HIRSCHHAUSENS

Mann,
bleib gesund!
Alzheimer Alles über Körper, Psyche,
Ein Teenager über die Sex und Check-ups
Demenz seines jungen Vaters 11 Extra-Seiten
zum Sammeln
Glück für
Mensch und Tier
So geht gute Landwirtschaft

Spannend
wie ein Krimi
Wie eine Medizinerin
unbekannten Toten ein
Gesicht gibt

LUXEMBURG: 8,10 € / FRANKREICH: 9,10 € / BENELUX: 8,10 € / ITALIEN: 9,10 € /

SPANIEN: 9,10 € / PORTUGAL (KONT.): 9,10 € / GRIECHENLAND: 9,10 €
ÖSTERREICH: 7,70 € / SCHWEIZ: 10,60 SFR / DÄNEMARK: 73,95 KR /
AUSGABE 4/ 2022, DEUTSCHLAND: 6,80 €

Das starke

ICH
Forscher entschlüsseln
das Geheimnis unserer
Widerstandskraft.
04

Wie wir auch schwere

106806

Krisen bewältigen
196148
4
AB DEM 23. JULI IM HANDEL!

Große Geschichten. Jeden

Donnerstag. Und auf stern.de
 E D I TO R I A L

»Ich bin so
froh, dass
ich einer
dieser
Menschen
bin, die
Musik hören
können, ohne
dabei zu
joggen«
MEDIZIN

WIE EIN
DÄMON
IN MEINEM
KÖRPER
Was war nur mit mir los? Ich litt unter
Stimmungsschwankungen und Gelenkschmerzen und
war unzufrieden mit meinem Aussehen.
Ärzte wussten lange keinen Rat. Erst nach sechs
Jahren, als ich meiner Schwester gegenüber-
stand, wurde das Rätsel gelöst. Hier erzähle
ich von meiner außergewöhnlichen Krankheit

BERICHT UND ILLUSTRATIONEN: LOTTA WINTER;

AUFGESCHRIEBEN VON: ANIKA GEISLER

~ VORNEWEG ~
Im Nachhinein sehe ich die Dinge klar und deutlich, auf ein-
mal passt jedes Mosaiksteinchen zusammen. Aber als ich da-
mals nicht wusste, wie mir geschah, da sah ich das große Gan-
ze nicht. Auch die Menschen um mich herum sahen lange
nicht die Zusammenhänge. So ging es mir und meiner Fami-
lie und auch den unterschiedlichen Ärzten, die mich behan-
delten. Meine Geschichte zog sich über Jahre hin, genauer
gesagt: über sechs Jahre. Später erfuhr ich: Das ist nicht
ungewöhnlich. Ich liege damit gut im Mittelfeld. Manchmal
dauert es noch viel länger, bis Mediziner auf die richtige Dia-
gnose kommen. Heute bin ich 36 Jahre alt, Illustratorin und
Grafikerin und habe diesen Text illustriert. Begonnen hat das
Ganze bei mir mit Ende 20.
Ich war von jeher neugierig, lebenslustig und körperlich
robust – als Kind, Jugendliche und junge Erwachsene. Ich pro-
bierte vieles aus, und besonders leidenschaftlich war ich beim
Snowboarden, Wellenreiten und Skifahren. Alles Sportliche
fiel mir leicht, ich lernte schnell. Während im Erwachsenen-
alter meine Freundinnen sagten, sie müssten mal wieder ins
Fitnessstudio, machte ich so etwas lieber nicht, weil ich nicht
wollte, dass meine Oberschenkel noch muskulöser wurden.
Auch joggen gegangen und Rad gefahren bin ich nicht, aus
ÜBER MEIN Sorge, dann schnell wie eine Bodybuilderin auszusehen. Ich
JAHRELANG
HATTE SICH LITT AN
EIN SCHATTEN ICH FÜHLTE MICH UNWOHL, URSACHE baute eben sehr schnell Muskeln auf. Manchmal sagte ich im
DIE
LEBEN GELEGT: Scherz, dass meine Waden selbst beim Autofahren kräftiger
RZEN. ALS SCHLIESSLICH WAR ES,
GELENKSCHME MIR GEHOLFEN WURDE, WORDEN
würden – nur vom Gasgeben und Bremsen. 4
UND
GEFUNDEN DÄMON BEFREIT
VON EINEM
ALS WÄRE ICH
62 GESUND LEBEN GESUND LEBEN 63

Unsere Illustratorin
Lotta Winter
beschrieb im März-
Heft ihre seltsamen
Gelenkschmerzen
und Stimmungs-
Liebe Leserin, lieber Leser, schwankungen. Erst
nach Jahren bekam
sie die Diagnose:
Akromegalie. Nun
ls Bühnenmensch mag ich das direkte Feedback auf das, was ich tue. Umso
meldete sich eine
mehr freut es mich, dass wir in der Redaktion diesen Leserbrief geschickt dankbare Leserin:
bekamen: »Ich kaufe mir regelmäßig Ihr Magazin. Als ich letztens im Sie erkannte ihre
Heft den Bericht von Lotta Winter über Akromegalie gelesen habe, Symptome im Text
hatte ich einen riesigen Aha-Moment, und es passte bei mir plötzlich jedes wieder, ging zum
Mosaiksteinchen zusammen. Letzte Woche bekam ich die Diagnose Akrome- Arzt – und erhielt
tatsächlich die
galie gestellt, und obwohl ich anfänglich ziemlich aufgewühlt war, bin ich jetzt gleiche Diagnose
sehr froh darüber, endlich zu wissen, was mit mir los ist. Ich danke Ihrer Crew
und Ihrem wunderbaren Magazin, dass es mein Leben verbessert hat.« Wenn
Sie sich also gefragt haben, warum wir über eine seltene Krankheit berichten,
kennen Sie unseren Beweggrund. Uns geht es auch darum, wie Menschen mit
ihren Einschränkungen, Schicksalen und Möglichkeiten umgehen. In diesem
Heft schreibt ein Sohn, wie es ist, die geistigen Kräfte des eigenen Vaters, der
mit 54 an Alzheimer erkrankte, schwinden zu sehen (Seite 72).
Wenn Sie die letzten Chancen ergreifen wollen, mich mit Bühnenprogramm
zu erleben, finden Sie die Termine auf der letzten Seite. Ich höre nach 30 Jahren
mit dem Live-Kabarett auf, um mehr Zeit für meine Stiftung »Gesunde Erde –
Gesunde Menschen« zu haben, denn die Klimakrise ist nicht lustig und braucht
dringend mehr Öffentlichkeit und politisches Handeln. Aber jetzt erst einmal:
FOTO: ANATOL KOTTE

Viel Freude beim

­Lesen, Ihr

PS: Schreiben Sie mir gern unter hirschhausen@stern.de

G E S U N D L E B E N      3
 TITEL

30
Eine große innere Kraft
Wie schaffen wir es, Schicksalsschläge und Lebenskrisen zu meistern?
Vier Menschen erzählen, was ihnen geholfen hat. Plus: Expertin
Donya Gilan erklärt die neuesten Forschungserkenntnisse über
psychische Widerstandsfähigkeit und gibt wertvollen Rat

DOSSIER

92
Ein Antlitz geben
Eckart von
Hirschhausen im
Gespräch mit der
Gerichtsmedizinerin
Constanze Niess:
Nicht immer wie sie mit Plastilin,
scheckheft- Spatel und Skalpell
gepflegt
Manche Männer kümmern sich lieber um ihr perfekt gewartetes
Auto als um ihre Gesundheit. Passt schon, denken sie – aber
die Gesichter von
unbekannten Toten
ILLUSTRATIONEN: ELA STRICKERT

im Schnitt leben sie fünf Jahre kürzer als Frauen. Worauf Sie bei
Körper und Psyche achten sollten. Plus: das Wichtigste über
Herz, Hormone, Potenz, Check-ups und übersehene Krankheiten

rekonstruiert

Dossier
45
Männergesundheit
Körper, Psyche, Sex
und Check-ups –
Wissenswertes,
neue Therapien und
58
Gut für alle
die besten Tipps

Lebensmittel im Einklang mit Tier und Natur

produzieren – wie geht das? Eine Reportage
über drei Höfe, wo das gemeinsam gelingt

4     G E S U N D LEBEN
 22
Rätselhafte Schmerzen
I N H A LT

Der Fotograf Fabian

Zapatka über die Suche
nach der richtigen Diagnose
bei seiner Tochter – und
2 Titel
Seelische Widerstandskraft Der Tod des Partners
wie er in der Pandemie zur oder ein Unfall – wie meistert man Schicksalsschläge und
Ein-Mann-Kita wurde Lebenskrisen? Vier Menschen erzählen, was ihnen
geholfen hat 30
Resilienz-Forschung Psychologin Donya Gilan erklärt,
wie man es schafft, Krisen im Leben zu bewältigen,

TITEL: STERN-MONTAGE; FOTO: MICHEL LENGENFELDER; FOTOS: MARTIN KESS; MICHAEL ENGLERT; FABIAN ZAPATKA; ACHIM MULTHAUPT; MARIANNE MOOSHERR; ARD/WDR HIRSCHHAUSENS QUIZ DES MENSCHEN; VALESKA ACHENBACH
und warum einige Menschen gefestigt daraus hervorgehen  38
Expertenrat So stärken Sie Ihre seelische
Widerstandsfähigkeit 42
Augenblicke
Momentaufnahmen von filigraner Blütenpracht,
Freikörperkultur und spritzender Erfrischung 8
Sprechstunde
News aus Medizin, Psychologie und Klimaforschung. Apps
für Hautpatienten und Umweltbewusste 14
Beipackzettel Wie gut sind Ginseng-Tabletten?  18
Medizin
Held der Gesundheit Podologe Henrik Hanske macht
Menschen glücklich, indem er sich im ihre Füße kümmert 20
Schmerzen Ein kleines Mädchen hat Nackenbeschwerden:
über die lange Suche nach der Ursache und ein starkes
Vater-Tochter-Gespann 22
2 Dossier Männergesundheit Neues aus der Forschung,
Expertenrat und Tipps für den Alltag 45
Heilpflanze Senna – hilfreich bei Verstopfung 56
2 Alzheimer Der Vater von Oskar Seyfert erkrankte mit
Anfang 50 an Demenz. Der Sohn, heute ein Teenager,
beschreibt, wie das Familienleben sich änderte  72
Hausmittel Wirkt Knoblauch gegen Herz- und Gefäßleiden? 82
Reportage
2 Landwirtschaft Gut für Mensch und Tier: wie drei Höfe
gemeinsam nachhaltige Lebensmittel herstellen 58
Psychologie
Alexander-Technik Innehalten statt reagieren – eine
Mischung aus Meditation und Therapie  68
100 Essay Viele Menschen glauben Verschwörungserzählungen.
Warum sie ihnen anhängen und was Angehörige und Freunde
Gemächliches Gleiten tun können 84
Vorwärts fahren, den Blick zurück – unser Autor hat im
Ruderboot den »Amazonas des Nordens« erkundet Gespräch
2 Gesichtsrekonstruktion Eckart und die Gerichts­-
medi­zinerin Constanze Niess über die Kunst, unbekannten
Verstorbenen wieder ein Antlitz zu geben 92
Outdoor und Fitness
Schwimmen Wie unser Autor Kester Schlenz als Erwachsener
schwimmen lernte und mit 52 sein Seepferdchen machte 88
Idyllische Rudertour Sanftes Dahingleiten in üppiger Natur:

72
eine Erkundungsfahrt auf der Wakenitz 100
Ernährung
Papas langer Weg
Essen mit Nebenwirkung Ein junger Mann bekommt
Der Vater (l.) von Oskar
beim Sport Kopfweh, am Ende muss er in den OP.
Seyfert erkrankte mit 54 an
Und die Ärzte finden heraus, was er vor dem Training
Alzheimer. Der Sohn
zu sich genommen hat 110
beschreibt, was das für die
Fit mit … Tomaten Das beliebteste Gemüse
ganze Familie bedeutet.
der Deutschen ist farbenfroh, schmackhaft und
Über »Stockkunst«,
vitaminreich – und trägt klangvolle Namen 112
Vorbilder und
berührende Zu guter Letzt
Momente Tagträume Wiesenzauber 116
Treffpunkt Was macht Eckart von Hirschhausen im Juli
und August? 122
Aus der Redaktion & Impressum 6

Auf dem Titel angekündigte Themen sind mit einem 2 gekennzeichnet

 R E DA K T I O N

Team-Arbeit
Im aktuellen Heft berichten wir
über nachhaltige Landwirtschaft,
ein Ruderabenteuer und ein
starkes Vater-Tochter-Gespann

