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Gerhard Stumm

Die personale Existenzanalyse aus der Sicht des Personzentrierten Ansatzes nach C. Rogers 1

Wenn Viktor Frankl meint, dass die "Personale Existenzanalyse (PEA) beste Gesprächstherapie"
sei, dann fordert das die beiden Ansätze geradezu auf, ihr Verhältnis zueinander zu reflektieren. Zu
erörtern ist, ob diese Gleichsetzung zu Recht erfolgt bzw. worin sich PZA und PEA unterscheiden.

Vielfach unter dem Namen "Gesprächspsychotherapie" bekannt, ziehe ich den Begriff "Klienten-
zentrierter" bzw. "Personenzentrierter Ansatz" (PZA) vor2. Zwar wird im PZA - wie in der PEA -
Sprache und Gespräch als wichtiges Element erachtet, doch handelt es sich bei "Gesprächstherapie"
um einen irreführenden Begriff, der aus der Rezeption des PZA vor allem in Deutschland und Hol-
land stammt und leider dort noch immer offiziell verwendet wird. Demgegenüber geht es im PZA
um die ganze Person, um alle Ebenen des Personseins (Gefühle, Körperempfindungen und -
ausdruck, Gedanken, Phantasien, Bilder etc.). Und es geht um das radikale Ernstnehmen der Person
des Klienten als zentrierenden Ausgangspunkt für die therapeutische Arbeit. Insofern aber auch die
Person des Psychotherapeuten gefragt ist, geht es um ein Ernstnehmen zweier Personen, wie sie im
Rahmen der „Einzelpsychotherapie“ zueinander in Beziehung treten3.

Die Betonung der ganzen Person in ihrem Bezogensein auf andere scheint mir denn auch eine erste
starke Gemeinsamkeit zwischen PEA und PZA zu sein.

Wenn wir die PEA als Weiterentwicklung der Logotherapie und Existenzanalyse ansehen, so muss
ich eingangs erwähnen, dass auch der PZA verschiedene Phasen seiner Entwicklung kennt und dass
sich heute verschiedene Strömungen im PZA abheben lassen (vgl. Hutterer, 1994): die "klassische"
Methode, die erlebnisaktivierende Richtung Gendlins, bekannt als "Focusing", die explizit exis-
tenzphilosophisch orientierte "Prozessorientierte Gesprächspsychotherapie" von Swildens (1991),
differentielle Ansätze (Tscheulin, Swildens), methodenintegrative bzw. eklektische Orientierungen
(Tausch, Howe). Hier also von "dem" PZA zu sprechen, ist zu undifferenziert, denn diese verschie-
denen Schwerpunktsetzungen haben zum Teil beträchtliche Differenzen aufzuweisen. Um aber den
vorliegenden Rahmen nicht zu überspannen, werde ich den Versuch unternehme, die PEA mit dem
"mainstream" des PZA zu vergleichen.

Ich werde den Vergleich von PEA und PZA anhand der grundlegenden Philosophie (Anthropolo-
gie) (Kap. I) und theoretischen Basiskonzepte (Ätiologiemodell, Gesundheitslehre bzw. Zielkon-
zeption für die therapeutische Arbeit, Persönlichkeitstheorie, Entwicklungstheorie) (Kap. II) und in

1
Publiziert in: Längle, A. (2000). Praxis der Personalen Existenzanalyse (S. 85-98). Wien: Facultas.
2 Der Begriff "personenzentriert" unterstreicht einerseits die Anwendung des von Rogers entwickelten Ansatzes über
den Therapiebereich, über den Therapieklienten hinaus. Andererseits ist der Begriff "Person" besser geeignet, einem
Gefälle Expert - Klient zumindest sprachlich vorzubeugen.

3 In der "Arbeitsgemeinschaft Personenzentrierte Psychotherapie und Gesprächsführung (APG)", die neben der
ÖGWG in Österreich den PZA vertritt, wurde vor einiger Zeit diskutiert, ob "personenzentriert" oder "personzentriert"
den Rogers'schen Ansatz angemessener widerspiegelt. Während "personzentriert" den Gattungsbegriff "Person" reprä-
sentiert und somit einerseits als Überbegriff auch die Mehrzahl einschließt, andererseits aber als individualistische
Positionierung missverstanden werden könnte, verweist die plurale Bedeutung "personenzentriert" auf den relationalen
Aspekt, auf die gewichtige Bedeutung der Beziehung zwischen Personen. Die Vielschichtigkeit der einzelnen Person,
die so gesehen "mehrere Personen" in sich vereint, als Argument für die Verwendung von "personenzentriert" zu ver-
wenden, halte ich allerdings für zweifelhaft, da hier der ganzheitliche Gesichtspunkt, die Unteilbarkeit des Individuums
in ihrem "Personsein" unterlaufen wird.
der Folge (Kap. III) anhand der von Längle (1991) skizzierten Kennzeichen der PEA vornehmen
und in einem abschließenden Kapitel (IV) ein Resümee ziehen.

