Sie sind auf Seite 1von 320

Dorothy Cannell

Femmes Fatales
Ein Ellie Haskell-Krimi
Aus dem Amerikanischen von Brigitta Merschmann
Zum Buch
Einstmals war das Leben Ellie Haskells wie ein Märchen: wie
das Märchen von der übergewichtigen, unterbezahlten
Innenarchitektin, die sich leidenschaftlich in einen
wunderbaren Prinzen verliebt, zwei wunderschöne Kinder
bekommt und glücklich mit ihnen lebt bis ans Ende ihrer Tage.
Doch schon viereinhalb Monate nach der Geburt ihrer
Zwillinge hat sich die Prinzessin in einen Frosch verwandelt,
und die Glückseligkeit ist aus dem ehelichen Schlafzimmer
ausgezogen. Kann nun eine Organisation mit dem Namen
»Fully Female« Ellies Kummer besänftigen?
Wird ein Kursus in der Kunst der Sinnlichkeit wirklich den
Zauber wiederbringen, der sie mit dem angebeteten Bentley
verband? Ellie ist voller Zweifel. Erst als ihre treue
Reinigungskraft, Mrs. Malloy, selbstmordgefährdet und
liebeskrank, bedrohlich mit einer Pistole herumfuchtelt, sieht
sie ein, daß das Schicksal sie beide zu »Fully Female« ruft.
Doch als Mrs. Malloy sich plötzlich in einen sexbesessenen
Zombie verwandelt und eine Möchtegern-Sirene in einem
elektrisch überschäumenden Bad ihr tragisches Ende findet,
keimt in Ellie der Verdacht, daß das Ziel von »Fully Female«,
nämlich die Verwandlung in »Die Frau, die er sich schon
immer gewünscht hat«, nicht gerade ohne Gefahren ist…
»Ein charmanter und witziger moderner englischer Krimi…«
Publishers Weekly

Die Autorin:
Dorothy Cannell wurde in Nottingham, England, geboren und
lebt heute mit ihrer Familie in Illinois, USA. Ihre Krimis »Die
dünne Frau«, »Der Witwenklub« und »Seltsame Gelüste«
(ECON Taschenbuch Verlag, TB 25030) wurden zu geheimen
Bestsellern in der Frauenkrimiszene. Ein weiterer
Kriminalroman aus dem Leben der Ellie Haskell ist in
Vorbereitung.
Deutsche Erstausgabe
4. Auflage 1996
© 1995 by ECON Taschenbuch Verlag GmbH, Düsseldorf
© 1992 by Dorothy Cannell
First published in the United States of America by Bantam Books
Titel des amerikanischen Originals: Femmes Fatal
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitta Merschmann
Umschlaggestaltung: Molesch/Niedertubbesing, Bielefeld
Illustration: Reiner Tintel
Lektorat: Andrea Krug
Gesetzt aus der Baskerville
Satz: Formsatz GmbH, Diepholz
Druck und Bindearbeiten: Ebner Ulm
Printed in Germany
ISBN 3-612-25031-0
Für Meg Ruley, meine Freundin, Agentin und Komplizin
Er war ein dunkler, stürmischer Ritter. Ein moderner
Lebemann mit Augen in der Farbe von Smaragden, so kostbar
wie der Kronschatz einer Königin. Sein Lächeln verhieß Flüge
zum Mond. Und der Himmel allein wußte, wie viele weibliche
Wesen er in seinem Kielwasser zurückgelassen hatte.
Zu einem Crescendo von Rachmaninoff rauschte er eines
Januarabends in meine Londoner Wohnung und eroberte mit
seiner hochmütigen Begrüßung auf ewig mein jungfräuliches
Herz.
»Miss Ellie Simons? Mein Wagen erwartet uns. Leisten wir
uns ein Abendessen oder einen Strafzettel?« Es machte nichts,
daß er keine ehrenhaften oder auch anderen Absichten hatte,
mein Leben als übergewichtige, unterbezahlte Innenarchitektin
würde nie wieder dasselbe sein. Dieser Mann bestand nicht nur
aus einem attraktiven Gesicht. Er konnte mehr, als süffisant die
dunklen Brauen hochziehen. Er konnte kochen. Und nicht bloß
gebackene Bohnen auf Toast. Bentley T. Haskell war ein Koch
erster Klasse.
In der großen Tradition des Groschenromans wandelte sich
unsere heftige Abneigung in unziemlicher Hast zu glühender
Zuneigung. Meine ersten beiden Jahre als Mrs. Haskell waren
eine stürmische Seefahrt mit dem Auf und Ab reißender
Stromschnellen. Unser Liebesspiel ließ so viele Sicherungen
durchbrennen, daß eines Abends alle Lichter ausgingen.
Unsere Krache waren herrlich. Die Versöhnungen göttlich.
Was kann eine Frau sich noch wünschen?
An einem strahlenden Aprilmorgen erwachte ich in meinem
Schlafzimmer auf Merlin’s Court mit der wehmütigen
Erkenntnis, daß die Flitterwochen vorüber waren. Ellie Haskell
war keine heißblütige, den Seiten eines romantisch-erotischen
Romans entsprungene Sirene. Ich war eine einunddreißig Jahre
alte Matrone, die fast ebensoviel wog wie viereinhalb Monate
zuvor, als die Zwillinge, Tochter Abbey und Sohn Tarn, zur
Welt kamen. Schlimmer noch, meine Ehe war flau geworden.
Seinerzeit hatte schon der Anblick genügt, wie Ben seine
Socken anzog, damit das Feuer der Leidenschaft mein
Nachthemd in Brand setzte. Doch jetzt hatten nächtliche
Imbisse und Schwangerschaftsstreifen, die trotz Anwendung
von Mutterschaft-ohne-Folgen-Creme einfach nicht
verschwinden wollten, ihren Tribut gefordert.
»Guten Morgen, Liebes.« Ben stand am Fußende unseres
Himmelbetts, in einem schwarzen Seidenmorgenmantel, der
wahre Wunder für seinen Teint wirkte. Er warf eine Münze in
die Luft und fing sie auf seinem Handrücken. »Kopf, du kochst
heute abend das Essen. Denk dran, heute bin ich zu Hause. Wir
haben die Versammlung des Heim-und-Herd-Vereins im
Pfarrhaus. Und ich bin Programmleiter des Komitees für
Ganztagsväter.« Ein bedauernder Blick auf die Münze. »Du
hast verloren, meine Liebe.«
Was war aus dem Mann geworden, der mich einst nicht einmal
einen Streifen Speck in die Pfanne werfen ließ, weil ich mir die
Hände schmutzig machen könnte? Von der äußeren
Erscheinung war er nach wie vor absolut hinreißend. Das
schwarze Haar war zerwühlt, ein Lächeln lag in diesen
Juwelenaugen, und daß er eine Rasur brauchte, verlieh ihm
einen Hauch von Raubrittertum. Niemand wäre auf die Idee
gekommen, daß er bis Mitternacht im Abigail’s, seinem
Restaurant im Dorf, gearbeitet hatte.
»Der Ganztagsväter?« fragte ich.
»Ellie, gemeint ist hier eine innere Einstellung.« Wieder warf
Ben die Münze in die Luft, diesmal fing er sie in seiner Tasche
auf. »Die Vaterschaft ist meine Beschäftigung Nummer eins.
Meine Arbeit tue ich« – er grinste –, »um aus dem Haus zu
entkommen, wenn die Windeln gewaschen werden müssen.«
Ich setzte ein Lächeln auf, warf die Bettdecke zurück und stand
auf, um dem Tag ins Auge zu blicken. Bisher war noch kein
Weckruf aus dem Kinderzimmer gekommen. Die Sonne fuhr
anklagend mit den Fingern über den Staubschleier auf den
Mahagonimöbeln. Und doch war und blieb es ein prächtiger
Raum, sein kupferner Kamin hatte den satten Glanz von
Harvey’s Bristol Cream. Merlin’s Court – es war mir so teuer
wie an dem Tag, als ich zum erstenmal hierhergekommen war,
als pummeliges Kind mit einem Komplex so unabänderlich wie
die Gesetzestafeln vom Berg Sinai. Die gute alte Zeit, als ich
noch keinen Finger krumm machen mußte, außer um nach Tee
zu läuten.
»Ist irgendwas, Ellie?«
»Ich träume nur.« Ich wirbelte zu ihm herum, das heißt, soweit
Flanell wirbeln kann.
Ein hoffnungsvolles Funkeln trat in seine Augen. Es war Tage
her, Wochen, seit wir… na ja, Sie wissen schon…
»Tut mir leid, Liebes, morgens geht nichts mehr. Ich muß die
Babys wecken, baden und füttern, bevor ich eine Pause mache
und die Waschmaschine repariere.«
»Nicht nötig, ich habe den Klempner angerufen.« Typisch
Mann, er machte es durch seine Hilfsbereitschaft nur
komplizierter.
»Danke. Dann wird Mr. Fixit also den ganzen Morgen meine
Küche auf den Kopf stellen.«
»Du brauchst dem Mann nichts vorzusetzen. Eine Tasse Tee
höchstens. Aber auf keinen Fall Kuchen. Heutzutage erfüllt
Kuchen den Tatbestand sexueller Belästigung.«
»Welch ein Segen.«
»Entschuldige, wenn ich jetzt zur Arbeit düse.«
Wir musterten einander, Ben die Hände tief in den schwarzen
Seidentaschen vergraben, ich in tiefe Trübsal versunken. War
das aus dem Menuett unserer Liebe geworden? Daß wir auf
Zehenspitzen um die Gefühle des anderen herumschlichen? Er
ging zur Tür, seine Hand lag schon auf dem Messingknauf.
»Der Kaffee ist fertig, und die Babys…«
»Ich weiß.« Vor einer halben Stunde hatte ich ihn hineingehen
hören, um Abbey und Tarn die Windeln zu wechseln. Alles in
allem hatte er etwas Besseres verdient als ein Liebesleben, das
von Delikatessen zu Tiefkühlkost verkommen war.
»Wie wär’s heute abend mit einem Tiefkühlgericht, Liebes?«
fragte ich, aber er war bereits im Bad verschwunden.
Zeit für die Schloßherrin, auf Trab zu kommen. Die
Mutterschaft hatte mich gelehrt, daß eine gesparte Minute eine
gewonnene Minute ist. Als ich den Kleiderschrank aufstieß, um
meinen Morgenmantel vom Haken zu nehmen, wich ich vor
dem Spiegel an der Tür zurück und wehrte mit erhobenen
Händen die böse Vision ab, wie ein Vampir, der von der Sonne
geblendet wird. Die Glücklichen!
Schatten kein Spiegelbild. War diese flanellgesichtige,
flanellgekleidete Frau wirklich ich? Hatten Jugend und
Schönheit ohne einen Blick zurück das Weite gesucht?
Mein armes Haar, das heißt, was davon noch übrig war! Ich
konnte ein Sofa mit dem füllen, was seit der Geburt der
Zwillinge in meiner Bürste hängengeblieben war. Ich flocht die
verbliebenen kümmerlichen Strähnen zu einem Zopf und
musterte wehmütig die Ringe unter meinen Augen. Mit
zitterndem Mund rief ich mir in Erinnerung, daß es
Schlimmeres gibt – knubbelige Knie zum Beispiel – und
beging dann den Fehler, nach hinten zu sehen. Die Lage war
verzweifelt. Höchste Zeit, mit meiner Diät Ernst zu machen.
Keine Mahlzeiten zwischen den Mahlzeiten, keine Ausflüchte
mehr. Wie konnte ich heute abend beim Heim-und-Herd­
Verein dem gutaussehenden Reverend Rowland Foxworth mit
einer solchen Nase gegenübertreten? Der Spiegel zog mich mit
einer solch hypnotischen Kraft zu sich zurück, als sei er der
Spiegel von Schneewittchens Stiefmama.
»Ellie…« Bens Spiegelbild tauchte hinter mir auf, so attraktiv
wie eh und je in Manschettenhemd und gebügelter Hose.
»O Gott! Meine Nase. Sie zeigt so weit nach links, daß ich nie
mehr etwas anderes als Rot tragen sollte.«
»Mein bezauberndes Dummerchen!«
Na großartig, jetzt hatte ich auch schon keinen Verstand mehr.
Ben spähte an mir vorbei und zeigte sich im Spiegel die Zähne.
Aus Sorge, vermute ich, daß sie nicht die perfekte
Entsprechung zu seinem ultraweißen Hemd waren. Falscher
Alarm natürlich.
Seine Lippen drückten jetzt so etwas wie einen Kuß auf meine.
Aber keiner von uns war mit dem Herzen dabei. Geistig war er
bereits im Abigail’s und heckte ein Currygericht aus, das sich
als das Heilmittel gegen gewöhnliche Erkältung entpuppen
würde. Ich hing bitteren Träumereien nach. Mist, das Leben ist
eine sexistische Einrichtung. Die Schwangerschaft hatte auf
Ben nicht die gleiche ruinöse Wirkung gehabt wie auf mich.
Wenn überhaupt, hatten seine männlichen Reize noch
zugenommen. Seine Schultern waren breiter, und ich hätte
schwören können, daß er ein paar Zentimeter größer geworden
war. Vorsicht, warnte mich eine innere Stimme, so sicher wie
das Gewinnlos in der Tombola immer verlorengeht, so sicher
wirst du Ben verlieren.
Eines Morgens würde ich beim Aufwachen einen Zettel auf
dem Kaminsims im Schlafzimmer entdecken, auf dem er mir
mitteilte, daß er nach Hause zu Mutter zurückgekehrt war. Die
darauffolgenden vierzig Jahre würde ich damit zubringen, ihm
seine Post nachzusenden und den Zwillingen zu erklären,
weshalb ich ihren Vater aus dem Nest gestoßen hatte. »Daddy
war erwachsen geworden, meine Schätzchen, er war zu groß,
um weiter zu Hause zu wohnen.«
Großer Gott, ich mußte etwas unternehmen! Vielleicht, wenn
ich immerzu glühendheiß duschte… Mit diesen
mitleiderregenden Überlegungen war Schluß, als ich mich
umdrehte und sah, daß Ben verschwunden war. Seine Schritte
hallten mit schrecklicher Endgültigkeit auf der Treppe wider.
Bevor die Haustür zuschlug, wehten einige gedämpfte Worte
zu mir herauf.
»Viel Spaß, mein Gemahl.« Wie dumm von mir! Hatte ich
denn angenommen, meine Worte würden ihm zum Auto
folgen? Wäre ich eine Ehefrau, die diesen Namen verdiente,
dann würde ich hinter Ben herlaufen und im Hof stehen, ein
Meer gotischer Fenster im Hintergrund. Der Wind würde mein
Nachthemd um meine Knöchel kräuseln und Fangen mit
meinen Haaren spielen, meine Augen hätten die Färbe der See
an einem regengepeitschten Tag, und diese Erinnerung würde
er mit sich nehmen. Ein süßes Geheimnis, eine Rose, zwischen
die Blätter eines Buchs gepreßt. Eine Ehe besteht aus
Erinnerungen.
Vielleicht war ich doch noch nicht tot vom Gehirn abwärts,
allerdings sollte ich das jetzt nicht herausfinden. Als ich aus
dem Zimmer sauste, war das die Reaktion auf einen Schrei aus
dem Kinderzimmer.
»Schon unterwegs, meine Lieblinge!« Erstaunlich, daß noch
keine Abgesandte vom Kinderschutzbund an die Tür gepocht
hatte. Niemals würde ich mich davon überzeugen lassen, daß
die Babys schrien, weil sie hungrig waren oder nasse Höschen
hatten. Fast blieb ich mit dem Fuß in meinem Flanellsaum
hängen, als ich mit einem flauen Gefühl im Magen das
Kinderzimmer betrat. Wie üblich rechnete ich damit, einen
Maskierten vorzufinden, der sich einen prallen Sack über die
Schulter geworfen hatte – eine moderne Version von Mr.
McGregor, dieses schrecklichen Mannes, der sich mit Peter
Rabbits Papa davonmacht. Lernt eine Mutter jemals, sich
sicher zu fühlen, wenn es um ihre Sprößlinge geht? Würde ich
mir Sorgen machen, daß Abbey und Tarn einer schlechten Welt
ausgeliefert waren, wenn sie sechzig waren? Würde ich sie
jemals allein nach unten gehen lassen, geschweige denn nach
draußen?
Beim Anblick ihrer sabbernden, süßen Gesichter, die sich
gegen die Stäbe ihrer Kinderbettchen drückten, hüpfte mir das
Herz im Leibe. Abbeys Bettchen stand auf der Tagseite des
Zimmers, unter einer himmelblauen Decke, die mit einer
Smiley-Sonne und Wolken mit Lämmergesichtern bemalt war.
Tarn bewohnte die Nachtseite, wo die Kuh, die ein Halsband
aus Butterblumen trug, über den Mond sprang. Ach, hätte ich
doch Arme, lang genug, um meine beiden Babys auf einmal
hochzunehmen! Was soll eine Mutter tun? Tams Quietschen
wetteiferte mit den Sprungfedern von Abbeys Bett, als sie
Liegestützen machte. »Gentlemen first heute.« Ich mied den
Blick meiner Tochter und ging an der Fensternische vorbei, in
der die Spielzeugkiste in Form einer Holzpantine stand, die
Jonas gezimmert hatte. Da – ich habe seinen Namen erwähnt.
Jonas, der auf Merlin’s Court auf den Titel »Gärtner« hört, war
in der vergangenen Woche mit Dorcas, unserer ehemaligen
Haushälterin, getürmt. Es handelte sich keineswegs um einen
Ausflug nach Gretna Green, da Jonas über siebzig ist und
Dorcas den Männern abgeschworen hat. Angeblich halfen sie
einer Freundin von Dorcas aus, die mit einem schlimmen
Rücken im Bett lag – oder wohl eher mit einem guten Buch.
Dorcas vermochte ich ja noch zu glauben, sie ist ein Genie
darin, die Kissen eines Krankenlagers zurechtzuklopfen und dir
ein Thermometer in den Mund zu stopfen – oder wohin es sich
sonst gerade anbietet. Aber Jonas? Ich hatte ihm die Geschichte
nicht abgekauft, daß er sich genötigt fühlte, mit seiner
Heugabel in Mrs. Sowiesos Garten herumzustochern. Ich hatte
seinen verstohlenen Blick gesehen und ihn eine Schockminute
lang tatsächlich verdächtigt, von zu Hause auszureißen. Er
erzählte mir ein Lügenmärchen über Mrs. Pickle, die Putzfrau
des Pfarrers, die es angeblich auf ihn abgesehen hatte.
Lächerlich! Aberweichen Grund gab es sonst? Jonas lebte wie
Gott in Frankreich hier auf Merlin’s Court. Ich verhätschelte
ihn zusammen mit den Zwillingen und nutzte nie seine
Zuneigung zu ihnen aus. Wenn er sich erbot, sie nach ihrem
Nickerchen herunterzuholen, sagte ich, er solle sitzen bleiben
und sein Ovomaltine trinken. Wenn er sich erbot, sie im
Kinderwagen spazieren zu fahren, ging ich mit, um darauf zu
achten, daß er bergauf nicht aus der Puste kam. Jonas muß
ewig leben, denn die Vorstellung von Merlin’s Court ohne ihn
ist unerträglich.
»Stimmt’s, Tarn, mein Liebling?«
Mein kluger Junge war fast schon in meinen Armen, bevor ich
ihn hoch nahm; sein Griff nach meiner Nase erklärte, warum
sie schief saß.
»Ich gebe dir statt dessen einen Finger.«
Er packte den Finger, den ich hochhielt, und krähte vor
Vergnügen. Ich drückte ihn fest an mich und ging hinüber, um
Abbey zu holen. Sie wanden sich wie die Robben, und sie
wurden langsam auch zu groß, als daß ich sie beide auf einmal
halten konnte, doch als ich ihren milchig-frischen Geruch
einatmete, sagte ich mir, daß ich die schlechteste Frau auf
Erden war.
Dein Leben ist ein Märchen, Mrs. Haskell, du undankbare
Hexe. Du lebst auf einem Schloß, geradewegs dem Reich der
Gebrüder Grimm entsprungen. Und wenn du dir auch
manchmal vorkommst wie die Prinzessin, die sich in einen
Frosch verwandelte – na und? Ein bißchen vernünftige
Gymnastik, ein neues Shampoo, streich alles Eßbare aus deiner
Diät, und du fühlst dich wieder ganz als Frau – Fully Female.
Wo hatte ich diesen Spruch noch mal gehört? Vermutlich eine
Reklame für eine Spülung.
Die Zwillinge, die an meinen Ohren rissen, antworteten mit
Glucksern, die ihnen gegenseitig völlig verständlich waren.
Gelegentlich kam ich mir doch vor wie das fünfte Rad am
Wagen. Mal abgesehen von mütterlichem Stolz, sie waren
hinreißend mit ihren immergrün-blauen Augen und dem
rotgoldenen Haar, das gerade anfing, sich von Flaum in
richtigen Flachs zu verwandeln. Keines der beiden Babys sah
mir oder Ben besonders ähnlich. Aber ich hatte keine Angst,
daß man sie mir untergeschoben hatte.
Sie waren hier in diesem Haus zur Welt gekommen, an einem
verschneiten Abend, an dem weder Mensch noch Tier draußen
etwas verloren hatte. Ben war eine große Stütze gewesen, er
hatte mich erinnert, wann es Zeit für die nächste Wehe war.
Der Himmel verhüte, daß wir eine ausließen.
Apropos Daddy, er war jetzt bestimmt schon im Abigail’s und
inmitten der Edelstahltöpfe und Kupferkasserollen viel zu
beschäftigt, um noch der Erinnerung an meine sträfliche
Gleichgültigkeit nachzuhängen. Von Scham überwältigt und in
Atemnot, weil meine Kleinen mich würgten, ließ ich mich auf
dem Fenstersitz nieder und begann mit unserer heutigen
Geographiestunde.
»Seht ihr den Garten mit seinen hübschen Bäumen? Hinter
dem Eisentor liegt die Cliff Road. Und unter den Klippen ist
das Meer. Manchmal hört sich das Meer an wie ein fauchender
Tiger, ein andermal hört es sich an wie Kater Tobias, wenn er
Milch schlürft, und manchmal schreit die See wie ihr, wenn ihr
Hunger habt. Heute morgen… pssst, das Meer schläft. Wir
dürfen es nicht aufwecken.«
Applaus.
»Autsch!« Ich zog Abbeys Hände weg, bevor sie Knochenmehl
aus meinem Gesicht machte. »Unser nächster Nachbar, eine
Viertelmeile die Straße hinunter, ist der nette Reverend
Foxworth. Er ist Pfarrer der historischen St.-Anselm-Kirche,
die schon auf die Zeit der Normannen zurückgeht.
Wohlgemerkt, meine Lieblinge, ich spreche nicht von Norman
the Doorman, dem Star des Kinderfernsehens.«
Für diejenigen, die besagte Figur nicht kennen – tagsüber war
er der sanftmütige Portier des Tinseltown Toyshop, eines
Spielwarenladens, doch wenn die Schatten länger wurden und
das Geschlossen-Schild an der Tür erschien, verwandelte er
sich in Norman, den Rächer des mißhandelten Spielzeugs. Mit
seinem Hermes-Helm und wasserdichtem Umhang angetan
(nur Wasser oder Seife konnten ihm etwas anhaben) und von
Kobolden mit – richtig – Wasserpistolen gejagt, kletterte er an
Gebäuden hinauf und durch Schornsteine hinunter und rief:
»Keine Angst, haha, Norman ist schon da!« Gestern hatte ich
die Rettung von Dolly Dimples verpaßt, weil Miss Thorn, die
Kirchenorganistin, im entscheidenden Moment an die Tür
geklopft hatte. Angeblich kam sie, um Lose für die Tombola zu
verkaufen, durch die Geld für ein neues Altartuch beschafft
werden sollte, aber ich wußte, ihr Hauptmotiv war,
herauszufinden, warum ich an drei – oder auch vier -Sonntagen
hintereinander den Gottesdienst verpaßt hatte. Miss Thorn
gehört zu den Frauen, die Augen am Hinterkopf haben.
Ihre Brille beschlug, als sie von der jüngsten Predigt des
Pfarrers berichtete, und von ihrem schmalen, knubbeligen
Gesicht ging ein Leuchten aus.
»Ein Augenblick wie an Dreikönig, Mrs. Haskell. Reverend
Foxworth las den Brief des heiligen Paulus an die Korinther,
Sie kennen ihn – Glaube, Hoffnung und Liebe, und das höchste
der drei ist die Liebe. Ich hatte überall Gänsehaut, Mrs.
Haskell, sogar am… Allerwertesten. Ich konnte kaum still
sitzen bleiben.« Ein Kichern hinter vorgehaltener Hand. »Ich
wollte aufstehen, die Faust ballen und rufen ›Super, Herr
Pfarrer!‹«
Ich sagte ihr, ich müsse wirklich öfter in die Kirche gehen.
»Welch eine befreiende Erfahrung!« Miss Thorns Augen
waren hinter den Brillengläsern jetzt so groß wie Pilze. »Ich
kam mir vor wie Eva nach dem Sündenfall, als sie ihre
Feigenblätter abwirft und Adam an ihre Brust drückt. Zum
erstenmal fürchtete ich, daß es ein Fehler von mir war, nicht zu
heiraten. Man tut ja, was man kann, spendet hier und da
Freude…« Eine Pause, in der wir beide all denen unsere
Ehrerbietung erwiesen, die im Dienste der Pflicht gefallen
waren – Miss Thorn zu Füßen. Worin ihr Geheimnis bestand,
weiß ich nicht. Sie mußte die allerunscheinbarste Frau sein, die
ich je gesehen hatte, doch selbst Jonas gestand gewisse
Zuckungen unter der Gürtellinie, wenn Miss Thorn kicherte.
»Was ich damit sagen will, liebe Mrs. Haskell, ist folgendes:
Als ich ein Mädchen war, sprach ich wie ein Mädchen und
liebte wie ein Mädchen, aber jetzt, als Frau, muß ich die
Mädchengewohnheiten ablegen.«
So wie die Ehemänner anderer Frauen? Und dafür hatte ich
Norman the Doorman verpaßt.
»Sie tragen die Verantwortung, Mrs. Haskell.«
»Ich?«
»Ja.« Vor Verlegenheit nahmen ihre Wangen einen zart
hellgrünen Schimmer an. »Es geschah auf Ihrer Hochzeit – als
ich Sie so strahlen sah, da wußte ich, daß der Zeitpunkt
gekommen ist, meine alten Flammen zu löschen und mein
Feuer im heimischen Herd zu entfachen.« Ihre Hände fuhren an
ihren konkaven Busen. »Sie und Ihr Heathcliff sind immer
noch so verliebt wie eh und je?«
Mir fehlten die Worte, selbst um zu fragen, welcher Glückspilz
denn dazu ausersehen war, ihre Hand zu erringen. Als ich jetzt
auf dem Fenstersitz im Kinderzimmer saß, klangen mir Miss
Thorns Worte noch in den Ohren, ein Echo meines eigenen
betrüblichen Gefühls, versagt zu haben. Einen Mann wie Ben
fand man so bald nicht wieder. Irgendwie, irgendwo mußte ich
zu ihm zurückfinden, zu der Leidenschaft, die uns einst
verbunden hatte… aber alles hübsch der Reihe nach. Die
Babys. Die Schwierigkeiten, die damit verbunden waren, sie
beide auf einmal nach unten zu tragen, würden Pu dem Bären
einleuchten. Die Doppeltour reizte natürlich die
Sportfanatikerin in mir, wäre allerdings das Baby hart
angekommen, das an die Stäbe seines Bettchens geklammert
zurückgelassen wurde. Daher – Not macht erfinderisch, sie
muß auch eine Mutter sein – hatte ich mich darauf verlegt, den
Zwillingstragesack zu benutzen – ein Baby vorne, das andere
hinten –, ein Geschenk von meinem Cousin Freddy, der für
Ben im Abigail’s arbeitet.
»Bin sofort fertig, meine Schätzchen!« Ich verstaute beide
Babys im nächstbesten Bettchen, angelte den Tragesack vom
Wickeltisch und zog ihn mir über den Kopf. Ich kam mir vor
wie ein Fallschirmspringer, der sich für Gott und Vaterland in
die Tiefe stürzen will. Ein tiefer Atemzug, um meine Lunge
mit Luft zu füllen, bevor ich Tarn in die vordere Trage steckte
und ihn dann auf meinen Rücken hievte. Wenn das nicht
allemal besser war als Gewichte zu stemmen! Jetzt hinein mit
Abbey. Ein kleiner Stups, damit sie gleichhoch hingen, ein
kurzes Innehalten, um Tams Fuß zurechtzurücken, eine letzte
Überprüfung, um dafür zu sorgen, daß mein Flanellnachthemd
nicht die Sicherheitszone verlassen konnte, und während
Abbey an ihrem Fäustchen saugte, hieß es volle Kraft voraus.
Wir gingen hinaus auf den Korridor, die holzgetäfelte Galerie,
die bei Tag durch das Buntglasfenster am Treppenabsatz
beleuchtet wurde und dazu durch das Foto meiner
Schwiegermutter Magdalene Haskell an ihrem Gebetspult.
Blickten ihre Augen heute morgen nicht vorwurfsvoller –
beziehungsweise resignierter denn je? Auf der ersten Stufe fiel
es mir wieder ein! Der Brief, den ich letzte Woche an sie und
Pa Haskell geschrieben hatte, lag immer noch auf dem
Schreibtisch im Arbeitszimmer und wartete darauf, daß Ben
sein Siegel daraufdrückte. Ich und meine Skrupel! Ich hätte
seine Grüße fälschen sollen. Mein halbes Dutzend Seiten war
jetzt hoffnungslos veraltet, Ben hatte keine Erkältung mehr, die
Zwillinge schliefen nicht mehr die Nacht durch, und ich fuhr
auch nicht mehr mit dem Heim-und-Herd-Verein zum
Einkaufsbummel nach Peterborough.
Jeder Dummkopf weiß, daß eine Treppe nicht der passende Ort
ist, um in Gedanken abzuschweifen. Auf halbem Weg nach
unten riß Abbey an meinem Nachthemd, Tarn packte mein
Haar – wobei er meinen Nacken abknickte wie einen
Spargelstrunk –, und wir alle drei kreischten, als ich schwankte
und nach dem Messinggeländer der Eisentreppe griff. In
diesem Moment lief blitzschnell mein Leben vor mir ab. Ich
meine damit nicht vergangene Freuden und Leiden, sondern
das Hier und Jetzt – das Frühstück und das Baden der
Zwillinge, die Lebensmitteleinkäufe, die erledigt werden
mußten, wenn wir nicht alle Skorbut kriegen sollten, und das
Bügeln all dieser niedlichen kleinen Anzüge, die keine Stunde
länger im Trockenschrank darben durften, wenn sie ein zweites
Mal getragen werden sollten. Ich klammerte mich am Geländer
fest, als ob es der Mast der Hesperus wäre, und sah wieder
klarer. Na so was, was war denn das da unten am Fuß der
Treppe?
Ein Fremder stand in dem Schatten an der Haustür. Aber ich
sollte ihn nicht schlimmer machen, als er war. Gottlob war er
kein bulliger Typ, der mit einem .45er Colt herumfuchtelte.
Mein Eindringling war ein ziemlich kleiner Bursche mit einem
Charlie-Chaplin-Bärtchen und einem Schraubenschlüssel so
lang wie sein Arm.
»Morgen, Missus.« Seine belegte, schwerfällige Stimme und
sein verzogenes linkes Augenlid veranlaßten mich zu der
Überlegung, ob er wohl Mitglied einer Familie war und seinem
Paten treu ergeben. Ich stieß so viel Luft aus, daß die
Wandteppiche wehten, dann griff ich wie zufällig nach der
bronzenen Urne, die praktischerweise in der Nische zu meiner
Rechten stand. Der Trick bestand darin, die ruhige, vernünftige
Stimme zu benutzen, die immer Erfolg hatte, wenn die Babys
heia machen sollten.
»Eine Bewegung«, trällerte ich, »und Sie sind ein toter Mann.«
»Sie brauchen nicht in diesem Ton mit mir zu reden, Missus!
Ich hab’ mir beim Reinkommen die Füße abgetreten.«
»Good Housekeeping sollte Ihnen einen Orden verleihen.« Was
fiel ihm ein, ein empörtes Gesicht zu machen! Ich preßte den
Hals der Urne an mich und wich einen Schritt zurück: »So hier
hereinzuspazieren! Für wen halten Sie sich eigentlich?«
»Jock Bludgett.«
»Nicht doch Pistolen-Sammy?«
»He?« Er starrte mich mit seinem gesunden Auge an, als ob ich
ein sprechendes Känguruh wäre. Abbey wand sich in ihrem
Sack und brachte mich wieder zur Vernunft. Angriff ist nicht
die beste Verteidigung, wenn du ein weibliches Wesen bist, das
keine Kondition hat und schon vom Stillstehen atemlos ist, und
wenn dich außerdem das eine Baby an den Haaren zieht und
das andere an deinem Kragenknopf saugt und dich dabei fast
erwürgt. List und Tücke waren mehr mein Fall. Ich würde dem
Einbrecher eine Tasse Earl Grey anbieten und, wenn er mir den
Rücken zuwandte, ein Fläschchen von diesem Mittel für
zahnende Kinder hineinkippen. Versprach das Etikett nicht, ein
übellauniges in ein Smiley-Gesicht zu verwandeln,
anderenfalls Geld zurück? Jammerschade, daß ich kein Arsen
griffbereit hatte, ich hätte es brauchen können. Aber in der Not
frißt der Teufel Fliegen.
»Zeit ist Geld, Missus.« Der Einbrecher wärmte den
Schraubenschlüssel in seiner schinkengroßen Faust vor. »Ich
hab’ noch’n paar große Aufträge nach diesem hier.«
»Sie wollen sich doch nicht übernehmen, Mr. Bludgeon (Anm.
der Übers.: Anspielung – bludgeon, dt.:Totschläger.).«
»Mr. Bludgett.«
»Verzeihung.« Mit der Urne unter dem Arm schob ich mich
stückchenweise die Treppe hinunter und zählte in einer
Direktverhandlung mit Gott wie verrückt meine guten Taten
auf. Die Zwillinge schienen eingeschlafen zu sein, und mein
Flanellsaum befand sich noch auf Knöchelhöhe. Plötzlich sah
ich das alles von der lustigen Seite. Einen Einbrecher in
meinem Nachtzeug zu empfangen – was würden die Nachbarn
dazu sagen? Eine Lachsalve stieg in meiner Kehle auf, jeden
Augenblick würde ich in eine Kakophonie irren Gelächters
ausbrechen.
Seltsam! Die Töne, die durch die Halle vibrierten, schienen
nicht von mir auszugehen, sondern vom Telefontischchen, das
auf dem Steinpodest am anderen Ende der gefliesten Halle
stand. Das Telefon. So nah und doch so fern.
»Das ist mein Mann. Wenn ich nicht rangehe, wird er…« Die
Urne glitt mir aus der Hand und übertönte jeden weiteren
Gedanken. Sie fiel dröhnend und polternd die Treppe hinunter,
knallte mit metallenem Getöse auf die Steinfliesen und rollte
immer schneller – wie eine Bowling-Kugel, die alle zehne
werfen wird – auf die Kegel – ich meine, die Beine von
Einbrecher Bludgett zu. Es war mein großer Augenblick.
Meine unfehlbare Ungeschicklichkeit hatte mich gerettet.
Vergeßt das Hurrageschrei. Der Sieg sollte mir entrissen
werden. Nachdem er behende über die Urne hinweggesprungen
war, die unter einen Tisch abtauchte, steuerte unser Bösewicht
auf das Telefon zu.
»Der Anruf ist für mich, Missus.«
»Nein!«
»Dieses Läuten würde ich überall wiedererkennen.« Sein
häßliches Gesicht wurde auf entsetzliche Art sanft. Das
Charlie-Chaplin-Bärtchen verzog sich zuckend zu einem
Lächeln, das seine Züge glättete. Er steckte den
Schraubenschlüssel in seine Gesäßtasche, hakte mit dem
Daumen seinen Hosengürtel hoch und fuhr sich mit einer Hand
über seine Patenfrisur, bevor er den Hörer abnahm und ihn
zärtlich ans Ohr hielt.
Sollte mir eine zweite Chance gewährt werden? Voller Angst,
die Zwillinge könnten aufwachen und Alarm schlagen, schlich
ich zur Haustür und – mein Herz setzte einen Schlag aus –
stolperte fast über die Zeitung, die aufgeschlagen unter dem
Briefschlitz lag. Wollte das Schicksal mir zum Spaß ein Bein
stellen? Gewöhnlich kam der Daily Chronicle bevor Ben aus
dem Haus ging, und er las ihn bei einer Tasse Kaffee. Die
Freiheit war greifbar nahe, meine Finger waren nur Zentimeter
vom Türknauf entfernt, als die Standuhr dröhnend die halbe
Stunde schlug. Die Schwingungen gingen von meinen Füßen
an aufwärts und sandten einen Stromstoß zu meinem Herzen.
Ich konnte mich nicht rühren, damit ich nicht auf eine
Landmine trat und in die Luft flog. Oh, meine süßen Babys!
Eine Sekunde lang glaubte ich, dieses eigenartige Keuchen
käme von mir, dann merkte ich, daß es das schwere Atmen von
Einbrecher Bludgett war. Er stand da, spielte zärtlich mit der
Telefonschnur und hatte glasige Augen.
»Kleine Miss Berg und Tal, ich setz’ mich gern auf deinen
Hügel. Jederzeit. Du parfümierst dich jetzt schön und machst
dich hübsch, und wenn du ein Momentchen Zeit hast, stell eine
Flasche von dieser Massagelotion in die Mikrowelle, nur damit
sie nicht so eiskalt ist, ja? Und ich setze meinen Hintern in
Bewegung und bin in zwei Sekunden daheim…«
Klick. Er hatte aufgelegt und kam blindlings auf mich zu.
»Das war meine Moll.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Tut mir leid, wenn ich abzische, aber es muß sein. Sie – die
Frau – will mich« –, Einbrecher Bludgett leckte sich den
Schnäuzer –, »will mich zum Mittagessen daheim haben. Also
wenn es Ihnen nichts ausmacht, komm’ ich morgen wieder und
mach’ Ihnen die Waschmaschine fertig. Dann rechne ich mal
zusammen und gucke, ob ich Ihnen nicht einen Vorzugspreis
machen kann.«
»Ja!« Meine Beine gaben unter dem Gewicht der Babys und
meiner eigenen Dummheit fast nach.
»Lady, Sie brauchen eine neue Pumpe.«
»Sie sind der Klempner?«
Er blieb wie angewurzelt stehen.
»Mir scheint, Missus, Sie brauchen mehr als nur eine neue
Pumpe.« Sein gutes Auge wandte sich von mir ab, aber erst
nachdem ich einen mitleidigen Ausdruck darin erhascht hatte.
Im nächsten Moment bückte er sich, hob die Zeitung auf und
blätterte sie blitzschnell durch, dann, als er fand, was er suchte,
schlug er sie um und drückte sie mir in die Hand.
»Da, Missus, tun Sie sich selbst einen Gefallen, und lesen Sie
die Spalte oben auf Seite sechzehn. Meine Moll hat’s gemacht,
und es hat unser Leben verändert. Sie ist eine andere Frau
geworden, und ich bin zweimal so mannhaft wie früher. Ich
hab’ sogar angefangen, ihr am Morgen danach Blumen zu
schicken und eine Dankeschönkarte. Na, tschüs dann und viel
Glück.«
Und weg war er, ohne einen Blick zurück, zur Tür hinaus, die
Stufen hinunter und über den Hof zu seinem Lieferwagen, in
den er mit einem Satz hineinsprang, fast so, als würde er von
einer Verrückten verfolgt, die ihn irrtümlich für einen
Einbrecher gehalten hatte.
Ich schloß die Tür und sah noch, wie der Lieferwagen die
Kieseinfahrt hinunterraste, am Cottage vorbei, in dem Cousin
Freddy wohnt, und durch das schmiedeeiserne Tor auf die Cliff
Road. Und zu meiner Schande muß ich sagen, daß mir der
gemeine Gedanke kam, daß er sich, wenn er über die Klippe
stürzte, nicht mit seiner Missus über die Irre mit dem Babysack
würde amüsieren können. Ich drehte die Zeitung zu einem
Knüppel und wünschte, Ben wäre da, auf der Stelle, damit ich
ihm eins überziehen könnte, weil er mir nicht von unten
zugerufen hatte, daß er, als er hinausging, Mr. Bludgett
hineinließ. Was das Lesen von Seite sechzehn betraf, dachte
ich nicht im Traum daran, dergleichen zu tun. Eine Reklame
für Eisenpillen nützte mir nun wirklich nichts. Dr. Melrose ließ
mich bereits so viele schlucken, daß mein Mund wie eine
Gießerei schmeckte. Im übrigen, wieso um alles in der Welt
sollte ich auf den Rat von Mr. Bludgett hören, eines
übergeschnappten Klempners, der morgens um halb neun zum
Mittagessen nach Hause brauste? Die Missus mußte tolle
Fischpastensandwiches machen.
Da stand ich, in dem Wissen, daß die Zwillinge dösten, und
plötzlich war mir, als ob die Halle alles Vertraute eingebüßt
und sich in den eiskalten Vorraum einer der großen
Kathedralen verwandelt hätte. Die Zwillingsritterrüstungen, die
an der Treppenwand standen, wurden zu St. Rufus und St.
Raoul. Unter den Fliesen waren Damen wie ich begraben –
Frauen, die ihr Leben lang dem Staub hinterhergejagt und jetzt
selbst zu Staub geworden waren. Ein Ort, an dem sämtliche
Türen zu den Beichtstühlen führen. Wenn ich mich vor das
Sprechgitter kniete, was würde ich sagen? »Helfen Sie mir,
Vater! Meine Babys werden im Handumdrehen erwachsen
sein, und ich bin dann eine grauhaarige Frau, die in genau
dieser Halle auf einen attraktiven Fremden trifft, der sich als
mein Ehemann vorstellt. ›Hallo, Mr. Haskell. Sind wir uns vor
Jahren nicht schon mal begegnet? Wie wär’s, wenn wir uns
mal treffen und die Bekanntschaft erneuern, bei einem Glas
Wein und einer Balgerei unter der Bettdecke? Und, bitte,
verstehen Sie mich nicht falsch, normalerweise mache ich so
etwas nicht bei der ersten Verabredung nach zwanzig Jahren,
aber…‹«
Der Daily Chronicle fiel mir aus der Hand. Und als ich wieder
danach griff, merkte ich, daß mein Blick gebannt an Seite
sechzehn hing.

Wie man sich bettet…

Wollen Sie wieder Lust an der Liebe haben? Unser Dorf


Chitterton Fells ist von einer neuen Welle erfaßt, die Ehefrauen
in Vamps zu verwandeln droht und Ehemänner in Sexobjekte,
die auf den Sirenengesang schwarzer Satinlaken und Liebesöl
Pfirsich Melba hin jederzeit vom Sitzungszimmer ins
Schlafzimmer überwechseln. Polizeiwachtmeister verlassen ihr
Revier und Busfahrer ihre Linien, um für fünf Minuten
heimlicher Freuden mit ihren Ehefrauen nach Hause zu eilen.
Das Ziel von FULLY FEMALE ist es, jede Frau zu befähigen, ihr
physisches, emotionales und sexuelles Potential voll
auszuschöpfen. Die Klientinnen werden dazu angehalten, an
allen Kursen des Programms teilzunehmen. Dazu gehören
Buntes Bodybuilding für Berufstätige, Glück durch Genuß und
Retro-Relaxing. In Erlebnis Ehe diskutieren die
Teilnehmerinnen bewegende Fragen wie die Entdeckung ihres
persönlichen G-Punktes…

Abbey regte sich in ihrem Tragesack, bevor ich den Artikel zu


Ende lesen konnte. »Ein Haufen dummes Zeug«, murmelte ich
und streichelte ihr Seidenhaar. In dem Sonnenlicht, das durch
die Halle schoß wie Tinker Bell, die kleine Fee, die Farbe von
Kandiszucker. »Mummy wäre ein komplettes Dummchen,
wenn sie bei diesem Fully Female anrufen würde.« Doch noch
während meine Lippen das sagten, gingen meine Beine hinüber
zum Telefontischchen oben auf dem Podest. Mit ein wenig
Glück wäre die Auskunft nicht imstande, mir die Nummer zu
geben. Die Tüchtigkeit wird noch der Untergang dieses Landes
sein. Die Telefonnummer wurde mir prompt genannt. In banger
Erwartung wählte ich die Nummer und zählte die Summtöne.
Siebenmal Läuten, und ich würde auflegen. Niemand brauchte
jemals zu erfahren, daß ich mir einen Moment lang die
archaische Ansicht zu eigen gemacht hatte, daß der Mann der
Herr im Haus ist.
Brrrp, brrrp.
Der Himmel steh mir bei, auf was ließ ich mich da ein? Ein
gespenstisches Bild trat vor mein geistiges Auge – ich auf
einem Fitneß-Rad namens Sexercycle, wie ich um mein Leben
strampelte, während mein Gesicht zu einer Landkarte
geplatzter Aderchen wurde und mein explodierendes Herz sich
nach den guten alten Zeiten sehnte, bevor wir alle anfingen,
uns selbst umzubringen, um fit zu bleiben. Wem versuchte ich
etwas vorzumachen? Es hat immer schon verrückte Frauen
gegeben. »Mummy, warum kann ich, wenn ich erwachsen bin,
nicht Galeerensklave werden, so wie mein großer Bruder
Ethelwolf?«
Brrrp, brr…
»Guten Morgen, Fully Female hier.« Die hochnäsig-schrille
Stimme erwischte mich, als ich gerade auflegen wollte. Ich
konnte mir die Sprecherin so deutlich vorstellen, als würde sie
vor mir auf eine Leinwand projiziert. Ein supertüchtiges Model
mit modischer Brille, das sich ein Lächeln umband wie eine
Krawatte und mit mehr Armen gesegnet war als ein Krake, so
daß sie mit einem Dutzend Telefonen auf einmal jonglieren
konnte.
Als die Zwillinge zur Welt kamen, habe ich das Lügen
aufgegeben, so wie manche Menschen das Rauchen aufgeben,
aber hin und wieder werde ich schwach und schwindle, was
das Zeug hält. »Verzeihung, falsch verbunden«, murmelte ich.
Die Strafe folgte auf dem Fuße. Die Riemen des
Zwillingstragesacks schnitten mir ins Fleisch, Abbey holte mit
dem Fuß aus und traf mich unterhalb der Gürtellinie.
»Wen wollten Sie denn erreichen?«
»Ähhhmmm-«
»Die Anmeldung ist das schwierigste, meine Liebe.«
»Aber ich will mich nicht – «
»Ich verstehe vollkommen, Mrs….?«
»Haskell.« Mist! Von wegen nie seinen Namen am Telefon
nennen! Jetzt würden sie mich auf ihre Adressenliste setzen.
Zwei umschnallbare Busenaufsätze würden mit der Post
kommen, Ben würde neugierig werden, und ich würde ihm
sagen müssen, daß es Augenblenden wären.
»Fully Female hat eine sehr weiche Verkaufstaktik, Mrs.
Haskell.«
»Wie schön.«
»Wenn Sie freundlicherweise ein paar Minuten Zeit hätten, um
unseren Fragebogen zu beantworten, dann schicken wir Ihnen
kostenlos unser herzförmiges Bitte-nicht-stören-Schild, das Sie
an die Schlafzimmertür hängen können, wenn Ihre
Schwiegermutter zu Besuch ist.«
Ein Angebot, das keine heißblütige Engländerin ausschlagen
konnte. »Naja«, sagte ich zögernd, »wenn es nicht zu lange
dauert. Ich habe vier Monate alte Zwillinge, die ihr Frühstück
wollen.«
»Die gestreßte Frau, unser 45-Minuten-Schönheitsprogramm,
könnte die Rettung sein, Mrs. Haskell.« Papiergeraschel, dann:
»Bereit für Frage Nummer eins?«
»Ich…« Auf was ließ ich mich da ein? Schon jetzt kam ich mir
vor wie eine Gefangene, mit der Telefonschnur an Händen und
Füßen gefesselt, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren, um
aufzulegen. Ich, die ich zu den Leuten gehöre, die immer
Euphemismen für »Liebe machen« zu finden versuchen, stand
im Begriff, mich in ein Gespräch verwickeln zu lassen, in dem
es über solche Dinge wie durchsichtige Unterwäsche und
multiple Orgasmen zur Sache ging.
»Frage eins: Sind Sie noch genauso in Ihren Mann verliebt wie
an dem Tag, als Sie ihn geheiratet haben?«
Resignation übermannte mich. »Ich möchte einen Termin
machen.«
»Heute mittag um eins. Sie werden es nicht bereuen.« Die
berühmte Abschiedsfloskel. Ich bereute es schon, als ich
auflegte, selbst ohne Blick in die Kristallkugel. In diesem
Augenblick fühlte ich mich, als trüge ich die Last der ganzen
Welt auf den Schultern, was nicht allzu verwunderlich war, da
die Zwillinge stündlich an Gewicht zulegten. Wen konnte ich
für heute nachmittag als Babysitter finden? Freddy war meine
einzige Hoffnung. Er hatte montags immer frei, und trotz
seiner spinnerten Begeisterung für Motorräder kam er
erstaunlich gut mit Abbey und Tarn zurecht. Dennoch behagte
es mir nicht, meine Pflichten zu delegieren. Und dann mußten
noch die Windeln gewaschen werden, die Küchenfenster
geputzt und mein Haar… der Tag hatte nicht genug Stunden.
Zum Glück verleihen mir widrige Umstände gewöhnlich
zusätzliche Kräfte. Ich funkelte die Ritterrüstungen an und
schnauzte: »An die Arbeit, ihr faulen Flegel! Es gibt noch jede
Menge Messing zu polieren und Böden zu schrubben.« Mist!
Hätte ich nicht wenigstens so lange damit warten können, mir
dies in Erinnerung zu rufen, bis ich die Babys gefüttert hatte?
Meine Tante Astrid, die nicht mal einen Finger krumm macht,
um sich ihren eigenen Toast mit Butter zu bestreichen,
geschweige denn ihr Bett zu machen, schwört darauf, Listen
aufzustellen. Mich erschöpft es allerdings, meinen Tagesablauf
schwarz auf weiß dastehen zu sehen. Ich mache mir lieber vor,
ein junges Dienstmädchen zu sein, das ohne Referenzen
entlassen wird, wenn nicht x Aufgaben in einer Zeitspanne von
y erledigt werden. Das Problem mit dieser Methode ist, daß ich
mich hin und wieder selbst austrickse. An diesem speziellen
Tag vergaß ich völlig, daß ich gewissermaßen frei hatte. Denn
montags kam Mrs. Roxie Malloy, um auf Merlin’s Court
auszuhelfen. Sie kam dann, wenn ihr danach war, daher
wunderte es mich keineswegs, daß sie nicht dagewesen war,
um Mr. Bludgett in die Zange zu nehmen.
Mrs. M ist eine echte Persönlichkeit. Wir lernten uns auf
meinem Hochzeitsempfang kennen, wo sie engagiert worden
war, um den Champagner herumzureichen. Was sie auch
überaus gewissenhaft tat, denn sie schlürfte ein Schlückchen
aus jedem Glas, um sicherzustellen, daß nichts auf die frischen
weißen Zierdeckchen schwappte. Zugegeben, es ist falsch,
nach der äußeren Erscheinung zu urteilen, aber das Wort
Madam paßt auf Mrs. Malloy besser als auf mich. Vielleicht
liegt es an ihrem Haar – pechschwarz mit fünf Zentimeter
langen weißen Wurzeln. Oder an dem Make-up Marke Gips.
Oder auch an den Schönheitsflecken, durch die sie aussah wie
gerade von einem Rendezvous mit dem Schwarzen Tod
genesen. Wie dem auch sei, bei jener ersten Begegnung hatte
ich sie in Verdacht, nebenher in einem Haus von zweifelhaftem
Ruf zu arbeiten, einem vornehmen Etablissement von der Art,
wo die Herren immer erst die Schuhe ausziehen, bevor sie ins
Bett steigen, und ein angemessenes Trinkgeld für gewisse
Extras hinterlassen. Aber ich hatte mich gründlich getäuscht.
Mrs. Malloy hatte ihre Gunst nur drei, oder vielleicht auch vier
Ehemännern zuteil werden lassen und hielt sich an einen
strikten Moralkodex – kein Saufen vor der Arbeit. Als sie mich
zur Klientin nahm – strikt auf Versuchsbasis, müssen Sie
wissen – , entdeckte ich, daß sie mehr Hüte hatte als die Queen
Mum, wenigstens vier Pelzmäntel besaß – Abschiedsgeschenke
von den Liebsten – und für Pailletten und Taftkleider mit
tiefem Ausschnitt schwärmte.
Um zehn Uhr an dem betreffenden Morgen hatte ich die
Zwillinge in ihren Laufstall vor dem Küchenkamin gesetzt. Ich
hatte bereits eines der schnellsten Bäder der Geschichte
genommen, eine Tasse kalten Kaffee hinuntergekippt und
schaltete den Fernseher ein, der zur Zeit seinen Sitz auf dem
Bügelbrett hatte, weil ich ihn von der Arbeitsfläche hatte
entfernen müssen, um Platz für den Wäschekorb zu schaffen.
Der Fernsehschirm erwachte flimmernd zum Leben und wurde
zum Schaufenster des Tinseltown Toyshop. Der vertraute
Musicboxjingle ertönte, und ich schob jeden Gedanken an das
gefürchtete Gespräch mit Fully Female weg, da mein Tag
unverzüglich in dem Moment aufgehellt wurde, als Norman the
Doorman das Geschlossen-Schild an die Glastür hängte.
»Äußerst wertvoll!« teilte ich den Zwillingen mit. »Das
verschafft euch einen großen Vorsprung vor dem übrigen
Haufen im Kindergarten.« Wie schade. Meine Lieblinge waren
zu beschäftigt damit, mit den Perlen am Laufstall zu spielen,
um Zustimmung oder Widerspruch zu glucksen.
Norman öffnete die Ladentür und hielt sie weit auf. »Na, bei
meinem Nasenfahrrad, genau die Leute, die ich zu sehen
hoffte. Meine Lieblingsjungen und -mädchen. Ein kleiner
Vogel hat mir gezwitschert, daß ihr auf einen Sprung
vorbeikommen würdet…« Ein Kakadu mit kaum sichtbaren
Marionettenfäden flatterte auf Normans Schulterlitze, spreizte
sich und klimperte hinter einer ebensolchen Brille wie die des
Portiers mit den Wimpern. »Mir ist etwas ziemlich
Beunruhigendes zu Ohren gekommen. Ich habe gehört…« Im
Schaufenster des Spielzeuggeschäfts begann eine eingetopfte
Weinrebe mit Smiley-Gesicht, Blättern als Haaren und Trauben
als Ohrringen auf und ab zu hüpfen. »Es heißt, daß ein kleines
Mädchen namens Annabelle Fandangle ihr Spielzeug nicht gut
behandelt.
Wer will mitkommen, um es zu retten?« Norman legte die
Hand ans Ohr, und Mr. Kakadu breitete aufmunternd einen
Flügel aus.
»Ich bin dabei!« Ich reckte die Faust in die Luft.
Zum Glück bekamen die Zwillinge nicht mit, wie ich mich
lächerlich machte. Sie hatten sich auf den Boden des Laufstalls
gekuschelt, die Frotteehinterteile in die Höhe gestreckt, und
schliefen den friedlichen Schlaf der Unschuldslämmer.
»Hervorragend!« Norman tippte sich an die Mütze, und zum
Vorschein kam ein Schädel, so kahl wie Humpty Dumpty.
»Aber bevor wir in den magischen Aufzug steigen, laßt uns so
laut ihr könnt den Wahlspruch des Tinseltown Toyshop
aufsagen, Achtung, fertig, los!«
Ich saß auf einer Ecke des Küchentisches, ließ die Beine
baumeln, vergaß völlig, daß ich Mutter war und wurde wieder
zum Kind.
»Teddys und Püppchen,
Stoffhasen dazu,
Haben Gefühle
Wie ich und du.

Schmeiß sie nicht in die Ecke,


Lass sie nicht im Regen stehn,
Sonst wirst du dein klein’ Schmusetier
Niemals mehr wiedersehn.«

»Da kommen einem die Tränen, nicht?« Ich hatte nicht gehört,
wie sich die Tür zum Garten öffnete und Ihre Hoheit
hereinkam, doch da stand Mrs. Malloy. Sie knöpfte den
Leopardenmantel auf, der wie auf der falschen Seite gebügelt
aussah, und warf ihre Provianttasche auf die Anrichte mit dem
Porzellan, zum Verdruß von Kater Tobias, der dort ein
Nickerchen hielt.
»Für wen zum Teufel hält er sich, den Chat von Persien?«
Das war einer von Mrs. Ms Standardwitzen. Ihr zweiter – oder
vielleicht auch dritter – Ehemann stammte von der falschen
Seite des Ärmelkanals, wie auch aus dem falschen Bett, und
hatte ihr nichts als ein paar Brocken parlez-vous Français
hinterlassen, als er sie wegen einer anderen verließ.
Ich kletterte vom Tisch, als hätte man mich auf dem
Schreibtisch der Direktorin erwischt, schaltete den Fernseher
aus und schaute mich wild in dem Chaos um. »Himmel! Sind
Sie sicher, daß Sie hier sein sollten?«
»Heute ist Montag, es sei denn, jemand hat am Kalender
herumgepfuscht.«
Die grimmige Antwort hätte mir eine Warnung sein sollen, daß
Mrs. Malloy nicht ihr übliches angeheitertes Ich war, aber ich
war zu beschäftigt damit, das Frühstücksgeschirr aufzustapeln,
um auf Nuancen zu achten. Wenn Freundinnen und Freunde
mich überraschen, stört mich das nicht. Aber Mrs. Malloy,
niemals! Ich schaffe immer schnell Ordnung, bevor sie
hochhackig das Haus betritt. Ich habe das Gefühl, daß ich sie
enttäusche, wenn sie das Haus nicht in dem Zustand vorfindet,
in dem sie es verlassen hat – aller Flor von den Teppichen
abgesaugt und die Fenster mit Zeitungspapier und ihrem
idiotensicheren Reiniger makellos poliert. Eine Mixtur aus Gin
und der Geheimingredienz – Es.
»Wenn Sie mich nicht brauchen, Mrs. H, sagen Sie es nur.«
Mrs. Malloy stand beim Bügelbrett, noch im Mantel, und hielt
ihren Federhut in den Händen wie einen Klingelbeutel in der
Kirche.
Beleidige Mrs. M, und ihr Stundenlohn schnellt in die Höhe.
»Natürlich brauche ich Sie.«
Die Waschmaschine war aus ihrer Nische gezogen worden und
stand in schiefem Winkel zum Raum, zusammen mit dem
Trockner, dessen Stecker Mr. Bludgett in seiner Weisheit
ebenfalls herausgezogen hatte. Sein Werkzeug war über den
Tisch verteilt, zusammen mit dem Frühstücksgeschirr. Die
Zeitung lag auf einem Stuhl, die Spüle war voller
eingeweichter Windeln, und der Besen lehnte an der Tür zur
Vorratskammer, als mache er fünf Minuten Zigarettenpause.
Allein die Babys würden einer Überprüfung standhalten. Sie
waren wach, taufrisch in ihren mit Häschen bestickten
Frotteeanzügen und preßten die Gesichter an die Stäbe des
Laufstalls, ihr kupferfarbenes Haar paßte zu Bens Sammlung
von Grütze- und Puddingformen.
»Entschuldigen Sie das alles!« Ich rührte die Windeln mit
einem Holzlöffel (nicht mit dem, den ich für Suppe benutze).
»Wie wär’s, wenn ich hier aufräume, Mrs. Malloy, während
Sie mit dem Arbeitszimmer anfangen?«
Der symbolische Protest blieb aus.
»Mir soll’s recht sein, Mrs. H.« Sie wich Tobias aus, der ihr
wegen des Federhuts schöntat, nahm die Provianttasche und
schwankte auf ihren Zehn-Zentimeter-Absätzen ohne einen
Blick zur Seite am Laufstall vorbei. Sonderbar. Mrs. Malloy
hatte eine heimliche Zuneigung zu den Zwillingen entwickelt,
während sie nach außen darauf beharrte, sie hätte lieber einen
Kanarienvogel.
War sie nicht ganz auf dem Damm? Ich schüttelte mir die
Seifenlauge von den Händen, streifte mir die Schlinge einer
Schürze über den Kopf und verknotete die Bänder. Mrs.
Malloy wandte sich an der Tür zur Halle um.
»Denken Sie dran, Zimmerdecken mache ich nicht, Mrs. H.«
Wenn Michelangelo diese Einstellung gehabt hätte, wo wären
wir dann? Egal. Ihr Gesicht sagte mir, daß mehr
dahintersteckte, als mich in meine Schranken zuweisen. Der
Schönheitsfleck über ihrem Pflaumenmund war ein einziges
Zucken, und ihr Karnevalsmake-up sah aus, als wollte es bei
der ersten Bewegung abbröckeln.
Ich griff nach dem Kessel und sagte: »Wie wär’s mit einer
Tasse Tee, bevor Sie anfangen? Und es ist noch etwas von dem
Kirschkuchen da, den Sie so gern mögen.«
»Ich mach’ mich lieber gleich an die Arbeit.« Alles Leben war
aus ihrer Stimme gewichen. Und ihr Busen, der ihr doppelte
Dienste als Schwimmweste geleistet hätte, sollte sie jemals in
Seenot geraten, wogte. Doch ich beruhigte mich etwas, als sie
das Thema wechselte. Ȇbrigens habe ich Mr. H gesehen, als
ich in den Bus stieg. Er war draußen vor der Post.«
»Ach?«
»Und plauderte mit Miss Gladys Thorn.«
»Tatsächlich?«
»Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt! Diese Frau
würde sich für alles, was in Hosen daherkommt, auf den
Rücken legen und Victory signalisieren. Ihretwegen ging
meine Ehe mit Francois in die Brüche, wissen Sie.«
Ehe ich ihr mein Mitgefühl aussprechen konnte, verschwand
Mrs. Malloys Leopardenmantel durch die Tür zur Halle. Aber
wenigstens wußte ich, warum sie nicht ganz auf dem Posten
war. Und was Ben betraf… sagte es etwas über den Zustand
unserer Ehe aus, daß ich mich nicht zu einem Wutanfall
aufraffen konnte, weil er mit Miss Thorn gesehen worden war?
Der Sex-Appeal unserer Kirchenorganistin war legendär – um
so mehr, als die Frauen es sich nicht erklären konnten und die
Männer es nicht wollten. In einer seltenen stillen Minute hatte
ich überlegt, daß Miss Thorn vielleicht ein Exemplar des Typs
unansehnliche Sekretärin war, die, um ihre Cary-Grant-Chefs
vor einem Schicksal schlimmer als der Tod zu bewahren –
gewöhnlich eine andere Frau –, ihre Brille herunterreißen und
ihr Haar lösen. Aber irgendwie paßte das nicht zu Miss Thorn.
Ich hatte sie ohne Brille gesehen, ihre mausbraunen Locken
wehten im Wind, und das war eine Mahnung, daß Mutter Natur
nicht immer gütig ist.
Nachdem ich Abbey und Tarn hochgenommen, ein bißchen mit
ihnen geschmust und sie wieder hingesetzt hatte, kümmerte ich
mich um die Windeln. Sie würden eiligst zum Trocknen
aufgehängt werden müssen, wenn ich dem Regen entgehen
wollte, der, danach zu urteilen, wie die Fliederbüsche zitterten
und die Wolken sich drohend zusammenzogen, nicht lange auf
sich warten lassen würde. Und dabei hatte der Tag so traumhaft
angefangen.
Das Tolle an Hausarbeit ist, daß deine Hände hin- und
herhuschen wie Maulwürfe, während der Kopf an Ort und
Stelle bleibt. In solchen Momenten grüble ich gewöhnlich
besonders gut. Ein Schreckgespenst auf dem Terminplan dieses
Vormittags war natürlich Fully Female. Ich konnte mir beim
besten Willen nicht vorstellen, warum ich diesen Termin
gemacht hatte. Zugegeben, die Begegnung mit Mr. Bludgett
auf den Stufen hatte mir klargemacht, daß das Leben
bestenfalls kurz ist und wir es möglichst nach Kräften nutzen
sollten, aber mußte ich es mit der Eigenverschönerung so
überstürzen? Wenn ich irgendwann wirklich bereit war für eine
Generalüberholung, hätten die Wissenschaftler doch bestimmt
schon alle möglichen Abkürzungen erfunden. Wie zum
Beispiel die Je-mehr-Sie-essen-desto-mehr-nehmen-Sie-ab-
Diät und Sesselgymnastik.
Ich legte die gespülten Windeln in den Wäschekorb, warf eine
Handvoll Wäscheklammern dazu und schaltete um auf Mrs.
Malloys Problem. War es voreilig, anzunehmen, daß Miss
Thorn der Stachel war? Sie auf der Straße zu sehen konnte so
ungewöhnlich nicht sein. Chitterton Fells ist ein kleiner Ort.
Konnte das Problem zum Beispiel schlicht darin bestehen, daß
sie gestern abend beim Bingo verloren hatte? Oder hatte Mrs.
Malloy vielleicht schlimme Nachrichten über ihren
Gesundheitszustand erhalten? Ach, das Übel der Trunksucht!
Bezahlte ihre Leber jetzt den Preis dafür oder… vielleicht ihr
Herz? Wer hätte das gedacht! Bis auf eine gelegentliche
Unsicherheit auf den Beinen wirkte sie immer so robust. Sie
war fast doppelt so alt wie ich und steckte mich in puncto
Staubsaugen leicht in die Tasche. Wehe dem Einbrecher, den
Mrs. Malloy auf der Treppe traf.
Ich seufzte bei der Erinnerung an meine schwache Vorstellung
angesichts von Mr. Bludgett, und mich überkam mal wieder
der verrückte Drang, meinen Körper in fünf Minuten von
Grund auf umzukrempeln. Mit zusammengebissenen Zähnen
erwog ich, den Tisch an die Wand zu schieben und Aerobic zu
machen. Dann fiel mir ein, daß Gehen für eine der besten
Bewegungsarten gehalten wird. Bevor ich die Wäsche
aufhängte, würde ich schnell zum Arbeitszimmer gehen und
Mrs. Malloy die Zeitung zum Fensterputzen geben.
»Mummy kommt gleich wieder.« Ich ließ die Babys auf den
Bäuchlein liegend und schläfrig an ihrer Decke kauend zurück
und ging durch die Halle zum Arbeitszimmer. Die Tür ist eines
dieser oben gerundeten, mit schweren Nägeln beschlagenen
Exemplare aus Eiche, die man einem demnächst zu
modernisierenden Verlies entnommen haben mußte. Der
ringförmige Türgriff quietscht, wenn man ihn dreht, und
manchmal klemmt die Tür, so daß man ihr einen kräftigen
Ruck geben muß, um sie von der Stelle zu bewegen. Dahinter
befindet sich ein kleiner Raum mit Gitterscheiben, die in tiefe
Simse eingelassen sind. Ein scheußliches Ölgemälde einer
irischen Totenwache dräut über dem Kamin. Aber ich glaube
fest, daß jedes Haus seinen Anteil an Schandflecken haben
sollte, sonst geht alles in Perfektion unter. Das Arbeitszimmer
selbst enthält auch noch eine Scheußlichkeit – einen
krankenhausgrünen Gasofen, vor einer Ewigkeit installiert,
weil der Kamin rauchte.
In den Türspalt gezwängt, die Zeitung in den Händen, sagte
ich: »Verzeihung, wenn ich so bei Ihnen hereinplatze, Mrs.
Malloy.«
Wie peinlich! Ich kam mir vor wie eine Schnüfflerin. Sie war
nicht etwa eifrig bei der Arbeit, schwirrte mit dem Staubsauger
durchs Zimmer oder wirbelte mit ihrem Staubtuch
Ziergegenstände durcheinander. Immer noch in ihrem
Leopardenmantel und Federhut, saß sie zusammengesunken,
mit herabhängenden Armen und geschlossenen Neonlidern, in
dem Sessel am Gasofen.
»Was ist los?« Ich ließ die Zeitung flatternd zu Boden fallen
und eilte zu ihr, wobei ich mir die Hüfte am Schreibtisch stieß.
»Mrs. H«, sagte sie, und ihre Schultern bebten, »ich bin mit
meinem Latein am Ende.«
»Sagen Sie bloß, mir ist schon wieder Johnson’s
Lavendelwachs ausgegangen?«
»Ich weiß in diesem Höllenpfuhl nicht mehr weiter.«
»Das meinen Sie doch nicht ernst!« Ich warf mich auf die Knie
und ergriff ihre Hand. Ihr Parfüm, Tequila Sunrise, ließ mich
auf die Fersen hochschnellen und nahm mir den Atem. »Mrs.
Malloy, so können Sie nicht Schluß machen. Ich tue alles, gebe
Ihnen alles!« Verzweifelt sah ich mich nach etwas um, das ich
ihr in die Hand drücken könnte, irgendein Stück
Familiensilber, das nicht geputzt werden mußte.
Ihre Augen öffneten sich einen Spalt, und die
Schmetterlingslippen zuckten in einem traurigen Lächeln.
»Mrs. H, Sie dürfen sich nicht die Schuld geben.«
»Aber das tue ich.«
»Sie schmeicheln sich, wie?« Mrs. Malloy richtete sich auf,
und ihre Stimme kräftigte sich zu ihrem gewohnten Schnarren.
»Daß ich einen Tag in der Woche für Sie arbeite, heißt nicht,
daß ich mit Leib und Seele Ihr Eigentum bin.«
»So etwas Feudales habe ich nie gedacht.« Empört stand ich
auf und riß mit dem Knie fast ein Loch in meine Schürze.
»Sie mögen ja hier oben auf Merlin’s Court die Schloßherrin
sein, Mrs. H, aber die Welt dreht sich ganz von allein, ohne daß
Sie ihr einen Schubs geben.«
»Sie haben etwas von einem Höllenpfuhl gesagt.«
»Die Welt an sich, Mrs. H.«
»Oh!«
»Wenn ich beschließe, mich umzubringen, dann ist das meine
Sache.«
»Sehr richtig.« Ich war so erleichtert zu hören, daß sie nicht
kündigte, daß ich das Furchtbare ihrer Aussage nicht gleich
begriff.
»Mrs. Malloy – Roxie, meine Liebe!« Mein Blick schoß zu
dem krankenhausgrünen Monster. »Sie wollten doch nicht den
Gasofen benutzen?«
»Schon mal erlebt, daß ich mir Freiheiten rausnehme?«
»Nie!« log ich.
Ihr Seufzer blies mich halb durchs Zimmer. »Ich möchte
betonen, Mrs. H, daß ich volljährig bin. Ich brauch’ keine
elterliche Erlaubnis und auch kein Entschuldigungsschreiben
vom Boß.«
»Aber warum?« Ich stand da, rang die Hände wie der letzte
Dorftrottel und sah zu, wie sie in gespenstischer Zeitlupe die
Provianttasche von der anderen Seite des Stuhls hochnahm und
den Verschluß aufschnappen ließ. Du lieber Himmel! Sie holte
eine Pistole heraus, Ich schlug die Hände vor’s Gesicht. Durch
die Lücken zwischen meinen Fingern beobachtete ich, wie sie
sie an die Schläfe hob.
Was war ich für ein Ungeheuer? In diesem Augenblick rettete
sich mein Verstand auf ungefährlicheres Terrain. Ich dachte an
die Windeln, die darauf warteten, auf die Leine zu kommen,
und an den drohenden Regen. Ich stellte mir Abbey und Tarn
allein im Laufstall vor. Wenn doch nur eines der Babys – oder
beide – anfangen würden zu schreien. Dieser Laut würde den
Bann vielleicht brechen.
»Warum?« fragte Mrs. Malloy, und es dauerte einen Moment,
bis ich begriff, daß sie meine Frage von vor einer Ewigkeit
wiederholte. »Warum ich mich auf Merlin’s Court vom Leben
verabschiede?«
Ich wollte sagen: Warum denn überhaupt? Doch meine Zunge
wollte mir nicht gehorchen. Sie polierte die Pistole an ihrer
Manschette. »Sie brauchen nichts zu sagen, Mrs. H. Das sieht
doch ‘n Blinder, daß Sie mich für anmaßend halten. Und da
hatte ich gehofft, Sie würden es statt dessen als Kompliment
auffassen, wie’s gemeint war. Mein Haus auf der Herring
Street ist kein schlechter Ort zum Leben, aber was meinen
letzten Atemzug betrifft, hatte ich mir immer etwas
Exklusiveres gewünscht. Einen Ort mit ein bißchen
Geschichte.«
Mit einem Schluchzer legte Mrs. Malloy die Pistole knapp
außer Reichweite auf die Armlehne des Sessels. Sie öffnete die
Provianttasche, holte ein schwarzgerändertes Taschentuch
heraus und tupfte sich die Augen. Geziert. Um ihre
Wimperntusche nicht zu verschmieren. »Mrs. H, wir hatten
unsere Differenzen, aber ich würde keine meiner anderen
Damen am Schluß bei mir haben wollen.«
»Vielen Dank.«
Das Taschentuch flatterte zu Boden. »Ist es zuviel verlangt,
wenn ich mir erhoffe, daß eines Tages mein Porträt oben im
Korridor hängt?«
»Ich lasse ein Fresko machen.«
Der Trick bestand darin, die Ruhe zu bewahren. Was würde es
nützen, nach der Waffe zu greifen und zu riskieren, daß ich mir
dabei die Finger wegpustete? Eine Mutter kann nicht mit
Händen funktionieren, die sich in Boxhandschuhe verwandelt
haben. Das beste war, sie davon abzubringen, einen fatalen
Fehler zu begehen.
»Mrs. Malloy, warum wollen Sie sich umbringen?«
»Das nehm’ ich mit ins Grab.«
»Na gut, wie wär’s dann mit einer schönen Tasse… Gin?«
Ein Märtyrerlächeln. »Noch einen zum Abgewöhnen? Lieber
nicht. Man soll nicht sagen, daß ich nicht ganz bei Sinnen war,
als ich meine irdischen Güter in Ihre Obhut gab.«
»Was?« Ich sank in einen Stuhl, der nicht da war, und mußte
nach dem Schreibtisch greifen.
Sie kramte in der Provianttasche und brachte einen
Porzellanpudel und eine Messinglampe zum Vorschein. »Sie
brauchen sich vor lauter Dankbarkeit nicht gleich zu
überschlagen, Mrs. H! Vorhin, als ich das zweite Röhrchen
Tabletten schluckte, hab’ ich zu mir gesagt: ›Roxie, altes
Mädchen, es gibt niemand sonst, der sich so um deine
Siebensachen kümmern wird wie Mrs. H. von Merlin’s
Court.‹«
»Tabletten?« Gott sei Dank war Waschtag! Mit etwas Glück
könnte ich den Gummischlauch an der Spüle als behelfsmäßige
Magenpumpe benutzen.
»Jetzt machen Sie sich man bloß nicht ins Hemd.« Mrs. Malloy
sah beleidigt genug aus, um die Davidstatue, die sie aus der
Provianttasche geholt hatte, wieder an sich zu nehmen. Armer
Kerl, ihm fehlte eines seiner irdischen Güter.
»Es waren meine Verdauungspillen.«
Ach, was für ein Stein fiel mir vom Herzen! Klein David kam
zu dem Porzellanpudel und der Messinglampe auf den
Beistelltisch. Sollte ich über die Unantastbarkeit des Lebens
predigen oder es mit der Schuldschiene versuchen? Wie können
Sie mich im Stich lassen, Mrs. Malloy, mitten im
Frühjahrsputz?
»Steht es denn wirklich so schlimm?« Ich pirschte mich an sie
heran. »Erst letzte Woche noch waren Sie in Hochstimmung,
weil Ihr Horoskop voraussagte, daß der Mann Ihrer Träume in
Ihr Leben treten würde.«
Etwas Schlimmeres hätte ich nicht sagen können. Ein Stöhnen
brach aus den Tiefen von Mrs. Malloys Sein hervor. Ihr
Federhut erbebte.
»Er ist gekommen, mein Romeo! Doch unsere Liebe war vom
verdammten Anfang an zum Scheitern verurteilt.« Sie nahm
die Pistole und drückte sie zärtlich an ihren Leopardenbusen,
als sei sie die Frucht ihrer Lenden, geboren aus seiner Liebe.
»Es wird noch andere geben«, tröstete ich sie mit der ganzen
Abgedroschenheit, derer ich fähig war.
»Wenn Sie jenseits der Fünfzig sind, Mrs. H, fliegen die
Männer nicht mehr auf Sie wie Fliegen auf Pflaumenmus. In
den letzten Jahren bin ich abends meistens alleine ins Bett
gegangen und alleine aufgewacht. Was für ein Leben ist das für
eine Frau, die mehr Ehemänner hatte als Sie warme
Mahlzeiten? In jungen Jahren war ich nicht so wie Sie, Mrs. H
– zufrieden damit, in einem eingefahrenen Gleis zu fahren, bis
in alle Ewigkeit mit demselben Knaben verheiratet zu sein.
Aber jetzt…« Ein Seufzer, der die Sammlung von
Tintenfässern in der Vitrine zum Klirren brachte.
Meine Güte, dachte ich, als mir Miss Thorn einfiel. In
Chitterton Fells schien die Liebe los zu sein. Wenn doch
Reverend Foxworth da wäre! »Da gibt es diese Passage aus
Leviticus«, stammelte ich. »Daß jedes Ziel unter dem Himmel
seine Zeit hat. Und vergessen Sie nicht die sieben fetten und
die sieben mageren Jahre. Könnte das nicht Ihre Zeit sein,
brachzuliegen?«
»Was?« Sie zog ihre Pelzschultern hoch, so daß sie dem König
der Tiere mit seiner Halskrause ähnelte. »Wofür zum Teufel
halten Sie mich – die Jungfräuliche Königin? Ich bin nicht aus
Stein, wissen Sie. Ich bin eine liebende Frau.«
»Und er ist verheiratet…«
»In gewisser Weise.«
»Die pikanten Einzelheiten lassen die Horoskope immer aus.«
»Die Elende hat ihn Vorjahren verlassen. Ging eines nebligen
Winterabends ganz plötzlich auf und davon. Mein Engel kann
immer noch nicht darüber reden, ohne weiß wie ein Gespenst
zu werden. Das alte Lied. Er fand einen Brief auf dem
Kaminsims. Und es war keine von diesen netten Hallmark-
Karten drin, das kann ich Ihnen flüstern.«
»Sie war so gleichgültig, daß sie ihm nicht mal das Allerbeste
gönnte!« Schlimm von mir, so bissig zu sein, aber zum
erstenmal, seit dieser Alptraum angefangen hatte, dachte ich,
daß es ein Sturm im Wasserglas sein könnte. Solange niemand
erschossen wurde. Mrs. Malloy polierte die Pistole mit ihrer
Pelzmanschette und legte sie in ihren Schoß. Genieß den
Augenblick. Denk nicht an die Möglichkeit, daß es eines dieser
schießwütigen Modelle sein könnte, die schon losgehen, wenn
man die Beine übereinanderschlägt.
»Wenn die Ehefrau von der Bildfläche verschwunden ist…«,
wagte ich mich vor.
»Aus den Augen heißt nicht aus dem Sinn.« Mrs. Malloys
Rougewangen zitterten, und ihre Augen unter den Neonlidern
verschleierten sich. »Aus irgendeinem Grund kann er sie nicht
vergessen. Ich sage Ihnen, Mrs. H, ich habe verdammt noch
mal mein möglichstes getan, ihn aus meinem Herzen zu
verbannen, aber es hat keinen Zweck. Von dem Moment an –
Dienstag vor vierzehn Tagen –, als unsere Blicke sich quer
durch die überfüllte Bingohalle trafen, kannte ich mein
Schicksal. In ganz England oder überhaupt irgendwo da
draußen unter dem weiten blauen Himmel gibt es für Roxie
Malloy keinen anderen als Walter Fisher. Ohne ihn ist das
Leben keine Salzbrezel in einer Tüte Knabberzeug wert. Wenn
Walter in der Nähe ist, fühle ich mich wieder wie Vierzig.
Mein ganzer Körper macht knack, knister, peng.«
Eifersucht, gemischt mit einer bitter-süßen Traurigkeit,
flammte kurz in mir auf, nur, um von dem Namen Walter
Fisher erstickt zu werden. Es klingelte bei mir. Klageglocken
erklangen.
»Mrs. H, er ist zweimal oder dreimal abends
vorbeigekommen…«
»Zum Essen?«
»Geschäftlich. Er hat mit mir darüber gesprochen…«
»Ja?«
»Daß ich mein Begräbnis im voraus bezahlen soll.«
»Sie meinen doch nicht…?« Aber genau das tat sie! Ihr Mr.
Liebeskummer war kein anderer als Chitterton Fells’
unvergleichlicher Bestattungsunternehmer und Einbalsamierer.
Ich war dem Gentleman vor ein paar Jahren begegnet, als er
kam, um sein Beileid zum Ableben von Onkel Merlin
darzubringen, zusammen mit der Rechnung für geleistete
Dienste anläßlich der Beerdigung. Unglaublich! Dieser Mann
war ein solch schmächtiges Kerlchen. Mr. Walter Fisher sah so
wenig nach einem Sexobjekt aus wie… Miss Gladys Thorn.
In Gedanken an Walter versunken, übersah Mrs. Malloy mein
sprachloses Erstaunen. »Immer der perfekte Gentleman, Mrs.
H.«
»Verflixt!«
»Nie auch nur eine Hand auf meinem Knie. Und dann, gestern
abend, als ich meine Bluse aufgeknöpft hatte – nur die obersten
Knöpfe, auf gut Glück –, fing er an, von ihr zu erzählen. Mrs.
Fisher. Wenn man ihn hört, könnte man denken, die Frau war
eine Heilige. Niemals ein böses Wort. Immer fröhlich und
fidel. Immer zum Lachen aufgelegt. Möchte man da nicht
speien?«
»Absolut. Macht viel mehr Sinn, als sich selbst umzubringen.«
Hin- und hergerissen zwischen Mitgefühl und Ärger rückte ich
ihr näher auf den Leib, die Hände flehentlich gefaltet.
»Kommen Sie, Mrs. Malloy, legen Sie die Pistole weg. Ich
mache uns eine schöne Tasse Tee, und wir versuchen
herauszufinden, wie Sie sich Mr. Fisher an Land ziehen
können.«
Mist! Bisher war es ein höllischer Tag gewesen. Aber was
zuviel ist, ist zuviel. Die Babys waren inzwischen so lange
allein, daß sie vermutlich aus der Kleidung, die sie trugen,
herausgewachsen waren. Ohne ein »Pardon« trat ich auf den
Vorleger und nahm die Pistole von Mrs. Malloys Schoß,
genauso wie ich Abbey oder Tarn eine Rassel weggenommen
hätte.
Wenn Blicke töten könnten, hätte ich selbst Mr. Fishers
fachkundige Hilfe gebraucht. »Sie brauchen kein Blatt vor den
Mund zu nehmen.« Sie erhob sich schnaufend auf ihre Zehn-
Zentimeter-Absätze. »Es macht Ihnen nichts aus, wenn ich
mich um die Ecke bringe, solange es nicht in Ihrem Haus oder
während der Arbeitszeit geschieht. Schade, daß die Tabletten
nur gegen Verdauungsbeschwerden waren. Sonst könnte es
jetzt jeden Augenblick vorbei sein. Die Augen würden mir in
den Kopf fallen, und meine Knie würden einknicken wie beim
Limbo. Tja« – ein gewaltiger Schniefer –, »in der Not frißt der
Teufel Fliegen. Ich verschwinde, um mich von der Klippe zu
stürzen.«
»O nein und wenn ich Ihnen einen paar Schuß Vernunft in den
Körper jagen muß.«
Bis ins Mark erschüttert schaute ich auf meine Hand hinunter,
die mit der Pistole auf meine treue Putzfrau zielte, als jucke es
sie, meinen Gürtel um eine Kerbe zu bereichern. Ich konnte es
nicht glauben. Was würde ich Ben sagen, wenn er heute abend
nach Hause kam und fragte, womit ich mich beschäftigt hatte?
Das mußte ein Alptraum sein, obwohl es eher nach einem
schlechten Western aussah. Wie aufs Stichwort schlug die Uhr
auf dem Schreibtisch zwölf Uhr mittags. Als der letzte Ton
zitternd verklungen war, schwankte Mrs. Malloy auf ihren
Stöckelabsätzen, dann sank sie wieder in den Ledersessel.
»O mein Gott, ich habe sie erschossen!«
Unmöglich. Es hatte kein Geräusch gegeben, es sei denn…
konnte dies sein, was man als einen ohrenbetäubenden Knall
bezeichnete? Wenn man sich vorstellte, daß ich eben noch
wegen Kleinigkeiten ins Schwitzen geraten war. Der ganze
Quatsch, ob ich meinen Ein-Uhr-Termin mit Fully Female nun
einhalten sollte oder nicht. Ich war eine Mörderin. Ich würde
die entscheidenden Jahre meiner Kinder in Holloway
verbringen. Ich steckte die Pistole in meine Schürzentasche
und pirschte mich an die Leiche heran. Nachdem ich bis drei
gezählt hatte, berührte ich blitzschnell ihren herabbaumelnden
Arm. O mein Gott! Ihr Federhut rutschte seitlich hinunter, fiel
zu Boden wie ein erlegter Vogel, und im selben Moment…
öffneten sich die Augen der Leiche.
»Versprechen Sie’s mir«, krächzte sie.
»Was Sie wollen!« Sie lebte!
»Sorgen Sie dafür, daß ich in dem pflaumenblauen Taftkleid
mit den Pailletten und meiner Seehundstola begraben werde –
Sie müssen sie noch aus der Reinigung holen. Und noch
eines… Sagen Sie Mr. Walter Fisher, er soll sich vor Gram
verzehren, wenn er meinen Sargdeckel schließt.«
Welch verrückte Welt. Welch verrückter Tag. Ich hatte Mrs.
Malloy nicht erschossen, aber es sagte eine Menge über meinen
Geisteszustand aus, daß ich es gedacht hatte. Offenbar hatte
Jock Bludgett recht gehabt, als er sagte, ich brauche mehr als
nur eine neue Pumpe. Mrs. Malloy brauchte eindeutig mehr
Hilfe, als ich geben konnte, und es war keine Zeit mehr zu
verlieren, denn die Uhr tickte weiter wie eine Bombe, und die
Babys mußten gefüttert werden.
»Mrs. Malloy, rühren Sie sich nicht vom Fleck.«
Ich rannte hinaus in die Halle, schlitterte über die Steinfliesen,
sah kurz in die Küche, warf Abbey und Tarn eine Kußhand zu,
bekam lockende Blicke zur Antwort, schlängelte mich an den
glotzenden Ritterrüstungen vorbei, und ohne eine Pause zu
machen, um meine Atmung zu regulieren oder meine
Gedanken zu einem ordentlichen Packen
zusammenzuschieben, nahm ich den Telefonhörer und wählte
eine der wenigen Nummern, die ich auswendig kenne.
Beim dritten Läuten wurde abgehoben.
»Pfarrhaus St. Anselm.« Die mißtrauische Stimme gehörte
Mrs. Pickle, Rowlands Putzfrau.
»Ein Notfall!« rief ich. »Ich muß mit – «
»Momentchen.«
Stille, dann ein Klonk, als sie den Hörer hinlegte. Mrs. Pickle
tut alles in dem ihr eigenen geruhsamen Tempo. Sie nennt es
›Gewissenhaft sein‹. Ich stand auf dem Podest, trat auf der
Stelle wie ein Kind, das vom Klo ausgesperrt ist und stellte mir
vor, wie sie den Hörer abstaubte und Papier und Stifte auf dem
Tisch geraderückte, bevor sie im Schneckentempo loszog und
bei jedem dritten Schritt über die Schulter zurücksah, weil es
ihr nicht gefiel, auch nur eine Anruferin unbeaufsichtigt in der
Diele des Pfarrhauses zurückzulassen. Könnte ja sein, daß sie
bei ihrer Rückkehr feststellte, daß ein, zwei Kirchenblättchen
fehlten.
Ich kaute an der Telefonschnur und zählte im Geist ihre
Schritte, als sie durch die Halle ging. Das gedämpfte
Zuschlagen einer Tür. Dann wurde alles von Totenstille
geschluckt. Ob Mrs. Pickle einen Schritt zugelegt hätte, wenn
ich ihr meinen Namen gesagt hätte? Als mir Jonas’
Behauptung einfiel, sie habe es auf ihn abgesehen, hätte ich mir
einen Tritt geben können. Die Minuten zogen sich hin, und ich
fing an, mich nach der Musik zu sehnen, mit der man mich bei
meinem Anruf bei Fully Female berieselt hatte. Aber
Mantovani war in meiner unmittelbaren Zukunft nicht
vorgesehen.
Stimmen knisterten an meinem Ohr. Natürlich nahm ich an,
daß Mrs. Pickle Rowland aus seinem Arbeitszimmer zutage
gefördert hatte, doch die Enttäuschung kam nur einen Schrei
später.
Kein Hinweis auf die Identität des Schreiers. Doch ein Mann –
der nicht Rowland war – sprach, nicht ins Telefon, aber
offenbar ganz in der Nähe, mit einer Flüsterstimme, die besser
trug als ein Schrei.
Eine Frau, die nicht Mrs. Pickle war, antwortete ihm in
schrillem Ton. Würde Mrs. P ein Ehepaar in Scheidung in der
Halle zurücklassen, um dort ihre Gemüter, wenn nicht gar ihr
Mütchen aneinander zu kühlen? Niemals! Außerdem war das
Szenarium nicht stimmig. Was ich da belauschte, hörte sich
eher nach einer unverhofften Begegnung als nach dem großen
Finale an.
»Das war ein schlimmer Schock.« Die Stimme des Mannes
blies in mein Ohr wie ein Schwall eiskalter Luft durch einen
Ventilator. »So geht es nicht, verstehst du. Zwanzig Jahre lang
habe ich mich vor deiner Schamlosigkeit sicher gefühlt.«
»Heißt das, du bist nicht freudig erregt, mich zu sehen?« Die
weibliche Stimme bebte am Rande der Hysterie.
»Es reicht! Im Namen dessen, was uns einmal verband, bitte
ich dich, diese Räumlichkeiten zu verlassen.«
»Nicht, bevor ich mit deiner Frau gesprochen habe.«
»Niemals. Du bist es nicht wert, denselben Raum zu betreten
wie diese fromme Frau. Wenn du es versuchst, werde ich alle
nötigen Schritte unternehmen, um…«
»Gladstone, wie kannst du ein solcher Schuft sein?«
Abblende, die mich an dem Ort gefangen zurückließ, wo
Fakten und Fiktion verschmelzen. Ich konnte nur vermuten,
daß ich einer Schlüsselszene aus einem Hörspiel über das
Leben des großen Premierministers gelauscht hatte. Ein Mann,
in Stein gehauen, lange bevor der Tod dafür sorgte, daß seine
Statue in der Westminster Abbey aufgestellt wurde, den
moderne Sensationshaie jedoch verdächtigten, mehr als
politisches Interesse an den Königinnen der Nacht gehabt zu
haben. Es überraschte mich nicht, daß Mrs. Pickle das Radio
mit sich herumschleppte, während sie putzte. Daß sich bloß
niemand damit aus dem Staub machte, wenn sie nicht hinsah.
Hatte sie mich vergessen? Wie lange würde es dauern, bis sie
zurückkam, um mir mitzuteilen, daß der Pfarrer nirgends zu
finden war? Ich funkelte den Hörer böse an und wollte vor
lauter Frustration schon hineinbeißen, als mir ein
unerquicklicher Gedanke kam. Was war, wenn Mrs. Malloy,
durch meine Abwesenheit ermutigt, durch das Fenster aus dem
Haus entfloh? In diesem Augenblick könnte sie bereits auf
ihren Zehn-Zentimeter-Absätzen die Kieseinfahrt
hinunterstaksen, besessen davon, sich vom Rand der Klippe zu
stürzen…
Ich ließ den Hörer fallen – mein Herz ebenso bleischwer wie
die Pistole in meiner Tasche – und war an der Tür zum
Arbeitszimmer, bevor ich wußte, wie ich dorthin gekommen
war. Ich schob sie auf und sah Mrs. Malloys Pelzmantel schlaff
über dem Schreibtisch hängen. Kein Grund, einen Herzanfall
zu kriegen – sie steckte nicht darin. Ein Rheinkieselklips
blinkte in ihrem zweifarbigen Haar, während sie dastand und
den Porzellanpudel und andere irdische Güter in die
Provianttasche stopfte.
»Bringt nichts, mich immer wieder zum Trinken
aufzufordern.«
»Ich wollte nicht…«
»Und gute Worte auch nicht.« Sie rückte den Federhut auf
ihrem Kopf zurecht, dann nahm sie ihn ab und gab ihn mir.
»Da, geben Sie das diesem verflixten Kater, damit er sich
dadurch ab und zu an mich erinnert. Tja, das war’s dann, bis
auf das hier.«
Wie betäubt nahm ich den Umschlag, den sie mir überreichte.
»Geben Sie das Mr. Fisher. Ich habe ihm ein Gedicht
geschrieben.«
Irgendwie wußte ich, daß es ganz anders sein würde als die
Reime von Norman the Doorman.
Sie verzog ihre Schmetterlingslippen zu einem Schmollen,
streckte die Brust heraus und, die Hände auf den Bauch
gepreßt, deklamierte in einer Lautstärke, die ihr eine
Vorsprechprobe in einem Theater ohne Lautsprecheranlage
eingebracht hätte:

