
be Szene der Initiation in die Korruption. Als dramatische Elemente
bleiben der Sozialvoyeurismus - der Besuch der üblen Viertel - und
die Gestalt des Touristen, oder vielmehr des Touristentandems (Die
Bestechlichen oder Zwei Fische a u f dem Trockenen), das den Besuch
mit erstaunten oder blasierten Augen absolviert. Die Freundschaft
ist der einzige Wert, der aus der traditionellen Masse der alten
populistischen Fiktion übrig bleibt: ein Wert der Zuflucht sowohl
für die Kinoproduktion als auch für die Rettung des darstellbaren
Gesellschaftlichen. Das Tandem ist zugleich das minimale Element
eines gesellschaftlichen Spaziergangs - wobei das Umherirren des
Rucksacktouristen auf derselben Route verläuft wie die Runden
der Polizisten - und die Organisation einer Polarität, eines Gefälles
zwischen den Figuren (der Führer und der Geführte, der Gerissene
und der Naive), das den Sinn und die Komödie ausmacht.

4. Die Tandems und die Abwesenheit von Begierden

Im Kino beginnt die Fiktion, wenn es zwei gibt, im Allgemeinen eine


Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau: Es gibt Dramen,
Liebe, einen Haufen von Dingen, die entstehen können. Heute funk-
tioniert das nur mit einem Tandem von Kerlen. Sac de Noeuds film t
ein Frauen-Tandem nach dem Modell der Kerle: „Die Kerle gehen
unter und die Frauen ziehen sich aus der Ajfdre. “ An Das Attentat
ist wichtig, dass man bemerkt, dass das Tandem von Mann und Frau
nicht funktionieren kann. Man glaubt mehr an die Freundschaft in
Zwei Fische auf dem Trockenen, selbst wenn sie konventionell ist,
aber man kann keine Sekunde lang an irgendeine Liebesgeschichte
zwischen Richard Berry und Fanny Bastien in Das Attentat glauben.

Mir scheint tatsächlich, dass von dem Moment an, wo es keine for­
mulierbare Moral und nirgends mehr ein verkörpertes Gesetz gibt,
jedes Element des Begehrens und der Liebe völlig zusammenbricht.
So ist in Die Spezialisten die weibliche Präsenz bloß ein Kulissen­
element. Mit dem restaurierten typisch provenzalischen Haus des
Hinterlandes von Nizza ist sie Teil des Cote-d’Azur-Luxus, der dem
Film sein Markenimage verleiht. Zwei Fische au f dem Trockenen ist da
noch bezeichnender. Wenn Sophie Duez ins Bild kommt, erwartet
man immer, dass sie gleich Werbung fiir irgendein Produkt macht.
In den Tanzszenen zum Beispiel erwartet man sich ein Standbild,
das uns das Geheimnis der außergewöhnlichen Energie all dieser
jungen Leute verraten wird. Eine gewisse Aufwertung der Frau als
Verkörperung der gesellschaftlichen Selbstsicherheit stammt heute
von ihrer privilegierten Rolle als Vorführerin, die das Produkt
präsentiert, das sie schön oder glücklich macht. Diese in die Filme
hineinkatapultierten Frauen, deren erster Satz im Allgemeinen
aussagt, dass ihnen das Ganze (die Probleme der Männer) „scheiß­
egal“ ist, erinnern mich an die junge Frau in der Supermarktwer­
bung („Der hat Probleme, der Typ!“). In all diesen Filmen sind sie
Fremdkörper, oft mit einem bestimmten Kulissenstil verbunden:
eine sehr stereotype, modernistische Hochglanzmagazin-Kulisse.
Sie haben keinerlei Platz in der Struktur der Handlung, die auf
dem männlichen Paar gründet, und sie sind jeglichem Begehren
der Figuren so sehr fremd, dass man sie oft, um ein Minimum an
Erotik zu bewahren, die sich immer gut verkauft, ein Bad nehmen
oder duschen lässt. „Erotik“ des sauberen Körpers. Das Bild von
der Frau, das einst Träger des Verbotes oder des Unmöglichen war,
ist nur noch da, um umgekehrt zu sagen, dass es weder Unmögli­
ches noch Verbotenes gibt, sondern einfach Konsumgüter, deren
Hierarchie die Fähigkeit des Tandems testet, sich durchzuschlagen.
Das sexuelle Symbol wurde völlig von der Funktion des Aussendens
einer Werbebotschaft aufgesogen.
Die Städte werden in diesen Filmen a u f eine bestimmte Art dargestellt.
Sie spielen alle in mittelgroßen undgroßen Städten. Die amerikanischen
Fiktionen funktionieren überhaupt nicht in Frankreich (Country,
Menschen am Fluss [The River]). In Die Bestechlichen hat man den
Eindruck, ein Viertel existieren zu sehen, und zugleich existiert dieses
Viertel nur durch die kleinen Berufe, die mit den Bullen in Verbindung
stehen, mit der Korruption, den fliegenden Straßenverkäufern.

Das liegt am Sparsamkeitsprinzip. Das Tandem muss schnell


einen relativ dichten Sozialraum durchqueren, der von Themen
geprägt ist, die unmittelbar verständlich sind, urbane Themen
der Einwanderung, der Unsicherheit und der Kleinkriminalität.
Dieser Darstellungsmodus erfüllt auf sanfte Art eine alles in allem
positive Funktion, nämlich die, von der Stadt als Ort der Gewalt
zurückzukehren zur Stadt als Raum des Zusammenlebens. Das
Verschwinden des Gesetzes bedeutet auch den sozialen Frieden,
indem das sympathische Universum des kleinen Schwarzhandels
und der kleinen Korruption von Schuldgefühlen befreit wird.
Das Nichts des Gesetzes und das Nichts der Erzählung bilden ein
billiges Prinzip sozialer Toleranz: eine Übereinkunft zwischen den
korrupten Repräsentanten der Ordnung und dieser Bevölkerung
aus Einwanderern und Außenseitern, die es zu durchqueren, zu
beschützen, zu verstehen gilt; eine Toleranz, die die Unfähigkeit
der Figuren kompensiert, Subjekte zu werden. In dieser Perspektive
wirkt eine Gestalt wie die des Rächers und Henkers seiner selbst von
Am Rande der Nacht —der Mann, der sich bestraft, weil er zu sehr
das Gesetz verkörpert hat - schon fast anachronistisch. Im Gegen­
satz zur „Manipulation“, die keine politische Perspektive mehr hat,
die sie unterstützt, kann der andere abgeleitete Modus der linken
Fiktion, der Besuch beim Volk, sich noch aufrecht erhalten, indem
er die Dimension der „Einwanderer“ anstelle der Bauernnostalgie
integriert. Zwei Fische a u f dem Trockenen zeigt, was man damit
erreichen kann. Es war sicherlich ein Glücksgriff, die Figur des ein­
gebildeten Kranken, einen ironischen Repräsentanten der Ideologie
der Gesundheit und des Konsumglücks an die beherrschte Seite des
Tandems gestellt zu haben. Diese Form der sozialen Typisierung,
die man „linkes Kabarett“ nennen könnte, fügt sich glücklich in
die amoralische Gefühlslage der Gegenwart, indem sie eine Form
der Moral einbringt. Das ist der einzige Film, in dem die Figuren
keinen Erfolg haben, wo die Praxis der Verspottung abgekoppelt
ist von der Lobpreisung der Korruption und dem fieberhaften
Streben nach Erfolg. Im Gegensatz zu Die Bestechlichen und zur
Übermännlichkeit von Die Glorreichen (Les Morfalous) spürt man
eine Rehabilitierung einer minderheitlichen linken Strömung, eine
Art Moral des Rucksacktouristen, der sich nicht über die Maßen
anstrengt, um hochzukommen, und die Werte der Freundschaft,
der Zärtlichkeit und der Ironie über sein eigenes Begehren bewahrt.
Es scheint, als ob der Rucksacktourist und der Korrupte die zwei
letzten Gestalten des moralischen Antagonismus wären. Jedoch
überdecken diese städtische Kulisse und jenes Herumziehen des
Tandems den Verzicht auf jegliche glaubwürdige und dramatisch
funktionelle soziale Typisierung der Figuren. Man müsste die Be­
völkerung dieser Filme mit der soziologisch typisierten Bevölkerung
etwa im Stile eines Bourdieu in Verbindung bringen. Die Worte
und die Fotos von Der feine Unterschied haben die Eigenschaft,
eine völlig funktionelle Typologie herzustellen, die geeignet ist,
jede beliebige Fiktion zu unterstützen. Das Problem ist nur, dass
es sich um ein weitgehend veraltetes Volk handelt, ein Volk von
Rentnern, ohne Einwanderer, ohne Punks und so weiter. Ein Film
wie Am Rande der Nacht hingegen stellt ein modernes Volk dar,
das man alle Tage in der U-Bahn trifft, aber ohne Möglichkeit,
die Rampe zu überschreiten, die den Zugang zur fiktionalen Figur
freigibt. So etwa das Punk-Mädchen in Am Rande der Nacht, der
schlechthin alles „scheißegal“ ist, und die, ob sie will oder nicht,
in die Rolle der liebenden Krankenschwester geworfen wird, die
aus der Fiktion der 1940er oder 1950er stammt. All diese Filme
präsentieren uns also ein Volk, das nicht in Rente ist, aber mit dem
sie nichts anzufangen wissen. Das sieht man auch daran, wie das
Soziale in Form des „autobiografischen Moments“ ins Spiel kommt,
das eine völlig lächerliche soziale Prägung ausspricht. So etwa in
Das Attentat die Erinnerungen an die bürgerliche und moralische
Erziehung in Angouleme, die, ohne etwas am Gestus der Schau-
Spielerin zu ändern, durch die Erinnerungen an die lothringische,
kommunistische Arbeiter-Kindheit ersetzt werden könnten. In Die
Spezialisten muss dieselbe Frau den Signifikanten „Luxus“ tragen,
der mit dem internationalen Niveau des Films und dem sozialen
Signifikanten „Krise“ zusammenhängt, der ihre Unterstützung
der Ganoven rechtfertigt (ihr Mann, ein ruinierter und verrückt
gewordener Unternehmer, wurde von den Bullen erschossen, im
selben Haus, in dem sie offenbar in großem Wohlstand lebt). Es
gibt auch lustige Kreuzungen: der Protagonist von Die Spezialisten
ist Polizist geworden, weil sein Bruder an einer Uberdosis gestorben
ist, der Protagonist von Am Rande der Nacht hat die Polizei verlassen,
weil sein Sohn daran gestorben ist. Diese Flucht des Sozialen über
die Signifikanten Krise-Drogen-Einwanderung verleiht der Figur
des Polizisten ihre herausragende Stellung. Der Polizist ist eine
gesellschaftliche Figur, die sich selbst genügt, die überall hinpasst,
ohne dass man sie einführen müsste, und sie zieht die Kleider jeder
professionell nützlichen sozialen Rolle an, ohne dass man sie selbst
sozial typisieren müsste.

6. Moral und Typisierung

Bei Rohmer gibt es in Vollmondnächte (Les Nuits de la pleine lune)


eine Frauenfigur der 1980er-Jahre. Die Figuren sind nie da, um zu­
zuwinken, sie sind in einem anderen Mechanismus gefangen.

Rohmer ist ein Moralist, das heißt einfach jemand, der es sich er­
laubt, einen Standpunkt zu haben. Anderswo ist die Möglichkeit,
eine Geschichte zu erzählen und Figuren zu erschaffen, durch eine
Art von umgekehrter Zensur versperrt. Das Drehbuch reproduziert
in seiner Moral eine kommerzielle Logik, die das berühmte „es ist
verboten zu verbieten“ auf eine Konsumentenmoral banalisiert
und reduziert. Der Film muss eine bestimmte Anzahl von Verhal­
tensweisen, die von Werbezeichen übermittelt werden, als normale
Verhaltensweisen ausgeben, und damit jedes Urteil ausschließen,
das den Blick auf das Produkt trüben könnte. Und dann, auf der
politischen Ebene, ist es ein Kino der Sicherheit, nicht im Sinn
des von der Sicherheit besessenen Rassismus, sondern im Sinn der
Umgestaltung des gesellschaftlich Darstellbaren. Die Dinge gehen
nicht glatt, wenn man Risiken eingehen muss mit dem Gesetz, dem
Anderen und dem Begehren.

Das ist im Grunde bereits das, was in der linken Fiktion fehlte. Es gab
kein wahrhaft moralisches Verhältnis zu den dargestellten Figuren.

Wir kehren zu dem zurück, was wir damals gesagt haben: Der As­
pekt der „Entstehung einer Gesellschaft“ war im französischen Kino
niemals sehr stark ausgeprägt, selbst bei den Autoren wie Renoir, die
es verstanden hatten, das Opfer der Gesellschaft zu dramatisieren.
Die Spielregel ist immer etwas, das bereits vorgegeben ist, in Bezug
auf das die Rechtmäßigkeit der Distanz oder der Revolte beurteilt
wird. Das ist die „anarchistische“ Dimension der französischen
Fiktion, die gestörte Familienfeier. Die Unsicherheit des Gesetzes,
das erst gemacht wird, die Zwiespältigkeit des Gesetzlosen, der
ehrenwerten Leute, des Gesetzesrepräsentanten, das alles war hin­
gegen Sache der amerikanischen Fiktion. Nun, da das moralische
Element dieses fiktionalen Anarchismus (die Rechtmäßigkeit gegen
das Gesetz) selbst auf das Gewinn- und Verlustkonto der Geschichte
verbucht wurde, kommt man zu einer Verknappung des Sinns, die
ebenso in der versicherten Gleichgültigkeit der Fiktion gegenüber
der „Korruption“ wie in den verzweifelten Versuchen politischer
Fiktionen im Stile von Train d ’enferzu spüren ist. Es ist unmöglich,
nicht den Abstand zwischen dem Halbkreis um den Kommissar und
dem Angriff auf den Saloon in Gejagt, gehasst, gefürchtet (Johnny
Guitar) von Nicholas Ray zu sehen. Selbst wenn der hysterische
Gestus von Mercedes McCambridge auf die banale Geschichte einer
eifersüchtigen Frau verwies, hatte er die Glaubwürdigkeit einer
politischen Botschaft, die jene Geschichte über die Masse, die von
den Rechtsradikalen manipuliert wird, absolut nicht hat. Philip
Yordan und Nicholas Ray haben im Tandem der Meuchelmörder
ein dramatisches Element gefunden, das einen Film schuf, den die
Leute nach Belieben als politische Botschaft interpretieren konnten
oder auch nicht. Der Fremde war wahrhaftig in diesem Saloon
anwesend, ebenso stark und zerbrechlich wie der Traum von Joan
Crawford. Jetzt bildet der Fremde keine Figur, er steht vor der Tür,
man steckt ihn in den Käfig, man holt ihn aus dem Käfig, man
«iiützt ihn, aber er verkörpert nicht. Es ist für eine Gesellschaft,
die niemals die Gelegenheit hatte, über das Gesetz des Lynchens
nachzudenken, sicherlich schwierig, dem Rassismus eine Gestalt zu
geben. Und dann gibt es den Zwang zum Glück, der das Feld des
Darstellbaren genau umgrenzt und die Gewalt erlaubt, aber nicht
die Grausamkeit. In Die Spezialisten oder in Die Bestechlichen merkt
man genau, dass um der Schönheit der Sache willen die schwächste
Figur geopfert werden müsste. Aber die Schönheit ist zu grausam.
Offensichtlich denkt der Drehbuchautor oder der Produzent,
dass der Tod die Zuschauerzahlen senkt, dass ein Kino, das Erfolg
haben will, ein Bild des Erfolges bieten müsse. Es liegt etwas sehr
Verkrampftes in den Versicherungen, dass das französische Kino
bei bester Gesundheit sei. Man denke an die Rede von Zidi bei
der Preisverleihung der Césars. Einerseits belohnt die Branche
denjenigen, der Erfolg hat, indem er Filme macht, die behaupten,
dass das einzige Problem der Erfolg sei. Andererseits sagt Zidi mit
zu viel Nachdruck: „In Frankreich haben wir Glück, wir haben ein
Publikum, ein großartiges Publikum.“ Man spürt dabei ein sehr
defensives Spiegelverhältnis, bei dem der Produzent, der Dreh­
buchautor und der Regisseur ängstlich das glückliche Verhältnis
zum Publikum vorwegnehmen, von dem man annimmt, dass es
Glück ohne Begehren, Gewalt ohne Grausamkeit und Bewegung
ohne Geschichte will. Der Zynismus des Sicherheitsdenkens verleiht
dem Film seinen Inhalt und der Produktion ihre Formel. Beide sind
gepanzert gegen alles, was an die Grausamkeit des Sinns und an die
Risiken der Geschichte erinnern könnte. Es ist wie am Anfang von
Die Spezialisten, wo Lanvin sagt: „Wer weiß ...“ und Giraudeau
antwortet: „Ich weiß schon.“

7. Das Gute und das Böse im französischen Kino

Man könnte sich auch ansehen, wie der Staat (das Kultusministerium
in Form der Direktförderung) seine Präferenzen in Sachen Kino for­
muliert hat. Eine Politik der großen Namen, international, mit ein
paar Achsen wie die Geschichtey die Französische Revolution, (Dan­
ton von Wajda)y die Trauer um die Kolonieny das Kaiserreich (Adieu
Bonaparte von Chahine) und so weiter. Dann ist da noch Das Geld
(L’argent) von Bresson.

Das Geld vollzieht das, was Bresson immer gemacht hat: eine Ein­
schreibung der Zeitzeichen. Die Zeichen zirkulieren dann, wenn
und insofern sie beurteilt werden. Die theologische Bestimmung der
Signifikanten - das heißt die Anwendung einer Dämonenlehre -
macht ihre Wirksamkeit als Geschichte aus. Das Geld entspricht der
sozialistischen Regierung, insofern sie symmetrisch zur Erschöpfung
des moralischen und kulturellen Linksradikalismus ist. Der Film
ist zu einem Zeitpunkt herausgekommen, als eine Generation, die
unsere, ihr „Soziales“ in die Hände von linken Politikern gelegt und
das Problem des Bösen wiedergefunden hat.

Bresson ist ein wenig der Vorläufer dieser Begriffe von Gut und Böse.
Warum sind diese großen Begriffe in den durchschnittlichen Fiktionen
desfranzösischen Kinos nicht präsenter?

Ganz einfach, weil niemand daran glaubt: die Produzenten, die


Drehbuchautoren, die Regisseure, das Publikum - niemand glaubt
daran. Die Geldzirkulation darzustellen, die Geldscheinautomaten,
den Austausch der Scheine, die Gleichwertigkeit von wahr und
falsch auf dem Papiergeld wie die Anwesenheit des Bösen, das ist
eine Idee, die einer heute selten gewordenen Kultur angehört. Der
Diskurs über die Institution des Bösen findet keinen Platz mehr
in der Diversität der Ideologien, die vom Strom des glücklichen
Konsums mitgerissen wurden oder die sich auf das Thema der
Ausbeutung und der sozialen Verantwortung versteift haben. Das
bewirkt die offensichtliche Lächerlichkeit von neokatholischen Er­
klärungen im Stile von Muray (Le XIXesiècle à travers les âges) oder
anderer, die von Intellektuellen geliefert werden, die im Übrigen
völlig mit dem Durchschnittsstandard ihrer Zeit synchron gehen.
Man muss daran glauben, und man glaubt daran nicht auf Befehl.
Bresson hingegen hat kein Problem damit, einen alten Katechis­
musdiskurs in Bilder zu umzusetzen, den manche heute als den
Höhepunkt der politischen Reflexion zu entdecken glauben (ohne
Transzendenz, kein Gesetz, keine Schuld mehr, keine Möglichkeit,
der absoluten Notwendigkeit des Heils, folglich des Schreckens
zu entkommen ...). Er glaubt an Gut und Böse, gerade an die
Ohnmacht der großzügigen Versuche, das Gute zu tun. Daher die
fantastische Kraft des letzten Teils des Films. Das setzt eine abso­
lute Distanz zum durchschnittlichen Glaubensstandard voraus.
Es müsste andere Möglichkeiten geben, Geschichten zu machen,
das bedürfte eines Nachdenkens über das französische Kino ab der
Nouvelle Vague, deren Problem offensichtlich ein anderes ist als das
der Standardfiktion, von der wir heute sprachen. Man müsste sich
fragen, inwieweit die besten von ihnen ein Prinzip der Kohärenz
finden haben können zwischen der Kinokultur, die sie als Lehre der
Großen (Lang, Hitchcock, Rossellini...) erhalten haben, und ihrer
eigenen Empfänglichkeit für die gesellschaftlichen und politischen
Botschaften ihrer Zeit und für die politischen Engagements, denen
sie begegneten. Aber das ist eine andere Debatte.
1994
Politik der Schrift25
mit Monica Costa Netto

In einer Zeit, in der sich der „revisionistische Nihilismus" und „das


blasierte Gerücht vom Ende der Geschichte“ verbreiten, bietet uns
Jacques Ranciere eine Reflexion über die Geschichte an, die von ihrem
Schreiben als dem Ort ihrer eigenen Wahrheit ausgeht. Die Geschichts­
wissenschaft hat sich als Bereich desjenigen Wissens konstituiert, das den
Bedingungen seiner Zeit genügt, indem es sich als Geschichte schreibt.
In der Spannung zwischen Erzählung und Rede hat die Geschichte von
Michelet bis Braudel gegenüber den Ansprüchen derpositiven Wissen­
schaft die Signatur ihrer eigenen Wissenschaftlichkeitgeltend gemacht,
indem sie sich literarischer Verfahren gegen die Literatur bedient hat.
Rancieres Reflexion istjedoch in ein breiteres Projekt eingelassen, näm­
lich in das einer Poetik des Wissens: „ Untersuchung aller literarischen
Verfahren, durch die eine Rede (discours) sich der Literatur entzieht,
sich den Status einer Wissenschaft gibt und ihn bezeichnet. Die Poetik
des Wissens interessiert sich fü r die Regeln, nach denen ein Wissen
geschrieben und gelesen wird, sich als eine spezifische Rede (discours)
konstituiert.c<26 Wir haben den Autor eingeladen, schriftlich a u f ein
paar Fragen zu antworten, die sein Werk hervorgerufen hat.

***

Monica Costa Netto, „Philosophie, philosophie“ : Die Humanwis­


senschaften, die Literatur und die Politik sind in Ihrer Perspektive a u f
sehr spezielle Art und Weise miteinander verbunden. Wird die Aufgabe
des Philosophen durch Ihr Interesse dafür nicht als diejenige bestimmt,
das zu denken, was an den Grenzen der Wissensgebiete vorgeht? Findet
die Philosophie nur noch an den Grenzen ihre Zeit und ihren Ort?
Jacques Ranciere: Zuerst einmal muss ich klarstellen, dass ich mei­
nen Arbeitsgegenstand nicht mit dem gegenwärtigen Schicksal der
Philosophie gleichsetze. Es gibt keinerlei geschichtliches Schicksal,
das die Philosophie heute darauf reduzieren würde, sich auf die
Grenzen zu beschränken. Sie hat sich immer mit der Aufteilung
und mit den Grenzen zwischen den Diskursmodi beschäftigt. Es
gibt Philosophie im Allgemeinen dort, wo die Idee eines gemein­
samen Denkvermögens dargelegt wird, wo dieses gemeinsame
Vermögen ausgehend von dieser Selbigkeit von Denken und Sein
gedacht wird, die von Parmenides formuliert wurde, egal welche
widersprüchlichen Gestalten diese Selbigkeit angenommen hat,
zum Beispiel Eidos oder Werden. Die Frage der Teilhabe an diesem
gemeinsamen Vermögen wurde im Platonismus mit der Frage der
Aufteilung zwischen den Diskursmodi oder —in den Worten von
Gilles Deleuze formuliert - mit dem Urteil über die Rechtmäßigkeit
der Prätendenten verknüpft. Das steht auf dem Spiel, wenn man
die Sophisten oder die Dichter auf ihren Platz verweist. Doch auch
die philosophische Frage nach den Grenzen, die zu ziehen sind,
um das gemeinsame Denkvermögen zu bestimmen, wurde mit
der politischen Frage nach der Gemeinschaft verbunden, das heißt
mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem gemeinsamen
Vermögen der Gemeinschaft und der Verteilung der Körper auf
Plätze und Funktionen. Die politische Frage, so wie die Demo­
kratie ihre Formulierung erzwingt, ist die Folgende: Was geht an
gemeinsamem Vermögen in die Rede desjenigen ein, dessen gesell­
schaftliche Tätigkeit durch die Ausübung dieser oder jene Techne
bestimmt ist? Die drastische Antwort von Platon besteht darin, das
Eine der Gemeinschaft gerade mit dem Prinzip der hierarchischen
Verteilung der Körper in der Gemeinschaft zu identifizieren, mit
der ungleichen Teilhabe am gemeinsamen Denkvermögen. Diese
Gleichsetzung zwischen der Aufteilung des Denkens und der Auftei­
lung der Stände wird in einem besonderen Diskursmodus ausgesagt,
in dem der Unterschied zwischen den Diskursmodi aufgehoben
ist, nämlich im Mythos. Die Frage nach der Erzählung hat sich
nicht durch irgendeinen schädlichen Einfluss der Literatur in die
Gegenwartsphilosophie eingeschlichen, sondern die Erzählung ist
bei Platon der Diskursmodus, in dem sich das vollzieht, was man in
den Ausdrücken von Alain Badiou eine Vernähung der Philosophie
mit der Politik nennen könnte.
Diese Vernähung der philosophischen Frage nach der Selbigkeit
von Denken und Sein mit der politischen Verteilung der für das
Denken angeblich mehr oder weniger durchlässigen Körper hat
in der Neuzeit vorzugsweise im Gebiet eines neuen Diskurses, in
dem der Human- und Sozialwissenschaften stattgefunden. Seit
diese Wissenschaften - teilweise als Antwort auf die demokratische
Unordnung der sprechenden Körper - entstanden sind, haben sie
weitgehend als wilde Philosophien funktioniert. Ein Gebiet der
Sozialwissenschaften ist gleichzeitig auch eine bestimmte Art, das
Verhältnis zwischen dem Denken und den Körpern zu gestalten, das
„Eigentliche“ von diesem oder jenem Körpertypus zu erfassen, und
die Weise, wie sein Sein sich in Handlungs- und Sprechweisen zeigt.
Die Selbigkeit Non Denken und Sein hat nicht aufgehört, sich billig
im symmetrischen Bild vom Körper des Wilden oder des Volkes
zu spiegeln, der als Identität eines Seins, eines Handelns und eines
Sagens definiert wurde. Gegenüber dem Mentalitätshistoriker, dem
Ethnologen oder Soziologen hat dieser Körper den Mythos des gu­
ten Wissensobjekts dargestellt, einen Körper, dessen Rede der reine
Ausdruck seines Standes/Zustandes27 ist. Der Mentalitätshistoriker,
der mit der Besonderheit der Rede des Häretikers zu kämpfen hat,
nistete sich in der Intimität des Dorfes ein, um der umherirrenden
Rede des Häretikers den Geruch der Bodenverwurzelung und die
Offensichtlichkeit des Verhältnisses der Erde zu ihrem Himmel zu
verleihen. Indem der Historiker der Arbeit die Rede des Arbeiters
in der „Kultur“ des Berufes einbettete, sagte er zugleich, in welchen
Grenzen und auf welche Art die Arbeiterkörper auf rechtmäßige
Art eine Rede hervorbringen konnten, die würdig wäre, in Betracht
gezogen zu werden. Und der Soziologe verleiht in letzter Instanz
seiner Analyse der Seinsweisen des Volkes nur mit Hilfe von Fotos
von Doisneau einen Körper, da die Fragebögen und Statistiken
ihm nicht genügen. So spiegelt sich das Denken als Fähigkeit des
Aufteilens unendlich in seinem Gegenstand, in einem Denken, das
nicht denkt, das nur der Ausdruck eines Körperzustandes ist.
Es gibt meiner Ansicht nach zwei mögliche Haltungen der Phi­
losophie hinsichtlich dieser Wissensformen. Die eine besteht darin,
den Sozialwissenschaften, die unfähig sind, ihre Vorannahmen
und Zwecke zu denken, und ihrem Anspruch, auf ihre Weise die
Gegenstände der Philosophie zu behandeln, die Würde des reinen
Denkens entgegenzustellen. Diese Art ist sich ihres Erfolgs sicher,
daher völlig belanglos. Die andere Haltung besteht darin, anzu­
erkennen, dass das „Ungedachte“ der Sozialwissenschaften, ihre
wilde Philosophie, auch der Ausdruck einer bestimmten Wildheit
der Philosophie ist, nämlich dort, wo die Frage der Aufteilung des
Denkens der Frage der Aufteilung der Körper in der Gemeinschaft
begegnet. Sie besteht darin, sich auf dieser Frage der Grenzen nicht
als auf dem eigentlichen oder höchsten Ort der Philosophie nieder­
zulassen, sondern als einem Ort, wo sie, indem sie das ihr Eigene
zu bestimmen versucht, die Frage der Selbigkeit von Denken und
Sein mit den Identifizierungen der politischen Aufteilung der Kör­
per verbindet. Sich für die Grenzen zwischen den Wissensgebieten
zu interessieren, bedeutet also, sich dafür zu interessieren, wie die
Philosophie in sich das Verhältnis mit ihrem Außen einschreibt.
Die Literatur kommt aus zwei Gründen ins Spiel. Erstens ist die
Literatur in gewisser Weise das Andere der Sozialwissenschaft. Die
Literatur ist die Erschütterung des strukturierten Universums der
Belletristik, eines Universums, das von der Trennung der poetischen
Gattungen und von den Kanons organisiert war, die die geeigneten
Mittel zu Vervollkommnung jeder dieser Gattungen bestimmten.
Die Literatur, so wie der Begriff im 19. Jahrhundert auftaucht, ist
die Kunst des Wortes, die weder einen anderen Ort noch eine andere
Norm hat als das gemeinsame Vermögen der Sprache. Darin ist die
Literatur von der gleichen Art wie die Unordnung der sprechenden
Wesen, die das demokratische Zeitalter charakterisiert. Sie hat die
Macht, dem Wort einen Körper zu verleihen oder aber zu entzie­
hen, während die Sozialwissenschaften im Wesentlichen darum
besorgt sind, den Subjekten der Demokratie Körper zu verleihen.
Sie entspezifiziert die Wissenschaften und ihre Positivitäten, indem
sie ihre hinweisenden und beweisenden Verfahren in den gemein­
samen Raum der Sprache einschreibt. Letztlich stellt sie ihnen ihre
eigene Utopie entgegen, diejenige, die jedes Denkvermögen auf ein
Sprechvermögen zurückfuhrt. Die Rolle, die die Literatur und die
Literaturtheorie oder -kritik in der Gegenwartsphilosophie spielen,
kann manchmal karikaturistische Züge annehmen. Dennoch sind
sie keine bloße Mode, sondern sind von der Stellung der Philoso­
phie im Feld der Politik und der Wissenschaften vorgeschrieben.
Es gibt auch noch einen zweiten Grund dafür, nämlich die Art
und Weise, wie der philosophische Diskurs sich ursprünglich in
der Definition gerade seines Eigenen außer sich versetzt: in den
Mythos, mit dem sich der Logos für den Verlauf seiner Aufteilung
identifizieren muss, in diesem Spiel des Dialogs, das die gerade
vollzogene Trennung von lebendiger Rede und totem Buchstaben
durcheinander bringt. Man könnte, zumindest in einer spielerischen
Hypothese, behaupten, dass Platon in derselben Weise, wie er die
Soziologie gegen die demokratischen Redner erfunden hat, gegen
die Dichter die Gattung der gattungslosen Literatur erfunden hat.
Die Philosophie befindet sich in ihrem gegenwärtigen Verhältnis
zu den Gegenspielern Literatur und Sozialwissenschaft also im
Grunde zugleich bei sich und außer sich und ist mit dem Paradox
ihres „Eigenen“ konfrontiert.

Der Gegensatz zwischen Rhetorik und Poetik spielt eine wichtige Rolle
in Ihrem Buch. Wird dadurch eine neue Anordnung der alten., von
Platon vollzogenen Wahrheitsaufteilung zwischen den Philosophen
einerseits und den Sophisten und Dichtern andererseits vorgeschlagen?
Und inwiefern passen in dieser Hinsicht Philosophie und Gedicht
zusammen?

