Sie sind auf Seite 1von 25

Jahrbuch für Pädagogik 2008:

1968 und die neue Restauration


JAHRBUCH FÜR PÄDAGOGIK
Begründetvon:
Kurt Beutler, Ulla Bracht, Hans-Jochen Gamm,
Klaus Himmelstein, Wolfgang Keim, Gernot Koneffke,
Karl Christoph Lingelbach, Gerd Radde,
Ulrich Wiegmann, Hasko Zimmer

Herausgeberlnnen:
Armin Bernhard (Essen-Duisburg),
Hans-Jochen Gamm (Darmstadt),
Wolfgang Keim (Paderborn),
Dieter Kirchhöfer (Berlin),
Gerd Steffens (Kassel),
Christa Uhlig (Berlin),
Edgar Weiß (Siegen)

PETER LANG
Fra n kfu rt am M ain *Berlin ■Bern *B ru xe lle s ■N ew York - Oxford - W ien
JAHRBUCH FÜR PÄDAGOGIK
2008

1968 und die


neue Restauration
Redaktion:
Armin Bernhard und Wolfgang Keim

PETER LANG
Inte rnationaler Verlag d e r W is s e n s c h a fte n
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über < http://www.d-nb.de> abrufbar.

G edruckt auf alterungsbeständigem,


säurefreiem Papier.

ISSN 2199-7888
0941-1461
ISBN 978-3-631-59064-5
© Peter Lang G m b H
Internationaler Verlag der Wissenschaften
Frankfurt am Main 2009
Alle Rechte Vorbehalten.
Das W erk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich
geschützt. Je d e Verwertung außerhalb der engen G renzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustim m ung des Verlages
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die
Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen System en.

Printed in G e rm any 1 2 3 4 6 7
www.peterlang.de
Inhalt

Armin Bernhard/Wolfgang Keim


Editorial_______________________________________________________ 9

1968 - Laboratorium der Ideen

Arno Klönne
1968 - Politikevent, Kulturrevolution, Modernisierungsschub? _ _ _ _ _ 17

Edgar Weiß
1968: Impulse aus der Kritischen Theorie___________________________ 25

Winfried Wolf
Chiffre 68 - Eine globale Revolte und ihre B ilanz____________________ 37

Sozial- und erziehungswissenschaftliche Themen der 1968-Bewegung:


Zwischen Aufbruch, Restauration und Neubestimmung

Karl-Heinz Dämmer
Gesellschaftskritik und Emanzipation: Ausstrahlungskraft, Grundgedan­
ken kritischer Erziehungswissenschaft und die Entwertung des Prinzips
der K ritik______________________________________________________ 53

Armin Bernhard
Die Permanenz der Schwarzen Pädagogik und das Prinzip des Antiauto­
ritären in der Erziehung__________________________________________ 71

Eva Borst
Sozialisation versus Bildung? - Probleme in der Reorganisation des erzie­
hungswissenschaftlichen Begriffsinstrumentariums___________________ 91

Friedrich Koch
Sexualität und Erziehung. Zwischen Tabu, repressiver Entsublimierung
und Emanzipation______________________________________________ 117

5
Barbara Rendtorff
„Blöde Weiber, wollt Ihr ewig Hausarbeit machen?!“ - Über gewonnene
und zerronnene Veränderungen im Geschlechterverhältnis_____________ 135

Jens Zoll er
Dimensionen von Mündigkeit im Anschluss an Adorno - Zur Reformulie-
rung eines unausgeschöpften emanzipatorischen Entwurfs_____________ 153

Bettina Lösch
Politische Bildung zwischen Emanzipation, Affirmation und Entwertung _ 171

Ansatzpunkte und Entwicklung einer demokratischen Bildungsre­


form: Das „Schicksal64 der bildungspolitischen Ideen von 1968 zwi­
schen Reform, Stagnation und Regression

Armin Kremer
Entwicklungs 1inien und Verlauf der Bildungsreform: Bilanzierung in kriti­
scher Absicht__________________________________________________ 189

Michael Hartmann
Gesellschaftliche Ungleichheit und Bildung: die Debatte in den 1960er
Jahren und heute________________________________________________ 209

Wolfgang Keim
Gesamtschule: 1968 und die Gesamtschule - Vergessene, verdrängte, un-
abgegoltene Zusammenhänge_____________________________________ 221

Gerd Steffens
Mündigkeit als pädagogisches Paradigma und die Globalität der Revolte
von 1968 - Ein innerer Zusammenhang am Fallbeispiel_______________ 239

Wolfgang Nitsch
Das Schweigen der Universität zur Sprache bringen... Abschiedsvorle­
sung eines Protagonisten der Hochschulpolitik des SDS und der undog­
matischen Linken_______________________________________________ 251

Rollback und Regression: Bekämpfung und Selbstdekomposition der


Konzepte von 1968

Christa Uhlig, Dieter Kirchhofer


Der kurze Herbst 1989 in der DDR und die beschleunigte Verdrängung
emanzipatorischer Ideen_________________________________________ 261
Sven Kluge
politische Romantik4 und ,destruktiver Antiinstitutionalismus4 - Zur
neokonservativen Abrechnung mit den emanzipatorischen Konzepten der
,Neuen Linken4_________________________________________________ 281

Edgar Weiß
Kritische Pädagogik - Notizen zur brüchigen Karriere, verbliebenen Defi-
zienz und unverminderten Aktualität einer „Hauptströmung44 der Erzie­
hungswissenschaft ______________________________________________ 301

Thorsten Feltes
Positivismus, Positivismusstreit und der Aufstieg empiristischer Erzie­
hungswissenschaft ______________________________________________ 323

Jahresrückblick

Gerd Steffens
1968 als Literaturereignis 2008___________________________________ 341

Nachrufe

Gemot Koneffke {GerdSteffens)__________________________________ 355

Gerd Radde ( Wolfgang Keim)_____________________________________ 357

Rezensionen

Michael Benz: Der unbequeme Streiter Fritz Lamm. Jude - Linkssozialist


- Emigrant 1911-1977. Eine politische Biographie, Essen: Klartext-
Verlag 2007 {Armin Bernhard)___________________________________ 363

Martin Dust: „Unser Ja zum neuen Deutschland44. Katholische Erwachse­


nenbildung von der Weimarer Republik zur Nazi-Diktatur, Frankfurt am
Main: Peter Lang 2007 {Klaus Himmelstein)________________________ 365

Götz Aly: Unser Kampf 1968 - ein irritierter Blick zurück, Frank­
furt/Main: S. Fischer-Verlag 2008 {Edgar Weiß)_____________________ 368

Autorenspiegei________________________________________________ 375

7
10.3726/59064_153

Jens Zoll er

Dimensionen von Mündigkeit im Anschluss an Adorno –


Zur Reformulierung eines unausgeschöpften
emanzipatorischen Entwurfs

Zwar steht die ,Erziehung zur Mündigkeit4 nicht in einem direkten, linearen Zu­
sammenhang zu den Ideen von 1968, und muss - nicht zuletzt aufgrund der Kon­
flikte zwischen Ideen und Vertretern der Kritischen Theorie und der Studenten­
bewegung - in einem Spannungsverhältnis zu diesen verortet werden, doch wur­
den wesentliche Aussagen im Kontext der gesellschaftsklimatischen Bedingun­
gen der APO und der studentischen Protestbewegung formuliert und, ebenso wie
deren Ziele gesamtgesellschaftlicher Emanzipation, von den neuen Restauration­
stendenzen erfasst und weitgehend verschüttet. Die Reflexionen Adornos zum
Mündigkeitsproblem griffen jedoch der ,68er-Bewegung4 vor und wiesen zu­
gleich über sie hinaus; ihr Faden ist gerade vor dem Hintergrund der Zurück-
drängung des Emanzipationsparadigmas neu aufzunehmen.
Der bildungspolitische Diskurs der späten 1960er Jahre war bestimmt von
Fragen der quantitativen Bildungsexpansion und didaktisch-methodischen Neu­
orientierung des schulischen Lemens.1 Gegenüber dieser Dominanz der techno­
kratischen Bildungsreform auf der Basis einer restaurierten Gesellschaftsordnung
wollte Theodor W. Adorno die emanzipativen Dimensionen im pädagogischen
Diskurs stärken, indem er die Zielperspektiven von Erziehung thematisierte. So
ist zu erklären, dass Adorno, der die Bestimmung einer besseren Zukunft allein
durch eine Negation des schlechteren Bestehenden zu erschließen beabsichtigte
und ausdrücklich keine positive Utopie einer besseren Pädagogik beschreiben
wollte, an einigen Stellen der , Erziehung zur Mündigkeit4 doch sehr konkret auf
die ihm wichtigen Erziehungsziele einging. Er betonte dabei, dass , Pädagogik4
ihren Erfolg „der Abwesenheit einer jeden Berechnung auf Einflussnahme, dem
Verzicht aufs Überreden44 (76)2 verdankt. Obgleich sich Adorno ausdrücklich
nicht als Pädagoge geäußert hat, den in dem Band „Erziehung zur Mündigkeit44
zusammengefassten Rundftmkgesprächen der Jahre 1966 bis 1969 - doch Folge­
rungen für eine kritisch-eingreifende Pädagogik entnommen werden.