»Zucker ist süß,


Veilchen sind blau,
Rot fließt mein Blut,
Für dich, ach schau.«

Tränen brannten mir in den Augen. »Mrs. Malloy, es ist


wunderschön! Sie müssen weiterleben und es veröffentlichen.«
Zwecklos! Sie hielt Kurs auf die Klippen.
Was folgte, ist meinem Gedächtnis als einer dieser
überlebensgroßen Augenblicke der Wahrheit eingebrannt. Mrs.
M stürzte sich so blitzschnell auf ihren Leopardenmantel wie
ein Revolverheld auf sein Halfter. Sie mußte um jeden Preis
gestoppt werden. Ich packte die Zeitung, die ich in der kühnen
Hoffnung hierhergebracht hatte, daß sie zum Fensterputzen
verwendet würde, und machte mich daran, sie zu einem
Knüppel zu drehen, um Mrs. M damit bewußtlos zu schlagen,
wenn das nötig war, um diese Frau vor sich selbst zu erretten…
und da hatte ich ein Déjà-vu-Erlebnis.
Ich sah mich wenige Stunden zuvor in der Halle stehen, mit der
Absicht, genau das gleiche mit Jock Bludgett zu machen. Und
mit einem plötzlichen berauschenden Glücksgefühl wußte ich,
wenn er in diesem Augenblick an die Tür klopfen sollte, mit
einer Pumpe für die Waschmaschine in der Hand, dann würde
ich ihm ein Stück Kirschkuchen anbieten, ganz gleich, ob das
den Tatbestand der sexuellen Belästigung erfüllte. Denn dank
dem Klempner mit dem Charlie-Chaplin-Bärtchen und dem
schlimmen Auge wußte ich, wie ich Roxie Malloy zu Leben
und Liebe zurücklocken konnte.
Sieh dich vor, Mr. Walter Fisher, Bestattungsunternehmer und
Einbalsamierer. Dein Horoskop sagt, daß du die Ehefrau
vergessen sollst, die dich verließ. Inzwischen hast du dir doch
bestimmt das Recht erworben, sie gesetzlich für tot erklären zu
lassen und den Reizen einer Fully-Female-Frau zum Opfer zu
fallen!
So demütigend es auch ist, es zuzugeben, ich bin keine
vollkommene Hausfrau. Wenn Situationen auf Leben und Tod
eintreten, neige ich dazu, die Hausarbeit schleifen zu lassen.
Ich übersehe die Waschmaschine, die immer noch mitten in der
Küche herumsteht. Vergesse die ungemachten Betten und
hochfliegenden Pläne, die Regale in der Speisekammer neu mit
Papier auszulegen. Ich würde auf meinen Geheimvorrat an
Wegwerfwindeln im Trockenschrank zurückgreifen, und Mrs.
Malloy und ich würden über die Yellow Brick Road
davonfahren, um meinen Ein-Uhr-Termin bei Fully Female
wahrzunehmen. Hatte die nette Frau am Telefon nicht gesagt,
zwei zum Preis für eine? Es gab nur ein Problem. Ihre Hoheit
legte uns immer neue Steine in den Weg, so schnell wie ich
Karottenbrei in die Zwillinge hineinlöffeln konnte, die auf
ihren Wippen auf dem Küchentisch saßen, bereit, den Löffel
gleich mitzuessen. Ich fühlte mit den Vogelmüttern überall auf
der Welt. Wie schafften sie es nur?
»Ein Haufen dummes Zeug, Mrs. H.«
»Mr. Bludgett sieht das nicht so. Er kam heute morgen, um die
Waschmaschine zu reparieren, erhielt einen Anruf von seiner
Frau – die ein Mitglied von Fully Female ist – und eilte nach
Hause zum… zweiten Frühstück, als ob jemand einen
Knallkörper unter ihm angezündet hätte.«
Mrs. Malloy rümpfte die Nase. »Jock Bludgett war immer
schon ein geiler Teufel. Jeder weiß, daß er mit Gladys Thorn
Vögelchen gespielt hat.«
Würde ich jemals aufhören, ob des Treibens unserer verehrten
Kirchenorganistin von ganzen Herzen entsetzt zu sein? Die
Dame hatte mehr Männer gehabt als Lieder im Gesangbuch
stehen. Aber nach den unüberhörbaren Andeutungen, die sie in
der Vergangenheit fallengelassen hatte, konnte Mrs. Malloy es
sich nicht leisten, den ersten Stein zu werfen. Scheint so, als
mache die wahre Liebe uns alle prüde. So wie Mutterschaft.
Ich merkte, daß die Zwillinge ganz Auge und Ohr waren,
während sie dasaßen und an ihren Plastikriemen kauten.
Möglicherweise hielten sie Ausschau nach Anzeichen dafür,
daß weiteres Chaos bevorstand, doch da ich stets gewärtig war,
Mißbilligung in diesen immergrünen Augen zu lesen, lenkte
ich das Gespräch von verbotenem Sex auf das gesunde,
ganzheitliche Angebot, das von Fully Female verschrieben
wurde.
»Mrs. Malloy«, erklärte ich, »Sie sind ein Feigling.«
»Bin ich nicht.« Sie richtete sich auf ihren Stelzabsätzen zu
voller Größe auf, kreuzte die Arme und stemmte ihren
Taftbusen bis zum Kinn hoch. »Wenn es darum geht, einem
Mann Vergnügen zu bereiten, gibt es nur wenig, was ich nicht
weiß.«
»Es bringt nichts, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen! «
Wenn ich mich im Ton vergriff, dann deswegen, weil ich einen
Löffel Apfelmus auf seine Temperatur überprüft hatte, indem
ich ihn an den Mund führte. Als ich über meine Lippen leckte,
zischten sie und schmeckten nach Schweinefleisch.
»Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.«
»Blödsinn.« Ich hatte meine Lippen voneinander gelöst, ohne
mich zu verletzen. Ich vertrieb Kater Tobias mit einem Klaps
vom Tisch, wischte mir die Hände an der Schürze ab und fing
an, Reisbrei mit Apfelmus in die Peter-Rabbit-Schüssel zu
füllen. »Mrs. Malloy, ich wette mit Ihnen um fünf Pfund, daß
Sie Mr. Walter Fisher am Ende der ersten Woche soweit haben,
daß er durch einen Reifen springt und den Mond ankläfft.«
»Fünf Eier?« Sie war beleidigt. »Was glauben Sie wohl, wie
weit ich damit komme, um diesen Sch…kurs zu bezahlen?«
»Du meine Güte«, sagte ich und schob einen Löffel
abgekühltes Apfelmus in Abbeys Rosenmund, »sie bieten uns
einen Zwei-für-eine-Sonderpreis an.« Aus den Augenwinkeln
sah ich, wie Mrs. Malloy sich in den Schaukelstuhl plumpsen
ließ.
»Es kostet mich keinen Penny?« Ihr Gesicht schien zu flackern,
als bahnten sich alle möglichen Empfindungen ihren Weg an
die Oberfläche. Aber es konnte auch daran liegen, daß ich mit
Tarn Tauziehen um den Löffel spielte. »Vielen Dank
jedenfalls, Mrs. H, aber ich seh’ nicht, wie ich das annehmen
könnte.« Sie saß wieder auf dem hohen Roß. »Verstehen Sie
mich nicht falsch, es liegt nicht an meinem Stolz. Wie Mrs.
Pickle vom Pfarrhaus immer sagt: ›Eine Dame trägt ihren Stolz
nicht zur Schau. Sie zeigt ihn nicht herum, ebensowenig wie
sie in der Öffentlichkeit ihren blanken Hintern zeigt.‹«
Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Reverend Foxworth’
Putzfrau so etwas sagte. Andererseits hatte ich Jonas ja auch
nicht geglaubt, als er behauptete, sie habe es auf ihn abgesehen.
»Und ich weiß, Mrs. Haskell, daß Sie denken, das war das
mindeste, was Sie tun können, nach all den Jahren, in denen ich
Ihnen treue Dienste geleistet habe. Keine Arbeit war mir je zu
schwer – oder zu hoch.« Sie wies mit der Hand nach oben zur
Decke.
Während ich an meine Überlegungen zu Michelangelo von
vorhin dachte, löffelte ich Reis in den einen, dann in den
anderen Schnabel. »Und was genau ist also das Problem?«
»Für mich hört es sich so an, als ob dieses Fully Female nur für
verheiratete Frauen gedacht ist.«
»Blödsinn. Das wäre doch Diskriminierung. Außerdem, so oft
wie Sie verheiratet waren, lassen Sie mich wie eine
ausgesprochene Amateurin aussehen.«
»Nun, wenn Sie es so sehen…«
Es war an der Zeit, ihrem Widerstand endgültig den Garaus zu
machen. »Man wird Sie förmlich anflehen einzutreten. Sie sind
eine weitaus interessantere Kandidatin als ich. Denken Sie mal
nach. Mr. Walter Fisher ist noch ein bewegliches Ziel, während
Ben bereits…« Ich brach ab, schockiert darüber, worauf mein
Gerede hinauslief. Sah ich mich denn so – als Jägerin, die sich,
nachdem sie ihren Löwen erbeutet hatte, zurücklehnen und
Luft zufächeln konnte, während sie beobachtete, wie er durch
den Käfig strich?
Mist! Ich hatte Apfelmus auf meine Schürze gekleckert.
Von der positiven Seite betrachtet, sah Mrs. Malloy glücklicher
aus, als ich sie seit Stunden erlebt hatte. Sie erhob sich auf
ihren Stöckelabsätzen, rollte ihre Leopardenärmel hoch,
schaute auf die Uhr, die Viertel nach zwölf zeigte, und nahm
den Toaster – anstelle eines Handspiegels –, um zu überprüfen,
ob auch jedes Haar und jeder Schönheitsfleck an seinem Platz
war. Zufrieden wickelte sie das Elektrokabel auf, verstaute das
Gerät im Schrank und, als Signal, daß die Zeit um war, setzte
ihren Federhut auf. Armer Kater Tobias, um seine Erbschaft
betrogen.
»Lassen Sie uns eines von Anfang an klarstellen, Mrs. H.
Wenn wir Partnerinnen in diesem Kaperzug der Leidenschaft
sein sollen, lass’ ich nicht zu, daß ich mich Ihretwegen zu
Terminen verspäte.«
Erfolg kann süß sein, kann aber auch andere
Geschmacksrichtungen haben. In diesem Augenblick hätte ich,
die ich gelobt hatte, niemals meine Kinder zu schlagen, meiner
Angestellten eine runterhauen können. Erwartete sie, daß ich
meinen Mantel anzog, den Zwillingen zum Abschied winkte
und ihnen sagte, sie sollten für sich selbst sorgen, bis Mummy
nach Hause kam? Ich wollte Mrs. M gerade sagen, daß ich
altmodische Vorstellungen von Elternschaft hegte, als die
Gartentür aufsprang und – mit dem Schwung von Norman the
Doorman auf einer Rettungsmission – mein Cousin Freddy
hereinkam. Du liebe Zeit! Warum war er wie ein gehörnter
Wikinger gekleidet?
»Hey, Cousinchen!« Nachdem er mit dem Stiefelabsatz die Tür
zugeschlagen hatte, ließ Freddy sich auf ein Knie fallen und
breitete die Arme aus. Räume, und auch die Menschen darin,
ducken sich, wenn Frederick Flatts hereinkommt. Er ist eine
ein Meter achtzig lange Dynamitstange, die darauf wartet, zu
explodieren. »Ich komme auf deinen Befehl, o du strahlend
zerzauste Maid, um mir dein Ohr mit Versen so süß von Balda
Dead geneigt zu machen.«
»Was faselt der da?« Mrs. Malloy, die noch lernen muß,
Respektspersonen Achtung entgegenzubringen, fuhr mich an,
als hätte ich Freddy eigens mit der Absicht erfunden, daß wir
zu spät zu Fully Female kamen.
»Ich habe versprochen, ihm beim Proben einer Rolle in dem
Stück Normannen der Götter zu helfen. Es wird in der
Gemeindehalle aufgeführt.« Ich wischte mir die Hände an der
Schürze ab und zog Freddy dann an seinem Pferdeschwanz
hoch, wobei ich seine Hörner verschob.
»Tolpatsch«, grummelte er, als besagter Schmuck in den
Laufstall fiel.
»Dir ist doch wohl klar, daß du dich absolut lächerlich machst?
Richtige Wikinger haben diese blöden Dinger nie getragen.«
Da, Freddy, für den Witz über mein Aussehen.
Ich und zerzaust? Dieser Mann sollte ab und zu mal in den
Spiegel schauen. Vor mehreren Wochen hatte er sich den Bart
abrasiert, aber er sah immer noch sehr nach Landstreicher aus.
Ein Totenkopf baumelte an seinem einen Ohr, und der linke
Ärmel seines Sweatshirts war ausgerissen, um die Tätowierung
in Form zweier verschlungener Herzen (vermutlich seines und
das seiner Freundin Jill) auf seiner Schulter zu zeigen. In einem
ihrer seltenen Versuche, witzig zu sein, hatte Tante Astrid
einmal gesagt, daß Freddys Eltern ihn gleich nach der Geburt
der Heilsarmee hatten stiften wollen – ohne Erfolg. Solche
Giftpfeile prallten jedoch am Panzer meines Cousins ab, ohne
auch nur einen Kratzer zu hinterlassen. Die Welt würde ihr
Fehlurteil korrigieren müssen, wenn er den Namen seiner
Familie berühmt machte. Früher hatte er vorgehabt, das als
Rockstar zu erreichen, doch als Lord Olivier starb, hatte
Freddy spontan das Gefühl, daß es beim Theater eine Chance
für ihn gab – so etwas wie eine leere Pferdebox mit seinem
Namen über der Tür. Da ich wußte, wie sehr er tatsächlich
darauf zählte, daß ich ihm beim Proben seines Textes zuhörte,
den ich aus seiner Tasche hängen sah, erwog ich, Mrs. Malloy
auf die Möglichkeit anzusprechen, unseren Termin auf den
folgenden Tag zu verschieben. Doch sie las meine Gedanken
und wollte nichts davon wissen.
»Fertig, Mrs. H, oder kehre ich zu Plan A zurück?«
Familienzwist ist Freddys Lebenselixier. Und da er von
freundlichem Gemüt ist, betrachtet er Mrs. M als ein Mitglied
unseres Stammes. Er starrte uns beide an und schmatzte fast
mit den Lippen bei der Aussicht, schmutzige Wäsche zu
waschen.
»Meine Damen, bitte!« Er lehnte sich gegen die Tür zur
Speisekammer, neben den Besen – und wirklich, die
Ähnlichkeit war verblüffend. »Ihr zwei führt ganz
offensichtlich etwas im Schilde. Die Zwillinge sind total
gespannt, sie hocken auf der Kante ihrer Wippen…« Er hielt
inne, um die Daumen in die Ohren zu stecken und für die
Zwillinge mit den Fingern zu wackeln, die prompt nach einer
Zugabe quietschten. »Sag es Onkel Freddy. Was ist dieser Plan
A?«
»Nichts Wichtiges.« Ein ungünstiger Zeitpunkt, um mich daran
zu erinnern, daß Mrs. Ms Pistole noch in meiner
Schürzentasche steckte.
»Was?« Sie versengte mich mit ihrem Blick. »Es ist nicht
wichtig, daß ich wild entschlossen bin, mich wegen des
Mannes meiner Träume umzubringen und Sie’s mir
ausreden – «
»Mit Plan B!« Freddy strahlte übers ganze Gesicht. »Mensch,
verflixt, Ellie. Soviel Spaß hatte ich nicht mehr, seit ich letzte
Woche von meinem Motorrad gefallen und halb die Klippe
runtergeflogen bin. Na komm, erzähl deinem Beichtonkel
alles.«
Ich hob Tarn aus seiner Wippe, drückte sein klebriges Gesicht
an meins und fuhr ihn an: »Wie kommst du eigentlich auf die
Idee – «
»Liebes Cousinchen, ich weiß immer, wann du etwas im
Schilde führst. Du machst dann so ein tugendhaftes Gesicht.«
»Menschenskind! Sagen Sie’s ihm, dann haben wir’s hinter
uns.«
»Ja, Mrs. Malloy.« Ich reichte ihr Tarn, ging in Kampfstellung
und sah Freddy an. »Zu deiner Information, du Schnüffler, wir
haben um ein Uhr einen Termin, in kaum fünfzehn Minuten,
bei – lach ja nicht! – Fully Female.«
Freddys Augenbrauen schnellten in die Höhe wie die Rolläden
eines neugierigen Nachbarn. »Bei diesem Laden? Für
modernen Sex? Mädchen, das könnt ihr nicht machen! Sie
werden euch den Kopf mit allem möglichen Schweinkram
vollstopfen. Lektion eins, liebe Studentinnen« – er imitierte
eine lehrerinnenhafte Stimme –, »ein Orgasmus ist nichts
Ekliges, das ihr versehentlich in eurem Kühlschrank züchtet.«
Freddys Grinsen drohte sein Gesicht in zwei Hälften zu
spalten. Gut, so sparte ich mir die Mühe! »Weiß Ben davon?«
»Nur wenn er über ÜSW verfügt.«
Freddy nahm Tarn von Mrs. Malloy, als spielten wir Gib das
Paket weiter. Sein Gesicht wurde ernst. »Du und der Boß habt
doch keine Probleme? Ihr seid doch nicht den Neuvermählten,
die zu Neutoten werden, beigetreten, oder?«
»Ganz bestimmt nicht.« Ich mied seinen Blick und
beobachtete, wie Tarn an seinem Pferdeschwanz zog. »Mrs.
Malloy und ich dachten, es könnte interessant sein, einige
gründliche Studien in Ehekunst zu betreiben, mehr nicht. Wir
wollten gerade zur Tür hinaus, als du hereinkamst.«
»Klar. Du wolltest deine Schürze beiseite werfen, dir ein Baby
unter jeden Arm klemmen und dich auf und davon machen…«
»Also gut!« Ich gab klein bei. »Ich hatte vor, dich zu bitten, auf
Tarn und Abbey aufzupassen, aber bis ich dazu kam…«
»War ich schon da.«
»Freddy, es tut mir leid wegen der Probe.« Ich wusch mir an
der Spüle die Hände und trocknete sie mir an der letzten
sauberen Windel ab.
»Und mir tut es leid, daß wir zu spät kommen.« Mrs. Malloy
rollte ihre Leopardenärmel herunter, rückte ihren Federhut
zurecht und steuerte mit der Provianttasche in der Hand auf die
Gartentür zu.
»Freddy, würde es dir furchtbar viel ausmachen?« Ich zeigte
auf Tarn, den er noch auf dem Arm hatte, und Abbey, die noch
auf ihrer Wippe saß. Ach du meine Güte! Meine Tochter, ein
pingeliges kleines Würmchen, ließ durch ihr sich rötendes
Gesicht und Puffpuffgeräusche wissen, daß sie eine neue
Windel wünschte. Und zwar dalli.
»Gib her«, sagte unsere höchsteigene Mary Poppins. »Geh nur,
ich werde die beiden wickeln und windeln, während du dich
für dein Gespräch aufdonnerst. Wir können die Schloßherrin ja
nicht ins Hauptquartier schicken, wenn sie aussieht wie Gräfin
Rotz, oder?«
Ich drückte ihm Abbey in die Arme und sagte: »Keine Zeit
mehr. Du weißt, wo alles ist, ja? Wegwerfwindeln im
Trockenschrank und jede Menge Babynahrung in der
Vorratskammer, aber bis zu ihrer nächsten Mahlzeit müßte ich
längst wieder da sein.« Ich hatte meinen Regenmantel vom
Haken in der Nische bei der Tür genommen und streifte ihn
über. »Solltest du dir die geringsten Sorgen um einen der
beiden machen, ruf Dr. Melrose an. Und noch etwas…« Mist!
Mrs. Malloy zerrte mich schon am Gürtel nach draußen.
»Macht winke-winke zu Mummy!« Freddy hob die Babys
höher und winkte mit einem von Tams winzigen Pfötchen.
»Keine Sorge. Ich mache sie für ihr Nickerchen fertig, setze
meinen Wikingerkopfschmuck auf und lese ihnen von dem
bösen Loki und dem tödlichen Mistelzweig vor.«
Während ich rückwärts die Treppe hinunterstolperte, schrie
ich: »Was spricht denn gegen ein schönes Märchen?«
»Klar! Wie wär’s mit Aschenputtel und den fiesen Schwestern,
die sich die Füße abhacken, damit der gläserne Schuh paßt?«
Freddy schob die Tür mit dem Ellbogen zu.
»Roger«, sagte ich und rannte hinter Mrs. Malloy her, die in
halsbrecherischem Tempo über den Hof stöckelte. Wir stießen
unter dem Torbogen, der zu den Ställen führt, zusammen. Dort
stellen wir die Autos unter – Bens Heinz-57-Oldtimer und den
Kombi, den wir gekauft hatten, als die Zwillinge geboren
wurden.
»Dieser Freddy!« Mrs. M kletterte auf den Beifahrersitz. »Sieht
aus wie etwas, das die Katze ausgespuckt hat, aber er hat
Köpfchen, das muß man ihm lassen. Ich hab’ nie davon gehört,
daß Mistelzweige giftig sind. Mit Eibenblättern ist das was
anderes. Mrs. Pickle hat mir mal erzählt, wie so ‘ne Gruppe
sicherheitsbewußter Perverser den Vikar gedrängt hat, die
Bäume auf dem Kirchhof zu fällen. Na, das nenne ich doch, die
Leute auf schlimme Gedanken bringen.«
Während Mrs. Malloy so schwatzte, lenkte ich den Kombi in
vorschriftswidrigem Tempo die Kieseinfahrt hinunter, an
Freddys Cottage vorbei, durch das Eisentor und auf die Cliff
Road. Der Himmel hatte die Farbe von feuchtem Löschpapier.
Es war eher dunstig, als daß es regnete, so daß die
Windschutzscheibe heftig zu schwitzen schien – genau wie ich.
Es war zweifellos eine dieser Gelegenheiten, bei denen dein
Deodorant dazu entschlossen ist, den Schurken zu spielen. Der
Gedanke, der Gesprächspartnerin bei Fully Female mit fest an
die Seiten gepreßten Armen die Hand schütteln zu müssen,
bescherte mir einen Schwindelanfall, durch den sich mir eine
atemberaubende Ansicht des Meeres bot, wie es den Strand
hochwogte und in Kaskaden auf die Felsen am Fuß der Klippe
herabfiel.
»Es war ein Pfeil«, murmelte ich.
»Was?«
»In der Geschichte. Balda Dead, er wurde durch einen Pfeil aus
Mistelholz getötet.«
»Brechen Sie mir nicht das Herz, wir müssen alle auf die eine
oder andere Art abtreten.« Mrs. Malloy federte auf ihrem Sitz,
als ich bei dem Versuch, zur Straßenmitte zu steuern, über
einen Stein fuhr. Da ihr Fenster offen war, hätten wir die
Hagedorn- und Geißblattsträucher anfassen können, die sich
am linken Rand des Felshangs entlangrankten, der weiter oben
in Wiesen mit blühenden Butterblumen und Klee überging.
»Ich sehe es so, Mrs. H, das Sterben ist weltweit ein großes
Geschäft. Niemand hat ein Monopol darauf, nicht mal die
blöden Amis. Und das ist auch gut so, oder mein Walter müßte
dichtmachen.«
Ihr Walter? Das klang ja, als setze sie große Hoffnungen in
Fully Female, während ich mit jedem Meter Straße, der unter
den Rädern des Wagens entschwand, überzeugter war, daß ich
den Fehler meines Lebens gemacht hatte. Zunächst mal hätte
ich die Zwillinge nie bei Freddy lassen sollen. Als ich an sein
Winken zum Abschied dachte, war ich sicher, daß er sich
irgendwie verdächtig benommen hatte, in seinen Augen war
ein spitzbübisches Funkeln gewesen. Er würde doch nicht Ben
anrufen und mich denunzieren? Nein, welche Fehler Freddy
auch sonst haben mochte, er war keine Petze. Aber er heckte
etwas aus. Ich hätte einen Eid darauf geschworen.
»Mrs. H, wir sind schon zwei Minuten zu spät dran.«
»Ach herrje! Und wenn Ihre Uhr nachgeht, könnte es sogar
noch schlimmer sein. Vielleicht sollten wir lieber umkehren
und absagen – «
»Kommt nicht in Frage.«
Mist! Aber die Hoffung wirft – wenn sie nicht eine ewige
Quelle ist – wenigstens immer Blasen, wie ein verstopfter
Abfluß. Wir könnten immer noch einen Platten haben oder,
noch besser, feststellen, daß wir die Adresse von Fully Female
vergessen hatten.
»Tja, da wären wir!« Mit finsterer Miene parkte ich den Wagen
unter einem Baldachin aus den Ästen einer Rotbuche, die sich
auf einer Grasinsel in der Mitte einer noblen rosaroten Auffahrt
erhob. Meine Güte! Brunnen in Hülle und Fülle und
Blumenbeete in Form von Achten, alles von Mosaiken aus
bunten Fliesen umrandet. Und hinter einem Maschenzaun
schlug ein Pfau sein majestätisches Rad und stolzierte
königlich dahin, gefolgt von zwei wachsamen Hennen im
Gouvernantendreß.
»Man braucht keine große Phantasie zu haben, um zu
verstehen, warum das hier Hollywood genannt wird. Von
einem großkotzigen Amerikaner in den Sechzigern erbaut.
Blöde Amis.« In Mrs. Malloys Stimme schwang widerwillige
Bewunderung.
Da ich ihr unermeßlich dankbar war, weil sie sich an die
Adresse von Fully Female erinnert hatte, brachte ich ihre
Seifenblase nicht zum Platzen, indem ich ihr sagte, daß das
Haus für meinen Geschmack zu sehr nach einem Opfertempel
für nichtsahnende Jungfrauen aussah.
»Wir können hier nicht sitzen und glotzen, wo uns jemand
schon eine Viertelstunde Verspätung eingebrockt hat.« Sie
streckte keck ein Bein aus dem Wagen, und ich folgte ihr über
eine Mosaikveranda mit einem drachenköpfigen Seepferd in
der Mitte und eine breite Marmortreppe hinauf. Der Wind
schlug gegen meine Beine und gab mir das unangenehme
Gefühl, daß der Saum meines Regenmantels aufgerissen war.
Ich blickte angestrengt über meine Schulter, um mich zu
überzeugen, daß es nicht so war, während Mrs. Malloy auf die
Klingel drückte. Die Tür öffnete sich so prompt, daß wir uns
aneinander festklammerten wie zwei Kinder, die man dabei
erwischt hat, wie sie sich mitten in der Nacht mit der Leiche
des Kindermädchens treppab schleichen.
Höchst merkwürdig. Niemand stand in der Tür, um uns zu
empfangen. Wir betraten ein grellweißes Foyer mit einem
Schrägdach aus durch Steinbalken unterteilten Glasfeldern.
Direkt vor uns, zwei Stufen tiefer, befand sich ein
Wohnzimmer von der Größe eines Fußballfeldes, sachlich­
modern eingerichtet, mit ägyptischen Akzenten. Weiße
Noppensofas. Stahltische und abstrakte Skulpturen auf
Piedestalen. Vor allem ein Wandbehang zog meinen Blick an –
ein wandhohes Tuch aus geblockter Leinwand mit Hunderten
von Nägeln, die zwischen Bronzeklümpchen gehämmert
waren. Die Art Kunst, von der niemand erwartet, daß sie dir
gefällt, solange du ihren Wert anerkennst. Das einzige
anheimelnde Element war der Flügel, der in einer Art
Orchestergraben an der Glaswand mit Blick auf die Terrasse
stand, aber ohne das restliche Orchester wirkte er verloren.
»Muß die richtige Adresse sein.« Mrs. Malloy sah aus, als
wollte sie mir eins mit ihrer Provianttasche überziehen, wenn
ich widersprach.
»Sie können sich nicht geirrt haben«, sagte ich, und mein Blick
stahl sich nach links zu einer Küche mit weißen Glasschränken,
dann nach rechts zu einer breiten Halle mit einer Vielzahl sehr
hoher, sehr geschlossener Türen. »Wie wär’s…?« Ich ging
einen Schritt auf Mrs. M zu und hatte zu meinem Schrecken
den Eindruck, ich wäre auf den Knopf eines Lautsprechers
getreten. Augenblicklich stiegen die Schwingungen einer
Stimme vom Fußboden auf und erfüllten das ganze Foyer.
»Willkommen bei Fully Female! Gehen Sie freundlicherweise
die Treppe zum unteren Stockwerk hinunter ins Wartezimmer.
Bitte verzeihen Sie eine eventuelle Verzögerung. Ich bin so
schnell wie möglich bei Ihnen.«
»Nein, so was!« Alles andere als beleidigt über diesen
körperlosen Empfang, verzog Mrs. Malloy ihre Pflaumenlippen
zu einem Lächeln. »Sie muß eines dieser
Fernbedienungsdinger benutzt haben, um die Tür zu öffnen.«
»Verzeihung, wo ist die Treppe?« Ich stampfte mit dem Fuß
auf und sprach zum Boden, erhielt jedoch keine Antwort.
Anscheinend eine Störung in der Leitung.
»Sie stehen nicht gerade Spalier für uns, wie, Mrs. H? Aber mir
scheint – wo Sie doch gelernte Heimdekorateurin sind – daß
Sie dem Gefühl nach wissen müßten, wo man in diesem Haus
die Treppe versteckt hat.«
Derartig herausgefordert wie ein Vorstehhund, dem man gesagt
hat, er solle nicht ohne wenigstens eine tote Ente
zurückkommen, machte ich drei Riesenschritte auf die Halle
zu, drückte die Finger an meine Stirn, vollführte eine halbe
Drehung nach rechts, und da, hinter der Wand zum Foyer
versteckt, befand sich eine Wendeltreppe, um deren
Geländerstäbe sich Weintrauben und Blätter rankten. Die
Stufen waren keilförmig und sahen aus wie extrem knauserig
geschnittene Kuchenstücke. »Wer will Brechen wir uns den
Knöchel spielen? «
Sehr zu meiner Überraschung schafften Mrs. Malloy und ich
den Abstieg, ohne übereinander oder vielmehr Hals über Kopf
nach unten zu stürzen. Als wir in der geräumigen Halle des
unteren Stockwerks anlangten, verschnauften wir einen
Augenblick, um den Wasserfall zu bewundern, der in der
unteren Windung der Treppe angelegt war und in ein gekiestes
Becken fiel, wo eine Nymphe auf einem Felsen saß und die
Kaskade in ihren hohlen Händen fing. Überall sonst – zur
Rechten, zur Linken, vor und hinter uns – waren geschlossene
Türen. Horch! Unter einer kroch Musik hervor, als suche sie
dem Getrampel und Gestampfe, das sie begleitete, verzweifelt
zu entkommen. »Aerobic«, flüsterte ich Mrs. Malloy zu. Sie
erbleichte mitnichten unter ihrem Rouge, sondern legte an Ort
und Stelle einen hüftwackelnden Stampftanz hin, wobei ihr
Leopardenmantel so schnell hin- und herschwang, daß die
Flecke verschwammen.
»Ob Sie’s glauben oder nicht, Mrs. H, ich war mal Miss
Teenage Twist.«
»Du meine Güte.«
»Und damals war ich über Vierzig.«
»Wir dürfen nicht trödeln«, mahnte ich, und mit etwas, das ich
allmählich für echte ÜSW hielt, wählte ich die Tür zum
Wartezimmer und komplimentierte Mrs. M vor mir hinein.
Hurra! Wir fanden uns in einer weißen Schachtel wieder, in der
an der Wand unter dem schmalen Fenster eine flotte Stuhlreihe
Aufstellung genommen hatte. Ein mit Zeitschriften beladener
Couchtisch stand in der Mitte, und eine zweite Tür (zum
Allerheiligsten) starrte uns an. Nach einer Diskussion, ob wir
anklopfen sollten, und dem Entschluß, daß wir es nicht tun
wollten – oder sollten, aus Angst, in das Gespräch einer
anderen hineinzuplatzen-, hockten wir uns auf zwei
benachbarte Stühle, die Füße eng zusammen, die Hände hübsch
auf unseren Handtaschen gefaltet. Mrs M sah so schick aus mit
ihrem Federhut und in ihrem offenen Mantel, der den adretten
Taft ihres Kleides sehen ließ, daß ich mir wie eine echte
Landpomeranze vorkam.
»Als ob man verdammt noch mal darauf wartet, in den
Beichtstuhl zu gehen.« Mrs. Malloy bekreuzigte sich, eine
Angewohnheit, die sie von meiner römisch-katholischen
Schwiegermutter übernommen hatte, aber ob als Glücksbringer
oder in der Hoffnung auf Absolution, weil sie geflucht hatte,
war mir schleierhaft. Ich war damit beschäftigt, mein Haar neu
zu flechten und mir über die Lippen zu lecken, um ihnen ein
wenig Glanz zu geben.
»Wir warten so schnell wir können.«
»Sie haben leicht reden, Mrs. H. Sie brauchen nicht nach
Hause, um das Abendessen zu machen.«
»Irrtum. Ben frönt neuerdings dem Glauben, daß er meine
Weiblichkeit untergräbt, wenn er Essen aus dem Restaurant mit
nach Hause bringt.«
»Männer«, sagte Mrs. Malloy, und wir saßen einen Moment in
einträchtigem Schweigen da, bis ich – wir hatten die Tür einen
Spalt offengelassen – einen Trupp Trikots die Wendeltreppe
hinaufgehen sah. Großer Gott! Zwei der Hinterteile erkannte
ich wieder. Da ging die Frau von Dr. Melrose und… Mrs.
Pickle aus dem Pfarrhaus. Heftiges Gekeuche, das an einen
Nordoststurm erinnerte, drang zu uns, und ich wußte – so
prompt, wie wenn man eine Schranktür öffnet und einem ein
schwerer Gegenstand auf dem Kopf landet –, daß ich einen
entsetzlichen Fehler gemacht hatte. Ich hatte weder die Zeit,
das Interesse noch die Kraft, meinen Körper von Grund auf
umzukrempeln. Hier war kein Platz für schamhafte Mimosen.
Man würde uns zu Gemeinschaftsduschen ganz ohne Kleidung
zwingen. Und dabei ließ ich kaum je zu, daß ich mich selbst
nackt sah. Für einen Ehemann macht man Ausnahmen. Aber
ein Haufen Frauen, und alle mit schmaleren Taillen und
größeren… Ich brach jetzt schon in kalten Schweiß aus.
»Mrs. Malloy, ich stehe das nicht durch!«
Die Provianttasche zitterte auf ihren Knien. Sie schaute zu mir
hoch wie ein verwundetes Tier, dabei war ich diejenige, die in
der Falle saß. Denn wie konnte ich zurückschrecken, mich auf
dem Altar ihres Überlebens zu opfern? Wenn wir von hier
verschwanden, wäre Mrs. Malloy zurück bei Plan A. Ich faltete
die Hände und sandte ein Gebet um Erleuchtung gen Himmel.
Eigentlich eine ziemliche Frechheit. Manchmal mache ich mir
Sorgen, daß ich Gott wie einen entfernten Cousin behandele,
an den man sich zu Weihnachten und Ostern erinnert, mit
einem gelegentlichen R-Gespräch dazwischen.
»Nun?« Der Schönheitsfleck auf Mrs. Malloys Wange bebte
und schien tatsächlich zu summen wie eine Biene, die im
Begriff ist, abzuheben. Doch bevor ich antworten konnte,
öffnete sich die Tür zum Korridor, und herein kam eine Frau
ganz in Schwarz, von dem um ihren Kopf drapierten Schal bis
zu ihrem Mantel, ihren Handschuhen und ihrer Sonnenbrille.
Ich hatte mein Zeichen erhalten. Ich konnte kaum an dieser
Person vorbeiflüchten, ohne große Unruhe auszulösen. Ich
sank auf meinen Stuhl zurück und flüsterte Mrs. M zu: »Tut
mir leid, die Warterei hat mich ganz nervös gemacht. Das ist
schlimmer als beim Zahnarzt.«
Die Frau in Schwarz setzte sich auf einen Stuhl uns gegenüber,
und wir drei saßen in keineswegs einträchtigem Schweigen da.
Ein paarmal räusperte ich mich, um eine Unterhaltung
anzufangen, brachte jedoch nicht einmal ein »Guten Tag«
heraus. Die Sonnenbrille sprach eine deutliche Sprache. Leider
kann Mrs. Malloy in mancher Hinsicht bemerkenswert taub
sein. Sie fiel fast vom Stuhl, solche Stielaugen machte sie. Ich
wäre nicht im mindesten überrascht gewesen, wenn sie ein
Autogrammalbum aus ihrer Provianttasche zutage gefördert
hätte und durch den Raum gekrochen wäre. Sie ist eine
eingefleischte Prominentenjägerin.
»Das ist nicht die verstorbene Greta Garbo«, flüsterte ich.
»Erzählen Sie mir lieber was Neues.« Ihr heiseres Flüstern
hätte ein Stadion gefüllt. »Das da ist Mrs. Norman the
Doorman.«
»Nein! «Jetzt hatte ich Augen so groß wie Frisbees. Welch
unglaubliches Erlebnis: im selben Raum zu sein wie die
Ehefrau des Lieblingsfernsehstars meiner Kinder. Natürlich
hatte ich gewußt, daß er in dieser Gegend wohnte, aber ich
hätte mir nie träumen lassen, nie zu hoffen gewagt, daß ich so
nah drankommen würde, den Umhang des edlen Verteidigers
der Tinseltown Toys zu berühren. »Schnell!« Ich zerrte an Mrs.
Malloys Pelzarm. »Stift… Papier!«
»Immer mit der Ruhe.« Sie öffnete die Provianttasche und
brachte eine Rolle Toilettenpapier zum Vorschein. »Da, die
kann ich entbehren. Heute morgen hab’ ich zwei davon aus
Ihrem Vorratsschrank geholt, als ich ganz verheult war.«
Sie erwartete von mir, daß ich Mrs. Norman um eine
Unterschrift auf Toilettenpapier bat? Und hatte nicht mal einen
Bleistift? Ein Lippenstift war alles, was sie bieten konnte. Wie
auch immer, in der Not frißt der Teufel Fliegen. Ich raffte mich
von meinem Stuhl hoch, als sich die Tür zum Allerheiligsten
öffnete und Mrs. Huffnagle herauskam, fraglos der
hochnäsigste Mensch von ganz Chitterton Fells, eine von
diesen kräftig geschnürten Frauen, deren Haar es niemals wagt,
ohne Dauerwelle zu erscheinen oder sich im Wind zu bewegen.
Erstaunlich, sie hier anzutreffen, mit einer Ladung
Plastikbehälter und Broschüren unter dem Arm. Sie stolzierte
an uns vorbei, ohne sich herabzulassen, von jemand Notiz zu
nehmen, ausgenommen von sich selbst.
»Barrakuda.«
Ich ließ das Toilettenpapier fallen. Die Worte paßten zu Mrs.
Malloys Kommentarstil, aber die Stimme… Wie gebannt
beobachtete ich, wie die Frau in Schwarz ihr Kopftuch
zurückschob und die Sonnenbrille abnahm. »Immer mit der
Ruhe, Mädchen. Wenn die eingebildete Huffnagle keine Angst
hat, ihr Fahrgestell hier vorzuzeigen, warum sollten wir uns
dann Sorgen machen?« Sie hob eine sehr gepflegte
Augenbraue und strich ihr aschblondes Haar zurück. Nicht
unbedingt eine Schönheit, aber sie besaß hauchfeinen Schick.
Die Schlafzimmeraugen waren schräg geschnitten, ihr Mund
wie amüsiert geschwungen. »Hat eine von Ihnen noch eine
zweite Zahnbürste mitgebracht? Es scheint, als müßten wir hier
übernachten, oder?«
»Sieht so aus«, stieß ich hervor.
»Und ob es das tut!« steuerte Mrs. Malloy in ihrem
vornehmsten Tonfall bei. »Es ist eine furchtbare Warterei. Ich
hab’ gerade schon zu Mrs. H hier gesagt, daß es uns ja nicht
das kleinste bißchen was ausmacht. Wir sind Nobodys. Aber
eine Lady wie Sie, na, es kommt einem doch nicht richtig vor,
das tut’s wirklich nicht.«
»Wir haben erraten, wer Sie sind.« Ich beugte mich auf
meinem Stuhl vor. »Wir haben uns durch die Brille nicht
täuschen lassen, Mrs….?«
»Diamond. Mrs. Norman Diamond.«
Es paßte zu ihr. Als sie die Handschuhe auszog, kamen genug
Ringe an ihren Fingern zum Vorschein, um ein Zimmer damit
zu erleuchten. »Aber nennen Sie mich ruhig Jacqueline.«
»Und ich bin Ellie Haskell.«
»Roxie Malloy.« Schnapp machte der Verschluß der
Provianttasche. »Wenn ich Ihnen meine Karte überreichen darf
– ich übernehme alle im Haushalt anfallenden Arbeiten, und
ich meine alle. Decken, Dachrinnen, Kamine – ganz nach
Wunsch!«
Ich bückte mich, um das Toilettenpapier aufzuheben, aber es
entwischte mir und wickelte sich quer durchs Zimmer ab.
Mrs. Diamond… Jacqueline streckte einen Fuß aus, um es
davon abzuhalten, unter ihren Stuhl zu rollen und schickte es
zu mir zurück. »Sie sind wirklich gut vorbereitet.«
Von diesem kleinen Scherz ermutigt, plapperte ich los: »Sie
haben ja keine Ahnung, welche Ehre es ist, im selben Raum
wie Sie zu sein… ich wünschte, ich könnte ausdrücken… Aber
mir fehlen die Worte… ich kann nur sagen, daß meine Kinder
und ich die größten, glühendsten Fans Ihres Mannes sind. Wir
ärgern uns, wenn wir eine Folge verpassen.«
»Nein, wie lieb von Ihnen! Da kriegen Sie ihn öfter zu sehen
als ich.«
»Unsere absolute Lieblingsszene bisher war, als er die
zerbrochenen Spielzeuge zur Werkstatt des Weihnachtsmanns
zurückbrachte.«
»Die, als er in 1500 Metern Höhe von Rudolphs Schlitten
hing? Ich verrate Ihnen ein Geheimnis.«
»Wie aufregend!« Der Zwischenruf kam von Mrs. Malloy.
»Zu Hause hat Normie selbst Angst, auf einem Stuhl zu
stehen.«
»Wäre es eine schreckliche Zumutung, Sie um ein Autogramm
zu bitten? Und wenn Sie so freundlich wären, als Mrs. Norman
the Doorman zu unterschreiben.« Ich bückte mich nach dem
Toilettenpapier, kam jedoch nicht dazu, es aufzuheben. Mein
Blick blieb an meinem Regenmantel hängen, der sich einen
Spalt geöffnet hatte, und ich war wie gelähmt. Mein Herz
vollführte einen Salto und rutschte zu dem Bleigewicht in
meiner Schürzentasche. Wie unsäglich peinlich! Bei dem
eiligen Aufbruch, in der Panik, zu spät zu dem Termin zu
kommen, hatte ich vergessen, meine Schürze abzunehmen.
Was mußte die tadellos gekleidete Mrs. Diamond von mir
denken? Und sie wußte nicht einmal die Hälfte. Die Pistole!
Dumm wie ich war, hätte ich mir die Knie zerschießen können,
schon allein indem ich mich bückte, um dieses verflixte
Toilettenpapier aufzuheben. Aber dem Himmel sei Dank für
kleine Gnadenfristen. Mrs. Malloy machte eine große Schau
daraus, das Toilettenpapier einzufangen und es wegzustecken.
Bis sie noch zwei weitere Karten hervorgeholt und überreicht
hatte, zusammen mit einem Eyeliner-Stift für die begehrte
Unterschrift, hatte ich mich wieder gefaßt.
»Entschuldigung, ich muß mal aufs Klo.« Mit diesen Worten
flitzte ich aus dem Zimmer, schloß die Tür, knöpfte meinen
Regenmantel auf, riß die Schürze ab und versuchte, sie in die
Tasche meines Regenmantels zu stopfen. Nichts zu machen.
Ich mußte sie irgendwo Zwischenlagern, bis ich dieses
verwünschte Gespräch hinter mir hatte – wenn es jemals
stattfinden sollte, bevor ich starb. Das Plätschern des
Wasserfalls lockte mich zu dem gekiesten Becken unter der
Wendeltreppe. Neben der Nymphe mit dem triefnassen Gesicht
auf ihrem Felsen zwischen den Seerosen stand eine Urne aus
Terrakotta. Neptun sei gelobt! Nicht so schnell – ich schaute
durch den Brunnenschacht im Innern der Treppe nach oben
und sah ein dunkles Gehusch von Trikots. Wie peinlich, sollte
irgend jemand hinunterschauen und sehen, wie ich hier kauerte
und ein verdächtiges Bündel umklammert hielt! Aber die Zeit
lief mir davon. Und das Leben ist ein Glücksspiel.
Ich hatte gerade mein Bündel hineinfallen lassen, wobei ich
mich naß spritzte und wünschte, ich wäre zu Hause bei einer
sinnvollen Beschäftigung, wie den Küchenboden zu schrubben,
als die Tür zum Wartezimmer aufsprang. Dort stand Mrs.
Malloy, die Hände in die Leopardenhüften gestemmt.
»Das Klo nicht gefunden?«
Während ich terrakottarot anlief, versicherte ich Ihrer Hoheit,
daß ich den Krug nicht zu dem Zweck benutzt hatte, den sie
vermutete.
»Geht mich doch nichts an, Mrs. H, wo Sie’s tun. Haben Sie
den Summer nicht gehört? Wir werden zu unserem Gespräch
zitiert. Ich hab’ Mrs. Diamond angeboten, vor uns reinzugehen,
aber da sie eine echte Lady ist, wollte sie nichts davon hören.
Daran erkennt man wahre Klasse, wissen Sie – wie sie die
kleinen Leute behandeln. Haben Sie Ihre Zunge verschluckt?
Sie sehen aus, als ob Ihnen schlecht wäre.«
»Ich bin nervös.«
»Quatsch. Sie haben doch mich.«
»Aber Mrs. Malloy«, sagte ich, während sie meinen Arm nahm
und mit mir ins Wartezimmer zurückmarschierte. »Ich habe
überlegt, es wäre vielleicht besser, wenn wir getrennt
hineingehen. Schließlich haben wir beide Dinge persönlicher
Natur zu besprechen.«
»Alle Geheimnisse, die ich vor Ihnen hatte, Mrs. H, sind heute
morgen zum Fenster rausgeflogen. Als ich Ihnen das Herz
ausschüttete, hatte ich gehofft, es wäre eine beiderseitige
Sache. Pardonnez-moi, daß ich unseren unterschiedlichen
Stand vergessen habe. Scheint so, als wäre ich gut genug, Ihre
Toiletten zu schrubben, aber nicht gut genug, um über das Rein
und Raus Ihres Ehelebens Bescheid zu wissen.«
Hätte Sie es nicht irgendwie anders ausdrücken können?
Als sie merkte, daß Mrs. Diamond jedes Wort aufsaugte,
senkte Mrs. M die Stimme um ein halbes Dezibel. »Ich
behaupte nicht, daß Sie meine Gefühle nicht ziemlich grausam
verletzt haben, aber niemand soll sagen, daß ich nicht weiß, wo
mein Platz ist…«
»Ach, seien Sie doch nicht so empfindlich.« Mit der Hand auf
dem Türknauf des Allerheiligsten, drehte ich mich um, lächelte
Mrs. Diamond zu, die daraufhin den Daumen hochstreckte, und
schob die demütige Dulderin vor mir hinein. Nicht so schnell.
Sie wich zurück und trat mir auf die Füße.
»Wenn sie nach meinem Namen fragt, sage ich Mrs. Alvin
Vincent-Malloy. Mein erster Ehemann war Albert und der
zweite Vincent, deshalb hat es sozusagen sentimentale Gründe,
ja?«
»Kapiert«, flüsterte ich zurück.
Die Sie, die die Fragen stellen würde, war eine Blonde mit
Champagnerhaar in einem schwarzen Lederminikleid.
Stichwort Erfolgspose – sie thronte mit gekreuzten Beinen auf
der Kante des gewaltigen Schreibtisches in einem Raum, der
wie ein von den Kew Gardens überführtes Gewächshaus mit
tropischen Pflanzen aussah.
»Guten Tag, Mrs. Hapskill.« Ms. Fully Female schaute von
dem Terminkalender auf, den sie überprüfte. Dann begannen
ihre großen Augen zu funkeln, und ihr glänzender Mund
verzog sich zu einem breiten Lächeln, sie streckte die Arme
aus und ließ dabei den Terminkalender fallen.
»Ellie!«
»Bunty!« Mein Vergnügen war mit Entsetzen gemischt. Ich
hatte mich auf eine Fremde eingestellt. Die Anonymität des
Unpersönlichen. Bunty Wiseman – Ex-Tänzerin und Ehefrau
des prominentesten Anwalts von Chitterton Fells – und ich
hatten uns eine Zeitlang ziemlich oft getroffen. Die
ungesetzlichen Aktivitäten seitens eines feinen Damenclubs
hatten uns zusammengeführt, und wir hatten uns angefreundet.
Aber nachdem besagte Aufregung sich gelegt hatte, verloren
wir uns aus den Augen. Bunty war im Fitneßstudio beschäftigt,
und ich war damit beschäftigt, schwanger zu sein. Sie und
Ehemann Lionel hatten ein Geschenk geschickt, als die Babys
zur Welt kamen. Ich hatte eine Dankeskarte geschickt und
ernsthaft vorgehabt, sie zum Abendessen einzuladen. Aber Sie
wissen ja, wie das ist.
»Diese dumme Sekretärin! Sie hat Ellen Hapskill geschrieben,
und ich wäre nie im Leben daraufgekommen, daß du das bist!
Zunächst mal weiß ich, daß dein Vorname nicht Ellen ist
und…« Bunty hörte auf, mich zu umarmen und hielt mich auf
Armeslänge von sich. »Um ganz ehrlich zu dir zu sein, Süße,
du bist die allerletzte, von der ich erwartet hätte, daß sie meine
Dienste braucht. Meine Klientinnen sind gewöhnlich nicht mit
solchen Traummännern wie Ben verheiratet!«
Ich starrte sie an und wußte nicht, was ich sagen sollte.
Dem Himmel sei Dank für Mrs. Malloy, man konnte sich
immer darauf verlassen, daß sie im entscheidenden Moment
die Dinge wieder ins Lot brachte.
»Verzeihen Sie, soll ich hier stehen wie ein Türstopper, oder
können wir zur Sache kommen?«
Ich erklärte, daß wir das Zwei-zum-Preis-von-einer-Angebot
nutzen wollen.
»Recht habt ihr, Mädchen, machen wir’s uns gemütlich.«
Langbeinig, auf Absätzen, die sogar noch höher waren als die
von Mrs. M, zog Bunty zwei Stühle herbei, bedeutete uns,
Platz zu nehmen und hockte sich wieder auf den Schreibtisch.
»Also, meine Lieben! Ich fange ganz von vorn an. Wollt ihr
wissen, wie es kommt, daß ich Fully Female gegründet habe?
Tja, dann mal los. Ihr wißt ja, wie die Leute immer über mich
und Lionel geredet haben – weil er gut zwanzig Jahre älter ist
und ich klassenmäßig zu wünschen übriglasse. Wir haben uns
oft köstlich darüber amüsiert. Ich schaute mir diese Frauen mit
ihren Perlenketten und Tweedröcken an und dachte, ihr armen
Dummchen, ihr habt ja überhaupt keine Ahnung, wie ihr eure
Männer glücklich machen könnt. Li war es schnurzegal, wenn
ich auf Cocktailpartys einen Schnitzer machte. Ihr hättet ihn
lachen hören sollen, als ich einmal irgendeinem hohen Tier
erzählte, ich mache mir nichts aus Ballett, weil es nicht in
Englisch sei. Li sagte, der alte Langweiler würde jederzeit mit
ihm tauschen, um mit mir ins Bett zu steigen. Aber nachdem
ich eine gewisse Zeit hier in Chitterton Fells gelebt hatte…«
»Raus damit«, drängte Mrs. Malloy.
Bunty nahm einen Bleistift und drehte ihn zwischen den
manikürten Fingern. »Nach einer Weile lernte ich einige dieser
Tweeddamen näher kennen… und da warst du, Ellie…«
»Vielen, vielen Dank.«
»Versteht ihr, was ich sagen will?« Ein kurzes perlmuttrosa
Lächeln. »Ich begriff allmählich, daß sie hinter ihrer
hochnäsigen Fassade und ich mit meiner Cockney-Art doch
Schwestern waren.«
»Hat jemand eine Geige?« fragte Mrs. Malloy.
Bunty fuhr fort, als ob es den Einwurf nicht gegeben hätte.
»Ich fand nur, daß manche Frauen es sich nicht erlauben,
Frauen zu sein. Ich hatte schon länger gedacht, daß es lustig
sein könnte, wieder auf den Brettern zu stehen und im Sommer
zu arbeiten. Da war dieser Typ, der das Theater auf dem
Shipston-Pier leitet und hinter mir her war – in mehr als einer
Hinsicht. Dann schlug meine Friseuse vor, ich sollte einen
Aerobic-Kurs geben, und mir kam ein genialer Einfall. Ich
würde alle möglichen Kurse anbieten. Ich würde ein Programm
auf die Beine stellen für Frauen, die ganz Frau sein wollten,
eben Fully Female. Li erkannte auf Anhieb die Möglichkeiten,
die in diesem Plan steckten. Wir verkauften The Laurels…«
Mrs. Malloys Stirn verfinsterte sich. »Sie haben es hinter
meinem Rücken verkauft, ohne mich auch nur zu fragen – nach
all den Jahren, in denen ich so treue Dienste geleistet hatte.
Damals ging ich zu Ihrer Tür hinaus, Mrs. H, zum letztenmal.«
»Der schlimmste Tag meines Lebens«, sagte Bunty. »Seitdem
kann ich kein Johnson’s Lavendelwachs riechen, ohne in
Tränen auszubrechen.« Ihr Zwinkern wischte
erstaunlicherweise den übellaunigen Ausdruck von Mrs. Ms
Gesicht.
»Wo war ich stehengeblieben? Ach ja… Li war ganz dafür,
daß ich Unternehmerin werde. Er schickte mich in Kurorte in
ganz Europa und in die Staaten. Ich lernte Aromatherapie,
Vitanutrition, alles über Aphrodisiaka, was das Herz begehrt,
und… hier bin ich.«
Mein Blick folgte Bunty zu einer Vitrine voll mit
durchsichtigen Plastikgläsern, wie Mrs. Huffhagle sie vorhin
zur Tür hinausgetragen hatte. »Jede, die sich bei Fully Female
einschreibt, benutzt unsere Diätergänzungs- und
Kräuterschönheitshilfen, die für uns von einer Klinik in der
Schweiz zubereitet werden. Und es läuft ganz hervorragend,
trotz der gelegentlichen Pannen. Ich finde keine gute
Sekretärin, wie Sie sicher bemerkt haben, Mrs. Hapskill.«
Bunty zog ihre hübsche kleine Nase kraus und warf den
Bleistift hin, mit dem sie gespielt hatte. Sie hob die Arme über
den Kopf, verschränkte die Hände mit den Handflächen nach
oben und streckte sich. »Eines der Dinge, die wir hier lehren,
ihr Süßen, ist, daß man sich nach dem Sitzen immer die Zeit
nimmt, sich wieder beweglich zu machen – ganz gleich, wo
man sich befindet, selbst in der Kirche.«
»Da möchte ich das Gesicht des Pfarrers sehen.« Mrs. Malloy
kicherte heidnisch.
»‘n ziemlicher Stockfisch, oder?« Bunty bog den Hals, so daß
ihre blonden Locken im vollen Strahl des elektrischen Lichts
golden aufschimmerten. »Das muß der Grund sein, warum er
aus dem Verkehr gezogen wird.«
»Oh, das stimmt nicht!« rief ich entgeistert. »Er ist ein
gesunder junger Mann.« Die Kirche würde ohne Reverend
Rowland Foxworth nie mehr dasselbe sein. »Wo hast du denn
das gehört?«
»Von Gladys Thorn, glaube ich. Du weißt schon, die
Kirchenorganistin. Womit wir wieder beim Thema Bürohilfen
wären. Li hat sogar vorgeschlagen, daß ich ihr einen Job als
Sekretärin anbiete. Sie hilft in seinem Büro aus, seit seine
Sekretärin gegangen ist. Erinnert ihr euch an Teddy Peerless?
Sie hat endlich mit Edwin Dingby, dem Krimiautor, den Bund
fürs Leben geschlossen. Wenn man Li glauben darf, ist die gute
alte Glad ein Genie an der Schreibmaschine, aber, mal in aller
Gehässigkeit, sie hat nicht gerade das Zeug zur
Empfangsdame. Ich bitte euch! Eine Frau, deren Hobbys
Vogelbeobachtung und das Sammeln von Telefonbüchern sind!
Jeder munkelt über das Geheimnis ihres Sex-Appeals, aber
wenn ihr mich fragt, ist das die Ente des Jahrhunderts. Selbst
meine Wunderprodukte könnten da nichts ausrichten…«
Bunty wurde grob vom Klingeln des Telefons unterbrochen.
»Sekunde mal.« Ihre manikürte Hand griff nach dem Hörer und
hielt ihn an ihr Ohr. »Li, Darling! Du hast recht, Süßer, es paßt
gerade nicht, aber… o nein, sag nicht ab, um zum Essen nach
Hause zu kommen. Ich stecke bis zum Bauchnabel in Arbeit.
Im Augenblick habe ich gerade zwei Frauen bei mir im Büro,
die daran denken, Mitglied zu werden.« Sie legte eine Hand
über die Sprechmuschel, sah uns mit funkelnden Augen an und
formte mit den Lippen: »Wollt ihr nicht eintreten? Bitte, bitte!«
»Was meinen Sie, Mrs. Alvin Vincent-Malloy?« fragte ich.
In meinen Tagen als alte Jungfer hatte ich über diesen
romantischen, vom abendlichen Dämmerlicht
weichgezeichneten Augenblick phantasiert, wenn Schlag sechs
die Haustür aufgeht und die süße Serenade erklingt: »Liebling,
ich bin zu Hause.« Die Phantasie fand mich stets in ein
Schaumbad eingelegt vor, ein verführerisches Knie erhob sich
aus dem Schaum, meine griechischen Locken quollen unter
einem Samtband hervor. Mein Mann würde ins Badezimmer
kommen, eine Flasche Champagner in das herzförmige
Waschbecken legen und wie angewurzelt dastehen. »Mein
Gott, Frau, bist du hinreißend! Rühr dich nicht vom Fleck,
mein Schatz. Lass’ mich dieses Bild für alle Zeit in mein Herz
einbrennen.«
Ben, der zur Hintertür hereinkam, fand mich in der Küche vor,
bis zu den Ellbogen in Windellauge.
»Sag bloß, du bist schon zu Hause!« Vorwurfsvoller Blick auf
die Uhr. »Du bist doch gerade erst gegangen.« Alle vier Wände
wurden naß gespritzt, als ich das Wasser von den Händen
schüttelte.
»Ich bin so froh, daß ich mir den Abend freigenommen habe.«
Mit sich verfinsterndem Blick sah er sich nach einem freien
Platz um, wo er seinen Mantel ablegen konnte, aber der Tisch
war übersät mit Überresten von der Fünf-Uhr-Mahlzeit der
Babys und jeder Stuhl bis an die Lehnen mit
zusammengefalteter Wäsche oder Einkaufstaschen besetzt. Er
warf sich den Mantel über die Schulter, stand da, die Hände in
die Hüften gestemmt, und schaute sich im Raum um. Nelson
auf seiner Säule, der die Taubenscheiße auf dem Trafalgar
Square mustert. Dieser Mann hatte mich mit dem Rücken an
die Spüle gedrängt.
Ich wischte mir den Seifenschaum von der Stirn und sagte:
»Also, hier drin herrscht Chaos.«
»Haben die Babys verrückt gespielt?«
Nur ein Feigling verschanzt sich hinter seinen Kindern. »Sie
waren ganz brav und sind schon im Bett.«
»Hat Mrs. Malloy sich nicht blicken lassen?«
»Doch, aber sie fühlte sich nicht wohl… und mußte früher
gehen.« Ich bereitete mich innerlich darauf vor, ihm zu sagen,
daß ich mit ihr zu Fully Female gefahren war, als er begann,
den Geschirrspüler zu beladen. Ich wußte, wie sehr er es haßte,
wenn man während besagter Tätigkeit seine Konzentration
störte. Daß nur ja keine Müsli-Schale am falschen Platz
landete!
»Ellie, denk nicht, daß ich dich kritisieren will…«
»Gottbewahre!«
»… aber vielleicht solltest du Listen machen.«
Ich wrang weiter Windeln aus, als würde ich Hühnern den Hals
umdrehen. »Ich nehme an, deine Mutter…«
»Naja, du kennst ja Mum – eine Perfektionistin.«
»Bis aufs Messer!«
Ich riß den Stöpsel aus dem Spülbecken und lauschte auf das
Gurgeln – einem Menschen so ähnlich, vorzugsweise
männlich, der erdrosselt wurde. Und wenn ich daran dachte,
daß ich bereit gewesen war, mich von Grund auf neu zu
gestalten, einzig aus dem Interesse heraus, daß diese Ehe
funktionierte. Tja, aus und vorbei. Mrs. Malloy würde ein
großes Mädchen sein und allein zu ihrer ersten Fully-Female-
Versammlung gehen müssen. Morgen früh würde ich Bunty
anrufen und…
Meine Überlegungen kamen quietschend zum Stillstand. Ich
hatte mir die Hände an der Schürze abwischen wollen und
stellte fest, daß ich keine trug. Sie war drüben in Buntys Haus,
in die Terrakotta-Urne beim Wasserfall gestopft – mit Mrs.
Malloys Pistole in der Tasche.
»Was ist los, Ellie?«
»Nichts.«
Ich warf die Windeln in den Wäschekorb und blickte mich in
der Küche um. Welch eine Verwandlung! In sage und schreibe
fünf Minuten hatte Ben aus Chaos Ordnung geschaffen.
Sämtliche Arbeitsflächen waren abgewischt. Die Lebensmittel
standen wieder in der Speisekammer, und das Bügelbrett war
wieder in seinen Schrank verbannt. Nicht ein einziger Fettfleck
an seiner Hemdmanschette verriet, daß dieser Mann in seinem
eigenen Haus zu einer Dienstmagd degradiert wurde. In seinen
eleganten Händen hätte der Besen ein Spazierstock mit
silbernem Knauf sein können.
Das Lächeln, das Ben mir schenkte, hätte einst Pate aus
meinem Herzen gemacht. »Wie wär’s, wenn ich uns beiden vor
dem Abendessen ein Glas Weißwein einschenke?« Sein Blick
wanderte zum Herd, der in sträflicher Muße dastand.
»Einverstanden mit Tiefkühlkost?« Ich ging zur Gefriertruhe
hinüber und holte eine Aluminiumpackung heraus. »Wie
hättest du dein Fleisch gern getaut, Liebes?«
Es war ein Moment von solch erlesener Zerbrechlichkeit, daß
es lediglich eines Klagelauts von einem der Babys bedurfte, der
durch die Sprechanlage sickerte, um die Stimmung zu
zerstören.
»Ich gehe zu ihnen rauf«, sagte er.
»Das Beefsteak ist fertig, sobald du fertig bist.« Mein Lächeln
klebte auf meinem Gesicht wie das gefrorene Päckchen an
meinen Handflächen.
»Schon gut. Wir stopfen uns beim Heim-und-Herd-Verein mit
Käse und Crackern voll.«
Mist! Ben war zur Tür hinaus, bevor ich ihm erklären konnte,
daß mir die blöde Versammlung total entfallen war. Bestimmt
konnte er doch verstehen, daß nichts auf Gottes grüner Erde es
mir ermöglichen würde, um sieben im Pfarrhaus zu sein. Selbst
wenn Freddy sich beschwatzen ließ, zum zweitenmal binnen
vierundzwanzig Stunden auf die Zwillinge aufzupassen, war
ich nicht in der Stimmung für die Mühsal, mich für Reverend
Rowland Foxworth zurechtzumachen. Keine Chance, daß ich
innerhalb einer Stunde zehn Kilo abnahm. Ben würde allein
gehen müssen, da war nichts zu machen. Als Programmleiter
des Komitees der Dads auf Draht hätte er mit Sicherheit solch
einen Mordsspaß, daß er mich nicht vermissen würde.
Als ich das Fleisch wieder in die Gefriertruhe legte, entdeckte
ich das Handbuch von Fully Female auf dem Kühlschrank, wo
ich es beim Nachhausekommen abgelegt hatte. Solange es in
meiner Handtasche gesteckt hatte, war ich mir wie… nackt
vorgekommen. Da lag es nun, lockte mich mit seinem schwarz­
weißen Cover, während mir heiß und kalt wurde bei dem
Gedanken, daß Ben es gesehen haben könnte und den
vorschnellen Schluß zog, daß ich irgendwie pervers war. Das
letzte, was ich gebrauchen konnte, wo die Windeln noch
draußen aufgehängt werden mußten, war allerdings, daß er
platt auf dem Rücken lag und »Nimm mich!« ächzte.
Doch noch während ich diese einer Ehefrau unziemlichen
Gedanken hegte, blätterte ich im Fully-Female-Hand-buch zu
Kapitel eins.

Das Paarungsspiel
Meine Damen, sitzen wir auch gemütlich auf unserer
Stuhlkante? Dann beginnen wir mit einer kleinen Geschichte
aus dem Leben meiner Wenigkeit – Bunty Wiseman. Und daß
mir ja keine von Ihnen auf die Idee kommt, daß diese
Publikation von deinem Ghostwriter verfaßt wurde, der auch
diese Schweinebauchreklame für Hoskins, den Metzger,
schreibt. Diese weisen weiblichen Worte kommen alle aus
berufenem Munde. Nun, was ich sagen wollte, bevor ich mich
unhöflicherweise selbst unterbrochen habe: Lionel Wiseman
von Bragg, Wiseman & Smith, Rechtsanwälte, heiratete mich –
eine blonde Sexbombe, jung genug, um seine Tochter zu sein –
hinter dem Rücken der Stadt.
Es war ein modernes Märchen! Sie können Ihren Büstenhalter
darauf verwetten! Ich begann meine Bühnenkarriere als Kind,
tanzte auf der Theke des Pubs meiner Tante Et, The Pig &
Whistle, in Luton. Mit Zwanzig und noch was warf ich dann
die Beine in einer Cafetheater-Produktion der Tin Can Alley in
Gravesend. Da kommt eines Abends dieser Typ
hereinmarschiert, der aussieht wie Cary Grant, so spricht wie
die BBC und maßgefertigte Socken trägt. Nach der Show
klopft er an meine Garderobentür. Ob ich Lust hätte, ihm bei
einem kleinen Abendessen Gesellschaft zu leisten? Sein Jaguar
warte draußen, und er nennt den Namen eines Nachtclubs, wo
ein Glas Wasser mehr kostet als sonst ein Abendessen mit vier
Gängen. Man sagte, es würde nicht gutgehen. Aber wir zeigten
es ihnen, Li und ich. Wo wir hinsahen, ließen sich die Leute
scheiden, während wir weiter das Märchen aus Tausend und
einer Nacht lebten.
Dann kam der Tag, als aus dem Mädel mit dem nicht
jugendfreien Lächeln eine Frau mit einer Mission wurde. Eine
Bekannte von mir – wir wollen sie Mrs. A nennen – fing mich
auf der Abfertigungsspur von Tesco’s Supermarkt ab und
schüttete mir ihr Herz aus. Anscheinend steckte ihre Ehe in
großen Schwierigkeiten. Schwierigkeiten mit einer anderen
Frau. Und man brauchte nicht in Oxford studiert zu haben, um
zu erkennen, warum. Mrs. A hatte keine Ahnung, wie sie die
Hormone ihres Mannes auf Trab halten sollte. Sie hatte nie
einen schwarzen Strapsgürtel oder durchsichtige Wäsche
besessen. Sex war eine Sache, die ein Mann brauchte, so wie
eine gewisse Dosis Badesalz, die sie einmal pro Woche immer
freitags reichte, zu einem Bad und frischer Unterwäsche. Arme
Mrs. A. Sie nutzte »diese Gelegenheiten«, um die Mahlzeiten
für die folgende Woche zu planen.
Glauben Sie mir, ich war erschüttert! Ich hatte nicht gewußt,
daß es immer noch Frauen gibt, die im finsteren Mittelalter
leben, die ihre große Nacktszene immer noch im Dunkeln
spielen. Ich gab Mrs. A einige kleine Tips, zum Beispiel, diese
alte elektrische Zahnbürste nicht wegzuwerfen. Und sie wurde
so zufriedengestellt, daß sie mich Mrs. B empfahl, und im
Handumdrehen war ich von Frauen umlagert, die es alle
danach dürstete, die glückliche Ehe- und Hausfrau zu werden.
Also was meinen Sie, liebe Mitfrauen? Sind Sie bereit, den
alten Körper gegen einen neuen einzutauschen? Sind Sie
willens, zu der Frau zu werden, die er sich immer gewünscht
hat? Höre ich da ein überwältigendes Ja? Hurra! Dann fangen
wir an. Jetzt. Auf der Stelle.
Bevor Sie Ihrem Ehemann etwas Gutes tun können, müssen Sie
sich selbst etwas Gutes tun. Zuerst mixen Sie sich mal einen
Drink. Zwei Teelöffel Fully-Female-Elixier, aufgelöst in 250
ml Wasser oder Fruchtsaft…

»Ellie?« Bens Stimme schlug über mir zusammen.