I. Metatheorie: Anthropologie (Personbild) und Erkenntnistheorie

Der vom Amerikaner Carl Rogers begründete und entwickelte PZA hat einen expliziten philosophi-
schen Hintergrund. Dieser weist in vielem eine eindeutige Parallele zur Existenzphilosophie (Kier-
kegaard, Buber) auf. Damit ist eine weitere grosse Gemeinsamkeit mit Frankl bzw. Längle zu kon-
statieren, allerdings ist die Bezugnahme auf die Existenzphilosophie erst im nachhinein erfolgt,
nachdem Rogers seine grundlegenden Positionen schon entwickelt hatte und erst nachdem ihn seine
Studenten darauf hingewiesen hatten. Auch Rogers selbst spricht eher von Parallelen als von Wur-
zeln (Rogers 1991, 192).

Das Menschenbild bzw. der Personbegriff bei Rogers sind zuallererst durch das einzige Axiom des
theoretischen Systems gekennzeichnet, die Annahme einer "Aktualisierungstendenz". Der PZA
geht davon aus, dass sich unter günstigen (Beziehungs-)Bedingungen diese jedem Menschen inne-
wohnende Aktualisierungstendenz in eine konstruktive, soziale ("unheilbar sozial"), schöpferische
Richtung entwickelt. Dieser grundlegende Optimismus bezüglich der Erreichbarkeit der Selbstver-
wirklichung hat dem PZA oft den Vorwurf der Verkennung der menschlichen Natur bzw. der Nai-
vität eingetragen. Auch wenn der PZA als geradezu klassischer Ansatz der humanistischen Psycho-
logie seinen Schwerpunkt auf Selbstverwirklichung legt, und die PEA als dem Paradigma der exis-
tentiellen Psychotherapie zugehörend die Sinnzentrierung stärker betont, erscheinen mir beide
Richtungen durch ihren Optimismus gekennzeichnet. Für die Existenzanalyse würde ich sogar sa-
gen, dass sie die optimistischste Variante der existentiellen Psychotherapie ist (vgl. auch Yalom
1989, 30 - 33).

Die Intentionalität, das Streben, das dieser Tendenz zur Aktualisierung erwächst, wird als Streben
nach Erfüllung, nach Selbstverwirklichung, die die Erfüllung sozialer Bedürfnisse miteinschließt,
gesehen. Dieses Streben erfolgt aber nicht so sehr auf ein letztes Ziel hin, sondern prozesshaft auf
die jeweils aktuell wesentlichen, im Besonderen organismischen Bedürfnisse. Die Frage nach dem
Sinn ist dabei weniger zentral. Die Motivationsebenen nach Längle (1991) wie das Streben nach
Lebensraum, das Streben nach dem Lebenswert, das Streben nach Lebensrecht und der Wille zur
Tat lassen sich meines Erachtens in das Konzept der Aktualisierungstendenz einfügen.

Rogers sieht als humanistischer Psychologe in deutlicher Abgrenzung zu Psychoanalyse und Beha-
viorismus die Person als autonom und zu freier Entscheidung fähig, mehr noch verantwortlich. Die
Person ist also in dem Sinne frei, als sie weder durch ihre Triebdisposition noch durch ihre Lernge-
schichte determiniert ist, und sie ist sozial orientiert. Hier tritt die existentielle und personale Di-
mension deutlich hervor.

Aber die Person umfasst auch die organismische, biologische Seite, die als Erfahrungs- und Hand-
lungsfundament zu nützen sei. Diese Konzeption führt dazu, dass die Frage, ob etwas richtig oder
falsch ist, wenn überhaupt dann unter dem Aspekt zu stellen ist, ob es stimmig, wahr oder dem ei-
genen Erleben fremd ist, im Sinne der ureigenen Erfahrung, die für Rogers oberste Autorität ist.
Hier scheint mir eine andere Akzentsetzung vorzuliegen als in der PEA.