Es muss zuerst daran erinnert werden, dass eine Aufteilung zwischen


Diskursmodi vor allem eine Orientierung im Denken ist. Sie ver­
wirklicht sich nur durch Übertreibung oder Erschwindeln, indem
sie mit einer Aufteilung der Körper gleichgesetzt wird. Es gibt keine
entscheidenden objektiven Kriterien, mittels derer die sokratische
Widerlegung von derjenigen der Eristiker oder der platonische
Mythos von dem des Protagoras getrennt werden kann. Was den
Unterschied ausmacht, ist die Art und Weise, wie der Diskurs die
Vorstellung eines gemeinsamen Denkvermögens unterstützt, und
der Bezug zur Wahrheit. Von diesem Blickpunkt aus ist der Ge­
gensatz zwischen Dichtung und Rhetorik bei Platon nicht relevant,
außer an dem - ironischen - Punkt des Wahns. Die Tragödie ist wie
die Rhetorik auf den Applaus des Volkes gerichtet und nicht auf die
Homonoia des Denkens. Diese Stellung ändert sich in der Neuzeit,
als die Dichtung sich, übrigens in sehr unterschiedlichen Formen,
auf ein besonderes Verhältnis der Sprache zur Wahrheit beruft. In
Der unwissende Lehrmeister28 habe ich diese Unterscheidung dem
Theoretiker der intellektuellen Emanzipation, Joseph Jacotot, ent­
lehnt. Er definierte die Poetik als Bedingung eines Subjekts, das
einem anderen sein intellektuelles Abenteuer erzählt - seine eigene
Reise um eine Wahrheit, die sich selbst niemals aussagen lässt - unter
der Vorannahme der Gleichheit der sprechenden Wesen. Die Poetik
und die Rhetorik stehen also durch zwei Kriterien in einem Gegen­
satz. Die eine spricht unter der Vorannahme einer Wahrheit, auch
wenn sie nicht vorgibt, sie auszusprechen, während die andere die
Rede als Anwendung von Regeln auffasst, die durch ihre Wirkun­
gen Gültigkeit erlangen, nämlich durch die Unterwerfung oder die
Zustimmung. Jedes Sprechen, das das gemeinsame Denkvermögen
und die gemeinsame Macht der Gleichheit miteinander gleichsetzt,
ist poetisch. Eine Philosophie, die unter dieser Vorannahme steht,
kann in diesem Sinne poetisch genannt werden, was nicht heißt, dass
sie sich auf das Gedicht reduziert. Der Gegensatz zwischen Poetik
und Rhetorik ist ein Gegensatz in der Richtung des Sprechens,
der unterschiedliche Konfigurationen der Aufteilung des Denkens
unterstützen kann, einschließlich, aber nicht notwendiger Weise,
der Utopien der Dichtung als ursprüngliches Wort oder als Hören
der Sprache, das der Wahrheit der Philosophie besser entspricht. Ich
habe in diesem Buch jedoch einen genau umrissenen Gebrauch von
diesem Gegensatz gemacht. Ich wollte zeigen, dass der Modus und
der Stil der historischen Erzählung nicht die rhetorischen Formen
sind, die dazu bestimmt sind, am wirkungsvollsten die Ergebnisse
der Geschichtswissenschaft darzustellen, sondern dass die poetischen
Formen die Erzählung und die Wissenschaft gleichwertig machen,
indem sie die Erzählung zur Ausführung einer Wahrheit des Wortes
machen. Wenn Braudel sich ins Büro von Philipp II. begibt oder
Michelet uns die Protokolle der Revolutionsfeiern am 14. Juli 1790
als „inmitten der Ernte aufgeschossene Wildblumen“ beschreibt,
dann handelt es sich nicht darum, den Diskurs der Geschichtswis­
senschaft angenehmer zu gestalten, damit er leichter vom Geist
des Lesers aufgenommen wird, sondern darum, diese Wissenschaft
einzusetzen, indem dem Wort ein Wahrheitskörper verliehen wird.
Die Poetik des Wissens nimmt sich vor, diese Wahrheitspositionen
zu untersuchen.

Sie schreiben, dass sich die Revolution der Historiker um die Französi­
sche Revolution herum konstituiert. Sie kämpft mit dem Tod des Königs
und mit dem Überschuss der Wörter; mit der von den revolutionären
Unruhen entfesselten Rede. Heißt das, dass die Revolution als Ereignis
mit ihrem Gewicht die gesamte nichtereignishafte Geschichte prägt?

Die Revolution ist in der Neuzeit der Gattungsname für das


Wortereignis29. Mit Wortereignis bezeichne ich die Ergreifung der
sprechenden Körper durch die Wörter, die sie ihrem Platz entrei­
ßen, die eben jene Ordnung Umstürzen, die die Körper an ihren
Platz verwies, indem sie die Übereinstimmung der Wörter mit den
Ständen und Zuständen der Körper einrichtete. Das Wortereignis
ist die Logik der Gleichheit, der letztendlichen Gleichheit der spre­
chenden Wesen, die die Ordnung der Bezeichnungen auflöst, durch
die jeder einem Platz zugeordnet war, oder in platonischen Begriffen
gesprochen, seiner eigenen Angelegenheit. Der hingerichtete König
ist nicht nur die empirische königliche Person, sondern darüber
hinaus die Spitze einer Ordnung, in der die Weisen des Sagens, des
Mächens und des Seins aufeinander abgestimmt sind. Der König
herrscht über eine Welt, in der jeder sich um seine eigene Angele­
genheit kümmert, wo die Priester beten, die Krieger kämpfen und
die Handwerker arbeiten. Das Wortereignis geschieht, wenn die
Krieger oder Handwerker sich die Wörter aneignen, die nicht für
sie bestimmt waren - die Wörter der antiken Rede oder der bibli­
schen Prophezeiung zum Beispiel - und, indem sie dem Souverän
die Züge des Tyrannen oder der Hure Babylon verleihen, sich in
Soldaten Gottes oder in Rächer der Freiheit verwandeln. Damit
bewirken sie mehr als jene Parodie der Antike, die Marx ankreide­
te. Sie erfinden ein neues Subjekt, das Subjekt Volk, das, indem es
den König tötet, nur einen ursprünglichen Tod aktualisiert, einen
symbolischen Tod, der, indem er seinen Namen ändert, auch der
Ordnung die Rechtmäßigkeit entzieht, die die Übereinstimmung
zwischen der Ordnung der Benennungen und der Ordnung der
Stände und Zustände garantiert hat. In den Revolutionen Englands
und Frankreichs ereignet sich eine symbolische Verwirrung im
Politischen, die auch eine Verwirrung im Wissen ist. Zur Zeit der
Englischen Revolution stellt Hobbes eine starke Verbindung zwi­
schen diesen zwei Verwirrungen her: Für ihn schwebt die politische
Gemeinschaft durch jene undeutlichen Wörter, die Namen keiner
Sache sind und die, indem sie den wahren Körper der Souveränität
angreifen, dem Gespenst des Volkes einen Körper verleihen, in
Lebensgefahr. Zur Zeit der Französischen Revolution aktualisierte
Burke diese Gleichsetzung: Die „Metaphysik“ der Menschenrechte
verwandelt für ihn die theoretische Verwirrung der Wörter ohne
Referenten in die kriminelle Katastrophe der politischen Gemein­
schaft. Ausgehend davon errichtet die Demokratie die maßlose
Unordnung der wuchernden Vervielfältigung der Sprecher, die das
Ereignis von körperlosen Abstraktionen ausmachen (Volk, Freiheit,
Gleichheit und so weiter).
Diese Verknotung von politischer Verwirrung und Verwirrung des
Wissens quält den Historiker. „Der Historiker hat beinahe Abscheu
vor dem Ereignis.“, sagt Braudel.30 Er hat vor allem Abscheu vor
diesem Ereignis und dieser Ereigniskraft, die jene Wörter ohne
Referenten konstituieren, die das Köpferollen der Könige bewirken,
die aber auch, noch viel schlimmer, der Wissenschaft die Garantie
dafür entziehen, die Körper hinter den Wörtern zu finden. Der His­
toriker der Annales stellt von Rechts wegen der Ereignisgeschichte
der Könige und Schlachten die lange Dauer des Lebens der Massen
entgegen. Doch er muss dieses Leben von diesem „Papierkram“
trennen, von dem Braudel spricht, von diesen Schriftstücken der
Armen, die es „sich in den Kopf gesetzt haben zu schreiben, von
sich zu erzählen und von den anderen zu reden.“ Was den Platz des
Subjekts König einnimmt, ist also die Identität eines territorialen
Raumes und eines geschriebenen Raumes, der Mittelmeerraum.
Der Tod von Philipp II., den Braudel metaphorisch erzählt, ist
also der gute Tod, der wissenschaftliche Tod des Königs. Aber bereits
Michelet hatte sich bemüht - beispielhaft in seiner Schilderung der
Revolutionsfeier vom 14. Juli 1790 -, die revolutionäre Unordnung
der Stimmen zu beseitigen, indem er das Wort der Redner und
Gelehrten in den Dörfern in die Stimme der Natur und der Gene­
rationen verwandelte, in die Stimme, die von der Erde kommt und
deren Wahrheit von den Mächten des Lebens und des Todes stammt.
Das Geschwätz der demokratischen Sprecher wird also durch ihre
wahre Stimme ersetzt, das heißt durch ihre Stimme als Stumme.
Und die neue Geschichte gab sich das Programm der Entzifferung
der „stummen Zeugen“. Die romantische Erzählung liefert also die
Möglichkeitsbedingung einer wissenschaftlichen Geschichte.

Die Romantik, die das Ende der mimetischen Herrschaft und die De-
konstruktion des alten Kanons der poetischen Künste bedeutet, nimmt
in Ihrer Argumentation eine revolutionäre Stellung ein. Deswegen
spielt auch die Michelet’sche Erzählung eine grundlegende Rollefü r die
neue Geschichte. Könnte es sein, dass die Romantikfü r die Philosophie
dieselben Wirkungen gehabt hat?

Die Romantik ist ganz allgemein gesprochen tatsächlich das Ende


der poetischen Gattungen und Künste, die Errichtung der Herr­
schaft einer verallgemeinerten Poetik, die sich gleich weit wie die
Sprache erstreckt und die somit besondere Verfahren vervielfältigt,
durch die ein Diskurs erzählend sein eigenes Verhältnis zur Wahrheit
gestalten kann. Das macht Michelet in seiner Erzählung: Er liefert
uns nicht etwa das Ereignis, das von seiner Erklärung begleitet
ist. Er erzählt uns direkt die Wahrheit des Ereignisses, die dieselbe
Ausdehnung wie das Ereignis selbst hat. Er stellt eine Erzählung
als Wissenschaft her, bei der der Mythos und sein Logos ununter­
scheidbar sind.
Man kann die Sache ausgehend vom platonischen Gegensatz
zwischen Mimesis und Diegesis erklären. Die romantische Revolution
ist die Entwertung der Mimesis und der Vorrang der Diegesis, die
besonders in der Romanform die Mimesis entthront oder aufsaugt.
Für Platon war die Diegesis, bei der der Dichter für sich spricht
oder als derjenige erscheint, der eine Figur sprechen lässt, weniger
betrügerisch als die Mimesis. Doch die Mimesis ist nicht nur der
betrügerische Modus der dichterischen Darstellung, sondern auch
der „exzessive“ Modus der demokratischen Rede, der Dorfredner,
die dem Volk eine Stimme verleihen, indem sie die große Rhetorik
nachahmen. Sie ist die Art und Weise, wie jene, deren ,^Angele­
genheit“ das nicht ist, sich die Sprache des anderen aneignen und
daraus ein Ereignis machen. Der Vorrang der Diegesis bestimmt
also eine Operation, die ebenso politisch wie poetisch ist. Die
Diegesis kennzeichnet die Herkunft der Stimmen, sie spricht die
Seinsweisen ihrer Körper aus, die Kartografie ihrer Orte. Sie ordnet
die umherirrende große Mimesis des Volkes in der Stimme ihrer
„Wahrheit“ ein und löscht sie darin aus. Die romantische Erzäh­
lung lässt bei Michelet die Stimme „ihres“ Körpers und den Körper
„ihres“ Ortes hervorkommen, aber auch bei Hugo oder Zola zum
Beispiel befriedet sie die Demokratie, indem sie ihr einen Körper
und einen Ort gibt. Sie stellt wieder eine geordnete Aufteilung der
Körper und Diskurse her, in einem Modus, der nicht mehr jener
der Verteilung der Funktionen ist, sondern der Territorialisierung
der Stimmen; eine Übereinstimmung zwischen dem Sein, dem
Machen und dem Sagen, die jeden an seinen Platz festsetzt. Sie
erfindet die ethnografische Reise, die eine wesentliche Rolle in der
Mentalitätsgeschichte spielt. Diese literarische Macht, Körper zu
verleihen, ist jedoch, wie ich bereits weiter oben gesagt habe, ident
mit der Macht der Entkörperlichung. Der Sinn jenes diegetischen
Vorrangs kann sich also umkehren und in der Literatur unseres
Jahrhunderts neue Verbindungen des Einverständnisses mit dem
demokratischen Sprechen knüpfen.
Man kann es auch anders sagen: Die Romantik ist die Art und
Weise, wie die Literatur sich in Philosophie verwandelt. Damit kann
sie für die Philosophie auch nicht „dieselben Wirkungen“ haben.
Sie errichtet jedoch komplexe Beziehungen zwischen den beiden,
in denen die Philosophie manchmal ihre Aufgabe an die Literatur
abgibt - zum Beispiel um die Rationalität der Sozialwissenschaften
zu errichten und aufzulösen -, während sie in anderen Fällen ihre
Usurpation beklagt. Die Verwirrung der Philosophie angesichts
der romantischen Revolution wird bei Hegel deutlich. Die gesamte
Ästhetik kann als eine Kriegsmaschine gegen den romantischen
Anspruch einer Literatur aufgefasst werden, die Selbstreflexions-
vermögen sein will, und gegen die Ruhelosigkeit des „Humors“
des Romans, die der Verirrung des demokratischen Sprechens
entspricht. Besonders der Abschnitt über die romantische Kunst
entschärft die explosive Kraft der Romantik, indem ihre Neuheit
in der Entwicklung der christlichen Subjektivität verwässert wird.
Hegel zieht der Ruhelosigkeit der Romantik eine Auffassung von
Dichtung vor, die vom epischen Paradigma der Inhärenz des dichte­
rischen Sagens zu einer Weise des Seins und des Mächens beherrscht
wird. Die in die Philosophie unserer Zeit gekommene „literarische“
Verwirrung ist mit der Rückkehr der Provokation verbunden, die
sie zu verdrängen versuchte.

Eine neuepoetische Revolution wäre Ihnen zufolge unabdingbarfür die


Geschichte, damit sie dem entsprechen kanny was Sie die laizistischen
Häresien nennen, die unsere Epoche charakterisieren. Sie schlagen vor;
dass die Geschichte sowohl ihren wesentlichen Bezug zur Literatur ak­
zeptiert, als auch ihre Paradigmen erneuert, indem sie der Entwicklung
des Romans folgt. Genügt die Wahl ihrer literarischen Inspirationen,
um der Geschichte die Logik ihres Sinns zu liefern?

Es geht offensichtlich nicht darum, die Frage nach dem historischen


Diskurs auf die Frage der Entscheidung für dieses oder jenes lite­
rarische Paradigma zu reduzieren. Die „Literatur“ wirkt an einem
ganz bestimmten Punkt auf die Geschichtsschreibung, nämlich am
Verhältnis zwischen der Stellung des Historikerdiskurses und der
Stellung dessen, wovon er berichtet: von den Wortereignissen, durch
die die Subjekte „Geschichte machen“. Die romantische Erzählung
hat dafür der Mentalitätsgeschichte ein Hauptparadigma geliefert,
nämlich jenes, das das Wortereignis auf die Stimme eines Körpers
zurückführt, die selbst der Geist eines Ortes ist. Von Michelets Die
Hexe (La Sorciere) bis Le Roy Laduries Montaillou hat sich dieses
Paradigma als wunderbar geeignet erwiesen, die mittelalterliche re­
ligiöse Form des Überschusses der Rede, die Häresie, zu behandeln.
Es hat den Häretiker in einen Bauern verwandelt, der eine ewige
Wahrheit des Bauernuniversums ausspricht. Es hat sich hingegen
als völlig ungeeignet erwiesen, mit den regellosen Formen der
modernen demokratischen Subjektivierung und den Handlungen
dieser Subjekte - Volk, Arbeiter, Proletarier ... - umzugehen, die
aufgetreten sind, indem sie sich von ihrer Zuweisung zu einem
Körper der Arbeit und der Reproduktion losgesagt haben, um sich
in ihrer Gleichheit als sprechende Wesen zu behaupten. Als ich La
Nuit des prolétaires schrieb, habe ich verstanden, dass ich diese un­
terschiedlichen Massen verwaister Worte nicht so behandeln konnte,
dass ich daraus den Ausdruck von ganz spezifischen Körpern und
Orten des Arbeiters, der Fabrik oder der Elendsquartiere machen
konnte, die immer schon gegeben waren. Man musste umgekehrt
diese von vornherein gegebenen Körper vergessen, um, gerade mit
seinen Lücken, das Netz der Erfahrung, das sich darin formuliert,
der Kommunikation, die sich darin vollzieht, und der Zukunft,
die sich darin entwirft, wiederaufzubauen. Indem die romanti­
sche Erzählung jenes Sprechen aus seinem „Ort“ entstehen ließ,
hätte sie ganz einfach das annulliert, was seine Geschichtlichkeit
ausmacht, nämlich gerade seine Abstraktion, seine Entkörperli­
chung. Man musste also diese Umkehrung der Diegesis, von der
ich vorhin gesprochen habe, zum Modell nehmen, jene, die sich
bei Schriftstellern wie Proust, Joyce oder Virginia Woolf vollzog,
wo nicht die Stimme aus dem Körper und der Körper aus dem Ort
hervorgeht, sondern das sinnliche Netz der Worte den Figuren das
Bisschen Körper verleiht, durch das sie Subjekte sind, und den Ort
des Ereignisses errichtet. Einzig diese Umkehrung erlaubt es, jene
zufälligen und entkörperlichten Formen der Subjektivierung, das
heißt, wenn man so will, der demokratischen Häresie zu verstehen.
Die Häresie ist, in ihrer allgemeinsten Form, das durch das Wort
von sich selbst getrennte Leben. Ein geschichtliches Subjekt ist in
diesem Sinn immer die Verwirklichung einer Häresie. Sich für ein
literarisches Paradigma zu entscheiden bedeutet also, über eine Ge­
schichtlichkeit zu entscheiden, bedeutet, die Geschichtserzählung
dieser oder jener Vorstellung von der Wahrheit und vom Verhältnis
zwischen der Aufteilung der Körper und dem gemeinsamen Denk­
vermögen zu überlassen.

Ist die Poetik des Wissens also eine kritische Hermeneutik? Stimmen
darin der Sinn und die Wahrheit der Geschichte überein?

Ich habe kaum Affinitäten zum Begriff der Hermeneutik, insofern er


einen nur dem Sinn vorbehaltenen Bereich mit eigenen Interpreta­
tionsverfahren voraussetzt. Der Bereich des Sinns ist für mich keine
abgetrennte Ordnung, die zum Beispiel in der Tradition der Geistes­
wissenschaften das „Verstehen“ anstelle der „Erklärung“ verlangt. Er
ist der Raum, in dem sich im Konflikt das Verhältnis zwischen dem
gemeinsamen Denkvermögen und der Verteilung der Körper in der
Gemeinschaft herausbildet, in dem die Ergriffenheit des sprechenden
Wesens von der Einzigartigkeit eines Namens die Ordnung der Körper
stört. Das ließe sich anhand des Textes Essais de palingenesie sociale
von Ballanche veranschaulichen, der so etwas wie der Gründungstext
des Emanzipationsdenkens im 19. Jahrhundert ist. Er schildert die
Abspaltung der römischen Plebejer auf dem Aventin als die Behand­
lung einer einzigen Frage: Sprechen die Plebejer? Ist das, was aus ihren
Mündern kommt, der Lärm hungriger und wütender Körper oder
die Ausübung der Fähigkeit, zu benennen und zu versprechen? Die
römischen Senatoren stehen einem unerhörten Ereignis gegenüber:
Die Plebejer haben sich einen Namen gegeben und haben sich durch
ein Versprechen verpflichtet. Ihre Rede ist also nicht der Ausdruck
eines Körperzustandes, sondern die Ausübung der Fähigkeit, die
Gegenwart und die Nichtgegenwart im Denken zu verbinden. Der
Sinn ist dem Lärm entgegengesetzt. Er ist kein Begriff, der mit der
Wahrheit ausgetauscht oder durch sie ersetzt werden kann. Die Poetik
des Wissens schlägt keine Theorie der Übereinstimmung zwischen
Sinn und Wahrheit vor. Sie untersucht, wie das Verhältnis zwischen
der Aufteilung der Diskurse und der Aufteilung der Zustände/Stände
im Wissen gemäß dieser oder jener Wahrheitsposition umgeformt
wird. Sie ist jene Umformung, die die Form eines Übereinstimmens
von Sinn und Wahrheit annimmt oder, genauer gesagt, zwischen dem
Mythos des Wortereignisses und dem Logos, der es verständlich macht.

Könnte ein yypoetisches Ununterscheidbarkeitsprinzip “ nicht auch fü r


clas philosophische Schreiben wirksam werden?

Was in der gewöhnlichen Sprache gesagt wird, kann auch immer als
Gedicht gedacht werden, das heißt als intellektuelles Abenteuer, das
jedem Beliebigen erzählt werden kann unter der Voraussetzung, dass
es genügt, ein sprechendes Wesen zu sein, damit man es versteht.
Seit Platon weiß man, dass die Schrift die Stellung des Vaters des
Diskurses und die Situation beseitigt, in der der Diskurs als spezifi­
sches Vermögen hinsichtlich eines spezifischen Empfängers ausgeübt
wird. Es besteht also immer die Möglichkeit, einen philosophischen
Diskurs als ein Gedicht aufzufassen, das heißt ihn als Ausübung ei­
nes gemeinsamen Vermögens der Sprache unter der Annahme einer
Wahrheit (und nicht eines bloßen Spiels von wirksamen Regeln)
zu denken und zu schreiben. Das bedeutet nicht, die Philosophie
auf das Gedicht oder die Erzählung „zu reduzieren“, sondern das
bedeutet, sie an dem Punkt zu erfassen, an dem das Denkvermögen
sich in einer Verbindung zum Sprechvermögen (und auch zu einer
Aufteilung der Körper, das heißt einer Politik) bestimmt. Eine
solche Schrift ist dazu in der Lage, die Philosophie außerhalb ihrer
selbst zu denken, zum Beispiel eben die wilden Philosophien der
Human- und Sozialwissenschaften, oder an ihren Grenzen, dort,
wo sie sich selbst ausspricht, einen Mythos und einen Logos geltend
zu machen, um ihre Eigenheit als Ausrichtung des Denkens zu
bestimmen. Dort, wo es sich, wie im Phaidros, darum handelt,
„Wahres zu sagen, wenn man von der Wahrheit spricht“31, muss das
Gedicht abgelehnt werden, insofern es unfähig ist, die Hymne zu
singen, die dem Ort des Wahren eigen ist, und zugleich muss die
Form des Mythos verwendet werden. Man muss zugleich der Schrift
Lebewohl sagen, die ungeeignet dafür ist, die lebendige Rede zu
bekunden, und alle Formen ihrer Paideia entfalten. Der platonische
Dialog ist die platonische Dialektik und ist sie auch nicht; er ist die
Philosophie Platons und ist sie auch nicht. Es handelt sich nicht um
ein billiges Paradox, das von der modernen Narratologie erfunden
worden wäre. Es handelt sich um die notwendigerweise paradoxe
Situation der eigentümlichen philosophischen Ausrichtung im
gemeinsamen Abenteuer der Sprache, das die Wahrheit erfordert.

Wie soll man Ihre Wahl der Gattung des Essays in der Perspektive einer
Poetik des Wissens und einer Politik der Schrift ansiedeln? Ich würde
Ihnen damit auch gern die allgemeinere Frage nach der Schrift der
Philosophie und ihrer Signatur stellen.

Die Frage nach der Signatur ist die Frage danach, wie ein Subjekt
in „seinem“ Diskurs anwesend ist. Diese Frage stellt sich bei Platon
im Begriff der Lexis oder in der Anwesenheit oder Abwesenheit
des „Vaters“ im Diskurs. Wer bietet sich an, eine Gesamtheit von
Aussagen zu unterstützen und in welcher Gestalt? Eine Signatur
verpflichtet ein Subjekt, seine Anwesenheit in seinem Diskurs und
die Eigenschaft dieser Anwesenheit. Ich bin das Problem in meinem
Buch auf umschreibende Weise angegangen: Ich habe gezeigt, wie
die oft so genannten „Stileffekte“ des Historikers nicht Ausschmü­
ckungen sind, mit denen die Wissenschaft sich angenehmer gestal­
tet, sondern eigentlich seine Signatur. Sie sagen, wer schreibt und
in welcher Eigenschaft. Sie verfügen die ganze Erzählung hindurch
über den Stempel, der sie als Diskurs der Wissenschaft ausweist.
Die Effekte der Signatur vollziehen eine Identifizierung und eine
Legitimierung. Nicht dieser oder jener unterstützt diese oder jene
Gesamtheit an Aussagen, sondern die Wissenschaft, die Soziologie,
die Geschichte oder die Philosophie. Der Eigenname ist zugleich
ein Gattungsname, ein Zeichen der Zugehörigkeit.
Man kann diesbezüglich sagen, dass der Essay die Signatur auf den
bloßen Eigennamen reduziert. Er ist im Grunde also in der Theorie,
was der Roman im Verhältnis zur Poetik ist, die Gattung dessen,
was ohne Gattung ist. Der Essay ist der Diskurs, der keine Legiti­
mitätsposition unterstützt, keinerlei legitime Identifizierung. Jedoch
kann das Fehlen von Eigentümlichkeit selbst zwei gegensätzliche
Formen annehmen. Einerseits kann es sich als „Stil, der der Mensch
ist“ geben, als das Ergebnis eines Essayisten-„Temperamenis“. Der
Essay ist dann selbst nur eine Signatur: Er signiert die clowneske
Gestalt des Intellektuellen, der von der heroischen Identität eines
Denkens und eines Charakters aus jedes Fachgebiet überschaut. An­
dererseits ist der Essay das intellektuelle Abenteuer, das die Grenzen
der Fachgebiete in der einzigartigen und gewagten Verifizierung der
Annahme eines gemeinsamen Denkvermögens überschreitet. Der
Essay bezeichnet dann kein Objekt irgendeiner spezifischen Wahl.
Im gegebenen Fall habe ich mich nicht entschieden, einen Essay zu
verfassen. Dieses Buch ist aus einem Seminar entstanden, also aus ei­
ner gewöhnlichen Form der universitären Arbeit. Es ist das Ergebnis
einer Forschungsarbeit und nicht eine persönliche Stellungnahme
zum Zustand der Welt. Was ihn zu einem „Essay“ macht, sind
letztlich bestimmte formale Charakteristika: seine Gedrängtheit,
die Abwesenheit von Anmerkungen und einem wissenschaftlichen
Apparat, ja sogar sein Format. Bestimmte formale Charakteristika
sind aber natürlich auch Entscheidungen im Sinne der Politik der
Schrift. Sie lehnen klassische Formen der Legitimierung und der
Identifizierung ab. Sie versuchen, die Erzählungen der Wissenschaft
zu schwächen und ihren Positionen Legitimität zu entziehen. Le­
gitimität wiederum kann man auf zwei Arten beseitigen. Es gibt
die „Entmystifizierung“, die sich eine bestimmte Soziologie zur
Spezialität gemacht hat, die darin besteht, hinter den mehr oder
weniger grandiosen Wörtern die Banalität der sie tragenden Körper
und Körperzustände zu finden. Das ist eine nur wenig interessante
Ersetzung der Legitimität. Die andere Art ist jene, die zwischen
den Wissenschaften den Verlauf einer singulären Reise in der ge­
wöhnlichen Sprache herstellt, der sie auf die poetische Bedingung
der Gleichheit verweist, auf die Bedingung eines Diskurses, der sich
Satz für Satz in einer unendlichen Annäherung aufbaut, in der die
Signatur eines Eigennamens dasjenige kennzeichnet, was ein Subjekt
sich verpflichtet, als das Seine auf dem Territorium der gemeinsamen
Sprache und des gemeinsamen Denkens zu unterstützen.
Eine Politik der Schrift, die Wahl des Körpers, die man den
Wörtern gibt, die Wahl der Signatur, die ein Subjekt bezüglich ihrer
Stichhaltigkeit verpflichtet, ist immer die Wahl dessen, was eine
Schrift in Bezug auf die Verhältnisse zwischen dem „Eigenen“ des
Denkens und der Anordnung der Körper in der Gemeinschaft ent­
scheidet. Die Stellung der Philosophie kann nur paradox sein, nicht
aufgrund des modernen Katastrophendiskurses, sondern durch ihr
Wesen selbst. Das „Eigene“ der Philosophie, das Denken der Selbig-
keit von Denken und Sein, äußert sich immer uneigentlich. Die
Geste, die dieses Eigene abgrenzt, ist immer mit einer Entscheidung
über die Aufteilung der Sprache und über die Aufteilung der Körper
verknüpft. Die Philosophie kann weder auf die Abgrenzung ihres
Eigenen verzichten, noch sich dem entziehen, was sie außerhalb
ihrer selbst versetzt und ihr Äußeres ins Innere ihrer selbst zurück­
versetzt. Es gibt also mehrere Schriften und mehrere Signaturen der
Philosophie, aus Notwendigkeit und nicht aus Eklektizismus.
Geschichte der Wörter,
Wörter der Geschichte32
mit Martyne Pierrot
und Martin de la Soudière

Communications: In welchem Moment Ihrer Karriere, Ihres For­


schungsweges haben Sie das Bedürfnis empfunden, über die Geschichts­
schreibung nachzudenken und darüber zu schreiben?

Jacques Rancière: Es gab eigentlich zwei Momente, bei denen sich fur
mich die Frage der Geschichtsschreibung gestellt hat: ein erstes Mal
praktisch und ein zweites Mal eher theoretisch. Ich war dabei, La
Nuit des Prolétaires zu schreiben. Am Anfang dachte ich, zu einem
Verständnis der Arbeitersprache gelangen zu können, das sie auf eine
bestimmte Seinsart, auf eine bestimmte Kultur verweist. Aber ich
habe schnell bemerkt, dass diese Art Erklärung nicht der in Frage
stehenden Wirklichkeit angemessen war, und dass ich eigentlich
den entsprechenden Wahrheitstypus beseitigen würde, wenn ich
jene Ausdrücke in eine Art Arbeiterkollektiv einsperren würde. Das
Problem der Schrift stellte sich also folgendermaßen: Ich konnte
keinen realistischen, naturalisierenden Erzähltypus verwenden. Ich
konnte nicht diesen Erzähltypus verwenden, der in gewisser Weise
einen Körper aus einem Ort und eine Stimme aus diesem Körper
hervorgehen lässt. Dieser Modus der Erzählung, den man realis­
tisch nennen könnte, „autorisiert“ die Position der Sprecher, die er
inszeniert, indem sie sie in „seiner“ Welt unterbringt. Es ging hier
nun aber darum, die Errichtung eines Netzwerks unrechtmäßiger
Diskurse zu erklären, die eine bestimmte Identität, ein bestimmtes
Verhältnis zwischen den Körpern und den Wörtern sprengten. Infol­
gedessen musste ich das anders beschreiben, um diesem Universum
des Wortes seinen sowohl unautorisierten als auch lückenhaften
Charakter zukommen zu lassen, auch um diesen Erfahrungen ihre
Zwiespältigkeit und ihre Unentscheidbarkeit zuzugestehen. Ich
habe sodann bemerkt, dass es unmöglich war, das in der Art der
Erzählung eines Hugos oder eines Zolas zu machen.
Ich musste also einen Erzähltypus anwenden, der scheinbar nicht
für das Sprechen über das Volk geeignet war. Ich musste andere
Modelle zum Vorbild nehmen (Proust oder Virginia Woolf zum
Beispiel), das heißt ein Erzählmodell wählen, das nicht zu verorten
und zu verankern beginnt, sondern das vom fragmentarischen,
lückenhaften, unentscheidbaren und nur teilweise entscheidbaren
Charakter jener Worte ausgeht, einen Erzähltypus wie bei Virgi­
nia Woolf wählen, bei dem es Stimmen gibt, die sich allmählich
verflechten und in gewisser Weise ihren ganzen Wirkungsraum
erzeugen. Es ging darum, eine Erzählung zu konstruieren, bei der
sichtbar wird, wie Stimmen allmählich eine Art kollektiven Raum
bilden, und nicht wie ein Körper Stimmen produziert. Ich bin
also zuerst dem praktischen Problem des Schreibens begegnet, das
aber natürlich auch darauf verwies, was man eine „diffuse Politik“
nennen könnte, weil die Zeit, in der ich La Nuit des prolétaires
schrieb, auch die Zeit war, in der eine bestimmte ethnologische
„Note“ vorherrschte, nämlich die politische Applikation der Sozial­
wissenschaften und insbesondere der Geschichte: eine Idee der
Gemeinschaft, die auf Identitäten, auf Bodenständigkeiten und
Berufen und so weiter gründete. Die Kritik dieses banalisierten
Ethnologismus stand am Horizont meiner Arbeit.
Später wurde diese Bemühung von der Richtung, die meine Ar­
beit eingeschlagen hat, in den Hintergrund gedrängt. In La Nuit
des prolétaires hatte ich untersucht, wie die Arbeiter die Sprache
der anderen (der Bürgerlichen, Gelehrten, Dichter) entwenden
konnten, um den Platz in Frage zu stellen, den die Ordnung des
Diskurses ihnen in der Gesellschaftsordnung zuteilte. Ihre Sub­
version erfolgte durch die Ablehnung einer Sprechweise, die dem
Arbeitersein eigen sein sollte. Davon ausgehend musste ich allge­
meiner über die Verhältnisse zwischen der Aufteilung der Diskurse
und der Aufteilung der Gesellschaft nachdenken, nämlich darüber,
wie die Philosophie die Bedeutung der Tätigkeit des Handwerkers in
Begriffe fasst, die ihm den Platz zuweist, der seinem Sein entspricht;
wie die Geschichte oder die Soziologie den Status des „richtigen“
Wissenschaftsobjekts mit der Repräsentation eines Verhältnisses
zwischen einem Seinsmodus, einer Machart und einer Sprechweise,
die der Volksidentität entsprechen sollen, verbindet; wie sich das in
der Aufteilung der Wissenschaften spiegelt und wie die Aufteilung
der Wissenschaften auf die Gesellschaftsaufteilung einwirkt. Ich
habe mich ganz besonders für die diskursiven Orte und Momente
interessiert, wo diese Aufteilungen problematisch werden, wo zum
Beispiel die Philosophie oder die Wissenschaft durch den Modus
der Erzählung hindurchgehen muss, um die Frage nach der Stel­
lung der Wissenschaft oder des Denkens mit der Frage nach den
gesellschaftlichen Aufteilungen zu verbinden, oder wo die Wahrheit
im Modus der Fiktion ausgesagt werden muss.