Eingespieltes Duo
22
Fotograf Fabian Zapatka berichtet über die lange
Suche nach der richtigen Diagnose bei seiner
58
Gut für alle
Tochter Fanny: Sie litt unter rätselhaften Nacken­
schmerzen. Und dann kam die Pandemie – und der
Vater wurde zur Ein-Mann-Outdoor-Kita.
Unsere Autorin Ruth
Als man wieder reisen durfte, fuhren beide in ein
Hoffmann begegnete
Hotel nahe der Zugspitze und genossen den Pool
auf den Schinkeler
Höfen bei Kiel zutrau­
lichen Kühen – und Konzentration zu Hause
Menschen, die sich die Bildredakteurin Karolin Sandig daheim am
Freiheit nehmen, Küchentisch bei der Arbeit. An dem Tag war
mit Tieren und Tochter Ella, vier Jahre alt, krank und blieb
Ackerboden so zu zu Hause. Auch Ella saß konzentriert vor einem
arbeiten, dass es für Bildschirm. Auf ihrem Kinder-Tablet durfte sie eine
alle gut ist Zeichentrickserie anschauen: »Peppa Wutz«
mit Hauptfigur Peppa, einem Schweinemädchen,
das auch vier Jahre alt ist

100
Nach ihrer abenteuerlichen
Ruderpartie auf dem »Amazonas
stern-Stimme des Nordens« trinken Fotograf
Eckart von Achim Multhaupt (l.) und Autor
Hirschhausen ist
Kolumnist bei stern.de
Andreas Beerlage vor dem
www.stern.de/ »Schlaffass«, in dem man
hirschhausen übernachtet, ein Schlummerbier
FOTOS: VALESKA ACHENBACH; ACHIM MULTHAUPT; FABIAN ZAPATKA ; RICHARD SANDIG

Die nächste Ausgabe erscheint am 14. September 2022

Impressum
Hirschhausens stern
GESUND LEBEN
Gruner + Jahr Deutschland GmbH
Verlag und Sitz der Redaktion:
Am Baumwall 11,
20459 Hamburg
Kontakt zur Redaktion:
gesundleben@stern.de
Herausgeber: Anna-Beeke Grete-
meier, Dr. Gregor Peter Schmitz
Chefreporter:
Prof. Dr. Eckart von Hirschhausen
Redaktionsleitung:
Giuseppe Di Grazia
Blattmacherin:
Dr. Anika Geisler
Redakteur für
besondere Aufgaben:
Christoph Koch
Managing Designerin:
Nicole Prinschinna
Gestaltung: Susanne Bremer,
Johannes Ertel,
Christiane Kröger-Stark
Bildredaktion: Orsolya
Groenewold, Karolin Sandig
Infografik: Bettina Müller,
Ela Strickert
Titel: Frank Dietz (Ltg.), Michel
Lengenfelder, Susanne Söffker
Mitarbeit an dieser Ausgabe:
Nicole Heißmann, Andreas Beerla-
ge, Ruth Hoffmann, Dr. Annette
Kerckhoff, Nicola Kuhrt, Dirk
Liedtke, Constanze Löffler,
Tanja Metzner, Claudia Minner,
Katharina Nocun, Stefanie Nickel,
Kester Schlenz, Tobias Schmitz,
Ulf Schönert, Oskar Seyfert,
Beate Wagner, Fabian Zapatka
Assistenz:
Anandi Fiederling-Baisch
Verifikation, Schlussredaktion,
Recherche: Quality Board,
Tobias Hamelmann, Norbert
Höfler (Ltg.); Sven Barske, Elke
von Berkholz, Susanne Elsner,
Dagny Hildebrandt, Jeanette
Langer, Christian Schwan
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(Stv.: Julian Kösters)
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heriger schriftlicher Zustimmung Einzelhefte:
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6     G E S U N D LEBEN
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 AUGENBLICKE

Flüchtige Schönheit
Als Kinder pflückten wir die Blume – und waren
enttäuscht, wie rasch sie ihre Blütenblätter
verlor: Klatschmohn am Wegesrand, hier in
Brandenburg. Früher ein alltäglicher Anblick, hat
Ackerbau mithilfe von Pflanzenschutzmitteln die
Pflanze vielerorts verdrängt. Einst nutzte man
FOTO: PATRICK PLEUL/DPA

Klatschmohnsirup in der Naturheilkunde, etwa

gegen Husten. Ein wissenschaftlicher Beleg für die
Wirksamkeit fehlt. Immerhin sind die Blütenblät-
ter essbar. Besser: Blume einfach stehen lassen –
und sich an ihrer flüchtigen Schönheit erfreuen.
G E S U N D L E B E N      9
 Freikörperkult-Tour
Überall Autos, Abgase und ein anstrengender
Kampf um etwas Rücksichtnahme. Da fühlt man
sich als Radfahrer … jawohl, ziemlich nackt. Genau
so zeigen sich Teilnehmende am »World Naked
Bike Ride« in Guadalajara, Mexiko. Die Bewegung
will all jene unterstützen, die sich im alltäglichen
Straßenverkehr schutzlos und ausgeliefert
FOTO: ULISES RUIZ / AFP

fühlen. Die Protestaktion sorgt im katholischen

Mexiko für besondere Aufmerksamkeit. Hier ist
Nacktheit in der Öffentlichkeit verpönt – schon
kurze Hosen bei Männern gelten als unpassend.

G E S U N D L E B E N      11
 Kostbares Nass
Jeder Tropfen heißbegehrt – zur Abkühlung.
Im pakistanischen Karatschi genießt ein Mann eine
kleine Dusche. Bereits im Frühjahr hatte es auf dem
indischen Subkontinent Temperaturen von mehr
als 42 Grad Celsius gegeben. Hitzeperioden sind

FOTO: XINHUA / EYEVINE / LAIF

hier ganz normal – ungewöhnlich war der frühe
Zeitpunkt der ersten Welle. Wissenschaftler ma-
chen dafür die Klimakrise verantwortlich. 80 Pro-
zent der Bevölkerung leiden in Pakistan zeitweilig
unter Wasserknappheit. Hier werden 94 Prozent
des Wassers für die Landwirtschaft verwendet.

12     G E S U N D LEBEN
 S P R EC H ST U N D E

Zu viel Notfallspray kann

Asthma-Anfälle verschlimmern
90
Prozent
der Ölteppiche auf
Sprays, die die Bronchien weiten, verschaffen den Meeren sind von
schnell Linderung. Die zugrunde liegenden Menschen verursacht –
viel mehr, als
Mechanismen von Asthma bekämpfen sie aber nicht Forscher bisher
dachten. Bislang
gingen sie davon aus,
»Wer von dass die Hälfte aus natür-
Asthma-Sprays Schnell wirkende Sprays mit bronchienerweiternden Mitteln ent- lichen Quellen stammt.
auf Pulver- spannen die Ringmuskeln der Bronchien und helfen Asthmati-
Inhalatoren kern bei Atemnot fast sofort. Doch ein zu häufiger Einsatz der
umsteigt, hat bei Notfallsprays kann auf Dauer das Risiko schwerer Asthma-
gleicher Attacken sogar erhöhen. Denn die darin enthaltenen Wirkstoffe aus der
Fast Food
Wirksamkeit Gruppe der schnell wirksamen »Beta-Agonisten« bekämpfen nicht die zu-
statt kochen?
viel weniger grunde liegende Entzündung der Bronchien, die sie eng und überempfindlich Mancher hat einige
Klimabelastung.« Corona-Kilos zugelegt.
macht. Forscher der Londoner Queen Mary University werteten nun Akten Aber haben wir in der
von mehr als 700 000 Patientinnen und Patienten aus 117 Arztpraxen in Lon- Pandemie wirklich so
don aus und fanden heraus: Mehr als ein Viertel der Patienten bekommt zu viel Pommes und Pizza
viele Notfallsprays verschrieben (nämlich mehr als fünf pro Jahr), und viele gefuttert? Offenbar
dieser Übertherapierten nehmen gleichzeitig zu wenige Cortisonsprays, die nicht, allerdings haben
die Entzündung in den Atemwegen dämpfen und so langfristig Asthma- sich die Ernährungs-
Attacken verhindern. Das Problem ist in Deutschland wie in Großbritannien stile in Corona-Zeiten
wohl auseinander­
bekannt. Doch es gebe immer noch Raum für Verbesserungen, sagt Anna De
entwickelt. Das ist das
Simoni, die Allgemeinmedizin an der Queen Mary University lehrt: »Wir ­Ergebnis einer inter-
haben berechnet: Wenn wir Patienten unterstützen, die mehr als zwölf Not- nationalen Online-­
fallsprays pro Jahr verbrauchen, sodass sie ihren Verbrauch auf vier bis zwölf Befragung zum Thema
reduzieren, könnte das in dieser Gruppe zu siebzig Prozent weniger Kranken- Essen, an der mehr als
hauseinweisungen führen.« 20 000 Erwachsene
aus Großbritannien,
Alzheimer Australien, Kanada,
Mexiko und den USA
leichter teilnahmen. 62 Pro-
erkennen zent gaben an, sie hät-
Wird jemand im Alter ten in Corona-Zeiten
einfach vergesslich, nicht so viel zuberei­
oder leidet er schon an Mehr Luft! tetes Essen auswärts
Demenz? Die Antwort Asthmapatienten greifen bestellt oder gekauft
ist schwierig, gängige oft – manchmal aber wie vorher – also
Tests wie Hirnvolumen­ auch zu oft – zu offenbar häufiger zu
messungen liefern oft Notfallsprays
ungenaue Ergebnisse.
Britische Forscher
trainierten nun einen
Algorithmus dar­auf,
anhand winziger Auffäl-
ligkeiten in Kernspin­
Bildern von mehr als
400 Probanden die Ge-
sunden von Alzheimer-­
Patienten zu unter- Hause gekocht. Nur elf
scheiden. Zu 98 Pro- Prozent verließen sich
zent erkannte die KI dagegen stärker als
die Er­krankten – ein zuvor auf Gastronomie
hoher Wert. oder Lieferdienste.

14     G E S U N D LEBEN
 Verzweifelte Navigation
besser für Spermien
begleiten Der Weg eines Sper­
miums ist lang und be­
Pro Jahr sterben
schwerlich. Nur wenige
hierzulande mehr als
von Millionen schaffen
9000 Menschen durch
es am Ende durch
Suizid – weil sie unheil­
den Eileiter zur
bar krank sind oder
Ei­zelle und
aus anderen Gründen
be­kommen die
keinen anderen Weg
Chance, sie zu be­
mehr für sich sehen.
fruchten. Forscher der
Heftig debattiert wird
Universität Duisburg-
in Deutschland seit
Essen haben nun mit­
Jahren darüber, ob Stich mit Folgen: hilfe spezieller 3-D- und
man Menschen, die Anopheles-Mücken Elektronen-Mikrosko­
sterben wollen, beim übertragen pie in Mäusespermien
Suizid helfen darf. Im Malaria-Erreger entdeckt, was erfolg­
Jahr 2020 kippte das
reiche Geschlechtszel­
Bundesverfassungs­
len ausmacht: Solche
gericht das Verbot der
Spermien weisen zwei
»geschäftsmäßigen
typische Bewegungs­
Suizidhilfe« – was be­
muster auf – zunächst
deutet, dass Sterbe­
bewegen sie sich
willige nun ein Anrecht
spiralförmig durch den
auf Hilfe beim Suizid
Eileiter. Für dieses
haben. Der Bun­
Vorwärtsschrauben
Mäßiger Malaria-Impfschutz
destag befasst
nutzen sie Ionenkanä­
sich zurzeit mit der
le, die zickzackförmig
gesetzlichen Neurege­
Weder die Impfung gegen Malaria noch eine in ihrem Schwanz an­
lung dazu. Gleichzeitig
geordnet sind. Kalzium-
kritisieren nun mehr Infektion machen dauerhaft immun gegen die Krank- ionen strömen dort
als vierzig Institutio­
nen und Fachgesell­
heit. Forscher haben nun herausgefunden, warum ein und aus und verän­

illiarden Menschen leben in Malariagebieten – und wer

die Tropenkrankheit in der Corona-Pandemie bekam,
wurde oft noch schlechter versorgt als die Infizierten zu-
vor: Laut Weltgesundheitsorganisation WHO litten 2020
geschätzt 241 Millionen Menschen an Malaria, 627 000 starben. Das waren vier-
zehn Millionen mehr Kranke und 69 000 zusätzliche Todesfälle im Vergleich
zu 2019, dem Jahr vor Corona. Gleichzeitig gibt es Hoffnung: 2021 gab die WHO
zum ersten Mal grünes Licht für einen Malaria-Impfstoff. Dieses Vakzin wird
nun südlich der Sahara in großen Studien an Kindern getestet. Kein Impfstoff- dern das Schlagmus­
kandidat hatte es je so weit geschafft – obwohl seit mehr als hundert Jahren ter des Schwanzes.
dazu geforscht wird. Mäusespermien ohne
schaften, darunter das
Der neue Impfstoff reduziert das Krankheitsrisiko um drei Viertel – doch schon einen Ionenkanal
Nationale Suizidprä­
jetzt befürchten Experten, dass die Immunität mit der Zeit nachlassen könnte. namens »Catsper«
ventionsprogramm
schaffen die Schrau­
NaSPro und der Wieso ist es so schwierig, eine Malaria-Impfung zu entwickeln? Ein Forscherteam benbewegung nicht.
Deutsche Hospiz- und um die Immunologin Hedda Wardemann vom Deutschen Krebsforschungszen- Nähern sich Spermien
Palliativverband, dass trum hat nun ein womöglich entscheidendes Detail entdeckt: Der Malariaschutz einer Eizelle, hören
Menschen mit Sterbe­
ist so schwach, weil eine Gruppe unserer Abwehrzellen, sogenannte T-Helfer-Zel- jedoch alle auf zu
DEPOSITPHOTOS; ILLUSTRATION: ANJE JAGER/SOOTHING SHADE

wunsch, aber auch ihre

len, ausgesprochen wählerisch agiert. Malaria wird von Plasmodien verursacht, kreiseln, weil ein be­
Angehörigen bisher
das sind einzellige Mini-Parasiten, die sich in Anopheles-Mücken vermehren. stimmter Signalstoff
weitgehend auf sich
FOTOS: DEEPOL /PLAINPICTURE (4); MAURITIUS IMAGES;