Das Personbild des PZA kennt also das Vertrauen in den Organismus (Leiblichkeit), in die vegeta-
tiv-körperlich auffindbare Tendenz zur Selbstverwirklichung (individualistischer Zug), weiters aber
auch den sozialen Charakter des Personseins in seiner Betonung der dialogischen Relationalität,
welche darin gipfelt, dass das Ich erst am und über das Du zum Ich werden kann. Hierin beziehen
sich beide Ansätze auf Martin Buber. Für die Praxis des PZA heißt das: Über die unmittelbare Be-
gegnung in der Gegenwärtigkeit der Therapiesituation kann Selbsterkenntnis und Selbstaktualisie-
rung am nachhaltigsten gefördert werden.

Die Rolle der Sexualität, der triebhaften Seiten des Menschen, ist in beiden Ansätzen wenig akzen-
tuiert. Am ehesten hat noch die Aktualisierungstendenz im PZA eine Verwandtschaft mit der "Li-
bidotheorie", sie ist bei Rogers allerdings wesentlich weiter gefasst, bei weitem nicht nur auf Lust-
gewinn aus.

Phänomenologie als erkenntnistheoretische Orientierung ist ein weiteres die beiden Ansätze gleich-
ermaßen charakterisierendes Merkmal. Für den PZA hat Finke (1992, 111 f.) eindrucksvoll die Pa-
rallele von Jaspers und dem PZA aufgezeigt.

II. Theoretische Grundlagen

1. Krankheits- und Gesundheitslehre

a) Krankheits- und Gesundheitsbegriff

Während der Krankheitsbegriff des PZA durch die Inkongruenz zwischen organismischer Wahrheit
und Selbstkonzept gekennzeichnet ist, der sich auch in Werdenshemmung, Verschlossensein, Ein-
schränkung personaler Freiheit, z.B. Verantwortlichkeit, Angst vor dem eigenen Selbst, Bezie-
hungsstörung, Nicht-Übereinstimmung von Erleben und Verhalten beschreiben lässt und weiters
denkbar auf eine primäre Störung der Aktualisierungstendenz zurückführen lässt, ist das Verständ-
nis von Gesundheit durch Wachstum, Differenziertheit, Freiheit und Selbstaktualisierung repräsen-
tiert (vgl. Finke, 1992). Als fiktives Ideal hat Rogers dazu das Konzept der "fully functioning per-
son" geprägt. Rogers selbst hat der klassischen Diagnostik im Zusammenhang mit der Psychothe-
rapie eine Absage erteilt.

Frankl postuliert, dass zwar der psychophysische Organismus krank werden kann, jedoch nicht die
geistige Person. Diese kann Sinn verfehlen oder Sinn realisieren (vgl. Längle, 1992). Somit steht
neben einer relativ klassischen psychiatrischen Klassifikation (siehe die 5 Kategorien von Neuro-
sen, u.a. die "noogene Neurose") das Sinnfindungsmodell im Vordergrund, die Realisierung der
Existenz im Sinne sinnvoller Lebensgestaltung (Längle, 1994). Dies bedeutet Wahrung von Geis-
tigkeit, Freiheit und Verantwortung, Einverständnis (mit den vorfindlichen Ausgangsbedingungen),
Zustimmung (zu Wertbezügen) und Achtung (vor den Eigenheiten von allen Lebewesen und Welt-
phänomenen). Das Annehmen und Bejahen grundlegender wie aktueller Gegebenheiten unseres
Lebens wie z.B. Endlichkeit, Bedürfnis nach Kontakt zu anderen, aber auch des eigenen Leidens-
drucks könnten also als Einverständnis und Zustimmung verstanden werden, worin bereits wesent-
liche Zielsetzungen und damit eine Affinität zum Gesundheitsverständnis einer existentiellen Ori-
entierung enthalten sind. So gesehen ist die Motivation zur Psychotherapie aus einer Erkenntnis der
eigenen Blockade ein Schritt in Richtung Einverständnis und Zustimmung. Im PZA setzen wir ein
Minimum von für den Klienten spürbarer Anspannung voraus, damit die sich darin manifestierende
Inkongruenz zum Motor eines Veränderungswunsches geraten kann und den therapeutischen Pro-
zess voranbringen hilft. In anderen Worten: Gibt eine Person ihr Einverständnis und ihre Zustim-
mung, dann hat sie (ein Stück) Kongruenz für sich gewonnen, lehnt sie sich gegen grundlegende
oder auch potentiell vorübergehende Gewissheiten auf, diese in ihrer momentanen oder existentiel-
len Unumstößlichkeit nicht anerkennend, so befindet sie sich in einem Zustand der Inkongruenz.
Die wirkliche, d.h. auch emotional gültige Anerkennung innerer wie äußerer Grenzen, aber auch
Möglichkeiten schließt dabei Achtung für sich selbst oder, wie wir sagen, Wertschätzung ohne
Vorwurfshaltungen und Beurteilungen mit ein.
b) Ätiologiekonzeption