Es scheint, dass Sie diese „diskursiven Momente“ ebenso im philosophi­


schen wie im historischen Bereich finden.

Ja. Und diese Frage der Erzählung und des Textes wurde als erstes
und auf ursprüngliche Weise von Platon gestellt. Platon interessiert
mich besonders, weil dieser Philosoph regelrecht ein Dispositiv der
Schrift ist. Er „verurteilt“ die Schrift, aber zugleich rückt er eine
Reihe von Schriften und Schriftkritiken ins Blickfeld: die Dichter,
die die Dichtertraditionen kritisierenden Historiker, die die Dichter
kritisierenden Philosophen und so weiter. In diesem Schriftdispo­
sitiv gibt es spezifische Formen des Übergangs vom Argument zur
Erzählung. Dieser Übergang vollzieht sich ganz besonders an zwei
Knoten des Denkens. Erstens dort, wo das Verhältnis zwischen dem
Denken und der Wahrheit in Frage steht. Denn schließlich gibt es
eine Heterogenität der Wahrheit in Bezug auf alles, was der Diskurs
hersteilen kann. Im Grunde bezieht sich der philosophische Diskurs
nur insofern auf die Wahrheit, als er sich selbst fremd wird. Platon
spricht im Phaidros, als sich die große Erzählung von der Seele als
geflügeltem Gespann anbahnt, von diesem Ort der Wahrheit, den
kein Dichter besungen hat, noch jemals besingen wird, und er
sagt, dass das der Moment ist, da man wahr sprechen muss, wenn
man von der Wahrheit spricht. Doch er erzählt eine Geschichte,
um „Wahres zu sagen, wenn man von der Wahrheit spricht“33.
Der zweite Moment, bei dem die Argumentation der Erzählung
den Platz überlässt, ist jener, da die Frage nach der Aufteilung des
Denkens sich mit der Frage nach der gesellschaftlichen Aufteilung
verbindet. Ich weise dabei auf die großen politischen „Mythen“
hin, die versuchen, die Formen der politischen Verteilung mit der
ungleichen Teilhabe der Seelen am Denkvermögen und Diskurs­
vermögen in Verbindung zu setzen, jene Mythen, die die einen zur
gesetzgebenden Funktion bestimmen, die anderen zur Macht der
Krieger und die letzten zum Stand der Handwerker.

Wenn Sie erlauben, bleiben wir noch ein wenig bei den Griechen.
Sie haben den Ausdruck „Poetik“ im Untertitel Ihres letzten Werket
gewählt: Können Sie ihn genauer bestimmen? Stellen Sie ihn in einen
Gegensatz zur „Rhetorik “ oder zur „Ästhetik “?

Wenn ich von „Poetik“ spreche, dann denke ich vor allem in aris­
totelischer Begrifflichkeit; ich denke oft in griechischen Kategorien,
die aber immer noch funktionieren. Das Wort „Poetik“ schafft einen
Begriff für den Aktivitätsmodus, den Aristoteles Mythos nennt.
„Poetik des Wissens“ bedeutet, dass es eine narrative Konstruktion
des Wissens und einen Diskurs gibt, der über diese Konstruktion
nachdenkt. Unter „Ästhetik“ wiederum verstehe ich Aisthesis\
eine Weise, von einem Gegenstand, einem Akt, einer Vorstellung
affiziert zu sein, eine Art, das Sinnliche zu bewohnen. „Ästhetik“
ist für mich, wenn Sie so wollen, auf der Seite der Rezeption und
„Poetik“ auf der Seite der Aktivität.

Kann man sagen, dass im Unterschied zur Poetik die Rhetorik im


Grunde das Denken nicht in Anspruch nimmt?

Ja. Bei der Poetik geht es um die eigentliche Absicht des Diskurses.
Wenn man das Beispiel der Geschichtserzählung bei Braudel her­
nimmt (die ich in Die Namen der Geschichte behandle), dann geht
es eigentlich um die Funktion der Erzählung in der Wissenschaft
selbst. Man berührt dabei allgemeiner die Art und Weise, wie die
Wissenschaft den Wahrheitskörper ihres Wortes herstellt. Das geht
viel weiter als die Vorstellung von der Rhetorik als Ausschmückung
der Rede oder auch als Macht der Ähnlichkeit mit der Wahrheit.
Übrigens ist die „Rhetorik“ traditionell auch die Kunst, eine Rede
zu halten, die auf eine spezifische Wirkung auf einen Zuhörer
abzielt, auf einen Richter oder Zuschauer und so weiter. „Poetik“
bezeichnet zumindest in meinem Verständnis eine Operation, die
sich in die Perspektive einer Wahrheit versetzt und nicht in die
Perspektive einer Wirkung, die man erhält, wenn man bestimmte
Regeln befolgt.

Es ist interessant, dass der Ausdruck „Poetik “aktuell auch von anderen
verwendet wird, zum Beispiel vom amerikanischen Soziologen Richard
Brown (Autor von A Poetic for SociologyJ. Aber kehren wir zu Ihrem
Interesse an dieser Wissenskonstruktion zurück, die die Poetik ausmacht,
zu Ihrer Aufmerksamkeitfü r das Verhältnis zwischen dem Wissen und
dem Diskurs. Weshalb zeigen unsere Disziplinen ein solches Misstrauen
gegenüber dem Text und der Textanalyse der Geisteswissenschaften, ja
sogar eine solche Furcht davor? Wir haben das in der Soziologie und
in der Ethnologie festgestellt. Sie haben wiederum in Bezug a u f den
Historiker Lawrence Stone durchblicken lassen, dass gewisse Historiker
letztlich die „unheilvolle Herrschaft des Texts und seiner Dekonstruk-
tion “furchten oder die „fatale Ununterscheidbarkeit von Realem und
Imaginärem “35.

Ja, in den USA hat sich um die Problematik der „Dekonstruktion“


(des Denkens, des Textes, der Erzählung) tatsächlich eine Strömung
entwickelt, die ziemlich heftige Reaktionen hervorruft, einschließ­
lich bei den Historikern, die sich anfangs für diese Problematiken
interessiert hatten. In einer Disziplin wie der Geschichte trifft
man immer wieder die Furcht nicht so sehr vor dem Imaginären,
sondern eher vor der Literatur, die eine Furcht vor dem „Unwis­
senschaftlichen“ ausdrückt. Die Geistes- und Sozialwissenschaften
sind in unterschiedlichem Maße problematische und umstrittene
Wissenschaften, die immer mit einem Legitimationsmangel zu
kämpfen haben. Doch die Geschichte ist aus sich ergänzenden
Gründen jene Wissenschaft, der es am meisten an Legitimation
fehlt. Sie trägt zuerst die Last der ganzen Namensgleichheiten. Die
Geschichte muss also immer beweisen, sich selbst beweisen und sich
wieder neu beweisen, dass sie tatsächlich eine Wissenschaft ist, und
muss folglich all das ablehnen, was als literarische Verfahren in die
Konstruktion des historischen Diskurses einfließt. Das ist, glaube
ich, die eine Ebene. Sie drückt auch eine Angst vor den Wörtern aus,
weil die Geschichte einen Diskurs produziert, der im Wesentlichen
in der Alltagssprache argumentiert. Sie muss sich als Wissenschaft
beweisen und gleichzeitig Argumente der Alltagssprache verwen­
den. Außerdem hat die Geschichte mit einem Objekt zu tun, das
ein sprechendes Wesen ist, mit all dem, was das an Problemen mit
sich bringt: Was ist das für ein Objekt, was sind jene Ereignisse,
die weitgehend Wortereignisse sind? Ist die Seinsweise des spre­
chenden Wesens nicht die Verneinung dessen, was das Objekt der
Wissenschaft sein „muss“? Wie kann man es dann vermeiden, dass
sie von ihrem Objekt widerlegt wird? Der Historiker hat in gewisser
Weise Angst vor seinem Objekt, vor dem sprechenden Wesen, weil
dieses Wesen, dieses Objekt sich eben der Wissenschaft zu entziehen
scheint, und ihn auf die Seite des Unwissenschaftlichen zieht. Der
letzte Aspekt des Unbehagens des Historikers ist, dass er mit der Zeit
und mit dem Tod zu tun hat. Sein Objekt verweist ihn auf den Tod.

Kommen wir nun zum Text in der Geschichte. Ihre Definition scheint
uns derjenigen Roland Barth es ähnlich zu sein, wenn Sie vom spezi­
fischen Diskurs der Geschichte sprechen (dery wie Sie schreiben, einen
„dreifachen Vertrag“ „artikulieren“ muss: einen „ wissenschaftlichen“
einen „narrativen “ und „politischen “36). Stimmt das?

Ja, wahrscheinlich. Aber ich habe in dieser Arbeit weniger die


Frage nach dem Text aufgeworfen als vielmehr die Frage nach der
Erzählung. Die Frage war im Grunde: Was ist eine Wissenschaft,
die mit sprechenden Wesen und mit Ereignissen zu tun hat, die
diesen sprechenden Wesen geschehen? Diese Wissenschaft - die
Geschichte - muss nicht nur die Ereignisse verketten und die Tat­
sachen strukturieren, sondern auch noch ein bestimmtes Gewebe
herstellen, das von einem anderen Gewebe von Worten ausgeht oder
mit ihm arbeitet. Das war mein Problem und genauer: Wie kann
man im Verhältnis und in der Dialektik all dieser Ebenen der um­
herirrenden Rede, des zirkulierenden Wortes, des nicht legitimierten
Sprechens Wahrheit (oder einen Diskurs, der sich auf die Wahrheit
beruft) „machen“, und dann den Text, auf den dieses Sprechen
reduziert werden muss, in dem es rekonstruiert, aufgezeichnet
und erklärt werden muss? Mehr als die Frage nach dem Text als
„Dissémination“ oder als das Verhältnis zwischen dem „Soziolekt“
und dem Text interessiert mich das Verhältnis zwischen der großen
sozialen „Mimesis“ der Sprechweisen - die Weise, wie die Akteure
der Geschichte, wie die Revolutionäre bei Marx, bereits Gesagtes
wiederholen - und der „Diegetik“ der Erzählung des Historikers,
die dieses mimetische Spiel in Ordnung bringt.37

Sie sagen: „sprechende Wesen “; und in Ihrem Buch schreiben Sie: „der
Mensch ist ein literarisches Tier“. Diese Bezugnahme a u f die Literatur
ist ganz sicher gewollt. Könnten Sie diese Idee ausführen, zum Beispiel
ausgehend von jener anderen Behauptung: „ Weil der Mensch ein li­
terarisches Tier ist, ist die Geschichtswissenschaft unmöglich und die
Geschichte möglich. “38?

Ich sage „literarisches Tier“ natürlich unter Bezugnahme auf das


„politische Tier“. Man muss darunter verstehen, dass der Mensch
ein politisches Tier ist, weil er ein literarisches Tier ist, das in den
Verlauf eines Sprechens, des Buchstabens eingelassen ist, dem in­
dividuelle und kollektive Ereignisse durch die Wörter und durch
die Sätze geschehen. Wenn ich von der Literatur spreche, spiele ich
auf etwas Spezifischeres an, nämlich auf die Geburt der Literatur
als Idee, als Begriff ihrer selbst in der Romantik, das heißt zu dem
Zeitpunkt, als man nicht mehr in der Tradition der poetischen
Künste stand (poetische Gattungen und Regeln der Poetik), sondern
als die Literatur sich als eine Kunst verstand, die nur in den Bereich
des gemeinsamen Vermögens der Sprache gehört. Ich versuche
im Grunde zu sagen, dass es letztlich das ist, was die Geschichte
ermöglicht: Die Geschichte kann dieses gemeinsame Vermögen,
dieses in gewisser Weise neutral gewordene Vermögen der Literatur
verwenden.

Sie schreiben, dass die neue Definition der Literatur zur gleichen Zeit
wie die neue Definition der Geschichtserzählung und die Errichtung
der Demokratie entstanden ist. Ist es ein und derselbe Vorgang, der
die drei Dinge aufkommen lässt? Wie genau haben diese drei Ebenen
miteinander interagiert?

Ich versuche zu erklären, dass die Epoche, in der sich die Geschichts­
wissenschaft herausgebildet und auf einer bestimmten Vorstellung
von Wissenschaft gegründet hat, auch der Augenblick der Demo­
kratie war und, genauer gesagt, eines politischen Systems, das die
Tatsache berücksichtigt, dass der Mensch ein literarisches Tier ist
und das politische Tier ein literarisches. Der große Augenblick
des wissenschaftlichen und wissenschaftsgläubigen Denkens, der
Augenblick, in dem die Geschichtswissenschaft sich zu etablieren
versucht, ist also auch derjenige, in dem die Literatur Bewusstsein
über sich selbst erlangt, indem sie sich von einem Universum trennt,
das von dem genormt ist, was man die Belletristik nennt. Doch diese
Koexistenz kann Konflikte hervorrufen. Nehmen wir zum Beispiel
eines der herrschenden Paradigmen der Geistes- und Sozialwis­
senschaften her, das soziologische Paradigma: Es ist als Reaktion
gegen die Demokratie entstanden. In der Überzeugung, dass der
Gesellschaftskörper von einem illegitim zirkulierenden Sprechen
auseinandergerissen wurde, ist dieses Paradigma mit der Vorstel­
lung entstanden, dass man das Gesellschaftsgewebe neu denken
müsse, mit der Absicht, im Glauben, der das Gemeinschaftsband
ausdrückt, eine Art Einheit zwischen dem Individuum und dem
Kollektiv wiederzufinden. Man beobachtet also eine Zeitgleichheit,
die ebenso das Konflikthafte wie die eventuell gegenseitige Berei­
cherung definiert. Ich denke, dass die Geschichte dieser besonderen
Zeit von einer Konflikthaftigkeit gekennzeichnet war, die auch
dann weiterbestand, als der Konflikt vergessen worden war. Das
heißt, dass alle Durkheim’schen Paradigmen der Kollektivität, des
Glaubens und so fort funktionierten und die Mentalitätsgeschichte
bildeten, obwohl ihr konflikthafter Aspekt vergessen worden war.
Die Geschichte des demokratischen Zeitalters wurde weiterhin von
einer Idee der Wissenschaft durchkreuzt, von der man schematisch
sagen kann, dass sie antidemokratisch ist. Daher das Paradox, dass
die Geschichtswissenschaft, die die Wissenschaft des Zeitalters der
Massen sein wollte, im Allgemeinen ihr wahres Objekt in der Zeit
der Könige und Priester gesucht hat. Dieses „soziologische“ Para-
digma hat immer eine eigentliche Geschichte des demokratischen
Zeitalters verhindert.

Geschichte der Wörter; Geschichte des Sprechens, Geschichte der In­


dividuen: Im Grunde besteht das spezifische Problem des Historikers
darin, in seinem eigenen Diskurs die historische Zeit und die Zeit der
Erzählung miteinander zu verbinden.

Tatsächlich kann man nur durch die so gedachte Erzählung in


Wahrheit erkennen, dass der Gegenstand des Historikers etwas ist,
das nicht mit sich selbst gegenwärtig ist. Es gibt ein Ereignis und
es findet Geschichte statt (in dem Sinne, dass Dinge passieren),
insofern der Mensch ein Wesen ist, das nicht mit sich selbst gegen­
wärtig ist. Es geschehen Ereignisse, weil verschiedene Zeiten inei­
nandergreifen, es gibt Ereignisse, weil es Zukunft gibt, Zukunft in
der Gegenwart, weil es auch Gegenwart gibt, die die Vergangenheit
wiederholt, weil es unterschiedliche Zeitlichkeiten in „derselben“
Zeit gibt und so weiter. Man kann das aber auf geeignete Weise
nur begreifen, wenn man das Erzählen als das akzeptiert, was es
ist, nämlich als eine Art, Wahrheit aus dem zu machen, was nicht
mit sich selbst gleich ist. Anstatt die Zeit als Identitätsprinzip zu
verwenden, muss das Erzählen in seiner Konstruktion die Zeit seines
Ereignisses konstruieren. Die Historiker können immer einen etwas
standardisierten Diskurs im Sinne Bachelards vortragen, in der
Art: „Nichts ist gegeben, alles ist konstruiert.“ Aber es ist ziemlich
selten, dass sie das auf die Zeit anwenden. Man konstruiert jedoch
die Zeit, man konstruiert sie durch die Erzählung. Die Historiker
haben allerdings oft Angst vor dieser beweglichen Zeit, sie lehnen
lieber die Zeit und die Erzählung ab oder sie verwenden die Zeit
als Prinzip der Gleichzeitigkeit, das heißt der Identität.

Sie verwenden an einem bestimmten Punkt Ihres Buches diesbezüglich


das Wort „Fabel“ („intrigue“). Wie würden sie den Begriffdefinieren?
Verwenden Sie ihn zum Beispiel im selben Sinne wie Paul Veyne?

Ich verwende „Fabel“ im aristotelischen Sinne. Die Fabel ist eine


Geschichte, eine Aneinanderreihung von Handlungen. Der His­
toriker muss seinen Gegenstand durch eine bestimmte Aneinan­
derreihung von Handlungen behandeln. Das ist nicht sehr weit
von dem entfernt, was Paul Veyne sagt, aber ich interessiere mich
vielleicht nicht genau dafür, wofür Paul Veyne sich interessiert.
Er schwankt übrigens zwischen verschiedenen Positionen, was
die Stellung betrifft, die er dem Ereignis gibt. Bei ihm erscheint
das Ereignis manchmal als objektiv, wenn er zum Beispiel von
einem „Ereignis-Feld“39 spricht: Es gebe für die Historiker ein und
dasselbe Ereignis-Feld. Wenn sie derselben Straße folgen, sagt er,
dann werden sie es auf dieselbe Art durchqueren und dieselbe Ge­
schichte machen. Es gäbe also Fabeln, die der Historiker ausgehend
vom Ereignis-Feld konstruiere. Ich unterscheide mich vielleicht
von dieser Position, weil ich nicht denke, dass es ein Ereignis-Feld
gibt. Ich denke, es gibt, sagen wir, die Vielfalt der Tatsachen und
dann Modi der Fabel, die bestimmen, ob es ein Ereignis gegeben
hat und welches. Der Revisionismus zum Beispiel konstituiert eine
Fabel, bei der eine Sammlung von Tatsachen eine Sammlung von
Tatsachen bleibt und nicht die Gestalt eines einzigen Ereignisses
annimmt. Ich hatte zu entscheiden: Bilden die Briefe, die die
Arbeiter in den 1830er-Jahren austauschten, jene „Glaubensbe­
kenntnisse“, die sie auf Anfrage der Saint-Simonisten anfertigten,
ein Ereignis, und wenn ja, welches? Gehören Sie zur Gesamtheit
der „Zeugnisse über das Privatleben und die Arbeitergeselligkeit“?
Oder aber zur Gesamtheit - die erzählerisch aufzuweisen ist -,
die man „kämpferische Symbolisierung des Arbeiterseins“ nen­
nen könnte? In diesem Maße kann man sagen, dass die Fabel das
Ereignis als Ereignis ausmacht.

Sie spielen oft au f die Rede der Individuen an. Sie schreiben „ Was das
Leben der sprechenden Wesen (...) bestimmt, ist (...) das Gewicht der
gesagten und geschriebenen, gelesenen und gehörten Wörter; (...) die
hartnäckiger sind als die Tatsachen “40. Und anderswo: „Die der Ge­
schichte eigentümliche Art, das heißt das Wortereignis, ist die Reise, a u f
der sich die sprechenden Wesen der Wahrheit ihres Wortes widmen “41.
Es scheint, als versuchten Sie die wahrscheinlichste Entsprechung oder
Bestimmung des Wortes wiederzufinden ...
Ich habe zu sagen versucht, dass es geradezu eine Geschichte der
Wörter gibt, eine Geschichte bedeutsamer Wortreihen, eine Ge­
schichte dessen, was die Wörter in den Körpern in Ordnung brin­
gen. Das ist eine Geschichte, die schwerer wiegt als die störrischen
Tatsachen, von denen im Allgemeinen der Historiker spricht. Ich
war erstaunt darüber, dass ich mich manchen Historikern nicht
verständlich machen konnte, mit denen ich Auseinandersetzungen
über die Beziehungen zwischen der Handwerkerkultur und dem
symbolischen Ausdruck der Arbeiter im 19. Jahrhundert hatte. Ich
habe relativ erfolglos versucht, darauf hinzuweisen, dass es doch
sonderbar ist, dass es immer bestimmte Arbeitervereine sind, die
an der Spitze der Konflikte stehen. Im Groben beginnt es immer
mit den Schneidern und Schustern. Man ist also versucht zu
denken (das sagen die Historiker), dass das deshalb der Fall ist,
weil diese Berufe mit Qualifikationsproblemen zu kämpfen haben.
Das kann man immer sagen. Es hat nicht viel Sinn, von „Über­
qualifizierung“ des Schuster- oder Schneiderberufs im Frankreich
der 1830er- bis 1840er-Jahre zu sprechen. Sicherlich gab es die
Konfektionsanfertigung neben der traditionellen Werkstattarbeit,
aber meistens machten die „qualifizierten“ Arbeiter die Konfektion
während der Nebensaison. Hingegen ist es eine wichtige Tatsache,
dass „Schuster“ ein Name ist, der während der ganzen Antike stig­
matisierend war. Das geht zumindest auf Asop zurück! Er erzählt,
wie die Gottheit die Qualitäten (Wahrheit oder Lüge) unter den
unterschiedlichen Berufsständen und Tätigkeiten aufgeteilt hat.
Als die Schuster dran waren, war nur noch die Lüge übrig. Das
Thema des Schusters scheint bei Platon auf. Dann ist da Apelles.42
Bei den Zünften ist der Schuster ein Ausgestoßener. Und so weiter.
Schließlich gibt es die ständige Gleichsetzung des Schusters mit
dem Juden (oft auch des Schneiders mit dem Juden) und so weiter.
Der Platz in der Gesellschaftsordnung richtet sich also nach einer
Zuweisung, die diskursiv ist. Das muss man auch im Verhältnis zu
der Tatsache sehen, dass diese Berufe die am wenigsten struktu­
rierten sind, wenig anerkannt; Berufe, in denen es viel Fluktuation
gibt, daher viel Unsicherheit. Doch die Stigmatisierung lässt sich
durch das Verhältnis zwischen einer tatsächlichen Situation und
einer symbolischen Position erklären, und keineswegs durch das,
was man über die Phänomene der Überqualifizierung erzählt, die
man in alle Richtungen verdrehen kann, sodass sie jedes Mal das
Gegenteil sagen. Die Benennung wirkt sich auf so etwas wie das
Schicksal eines Individuums und einer Gemeinschaft aus, sie ist
eine gesellschaftliche Zuweisung.

Wir und Sie, wir haben uns vorläufig a u f die Geschichte bezogen. Wie
weit könnten Sie ihre Überzeugungen a u f andere Disziplinen über­
tragen? Das ist eine zentrale Fragefü r diese Nummer von Communi­
cations und sie brennt uns a u f der Zunge, denn viele Soziologen oder
Ethnologen können sich, wie uns scheint, in bestimmten Positionen,
die Sie in Ihrem Werk vertreten, wiedererkennen.

Es ist nicht so, dass ich mir zu einem bestimmten Zeitpunkt intensiv
die Frage gestellt hätte: Wie schreibt man Geschichte? Ich musste
über die Begegnung zwischen meiner eigenen Arbeit und einem
Fragetypus nachdenken, den man „philosophisch“ nennen könnte,
über eine allgemeinere Frage, die die Praxis der Sprache in einem
vorherrschenden historiografischen Modell betraf (das Modell der
Geschichte der Annales, wenn Sie so wollen). Ich habe also die
Weise, wie ich mit den sprechenden Wesen zu tun hatte, derjenigen
gegenübergestellt, wie die Schule der Annales (in der Nachfolge
eines bestimmten Modells, nämlich des soziologischen Modells der
„Gesamtgesellschaftstatsache“, das letztlich ein politisches Modell
ist) vorgegangen war. Ich habe mich eigentlich nie um das Problem
der Schrift im Allgemeinen gekümmert - aber ich weiß, dass ich hier
bin, um eventuell auch auf Fragen zu antworten, die ich nicht selbst
gestellt habe! Ich bin mir nicht sicher, ob es andere gibt, die sich
in anderen Bereichen dieselben Fragen stellen wie ich. Ich denke,
dass man diesen Methodentypus und diese Art der Beschäftigung
besonders in den Bereichen der Ethnologie, der Soziologie und der
Geschichte finden kann. Eine gemeinsame Frage lautet: Wie kann
man Rechenschaft ablegen darüber, wie die Wortgeflechte Wahrheit
produzieren? Wie kann man die Vorgangsweise entkräften, die das
Wort des anderen als das nimmt, als was es sich gibt, und zugleich
jene, die es in das umwandelt, was der Gelehrte weiß? Wie kann
man die doppelte Falle vermeiden, ihm unsere Gründe zu geben
oder nach „seinen“ Gründen zu interpretieren, die immer die einer
idiomatisch untergeordneten Vernunft sind?

Ja, wir haben auch den Eindruck, dass eine gemeinsame Frage, wie
Sie sagen, in gewisser Weise die Geistes- und Sozialwissenschaften
durchzieht. Aber zugleich: Sollte eine Disziplin wie die Ethnologie (wir
denken an die amerikanische textualistische Strömung) nichtfü r diese
Art der Problematik empfänglicher und durchlässiger sein?

Ich glaube, dass die Frage sich nicht so sehr den einzelnen Dis­
ziplinen stellt, sondern eher Arten der Thematisierung von und
Operationen an Objekten der Wissenschaft. Das Problem des
Schreibens der Erzählung betrifft Gegenstände, Gegenstandsthe-
matisierungen und Interpretationsarten, die die Grenzen zwischen
den Wissenschaften überschreiten. Es ist klar, dass es kein allgemei­
nes Problem der Geistes- und Sozialwissenschaften gibt, weil die
Geistes- und Sozialwissenschaften sich auf unterschiedliche, völlig
heterogene Rationalitätsmodelle beziehen. Es gibt übrigens keinerlei
Stichhaltigkeit im Begriff „Human- und Sozialwissenschaften“ (in
dem Sinne, dass er eine Gemeinschaft bezeichnen würde, die ein
Einheitsprinzip hätte). Aber ich denke, dass es eine gewisse Anzahl
von Bereichen, eine gewisse Anzahl von Gegenständen gibt, die
gemeinsame Probleme betreffen und zu gemeinsamen Problemen
oder im Grunde zu Problemen der Gestaltung des Gegenstandes
oder der Behandlung dieses Gegenstandes führen. Ich denke, dass
es eine Reihe von Disziplinen (oder zumindest eine Reihe von
Diskursen) und thematischen Operationen gibt, die eine gewisse
Anzahl von Fragen aufwerfen, die die philosophischen Kategorien
des Selben und des Anderen betreffen. Man kann sagen, dass die
Soziologie, die Ethnologie und die Geschichte ein gemeinsames
Problem haben: eine Andersheit zu bestimmen, die in der Begriff-
lichkeit einer Selbigkeit denkbar sein soll. Es ist leicht ersichtlich,
dass die Geschichte sich deshalb ständig auf die Ethnologie (auf
mehr oder weniger gute Ethnologien, oft sogar katastrophale) be­
zieht, weil der Historiker mit seinem Gegenstand (das sprechende
Wesen und das sprechende Wesen in der Zeit) immer dazu tendiert,
sich auf ein vorgeblich sicheres Modell zu beziehen, nämlich auf die
Ethnologie, weil der Ethnologe dem Gegenstand gegenübersteht
und mit ihm kommunizieren kann, selbst wenn er weit entfernt ist,
selbst wenn er anders ist. Zwischen dem Selben und dem Anderen
ist ein Dialog möglich, bei dem in gewisser Weise das Selbe die
Sprache des Anderen lernt und damit zugleich das Andere in seiner
Selbstidentität konstituieren kann. Der Historiker ist von dieser
Situation besessen. Es gibt eine Reihe von Wissenschaften, die dem,
was man die „Operationen“ nicht nur der Alltagssprache, sondern
auch des Gemeinsinns nennen könnte, näher sind als andere, die
aber zugleich mit einer bestimmten Andersheit konfrontiert sind.
Es besteht ein kompliziertes Verhältnis zwischen der Tatsache,
dass man Operationen des Gemeinsinns anwendet, dass man mit
einer bestimmten Andersheit zu tun hat, und der Tatsache, dass
man damit Wissenschaft betreiben und mit der Andersheit einen
Gegenstand machen muss, der mit sich selbst gleich ist.

Das Problem dieser Distanz, dieser Andersheit ist in bestimmten


Strömungen der Ethnologie sehr präsent. Das würde Geschichte und
Ethnologie einander annähern. Eine andere Position scheint dazu
beizutragen. Man denke an die Überzeugung eines Evans-Pritchard,
der damals behauptete, dass die Ethnologie eher eine Kunst als eine
Wissenschaft im strengen Sinne sei.

