Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Femmes Fatales
Ein Ellie Haskell-Krimi
Aus dem Amerikanischen von Brigitta Merschmann
Zum Buch
Einstmals war das Leben Ellie Haskells wie ein Märchen: wie
das Märchen von der übergewichtigen, unterbezahlten
Innenarchitektin, die sich leidenschaftlich in einen
wunderbaren Prinzen verliebt, zwei wunderschöne Kinder
bekommt und glücklich mit ihnen lebt bis ans Ende ihrer Tage.
Doch schon viereinhalb Monate nach der Geburt ihrer
Zwillinge hat sich die Prinzessin in einen Frosch verwandelt,
und die Glückseligkeit ist aus dem ehelichen Schlafzimmer
ausgezogen. Kann nun eine Organisation mit dem Namen
»Fully Female« Ellies Kummer besänftigen?
Wird ein Kursus in der Kunst der Sinnlichkeit wirklich den
Zauber wiederbringen, der sie mit dem angebeteten Bentley
verband? Ellie ist voller Zweifel. Erst als ihre treue
Reinigungskraft, Mrs. Malloy, selbstmordgefährdet und
liebeskrank, bedrohlich mit einer Pistole herumfuchtelt, sieht
sie ein, daß das Schicksal sie beide zu »Fully Female« ruft.
Doch als Mrs. Malloy sich plötzlich in einen sexbesessenen
Zombie verwandelt und eine Möchtegern-Sirene in einem
elektrisch überschäumenden Bad ihr tragisches Ende findet,
keimt in Ellie der Verdacht, daß das Ziel von »Fully Female«,
nämlich die Verwandlung in »Die Frau, die er sich schon
immer gewünscht hat«, nicht gerade ohne Gefahren ist…
»Ein charmanter und witziger moderner englischer Krimi…«
Publishers Weekly
Die Autorin:
Dorothy Cannell wurde in Nottingham, England, geboren und
lebt heute mit ihrer Familie in Illinois, USA. Ihre Krimis »Die
dünne Frau«, »Der Witwenklub« und »Seltsame Gelüste«
(ECON Taschenbuch Verlag, TB 25030) wurden zu geheimen
Bestsellern in der Frauenkrimiszene. Ein weiterer
Kriminalroman aus dem Leben der Ellie Haskell ist in
Vorbereitung.
Deutsche Erstausgabe
4. Auflage 1996
© 1995 by ECON Taschenbuch Verlag GmbH, Düsseldorf
© 1992 by Dorothy Cannell
First published in the United States of America by Bantam Books
Titel des amerikanischen Originals: Femmes Fatal
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitta Merschmann
Umschlaggestaltung: Molesch/Niedertubbesing, Bielefeld
Illustration: Reiner Tintel
Lektorat: Andrea Krug
Gesetzt aus der Baskerville
Satz: Formsatz GmbH, Diepholz
Druck und Bindearbeiten: Ebner Ulm
Printed in Germany
ISBN 3-612-25031-0
Für Meg Ruley, meine Freundin, Agentin und Komplizin
Er war ein dunkler, stürmischer Ritter. Ein moderner
Lebemann mit Augen in der Farbe von Smaragden, so kostbar
wie der Kronschatz einer Königin. Sein Lächeln verhieß Flüge
zum Mond. Und der Himmel allein wußte, wie viele weibliche
Wesen er in seinem Kielwasser zurückgelassen hatte.
Zu einem Crescendo von Rachmaninoff rauschte er eines
Januarabends in meine Londoner Wohnung und eroberte mit
seiner hochmütigen Begrüßung auf ewig mein jungfräuliches
Herz.
»Miss Ellie Simons? Mein Wagen erwartet uns. Leisten wir
uns ein Abendessen oder einen Strafzettel?« Es machte nichts,
daß er keine ehrenhaften oder auch anderen Absichten hatte,
mein Leben als übergewichtige, unterbezahlte Innenarchitektin
würde nie wieder dasselbe sein. Dieser Mann bestand nicht nur
aus einem attraktiven Gesicht. Er konnte mehr, als süffisant die
dunklen Brauen hochziehen. Er konnte kochen. Und nicht bloß
gebackene Bohnen auf Toast. Bentley T. Haskell war ein Koch
erster Klasse.
In der großen Tradition des Groschenromans wandelte sich
unsere heftige Abneigung in unziemlicher Hast zu glühender
Zuneigung. Meine ersten beiden Jahre als Mrs. Haskell waren
eine stürmische Seefahrt mit dem Auf und Ab reißender
Stromschnellen. Unser Liebesspiel ließ so viele Sicherungen
durchbrennen, daß eines Abends alle Lichter ausgingen.
Unsere Krache waren herrlich. Die Versöhnungen göttlich.
Was kann eine Frau sich noch wünschen?
An einem strahlenden Aprilmorgen erwachte ich in meinem
Schlafzimmer auf Merlin’s Court mit der wehmütigen
Erkenntnis, daß die Flitterwochen vorüber waren. Ellie Haskell
war keine heißblütige, den Seiten eines romantisch-erotischen
Romans entsprungene Sirene. Ich war eine einunddreißig Jahre
alte Matrone, die fast ebensoviel wog wie viereinhalb Monate
zuvor, als die Zwillinge, Tochter Abbey und Sohn Tarn, zur
Welt kamen. Schlimmer noch, meine Ehe war flau geworden.
Seinerzeit hatte schon der Anblick genügt, wie Ben seine
Socken anzog, damit das Feuer der Leidenschaft mein
Nachthemd in Brand setzte. Doch jetzt hatten nächtliche
Imbisse und Schwangerschaftsstreifen, die trotz Anwendung
von Mutterschaft-ohne-Folgen-Creme einfach nicht
verschwinden wollten, ihren Tribut gefordert.
»Guten Morgen, Liebes.« Ben stand am Fußende unseres
Himmelbetts, in einem schwarzen Seidenmorgenmantel, der
wahre Wunder für seinen Teint wirkte. Er warf eine Münze in
die Luft und fing sie auf seinem Handrücken. »Kopf, du kochst
heute abend das Essen. Denk dran, heute bin ich zu Hause. Wir
haben die Versammlung des Heim-und-Herd-Vereins im
Pfarrhaus. Und ich bin Programmleiter des Komitees für
Ganztagsväter.« Ein bedauernder Blick auf die Münze. »Du
hast verloren, meine Liebe.«
Was war aus dem Mann geworden, der mich einst nicht einmal
einen Streifen Speck in die Pfanne werfen ließ, weil ich mir die
Hände schmutzig machen könnte? Von der äußeren
Erscheinung war er nach wie vor absolut hinreißend. Das
schwarze Haar war zerwühlt, ein Lächeln lag in diesen
Juwelenaugen, und daß er eine Rasur brauchte, verlieh ihm
einen Hauch von Raubrittertum. Niemand wäre auf die Idee
gekommen, daß er bis Mitternacht im Abigail’s, seinem
Restaurant im Dorf, gearbeitet hatte.
»Der Ganztagsväter?« fragte ich.
»Ellie, gemeint ist hier eine innere Einstellung.« Wieder warf
Ben die Münze in die Luft, diesmal fing er sie in seiner Tasche
auf. »Die Vaterschaft ist meine Beschäftigung Nummer eins.
Meine Arbeit tue ich« – er grinste –, »um aus dem Haus zu
entkommen, wenn die Windeln gewaschen werden müssen.«
Ich setzte ein Lächeln auf, warf die Bettdecke zurück und stand
auf, um dem Tag ins Auge zu blicken. Bisher war noch kein
Weckruf aus dem Kinderzimmer gekommen. Die Sonne fuhr
anklagend mit den Fingern über den Staubschleier auf den
Mahagonimöbeln. Und doch war und blieb es ein prächtiger
Raum, sein kupferner Kamin hatte den satten Glanz von
Harvey’s Bristol Cream. Merlin’s Court – es war mir so teuer
wie an dem Tag, als ich zum erstenmal hierhergekommen war,
als pummeliges Kind mit einem Komplex so unabänderlich wie
die Gesetzestafeln vom Berg Sinai. Die gute alte Zeit, als ich
noch keinen Finger krumm machen mußte, außer um nach Tee
zu läuten.
»Ist irgendwas, Ellie?«
»Ich träume nur.« Ich wirbelte zu ihm herum, das heißt, soweit
Flanell wirbeln kann.
Ein hoffnungsvolles Funkeln trat in seine Augen. Es war Tage
her, Wochen, seit wir… na ja, Sie wissen schon…
»Tut mir leid, Liebes, morgens geht nichts mehr. Ich muß die
Babys wecken, baden und füttern, bevor ich eine Pause mache
und die Waschmaschine repariere.«
»Nicht nötig, ich habe den Klempner angerufen.« Typisch
Mann, er machte es durch seine Hilfsbereitschaft nur
komplizierter.
»Danke. Dann wird Mr. Fixit also den ganzen Morgen meine
Küche auf den Kopf stellen.«
»Du brauchst dem Mann nichts vorzusetzen. Eine Tasse Tee
höchstens. Aber auf keinen Fall Kuchen. Heutzutage erfüllt
Kuchen den Tatbestand sexueller Belästigung.«
»Welch ein Segen.«
»Entschuldige, wenn ich jetzt zur Arbeit düse.«
Wir musterten einander, Ben die Hände tief in den schwarzen
Seidentaschen vergraben, ich in tiefe Trübsal versunken. War
das aus dem Menuett unserer Liebe geworden? Daß wir auf
Zehenspitzen um die Gefühle des anderen herumschlichen? Er
ging zur Tür, seine Hand lag schon auf dem Messingknauf.
»Der Kaffee ist fertig, und die Babys…«
»Ich weiß.« Vor einer halben Stunde hatte ich ihn hineingehen
hören, um Abbey und Tarn die Windeln zu wechseln. Alles in
allem hatte er etwas Besseres verdient als ein Liebesleben, das
von Delikatessen zu Tiefkühlkost verkommen war.
»Wie wär’s heute abend mit einem Tiefkühlgericht, Liebes?«
fragte ich, aber er war bereits im Bad verschwunden.
Zeit für die Schloßherrin, auf Trab zu kommen. Die
Mutterschaft hatte mich gelehrt, daß eine gesparte Minute eine
gewonnene Minute ist. Als ich den Kleiderschrank aufstieß, um
meinen Morgenmantel vom Haken zu nehmen, wich ich vor
dem Spiegel an der Tür zurück und wehrte mit erhobenen
Händen die böse Vision ab, wie ein Vampir, der von der Sonne
geblendet wird. Die Glücklichen!
Schatten kein Spiegelbild. War diese flanellgesichtige,
flanellgekleidete Frau wirklich ich? Hatten Jugend und
Schönheit ohne einen Blick zurück das Weite gesucht?
Mein armes Haar, das heißt, was davon noch übrig war! Ich
konnte ein Sofa mit dem füllen, was seit der Geburt der
Zwillinge in meiner Bürste hängengeblieben war. Ich flocht die
verbliebenen kümmerlichen Strähnen zu einem Zopf und
musterte wehmütig die Ringe unter meinen Augen. Mit
zitterndem Mund rief ich mir in Erinnerung, daß es
Schlimmeres gibt – knubbelige Knie zum Beispiel – und
beging dann den Fehler, nach hinten zu sehen. Die Lage war
verzweifelt. Höchste Zeit, mit meiner Diät Ernst zu machen.
Keine Mahlzeiten zwischen den Mahlzeiten, keine Ausflüchte
mehr. Wie konnte ich heute abend beim Heim-und-Herd
Verein dem gutaussehenden Reverend Rowland Foxworth mit
einer solchen Nase gegenübertreten? Der Spiegel zog mich mit
einer solch hypnotischen Kraft zu sich zurück, als sei er der
Spiegel von Schneewittchens Stiefmama.
»Ellie…« Bens Spiegelbild tauchte hinter mir auf, so attraktiv
wie eh und je in Manschettenhemd und gebügelter Hose.
»O Gott! Meine Nase. Sie zeigt so weit nach links, daß ich nie
mehr etwas anderes als Rot tragen sollte.«
»Mein bezauberndes Dummerchen!«
Na großartig, jetzt hatte ich auch schon keinen Verstand mehr.
Ben spähte an mir vorbei und zeigte sich im Spiegel die Zähne.
Aus Sorge, vermute ich, daß sie nicht die perfekte
Entsprechung zu seinem ultraweißen Hemd waren. Falscher
Alarm natürlich.
Seine Lippen drückten jetzt so etwas wie einen Kuß auf meine.
Aber keiner von uns war mit dem Herzen dabei. Geistig war er
bereits im Abigail’s und heckte ein Currygericht aus, das sich
als das Heilmittel gegen gewöhnliche Erkältung entpuppen
würde. Ich hing bitteren Träumereien nach. Mist, das Leben ist
eine sexistische Einrichtung. Die Schwangerschaft hatte auf
Ben nicht die gleiche ruinöse Wirkung gehabt wie auf mich.
Wenn überhaupt, hatten seine männlichen Reize noch
zugenommen. Seine Schultern waren breiter, und ich hätte
schwören können, daß er ein paar Zentimeter größer geworden
war. Vorsicht, warnte mich eine innere Stimme, so sicher wie
das Gewinnlos in der Tombola immer verlorengeht, so sicher
wirst du Ben verlieren.
Eines Morgens würde ich beim Aufwachen einen Zettel auf
dem Kaminsims im Schlafzimmer entdecken, auf dem er mir
mitteilte, daß er nach Hause zu Mutter zurückgekehrt war. Die
darauffolgenden vierzig Jahre würde ich damit zubringen, ihm
seine Post nachzusenden und den Zwillingen zu erklären,
weshalb ich ihren Vater aus dem Nest gestoßen hatte. »Daddy
war erwachsen geworden, meine Schätzchen, er war zu groß,
um weiter zu Hause zu wohnen.«
Großer Gott, ich mußte etwas unternehmen! Vielleicht, wenn
ich immerzu glühendheiß duschte… Mit diesen
mitleiderregenden Überlegungen war Schluß, als ich mich
umdrehte und sah, daß Ben verschwunden war. Seine Schritte
hallten mit schrecklicher Endgültigkeit auf der Treppe wider.
Bevor die Haustür zuschlug, wehten einige gedämpfte Worte
zu mir herauf.
»Viel Spaß, mein Gemahl.« Wie dumm von mir! Hatte ich
denn angenommen, meine Worte würden ihm zum Auto
folgen? Wäre ich eine Ehefrau, die diesen Namen verdiente,
dann würde ich hinter Ben herlaufen und im Hof stehen, ein
Meer gotischer Fenster im Hintergrund. Der Wind würde mein
Nachthemd um meine Knöchel kräuseln und Fangen mit
meinen Haaren spielen, meine Augen hätten die Färbe der See
an einem regengepeitschten Tag, und diese Erinnerung würde
er mit sich nehmen. Ein süßes Geheimnis, eine Rose, zwischen
die Blätter eines Buchs gepreßt. Eine Ehe besteht aus
Erinnerungen.
Vielleicht war ich doch noch nicht tot vom Gehirn abwärts,
allerdings sollte ich das jetzt nicht herausfinden. Als ich aus
dem Zimmer sauste, war das die Reaktion auf einen Schrei aus
dem Kinderzimmer.
»Schon unterwegs, meine Lieblinge!« Erstaunlich, daß noch
keine Abgesandte vom Kinderschutzbund an die Tür gepocht
hatte. Niemals würde ich mich davon überzeugen lassen, daß
die Babys schrien, weil sie hungrig waren oder nasse Höschen
hatten. Fast blieb ich mit dem Fuß in meinem Flanellsaum
hängen, als ich mit einem flauen Gefühl im Magen das
Kinderzimmer betrat. Wie üblich rechnete ich damit, einen
Maskierten vorzufinden, der sich einen prallen Sack über die
Schulter geworfen hatte – eine moderne Version von Mr.
McGregor, dieses schrecklichen Mannes, der sich mit Peter
Rabbits Papa davonmacht. Lernt eine Mutter jemals, sich
sicher zu fühlen, wenn es um ihre Sprößlinge geht? Würde ich
mir Sorgen machen, daß Abbey und Tarn einer schlechten Welt
ausgeliefert waren, wenn sie sechzig waren? Würde ich sie
jemals allein nach unten gehen lassen, geschweige denn nach
draußen?
Beim Anblick ihrer sabbernden, süßen Gesichter, die sich
gegen die Stäbe ihrer Kinderbettchen drückten, hüpfte mir das
Herz im Leibe. Abbeys Bettchen stand auf der Tagseite des
Zimmers, unter einer himmelblauen Decke, die mit einer
Smiley-Sonne und Wolken mit Lämmergesichtern bemalt war.
Tarn bewohnte die Nachtseite, wo die Kuh, die ein Halsband
aus Butterblumen trug, über den Mond sprang. Ach, hätte ich
doch Arme, lang genug, um meine beiden Babys auf einmal
hochzunehmen! Was soll eine Mutter tun? Tams Quietschen
wetteiferte mit den Sprungfedern von Abbeys Bett, als sie
Liegestützen machte. »Gentlemen first heute.« Ich mied den
Blick meiner Tochter und ging an der Fensternische vorbei, in
der die Spielzeugkiste in Form einer Holzpantine stand, die
Jonas gezimmert hatte. Da – ich habe seinen Namen erwähnt.
Jonas, der auf Merlin’s Court auf den Titel »Gärtner« hört, war
in der vergangenen Woche mit Dorcas, unserer ehemaligen
Haushälterin, getürmt. Es handelte sich keineswegs um einen
Ausflug nach Gretna Green, da Jonas über siebzig ist und
Dorcas den Männern abgeschworen hat. Angeblich halfen sie
einer Freundin von Dorcas aus, die mit einem schlimmen
Rücken im Bett lag – oder wohl eher mit einem guten Buch.
Dorcas vermochte ich ja noch zu glauben, sie ist ein Genie
darin, die Kissen eines Krankenlagers zurechtzuklopfen und dir
ein Thermometer in den Mund zu stopfen – oder wohin es sich
sonst gerade anbietet. Aber Jonas? Ich hatte ihm die Geschichte
nicht abgekauft, daß er sich genötigt fühlte, mit seiner
Heugabel in Mrs. Sowiesos Garten herumzustochern. Ich hatte
seinen verstohlenen Blick gesehen und ihn eine Schockminute
lang tatsächlich verdächtigt, von zu Hause auszureißen. Er
erzählte mir ein Lügenmärchen über Mrs. Pickle, die Putzfrau
des Pfarrers, die es angeblich auf ihn abgesehen hatte.
Lächerlich! Aberweichen Grund gab es sonst? Jonas lebte wie
Gott in Frankreich hier auf Merlin’s Court. Ich verhätschelte
ihn zusammen mit den Zwillingen und nutzte nie seine
Zuneigung zu ihnen aus. Wenn er sich erbot, sie nach ihrem
Nickerchen herunterzuholen, sagte ich, er solle sitzen bleiben
und sein Ovomaltine trinken. Wenn er sich erbot, sie im
Kinderwagen spazieren zu fahren, ging ich mit, um darauf zu
achten, daß er bergauf nicht aus der Puste kam. Jonas muß
ewig leben, denn die Vorstellung von Merlin’s Court ohne ihn
ist unerträglich.
»Stimmt’s, Tarn, mein Liebling?«
Mein kluger Junge war fast schon in meinen Armen, bevor ich
ihn hoch nahm; sein Griff nach meiner Nase erklärte, warum
sie schief saß.
»Ich gebe dir statt dessen einen Finger.«
Er packte den Finger, den ich hochhielt, und krähte vor
Vergnügen. Ich drückte ihn fest an mich und ging hinüber, um
Abbey zu holen. Sie wanden sich wie die Robben, und sie
wurden langsam auch zu groß, als daß ich sie beide auf einmal
halten konnte, doch als ich ihren milchig-frischen Geruch
einatmete, sagte ich mir, daß ich die schlechteste Frau auf
Erden war.
Dein Leben ist ein Märchen, Mrs. Haskell, du undankbare
Hexe. Du lebst auf einem Schloß, geradewegs dem Reich der
Gebrüder Grimm entsprungen. Und wenn du dir auch
manchmal vorkommst wie die Prinzessin, die sich in einen
Frosch verwandelte – na und? Ein bißchen vernünftige
Gymnastik, ein neues Shampoo, streich alles Eßbare aus deiner
Diät, und du fühlst dich wieder ganz als Frau – Fully Female.
Wo hatte ich diesen Spruch noch mal gehört? Vermutlich eine
Reklame für eine Spülung.
Die Zwillinge, die an meinen Ohren rissen, antworteten mit
Glucksern, die ihnen gegenseitig völlig verständlich waren.
Gelegentlich kam ich mir doch vor wie das fünfte Rad am
Wagen. Mal abgesehen von mütterlichem Stolz, sie waren
hinreißend mit ihren immergrün-blauen Augen und dem
rotgoldenen Haar, das gerade anfing, sich von Flaum in
richtigen Flachs zu verwandeln. Keines der beiden Babys sah
mir oder Ben besonders ähnlich. Aber ich hatte keine Angst,
daß man sie mir untergeschoben hatte.
Sie waren hier in diesem Haus zur Welt gekommen, an einem
verschneiten Abend, an dem weder Mensch noch Tier draußen
etwas verloren hatte. Ben war eine große Stütze gewesen, er
hatte mich erinnert, wann es Zeit für die nächste Wehe war.
Der Himmel verhüte, daß wir eine ausließen.
Apropos Daddy, er war jetzt bestimmt schon im Abigail’s und
inmitten der Edelstahltöpfe und Kupferkasserollen viel zu
beschäftigt, um noch der Erinnerung an meine sträfliche
Gleichgültigkeit nachzuhängen. Von Scham überwältigt und in
Atemnot, weil meine Kleinen mich würgten, ließ ich mich auf
dem Fenstersitz nieder und begann mit unserer heutigen
Geographiestunde.
»Seht ihr den Garten mit seinen hübschen Bäumen? Hinter
dem Eisentor liegt die Cliff Road. Und unter den Klippen ist
das Meer. Manchmal hört sich das Meer an wie ein fauchender
Tiger, ein andermal hört es sich an wie Kater Tobias, wenn er
Milch schlürft, und manchmal schreit die See wie ihr, wenn ihr
Hunger habt. Heute morgen… pssst, das Meer schläft. Wir
dürfen es nicht aufwecken.«
Applaus.
»Autsch!« Ich zog Abbeys Hände weg, bevor sie Knochenmehl
aus meinem Gesicht machte. »Unser nächster Nachbar, eine
Viertelmeile die Straße hinunter, ist der nette Reverend
Foxworth. Er ist Pfarrer der historischen St.-Anselm-Kirche,
die schon auf die Zeit der Normannen zurückgeht.
Wohlgemerkt, meine Lieblinge, ich spreche nicht von Norman
the Doorman, dem Star des Kinderfernsehens.«
Für diejenigen, die besagte Figur nicht kennen – tagsüber war
er der sanftmütige Portier des Tinseltown Toyshop, eines
Spielwarenladens, doch wenn die Schatten länger wurden und
das Geschlossen-Schild an der Tür erschien, verwandelte er
sich in Norman, den Rächer des mißhandelten Spielzeugs. Mit
seinem Hermes-Helm und wasserdichtem Umhang angetan
(nur Wasser oder Seife konnten ihm etwas anhaben) und von
Kobolden mit – richtig – Wasserpistolen gejagt, kletterte er an
Gebäuden hinauf und durch Schornsteine hinunter und rief:
»Keine Angst, haha, Norman ist schon da!« Gestern hatte ich
die Rettung von Dolly Dimples verpaßt, weil Miss Thorn, die
Kirchenorganistin, im entscheidenden Moment an die Tür
geklopft hatte. Angeblich kam sie, um Lose für die Tombola zu
verkaufen, durch die Geld für ein neues Altartuch beschafft
werden sollte, aber ich wußte, ihr Hauptmotiv war,
herauszufinden, warum ich an drei – oder auch vier -Sonntagen
hintereinander den Gottesdienst verpaßt hatte. Miss Thorn
gehört zu den Frauen, die Augen am Hinterkopf haben.
Ihre Brille beschlug, als sie von der jüngsten Predigt des
Pfarrers berichtete, und von ihrem schmalen, knubbeligen
Gesicht ging ein Leuchten aus.
»Ein Augenblick wie an Dreikönig, Mrs. Haskell. Reverend
Foxworth las den Brief des heiligen Paulus an die Korinther,
Sie kennen ihn – Glaube, Hoffnung und Liebe, und das höchste
der drei ist die Liebe. Ich hatte überall Gänsehaut, Mrs.
Haskell, sogar am… Allerwertesten. Ich konnte kaum still
sitzen bleiben.« Ein Kichern hinter vorgehaltener Hand. »Ich
wollte aufstehen, die Faust ballen und rufen ›Super, Herr
Pfarrer!‹«
Ich sagte ihr, ich müsse wirklich öfter in die Kirche gehen.
»Welch eine befreiende Erfahrung!« Miss Thorns Augen
waren hinter den Brillengläsern jetzt so groß wie Pilze. »Ich
kam mir vor wie Eva nach dem Sündenfall, als sie ihre
Feigenblätter abwirft und Adam an ihre Brust drückt. Zum
erstenmal fürchtete ich, daß es ein Fehler von mir war, nicht zu
heiraten. Man tut ja, was man kann, spendet hier und da
Freude…« Eine Pause, in der wir beide all denen unsere
Ehrerbietung erwiesen, die im Dienste der Pflicht gefallen
waren – Miss Thorn zu Füßen. Worin ihr Geheimnis bestand,
weiß ich nicht. Sie mußte die allerunscheinbarste Frau sein, die
ich je gesehen hatte, doch selbst Jonas gestand gewisse
Zuckungen unter der Gürtellinie, wenn Miss Thorn kicherte.
»Was ich damit sagen will, liebe Mrs. Haskell, ist folgendes:
Als ich ein Mädchen war, sprach ich wie ein Mädchen und
liebte wie ein Mädchen, aber jetzt, als Frau, muß ich die
Mädchengewohnheiten ablegen.«
So wie die Ehemänner anderer Frauen? Und dafür hatte ich
Norman the Doorman verpaßt.
»Sie tragen die Verantwortung, Mrs. Haskell.«
»Ich?«
»Ja.« Vor Verlegenheit nahmen ihre Wangen einen zart
hellgrünen Schimmer an. »Es geschah auf Ihrer Hochzeit – als
ich Sie so strahlen sah, da wußte ich, daß der Zeitpunkt
gekommen ist, meine alten Flammen zu löschen und mein
Feuer im heimischen Herd zu entfachen.« Ihre Hände fuhren an
ihren konkaven Busen. »Sie und Ihr Heathcliff sind immer
noch so verliebt wie eh und je?«
Mir fehlten die Worte, selbst um zu fragen, welcher Glückspilz
denn dazu ausersehen war, ihre Hand zu erringen. Als ich jetzt
auf dem Fenstersitz im Kinderzimmer saß, klangen mir Miss
Thorns Worte noch in den Ohren, ein Echo meines eigenen
betrüblichen Gefühls, versagt zu haben. Einen Mann wie Ben
fand man so bald nicht wieder. Irgendwie, irgendwo mußte ich
zu ihm zurückfinden, zu der Leidenschaft, die uns einst
verbunden hatte… aber alles hübsch der Reihe nach. Die
Babys. Die Schwierigkeiten, die damit verbunden waren, sie
beide auf einmal nach unten zu tragen, würden Pu dem Bären
einleuchten. Die Doppeltour reizte natürlich die
Sportfanatikerin in mir, wäre allerdings das Baby hart
angekommen, das an die Stäbe seines Bettchens geklammert
zurückgelassen wurde. Daher – Not macht erfinderisch, sie
muß auch eine Mutter sein – hatte ich mich darauf verlegt, den
Zwillingstragesack zu benutzen – ein Baby vorne, das andere
hinten –, ein Geschenk von meinem Cousin Freddy, der für
Ben im Abigail’s arbeitet.
»Bin sofort fertig, meine Schätzchen!« Ich verstaute beide
Babys im nächstbesten Bettchen, angelte den Tragesack vom
Wickeltisch und zog ihn mir über den Kopf. Ich kam mir vor
wie ein Fallschirmspringer, der sich für Gott und Vaterland in
die Tiefe stürzen will. Ein tiefer Atemzug, um meine Lunge
mit Luft zu füllen, bevor ich Tarn in die vordere Trage steckte
und ihn dann auf meinen Rücken hievte. Wenn das nicht
allemal besser war als Gewichte zu stemmen! Jetzt hinein mit
Abbey. Ein kleiner Stups, damit sie gleichhoch hingen, ein
kurzes Innehalten, um Tams Fuß zurechtzurücken, eine letzte
Überprüfung, um dafür zu sorgen, daß mein Flanellnachthemd
nicht die Sicherheitszone verlassen konnte, und während
Abbey an ihrem Fäustchen saugte, hieß es volle Kraft voraus.
Wir gingen hinaus auf den Korridor, die holzgetäfelte Galerie,
die bei Tag durch das Buntglasfenster am Treppenabsatz
beleuchtet wurde und dazu durch das Foto meiner
Schwiegermutter Magdalene Haskell an ihrem Gebetspult.
Blickten ihre Augen heute morgen nicht vorwurfsvoller –
beziehungsweise resignierter denn je? Auf der ersten Stufe fiel
es mir wieder ein! Der Brief, den ich letzte Woche an sie und
Pa Haskell geschrieben hatte, lag immer noch auf dem
Schreibtisch im Arbeitszimmer und wartete darauf, daß Ben
sein Siegel daraufdrückte. Ich und meine Skrupel! Ich hätte
seine Grüße fälschen sollen. Mein halbes Dutzend Seiten war
jetzt hoffnungslos veraltet, Ben hatte keine Erkältung mehr, die
Zwillinge schliefen nicht mehr die Nacht durch, und ich fuhr
auch nicht mehr mit dem Heim-und-Herd-Verein zum
Einkaufsbummel nach Peterborough.
Jeder Dummkopf weiß, daß eine Treppe nicht der passende Ort
ist, um in Gedanken abzuschweifen. Auf halbem Weg nach
unten riß Abbey an meinem Nachthemd, Tarn packte mein
Haar – wobei er meinen Nacken abknickte wie einen
Spargelstrunk –, und wir alle drei kreischten, als ich schwankte
und nach dem Messinggeländer der Eisentreppe griff. In
diesem Moment lief blitzschnell mein Leben vor mir ab. Ich
meine damit nicht vergangene Freuden und Leiden, sondern
das Hier und Jetzt – das Frühstück und das Baden der
Zwillinge, die Lebensmitteleinkäufe, die erledigt werden
mußten, wenn wir nicht alle Skorbut kriegen sollten, und das
Bügeln all dieser niedlichen kleinen Anzüge, die keine Stunde
länger im Trockenschrank darben durften, wenn sie ein zweites
Mal getragen werden sollten. Ich klammerte mich am Geländer
fest, als ob es der Mast der Hesperus wäre, und sah wieder
klarer. Na so was, was war denn das da unten am Fuß der
Treppe?
Ein Fremder stand in dem Schatten an der Haustür. Aber ich
sollte ihn nicht schlimmer machen, als er war. Gottlob war er
kein bulliger Typ, der mit einem .45er Colt herumfuchtelte.
Mein Eindringling war ein ziemlich kleiner Bursche mit einem
Charlie-Chaplin-Bärtchen und einem Schraubenschlüssel so
lang wie sein Arm.
»Morgen, Missus.« Seine belegte, schwerfällige Stimme und
sein verzogenes linkes Augenlid veranlaßten mich zu der
Überlegung, ob er wohl Mitglied einer Familie war und seinem
Paten treu ergeben. Ich stieß so viel Luft aus, daß die
Wandteppiche wehten, dann griff ich wie zufällig nach der
bronzenen Urne, die praktischerweise in der Nische zu meiner
Rechten stand. Der Trick bestand darin, die ruhige, vernünftige
Stimme zu benutzen, die immer Erfolg hatte, wenn die Babys
heia machen sollten.
»Eine Bewegung«, trällerte ich, »und Sie sind ein toter Mann.«
»Sie brauchen nicht in diesem Ton mit mir zu reden, Missus!
Ich hab’ mir beim Reinkommen die Füße abgetreten.«
»Good Housekeeping sollte Ihnen einen Orden verleihen.« Was
fiel ihm ein, ein empörtes Gesicht zu machen! Ich preßte den
Hals der Urne an mich und wich einen Schritt zurück: »So hier
hereinzuspazieren! Für wen halten Sie sich eigentlich?«
»Jock Bludgett.«
»Nicht doch Pistolen-Sammy?«
»He?« Er starrte mich mit seinem gesunden Auge an, als ob ich
ein sprechendes Känguruh wäre. Abbey wand sich in ihrem
Sack und brachte mich wieder zur Vernunft. Angriff ist nicht
die beste Verteidigung, wenn du ein weibliches Wesen bist, das
keine Kondition hat und schon vom Stillstehen atemlos ist, und
wenn dich außerdem das eine Baby an den Haaren zieht und
das andere an deinem Kragenknopf saugt und dich dabei fast
erwürgt. List und Tücke waren mehr mein Fall. Ich würde dem
Einbrecher eine Tasse Earl Grey anbieten und, wenn er mir den
Rücken zuwandte, ein Fläschchen von diesem Mittel für
zahnende Kinder hineinkippen. Versprach das Etikett nicht, ein
übellauniges in ein Smiley-Gesicht zu verwandeln,
anderenfalls Geld zurück? Jammerschade, daß ich kein Arsen
griffbereit hatte, ich hätte es brauchen können. Aber in der Not
frißt der Teufel Fliegen.
»Zeit ist Geld, Missus.« Der Einbrecher wärmte den
Schraubenschlüssel in seiner schinkengroßen Faust vor. »Ich
hab’ noch’n paar große Aufträge nach diesem hier.«
»Sie wollen sich doch nicht übernehmen, Mr. Bludgeon (Anm.
der Übers.: Anspielung – bludgeon, dt.:Totschläger.).«
»Mr. Bludgett.«
»Verzeihung.« Mit der Urne unter dem Arm schob ich mich
stückchenweise die Treppe hinunter und zählte in einer
Direktverhandlung mit Gott wie verrückt meine guten Taten
auf. Die Zwillinge schienen eingeschlafen zu sein, und mein
Flanellsaum befand sich noch auf Knöchelhöhe. Plötzlich sah
ich das alles von der lustigen Seite. Einen Einbrecher in
meinem Nachtzeug zu empfangen – was würden die Nachbarn
dazu sagen? Eine Lachsalve stieg in meiner Kehle auf, jeden
Augenblick würde ich in eine Kakophonie irren Gelächters
ausbrechen.
Seltsam! Die Töne, die durch die Halle vibrierten, schienen
nicht von mir auszugehen, sondern vom Telefontischchen, das
auf dem Steinpodest am anderen Ende der gefliesten Halle
stand. Das Telefon. So nah und doch so fern.
»Das ist mein Mann. Wenn ich nicht rangehe, wird er…« Die
Urne glitt mir aus der Hand und übertönte jeden weiteren
Gedanken. Sie fiel dröhnend und polternd die Treppe hinunter,
knallte mit metallenem Getöse auf die Steinfliesen und rollte
immer schneller – wie eine Bowling-Kugel, die alle zehne
werfen wird – auf die Kegel – ich meine, die Beine von
Einbrecher Bludgett zu. Es war mein großer Augenblick.
Meine unfehlbare Ungeschicklichkeit hatte mich gerettet.
Vergeßt das Hurrageschrei. Der Sieg sollte mir entrissen
werden. Nachdem er behende über die Urne hinweggesprungen
war, die unter einen Tisch abtauchte, steuerte unser Bösewicht
auf das Telefon zu.
»Der Anruf ist für mich, Missus.«
»Nein!«
»Dieses Läuten würde ich überall wiedererkennen.« Sein
häßliches Gesicht wurde auf entsetzliche Art sanft. Das
Charlie-Chaplin-Bärtchen verzog sich zuckend zu einem
Lächeln, das seine Züge glättete. Er steckte den
Schraubenschlüssel in seine Gesäßtasche, hakte mit dem
Daumen seinen Hosengürtel hoch und fuhr sich mit einer Hand
über seine Patenfrisur, bevor er den Hörer abnahm und ihn
zärtlich ans Ohr hielt.
Sollte mir eine zweite Chance gewährt werden? Voller Angst,
die Zwillinge könnten aufwachen und Alarm schlagen, schlich
ich zur Haustür und – mein Herz setzte einen Schlag aus –
stolperte fast über die Zeitung, die aufgeschlagen unter dem
Briefschlitz lag. Wollte das Schicksal mir zum Spaß ein Bein
stellen? Gewöhnlich kam der Daily Chronicle bevor Ben aus
dem Haus ging, und er las ihn bei einer Tasse Kaffee. Die
Freiheit war greifbar nahe, meine Finger waren nur Zentimeter
vom Türknauf entfernt, als die Standuhr dröhnend die halbe
Stunde schlug. Die Schwingungen gingen von meinen Füßen
an aufwärts und sandten einen Stromstoß zu meinem Herzen.
Ich konnte mich nicht rühren, damit ich nicht auf eine
Landmine trat und in die Luft flog. Oh, meine süßen Babys!
Eine Sekunde lang glaubte ich, dieses eigenartige Keuchen
käme von mir, dann merkte ich, daß es das schwere Atmen von
Einbrecher Bludgett war. Er stand da, spielte zärtlich mit der
Telefonschnur und hatte glasige Augen.
»Kleine Miss Berg und Tal, ich setz’ mich gern auf deinen
Hügel. Jederzeit. Du parfümierst dich jetzt schön und machst
dich hübsch, und wenn du ein Momentchen Zeit hast, stell eine
Flasche von dieser Massagelotion in die Mikrowelle, nur damit
sie nicht so eiskalt ist, ja? Und ich setze meinen Hintern in
Bewegung und bin in zwei Sekunden daheim…«
Klick. Er hatte aufgelegt und kam blindlings auf mich zu.
»Das war meine Moll.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Tut mir leid, wenn ich abzische, aber es muß sein. Sie – die
Frau – will mich« –, Einbrecher Bludgett leckte sich den
Schnäuzer –, »will mich zum Mittagessen daheim haben. Also
wenn es Ihnen nichts ausmacht, komm’ ich morgen wieder und
mach’ Ihnen die Waschmaschine fertig. Dann rechne ich mal
zusammen und gucke, ob ich Ihnen nicht einen Vorzugspreis
machen kann.«
»Ja!« Meine Beine gaben unter dem Gewicht der Babys und
meiner eigenen Dummheit fast nach.
»Lady, Sie brauchen eine neue Pumpe.«
»Sie sind der Klempner?«
Er blieb wie angewurzelt stehen.
»Mir scheint, Missus, Sie brauchen mehr als nur eine neue
Pumpe.« Sein gutes Auge wandte sich von mir ab, aber erst
nachdem ich einen mitleidigen Ausdruck darin erhascht hatte.
Im nächsten Moment bückte er sich, hob die Zeitung auf und
blätterte sie blitzschnell durch, dann, als er fand, was er suchte,
schlug er sie um und drückte sie mir in die Hand.
»Da, Missus, tun Sie sich selbst einen Gefallen, und lesen Sie
die Spalte oben auf Seite sechzehn. Meine Moll hat’s gemacht,
und es hat unser Leben verändert. Sie ist eine andere Frau
geworden, und ich bin zweimal so mannhaft wie früher. Ich
hab’ sogar angefangen, ihr am Morgen danach Blumen zu
schicken und eine Dankeschönkarte. Na, tschüs dann und viel
Glück.«
Und weg war er, ohne einen Blick zurück, zur Tür hinaus, die
Stufen hinunter und über den Hof zu seinem Lieferwagen, in
den er mit einem Satz hineinsprang, fast so, als würde er von
einer Verrückten verfolgt, die ihn irrtümlich für einen
Einbrecher gehalten hatte.
Ich schloß die Tür und sah noch, wie der Lieferwagen die
Kieseinfahrt hinunterraste, am Cottage vorbei, in dem Cousin
Freddy wohnt, und durch das schmiedeeiserne Tor auf die Cliff
Road. Und zu meiner Schande muß ich sagen, daß mir der
gemeine Gedanke kam, daß er sich, wenn er über die Klippe
stürzte, nicht mit seiner Missus über die Irre mit dem Babysack
würde amüsieren können. Ich drehte die Zeitung zu einem
Knüppel und wünschte, Ben wäre da, auf der Stelle, damit ich
ihm eins überziehen könnte, weil er mir nicht von unten
zugerufen hatte, daß er, als er hinausging, Mr. Bludgett
hineinließ. Was das Lesen von Seite sechzehn betraf, dachte
ich nicht im Traum daran, dergleichen zu tun. Eine Reklame
für Eisenpillen nützte mir nun wirklich nichts. Dr. Melrose ließ
mich bereits so viele schlucken, daß mein Mund wie eine
Gießerei schmeckte. Im übrigen, wieso um alles in der Welt
sollte ich auf den Rat von Mr. Bludgett hören, eines
übergeschnappten Klempners, der morgens um halb neun zum
Mittagessen nach Hause brauste? Die Missus mußte tolle
Fischpastensandwiches machen.
Da stand ich, in dem Wissen, daß die Zwillinge dösten, und
plötzlich war mir, als ob die Halle alles Vertraute eingebüßt
und sich in den eiskalten Vorraum einer der großen
Kathedralen verwandelt hätte. Die Zwillingsritterrüstungen, die
an der Treppenwand standen, wurden zu St. Rufus und St.
Raoul. Unter den Fliesen waren Damen wie ich begraben –
Frauen, die ihr Leben lang dem Staub hinterhergejagt und jetzt
selbst zu Staub geworden waren. Ein Ort, an dem sämtliche
Türen zu den Beichtstühlen führen. Wenn ich mich vor das
Sprechgitter kniete, was würde ich sagen? »Helfen Sie mir,
Vater! Meine Babys werden im Handumdrehen erwachsen
sein, und ich bin dann eine grauhaarige Frau, die in genau
dieser Halle auf einen attraktiven Fremden trifft, der sich als
mein Ehemann vorstellt. ›Hallo, Mr. Haskell. Sind wir uns vor
Jahren nicht schon mal begegnet? Wie wär’s, wenn wir uns
mal treffen und die Bekanntschaft erneuern, bei einem Glas
Wein und einer Balgerei unter der Bettdecke? Und, bitte,
verstehen Sie mich nicht falsch, normalerweise mache ich so
etwas nicht bei der ersten Verabredung nach zwanzig Jahren,
aber…‹«
Der Daily Chronicle fiel mir aus der Hand. Und als ich wieder
danach griff, merkte ich, daß mein Blick gebannt an Seite
sechzehn hing.
»Da kommen einem die Tränen, nicht?« Ich hatte nicht gehört,
wie sich die Tür zum Garten öffnete und Ihre Hoheit
hereinkam, doch da stand Mrs. Malloy. Sie knöpfte den
Leopardenmantel auf, der wie auf der falschen Seite gebügelt
aussah, und warf ihre Provianttasche auf die Anrichte mit dem
Porzellan, zum Verdruß von Kater Tobias, der dort ein
Nickerchen hielt.
»Für wen zum Teufel hält er sich, den Chat von Persien?«
Das war einer von Mrs. Ms Standardwitzen. Ihr zweiter – oder
vielleicht auch dritter – Ehemann stammte von der falschen
Seite des Ärmelkanals, wie auch aus dem falschen Bett, und
hatte ihr nichts als ein paar Brocken parlez-vous Français
hinterlassen, als er sie wegen einer anderen verließ.
Ich kletterte vom Tisch, als hätte man mich auf dem
Schreibtisch der Direktorin erwischt, schaltete den Fernseher
aus und schaute mich wild in dem Chaos um. »Himmel! Sind
Sie sicher, daß Sie hier sein sollten?«
»Heute ist Montag, es sei denn, jemand hat am Kalender
herumgepfuscht.«
Die grimmige Antwort hätte mir eine Warnung sein sollen, daß
Mrs. Malloy nicht ihr übliches angeheitertes Ich war, aber ich
war zu beschäftigt damit, das Frühstücksgeschirr aufzustapeln,
um auf Nuancen zu achten. Wenn Freundinnen und Freunde
mich überraschen, stört mich das nicht. Aber Mrs. Malloy,
niemals! Ich schaffe immer schnell Ordnung, bevor sie
hochhackig das Haus betritt. Ich habe das Gefühl, daß ich sie
enttäusche, wenn sie das Haus nicht in dem Zustand vorfindet,
in dem sie es verlassen hat – aller Flor von den Teppichen
abgesaugt und die Fenster mit Zeitungspapier und ihrem
idiotensicheren Reiniger makellos poliert. Eine Mixtur aus Gin
und der Geheimingredienz – Es.
»Wenn Sie mich nicht brauchen, Mrs. H, sagen Sie es nur.«
Mrs. Malloy stand beim Bügelbrett, noch im Mantel, und hielt
ihren Federhut in den Händen wie einen Klingelbeutel in der
Kirche.
Beleidige Mrs. M, und ihr Stundenlohn schnellt in die Höhe.