Stechen die Moskitos zu, übertragen sie ein Zwischenstadium der Plasmodien, der weiblichen Zelle,
gestellt sind. Man
das Zona Pellucida
müsse das Thema die »Sporozoiten«. Diese reifen in Leber und Blut des Menschen, später bekom-
Protein 2 (ZP2), das
Suizidwünsche entta­ men die Patienten die typischen Fieberschübe. Wardemann und Kollegen spritz- wilde Herumwuseln
buisieren und offene ten Freiwilligen abgetötete Sporozoiten ins Blut, von dem Plasmodien-Stamm, unterbricht und die
Gespräche anbieten, so gegen den auch der neue Impfstoff wirken sollte. Danach untersuchten sie das Samen auf Kurs bringt
die Ini­tiatoren. Die
Blut der Probanden und die T-Helferzellen und stellten fest, dass die Abwehr­ – wie ein Navigations­
Einrichtung einer bun­
zellen exakt an einen kurzen Ab­schnitt des Sporozoiten-Oberflächenproteins system.
desweiten Informati­
ons-, ­Beratungs- und andockten. War dieses Oberflächenprotein aber auch nur minimal verändert,
Koordinationsstelle zur scheiterten die T-Zellen zum Teil schon. Da es in den Tropen sehr viele Plasmo-
­Suizidprävention sei dienstämme mit unterschiedlichen Proteinen gibt, könnte das erklären, warum
dringend notwendig. weder Infektionen noch Impfstoffe dauerhaft vor Malaria schützen. Künftige Vak-
zine müssten daher deutlich »breiter« aufgestellt sein, vermuten die Forscher.

G E S U N D L E B E N      15
 S P R EC H ST U N D E

Resistente Weniger CO₂

Typhus-Erreger durch Waldweide
Schätzungsweise elf Für Rinder werden in
Millionen Menschen vielen Ländern Wälder
weltweit erkranken in Weiden umgewan-
pro Jahr an Typhus, delt. Klimafreundlicher
mehr als 100 000 wäre es offenbar,
­sterben daran. Die würde man nicht
Krankheit, die vom alle, sondern nur
Stäbchenbakterium etwa die Hälfte
Salmonella Typhi der Bäume auf einer
verursacht wird, führt Fläche fällen. Waldwei-
­typischerweise zu sehr den oder »Hutewäl-
hohem Fieber. Die der« waren im
meisten Fälle treten in Mittelalter in Europa
Südasien auf. Von dort weit verbreitet.
breiten sich offenbar Forscher der Universi-
schon länger viele ty of New Hampshire
antibiotikaresistente ließen nun in einem
Bakterienstämme aus, aufwendigen Experi-
die sich mit wichtigen ment einige Waldflä-

sch!
Medikamentengruppen chen komplett roden,
wie Makroliden oder
stori auf anderen dünnten
Chinolonen nicht mehr Hi sie nur fünfzig bis
bekämpfen lassen. Das sechzig Prozent der
ergab die bislang größ- »Künstlicher Blutegel« (Sammlung des Leipziger Carl-Sudhoff-Instituts) Bäume aus. Auf den

Her mit dem Blut

Seit der Antike versuchten Ärzte, Krankheiten
mit dem Aderlass zu heilen. Im 19. Jahrhundert gab
es dafür ein Gerät: den »künstlichen Blutegel«

te Genanalyse von
mehr als 7500 Salmo- Dass man Menschen durch das Abzapfen größerer Blutmengen
nella-Typhi-Genomen, heilen kann, daran gab es im 19. Jahrhundert bereits Zweifel. Den-
durchgeführt von noch wurde der Aderlass noch um 1840 herum, als der »künstli-
einem internationalen che Blutegel« erfunden wurde, von Ärzten verordnet. Krankhei-
Wissenschaftlerteam ten seien Ausdruck eines Ungleichgewichts im System der Körpersäfte, hieß
unter Leitung der es. Seit der Antike ließen Mediziner Menschen zur Ader, zapften Blut aus der
Stanford University »geschlagenen« Vene oder setzten Blutegel auf die Haut. Wie kleine Vampire
in den USA.
bissen diese zu und entfernten mit dem Blut die »schädlichen Säfte«.
In der Neuzeit verfeinerten sich die Methoden. Das Ablassen des Blutes wur-
de nun gezielter eingesetzt, wobei weniger Blut aus kleineren Wunden floss.

980
Zu diesem Zweck entwickelte der französische Arzt Charles Louis Stanislas
Heurteloup seinen zweiteiligen »künstlichen Blutegel« aus Metall und Glas. Flächen wurden Gras
Er wurde zur Behandlung von Augenkrankheiten entwickelt, kam an Stirn und Klee gesät, später
und Schläfen zum Einsatz. Das Gerät sollte das Problem lösen, dass es damals durften Milch- und
Pflanzen- Fleischrinder dort wei-
zu wenige Blutegel für die medizinische Behandlung gab. Die damals millio-
den. Dabei zeigte sich,
schutzmittel nenfach gezüchteten Süßwasserlebewesen erlagen reihenweise Epidemien. dass Hutewälder pro
sind in Deutschland Das metallene Teil links im Bild ist der »Skarifikator«. Damit wurde dem Fläche deutlich weni-
zugelassen. Mehr als Patienten ein kreisförmiger Schnitt zugefügt. Der gläserne Teil rechts diente ger der Treibhausgase
100 000 Tonnen wurden dem Abpumpen: Der Arzt setzte ihn auf die Wunde, zog den Kolben heraus Kohlendioxid und
2020 an die Landwirt- und erzeugte so einen Unterdruck, der das Blut zum Fließen brachte. Lachgas emittierten.
schaft abgegeben. Ende Die Forscher sehen in
Doch Heurteloups Apparat wurde nur kurz angewandt. »Eigentlich war er
Juni legte die EU-Kom- Waldweiden daher
mission einen Entwurf bereits zur Zeit seiner Erfindung ein Anachronismus«, sagt Thomas Schnalke,
eine Klima-Alternative
für eine neue Verord- Medizinhistoriker der Berliner Charité. »Es ist ein Mysterium, dass sich diese
zur Abholzung.
nung vor: Der Einsatz Säfte­lehre überhaupt so lange gehalten hat.« Anfang des 20. Jahrhunderts war
von Pestiziden soll die Zeit der Aderlässe endgültig vorbei. Echte Blutegel werden in der Medizin
bis zum Jahr 2030 hingegen bis heute eingesetzt, etwa gegen Schmerzen bei Kniegelenkverschleiß.
halbiert werden. Während des Saugens sondern die Tiere mit dem Speichel schmerzstillende
Substanzen ab, außerdem Gerinnungs- und Entzündungshemmer.

16     G E S U N D LEBEN
 Digitale Helfer
Für Umweltbewusste und
Hautpatienten: Apps, die den
Alltag bereichern können
Hautnah
Vorsorgebesuche beim Hautarzt sind
wichtig. Mancher empfindet es aber als
unangenehm, entblößt unter die Lupe genommen
zu werden. Die App Dermanostic bietet eine digi-
tale Alternative. Fotos der Haut plus ausgefüllten
Anamnese-Fragebogen hochladen – das genügt
für eine Diagnose durch Hautärzte mit Therapie
mittels Privatrezept innerhalb von 24 Stunden.
Den Preis von 25 Euro plus Medikamentenkosten
können nur Privatversicherte bei der Krankenkas-
se einreichen. Neun von zehn Patienten benöti-
gen, so der Anbieter, hinterher keinen weiteren
Hautarztbesuch vor Ort.
Mehr als sieben Siegel
Wem beim Lebensmitteleinkauf Quali-
tät und Anbau wichtig sind, achtet in-
zwischen selbst an Eistruhe oder Getränkeregal
auf Bio- und Ökosiegel. Wer dabei nicht auf Eti-
kettenschwindel hereinfallen will, kann mit der
App Nabu Siegel Check überprüfen, was es mit
der Kennzeichnung auf sich hat. So erfährt man
etwa, dass das »Fairglobe«-Siegel von Lidl für die
Einhaltung der Regeln der Fairtrade-Organisa-
tion und die Abwesenheit von Gentechnik steht.
Oder dass ein Lebensmittel aus der EU nur bio
ist, wenn das grüne EU-Bio-Logo aufgedruckt ist.
Auf kleinem Fuß leben
Ein Berliner Start-up hat die Klimakom-
pensations-App Klima entwickelt. Damit
bekommt man ein Gespür für den eigenen ökolo-
gischen Fußabdruck und kann Klimaschutzprojek-
te auswählen, die man finanziell unterstützen
möchte. Die von einem selbst verursachten klima-
FOTOS: CHRISTOPH WEBER; INTERFOTO; DEEPOL/PLAINPICTURE; ACTION PRESS
Übergewicht in der Kindheit
drückt geistige Fitness
Bekannt ist, dass überschüssige
Kilos Wegbereiter für spätere
Krankheiten sind. Laut neueren Daten
leidet auch das Gehirn
er in jungen Jahren sportlich gelebt habt, ist als Erwach-
sener im Schnitt gesünder als frühere Junior-Couch-­
Potatoes. Nur wenige Daten erhellen jedoch, wie sich
Übergewicht oder mangelnde Fitness in der Kindheit auf
die geistige Leistungsfähigkeit im späteren Leben auswirken. Eine australi-
sche Langzeitstudie lieferte nun erste Erkenntnisse dazu: Ein Forscherteam
unter Beteiligung der Monash University in Melbourne verfolgt schon seit
1985 den Gesundheitszustand von 1244 Menschen, die damals Kinder im
Alter zwischen sieben und fünfzehn Jahren waren. Ihre Ausdauer und
Muskelkraft wurden ausführlich getestet. Zwischen 2017 und 2019 trafen
Wissenschaftler nun ihre Probanden wieder. Die waren inzwischen im Schnitt
44 Jahre alt. Jetzt absolvierten die Teilnehmer Tests zu Konzentration und
Informationsverarbeitung. Ergebnis: Wer als Kind schlanker gewesen war
und gute Fitnesswerte bei Herz, Atmung und Muskeln erreicht hatte, schnitt
nun auch bei den geistigen Leistungen besser ab. Kinder mit Übergewicht
hingegen erreichten eher niedrige kognitive Werte – was als Risikofaktor für
spätere Demenzerkrankungen gilt. Die Unterschiede traten unabhängig von
Bildungsgrad und ökonomischem Status auf, schienen also direkt mit Ge-
wicht und Kondition in der Kindheit zusammenzuhängen.
Übergewicht in der Kindheit
erhöht unter anderem
das Risiko, später
dement zu werden

schädlichen Gase zu 100, 120 oder 200 Prozent zu

kompen­sieren kostet dabei etwa so viel wie ein bes-
seres Streaming-Abo – außer, man ist Autopendler.

Viva Vegan
Veganer Lebensstil ist aus der Nische im
Alltag angekommen. Neben immer mehr
Lebensmitteln im Supermarkt tragen auch Sneaker,
Duschgels und Shampoos das Vegan-Label. Die
Tierschutzorganisation Peta ebnet mit der App
Veganstart den Weg zu einem gesünderen und um-
weltfreundlicheren Konsum. Wer das Le-
bensgefühl seiner veganen Kinder oder
Freunde besser verstehen will, kann in
dreißig Tagen eine Art Grundkurs zu veganem
Leben absolvieren, mit Wissen zu Anbau und
Verarbeitung von Lebensmitteln sowie Rezepten.

G E S U N D L E B E N      17
 B E I PAC K Z E T T E L

Unter die Lupe genommen: Ginseng-Tabletten

Die Ginsengwurzel galt und gilt als Sinnbild für ein gesundes Leben.
Was ist dran an den Versprechen?

Was ist drin?