153
/. Erziehung zur Mündigkeit - Begriffliche Vorklärung

An den Anfang einer jeglichen Diskussion über Erziehung stellt Adorno den von
ihm bereits in der Negativen Dialektik formulierten neuen kategorischen Impera­
tiv „daß Auschwitz nicht noch einmal sei“ als „allererste (Forderung; J. Z.) an
Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie
begründen zu müssen noch zu sollen. (...) Sie zu begründen hätte etwas Unge­
heuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.“ (88) Notwendig
wird diese Forderung angesichts des Umstandes, dass „die objektiven gesell­
schaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten“ und so
„der Faschismus nachlebt; (...) die viel zitierte Aufarbeitung der Vergangenheit
bist heute nicht gelang und zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen,
ausartete“ (22). Die wesentliche Voraussetzung für das Nachleben des Faschis­
mus in der Gesellschaft liegt in dem unerhellten kollektiven Bewusstseinszu­
stand, in den das Ungeheuerliche von Auschwitz noch keinen Eingang gefunden
hat. In solchermaßen unerhellten, unkritischen und zum antihumanen Wettbewerb
erzogenen Menschen kann der Faschismus überdauern und von dort aus neu ent­
fesselt werden. Eine auf der Willensbildung jedes Einzelnen basierende Demo­
kratie hingegen, „die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß ar­
beiten soll, verlangt mündige Menschen.“ (107) Folglich liegt die einzig wahre
Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz in der Mündigkeit des Einzelnen, in der
Kraft zur Selbstbestimmung, Reflexion und zum Nicht-Mitmachen. „Die einzige
wirkliche Konkretisierung der Mündigkeit“ aber besteht darin, „daß die paar
Menschen, die dazu gesonnen sind, mit aller Energie darauf hinwirken, daß die
Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist“ (145; Her­
vorhebung J. Z.), wobei in diesen Erziehungsbegriff die Bildungsdimension mit
eingeschlossen ist. Diese ,Wendung aufs Subjekt4 stellt schon ein Zugeständnis
dar, denn der Faschismus kann eigentlich „nicht wesentlich aus subjektiven Dis­
positionen abgeleitet werden“, da aber „die Möglichkeit, die objektiven, nämlich
gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen, die solche Ereignisse aus­
brüten, zu verändern, heute aufs äußerste beschränkt ist, sind Versuche, der Wie­
derholung (von Auschwitz, J. Z.) entgegenzuarbeiten, notwendig auf die subjek­
tive Seite abgedrängt.“ (22; 89)
Adorno bezieht sich bei seiner Forderung nach einer Erziehung zur Mündig­
keit explizit auf Immanuel Kant, der die Mündigkeit - wie bekannt - ex negativo
definiert:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmün­
digkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines
anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache dersel-

154
ben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt,
sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines
eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.44 (Kant 1968,
S. 33)

Mündigkeit ist generell überall erst herzustellen, da die Gesellschaft und die
zur Totalität aufgeblähte Kulturindustrie die Einzelnen daran hindern, Verblen­
dungszusammenhänge zu erkennen und sich aus ihrer Unmündigkeit zu befreien.
Selbst eine gelungene Befreiung ist keineswegs als sicherer Status zu begreifen,
da jederzeit ein Rückfall hinter die bereits erreichte Mündigkeit droht. Als ihre
größten Probleme können identifiziert werden: die Heteronomie, das wider­
standslose Schlucken dessen, was das überwältigende Seiende den Menschen vor
Augen stellt und die Kapitulation der Menschen vor der schmerzlichen Anstren­
gung der Erkenntnis, der Wille, „die Verpflichtung zu einer Autonomie ios(zu)-
werden, von der sie argwöhnen, ihr doch nicht nachleben zu können44 (23). Zur
Subjektseite hin meint Mündigkeit das Erkennen des eigenen Eingebundenseins
in die historisch und gesellschaftlich bedingten Verhältnisse und die Herauslö­
sung aus der Unmittelbarkeit jener Verhältnisse, zur gesellschaftlichen Seite hin
jene kollektive Mündigkeit einer demokratischen Gesellschaft, die Adorno an­
spricht, wenn er konstatiert, eine funktionierende Demokratie verlange mündige
Menschen.
Zwar formulierte die Pädagogik nach 1945 die ,Mündigkeit des Subjekts4 als
Ziel von Erziehung und Bildung, und auch auf politischer Ebene (Deutscher Bil­
dungsrat, Kultusministerien) wird die Befähigung zu mündigem Denken und
Handeln als Erziehungsziel festgehalten. Erst mit Adorno aber erfahrt B ü n d ig ­
keit4 eine deutliche ,Aufwertung4 zu einer zentralen Kategorie Kritischer Päd­
agogik - zunächst allerdings nur in quantitativer Hinsicht: Dass der Begriff nun
häufigere Verwendung findet, ist noch kein Indiz für seine grundlegende Aufbe­
reitung für Erziehung und Bildung.

II. Rekonstruktion ausgewählter Bes tim m ungsm om ente einer Erziehung


zur Mündigkeit

Im Folgenden werden aus den komplexen und vielschichtigen Mündigkeitsüber­


legungen Adornos die vier dialektisch aufeinander verwiesenen Dimensionen:
Erziehung zur Kritik, Erziehung zum Widerstand, Erziehung der Bewußtma-
chung und Erziehung zur Erfahrung erläutert. Nach dieser Analyse, die im Rah­
men des vorliegenden Beitrages lediglich Impulse für weiterführende Überlegun­
gen zum pädagogischen Mündigkeitsprojekt setzen will und keinen Anspruch auf