»Natürlich brauche ich Sie.«
Die Waschmaschine war aus ihrer Nische gezogen worden und
stand in schiefem Winkel zum Raum, zusammen mit dem
Trockner, dessen Stecker Mr. Bludgett in seiner Weisheit
ebenfalls herausgezogen hatte. Sein Werkzeug war über den
Tisch verteilt, zusammen mit dem Frühstücksgeschirr. Die
Zeitung lag auf einem Stuhl, die Spüle war voller
eingeweichter Windeln, und der Besen lehnte an der Tür zur
Vorratskammer, als mache er fünf Minuten Zigarettenpause.
Allein die Babys würden einer Überprüfung standhalten. Sie
waren wach, taufrisch in ihren mit Häschen bestickten
Frotteeanzügen und preßten die Gesichter an die Stäbe des
Laufstalls, ihr kupferfarbenes Haar paßte zu Bens Sammlung
von Grütze- und Puddingformen.
»Entschuldigen Sie das alles!« Ich rührte die Windeln mit
einem Holzlöffel (nicht mit dem, den ich für Suppe benutze).
»Wie wär’s, wenn ich hier aufräume, Mrs. Malloy, während
Sie mit dem Arbeitszimmer anfangen?«
Der symbolische Protest blieb aus.
»Mir soll’s recht sein, Mrs. H.« Sie wich Tobias aus, der ihr
wegen des Federhuts schöntat, nahm die Provianttasche und
schwankte auf ihren Zehn-Zentimeter-Absätzen ohne einen
Blick zur Seite am Laufstall vorbei. Sonderbar. Mrs. Malloy
hatte eine heimliche Zuneigung zu den Zwillingen entwickelt,
während sie nach außen darauf beharrte, sie hätte lieber einen
Kanarienvogel.
War sie nicht ganz auf dem Damm? Ich schüttelte mir die
Seifenlauge von den Händen, streifte mir die Schlinge einer
Schürze über den Kopf und verknotete die Bänder. Mrs.
Malloy wandte sich an der Tür zur Halle um.
»Denken Sie dran, Zimmerdecken mache ich nicht, Mrs. H.«
Wenn Michelangelo diese Einstellung gehabt hätte, wo wären
wir dann? Egal. Ihr Gesicht sagte mir, daß mehr
dahintersteckte, als mich in meine Schranken zuweisen. Der
Schönheitsfleck über ihrem Pflaumenmund war ein einziges
Zucken, und ihr Karnevalsmake-up sah aus, als wollte es bei
der ersten Bewegung abbröckeln.
Ich griff nach dem Kessel und sagte: »Wie wär’s mit einer
Tasse Tee, bevor Sie anfangen? Und es ist noch etwas von dem
Kirschkuchen da, den Sie so gern mögen.«
»Ich mach’ mich lieber gleich an die Arbeit.« Alles Leben war
aus ihrer Stimme gewichen. Und ihr Busen, der ihr doppelte
Dienste als Schwimmweste geleistet hätte, sollte sie jemals in
Seenot geraten, wogte. Doch ich beruhigte mich etwas, als sie
das Thema wechselte. Ȇbrigens habe ich Mr. H gesehen, als
ich in den Bus stieg. Er war draußen vor der Post.«
»Ach?«
»Und plauderte mit Miss Gladys Thorn.«
»Tatsächlich?«
»Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt! Diese Frau
würde sich für alles, was in Hosen daherkommt, auf den
Rücken legen und Victory signalisieren. Ihretwegen ging
meine Ehe mit Francois in die Brüche, wissen Sie.«
Ehe ich ihr mein Mitgefühl aussprechen konnte, verschwand
Mrs. Malloys Leopardenmantel durch die Tür zur Halle. Aber
wenigstens wußte ich, warum sie nicht ganz auf dem Posten
war. Und was Ben betraf… sagte es etwas über den Zustand
unserer Ehe aus, daß ich mich nicht zu einem Wutanfall
aufraffen konnte, weil er mit Miss Thorn gesehen worden war?
Der Sex-Appeal unserer Kirchenorganistin war legendär – um
so mehr, als die Frauen es sich nicht erklären konnten und die
Männer es nicht wollten. In einer seltenen stillen Minute hatte
ich überlegt, daß Miss Thorn vielleicht ein Exemplar des Typs
unansehnliche Sekretärin war, die, um ihre Cary-Grant-Chefs
vor einem Schicksal schlimmer als der Tod zu bewahren –
gewöhnlich eine andere Frau –, ihre Brille herunterreißen und
ihr Haar lösen. Aber irgendwie paßte das nicht zu Miss Thorn.
Ich hatte sie ohne Brille gesehen, ihre mausbraunen Locken
wehten im Wind, und das war eine Mahnung, daß Mutter Natur
nicht immer gütig ist.
Nachdem ich Abbey und Tarn hochgenommen, ein bißchen mit
ihnen geschmust und sie wieder hingesetzt hatte, kümmerte ich
mich um die Windeln. Sie würden eiligst zum Trocknen
aufgehängt werden müssen, wenn ich dem Regen entgehen
wollte, der, danach zu urteilen, wie die Fliederbüsche zitterten
und die Wolken sich drohend zusammenzogen, nicht lange auf
sich warten lassen würde. Und dabei hatte der Tag so traumhaft
angefangen.
Das Tolle an Hausarbeit ist, daß deine Hände hin- und
herhuschen wie Maulwürfe, während der Kopf an Ort und
Stelle bleibt. In solchen Momenten grüble ich gewöhnlich
besonders gut. Ein Schreckgespenst auf dem Terminplan dieses
Vormittags war natürlich Fully Female. Ich konnte mir beim
besten Willen nicht vorstellen, warum ich diesen Termin
gemacht hatte. Zugegeben, die Begegnung mit Mr. Bludgett
auf den Stufen hatte mir klargemacht, daß das Leben
bestenfalls kurz ist und wir es möglichst nach Kräften nutzen
sollten, aber mußte ich es mit der Eigenverschönerung so
überstürzen? Wenn ich irgendwann wirklich bereit war für eine
Generalüberholung, hätten die Wissenschaftler doch bestimmt
schon alle möglichen Abkürzungen erfunden. Wie zum
Beispiel die Je-mehr-Sie-essen-desto-mehr-nehmen-Sie-ab-
Diät und Sesselgymnastik.
Ich legte die gespülten Windeln in den Wäschekorb, warf eine
Handvoll Wäscheklammern dazu und schaltete um auf Mrs.
Malloys Problem. War es voreilig, anzunehmen, daß Miss
Thorn der Stachel war? Sie auf der Straße zu sehen konnte so
ungewöhnlich nicht sein. Chitterton Fells ist ein kleiner Ort.
Konnte das Problem zum Beispiel schlicht darin bestehen, daß
sie gestern abend beim Bingo verloren hatte? Oder hatte Mrs.
Malloy vielleicht schlimme Nachrichten über ihren
Gesundheitszustand erhalten? Ach, das Übel der Trunksucht!
Bezahlte ihre Leber jetzt den Preis dafür oder… vielleicht ihr
Herz? Wer hätte das gedacht! Bis auf eine gelegentliche
Unsicherheit auf den Beinen wirkte sie immer so robust. Sie
war fast doppelt so alt wie ich und steckte mich in puncto
Staubsaugen leicht in die Tasche. Wehe dem Einbrecher, den
Mrs. Malloy auf der Treppe traf.
Ich seufzte bei der Erinnerung an meine schwache Vorstellung
angesichts von Mr. Bludgett, und mich überkam mal wieder
der verrückte Drang, meinen Körper in fünf Minuten von
Grund auf umzukrempeln. Mit zusammengebissenen Zähnen
erwog ich, den Tisch an die Wand zu schieben und Aerobic zu
machen. Dann fiel mir ein, daß Gehen für eine der besten
Bewegungsarten gehalten wird. Bevor ich die Wäsche
aufhängte, würde ich schnell zum Arbeitszimmer gehen und
Mrs. Malloy die Zeitung zum Fensterputzen geben.
»Mummy kommt gleich wieder.« Ich ließ die Babys auf den
Bäuchlein liegend und schläfrig an ihrer Decke kauend zurück
und ging durch die Halle zum Arbeitszimmer. Die Tür ist eines
dieser oben gerundeten, mit schweren Nägeln beschlagenen
Exemplare aus Eiche, die man einem demnächst zu
modernisierenden Verlies entnommen haben mußte. Der
ringförmige Türgriff quietscht, wenn man ihn dreht, und
manchmal klemmt die Tür, so daß man ihr einen kräftigen
Ruck geben muß, um sie von der Stelle zu bewegen. Dahinter
befindet sich ein kleiner Raum mit Gitterscheiben, die in tiefe
Simse eingelassen sind. Ein scheußliches Ölgemälde einer
irischen Totenwache dräut über dem Kamin. Aber ich glaube
fest, daß jedes Haus seinen Anteil an Schandflecken haben
sollte, sonst geht alles in Perfektion unter. Das Arbeitszimmer
selbst enthält auch noch eine Scheußlichkeit – einen
krankenhausgrünen Gasofen, vor einer Ewigkeit installiert,
weil der Kamin rauchte.
In den Türspalt gezwängt, die Zeitung in den Händen, sagte
ich: »Verzeihung, wenn ich so bei Ihnen hereinplatze, Mrs.
Malloy.«
Wie peinlich! Ich kam mir vor wie eine Schnüfflerin. Sie war
nicht etwa eifrig bei der Arbeit, schwirrte mit dem Staubsauger
durchs Zimmer oder wirbelte mit ihrem Staubtuch
Ziergegenstände durcheinander. Immer noch in ihrem
Leopardenmantel und Federhut, saß sie zusammengesunken,
mit herabhängenden Armen und geschlossenen Neonlidern, in
dem Sessel am Gasofen.
»Was ist los?« Ich ließ die Zeitung flatternd zu Boden fallen
und eilte zu ihr, wobei ich mir die Hüfte am Schreibtisch stieß.
»Mrs. H«, sagte sie, und ihre Schultern bebten, »ich bin mit
meinem Latein am Ende.«
»Sagen Sie bloß, mir ist schon wieder Johnson’s
Lavendelwachs ausgegangen?«
»Ich weiß in diesem Höllenpfuhl nicht mehr weiter.«
»Das meinen Sie doch nicht ernst!« Ich warf mich auf die Knie
und ergriff ihre Hand. Ihr Parfüm, Tequila Sunrise, ließ mich
auf die Fersen hochschnellen und nahm mir den Atem. »Mrs.
Malloy, so können Sie nicht Schluß machen. Ich tue alles, gebe
Ihnen alles!« Verzweifelt sah ich mich nach etwas um, das ich
ihr in die Hand drücken könnte, irgendein Stück
Familiensilber, das nicht geputzt werden mußte.
Ihre Augen öffneten sich einen Spalt, und die
Schmetterlingslippen zuckten in einem traurigen Lächeln.
»Mrs. H, Sie dürfen sich nicht die Schuld geben.«
»Aber das tue ich.«
»Sie schmeicheln sich, wie?« Mrs. Malloy richtete sich auf,
und ihre Stimme kräftigte sich zu ihrem gewohnten Schnarren.
»Daß ich einen Tag in der Woche für Sie arbeite, heißt nicht,
daß ich mit Leib und Seele Ihr Eigentum bin.«
»So etwas Feudales habe ich nie gedacht.« Empört stand ich
auf und riß mit dem Knie fast ein Loch in meine Schürze.
»Sie mögen ja hier oben auf Merlin’s Court die Schloßherrin
sein, Mrs. H, aber die Welt dreht sich ganz von allein, ohne daß
Sie ihr einen Schubs geben.«
»Sie haben etwas von einem Höllenpfuhl gesagt.«
»Die Welt an sich, Mrs. H.«
»Oh!«
»Wenn ich beschließe, mich umzubringen, dann ist das meine
Sache.«
»Sehr richtig.« Ich war so erleichtert zu hören, daß sie nicht
kündigte, daß ich das Furchtbare ihrer Aussage nicht gleich
begriff.
»Mrs. Malloy – Roxie, meine Liebe!« Mein Blick schoß zu
dem krankenhausgrünen Monster. »Sie wollten doch nicht den
Gasofen benutzen?«
»Schon mal erlebt, daß ich mir Freiheiten rausnehme?«
»Nie!« log ich.
Ihr Seufzer blies mich halb durchs Zimmer. »Ich möchte
betonen, Mrs. H, daß ich volljährig bin. Ich brauch’ keine
elterliche Erlaubnis und auch kein Entschuldigungsschreiben
vom Boß.«
»Aber warum?« Ich stand da, rang die Hände wie der letzte
Dorftrottel und sah zu, wie sie in gespenstischer Zeitlupe die
Provianttasche von der anderen Seite des Stuhls hochnahm und
den Verschluß aufschnappen ließ. Du lieber Himmel! Sie holte
eine Pistole heraus, Ich schlug die Hände vor’s Gesicht. Durch
die Lücken zwischen meinen Fingern beobachtete ich, wie sie
sie an die Schläfe hob.
Was war ich für ein Ungeheuer? In diesem Augenblick rettete
sich mein Verstand auf ungefährlicheres Terrain. Ich dachte an
die Windeln, die darauf warteten, auf die Leine zu kommen,
und an den drohenden Regen. Ich stellte mir Abbey und Tarn
allein im Laufstall vor. Wenn doch nur eines der Babys – oder
beide – anfangen würden zu schreien. Dieser Laut würde den
Bann vielleicht brechen.
»Warum?« fragte Mrs. Malloy, und es dauerte einen Moment,
bis ich begriff, daß sie meine Frage von vor einer Ewigkeit
wiederholte. »Warum ich mich auf Merlin’s Court vom Leben
verabschiede?«
Ich wollte sagen: Warum denn überhaupt? Doch meine Zunge
wollte mir nicht gehorchen. Sie polierte die Pistole an ihrer
Manschette. »Sie brauchen nichts zu sagen, Mrs. H. Das sieht
doch ‘n Blinder, daß Sie mich für anmaßend halten. Und da
hatte ich gehofft, Sie würden es statt dessen als Kompliment
auffassen, wie’s gemeint war. Mein Haus auf der Herring
Street ist kein schlechter Ort zum Leben, aber was meinen
letzten Atemzug betrifft, hatte ich mir immer etwas
Exklusiveres gewünscht. Einen Ort mit ein bißchen
Geschichte.«
Mit einem Schluchzer legte Mrs. Malloy die Pistole knapp
außer Reichweite auf die Armlehne des Sessels. Sie öffnete die
Provianttasche, holte ein schwarzgerändertes Taschentuch
heraus und tupfte sich die Augen. Geziert. Um ihre
Wimperntusche nicht zu verschmieren. »Mrs. H, wir hatten
unsere Differenzen, aber ich würde keine meiner anderen
Damen am Schluß bei mir haben wollen.«
»Vielen Dank.«
Das Taschentuch flatterte zu Boden. »Ist es zuviel verlangt,
wenn ich mir erhoffe, daß eines Tages mein Porträt oben im
Korridor hängt?«
»Ich lasse ein Fresko machen.«
Der Trick bestand darin, die Ruhe zu bewahren. Was würde es
nützen, nach der Waffe zu greifen und zu riskieren, daß ich mir
dabei die Finger wegpustete? Eine Mutter kann nicht mit
Händen funktionieren, die sich in Boxhandschuhe verwandelt
haben. Das beste war, sie davon abzubringen, einen fatalen
Fehler zu begehen.
»Mrs. Malloy, warum wollen Sie sich umbringen?«
»Das nehm’ ich mit ins Grab.«
»Na gut, wie wär’s dann mit einer schönen Tasse… Gin?«
Ein Märtyrerlächeln. »Noch einen zum Abgewöhnen? Lieber
nicht. Man soll nicht sagen, daß ich nicht ganz bei Sinnen war,
als ich meine irdischen Güter in Ihre Obhut gab.«
»Was?« Ich sank in einen Stuhl, der nicht da war, und mußte
nach dem Schreibtisch greifen.
Sie kramte in der Provianttasche und brachte einen
Porzellanpudel und eine Messinglampe zum Vorschein. »Sie
brauchen sich vor lauter Dankbarkeit nicht gleich zu
überschlagen, Mrs. H! Vorhin, als ich das zweite Röhrchen
Tabletten schluckte, hab’ ich zu mir gesagt: ›Roxie, altes
Mädchen, es gibt niemand sonst, der sich so um deine
Siebensachen kümmern wird wie Mrs. H. von Merlin’s
Court.‹«
»Tabletten?« Gott sei Dank war Waschtag! Mit etwas Glück
könnte ich den Gummischlauch an der Spüle als behelfsmäßige
Magenpumpe benutzen.
»Jetzt machen Sie sich man bloß nicht ins Hemd.« Mrs. Malloy
sah beleidigt genug aus, um die Davidstatue, die sie aus der
Provianttasche geholt hatte, wieder an sich zu nehmen. Armer
Kerl, ihm fehlte eines seiner irdischen Güter.
»Es waren meine Verdauungspillen.«
Ach, was für ein Stein fiel mir vom Herzen! Klein David kam
zu dem Porzellanpudel und der Messinglampe auf den
Beistelltisch. Sollte ich über die Unantastbarkeit des Lebens
predigen oder es mit der Schuldschiene versuchen? Wie können
Sie mich im Stich lassen, Mrs. Malloy, mitten im
Frühjahrsputz?
»Steht es denn wirklich so schlimm?« Ich pirschte mich an sie
heran. »Erst letzte Woche noch waren Sie in Hochstimmung,
weil Ihr Horoskop voraussagte, daß der Mann Ihrer Träume in
Ihr Leben treten würde.«
Etwas Schlimmeres hätte ich nicht sagen können. Ein Stöhnen
brach aus den Tiefen von Mrs. Malloys Sein hervor. Ihr
Federhut erbebte.
»Er ist gekommen, mein Romeo! Doch unsere Liebe war vom
verdammten Anfang an zum Scheitern verurteilt.« Sie nahm
die Pistole und drückte sie zärtlich an ihren Leopardenbusen,
als sei sie die Frucht ihrer Lenden, geboren aus seiner Liebe.
»Es wird noch andere geben«, tröstete ich sie mit der ganzen
Abgedroschenheit, derer ich fähig war.
»Wenn Sie jenseits der Fünfzig sind, Mrs. H, fliegen die
Männer nicht mehr auf Sie wie Fliegen auf Pflaumenmus. In
den letzten Jahren bin ich abends meistens alleine ins Bett
gegangen und alleine aufgewacht. Was für ein Leben ist das für
eine Frau, die mehr Ehemänner hatte als Sie warme
Mahlzeiten? In jungen Jahren war ich nicht so wie Sie, Mrs. H
– zufrieden damit, in einem eingefahrenen Gleis zu fahren, bis
in alle Ewigkeit mit demselben Knaben verheiratet zu sein.
Aber jetzt…« Ein Seufzer, der die Sammlung von
Tintenfässern in der Vitrine zum Klirren brachte.
Meine Güte, dachte ich, als mir Miss Thorn einfiel. In
Chitterton Fells schien die Liebe los zu sein. Wenn doch
Reverend Foxworth da wäre! »Da gibt es diese Passage aus
Leviticus«, stammelte ich. »Daß jedes Ziel unter dem Himmel
seine Zeit hat. Und vergessen Sie nicht die sieben fetten und
die sieben mageren Jahre. Könnte das nicht Ihre Zeit sein,
brachzuliegen?«
»Was?« Sie zog ihre Pelzschultern hoch, so daß sie dem König
der Tiere mit seiner Halskrause ähnelte. »Wofür zum Teufel
halten Sie mich – die Jungfräuliche Königin? Ich bin nicht aus
Stein, wissen Sie. Ich bin eine liebende Frau.«
»Und er ist verheiratet…«
»In gewisser Weise.«
»Die pikanten Einzelheiten lassen die Horoskope immer aus.«
»Die Elende hat ihn Vorjahren verlassen. Ging eines nebligen
Winterabends ganz plötzlich auf und davon. Mein Engel kann
immer noch nicht darüber reden, ohne weiß wie ein Gespenst
zu werden. Das alte Lied. Er fand einen Brief auf dem
Kaminsims. Und es war keine von diesen netten Hallmark-
Karten drin, das kann ich Ihnen flüstern.«
»Sie war so gleichgültig, daß sie ihm nicht mal das Allerbeste
gönnte!« Schlimm von mir, so bissig zu sein, aber zum
erstenmal, seit dieser Alptraum angefangen hatte, dachte ich,
daß es ein Sturm im Wasserglas sein könnte. Solange niemand
erschossen wurde. Mrs. Malloy polierte die Pistole mit ihrer
Pelzmanschette und legte sie in ihren Schoß. Genieß den
Augenblick. Denk nicht an die Möglichkeit, daß es eines dieser
schießwütigen Modelle sein könnte, die schon losgehen, wenn
man die Beine übereinanderschlägt.
»Wenn die Ehefrau von der Bildfläche verschwunden ist…«,
wagte ich mich vor.
»Aus den Augen heißt nicht aus dem Sinn.« Mrs. Malloys
Rougewangen zitterten, und ihre Augen unter den Neonlidern
verschleierten sich. »Aus irgendeinem Grund kann er sie nicht
vergessen. Ich sage Ihnen, Mrs. H, ich habe verdammt noch
mal mein möglichstes getan, ihn aus meinem Herzen zu
verbannen, aber es hat keinen Zweck. Von dem Moment an –
Dienstag vor vierzehn Tagen –, als unsere Blicke sich quer
durch die überfüllte Bingohalle trafen, kannte ich mein
Schicksal. In ganz England oder überhaupt irgendwo da
draußen unter dem weiten blauen Himmel gibt es für Roxie
Malloy keinen anderen als Walter Fisher. Ohne ihn ist das
Leben keine Salzbrezel in einer Tüte Knabberzeug wert. Wenn
Walter in der Nähe ist, fühle ich mich wieder wie Vierzig.
Mein ganzer Körper macht knack, knister, peng.«
Eifersucht, gemischt mit einer bitter-süßen Traurigkeit,
flammte kurz in mir auf, nur, um von dem Namen Walter
Fisher erstickt zu werden. Es klingelte bei mir. Klageglocken
erklangen.
»Mrs. H, er ist zweimal oder dreimal abends
vorbeigekommen…«
»Zum Essen?«
»Geschäftlich. Er hat mit mir darüber gesprochen…«
»Ja?«
»Daß ich mein Begräbnis im voraus bezahlen soll.«
»Sie meinen doch nicht…?« Aber genau das tat sie! Ihr Mr.
Liebeskummer war kein anderer als Chitterton Fells’
unvergleichlicher Bestattungsunternehmer und Einbalsamierer.
Ich war dem Gentleman vor ein paar Jahren begegnet, als er
kam, um sein Beileid zum Ableben von Onkel Merlin
darzubringen, zusammen mit der Rechnung für geleistete
Dienste anläßlich der Beerdigung. Unglaublich! Dieser Mann
war ein solch schmächtiges Kerlchen. Mr. Walter Fisher sah so
wenig nach einem Sexobjekt aus wie… Miss Gladys Thorn.
In Gedanken an Walter versunken, übersah Mrs. Malloy mein
sprachloses Erstaunen. »Immer der perfekte Gentleman, Mrs.
H.«
»Verflixt!«
»Nie auch nur eine Hand auf meinem Knie. Und dann, gestern
abend, als ich meine Bluse aufgeknöpft hatte – nur die obersten
Knöpfe, auf gut Glück –, fing er an, von ihr zu erzählen. Mrs.
Fisher. Wenn man ihn hört, könnte man denken, die Frau war
eine Heilige. Niemals ein böses Wort. Immer fröhlich und
fidel. Immer zum Lachen aufgelegt. Möchte man da nicht
speien?«
»Absolut. Macht viel mehr Sinn, als sich selbst umzubringen.«
Hin- und hergerissen zwischen Mitgefühl und Ärger rückte ich
ihr näher auf den Leib, die Hände flehentlich gefaltet.
»Kommen Sie, Mrs. Malloy, legen Sie die Pistole weg. Ich
mache uns eine schöne Tasse Tee, und wir versuchen
herauszufinden, wie Sie sich Mr. Fisher an Land ziehen
können.«
Mist! Bisher war es ein höllischer Tag gewesen. Aber was
zuviel ist, ist zuviel. Die Babys waren inzwischen so lange
allein, daß sie vermutlich aus der Kleidung, die sie trugen,
herausgewachsen waren. Ohne ein »Pardon« trat ich auf den
Vorleger und nahm die Pistole von Mrs. Malloys Schoß,
genauso wie ich Abbey oder Tarn eine Rassel weggenommen
hätte.
Wenn Blicke töten könnten, hätte ich selbst Mr. Fishers
fachkundige Hilfe gebraucht. »Sie brauchen kein Blatt vor den
Mund zu nehmen.« Sie erhob sich schnaufend auf ihre Zehn-
Zentimeter-Absätze. »Es macht Ihnen nichts aus, wenn ich
mich um die Ecke bringe, solange es nicht in Ihrem Haus oder
während der Arbeitszeit geschieht. Schade, daß die Tabletten
nur gegen Verdauungsbeschwerden waren. Sonst könnte es
jetzt jeden Augenblick vorbei sein. Die Augen würden mir in
den Kopf fallen, und meine Knie würden einknicken wie beim
Limbo. Tja« – ein gewaltiger Schniefer –, »in der Not frißt der
Teufel Fliegen. Ich verschwinde, um mich von der Klippe zu
stürzen.«
»O nein und wenn ich Ihnen einen paar Schuß Vernunft in den
Körper jagen muß.«
Bis ins Mark erschüttert schaute ich auf meine Hand hinunter,
die mit der Pistole auf meine treue Putzfrau zielte, als jucke es
sie, meinen Gürtel um eine Kerbe zu bereichern. Ich konnte es
nicht glauben. Was würde ich Ben sagen, wenn er heute abend
nach Hause kam und fragte, womit ich mich beschäftigt hatte?
Das mußte ein Alptraum sein, obwohl es eher nach einem
schlechten Western aussah. Wie aufs Stichwort schlug die Uhr
auf dem Schreibtisch zwölf Uhr mittags. Als der letzte Ton
zitternd verklungen war, schwankte Mrs. Malloy auf ihren
Stöckelabsätzen, dann sank sie wieder in den Ledersessel.
»O mein Gott, ich habe sie erschossen!«
Unmöglich. Es hatte kein Geräusch gegeben, es sei denn…
konnte dies sein, was man als einen ohrenbetäubenden Knall
bezeichnete? Wenn man sich vorstellte, daß ich eben noch
wegen Kleinigkeiten ins Schwitzen geraten war. Der ganze
Quatsch, ob ich meinen Ein-Uhr-Termin mit Fully Female nun
einhalten sollte oder nicht. Ich war eine Mörderin. Ich würde
die entscheidenden Jahre meiner Kinder in Holloway
verbringen. Ich steckte die Pistole in meine Schürzentasche
und pirschte mich an die Leiche heran. Nachdem ich bis drei
gezählt hatte, berührte ich blitzschnell ihren herabbaumelnden
Arm. O mein Gott! Ihr Federhut rutschte seitlich hinunter, fiel
zu Boden wie ein erlegter Vogel, und im selben Moment…
öffneten sich die Augen der Leiche.
»Versprechen Sie’s mir«, krächzte sie.
»Was Sie wollen!« Sie lebte!
»Sorgen Sie dafür, daß ich in dem pflaumenblauen Taftkleid
mit den Pailletten und meiner Seehundstola begraben werde –
Sie müssen sie noch aus der Reinigung holen. Und noch
eines… Sagen Sie Mr. Walter Fisher, er soll sich vor Gram
verzehren, wenn er meinen Sargdeckel schließt.«
Welch verrückte Welt. Welch verrückter Tag. Ich hatte Mrs.
Malloy nicht erschossen, aber es sagte eine Menge über meinen
Geisteszustand aus, daß ich es gedacht hatte. Offenbar hatte
Jock Bludgett recht gehabt, als er sagte, ich brauche mehr als
nur eine neue Pumpe. Mrs. Malloy brauchte eindeutig mehr
Hilfe, als ich geben konnte, und es war keine Zeit mehr zu
verlieren, denn die Uhr tickte weiter wie eine Bombe, und die
Babys mußten gefüttert werden.
»Mrs. Malloy, rühren Sie sich nicht vom Fleck.«
Ich rannte hinaus in die Halle, schlitterte über die Steinfliesen,
sah kurz in die Küche, warf Abbey und Tarn eine Kußhand zu,
bekam lockende Blicke zur Antwort, schlängelte mich an den
glotzenden Ritterrüstungen vorbei, und ohne eine Pause zu
machen, um meine Atmung zu regulieren oder meine
Gedanken zu einem ordentlichen Packen
zusammenzuschieben, nahm ich den Telefonhörer und wählte
eine der wenigen Nummern, die ich auswendig kenne.
Beim dritten Läuten wurde abgehoben.
»Pfarrhaus St. Anselm.« Die mißtrauische Stimme gehörte
Mrs. Pickle, Rowlands Putzfrau.
»Ein Notfall!« rief ich. »Ich muß mit – «
»Momentchen.«
Stille, dann ein Klonk, als sie den Hörer hinlegte. Mrs. Pickle
tut alles in dem ihr eigenen geruhsamen Tempo. Sie nennt es
›Gewissenhaft sein‹. Ich stand auf dem Podest, trat auf der
Stelle wie ein Kind, das vom Klo ausgesperrt ist und stellte mir
vor, wie sie den Hörer abstaubte und Papier und Stifte auf dem
Tisch geraderückte, bevor sie im Schneckentempo loszog und
bei jedem dritten Schritt über die Schulter zurücksah, weil es
ihr nicht gefiel, auch nur eine Anruferin unbeaufsichtigt in der
Diele des Pfarrhauses zurückzulassen. Könnte ja sein, daß sie
bei ihrer Rückkehr feststellte, daß ein, zwei Kirchenblättchen
fehlten.
Ich kaute an der Telefonschnur und zählte im Geist ihre
Schritte, als sie durch die Halle ging. Das gedämpfte
Zuschlagen einer Tür. Dann wurde alles von Totenstille
geschluckt. Ob Mrs. Pickle einen Schritt zugelegt hätte, wenn
ich ihr meinen Namen gesagt hätte? Als mir Jonas’
Behauptung einfiel, sie habe es auf ihn abgesehen, hätte ich mir
einen Tritt geben können. Die Minuten zogen sich hin, und ich
fing an, mich nach der Musik zu sehnen, mit der man mich bei
meinem Anruf bei Fully Female berieselt hatte. Aber
Mantovani war in meiner unmittelbaren Zukunft nicht
vorgesehen.
Stimmen knisterten an meinem Ohr. Natürlich nahm ich an,
daß Mrs. Pickle Rowland aus seinem Arbeitszimmer zutage
gefördert hatte, doch die Enttäuschung kam nur einen Schrei
später.
Kein Hinweis auf die Identität des Schreiers. Doch ein Mann –
der nicht Rowland war – sprach, nicht ins Telefon, aber
offenbar ganz in der Nähe, mit einer Flüsterstimme, die besser
trug als ein Schrei.
Eine Frau, die nicht Mrs. Pickle war, antwortete ihm in
schrillem Ton. Würde Mrs. P ein Ehepaar in Scheidung in der
Halle zurücklassen, um dort ihre Gemüter, wenn nicht gar ihr
Mütchen aneinander zu kühlen? Niemals! Außerdem war das
Szenarium nicht stimmig. Was ich da belauschte, hörte sich
eher nach einer unverhofften Begegnung als nach dem großen
Finale an.
»Das war ein schlimmer Schock.« Die Stimme des Mannes
blies in mein Ohr wie ein Schwall eiskalter Luft durch einen
Ventilator. »So geht es nicht, verstehst du. Zwanzig Jahre lang
habe ich mich vor deiner Schamlosigkeit sicher gefühlt.«
»Heißt das, du bist nicht freudig erregt, mich zu sehen?« Die
weibliche Stimme bebte am Rande der Hysterie.
»Es reicht! Im Namen dessen, was uns einmal verband, bitte
ich dich, diese Räumlichkeiten zu verlassen.«
»Nicht, bevor ich mit deiner Frau gesprochen habe.«
»Niemals. Du bist es nicht wert, denselben Raum zu betreten
wie diese fromme Frau. Wenn du es versuchst, werde ich alle
nötigen Schritte unternehmen, um…«
»Gladstone, wie kannst du ein solcher Schuft sein?«
Abblende, die mich an dem Ort gefangen zurückließ, wo
Fakten und Fiktion verschmelzen. Ich konnte nur vermuten,
daß ich einer Schlüsselszene aus einem Hörspiel über das
Leben des großen Premierministers gelauscht hatte. Ein Mann,
in Stein gehauen, lange bevor der Tod dafür sorgte, daß seine
Statue in der Westminster Abbey aufgestellt wurde, den
moderne Sensationshaie jedoch verdächtigten, mehr als
politisches Interesse an den Königinnen der Nacht gehabt zu
haben. Es überraschte mich nicht, daß Mrs. Pickle das Radio
mit sich herumschleppte, während sie putzte. Daß sich bloß
niemand damit aus dem Staub machte, wenn sie nicht hinsah.
Hatte sie mich vergessen? Wie lange würde es dauern, bis sie
zurückkam, um mir mitzuteilen, daß der Pfarrer nirgends zu
finden war? Ich funkelte den Hörer böse an und wollte vor
lauter Frustration schon hineinbeißen, als mir ein
unerquicklicher Gedanke kam. Was war, wenn Mrs. Malloy,
durch meine Abwesenheit ermutigt, durch das Fenster aus dem
Haus entfloh? In diesem Augenblick könnte sie bereits auf
ihren Zehn-Zentimeter-Absätzen die Kieseinfahrt
hinunterstaksen, besessen davon, sich vom Rand der Klippe zu
stürzen…
Ich ließ den Hörer fallen – mein Herz ebenso bleischwer wie
die Pistole in meiner Tasche – und war an der Tür zum
Arbeitszimmer, bevor ich wußte, wie ich dorthin gekommen
war. Ich schob sie auf und sah Mrs. Malloys Pelzmantel schlaff
über dem Schreibtisch hängen. Kein Grund, einen Herzanfall
zu kriegen – sie steckte nicht darin. Ein Rheinkieselklips
blinkte in ihrem zweifarbigen Haar, während sie dastand und
den Porzellanpudel und andere irdische Güter in die
Provianttasche stopfte.
»Bringt nichts, mich immer wieder zum Trinken
aufzufordern.«
»Ich wollte nicht…«
»Und gute Worte auch nicht.« Sie rückte den Federhut auf
ihrem Kopf zurecht, dann nahm sie ihn ab und gab ihn mir.
»Da, geben Sie das diesem verflixten Kater, damit er sich
dadurch ab und zu an mich erinnert. Tja, das war’s dann, bis
auf das hier.«
Wie betäubt nahm ich den Umschlag, den sie mir überreichte.
»Geben Sie das Mr. Fisher. Ich habe ihm ein Gedicht
geschrieben.«
Irgendwie wußte ich, daß es ganz anders sein würde als die
Reime von Norman the Doorman.
Sie verzog ihre Schmetterlingslippen zu einem Schmollen,
streckte die Brust heraus und, die Hände auf den Bauch
gepreßt, deklamierte in einer Lautstärke, die ihr eine
Vorsprechprobe in einem Theater ohne Lautsprecheranlage
eingebracht hätte:
Das Paarungsspiel
Meine Damen, sitzen wir auch gemütlich auf unserer
Stuhlkante? Dann beginnen wir mit einer kleinen Geschichte
aus dem Leben meiner Wenigkeit – Bunty Wiseman. Und daß
mir ja keine von Ihnen auf die Idee kommt, daß diese
Publikation von deinem Ghostwriter verfaßt wurde, der auch
diese Schweinebauchreklame für Hoskins, den Metzger,
schreibt. Diese weisen weiblichen Worte kommen alle aus
berufenem Munde. Nun, was ich sagen wollte, bevor ich mich
unhöflicherweise selbst unterbrochen habe: Lionel Wiseman
von Bragg, Wiseman & Smith, Rechtsanwälte, heiratete mich –
eine blonde Sexbombe, jung genug, um seine Tochter zu sein –
hinter dem Rücken der Stadt.
Es war ein modernes Märchen! Sie können Ihren Büstenhalter
darauf verwetten! Ich begann meine Bühnenkarriere als Kind,
tanzte auf der Theke des Pubs meiner Tante Et, The Pig &
Whistle, in Luton. Mit Zwanzig und noch was warf ich dann
die Beine in einer Cafetheater-Produktion der Tin Can Alley in
Gravesend. Da kommt eines Abends dieser Typ
hereinmarschiert, der aussieht wie Cary Grant, so spricht wie
die BBC und maßgefertigte Socken trägt. Nach der Show
klopft er an meine Garderobentür. Ob ich Lust hätte, ihm bei
einem kleinen Abendessen Gesellschaft zu leisten? Sein Jaguar
warte draußen, und er nennt den Namen eines Nachtclubs, wo
ein Glas Wasser mehr kostet als sonst ein Abendessen mit vier
Gängen. Man sagte, es würde nicht gutgehen. Aber wir zeigten
es ihnen, Li und ich. Wo wir hinsahen, ließen sich die Leute
scheiden, während wir weiter das Märchen aus Tausend und
einer Nacht lebten.
Dann kam der Tag, als aus dem Mädel mit dem nicht
jugendfreien Lächeln eine Frau mit einer Mission wurde. Eine
Bekannte von mir – wir wollen sie Mrs. A nennen – fing mich
auf der Abfertigungsspur von Tesco’s Supermarkt ab und
schüttete mir ihr Herz aus. Anscheinend steckte ihre Ehe in
großen Schwierigkeiten. Schwierigkeiten mit einer anderen
Frau. Und man brauchte nicht in Oxford studiert zu haben, um
zu erkennen, warum. Mrs. A hatte keine Ahnung, wie sie die
Hormone ihres Mannes auf Trab halten sollte. Sie hatte nie
einen schwarzen Strapsgürtel oder durchsichtige Wäsche
besessen. Sex war eine Sache, die ein Mann brauchte, so wie
eine gewisse Dosis Badesalz, die sie einmal pro Woche immer
freitags reichte, zu einem Bad und frischer Unterwäsche. Arme
Mrs. A. Sie nutzte »diese Gelegenheiten«, um die Mahlzeiten
für die folgende Woche zu planen.
Glauben Sie mir, ich war erschüttert! Ich hatte nicht gewußt,
daß es immer noch Frauen gibt, die im finsteren Mittelalter
leben, die ihre große Nacktszene immer noch im Dunkeln
spielen. Ich gab Mrs. A einige kleine Tips, zum Beispiel, diese
alte elektrische Zahnbürste nicht wegzuwerfen. Und sie wurde
so zufriedengestellt, daß sie mich Mrs. B empfahl, und im
Handumdrehen war ich von Frauen umlagert, die es alle
danach dürstete, die glückliche Ehe- und Hausfrau zu werden.
Also was meinen Sie, liebe Mitfrauen? Sind Sie bereit, den
alten Körper gegen einen neuen einzutauschen? Sind Sie
willens, zu der Frau zu werden, die er sich immer gewünscht
hat? Höre ich da ein überwältigendes Ja? Hurra! Dann fangen
wir an. Jetzt. Auf der Stelle.
Bevor Sie Ihrem Ehemann etwas Gutes tun können, müssen Sie
sich selbst etwas Gutes tun. Zuerst mixen Sie sich mal einen
Drink. Zwei Teelöffel Fully-Female-Elixier, aufgelöst in 250
ml Wasser oder Fruchtsaft…
Lektion eins, Mitfrau. Ich will, daß Sie Ihr Bad als eine Lagune
sehen, in der Sie sich aalen – und nicht als einen Ort, um sich
kochen zu lassen wie ein Hummer. Jawohl, jede Menge schön
warmes Wasser. Jetzt gießen Sie einen reichlichen Schuß Fully
Female Fantasy hinzu…
Als ich endlich eine Flasche derselben aus dem
Handtuchschrank ausgegraben und die Wasserhähne zugedreht
hatte, war mein Glas Fully-Female-Elixier fest geworden.
Sollte ich es auf der Seifenschale zerstoßen und so tun, als ob
es eine Mousse wäre? Eine kleine Kostprobe mit dem Finger
gab den Ausschlag. Schmeiß das in die Toilette und fang
morgen noch mal von vorn an. Ich glitt in das parfümierte
Wasser und empfand einen Augenblick lang ein Gefühl reinen
Friedens, als es über meine Brust schwappte. Mein Haar hatte
sich gelöst und trieb auf der Oberfläche. Ich kam mir vor wie
eine Wassernymphe, der es bestimmt war, hier zu weilen, bis
der Traumprinz um die Ecke des Schicksals geritten kam. War
es denn möglich, daß Ben und ich die alte Magie
wiederentdeckten?
Ich griff mit triefnasser Hand nach dem Buch und las an der
Stelle weiter, wo ich aufgehört hatte.
›laut Dr. Tensel Reubenoff ist eine ruhige Frau wie stilles
Wasser. Am Ende eines langen Tages erwartet sie ihren
schwitzenden und staubigen Reisenden von seinem
Arbeitsplatz zurück. Sie lädt ihn ein, in ihre Ruhe
einzutauchen, in ihren besänftigenden Armen dahinzutreiben,
und wenn die letzte Kerze am Horizont versinkt, zieht sie ihn
in ihre verborgenen Tiefen hinunter…‹«
Ich legte die Reise nach Walhalla wieder auf die Decke des
Kinderwagens, als ein Kriegsschrei des zwanzigsten
Jahrhunderts ertönte.
»Der nächste!«
Abbey und Tarn schössen hoch und – ja! Hipphipphurra! Wir
waren die Auserwählten! Unter den neidischen Blicken des
übrigen Haufens, der aussah, als säße er hier seit den Anfängen
des Penicillins, schob ich den Kinderwagen in das
Allerheiligste von Dr. Melrose.
Du liebe Zeit! Der gute Arzt saß zusammengesunken in seinem
Stuhl, mit geschlossenen Augen, was mich zu der Annahme
veranlaßte, daß er tot war (alles andere wäre völlig
unprofessionell gewesen), aber plötzlich setzte er sich auf und
jagte mir dadurch einen Mordsschreck ein.
»Mrs. Haskell, nicht wahr?« Und das von dem Mann, der seit
meiner Ankunft auf Merlin’s Court mein Arzt war. Der Doktor
war ein Hüne, groß und stämmig. Gewöhnlich trug er Tweed,
was seine Ähnlichkeit mit einem Bären unterstrich, heute
jedoch wirkte er wie geschrumpft. Sein Gesicht war
eingefallen, und er hatte einen glasigen Blick, der erschreckend
an den abgeschlagenen Kopf erinnerte, der wie ein Fußball den
Hügel hinuntergerollt war.
»Ja, ich bin’s«, antwortete ich, mit aller mir kraft meiner guten
alten bäuerlichen Herkunft eigenen Munterkeit. »Es ist mal
wieder Zeit für einen Check-up der Babys.« Es irritierte mich,
ihn an den Grund unseres Kommens erinnern, zu müssen.
Immer noch sitzend, beobachtete Doc Melrose, wie ich Abbey
aus dem Kinderwagen hob, so als hätte er nicht die geringste
Ahnung, was – geschweige denn wer sie war.
»Ich habe nicht gut geschlafen.« Seine Hände zitterten.
Unangenehm, denn sie gehörten zu der besonders behaarten
Sorte.
»Oje!« Ich setzte mich mit beiden Babys auf dem Schoß ihm
gegenüber. »Jede Menge nächtlicher Streß, schätze ich.« Ich
meinte Notfälle, Hausbesuche und so weiter, aber seine
Reaktion führte fast dazu, daß Tarn von meinem rechten
Oberschenkel in den Abgrund fiel.
»Ja!« Der Doktor drückte das Stethoskop an seinem Hals
zusammen, als wollte er sich selbst erdrosseln. »Morgens,
mittags und nachts Streß. Flo ist nicht mehr sie selbst, seit sie
dieser Fully-Female-Organisation beigetreten ist. Sie sind doch
nicht etwa auch eingetreten, oder?«
»Um Himmels willen!« sagte ich nervös.
»Um Ihret- und Ihres Ehemannes willen bete ich, daß Sie es nie
tun.« Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Blick ging
gehetzt zur Tür. »Sie haben meine Frau nicht da draußen im
Wartezimmer gesehen?«
»Nein.«
»Sie könnte verkleidet gewesen sein.« Jetzt verknotete er sein
Stethoskop. Schlimmer noch, sein Gesicht verknotete sich.
»Flo inszeniert gern solche kleinen Überraschungen. Ich habe
keine Ahnung, wann sie diese Tür da aufstoßen und bei
meinem Anblick die Zähne fletschen wird… sämtliche… Diese
Frau hat sich in einen Vampir verwandelt. Sie ist unersättlich.
Gestern abend, als ich nach Hause kam… noch ehe ich meinen
Hut abnehmen konnte, hatte sie mich auf den Tisch im
Eßzimmer geworfen. Wir hätten eigentlich Bridge spielen
sollen.«
»Mrs. Melrose hatte abgesagt?«
»Nein. Und Gott sei Dank läutete es gerade noch rechtzeitig an
der Tür. Ich bin zu alt dafür, Mrs. Haskell. Ich freue mich auf
die Pensionierung, wenn wir zwei im Garten sitzen, Strohhüte
aufhaben und Händchen halten.«
»Sie zeichnet doch so gern.« Ich bot ihm allen Trost, dessen
ich fähig war, während ich Abbey und Tarn enger an mich zog.