Ginsengwurzelextrakt,
250 mg.
Sonstige Bestandteile:
Vitamin B6 und B12,
Folsäure,
Pantothensäure,
Zink

DOSIS UND WIRKUNG

Wer hat es entdeckt? Sowohl in der
chinesischen als auch in der koreani-
schen Medizin setzen Ärzte seit Jahr-
hunderten Ginseng als Heilmittel ein.
Einer Legende nach soll am Fuße eines
Berges vor etwa 1500 Jahren die Gin-
sengpflanze erstmals kultiviert worden
sein. Der Berggott soll einem jungen
Wie funktioniert es? In alternativ­
medizinischen Kreisen wird Extrakt
aus Ginsengwurzel (Panax ginseng) als
»Adaptogen« bezeichnet, als Mittel, das
einen Organismus befähigen soll,
Stresssituationen besser zu überste-
hen. Ginseng soll Stress und Müdigkeit
entgegenwirken und wird als natürli-
Wie wirkt es? Ginseng-Pulver soll sti-
mulierend sein, gegen Demenz helfen
oder die Lust steigern. Keine dieser
Aussagen ist wissenschaftlich ausrei-
chend belegt. Das zeigten auch Meta-
studien der renommierten Cochrane-
Forschungsgruppe. Ginseng-Präparate
können Hautveränderungen, Unruhe
FOTO: BERND EBSEN

Mann im Traum den Weg zu dieser Pflan- ches Aphrodisiakum beschrieben, einige und Schlaflosigkeit auslösen und die
ze gezeigt haben, mit der er dann seine Inhaltsstoffe (Ginsenoside) sollen die Wirkung von Blutgerinnungshemmern
todkranke Mutter geheilt haben soll. Durchblutung des Penis fördern. schwächen. 2 NICOLA KUHRT

18     G E S U N D LEBEN
 Wer Windpocken hatte,
ist Gürtelrose-gefährdet.
Ab 6 0 r
tive
wird ak vor
S c hu t z s e Hätten Sie es gewusst?
ro
G ür t e l l e n Wer einmal Windpocken hatte, ist Gürtelrose-
h
e m pfo gefährdet. Bei den über 60-Jährigen sind das fast alle.

Bricht Gürtelrose aus, kann dies sehr schmerzhaft

sein und monatelange Nervenschmerzen verur-
sachen. Mit jedem Lebensjahr steigt außerdem das
Ausbruchs-Risiko. Der Grund: Unser Immunsystem
wird schwächer – egal wie gesund wir leben.

Schutz kann eine Impfung bieten.

Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt
eine Gürtelrose-Impfung für alle ab 60 Jahren.
Bei Menschen mit Grunderkrankung bereits ab
50 Jahren.

Lassen Sie sich nicht ausbremsen.

Sprechen Sie mit Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt.

Weitere Informationen: www.impfen.de/guertelrose

Mehr
NP-DE-HZX-ADVR-210079 AUG21

1 von 3 als 95 %
Menschen der über 60-Jährigen tragen Bis zu 30 %
erkrankt im Laufe des das Virus in sich, das der Betroffenen leiden unter
Lebens an Gürtelrose. Gürtelrose auslösen kann. langwierigen Schmerzen.

Eine Initiative von GlaxoSmithKline

© 2021 GSK Unternehmensgruppe oder deren Lizenzgeber
Henrik Hanske, 55,
arbeitete früher in
Vertrieb und Marketing.
Dann wurde er Spezialist
für Fußgesundheit –
eine der besten
Ent­scheidungen seines
Lebens, wie er sagt
 Als Podologe bin ich außerdem dafür zuständig,
HELD DER GESUNDHEIT
eingewachsene, zu stark gerollte oder anderwei-
tig deformierte Nägel zu behandeln. Solche Fehl-

»Ich sehe, wie

stellungen kann man mit einer »Nagelspange« gut
korrigieren. Zudem helfe ich Menschen, die wegen
Fußfehlstellungen wie einem Hallux valgus (Bal-

Patienten strahlen«
Als Podologe kümmert sich Henrik Hanske um die
Gesundheit von Füßen. Er erlebt, wie glücklich
Menschen sind, die wieder auftreten können
Viele Menschen wissen gar nicht, dass
es mich gibt. Was ein Podologe ist und
wann er helfen kann, erfahren sie oft
erst, wenn ihnen der Hausarzt eine podo­
logische Behandlung verordnet. Das
ist etwa der Fall, wenn es aufgrund von
­Dia­betes, Nervenerkrankungen oder einer
­Querschnittslähmung zu krankhaften Beschwer­
den am Fuß kommt.
Die Ärzte verschreiben dann die sogenannte
podologische Therapie – und hier komme ich zum
Einsatz. Ich schneide und schleife die Nägel so, dass
sie die umliegende Haut nicht verletzen. Außerdem
trage ich überschüssige Hornhaut ab, da diese ver­
härten, einreißen und damit zur Eintrittspforte für
Keime werden kann. Das muss unbedingt vermie­
den werden. Denn bei Diabetikern ist die Durch­
blutung gestört und das Immunsystem geschwächt.
Deswegen können selbst kleine, eigentlich harm­
lose Verletzungen schnell zu größeren und schlecht
heilenden Wunden werden. Die Entzündungs­
gefahr ist groß, und wenn zu spät behandelt wird,
sind mitunter sogar Amputationen notwendig.
Deshalb ist eine professionelle medizinische Fuß­
pflege für diese Menschen total wichtig.
lenzeh) oder Hammerzehen Druckstellen und
Schmerzen haben. Dann fertige ich zur Entlastung
sogenannte Orthosen aus Silikon an oder nutze
spezielle Baumwoll-Klebebänder.
Es kommen auch viele Menschen ohne Rezept
zu uns, weil sie eine professionelle Fußpflege wich-
tig finden. Zur Standardbehandlung gehört das
­Nägelschneiden, das Entfernen von Hornhaut und
Schwielen und die anschließende Pflege der Haut.
Das dauert durchschnittlich dreißig Minuten und
kostet bei uns etwa 40 Euro. Die Praxis, in der ich
arbeite, gehört meiner Frau, die sich vor knapp
zwanzig Jahren mit einer mobilen kosmetischen
Fußpflege selbstständig gemacht hat. Sie hat vor-
her lange als Bankkauffrau gearbeitet und wollte
dann noch mal etwas anderes machen. Ich bin seit
2013 dabei. Bis dahin war ich Vertriebs- und Mar-
ketingleiter in einem großen Unternehmen. Doch
als der Druck zunahm und ich kurz vor einem
Burn-out stand, entschied auch ich mich für einen
beruflichen Neustart. Ich musste nicht lange über-
legen – meine Frau war sehr glücklich mit ihrer
Arbeit, und ich war mir sicher: Das wird auch mir
gefallen. Also ließ ich mich zum Podologen ausbil-
den und bin nun der fachliche Leiter der Praxis.
Wir haben mittlerweile sechs Mitarbeiterinnen,
aber trotzdem ist unsere Praxis mit zwei Behand-
lungsräumen recht klein. Denn ein Großteil unse-
rer Arbeit findet außer Haus statt: in Pflegeheimen,
wo wir die Bewohnerinnen und Bewohner versor-
gen. Es ist manchmal schon herausfordernd, kran-
ke und alte Menschen zu behandeln – man braucht
viel Geduld, Verständnis und Empathie. Aber man
bekommt auch viel zurück. Wenn ich sehe, wie Pa-
tienten vor Freude strahlen, weil ihre Schmerzen
weg sind und sie wieder auftreten können, dann
weiß ich: Der Wechsel zur Podologie war eine der
besten Entscheidungen meines Lebens. 2
AUFGEZEICHNET VON CLAUDIA MINNER

VON Ausbildung Gehalt Arbeitszeiten Perspektiven

KOSMETIK Die Ausbildung zum Podologen arbeiten Auch die Arbeitszeit Es gibt vielseitige
ÜBER WUND- Podologen ist bundes- selbstständig oder hängt stark vom Ein­ Zusatzqualifikationen,
weit einheitlich gere- angestellt unter satzort ab. In Kliniken etwa im Bereich Kos­
BEHANDLUNG gelt. Sie findet an Be- an­derem in Praxen, und in der mobilen me­ metik und Massage, in
BIS ZUM rufsfachschulen statt Krankenhäusern oder dizinischen Fußpflege der Wundbehandlung
PRA XIS- und dauert in der Regel Reha-Kliniken. Je nach können die Arbeitszei­ oder im Praxismanage­
MANAGEMENT zwei Jahre (bzw. drei Arbeitgeber kann das ten sehr unregelmäßig ment. In einigen euro­
bis vier, falls man sie Gehalt stark schwan- sein. Oft arbeiten päischen Ländern
FOTO: MONIKA KEILER

berufsbegleitend ken. Laut Arbeitsagen- Podologen hier auch kann man Podologie
macht). Der Begriff tur liegt es in Vollzeit abends, an Wochen­ auch studieren. In
Podologe/Podologin ist bei durchschnittlich enden und im Deutschland ist dies
staatlich geschützt. 2600 Euro. Schichtdienst. zurzeit nicht möglich.

G E S U N D L E B E N      21
 Gutes Gespann:
Fanny und
ich zu Hause
im Spiegel

MEDIZIN

FANNY,
der Schmerz und ich
Aua, mein Hals! Eines Tages konnte
unsere Tochter Fanny nicht
mal mehr Laufrad fahren. Es dauerte
ewig bis zur richtigen Diagnose.
Und dann kam Corona – und ich,
ihr Vater, wurde zur Ein-Mann-Kita
TEXT UND FOTOS: FABIAN ZAPATKA

hm
uns na
s Bild von uf
Arm: D
iese mera a
derka
Arm in Fannys Kin
t
ich mi
 Ganz von selbst zeigt mir an diesem Tage mein Smartphone einen zufäl-
lig zusammengestellten Fotorückblick. Die Überschrift lautet: »Unter-
wegs mit Fanny«. Neugierig tippe ich auf das erste Bild und erinnere mich:
Sommer 2018. Die blonden Haarsträhnen meiner Tochter Fanny flatter-
ten im Wind. Sie war damals zwei Jahre alt, und wir waren, wie beinahe
jeden Tag, mit unserem Lastenfahrrad unterwegs. Schon seit meiner
­Jugend bin ich passionierter Radfahrer. Kaum konnte meine Tochter
­Fanny sitzen, kutschierte ich sie mit einem Lastenrad durch die Stadt.
Vierzig Minuten zuvor hatte ich sie an jenem Tag von der Kita abge-
holt. Nun saß sie vor mir in der Transportkiste des Fahrrads. Drumher-
um Handtücher, Schwimmflügel, Badesachen und Proviant. Alles für
einen Sommernachmittag im Schwimmbad in Berlin. In dem Moment,
als das Lastenrad über Kopfsteinpflaster ruckelte, schrie Fanny: »Ahh,
au!« Ihr Nacken schmerzte. Oh nein – ich hatte nicht aufgepasst. Denn
mit dem Rad über Bordsteinkanten oder unebene Wege zu holpern – das
war eigentlich seit Wochen, ja Monaten, für mich tabu.
Fanny war immer ein dynamisches, aktives Kind gewesen. Anfang 2018 Fanny im Sommer
aber hatte es angefangen mit ihren Beschwerden. In immer kürzeren 2018 mit ihrem
Intervallen hatte sie über Schmerzen im Nacken geklagt. Ein zweijähri- Kinderfotoapparat
ges Kind und Nackenschmerzen? Weder meine Freundin Catherine, Fan- und Verband am
nys Mutter, noch ich hatten die Symptome am Anfang sonderlich ernst Arm vor dem
Virchow-Klinikum
in Berlin (Bild l.)

»WAS HATTE
FAN NY N U R?
MAL HIESS
ES ›EINE
ZERRUNG‹, MAL
›EIN GELENK-
SCHNUPFEN‹«

Unsere Patchwork-
Familie: meine
genommen. Zu unserem Erschrecken aber steigerte sich die Stärke der Freundin Catherine
und ich, in der
Beschwerden, die Nöte unseres Kindes wurden immer wieder im Alltag Mitte Catherines
spürbar: Fanny wollte nicht mehr mit ihrem Laufrad fahren oder auf dem Tochter Annabelle
Spielplatz Trampolin springen. Die Erzieherinnen in der Kita berichte- und vorne Fanny
ten uns ratlos von einer völlig veränderten Fanny, die die meiste Zeit am
Rand stand und nicht mehr mittobte und -spielte. Wir suchten bei zahl-
reichen Ärztinnen und Ärzten Rat. Meine Freundin und ich wechselten
uns ab, besuchten Orthopädinnen und Kinderärztinnen. Die Diagnosen
variierten. Mal hieß es »Zerrung«, mal »Gelenkschnupfen«, letzteres steht
umgangssprachlich für eine Flüssigkeitsansammlung im Gelenk nach
einer Virusinfektion. Einige Mediziner konnten mit den Symptomen bei
einem so kleinen Kind gar nichts anfangen. »Einfach mal entspannen und
nicht hineinsteigern«, sagte eine Orthopädin.
Schließlich, das war ein paar Wochen nach dem Schwimmbadausflug
mit dem Lastenrad, konnte Fanny kaum mehr den Kopf bewegen. 4
G E S U N D L E B E N      23
Auf dem Klinik-
Spielplatz
spielte Fanny in
einem Holz-­
Hubschrauber.
Am Arm trug sie
einen Verband,
der einen dünnen
Schlauch in der
Vene fixierte