Man sollte sich meiner Ansicht nach nicht darum kümmern, ob


das, was man macht, Wissenschaft ist, sondern ob es imstande ist,
eine Wahrheit zu berühren. Man muss nicht zwischen Kunst und
Wissenschaft wählen. Man wählt eher die Kunst (in dem Sinn,
als man das, was man macht, gut macht, um zu versuchen, das
aufzuzeigen, was man für eine Wahrheit hält), als sicherzustellen,
dass man Wertschätzungen entspricht, die bewirken, dass das, was
man macht, als Wissenschaft anerkannt wird. Man darf weder von
einem System von Gegensätzen ausgehen noch von der Vorstellung,
dass auf der einen Seite die Kunst (oder die Literatur) und auf der
anderen die Wissenschaft stehe.
Damit komme ich zur Ethnologie. Selbst an den Ethnologen,
denen ich mich nahe fühle, stört mich ihr Verhältnis zum Begriff
der „Kultur“ und ihrer Voraussetzungen: die Vorstellung der Einheit
des Ganzen, die sich auf gleiche Weise in den Seinsweisen, den
Macharten und den Sprechweisen ausdrückt. Dieses Ausdrucks­
modell setzt eine Einheit dieser unterschiedlichen Modi voraus,
die immer problematisch ist und die für bestimmte Arten von
Objekten klar widersinnig ist. Bei dem, was mich interessiert hat,
bei der Symbolisierung des Arbeiterseins im 19. Jahrhundert, war
das der Fall. Wenn man in Begriffen der Kultur denkt und glaubt,
dass jene Netzwerke der Sprache - Briefwechsel, Gedichte, Broschü­
ren, Arbeiterzeitungen - das ausdrücken würden, was außerdem
die Kenntnisse der Berufe ausdrückten, dann bedeutet das, jede
über dieses Objekt aussagbare Wahrheit zu annullieren. Es gibt die
Geschichte im Allgemeinen nur insofern, als sich zwischen diesen
Weisen des Seins, des Mächens und des Sagens Brüche ergeben, die
der Begriff der Kultur zu ein und derselben Gesamtheit vereinigt.
Wir sprachen vorhin vom Zwang der Benennung. Die Benennung
ist das, was die Identität zwischen einer Weise des Sagens, einer
Weise des Seins und einer Weise des Mächens errichtet, indem sie
die Körper, abhängig von ihrer Stellung und ihrem Namen, diesem
oder jenem Platz oder dieser oder jener Funktion zuweist, sodass es
eine Entsprechung geben muss zwischen dem, was, in unserem Fall,
ein Arbeiter ist, der Weise, wie er arbeitet, der Weise, wie er handelt,
und derjenigen, wie er spricht. Der Begriff der Kultur setzt diese
Art von Identität voraus und ich versuche das Gegenteil zu sagen,
nämlich dass es Geschichte nur gibt, wenn es Phänomene gibt,
die diese Art von Harmonie, die man beinahe als vorherbestimmt
anzunehmen scheint, die aber nur die Harmonie der Gesellschafts­
ordnung ist, durchdringen und unterbrechen.

Wenn wir Sie recht verstehen, dann sehen Sie das Soziale eher als
Diskontinuität (und seine Geschichte als Unterbrechungen) denn als
Kontinuität, Ordnung oder Kohärenz. Ist das richtig?

Ja, ich denke tatsächlich, dass das, was die Geschichte ausmacht, die
Bruchlinien sind. Was die Politik (und die demokratische Politik)
ausmacht, sind die Bruchlinien im Verhältnis zu dem, was eine in
gewisser Weise vorherbestimmte Ordnung der Gemeinschaft wäre.
Meiner Auffassung nach gibt es zwei Typen von Gemeinschaft: die
Gesellschaften, die als organisch und funktional gedacht werden,
als Übereinstimmung von Sein, Tun und Sagen; und dann die
Gemeinschaften, die auf der einfachen Gleichheit der sprechenden
Wesen, auf der Kontingenz ihrer Vereinigung beruhen.

Kehren wir nun zum Problem der Schrift zurück. Kann man sagen, dass
jede Art von Definition, die man der Gemeinschaft gibt, einer Art von
Schrift, einerArt von Erzählung entspricht? Das ist als Schlussfolgerung
vielleicht ein wenig einfach, aber es ist eine absichtlich naive Frage.

Sicher nicht. Es ist klar, dass es eine Genealogie der Schrifttypen


der Gemeinschaft gibt. Zum Beispiel gibt es eine Schrift des ro­
mantischen Zeitalters, die realistisch ist; eine Schrift, die einem
bestimmten Paradigma der Gemeinschaft gehorcht, so wie es in die
Soziologie Eingang gefunden hat oder in die Mentalitätsgeschichte.
Aber ich versuche an einer etwas anderen Schrift zu arbeiten, die
einer anderen Vorstellung von der Gemeinschaft entspricht, was
voraussetzt, dass man Schriftmodelle anwendet, die scheinbar nicht
den Objekten angemessen sind, die man behandelt, weil man eben
zeigen muss, dass diese behandelten Objekte nicht dem entsprechen,
was sie sein „sollten“.

Beziehen Sie sich deshalb a u f Virginia Woolfoder a u f Joyce, weil die


literarischen Modelle besser passen ?

Ja, die eigentlichen Romane des demokratischen Zeitalters sind


nämlich diejenigen, die scheinbar von den müßiggängerischen
Mondänen und ihren Wehleidigkeiten erzählen, und nicht jene,
die vorgeblich die große soziale Geste im Stile Zolas wiedergeben.

Die „ Textur“ des Geschichtsdiskurses, das, was seine Besonderheit


begründet (begründen sollte), bestimmen Sie nachdrücklich in der
„Poetik “ der Geschichte, die sich in der „Erzählung“ vollzieht. Sie
weisen energisch a u f die Gefahren, Irrwege und Versuchungen hin,
welche die Geschichte bedrohen. Diese Disziplin scheintjedoch bei bester
Gesundheit, wenn man sie zum Beispiel mit der Soziologie vergleicht...
Es geht ihr gut und schlecht zugleich. Es geht ihr gut, insofern sie
es verstanden hat, dem Dämon einer gewissen Wissenschaftsgläu­
bigkeit zu widerstehen. Jedes Mal, wenn sie die Zahlen berück­
sichtigt hat und gleichzeitig weiter „erzählt“ hat, die Formen der
gewöhnlichen Sprache und die Argumentationen des Gemeinsinns
verwendet hat, dann hat sie es geschafft, Geschichte zu sein, ihren
Namen hochzuhalten und gleichzeitig den Anschein der Wissen­
schaftlichkeit zu wahren. Dort jedoch, wo es ihr schlecht geht, ist
das nicht deshalb so, weil sie dem Positivismus der Zahl erlegen
wäre, sondern weil sie dem erlegen ist, was man eine Art Entmys­
tifizierungswut nennen könnte, eine Art Ressentiment gegenüber
ihrem eigenen Objekt.

Um in einer anderen Hinsicht a u f die Frage nach der Furcht der


Sozialwissenschaften vor der Schrift zurückzukommen: Was soll man
vom Misstrauen und vom Argwohn halten, die den Verführungen der
Schrift entgegengebracht werden? Schon bei Platon kann man erkennen,
dass das Mündliche als authentischer gilt.

Ja, das ist der ständige Konflikt zwischen der Schrift und der
lebendigen Rede. Es gibt tatsächlich eine Spannung, die die Ge­
schichte der Schrift durchzieht, eine Spannung, die die Schrift
auf eine „wahrhafte“ Schrift verweist, auf eine Rede, die vor der
Schrift und jenseits von ihr wäre, eine Rede der Wahrheit, eine
Rede des Lebens. Tatsächlich ist bei Platon im Phaidros die le­
bendige Rede diejenige, die sich selbst zu Hilfe kommen kann,
die eigentlich die Rede des Herrn ist oder die Rede dessen, der
dialogiert. Und dann ist da die tote Schrift. Das Paradox ist na­
türlich, dass das Privileg der lebendigen Sprache selbst in einer
schriftlichen Anordnung gefangen ist, von der Platon sagt, sie sei
ein „Spiel“. Es bleibt jedoch bestehen, dass die Philosophie im
Phaidros begonnen hat, einen Krieg gegen die Schrift zu inszenie­
ren, der immer noch andauert, einen Krieg, der im Kontext der
jüdisch-christlichen Tradition und der christlichen Problematik
der Fleischwerdung als Wahrheit der Heiligen Schrift erneuert
wurde. Dieser philosophisch-theologische Streit sucht weiterhin
die wissenschaftliche und politische Moderne heim.
Was ist die Utopie im 19. Jahrhundert anderes als die Vorstellung
einer Sprache, die lebendiges Fleisch der Gemeinschaft geworden
wäre, beziehungsweise die Hoffnung darauf? Die Utopie ist nämlich
ein ganz besonderer Traum, der Traum von einer Sprache, die nicht
mehr aus Wörtern besteht, sondern die, wie die saint-simonistischen
Eisenbahnen, sich wirklich im Gelände und in einer Gemeinschaft
verkörpert.

Ja, aber wie soll man dann die Dauerhaftigkeit dieser Spannung, ja
dieses Konflikts zwischen dem Mündlichen und dem Schriftlichen
erklären, wenn das Schriftliche seit Langem legitimiert, ja sogar über­
bewertet ist, sowohl soziologisch als auch politisch oder intellektuell?
„Die Wissenschaft bedient sich nur der Schrift“, schreibt zum Beispiel
Pividal43 ...

Natürlich, man kann immer sagen, dass es nur geschriebenes Den­


ken gibt, aber zugleich wird dieses Denken immer in einer Spannung
geschrieben, mit der latenten Vorstellung, dass die Schrift immer
die Wahrheit verfehlt. Manche renommierten Forscher sagen auch
andauernd, dass es niemals gelingen wird, die Wissenschaft zu
schreiben. Sie sagen, dass sie zwar natürlich schreiben, aber dass die
Arbeit der Wissenschaft eine Reihe von Operationen verlangt, denen
die Schrift nicht gerecht wird. Zugleich wird eine ganze Reihe von
Schriftdispositiven eingerichtet. In gewisser Weise ist diese ständig
wiederkehrende Behauptung, dass die Schrift niemals dem gerecht
werden wird, was die Arbeit der Wissenschaft ist, selbst auch ein
Schriftdispositiv, durch das die Wissenschaft sich selbst legitimiert,
indem sie sagt, dass sie sich nicht schreiben lässt.

Vorhin schienen Sie uns eher optimistisch. Aber es wäre nun zum Ab­
schluss interessant, zu erfahren, wie Die Namen der Geschichte von
den Historikern aufgenommen wurde, denn in anderen Disziplinen
der Geistes- und Sozialwissenschaften ist die „Dekonstruktion “ der
Wissenschaft und ihrer Poetik nicht selbstverständlich. Sie ruft mehr
oder weniger starke Verteidigungsreaktionen und Misstrauen hervor,
weil man damit den Text in Frage zu stellen und die Schrift anzugreifen
scheint...
Ich würde sagen, dass es sehr verständlich ist, dass die Schrift
irritiert ... Die ursprüngliche Vorstellung, das Postulat der Sozi­
alwissenschaft: ist, dass die Gesellschaft an der Schrift krankt. Ich
meine damit, dass dieses implizite Urteil, das man am Ursprung
der Soziologie findet - die Gesellschaft krankt an der Schrift -,
weitgehend im Dunstkreis einer post- und eventuell gegenrevolu­
tionären Bestimmung der am Protestantismus erkrankten Gesell­
schaft angesiedelt ist, das heißt der Religion der bloßen Schrift.
Die soziologische Wissenschaft hat ursprünglich diese Krankheit
der Gemeinschaft ohne Körper, die der bloßen Schrift ausgeliefert
ist, zum Behandlungsgegenstand genommen. Es ist daher normal,
dass die Schrift dem sozialen Wissen Angst macht.

Was verstehen Sie genau unter der Formulierung: yyDie Gesellschaft


krankt an der Schrift. “?

Am Ursprung der Soziologie - als Idee vom sozialen Wissen und


nicht als Einzeldisziplin - steht das Thema, dass die Revolution die
Manifestation einer Gesellschaft ist, deren Bande von einem Übel
zerstört wurden, das „Individualismus“ oder „Protestantismus“
genannt wird: von der Krankheit einer Gemeinschaft, deren Ato­
me nicht mehr durch eine Tradition der lebendigen Rede und des
fleischgewordenen Geistes, sondern nur noch in der Äußerlichkeit,
durch den toten Buchstaben der Schrift miteinander verbunden
sind. Comte ist von dieser Vorstellung besessen, auch Dürkheim.
Und die Literatur ist auch das: die bloße Schrift, Don Quichotte,
der die Erfahrung machen muss, dass das Buch sich nicht mehr in
einem Körper bewahrheitet.
1995
Die Namen der Kinogeschichte44
mit Antoine de Baecque

Die Geschichte des Kinos tritt wieder in den Vordergrund. Diese


Rückkehr spiegelt den Umstand wider; dass die „100 Jahre Kino “ mit
Retrospektiven, Büchern und Tagungen gefeiert werden. Gleichzeitig
ist sie auch Frucht des Zeitgeistes: Die Geschichte als Disziplin und als
Blick a u f das Dokument steht wieder im Zentrum unserer Aufmerk­
samkeit. Das ist ein allgemeiner intellektueller Kontext: Die Geschichte
hat einen Platz zurückerobert, den sie als vorherrschende Disziplin des
französischen Denkens und Bildungssystems innegehabt hatte, bevor
die Linguistik, die Semiologie und die Psychoanalyse seit dem Ende
der 1960er-Jahre 20 Jahre lang ihren Platz übernommen hatten.
Diese Wendung ist stimulierend, denn sie erlaubt, das Kino als einen
der Motoren der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen, nicht
nur als Illustration, sondern als Agent und Metapher des Handelns der
Menschen in der Gesellschaft. Doch diese Vorherrschaft der Geschichte
ist nicht ohne Risikofü r das Kinoschauspiel selbst, was dadurch bezeugt
wird, dass große Teile des Kinos in Geschichtserbe oder in Museums­
stücke verwandelt werden, die bei nationalen Kulturzeremonien wie
Reliquien ausgestellt werden. Der Historizismus wird so zur Ideologie
des Beiseiteschaffens eines berühmten und restaurierten, aber von der
lebendigen Kunst abgeschnittenen Erbes.
Wir haben diese Fragen einem » Weggefährten “ der Cahiers gestellt,
dem PhilosophenJacques Ranciere. Die Idee dafür ist uns bei der Lektü­
re eines seiner letzten Bücher, Die Namen der Geschichte, gekommen.
Ranciere stellt dort dem Historiker die Frage nach seinem Schreiben:
Wie und warumfindet er die Wörter, um von Brüchen, Entwicklungen
und Mutationen vergangener Gesellschaften zu erzählen? Ranciere ist
auch ein Kino begeisterter. Er hat sich eine Kinobildung verschafft,
indem er seit den 1960er-Jahren hunderte Filme angesehen hat, und
er ist mit Deleuze einer der wenigen französischen Intellektuellen, die
diesen autodidaktischen Besuch des Kinosaales mit der Strenge und dem
Erfindungsreichtum des philosophischen Denkens verschmelzen. Wir
haben ihn also zu einem Gespräch getroffen und ihm vorgeschlagen,
den Bereich seines Eingriffs in die Geschichtsschreibung zu erweitern:
von den Wörtern der Geschichte zu denen der Geschichte des Kinos. Das
Ergebnis ist ein dichtes, oft programmatisches, manchmal streitbares
Gespräch, dasjedoch nie die gegenwärtige Rückkehr der Geschichte des
Kinos in den Vordergrund aus dem Blick verliert.
Diese Art der Stellungnahme und der Debatte wird uns, von den
Cahiers, immer wichtiger; denn es ist an der Zeit, die Frage des Kinos,
seiner Geschichte und seiner Geschichten, des Kinos und seiner Bezie­
hungen zu den anderen Künsten und zu einem Großteil des heutigen
Denkens von neuem in Angriffzu nehmen. Die Aktualität der Filme
selbst verlangt das mit immergrößerer Dringlichkeit, wenn es denn wahr
ist, dass gewisse Filme sich als Interpretationsschlüssel anbieten, die man
absolut beachten muss. Das Nachdenken über die Geschichte des Kinos
muss fortgeführt und a u f den Seiten der Zeitschriftfortgesetzt werden,
etwa bei der nächsten Zusammenstellung über die cinephilen Praktiken
dieserJahrhundertwende, und außerhalb der Zeitschrift als notwendiger
Dialog zum Beispiel beim Kolloquium, das in diesen Tagen am Institut
Lumière der Universität Lyon 3 über die „Erfindung einer Kultur“,
anders gesagt, über die Geschichte der Cinephilie stattfinden wird.

Cahiers: Wie kann eine Geschichte, also eine Erzählung, bewegten


Bildern gerecht werden?

Jacques Rancière: Das hängt mit einem allgemeineren Problem


zusammen: Was heißt es, über das Sichtbare zu schreiben? Lange
Zeit war es möglich, diesen Abstand gering zu halten durch die
Verwendung der berühmten Gleichung Utpicturapoesis, durch die
Herrschaft des repräsentativen und narrativen Paradigmas. In den
Berichten von den Gemäldeausstellungen im 18. und 19. Jahrhun­
dert werden die Gemälde genau so erzählt, wie der Literaturkritiker
im Detail einen Roman nacherzählt. Die Kritiker wie die Besucher
denken also, dass das Sichtbare sich wie irgendeine Geschichte er­
zählen lässt. Die Sache ändert sich natürlich, als die Malerei darauf
zu verzichten beginnt, etwas zu erzählen. Die Position des Kinos
gegenüber der anti-repräsentativen Revolution ist aber ganz spezi­
ell. Es gibt da natürlich die triviale Tatsache, dass das Filmbild nur
außerhalb der normalen Bedingungen des Sehens „gelesen“ werden
kann. Die Kritik, die die Kamerabewegungen aufspaltet und die ein­
zelnen Aufnahmen analysiert, befindet sich in einer Lage, die nicht
mehr die des Malereiliebhabers ist. Dann ist da noch die Tatsache,
dass das Kino selbst ein Erzählen anbietet, das in der Nähe der oder
in Konkurrenz zur lesbaren Erzählung steht. Von da an geht es nicht
mehr darum, über eine flache, sichtbare Oberfläche zu berichten
wie in der klassischen Kunstkritik, sondern darum, eine geschrie­
bene Parallele zum erzählten Sichtbaren der aufeinanderfolgenden
Bilder zu finden, die sichtbare Abfolge durch eine lesbare Abfolge
zu erzählen. Aber vor allem gibt es eine grundlegende ästhetische
Zwiespältigkeit des Kinos. Das Kino hat sich als Kunst im Rahmen
eines ganz bestimmten ästhetischen Programms entwickelt, nämlich
im Rahmen des Symbolismus. Es steht im Zusammenhang mit
der Vision einer Musik der Formen, die den alten narrativen und
repräsentativen Modus, der beispielhaft im Theater verkörpert ist,
durch eine Bildersymphonie ersetzt, die direkter die „Rhythmen
der Idee“ (Mallarmé) ausdrückt als ihre verbale Übersetzung. Das
Kino hat durch die expressionistische bildnerische Form des Bildes
wie durch die poetischen und dialektischen Formen der Montage
das Paradigma einer idealeren, weil nicht verbalen und nicht erzäh­
lenden Kunst verwirklicht. Man kann in der Nachfolge von André
Bazin darüber diskutieren, ob der Tonfilm wirklich ein Einschnitt
gewesen ist. Aber in dieser Hinsicht war er sicherlich einer. Er hat
einem über-narrativen Kino zum Triumph verholfen, in dem die
visuelle Erzählung und die gesprochene Erzählung sich gegenseitig
veranschaulichen. Das Kino hat somit aufgehört, der Fahnenträger
der antirepräsentativen Kunst zu sein. Das hat auch Folgen für die
Art, wie man über das Kino schreibt. Seit das Bild von seiner Bürde
befreit wurde, als Ersatzsprache zu dienen, hat weithin eine Art über
das Kino zu schreiben triumphiert, die an die Einstellung, an seine
bildnerische Natur, seine pikturalen Entsprechungen anknüpft. Der
Stummfilm wurde von der Kritik innerhalb eines musikalischen
Paradigmas aufgefasst, der Tonfilm innerhalb eines bildnerischen
Paradigmas. Das Problem des Schreibens über das Kino ist jedoch
mit der einzigartigen Stellung einer Kunst verbunden, die eine
nicht-aristotelische Kunst sein sollte und die die gewöhnliche
Form der aristotelischen Erzählung mit expressiven Verstärkungen
angenommen hat. Der Kritiker kann also nach Belieben von ei­
nem Erzählmodus zum anderen übergehen, ohne die Kontinuität
aufzulösen, oder umgekehrt eine eigentliche Erzählung der Bilder
hervorheben. Das Schreiben über die Kinobilder kann immer den
gemeinsamen Modus der Erzählung und den Abstand zwischen
den beiden Erzählungen Zusammenhalten.

Vielleicht ist die kritische Tradition im Laufe des 20. Jahrhunderts


gerade aufgrund dieser Gemeinschaft der Erzählung und aufgrund
jenes Abstands, der trotz allem besteht, im Wesentlichen Filmkritik
geworden. Aberdas Schreiben einer ,yKinogeschichte“ entwickelt dieses
Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem Lesbaren a u f ganz andere
Weise als das >ykritische “ Schreiben ...

Das ist in Wirklichkeit ein anderes Problem. Ein wesentlich anderes,


denn man muss dann die Objekte auswählen. Man kann sicherlich
wie im Fall bestimmter Literaturgeschichten eine Entscheidung
ablehnen: Die enzyklopädische Methode weist also so und so viele
Kurzdarstellungen dieser Periode, so und so viele einer anderen zu,
entsprechend der Reproduktion etablierter Regeln über die großen
Einschnitte, den relativen Wert der einbezogenen Perioden und
so weiter. Ich glaube, dass eine Filmgeschichtsschreibung heute
„entscheiden“ könnte, in eine andere Richtung zu gehen. So ist
etwa nicht gewiss, ob man Kriterien hernehmen muss, die dieser
Geschichte innerlich sind, um die Entscheidungen zu bestimmen.
Es könnte interessanter sein, von Fragen auszugehen, die zum
Beispiel die Geschichte der Formen des Sichtbaren, der narrativen
Strategien oder der ästhetischen Politiken betreffen, die jeweils den
Blick auf das Kino von einem Blickpunkt aus orientieren können,
der nicht mehr streng dem Kino innerlich ist. Zu einem gewissen
Zeitpunkt, in gewissen Kontexten, in gewissen Räumen hängt diese
oder jene Kinoform, Theoretisierung oder Aneignung des Kinos mit
den Problematiken zusammen, die weiter gefasste Weltvorstellungen
umfassen und deswegen, viel mehr als wegen der eigenen Aufein­
anderfolge seiner Formen, ist das Kino ein Objekt der Geschichte.

Bestimmt wäre es zum Beispiel interessanten das sowjetische Kino der


20er-Jahre unter diesem Gesichtspunkt zu interpretieren, indem man
es, wie Sie vorschlagen, in eine Geschichte der Formen des Sichtbaren,
der narrativen Strategien, der ästhetischen Politiken integriert, anstatt es
gemäß einer strengen und klassischen internen Geschichte zu betrachten,
die die Abfolge der Filmemacher und ihre jeweiligen Beeinflussungen
in den Vordergrund stellt.

Derzeit wird die Kinogeschichte von zwei Modellen beherrscht,


vom enzyklopädischen und vom monografischen Modell. Die
Bände von Georges Sadoul45 sind sicherlich wertvoll für die Ar­
chäologie des Kinos. Sie zeigen uns, wie aus der Begegnung der
Verfeinerung einer Technik und der Banalität des Volksspektakels
eine Industrie entsteht, und wie diese Industrie ästhetische Formen
hervorbringt. Aber wenn er auf die Geschichte dieser Kunstform
zu sprechen kommt, dann fällt er in die enzyklopädische Gattung
zurück, ins Nachschlagewerk für nationale Schulen. Wenn man
vom sowjetischen Kino zum deutschen Expressionismus springt,
und dann nach Hollywood zurückkehrt, verliert man aus dem
Blick, was auch die monografische Gattung übersieht, nämlich
dass die „Schulen“ allesamt auch einem ästhetischen Programm
angehören, das von anderswo herstammt - von der Poesie und
der Musik - und das auch eine politische Sichtweise des neuen
Menschen und der neuen Gemeinschaft ist. Die Pantomimik
Charlies wird 1920 von Delluc und 1950 von Bazin in derselben
Perspektive beschrieben, wie Mallarmé die Pantomimik von Paul
Margueritte oder den Tanz von Loi’e Füller beschreibt, nämlich
als abstrakte Schrift einer Grammatik der Typen, der „Metaphern
unserer Gestalt“ . Die Idee dieser Formen-/Symbol-Schrift ist
dieselbe, die auch eine bestimmte Gleichsetzung des ästhetischen
Ideals mit dem Traum von einer Volkskunst begründet. Im Übrigen
muss es ausgehend davon möglich sein, den Gegensatz zwischen
einer volkstümlichen Tradition der darstellenden Kunst und einer
bürgerlichen Norm des darstellenden Schauspiels zu überdenken,
der von Noël Burch aufgestellt wurde. Als das Kino entstand, hatte
das Mallarmé sehe ästhetische Programm bereits die Elitenkunst mit
einer Neubewertung der darstellenden Kunst der kleinen Theater
und Jahrmarktausstellungen verbunden.
Diese Gleichsetzung von Ästhetischem und Populärem unterstützt
zumindest zwei andere, nämlich die Gleichsetzung von Technik und
Wissenschaft mit der Kunst der Zukunft, und auch jene zwischen
der Gemeinschaft der Zukunft und einer verallgemeinerten Ästhe­
tik. Wie weit auch immer der dekadente und „größenwahnsinnige“
Ästhet Abel Gance vom Dialektiker Sergei Eisenstein entfernt sein
mag, Das Rad (La Roué) und Die Generallinie sind doch in ein
und derselben Konfiguration des Denkens angesiedelt, bei der die
Filmmaschine sich in den Dienst eines neuen Gedichts stellt, das
selbst auf ein Jenseits des Gedichts ausgerichtet ist, auf die leben­
dige Gemeinschaft als höchstes Kunstwerk. Das Kino steht in der
Perspektive dieser allgemeinen Ästhetik, in der das symbolistische
Mysterium des Werkes, das die Gemeinschaft im wesentlichen
Rhythmus des vervielfältigten Lebens erzittern lässt, der futu­
ristischen Utopie von der Maschine als Kunstwerk der Zukunft
begegnet. Indem Canudo in seinem Manifest die „siebente Kunst“
benannte, fasste er diese techno-mystische Utopie der Ästhetik der
Zukunft zusammen, die mit dem neuen Gemeinschaftsmodus
zusammenfällt: Er feierte somit „den neuen Tanz der Musen um
die Jugend Apollos, die Runde der Lichter und der Töne um ein
unvergleichliches Zentrum: unsere moderne Seele“, die aus den
Kurbeldrehungen hervorsprudelt. Es ist schwierig, über das Kino als
Geschichtsobjekt zu schreiben, wenn man nicht die Zugehörigkeit
seiner Techniken und seiner Formen zu den ästhetischen Utopien
der Politik in Betracht zieht. Im 20. Jahrhundert liefert das Kino
das reichhaltigste Material für die unterschiedlichsten Kreuzungen
und ist am meisten mit anderen Geschichten vollgestopft. Es ist
also nicht unbedingt nützlich, die Wahl der Objekte der „Kinoge­
schichte“ ausgehend vom Kino selbst zu bestimmen. Man sollte
eher von Objekten ausgehen, die einer anderen Geschichte ange-
hören, der Geschichte des Blicks, der Geschichte des Erzählens, der
Geschichte der sinnlichen Strategien der Gemeinschaft, und mit
diesen Interpretationsschlüsseln auf das Kino zugehen, wodurch
die Praktiken und Utopien, die dem Kino eigentümlich sind, ih­
rerseits verändert werden. Damit ist es möglich, Dialoge anzuregen,
Brücken zu anderen Künsten und anderen Bereichen zu schlagen.
Es handelt sich jedenfalls nicht darum, die Geschichte der Erfin­
dungen, Regisseure, Studios und Schulen durch eine Geschichte
der filmischen „Signifikate“ zu ersetzen, durch das, was das Kino
angeblich von einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt
preisgibt. Eine solche Geschichte erzeugt einen Diskurs, der das
Objekt Kino auflöst, der seine schärfsten Kanten beseitigt, der
das Kino auf die soziologische und ästhetische Veranschaulichung
eines von einer bestimmten Gesellschaft produzierten kulturellen
Diskurses reduziert.

Das ist in etwa der Vorwurf, den man der universitären Disziplin „Kino
und Geschichte“ machen kann, die in Frankreich in den 1970er-Jahren
um die Person von Marc Ferro gegründet wurde. Es besteht heute also
tatsächlich die Schwierigkeit, eine Geschichte ausgehend vom Kino zu
schreiben. Man steckt in der Falle der Gelehrsamkeit, wenn man interne
Kriterien nimmt, und in der Falle des Signifikats, des Wissens, wenn
man das Kino als kulturelles Element einer Gesellschaft ins Augefasst.

Die Geschichte ist eine Frage der Auswahl, also der Einschnitte
und Zuschnitte: Es ist die Einteilung, die einen Gegenstand als
historisch erweist. Man muss sehen, welche Gegenstände man zu­
sammensetzen kann und will, um einen Moment der Geschichte
des Sichtbaren zu erzählen. Es geht darum, „feste Gegenstände“ zu
finden, Objekte, die zugleich der Gelehrsamkeit und dem Wissen
widerstehen, und mit denen Erzählstrategien, Formen des Sicht­
baren, ästhetische Politiken Zusammenhängen, in denen das Kino
seinen Platz und all seine ihm eigenen Kräfte behält. Zum Beispiel:
Was bedeutet es genau, eine Geschichte im Kino zu erzählen? Diese
Frage beschränkt sich nicht auf die Frage danach, wie Einstellun­
gen und Szenen erzählerisch miteinander verknüpft werden. Die
Erzählung gründet klassischer Weise auf dem Geheimnis, dem
Rätsel, dem Versteckten, und wenn man sehen will, wie das Kino
sie einsetzt, braucht man einen doppelten Bezug zur Politik und
den Erzählformen. Das Kino hat andauernd Politisches erzählt,
indem es mit seinen eigenen Mitteln die Beziehungen zwischen dem
Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Hohen und dem Niedri­
gen, dem Vordergrund und dem Hintergrund, dem Öffentlichen
und dem Privaten behandelt hat. Es hat dadurch andauernd seine
eigenen Fähigkeiten in Frage gestellt, sie anderen gegenübergestellt
und ihre Grenzen aufgezeigt. Mir scheint, dass es ganz besonders
interessant wäre, über die filmischen Formen der Aufdeckung des
Versteckten zu arbeiten, indem man sich ansieht, wie sie beständig
das Verhältnis zwischen den Fähigkeiten des Wortes und denen
des Bildes umgestellt haben. Es ist zum Beispiel klar, dass das vom
Psychoanalytiker „erhellte“ Bild in Geheimnisse einer Seele (Georg
Wilhelm Pabst) dasselbe Bild wie das bleibt, das den Kranken
leiden lässt. Man muss also Bilder von sommerlicher Gesundheit
und Familienglück hinzufügen - die daraus eine unlesbare Er­
zählung machen würden -, um die Heilung sichtbar zu machen.
Umgekehrt gesteht die Fähigkeit von Jenseits allen Zweifels (Beyond
a reasonable doubt) von Fritz Lang, uns die Inszenierung eines ge­
stellten Verbrechens zeigen, definitiv allein den Worten die Macht
zu, das Geheimnis der ganzen Affäre aufcudecken, nämlich das
wahre Verbrechen hinter dem gestellten. Oder die Szene, die uns
zeigt, wer wirklich der Mann, der Liberty Valance erschoss ( The man
who shot Liberty Valance, John Ford) ist, liefert uns die „Wahrheit“
in Form eines zusätzlichen Bildes (eines Fremdkörpers), das nicht
nur die Heldenlegende zerstört, sondern das auch gerade die Form
der Rückblende als filmisches Gegenstück zur Romanerzählung
„falsifiziert“. Eine Geschichte des Geheimnisses im Kino wäre also
eine Art, die internen Spiele des Wortes und des Bildes neu zu un­
tersuchen und zugleich die Formen des Kinos mit der Geschichte
der Formen des Politischen in Verbindung zu bringen.
Ich glaube, dass es allgemein wichtig ist, Gegenstände zu wählen,
die das Innen mit dem Außen kommunizieren lassen, ohne über die
Kategorien des „Kulturellen“ zu verlaufen, die eine bereits fix und
fertige Interpretation von diesem Verhältnis mitbringen. Ich denke
zum Beispiel an ästhetische/erzählerische Objekte, die zugleich das
Kino versinnbildlichen: die Schienen und die Lokomotive, die die
Zugehörigkeit des Kinos zur Maschinenutopie bezeichnen; das
Fernrohr und das Gewehr, die Teil des Projekts einer totalen Beherr­
schung des Sichtbaren sind. Es ist klar, dass zum Beispiel das Bild
der Helden in Gehetzt (You only live once, Fritz Lang) im Fadenkreuz
des Gewehrs, das auf sie zielt, seine Fähigkeit, das Pathetische einer
erzählerischen Situation zu vereinen, einer Art großen Abkürzung
verdankt, die die Kamera zu ihrem wissenschaftlichen Vorfahren,
dem chronofotografischen Gewehr, zurückführt. Es wäre der Mühe
wert, den Weg einiger dieser besonderen Objekte nachzuverfolgen.
Sicherlich ist das, was sichtbar gemacht wurde, eine Sache, und
das, was in der Black Box des Zuschauersaals gesehen wurde, eine
andere, und eine dritte Sache ist, wie dieses Sehen mit dem Regime
des Sichtbaren in Verbindung steht und sie verändert hat. Im Kino
schließt man zu einfach von dem, was gezeigt wurde, auf das, was
gesehen wurde, und vor allem vom Sinn dessen, was zu sehen
gegeben wurde, auf die Interpretation dessen, was gesehen wurde.
Es wäre der Mühe wert, eine notwendig fragmentarische und „sub-
jektivistische“ Geschichte zu versuchen - eine des Kinozuschauers
und der Art, wie sein Lernprozess auf die Veränderung der anderen
Sichtbarkeitsformen traf.