»Was?« Ich klappte das Buch zu und versuchte, es in meinen
Rockbund zu stecken – völlig sinnlos und unnötig, weil mein
Gatte gar nicht zu mir in die Küche gekommen war. Dem
akustischen Nachhall zufolge, schrie er über das
Treppengeländer.
»Ich habe Freddy angerufen, er kommt in einer halben Stunde
rüber, um auf die Zwillinge aufzupassen. Ist es nicht Zeit, daß
du dich fertig machst?«
In den letzten Minuten hatte sich etwas für mich verändert.
Nein, ich war nicht plötzlich in neuer Leidenschaft entbrannt.
Was ich fühlte, war eine aufkeimende süße Erinnerung – an die
Tage, als die bloße Berührung seiner Hand ausreichte, um in
mir das Verlangen zu wecken, mir die Unterwäsche vom Leib
zu reißen. Aber ich konnte ihm schlecht mit dem Fully-Female-
Führer in den Händen sagen, daß ich nicht zu der Heim-und-
Herd-Versammlung mitgehen wollte. Das wäre so ähnlich
gewesen wie mit der Bibel in der Hand zu sagen, ich sei zu
beschäftigt, um in die Kirche zu gehen.
»Ich komme in einer Minute rauf, um mich umzuziehen«, rief
ich, bevor ich in die Speisekammer ging. Dort schob ich die
Mehlkiste und die Keksdose zur Seite, als wären sie die
Geheimtür zu einem Priesterversteck, und holte meinen
Lebensvorrat an Päckchen mit Kräuter-Kraftkur und Gläsern
mit dem Fully-Female-Elixier heraus, den ich bei meinem
Gespräch mit Bunty Wiseman erstanden hatte. Mit dem, was
ich für mich und Mrs. Malloy bezahlt hatte, hätte ich uns
beiden einen neuen Körper kaufen können, aber sie hatte
gesagt, sie hänge an ihrem. Ich versteckte die Kräuter wieder,
ebenso die Gläser mit dem Elixier, bis auf eines. Ich verrührte
meine beiden Eßlöffel (kräftig, dem Rezept entsprechend), bis
die körnige Substanz gallertartig wurde. Aha, Gelatine! Mit
Buch und Glas in den Händen ging ich die Stufen zum Bad
hinauf.

Lektion eins, Mitfrau. Ich will, daß Sie Ihr Bad als eine Lagune
sehen, in der Sie sich aalen – und nicht als einen Ort, um sich
kochen zu lassen wie ein Hummer. Jawohl, jede Menge schön
warmes Wasser. Jetzt gießen Sie einen reichlichen Schuß Fully
Female Fantasy hinzu…
Als ich endlich eine Flasche derselben aus dem
Handtuchschrank ausgegraben und die Wasserhähne zugedreht
hatte, war mein Glas Fully-Female-Elixier fest geworden.
Sollte ich es auf der Seifenschale zerstoßen und so tun, als ob
es eine Mousse wäre? Eine kleine Kostprobe mit dem Finger
gab den Ausschlag. Schmeiß das in die Toilette und fang
morgen noch mal von vorn an. Ich glitt in das parfümierte
Wasser und empfand einen Augenblick lang ein Gefühl reinen
Friedens, als es über meine Brust schwappte. Mein Haar hatte
sich gelöst und trieb auf der Oberfläche. Ich kam mir vor wie
eine Wassernymphe, der es bestimmt war, hier zu weilen, bis
der Traumprinz um die Ecke des Schicksals geritten kam. War
es denn möglich, daß Ben und ich die alte Magie
wiederentdeckten?
Ich griff mit triefnasser Hand nach dem Buch und las an der
Stelle weiter, wo ich aufgehört hatte.

Tauchen Sie unter, Nixe. Spüren Sie die Bewegungen des


Wassers, wenn Sie sich unter seiner warmen Schwere regen.
Lassen Sie es Sie wiegen. Lassen Sie es sich Ihrem Körper
anpassen, bis die Wellen zu seinen Händen werden, die Ihr
feuchtes Fleisch liebkosen…

»Ellie?« Eine wehleidige Stimme an der Badezimmertür.


Die Stimmung war dahin. Meine Hand platschte auf das
kosende Badewasser und sandte eine zwei Meter hohe Fontäne
zur Decke. Peng ging das Buch zu Boden.
»Was denn, Bentley?«
»Wo sind meine guten Socken?«
»Deine was?«
»Die, die Mum für mich zum Geburtstag gestrickt hat.« Die
Tür öffnete sich einen Spalt, dann schloß sie sich wieder, als
rechne er mit dem Schlimmsten – einem Waschlappengeschoß
oder der Nachricht, daß ich die Socken in den Trockner
gesteckt und etwas Größeres und Wolligeres sie aufgefressen
hatte.
»In der gewohnten Schublade.«
»Und mein braun-grau gestreiftes Hemd?«
»Im Bügelkorb.«
»Ellie, ich habe dich gebeten – dich angefleht-, meine Hemden
nicht in den Korb zu legen! Ist es zuviel verlangt, daß du sie
aufhängst?« Schritte stapften die Treppe hinunter.
Als ich so zerknittert aus dem Bad stieg wie das blöde Hemd,
stellte ich mich den Tatsachen. Ich hatte noch eine Menge
Kapitel in diesem Erlebnis-Ehe-Handbuch vor mir und – wenn
die Zeiger meiner Uhr mich nicht frech belogen – etwa
fünfzehn Minuten, um mich für die Abendgesellschaft fertig zu
machen. Entscheidungen waren gefragt! Sollte ich mein Haar
zu einem französischen Zopf flechten, oder reichte ein Knoten
auf die Schnelle? Konnte ich den ganzen Abend mit
eingezogenen Wangen durchstehen, während ich einen
geselligen Schlagabtausch in Gang halten mußte?
Klopf, klopf an der Badezimmertür, aber dem Himmel sei Dank
für kleine Gnaden. Es war nur der komme horrible, Cousin
Freddy, dessen Stimme die Stille erfüllte, als ich den
Haartrockner ausschaltete.
»Mary Poppins meldet sich zur Stelle.«
Die Hände in meinem Haar verheddert, das schneller wieder
hinunterfiel, als ich es aufstecken konnte, stellte ich mir vor,
wie er gegen die Tür gelehnt stand, vielleicht mit seinen
Wikingerhörnern auf dem Kopf, mit funkelnden Augen und
einem hämischen Grinsen.
»Eine Hand wäscht die andere, Ellie, altes Haus. Ich versteh’
ja, daß du unter Druck warst, als du heute nachmittag nach
Hause kamst, aber jetzt pack mal aus. Wie war deine Sitzung in
der Sexklinik? Irgendeine köstliche Ferkelei zu berichten?«
»Halt die Klappe, Freddy«, sagte ich, während ich mich in ein
Strandlaken wickelte, »ich habe nicht vor, diese Sache mit dir
zu erörtern, nur soviel… solltest du zufällig auf Gläser mit
einem Pulverzeug in der Speisekammer stoßen – sie sind nicht
für die Zwillinge.«
»Ein Aphrodisiakum, wie?« Seine Stimme, die jede Silbe
betonte, schlich sich von hinten an, als ich das Fully-Female-
Handbuch hinter dem Wasserbehälter der Toilette versteckte.
»Ein Rat von einem weisen alten Mann: Die können ziemlich
gefährlich sein.«
»Gefährlich könnte es werden« – ich blickte finster zur Tür –, »
wenn du Ben irgendwas davon sagst.«
»Er hat nicht etwa angedeutet, daß du dich dort anmelden
sollst? Die ganze Stadt ist in heller Aufregung wegen dieser
Sache.«
»Mit keinem Wort.« Ich nahm eine Haarnadel aus dem Mund,
hielt einen Augenblick inne und fragte mich, warum Ben
keinen Ton gesagt hatte.
Ben und ich legten in seinem Wagen, einem Vehikel
zweifelhafter Herkunft, die lächerlich kurze Strecke über die
Cliff Road zum Pfarrhaus zurück. Die Räder ließen den Kies
hochspritzen, als wir auf den Kirchhof brausten und sich eine
Schar Vögel flatternd und zwitschernd zwischen die geduckten
Grabsteine flüchteten. Die St.-Anselm-Kirche schoß auf uns
zu, ganz Glockenturm und Buntglasscheiben. Innen war sie so
hell erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum.
»Ben, glaubst du, wir treffen uns in der Kirchen, anstatt im
Pfarrhaus?«
Er antwortete nicht. Unmittelbar, bevor er eines der Autos
rammte, die bereits auf dem schmalen Weg parkten, der
aussah, als gehöre er in einen Irrgarten, zog er den Heinz 57
durch eine winzige Lücke im Gebüsch nach links. Wir kamen
knirschend auf einem Stück Mosaikpflaster, auf dem in einer
Ecke ein Vogelbad kauerte, zum Stehen.
Bens Hand fuhr an seinen Hals.
Ganz meine Meinung.
»Blöder Schlips! Damit sehe ich aus, als hätte ich zehn Pfund
zugenommen.«
So ein gefühlloser Klotz! Ich warf ihm einen dieser eisigen
Blicke zu, die Tante Astrid jedem zuteil werden läßt, der über
ihre Witze lacht, bevor sie es erlaubt. »Sei unbesorgt, Bentley,
mein Liebling! Du siehst so strahlend aus wie immer.«
Er schaltete die Zündung aus und ließ seine mannhaften
Wangenmuskeln spielen. »Ich mache mir Sorgen, daß ich mir
zuviel zugemutet habe, als ich einwilligte, die
Programmleitung zu übernehmen. Bist du sicher, daß diese
Krawatte das richtige Gleichgewicht zwischen
verantwortungsvoller Führung und Mitgliedschaft wahrt?«
»Vollkommen.« Bei aller Doppelzüngigkeit hatte ich doch
keinen Schimmer, ob er eine Paisley- oder eine
Streifenkrawatte trug. Während ich mich in meine Kleidung
kämpfte, hatte Ben den Spiegel in Beschlag genommen und
fast ausgesehen wie ein Dandy des Regency, der seine
Krawatte selbst binden muß, weil sein Kammerdiener die
Syphilis hat.
»Ellie, ich habe auch Zweifel wegen des Redners. Habe ich die
ethischen Grundlagen meiner Position verletzt, indem ich das
Thema des heutigen Abends eigenmächtig festgesetzt habe?«
»Wenn ich die Identität des…«
»Die Identität des Redners?« Mein getreuer Programmleiter
packte das Lenkrad und schnellte von seinem Sitz hoch. »Es ist
mir nicht gestattet, dir das zu sagen! Nicht eher als den anderen
Mitgliedern. Das zu tun, wäre ein ebenso übler Nepotismus…«
Und dafür hatte ich meine Herzensbabys verlassen? Ich stieg
aus, knallte die Tür zu und wurde plötzlich von dem Gürtel
meines Regenmantels zurückgehalten… und von dem Anblick
einer Gestalt, die die Stufen der Kirche hinunterraste, die
inzwischen – wie es sich für einen Montagabend geziemte – in
Dunkelheit getaucht waren. Ein eiliges Getrippel, begleitet von
geräuschvollen Schluchzern. Und in dem in der offenen
Wagentür aufblitzenden Licht erblickte ich die hagere Gestalt
von Miss Gladys Thorn. In den Armen hielt sie einen Stapel
Blätter. Einige hatte der Wind erwischt und wirbelte sie ihr um
den Kopf wie körperlose, weiß behandschuhte Hände.
Bemitleidenswerte Kreatur! Ihr strähniges Haar löste sich aus
den Nadeln. Ihre Brille saß schief. Hinter den dicken Gläsern
wölbten sich ihre Augen, Pilzen gleich.
»Ja, Miss Thorn, was ist denn bloß los?«
Sie hörte mich nicht. Blind für meine Anwesenheit, warf die
Gehetzte den Kopf zurück und heulte den Mond an, dann warf
sie sich auf Ben, der etwa einen Meter rechts von mir stand.
»Mr. Bentley Haskell! Gott sei Dank sind Sie hier.«
»Ist mir ein Vergnügen.« Ben, der unheimlicherweise genauso
klang wie mein Onkel Maurice, als er gebeten wurde, die
Damentoilette von Harrods zu verlassen, mühte sich tapfer, die
Knie durchzudrücken und aufrecht zu stehen. Kein leichtes
Unterfangen. Miss Thorn, die um einiges größer war, hing an
ihm wie ein gefällter Baum.
Lautes Schluchzen. Weitere Blätter schlüpften unter ihren
Ellbogen hervor und flogen im Wind davon.
»Ach, ich Arme, Mr. Haskell. Niemals in den Jahren meiner
unschuldigen Jugend hätte ich mir träumen lassen, daß mir
einmal ein solch schmerzliches Unglück widerfahren sollte.«
»Das ist doch bestimmt eine Sache für den Pfarrer?« Ben hatte
die Arme an die Seiten gepreßt und hörte sich an, als brauche
er sofort einen Luftröhrenschnitt. Hatte er wie ich den
Verdacht, daß die Lady ein Kind unter dem Herzen trug, eine
freundliche Aufmerksamkeit eines ihrer zahlreichen Verehrer?
Miss Thorn ließ ihn so schnell los, daß er gegen mich prallte
und wir beide fast in die Staudenrabatte gefallen wären.
»Für unseren geistlichen Beistand!« Ihr Gesicht zog sich in die
Länge wie ein Grabstein, in den Kummerfalten eingemeißelt
waren. »Seien Sie versichert, Mr. Haskell, daß ich nie wieder
mit dieser Kreatur sprechen werde! Dieses Monster im
Priestergewand! Laßt mich ruhig ohne Beichte in mein Grab
steigen! Es ist mir gleich!« An dieser Stelle preßte Miss Thorn
ihre knubbeligen Hände an die Brust und stieß einen erstickten
Seufzer aus.
»Beim Jupiter!« Ben, der aufgehört hatte zu fluchen, als die
Zwillinge geboren wurden, bekundete tiefen Schock, gemischt
mit Schadenfreude. »Wollen Sie damit sagen, Madam, daß
unser Geistlicher unziemliche Annäherungsversuche gemacht
hat?«
Faszinierenderweise wirkte Miss Thorn empört angesichts
dieser Unterstellung. »Das will ich doch nicht hoffen! Niemand
soll mir nachsagen, daß ich so eine bin! O nein. Dieses
Musterbeispiel eines Emporkömmlings hat mich vor etwa einer
Viertelstunde davon in Kenntnis gesetzt, daß meine Dienste als
Kirchenorganistin nicht länger erwünscht sind. Ist das zu
glauben, Mr. Haskell? Nachdem ich all diese Jahre
Kirchenlieder auf diesem wurmstichigen Instrument
gehämmert habe, gibt man mir den Laufpaß, oder – im
volkstümlichen Sprachgebrauch – ich bin gefeuert!«
»O Miss Thorn«, flüsterte ich, »es tut mir so leid.«
»Sehr… sehr freundlich.« Sie zerrte ein Taschentuch aus ihrer
Manteltasche und barg ihr zuckendes Gesicht darin. »Ich
komme von der Chorempore. Es wird mich hoffentlich
niemand des Diebstahls bezichtigen, da ich nur meine eigenen
Notenblätter mitgenommen habe. Lieber Mr. Haskell, wie groß
war doch mein Verlangen, auf den Glockenturm zu steigen und
mich über die Brüstung zu werfen! Aber ach, ich bin nicht
schwindelfrei und konnte die Stufen nicht erklimmen.«
»Wurde Ihnen ein Grund genannt?« Um nicht schon wieder in
Versuchung zu geraten, heimlich auf die Uhr zu sehen, steckte
Ben die Hände hinter den Rücken.
Sie hob ihre beschlagene Brille zu seinem Gesicht. »Ein
Lügenmärchen – ich sei mehrmals in einem… dieser… Häuser
gesehen worden.«
»Im Dark Horse?« wagte ich mich vor.
»Nicht, nicht in einem Pub.« Miss Thorn schüttelte ihren
unscheinbaren Kopf und schickte Haarklemmen in alle vier
Winde. »Die Methodistenkirche. Als ob ich einer solchen
Abtrünnigkeit fähig wäre, nachdem ich gesehen habe, wie
meine Schwester aus dem Schoß der Familie verbannt wurde,
weil sie Sympathien für die Wesleyaner hegte. Eine
Hedonistin, nannte mein Daddy sie.«
»Und meinte damit vielleicht Heidin?« schlug Ben vor.
»Ach du meine Güte, nein!« Miss Thorn schnaubte. »Daddy
sagte ausnahmslos, was er meinte, und meinte, was er sagte. Er
nannte mich immer seine Rose ohne Dornen. Verstehen Sie
den Witz, Mr. Haskell?«
»Oja.«
»Und meinen Bruder nannte er ›Röckchen‹, weil er gern
kochte.«
Ben zuckte zusammen. Doch diese Reminiszenzen an die gute
alte Zeit erwiesen sich als des Guten zuviel für Miss Thorn. Sie
sank wieder gegen Ben, der im Zeitlupentempo die Arme um
sie legte, um sie zu stützen. Über uns lugte der Mond zwischen
den Wolken hervor wie ein blutleerer Spanner. In der um sich
greifenden Abenddämmerung stahl sich das Pfarrhaus einige
Schritte näher, wie um uns ebenfalls zu belauschen. Aus jeder
Ecke des Kirchhofs kam das düstere Rauschen der Bäume und
aus der Ferne das verschlagene Gemurmel der See.
»Miss Thorn, können mein Mann und ich irgend etwas tun?«
Ich griff in meine Manteltasche, weil ich ihr mein Taschentuch
leihen wollte, zog statt dessen jedoch eine Windel heraus.
»Wie süß, Familiengröße.« Sie nahm sie und brachte ein
heldenmütiges Kichern zustande. »Sie sind überaus
liebenswürdig, aber ich allein kann die Scherben meines
Lebens aufsammeln. Gottlob habe ich ja noch meine
Vogelbeobachtung und meine Sammlung von Telefonbüchern,
um meine Zeit auszufüllen… und die Zuneigung eines
gewissen Herrn. Sein Name, um kein Geheimnis daraus zu
machen« – ein sprödes Senken der Augenlider und ein kokettes
Hochziehen der Mundwinkel –, »sein Name beginnt mit W.«
Oh, Mist! Sofort hing mein Blick an ihrem Gesicht, als ob ich
den nom de Homme durch schiere Willenskraft aus ihr
herauslocken könnte, so wie ein Schlangenbeschwörer die
Schlange aus ihrem Versteck. Miss Thorns Verehrer war doch
nicht… konnte doch nicht… Mr. Walter Fisher sein,
Leichenbestatter extraordinaire, der Mrs. Malloys Herz
gestohlen hatte?
Miss Thorn war noch nicht halb die Einfahrt hinunter, um ihren
Bus zu erwischen, da hatte Ben es schon geschafft, die ganze
Schuld daran, daß wir gut zehn Minuten zu spät zur
Versammlung kamen, mir in die Schuhe zu schieben. Er
drückte mit dem Daumen auf die Klingel des Pfarrhauses, und
die sanften Glockentöne fügten Mißklang zu Mißstimmung.
»Ellie, wenn wir pünktlich von zu Hause losgefahren wären,
dann hätten wir diese Frau nie getroffen, und wärst du nicht so
verdammt mitfühlend gewesen…«
»Ich?« krächzte ich wie ein Käuzchen. »Fast jede ihrer
Bemerkungen war an dich gerichtet – lieber Mr. Haskell.«
Schsch! Als wir hörten, wie sich drinnen im Pfarrhaus etwas
regte, wischten wir die finsteren Blicke von unseren Gesichtern
und setzten beide das künstlichste Lächeln auf, das je gesehen
wurde. Verfrüht, wie sich herausstellte. Als die Tür sich nicht
öffnete, drückte Ben wieder auf die Klingel.
»Eifersucht steht dir nicht an, Frau.«
Ich wollte sagen, daß er kompletten Unsinn redete. Ich
eifersüchtig auf Miss Thorn? Das wäre ja noch schöner! Aber
eine kleine Stimme tief in meinem Innern flüsterte, daß er
durchaus recht haben könnte. Und ich fühlte mich deshalb
nicht etwa in die Enge getrieben, sondern irgendwie erregt.
Spürte ich womöglich schon die Wirkung… waren das die
Früchte meines Fully-Female-Noviziats? Konnte es sein, daß
ich mich wieder ganz neu verlieben sollte? Und angenommen,
das Wunder geschah, würden meine Gefühle erwidert werden?
Ich sah starr geradeaus und machte vor der Glasscheibe in der
Tür Bestandsaufnahme. Mein französischer Zopf sah nett aus,
die kühle Abendluft verlieh meinen Wangen eine frische Farbe
und machte meine Regenwasser-Augen dunkler. Aber ich
durfte nichtanmaßend werden. Es war kein Kunststück, daß
eine Großaufnahme der Überprüfung standhielt. Die
Ganzkörperversion war eine andere Frage. Mist! Warum hatte
ich nicht eine größere Handtasche mitgenommen? Dieses
dumme Ding würde nicht mal meine Gürtelschnalle bedecken,
geschweige denn irgend etwas anderes.
»Verdammt!« Ben hob schon die Faust, um gegen die Tür zu
hämmern, konnte sich jedoch noch zusammenreißen. »Ich hätte
mir ein Buch zum Lesen mitbringen sollen.«
Er hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als ein Gesicht
flüchtig das Glas trübte, bevor die Tür aufging und mich ins
Wanken brachte. Ein Gefühl der Unwürdigkeit sprang mich an
wie ein Hund, der in der dämmerigen Halle gelauert hatte. Was
würde Reverend Foxworth dazu sagen, daß ich in den letzten
Wochen den Sonntagsgottesdienst verpaßt hatte? Ob er meine
Erklärung, daß Gott Qualität der Quantität vorzog, akzeptierte?
»Guten Abend, Mrs. Pickle.« Ich sprach, ohne nachzudenken,
ohne hinzusehen, von früheren Besuchen darauf programmiert,
daß die Putzfrau des Pfarrers die Gäste hereinließ.
»Liebes« – Ben nahm wieder die Pose des hingebungsvollen
Ehegatten ein –, »ich weiß, ich habe meine Brille nicht auf,
aber…«
Kein Wort mehr. Die Frau, die uns unter neonbemalten Lidern
hervor musterte, war nicht Mrs. Pickle, sondern unsere liebe
Mrs. Roxie Malloy. Eine scharlachrote Organdyschürze verlieh
ihrem schwarzen Taftensemble mit seinem Katzenfellkragen
einen Farbakzent.
»Mr. und Mrs. H, welche Freude!«
Das war ja so, als wollte ich mir die Zähne nachsehen lassen
und fände den Zahnarzt auf dem Behandlungsstuhl vor.
Während ich Ben in die Halle mit ihrer gewundenen Treppe,
der Porridgetapete und den schokoladenbraunen Heizkörpern
folgte, sagte ich: »Mrs. Malloy, ich hatte keine Ahnung, daß
Sie hier arbeiten. Was ist mit Mrs. Pickle passiert?«
»Sagen Sie nicht, Sie hätten es noch nicht gehört!« Mrs.
Malloys Stimme war voller Tadel, als sie die Tür mit dem
Hinterteil zustieß.
»Tot?« Ben hatte sich Euphemismen, gleichzeitig mit
gesättigten Fettsäuren, abgewöhnt, als die Zwillinge geboren
wurden.
»Na, Sie kennen mich doch, Mr. H, ich mache keine
Dachrinnen, ich mache keine Schornsteine, und ich tratsche
nicht.« Die Schmetterlingslippen waren versiegelt.
»Sie ist… schwanger?« Ich stieß mit dem Rücken gegen ein
Porträt des Erzbischofs von Canterbury. »In ihrem Alter? Na,
sie muß an die Siebzig sein!« Gleich darauf wurde mir das
Absurde dieser Anschuldigung klar, aber andererseits liest man
ja ständig von solchen Dingen in den Skandalblättern… und in
der Bibel. Man sehe sich nur Sarah an! Und all diese Knaben,
die Abraham auf den Rücken klopfen und ihm sagen, daß er für
immer im Guinness-Buch der Rekorde stehen wird, während
seine arme Frau mit Neunzig des Nachts stillen muß.
Mrs. Malloy lachte verächtlich. »Was, Edna in anderen
Umständen? Sie machen wohl Witze. Ihr Albert ist seit dreißig
Jahren tot. Und wenn ein Mann auch nur eine Hand dahin
legen würde, wo er nicht sollte, würde er bald den Sopran im
Jungenchor singen. Das heißt, jeder bis auf den alten Jonas.
Mrs. P ist in ihn verknallt, seit sie ein junges Küken von
Fünfzig war. Na gut«, sagte sie und überprüfte ihr Aussehen im
Garderobenspiegel, »wenn Sie mir die Pistole auf die Brust
setzen, werd’ ich’s Ihnen erzählen…«
»Ja?« drängte ich. Ben musterte die geschlossene Tür auf der
anderen Seite der Halle. Nach dem Gemurmel, das zu uns
hinausdrang, war die Sitzung des Heimund-Herd-Vereins in
vollem Gange.
»Um sieben nach halb sieben heute abend hat Edna Pickle ihre
Schürze hingeworfen und ist gegangen.«
»Sie hat Reverend Foxworth verlassen?« Ich konnte es nicht
fassen. »Da muß ein Irrtum vorliegen. Sie war ihm treu
ergeben, keine Politur war jemals gut genug für seine Böden,
keine Stärke je steif genug für seine Kragen.«
»Wo haben Sie die ganze Zeit gelebt? In einem Iglu?« Mrs.
Malloy verschränkte die Arme und schob ihren Busen so hoch,
daß er zwei Ballons ähnelte, die jeden Moment platzen
konnten. »Reverend F hat sich gestern nachmittag zu einer
fetteren Weide aufgemacht.«
»Er ist weg, ohne auch nur auf Wiedersehen zu sagen?« Das
Bild des Erzbischofs von Canterbury hing in einem
unwahrscheinlichen Winkel.
»Voll ins Schwarze getroffen, Mrs. H. Eine Pfarrei in Kent,
wenn ich Edna richtig verstanden habe. Es kam furchtbar
plötzlich. Aber so sind Bischöfe nun mal. Der reine
Größenwahn unter ihrer Mitra.«
Der Boden wurde mir unter den Füßen weggezogen. Ich mußte
mich an Ben festklammern, um nicht zu schwanken. Kein
Rowland mehr. Bestimmt war doch etwas Gotteslästerliches an
dieser Vorstellung. Die Kanzel von St. Anselm’s würde nie
mehr dieselbe sein. War das Gottes Strafe für mein häufiges
Schwänzen?
»Wie kam denn das?« Ben, der auf einem ausgefransten Stück
Teppich auf und ab ging, übernahm es, die Fragen zu stellen.
Mrs. Malloy betastete ihr zweifarbiges Haar und setzte eine
verschwiegene Miene auf. »Ich behalte meine Vermutungen
lieber für mich.«
»Es fehlt doch«, quäkte ich, »nicht etwa Geld aus der
Kollekte?«
»Ellie, nimm dich zusammen.« Mein Ehemann fuhr fort,
meinen Mantel aufzuknöpfen, als wäre ich eine Flickenpuppe.
»Der Knabe war die Integrität in Person. Weißt du noch, als er
die Wettgemeinschaft bannen wollte, die einige
Gemeindemitglieder bildeten, bevor die Zwillinge zur Welt
kamen?«
»Ja«, flüsterte ich, ganz schwindelig, weil er mich
herumgedreht hatte, um mir den Schal abzunehmen. »Der liebe
Rowland hielt diese wunderbare Predigt – über die
Geldverleiher im Tempel, aber vergeblich. Sie hielten trotzdem
Wetten über das Geschlecht der Babys ab. Und jetzt hat der
Bischof von dem Glücksspiel erfahren und in einem Anfall
ekklesiastischen Zorns diesen frommen Mann in die Wildnis
von Kent verbannt. Ben, das ist alles meine Schuld, und ich
kann gut verstehen, warum Rowland es nicht fertiggebracht
hat, sich zu verabschieden.«
»Na, na, junge Frau«, sagte Mrs. Malloy ungewohnt sanft.
»Warum gehen Sie nicht rein und plaudern schön mit seinem
Nachfolger darüber?«
So schnell ersetzt! Ich versank in einem Strudel der
Erinnerung… mein Hochzeitstag, die Taufe der Zwillinge und
die vielen anderen denkwürdigen Gelegenheiten, die durch
Rowlands Gegenwart bereichert wurden. Würde ich jemals
wieder Pfeifentabak riechen, ohne mich zu erinnern, wie seine
Soutane diesen angenehmsten aller Weihrauchdüfte
verströmte?
»Hier verändert sich so einiges.« Ben hängte unsere Mäntel an
den Garderobenständer.
»Sie sagen es, Mr. H.« Mrs. Malloy zupfte das Oberteil ihres
Kleides zurecht, bis die erforderliche Portion Dekollete
sichtbar war. »Zuerst geht Mrs. Pickle, und ich springe für sie
ein. Dann Miss Thorn – sie wird gegangen! Das war besser als
‘n Logenplatz in der Oper. Was für ein Gejaule sie angestimmt
hat! Und obwohl ich nie übermäßig scharf auf Miss Thorn war,
muß ich doch sagen, daß unser neuer geistlicher Beistand einen
riesengroßen Fehler gemacht hat. Nächsten Sonntag wird kein
einziger Mann in der Kirche sein, sie werden alle draußen
demonstrieren.«
Gut möglich.
»Keine Zeit zum Jammern. Die Pflicht ruft.« Mit schwingender
Preiselbeerschürze ging Mrs. Malloy in Richtung Küche,
während ich Ben durch die Halle zum Wohnzimmer folgte. So
viele Erinnerungen hinter dieser geschlossenen Tür. Rowland
war mein erster Freund in Chitterton Fells gewesen, und jetzt
mußte ich dem neuen Pfarrer gegenübertreten. Um ehrlich zu
sein, das Wort Usurpator drängte sich mir auf.
Ich hatte kaum Zeit, mein Lächeln anzuknipsen, bevor ich den
mit Büchern vollgestopften Raum betrat. Alles war wie immer,
von den mönchsbraunen Sofas und der gestreiften Tapete bis
zu der alles überragenden Standuhr, den abgetretenen
Teppichen und dem Bild der Rippon-Kathedrale über dem
Kamin. Nein, nicht alles. Mohnblumen aus Seide sprossen aus
der Vase auf dem Sekretär, und der Kleinkram in der
Kuriositätenvitrine war durch etwas ersetzt, das nach
Waterford-Kristall aussah.
Ben, in seiner Funktion als Programmleiter, hatte keinen Blick
für das Mobiliar. Statt dessen zählte er die anwesenden
Mitglieder des Heimund-Herd-Vereins und gelangte zu dem
unausweichlichen Schluß, daß, wie herum er auch zählen
mochte, es dennoch nur vier waren. Dr. und Mrs. Melrose und,
ja, drüben beim Fenster saßen Jock Bludgett, der Klempner mit
dem ausweichenden Blick, und seine bessere Hälfte, die
Sirene, die ihn von der Arbeit nach Hause gelockt hatte,
woraufhin meine Waschmaschine auf dem Trockenen saß. Ich
merkte, daß Ben die geringe Teilnehmerzahl zu schaffen
machte. Was mich betraf, war die spärliche Zahl der
Anwesenden schlicht von Nachteil. Sie machte es mir
unmöglich, die deutlichste Störung der alten Ordnung zu
übersehen.
Vor dem Kamin stand, mit einer Teetasse in der Hand, das
Klischee eines Pfarrers. Ein Mann mit schütterem Haar, von
kleiner Statur und mit krummen Schultern, dessen kurzsichtige
Augen durch eine Drahtbrille wehmütig auf die Launen dieser
Welt spähten. Neben ihm stand die maßgeschneiderte
Pfarrersfrau. Eine Säule der Kirche. Ihr eisgraues Haar war von
der Sorte, die eine zweite Funktion als Hut erfüllt. Ihr
beigefarbenes Twinset und ihr Rock mit Hahnentrittmuster
machten deutlich, daß sie das Sommerfest und den
Weihnachtsbasar meisterhaft organisieren würde. Sie würde
wöchentliche Altartuchkränzchen einführen, und… sie hatte
Ben und mich gesehen.
Sie berührte ihren Mann am Arm. »Wir haben zwei
Neuankömmlinge, Gladstone, mein Lieber.«
»Ah, wie nett.« Er lächelte uns vom Kaminvorleger aus
salbungsvoll zu, während ich spürte, wie der Boden unter
meinen Füßen ins Wanken geriet. Gladstone! Na so was, das
bedeutete ja, daß mir ein tragischer Irrtum unterlaufen war, als
ich heute morgen im Pfarrhaus angerufen hatte, um Rat für
Mrs. Malloy zu erbitten und mithörte, was ich für ein
Radioprogramm über den großen Premierminister hielt…
»Guten Abend, Reverend«, sagte Ben überschwenglich. »Ich
bin Bentley Haskell, Programmleiter, und dies ist meine Frau
Ellie.« Normalerweise hätte ich ihm einen diskreten Tritt gegen
das Schienbein gegeben, weil er die Frau des Pfarrers übersah,
doch ich bekam ihren bestürzten Blick nur am Rande mit. Im
Geiste war ich wieder bei Gladstones Worten zu der Frau, die
ich mir in Häubchen und Umschlagtuch vorgestellt hatte, mit
einem scharlachroten Buchstaben auf der Stirn:
»Im Namen dessen, was uns einmal verband, bitte ich dich,
diese Räumlichkeiten zu verlassen.«
Und ihre Antwort:
»Nicht, bevor ich mit deiner Frau gesprochen habe.«
Durch den Blick des Pfarrers, der mir ins Gesicht sah, wurde
ich in die Gegenwart zurückgeholt. Sein freundliches Lächeln
war schwächer geworden.
»Ich bin nicht der Pfarrer.«
»Sie sind es nicht?«
»Ich bin es«, sagte die Frau.
Da ich dem Blick ihres Mannes nicht standzuhalten vermochte,
schaute ich ein Stück weit hinunter und sah, daß das, was ich
für einen Priesterkragen gehalten hatte, lediglich ein weißer
Rollkragen unter einer grauen Strickjacke war. Sinnlos, der
Pfarrerin Vorwürfe zu machen, weil sie Zivilkleidung trug.
Du lieber Himmel! Das war ja so, als würde man auf eine
abgedunkelte Bühne geschoben und fände sich als
Schauspielerin in einem viktorianischen Melodrama wieder.
Vom Publikum – ich meine, von den anderen Mitgliedern des
Heimund-Herd-Vereins – war ein Glucksen über mein
Gestotter zu vernehmen. Doch wer in diesem stillen Weiler
hätte es ahnen können? Ein weiblicher Pfarrer! Der heilige
Paulus würde sich im Grabe umdrehen. Die Gemeinde würde
deswegen bestimmt in Streik treten, wenn sie nicht schon allein
im Interesse von Miss Thorn zu den Streikplakaten griff.
Inzwischen schwirrte mir der Kopf nicht mehr, aber meine
Gedanken gingen zwei Schritt vor und drei zurück. Miss
Thorn! War sie die Frau aus der Vergangenheit? War der
Ehemann der Pfarrerin eine weitere Kerbe auf Miss Thorns
schwarzem Spitzenstraps? Sollten alte Geheimnisse und alte
Sünden ihren Wohnsitz in diesem Haus nehmen, das bisher
nichts Schlimmeres als eine gelegentliche Tabakwolke und ein
diskretes Gläschen Sherry gekannt hatte? Und wer von ihnen –
die Pfarrerin oder ihr Ehemann – hatte die Kirchenorganistin
aufgrund der erfundenen Anschuldigung entlassen, eine
heimliche Methodistin zu sein?
»Ich fürchte, ich habe Sie an der Nase herumgeführt.« Die
geistliche Dame lächelte. »Ich bin keine richtige Pfarrerin. Ich
bin eine bescheidene Diakonin, die man hierher geschickt hat,
bis ein dauerhafter männlicher Ersatz für Reverend Foxworth
gefunden ist.«
»Sie kennen St. Anselm’s nicht«, erwiderte ich. »Für uns
werden Sie in Gedanken und wahrscheinlich auch den Worten
nach die Pfarrerin sein.«
»Etwas zu trinken?« fragte Mr. Gladstone Spike.
Der Argwohn erhob sein Schlangenhaupt. Rowland hatte ein
gelegentliches Gläschen in Ehren nicht beanstandet, aber die
neue Amtsinhaberin legte vielleicht strengere Maßstäbe in
Sachen Nüchternheit an. Die Melroses verrieten nichts. Keiner
von beiden nahm eine Stärkung in flüssiger Form zu sich. Sie
standen am Erntetisch und hielten Händchen – oder ich sollte
besser sagen, Mrs. Melrose, die heute abend ein Sackkleid trug,
das sie mehr denn je wie einen weiblichen Prinz Eisenherz
aussehen ließ, hielt die Hand des Doktors. Hmmmm! Was war
denn hier los? Dr. Melrose wirkte ganz und gar nicht so
optimistisch wie sonst, seine Miene erinnerte an meine, wenn
ich ihn auf dem Rücken liegend und mit den Füßen in
Steigbügeln begrüßte. Keiner der beiden Bludgetts hielt ein
Glas in den Händen. Sie standen so dicht nebeneinander, daß
man kaum zu sagen wußte, wem das Charlie-Chaplin-Bärtchen
gehörte. Während ich dastand und große Augen machte, bat
Ben um ein Glas Wein.
»Was auch immer Sie im Keller haben.« Er strahlte
Umgänglichkeit aus, bis ich mich zu Wort meldete, nachdem
ich beschlossen hatte, lieber auf Nummer Sicher zu gehen.
»Hast du vergessen, Bentley, daß wir es, ausgenommen beim
Abendmahl, aufgegeben haben?«
Er hatte sein Lächeln in der Gewalt.
»Wir nehmen einen Tee«, teilte ich unseren Gastgebern mit.
»Milch, keinen Zucker, wenn’s recht ist.« Mein Gatte maß die
Worte ab, als seien sie zerstoßenes Glas, das in meine Tasse
gerührt werden sollte.
Was die Pfarrerin betraf, so hatte ich keine Ahnung, ob ich
Punkte bei ihr gesammelt hatte oder nicht. Ihr Lächeln war so
neutral wie ihre Art, sich zu kleiden. Ob wenigstens das
Auftauchen einer Rivalin um die Zuneigung ihres Mannes ihre
Fönwelle durcheinanderbringen würde?
»Könntest du das bitte übernehmen, mein Lieber?« wandte sie
sich an ihren Gatten. »Und was ist mit dem Kuchen? Unsere
neuen Brüder und Schwestern werden finden, daß sie nicht
richtig gelebt haben, bevor sie nicht von deinem Sandkuchen
mit Schokolade gekostet haben.«
Seht den guten Mann erröten.
»Gladstones Kuchen hat auf dem Sommerfest immer den
ersten Preis gewonnen, als wir in St. Peter’s in the Wode
waren. Köche von St. Anselm’s, seht euch vor.« Jetzt schloß
das Lächeln der Diakonin alle Anwesenden ein, besonders, so
schien es mir, die Bludgetts, die verlegen aus ihrer eigenen
kleinen Welt emportauchten. Dennoch hätte meine Tante
Astrid ihre sofortige Exkommunikation anbefohlen, da
öffentliches Auspeitschen ja abgeschafft war.
Weh dem, der den kulinarischen Erfolg seines Nächsten
begehrt. Mit kunstvollem Gleichmut strich Ben zum Tisch
hinüber, wo Gladstone Spike jetzt die silberne Teekanne im
Griff hatte. Mit zusammengezogenen schwarzen Brauen
schätzte mein Gatte unauffällig die Konkurrenz in Gestalt des
Schokolade-Sandkuchens ab. Zusammen mit Dr. Melrose
nahm er eine geblümte Tasse samt Untertasse entgegen, stand
da und beobachtete, wie der Dampf spiralförmig aufstieg.
»Ein ganz kleines Scheibchen von dem Kuchen, wenn’s recht
ist«, hörte ich ihn sagen, dann fügte er hinzu, daß der Redner
des Abends jeden Augenblick eintreffen müsse. Die Botschaft
war, daß die Konzentration, die ein großes Stück Kuchen
verlangte, dazu führen könne, daß er die feierliche Ankunft
verpaßte und so dem Verlauf der abendlichen Veranstaltung
den Todesstoß versetzte.
Worüber unterhielt man sich mit einem weiblichen Priester?
Ich hielt mich in ihrem Dunstkreis und fältelte den Riemen
meiner Tasche, bis sie das Eis brach.
»Bitte nennen Sie mich doch Eudora.«
»Und ich heiße Ellie.«
»Ich hörte, daß wir Nachbarinnen sind.« Sie hatte große, leicht
vortretende haselnußbraune Augen, und ich fing wieder einen
Schimmer jenes Erstaunens darin auf, das sie schon an den Tag
gelegt hatte, als ich den Raum betrat.
»Ja!« Ich deponierte meine Tasche auf einem Stuhl und
versuchte nicht weiter darauf zu achten, als sie mit einem
Plumps auf den Fußboden fiel. »Wir wohnen auf Merlin’s
Court. Sie können das Haus von diesem Fenster aus sehen, was
es natürlich furchtbar peinlich macht, daß ich an den
vergangenen drei Sonntagen den Gottesdienst verpaßt habe,
und ich bin längst nicht engagiert genug im Nähkreis oder im
Freundeskreis von St. Anselm’s…« Ich hielt inne, holte
unsicher Luft und stellte verblüfft fest, wieviel besser ich mich
auf einmal fühlte.
Sie deutete mein Lächeln richtig und sagte: »Es hilft, sich die
Dinge von der Seele zu reden, nicht wahr?«
»Oja.«
»Weshalb ich auch hoffe, die Beichtstühle hier in St. Anselm
wieder öffnen zu können. Es wird Einwände geben, da bin ich
sicher, und Proteste, daß es nicht Rechtens sei, aber ich habe ja
vor, Wellen zu schlagen.«
Wie Miss Thorn zu ihrem Leidwesen hatte erfahren müssen?
Aber ich durfte mir weder über diese Dame den Kopf
zerbrechen noch mich darüber beklagen, daß der liebe
Reverend Foxworth aus meinem Leben verschwunden war. In
diesen Zimmer strotzte es vor Leben, der Aussicht auf einen
neuen Anfang. Zum erstenmal seit Monaten spürte ich, wie
sich meine alte Vitalität regte. Wenn Mrs. Eudora Spike es mit
der von Männern beherrschten Kirche aufnehmen konnte, dann
konnte ich es doch bestimmt mit einer Ehe aufnehmen. Wie
hieß es noch im Fully-Female-Handbuch? Entzünde seine
Kerze und mache Liebe, bis du sein Brennen spürst.
Ich schaute zu Ben hinüber, bereit, mich gleich jetzt an seiner
Männlichkeit zu weiden, sein dunkles attraktives Äußeres mit
meinen Augen, meinem sehnsüchtigen Atem zu liebkosen…
aber Mrs. Melrose wählte ausgerechnet diesen Augenblick, um
mir eine Tasse Tee in die Hand zu drücken. Und ich konnte
nicht mal sagen, daß ich die Störung bedauerte. Ich hatte
vergessen, wie erschöpfend das Verlangen sein kann.
»Unterhalten Sie sich gut, Sie beide.« Eudora verließ uns, um
zum Rest ihrer Herde zu gehen, die zur anderen Seite der
Koppel… ich meine des Zimmers gezogen war.
Aus der Entfernung hatte ich keine besondere Veränderung an
Flo Melrose festgestellt – abgesehen davon, wie sie sich an
ihren Mann schmiegte. Aber als ich neben ihr stand, war ich
erschrocken über diese neue Frau. Das Prinz-Eisenherz-Haar
besaß Sprungkraft, und die einst käsigen Wangen hatten einen
pfirsichfarbenen Schimmer. Noch erschreckender war, daß die
Frau des Arztes unter ihrem Sackkleid splitterfasernackt war…
sie trug nicht mal ein Feigenblatt. Das merkte man am Wippen
ihres Busens und daran, wie der Stoff sich an ihre üppigen
Formen schmiegte.
»Zugenommen, wie es aussieht.« Flo flüsterte dröhnend in
mein Ohr.
Bisher hatte ich diese Frau gemocht. Flo Melrose war der am
wenigsten versnobte Mensch, den ich kannte. Sie würde einen
Blinden über die Straße bringen, ob er wollte oder nicht, und
sie hatte mir tröstend zur Seite gestanden, als ich durch meinen
Lamaze-Kurs hechelte. Doch ich war nicht bereit, ihre
Bemerkung mit einem gezierten Lächeln hinzunehmen.
»Irrtum, Flo. Ich habe nicht zugenommen. Ich gehöre zu den
Unglücklichen, die kein Gramm zunehmen.« Das war keine
Lüge, denn ich lege immer gleich in Fünf-Pfund-Einheiten zu.
Tiefer Seufzer. »Wenn du nur wüßtest, wie leid ich diese
ewigen Milchshakes bin.«
Ihr herzliches Lachen ließ meine Teetasse tanzen. »Komm von
deinem hohen Roß herunter, Ellie. Ich habe nicht von dir
gesprochen. Ich meinte Ben. Diese zusätzlichen Pfunde stehen
ihm gut. Sie haben ihn von einem Einjährigen in einen
ausgewachsenen Bock verwandelt, der sich sein Geweih
verdient hat.«
Ich starrte ungläubig von Flo Melrose zu meinem Ehemann.
Sicher, er stand ewig vor dem Spiegel, zog den Nabel ein, bis
er an seine Wirbelsäule stieß und beklagte sich, daß sein Bauch
zu einer Wampe wurde. Aber wer konnte ihn ernst nehmen?
Vielleicht hatte er an Muskeln zugelegt, aber welcher Mann,
der seine Steroiden wert war, durfte sich darüber beschweren?
»Ellie, ich möchte, daß dein Ben für mich Modell steht.«
»Was?«
»Ich habe wieder mit dem Malen angefangen.«
»Wunderbar.«
»Akte.« Mrs. Melrose stand da und zeichnete ganz unverfroren
mit den Händen Formen in die Luft, zog Ben bis auf das nackte
Spiel von Licht und Schatten aus. »Ellie, vor drei Wochen ist
mir etwas Großartiges passiert. Ich bin Fully Female
beigetreten. Jetzt, zum erstenmal in meinem Leben, bin ich eins
mit meiner Sexualität. Im Alter von zweiundfünfzig sehe ich
endlich die Schönheit von Hinterbacken. Ich will sie auf der
Leinwand verherrlichen…«
In diesem günstigen Augenblick öffnete sich die Tür, und Mrs.
Malloy, mit dem Strahlen des Abendsterns in den Augen,
führte unseren Redner des Abends herein. Großer Gott. Ich
wußte nicht, ob ich lachen oder Ben sein Stück Schokolade-
Sandkuchen in den Hals stopfen sollte. Dieses schmächtige
Kerlchen mit dem Gesicht eines Schellfischs war Mr. Walter
Fisher, der Leichenbestatter!
»Bitte untertänigst um Verzeihung, Ladies und Gentlemen.« Er
verbeugte sich und knickte über der Aktenmappe ein, die er an
seine Nadelstreifentaille drückte. »Gerade als ich das Haus
verließ, wurde beruflich nach mir verlangt. Eine Mrs.
Huffnagle, die von uns genommen wurde, während sie im Bad
war. Ein weiterer Fall versehentlichen Eintauchens eines
Elektrogeräts.«
Ach, du lieber Himmel! Diese überhebliche Matriarchin, die
noch heute nachmittag im Wartezimmer von Fully Female an
mir vorbeigerauscht war. Es schien ein solch impertinenter Tod
zu sein – von einem Haarfön verbrutzelt zu werden oder…
Mein Blick begegnete dem von Flo Melrose und Mrs. Bludgett,
mit der ich noch kein Wort gewechselt hatte. Manche Worte
braucht man nicht laut auszusprechen. Sie summen in der Luft.
Sie vibrieren. An dem Ton, wie Mr. Fisher Elektrogerät sagte,
erkannte ich die schaurige Wahrheit.
Durch einen Spalt in den schokoladenbraunen Vorhängen
erhaschte ich einen Blick auf die von Mondlicht übergossenen
Grabsteine, die in diesem Garten des Todes wildwuchsen. Wie
würde der Grabspruch auf dem Stein der herrischen Mrs.
Huffnagle wohl lauten? Es fraß die Frau kein Alligator. Ihr
Schicksal war, ja, ein Vibrator.
»Welch ein Abend, Mrs. H!«
»Sie haben gut reden, Mrs. Malloy«, fuhr ich sie an, als sie am
Morgen nach der Versammlung des Heim-und-Herd-Vereins in
die Küche spaziert kam. Ich hob Tam von seiner Wippe und
drückte sein klebriges Gesicht an meins. »Mein ganzes Leben
ist eine Lüge!«
»Wenn das eines von diesen Bekenntnissen einer
Wiedergeborenen werden soll, sag’ ich nur, abwarten, bis die
neue Pfarrerin das Band zerschneidet und die Beichtkammer
offiziell eröffnet.«
Ich achtete nicht darauf, daß Tam mich an den Haaren zog.
»Entgegen der öffentlichen Meinung bin ich nicht Ellie
Haskell, die wandelnde Erfolgsstory. Ich bin eine Frau, die in
Tränen und… Schweiß ertrinkt. Mein Deodorantversagt, die
Haare fallen mir aus, meine Kleider passen nicht und, was am
allerschlimmsten ist, ich wandere vielleicht ins Gefängnis.«
Mrs. Malloy musterte mich, als wäre ich Jack the Ripper in
Frauenkleidern und nahm mir Tam ab.
»Vergangene Woche auf dem Dorfplatz«, rief ich aufgeregt,
»wurde ich von einer Frau angehalten, die eine Umfrage zu
gefrorenem Joghurt macht. Und ich habe über mein Gewicht
gelogen. Hinterher habe ich fast unseren Anwalt angerufen,
Lionel Wiseman, um ihn nach der Strafe für die Verfälschung
einer offiziellen Aussage zu fragen, aber ich hatte Angst, er
würde mir sagen, daß ich sechs Monate kriege, was bedeutet
hätte, daß ich niemals mit dem Frühjahrsputz fertig werde.«
»Mrs. H, wollen Sie auf was Bestimmtes hinaus?«
»Ja.« Ich lehnte mich gegen die Waschmaschine, die immer
noch mitten im Raum stand. »Ich erkläre mich als Mensch für
besiegt. Selbst Fully Female kann mir nicht mehr helfen.«
»Blödsinn!« Mrs. Malloy hörte auf, am Gesicht meines
Sonnenscheins herumzuwischen und steckte ihn in den
Laufstall zu seiner Schwester, die in ein glucksendes Gespräch
mit dem Peter-Rabbit-Mobile vertieft war. »Ich bin nur schnell
rübergekommen, um Ihnen zu sagen, daß Sie recht hatten, Mrs.
H, mich dorthin mitzuschleppen. Als ich anschließend
heimkam, hab’ ich gleich meine Hausaufgaben gemacht. Ich
hab’ Kapitel eins des Handbuchs gelesen, und Sie können mir
glauben, es hat mir ganz neue Perspektiven eröffnet. Als ich in
meinem Schaumbad lag und mein Fully-Female-Elixier trank,
ging mir auf, daß ich Walter Fisher nicht geschenkt kriegen
würde. Ich muß mir seine Zuneigung verdienen. Ich muß ein
sanftes Täubchen werden, wenn ich jemals sein Herz erobern
will.«
Liebe macht wahrhaftig blind.
»Ich habe die Flasche an den Nagel gehängt, Mrs. H.«
»Was? Sie sind Abstinenzlerin geworden?« Ich konnte es nicht
fassen.
»Niemals!« Mrs. Malloy sah zutiefst gekränkt aus. »Das würde
überhaupt nichts bringen – das hat mir der Arzt verboten.«
»Aber Sie haben gesagt…«
»Daß ich die Flasche mit der Verdauungsmixtur an den Nagel
gehängt habe, die Dr. Melrose mir verschrieben hat. Von jetzt
an werd’ ich mich auf das Fully-Female-Elixier verlassen, um
meine Eingeweide vor dem Einrosten zu bewahren.« Nachdem
sie sich die Hände an einer der Windeln abgetrocknet hatte, die
ich gerade von der Wäscheleine geholt hatte, verzog Mrs.
Malloy die Lippen zu einem verträumten Pflaumenlächeln.
»War Walter gestern abend nicht einfach Klasse? Ich sag’
Ihnen, Mrs. H, ich lag die halbe Nacht wach und ging immer
wieder diese hinreißenden kleinen Verse durch, die er uns
aufgesagt hat:

›Mancher hat Kinder,


Mancher hat keins,
Aber hier liegt eine Frau,
Die hatte zwanzig und eins. ‹«

Jedem das seine. Mr. Fisher erinnerte mich auch weiterhin an


Sushi. Aber, um fair zu bleiben, ich war so sauer auf Ben
gewesen, weil er diesen Mann gebeten hatte, vor dem Heim­
und-Herd-Verein zu sprechen, daß ich von dem Augenblick an,
als Mr. Fisher seine Aktenmappe öffnete und Muster von
Sargfutterstoffen zum Vorschein brachte, am liebsten nur noch
– pardon – die Fische gefüttert hätte.
»Madam Reverend, Ladies und Gentlemen.« Er hatte ein Stück
weißen Stoff über seinen Arm gelegt wie ein Ober, der den
Wein einschenken will. »Die stets beliebte jungfräuliche
Seide.«
»Immer schon mein Lieblingsstoff. So elegant und doch
kuschelig weich!« Dieser Kommentar kam von der
temperamentvollen Mrs. Bludgett, und mir schien, daß Mr.
Fisher sie kalt gemustert hatte.
»Nicht meine erste Wahl, wenn Sie verzeihen, daß ich meinen
persönlichen Geschmack ins Spiel bringe.« Mr. Fishers Mund
hatte sich zu einem gereizten Lächeln verzogen. »Ich
favorisiere die satte Paisley-Optik, wenn wir einen Gentleman
bedienen, der ein subtiles… Understatement vorzieht. Und
Paisley macht sich ganz ausgezeichnet, wenn Sie etwas
Passendes zur Krawatte des Klienten anstreben. Vorzüglich zu
einem Mahagonibehältnis. Für den sportlicheren Gentleman
scheint wiederum ein Harris-Tweedfutter mit passender
Reisedecke das richtige zu sein.« Mr. Fisher fuhr fort,
Stoffbahnen über seinen Arm zu drapieren. »Zu dem Tweed
bieten wir entweder Naturkiefer oder gekalkte Eiche an.«
Zu meinem Ärger wählte Ben diesen Moment, um den
Anwesenden im allgemeinen und Mr. Fisher im besonderen zu
verkünden, daß das Programm von speziellem Interesse für
mich sei.
»Meine Frau ist Innenarchitektin. Du findest das faszinierend,
nicht wahr, Ellie?«
»Oh, ja.« Bevor ich mich bremsen konnte, war ich
herausgeplatzt: »Wie wär’s denn mit viktorianischen
Teebüchsen, Mr. Fisher? Ich möchte meinen, sie würden sich
ganz reizend als Urnen machen.« Ich verhaspelte mich, als ich
dem Blick seiner kalten Fischaugen begegnete. Aber anstatt
klugerweise zu verstummen, plapperte ich weiter und machte
alles noch schlimmer. »Furchtbar peinlich, wenn Sie noch
einen Löffel in die Teekanne geben wollen und feststellen, daß
Sie Grandma hineingelöffelt haben…«
Eine drückende Stille folgte, von der Dauer eines ganzen
Lebens, und ich schmiedete derweil Pläne, was ich mit Ben
anstellen würde, wenn ich ihn erst zu Hause hatte. Das war
alles seine Schuld. Zugegeben, es machte Sinn, für den
eventuellen… den sicheren Tod vorauszuplanen, aber mußte er
unbedingt eine Tupper-Party daraus machen? Gleich würden
wir noch Schreibspiele um Preise veranstalten – um
schwarzgerändertes Briefpapier und Armbinden mit
Monogramm.
Mr. Fisher warf mir einen Blick zu, der Balsamierflüssigkeit in
meine Adern träufelte. Na, na! Schlecht fürs Geschäft. Er
rückte seine randlose Brille zurecht, um mich als zukünftige
Kundin deutlicher ausmachen zu können. Dann lächelte er
angestrengt, räusperte sich und förderte ein weiteres Stück
weißer Seide zutage, diesmal eines mit einem Muster aus
winzigen blauen Blumen.
»Unser Vergißmeinnicht – peau de soie ist die ideale
Empfehlung für unser Jahrgangs-Champagner-Behältnis. Nicht
jedermanns Fall natürlich, aber hinreißend für Bräute und
Jungfrauen jeglichen Alters. Unser Deluxe-Modell zeichnet
sich dadurch aus, daß es, wenn der Deckel angehoben wird,
›Wir werden uns wiedersehen‹ spielt.«
Eine eiskalte Hand legte sich um meinen Hals. Mehrere bange
Momente verstrichen, bis ich merkte, daß der Übeltäter meine
eigene Hand war, nicht irgendein Geist vom Friedhof. Alles
und jeder rings um mich, von der Standuhr zu den Personen im
Raum – die Pfarrerin und ihr Mann, die Melroses, die
Bludgetts und Ben –, waren zu bloßen Schattenrissen an der
Wand geworden. Nur noch Mr. Fisher war real… und ja, Mrs.
Malloy, die in der Tür stand, mit einem Gesicht in der Farbe
ihrer Preiselbeerschürze und Augen, aus denen grenzenlose
Liebe erstrahlte!
»Mein Walter, was für ein Schatz!«
Sie holte uns beide in die Gegenwart zurück, in die Küche von
Merlin’s Court, am Morgen danach. Sie knöpfte ihren
purpurroten Knittersamtmantel auf, schob die Ärmel hoch und
schockte mich, indem sie den Kessel mit Wasser füllte. Die
Tradition hatte stets vorgeschrieben, daß ich ihr eine Tasse Tee
machte. Selbst Tarn und Abbey waren verblüfft. Sie hörten auf,
um ihre Rassel zu kämpfen und starrten sie mit geöffneten
kleinen Mündern an. Morgens bin ich im allgemeinen schwer
von Begriff, aber schließlich dämmerte mir, daß an Mrs. Ms
Erscheinen so einiges nicht stimmte. Die Provianttasche hatte
sie nicht begleitet und…
Sie knallte den Kessel auf den Herd und jagte die Gasflamme
darunter hoch, als wolle sie in aller Eile das ganze Haus
beheizen. Dann drehte sie sich zu mir um, die Hände in die
purpurroten Hüften gestemmt. »Nun überschlagen Sie sich man
nicht vor lauter Dankbarkeit, Mrs. H, weil ich an meinem
freien Tag vorbeigekommen bin. Ich bin eine Frau, die gern
ihre Schulden begleicht, und Sie haben für gestern noch was
bei mir gut. Sie haben mir das Leben gerettet, Tatsache.«
»Ach, Roxie!« Ich war fast zu Tränen gerührt.
»Nun, wir wollen doch keine Gilbert-und-Sullivan-Nummer
daraus machen, oder?« Sie schaltete den Kessel aus, goß
inmitten einer Dampfwolke den Tee auf und kam mit den
Tassen und Untertellern klappernd herüber. »Also, Mrs. H« –
mit dem Fuß angelte sie sich einen Stuhl – ,
»Sie entspannen sich jetzt mal, während ich Ihnen von meiner
Nacht der Sünde erzähle.«
»Sie meinen doch nicht…?«
»Und ob ich das tu. Mr. Walter Fisher hat mich vom Pfarrhaus
nach Hause begleitet.«
»Nein!«
Wie nicht anders zu erwarten, tauschten Mrs. Malloy und ich
nach diesem Schock wieder die Rollen. Ich war diejenige, die
den Tee eingoß, während sie es sich auf dem Stuhl bequem
machte und ihren Mantel auszog, um ein Outfit zu enthüllen,
das aus dem Kleiderschrank des Leaders der Hell’s Angels
gestohlen war. »Also, bevor Ihr Blutdruck hochgeht, Mrs. H,
will ich gleich gestehen, daß meine Sünde darin bestand, mir
den Mann entwischen zu lassen, ohne auch nur einen
Gutenachtkuß zu kriegen.«
»Aber Sie haben ihn hereingebeten?« Ich zwängte mich an der
Waschmaschine vorbei, um den Laufstall aus dem grellen
Sonnenlicht zu schieben, das durch das Grünfenster über der
Spüle hereinschien, und setzte mich dann wieder zu Mrs. M an
den Tisch.
»Sie können Ihren Schlüpfer darauf verwetten, daß ich ihn zu
einem kleinen Nachttrunk eingeladen habe, und wissen Sie,
was dieser Engel von Mann sagte?«
»Was denn?«
»Daß er gern eine Tasse Kakao hätte.«
»Zum Herzerwärmen.«
Mrs. Malloy lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, faltete die mit
Ringen überzogenen Hände über ihrer schwarzen Satintaille
und stieß einen wonnevollen Seufzer aus. »Ich sage Ihnen,
Mrs. H, der Anblick von Walter, wie er auf meinem
Kalbsledersofa saß, na, da hat es bei mir ganz schön gepocht –
an einer anderen Stelle als in meinem Herzen, wenn Sie mich
verstehen?«
»Ganz und gar.« Ich warf einen besorgten Blick zu den
Zwillingen. Sie schienen angestrengt auf jedes Wort zu
lauschen, aber vielleicht kam das daher, daß sie noch nicht in
ihre Ohren hineingewachsen waren.
»Ich war so befriedigt, Mrs. H…«
»Ja?« Ich drehte mich wieder zu ihr um und merkte, daß ich
etwas verpaßt hatte.
»Ich hatte eine orangefarbene Glühbirne in meine Venuslampe
gedreht. Welch hübsche Farbe sie auf ihn warf. Sie hätten seine
Brille sehen sollen, Mrs. H, die war wie ein Regenbogen.
Glauben Sie mir, ich mußte das Feld der Versuchung räumen
und mich in den Sessel setzen.«
»Es muß eine Qual gewesen sein.«
»Stimmt, Mrs. H, aber verstehen Sie, es war eine süße Qual –
eine religiöse Erfahrung, um es ganz unverblümt zu sagen, und
ich war nie eine von denen, die in der Kirche gern
Stehaufmännchen spielen.« Sie hob eine Hand an ihr
schwarzes Haar mit den fünf Zentimeter langen weißen
Wurzeln, als erwarte sie, daß dort ein Heiligenschein thronte.
»Ich fühlte mich wieder wie eine Jungfrau, obwohl ich
wahrheitshalber sagen muß, wenn ich jemals eine war, dann
hab’ ich’s vergessen. Bis dahin brauchte mein jeweiliger Kerl
immer nur zu sagen: ›Wie wär’s, Roxie, altes Mädchen?‹ Und
ich würde denken: ›Ach, zum Teufel, wenn er die Kohle
ranschafft, warum nicht? ‹ Aber gestern abend…«
»Ja?« Ich schenkte ihr eine frische Tasse Tee ein.
»Gestern abend wollte ich es streng nach dem Buch machen.«
»Dem Fully-Female-Handbuch?«
»Nachdem ich Walter seinen Kakao gebracht hatte,
entschuldigte ich mich und ging kurz ins Hinterzimmer, um
einen Blick in Kapitel zwei zu werfen. Da« – sie zog das Buch
aus ihrer Manteltasche –, »ich habe die Stelle gefunden:

›Wenn ein Mann von dem geschäftigen Treiben seines Berufes


nach Hause kommt, will er nicht von seiner Frau überfallen
werden, als ob sie Rover, der Hund, wäre, der ihm die
schlechte Nachricht zubellt, daß der Herd nicht geht und die
Wäscheleine in den Dreck gefallen ist. Kommen Sie schon,
Mitfrau, knöpfen Sie ihm den Mantel auf, hängen Sie ihn an
den Haken, und führen Sie ihn sanft an der Hand ins
Wohnzimmer, das Sie in seine Privatoase verwandelt haben.
Die Fully-Female-Frau hat frische Blumen in Vasen arrangiert,
ihr bestes Parfüm auf die Kissen gesprüht, eine Flasche Wein
in eine Karaffe gefüllt, ihre hübschesten Kerzen angezündet
und ihre Hundert-Watt-Strahler durch weich gefärbte Birnen
ersetzt…‹

Haben Sie das gehört, Mrs. H?«


»Ihr orangefarbenes Licht war vorherbestimmt.«
Mrs. Malloy blätterte einige Seiten weiter. »Jetzt kommt der
saftige Teil:

›laut Dr. Tensel Reubenoff ist eine ruhige Frau wie stilles
Wasser. Am Ende eines langen Tages erwartet sie ihren
schwitzenden und staubigen Reisenden von seinem
Arbeitsplatz zurück. Sie lädt ihn ein, in ihre Ruhe
einzutauchen, in ihren besänftigenden Armen dahinzutreiben,
und wenn die letzte Kerze am Horizont versinkt, zieht sie ihn
in ihre verborgenen Tiefen hinunter…‹«