Arme Lieblinge, sie rieben sich beide das Naschen, ein sicheres
Zeichen, daß sie müde waren.
»Zeichnen!« Dr. Melrose warf sein Stethoskop hin und
knirschte mit den Zähnen. »Wissen Sie, von welchen Motiven
ihr Künstlerhirn jetzt besessen ist?«
»Ähmmmm…« Ich erinnerte mich nur zu gut daran, wie Flo
mir auf der Versammlung des Heim-und-Herd-Vereins erzählt
hatte, sie stehe darauf, nackte Kerle zu malen. Sie hatte ja sogar
gemeint, Ben würde ein hübsches Motiv abgeben. Doch dem
Doc hatte sie vielleicht erzählt, sie male Stilleben, was als
leicht geschönte Version der Wahrheit durchgehen konnte,
wenn sie ihre Modelle anwies, sich nicht zu rühren, sich nicht
einmal ihre Gänsehaut zu kratzen.
»Mrs. Haskell, Flo interessiert sich für die männliche
Anatomie.«
»Tatsächlich?«
»Ganz bestimmte Teile der männlichen Anatomie.«
Es dauerte einen Augenblick, bis der Groschen fiel, woraufhin
ich wahrhaft entsetzt war. Vielleicht habe ich ja eine
schmutzige Phantasie. Aber in meiner bäuerlichen Sichtweise
besteht ein großer Unterschied zwischen einer Künstlerin, die
nur Hände malt, und einer, die sich auf das konzentriert, was
Bücher wie Rase nach Walhalla mit Euphemismen
umschreiben. Prinzessin Marvel mochte ihre Augen ruhig zur
Freude ihres kleinen nordischen Herzens an Lord Dericks
Männlichkeit weiden, doch Flo Melrose würde ihren Pinsel
nicht in die Nähe von Bens…
»Und ich bin nicht der einzige, der durchdreht!« Dr. Melrose
war aufgestanden und hantierte mit den Instrumenten auf
einem Tablett. »Glauben Sie im Ernst, daß der Tod dieser
Huffnagle ein Unfall war? Lassen Sie es sich gesagt sein, ihr
Ehemann konnte keine weitere Runde mehr durchstehen und
machte dem Highlife ein Ende, indem er dieses Elektrogerät in
ihr Badewasser warf.«
»Mord?« keuchte ich.
»War nur so dahingesagt.« Dr. Melrose verzog den Mund und
winkte mit seiner behaarten Hand ab. »Und es wäre schwer zu
beweisen. Glückspilz.«
»Tja, wie Reverend Foxworth immer sagte, und ich bin sicher,
die neue Amtsinhaberin würde ihm beipflichten, soll der
Himmel sein Richter sein.« Ich steckte die Babys in den
Sportwagen und bewegte mich in Richtung Tür.
»Nicht so eilig!« Er hielt eine Spritze hoch, und ihre
heimtückische Spitze glitzerte in der Sonne, die durch das
gefängnisgroße Fenster hereinschien. »Das ist kein Spaß für
Mummy, aber Alice und Tom brauchen ihre Injektionen.«
Entsetzlich unhöflich von mir, ich weiß, aber ich würde nicht
zulassen, daß dieser um seinen Schlaf gebrachte Mann mit dem
womöglich falschen Serum auf meine Babys losging. Ich stieß
die Tür auf, floh durch das Wartezimmer, war in meinem Auto
und hatte meine Engel sicher auf dem Rücksitz verstaut, bevor
ich richtig Atem schöpfte.
Während ich in einem als Mutter verantwortbaren Tempo über
die Cliff Road fuhr, überlegte ich aufs neue, ob ich nicht etwas
furchtbar Albernes getan hatte, indem ich Fully Female beitrat,
selbst wenn ich davon ausging, daß Dr. Melrose bezüglich der
Huffnagles sein professionelles Augenmaß eingebüßt hatte.
Was Ben sagen würde, falls – wenn – er es herausfand, war die
große Frage. Das männliche Ich ist unergründlich. Er könnte
erfreut sein, daß ich Zeit und Energie in den Erhalt unserer Ehe
investierte, oder er könnte das Ganze als Beleidigung seiner
Männlichkeit auffassen – im weitesten Sinne des Wortes.
Ich befand mich auf dem Abschnitt der Straße, wo der
Eisenzaun des Kirchhofs sich oben auf dem Hügel brüstet, als
ich einen Mann aus dem Torbogen der Eiben auftauchen sah.
Leider sah er mich nicht und stapfte um Haaresbreite vor der
Schnauze meines Wagens über die Straße. Ohne mein
damenhaftes Tempo wäre er entweder auf der Motorhaube
gelandet oder holterdipolter über den Klippenrand in das
wartende Maul der hungrigen See gefallen, deren
Magenknurren laut und deutlich zu uns heraufzog.
Der Wind zauste Mr. Gladstone Spikes spärliches Haar,
während der Rest von ihm völlig unbewegt wirkte, als er
durchs Autofenster spähte.
»Mrs. Haskell, wie erfreulich, Ihnen über den Weg zu laufen.«
Sein sanftes Lächeln sagte mir, daß kein Wortspiel beabsichtigt
war. Der Mann hatte keine Ahnung, daß Petrus an der
Himmelspforte gestanden und »Der Nächste!« gerufen hatte.
»Ich bin auf dem Heimweg, ich war mit Abbey und Tarn beim
Arzt.«
»Ach, wie nett!« sagte er.
Ich erkundigte mich nach seiner Frau, und plötzlich geriet mehr
als nur sein Haar durcheinander. In seine Augen trat dieser
glasige Blick, den ich für immer mit jenem Morgen in
Verbindung bringen würde. »Eudora geht es gut, danke.
Beschäftigt, wie nicht anders zu erwarten.«
»Diese Gemeinde kann von Glück sagen, sie zu haben.« Meine
Stimme lief jetzt auf Automatik. Die Zwillinge wurden
allmählich unruhig. Ohne mich umzudrehen, wußte ich, daß
Abbey Tarn an der Nase gepackt hatte und jeden Augenblick
ein Geheul losbrechen würde, das dem, was Cape Canaveral zu
bieten hatte, in nichts nachstand.
»Eudora ist eine großartige Frau.« Seinem Ton nach hätte Mr.
Spike mich auch darüber informieren können, daß sie unter
einer Weihrauchallergie litt, durch die sie sich zu vorzeitiger
Pensionierung veranlaßt sehen könnte. »Eine Heilige. Ich habe
nie aufgehört, dem Himmel dafür zu danken, daß sie mich
geheiratet hat.« Er trat vom Auto zurück und stand mit
hängenden Schultern da, eine frostige Gestalt selbst an diesem
Apriltag. Er blickte starr nach vorn, als läge irgendwo an dem
blauen Horizont die Antwort auf eine Frage von schicksalhafter
Bedeutung.
»Überaus liebenswürdig von Ihrem Mann, Mrs. Haskell, die
Schachtel Ingwerkekse zu schicken. Meine Frau wird ihm noch
ein paar Zeilen schicken, aber danken Sie ihm doch schon
einmal in unser beider Namen.«
»Das mache ich.« Ich brachte den Motor auf Touren, erklärte,
daß ich es eilig hätte, nach Hause zu kommen, weil die Babys
zu Mittag essen müßten, und er hob die Hand in einer Geste,
die wie ein Abschiedsgruß und ein Segen zugleich wirkte. Als
ich losfuhr, stand er von meinem Rückspiegel eingerahmt da.
Ich hatte angenommen, daß er auf einem Mittagsspaziergang
war, aber irgend etwas an seiner Kopfhaltung und seine
verkrampften Schultern brachte mich auf den Gedanken, daß er
auch auf jemanden warten könnte.
Manche Tage sind voller Überraschungen. Ich betrat Merlin’s
Court durch die Gartentür, die Arme voll mit den Babys, und
fand einen Mann in meiner Küche vor.
»Mr. Bludgett«, sagte ich an den kleinen Mann mit dem
Charlie-Chaplin-Bärtchen gewandt, »wie sind Sie
hereingekommen?«
Er hörte auf zu tun, was immer er an der Waschmaschine tat,
und blickte mich aus seinem gesunden Auge an. Das unter dem
verzogenen Lid machte, was es wollte.
»Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt hab’, Missus.« Er sah
aus, als tue er nichts lieber, aber, wie Reverend Spike mich
sicherlich ermahnen würde, du sollst nicht nach dem Schein
urteilen. »Als auf mein Rufen niemand gekommen ist, hab’
ich’s an der Tür probiert und festgestellt, daß sie offen war.
Dachte, Sie wollten die Waschmaschine repariert haben, bevor
sie noch älter wird, und fertig ist die Laube.«
»Nett, Sie zu sehen.«
»Hier, lassen Sie mich eines der kleinen Scheißerchen
nehmen.« Gesagt, getan, Mr. Bludgett nahm mir Tarn ab.
»Danke.« Ich knöpfte Abbeys Mantel auf. »Und, bitte, lassen
Sie sich von uns nicht stören. Wir versuchen, Ihnen nicht im
Weg zu sein, während Sie arbeiten.«
»Keine Sorge.« Mr. Bludgett mochte hoffnungsvoll auf den
Kessel geblickt haben oder auch nicht. So oder so hatte ich
keine, Zeit, ihm eine Tasse Tee aufzugießen, bevor ich nicht
die Babys umgezogen und gefüttert hatte.
»Wenn Sie es sich gemütlich machen wollen«, fing ich an,
nahm ihm Tam ab und ging mit je einem Baby unter dem Arm
zur Tür.
Er verstand auf Anhieb. »Kein Problem, Missus. Ich setz’
Wasser auf.«
»Der Tee ist in der Kupferdose.«
»Alles klar. Meine Moll sagt, ich bin wie ein Bluthund in der
Küche. Sie kann nichts vor mir verstecken. Vorige Woche hat
sie ‘nen Kuchen gebacken – nicht zu unserem Hochzeitstag
oder ‘ner anderen offiziellen Gelegenheit. Es war ein
Dankeschön-Kuchen… für die Nacht davor. Sie ist ein Genie,
meine Moll, mit solchen kleinen Extras, mit denen man einen
Mann verwöhnen kann. Jedenfalls, um’s kurz zu machen, sie
hat ihn im obersten Schrankfach über dem Herd versteckt, aber
ich hab’ ihn doch erschnüffelt. Wie wir gelacht haben, wir
beide, als Moll mich mit der Dose in der Hand erwischt hat.
›Hier braucht jemand eine Tracht Prügel!‹ sagte sie.«
Ach du liebe Zeit! Jetzt wurde es pervers. Knallrot vor
Verlegenheit murmelte ich: »Da müßte noch etwas Dundee-
Kuchen in der Dose mit dem Parlament drauf sein« und eilte
hinaus.
Nachdem ich die Babys frisch gewickelt hatte, fuhr ich mir mit
dem Kamm durch die Haare und musterte mich im Spiegel des
Kinderzimmers. Das hier war beim besten Willen kein Gesicht,
das tausend Schiffe vom Stapel ließ. Nicht mal ein paar
Ruderboote. Mist. Aber keine Zeit für Selbstmitleid. Ich durfte
nicht vergessen, daß meine Zeit knapp bemessen war. Wenn
ich nicht Mrs. Malloys Staatsfeind Nummer eins werden
wollte, mußte ich mich auf die Nachtphantasie mit meinem
Ehemann Nummer eins vorbereiten. Sollte ich dem Beispiel
von Moll Bludgett folgen und für Ben einen Kuchen backen?
Das wäre wie Eulen nach Athen tragen. Alles, was ich backen
konnte, konnte Ben besser backen, andererseits haben Speisen,
die mit dem Herzen gegessen werden, doch bestimmt eine
Garantie auf Genuß. Mit den Babys im Zwillingstragesack und
einem Blick auf die tickende Standuhr eilte ich durch die Halle
zur Küche zurück. Dort fand ich Mr. Bludgett mit einer Tasse
Tee in den Händen und einem Gummischlauch um die Schulter
geschlungen vor. Rechnete er mit Hochwasser?
Abbey und Tarn machten deutlich, daß sie ihr Mittagessen
wollten, und zwar dalli. Küchengewusel mit einem Mann im
Weg war noch nie eines meiner Lieblingshobbys. Über
Schläuche stolpernd und durch den schmalen Kanal zwischen
Waschmaschine und Küchentisch navigierend, schaffte ich es,
die Babys wieder in den Laufstall zu setzen, wobei ich
gleichzeitig versuchte, mit einer Hand das Fully-Female-
Handbuch zu halten und darin zu lesen. Verstehen Sie, ein
Fully-Female-Mitglied muß ihr Handbuch so getreu lesen wie
ein römisch-katholischer Priester seine Messe. Ich hatte nicht
nach Rezepten Ausschau gehalten, doch am Schluß von
Kapitel drei stieß ich auf ein Fully-Fe-male-Fondue, das genau
richtig klang.
REZEPT
Für ein Rezept war dieses hier zweifellos spannend, aber ich
fragte mich allmählich, ob wir jemals zum Höhepunkt
gelangen würden, dem Teil, wo wir kunstvoll das Essen auf
einer Servierplatte arrangierten. Aha, hier kam es –
Paradiesvogel-Fondue, was, wie es aussah, im Grunde eine
erotische Umschreibung für Brathähnchen war. Die einzige
kulinarische Herausforderung, die ich voraussah, wäre das
Auffinden des Fonduetopfs. Früher hatten wir zwei besessen,
aber Ben, als der Purist, der er ist, hatte den elektrischen
verschenkt. Ich fragte mich schon, ob es sich mit
verantwortungsvoller Elternschaft vereinbaren ließ, etwas zu
frittieren… ach, zum Teufel damit! Haben Menschen, die
Abstinenz zum Kult erheben, wirklich ein längeres Leben?
Oder läßt die Langeweile es nur länger erscheinen?
Als die Uhr Mitternacht schlug, hörte ich Bens Schritte auf der
Treppe. Mein Mund wurde trocken. Welch ein Zeitpunkt, um
kalte Füße zu kriegen! Ich konnte nicht zu dem Tisch mit dem
knallgelben Fonduetopf, der Salatschüssel aus Glas und dem
Tongeschirr hinsehen. Was tat ich da, meine Schokoladentorte
einem Mann vorzusetzen, der vor nur wenigen Jahren noch ein
völlig Fremder gewesen war? Ich war mir noch nie in meinem
Leben so billig vorgekommen! Doch als seine Schritte immer
näher kamen, dachte ich: Quatsch! Wenn ich schon bis hierher
gegangen bin, wollte ich auch eine Eins bekommen!
Her mit den Wikingerhörnern.
Ben stand in der Tür und starrte mich an, als ob er mich noch
nie im Leben gesehen hätte. Meine Wangen brannten, während
der Rest von mir sich in einen Eisblock verwandelte. Sag
etwas, flehte ich, als er sich aufs Bett setzte und den Mund –
diese Lippen, die ich mit Küssen überschütten sollte – zu
einem harten, geraden Strich verzog.
»Beim Jupiter, Ellie, manchmal denke ich, ich hätte Mönch
werden sollen.«
»Ich…«
»Dann müßte ich mich nicht mit Vertretern der Öffentlichkeit
abgeben, die sich selbst für Gourmets halten. Kannst du dir
vorstellen, daß ein unerträglicher Kerl mich heute abend aus
der Küche rufen ließ, um mir mitzuteilen, sein Prime Rib-Steak
schmecke, als lebe es noch? Er wolle es ›rare‹, nicht roh. Du
wärst stolz auf mich gewesen, Ellie. Ich hatte mein
Temperamentvoll im Griff – und mein Lächeln. Ich brachte
ihm das Stück Leder, das er wollte, und lauschte geduldig
seinen Vorschlägen, wie die Senfglasur auf dem Rosenkohl
verfeinert werden könnte.«
»Mein tapferer Liebling!«
Bestimmt würde er doch jetzt merken…
»Verdammt, morgen ist schon wieder so ein Tag.« Er zog seine
Schuhe aus. »Lass’ uns ins Bett gehen.«
»Ben…« Ich ging in einem Wirbel grüner Gaze zu ihm.
»Öffne deine Augen, mein Liebster. Sieh dich um, sieh mich
an!«
»Was ist denn, Liebes?«
»Ich habe einen besonderen Abend für uns vorbereitet.« Der
Schwung meines weiten Ärmels umfing den Tisch für zwei, die
Kerzen auf dem Kamin, seinen schwarzen Seidenmorgenrock,
der einladend über die Rückenlehne des Kaminstuhls drapiert
war.
Erschöpft lehnte meine bessere Hälfte den Kopf an mich, als
ich vor ihm stand. »Das ist nett, Ellie, aber können wir das
nicht zum Frühstück essen? Ich bin wirklich erschlagen.«
Mich überkam der Drang, mich neben ihn zu setzen und ihn in
meine Arme zu nehmen, so wie ich es mit Abbey oder Tarn
getan hätte, aber hier stand eine Hausaufgabenzensur auf dem
Spiel. Ich konnte keine Sechs riskieren. Mrs. Malloy würde es
mir ewig vorhalten, und ich mußte auch an Bunty denken. Sie
würde glauben, daß ich Fully Female nicht ernst nahm.
Meine Hausaufgabe ließ sich aufs Bett zurückfallen, mit
geschlossenen Augen und Nasenlöchern, die arbeiteten wie
zwei Blasebälge. In Kürze würde ich eine Röchelsinfonie in a-
Moll zu hören bekommen. Höchste Zeit, sich eine Scheibe von
Reise nach Walhalla abzuschneiden. Prinzessin Marvel hätte
doch bestimmt nicht mit herabhängenden Armen dagestanden
und zugesehen, wie ihre Spinatblätter dahinwelkten, oder?
Nein! Sie, die ihren Feinden aus dem Handgelenk den Kopf
abhackte, hätte die Gelegenheit beim Schopf – den Mann beim
Schopf gepackt. Ich griff hinunter, packte Ben bei den Ohren
und hob seinen Kopf vom Kissen.
»Aufwachen, aufwachen!«
»Was ist denn?« Seine Augen gingen einen Spalt auf.
»Ich kann dich nicht schlafen lassen.«
»Ellie, bitte!« Er machte eine Bewegung, als wollte er sich
umdrehen, setzte sich jedoch statt dessen auf und rieb sich die
Augen. »Ich hatte einen Alptraum. Du hattest zwei Hörner auf
und wolltest mich foltern. Großer Gott! Du hast tatsächlich
Hörner auf.«
Ich rückte meine Kopfbedeckung vorteilhafter zurecht und
sagte trotzig: »Der Zweck der Übung des heutigen Abends war,
das Element einer locker-luftigen Phantasie in unsere
Beziehung einzubringen. Ich war fest entschlossen, dich als
Vorspiel mit Speis und Trank zu bewirten – «
Das Heben einer dunklen, fragenden Augenbraue. »Geht’s hier
um Sex?«
»Sozusagen.«
»Um Himmels willen, warum hast du das nicht gesagt!«
Apropos alle Bedenken und Bekleidung in den Wind schlagen!
Ben war aus dem Bett, mit aufgeknöpftem Hemd, noch ehe ich
das Fonduelicht anzünden konnte. Fünf Minuten später kam er
von einem Abstecher ins Bad zurück, in schimmernder
schwarzer Seide und mit dem Wohlgeruch von Mr.-Right-
Aftershave. Ich hätte vor Triumph erstrahlen müssen, aber als
wir unsere Plätze am leinengedeckten Tisch einnahmen, fühlte
ich mich seltsam enttäuscht. Der Mann hatte keinen Blick für
meine Schokoladentorte oder das marinierte Hähnchen. Er saß
mit den Händen im Schoß da wie ein braves Kind, das darauf
wartet, vom Tisch entlassen zu werden, damit es sich zum
Spielen davonmachen kann.
»Hoffentlich denkst du nicht, daß ich zu leicht zu haben bin.«
Sein sprödes Lächeln paßte nicht zu dem spitzbübischen
Ausdruck in seinen strahlend blaugrünen Augen.
»Ach wo.« Ich machte mich daran, die Fondueflamme höher
zu drehen und sah zu meinem Entsetzen, wie der Spitzensaum
an meinem malerisch drapierten Ärmel Feuer fing. Prinzessin
Marvel hätte den Augenblick zweifellos genossen. Ihre
Kriegernüstern hätten beim Inhalieren des lebensbedrohlichen
Rauches vor Ekstase gebebt. Ihr verschmitztes Lachen hätte die
Flamme angefacht. Doch Ellie Haskell war noch nicht bereit
für die Reise nach Walhalla. Mein Verstand wurde zu einem
einzigen großen Schrei, ich bekam jedoch nicht den Mund auf,
um wenigstens »Hilfe!« zu krächzen, geschweige denn »You
light up my life« zu singen. In gräßlicher Zeitlupe sah ich, wie
Ben den Blick von meinem Dekollete losriß und sich über den
Tisch warf, um das Feuer mit den Händen zu löschen.
Alles vorüber, sowohl die Gefahr als auch mein kostbares
Abendessen, das jetzt in einer matschigen, fettigen Lache auf
dem Fußboden lag. Die gute Nachricht war, daß weder Ben
noch ich Schaden genommen hatten. Mein weiter Ärmel hatte
mein Handgelenk gerettet, und Ben versicherte mir, seine
Hände seien nicht versengt. Vielleicht war es dasselbe wie bei
den Leuten, die über glühende Kohlen gehen – ihre
Furchtlosigkeit stattet sie mit einem mystischen Schutzschild
aus. Dennoch nahm ich meine Hörner ab und bot an, meinem
Helden Erste Hilfe zu leisten.
»Meine Hände sind in Ordnung, Ellie.« Er stieg über das Chaos
hinweg und schloß mich in seine Arme. »Du hast mir einen
Mordsschreck eingejagt.«
»Ich hole die Brandsalbe…«
»Nicht nötig.« Er fuhr mit dem Finger an meinem Kinn entlang
und tastete sich dann bis zu meinem Hals hinunter, wo er mein
Negligé auseinanderschob.
»Ich glaube aber doch, daß ich dir etwas Salbe auf die Hände
streichen sollte.«
»Schatz, andere Teile meiner Anatomie bedürfen deiner
Aufmerksamkeit viel dringender.« Sein Atem war eine
tropische Brise, die in mein Dekollete blies, und ich muß ganz
ehrlich sagen, daß ich nicht länger in solchen Begriffen wie
Hausaufgaben und Noten dachte. Was mich allerdings eine
Spur ärgerte, war der Gedanke, unser Abendessen auf dem
Fußboden liegen zu lassen wie die Überbleibsel eines
mittelalterlichen Banketts, doch Ben – gewöhnlich solch ein
Sauberkeitsapostel – schien es nichts auszumachen.
»Später.« Er schob mich zum Bett.
»Warte einen Moment.« Ich machte mich los und eilte ins Bad,
wo ich das Medizinschränkchen öffnete und eine große
rosarote Flasche aus dem Arsenal auf dem Glasregal nahm. Als
ich zu Ben zurückkam, lag er bäuchlings auf dem Bett.
»Achtung, ich komme!« Kaum saß ich neben ihm, streifte ich
die schwarze Seide seines Morgenmantels von seinen
Schultern, schüttete einen Klecks des kirschroten Zeugs auf
meine Hand, rieb meine Handflächen aneinander und fing mit
der Massage an. Der Duft eines blühenden Apfelgartens
erfüllte den Raum. Langsam, rhythmisch arbeitete ich mich an
seinem Rücken hinunter.
»Darf ich mich jetzt umdrehen?«
»›Geduld ist eine Tugend‹«, zitierte ich, »›die besitzt, wer
kann. Selten bei einer Frau und nie bei einem Mann.‹«
»Ellie.«
»Ach, schon gut.« Ich sah zu, wie er sich auf den Rücken
drehte, und dann verwandelte sich sein Lächeln in einen
Ausdruck blanken Entsetzens. »Was ist los?« rief ich.
»Ich fühl’ mich so klebrig!«
»Darling!« Ich lachte glucksend. »Wir sind verheiratet!«
»Ich klebe am Laken fest!« Er wollte sich aufsetzen, aber es
war, als werde er von Gummisaugnäpfen festgehalten. »Was
zum Teufel hast du mit mir gemacht? Was ist das für ein
Zeug?« Er klang haargenau so entrüstet wie vermutlich
Herkules, nachdem er sich in die mit einer tödlichen
Flüssigkeit beschmierte Löwenhaut gehüllt hatte.
»Das ist eine Bodylotion.« Ich nahm die rosarote Flasche und
fing an, von dem Etikett vorzulesen. »›Eine angenehme
Mischling aus dem feinsten natürlichen Saft wilder
Kirschblüten und Hagebutten für Ihr…‹«
»Weiter.«
»Nun… hier steht ›für Ihr Bad‹, aber ich bin sicher, es ist
eigentlich eine Allzweck…«
»Ein Schaumbad!« Er schoß mit einem Reißgeräusch hoch, das
ebenso vom Laken wie von Haut herrühren konnte, die von
seinem gequälten Körper abgezogen wurde. »Das darf doch
wohl nicht wahr sein, Ellie! Wie konnte dir nur so ein blöder
Fehler passieren? Konntest du nicht die Augen aufmachen?«
»Bevor ich über dich hergefallen bin? Willst du das damit
sagen?« Ich zog mit einem weiteren scharfen Reißgeräusch
mein Neglige unter seinem Ellbogen weg, stand auf, schraubte
den Verschluß wieder so fest zu, wie es ging und knallte die
Flasche auf den Frisiertisch. »Als nächstes wirfst du mir noch
vor, daß ich mich dir ungebeten aufdränge.«
»Meine Liebe, das hab’ ich nicht verdient!«
»Wenn du nur einen Funken Humor hättest!«
»Gott sei Dank habe ich das nicht, oder ich hätte mich
totgelacht über diese blöden, albernen Hörner.« Ben wickelte
den Morgenmantel um seine Männlichkeit, im Handtuchstil,
und stürmte aus dem Bett. »Hör zu, Schatz, es tut mir leid, aber
heute war ein langer Tag.«
»Und du bist wohl der einzige, der hier arbeitet?« Ich jagte ihm
ins Bad hinterher und fauchte: »Für dich habe ich meinen
vollen Terminplan über den Haufen geworfen, für dich habe
ich gebadet und mich geschniegelt!«
»Danke, daß es sich anhört, als wäre es eine verdammt lästige
Pflicht!« Er drehte die Dusche auf und verschwand in einer
Dampfwolke, die sich im Handumdrehen in kirsch-rosa
Schaum verwandelte. Ich war auf dem Weg in den Korridor,
als seine Stimme mich zurückhielt. »Ellie?«
So bald eine Entschuldigung? Es geschahen noch Zeichen und
Wunder. Ich drehte mich um.
»Ja?«
»Ich hab’ vergessen zu fragen, ob du etwas von der Pfarrerin
gehört hast. Ich habe ihr etwas rübergeschickt, eine
Schachtel…«
»Ingwerkekse.« Ich kam nicht dazu zu erklären, daß ich durch
Mr. Spike an diese Information gelangt war, nachdem ich ihn
heute morgen fast über den Haufen gefahren hatte.
»Nicht bloß irgendwelche Ingwerkekse«, ließ sich die
körperlose Stimme vernehmen. »Es waren anatomisch korrekte
Ingwermännchen.«
»O nein!«
»Den Reinen ist alles rein. Und wir können doch wohl davon
ausgehen, daß Reverend Spike und ihr Gatte äußerst keusch
denken.«
Wut schnürte mir die Kehle zu. Ich wußte, warum er das getan
hatte! Höchste Eitelkeit, dein Name ist Mann. Als Ben die
Pfarrerin mit der kulinarischen Potenz ihres Ehemannes und
den dafür verliehenen Preisen prahlen hörte, hatte er einen
Rivalen in Mr. Spike gesehen, den er übertreffen mußte, bevor
dieser in den Küchen von Chitterton Fells die Oberhand
gewann. Aber um welchen Preis?
Das Gespenst der Exkommunikation reckte sein bedrohliches
Haupt, besonders, wenn Freddys Eskapade durchsickerte. Zum
erstenmal kam mir der Gedanke, daß Miss Thorn heute morgen
in Doktor Melroses Praxis vielleicht deshalb durch mich
hindurchgesehen hatte, weil sie meinen lieben Cousin als
Pfarrerin verkleidet erwischt hatte und mich verdächtigte, mit
ihm unter einer Decke zu stecken. Womöglich hatte sie die
Rückgabe von Bens Taschentuch als Vorwand benutzt, um
heute nachmittag vorbeizukommen und es mit mir
auszudiskutieren. Was sie der neuen Pfarrerin gegenüber auch
empfinden mochte, Miss Thorn könnte gut um Buntys willen
empört sein.
In den letzten beiden Tagen war mein Leben zu einem einzigen
Schlamassel geworden. Dafür konnte ich nicht nur Fully
Female verantwortlich machen. Und doch kam mir, als ich in
meinem Dampfbad stand, der Gedanke, daß es gewisse
Gefahren mit sich brachte, sich in die Frau seiner Träume zu
verwandeln. Wir hatten bereits den Fall von Mrs. Huffnagle,
die versehentlich oder anderweitig durch ein Elektrogerät
verbrutzelt war, zu verzeichnen. Heute abend wäre ich fast in
Flammen aufgegangen und…
Das Läuten des Telefons riß mich aus meinen Gedanken. Ich
griff schnell nach dem Hörer des Nebenapparates auf dem
Treppenabsatz, bevor die Babys aufwachten. Da ich innerlich
auf ein »Falsch verbunden!« eingestellt war, schockte es mich,
als eine erregte Stimme schmetterte: »Ellie Haskell?«
»Ja…«
»Sie müssen sofort kommen.«
»Wer spricht da?«
»Jacqueline Diamond. Bitte! Stellen Sie keine Fragen.
Kommen Sie nur her. Rosewood Terrace 21. Schnell! Und was
Sie auch tun – bringen Sie niemanden mit!«
Der verzweifelte, eindringliche Appell lähmte mein Gehirn.
Wenn ich zu Ben lief, um ihm zu sagen, daß ich wegging,
würde er alle möglichen Fragen stellen, auf die ich keine
Antwort wußte. Er würde darauf bestehen, mich zu begleiten,
trotz der gegenteiligen Anweisungen, was bedeuten würde, die
Zwillinge aufzuwecken und sie zu Freddy ins Cottage zu
bringen. Bis ich dieses Szenarium zu Ende gedacht und es als
unmöglich verworfen hatte, saß ich schon im Kombi und stieß
in einer Wolke aus Abgasen rückwärts aus dem Stall. Die
Kieseinfahrt blieb unter meinen Rädern zurück, und ich war
draußen auf der Cliff Road, raste durch die Nacht, auf dem
Weg zu einem unbekannten Haus, auf die Bitte von Mrs.
Norman the Doorman. Daß ich im Begriff war, dem Idol
meiner Kinder zu begegnen, kam mir nicht in den Sinn.
Ebensowenig machte ich mir Sorgen darüber, daß mein grünes
Neglige ein wenig passender Aufzug für ein solch bedeutsames
Ereignis war. Weder Neugier noch Sorge plagten mein Gemüt.
Jacquelines verzweifelter, eindringlicher Appell hatte mir jede
Vorsicht ausgetrieben. Ich habe keinen Orientierungssinn, doch
ich fuhr zur Rosewood Terrace, als hätte ich einen Stadtplan im
Kopf. Wenn mich die Erinnerung nicht trog, wohnte Miss
Thorn in dieser Straße. Vor etwa einem Jahr hatte sie mich zum
Tee eingeladen, und wir hatten über Zwillinge gesprochen.
Prophetisch… und in diesem Moment ziemlich nebensächlich.
Nummer 21 war ein Einzelhaus im Tudorstil, etwas von der
Straße zurückgesetzt, in einem Garten mit dichten Tannen.
Nachdem ich am Randstein geparkt hatte, hastete ich den
schmalen Weg hinauf. Meine nackten Füße waren
unempfindlich gegen die Eiseskälte des Betons, doch in
meinem übrigen Körper spürte ich ein Stechen, das nur zum
Teil von den Kiefern herrührte, die mich mit ihren Nadeln
streiften. Ein Lichtstreifen fiel aus einem Zimmer im oberen
Stock, ansonsten war das Haus völlig dunkel. Die überdachte
Veranda mochte bei Tageslicht einladend wirken, die
Feuchtigkeit jedoch ließ den Geruch von Katzen aufsteigen, die
ihre Visitenkarte hinterlassen hatten. Durch Herumtasten fand
ich die Türklingel und hörte, wie ihr Läuten in das dunkle
Hausinnere eindrang. Keine herbeieilenden Schritte, dafür
glaubte ich eine ferne Stimme »Ellie?« rufen zu hören.
Mein Gefühl kam zurück, als ich mir den Zeh an einem Stein
neben der Tür stieß. Der Damm war gebrochen. Panik brach
mir aus allen Poren wie Schweiß. Innerhalb dieser Mauern
stimmte etwas ganz und gar nicht. Ich bückte mich und hob
den Stein auf in der Absicht, eine der Scheiben einzuwerfen,
doch das Glück war mir hold. Ich brauchte nicht einzubrechen.
Ein verirrter Mondstrahl zeigte mir den Schlüssel, den jemand
unter dem Stein versteckt hatte. Ich steckte ihn ins Schloß und
trat mit einer Mischung aus Erleichterung und Furcht in die
unbeleuchtete Diele.
»Jacqueline?«
»Hier oben!«
Meine Hand fand einen Lichtschalter, und ich stieg so schnell
ich konnte die Stufen hinauf – wobei man berücksichtigen
muß, daß ich von Beinen behindert wurde, die von einem
Zuchthäusler in Fußschellen geliehen waren.
»Ich bin hier drin.«
Was war ich nur für ein Feigling! Ich hatte die größte Lust,
kehrtzumachen und vor der Herzensqual zu fliehen, die sich
hinter der Tür, die mir jetzt ins Gesicht starrte, verbergen
mochte. Doch ich griff nach dem Glasknauf und marschierte in
ein Zimmer, das von einer eisernen Bettstatt beherrscht wurde.
Darauf lag Mrs. Jacqueline Diamond, an Händen und Füßen
gefesselt – keuch! – und nackt wie am Tage ihrer Geburt, bis
auf ein Paar Cowboystiefel und ein Lederhalfter.
Sprachlos schaute ich auf das Telefon, das halb auf dem
Nachtschrank stand, halb in der Luft hing und dessen Hörer an
der Schnur herabbaumelte. Als ich auf sie zuging – wobei ich
wünschte, ich hätte einen Schal, ein Taschentuch, irgend etwas,
um ihre Scham zu bedecken –, fiel ich fast über die Gestalt im
Umhang, die auf dem Fußboden ausgestreckt lag.
»Ich würde einen Mord begehen für eine Zigarette…«
Jacqueline preßte die Fingerknöchel gegen ihren Mund. Die
Arme, ich bin sicher, sie hätte sich am liebsten die Zunge
abgebissen, weil wir nämlich kein medizinisches Wörterbuch
gebraucht hatten, um zu wissen, daß Norman tot war. Sie war
fassungslos an die Seite ihres Ehemannes gewankt, sobald ich
ihre Fesseln gelöst hatte. Als ich mich neben sie kniete, um
eine Decke um ihre Blöße zu legen, versuchte sie, seinen Puls
zu finden, doch ihre Hand zitterte so heftig, daß sie sie nicht
kontrollieren konnte. Im Zustand der ewigen Ruhe war
Normans Gesicht ebenso freundlich wie früher, wenn er im
Fernsehen zu den Kindern gesprochen hatte. Sein starrer Blick
schaute auf einen fernen Ort, wo er sie immer noch sah…
Marcie und Andrea, Philip und John. Wohin er auch gegangen
sein mochte, bestimmt gab es dort eine freie Stelle für einen
Mann, der die Kleinen zum Lächeln gebracht hatte. »Er ist die
Leiter zum Mond hinaufgestiegen«, sagte ich. Seine Frau, jetzt
seine Witwe, saß zusammengekauert auf dem Bett, das
aschblonde Haar hing ihr schlaff auf die Schultern hinunter,
ihre Wimperntusche war verschmiert, ihre Cowboystiefel
schauten unter dem Saum der Decke hervor. Ich war eine
schöne Hilfe, wie ich so in meinem dummen Neglige zitternd
dastand. Ich wußte, daß ich eigentlich das Telefon vor dem
Absturz retten und einen Arzt oder die Polizei anrufen sollte,
aber es kam mir unmenschlich vor, ihr nicht erst ein Glas
Brandy oder ein heißes Getränk zu holen.
»Dritte Schublade, Frisiertisch.« Ihre krächzende Stimme ließ
mich ruckartig in Aktion treten. Ich nahm an, daß ich ihr etwas
zum Anziehen holen sollte, doch ihr war schließlich ein
versteckter Vorrat an Zigaretten eingefallen.
»Danke.« Sie nahm die Schachtel, die ich ihr reichte, klopfte
eine Kingsize-Filterzigarette heraus und bat um das Feuerzeug
auf der Kommode mit Aufsatz aus schwarzer Eiche. »Auch
eine?«
»Nein danke.« Ganz ehrlich, ich – die ich nie eine Zigarette
zwischen meine Lippen gesteckt hatte, es sei denn, man zählt
die Schokoladenzigaretten für Kinder mit den zuckerigen
rosaroten Mundstücken mit – hätte meinen linken
Lungenflügel für einen Zug gegeben. Alles, um nur ja die
Erkenntnis abzublocken, daß der Tod stets in den Kulissen
wartet, eine schwarzverhüllte Gestalt… wie die, die zu unseren
Füßen ausgestreckt lag.
»Norman hat mir immer zugesetzt, ich soll mit dem Rauchen
aufhören. Er mochte es auch nicht, wenn ich fluche. Aber
verdammt noch mal, jetzt spielt’s ja keine Rolle mehr, oder?«
Sie kniff ihre Lauren-Bacall-Augen gegen den Rauch
zusammen, der in einer kleinen Wolke aufstieg, und blickte auf
das Telefon. »Ich hab’ ewig gebraucht, um meine Hand zu
befreien, und noch mal fast genauso lange, um mit dem
Hinterteil des Hörers die Vermittlung zu erreichen.« Noch eine
Rauchwolke. »Sie fragen sich bestimmt, warum ich gerade Sie
angerufen habe.«
»Ich denke, daß es jemand von Fully Female sein mußte.«
»Und ob.« Ihre Zigarettenstimme enthielt einen Hauch von
Humor. »Und wer war es, Ellie Haskell, die in Erlebnis Ehe
vorschlug, ich sollte Leben in meine Ehe bringen, indem ich
die Rolle eines armen kleinen Püppchens spiele, das von
Norman the Doorman gerettet werden muß?«
Ich packte den eisernen Bettpfosten und klammerte mich
erschrocken daran fest.
»Machen Sie nicht so ein Gesicht, ich gebe nicht Ihnen die
Schuld.« Sie drückte die Zigarette in einem Glasaschenbecher
aus und zündete sich gleich darauf eine neue an. »Ich meine
damit nur, daß Ihr Name mir auf Anhieb in den Sinn kam. Was
mir eine Heidenangst machte, war der Gedanke, Sie könnten
eine Geheimnummer haben. Zum Glück bat mich die
Vermittlung nicht einmal, Ihren Namen zu buchstabieren.
«Jacqueline zog die Decke höher um ihre Schultern. »Wollen
Sie wissen, wie es passiert ist?«
»Sollten wir uns denn soviel Zeit lassen?« Mein Verstand
scheute wie wild davor zurück, die letzten Momente von
Norman the Doorman nachzuerleben. Was in diesem Zimmer
geschehen war, um diese Tragödie herbeizuführen, sollte im
Herzen seiner Gattin versiegelt bleiben, zumindest bis die
Polizei und der Gerichtsmediziner die Geschichte aus ihr
herauslockten. »Meinen Sie nicht, ich sollte jetzt die
Polizei…?«
»Noch nicht.« Jacqueline war bei ihrer dritten Zigarette.
»Wenn ich es Ihnen erzähle, wird mir alles klarer werden. Die
Idee, mich mit Stiefel und Halfter zu verkleiden, hatte ich dem
Fully-Female-Handbuch entnommen.«
»Das Ranch-Dressing«, fiel ich ein, »passend zum
Paradiesvogel-Fondue.«
»Norman mag kein… mochte kein Hähnchen. Ich war völlig
überrascht, daß er sofort Feuer und Flamme war und auf meine
Phantasie einging. Kein Pieps von ihm darüber, was sein
Kinderpublikum denken würde, wenn es wüßte, daß er Highlife
machte. Normie war immer am glücklichsten im Reich des
Tun-wir-so-als-ob. In dem Augenblick, als er mich ans Bett
fesselte, wurde ich zu Babbsie Bang-Bang, die von dem
schrecklichen Spielzeuggreifer von ihrer Plastikranch
gekidnappt worden war. Ehe ich auch nur eine Gänsehaut
kriegen konnte, hatte Normie Maske und Umhang angelegt und
kletterte am Kleiderschrank hoch… mit Hilfe eines Stuhls…«
»Aber haben Sie mir nicht neulich erzählt, daß Norman
Höhenangst hatte?«
»Ja, natürlich.« Sie wandte den Blick ab.
Ich nahm Jacqueline die Zigarette ab, bevor fünf Zentimeter
Asche auf den Fußboden fielen, drückte sie aus und wartete,
daß sie fortfuhr. Aus den Augenwinkeln sah ich Normans
Hand, mit weit gespreizten Fingern, als habe er noch ein letztes
Mal verzweifelt nach dem Leben gegriffen. Wie schrecklich es
auch war, über diesen Mann zu sprechen, während er nicht mal
einen Meter entfernt von uns dalag, noch schlimmer war der
Gedanke, daß Jacquelines Stimme auf tote Ohren stieß.
»Normie hockte oben auf dem Kleiderschrank, die Arme unter
dem Umhang ausgebreitet, im Begriff, aufs Bett zu springen
und mich zu retten, als ich mit der Wasserpistole auf ihn zielte,
die ich verborgen gehalten hatte. Sie wissen ja, wie es in der
Sendung war – Norman the Doorman konnte nur durch Seife
oder Wasser vernichtet werden – , und ich dachte, es wäre nett,
ein Überraschungselement einzubauen.«
»Aber Babbsie Bang-Bang würde Norman doch nicht weh
tun?« Meine Unterbrechung war ein Einwurf aufs Geratewohl,
um das Unvermeidliche abzuwehren.
Ein rauchiges Lachen. »Ich war von dem Spielzeuggreifer einer
Gehirnwäsche unterzogen worden. Als Norman sprang, schoß
ich. Er war wirklich wahnsinnig überrascht. Der arme Liebling
verfehlte das Bett… Ende der Show.« Ihr schroffer Ton
täuschte mich nicht. Diese Frau erstickte… mußte vor Elend
und Reue ersticken. Ich sah die blaue Plastikpistole unter dem
Nachtschrank hervorlugen.
»Ich habe ihn getötet.«
»Nein.« Ich setzte mich aufs Bett und legte den Arm um sie.
»Jacqueline, tun Sie sich das nicht an. Es war ein Unfall.«
»Glauben Sie, die Polizei wird das auch so sehen?«
»Sie erklären es…«
»Bevor oder nachdem Sie geschildert haben, wie Sie mich ans
Bett gefesselt vorfanden, nackt wie ein Zeisig? Und was,
meinen Sie, wird das für Normies Tinseltown-Image
bedeuten?«
Das Wort befleckt fiel mir dazu ein.
Die Nacht raffte ihren schwarzen Umhang in einem Wirbel aus
purpurrotem Futter zusammen und stahl sich über die
Häuserdächer, als wisse sie, daß die Morgendämmerung ihr
dicht auf den Fersen war, mit einer Strahlenpistole in der
heißen kleinen Hand. Während ich durch Straßen fuhr, die
verschlungener waren als meine Gedanken, überlegte ich
ironisch, daß ich mir noch vor wenigen Tagen Sorgen gemacht
hatte, weil ich bei einer Joghurt-Umfrage über mein Gewicht
gelogen hatte. War mein Gewissen zu fein gestimmt? Dachte
ich in Hyperbeln, wenn ich das Gefühl hatte, daß sich die Hand
des Gesetzes auf meine Schulter legen würde, so wie die von
Miss Clopper in Algebra?
»Igitt!« Ich wollte das Buch schon fallen lassen, als es an der
Gartentür klopfte. Unfähig, mich zu rühren, krächzte ich:
»Herein!« Und siehe da, Reverend Eudora Spike betrat mein
Haus der Freuden. »Welch nette Überraschung!«
Jedes einzelne Haar an seinem Platz, ebenso wie ihr
entschlossenes Lächeln – so stand die neue Pfarrerin da und
hielt eine zugedeckte Auflaufform in ihren
glacebehandschuhten Händen. »Verzeihen Sie, daß ich nicht
erst angerufen habe, aber…«
»Sie haben ja so recht.« Ich wurde rot. »Das beste daran,
Nachbarn zu haben, ist, nie zu wissen, wann sie auf einen
Sprung vorbeikommen.«
»Ich hoffe, ich störe Sie nicht beim Abendessen.«
»Himmel, nein! Ben arbeitet abends, und ich habe mir gerade
eine anregende Lektüre gegönnt.« Idiot! Sie würde nach dem
Titel des Buchs fragen.