Im PZA besteht die Auffassung, dass aufgrund von Reaktionen von für das Individuum bedeutsa-
men Personen relevante Erfahrungen aus dem Bewusstsein gedrängt oder verzerrt symbolisiert
werden. Die Verzerrungen führen über individuelle Abwehrformen zu den verschiedenen "diagnos-
tischen" Kategorien. Sowohl der interpersonale wie der psychodynamische Aspekt spielen dem-
nach bei der Entstehung von psychischen Problemen eine große Rolle.

Für die PEA liegt der Fokus nach Längle (unveröffentlichtes Manuskript) auf der "falschen Bewer-
tung und/oder fehlenden Stellungnahme gegenüber äußeren Umständen oder inneren Zuständen".
Für mich ist hier der personale Aspekt, der Willensaspekt betont.

Wenn "falsch" in diesem Zusammenhang nicht unter moralischen bzw. bewertenden Vorzeichen
gemeint ist, sondern als "nicht-organismisch", als für die Person eigentlich fremd und unstimmig,
dann sehe ich aus personzentrierter Sicht keinen Einwand, auch dieser Formulierung zuzustimmen.
Während "falsch" der Verzerrung der organismischen Wirklichkeit, einer Entfremdung vom eige-
nen organismischen Selbst", dem, was ich zutiefst empfinde, entsprechen könnte, kommt die "feh-
lende Stellungnahme" dem Leugnen und Ausblenden von relevanten Erfahrungen und darauf basie-
render Handlungserfordernisse gleich.

2. Persönlichkeitstheorie und Entwicklungstheorie

Das Persönlichkeitsmodell der PEA ist die Dimensionalontologie, die Aufgliederung in Körper,
Psyche und Geist. Während Frankl den frei-geistigen Anteil der Person heraushebt und als Domä-
ne, ja als das eigentliche Wesenselement des Personseins ansieht, "emanzipiert" die PEA den emo-
tionalen Anteil, ohne den geistigen zu vernachlässigen.

Der PZA hat vor allem den Begriff des "Selbst" herausgearbeitet, wobei das Selbst ein phänomeno-
logisches ist, wie es der Person selbst vorkommt, und somit dem Selbstkonzept, das eine Person
von sich hat, entspricht, nicht aber per se dem "wahren Selbst", wie Winnicott es konzeptualisiert
hat. Das wahre Selbst heißt im PZA, "dass alle Körper- und Sinneserfahrungen des Organismus auf
einer symbolischen Ebene in eine übereinstimmende Beziehung mit dem Konzept vom Selbst" ge-
bracht werden (können) (Rogers, 1972). Die Psychodynamik kreist also vor allem um das Verhält-
nis von Selbst(-konzept) und organismischer Erfahrung.

Die entwicklungstheoretischen Konzepte beider Ansätze erscheinen mir im Großen und Ganzen als
dürr. Im PZA wird den interpersonalen Beziehungen im Laufe der Biographie eines Menschen eine
sehr maßgebliche Rolle zuerkannt. Dem PZA zufolge kommt es eben auf jene Haltungen und Be-
dingungen an, die auch in der therapeutischen Beziehung Reifung, Wachstum und Entwicklung
fördern: Echtheit der Bezugsperson, bedingungslose Zuwendung und empathisches Mitschwingen.
Demgegenüber ist in der PEA die Sinnthematik von höchster Priorität. Wird die noetische Motiva-
tionslage, der "Wille zum Sinn" nicht frustriert, sondern mit Sinn erfüllt, so kann das Individuum
sein Personsein entfalten.
III. Praxis: Prozess und Beziehung

Längle (1991) hat ein Modell vorgelegt, das vier Aktualisierungsphasen kennt. Die Bezugnahme
auf diese Konzeptualisierung habe ich als Rahmen für den Praxisteil gewählt:

1. Deskription

Der PZA bedient sich wie schon oben ausgeführt der phänomenologischen Methode. Das Ausge-
hen vom Vordergründigen, die Beziehungsaufnahme, das behutsame Bereiten des Bodens sind
auch im PZA die grundlegenden Qualitäten. Es geht im PZA nicht um Wenn-dann-
Schlussfolgerungen als Folge von Beobachtungen, sondern um das Erfassen der - insbesondere
emotionalen - Welt des Klienten. Weder systematische Anamnesen noch das Festlegen von Diag-
nosen im Sinne psychopathologischer Kategorien entsprechen dem Geist des Ansatzes. Rogers
selbst hat Zeit seines Lebens in radikaler Weise die klassische Diagnostik als Auswuchs des medi-
zinischen Krankheitsmodells abgelehnt. Andere Vertreter des PZA nehmen vor allem aus differen-
tialdiagnostischen Erwägungen gegenteilige oder zumindest vorsichtigere Positionen in dieser Fra-
ge ein. Berufspolitische und versicherungsrechtliche Interessenslagen haben aber auch weitgehend
jenseits theoretischer Überlegungen die Negation von Diagnosen aufgeweicht.

2. Selbstannahme

Diese wird im PZA durch die unbedingte Wertschätzung, d.h. Anteilnahme und Achtung des
Therapeuten für die Person des Klienten gefördert. Dies bedeutet natürlich nicht, dass er jede Ab-
sicht, jede Handlung des Klienten gutheißen muss. Jedoch bedeutet es, den Klienten in seiner Ei-
genart bedingungslos anzunehmen und zu verstehen zu trachten. "Ich erzähle Dir von Dir, wie Du
Dich noch nicht kennst", wie Funke es auf der Tagung formuliert hat, umschreibt treffend eine
Aufgabe des Therapeuten. Im Prozess der Annäherung an das Erleben, an die Emotionalität ist oft
die Selbstdistanz, die mit Bewertung und Beurteilung, ja Verurteilung und Selbstvorwürfen einher-
geht und sich in Scham, Verlegenheit und Selbstablehnung bis -verachtung niederschlägt, störend;
es gilt sie oft sukzessive abzubauen.

Nur jene bedeutsamen Erfahrungen, die unverbogen ins Bewusstsein gelangen, wo also keine Ver-
zerrung oder Ausblendung organismischen Erlebens vorliegt (= korrekte und vollständige Symboli-
sierung), können als kongruent und nicht dem "organismischen Selbst" entfremdet bezeichnet wer-
den. Für die Praxis in der Psychotherapie heißt das, dass das organismische Erleben, zunächst oft
noch unverständlich und auch unerwünscht, phänomenologisch aufgespürt werden soll. Im Ver-
trauen darauf, dass die emotionalen Tatsachen letztlich freundlich und sinnvoll sind, geht es zuerst
darum, die Wahrheiten zu enthüllen. Ich meine, dass in diesem Akt die Stellungnahme, der willent-
liche Vollzug, darin liegt, sich dem Erlebensfluss auszusetzen, diesen nicht zu unterbrechen. Erst
durch das Zulassen der tiefen inneren Realitäten kann eine darauf basierende Stellungnahme dauer-
hafte Veränderungen bewirken, d.h. auch das Bild von sich selbst schrittweise in Übereinstimmung
mit den eigenen Gefühlen und Gedanken gebracht werden. Der Therapeut unterstützt den Klienten
bei der Selbstannahme. In eine gemeinsame Sprache von PZA und PEA gebracht, bedeutet das kurz
umrissen: Das allerwichtigste bei der therapeutischen Arbeit ist das "Bergen der primären Emotio-
nalität", einer Emotionalität von organismischer Qualität.

Rogers erwähnt in seinen Schriften über den psychotherapeutischen Prozess, dass zuerst Vergange-
nes auftaucht, oft nur faktische Erzählungen, noch fern von Emotionalität, später dann gefühlsmä-
ßig Gefärbtes, zunächst das Unerwünschte ("Negative"), nach und nach wird kürzer Zurückliegen-
des, schließlich Gegenwärtiges und Unmittelbares Gegenstand, zunehmend mehr mit emotionaler
Bedeutung. In dieser Phase erzählen Klienten am Anfang von ihren Gefühlen (Gefühle wie Objek-
te), nehmen mehr und mehr Besitz davon ("Gefühle haben"), um letztlich "die Gefühle zu sein"
(vgl. dazu die Ebenen therapeutischer Tiefung in Petzolds "Integrativer Therapie", 1977, 283 ff: 1.
Rationale Reflexion; 2. Vorstellungen und Affekte bei kognitiver Beteiligung; 3. Involvierung:
intensives Erleben; Ebene der zu integrierenden bzw. sich integrierenden Emotionalität; 4. autono-
me Körperreaktionen: präverbal).