»Hübsch.« Ich fing an, klappernd die Teetassen


zusammenzustellen, mit einem Auge bei den Zwillingen.
Wurde mein Liebling Abigail rot?
»Mrs. H, Sie kennen mich! Ich bin nicht der ruhige Typ. Keine,
die auf Zehenspitzen durch die Tulpen geht, sozusagen. Und
was hat mein munterer Charme mir eingebracht? Ich hab’s mit
Walter vergeigt, bis ich mir gestern abend das Fully-Female-
Handbuch zu Herzen genommen habe. Da saß er auf meinem
Sofa und trank seinen Kakao, und er sagt zu mir: ›Mrs. Malloy,
ich mag dieses Zimmer. Es hat so eine friedliche Atmosphäre,
die ich außerhalb meiner Geschäftsräume nur selten finde.‹«
»Ein dickes Lob.« Ich nahm beide Babys auf den Arm und
brachte sie zum Tisch hinüber.
»Walter sagte, ich wäre ganz anders als diese Mrs. Bludgett.«
Ein sprödes Senken der Neonlider erinnerte mich
nachdrücklich an Miss Gladys Thorn, vormals
Kirchenorganistin.
»Wirklich?«
»Anscheinend hatte Walter geschäftlich mit Mrs. B zu tun. Um
Tacheles zu reden, sie und der Mister haben sich eine
Grabstelle auf Pump gekauft. Und unter uns und dem
Wäscheständer gesagt, meinem Walter gefiel die Frau nicht, er
nannte sie einen Springteufel. Ich gehe jede Wette ein, was
meinen Sie, daß ihm dabei nicht der Typ scheues Veilchen
vorschwebt?«
Da die Zwillinge sich verschworen hatten, mich zu erdrosseln,
konnte ich nur mit den Augen Zustimmung signalisieren. Aber
um ehrlich zu sein, ich hätte jede lebende Frau für zu munter
für Mr. Fisher gehalten.
»Kapitel eins meiner Liebesgeschichte.« Mrs. Malloy stand
gemessen auf. »Was ist mit Ihnen, Mrs. H? Irgendwelche
Fortschritte zu vermelden? Haben Sie und Vater Bär« – sie
zwinkerte den Zwillingen zu – »die Laken in Brand gesetzt, als
sie von der Versammlung des Heim-und-Herd-Vereins nach
Hause kamen?«
»Wir waren nicht in der Stimmung.« Ich spürte, wie mein
Gesicht einen tugendhaften Ausdruck annahm. »Zunächst mal
konnten wir Freddy nicht loswerden. Er brannte darauf, alles
über Mrs. Pfarrer zu hören. Und als Ben und ich schließlich ins
Bett kamen, wachte Abbey prompt auf.«
»Und ich nehme an«, sagte sie mit einem selbstgerechten
Grinsen, »Sie haben auch Ihr Elixier nicht getrunken?«
»Heute morgen nicht.«
»Sie sind eine verdammte Drückebergerin, Mrs. H, doch ich
werde ein Machtwort sprechen. Sie geben jetzt die Kleinen her
und ziehen sich Ihren Mantel an. Wir regeln alles so, daß Sie
die Morgensitzungen bei Fully Female machen können und ich
nachmittags hingehe.« Unter jedem Arm ein Baby, schob Mrs.
Malloy mich zur Tür. »Jetzt ab mit Ihnen, und machen Sie mir
keine Schande. Ich habe die Absicht, mein Abschlußdiplom
von Fully Female zu kriegen, und wenn es mich umbringt.«
»Schon mal gedacht, daß Sie so tief sinken würden, meine
Damen?« Bunty Wisemans Stimme gluckste über uns, während
ich eine tiefe Kniebeuge vollführte… und entschied, unten zu
bleiben. Es gefiel mir, so klein zu sein. Doch ich stellte fest,
daß es nicht ungefährlich war. Stichwort tödliche Trikots. Der
Rest des Fully-Female-Aerobic-Kurses hatte sich bereits
aufgewärmt und hüpfte und stampfte zu Klaviermusik, in der
ich »Old MacDonald« erkannte mit Anklängen an »Bleib bei
mir«. Ich hatte mich gerade wieder zum Tageslicht
emporgekämpft, als Bunty das Stoppsignal gab.
»Lockern Sie die Nackenmuskeln, meine Damen! Lassen Sie
die Schultern hängen, lassen Sie die Arme locker an den Seiten
pendeln.«
Der Kurs fand in dem großen Raum im unteren Stockwerk von
Buntys Haus statt, aus dem ich schon bei meinem
Gesprächstermin Gekeuche und Geschnaufe gehört hatte. Vorn
in dem Raum, gegenüber der Tür, befand sich ein kleines
Podest. Dort hatte Bunty mit einem Mikro in der Hand Posten
bezogen und befehligte die Truppen. Zu ihrer Rechten, hinten
an der Fensterwand, saß die allgegenwärtige Miss Thorn am
Klavier. Und ich war ringsum von meinen Mitfrauen
umzingelt. Mädchen und Matronen. Ich zählte drei
Achtzigerinnen – die alle römische Nasen und Staubwedelhüte
zu ihren Trikots trugen. Wie unsagbar deprimierend. Ich hatte
mich immer darauf verlassen, daß das hohe Alter der große
Gleichmacher war. Irgendwann in ferner, verschwommener
Zukunft würden die hübschesten und die unansehnlichsten von
uns eine wie die andere werden. Wie viele atemberaubend
schöne Achtzigerinnen betreten schon einen Raum mit dem
Effekt, daß die Männer nach Luft schnappen und Weingläser
klirrend zu Boden fallen? Natürlich hinkte ich wieder mal der
Zeit hinterher – genau wie den Aerobic-Schritten. Als ich mit
dem Fuß nach links trat, anstatt nach rechts, traf ich eine Frau
in einem kirschrot-silbernen Ensemble im Hintern.
»Tut mir leid.«
»Macht« – schüttel, rüttel, rums – »nichts!«
Mein Trikot war an den Beinen zu kurz und am Oberteil so
eng, daß ich mir vorkam, als hätte ich eines dieser Brustmieder
an, die Nonnen früher trugen. Aber in der Not frißt der Teufel
Fliegen. Ich hatte das Ding aus der Gesucht-Gefunden-Kiste im
Umkleideraum entwendet, und nur die Furcht, daß eine
fuchsteufelswilde Frau die Tür aufriß und schrie »Wer ist der
Dieb?« trieb mich schließlich dazu, mich unter die anderen zu
mischen und mich, wie ich hoffte, in einem wahren Wirbel von
Armen und Beinen in Bewegung zu setzen.
Hier ein Keuchen, da ein Keuchen, überall… Die Haarnadeln
flogen nur so von Miss Thorns mausbraunem Kopf, als sie ihre
aufgepeppte Version von »Old MacDonald« in die Tasten
hämmerte.
»Schluß, meine Damen!« Buntys Schrei dröhnte, als ob sie die
Sperrstunde im Pub ihrer Tante Et, The Pig & Whistle,
verkündete.
Die Klaviermusik verklang stotternd.
Alles an mir war zum Stillstand gekommen, bis auf mein Herz,
das munter weiter hüpfte und sprang. Den Blick auf unsere
Anführerin gerichtet, standen die Fully-Female-Damen herum
wie ein Haufen Eislutscher.
Über uns ging Bunty auf ihrem Podest auf und ab. Brust raus,
Bauch rein, zog sie das Mikrokabel hinter sich her, als wäre sie
die ehrenwerte Mrs. Snodgrass, die mit Peaches, dem
Hündchen, im Hyde Park Gassi ging.
»Donnerwetter, Klasse, bin ich stolz auf euch! Als ich noch ein
Kind war und mit den Rockern und Zockern zusammen
aufwuchs, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als eines Tages
auf der Bühne zu stehen. Und genau das habe ich eine Zeitlang
gemacht, aber ich schwöre, diese Bühne hier ist die allerbeste.
Hier oben komme ich mir vor wie eine Art Missionarin. Ich
weiß genau, daß ich euch helfen kann, euer Leben zu verändern
– wenn ich nicht über dieses dumme Mikrokabel stolpere oder
›mir‹ und ›mich‹ verwechsle und darüber zu Fall komme.
Mann! Welch ein Augenblick, mich an die Warnung meiner
Tante Et zu erinnern, an dem Tag, als ich Lionel Wiseman
heiratete: ›Sprechtechnik ist nicht dasselbe wie Bildung, also
trag die Nase nicht so hoch, damit kein frecher Piepmatz sie
dich abpickt, Bunty, mein Mädchen. ‹«
Gelächter.
Hier und da ein gemurmeltes »Ist sie nicht wunderbar!«
Ein Raum voll verzückter Gesichter. Stichwort
Götzenverehrung! Jeder würde denken, unsere Anführerin sei
eine Kirchenstatue, die plötzlich zum Leben erwacht war und
anfing, uns mit Rosenblättern zu bewerfen.
Ich mochte Bunty, aber das war doch des Guten zuviel. Miss
Thorn, die auf ihrem Klavierhocker herumrutschte, schien als
einzige mein Unbehagen zu teilen. Als sie sich mit dem
Ellbogen auf das Klavier stützte, ertönte ein Klimpern, das sich
schnell in ein Zehn-Sekunden-Medley verwandelte. Ich fragte
mich gerade, was Reverend Mrs. Eudora Spike wohl von all
dem halten würde, als jemand »Schsch« machte. Daß ja keine
zu laut atmete!
»Mitfrauen!« Bunty, deren Locken im Sonnenlicht glänzten,
umschloß das Mikro mit ihren manikürten Händen wie eine
Rose. »Euer Leben kann sich für immer ändern, wenn ihr die
Tatsache akzeptiert, daß euer Platz in den Armen eures Mannes
ist. Versteht mich nicht falsch. Das heißt nicht, daß ihr
aufhören sollt, ihr selbst zu sein. Habe ich meinem Haar etwa
seine natürliche Farbe wiedergegeben? Nie. Aber ich habe
Herz und Verstand meinem wunderbaren Ehemann Lionel
Wiseman anvertraut, der aus mir gemacht hat, was ich heute
bin.«
Miss Thorns Hände schlugen auf die Klaviertasten und sandten
einen Schwarm kreischender Vögel – ich meine Noten in die
Luft. Würde diese Frau die Sitzung überstehen, ohne zum
zweitenmal in zwei Tagen gefeuert zu werden?
»Tut mir ganz furchtbar leid!« In heller Aufregung rettete Miss
T ihre Brille, die ihr die Nase hinunterzurutschen drohte, und
duckte sich über das Instrument, als erwarte sie, von einem
empörten Publikum mit faulen Tomaten bombardiert zu
werden.
»Sie machen Ihre Sache großartig, Gladys«, beruhigte Bunty
sie. »Ich bin so froh, daß Lionel Sie als Alternative zu den
Schallplatten vorgeschlagen hat. Meine Damen, wie wär’s mit
einem kräftigen Applaus für Miss Thorn?«
Gehorsames Klatschen.
»Perfekt!« Bunty ließ ihr Vierundzwanzig-Karat-Lächeln
erstrahlen. »Höchste Zeit für das Retro-Relaxing, meine
Damen. Jede holt sich bitte ihre Matte, legt sich hin und macht
es sich gemütlich.«
Verlegen bis an die Kiemen, wollte ich gerade zögernd die
Hand heben und gestehen, daß ich keine Matte hatte, als der
Rest des Kurses schon wieder an seinen Platz eilte und ein
einzelnes rotes Gummirechteck übrigließ, das lässig an der
Wand lehnte. Ich stieg über die Körper hinweg, die jetzt den
Boden übersäten, stellte mich der Matte vor und sah mich im
Raum um. Nicht allzu vielversprechend. Ähnlich wie die Suche
nach einem freien Platz für ein Grab auf einem überfüllten
Friedhof. Ich war schon drauf und dran, meine Matte zu
nehmen und nach Hause zu gehen, da schaute ein Augenpaar
vom Fußboden zu mir hoch, und eine Stimme, die ich als Mrs.
Thirstys – Direktorin der Dorfschule – erkannte, sagte: »Hier,
neben mir, Mrs. Haskell.«
»Danke. Es ist zwar, als wollte man einen Laster in eine
Parklücke quetschen, die für einen Kabinenroller reserviert ist,
aber ich glaube, ich schaffe es.«
»Warten Sie einen Moment, ich rücke zur Seite.« Noch eine
Stimme, die vertraut klang, und ich schaute hinunter in das
Gesicht von Jackie Diamond, Ehefrau von Norman the
Doorman. Dies war auch ihr erster Tag! Erstaunlich, wieviel
besser ich mich gleich fühlte, weil ich wußte, daß ich nicht die
einzige Neue war.
»Liegt ihr alle bequem?« fragte Bunty, als ich auf den Boden
plumpste. »Gut! Jetzt möchte ich, daß ihr alle die Augen
schließt und euch vorstellt, daß ihr und euer Schatz allein an
einem geheimen Ort seid. Ein Ort, den nur ihr beide kennt…«
Ich lag auf meiner Gummimatte. Der Klang ihrer Stimme
wusch über mich hinweg, und der Sonnenschein kroch über
meine geschlossenen Lider. Das Geräusch rhythmischer
Atemzüge wurde zu einem Sommerwind, und plötzlich war
Ben bei mir. Wir saßen in einem Ruderboot und glitten einen
goldenen Fluß hinunter. Ich trug ein weißes Kleid mit
Lochstickerei und einen großen schattenspendenden Hut. Sein
Profil war von bunten Schatten überzogen. Der Himmel über
uns hatte diesen herrlichen Schimmer, den man nur am Wasser
findet, und an den Ufern wuchsen Trauerweiden, die sich weit
vorbeugten und ihre Locken auf der glänzenden Oberfläche aus
geschliffener Bronze treiben ließen.
Meines Liebsten Hemd kräuselte sich in der warmen Brise,
während seine muskulösen Arme rhythmisch die Ruder
eintauchten… putsch platsch, putsch platsch… Träumerisch
begann ich, aus dem Einsamen Wassergeist zu rezitieren. »Die
wilden weißen Pferde tummeln sich / hü und hott und holla in
der Gischt…« Brr! Igitt! Ein Schwall übelriechenden
Flußwassers trat mir mit dem Huf ins Gesicht.
»Entschuldige, Ellie! Das Ruder ist mir weggerutscht.«
»Macht nichts, Ben, Liebling«, sagte ich und kreuzte meine
sonnengesprenkelten Arme. »Romantik ist an uns alte Käuze
verschwendet.«
»Ich glaube nicht, daß ich da deiner Meinung bin, altes Haus.«
»Ach ja? Da hatte ich aber einen anderen Eindruck, Mr.
Programmleiter des Heim-und-Herd-Vereins. Als ich Mr.
Fishers Sargkatalog durchblätterte, hatte ich entschieden das
Gefühl, daß ich durchs Leben gehetzt werden soll, um den
Leichenwagen nicht warten zu lassen.«
»Ellie, das Thema hatten wir doch gestern abend schon.«
»Und es läßt sich durchaus noch mal anschneiden. Ich hatte auf
einige schöne Jahre mit meinen Kindern gehofft, bevor der
Deckel zufällt.«
Ben stützte sich auf die Ruder und kniff die Augen gegen die
Sonne zusammen. »Meine Liebe, wir tragen ein gewisses Maß
an Verantwortung. Unsere Rolle als Eltern verlangt, daß wir
unseren Nachwuchs vor sämtlichen unerfreulichen
Unvermeidlichkeiten schützen, als da wäre unser gemeinsames
Ableben.« Da er spürte, daß ich etwas sagen wollte, hielt er ein
Ruder hoch. »Ich bin ein altmodischer Typ, Ellie. Ich teile
nicht diesen Jetzt-sterben-später-bezahlen-Standpunkt. Meine
Eltern fingen gleich an ihrem Hochzeitstag an, jede Woche ein
paar Shilling für… ihren letzten Ausflug auf die hohe Kante zu
legen. Und ich habe die Absicht, es für Abbey und Tarn ebenso
zu machen.«
»Na gut! Aber können wir nicht wenigstens auf ein
Sonderangebot warten?« Mein Seufzer wurde von den
Windböen fortgetragen, die fröhlich über uns pfiffen. Plötzlich
wurde das Boot in einem Strudel aus Licht und Schatten
umhergewirbelt. Schneller und schneller, bis Ben schielte und
das Boot kenterte und sich mit dem ganzen Gewicht eines
Sargdeckels auf mich herabsenkte, so daß nur noch Dunkelheit
war…
»Aufwachen, aufwachen!« Eine körperlose Hand rüttelte mich
an der Schulter, und als ich mich auf meiner roten
Gummimatte aufsetzte, sah ich eine Mitfrau in einem
Zebratrikot vor mir knien. »Sie waren k.o. Süße.«
»Danke fürs Aufwecken.« Noch ganz schlaftrunken rappelte
ich mich auf und bildete das Schlußlicht des Kurses beim
Hinausgehen. Als ich an Miss Thorns Klavier vorbeikam,
winkte sie mir neckisch zu. An der Tür hängte sich Bunty an
meinen Arm.
»Ellie, ich freu’ mich wie ein Schneekönig, daß du mitmachst.«
»Ich auch.«
»Und wir essen auf jeden Fall mal zusammen zu Abend.« Ihre
blonden Locken schimmerten, und ein Lächeln tanzte auf
ihrem kessen Gesicht. »Versprechungen, nichts als
Versprechungen! Dasselbe sage ich Li schon seit einem Monat,
aber du weißt ja, wie es ist.« Offenbar zog sie mich auf. Als
Gründerin von Fully Female, die Frau, die Ehemänner zu
ihrem Geschäft gemacht hatte, mußte sie mich doch aufziehen,
oder?
»Nie reicht die Zeit«, witzelte ich. »Ich habe sogar ein kleines
Gedicht darüber gemacht.«
»Sag es auf!« Bunty schien nicht zu bemerken, daß wir die Tür
versperrten.
»Nun, wenn du darauf bestehst!« Ich leckte mir die Lippen und
begann: »Neulich ging ich schnell daher, und traf mich selber,
bitte sehr. Für einen Schwatz war keine Zeit, war ich wirklich
so fett geworden, so brät? Wir trennten uns mit dem
Versprechen, uns irgendwann noch mal zu treffen.«
Warum bringe ich mich selbst immer so in Verlegenheit?
Bunty stand wie angewurzelt auf dem Parkett, ein Lächeln aufs
Gesicht gepappt, während ich wünschte, der Fluß hätte mich
verschluckt. Die Stille dauerte eine Ewigkeit und vermittelte
mir eine gute Vorstellung davon, wie es in der Hölle sein
würde…
Plötzlich war aus dem Nichts, das heißt hinter mir, ein
Luftschnappen zu hören, gefolgt von dem Ausruf: »Wenn das
nicht unbeschreiblich schön ist!«
Dann kam das Tipptapp von Lycrafüßen, und direkt vor mir
stand eine übersprudelnde Mrs. Bludgett. »Ich wußte es, ich
wußte, daß Sie ein guter Geist sind, als wir uns gestern im
Pfarrhaus begegnet sind.« Sie hob eine Hand, um den Rest der
Fully-Female-Gruppe anzuhalten, der sich an uns
vorbeizuzwängen versuchte. »Alles mal stopp, ihr müßt
unbedingt Mrs. Haskells Gedicht hören. Es ist großartig, ich
habe eine richtige Gänsehaut. Mich macht es schon fix und
fertig, auch nur einen Brief zu schreiben!« Zum Glück
entkamen die anderen Damen, während sie so schwärmte, und
ich gelangte in die Halle, ohne eine Zugabe darbieten zu
müssen.
»Bis gleich oben bei Erlebnis Ehe«, trällerte Bunty, als ich
mich mit meiner neuen Verehrerin im Schlepptau zum
Umkleideraum begab.
»Ist das nicht ein Spaß?« Mrs. Bludgett war der Überschwang
in Person. Ihr Bubikopf wippte. Sie hatte Sprungfedern in den
Füßen. »Wissen Sie, daß ich meinen Ohren nicht traute, als
Jock nach Hause kam und mir erzählte, daß Sie ihn dahatten,
um die Waschmaschine zu reparieren? ›Die Mrs. Haskell von
Merlin’s Court? ‹ fragte ich immer wieder, bis er dachte, er
müßte mir ein Beruhigungsmittel geben. Ich fühlte mich so
scheußlich, weil ich ihn von dem Job weggeholt hatte, daß wir
gar nicht dazu kamen, Liebe zu machen. Wir lagen beide bloß
auf dem Bett, starrten an die Decke und flüsterten Ihren
Namen.«
»Wie nett.« Ich schob die Tür des Umkleideraums auf, und
eine Flut von Erinnerungen an meine Schulzeit in St. Roberta
stürmte auf mich ein. Der Geruch alter Spinde und
abgetretenen Linoleums.
»Und Sie dann gestern abend im Pfarrhaus zu sehen! Mir
fehlen die Worte. Es war so unglaublich. Ich wollte dauernd zu
Ihnen laufen und Ihnen einen Untersetzer geben. Irgendwas!
Nur damit ich den Leuten sagen könnte, ich hätte mit der
Märchendame von Merlin’s Court gesprochen! Aber zuerst
sprachen Sie mit der Pfarrerin und dann mit Mrs. Melrose, und
dann kam das Programm…«
An dieser Stelle verschwand Mrs. Bludgett, sie wurde von dem
Gedrängel aus Frauen in unterschiedlichen Stadien des
Ankleidens aufgesogen, wie Fusseln von einem Staubsauger,
aber kurz darauf tauchte sie wieder auf und redete immer noch.
»Da sind Sie ja. Ich war schon in solcher Panik! Sie wird mich
für so unverschämt halten, dachte ich. Diese reizende Frau
wird nie wieder mit mir reden! Und ausgerechnet heute könnte
ich es nicht ertragen, glaube ich. Nicht nach dem Schock, in
diesen Raum zu gehen und sie am Klavier sitzen zu sehen!«
Irgendwie schaffte ich es, mein Gesicht in eine Lücke in dem
Gewimmel zu quetschen. »Gladys Thorn?«
»Jock hatte vor ein paar Monaten etwas mit ihr.« Mrs. Bludgett
wand sich aus ihrem Trikot, und ihre Brüste hüpften wie wild.
»Und zu meiner Schande muß ich sagen, daß ich total am
Boden zerstört war. Anstatt das Positive zu sehen, rief ich sie
an, stieß alle möglichen Drohungen aus…«
»Tut mir leid, aber das mit dem Positiven verstehe ich nicht.«
»Wenn man recht überlegt, welch größeres Kompliment kann
eine Frau einer anderen machen, als ihr den Ehemann
ausspannen zu wollen? Deswegen fiel es mir gerade so schwer,
ihr unter die Augen zu treten – ich kam mir so kleinlich vor.«
»Seh’ ich ein.«
Stimmte nicht. Ich sah überhaupt nichts. Von Mrs. Bludgett
war nur noch die Nase übrig. Stimmen trieben über Köpfe
hinweg, aber so wie man den Wald vor lauter Bäumen nicht
sieht, konnte ich die Frau vor lauter Fully Females nicht sehen.
»Marjorie, leih mir mal deinen Kamm.«
»Kann mir mal jemand die Knöpfe hinten zumachen?«
»Verdammt! Wo habe ich meinen BH hingelegt?«
Ich stand mit dem Rücken zur Wand. Ich gab mir alle Mühe,
mich über Wasser zu halten, und doch merkte ich, daß ich
unterging. Mein Traum fiel mir ein, der, in dem ich zu meinem
Grauen lebendig begraben wurde. Schnaufend stemmte ich
mich mit den Händen dagegen, aber es nützte nichts. Platsch.
Ich plumpste auf eine Fläche – eine Bank vermutlich. Hurra!
Meine Nase befand sich über dem Meeresspiegel. Ich konnte
atmen. Jetzt brauchte ich nur noch ruhig sitzen zu bleiben und
zu hoffen, daß ich nicht eine Reihe blanker Hintern inspizieren
mußte, als die weiblichen Sportskanonen ihre Strumpfhosen
anzogen.
Dem Himmel sei Dank! Von einem Atemzug auf den anderen
leerte sich der Umkleideraum, bis auf Echos und Moll
Bludgett, die vor dem Wandspiegel stand und sich musterte.
»Ich schätze, ich werde mich erst wieder wohl fühlen, wenn ich
zu Gladys Thorn gegangen bin und mich für die schlimmen
Dinge, die ich gesagt habe, entschuldigt habe.« Die Frau des
Klempners sprang munter auf mich zu, ergriff meine Hände
und umschloß sie mit ihren. »Danke, danke, Ellie, daß Sie für
mich da waren, als ich eine Freundin brauchte. Sie sind die
Beste, wissen Sie das?«
»Naja…«
»Oja, das sind Sie!« Ihr ausgelassenes Lachen verklang, ihre
Miene wurde todernst. »Jetzt sprechen Sie es mir mal nach:
Ich, Ellie Haskell, bin die Beste… die Allerbeste.«
Ganz nervös vor Verlegenheit und Auge in Auge mit ihr, sagte
ich diesen albernen Quatsch nach.
»Vergessen Sie es nicht, Ellie! Sie sind eine reizende Frau, und
lassen Sie sich von niemandem was anderes einreden.«
Ich murmelte dem Fußboden ein Dankeschön zu.
»Schließen Sie Freundschaft mit dem Leben!« Sie winkte zum
Abschied von der Tür und war verschwunden. Gott sei Dank!
Die Frau war ein Vampir. Ihre Energie hatte mir jeden
Lebenstropfen ausgesaugt. Ich hatte kaum noch die Kraft, mein
Trikot auszuziehen. Geschweige denn, es wieder in die
Gesucht-und-Gefunden-Kiste zurückzulegen… Meine Knie
fingen an zu schlottern, doch dafür konnte ich Moll Bludgett
nicht verantwortlich machen. Ich kam mir vor wie ein
Grabräuber, wie einer dieser abgefeimten Schurken, die sich
mitten in der Nacht in eine Gruft schleichen und die Ringe von
den Fingern der Leichen ziehen. Das Schildchen innen in dem
Trikot besagte, das es der verstorbenen Mrs. Huffnagle
gehörte. Dieser furchterregenden Frau mit der römischen Nase
und dem Skipisten-Kinn. Dieser Matriarchin der Gesellschaft
von Chitterton Fells. Eine Frau, die heute noch leben könnte,
wenn sie nicht Fully Female beigetreten wäre in der Hoffnung,
ihr Sexleben zum Knistern zu bringen. Armes Mädel, es hatte
ganz schön geknistert, als ihr Elektrogerät ins Badewasser
gefallen war.
In Gedanken an diesen schrecklichen Unfall zog ich mich an
und verließ den Umkleideraum. Sollte ich überhaupt zu
Erlebnis Ehe gehen? Inzwischen mußte ich gut fünf Minuten
hinter allen anderen herhinken, was an sich nicht schlecht war.
Ich war allein, und das bedeutete, ich könnte Mrs. Malloys
Pistole aus der Grotte unter den Stufen holen. Das Plüsch
platsch des Wasserfalls in den Ohren, kniete ich mich hin und
griff mit einer Hand in die Terrakotta-Urne. Nichts. Nicht
einmal ein Kieselstein. Die Pistole war verschwunden,
zusammen mit der Schürze, in die sie eingewickelt war.
Ich wollte gerade aufstehen, unschlüssig, ob ich mir
schreckliche Sorgen machen sollte oder nicht, als ich Schritte
auf der Treppe hörte. Ich schaute hoch und sah Mrs. Pickle, die
sich über das Geländer beugte.
»Guten Morgen.« Ich richtete mich auf.
Wie es ihre Art war, ließ sie sich Zeit mit der Antwort. So träge
wie Sirup fuhr sie mit einem Staubtuch über das Geländer. »Sie
haben was verloren, nicht wahr, Mrs. Haskell?«
Jetzt brachte ich meinerseits keinen Ton heraus.
»War es« – sie zog die Worte in die Länge – »… eine Pistole?«
»Ja.«
»In eine Schürze eingewickelt?«
»Ja!« Inzwischen hätte ich am liebsten losgebrüllt.
»Ach, die!« Ihr sachliches Gesicht verriet nichts. Wir hätten
über einen vermißten Ohrring sprechen können. »Ich hab’ sie
entdeckt, als ich heute morgen den Pott da abstaubte, und sie
Mr. Wiseman gegeben, als er zur Arbeit fuhr.« Eine weitere
lange Pause, während Mrs. Pickle mit dem Staubtuch-Arm den
Rückwärtsgang einlegte. »Hoffentlich hab’ ich keinen Mist
gebaut.«
»Oh, nein!« Zweifellos würde Mrs. Malloy begeistert sein, daß
ihre Pistole jetzt in den Händen von Chitterton Fells’
prominentestem Anwalt war. Aber in der Zwischenzeit mußte
ich die Neugier von Mrs. Pickle befriedigen. »Natürlich
brennen Sie darauf zu erfahren, warum ich die Pistole in den
Krug gelegt habe…«
»Nein.«
»Aber bestimmt…«
»Ihre Angelegenheiten sind Ihre Sache.« Sie fuhr fort, quälend
langsam zu sprechen. »Ich bin dankbar, daß ich einen Job habe.
Als ich gestern abend Mrs. Wiseman anrief, um ihr zu sagen,
daß ich es mir nicht mehr leisten könnte, an den Kursen
teilzunehmen, weil die neue Pfarrerin mich entlassen hat, hat
sie gesagt, sie würde mich anstellen.«
»Da bin ich aber froh.« Ebenso zu meiner wie ihrer
Überraschung erklomm ich die Wendeltreppe und umarmte
Mrs. Pickle. Zu meiner Belohnung gingen die Schleusen auf.
Die Worte sprudelten nur so aus der Lady hervor, als ob sie in
just diesem Moment von einem Schweigegelübde entbunden
worden wäre.
»Die Pfarrerin sagte, sie braucht mich nicht, weil ihr Mann
liebend gern selbst den Haushalt führt. Können Sie sich das
vorstellen?«
»Nun ja…«
»Ich würde sagen, Liebe ist durchaus dabei im Spiel, aber nicht
zum Bödenschrubben und dergleichen, Mrs. Haskell. Gestern
hab’ ich gehört, wie Mr. Spike mit Gladys Thorn stritt, und mir
war gleich klar, daß sie mal was miteinander hatten. Und
außerdem mußte er, daß ich es gehört hatte. Sie hätten die
Blitze in seinen Augen sehen sollen. Ich sag’ nur, wenn Blicke
töten könnten! Und was passiert dann? Zwei Stunden später
gibt man mir und dieser Schlampe, Miss Thorn – man gibt uns
beiden den Laufpaß.«
Mrs. Pickle verstummte erschöpft von diesem Wortschwall,
das Staubtuch hing schlaff in ihren Händen.
»Ich schätze, Sie haben recht«, war alles, was ich sagen konnte.
»Und ich weiß, daß Sie in Erlebnis Ehe sein sollten.« Sie
sprach, wenn möglich, noch langsamer. Sie ging um mich
herum, stapfte die Treppe hinunter und blieb in der Lichtpfütze
des Oberlichtes über uns stehen. »Mrs. Haskell« – Mrs. Pickle
faltete ihr Staubtuch und legte es über das Geländer –, »ich
möchte Ihnen sagen, weshalb Reverend Foxworth darum
gebeten hat, ihn von seinen Pflichten in St. Anselm’s zu
entbinden. Es war Ihretwegen.«
»Meinetwegen?«
»Der Gute, er war von dem Tag an, als Sie nach Merlin’s Court
kamen, in Sie verliebt.«
»Nein!«
»Er sagte zu mir: ›Mrs. Pickle, ich kann so nicht weitermachen,
in Gedanken halb bei meiner Predigt, halb bei ihr. Ich werde
mit dem Bischof sprechen und ihn bitten, mich zu versetzen,
ganz gleich wohin, wenn ich nur von der Qual befreit bin, ihr
Gesicht zu sehen‹.«
»Glauben Sie mir, ich hatte keine Ahnung davon.« Ich stand
auf dieser Treppe und zugleich auf Niemandsland. Es gab kein
Oben und kein Unten, nur die Entdeckung, daß der liebe,
feinfühlige, gutaussehende Rowland Foxworth eine große
Leidenschaft für mich gehegt hatte.
»Es gab eine Zeit, da hab’ ich Sie gehaßt, Mrs. Haskell, aber
mittlerweile weiß ich, daß Sie ihm nie weh tun wollten. Das
Leben kann nicht für jeden ein Liebesroman sein. Nehmen Sie
mich zum Beispiel. Ich bin seit Anbeginn der Zeit in Ihren
Gärtner, Jonas Phipps, verliebt.«
Ich überließ sie ihrer Beschäftigung, weiter in Zeitlupe das
Geländer abzustauben und begab mich die Wendeltreppe
hinauf. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich mehr ganz
Frau, Fully Female, gefühlt als in diesem Moment. Ich wußte
jetzt, daß ich der Gegenstand von Rowlands unerwiderter
Wertschätzung war. An Mrs. Malloys Pistole verschwendete
ich keinen Gedanken mehr. Was mich traf wie ein Schlag, als
ich auf der obersten Stufe anlangte, war die Erinnerung an den
überraschten Gesichtsausdruck der Pfarrerin, als sie mich
gestern abend kennengelernt hatte. Jetzt begriff ich, daß sie
eine ganz andere Frau erwartet hatte – eine echte Femme
Fatale.
Erlebnis Ehe fand im Speisezimmer statt, das wie jeder Raum
dieses Hauses im Hollywood-Stil die Gesetze der Geometrie
neu bestimmte. Frühes Druidentum hätte Ben es genannt. Ich
folgte dem Geräusch von Stimmen und trat mit dem verrückten
Gefühl ein, durch ein Schlüsselloch einen verlängerten Blick
auf das Zimmer und die Personen darin zu werfen. Bunty saß
am anderen Ende des meilenlangen Tisches. Zu beiden Seiten
aufgereiht, in strategischen Abständen und mit dem Kinn
praktisch auf der Taille, saßen etwa zehn Mitglieder von Fully
Female.
Ich schlich auf Zehenspitzen zu einem freien Stuhl, als unsere
Anführerin die Hand hob. Stille senkte sich herab wie ein Tuch
über einen Vogelkäfig.
»Mitfrauen, sagt hallo zu Ellie Haskell.«
»Hallo, Ellie!« Die Stimmen stürmten auf mich ein, als ich
mich zitternd auf meinen Platz fallen ließ. Wohin ich auch sah,
wurde gelächelt. Ich war umzingelt von Lächeln.
Buntys Lächeln glänzte so hell wie ihre blonden Locken. »Du
brauchst nicht in kalten Schweiß auszubrechen, Liebes! Hier
reden wir nur.«
Meine schlimmsten Ängste wurden wahr. Sie würden mich
gefangenhalten, bis ich jede kleinste Einzelheit über mein
Intimleben preisgegeben hatte… oder den derzeitigen Mangel
daran. Bunty fuhr fort in einem Redeschwall, von dem mir der
Kopf schwirrte. Mein Blick schoß hierhin, dorthin, überallhin,
suchte nach einer Lücke in der Deckung und entdeckte
schließlich das vertraute Gesicht von Jacqueline Diamond,
Frau meines liebsten TV-VIPs, Norman the Doorman. Wie
großmütig! Die große Dame nahm ihre dunkle Brille ab, um
mich eingehender zu betrachten.
Irrtum. Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Endlich
drang Buntys Blabla zeitverzögert zu mir durch. Jacqueline
sollte, da sie eines der neuen anwesenden Mitglieder war, den
Stein ins Rollen bringen, indem sie enthüllte, was sie zu Fully
Female geführt hatte.
Sie wirkte so weltgewandt mit ihrem schwingenden
aschblonden Haar, den Lauren-Bacall-Augen und der 22-Zoll-
Taille, die ihr imitiertes Cowboy-Outfit perfekt zur Geltung
brachte. Es schien völlig verkehrt, daß sie einem Haufen
Bauern trampel wie uns ihr Herz ausschütten sollte. Auf der
anderen Seite des gewaltigen Tisches schnellte Mrs. Wardle,
die Bibliothekarin, vor, als ob sie jemand am Träger ihres BHs
in Spezialgröße gepackt hätte, um sie durch den Raum zu
katapultieren. Zwei Plätze weiter saß Mrs. Thirsty, die
Direktorin der Dorfschule, und klapperte mit ihren
Stahlstricknadeln wie ein blutdurstige Revolutionärin, die
darauf wartet, daß das Fallbeil der Guillotine herabsaust. Nicht
auf meinen Nacken, nein danke! Aber natürlich machte ich mir
selbst etwas vor. Sobald Jacqueline Diamond mit ihrem
seelischen Striptease fertig war, wäre ich an der Reihe. In der
verzweifelten Suche nach emotionaler Unterstützung hielt ich
in diesem Meer von Gesichtern Ausschau nach jemandem, die
ich wenigstens oberflächlich als meine Freundin betrachten
konnte. Aber Moll Bludgett hatte es nach ihrem Gespräch mit
Miss Thorn nicht mehr hierher geschafft, und Edna Pickle
wischte wohl noch immer Staub.
Jacqueline Diamond stand hinter ihrem Stuhl, und ihre
glänzendroten Nägel umklammerten die Lehne. »Zunächst mal,
meine Damen, lassen Sie mich Ihnen sagen, daß ich eine
Perfektionistin bin.« Ihre Schlafzimmeraugen schweiften über
den Tisch. »Mein Motto war schon immer, wenn du es nicht
richtig machen kannst, Kindchen, dann lass’ es ganz sein. Was
der Grund dafür ist, weshalb Normie und ich nie allzuviel Sex
hatten.«
Bunty stimmte Applaus an. »Einen dicken Beifall für
Jacqueline für ihre Ehrlichkeit!«
Ich rutschte tiefer in meinen Stuhl.
»Normie sagt zum Spaß, daß ich zu den Menschen gehöre, die
sogar draußen Raumspray versprühen. So bin ich nun mal.
Alles muß genau stimmen, vor allem, wenn wir… eine Party
haben, wie wir es nennen. Ich will frische Blumen und
tropffreie Kerzen, das ganze Drum und Dran. Normie ist
anders, er…«
»Ja?« summte es wie eine Biene um den Tisch.
»Normie…« Die roten Nägel zupften an der Stuhllehne.
»Früher hat er sich die Kleider vom Leib gerissen und gesagt:
›Wie wär’s, altes Haus?‹ Aber seit er Norman the Doorman
spielt…«
»Ja?« Diesmal war es ein Brüllen.
»Jetzt ist er derjenige mit den Kopfschmerzen. Er steckt so tief
in dieser blöden Rolle, daß er nie seinen Umhang abnimmt. Er
weigert sich, Sex mit mir zu haben, weil er denkt, Tausende
von Kindern wären völlig geschockt, wenn sie den Verdacht
hätten, daß ihr Held irgendwelche Mätzchen macht, anstatt auf
der Jagd nach dem bösen Spielzeuggreifer über die Dächer zu
hechten.«
Jacqueline sah erschöpft aus und setzte sich wieder.
»Junge Frau«, sagte Direktorin Thirsty, »Sie müssen Ihre
Hausaufgaben machen.«
»Aber Ihr Problem ist nicht unlösbar«, trällerte Mrs. Wardle.
»Irgendwelche Vorschläge aus der Gruppe?« fragte Bunty.
Zu meinem Entsetzen schob sich eine verräterische rechte
Hand nach oben. Meine. Sofort schössen die Blicke aller
Anwesenden in meine Richtung. Ich rappelte mich auf die
Füße und stammelte eine Entschuldigung für meine
Dreistigkeit… meine bloße Existenz.
»Und Sie sind…?« fragte die Bibliothekarin.
»Ellie Haskell.«
»Unser zweites neues Mitglied«, ergänzte Bunty.
»Mir ist nur gerade so der Gedanke gekommen, daß Mr.
Diamond, wenn Mrs. Diamond eine Phantasie inszenieren
würde, in der sie ein Püppchen ist, das gerettet werden muß,
unter Umständen gern wieder seine Rolle als Ehemann
übernehmen würde.«
Die Luft geriet in Bewegung, so scharf wurde eingeatmet.
Sollte ich auf der Stelle hinausgeworfen werden? Leider nein.
Der Raum schwirrte plötzlich vor Glückwünschen zu meinem
großartigen Beitrag. Was Mrs. Diamond dachte, ging in dem
Gedränge unter. Mehrere Frauen verließen ihre Plätze, um zu
mir zu eilen und mich zu umarmen.
»Mrs. Haskell, willkommen in unserem kleinen Kreis!«
»Sie werden ein solcher Gewinn sein!«
»Ein frischer Wind!«
»Welche Einfühlung!«
Als der Tumult sich etwas gelegt hatte, rief Bunty die
Versammlung zur Ordnung. »Liebe neue Mitglieder, jede
Woche müssen alle Fully-Female-Kandidatinnen eine
Hausaufgabe erledigen. Jacqueline, Sie könnten Ellies
Vorschlag als eine Möglichkeit in Betracht ziehen. Womit der
Augenblick gekommen ist, in dem unsere zweite Neue uns
erzählen wird, was sie zu Fully Female geführt hat.«
Ein Sonnenstrahl schnitt durch die Luft und fiel in Gestalt einer
goldenen Guillotine auf den Tisch. Doch eingehüllt in den
Mantel der Freundschaft, stand ich unerschrocken auf, bereit,
mein Schicksal zu erfüllen. Ehrlich gesagt war meine einzige
Befürchtung, als meine Mitfrauen sich auf ihren Stühlen
zurücklehnten, daß meine Geschichte sich nach Jacquelines zu
zahm anhören würde.
Wenn ich sie vielleicht aufpeppte, indem ich meinen
Taufnamen in voller Länge nannte… »Ich heiße Giselle
Haskell, und ich wohne auf Merlin’s Court, Chitterton Fells,
mit meinem Mann Bentley, unseren Zwillingen Abbey und
Tarn und unserem begabten Kater Tobias. In den letzten
Monaten war ich sehr unzufrieden mit meinen Leistungen als
Ehefrau… als Mensch. Ich habe alle enttäuscht – sogar meine
Pflanzen…«
Es war leichter, als ich gedacht hatte, aber im entscheidenden
Moment, als ich drauf und dran war zu gestehen, daß ich in
sexueller Hinsicht nicht so hoch motiviert war, wie man
wünschen mochte, wurde ich durch das ferne Läuten einer
Glocke aus meiner Geschichte herausgerissen.
»Zum Kuckuck noch mal!« Bunty war aufgesprungen und eilte
zur Tür. »Das muß die neue Pfarrerin sein. Sie hat heute
morgen angerufen und darauf bestanden vorbeizukommen, um
dem Fully-Female-Programm ihren Segen zu geben…« Mitten
im Redefluß verschwand Bunty. Wenig später kam sie zurück,
gefolgt von einer schwarzgekleideten Gestalt mit
Spitzenhandschuhen und einem Blumenmädchenhut. Meine
Gefühle waren in Aufruhr. Es ärgerte mich, mittendrin
unterbrochen worden zu sein, und es war mir peinlich, daß
Reverend Mrs. Eudora Spike mich an einem solchen Ort
erwischte. Ich war keines Gedankens mehr fähig, als ich ihr ins
Gesicht sah und mich dieses strahlende Lächeln umfing. Ich
sank auf meinen Stuhl und faltete die Hände zum Gebet.
»Guten Tag, liebe Damen.« Die Züge von der Hutkrempe
überschattet, rauschte die Pfarrerin zum anderen Ende des
meilenlangen Tisches und pflanzte sich auf Buntys Stuhl. Das
Stimmengewirr legte sich, als sich die schwarzen
Spitzenhandschuhe erhoben. »Meine Freundinnen« – sie hielt
inne, um unsere Herzen eins werden zu lassen –, »laßt uns
einander die Hände zu einem Kreis der Freundschaft reichen,
und laßt die Liebe zwischen uns strömen.«
Zum Teufel mit der Liebe! In hilflosem Wiedererkennen,
knirschte ich mit den Zähnen. Die »Pfarrerin« war niemand
anders als mein verräterischer Verwandter!
»Und nun« – Cousin Freddy neigte seinen schwarzen Hut –
»laßt uns über multiple Orgasmen sprechen.«
Ist das Leben nicht herrlich? Der einzelne Horror mag ins
Reich der Erinnerung entschwinden, aber es gibt immer eine
neue aufregende Folter, die darauf wartet, an seine Stelle zu
treten. Am Morgen nach meiner Erlebnis-Ehe-Sitzung rief Mrs.
Malloy an, um klarzustellen, wo es lang ging –
»Mrs. H, ich hoffe doch, Sie haben die Vorbereitungen für Ihre
Hausaufgabe getroffen?«
»Was?« Augenblicklich war ich wieder in der vierten Klasse
von St. Roberta’s und versuchte verzweifelt, in der
Algebrastunde einen Aufsatz über den Hundertjährigen Krieg
zu schreiben, wobei ich die ganze Zeit wußte, daß die schwere
Hand von Miss Clopper bald auf meiner Schulter landen
würde. »Welche Hausaufgabe?« flehte ich.
Mrs. Malloys schweres Atmen verwandelte den Hörer in einen
Fön. Ich mußte mein Haar festhalten. »Nachtphantasie in den
eigenen vier Wänden, Mrs. H!«
»Stimmt ja!« Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen, auf dem sich
die Ausgehkleidung der Babys türmte. »Wir sollen eine
richtige Verführungsszene komponieren – das Schlafzimmer in
ein Zelt aus Tausendundeiner Nacht verwandeln, Satinlaken
auf das Bett ziehen und die Rumba der Sieben Schleier
tanzen…«
»Den Teil können Sie nicht bringen«, unterbrach Mrs. Malloy.
»Welchen?«
»Den Salome-Quatsch.«
»Aber…«
»Ich hab’ schon meine Tüllvorhänge abgenommen, also hat’s
keinen Zweck, zu flennen, Mrs. H, Sie müssen eben Ihre
eigene Phantasie entwickeln.«
»Was ich gerade sagen wollte«, fauchte ich ins Telefon. »Für
heute abend kann ich unmöglich ein Stelldichein mit Ben
arrangieren, ich habe tausend Dinge zu erledigen. Ich muß die
Babys zu ihrer Kontrolluntersuchung bringen, ich muß an
meine Schwiegereltern und an Dorcas und Jonas schreiben,
heute nachmittag kommt Mr. Bludgett, um die Waschmaschine
zu reparieren, ich muß Unkraut im Steingartenjäten…«
»Bringen Sie mich nicht zum Weinen!« Ich hatte den Verdacht,
daß Mrs. Malloy sarkastisch war, aber als sie fortfuhr, stockte
ihre Stimme. »Ich dachte, wir stehen das zusammen durch. Sie
waren diejenige, die den verdammten Vorschlag mit Fully
Female gemacht hat, als ich meinem Elend viel lieber ein Ende
gesetzt hätte – ein sanfter Druck auf den Abzug und Friede,
vollkommener Friede.«
»Genug!« rief ich, als sich die Erinnerung an die verlorene
Pistole regte, um mich zu quälen. Sie von Lionel Wiseman
zurückzuholen mußte auf meine Zu-erledigen-Liste. Aber alles
hübsch der Reihe nach, zuerst mußte ich Mrs. Malloy
beschwichtigen. »Ich stehe treu zu Fully Female«, versicherte
ich ihr, »aber muß ich meine Hausaufgabe unbedingt heute
abend machen?«
»Wir sollen morgen Bericht erstatten.«
Ausgeschlossen, ihr zu sagen, daß bei mir vieles von dem, was
in Erlebnis Ehe gesagt worden war, zum einen Ohr rein- und
zum anderen wieder rausgegangen war, nachdem die Pfarrerin
ihren… seinen Auftritt gehabt hatte. Indem sie zur
Nachmittagssitzung ging, hatte Mrs. Malloy Cousin Freddy,
den Wolf im Klerikerpelz, verpaßt.
»Sind Sie noch da, Mrs. H?«
Ich erhob mich von meinem Stuhl wie ein Phönix aus der
Asche und versprach, meinen Beitrag zu Ruhm und Ehre von
Fully Female zu leisten.
»Ich kann’s kaum erwarten, meinen Walter im Naturzustand zu
sehen.« Mit dieser grausigen Bemerkung legte Mrs. Malloy auf
und ließ mich von Verzweiflung gepackt zurück.
Gab es denn kein Entrinnen, kein Schlupfloch im Stoff meines
Lebens? Sollte ich wirklich eine Liebe entwürdigen, die sich in
ihrer ruhmreichen Glanzzeit mit der einiger der bedeutendsten
Duos aller Zeiten hatte messen können… Paris und Helena…
Tony und Cleo… Charlie und Di? So hätte ich den ganzen
Morgen dastehen können, eine Wachsfigur des Mißmuts in der
Halle auf Merlin’s Court, doch es kam eine Begnadigung in
Form einer herrischen Vorladung ins Kinderzimmer.
»Bin schon unterwegs, meine Lieblinge!«
Was für Engel! Sie nahmen das Frühstück mit einer
Begeisterung zu sich, die das Herz einer Mutter erfreute und
begleiteten mich ohne Protest auf der Fahrt zu Dr. Melroses
Praxis.
Diejenige, deren Lächeln gelegentlich verblaßte, war ich.
Nachdem ich es geschafft hatte, haarscharf in einer Lücke
einzuparken, die offenbar für ein Skateboard vorgesehen war,
gelang es mir auch noch auszuladen, wobei ich lediglich den
Verlust eines Schals zu beklagen hatte, der von einem
vorbeifahrenden Laster aufgesaugt wurde. Als nächstes kam
das Trauma, mich mit der Schulter voran durch die
Doppelglastür zu schieben, während ich mit einer Hand den
Sportwagen der Babys hielt und mit der anderen die
Windeltasche fallen ließ. Als ich in dem braunen Linoleum-
Foyer auf den Aufzug wartete, dachte ich hämisch an diese
harten Burschen vom Triathlon, die sich nicht mit einer
Sportart zufriedengeben. Mitnichten! Sie müssen die Hänge
des Kilimandscharo hochradeln, mit dem Fallschirm auf ihre
Hundeschlitten springen und mit dem Kanu unterirdische
Flüsse entlangpaddeln, wo Stalaktiten wie Speere aus der
fledermausverseuchten Dunkelheit fahren. Was diese
Masochisten brauchen, ist ein Tag im Leben einer Mutter.
Als der Aufzug widerwillig seine Türen öffnete, beförderte ich
mich und den Sportwagen mit meiner gewohnten flinken
Grazie an Bord, aber die Windeltasche schaffte es irgendwie
nicht ganz. Die Metallkiefer schnappten zu und ließen fünf
Zentimeter Riemen an meinem Arm übrig. Warum ich, lieber
Gott? Maschinen hassen mich. Staubsauger, Föne,
Wasserkessel, meine Waschmaschine… sie alle verbringen ihr
schäbiges kleines Leben ausschließlich damit, Komplotte zu
schmieden, die mich zur Strecke bringen sollen. Zum Glück
war der Aufzug nicht in Form. Bevor er aufwärts keuchen
konnte, schaffte ich es, mit meiner Nase auf den Öffnen-Knopf
zu drücken und die Windeltasche zu retten.
»Mummy hat gewonnen«, prahlte ich und kam mir vor wie
Norman the Doorman, der gerade auf Tour war, als wir das
Wartezimmer von Dr. Melrose betraten, denn der Fernseher
war auf das Lieblingsprogramm meiner Lieblinge eingestellt.
Ich flitzte zu der Frau an der Anmeldung – eine Frau, die
aussah, als sei sie einzig zu dem Zweck geboren, »Der
nächste!« zu rufen –, nannte die Namen der Zwillinge und
schaute mich in dem Raum mit seinen Gummibäumen und dem
mit Zeitschriften übersäten Tisch um. An diesem Morgen
herrschte reger Betrieb. Gesichter, Gesichter überall und kein
einziger freier Stuhl. Die Worte klimperten in meinem Kopf zu
der Musik, die aus dem Fernseher kam. Ich schob den
Kinderwagen in eine Ecke, als ein asthmatischer alter Herr mit
einem tabakfleckigen Schnäuzer mir seinen Platz anbot.
Ich lächelte. »Das ist furchtbar nett, wirklich, aber ich stehe
gern.«
Er wies mit der Hand auf den Kinderwagen. »Da haben Sie ja
alle Hände voll zu tun, Mutter!«
Rot vor Stolz schlug ich die Decke zurück, um ihn einen Blick
auf Abbey und Tarn werfen zu lassen, die wie Engel schliefen.
Ihre süßen kleinen Hände umklammerten das Satinband an der
Decke, ihre Münder bewegten sich, als machten sie Blasen in
Traumland.
Eine Frau mit rosigen Wangen zu meiner Linken beugte sich
vor, um ebenfalls einen Blick in den Kinderwagen zu werfen.
»Nein, wie niedlich.«
»Vielen Dank.«
»Sind es Zwillinge?«
Erstaunlich, wie oft diese Frage gestellt wurde, aber ich ärgerte
mich nie darüber. Ein Baby ist ein Wunder, zwei auf einmal
sind so umwerfend, daß die Leute oft nicht mehr klar denken
können. Ich erzählte wieder einmal die Lebensgeschichte der
Babys, angefangen bei meinen gewaltigen Wehen, als eine der
Türen zum Wartezimmer aufging und Miss Thorn herauskam.
Ein schwarzer Hut war auf ihren Kopf gestülpt, und ihr Mantel
hing bis auf den Fußboden, wie bei einer geknechteten
Gouvernante. Auf ein Quietschen von Abbey hin schaute sie
quer durchs Zimmer und sah mich direkt an.
Ich hob die Hand zum Gruß, doch mein Lächeln gefror. Denn
Miss T sah durch mich hindurch – sie vernichtete mich
geradezu mit ihrem Blick, bevor sie aus dem Zimmer
schwebte. Albern von mir, so erschrocken zu sein, obwohl ich
mir sagte, daß wahrscheinlich nur ihre Brille mal geputzt
werden mußte.
»Der nächste!« brüllte die Hüterin der Anmeldung, und die
Frau mit den rosigen Wangen eilte von dannen.
»Jetzt können Sie sich setzen«, sagte sie noch zu mir, mit
einem Abschiedswinken zu den Zwillingen. Ich tat nur zu gern
wie geheißen, ging zu ihrem Platz und stellte fest, daß sie dort
einen Taschenbuchroman liegengelassen hatte. Dem
romantisch-erotischen Umschlag nach sah es nicht aus wie
etwas, das ich den Zwillingen vorlesen konnte, deshalb legte
ich es auf die Decke des Kinderwagens und machte es mir
gemütlich, um mir Norman the Doorman anzusehen. Edel und
einsam stand er im Eingang von Tinseltown Toys, und sein
schwarzer Umhang umwehte ihn.
»Potzblitz«, sagte er und hielt die Hand an seine Maske,
»täuschen mich meine Äuglein, oder sehe ich da jede Menge
meiner kleinen Freunde, die mir in einer sehr wichtigen
Rettungsaktion zur Hilfe eilen? Ja! Da kommen Billy und Josie
– hoffentlich geht es deinem gebrochenen Arm besser, Josie –,
und ein großes Hallo an Edward, Nancy, Patrick, Julie, Lisa
und alle meine besonderen Freunde. Diesmal« – Norman hob
seinen Umhang, als wollte er die Kinder unter seinen Schutz
ziehen – »brauche ich wirklich die Hilfe jedes einzelnen von
euch. Es war einmal vor nicht sehr langer Zeit und nicht weit
von hier eine nette Dame namens Mrs. Brown, die beschloß,
zum Geburtstag ihres kleinen Jungen eine besondere
Überraschung vorzubereiten. Der Name des kleinen Jungen
war Barry, und Mutter machte ihm ein rotes Kaninchen aus
Götterspeise mit einem Lakritzschnurrbart. Am Nachmittag, als
Mutter ihren großen Löffel nahm, sagte eine Stimme so süß
wie roter Wackelpudding: ›Bitte, eßt mich nicht. Ich bin ein
Zauberkaninchen. Ich bitte nur darum, in eurem Kühlschrank
wohnen zu dürfen.‹ Barrys Daddy war anfangs nicht sonderlich
erfreut. ›Was? Wir sollen ein ganzes Fach einem Teller mit
Glibber überlassen? Soll ich meine Limoflaschen etwa nach
draußen auf die Straße stellen?‹ Aber schließlich hörte Daddy
aufzujammern und zu klagen, und das Wackelpudding-
Kaninchen wurde zu einem Mitglied der Familie. Doch gestern
nacht wurde es von dem bösen Mr. Melt aus dem Kühlschrank
gekidnappt, und wenn wir das Wackelpudding-Kaninchen
nicht rechtzeitig finden, wird es Fruchtsaft sein…«
»Nein!« Das Wort fegte durch den Raum, und als ich meinen
glasigen Blick vom Fernsehschirm losriß, entdeckte ich, daß
ich nicht als einzige in dem Warteraum vor Spannung auf der
Stuhlkante hockte. Der asthmatisch pfeifende alte Herr neben
mir hatte fast seinen Schnäuzer abgekaut. Ich teilte ihm lässig
mit, daß ich persönlich mit dem Star von Tinseltown Toys
bekannt sei.
»Sie kennen Norman?« Der alte Herr pfiff fast seinen Geist
aus.
»In gewisser Weise.« Mit der einen Hand schaukelte ich den
Kinderwagen, während ich mit der anderen mein Haar glättete.
»Ich kenne seine Frau.«
»Wie ist sie denn?«
»Freundlich, nett…«
»Und Sie glauben, eines Tages wird sie Sie mit dem alten
Knaben bekanntmachen?«
»So weit hatte ich nicht gedacht…« Mein Blick kehrte zum
Fernsehschirm zurück, wo Norman eine Leiter an den Mond
lehnte. Magischer, harmloser Märchenkram. Phantasien.
Plötzlich, wie von ferne, hörte ich Mrs. Malloys Stimme, die
mich informierte, daß heute der Abend für meine Hausaufgabe
sei. Und in mir regte sich eine mädchenhafte, kindische
Vorfreude. Ich stand nicht am Beginn eines Lebens der
Unmoral, sondern ich rettete meine Ehe aus den üblen Klauen
der Nachlässigkeit. Als hätte das Schicksal es so bestimmt, trat
an die Stelle von Norman the Doorman eine Reklame für
Katzenfutter, und mein Blick fiel auf die Decke des
Kinderwagens, wo das Taschenbuch Reise nach Walhalla lag.
Meine Hände griffen danach, und das Buch öffnete sich auf
Seite 31, als ob es auf mich gewartet hätte.
Der große Gott Thor, der einst vom Ozean trank und die
Gezeiten schuf, zog jetzt mit einem Ruck seiner zornigen
Hände die Wolken auseinander. Man hätte eine Stecknadel auf
das Schlachtfeld fallen hören können. Söldner fielen
katzbuckelnd auf die Knie und sahen gebannt auf einen
Grashügel, auf dem die Kriegerprinzessin Marvel stand.
Ihr feuerrotes Haar glühte wie die Strahlen der grellen Sonne.
Ihre Amethystaugen konnten sich mit den Juwelen messen, die
aus der Burg ihres Vaters geraubt worden waren. Der Saum
ihres Gewands war starr von Blut, und ihre zarten Schultern
schmerzten vom Schwingen des Schwertes, das sie bei
Tagesanbruch aus den Händen ihres sterbenden Gefährten Bod,
des Unbarmherzigen, genommen hatte. Trockenen Auges hatte
Marvel geschworen, seinen Mörder, diesen übelsten aller
Sachsen, – Baron Derick von Dryadsville, zur Strecke zu
bringen. Geborgen im Schutze Thors – in einer Hand trug sie
das Schwert, die andere preßte sie an eine Taille, die nicht
breiter war als ein Lorbeerkranz –, ging sie auf dem Hügel, auf
dem überall Butterblumen leuchteten, auf und ab.
Jenseits des Wehres, mit einem Blick so stählern wie sein
Schild, stand Derick im Kreise seiner Männer und fand sie
lieblicher denn eine Blume. Bei Wodin! Noch ehe der Mond
über diesem verwünschten Tal aufging, würde er die
Kriegerprinzessin sein eigen nennen. Er verzog seine
feingeschnittenen Lippen zu einem jungenhaften Lächeln, das
ebenso schnell zu Eis gefror. Herold von Leeth schlich an der
anderen Seite des Hügels hinauf. Der schändliche Bube war
nur noch ein Handbreit davon entfernt, diesen reizenden Hals
mit seinen ungeschlachten Pranken zuzudrücken. Doch
plötzlich, mit der ihr kraft ihres königlichen Bluts eigenen
Anmut, fuhr Prinzessin Marvel herum und setzte mit einem
Aufblitzen des Silberschwertes Herolds Leben ein Ende. In der
goldenen Stille jenes Aprilmorgens sprang der leblose Kopf
sich überschlagend den Hügel hinunter – mit vorquellenden
Augen, die Lippen zu einem Kruzitürken! geformt, bis er ein
letztes Mal aufkam und vor Dericks Füßen liegenblieb.
Der kniete sich hin, nahm seinen Helm ab und hob den Blick
zu der Frau der Stunde. »Bei den Göttern, du kommst von weit
her, Baby…«

Ich legte die Reise nach Walhalla wieder auf die Decke des
Kinderwagens, als ein Kriegsschrei des zwanzigsten
Jahrhunderts ertönte.
»Der nächste!«
Abbey und Tarn schössen hoch und – ja! Hipphipphurra! Wir
waren die Auserwählten! Unter den neidischen Blicken des
übrigen Haufens, der aussah, als säße er hier seit den Anfängen
des Penicillins, schob ich den Kinderwagen in das
Allerheiligste von Dr. Melrose.
Du liebe Zeit! Der gute Arzt saß zusammengesunken in seinem
Stuhl, mit geschlossenen Augen, was mich zu der Annahme
veranlaßte, daß er tot war (alles andere wäre völlig
unprofessionell gewesen), aber plötzlich setzte er sich auf und
jagte mir dadurch einen Mordsschreck ein.
»Mrs. Haskell, nicht wahr?« Und das von dem Mann, der seit
meiner Ankunft auf Merlin’s Court mein Arzt war. Der Doktor
war ein Hüne, groß und stämmig. Gewöhnlich trug er Tweed,
was seine Ähnlichkeit mit einem Bären unterstrich, heute
jedoch wirkte er wie geschrumpft. Sein Gesicht war
eingefallen, und er hatte einen glasigen Blick, der erschreckend
an den abgeschlagenen Kopf erinnerte, der wie ein Fußball den
Hügel hinuntergerollt war.
»Ja, ich bin’s«, antwortete ich, mit aller mir kraft meiner guten
alten bäuerlichen Herkunft eigenen Munterkeit. »Es ist mal
wieder Zeit für einen Check-up der Babys.« Es irritierte mich,
ihn an den Grund unseres Kommens erinnern, zu müssen.
Immer noch sitzend, beobachtete Doc Melrose, wie ich Abbey
aus dem Kinderwagen hob, so als hätte er nicht die geringste
Ahnung, was – geschweige denn wer sie war.
»Ich habe nicht gut geschlafen.« Seine Hände zitterten.
Unangenehm, denn sie gehörten zu der besonders behaarten
Sorte.
»Oje!« Ich setzte mich mit beiden Babys auf dem Schoß ihm
gegenüber. »Jede Menge nächtlicher Streß, schätze ich.« Ich
meinte Notfälle, Hausbesuche und so weiter, aber seine
Reaktion führte fast dazu, daß Tarn von meinem rechten
Oberschenkel in den Abgrund fiel.
»Ja!« Der Doktor drückte das Stethoskop an seinem Hals
zusammen, als wollte er sich selbst erdrosseln. »Morgens,
mittags und nachts Streß. Flo ist nicht mehr sie selbst, seit sie
dieser Fully-Female-Organisation beigetreten ist. Sie sind doch
nicht etwa auch eingetreten, oder?«
»Um Himmels willen!« sagte ich nervös.
»Um Ihret- und Ihres Ehemannes willen bete ich, daß Sie es nie
tun.« Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Blick ging
gehetzt zur Tür. »Sie haben meine Frau nicht da draußen im
Wartezimmer gesehen?«
»Nein.«
»Sie könnte verkleidet gewesen sein.« Jetzt verknotete er sein
Stethoskop. Schlimmer noch, sein Gesicht verknotete sich.
»Flo inszeniert gern solche kleinen Überraschungen. Ich habe
keine Ahnung, wann sie diese Tür da aufstoßen und bei
meinem Anblick die Zähne fletschen wird… sämtliche… Diese
Frau hat sich in einen Vampir verwandelt. Sie ist unersättlich.
Gestern abend, als ich nach Hause kam… noch ehe ich meinen
Hut abnehmen konnte, hatte sie mich auf den Tisch im
Eßzimmer geworfen. Wir hätten eigentlich Bridge spielen
sollen.«
»Mrs. Melrose hatte abgesagt?«
»Nein. Und Gott sei Dank läutete es gerade noch rechtzeitig an
der Tür. Ich bin zu alt dafür, Mrs. Haskell. Ich freue mich auf
die Pensionierung, wenn wir zwei im Garten sitzen, Strohhüte
aufhaben und Händchen halten.«
»Sie zeichnet doch so gern.« Ich bot ihm allen Trost, dessen
ich fähig war, während ich Abbey und Tarn enger an mich zog.
Arme Lieblinge, sie rieben sich beide das Naschen, ein sicheres
Zeichen, daß sie müde waren.
»Zeichnen!« Dr. Melrose warf sein Stethoskop hin und
knirschte mit den Zähnen. »Wissen Sie, von welchen Motiven
ihr Künstlerhirn jetzt besessen ist?«
»Ähmmmm…« Ich erinnerte mich nur zu gut daran, wie Flo
mir auf der Versammlung des Heim-und-Herd-Vereins erzählt
hatte, sie stehe darauf, nackte Kerle zu malen. Sie hatte ja sogar
gemeint, Ben würde ein hübsches Motiv abgeben. Doch dem
Doc hatte sie vielleicht erzählt, sie male Stilleben, was als
leicht geschönte Version der Wahrheit durchgehen konnte,
wenn sie ihre Modelle anwies, sich nicht zu rühren, sich nicht
einmal ihre Gänsehaut zu kratzen.
»Mrs. Haskell, Flo interessiert sich für die männliche
Anatomie.«
»Tatsächlich?«
»Ganz bestimmte Teile der männlichen Anatomie.«
Es dauerte einen Augenblick, bis der Groschen fiel, woraufhin
ich wahrhaft entsetzt war. Vielleicht habe ich ja eine
schmutzige Phantasie. Aber in meiner bäuerlichen Sichtweise
besteht ein großer Unterschied zwischen einer Künstlerin, die
nur Hände malt, und einer, die sich auf das konzentriert, was
Bücher wie Rase nach Walhalla mit Euphemismen
umschreiben. Prinzessin Marvel mochte ihre Augen ruhig zur
Freude ihres kleinen nordischen Herzens an Lord Dericks
Männlichkeit weiden, doch Flo Melrose würde ihren Pinsel
nicht in die Nähe von Bens…
»Und ich bin nicht der einzige, der durchdreht!« Dr. Melrose
war aufgestanden und hantierte mit den Instrumenten auf
einem Tablett. »Glauben Sie im Ernst, daß der Tod dieser
Huffnagle ein Unfall war? Lassen Sie es sich gesagt sein, ihr
Ehemann konnte keine weitere Runde mehr durchstehen und
machte dem Highlife ein Ende, indem er dieses Elektrogerät in
ihr Badewasser warf.«
»Mord?« keuchte ich.
»War nur so dahingesagt.« Dr. Melrose verzog den Mund und
winkte mit seiner behaarten Hand ab. »Und es wäre schwer zu
beweisen. Glückspilz.«
»Tja, wie Reverend Foxworth immer sagte, und ich bin sicher,
die neue Amtsinhaberin würde ihm beipflichten, soll der
Himmel sein Richter sein.« Ich steckte die Babys in den
Sportwagen und bewegte mich in Richtung Tür.
»Nicht so eilig!« Er hielt eine Spritze hoch, und ihre
heimtückische Spitze glitzerte in der Sonne, die durch das
gefängnisgroße Fenster hereinschien. »Das ist kein Spaß für
Mummy, aber Alice und Tom brauchen ihre Injektionen.«
Entsetzlich unhöflich von mir, ich weiß, aber ich würde nicht
zulassen, daß dieser um seinen Schlaf gebrachte Mann mit dem
womöglich falschen Serum auf meine Babys losging. Ich stieß
die Tür auf, floh durch das Wartezimmer, war in meinem Auto
und hatte meine Engel sicher auf dem Rücksitz verstaut, bevor
ich richtig Atem schöpfte.
Während ich in einem als Mutter verantwortbaren Tempo über
die Cliff Road fuhr, überlegte ich aufs neue, ob ich nicht etwas
furchtbar Albernes getan hatte, indem ich Fully Female beitrat,
selbst wenn ich davon ausging, daß Dr. Melrose bezüglich der
Huffnagles sein professionelles Augenmaß eingebüßt hatte.
Was Ben sagen würde, falls – wenn – er es herausfand, war die
große Frage. Das männliche Ich ist unergründlich. Er könnte
erfreut sein, daß ich Zeit und Energie in den Erhalt unserer Ehe
investierte, oder er könnte das Ganze als Beleidigung seiner
Männlichkeit auffassen – im weitesten Sinne des Wortes.
Ich befand mich auf dem Abschnitt der Straße, wo der
Eisenzaun des Kirchhofs sich oben auf dem Hügel brüstet, als
ich einen Mann aus dem Torbogen der Eiben auftauchen sah.
Leider sah er mich nicht und stapfte um Haaresbreite vor der
Schnauze meines Wagens über die Straße. Ohne mein
damenhaftes Tempo wäre er entweder auf der Motorhaube
gelandet oder holterdipolter über den Klippenrand in das
wartende Maul der hungrigen See gefallen, deren
Magenknurren laut und deutlich zu uns heraufzog.
Der Wind zauste Mr. Gladstone Spikes spärliches Haar,
während der Rest von ihm völlig unbewegt wirkte, als er
durchs Autofenster spähte.
»Mrs. Haskell, wie erfreulich, Ihnen über den Weg zu laufen.«
Sein sanftes Lächeln sagte mir, daß kein Wortspiel beabsichtigt
war. Der Mann hatte keine Ahnung, daß Petrus an der
Himmelspforte gestanden und »Der Nächste!« gerufen hatte.
»Ich bin auf dem Heimweg, ich war mit Abbey und Tarn beim
Arzt.«
»Ach, wie nett!« sagte er.
Ich erkundigte mich nach seiner Frau, und plötzlich geriet mehr
als nur sein Haar durcheinander. In seine Augen trat dieser
glasige Blick, den ich für immer mit jenem Morgen in
Verbindung bringen würde. »Eudora geht es gut, danke.
Beschäftigt, wie nicht anders zu erwarten.«
»Diese Gemeinde kann von Glück sagen, sie zu haben.« Meine
Stimme lief jetzt auf Automatik. Die Zwillinge wurden
allmählich unruhig. Ohne mich umzudrehen, wußte ich, daß
Abbey Tarn an der Nase gepackt hatte und jeden Augenblick
ein Geheul losbrechen würde, das dem, was Cape Canaveral zu
bieten hatte, in nichts nachstand.
»Eudora ist eine großartige Frau.« Seinem Ton nach hätte Mr.
Spike mich auch darüber informieren können, daß sie unter
einer Weihrauchallergie litt, durch die sie sich zu vorzeitiger
Pensionierung veranlaßt sehen könnte. »Eine Heilige. Ich habe
nie aufgehört, dem Himmel dafür zu danken, daß sie mich
geheiratet hat.« Er trat vom Auto zurück und stand mit
hängenden Schultern da, eine frostige Gestalt selbst an diesem
Apriltag. Er blickte starr nach vorn, als läge irgendwo an dem
blauen Horizont die Antwort auf eine Frage von schicksalhafter
Bedeutung.
»Überaus liebenswürdig von Ihrem Mann, Mrs. Haskell, die
Schachtel Ingwerkekse zu schicken. Meine Frau wird ihm noch
ein paar Zeilen schicken, aber danken Sie ihm doch schon
einmal in unser beider Namen.«
»Das mache ich.« Ich brachte den Motor auf Touren, erklärte,
daß ich es eilig hätte, nach Hause zu kommen, weil die Babys
zu Mittag essen müßten, und er hob die Hand in einer Geste,
die wie ein Abschiedsgruß und ein Segen zugleich wirkte. Als
ich losfuhr, stand er von meinem Rückspiegel eingerahmt da.
Ich hatte angenommen, daß er auf einem Mittagsspaziergang
war, aber irgend etwas an seiner Kopfhaltung und seine
verkrampften Schultern brachte mich auf den Gedanken, daß er
auch auf jemanden warten könnte.
Manche Tage sind voller Überraschungen. Ich betrat Merlin’s
Court durch die Gartentür, die Arme voll mit den Babys, und
fand einen Mann in meiner Küche vor.
»Mr. Bludgett«, sagte ich an den kleinen Mann mit dem
Charlie-Chaplin-Bärtchen gewandt, »wie sind Sie
hereingekommen?«
Er hörte auf zu tun, was immer er an der Waschmaschine tat,
und blickte mich aus seinem gesunden Auge an. Das unter dem
verzogenen Lid machte, was es wollte.
»Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt hab’, Missus.« Er sah
aus, als tue er nichts lieber, aber, wie Reverend Spike mich
sicherlich ermahnen würde, du sollst nicht nach dem Schein
urteilen. »Als auf mein Rufen niemand gekommen ist, hab’
ich’s an der Tür probiert und festgestellt, daß sie offen war.
Dachte, Sie wollten die Waschmaschine repariert haben, bevor
sie noch älter wird, und fertig ist die Laube.«
»Nett, Sie zu sehen.«
»Hier, lassen Sie mich eines der kleinen Scheißerchen
nehmen.« Gesagt, getan, Mr. Bludgett nahm mir Tarn ab.
»Danke.« Ich knöpfte Abbeys Mantel auf. »Und, bitte, lassen
Sie sich von uns nicht stören. Wir versuchen, Ihnen nicht im
Weg zu sein, während Sie arbeiten.«
»Keine Sorge.« Mr. Bludgett mochte hoffnungsvoll auf den
Kessel geblickt haben oder auch nicht. So oder so hatte ich
keine, Zeit, ihm eine Tasse Tee aufzugießen, bevor ich nicht
die Babys umgezogen und gefüttert hatte.
»Wenn Sie es sich gemütlich machen wollen«, fing ich an,
nahm ihm Tam ab und ging mit je einem Baby unter dem Arm
zur Tür.
Er verstand auf Anhieb. »Kein Problem, Missus. Ich setz’
Wasser auf.«
»Der Tee ist in der Kupferdose.«
»Alles klar. Meine Moll sagt, ich bin wie ein Bluthund in der
Küche. Sie kann nichts vor mir verstecken. Vorige Woche hat
sie ‘nen Kuchen gebacken – nicht zu unserem Hochzeitstag
oder ‘ner anderen offiziellen Gelegenheit. Es war ein
Dankeschön-Kuchen… für die Nacht davor. Sie ist ein Genie,
meine Moll, mit solchen kleinen Extras, mit denen man einen
Mann verwöhnen kann. Jedenfalls, um’s kurz zu machen, sie
hat ihn im obersten Schrankfach über dem Herd versteckt, aber
ich hab’ ihn doch erschnüffelt. Wie wir gelacht haben, wir
beide, als Moll mich mit der Dose in der Hand erwischt hat.
›Hier braucht jemand eine Tracht Prügel!‹ sagte sie.«
Ach du liebe Zeit! Jetzt wurde es pervers. Knallrot vor
Verlegenheit murmelte ich: »Da müßte noch etwas Dundee-
Kuchen in der Dose mit dem Parlament drauf sein« und eilte
hinaus.
Nachdem ich die Babys frisch gewickelt hatte, fuhr ich mir mit
dem Kamm durch die Haare und musterte mich im Spiegel des
Kinderzimmers. Das hier war beim besten Willen kein Gesicht,
das tausend Schiffe vom Stapel ließ. Nicht mal ein paar
Ruderboote. Mist. Aber keine Zeit für Selbstmitleid. Ich durfte
nicht vergessen, daß meine Zeit knapp bemessen war. Wenn
ich nicht Mrs. Malloys Staatsfeind Nummer eins werden
wollte, mußte ich mich auf die Nachtphantasie mit meinem
Ehemann Nummer eins vorbereiten. Sollte ich dem Beispiel
von Moll Bludgett folgen und für Ben einen Kuchen backen?
Das wäre wie Eulen nach Athen tragen. Alles, was ich backen
konnte, konnte Ben besser backen, andererseits haben Speisen,
die mit dem Herzen gegessen werden, doch bestimmt eine
Garantie auf Genuß. Mit den Babys im Zwillingstragesack und
einem Blick auf die tickende Standuhr eilte ich durch die Halle
zur Küche zurück. Dort fand ich Mr. Bludgett mit einer Tasse
Tee in den Händen und einem Gummischlauch um die Schulter
geschlungen vor. Rechnete er mit Hochwasser?
Abbey und Tarn machten deutlich, daß sie ihr Mittagessen
wollten, und zwar dalli. Küchengewusel mit einem Mann im
Weg war noch nie eines meiner Lieblingshobbys. Über
Schläuche stolpernd und durch den schmalen Kanal zwischen
Waschmaschine und Küchentisch navigierend, schaffte ich es,
die Babys wieder in den Laufstall zu setzen, wobei ich
gleichzeitig versuchte, mit einer Hand das Fully-Female-
Handbuch zu halten und darin zu lesen. Verstehen Sie, ein
Fully-Female-Mitglied muß ihr Handbuch so getreu lesen wie
ein römisch-katholischer Priester seine Messe. Ich hatte nicht
nach Rezepten Ausschau gehalten, doch am Schluß von
Kapitel drei stieß ich auf ein Fully-Fe-male-Fondue, das genau
richtig klang.

REZEPT

MARINADE: Eine Wanne mit warmem Wasser füllen,


behutsam mit Fully Female Fantasy abschmecken und eine
halbe Stunde einweichen lassen, notfalls umdrehen, um
Druckstellen zu vermeiden. Aus der Flüssigkeit entfernen,
trockentupfen und leicht mit Fully-Female-Kräuterbalsam
einreiben.

DRESSING: Wir schlagen Ranch vor – eine lebhafte Mischung


aus Cowboystiefeln und einem niedlichen kleinen Halfter,
keine Zusätze oder Ersatzstoffe. Oder wählen Sie Französisch
– es ist sehr elementar und wirkt garantiert selbst auf den
heikelsten Ehemann. Tragen Sie Ihr liebstes Neglige, flechten
Sie ein Samtband in Ihr Haar, und schieben Sie die Füßchen in
Ihre winzigsten Pantöffelchen.

GARNIERUNG: Besprühen Sie Ihr liebliches Ich und Ihr


Liebesnest mit Parfüm de Passion von Fully Female, und –
nach Wunsch – bestäuben Sie Ihre Schultern mit Puderzucker.

SERVIERVORSCHLAG: Decken Sie Ihren Tisch mit Ihrem


feinsten Leinen, Porzellan und Silber. Arrangieren Sie
kunstvoll frische Blumen…

Für ein Rezept war dieses hier zweifellos spannend, aber ich
fragte mich allmählich, ob wir jemals zum Höhepunkt
gelangen würden, dem Teil, wo wir kunstvoll das Essen auf
einer Servierplatte arrangierten. Aha, hier kam es –
Paradiesvogel-Fondue, was, wie es aussah, im Grunde eine
erotische Umschreibung für Brathähnchen war. Die einzige
kulinarische Herausforderung, die ich voraussah, wäre das
Auffinden des Fonduetopfs. Früher hatten wir zwei besessen,
aber Ben, als der Purist, der er ist, hatte den elektrischen
verschenkt. Ich fragte mich schon, ob es sich mit
verantwortungsvoller Elternschaft vereinbaren ließ, etwas zu
frittieren… ach, zum Teufel damit! Haben Menschen, die
Abstinenz zum Kult erheben, wirklich ein längeres Leben?
Oder läßt die Langeweile es nur länger erscheinen?

Hähnchenteile in mit Kräuter-Kraftkur gewürztem


Eierkuchenteig tunken und in heißem Öl garen lassen, bis sie
durch und durch sexy-saftig sind. Mit einer Beilage zum
Anbeißen und Gemüse aus Ihrer taktvollen Tiefkühltruhe
servieren. Indem Sie diese Abkürzungen nehmen, liebe
Mitfrau, sorgen wir dafür, daß Sie nicht übergekocht sind,
wenn Ihr Turteltäubchen zur Tür hereinkommt. Wir wollen,
daß er Sie leicht köchelnd vorfindet. Lassen Sie sich von ihm
zum Aufwallen bringen, wenn das Fonduelicht zu flackern
beginnt…

»Mrs. Haskell?« Mr. Bludgett holte mich mit einem Plumps


auf die Erde zurück. Ich ließ das Handbuch fallen, drehte mich
um, sah, daß er den Gummischlauch in den Händen bereithielt
und glaubte eine Schocksekunde lang, er wolle mich damit wie
mit einem Lasso einfangen. Lächerlich. Ihm lag nur die
Waschmaschine am Herzen, aber irgendwie konnte ich die
Wirklichkeit nicht von Bludgett, dem Einbrecher, Gefahr für
die Gesellschaft, trennen.
»Ja?« Aus dem Augenwinkel beobachtete ich die Zwillinge,
die sich an den Seiten des Schinderkarrens – ich meine des
Laufstalls – festhielten und uns aus starren immergrünen
Augen anstarrten.
»Ich glaube, ich hab’ das Problem gefunden, Missus.«
»Ach ja?«
»Und Sie können zwischen zwei Möglichkeiten wählen.« Mr.
Bludgett tätschelte das Bullauge der Waschmaschine, eine so
ergreifende Geste, daß er nicht auszusprechen brauchte, was er
meinte. Wir konnten wählen, ob wir die alte Nellie künstlich
am Leben erhalten wollten, an lebensverlängernde Schläuche
angeschlossen, oder wir konnten sie mit Würde in den großen
Schrotthaufen im Himmel eingehen lassen. Wenn ich
eigenmächtig hätte entscheiden können, dann hätte ich dafür
optiert, das alte Mädchen zur Hintertür rauszuschmeißen. Doch
Ben hatte diese fixe Idee, technische Geräte bis weit über ihre
Zeit hinaus funktionstüchtig zu erhalten. Nehmen wir zum
Beispiel seinen Wagen. Er plant, daß dieser ihn überdauern soll
und hat in seinem Testament Vorkehrungen für seine spätere
Pflege getroffen.
»Mr. Bludgett«, sagte ich, »mein Mann hängt an dieser
Waschmaschine. Kann man sie irgendwie retten?«
Zu meinem Staunen zuckte Mr. B.s Schnäuzer, und er griff mit
unsicherer Hand nach dem Gummischlauch. Seine Hände
waren zwar nicht so behaart wie Dr. Melroses Bärentatzen,
doch ich stellte fest, daß an einem Tag schon zwei starke
Männer in meiner Gegenwart das große Zittern gekriegt hatten.
Was war aus dieser Stadt geworden?
»Mrs. Haskell, Sie brauchen mir nicht zu sagen, daß Sie
hingegangen und Fully Female beigetreten sind. Ich kann es an
Ihrem Blick sehen, in Ihrer Stimme hören, wenn Sie über den
Mister sprechen. Meine Moll ist genauso. Was für ‘ne Frau!
Jeder Tag wie in den Flitterwochen. Ihr erster Atemzug nach
dem Aufwachen und ihr letzter vor dem Einschlafen gilt mir.
Nur eins verdirbt unser Glück…«
»Herrje!«
»Ich muß immer darüber nachdenken…« Mr. Bludgett zerrte
an dem Gummischlauch, als wollte er ihn erdrosseln. »Ich
denke darüber nach, wie ich hingegangen und diese…
unmoralischen Sachen mit… dieser Frau gemacht hab’.« Er
brauchte die Ehebrecherin nicht zu nennen. Der Name Miss
Gladys Thorn stand in die Luft geschrieben wie eine Comic-
Blase. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Der alte Spruch
»Dazu gehören immer zwei!« fiel mir ein, aber Moralpredigten
brauchen ihre Zeit, und wir hatten noch keine Entscheidung
wegen Nellie gefällt und… oh, Mist! Da war jemand an der
Gartentür.
Poch-klopf-klopf.
Ein albernes, neckisches Klopfen. Wut stieg mir schäumend in
der Kehle hoch, als ich durch die Kieselglasscheibe spähte und
die große, schmale Gestalt entdeckte. Cousin Freddy! Wie
konnte er es wagen, sich nach seiner gräßlichen Scharade bei
Fully Female hier blicken zu lassen! Eine Geistliche zu
imitieren! Als Variete-Sketch mochte es ja noch angehen, aber
ich fand es ganz und gar nicht lustig. Ich riß die Tür auf und
schleuderte ihm einen Wortschwall ins Gesicht.
»Setz einen Fuß in mein Haus, du Eiterbeule, und ich bring’
dich um!«
Die Person an der Tür war Miss Thorn.
Bevor ich meine Stimme wiederfand, die in Deckung gegangen
war, wich Miss Thorn zurück, die Stufen hinunter, wobei sie
über ihre eigenen Füße und Worte stolperte.
»Tut mir so leid, Mrs. Haskell!« Ihre Pilzaugen bohrten sich
mir ins Herz. »Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich
bringe das Taschentuch Ihres lieben Mannes zurück.« Das
Flattern einer weißen Fahne, bevor sie es an die Lippen drückte
und über die Einfahrt entfloh, eine hagere schwarze Gestalt,
hinter der der Teufel her war. Ich fühlte mich schrecklich. Ich
dachte daran, ihr zur Bushaltestelle nachzurennen und ihr
meine Entschuldigung zu Füßen zu legen. Der Geist war willig,
aber das Fleisch, leider, war hoffnungslos aus der Form. Ich
wählte den Weg des Feiglings und schloß die Gartentür.
Mr. Bludgett sah aus, als hätte er mir gern einen Orden an die
Brust geheftet. »Sie sind voll und ganz eine Fully-Female- Frau
– so um Ihren Mann zu kämpfen!«
»Die Waschmaschine«, sagte ich streng.
Mr. Bludgett strich um Nellie herum wie ein Hund um seinen
Korb, bevor er sich hineinlegt, dann winkte er mich zu sich.
Unter den Blicken meiner Kinder schob ich mich langsam
näher. Er ließ sich Zeit, kratzte erst seinen Schnäuzer, um die
Spannung zu steigern, dann schlug er mit der Faust gegen
Nellies Seite, als klopfe er auf Holz. »Probieren Sie das mal,
Missus, und gucken Sie dann, wie’s weitergeht.«
»Was? Ich soll ihr jedesmal eins verpassen, wenn sie
stehenbleibt?«
»Genau.«
Ich fühlte mich seltsam im Stich gelassen, wie es vermutlich
geschah, nachdem man eine Sargkombination bei Mr. Fisher
ausgesucht hatte, nur um dann den medizinischen Test mit
fliegenden Fahnen zu bestehen. Während Mr. Bludgett Nellie
wieder in ihre Nische schob, hastete ich durch die Küche auf
der Suche nach meinem Kochbuch für Schokoholiker, dem mit
dem idiotensicheren Rezept für Schokoladencremetorte.
Auf keinem der Regale. Blätter flogen, als ich erfolglos die
Schubladen durchwühlte. Als mein Frust seinen Zenit
erreichte, fiel mir ein, daß Dorcas zu meinem Geburtstag einen
Kuchen gebacken und dasselbe Buch benutzt hatte. Vermutlich
war es noch in ihrem Zimmer.
Wie es aussah, würde Mr. Bludgett noch eine Weile brauchen,
und Abbey und Tarn unterhielten sich zufrieden in
Babysprache, daher schien es völlig ungefährlich, einen
Augenblick nach oben zu laufen. Aber kann man dem Leben
jemals trauen? Aus dem Augenblick wurden gut zehn Minuten.
Dorcas’ Zimmer zu durchsuchen, ohne ihre Privatsphäre zu
verletzen, war ein heikles Unterfangen. Ich verschwendete
wertvolle Zeit, indem ich auf Schubladen starrte, die zu öffnen
ich nicht fertigbrachte. Und die ganze Zeit wußte ich, daß das
Kochbuch hier war. Ich konnte seine Gegenwart spüren, ich
war wie besessen davon, es zu finden. Verlorengegangene
Dinge haben etwas furchtbar Bedrohliches. Ich stelle mir
immer vor, daß sie in ihrem Versteck liegen und mich
auslachen. Typisch für die Spielchen, die solche Dinge spielen!
Schließlich gab ich auf und war gerade im Begriff
hinauszugehen, als ich das Kochbuch für Schokoholiker ganz
offen auf dem unteren Regal von Dorcas’ Nachtschrank liegen
sah. Ich griff danach, und plötzlich kam mir zu Bewußtsein,
daß ich viel länger als geplant hier oben gewesen war.
Während ich nach unten rannte, legte ich mir meine
Entschuldigung für Mr. Bludgett zurecht. Die Küchentür ging
krachend nach innen auf, mit mehr Schwung als beabsichtigt,
und ich fand den Raum verlassen vor. Kein Mr. Bludgett.
Keine Abbey, kein Tarn.
Dieser heimtückische Mensch! Warum, ach warum nur hatte
ich meinen spontanen Regungen ihm gegenüber nicht vertraut?
Er war schlimmer als ein Einbrecher! Er war ein Kidnapper! Er
hatte meine Babys entführt! Ohne zu wissen, wie ich dorthin
gekommen war, fand ich mich draußen auf dem Hof wieder.
Der laue Aprilnachmittag war trübe geworden. Bäume
raschelten vor einem Himmel, der so aschfahl war wie mein
Gesicht. Die Stalltür sprang auf, und totes Laub, vom
Komposthaufen herbeigeweht, wirbelte vor mir auf.
Sonnenschein ist kein Talisman gegen das Böse, aber
irgendwie machte das Dahinsterben des Tages alles noch
hoffnungsloser. Als ich das nächste Mal die Orientierung
wiederfand, war ich im Stall. O kühne und törichte Hoffnung!
Wie konnten sie hier sein, wenn Mr. Bludgetts Lieferwagen
weg war? Ich verdiente es nicht, Kinder zu haben. Jede Mutter,
die auch nur ein Quentchen Verstand besaß, hätte sofort die
Polizei angerufen. Ich stürzte zurück ins Haus und erlebte dort
eine weitere Schockwelle, als die Irrealität des Ganzen über
mich hereinbrach.
Freddy kampierte am Küchentisch, ein großes Stück Kuchen in
der einen, das Fully-Female-Handbuch in der anderen Hand.
Ich wankte zu ihm und schrie: »Gott sei Dank bist du da!«
»Wie bitte?« fragte er mit vollem Mund.
»Man hat die Zwillinge gekidnappt!«
»Hast du den Verstand verloren?« Freddy legte frech die Beine
auf den Tisch, schlug sie übereinander und lehnte sich in
seinem Stuhl zurück.
»Ich sag’ dir doch, Mr. Bludgett, der Klempner…«
»So’n komisch aussehender Typ? Lahmes Auge?«
»Ja!« Meine Stimme schlug Purzelbäume.
Freddy schluckte seine letzte Handvoll Kuchen hinunter und
legte das Handbuch flach auf seine Brust. »Er wollte gerade
gehen, als ich reinkam. Ich hab’ ihm gesagt, er soll Leine
ziehen. Blöder Typ, er hat seine häßliche Visage über den
Laufstall gereckt, um den Kleinen tschüs zu sagen, und sie
haben sich die Augen ausgeheult. Sobald er verschwunden war,
habe ich sie beruhigt und zu ihrem Nickerchen nach oben
gebracht. Sag mal, warum guckst du mich so an, Cousinchen?«
»Du Idiot!« Ich kreischte, aber ich hatte keine Ahnung, ob ich
ihn meinte oder mich. Ich knallte die Gartentür zu, kam zurück,
baute mich mit verschränkten Armen vor ihm auf und blickte
zu ihm hinunter. Ach, welche Versuchung, sich eine Schere zu
schnappen und ihm seinen Pferdeschwanz abzuschnippeln…
als Ersatz für etwas Besseres!
»Entschuldige, wenn ich dir einen Schreck eingejagt habe«,
sagte er und sah aufrichtig zerknirscht aus. »Echt wahr, Ellie,
ich bin eines dieser vom Pech verfolgten Individuen, die nichts
richtig machen können. Es ist zum Heulen. Dabei wollte ich
nach gestern nur wieder in Gnaden von dir aufgenommen
werden.«
Verdammt sollte er sein. Er wußte auf meinen Gefühlssaiten zu
spielen wie auf einer Harfe, und das Ärgerliche, Frustrierende
war, daß er es tatsächlich gut gemeint hatte. Während ich
draußen herumraste wie eine Wahnsinnige, hatte er
wahrscheinlich die Windeln gewechselt. Aber ich würde mich
nicht um meine Wut betrügen lassen.
»Ich nehme an, gestern hast du es auch nur gut gemeint, als du
deine gräßliche Imitation von Reverend Spike zum besten
gegeben hast – eine Frau, deren Namen zu sagen, geschweige
denn zu usurpieren, du nicht wert bist.«
»Ich weiß, es war ungezogen.« Er nahm die Füße vom Tisch –
wohl aus Angst, ich könnte seinen Stuhl umstoßen.
»Dumm ist das treffende Wort.« Ich fühlte mich allmählich
besser. »Ich weiß nicht, wie du glauben konntest, daß du damit
durchkommst. Jede einzelne Frau bei Erlebnis Ehe hätte der
echten Pfarrerin schon begegnet sein können. Und wenn Mrs.
Pickle dich hereingelassen hätte? Wenn Moll Bludgett die
Sitzung nicht verpaßt hätte, weil sie mit Miss Thorn sprach?
Wäre Moll dagewesen, hättest du sie nicht hinters Licht führen
können.«
»Ich gebe zu, es war riskant.« Freddy warf das Fully-Female-
Handbuch von einer Hand in die andere. »Aber zumindest
wußte ich, daß ich darauf zählen konnte, liebe Ellie, daß du
mich nicht verpfeifst. Mußt schließlich die Familienehre
schützen!«
Ich entriß das Handbuch seinen Klauen. »Meine Sorge galt Ben
und dem Restaurant. Deine kleine Maskerade könnte sehr üble
Folgen fürs Geschäft haben.«
»Ellie, ich habe nicht nachgedacht.« Seine Augen schwammen
in Reue. Und, zum Kuckuck, mein Herz begann, weich zu
werden.
»Schauspieler sind nicht wie normale Menschen, Ellie«, fuhr er
fort. »Manchmal bin ich eine gequälte Seele, ein Irrer, der
seine Kunst in einer Welt ausübt, in der Zurückweisung die
Devise ist. Meine Rolle in Normannen der Götter reicht mir
nicht, um meine Ambitionen als Mime zu befriedigen und…«
»Treib’s nicht zu weit, Freddy«, sagte ich.
Grinsend stand er auf und legte mir den Arm um die Schultern.
»Du bist ein gutes Kind, Ellie. Ich werd’ an dich und an Ben
denken, wenn mein Name eines Tages irgendwo in
Neonbuchstaben steht.« Eine Pause. »Du hast wohl keine Zeit,
mir meinen Text aus den Normannen abzuhören?«
»Freddy«, sagte ich und warf einen wilden Blick auf die Uhr,
»ich stecke bis zum Hals…«
»Genug der Worte«, beschwichtigte er mich. »Ich bin
vorbeigekommen, weil mir eingefallen ist, daß ich meine
Hörner hiergelassen habe.«
»Ach ja?« Schnell wandte ich den Blick von dem Regal über
dem Fenster ab. »Tja, ich möchte wissen, wo sie sein
könnten!« Bevor ich gezwungen war, einen Betrüger zu
betrügen, sprang krachend die Gartentür auf, und da stand Mrs.
Malloy. Sie war ein Bild für die Götter – mit riesigen
pinkfarbenen Lockenwicklern und ohne Augenbrauen.
»Tut mir furchtbar leid, so reinzuplatzen, Mrs. H!« Sie
schleuderte ihre Stola über ihre linke Schulter und stolzierte
vorwärts, als ginge sie die Rampe zur Königlichen Yacht
hinauf.
»Sie sind hier, um sich eine Tasse Zucker zu borgen, oder,
meine Liebe?« Freddy bleckte lächelnd die Zähne.
Er war dicht dran. Mrs. M hatte vor einer halben Stunde
beschlossen, daß die erfolgreiche Eroberung von Mr. Walter
Fisher davon abhing, daß sie den violetten Kaftan trug, der
ganz hinten in meinem Kleiderschrank hing. Ein Blickfang,
meinem Herzen lieb und teuer, weil ich ihn an dem Abend
getragen hatte, als ich Bentley T. Haskell kennenlernte.
»Was ist mit den Orientpantoffeln?« fragte ich. »Keine
Extragebühr.«
»Na, nur Ihnen zuliebe, Mrs. H, und wo ich schon mal hier bin,
nehme ich auch ein Paket Kräuter-Kraftkur mit. Ich wollte
gerade das Essen machen, da hatte ich plötzlich einen
Flattermann, weil ich mich nicht erinnern konnte, wo ich das
blöde Zeug hingesteckt habe. Ich brauche Ihnen doch
hoffentlich keinen Schuldschein auszuschreiben? Was ich mir
leihe, gebe ich immer zurück. Roxie, die Redliche, das bin
ich!« Mrs. Malloy sah sich in meiner Küche um. »Ich sehe Ihr
Fully-Female-Elixier nicht, Mrs. H, und aus den Augen heißt
aus dem Sinn.« Sie verzog frömmlerisch den Mund. »Ich
würde nie dran denken, meines regelmäßig einzunehmen, wenn
ich es nicht jederzeit griffbereit hätte.«
»Danke für den Tip«, sagte ich. Welch ein Nachmittag! Ich
hatte mein Elixier nicht getrunken, ich hatte meinen Kuchen
nicht gebacken, und ich würde niemals meine Hausaufgabe
machen können.
»Sprich zu mir von Liebe, teures Herz…«
Die Geisterstunde stand dicht bevor. Mondlicht versilberte die
Fenster. Die Wände des Ehegemachs waren überhaucht vom
rosigen Schimmer der Kerzen, die auf dem Kaminsims
flackerten. Und Tobias war nach dem gescheiterten
Raubüberfall auf das Hähnchen von der Szene verbannt
worden. In ein duftiges grünes, mit Meeresschaumspitze
gesäumtes Neglige gehüllt, ging ich auf der Perserbrücke am
Fuß des Himmelbetts auf und ab und rezitierte die Zeilen,
durch die ich meinen Ehemann aufs neue entzücken würde.
»Komm zu mir, mein Vögelchen, und lass’ mich deine müde
Stirn laben mit Küssen, so feucht und süß.«
Das Glück hatte mir ausnahmsweise gelächelt, anstatt die
Zähne zu blecken. Abbey und Tam waren wie kleine Engel
eingeschlafen. Als ich vor ein paar Minuten zu ihnen
hineingeschaut hatte, lagen sie in ihre Bettchen gekuschelt und
machten winzige Phantasieblasen. Komisch, so stellte ich mir
meine Liebe zu ihnen vor: leuchtende Regenbogen, die man in
der Hand halten konnte, von einer Freude erfüllt, die
schwereloser war als Luft. Mr. Bludgett war nicht der
Schwarze Mann. Meine Schätzchen waren in Sicherheit. Sie
waren immer in Sicherheit gewesen. Nachdem ich ihr
flaumiges Haar von der Farbe des Kerzenlichts gestreichelt
hatte, war ich auf Zehenspitzen aus dem Kinderzimmer
geschlichen.
Der andere wichtige Pluspunkt war, daß Ben kurz nach sechs
angerufen hatte, um mir zu sagen, daß er spätabends eine große
Gesellschaft zum Essen erwartete und ich nicht vor Mitternacht
mit ihm rechnen sollte. Plötzlich schwelgte ich förmlich in
Zeit. Ich buk meine Schokoladentorte, und sie kam ganz
aufgeblasen vor Wichtigkeit aus dem Ofen. So weit, so gut,
aber das Rezept erklärte, daß sie jetzt mit einem kleinen
Dampfseufzer zu einer Art heißer Schokoladenmousse in sich
zusammensinken sollte. Ah, perfekt! Höchste Zeit für die
schwarze Johannisbeersoße. Die übrigen kulinarischen
Vorbereitungen waren ein Kinderspiel. Ich wusch Spinatblätter
für einen Salat und mixte eine Karaffe Dressing aus Kräuter-
Kraftkur nach dem Rezept hinten auf dem wieder
verschließbaren Paket. Ich taute meine Hähnchenteile auf und
legte sie in einer Marinade aus Honig und Limonensaft ein,
während ich im Bad marinierte und Kapitel vier des Fully-
Female-Handbuchs las.