»Wie nett.«
»Lassen Sie mich…« – ich konnte kaum nach der Auflaufform
fragen, ohne gierig zu wirken – »Ihnen den Mantel abnehmen.«
»Vielen Dank, aber ich bleibe nicht lange.«
»Oh, aber bestimmt doch zu einer Tasse Tee?« Ich ließ das
Fully-Female-Handbuch hinter den Toaster fallen und atmete
wieder freier, was man über Eudora nicht sagen konnte. Sie
wirkte so gestelzt wie unser Gespräch.
»Nun, wenn Sie darauf bestehen, Ellie. Und ich hoffe doch« –
sie hielt mir die Auflaufform hin –, »daß Sie nicht mißtrauisch
sind, wenn, wie unsere jungen Leute sagen, alte Gruftis
Geschenke mitbringen.«
»Was für ein Gedanke! Aber eigentlich sollte ich Ihnen ein
Einzugsgeschenk bringen.«
Sie erwiderte mein Lächeln. »Bitte nehmen Sie das hier als
Freundschaftsgabe an. Das Vergnügen ist ganz auf meiner
Seite. Ihr Mann war so freundlich, uns diese köstlichen Kekse
zu schicken, ich werde ihm noch ein paar Zeilen schreiben. Ich
hätte es längst tun sollen, aber es ging alles… ziemlich drunter
und drüber.«
Ich schlug die Augen nieder, weil ich mir die anatomisch
korrekten Lebkuchenmännchen vorstellte.
»Heute nachmittag hat Gladstone diesen Lachs gedünstet und
erhielt natürlich fünf Minuten vor dem Essen einen Anruf
von…jemandem und mußte unerwartet weg, deshalb dachte
ich, ich bringe ihn vorbei, in der Hoffnung, daß Sie ihn sich
schmecken lassen – wenn nicht heute, vielleicht morgen.«
»Wie nett.« An all dem war entschieden etwas faul. Wieso
hatte sie den Lachs nicht aufbewahren können, bis sie und
Gladstone, wieder vereint, sich sein korallenfarbenes Fleisch
teilen konnten? Der Himmel sei mir gnädig, ich dachte
allmählich so wie das Fully-Female-Handbuch. Und wenn
meine Augen mich nicht trogen, blickte Eudora zum Toaster
hinüber.
»Wie gefällt es Ihnen in dieser Gemeinde?« Ich stopfte die
Auflaufform in den Kühlschrank und stieß dabei ein Glas mit
Mayonnaise um.
»Sehr gut, vielen Dank.« Mrs. Spike streifte ihre Handschuhe
ab und knöpfte ihren Mantel auf. »Doch in Chitterton Fells
sind alle so beschäftigt. Wenn die Frauen nicht außer Haus
arbeiten, dann sind sie in diesem Fitneßcenter… Fully
Sowieso.«
»Ach, ja«, sagte ich und schlängelte mich zu ihr. »Der Name
kommt mir bekannt vor. Fully Female… glaubeich.«
»Sie sind nicht selbst Mitglied?«
»Eudora, wie Sie sich vorstellen können« – ich formte mit den
Armen eine Wiege –, »bin ich voll mit meinen vier Monate
alten Zwillingen ausgelastet, und mein Kater Tobias gewöhnt
sich nur schwer daran, Konkurrenz zu haben.« Besagter Kater
miaute laut, als er hörte, wie sein Name mißbraucht wurde und
fegte einen Stapel Windeln von der Arbeitsfläche.
»Und wir dürfen Ihren jungen und, wenn der äußere Anschein
nicht trügt, sehr männlichen Gatten nicht vergessen.« Die
Pfarrerin legte ihren vorgeschriebenen marineblauen Mantel
über einen Stuhl und strich ihren Haarhelm glatt. »Ich weiß
noch, wie sehr mich Gladstone in der Zeit nach der Geburt
unserer Tochter Brigitta beanspruchte. Mit anderen Worten,
Ellie, ich hätte sie für eine Musterkandidatin dieser Fully-
Female-Organisation gehalten.« Ihre vorstehenden
haselnußbraunen Augen bohrten Löcher in meine Seele. Ach,
du lieber Gott, dachte ich. Der Lachs ist ein Vorwand. Sie weiß
Bescheid über Freddys Maskerade, und sie ist hier, weil sie
denkt, ich hätte ihn dazu angestiftet.
»Na schön.« Ich ließ mich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen
und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Ich bekenne es! Ich
bin tatsächlich eingetragenes Mitglied von Fully Female, aber
ich hatte absolut nichts mit der dreisten Scharade meines
Cousins zu schaffen, und obwohl ich voll und ganz verstehe,
warum Sie den Dummkopf vielleicht gern vor dem Römischen
Tribunal sehen wollen, oder besser vor dem von Canterbury,
bitte ich Sie zu bedenken, daß Freddy ein leicht beeinflußbarer
Dreißigjähriger ist, der durchaus auch seine guten Seiten hat.
Er mag Kinder, ist gut zu Tieren und ißt nicht übermäßig viel
rotes Fleisch.«
Leider sah die Pfarrerin so unbewegt aus wie eines der
Granitgrabmale auf dem Kirchhof von St. Anselm. »Ellie, es
tut mir leid, das sagen zu müssen…«
»Ja?« Meine Knie vollführten ein Trommelsolo.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Nein?«
»Nun, ich begreife schon, daß der Name Ihres nichtsnutzigen
Cousins Freddy ist und daß er irgendeinen Streich gespielt hat,
aber was das mit mir zu tun hat, ist mir schleierhaft. Sie
müssen verstehen, Ellie, ich bin eine Geistliche, nicht der
Scharfrichter.«
»Ah!« In meinem Ungestüm, einem Ergebnis meines
derzeitigen neurotischen Zustandes, hatte ich meinen Cousin
und Babysitter den Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Und so
gern ich das Thema an diesem Punkt fallengelassen hätte, es
ging nicht, sonst vermutete Eudora noch irgendeine kriminelle
Aktion von Freddy, wenn die Almosenbüchse das nächste Mal
dürftig ausfiel.
»Möchten Sie nicht eine Tasse Tee?«
»Nein, vielen Dank«, sagte sie und hob eine ihrer kompetenten
Hände, »und bitte machen Sie nicht ein so besorgtes Gesicht.«
Hieß das, wir waren noch Freundinnen? Mit gesenktem Kopf
erzählte ich die schreckliche Geschichte. »Es war so, wissen
Sie: Freddy bekam Wind davon, daß ich Fully Female
beigetreten war, und auf einmal taten sich unbegrenzte
Möglichkeiten auf, Unfug zu machen – wenn man die
eigenartige Weise bedenkt, in der sein Verstand arbeitet. Er
wußte auch von Ihrem Erscheinen auf der Bildfläche von
Chitterton Fells und…«
»Ja?«
»Er tauchte im Fully-Female-Hauptquartier als Reverend
Eudora Spike verkleidet auf, mit einem schwarzen Schleierhut,
und sprach das Gebet in der Erlebnis-Ehe-Sitzung. Ach,
Hochwürden« – ich hob mein tränennasses Gesicht – »ich
fühlte mich so entweiht für Sie. Er ließ uns einander an den
Händen fassen…«
»Zum Vaterunser?«
Die Träumerin. »Ach wo. Freddy schloß die Augen, wiegte
sich auf seinem Stuhl und forderte uns auf, die Liebe strömen
zu lassen. Und als wir den Zustand des Einsseins erreicht
hatten, sagte er uns, wir sollten einander das Herz öffnen,
indem wir uns an die Person zu unserer Rechten wandten und
ihr sagten, was uns am meisten an ihr mißfiele. Ach, es war
furchtbar! Mrs. Wardle, die Bibliothekarin, sagte dem
Mädchen vom Backshop, daß sie sie nicht ausstehen könne,
weil ihr Haar solche Sprungkraft habe. Mrs. Sturgess sagte zu
Mrs. Olsen, sie habe es gründlich satt, von ihren multiplen
Orga… – Sie wissen schon – zu hören, und Mrs. Best sagte zu
Mrs. Rose, der die Boutique auf der Market Street gehört, daß
sie sich für ihre Spiegel schämen sollte und es sei ein Wunder,
daß sich nicht jede Menge Frauen an den Kleiderhaken in den
Umkleidekabinen aufhängen würden. Für das letztere hatte ich
Verständnis. Mrs. Roses Kleider passen den Bügeln immer viel
besser als mir, aber ich habe den Mund nicht aufgemacht, um
Buh! zu sagen, geschweige denn, um Freddy zu denunzieren.
Er arbeitet bei meinem Mann Ben im Restaurant, und ich hatte
solche Angst, daß diese Frauen, wenn sie wüßten, was er da
abzog, das Abigail’s boykottieren würden.«
Reverend Spikes haselnußbraune Augen drängten mich,
fortzufahren.
»Als Mutter – nein, sagen wir lieber als Feigling – sagte ich
kein Wort zu Freddy, bis ich ihn allein zu fassen bekam.«
»Ich verstehe.« Die Pfarrerin stand auf, aber statt sich zur
Gartentür zu wenden, ging sie hinüber zum Aga-Herd und
stellte den Kessel an. »Ich denke, darauf müssen wir eine Tasse
Tee trinken.«
»Sie sind nicht wütend?«
»Nein.« Sie griff nach der kupfernen Teebüchse und wandte
sich mir mit der Dose in ihren kräftigen Händen zu. »Ich bin
belustigt und…«
»Was?«
»Dankbar.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich bin froh, daß Sie offen zu mir sein konnten.«
»Aber…«
»Die meisten Menschen sind im alltäglichen Umgang mit der
Geistlichkeit nicht sie selbst. Sie sehen das Image, nicht die
Person.« Reverend Spike – Eudora – machte sich daran, die
Kanne anzuwärmen.
»Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen«, wagte ich mich vor.
»Als kleines Mädchen dachte ich, daß Nonnen keine
Unterhosen tragen.«
»Und ich dachte, daß Nonnen keine Frauen wären.«
»Sie dachten, sie seien Männer?«
»Nein, das auch nicht. Ich dachte, sie wären einfach…
Nonnen.« Eudora kam mit einem mit Tassen und Untertassen,
Milchkanne, Zuckerdose und Teekanne beladenen Tablett zum
Tisch zurück. Das Fenster über der Spüle war so dunkel wie
ein lebloser Fernsehschirm, und Eudora mußte Tobias von
ihrem Stuhl scheuchen, bevor sie sich hinsetzen konnte.
Behagen hatte sich in der Küche zu uns gesellt, so wirklich wie
eine dritte Person, so vertraut wie eine Freundin. Zum
erstenmal an diesem Tag fühlte ich mich sicher vor dem um
sich greifenden Übel von Fully Female.
»Ellie, ich hatte einen Hintergedanken für meinen Besuch bei
Ihnen.« Eudora reichte mir die Milch.
»Erzählen Sie.«
»Das fällt mir nicht leicht.« Sie rührte in ihrem Tee. »Aber Sie
waren ehrlich zu mir, deshalb ist wohl das mindeste, was ich
tun kann, mich bei Ihnen zu revanchieren. Ich…« Sie fügte
zwei Löffel Zucker hinzu. »Ich möchte, daß Sie mir sagen, ob
Sie glauben, daß die Glaubenssätze von Fully Female nützlich
wären für… den Wiederaufbau meiner Ehe.«
»Oh!«
»Heute nachmittag bin ich sehr langsam dorthin gefahren. Ich
war die ganze Zeit direkt hinter Ihrem Wagen. Ich sah, wie sie
am Tor einbogen, und da verließ mich der Mut, oder vielmehr
kam ich wieder zu mir. Ich konnte nicht vor eine Gruppe von
Menschen treten, einige davon Mitglieder meiner Gemeinde,
und ihnen mein Herz ausschütten. Die Ratgeberin kann selbst
keinen Rat suchen. Sie muß die Antworten haben, sie darf sie
nicht suchen müssen. Doch auf der Heimfahrt, Ellie, hatte ich
Ihr Gesicht vor Augen.«
»Wirklich?« Ich vermochte meine Tasse nicht zu heben.
»Als ich Sie am Montag kennenlernte, war ich ehrlich gesagt
überrascht. Ich hatte erwartet, daß die Frau, die das Herz von
Reverend Foxworth erobert hatte, um nicht um den heißen Brei
herumzureden, ein Vamp wäre. Aber was ich sah, war ein
Landmädchen mit frischem Gesicht, das ein Mensch nach
meinem Herzen zu sein schien. Jemand, der die Dinge nicht
immer auf Anhieb richtig hinkriegt und deshalb Mitgefühl
kennt. Also überlegte ich mir heute nachmittag auf der
Heimfahrt zum Pfarrhaus einen Kompromiß. Ich kann Fully
Female nicht beitreten, aber ich kann an dem Wissen eines der
Mitglieder teilhaben und mir vielleicht« – ihr Blick wanderte
zum Toaster –, »mir vielleicht sogar das Handbuch leihen.«
»Nein!« Ich warf klappernd meine Tasse um, so daß sie in
einer teeschwimmenden Untertasse lag.
Langsam stand sie auf. »Ich verstehe.«
»Nein, Sie verstehen nicht! Eudora, ich spreche als Ihre
Freundin. Begeben Sie sich nicht auf die Abwege dieses
verabscheuungswürdigen Vereins!«
Noch langsamer nahm sie ihren Platz wieder ein. »Nanu, Ellie!
Das hört sich ja an, als wäre es eine Heimstatt des Teufels.«
»Das war nie die Absicht der Gründerin. Glauben Sie mir,
Bunty Wiseman ist ein wenig oberflächlich, aber ein netter
Mensch. Und doch ist ihr kleines Unternehmen irgendwie
entsetzlich danebengegangen. Mein erster Anhaltspunkt war,
daß Jonas, der hier den Garten macht, von zu Hause weglief,
weil er sich durch die Avancen von Mrs. Pickle terrorisiert
fühlte. Jetzt sind zwei Leute tot, eine meiner Freundinnen ist
ein liebeskranker Zombie, und Bunty selbst, die versucht hat,
andere Frauen in schmachtende Schafe zu verwandeln, merkt
jetzt, daß sie selbst das allerschmachtendste Oberschaf war. Ihr
Mann, Lionel Wiseman, ist ein Opfer der Machenschaften
von… nun, es schadet wohl nichts, Namen zu nennen, da die
Verlobung bald offiziell bekanntgegeben werden soll…«
»Ja?«
»Die betreffende Dame ist Miss Gladys Thorn, Ihre frühere
Kirchenorganistin.«
»Die Frau aus Gladstones Vergangenheit!« Eudora packte mit
solcher Kraft den Tisch, daß Milchkanne und Zuckerdose auf
dem Tablett hüpften. »Das ergibt keinen Sinn. Ich weiß, daß
immer noch etwas zwischen meinem Mann und dieser Frau ist.
Er ist nicht er selbst, seit wir in der Kirche auf sie gestoßen
sind. Sie saß an der Orgel, hämmerte irgendein Kirchenlied in
die Tasten, und als Gladstone sie ansah und sie einen
Freudenschrei ausstieß, wußte ich, daß es in meiner
dreißigjährigen Ehe gebumst hatte. Dann, als ich im
Arbeitszimmer war, hörte ich sie draußen in der Halle. Es
bestand kein Zweifel, daß sie da ansetzen wollte, wo sie
aufgehört hatten, während er, armes Lämmchen, mit aller Kraft
zu widerstehen versuchte. Ich wußte, daß ich sie loswerden
mußte, deshalb gab ich ihnen beiden den Laufpaß – Miss
Thorn und Mrs. Pickle –, damit es mehr nach einem Kehraus
aussah.«
»Miss Thorn sagte, Sie hätten ihr vorgeworfen, die
Methodistenkirche zu besuchen.«
»Ich sagte, daß jemand, Mrs. Melrose, glaube ich, erwähnt
hatte, sie habe sie in die Unity Methodist gehen sehen und daß
ich mich fragte, ob es sie nicht glücklicher machen würde,
jener Kongregation zu dienen.«
»Und als es geschehen war, fühlten Sie sich furchtbar.« Ich
stellte meine Tasse hin und goß uns beiden einen frischen Tee
ein.
»Diese nette Mrs. Pickle!«
»Wenn es ein Trost ist, Rowland brannte darauf, sie zu feuern,
aber er…«
»Sagen Sie’s nicht! Er war zu gutmütig.« Eudora sah mich mit
dem verwundeten Blick einer frühen Märtyrerin an, die auf
einem von St. Anselm’s Buntglasfenstern auf dem Spieß briet.
»Alles hat sich verändert. Gestern hat Gladstone den Pudding
anbrennen lassen, und das Frühstück heute morgen war eine
Katastrophe. Nur ein Würstchen, kein Speck und bloß ein
winziger Klecks Rührei.«
»Aber bestimmt«, sagte ich, während ich mir einen…
eineinhalb… Teelöffel Zucker gönnte, was ich nie tue, nur bei
Streß, »bestimmt sind Ihre Probleme doch gelöst, wenn Miss
Thorn Lionel Wiseman heiratet.«
Eudora schüttelte den Kopf. »Ellie! Das ist ein
Ablenkungsmanöver, nichts anderes. Ich sage Ihnen, diese Frau
ist in meinen Mann verliebt.«
»Schon möglich, aber was Sie nicht verstehen, ist…«
Ich suchte nach einer netten Art zu sagen, was Mrs. Malloy so
kraß formuliert hatte – »Gladys Thorn würde für alles in Hosen
die Beine in die Luft strecken und Victory signalisieren« –, als
es an der Gartentür klopfte. Und wer kam hereingeschwebt?
Mrs. M höchstpersönlich.
Sie hatte meinen violetten Kaftan über dem Arm, ansonsten
war sie ganz in Schwarz, von der Provianttasche in ihrer Hand
bis zu dem Turban auf ihrem Kopf. Selbst ihr
Pflaumenlippenstift hatte einen schwärzlichen Schimmer, als
ob er in ihren Diensten alt geworden wäre. Ihr Teint, seines
Rouges beraubt, war weiß wie der Tod, und in ihren Augen lag
noch immer dieser entrückte Ausdruck.
»Guten Morgen, Mrs. H.«
Mit einem Seitenblick auf Eudora wollte ich stammeln, daß es
sechs Uhr abends war, aber Mrs. Malloy war bereits in die
Vorratskammer schlafgewandelt, so wie eine Figur in einer
Farce in einen Wandschrank geht und denkt, es sei der
Ausgang. Mehrere peinliche Sekunden später tauchte sie
wieder auf und ging, ohne nach links oder rechts zu schauen,
an Eudora und mir vorbei, um durch die Tür zur Halle zu
entschwinden.
»Und das« – ich lächelte Eudora Spike sanft zu – »ist das Werk
von Fully Female. Sind Sie sicher, daß Sie sich immer noch
das Handbuch leihen wollen?«
Als Ben – die Bartstoppeln an seinem Kinn harmonierten mit
der Dunkelheit im Fenster – von einem harten Tag im
Restaurant zurückkam, fand er mich im Salon sitzend vor, der
mehr denn je einem Museum glich, das das Leben eines
unbekannten Paares irgendwann v.d.K. dokumentierte – vor
den Kindern. Die cremefarbenen Seidentapeten und Queen-
Anne-Möbel hatten soviel mit meinem derzeitigen Lebensstil
zu tun wie meine Tante Astrid mit dem Vorführen frecher
Wäsche auf Dessous-Partys.
Mein Gatte lockerte seinen Schlips und überquerte den
rosaroten und pfauenblauen Perserteppich, um dann dazustehen
und nicht mich, sondern das Porträt über dem Kamin
anzuschauen – Abigail mit den rotbraunen Haaren und
immergrünen Augen, die edwardianische Herrin von Merlin’s
Court.
»Schatz?«
»Redest du mit mir?« Ich erhob mich vom Sofa, schüttelte die
Falten aus meinem Wäscherinnenrock und machte mich auf
Fragen bezüglich meines Tagewerks gefaßt.
»Jedesmal, wenn ich mir dieses Porträt ansehe« – sein dunkler
Kopf war geneigt, so daß das Licht von den Wandleuchten sein
Gesicht bemalte wie ein Aquarellpinsel –, »verzehre ich mich
vor Sehnsucht.«
»Nach Abigail?«
»Nein! Nach einem Porträt von dir mit den Zwillingen.«
»Ben, du weißt, wie ich es hasse, mich fotografieren zu
lassen.«
»O ja.« Ein nachdenkliches Funkeln verdunkelte seine Augen
zu dem Pfauenblau der Vase auf dem Bleiglasbücherregal.
»Ich würde mich eher im guten altmodischen Sinne des Wortes
hängen lassen, als für die Nachwelt an einer Wand dieses Haus
aufgehängt zu werden. Ich hasse den Gedanken, daß ein völlig
Fremder mich irgendwann in ferner Zukunft anglotzt und sagt:
›Meinst du nicht auch, daß sie wie eine Bulldogge aussieht?‹«
»Ellie!«
»Erzähl mir nicht, daß ich Abbey und Tarn um die Gelegenheit
betrüge, unsterblich zu werden und deine Mutter und deinen
Vater um ihre Rechte als Großeltern, weil ich nämlich die feste
Absicht habe, mit den Zwillingen zu Belamo’s Studio in
der…«
Er ließ mich nicht ausreden. Seine Hände fanden mich, und mit
einem Ruck war ich in seinen Armen, sein Atem war warm auf
meinen Lippen, seine Stimme so rauh wie sein stoppeliges
Gesicht unter meinen Fingern. »Bist du verrückt?«
»Du magst Belamo’s nicht?«
»Der Laden soll meinetwegen zum Henker gehen.« Er hielt
mich ein Stück weg. »Was mich interessiert, ist, daß du dich
mal ganz genau anschaust.«
Unsicher, worauf er hinauswollte, flüchtete ich mich in
Geplänkel. »Tut mir leid, Liebes! Ich habe keinen Handspiegel
dabei.«
»Du brauchst keinen.« Er umschloß mein Kinn mit seiner
Hand, und plötzlich rieben wir die Nasen aneinander wie zwei
leidenschaftliche Eskimos. »Mach meine Augen zu deinem
Spiegel, Schatz. Schau hinein, und sieh dich so, wie ich dich
sehe.«
»Lieber nicht.« Ich brachte ein Lachen zustande.
»Hör auf damit!« Er schüttelte mich sanft, bis sein
Gesichtverschwommen wurde. »Ich lasse nicht zu, daß du die
Frau, die ich liebe, verspottest.«
»Du blinder Narr!« Mein Lächeln war den Tränen nahe. »Du
bist derjenige, der den Tatsachen ins Auge sehen muß. Ich bin
nicht das Mädchen, das du geheiratet hast. Ich bin ein
Hausmütterchen. Ach, hören wir doch auf, die Wahrheit zu
schönen – ich bin fett.«
»Nein.«
»Du siehst, was du sehen willst.«
»Ich sehe eine bezaubernde Frau.«
»Dann siehst du mit dem Herzen, nicht mit den Augen.«
»Na und«, sagte er, dann zog er meinen Zopf nach vorn,
entfernte das Gummiband und fing an, langsam und andächtig
mein Haar mit den Fingern zu lösen. »Siehst du mich denn
nicht genauso?«
»Sei nicht albern.« Aus irgendeinem unersichtlichen Grund
hatte ich Mühe zu atmen. »Wir reden nicht über die gleiche
Sache. Du, Bentley T. Haskell, bist atemberaubend.«
»Meine arme blinde Närrin!« Seine Lippen fanden meine, und
ich lag in einer Umarmung, die meine Sinne
durcheinanderwirbelte. Vielleicht war es der würzige, frische
Duft seines Mr.-Right-Aftershaves, der mich schwindlig
machte. Ich wußte nur noch, daß der Augenblick zu einer
Ewigkeit wurde und es nichts gab als dieses schwere Atmen
und mein Herzklopfen. Und es gab niemanden außer uns
beiden, vollständig bekleidet, und doch aus siedendheißem
Wachs zu nur einem Wesen gegossen.
Schließlich hob er den Kopf. »Ellie, ich habe eine Idee.«
»Ich auch.«
»Ich hatte an ein kleines Abenteuer im Mondschein gedacht.«
»Hört sich gut an.«
»Ein Picknick.«
»Ein was?«
Sanft löste er meine Arme von seinem Hals und übersah meine
Lippen, die danach dürsteten, sich wieder mit seinen zu
vereinen. »Schatz, weißt du noch, wie wir es in der
Anfangszeit immer genossen haben, al fresco unter der Birke
zu essen?«
»Ja«, sagte ich und rieb mir die Arme, weil ich schon den
frischen Frühlingswind spürte, »aber am Tag.«
»Ach, meine Liebste.« Er führte meine Hand aufreizend
langsam an seine Lippen. »Was ist aus deinem Sinn für
Abenteuer geworden?«
»Außer Betrieb.« Unmöglich, ihm zu sagen, daß er im Dienst
von Fully Female verschieden war, wobei mir etwas einfiel –
ich hatte Ben noch nicht von Mrs. Malloy erzählt. Und jetzt
sollte ich auch nicht die Gelegenheit dazu bekommen. Ich
wurde in die Halle geschoben und angewiesen, nach oben zu
gehen und etwas Bequemes überzuziehen, zum Beispiel einen
Mantel und eine Wollmütze, während der Schloßherr sich in
die Küche zurückzog, um unser Mitternachtsmahl zu
improvisieren.
»Die Babys!« jammerte ich.
»Keine Sorge. Ich rufe kurz Freddy an.«
»Wirklich, Ben. Wir dürfen ihn nicht immer so ausnutzen.«
»Unsinn. Der alte Knabe liebt die Kleinen abgöttisch, fast so
abgöttisch, wie er die Gelegenheit liebt, unseren Kühlschrank
zu plündern.«
»Er ist vielleicht schon im Bett.« Offenbar konnte ich jetzt nur
noch Unsinn reden. Mein Cousin brüstete sich damit, daß er nie
mehr als drei Stunden pro Nacht schlief und sich selten vor drei
oder vier Uhr morgens hinlegte.
Also ging Ben pfeifend in die Küche, und ich begab mich
widerstrebend nach oben, ging auf Zehenspitzen durch den
Korridor zum Schlafzimmer. Noch nie hatte dieses alte
Himmelbett verlockender ausgesehen, aber ich riß den Blick
davon los und öffnete den Kleiderschrank mit der Absicht,
meinen marineblauen Dufflecoat mit seiner winddichten
Kapuze auszugraben. Doch das Kleidungsstück, das mir
entgegenstarrte, war ausgerechnet die Purpurrote Gefahr, der
Kaftan, den Mrs. Malloy sich geliehen und, Gott sei Dank,
zurückgegeben hatte.
Als ich so vor dem Kleiderschrank stand, die Hände voller
falscher Seide und Goldborten, stürmten Erinnerungen an den
Abend auf mich ein, als ich Bentley T. Haskell kennenlernte.
Damals wollte ich gerade in meine Orientpantoffel schlüpfen,
als er zur Tür hereinkam. Sein Schal flatterte bei jedem Schritt,
die feuchte Nacht machte sein Haar schwärzer, und in seinen
schönen Augen lag ein Funkeln, Augen, die nichts Gutes ahnen
ließen, zumindest für die Frau, die ihn warten ließ, während sie
in letzter Minute einen Abstecher ins Bad machte, die Tür
schloß, fast ohnmächtig dagegensank und der benommenen
Frau, die sie aus dem Spiegel anstarrte, mitteilte: »Der Mann
ist ein Teufel, aber ich wollte weiß Gott nie eine Heilige sein.«
»Ellie!« In der Gegenwart öffnete sich die Schlafzimmertür
und knallte zu, und als ich mich umwandte, sah ich, wie Ben
fast ohnmächtig dagegensank.
»Was ist denn los?« Ich zog so heftig an der Purpurroten
Gefahr, daß der Bügel durchbrach.
»Ich hatte gerade einen überaus gräßlichen Schock.«
»Erzähl!«
»Den Babys geht’s gut.« Ben fand die Kraft, die rechte Hand
zu heben und an seine Stirn zu drücken. »Ich ging nach oben,
um die Reisedecke aus dem Blauen Zimmer zu holen, damit
wir nicht im feuchten Gras sitzen müssen, und was, meinst du,
habe ich dort gefunden? Ellie, da liegt eine Fremde im Bett und
schnarcht sich um Kopf und Kragen!«
»Ach, die!«
»Was soll denn das heißen?«
»Liebling, tut mir leid! Ich habe vergessen, dir zu erzählen, daß
ich Mrs. Malloy vorgeschlagen habe, hier zu übernachten.«
»Ich habe sie nicht erkannt.«
»Du bist eben nicht daran gewöhnt, sie mit Lockenwicklern
und Kinnbinde zu sehen. Außerdem ist sie in letzter Zeit auch
nicht ganz auf der Höhe. Sie ist heute am späten Nachmittag
aufgetaucht und deutete an, daß ihr nicht wohl sei bei dem
Gedanken, nach Hause zu gehen. Sie hat sich mit einem Mann
eingelassen – mit Walter Fisher, deinem
Leichenbestatterfreund –, und ich glaube, sie hat Angst vor
ihm.«
»Vor diesem Duckmäuser?«
»Ben, sie hat mir erzählt, daß er eine Leidenschaft in ihr
geweckt hat, die sie nie gekannt hat… und offen gesagt, ich
erinnere mich noch und kann mich in sie hineinversetzen.
Diese köstliche Angst bei jenem ersten Mal, von den
Stromschnellen in den Strudel zu geraten, hat nicht
ihresgleichen.«
»Ist das so?« Ben öffnete die Tür und streckte die Hand aus.
»Ja, aber…«
»Liebes, ich schmeichle mir mit dem Gedanken, daß es viele
erste Male im Leben einer Liebesaffäre gibt.«
»Du hast mir das Wort aus dem Mund genommen.« Ich warf
den Bügel hin und schloß die Tür vor der Purpurroten Gefahr.
»Ben, mein Schatz, nach dem Schreck, den du gerade
ausgestanden hast, habe ich volles Verständnis, wenn du das
Picknick abblasen willst.«
»Kommt nicht in Frage.«
»Ich mag Männer nicht, die sich zieren.«
»Ich denke dabei an dich!« Er nahm meinen Arm, als
schlenderten wir durch das Seufzergäßchen und ging mit mir
zum Kinderzimmer. »Das war ein toller Lachs, den ich da im
Kühlschrank gefunden habe, und er verdient das richtige
Ambiente, um seinen vollen Geschmack zu entfalten.« Er
öffnete die Tür, und wir schlichen hinein, um einen Blick auf
unsere Sprößlinge zu werfen. Die lieben Schätzchen, sie
schliefen beide wie verzaubert, bewacht von Mutter Gans, der
Calico-Katze und Tommy und Topsy, den Zwillingsbären.
Albern von mir, aber ich glaubte fast, daß diese Spielzeuge,
sobald wir das Zimmer verlassen hatten und die Tür sich
schloß, lebendig werden und die Geheimlosung flüstern
würden: Norman the Doorman.
Auf dem Weg nach unten sagte ich: »Apropos Lachs… ich
habe ihn nicht gekocht. Die Pfarrerin hat ihn vorbeigebracht.
Ihr Mann hatte ihn als Abendmahlzeit zubereitet, aber er mußte
unerwartet weg, und sie wollte gutnachbarliche Beziehungen
knüpfen.«
»Sehr liebenswürdig.«
»Du klingst eingeschnappt.«
»Ach wo.« Ben prustete. »Ich bin entzückt über die
Gelegenheit, noch eines der preiswürdigen Rezepte des
Burschen kosten zu können.«
Ich befürchtete diese Reaktion, hatte es ihm aber sagen
müssen. Ich war nicht bereit, mein Leben lang das Wort Lachs
zu meiden, wenn wir in der Gesellschaft des einen oder der
anderen Spike waren. Mein Leben war ja so schon gerammelt
voll mit Dingen, die ich Ben nicht erzählt hatte. Und als ich die
letzte Stufe hinunterstolperte, holte mich eines davon ein.
»Ellie, ich habe ein Paket Kräuter-Kraftkur in der
Vorratskammer gefunden.«
»Ach ja?«
»Eine hübsche Mischung.«
»Was du nicht sagst.«
Sein dunkler, rätselhafter Blick bestätigte meine schlimmsten
Befürchtungen. Er hatte das Etikett von vorn bis hinten gelesen
und war im Begriff, mir vorzuwerfen, insgeheim Mitglied von
Fully Female zu sein. Ich stand so reglos da wie die
Zwillingsritterrüstungen an der Treppenwand und harrte der
Dinge, die da kommen sollten. »Ellie, ich weiß nicht recht, wie
ich es ausdrücken soll…«
»Nur zu, raus mit der Sprache.«
»Na gut, aber vergiß nicht, daß ich keine böse Absicht hatte. Es
liegt mir völlig fern, die kulinarische Integrität von Mr.
Gladstone Spike anzuzweifeln.«
»Wovon redest du eigentlich?« Meine Stimmung hob sich,
noch während ich auf die unterste Stufe sank.
»Ich habe das Paket Kräuter-Kraftkur dazu benutzt, eine Glasur
für den Lachs zu machen, wobei ich natürlich annahm, daß du
ihn zubereitet hättest.« Er sah mich mißtrauisch an. »Warum
lächelst du?«
»Ich hab’ keine Ahnung.«
»Ellie, ich will keinesfalls andeuten, daß Mr. Spike den Fisch
fad und langweilig zubereitet hat.«
»Gottbewahre.«
»Innerhalb seiner Grenzen…«
Oh, Mist! Der Rest von Bens schmeichelhafter Bemerkung
ging unter, weil Freddy die Tür zur Halle öffnete und jubilierte:
»Mary Poppins meldet sich zur Stelle. Übrigens, wer von euch
Schlaumeiern hat eigentlich den Lachs allein und unbewacht
auf dem Küchentisch stehenlassen?«
»Sag bloß, du hast dich bedient.« Ich versuchte, einen strengen
Ton anzuschlagen.
»Nicht ich, Euer Ehren, aber vielleicht solltest du dir mal Kater
Tobias vorknöpfen. Er hat sich gerade mit einem halben Pfund
Fisch an den Schnurrbarthaaren davongestohlen.«
»Ich werde den Halunken umbringen!« Bens Schrei ließ die
Dachbalken erbeben.
Das Mondlicht malte Bilder auf den Hof, die eines talentierten
Pflastermalers würdig gewesen wären. Und kurz nachdem wir
das Haus verlassen hatten, merkte ich an der Art, wie Ben
lässig den Picknickkorb schwang und seine Schritte
beschleunigte, daß sich seine Stimmung allmählich besserte. Er
hatte einen halbherzigen Versuch unternommen, mich davon
zu überzeugen, daß nicht das geringste dagegen sprach, das,
was von dem Lachs übrig war, aufzuessen, aber meine Miene
mußte klargemacht haben, daß ich, selbst um der Ehre willen,
von der Kräuter-Kraftkur-Glasur zu kosten, nicht die
Essensreste mit meiner Katze teilen würde. Auf halber Höhe
der Kieseinfahrt erhaschte ich einen Blick auf Tobias, der sich
zwischen den Bäumen herumdrückte. Ha, gut! Die Art, wie er
seinen pelzigen Kopf hängen ließ, erweckte den Eindruck, daß
der unselige Kater sich seiner Tat bereits schämte.
»Mögest du eine Magenverstimmung kriegen«, brüllte ich
durch die vorgehaltenen Hände, bevor ich mich beeilte, um mit
Ben Schritt zu halten. Anstatt wieder nach oben zu gehen, um
meinen Dufflecoat zu holen, den ich vergessen hatte, als Ben
ins Zimmer platzte und mir von Mrs. Malloy berichtete, hatte
ich mir lieber eine alte Strickjacke geschnappt, die in der
Nische an der Gartentür hing. Der Wind fuhr hindurch, aber es
war eine neckende, fast sinnliche Berührung, und plötzlich
konnte ich es nicht erwarten, auf der Reisedecke zu kampieren
und zuzusehen, wie Ben mit diesen eleganten, geschickten
Fingern den Wein entkorkte, während ich darauf brannte, daß
er mich berührte, wenn auch nur, um eine Weinbrandkirsche
zwischen meine geöffneten Lippen zu stecken.
Wir kamen an Freddys Cottage vorbei und gingen durch das
Eisentor, das bei Tageslicht so massiv und vertraut war, jetzt
hingegen etwas Magisches, Phantastisches hatte, als sei es wie
die Schatten im Hof von einem Phantomkünstler der Nacht
gemalt worden. Erst als wir auf der Cliff Road waren und in
die Richtung der St.-Anselm’s-Kirche gingen, sagte ich: »Ben,
ich dachte, wir wollten unter der Birke im Garten picknicken.«
»Hab’s mir anders überlegt.« Er legte den Arm um mich. »Seit
Jonas die Schaukel an dem alten Baum aufgehängt hat,
betrachte ich ihn als einen Platz der Zwillinge.«
»Auch wenn sie noch zu klein zum Schaukeln sind?«
»Ellie, die Schaukel wartet da draußen auf sie. Ein
wesentlicher Bestandteil ihrer Kindheit. Du und ich müssen ein
neues Plätzchen für uns finden. Mir ist jeder Vorschlag
willkommen, ich hatte allerdings an diesen kleinen Hügel am
Kirchhof gedacht.«
»Den mit der Grotte aus Weißbirken, der aussieht, als warte er
nur darauf, daß ein Wunder geschieht?«
»Genau.« Bens Lächeln, vom Strahl der Taschenlampe
eingefangen, war golden. Ohne ein weiteres W7ort folgten wir
unserem Lichtpfeil den steinigen Hang hinauf, der im Sommer
eine wahre Pracht aus Wildblumen sein würde. Auf halbem
Weg spürte ich, eher als es zu hören war, das Tap-tap von
Pfoten hinter uns, aber falls es Tobias war, der uns
hinterherzockelte, wollte ich ihn mit Nichtachtung strafen. Ich
mußte ihm erst noch seine rüden Tischmanieren verzeihen.
Außerdem hätte jeder Dritte, selbst ein Kater, unsere traute
Zweisamkeit gestört.
»Da sind wir.« Ben stellte den Picknickkorb auf einen
moosbewachsenen Stein. Die Weißbirken bildeten einen Kreis
um uns, als seine Arme sich um mich schlössen. Wir mochten
zwar nur wenige Meter oberhalb der Straße sein, und doch
waren wir Schloßherr und Schloßherrin. Uns gehörte eine
wahre Festung, ein Ort, an dem uns kein Hauch des Bösen
etwas anhaben konnte, weil Liebe unser Schild war. Da! Ich
hatte mich endlich getraut, das Wort zu denken, das schon den
ganzen Abend im Schatten meiner Gedanken gelauert hatte.
Und ich hatte immer noch Angst. Das Gefühl war so
zerbrechlich, wie ein Ballkleid, das man trägt und liebt und
dann in einen dunklen Schrankkoffer legt, bis eines Tages der
Deckel gehoben wird, und da liegt es – schöner, schimmernder,
strahlender als in der Erinnerung. Aber sind die Motten darüber
hergefallen? Wird es bei der Berührung zu Staub zerfallen?
»Sieh dir den Mond an«, sagte mein Liebster.
»Ja!« flüsterte ich.
Rein wie Kindheitsträume, vollkommen in seiner Symmetrie
schien er direkt über der Kirche zu hängen – Gottes ureigene
Abendmahlshostie. Und als mein Blick zu Ben zurückkehrte,
wußte ich mit stiller, leuchtender Klarheit, daß Liebe mehr ist
als Satinlaken und ein Paar Wikingerhörner. Sie ist ein
Geschenk, das an uns zu reißen uns nicht zusteht. Versuch es,
und sie rinnt dir durch die Finger wie eine Handvoll Wasser.
»Hungrig, Liebes?«
»Heißhungrig.« Ich löste mich aus seinen Armen und sah mit
träumerischem Blick zu, wie er die Reisedecke auf dem Boden
ausbreitete und anfing, den Picknickkorb auszupacken. Die
Luft roch nach Schlüsselblumenwein. Allein schon das
Einatmen konnte mich trunken machen.
»Was hältst du von Fleischtaschen, Spinatsalat,
Grapefruitcreme und einem reifen Camembert?«
»Köstlich.« Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie in einem
der Buntglasfenster von St. Anselm diamantenes Feuer
aufblitzte. Smaragde, Rubine, Saphire. Strich die Pfarrerin
durch ihren Herrschaftsbereich? Oder ging ein Geist um?
Bens Hand langte hoch, um mich auf die Decke
hinunterzuziehen, aber ich sträubte mich. Zu unserer Rechten,
unten auf der Straße, durchdrangen zwei bernsteingelbe Kreise
die Dämmerung, ein rauhes Knurren zerriß den Abend, und ein
Auto kam mit, wie mir in meiner Schäferstimmung schien,
furchterregender Geschwindigkeit um die Kurve. Ein Trippeln
aus den Sträuchern direkt unter unserer Birkengrotte, und ich
sah den dunklen Umriß eines Tieres zur Straße schnellen.
Meine Taschenlampe war in meiner Tasche, und ein Schauder
kroch unter meinen Ärmeln hoch und legte mir seine eiskalten
Finger um den Hals.
»Was ist los, Ellie?« Ben war aufgesprungen.
»Tobias!« Ich stolperte bereits über Steine und durch
Geißblattgestrüpp, rannte verzweifelt, um mein Haustier an
mich zu raffen, bevor es unter den Rädern dieses
Todesvehikels zerquetscht wurde. Zu spät! Ich landete mit den
Fersen auf der Straße, rechtzeitig, um zu sehen, wie mein
liebstes Fellknäuel wie hypnotisiert auf diese rasenden Lichter
zutaumelte. Bevor ich auf die Straße stürzen konnte, packte
Ben mich von hinten, und eine Sekunde – ein Jahrhundert –
darauf war ein scheußliches Kreischen von Bremsen zu hören,
als der Wagen abrupt zum Stehen kam.
Ich sah, daß Tobias nur wenige Zentimeter vor den
Vorderrädern lag, ich sah, wie sein Schwanz zuckte und dann
still dalag. Noch zu hoffen war eine Märchentorheit… Die Tür
ging auf, und eine dunkle männliche Gestalt mit einem Dick-
Tracy-Hut stieg aus.
»Mörder!« flüsterte ich.
»Ellie, du wartest hier.«
»Bitte, halt mich fest.«
Der Mann mit dem Hut öffnete seinen Kofferraum. Holte er
einen Spaten heraus? Nein! Er… du lieber Himmel! Das war ja
noch schlimmer als das mit Tobias. Ja, der arme Tobias, er
ruhe in Frieden, entschwand meinem Gedächtnis, als ich Mr.
Straßenschreck eine Leiche herausholen sah… die Leiche eines
Menschen. Dann, mit eingeknickten Knien, lud er sich den
schlaffen Körper über die Schulter.
»Beim Jupiter!« murmelte Ben. »Hier ist irgendwas faul.«
»Was du nicht sagst!«
Der Mann war auf der anderen Straßenseite, am Rand unseres
Gesichtsfeldes, ein Wesen, das sich durch Grauen und Distanz
in den Glöckner von Notre Dame verwandelte. Die Erkenntnis
kam mir und meinem Gatten gleichzeitig: Wir standen im
Begriff, das Entsetzliche mitzuerleben – wie ein Leichnam
über den Rand der Klippe geschleudert wurde – hinunter,
hinunter, um an den scharfen Zähnen der Felsen in der Tiefe
abzuprallen und in das schäumende Maul der See zu stürzen.
»Halt!« Ben hechelte los und berührte dabei kaum den Boden.
»Im Namen des Gesetzes! Dies ist eine Festnahme durch eine
Zivilperson!«
Nur die See gab Antwort, ein Schwall irren, tobenden
Gelächters, und dann… der Schurke drehte sich um, und selbst
in der teilweisen Dunkelheit erkannte ich sein Gesicht.
»O nein!« rief ich. »Nicht Sie!«
»Dr. Melrose!« Meine Taschenlampe zielte nacheinander auf
seine Knöpfe, von unten nach oben, bis zu seinem von der
Hutkrempe beschatteten Gesicht. »Was führt Sie denn
hierher?«
Seine Lippen verzogen sich zu einem blutleeren Lächeln, und
während die Nacht sich niederkauerte wie ein geduldiger
Polizist, der wartet und horcht, schrumpfte er vor unseren
Augen zusammen, bis er nur mehr ein Überzieher war, der im
Wind wehte. »Nanu, Mrs. Haskell… und Mr. Haskell… was
für eine angenehme Überraschung. Ich habe eine Spazierfahrt
im Mondschein gemacht und beschlossen, anzuhalten und den
Duft der Rosen zu schnuppern… Ich meine, des Seetangs«,
sagte er mit einem unechten Lachen.