Die Zeit der Geschichten des Kinos ist also zu Ende, wenn man eine
Periode nimmt, die von 1895 bis 1995 geht. Dennoch werden diese
Geschichten, sicher aus Gründen, die der Zeit geschuldet sind, hie und
da in diesem Hundertjahrjubiläum bei den Herausgebern aufl?lühen...

Natürlich, das Hundertjahrjubiläum kommt wie gerufen, die


Tendenz zum „Kulturerbe“ hin zu verstärken, die das Kino mit
dem derzeit herrschenden System des Kulturellen in Verbindung
bringt. Eine homogene Geschichte der Schaustücke des großen
weltweiten Kinomuseums kann sicherlich die Geschichten der
„Schulen“ ablösen. Und das kann in eine Institutionalisierung
einer Disziplin „Kinogeschichte“ münden. Eine solche Institu­
tionalisierung erscheint mir kaum wünschenswert. Ich halte die
Vervielfältigung diagonaler Perspektiven für stimulierend: wenn
man vom Verschiedenartigen ausgeht, anstatt dass man künstlich
ein Gleichartiges herstellt. Es besteht die Möglichkeit für bedeu­
tungsreiche Geschichten, wenn man zu den Wiederholungen und
Übertragungen arbeitet, zum Beispiel dazu, wie ein Film sich in
einen anderen verwandelt. Ich denke an Manoel de Oliveira, der
die scheinbar bodenständige und „neorealistische“ Geschichte
von Aniki Bobo in etwas verwandelt, was ihr am wenigsten ähnelt,
nämlich in eine Romanverfilmung viktorianischer Atmosphäre
vom Typus Rebecca (Alfred Hitchcock). Ich denke auch an das Hin
und Her zwischen Orient und Okzident. In den Stummfilmen von
Ozu um 1935 sieht man, wie Poster der aktuellsten europäischen
oder amerikanischen Filme die Wände zieren. Und ein halbes
Jahrhundert später wird die „typisch japanische“ Geschichte des
Schweige-Streiks der Kinder in Guten Morgen (Ohayo) zum Anlass
für eine Art Hommage an die Pantomime der amerikanischen
Stummfilmkomödien genommen. Danach kamen die Filme
Ozus in den 80er-Jahren als Lehrstücke eines „anderen“ Kinos
nach Europa. Ich denke auch daran, wie das Indien Renoirs, die
neorealistische europäische Kamera und die Ford sehe Erzählung
das „indische“ Kino von Satyajit Ray hervorbringen, das dann als
exotisches Kino nach Europa „zurückkehrt“.

Ich komme einen Moment a u f Ihre Befürchtung einer „Institutio­


nalisierungder Disziplin „Kinogeschichte“ zurück. Diese Furcht
kann begründet sein, insofern die Aktualität der Hundertjahrfeier
des Kinos fü r diesen Prozess günstig ist. Derzeit werden Zeitschriften
über die Geschichte des Kinos gegründet und diese Geschichte findet
an den Universitäten Beachtung. Eine Disziplin, die erst seit kurzem
im Entstehen begriffen ist, legitimiert sich, indem sie einen Vorgang
wiederholt, der in den 1970ern die Linguistik, die Semiologie oder die
Soziologie als spezifische universitäre Disziplinen etabliert hat. Wenn
man zum Beispiel die aktuellen Vorlesungsverzeichnisse durchblättert,
dann hat man den Eindruck, dass die Semiologie des Kinos ans Ende
ihres Zyklus gelangt, während die Kinogeschichte sozusagen ihre Nach­
folge antritt und ihre eigene Geschichte an der Universität beginnt.
Andererseits scheint mir, dass diese „Historisierung“ gegenwärtig ein
sehr allgemeines Phänomen in den Geistes- und Sozialwissenschaften
und der Literaturkritik ist. Die Soziologen machen Geschichte, die
Philosophen ebenso, die Literaturwissenschaftler noch mehr. Ich glaube,
dass seit einigen Jahren die Geschichte als Disziplin und als Blick au f
das Dokument, welches auch immer, ins Zentrum der Aufmerksamkeit
zurückgekehrt ist. Das ist ein breiter epistemologischer Kontext: Die
Geschichte hat einen Platz zurückerobert, den sie vorher innegehabt
hatte, bevor die Linguistik, die Semiologie oder die Psychoanalyse ihn
seit den 60er-Jahren 20 Jahre lang besetzt hielt.

Gehen wir zuerst von der Tatsache aus, dass das Hundertjahrjubi-
läum des Kinos keineswegs ein Ereignis in der Geschichte des Kinos
ist, genauso wenig wie jedes andere Hundertjahrjubiläum. Was die
überhandnehmende Historisierung betrifft, so ist klar, dass sie mit
einer Normalisierung des Denkens zusammengeht, die mit jener
der Politik einhergeht: die Verwaltung des Erbes anstelle von Unter­
nehmungen, die - zu Recht oder zu Unrecht - beanspruchten, die
Subversion durch die Aufdeckung der Spielregeln, des unter dem
Anschein verdeckten Geheimnisses und so weiter zu begleiten. Im
Übrigen ist weniger die Ersetzung der einen Disziplin durch eine
andere beunruhigend als vielmehr die Disziplinen-Herrschaft. Die
Geschichte ist aber auch nicht bloß eine Disziplin, sondern eine
Denkfigur, die zu einem bestimmten Zeitpunkt einen herrschen­
den Sinn für Geschichte als allgemeinen Rahmen der Erfassung
der Objekte durchsetzt. Die Herrschaft der Geschichte ist die
Herrschaft eines bestimmen Geschichtssinns. Die Richtung, die
heute die Geschichte als Denkfigur beherrscht, die das Verhältnis
des Politischen zum Wissenschaftlichen bestimmt, ist der Nachruf.
Der Nachruf hat selbst zwei Aspekte: das neuerliche Begräbnis der
Toten, das Ressentiment, der Tadel am Grab von allem, was sich
als Bruch in der Geschichte zu verstehen versucht hat; und dann
die Sammlung, die Enzyklopädie. Die museale Erklärung und
Klassifizierung stellt sicher, dass jede Institution, jede Form, jedes
Denken oder jeder Glaube zu ihrer Zeit und an ihrem Platz stattfin­
det. Indem sie die „kulturellen“ Kennzeichen dieser Zugehörigkeit
anhäufen, schützen sie sich gegen jede Schreibpraxis, die eine wilde
Transversalität zwischen den Objekten, „Kulturen“, Zeiten und so
weiter hersteilen würde. Es besteht dabei das Risiko, jede Schreib­
praxis in eine museale Betätigung zu verwandeln.
Diese Frage betrifft besonders das Kino, weil sich dieses ja als
lebendige Kunst des demokratischen Zeitalters verstanden hat,
als jene Kunst, die sich gänzlich im Kontext der Demokratie des
20. Jahrhunderts etabliert hat, also als neue ästhetisch-politische
Form schlechthin. In gewisser Weise ist das Kino so etwas wie ein
Anti-Museum. Es gibt zwei große Formen der ästhetischen Ein­
schreibung im demokratischen Zeitalter: einerseits die Musealisie-
rung, andererseits den Traum von einer neuen Kunst der bewegten
Bilder. Heute (über) das Kino zu schreiben, bedeutet, die Prekarität
des Bildes und seine Flucht in alle Richtungen fortzusetzen oder
aber an seiner Stelle die letzte große kulturelle Form einzuschreiben.

Aber hat das Kino nicht schon sehr lange, seit den 1920er-Jahren, fü r
sich selbst eine Art Museum, einen Ort gefordert, an dem sein Gedächt­
nis bewahrt wird, nämlich ein Filmmuseum, eine Cinémathèque?

Da gibt es zwei Probleme: das der künstlerischen Legitimität und


das der Konservierung eines Materials, das besonderen Gefahren
ausgesetzt ist. Die Stärke des Projekts von Langlois’ Cinémathèque
besteht einerseits in der Vorherrschaft des zweiten Aspekts, ande­
rerseits in einer Entscheidung, die den Doktrinen der Konservie­
rung zuwiderläuft, nämlich vor allem zu zeigen, ein Gedächtnis
zu bewahren, sicherlich, aber im Wesentlichen, um es lebendig zu
machen, das heißt, um es in der Gegenwart zu sehen, damit es in
direkten Dialog mit dem Kino tritt, das gerade gemacht wird. Er
ließ in gewisser Weise den materiellen Rand des Verschwindens
mit der Leidenschaft zusammenfallen, und zwar gerade auf der
unsicheren Linie zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Das heißt, er
hat gerade die Legitimationsspiele vermieden, die sich anderswo mit
der Institution Museum verbunden und somit den Triumph jener
konventionellen Ästhetik sichergestellt haben, die sich im Satz „Es
ist Kunst, wenn und weil es im Museum ist“ zusammenfassen ließe.
In diesem Fall hat das Museum im Gegenteil dazu gedient, jegliche
Legitimität neu in Frage zu stellen, indem nicht Theorien über die
Gleichwertigkeit zwischen einem Pissoir und einem Kunstwerk
produziert wurden, sondern eine Debatte darüber, was Kino ist,
aus der neue filmische Formen hervorgegangen sind.
Das Beispiel der Nouvelle Vague ist in dieser Hinsichtsehr erhellend...

Ja, das ist in gewisser Weise eine Kunst, die aus dem Museum
entstanden ist, das heißt aus einer untypischen Art Museum. Die
Stärke der Cinephilie dieser Zeit war, die existierenden Orientie­
rungspunkte durcheinander gebracht zu haben, oft geringgeschätzte
lebendige Kunstformen wie das Populärkino, den Western oder das
Musical mit einem Gedächtnis des Kinos in Verbindung gebracht
zu haben, das die Cinémathèque sichtbar gemacht hat. In diesem
Augenblick begegnet das „Geschichtliche“ der lebendigen Kunst
der Gegenwart und das hat Delegitimierungs- und Umschrei­
bungseffekte, die sehr spannend sind. Was wir heute mitansehen,
ist was anderes. Wir sind in eine Welt zurückgekehrt, in der die
Kinokultur abgeschirmt ist und in der wir von vornherein wissen,
was legitim ist und was nicht. Die Cinephilie war eine Bewegung der
Rehabilitierung, die die Legitimitäten in eine Krise brachte. Heute
aber ist die Rehabilitierung für die Errichtung des Erbes da, eine
offizielle Legitimationsmaschinerie. Das Phänomen, das sich auf das
Gedächtnis auswirkt, ist von der gleichen Art wie dasjenige, das den
Produktionsmarkt betrifft. Man sieht kaum noch unvorhersehbare
Kreuzungen zwischen dem „Populären“ und dem „Künstlerischen“,
die die 1950er- und 1960er-Jahre kennzeichneten - und die Kreu­
zungen zwischen dem System der Genres und dem der Autoren
waren. Damals konnte tatsächlich ein „B-Movie“, das einem Lang
oder Walsh anvertraut wurde, Objekt einer vielfältigen Aneignung
unterschiedlicher Zuschauerschaften sein. Das kommerzielle Kino,
das gelernt hat, sich zu verfeinern, hat sich die ,Autorenpolitik“
erneut angeeignet. Es präsentiert auf dem Markt kulturell und
ästhetisch für dieses oder jenes Publikum gekennzeichnete Filme.
Es macht „Intellektuelles“ für mehrere Ebenen der Intellektualität.
Und es irrt sich kaum noch.

Der einzige Moment, in dem die zwei Zweige der demokratischen


Ästhetik, das Museum a u f der einen Seite, das Kino a u f der anderen,
in einen Dialog traten, wäre also die Cinephilie der 1950erfahre?
Wahrscheinlich. Doch darf man auch diesen Dialog nicht über­
schätzen. Um auf unsere Frage zur Geschichte zurückzukommen:
Mir scheint, dass die Cinephilie keine „Kinogeschichte“ produziert
hat. Sie hat eine Sichtweise des Kinos als Kunst hervorgebracht, das
ist etwas anderes.

Die Cinephilie hatjedoch eine Geschichte des Kinos ausgehend von den
„Autoren “ neu zusammengestellt. Sie hat die Chronologie des Kinos
abhängig von diesem oderjenem Autor neu durchdenken können. Sagen
wir; dass sie eine Erzählung des Kinos vorgeschlagen haty die a u f dem
Begriff'des Geschmacksurteils gründet.

Die Cinephilen haben tatsächlich die Autoren gesehen und neu


klassifiziert, aber wenn man die Texte der Cinephilen der 1950er-
und 1960er-Jahre liest, ist darin kaum eine Fähigkeit erkennbar,
die Geschichte des Kinos umzuschreiben. Es ist ein affirmativer
Diskurs, ein Tagebuch des Urteils und des Geschmacks, selten eine
Interprétations- oder auch nur eine Beschreibungsanstrengung.
Darin steckt ein wahrhaftes Paradox. Denn die Legitimierung des
Kinos als Kunst, die Geschichtlichkeit des Kinos ist gänzlich an
jenen Augenblick und an jenes cinephile Schreiben gebunden. Aber
zugleich - abgesehen von ein paar ruhmreichen Ausnahmen - liegt
in diesem Schreiben eine gewisse Unfähigkeit, das auszusagen, was
auf den Bildern und auf der Leinwand erscheint. Es gibt einen ziem­
lich starken Rückgriff entweder auf impressionistische Analogien
zu anderen Künsten oder auf ethische Überlegungen. Viele dieser
Diskurse, die dem Western seine ästhetische Stellung gesichert ha­
ben, haben uns kaum mehr zu bieten als den „Sinn für den Raum“
oder den fiir die „Männerfreundschaft“.

Es gibt einen anderen Moment, der einen kohärenteren Diskurs über


eine mögliche Kinogeschichte hergestellt hat, nämlich den yykritischen
M o m e n tIn der Nachkriegszeit hat die Filmkritik um Baziny um
L’Ecran français, eine Umschreibung der Geschichte des Kinos ange-
boten, eine andere Periodisierung —indem zum Beispiel der „Bruch“
des Übergangs vom Stummfilm zum Tonfilm ausgeklammert wurde,
und dafür die Brüche der 1920er-Jahre und des Anfangs der 1940er
hervorgehoben wurden. Es wurde ein anderer Blick angeboten —die
Geschichte wird mehr a u f die Anerkennung von aufeinanderfolgenden
oder konkurrierenden >ystilistischen Formen “ gegründet als a u f eine
techniklastige Chronologie von Schulen oder Genres —und eine andere
Art des Erzählens —durch ein Verfahren, das analytischer; weniger
beschreibend ist.

Wenn Bazin den Bruch zwischen Stumm- und Tonfilm in Frage


stellt, dann soll das vor allem heißen, dass er definitiv eine be­
stimmte Normalisierung des Kinos in seiner Stellung als neue
repräsentative Kunst zur Kenntnis nimmt. Die Trennung in zwei
Traditionen ist eine Art, den Gegensatz zwischen Narrativem
und Nicht-Narrativem umzuformulieren, und eine neue Form
der Vollendung des „Anti-Narrativen“ in der Idee einer anderen
Narration zu finden. Der Deleuze’sche Gegensatz zwischen dem
Zeit-Bild und dem Bewegungs-Bild steht mit dieser Logik der
Neubearbeitung in Verbindung, die gerade die Idee der Kunst
der Zeit umformuliert. Ich denke, dass die Art und Weise wie
Bazin den „Rossellinischen Moment“ fixiert hat, ungefähr das
einzige Beispiel einer entscheidenden Interpretation ist, die eine
neue Historisierung des Kinos begründet hat, die geeignet war,
Wirkungen im Bereich der Filmkunst selbst hervorzubringen. Aber
natürlich bleibt das eine mögliche Geschichte unter vielen. Bazin
bringt die Schärfentiefe bei Welles und den langsamen Aufbau
des Bildes bei Rossellini als zwei Brüche mit dem auf der Mon­
tage begründeten Kino miteinander in Verbindung. Man kann
jedoch die narrative Praxis des Geheimnisses bei Welles auch mit
einer aristotelischen Tradition in Zusammenhang bringen, die im
direkten Widerspruch zur Rossellinischen Praxis der Aufdeckung
des Geheimnisses steht. Man kann sich auch daran erinnern,
dass Reise in Italien (Viaggio in Italia) zeitgleich mit den Western
Manns oder den letzten Mizoguchis entstand. Man kann sich also
eine ganze Reihe von möglichen Kombinationen und manchmal
unterirdischen Verbindungen zwischen Filmen und Epochen
vorstellen sowie Objekte, deren ästhetische Einschreibung mehr
oder weniger deutlich ist. Jede Typologie führt zu einer anderen
möglichen Art von Chronologie, und diese Unterschiede sind
immer stimulierend. Man merkt dann, dass es mehrere parallele
Geschichten des Kinos gibt. Zum Beispiel bieten die Arten des
Erzählens sehr unterschiedliche Chronologien an. Wenn man
sich gerade auf jenen Gegenstand - das narrative System in den
Filmen - und auf seine Unterschiede konzentriert, dann konst­
ruiert man eine andere Kinogeschichte. Aber ich glaube, dass es
funktionaler ist, wie Deleuze von unterschiedlichen Typologien
anstatt von spezifischen Chronologien zu sprechen.

Jedes Mal\ wenn wir uns der Definition dessen anzunähern versuchen,
was eine „Kinogeschichte“ sein könnte, müssen wir darauf verzichten,
weil der Gegenstand sich entzieht...

Die Kinogeschichte ist mit einer bestimmten Illusion verbunden,


einer Illusion, die von der Vorstellung hervorgerufen wird, dass
das Kino, da es eine relativ junge Kunst ist, als ein homogener
Zeitblock zu verstehen und daher in Perioden einteilbar sei. Das
ist eine bequeme, aber falsche Vorstellung. Es gibt keine objektive
Chronologie einer Kunst, weil ihre Vereinigung selbst die Kreuzung
von mehreren zeitlichen Reihen ist: von Techniken, Darstellungs­
weisen, Ordnungen des Sichtbaren oder des Hörbaren, Entschei­
dungen darüber, was Kunst ist, und Entscheidungen darüber, was
Geschichte macht und so weiter. Es gibt Geschichte, weil es da eine
Verknüpfung von verschiedenen Zeitlichkeitslinien gibt, weil jede
„Gegenwart“ von Anachronien bestimmt wird. Die Bestimmung
von Stilen ist mit besonderen Modalitäten dieser Verknüpfung
verbunden. Die Chronologien sind sicher nützlich, aber die Arbeit
der „Geschichte“ beginnt dort, wo man zum Beispiel fragt, was den
filmischen Stil der „Nouvelle Vague“ von seinem unmittelbaren
chronologischen Bezugspunkt trennt - vom Lebensstil einer neuen
Generation, der Revolution der Sitten, der Direkttonaufnahme, der
Reportage - , und wenn man sie mit einem Kino der 1930er-Jahre
vergleicht, das scheinbar ihrem Gegenteil gewidmet war - dem
Kult der Künstlichkeit, dem galanten Geplauder und so weiter -,
nämlich dem Kino von Lubitsch. Das war übrigens eine der Rollen
der Cinephilie und der Nouvelle Vague.
„Licht, mein Zeitgenosse“ sagte Godard.

Man braucht daher nicht „aufzugeben“ und eine Ausflucht zu


beklagen, die uns auf die Bequemlichkeiten des Fragmentarischen
und Unentscheidbaren verweisen würde. Die Kinogeschichte gleicht
jeder anderen Geschichte. Die Erschöpfbarkeit ist eine Maske, und
man muss die Idee der Gesamtheit aufgeben. Es gibt Geschichten
und Geschichtsobjekte eben auf Grundlage der Absage an die
Enzyklopädie. Was zählt, sind die „Löcher“, die jede Geschichte
herbeiführen kann ...

Wenn man die großen Videokassetten-Editionen oder die Programm-


gestaltungen der Festivals über das Gedächtnis des Kinos ansieht,
hat man oft den Eindruck, dass das Herstellen dieser Geschichte im
Gegenteil darin bestünde, die Löcher zu stopfen, die Lücken zu füllen,
die die vorhergehenden Geschichten, die Sadouls, die der Kritik und
der Cinephilie offengelassen haben.

Der Historiker ist heute besessen von der Idee des Museums und
des Erbes. Man möchte die Lücken füllen, im Namen der Idee,
dass man zuerst die komplette Sammlung konstituieren muss, aus­
gehend von der Tatsache, dass es die Sache der Ästheten wäre, die
Auswahl zu treffen, und die Sache der Forscher, zu interpretieren.
Die Geschichte ist nur lebendig, wenn sie diese Prioritätenordnung
ablehnt. Die Geschichtlichkeit des Kinos ist beispielhaft mit der
Auswahl und den vorgreifenden Interpretationen entstanden. Wenn
man Geschichtsschreibung betreibt, muss man mit Löchern arbei­
ten, sich weigern, bestimmte Abstände aufzufüllen, eben jene, die
gerade eine Abweichung, eine Verschiedenartigkeit, eine Anachronie
gebildet haben, durch die etwas passiert ist. Die Geschichtsschrei­
bung macht Kahlschläge und stellt ihrem Wesen nach Fragen zu
den Leerstellen. Dieses Schreiben zielt vor allem darauf ab, ein
System von Übergängen und Brücken zwischen einzelnen Inseln
anzubieten. Der Historiker konstruiert ein Objekt, und damit dieses
Objekt lebendig und interpretierbar bleibt, muss es wesentlich aus
verschiedenartigen Materialien bestehen, aus Fragmenten möglicher
Geschichte, die auf hypothetische Weise versammelt werden, um
zu sehen, wie sie eine Geschichte bilden. Die Kinogeschichte oder
vielmehr die Geschichten, in denen das Kino Platz nimmt, werden
vom Vergessen und vom Verlust aus geschrieben.
1999
Ist die Politik nur Polizei?46
mitJean-Paul Monferran

Jean-Paul Monferran: M it Kux bords du politique (An den Rändern


des Politischen)47 versuchen Sie nachgerade eine Art Neubestimmung
der Politik. Sie schlagen mehrere Interpretationen von „Rändern “
(bords) vor: Waldrand, Grenze, aber auch Wahl, im Sinne von der
„Seite“ (bord), a u f der man ist... Wie sieht es nun damit aus?

Jacques Ranciere: Ich habe vor gut zehn Jahren an diesem Buch zu
schreiben begonnen, als das Thema des „Endes“ sehr in Mode war:
Ende der Politik, Ende der Utopien, Ende der Ideologien ... Ich
wollte diesen Diskurs in einen allgemeineren Rahmen stellen, indem
ich fragte, was die Grenzen, seine „Ränder“ sind, und daher gerade
das in Frage stellte, was man unter Politik überhaupt versteht. Man
setzt sie im Allgemeinen entweder mit dem Kampf um die Macht
oder mit der Ausübung und dem Gegenstand jener Macht gleich,
mit der Verwaltung der Gesellschaft, der Verteilung der Güter und
der Macht zwischen den sozialen Gruppen. Ich habe zu zeigen ver­
sucht, dass die Politik weder die Herrschaft noch die Verwaltung
ist, sondern dass sie eine Tätigkeit definiert, die über deren Logik
hinausgeht. Die Politik beginnt mit dem Dasein von Subjekten,
die „nichts“ sind, die bei jeder Zählung der Teile der Bevölkerung
überzählig sind. Der Proletarier ist nicht der Repräsentant einer
Gesellschaftsgruppe, sondern ein politisches Subjekt, dessen Wort
eine Übertretung darstellt, weil es das Wort jener ist, die nichts zu
reden haben ...

Sie sprechen von Anomalie, Übertretung, Überschuss ... Gleichzeitig


unterscheiden sie zwei Seiten der Politik ...
Tatsächlich schlage ich vor, zwei Begriffe einander entgegenzuset­
zen. Auf der einen Seite steht die „Polizei“, nicht nur im Sinne der
Repression oder der sozialen Kontrolle, sondern als Tätigkeit, die
die Versammlung der Menschen in Gemeinschaft organisiert und
die Gesellschaft nach zu besetzenden Funktionen, Plätzen und
Rechtstiteln ordnet. Und dann gibt es einen anderen Vorgang,
und das ist jener der Gleichheit. Er besteht im Zusammenspiel von
Praktiken, die von der Annahme der Gleichheit eines jeden und von
ihrer Verifizierung geleitet werden: Der geeignetste Name dafür ist
„Emanzipation“. Was man Politik nennt, ist tatsächlich die ständige
Konfrontation dieser zwei Vorgänge, ein Kampf um die Bestim­
mung der „Situation“ selbst. Gegenüber den Sozialbewegungen
von 1995 etwa erklärte die Regierung, dass sie das einzig Mögliche
mache, im Gegensatz zu den „Rückständigen“, die unfähig seien,
die Situation zu erkennen. Die Politik der „Rückständigen“ stellte
eben die angeblich spürbare Offensichtlichkeit in Frage. Aristoteles
gründete die Politik auf der Eigenschaft des sprechenden Wesens,
das fähig ist, über das „Gerechte“ und das „Ungerechte“ zu disku­
tieren, während das Tier nur Schmerz oder Lust ausdrücken kann.
Das Prinzip der „Polizei“ ist es nun immer gewesen, die Menschheit
aufzuteilen in diejenigen, die „wissen“, und in jene, von denen
man sagt, sie bekundeten einfach ihre Unzufriedenheit, ihre Wut,
Hysterie und was weiß ich noch ...

Denken Sie nicht, dass dieser Zugang, abseitsjedes moralischen Urteils,


an der Quelle der Krise der Politik selbst sein könnte, welche sich heute
vielleicht eher abseits der Orte ausdrückt, an denen sie traditionell
angesiedelt ist? Man könnte zum Beispiel auch denken, dass es 1998
bei der Fußballweltmeisterschaft mehr „Politik“gab als bei der alle drei
Jahre stattfindenden Neubesetzung des Senats...

Politik spielt sich in dem ab, was man die „Gesellschaftsfragen“


nennt. Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass es politische Sub­
jekte gibt, die sie ins Spiel bringen. Ich habe mich immer gegen die
Vorstellung gesträubt, dass sich die Politik auf der untersten Ebene,
in den Netzwerken, Vereinen und so weiter abspielt. Auch wenn es
eine Menge von gesellschaftlichen Mikrosituationen gibt, die die
Formen des politischen Empfindens bestimmen sowie die Formen
des Widerstands gegen das, was man die „polizeiliche“ oder rein
verwaltende Ordnung nennen könnte, so gibt es dennoch keine
Politik, solange die Fähigkeit zur Universalisierung dessen fehlt, was
in dieser oder jener Situation auf dem Spiel steht, egal, ob es sich
um die Bewegung von 1995 oder die der Sans-Papiers48 handelt.
Es geht nicht nur darum, die Kräfte zu vereinen, sondern darum,
politische Subjekte zu konstituieren, die dazu berufen sind, den
Konflikt zu universalisieren. Die Politik ist Konflikt, insofern er
eine universelle Funktion annimmt ...

Wo konstituieren sich diese y,politischen S u b je k te u n d was kann


denn die y,Verbindung“ zwischen ihnen herstellen? Eine Parteileitung
„ marxistischen “ Typs?

Ihre Frage bezieht sich auf meinen eigenen Lebensweg. Ich war als
Student von den Texten Marx’ fasziniert, und auch von der Person
und dem Diskurs von Louis Althusser. Ich war also mit Das Kapital
lesenA9 an jenem Ehrgeiz beteiligt, dem Marxismus seine wahrhafte
Theorie zu verleihen. Im Grunde legte diese Vorgehensweise mit
ihrer Trennung von Politik und Ideologie nahe, dass die sozialen
Handlungsträger ihre Lage verkennen müssen. Letztlich lief unsere
hochkomplizierte „Wissenschaft“ darauf hinaus, zu behaupten, dass
es dem Intellektuellen oder dem Gelehrten zukommt, den unglück­
lichen Beherrschten die wahrhafte Erklärung der Gründe zu liefern,
warum sie beherrscht werden. Um 1968 habe ich begonnen, diese
hartnäckige, wissenschaftsgläubige Vorannahme zu hinterfragen.
Das erzeugte in mir den Wunsch, über das historische Verhältnis
zwischen der Konstituierung des Marxismus und der Herausbildung
von Figuren der Arbeiteremanzipation zu arbeiten. Ich habe also gut
zehn Jahre damit verbracht, in den Archiven des Arbeiterdenkens des
19. Jahrhunderts zu arbeiten, mit der ursprünglichen Absicht und
Bemühung, eine Art authentisches Arbeiterdenken zu finden, das
dem marxistischen Denken entgegengesetzt werden könnte. Und
dann habe ich beim Arbeiten bemerkt, dass die Problemstellung
falsch war ...
Weshalb?

Den Proletariern fehlte weniger die Kenntnis der Ausbeutungs- und


Herrschaftsmechanismen als vielmehr ein Denken, eine Sichtweise
von sich selbst als Wesen, die fähig sind, etwas anderes zu erleben als
das Schicksal der Ausgebeuteten und Beherrschten. Ich erkläre das
nun ein wenig genauer. Man musste in der Bewegung derer, die in
die Ordnung der Arbeit verbannt waren, in dem Sinne, dass diese
Ordnung im Gegensatz zur Ordnung des Denkens und des Wortes
steht, den Willen erkennen, sich nicht ein „eigenes Arbeiterdenken“
anzueignen, sondern sich im Gegenteil etwas anzueignen, was sich
auf der Seite des Denkens und des Wortes des anderen befand,
einschließlich dessen, was davon herausragend war. Das Phänomen
der Arbeiterdichter zeigt uns zum Beispiel, dass die ganze Geschichte
des kulturellen Anpassungsprozesses der Aktivisten über eine Art
gegenseitige Unterstützung verlief und zugleich über die Überschrei­
tung einer Welt hin zu derjenigen, die die Welt des anderen war ...
Diese Logik habe ich versucht, auf umfassendere Weise als Logik
der Politik selbst zu denken. Das heißt, dass das, was man Arbei­
terbewegung nennt, nicht eine Bewegung der Bewusstwerdung der
geschichtlichen Interessen war, die einer Klasse eigen sind, sondern
vor allem die intellektuelle Bewegung derer, die in gewisser Weise
die Schranken einer dunklen Welt überschreiten wollten, in der sie
sich befanden, um sich nicht bloß um ihre eigenen Angelegenheiten
zu kümmern, sondern um die gemeinsamen Angelegenheiten. Das
führt uns zum Begriff des Überschusses ...

Ist dieser „ Überschuss “ nicht auch in der Utopie zu finden?

Ich misstraue immer ein wenig dem Diskurs, der die Utopie als
Seelenzusatz verlangt. Ich versuche zwei Dinge zu unterscheiden.
Tatsächlich gibt es keine Politik, wenn man nicht die Grenzen
überschreitet, die als die Grenzen des Möglichen gelten, weil sie
von der von mir so genannten „polizeilichen“ Ordnung festge­
legten wurden. Aber muss man sich deswegen auf Fourier oder
Saint-Simon berufen? Die Utopien sind schließlich Diskurse, die
postulieren, dass es keiner Politik bedarf, dass der demokratische
oder egalitäre Konflikt letztlich auf einem Missverständnis grün­
det. Zugleich hatten sie in gewisser Weise immer die Funktion,
einen Abstand herzustellen. Und im 19. Jahrhundert brauchte
man zuerst Figuren des Abstandes, damit die Arbeiterbewegung
entstehen konnte. Ich bin immer erstaunt gewesen über dieses
zwiespältige Verhältnis der damaligen Proletarier zu den Utopien:
Sie waren Anhänger der Utopie als polemischer Neugestaltung der
Ordnung der Möglichkeiten, aber sie waren viel weniger angetan
von den konkreten Organisationsformen, die die Utopisten ihnen
anboten. Sie politisierten die Utopie, die selbst doch vorgab, mit
den politischen Konflikten Schluss zu machen.

Würden Sie dasselbe in Bezug a u f M arx sagen?