Ehemänner wollen umworben werden, aber da sie im Herzen


sture kleine Jungs sind, wissen sie nicht immer, was sie wollen.
Es ist Ihre Aufgabe – Ihr Privileg –, Ihren Schatz sanft bei der
Hand zu nehmen und auf den Liebespfad zu führen. Seien Sie
auf leichten anfänglichen Widerstand gefaßt. Er denkt
vielleicht, daß er die Spätnachrichten sehen will, er sagt Ihnen
vielleicht, daß er zu müde für Sex ist, er mag alles mögliche
tun, um Ihre Verführungsversuche zu sabotieren, weil er Angst
hat. Vergessen Sie nicht, er soll eine Affäre mit einer Frau
eingehen, die er gerade kennengelernt hat. Die neue Sie.
Glauben Sie mir, er wird sich vermutlich schuldig fühlen! Für
Ihr »erstes Mal« ist das Schlafzimmer wohl die am wenigsten
bedrohliche Umgebung, um ihn zu dieser höchsten Entblößung
des Körpers und des Geistes zu geleiten, in der die Seele Flügel
bekommt, in dem sicheren Wissen, daß die Fully-Female-Frau
eher auf dem Scheiterhaufen verbrennen würde, als diesseits
des Grabes zu offenbaren, was in diesen Augenblicken der
Vertrautheit und Verzückung getan – oder gesagt – wurde.
Sparen Sie sich Ihre Nacht unter den Sternen für das nächste
Mal auf. Essen Sie im Boudoir, aber bitte keine TV-Tabletts
auf den Knien! Decken Sie einen table à deux mit ihrer
feinsten Spitzendecke, und sorgen Sie dafür, daß Ihr Silber und
Ihr Kristall ebenso funkeln wie Ihre Augen, wenn Sie darauf
warten, daß der Mann Ihrer Träume diese Tür öffnet, um Sie
mit ausgestreckten Armen vorzufinden.

Als die Uhr Mitternacht schlug, hörte ich Bens Schritte auf der
Treppe. Mein Mund wurde trocken. Welch ein Zeitpunkt, um
kalte Füße zu kriegen! Ich konnte nicht zu dem Tisch mit dem
knallgelben Fonduetopf, der Salatschüssel aus Glas und dem
Tongeschirr hinsehen. Was tat ich da, meine Schokoladentorte
einem Mann vorzusetzen, der vor nur wenigen Jahren noch ein
völlig Fremder gewesen war? Ich war mir noch nie in meinem
Leben so billig vorgekommen! Doch als seine Schritte immer
näher kamen, dachte ich: Quatsch! Wenn ich schon bis hierher
gegangen bin, wollte ich auch eine Eins bekommen!
Her mit den Wikingerhörnern.
Ben stand in der Tür und starrte mich an, als ob er mich noch
nie im Leben gesehen hätte. Meine Wangen brannten, während
der Rest von mir sich in einen Eisblock verwandelte. Sag
etwas, flehte ich, als er sich aufs Bett setzte und den Mund –
diese Lippen, die ich mit Küssen überschütten sollte – zu
einem harten, geraden Strich verzog.
»Beim Jupiter, Ellie, manchmal denke ich, ich hätte Mönch
werden sollen.«
»Ich…«
»Dann müßte ich mich nicht mit Vertretern der Öffentlichkeit
abgeben, die sich selbst für Gourmets halten. Kannst du dir
vorstellen, daß ein unerträglicher Kerl mich heute abend aus
der Küche rufen ließ, um mir mitzuteilen, sein Prime Rib-Steak
schmecke, als lebe es noch? Er wolle es ›rare‹, nicht roh. Du
wärst stolz auf mich gewesen, Ellie. Ich hatte mein
Temperamentvoll im Griff – und mein Lächeln. Ich brachte
ihm das Stück Leder, das er wollte, und lauschte geduldig
seinen Vorschlägen, wie die Senfglasur auf dem Rosenkohl
verfeinert werden könnte.«
»Mein tapferer Liebling!«
Bestimmt würde er doch jetzt merken…
»Verdammt, morgen ist schon wieder so ein Tag.« Er zog seine
Schuhe aus. »Lass’ uns ins Bett gehen.«
»Ben…« Ich ging in einem Wirbel grüner Gaze zu ihm.
»Öffne deine Augen, mein Liebster. Sieh dich um, sieh mich
an!«
»Was ist denn, Liebes?«
»Ich habe einen besonderen Abend für uns vorbereitet.« Der
Schwung meines weiten Ärmels umfing den Tisch für zwei, die
Kerzen auf dem Kamin, seinen schwarzen Seidenmorgenrock,
der einladend über die Rückenlehne des Kaminstuhls drapiert
war.
Erschöpft lehnte meine bessere Hälfte den Kopf an mich, als
ich vor ihm stand. »Das ist nett, Ellie, aber können wir das
nicht zum Frühstück essen? Ich bin wirklich erschlagen.«
Mich überkam der Drang, mich neben ihn zu setzen und ihn in
meine Arme zu nehmen, so wie ich es mit Abbey oder Tarn
getan hätte, aber hier stand eine Hausaufgabenzensur auf dem
Spiel. Ich konnte keine Sechs riskieren. Mrs. Malloy würde es
mir ewig vorhalten, und ich mußte auch an Bunty denken. Sie
würde glauben, daß ich Fully Female nicht ernst nahm.
Meine Hausaufgabe ließ sich aufs Bett zurückfallen, mit
geschlossenen Augen und Nasenlöchern, die arbeiteten wie
zwei Blasebälge. In Kürze würde ich eine Röchelsinfonie in a-
Moll zu hören bekommen. Höchste Zeit, sich eine Scheibe von
Reise nach Walhalla abzuschneiden. Prinzessin Marvel hätte
doch bestimmt nicht mit herabhängenden Armen dagestanden
und zugesehen, wie ihre Spinatblätter dahinwelkten, oder?
Nein! Sie, die ihren Feinden aus dem Handgelenk den Kopf
abhackte, hätte die Gelegenheit beim Schopf – den Mann beim
Schopf gepackt. Ich griff hinunter, packte Ben bei den Ohren
und hob seinen Kopf vom Kissen.
»Aufwachen, aufwachen!«
»Was ist denn?« Seine Augen gingen einen Spalt auf.
»Ich kann dich nicht schlafen lassen.«
»Ellie, bitte!« Er machte eine Bewegung, als wollte er sich
umdrehen, setzte sich jedoch statt dessen auf und rieb sich die
Augen. »Ich hatte einen Alptraum. Du hattest zwei Hörner auf
und wolltest mich foltern. Großer Gott! Du hast tatsächlich
Hörner auf.«
Ich rückte meine Kopfbedeckung vorteilhafter zurecht und
sagte trotzig: »Der Zweck der Übung des heutigen Abends war,
das Element einer locker-luftigen Phantasie in unsere
Beziehung einzubringen. Ich war fest entschlossen, dich als
Vorspiel mit Speis und Trank zu bewirten – «
Das Heben einer dunklen, fragenden Augenbraue. »Geht’s hier
um Sex?«
»Sozusagen.«
»Um Himmels willen, warum hast du das nicht gesagt!«
Apropos alle Bedenken und Bekleidung in den Wind schlagen!
Ben war aus dem Bett, mit aufgeknöpftem Hemd, noch ehe ich
das Fonduelicht anzünden konnte. Fünf Minuten später kam er
von einem Abstecher ins Bad zurück, in schimmernder
schwarzer Seide und mit dem Wohlgeruch von Mr.-Right-
Aftershave. Ich hätte vor Triumph erstrahlen müssen, aber als
wir unsere Plätze am leinengedeckten Tisch einnahmen, fühlte
ich mich seltsam enttäuscht. Der Mann hatte keinen Blick für
meine Schokoladentorte oder das marinierte Hähnchen. Er saß
mit den Händen im Schoß da wie ein braves Kind, das darauf
wartet, vom Tisch entlassen zu werden, damit es sich zum
Spielen davonmachen kann.
»Hoffentlich denkst du nicht, daß ich zu leicht zu haben bin.«
Sein sprödes Lächeln paßte nicht zu dem spitzbübischen
Ausdruck in seinen strahlend blaugrünen Augen.
»Ach wo.« Ich machte mich daran, die Fondueflamme höher
zu drehen und sah zu meinem Entsetzen, wie der Spitzensaum
an meinem malerisch drapierten Ärmel Feuer fing. Prinzessin
Marvel hätte den Augenblick zweifellos genossen. Ihre
Kriegernüstern hätten beim Inhalieren des lebensbedrohlichen
Rauches vor Ekstase gebebt. Ihr verschmitztes Lachen hätte die
Flamme angefacht. Doch Ellie Haskell war noch nicht bereit
für die Reise nach Walhalla. Mein Verstand wurde zu einem
einzigen großen Schrei, ich bekam jedoch nicht den Mund auf,
um wenigstens »Hilfe!« zu krächzen, geschweige denn »You
light up my life« zu singen. In gräßlicher Zeitlupe sah ich, wie
Ben den Blick von meinem Dekollete losriß und sich über den
Tisch warf, um das Feuer mit den Händen zu löschen.
Alles vorüber, sowohl die Gefahr als auch mein kostbares
Abendessen, das jetzt in einer matschigen, fettigen Lache auf
dem Fußboden lag. Die gute Nachricht war, daß weder Ben
noch ich Schaden genommen hatten. Mein weiter Ärmel hatte
mein Handgelenk gerettet, und Ben versicherte mir, seine
Hände seien nicht versengt. Vielleicht war es dasselbe wie bei
den Leuten, die über glühende Kohlen gehen – ihre
Furchtlosigkeit stattet sie mit einem mystischen Schutzschild
aus. Dennoch nahm ich meine Hörner ab und bot an, meinem
Helden Erste Hilfe zu leisten.
»Meine Hände sind in Ordnung, Ellie.« Er stieg über das Chaos
hinweg und schloß mich in seine Arme. »Du hast mir einen
Mordsschreck eingejagt.«
»Ich hole die Brandsalbe…«
»Nicht nötig.« Er fuhr mit dem Finger an meinem Kinn entlang
und tastete sich dann bis zu meinem Hals hinunter, wo er mein
Negligé auseinanderschob.
»Ich glaube aber doch, daß ich dir etwas Salbe auf die Hände
streichen sollte.«
»Schatz, andere Teile meiner Anatomie bedürfen deiner
Aufmerksamkeit viel dringender.« Sein Atem war eine
tropische Brise, die in mein Dekollete blies, und ich muß ganz
ehrlich sagen, daß ich nicht länger in solchen Begriffen wie
Hausaufgaben und Noten dachte. Was mich allerdings eine
Spur ärgerte, war der Gedanke, unser Abendessen auf dem
Fußboden liegen zu lassen wie die Überbleibsel eines
mittelalterlichen Banketts, doch Ben – gewöhnlich solch ein
Sauberkeitsapostel – schien es nichts auszumachen.
»Später.« Er schob mich zum Bett.
»Warte einen Moment.« Ich machte mich los und eilte ins Bad,
wo ich das Medizinschränkchen öffnete und eine große
rosarote Flasche aus dem Arsenal auf dem Glasregal nahm. Als
ich zu Ben zurückkam, lag er bäuchlings auf dem Bett.
»Achtung, ich komme!« Kaum saß ich neben ihm, streifte ich
die schwarze Seide seines Morgenmantels von seinen
Schultern, schüttete einen Klecks des kirschroten Zeugs auf
meine Hand, rieb meine Handflächen aneinander und fing mit
der Massage an. Der Duft eines blühenden Apfelgartens
erfüllte den Raum. Langsam, rhythmisch arbeitete ich mich an
seinem Rücken hinunter.
»Darf ich mich jetzt umdrehen?«
»›Geduld ist eine Tugend‹«, zitierte ich, »›die besitzt, wer
kann. Selten bei einer Frau und nie bei einem Mann.‹«
»Ellie.«
»Ach, schon gut.« Ich sah zu, wie er sich auf den Rücken
drehte, und dann verwandelte sich sein Lächeln in einen
Ausdruck blanken Entsetzens. »Was ist los?« rief ich.
»Ich fühl’ mich so klebrig!«
»Darling!« Ich lachte glucksend. »Wir sind verheiratet!«
»Ich klebe am Laken fest!« Er wollte sich aufsetzen, aber es
war, als werde er von Gummisaugnäpfen festgehalten. »Was
zum Teufel hast du mit mir gemacht? Was ist das für ein
Zeug?« Er klang haargenau so entrüstet wie vermutlich
Herkules, nachdem er sich in die mit einer tödlichen
Flüssigkeit beschmierte Löwenhaut gehüllt hatte.
»Das ist eine Bodylotion.« Ich nahm die rosarote Flasche und
fing an, von dem Etikett vorzulesen. »›Eine angenehme
Mischling aus dem feinsten natürlichen Saft wilder
Kirschblüten und Hagebutten für Ihr…‹«
»Weiter.«
»Nun… hier steht ›für Ihr Bad‹, aber ich bin sicher, es ist
eigentlich eine Allzweck…«
»Ein Schaumbad!« Er schoß mit einem Reißgeräusch hoch, das
ebenso vom Laken wie von Haut herrühren konnte, die von
seinem gequälten Körper abgezogen wurde. »Das darf doch
wohl nicht wahr sein, Ellie! Wie konnte dir nur so ein blöder
Fehler passieren? Konntest du nicht die Augen aufmachen?«
»Bevor ich über dich hergefallen bin? Willst du das damit
sagen?« Ich zog mit einem weiteren scharfen Reißgeräusch
mein Neglige unter seinem Ellbogen weg, stand auf, schraubte
den Verschluß wieder so fest zu, wie es ging und knallte die
Flasche auf den Frisiertisch. »Als nächstes wirfst du mir noch
vor, daß ich mich dir ungebeten aufdränge.«
»Meine Liebe, das hab’ ich nicht verdient!«
»Wenn du nur einen Funken Humor hättest!«
»Gott sei Dank habe ich das nicht, oder ich hätte mich
totgelacht über diese blöden, albernen Hörner.« Ben wickelte
den Morgenmantel um seine Männlichkeit, im Handtuchstil,
und stürmte aus dem Bett. »Hör zu, Schatz, es tut mir leid, aber
heute war ein langer Tag.«
»Und du bist wohl der einzige, der hier arbeitet?« Ich jagte ihm
ins Bad hinterher und fauchte: »Für dich habe ich meinen
vollen Terminplan über den Haufen geworfen, für dich habe
ich gebadet und mich geschniegelt!«
»Danke, daß es sich anhört, als wäre es eine verdammt lästige
Pflicht!« Er drehte die Dusche auf und verschwand in einer
Dampfwolke, die sich im Handumdrehen in kirsch-rosa
Schaum verwandelte. Ich war auf dem Weg in den Korridor,
als seine Stimme mich zurückhielt. »Ellie?«
So bald eine Entschuldigung? Es geschahen noch Zeichen und
Wunder. Ich drehte mich um.
»Ja?«
»Ich hab’ vergessen zu fragen, ob du etwas von der Pfarrerin
gehört hast. Ich habe ihr etwas rübergeschickt, eine
Schachtel…«
»Ingwerkekse.« Ich kam nicht dazu zu erklären, daß ich durch
Mr. Spike an diese Information gelangt war, nachdem ich ihn
heute morgen fast über den Haufen gefahren hatte.
»Nicht bloß irgendwelche Ingwerkekse«, ließ sich die
körperlose Stimme vernehmen. »Es waren anatomisch korrekte
Ingwermännchen.«
»O nein!«
»Den Reinen ist alles rein. Und wir können doch wohl davon
ausgehen, daß Reverend Spike und ihr Gatte äußerst keusch
denken.«
Wut schnürte mir die Kehle zu. Ich wußte, warum er das getan
hatte! Höchste Eitelkeit, dein Name ist Mann. Als Ben die
Pfarrerin mit der kulinarischen Potenz ihres Ehemannes und
den dafür verliehenen Preisen prahlen hörte, hatte er einen
Rivalen in Mr. Spike gesehen, den er übertreffen mußte, bevor
dieser in den Küchen von Chitterton Fells die Oberhand
gewann. Aber um welchen Preis?
Das Gespenst der Exkommunikation reckte sein bedrohliches
Haupt, besonders, wenn Freddys Eskapade durchsickerte. Zum
erstenmal kam mir der Gedanke, daß Miss Thorn heute morgen
in Doktor Melroses Praxis vielleicht deshalb durch mich
hindurchgesehen hatte, weil sie meinen lieben Cousin als
Pfarrerin verkleidet erwischt hatte und mich verdächtigte, mit
ihm unter einer Decke zu stecken. Womöglich hatte sie die
Rückgabe von Bens Taschentuch als Vorwand benutzt, um
heute nachmittag vorbeizukommen und es mit mir
auszudiskutieren. Was sie der neuen Pfarrerin gegenüber auch
empfinden mochte, Miss Thorn könnte gut um Buntys willen
empört sein.
In den letzten beiden Tagen war mein Leben zu einem einzigen
Schlamassel geworden. Dafür konnte ich nicht nur Fully
Female verantwortlich machen. Und doch kam mir, als ich in
meinem Dampfbad stand, der Gedanke, daß es gewisse
Gefahren mit sich brachte, sich in die Frau seiner Träume zu
verwandeln. Wir hatten bereits den Fall von Mrs. Huffnagle,
die versehentlich oder anderweitig durch ein Elektrogerät
verbrutzelt war, zu verzeichnen. Heute abend wäre ich fast in
Flammen aufgegangen und…
Das Läuten des Telefons riß mich aus meinen Gedanken. Ich
griff schnell nach dem Hörer des Nebenapparates auf dem
Treppenabsatz, bevor die Babys aufwachten. Da ich innerlich
auf ein »Falsch verbunden!« eingestellt war, schockte es mich,
als eine erregte Stimme schmetterte: »Ellie Haskell?«
»Ja…«
»Sie müssen sofort kommen.«
»Wer spricht da?«
»Jacqueline Diamond. Bitte! Stellen Sie keine Fragen.
Kommen Sie nur her. Rosewood Terrace 21. Schnell! Und was
Sie auch tun – bringen Sie niemanden mit!«
Der verzweifelte, eindringliche Appell lähmte mein Gehirn.
Wenn ich zu Ben lief, um ihm zu sagen, daß ich wegging,
würde er alle möglichen Fragen stellen, auf die ich keine
Antwort wußte. Er würde darauf bestehen, mich zu begleiten,
trotz der gegenteiligen Anweisungen, was bedeuten würde, die
Zwillinge aufzuwecken und sie zu Freddy ins Cottage zu
bringen. Bis ich dieses Szenarium zu Ende gedacht und es als
unmöglich verworfen hatte, saß ich schon im Kombi und stieß
in einer Wolke aus Abgasen rückwärts aus dem Stall. Die
Kieseinfahrt blieb unter meinen Rädern zurück, und ich war
draußen auf der Cliff Road, raste durch die Nacht, auf dem
Weg zu einem unbekannten Haus, auf die Bitte von Mrs.
Norman the Doorman. Daß ich im Begriff war, dem Idol
meiner Kinder zu begegnen, kam mir nicht in den Sinn.
Ebensowenig machte ich mir Sorgen darüber, daß mein grünes
Neglige ein wenig passender Aufzug für ein solch bedeutsames
Ereignis war. Weder Neugier noch Sorge plagten mein Gemüt.
Jacquelines verzweifelter, eindringlicher Appell hatte mir jede
Vorsicht ausgetrieben. Ich habe keinen Orientierungssinn, doch
ich fuhr zur Rosewood Terrace, als hätte ich einen Stadtplan im
Kopf. Wenn mich die Erinnerung nicht trog, wohnte Miss
Thorn in dieser Straße. Vor etwa einem Jahr hatte sie mich zum
Tee eingeladen, und wir hatten über Zwillinge gesprochen.
Prophetisch… und in diesem Moment ziemlich nebensächlich.
Nummer 21 war ein Einzelhaus im Tudorstil, etwas von der
Straße zurückgesetzt, in einem Garten mit dichten Tannen.
Nachdem ich am Randstein geparkt hatte, hastete ich den
schmalen Weg hinauf. Meine nackten Füße waren
unempfindlich gegen die Eiseskälte des Betons, doch in
meinem übrigen Körper spürte ich ein Stechen, das nur zum
Teil von den Kiefern herrührte, die mich mit ihren Nadeln
streiften. Ein Lichtstreifen fiel aus einem Zimmer im oberen
Stock, ansonsten war das Haus völlig dunkel. Die überdachte
Veranda mochte bei Tageslicht einladend wirken, die
Feuchtigkeit jedoch ließ den Geruch von Katzen aufsteigen, die
ihre Visitenkarte hinterlassen hatten. Durch Herumtasten fand
ich die Türklingel und hörte, wie ihr Läuten in das dunkle
Hausinnere eindrang. Keine herbeieilenden Schritte, dafür
glaubte ich eine ferne Stimme »Ellie?« rufen zu hören.
Mein Gefühl kam zurück, als ich mir den Zeh an einem Stein
neben der Tür stieß. Der Damm war gebrochen. Panik brach
mir aus allen Poren wie Schweiß. Innerhalb dieser Mauern
stimmte etwas ganz und gar nicht. Ich bückte mich und hob
den Stein auf in der Absicht, eine der Scheiben einzuwerfen,
doch das Glück war mir hold. Ich brauchte nicht einzubrechen.
Ein verirrter Mondstrahl zeigte mir den Schlüssel, den jemand
unter dem Stein versteckt hatte. Ich steckte ihn ins Schloß und
trat mit einer Mischung aus Erleichterung und Furcht in die
unbeleuchtete Diele.
»Jacqueline?«
»Hier oben!«
Meine Hand fand einen Lichtschalter, und ich stieg so schnell
ich konnte die Stufen hinauf – wobei man berücksichtigen
muß, daß ich von Beinen behindert wurde, die von einem
Zuchthäusler in Fußschellen geliehen waren.
»Ich bin hier drin.«
Was war ich nur für ein Feigling! Ich hatte die größte Lust,
kehrtzumachen und vor der Herzensqual zu fliehen, die sich
hinter der Tür, die mir jetzt ins Gesicht starrte, verbergen
mochte. Doch ich griff nach dem Glasknauf und marschierte in
ein Zimmer, das von einer eisernen Bettstatt beherrscht wurde.
Darauf lag Mrs. Jacqueline Diamond, an Händen und Füßen
gefesselt – keuch! – und nackt wie am Tage ihrer Geburt, bis
auf ein Paar Cowboystiefel und ein Lederhalfter.
Sprachlos schaute ich auf das Telefon, das halb auf dem
Nachtschrank stand, halb in der Luft hing und dessen Hörer an
der Schnur herabbaumelte. Als ich auf sie zuging – wobei ich
wünschte, ich hätte einen Schal, ein Taschentuch, irgend etwas,
um ihre Scham zu bedecken –, fiel ich fast über die Gestalt im
Umhang, die auf dem Fußboden ausgestreckt lag.
»Ich würde einen Mord begehen für eine Zigarette…«
Jacqueline preßte die Fingerknöchel gegen ihren Mund. Die
Arme, ich bin sicher, sie hätte sich am liebsten die Zunge
abgebissen, weil wir nämlich kein medizinisches Wörterbuch
gebraucht hatten, um zu wissen, daß Norman tot war. Sie war
fassungslos an die Seite ihres Ehemannes gewankt, sobald ich
ihre Fesseln gelöst hatte. Als ich mich neben sie kniete, um
eine Decke um ihre Blöße zu legen, versuchte sie, seinen Puls
zu finden, doch ihre Hand zitterte so heftig, daß sie sie nicht
kontrollieren konnte. Im Zustand der ewigen Ruhe war
Normans Gesicht ebenso freundlich wie früher, wenn er im
Fernsehen zu den Kindern gesprochen hatte. Sein starrer Blick
schaute auf einen fernen Ort, wo er sie immer noch sah…
Marcie und Andrea, Philip und John. Wohin er auch gegangen
sein mochte, bestimmt gab es dort eine freie Stelle für einen
Mann, der die Kleinen zum Lächeln gebracht hatte. »Er ist die
Leiter zum Mond hinaufgestiegen«, sagte ich. Seine Frau, jetzt
seine Witwe, saß zusammengekauert auf dem Bett, das
aschblonde Haar hing ihr schlaff auf die Schultern hinunter,
ihre Wimperntusche war verschmiert, ihre Cowboystiefel
schauten unter dem Saum der Decke hervor. Ich war eine
schöne Hilfe, wie ich so in meinem dummen Neglige zitternd
dastand. Ich wußte, daß ich eigentlich das Telefon vor dem
Absturz retten und einen Arzt oder die Polizei anrufen sollte,
aber es kam mir unmenschlich vor, ihr nicht erst ein Glas
Brandy oder ein heißes Getränk zu holen.
»Dritte Schublade, Frisiertisch.« Ihre krächzende Stimme ließ
mich ruckartig in Aktion treten. Ich nahm an, daß ich ihr etwas
zum Anziehen holen sollte, doch ihr war schließlich ein
versteckter Vorrat an Zigaretten eingefallen.
»Danke.« Sie nahm die Schachtel, die ich ihr reichte, klopfte
eine Kingsize-Filterzigarette heraus und bat um das Feuerzeug
auf der Kommode mit Aufsatz aus schwarzer Eiche. »Auch
eine?«
»Nein danke.« Ganz ehrlich, ich – die ich nie eine Zigarette
zwischen meine Lippen gesteckt hatte, es sei denn, man zählt
die Schokoladenzigaretten für Kinder mit den zuckerigen
rosaroten Mundstücken mit – hätte meinen linken
Lungenflügel für einen Zug gegeben. Alles, um nur ja die
Erkenntnis abzublocken, daß der Tod stets in den Kulissen
wartet, eine schwarzverhüllte Gestalt… wie die, die zu unseren
Füßen ausgestreckt lag.
»Norman hat mir immer zugesetzt, ich soll mit dem Rauchen
aufhören. Er mochte es auch nicht, wenn ich fluche. Aber
verdammt noch mal, jetzt spielt’s ja keine Rolle mehr, oder?«
Sie kniff ihre Lauren-Bacall-Augen gegen den Rauch
zusammen, der in einer kleinen Wolke aufstieg, und blickte auf
das Telefon. »Ich hab’ ewig gebraucht, um meine Hand zu
befreien, und noch mal fast genauso lange, um mit dem
Hinterteil des Hörers die Vermittlung zu erreichen.« Noch eine
Rauchwolke. »Sie fragen sich bestimmt, warum ich gerade Sie
angerufen habe.«
»Ich denke, daß es jemand von Fully Female sein mußte.«
»Und ob.« Ihre Zigarettenstimme enthielt einen Hauch von
Humor. »Und wer war es, Ellie Haskell, die in Erlebnis Ehe
vorschlug, ich sollte Leben in meine Ehe bringen, indem ich
die Rolle eines armen kleinen Püppchens spiele, das von
Norman the Doorman gerettet werden muß?«
Ich packte den eisernen Bettpfosten und klammerte mich
erschrocken daran fest.
»Machen Sie nicht so ein Gesicht, ich gebe nicht Ihnen die
Schuld.« Sie drückte die Zigarette in einem Glasaschenbecher
aus und zündete sich gleich darauf eine neue an. »Ich meine
damit nur, daß Ihr Name mir auf Anhieb in den Sinn kam. Was
mir eine Heidenangst machte, war der Gedanke, Sie könnten
eine Geheimnummer haben. Zum Glück bat mich die
Vermittlung nicht einmal, Ihren Namen zu buchstabieren.
«Jacqueline zog die Decke höher um ihre Schultern. »Wollen
Sie wissen, wie es passiert ist?«
»Sollten wir uns denn soviel Zeit lassen?« Mein Verstand
scheute wie wild davor zurück, die letzten Momente von
Norman the Doorman nachzuerleben. Was in diesem Zimmer
geschehen war, um diese Tragödie herbeizuführen, sollte im
Herzen seiner Gattin versiegelt bleiben, zumindest bis die
Polizei und der Gerichtsmediziner die Geschichte aus ihr
herauslockten. »Meinen Sie nicht, ich sollte jetzt die
Polizei…?«
»Noch nicht.« Jacqueline war bei ihrer dritten Zigarette.
»Wenn ich es Ihnen erzähle, wird mir alles klarer werden. Die
Idee, mich mit Stiefel und Halfter zu verkleiden, hatte ich dem
Fully-Female-Handbuch entnommen.«
»Das Ranch-Dressing«, fiel ich ein, »passend zum
Paradiesvogel-Fondue.«
»Norman mag kein… mochte kein Hähnchen. Ich war völlig
überrascht, daß er sofort Feuer und Flamme war und auf meine
Phantasie einging. Kein Pieps von ihm darüber, was sein
Kinderpublikum denken würde, wenn es wüßte, daß er Highlife
machte. Normie war immer am glücklichsten im Reich des
Tun-wir-so-als-ob. In dem Augenblick, als er mich ans Bett
fesselte, wurde ich zu Babbsie Bang-Bang, die von dem
schrecklichen Spielzeuggreifer von ihrer Plastikranch
gekidnappt worden war. Ehe ich auch nur eine Gänsehaut
kriegen konnte, hatte Normie Maske und Umhang angelegt und
kletterte am Kleiderschrank hoch… mit Hilfe eines Stuhls…«
»Aber haben Sie mir nicht neulich erzählt, daß Norman
Höhenangst hatte?«
»Ja, natürlich.« Sie wandte den Blick ab.
Ich nahm Jacqueline die Zigarette ab, bevor fünf Zentimeter
Asche auf den Fußboden fielen, drückte sie aus und wartete,
daß sie fortfuhr. Aus den Augenwinkeln sah ich Normans
Hand, mit weit gespreizten Fingern, als habe er noch ein letztes
Mal verzweifelt nach dem Leben gegriffen. Wie schrecklich es
auch war, über diesen Mann zu sprechen, während er nicht mal
einen Meter entfernt von uns dalag, noch schlimmer war der
Gedanke, daß Jacquelines Stimme auf tote Ohren stieß.
»Normie hockte oben auf dem Kleiderschrank, die Arme unter
dem Umhang ausgebreitet, im Begriff, aufs Bett zu springen
und mich zu retten, als ich mit der Wasserpistole auf ihn zielte,
die ich verborgen gehalten hatte. Sie wissen ja, wie es in der
Sendung war – Norman the Doorman konnte nur durch Seife
oder Wasser vernichtet werden – , und ich dachte, es wäre nett,
ein Überraschungselement einzubauen.«
»Aber Babbsie Bang-Bang würde Norman doch nicht weh
tun?« Meine Unterbrechung war ein Einwurf aufs Geratewohl,
um das Unvermeidliche abzuwehren.
Ein rauchiges Lachen. »Ich war von dem Spielzeuggreifer einer
Gehirnwäsche unterzogen worden. Als Norman sprang, schoß
ich. Er war wirklich wahnsinnig überrascht. Der arme Liebling
verfehlte das Bett… Ende der Show.« Ihr schroffer Ton
täuschte mich nicht. Diese Frau erstickte… mußte vor Elend
und Reue ersticken. Ich sah die blaue Plastikpistole unter dem
Nachtschrank hervorlugen.
»Ich habe ihn getötet.«
»Nein.« Ich setzte mich aufs Bett und legte den Arm um sie.
»Jacqueline, tun Sie sich das nicht an. Es war ein Unfall.«
»Glauben Sie, die Polizei wird das auch so sehen?«
»Sie erklären es…«
»Bevor oder nachdem Sie geschildert haben, wie Sie mich ans
Bett gefesselt vorfanden, nackt wie ein Zeisig? Und was,
meinen Sie, wird das für Normies Tinseltown-Image
bedeuten?«
Das Wort befleckt fiel mir dazu ein.
Die Nacht raffte ihren schwarzen Umhang in einem Wirbel aus
purpurrotem Futter zusammen und stahl sich über die
Häuserdächer, als wisse sie, daß die Morgendämmerung ihr
dicht auf den Fersen war, mit einer Strahlenpistole in der
heißen kleinen Hand. Während ich durch Straßen fuhr, die
verschlungener waren als meine Gedanken, überlegte ich
ironisch, daß ich mir noch vor wenigen Tagen Sorgen gemacht
hatte, weil ich bei einer Joghurt-Umfrage über mein Gewicht
gelogen hatte. War mein Gewissen zu fein gestimmt? Dachte
ich in Hyperbeln, wenn ich das Gefühl hatte, daß sich die Hand
des Gesetzes auf meine Schulter legen würde, so wie die von
Miss Clopper in Algebra?

»Ellie Haskell, geborene Simons, Sie sollen in täuschender


Absieht mit einer gewissen Jacqueline Diamond konspiriert
haben, um relevante Umstände des Todes ihres Gatten, der
beliebten Fernsehpersönlichkeit Norman the Doorman, zu
verschleiern.«
»Euer Lordschaft!«
»Fassen Sie sich kurz, Mrs. Haskell.«
»Der werte Staatsanwalt macht den Versuch, die
Geschworenen mit Schlußfolgerungen in die Irre zu führen,
die, wenn auch im großen und ganzen zutreffend, nichts über
die Motive meiner Person und der trauernden Witwe aussagen.
Ja, ich verließ das Haus, bevor die Polizei oder ein Arzt am
Schauplatz eintrafen, weil ich Jacqueline Diamond
Peinlichkeiten ersparen wollte. Was konnte es denn schaden,
daß sie eine verkürzte Version der Ereignisse lieferte – daß ihr
Ehemann stürzte und mit dem Kopf aufschlug, als er einen
seiner Stunts übte? Es ist ja nicht so, als ob der Verdacht
bestünde, daß er eines unnatürlichen Todes gestorben ist.«
»Das hängt davon ab, was Sie unter unnatürlich verstehen,
Mrs. Haskell. Ich gehe davon aus, meine Damen und Herren
Geschworene, daß Mr. Diamond in der fraglichen Nacht nicht
das Knüpfen von Pfadfinderknoten übte. Ich bin der
Überzeugung, daß Mrs. Diamond ihren Ehemann – einen
Mann von argloser Naivität – dazu verführen wollte, sich auf
ein Fesselspiel mit ihr einzulassen, das, wie ich behaupte – mit
seinem vorzeitigen Tod endete. Euer Lordschaft, ich lege als
Indiz Beweisstück Nr. 43 vor, das Fully-Female-Handbuch.«
»Nicht nötig, meine Frau hat auch eines.«
»Ich ziehe die Unparteilichkeit Eurer Lordschaft nicht in
Zweifel…«
»Bitte fahren Sie fort, Mr. Rimple.«
»Meine Damen und Herren Geschworene, ich muß zu meinem
Leidwesen davon ausgehen, daß Mr. Diamond die – von
diesem Erotica-Pamphlet gespeisten – animalischen
Annäherungsversuche seiner Ehefrau zurückwies und sie
dadurch so erzürnte, daß sie den tödlichen Sturz provozierte.«
»Einspruch! Euer Lordschaft, der werte Staatsanwalt
beschuldigt meine Mitfrau des Mordes!«
»Mrs. Haskell, ich werde Sie wegen Mißachtung des Gerichts
belangen.«
»Das ist mir egal. Ich weigere mich, angesichts dieses Unsinns
still auf der Anklagebank zu sitzen. Mrs. Diamond liebte ihren
Mann.«
»Hörensagen!«
»Wollen Sie damit andeuten, Mr. Rimple, daß sie sich selbst
ans Bett fesselte, nachdem sie ihrem Ehemann einen tödlichen
Stoß gab?«
»Mrs. Haskell, in der Liebe und im Recht ist alles möglich.«

Als ich aus meinem Gerichtssaal-Alptraum auftauchte, merkte


ich, daß ich per mentalem Autopilot gefahren war. Ich fing an,
um einen Ausweg zu beten, nicht aus meinem moralischen
Dilemma, sondern aus der Einbahnstraße, über die ich in der
falschen Richtung entlangfuhr, mit weiß Gott welchem Ziel.
Als ich schließlich unter dem Torbogen von Merlin’s Court
parkte und den Motor ausschaltete, dämmerte mir, daß Ben mit
Fug und Recht eine halbwegs vernünftige Erklärung für die
Abenteuer erwarten würde, die auf meine überstürzte Flucht
von zu Hause gefolgt waren. Eine Freundin hatte mich
gebraucht, würde ich sagen. Woraufhin er natürlich nach dem
Namen besagter Freundin fragen würde. Harmloses, eheliches
Geplauder mit einem möglicherweise peinlichen Nachspiel.
Morgen, wenn die Nachricht von Normans Ableben auf der
Titelseite des Daily Chronicle prangte, wäre es schwierig, Ben
davon zu überzeugen, daß Jacqueline und ich die Stunden um
Mitternacht damit verbracht hatten, Kreuzstichmuster
auszutauschen. Er würde mir alle möglichen leidigen
Einzelheiten aus der Nase ziehen wollen, was wider meine
Loyalität gegenüber einer Frau war, die ich kaum kannte. Ich
würde damit drohen, ihn zu verlassen, wenn er nicht den Mund
hielt. Er würde sagen: Mach, was du willst, aber du kriegst die
Katze, ich kriege die Kinder… und ich wäre versucht, mich
vom Kleiderschrank zu stürzen.
Ich stieg aus dem Wagen und stand im Hof unter einem
grauverschleierten Himmel, dem die Nacht genauso die Farbe
geraubt hatte wie meinem Gesicht das Geräusch von Schritten.
Ben tauchte unter dem Fallgatter auf und stand da wie
Heathcliff, sein Hemd flatterte im Wind, und seine Augen
loderten schwarz in einem Gesicht so pergamenten wie der
Tod. Gott sei Dank war mein Name nicht Catherine. Ellie ist
kein Name für eine vom Unglück verfolgte Heldin, und
insofern hatte ich mich nie davor gefürchtet zu hören, daß er in
den Nachthimmel geschleudert wurde.
»Ellie!« Der Wind warf den Klageruf zurück.
»Ja, Liebling?« Ich ging auf ihn zu und wünschte dabei, ich
wäre ein Geist, der sich bei seiner Berührung in Luft auflösen
würde. Aber es gab kein Entrinnen, er streckte die Arme aus
und preßte mich an seine männliche Brust. Er beugte den
dunklen Kopf und verdeckte den Mond – oder es konnte auch
die aufgehende Sonne sein. In solchen Momenten verliert man
jedes Gefühl für Zeit und Ort. Sein Mund ergriff Besitz von
meinem, in einem Kuß von solch glühender Leidenschaft, daß
er mir geradewegs die Seele aus dem Körper saugte. Ich würde
ja gern sagen, daß ich mich in diesem Augenblick wieder ganz
neu in meinen Mann verliebte, aber die schändliche Wahrheit
ist, daß ich den Moment nicht dazu nutzte, um aus mir
herauszutreten und meine Empfindungen zu analysieren. Ich
schaute nicht in die Augen meines Mannes und dachte,
Mensch, was bist du für ein guter Ernährer, und ich finde es
hinreißend, wie du mit unserer Steuererklärung klarkommst.
Ich wollte, daß wir einander da draußen auf dem Hof in Besitz
nahmen, ich wollte seine Geliebte sein, nicht seine Ehefrau…
Ben riß seine Lippen von meinen los, hielt mich jedoch weiter
mit dem Blick fest. »Gott sei Dank, du bist zu mir
zurückgekommen, meine Liebste. Ich dachte, ich würde
wahnsinnig, als ich im Haus auf und ab lief und wußte, daß ich
dich durch meine dumme Gefühllosigkeit vertrieben hatte. Ich
hatte schon vor, heute morgen eine Anzeige in den Daily
Chronicle zu setzen: ›Ellie, bitte komm nach Hause. Es soll
alles anders werden. Bitte melde dich, und sag, daß du mir
verzeihst. ‹«
Mein Atem ging langsamer. Ich erinnerte mich an meine
Verzweiflung, als ich sah, daß die Zwillinge aus ihrem
Laufstall verschwunden waren.
»Ben, bist du nicht sauer, daß ich weggefahren bin?«
»Schatz, der Gedanke, daß du stundenlang im Kreis
herumfährst…«So weit stimmte es zumindest. »Ich habe mich
so geschämt!«
Da waren wir schon zwei.
Er berührte mein Gesicht mit Fingern sanfter als die Brise, die
mein grünes Spitzenneglige kräuselte. »Ich mußte immer
wieder denken, daß ich kein einziges Porträtfoto von dir mit
den Zwillingen besitze.«
»Ben…« Ich konnte nicht weitersprechen. Ich hatte so viel zu
verlieren, wenn ich ihm die Wahrheit sagte.
Er zog meine Hände an sich, und durch den Stoff seines
Hemdes konnte ich seine Wärme und seinen Herzschlag
spüren, als er sagte: »Noch nie in meinem Leben habe ich
solche Angst gehabt.«
»Denk nicht mehr daran«, sagte ich hastig.
»Wie sollte ich nicht? Der Gedanke, meine Mutter zu bitten,
herzukommen und für dich einzuspringen, war so entmutigend.
Das heißt nicht, daß sie ihre Sache nicht ganz meisterhaft
gemacht hätte.«
»Genial!«
»Aber, Ellie, ich wollte die Mutter meiner Kinder, nicht meine
Mutter.«
Ich legte den Kopf an seine Schulter und fragte ihn, wie er
ernsthaft hatte glauben können, daß ich für immer fortbleiben
würde. Ihn verlassen, meine Kinder verlassen, nur weil eine
Zeitlang die Schaumbadwogen hochgegangen waren?
»In solchen Momenten, Ellie, denkt man nicht rational. Ich
habe es verlernt, allein zu sein.«
Der Wind wählte ausgerechnet diesen Augenblick, um wie ein
Dritter zwischen uns zu treten. Zu viele machtvolle Gefühle zu
spät in der Nacht stellten die Welt völlig auf den Kopf. So
erklärte ich es mir jedenfalls, bis mir aufging, daß Ben mich
auf die Arme genommen hatte, wobei meine Gazeschleier auf
den Boden herabhingen, und, wie Heathcliff mit seiner
unbedarften Cathy, mit großen Schritten über den Hof ins Haus
ging; durch die Gartentür, die er offengelassen hatte und jetzt
mit dem Fuß hinter uns zuschlug, und weiter die Treppe hinauf
in unser Schlafzimmer, wo die Fasane auf der Tapete uns
aufgeregt flatternd erwarteten.
Ich kann nicht behaupten, daß ich irgendwelche Reue
verspürte, als ich an den Schauplatz meines Phantasie-Fiaskos
zurückkehrte. Doch als Ben mich in einem Wirbel von Röcken,
der einer Reklame für Weichspüler zur Ehre gereicht hätte,
aufs Bett legte, schaute ich mit einer gewissen Abscheu zum
Kamin hinüber. Kein Grund, zu zittern und zu zagen! Da war
ein dienstbarer Geist am Werk gewesen. Der intime Tisch für
zwei war von seiner öldurchtränkten Decke entblößt und
wieder in seinen Alltagszustand zurückversetzt worden. Eine
Collage aus Büchern und Kerzenhaltern war jetzt auf der
Mahagoniplatte arrangiert. Der ruinierte Läufer, der Fondue
topf und alle übrigen Spuren unseres gescheiterten
mitternächtlichen Festgelages waren aus der Landschaft getilgt,
als hätte es sie nie gegeben.
Ben kam zu mir aufs Bett, hüllte mich in seine Arme und
sprach in mein Haar. »Ein neuer Kaminvorleger war längst
fällig.«
»O ja! Ich habe dieses kleine Familienerbstück gehaßt!«
Sein Lachen vibrierte an meiner Wirbelsäule entlang, und
wenn das Prickeln auch keines der äußersten Leidenschaft für
meinen dunklen und stürmischen Ritter war, so spielte es keine
Rolle. In diesem Augenblick war ich bereit, mich mit
Freundschaft zu begnügen, samt ihrer lebenslangen Garantie.
Ich drehte mich zu ihm um und umschloß sein Gesicht mit den
Händen.
»Danke.«
»Wofür?«
»Fürs Saubermachen und…«
»Ja?«
»Dafür, daß du nicht vollkommen bist.«
Seine blaugrünen Augen waren von dem Gold der Sonne des
kommenden Tages gesprenkelt, und ich wollte, daß er mich so
fest hielt, daß weder der Tod noch der Gedanke an Sechs-
Uhrfrüh-Mahlzeiten uns trennen konnten.
»Was ist denn das?« Er hob den Kopf.
»Klingt wie Abbey.«
»Und das ist Tarn.«
»Vielleicht, wenn wir hier liegenbleiben und den Atem
anhalten…« Doch noch während ich sprach, war ich auf den
Beinen, im Geiste schon wieder in Uniform.
»Ellie, du wirst dieses Zimmer nicht verlassen.« Er griff nach
meinen Armen und zog mich zurück zum Bett. »Ich kümmere
mich um die Zwillinge, während du dich etwas aufs Ohr legst.«
»Aber du mußt in ein paar Stunden zur Arbeit.«
»Du auch.«
Ich vergrub die Finger in seinem verwuschelten schwarzen
Haar und flüsterte: »Warum gehen wir nicht beide? Wir
könnten ein Rendezvous daraus machen.«
Er antwortete nicht. Statt dessen nahm er meinen Chenille-
Morgenmantel vom Haken innen an der Schranktür und legte
ihn mir um die Schultern, als wäre er eine Zobelstola und wir
Lord und Lady Fitzsnob, die einen Abend in der Stadt
verbringen wollten.
Ich Glückliche bin mit einer Konstitution gesegnet, die keine
üblen Folgen von Schlafmangel davonträgt – bis auf das
Gefühl, als hätte ich gerade vier Liter Blut gespendet und jeder
einzelne übrige Tropfen wäre in meine Augäpfel gewandert.
Als Ben am nächsten Morgen zur unmenschlichen Zeit von
zehn Uhr zum Restaurant aufbrach, bot ich ein so hübsches
Bild der Häuslichkeit, wie man es sich nur vorstellen kann. Da
saß ich am Küchentisch und trank gesetzt Kaffee, während
meine Sprößlinge, beide in mintgrünem Outfit, im Laufstall
glucksten und gluckerten. Doch ach, welche Falschheit nistet
im Herzen einer Frau! Kaum hatte sich die Gartentür hinter
Ben geschlossen und reine Luft signalisiert, schnappte ich mir
die Zeitung, blätterte sie aufgeregt durch und suchte
verzweifelt nach einer in letzter Minute hineingesetzten Notiz
über das letzte Stündlein des allseits geschätzten Norman the
Doorman. Kein Wort.
Die Tod-der-Woche-Ehrung ging an die jüngst verstorbene
Mrs. Huffnagle. Ihr Ehemann, ein distinguierter Gentleman der
alten Schule, der einen Plastron und eine kummervolle Miene
zur Schau trug, war unter der Überschrift Trauernder Witwer
erfährt: Defekter Elektroanschluß im Bad für den Tod seiner
Gattin verantwortlich abgebildet. Brauchte ich noch diese
herzlose Erinnerung daran, daß die Mitgliedschaft bei Fully
Female sich als tödlicher Fehler erweisen konnte?
Der letzte Rest meiner Energie verflog, ich sackte vornüber,
brachte meine Kaffeetasse auf dem Unterteller ins Wanken und
war ganze dreißig Sekunden völlig weg. Scheibenkleister!
Etwas rief mich ins Leben zurück – ein beharrliches Klopfen,
das mich mit einem Fauchen auffahren ließ.
»Komme!«
Unter den wachsamen Blicken meiner Tochter, die höchst
undamenhaft an ihrer Rassel nagte, taumelte ich zur Gartentür
und öffnete.
»Was ist das hier, die Königlich-Britische Münzanstalt?« Mrs.
Malloy stand auf der Türschwelle, die Provianttasche am Arm
und den Tüpfelschleier an ihrem Hut bis über die Augenbrauen
heruntergezogen.
Ich war sofort in der Defensive und stammelte, daß die Tür
nicht abgeschlossen gewesen sei, sondern nur klemmte. Bevor
sie den Mund aufmachen konnte, hatte mein Gehirn die
Antwort ausgestoßen, in einer Reihe kleiner Elektroschocks,
die die Seiten meines Kopfes zu sprengen drohten. Aber zu
meiner Verwunderung sagte Mrs. Malloy kein einziges Wort
von wegen klemmende Fenster und Türen. Ihr einleitender
Scherz schien sie erschöpft zu haben. Sie segelte in die Küche,
als sei sie auf einem Luftstrom zur Welt gekommen, ihre Zehn-
Zentimeter-Absätze schienen über die Steinfliesen zu fliegen.
Erst jetzt bemerkte ich, daß sie aussah, als hätte sie noch
weniger Schlaf gehabt als ich. Ihre Augen starrten aus einem
Gesicht so weiß wie ihre Haarwurzeln in ein gewaltiges Nichts.
Sie erinnerten mich unangenehm an die letzte Nacht von
Norman the Doorman.
Sie blieb mitten im Raum stehen und starrte auf die
rotgoldenen Köpfe in dem Laufstall. »Sind die neu?«
»Was?«
»Die Kleinen.«
»Nein, die habe ich schon eine ganze Weile.« Schock macht
mich schnodderig. »Ein Sonderangebot – zwei zum Preis von
einem.«
»Stimmt. Jetzt fällt’s mir wieder ein.« Mrs. Malloy deponierte
sich, samt Provianttasche und allem übrigen, auf dem
Schaukelstuhl am Kamin und begann sich abzustoßen, als
bediene sie eine Nähmaschine mit Tretkurbel, zurück und vor,
zurück und vor. Ich wäre durchgedreht, wenn ich nicht solch
furchtbare Angst gehabt hätte, daß sie bereits die unsichtbare
Linie überschritten hatte. Konnte sie aus dem Bus gefallen sein
und eine Gehirnerschütterung erlitten haben? Sollte ich Dr.
Melrose anrufen, oder – es dämmerte mir – war ihr
Geisteszustand eine Nachwirkung ihres romantischen
Stelldicheins mit Walter Fisher? Hatte er sich in einer Art
Experiment als Präparator an ihr versucht? Oder hatten wir es
mit einem Standardfall postorgasmischer Trance zu tun?
»Erzählen Sie mal«, fragte ich mit einem tapferen Lächeln,
»wie war Ihr Abend?«
»Geht Sie nicht das geringste an, Mrs. H«, antwortete sie mit
monotoner Stimme.
»Verzeihung.« Zu Recht in meine Schranken gewiesen,
versuchte ich mein Unbehagen zu überspielen, indem ich den
Kessel auf den Herd knallte und nach der kupfernen Teebüchse
kramte. Natürlich stand sie, wo sie immer stand – neben der
Teekanne, direkt vor meiner Nase.
Hinter mir ließ sich ein rauhes Schluchzen vernehmen, und ich
verstreute überall Teebeutel, als ich zum Schaukelstuhl
zurückhastete, wo ich Mrs. M, das Gesicht in ein
schwarzgerändertes Taschentuch vergraben, vorfand.
Zweifellos ein Geschenk von ihrem Liebsten. Und plötzlich
fiel mir ein, daß das, was ich in ihrem Gesicht gelesen hatte,
vielleicht gar keine Neuauflage langvermißter Ekstase gewesen
war, sondern der Ausdruck nackter Verzweiflung. Durchaus
möglich, daß ihre Hausaufgabe sich als ein ebenso schlimmer
Reinfall erwiesen hatte wie meine und Jacqueline Diamonds.
»Roxie, meine Liebe!« Ich hielt die Armlehne des Stuhls fest,
um einen Anfall von Seekrankheit abzuwehren. »Was macht es
schon, wenn Ihr romantisches Rendezvous nicht Ihren
Hoffnungen und Träumen gerecht geworden ist!«
»Wieso?« Sie ließ das Taschentuch eine Idee sinken. Ihre
Augen sahen aus, als ob sie zwölf Runden im Ring hinter sich
hätte, aber in ihrer Stimme schwang ein Ton, der hoffen ließ,
daß sie zu alter Kampfstärke zurückfand. »Ich nehme doch an,
Mrs. H, Sie wollen damit nicht andeuten, daß ich etwa keine
befriedigende Vorstellung gegeben hätte.«
»Da sei Gott vor!«
»Mr. Fisher war erledigt.«
»Wie nett!« sagte ich und klang wie der Ehemann der
Pfarrerin. Zum Glück kam das schrille Signal des Kessels
meinem Erröten zuvor. Wie eine geschäftig-trottelige Jungfer
aus einem Charlie-Chaplin-Film huschte ich hin und her,
erfüllte die Küche mit Dampf, als ich Tee aufbrühte, und holte
die Becher, weil ich die Mühen der Untertassen scheute. Ups!
Den Zucker vergessen.
»Hier!« Ich hielt Mrs. Malloy ihren Tee hin.
»Was tun wir, Rauchsignale geben?« kam ihre Stimme wie aus
weiter Ferne, was mich zu der Befürchtung veranlaßte, daß sie
wieder abtauchte, aber sie breitete das Taschentuch anstelle
einer Serviette über ihren Schoß und nahm den Becher.
»Walter sagte mir, es wäre für ihn noch nie so gut gewesen. Er
hielt mich in den Armen, nachdem er mich zum fünften- oder
sechstenmal genommen hatte, und sagte Dinge zu mir, die ich
keiner Menschenseele erzählen kann. Tür und Tor gingen auf,
verstehen Sie, und… er… Der gute Mann weinte, Mrs. H.«
Du liebe Güte! Jetzt kam ich mir tatsächlich wie eine Niete vor.
In der ganzen Zeit, die Ben und ich zusammen waren, hatte ich
ihn kein einziges Mal in intimen Momenten vor Freude zum
Weinen gebracht. Vielleicht hin und wieder ein Schniefen,
wenn er mein Parfüm nicht vertrug, aber das zählte ja wohl
kaum. Als ich merkte, wie Tam sich schläfrig die Nase rieb, riß
ich ihn aus dem Laufstall und bettete seinen seidigen Kopf an
meine Schulter. All diese Parfüms, all diese Cremes, und wir
Erwachsenen riechen doch nie so gut. Den Blick auf Abbey
gerichtet, die jeden Augenblick verlangen konnte, daß sie bei
Mummy an die Reihe kam, fragte ich Mrs. Malloy nach Mr.
Fishers Gattin.
»Was soll mit der sein?« Mit Eifersucht ist nicht zu spaßen.
Der Schaukelstuhl vollführte fast einen Rückwärtssalto. Tee
schwappte auf das Taschentuch. »Sie ist seit einer Ewigkeit
von der Bildfläche verschwunden.«
»Das haben Sie mir schon erzählt.« Ich verlagerte Tam auf
meinen Armen. »Aber sind sie geschieden? Kann er wieder
heiraten?« Ich sah die Heiratsanzeige im Daily Chronicle
schon vor mir: Mrs. Roxie Malloy heiratete am letzten
Dienstag Mr. Walter Fisher, Chitterton Fells’ herausragenden
Bestattungsunternehmer, in einer schlichten Zeremonie in der
Kapelle zur letzten Ruhe. Die Braut trug ein Totenhemd aus
weißer Seide mit einer Halbschleppe und einen Kranz aus
weißen Rosen.
»Walter hat mir nicht die Ehe versprochen.«
Aha! Da lag der Hase im Pfeffer.
Der Schaukelstuhl setzte sich wieder in Bewegung. »Sie
kapieren nicht, oder, Mrs. H? Ich sag’ Ihnen, nach letzter Nacht
braucht es kein Stück Papier, damit ich Walter gehöre, bis daß
der Tod uns scheidet.« Ihre Stimme versagte.
»Sie wissen ja, wie man so sagt«, fiel ich ein. »›Liebe ist ein
guter Diener, aber ein schlechter Herr.‹«
Mrs. Malloy beachtete mich nicht. »Ich brauche seinen Namen
ja nicht gleich auf meinem Hintern einzubrennen. Als ich heute
morgen die Augen öffnete und über das Kissen hinweg in seine
sah, wußte ich, daß ich bis zum Ende die seine bin, durch
unsichtbare Ketten gebunden, nie wieder eine freie Frau,
solange wir beide leben.«
Dieses Spicken der Unterhaltung mit Anspielungen auf unsere
Sterblichkeit beunruhigte mich nicht. Ich nahm an, nach einer
in der Gesellschaft von Mr. Fisher verbrachten Nacht mußte
man zwangsläufig anfangen, in Begriffen des Großen Schlafs
zu denken. Aber gleichzeitig wünschte ich, sie würde nicht so
reden. Es machte den Horror, Norman the Doorman tot am
Boden liegen zu sehen, lebendig.
Ich beobachtete, wie Mrs. Malloy zum Tisch trottete und die
Provianttasche auslud und spürte das volle Gewicht von Tarn
in meinen Armen. Seit er und Abbey auf der Welt waren, hatte
ich so manches Mal gegen den Verlust der Freiheit gewettert.
Ich hatte mich gefragt, ob ich jemals wieder mir selbst gehören
würde. Aber mit Sicherheit waren Liebhaber keine so schwere
Bürde wie Kinder, wenn ich auch einräumen mußte, daß sie
mehr Arbeit machten als Ehemänner. Einen Mann in dein Bett
einzuladen ist etwas ganz anderes als ein »Gehen wir in die
Falle, Bärchen?« zu gähnen, bevor du mit einer Tasse Kakao
zu deiner Seite des Bettes gehst. In einer Liebschaft müssen
bestimmte Erwartungen erfüllt und gewisse Annehmlichkeiten
arrangiert werden. Frische Laken, wenn er die Hosen
runterläßt. Das Foto deiner Mutter mit dem Gesicht zur Wand
drehen, damit ihre finstere Miene ihm nicht seine
Schwungkraft raubt…
»Zeit für einen Drink«, sagte Mrs. M, und ich verwünschte Mr.
Fisher, weil er sie wieder zur Flasche greifen ließ. Aber ich
schätzte die Sache falsch ein – wenn schon nicht den Mann. Sie
holte ihr Fläschchen Fully-Female-Elixier aus der
Provianttasche, nahm sich ein, nein zwei Gläser und hielt sie
unter den Wasserhahn. »Sie machen doch mit, oder, Mrs. H?
Ich habe keine Ahnung – und ich frag’ auch nicht – , was Sie
gestern nacht gemacht haben. Aber wir müssen beide Kraft
tanken. Keine falsche Scham!« Im Zusammenhang mit Fully
Female kam mir dieser Trinkspruch entschieden pikant vor,
aber es blieb keine Zeit, um Maulaffen feilzuhalten. Mrs.
Malloy trank ihr Glas leer, stellte es ab und nahm mir Tarn aus
den Armen. »So! Sie setzen sich hin und genießen Ihres.«
»Ich kann wirklich nicht.«
Sie faßte es offenbar so auf, daß ich nicht von ihrem dürftigen
Vorrat nehmen wollte. Schnell stellte sie die Sache klar. »Was
ist schon ein Eßlöffel Elixier unter Freundinnen? Sie können ja
die nächste Runde spendieren. Übrigens, Mrs. H, bei all dem
Wirbel habe ich vergessen, Ihnen Ihre Kräuter-Kraftkur und
das violette Gewand mitzubringen.«
»Macht nichts.«
»Ich kann’s jetzt nicht ändern, verdammt noch mal. Ich seh’
doch an Ihrem Gesicht, daß Sie ärgerlich sind.«
»Es ist… das Elixier«, sagte ich mit verzogenen Lippen. Der
flüssige Brei war das übelste Zeug, das man sich vorstellen
konnte. Es sah aus, als wäre die Hauptzutat Sägemehl, und es
schmeckte wie Klebstoff. Ich war sicher, daß ich meine Zunge
nie wieder losbekommen würde. Was Mrs. M nicht wissen
konnte – es war das erste Mal, daß ich mehr als zwei Schluck
getrunken hatte, bevor ich das Zeug in den Ausguß kippte.
»Vielleicht sollte ich so früh am Tag nichts trinken.«
»Runter damit.« Nachdem sie Tarn wieder in den Laufstall
gesetzt hatte, sah sie mir über die Schulter – bis zum
allerletzten Schluck. Der Schönheitsfleck über ihrer Oberlippe
zuckte, als sie ihr Pflaumenlächeln lächelte. »So ist’s brav,
Mrs. H. Jetzt können Sie mit reinem Gewissen zu Ihrer Fully-
Female-Sitzung gehen.«
Wenn sie nur wüßte, welche Geheimnisse im Herzen ihrer
Arbeitgeberin lauerten.
Es war ein Ding der Unmöglichkeit, es noch zur
Morgensitzung zu schaffen, und ich drang energisch in Mrs.
Malloy, daß sie die Nachmittagssitzung besuchte. Aber sie ließ
sich nicht erweichen. Sie verfiel wieder in ihren Trancezustand,
als sie ihren Staubwedel zur Hand nahm.
»Hiermit habe ich Walters Ehrgeiz angestachelt, als…« Zum
Glück blieben mir die peinlichen Details erspart. Sie verließ die
Küche durch die bereits geöffnete Tür, aber auch wenn sie
geschlossen gewesen wäre, ich schwöre, sie hätte sie
durchschritten. Diese Frau war ebenso über die normalen
Hindernisse des täglichen Lebens erhaben wie einst Norman
the Doorman. Als die Luft rein war, ging ich zum Telefon und
erfragte Jacqueline Diamonds Nummer bei der Vermittlung.
»Soll ich Sie verbinden, Herzchen?«
»Bitte.«
Brrrrrppp… Bmrrppp…
Beim vierten Läuten legte ich auf. Es länger zu versuchen,
hätte ebenso geschmacklos beharrlich gewirkt, wie gegen die
Tür des Hauses in der Rosewood Terrace zu hämmern.
Entweder war die Witwe für niemanden zu sprechen… oder
stattete sie Mr. Walter Fishers Geschäftsräumen einen Besuch
ab? Zeigte er ihr jetzt gerade das Nonplusultra in Sachen
freudiger Entspannung – die Ewige-Ruhe-Chaiselongue mit
dem Regencystreifenfutter und Schnörkeln?

Machen Sie sich keine Sorgen, weil es so kurzfristig kommt,


Mrs. Diamond. Diese Spontantode sind die Basis unseres
Gewerbes. Wir statten Ihren Mann schon ordentlich aus. Hier
geht es um eine Maßanfertigung, nehme ich an. Wir wollen
doch nicht, daß ein Gentleman von der Berühmtheit Ihres
Gatten in einem Modell von der Stange unter die Erde kommt,
oder?

Niedergeschlagen ging ich meinerseits meinem Gewerbe nach,


fütterte die Zwillinge, brachte sie für ihr Nickerchen ins Bett
und steckte probehalber eine Ladung Wäsche in die
Waschmaschine. Ich war überhaupt nicht in der Stimmung, um
zu Fully Female zu fahren. Das heißt, ich war es nicht, bis
Freddy an der Gartentür erschien und Dreck und einen Blick
auf die Außenwelt mit hereinbrachte.
»Friedensangebot, Cousinchen!« Er hielt einen dürftigen
Strauß Blumen hoch. »Die habe ich speziell für dich aus dem
Pfarrersgarten geklaut.«
»Das hättest du wirklich nicht…«
»Für dich ist mir keine Mühe zu groß.« Ein Grinsen
durchbrach seine Bartstoppeln, und er machte eine
schwungvolle Verbeugung, bei der sein Pferdeschwanz den
Fußboden streifte.
»Ich meinte, o großer Hochstapler«, sagte ich und stopfte das
gestohlene Sträußchen in einen Krug, »du hättest dich dem
Pfarrhaus nicht bis auf einen Meter nähern sollen.«
»Du hast recht.« Freddy schlenderte zum Tisch hinüber und
nahm sich das Käse-Tomaten-Sandwich, das mein Lunch hatte
sein sollen. »Hätte sehr peinlich werden können, wenn man
mich draußen auf Beobachtungsposten vor den Verandatüren
entdeckt hätte. Die Pfarrerin – nun ja, ich nehme an, sie war es,
aber sicherheitshalber werde ich sie Madam X nennen…«
Freddy machte eine Pause um des dramatischen Effekts willen
und um ein großes Stück von dem Sandwich abzubeißen.
Zum Teufel mit diesem Spinner, daß er mich zu ordinärer
Neugier verleitete. »Was wolltest du gerade sagen? «
»Madam war beim Gebet.«
»Freddy!« Es gibt einiges, in das ich meine Nase nicht
hineinstecke, auf daß sie mir nicht abgeschnitten und in die
ewige Finsternis geschleudert wird, auf Nimmerwiedersehen.
»Sie ersuchte um Vergebung für die Sünde der Eifersucht, die
sie veranlaßt habe, ungerecht gegen eine Mitreisende durch
dieses Tal der Tränen zu handeln.«
Ich brachte ihn zum Schweigen, indem ich ihm ein
Geschirrtuch ins Gesicht warf. Doch der Schaden war bereits
angerichtet. Ich war nicht imstande, diesen Brocken Klatsch zu
vergessen, ehe mein Verstand damit zu spielen begann, so wie
Tobias drüben in der Nische bei der Gartentür um eine graue
Filzmaus herumschlich. Litt Reverend Eudora Spike unter
Gewissensbissen im Hinblick auf Miss Gladys Thorn, die sie
als Kirchenorganistin rausgeschmissen hatte – nicht wegen
mangelnder Fähigkeit an dem Tasteninstrument, sondern weil
Gladys Mr. Spike »Bleib bei mir« zusingen könnte?
Freddy warf mir das Handtuch wieder zu. Ich knüllte es zu
einem Ball zusammen und fing an, die Arbeitsfläche zwischen
Herd und Spüle zu wienern. Irgendwo im Haus sang Mrs.
Malloy »John Brown’s Body«, und die moderige Melodie legte
sich wie ein Fettfilm auf den Kessel, die Kupferschalen, die
Teebüchse und die Stühle. Was die Hängepflanzen im
Grünfenster betraf, schienen sie vom Stengel weg zu welken,
als warteten sie auf den Beginn der unvermeidlichen
Wurzelfäule.
»Wer ist der fröhliche Singvogel?« Freddy biß in den Apfel,
der mein Nachtisch hatte sein sollen.
»Mrs. Malloy.«
»Berechnet sie diese Liedchen extra?«
»Sie ist verliebt.«
»Und wer ist der Glückspilz?«
»Geht dich nichts an.« Kaum waren die Worte heraus, bereute
ich es auch schon, denjenigen angeschnauzt zu haben, den ich
um einen Gefallen bitten wollte. Ich schätze, ich hatte diese
Idee im Hinterkopf gehabt, seit er die Küche betreten hatte,
aber es hatte des alten John Brown bedurft, um mir endgültig
klarzumachen, daß ich zu Fully Female fahren und meine
Kündigung einreichen mußte. »Freddy« – ich hängte das
Geschirrtuch über die Stange des Herds – »wenn ich
verspreche, dir deinen Text für Normannen der Götter
abzuhören, bleibst du dann und paßt ein Stündchen auf die
Zwillinge auf? Mrs. Malloy ist beschäftigt und, wie man hört,
nicht ganz bei sich.«
»Meine liebe Ellie« – Freddys Gesicht verzog sich zu einem
Stachelschweingrinsen –, »Speichelleckerei steht dir so gut wie
den Sternen die Nacht.«
»Ist das ein Ja oder ein Nein?«
»Was glaubst du, Cousine?« Zu meiner Überraschung kam er
um den Laufstall herum und umarmte mich. »Zwitscher schon
ab, altes Mädchen, und überlasse alles meinen fähigen
Händen.«
Den ganzen Weg in die Stadt über probte ich meine
Abschiedsrede für Fully Female. Du wirst mich hassen, Bunty,
aber mit den Babys und dem Haus, ganz zu schweigen von dem
Garten, wo Jonas nicht da ist, um mir zu helfen, kann ich mich,
denke ich, unmöglich so für Fully Female engagieren, wie
sowohl du als auch ich es uns wünschen. Meine Ehe wird
zweifellos der Verlierer sein, aber momentan denke ich, daß
ich mich damit begnügen muß, jeden Tag mein Bett gemacht zu
kriegen, anstatt Ben alle halbe Stunde hineinzukriegen.
Ich konnte meinen Text wie aus dem Effeff, als ich den Wagen
in der kreisförmigen Auffahrt parkte. Doch als ich um den
Brunnen herum auf die von Bäumen beschattete Hollywood-
Villa zuging, entgleisten meine Gedanken. Mir fiel nur noch
die Wahrheit ein: daß ich aus Fully Female aussteigen wollte,
weil ich die Liebe allmählich als einen gefährlichen und
möglicherweise tödlichen Zeitvertreib ansah.
Meine Füße wurden schwer, als ich mich den
halbmondförmigen Terrazzostufen näherte, und mein Herz
klopfte vor Mitgefühl mit all diesen Menschen, die, da sie
keine größeren Probleme haben, sich mit den kleinen behelfen
müssen. Mit meiner üblichen Feigheit hoffte ich, daß Bunty
mich nicht empfangen könnte, entweder weil sie bei Erlebnis
Ehe war oder in einem Gespräch mit Fully-Female-
Kandidatinnen. Leider war heute nicht mein Glückstag. Die
Tür ging auf, als ich auf der obersten Stufe anlangte, und Bunty
höchstpersönlich stand auf der Schwelle. Sie sah so hinreißend
aus wie immer in einem körperbetonten Outfit, das einem
Bodystocking ähnelte und genau zu ihren champagnerfarbenen
Locken paßte.
»Ellie! Ich habe dich vom Fenster aus gesehen.«
»Bunty!« Ich brachte ein Lächeln zustande und platzte mit dem
ersten heraus, was mir in den Sinn kam. »Wo sind die
Pfauen?« Dummes Gelaber! Wenn die Vögel nicht vorn am
Haus ihr Rad schlugen und sich spreizten, dann wären sie eben
auf dem Rasen hinten…
Buntys blaue Augen füllten sich mit Tränen, die auf ihre
üppigen schwarzen Wimpern überquollen. Sie zog mich ins
Haus und schloß die Tür, bevor sie mir die Neuigkeit mitteilte.
»Man hat die Pfauen gekidnappt.«
»Nein!«
»Das habe ich auch gesagt, als ich heute morgen nach draußen
ging und sah, daß sie verschwunden sind und ein scheiß Zettel
an die Haustür geheftet war. Weißt du, was draufstand?«
»Eine Lösegeldforderung?«
»Quatsch! Nichts derartig Zivilisiertes. Es war das Rezept fürs
Paradiesvogel-Fondue, das aus dem Fully-Female-Handbuch.
Was sagt dir das, Ellie?«
»Wir haben es nicht mit einem Vegetarier zu tun?«
Sie nahm mich am Ellbogen und beförderte mich durch die
geräumige Halle zu dem Weiß-in-weiß-Wohnzimmer mit
seinen Oberlichtern, den ägyptischen Pyramidentischen und
dem Orchestergraben, in dem der Flügel stand. »Weißt du, was
ich glaube, Ellie? Da draußen ist jemand, der grün vor Neid auf
den Erfolg von Fully Female ist und das Unternehmen
sabotieren will.«
»Du glaubst nicht, daß du es…« Ich stockte.
»Weiter, raus mit der Sprache.«
Ich heftete den Blick auf den Wandbehang mit dem New-
Bronze-Age-Design, während ich die abscheuliche
Unterstellung aussprach. »Könnte es möglich sein, daß du es
mit einer unzufriedenen Klientin oder deren Gatten zu tun
hast?«
Die durch Tränen verdunkelten Wimpern verliehen ihr das
unschuldige Aussehen der Zwillinge. »Ellie, du machst Witze,
stimmt’s? Sicher, in letzter Zeit habe ich ein, zwei Rückschläge
erlitten. Zuerst hat Mrs. Huffnagle den Löffel abgegeben, und
jetzt muß Mrs. Diamond aufgeben.« Eine Pause. »Aber davon
hast du wohl noch nichts gehört.«
Ich gab einen hilflosen Laut von mir, wie man es beim
Zahnarzt macht, wenn er dich auf dem Stuhl hat und dein
Mund voller Instrumente ist.
»Furchtbar schade. Mr. Diamond ist gestern nacht gestürzt, als
er im Schlafzimmer für einen seiner Fernsehstunts übte… und
hatte auf der Stelle ausgeschnauft. Nimmt einem die Luftweg«
– Bunty schien das Wortspiel nicht aufzufallen –, »steht aber in
keiner Weise mit Fully Female in Zusammenhang.« Die
Heftigkeit ihres Dementis brachte mich auf den Gedanken, ob
sie nicht doch vermutete, daß Normans Tod mit Jacquelines
Hausaufgabe zu tun hatte.
»Welch eine Tragödie!« brachte ich heraus. »Arme Mrs.
Diamond. Sie wurde doch von der Polizei verhört, oder?«
»Ja, aber sie sagte, sie hätten einander wirklich geliebt.« Bunty
stand auf einem Lamavorleger, und ihre korallenroten Nägel
zupften an der Goldkette um ihren Hals. »Scheiße, jedes
Geschäftsunternehmen hat seine Rückschläge, und niemand
kann mich als gefühllos bezeichnen. Ich habe das Programm
von heute nachmittag abgesagt, nachdem ich mit Jacqueline
gesprochen hatte. Tut mir leid, daß du dabei unter den Tisch
gefallen bist, Ellie. Jetzt siehst du, weshalb ich ständig über das
Büropersonal meckere. Was denkst du? Soll ich Lis Rat
befolgen und es mit Miss Thorn probieren? Sie war neulich am
Klavier nicht schlecht, und es wäre praktisch, jemanden zu
haben, die beides kann – die Begleitung zu Retro-Relaxing
spielen und das Büro managen. Wenn sie nur nicht so aussähe
wie etwas, das Rover vom Friedhof angeschleppt hat!«
Ich gab keine Antwort, weil ich versuchte, den Mut
aufzubringen, Bunty zu sagen, daß sie einen weiteren Namen
von ihrer Klientinnenliste streichen sollte. Aber die
Gelegenheit war schon verpaßt. Schritte erklangen in der Halle,
und plötzlich – wenn man vom Teufel spricht… und das in der
Mehrzahl – sahen wir uns dem attraktiven silberhaarigen
Lionel Wiseman und Miss Thorn gegenüber, die angesichts
seiner weltmännischen Art staksiger und kurzsichtiger wirkte
denn je.
»Li, Schätzchen! So früh zu Hause?« Bunty schenkte ihm ein
munteres Lächeln, aber ich hatte den Verdacht, daß sie nicht
nur erfreut war, von ihrem Ehemann überrumpelt zu werden.
»Ich fürchte ja, Schatz!« Mr. W knöpfte mit seiner gewohnten
Geschicklichkeit seinen Kaschmirmantel auf, während Miss
Thorn von ihrer höheren Warte aus zu ihm hinunterhechelte,
mit beschlagenen Brillengläsern und falsch geknöpftem
Regenmantel.
»Wenn es Ihnen jetzt nicht paßt…« Sie verknotete die Finger
und zitterte bis hinunter zu ihren zweckmäßigen Schuhen.
»Falls ich lieber ein andermal wiederkommen soll, wenn Mrs.
Wiseman nicht gerade die liebe Mrs. Haskell zu Gast hat…«
»Oh, ich wollte gerade gehen.« In meinem Eifer zu
verschwinden, schickte ich eine Polstertruhe auf die Reise über
den Fußboden.
»Bitte« – Lionel Wiseman schaute mich an, während er Miss
Thorn eine Hand auf den Arm legte – , »bleiben Sie doch
beide. Wir trinken gemeinsam etwas… und sprechen alles
durch.«
»Genau wie ich vermutet habe«, flüsterte Bunty mir ins Ohr,
als die beiden anderen sich mit ihren Mänteln in die Halle
zurückzogen. »Li wird mir gleich das Messer an die Kehle
setzen. Und was soll’s, Miss Thorn kann den Job haben. Eine
Frau von meinem Aussehen und Charme«, fuhr sie mit einem
koboldhaften Grinsen hinzu, »kann es sich leisten, nett zu sein.
Ja, ich schätze, ich sollte sauer auf Li sein, aber er ist ja ein so
süßer alter Chauvi… will immer das Beste für seine kleine
Bunty.«
»Aber ich brauche wirklich nicht zu bleiben…«
»Da liegst du falsch, Ellie. Ich habe gemerkt, daß Li dich
dabeihaben wollte, damit es nicht wie zwei gegen eine
aussieht, und wenn du dich verdrückst, werden wir
fünfundvierzig Minuten über Miss Thorns
Telefonbuchsammlung reden, bevor wir zu den Moneten
kommen.«
»Danke, dann nehme ich ein Glas Sherry.« Meine
zusammenhanglose Antwort machte die unerschrockene
Leiterin von Fully Female darauf aufmerksam, daß ihr
Ehemann und die Bewerberin zurückkamen. Während er sich
an den Karaffen zu schaffen machte, nahmen wir Damen Platz
– Bunty und ich in den austernfarbenen Ledersesseln, während
Miss Thorn das Sofa wählte. Jedem anderen wäre diese
Anmaßung als schlechtes Benehmen ausgelegt worden, aber
wie immer war sie so flatterig, daß man sich eines Lächelns
kaum erwehren konnte… bis mir einfiel, wie ich sie gestern
nachmittag an der Gartentür zur Schnecke gemacht hatte, als
sie anklopfte und ich sie für Freddy hielt.
Erstaunlicherweise zeigte sich in ihren Pilzaugen – als sie sich
in meine Richtung verirrten – keinerlei Feindseligkeit. Es war,
als habe es den Vorfall außer in meiner Phantasie nie gegeben.
Solcher Großmut war sowohl herzerwärmend als auch
verdächtig. Aber jetzt war keine Zeit für Psychoanalyse.
Jemand mußte das Gespräch in Gang bringen, bevor das
Lächeln auf unseren Gesichtern festfror.
»Wie geht es Ihnen, Miss Thorn?«
»Ich bin ganz zitterig.« Sie zog ihren mausbraunen Kopf ein.
»Das hätte ich nie gedacht.« Bunty stellte ihr Lächeln ab. »Sie
sehen aus wie die Ruhe selbst in diesem süßen, hübschen
Kleid.«
»Vielen Dank.« Miss Thorn zog den Rock ihrer scheußlichen
Kreation bis weit über ihre Knie hinunter und hob die Augen
zu Lionel Wiseman, der mit dem Getränketablett auf uns
zukam. »Für mich nichts, mein lieber Mr. Wiseman. Wie Sie
wissen, vertrage ich Hochprozentiges nicht. Ich habe sehr
empfindliche Eingeweide.«
»Sie leiden unter Verdauungsbeschwerden?« fragte Bunty.
»Nein, Übelkeit.«
»Ah!« Mein Ausruf stieg wie ein Gerücht zu der hohen Decke
auf und beschlug eines der Oberlichter. Ich nahm ein Glas von
Lionel entgegen und sah zu, wie er ein weiteres seiner Frau
reichte, bevor er das Tablett auf einem Glastisch abstellte und
sich zu Miss Thorn auf das Sofa setzte. Als verheiratete Frau
sollte ich so etwas eigentlich nicht bemerken, aber er war einer
der attraktivsten Männer, die ich jemals auf der Leinwand oder
leibhaftig gesehen hatte. Diese buschigen dunklen Brauen, die
sich gegen das herrliche Silberhaar abhoben, verhießen
Leidenschaft wie Kraft. Ich tupfte meine sabbernden Lippen
mit einer Cocktailserviette ab und wartete darauf, daß jemand
etwas sagte.
»Also!« Bunty hob so niedlich wie ein Kätzchen ihr Glas. »Ich
würde sagen, der Anlaß verlangt nach einem Trinkspruch!«
Lionel beugte sich vor, seine schönen Hände lagen fest auf
seinen schönen Knien. »Mein Schatz, ich hätte nie gedacht, daß
du so leicht nachgeben, so entgegenkommend sein würdest.
Gladys und ich waren auf jede Menge Theater gefaßt.«
»O ja, das kann man wohl sagen.« Miss Thorns Erröten biß
sich mit ihrem fahlen Teint. »Ich hatte solche Angst, und Streß
ist natürlich das Allerschlimmste in meinem… Zustand.«
»Na, Sie Gänschen«, sagte Bunty. »Als Fully-Female-Frau sind
mir die Wünsche meines Mannes Befehl.«
»Wie liebenswürdig! Aber wie ich schon zu Lionel sagte,
nachdem ich so lange gewartet habe, dem Mann meiner
Träume meine Hand zu gewähren, wollte ich, daß alles
vollkommen ist, und ich habe mich standhaft geweigert, mich
offiziell zu verloben, bevor ich nicht Ihren Segen hatte, liebe
Mrs. Wiseman. Ist es nicht so, mein Lionel, mein Juwel?«
»Ganz recht, meine Rose ohne Dornen!«
Bunty ließ ihr Sherryglas fallen, und ich erlitt einen Schock,
woraufhin Lionel Wiseman Miss Thorns Hand hob und an
seine wohlgeformten Lippen drückte. Dasaßen sie auf dem
weißen Noppensofa mit seinen überdimensionalen Kissen, der
feine Herr und die reife Frau – in ihren gegenseitigen Blick
versunken. Ein Augenblick der Herzen und Blumen, den man
auskostete und ehrfürchtig in das Album der teuren
Erinnerungen seines Lebens steckte.
Die ausrangierte Ehefrau packte die Seiten ihres Sessels und
stand auf. Ihr schönes Gesicht war starr von den heftigen
Gefühlsregungen. Plötzlich warf sie ihren blonden Kopf zurück
und stieß ein Lachen aus.
»Das ist ein Witz! Ein verspäteter Aprilscherz, oder? Li,
Darling, du hättest mich fast hereingelegt, und ich wäre
wirklich sehr wütend auf dich und Miss Thorn, wenn ich nicht
noch wütender auf mich selbst wäre, weil ich ein so
leichtgläubiger Schwachkopf bin. Ellie!« Bunty fuhr mich an,
als wäre ich ein Leibwächter, der sie in einer dunklen Gasse im
Stich gelassen hatte. »Hör auf, so zu gucken, als ob gerade
jemand deine Großmutter überfahren hätte! Ich sage dir, sie
machen Spaß!«
»Nein, mein Schatz.« Lionels traurige Augen waren beredter
als das tiefe Timbre seiner Stimme. »Ich fühle deinen Kummer
mit dir, Liebes, aber in den letzten sechs Wochen, als du
dachtest, ich würde in der Kanzlei Überstunden machen, war
ich mit Gladys zusammen und mit dem Fall meines Lebens
beschäftigt. Unsere Leidenschaft ist so explosiv, daß ich
endlich das Prinzip der Kernfusion begreife.«
»O mein Gott!« Buntys Gesicht verzerrte sich vor
Verzweiflung. »Wenn ich daran denke, wie stolz ich auf dich
war, weil du diesen Organspenderausweis in deiner Brieftasche
mit dir herumträgst!«
Mr. Wiseman ließ die breiten Schultern hängen. Er murmelte:
»Wir wollten Bunty niemals weh tun, nicht wahr, Geliebte?«
Miss Thorn las seine Hand auf und preßte sie an ihren nicht
vorhandenen Busen. »Niemals!«
Das war schlimmer als schlimm. Ich war mir noch nie so
schrecklich fehl am Platz vorgekommen. Es war, als wenn man
die Tür zu dem öffnete, was man für den Krankenhaus-
Geschenkshop hielt und sich im Chaos einer Operation
wiederfand – Blut spritzte, Eingeweide flogen umher, und ein
Chefarzt sprang mit einem Dickdarm Seilchen. Bitte… holt
mich hier raus!
»Also«, fauchte Bunty, »war Li nicht Manns genug, es mir
allein zu sagen?«
»Wir hielten es für das beste« – Miss Thorn ließ ihr Kichern
hören, das ein wesentlicher Bestandteil ihres Charmes war –,
»daß wir drei alles zusammen besprechen, in der Hoffnung,
daß wir, wenn die Wogen sich erst geglättet haben, die
allerbesten Freunde sein können. Ich war immer schon eine
Sklavin der Konvention, und ich habe zu Lionel gesagt…« –
sie machte eine Pause, um seine gepflegte Hand zu küssen,
wobei sie langsam von den Fingerspitzen zum Handgelenk
wanderte – »… ich habe gesagt, ich könnte einer offiziellen
Verlobung erst meine Zustimmung geben, wenn Sie, liebe Mrs.
Wiseman, bereit sind, das Band zu lösen, das Sie verbindet.«
»Geht’s hier um Scheidung?« kreischte Bunty.
»Ich habe einen ganz hübschen Ring gesehen.« Eine
verträumte Miss Thorn streckte die Hand aus, um sich den
Verlobungsring besser an ihrem knubbeligen Finger vorstellen
zu können. »Ein diamantener Halbmond in viktorianischer
Fassung mit einem Rubin…«
»Passend zu Ihren Augen?« Bunty verlor ganz und gar die
Beherrschung. Sie stürzte sich auf das turtelnde Taubenpaar
und stieß einen Schrei aus, der fast die Oberlichter auf unsere
Köpfe herunterkrachen ließ. »Ich bringe Sie um! Ich bringe
euch beide um!«
Dem Himmel sei Dank für die Zwillinge! Sie
herumzuschleppen mußte die Muskulatur meines Oberkörpers
gestärkt haben. Denn irgendwie schaffte ich es, sie davon
abzuhalten, sich über den Kaffeetisch zu werfen und die beiden
mit ihren perlweißen Zähnen zu zerfleischen.
Während ich Bunty in Schach hielt, tauschten Mr. Wiseman
und Miss Thorn besorgte Blicke aus. »Meine Taube, du siehst,
ich hatte recht, das Schlimmste zu befürchten«, sagte er.
»Schsch, liebes Herz! Wie wär’s, wenn ich eines meiner
Liedchen auf dem Klavier spiele?« Mit geschlossenen Augen,
den mausbraunen Kopf zurückgelegt, wappnete die Lady sich
für die Qual, einen Abstand von etwa fünf Metern zwischen
sich und ihren Herzallerliebsten zu legen. Miss T machte einen
weiten Bogen durchs Zimmer, um zu vermeiden, daß sie in
Kampfweite der gegenwärtigen Mrs. Wiseman kam und stieg
in den Orchestergraben hinunter. Sie setzte sich auf den
Klavierhocker, ordnete ihre Röcke über ihren knubbeligen
Knien, lockerte die Finger, knackte mit den Knöcheln und fing
an, einen so jammervollen Satz zu spielen, daß ich hätte
schwören können, das Klavier weinte.
Miss Thorn hob die Brille zu Buntys wutschäumendem
Gesicht. »Ach, süße Musik, dein Zauber besänftigt das wilde
Biest.«
»Die wilde Brust, meine Taube«, berichtigte Lionel, und seine
Miene war so zärtlich wie die eines Vaters, der hört, wie sein
Kind die ersten Worte falsch ausspricht. »Musik hat solchen
Zauber zu besänftigen die wilde Brust.«
»Oh, du kannst nicht erwarten, daß Gladys das richtig
hinkriegt!« Bunty entwand sich meinem Griff. »Du bist
natürlich der Experte, Li, mein Schatz, aber ich würde sagen,
was deine Herzallerliebste an Brüsten vorzuweisen hat, beläuft
sich auf nicht mehr als zwei Moskitobisse.«
»Was fällt dir ein!« Mr. Wiseman erhob sich vom Sofa. »Wie
kannst du dich unterstehen, an der Statur der Frau, die ich
liebe, Kritik zu üben!«
Miss Thorn stieß ein Mäusepiepsen aus.
Irgendwo in diesem Schöner-Wohnen-Raum bimmelte eine Uhr
die halbe Stunde, aber ich mißdeutete das Geräusch als eine
Glocke im Boxring, die den Beginn der nächsten Runde
einläutete. Und, du liebe Zeit, jetzt, wo die Gegner beide
aufgestanden waren und auf den Zehen tänzelten, konnten sie
noch Stunden vom Leder ziehen. Ich hatte durchaus Mitgefühl.
Mir war weh ums Herz für Bunty, aber ich hatte auch noch ein
eigenes Leben außerhalb dieser Mauern. Meine Babys
brauchten mich. Ganz zu schweigen von Freddy, der, als
Entschädigung für geleistete Dienste, von mir erwartete, daß
ich ihm seinen Text für dieses alberne Stück abhörte.
Und doch war ich dazu ausersehen, an einem zweitklassigen
Melodram mitzuwirken. Ächz! Auf ebendieser Bühne zog der
silberhaarige männliche Hauptdarsteller mit der goldenen
Zunge jetzt eine Pistole aus der Innentasche seiner Anzugjacke
und richtete sie auf die Ex-Tänzerin-Ehefrau und – da kein
Zentimeter Raum zwischen ihnen war – ihre dämliche
Gefährtin.
Miss Thorn hielt vibrierend im Spiel inne. »Bunty«, redete ich
ihr zu, den Blick auf die Pistole in Lionels Hand gerichtet,
»versprich ihm die Scheidung.«
»Niemals«, kreischte der blonde Superdummkopf. »Eher will
ich ihn und seine Amüsierdame tot sehen, das schwöre ich!«
»Genauso hatte ich es mir gedacht.« Lionel Wiseman starrte
auf die Waffe, mit vor Widerwillen zusammengezogenen
Nasenlöchern, und mit angehaltenem Atem wartete ich darauf,
daß er erklärte, er wisse kein anderes Mittel, als Bunty
fertigzumachen, bevor sie ihn fertigmachte. Ich zitterte so
heftig, daß ich Mühe hatte, dem zu folgen, was er sagte. »Als
Mrs. Pickle mir neulich diese Pistole gab, nachdem sie sie in
einer Schürze versteckt in der Terrakotta-Urne am Wasserfall
gefunden hatte, versuchte ich mir einzureden, du hättest Angst
vor Einbrechern, aber als ich so in meiner Kanzlei saß, Cafe au
lait trank und eine brasilianische Zigarre rauchte, gelangte ich
immer mehr zu der Überzeugung, Bunty, daß du über meine
Liaison mit Gladys Bescheid wußtest und zur Rache
entschlossen warst.«
»Mr. Wiseman, Sie sind völlig auf dem Holzweg!« Meine
Stimme überschlug sich, um ihm zuvorzukommen, ehe er mich
unterbrechen – oder niederschießen – konnte. »Ich habe
nämlich diese Pistole in der Urne versteckt!«
»Sie?« Ein mattes Lächeln ließ Fältchen auf seinem attraktiven
Gesicht erscheinen. »Liebe Dame, Ihre Loyalität gereicht Ihnen
zur Ehre, beleidigt allerdings meine Intelligenz.«
»Aber im Ernst…«
»Halt den Mund, Ellie!« Bunty hechtete nach vorn und riß,
begleitet von bebenden Klavierakkorden, ihrem Ehemann die
stumpfnasige Pistole aus der Hand. »So, Freundchen« – sie
versetzte ihm mit dem Kolben einen Kinnstüber, bevor sie
wieder rückwärts neben mich tänzelte –, »wieso hast du so
lange dafür gebraucht? Warum zum Teufel hast du nicht gleich
wegen der Pistole ausgepackt, als du sie in deine
Grapschpfoten gekriegt hattest?«
Als Reaktion auf die Pistole, die in ihre Richtung schwenkte,
schob sich Miss Thorn mit erhobenen Händen quer durchs
Zimmer an die Seite ihres Geliebten. »Lionel hielt es für
richtig, kein Spektakel zu machen, bis ich seinen Heiratsantrag
angenommen hatte.«
»Wie scheißanständig!« Bunty spie die Worte aus. »Versenk
das alte Boot nicht, bevor du nicht das neue zu Wasser gelassen
hast!«
»Man hat seine Prinzipien«, sagte Lionel.
»Bis heute nachmittag« – Miss Thorn hatte inzwischen den
Schutz seiner Arme erreicht – »stand ich immer dicht davor,
die Ehre, die zweite Mrs. Wiseman zu werden, auszuschlagen.«
»Die dritte, Sie Hohlkopf!« Bunty rückte den beiden gefährlich
auf den Leib. »Ich hatte wenigstens den Anstand zu warten, bis
die erste Mrs. Wiseman aus dem Verkehr gezogen war. Lassen
Sie sich eins gesagt sein, Sie würgehalsiges Miststück, Sie
können sich noch auf einiges gefaßt machen, und es wird kein
Diamantring mit einem verdammten großen Rubin sein.« Ein
eisiges Lächeln trat auf ihr Gesicht, das noch kälter wurde, als
sie die beiden mit der Pistole trennte und in Richtung Halle
schubste. »Und jetzt raus, ihr beiden!«
»Du führst dich auf wie ein Kind.« Rechtsanwalt Lionel
schaffte es, ein wenig Würde zu bewahren, wenn er und seine
Liebste auch zwei x-beinigen Kindern ähnelten, die rückwärts
Schlittschuh laufen lernten.
»Raus, hab’ ich gesagt, raus mit euch beiden!« Peng fiel die
Haustür zu. Bunty kam zurück ins Wohnzimmer, die Pistole in
ihrer herabhängenden Hand.
»Komm, gib sie mir.« Ich eilte zu ihr, aber sie winkte mich
fort.
»Nein, Ellie! Lass’ mir einen Augenblick Zeit – ich werd’ mich
zusammenreißen.«
»Das ist gut.«
»Ich kann mich ja nicht selbst erschießen, wenn meine Hand
zittert, oder?«
»Jetzt hör aber auf!« Ohne nachzudenken, riß ich ihr die
Pistole weg. »Und spar dir die Mühe, mit mir darum zu
kämpfen, sie ist nicht geladen.« Ich hoffte inständig, daß es
tatsächlich so war, als ich sie in die Tasche meines
Regenmantels stopfte, aber ich hatte keine Zeit, mir Sorgen zu
machen, daß ich mir damit die Füße wegpustete, denn Bunty
hatte sich auf das Sofa fallenlassen und schluchzte zum
Erbarmen.
»Ist das zu fassen? Li verläßt mich für diese Frau? Ich habe ihn
vergöttert, weißt du das? Ich dachte, bei uns stimmte alles. Oh,
warum habe ich nicht auf den schlauen alten Fuchs, meine
Tante Et, gehört? Sie sagte immer zu mir, als ich ein Teenager
war: ›Bunty, mein Mädchen, mach nicht denselben Fehler wie
ich. Betrachte Sex nicht als das A und O. Bring nicht dein
Leben damit zu, am Altar des elften Fingers zu beten.‹ Und
jetzt guck dir an, was ich getan habe! Hier sitze ich, die
Präsidentin von Fully Female, die anderen Frauen beibringt,
wie sie ihre Männer halten können – und meiner läßt sich von
Miss Thorn abschleppen!«
Im Gegensatz zu mir, deren Nase dann mein ganzes
Gesichtbeherrscht, weinte Bunty gepflegt. Tränen perlten von
ihren Wimpern, und ihre Wangen wurden noch rosiger. Wie in
Gottes Namen konnte Lionel Wiseman sie verlassen? Man
konnte sich nur wieder aufs neue über Miss T.s Erfolg beim
anderen Geschlecht wundern und staunen, daß sie es so lange
gemacht hatte, ohne auf die Nase zu fallen.
»Es tut mir so leid.« Ich ließ mich neben ihrem jüngsten Opfer
nieder.
»Es ist zum Totlachen! Nicht damit zufrieden, selbst ein
schmachtendes Schaf zu sein, habe ich Dutzende von Frauen
überzeugt, sich von Kopf bis Fuß umzukrempeln.«
»Du hast es gut gemeint.«
»Was soll jetzt aus mir werden?«
»Du hast Freunde, Bunty.«
»Ich meine finanziell. Fully Female geht den Bach runter. Und
Li kann entweder so großzügig wie Midas oder so geizig wie
Old Nick sein, je nachdem, woher der Wind weht. Er wirft
Hunderte von Pfund für einen Schlips zum Fenster raus,
schmeißt jedoch keine Brotkruste weg. Er hat mich immer mit
Kreditkarten überhäuft, aber jetzt würde es mich nicht
überraschen, wenn er mich ohne einen roten Heller sitzenläßt.«
»Du mußt dir einen…«
»Einen guten Anwalt nehmen?« Tränen rannen aus ihren
blauen Augen, aber unglaublicherweise lachte sie zugleich.
»Weißt du, Ellie, eine Cockney-Göre, die mit Tanzen für ein
paar Münzen groß geworden ist, hat ein, zwei Dinge im
Überlebenskampf gelernt.«
Trautes Heim, Glück allein. Freddy und Mrs. Malloy waren
jeweils an ihren eigenen Herd zurückgekehrt. Der Nachmittag
war der Abenddämmerung gewichen, und ich fütterte verspätet
die Zwillinge, ohne mich, wie ich leider gestehen muß, dieser
Aufgabe hundertprozentig zu widmen. Ich nahm Abbey die
leere Flasche weg, bevor sie sie ganz verschluckte, rieb ihren
rosaroten Frotteerücken und setzte sie in den Wippstuhl.
»Du bist ein liebes Mädchen!«
»Papp-papp!«
»Und jetzt zu Mummys großem Jungen.« Während Tobias
durch die Küche strich und die milchige Luft schnupperte,
machte ich es mir mit Tarn im Schaukelstuhl bequem, stopfte
ihm eine Windel unters Kinn und flüsterte: »Bon appetit!« Ben
würde, wenn alles glattlief, erst ziemlich spät nach Hause
kommen, was mir Zeit ließ, noch etwas mit dem Tag
anzufangen. Lächerlich, dieses Gefühl, das Frauen haben – daß
sie dem Mister am Ende des Tages ein Zeugnis vorlegen
müssen, mit der Bitte, es abzuzeichnen, wenn es ihm zusagt.
Die Behavioristen können so oft sagen, wie sie wollen, daß
solche Dinge milieubegründet sind, ich weiß, es ist eine Sache
der Biologie. Wenn der Höhlenmann heimkam und überall
noch Knochen vom Frühstück herumliegen sah, wollte er
wissen, warum, aber frag ihn nicht, ob er den Bären, den er
nach Hause geschleppt hat, selbst gefangen oder ihn beim
Steinpoker mit den Kumpels gewonnen hat.
Das Schaukeln war friedvoll, und Tarn trank sein Fläschchen
mit dem ihm eigenen methodischen Eifer, aber mir war das
Herz schwer. Ich hatte nicht nur mir selbst gegenüber versagt,
sondern auch Mrs. Malloy und dem Rest der Frauenwelt
gegenüber, indem ich mich mit Fully Female einließ. Ein
Gefühl der Ohnmacht und der Verlorenheit befiel mich. Buntys
Tante Et hatte recht: Die Menschen, die Sex zu ihrem Götzen
machen, werden einen entsetzlichen Preis bezahlen. Man
brauchte sich nur Mrs. Huffhagle und den armen Norman the
Doorman anzusehen. Und Mrs. Malloy – von ihrem Svengali
in einen Zombie verwandelt. Und jetzt die Gründerin von Fully
Female – abgeschoben! Sie hatten den Preis bezahlt, doch wer
konnte sagen, wann es genug des Kummers, des Blutzolls war?
»Ihr solltet euch für eure Mutter schämen«, teilte ich sowohl
Tarn als auch Abbey mit. »Was für Werte bringt sie euch bei?
Und nur der Himmel weiß, was Daddy sagen wird, falls –
wenn er das mit Fully Female herausfindet.«
»Uuuh!« Abbey hielt sich die Hand vor den Rosenmund.
»Genau.« Ich drückte Tarn an meine Schulter und massierte
seinen blauen Frotteerücken, während ich Daddy auf dem
Kriegspfad imitierte. »›Beim Jupiter, Ellie, was bin ich für
dich? Ein Objekt, ein Spielzeug, das du zu deinem Vergnügen
manipulieren und zurichten kannst, nach Lust und Laune
nehmen und wegwerfen? Ich glaube, ich habe mich noch nie so
billig, so ausgesprochen benutzt gefühlt! ‹«
Sobald ich meine kleinen Schätzchen in ihre Bettchen gesteckt
und das Gebet gesprochen hatte, ging ich wieder in die Küche
und durchwühlte die Schrankschubladen nach dem Fully-
Female-Handbuch. Verdammt, Freddy mußte es in seine
gemeinen Pfoten bekommen haben. Ah, da war es, unter dem
Toaster.
Meine Händen zitterten, und ich beschloß, das Ding in Stücke
zu reißen und zu verbrennen, falls es brennen würde –
irgendwo hatte ich gelesen, daß Hexenbücher feuerbeständig
waren, und diese Seiten hier machten auf jeden Fall, was sie
wollten. Das Handbuch klappte bei Kapitel fünf auf.