»Und wer ist Ihre bezaubernde Begleiterin?« Ben stellte sich
entschlossen vor mich, obwohl uns beiden kaum die verrückte
Idee kam, einen Mörder aufhalten zu wollen. »Könnte das Ihre
Frau Flo sein?«
Der Wind stimmte einen klagenden Seufzer an, in den unser
Opfer einfiel. »Messerscharf geschlossen.« Der Arzt verlagerte
seine Last, so daß der baumelnde Fuß ihn dort traf, wo es, so
hoffte ich, am meisten weh tat. »Sie hatte einen Anfall von
Reiseübelkeit, um es laienhaft auszudrücken, und…«
Ich streckte den Kopf um Ben herum und sprach mit sonorer,
scharfer Stimme. »Flo hat mein volles Mitgefühl. Wenn ich im
Kofferraum fahre, geht es mir auch immer so.«
»O Allmächtiger!« Dr. Melrose trat zurück und hätte dem
Gespräch auf der Stelle ein Ende bereitet, indem er über den
Klippenrand stürzte, wäre Ben ihm nicht mit einem Satz zur
Hilfe geeilt.
»Nicht so schnell!« Er packte den Doktor hinten am
Mantelkragen. »Meine Frau und ich möchten Mrs. Melrose
gern unsere Aufwartung machen.«
Jeder Kampfgeist, jede Hoffnung hatte den umzingelten Mann
verlassen. Er legte seine Last in das kalte, dunkle Gras und
stand mit gebeugtem Kopf da, während sich die Bäume
zusammenzogen wie ein Trupp professioneller Trauergäste. In
Schwarz gehüllt, krümmten sie sich und stöhnten und hoben
ihre zerrauften Flechten in die gefühllose Nacht.
»Einzig um meinetwillen wird man das Erhängen wieder
einführen.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, sagte ich gehässig
und hatte Angst hinzusehen, fühlte mich jedoch gleichzeitig
unwiderstehlich von Flos verschlossenem Gesicht angezogen.
Den Prinz-Eisenherz-Pony glatt in der Stirn, die Füße dicht
nebeneinander, die Arme an den Seiten, lag sie da, als sollte sie
von Walter Fisher, Leichenbestatter, eingesargt werden. Und
doch hatte ich nicht das Gefühl, daß der Tod persönlich
zugegen war, so wie neulich, als ich auf Norman the Doorman
hinunterschaute. Vielleicht war es nur der Wind, der ihre
Nasenlöcher zusammendrückte, aber ich hätte schwören
können, daß sie atmete.
»Glauben Sie mir, ich wollte sie auf keinen Fall töten, aber seit
sie in diese verrückte Organisation eingetreten ist, Fully
Female…«
»Diese was?« fragte Ben.
»Ein Fitneßclub«, informierte ich seine Füße.
»Ach ja, ich habe den Namen auf dem Paket Kräuter-Kraftkur
gelesen.« Das Heben seiner linken Augenbraue ging mir eiskalt
durch und durch.
»Mrs. Malloy ist Mitglied.« Die Hälfte der Wahrheit, im
Schatten der Kirche ausgesprochen. Ich konnte nur beten, daß
Gott mit schlimmeren Sünden beschäftigt war.
Dr. Melrose holte zitternd Luft. »Mrs. Haskell, als Sie Tabby
und Tom zum Check-up zu mir brachten, habe ich Ihnen doch
erzählt, daß mich die neuerwachte Sexualität meiner Frau zur
Raserei treibt. Keinen einzigen Moment der Ruhe. Nie zu
wissen, wann sie sich das nächste Mal auf mich stürzt. Neulich
war es in der Herrentoilette. Gestern abend, als ich in meinen
Wagen stieg, um nach Hause zu fahren, saß sie auf dem
Rücksitz und hatte nur ihren Sicherheitsgurt an. Und dann
heute morgen! Ich wurde ins Leichenschauhaus gerufen, um
einen Patienten zu identifizieren, und als ich das Kühlfach
aufzog, traute ich meinen Augen nicht – da lag Flo, zwinkerte
mir zu und rückte zur Seite, um Platz für zwei zu machen.«
»Unheimlich.« Ben sah mich an. Rief er die Erinnerung an
seine Frau mit einem Paar Wikingerhörnern wach, wie sie ihn
partout verführen wollte?
»Sie haben ja keine Ahnung, wie es war.« Dr. Melrose rang die
behaarten Hände.
»Stimmt allerdings. Meine Frau und ich sind zu jung
verheiratet und bei weitem zu verliebt, um Verwendung für die
Art von künstlichem Stimulus zu haben, die dieses Fully-
Female-Institut anbietet.« Ben hielt inne. »Ich erinnere mich
schwach, etwas darüber im Daily Chronicle gesehen zu haben,
aber ich habe es nicht behalten, weil es mich nicht ansprach.«
Ein halbes Lächeln umspielte seine Lippen, wie der Abdruck
eines erinnerten Kusses, und mich überkam die entsetzliche
Gewißheit, daß mein Gatte keinerlei Verdacht bezüglich
meiner persönlichen Verwicklung in Fully Female hegte. Doch
wenn er es herausfinden sollte, wäre es dann jemals noch
dasselbe zwischen uns?
»Wollen Sie uns damit sagen, Doktor« – Ben sprach mit
höchster Verachtung – , »daß Sie Ihre Frau umgebracht haben,
weil Sie ihren sexuellen Wünschen nicht nachkommen
konnten?«
»Ich bitte um Ihr Verständnis!« Dr. Melroses Augen waren von
Kummer umflort. »Ich war so verzweifelt, daß ich sogar zur
Einschüchterungstaktik griff. Ich ließ ein Pfauenpärchen vom
Fully-Female-Gelände kidnappen und schickte einen Brief, in
dem ich andeutete, sie würden im Suppen topf enden, wenn das
Institut nicht dichtmachte.«
»Das war nicht nett«, sagte ich.
»Glauben Sie mir« – die Stimme des Doktors versagte –, »ich
bin gestraft worden. Der Bursche, der den Auftrag ausführte,
verlangte ein zusätzliches Entgelt, um sie in den Zoo zu
schmuggeln. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Versuchen Sie
bitte, sich die Szene des heutigen Abends vorzustellen. Als ich
zu Hause eintraf, stellte ich fest, daß Flo nicht dawar. Ich
empfand ein Gefühl des Friedens, das sich nicht beschreiben
läßt. Dann läutete es an der Tür, und als ich aufmachte, sah ich
mich einer Frau mit einer Halloweenmaske gegenüber.
Erschrocken fragte ich, was ich für sie tun könne, und zu
meinem Entsetzen schrie sie: ›Gib mir was oder du kriegst
was! ‹, und dann riß sie ihren Regenmantel auf. Nackt! Völlig
nackt! Und irgend etwas in mir hakte aus. Ich nahm den
Türkeil und schlug ihr damit auf den Kopf.
Ich brauchte die Maske nicht abzunehmen, um zu wissen, daß
es Flo war. Diese Blinddarmnarbe hätte ich überall
wiedererkannt. Ich brauchte sie nicht anzusehen oder zu
berühren, um zu wissen, daß sie tot war.« Ob Dr. Melrose seine
Professionalität demonstrieren wollte oder nur über seinen
Schmerz hinwegredete, war nicht klar. Seine monotone
Stimme überspülte uns, wie die dunklen Wellen in der Tiefe
die arme Flo überspült hätten, wenn der trauernde Witwer
seinen Plan, sich ihrer Leiche zu entledigen, erfolgreich in die
Tat umgesetzt hätte.
»Doktor«, sagte ich mit so eisiger Stimme, als wäre ich gerade
einem nächtlichen Bad im Meer entstiegen, »der Himmel
verhüte, daß ich Ihr ärztliches Urteil anzweifle, aber ich glaube,
Sie wären gut beraten, einen zweiten Befund einzuholen.«
»Was wollen Sie damit sagen, Mrs. Haskell?«
»Daß Ihre Frau nicht so tot ist, wie Sie glauben.«
»Ellie!« Ben packte meinen Arm und starrte auf die Leiche.
»Beim Jupiter, ich glaube, du hast recht!«
»Unmöglich!« Dr. Melrose schien selbst wieder lebendig zu
werden. Ja, er schien sogar leicht verärgert zu sein, weil seine
Diagnose angefochten wurde.
»Sie hat sich bewegt!« Mein Schrei ließ Erde und Himmel
erbeben. »Sehen Sie!« Ich ließ mich neben Flo fallen und
spürte kaum, wie sich die Kieselsteine schmerzhaft durch
meine Hose in meine Knie bohrten. »Sie öffnet die Augen. Oh,
Gott sei Dank! Sie drückt meine Hand.«
»John…?«
»Ich bin hier, mein Schatz!« Dr. Melrose drückte die Faust an
den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken.
»Wo bist du?« Flos Finger lösten sich aus meinen und tasteten
in der Luft nach einer vertrauteren Berührung.
Trotzdem rührte Dr. Melrose sich nicht. »Ich muß einen
Schock gehabt haben«, murmelte er immer wieder. Ich stand
auf und half Ben, den Mann in die Büßerstellung
hinunterzudrücken. Endlich kam er wieder zu sich. Er nahm
den Hut ab, formte ein behelfsmäßiges Kissen daraus und legte
es unter den Kopfseiner Frau, bevor er dann seinen Mantel
aufknöpfte, um ihn als Decke zu benutzen.
»John…?«
»Still jetzt, solange ich dich untersuche.« Während ich
beobachtete, wie seine Hände sanft ihren Kopf abtasteten und
sich dann weiter an ihrem Hals hinunterarbeiteten, überlegte
ich, ob er wohl auf den Moment vorbereitet war, wenn sie ihm
in die Augen sehen und fragen würde: »Warum hast du
versucht, mich zu töten?«
»Drück meine Hand mit deiner rechten Hand.«
»John…?«
»Jetzt mit der linken.«
»Bitte…!« Flo warf den Kopf hin und her, aber falls die
Ärmste Ben und mich sah, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Warum tut mein Kopf so weh? Warum liege ich hier mitten in
der Nacht am Straßenrand?«
»Ich erwarte nicht, daß du mir verzeihst.«
»Als letztes erinnere ich mich daran, daß ich auf dem Sofa saß.
Das Wohnzimmerfenster war offen, und eine Brise kräuselte
die Tüllgardinen. Ich las in dem Fully-Female-Handbuch und
kam zu dem Kapitel über Feiertagsfreuden. Meine Güte, das
mit Halloween klang wirklich lustig! Wie schade, daß erst
April ist, dachte ich, und dann… peng.«
Mein Blick begegnete dem von Ben. Demnach war ihr
Zeitgefühl leicht daneben. Wer konnte unter diesen Umständen
schon eine perfekte Chronologie erwarten?
Dr. Melrose barg seinen Kopf in den Händen. »Es tut mir so
leid, mein Schatz.«
»Und dann«, fuhr Flo über ihn hinweg fort, »fiel mir ein, daß
es, wenn ich meine Halloween-Nummer jetzt schon abzog,
einen ganz besonderen Kitzel hätte, so wie Weihnachten im
Juli. Ich kann mich schwach erinnern, daß ich das Handbuch
weglegte und danach… nichts mehr.«
Dr. Melrose hob den Kopf und preßte die gefalteten Hände
aneinander. »Was hast du gesagt?«
»Alles ist wie ein dichter Nebel.«
»Gott sei Dank!« Die Worte kamen in solch einer Lautstärke
heraus, daß es ausgereicht hätte, um ein Publikum
wachzurütteln, das die Oper verschlief.
»Amnesie«, erklärte Dr. Melrose schnell seiner nichtsahnenden
Frau, während Ben und ich angewurzelt dastanden wie zwei
Bäume, »ist das Mittel von Mutter Natur, einen Menschen vor
der Erinnerung eines Traumas abzuschirmen.«
»Welches Trauma?« Flo preßte eine Hand an ihren vermutlich
dröhnenden Kopf.
»Lieg still, mein Schatz, dann werde ich’s dir erklären.« Dr.
Melrose schaute zu Ben und mir hoch. »Siehst du Mr. und Mrs.
Haskell da drüben stehen?«
»Wo?« Flo reckte den Hals, schien jedoch immer noch
Schwierigkeiten zu haben, uns klar zu erkennen. »Oh, ja, John,
aber was haben sie mit… all dem zu tun?«
»Lass’ mich von Anfang an erzählen. Nachdem du deine
Halloween-Nummer abgezogen hattest« – der Doktor konnte
sich eines Schauders nicht erwehren –, »schlug ich vor, wir
sollten… das Vorspiel mit einer Fahrt über die Cliff Road
fortsetzen. Alles war perfekt, von der Musik im Radio bis zu
den Liebesworten, die du mir ins Ohr flüstertest, als die Idylle
ein jähes Ende fand. Wir kamen an eine Biegung in der Straße,
kurz hinter der Kirche, und eine Katze flitzte vor den Wagen.«
»Arme Muschi!«
»Genau deine Worte in diesem Moment, mein Schatz.« Dr.
Melrose, der immer noch kniete, wand sich. »Als ich dich so
erschüttert sah, konnte ich das Tier nicht zu einem
Kaminvorleger plattwalzen, und so tat ich, was kein Autofahrer
tun sollte, vor allem nicht auf einer Straße wie dieser. Ich riß
den Wagen herum, trat auf die Bremse… und als ich den Kopf
vom Lenkrad hob, stellte ich fest, daß du aus dem Auto
geschleudert worden warst und dich fragte, wie du an diese
Beule an deinem Hinterkopf gekommen warst.«
»Hatte ich denn meinen Sicherheitsgurt nicht angelegt?« Flo
kämpfte sichtlich, um die Augen offenzuhalten.
»Du sagtest, du fändest ihn zu einengend.«
»Was war ich doch für ein Dummkopf!« Sie streckte ihrem
Mann die Hand hin, sah jedoch mich und Ben an. »War es Ihre
Katze?«
Ich nickte, unfähig zu sprechen, und wandte mich mit Ben auf
den Fersen ab. Einen makabren Segen hatte der »Tod« von Flo
Melrose gehabt, er hatte mich unempfindlich gegen den
Verlust meines geliebten Tobias gemacht. Doch jetzt kehrte
das Gefühl zurück mit dem schmerzhaften Stechen eines
eingeschlafenen Glieds. Nie wieder würde ich meinen
kuscheligen Freund auf Zehenspitzen durch das Sommergras
schleichen sehen, mit einer Kette aus Schmetterlingen um den
Hals. Die Zwillinge würden weder seinen Namen brabbeln
noch seinem Schwanz nachjagen. Und nie wieder würde ich an
Winterabenden mit meinem kuscheligen Heizkissen auf dem
Schoß dasitzen.
Meine Eloge wurde von Ben unterbrochen, der den Wagen
einen Schritt vor mir erreicht hatte. »Er ist fort.«
»Ja«, murmelte ich und wünschte, er würde nicht aussprechen,
was wir bereits wußten.
»Ellie, hast du vergessen, daß ich die Euphemismen nach der
Geburt der Zwillinge aufgegeben habe? Wenn ich sage, daß
Tobias fort ist, dann meine ich, daß er nicht da ist, wo wir ihn
zurückgelassen haben.«
»Ach, du meine Güte!« Ich ließ mich auf alle viere fallen,
streckte mich bäuchlings auf der Straße aus, um unter den
Wagen zu spähen, und tatsächlich sah ich kein einziges
Schnurrbarthaar. »Weißt du, was das bedeutet?« Ich fing an zu
heulen, als Ben mir hochhalf. »Ein wildes Tier hat sich mit ihm
aus dem Staub gemacht!«
»Schatz« – sein Ton war eine Mischung aus Verzweiflung und
Zärtlichkeit –, »das hier ist Chitterton Fells. Hier binden sich
die Hyänen nicht ihre Servietten um den Hals, um Tobias als
Nachtmahl zu verspeisen. Offensichtlich war sein Tod ebenso
zeitlich begrenzt wie der von Flo Melrose.«
»Er war so still!«
»Zugegeben. Aber hinterher hat er sich wieder erholt und…
Ellie!« rief er, sprang einen halben Meter hoch und reckte den
Arm in die Luft. »Ich glaube, ich sehe ihn da drüben bei
diesem Stein, wo sich das Gras bewegt!« Noch immer rufend,
lief Ben einige Meter nach rechts, verwandelte sich in eine
dunkle Silhouette und kam wenig später mit Armen zurück, auf
denen plötzlich Fell gewachsen war. »Verdammt!« Er trat
seinen Schuh ab. »Armer Kerl, er hat sich übergeben, und ich
bin reingetreten.«
»Was für ein Abend!« Ich schloß Tobias in die Arme, immer
noch außerstande zu glauben, daß er kein Geist war. Jedenfalls
war er kalt genug, um seit Jahrhunderten an diesem Ort zu
spuken, aber dem konnte abgeholfen werden, indem ich ihn
unter meine Strickjacke steckte, so daß von ihm nur noch ein
Ohr und ein wie high wirkendes Auge sichtbar waren.
»Ben…«
»Ja?« Er blickte über die Straße zu der Stelle, wo Dr. Melrose
nach wie vor neben seiner Frau kauerte.
»Ich habe nachgedacht.«
»Ich auch.«
»Naja«, sagte ich und schob Tobias höher, »mir ist diese alte
Anekdote über die Katze und den Lachs eingefallen. Du kennst
ihn doch – eine Frau bereitet Lachs für eine Dinnerparty zu und
läßt ihn auf dem Tisch stehen, als sie nach oben geht, um sich
anzuziehen. Als sie wieder in die Küche kommt, entdeckt sie,
daß ihre Katze von dem Lachs gefressen hat. Da sie nichts
anderes anzubieten hat, bessert sie es notdürftig mit
Radieschen und gehackten Eiern aus, und die Dinnerparty
verläuft wie geplant, alle lassen sich den Lachs schmecken und
erklären ihn als eines Königs würdig. Als es Zeit für den
Nachtisch ist, geht die Frau wieder in die Küche und merkt
plötzlich, daß sie die Katze eine ganze Weile nicht gesehen hat.
Sie öffnet die Hintertür, und da liegt sie, mausetot. Überzeugt,
daß der Lachs der Übeltäter ist, geht sie hinein und beichtet die
ganze Geschichte ihren Gästen, so daß alle in die Notaufnahme
abziehen und sich den Magen auspumpen lassen. Aber später,
als die Frau wieder zu Hause ist, kommt ein Nachbar vorbei
und gesteht ihr verlegen, daß er die Katze überfahren hat, als er
an diesem Abend aus seiner Garage setzte.«
»Was willst du damit sagen, Ellie?«
»Sagen ist ein zu starkes Wort. Ich frage mich bloß, ob das,
was mit Tobias passiert ist, nicht eine Umkehrung der
Geschichte sein könnte, mehr nicht. Wir haben angenommen,
daß er von dem Wagen der Melrose erfaßt wurde, aber auf
einmal frage ich mich, ob es nicht der Lachs war, der ihn fast
zur Strecke gebracht hätte. Ich sage nicht, daß er schlecht war –
nur zu schwer für seinen Blutkreislauf. Ben, ich habe ihn
gesehen, als er auf die Straße lief, und ich schwöre, schon da
stimmte etwas nicht mit ihm. Er taumelte, und als der Wagen
auf ihn zukam, stand er da und glotzte nur.«
»Vermutlich von den Scheinwerfern hypnotisiert.«
»Das dachte ich auch, aber…« Ich lachte nervös. »Ach,
vergessen wir’s. Wahrscheinlich macht mir die späte Stunde zu
schaffen. Warum holst du nicht die Picknicksachen, und wir
gehen nach Hause?«
Während ich zusah, wie Ben den Hügel zu der Birkengrotte
hochlief, umarmte ich Tobias fester, um ihn und mich zu
wärmen. Mir war so kalt, als läge ich im Grab! Ich
unterdrückte ein Frösteln, blickte zum Friedhof hinüber und
sah entweder einen kleinen Baum oder eine große Gestalt in
der Nähe des Tores. Schöpfte Mr. Gladstone Spike Nachtluft,
weil er nicht schlafen konnte, oder ließ ich nur wieder einmal
meine Phantasie mit mir durchgehen?
»Ellie?«
Anders als Ben und die meisten normalen Menschen, bin ich
noch nie in der Lage gewesen, einen guten Meter in die Luft zu
springen, auch nicht, wenn ich erschrocken bin. Im Höchstfall
bringe ich eine Art Hasenhoppeln zustande. Dr. Melrose half
seiner Frau gerade auf den Beifahrersitz des Wagens, und sie
war es, die mir zugerufen hatte.
»Tut mir so leid wegen der Katze.« Sie hob die Hand zu einem
Winken, das so matt war wie ihr Lächeln, und bevor ich ihr
versichern konnte, daß selbst im Tod noch Leben ist, hatte ihr
Mann die Tür zugeschlagen und kam auf mich zu.
»Ein Wort zum Abschied, wenn’s erlaubt ist?« Er nahm den
Hut ab, drückte ihn an die Brust und senkte den Kopf. »Mrs.
Haskell, ich bin Ihnen und Ihrem Ehemann auf Gnade und
Ungnade ausgeliefert. Wenn die Vorfälle dieses Abends
bekanntwerden, bin ich ruiniert.«
»Das sollte man meinen«, sagte ich kalt. »Ein Arzt, der nicht
sagen kann, ob seine Frau tot ist oder lebendig, erweckt nicht
gerade Vertrauen.«
»Ich war außer mir.«
»Gut!«
»Habe ich Ihr Versprechen, daß Sie schweigen?«
»Das hat seinen Preis.« Ich schaute ihm in die Augen und sah
tief in seinen Kopf, bis dahin, wo die Rädchen sich drehten.
»Erpressung, Mrs. Haskell?«
»Ein großes Wort, Dr. Melrose.« Ich öffnete meine Strickjacke,
beförderte Tobias in seine Arme und zerquetschte dabei seinen
Hut. »Wie Sie sehen, lebt meine Katze. Und ich will wissen, ob
es auch so bleibt.«
»Das ist Ihr Preis?«
»Zusammen mit dem Versprechen, daß Sie niemals wieder
Hand an Ihre Frau legen.«
»Mrs. Haskell, ich bin seit über dreißig Jahren mit Flo
verheiratet…«
»Und das gibt Ihnen das Recht, sie auch nur einmal zu
schlagen?«
Er antwortete nicht, sondern machte sich daran, Tobias zu
untersuchen, hob erst das eine Augenlid, dann das andere,
bevor er sich die Bauchgegend vornahm. »Unter den
gegebenen Umständen mag das verdächtig klingen« – Dr.
Melroses verlegene Miene hatte sich in einen Ausdruck der
Überraschung verwandelt –, »aber ich würde sagen, daß dieses
Tier vergiftet wurde. Ansonsten wäre es nämlich gesund wie
ein Fisch im Wasser.«
»Fisch ist hier das Schlüsselwort!« Mein Blick schweifte zum
Friedhof hinüber, aber bevor ich noch etwas sagen konnte,
tauchte Ben aus dem Dunkel auf, komplett mit Picknickkorb
und Reisedecke. Dr. Melrose gab mir Tobias rasch zurück und
stülpte wieder seinen Hut auf – wohl um größer auszusehen,
als er sich wappnete, aufs neue zu Kreuze zu kriechen.
Das Telefon läutete irgendwo am Rande des Schlafs, und ich
schnellte am nächsten Morgen im Bett hoch, um festzustellen,
daß Ben fort war und der Zeiger der Uhr vorwurfsvoll auf acht
wies. Ich war so strubbelig wie ein Bernhardiner und nahm mir
nicht mal die Zeit, mir meinen Morgenmantel zu schnappen,
ehe ich auf den Treppenabsatz hinaushechelte, um den Hörer
abzunehmen.
»Hallo?« Ich zupfte am Kragen meines Flanellnachthemds
herum, weil mir der Gedanke nicht gefiel, daß mich jemand
hörte, wenn ich so aussah.
»Ellie, hier ist Bunty Wiseman.«
»Oh… wie geht es dir?«
»Himmlisch!«
»Wirklich?« Ich zog mir einen Hocker heran und ließ mich mit
einem Plumpser darauffallen.
»Was hast du denn erwartet, ein Trauerjahr?« Buntys Lachen
ließ mein Trommelfell vibrieren. »Verflixt noch mal,
Herzchen! Ich hatte eine ganze Nacht, um mich
zusammenzureißen. So wie ich es sehe, kriegt Gladys Thorn
Li, und ich kriege sein Haus.«
Solch nonchalante Haltung machte mich sprachlos. Mein Blick
fiel auf das Foto meiner Schwiegermutter Magdalene Haskell,
und ich las ihre Gedanken. Ehen werden nicht aufgelöst wie
Gelatine mit Geschmack in heißem Wasser, sie zerfasern Stück
für Stück wie das verbrannte Fleisch eines Schweinebratens.
»Wenn ich irgend etwas tun kann…« Meine Lippen formten
das abgenutzte Klischee.
»Aber sicher kannst du das«, sagte Bunty munter. »Du kannst
zu der Party kommen, die ich für Li und seine schnuckelige
Verlobte gebe.«
»Zu der was?« Der Hocker rutschte unter mir weg, ich landete
auf den Knien und klammerte mich an der Telefonschnur fest,
als ob sie eine Rettungsleine wäre.
»Du hast mich schon verstanden. Ich habe vor, der Welt zu
zeigen, wie die Fully-Female-Frau sich verhält, wenn das
Unmögliche passiert. Kriecht sie etwas ins Bett, um dort ihren
Winterschlaf zu machen, bis die Scheidung rechtskräftig ist?
Nie im Leben! Sie legt ihre Kriegsbemalung an und macht die
Stadt unsicher. Also, Ellie, kann ich heute abend um sieben mit
dir rechnen?«
»Ähhhmmm!« Ich rappelte mich auf und versuchte, mir eine
Ausrede einfallen zu lassen, um dem zu entgehen, was die
ungeselligste Fete der Saison werden mußte.
»Es wird keine echte Verlobungsparty ohne dich.«
»Na schön.«
»Und bring doch Ben mit.«
»Das kann ich nicht!« Schon der Gedanke daran ließ das
Geländer vor meinen Augen verschwimmen. »Wenn er nicht
im Abigail’s sein muß, brauche ich ihn als Babysitter. Ich kann
nicht immer wieder Freddy einspannen; er ist viel zu gutmütig.
Er hat gestern abend den Babysitter gespielt, und als wir
zurückkamen, war es so spät, daß er letztendlich hier
übernachten mußte.«
»Könntest du mal nachsehen, ob er schon nach Hause
gegangen ist?«
»Na klar.« Meine Neugier war geweckt. Was sie wohl von
Freddy wollte? Ich legte den Hörer hin und ging zur Treppe,
nur um zu entdecken, daß mein Cousin, dessen Haar zu einem
viel ordentlicheren Pferdeschwanz zusammengebunden war als
meins, mir mit Dreifachschritten entgegenkam.
»Schönen guten Morgen, Cousinchen! Ben hat mich geschickt,
um dir zu sagen, daß er die Babys geweckt und gefüttert hat
und daß das Frühstück in zwanzig Minuten fertig ist.«
»Danke, Hermes«, sagte ich. »Bunty Wiseman wünscht dich
am Telefon zu sprechen.«
»Moi?« Freddy erklomm die letzte Stufe, und anstatt so tief zu
sinken, die Lauscherin zu spielen, ging ich – mit winzigkleinen
Schritten – in mein Schlafzimmer zurück. Mist! Seine Stimme
trug nicht, und das einzige, was ich deutlich mitbekam, war das
Auflegen des Hörers. Ich zog meinen Morgenmantel über, ging
wieder in den Korridor und weiter ins Blaue Zimmer. Bens
Frühstücksmeldung hatte nichts von Mrs. Malloy gesagt,
deshalb klopfte ich an die Tür, ohne zu wissen, was mich
erwartete.
»Wer zum Teufel ist da?«
»Ich bin’s nur!« Von Grund auf zerknirscht öffnete ich die Tür
und näherte mich dem Heiligen Stuhl… ich meine Bett.
»Ach, Sie sind es, Mrs. H!« Mrs. Malloy lehnte an einer
Schneewehe aus Kissen, die Hände über dem Federbett
gefaltet. »Ich dachte gerade schon, ich wäre zu Hause und der
Zeitungsjunge hätte wegen dem Geld angeklopft.«
»Haben Sie gut geschlafen?« Ich spürte, wie ich einen halben
Knicks machte, was mich an Miss Thorn erinnerte.
»Nicht besonders. Diese Tapete allein reicht, um einem
Alpträume zu machen.«
Da hatte sie recht. Ben und ich waren noch nicht dazu
gekommen, das Blaue Zimmer neu zu tapezieren, und wo man
auch hinsah, waren Mädchen auf Schaukeln -Mädchen mit
Zöpfen und Strohhüten, die auf- und abschwangen, vor und
zurück, bis das Zimmer selbst einem Anfall von Höhenangst
erlag. Vermutlich hatte man ursprünglich das Mobiliar
auflockern wollen, das auf traurige Weise stolz auf seine
Häßlichkeit zu sein schien. Ich hätte schwören können, daß die
Frisierkommode an ihrer langen Spiegelnase entlang auf Mrs.
Malloy hinuntersah. In dem gestreiften Schlafanzug, den ich
ihr geliehen hatte, sah sie aus wie auf Hafturlaub, und das
Fehlen ihres Make-ups verstärkte noch den Eindruck, daß sie
seit zwanzig Jahren kein Tageslicht gesehen hatte. Erstaunlich,
was Augenbrauen an einer Frau ausmachen. Doch wie
gewöhnlich war Mrs. Malloys Haltung die eines Menschen, der
die Königin nur zu seinen eigenen Bedingungen zu treffen
bereit ist.
»Hoffentlich wollen Sie mir nicht das Frühstück ans Bett
bringen, Mrs. H. Ich esse meine Eier mit Schinken gern an
einem richtigen Tisch.«
»Ben hat alles fertig und wartet unten.«
»Sehr nett, ich werde Sie beide in meinem Testament
berücksichtigen. Aber erwarten Sie nicht von mir, daß ich den
ganzen Morgen mit Ihnen und Mr. H herumsitze und klöne. Ich
hab’ viel zu tun.«
»Bewundernswert«, sagte ich und meinte es auch so. Das hier
war die alte Mrs. Malloy, bevor sie mit Walter Fisher ins Bett
ging und sich darauf verlegte, wie das Opfer des Liebesbisses
eines Vampirs dahinzugleiten.
Sie schwang ein gestreiftes Bein aus dem Bett. »Ich habe vor,
das Leben bei den Klunkern zu packen.«
»Vortrefflich.«
»Wenn ich von hier verschwinde, werd’ ich auf einen Sprung
im Pfarrhaus vorbeischauen und meine Dienste beim Bohnern
der Altarstufen und was sonst noch alles anbieten.«
»Wie nett.«
»Von jetzt an, Mrs. H, werde ich auf Schritt und Tritt
Sonnenschein verbreiten. Kein Bettler wird mit leeren Händen
weggehen, und alle Kinderchen werden mich Großmama
nennen. Ich werd jeden Augenblick voll auskosten. Na, was
halten Sie von diesen Dingen… diesen Vorsätzen?«
Was konnte ich darauf sagen? Ich konnte ihr ja kaum mitteilen,
daß mir das Herz in die Hose gerutscht war, daß ich dieses
Gefasel als ein weiteres, vielleicht noch heimtückischeres
Anzeichen des verfluchten Liebesübels ansah.
»Entzückend«, sagte ich und klang genauso wie Mr. Gladstone
Spike, und plötzlich hüpfte der ganze Raum mit den Schaukeln
auf und ab.
»Einen Penny für Ihre Gedanken, Mrs. H.«
»Oh, soviel sind die gar nicht wert.« Ich griff nach dem
Bettpfosten. »Ich habe an Tobias gedacht, das ist alles. Und
mich daran erinnert, daß ich heute auf seine Diät achten muß.
Gestern abend ging es ihm nicht besonders.«
Was soll die Durchschnittshausfrau tun, wenn sie von einem
Mordversuch weiß und einen weiteren vermutet? Sie beißt in
mundgerechtere Probleme und fährt mit ihren Tagesgeschäften
fort. Sobald Ben, Freddy und Mrs. Malloy aus dem Haus
waren, stopfte ich eine Ladung Babykleidung in die
Waschmaschine, stellte sie an, versetzte ihr den erforderlichen
Schlag und erntete nur einen Rülpser ins Gesicht für meine
Bemühungen. Mr. Bludgett, der Klempner, würde noch von
mir hören.
»Wie sieht’s aus, meine Engel?« Ich hob Abbey aus ihrem
Wippstuhl und strahlte Tarn an. »Sollen wir alle zum
Waschsalon gehen und Geld in die Automaten stecken, so wie
in Las Vegas?« Natürlich mußten, bevor wir zu diesem großen
Abenteuer aufbrechen konnten, noch zwei von uns ein Bad in
der Spüle nehmen. Dann folgte die anspruchsvolle Aufgabe,
steife Beinchen in weiche Leggings zu stopfen, bevor wir zum
Auto gehen konnten, nur um festzustellen, daß ich vergessen
hatte, ein letztes Mal nach Tobias zu sehen, und, ach ja – meine
Handtasche war wer weiß wo im Haus.
Eine Stunde später, als ich den Kinderwagen in den Glaspalast
schob, fand ich dort halb Chitterton Fells um sechs Maschinen
versammelt vor, von denen zwei Pappschürzen mit der
Aufschrift »Außer Betrieb!« trugen. Die Zwillinge quietschten,
und ich wollte nur noch weg von dem Getöse der Trockner und
dem schweißigen Waschmittelgeruch und mich auf die Suche
nach einem plätschernden Bach und einigen hübschen glatten
Steinen machen, als ausgerechnet Mr. Walter Fisher
hereinkam.
Sofort fingen die Leute an, ihren Kaffee schneller zu trinken
oder sich konzentrierter über ihre Zeitschriften zu beugen, das
heißt, wenn sie nicht das Glück hatten, Wäsche falten zu
können. Aber sie hätten sich nichts einzubilden brauchen.
Walter weidete seine Fischaugen an mir.
»Guten Morgen, Mrs. Haskell und Familie«, sagte er und
wedelte mit einer Flosse in Richtung der Zwillinge. »Ich sah
Sie hier hineingehen und dachte, ich schaue mal eben vorbei
und rede kurz mit Ihnen.«
»Das ist sehr freundlich.« Ich senkte den Blick und zupfte an
der aus aufgerauhter Wolle bestehenden Decke des
Kinderwagens herum. Wie konnte Mrs. Malloy diesen Mann,
der aussah, als ob er die meiste Zeit in einem Aquarium
verbrachte, bloß ertragen? Von seinem angeklatschten Haar bis
zu seinen Guppylippen war er schleimig-fahl.
»Bitte denken Sie nicht, daß ich Sie drängen will, Mrs.
Haskell…«
»Wie bitte?«
Ein Schrammen von Stühlen, als meine Mitwaschenden ihre
Kaffeebecher und Zeitschriften sinken ließen, um zu horchen.
Mr. Fisher senkte die Stimme. »Am Montagabend beim Heim
und-Herd-Verein spürte ich ein Interesse Ihrerseits – und
besonders auf Seiten Ihres Mannes –, die Vorkehrungen für
Ihre Bestattung zu treffen.«
»Ich glaube wirklich nicht« – ich packte den Griff des
Kinderwagens –, »daß dies die rechte Zeit oder der rechte Ort
ist…«
»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nie auf
morgen.« Mr. Aufgewärmter Tod drohte mit einem
wächsernen Finger. »Keiner von uns kann wissen, wann wir
verlöschen wie eine Kerze. Und wollen wir denn unsere
Hinterbliebenen mit all den Kleinigkeiten belasten, die man
beachten muß, um uns die Verabschiedung zuteil werden zu
lassen, die wir verdienen?«
»Mir persönlich«, sagte ich, und meine Eingeweide rumpelten
und schäumten wie die Waschmaschinen, bis ich sicher war,
daß mir Blasen zu Nase und Mund herauskommen würden,
»mir ist piepegal, was nach meinem Tod mit mir passiert.
Meinetwegen kann mein Mann mich ruhig auf den
Komposthaufen schmeißen.«
»Das ist nicht Ihr Ernst, Mrs. Haskell!«
»O doch.«
Das blasse Gesicht zuckte. »Sie haben doch zumindest vor,
sich insoweit an die herkömmlichen Bräuche zu halten, daß Sie
sich einäschern lassen.«
»Ich glaube schon.« Egal, Hauptsache, er hielt den Mund.
»In diesem Falle« – Mr. Fisher sah längst nicht so geknickt
aus, wie ich gehofft hatte – »wären Sie möglicherweise an
einem ganz neuen Angebot von Fisher Funerals interessiert.
Wir nennen es den Schaukasten – eine Präsentation, die die
Sparsamkeit…« – er wischte seine nassen Lippen mit einem
schwarzumränderten Taschentuch ab –,»… die Sparsamkeit
der Einäscherung mit der Feierlichkeit und der Pracht einer
traditionellen Bestattung verbindet. Wir stellen zwei
Behältnisse zur Auswahl – den Royal Mahagoni und die
Jungfräuliche Königin, in denen der Leichnam vor und
während des Gedenkgottesdienstes ruhen und besichtigt
werden kann.«
»Geht es um eine Art Mietsarg?«
»Gewissermaßen.« Mr. Fishers Augen wölbten sich ärgerlich
vor. »Nach der letzten Besichtigung wird der Klient zur
Einäscherung entfernt und der Sarg wiederverwendet.«
»Ich muß darüber nachdenken.« Ich lächelte den Zwillingen
zu, falls sie aufgrund meines Tonfalls annahmen, daß ich sauer
auf sie war. »Es war nett, sich mit Ihnen zu unterhalten, Mr.
Fisher, aber ich glaube, ich sehe da eine freie
Waschmaschine.«
»Ja… will Sie nicht aufhalten.« Zu schade, daß er sich nicht
daran hielt. Als ich mich abwandte, folgte er mir an einem
grauhaarigen Mann vorbei, der seinen Kaffeebecher auf seinem
Bauch balancierte, und an zwei Frauen, die ein Laken zum
Falten ausbreiteten. »Auf ein Wort noch, Mrs. Haskell.«
»Ja?« Ich zog Kleidungsstücke aus der Tasche des
Kinderwagens.
»Könnten Sie mir freundlicherweise sagen, was Sie von Mrs.
Malloy halten? Ich weiß, sie arbeitet für Sie, und ich frage
mich, ob Sie in den letzten paar Tagen eine Veränderung an ihr
bemerkt haben?«
»Sie ist…« Ich wollte sagen, daß Mrs. Malloy quietschfidel
wäre, doch Mr. Fishers Gesichtsausdruck hielt mich davon ab.
Du meine Güte, dieser Mann war ein einziges Zittern, und ich
schämte mich plötzlich zutiefst. Hier war ein Mitglied eines
ehrenwerten Berufsstands, und ich rümpfte die Nase über ihn,
weil mich Gespräche über Sargfutter nervös machten. Solch
ein Vorurteil war ebenso schändlich wie die, die sich gegen
übergewichtige Menschen richteten. Und konnte der Mann
etwas dafür, daß er nicht Cary Grant war… oder Ben Haskell?
Wenn ein Büßergewand in der Nähe gewesen wäre, dann hätte
ich es über den Kopf gezogen.
»Was wollten Sie gerade sagen, Mrs. Haskell?«
»Verzeihung.« Ich stand mit einem Armvoll Klamotten da.
»Aber ich glaube nicht, daß es fair wäre, wenn ich mit Ihnen
über Mrs. Malloy spreche.«
»Ich verstehe.«
»Ich will nur soviel sagen« – unmöglich, ihm nicht ein paar
Brosamen der Hoffnung hinzustreuen –, »sie läuft durch die
Gegend wie eine Frau in Trance.«
»Vielen Dank für diese Information.« Der Ausdruck in Mr.
Fishers Augen, als er sich zurückzog, war unergründlich, und
die Guppylippen verzogen sich zu einem Lächeln, einer
Verheißung, daß Mrs. Malloy noch alle möglichen aufregenden
Dinge bevorstanden.
Im Ernst, ich habe keinen Schimmer, wo der Rest des Tages
blieb. Er schien unter den Türen hindurch und durch Ritzen in
den Fensterrahmen zu entwischen, in Wölkchen vertaner Zeit
und geplünderter Augenblicke, bis ich plötzlich kurz nach
sieben Uhr abends wie eine Topfpflanze in Bunty Wisemans
frühägyptischem Salon stand. Wie ich Ben dazu überredet
hatte, mich nicht zu begleiten, hätte mir den Oscar für mein
Lebenswerk in ehelicher Täuschung einbringen müssen. An
einem Punkt schien es fast einfacher, ihm zu gestehen, daß ich
Fully Female beigetreten war, aber irgendwie brachte ich es
nicht fertig, die Worte auszusprechen. Ich wußte, daß er mich
lieber mit blankem Busen in der Öffentlichkeit herumlaufen
lassen würde, als daß ich unser Intimleben in Erlebnis Ehe
bloßstellte.
Mrs. Pickle hatte mich ins Haus gelassen, und wo ich auch
hinsah, waren Frauen^ die ich von meinem einzigen Gastspiel
bei Fully Female wiedererkannte. Die meisten hatten ihre
Männer im Schlepptau, die alle, nach ihren schmachtenden
Mienen zu urteilen, immer noch in ihrem Bann standen. Aber
seltsamerweise hatte ich unsere Gastgeberin noch nicht zu
Gesicht bekommen, ganz zu schweigen von den Ehrengästen.
Der Raum war so blendendweiß, daß man fast erwartete,
maskierte Chirurgen hereineilen zu sehen, die ihre Skalpelle
wetzten. Tatsächlich war nur ein einziger Medizinmann
anwesend. Im Orchestergraben neben dem Flügel stand Dr.
Melrose… mit Gattin. Von meinem Standort aus war schwer
zu sagen, ob Flo in Topform war, aber sie stand, was ja schon
einiges besagte. Mein Blick schwenkte von den Melroses zu
einem Spiegelparavent vor einer Fensternische. Der Paravent
war bei meinen früheren Besuchen noch nicht dagewesen – ein
Abschiedsgeschenk an Bunty von Lionel? Oder hatte sie einen
Einkaufsbummel gemacht, um sich aufzumuntern?
»Champagner, Madam?«
»Mrs. Malloy!« Ich stieß ihr fast das Tablett aus den Händen.
»Das ist aber eine Überraschung!«
»Hübscher Fummel.« Sie musterte mein Kleid aus
bronzefarbener und olivgrüner changierender Seide. »Könnte
man zu einer Beerdigung tragen, ohne zu aufgedonnert
auszusehen.«
»Vielen Dank.«
»Aber was haben Sie um Himmels willen mit Ihrem Haar
gemacht, Mrs. H? Sieht aus, als hätten Sie’s mit einer Harke
gekämmt.«
Da ich merkte, daß die Leute zu meiner Rechten ganz Ohr
waren, senkte ich die Stimme. »Ich hatte es eilig – und zu Ihrer
Information, Mrs. Malloy, der verwuschelte Look ist in.«
Ein verächtliches Naserümpfen. »Ja, in Crufts vielleicht, aber
nicht hier.« Sie drückte mir ein Glas in die schlaffe Hand. »Ich
bin gern stolz auf meine Damen, und es ist ja nicht so, daß ich
immer dasein werde, um ein Auge auf Sie zu haben.«
Vermutlich nicht. Mr. Fisher war zweifellos ein Chauvinist der
alten Schule, der nicht wünschte, daß seine Frau die Tische
anderer Leute polierte, wenn sie Särge polieren konnte.
»Sie sehen sehr nett aus«, sagte ich. Und genau das tat sie mit
ihrem zweifarbigen Haar, jedem Schönheitsfleck an seinem
Platz und ihrer Preiselbeerschürze, die ihrem Kleid mit den
schwarzen Perlen einen Farbakzent gab.
»Tja, die Bösen ruhen und rasten nicht.« Mrs. Malloy schob
die Gläser auf dem Tablett zurecht, trank einen Schluck aus
einem – wohl um es mit den anderen auszugleichen –,
schmatzte in Anerkennung des Jahrgangs mit ihren
Schmetterlingslippen und schwankte dann auf ihren Fünfzehn-
Zentimeter-Absätzen davon. Das nächste Paar, dem sie sich
näherte, waren die Bludgetts. Ich dachte gerade daran, zu ihnen
hinüberzugehen, als niemand anders als die stets elegante und
kürzlich verwitwete Jacqueline Diamond zu mir stieß.
»Immer noch keine Spur von unserer Gastgeberin und den
Ehrengästen.« Sie drehte den Stiel ihres Glases zwischen den
Fingern und taxierte mich mit ihren Lauren-Bacall-Augen.
»Nein«, stammelte ich.
»Unheimlich, finden Sie nicht?«
Was ich für unheimlich hielt war, daß sie – seit ein paar Tagen
erst Witwe – eine Party besuchte… besonders eine Party in den
Räumlichkeiten von Fully Female.
»Wie geht es Ihnen denn so?« brachte ich heraus.
»Ich bin nach wie vor zum Glück gefühllos.« Sie angelte in
ihrer Gobelinabendtasche nach einem Päckchen Zigaretten und
– ihr aschblondes Haar hing auf ihr Handgelenk – klopfte eine
Kingsize-Filterzigarette heraus. »Ich hoffe, Sie greifen sich
nicht an die Brust und ringen nach Luft, wenn ich rauche« – sie
zündete sie an –, »obwohl es mich nicht groß kümmert, wenn
es jemanden stört. Das ist einer der Vorteile der Trauer. Ein
Tip für die Zukunft, es ist einem alles scheißegal, zum
Beispiel, was die Leute davon halten, daß ich heute abend hier
bin. Ich weiß nur« – ihre Stimme war so rauchig wie der
Qualm, der uns einhüllte – , »daß es besser ist, als allein zu
Hause zu sitzen, nur mit Normies Capes zur Gesellschaft.«
»Ist die Polizei hart mit Ihnen umgesprungen?« Ich schob mein
Haar zurück, weil es mir in die Augen fiel und sie davon
tränten.