155
Vollständigkeit erhebt, werden die - zu analytischen Zwecken differenzierten -
Bestimmungsmomente auf die bestehende gesellschaftliche Realität angewendet,
indem die aktuellen Hemmnisse einer ,Erziehung zur Mündigkeit̒ und mögliche
Antworten der Pädagogik aufgezeigt werden.
Adorno bestimmt Mündigkeit unter anderem als „in gewisser Weise soviel
wie (...) Rationalität. Rationalität ist aber wesentlich immer auch Realitätsprü­
fung44 (109) und eine Erziehung zur Mündigkeit somit auch immer eine , Erzie­
hung zur Kritik und zur Kritikfähigkeit4. Dieses kritische Moment umfasst so­
wohl das Hinterfragen unerhellter Autorität, als auch die kritische Selbstreflexion
und bildet als Kritik am Bestehenden und als Erziehung zur Kritikbereitschaft
(Das ,sapere aude!4 zielt auf den voluntativen Aspekt von Mündigkeit.) den Kern
der Adomoschen Überlegungen einer ,Erziehung zur Mündigkeit4. Er exemplifi­
ziert diese kritisch-hinterfragende Grundhaltung in den 1960er Jahren, zu einer
Zeit, da über Notstandsgesetze und Notstands Verfassung diskutiert wird, an dem
Verhältnis von Gehorsam und Widerstand gegenüber personaler und vor allem
staatlicher Autorität und richtet seine Kritik gegen den „respektable(n) Begriff
(...) der Staatsräson: indem man das Recht des Staates über das seiner Angehöri­
gen stellt, ist das Grauen potentiell schon gesetzt.44(104)
Hier tritt als weiteres Bestimmungsmoment die „Erziehung zum Widerspruch
und zum Widerstand44 (145) hinzu, die nicht die Aufhebung der Dialektik von
Anpassung und Widerstand meint, aber den Anpassungsprozess als so maßlos
forciert ansieht, dass es „eher die Aufgabe44 der Erziehung ist, „Widerstand zu
kräftigen, als Anpassung zu verstärken.44 (110) Die Menschen übertreiben die
Anpassung sich selbst gegenüber und identifizieren sich mit einem überwertigen
Pseudo-Realismus. Erst diese übermäßige Anpassung wird zum Problem, nicht
jedoch diejenige, bei der die Menschen durch Verinnerlichung der gesellschaftli­
chen Regeln sich in der Gesellschaft orientieren lernen: „Erziehung wäre ohn­
mächtig und ideologisch, wenn sie das Anpassungsziel ignorierte und die Men­
schen nicht darauf vorbereitete, in der Welt sich zurechtzufinden.44 (109) Durch
die Vermittlung der Einsichten in die Realitäten werden die Kinder auf die Grau­
samkeit und Härte des Lebens vorbereitet, damit sie nicht, „einmal aus dem Ge­
schützten entlassen, erst recht der Barbarei ausgesetzt44 sind. (102) Differenzierter
als manche vermeintlich radikale Position der Studentenbewegung seiner Zeit,
siedelt Adorno Widerstandsfähigkeit nicht jenseits sozialisationsbezogener Inte­
grationsmechanismen an, sondern verknüpft sie dialektisch mit diesen. Er schnei­
det die Verbindung zur Gesellschaft nicht ab, sondern verweist auf den emanzi-
pativen Gehalt der Anpassung, in deren Vollzug die gesellschaftlichen Regeln
intemalisiert werden, durch deren anschließende Subversion die reflektierte Kon­
stituierung von Widerstandsfähigkeit erst ermöglicht wird.

156
Der Überidentifikation der Subjekte mit den Zwangsverhältnissen entspricht
auf der gesellschaftlichen Seite die mächtige Tendenz des Bestehenden, die die
Eingliederung der Menschen in das Kollektiv in einem Übermaß besorgt, sowie
ein faschistoider Anti-Individualismus, der „die deutsche pädagogische Diskus­
sion so lange beherrscht hat und der immer noch nachklingt“ (117). Allerdings
lässt sich im Gegenzug nicht einfach eine Erziehung zum Individuum postulieren,
da „heute weitgehend soziale Möglichkeiten der Individuation (fehlen; J. Z.),
weil die allerrealsten, nämlich die Arbeitsprozesse, gar nicht mehr die spezifisch
individuellen Eigenschaften erfordern.“ (ebd.) Zusätzlich zu diesem ,klassischen4
Problem der Entfremdung im Arbeitsprozess fuhren - so Adornos Diagnose 1969
- die Notwendigkeit, sich stets auf wechselnde Situationen einzustellen und das
Fehlen einer Festigkeit der Vorstellung vom eigenen Beruf zur Ich-Schwäche und
zur Unmündigkeit. Mit ihrer Identität büßen die Menschen aber auch jene Quali­
täten ein, kraft derer sie sich der Barbarei - dem Zurückbleiben der Menschen
„hinter ihrer eigenen (...) höchstentwickelten technischen Zivilisation44 (120) -
entgegenstemmen können. Darin begründet sich die besondere Bedeutung einer -
wie es Becker in Übereinstimmung mit Adorno formuliert - „Erziehung zum Be­
stehen und Bewältigen der Veränderungen44 (117). Diese Erziehung hat das Indi­
viduum zu stärken und über die Mechanismen und Verblendungszusammenhänge
aufzuklären, da der Druck des Bestehenden den Einzelnen nicht nur zur totalen
Anpassung und Aufgabe seiner Individualität zwingt, sondern auch das Erkennen
der Zusammenhänge und damit die Befreiung aus ihnen verhindert. Dies führt so
weit, dass

„die, deren reale Ohnmacht andauert, (...) das Bessere nicht einmal als Schein (ertra­
gen; J. Z.); lieber möchten sie die Verpflichtung zu einer Autonomie loswerden, von der
sie argwöhnen, daß sie ihr doch nicht nachleben können, und sich in den Schmelztiegel
des Kollektiv-Ichs werfen.“ (23)

Genau in dieser Identifikation mit dem Gegebenen aber liegt das totalitäre
Potential, das Auschwitz ermöglicht hat, denn „Menschen, die blind in Kollektive
sich einordnen, machen sich selber schon zu etwas wie Material, löschen sich als
selbstbestimmte Wesen aus.44 (97) Wer sich so zum Material des Kollektivs de­
gradiert, vollzieht dies im Nachgang an anderen Menschen, daher ist es „das Al­
lerwichtigste gegenüber der Gefahr einer Wiederholung44 von Auschwitz, „der
blinden Vormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten44 (95). Nach Adorno ver­
langt das Kollektiv von den Individuen Eingliederung und Unterordnung, Aufga­
be der eigenen Individualität. Dem entsprechen die Einzelnen, unbewussten Trie­
ben und Bedürfnissen nach Aufgehobensein in einer zu komplexen, unbehagli­
chen Gesellschaft folgend, da sie ihre Individualität als belastend empfinden und

157
sich in dem Aufgehen im Kollektiv Halt und Stärkung erhoffen. Diesem uner-
hellten Bedürfnis sind das Leid, das durch Kollektive entsteht und der Schmerz,
den sie dem Einzelnen als Preis des Dazugehörens abverlangen, als unmittelbare
Vorformen der nationalsozialistischen Gewalttat entgegenzuhalten.
Die Erziehung zum Widerstand weist auch insofern über die rationale Dimen­
sion hinaus, als sie die Schulung der Empfindsamkeit einbezieht und darauf zielt,
die Menschen zart zu machen gegen alle Formen von Gewalt, so dass sie Scham
über Rohheiten empfinden lernen. Denn bereits das innere Vermögen, Abscheu­
liches mit anzusehen und sich im entscheidenden Moment wegzuducken, stellt
eine Form des Barbarischen dar. Die Verstärkung der Abscheu vor Gewalt in den
Menschen ist gleichsam der Garant und der Motor für den Widerstand gegen die
Barbarei in jedweder Form. So „ließe sich doch durch Erziehung und Aufklärung
ein Weniges unternehmen“, um zu verhindern, „daß es Menschen gibt, die unten,
eben als Knechte das tun, wodurch sie ihre eigene Knechtschaft verewigen“
(104). Die Abscheu vor Gewalt bezieht sich auf jene physische Gewalt, die in
keiner durchsichtigen Beziehung zu vernünftigen Zwecken der Gesellschaft steht,
nicht aber auf eine reflektierte Gewalt, die der Herbeiführung menschenwürdige­
rer Zustände dient, wie z.B. die Proteste der 1968er-Jugend, die bisweilen be­
wusst die Grenzen der Legalität überschritten.3 Entbarbarisierung darf also nicht
missverstanden werden als Moderantismus, als eine Erziehung zur Beseitigung
der starken Affekte und der Aggressionen, da eben diese - gegen die Barbarei
gerichtet - ein Mittel des Widerstandes darstellen. Diese „Aggressionsinstinkte“
(123) tragen zwar selbst barbarische Züge, sublimiert jedoch im Moment der
Empörung können sie, gegen das barbarische Prinzip gewendet, zu dessen Ab­
schaffung beitragen. Denn auch die Unterdrückung von Gewalt kann eine Form
der Barbarei darstellen. Die Verstümmelung von Menschen zu „willfährigen
Instrumenten einer nun einmal bestehenden Ordnung“ (123) und das Austreiben
des spontanen Widerstandes gegen diese Ordnung im Namen von Autorität und
etablierten Mächten zeigt den Zerstörungstrieb in den bereits durch Barbarei De­
formierten. Diese Deformation kann bis zur Ausbildung der Autoritätsgebunde­
nen Charaktere4 führen, die „sich mit realer Macht schlechthin (identifizieren; J.
Z.), vor jedem besonderen Inhalt“, da sie „nur über ein schwaches Ich (verfügen;
J. Z.) und (...) darum als Ersatz der Identifikation mit großen Kollektiven und der
Deckung durch diese“ (17) bedürfen, was sie besonders anfällig für die Verfüh­
rungen totalitärer Regime macht.
Ein mündiger Mensch wird der Einzelne allerdings nicht durch Aufmucken
gegen jede Art von Autorität, ,brave Kinder4 werden, so Adorno, sich auf Unter­
suchungen von Frenkel-Brunswik berufend, sogar eher zu autonomen Menschen
als refraktäre, da jene die im freudschen Sinne ,normale4 Entwicklung durchlau­
fen: Auf die Identifikation des Kindes mit der Vaterfigur (Autorität) erfolgt deren