Marx ist eine außerordentlich zwiespältige Gestalt. Er ist derjenige,


der wirklich die sinnliche Beschaffenheit der Emanzipation erfasst
hat, aber in einer Art Doppelzüngigkeit: einerseits der affirmative
Diskurs über die der Emanzipation innewohnende Kraft, und an­
dererseits der sogenannte „wissenschaftliche“ Diskurs, dem zufolge
die Emanzipationsbewegung etwas ist, das nicht von denen erkannt
werden kann, die daran beteiligt sind. Es besteht hier eine extreme
Spannung. Sicherlich gab es nach Marx alle bekannten Entgleisungen
und Monstrositäten ... Aber es ist erstaunlich festzustellen, dass Marx
bei jeder politischen Gelegenheit eine Art Parteinahme kundtut, die
von der Idee konterkariert wird, dass in jedem Fall die Handelnden
den Sinn dessen, was sie tun, nicht kennen, dass der Sinn woanders
liegt, und dass sie in gewisser Weise, indem sie handeln, der Aufklä­
rung ihrer eigenen Lage entgegenwirken ... Wie Sie sehen, bin ich
vom Gegensatz zwischen Wissenschaft und Ideologie ausgegangen,
dann habe ich jenen zwischen bürgerlichem und proletarischem
Denken durchquert, um zur Überzeugung zu gelangen, dass keiner
der beiden Gegensätze aufrechtzuerhalten ist. Was auf grundlegende
Weise fiir die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts in Frage stand
und was heute in den Bewegungen, die ich vorhin erwähnt habe, in
Frage steht, ist, ob man einen Platz in der gemeinsamen Ordnung
und im gemeinsamen Sprechen hat oder nicht. Es geht also um so
etwas wie einen Kampf um eine Grenzüberschreitung ...
Der unwissende Lehrmeister50
mit Mathieu Potte-Bonneville
und Isabelle Saint-Saëns

Vacarme: Wir würden mit Ihnen gern über eine Reihe von Verschie­
bungen reden, oder sagen wir doppelte Verschiebungen. Einerseits
haben Sie in Ihrem Werk die Begrifflichkeit des politischen Denkens
grundlegend verschoben: Ihre Kritik an der Stellung des Intellektuellen
im Kampffeld, Ihre Analyse des Sinns und der Funktion des Konsenses
und Ihre Unterscheidung zwischen der „polizeilichen “ Verwaltung
der Gesellschaft und der Unterbrechung durch politische Bewegungen
bringen unsere Denkgewohnheiten durcheinander. Andererseits haben
Sie diese Analysen und Unterscheidungen in einem ganz bestimmten
theoretischen und politischen Kontext ausgearbeitet. Der Kontext hat
sich nun aber seit Ihren ersten Schriften reichlich verändert. Beginnen
wir vielleicht mit der Frage nach der Rolle und Stellung des Intellek­
tuellen, des Gelehrten oder Philosophen in Bezug a u f die Politik. Wie
ist diese Fragefü r Sie wichtig geworden und was wird aus ihr in einer
Zeit, in der die politische Debatte sich nicht mehr, wie das vor dreißig
Jahren der Fall war, in der Theorie abzuspielen scheint?

Jacques Ranciere: Der Ausgangspunkt ist Althusser: der Gegensatz


zwischen der Wissenschaft und der Ideologie; die Theorie eines
Diskurses, der beanspruchte, die Wahrheit darüber zu sagen, was
die Akteure der Politik und der Gesellschaft praktizierten, und die
sie selbst nicht dachten oder nicht denken konnten. Ich bin von
der Kritik dieser Haltung ausgegangen. Am Anfang konnte sich
das in Begriffen ausdrücken, die selbst klassisch waren, so als ob
es darum ginge, in einer Konfrontation zwischen dem Diskurs der
Intellektuellen oder gestrigen Marxisten und den lokalisierten, terri-
torialisierten Gegen-Diskursen die wahrhafte Rede der Beherrschten
gegen die Rede wiederzufinden, die ihnen die Theorie unterschob.
Das hat sich sehr schnell verschoben, als ich entdeckte, dass die
Vorstellung eines „eigentlichen“ Diskurses mit dem Verweis einer
bestimmten Anzahl von Körpern, von Sozialkörpern auf ihren Platz
einhergeht. Wenn man die Figur des Philosophen, des Intellektuel­
len oder des Gelehrten anfechten wollte, ging es folglich nicht mehr
darum, ihm ein Gegen-Denken oder Gegen-Ideologien entgegen­
zusetzen, sondern gerade die Haltung der Zuweisung eines Körpers
zu einem bestimmen Aussagetypus in Frage zu stellen. Seitdem ist
das Problem der intellektuellen Gleichheit für mich wesentlich.
Der unwissende Lehrmeister, ein Buch, das manchen ein wenig
extravagant erschien, war deshalb für mich zentral. Es ging darum,
zu behaupten, dass jeder ein Intellektueller ist, insofern, als jeder
seinen Kopf verwendet, auch insofern es keine unterschiedlichen
Arten der Verwendung des Kopfes gibt, die Haltungen, Diskurs-
Typen, Wissenschaften oder Disziplinen entsprechen würden. Die
Frage meines Verhältnisses zum Intellektuellen, zum Philosophen
hat sich entlang dieser Achse verschoben.

Der unwissende Lehrmeister vollzog jedoch eine Art Rückzug von


der Politik, insofern, als das Buch einen Gegensatz aufstellte zwischen
einer individuellen Emanzipation —ein Individuum emanzipiert ein
anderes, und so weiter —und den Institutionen, welche unweigerlich
zur Ungleichheit der Intelligenzen zurückfuhren. Wie sind Sie von dort
zu Werken wie Aux bords du politique51 oder Das Unvernehmen52
gelangt?

Der fragliche Rückzug ist das Dilemma, das die Theorie der intel­
lektuellen Emanzipation aufwirft. Gerade die Radikalität, die sie
der Gleichheit verleiht (sie ist eine zu aktualisierende Vorannahme,
nicht ein zu erreichendes Ziel), verbietet, dass sie in der kollektiven
Ordnung Gestalt annehmen kann. Mein Problem bestand also
darin, dieses Verbot zu übertreten und ausgehend von bestimmten
Emanzipationspraktiken über die politischen Formen nachzuden­
ken, die die Vorannahme der Gleichheit annehmen kann. Die Arbeit
an dieser allgemeinen Frage hat sich mit den Anforderungen des
Zeitgeschehens der 1990er-Jahre gekreuzt, mit all diesen Formen
der Rückentwicklung der politischen und sozialen Praxis, die sich
im Begriff Konsens zusammenfassen lassen. Die Arbeit an der
politischen Gestalt der Gleichheit ist also mit einem Nachdenken
über die gegenwärtigen Manifestationen des öffentlichen Lebens
verbunden, ohne deshalb das Verhältnis einer politischen Praxis zu
„ihrer“ Theorie zu bestimmen.

Eben: An Ihrem Werdegang ist erstaunlich, dass Sie zurückhaltend sind,


in aktuelle Konflikte einzugreifen, und zugleich aufmerksam dafür,
wie die Formen politischer Intervention aussehen könnten. Kann man
sagen, dass Sie sich auch „an den Rändern des Politischen “ („aux bords
du politique“) aufhalten?

An den Rändern des Politischen bedeutet nicht „neben dem Poli­


tischen“, sondern an den Grenzen, wo man sieht, wie die Politik
entsteht und vergeht, sich von dem unterscheidet, was sie nicht
ist, und sich von neuem darin vermischt. Es geht eher darum,
sich zu fragen, warum es Politik gibt und nicht vielmehr nichts,
beziehungsweise warum es Politik gibt und nicht vielmehr bloß die
Polizei. Gibt es eine Gestalt des Politischen als besonderen Modus
menschlicher Aktivität? Wie sind sein Auftauchen und Vergehen
im tatsächlichen Bereich des gegenwärtigen öffentlichen Lebens zu
denken, ohne dass man sich jedoch gezwungen fühlt, ausgehend
davon die Formen zu bestimmen, die die aktivistische politische
Tätigkeit annehmen müsste? Einerseits versuche ich also gerade
die Existenzbedingungen der Politik zu denken. Unter diesem
Aspekt verwende ich die gegenwärtigen Phänomene vor allem zur
Veranschaulichung. Man kann das als einen Rückzug in die The­
orie interpretieren, umso mehr, als es mir seit Langem unmöglich
ist, dem Diskurs irgendeines Kollektivs beizupflichten. Manchmal
begebe ich mich mit gewissen Kollektiven auf die Straße, wenn es
um bestimmte Themen geht, aber wenn ich ihre Reden höre, fühle
ich mich ihnen fremd. Dennoch bin ich keiner, der sich zu gut
ist, um über die Gegenwart zu schreiben: Ich schreibe regelmäßig
eine Chronik für eine große Zeitung, aber es ist eine brasilianische
Tageszeitung - die französischen Tageszeitungen, einschließlich
derer, die intellektuelle und linke Ansprüche haben, wollen nichts
Besonderes von mir ... Im Übrigen ist die Ideen-Debatte, die
intellektuelle Debatte, so wie sie heute in Frankreich abläufit, ein
dermaßen stereotypes Rollenspiel, dass einen alleine die Vorstellung
abschreckt, seine Stimme darunter zu mischen. Es ist zwar vorge­
kommen, dass ich mich politischen Gruppen angeschlossen habe,
doch diese haben eine Art, zu entscheiden, dass die Ideen richtig
sind, die mir immer gefehlt hat. Was ich zur Politik beitragen kann,
ist eine bestimmte Umgestaltung der Ausgangslagen und Probleme.

Wie trägt die beharrliche Bezugnahme a u f die Griechen —a u f die


griechische Geschichte, Philosophie und ihren Wortschatz —in Ihren
Texten zu dieser Umgestaltung bei?

Diese Bezugnahme ist keine persönliche Flucht in die Vergan­


genheit, sondern eine Antwort auf gegenwärtige Diskurse. Mit
dem Ende der Sowjetunion und dem Thema der Rückkehr zur
Demokratie, das damals florierte, hat man eine Reihe von Ent­
wicklungen, die auf dem griechischen Bezugspunkt gründen. Man
hat Aristoteles, das Gemeinwohl und die Freundschaft mit neuem
Schwung wiederkehren sehen; Leo Strauss, die antike Politik des
Guten gegen den modernen Utilitarismus; Hannah Arendt und
das gute Leben gegen das nackte Leben und so weiter. All diese
zeitgenössischen Hellenismen stellten ein „angeborenes“ Denken der
Politik in den Dienst der offiziellen Ideologien einer Demokratie,
die auf eine weise Leitung der gemeinsamen Geschäfte reduziert
sei. Demgegenüber war es nützlich, einen polemischen Hellenismus
wiederzuerwecken: zum Beispiel zu sagen, dass Demos nicht ein
von den Demokraten, sondern von den Gegnern der Demokraten
erfundenes Wort ist. Das verdreht den ursprünglichen Sinn des
Begriffes - Demos ist von vornherein ein polemischer, streitbarer
Begriff. Der Demos, das sind die nichtigen Leute, jene, die nicht
gezählt werden müssen und die aber den Anspruch haben, dennoch
der Gemeinschaft anzugehören. Es war wichtig, die Metaphern der
Politik wieder wörtlich zu nehmen: der Mensch im Gemeinwesen,
der Bürger, das sind Dinge, über die man nicht Bescheid weiß -
aber was bedeutet das? Wenn man über Demokratie spricht, sollten
wir versuchen zu verstehen, welche Macht in diesem Wort steckt,
eine gar nicht banale Macht, eine buchstäblich außergewöhnliche,
ursprünglich skandalöse Macht. Es scheint mir fruchtbarer, über
die Demokratie vom Blickpunkt Platons zu sprechen, für den sie
eine Monstrosität ist, als vom Blickpunkt von Clinton oder Chirac,
für die es der gewöhnliche Alltagsbrei ist ...

Kehren wir zum Problem des Intellektuellen zurück. Zwei Dinge schei­
nen seit dem Kontext der 1970er-Jahre, den Sie vorhin ansprachen,
passiert zu sein: zuerst ein gewisses Verblassen der Figur des Intellektuel­
len in der öffentlichen Debatte zugunsten von Experten, die einen ganz
anderen Diskurs führen. Sodann und wie als Reaktion darauf rufen
jene, die damals einen gelehrten und entlarvenden Diskurs über das
Politische führten (angefangen bei Bourdieu), zur politischen Aktion
a u f und begeben sich in eine Rolle, die mehr der des Volkstribuns als
der des Gelehrten ähnelt. Was ist von so einer Verschiebung zu halten?

Meine hauptsächliche Zielscheibe ist das Denken, das ich metapo­


litisch nenne, dem zufolge die Politik auf einer tiefen gesellschaft­
lichen Wahrheit beruht, die die gesellschaftlichen Akteure unfähig
sind, selbst zu erkennen. Bourdieu war immer ein Verfechter dieser
Wahrheit, aber mit unterschiedlichen Akzentuierungen. In der Zeit
von La Reproduction und von Derfeine Unterschied war das zentrale
Thema das Verkennen. Die Instanz des Wahren wird als das gedacht,
was die Akteure nicht erfassen können, als das Verdrängte ihrer
eigenen Einstellungen. Der Gelehrte ist in einer einsamen Position
der Einzige, der über die Produktions- und Reproduktionsweisen
der unterschiedlichen Formen des Kapitals die Wahrheit ausspre­
chen kann. In den jüngsten Stellungnahmen Bourdieus hat sich
das Verhältnis umgekehrt: Die Sozialbewegung wird als Besitzerin
einer Wahrheit angesehen, die von den Experten und Verwaltern
des öffentlichen Lebens nicht gedacht wird. Diese Polarität macht
bereits den Kern des marxistischen Denkens aus: Die Wahrheit
ist mal die Wissenschaft, die man dem verblendeten Bewusstsein
des Proletariers entgegensetzt, mal das Proletariat, insofern es die
Wahrheit des Gesellschaftsprozesses verkörpert, der das politische
Gebäude stützt. Heutzutage zielt die Kritik an Bourdieu auf etwas
anderes ab. Eine der polemischen Achsen meiner Arbeit war lange
Zeit über die Kritik an der Idee der Desillusionierung: Der Des-
illusionierer schien mir die Position des Gelehrten auf die Spitze zu
treiben und die Unmöglichkeit des Verblendeten zu bezeichnen, je­
mals aus seiner Illusion herauszukommen. Aber heute vollzieht sich
das Verhältnis zwischen dem Gelehrten und dem Nicht-Gelehrten
nicht mehr in dieser bevorzugten Metapher der Klarsichtigkeit und
der Dunkelheit, in der Aufdeckung des Verborgenen und in der
Analyse des Verkennens. Es ähnelt eher dem klassischen Gegensatz
zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Was vor fünfzehn
oder zwanzig Jahren eine Provokation war —nämlich zu sagen, dass
es nichts Verborgenes gibt - , ist etwas Selbstverständliches gewor­
den. Diese Verschiebung hat gewaltige ideologische Wirkungen
hervorgerufen: Bei den sogenannten Intellektuellen hat sich das in
einer Ablehnung der politischen, ethischen oder hermeneutischen
Philosophie geäußert. Deshalb bin ich sehr vorsichtig, wenn man
mich dazu aufruft, meine Kritik an Bourdieu in der aktuellen
Debatte zu erneuern, das heißt sie zugunsten der „mutigen“
Reformatoren anzubringen, die gegen die „Rückständigkeit“ der
Sozialbewegungen kämpfen. Meine Kritik zielte sicherlich nicht
darauf ab, die Rückkehr zu ich weiß nicht welcher Hermeneutik
des Sinns oder der Praxeologie der Politik zu feiern, die irgendwo
zwischen Hans Georg Gadamer und Alain Juppé angesiedelt ist.
Über Bourdieu hinausgehend scheint es mir derzeit wichtig zu
sein, eine Kritik der Vorstellung von der „Sozialbewegung“ selbst
durchzufuhren. Auch wenn sie das Verdienst hat, eine Macht der
Intervention jener zu bezeichnen, die nicht qualifiziert sind, im Be­
reich der Wissenschaft, der Expertise und so weiter zu intervenieren,
so hat sie doch auch den Fehler, die Aufteilung wiedereinzufiihren,
indem sie diese Intervention als dem Politischen äußerlich und als
Wahrheit des Politischen behauptet. Man muss umgekehrt sagen,
dass das, was man „Sozialbewegung“ nennt, eigentlich Politik ist,
und man muss sie als direkt politisch denken.

Kommen wir zu den Formen der Rückbildung der Politik, die Sie am
Begriff„Konsens“festgemacht haben. Bereits in einem in der Libération
(vom 12.7.1993) erschienenen Artikel unterstreichen Sie, wie sehr der
Konsens zum Beispiel über die „notwendige Kontrolle der Einwan­
derung“ der Leugnung jeglicher Spaltung innerhalb der Gesellschaft
gleichkommt und mit der Bestimmung eines Anderen (des Einwande­
rersy des Illegalen) durch die Leidenschaft zusammenhängt, gegen den
der politische Körper seine Einheit stärkt. Seitdem ist die Kritik des
Konsenses nun aber ein Modethema geworden, ebenso bei den Linken
(in der Kritik des yyalternativlosen Denkens“)53 wie bei den Rechten (in
der zur Schau getragenen Feindschaftgegen die yypolitische Korrektheit“).
Inwiefern unterscheidet sich Ihre Kritik von diesen Diskursen?

Der „Konsens“ bezeichnet für mich weder eine mehrheitliche


Übereinstimmung noch ein Konglomerat von Vorstellungen
oder Wahrnehmungen, in Bezug auf die die linken und rech­
ten Entscheidungsträger einverstanden wären. Der Konsens im
strengen Sinne ist die Vorstellung, dass es eine Objektivität gibt,
eine Eindeutigkeit der sinnlichen Gegebenheiten. Für mich gibt
es Politik, insofern man eben nicht einverstanden in Bezug auf
die Gegebenheiten der Situation ist. Der Konsens beseitigt also
die Politik, insofern er sie auf Probleme der Aufschlüsselung der
Bevölkerung oder von Teilen der Bevölkerung reduziert, in einer
Logik, die von der Wahlsoziologie bis zur Geopolitik reicht. Der
Konsens identifiziert die Akteure der Politik mit gesellschaftlichen,
ethnischen, nationalen Gruppen und so weiter, zwischen denen
es gelte, Schiedsrichter zu spielen. Er reduziert die politischen
Konflikte auf identifizierbare, objektivierbare Probleme, die dem
Expertenwissen und auf diesem Wissen begründeten Entschei­
dungen unterliegen. Der Konsens ist nicht eine allgemeine Über­
einstimmung, sondern eine Art und Weise, die Gegebenheiten
der Diskussion selbst und die möglichen Haltungen in dieser
Diskussion zu bestimmen. In Frankreich und im intellektuellen
Milieu ist es das, was eine Zeitschrift wie Le Débat macht: Ihr
Ziel ist es, die alternativen Denkmöglichkeiten zu bestimmen und
die Diskurs- und Wissensmodalitäten, die darin integriert werden
können. Damit spielt jeder seine Rolle als Debattierender, aber auf
Grundlage der Vorstellung, dass die Ausgangslage fest steht und
keine wirklichen Alternativen zulässt. Somit mischt sich die Arro­
ganz der gespielten Haltungen mit dem Ressentiment gegenüber
dem Tabu. Die intellektuelle Meinung, die radikale Gegensätze
nachäfft, verkündet gleichzeitig ihre Nichtigkeit. Sie dekretiert
noch vor den offiziellen Entscheidungsträgern die Unmöglichkeit
des Handelns und der Wahl als Grundlage der „Diskussion“ selbst.

Die Kritik des )yalternativlosen Denkens“scheint an dieser Hoffnungs­


losigkeit Teil zu haben., indem sie von vornherein jede Möglichkeit
minimiert, gegen eine offensichtlich alternativlose und unvermeidliche
Logik zu handeln. Ihre Auffassung des Konsenses hingegen scheint das
Spiel wieder zu eröffnen...

Selbst wenn man annimmt, dass das „alternativlose Denken“ auf


eine umfassende Art der Einschätzung verweist, die von den Ent­
scheidungsträgern, Regierenden, Journalisten und so weiter geteilt
wird, so verhindert das nicht, dass es überall Instabiles, Problema­
tisches in dieser oder jener Konfiguration der Gegebenheiten gibt.
Das hat man bei den unterschiedlichen Sozialbewegungen gesehen,
von den Streiks von 1995 bis zu den Bewegungen der Sans-Papiers
und den Bewegungen gegen das Debre-Gesetz und so weiter. Die
Ereignisse stellen sich als unterschiedlich organisierbar dar. Diesel­
ben wirtschaftlichen, finanziellen, sozialen Gegebenheiten können
Szenarien der Interpretation und der politischen Intervention
bestimmen, die Gegenstand einer Wahl bilden. Sobald man den
Konsens nicht mit einem Korpus von Ideen oder Meinungen gleich­
setzt, sondern mit einer umfassenderen Struktur der Etablierung der
Wahrnehmungsgegebenheiten, bemerkt man, dass man sich dem
Konsens durchaus widersetzen kann. Sicherlich ist es schwierig, der
von den Regierenden aufgezwungenen „wirtschaftlichen“ Logik
zu widerstehen. Aber man darf aus dem Konsens nicht das große
Monster machen, das mit dem Gesetz des Kapitals alle Formen der
Gestaltungen des Wahrnehmbaren, Möglichen und Denkbaren, die
die politischen Praktiken definieren, niederwalzt.

Sie betonen immer wieder den zugleich singulären, lokalen und mi-
noritären Charakter dieser Praktiken und den Universalitätshorizonty
dessen Träger sie sind—ein Horizont, der ihnen die eigentlich politische
Eigenschaft verleiht und sie von einer einfachen Teilnahme an der Ver­
waltung der Gesellschaft unterscheidet. Aber wie soll man den Anfang
machen? Anders gesagt, an welchen Eigenschaften erkennt man eine
politische Intervention?

Man kann die Situation nicht als Gegensatz zwischen mehrheit­


lichem Konsens und minderheitlichen Dissens denken. Eine Min­
derheit kann zwei gegensätzliche Dinge sein: eine Gruppe, die ihren
Anteil in der Aufteilung zwischen Gruppen verlangt, oder ein poli­
tisches Subjekt, das diese Identifikationslogik zerstört. Drei Punkte
scheinen mir entscheidend in der Definition eines politischen Sub­
jekts. Der erste ist die Fähigkeit, die Verbindung dieses oder jenes
Problems, das eine dissensuelle Intervention rechtfertigt, mit der
Gesamtlogik der Herrschaft herzustellen. Es handelt sich darum,
das Prinzip aufzustellen, dass eine Frage, die die Einwanderungs­
politik, die Gesundheit, den Strafvollzug oder die Bildung betrifft,
Alternativen in der umfassenden Gestaltung des Zusammenseins
bestimmt oder nach sich zieht. Die Gefahr ist jedoch das „alles ist
politisch“. Wenn man in jeden Streit das Ganze der Gesellschaft
legen will, wird das schnell erdrückend und lähmend. Zweitens
spielt sich der politische Charakter einer Intervention in der Praxis
der Dissensualität selbst ab: in der Behauptung, selbst in einer be­
grenzten Frage, der Nicht-Eindeutigkeit der Gegebenheiten, in der
Neugestaltungsarbeit. Hier scheiden sich eine politische dissensuelle
Logik und eine Politik der Partikularitäten oder Minderheiten. Ob
es sich um die Sans-Papiers oder um die Gesundheit, um diese oder
jene Form der Gesellschaftsinstitution handelt, man befindet sich
immer auf einer Trennlinie, auf der man immer Gefahr läuft, einfach
die Wichtigkeit dieser Region und jener Gruppe zu behaupten und
somit in eine erweiterte Logik der Polizei zurückzufallen, in dem
Sinn, wie ich sie verstehe, nämlich als vollständige Zählung der Teile
der Bevölkerung und der Probleme, denen sie begegnen. Vor allem
die assoziativen Praktiken laufen Gefahr, durch ihre Forderungen
einfach Unterabteilungen der Gesellschaft oder des umfassenden
sozialen Problems zu bestimmen. Eine politische Stellung des Pro­
blems erfordert einen Bruch mit der umfassenden Zählung statt
eines einfachen Dazuzählens zu dieser Zählung. Es ist daher we­
sentlich, wie man die Frage des Zusatzes zur Zählung angeht. Die
Politik ist das Handeln von Subjekten, die bei jeder umfassenden
Zählung der Teile der Gesellschaft überzählig sind, und nicht die
Anerkennung zusätzlicher Akteure. Es gibt eine Universalitäts­
dimension, die mit der Entstehung eines Streits verbunden ist, mit
der Bezeichnung dessen, was außerhalb der Zählung ist, ohne die
es keine Politik gibt. Der dritte Punkt hängt schließlich mit der
Behauptung der gleichen Intelligenz zusammen, der Behauptung
der gleichen Fähigkeit jedes Beliebigen, jedes aufzeigenden und
aussagenden Kollektivs, die Bedingungen einer politischen Frage
zu formulieren.

Die Kritik am Begriff der Minderheiten —der zufolge eine Minder­


heitenpolitik daraufhinausläuft, die Gesellschaft noch ein wenig mehr
zu segmentieren —erinnert an bestimmte Themenydie heute vonjenen
verteidigt werden, die sich a u f die Republik berufen ...

Ich habe mich auch einen Augenblick lang zu wenig vom Republi-
kanismus abgegrenzt, der die oft verspürte Abneigung gegenüber der
Idee der Minderheit zu seinen Gunsten systematisiert. Die Republi­
kaner stellen dem republikanischen Universalen die Gemeinschaften
entgegen. Der Vorstellung, dass die politische Gemeinschaft nur
die Summe unterschiedlicher Gemeinschaften wäre, setzen sie ein
rechtsstaatliches Universales entgegen. Aber ihr Universales ist
ein bestimmter Typus des modellhaften Intellektuellen, des euro­
päischen universellen Menschen, das heißt im Wesentlichen des
Franzosen. Insofern ist der republikanische Diskurs grob partiku-
laristisch. Für mich verläuft die Grenze woanders: nicht entlang des
Gegensatzes zwischen Universalem und Partikularem, sondern in
den Formen der Singularisierung des Universalen. Das Universale
der Politik ist nicht das Universale des Staates, der Vernunft oder
des Vertrags, sondern das Universale der Konstruktion von Fällen.
Die Subjekte universalisieren ihre Aktion in der Weise, wie sie Fälle
konstruieren. Auf dieser Ebene unterscheiden sich die politischen
Subjekte von einfachen ethnischen, sozialen, religiösen oder se­
xuellen Gemeinschaften. Die Grenze zwischen dieser Vorstellung
vom singularisierten Universalen und dem staatlichen Universalen
ist brüchig, aber sie existiert und zeigt sich in der Praxis ganz klar.
In Ihren Arbeiten betonen Sie den diskontinuierlichen Charakter
des Politischen, sein unbeständiges und unvorhersehbares Auftreten
innerhalb der institutioneilen Verwaltung und Verteilung der Antei­
le —einer Ordnung, die man aus Gewohnheit „politisch “ nennt, die
Sie aber polizeilich nennen. Wenn man Ihre Texte liest, hat man den
Eindruck, dass diese zwei Logiken so unterschiedlich sind, dass die erste
zurückgehen oder in der zweiten verschwinden muss. Stimmt es also,
dass angesichts der Politik alle „polizeilichen “ Optionen gleichwertig
sind? Um ein sehr aktuelles Beispiel herzunehmen, kann man zum
Beispiel annehmen, dass angesichts des emanzipatorischen Unterrichts,
wie er in Der unwissende Lehrmeister beschrieben wird, sich alle
pädagogischen Optionen oder Reformen gleichen? Andererseits, was
bleibt, wenn die Welle der politischen Bewegung verebbt?

Der Gegensatz zwischen Politik und Polizei ist eine Arbeitshypo­


these, eine Neubeschreibung der Gesamtheit der Phänomene und
Begriffe, die man im Allgemeinen der Politik zuordnet, und eine
Einbringung von Unterschieden. Es handelt sich darum, eine Art
grundlegender Polarität zwischen zwei Logiken spürbar zu machen,
zwischen einer Logik der Vollständigkeit und einer Logik der Zu-
sätzlichkeit und des Streits. Das heißt auch, dass die Polizei und die
Politik sich andauernd begegnen. Was man „das Politische“ nennt,
ist der institutionelle Raum ihrer Begegnung. Erstens sind nicht alle
Formen der Politik gleichwertig. Zweitens bestimmen gerade die
Probleme der polizeilichen Organisation der Gesellschaft beständig
mögliche Punkte der Konfrontation zwischen den beiden Logiken.
Drittens sind die Eingriffe der Politik nicht flüchtig, sie hinterlassen
Spuren, sie gehen in die Konfiguration der Staatsinstitution und
in die Formen des kollektiven Lebens selbst ein. Die Gleichheit
ist nicht einfach das Axiom, das auf abstrakte Weise den Aufstand
der Politik gegen die Polizei bestimmt. Sie wirkt in allen Formen
des Lebens, die einer kollektiven Verwaltung unterliegen. Sie führt
darin neue Gegebenheiten und Möglichkeiten der Konstruktion
von Fällen ein.
Das gilt insbesondere für den Bereich der Pädagogik. In Der
unwissende Lehrmeister habe ich eine radikale Logik analysiert, für
die hinsichtlich der intellektuellen Gleichheit alle pädagogischen
Strategien gleichwertig sind. Das heißt nicht, dass die intellektuelle
Gleichheit ein Gleichgültigkeitsprinzip bestimmt, sondern dass die
Frage von Gleichheit und Ungleichheit sich ebenso sehr für die
autoritären Methoden wie für die Methoden aktiver Pädagogik
stellt. Jacotot stellte die intellektuelle Gleichheit jedem System der
Volksbildung diametral entgegen. Wir sind wohl oder übel gezwun­
gen, in Bezug auf dieses System zu denken, das immer noch als eine
große Metapher für die Gesellschaft funktioniert. Wir müssen an
den Formen tatsächlicher Anerkennung und Einbeziehung der in­
tellektuellen Gleichheit arbeiten, insofern sie die Fähigkeiten unserer
Schüler bestimmen, aber auch insofern sie gerade die Festschreibung
eines Verhältnisses zwischen der Logik des Schulsystems und einer
umfassenden Gesellschaftslogik definieren. Wenn man unterrichtet,
weiß man nämlich ganz genau, dass ein Großteil der schulischen
und universitären Logik eine Logik der Selbstsymbolisierung der
Gesellschaft ist, eine Logik der Selbstsymbolisierung der Möglich­
keiten, der Wahl, die sie den Individuen und Gruppen lässt, und
ihrer Verantwortung dafür, was sie daraus machen.
Es gibt daher zwei Arten, die Frage zu stellen. Die eine besteht
darin, sich zu fragen, ob man sich lieber für ein „republikanisches“
oder für ein soziologisches Modell des Unterrichts entscheiden soll;
die andere Art besteht darin, sich darüber Gedanken zu machen, wie
man in dieser oder jener Pädagogik die Gleichheit der Intelligenzen
fördern kann. Beide Modelle erlauben nämlich eine egalitäre oder
inegalitäre Lesart und man kann aus beiden egalitäre oder inegalitäre
Wirkungen ableiten.
Uber die Bedeutung der Methoden, sowohl was die schulische
Effizienz als auch die umfassende symbolische Effizienz betrifft, ist
in Hinsicht auf die Vorannahme der Gleichheit der Intelligenzen
(die durchzuführen ist) oder der Ungleichheit der Intelligenzen
ist (die zu „reduzieren“ ist) zu entscheiden. Der Betrug besteht
darin, anzunehmen, dass man entweder ausgehend vom Arsenal
des Wissens oder von der Darlegung der Methoden den wirklichen
Nutzen der Gleichheit bestimmen kann, den die Leute, die „auf
der anderen Seite“ stehen, daraus ziehen werden. Man kann nun
aber von dem, was wir unterrichten, ganz unterschiedliche Dinge
mitnehmen, zusammen oder getrennt: die Mittel und Wege, eine
Prüfung zu schaffen; Fragmente eines Weltverständnisses, die in den
Köpfen vielleicht lange genug schweben und sich auf unvorherseh­
bare Weise und mit unvorhersehbarer Geschwindigkeit zum Gefühl
zusammenfiigen werden, dass man auch ein intelligentes Wesen
ist, das fähig ist zu lernen und selbst zu denken ... Jede Logik, die
vorgibt, ein gegebenes Arsenal des Wissens gebe die Instrumente in
die Hand, die es erlauben, dass man auf die Arbeitswelt vorbereitet
wird, oder liefere das, was sie ohne Ironie die „Bildung kritischen
Geistes“ zu nennen wagen - jede Logik dieser Art ist unehrlich.
Sie gibt nicht nur vor zu wissen, was sie nicht weiß, sondern sie
theoretisiert dieses Unwissen zu einem Wissenseffekt und ihre An­
maßung zu Waffen der Gleichheit. Ich weiß meinerseits, dass die
Leute, die mich an der Universität hören, mit zehn oder fünfzehn
unterschiedlichen Logiken da sind, zwischen denen ich navigieren
muss. Dabei leitet mich die Idee, dass das Wichtige die Fähigkeiten
sind, die die Studenten an sich entdecken und für sich selbst an­
wenden werden können, um sich aus der Affäre zu ziehen, und das
Gefühl einer ständigen Unentschiedenheit was die Arten betrifft,
wie diese Fähigkeit hervorgerufen werden kann.
Die Menschen als literarische Tiere54
mit Christian Delacroix
und Nelly Wolf-Cohn

Mouvements: Könnten Sie als Erstes das genauer bestimmen, was un­
serer Ansicht nach alle Ihre Arbeiten durchzieht, nämlich das, was Sie
demokratische Geschichtlichkeit, demokratische Häresie, überschüssige
Rede und so weiter nennen?