Gesteht, Mitfrauen, wie viele von euch haben sich mit


Liebemachen im Dunkeln begnügt? Wie aufregend, he? Ab
und zu, wenn ihr am wenigsten damit rechnet, tastet sich dieses
gesichtslose Nachtgeschöpf aus dem Sumpf, um sich an eurem
unsichtbaren Fleisch zu weiden…

»Igitt!« Ich wollte das Buch schon fallen lassen, als es an der
Gartentür klopfte. Unfähig, mich zu rühren, krächzte ich:
»Herein!« Und siehe da, Reverend Eudora Spike betrat mein
Haus der Freuden. »Welch nette Überraschung!«
Jedes einzelne Haar an seinem Platz, ebenso wie ihr
entschlossenes Lächeln – so stand die neue Pfarrerin da und
hielt eine zugedeckte Auflaufform in ihren
glacebehandschuhten Händen. »Verzeihen Sie, daß ich nicht
erst angerufen habe, aber…«
»Sie haben ja so recht.« Ich wurde rot. »Das beste daran,
Nachbarn zu haben, ist, nie zu wissen, wann sie auf einen
Sprung vorbeikommen.«
»Ich hoffe, ich störe Sie nicht beim Abendessen.«
»Himmel, nein! Ben arbeitet abends, und ich habe mir gerade
eine anregende Lektüre gegönnt.« Idiot! Sie würde nach dem
Titel des Buchs fragen.
»Wie nett.«
»Lassen Sie mich…« – ich konnte kaum nach der Auflaufform
fragen, ohne gierig zu wirken – »Ihnen den Mantel abnehmen.«
»Vielen Dank, aber ich bleibe nicht lange.«
»Oh, aber bestimmt doch zu einer Tasse Tee?« Ich ließ das
Fully-Female-Handbuch hinter den Toaster fallen und atmete
wieder freier, was man über Eudora nicht sagen konnte. Sie
wirkte so gestelzt wie unser Gespräch.
»Nun, wenn Sie darauf bestehen, Ellie. Und ich hoffe doch« –
sie hielt mir die Auflaufform hin –, »daß Sie nicht mißtrauisch
sind, wenn, wie unsere jungen Leute sagen, alte Gruftis
Geschenke mitbringen.«
»Was für ein Gedanke! Aber eigentlich sollte ich Ihnen ein
Einzugsgeschenk bringen.«
Sie erwiderte mein Lächeln. »Bitte nehmen Sie das hier als
Freundschaftsgabe an. Das Vergnügen ist ganz auf meiner
Seite. Ihr Mann war so freundlich, uns diese köstlichen Kekse
zu schicken, ich werde ihm noch ein paar Zeilen schreiben. Ich
hätte es längst tun sollen, aber es ging alles… ziemlich drunter
und drüber.«
Ich schlug die Augen nieder, weil ich mir die anatomisch
korrekten Lebkuchenmännchen vorstellte.
»Heute nachmittag hat Gladstone diesen Lachs gedünstet und
erhielt natürlich fünf Minuten vor dem Essen einen Anruf
von…jemandem und mußte unerwartet weg, deshalb dachte
ich, ich bringe ihn vorbei, in der Hoffnung, daß Sie ihn sich
schmecken lassen – wenn nicht heute, vielleicht morgen.«
»Wie nett.« An all dem war entschieden etwas faul. Wieso
hatte sie den Lachs nicht aufbewahren können, bis sie und
Gladstone, wieder vereint, sich sein korallenfarbenes Fleisch
teilen konnten? Der Himmel sei mir gnädig, ich dachte
allmählich so wie das Fully-Female-Handbuch. Und wenn
meine Augen mich nicht trogen, blickte Eudora zum Toaster
hinüber.
»Wie gefällt es Ihnen in dieser Gemeinde?« Ich stopfte die
Auflaufform in den Kühlschrank und stieß dabei ein Glas mit
Mayonnaise um.
»Sehr gut, vielen Dank.« Mrs. Spike streifte ihre Handschuhe
ab und knöpfte ihren Mantel auf. »Doch in Chitterton Fells
sind alle so beschäftigt. Wenn die Frauen nicht außer Haus
arbeiten, dann sind sie in diesem Fitneßcenter… Fully
Sowieso.«
»Ach, ja«, sagte ich und schlängelte mich zu ihr. »Der Name
kommt mir bekannt vor. Fully Female… glaubeich.«
»Sie sind nicht selbst Mitglied?«
»Eudora, wie Sie sich vorstellen können« – ich formte mit den
Armen eine Wiege –, »bin ich voll mit meinen vier Monate
alten Zwillingen ausgelastet, und mein Kater Tobias gewöhnt
sich nur schwer daran, Konkurrenz zu haben.« Besagter Kater
miaute laut, als er hörte, wie sein Name mißbraucht wurde und
fegte einen Stapel Windeln von der Arbeitsfläche.
»Und wir dürfen Ihren jungen und, wenn der äußere Anschein
nicht trügt, sehr männlichen Gatten nicht vergessen.« Die
Pfarrerin legte ihren vorgeschriebenen marineblauen Mantel
über einen Stuhl und strich ihren Haarhelm glatt. »Ich weiß
noch, wie sehr mich Gladstone in der Zeit nach der Geburt
unserer Tochter Brigitta beanspruchte. Mit anderen Worten,
Ellie, ich hätte sie für eine Musterkandidatin dieser Fully-
Female-Organisation gehalten.« Ihre vorstehenden
haselnußbraunen Augen bohrten Löcher in meine Seele. Ach,
du lieber Gott, dachte ich. Der Lachs ist ein Vorwand. Sie weiß
Bescheid über Freddys Maskerade, und sie ist hier, weil sie
denkt, ich hätte ihn dazu angestiftet.
»Na schön.« Ich ließ mich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen
und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Ich bekenne es! Ich
bin tatsächlich eingetragenes Mitglied von Fully Female, aber
ich hatte absolut nichts mit der dreisten Scharade meines
Cousins zu schaffen, und obwohl ich voll und ganz verstehe,
warum Sie den Dummkopf vielleicht gern vor dem Römischen
Tribunal sehen wollen, oder besser vor dem von Canterbury,
bitte ich Sie zu bedenken, daß Freddy ein leicht beeinflußbarer
Dreißigjähriger ist, der durchaus auch seine guten Seiten hat.
Er mag Kinder, ist gut zu Tieren und ißt nicht übermäßig viel
rotes Fleisch.«
Leider sah die Pfarrerin so unbewegt aus wie eines der
Granitgrabmale auf dem Kirchhof von St. Anselm. »Ellie, es
tut mir leid, das sagen zu müssen…«
»Ja?« Meine Knie vollführten ein Trommelsolo.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Nein?«
»Nun, ich begreife schon, daß der Name Ihres nichtsnutzigen
Cousins Freddy ist und daß er irgendeinen Streich gespielt hat,
aber was das mit mir zu tun hat, ist mir schleierhaft. Sie
müssen verstehen, Ellie, ich bin eine Geistliche, nicht der
Scharfrichter.«
»Ah!« In meinem Ungestüm, einem Ergebnis meines
derzeitigen neurotischen Zustandes, hatte ich meinen Cousin
und Babysitter den Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Und so
gern ich das Thema an diesem Punkt fallengelassen hätte, es
ging nicht, sonst vermutete Eudora noch irgendeine kriminelle
Aktion von Freddy, wenn die Almosenbüchse das nächste Mal
dürftig ausfiel.
»Möchten Sie nicht eine Tasse Tee?«
»Nein, vielen Dank«, sagte sie und hob eine ihrer kompetenten
Hände, »und bitte machen Sie nicht ein so besorgtes Gesicht.«
Hieß das, wir waren noch Freundinnen? Mit gesenktem Kopf
erzählte ich die schreckliche Geschichte. »Es war so, wissen
Sie: Freddy bekam Wind davon, daß ich Fully Female
beigetreten war, und auf einmal taten sich unbegrenzte
Möglichkeiten auf, Unfug zu machen – wenn man die
eigenartige Weise bedenkt, in der sein Verstand arbeitet. Er
wußte auch von Ihrem Erscheinen auf der Bildfläche von
Chitterton Fells und…«
»Ja?«
»Er tauchte im Fully-Female-Hauptquartier als Reverend
Eudora Spike verkleidet auf, mit einem schwarzen Schleierhut,
und sprach das Gebet in der Erlebnis-Ehe-Sitzung. Ach,
Hochwürden« – ich hob mein tränennasses Gesicht – »ich
fühlte mich so entweiht für Sie. Er ließ uns einander an den
Händen fassen…«
»Zum Vaterunser?«
Die Träumerin. »Ach wo. Freddy schloß die Augen, wiegte
sich auf seinem Stuhl und forderte uns auf, die Liebe strömen
zu lassen. Und als wir den Zustand des Einsseins erreicht
hatten, sagte er uns, wir sollten einander das Herz öffnen,
indem wir uns an die Person zu unserer Rechten wandten und
ihr sagten, was uns am meisten an ihr mißfiele. Ach, es war
furchtbar! Mrs. Wardle, die Bibliothekarin, sagte dem
Mädchen vom Backshop, daß sie sie nicht ausstehen könne,
weil ihr Haar solche Sprungkraft habe. Mrs. Sturgess sagte zu
Mrs. Olsen, sie habe es gründlich satt, von ihren multiplen
Orga… – Sie wissen schon – zu hören, und Mrs. Best sagte zu
Mrs. Rose, der die Boutique auf der Market Street gehört, daß
sie sich für ihre Spiegel schämen sollte und es sei ein Wunder,
daß sich nicht jede Menge Frauen an den Kleiderhaken in den
Umkleidekabinen aufhängen würden. Für das letztere hatte ich
Verständnis. Mrs. Roses Kleider passen den Bügeln immer viel
besser als mir, aber ich habe den Mund nicht aufgemacht, um
Buh! zu sagen, geschweige denn, um Freddy zu denunzieren.
Er arbeitet bei meinem Mann Ben im Restaurant, und ich hatte
solche Angst, daß diese Frauen, wenn sie wüßten, was er da
abzog, das Abigail’s boykottieren würden.«
Reverend Spikes haselnußbraune Augen drängten mich,
fortzufahren.
»Als Mutter – nein, sagen wir lieber als Feigling – sagte ich
kein Wort zu Freddy, bis ich ihn allein zu fassen bekam.«
»Ich verstehe.« Die Pfarrerin stand auf, aber statt sich zur
Gartentür zu wenden, ging sie hinüber zum Aga-Herd und
stellte den Kessel an. »Ich denke, darauf müssen wir eine Tasse
Tee trinken.«
»Sie sind nicht wütend?«
»Nein.« Sie griff nach der kupfernen Teebüchse und wandte
sich mir mit der Dose in ihren kräftigen Händen zu. »Ich bin
belustigt und…«
»Was?«
»Dankbar.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich bin froh, daß Sie offen zu mir sein konnten.«
»Aber…«
»Die meisten Menschen sind im alltäglichen Umgang mit der
Geistlichkeit nicht sie selbst. Sie sehen das Image, nicht die
Person.« Reverend Spike – Eudora – machte sich daran, die
Kanne anzuwärmen.
»Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen«, wagte ich mich vor.
»Als kleines Mädchen dachte ich, daß Nonnen keine
Unterhosen tragen.«
»Und ich dachte, daß Nonnen keine Frauen wären.«
»Sie dachten, sie seien Männer?«
»Nein, das auch nicht. Ich dachte, sie wären einfach…
Nonnen.« Eudora kam mit einem mit Tassen und Untertassen,
Milchkanne, Zuckerdose und Teekanne beladenen Tablett zum
Tisch zurück. Das Fenster über der Spüle war so dunkel wie
ein lebloser Fernsehschirm, und Eudora mußte Tobias von
ihrem Stuhl scheuchen, bevor sie sich hinsetzen konnte.
Behagen hatte sich in der Küche zu uns gesellt, so wirklich wie
eine dritte Person, so vertraut wie eine Freundin. Zum
erstenmal an diesem Tag fühlte ich mich sicher vor dem um
sich greifenden Übel von Fully Female.
»Ellie, ich hatte einen Hintergedanken für meinen Besuch bei
Ihnen.« Eudora reichte mir die Milch.
»Erzählen Sie.«
»Das fällt mir nicht leicht.« Sie rührte in ihrem Tee. »Aber Sie
waren ehrlich zu mir, deshalb ist wohl das mindeste, was ich
tun kann, mich bei Ihnen zu revanchieren. Ich…« Sie fügte
zwei Löffel Zucker hinzu. »Ich möchte, daß Sie mir sagen, ob
Sie glauben, daß die Glaubenssätze von Fully Female nützlich
wären für… den Wiederaufbau meiner Ehe.«
»Oh!«
»Heute nachmittag bin ich sehr langsam dorthin gefahren. Ich
war die ganze Zeit direkt hinter Ihrem Wagen. Ich sah, wie sie
am Tor einbogen, und da verließ mich der Mut, oder vielmehr
kam ich wieder zu mir. Ich konnte nicht vor eine Gruppe von
Menschen treten, einige davon Mitglieder meiner Gemeinde,
und ihnen mein Herz ausschütten. Die Ratgeberin kann selbst
keinen Rat suchen. Sie muß die Antworten haben, sie darf sie
nicht suchen müssen. Doch auf der Heimfahrt, Ellie, hatte ich
Ihr Gesicht vor Augen.«
»Wirklich?« Ich vermochte meine Tasse nicht zu heben.
»Als ich Sie am Montag kennenlernte, war ich ehrlich gesagt
überrascht. Ich hatte erwartet, daß die Frau, die das Herz von
Reverend Foxworth erobert hatte, um nicht um den heißen Brei
herumzureden, ein Vamp wäre. Aber was ich sah, war ein
Landmädchen mit frischem Gesicht, das ein Mensch nach
meinem Herzen zu sein schien. Jemand, der die Dinge nicht
immer auf Anhieb richtig hinkriegt und deshalb Mitgefühl
kennt. Also überlegte ich mir heute nachmittag auf der
Heimfahrt zum Pfarrhaus einen Kompromiß. Ich kann Fully
Female nicht beitreten, aber ich kann an dem Wissen eines der
Mitglieder teilhaben und mir vielleicht« – ihr Blick wanderte
zum Toaster –, »mir vielleicht sogar das Handbuch leihen.«
»Nein!« Ich warf klappernd meine Tasse um, so daß sie in
einer teeschwimmenden Untertasse lag.
Langsam stand sie auf. »Ich verstehe.«
»Nein, Sie verstehen nicht! Eudora, ich spreche als Ihre
Freundin. Begeben Sie sich nicht auf die Abwege dieses
verabscheuungswürdigen Vereins!«
Noch langsamer nahm sie ihren Platz wieder ein. »Nanu, Ellie!
Das hört sich ja an, als wäre es eine Heimstatt des Teufels.«
»Das war nie die Absicht der Gründerin. Glauben Sie mir,
Bunty Wiseman ist ein wenig oberflächlich, aber ein netter
Mensch. Und doch ist ihr kleines Unternehmen irgendwie
entsetzlich danebengegangen. Mein erster Anhaltspunkt war,
daß Jonas, der hier den Garten macht, von zu Hause weglief,
weil er sich durch die Avancen von Mrs. Pickle terrorisiert
fühlte. Jetzt sind zwei Leute tot, eine meiner Freundinnen ist
ein liebeskranker Zombie, und Bunty selbst, die versucht hat,
andere Frauen in schmachtende Schafe zu verwandeln, merkt
jetzt, daß sie selbst das allerschmachtendste Oberschaf war. Ihr
Mann, Lionel Wiseman, ist ein Opfer der Machenschaften
von… nun, es schadet wohl nichts, Namen zu nennen, da die
Verlobung bald offiziell bekanntgegeben werden soll…«
»Ja?«
»Die betreffende Dame ist Miss Gladys Thorn, Ihre frühere
Kirchenorganistin.«
»Die Frau aus Gladstones Vergangenheit!« Eudora packte mit
solcher Kraft den Tisch, daß Milchkanne und Zuckerdose auf
dem Tablett hüpften. »Das ergibt keinen Sinn. Ich weiß, daß
immer noch etwas zwischen meinem Mann und dieser Frau ist.
Er ist nicht er selbst, seit wir in der Kirche auf sie gestoßen
sind. Sie saß an der Orgel, hämmerte irgendein Kirchenlied in
die Tasten, und als Gladstone sie ansah und sie einen
Freudenschrei ausstieß, wußte ich, daß es in meiner
dreißigjährigen Ehe gebumst hatte. Dann, als ich im
Arbeitszimmer war, hörte ich sie draußen in der Halle. Es
bestand kein Zweifel, daß sie da ansetzen wollte, wo sie
aufgehört hatten, während er, armes Lämmchen, mit aller Kraft
zu widerstehen versuchte. Ich wußte, daß ich sie loswerden
mußte, deshalb gab ich ihnen beiden den Laufpaß – Miss
Thorn und Mrs. Pickle –, damit es mehr nach einem Kehraus
aussah.«
»Miss Thorn sagte, Sie hätten ihr vorgeworfen, die
Methodistenkirche zu besuchen.«
»Ich sagte, daß jemand, Mrs. Melrose, glaube ich, erwähnt
hatte, sie habe sie in die Unity Methodist gehen sehen und daß
ich mich fragte, ob es sie nicht glücklicher machen würde,
jener Kongregation zu dienen.«
»Und als es geschehen war, fühlten Sie sich furchtbar.« Ich
stellte meine Tasse hin und goß uns beiden einen frischen Tee
ein.
»Diese nette Mrs. Pickle!«
»Wenn es ein Trost ist, Rowland brannte darauf, sie zu feuern,
aber er…«
»Sagen Sie’s nicht! Er war zu gutmütig.« Eudora sah mich mit
dem verwundeten Blick einer frühen Märtyrerin an, die auf
einem von St. Anselm’s Buntglasfenstern auf dem Spieß briet.
»Alles hat sich verändert. Gestern hat Gladstone den Pudding
anbrennen lassen, und das Frühstück heute morgen war eine
Katastrophe. Nur ein Würstchen, kein Speck und bloß ein
winziger Klecks Rührei.«
»Aber bestimmt«, sagte ich, während ich mir einen…
eineinhalb… Teelöffel Zucker gönnte, was ich nie tue, nur bei
Streß, »bestimmt sind Ihre Probleme doch gelöst, wenn Miss
Thorn Lionel Wiseman heiratet.«
Eudora schüttelte den Kopf. »Ellie! Das ist ein
Ablenkungsmanöver, nichts anderes. Ich sage Ihnen, diese Frau
ist in meinen Mann verliebt.«
»Schon möglich, aber was Sie nicht verstehen, ist…«
Ich suchte nach einer netten Art zu sagen, was Mrs. Malloy so
kraß formuliert hatte – »Gladys Thorn würde für alles in Hosen
die Beine in die Luft strecken und Victory signalisieren« –, als
es an der Gartentür klopfte. Und wer kam hereingeschwebt?
Mrs. M höchstpersönlich.
Sie hatte meinen violetten Kaftan über dem Arm, ansonsten
war sie ganz in Schwarz, von der Provianttasche in ihrer Hand
bis zu dem Turban auf ihrem Kopf. Selbst ihr
Pflaumenlippenstift hatte einen schwärzlichen Schimmer, als
ob er in ihren Diensten alt geworden wäre. Ihr Teint, seines
Rouges beraubt, war weiß wie der Tod, und in ihren Augen lag
noch immer dieser entrückte Ausdruck.
»Guten Morgen, Mrs. H.«
Mit einem Seitenblick auf Eudora wollte ich stammeln, daß es
sechs Uhr abends war, aber Mrs. Malloy war bereits in die
Vorratskammer schlafgewandelt, so wie eine Figur in einer
Farce in einen Wandschrank geht und denkt, es sei der
Ausgang. Mehrere peinliche Sekunden später tauchte sie
wieder auf und ging, ohne nach links oder rechts zu schauen,
an Eudora und mir vorbei, um durch die Tür zur Halle zu
entschwinden.
»Und das« – ich lächelte Eudora Spike sanft zu – »ist das Werk
von Fully Female. Sind Sie sicher, daß Sie sich immer noch
das Handbuch leihen wollen?«
Als Ben – die Bartstoppeln an seinem Kinn harmonierten mit
der Dunkelheit im Fenster – von einem harten Tag im
Restaurant zurückkam, fand er mich im Salon sitzend vor, der
mehr denn je einem Museum glich, das das Leben eines
unbekannten Paares irgendwann v.d.K. dokumentierte – vor
den Kindern. Die cremefarbenen Seidentapeten und Queen-
Anne-Möbel hatten soviel mit meinem derzeitigen Lebensstil
zu tun wie meine Tante Astrid mit dem Vorführen frecher
Wäsche auf Dessous-Partys.
Mein Gatte lockerte seinen Schlips und überquerte den
rosaroten und pfauenblauen Perserteppich, um dann dazustehen
und nicht mich, sondern das Porträt über dem Kamin
anzuschauen – Abigail mit den rotbraunen Haaren und
immergrünen Augen, die edwardianische Herrin von Merlin’s
Court.
»Schatz?«
»Redest du mit mir?« Ich erhob mich vom Sofa, schüttelte die
Falten aus meinem Wäscherinnenrock und machte mich auf
Fragen bezüglich meines Tagewerks gefaßt.
»Jedesmal, wenn ich mir dieses Porträt ansehe« – sein dunkler
Kopf war geneigt, so daß das Licht von den Wandleuchten sein
Gesicht bemalte wie ein Aquarellpinsel –, »verzehre ich mich
vor Sehnsucht.«
»Nach Abigail?«
»Nein! Nach einem Porträt von dir mit den Zwillingen.«
»Ben, du weißt, wie ich es hasse, mich fotografieren zu
lassen.«
»O ja.« Ein nachdenkliches Funkeln verdunkelte seine Augen
zu dem Pfauenblau der Vase auf dem Bleiglasbücherregal.
»Ich würde mich eher im guten altmodischen Sinne des Wortes
hängen lassen, als für die Nachwelt an einer Wand dieses Haus
aufgehängt zu werden. Ich hasse den Gedanken, daß ein völlig
Fremder mich irgendwann in ferner Zukunft anglotzt und sagt:
›Meinst du nicht auch, daß sie wie eine Bulldogge aussieht?‹«
»Ellie!«
»Erzähl mir nicht, daß ich Abbey und Tarn um die Gelegenheit
betrüge, unsterblich zu werden und deine Mutter und deinen
Vater um ihre Rechte als Großeltern, weil ich nämlich die feste
Absicht habe, mit den Zwillingen zu Belamo’s Studio in
der…«
Er ließ mich nicht ausreden. Seine Hände fanden mich, und mit
einem Ruck war ich in seinen Armen, sein Atem war warm auf
meinen Lippen, seine Stimme so rauh wie sein stoppeliges
Gesicht unter meinen Fingern. »Bist du verrückt?«
»Du magst Belamo’s nicht?«
»Der Laden soll meinetwegen zum Henker gehen.« Er hielt
mich ein Stück weg. »Was mich interessiert, ist, daß du dich
mal ganz genau anschaust.«
Unsicher, worauf er hinauswollte, flüchtete ich mich in
Geplänkel. »Tut mir leid, Liebes! Ich habe keinen Handspiegel
dabei.«
»Du brauchst keinen.« Er umschloß mein Kinn mit seiner
Hand, und plötzlich rieben wir die Nasen aneinander wie zwei
leidenschaftliche Eskimos. »Mach meine Augen zu deinem
Spiegel, Schatz. Schau hinein, und sieh dich so, wie ich dich
sehe.«
»Lieber nicht.« Ich brachte ein Lachen zustande.
»Hör auf damit!« Er schüttelte mich sanft, bis sein
Gesichtverschwommen wurde. »Ich lasse nicht zu, daß du die
Frau, die ich liebe, verspottest.«
»Du blinder Narr!« Mein Lächeln war den Tränen nahe. »Du
bist derjenige, der den Tatsachen ins Auge sehen muß. Ich bin
nicht das Mädchen, das du geheiratet hast. Ich bin ein
Hausmütterchen. Ach, hören wir doch auf, die Wahrheit zu
schönen – ich bin fett.«
»Nein.«
»Du siehst, was du sehen willst.«
»Ich sehe eine bezaubernde Frau.«
»Dann siehst du mit dem Herzen, nicht mit den Augen.«
»Na und«, sagte er, dann zog er meinen Zopf nach vorn,
entfernte das Gummiband und fing an, langsam und andächtig
mein Haar mit den Fingern zu lösen. »Siehst du mich denn
nicht genauso?«
»Sei nicht albern.« Aus irgendeinem unersichtlichen Grund
hatte ich Mühe zu atmen. »Wir reden nicht über die gleiche
Sache. Du, Bentley T. Haskell, bist atemberaubend.«
»Meine arme blinde Närrin!« Seine Lippen fanden meine, und
ich lag in einer Umarmung, die meine Sinne
durcheinanderwirbelte. Vielleicht war es der würzige, frische
Duft seines Mr.-Right-Aftershaves, der mich schwindlig
machte. Ich wußte nur noch, daß der Augenblick zu einer
Ewigkeit wurde und es nichts gab als dieses schwere Atmen
und mein Herzklopfen. Und es gab niemanden außer uns
beiden, vollständig bekleidet, und doch aus siedendheißem
Wachs zu nur einem Wesen gegossen.
Schließlich hob er den Kopf. »Ellie, ich habe eine Idee.«
»Ich auch.«
»Ich hatte an ein kleines Abenteuer im Mondschein gedacht.«
»Hört sich gut an.«
»Ein Picknick.«
»Ein was?«
Sanft löste er meine Arme von seinem Hals und übersah meine
Lippen, die danach dürsteten, sich wieder mit seinen zu
vereinen. »Schatz, weißt du noch, wie wir es in der
Anfangszeit immer genossen haben, al fresco unter der Birke
zu essen?«
»Ja«, sagte ich und rieb mir die Arme, weil ich schon den
frischen Frühlingswind spürte, »aber am Tag.«
»Ach, meine Liebste.« Er führte meine Hand aufreizend
langsam an seine Lippen. »Was ist aus deinem Sinn für
Abenteuer geworden?«
»Außer Betrieb.« Unmöglich, ihm zu sagen, daß er im Dienst
von Fully Female verschieden war, wobei mir etwas einfiel –
ich hatte Ben noch nicht von Mrs. Malloy erzählt. Und jetzt
sollte ich auch nicht die Gelegenheit dazu bekommen. Ich
wurde in die Halle geschoben und angewiesen, nach oben zu
gehen und etwas Bequemes überzuziehen, zum Beispiel einen
Mantel und eine Wollmütze, während der Schloßherr sich in
die Küche zurückzog, um unser Mitternachtsmahl zu
improvisieren.
»Die Babys!« jammerte ich.
»Keine Sorge. Ich rufe kurz Freddy an.«
»Wirklich, Ben. Wir dürfen ihn nicht immer so ausnutzen.«
»Unsinn. Der alte Knabe liebt die Kleinen abgöttisch, fast so
abgöttisch, wie er die Gelegenheit liebt, unseren Kühlschrank
zu plündern.«
»Er ist vielleicht schon im Bett.« Offenbar konnte ich jetzt nur
noch Unsinn reden. Mein Cousin brüstete sich damit, daß er nie
mehr als drei Stunden pro Nacht schlief und sich selten vor drei
oder vier Uhr morgens hinlegte.
Also ging Ben pfeifend in die Küche, und ich begab mich
widerstrebend nach oben, ging auf Zehenspitzen durch den
Korridor zum Schlafzimmer. Noch nie hatte dieses alte
Himmelbett verlockender ausgesehen, aber ich riß den Blick
davon los und öffnete den Kleiderschrank mit der Absicht,
meinen marineblauen Dufflecoat mit seiner winddichten
Kapuze auszugraben. Doch das Kleidungsstück, das mir
entgegenstarrte, war ausgerechnet die Purpurrote Gefahr, der
Kaftan, den Mrs. Malloy sich geliehen und, Gott sei Dank,
zurückgegeben hatte.
Als ich so vor dem Kleiderschrank stand, die Hände voller
falscher Seide und Goldborten, stürmten Erinnerungen an den
Abend auf mich ein, als ich Bentley T. Haskell kennenlernte.
Damals wollte ich gerade in meine Orientpantoffel schlüpfen,
als er zur Tür hereinkam. Sein Schal flatterte bei jedem Schritt,
die feuchte Nacht machte sein Haar schwärzer, und in seinen
schönen Augen lag ein Funkeln, Augen, die nichts Gutes ahnen
ließen, zumindest für die Frau, die ihn warten ließ, während sie
in letzter Minute einen Abstecher ins Bad machte, die Tür
schloß, fast ohnmächtig dagegensank und der benommenen
Frau, die sie aus dem Spiegel anstarrte, mitteilte: »Der Mann
ist ein Teufel, aber ich wollte weiß Gott nie eine Heilige sein.«
»Ellie!« In der Gegenwart öffnete sich die Schlafzimmertür
und knallte zu, und als ich mich umwandte, sah ich, wie Ben
fast ohnmächtig dagegensank.
»Was ist denn los?« Ich zog so heftig an der Purpurroten
Gefahr, daß der Bügel durchbrach.
»Ich hatte gerade einen überaus gräßlichen Schock.«
»Erzähl!«
»Den Babys geht’s gut.« Ben fand die Kraft, die rechte Hand
zu heben und an seine Stirn zu drücken. »Ich ging nach oben,
um die Reisedecke aus dem Blauen Zimmer zu holen, damit
wir nicht im feuchten Gras sitzen müssen, und was, meinst du,
habe ich dort gefunden? Ellie, da liegt eine Fremde im Bett und
schnarcht sich um Kopf und Kragen!«
»Ach, die!«
»Was soll denn das heißen?«
»Liebling, tut mir leid! Ich habe vergessen, dir zu erzählen, daß
ich Mrs. Malloy vorgeschlagen habe, hier zu übernachten.«
»Ich habe sie nicht erkannt.«
»Du bist eben nicht daran gewöhnt, sie mit Lockenwicklern
und Kinnbinde zu sehen. Außerdem ist sie in letzter Zeit auch
nicht ganz auf der Höhe. Sie ist heute am späten Nachmittag
aufgetaucht und deutete an, daß ihr nicht wohl sei bei dem
Gedanken, nach Hause zu gehen. Sie hat sich mit einem Mann
eingelassen – mit Walter Fisher, deinem
Leichenbestatterfreund –, und ich glaube, sie hat Angst vor
ihm.«
»Vor diesem Duckmäuser?«
»Ben, sie hat mir erzählt, daß er eine Leidenschaft in ihr
geweckt hat, die sie nie gekannt hat… und offen gesagt, ich
erinnere mich noch und kann mich in sie hineinversetzen.
Diese köstliche Angst bei jenem ersten Mal, von den
Stromschnellen in den Strudel zu geraten, hat nicht
ihresgleichen.«
»Ist das so?« Ben öffnete die Tür und streckte die Hand aus.
»Ja, aber…«
»Liebes, ich schmeichle mir mit dem Gedanken, daß es viele
erste Male im Leben einer Liebesaffäre gibt.«
»Du hast mir das Wort aus dem Mund genommen.« Ich warf
den Bügel hin und schloß die Tür vor der Purpurroten Gefahr.
»Ben, mein Schatz, nach dem Schreck, den du gerade
ausgestanden hast, habe ich volles Verständnis, wenn du das
Picknick abblasen willst.«
»Kommt nicht in Frage.«
»Ich mag Männer nicht, die sich zieren.«
»Ich denke dabei an dich!« Er nahm meinen Arm, als
schlenderten wir durch das Seufzergäßchen und ging mit mir
zum Kinderzimmer. »Das war ein toller Lachs, den ich da im
Kühlschrank gefunden habe, und er verdient das richtige
Ambiente, um seinen vollen Geschmack zu entfalten.« Er
öffnete die Tür, und wir schlichen hinein, um einen Blick auf
unsere Sprößlinge zu werfen. Die lieben Schätzchen, sie
schliefen beide wie verzaubert, bewacht von Mutter Gans, der
Calico-Katze und Tommy und Topsy, den Zwillingsbären.
Albern von mir, aber ich glaubte fast, daß diese Spielzeuge,
sobald wir das Zimmer verlassen hatten und die Tür sich
schloß, lebendig werden und die Geheimlosung flüstern
würden: Norman the Doorman.
Auf dem Weg nach unten sagte ich: »Apropos Lachs… ich
habe ihn nicht gekocht. Die Pfarrerin hat ihn vorbeigebracht.
Ihr Mann hatte ihn als Abendmahlzeit zubereitet, aber er mußte
unerwartet weg, und sie wollte gutnachbarliche Beziehungen
knüpfen.«
»Sehr liebenswürdig.«
»Du klingst eingeschnappt.«
»Ach wo.« Ben prustete. »Ich bin entzückt über die
Gelegenheit, noch eines der preiswürdigen Rezepte des
Burschen kosten zu können.«
Ich befürchtete diese Reaktion, hatte es ihm aber sagen
müssen. Ich war nicht bereit, mein Leben lang das Wort Lachs
zu meiden, wenn wir in der Gesellschaft des einen oder der
anderen Spike waren. Mein Leben war ja so schon gerammelt
voll mit Dingen, die ich Ben nicht erzählt hatte. Und als ich die
letzte Stufe hinunterstolperte, holte mich eines davon ein.
»Ellie, ich habe ein Paket Kräuter-Kraftkur in der
Vorratskammer gefunden.«
»Ach ja?«
»Eine hübsche Mischung.«
»Was du nicht sagst.«
Sein dunkler, rätselhafter Blick bestätigte meine schlimmsten
Befürchtungen. Er hatte das Etikett von vorn bis hinten gelesen
und war im Begriff, mir vorzuwerfen, insgeheim Mitglied von
Fully Female zu sein. Ich stand so reglos da wie die
Zwillingsritterrüstungen an der Treppenwand und harrte der
Dinge, die da kommen sollten. »Ellie, ich weiß nicht recht, wie
ich es ausdrücken soll…«
»Nur zu, raus mit der Sprache.«
»Na gut, aber vergiß nicht, daß ich keine böse Absicht hatte. Es
liegt mir völlig fern, die kulinarische Integrität von Mr.
Gladstone Spike anzuzweifeln.«
»Wovon redest du eigentlich?« Meine Stimmung hob sich,
noch während ich auf die unterste Stufe sank.
»Ich habe das Paket Kräuter-Kraftkur dazu benutzt, eine Glasur
für den Lachs zu machen, wobei ich natürlich annahm, daß du
ihn zubereitet hättest.« Er sah mich mißtrauisch an. »Warum
lächelst du?«
»Ich hab’ keine Ahnung.«
»Ellie, ich will keinesfalls andeuten, daß Mr. Spike den Fisch
fad und langweilig zubereitet hat.«
»Gottbewahre.«
»Innerhalb seiner Grenzen…«
Oh, Mist! Der Rest von Bens schmeichelhafter Bemerkung
ging unter, weil Freddy die Tür zur Halle öffnete und jubilierte:
»Mary Poppins meldet sich zur Stelle. Übrigens, wer von euch
Schlaumeiern hat eigentlich den Lachs allein und unbewacht
auf dem Küchentisch stehenlassen?«
»Sag bloß, du hast dich bedient.« Ich versuchte, einen strengen
Ton anzuschlagen.
»Nicht ich, Euer Ehren, aber vielleicht solltest du dir mal Kater
Tobias vorknöpfen. Er hat sich gerade mit einem halben Pfund
Fisch an den Schnurrbarthaaren davongestohlen.«
»Ich werde den Halunken umbringen!« Bens Schrei ließ die
Dachbalken erbeben.
Das Mondlicht malte Bilder auf den Hof, die eines talentierten
Pflastermalers würdig gewesen wären. Und kurz nachdem wir
das Haus verlassen hatten, merkte ich an der Art, wie Ben
lässig den Picknickkorb schwang und seine Schritte
beschleunigte, daß sich seine Stimmung allmählich besserte. Er
hatte einen halbherzigen Versuch unternommen, mich davon
zu überzeugen, daß nicht das geringste dagegen sprach, das,
was von dem Lachs übrig war, aufzuessen, aber meine Miene
mußte klargemacht haben, daß ich, selbst um der Ehre willen,
von der Kräuter-Kraftkur-Glasur zu kosten, nicht die
Essensreste mit meiner Katze teilen würde. Auf halber Höhe
der Kieseinfahrt erhaschte ich einen Blick auf Tobias, der sich
zwischen den Bäumen herumdrückte. Ha, gut! Die Art, wie er
seinen pelzigen Kopf hängen ließ, erweckte den Eindruck, daß
der unselige Kater sich seiner Tat bereits schämte.
»Mögest du eine Magenverstimmung kriegen«, brüllte ich
durch die vorgehaltenen Hände, bevor ich mich beeilte, um mit
Ben Schritt zu halten. Anstatt wieder nach oben zu gehen, um
meinen Dufflecoat zu holen, den ich vergessen hatte, als Ben
ins Zimmer platzte und mir von Mrs. Malloy berichtete, hatte
ich mir lieber eine alte Strickjacke geschnappt, die in der
Nische an der Gartentür hing. Der Wind fuhr hindurch, aber es
war eine neckende, fast sinnliche Berührung, und plötzlich
konnte ich es nicht erwarten, auf der Reisedecke zu kampieren
und zuzusehen, wie Ben mit diesen eleganten, geschickten
Fingern den Wein entkorkte, während ich darauf brannte, daß
er mich berührte, wenn auch nur, um eine Weinbrandkirsche
zwischen meine geöffneten Lippen zu stecken.
Wir kamen an Freddys Cottage vorbei und gingen durch das
Eisentor, das bei Tageslicht so massiv und vertraut war, jetzt
hingegen etwas Magisches, Phantastisches hatte, als sei es wie
die Schatten im Hof von einem Phantomkünstler der Nacht
gemalt worden. Erst als wir auf der Cliff Road waren und in
die Richtung der St.-Anselm’s-Kirche gingen, sagte ich: »Ben,
ich dachte, wir wollten unter der Birke im Garten picknicken.«
»Hab’s mir anders überlegt.« Er legte den Arm um mich. »Seit
Jonas die Schaukel an dem alten Baum aufgehängt hat,
betrachte ich ihn als einen Platz der Zwillinge.«
»Auch wenn sie noch zu klein zum Schaukeln sind?«
»Ellie, die Schaukel wartet da draußen auf sie. Ein
wesentlicher Bestandteil ihrer Kindheit. Du und ich müssen ein
neues Plätzchen für uns finden. Mir ist jeder Vorschlag
willkommen, ich hatte allerdings an diesen kleinen Hügel am
Kirchhof gedacht.«
»Den mit der Grotte aus Weißbirken, der aussieht, als warte er
nur darauf, daß ein Wunder geschieht?«
»Genau.« Bens Lächeln, vom Strahl der Taschenlampe
eingefangen, war golden. Ohne ein weiteres W7ort folgten wir
unserem Lichtpfeil den steinigen Hang hinauf, der im Sommer
eine wahre Pracht aus Wildblumen sein würde. Auf halbem
Weg spürte ich, eher als es zu hören war, das Tap-tap von
Pfoten hinter uns, aber falls es Tobias war, der uns
hinterherzockelte, wollte ich ihn mit Nichtachtung strafen. Ich
mußte ihm erst noch seine rüden Tischmanieren verzeihen.
Außerdem hätte jeder Dritte, selbst ein Kater, unsere traute
Zweisamkeit gestört.
»Da sind wir.« Ben stellte den Picknickkorb auf einen
moosbewachsenen Stein. Die Weißbirken bildeten einen Kreis
um uns, als seine Arme sich um mich schlössen. Wir mochten
zwar nur wenige Meter oberhalb der Straße sein, und doch
waren wir Schloßherr und Schloßherrin. Uns gehörte eine
wahre Festung, ein Ort, an dem uns kein Hauch des Bösen
etwas anhaben konnte, weil Liebe unser Schild war. Da! Ich
hatte mich endlich getraut, das Wort zu denken, das schon den
ganzen Abend im Schatten meiner Gedanken gelauert hatte.
Und ich hatte immer noch Angst. Das Gefühl war so
zerbrechlich, wie ein Ballkleid, das man trägt und liebt und
dann in einen dunklen Schrankkoffer legt, bis eines Tages der
Deckel gehoben wird, und da liegt es – schöner, schimmernder,
strahlender als in der Erinnerung. Aber sind die Motten darüber
hergefallen? Wird es bei der Berührung zu Staub zerfallen?
»Sieh dir den Mond an«, sagte mein Liebster.
»Ja!« flüsterte ich.
Rein wie Kindheitsträume, vollkommen in seiner Symmetrie
schien er direkt über der Kirche zu hängen – Gottes ureigene
Abendmahlshostie. Und als mein Blick zu Ben zurückkehrte,
wußte ich mit stiller, leuchtender Klarheit, daß Liebe mehr ist
als Satinlaken und ein Paar Wikingerhörner. Sie ist ein
Geschenk, das an uns zu reißen uns nicht zusteht. Versuch es,
und sie rinnt dir durch die Finger wie eine Handvoll Wasser.
»Hungrig, Liebes?«
»Heißhungrig.« Ich löste mich aus seinen Armen und sah mit
träumerischem Blick zu, wie er die Reisedecke auf dem Boden
ausbreitete und anfing, den Picknickkorb auszupacken. Die
Luft roch nach Schlüsselblumenwein. Allein schon das
Einatmen konnte mich trunken machen.
»Was hältst du von Fleischtaschen, Spinatsalat,
Grapefruitcreme und einem reifen Camembert?«
»Köstlich.« Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie in einem
der Buntglasfenster von St. Anselm diamantenes Feuer
aufblitzte. Smaragde, Rubine, Saphire. Strich die Pfarrerin
durch ihren Herrschaftsbereich? Oder ging ein Geist um?
Bens Hand langte hoch, um mich auf die Decke
hinunterzuziehen, aber ich sträubte mich. Zu unserer Rechten,
unten auf der Straße, durchdrangen zwei bernsteingelbe Kreise
die Dämmerung, ein rauhes Knurren zerriß den Abend, und ein
Auto kam mit, wie mir in meiner Schäferstimmung schien,
furchterregender Geschwindigkeit um die Kurve. Ein Trippeln
aus den Sträuchern direkt unter unserer Birkengrotte, und ich
sah den dunklen Umriß eines Tieres zur Straße schnellen.
Meine Taschenlampe war in meiner Tasche, und ein Schauder
kroch unter meinen Ärmeln hoch und legte mir seine eiskalten
Finger um den Hals.
»Was ist los, Ellie?« Ben war aufgesprungen.
»Tobias!« Ich stolperte bereits über Steine und durch
Geißblattgestrüpp, rannte verzweifelt, um mein Haustier an
mich zu raffen, bevor es unter den Rädern dieses
Todesvehikels zerquetscht wurde. Zu spät! Ich landete mit den
Fersen auf der Straße, rechtzeitig, um zu sehen, wie mein
liebstes Fellknäuel wie hypnotisiert auf diese rasenden Lichter
zutaumelte. Bevor ich auf die Straße stürzen konnte, packte
Ben mich von hinten, und eine Sekunde – ein Jahrhundert –
darauf war ein scheußliches Kreischen von Bremsen zu hören,
als der Wagen abrupt zum Stehen kam.
Ich sah, daß Tobias nur wenige Zentimeter vor den
Vorderrädern lag, ich sah, wie sein Schwanz zuckte und dann
still dalag. Noch zu hoffen war eine Märchentorheit… Die Tür
ging auf, und eine dunkle männliche Gestalt mit einem Dick-
Tracy-Hut stieg aus.
»Mörder!« flüsterte ich.
»Ellie, du wartest hier.«
»Bitte, halt mich fest.«
Der Mann mit dem Hut öffnete seinen Kofferraum. Holte er
einen Spaten heraus? Nein! Er… du lieber Himmel! Das war ja
noch schlimmer als das mit Tobias. Ja, der arme Tobias, er
ruhe in Frieden, entschwand meinem Gedächtnis, als ich Mr.
Straßenschreck eine Leiche herausholen sah… die Leiche eines
Menschen. Dann, mit eingeknickten Knien, lud er sich den
schlaffen Körper über die Schulter.
»Beim Jupiter!« murmelte Ben. »Hier ist irgendwas faul.«
»Was du nicht sagst!«
Der Mann war auf der anderen Straßenseite, am Rand unseres
Gesichtsfeldes, ein Wesen, das sich durch Grauen und Distanz
in den Glöckner von Notre Dame verwandelte. Die Erkenntnis
kam mir und meinem Gatten gleichzeitig: Wir standen im
Begriff, das Entsetzliche mitzuerleben – wie ein Leichnam
über den Rand der Klippe geschleudert wurde – hinunter,
hinunter, um an den scharfen Zähnen der Felsen in der Tiefe
abzuprallen und in das schäumende Maul der See zu stürzen.
»Halt!« Ben hechelte los und berührte dabei kaum den Boden.
»Im Namen des Gesetzes! Dies ist eine Festnahme durch eine
Zivilperson!«
Nur die See gab Antwort, ein Schwall irren, tobenden
Gelächters, und dann… der Schurke drehte sich um, und selbst
in der teilweisen Dunkelheit erkannte ich sein Gesicht.
»O nein!« rief ich. »Nicht Sie!«
»Dr. Melrose!« Meine Taschenlampe zielte nacheinander auf
seine Knöpfe, von unten nach oben, bis zu seinem von der
Hutkrempe beschatteten Gesicht. »Was führt Sie denn
hierher?«
Seine Lippen verzogen sich zu einem blutleeren Lächeln, und
während die Nacht sich niederkauerte wie ein geduldiger
Polizist, der wartet und horcht, schrumpfte er vor unseren
Augen zusammen, bis er nur mehr ein Überzieher war, der im
Wind wehte. »Nanu, Mrs. Haskell… und Mr. Haskell… was
für eine angenehme Überraschung. Ich habe eine Spazierfahrt
im Mondschein gemacht und beschlossen, anzuhalten und den
Duft der Rosen zu schnuppern… Ich meine, des Seetangs«,
sagte er mit einem unechten Lachen.
»Und wer ist Ihre bezaubernde Begleiterin?« Ben stellte sich
entschlossen vor mich, obwohl uns beiden kaum die verrückte
Idee kam, einen Mörder aufhalten zu wollen. »Könnte das Ihre
Frau Flo sein?«
Der Wind stimmte einen klagenden Seufzer an, in den unser
Opfer einfiel. »Messerscharf geschlossen.« Der Arzt verlagerte
seine Last, so daß der baumelnde Fuß ihn dort traf, wo es, so
hoffte ich, am meisten weh tat. »Sie hatte einen Anfall von
Reiseübelkeit, um es laienhaft auszudrücken, und…«
Ich streckte den Kopf um Ben herum und sprach mit sonorer,
scharfer Stimme. »Flo hat mein volles Mitgefühl. Wenn ich im
Kofferraum fahre, geht es mir auch immer so.«
»O Allmächtiger!« Dr. Melrose trat zurück und hätte dem
Gespräch auf der Stelle ein Ende bereitet, indem er über den
Klippenrand stürzte, wäre Ben ihm nicht mit einem Satz zur
Hilfe geeilt.
»Nicht so schnell!« Er packte den Doktor hinten am
Mantelkragen. »Meine Frau und ich möchten Mrs. Melrose
gern unsere Aufwartung machen.«
Jeder Kampfgeist, jede Hoffnung hatte den umzingelten Mann
verlassen. Er legte seine Last in das kalte, dunkle Gras und
stand mit gebeugtem Kopf da, während sich die Bäume
zusammenzogen wie ein Trupp professioneller Trauergäste. In
Schwarz gehüllt, krümmten sie sich und stöhnten und hoben
ihre zerrauften Flechten in die gefühllose Nacht.
»Einzig um meinetwillen wird man das Erhängen wieder
einführen.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, sagte ich gehässig
und hatte Angst hinzusehen, fühlte mich jedoch gleichzeitig
unwiderstehlich von Flos verschlossenem Gesicht angezogen.
Den Prinz-Eisenherz-Pony glatt in der Stirn, die Füße dicht
nebeneinander, die Arme an den Seiten, lag sie da, als sollte sie
von Walter Fisher, Leichenbestatter, eingesargt werden. Und
doch hatte ich nicht das Gefühl, daß der Tod persönlich
zugegen war, so wie neulich, als ich auf Norman the Doorman
hinunterschaute. Vielleicht war es nur der Wind, der ihre
Nasenlöcher zusammendrückte, aber ich hätte schwören
können, daß sie atmete.
»Glauben Sie mir, ich wollte sie auf keinen Fall töten, aber seit
sie in diese verrückte Organisation eingetreten ist, Fully
Female…«
»Diese was?« fragte Ben.
»Ein Fitneßclub«, informierte ich seine Füße.
»Ach ja, ich habe den Namen auf dem Paket Kräuter-Kraftkur
gelesen.« Das Heben seiner linken Augenbraue ging mir eiskalt
durch und durch.
»Mrs. Malloy ist Mitglied.« Die Hälfte der Wahrheit, im
Schatten der Kirche ausgesprochen. Ich konnte nur beten, daß
Gott mit schlimmeren Sünden beschäftigt war.
Dr. Melrose holte zitternd Luft. »Mrs. Haskell, als Sie Tabby
und Tom zum Check-up zu mir brachten, habe ich Ihnen doch
erzählt, daß mich die neuerwachte Sexualität meiner Frau zur
Raserei treibt. Keinen einzigen Moment der Ruhe. Nie zu
wissen, wann sie sich das nächste Mal auf mich stürzt. Neulich
war es in der Herrentoilette. Gestern abend, als ich in meinen
Wagen stieg, um nach Hause zu fahren, saß sie auf dem
Rücksitz und hatte nur ihren Sicherheitsgurt an. Und dann
heute morgen! Ich wurde ins Leichenschauhaus gerufen, um
einen Patienten zu identifizieren, und als ich das Kühlfach
aufzog, traute ich meinen Augen nicht – da lag Flo, zwinkerte
mir zu und rückte zur Seite, um Platz für zwei zu machen.«
»Unheimlich.« Ben sah mich an. Rief er die Erinnerung an
seine Frau mit einem Paar Wikingerhörnern wach, wie sie ihn
partout verführen wollte?
»Sie haben ja keine Ahnung, wie es war.« Dr. Melrose rang die
behaarten Hände.
»Stimmt allerdings. Meine Frau und ich sind zu jung
verheiratet und bei weitem zu verliebt, um Verwendung für die
Art von künstlichem Stimulus zu haben, die dieses Fully-
Female-Institut anbietet.« Ben hielt inne. »Ich erinnere mich
schwach, etwas darüber im Daily Chronicle gesehen zu haben,
aber ich habe es nicht behalten, weil es mich nicht ansprach.«
Ein halbes Lächeln umspielte seine Lippen, wie der Abdruck
eines erinnerten Kusses, und mich überkam die entsetzliche
Gewißheit, daß mein Gatte keinerlei Verdacht bezüglich
meiner persönlichen Verwicklung in Fully Female hegte. Doch
wenn er es herausfinden sollte, wäre es dann jemals noch
dasselbe zwischen uns?
»Wollen Sie uns damit sagen, Doktor« – Ben sprach mit
höchster Verachtung – , »daß Sie Ihre Frau umgebracht haben,
weil Sie ihren sexuellen Wünschen nicht nachkommen
konnten?«
»Ich bitte um Ihr Verständnis!« Dr. Melroses Augen waren von
Kummer umflort. »Ich war so verzweifelt, daß ich sogar zur
Einschüchterungstaktik griff. Ich ließ ein Pfauenpärchen vom
Fully-Female-Gelände kidnappen und schickte einen Brief, in
dem ich andeutete, sie würden im Suppen topf enden, wenn das
Institut nicht dichtmachte.«
»Das war nicht nett«, sagte ich.
»Glauben Sie mir« – die Stimme des Doktors versagte –, »ich
bin gestraft worden. Der Bursche, der den Auftrag ausführte,
verlangte ein zusätzliches Entgelt, um sie in den Zoo zu
schmuggeln. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Versuchen Sie
bitte, sich die Szene des heutigen Abends vorzustellen. Als ich
zu Hause eintraf, stellte ich fest, daß Flo nicht dawar. Ich
empfand ein Gefühl des Friedens, das sich nicht beschreiben
läßt. Dann läutete es an der Tür, und als ich aufmachte, sah ich
mich einer Frau mit einer Halloweenmaske gegenüber.
Erschrocken fragte ich, was ich für sie tun könne, und zu
meinem Entsetzen schrie sie: ›Gib mir was oder du kriegst
was! ‹, und dann riß sie ihren Regenmantel auf. Nackt! Völlig
nackt! Und irgend etwas in mir hakte aus. Ich nahm den
Türkeil und schlug ihr damit auf den Kopf.
Ich brauchte die Maske nicht abzunehmen, um zu wissen, daß
es Flo war. Diese Blinddarmnarbe hätte ich überall
wiedererkannt. Ich brauchte sie nicht anzusehen oder zu
berühren, um zu wissen, daß sie tot war.« Ob Dr. Melrose seine
Professionalität demonstrieren wollte oder nur über seinen
Schmerz hinwegredete, war nicht klar. Seine monotone
Stimme überspülte uns, wie die dunklen Wellen in der Tiefe
die arme Flo überspült hätten, wenn der trauernde Witwer
seinen Plan, sich ihrer Leiche zu entledigen, erfolgreich in die
Tat umgesetzt hätte.
»Doktor«, sagte ich mit so eisiger Stimme, als wäre ich gerade
einem nächtlichen Bad im Meer entstiegen, »der Himmel
verhüte, daß ich Ihr ärztliches Urteil anzweifle, aber ich glaube,
Sie wären gut beraten, einen zweiten Befund einzuholen.«
»Was wollen Sie damit sagen, Mrs. Haskell?«
»Daß Ihre Frau nicht so tot ist, wie Sie glauben.«
»Ellie!« Ben packte meinen Arm und starrte auf die Leiche.
»Beim Jupiter, ich glaube, du hast recht!«
»Unmöglich!« Dr. Melrose schien selbst wieder lebendig zu
werden. Ja, er schien sogar leicht verärgert zu sein, weil seine
Diagnose angefochten wurde.
»Sie hat sich bewegt!« Mein Schrei ließ Erde und Himmel
erbeben. »Sehen Sie!« Ich ließ mich neben Flo fallen und
spürte kaum, wie sich die Kieselsteine schmerzhaft durch
meine Hose in meine Knie bohrten. »Sie öffnet die Augen. Oh,
Gott sei Dank! Sie drückt meine Hand.«
»John…?«
»Ich bin hier, mein Schatz!« Dr. Melrose drückte die Faust an
den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken.
»Wo bist du?« Flos Finger lösten sich aus meinen und tasteten
in der Luft nach einer vertrauteren Berührung.
Trotzdem rührte Dr. Melrose sich nicht. »Ich muß einen
Schock gehabt haben«, murmelte er immer wieder. Ich stand
auf und half Ben, den Mann in die Büßerstellung
hinunterzudrücken. Endlich kam er wieder zu sich. Er nahm
den Hut ab, formte ein behelfsmäßiges Kissen daraus und legte
es unter den Kopfseiner Frau, bevor er dann seinen Mantel
aufknöpfte, um ihn als Decke zu benutzen.
»John…?«
»Still jetzt, solange ich dich untersuche.« Während ich
beobachtete, wie seine Hände sanft ihren Kopf abtasteten und
sich dann weiter an ihrem Hals hinunterarbeiteten, überlegte
ich, ob er wohl auf den Moment vorbereitet war, wenn sie ihm
in die Augen sehen und fragen würde: »Warum hast du
versucht, mich zu töten?«
»Drück meine Hand mit deiner rechten Hand.«
»John…?«
»Jetzt mit der linken.«
»Bitte…!« Flo warf den Kopf hin und her, aber falls die
Ärmste Ben und mich sah, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Warum tut mein Kopf so weh? Warum liege ich hier mitten in
der Nacht am Straßenrand?«
»Ich erwarte nicht, daß du mir verzeihst.«
»Als letztes erinnere ich mich daran, daß ich auf dem Sofa saß.
Das Wohnzimmerfenster war offen, und eine Brise kräuselte
die Tüllgardinen. Ich las in dem Fully-Female-Handbuch und
kam zu dem Kapitel über Feiertagsfreuden. Meine Güte, das
mit Halloween klang wirklich lustig! Wie schade, daß erst
April ist, dachte ich, und dann… peng.«
Mein Blick begegnete dem von Ben. Demnach war ihr
Zeitgefühl leicht daneben. Wer konnte unter diesen Umständen
schon eine perfekte Chronologie erwarten?
Dr. Melrose barg seinen Kopf in den Händen. »Es tut mir so
leid, mein Schatz.«
»Und dann«, fuhr Flo über ihn hinweg fort, »fiel mir ein, daß
es, wenn ich meine Halloween-Nummer jetzt schon abzog,
einen ganz besonderen Kitzel hätte, so wie Weihnachten im
Juli. Ich kann mich schwach erinnern, daß ich das Handbuch
weglegte und danach… nichts mehr.«
Dr. Melrose hob den Kopf und preßte die gefalteten Hände
aneinander. »Was hast du gesagt?«
»Alles ist wie ein dichter Nebel.«
»Gott sei Dank!« Die Worte kamen in solch einer Lautstärke
heraus, daß es ausgereicht hätte, um ein Publikum
wachzurütteln, das die Oper verschlief.
»Amnesie«, erklärte Dr. Melrose schnell seiner nichtsahnenden
Frau, während Ben und ich angewurzelt dastanden wie zwei
Bäume, »ist das Mittel von Mutter Natur, einen Menschen vor
der Erinnerung eines Traumas abzuschirmen.«
»Welches Trauma?« Flo preßte eine Hand an ihren vermutlich
dröhnenden Kopf.
»Lieg still, mein Schatz, dann werde ich’s dir erklären.« Dr.
Melrose schaute zu Ben und mir hoch. »Siehst du Mr. und Mrs.
Haskell da drüben stehen?«
»Wo?« Flo reckte den Hals, schien jedoch immer noch
Schwierigkeiten zu haben, uns klar zu erkennen. »Oh, ja, John,
aber was haben sie mit… all dem zu tun?«
»Lass’ mich von Anfang an erzählen. Nachdem du deine
Halloween-Nummer abgezogen hattest« – der Doktor konnte
sich eines Schauders nicht erwehren –, »schlug ich vor, wir
sollten… das Vorspiel mit einer Fahrt über die Cliff Road
fortsetzen. Alles war perfekt, von der Musik im Radio bis zu
den Liebesworten, die du mir ins Ohr flüstertest, als die Idylle
ein jähes Ende fand. Wir kamen an eine Biegung in der Straße,
kurz hinter der Kirche, und eine Katze flitzte vor den Wagen.«
»Arme Muschi!«
»Genau deine Worte in diesem Moment, mein Schatz.« Dr.
Melrose, der immer noch kniete, wand sich. »Als ich dich so
erschüttert sah, konnte ich das Tier nicht zu einem
Kaminvorleger plattwalzen, und so tat ich, was kein Autofahrer
tun sollte, vor allem nicht auf einer Straße wie dieser. Ich riß
den Wagen herum, trat auf die Bremse… und als ich den Kopf
vom Lenkrad hob, stellte ich fest, daß du aus dem Auto
geschleudert worden warst und dich fragte, wie du an diese
Beule an deinem Hinterkopf gekommen warst.«
»Hatte ich denn meinen Sicherheitsgurt nicht angelegt?« Flo
kämpfte sichtlich, um die Augen offenzuhalten.
»Du sagtest, du fändest ihn zu einengend.«
»Was war ich doch für ein Dummkopf!« Sie streckte ihrem
Mann die Hand hin, sah jedoch mich und Ben an. »War es Ihre
Katze?«
Ich nickte, unfähig zu sprechen, und wandte mich mit Ben auf
den Fersen ab. Einen makabren Segen hatte der »Tod« von Flo
Melrose gehabt, er hatte mich unempfindlich gegen den
Verlust meines geliebten Tobias gemacht. Doch jetzt kehrte
das Gefühl zurück mit dem schmerzhaften Stechen eines
eingeschlafenen Glieds. Nie wieder würde ich meinen
kuscheligen Freund auf Zehenspitzen durch das Sommergras
schleichen sehen, mit einer Kette aus Schmetterlingen um den
Hals. Die Zwillinge würden weder seinen Namen brabbeln
noch seinem Schwanz nachjagen. Und nie wieder würde ich an
Winterabenden mit meinem kuscheligen Heizkissen auf dem
Schoß dasitzen.
Meine Eloge wurde von Ben unterbrochen, der den Wagen
einen Schritt vor mir erreicht hatte. »Er ist fort.«
»Ja«, murmelte ich und wünschte, er würde nicht aussprechen,
was wir bereits wußten.
»Ellie, hast du vergessen, daß ich die Euphemismen nach der
Geburt der Zwillinge aufgegeben habe? Wenn ich sage, daß
Tobias fort ist, dann meine ich, daß er nicht da ist, wo wir ihn
zurückgelassen haben.«
»Ach, du meine Güte!« Ich ließ mich auf alle viere fallen,
streckte mich bäuchlings auf der Straße aus, um unter den
Wagen zu spähen, und tatsächlich sah ich kein einziges
Schnurrbarthaar. »Weißt du, was das bedeutet?« Ich fing an zu
heulen, als Ben mir hochhalf. »Ein wildes Tier hat sich mit ihm
aus dem Staub gemacht!«
»Schatz« – sein Ton war eine Mischung aus Verzweiflung und
Zärtlichkeit –, »das hier ist Chitterton Fells. Hier binden sich
die Hyänen nicht ihre Servietten um den Hals, um Tobias als
Nachtmahl zu verspeisen. Offensichtlich war sein Tod ebenso
zeitlich begrenzt wie der von Flo Melrose.«
»Er war so still!«
»Zugegeben. Aber hinterher hat er sich wieder erholt und…
Ellie!« rief er, sprang einen halben Meter hoch und reckte den
Arm in die Luft. »Ich glaube, ich sehe ihn da drüben bei
diesem Stein, wo sich das Gras bewegt!« Noch immer rufend,
lief Ben einige Meter nach rechts, verwandelte sich in eine
dunkle Silhouette und kam wenig später mit Armen zurück, auf
denen plötzlich Fell gewachsen war. »Verdammt!« Er trat
seinen Schuh ab. »Armer Kerl, er hat sich übergeben, und ich
bin reingetreten.«
»Was für ein Abend!« Ich schloß Tobias in die Arme, immer
noch außerstande zu glauben, daß er kein Geist war. Jedenfalls
war er kalt genug, um seit Jahrhunderten an diesem Ort zu
spuken, aber dem konnte abgeholfen werden, indem ich ihn
unter meine Strickjacke steckte, so daß von ihm nur noch ein
Ohr und ein wie high wirkendes Auge sichtbar waren.
»Ben…«
»Ja?« Er blickte über die Straße zu der Stelle, wo Dr. Melrose
nach wie vor neben seiner Frau kauerte.
»Ich habe nachgedacht.«
»Ich auch.«
»Naja«, sagte ich und schob Tobias höher, »mir ist diese alte
Anekdote über die Katze und den Lachs eingefallen. Du kennst
ihn doch – eine Frau bereitet Lachs für eine Dinnerparty zu und
läßt ihn auf dem Tisch stehen, als sie nach oben geht, um sich
anzuziehen. Als sie wieder in die Küche kommt, entdeckt sie,
daß ihre Katze von dem Lachs gefressen hat. Da sie nichts
anderes anzubieten hat, bessert sie es notdürftig mit
Radieschen und gehackten Eiern aus, und die Dinnerparty
verläuft wie geplant, alle lassen sich den Lachs schmecken und
erklären ihn als eines Königs würdig. Als es Zeit für den
Nachtisch ist, geht die Frau wieder in die Küche und merkt
plötzlich, daß sie die Katze eine ganze Weile nicht gesehen hat.
Sie öffnet die Hintertür, und da liegt sie, mausetot. Überzeugt,
daß der Lachs der Übeltäter ist, geht sie hinein und beichtet die
ganze Geschichte ihren Gästen, so daß alle in die Notaufnahme
abziehen und sich den Magen auspumpen lassen. Aber später,
als die Frau wieder zu Hause ist, kommt ein Nachbar vorbei
und gesteht ihr verlegen, daß er die Katze überfahren hat, als er
an diesem Abend aus seiner Garage setzte.«
»Was willst du damit sagen, Ellie?«
»Sagen ist ein zu starkes Wort. Ich frage mich bloß, ob das,
was mit Tobias passiert ist, nicht eine Umkehrung der
Geschichte sein könnte, mehr nicht. Wir haben angenommen,
daß er von dem Wagen der Melrose erfaßt wurde, aber auf
einmal frage ich mich, ob es nicht der Lachs war, der ihn fast
zur Strecke gebracht hätte. Ich sage nicht, daß er schlecht war –
nur zu schwer für seinen Blutkreislauf. Ben, ich habe ihn
gesehen, als er auf die Straße lief, und ich schwöre, schon da
stimmte etwas nicht mit ihm. Er taumelte, und als der Wagen
auf ihn zukam, stand er da und glotzte nur.«
»Vermutlich von den Scheinwerfern hypnotisiert.«
»Das dachte ich auch, aber…« Ich lachte nervös. »Ach,
vergessen wir’s. Wahrscheinlich macht mir die späte Stunde zu
schaffen. Warum holst du nicht die Picknicksachen, und wir
gehen nach Hause?«
Während ich zusah, wie Ben den Hügel zu der Birkengrotte
hochlief, umarmte ich Tobias fester, um ihn und mich zu
wärmen. Mir war so kalt, als läge ich im Grab! Ich
unterdrückte ein Frösteln, blickte zum Friedhof hinüber und
sah entweder einen kleinen Baum oder eine große Gestalt in
der Nähe des Tores. Schöpfte Mr. Gladstone Spike Nachtluft,
weil er nicht schlafen konnte, oder ließ ich nur wieder einmal
meine Phantasie mit mir durchgehen?
»Ellie?«
Anders als Ben und die meisten normalen Menschen, bin ich
noch nie in der Lage gewesen, einen guten Meter in die Luft zu
springen, auch nicht, wenn ich erschrocken bin. Im Höchstfall
bringe ich eine Art Hasenhoppeln zustande. Dr. Melrose half
seiner Frau gerade auf den Beifahrersitz des Wagens, und sie
war es, die mir zugerufen hatte.
»Tut mir so leid wegen der Katze.« Sie hob die Hand zu einem
Winken, das so matt war wie ihr Lächeln, und bevor ich ihr
versichern konnte, daß selbst im Tod noch Leben ist, hatte ihr
Mann die Tür zugeschlagen und kam auf mich zu.
»Ein Wort zum Abschied, wenn’s erlaubt ist?« Er nahm den
Hut ab, drückte ihn an die Brust und senkte den Kopf. »Mrs.
Haskell, ich bin Ihnen und Ihrem Ehemann auf Gnade und
Ungnade ausgeliefert. Wenn die Vorfälle dieses Abends
bekanntwerden, bin ich ruiniert.«
»Das sollte man meinen«, sagte ich kalt. »Ein Arzt, der nicht
sagen kann, ob seine Frau tot ist oder lebendig, erweckt nicht
gerade Vertrauen.«
»Ich war außer mir.«
»Gut!«
»Habe ich Ihr Versprechen, daß Sie schweigen?«
»Das hat seinen Preis.« Ich schaute ihm in die Augen und sah
tief in seinen Kopf, bis dahin, wo die Rädchen sich drehten.
»Erpressung, Mrs. Haskell?«
»Ein großes Wort, Dr. Melrose.« Ich öffnete meine Strickjacke,
beförderte Tobias in seine Arme und zerquetschte dabei seinen
Hut. »Wie Sie sehen, lebt meine Katze. Und ich will wissen, ob
es auch so bleibt.«
»Das ist Ihr Preis?«
»Zusammen mit dem Versprechen, daß Sie niemals wieder
Hand an Ihre Frau legen.«
»Mrs. Haskell, ich bin seit über dreißig Jahren mit Flo
verheiratet…«
»Und das gibt Ihnen das Recht, sie auch nur einmal zu
schlagen?«
Er antwortete nicht, sondern machte sich daran, Tobias zu
untersuchen, hob erst das eine Augenlid, dann das andere,
bevor er sich die Bauchgegend vornahm. »Unter den
gegebenen Umständen mag das verdächtig klingen« – Dr.
Melroses verlegene Miene hatte sich in einen Ausdruck der
Überraschung verwandelt –, »aber ich würde sagen, daß dieses
Tier vergiftet wurde. Ansonsten wäre es nämlich gesund wie
ein Fisch im Wasser.«
»Fisch ist hier das Schlüsselwort!« Mein Blick schweifte zum
Friedhof hinüber, aber bevor ich noch etwas sagen konnte,
tauchte Ben aus dem Dunkel auf, komplett mit Picknickkorb
und Reisedecke. Dr. Melrose gab mir Tobias rasch zurück und
stülpte wieder seinen Hut auf – wohl um größer auszusehen,
als er sich wappnete, aufs neue zu Kreuze zu kriechen.
Das Telefon läutete irgendwo am Rande des Schlafs, und ich
schnellte am nächsten Morgen im Bett hoch, um festzustellen,
daß Ben fort war und der Zeiger der Uhr vorwurfsvoll auf acht
wies. Ich war so strubbelig wie ein Bernhardiner und nahm mir
nicht mal die Zeit, mir meinen Morgenmantel zu schnappen,
ehe ich auf den Treppenabsatz hinaushechelte, um den Hörer
abzunehmen.
»Hallo?« Ich zupfte am Kragen meines Flanellnachthemds
herum, weil mir der Gedanke nicht gefiel, daß mich jemand
hörte, wenn ich so aussah.
»Ellie, hier ist Bunty Wiseman.«
»Oh… wie geht es dir?«
»Himmlisch!«
»Wirklich?« Ich zog mir einen Hocker heran und ließ mich mit
einem Plumpser darauffallen.
»Was hast du denn erwartet, ein Trauerjahr?« Buntys Lachen
ließ mein Trommelfell vibrieren. »Verflixt noch mal,
Herzchen! Ich hatte eine ganze Nacht, um mich
zusammenzureißen. So wie ich es sehe, kriegt Gladys Thorn
Li, und ich kriege sein Haus.«
Solch nonchalante Haltung machte mich sprachlos. Mein Blick
fiel auf das Foto meiner Schwiegermutter Magdalene Haskell,
und ich las ihre Gedanken. Ehen werden nicht aufgelöst wie
Gelatine mit Geschmack in heißem Wasser, sie zerfasern Stück
für Stück wie das verbrannte Fleisch eines Schweinebratens.
»Wenn ich irgend etwas tun kann…« Meine Lippen formten
das abgenutzte Klischee.
»Aber sicher kannst du das«, sagte Bunty munter. »Du kannst
zu der Party kommen, die ich für Li und seine schnuckelige
Verlobte gebe.«
»Zu der was?« Der Hocker rutschte unter mir weg, ich landete
auf den Knien und klammerte mich an der Telefonschnur fest,
als ob sie eine Rettungsleine wäre.
»Du hast mich schon verstanden. Ich habe vor, der Welt zu
zeigen, wie die Fully-Female-Frau sich verhält, wenn das
Unmögliche passiert. Kriecht sie etwas ins Bett, um dort ihren
Winterschlaf zu machen, bis die Scheidung rechtskräftig ist?
Nie im Leben! Sie legt ihre Kriegsbemalung an und macht die
Stadt unsicher. Also, Ellie, kann ich heute abend um sieben mit
dir rechnen?«
»Ähhhmmm!« Ich rappelte mich auf und versuchte, mir eine
Ausrede einfallen zu lassen, um dem zu entgehen, was die
ungeselligste Fete der Saison werden mußte.
»Es wird keine echte Verlobungsparty ohne dich.«
»Na schön.«
»Und bring doch Ben mit.«
»Das kann ich nicht!« Schon der Gedanke daran ließ das
Geländer vor meinen Augen verschwimmen. »Wenn er nicht
im Abigail’s sein muß, brauche ich ihn als Babysitter. Ich kann
nicht immer wieder Freddy einspannen; er ist viel zu gutmütig.
Er hat gestern abend den Babysitter gespielt, und als wir
zurückkamen, war es so spät, daß er letztendlich hier
übernachten mußte.«
»Könntest du mal nachsehen, ob er schon nach Hause
gegangen ist?«
»Na klar.« Meine Neugier war geweckt. Was sie wohl von
Freddy wollte? Ich legte den Hörer hin und ging zur Treppe,
nur um zu entdecken, daß mein Cousin, dessen Haar zu einem
viel ordentlicheren Pferdeschwanz zusammengebunden war als
meins, mir mit Dreifachschritten entgegenkam.
»Schönen guten Morgen, Cousinchen! Ben hat mich geschickt,
um dir zu sagen, daß er die Babys geweckt und gefüttert hat
und daß das Frühstück in zwanzig Minuten fertig ist.«
»Danke, Hermes«, sagte ich. »Bunty Wiseman wünscht dich
am Telefon zu sprechen.«
»Moi?« Freddy erklomm die letzte Stufe, und anstatt so tief zu
sinken, die Lauscherin zu spielen, ging ich – mit winzigkleinen
Schritten – in mein Schlafzimmer zurück. Mist! Seine Stimme
trug nicht, und das einzige, was ich deutlich mitbekam, war das
Auflegen des Hörers. Ich zog meinen Morgenmantel über, ging
wieder in den Korridor und weiter ins Blaue Zimmer. Bens
Frühstücksmeldung hatte nichts von Mrs. Malloy gesagt,
deshalb klopfte ich an die Tür, ohne zu wissen, was mich
erwartete.
»Wer zum Teufel ist da?«
»Ich bin’s nur!« Von Grund auf zerknirscht öffnete ich die Tür
und näherte mich dem Heiligen Stuhl… ich meine Bett.
»Ach, Sie sind es, Mrs. H!« Mrs. Malloy lehnte an einer
Schneewehe aus Kissen, die Hände über dem Federbett
gefaltet. »Ich dachte gerade schon, ich wäre zu Hause und der
Zeitungsjunge hätte wegen dem Geld angeklopft.«
»Haben Sie gut geschlafen?« Ich spürte, wie ich einen halben
Knicks machte, was mich an Miss Thorn erinnerte.
»Nicht besonders. Diese Tapete allein reicht, um einem
Alpträume zu machen.«
Da hatte sie recht. Ben und ich waren noch nicht dazu
gekommen, das Blaue Zimmer neu zu tapezieren, und wo man
auch hinsah, waren Mädchen auf Schaukeln -Mädchen mit
Zöpfen und Strohhüten, die auf- und abschwangen, vor und
zurück, bis das Zimmer selbst einem Anfall von Höhenangst
erlag. Vermutlich hatte man ursprünglich das Mobiliar
auflockern wollen, das auf traurige Weise stolz auf seine
Häßlichkeit zu sein schien. Ich hätte schwören können, daß die
Frisierkommode an ihrer langen Spiegelnase entlang auf Mrs.
Malloy hinuntersah. In dem gestreiften Schlafanzug, den ich
ihr geliehen hatte, sah sie aus wie auf Hafturlaub, und das
Fehlen ihres Make-ups verstärkte noch den Eindruck, daß sie
seit zwanzig Jahren kein Tageslicht gesehen hatte. Erstaunlich,
was Augenbrauen an einer Frau ausmachen. Doch wie
gewöhnlich war Mrs. Malloys Haltung die eines Menschen, der
die Königin nur zu seinen eigenen Bedingungen zu treffen
bereit ist.
»Hoffentlich wollen Sie mir nicht das Frühstück ans Bett
bringen, Mrs. H. Ich esse meine Eier mit Schinken gern an
einem richtigen Tisch.«
»Ben hat alles fertig und wartet unten.«
»Sehr nett, ich werde Sie beide in meinem Testament
berücksichtigen. Aber erwarten Sie nicht von mir, daß ich den
ganzen Morgen mit Ihnen und Mr. H herumsitze und klöne. Ich
hab’ viel zu tun.«
»Bewundernswert«, sagte ich und meinte es auch so. Das hier
war die alte Mrs. Malloy, bevor sie mit Walter Fisher ins Bett
ging und sich darauf verlegte, wie das Opfer des Liebesbisses
eines Vampirs dahinzugleiten.
Sie schwang ein gestreiftes Bein aus dem Bett. »Ich habe vor,
das Leben bei den Klunkern zu packen.«
»Vortrefflich.«
»Wenn ich von hier verschwinde, werd’ ich auf einen Sprung
im Pfarrhaus vorbeischauen und meine Dienste beim Bohnern
der Altarstufen und was sonst noch alles anbieten.«
»Wie nett.«
»Von jetzt an, Mrs. H, werde ich auf Schritt und Tritt
Sonnenschein verbreiten. Kein Bettler wird mit leeren Händen
weggehen, und alle Kinderchen werden mich Großmama
nennen. Ich werd jeden Augenblick voll auskosten. Na, was
halten Sie von diesen Dingen… diesen Vorsätzen?«
Was konnte ich darauf sagen? Ich konnte ihr ja kaum mitteilen,
daß mir das Herz in die Hose gerutscht war, daß ich dieses
Gefasel als ein weiteres, vielleicht noch heimtückischeres
Anzeichen des verfluchten Liebesübels ansah.
»Entzückend«, sagte ich und klang genauso wie Mr. Gladstone
Spike, und plötzlich hüpfte der ganze Raum mit den Schaukeln
auf und ab.
»Einen Penny für Ihre Gedanken, Mrs. H.«
»Oh, soviel sind die gar nicht wert.« Ich griff nach dem
Bettpfosten. »Ich habe an Tobias gedacht, das ist alles. Und
mich daran erinnert, daß ich heute auf seine Diät achten muß.
Gestern abend ging es ihm nicht besonders.«
Was soll die Durchschnittshausfrau tun, wenn sie von einem
Mordversuch weiß und einen weiteren vermutet? Sie beißt in
mundgerechtere Probleme und fährt mit ihren Tagesgeschäften
fort. Sobald Ben, Freddy und Mrs. Malloy aus dem Haus
waren, stopfte ich eine Ladung Babykleidung in die
Waschmaschine, stellte sie an, versetzte ihr den erforderlichen
Schlag und erntete nur einen Rülpser ins Gesicht für meine
Bemühungen. Mr. Bludgett, der Klempner, würde noch von
mir hören.
»Wie sieht’s aus, meine Engel?« Ich hob Abbey aus ihrem
Wippstuhl und strahlte Tarn an. »Sollen wir alle zum
Waschsalon gehen und Geld in die Automaten stecken, so wie
in Las Vegas?« Natürlich mußten, bevor wir zu diesem großen
Abenteuer aufbrechen konnten, noch zwei von uns ein Bad in
der Spüle nehmen. Dann folgte die anspruchsvolle Aufgabe,
steife Beinchen in weiche Leggings zu stopfen, bevor wir zum
Auto gehen konnten, nur um festzustellen, daß ich vergessen
hatte, ein letztes Mal nach Tobias zu sehen, und, ach ja – meine
Handtasche war wer weiß wo im Haus.
Eine Stunde später, als ich den Kinderwagen in den Glaspalast
schob, fand ich dort halb Chitterton Fells um sechs Maschinen
versammelt vor, von denen zwei Pappschürzen mit der
Aufschrift »Außer Betrieb!« trugen. Die Zwillinge quietschten,
und ich wollte nur noch weg von dem Getöse der Trockner und
dem schweißigen Waschmittelgeruch und mich auf die Suche
nach einem plätschernden Bach und einigen hübschen glatten
Steinen machen, als ausgerechnet Mr. Walter Fisher
hereinkam.
Sofort fingen die Leute an, ihren Kaffee schneller zu trinken
oder sich konzentrierter über ihre Zeitschriften zu beugen, das
heißt, wenn sie nicht das Glück hatten, Wäsche falten zu
können. Aber sie hätten sich nichts einzubilden brauchen.
Walter weidete seine Fischaugen an mir.
»Guten Morgen, Mrs. Haskell und Familie«, sagte er und
wedelte mit einer Flosse in Richtung der Zwillinge. »Ich sah
Sie hier hineingehen und dachte, ich schaue mal eben vorbei
und rede kurz mit Ihnen.«
»Das ist sehr freundlich.« Ich senkte den Blick und zupfte an
der aus aufgerauhter Wolle bestehenden Decke des
Kinderwagens herum. Wie konnte Mrs. Malloy diesen Mann,
der aussah, als ob er die meiste Zeit in einem Aquarium
verbrachte, bloß ertragen? Von seinem angeklatschten Haar bis
zu seinen Guppylippen war er schleimig-fahl.
»Bitte denken Sie nicht, daß ich Sie drängen will, Mrs.
Haskell…«
»Wie bitte?«
Ein Schrammen von Stühlen, als meine Mitwaschenden ihre
Kaffeebecher und Zeitschriften sinken ließen, um zu horchen.
Mr. Fisher senkte die Stimme. »Am Montagabend beim Heim­
und-Herd-Verein spürte ich ein Interesse Ihrerseits – und
besonders auf Seiten Ihres Mannes –, die Vorkehrungen für
Ihre Bestattung zu treffen.«
»Ich glaube wirklich nicht« – ich packte den Griff des
Kinderwagens –, »daß dies die rechte Zeit oder der rechte Ort
ist…«
»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nie auf
morgen.« Mr. Aufgewärmter Tod drohte mit einem
wächsernen Finger. »Keiner von uns kann wissen, wann wir
verlöschen wie eine Kerze. Und wollen wir denn unsere
Hinterbliebenen mit all den Kleinigkeiten belasten, die man
beachten muß, um uns die Verabschiedung zuteil werden zu
lassen, die wir verdienen?«
»Mir persönlich«, sagte ich, und meine Eingeweide rumpelten
und schäumten wie die Waschmaschinen, bis ich sicher war,
daß mir Blasen zu Nase und Mund herauskommen würden,
»mir ist piepegal, was nach meinem Tod mit mir passiert.
Meinetwegen kann mein Mann mich ruhig auf den
Komposthaufen schmeißen.«
»Das ist nicht Ihr Ernst, Mrs. Haskell!«
»O doch.«
Das blasse Gesicht zuckte. »Sie haben doch zumindest vor,
sich insoweit an die herkömmlichen Bräuche zu halten, daß Sie
sich einäschern lassen.«
»Ich glaube schon.« Egal, Hauptsache, er hielt den Mund.
»In diesem Falle« – Mr. Fisher sah längst nicht so geknickt
aus, wie ich gehofft hatte – »wären Sie möglicherweise an
einem ganz neuen Angebot von Fisher Funerals interessiert.
Wir nennen es den Schaukasten – eine Präsentation, die die
Sparsamkeit…« – er wischte seine nassen Lippen mit einem
schwarzumränderten Taschentuch ab –,»… die Sparsamkeit
der Einäscherung mit der Feierlichkeit und der Pracht einer
traditionellen Bestattung verbindet. Wir stellen zwei
Behältnisse zur Auswahl – den Royal Mahagoni und die
Jungfräuliche Königin, in denen der Leichnam vor und
während des Gedenkgottesdienstes ruhen und besichtigt
werden kann.«
»Geht es um eine Art Mietsarg?«
»Gewissermaßen.« Mr. Fishers Augen wölbten sich ärgerlich
vor. »Nach der letzten Besichtigung wird der Klient zur
Einäscherung entfernt und der Sarg wiederverwendet.«
»Ich muß darüber nachdenken.« Ich lächelte den Zwillingen
zu, falls sie aufgrund meines Tonfalls annahmen, daß ich sauer
auf sie war. »Es war nett, sich mit Ihnen zu unterhalten, Mr.
Fisher, aber ich glaube, ich sehe da eine freie
Waschmaschine.«
»Ja… will Sie nicht aufhalten.« Zu schade, daß er sich nicht
daran hielt. Als ich mich abwandte, folgte er mir an einem
grauhaarigen Mann vorbei, der seinen Kaffeebecher auf seinem
Bauch balancierte, und an zwei Frauen, die ein Laken zum
Falten ausbreiteten. »Auf ein Wort noch, Mrs. Haskell.«
»Ja?« Ich zog Kleidungsstücke aus der Tasche des
Kinderwagens.
»Könnten Sie mir freundlicherweise sagen, was Sie von Mrs.
Malloy halten? Ich weiß, sie arbeitet für Sie, und ich frage
mich, ob Sie in den letzten paar Tagen eine Veränderung an ihr
bemerkt haben?«
»Sie ist…« Ich wollte sagen, daß Mrs. Malloy quietschfidel
wäre, doch Mr. Fishers Gesichtsausdruck hielt mich davon ab.
Du meine Güte, dieser Mann war ein einziges Zittern, und ich
schämte mich plötzlich zutiefst. Hier war ein Mitglied eines
ehrenwerten Berufsstands, und ich rümpfte die Nase über ihn,
weil mich Gespräche über Sargfutter nervös machten. Solch
ein Vorurteil war ebenso schändlich wie die, die sich gegen
übergewichtige Menschen richteten. Und konnte der Mann
etwas dafür, daß er nicht Cary Grant war… oder Ben Haskell?
Wenn ein Büßergewand in der Nähe gewesen wäre, dann hätte
ich es über den Kopf gezogen.
»Was wollten Sie gerade sagen, Mrs. Haskell?«
»Verzeihung.« Ich stand mit einem Armvoll Klamotten da.
»Aber ich glaube nicht, daß es fair wäre, wenn ich mit Ihnen
über Mrs. Malloy spreche.«
»Ich verstehe.«
»Ich will nur soviel sagen« – unmöglich, ihm nicht ein paar
Brosamen der Hoffnung hinzustreuen –, »sie läuft durch die
Gegend wie eine Frau in Trance.«
»Vielen Dank für diese Information.« Der Ausdruck in Mr.
Fishers Augen, als er sich zurückzog, war unergründlich, und
die Guppylippen verzogen sich zu einem Lächeln, einer
Verheißung, daß Mrs. Malloy noch alle möglichen aufregenden
Dinge bevorstanden.
Im Ernst, ich habe keinen Schimmer, wo der Rest des Tages
blieb. Er schien unter den Türen hindurch und durch Ritzen in
den Fensterrahmen zu entwischen, in Wölkchen vertaner Zeit
und geplünderter Augenblicke, bis ich plötzlich kurz nach
sieben Uhr abends wie eine Topfpflanze in Bunty Wisemans
frühägyptischem Salon stand. Wie ich Ben dazu überredet
hatte, mich nicht zu begleiten, hätte mir den Oscar für mein
Lebenswerk in ehelicher Täuschung einbringen müssen. An
einem Punkt schien es fast einfacher, ihm zu gestehen, daß ich
Fully Female beigetreten war, aber irgendwie brachte ich es
nicht fertig, die Worte auszusprechen. Ich wußte, daß er mich
lieber mit blankem Busen in der Öffentlichkeit herumlaufen
lassen würde, als daß ich unser Intimleben in Erlebnis Ehe
bloßstellte.
Mrs. Pickle hatte mich ins Haus gelassen, und wo ich auch
hinsah, waren Frauen^ die ich von meinem einzigen Gastspiel
bei Fully Female wiedererkannte. Die meisten hatten ihre
Männer im Schlepptau, die alle, nach ihren schmachtenden
Mienen zu urteilen, immer noch in ihrem Bann standen. Aber
seltsamerweise hatte ich unsere Gastgeberin noch nicht zu
Gesicht bekommen, ganz zu schweigen von den Ehrengästen.
Der Raum war so blendendweiß, daß man fast erwartete,
maskierte Chirurgen hereineilen zu sehen, die ihre Skalpelle
wetzten. Tatsächlich war nur ein einziger Medizinmann
anwesend. Im Orchestergraben neben dem Flügel stand Dr.
Melrose… mit Gattin. Von meinem Standort aus war schwer
zu sagen, ob Flo in Topform war, aber sie stand, was ja schon
einiges besagte. Mein Blick schwenkte von den Melroses zu
einem Spiegelparavent vor einer Fensternische. Der Paravent
war bei meinen früheren Besuchen noch nicht dagewesen – ein
Abschiedsgeschenk an Bunty von Lionel? Oder hatte sie einen
Einkaufsbummel gemacht, um sich aufzumuntern?
»Champagner, Madam?«
»Mrs. Malloy!« Ich stieß ihr fast das Tablett aus den Händen.
»Das ist aber eine Überraschung!«
»Hübscher Fummel.« Sie musterte mein Kleid aus
bronzefarbener und olivgrüner changierender Seide. »Könnte
man zu einer Beerdigung tragen, ohne zu aufgedonnert
auszusehen.«
»Vielen Dank.«
»Aber was haben Sie um Himmels willen mit Ihrem Haar
gemacht, Mrs. H? Sieht aus, als hätten Sie’s mit einer Harke
gekämmt.«
Da ich merkte, daß die Leute zu meiner Rechten ganz Ohr
waren, senkte ich die Stimme. »Ich hatte es eilig – und zu Ihrer
Information, Mrs. Malloy, der verwuschelte Look ist in.«
Ein verächtliches Naserümpfen. »Ja, in Crufts vielleicht, aber
nicht hier.« Sie drückte mir ein Glas in die schlaffe Hand. »Ich
bin gern stolz auf meine Damen, und es ist ja nicht so, daß ich
immer dasein werde, um ein Auge auf Sie zu haben.«
Vermutlich nicht. Mr. Fisher war zweifellos ein Chauvinist der
alten Schule, der nicht wünschte, daß seine Frau die Tische
anderer Leute polierte, wenn sie Särge polieren konnte.
»Sie sehen sehr nett aus«, sagte ich. Und genau das tat sie mit
ihrem zweifarbigen Haar, jedem Schönheitsfleck an seinem
Platz und ihrer Preiselbeerschürze, die ihrem Kleid mit den
schwarzen Perlen einen Farbakzent gab.
»Tja, die Bösen ruhen und rasten nicht.« Mrs. Malloy schob
die Gläser auf dem Tablett zurecht, trank einen Schluck aus
einem – wohl um es mit den anderen auszugleichen –,
schmatzte in Anerkennung des Jahrgangs mit ihren
Schmetterlingslippen und schwankte dann auf ihren Fünfzehn-
Zentimeter-Absätzen davon. Das nächste Paar, dem sie sich
näherte, waren die Bludgetts. Ich dachte gerade daran, zu ihnen
hinüberzugehen, als niemand anders als die stets elegante und
kürzlich verwitwete Jacqueline Diamond zu mir stieß.
»Immer noch keine Spur von unserer Gastgeberin und den
Ehrengästen.« Sie drehte den Stiel ihres Glases zwischen den
Fingern und taxierte mich mit ihren Lauren-Bacall-Augen.
»Nein«, stammelte ich.
»Unheimlich, finden Sie nicht?«
Was ich für unheimlich hielt war, daß sie – seit ein paar Tagen
erst Witwe – eine Party besuchte… besonders eine Party in den
Räumlichkeiten von Fully Female.
»Wie geht es Ihnen denn so?« brachte ich heraus.
»Ich bin nach wie vor zum Glück gefühllos.« Sie angelte in
ihrer Gobelinabendtasche nach einem Päckchen Zigaretten und
– ihr aschblondes Haar hing auf ihr Handgelenk – klopfte eine
Kingsize-Filterzigarette heraus. »Ich hoffe, Sie greifen sich
nicht an die Brust und ringen nach Luft, wenn ich rauche« – sie
zündete sie an –, »obwohl es mich nicht groß kümmert, wenn
es jemanden stört. Das ist einer der Vorteile der Trauer. Ein
Tip für die Zukunft, es ist einem alles scheißegal, zum
Beispiel, was die Leute davon halten, daß ich heute abend hier
bin. Ich weiß nur« – ihre Stimme war so rauchig wie der
Qualm, der uns einhüllte – , »daß es besser ist, als allein zu
Hause zu sitzen, nur mit Normies Capes zur Gesellschaft.«
»Ist die Polizei hart mit Ihnen umgesprungen?« Ich schob mein
Haar zurück, weil es mir in die Augen fiel und sie davon
tränten.
»Sie haben mich behandelt wie ein rohes Ei.«
»Wissen Sie, wann die gerichtliche Untersuchung stattfindet?«
»Nein, aber momentan konzentriere ich mich auch auf die
netten Dinge, zum Beispiel das Treffen der letzten
Vorkehrungen. Normie war gottesfürchtig, hielt sich aber an
keine Religion.«
»Die neue Pfarrerin von St. Anselm’s ist sehr nett«, redete ich
drauflos, und welch ein Zufall, wer betrat in diesem
Augenblick den Raum? Reverend Eudora Spike und ihr
Ehemann.
»Danke, meine Liebe.« Jacqueline hielt Ausschau nach einem
Aschenbecher. »Aber Normie war Jude.«
»Ach ja?« Ich spürte, wie ich in kalten Schweiß ausbrach, der
nichts mit meinem Fauxpas zu tun hatte. Die Spikes kamen auf
uns zu. Gladstone sah nach einem solch lieben, guten Mann aus
mit seinen krummen Schultern und den kurzsichtigen Augen,
daß ich das Gefühl hatte, ich sollte mir an die Brust schlagen
und drei Mea Culpas sprechen, weil ich ihn des versuchten
Mordes an seiner Frau verdächtigt hatte, damit er wieder dort
ansetzen konnte, wo er Vorjahren mit Gladys Thorn aufgehört
hatte, der Frau des Tages, deren Auftritt noch immer auf sich
warten ließ.
Bevor die Spikes bei uns anlangten, stießen sie auf die
Bludgetts, und natürlich wurden sie von der überschwenglichen
Moll in ein Gespräch verwickelt.
»Dufte, Sie zu treffen, Reverend.«
»Ganz meinerseits.« Eudora schob die Hand unter den Arm
ihres Mannes, und augenblicklich waren sie wie Tasse und
Unterteller, separat und doch komplett.
»Nette Party!« Jock Bludgett räusperte sich und verfiel dann in
ein vornehmes Falsett. »Eine echte Klassefrau, diese Bunty
Wiseman. Nicht viele Frauen würden ihre verletzten Gefühle in
‘nen Müllsack packen und ‘n Test für den fremdgehenden
Ehemann und seine Mieze schmeißen.«
Eine weniger katzenhafte Frau als Gladys Thorn konnte ich mir
nicht vorstellen, aber das tat nichts zur Sache. Erinnerte Mr.
Bludgett sich daran, wie er seine Moll mit selbiger Femme
fatale hintergangen hatte? Und wünschten die Spikes sich
möglichst weit von hier weg?
»Ich war überrascht, als Mrs. Wiseman anrief und Gladstone
und mich zu der Party einlud.« Eudora nahm ein Glas
Champagner von Mrs. Malloy entgegen, die wieder ihre Runde
machte. »Und noch überraschter, als sie den Grund für das
Beisammensein erklärte.«
»Ein höchst christliches Streben«, warf ihr Ehemann ein.
»Liebe in ihrer reinsten Form.« Eudora blinzelte, als ob sie
etwas im Auge hätte. Von meinem Platz aus wirkte ihr Teint so
beige wie ihre Seidenbluse. Ich fühlte mit ihr.
»Möchte wissen, wo Mrs. Wiseman steckt.« Mr. Bludgett
kaute an seinem Schnäuzer.
Moll, ganz Sprungfeder von Kopf bis Fuß, hob ihr Glas. »Wo
auch immer! Ich sage, trinken wir auf Bunty Wiseman, die
vollendete Fully-Female-Frau!«
»Auf Bunty!« Der vielstimmige Hochruf ließ das Zimmer
erbeben, dann wurde er zu einem Flüstern, das nicht schnell
genug verstummen konnte. Denn auf der Schwelle des
Zimmers standen die Turteltauben selbst. Lionel Wiseman
erstrahlte in einem silbergrauen Anzug, der aufsein Haar
abgestimmt war, während seine dunkle Krawatte perfekt mit
seinen schwarzen Brauen harmonierte. Was seine Verlobte
betraf, so glich sie das, was ihr an Schönheit abging, durch
mädchenhafte Bescheidenheit aus.
»Liebe, liebe Freunde von Chitterton Fells, das alles ist einfach
zu viel!« Miss Thorn zog ihr schwarzes Spitzentuch um ihre
fahlen Schultern und senkte den Kopf, so daß die
Gänseblümchenspangen aus ihren mausbraunen Flechten
hervorlugten. »Mein geliebter Lionel hat nie mit einem solchen
Andrang gerechnet, um unsere Verbindung zu segnen.« Von
Gefühlen überwältigt, warf Miss T sich in Mr. Wisemans
Arme, und er hielt sie fest, als ein erstauntes Raunen durch die
Schar der Gäste ging.
Bunty hatte ihren glanzvollen Auftritt.
»Hallo, Jungs und Mädchen!« Mit den blauen Augen
klimpernd, schlängelte Bunty sich ins Zimmer, den blonden
Kopf hocherhoben und eine Hand in die scharlachrote
Satinhüfte gestemmt. Ihr Gesicht leuchtete heller als die
Lampen im Raum. »Hallo, Li, Darling! Und einen guten Tag
der Frau, die du liebst. Als die Ehrengäste macht es euch doch
bitte auf dem Sofa gegenüber dem Spiegelparavent bequem.
Ich bin sicher, daß auch alle anderen ein behagliches Plätzchen
für sich finden, damit das Unterhaltungsprogramm beginnen
kann.«
»Was kommt denn jetzt?« Jacqueline Diamond klopfte noch
eine Zigarette aus dem Päckchen.
»Ist das nicht eine Wucht?« Moll Bludgett trat dicht an mich
heran und drückte meinen Arm. »Platzen Sie nicht auch fast
vor Spannung?«
»Schsch«, machte Mrs. Wardle, die Bibliothekarin.
Wie angewiesen, setzten Mr. Wiseman und Miss Thorn sich
mit ihren Champagnergläsern auf das weiße Sofa mit den
riesigen Kissen, während Bunty das Wort hatte. Sie hob eine
schneeweiße Hand und trällerte lieblich: »Die Sammelalben
unseres Lebens sind voll mit Erinnerungen an teure Ereignisse,
die uns ganz persönlich etwas bedeuten, und so präsentiere ich
Ihnen, Gladys Thorn, zu diesem feierlichen Anlaß, an dem
Tag, an dem Sie aller Welt Ihre Verlobung mit meinem Mann
verkünden… eine Stimme aus Ihrer Vergangenheit, denn Miss
Thorn: Das ist Ihr Leben!«
»Oooohhhh!« Ein Keuchen ging durch den Raum, während die
Dame des Augenblicks ihren offenstehenden Mund mit einer
Hand bedeckte, an der der gewaltigste Diamant funkelte, den
ich je gesehen hatte. Das Geblitze machte mich ganz
schwindelig, und plötzlich überwältigte mich eine dunkle
Vorahnung. Ich wollte Bunty anschreien, daß sie mit diesem
Wahnsinn aufhören sollte, bevor es zu spät war. Ich wollte aus
diesem Raum mit all seiner falschen Munterkeit davonlaufen
und mich zu Hause bei Ben und den Zwillingen vergraben.
Aber ich konnte mich nicht rühren, denn ich war zwischen
Moll Bludgett, Jacqueline Diamond, den Spikes und meinem
eigenen dummen Sinn für Anstand eingekeilt. Dann, von einem
Atemzug auf den anderen, war es zu spät.
Eine Grabesstimme ertönte hinter dem Spiegelparavent.
»Umarmungen und Küsse, liebe Miss Thorn, erinnern Sie sich
an mich, mein Zuckerwürfel?«
»Ich glaube nicht, daß ich diese Stimme…«
»Bestimmt, o süße Freude, erinnerst du dich doch, wie du
nackt in der Waldesnacht tanztest, meine Nymph…omanin.«
Gespenstisches Lachen. »Oder verlange ich zuviel, wenn man
bedenkt, daß ich nur einer von hundert Ehemännern war, die du
in dein klebriges Netz gelockt hast, du Spinnenfrau.«
Kein Stuhl knarrte, kein Augenlid zuckte, bis der Bann von
Lionel Wiseman gebrochen wurde, der mit einer solchen Hast
aufsprang, daß er sich in einen rasenden Rächer verwandelte.
Gott sei Dank würde er dieser Obszönität ein Ende setzen.
Miss Thorn mochte keine Lady im strengen Sinne des Wortes
sein, aber niemand verdiente es, solch einer teuflischen
Grausamkeit ausgesetzt zu werden… außer vielleicht der Frau,
die sich mit Bentley T. Haskell davonmachte.
Doch ehe Lionel Wiseman seine Stimme wiederfinden konnte,
erlebte ich den Schock des Abends, wenn nicht eines ganzen
Lebens. Der Spiegelparavent schwankte, dann fand er sein
Gleichgewicht wieder. Und hervor trat mein Cousin Freddy.
»Tut mir leid, Mrs. Wiseman, aber das kann ich nicht
durchziehen! Als Sie heute morgen mit mir am Telefon
sprachen, sagte ich mir, daß ein Schauspieler die Rollen
nehmen muß, die sich ihm bieten, aber ich bringe es nicht
fertig, das Leben anderer Leute als Sprungbrett zum Starruhm
zu mißbrauchen!«
»Ein bißchen spät, um Ideale zu entwickeln!« Ich ging zu ihm
und hätte ihm meinen Champagner ins Gesicht gekippt, wenn
mein Glas nicht leer gewesen wäre.
»Keine Talentscouts hier, zufällig?« Mein Cousin präsentierte
ein Grinsen, das mich in keiner Weise besänftigte. Der ganze
Raum war in Aufruhr, oder, besser gesagt, Bunty machte genug
Lärm für den ganzen Raum. Sie war völlig ausgerastet,
hämmerte mit den Fäusten gegen die Brust ihres Mannes, dann
kratzte sie sich aus seinem Griff frei und riß ihn an den Haaren,
während Miss Thorn dabeistand und ihre Augen hinter den
Brillengläsern zu Pilzen anwuchsen.
»Wie kannst du mich für diese x-beinige Schlampe verlassen?«
kreischte Bunty. »Ich habe versucht, alles zu sein, was du dir
wünschtest. Ich habe Blasen an den Lippen gekriegt, so lange
habe ich an meiner Aussprache herumgedoktert. Wo ich auch
hinkam, hieß es, um eine erfüllte Frau zu sein, müßte ich
berufstätig sein. Du hast mir gesagt, Li, du wolltest, daß ich ein
aktives Mitglied der Gesellschaft bin, und was hat mir das alles
gebracht? Ich habe andere Frauen gelehrt, wie sie ihre
Ehemänner halten und Frauen wie Gladys Thorn das Leben
schwermachen können.« Schluchzend taumelte Bunty
rückwärts. »Habe ich dir Angst gemacht, Gladys, altes
Mädchen? Habe ich dir vor Augen geführt, daß du besser mit
einem eigenen Ehemann dran bist, als sie dir weiter
auszuleihen wie Bücher aus der Bibliothek?«
Miss Thorn antwortete nicht. Sie stand nur da und hielt ihren
Bauch, und im nächsten Augenblick war die Frage einer
Antwort unerheblich. Bunty fuhr herum und stürzte in die
Halle. Wenig später ging die Haustür auf und knallte dann
hinter ihr zu. Das nennt man eine Party mit einem Knaller
beenden. Es fiel kaum ein Wort, als die Frauen ihre
Handtaschen einsammelten und die Männer, Freddy
eingeschlossen, die Mäntel holen gingen. Was Lionel Wiseman
und seine Verlobte anbelangte, sah ich sie am Kaffeetisch
stehen, in eine Umarmung versunken.
»Wie fühlst du dich, meine Taube?«
»Nicht allzu schlimm.« Sie drückte seine Hand an die Lippen.
»Natürlich ist diese Art von Aufregung katastrophal für mein
Verdauungssystem, aber der Weg wahrer Liebe ist mit
Magnesiummilch gepflastert.«
»Mein tapferer Liebling!«
»Morgen ist ein neuer Tag, und da Bunty weg ist, können wir
daran denken, diesen Raum neu einzurichten.« Die Pilzaugen
schweiften über die Weiß-in-weiß-Vollendung. »Was hältst du
vom Boudoir-Look: jede Menge schwarzer Satin und grüne
Spitze?«
Aus lauter Angst, daß Miss Thorn mich entdecken und um
Mithilfe bei der Renovierung bitten würde, flitzte ich in die
Halle. Dort entdeckte ich Mrs. Malloy, die um die Ecke zur
Küche spähte.
»Was soll der ganze Aufruhr?« Sie rührte weiter in einem Glas,
bei dessen Inhalt es sich, wie ich aus dem Behälter auf dem
Tresen schloß, um Fully-Female-Elixier handelte.
»Bunty ist gegangen.«
»Was? Sie hat das Schiff verlassen?« Der Ausdruck war wie
geschaffen für die Küche im Kombüsenstil, die, so wie der
Rest des Hauses, weiß wie die Uniform eines Seemanns war.
Ja, sie war sogar so eng, daß Mrs. Malloy, als sie ihr Glas
hinstellte und die Hände in die Hüften stemmte, mit den
Ellbogen die Wände auf beiden Seiten berührte.
»Sie macht mir Sorgen«, gestand ich.
»Heiliger Strohsack! Glauben Sie, sie könnte sich umbringen?«
»Das oder etwas ähnlich Verheerendes.«
»Im Leben jedes Menschen gibt es Stürme« – Mrs. Malloy
wischte sich die Hände an ihrer Preiselbeerschürze ab –, »die
nichts als Schall und Rauch sind.«
»Mag sein«, sagte ich. »Aber ich denke, ich fahre mal herum
und halte nach Bunty Ausschau.«
»Tun Sie das«, sagte sie, als sie zwei Weingläser in das
Spülwasser legte, »und wenn Sie sie nicht gefunden haben,
wären Sie vielleicht so freundlich, hierher zurückzukommen
und mich nach Hause zu bringen. Sie kennen mich, Mrs. H, ich
bitte die Leute nicht gern um einen Gefallen, aber sehr bald
werden Sie unsere gemeinsame Zeit zu schätzen wissen.«
Zutiefst gerührt ging ich zu ihr, um sie zu umarmen, doch der
Augenblick war nicht günstig. Mrs. Malloy merkte, daß ihr
Fully-Female-Elixier fest geworden war.
»Jetzt gucken Sie bloß, was Sie angerichtet haben!«
»Ich mixe Ihnen ein neues.«
»Bemühen Sie sich nicht, Mrs. H.« Mit einem leidgeprüften
Seufzer ließ sie das Glas in die Spüle plumpsen. »Fragen Sie
mich nicht warum, aber ich bin das Zeug leid.«
Meinen guten Absichten war kein Erfolg beschieden. Nachdem
ich wer weiß wie lange im Kreis herumgefahren war, ging ich
kurz ins Black Horse und überprüfte sowohl Lounge als auch
Bar, sah jedoch keine Spur von Bunty, wie sie ihren Kummer
in Lager mit Limonensaft ertränkte. Warum, ach, warum hatte
ich an Ertrinken gedacht? Ich könnte Kilometer um Kilometer
Strand absuchen, ohne auf einen mitleiderregenden Haufen
Klamotten zu stoßen oder etwas zu entdecken, das am Horizont
schaukelte und eine Boje – oder eine Leiche war. Schließlich
fuhr ich die Cliff Road hoch zu der Stelle, wo Dr. Melrose sich
der armen Flo hatte entledigen wollen. Doch keine Spur von
Buntys Wagen. Von Hoffnungslosigkeit überwältigt, wendete
ich und fuhr zum Haus der Wisemans zurück. Waren seine
Tage als Hauptquartier von Fully Female vorüber?
Als ich die Marmorstufen zur Haustür hochging, betete ich,
daß Bunty heil und unversehrt daheim war. Bevor ich läuten
konnte, machte Mrs. Malloy mir auf, schon in ihrem
Pelzmantel und mit einem Federhut auf dem Kopf.
»Kein Glück?« Sie zog ihre Handschuhe an.
Ich schüttelte den Kopf.
»Nun, Sie haben getan, was Sie konnten. Und kurz nachdem
Sie gefahren sind, hat Mr. Wiseman sich auf die Suche nach ihr
gemacht.«
»Was ist mit Miss Thorn?«
»Hat als Hausherrin das Regiment übernommen, wie’s
aussieht.« Mrs. Malloy rümpfte die Nase. »Kam zum
Schnüffeln in die Küche und verschwand dann wieder in der
Halle. Was meinen Sie, Mrs. H? Soll ich hingehen und ihr
sagen, daß ich verschwinde?«
»Tja…«
»Da wäre das kleine Problem der Bezahlung.«
»In dem Fall…«Ich trat über die Schwelle, und als nächstes
merkte ich, daß ich Mrs. Malloy durch den Korridor zum
großen Schlafzimmer folgte, wo ich zuvor meinen Mantel
abgelegt hatte.
»Miss Thorn?« Mrs. Malloy trommelte gegen die Tür.
Keine Antwort.
»Vermutlich eingeschlafen«, sagte ich. Ich war dafür, schnell
von hier zu verschwinden, aber meine Gefährtin hatte anderes
im Sinn.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mrs. H, möchte ich sie
suchen, um mein Geld zu kriegen.« Mit diesen Worten öffnete
sie die Tür… und fiel prompt nach hinten in meine Arme.
Miss Thorn lag auf dem Bett, in eine Toga aus durchsichtiger
Plastikfolie eingewickelt und mit einer Kirsche im Nabel. Noch
schockierender als ihr Nachtzeug war der Umstand, daß sie
ihre Brille nicht aufhatte, was ihr einen auf obszöne Weise
nackten, glasigen Starrblick verlieh, der geradewegs durch
mich hindurch zur Tür sah… und in die Ewigkeit.
»Sie ist tot!« Von Tränen und Eau de toilette erstickt, wich ich
stolpernd vom Bett mit den Cupidos und dem Tüllhimmel
zurück.
»Und wessen verdammte Schuld ist das?« schnauzte Mrs.
Malloy zurück.
»Niemandes, hoffe ich.«
»Es soll nur einer mit dem Finger auf mich zeigen…«
»Oh, um Himmels willen!« Ich drückte sie auf den Stuhl neben
dem Bett und wünschte, ich könnte sie anschnallen, so wie ich
es mit den Babys machte. Wie konnte sie auf diese alberne Art
wettern, wenn wir – bis auf Buntys Drohungen – keinen Anlaß
zu dem Verdacht hatten, daß Miss Thorn das Opfer eines
Verbrechens war? Daß die Verstorbene noch vor einer Stunde
in bester Verfassung gewesen war, hatte nichts zu sagen. Noch
war ihr unbekleideter Zustand auf die eine oder andere Art ein
Indiz. Jede von uns kann jederzeit einen Herzinfarkt
bekommen, besonders, wenn wir dem Streß ausgesetzt sind,
daß zu viele Männer Anspruch auf unseren Körper erheben.
»Der Herr errette uns, sie sieht furchtbar aus!« Mrs. Malloy
kaute an einem Fingerknöchel.
Unhöflich, aber unbestreitbar wahr. Miss Thorns Zähne waren
gefletscht, und ihre Augen quollen hervor, ein Hinweis darauf,
daß sie dem Schnitter noch gesagt hatte, was er sie mal konnte.
Um fair zu sein, das Schlafzimmer gab auch nicht gerade den
passenden Schauplatz für himmlische Harfen und Stimmen als
Untermalung ab. Der kahle Weiß-in-weiß-Modernismus, der
im Rest des Hauses herrschte, war nicht bis hierher gedrungen,
vermutlich weil Bunty keinen Innenarchitekten durch die Tür
gelassen, sondern es vorgezogen hatte, den Raum im Stil ihrer
alten Tänzerinnengarderobe zu gestalten. Überall Volants und
Flitter. Aber am scheußlichsten waren die blitzenden Spiegel
rings an den Wänden und an der Decke, so daß mir, wo ich
auch hinsah, die Sterbebettszene grell ins Auge stach wie