»Sie haben mich behandelt wie ein rohes Ei.«
»Wissen Sie, wann die gerichtliche Untersuchung stattfindet?«
»Nein, aber momentan konzentriere ich mich auch auf die
netten Dinge, zum Beispiel das Treffen der letzten
Vorkehrungen. Normie war gottesfürchtig, hielt sich aber an
keine Religion.«
»Die neue Pfarrerin von St. Anselm’s ist sehr nett«, redete ich
drauflos, und welch ein Zufall, wer betrat in diesem
Augenblick den Raum? Reverend Eudora Spike und ihr
Ehemann.
»Danke, meine Liebe.« Jacqueline hielt Ausschau nach einem
Aschenbecher. »Aber Normie war Jude.«
»Ach ja?« Ich spürte, wie ich in kalten Schweiß ausbrach, der
nichts mit meinem Fauxpas zu tun hatte. Die Spikes kamen auf
uns zu. Gladstone sah nach einem solch lieben, guten Mann aus
mit seinen krummen Schultern und den kurzsichtigen Augen,
daß ich das Gefühl hatte, ich sollte mir an die Brust schlagen
und drei Mea Culpas sprechen, weil ich ihn des versuchten
Mordes an seiner Frau verdächtigt hatte, damit er wieder dort
ansetzen konnte, wo er Vorjahren mit Gladys Thorn aufgehört
hatte, der Frau des Tages, deren Auftritt noch immer auf sich
warten ließ.
Bevor die Spikes bei uns anlangten, stießen sie auf die
Bludgetts, und natürlich wurden sie von der überschwenglichen
Moll in ein Gespräch verwickelt.
»Dufte, Sie zu treffen, Reverend.«
»Ganz meinerseits.« Eudora schob die Hand unter den Arm
ihres Mannes, und augenblicklich waren sie wie Tasse und
Unterteller, separat und doch komplett.
»Nette Party!« Jock Bludgett räusperte sich und verfiel dann in
ein vornehmes Falsett. »Eine echte Klassefrau, diese Bunty
Wiseman. Nicht viele Frauen würden ihre verletzten Gefühle in
‘nen Müllsack packen und ‘n Test für den fremdgehenden
Ehemann und seine Mieze schmeißen.«
Eine weniger katzenhafte Frau als Gladys Thorn konnte ich mir
nicht vorstellen, aber das tat nichts zur Sache. Erinnerte Mr.
Bludgett sich daran, wie er seine Moll mit selbiger Femme
fatale hintergangen hatte? Und wünschten die Spikes sich
möglichst weit von hier weg?
»Ich war überrascht, als Mrs. Wiseman anrief und Gladstone
und mich zu der Party einlud.« Eudora nahm ein Glas
Champagner von Mrs. Malloy entgegen, die wieder ihre Runde
machte. »Und noch überraschter, als sie den Grund für das
Beisammensein erklärte.«
»Ein höchst christliches Streben«, warf ihr Ehemann ein.
»Liebe in ihrer reinsten Form.« Eudora blinzelte, als ob sie
etwas im Auge hätte. Von meinem Platz aus wirkte ihr Teint so
beige wie ihre Seidenbluse. Ich fühlte mit ihr.
»Möchte wissen, wo Mrs. Wiseman steckt.« Mr. Bludgett
kaute an seinem Schnäuzer.
Moll, ganz Sprungfeder von Kopf bis Fuß, hob ihr Glas. »Wo
auch immer! Ich sage, trinken wir auf Bunty Wiseman, die
vollendete Fully-Female-Frau!«
»Auf Bunty!« Der vielstimmige Hochruf ließ das Zimmer
erbeben, dann wurde er zu einem Flüstern, das nicht schnell
genug verstummen konnte. Denn auf der Schwelle des
Zimmers standen die Turteltauben selbst. Lionel Wiseman
erstrahlte in einem silbergrauen Anzug, der aufsein Haar
abgestimmt war, während seine dunkle Krawatte perfekt mit
seinen schwarzen Brauen harmonierte. Was seine Verlobte
betraf, so glich sie das, was ihr an Schönheit abging, durch
mädchenhafte Bescheidenheit aus.
»Liebe, liebe Freunde von Chitterton Fells, das alles ist einfach
zu viel!« Miss Thorn zog ihr schwarzes Spitzentuch um ihre
fahlen Schultern und senkte den Kopf, so daß die
Gänseblümchenspangen aus ihren mausbraunen Flechten
hervorlugten. »Mein geliebter Lionel hat nie mit einem solchen
Andrang gerechnet, um unsere Verbindung zu segnen.« Von
Gefühlen überwältigt, warf Miss T sich in Mr. Wisemans
Arme, und er hielt sie fest, als ein erstauntes Raunen durch die
Schar der Gäste ging.
Bunty hatte ihren glanzvollen Auftritt.
»Hallo, Jungs und Mädchen!« Mit den blauen Augen
klimpernd, schlängelte Bunty sich ins Zimmer, den blonden
Kopf hocherhoben und eine Hand in die scharlachrote
Satinhüfte gestemmt. Ihr Gesicht leuchtete heller als die
Lampen im Raum. »Hallo, Li, Darling! Und einen guten Tag
der Frau, die du liebst. Als die Ehrengäste macht es euch doch
bitte auf dem Sofa gegenüber dem Spiegelparavent bequem.
Ich bin sicher, daß auch alle anderen ein behagliches Plätzchen
für sich finden, damit das Unterhaltungsprogramm beginnen
kann.«
»Was kommt denn jetzt?« Jacqueline Diamond klopfte noch
eine Zigarette aus dem Päckchen.
»Ist das nicht eine Wucht?« Moll Bludgett trat dicht an mich
heran und drückte meinen Arm. »Platzen Sie nicht auch fast
vor Spannung?«
»Schsch«, machte Mrs. Wardle, die Bibliothekarin.
Wie angewiesen, setzten Mr. Wiseman und Miss Thorn sich
mit ihren Champagnergläsern auf das weiße Sofa mit den
riesigen Kissen, während Bunty das Wort hatte. Sie hob eine
schneeweiße Hand und trällerte lieblich: »Die Sammelalben
unseres Lebens sind voll mit Erinnerungen an teure Ereignisse,
die uns ganz persönlich etwas bedeuten, und so präsentiere ich
Ihnen, Gladys Thorn, zu diesem feierlichen Anlaß, an dem
Tag, an dem Sie aller Welt Ihre Verlobung mit meinem Mann
verkünden… eine Stimme aus Ihrer Vergangenheit, denn Miss
Thorn: Das ist Ihr Leben!«
»Oooohhhh!« Ein Keuchen ging durch den Raum, während die
Dame des Augenblicks ihren offenstehenden Mund mit einer
Hand bedeckte, an der der gewaltigste Diamant funkelte, den
ich je gesehen hatte. Das Geblitze machte mich ganz
schwindelig, und plötzlich überwältigte mich eine dunkle
Vorahnung. Ich wollte Bunty anschreien, daß sie mit diesem
Wahnsinn aufhören sollte, bevor es zu spät war. Ich wollte aus
diesem Raum mit all seiner falschen Munterkeit davonlaufen
und mich zu Hause bei Ben und den Zwillingen vergraben.
Aber ich konnte mich nicht rühren, denn ich war zwischen
Moll Bludgett, Jacqueline Diamond, den Spikes und meinem
eigenen dummen Sinn für Anstand eingekeilt. Dann, von einem
Atemzug auf den anderen, war es zu spät.
Eine Grabesstimme ertönte hinter dem Spiegelparavent.
»Umarmungen und Küsse, liebe Miss Thorn, erinnern Sie sich
an mich, mein Zuckerwürfel?«
»Ich glaube nicht, daß ich diese Stimme…«
»Bestimmt, o süße Freude, erinnerst du dich doch, wie du
nackt in der Waldesnacht tanztest, meine Nymph…omanin.«
Gespenstisches Lachen. »Oder verlange ich zuviel, wenn man
bedenkt, daß ich nur einer von hundert Ehemännern war, die du
in dein klebriges Netz gelockt hast, du Spinnenfrau.«
Kein Stuhl knarrte, kein Augenlid zuckte, bis der Bann von
Lionel Wiseman gebrochen wurde, der mit einer solchen Hast
aufsprang, daß er sich in einen rasenden Rächer verwandelte.
Gott sei Dank würde er dieser Obszönität ein Ende setzen.
Miss Thorn mochte keine Lady im strengen Sinne des Wortes
sein, aber niemand verdiente es, solch einer teuflischen
Grausamkeit ausgesetzt zu werden… außer vielleicht der Frau,
die sich mit Bentley T. Haskell davonmachte.
Doch ehe Lionel Wiseman seine Stimme wiederfinden konnte,
erlebte ich den Schock des Abends, wenn nicht eines ganzen
Lebens. Der Spiegelparavent schwankte, dann fand er sein
Gleichgewicht wieder. Und hervor trat mein Cousin Freddy.
»Tut mir leid, Mrs. Wiseman, aber das kann ich nicht
durchziehen! Als Sie heute morgen mit mir am Telefon
sprachen, sagte ich mir, daß ein Schauspieler die Rollen
nehmen muß, die sich ihm bieten, aber ich bringe es nicht
fertig, das Leben anderer Leute als Sprungbrett zum Starruhm
zu mißbrauchen!«
»Ein bißchen spät, um Ideale zu entwickeln!« Ich ging zu ihm
und hätte ihm meinen Champagner ins Gesicht gekippt, wenn
mein Glas nicht leer gewesen wäre.
»Keine Talentscouts hier, zufällig?« Mein Cousin präsentierte
ein Grinsen, das mich in keiner Weise besänftigte. Der ganze
Raum war in Aufruhr, oder, besser gesagt, Bunty machte genug
Lärm für den ganzen Raum. Sie war völlig ausgerastet,
hämmerte mit den Fäusten gegen die Brust ihres Mannes, dann
kratzte sie sich aus seinem Griff frei und riß ihn an den Haaren,
während Miss Thorn dabeistand und ihre Augen hinter den
Brillengläsern zu Pilzen anwuchsen.
»Wie kannst du mich für diese x-beinige Schlampe verlassen?«
kreischte Bunty. »Ich habe versucht, alles zu sein, was du dir
wünschtest. Ich habe Blasen an den Lippen gekriegt, so lange
habe ich an meiner Aussprache herumgedoktert. Wo ich auch
hinkam, hieß es, um eine erfüllte Frau zu sein, müßte ich
berufstätig sein. Du hast mir gesagt, Li, du wolltest, daß ich ein
aktives Mitglied der Gesellschaft bin, und was hat mir das alles
gebracht? Ich habe andere Frauen gelehrt, wie sie ihre
Ehemänner halten und Frauen wie Gladys Thorn das Leben
schwermachen können.« Schluchzend taumelte Bunty
rückwärts. »Habe ich dir Angst gemacht, Gladys, altes
Mädchen? Habe ich dir vor Augen geführt, daß du besser mit
einem eigenen Ehemann dran bist, als sie dir weiter
auszuleihen wie Bücher aus der Bibliothek?«
Miss Thorn antwortete nicht. Sie stand nur da und hielt ihren
Bauch, und im nächsten Augenblick war die Frage einer
Antwort unerheblich. Bunty fuhr herum und stürzte in die
Halle. Wenig später ging die Haustür auf und knallte dann
hinter ihr zu. Das nennt man eine Party mit einem Knaller
beenden. Es fiel kaum ein Wort, als die Frauen ihre
Handtaschen einsammelten und die Männer, Freddy
eingeschlossen, die Mäntel holen gingen. Was Lionel Wiseman
und seine Verlobte anbelangte, sah ich sie am Kaffeetisch
stehen, in eine Umarmung versunken.
»Wie fühlst du dich, meine Taube?«
»Nicht allzu schlimm.« Sie drückte seine Hand an die Lippen.
»Natürlich ist diese Art von Aufregung katastrophal für mein
Verdauungssystem, aber der Weg wahrer Liebe ist mit
Magnesiummilch gepflastert.«
»Mein tapferer Liebling!«
»Morgen ist ein neuer Tag, und da Bunty weg ist, können wir
daran denken, diesen Raum neu einzurichten.« Die Pilzaugen
schweiften über die Weiß-in-weiß-Vollendung. »Was hältst du
vom Boudoir-Look: jede Menge schwarzer Satin und grüne
Spitze?«
Aus lauter Angst, daß Miss Thorn mich entdecken und um
Mithilfe bei der Renovierung bitten würde, flitzte ich in die
Halle. Dort entdeckte ich Mrs. Malloy, die um die Ecke zur
Küche spähte.
»Was soll der ganze Aufruhr?« Sie rührte weiter in einem Glas,
bei dessen Inhalt es sich, wie ich aus dem Behälter auf dem
Tresen schloß, um Fully-Female-Elixier handelte.
»Bunty ist gegangen.«
»Was? Sie hat das Schiff verlassen?« Der Ausdruck war wie
geschaffen für die Küche im Kombüsenstil, die, so wie der
Rest des Hauses, weiß wie die Uniform eines Seemanns war.
Ja, sie war sogar so eng, daß Mrs. Malloy, als sie ihr Glas
hinstellte und die Hände in die Hüften stemmte, mit den
Ellbogen die Wände auf beiden Seiten berührte.
»Sie macht mir Sorgen«, gestand ich.
»Heiliger Strohsack! Glauben Sie, sie könnte sich umbringen?«
»Das oder etwas ähnlich Verheerendes.«
»Im Leben jedes Menschen gibt es Stürme« – Mrs. Malloy
wischte sich die Hände an ihrer Preiselbeerschürze ab –, »die
nichts als Schall und Rauch sind.«
»Mag sein«, sagte ich. »Aber ich denke, ich fahre mal herum
und halte nach Bunty Ausschau.«
»Tun Sie das«, sagte sie, als sie zwei Weingläser in das
Spülwasser legte, »und wenn Sie sie nicht gefunden haben,
wären Sie vielleicht so freundlich, hierher zurückzukommen
und mich nach Hause zu bringen. Sie kennen mich, Mrs. H, ich
bitte die Leute nicht gern um einen Gefallen, aber sehr bald
werden Sie unsere gemeinsame Zeit zu schätzen wissen.«
Zutiefst gerührt ging ich zu ihr, um sie zu umarmen, doch der
Augenblick war nicht günstig. Mrs. Malloy merkte, daß ihr
Fully-Female-Elixier fest geworden war.
»Jetzt gucken Sie bloß, was Sie angerichtet haben!«
»Ich mixe Ihnen ein neues.«
»Bemühen Sie sich nicht, Mrs. H.« Mit einem leidgeprüften
Seufzer ließ sie das Glas in die Spüle plumpsen. »Fragen Sie
mich nicht warum, aber ich bin das Zeug leid.«
Meinen guten Absichten war kein Erfolg beschieden. Nachdem
ich wer weiß wie lange im Kreis herumgefahren war, ging ich
kurz ins Black Horse und überprüfte sowohl Lounge als auch
Bar, sah jedoch keine Spur von Bunty, wie sie ihren Kummer
in Lager mit Limonensaft ertränkte. Warum, ach, warum hatte
ich an Ertrinken gedacht? Ich könnte Kilometer um Kilometer
Strand absuchen, ohne auf einen mitleiderregenden Haufen
Klamotten zu stoßen oder etwas zu entdecken, das am Horizont
schaukelte und eine Boje – oder eine Leiche war. Schließlich
fuhr ich die Cliff Road hoch zu der Stelle, wo Dr. Melrose sich
der armen Flo hatte entledigen wollen. Doch keine Spur von
Buntys Wagen. Von Hoffnungslosigkeit überwältigt, wendete
ich und fuhr zum Haus der Wisemans zurück. Waren seine
Tage als Hauptquartier von Fully Female vorüber?
Als ich die Marmorstufen zur Haustür hochging, betete ich,
daß Bunty heil und unversehrt daheim war. Bevor ich läuten
konnte, machte Mrs. Malloy mir auf, schon in ihrem
Pelzmantel und mit einem Federhut auf dem Kopf.
»Kein Glück?« Sie zog ihre Handschuhe an.
Ich schüttelte den Kopf.
»Nun, Sie haben getan, was Sie konnten. Und kurz nachdem
Sie gefahren sind, hat Mr. Wiseman sich auf die Suche nach ihr
gemacht.«
»Was ist mit Miss Thorn?«
»Hat als Hausherrin das Regiment übernommen, wie’s
aussieht.« Mrs. Malloy rümpfte die Nase. »Kam zum
Schnüffeln in die Küche und verschwand dann wieder in der
Halle. Was meinen Sie, Mrs. H? Soll ich hingehen und ihr
sagen, daß ich verschwinde?«
»Tja…«
»Da wäre das kleine Problem der Bezahlung.«
»In dem Fall…«Ich trat über die Schwelle, und als nächstes
merkte ich, daß ich Mrs. Malloy durch den Korridor zum
großen Schlafzimmer folgte, wo ich zuvor meinen Mantel
abgelegt hatte.
»Miss Thorn?« Mrs. Malloy trommelte gegen die Tür.
Keine Antwort.
»Vermutlich eingeschlafen«, sagte ich. Ich war dafür, schnell
von hier zu verschwinden, aber meine Gefährtin hatte anderes
im Sinn.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mrs. H, möchte ich sie
suchen, um mein Geld zu kriegen.« Mit diesen Worten öffnete
sie die Tür… und fiel prompt nach hinten in meine Arme.
Miss Thorn lag auf dem Bett, in eine Toga aus durchsichtiger
Plastikfolie eingewickelt und mit einer Kirsche im Nabel. Noch
schockierender als ihr Nachtzeug war der Umstand, daß sie
ihre Brille nicht aufhatte, was ihr einen auf obszöne Weise
nackten, glasigen Starrblick verlieh, der geradewegs durch
mich hindurch zur Tür sah… und in die Ewigkeit.
»Sie ist tot!« Von Tränen und Eau de toilette erstickt, wich ich
stolpernd vom Bett mit den Cupidos und dem Tüllhimmel
zurück.
»Und wessen verdammte Schuld ist das?« schnauzte Mrs.
Malloy zurück.
»Niemandes, hoffe ich.«
»Es soll nur einer mit dem Finger auf mich zeigen…«
»Oh, um Himmels willen!« Ich drückte sie auf den Stuhl neben
dem Bett und wünschte, ich könnte sie anschnallen, so wie ich
es mit den Babys machte. Wie konnte sie auf diese alberne Art
wettern, wenn wir – bis auf Buntys Drohungen – keinen Anlaß
zu dem Verdacht hatten, daß Miss Thorn das Opfer eines
Verbrechens war? Daß die Verstorbene noch vor einer Stunde
in bester Verfassung gewesen war, hatte nichts zu sagen. Noch
war ihr unbekleideter Zustand auf die eine oder andere Art ein
Indiz. Jede von uns kann jederzeit einen Herzinfarkt
bekommen, besonders, wenn wir dem Streß ausgesetzt sind,
daß zu viele Männer Anspruch auf unseren Körper erheben.
»Der Herr errette uns, sie sieht furchtbar aus!« Mrs. Malloy
kaute an einem Fingerknöchel.
Unhöflich, aber unbestreitbar wahr. Miss Thorns Zähne waren
gefletscht, und ihre Augen quollen hervor, ein Hinweis darauf,
daß sie dem Schnitter noch gesagt hatte, was er sie mal konnte.
Um fair zu sein, das Schlafzimmer gab auch nicht gerade den
passenden Schauplatz für himmlische Harfen und Stimmen als
Untermalung ab. Der kahle Weiß-in-weiß-Modernismus, der
im Rest des Hauses herrschte, war nicht bis hierher gedrungen,
vermutlich weil Bunty keinen Innenarchitekten durch die Tür
gelassen, sondern es vorgezogen hatte, den Raum im Stil ihrer
alten Tänzerinnengarderobe zu gestalten. Überall Volants und
Flitter. Aber am scheußlichsten waren die blitzenden Spiegel
rings an den Wänden und an der Decke, so daß mir, wo ich
auch hinsah, die Sterbebettszene grell ins Auge stach wie
Szenen auf den Buntglasfenstern von St. Anselm’s. Kein
Wunder, daß Mrs. Malloy sich den Kopf hielt und sagte, sie
fühle sich nicht wohl.
»Warum gehen Sie nicht ins Wohnzimmer und legen sich
hin?« schlug ich vor.
»Was, ich soll Sie hier allein lassen, Mrs. H?«
»Ach, raus mit Ihnen«, sagte ich, während ich sie zur Tür
hinausscheuchte. »Sie wird schon nicht beißen, oder?«
Tapfere Worte, aber kaum war ich allein mit Miss Thorn, als
ein Schauder mich einhüllte wie ein Leichentuch. Diese Zähne
sahen aus, als wollten sie mir ein paar Finger abbeißen, wenn
ich die Hand in ihre Richtung streckte. Die hervorquellenden
Augen verhießen eine andere Art der Rache; sie würden mich
in vielen zukünftigen Nächten in meinen Träumen verfolgen.
»Hören Sie« – ich drückte mich um das Bett herum zum
Telefon –, »ich mache Ihnen keinen Vorwurf, daß Ihnen die
ganze Sache stinkt, aber bitte durchbohren Sie mich nicht so
mit Blicken.«
Erstaunlich, wie meine Worte nicht nur dem Zimmer, sondern
auch dem Körper von Miss Thorn Leben einhauchten. Ich
meine damit nicht, daß sie mit der Gelassenheit ins Leben
zurückkehrte, die Flo Melrose am vergangenen Abend gezeigt
hatte. Aber mit ihr zu reden würdigte sie als Persönlichkeit.
»Verzeihung.« Ich nahm den Hörer und wählte die Nummer
von Dr. Melrose. Macht der Gewohnheit. Ich kam nicht auf
den Gedanken, Zeit zu verschwenden, indem ich die
Vermittlung nach der Nummer der Notaufnahme des Cottage
Hospitals fragte.
»Dr. Melrose, hier ist Ellie Haskell.«
»Ja?« Ich konnte fast hören, wie die Alarmglocken in seinem
Kopf schrillten, bevor er sie in ein herzhaftes Lachen
ummünzte. »Flo geht’s prima, wie Sie wohl selbst heute abend
auf der mißlungenen Party der Wisemans gesehen haben.«
»Ach, um Himmels willen!« fuhr ich ihn an. »Es geht nicht um
Erpressung, es geht um Miss Gladys Thorn.«
»Ausgezeichnet!«
»Sie ist tot!«
»Super!«
Mir fehlten die Worte. Doch vermutlich riß mein geschocktes
Luftschnappen Dr. Melrose aus seiner Euphorie, in die er
angesichts der Erkenntnis, daß er lediglich um einen
Hausbesuch gebeten wurde, verfallen war. Nachdem ich ihm
gesagt hatte, daß ich vom Haus der Wisemans aus anrief, legte
ich auf und kehrte ans Bett zurück, um der verstorbenen Miss
Thorn Gesellschaft zu leisten.
»Der Doktor wird in einigen Minuten hiersein«, sagte ich
besänftigend. Genug der Worte. Ich hätte mich mit stillem
Beten beschäftigen können, aber wie immer in Zeiten des Streß
plapperte ich ohne Sinn und Verstand drauflos wie ein
dahinplätschernder Bach. »Miss Thorn, ich habe nicht immer
die freundlichsten Gedanken Ihnen gegenüber gehegt, nicht so
sehr, weil ich Ihren amourösen Lebensstil mißbilligte, sondern
weil ich Sie für eine Witzfigur hielt. Und ein Mensch mit
meinen Komplexen und physischen Mängeln hätte es besser
wissen sollen. Sagen Sie, Miss Thorn – « ich zog das Laken
glatt, wobei ich sehr wohl registrierte, daß diese widerlichen
Cupidos mich vom Kopfteil des Bettes höhnisch angrinsten –,
»hatten Sie beschlossen, sich an der ganzen Frauenwelt zu
rächen, indem Sie den Beweis antraten, daß Sex-Appeal mehr
ist als nur ein hübsches Gesicht?«
Stimmen draußen in der Halle. Eilige Schritte. Als ich die Tür
öffnete, rechnete ich fest damit, Dr. Melrose zu sehen. Statt
dessen fand ich mich von Angesicht zu Angesicht mit der
vermißten Blondine in rotem Satin wieder. Willkommen zu
Hause, Madam.
»Ellie!« Buntys Haar stand in alle Richtungen ab, als ob man
es durch eine dieser Bleichhauben mit den winzigkleinen
Löchern gezogen hätte. Und ihre Augen waren gleichermaßen
wild. »Was zum Teufel geht hier vor? Hat Mrs. Malloy
gesoffen?«
»Soweit ich weiß, nein.«
»Warum redet sie dann dummes Zeug?«
»Bunty!« Ich versperrte die Sicht aufs Bett, während die Säule
von Fully Female gegen den Türrahmen sank, als ob ihre Beine
zu Gummi geworden wären. Kein Zweifel, wer hier zur
Flasche gegriffen hatte. »Ich weiß, es ist ein furchtbarer
Schock, aber Gladys Thorn ist tot.« Ich streckte die Hand aus,
um Bunty zu berühren, dann ließ ich sie sinken. Als Kind hatte
ich den Druck der Berührung eines Menschen als unerträglich
empfunden, wenn ich hinfiel und mir die Knie aufschrammte.
Und als ich in den Wehen lag, war selbst das Gewicht von
Bens Atem auf meinem Gesicht zuviel gewesen. Jedes
Quentchen Energie mußte auf die Schmerzen gerichtet sein.
»Ich glaube dir nicht!«
Bevor ich sagen konnte: »Sieh doch selbst!«, tat die arme
Bunty genau das. Sie taumelte und wäre mit dem Gesicht nach
unten auf die Leiche gefallen, wenn ich sie nicht unter den
Achseln festgehalten hätte.
»Verflixt noch mal, Ellie! Man wird sagen, ich hätte sie
umgebracht.«
»Unsinn.« Ich verfrachtete sie auf denselben Stuhl, auf den ich
vorhin Mrs. Malloy gedrückt hatte. »Sie ist eines natürlichen
Todes gestorben.«
»Bist du dümmer, als du aussiehst, oder was?« Ihr schrilles
Kreischen ließ mich fast bis zum anderen Ende des Zimmers
zurückweichen. »Natürliche Tode kommen nie so gelegen. Ich
habe gedroht, sie umzubringen, und nun ist sie tot. Findest du,
das klingt nach einem Herzanfall?«
»Das Leben ist berüchtigt für seine Zufälle«, murmelte ich.
»Oh, sei vernünftig!«
»Bunty, du mußt dich zusammennehmen. Dr. Melrose ist auf
dem Weg hierher.« Ich ging auf Zehenspitzen zu ihr, glättete
ihr wirres blondes Haar, und wenig später ging ihr Atem
gleichmäßiger.
»Wo ist Li?« fragte sie matt.
»Mrs. Malloy sagte, er sucht dich.«
»Zum Kuckuck noch mal, Ellie!« Tränen strömten aus ihren
himmelblauen Augen. »Li wird mich dafür hassen. Er wird
niemals glauben, daß ich sie nicht umgebracht habe. Aber du
glaubst mir doch…« Sie griff nach meiner Hand und drückte
meine Finger. »Du hältst mich für unschuldig, oder,
Schätzchen?«
»Ja, Bunty.« Diese Worte entsprangen dem Mitgefühl, nicht
der Überzeugung, aber kaum waren sie ausgesprochen, wußte
ich, daß ich es auch so meinte. Ein Mord war verübt worden,
daran zweifelte ich nicht, aber der Übeltäter war nicht die
betrogene Ehefrau. Bunty war der handgreifliche Typ. Ich
konnte mir vorstellen, wie sie in rasender Wut Miss Thorn die
Treppe hinunterstieß oder ihr mit einem bronzenen
Kerzenhalter eins über den Schädel gab, aber ich konnte mir
nicht vorstellen, daß sie ein tödliches Mittel in das
Champagnerglas dieser Frau schmuggelte. Und wenn wir es
tatsächlich mit einem Giftmörder zu tun hatten – was als eine
Möglichkeit in Betracht kam, wenn man das Fehlen eines
Einschusses auf der fahlen Stirn der Verstorbenen oder eines
Dolchs, der aus ihrer eingesunkenen Brust ragte,
berücksichtigte –, brauchte ich da weiter zurückzuschauen als
bis gestern abend? Wenn ein menschliches Wesen die
Verantwortung für Tobias’ Beinahe-Tod trug, war diese Person
dann nicht höchstwahrscheinlich auch der Mörder von Gladys
Thorn?
Zitternd stand Bunty auf. »Menschenskind, ist mir kalt, stell dir
vor, wie sie sich erst fühlen muß!«
Wir starrten beide auf das Bett, als sich die Tür öffnete und Dr.
Melrose hereinkam, mit einer kleinen schwarzen Tasche in der
Hand und gerunzelter Stirn. Er winkte uns beiseite und leitete
so die folgende flinke Untersuchung der reizenden Leiche ein.
Kein Wort fiel über ihre Plastikhülle oder die Kirsche in ihrem
Nabel.
Es war Bunty, die sich schließlich über dieses Thema
verbreitete. »Verdammte Frechheit, wirklich! Sie hat die Idee
für diese Aufmachung aus meinem Handbuch geklaut, um sie
bei meinem Ehemann anzuwenden… Aber was soll’s, solange
sie glücklich waren, wenn sie sich in den Armen lagen, habe
ich keinen Grund, mich zu beschweren. Mein Geschäft besteht
darin, Liebe zu verbreiten, nicht sie für mich zu pachten.«
Dr. Melrose musterte sie mit einer Abneigung, die an Abscheu
grenzte. Wenn er ihr eine Schlinge um den Hals hätte legen
und fest zuziehen können, dann hätte er es ohne zu zögern
getan, da hatte ich keinen Zweifel. Den Kopf von Fully Female
in seiner Gewalt zu haben mußte wirklich eine süße Rache für
all das sein, was er als Ergebnis des leidenschaftlichen Strebens
seiner Frau nach einem neuen sexuellen Bewußtsein
durchlitten hatte.
»Haben Sie die Polizei angerufen?«
»Noch nicht«, stammelten Bunty und ich gleichzeitig.
»Dann werde ich es tun!« Dr. Melrose legte Miss Thorns Hand
auf die Bettdecke und stand auf. Lächelte er? Oder schuf das
Licht der Deckenlampe, das auf seinem Gesicht tanzte, die
Illusion, daß er seine schmalen Lippen zu einem koboldhaften
Grinsen verzog? Er ging auf das Telefon zu, als Bunty sich an
ihm vorbeischlängelte und den Apparat hinter ihren Rücken
steckte.
»Warten Sie!« Sie stand da wie ein in die Enge getriebenes
Kind, ihr Gesicht war von Büscheln engelblonder Haare
umrahmt. »Warum all dieses Theater um eine Frau in
mittlerem Alter, die im Schlaf stirbt? Warum können Sie nicht
einfach den Totenschein ausstellen und…«
»Mrs. Wiseman!« Dr. Melrose ließ seine schwarze Tasche
zuschnappen und ging mit ausgestreckter Hand auf sie zu.
»Bitte geben Sie mir das Telefon«, sagte er streng. »Sie
behindern mich in der Ausübung meiner hippokratischen
Pflicht.«
»Sie ist durcheinander!« meldete ich mich zu Wort.
»Begreiflicherweise.«
»Dann denken Sie also…«
»Meine Vermutungen, Mrs. Haskell, müssen bis zu den
Ergebnissen der Autopsie warten.« Redliche Worte von einem
redlichen Mann. Es war ungerecht von mir, Dr. Melrose als
den Feind zu betrachten. Er hatte mich immer gut behandelt
und tat jetzt seine Pflicht, wie Königin und Vaterland es von
ihm erwarteten.
»Bitte…« Bunty ließ das Telefon mit einem entsetzlichen
Krachen fallen. »Können wir nicht darüber reden? Doktor, ich
habe dieses als Geschenk eingewickelte Paket nicht
umgebracht, aber wenn Sie mich anzeigen, bin ich erledigt!
Warum nach einem Mörder suchen, wenn ich direkt vor
jedermanns Nase bin – mit einem Motiv, das zum Himmel
schreit?«
»Eine schwierige Lage, ja.« Etwas Menschlichkeit hatte sich in
Dr. Melroses Stimme gestohlen, und Bunty machte es sich
sofort zunutze. Ihre Stimme nahm einen schmeichelnden Ton
an, und ich sah, daß sie mit ihren scharlachroten Satinhüften
wackelte, als sie zu ihm trat. »Lieber Doktor, haben Sie sich
noch nie in einer Situation befunden, in der die ganze Welt
einzustürzen drohte?« Sie schaute mit einem bezaubernden
Schmollen zu ihm auf. »Und Sie könnten gerettet werden,
wenn jemand so lieb und nett wäre, seinen… oder… ihren…
verdammten Mund zu halten.«
»Ja.« Eine Roboterstimme.
»Also könnten Sie nicht möglicherweise« – Bunty streckte die
Hand aus und strich seinen Mantelkragen glatt –, »könnten Sie
nicht ein Herz haben und einen Totenschein ausstellen, auf
dem steht, sagen wir, daß ein böser alter Herzanfall die liebe
Miss Thorn erledigt hat?«
»Wenn Sie darauf bestehen.« So langsam und steif, wie die
Erde sich um ihre eigene Achse dreht, wandte Dr. Melrose sich
zu mir um und sah mich an, und von der Verachtung, die ich in
seinen Augen las, wurden mir die Knie weich. Der Mann
dachte, daß ich ihn an Bunty verraten hatte. Er glaubte, daß sie
über seinen Versuch, die Leiche seiner Frau zu beseitigen,
Bescheid wußte und ihn jetzt zum Schweigen erpreßte. Der
Feind war sein schlechtes Gewissen, denn ich hatte zu
niemandem ein Wort über das Flo-Fiasko gesagt, schon gar
nicht zu Bunty. Und Ben, der sein Wort gegeben hatte, hatte
auch ganz sicher den Mund gehalten. Was nur Flo übrigließ…
angenommen, sie hatte die Erinnerung an den Vorfall
wiedererlangt und sich verpflichtet gefühlt, es Fully Female zu
berichten? Also was jetzt? Sollte ich meiner Bürgerpflicht
Genüge tun, indem ich dem Doktor ins Ohr flüsterte, daß er
nichts zu befürchten hatte, wenn er diesen Hörer aufnahm?
Oder sollte ich an das Band der Solidarität zwischen Fully-
Female-Frauen denken?
Als ich an diesem Abend nach Hause fuhr, brannte ich darauf,
mich direkt in Bens Arme zu stürzen. Aber wie konnte ich
Schutz in diesem süßen Hafen suchen, wenn ich mir wie eine
Kriminelle vorkam? Es hatte mich schon fix und fertig
gemacht, Stillschweigen über meine Verwicklung in den Tod
von Norman the Doorman zu bewahren, und meine
Komplizenschaft in dieser Sache war nichts im Vergleich zu
der Rolle, die ich heute abend gespielt hatte. Schweigen kann
einen unglaublich üblen Geschmack haben. Ich würde mich
nicht halbwegs wohl fühlen, bevor ich nicht mit Salzwasser
gegurgelt hatte, aber leider war der Weg zum Bad von meinem
Ehemann versperrt, der oben an der Treppe Wache stand.
»Da bist du ja, Schatz! Ich habe mir schon Sorgen um dich
gemacht.« So manchen Mann hätte man in diesem
krankenhausgrünen Pyjama für einen Krankenpfleger gehalten,
aber Ben sah natürlich aus wie aus einer Mode-Zeitschrift
ausgeschnitten, die Nachtzeug für den Herrn zeigte. Jedes
besorgte Wort von ihm war ein Dolchstoß in mein Herz. Und
eine noch größere Qual sollte folgen, als er mich an sich zog
und mein Haar unter meinem Mantelkragen hervorzog. Diese
letzten Wochen waren ein von jeder Leidenschaft entblößtes
Ödland gewesen, und jetzt, da die Liebe aufs neue erblühte,
war ich durch einen Stacheldrahtzaun davon abgeschnitten, den
ich durch meine eigenen Täuschungsmanöver errichtet hatte.
Aber mußte es denn so sein? Konnte ich weiter in einem Haus
mit mir leben, geschweige denn mit Ben, wenn ich ihm nicht
erzählte, daß ich Fully Female beigetreten war und wohin mich
solche Torheit gebracht hatte? Wie berauscht vor Erleichterung
öffnete ich den Mund – fest entschlossen, alles auszupacken –
als sich eine innere Stimme zu Wort meldete: Na toll, Ellie!
Entlaste dich, indem du ihn belastest. Bring Ben ruhig in eine
unmögliche Lage. Erzähl ihm, daß du schweigend
dabeigestanden hast, als Bunty Dr. Melrose dazu überredete,
den Totenschein zu fälschen. Dann überlass’ die Entscheidung
ihm. Was soll werden, Ben, Liebes? Wirst du dein Herz
herausreißen und es mir vor die Füße werfen, bevor du voll
Kummer zur Polizeiwache gehst, um die ganze schmutzige
Geschichte einem wachhabenden Sergeanten zu melden,
dessen Frau ihn gerade verlassen hat? Oder wirst du dich
meiner weiblichen Intuition beugen, daß Bunty unschuldig ist
und mit einem bittersüßen Lächeln einräumen, daß Schweigen
Gold ist und ein Mörder, der frei herumläuft, ein kleiner Preis
für ihre Freiheit? Oh, mein Liebling… ich mache mich sanft
aus seinen Armen los… Keine Ehe ist eine Insel.
»Bist du eingeschlafen?« Bens Lachen wogte durch mein Haar.
»Fast.«
»Das muß ja eine Party gewesen sein.«
»Total schlimm.«
»Armer Liebling.«
»Wie geht’s den Babys?« Mit gesenktem Kopf folgte ich ihm
in unser Schlafzimmer.
»Sie waren immer mal wieder ein wenig unruhig, aber als ich
vor fünf Minuten nachgesehen habe, schliefen sie tief und
fest.«
»Dann gehe ich lieber nicht rein. Ich will sie nicht wecken.«
Sein Lächeln hüllte mich ein. »Kriege ich einen Orden, weil
ich deinetwegen aufgeblieben bin?«
Die Kehle schnürte sich mir zu, und meine Augen brannten.
Wie leicht wäre es gewesen, Sorgen und Kummer zusammen
mit meinem Mantel in einem Haufen auf den Boden zu werfen
und mich sanft von ihm bei der Hand zu dem Himmelbett mit
der zurückgeschlagenen Decke und den Laken, so glatt und
kühl wie seine Haut unter meiner wehmütigen Berührung,
führen zu lassen. Aber es hatte keinen Zweck. Morgen früh
würde ich mich dafür hassen. Solange ich eine Flüchtige vor
dem Gesetz war, konnten Ben und ich nicht im tiefsten Sinne
Mann und Frau sein, was positiv betrachtet einen sehr
überzeugenden Grund darstellte, den Mörder von Miss Thorn
auf der Stelle zu finden.
»Was ist los?«
Ich manövrierte das Bett zwischen uns. »Ben, ich habe zuviel
Respekt vor dir, um mit dir zu schlafen, wenn ich in Trauer
bin.«
»Was?«
»Um Miss Thorn. Sie starb heute abend auf Buntys Party.«
»Beim Jupiter!« Er schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Als
du sagtest, die Party sei ein Reinfall gewesen, dachte ich, du
meintest lausiges Essen, was mich nicht überrascht hätte
angesichts der Tatsache, daß man mich nicht gebeten hatte, es
auszurichten.« Ich wußte natürlich, was er da tat. Er redete sich
aus dem Schock heraus. »Was für eine schlimme Geschichte.
Was war es – ein Herzanfall?«
»Das… das hat Dr. Melrose auf den Totenschein geschrieben.«
»Liebes!« Ben griff nach mir, dann wich er zurück, weil er mit
diesem außergewöhnlichen Feingefühl, das ich so wenig
verdiente, erkannte, daß ich es nicht ertrug, berührt zu werden.
»Ist sie einfach so in die Punschbowle gekippt?«
»Sie wurde im Schlafzimmer der Wisemans gefunden.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Mrs. Malloy und… ich.«
»Oh, mein Liebling.«
»Die ganze Sache ist ein ziemlicher Schlamassel.« Irgendwie
schaffte ich es, den Kopf zu heben und sah das Spiegelbild
meines Elends in seinen Augen. »Lionel Wiseman wollte
Bunty für Miss Thorn verlassen.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Könnte ich so etwas erfinden?«
»Das wurde aus heiterem Himmel auf der Party verkündet?«
»Bunty wußte es.«
»Holla! Bei diesem emotionalen Klima bin ich überrascht, daß
Miss Thorn die einzige war, deren Herz versagte.«
»Ben«, sagte ich und sank auf das Bett, »ich bin wirklich nicht
in der Stimmung, darüber zu reden.«
»Tut mir leid!« Er stand vor mir, und Zärtlichkeit strömte aus
jeder seiner Poren, bis ich in Reue und Selbsthaß versank. »Ich
bin ein gefühlloser Klotz, diese Einzelheiten aus dir
hervorzulocken. Das Bett ist jetzt der einzig richtige Ort für
dich. Sobald ich dich gut eingemummelt habe, gehe ich nach
unten und hole dir ein Glas heiße Milch. Genau das brauchst du
jetzt, würde der Onkel Doktor sagen.«
Ein Schauer durchlief mich, als die Vision von Dr. Melroses
hagerer Gestalt vor mir auftauchte, um mich zu quälen. Ich
versicherte Ben, daß ich nichts zu trinken wollte, machte mich
mechanisch fürs Bett fertig, und fünf Minuten später knipste er
das Licht aus.
»Gute Nacht, Liebes.« Er griff nach meiner Hand, und ich
klammerte mich an seinen Fingern fest, bis ich spürte, daß er
einschlief. Auf dem Rücken liegend, starrte ich in eine
Dunkelheit, in der die im Tageslicht vertrauten Gegenstände,
der Kleiderschrank und die Frisierkommode, sich in
Höllenmonster verwandelten. Ich hatte mich noch nie so allein
gefühlt. Na und? Wollte ich mich selbst bemitleiden, oder
wollte ich eine Verdächtigenliste erstellen? Verdammt! Bei
diesem Gedanken straffte ich meine Schultern und wartete
darauf, daß die Parade am Fenster meines Verstandes
vorbeimarschierte.
Zuerst Miss Thorn selbst. Schau mir in die Augen, Madam, und
sag mir, ob du dir in einem Anfall von Reue nicht selbst das
Leben genommen hast. Hast du eine Kirsche in deinen Nabel
gesteckt und dich selbst in Plastik eingewickelt, in der
Hoffnung, daß dein Liebster sich immer an dich als an das
vollendete Dessert erinnert?
Es entschwebt Miss T, und an ihre Stelle tritt der
ewigattraktive Lionel Wiseman. Haben Sie es sich, Sir, mit der
Verlobung noch einmal überlegt und beschlossen, sich wie ein
Gentleman aus der Affäre zu ziehen?
Und wer kann schon als nächstes kommen, wenn nicht Mr. und
Mrs. Jock Bludgett. Er leckt seinen Schnäuzer, und sie
verkörpert den alten Spruch: Hüte dich vor der Frau mit dem
ewigen Lächeln! Ich habe nicht vergessen, daß Sie J. B. einmal
eine Äffäre mit der unwiderstehlichen Gladys hatten, die
sowohl Sie als auch Ihre Frau mit einem guten Mordmotiv
versorgte. Ihres ist Reue und Molls ist gute alte Eifersucht.
Weg mit euch beiden. Macht Platz für die verwitwete
Jacqueline Diamond. Verzeihen Sie die Frage, teure Lady, aber
war der kürzliche Tod Ihres Gatten tatsächlich das peinliche
Mißgeschick, als den Sie ihn mir beschrieben? Oder löschten
Sie sein Lebenslicht in der Hitze eines Streits, und als Sie
erkannten, daß er tot war, inszenierten Sie das Fully-Female-
Szenarium, in dem Sie nackt aufs Bett gefesselt waren und er
ein zerknittertes Cape auf dem Fußboden? Ja, Jacqueline, ich
weiß, Sie haben viel Wirbel darum gemacht, die anrüchigen
Details vor der Polizei zu verbergen, aber war ich Ihre
Trumpfkarte, die gezückt werden sollte, falls Ihre Geschichte
nicht so iuiegeplant ankam? Und wenn Miss Thorn sich als das
unerwartete Haar in der Suppe herausstellte? Ich weiß, daß sie
ebenfalls in der Rosewood Terrace lebte. Und ich erinnere
mich, daß ich an dem verhängnisvollen Abend Licht in einem
Zimmer im oberen Stockwerk des Hauses gegenüber sah. Und
wenn es Miss Thoms Haus war und sie zufällig gerade von
ihrem Fenster aus die Vögel beobachtete, genau im falschen
Moment, und einige Zeit später nebenbei bemerkte, sie hätte
gesehen, wie Sie Norman abmurksten?