s,
pschus .
hter-Schnap kamera (o.)
r- To c i n de r
Vate mit de
rK
y und
wieder iheit: Fann einer
n f re na c h
Bei ns
hten u us
ich ru amen Tour a
e m ei n s
g
Sie drehte, um zur Seite schauen zu können, den
ganzen Oberkörper. Richtig nach oben oder unten
guckte sie auch nicht mehr, weil sie den Kopf
nicht in den Nacken legen oder nach vorne
beugen wollte.
Nicht mehr nach dem Spielzeug bücken
Im Hochsommer kamen Schmerzen in den Gelen-
ken hinzu: in Knien, Fingern und Fußgelenken.
Überall hatte sie »Aua«. Fanny konnte sich nicht
mehr nach heruntergefallenem Spielzeug bücken.
Der aktuell konsultierte Orthopäde winkte verle-
gen lächelnd ab: »Wie sollen all diese schmerzen-
den Gelenke zusammenhängen?« Den geplanten
Urlaub in Österreich sagten wir ab.
Morgens waren die Schmerzen am größten.
­Fanny konnte nicht mehr allein aus dem Bett auf-
stehen – sie kam wegen der Nackenschmerzen
nicht mehr aus dem Liegen hoch, wir mussten ihr
aufhelfen. Treppen waren für sie zu schier über-
windbaren Hindernissen geworden: Sie blieb da-
vor stehen, traute sich nicht hinauf oder hinunter,
wir trugen sie. Auf dem Spielplatz brach sie in Pa-
nik aus, wann immer andere Kinder ihr zu nahe
»TREPPEN
WAREN FÜR
FANNY ZU
SCHIER
UNÜBERWIND-
BAREN
HINDERNISSEN
GEWORDEN«
kamen. Spaziergänge waren kaum mehr möglich,
die meiste Zeit musste ich sie tragen. Es war eine
schwere Zeit: Kein Arzt nahm die Beschwerden
wirklich ernst. Fannys eigentlich fröhliches We-
sen veränderte sich zusehends – sie konnte nicht
mehr unbeschwert leben. Die ständige unter-
schwellige Angst machte uns Eltern fertig.
Die Rettung kam zufällig, Ende Juli 2018. Cathe-
rine musste zu einer Routineuntersuchung in die
Charité. Belastet durch Fannys ständige Schmer-
zen schüttete sie dem behandelnden Arzt ihr Herz
aus. Dieser ergriff die Initiative und sagte: »Keine
Zeit verlieren!« Er rief sofort in einer anderen
­Abteilung auf dem Klinik-Campus an und verein-
barte einen Termin bei einem Kollegen.
Schon am nächsten Vormittag saßen wir mit
Fanny am Campus Virchow-Klinikum der Charité
in Berlin in der Sprechstunde von Tilmann Kalli-
nich – seitdem ist der Arzt ein regelmäßiger Beglei-
ter in unserem Leben. Im Prinzip wusste der Leiter
der Abteilung Rheumatologie und Experte für Kin-
derrheuma sofort Bescheid, nachdem er einen Blick
auf die Knie, Finger und Zehen unserer Tochter
geworfen hatte: Sie waren geschwollen. Fanny sah
damals insgesamt noch ein bisschen »knubbelig«
aus. Weder uns Eltern noch den Orthopäden und
Kinderärzten waren die Schwellungen aufgefallen.
Zwei Tage mit aufwendigen Untersuchungen in
verschiedenen Fachbereichen des Klinikums be-
stätigten schließlich Kallinichs Verdachtsdiagno-
se: Juvenile Idiopathische Arthritis (JIA), im Volks-
mund Kinderrheuma genannt. Bei dieser Erkran- Einmal bekam
Fanny gegen die
kung verursacht ein außer Kontrolle geratenes Im-
Schmerzen vom
munsystem Entzündungen im eigenen Körper, Orthopäden gelbe
hauptsächlich in den Gelenken. Bei mir überwog Tape-Streifen auf
die Erleichterung, endlich eine Diagnose und den Rücken
­damit einen Therapieplan zu haben. Tatsächlich geklebt (l.).
hatte ich aber noch keinen Blick in die Broschüren Einzige Wirkung:
Tränen vor
und Infoblätter über die Krankheit geworfen. Schmerz beim
Herunterziehen
Gemütlich
richtete Fanny
Die Krankheit kann sehr verschieden verlaufen es sich in ihrem
Zimmer im
und wird in sieben unterschiedlich schwere Formen Virchow-Klinikum
unterteilt. Manche der betroffenen Kinder bemer- ein: mit Kuschel-
ken die Symptome kaum, wieder andere haben mit tier-Pinguin,
starken Einschränkungen zu kämpfen. Die Krank- eigenem Stern-
heit kann unterschiedliche Gelenke befallen und Kissen und
auch die Augen in Mitleidenschaft ziehen. Meist Pixie-Büchern
tritt sie erst bei etwas älteren Kindern auf.
Kinderrheuma kann mit der Zeit verschwin-
den und nie wieder auftreten – bei der Hälfte der
Betroffenen ist die JIA auch im Erwachsenenalter
weiter aktiv und muss behandelt werden. Noch
suchen Forscher die konkrete Ursache der Krank-
heit. Auch Fannys Daten finden, in anonymisier-
ter Form, ihren Weg in die Wissenschaft, das 4
G E S U N D L E B E N      25

Willkommene
Abwechslung,
Februar 2021: Es
schneite! Wir
warfen Schnee­ Deutsche Rheuma-Forschungszentrum Berlin
bälle – ein arbeitet mit ihnen.
Highlight in Unsere Tochter musste nach dem Untersu-
den ansonsten chungsmarathon direkt für eine sogenannte Puls-
eintönigen therapie im Krankenhaus bleiben. Dabei wurde ihr
Wintertagen
intravenös hoch dosiert Cortison verabreicht, um
während der
Pandemie die Entzündungsherde im Körper zu eliminieren.
Schon am ersten Abend nach der Behandlung
rannte Fanny, von den monatelangen Schmerzen
befreit, vor Freude jauchzend und ohne Hosen über
»FANNY die Klinikkorridore. Nach einer Untersuchung im
UND ICH Kernspin – zur Beruhigung lag ich am Ende mit in
WAREN JEDEN der Röhre – zeigte sich zu unserem großen Glück,
WERKTAG dass der oberste Halswirbel durch die Entzündung
MINDESTENS nicht beschädigt worden war. Auch sonst waren
FÜNF STUNDEN keine Gelenke nachhaltig in Mitleidenschaft ge-
DRAUSSEN zogen worden.
UNTERWEGS« Zu Hause musste Fanny anfangs dreimal am
Tag Medikamente als Säfte und Tabletten einneh-
men: Cortison, entzündungshemmende Arznei-
en, ein Mittel für den Magenschutz. Einmal die
Woche bekam sie eine Spritze – Methotrexat, ein
in dieser Dosierung entzündungshemmendes
Medikament. Zweimal wöchentlich fuhren wir
zur Physiotherpapie, um die Beweglichkeit zu för-
dern. Und am Wochenende ging es zum Kinder-
sport. Dazu kamen regelmäßige Kontrollen im
Krankenhaus und bei anderen Ärzten: Blutab-
nahmen, Überprüfung der Gelenke, Augenunter-
suchungen, Checks des Allgemeinzustands.
Nachdem Catherine und ich die erste Zeit versucht
hatten, die Betreuungsarbeit aufzuteilen, begann
immer mehr ich den Großteil des veränderten All-
tags mit Fanny zu bestreiten. Nun musste ich zwei
Nachmittage die Woche zur Physiotherapie mit ihr.
Da nur ich die Spritze verabreichen konnte – Cathe-
26     G E S U N D LEBEN
Auf unseren Radtou­
ren entdeckten Fanny
und ich immer neue
Nischen in der Stadt,
etwa versteckte
Spielplätze und
Parks. Die Schwestern
Annabelle und Fanny
auf dem Balkon (o.)
rine brachte es nicht über sich, Fanny zu stechen –,
musste ich auch am Wochenende verfügbar sein.
Leider kamen die Schmerzen in den ersten Mo-
naten immer wieder. Daher war Fanny noch eini-
ge Male zur Pulstherapie stationär im Kranken-
haus. Um diesen Jo-Jo-Effekt zu beenden und vom
Cortison ganz wegzukommen, begannen wir
schließlich die Behandlung mit einem speziellen
Medikament aus der Gruppe der sogenannten Bio-
logika: Dieser Wirkstoff namens Adalimumab blo-
ckiert einen Botenstoff des Immunsystems, den
Tumor-Nekrosefaktor alpha, der die überschie-
ßende Reaktion und damit das juvenile Rheuma
auslöst. Mit Beginn dieser Therapie kamen die
Schmerzen nicht mehr zurück. Und tatsächlich
konnten wir nach und nach die anderen Medika-
mente absetzen.
Doch dann kam alles ganz anders
Im Frühjahr 2020 bekam Fanny nur noch eine
Spritze jede Woche und alle zwei Wochen die zwei-
te Spritze mit dem Biologikum. Die Physiothera-
pie konnte beendet werden. Sie hatte seit gut
einem Jahr keine Schmerzen oder Einschränkun-
gen mehr. Nun wollte ich wieder im Job durchstar-
ten, die Gelegenheit schien günstig. Doch dann
FOTO: RALF ZIMMERMANN (FOTO AUF DEM RAD)
kam alles anders: Corona begann.
Daran erinnert mich das nächste Foto, das mein
Handy mir von allein präsentiert. Es zeigt Fanny
und ihre ältere Schwester Annabelle auf ihren Rä-
dern an einem Frühlingstag 2020. Auf dem Bild
herrscht eine seltsame Feiertagsstimmung im Ber-
liner Tiergarten. Auf einer weitläufigen Wiese
tummelten sich Familien. Am Rand flanierten äl-
tere und jüngere Paare. Es war der zweite Monat
der Pandemie in Deutschland.
 Schon in den ersten Wochen nach dem Ausbruch mussten ab Frühjahr 2020 an jedem Werktag min-
der Pandemie wurden nach und nach alle meine destens fünf Stunden unterwegs sein.
Fotoproduktionen und -aufträge abgesagt. Anfang Und wir machten das Beste daraus: Wo ich frü-
April 2020 war meine Arbeit fast ganz zum Er­liegen her Fanny einfach eingepackt und mit auf Ausflü-
gekommen, Catherine arbeitete nur noch von zu ge genommen hatte, entstand nun ein Miteinan-
Hause aus. Noch war wenig über das neue Virus der. Mit aller Zeit der Welt widmeten wir uns auf
bekannt. Annabelles Schule hatte auf Homeschoo- unseren Exkursionen den Tieren und Pflanzen, be-
ling umgestellt, sogar die Spielplätze waren trachteten Steine, kletterten auf Bäume, fütterten
geschlossen. Eichhörnchen und malten aufwendige Bilder mit
Kreide aufs Pflaster. Wir erkundeten jeden Winkel
Wie gefährlich war Corona für Fanny? des Zoos, der neben dem Tierpark als einzige At-
Niemand konnte uns sagen, wie es Fanny mit traktion geöffnet blieb. Drinnen, zu Hause, wurde
ihrem Kinderrheuma und den immundämpfen- fotografiert, gemalt und gebastelt. Über die Zeit
den Medikamenten, die sie bekam, im Falle einer entstanden neben unzähligen Bildern auch Häu-
Infektion mit dem Coronavirus ergehen würde. ser, Fahrzeuge und Masken aus Pappe. Und nach
Es herrschte ja eine diffuse Angst, die alle bei und nach lasen und guckten wir uns durch einen
dem Gedanken an eine mögliche Sars-CoV-2-­ von mir kuratierten Kinderbuch-Kanon.
Infektion erfasste. Wir Eltern schätzten das Ri- Zum Glück besuchte auch Fannys bester, gleich-
siko für einen schweren Verlauf deutlich höher altriger Freund Ferdi in den ersten Monaten der Pan- »NIEMAND
ein, denn die Behandlung mit Adalimumab er- demie nicht die gemeinsame Kita. So teilten seine KONNTE UNS
höht das Risiko für schwere Infektionen. So Eltern und ich uns die Kinderbetreuung und unter-
SAGEN, WIE
mussten Catherine und ich die nächsten zwei nahmen mit beiden Kindern abwechselnd Aus­flüge:
ES FANNY
BEI EINER
Jahre lang ständig abwägen – zwischen den mög- die Fanny-Ferdi-Kita.
CORONA-
lichen Schäden in Fannys sozialer Entwicklung, Zwar beriet ich in der Zeit zwei Unternehmen
INFEKTION
die durch die Isolation entstanden, den finan- und eine wissenschaftliche Zeitschrift in bild­
ERGEHEN
ziellen Einbußen, wenn sie nicht mehr in die Kita redaktionellen Fragen und verkaufte auch Fotos WÜRDE«
ginge und ich gar nicht mehr arbeiten könnte, aus meinem Alltag an verschiedene Magazine, aber
und dem möglichen Schaden durch einen schwe- so kamen vielleicht dreißig Prozent der früheren
ren Infektionsverlauf aufgrund des rätselhaften Einnahmen von vor Corona herein. Catherine
neuen Virus. musste immer mehr finanzielle Verantwortung
Von der Seite der Kita kamen keine Vorschläge, übernehmen.
wie Fanny – möglicherweise besser geschützt Das nächste Bild erscheint in der Smartphone-
durch angepasste Betreuungsmodelle – wenigs- Rückblende: An einem grauen Januartag 2021 sitzt
tens für wenige Stunden weiter betreut werden Fanny hinter einer Plastikplane – einigermaßen vor
könnte. Schließlich richteten wir uns als Familie Wind und Kälte geschützt – vorne im Lastenrad und
ohne die Kita ein. Damit Catherine und Anna­belle isst Maultaschen aus einer Thermoschüssel. In­
in unserer Wohnung arbeiten und lernen konn- zwischen hatten wir allerlei Zubehör für unsere
ten, bedeutete das in der Praxis: Fanny und ich Ausflüge angeschafft. Eine Thermoskanne 4