Szenen auf den Buntglasfenstern von St. Anselm’s. Kein
Wunder, daß Mrs. Malloy sich den Kopf hielt und sagte, sie
fühle sich nicht wohl.
»Warum gehen Sie nicht ins Wohnzimmer und legen sich
hin?« schlug ich vor.
»Was, ich soll Sie hier allein lassen, Mrs. H?«
»Ach, raus mit Ihnen«, sagte ich, während ich sie zur Tür
hinausscheuchte. »Sie wird schon nicht beißen, oder?«
Tapfere Worte, aber kaum war ich allein mit Miss Thorn, als
ein Schauder mich einhüllte wie ein Leichentuch. Diese Zähne
sahen aus, als wollten sie mir ein paar Finger abbeißen, wenn
ich die Hand in ihre Richtung streckte. Die hervorquellenden
Augen verhießen eine andere Art der Rache; sie würden mich
in vielen zukünftigen Nächten in meinen Träumen verfolgen.
»Hören Sie« – ich drückte mich um das Bett herum zum
Telefon –, »ich mache Ihnen keinen Vorwurf, daß Ihnen die
ganze Sache stinkt, aber bitte durchbohren Sie mich nicht so
mit Blicken.«
Erstaunlich, wie meine Worte nicht nur dem Zimmer, sondern
auch dem Körper von Miss Thorn Leben einhauchten. Ich
meine damit nicht, daß sie mit der Gelassenheit ins Leben
zurückkehrte, die Flo Melrose am vergangenen Abend gezeigt
hatte. Aber mit ihr zu reden würdigte sie als Persönlichkeit.
»Verzeihung.« Ich nahm den Hörer und wählte die Nummer
von Dr. Melrose. Macht der Gewohnheit. Ich kam nicht auf
den Gedanken, Zeit zu verschwenden, indem ich die
Vermittlung nach der Nummer der Notaufnahme des Cottage
Hospitals fragte.
»Dr. Melrose, hier ist Ellie Haskell.«
»Ja?« Ich konnte fast hören, wie die Alarmglocken in seinem
Kopf schrillten, bevor er sie in ein herzhaftes Lachen
ummünzte. »Flo geht’s prima, wie Sie wohl selbst heute abend
auf der mißlungenen Party der Wisemans gesehen haben.«
»Ach, um Himmels willen!« fuhr ich ihn an. »Es geht nicht um
Erpressung, es geht um Miss Gladys Thorn.«
»Ausgezeichnet!«
»Sie ist tot!«
»Super!«
Mir fehlten die Worte. Doch vermutlich riß mein geschocktes
Luftschnappen Dr. Melrose aus seiner Euphorie, in die er
angesichts der Erkenntnis, daß er lediglich um einen
Hausbesuch gebeten wurde, verfallen war. Nachdem ich ihm
gesagt hatte, daß ich vom Haus der Wisemans aus anrief, legte
ich auf und kehrte ans Bett zurück, um der verstorbenen Miss
Thorn Gesellschaft zu leisten.
»Der Doktor wird in einigen Minuten hiersein«, sagte ich
besänftigend. Genug der Worte. Ich hätte mich mit stillem
Beten beschäftigen können, aber wie immer in Zeiten des Streß
plapperte ich ohne Sinn und Verstand drauflos wie ein
dahinplätschernder Bach. »Miss Thorn, ich habe nicht immer
die freundlichsten Gedanken Ihnen gegenüber gehegt, nicht so
sehr, weil ich Ihren amourösen Lebensstil mißbilligte, sondern
weil ich Sie für eine Witzfigur hielt. Und ein Mensch mit
meinen Komplexen und physischen Mängeln hätte es besser
wissen sollen. Sagen Sie, Miss Thorn – « ich zog das Laken
glatt, wobei ich sehr wohl registrierte, daß diese widerlichen
Cupidos mich vom Kopfteil des Bettes höhnisch angrinsten –,
»hatten Sie beschlossen, sich an der ganzen Frauenwelt zu
rächen, indem Sie den Beweis antraten, daß Sex-Appeal mehr
ist als nur ein hübsches Gesicht?«
Stimmen draußen in der Halle. Eilige Schritte. Als ich die Tür
öffnete, rechnete ich fest damit, Dr. Melrose zu sehen. Statt
dessen fand ich mich von Angesicht zu Angesicht mit der
vermißten Blondine in rotem Satin wieder. Willkommen zu
Hause, Madam.
»Ellie!« Buntys Haar stand in alle Richtungen ab, als ob man
es durch eine dieser Bleichhauben mit den winzigkleinen
Löchern gezogen hätte. Und ihre Augen waren gleichermaßen
wild. »Was zum Teufel geht hier vor? Hat Mrs. Malloy
gesoffen?«
»Soweit ich weiß, nein.«
»Warum redet sie dann dummes Zeug?«
»Bunty!« Ich versperrte die Sicht aufs Bett, während die Säule
von Fully Female gegen den Türrahmen sank, als ob ihre Beine
zu Gummi geworden wären. Kein Zweifel, wer hier zur
Flasche gegriffen hatte. »Ich weiß, es ist ein furchtbarer
Schock, aber Gladys Thorn ist tot.« Ich streckte die Hand aus,
um Bunty zu berühren, dann ließ ich sie sinken. Als Kind hatte
ich den Druck der Berührung eines Menschen als unerträglich
empfunden, wenn ich hinfiel und mir die Knie aufschrammte.
Und als ich in den Wehen lag, war selbst das Gewicht von
Bens Atem auf meinem Gesicht zuviel gewesen. Jedes
Quentchen Energie mußte auf die Schmerzen gerichtet sein.
»Ich glaube dir nicht!«
Bevor ich sagen konnte: »Sieh doch selbst!«, tat die arme
Bunty genau das. Sie taumelte und wäre mit dem Gesicht nach
unten auf die Leiche gefallen, wenn ich sie nicht unter den
Achseln festgehalten hätte.
»Verflixt noch mal, Ellie! Man wird sagen, ich hätte sie
umgebracht.«
»Unsinn.« Ich verfrachtete sie auf denselben Stuhl, auf den ich
vorhin Mrs. Malloy gedrückt hatte. »Sie ist eines natürlichen
Todes gestorben.«
»Bist du dümmer, als du aussiehst, oder was?« Ihr schrilles
Kreischen ließ mich fast bis zum anderen Ende des Zimmers
zurückweichen. »Natürliche Tode kommen nie so gelegen. Ich
habe gedroht, sie umzubringen, und nun ist sie tot. Findest du,
das klingt nach einem Herzanfall?«
»Das Leben ist berüchtigt für seine Zufälle«, murmelte ich.
»Oh, sei vernünftig!«
»Bunty, du mußt dich zusammennehmen. Dr. Melrose ist auf
dem Weg hierher.« Ich ging auf Zehenspitzen zu ihr, glättete
ihr wirres blondes Haar, und wenig später ging ihr Atem
gleichmäßiger.
»Wo ist Li?« fragte sie matt.
»Mrs. Malloy sagte, er sucht dich.«
»Zum Kuckuck noch mal, Ellie!« Tränen strömten aus ihren
himmelblauen Augen. »Li wird mich dafür hassen. Er wird
niemals glauben, daß ich sie nicht umgebracht habe. Aber du
glaubst mir doch…« Sie griff nach meiner Hand und drückte
meine Finger. »Du hältst mich für unschuldig, oder,
Schätzchen?«
»Ja, Bunty.« Diese Worte entsprangen dem Mitgefühl, nicht
der Überzeugung, aber kaum waren sie ausgesprochen, wußte
ich, daß ich es auch so meinte. Ein Mord war verübt worden,
daran zweifelte ich nicht, aber der Übeltäter war nicht die
betrogene Ehefrau. Bunty war der handgreifliche Typ. Ich
konnte mir vorstellen, wie sie in rasender Wut Miss Thorn die
Treppe hinunterstieß oder ihr mit einem bronzenen
Kerzenhalter eins über den Schädel gab, aber ich konnte mir
nicht vorstellen, daß sie ein tödliches Mittel in das
Champagnerglas dieser Frau schmuggelte. Und wenn wir es
tatsächlich mit einem Giftmörder zu tun hatten – was als eine
Möglichkeit in Betracht kam, wenn man das Fehlen eines
Einschusses auf der fahlen Stirn der Verstorbenen oder eines
Dolchs, der aus ihrer eingesunkenen Brust ragte,
berücksichtigte –, brauchte ich da weiter zurückzuschauen als
bis gestern abend? Wenn ein menschliches Wesen die
Verantwortung für Tobias’ Beinahe-Tod trug, war diese Person
dann nicht höchstwahrscheinlich auch der Mörder von Gladys
Thorn?
Zitternd stand Bunty auf. »Menschenskind, ist mir kalt, stell dir
vor, wie sie sich erst fühlen muß!«
Wir starrten beide auf das Bett, als sich die Tür öffnete und Dr.
Melrose hereinkam, mit einer kleinen schwarzen Tasche in der
Hand und gerunzelter Stirn. Er winkte uns beiseite und leitete
so die folgende flinke Untersuchung der reizenden Leiche ein.
Kein Wort fiel über ihre Plastikhülle oder die Kirsche in ihrem
Nabel.
Es war Bunty, die sich schließlich über dieses Thema
verbreitete. »Verdammte Frechheit, wirklich! Sie hat die Idee
für diese Aufmachung aus meinem Handbuch geklaut, um sie
bei meinem Ehemann anzuwenden… Aber was soll’s, solange
sie glücklich waren, wenn sie sich in den Armen lagen, habe
ich keinen Grund, mich zu beschweren. Mein Geschäft besteht
darin, Liebe zu verbreiten, nicht sie für mich zu pachten.«
Dr. Melrose musterte sie mit einer Abneigung, die an Abscheu
grenzte. Wenn er ihr eine Schlinge um den Hals hätte legen
und fest zuziehen können, dann hätte er es ohne zu zögern
getan, da hatte ich keinen Zweifel. Den Kopf von Fully Female
in seiner Gewalt zu haben mußte wirklich eine süße Rache für
all das sein, was er als Ergebnis des leidenschaftlichen Strebens
seiner Frau nach einem neuen sexuellen Bewußtsein
durchlitten hatte.
»Haben Sie die Polizei angerufen?«
»Noch nicht«, stammelten Bunty und ich gleichzeitig.
»Dann werde ich es tun!« Dr. Melrose legte Miss Thorns Hand
auf die Bettdecke und stand auf. Lächelte er? Oder schuf das
Licht der Deckenlampe, das auf seinem Gesicht tanzte, die
Illusion, daß er seine schmalen Lippen zu einem koboldhaften
Grinsen verzog? Er ging auf das Telefon zu, als Bunty sich an
ihm vorbeischlängelte und den Apparat hinter ihren Rücken
steckte.
»Warten Sie!« Sie stand da wie ein in die Enge getriebenes
Kind, ihr Gesicht war von Büscheln engelblonder Haare
umrahmt. »Warum all dieses Theater um eine Frau in
mittlerem Alter, die im Schlaf stirbt? Warum können Sie nicht
einfach den Totenschein ausstellen und…«
»Mrs. Wiseman!« Dr. Melrose ließ seine schwarze Tasche
zuschnappen und ging mit ausgestreckter Hand auf sie zu.
»Bitte geben Sie mir das Telefon«, sagte er streng. »Sie
behindern mich in der Ausübung meiner hippokratischen
Pflicht.«
»Sie ist durcheinander!« meldete ich mich zu Wort.
»Begreiflicherweise.«
»Dann denken Sie also…«
»Meine Vermutungen, Mrs. Haskell, müssen bis zu den
Ergebnissen der Autopsie warten.« Redliche Worte von einem
redlichen Mann. Es war ungerecht von mir, Dr. Melrose als
den Feind zu betrachten. Er hatte mich immer gut behandelt
und tat jetzt seine Pflicht, wie Königin und Vaterland es von
ihm erwarteten.
»Bitte…« Bunty ließ das Telefon mit einem entsetzlichen
Krachen fallen. »Können wir nicht darüber reden? Doktor, ich
habe dieses als Geschenk eingewickelte Paket nicht
umgebracht, aber wenn Sie mich anzeigen, bin ich erledigt!
Warum nach einem Mörder suchen, wenn ich direkt vor
jedermanns Nase bin – mit einem Motiv, das zum Himmel
schreit?«
»Eine schwierige Lage, ja.« Etwas Menschlichkeit hatte sich in
Dr. Melroses Stimme gestohlen, und Bunty machte es sich
sofort zunutze. Ihre Stimme nahm einen schmeichelnden Ton
an, und ich sah, daß sie mit ihren scharlachroten Satinhüften
wackelte, als sie zu ihm trat. »Lieber Doktor, haben Sie sich
noch nie in einer Situation befunden, in der die ganze Welt
einzustürzen drohte?« Sie schaute mit einem bezaubernden
Schmollen zu ihm auf. »Und Sie könnten gerettet werden,
wenn jemand so lieb und nett wäre, seinen… oder… ihren…
verdammten Mund zu halten.«
»Ja.« Eine Roboterstimme.
»Also könnten Sie nicht möglicherweise« – Bunty streckte die
Hand aus und strich seinen Mantelkragen glatt –, »könnten Sie
nicht ein Herz haben und einen Totenschein ausstellen, auf
dem steht, sagen wir, daß ein böser alter Herzanfall die liebe
Miss Thorn erledigt hat?«
»Wenn Sie darauf bestehen.« So langsam und steif, wie die
Erde sich um ihre eigene Achse dreht, wandte Dr. Melrose sich
zu mir um und sah mich an, und von der Verachtung, die ich in
seinen Augen las, wurden mir die Knie weich. Der Mann
dachte, daß ich ihn an Bunty verraten hatte. Er glaubte, daß sie
über seinen Versuch, die Leiche seiner Frau zu beseitigen,
Bescheid wußte und ihn jetzt zum Schweigen erpreßte. Der
Feind war sein schlechtes Gewissen, denn ich hatte zu
niemandem ein Wort über das Flo-Fiasko gesagt, schon gar
nicht zu Bunty. Und Ben, der sein Wort gegeben hatte, hatte
auch ganz sicher den Mund gehalten. Was nur Flo übrigließ…
angenommen, sie hatte die Erinnerung an den Vorfall
wiedererlangt und sich verpflichtet gefühlt, es Fully Female zu
berichten? Also was jetzt? Sollte ich meiner Bürgerpflicht
Genüge tun, indem ich dem Doktor ins Ohr flüsterte, daß er
nichts zu befürchten hatte, wenn er diesen Hörer aufnahm?
Oder sollte ich an das Band der Solidarität zwischen Fully-
Female-Frauen denken?
Als ich an diesem Abend nach Hause fuhr, brannte ich darauf,
mich direkt in Bens Arme zu stürzen. Aber wie konnte ich
Schutz in diesem süßen Hafen suchen, wenn ich mir wie eine
Kriminelle vorkam? Es hatte mich schon fix und fertig
gemacht, Stillschweigen über meine Verwicklung in den Tod
von Norman the Doorman zu bewahren, und meine
Komplizenschaft in dieser Sache war nichts im Vergleich zu
der Rolle, die ich heute abend gespielt hatte. Schweigen kann
einen unglaublich üblen Geschmack haben. Ich würde mich
nicht halbwegs wohl fühlen, bevor ich nicht mit Salzwasser
gegurgelt hatte, aber leider war der Weg zum Bad von meinem
Ehemann versperrt, der oben an der Treppe Wache stand.
»Da bist du ja, Schatz! Ich habe mir schon Sorgen um dich
gemacht.« So manchen Mann hätte man in diesem
krankenhausgrünen Pyjama für einen Krankenpfleger gehalten,
aber Ben sah natürlich aus wie aus einer Mode-Zeitschrift
ausgeschnitten, die Nachtzeug für den Herrn zeigte. Jedes
besorgte Wort von ihm war ein Dolchstoß in mein Herz. Und
eine noch größere Qual sollte folgen, als er mich an sich zog
und mein Haar unter meinem Mantelkragen hervorzog. Diese
letzten Wochen waren ein von jeder Leidenschaft entblößtes
Ödland gewesen, und jetzt, da die Liebe aufs neue erblühte,
war ich durch einen Stacheldrahtzaun davon abgeschnitten, den
ich durch meine eigenen Täuschungsmanöver errichtet hatte.
Aber mußte es denn so sein? Konnte ich weiter in einem Haus
mit mir leben, geschweige denn mit Ben, wenn ich ihm nicht
erzählte, daß ich Fully Female beigetreten war und wohin mich
solche Torheit gebracht hatte? Wie berauscht vor Erleichterung
öffnete ich den Mund – fest entschlossen, alles auszupacken –
als sich eine innere Stimme zu Wort meldete: Na toll, Ellie!
Entlaste dich, indem du ihn belastest. Bring Ben ruhig in eine
unmögliche Lage. Erzähl ihm, daß du schweigend
dabeigestanden hast, als Bunty Dr. Melrose dazu überredete,
den Totenschein zu fälschen. Dann überlass’ die Entscheidung
ihm. Was soll werden, Ben, Liebes? Wirst du dein Herz
herausreißen und es mir vor die Füße werfen, bevor du voll
Kummer zur Polizeiwache gehst, um die ganze schmutzige
Geschichte einem wachhabenden Sergeanten zu melden,
dessen Frau ihn gerade verlassen hat? Oder wirst du dich
meiner weiblichen Intuition beugen, daß Bunty unschuldig ist
und mit einem bittersüßen Lächeln einräumen, daß Schweigen
Gold ist und ein Mörder, der frei herumläuft, ein kleiner Preis
für ihre Freiheit? Oh, mein Liebling… ich mache mich sanft
aus seinen Armen los… Keine Ehe ist eine Insel.
»Bist du eingeschlafen?« Bens Lachen wogte durch mein Haar.
»Fast.«
»Das muß ja eine Party gewesen sein.«
»Total schlimm.«
»Armer Liebling.«
»Wie geht’s den Babys?« Mit gesenktem Kopf folgte ich ihm
in unser Schlafzimmer.
»Sie waren immer mal wieder ein wenig unruhig, aber als ich
vor fünf Minuten nachgesehen habe, schliefen sie tief und
fest.«
»Dann gehe ich lieber nicht rein. Ich will sie nicht wecken.«
Sein Lächeln hüllte mich ein. »Kriege ich einen Orden, weil
ich deinetwegen aufgeblieben bin?«
Die Kehle schnürte sich mir zu, und meine Augen brannten.
Wie leicht wäre es gewesen, Sorgen und Kummer zusammen
mit meinem Mantel in einem Haufen auf den Boden zu werfen
und mich sanft von ihm bei der Hand zu dem Himmelbett mit
der zurückgeschlagenen Decke und den Laken, so glatt und
kühl wie seine Haut unter meiner wehmütigen Berührung,
führen zu lassen. Aber es hatte keinen Zweck. Morgen früh
würde ich mich dafür hassen. Solange ich eine Flüchtige vor
dem Gesetz war, konnten Ben und ich nicht im tiefsten Sinne
Mann und Frau sein, was positiv betrachtet einen sehr
überzeugenden Grund darstellte, den Mörder von Miss Thorn
auf der Stelle zu finden.
»Was ist los?«
Ich manövrierte das Bett zwischen uns. »Ben, ich habe zuviel
Respekt vor dir, um mit dir zu schlafen, wenn ich in Trauer
bin.«
»Was?«
»Um Miss Thorn. Sie starb heute abend auf Buntys Party.«
»Beim Jupiter!« Er schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Als
du sagtest, die Party sei ein Reinfall gewesen, dachte ich, du
meintest lausiges Essen, was mich nicht überrascht hätte
angesichts der Tatsache, daß man mich nicht gebeten hatte, es
auszurichten.« Ich wußte natürlich, was er da tat. Er redete sich
aus dem Schock heraus. »Was für eine schlimme Geschichte.
Was war es – ein Herzanfall?«
»Das… das hat Dr. Melrose auf den Totenschein geschrieben.«
»Liebes!« Ben griff nach mir, dann wich er zurück, weil er mit
diesem außergewöhnlichen Feingefühl, das ich so wenig
verdiente, erkannte, daß ich es nicht ertrug, berührt zu werden.
»Ist sie einfach so in die Punschbowle gekippt?«
»Sie wurde im Schlafzimmer der Wisemans gefunden.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Mrs. Malloy und… ich.«
»Oh, mein Liebling.«
»Die ganze Sache ist ein ziemlicher Schlamassel.« Irgendwie
schaffte ich es, den Kopf zu heben und sah das Spiegelbild
meines Elends in seinen Augen. »Lionel Wiseman wollte
Bunty für Miss Thorn verlassen.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Könnte ich so etwas erfinden?«
»Das wurde aus heiterem Himmel auf der Party verkündet?«
»Bunty wußte es.«
»Holla! Bei diesem emotionalen Klima bin ich überrascht, daß
Miss Thorn die einzige war, deren Herz versagte.«
»Ben«, sagte ich und sank auf das Bett, »ich bin wirklich nicht
in der Stimmung, darüber zu reden.«
»Tut mir leid!« Er stand vor mir, und Zärtlichkeit strömte aus
jeder seiner Poren, bis ich in Reue und Selbsthaß versank. »Ich
bin ein gefühlloser Klotz, diese Einzelheiten aus dir
hervorzulocken. Das Bett ist jetzt der einzig richtige Ort für
dich. Sobald ich dich gut eingemummelt habe, gehe ich nach
unten und hole dir ein Glas heiße Milch. Genau das brauchst du
jetzt, würde der Onkel Doktor sagen.«
Ein Schauer durchlief mich, als die Vision von Dr. Melroses
hagerer Gestalt vor mir auftauchte, um mich zu quälen. Ich
versicherte Ben, daß ich nichts zu trinken wollte, machte mich
mechanisch fürs Bett fertig, und fünf Minuten später knipste er
das Licht aus.
»Gute Nacht, Liebes.« Er griff nach meiner Hand, und ich
klammerte mich an seinen Fingern fest, bis ich spürte, daß er
einschlief. Auf dem Rücken liegend, starrte ich in eine
Dunkelheit, in der die im Tageslicht vertrauten Gegenstände,
der Kleiderschrank und die Frisierkommode, sich in
Höllenmonster verwandelten. Ich hatte mich noch nie so allein
gefühlt. Na und? Wollte ich mich selbst bemitleiden, oder
wollte ich eine Verdächtigenliste erstellen? Verdammt! Bei
diesem Gedanken straffte ich meine Schultern und wartete
darauf, daß die Parade am Fenster meines Verstandes
vorbeimarschierte.
Zuerst Miss Thorn selbst. Schau mir in die Augen, Madam, und
sag mir, ob du dir in einem Anfall von Reue nicht selbst das
Leben genommen hast. Hast du eine Kirsche in deinen Nabel
gesteckt und dich selbst in Plastik eingewickelt, in der
Hoffnung, daß dein Liebster sich immer an dich als an das
vollendete Dessert erinnert?
Es entschwebt Miss T, und an ihre Stelle tritt der
ewigattraktive Lionel Wiseman. Haben Sie es sich, Sir, mit der
Verlobung noch einmal überlegt und beschlossen, sich wie ein
Gentleman aus der Affäre zu ziehen?
Und wer kann schon als nächstes kommen, wenn nicht Mr. und
Mrs. Jock Bludgett. Er leckt seinen Schnäuzer, und sie
verkörpert den alten Spruch: Hüte dich vor der Frau mit dem
ewigen Lächeln! Ich habe nicht vergessen, daß Sie J. B. einmal
eine Äffäre mit der unwiderstehlichen Gladys hatten, die
sowohl Sie als auch Ihre Frau mit einem guten Mordmotiv
versorgte. Ihres ist Reue und Molls ist gute alte Eifersucht.
Weg mit euch beiden. Macht Platz für die verwitwete
Jacqueline Diamond. Verzeihen Sie die Frage, teure Lady, aber
war der kürzliche Tod Ihres Gatten tatsächlich das peinliche
Mißgeschick, als den Sie ihn mir beschrieben? Oder löschten
Sie sein Lebenslicht in der Hitze eines Streits, und als Sie
erkannten, daß er tot war, inszenierten Sie das Fully-Female-
Szenarium, in dem Sie nackt aufs Bett gefesselt waren und er
ein zerknittertes Cape auf dem Fußboden? Ja, Jacqueline, ich
weiß, Sie haben viel Wirbel darum gemacht, die anrüchigen
Details vor der Polizei zu verbergen, aber war ich Ihre
Trumpfkarte, die gezückt werden sollte, falls Ihre Geschichte
nicht so iuiegeplant ankam? Und wenn Miss Thorn sich als das
unerwartete Haar in der Suppe herausstellte? Ich weiß, daß sie
ebenfalls in der Rosewood Terrace lebte. Und ich erinnere
mich, daß ich an dem verhängnisvollen Abend Licht in einem
Zimmer im oberen Stockwerk des Hauses gegenüber sah. Und
wenn es Miss Thoms Haus war und sie zufällig gerade von
ihrem Fenster aus die Vögel beobachtete, genau im falschen
Moment, und einige Zeit später nebenbei bemerkte, sie hätte
gesehen, wie Sie Norman abmurksten?
Abblende Jacqueline. Du meine Güte, da ist Mr. Walter Fisher!
Ich denke, es ist etwas weither geholt, zu behaupten, daß Sie in
dieser Woche wenig Betrieb hatten und beschlossen, das
Bestattungsgeschäft etwas anzukurbeln. Wie sagt man noch so
schön? Ich bin schuld an der Verzögerung, weil ich nicht bereit
bin, meinem Hauptverdächtigen ins Auge zu blicken?
Tiefes Luftholen. »Bringt Mr. Gladstone Spike herein.« Sir, ich
weiß, es verstößt gegen alles durch und durch Britische, einen
Mann, der graue Wolle trägt und den perfekten Sandkuchen
backt, als kaltblütigen Mörder zu verdächtigen. Aber ich wüßte
nicht, wie ich Sie davon freisprechen sollte. Nicht nach dem
Lachs.
Meine Behauptung ist, Sir, daß Sie zunächst versuchten, Ihre
Frau umzubringen, weil Sie frei sein wollten, um dort
anzuknüpfen, wo Sie Vorjahren mit Miss Thorn aufgehört
hatten. Zum Glück aller – ausgenommen Tobias –
neutralisierten die Umstände dieses Unternehmen, aber heute
abend ist es Ihnen gelungen, die Femme fatale beseite zu
schaffen. Wieso jetzt dieses Opfer? Ganz einfach. Sie
entdeckten, daß Miss Thorn Lionel Wiseman heiraten wollte.
Wenn Sie sie nicht haben konnten, dann sollte er sie auch nicht
bekommen.
Ich wurde schläfrig. Ein Gähnen spaltete mein Gesicht in zwei
Hälften, und einen Moment lang dachte ich, daß Mr. Spike von
der Schwelle meines Verstandes aus zugepackt hatte, um
sicherzustellen, daß ich nie wieder den Mund aufmachte.
»Sie spielen ein gefährliches Spiel, Mrs. Haskell.« Gladstones
Stimme flüsterte hinunter, hinunter in die tiefsten Tiefen des
Schlafs, wo Miss Thorn auf einer tönernen Urne an einem
Wasserfall saß und auf der Orgel »Bleib bei mir« spielte,
während zu einer Seite, in Schatten gehüllt, Reverend Eudora
Spike stand – und aus einem schwarzen Buch las, das entweder
die Bibel oder das Fully-Female-Handbuch war. »Die ersten
werden die letzten sein, Ellie, und die letzten die ersten! «Wie
lieb, wie professionell von ihr, darauf hinzuweisen, daß sie
ganz oben auf meiner Liste der Verdächtigen hätte stehen
sollen. Und wie sehr ich ihr – und allen meinen Mitfrauen –
wünschte, die Liebe wäre ein einziges langes Schaumbad.
Der Morgen begann wie immer.
»Ellie, sag mir, daß ich dich nicht in der Stunde der Not
verlasse.« Ben beugte sich übers Bett, ein fragendes Lächeln
spielte um seine Lippen, und in seinen Augen lag ein Funkeln,
das mich an einen Sonnenstrahl denken ließ, der einen Blick in
die Schatztruhe eines Piraten warf. »Ich würde mir den
Vormittag freinehmen, aber wir erwarten eine Menge Gäste
zum Mittagessen.«
»Nichts als Ausreden!« Ich schlang die Arme um seinen
Nacken und hielt ihn so lange fest, wie ich es wagen konnte.
»Weg mit dir. Die Kinder und ich haben den Tag voll
verplant.«
In der Tür schaute er zurück, und ich wußte, daß er den
Augenblick einstecken und mitnehmen wollte. Doch dann
sagte er: »Ich möchte wissen, wie es Flo Melrose geht.«
»Sie war gestern abend auf der Party«, erwiderte ich, »und
schien ganz und gar von den Toten auferstanden.«
»Gut.« Nachdenkliche Miene. »Bis heute abend, Liebes.« Die
Tür schloß sich mit einem letzten Blick aufsein
atemberaubendes Profil, und ich kletterte mit neuem Feuer aus
dem Bett, um den Mörder von Miss Thorn zu finden, bevor das
Zölibat mich endgültig schaffte.
Doch eine halbe Stunde später, mitten in dem Unterfangen, die
Zwillinge zu wecken und zu füttern, ging das Feuer langsam
aus. Bei Tageslicht besehen, wirkten die Überlegungen der
gestrigen Nacht dürftig, dürftiger als eine Handvoll
Kaffeebohnen. Welch schreckliche Ironie, wenn Miss Thorn
ganz natürlich an einem Herzanfall gestorben war und Bunty
und ich uns in die unmögliche Lage gebracht hatten, einen
Mord zu vertuschen, der keiner war. Was diesen Quatsch über
Gladstone Spike betraf, war mit Sicherheit meine Phantasie
vergiftet gewesen, nicht der Fisch.
»Was meint ihr?« wandte ich mich an Abbey und Tarn, die in
ihren Wippen saßen und aussahen wie die Sprößlinge von
Apoll mit ihren Sonnenstrahlhaaren und ihrem
Sonnenscheinlächeln. »Sagt mir die volle Wahrheit, meine
Lieblinge. Meint ihr, Mummy sollte Bunty Wiseman anrufen
und versuchen, ihr gut zuzureden? Wir könnten dann zu Dr.
Melrose gehen und ihn bitten, den Totenschein zu zerreißen.
Mit ein wenig Glück braucht niemand je etwas davon zu
erfahren.«
Die Zwillinge zerrten an ihren Riemen und gurrten Worte der
Weisheit.
»Ihr meint, ich drücke mich, weil ich keinen Schimmer habe,
wie ich den Mörder stellen kann?«
Keine Reaktion. Von Unschlüssigkeit wie gelähmt, kämpfte
ich mich durch den Vormittag. Mittags war ich immer noch so
durcheinander wie die Küche, die wieder einmal bis zur Decke
voll war mit Wäsche, die nicht gewaschen werden konnte, weil
die Waschmaschine sich gegen die Knüffe und Püffe
abgehärtet hatte, die sie angeblich in Gang setzen sollten.
»Masochistin!« höhnte ich sinnloserweise, warf schließlich
meine seifigen Hände hoch und ging in die Halle, um Mr.
Bludgett anzurufen.
»Guten Morgen, hier ist Mrs. Haskell von…«
»Ellie«, kreischte eine Stimme in mein Ohr. »Wie aufregend,
an diesem herrlichen Apriltag von Ihnen zu hören.«
»Pardon?«
Wildes Gelächter. »Na, jetzt machen Sie sich mal nicht über
mich lustig, indem Sie so tun, als wüßten Sie nicht, wer hier ist.
Wir Mitfrauen halten zusammen wie Klebstoff, stimmt’s?«
»Moll?«
»Die einzige meines Jock.« Etwas von dem Schwung
verschwand aus ihrer Stimme, aber nicht alles. »Haben Sie mit
Bunty gesprochen?«
»Nicht heute morgen.«
»Dann wissen Sie noch nicht, daß Halbmast angesagt ist?«
»Was?« Manchmal glaube ich, daß ich ein angeborenes Talent
habe, mich dumm zu stellen.
»Gladys Thorn ist tot!«
»Das…« – ich hielt inne, um tief Luft zu holen – »wußte ich
bereits, aber leider kann ich jetzt nicht darüber reden, meine
Babys sind allein im Laufstall. Also, wenn Sie Ihren Mann
bitten könnten, herzukommen und sich die Waschmaschine
anzusehen…«
»Na klar!« Kein Anzeichen, daß sie beleidigt war. Konnte eine
Frau so unzerstörbar fröhlich sein und nie zusammenbrechen
oder sich verkneifen, andere Leute rasend zu machen? »Noch
eines, Ellie.«
»Ja?«
»Freuen Sie sich für Gladys. Denken Sie mal darüber nach,
was könnte schöner sein, als zu sterben, wenn Sie vor Glück
überschäumen?«
»Moll«, sagte ich, bemüht, jede Schärfe aus meiner Stimme zu
tilgen, »Sie haben sich einen Orden verdient, wie Sie immer
alles von der positiven Seite sehen.«
»Danke!« Ihr fröhliches Lachen bohrte ein Loch in meinen
Kopf. »Es schadet nichts, nicht wahr, daß die Lady ein Dorn in
meinem Fleisch war. Und ich nehme an, Bunty wird auch kein
Schwarz tragen.«
»Vermutlich nicht.«
»Sie sagte, Lionel sei am Boden zerstört. Weinte die halbe
Nacht in ihren Armen, was ja nicht schlecht ist.«
»Nein.«
»Oh, noch ein letztes, Ellie! Heute abend um sechs ist bei
Fisher Funerals eine kleine Andacht angesetzt.«
»Nett«, sagte ich, bevor ich es verhindern konnte. Es war, als
hätte Gladstone Spike sich in meinem Kopf versteckt.
Irgend etwas fehlte auf Merlin’s Court, und ich brauchte bis
zum Spätnachmittag, um herauszufinden, was es war: Mrs.
Malloy. Die Zwillinge legten immer wieder den Kopf auf die
Seite, als ob sie auf ihre Schritte in der Halle lauschten. Und
selbst Tobias ließ den Schwanz hängen als Hinweis darauf, daß
ihm die Untertasse Milch fehlte, die sie ihm heimlich hinstellte,
wenn ich ihr den Rücken zuwandte. Gestern abend, als ich sie
zu Hause absetzte, hatte sie nichts davon gesagt, heute
vorbeizukommen, deshalb war es eigentlich ziemlich dreist,
sich wegen ihrer Abwesenheit Sorgen zu machen. Ich konnte
fast ihre Stimme hören. »Ist das der Dank, den ich kriege, Mrs.
H, weil ich Ihnen soviel von meiner kostbaren Zeit geopfert
habe? Nicht mal meine verdammte Seele gehört mir!«
»Ganz recht, Mrs. Malloy«, sagte ich, und das immer wieder,
den ganzen Weg durch die Halle, wo ich ihre Nummer wählte.
Aber ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen, daß sie
mir die Meinung sagte. Gibt es ein einsameres Geräusch auf
Erden als das Läuten eines Telefons, das niemand abhebt? Und
gibt es jemals einen unwillkommeneren Anblick als den eines
Menschen, der unangemeldet und uneingeladen dein Haus
betritt, wenn dein Kopf bereits ein Keller ist, bevölkert von
allen möglichen Pistolenhelden und chaotischen Gedanken?
Entschuldigen Sie, ich muß mal eben kräftig fluchen.
»Freddy!« Der Hörer sprang mir aus der Hand. »Du mußt
wirklich öfter hereinplatzen und mir einen Todesschreck
einjagen.«
»Spar dir dein Entzücken, Cousine! Und erspare es mir, rot zu
werden!« Bevor ich zweimal erblassen konnte, ließ er sich auf
ein Knie fallen wie ein Soldat aus einem Shakespeare-Drama,
in Wams und Kniebundhose, und schlug sich einmal, zweimal,
dreimal an die Brust, bevor er mit entsetzlicher
Geschwindigkeit auf mich zurobbte, immer noch auf den
Knien und mit ausgestreckten Armen. »Ellie, leih mir dein
Ohr!«
Albern, aber es war der struppige Bart, der mich erweichte.
»Freddy, was würde ich ohne dich anfangen? Ich höre dir
deinen Text ab… und hinterher, auch wenn ich dadurch auf
ewig in deiner Schuld stehe, paßt du dann kurz auf die
Zwillinge auf?«
Mrs. Malloy reagierte nicht auf mein Klopfen. Das Haus in der
Herring Street erwiderte meinen Blick so hochmütig, wie man
es bei seinem schmallippigen Briefkasten bis hin zu den
mißtrauischen Augen aus Spitzengardinen erwarten würde. Für
wen halten Sie sich, Mrs. Hocherhaben Haskell, daß Sie
herkommen und Ihre Nase in meine Angelegenheiten stecken?
»Ich bin eine Freundin, dafür halte ich mich!« Mein Flüstern
kräuselte sich zum Himmel hoch wie Rauch aus einem der
Kamine ringsum. Aus Mrs. Malloys Kamin kam kein Rauch,
und plötzlich hatte ich den absurden Gedanken, daß das daher
kam, weil das Haus zu atmen aufgehört hatte. Und was ich für
die Kenntnisnahme meiner Anwesenheit gehalten hatte, war in
Wahrheit der reglose Blick der Leichenstarre. Als ich zum
Wagen zurückging, merkte ich, daß ich noch Zeit
totzuschlagen hatte – hübscher Ausdruck –, bevor ich mich zu
Miss Thorns Andacht bei Fisher Funerals einstellen mußte.
Und als zauberte ich ein Kaninchen aus dem Hut, kam mir die
schlaue Idee, Flo Melrose einen Besuch abzustatten. Ich weiß
auch nicht, was ich mir davon erwartete, aber ich hatte das
Gefühl, daß es möglicherweise etwas bringen könnte.
Ich war einige Jahre zuvor einmal in ihrem Haus gewesen, im
Rahmen eines Workshops für den Basar von St. Anselm’s, und
ich fand meinen Weg jetzt mit fast der gleichen unheimlichen
Leichtigkeit wie in der Nacht des Todes von Norman, als ich
zu Jacqueline Diamonds Heim fuhr. Du meine Güte, war das
wirklich erst ein paar Tage her? Traumatische Ereignisse
dehnen die Zeit unglaublich. Aha, da war die vertraute
Auffahrt zu dem Gebäude, das eher nach einer Schule oder der
Feuerwehr aussah als nach einem Wohnhaus. Keine
Spitzengardinen hier. Überhaupt keine Gardinen, soweit ich
sehen konnte.
Der Vorgarten war ein asphaltierter Parkplatz mit einigen
Tannen, die wie Hindernisse wirkten, die man bei einem
Kurventest umfahren mußte, und ich überquerte die Fläche
unsicheren Schrittes, überzeugt, daß ich die Prüfung irgendwie
nicht bestehen würde, noch bevor ich die Haustür erreichte.
Schlechtes Gewissen, Ellie! Falls Dr. Melrose wegen
Fälschung medizinischer Dokumente die Zulassung entzogen
wird, wirst du dir das nie verzeihen. Und das alles ist so albern.
Du bist ein Opfer der Umstände. Eine unbeteiligte
Zuschauerin, in Ereignisse verwickelt, die eine Nummer zu
groß für sie sind. Ein kleiner Punkt im kosmischen Großen und
Ganzen.
Welch ein Bild! Da stand ich auf der Türschwelle der
Melroses, überwältigt von einem Gefühl der
Bedeutungslosigkeit. Ich hatte noch keinen Finger gerührt, um
die Türklingel zu drücken, als Flo schon öffnete. Sie sah aus
wie Prinz Eisenherz in einem braunen Kleid, unter dem sich,
danach zu schließen, wie sich ihre ausladenden Formen
abzeichneten, nicht einmal ein Büßerhemd verbarg.
»Ellie Haskell!« Ihr Blick war so leer wie die ungeschmückten
Wände der Diele, selbst als ihre ausgestreckten Hände, die
durch rötlichbraune Flecke monströs wirkten, mich über die
Türschwelle winkten. »Was führt dich hierher?«
»Ich…« Ich vergrub die Hände in den Taschen meiner
beigefarbenen Leinenjacke und nahm sie wieder heraus.
»Ich… ich war in der Nähe und dachte, ob ich dich vielleicht
zu der Andacht für Miss Thorn mitnehmen soll.«
»Das war lieb von dir.« Flos Lächeln schien über ihre Schulter
zu gleiten. Ich merkte, daß ihre Aufmerksamkeit, obgleich sie
mich voll ansah, von etwas hinter ihr in Anspruch genommen
war. Verständlich! Ich hatte Mühe, meinen Blick von diesen
Händen zu lösen und ihn auf… die Spur von Spritzern… von
demselben grausigen Braun… zu richten, die von der Stelle, an
der Flo stand, über das blaßgrüne Linoleum der Diele in eines
der angrenzenden Zimmer führte. »Ja, wirklich sehr freundlich,
Ellie, aber ich gehe nicht zu der Andacht.«
»Oh!«
»Aber irgendwann in nächster Zeit« – das Prinz-Eisenherz-
Haar wippte gegen ihre Wangen – »müssen du und ich uns mal
zum Kaffee oder Mittagessen treffen.« Kein Zweifel, ihre
Stimme wollte mich zur Tür hinausscheuchen, die sie
strategisch klug aufgelassen hatte. Diese Frau konnte mich
nicht schnell genug loswerden, was bedeutete, daß sie etwas zu
verbergen hatte. Was bedeutete, daß ich mich dumm stellen
mußte – eine Rolle, die ich, wie Freddy sagen würde, bis zur
Perfektion beherrsche.
»Oh, gern!« Als Strafe würde dieses Lächeln für immer auf
meinem Gesicht kleben. »Warum schmieden wir das Eisen
nicht, solange es heiß ist? Und – « ich stieß die Tür zu –
»werfen einen Blick in deinen Terminkalender?«
»Das ist wirklich nicht die günstigste Zeit – «
»Das ist es nie! Deshalb läuft sie uns ja immer davon.«
»Da hast du sicher recht.« Mit hochgezogenen Schultern,
vielleicht war es ein Achselzucken, blickte Flo zum
Treppenaufgang, dann drehte sie sich um und ging mit
erstaunlicher Anmut zu einer Tür links am anderen Ende der
Diele. »Gladys Thorn ist die Zeit tatsächlich davongelaufen.
Ich möchte wissen, ob sie eine Vorahnung hatte, als sie an
jenem Abend zur Kirche ging?«
»An welchem Abend?«
»Vorgestern abend – als ich den Autounfall hatte, in den deine
arme Katze verwickelt war. Als wir ganz langsam über die
Cliff Road nach Hause fuhren, sah ich sie kurz hinter dem Tor
zum Friedhof, ihr Fahrrad war gegen die Eiben gelehnt, und
der Mond stand hinter ihr… wie ein Heiligenschein. Nach dem,
was ich gerade durchgemacht hatte, war mir dabei ziemlich
unheimlich.«
»Natürlich.« Demnach war es nicht Gladstone Spike gewesen,
den ich gesehen hatte, als ich mit Tobias in den Armen auf
Bens Rückkehr mit dem Picknickkorb wartete! Was bedeutete
– ich starrte nervös auf Flos Hinterteil – , daß Dr. Melrose auf
meine Verdächtigenliste gesetzt werden mußte. Miss Thorns
Anwesenheit am Schauplatz – ihrem alten Orgelterrain – an
dem Abend bedeutete, daß sie gesehen haben konnte, wie er
mit der »Leiche « seiner Frau über der Schulter am Rand der
Klippe stand. Und wenn man bedachte, welch ein Plappermaul
unsere Gladys war, hatte sie vielleicht mit ihm über seinen
mitternächtlichen Streifzug gesprochen, vielleicht während
ihrer Verlobungsparty, und so ihr Schicksal besiegelt.
Vorausgesetzt, ich hatte mit meinem bösen Verdacht recht –
welch ein Spaß für den Doktor, sich Buntys Flehen anzuhören,
daß er auf dem Totenschein eine natürliche Todesursache
angab!
»Mein Kalender müßte hier drin sein.« Flo schob die Tür zu
einem Zimmer auf, das nach Terpentin und Ölfarbe roch.
Anders als in der Diele waren die Wände förmlich gepflastert
mit Porträts… nackter Männer.
»Sei ehrlich.« Flo schlängelte sich zwischen zwei Tischen aus
Sägeböcken und Spanplatten hindurch. »Sei brutal, wenn du
willst. Stört mich nicht. Ich genieße Kritik.«
»Sie sind wunderbar«, schwärmte ich. »Welch eine
Formgebung und Aussagekraft!« Mein Blick hing an einem
blonden Typ, der offensichtlich immer brav seine Cornflakes
gegessen hatte. »Sind die… anatomisch korrekt? Oder sind
manche… überlebensgroß?«
»Nein. Alle im richtigen Maßstab.«
»Du meine Güte!«Ich ging um einen Drehtisch mit Farbdosen
herum, rutschte mit dem Fuß auf einer nassen Stelle auf dem
Boden aus und wäre hingeknallt, wenn Flo mich nicht am
Oberarm gepackt hätte.
»Tut mir leid.« Sie hielt ihre verschmierten Hände hoch.
»Hatte gerade eine inspirierte Phase, bevor du kamst.«
»Aha!« Noch eines der kleinen Geheimnisse des Lebens klärte
sich auf. Die grausigen Spritzer waren Farbflecke.
»Und hier ist auch der Kalender.« Er wurde schwungvoll zum
Vorschein gebracht, in einer Art, die deutlicher als alle Worte
sagte: Nur noch zwei Minuten, und ich kann dich zur Tür
hinausbefördern, Ellie Haskell. Dann trat ein Blick in ihre
Augen, der rief: Zu spät! Ich drehte mich um und sah, wie die
Tür zur Halle geöffnet wurde. Ich machte mich schon auf den
Auftritt von Dr. Melrose gefaßt… und sah statt dessen einen
weit attraktiveren Herrn – in einem rotbraunen Morgenmantel.
Ich fiel nicht in Ohnmacht. In Ohnmacht zu fallen ist eine
Kunst, die ich nie beherrscht habe, aber ich betete um
Vergessen, als ich zurückwich und den Farbtöpfen gefährlich
nahe kam.
»Hallo, Ellie!« sagte Ben mit einem Lächeln, so frisch wie
seine frottierten Haare. »Was führt dich hierher?«
»Ich…« Krächzstimme. »Ich stelle hier die Fragen.«
»Wißt ihr was«, sagte Flo, während sie um uns herumglitt, »ich
glaube, es ist am besten, wenn ich euch zwei allein lasse.« Die
Tür ging klickend hinter ihr zu.
»Na, ist das nicht nett.« Mit verschränkten Armen stand mein
abtrünniger Gatte vor mir und klopfte mit dem bloßen Fuß auf
den bloßen Fußboden.
»Wie kannst du so dastehen…?«
»Meine Liebe, ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Hast du denn keine Scham?«Ich sprang vor Wut fast auf und
ab.
»Nanu, Liebes« – in seinen Augen lag ein Glitzern, das mich
an meinem Platz festnagelte –, »hast du das Recht, meine Ehre
anzuzweifeln, wenn du seit Tagen, wenn nicht seit Wochen
eine Lüge lebst?«
»Was?«
»Ich bin aus den Socken gekippt« – er schaute auf seine bloßen
Füße hinunter –, »als Flo erwähnte, was du wohlweislich zu
erwähnen vergessen hast, Ellie: deine Mitgliedschaft bei Fully
Female.«
»Aber…« Das Schuldbewußtsein heizte meine Stimme auf.
»Warum sollte ich denn nicht eintreten, wenn ich will.«
»Ellie, du hast nicht gerade Tennisstunden genommen. Das war
eine Sache, die uns beide angeht.« Er band den rotbraunen
Morgenmantel fester um seine apollgleiche Taille. »Und ich
verwahre mich dagegen, wie eine dressierte Robbe behandelt
zu werden.«
»Das war nicht Sinn und Zweck der Sache.«
»Ach nein? Denk an den Abend, als du diese verdammten,
albernen Hörner aufhattest. Ich würde das durchaus als
Zirkusnummer betrachten.«
»Damals hast du das nicht gesagt!«
»Weil ich nun an deine Verrücktheiten gewöhnt bin.«
»Herzlichen Dank.«
»Du verstehst es nicht, oder?« Ben sah mich jetzt eher traurig
als ärgerlich an. »Ich erwarte gern das Unerwartete von unserer
Beziehung. Was ich nicht will ist, Paragraph eins, Seite zehn in
einem Gewußt-wie-Sexhandbuch zu sein. Wie fändest du es
denn, wenn ich mit einem Anleitungsbuch ausgerüstet zu dir
käme: ›Halten Sie die rechte Brust fest…‹«
»Weißt du, was ich denke?« Ich klang wie ein zänkisches
Fischweib, als ich mit einer weitausholenden Geste auf die
Porträts an der Wand wies. »Ich glaube, du versuchst den Spieß
umzudrehen, Bentley T. Haskell, damit ich kein Wort gegen
deinen halbausgezogenen Zustand sagen kann, dessen Grund
abscheulich offen zutage liegt. Aber wenn du glaubst, daß ich
dir erlaube, deine Männlichkeit an diesen Wänden zur Schau
zu stellen, geschweige denn an denen von Merlin’s Court, bist
du schiefgewickelt!«
»Ellie…«
»Ich weigere mich, Abigails Porträt vom Kamin
herunterzuholen!«
»Könntest du mal aufhören, solchen Unsinn zu reden!« Zwei
lange Schritte, und er stand Nase an Nase mit mir. Das Feuer in
seinen Augen versengte meine Haut. »Ich bin heute nicht
hergekommen, um mein Porträt malen zu lassen. Ich kam, um
Flo darum zu bitten, eines von dir und den Zwillingen zu
malen, nach einem Schnappschuß, den ich mitgebracht hatte.
Wir sprachen gerade über den Plan, als ich ungeschickterweise
eine Farbdose umwarf und das Zeug sich über mich und den
Fußboden ergoß. Woraufhin ich ihr freundliches Angebot
annahm, mich zu duschen und… da wären wir.«
»Oh!«
»Ich bin heruntergekommen, um sie um etwas
Reinigungsflüssigkeit für meine Kleidung zu bitten.«
»Sag kein Wort mehr!« rief ich. »Du bist ein Heiliger, und ich
bin ein völliger Schwachkopf!« Von Reue geschüttelt, stürzte
ich aus dem Zimmer und flüchtete durch die Diele und zur
Haustür hinaus, wobei ich mir nicht wirklich mit dem
Gedanken schmeichelte, daß Ben mir in Dr. Melroses
Morgenmantel nach draußen folgen würde. Aber er tat es,
woraufhin ich in dem Fluchtauto davonbrauste. Seine Stimme
übertönte fast das Dröhnen des Motors.
»Ellie!«
So viele Nuancen in einem Namen. Rief er mich zurück, oder
sagte er auf Wiedersehen?
Die Fisher-Funeral-Kapelle war so gut beleuchtet, daß ich mich
nicht durch den Gang zu tasten brauchte, um zu der Gruppe zu
gelangen, die in den vorderen Bänken versammelt war, doch
niemand hätte dem Raum mangelnde Nüchternheit vorwerfen
können. Die Fenster waren mit dem traurigsten Violett
behängt, und die Luft war schwer vom Duft der Gardenien,
vermutlich aus einer Sprühdose, aber wir wollen nicht bissig
werden. Konzentrier dich auf die Zeremonie, Ellie! Weide
deine Augen an den hübschen kleinen Bänken und der mit der
Himmelspforte bemalten Decke. Sieh nicht den Sarg an. Doch
selbst mit dem Blick auf den Mosaikfußboden sah ich ihn, wie
er vor dem Puppenhausaltar stolz seinen Platz behauptete. Das
Gesicht auf dem Satinkissen konnte jedem gehören, tot oder
lebendig. Trug sie ihre Brille? Ein Schritt nach dem anderen.
Und schneller, als mir lieb war, glitt ich in die Bank neben
Leuten, die ich nicht von Adam und Eva unterscheiden konnte,
was aber wohl besser war, als neben Moll Bludgett zu sitzen,
die zusammen mit ihrem Ehemann zwei Reihen vor mir saß.
Wer weiß, vielleicht hätte die stets muntere Moll mich zu
überdrehten Lachsalven veranlaßt, was einfach nicht anging.
Ich warf tapfer einen Blick zwischen den Köpfen vor mir
hindurch. Ja, Miss Thorn trug ihre Brille, was bei
geschlossenen Augen etwas albern wirkte, aber ich mußte
zugeben, bei dem Material, mit dem Walter Fisher hatte
arbeiten müssen, sah sie geradezu strahlend aus in ihrem
bräutlichen Weiß. Sie hielt einen Strauß weißer Veilchen, und
als sich jemand bewegte und eine Veränderung an dem Einfall
des Lichts auf den Sarg verursachte, bemerkte ich ein Blitzen
an den gefalteten Händen und sah, als ich mich vorbeugte, daß
sie ihren diamantenen Verlobungsring trug. Wie romantisch
von Lionel Wiseman, ihn mit ihr begraben zu lassen. Aus den
Augenwinkeln sah ich besagten Verlobten neben seiner Frau in
der ersten Reihe stehen. Ich hoffte, Bunty würde in meine
Richtung sehen, damit ich mir ein Bild machen konnte, wie sie
es durchstand. Aber sie tat es nicht. Mein Blick schweifte zu
Spike und Dr. Melrose, aber keine Spur von Mrs. Malloy.
Dumm von mir, damit zu rechnen, daß sie hier sein würde…
Der Duft nach Gardenien war überwältigend. Ich stützte mich
auf die Lehne der Bank vor mir und senkte den Kopf, und als
ich wieder aufschaute, war Walter Fisher zusammen mit
Reverend Eudora Spike aufgetaucht. Verwandelte das Licht ihr
Gesicht in Wachs? Oder war der Kontrast, der durch ihre
schwarze Robe erzeugt wurde, dafür verantwortlich? Das war
nicht die fest geschnürte Frau mit der Fönwelle, die in meiner
Küche gesessen und Tee getrunken hatte. Sie hob sich deutlich
von den Laien ab. Sie trat auf die unterste Altarstufe hinunter,
neigte den Kopf und stieß einen Seufzer aus, der die Kapelle zu
erfüllen schien wie der Flügelschlag von Engeln. Sie bereitete
sich spirituell darauf vor, so nahm ich an, zu den
Hinterbliebenen zu sprechen. Doch bevor sie auch nur ein Wort
des Trostes sprechen konnte, hörte Mr. Fisher auf, an dem Sarg
herumzufuhrwerken, die Kissen aufzuschütteln, an den
Veilchen zu zupfen und kam die Stufen hinuntergetapst, um
zuerst seine Rede vom Stapel zu lassen.
»Mr. Wiseman.« Tiefe Verbeugung vor dem Cheftrauernden.
»Ladies und Gentlemen, ich gehe davon aus, daß jeder von
Ihnen diese letzten Augenblicke in der Gegenwart dieser
wahrhaft geliebten Dame hochhalten wird. Wenn ich das selbst
sagen darf, so meine ich, Gladys Thorn alle Ehre gemacht zu
haben. Auf jeden Fall sollte jeder nach den Gebeten nach vorn
kommen und sich persönlich von ihr verabschieden. Aber
keine Küsse auf die Stirn bitte, wir wollen doch nicht ihre
Frisur ruinieren, oder? Und noch eine letzte Ermahnung: Wenn
Sie unbedingt rauchen müssen, um Ihre Nerven zu beruhigen,
bitte ich Sie, die Asche nicht in den Sarg fallen zu lassen, wir
wollen die Dame doch nicht hier und jetzt schon einäschern.«
Versuchte dieser Mann, witzig zu sein? Kaum hatte er sich
unter Verbeugungen von der Bühne – ich meine, vom Altar
zurückgezogen, rief Reverend Spike uns alle zum Gebet.
»Himmlischer Vater, wir bitten dich um deinen Segen für
unsere dahingegangene Schwester, Gladys Thorn. Gewähre ihr
deine himmlische Vergebung, und sieh auch mit Erbarmen auf
die herab, die ihr Dahinscheiden betrauern. Befreie uns, die wir
unsere irdische Reise fortsetzen, von der Last der Sünde, und
lass’ uns einander unsere Fehler gestehen, in der sicheren
Hoffnung auf deine großzügige Vergebung.«
Sie hob den Kopf und schaute in die Gesichter der
Versammelten. Ihr Blick glitt über die Sitzreihen und
begegnete meinem. Er wäre weitergegangen, doch in diesem
Sekundenbruchteil kam mir… nennen Sie es eine himmlische
Erleuchtung, nennen Sie es, wie Sie wollen. Ohne es
vorzuhaben, ohne es zu wollen, streckte ich die Hand hoch und
rief mit lauter Stimme: »Bitte, Reverend, ich habe eine Sünde
zu beichten.«
Alle Köpfe drehten sich. Alle Blicke wandten sich mir zu.
»Ellie, meine Liebe«, sagte Eudora Spike sanft, »ich meinte
nicht jetzt. Wenn Sie nach der Andacht zu mir kommen
möchten…«
»Nein, ich kann es keinen Augenblick länger aushalten. Ich
kann nicht länger schweigen. Ich bin nicht ich selbst, seit ich
weiß, daß ein gemeiner Mord begangen wurde.«
»An ihr sollte jemand einen Mord begehen.« Die Worte kamen
von irgendwo aus der Menge, aber ich machte den Sprecher
nicht ausfindig, ich wartete nicht so lange, um mehr zu hören.
Ich nahm meine Handtasche und rannte zur Kapelle hinaus. Du
meine Güte, solche Abgänge schienen mir zur Gewohnheit zu
werden. Aber selbst als ich schon in meinem Wagen saß und in
ungewohnt schnellem Tempo über die Cliff Road fuhr, hatte
ich nicht das Gefühl, meine Flucht gut inszeniert zu haben. Der
Duft von Gardenien hing an meinen Händen, die das Lenkrad
drehten. Der Klang dieses Wortes – Mord – hallte mir noch in
den Ohren. Aber trotz all der Schimpfnamen, die ich mir selbst
gab, bedauerte ich meinen verrückten Ausbruch nicht wirklich.
Indem ich Bunty zur Seite stand, hatte ich einen Mörder
unbehelligt gelassen, also wessen Aufgabe wenn nicht meine
war es, ihn… oder sie… zu ködern. Und all das half dabei,
mich von meinen Problemen mit meinem geliebten Ehemann
abzulenken.
Ich hatte die Absicht, direkt nach Hause zu fahren. Aber
scheinbar wie aus eigenem Willen bog der Wagen in das Tor
zum Kirchhof von St. Anselm’s ein. Ich wußte, daß ich meine
Gedanken ordnen mußte – wohl im Unterbewußtsein –, so wie
ein Sterbender seine Angelegenheiten regelt. Ehe ich mich
versah, ging ich zwischen den in Mondschein getauchten
Grabsteinen hindurch und die Stufen zu der schweren
Eichentür hinauf. Ich war sicher, daß sie abgeschlossen sein
würde – aber wieder falsch, und schon trugen mich meine Füße
in das dämmerige Kirchenschiff. Ich fragte mich nicht, warum
Licht brannte. Ich wünschte nur, es wäre heller. Die Bänke und
kannelierten Säulen hatten etwas Geisterhaftes, da sie
ebensowenig von dieser Zeit und von dieser Welt waren wie
die Menschen, die hier vor hundert Jahren gebetet hatten.
Hörte ich da Schritte hinter mir? Ich sagte mir, ich solle nicht
albern sein, aber halt – da war das Geräusch erneut, und
diesmal konnte ich mir nicht einreden, daß es das Echo meiner
eigenen Schritte war. Die beschattete Strecke, an deren Ende
ich jetzt stand, mit dem Rücken zur Tür, schien sich von
Metern in Kilometer zu verwandeln. Keine gute Idee, daß ich
mich dieser Angst ausgesetzt hatte. Meine Augen schössen
hierhin und dorthin auf der Suche nach einem Fluchtweg,
während die Schritte lauter wurden und näher kamen –
vermutlich, weil ich sie mit meinem Herzklopfen
durcheinanderbrachte. Aber vielleicht hatte ich ja Glück, zu
meiner Linken entdeckte ich den Beichtstuhl, den Reverend
Spike angekündigt hatte. Schnell wie ein Blitz, still wie ein
Schatten öffnete ich eine der beiden Türen – ich hatte keine
Ahnung, ob es die des Geistlichen oder die des Büßers war –
und glitt hinein. Ich ließ die Tür angelehnt, damit ich nicht im
Stockdunkeln eingesperrt war. Eine Berührung wie von einer
Feder streifte meinen Nacken, und fast schrie ich auf. Ich
Dummkopf. Es war nur mein Haar. Langsam normalisierte sich
mein Atem, und ich hatte mir gerade eingeschärft, daß ich mir
diese Schritte eingebildet hatte… als ich die Tür auf der
anderen Seite des Beichtstuhls knarrend auf- und zugehen
hörte.
Eine erstickte Stimme erfüllte die Dunkelheit, und bevor ich
mich zurückhalten konnte, hatte ich mit zitternder Hand die
Holzscheibe aufgeschoben und ein kleines Gitter freigelegt…
und das Gesicht von Gladys Thorn.
»Bitte weinen Sie nicht«, bat ich. Absolut sinnlos. Ich hätte
ebensogut eine Fledermaus bitten können, nicht mehr mit den
Flügeln zu schlagen. Wir saßen in der Bank unmittelbar vor
dem Beichtstuhl und nahmen tiefe Atemzüge der
abgestandenen Luft, die schmeckte, als wehe sie seit dem
elften Jahrhundert hier in der Kirche. Hoch oben auf ihren
Sockeln, in Schatten gehüllt, warteten die Steinheiligen
atemlos auf eine neue Enthüllung.
»Miss Thorn?«
»Ja?« Das durchnäßte Taschentuch senkte sich einen
Zentimeter, und die Pilzaugen blickten in meine. Scheu.
»Sind Sie es wirklich?« Ich konnte nicht weitersprechen.
Meine Zunge war zu Staub und Asche geworden.
»Wer denn sonst?«
»Aber Sie sind tot!«
»Ach herrje, nein!« Das aufgeregte Lachen ließ mich fast von
der Bank fallen. »Sie müssen mich mit meiner Schwester
Gladys verwechseln.«
»Sie meinen…?« Ich mußte meinen Kopf festhalten, damit er
nicht davonflog.
»Ich bin Gladiola Thorn.«
»Ihr Zwilling?«
»Eigentlich« – die Spitze ihrer roten Nase zuckte stolz -»sind
wir… waren wir… Drillinge.«
»Drillinge! Alle eineiig?«
»Nicht ganz. Dawar Gladys, ich selbst und unser Bruder
Gladstone, mit dem Sie derzeit, glaube ich, bekannt sind.«
»Ich…«
Sie ließ mich nicht ausreden. »Gladys und ich… wenn Sie mir
verzeihen, daß ich ein so delikates Thema anspreche… wir
schlüpften sozusagen aus demselben Ei – was uns zu eineiigen
Zwillingen machte. Aber beim Aussehen endete die
Ähnlichkeit auch schon. In unserer Mädchenzeit war ich die
Wilde, brach mit der Kirche von England und trat zu den
Methodisten über.«
»Ich erinnere mich, daß Gladys erwähnte… Also waren Sie es,
die Mrs. Melrose in die Unity Methodist gehen sah – und die
Pfarrerin mit einer Ausrede versorgte, um ihre Schwester zu
feuern.«
Die neue Miss Thorn blickte durch mich hindurch in die
Vergangenheit. »Meine Eltern verstießen mich, und zu meinem
Bedauern muß ich sagen, daß ich es ziemlich genoß, das
schwarze Schaf zu sein, bis dieses Etikett mir durch Gladys
entrissen wurde, indem sie einen… liederlichen Lebenswandel
begann. Ein Mann nach dem anderen. Man konnte sie nicht
mehr zählen – nur den Preis, den unser lieber Bruder Gladstone
dafür zahlte. Seine Qual war kaum mitanzusehen. Er hatte, als
Gladys’ Lebenswandel ans Licht kam, gerade angefangen,
Eudora den Hof zu machen. Gab es irgendeinen Zweifel, daß
eine Frau, die entschlossen war, in den Dienst der Kirche zu
treten, seinen Heiratsantrag zurückweisen würde, sobald sie
das mit Gladys herausfand? Mein armer Bruder! Er klopfte
eines Tages an meine Tür und kein einziges Wort über meine
Sympathien für die Wesleyianer. Er bat um Rat, und den
bekam er von mir.«
»Sie sagten ihm, er solle seinen Namen in Spike umändern?«
»Uns fiel nichts ein, was Thorn ähnlicher war. Und Männer
sind das sentimentale Geschlecht, so hat man mir gesagt. Ich
persönlich weiß nichts über sie – im biblischen Sinne. Anders
als meine Schwester, mag ihre Seele… nicht in der Hölle
brennen…. bin ich berechtigt, mit dem edelsten aller Titel
angesprochen zu werden: Miss.« Edle Worte, die in einem
Schwung himmlischer Musik ausklingen sollten. Was in der
Tat geschah. Von irgendwo in diesen muffigen Höhen hoch
über unseren Köpfen kam das disharmonische Plonk, Plonk
von Orgelpfeifen.
»O mein Gott!« Miss Gladiola Thorn fiel auf die Knie, die
Hände zum Gebet gefaltet, und machte deutlich, daß sie
keineswegs Gott lästern wollte, sondern ihm Respekt zollte. Ich
hätte gern dasselbe gemacht, für alle Fälle, aber ich hatte
diesen nagenden Verdacht, daß wir es mit Gottes Schöpfung zu
tun hatten. Nicht mit dem Allmächtigen selbst – pardon, Fully-
Female-Frauen –, der Allmächtigen selbst. »Miss Thorn«, sagte
ich und zog sie am Arm. »Ich glaube, wir sollten möglichst
schnell verschwinden.«
»Aber Mrs…. Oje, ich habe Sie nicht nach Ihrem Namen
gefragt.«
»Ellie Haskell.«
»Und Sie wollen damit sagen?«
»Daß ein Eindringling hier ist.«
»Dann bin ich verloren!« Miss Thorns Schrei blies ihr das
Taschentuch aus der Hand. »Das kann nur bedeuten, daß der
Mörder von Gladys auch hinter mir her ist!«
»Schsch!« Ich nahm ihre Hand, und wir traten auf
Zehenspitzen in den Gang.
»Glauben Sie wirklich…«
»Ohne den Hauch eines Zweifels.«
Sie stolperte über meine Füße. »Gladys war so gesund wie ein
Pferd, abgesehen von der gelegentlichen« – ihre Stimme wurde
zu einem Flüstern – »Verstopfung, die sie sich selbst
zuzuschreiben hatte, weil sie sich als Kind weigerte, ihren
Feigensirup zu nehmen. Ich war immer die Zarte. Immerzu
beim Arzt. Bestimmt erinnern Sie sich, daß Sie mich neulich
bei Dr. Melrose gesehen haben. Ich habe Sie wegen der Babys
bemerkt.«
»Also das erklärt, warum Sie an mir vorbeigingen, ohne hallo
zu sagen!« So lächerlich es auch klingt, das Gespräch war so
faszinierend geworden, daß ich mitten im Gang stehenblieb
und momentan vergaß, daß der Sinn der Übung die Flucht vor
den Klauen des übelwollenden Orgelspielers war. Gladiola
stieß von hinten gegen mich, beförderte mich in die Bank
gegenüber, und ich packte zu, um mich zu retten, mit dem
Ergebnis, daß ein Stapel Gesangbücher zu Boden fiel. O
Gnädiger Vater, errette uns! Der Lärm, der in alle Richtungen
ertönte, war schlimmer als der Einsturz der Mauern von
Jericho. Ich hatte Mühe zu atmen, geschweige denn, mich zu
bewegen, als eine Stimme aus den dämmerigen oberen
Regionen dröhnte.
»Was zur Hölle geht da unten vor?«
Gladiola Thorn schickte sich an, in Ohnmacht zu fallen, aber
ich versperrte ihr den Weg zum Fußboden. Wenn meine Ohren
mir keinen Streich spielten, gab es keinen Grund für
hysterische Anfälle.
»Na los, raus damit! Was soll all dieser verdammte Lärm? «
»Mrs. Malloy?« Indem ich meinen Hals reckte und die Hand
über die Augen hielt, gelang es mir, jemanden zu erkennen, die
meine Haushaltshilfe sein konnte, wie sie sich von der
Chorempore beugte.
»Tja, wer sonst sollte es sein? Ich komme hier rein, um meine
gute Tat des Tages zu verrichten, indem ich hier saubermache,
ohne Bezahlung zu verlangen, nur für ein bißchen Ruhe und
Frieden, und was kriege ich? All diesen Lärm! Das reicht mir
schon, um mein Staubtuch hinzuwerfen! Wirklich!« Ob sie auf
die Worte die Tat folgen ließ, oder ob das Tuch auf Treu und
Glauben hin sprang, weiß ich nicht. Es kam jedoch
heruntergeflattert und veranlaßte Gladiola, sich hinzuknien und
den Rand der Bank zu umklammern.
»Mrs. Malloy, ich bin’s, Ellie Haskell!«
»Das weiß ich, Mrs. H.« Schwere Schritte. »Ich mag hier oben
zwar blind wie eine Fledermaus sein, aber ich bin nicht taub
und war es auch noch nie.«
»Wie dumm von mir! Ich hätte wissen müssen, daß hier
jemand an der Arbeit ist, als ich die Kirchentür unverschlossen
vorfand und einige der Lichter brannten. Verzeihen Sie die
Störung…« Ich ging um Gladiola herum und sah, wie die
vertraute Gestalt aus dem trüben Licht trat. »Ich bin nur so
froh, Sie zu sehen, Mrs. Malloy. Nach gestern abend, nach den
Ereignissen auf Buntys Party, war ich ein bißchen nervös, und
als ich keinen Kontakt mit Ihnen aufnehmen konnte…«
Untypisch für Mrs. Malloy, mich so plappern zu lassen!
Vielleicht war es die geweihte Atmosphäre, die sie schweigen
ließ. Aber ihr Gesicht sprach Bände. Ich sah, wie ihr Mund
aufging. Ich sah, wie ihre Augenbrauen in ihrem Haar
verschwanden. Aber erst als sie langsam den Arm hob und mit
zitterndem Finger auf etwas zeigte, merkte ich, daß sie über
meine Schulter hinweg auf Gladiola Thorn sah, die sich hinter
mir erhoben hatte.
»Es ist schon gut«, rief ich. »Es ist nicht, was – wer – Sie
denken.« Aber Mrs. M hörte nichts mehr. Sie taumelte
vorwärts und wäre wie ihr Staubtuch geendet, als ein
zerknittertes Häuflein auf dem Fußboden, aber zum Glück…
ächz, ächz… gelang es mir, sie gerade noch rechtzeitig
festzuhalten.
»Oh, du meine Güte!« Miss Thorn klammerte sich an meinen
Arm und ließ uns alle fast zu Boden gehen. »Wenn sie mir nur
etwas Zeit gegeben hätte, mich vorzustellen. Ich hätte erklären
können, daß ich nur hierher gekommen bin, um meinem
Bruder in der Stunde der Not beizustehen. Ich hätte niemals die
Schwelle dieser Kirche überschritten, wenn ich nicht gedacht
hätte, daß das hier der rechte Ort ist, um meiner sündigen
Schwester adieu zu sagen.«
»Könnten wir das später diskutieren?« keuchte ich. »Wenn Sie
mir helfen, Mrs. Malloy auf diese Bank zu setzen… Genau so.
Ich hole etwas Wasser vom Weihwasserbecken. Bestimmt gibt
es einen Dispens für Aktionen aus Mitleid. Wenn sie wieder
bei Kräften ist, könnten Sie mir helfen, sie nach draußen zu
meinem Wagen zu schaffen. Ganz ruhig, Mrs. Malloy!« Sie
blinzelte verängstigt. »Ich nehme Sie für heute nacht mit zu
mir nach Hause.«
Die Fenster von Merlin’s Court waren verschwommen im
Morgennebel, oder vielleicht sahen sie nur so aus, weil mein
Blick vor Tränen verschwommen war. Ich hatte geschlafen –
na ja, fast-, als Ben am Abend zuvor nach Hause gekommen
war. Doch jetzt standen wir einander im Schlafzimmer
gegenüber, und ich sagte Dinge, die ich nicht sagen wollte,
steife Worte, die in peinliche Sätze gestopft waren und ihn
sprachlos machten.
»Bitte!« rief ich, als ich die Stille, die über meinem Kopf hing
wie ein Schwert, nicht länger ertragen konnte. »Steh nicht nur
so da! Sag mir, daß du mich verstehst.«
»Aber ich tu’s nicht!« Er ging auf dem Kaminvorleger auf und
ab, mit gesenktem Kopf. »Du bittest mich, zu gehen.«
»Nicht für immer!«
»Ellie, das ist doch nicht der richtige Weg, um
Meinungsverschiedenheiten zu klären.«
»Aber hier geht es nicht nur um Fully Female.« Ich
umklammerte den Bettpfosten, als ob er der Mast eines
sinkenden Schiffes wäre. »Es geht darum, daß ich ein, zwei
Tage für mich allein brauche. Ich habe nie Zeit nur für mich.
Nicht seit die Babys da sind, und ich brauche Zeit -jetzt, heute.
Ich will, daß du Abbey und Tam zu deinen Eltern mitnimmst.
Du weißt doch, wie deine Mutter ständig davon redet, daß sie
ihre Enkel sehen will. Mach ihr diese Freude. Sie wird dich
dafür lieben, und ich auch.«
»Da steckt doch mehr dahinter…«
»Das stimmt nicht!« Mit hinter dem Rücken gekreuzten
Fingern.
»Es wäre schwierig für mich, das Abgail’s so kurzfristig
unbeaufsichtigt zu lassen.«
»Wo ein Wille ist!«
»Ich nehme an«, sagte Ben, während er seine sorgenvolle Stirn
rieb, »daß Freddy für zwei Tage einspringen könnte.«
»Du denkst nicht richtig nach«, sagte ich. »Du wirst Freddy
mitnehmen müssen. Du kannst unmöglich ohne eine
Verstärkung für die Zwillinge nach London fahren. Sie werden
bestimmt manchmal Theater machen, und vielleicht mußt du
unterwegs anhalten, um sie zu füttern oder zu wickeln.«
»Und wer leitet also das Abigail’s?«
»Ich bin sicher, das Personal wird an einem Strang ziehen.«
»Aus deinem Mund klingt das alles so einfach.«
Dann hatte ich mehr von einer Schauspielerin, als ich wußte.
Ich durfte die Sache nicht verderben, indem ich Ben die Tränen
in meinen Augen sehen ließ. Das Haus von meiner geliebten
Familie freizumachen, war eine entsetzliche Aufgabe. Aber es
mußte sein. Um ihretwillen. Ich hatte ein unwirkliches Gefühl,
als ich ins Kinderzimmer ging und die Sachen der Babys
zusammenpackte, während Ben sie anzog und fertigmachte.
Freddy leistete erwartungsgemäß keinen Widerstand dagegen,
daß er praktisch gekidnappt wurde. So wie er die Dinge sah,
wäre Ben mehrere Stunden lang sein gebanntes Publikum. Und
ich hoffte stark, daß sein Vortrag aus Normannen der Götter
die Babys einschläfern und auch bis zum Ende der Reise
weiterschlafen lassen würde.
Um kurz vor neun Uhr stand ich im Hof und winkte der kleinen
Reisegesellschaft zum Abschied.
»Ellie…« Ben steckte zum drittenmal den Kopf aus dem
Autofenster.
»Fahr!« flüsterte ich. Und weil ich es uns beiden leichter
machen wollte, drehte ich mich um und ging zum Haus. Als
ich mich noch einmal umschaute, kurz bevor ich hineinging,
war die Kieseinfahrt leer, und was ich für das ferne Dröhnen
des Motors gehalten hatte, könnte die See gewesen sein. Als
ich die Stufen hinaufging, hörte ich das Plip, Plop von
Regentropfen an den Fenstern. Aber mein Gesicht war trocken.
Mir war so kalt geworden da draußen, daß ich vielleicht erst
ein wenig auftauen mußte, bevor ich weinen konnte. Außerdem
war da noch eine Person im Haus, deren Gefühle berücksichtigt
werden mußten: Mrs. Malloy. Sie hatte gestern abend einen
schlimmen Schock erlitten und brauchte wirklich nicht vom
Antlitz des Kummers geweckt zu werden.
Ich klopfte an ihre Tür. »Guten Morgen!«
»Herein!«
Na, das klang ja einigermaßen munter! Als ich hineinging, fand
ich sie in dem schwarzem Taftkleid mit dem Jettperlenbesatz
vor, das sie gestern abend getragen hatte. Jedes Härchen und
jeder Schönheitsfleck waren an ihrem Platz.
»Keine Sorge, Mrs. H, ich brauchte meinen Schlüpfer nicht
verkehrt herum anzuziehen. Ich hab’ eine Männerunterhose in
einer der Schubladen gefunden. Eine gute aus Wolle und keine
Spur von Motten.«
»Ausgezeichnet.«
»Sie brauchen sich nicht selbst auf den Rücken zu klopfen.«
Sie eilte mit einem Stapel Wollhosen zum Bett hinüber. »Ich
war noch nie im Leben so schockiert. Haben Sie noch nie von
Mottenkugeln gehört?«
»Tut mir leid, Mrs. Malloy, ich enttäusche Sie immerzu.«
»Verdammt noch mal!« Sie ließ die Wollhosen in einer
Zeitlupe aufs Bett fallen, die einer Reklame für Weichspüler
zur Ehre gereicht hätte. »Was ist los mit Ihnen, mein
Mädchen?«
»Naja…« Ich setzte mich aufs Bett und fing an, meinen Rock
zu fälteln. »Ich habe mich in letzter Zeit etwas eingeengt
gefühlt. Kurz und gut, Ben ist gerade mit Freddy und den
Zwillingen weggefahren, um für ein paar Tage meine
Schwiegereltern zu besuchen und…«
Mrs. Malloy senkte ihre Neonlider und schmatzte mit ihren
Schmetterlingslippen. »Da steckt doch mehr dahinter, Kleines,
als man auf den ersten Blick sieht. Meine Vermutung ist, Mrs.
H, daß Sie die Luft rein haben wollten, weil Sie einen Plan
aushecken, wie Sie den Mörder von Miss Thorn fangen
können.«
Ich sprang auf und rief: »Was bleibt mir denn für eine andere
Wahl? Es wäre nicht richtig, einen solchen Menschen frei
herumlaufen zu lassen. Er oder sie könnte wieder zuschlagen.
Indem ich schwieg, um Bunty zu schützen, habe ich die Polizei
daran gehindert, ihre Arbeit zu tun.«
»Und jetzt müssen Sie sie tun, verflixt noch mal?« Zu meinem
Erstaunen sah Mrs. Malloy aus, als wollte sie in Tränen
ausbrechen.
»Ich wüßte nicht, welche andere Wahl ich hätte.«
»Na schön, Sherlock«, sagte sie resolut, Bauch rein, Brust raus,
»nennen Sie mich einfach Watson.«
»Auf keinen Fall.«
»Mrs. H, ich mache keine Decken, ich mache keine
Dachrinnen, und ich lasse keine Freundin im Stich, die mich
braucht. Und jetzt« – sie führte mich beim Ellbogen zum Bett –
»erzählen Sie mir Ihren Plan.«
Ich seufzte. Aber die Erfahrung hatte mich gelehrt, daß es
keinen Sinn hatte, mit ihr zu diskutieren. »So einfach wie das
ABC, wirklich. Gestern abend bei Miss Thorns Andacht habe
ich ein öffentliches Geständnis abgelegt. Ich sagte, bevor ich
aus der Kapelle rannte, daß ich mich des Vergehens schuldig
gemacht hätte, einen Mord zu verschweigen. Natürlich muß der
Täter nicht dagewesen sein, aber Chitterton Fells ist ein solch
kleiner Ort, daß die Dinge in aller Schnelle die Runde machen.
Und ich rechne damit, daß der Mörder rasch handelt, um mich
zum Schweigen zu bringen. Deshalb mußte ich Ben und die
Babys aus dem Haus schaffen. Ich konnte ihre Sicherheit nicht
aufs Spiel setzen, und wirklich, Mrs. Malloy, mir wäre leichter
ums Herz, wenn Sie auch gehen würden.«
»Hab’ noch nie solch einen Bockmist gehört! Sie werden mit
diesem Mörder fertig?« sagte sie und erstickte fast an den
Worten. »Ganz im Alleingang?«
»Na klar!« Ich setzte mich aufrecht hin. »Ich habe Ihre Pistole.
Lionel Wiseman hat sie mir zurückgegeben, nachdem ich sie in
seinem Haus verlegt hatte, und sie ist… lassen Sie mich
überlegen… noch in der Tasche meines Regenmantels.«
»Das muß ich Ihnen lassen, Mrs. H, Sie sprudeln über vor
Kompetenz.«
Eine Herabsetzung, die es zu überhören galt. »Mein Plan ist,
meine zuverlässige Waffe zu zücken und den Bösewicht in
Schach zu halten, während ich die Polizei verständige.
Übrigens, die Pistole ist doch geladen, oder?«
»Jetzt haben Sie mich kalt erwischt.« Mrs. Malloy sah ziemlich
geknickt aus, und ich versicherte ihr eiligst, daß es nicht die
geringste Rolle spielte. Ich würde nicht in die Lage kommen,
das Ding abfeuern zu müssen, ich brauchte nur damit
herumzufuchteln und so auszusehen, als könnte ich ein Ende
vom anderen unterscheiden.
»Das mag sein, wie es will!« Die Hände in die schwarzen
Tafthüften gestemmt. »Aber Sie können mir nicht weismachen,
daß die Chancen auf Erfolg nicht viel besser stehen, wenn wir
zwei gegen einen… wen auch immer sind.«
»Aber es ist Ihnen gegenüber nicht fair.«
»Doch, das ist es, verdammt noch mal.«
»Wieso?«
»Weil ich es sage!« Ohne sich zu einem Blick auf mich
herabzulassen, stolzierte sie zur Tür und sagte, sie werde einen
Tee aufbrühen. Der Himmel sei dem Mörder gnädig, der
anklopfte, bevor Mrs. Malloy ihren Tee getrunken hatte. Zu
behaupten, ich wäre nicht froh gewesen, sie dabeizuhaben,
wäre eine Lüge. Wäre sie noch immer wie in einem
posterotischen Nebel herumgelaufen, dann hätte die Sache
anders ausgesehen. Aber wer kann ewig im siebten Himmel
schweben? Sie schien auf jeden Fall wieder mit beiden Beinen
fest auf der Erde zu stehen. Ich konnte sie in der Küche
herumspazieren hören, als ich auf der Suche nach meinem
Regenmantel nach unten ging. Bis ich diese Pistole in meiner
Hüfttasche hatte, würde ich keine ruhige Minute haben. Mir
ging flüchtig durch den Sinn, daß ich mich eventuell für eine
Begegnung vorbereiten könnte, zu der es nicht kommen sollte.
Aber tief im Innern wußte ich, daß der Mörder mich aufsuchen
würde. Vielleicht war er oder sie sogar schon auf dem Weg.
Der Regen half mir nicht gerade, um mich zu beruhigen. Er
klang wie ein Mensch, der gegen eine Fensterscheibe klopft,
um seine Nervosität zu bekämpfen… oder bewußt Nervosität
schuf.
Mein Regenmantel war nicht im Schrank in der Halle und auch
nicht im Wandschrank unter der Treppe. Als ich die Küche
betrat, war ich mehr als nervös, und als ich schließlich den
Haufen von Mänteln am Ständer bei der Gartentür durchsucht
und noch mal durchsucht hatte, war ich geradezu in Panik.
»Können Sie ihn nicht finden?« Mrs. Malloy stellte ihre Tasse
mit einem Klappern ab, das meine Zähne aufeinanderschlagen
ließ.
»Ich habe noch nicht richtig gesucht.« Mit diesen Worten
tauchte ich wieder in die Halle ab, rannte nach oben und fing
an, Türen aufzureißen, hinter Kommoden zu sehen, sogar unter
Betten zu kriechen. Die meisten Orte, an denen ich nachsah,
ergaben keinen Sinn, aber ich dachte nicht mehr logisch. Mein
Regenmantel war zum Feind geworden, der mich in ein
tödliches Versteckspiel verwickelte. Und der Faktor Zeit, zum
Teufel mit ihr, kam zusätzlich ins Spiel. Ich sah um zehn auf
die Uhr, dann wieder zwei Minuten später, um festzustellen,
daß es zwanzig nach war. Hätte sich Mrs. Malloy einen Zacken
aus der Krone gebrochen, wenn sie hochgekommen wäre, um
mir zu helfen? Als ich aus dem Bad kam, wo ich den
Wäschekorb und das Medizinschränkchen durchsucht hatte,
hörte ich einen Knall… dann noch einen… gefolgt von dem
Geräusch einer Tür, die ganz leise geschlossen wurde. Mit
köpfendem Herzen schob ich mich durch den Korridor. Nichts
mehr, nur noch das Plüsch, Platsch des Regens gegen die
Fenster und das Knarren der Stufen unter meinen Füßen. Wir
hätten von Anfang bis Ende zusammenbleiben sollen. Die
Versuchung, ihren Namen zu rufen, war überwältigend, aber
ohne die Pistole war mein einziger Verbündeter die
Heimlichkeit! Ach komm, Ellie, sei nicht solch ein Feigling!
Nimm diese vollkommen scheußliche Vase, die Tante Astrid
dir zur Hochzeit geschenkt hat, und schleich dich kampfbereit
durch die Halle.
Jemand pfiff eine Melodie, schauderhaft munter, als ich die
Küchentür aufschob.
Krach! Ich schlug die Vase blitzschnell gegen seine Stirn und
sah durch einen Splitterregen, wie ein Körper rückwärts
taumelte, um dann mit einem Getöse zu Boden zu gehen, der
das ganze Haus erschütterte. Hinter meinen geschlossenen
Lidern zogen die Verdächtigen in grimmiger Prozession
vorüber, wie die Geister der Vergangenheit eines Ertrinkenden
– all die alten Bekannten, und Gladiola Thorn bildete das
Schlußlicht. Doch als ich mich zwang, die Augen zu öffnen,
sah ich jemanden in einem grauen Overall ausgestreckt auf
dem Fußboden liegen, der noch einen Schraubenschlüssel in
der Hand hielt.
»Jock Bludgett!«
Das Geräusch meiner Stimme rief mich mit einem Ruck wieder
ins Leben zurück, doch zum Glück hatte sie nicht dieselbe
Wirkung auf Mr. B, den Bösewicht, denn im Innersten hatte
ich immer gewußt, daß der Klempner der Mörder war. Es war
möglich, daß er jeden Moment wieder zu sich kam. Ich sollte
mich nach etwas umsehen, womit ich ihn fesseln konnte, bevor
ich mich auf die Suche nach Mrs. Malloy machte. So sagte ich
mir, während ich gegen Wellen der Übelkeit ankämpfte und
auf die Tür zum Arbeitszimmer starrte, die nur einen
Zentimeter weit offenstand. Einen verräterischen Zentimeter,
denn sie war doch geschlossen gewesen, als ich herunterkam?
Kauerte meine Assistentin hinter dieser Tür, zu ängstlich, um
sich zu rühren, zu ängstlich, um zu rufen, weil sie nicht wissen
konnte, ob der Eindringling mich erwischt hatte oder
andersherum?
»Mrs. Malloy!« Ich fand mich an der Tür wieder, die Hand auf
dem Türknauf, und meine Stimme stahl sich durch den Spalt in
das Dämmerlicht hinein. Keine Antwort, nur der heisere Atem
des Windes und das Tropf, Tropf des Regens. Unfähig, die
quälende Ungewißheit noch länger zu ertragen, stolperte ich
ins Arbeitszimmer, um zu sehen, wie Mrs. Malloy… bewußtlos
auf dem Fußboden vor dem krankenhausgrünen Gasofen lag.
»O mein Gott!« Ich ging zwei Schritte auf sie zu, bevor ich ein
verdächtig leises Geräusch hinter mir hörte. Ein Schatten löste
sich von der Wand.
»Mrs. Haskell?«
»Ja?«
»Ich denke, wir sollten uns unterhalten.« Die Stimme legte sich
um meinen Hals, drückte so wirksam die Luft aus mir heraus
wie zwei kräftige Hände. Meine Brust tat weh, aber in meinem
übrigen Körper breitete sich eine gnädige Taubheit aus, als ich
mich umdrehte zu… Mr. Walter Fisher.
»Meinen Dank.« Sein Guppylächeln erfüllte den ganzen Raum
mit Eiseskälte. »Meinen tiefempfundenen Dank, daß Sie sich
um den Klempner gekümmert haben. Er hätte alles verderben
können. Aber zwei erledigt, noch einer übrig.«
»Ich verstehe nicht«, rief ich. »Das weibliche Geschlecht ist
immer so ungeduldig.«
»Was haben Sie Mrs. Malloy getan?«
»Ich habe ihr etwas gegeben, damit sie schläft.«
»O, du lieber Gott! Sie dachte, Sie liebten sie.«
»Das tat ich, eine ganze Nacht lang.« Seine Augen wurden trüb
in der Erinnerung. »Sie warf ihren Fully-Female-Köder aus. Ihr
Lächeln täuschte. Und diese pochenden Lenden versetzten
mich in einen Taumel des Verlangens, das nur befriedigt
werden konnte, indem ich mich ganz und gar in ihre Macht
gab. Und in diesem Augenblick der Unachtsamkeit erzählte ich
ihr von Madge.«
»Madge?«
»Meine Frau.«
»Die, die Sie eines dunklen Abends verlassen hat?«
»Genau die…« Endlich wärmte sein Lächeln seine Augen.
»Die, die ich eines dunklen Abends erdrosselte, weil ich ihre
lärmende Fröhlichkeit keine Stunde länger ertragen konnte. Sie
war wie diese schreckliche Bludgett. Immerzu lächelnd.
Immerzu lachend.« Ein Schauder lief durch Mr. Fishers
hageren Körper. »Zum Glück hatte ich bei meinem Beruf
keinerlei Probleme, ihre Leiche zu beseitigen.«
»Bitte erzählen Sie es mir nicht«, bat ich.
»Feuerbestattung ist nicht jedermanns Sache. Aber ich habe nie
bestritten, daß sie ihre Vorteile hat.«
»Arme Mrs. Malloy!« Ich meinte nur, weil sie so betrüblich
betrogen worden war.
»Na, keine Sorge«, versicherte Mr. Fisher mir schnell. »Im
kalten Licht des Tages erkannte ich, daß ich Roxie Malloy
nicht bei einer ihrer gemütlichen Erlebnis-Ehe-Sitzungen
ausplaudern lassen durfte, daß ich Madge erledigt hatte, aber
keine Sorge, ich habe nicht die Absicht, Roxie so zu beseitigen
wie meine Frau. Zwei Frauen, die mir verschwinden, sind eine
zuviel. Ja, wirklich, aber keine Zeit, zu Zittern und Zagen. In
einem ihrer leidenschaftlicheren Momente erzählte Roxie mir,
wie sie sich hier auf Merlin’s Court das Leben nehmen wollte,
Sie sie jedoch davon abgebracht hätten. Jammerschade – « er
rieb sich die Nase – , »daß Sie nicht mehr dasein werden, um
es bei der gerichtlichen Untersuchung zu bestätigen. Aber da
sie eine Fully-Female-Frau war, wird sie mit Sicherheit auf
einer der Sitzungen mit ihrem Selbstmordversuch geprahlt
haben.«
»Wo«, stammelte ich, »werde ich sein?«
»Sie, Mrs. Haskell, kommen mit mir, nachdem ich das Gas
angestellt und Roxie etwas bequemer hingelegt habe.«
»Nein!« In einem Ansturm wütender Energie schlug ich mit
meinen Fäusten zu. Aber wenn es jemals ein sinnloses
Unternehmen gab, dann dieses. Er griff in seine Tasche und
zog eine Pistole heraus, deren gemeines kleines Auge sich fest
auf mein Gesicht richtete, während Mr. Fisher den Ofen
andrehte. Und mit diesem furchtbaren Zischen in den Ohren
scheuchte er mich in die Halle. Ich war etwas überrascht, daß
er es vorzog, das Haus durch die Küche zu verlassen, was
bedeutete, daß er um die reglose Gestalt von Mr. Bludgett
herumgehen mußte, aber er erklärte, daß sein Wagen vor der
Gartentür stünde. Einen wilden, flirrenden Moment lang war
ich, als wir um Jocks graue Overall-Gestalt herumgingen,
überzeugt, er werde zum Leben erwachen, Mr. Fisher an den
Beinen packen und ihn zu Fall bringen. Aber mitnichten. Und
außerdem konnte man von Mr. B wohl kaum erwarten, mich
als Dame in Not zu betrachten. Er war auf meinen gestrigen
Anruf hin hier aufgetaucht, um die Waschmaschine zu
reparieren und hatte für seine Mühe eins über den Schädel
bekommen. Ich konnte ihn fast sagen hören:
»Lady, hätten Sie Ihre Beschwerde nicht in schriftlicher Form
einreichen können?«
Inzwischen waren meine Gedanken, wie man merkt, extrem
wirr. Als Mr. Fisher an der Gartentür stehenblieb, sah ich, wie
er zwei Regenmäntel von dem Haken in der Nische nahm und
stellte mit einer Art ironischer Belustigung fest, daß einer von
ihnen – der unter dem anderen gehangen hatte – genau der
Mantel war, nach dem ich gesucht hatte, während er sich ganz
wie zu Hause fühlte und die arme Mrs. Malloy betäubte.
»Hier, ziehen Sie den an.« Er gab mir den alten, der Dorcas
gehörte, während er meinen anzog, wobei er die Pistole in die
andere Hand nahm. Ich verlor vollends den Mut. »Nett zu
wissen, nicht wahr, Mrs. H, daß das Zeitalter der Galanterie
nicht tot ist? Was mich betrifft, ich kann es nicht riskieren,
durchnäßt zu werden, ich habe es auf der Brust.«
Ich antwortete nicht. Draußen brachte der Regen die stechende
Erleichterung einer Akupunktur und tötete die oberste Schicht
meines Verstandes noch weiter ab, ebenso wie die meiner
Haut. Ich wußte, daß ich in seinem Wagen saß, und ich ahnte,
wohin er mich brachte. Aber ich hatte keine Angst. Ich war
nichts… oder niemand. Nicht Ellie Haskell. Nicht Bens Frau.
Nicht die Mutter der Zwillinge.
Aber Walter Fisher war offenbar in Plauderstimmung. »Ich
hatte nicht erwartet, Roxie in Ihrem Haus vorzufinden, als ich
dort eintraf, Mrs. Haskell.«
»Nun, sie hat Sie erwartet.« Als ich auf die Windschutzscheibe
starrte, sah ich Mrs. Ms Gesicht in den Regenbächen. Ihre
Mundwinkel verliefen. Würde ich jemals wieder mit ihr
sprechen? Würde ich ihr jemals sagen können, daß ich ihr
keinen Vorwurf machte, daß ich mir Vorwürfe machte, weil
ich die Signale mißverstanden hatte, die sie mir gegeben hatte?
Mr. Fisher – nichts konnte mich dazu bringen, ihn Walter zu
nennen – stützte die Pistole auf das Lenkrad, als wir über die
Einfahrt und auf die Cliff Road schnurrten. »Roxies
Anwesenheit war ein Problem, obwohl Sie wissen müssen, daß
ich jetzt schon seit mehreren Tagen versuche, sie zu beseitigen.
Es war nur eine Frage der Zeit, bevor sie zur Polizei gegangen
wäre. Trau niemals einer Frau. Gerade eben, sie sollte sich
schämen, hat sie mich noch angelogen – sagte, Sie hätten
zusammen mit Ihrem Mann und den Kindern das Haus
verlassen. Äußerst niederträchtig von ihr, die Sache zu
verkomplizieren. Besonders, wo ich dachte, es würde so
einfach sein.«
Ein Licht ging in einem Fenster an und in meinem Kopf. »Sie
haben etwas in ihr Fully-Female-Elixier gegeben?«
»Eibenblätter.« Noch ein blasses Lächeln. »So erfreulich
zugänglich am Pfarrhaus.«
»Ja«, sagte ich ganz automatisch. »Mrs. Malloy erwähnte, daß
es eine Initiative gab, die Eibenbäume fällen zu lassen, weil
man Angst vor Vergiftungen hatte.«
»Ich zerhackte die Blätter und gab einige in das Glas mit dem
Elixier. Nichts einfacher als das. Ich weiß auch nicht, was
schiefgelaufen ist. Roxie behauptete, sie sei geradezu religiös
im Einnehmen des Zeugs.«
»Das war sie auch«, sagte ich. »Aber wir hatten alle mehrere
Flaschen des Elixiers. Sie hätte eine Zeitlang gebraucht, um zu
der Erkenntnis zu kommen, die Sie gepanscht hatten. Ich
erinnere mich, daß sie an dem Abend der Party der Wisemans
eine neue öffneten Sie mixte sich sogar ein Glas, aber es wurde
fest, bevor sie es trinken konnte. Statt dessen…« Ich starrte aus
dem beschlagenen Fenster. »Statt dessen muß Gladys Thorn in
die Küche gegangen sein. Sie muß das Elixier versehentlich für
ein Beruhigungsmittel gehalten haben und…«
»Du liebe Zeit!« Mr. Fisher schüttelte den Kopf. »Was für eine
Verschwendung!« Ober meinte, eine Verschwendung von
Eibenblättern oder von Gladys Thorn, wußte ich nicht. »Muß
ich es so verstehen«, fragte er und fuhr vorsichtig um eine
Biegung in der Straße, »daß Sie, als Sie gestern abend in der
Kapelle zur Ruhe gestanden, Sie wären Mitwisserin eines
Mordes, über Miss Thorn sprachen und nicht über meine
Frau?«
»Ja.«
»Das zeigt, wie naiv ich bin.« Mr. Fisher schnalzte tadelnd mit
der Zunge. »Ich dachte wahrhaftig, sie wäre eines natürlichen
Todes gestorben.«
»Mrs. Malloy hat mir kein Sterbenswort über Ihre Frau gesagt.
Und die bittere Ironie ist, daß sie, wenn Sie sie in Ruhe
gelassen hätten, meines Erachtens nie zur Polizei gegangen
wäre. Das Fully-Female-Handbuch ordnet an, daß alle
Vertraulichkeiten, die während der Liebe ausgetauscht werden,
wie das Weihesiegel des Beichtstuhls zu betrachten sind, und
Roxie war nicht nur im Einnehmen ihres Elixiers religiös. Sie
war eine waschechte Konvertitin, bereit, die Regeln
einzuhalten, auch wenn es sie umbrachte.« Ich fügte nicht
hinzu, daß er noch einen weiteren Vorteil gehabt hatte –
nämlich daß seine Roxie ihn aufrichtig geliebt hatte. Liebe!
Eine gute Dienerin, aber eine schlechte Herrin. Arme Mrs. M.
Die Kehle schnürte sich mir zu. Möge sie in Frieden… leben.
Zerknirschung malte sich auf Mr. Fishers wächsernen Zügen
ab. Durch seine Fehleinschätzung der Lady hatte er sein Leben
wie das ihre und meines verkompliziert. Bring ihn aus der
Fassung – das ist der richtige Weg. Er war nicht daran
gewöhnt, daß die Leichen, die er fuhr, ihm antworteten,
deshalb würde ich weitersprechen. Das Thema spielte keine
Rolle, solange sich die Lippen nur bewegten.
»An dem Morgen nach dem Stelldichein mit Ihnen war sie
völlig benommen, und später tauchte sie aus heiterem Himmel
bei mir zu Hause auf, aber ich hätte nie vermutet, daß sie Angst
um ihr Leben hatte. Selbst als sie gute Taten verrichtete – zum
Beispiel in der Kirche aushalf-, schrieb ich das der Macht der
Liebe zu. Mir kam nie der Gedanke, daß sie sich darauf
vorbereitete, ihr Leben in Ordnung zu bringen.«
»Sie brauchen es nicht weiter auszuführen, Mrs. Haskell.« Er
schürzte seine schmalen Lippen. »Roxie wußte, daß ich sie
nicht weiterleben lassen konnte. Was ich nur nicht verstehe ist,
wie sie so lange durchhielt. Zusätzlich zu dem Elixier fügte ich
meine eigenen Spezialkräuter auch einem Kräuterpaket bei, das
sie von Fully Female hatte.« Mr. Fisher bremste sorgfältig an
einer gelben Ampel, bog in die Market Street ein und
schwenkte aus, um einer Frau auf einem Fahrrad Platz zu
machen. Ihr Winken sagte alles: Welch ein Gentleman!
»Mrs. Malloy scheint unter einem glücklichen Stern gelebt zu
haben… eine Zeitlang. Sie ist eine eigenwillige Frau.« Mein
Blick hing die ganze Zeit an der Pistole. »Und ich denke, sie
rechnete mit einem offenen Messer in den Rücken, nicht, daß
ihre Kräuter-Kraftkur gepanscht wurde. Aber ich glaube, ich
kann eine Vermutung anstellen, was damit passiert ist. Neulich
konnte sie ihren Vorrat nicht finden, wahrscheinlich weil Sie
ihn verräumt hatten, und deshalb lieh sie sich ein Paket von
mir. Sie muß das mit den Eibenblättern später mir gegeben
haben, weil wir ein kleines Zwischenspiel mit unserer Katze
hatten, das ich einem anderen in die Schuhe schob. Man möge
mir verzeihen.«
Diese letzten Worte brachten mir Mrs. M näher, als wenn sie
mit mir im Wagen gesessen hätte. Führte sie bereits ein
Gespräch mit Petrus, in dem sie von Anfang an klarstellte, daß
sie nicht ewig die Himmelspforte wienern wollte? Oder konnte
es sein, daß drüben auf Merlin’s Court ein Wunder geschehen
war? Oh, bitte, lieber Gott! Lass’ Mr. Bludgett benommen
aufgewacht sein und ins Eßzimmer stolpern, wo er gerade noch
rechtzeitig den Gashahn zudrehen kann.
»Wir sind da, Mrs. Haskell.« Mr. Fisher beendete mein Gebet
abrupt. Er war in eine Seitenstraße gefahren, und durch den
zerrissenen Schleier des Regens sah ich das Schild von Fisher
Funerals über der Tür schaukeln. Er steckte die Pistole in
seinen Ärmel, kam auf meine Seite, um mir aus dem Wagen zu
helfen, und führte mich über einen gepflasterten Platz und
durch eine Glastür in einen Schauraum, der nach Bienenwachs
und Gardenien roch, mit Kränzen statt Bildern an den Wänden
und einem Ausstellungsbereich, in dem sich Särge drängten –
Verzeihung, Behältnisse für jeden Geschmack von Barock bis
Dänische Moderne.
Das Unwirkliche daran war, daß ich nicht vor Angst
schlotterte. Meine einzige Erklärung ist, daß der Horror in
meinem Fall eine anästhetische Wirkung hatte. Mein Verstand
sagte mir, daß ich zu dem Schicksal bestimmt war, das die
arme Mrs. Fisher und all diese Abendessen ereilt hatte, die mir
verkohlt waren. Aber ich glaubte nicht richtig daran, selbst als
der Schurke auf eine Art zusammenzuckte, die ich für künstlich
gehalten hätte, wenn Freddy es so auf der Bühne gemacht
hätte.
»Da kommt jemand!«
Ich hörte es auch: das Geräusch eines Wagens, der in die
Seitenstraße bog, und – mir stockte der Atem – das
Verstummen eines Motors, der ausgeschaltet wurde. Wer es
auch war, es spielte keine Rolle. Ich legte keinen Wert auf den
Sheriff oder auf die Soldaten mit Rin Tin Tin, der wuffend das
Schlußlicht bildete, ein x-beliebiger Bursche mit normalem
Gehör genügte mir völlig. Zeit für den Schrei deines Lebens!
Ich hatte den Mund schon geöffnet und meine Stimmbänder
angespannt, als Mr. Fisher mich daran erinnerte, daß er eine
Pistole hatte, indem er sie mir unter die Nase hielt. Und im
nächsten Moment schob er mich durch einen Torbogen mit
violettem Vorhang dahin, wo der Geruch des Todes am
stärksten war – in die Kapelle zur Ruhe.
»Schneller!« Ein kräftiger Stoß in meinen Rücken, der mich
stolpernd zum Altar trieb, wo Miss Thorns Sarg in all seinem
trauervollen Glanz ruhte.
Ich horchte angestrengt auf das Geräusch, mit dem sich die
Eingangstür öffnete, und war mir nicht sicher, ob ich mich
nicht nur einem Wunschdenken hingab. »Lassen Sie sich von
mir nicht aufhalten, Mr. Fisher«, sagte ich, »wenn Sie vorn
einen Kunden haben.«
»Noch ein Piep, und ich lege Sie und diesen Jemand um, wer
immer es auch ist.«
»Damit werden Sie nicht davonkommen.«
»Wie alle Frauen reden Sie zuviel.« Mr. Fisher trat mir jetzt
praktisch in die Hacken, und sein Atem kam pfeifend tief aus
der Brust, als er sagte: »Heben Sie den Deckel.«
»Sie haben mich gehört.« Ein echt schmerzhafter Stoß diesmal,
als ich angestrengt auf Schritte horchte. Es kamen keine.
Langsam öffnete ich den Sargdeckel. Was sollte ich zu Miss
Thorn sagen: Rücken Sie ein Stück, und machen Sie Platz für
mich?
Sie war nicht da.
»Klettern Sie rein.«
Ach, die perverse Schlüpfrigkeit dieses weißen Satins, aber ich
sagte mir immer wieder, daß es nicht wirklich passierte, selbst
als Mr. Fisher seinen… meinen Regenmantel auszog und –
perfider Mensch – zu mir hineinwarf. Wir dürfen keine
verwunderten Blicke riskieren, indem wir in Frauenkleidern
erwischt werden, oder, Walter? Hoffentlich gefror ihm das Blut
bei meinem höhnischen Lächeln, als er den Sargdeckel schloß.
Man behält so gern die Oberhand in solchen Momenten.
Dunkelheit. Selbst als ich die Augen öffnete.
Instinktiv spürte ich, daß die Luft rationiert war und ich wie
verrückt würde haushalten müssen. Und es gab nicht sehr viel
Spielraum für meine Arme (und meine Nase), aber ansonsten
hätte es schlimmer kommen können. Ich hätte schon tot sein
können, anstatt auf Mr. Fisher zu warten, der bei seiner
Rückkunft, nachdem er seinen Kunden losgeworden war, sein
Werk vollenden würde.
Die Dunkelheit wurde muffig von Angst, die ein wenig
nachließ, als ich an Ben und seine Klaustrophobie dachte. Gott
sei Dank war er es nicht, der in dieser Klemme steckte. Und
dem Himmel sei Dank für mein Wunder! Dieser dumpfe
Schlag war nicht mein Herz. Ich hatte meinen Regenmantel
verschoben. Und in der Tasche des Regenmantels befand sich
Mrs. Malloys Pistole. Vergiß das Morgennickerchen, Ellie, es
sind Windeln zu waschen, ein Tag sinnvoll zu gestalten. Meine
Finger schoben sich seitwärts und ertasteten die Pistole. Jeden
Augenblick würde ich sie in der Hand halten und, mit dem
Finger am Abzug, aus meiner engen Zelle ausbrechen, der
Inbegriff der Fully-Female-Frau.
Soviel der großen Worte. Mir war das Vorrecht, mich selbst zu
retten, nicht vergönnt. Jedenfalls nicht wie geplant. Bevor ich
buh! sagen könnte, wurde mein Sargdeckel angehoben, und ich
starrte mit offenem Mund in das ewig attraktive, wenn auch
aschfahle Gesicht von Lionel Wiseman.
»Meine Güte! Mrs. Haskell!« Er wich die Altarstufen hinunter
zurück und warf dabei einige Kränze um.
Ich setzte mich in meinem Satinsarg auf und zielte mit der
Pistole auf ihn. »Tut mir leid, Miss Thorn empfängt keinen
Besuch.«
»Was soll das? Eine Art Mutprobe, die Sie mit den anderen
Fully Females ausgeheckt haben?«
»Ihre Fragen«, sagte ich, »richten Sie am besten an Mr. Walter
Fisher, der vermutlich derzeit hinter einem dieser violetten
Vorhänge lauert.«
»Meine liebe Dame, ich sollte wohl einen Arzt rufen.«
»Schsch!«Ich brachte ihn zum Schweigen, indem ich die Hand
hob, die mit der Pistole. Ich hörte flüchtende Schritte, dann das
Starten eines Wagens draußen, ganz in der Nähe des Hauses,
und mir dämmerte, warum ich diese Unterhaltung mit Mr.
Wiseman ungestört führen konnte. Walter Fisher, seines
Zeichens Mörder, war verduftet, möglicherweise weil er selbst
einsah, daß es zuviel verlangt war, mit drei Morden an einem
Tag davonzukommen, aber wahrscheinlicher noch, weil er die
Pistole in meiner Hand gesehen hatte. »Ich glaube nicht, daß
Sie Dr. Melrose belästigen sollten«, sagte ich zu Mr. Wiseman.
»Er wird einen geruhsamen Tag zu Hause mit Flo verbringen
und mit ihr über seine Pensionierung sprechen, während er für
eines ihrer Gemälde posiert. Viel besser wäre, Sie rufen die
Polizei an, sie wird ihren Spaß bei der Verfolgung von Mr.
Fisher haben. Das Leben ist so öde in Chitterton Fells.« Ich
streckte die Arme über meinen Kopf und nahm einen tiefen,
belebenden Zug von der Gardenienluft. »Oh, Mr. Wiseman,
bevor Sie diesen Anruferledigen, könnten Sie mir
freundlicherweise noch sagen, was Sie hierherführt?«
»Der Ring.« Für einen großen Mann war seine Stimme
furchtbar klein.
»Was?«
»Ist mir schrecklich peinlich, Mrs. Haskell.«
»Nur weiter.«
»Wenn Sie darauf bestehen.« Er richtete sich auf, ohne daß es
ihm gelang, so groß auszusehen wie gewöhnlich. »Zum
Zeitpunkt von Gladys’ Tod machte ich diese alberne Geste, ich
sagte, daß ich ihren Verlobungsring mit ihr begraben lassen
wollte. Aber bei näherem Überlegen wurde mir klar, daß das
nicht der Platz war…«
»Sondern Ihre Tasche?«
»Verehrte Dame, es ist ein sehr wertvolles Schmuckstück. Wo
kann es sein? Wo ist Gladys?«
»Sie haben nicht…« Ich fühlte plötzlich mit ihm. Der arme
falsche Hund. »Sie sind nicht zufällig zu der Entscheidung
gelangt, daß es passender wäre, ihre Asche in der Kirchenorgel
zu verstreuen und eine Schaukastenbestattung für sie zu
veranlassen?«
»Nein! Noch nie davon gehört.«
»Dann vermute ich, daß der nächste Verwandte – in diesem
Fall Miss Thorns Bruder Gladstone – sich eingeschaltet und
darum gebeten hat, im Sinne der Sparsamkeit und…« Ich
wandte den Blick ab. »… und um absolut sicherzugehen, daß
sie nicht in zwanzig Jahren wieder auftaucht.«
Ich streckte die Hand aus und ließ mir von ihm aus dem Sarg
helfen. »Das Leben ist sehr teuer, aber, lieber Mr. Wiseman« –
ein Lächeln wuchs in mir, um hervorzubrechen und zu
erblühen –, »es ist alles wert, was man dafür bezahlt.«
Epilog