Je mehr sich das Ansprechenlassen auf das Hier-und-Jetzt der Therapie selbst, auf die lebendige
Begegnung von Therapeut und Klient bezieht, umso mehr Bewegung, eine umso integriertere Stel-
lungnahme und Antwort wird sich daraus gewinnen lassen. Die Wahrnehmung des Verstehens und
der Achtung, die dem Ausdruck des Klienten entgegengebracht wird, durch den Klienten führt zu
neuem Eindruck, der zugleich Ermutigung für neuerliche Stellungnahme und Aktivität darstellt.

3. Stellungnahme

Dieser Vorgang kann sich auf mehrere Ebenen beziehen: auf die existentielle Thematik, auf Ereig-
nisse und soziale Beziehungen, aber auch auf das eigene Erleben und Denken. Selbstdistanz
braucht es vor allem im Zusammenhang mit der Reflexion, mit der Einordnung der in der Therapie
gemachten Erfahrungen in frühere Kontexte, zur Reorganisation des Selbst. Die Einsichten müssen
dabei aber nicht unbedingt kognitiv aufbereitet werden; sie stellen sich oft von selber ein, z.B. zwi-
schen den Stunden. Die Stellungnahme erfolgt im Prüfvorgang (einerseits bei der Wahrnehmung,
andererseits beim Handeln), ob eine interne oder eine externe Bewertung vorliegt, ob ich im tiefs-
ten Inneren geradezu vegetativ eine Zustimmung verspüre oder ob ich mich nach äußeren Vorga-
ben, internalisierten Normen orientiere. Der Körper lügt nicht! Die primären Emotionen können
über den Prozess der Selbstannahme, der durch einfühlendes Verstehen, unbedingte Wertschätzung
für den Klienten sowie Unverstelltheit und Integrität des Therapeuten gefördert wird, geborgen und
in weiterer Folge integriert werden.

Es geht aber auch um die Kongruenz des Therapeuten. Nicht maximale Offenheit, sondern optima-
le Offenheit ist gefragt. Somit erfolgt die Stellungnahme des Therapeuten mehrfach: Es bedarf zu-
allererst der Selbstannahme und Bejahung des eigenen Erlebens des Therapeuten. Weiters wählt er
aus, was er von dem, was er verstanden zu haben meint, mitteilt, und was und wie er es von sich
gibt, sein Dafürhalten, sein Dagegenhalten (ohne Vorwurf, als Feedback seiner Wahrnehmungen
vom Klienten oder von seinem Erleben), insbesondere bei misstrauischen und stark abwehrenden
Patienten, bei Klienten, die für sich die Verantwortung nicht gut übernehmen können, die in einer
passiven Haltung vom Therapeuten kuriert werden wollen. Ständig trifft auch der Therapeut im
Laufe des therapeutischen Prozesses, im Laufe einer Stunde, im Zuge einer Sequenz Entscheidun-
gen, er nimmt Stellung zu den verschiedensten Phänomenen, verwirft vieles oder hebt es für später
auf. Der personzentrierte Therapeut versucht sich allerdings in seiner Stellungnahme von Deutun-
gen fernzuhalten.

