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Ursachen der ungleichen Bildungschancen

Thema I
Woran liegt es, dass es Kinder aus sozial schwachen Familien im deutschen Bildungssystem nach wie vor so
schwer haben? Leider ist das komplexe Ursachengeflecht der schichttypisch ungleichen Bildungschancen bisher
nur teilweise wissenschaftlich ausgeleuchtet.
5 In der Öffentlichkeit war insbesondere vor den PISA-Studien und ist noch immer eine Erklärung weit verbreitet,
die man als „meritokratische1 Illusion“ bezeichnen kann. Sie geht davon aus, dass die hohe soziale Selektivität
an der Auslese nach Leistung liege – wer tüchtig und leistungsfähig ist, setze sich durch. Diese Erklärung ist
bequem und beruhigt das soziale Gewissen. Aber bereits in den 1960er-Jahren haben Bildungssoziologie und
Sozialisationsforschung2 herausgearbeitet, dass dieses Erklärungsmuster einseitig und unvollständig ist. PISA
10 hat das Illusionäre an der meritokratischen Erklärung erneut mit eindrucksvollen Zahlen belegt und auf zwei
zentrale Problembereiche im deutschen Bildungssystem hingewiesen: die ungleiche Entwicklung des Leistungs-
potenzials (I) und die ungleiche Umsetzung von Leistungen in Bildungskapital (II).
I Ungleiche Entwicklung des Leistungspotenzials
Die meritokratische Illusion ignoriert den Sachverhalt, dass das Leistungspotenzial der jungen Menschen
15 schichttypisch ungleich entwickelt wird. Die schichtspezifische Sozialisationsforschung hat bereits vor drei bis
vier Jahrzehnten in vielen Studien belegt, dass schichttypische Familienmilieus schichttypische Kompetenz- und
Leistungsunterschiede bei Kindern und Jugendlichen zur Folge haben.
Familienmilieus der oberen Schichten fördern den Schulerfolg ihrer Kinder durch einen insgesamt höheren
kulturellen als auch materiellen Anregungsrahmen. Dieser gehaltvollere Rahmen trägt dazu bei, dass Kinder
20 über bessere kognitive und sprachliche Fähigkeiten, eine höhere Leistungsmotivation sowie über den Glauben
an den Erfolg eigener Anstrengungen verfügen können. Diese Sozialisationsvorteile hängen u.a. mit der
privilegierten finanziellen Situation dieser Familien zusammen, aber auch mit höherer Bildung und höherer
Arbeitsqualität. Diese Faktoren haben wiederum positiven Einfluss auf die Kommunikation und den
Erziehungsstil. Andere Werte werden vermittelt und andere Verhaltensweisen an den Tag gelegt.
25 Eine zentrale Rolle nimmt hierbei die Sprache als Kommunikationsmittel ein. Fest steht: die Sprach-
anforderungen im Bildungsbereich sowie in mittleren und höheren Ebenen der Berufswelt orientieren sich an
der Mittelschichtssprache. Für Kinder in Armut bedeutet das eine Beeinträchtigung ihrer Bildungs- und
Sozialchancen, sofern unterstellt wird, dass diese aus den Unterschichten kommen und unterschichttypische
Sprachen lernen. (...) Bei einer aktuelleren Unterscheidung von armen und nicht armen Kindern zeigt sich, dass
30 arme Kinder erheblich häufiger Defizite im Sprach- , Spiel- und Arbeitsverhalten aufweisen.
Zum Bereich der kognitiven Kompetenz lässt sich sagen, dass sich ein höherer Anregungsgehalt grundsätzlich
positiv auf die Intelligenz, die für gute Schulleistungen ja Voraussetzung ist, auswirkt. In diesen Bereich gehören
auch das Freizeitverhalten der Eltern, das Leseverhalten sowie die Kommunikations- und Rollenstruktur
innerhalb der Familie. Hier übertragen sich in unbewusster Weise soziale Verhaltensmuster, Interessen,
35 Einstellungen und Werte auf die Kinder – nicht zuletzt auch eine gewisse Allgemeinbildung, die sie mit in die
Schule bringen und die ihnen hier einen nennenswerten Vorteil oder Nachteil verschaffen!
Sozialisationsbedingte Leistungsunterschiede tauchen in allen Gesellschaften auf, aber PISA macht deutlich,
dass die Kompetenzunterschiede zwischen den 15-jährigen Jugendlichen aus dem oberen und unteren Viertel
der deutschen Gesellschaft weiter auseinander klaffen als in fast allen anderen 32 bzw. 41 untersuchten
40 Gesellschaften. Deutschland gehört zur „Weltspitze“ im Hinblick auf die Kompetenzkluft zwischen Oben und
Unten: Bei der Lesekompetenz ist der Abstand zwischen oberem und unterem Viertel größer als in allen
anderen untersuchten Ländern, bei den Mathematikleistungen weist Deutschland den zweitgrößten(PISA 2003)
bzw. viertgrößten (PISA 2000) Abstand zwischen Oben und Unten auf und bei den Naturwissenschaften liegt es
auf Rang 5.
II Ungleiche Umsetzung von Leistungen in Bildungskapital (andere Gruppen)

1
Text gekürzt aus: Rainer Geißler, Bildungschancen und soziale Herkunft. Archiv für Wissenschaft und Praxis
der sozialen Arbeit 4/2006.
Meritokratie: Auswahl einer Führungselite durch Leistung
2
Sozialisation: Eingliederung eines Menschen in die Gesellschaft durch Erziehung und durch unbeabsichtigte
5 Einwirkungen auf die Persönlichkeit

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