158
Verinnerlichung und schließlich die Feststellung, dass die Vaterfigur und das ei­
gene Ich-ldeal nicht übereinstimmen, woraus die schmerzhafte Ablösung vom
Vaterideal resultiert (140).
Adorno bestimmt des Weiteren Mündigkeit als „in gewisser Weise soviel wie
Bewußtmachung“, ja er versteht „unter Erziehung überhaupt (...) die Herstellung
eines richtigen Bewußtseins.“ (109;107; Hervorhebung nicht übernommen) Eine
Erziehung zur Mündigkeit hat die Last der Verdunklung des Bewusstseins durch
die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu beachten, auf eine Bewusstseinser­
hellung zu zielen und dabei den Menschen die „schmerzliche Anstrengung der
Erkenntnis“ (22) zuzumuten. Für Adorno sind es im konservativ geprägten
Deutschland der 1960er Jahre in erster Linie die den Faschismus generierenden
gesellschaftlichen Bedingungen, die in das Bewusstsein der Einzelnen Eingang
finden müssen. In Anlehnung an Sigmund Freuds „Unbehagen in der Kultur“
fuhrt er aus, dass die Kultur viel verspricht (u. a. Frieden, Wohlstand, etc.), die­
ses Versprechen aber bricht, indem sie die Menschen (vor allem in geistige und
körperliche Arbeit) teilt. Dadurch wird ihnen das Vertrauen auf die Kultur entzo­
gen, sie erleben durch sie ununterbroche Versagungen und entwickeln unter ihr
Schuldgefühle, die sich als Hass und Aggressionen gegen sie richten. Somit
bringt die Zivilisation aus sich selbst heraus das Antizivi 1isatorische hervor und
verstärkt es zunehmend. Das „Gefühl des Eingesperrtseins in einem durch und
durch vergesellschafteten, netzhaft dicht gesponnenen Zusammenhang“, die
„Klaustrophobie der Menschheit in der verwalteten Welt“ (90), verwehrt den
Menschen das Ausbrechen und hält sie gegen ihren Willen fest. So verstärkt sich
die Wut gegen die Zivilisation, die sich schließlich in barbarischem, gewalttäti­
gem und irrationalem Aufbegehren äußert. Um dem entgegenzuwirken, sollen die
Versagungen, die durch das Scheitern der Kultur entstehen, und die daraus resul­
tierenden Schuldgefühle und Aggressionen als der objektive Grund der Barbarei
bewusst gemacht werden, um ein günstigeres Klima für Veränderungen zu schaf­
fen. Rationale Aufklärung löst zwar nicht geradewegs die unbewussten Mecha­
nismen auf, die zu Auschwitz geführt haben, kräftigt aber „im Vorbewusstsein
gewisse Gegeninstanzen und hilft, ein Klima bereiten, das dem Äußersten ungün­
stig ist.“ (103) Daher plädiert Adorno - noch bevor die Studentenbewegung die
Enttabuisierung der Vergangenheit einfordert - für eine Bewusstmachung der
spezifischen geschichtlich-objektiven Bedingungen der Verfolgung und der Eu­
thanasiemorde, aber auch der Gefahren durch den wiedererwachenden Nationa­
lismus und der „Möglichkeit der Verschiebung dessen, was in Auschwitz sich
austobte.“ (Ebd.) Da solche Verweise auf Fakten schnell abgetan werden können,
ist von ihnen allerdings nicht zu viel zu erwarten, weshalb die Argumentation auf
die Subjekte selbst gelenkt werden muss, zu denen man spricht; ihnen sind die
Mechanismen bewusst zu machen, die in ihnen die Rassenvorurteile verursachen,

159
um auf diese Weise ihr Selbst(bewusstsein) zu stärken. So kommt die „Kenntnis
der paar unverwüstlichen Propagandatricks“ (27) einer Schutzimpfung gegen die­
se gleich. Da das faschistische Potential aber an die - auch noch so begrenzten -
Interessen der Menschen anknüpft, ist das günstigste Gegenmittel der durch seine
Wahrheit einleuchtende Verweis auf eben diese Interessen: Die Menschen sind
ans Allereinfachste, nämlich an den Krieg, das Leid und den Mangel, die durch
offene oder verkappte faschistische Erneuerungen herbeigeführt werden, zu erin­
nern, da dies sie tiefer beeindrucken wird, als „das Leid der anderen, mit dem
man ja (...) immer verhältnismäßig leicht fertig wird.“ (28)
Die Tatsache, dass der Widerstand gegen das NS-Regime sich meist nur auf
die eigene Gruppe beschränkt hat, muss als ein Symptom der weltweit verbreite­
ten universalen Kälte aufgezeigt werden; dieser muss zum Bewusstsein ihrer
selbst verholfen werden. Der Kälte können allerdings keine Appelle zur Liebe
entgegengesetzt werden, denn ein Zuspruch zur Liebe ist nicht nur unmöglich, da
die gesellschaftlich deformierten Menschen allesamt „keineswegs so liebenswert“
sind, sondern ihm

„eignet das Zwangshafte, Unterdrückende, das der Liebesfähigkeit entgegenwirkt. (...)


Wenn irgend etwas helfen kann gegen Kälte als Bedingung des Unheils, dann die Einsicht
in ihre eigenen Bedingungen und der Versuch, vorwegnehmend im individuellen Bereich
diesen ihren Bedingungen entgegenzuarbeiten.“ (102 f.)

Eine wichtige Facette von Kälte ist der Mechanismus, der hinter der E rzie­
hung zur Härte4 steht. Er muss bewusst gemacht werden, denn wer „hart ist gegen
sich, der erkauft sich das Recht, hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich
für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durfte, die er verdrängen
musste.44 (96) Dem muss eine Erziehung zur Zartheit, zur Abscheu vor Gewalt
entgegenwirken, die das Zulassen von Angst ermöglicht, denn durch das be­
wusste Zulassen verlieren die vormals unbewussten und verschobenen Ängste
manches von ihrem zerstörerischen Effekt.
Die oben bereits angeführte Bestimmung von Mündigkeit als „in gewisser
Weise soviel wie Bewußtmachung, Rationalität44 (109) ist nicht in ihrer alltags­
sprachlichen Verengung auf formale Denkfähigkeit zu verstehen, sondern im
Sinne von Bewusstsein, von „Denken in Bezug auf Realität, auf Inhalt44 und da­
mit als Fähigkeit, Erfahrungen zu machen: Der „tiefere Sinn von Bewußtsein (...)
stimmt wörtlich mit der Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, überein. (...) Insofern
sind Erziehung zur Erfahrung und Erziehung zur Mündigkeit (...) miteinander
identisch.44(116)
Es ist der tiefste Defekt der Menschen, dass sie nicht mehr zur Erfahrung fä­
hig sind und stattdessen zwischen sich und das zu Erfahrende die Technik als ste­

