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Soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram, Youtube, Whatsapp, Tiktok, Snapchat und wie
sie alle heissen, haben sich mit unserem Alltag fest verflochten. Über sie bleiben wir in
Kontakt mit Familie und Freunden, die rund um den Globus verteilt sind. Wir informieren,
amüsieren und verlieren uns in deren Datenfluten. In den Reigen der bekannten Plattformen
hat sich vor ein paar Monaten nun die französische App Be Real eingeschlichen und
verbreitet sich viral. Sie verspricht – wie das andere schon vor ihr getan haben –
Authentizität.
Um den Ruf von Social Media steht es nicht zum Besten. Allein gegen Plattformen, die zum
Facebook-Konzern Meta gehören, sind in diesem Jahr über 15 Klagen eingereicht worden.
Die Vorwürfe reichen von wettbewerbsrechtlichen Verletzungen über Missachtungen der
Privatsphäre bis hin zum Einsatz von gezielt süchtig machenden Algorithmen, die Kinder und
Jugendliche in den Strudel von Anorexie und Selbstmord ziehen. Dabei geht es nicht selten
um Wiedergutmachungsforderungen in der Höhe von mehreren Millionen Dollar. In der von
Liza Gormsen, einer auf Wettbewerbsrecht spezialisierten Anwältin, angestrengten
Sammelklage in Grossbritannien werden gar etwa 2,3 Milliarden Pfund gefordert.
Nix Büsi-Ohren
Doch in den vergangenen sommerlichen Monaten, als wieder so etwas wie eine Normalität
Einzug in den Alltag hielt, wo die Masken fielen, gedieh das Bedürfnis nach Echtheit, nach
unverfälschtem Voyeurismus. Nix Büsi-Ohren, aufgesetzte Sonnenbrillen oder andere Filter,
die Lachfalten ausbügeln und das Gesicht maskenhaft ebenmässig erscheinen lassen. Bei
Be Real wird die gekünstelte Selbstinszenierung erschwert, denn wie bei der inzwischen
eingestellten App Frontback werden gleichzeitig die Selfie- und die rückseitige Kamera
aktiviert. So kann man vielleicht sich in Pose werfen, aber die Back-Kamera hält gerade den
nicht sonderlich glamourösen Müllcontainer an der Strassenecke fest. Will man die herrliche
Aussicht auf den Sonnenuntergang am Strand von Mauritius verewigen, glotzt man
konzentriert ins Handy und gleicht damit den «Schaut mal, was für ein geiles Leben ich
führe»-Faktor aus.
Optimierung unmöglich
Die Be-Real-App lebt davon, dass eine Optimierung von den beiden gleichzeitig ausgelösten
Kameras praktisch unmöglich ist. Hinzu kommt, dass für die Erstellung des Posts nur ein
Zeitfenster von zwei Minuten zur Verfügung steht, das nach einem Zufallsprinzip nur einmal
pro Tag geöffnet wird. Wenn man seinen Post nicht gleich absetzt, wird die Verspätung den
Empfängern mitgeteilt, was gegebenenfalls etwas Druck auf die Teilnehmenden ausüben
kann. Der Kreis der Vertrauten erfährt auch, wenn eine Aufnahme nicht spontan erfolgte,
sondern ein zweiter, dritter Anlauf nötig war, bevor die Fotos verschickt wurden. Das
Resultat: ein Reigen von schlechten Bildern, auf denen haufenweise herausgestreckte
Zungen, Grimassen, Schuhe, halbe und unterbelichtete Visagen knapp zu erkennen sind.
Das Potpourri des Banalen bekommt man übrigens von seinen Be-Real-Kontakten nur zu
sehen, wenn man selbst einen Post gemacht hat. Diese «Ich zeig dir meins, du zeigst mir
deins»-Mechanik soll sogenannte lurkers verhindern, Nutzende, die im Dunkeln der digitalen
Gruften abhängen und selbst nichts beisteuern.
In der Zeit von Fake News, Schlauchbootlippen, pneumatischen Oberweiten und fettfrei
trainierten Körpern, drapiert in der neusten Mode, ist der Wunsch nach Authentizität gross.
Hinzu kommt, dass Be Real (noch) werbefrei ist. Das Online-Magazin «Vo» zitiert denn auch
eine Spezialistin für digitales Marketing: «Es hat dieses vintage Gefühl eines frühen
Instagram. Ich glaube, dass es eine interessante Veränderung ist für Leute wie mich, die für
so lange Zeit kuratierten Inhalt gepostet haben. Jetzt sind sie aufgefordert, in einem Moment
zu fotografieren.»
Wie bei der populären App Snapchat verschwinden die Bilder auf den Handys der
Empfängerinnen wieder. Klar lassen sich auch bei Be Real Screenshots von den Bildern
erstellen. Es können auch über diesen Kanal Dick-Pics und andere Anzüglichkeiten
versendet werden. Doch die Wahrscheinlichkeit, unerwünschte Inhalte zu erhalten, ist im
Vergleich zu den Milliarden-Apps wie Facebook, Instagram und Co. eher geringer, da der
Adressatenkreis intimer ist und man in der Regel weiss, wer hinter den Online-Pseudonymen
steckt. Be Real lebt nicht von den traditionellen Popularitätsmechanismen, die sich
Influencerinnen und ihre Kollegen gewohnt sind. Aber ganz ohne geht es doch nicht.
Viele Be-Realers verbreiten ihre «spontanen» Momente auch über andere soziale Netzwerke
wie Tiktok oder Instagram. Dieser Trend befeuert bei den Nicht-Nutzerinnen und -Nutzern
der App das Fomo-Gefühl, die Angst, etwas zu verpassen. So haben auffallend viele Leute
schon von Be Real gehört, es aber (noch) nicht aufs Handy heruntergeladen. Es ist also zu
erwarten, dass die App weitere Kreise erschliessen wird. Bleibt die Frage: Wie wird Be Real
Geld verdienen?
Die sogenannten memories, also all die Bilder, die man selbst geschossen hat, bleiben in der
App erhalten und sind der Erstellerin vorbehalten. Sie sind ein Tagebuch des Alltags. Die
Belanglosigkeit, die Froschperspektiven, fragmentierten Anblicke und «Kilroy was here»-
Momente provozieren Gedanken über das Hier und Jetzt, den Sinn und Unsinn, mit dem
man sich tagein, tagaus herumschlägt. Beim Anblick der sich wiederholenden Situationen
und unspektakulären Selbstinszenierungen stellen sich wohl so manche die Frage: Ist es
das jetzt gewesen?
Marc Bodmer, Cyberculturist und Game-Berater mag von den digitalen die sozialen
Netzwerke am wenigsten.
Optimierung ist kaum möglich. Bei Be Real kann man nur einmal täglich posten, wann, weiss
man nie (links), spontan posten können dann auch alle Freunde miteinander.