Irgendwie hatte ich gespürt, daß Mrs. Malloy durchkommen


würde. Und so war es auch, weil Ben auf seine männliche
Intuition gehört hatte – diese innere Stimme, die ihm sagte, daß
ich nicht ehrlich zu ihm gewesen war. Auf halber Strecke nach
London hatte er zu Freddy gesagt, daß er umkehren wollte, und
bei ihrer Rückkunft auf Merlin’s Court stießen sie auf Mr.
Bludgett, wie er eifrig Mrs. Malloy wiederbelebte, indem er
den Gehilfen des Klempners benutzte – den getreuen Sauger.
Es klappte so gut, daß Mrs. Malloy in Rekordzeit alles
auspacken konnte, und noch bevor Freddy den Zwillingen die
Mäntel ausgezogen hatte, telefonierte Ben schon mit der
Polizei. Eine halbe Stunde später erwischten sie Walter Fisher;
zu diesem Zeitpunkt waren allerdings weder er noch sein
Wagen unversehrt. Er war auf der anderen Seite der Landspitze
am Rand von Pebblewell von der Klippe gestürzt. Mrs. Malloy,
ganz leichenblasse Haltung, bestand darauf, daß der Fall anders
ausgegangen wäre, wenn der zuständige Polizeibeamte eine
Frau gewesen wäre. Lass’ nie einen Mann die Arbeit einer Frau
tun. Als ich die Nachricht erhielt, waren meine Gefühle
furchtbar konfus. Das Entsetzen, das ich verdrängt hatte,
schäumte an die Oberfläche. Da war Erleichterung, weil der
Schwarze Mann fort war, ausgelöscht auf Nimmerwiedersehen.
Und da war Trauer für Mrs. Malloy, obwohl ich das Gefühl
hatte, daß sie sich erholen würde, als sie mich an jenem Abend
anrief und berichtete, daß sie jeden einzelnen Tropfen ihres
Fully-Female-Elixiers in den Ausguß kippen würde.
»Gute Idee«, sagte ich zu ihr. Aber zu meiner großen
Überraschung zeigte Ben sich nicht überzeugt, als ich ihm
erzählte, was sie gesagt hatte.
»Ich weiß nicht, Ellie.« Er lag auf dem Bett, eine Hand unter
dem Kopf, auf dem Bauch ein aufgeschlagenes Buch. »Ich
denke allmählich, daß ich voreingenommen gegenüber Fully
Female war. Hör dir nur das hier an.« Er drehte den Band um
und las in selbstgefälligem Ton vor:

Der alte Spruch, daß das Heim eines Engländers seine Burg ist,
sollte aktualisiert werden. Wieviel schöner ist es, liebe Mitfrau,
zu sagen, daß das Bett eines Engländers seine Burg ist. Welche
Kämpfe er auch draußen in der kalten, grausamen Welt
bestehen muß, zwischen den Laken ist er der König.

»Gib das her!«Ich riß ihm das Handbuch weg. »Wie kannst du
nur so lachen?«
»Wie könnte ich nicht?« Er richtete sich auf, saß ganz still da,
und seine Augen wurden zu einem sehr dunklen Smaragdgrün.
»Ich muß schon aus Freude lachen, weil ich dich wohlbehalten
bei mir habe.«
»Ich begreife nicht, daß du nicht wütend auf mich bist, weil ich
dir nicht erzählt habe, was ich vorhatte. Besonders, wo wir
gerade diesen Krach wegen Fully Female hatten.«
»Das war etwas anderes.« Er rückte zur Seite, um mir auf dem
Bett Platz zu machen. »Was du getan hast, war verrückt, Ellie,
aber ich verstehe, warum du es getan hast und warum du es mir
nicht sagen konntest.«
»Du hättest mich aufgehalten.«
»Da hast du verdammt recht.«
»Ich hatte das Gefühl, keine Wahl zu haben.«
»Oh, Ellie!« Er zog mich in seine Arme und streute Küsse so
weich wie Blumen über mein Gesicht. »Verstehst du denn
nicht? Ich habe dich nie um deine Seele gebeten – nur um dein
Herz.«
Atemlos hob ich ihm das Gesicht entgegen. »Es gehört dir, für
immer und ewig. Ich bin nur zu Fully Female gegangen, weil
ich Angst hatte. Ich hatte Angst, daß die Geburt mich plump
und unattraktiv gemacht hatte. Ich hatte Angst, dich zu wollen«
– ich vergrub das Gesicht an seiner Schulter –, »und du
würdest mich nicht wollen.«
Sein Lachen zerzauste mein Haar. »Das ist komisch. Weil es
mir nämlich genauso ging. Ich hatte Angst, daß die
Verantwortung der Vaterschaft mich meines jungenhaften
Charmes beraubt hätte.«
Ich wollte für immer an diesem verzauberten Ort bleiben, aber
plötzlich wimmerte eines der Babys. Kein Laut des Hungers,
sondern der Angst.
»Ich gehe schon«, sagte ich.
»Nein.« Er drückte einen Finger an meine Lippen, stand auf,
zog seinen schwarzen Seidenmorgenmantel an und
verschwand, um gegen die Drachen zu kämpfen, so wie es
Ritter, kühn und treu, seit Jahrhunderten tun. Was die
Schloßherrin betrifft, so ist ihre Rolle, das Herdfeuer brennen
zu lassen. Ich ging zu dem Tisch am Fenster hinüber und
wollte die Kerze anzünden, damit sie die Laken in
bernsteinfarbenes Licht tauchte, aber auf einmal warf ich das
Streichholz hin und ging in einem Wirbel von Flanell im
Nachthemd auf den Korridor hinaus. Wenn ich meinem
Liebsten schon nicht bis ans Ende der Welt folgen konnte, so
doch zumindest bis ins Kinderzimmer. Wir würden uns
gemeinsam um unsere Babies kümmern, und danach…
Danach ist immer ein Geheimnis.
Und manchmal eine Liebesgeschichte.

Das könnte Ihnen auch gefallen