160
reotype Schicht schieben. Der Ursprung dieser Nicht-Erfahrungsfahigkeit ist
„nicht einfach ein Fehlen von Funktionen oder von Möglichkeiten“, sondern ein
„Antagonismus zur Sphäre des Bewußtseins, (...) etwas wie Bildungsfeind­
schaft“: Die Menschen „möchten das Bewußtsein und die Last der primären Er­
fahrung abwerfen, weil sie es ihnen nur schwerer macht, sich zurechtzufinden.“
(114) Diese Bildungsfeindschaft äußert sich in einem Hass auf das Differenzierte
und nicht Getypte, da die Menschen entweder davon ausgeschlossen sind oder es
ihnen - so sie sich darauf einlassen - die Orientierung im Leben eher erschwert,
statt sie zu erleichtern. Erst die Herstellung einer gesteigerten Erfahrungsfahig-
keit jedoch ermöglicht es den Menschen, ein erhöhtes Reflexionsniveau zu errei­
chen und dadurch dem Druck der verwalteten Welt standzuhalten. Diese ästheti­
sche Dimension dient nicht nur dem ,Selbstzweck4 der Entwicklung aller Sub­
jektvermögen, sondern unterstützt das Bemühen des Einzelnen um eine gestei­
gerte Reflexion der eigenen Eingebundenheit in die gesellschaftlich geformten
Lebensumstände und ermöglicht somit erst ein selbstbestimmtes, mündiges Han­
deln. Um die zur Nicht-Erfahrungsfahigkeit führenden Deformationen abzubauen
und das Spontane und Kreative wieder zu wecken, sind die Rolle, welche die
Technik im Bewusstsein und Unterbewusstsein spielt und die „Verdrängungsme­
chanismen und Reaktionsbildungen, die in den Menschen selber ihre Erfahrungs­
fähigkeit verkrüppeln“ (115) kritisch bewusst zu machen. In Bezug auf die Me­
dien äußert sich diese kritische Grundhaltung in einer ,Erziehung des Madigma-
chens4, die der Jugend durch das gemeinsame Besuchen kommerzieller Filme,
durch die Analyse von Radiosendungen, Illustrierten und Schlagern bewusst
macht, „wie dabei mit ihnen unter Ausnutzung ihrer eigenen Triebbedürfnisse
Schlitten gefahren44 (146) und wie damit der herrschaftsstützende Selbstbetrug
organisiert wird.

III. Überlegungen zur Aktualität der Bestimmungsmomente einer ,Erziehung


zur Mündigkeit ‘nach Adorno

Die Aktualität der Adomoschen Forderung einer Erziehung zur Mündigkeit kann
an dieser Stelle nur exemplarisch an ausgewählten gesamtgesellschaftlichen Phä­
nomenen erörtert werden. Die Auswahl orientiert sich dabei vorrangig an der
Sphäre des (Waren)konsums der kapitalistischen Gesellschaft, da die hier syste­
matisch produzierte Unmündigkeit alle Gesellschaftsmitglieder betrifft und zu­
gleich selten bewusst wahrgenommen wird.
Die von Adorno vor 40 Jahren geforderte ,Erziehung zur Kritik4 ist ange­
sichts des überwältigenden Drucks des Bestehenden, der jedes Handeln zwingt,
sich vor dem ökonomischen Imperativ auszuweisen, hochaktuell. Der Konsum-

161
kapitalismus stellt immer neue, durch die eigene Diskurshoheit abgesicherte
Selbstverständlichkeiten auf, die tendenziell immer weniger hinterfragbar sind.
Die Monetarisierung aller Beziehungen schreitet voran, selbst Bezeichnungen
wie , Wohlstandsmüll45 schrecken nur kurz auf, erweisen sich aber auf lange Sicht
nicht als ,geschäftsschädigend4. Zwar hat Adornos , Kritik an der Staatsräson4
nichts an ihrer Bedeutsamkeit eingebüßt, auf ihre Aktualisierung soll an dieser
Stelle jedoch verzichtet werden zugunsten anderer, nicht minder wichtiger The­
menfelder, die weniger im Focus der öffentlichen Kritik stehen: So ist zum Bei­
spiel über den subtil unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der gesamtgesell­
schaftlichen Öffentlichkeit stattfmdenden Zugriff des Kapitals auf Bildung, ob
auf bildungspolitischer Ebene durch zuvorkommende Zuarbeit des Bertelsmann-
konzems6 oder durch direkte Kapitalisierungsprozesse in der Zusammenarbeit4
einzelner Schulen mit privaten Bildungsdienstleistern ebenso kritisch aufzuklä­
ren, wie über die Kontrolle des bildungspolitischen Diskurses durch wirtschaftli­
che und staatliche Vertreter jener neoliberalen Denkrichtung, die auf eine Mone­
tarisierung und marktgängige Reduktion von Bildung zu einer tauschförmigen
Ware hinwirken. Auch offenbarte PISA erneut die seit Jahrzehnten bekannte
Dominanz der sozialen Auslese durch das deutsche Schulsystem, die zuständigen
Personen und Institutionen zeigten sich erneut schockiert, um sich dann dem
,wichtigeren4 Problem zuzuwenden: Dem schlechten Abschneiden ,der Deut­
schen4 im internationalen Wettbewerb. Doch bleibt nicht nur die Diskussion über
Chancenungleichheit auf der Strecke, vielmehr wird diese durch die Reanimation
eines längst tot geglaubten naturalistischen Begabungsbegriffs - den Adorno vor
40 Jahren schon kritisierte - im bildungspolitischen Diskurs noch zu legitimieren
versucht.
Auch die Forderung einer ,Erziehung zum Widerstand4 hat nichts an ihrer
Dringlichkeit eingebüßt, sondern vielmehr noch an Bedeutung gewonnen. Allein
ihre Ansatzpunkte haben sich verändert: Sprach sich Adorno vor allem gegen den
,Muff aus 1000 Jahren4 an den Universitäten und im Verwaltungsstaat, gegen un­
erfüllte personengebundene und staatliche Autorität aus, so gilt es rund 40 Jahre
später, zugleich dem alles dominierenden, subtil den Menschen eingeflüsterten
kategorischen Imperativ: Du sollst (verkaufen! kritisch zu widerstehen. Die
Identifizierung mit dem Kapitalismus, der alle Dimensionen der menschlichen
Subjektvermögen erfasst, und so den spontanen Widerstand gegen seinen Zugriff
bricht, wird immer früher erreicht und damit auch immer totaler. Eine Schule, de­
ren Aufgabe die Legitimation dieses demokratischen Systems ist, dient sich - mit
der immer enger werdenden Verschlingung von Politik und Kapital - auch der
Legitimation des Kapitalismus an: Die Vermittlung einer Leistungsideologie, die
Schulversagen ungeachtet des ungleich verteilten kulturellen Startkapitals dem
Einzelnen als selbstverschuldet zuschreibt und so die nachwachsende Generation