Jacques Ranciere: Sprechen wir zuerst von der Geschichtlichkeit


im Allgemeinen. Im Gegensatz zur herrschenden Strömung der
Geschichtsdisziplin, die die wissenschaftliche Praxis, die im „Ge­
schichtemachen“ besteht, dem politisch-ideologischen Thema
eines Subjekts, das „die Geschichte macht“ entgegensetzt, habe ich
versucht zu zeigen, dass es keine Geschichte im Allgemeinen - und
insbesondere keine wissenschaftliche Geschichte - ohne Geschicht­
lichkeit gibt, das heißt, ohne die Idee der Geschichte als einen
Seinsmodus, der durch Worte und Taten von Subjekten bestimmt
wird. Es besteht dort Geschichtlichkeit, wo es eine Zeitrechnung
gibt, die die Zeit von der Zeitlichkeit der bloßen Reproduktion
trennt, dort, wo es eine Ansammlung von Worten und Taten gibt,
die erinnert, in autonomen Abschnitten organisiert und der Ano­
nymität des natürlichen Lebens entrissen werden. Lange Zeit war
diese „geschichtliche“ Eigenschaft den großen Persönlichkeiten
Vorbehalten, die als alleinige Geschichtssubjekte aufgefasst wurden.
Man kann von demokratischer Geschichtlichkeit sprechen, sobald
jeder Beliebige ein Geschichtssubjekt sein kann. Es gibt Geschichte
im Allgemeinen, weil die Menschen literarische Tiere sind, Tiere,
die von der Sprache erfasst und durch sie von der Natürlichkeit
der produzierenden und reproduzierenden Ordnung abgewendet
werden. Man kann demokratische Geschichtlichkeit jenen Typus
von Geschichtlichkeit nennen, der mit der Tatsache verbunden ist,
dass jeder Beliebige Geschichte macht.
Warum demokratische Geschichtlichkeit? Weil die Demokratie
nicht einfach eine Regierungsform und auch keine soziale Lebensart
imTocqueville’schen Sinne ist. Die Demokratie ist ein spezifischer
Modus symbolischer Strukturierung des Seins in Gemeinschaft. Sie
ist gerade der Subjektivierungsmodus der Politik im Allgemeinen,
der die Politik als eine Ausnahme in Hinsicht auf die „normale“
Ordnung der Herrschaft existieren lässt. Die Demokratie ist jene
einzigartige Umkehrung der Ordnung der Dinge, nach der dieje­
nigen, die nicht dafür „bestimmt“ sind, sich um die gemeinsamen
Angelegenheiten zu kümmern, beginnen, sich darum zu kümmern.
Und sie kümmern sich darum, eben weil sie als literarische Tiere
gleichermaßen durch die Macht einiger Wörter von ihrer natür­
lichen Bestimmung abgelenkt werden können, die darin besteht,
sich fortzupflanzen und die Mühe des Regierens denen zu über­
lassen, die Rechtsansprüche aufs Regieren haben, die Mühe des
Geschichtemachens denen zu überlassen, die einen Namen und
ein Gedächtnis haben. Die demokratische Geschichtlichkeit ist
der Typus von Geschichtlichkeit, der durch die Tatsache definiert
wird, dass jeder Beliebige von Wörtern wie Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit durchdrungen werden kann, um das einfachste
Beispiel herzunehmen.

Auch das Wort „ Würde“? Nehmen wir die Bewegung der Sans-Papiers
her und weiter gefasst die Bewegung derer; die Sie die Anteillosen
(sans-part) nennen. Hat diese Art von Bewegung fü r Sie an der de­
mokratischen Geschichtlichkeit teil?

Sie hat daran teil, weil sie mehr bedeutet als das, was man allge­
mein den Kampf um Anerkennung oder Würde nennt. Papiere
bekommen zu können, wo man lebt und arbeitet, über dieses Recht
diskutieren zu können, kurz gesagt, in der Welt des gemeinsamen
Wortes zu zählen, das alles unterliegt der politischen Kategorie
der Gleichheit und nicht der bloß ethischen Kategorie der Wür­
de. Die Sans-Papiers sprechen gern die Sprache der Würde. Aber
sie verlangen Papiere, nicht Anerkennung. Eine demokratische
Geschichtlichkeit impliziert die Idee eines kollektiven Lebens,
das auf ein paar großen kollektiven Signifikaten gründet. Freiheit
oder Gleichheit gehören dazu, Würde nicht. Ich misstraue einer
gegenwärtigen Tendenz, ethische Wertschätzung anstatt politischer
Rechte zu gewähren.

Sie haben oft aufgezeigt, dass die Gelehrsamkeiten, die Anspruch au f


Wissenschaftlichkeit erheben, diejene demokratische Geschichtlichkeit,
jenen Einbruch des Wortes erklären wollten, daran letztlich gescheitert
sind. Einer der ersten Misserfolge dieser Art, die Sie analysiert haben,
ist der szientistische Marxismus von Althusser, von dem Sie sich in
den 1970er-Jahren, wenn man das so sagen kann, in einem Eklat
getrennt haben. Ist Ihr Bruch mit diesem szientistischen Marxismus
nicht grundlegend fü r ihre späteren Arbeiten? Wie denken Sie jetzt
über diesen Bruch?

Der szientistische Marxismus, was war das? Das war die Vorstel­
lung, dass die Herrschaft einfach auf dem Besitz oder der Enteig­
nung des Wissens gründet, dass den Proletariern das Wissen um
ihre Lage fehlte, das Wissen darum, was sie verursachte, und dass
folglich die Rolle der Intellektuellen darin bestünde, ihnen dieses
Bewusstsein zu liefern, das ihnen fehlte. Die Arbeit, die ich in La
N uit des prolétaires (1981) geleistet habe, bestand eben darin, aus
dieser Problematik herauszukommen. Ich versuchte insbesondere
zu zeigen, dass die Kenntnis des berühmten Geheimnisses der
Ware, des Geheimnisses des Kapitals und des Mehrwertes etwas
ist, das den Proletariern eigentlich niemals gefehlt hat. Was ihnen
fehlte oder zumindest, was sie sich in den Texten, die ich unter­
sucht habe, anzueignen versuchten, war etwas anderes, nämlich
das Gefühl von der Möglichkeit eines anderen Schicksals, das
Gefühl, auch sprechende Wesen zu sein. Ihr Problem war nicht,
von einer Unwissenheit zu einem Wissen überzugehen, sondern
mit einer traditionellen Aufteilung zu brechen, die die Menschen
des Denkens und des Regierens auf die eine Seite stellt und die
Menschen der Arbeit auf die andere, oder auf die eine Seite die
Menschen des Wortes und auf die andere die Menschen des Lärms.
Aristoteles sagt in einem berühmten Text, dass die Politik sich auf
die Eigenschaft des Menschen gründet, ein sprechendes Wesen
zu sein. Doch diese Eigenschaft des sprechenden Wesens wird
andauernd einem immer noch mehrheitlichen Teil der Mensch­
heit verweigert. Diese ursprüngliche Aufteilung zwischen den
Menschen des Wortes und der Sichtbarkeit und den Menschen
des Lärms und der Dunkelheit dient als Sockel für die Aufteilung
in Wissende und Unwissende.
Das ist das Paradox des Szientismus. Oft möchte er durch die
Wissenschaft die Beherrschten aus ihrer Lage befreien. Aber er
kann sie nur als Unwissende denken. Der Szientismus ist die
Vorstellung, dass die Wissenschaft des Gelehrten die Wissenschaft
von der Unwissenheit des Unwissenden ist. Das heißt, dass das
Objekt der Wissenschaft zugleich ihr Anderes ist, das Opfer der
herrschenden Ideologie im Marxismus, das Opfer der Verkennung
in der Soziologie von Bourdieu, der Mensch des Glaubens in der
Mentalitätsgeschichte. Mit dem marxistischen Szientismus zu bre­
chen, bedeutete in Wahrheit, im Voraus mit allen abgeschwächten
Gestalten des Szientismus, die seine Nachfolge angetreten haben,
zu brechen.

Gerade in La Nuit des prolétaires begegnen Sie Sprecherny die das


Gegenteil von Sprechern eines kollektiven Bewusstseins sind. Sie betonen>
dass das immer Wesen sind.\ die zugleich mit ihrem Milieu gebrochen
haben und von einem anderen Milieu angezogen wurden. Findet man
diese ambivalente Figur des Sprechers im Werdegang der demokratischen
Geschichtlichkeity von dem Sie berichten wollen?

Ja. Unter „Sprecher“ versteht man im Allgemeinen jemanden, der


für die anderen spricht, den Repräsentanten oder Unterhändler
einer Gruppe. Ich habe zu zeigen versucht, dass man, um Sprecher
in diesem Sinne zu werden, es bereits in einem anderen Sinn sein
musste, im Kreislauf des Wortes als solchem integriert worden sein
musste. Die Arbeiter des 19. Jahrhunderts, die ich untersucht habe,
waren vor allem Leute, die wie mitgerissen waren von einer Rede,
die von anderswo herkam, vom saint-simonistischen Diskurs, aber
auch von der Magie des Alexandriners, allgemeinen vom Wunsch
zu schreiben und nicht speziell Arbeitertexte zu schreiben. Das sind
Leute, die durch ihr Verhältnis zum Wort, durch ihr Verhältnis zur
Schrift in eine andere Lebensart eingetreten sind, und diese Teilhabe
an einer anderen Lebensart, am Leben der sprechenden Wesen, die
an der Gesamtheit der Vermögen der Sprache vollständig teilhaben,
erlaubt es ihnen, die Rolle von Sprechern zu spielen.

Aber sie drücken keine Mentalität aus. Sie lehnen die Vorstellung ab,
dass sie so etwas wie ein kollektives Bewusstsein ausdrücken würden.

Es ist wohlbekannt, dass bereits empirisch gesehen der Großteil


der Arbeiteraktivisten Leute waren, die in hohem Maße mit ihrer
Gruppe, mit den Werten ihrer Gruppe gebrochen hatten. Sie sind
vor allem aus einer Art Erbitterung über oder Ablehnung der Ar­
beiteridentität Arbeiteraktivisten geworden, so wie sie gelebt wurde,
als Seinsweise einer Gesellschaftsgruppe, die ihrem Platz und ihrem
Schicksal als Produzierende und Reproduzierende zugewiesen wa­
ren. Ihr Begehren, an einer gemeinsamen Sprache teilzuhaben, hat
sie zu Sprechern gemacht. Die gemeinsame Sprache, die frei von
Kennzeichen einer bestimmten Gruppe ist, war nun aber traditio­
neller Weise eine vorbehaltene Sprache. Aristoteles unterscheidet die
den Menschen charakterisierende Sprache, die über das Gerechte
und Ungerechte zu entscheiden erlaubt, von der tierischen Stimme,
die bloß Lust und Unlust ausdrücken kann. Doch diese Auftei­
lung ist in Wirklichkeit immer in die menschliche Sprache selbst
eingegangen. Es gibt eine gemeinsame Sprache, die den Höheren
gehört, und der Rest der Menschheit ist in den Bereich des Lärms
verwiesen. Traditioneller Weise wird das Wesen einer niedrigeren
Klasse - oder eines niedrigeren Geschlechts - als unfähig erachtet,
eine Rede über das Gerechte und das Ungerechte zu artikulieren,
es wird allein als dazu fähig erachtet, Hunger oder Wut auszudrü­
cken. Die „Sprecher“ haben sich dadurch herausgebildet, dass diese
Aufteilung aufgehoben wurde, dass die lärmenden Menschen sich
verbotenerweise die gemeinsame Sprache, die Sprache der anderen
angeeignet haben. Der Begriff des „kollektiven“ Bewusstseins ver­
kennt, dass es eine gemeinsame Sprache nur durch den Bruch mit
der Aufteilung der Sprache selbst gibt.
Unter den Wissenschaften, die gerade beanspruchten, den Wortlosen das
Wort zu geben oder die Anonymen sprechen zu lassen, sind Sie bald
der kritischen Soziologie der 1970er-Jahre begegnet, die insbesondere
von Pierre Bourdieu getragen wurde. Sie ziehen eine ziemlich negative
Bilanz aus diesem Versuch, die Herrschaft zu verstehen, die ein zentraler
Begriffder kritischen Soziologie ist. Können Sie uns diesen wichtigen
Moment Ihres Werdegangs in Erinnerung rufen, als Sie die Sozialwis­
senschaft in Frage stellten, die übrigens im Durkheimschen Projekt
verwurzelt ist und anschließend in dieser kritischen Soziologie aufblüht?

Im Zentrum der großen Bücher von Bourdieu stand für mich eine
Variante dessen, was ich in der Form des Althusser sehen szientisti-
schen Marxismus bekämpft hatte. Es liegt in ihm der Beweis, dass
die Beherrschten immer beherrscht werden, und dass folglich diese
Formen der Aneignung der gemeinsamen Sprache, des gemeinsa­
men Denkens und der gemeinsamen Kultur, die ich untersucht
hatte, nur Illusionen sein konnten, die jene, die ihnen folgten,
in den Zirkel der legitimen Kultur aufnehmen würden, der dafür
gemacht war, die Herrschaft über sie fortzusetzen. Anders gesagt,
der Diskurs von Bourdieu zeigte - zum Beispiel in Die feinen Un­
terschiede -, dass das Universum der ästhetischen Werte ein Univer­
sum der Legitimierung der Herrschaft und der Durchsetzung eines
Habitustyps sei, der für den Armen unerreichbar sei oder zu dem er
nur Zugang finden könne, wenn er sich selbst verleugne. Folglich
zeigte er eine Art unerbittlicher Logik der Herrschaft auf, die sich
legitimierte, indem sie die Formen ihrer Legitimierung aufzwang,
und jene, die sich ihr widersetzen wollten, in die Formen dieser
Legitimierung einbezog. Ich hatte jedoch durch die Forschung über
das Arbeiterdenken des 19. Jahrhunderts gesehen, dass die Art des
ästhetischen Aneignungswillens, eines Willens zur Aneignung der
Rede des anderen - man könnte sagen „der großen Rede“ - durch
die Arbeiteraktivisten gerade das war, was einen Bruch mit der
Lebensweise, mit dem Habitus des Arbeiters ausmachte. Bourdieu
hingegen ließ nur die Wahl zwischen populärem Habitus und
distinguiertem Habitus. Bei ihm wurde jede Form der Aneignung
der kulturellen Werte als ein Schwindel angesehen, weil der Nicht-
Distinguierte es niemals schaffen werde, sich die distinguierten
Werte anzueignen, und nur schmerzvoll seine endlose Verbannung
erleben könne. Das widersprach gänzlich dem, was ich gesehen hatte
und zu zeigen versuchte: welchen Wert dieser verbotene Versuch der
Arbeiteraktivisten des 19. Jahrhunderts, sich die Werte des anderen
anzueignen, auf politischer Ebene hatte.

Gerade in Bezug a u f Bourdieu und abseits der jüngsten Polemiken


über ihn gab es bezüglich der „Bewegung vom Dezember 1995“ zwei
unterschiedliche und sogar widersprüchliche Positionen zwischen
zwei Intellektuellengruppen —deren eine Bourdieu anfuhrte die
die Bewegung und die Aktivität der Intellektuellen in Bezug a u f sie
unterschiedlich analysierten. Die Polemik betraf insbesondere ihre
mögliche Rolle als Sprecher der Bewegung\ die der Wortergreifung durch
die sozialen Akteure helfen sollten. Schwingen die Analysen, die Sie seit
den 1970er-Jahren hinsichtlich der kritischen Soziologie durchgefuhrt
haben, in diesen Fragen mit?

Das ist ein relativ kompliziertes Mitschwingen. Ich glaube, dass


es da zwei Dinge zu bedenken gibt. Zuerst ist da das Paradox von
Bourdieu, das auch das traditionelle Paradox aller „kritischen“
Denkformen und des linken szientistischen Denkens ist, nämlich
das Paradox eines Diskurses, der die Notwendigkeit der Herr­
schaft und die Notwendigkeit der Verkennung des Gesetzes dieser
Herrschaft durch den Beherrschten zeigt. Wie kann ein solcher
Diskurs eine echte Waffe im Kampf sein? Aber der Widerspruch
des szientistischen/kritischen Denkens wirkt in beide Richtungen.
Einerseits zeigt es den Beherrschten, dass sie immer Opfer der
Herrschaft sind, dass die Gleichheit unmöglich ist - und das vor
allem auf intellektueller Ebene: Wer glaubt, verstanden zu haben,
wird noch von diesem Glauben getäuscht und so weiter. Aber an­
dererseits lehnt es den Anspruch des herrschenden Diskurses ab, als
gemeinsamer Diskurs zu gelten, als Diskurs, der auf der bloßen, ob­
jektiven Erfassung dessen gründet, was die Notwendigkeit befiehlt.
Dieser Anspruch ist nun aber die Grundlage des „konsensuellen“
Diskurses - ein Ausdruck, den man wörtlich nehmen muss: Der
Konsensualismus verweist uns auf die sinnliche „Offensichtlichkeit“
des Gegebenen, er sagt uns, dass es nichts anderes zu tun gibt, weil
es nichts anderes zu sehen gibt. Demgegenüber zeigt das „kritische
Denken“, dass dieser Diskurs der gemeinsamen Vernunft nur der
Diskurs der Herrschenden ist. Und es nimmt somit den Diskurs
auf, der die offizielle „Notwendigkeit“ in Frage stellt, und verleiht
ihm Nachdruck. Genau das ist 1995 passiert. Der offizielle Diskurs
proklamierte, dass es nichts anderes zu tun gebe, als was er tat, und
er wurde von der ganzen „linken“ Intelligenzija unterstützt, die im
Namen der wirtschaftlichen Notwendigkeiten oder der Prinzipien
des Gemeinwohls, im Namen von Marx oder Hannah Arendt den
Egoismus und die Rückständigkeit von Gesellschaftsgruppen an­
prangerte, die sich an ihre armseligen Privilegien klammern würden.
Was damals in Frage stand, war die Legitimität eines dissensuellen
Denk-Raumes. Die Unterstützungsbewegung für die Streikenden,
die von Bourdieu verkörpert wurde, selbst wenn er von anderswo
herkam, hat auf ihre Weise daran erinnert, dass man „zu Recht
empört ist“, dass es keine Eindeutigkeit der Gegebenheiten und
keine Intelligenzvorrechte gibt. Doch handelte es sich deshalb
schon um eine Bewegung von Intellektuellen, die Sprecher sind?
„Intellektueller“ ist fiir mich ein außerordentlich zwiespältiges Wort.
Eine „Bewegung von Intellektuellen“ ist eine Bewegung, die mit der
Aufteilung des Wortes und des Wissens bricht, die die Solidarität
„der Wissenden“ mit den Regierenden aufbricht. Die Bewegung
von 1995 hat diese Rolle gegenüber dem beträchtlichen Gewicht
gespielt, das von dem verkörpert wird, was man die „rechte Linke“
nennen könnte. Sie hat die Idee verteidigt, dass es auch in den So­
zialbewegungen Denken gibt, sie hat - gegen die Voraussetzungen
der Soziologie Bourdieus selbst - den Raum des demokratischen
Überschusses des Wortes verteidigt, der auch ein Überschuss des
Denkens in Bezug auf das ist, was die Regierenden planen.

Der von Bourdieu geführten Gruppe von Intellektuellen, die ehrlich die
Bestrebungen der Bewegung widerspiegeln wollten, stand jene andere
Gruppe von Intellektuellen gegenüber; die das Standesdenken und die
Rückständigkeit der Bewegung anprangerten und eher a u f der Seite der
Verwaltung waren, wie Sie das nennen. Aber man hat den Eindruck,
dass es zwischen diesen zwei Polen nicht vielgab. Kann man dem Den­
ken der Sozialbewegung, dieses auftauchenden Wortüberschusses anders
Rechnung tragen als einerseits in der Weise des Diskurses der Verkennung
und der Illusion, oder andererseits indem man die Rückständigkeit
von Gesellschaftskategorien anklagty die ohnehin bald verschwinden
werden? Sie erkennen sich ja offenbar weder in der einen noch in der
anderen wieder ...

Ich erkenne mich auf theoretischer Ebene in keiner der beiden Rich­
tungen wieder, außer 1995, als ich mich politisch im Lager derer
wiederfand, die die Bewegung unterstützten. Was war das Problem?
Einerseits ist da diese Intelligenzija vom Dienst, die einfach den
Diskurs der Mächtigen wiederholt, mit einem Fuß im Realismus
der wirtschaftlichen Notwendigkeiten, mit dem anderen in einem
Neo-Moralismus des „Gemeinwohls“, wobei die Verfechter des Rea­
lismus und die des Gemeinwohls sowieso dieselben waren, nämlich
die Etablierten, die „mutig“ gegen die egalitäre Rückständigkeit der
Sozialbewegungen kämpften. Auf der anderen Seite ein „kritisches“
Denken, das eine Sozialbewegung unterstützte, ohne die Möglich­
keit zu haben, die politische Bedeutung dieser Bewegung zu denken.
Was ist denn eine Sozialbewegung? Das ist eine Bewegung, die die
gegebene Aufteilung des Sinnlichen in Frage stellt, das heißt die
Konfiguration der Gegebenheiten, der „sinnlichen Gewissheiten“,
die die Herrschaft unterstützen —das heißt auch die Aufteilung
zwischen denen, die die Fähigkeit haben, die Gegebenheiten zu
sehen und über sie zu argumentieren, und denen, die diese Fähig­
keit nicht haben. Das macht eigentlich das aus, was in der Politik
selbst auf dem Spiel steht: Wer legt eine Situation fest? Wer hat die
Befähigung zu sagen, was man sieht und was der Sinn dessen ist,
was man sieht? Das stand 1995 auf dem Spiel. Der Diskurs der
„Reform“ lautet ungefähr so: Es gibt Leute, die fähig sind zu sehen
und vorauszusehen, und es gibt andere, die dazu nicht in der Lage
sind. Es gibt Menschen der Rede und Menschen des Lärms. Die
Demonstration der Fähigkeit der „Unfähigen“ gestaltete diese Auf­
teilung um. Genau das kann das kritische Denken nicht denken. Es
bleibt in dem Schema gefangen, nach dem das Politische der Schein
ist, dessen verborgene Wahrheit das Soziale ist - verborgen vor allem
den Akteuren dieser Bewegung. Für das kritische Denken ist eine
Sozialbewegung eine Bewegung, die den Gesellschaftszustand und
die Lüge der Herrschaft zeigt. Sie ist Trägerin einer W ahrheit, die
allein die Gelehrten erkennen können, denen die „Mittellosen“
gegenüberstehen, die unweigerlich Opfer ihrer Unwissenheit sind.

Sie haben a u f die Konsenslogik angespielt, der Sie die Logik des Unver­
nehmens als konstitutiv fü r die demokratische Politik entgegensetzen,
die es erlaubt, dem Anteil der Anteillosen gerecht zu werden. Können
Sie ausgehend von der sogenannten „Einwanderungsfrage“ genauer
bestimmen, was a u f dem Spiel steht in dieser Konfrontation zwischen
Konsenslogik und Logik des Unvernehmens?

Die Frage betrifft die Stellung dessen, was zusätzlich ist. Die Logik
des Unvernehmens - oder des Dissenses - behauptet, dass die Po­
litik von Subjekten gemacht wird, die nicht Gesellschaftsgruppen
sind, sondern Agenten der Aussage und des Sichtbarmachens, die in
Bezug auf die Zählung der Gesellschaftsgruppen immer überzählig
sind. Der Demos der Demokratie ist weder die Bevölkerung noch
ihr ideales Wesen. Es ist die zusätzliche Zählung der Nichtigen,
die Zählung derer, die keinen besonderen Rechtsanspruch aufs
Regieren haben. Genauso sind die Proletarier nicht die arbeitende
Bevölkerung, sondern jene, die deren Verkörperung auflösen. Die
Konsenslogik ist umgekehrt eine Logik der Vollständigkeit. Sie
identifiziert die politischen Subjekte mit den wirklichen Teilen der
Gesellschaft und beansprucht, die optimale Verteilung der Anteile,
die jedem zugeteilt werden können, zu verwalten. Folglich ist der­
jenige, der zusätzlich ist, für sie überzählig. Der „Einwanderer“ ist
also so etwas wie das Verdrängte der Politik in der Konsensordnung.
Er ist der Zusatz, der nicht mehr symbolisierbar ist, er wird zu einer
auszuschließenden Gefahr für die Extremisten und zu einem „un­
lösbaren“ Problem für die Regierenden: zugleich der Überschuss,
den man nicht loswerden kann, und der Andere, dem gegenüber
sich die imaginäre Deckung mit dem politischen Raum durch die
genaue Zählung der Teile und Anteile absichert.

Kehren wir zur Soziologie zurück. Sie hat sich doch weiterentwickelt.
Ein Teil der Soziologen hat sich in einer Strömung zusammengefunden,
die mit der kritischen Soziologie bricht, ich denke da insbesondere an
die Arbeiten von Soziologen wie Luc Boltanski und Laurent Thevenot55
zum Beispiel, die die Begriffe des Habitus oder der Reproduktion ab­
lehnen und die Fähigkeiten der Akteure zur Erfindung stark betonen,
ihre Kompetenzen, sich in unterschiedlichen sozialen Bezugsuniversen
zu bewegen. Denken Sie, dass diese Entwicklung ein Versuch ist, das
zu begreifen, was Sie immer analysieren wollten, nämlich diese Rede,
diese überschüssigen Subjektivierungen, die von der Tradition der
wissenschaftlichen „großen Sozialwissenschaft“ im Allgemeinen beisei­
tegeschoben und erdrückt werden?

Zwei Dinge muss man da beachten. Es ist sicherlich interessant, die


Fähigkeiten der Akteure, die Einbeziehung mehrerer Aktionslinien,
mehrerer Rationalitätstypen zu bedenken, anzunehmen, dass ein
Individuum seine soziale Existenz auf mehreren Linien und über
Strategien ausspielt, die vielfältig sein können. Der Nachteil für
mich ist, dass man so etwas wie eine Theorie des intelligenten
Sozialakteurs aufstellt, der letztlich nur der Doppelgänger des wirt­
schaftlich rational Handelnden ist. Ich habe das Gefühl, dass dieser
andere Soziologietyp, um es kurz zu sagen, diesen berühmten Sozi­
alakteuren letztlich sagt: Ihr seid viel intelligenter, als man glaubt,
viel intelligenter, als ihr selbst denkt, und wir gratulieren euch dazu.
Das wäre immer noch eine Position derselben Art, wie das berühmte
„Bleibt, was ihr seid“, das Victor Hugo an die Arbeiterdichter des
19. Jahrhunderts richtet: „Ihr seid Arbeiter, bleibt, was ihr seid“.
Ich glaube, dass etwas davon in der aktuellen Aufregung über die
„Akteure“ liegt, denen man sagt: „Ihr seid vieldimensionale Akteure,
und das ist großartig“, und damit auch: „Was wollt ihr noch mehr?“
Diese Idee der Demokratie als Vielfalt der Akteure, der Strategien,
der Möglichkeiten und so weiter, lässt das verschwinden, was im
Zentrum der demokratischen Praxis steht: nicht, dass die Leute sich
geschickt um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, sondern, dass
sie sich verbotenerweise um jene „gemeinsamen Angelegenheiten“
kümmern, die eben „nicht ihre Angelegenheiten“ sind, sondern
jener, die die „Rechtstitel“ dafür vorweisen können.

Es gibt eine Disziplin, die einen ganz besonderen Platz in ihren


Arbeiten einnimmt, und zwar die Geschichte. Nach La Nuit des
prolétaires (1981) haben Sie 1992 Die Wörter der Geschichte (Les
Mots de l’histoire) veröffentlicht, das aus verlegerischen Gründen zu
Die Namen der Geschichte (Les Noms de l’histoire) wurde. Viele
Historiker haben dieses Buch eher schlecht aufgenommen. Man hat
sogar den Eindruck, dass es eine Art Missverständnis zwischen Ihnen
und vielen Historikern gegeben hat. Vielleicht auch, weil das Buch
als eine Art Verdammung der Geschichte in Sinne der Annales und
namentlich der Mentalitätsgeschichte aufgefasst worden ist. Muss man
nicht neubewerten und zumindest nuancieren, was vielleicht vielen als
eine Verdammung erscheint? Denn ich glaube, dass Sie der Geschichte
eineganz besondere Stellungzubilligen. Die Historiker haben sich Ihnen
zufolge vor dem bewahrt, was Sie den „szientistischen Tod“ nennen,
indem sie doch gerade den sprechenden Wesen, dem Wortüberschuss
einen Anteil bewahrt haben. Ich denke, dass Sie die Geschichte nicht
vollständig a u f den Sozialwissenschaftstypus reduzieren, der von der
kritischen Soziologie repräsentiert wird, von der wir vorhin sprachen.

Die Stellung der Geschichte ist sicherlich paradox: Es gibt kei­


ne Geschichtswissenschaft ohne Geschichte schlechthin, keine
Geschichte ohne die Ereignisse, die Subjekten passieren. Das
Bewusstsein dieser minimalen Bedingung hat verhindert, dass
die Geschichte verschwindet, wozu sie im wissenschaftsgläubigen
Zeitalter die Soziologen und Ökonomen aufforderten. Es ist jedoch
klar, dass das die Geschichte in eine grundlegende Unsicherheit
versetzt: Sie muss diese minimale Verbindung mit der Tatsache,
dass Subjekten Ereignisse geschehen, aufrechterhalten, was auch
immer die Stellung ist, die man diesen Subjekten verleiht, und die
Art, wie man sie begrifflich fasst (einschließlich dann, wenn man die
Ereignisgeschichte kritisiert). Und die Geschichte hat gleichzeitig
das Gefühl, dass die Übernahme dieser Bedingung ihre Gültigkeit
als Wissenschaft aufzuheben droht. Die Geschichte versucht un­
unterbrochen, diese ursprüngliche Bastardierung, die sie mit dem
literarischen Tier verbindet, zu bannen. Sie antwortet darauf mit
dem Szientismus. Wir haben gesehen, dass er nicht einfach eine
Art ist, die Objekte zu behandeln, sondern die Art und Weise, wie
ein Diskurs sich seiner eigenen Stellung als Wissenschaft versichert,
indem er die Unwissenheit oder den Glauben zur Wirkung seines
Objekts selbst macht. Das steht im Zentrum der Mentalitätsge­
schichte: die Umwandlung der Stellung des sprechenden Wesens
selbst. Das Wort, das die Natürlichkeit eines Standes durchtrennt,
wird darin zum Wort, das diese Natürlichkeit ausdrückt. Ich habe
in Die Namen der Geschichte das Beispiel von Montaillou56 von Le
Roy Ladurie genommen, das gänzlich dieser Operation gewidmet
ist, die Häresie, das heißt den tödlichen Einschnitt in die Ordnung
des Diskurses, in einen Glauben zu verwandeln, der umgekehrt
ein Phänomen dörflicher Verwurzelung ausdrückt. Die ganze
Mentalitätsgeschichte hat die Funktion, die überschüssige Rede
zu territorialisieren, sie zur Manifestation einer Lebensweise, zum
Ausdruck eines Territoriums zu machen. Es handelt sich dabei nicht
um eine ethnologische Mode in der Geschichte. Die ethnologische
Praxis hat oft die szientistischen Aufteilungen in Frage gestellt. Die
für die Geschichte typische „Ethnologie“ hingegen ist eine Art, sich
permanent rückzuversichern. Die Geschichte beweist sich ihre Wis­
senschaftlichkeit durch die Offensichtlichkeit, dass der Glaube - die
Nicht-Wissenschaft - dem sprechenden Wesen, das ihr Objekt ist,
eigentümlich ist. Ich glaube also, dass die Geschichte sehr stark ihre
eigene Sicherheit mit dem szientistischen Projekt verbunden hat.