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 Wieder gemeinsam
mit dem
Lastenrad auf
Tour, diesmal
in München bei
den Großeltern
(Bild l.).
Fanny und
Catherine ent-
spannt zu Hause
in der Küche

und -schüssel, allerlei warme Unterwäsche. Fan-
ny war gerade fünf geworden. Morgens hatten
wir ein Eisbrecherschiff auf dem Landwehr­
kanal beobachtet. Später versuchten wir mit
Stöcken die Eisdecke auf einem anderen Stück
des zugefrorenen Kanals zu durchstoßen.
Es wurde schwerer, optimistisch in die sich
immer mehr gleichenden und meist nass-
grauen Tage zu starten. Catherine stöhnte unter
Nach anderthalb der Last der Arbeit. Fanny war genervt davon, nur
Jahren Pandemie mit mir ihre Tage zu verbringen. Ich bekam allen
besuchten
Frust von ihr ab. Bald darauf aber schneite es un-
wir Fannys Opa
in München gewöhnlich heftig und lange in Berlin. Fanny und
ich gingen jeden Tag im nahen Mauerpark rodeln.
»WIR SIND Wir bauten Schneemänner und bewarfen uns mit
UNS AUF Schneebällen. Der Schnee war eine glückliche Fü-
EINE ART gung für uns zwei – gegen die grauen, eintönigen
NAHEGEKOM- Wintertage in der Pandemie.
MEN, DIE Im Frühsommer 2021, endlich, waren Cathe­rine
ICH NICHT und ich durchgeimpft. Die Fallzahlen waren in
MISSEN Deutschland niedrig. Das Tal der Pandemie schien
MÖCHTE« für uns erst mal durchschritten. Fanny bekam nur
noch eine Spritze alle zwei Wochen.
Das Sammeln von Momenten
Sommer 2021 – ein neues Bild: Fahrradlenker, Fan-
nys blonder Schopf, die rotbraune Sitzkiste. Hier
radeln wir in einem Cargobike durch München.
HINTERGRUND
Als dieses Foto entstand, waren wir beide wenige
Tage zuvor in Richtung Süden aufgebrochen. Seit
Beginn der Pandemie hatte ich meine Heimatstadt
München nicht mehr besucht und meine Eltern
nicht mehr getroffen – eineinhalb Jahre waren ver­
gangen, eineinhalb Jahre hatte Fanny Oma und
Opa nicht »in echt« gesehen. Aus Vorsicht hatten
meine Eltern sich in der Pandemie zurückgezogen.
Nach all der gemeinsamen Zeit zu zweit reisten
Fanny und ich sozusagen auf Augenhöhe durch die
Stadt meiner Kindheit. Wir badeten im Eisbach,
wanderten durch grüne Wälder im bayerischen
Voralpenland und in Österreich. Dort entdecken
wir steile Wasserfälle und kleine Tierchen unter
Steinen in klaren Gebirgsbächen.
Inzwischen ist Fanny sechs Jahre alt, sie ist dop­
pelt geimpft und genesen. Seit einigen Monaten
besucht sie eine Waldkita, die Kinder sind vor
­allem draußen unterwegs – weniger Infektions­
risiko. Unsere Tochter gilt heute nicht als Risiko­
patientin, es liegen inzwischen Studien zu Co­rona
und Kinderrheuma-Patienten vor, die gut medi­
kamentös eingestellt sind.
Fanny und ich sind uns auf eine Art nahegekom­
men, die ich niemals missen möchte. Das gemein­
same Treibenlassen, die Alltagswelt erforschen und
das Sammeln von Momenten – dieses Gefühl
verlässt uns nicht.2

Bei Rheuma, einer Autoimmunerkran-
kung, richten sich Abwehrzellen fälschli-
cherweise gegen körpereigenes Gewebe:
Bindegewebsubstanzen werden von
Zellen des Immunsystems als fremd ange-
sehen und bekämpft. So entstehen
chronische Entzündungen in Gelenken,
Organen und Bindegeweben. Es besteht
die Gefahr, dass die Entzündungsprozes-
se Gelenke dauerhaft schädigen.
Die Juvenile Idiopathische Arthritis
(JIA) wird im Volksmund Kinderrheuma
genannt. Die Zusatzbezeichnung »juvenil«
bedeutet, dass die Krankheit vor dem
16. Lebensjahr beginnt. Das Wort «idiopa-
thisch» umschreibt, dass die Krankheits-
ursache bisher nicht eindeutig belegt
werden konnte.
JIA wird in sieben verschiedenen Formen
eingeteilt. Je nach Form des Leidens ha-
ben die Patientinnen und Patienten grö-
ßere oder kleinere Einschränkungen. Im
Vergleich zu Rheuma im Erwachsenen-
alter sind die Heilungschancen bei Kin-
dern deutlich höher. Bei einigen Formen
liegt die Heilungsrate bei achtzig Prozent.
Laut aktuellen Zahlen sind rund 16 000
Kinder in Deutschland an JIA erkrankt;
damit ist sie hierzulande die häufigste
chronisch-entzündliche rheumatische Er-
krankung bei Kindern. Idealerweise sollte
JIA innerhalb von etwa sechs Wochen
nach Beginn der Beschwerden diagnosti-
ziert werden. Je früher die Behandlung
beginnt, desto größer ist die Chance
auf vollständige Genesung.

28     G E S U N D LEBEN
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KEIN NORMALES FRAUENMAGAZIN!

 TITEL

Ein schwerer Unfall,

eine Trennung,
der geliebte Partner
stirbt: Wie gelingt
es uns, Schicksalsschläge
zu meistern und
wieder Zuversicht zu
gewinnen? Vier
Menschen erzählen, was
ihnen in ihren
Lebenskrisen geholfen hat

VON CLAUDIA MINNER

GROSSE
INNERE KRAFT
30     G E S U N D LEBEN
 Das Gefühl von Wertlosigkeit hat mich lange begleitet.
Ich hatte strenge Eltern, gute Noten waren ein Muss, und
ich war nie gut genug. Später in meiner Ehe schlich sich
das Gefühl wieder ein. Wir waren zusammen, seit ich
fünfzehn war. Aber nach vielen Ehejahren und zwei
­Kindern kriselte es. Ich war total unzufrieden, fühlte mich nicht mehr
gesehen und gewertschätzt.
Bis Andi* in mein Leben kam. »Das ist die Liebe meines Lebens«, dach­
te ich. Er überschüttete mich mit Liebeserklärungen und Aufmerksam­
keit. Endlich bekam ich, wonach ich mich so lange gesehnt hatte. Ich
wurde süchtig danach und trennte mich von meinem Mann.
Doch die Beziehung mit Andi verlor schon nach kurzer Zeit ihren
Zauber. Er warf mir vor, dass ich ihn nicht genug lieben würde. Dass ich
ihm wohl nicht wichtig sei, weil ich mich auch noch mit meinen Freun­
dinnen traf. Er fing an, mich zu kontrollieren. Und wenn es ihm schlecht
ging, gab er mir die Schuld dafür.
So wurde aus der »Liebe meines Lebens« eine unfassbar schmerzhaf-
te, toxische On-off-Beziehung. Wir stritten viel, trennten uns, kamen
aber immer wieder zusammen. Denn jedes Mal, wenn er mir wieder
»Beim Schreiben finde überschwänglich seine Liebe zeigte und Besserung gelobte, war ich wie­
der glücklich. Bis zum nächsten Streit, in dem er mir vorwarf, dass ich
ich Lösungen« es nicht wert sei, geliebt zu werden – und sich erneut von mir trennte.
Dieser ständige krasse Wechsel zwischen Sichgeliebtfühlen und
Eine toxische Beziehung war der Tiefpunkt Fallengelassenwerden hat mich total fertiggemacht. Ich hatte noch nie
ihres Lebens. Doch Irene Haas, 39,
aus der Nähe von Offenburg so viel geweint wie zu dieser Zeit, war total unkonzentriert und oft krank.
schaffte es, sich zu trennen – und wieder Aber ich konnte mich nicht lösen, fühlte mich wie gelähmt. Erst
mehr auf sich zu achten nach einem erneuten sehr heftigen Streit, bei dem ich die Polizei rief,
weil er meine Wohnung nicht verlassen wollte, habe ich es geschafft.
Ich war total verzweifelt. Und ich wusste: Jetzt gibt es kein Zurück
mehr. Letztlich war der Anruf bei der Polizei sehr befreiend. Denn er
hat mir gezeigt, dass ich doch nicht so hilflos bin. Dass ich Verantwor­
tung übernehmen und Grenzen setzen kann. Diese Erkenntnis hat
mir Mut gemacht.
Andi fing an, mich zu stalken, ständig rief er mich an, legte Blumen
und Geschenke vor die Tür. Aber ich bin nicht zu ihm zurückgekehrt.
Was mir dabei geholfen hat, war Rückzug. Ich nahm mir viel Zeit für
mich. Ich habe damals mit Meditation angefangen, um zur Ruhe zu kom­
men. Dadurch bin ich gelassener und stressresistenter geworden. Wenn
ich morgens meditiere, fühlt sich mein Tag gleich viel leichter an.
Außerdem habe ich viele Bücher und Podcasts über Persönlichkeits­
entwicklung gelesen und gehört. Habe Coachings gemacht und ange­
fangen, täglich Tagebuch zu schreiben, nachdem mir ein Coach ein Jour­
nal geschenkt hat. Das mache ich bis heute, meistens täglich. Denn beim
Schreiben gewinne ich Klarheit. Dinge, die unterbewusst in mir schlum-
mern, kommen an die Oberfläche. Ich komme ins Nachdenken, lerne
mich dabei kennen und finde Lösungen für Probleme.
Das zeigt mir auch, wie viel Kraft ich habe. Ich bin nicht so schwach,
wie ich dachte. Ich bin stark! Und ich habe Mut für Veränderung.
Es klingt vielleicht verrückt: Diese toxische Beziehung war zwar die
schlimmste Erfahrung und der Tiefpunkt meines Lebens, aber ich bin
dafür im Nachhinein auch dankbar. Weil ich dadurch gelernt habe, wie
wichtig es ist, Grenzen zu setzen und selbstbestimmt zu leben. Ich habe
seitdem endlich wieder Zeit in mich investiert und so viel Selbst­
FOTO: WILMA LESKOWITSCH