162
darauf eicht, Ungerechtigkeiten und Widersprüche des Systems auf der indivi­
duellen Ebene aufzulösen, bildet hier den Kern. Die Grundsätze, nach denen der
Kapitalismus funktioniert, werden als unhinterfragbare Naturgesetze internali-
siert, ein Bearbeiten der Widersprüche wird nur mittels der immanenten Regeln
und nur innerhalb des Systems zugelassen.
Eine Erziehung, die sich die Förderung von Widerstandsfähigkeit als Ziel ge­
setzt hat, muss über solche Zusammenhänge aufklären, muss das Selbstverständ­
liche hinterfragen lehren und auch Erkenntnisse über die zugrunde liegenden
Marktmechanismen, die sich ständig entwickelnden und vermehrenden Struktu­
ren des kapitalistischen Verwertungsnetzes, über die Unterdrückungs- und Aus­
beutungszusammenhänge vermitteln. Eine solche Erziehung allerdings wäre af­
firmativ, bliebe sie bei der Erarbeitung alternativer Handlungsmöglichkeiten ste­
hen, die rasch den Inkorporationsmechanismen des Systems anheimfielen. So
werden die Bemühungen Jugendlicher, sich durch einen alternativen Lebens­
oder Kleidungsstil abzulösen, anders zu sein, in immer schneller werdenden
Rückholbewegungen von der ,Modebranche4 aufgegriffen und denselben Ge­
setzmäßigkeiten unterworfen, aus denen sie entfliehen wollten: Von nun an sind
sie als , Dresscodes4 der üblichen Vermarktung unterworfen, werden ein Teil der
freiwillig angelegten Uniform. Schon der Versuch, über Konsum ein Stück jener
Individualität zu verwirklichen, die der Einzelne in den Produktionsbedingungen
nicht mehr herstellen kann, ist kein Ausdruck eines individuellen Bedürfnisses,
sondern gesteuertes, kanalisiertes, von der Kulturindustrie anempfohlenes, oft­
mals schon vorgeformtes Verhaltensmuster. Der Mensch wird, nachdem er sich
im Produktionsprozess sich selbst entfremdet hat, ein zweites Mal vemutzt, um -
mit der Aussicht auf Individuierung geködert - die Nachfrage darzustellen, die
das System braucht.7 Der Einzelne ist Rad in der Maschine und Abnehmer des
Überflüssigen zugleich.
Wenn aber individuelle Ausbruchversuche zum Scheitern verurteilt sind, so
muß sich Widerstand immanent formieren. An den Gesetzen des totalen Tau­
sches ansetzend, gilt es, seine Logik zu durchschauen und diese subversiv gegen
ihn selbst zu richten. Mündigkeit bedeutet in diesem Kontext, den vermeintlich
schlechteren Tausch zu machen, sich selbst etwas abzuschneiden aus Einsicht in
die globalen Verwertungszusammenhänge: Indem der Einzelne dem gründlich
antrainierten, verinnerlichten Drang zum unablässigen Konsum widersteht, er­
obert er sich einen Teil seiner Autonomie. Wird der Mensch im Spätkapitalismus
vorrangig als Konsument (und alle vier Jahre als Wähler) angesprochen, so muss
er als Konsument antworten: Ein sich vor der eigenen kritischen Vernunft aus­
weisendes und in diesem Sinne mündiges Handeln ist hier vor allem über die
Verweigerung der kulturindustriell aufgezwungenen und in seiner Herrschaftlich-
keit die Entfremdung perpetuierenden Kaufentscheidung umzusetzen. Dieses

163
Widerstehen setzt das Bewusst-Sein der mannigfaltigen Verflechtungen von Ka­
pital und gesellschaftlich-politischen Institutionen sowie soziokulturellen Räu­
men voraus und ermöglicht zugleich erst die permanente Erweiterung dieses
Wissens. Diese ist besonders nötig, da sich der Zugriff des Kapitals ständig neue
Felder und Wege sucht: Galt gestern noch der ,Grüne Strom4 als teure, verant­
wortungsbewusste Entscheidung, so ist er heute (potenziell) als staatlich subven­
tioniertes Ausbeutungsinstrument überführt. Es gilt erneut zu hinterfragen, wer
wie viel Regenwald abholzt, um Anbaufläche für ,emeuerbare Energien4 zu
schaffen, wie viel Schiffsdiesel auf einem Kilogramm Bio-Äpfel aus Neuseeland
lastet, aber auch: Welche Unternehmen subventionieren ihre billigen Preise durch
unmenschliche Arbeitsbedingungen in Produktion, Vertrieb und Verkauf Ange­
sichts der mannigfachen Ausbeutungszusammenhänge und der unterschwelligen
Verschleierungen und Manipulationen ist die Entwicklung von Widerstands­
fähigkeit bei Kindern, Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen auf pädagogi­
sche Initiierungen angewiesen, die auf deren Wahrnehmung und Entschlüsselung
orientieren.
Adorno warnte vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung bis in
die 1960er Jahre eindringlich vor jedweder Einordnung des Einzelnen in Kollek­
tive. Die von ihm geforderte Individuierung war als Stärkung der Widerstands­
kraft gegen den Zwang der Kollektivierung, als Befreiung aus der Vemutzung
angelegt. Heute ist sie vor allem ein herrschaftlicher Mechanismus des Kapitals,
der die ständige Verfügbarkeit des Einzelnen sichert und Widerstand durch Ver­
einzelung unterbindet. Nach Beck wird Individualisierung

„als ein historisch spezifischer, widersprüchlicher Prozeß der Vergesellschaftung ge­


fasst: Individualisierung vollzieht sich unter den Bedingungen des wohlfahrtsstaatlich or­
ganisierten Arbeitsmarktes, ist in diesem Sinne also Produkt gesellschaftlicher Verhältnis­
se und führt ihrerseits hinein in einen bestimmten konfliktreichen Modus der Vergesell­
schaftung, nämlich in eine kollektiv individualisierte Existenzweise, die sich allerdings
der Kollektivität und Standardisierung ihrer Existenzweise nicht ohne weiteres bewußt
werden kann.44 (Beck 1983, S. 42)

Aus der Herauslösung der Individuen aus historischen Sozialformen und dem
Verlust an traditionellen Sicherheiten resultieren Abhängigkeiten von anonymen
Institutionen, wie den sozialen Sicherungssystemen, dem Arbeitsmarkt oder den
Bildungsinstitutionen. Diese ,Institutionalisierung4 hat zur Folge, dass die indivi­
duelle Existenz noch nie „so wenig individuell-autonom zu führen (war; J. Z.)
wie heute, wo die Individualisierung am weitesten fortgeschritten ist.44 (ebd.,
S. 55) Hinzu kommt, dass, wo früher gemeinsame Arbeitszusammenhänge Soli­
darität schufen, diese jetzt in Konkurrenz Umschlägen, da potenziell jeder durch
jeden ersetzbar ist und ,Kompetenzen4 ,zeitnah4 und bedarfsgerecht4 erworben

164
werden können und müssen (Stichwort: lebenslänglich4 Lernen). Wilhelm Heit-
meyer macht in dieser fehlenden Gruppensolidarität eine Ursache für fremden­
feindliche Orientierungen aus, da ,quasi-natürliche Ungleichheiten4 wie Rasse
und Hautfarbe neue Zugehörigkeit vermitteln, indem sie zeitlich konstante, kon­
krete Identifikationsmöglichkeiten bereitstellen. (1995, S. 63 ff.)
Die rücksichtslosen Kapitalisierungs- und Individualisierungsprozesse spitzen
sich zu, so dass es 40 Jahre nach Adornos Warnung vor Kollektiven heute im
Gegenteil gilt, der kollektiv individualisierten Existenzweise zum Bewusstsein ih­
rer selbst zu verhelfen, um durch eine tragende Kollektivität Mündiger (unter an­
derem in der Organisationsform kritischer Verbraucherverbände) der Vereinze­
lung entgegenzuwirken und dem Einzelnen, wie der Gesellschaft zu der nach wie
vor nur unterschwellig aufgehobenen Erkenntnis zu verhelfen, dass der Mensch
das Subjekt seiner eigenen Geschichte ist.8
Die von Adorno beschriebenen Widrigkeiten, gegen die eine , Erziehung der
Bewusstmachung4 der Mechanismen und Gräuel des Faschismus anzuarbeiten
hat, sind auch gegenwärtig noch dieselben: Eine Aufarbeitung der Vergangenheit
im Sinne der aktiven Bearbeitung, des kontinuierlichen Erinnems, des Bann-
Brechens „durch helles Bewußtsein44 (10) hat tatsächlich nicht stattgefunden,,j e ­
ne gesellschaftlich-politischen Dispositionen und Mentalitäten, die den Faschis­
mus in Deutschland möglich machten, sind nicht ohne weiteres verschwunden44
(Heitmeyer 1995, S. 215) und eine ,Schlussstrichmentalität4 ist nach wie vor -
auch außerhalb offen nationalsozialistisch orientierter Kreise - anzutreffen.9
Wilhelm Heitmeyer schließt aus seinen Forschungen, dass die Vermittlung des
historischen Faschismus die Jugendlichen deshalb immer weniger erreicht, weil
sie ihn als abgeschlossene Phase ohne eigenen Lebensbezug ad acta gelegt haben
und dringt auf eine Vermittlungsform, die auf Reueverlangen verzichtet, da dies
weitere Abwehrreaktionen hervorruft - wie schon in den Reaktionen auf die oft
weniger differenziert argumentierende 68er-Generation deutlich wurde. Zudem
muss die geschichtliche Situation in all ihren Facetten durchleuchtet werden, oh­
ne dass sie auf die Verbrechensperspektive reduziert wird, da von diesen extre­
men, unbegreiflichen Taten eine „umstandslos(e)44 (Heitmeyer 1988, S. 427) Di­
stanzierung möglich ist.
Die Fixierung der pädagogischen Aufklärung auf den historischen Faschis­
mus kann, ebenso wie die Ritualisierung der Vergangenheitsbewältigung in den
der Staatsräson verpflichteten Handlungen, auch als Ablenkungsmanöver von
aktuellen Formen des Faschismus und gegenwärtigen Rassismen missbraucht
werden - und vor allem „geht sie bereits an wesentlichen Ursachen, die in der
Grundstruktur dieser industriekapitalistischen Gesellschaft liegen, vorbei.44 (Ebd.)
Dies vorwegnehmend verwies Adorno auf das bis heute unabgeschlossene und
tendenziell unabschließbare Projekt der Aufklärung über die Verschiebungsmög-