Wenn das Selbstkonzept, d.h. so wie die Person sich selbst erfährt, mit der organismischen Erfah-
rung ("primären Emotionalität") kongruent ist, dann liegt "integrierte Emotionalität" vor. Die Stel-
lungnahme besteht einerseits in der Überprüfung, ob die organismische Erfahrung mit einer korrek-
ten Symbolisierung einhergeht, anderseits ist - in einem weiteren Schritt - die Stellungnahme darauf
gerichtet, ob die Gefühle angemessen sind. Während sich der PZA vor allem auf die Wahrnehmung
der Emotionalität und die Bejahung der Impulse konzentriert, um zu einem Verständnis ihrer Be-
deutung zu gelangen, dies in der Annahme, dass sich unangemessene Gefühle erübrigen, wenn sie
voll in ihrer Bedeutung erlebt sind, richtet die PEA ihr Augenmerk mehr auf die Einordnung des
primär Erlebten in die bereits bestehenden Lebensbezüge ("Werte") sowie auf daraus resultierende
Konsequenzen. Dies mag auch zu Korrekturen und Relativierungen führen und so zu einer Integra-
tion der Impulse beitragen. In der PEA scheint mir jedoch der geistige Akt des Stellungnehmens
stärker ausgeprägt, was bis zu Relativierungen reichen kann, die auf ein Verwerfen, im Extremfall
auf ein Bezähmen von Gefühlen, aber auch auf ein Hintersichlassen von Gefühlen hinauslaufen.
Die Stellungnahme in der PEA bereitet mehr den Boden auf die Antwort vor, ohne deswegen akti-
onistisch zu sein. Der PZA fördert den Eindruck, gerade auch handlungsbezogener Impulse, dabei
ebenfalls darauf achtend, dass die Handlungen nicht "mit Gewalt" über das bedeutungsvolle Erle-
ben hinweggesetzt werden. Es ist meine Überzeugung, dass die Selbstdistanz in ihrer humorvollen,
witzigen Form sowie die Stellungnahme, die die Gestalt von Entschlüssen annimmt, einer voraus-
gehenden tiefen Selbstannahme bedarf. Mich über mich wohlwollend lustig machen, meinen
"Schwächen" die lange Nase zeigen, setzt ihre Wahrnehmung und "Wertschätzung" durch mich
voraus.

4. Ausdrucksphase

Da hält sich der PZA zurück, nur wenn der Klient es anspricht, werden ziel- und verhaltensorien-
tierte Perspektiven Gegenstand. Am ehesten geht es um den Ausdruck innerhalb der therapeuti-
schen Beziehung. Selbsttranszendenz heißt im PZA wohl am meisten die authentische Begegnung
mit den anderen, das in-den-Kontakt-Gehen, mich nicht nur beim Wahrnehmen wagen - wobei das
auch schon ein über sich Hinausgehen ist - sondern vor allem beim Umsetzen von Entscheidungen
und Gewähltem, beim Gestalten.

Neben dem Mut zur offenen Wahrnehmung und dem Mut bei der Stellungnahme zu diesen Wahr-
nehmungen braucht es den Mut für den Entschluss, für die Ausführung, für die Begegnung, für die
Realisierung der existentiellen Möglichkeiten. Dieser Mut ist in seinem "statu nascendi" am besten
in der Therapiesituation zu wagen.

IV. Resümee

Die Herausforderung und Fruchtbarkeit des Konzepts der Aktualisierungsphasen von Längle be-
steht für mich vor allem in der prozessualen Anleitung bzw. Orientierung - bei gleichzeitiger Be-
zugnahme auf die zugrundeliegende Anthropologie -, wobei sich dieser Zyklus auf die Therapie als
Gesamt wie auch auf einzelne Themata und Ausschnitte beziehen lässt (Mikrobereich). Das Sche-
ma ist ubiquitär: Es lässt sich auf einen einzigen Moment, auf eine einzelne Sequenz, in der Praxis
auch auf einzelne Therapiestunden und auf den therapeutischen Prozess als Gesamt anwenden, aber
auch über die Therapie hinaus als Rhythmus von Erlebnisverarbeitung und Handlungsablauf be-
greifen.

Der Zusammenhang der Aktualisierungsstufen mit differentialdiagnostischen Kategorien verdient


weitere Beachtung: Es leuchtet ein, dass, wie Längle (1991) ausführt, die "Deskription" für Klien-
ten mit viel Angst einen Raum braucht. Diesem sollten z.B. bei "Psychosomatikern" und depressi-
ven Klienten bald "Türen" für das "Ansprechen des Klienten", für das "Bergen der Gefühle" eröff-
net werden, wie auch die Empathie speziell bei Krisen sehr wichtig ist. Fordern und Konfrontieren,
die Stellungnahme des Therapeuten, den Klienten zu einer Stellungnahme zu bewegen, mag bei
"hysterischen" Klienten beitragen, statt einer Selbstdarstellung Selbstoffenbarungen zu ermögli-
chen. Überhaupt scheint die Kongruenz des Therapeuten und das Beachten klarer Strukturen bei
Psychosen, Borderline-Patienten und auch Süchten in besonderer Weise angemessen. Der authenti-
sche Ausdruck erzeugt nachhaltigeren Eindruck, der andere fühlt sich gemeint. Die Förderung des
Ausdrucks könnte wohl bei Personen mit "Persönlichkeitsstörungen" ängstlicher und depressiver
Färbung Entwicklungseffekte mit sich bringen.