vertrauen aufgebaut, dass ich mich sogar getraut habe, meine Fest­
anstellung als Ingenieurin aufzugeben. Stattdessen arbeite ich nun als
Coach und bin glücklich, dass ich anderen zeigen kann, wie sie ihre
­Krisen überwinden können.
Das Gefühl von Wertlosigkeit und Ohnmacht ist verschwunden.
­Darauf bin ich sehr stolz. 4
*Name von der Redaktion geändert
 Für immer gelähmt! Als mir das bewusst wurde, dachte
ich: Mein Leben ist vorbei. Das war vor vierzehn Jahren.
An einem heißen Sommertag hatte ich einen Kopfsprung
in einen zu flachen See gemacht und mir den sechsten Hals­
wirbel gebrochen. Nach einem künstlichen Koma und zwei
mehrstündigen Operationen wachte ich im Krankenhaus auf. Ich konn­
te mich nicht bewegen und nicht sprechen, auf meinem Gesicht war
ein Beatmungsgerät. Ein paar Tage später bekam ich einen Sprech­
aufsatz und fragte nach meiner Diagnose. Die Antwort war ein Alb­
traum: Querschnittlähmung.
Wie soll man leben, wenn man sich von der Brust abwärts nicht mehr
bewegen und nichts mehr spüren kann? Ich fühlte mich wertlos, woll­
te sterben. Aber ich bin noch am Leben – und viel glücklicher als vor
dem Unfall. Obwohl ich nicht mehr laufen und meine Finger nicht mehr
richtig bewegen kann. Obwohl ich auf einen Rollstuhl, eine 24-Stun­
den-Pflege und zahlreiche Hilfsmittel angewiesen bin. Ich habe gelernt,
das zu akzeptieren. Dass es mir heute so gut geht, verdanke ich vor ­allem
dem Kontakt zu anderen Betroffenen. Als ich 2008 in der Reha auf
sie traf, zeigten sie mir, dass das Leben auch mit einer Querschnitt­
lähmung schön sein kann. Das hat mir Mut gemacht. Es hat mich mo­
tiviert, ­Pläne zu schmieden.
Ich war damals 23 und blickte zurück auf eine chaotische und un­
glückliche Kindheit und Jugend. Mir wurde klar, dass ich in meinem
Leben vor dem Unfall nicht glücklich gewesen war. Meine Mutter war
chronisch krank und überfordert, mein Vater nie da. Es gab viel Streit,
ich habe schon früh in Jugendwohngruppen gelebt. Ich hatte keine Lust
auf Schule, habe zwei Ausbildungen abgebrochen. Mit zwanzig war ich
Vater geworden, aber von der Mutter meiner Tochter war ich getrennt.
Nun wollte ich einen Neustart versuchen – trotz und mit meiner
Lähmung. Durch den Austausch mit anderen Betroffenen verstand ich,
dass man einen schlimmen Schicksalsschlag überwinden kann, wenn
man sich Ziele setzt. Ich wollte ein guter Vater für meine Tochter sein.
Nicht als Behinderter bemitleidet werden und so schnell wie möglich
wieder arbeiten: Das war mein größter Wunsch.
Aber man hielt mich für arbeitsunfähig. Mein Betreuer und ich
kämpften zweieinhalb Jahre, bis ich die volle Erwerbsminderungs­rente
bekam und eine Umschulung machen konnte. Als es endlich losging,
war ich total happy. Ich hatte Spaß, lernte neue Leute kennen, fühlte
mich wieder als wertvoller Teil der Gesellschaft. Heute arbeite ich als
Bürokaufmann bei der Stadt Hamburg. Nebenbei engagiere ich mich
für die Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten in Deutsch-
land, weil ich anderen Betroffenen Mut machen will. Ich zeige ­ihnen,
wie erfüllt und glücklich das Leben mit einer Lähmung sein kann.
Es stimmt nicht, was viele befürchten: Das Leben hört nicht auf.
Es ist nur anders.
Allerdings kann man das Leben mit Behinderung nur genießen,
wenn man sich darauf einlässt. Sich nicht als Opfer betrachtet, son­
dern selbst Verantwortung übernimmt. Wenn man sich Ziele setzt und
Menschen sucht, die einen unterstützen. Dann kann man vieles er­
leben, was auch gesunde Menschen machen. Fallschirmspringen zum
Beispiel, im Tandem. Ich habe mir dabei dummerweise neulich ein
Bein gebrochen, aber ich lasse mich nicht entmutigen und möchte bald
FOTO: MARTIN KESS

noch einen Tandem-Sprung machen. Meine Oma sagt, ich sei verrückt.
Aber wenn ich alt bin, will ich mit einem dicken Grinsen auf mein
­Leben zurückblicken und sagen können: Geil war’s! Davon hält mich
auch mein Handicap nicht ab. 4
 »Mit einem Ziel vor
Augen schafft man es«
Durch einen Unfall ist Sascha Schrön, 37,
aus Hamburg querschnittgelähmt.
Anfangs wollte er sterben. Mittlerweile
zeigt er anderen, dass man
auch mit Lähmung glücklich sein kann

G E S U N D L E B E N      33
 Trauer ist wie Musik. Mal spielt sie
leise im Hintergrund, und man be-
merkt sie kaum. Und dann wird sie
plötzlich so laut, dass es wehtut.
Dann will sie raus. Ich habe viel
geschrieben, um den Schmerz über Carstens Tod
zu verarbeiten. Habe meine Trauer in Beiträgen
auf Facebook, Instagram und meinem Blog öf-
fentlich gemacht und mache das immer noch.
Das ist sehr heilsam, weil ich dabei verstanden
habe, dass Trauer etwas Gutes ist – und dass sich
der Schmerz verändert.
Carsten war meine größte Liebe. Zwölf Jahre
lang waren wir ein glückliches und lebensfro-
hes Paar. Wir haben viel gelacht und getanzt,
sind oft verreist. Doch dann wurde 2018 bei ihm
Knochenmarkkrebs diagnostiziert. Carsten
machte alle empfohlenen Therapien, wir hoff-
ten auf Heilung. Doch im November 2019 ­verlor
er den Kampf.
Ich löste unser gemeinsames Zuhause auf und
zog in eine Wohnung im Haus meiner Eltern, um
nicht so allein zu sein – und um Zeit für meine
Trauer zu haben. Schon in den Monaten vor
Carstens Tod hatte ich mich aus meinem Job als
Geschäftsführerin eines Coworking-­Spaces und
einer Design-Agentur zurückgezogen.
Wenn man einen geliebten Menschen ver-
liert, lebt man wie in einer Parallelwelt. Die Welt
dreht sich weiter, doch das eigene Leben kommt
ins Stocken. Das habe ich akzeptiert. Aber ich
habe nie die Hoffnung aufgegeben, dass ich ir-
gendwann auch wieder Gas geben kann.
Ich hatte schon immer das Vertrauen, dass ich
Dinge verändern kann. Ich bin mutig, aufge-
schlossen, nehme gern das Steuer in die Hand.
Und so habe ich seit Carstens Tod einiges aus-
probiert: Ich war eine Weile lokalpolitisch sehr
aktiv und habe dabei viele Kontakte geknüpft.
Ich habe ein Coaching-Fernstudium begonnen,
weil ich mich weiterbilden möchte. Und ich
habe einen kleinen Hund bekommen, der mich
mit seiner Lebensfreude ansteckt. Das alles hat
mich davor bewahrt, in ein Loch zu fallen.
34     G E S U N D LEBEN
Trotzdem gab es auch Rückschläge. Letztes
Jahr hat mich die Trauer um Carsten noch viel
Kraft gekostet. Mir fehlte die Energie für einen
richtigen Aufbruch, manchmal fühlte ich mich
wie festgeklebt.
Aber ich mag keinen Stillstand, ich brauche
Veränderung. Außerdem muss man in Bewe-
gung bleiben, wenn man Krisen überwinden
will. Ich wollte wieder einen Sinn im Leben fin-
den, wollte für etwas brennen. Arbeitslos zu sein
und nur von der Witwenrente zu leben, das war
auf Dauer nichts für mich.
Also habe ich mir ein Coaching gegönnt und
mich mit meinen Zielen beschäftigt. Mir wur-
de klar, dass ich mir endlich einen Traum erfül-
len möchte: ein eigenes Büro, in dem ich meine
beruflichen Ideen weiterentwickeln kann. So
kam ein neues Projekt in mein Leben – und da-
mit erstaunlich viel neue Energie.
Ich arbeite mittlerweile freiberuflich für ein
Coworking-Projekt, habe meine erste wichtige
Prüfung beim Coaching-Fernstudium mit einer
guten Note bestanden, und im September star-
te ich eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin.
Das erfüllt mich mit Sinn.
Außerdem habe ich einen neuen Mann
kennengelernt, mit dem ich mich sehr gut ver-
stehe. Schon nach ein paar Wochen habe ich
mich bewusst dafür entschieden, mich auf ihn
einzulassen. Niemand kann Carsten jemals
ersetzen, er hat seinen festen Platz in meinem
Herzen, aber ich möchte nicht alleine alt
werden. Und ich glaube fest daran, dass man
mehrere Menschen lieben kann.
Ich bin in den letzten Jahren gewachsen, das
macht mich stolz. Ich mag mein neues Ich. Einen
Verlust zu verarbeiten ist ein schmerzhafter und
langwieriger Prozess. Mir hat es geholfen, in Be-
FOTO: MICHAEL ENGLERT
wegung zu bleiben: Man setzt langsam einen
Fuß vor den nächsten, und im Gehen formt sich
der Weg. So füllt sich das Leben ständig mit neu-
en Möglichkeiten und Ideen. Ich bin mir sicher:
Es hält noch einiges für mich parat – und es liegt
an mir, das Beste daraus zu machen. 4
 »Man muss
in Bewegung bleiben«
Nach dem Tod ihres Manns hat sich
Britta Preuße, 47, aus Grevenbroich
Zeit zum Trauern genommen.
Und sie machte sich
auf die Suche nach einem neuen,
erfüllten Leben
 »Auch schlechte
Zeiten gehen
vorüber«
Nach drei Kündigungen fragte sich
Ferdinand Saalbach, 40,
aus Dresden, was mit ihm nicht
stimmt. Antworten fand er
in einer Therapie. Heute fühlt er
sich befreit und gestärkt

36     G E S U N D LEBEN
 Jeder von uns trägt einen Rucksack. Mit Erfahrungen
und Kompetenzen, die uns helfen, das Leben zu meis-
tern. Aber leider oft auch mit schweren Steinen.
Ich musste ziemlich viele davon tragen. Doch das
war mir lange nicht klar. Ich dachte, mein Rucksack
sei ganz normal. Erst in einer Lebenskrise mit Mitte dreißig
kam mir die Idee, ihn zu öffnen und aufzuräumen.
Ich weiß noch genau, wie mir damals plötzlich der
Gedanke »Ich muss in Therapie!« durch den Kopf schoss.
Hinter mir lagen drei Kündigungen in sieben Jahren – und
in mir steckten jede Menge Selbstzweifel. Lange Zeit hat-
te ich geglaubt, dass ich Unternehmen einen Mehrwert
bringe. Ich hatte Medienmanagement studiert, einen
Einser-Abschluss hingelegt und danach in IT-Firmen und
Werbeagenturen gearbeitet. Ich war intelligent, innovativ
und engagiert. Aber dass mir jedes Mal gekündigt wurde,
zeigte mir: Offenbar war ich vor allem unerwünscht.
Aber warum? Was stimmte nicht mit mir?
Antworten fand ich in einer Psychoanalyse, und sie wa-
ren sehr bitter. Denn in der Therapie erkannte ich, dass ich
schon lange depressiv war, dies aber immer unterdrückt
hatte. Ich verstand auch, woher das kam.
Ich war kein Wunschkind, sondern ein Versehen. Ohne
mich wären meine Eltern nicht zusammengeblieben.
Sie waren nicht glücklich miteinander. Meine Mutter
flüchtete sich in Affären, mein Vater in Arbeit – und ich
lief ­irgendwie mit.
Vieles in unserer Familie war nicht so normal, wie ich
als Kind geglaubt hatte. Meine Eltern haben mich oft wie
FOTO: CHRISTOPH BUSSE
einen Erwachsenen behandelt, der sich um sich selbst
kümmern muss. Sie waren selten für mich da. Sie haben
meine Intelligenz in den Himmel gelobt und mir alle ma-
teriellen Wünsche erfüllt. Aber sie haben mir nicht gege-
ben, was ein Kind ebenso braucht: Liebe, Nähe, Empathie
Stark für Knochen und Muskeln!
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und Wertschätzung. Und so wurde aus mir ein Mensch, der
nicht gelernt hat, gesunde Beziehungen einzugehen. Der sich
für etwas Besseres hielt, von anderen abgrenzte, seine wah-
ren Gefühle verdrängte und dringend Hilfe brauchte.
Das alles zu erkennen war schmerzhaft und langwierig.
Ich war lange krankgeschrieben und mehr als drei Jahre lang
zweimal pro Woche bei der Psychoanalyse. Es war die schwie-
rigste Zeit meines Lebens. Aber die Therapie hat mich geret-
tet. Denn seit ich Stück für Stück ausgegraben habe, was in
meiner Vergangenheit schiefgelaufen ist, habe ich verstan-
den: Ich bin nicht schuld an dem, was passiert ist und was das
aus mir gemacht hat. Und ich habe selbst in der Hand, was ich
daraus jetzt mache. Das ist die wichtigste Erkenntnis aus der
Therapie. Sie hat mir geholfen, ein paar Steine aus dem Ruck-
sack zu werfen, und den Weg frei gemacht für Veränderung.
Ich habe den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen, nach-
dem sämtliche Gesprächsversuche abgeblockt wurden. Das
war hart, aber unumgänglich.
Seit drei Jahren tue ich endlich das, was ich schon immer
tun wollte, und arbeite als Moderator und Speaker. Ich habe
ein Portal für Menschen in psychischen Krisen gegründet und
ein Buch über mein Leben geschrieben, aus dem ich in Le-
sungen und Vorträgen zitiere. Mit meiner Geschichte möch-
te ich zeigen, dass wir trotz schlechter Erfahrungen in der
Kindheit zu glücklichen Persönlichkeiten werden können –
wenn wir uns mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen
und unseren Rucksack von Ballast befreien.
Mir das immer wieder zu vergegenwärtigen macht mich
heute stark. In dunklen Phasen blicke ich zurück auf die letz-
ten Wochen, Monate oder Jahre und erinnere mich, was für
enorme Fortschritte ich gemacht habe und wie gut es mir in-
zwischen geht. Und dann denke ich: »Guck mal, was du alles
durchgestanden hast. Alles ist vergänglich. Jeder schlechte
Moment geht auch wieder vorbei.« 4
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Donya Gilan vom
Mainzer Leibniz-
Institut für
Resilienzforschung
entwickelt
Trainings, in
denen Teilnehmende
lernen, wie sie
ihre psychische
Widerstandsfähig-
keit verbessern