165
lichkeiten des faschistischen Potentials. Diese Bewusstmachung bezieht sich in
ihrer aktuellen Form einerseits auf technoide Faschismuspotentiale (wie die v e r­
brauchende4 Embryonenforschung), die gerne als isolierte Auswüchse des techni­
schen Fortschritts dargestellt werden, und das Bewusstsein des Einzelnen mit
Versprechen der zukünftigen Teilhabe am angekündigten Fortschritt sedieren.
Andererseits zielt die Kritik auf die Bewusstmachung der unter der Oberfläche
des offiziellen Diskurses liegenden Vorformen des faschistischen Potentials, wie
latente Nationalismen, die Verdinglichung von Sinnlichkeit und Entmündigung
des Bewusstseins und der Sinne durch die massenmedial geformte und gelenkte
öffentliche Meinung. Zu diesen subtilen, äußerst wirksamen Mechanismen zählen
auch die LeistungsVerherrlichung und die unhinterfragte Vermittlung des Credos
,Der Stärkere (mit den besseren Noten) gewinnt4 in der Schule, da so die Pro­
duktionsbedingungen faschistoiden Denkens unterschwellig und ungefiltert an
die sich erst in der Gesellschaft verortenden Individuen weitergegeben werden.
Der Bewusstmachung dieser subtilen faschistoiden Potenziale ist heute die
höchste Bedeutung zuzumessen, da die Verdinglichung, Monetarisierung und
Instrumentalisierung aller Subjektvermögen und Beziehungen immer schneller
voranschreitet und zugleich „die Verblendung (...) tendenziell total44 (Schäfer
2004, S. 25) wird. Es gilt, die vom ökonomischen Imperativ diktierten neuen
Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen: Warum steigen Aktienkurse, wenn
Massenentlassungen angekündigt werden? Wo wird der Einzelne zum Mittäter an
der Versklavung durch seinen ,unumgänglichen‘ Konsum der unter menschen­
unwürdigen Produktionsbedingungen hergestellten Güter, oder schlichtweg durch
seine Steuerzahlungen, mit denen er - unter anderem durch die Subventions- und
Außenhandelspolitik der EU10 - die politisch organisierte Unterdrückung von
Menschen unterstützt?
Durch die Globalisierung des Kapitalismus werden jeden Moment neue Un­
übersichtlichkeiten und Verflechtungen geschaffen, über die der Einzelne sich
mittels der „schmerzliche(n) Anstrengung der Erkenntnis44 (22) bewusst werden
muss, so er denn in der bestehenden komplexen Anordnung der Gesellschaft
mündig handeln will. In den Bereich dieses gesellschaftlichen Skandals gehören:
Der ,ganz normale4 Wirtschaftsimperialismus, der es der ,Westlichen Welt4 er­
möglicht, „auf Kosten des Menschen zum Menschen44 (Heydom, 1995 S. 314) zu
werden, indem Kleidung, Computer und Kaffee, die in Marokko gepulten Nord­
seekrabben und so Vieles mehr nicht nur bei den ,Discounten!4 so wundersam
billig eingekauft werden können, aber auch die billige deutsche Milch und das
Fleisch, das - durch unendlich viel tierisches Leid subventioniert - unter dem
Gemüsepreis feilgeboten wird. Diese - im wahrsten Sinne des Wortes - alltägli­
chen Zusammenhänge der Unterdrückung und Ausbeutung gilt es gegen die
„überwältigendeQ Kraft des Bestehenden44, die jegliche Veränderungsversuche

166
„zur Ohnmacht verurteilt“ (147) täglich neu bewusst zu machen und in einem
Prozess, der Vernunft und emotionale Wahrnehmung zusammenfuhrt, der diesen
Zusammenhängen zugrunde liegenden Kälte und Härte zum Bewußtsein ihrer
selbst zu verhelfen, um den Weg zur Mündigkeit zu ebnen.
Die von Adorno im Zusammenhang mit einer ,Erziehung zur Erfahrung4 auf­
gezeigten Tendenzen der Fetischisierung der Technik, der Entmündigung der
Sinne durch die Kulturindustrie und des ,mundus vult decipi4 haben ein Maß er­
reicht, das weder im „Prolog zum Fernsehen44, noch in dem „Resümee über Kul­
turindustrie44 erahnt wurde: Die zum Selbstzweck erhobene Technik ist omniprä­
sent, ob in PKW, deren exorbitanter Verbrauch der Vernunft Hohn spricht, oder
in digitalen Kleinkameras, die mit 12 Megapixel ausgestattet werden, obwohl die
beste Auflösung bei 6 Megapixel erreicht wird, weil der wohldressierte Kunde
sich kein anderes Gütekriterium jenseits des ,Höher-Schneller-Weiter4 mehr vor­
stellen kann.11 Die Kulturindustrie schafft dazu passend die perfekte Formung
der Bedürfnisse. Ihr von den fantastischen Vier4 persifliertes Credo „Du kannst
haben, was du willst, aber nicht wollen, was du willst!4412 fasst die bewusstlose
Unfreiheit in dem grenzenlos freien Markt zusammen. Die Entfremdung durch
den normierten und normierenden Konsum, der das ewig Gleiche als stetig Neues
verkauft, reicht - vermittelt durch die Medien- & Freizeitindustrie als neue
Agenturen sozialer Kontrolle - bis tief in die soziokulturellen Milieus hinein und
erstickt frühzeitig die ästhetische Entwicklung der Subjektvermögen. Diesem per­
fekt durchorganisierten und fein verwobenen Netzwerk gilt es so früh als möglich
eine Erziehung zur Erfahrung entgegenzusetzen, die Raum für spontane ästheti­
sche Erfahrungen schafft und die unterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufen­
den Mechanismen aufzeigt, um sie der Bearbeitung preiszugeben und die vorbe­
wussten Instanzen über eine nachholende Bewusstmachung zu stärken.
Auch die Vereinnahmung schon der kindlichen Subj ektvermögen durch die
Kulturindustrie und der immer frühere Zugriff des ,Bildungssystems4 auf das
Humankapital (Fremdsprachen im Kindergarten! Früh- und Frühestforderung!)
nimmt - von der Gesellschaft unbemerkt oder unreflektiert - eher zu als ab. Hier
hat eine Erziehung der Bewusstmachung und die Schulung der Erfahrungsfähig­
keit die Mechanismen der Vereinnahmung und die daraus folgenden Deformie­
rungen von Subj ektvermögen aufzuzeigen - ein nachhaltiges Gegensteuem je ­
doch kommt nicht ohne die Unterstützung einer Gesellschaftspolitik aus, die
systematisch Freiräume schafft, in denen das „Moment des Unwillkürlichen44
(112) in der ästhetischen Erfahrung sich ereignen kann.
Die ,Erziehung zur Mündigkeit4 weist zahlreiche unabgegoltene Momente
auf, deren kritische Bearbeitung in vielen Bereichen noch aussteht. Mündigkeit
ist nach wie vor überall erst herzustellen, die „Erziehung zur Unmündigkeit44
(138) herrscht weiterhin vor, weshalb die emanzipatorischen Elemente von 1968,