Abblende Jacqueline. Du meine Güte, da ist Mr. Walter Fisher!
Ich denke, es ist etwas weither geholt, zu behaupten, daß Sie in
dieser Woche wenig Betrieb hatten und beschlossen, das
Bestattungsgeschäft etwas anzukurbeln. Wie sagt man noch so
schön? Ich bin schuld an der Verzögerung, weil ich nicht bereit
bin, meinem Hauptverdächtigen ins Auge zu blicken?
Tiefes Luftholen. »Bringt Mr. Gladstone Spike herein.« Sir, ich
weiß, es verstößt gegen alles durch und durch Britische, einen
Mann, der graue Wolle trägt und den perfekten Sandkuchen
backt, als kaltblütigen Mörder zu verdächtigen. Aber ich wüßte
nicht, wie ich Sie davon freisprechen sollte. Nicht nach dem
Lachs.
Meine Behauptung ist, Sir, daß Sie zunächst versuchten, Ihre
Frau umzubringen, weil Sie frei sein wollten, um dort
anzuknüpfen, wo Sie Vorjahren mit Miss Thorn aufgehört
hatten. Zum Glück aller – ausgenommen Tobias –
neutralisierten die Umstände dieses Unternehmen, aber heute
abend ist es Ihnen gelungen, die Femme fatale beseite zu
schaffen. Wieso jetzt dieses Opfer? Ganz einfach. Sie
entdeckten, daß Miss Thorn Lionel Wiseman heiraten wollte.
Wenn Sie sie nicht haben konnten, dann sollte er sie auch nicht
bekommen.
Ich wurde schläfrig. Ein Gähnen spaltete mein Gesicht in zwei
Hälften, und einen Moment lang dachte ich, daß Mr. Spike von
der Schwelle meines Verstandes aus zugepackt hatte, um
sicherzustellen, daß ich nie wieder den Mund aufmachte.
»Sie spielen ein gefährliches Spiel, Mrs. Haskell.« Gladstones
Stimme flüsterte hinunter, hinunter in die tiefsten Tiefen des
Schlafs, wo Miss Thorn auf einer tönernen Urne an einem
Wasserfall saß und auf der Orgel »Bleib bei mir« spielte,
während zu einer Seite, in Schatten gehüllt, Reverend Eudora
Spike stand – und aus einem schwarzen Buch las, das entweder
die Bibel oder das Fully-Female-Handbuch war. »Die ersten
werden die letzten sein, Ellie, und die letzten die ersten! «Wie
lieb, wie professionell von ihr, darauf hinzuweisen, daß sie
ganz oben auf meiner Liste der Verdächtigen hätte stehen
sollen. Und wie sehr ich ihr – und allen meinen Mitfrauen –
wünschte, die Liebe wäre ein einziges langes Schaumbad.
Der Morgen begann wie immer.
»Ellie, sag mir, daß ich dich nicht in der Stunde der Not
verlasse.« Ben beugte sich übers Bett, ein fragendes Lächeln
spielte um seine Lippen, und in seinen Augen lag ein Funkeln,
das mich an einen Sonnenstrahl denken ließ, der einen Blick in
die Schatztruhe eines Piraten warf. »Ich würde mir den
Vormittag freinehmen, aber wir erwarten eine Menge Gäste
zum Mittagessen.«
»Nichts als Ausreden!« Ich schlang die Arme um seinen
Nacken und hielt ihn so lange fest, wie ich es wagen konnte.
»Weg mit dir. Die Kinder und ich haben den Tag voll
verplant.«
In der Tür schaute er zurück, und ich wußte, daß er den
Augenblick einstecken und mitnehmen wollte. Doch dann
sagte er: »Ich möchte wissen, wie es Flo Melrose geht.«
»Sie war gestern abend auf der Party«, erwiderte ich, »und
schien ganz und gar von den Toten auferstanden.«
»Gut.« Nachdenkliche Miene. »Bis heute abend, Liebes.« Die
Tür schloß sich mit einem letzten Blick aufsein
atemberaubendes Profil, und ich kletterte mit neuem Feuer aus
dem Bett, um den Mörder von Miss Thorn zu finden, bevor das
Zölibat mich endgültig schaffte.
Doch eine halbe Stunde später, mitten in dem Unterfangen, die
Zwillinge zu wecken und zu füttern, ging das Feuer langsam
aus. Bei Tageslicht besehen, wirkten die Überlegungen der
gestrigen Nacht dürftig, dürftiger als eine Handvoll
Kaffeebohnen. Welch schreckliche Ironie, wenn Miss Thorn
ganz natürlich an einem Herzanfall gestorben war und Bunty
und ich uns in die unmögliche Lage gebracht hatten, einen
Mord zu vertuschen, der keiner war. Was diesen Quatsch über
Gladstone Spike betraf, war mit Sicherheit meine Phantasie
vergiftet gewesen, nicht der Fisch.
»Was meint ihr?« wandte ich mich an Abbey und Tarn, die in
ihren Wippen saßen und aussahen wie die Sprößlinge von
Apoll mit ihren Sonnenstrahlhaaren und ihrem
Sonnenscheinlächeln. »Sagt mir die volle Wahrheit, meine
Lieblinge. Meint ihr, Mummy sollte Bunty Wiseman anrufen
und versuchen, ihr gut zuzureden? Wir könnten dann zu Dr.
Melrose gehen und ihn bitten, den Totenschein zu zerreißen.
Mit ein wenig Glück braucht niemand je etwas davon zu
erfahren.«
Die Zwillinge zerrten an ihren Riemen und gurrten Worte der
Weisheit.
»Ihr meint, ich drücke mich, weil ich keinen Schimmer habe,
wie ich den Mörder stellen kann?«
Keine Reaktion. Von Unschlüssigkeit wie gelähmt, kämpfte
ich mich durch den Vormittag. Mittags war ich immer noch so
durcheinander wie die Küche, die wieder einmal bis zur Decke
voll war mit Wäsche, die nicht gewaschen werden konnte, weil
die Waschmaschine sich gegen die Knüffe und Püffe
abgehärtet hatte, die sie angeblich in Gang setzen sollten.
»Masochistin!« höhnte ich sinnloserweise, warf schließlich
meine seifigen Hände hoch und ging in die Halle, um Mr.
Bludgett anzurufen.
»Guten Morgen, hier ist Mrs. Haskell von…«
»Ellie«, kreischte eine Stimme in mein Ohr. »Wie aufregend,
an diesem herrlichen Apriltag von Ihnen zu hören.«
»Pardon?«
Wildes Gelächter. »Na, jetzt machen Sie sich mal nicht über
mich lustig, indem Sie so tun, als wüßten Sie nicht, wer hier ist.
Wir Mitfrauen halten zusammen wie Klebstoff, stimmt’s?«
»Moll?«
»Die einzige meines Jock.« Etwas von dem Schwung
verschwand aus ihrer Stimme, aber nicht alles. »Haben Sie mit
Bunty gesprochen?«
»Nicht heute morgen.«
»Dann wissen Sie noch nicht, daß Halbmast angesagt ist?«
»Was?« Manchmal glaube ich, daß ich ein angeborenes Talent
habe, mich dumm zu stellen.
»Gladys Thorn ist tot!«
»Das…« – ich hielt inne, um tief Luft zu holen – »wußte ich
bereits, aber leider kann ich jetzt nicht darüber reden, meine
Babys sind allein im Laufstall. Also, wenn Sie Ihren Mann
bitten könnten, herzukommen und sich die Waschmaschine
anzusehen…«
»Na klar!« Kein Anzeichen, daß sie beleidigt war. Konnte eine
Frau so unzerstörbar fröhlich sein und nie zusammenbrechen
oder sich verkneifen, andere Leute rasend zu machen? »Noch
eines, Ellie.«
»Ja?«
»Freuen Sie sich für Gladys. Denken Sie mal darüber nach,
was könnte schöner sein, als zu sterben, wenn Sie vor Glück
überschäumen?«
»Moll«, sagte ich, bemüht, jede Schärfe aus meiner Stimme zu
tilgen, »Sie haben sich einen Orden verdient, wie Sie immer
alles von der positiven Seite sehen.«
»Danke!« Ihr fröhliches Lachen bohrte ein Loch in meinen
Kopf. »Es schadet nichts, nicht wahr, daß die Lady ein Dorn in
meinem Fleisch war. Und ich nehme an, Bunty wird auch kein
Schwarz tragen.«
»Vermutlich nicht.«
»Sie sagte, Lionel sei am Boden zerstört. Weinte die halbe
Nacht in ihren Armen, was ja nicht schlecht ist.«
»Nein.«
»Oh, noch ein letztes, Ellie! Heute abend um sechs ist bei
Fisher Funerals eine kleine Andacht angesetzt.«
»Nett«, sagte ich, bevor ich es verhindern konnte. Es war, als
hätte Gladstone Spike sich in meinem Kopf versteckt.
Irgend etwas fehlte auf Merlin’s Court, und ich brauchte bis
zum Spätnachmittag, um herauszufinden, was es war: Mrs.
Malloy. Die Zwillinge legten immer wieder den Kopf auf die
Seite, als ob sie auf ihre Schritte in der Halle lauschten. Und
selbst Tobias ließ den Schwanz hängen als Hinweis darauf, daß
ihm die Untertasse Milch fehlte, die sie ihm heimlich hinstellte,
wenn ich ihr den Rücken zuwandte. Gestern abend, als ich sie
zu Hause absetzte, hatte sie nichts davon gesagt, heute
vorbeizukommen, deshalb war es eigentlich ziemlich dreist,
sich wegen ihrer Abwesenheit Sorgen zu machen. Ich konnte
fast ihre Stimme hören. »Ist das der Dank, den ich kriege, Mrs.
H, weil ich Ihnen soviel von meiner kostbaren Zeit geopfert
habe? Nicht mal meine verdammte Seele gehört mir!«
»Ganz recht, Mrs. Malloy«, sagte ich, und das immer wieder,
den ganzen Weg durch die Halle, wo ich ihre Nummer wählte.
Aber ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen, daß sie
mir die Meinung sagte. Gibt es ein einsameres Geräusch auf
Erden als das Läuten eines Telefons, das niemand abhebt? Und
gibt es jemals einen unwillkommeneren Anblick als den eines
Menschen, der unangemeldet und uneingeladen dein Haus
betritt, wenn dein Kopf bereits ein Keller ist, bevölkert von
allen möglichen Pistolenhelden und chaotischen Gedanken?
Entschuldigen Sie, ich muß mal eben kräftig fluchen.
»Freddy!« Der Hörer sprang mir aus der Hand. »Du mußt
wirklich öfter hereinplatzen und mir einen Todesschreck
einjagen.«
»Spar dir dein Entzücken, Cousine! Und erspare es mir, rot zu
werden!« Bevor ich zweimal erblassen konnte, ließ er sich auf
ein Knie fallen wie ein Soldat aus einem Shakespeare-Drama,
in Wams und Kniebundhose, und schlug sich einmal, zweimal,
dreimal an die Brust, bevor er mit entsetzlicher
Geschwindigkeit auf mich zurobbte, immer noch auf den
Knien und mit ausgestreckten Armen. »Ellie, leih mir dein
Ohr!«
Albern, aber es war der struppige Bart, der mich erweichte.
»Freddy, was würde ich ohne dich anfangen? Ich höre dir
deinen Text ab… und hinterher, auch wenn ich dadurch auf
ewig in deiner Schuld stehe, paßt du dann kurz auf die
Zwillinge auf?«
Mrs. Malloy reagierte nicht auf mein Klopfen. Das Haus in der
Herring Street erwiderte meinen Blick so hochmütig, wie man
es bei seinem schmallippigen Briefkasten bis hin zu den
mißtrauischen Augen aus Spitzengardinen erwarten würde. Für
wen halten Sie sich, Mrs. Hocherhaben Haskell, daß Sie
herkommen und Ihre Nase in meine Angelegenheiten stecken?
»Ich bin eine Freundin, dafür halte ich mich!« Mein Flüstern
kräuselte sich zum Himmel hoch wie Rauch aus einem der
Kamine ringsum. Aus Mrs. Malloys Kamin kam kein Rauch,
und plötzlich hatte ich den absurden Gedanken, daß das daher
kam, weil das Haus zu atmen aufgehört hatte. Und was ich für
die Kenntnisnahme meiner Anwesenheit gehalten hatte, war in
Wahrheit der reglose Blick der Leichenstarre. Als ich zum
Wagen zurückging, merkte ich, daß ich noch Zeit
totzuschlagen hatte – hübscher Ausdruck –, bevor ich mich zu
Miss Thorns Andacht bei Fisher Funerals einstellen mußte.
Und als zauberte ich ein Kaninchen aus dem Hut, kam mir die
schlaue Idee, Flo Melrose einen Besuch abzustatten. Ich weiß
auch nicht, was ich mir davon erwartete, aber ich hatte das
Gefühl, daß es möglicherweise etwas bringen könnte.
Ich war einige Jahre zuvor einmal in ihrem Haus gewesen, im
Rahmen eines Workshops für den Basar von St. Anselm’s, und
ich fand meinen Weg jetzt mit fast der gleichen unheimlichen
Leichtigkeit wie in der Nacht des Todes von Norman, als ich
zu Jacqueline Diamonds Heim fuhr. Du meine Güte, war das
wirklich erst ein paar Tage her? Traumatische Ereignisse
dehnen die Zeit unglaublich. Aha, da war die vertraute
Auffahrt zu dem Gebäude, das eher nach einer Schule oder der
Feuerwehr aussah als nach einem Wohnhaus. Keine
Spitzengardinen hier. Überhaupt keine Gardinen, soweit ich
sehen konnte.
Der Vorgarten war ein asphaltierter Parkplatz mit einigen
Tannen, die wie Hindernisse wirkten, die man bei einem
Kurventest umfahren mußte, und ich überquerte die Fläche
unsicheren Schrittes, überzeugt, daß ich die Prüfung irgendwie
nicht bestehen würde, noch bevor ich die Haustür erreichte.
Schlechtes Gewissen, Ellie! Falls Dr. Melrose wegen
Fälschung medizinischer Dokumente die Zulassung entzogen
wird, wirst du dir das nie verzeihen. Und das alles ist so albern.
Du bist ein Opfer der Umstände. Eine unbeteiligte
Zuschauerin, in Ereignisse verwickelt, die eine Nummer zu
groß für sie sind. Ein kleiner Punkt im kosmischen Großen und
Ganzen.
Welch ein Bild! Da stand ich auf der Türschwelle der
Melroses, überwältigt von einem Gefühl der
Bedeutungslosigkeit. Ich hatte noch keinen Finger gerührt, um
die Türklingel zu drücken, als Flo schon öffnete. Sie sah aus
wie Prinz Eisenherz in einem braunen Kleid, unter dem sich,
danach zu schließen, wie sich ihre ausladenden Formen
abzeichneten, nicht einmal ein Büßerhemd verbarg.
»Ellie Haskell!« Ihr Blick war so leer wie die ungeschmückten
Wände der Diele, selbst als ihre ausgestreckten Hände, die
durch rötlichbraune Flecke monströs wirkten, mich über die
Türschwelle winkten. »Was führt dich hierher?«
»Ich…« Ich vergrub die Hände in den Taschen meiner
beigefarbenen Leinenjacke und nahm sie wieder heraus.
»Ich… ich war in der Nähe und dachte, ob ich dich vielleicht
zu der Andacht für Miss Thorn mitnehmen soll.«
»Das war lieb von dir.« Flos Lächeln schien über ihre Schulter
zu gleiten. Ich merkte, daß ihre Aufmerksamkeit, obgleich sie
mich voll ansah, von etwas hinter ihr in Anspruch genommen
war. Verständlich! Ich hatte Mühe, meinen Blick von diesen
Händen zu lösen und ihn auf… die Spur von Spritzern… von
demselben grausigen Braun… zu richten, die von der Stelle, an
der Flo stand, über das blaßgrüne Linoleum der Diele in eines
der angrenzenden Zimmer führte. »Ja, wirklich sehr freundlich,
Ellie, aber ich gehe nicht zu der Andacht.«
»Oh!«
»Aber irgendwann in nächster Zeit« – das Prinz-Eisenherz-
Haar wippte gegen ihre Wangen – »müssen du und ich uns mal
zum Kaffee oder Mittagessen treffen.« Kein Zweifel, ihre
Stimme wollte mich zur Tür hinausscheuchen, die sie
strategisch klug aufgelassen hatte. Diese Frau konnte mich
nicht schnell genug loswerden, was bedeutete, daß sie etwas zu
verbergen hatte. Was bedeutete, daß ich mich dumm stellen
mußte – eine Rolle, die ich, wie Freddy sagen würde, bis zur
Perfektion beherrsche.
»Oh, gern!« Als Strafe würde dieses Lächeln für immer auf
meinem Gesicht kleben. »Warum schmieden wir das Eisen
nicht, solange es heiß ist? Und – « ich stieß die Tür zu –
»werfen einen Blick in deinen Terminkalender?«
»Das ist wirklich nicht die günstigste Zeit – «
»Das ist es nie! Deshalb läuft sie uns ja immer davon.«
»Da hast du sicher recht.« Mit hochgezogenen Schultern,
vielleicht war es ein Achselzucken, blickte Flo zum
Treppenaufgang, dann drehte sie sich um und ging mit
erstaunlicher Anmut zu einer Tür links am anderen Ende der
Diele. »Gladys Thorn ist die Zeit tatsächlich davongelaufen.
Ich möchte wissen, ob sie eine Vorahnung hatte, als sie an
jenem Abend zur Kirche ging?«
»An welchem Abend?«
»Vorgestern abend – als ich den Autounfall hatte, in den deine
arme Katze verwickelt war. Als wir ganz langsam über die
Cliff Road nach Hause fuhren, sah ich sie kurz hinter dem Tor
zum Friedhof, ihr Fahrrad war gegen die Eiben gelehnt, und
der Mond stand hinter ihr… wie ein Heiligenschein. Nach dem,
was ich gerade durchgemacht hatte, war mir dabei ziemlich
unheimlich.«
»Natürlich.« Demnach war es nicht Gladstone Spike gewesen,
den ich gesehen hatte, als ich mit Tobias in den Armen auf
Bens Rückkehr mit dem Picknickkorb wartete! Was bedeutete
– ich starrte nervös auf Flos Hinterteil – , daß Dr. Melrose auf
meine Verdächtigenliste gesetzt werden mußte. Miss Thorns
Anwesenheit am Schauplatz – ihrem alten Orgelterrain – an
dem Abend bedeutete, daß sie gesehen haben konnte, wie er
mit der »Leiche « seiner Frau über der Schulter am Rand der
Klippe stand. Und wenn man bedachte, welch ein Plappermaul
unsere Gladys war, hatte sie vielleicht mit ihm über seinen
mitternächtlichen Streifzug gesprochen, vielleicht während
ihrer Verlobungsparty, und so ihr Schicksal besiegelt.
Vorausgesetzt, ich hatte mit meinem bösen Verdacht recht –
welch ein Spaß für den Doktor, sich Buntys Flehen anzuhören,
daß er auf dem Totenschein eine natürliche Todesursache
angab!
»Mein Kalender müßte hier drin sein.« Flo schob die Tür zu
einem Zimmer auf, das nach Terpentin und Ölfarbe roch.
Anders als in der Diele waren die Wände förmlich gepflastert
mit Porträts… nackter Männer.
»Sei ehrlich.« Flo schlängelte sich zwischen zwei Tischen aus
Sägeböcken und Spanplatten hindurch. »Sei brutal, wenn du
willst. Stört mich nicht. Ich genieße Kritik.«
»Sie sind wunderbar«, schwärmte ich. »Welch eine
Formgebung und Aussagekraft!« Mein Blick hing an einem
blonden Typ, der offensichtlich immer brav seine Cornflakes
gegessen hatte. »Sind die… anatomisch korrekt? Oder sind
manche… überlebensgroß?«
»Nein. Alle im richtigen Maßstab.«
»Du meine Güte!«Ich ging um einen Drehtisch mit Farbdosen
herum, rutschte mit dem Fuß auf einer nassen Stelle auf dem
Boden aus und wäre hingeknallt, wenn Flo mich nicht am
Oberarm gepackt hätte.
»Tut mir leid.« Sie hielt ihre verschmierten Hände hoch.
»Hatte gerade eine inspirierte Phase, bevor du kamst.«
»Aha!« Noch eines der kleinen Geheimnisse des Lebens klärte
sich auf. Die grausigen Spritzer waren Farbflecke.
»Und hier ist auch der Kalender.« Er wurde schwungvoll zum
Vorschein gebracht, in einer Art, die deutlicher als alle Worte
sagte: Nur noch zwei Minuten, und ich kann dich zur Tür
hinausbefördern, Ellie Haskell. Dann trat ein Blick in ihre
Augen, der rief: Zu spät! Ich drehte mich um und sah, wie die
Tür zur Halle geöffnet wurde. Ich machte mich schon auf den
Auftritt von Dr. Melrose gefaßt… und sah statt dessen einen
weit attraktiveren Herrn – in einem rotbraunen Morgenmantel.
Ich fiel nicht in Ohnmacht. In Ohnmacht zu fallen ist eine
Kunst, die ich nie beherrscht habe, aber ich betete um
Vergessen, als ich zurückwich und den Farbtöpfen gefährlich
nahe kam.
»Hallo, Ellie!« sagte Ben mit einem Lächeln, so frisch wie
seine frottierten Haare. »Was führt dich hierher?«
»Ich…« Krächzstimme. »Ich stelle hier die Fragen.«
»Wißt ihr was«, sagte Flo, während sie um uns herumglitt, »ich
glaube, es ist am besten, wenn ich euch zwei allein lasse.« Die
Tür ging klickend hinter ihr zu.
»Na, ist das nicht nett.« Mit verschränkten Armen stand mein
abtrünniger Gatte vor mir und klopfte mit dem bloßen Fuß auf
den bloßen Fußboden.
»Wie kannst du so dastehen…?«
»Meine Liebe, ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Hast du denn keine Scham?«Ich sprang vor Wut fast auf und
ab.
»Nanu, Liebes« – in seinen Augen lag ein Glitzern, das mich
an meinem Platz festnagelte –, »hast du das Recht, meine Ehre
anzuzweifeln, wenn du seit Tagen, wenn nicht seit Wochen
eine Lüge lebst?«
»Was?«
»Ich bin aus den Socken gekippt« – er schaute auf seine bloßen
Füße hinunter –, »als Flo erwähnte, was du wohlweislich zu
erwähnen vergessen hast, Ellie: deine Mitgliedschaft bei Fully
Female.«
»Aber…« Das Schuldbewußtsein heizte meine Stimme auf.
»Warum sollte ich denn nicht eintreten, wenn ich will.«
»Ellie, du hast nicht gerade Tennisstunden genommen. Das war
eine Sache, die uns beide angeht.« Er band den rotbraunen
Morgenmantel fester um seine apollgleiche Taille. »Und ich
verwahre mich dagegen, wie eine dressierte Robbe behandelt
zu werden.«
»Das war nicht Sinn und Zweck der Sache.«
»Ach nein? Denk an den Abend, als du diese verdammten,
albernen Hörner aufhattest. Ich würde das durchaus als
Zirkusnummer betrachten.«
»Damals hast du das nicht gesagt!«
»Weil ich nun an deine Verrücktheiten gewöhnt bin.«
»Herzlichen Dank.«
»Du verstehst es nicht, oder?« Ben sah mich jetzt eher traurig
als ärgerlich an. »Ich erwarte gern das Unerwartete von unserer
Beziehung. Was ich nicht will ist, Paragraph eins, Seite zehn in
einem Gewußt-wie-Sexhandbuch zu sein. Wie fändest du es
denn, wenn ich mit einem Anleitungsbuch ausgerüstet zu dir
käme: ›Halten Sie die rechte Brust fest…‹«
»Weißt du, was ich denke?« Ich klang wie ein zänkisches
Fischweib, als ich mit einer weitausholenden Geste auf die
Porträts an der Wand wies. »Ich glaube, du versuchst den Spieß
umzudrehen, Bentley T. Haskell, damit ich kein Wort gegen
deinen halbausgezogenen Zustand sagen kann, dessen Grund
abscheulich offen zutage liegt. Aber wenn du glaubst, daß ich
dir erlaube, deine Männlichkeit an diesen Wänden zur Schau
zu stellen, geschweige denn an denen von Merlin’s Court, bist
du schiefgewickelt!«
»Ellie…«
»Ich weigere mich, Abigails Porträt vom Kamin
herunterzuholen!«
»Könntest du mal aufhören, solchen Unsinn zu reden!« Zwei
lange Schritte, und er stand Nase an Nase mit mir. Das Feuer in
seinen Augen versengte meine Haut. »Ich bin heute nicht
hergekommen, um mein Porträt malen zu lassen. Ich kam, um
Flo darum zu bitten, eines von dir und den Zwillingen zu
malen, nach einem Schnappschuß, den ich mitgebracht hatte.
Wir sprachen gerade über den Plan, als ich ungeschickterweise
eine Farbdose umwarf und das Zeug sich über mich und den
Fußboden ergoß. Woraufhin ich ihr freundliches Angebot
annahm, mich zu duschen und… da wären wir.«
»Oh!«
»Ich bin heruntergekommen, um sie um etwas
Reinigungsflüssigkeit für meine Kleidung zu bitten.«
»Sag kein Wort mehr!« rief ich. »Du bist ein Heiliger, und ich
bin ein völliger Schwachkopf!« Von Reue geschüttelt, stürzte
ich aus dem Zimmer und flüchtete durch die Diele und zur
Haustür hinaus, wobei ich mir nicht wirklich mit dem
Gedanken schmeichelte, daß Ben mir in Dr. Melroses
Morgenmantel nach draußen folgen würde. Aber er tat es,
woraufhin ich in dem Fluchtauto davonbrauste. Seine Stimme
übertönte fast das Dröhnen des Motors.
»Ellie!«
So viele Nuancen in einem Namen. Rief er mich zurück, oder
sagte er auf Wiedersehen?
Die Fisher-Funeral-Kapelle war so gut beleuchtet, daß ich mich
nicht durch den Gang zu tasten brauchte, um zu der Gruppe zu
gelangen, die in den vorderen Bänken versammelt war, doch
niemand hätte dem Raum mangelnde Nüchternheit vorwerfen
können. Die Fenster waren mit dem traurigsten Violett
behängt, und die Luft war schwer vom Duft der Gardenien,
vermutlich aus einer Sprühdose, aber wir wollen nicht bissig
werden. Konzentrier dich auf die Zeremonie, Ellie! Weide
deine Augen an den hübschen kleinen Bänken und der mit der
Himmelspforte bemalten Decke. Sieh nicht den Sarg an. Doch
selbst mit dem Blick auf den Mosaikfußboden sah ich ihn, wie
er vor dem Puppenhausaltar stolz seinen Platz behauptete. Das
Gesicht auf dem Satinkissen konnte jedem gehören, tot oder
lebendig. Trug sie ihre Brille? Ein Schritt nach dem anderen.
Und schneller, als mir lieb war, glitt ich in die Bank neben
Leuten, die ich nicht von Adam und Eva unterscheiden konnte,
was aber wohl besser war, als neben Moll Bludgett zu sitzen,
die zusammen mit ihrem Ehemann zwei Reihen vor mir saß.
Wer weiß, vielleicht hätte die stets muntere Moll mich zu
überdrehten Lachsalven veranlaßt, was einfach nicht anging.
Ich warf tapfer einen Blick zwischen den Köpfen vor mir
hindurch. Ja, Miss Thorn trug ihre Brille, was bei
geschlossenen Augen etwas albern wirkte, aber ich mußte
zugeben, bei dem Material, mit dem Walter Fisher hatte
arbeiten müssen, sah sie geradezu strahlend aus in ihrem
bräutlichen Weiß. Sie hielt einen Strauß weißer Veilchen, und
als sich jemand bewegte und eine Veränderung an dem Einfall
des Lichts auf den Sarg verursachte, bemerkte ich ein Blitzen
an den gefalteten Händen und sah, als ich mich vorbeugte, daß
sie ihren diamantenen Verlobungsring trug. Wie romantisch
von Lionel Wiseman, ihn mit ihr begraben zu lassen. Aus den
Augenwinkeln sah ich besagten Verlobten neben seiner Frau in
der ersten Reihe stehen. Ich hoffte, Bunty würde in meine
Richtung sehen, damit ich mir ein Bild machen konnte, wie sie
es durchstand. Aber sie tat es nicht. Mein Blick schweifte zu
Spike und Dr. Melrose, aber keine Spur von Mrs. Malloy.
Dumm von mir, damit zu rechnen, daß sie hier sein würde…
Der Duft nach Gardenien war überwältigend. Ich stützte mich
auf die Lehne der Bank vor mir und senkte den Kopf, und als
ich wieder aufschaute, war Walter Fisher zusammen mit
Reverend Eudora Spike aufgetaucht. Verwandelte das Licht ihr
Gesicht in Wachs? Oder war der Kontrast, der durch ihre
schwarze Robe erzeugt wurde, dafür verantwortlich? Das war
nicht die fest geschnürte Frau mit der Fönwelle, die in meiner
Küche gesessen und Tee getrunken hatte. Sie hob sich deutlich
von den Laien ab. Sie trat auf die unterste Altarstufe hinunter,
neigte den Kopf und stieß einen Seufzer aus, der die Kapelle zu
erfüllen schien wie der Flügelschlag von Engeln. Sie bereitete
sich spirituell darauf vor, so nahm ich an, zu den
Hinterbliebenen zu sprechen. Doch bevor sie auch nur ein Wort
des Trostes sprechen konnte, hörte Mr. Fisher auf, an dem Sarg
herumzufuhrwerken, die Kissen aufzuschütteln, an den
Veilchen zu zupfen und kam die Stufen hinuntergetapst, um
zuerst seine Rede vom Stapel zu lassen.
»Mr. Wiseman.« Tiefe Verbeugung vor dem Cheftrauernden.
»Ladies und Gentlemen, ich gehe davon aus, daß jeder von
Ihnen diese letzten Augenblicke in der Gegenwart dieser
wahrhaft geliebten Dame hochhalten wird. Wenn ich das selbst
sagen darf, so meine ich, Gladys Thorn alle Ehre gemacht zu
haben. Auf jeden Fall sollte jeder nach den Gebeten nach vorn
kommen und sich persönlich von ihr verabschieden. Aber
keine Küsse auf die Stirn bitte, wir wollen doch nicht ihre
Frisur ruinieren, oder? Und noch eine letzte Ermahnung: Wenn
Sie unbedingt rauchen müssen, um Ihre Nerven zu beruhigen,
bitte ich Sie, die Asche nicht in den Sarg fallen zu lassen, wir
wollen die Dame doch nicht hier und jetzt schon einäschern.«
Versuchte dieser Mann, witzig zu sein? Kaum hatte er sich
unter Verbeugungen von der Bühne – ich meine, vom Altar
zurückgezogen, rief Reverend Spike uns alle zum Gebet.
»Himmlischer Vater, wir bitten dich um deinen Segen für
unsere dahingegangene Schwester, Gladys Thorn. Gewähre ihr
deine himmlische Vergebung, und sieh auch mit Erbarmen auf
die herab, die ihr Dahinscheiden betrauern. Befreie uns, die wir
unsere irdische Reise fortsetzen, von der Last der Sünde, und
lass’ uns einander unsere Fehler gestehen, in der sicheren
Hoffnung auf deine großzügige Vergebung.«
Sie hob den Kopf und schaute in die Gesichter der
Versammelten. Ihr Blick glitt über die Sitzreihen und
begegnete meinem. Er wäre weitergegangen, doch in diesem
Sekundenbruchteil kam mir… nennen Sie es eine himmlische
Erleuchtung, nennen Sie es, wie Sie wollen. Ohne es
vorzuhaben, ohne es zu wollen, streckte ich die Hand hoch und
rief mit lauter Stimme: »Bitte, Reverend, ich habe eine Sünde
zu beichten.«
Alle Köpfe drehten sich. Alle Blicke wandten sich mir zu.
»Ellie, meine Liebe«, sagte Eudora Spike sanft, »ich meinte
nicht jetzt. Wenn Sie nach der Andacht zu mir kommen
möchten…«
»Nein, ich kann es keinen Augenblick länger aushalten. Ich
kann nicht länger schweigen. Ich bin nicht ich selbst, seit ich
weiß, daß ein gemeiner Mord begangen wurde.«
»An ihr sollte jemand einen Mord begehen.« Die Worte kamen
von irgendwo aus der Menge, aber ich machte den Sprecher
nicht ausfindig, ich wartete nicht so lange, um mehr zu hören.
Ich nahm meine Handtasche und rannte zur Kapelle hinaus. Du
meine Güte, solche Abgänge schienen mir zur Gewohnheit zu
werden. Aber selbst als ich schon in meinem Wagen saß und in
ungewohnt schnellem Tempo über die Cliff Road fuhr, hatte
ich nicht das Gefühl, meine Flucht gut inszeniert zu haben. Der
Duft von Gardenien hing an meinen Händen, die das Lenkrad
drehten. Der Klang dieses Wortes – Mord – hallte mir noch in
den Ohren. Aber trotz all der Schimpfnamen, die ich mir selbst
gab, bedauerte ich meinen verrückten Ausbruch nicht wirklich.
Indem ich Bunty zur Seite stand, hatte ich einen Mörder
unbehelligt gelassen, also wessen Aufgabe wenn nicht meine
war es, ihn… oder sie… zu ködern. Und all das half dabei,
mich von meinen Problemen mit meinem geliebten Ehemann
abzulenken.
Ich hatte die Absicht, direkt nach Hause zu fahren. Aber
scheinbar wie aus eigenem Willen bog der Wagen in das Tor
zum Kirchhof von St. Anselm’s ein. Ich wußte, daß ich meine
Gedanken ordnen mußte – wohl im Unterbewußtsein –, so wie
ein Sterbender seine Angelegenheiten regelt. Ehe ich mich
versah, ging ich zwischen den in Mondschein getauchten
Grabsteinen hindurch und die Stufen zu der schweren
Eichentür hinauf. Ich war sicher, daß sie abgeschlossen sein
würde – aber wieder falsch, und schon trugen mich meine Füße
in das dämmerige Kirchenschiff. Ich fragte mich nicht, warum
Licht brannte. Ich wünschte nur, es wäre heller. Die Bänke und
kannelierten Säulen hatten etwas Geisterhaftes, da sie
ebensowenig von dieser Zeit und von dieser Welt waren wie
die Menschen, die hier vor hundert Jahren gebetet hatten.
Hörte ich da Schritte hinter mir? Ich sagte mir, ich solle nicht
albern sein, aber halt – da war das Geräusch erneut, und
diesmal konnte ich mir nicht einreden, daß es das Echo meiner
eigenen Schritte war. Die beschattete Strecke, an deren Ende
ich jetzt stand, mit dem Rücken zur Tür, schien sich von
Metern in Kilometer zu verwandeln. Keine gute Idee, daß ich
mich dieser Angst ausgesetzt hatte. Meine Augen schössen
hierhin und dorthin auf der Suche nach einem Fluchtweg,
während die Schritte lauter wurden und näher kamen –
vermutlich, weil ich sie mit meinem Herzklopfen
durcheinanderbrachte. Aber vielleicht hatte ich ja Glück, zu
meiner Linken entdeckte ich den Beichtstuhl, den Reverend
Spike angekündigt hatte. Schnell wie ein Blitz, still wie ein
Schatten öffnete ich eine der beiden Türen – ich hatte keine
Ahnung, ob es die des Geistlichen oder die des Büßers war –
und glitt hinein. Ich ließ die Tür angelehnt, damit ich nicht im
Stockdunkeln eingesperrt war. Eine Berührung wie von einer
Feder streifte meinen Nacken, und fast schrie ich auf. Ich
Dummkopf. Es war nur mein Haar. Langsam normalisierte sich
mein Atem, und ich hatte mir gerade eingeschärft, daß ich mir
diese Schritte eingebildet hatte… als ich die Tür auf der
anderen Seite des Beichtstuhls knarrend auf- und zugehen
hörte.
Eine erstickte Stimme erfüllte die Dunkelheit, und bevor ich
mich zurückhalten konnte, hatte ich mit zitternder Hand die
Holzscheibe aufgeschoben und ein kleines Gitter freigelegt…
und das Gesicht von Gladys Thorn.
»Bitte weinen Sie nicht«, bat ich. Absolut sinnlos. Ich hätte
ebensogut eine Fledermaus bitten können, nicht mehr mit den
Flügeln zu schlagen. Wir saßen in der Bank unmittelbar vor
dem Beichtstuhl und nahmen tiefe Atemzüge der
abgestandenen Luft, die schmeckte, als wehe sie seit dem
elften Jahrhundert hier in der Kirche. Hoch oben auf ihren
Sockeln, in Schatten gehüllt, warteten die Steinheiligen
atemlos auf eine neue Enthüllung.
»Miss Thorn?«
»Ja?« Das durchnäßte Taschentuch senkte sich einen
Zentimeter, und die Pilzaugen blickten in meine. Scheu.
»Sind Sie es wirklich?« Ich konnte nicht weitersprechen.
Meine Zunge war zu Staub und Asche geworden.
»Wer denn sonst?«
»Aber Sie sind tot!«
»Ach herrje, nein!« Das aufgeregte Lachen ließ mich fast von
der Bank fallen. »Sie müssen mich mit meiner Schwester
Gladys verwechseln.«
»Sie meinen…?« Ich mußte meinen Kopf festhalten, damit er
nicht davonflog.
»Ich bin Gladiola Thorn.«
»Ihr Zwilling?«
»Eigentlich« – die Spitze ihrer roten Nase zuckte stolz -»sind
wir… waren wir… Drillinge.«
»Drillinge! Alle eineiig?«
»Nicht ganz. Dawar Gladys, ich selbst und unser Bruder
Gladstone, mit dem Sie derzeit, glaube ich, bekannt sind.«
»Ich…«
Sie ließ mich nicht ausreden. »Gladys und ich… wenn Sie mir
verzeihen, daß ich ein so delikates Thema anspreche… wir
schlüpften sozusagen aus demselben Ei – was uns zu eineiigen
Zwillingen machte. Aber beim Aussehen endete die
Ähnlichkeit auch schon. In unserer Mädchenzeit war ich die
Wilde, brach mit der Kirche von England und trat zu den
Methodisten über.«
»Ich erinnere mich, daß Gladys erwähnte… Also waren Sie es,
die Mrs. Melrose in die Unity Methodist gehen sah – und die
Pfarrerin mit einer Ausrede versorgte, um ihre Schwester zu
feuern.«
Die neue Miss Thorn blickte durch mich hindurch in die
Vergangenheit. »Meine Eltern verstießen mich, und zu meinem
Bedauern muß ich sagen, daß ich es ziemlich genoß, das
schwarze Schaf zu sein, bis dieses Etikett mir durch Gladys
entrissen wurde, indem sie einen… liederlichen Lebenswandel
begann. Ein Mann nach dem anderen. Man konnte sie nicht
mehr zählen – nur den Preis, den unser lieber Bruder Gladstone
dafür zahlte. Seine Qual war kaum mitanzusehen. Er hatte, als
Gladys’ Lebenswandel ans Licht kam, gerade angefangen,
Eudora den Hof zu machen. Gab es irgendeinen Zweifel, daß
eine Frau, die entschlossen war, in den Dienst der Kirche zu
treten, seinen Heiratsantrag zurückweisen würde, sobald sie
das mit Gladys herausfand? Mein armer Bruder! Er klopfte
eines Tages an meine Tür und kein einziges Wort über meine
Sympathien für die Wesleyianer. Er bat um Rat, und den
bekam er von mir.«
»Sie sagten ihm, er solle seinen Namen in Spike umändern?«
»Uns fiel nichts ein, was Thorn ähnlicher war. Und Männer
sind das sentimentale Geschlecht, so hat man mir gesagt. Ich
persönlich weiß nichts über sie – im biblischen Sinne. Anders
als meine Schwester, mag ihre Seele… nicht in der Hölle
brennen…. bin ich berechtigt, mit dem edelsten aller Titel
angesprochen zu werden: Miss.« Edle Worte, die in einem
Schwung himmlischer Musik ausklingen sollten. Was in der
Tat geschah. Von irgendwo in diesen muffigen Höhen hoch
über unseren Köpfen kam das disharmonische Plonk, Plonk
von Orgelpfeifen.
»O mein Gott!« Miss Gladiola Thorn fiel auf die Knie, die
Hände zum Gebet gefaltet, und machte deutlich, daß sie
keineswegs Gott lästern wollte, sondern ihm Respekt zollte. Ich
hätte gern dasselbe gemacht, für alle Fälle, aber ich hatte
diesen nagenden Verdacht, daß wir es mit Gottes Schöpfung zu
tun hatten. Nicht mit dem Allmächtigen selbst – pardon, Fully-
Female-Frauen –, der Allmächtigen selbst. »Miss Thorn«, sagte
ich und zog sie am Arm. »Ich glaube, wir sollten möglichst
schnell verschwinden.«
»Aber Mrs…. Oje, ich habe Sie nicht nach Ihrem Namen
gefragt.«
»Ellie Haskell.«
»Und Sie wollen damit sagen?«
»Daß ein Eindringling hier ist.«
»Dann bin ich verloren!« Miss Thorns Schrei blies ihr das
Taschentuch aus der Hand. »Das kann nur bedeuten, daß der
Mörder von Gladys auch hinter mir her ist!«
»Schsch!« Ich nahm ihre Hand, und wir traten auf
Zehenspitzen in den Gang.
»Glauben Sie wirklich…«
»Ohne den Hauch eines Zweifels.«
Sie stolperte über meine Füße. »Gladys war so gesund wie ein
Pferd, abgesehen von der gelegentlichen« – ihre Stimme wurde
zu einem Flüstern – »Verstopfung, die sie sich selbst
zuzuschreiben hatte, weil sie sich als Kind weigerte, ihren
Feigensirup zu nehmen. Ich war immer die Zarte. Immerzu
beim Arzt. Bestimmt erinnern Sie sich, daß Sie mich neulich
bei Dr. Melrose gesehen haben. Ich habe Sie wegen der Babys
bemerkt.«
»Also das erklärt, warum Sie an mir vorbeigingen, ohne hallo
zu sagen!« So lächerlich es auch klingt, das Gespräch war so
faszinierend geworden, daß ich mitten im Gang stehenblieb
und momentan vergaß, daß der Sinn der Übung die Flucht vor
den Klauen des übelwollenden Orgelspielers war. Gladiola
stieß von hinten gegen mich, beförderte mich in die Bank
gegenüber, und ich packte zu, um mich zu retten, mit dem
Ergebnis, daß ein Stapel Gesangbücher zu Boden fiel. O
Gnädiger Vater, errette uns! Der Lärm, der in alle Richtungen
ertönte, war schlimmer als der Einsturz der Mauern von
Jericho. Ich hatte Mühe zu atmen, geschweige denn, mich zu
bewegen, als eine Stimme aus den dämmerigen oberen
Regionen dröhnte.
»Was zur Hölle geht da unten vor?«
Gladiola Thorn schickte sich an, in Ohnmacht zu fallen, aber
ich versperrte ihr den Weg zum Fußboden. Wenn meine Ohren
mir keinen Streich spielten, gab es keinen Grund für
hysterische Anfälle.
»Na los, raus damit! Was soll all dieser verdammte Lärm? «
»Mrs. Malloy?« Indem ich meinen Hals reckte und die Hand
über die Augen hielt, gelang es mir, jemanden zu erkennen, die
meine Haushaltshilfe sein konnte, wie sie sich von der
Chorempore beugte.
»Tja, wer sonst sollte es sein? Ich komme hier rein, um meine
gute Tat des Tages zu verrichten, indem ich hier saubermache,
ohne Bezahlung zu verlangen, nur für ein bißchen Ruhe und
Frieden, und was kriege ich? All diesen Lärm! Das reicht mir
schon, um mein Staubtuch hinzuwerfen! Wirklich!« Ob sie auf
die Worte die Tat folgen ließ, oder ob das Tuch auf Treu und
Glauben hin sprang, weiß ich nicht. Es kam jedoch
heruntergeflattert und veranlaßte Gladiola, sich hinzuknien und
den Rand der Bank zu umklammern.
»Mrs. Malloy, ich bin’s, Ellie Haskell!«
»Das weiß ich, Mrs. H.« Schwere Schritte. »Ich mag hier oben
zwar blind wie eine Fledermaus sein, aber ich bin nicht taub
und war es auch noch nie.«
»Wie dumm von mir! Ich hätte wissen müssen, daß hier
jemand an der Arbeit ist, als ich die Kirchentür unverschlossen
vorfand und einige der Lichter brannten. Verzeihen Sie die
Störung…« Ich ging um Gladiola herum und sah, wie die
vertraute Gestalt aus dem trüben Licht trat. »Ich bin nur so
froh, Sie zu sehen, Mrs. Malloy. Nach gestern abend, nach den
Ereignissen auf Buntys Party, war ich ein bißchen nervös, und
als ich keinen Kontakt mit Ihnen aufnehmen konnte…«
Untypisch für Mrs. Malloy, mich so plappern zu lassen!