Hinsichtlich ihrer möglichen Umsetzung erscheint mir Folgendes beachtenswert: Die Abfolge soll-
te nicht allzu zwingend gesehen werden, da jedes schematische Vorgehen die Intuition, Kreativität
und spezifische aus der Beziehung zum jeweiligen Klienten gespeiste Eigenart erschweren oder gar
verhindern. Dies ist ein Grund, warum Rogers auf Diagnosen, Techniken oder gar differentialdiag-
nostisch aufgefächerte Interventionskategorien verzichtet hat und demgegenüber Haltungen beim
Therapeuten fördern wollte, aus denen heraus sich personal, verantwortlich und zugleich Begeg-
nung riskierend überraschende Interaktionen und Prozesse ergeben sollen (person- bzw. bezie-
hungszentriert statt technik- oder schemazentriert).

Bezüge zu einer Reihe von (Prozess-)Modellen bieten sich an:


* Kontaktzyklus bei Perls, der ja seinen Ansatz auch als existentiellen verstand: Vorkontakt, Kon-
taktnehmen, Kontaktvollzug, Nachkontakt; dieser Vollzug ist notwendig für das Schließen einer
"guten Gestalt", seien es innere (Bedürfnisse) oder äußere Gestalten (Figuren) wie Personen oder
andere Umweltreize.
* Prozess bei Perls: Klischee (unpersönlich), Rollenspiel (phobische Schicht), Blockierung (Sack-
gasse), Implosion (Erleben der Stagnation), Explosion (Ausdruck)
* Wahrnehmung, Kontakt, Bewegung (nach Norman Liberman, persönliche Mitteilung)
* Prozess bei Petzold: Initialphase, Aktion, Integration, Neuorientierung (Weiterentwicklung der
Phasen aus dem Psychodrama)
* Prozessphasen bei Swildens (1991): (Prä-)Motivationsphase, Symptom-/Syndromphase, Kon-
fliktphase, existentielle Phase, Abschied/Trennung

Die Selbstannahme, die im PZA zweifellos einen überragenden Stellenwert hat, wird nun auch in
der Existenzanalyse aufgewertet. Dass die PEA die Emotionen in ihrer Bedeutung für die mensch-
liche Existenz voll anerkennt, dass sie demnach die Emotionalität zu bergen trachtet, verleitet mich
zu sagen, dass sie "diesen Schatz" für die Existenzanalyse rettet und sie gleichberechtigt neben den
Kognitionen in die Ganzheit der Person aufnimmt.

Der PZA orientiert sich am Modell des Therapeuten als Begleiter, der zumeist "auf gleicher Höhe"
mit dem Klienten ist, manchmal aber auch ein kleines Stück vorausgeht. Der Therapeut stellt dabei
kaum Fragen (am ehesten: "Habe ich Sie da richtig verstanden?" "Ist das so, wie wenn ...?"); er
leitet nicht eine Untersuchung. Das dialogische Prinzip findet seinen Ausdruck im Anteilnehmen
und Verstehen, in der Unmittelbarkeit der Begegnung. Die PEA kommt mir interrogativer, auffor-
dernder, eine Spur aktivierender, vielleicht auch drängender vor. Das dialogische Prinzip wird um
einen appellativen Anspruch erweitert.

Die Frage der Einbeziehung zusätzlicher Techniken in die Arbeit wird in vielen Ansätzen gestellt.
Denken wir nur an die historische Debatte um Parameter innerhalb der psychoanalytischen Schule.
Im PZA geht die Diskussion darum, ob es (bei bestimmten Klienten im Sinne einer adaptiven Indi-
kation) mehr braucht als die drei Basisvariablen (Kongruenz, Wertschätzung, Empathie). Rogers
hat dazu gemeint, dass jede Technik, die dem Realisieren der Basisvariablen dient, angewendet
werden kann. Abgewandelt hieße das für die PEA, dass jede Methode, die das Ansprechen, Stel-
lungnehmen und Ausdruckgeben fördert, nützlich und erprobenswert ist, aus personzentrierter Sicht
mit dem Zusatz, sofern Kongruenz, Wertschätzung und Empathie dabei bestmöglich verwirklicht
werden.
Literatur

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