167
bar jeder geschichtlichen Obsoletheit, in der Erziehung zu intensivieren sind.
Was in den Gesprächen zwischen Adorno und Becker festgestellt wurde: Dass
der Appell zur Mündigkeit als Verschleierung des Unmündiggehaltenwerdens
missbraucht werden kann, manifestiert sich heute in der Aushöhlung des Begrif­
fes, der unter mündigem Handeln vor allem die kompetente Selbstvermarktung
auf dem Arbeitsmarkt13 (Mündigkeit als neue ,softskill‘) und das schlaue Ma­
növrieren durch die Welt der Konsumgüter meint. Doch auch in dieser unablässig
wiederholten leeren Proklamation von Mündigkeit liegt ein emanzipativer Ge­
halt, da die Aufforderung zur Mündigkeit beim Wort genommen und die markt­
wirtschaftliche Vemutzung des Mündigkeitsbegriffs ideologiekritisch offengelegt
werden kann. Eine Erziehung zur Mündigkeit, die sich heute auch als Erziehung
zum kritischen Antikapitalismus verstehen muss, kann die Mechanismen und Re­
geln des Marktes, die der Einzelne bewusstlos an sich selbst vollzieht, bewusst
machen. So lässt sich der zur Entfremdung führende Konsumzwang in eine
selbstbestimmte, bewusste Entsagung überfuhren, um - hier Adorno widerspre­
chend - Glücksmöglichkeiten jenseits des Konsumzwangs, ein Stück ,besseres
Leben im falschen4, oder zumindest die konkrete Unmöglichkeit dieser Option
aufzuzeigen. Denn da alle Veränderungsversuche „zur Ohnmacht verurteilt er­
scheinen“, kann, wer „ändern will, (...) es wahrscheinlich überhaupt nur, indem er
(...) seine eigene Ohnmacht zu einem Moment dessen macht, was er denkt und
vielleicht auch was er tut.“ (147) Mündiges Handeln bedeutet also permanente
Selbstkontrolle in dem Bestreben, nicht hinter das erreichte Bewusstsein zurück­
zufallen und widerständige Zurückweisung der verinnerlichten Aufforderung zum
Konsum, eine Zurückweisung allerdings, die in der Perspektive einer selbstbe­
stimmten gesellschaftlichen Praxis vollzogen wird.

Anmerkungen

1 Siehe den Beitrag von Armin Kremer in diesem Band.


2 Sofern in Folge nur Seitenzahlen als Zitatbelege verwendet werden, beziehen diese
sich auf: Adorno, T. W.: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/Main 1971
3 Johannes Agnoli deutet Adornos späteren Ruf nach polizeilich herzustellender Ord­
nung als Verlust der praktischen Qualität der Adomoschen Kritik, als Aufgabe des
Anspruchs, die Wirklichkeit zu verändern: Der „Adomismus (...) wurde zu einem Be­
standteil der Gesellschaft, aus der er ausbrechen wollte.“ (1969, S. 199)
4 Siehe den Beitrag von Armin Bernhard in diesem Band.
5 So der Verwaltungsratspräsident der Firma Nestle, Helmut Maucher 1996: „Wir ha­
ben (...) einen gewissen Prozentsatz an Wohlstandsmüll in unserer Gesellschaft. Leu­
te, die entweder keinen Antrieb haben, halb krank oder müde sind, die das System
einfach ausnutzen.“ Mauchers spätere Abschwächung, er habe nur ,plastisch4 formu­
liert und die Interviewäußerung sei in einer angespannten Atmosphäre zustande ge-

168
kommen, überfuhrte der .Spiegel4 als eine Schutzbehauptung: Der Interviewtext hatte
Maucher vor seiner Veröffentlichung Vorgelegen.
6 Hierzu weiterfuhrend: Thomas Barth 2006
7 Weiter hierzu: Werner Sesink 1996, S. 41 ff.
8 Diese Überlegungen zu einer neuen Bedeutsamkeit von Gemeinschaft können im
Rahmen dieses Artikels nur angeschnitten werden. Zu einer Reformulierung des Ge­
meinschaftskonzeptes siehe: Sven Kluge 2008
9 Siehe: Klaus Ahlheim/Bardo Heger 2007a; 2007b
10 Hierzu ausführlich: Michaela Schießl 2007
11 Helmut Martin-Jung 2007
12 Aus dem Liedtext ,Konsum4 der fantastischen Vier’. Aber auch sie verkaufen ihre
Lieder: Das kapitalistische Tauschsystem inkorporiert die Kritik und ,lebt4 davon.
13 Weiterfuhrend: Werner Sesink 1995, S. 159 f.

Literatur

Adorno, Theodor W.: Prolog zum Fernsehen, in: Adorno, Theodor W.: Eingriffe: Neun
kritische Modelle, Frankfurt/Main 1963, S. 69-80
Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut
Becker 1959-1969. Herausgegeben von Gerd Kadelbach, Frankfurt/Main 1971
Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt/Main 1970
Adorno, Theodor W.: Resümee über Kulturindustrie, in: Adorno, Theodor W.: Kulturkri­
tik und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1977, S. 337-345
Agnoli, Johannes: Die Schnelligkeit des realen Prozesses. Vorläufige Skizze eines Ver­
suchs über Adornos historisches Ende, in: Schoeller, Wilfried F.(Hrsg.): Die neue
Linke nach Adorno, München 1969, S. 193-202
Ahlheim, Klaus/Heger, Bardo: Deutsche Vergangenheit und Antisemitismus, in: Ahlheim,
Klaus. (Hrsg.): Die Gewalt des Vorurteils, Schwalbach 2007a, S. 183-193
Ahlheim, Klaus/Heger, Bardo: Der unbequeme Fremde, in: Ahlheim, Klaus. (Hrsg.): Die
Gewalt des Vorurteils, Schwalbach 2007b, S. 241-264
Barth, Thomas: Bertelsmann: Ein globales Medienimperium macht Politik, Hamburg
2006
Beck, Ulrich: Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche
Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer Formationen und Identitäten,
in: Kreckel, R. (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 35-74
Frenkel-Brunswik, Else: Studien zur autoritären Persönlichkeit, Graz u.a., 1996
Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930
Heitmeyer, Wilhelm: Aufklärung und Faschismuspotential. Gibt es eine zeitgemäße anti­
faschistische Erziehung?, in: Neue Sammlung, Jg. 28, 1988/3, S. 419-432
Heitmeyer, Wilhelm: Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen: empirische
Ergebnisse und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen Sozialisation,
Weinheim u. a. 1995 (5. Aufl.)
Heydorn, Heinz-Joachim: Werke Band 3: Bildungstheoretische und pädagogischer
Schriften. Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, Vaduz 1995
Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders.: Werke, Berlin
1968, Band 8: Abhandlungen nach 1781, S. 33-42

169
Kluge, Sven: Vermisste Heimat?: Zum emanzipativ-repressiven Doppelcharakter der Ge­
meinschaftsthematik innerhalb der modernen Pädagogik, Berlin 2008
Martin-Jung, Helmut: Die Pixel-Lüge, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.09.2007
Maucher, Helmut zit. nach: ,Der Spiegel4Nr. 11/1998, S. 112
Schäfer, Alfred: Theodor W. Adorno. Ein pädagogisches Porträt, Weinheim u. a. 2004
Schießl, Michaela: Not für die Welt, in: Spiegel Special Geschichte Nr. 2/2007, S. 112-
117
Sesink, Werner: Vom Wert der Mündigkeit, in: Peter Euler, Ludwig A. Pongratz (Hrsg.):
Kritische Bildungstheorie: zur Aktualität Heinz-Joachim Heydorns, Weinheim 1995,
S. 151-168
Sesink, Werner*. Aus der Sieht dialektischer Bildungstheorie: Perspektiven auf das Projekt
„Erziehung zur bürgerlichen Mündigkeit44, in: Andreas Gruschka (Hrsg.): Wozu Päd­
agogik? Die Zukunft bürgerlicher Mündigkeit und öffentlicher Erziehung, Darmstadt
1996, S. 36-54

170

Das könnte Ihnen auch gefallen