Die Wahrheitsfrage ist kürzlich wieder eine zentrale Frage im Nachden­


ken der Historiker geworden, insbesondere gegenüber den negationis-
tischen Verfälschungen. Sie denken aber; dass die herrschendeAuffassung
des Wahren bei den Historikern, nämlich das Wahre gedacht als das,
was durch den historischen Kontext ermöglicht wird, eine Behinderung
gegenüber den negationistischen Verfälschungen darstellt, weil in gewis­
ser Weise die Negationisten diesen Historizismus radikalisieren, der die
Wahrheit von den Aussagekontexten abhängig macht.

Die Historiker lösen das Problem des Verhältnisses der Geschichte


zur Geschichtlichkeit, das sie beunruhigt, im Allgemeinen am
schnellsten durch den Historizismus. Der Historizismus ist jener
Diskurs, der einen empirischen Moment der Zeit mit einem be­
grifflichen System von Möglichkeiten identifiziert, ein Diskurs,
der uns sagt, dass man in dieser oder jener Zeit nur dieses denken
könne und jenes nicht. Der Historizismus führt zu einer konstitu-
tiven Unsicherheit des Historikers in Bezug auf alle Versuche der
Verfälschung der Geschichte. Das große Wahrheitskriterium, das
die Geschichte verwendet, ist nämlich das der Gleichzeitigkeit,
demzufolge eine Sache falsch oder wahr sein kann, je nachdem,
ob sie gleichzeitig mit ihren Möglichkeitsbedingungen abläuft
oder nicht. Wenn man sagt, dass die Möglichkeitsbedingungen
nicht gegeben sind, wird man tatsächlich sagen können, dass das
Ereignis nicht stattgefunden hat. Ich habe mich bemüht, an diese
Beweisführung zu erinnern, die insbesondere Lucien Febvre in
Die Religion des Rabelais57 vorschlägt, weil sie mir beispielhaft
erscheint für jene Art des Denkens, die ein unverifizierbares Argu­
ment hinter eine Menge von „Offensichtlichkeiten“ stellt, die sich
als unbestreitbar geben, nämlich dass es Epochen gibt, in denen
bestimmte Vorstellungen vom Feld des Denkbaren gleichsam
ausgeschlossen sind. Hinter der Beweisführung, dass diese oder
jene Bedingungen in jener Zeit nicht gegeben sind, steht in Wirk­
lichkeit etwas anderes: die tautologische Behauptung, dass das
Unmögliche unmöglich ist. Ich glaube, dass die negationistische
Argumentation in diese Tautologie eindringt. Die Negationisten
brauchen dafür weder Lucien Febvre noch die Historiker im All­
gemeinen, aber wenn man Ereignisse leugnen will, behauptet man
entweder geradezu, dass tatsächlich nichts passiert ist, oder man
bemüht sich auf unterschiedlichste Weise zu zeigen, dass nicht
wirklich alle Bedingungen vorhanden waren. Man schließt dann
daraus, dass nichts passiert ist, oder dass es schon etwas gegeben
hat, dass das aber einen anderen Sinn hatte als den, den man un­
terstellt. Das ist genau das, was die Negationisten tun. Es ist doch
sonderbar, dass der Negationismus voranschreitet, während sich
die Beweise für die Wirklichkeit der Vernichtung ständig mehren.
Aber das ist nicht wirklich das Paradox. Die materiellen Beweise,
die von den Historikern angehäuft werden, reichen nicht aus, um
jene historizistische Denkordnung zunichte zu machen, die die
Realität eines Ereignisses vom Beweis seiner Möglichkeit abhängig
macht. Wenn man diese Denkordnung nicht angreift, dann wird
man dem Negationismus umsonst Kataloge von Tatsachen und
Namen entgegenhalten.
Gerade in Bezug a u f den Negationismus hat man gesehen, wie sich
mehrere Historiker auch a u f ein ethisches Argument als eine Art letztes
Mittelgegen die Negationisten berufen haben, indem sie die Vorstellung
vorbrachten, man könne Phänomene wie den Nazismus nicht ohne die
ethischen Vorbedingung seiner Verurteilung untersuchen. Was denken
Sie von dieser Rückkehr der Ethik in die Geschichte?

Ich denke nicht, dass die ethische Vorbedingung der Schlüssel in


der Angelegenheit ist. Noch einmal, das ist eine Frage der Denk­
ordnung. Der Kern des Problems ist nicht, ob man von der Vorbe­
dingung ausgeht, dass der Nazismus etwas Schlechtes ist. Der Kern
des Problems ist, dass man sich jener inkonsistenten Begriffe - das
Unmögliche, das Undenkbare, das Unvorstellbare - zu entledigen
hat, die die Tatsache der Vernichtung den normalen Regeln der
Sammlung und Analyse der Tatsachen entzieht. Ich weiß nicht
genau, wo die Historikerdebatte aktuell steht. Ich sehe jedoch bei
den Philosophen die Wirkungen dieses ethischen Diskurses, der
behauptet, dass man da vor undenkbaren Phänomenen steht, die
das Denken scheitern lassen. Damit werden die Ansprüche des
ethischen Respekts auch bewirken, dass man vor der Betrachtung
der Tatsachen wie erstarrt ist. Dieser Diskurs, der ein Phänomen für
absolut undenkbar hält, kann mit jener Form der Neutralisierung
Zusammengehen, die das Phänomen für unmöglich erklärt. Kurz,
ich glaube keineswegs, dass man diese Probleme durch eine ethisch
respektvoll Haltung lösen kann.

Ausgehend von denAporien der Geschichte, ausgehend von ihrer Schwie­


rigkeit, den sprechenden Wesen, ihren Handlungen und den Ereignissen
Rechnung zu tragen, deuten Sie an, dass die Literatur ein Mittel sein
könnte, um eben dem gerecht zu werden, was die Sozialkenntnisse, ob
wissenschaftlich oder sich als wissenschaftlich gebend, nicht schaffen.

Ich würde nicht sagen, dass die Literatur ein Hilfsmittel ist, so als ob
es sich darum handeln würde, Lösungen zu finden. Die Frage der Li­
teratur stellt sich auf zwei Ebenen. Die erste Ebene ist das Schreiben
des Wissens. Die Geschichte praktiziert immer eine bestimmte Form
von Literatur. Diese Form von Literatur gestaltet eine bestimmte
Landschaftsanordnung und, wenn man die Landschaftsanordnung
der Gegenstände des Wissens verändern will, dann muss man auch
andere Schreibverfahren anwenden. Das ist ein Aspekt der Frage.
Der andere ist, dass der Großteil der Verständlichkeitsmodalitäten,
die von den Sozialwissenschaften angewandt werden - die auch die
des kritischen Denkens sind, das im weitesten Sinne ihr Gebiet
ist -, zuerst in der Literatur entstanden sind. Folglich muss sich die
Geschichte, um denken zu können, was sie macht, auch über die
literarischen Ursprünge ihrer Interpretationsweisen Gedanken ma­
chen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Der Gegensatz zwischen
der Geschichte der Ereignisse und der Geschichte der Sitten ist
zuerst von Schriftstellern wie Hugo und Balzac formuliert worden.
Sie haben auch die Interpretationsweisen definiert, die zu dieser
Veränderung der Sichtweise gehören: die Erklärung des Oberen
durch das Untere, der Rückgriff auf „stumme Zeugen“ (die Kanali­
sation in Die Elenden), das Lesen der Zeichen der Gesellschaft und
der Geschichte auf einem Körper oder einem Gegenstand und so
weiter. Der Gegensatz zwischen einer Wahrheit stummer Zeichen
und dem Diskurs der großen Ereignisse und großen Figuren war
zuerst der Gegensatz zwischen der literarischen Wissenschaft: und
der historischen Chronik, bevor die Geschichte sich selbst ihrer
bemächtigte. Wenn sie ein Hilfsmittel ist, dann handelt es sich also
um ein Nachdenken über die Quellen, und ganz und gar nicht um
einen Seelenzusatz.

Aber die Literatur ist nicht nur ein Hilfsmittelfü r den Historiker. Ist
sie nicht auch gerade der Ort, an dem sich die demokratischeAufteilung
des Wortes vollzieht?

Die Literatur ist in der geschichtlichen Bedeutung des Wortes


tatsächlich die Zerstörung des Gattungssystems, dem zufolge die
Erhabenheit - oder die Niedrigkeit - des Themas eine bestimmte
Gattung verlangt und Ausdrucksformen, die dieser Gattung an­
gemessen sind. Das klassische Gattungssystem gründete auf der
Aufteilung in das Hohe und das Niedrige, auf der Tatsache, dass
es den großen Ereignissen, großen Figuren und noblen Gefühlen
angemessene Schreibformen gibt, und Schreibformen, die den
gemeinen Leuten und gemeinen Formen angemessen sind, was im
Gegensatz zwischen Tragödie und Komödie zusammengefasst wird.
Die Literatur ist der Untergang dieser Hierarchie, und dieser ist
wesentlich durch den Aufstieg des Romans vollzogen worden. Der
Roman ist tatsächlich immer die Schreibform gewesen, in der es
keine notwendige Beziehung zwischen Form und Inhalt gibt, son­
dern eine Vermischung der Figuren und der Register. Er war der Ort
einer Rede, die losgelöst von Verankerung und Verwurzelung war.
In diesem Sinn kann man sagen, dass der Roman die demokratische
Form der Rede ist, jene, die jede geregelte Sprechsituation ablehnt,
die von einem bestimmten Verhältnis zwischen einem Typus des
gesellschaftlichen Senders und einem Typus des gesellschaftlichen
Empfängers geregelt wird. Das ist der erste Aspekt. Diese soziale
Unbestimmtheit des Romans ist aber auch das, was seine formlose
Form zum Ort der Vollendung eines Projekts der Literatur als Wis­
senschaft, als Entzifferungsart der Welt macht. Im Roman gibt es
die Verbindung von zwei Phänomenen, von einem Phänomen der
Zerstreuung und der Delegitimierung der Rede - das zugleich ihre
interne Struktur und ihre soziale Zirkulationsart kennzeichnet -, aber
auch einer Wissensabsicht, bei der die Literatur als Aufdeckung der
immanenten Poetizität einer Welt, das heißt als Aufdeckung mehr
oder weniger verborgener Zeichen ihrer Geschichte gedacht wird. Das
ist der Gegensatz, den Balzac in Das Chagrinleder aufstellt zwischen
der geologischen Poesie von Cuvier, die eine Welt ausgehend von
einem Fragment neu erschafft, und der subjektiven Poesie von der
Art Byrons. Die verlorenen Illusionen oder Die Elenden sind somit
die Entfaltung und die Entzifferung dieser Netzwerke von Zeichen,
aus denen eine Gesellschaft besteht. Durch den Roman bürgert sich
eine eigentlich hermeneutische Tradition der Literatur ein, bei der die
Literatur die gesellschaftlichen Zeichen liest, welche der Politik ent­
gehen. Ich glaube, dass es wichtig ist zu bemerken, dass die Literatur
als solche unmittelbar nach der Revolution auftaucht und sich als ein
Diskurs behauptet, der unterhalb des Diskurses der Tribüne und des
Redners verläuft, um das zu lesen, was die ureigenste Wirklichkeit
einer Welt ausmacht. Der Roman setzt sich also als jene große Poesie-
Wissenschaft durch, die wie der Geologe die vergrabenen Schichten
und Fossilien der Geschichte aufdeckt.
Der Roman ist also die gattungslose Gattung, die zugleich der Ort der
demokratischen Rede und ihrer Ausschließung ist?

Ich denke nicht in der Begrifflichkeit der Ausschließung, sondern


in der der Aufteilung, was ein wenig anders ist. In ihrem Gegensatz
zur hierarchischen Ordnung der Belletristik baut die Literatur auf
einer Ordnung der Rede auf, die keine legitime Bühne hat. Aber sie
baut darauf ihre eigene Legitimität auf, die im 19. Jahrhundert die
Verurteilung oder die Verbannung der „Literatur der Arbeiter“ als
wilde Aneignung der Literarität durch diejenigen bestimmt, deren
„Angelegenheit“ es nicht ist, zu schreiben. Der Roman wird vom
Widerspruch gequält, dass er seine Bühne der Legitimiät durch
die Tat delegitimiert. Das Unglück des- oder derjenigen, der oder
die Romane liest, ist ein großer Topos des Romans. Aber für wen
schreibt man Romane, wenn nicht für jene, die sie lesen —und sie
delegitimieren? In Die stumme Sprache58 habe ich einen Roman
von Balzac, Der Landpfarrer, analysiert, der beispielhaft von die­
sem Widerspruch gequält wird: Das Unglück der Protagonistin ist
nichts anderes als die Tatsache des Buches selbst, die anarchische
Zirkulation der Schrift. Der Roman muss letztlich die Literarität
des Menschentieres verdammen, von der er doch lebt. Der Roman
wird von der Tatsache verfolgt, die legitime Bühne der illegitimen
Rede zu sein. Dieser Widerspruchstypus steht auch im Zentrum
des Denkens von Mallarmé, der keineswegs ein Ästhet war, der sich
an ephemeren Empfindungen ergötzt hätte. Es gibt ein eigentlich
politisches Denken Mallarmés, das stark in einer Problematik des
Beginns der Dritten Republik verankert ist, einer Problematik der
Gemeinschaft, in der es um die Frage geht, was der Gemeinschaft
seinen Stempel aufprägen kann, wenn es weder Gott noch König
gibt. Mallarmé denkt die Dichtung als Nachfolgerin der Religion
und als das, was eine Art gemeinsamen Aufenthalt weihen wird.
Er verteidigt mit Vehemenz die Vorstellung, dass der demokrati­
sche Staat dem Individuum eine Feierlichkeit schuldig ist. Und
die Dichtung bildet für ihn diese Feierlichkeit, die man den
Individuen schuldig ist. Das dichterische Wort hat für Mallarmé
nicht die Bestimmung des Schweigens, des vergänglichen Wortes,
sondern es hat eine wahrhaft öffentliche Berufung. Daher sein
beharrlicher und komplexer Bezug zum Theater als Ort der Feier
der gemeinsamen Größe.

Eine letzte Frage: Sind die Formen des Wissens, die Sie analysiert haben,
dazu verurteilt, den Überschuss des Wortes der Wortlosen zu verfehlen
und das Selbe zu reproduzieren, gesellschaftliche Kohärenz zu erzeugen?

Es sei zuerst gesagt, dass ich mich nicht in einer ethischen Problema­
tik der Andersheit verorte. Mein Problem ist eher die Betrachtung
des Typs „Anderer“, den die Gelehrsamkeiten errichten, um sich
ihrer eigenen Gewissheit zu versichern. Das heißt aber auch, dass
ich denke, dass die Gelehrsamkeiten durchaus die Risse in dieser
gesellschaftlichen Kohärenz bezeichnen können. Ich habe als His­
toriker in La Nuit des prolétaires den Raum der Erscheinung und
der Zirkulation einer gewissen Anzahl von Wörtern, Bildern und
Diskursen zu umreißen versucht, die der Konstruktion der Identifi­
zierungen des Proletariers und der Arbeiterbewegung gedient haben.
Ich habe aber auch die Zufälligkeit dieser Konstruktion aufgezeigt.
Es handelte sich für mich darum, die szientistische Fabrikation des
„Anderen der Wissenschaft“ zu verlassen, aber auch die kritische
Tradition, die immer den Punkt zu zeigen versucht, an dem die
Herrschaft und die Unterdrückung sichtbar sind, an dem die Lüge
offenbar wird, kurz, die immer ein Geständnis will. Die kritische
Tradition hat oft ihre Berufung verfehlt, weil sie immer versucht
hat, ihren Gegenstand zu einem Geständnis zu bringen. Ich habe
es vorgezogen, die Momente der Aufteilung zu gestalten, die nicht
Momente des Geständnisses sind, sondern Momente, bei denen
die Konstruktion des Sinns der Gemeinschaft selbst das ist, was in
der Polemik auf dem Spiel steht. Ich habe versucht zu zeigen, dass
es so lange Politik gibt, wie es eine Uneinigkeit über die Bedeutung
von Politik an sich gibt, darüber, was die gemeinsame Gegebenheit
ist. Ich habe versucht, eine Geschichte zu praktizieren, die zeigt,
wie sich ein Gemeinschaftssinn gestaltet und Geschichtstypen und
mögliche politische Traditionstypen bestimmt, ohne deswegen ein
neues Verständlichkeitsmuster der Geschichte zu bestimmen, das
ein Gedächtnis und eine Legitimation nährt, die wiederum einen
Konsens hersteilen. Ich habe ebenfalls versucht, zu den Wider-
Sprüchen der Literatur zu arbeiten, zu ihrem Anspruch, das Wahre
über die Gesellschaft zu sagen. Für mich ist es interessant, zu den
Aporien zu arbeiten. Ich denke, dass die Aporien nichts sind, was
einen Diskurs verurteilt, sondern etwas, das erkennen lässt, was
in ihm auf dem Spiel steht. Ich denke, dass die Forschung absolut
nicht in diesem Gegensatz gefangen ist, der der Albtraum vieler
Historiker und Sozialwissenschaftler ist, demzufolge man entweder
die Sache selbst habe oder es nur den Diskurs gebe. Diese Art von
Gegensatz ist kindisch. Er nährt eingebildete Ängste, um jede Frage
zu vermeiden. Denken wir zum Beispiel an den französischen Im­
port des amerikanischen Phantasmas von der dekonstruktivistischen
Gefahr, der großen Furcht, dass es im Gebiet der Wissenschaft „nur
Diskurs“ gebe. Die Angst ist immer und überall das Gegenteil des
Denkens, so wie die Wissenschaftsgläubigkeit das Gegenteil der
wissenschaftlichen Einstellung ist.
Anmerkungen

1 Das Interview „Das brüderliche Bild“ wurde von Serge Daney und Serge
Toubiana geführt und in Les Cahiers du cinéma, Nr. 268-9, Juli-August
1976, S. 7-19 veröffentlicht.
2 Film- sowie Buchtitel werden, wenn es einen offiziellen deutschen Titel gibt,
mit diesem genannt, ansonsten im Original. Bei der ersten Nennung wird
in Klammern der Originaltitel mit angeführt, bei den weiteren nicht mehr.
(A.d.Ü.)
3 Was hier mit „linksradikal“ wiedergegeben wird, heißt im Original gauchiste.
In Frankreich gab und gibt es ein großes politisches Spektrum (von den
Trotzkisten über die Maoisten zu den Anarchisten) links von der Kommu­
nistischen Partei. (A.d.Ü.)
4 Jan Valtin war in den 1920er- undl930er-Jahren deutscher Agent für den
sowjetischen Geheimdienst. Von seinen Vorgesetzten enttäuscht und verraten
floh er in die USA, wo er 1940 seine Autobiografie Tagebuch der Hölle (Out
ofthe Night) veröffentlichte, die zu einem Bestseller wurde. (A.d.Ü.)
5 Versailles steht hier für die bürgerliche Regierung, die in dieser Stadt ihren
Sitz hatte, als 1870-71 in Paris die Kommune herrschte. (A.d.Ü.)
6 Der Heilige Bund (Union sacrée) bezeichnet die Aussetzung des Klassen­
kampfes während des Ersten Weltkriegs. In Deutschland gab es analog
den sogenannten Burgfrieden, der die Konflikte zwischen Sozialisten und
Bürgerlichen während des Krieges auf Eis legte. (A.d.Ü.)
7 Les Mystères de Paris ist ein 1842-43 erschienener Feuilleton-Roman von
Eugène Sue. (A.d.Ü.)
8 Der Unanimismus ist die Anfang des 20. Jahrhunderts von Jules Romains
begründete literarische Schule, die die Beseeltheit und Einmütigkeit der
Gemeinschaft annimmt bzw. anstrebt. Rancière verwendet den Begriff in
einem etwas weiteren Sinne, in Entsprechung zum gebräuchlichen Wort
unanime („einstimmig“). (A.d.Ü.)
9 Thiers ist eine kleine Stadt in der Auvergne im Zentrum Frankreichs, wo
François Truffauts 1976 entstandener Film Taschengeld (Vargent de poche)
angesiedelt ist. (A.d.Ü.)
10 Film von Julien Duvivier aus dem Jahr 1936, Originaltitel: La belle équipe.
(A.d.Ü.)
11 Ikarien ist der sowohl fiktionale wie in den USA real gegründete Ort der
Utopie von Etienne Cabet. Ardèche ist der Name des Departements in
Südfrankreich, in dem Taverniers Film angesiedelt ist. (A.d.Ü.)
12 Jahr II der republikanischen Zeitrechnung der Französischen Revolution:
22. September 1793 bis 21. September 1794. (A.d.Ü.)
13 Die CGT ist die Confédération générale du travail, der Allgemeine Gewerk­
schaftsbund, der der französischen Kommunistischen Partei nahe steht.
(A.d.Ü.)
14 Gemeint ist der Film 1900 (Novecento), der 1976 erschien. (A.d.Ü.)
15 Rancière war Mitarbeiter der Zeitschrift Les Révoltes logiques, die von 1975
bis 1981 bestand. (A.d.Ü.)
16 Es handelt sich um eine geplante Sendung des französischen Fernsehens, in
die Sartres Sekretär Benny Lévy unter anderem die Aktivisten von Révoltes
logiques einbeziehen wollte. Die Sendung wurde nicht realisiert. (A.d.Ü.)
17 Bezugnahme auf Godards 1976 erschienen Film Hier und anderswo (Ici et
ailleurs). (A.d.Ü.).
18 Der Film des Kollektivs Cinélutte mit dem Titel Un simple exemple (Ein
einfaches Beispiel, A.d.Ü.) widmete sich dem Kampf von Arbeitern der
Druckerei Darboy in Montreuil.
19 „Und die Müden haben Pech gehabt!“ (Et tant pis pour les gensfatigués!) ist
der Titel, der der vorliegenden Ausgabe des „Interviews mit Jacques Rancière“
gegeben wurde, das 1981 von Edmond El Maleh für die Zeitung Le Monde
geführt wurde und 1984 in einem Sammelband erschien (Entretiens avec
„Le Monde“, IPhilosophies, Einleitung von Christian DELACAMPAGNE,
Paris: La Découverte / Le Monde 1984, S. 158-164).
20 „La visite au peuple“, Interview mit Serge Le Péron und Charles Tesson, in:
Les Cahiers du cinéma, Nr. 371-372, Mai 1985, S. 106-111.
21 Die Universität Paris 8, an der Jacques Rancière bis ins Jahr 2000 unterrich­
tete, wurde in Vincennes (im Park von Vincennes in Paris) 1969 gegründet
und übersiedelte 1980 nach Saint-Denis, einem Vorort von Paris. (A.d.Ü.)
22 Die Vereinigung der Linken (Union de la Gauche) bezeichnet das Wahl-
kampf- und Regierungs-Bündnis zwischen der Sozialistischen Partei, den
Kommunisten und teilweise der Radikalen Linkspartei in den Jahren 1972
bis 1984. (A.d.Ü.)
23 Die Goutte d ’Or (wörtlich „Goldtropfen“) ist ein sehr armes, von unteren
Gesellschaftsschichten bewohntes Viertel des Pariser 18. Bezirks. Beurs ist
ein Name für französische Araber oder Berber. (A.d.Ü.)
24 Liliom ist ein 1934 von Fritz Lang in Frankreich gedrehter Spielfilm. Die
Hündin (1931) ist von Jean Renoir, Goldhelm (1952) von Jacques Becker.
(A.d.Ü.)
25 „Politique de récriture“, Interview mit Monica Costa Netto, geführt im
Januar 1993, in: Philosophie, philosophie, der Studentenzeitung von Paris 8,
1994, S. 48-54.
26 Jacques RANCIÈRE, Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des
Wissens. Aus dem Französischen von Eva MOLDENHAUER, Frankfurt am
Main: S. Fischer 1994, S. 17. Die Klammerausdrücke stammen von mir.
(A.d.Ü.)
27 Im Original: états. Das Wort bezeichnet sowohl „Zustände“ als auch die
gesellschaftlichen „Stände“. (A.d.Ü.)
28 Jacques RANCIERE, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die
intellektuelle Emanzipation, aus dem Französischen von Richard STEURER,
Wien: Passagen Verlag, 2. Auflage 2009. (A.d.Ü.)
29 Im Original événement deparole. Ich folge hier der Übersetzung des Terminus
durch Eva Moldenhauer in Die Namen der Geschichte. Es sei daraufhingewie­
sen, dass das Wort parole anderswo, aber auch in diesem Text kontextbedingt
auch mit „Sprache“, „Sprechen“, „Sprechweise“ oder „Rede“ übersetzt wird,
und dass es von den „Wörtern“ {mots) zu unterscheiden ist. (A.d.Ü.)
30 Ich habe den Satz neu, gemäß dem Wortlaut bei Rancière übersetzt
(„L’historien a presque l’horreur des événements.“) (vgl. Fernand BRAU-
DEL, Schriften zur Geschichte 1. Gesellschaften und Zeitstrukturen. Aus dem
Französischen von Gerda KURZ und Siglinde SUMMERER, Stuttgart:
Klett-Cotta 1992, S. 54; bzw. ders., Ecrits sur l ’histoire, Paris: Flammarion
1969, S. 46). (A.d.Ü.)
31 PLATON, Phaidros, 127c. In der Übersetzung von Ludwig von GEORGII
{Sämtliche Werke, Bd. 2, Berlin: Lambert Schneider 1940, S. 437) lautet der
Satz: „Denn wagen wenigstens muss man, das Wahre zu sagen, zumal wer
von der Wahrheit spricht.“ (A.d.Ü.)
32 „Histoire des mots, mots de l’histoire“, Interview mit Martyne Pierrot und
Martin de la Soudière, in: Communications, Nr. 58, 1994, S. 87-101.
33 PLATON, Phaidros, 127c. Vgl. Anm. 30. (A.d.Ü.)
34 Die „Poetik des Wissens“ ist darin definiert als „Untersuchung aller litera­
rischen Verfahren, durch die eine Rede {discours, A.d.Ü.) sich der Literatur
entzieht, sich den Status einer Wissenschaft gibt und ihn bezeichnet.“ In:
Jacques RANCIERE, Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des
Wissens. Aus dem Französischen von Eva MOLDENHAUER, Frankfurt
am Main: S. Fischer 1994, S. 17.
35 Ebenda, S. 150.
36 Ebenda, S. 19. (A.d.Ü.)
37 Mimesis und Diegesis beziehen sich auf die von Platon im 3. Buch des Staates
getroffene Unterscheidung zwischen der Mimesis, die Form und Zeichen
der tragischen Darstellung ist, und der Diegesis, bei der der Erzähler seine
Stimme zwischen die Figur und das Publikum stellt. In Die Namen der Ge­
schichte wendet Jacques Rancière diese Kategorien darauf an, wie Michelet
das mimetische Sprechen der Berichte von den Revolutionsfesten behandelt,
das heißt einsetzt.
38 Das Zitat wird im Interview frei wiedergegeben und auch dementsprechend
frei nachübersetzt. Vgl. Jacques RANCIERE, Les noms de l'histoire. Essai de
poétique du savoir, Paris: Seuil 1993, S. 108, und Die Namen der Geschichte,
S. 80. (A.d.Ü.)
39 Vgl. Paul VEYNE, Geschichtsschreibung - Und was sie nicht ist. Aus dem
Französischen von Gustav ROSSLER, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990,
S. 39. (A.d.Ü.) ^
40 Jacques RANCIÈRE, Die Namen der Geschichte, S. 141 und 142. (A.d.Ü.)
41 Neu übersetzt vom Übersetzer dieses Buches, vgl. Les noms de l’histoire, S. 194.
(A.d.Ü.)
42 Maler der Antike, dem man einen Satz zuschreibt, der die Redewendung
sutur ne ultra crepidam („Was über dem Schuh ist, kann der Schuster nicht
beurteilen.“, das heißt: „Schuster, bleib bei deinem Leisten!“) hervorgebracht
hat.
43 Rafaël PIVIDAL, La Maison de l’écriture. Paris: Seuil 1976.
44 „Les mots de l’histoire du cinéma“, Interview mit Antoine de Baecque, in: Les
Cahiers du cinéma, Nr. 496, 1995, S. 48-54.
45 Georges SADOUL, Histoire générale du cinéma, 6 Bände, Paris 1950-75.
(A.d.Ü.)
46 „La politique n est-elle que de la police?“ Interview mit Jean-Paul Monferran,
veröffentlicht in L’Humanité, 1. Juni 1999.
47 Jacques RANCIÈRE, Aux bords dupolitique. Paris: La Fabrique 1998. (Ad.Ü.)
48 Sans-Papiers werden in Frankreich allgemein die Personen ausländischer Her­
kunft genannt, die in Frankreich leben (eventuell offiziell arbeiten, studieren,
deren Kinder zur Schule gehen und so weiter), aber über keine gültigen Auf­
enthaltstitel verfügen. Sie sind „ohne“ („sans“) Papiere („papiers“). (A.d.Ü.)
49 Louis ALTHUSSER, Étienne BALIBAR, Roger ESTABLET, Pierre MACHE-
REY und Jacques RANCIERE, Das Kapital lesen. Aus dem Französischen von
Klaus-Dieter THIEME, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972.
50 „Le Maître ignorant, entretien avec Jacques Rancière“, Interview mit Mathieu
Potte-Bonneville und Isabelle Saint-Saëns, in: Vacarme, Nr. 9, Herbst 1999,
S. 4-8.
51 Aux bords du politique. (A.d.Ü.)
52 Jacques RANCIERE, Das Unvernehmen. Aus dem Französischen von Richard
STEURER, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. (A.d.Ü.)
53 Im Original „pensée unique(\ wörtlich „Einheitsdenken“ oder „einziges Den­
ken“. Das sollte man hier mitbedenken, auch wenn im Deutschen der Aspekt
der angeblichen „Alternativlosigkeit“ im Vordergrund steht. (A.d.Ü.)
54 „Les hommes comme animaux littéraires“, Interview mit Christian Delacroix
undNelly Wolf-Cohn, in: Mouvements, Nr. 3, März-April 1999, S. 133-145.
55 Luc BOLTANSKI und Laurent THÉVENOT, Über die Rechtfertigung Eine
Soziologie der kritischen Urteilskraft, aus dem Französischen von Andreas
PFEUFFER, Hamburg: Hamburger Edition 2007.
56 Emmanuel LE ROY LADURIE, Montaillou. Ein Dorfvor dem Inquisitor 1294
bis 1324. Aus dem Französischen von Peter HAHLBROCK, Frankfurt am
Main: Propyläen Verlag 1980.
57 Lucien FEBVRE, Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert: die Religion
des Rabelais. Aus dem Französischen von Gerda KURZ, Stuttgart: Klett-Cotta
2002 .
58 Jacques RANCIERE, Die stumme Sprache. Aus dem Französischen von Richard
STEURER, Berlin-Zürich: Diaphanes 2010. (A.d.Ü.)
Passagen forum

Jacques Rancière
Chronik der Konsensgesellschaft

Jacques Rändere schrieb für die brasilianische Tageszeitung Folha


de Säo Paulo regelmäßig Kommentare zu aktuellen Themen. Diese
Artikel machen uns auf anschauliche Weise deutlich, was es eigent­
lich bedeutet, in der Epoche des Konsenses zu leben.
Der Konsens bedeutet nicht die Befriedung der Gemüter und der
Körper. Neuer Rassismus und „ethnische Säuberungen“, humanitäre
Kriege und Krieg gegen den Terror sind zentrale Bestandteile des
Konsenses. Die Kinofilme, die vom totalen Krieg und vom radikalen
Bösen handeln, oder die intellektuellen Polemiken über die Inter­
pretation des nationalsozialistischen Genozids nehmen demnach
auch einen prominenten Platz in diesem Buch ein. Der Konsens
ist nicht der Friede. Er ist eine Karte von Kriegsoperationen, eine
Topographie des Sichtbaren, des Denkbaren und des Möglichen,
in der Krieg und Frieden angesiedelt sind.
Der Konsens will beweisen, dass es nur eine einzige Wirklichkeit
gibt, der wir zustimmen (consentir) müssen. Diesem Unterfangen
stellt sich die Politik entgegen. Diese Chronik möchte dazu beitra­
gen, jenen Raum zu öffnen, der Politik denkbar macht.

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