Vielleicht war es die geweihte Atmosphäre, die sie schweigen
ließ. Aber ihr Gesicht sprach Bände. Ich sah, wie ihr Mund
aufging. Ich sah, wie ihre Augenbrauen in ihrem Haar
verschwanden. Aber erst als sie langsam den Arm hob und mit
zitterndem Finger auf etwas zeigte, merkte ich, daß sie über
meine Schulter hinweg auf Gladiola Thorn sah, die sich hinter
mir erhoben hatte.
»Es ist schon gut«, rief ich. »Es ist nicht, was – wer – Sie
denken.« Aber Mrs. M hörte nichts mehr. Sie taumelte
vorwärts und wäre wie ihr Staubtuch geendet, als ein
zerknittertes Häuflein auf dem Fußboden, aber zum Glück…
ächz, ächz… gelang es mir, sie gerade noch rechtzeitig
festzuhalten.
»Oh, du meine Güte!« Miss Thorn klammerte sich an meinen
Arm und ließ uns alle fast zu Boden gehen. »Wenn sie mir nur
etwas Zeit gegeben hätte, mich vorzustellen. Ich hätte erklären
können, daß ich nur hierher gekommen bin, um meinem
Bruder in der Stunde der Not beizustehen. Ich hätte niemals die
Schwelle dieser Kirche überschritten, wenn ich nicht gedacht
hätte, daß das hier der rechte Ort ist, um meiner sündigen
Schwester adieu zu sagen.«
»Könnten wir das später diskutieren?« keuchte ich. »Wenn Sie
mir helfen, Mrs. Malloy auf diese Bank zu setzen… Genau so.
Ich hole etwas Wasser vom Weihwasserbecken. Bestimmt gibt
es einen Dispens für Aktionen aus Mitleid. Wenn sie wieder
bei Kräften ist, könnten Sie mir helfen, sie nach draußen zu
meinem Wagen zu schaffen. Ganz ruhig, Mrs. Malloy!« Sie
blinzelte verängstigt. »Ich nehme Sie für heute nacht mit zu
mir nach Hause.«
Die Fenster von Merlin’s Court waren verschwommen im
Morgennebel, oder vielleicht sahen sie nur so aus, weil mein
Blick vor Tränen verschwommen war. Ich hatte geschlafen –
na ja, fast-, als Ben am Abend zuvor nach Hause gekommen
war. Doch jetzt standen wir einander im Schlafzimmer
gegenüber, und ich sagte Dinge, die ich nicht sagen wollte,
steife Worte, die in peinliche Sätze gestopft waren und ihn
sprachlos machten.
»Bitte!« rief ich, als ich die Stille, die über meinem Kopf hing
wie ein Schwert, nicht länger ertragen konnte. »Steh nicht nur
so da! Sag mir, daß du mich verstehst.«
»Aber ich tu’s nicht!« Er ging auf dem Kaminvorleger auf und
ab, mit gesenktem Kopf. »Du bittest mich, zu gehen.«
»Nicht für immer!«
»Ellie, das ist doch nicht der richtige Weg, um
Meinungsverschiedenheiten zu klären.«
»Aber hier geht es nicht nur um Fully Female.« Ich
umklammerte den Bettpfosten, als ob er der Mast eines
sinkenden Schiffes wäre. »Es geht darum, daß ich ein, zwei
Tage für mich allein brauche. Ich habe nie Zeit nur für mich.
Nicht seit die Babys da sind, und ich brauche Zeit -jetzt, heute.
Ich will, daß du Abbey und Tam zu deinen Eltern mitnimmst.
Du weißt doch, wie deine Mutter ständig davon redet, daß sie
ihre Enkel sehen will. Mach ihr diese Freude. Sie wird dich
dafür lieben, und ich auch.«
»Da steckt doch mehr dahinter…«
»Das stimmt nicht!« Mit hinter dem Rücken gekreuzten
Fingern.
»Es wäre schwierig für mich, das Abgail’s so kurzfristig
unbeaufsichtigt zu lassen.«
»Wo ein Wille ist!«
»Ich nehme an«, sagte Ben, während er seine sorgenvolle Stirn
rieb, »daß Freddy für zwei Tage einspringen könnte.«
»Du denkst nicht richtig nach«, sagte ich. »Du wirst Freddy
mitnehmen müssen. Du kannst unmöglich ohne eine
Verstärkung für die Zwillinge nach London fahren. Sie werden
bestimmt manchmal Theater machen, und vielleicht mußt du
unterwegs anhalten, um sie zu füttern oder zu wickeln.«
»Und wer leitet also das Abigail’s?«
»Ich bin sicher, das Personal wird an einem Strang ziehen.«
»Aus deinem Mund klingt das alles so einfach.«
Dann hatte ich mehr von einer Schauspielerin, als ich wußte.
Ich durfte die Sache nicht verderben, indem ich Ben die Tränen
in meinen Augen sehen ließ. Das Haus von meiner geliebten
Familie freizumachen, war eine entsetzliche Aufgabe. Aber es
mußte sein. Um ihretwillen. Ich hatte ein unwirkliches Gefühl,
als ich ins Kinderzimmer ging und die Sachen der Babys
zusammenpackte, während Ben sie anzog und fertigmachte.
Freddy leistete erwartungsgemäß keinen Widerstand dagegen,
daß er praktisch gekidnappt wurde. So wie er die Dinge sah,
wäre Ben mehrere Stunden lang sein gebanntes Publikum. Und
ich hoffte stark, daß sein Vortrag aus Normannen der Götter
die Babys einschläfern und auch bis zum Ende der Reise
weiterschlafen lassen würde.
Um kurz vor neun Uhr stand ich im Hof und winkte der kleinen
Reisegesellschaft zum Abschied.
»Ellie…« Ben steckte zum drittenmal den Kopf aus dem
Autofenster.
»Fahr!« flüsterte ich. Und weil ich es uns beiden leichter
machen wollte, drehte ich mich um und ging zum Haus. Als
ich mich noch einmal umschaute, kurz bevor ich hineinging,
war die Kieseinfahrt leer, und was ich für das ferne Dröhnen
des Motors gehalten hatte, könnte die See gewesen sein. Als
ich die Stufen hinaufging, hörte ich das Plip, Plop von
Regentropfen an den Fenstern. Aber mein Gesicht war trocken.
Mir war so kalt geworden da draußen, daß ich vielleicht erst
ein wenig auftauen mußte, bevor ich weinen konnte. Außerdem
war da noch eine Person im Haus, deren Gefühle berücksichtigt
werden mußten: Mrs. Malloy. Sie hatte gestern abend einen
schlimmen Schock erlitten und brauchte wirklich nicht vom
Antlitz des Kummers geweckt zu werden.
Ich klopfte an ihre Tür. »Guten Morgen!«
»Herein!«
Na, das klang ja einigermaßen munter! Als ich hineinging, fand
ich sie in dem schwarzem Taftkleid mit dem Jettperlenbesatz
vor, das sie gestern abend getragen hatte. Jedes Härchen und
jeder Schönheitsfleck waren an ihrem Platz.
»Keine Sorge, Mrs. H, ich brauchte meinen Schlüpfer nicht
verkehrt herum anzuziehen. Ich hab’ eine Männerunterhose in
einer der Schubladen gefunden. Eine gute aus Wolle und keine
Spur von Motten.«
»Ausgezeichnet.«
»Sie brauchen sich nicht selbst auf den Rücken zu klopfen.«
Sie eilte mit einem Stapel Wollhosen zum Bett hinüber. »Ich
war noch nie im Leben so schockiert. Haben Sie noch nie von
Mottenkugeln gehört?«
»Tut mir leid, Mrs. Malloy, ich enttäusche Sie immerzu.«
»Verdammt noch mal!« Sie ließ die Wollhosen in einer
Zeitlupe aufs Bett fallen, die einer Reklame für Weichspüler
zur Ehre gereicht hätte. »Was ist los mit Ihnen, mein
Mädchen?«
»Naja…« Ich setzte mich aufs Bett und fing an, meinen Rock
zu fälteln. »Ich habe mich in letzter Zeit etwas eingeengt
gefühlt. Kurz und gut, Ben ist gerade mit Freddy und den
Zwillingen weggefahren, um für ein paar Tage meine
Schwiegereltern zu besuchen und…«
Mrs. Malloy senkte ihre Neonlider und schmatzte mit ihren
Schmetterlingslippen. »Da steckt doch mehr dahinter, Kleines,
als man auf den ersten Blick sieht. Meine Vermutung ist, Mrs.
H, daß Sie die Luft rein haben wollten, weil Sie einen Plan
aushecken, wie Sie den Mörder von Miss Thorn fangen
können.«
Ich sprang auf und rief: »Was bleibt mir denn für eine andere
Wahl? Es wäre nicht richtig, einen solchen Menschen frei
herumlaufen zu lassen. Er oder sie könnte wieder zuschlagen.
Indem ich schwieg, um Bunty zu schützen, habe ich die Polizei
daran gehindert, ihre Arbeit zu tun.«
»Und jetzt müssen Sie sie tun, verflixt noch mal?« Zu meinem
Erstaunen sah Mrs. Malloy aus, als wollte sie in Tränen
ausbrechen.
»Ich wüßte nicht, welche andere Wahl ich hätte.«
»Na schön, Sherlock«, sagte sie resolut, Bauch rein, Brust raus,
»nennen Sie mich einfach Watson.«
»Auf keinen Fall.«
»Mrs. H, ich mache keine Decken, ich mache keine
Dachrinnen, und ich lasse keine Freundin im Stich, die mich
braucht. Und jetzt« – sie führte mich beim Ellbogen zum Bett –
»erzählen Sie mir Ihren Plan.«
Ich seufzte. Aber die Erfahrung hatte mich gelehrt, daß es
keinen Sinn hatte, mit ihr zu diskutieren. »So einfach wie das
ABC, wirklich. Gestern abend bei Miss Thorns Andacht habe
ich ein öffentliches Geständnis abgelegt. Ich sagte, bevor ich
aus der Kapelle rannte, daß ich mich des Vergehens schuldig
gemacht hätte, einen Mord zu verschweigen. Natürlich muß der
Täter nicht dagewesen sein, aber Chitterton Fells ist ein solch
kleiner Ort, daß die Dinge in aller Schnelle die Runde machen.
Und ich rechne damit, daß der Mörder rasch handelt, um mich
zum Schweigen zu bringen. Deshalb mußte ich Ben und die
Babys aus dem Haus schaffen. Ich konnte ihre Sicherheit nicht
aufs Spiel setzen, und wirklich, Mrs. Malloy, mir wäre leichter
ums Herz, wenn Sie auch gehen würden.«
»Hab’ noch nie solch einen Bockmist gehört! Sie werden mit
diesem Mörder fertig?« sagte sie und erstickte fast an den
Worten. »Ganz im Alleingang?«
»Na klar!« Ich setzte mich aufrecht hin. »Ich habe Ihre Pistole.
Lionel Wiseman hat sie mir zurückgegeben, nachdem ich sie in
seinem Haus verlegt hatte, und sie ist… lassen Sie mich
überlegen… noch in der Tasche meines Regenmantels.«
»Das muß ich Ihnen lassen, Mrs. H, Sie sprudeln über vor
Kompetenz.«
Eine Herabsetzung, die es zu überhören galt. »Mein Plan ist,
meine zuverlässige Waffe zu zücken und den Bösewicht in
Schach zu halten, während ich die Polizei verständige.
Übrigens, die Pistole ist doch geladen, oder?«
»Jetzt haben Sie mich kalt erwischt.« Mrs. Malloy sah ziemlich
geknickt aus, und ich versicherte ihr eiligst, daß es nicht die
geringste Rolle spielte. Ich würde nicht in die Lage kommen,
das Ding abfeuern zu müssen, ich brauchte nur damit
herumzufuchteln und so auszusehen, als könnte ich ein Ende
vom anderen unterscheiden.
»Das mag sein, wie es will!« Die Hände in die schwarzen
Tafthüften gestemmt. »Aber Sie können mir nicht weismachen,
daß die Chancen auf Erfolg nicht viel besser stehen, wenn wir
zwei gegen einen… wen auch immer sind.«
»Aber es ist Ihnen gegenüber nicht fair.«
»Doch, das ist es, verdammt noch mal.«
»Wieso?«
»Weil ich es sage!« Ohne sich zu einem Blick auf mich
herabzulassen, stolzierte sie zur Tür und sagte, sie werde einen
Tee aufbrühen. Der Himmel sei dem Mörder gnädig, der
anklopfte, bevor Mrs. Malloy ihren Tee getrunken hatte. Zu
behaupten, ich wäre nicht froh gewesen, sie dabeizuhaben,
wäre eine Lüge. Wäre sie noch immer wie in einem
posterotischen Nebel herumgelaufen, dann hätte die Sache
anders ausgesehen. Aber wer kann ewig im siebten Himmel
schweben? Sie schien auf jeden Fall wieder mit beiden Beinen
fest auf der Erde zu stehen. Ich konnte sie in der Küche
herumspazieren hören, als ich auf der Suche nach meinem
Regenmantel nach unten ging. Bis ich diese Pistole in meiner
Hüfttasche hatte, würde ich keine ruhige Minute haben. Mir
ging flüchtig durch den Sinn, daß ich mich eventuell für eine
Begegnung vorbereiten könnte, zu der es nicht kommen sollte.
Aber tief im Innern wußte ich, daß der Mörder mich aufsuchen
würde. Vielleicht war er oder sie sogar schon auf dem Weg.
Der Regen half mir nicht gerade, um mich zu beruhigen. Er
klang wie ein Mensch, der gegen eine Fensterscheibe klopft,
um seine Nervosität zu bekämpfen… oder bewußt Nervosität
schuf.
Mein Regenmantel war nicht im Schrank in der Halle und auch
nicht im Wandschrank unter der Treppe. Als ich die Küche
betrat, war ich mehr als nervös, und als ich schließlich den
Haufen von Mänteln am Ständer bei der Gartentür durchsucht
und noch mal durchsucht hatte, war ich geradezu in Panik.
»Können Sie ihn nicht finden?« Mrs. Malloy stellte ihre Tasse
mit einem Klappern ab, das meine Zähne aufeinanderschlagen
ließ.
»Ich habe noch nicht richtig gesucht.« Mit diesen Worten
tauchte ich wieder in die Halle ab, rannte nach oben und fing
an, Türen aufzureißen, hinter Kommoden zu sehen, sogar unter
Betten zu kriechen. Die meisten Orte, an denen ich nachsah,
ergaben keinen Sinn, aber ich dachte nicht mehr logisch. Mein
Regenmantel war zum Feind geworden, der mich in ein
tödliches Versteckspiel verwickelte. Und der Faktor Zeit, zum
Teufel mit ihr, kam zusätzlich ins Spiel. Ich sah um zehn auf
die Uhr, dann wieder zwei Minuten später, um festzustellen,
daß es zwanzig nach war. Hätte sich Mrs. Malloy einen Zacken
aus der Krone gebrochen, wenn sie hochgekommen wäre, um
mir zu helfen? Als ich aus dem Bad kam, wo ich den
Wäschekorb und das Medizinschränkchen durchsucht hatte,
hörte ich einen Knall… dann noch einen… gefolgt von dem
Geräusch einer Tür, die ganz leise geschlossen wurde. Mit
köpfendem Herzen schob ich mich durch den Korridor. Nichts
mehr, nur noch das Plüsch, Platsch des Regens gegen die
Fenster und das Knarren der Stufen unter meinen Füßen. Wir
hätten von Anfang bis Ende zusammenbleiben sollen. Die
Versuchung, ihren Namen zu rufen, war überwältigend, aber
ohne die Pistole war mein einziger Verbündeter die
Heimlichkeit! Ach komm, Ellie, sei nicht solch ein Feigling!
Nimm diese vollkommen scheußliche Vase, die Tante Astrid
dir zur Hochzeit geschenkt hat, und schleich dich kampfbereit
durch die Halle.
Jemand pfiff eine Melodie, schauderhaft munter, als ich die
Küchentür aufschob.
Krach! Ich schlug die Vase blitzschnell gegen seine Stirn und
sah durch einen Splitterregen, wie ein Körper rückwärts
taumelte, um dann mit einem Getöse zu Boden zu gehen, der
das ganze Haus erschütterte. Hinter meinen geschlossenen
Lidern zogen die Verdächtigen in grimmiger Prozession
vorüber, wie die Geister der Vergangenheit eines Ertrinkenden
– all die alten Bekannten, und Gladiola Thorn bildete das
Schlußlicht. Doch als ich mich zwang, die Augen zu öffnen,
sah ich jemanden in einem grauen Overall ausgestreckt auf
dem Fußboden liegen, der noch einen Schraubenschlüssel in
der Hand hielt.
»Jock Bludgett!«
Das Geräusch meiner Stimme rief mich mit einem Ruck wieder
ins Leben zurück, doch zum Glück hatte sie nicht dieselbe
Wirkung auf Mr. B, den Bösewicht, denn im Innersten hatte
ich immer gewußt, daß der Klempner der Mörder war. Es war
möglich, daß er jeden Moment wieder zu sich kam. Ich sollte
mich nach etwas umsehen, womit ich ihn fesseln konnte, bevor
ich mich auf die Suche nach Mrs. Malloy machte. So sagte ich
mir, während ich gegen Wellen der Übelkeit ankämpfte und
auf die Tür zum Arbeitszimmer starrte, die nur einen
Zentimeter weit offenstand. Einen verräterischen Zentimeter,
denn sie war doch geschlossen gewesen, als ich herunterkam?
Kauerte meine Assistentin hinter dieser Tür, zu ängstlich, um
sich zu rühren, zu ängstlich, um zu rufen, weil sie nicht wissen
konnte, ob der Eindringling mich erwischt hatte oder
andersherum?
»Mrs. Malloy!« Ich fand mich an der Tür wieder, die Hand auf
dem Türknauf, und meine Stimme stahl sich durch den Spalt in
das Dämmerlicht hinein. Keine Antwort, nur der heisere Atem
des Windes und das Tropf, Tropf des Regens. Unfähig, die
quälende Ungewißheit noch länger zu ertragen, stolperte ich
ins Arbeitszimmer, um zu sehen, wie Mrs. Malloy… bewußtlos
auf dem Fußboden vor dem krankenhausgrünen Gasofen lag.
»O mein Gott!« Ich ging zwei Schritte auf sie zu, bevor ich ein
verdächtig leises Geräusch hinter mir hörte. Ein Schatten löste
sich von der Wand.
»Mrs. Haskell?«
»Ja?«
»Ich denke, wir sollten uns unterhalten.« Die Stimme legte sich
um meinen Hals, drückte so wirksam die Luft aus mir heraus
wie zwei kräftige Hände. Meine Brust tat weh, aber in meinem
übrigen Körper breitete sich eine gnädige Taubheit aus, als ich
mich umdrehte zu… Mr. Walter Fisher.
»Meinen Dank.« Sein Guppylächeln erfüllte den ganzen Raum
mit Eiseskälte. »Meinen tiefempfundenen Dank, daß Sie sich
um den Klempner gekümmert haben. Er hätte alles verderben
können. Aber zwei erledigt, noch einer übrig.«
»Ich verstehe nicht«, rief ich. »Das weibliche Geschlecht ist
immer so ungeduldig.«
»Was haben Sie Mrs. Malloy getan?«
»Ich habe ihr etwas gegeben, damit sie schläft.«
»O, du lieber Gott! Sie dachte, Sie liebten sie.«
»Das tat ich, eine ganze Nacht lang.« Seine Augen wurden trüb
in der Erinnerung. »Sie warf ihren Fully-Female-Köder aus. Ihr
Lächeln täuschte. Und diese pochenden Lenden versetzten
mich in einen Taumel des Verlangens, das nur befriedigt
werden konnte, indem ich mich ganz und gar in ihre Macht
gab. Und in diesem Augenblick der Unachtsamkeit erzählte ich
ihr von Madge.«
»Madge?«
»Meine Frau.«
»Die, die Sie eines dunklen Abends verlassen hat?«
»Genau die…« Endlich wärmte sein Lächeln seine Augen.
»Die, die ich eines dunklen Abends erdrosselte, weil ich ihre
lärmende Fröhlichkeit keine Stunde länger ertragen konnte. Sie
war wie diese schreckliche Bludgett. Immerzu lächelnd.
Immerzu lachend.« Ein Schauder lief durch Mr. Fishers
hageren Körper. »Zum Glück hatte ich bei meinem Beruf
keinerlei Probleme, ihre Leiche zu beseitigen.«
»Bitte erzählen Sie es mir nicht«, bat ich.
»Feuerbestattung ist nicht jedermanns Sache. Aber ich habe nie
bestritten, daß sie ihre Vorteile hat.«
»Arme Mrs. Malloy!« Ich meinte nur, weil sie so betrüblich
betrogen worden war.
»Na, keine Sorge«, versicherte Mr. Fisher mir schnell. »Im
kalten Licht des Tages erkannte ich, daß ich Roxie Malloy
nicht bei einer ihrer gemütlichen Erlebnis-Ehe-Sitzungen
ausplaudern lassen durfte, daß ich Madge erledigt hatte, aber
keine Sorge, ich habe nicht die Absicht, Roxie so zu beseitigen
wie meine Frau. Zwei Frauen, die mir verschwinden, sind eine
zuviel. Ja, wirklich, aber keine Zeit, zu Zittern und Zagen. In
einem ihrer leidenschaftlicheren Momente erzählte Roxie mir,
wie sie sich hier auf Merlin’s Court das Leben nehmen wollte,
Sie sie jedoch davon abgebracht hätten. Jammerschade – « er
rieb sich die Nase – , »daß Sie nicht mehr dasein werden, um
es bei der gerichtlichen Untersuchung zu bestätigen. Aber da
sie eine Fully-Female-Frau war, wird sie mit Sicherheit auf
einer der Sitzungen mit ihrem Selbstmordversuch geprahlt
haben.«
»Wo«, stammelte ich, »werde ich sein?«
»Sie, Mrs. Haskell, kommen mit mir, nachdem ich das Gas
angestellt und Roxie etwas bequemer hingelegt habe.«
»Nein!« In einem Ansturm wütender Energie schlug ich mit
meinen Fäusten zu. Aber wenn es jemals ein sinnloses
Unternehmen gab, dann dieses. Er griff in seine Tasche und
zog eine Pistole heraus, deren gemeines kleines Auge sich fest
auf mein Gesicht richtete, während Mr. Fisher den Ofen
andrehte. Und mit diesem furchtbaren Zischen in den Ohren
scheuchte er mich in die Halle. Ich war etwas überrascht, daß
er es vorzog, das Haus durch die Küche zu verlassen, was
bedeutete, daß er um die reglose Gestalt von Mr. Bludgett
herumgehen mußte, aber er erklärte, daß sein Wagen vor der
Gartentür stünde. Einen wilden, flirrenden Moment lang war
ich, als wir um Jocks graue Overall-Gestalt herumgingen,
überzeugt, er werde zum Leben erwachen, Mr. Fisher an den
Beinen packen und ihn zu Fall bringen. Aber mitnichten. Und
außerdem konnte man von Mr. B wohl kaum erwarten, mich
als Dame in Not zu betrachten. Er war auf meinen gestrigen
Anruf hin hier aufgetaucht, um die Waschmaschine zu
reparieren und hatte für seine Mühe eins über den Schädel
bekommen. Ich konnte ihn fast sagen hören:
»Lady, hätten Sie Ihre Beschwerde nicht in schriftlicher Form
einreichen können?«
Inzwischen waren meine Gedanken, wie man merkt, extrem
wirr. Als Mr. Fisher an der Gartentür stehenblieb, sah ich, wie
er zwei Regenmäntel von dem Haken in der Nische nahm und
stellte mit einer Art ironischer Belustigung fest, daß einer von
ihnen – der unter dem anderen gehangen hatte – genau der
Mantel war, nach dem ich gesucht hatte, während er sich ganz
wie zu Hause fühlte und die arme Mrs. Malloy betäubte.
»Hier, ziehen Sie den an.« Er gab mir den alten, der Dorcas
gehörte, während er meinen anzog, wobei er die Pistole in die
andere Hand nahm. Ich verlor vollends den Mut. »Nett zu
wissen, nicht wahr, Mrs. H, daß das Zeitalter der Galanterie
nicht tot ist? Was mich betrifft, ich kann es nicht riskieren,
durchnäßt zu werden, ich habe es auf der Brust.«
Ich antwortete nicht. Draußen brachte der Regen die stechende
Erleichterung einer Akupunktur und tötete die oberste Schicht
meines Verstandes noch weiter ab, ebenso wie die meiner
Haut. Ich wußte, daß ich in seinem Wagen saß, und ich ahnte,
wohin er mich brachte. Aber ich hatte keine Angst. Ich war
nichts… oder niemand. Nicht Ellie Haskell. Nicht Bens Frau.
Nicht die Mutter der Zwillinge.
Aber Walter Fisher war offenbar in Plauderstimmung. »Ich
hatte nicht erwartet, Roxie in Ihrem Haus vorzufinden, als ich
dort eintraf, Mrs. Haskell.«
»Nun, sie hat Sie erwartet.« Als ich auf die Windschutzscheibe
starrte, sah ich Mrs. Ms Gesicht in den Regenbächen. Ihre
Mundwinkel verliefen. Würde ich jemals wieder mit ihr
sprechen? Würde ich ihr jemals sagen können, daß ich ihr
keinen Vorwurf machte, daß ich mir Vorwürfe machte, weil
ich die Signale mißverstanden hatte, die sie mir gegeben hatte?
Mr. Fisher – nichts konnte mich dazu bringen, ihn Walter zu
nennen – stützte die Pistole auf das Lenkrad, als wir über die
Einfahrt und auf die Cliff Road schnurrten. »Roxies
Anwesenheit war ein Problem, obwohl Sie wissen müssen, daß
ich jetzt schon seit mehreren Tagen versuche, sie zu beseitigen.
Es war nur eine Frage der Zeit, bevor sie zur Polizei gegangen
wäre. Trau niemals einer Frau. Gerade eben, sie sollte sich
schämen, hat sie mich noch angelogen – sagte, Sie hätten
zusammen mit Ihrem Mann und den Kindern das Haus
verlassen. Äußerst niederträchtig von ihr, die Sache zu
verkomplizieren. Besonders, wo ich dachte, es würde so
einfach sein.«
Ein Licht ging in einem Fenster an und in meinem Kopf. »Sie
haben etwas in ihr Fully-Female-Elixier gegeben?«
»Eibenblätter.« Noch ein blasses Lächeln. »So erfreulich
zugänglich am Pfarrhaus.«
»Ja«, sagte ich ganz automatisch. »Mrs. Malloy erwähnte, daß
es eine Initiative gab, die Eibenbäume fällen zu lassen, weil
man Angst vor Vergiftungen hatte.«
»Ich zerhackte die Blätter und gab einige in das Glas mit dem
Elixier. Nichts einfacher als das. Ich weiß auch nicht, was
schiefgelaufen ist. Roxie behauptete, sie sei geradezu religiös
im Einnehmen des Zeugs.«
»Das war sie auch«, sagte ich. »Aber wir hatten alle mehrere
Flaschen des Elixiers. Sie hätte eine Zeitlang gebraucht, um zu
der Erkenntnis zu kommen, die Sie gepanscht hatten. Ich
erinnere mich, daß sie an dem Abend der Party der Wisemans
eine neue öffneten Sie mixte sich sogar ein Glas, aber es wurde
fest, bevor sie es trinken konnte. Statt dessen…« Ich starrte aus
dem beschlagenen Fenster. »Statt dessen muß Gladys Thorn in
die Küche gegangen sein. Sie muß das Elixier versehentlich für
ein Beruhigungsmittel gehalten haben und…«
»Du liebe Zeit!« Mr. Fisher schüttelte den Kopf. »Was für eine
Verschwendung!« Ober meinte, eine Verschwendung von
Eibenblättern oder von Gladys Thorn, wußte ich nicht. »Muß
ich es so verstehen«, fragte er und fuhr vorsichtig um eine
Biegung in der Straße, »daß Sie, als Sie gestern abend in der
Kapelle zur Ruhe gestanden, Sie wären Mitwisserin eines
Mordes, über Miss Thorn sprachen und nicht über meine
Frau?«
»Ja.«
»Das zeigt, wie naiv ich bin.« Mr. Fisher schnalzte tadelnd mit
der Zunge. »Ich dachte wahrhaftig, sie wäre eines natürlichen
Todes gestorben.«
»Mrs. Malloy hat mir kein Sterbenswort über Ihre Frau gesagt.
Und die bittere Ironie ist, daß sie, wenn Sie sie in Ruhe
gelassen hätten, meines Erachtens nie zur Polizei gegangen
wäre. Das Fully-Female-Handbuch ordnet an, daß alle
Vertraulichkeiten, die während der Liebe ausgetauscht werden,
wie das Weihesiegel des Beichtstuhls zu betrachten sind, und
Roxie war nicht nur im Einnehmen ihres Elixiers religiös. Sie
war eine waschechte Konvertitin, bereit, die Regeln
einzuhalten, auch wenn es sie umbrachte.« Ich fügte nicht
hinzu, daß er noch einen weiteren Vorteil gehabt hatte –
nämlich daß seine Roxie ihn aufrichtig geliebt hatte. Liebe!
Eine gute Dienerin, aber eine schlechte Herrin. Arme Mrs. M.
Die Kehle schnürte sich mir zu. Möge sie in Frieden… leben.
Zerknirschung malte sich auf Mr. Fishers wächsernen Zügen
ab. Durch seine Fehleinschätzung der Lady hatte er sein Leben
wie das ihre und meines verkompliziert. Bring ihn aus der
Fassung – das ist der richtige Weg. Er war nicht daran
gewöhnt, daß die Leichen, die er fuhr, ihm antworteten,
deshalb würde ich weitersprechen. Das Thema spielte keine
Rolle, solange sich die Lippen nur bewegten.
»An dem Morgen nach dem Stelldichein mit Ihnen war sie
völlig benommen, und später tauchte sie aus heiterem Himmel
bei mir zu Hause auf, aber ich hätte nie vermutet, daß sie Angst
um ihr Leben hatte. Selbst als sie gute Taten verrichtete – zum
Beispiel in der Kirche aushalf-, schrieb ich das der Macht der
Liebe zu. Mir kam nie der Gedanke, daß sie sich darauf
vorbereitete, ihr Leben in Ordnung zu bringen.«
»Sie brauchen es nicht weiter auszuführen, Mrs. Haskell.« Er
schürzte seine schmalen Lippen. »Roxie wußte, daß ich sie
nicht weiterleben lassen konnte. Was ich nur nicht verstehe ist,
wie sie so lange durchhielt. Zusätzlich zu dem Elixier fügte ich
meine eigenen Spezialkräuter auch einem Kräuterpaket bei, das
sie von Fully Female hatte.« Mr. Fisher bremste sorgfältig an
einer gelben Ampel, bog in die Market Street ein und
schwenkte aus, um einer Frau auf einem Fahrrad Platz zu
machen. Ihr Winken sagte alles: Welch ein Gentleman!
»Mrs. Malloy scheint unter einem glücklichen Stern gelebt zu
haben… eine Zeitlang. Sie ist eine eigenwillige Frau.« Mein
Blick hing die ganze Zeit an der Pistole. »Und ich denke, sie
rechnete mit einem offenen Messer in den Rücken, nicht, daß
ihre Kräuter-Kraftkur gepanscht wurde. Aber ich glaube, ich
kann eine Vermutung anstellen, was damit passiert ist. Neulich
konnte sie ihren Vorrat nicht finden, wahrscheinlich weil Sie
ihn verräumt hatten, und deshalb lieh sie sich ein Paket von
mir. Sie muß das mit den Eibenblättern später mir gegeben
haben, weil wir ein kleines Zwischenspiel mit unserer Katze
hatten, das ich einem anderen in die Schuhe schob. Man möge
mir verzeihen.«
Diese letzten Worte brachten mir Mrs. M näher, als wenn sie
mit mir im Wagen gesessen hätte. Führte sie bereits ein
Gespräch mit Petrus, in dem sie von Anfang an klarstellte, daß
sie nicht ewig die Himmelspforte wienern wollte? Oder konnte
es sein, daß drüben auf Merlin’s Court ein Wunder geschehen
war? Oh, bitte, lieber Gott! Lass’ Mr. Bludgett benommen
aufgewacht sein und ins Eßzimmer stolpern, wo er gerade noch
rechtzeitig den Gashahn zudrehen kann.
»Wir sind da, Mrs. Haskell.« Mr. Fisher beendete mein Gebet
abrupt. Er war in eine Seitenstraße gefahren, und durch den
zerrissenen Schleier des Regens sah ich das Schild von Fisher
Funerals über der Tür schaukeln. Er steckte die Pistole in
seinen Ärmel, kam auf meine Seite, um mir aus dem Wagen zu
helfen, und führte mich über einen gepflasterten Platz und
durch eine Glastür in einen Schauraum, der nach Bienenwachs
und Gardenien roch, mit Kränzen statt Bildern an den Wänden
und einem Ausstellungsbereich, in dem sich Särge drängten –
Verzeihung, Behältnisse für jeden Geschmack von Barock bis
Dänische Moderne.
Das Unwirkliche daran war, daß ich nicht vor Angst
schlotterte. Meine einzige Erklärung ist, daß der Horror in
meinem Fall eine anästhetische Wirkung hatte. Mein Verstand
sagte mir, daß ich zu dem Schicksal bestimmt war, das die
arme Mrs. Fisher und all diese Abendessen ereilt hatte, die mir
verkohlt waren. Aber ich glaubte nicht richtig daran, selbst als
der Schurke auf eine Art zusammenzuckte, die ich für künstlich
gehalten hätte, wenn Freddy es so auf der Bühne gemacht
hätte.
»Da kommt jemand!«
Ich hörte es auch: das Geräusch eines Wagens, der in die
Seitenstraße bog, und – mir stockte der Atem – das
Verstummen eines Motors, der ausgeschaltet wurde. Wer es
auch war, es spielte keine Rolle. Ich legte keinen Wert auf den
Sheriff oder auf die Soldaten mit Rin Tin Tin, der wuffend das
Schlußlicht bildete, ein x-beliebiger Bursche mit normalem
Gehör genügte mir völlig. Zeit für den Schrei deines Lebens!
Ich hatte den Mund schon geöffnet und meine Stimmbänder
angespannt, als Mr. Fisher mich daran erinnerte, daß er eine
Pistole hatte, indem er sie mir unter die Nase hielt. Und im
nächsten Moment schob er mich durch einen Torbogen mit
violettem Vorhang dahin, wo der Geruch des Todes am
stärksten war – in die Kapelle zur Ruhe.
»Schneller!« Ein kräftiger Stoß in meinen Rücken, der mich
stolpernd zum Altar trieb, wo Miss Thorns Sarg in all seinem
trauervollen Glanz ruhte.
Ich horchte angestrengt auf das Geräusch, mit dem sich die
Eingangstür öffnete, und war mir nicht sicher, ob ich mich
nicht nur einem Wunschdenken hingab. »Lassen Sie sich von
mir nicht aufhalten, Mr. Fisher«, sagte ich, »wenn Sie vorn
einen Kunden haben.«
»Noch ein Piep, und ich lege Sie und diesen Jemand um, wer
immer es auch ist.«
»Damit werden Sie nicht davonkommen.«
»Wie alle Frauen reden Sie zuviel.« Mr. Fisher trat mir jetzt
praktisch in die Hacken, und sein Atem kam pfeifend tief aus
der Brust, als er sagte: »Heben Sie den Deckel.«
»Sie haben mich gehört.« Ein echt schmerzhafter Stoß diesmal,
als ich angestrengt auf Schritte horchte. Es kamen keine.
Langsam öffnete ich den Sargdeckel. Was sollte ich zu Miss
Thorn sagen: Rücken Sie ein Stück, und machen Sie Platz für
mich?
Sie war nicht da.
»Klettern Sie rein.«
Ach, die perverse Schlüpfrigkeit dieses weißen Satins, aber ich
sagte mir immer wieder, daß es nicht wirklich passierte, selbst
als Mr. Fisher seinen… meinen Regenmantel auszog und –
perfider Mensch – zu mir hineinwarf. Wir dürfen keine
verwunderten Blicke riskieren, indem wir in Frauenkleidern
erwischt werden, oder, Walter? Hoffentlich gefror ihm das Blut
bei meinem höhnischen Lächeln, als er den Sargdeckel schloß.
Man behält so gern die Oberhand in solchen Momenten.
Dunkelheit. Selbst als ich die Augen öffnete.
Instinktiv spürte ich, daß die Luft rationiert war und ich wie
verrückt würde haushalten müssen. Und es gab nicht sehr viel
Spielraum für meine Arme (und meine Nase), aber ansonsten
hätte es schlimmer kommen können. Ich hätte schon tot sein
können, anstatt auf Mr. Fisher zu warten, der bei seiner
Rückkunft, nachdem er seinen Kunden losgeworden war, sein
Werk vollenden würde.
Die Dunkelheit wurde muffig von Angst, die ein wenig
nachließ, als ich an Ben und seine Klaustrophobie dachte. Gott
sei Dank war er es nicht, der in dieser Klemme steckte. Und
dem Himmel sei Dank für mein Wunder! Dieser dumpfe
Schlag war nicht mein Herz. Ich hatte meinen Regenmantel
verschoben. Und in der Tasche des Regenmantels befand sich
Mrs. Malloys Pistole. Vergiß das Morgennickerchen, Ellie, es
sind Windeln zu waschen, ein Tag sinnvoll zu gestalten. Meine
Finger schoben sich seitwärts und ertasteten die Pistole. Jeden
Augenblick würde ich sie in der Hand halten und, mit dem
Finger am Abzug, aus meiner engen Zelle ausbrechen, der
Inbegriff der Fully-Female-Frau.
Soviel der großen Worte. Mir war das Vorrecht, mich selbst zu
retten, nicht vergönnt. Jedenfalls nicht wie geplant. Bevor ich
buh! sagen könnte, wurde mein Sargdeckel angehoben, und ich
starrte mit offenem Mund in das ewig attraktive, wenn auch
aschfahle Gesicht von Lionel Wiseman.
»Meine Güte! Mrs. Haskell!« Er wich die Altarstufen hinunter
zurück und warf dabei einige Kränze um.
Ich setzte mich in meinem Satinsarg auf und zielte mit der
Pistole auf ihn. »Tut mir leid, Miss Thorn empfängt keinen
Besuch.«
»Was soll das? Eine Art Mutprobe, die Sie mit den anderen
Fully Females ausgeheckt haben?«
»Ihre Fragen«, sagte ich, »richten Sie am besten an Mr. Walter
Fisher, der vermutlich derzeit hinter einem dieser violetten
Vorhänge lauert.«
»Meine liebe Dame, ich sollte wohl einen Arzt rufen.«
»Schsch!«Ich brachte ihn zum Schweigen, indem ich die Hand
hob, die mit der Pistole. Ich hörte flüchtende Schritte, dann das
Starten eines Wagens draußen, ganz in der Nähe des Hauses,
und mir dämmerte, warum ich diese Unterhaltung mit Mr.
Wiseman ungestört führen konnte. Walter Fisher, seines
Zeichens Mörder, war verduftet, möglicherweise weil er selbst
einsah, daß es zuviel verlangt war, mit drei Morden an einem
Tag davonzukommen, aber wahrscheinlicher noch, weil er die
Pistole in meiner Hand gesehen hatte. »Ich glaube nicht, daß
Sie Dr. Melrose belästigen sollten«, sagte ich zu Mr. Wiseman.
»Er wird einen geruhsamen Tag zu Hause mit Flo verbringen
und mit ihr über seine Pensionierung sprechen, während er für
eines ihrer Gemälde posiert. Viel besser wäre, Sie rufen die
Polizei an, sie wird ihren Spaß bei der Verfolgung von Mr.
Fisher haben. Das Leben ist so öde in Chitterton Fells.« Ich
streckte die Arme über meinen Kopf und nahm einen tiefen,
belebenden Zug von der Gardenienluft. »Oh, Mr. Wiseman,
bevor Sie diesen Anruferledigen, könnten Sie mir
freundlicherweise noch sagen, was Sie hierherführt?«
»Der Ring.« Für einen großen Mann war seine Stimme
furchtbar klein.
»Was?«
»Ist mir schrecklich peinlich, Mrs. Haskell.«
»Nur weiter.«
»Wenn Sie darauf bestehen.« Er richtete sich auf, ohne daß es
ihm gelang, so groß auszusehen wie gewöhnlich. »Zum
Zeitpunkt von Gladys’ Tod machte ich diese alberne Geste, ich
sagte, daß ich ihren Verlobungsring mit ihr begraben lassen
wollte. Aber bei näherem Überlegen wurde mir klar, daß das
nicht der Platz war…«
»Sondern Ihre Tasche?«
»Verehrte Dame, es ist ein sehr wertvolles Schmuckstück. Wo
kann es sein? Wo ist Gladys?«
»Sie haben nicht…« Ich fühlte plötzlich mit ihm. Der arme
falsche Hund. »Sie sind nicht zufällig zu der Entscheidung
gelangt, daß es passender wäre, ihre Asche in der Kirchenorgel
zu verstreuen und eine Schaukastenbestattung für sie zu
veranlassen?«
»Nein! Noch nie davon gehört.«
»Dann vermute ich, daß der nächste Verwandte – in diesem
Fall Miss Thorns Bruder Gladstone – sich eingeschaltet und
darum gebeten hat, im Sinne der Sparsamkeit und…« Ich
wandte den Blick ab. »… und um absolut sicherzugehen, daß
sie nicht in zwanzig Jahren wieder auftaucht.«
Ich streckte die Hand aus und ließ mir von ihm aus dem Sarg
helfen. »Das Leben ist sehr teuer, aber, lieber Mr. Wiseman« –
ein Lächeln wuchs in mir, um hervorzubrechen und zu
erblühen –, »es ist alles wert, was man dafür bezahlt.«
Epilog
Der alte Spruch, daß das Heim eines Engländers seine Burg ist,
sollte aktualisiert werden. Wieviel schöner ist es, liebe Mitfrau,
zu sagen, daß das Bett eines Engländers seine Burg ist. Welche
Kämpfe er auch draußen in der kalten, grausamen Welt
bestehen muß, zwischen den Laken ist er der König.
»Gib das her!«Ich riß ihm das Handbuch weg. »Wie kannst du
nur so lachen?«
»Wie könnte ich nicht?« Er richtete sich auf, saß ganz still da,
und seine Augen wurden zu einem sehr dunklen Smaragdgrün.
»Ich muß schon aus Freude lachen, weil ich dich wohlbehalten
bei mir habe.«
»Ich begreife nicht, daß du nicht wütend auf mich bist, weil ich
dir nicht erzählt habe, was ich vorhatte. Besonders, wo wir
gerade diesen Krach wegen Fully Female hatten.«
»Das war etwas anderes.« Er rückte zur Seite, um mir auf dem
Bett Platz zu machen. »Was du getan hast, war verrückt, Ellie,
aber ich verstehe, warum du es getan hast und warum du es mir
nicht sagen konntest.«
»Du hättest mich aufgehalten.«
»Da hast du verdammt recht.«
»Ich hatte das Gefühl, keine Wahl zu haben.«
»Oh, Ellie!« Er zog mich in seine Arme und streute Küsse so
weich wie Blumen über mein Gesicht. »Verstehst du denn
nicht? Ich habe dich nie um deine Seele gebeten – nur um dein
Herz.«
Atemlos hob ich ihm das Gesicht entgegen. »Es gehört dir, für
immer und ewig. Ich bin nur zu Fully Female gegangen, weil
ich Angst hatte. Ich hatte Angst, daß die Geburt mich plump
und unattraktiv gemacht hatte. Ich hatte Angst, dich zu wollen«
– ich vergrub das Gesicht an seiner Schulter –, »und du
würdest mich nicht wollen.«
Sein Lachen zerzauste mein Haar. »Das ist komisch. Weil es
mir nämlich genauso ging. Ich hatte Angst, daß die
Verantwortung der Vaterschaft mich meines jungenhaften
Charmes beraubt hätte.«
Ich wollte für immer an diesem verzauberten Ort bleiben, aber
plötzlich wimmerte eines der Babys. Kein Laut des Hungers,
sondern der Angst.
»Ich gehe schon«, sagte ich.
»Nein.« Er drückte einen Finger an meine Lippen, stand auf,
zog seinen schwarzen Seidenmorgenmantel an und
verschwand, um gegen die Drachen zu kämpfen, so wie es
Ritter, kühn und treu, seit Jahrhunderten tun. Was die
Schloßherrin betrifft, so ist ihre Rolle, das Herdfeuer brennen
zu lassen. Ich ging zu dem Tisch am Fenster hinüber und
wollte die Kerze anzünden, damit sie die Laken in
bernsteinfarbenes Licht tauchte, aber auf einmal warf ich das
Streichholz hin und ging in einem Wirbel von Flanell im
Nachthemd auf den Korridor hinaus. Wenn ich meinem
Liebsten schon nicht bis ans Ende der Welt folgen konnte, so
doch zumindest bis ins Kinderzimmer. Wir würden uns
gemeinsam um unsere Babies kümmern, und danach…
Danach ist immer ein Geheimnis.
Und manchmal eine Liebesgeschichte.