TITEL

WAS UNS STARK MACHT

Die Psychologin Donya Gilan vom Leibniz-Institut
für Resilienzforschung erklärt, wie es uns gelingt,
Krisen im Leben zu meistern – und warum wir oft
gefestigt aus ihnen hervorgehen

VON CLAUDIA MINNER, FOTOS: LÊMRICH

38     G E S U N D LEBEN
Erst Pandemie, dann Ukrainekrieg – die Welt er-
scheint vielen Menschen wie aus den Fugen. Das
ängstigt und stresst. Oft ist die Rede von »Resi-
lienz«, die wir jetzt gut gebrauchen können.Was
ist das eigentlich?
Kurz gesagt ist Resilienz die Fähigkeit, seine
psychische Gesundheit auch während oder
nach stressvollen Lebensereignissen aufrecht-
zuerhalten.
Was für Ereignisse sind das?
In der Stressforschung unterscheiden wir zwi-
schen Mikro- und Makrostressoren. Bei Mikro-
stressoren handelt es sich um alltäglichen
Stress: das Pendeln zur Arbeit, Ärger mit Nach-
barn und Kollegen. Solche Situationen treten
ständig auf, sind aber normalerweise episo-
disch, gehen also vorüber. Allerdings können
auch viele Mikrostressoren die psychische Ge-
sundheit stark belasten. Dann gibt es kritische
Lebensereignisse wie Scheidung, Krankheit
oder Tod eines Angehörigen. Das sind Makro-
stressoren, die unsere Selbstwahrnehmung, die
Gesundheit, unser persönliches Umfeld oder
die Art und Weise, wie wir leben, bedrohen.
Dazu lassen sich die Corona-Pandemie oder der
Angriffskrieg gegen die Ukraine zählen. Davon
abzugrenzen sind Traumata, also Ereignisse, die
eine Bedrohung des Lebens oder der Integrität

Gruner + Jahr Deutschland GmbH

®Lizenz der Marke BRIGITTE durch
einer Person darstellen, Misshandlungen etwa.
Sie leiten eine Resilienz-Ambulanz.Viele wissen
nicht, dass es so etwas gibt. Was machen Sie da?
Wir haben verschiedene kostenpflichtige An-
gebote: Resilienzscreening, Aufstellung eines
persönlichen Resilienzprogramms, mehrwö-
chige Gruppen-Trainings, anderthalbstündige
Workshops und Einzel-Coachings. Darüber hi-
naus bieten wir kostenlose Vorträge an.
Wie läuft so ein Workshop oder Coaching ab?
Bei einem Coaching arbeiten die Teilnehmerin-

Braten mit
nen und Teilnehmer einzeln mit Trainern und
entwickeln ein persönliches Gesundheitspro-
gramm. Es geht darum, zu eruieren, welche

gutem Gewissen
Stresssituationen sie erleben und wie sie dar-
auf reagieren. Dann sucht man nach Möglich-
keiten, die eigenen Ressourcen aufzubauen. In
den mehrwöchigen Gruppen-Trainings wird
nicht nur Wissen vermittelt, sondern es werden
auch Strategien eingeübt, die leicht in den All- Das Byodo Bratöl Raps besteht aus reinem, 100% biologischem
tag zu integrieren sind. Vieles stammt aus der Rapsöl. Es ist reich an ungesättigten Fettsäuren und einzigartig
Psychotherapie, aus Achtsamkeitsprogrammen
oder Problemlösetrainings. Und in den Work- mild im Geschmack. Dank seiner hitzestabilen Eigenschaften
shops widmen wir uns immer einem konkre- gelingen köstliche Brat-Rezepte im Handumdrehen!
ten Thema. Wir zeigen etwa, wie man mehr
Achtsamkeit in den stressigen Berufsalltag
bringt, wie man sein soziales Netzwerk stärkt
oder verzerrte Bewertungsmuster verändert. Jetzt scannen und
Was für Menschen kommen zu Ihnen in die Am- Rezept für vegetarische
bulanz? Gemüse-Puffer
Oft sind es Leute, deren Leben in eine Schiefla- entdecken!
ge geraten ist, zum Beispiel durch einen Schick-
salsschlag oder eine Krankheit. Oder Men- 4
www.byodo.de
Donya Gilan und
der Stressforscher
Omar Hahad
vermitteln
Strategien für
mehr Resilienz
»Resilienz ist formbar.
Meine Message lautet: Nehmen
Sie Ihr Leben in die Hand!«
Donya Gilan
schen, die merken, dass sie stark gestresst sind,
etwa bei der Arbeit. Eine Frau mittleren Alters
blieb mir in Erinnerung. Sie suchte etwas, um
ihrem ständigen Arbeitsstress entgegenzuwir-
ken. Wir betrachteten ihre Lebenswirklichkeit
und ihre Stresssituationen und überführten das
in Rollenspiele, um Strategien für den Alltag
einzuüben. Die Frau erkannte etwas ganz Wich-
tiges: Es ist das Natürlichste auf der Welt, auch
mal ›Nein, das ist mir zu viel!‹ zu sagen. Das
konnte sie dann im Arbeitsalltag umsetzen. Ein
anderer Klient war auf Jobsuche und fühlte sich
so unter Druck, dass er kaum noch an anderes
denken konnte. Im Coaching konnten wir
Donya Gilan, Selbstbewusstsein und Zuversicht stärken. Kurz
Isabella Helmreich, darauf erhielt er mehrere Jobzusagen.
Omar Hahad: Was ist die wichtigste Message, die Sie vermit-
»Resilienz – Die teln wollen?
Kunst der
Widerstandskraft.
Resilienz ist formbar. Meine Message lautet:
Was die Wissenschaft Nehmen Sie Ihr Leben in die Hand! Viele glau-
dazu sagt«, ben nicht daran, dass sie etwas ändern können,
Herder Verlag, 208 S., sie fühlen sich erschöpft und hilflos. Wir zei-
22 Euro gen ihnen, dass sie Tiefpunkte überwinden und
40     G E S U N D LEBEN
neue Kraft entwickeln können – wenn sie an
sich arbeiten und aktiv werden. Allerdings
reicht es nicht, nur einen Vortrag zu besuchen.
Man muss ins Handeln kommen.
Wie schafft man das?
Am Anfang steht eine Bestandsaufnahme, das
Resilienz-Screening. Wir ermitteln per Frage-
bogen, wie jemand mit Stress umgeht. Im
nächsten Schritt zeigen wir, mit welchen Übun-
gen man seine Stresskompetenz stärken kann.
Hier spielen bestimmte Resilienzmechanismen
eine Rolle, das sind Eigenschaften und Fähig-
keiten, die unsere psychische Widerstandsfä-
higkeit stärken und die wir trainieren können.
Welche Faktoren sind besonders wichtig?
Ein äußerst wichtiger Faktor ist soziale Unter-
stützung: Wer ein gutes Netzwerk aus Familie,
Freunden und Bekannten hat, ist auch in Krisen-
zeiten nicht allein und kann auf viele Ressour-
cen zurückgreifen. Auch die kognitive Flexibili-
tät, also die Fähigkeit, sich gedanklich schnell auf
neue Lebensumstände einzustellen, spielt eine
große Rolle. Eng damit verbunden ist die Emo-
tionsregulation und das »aktive Coping«: die
Kompetenz, Probleme zu erkennen, zu lösen oder
zu akzeptieren. Auch der Faktor »Sinn« ist rele-
vant: Menschen, die ihr Leben als sinnvoll erle-
ben, schaffen es meist recht gut, Krisen in ihren
Lebenskontext zu integrieren und sich zu lösen.
Wie kann man so etwas trainieren?
Für die kognitive Flexibilität ist das sogenann-
te Gehirn-Jogging ideal. Es gibt dafür spezielle
Trainingsprogramme am Computer. Man kann
aber auch im Alltag dafür sorgen, dass sich das
Gehirn immer wieder auf Veränderungen ein-
stellen muss. Zum Beispiel, indem man feste
Gewohnheiten durchbricht: einen anderen Weg
zur Arbeit nimmt, mit der falschen Hand die
Zähne putzt, die Wohnung umräumt oder neue
Hobbys ausprobiert.
Wie werden wir besser darin, Probleme zu lösen?
Um das zu trainieren, analysieren wir mit Teil-
nehmerinnen und Teilnehmern das Verhalten
in stressvollen Situationen und reflektieren
zum Beispiel, was sie in Beruf, Freizeit oder Ge-
sundheit besonders stresst – und was ihnen gut-
getan oder sie gestärkt hat. So verdeutlichen sie
sich, welche Ressourcen ihnen zur Verfügung
stehen, aber auch, welche sie aufbauen müssen.
Das hilft, Stressoren nicht als Bedrohung, son-
dern als Herausforderung wahrzunehmen.
Was raten Sie Menschen, die nicht zu Ihnen kom-
men können, aber ihre Resilienz stärken wollen?
Grundsätzlich ist es wichtig, dass wir uns im-
mer wieder verdeutlichen, wie sehr unser Stress-
empfinden von unseren Gedanken abhängt –
also davon, wie wir eine Situation bewerten. Ne-
gative Bewertungen wie: »Ich schaffe das nicht!«
verstärken das Gefühl von Überforderung und
Hilflosigkeit. Positive Bewertungen wie: »Ich
versuche es und gebe mein Bestes!« stärken da-
 »Positive Bewertungen wie ›Ich
versuche es und gebe mein Bestes‹
stärken unsere Resilienz«
gegen unsere Resilienz. Wir sollten üben, fest- Donya Gilan
gefahrene Denkmuster aufzubrechen – zum
Beispiel, indem wir negative Gedanken und die Forschung zeigt, dass es unsere Resilienz sogar
positiven Alternativen dazu auf einem Zettel stärken kann, wenn wir mit stressvollen Situ-
notieren, uns bewusst machen, dass wir ationen konfrontiert werden. Das Phänomen
manchmal durch starke negative Emotionen dieser »Stressimpfung« wurde 2010 in einem
die Dinge katastrophisieren, aber dass auch Experiment mit Affen belegt: Junge Affen wur-
negativ gefärbte Emotionen sich in ihrer In- den zehn Wochen lang regelmäßig für einen
tensität verändern. Moment von ihren Müttern getrennt. Dies
Was ist mit Sport? Hilft der auch? führte zwar zu akuten Stresssymptomen, doch »Leonard Cohen
Viele Studien zeigen, dass Bewegung auch für Jahre später konnten sie besser mit Stress um- hat es wunderbar
gesagt:
die Psyche essenziell ist. 89 Prozent der begut- gehen als ihre Altersgenossen. Auch beim Men-
›There’s a crack
achteten Forschungsarbeiten fanden einen schen konnten solche Zusammenhänge belegt
in every­thing –
positiven Zusammenhang zwischen körperli- werden. that’s how the
cher Aktivität und psychischer Gesundheit. Gilt das auch für Schicksalsschläge oder trauma- light gets in.‹
Ausdauersport wie Laufen schützt vor Burnout, tische Erfahrungen? Ohne einen
Depressionen und Ängsten. Das liegt unter an- Sie können uns destabilisieren, aber das muss Knacks in
derem daran, dass beim Sport Stresshormone nicht passieren: Eine schwierige Situation kann unserer harten
wie Cortisol abgebaut werden. Und auch für sogar dazu führen, dass jemand positive Ver- Schale kommt
Yoga und Achtsamkeitsübungen wie Tai Chi und haltensweisen entwickelt, die ihm künftig bei auch kein Licht
Qigong gibt es Evidenz, dass sie die Symptome der Bewältigung von Problemen helfen. In der in uns rein.«
von Angst oder Depression reduzieren können. Psychologie wird das als posttraumatisches
Manchen Menschen fällt es leichter als anderen, Wachstum bezeichnet.
nach einem Rückschlag wieder auf die Beine zu Wie viele Menschen schaffen das?
kommen. Woran liegt das? Der Psychologe George Bonanno konnte in Stu-
Oft hat es damit zu tun, ob man schon erfolg- dien belegen, dass mehr als 60 Prozent der Men-
reich Herausforderungen bewältigt hat. Die schen, die Schicksalsschläge erlebt haben, 4

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gesunde Lebensweise. Verzehrsempfehlung: 1 x täglich den Inhalt eines Sticks verzehren. Die Micro-Pellets direkt auf die Zunge geben, langsam zergehen lassen und schlucken.
Kann bei übermäßigem Verzehr abführend wirken. Stand: September 2021
 nicht verzweifeln oder depressiv werden, son-
dern ihren Alltag gut bewältigen.
Wir sind also resilienter, als wir denken?
Ja. Resilienz ist kein seltenes Phänomen, son-
dern weit verbreitet. Die Psychologin Ann Mas-
ten bezeichnet sie deshalb als »ordinary magic«,
gen aus der Epigenetik bestätigen das: Unsere
DNA kann durch äußere Einflüsse verändert
werden. Hier tun sich gerade viele neue Fragen
auf: Welchen Einfluss hat Ernährung auf Resi-
lienz? Welche Zusammenhänge gibt es zwi-
schen Darmflora und psychischer Gesundheit?

»Wir als alltägliche Magie.

Welche Rolle spielen die Gene dabei?
Könnte man pharmakologische Mittel zur Stär-
kung der Resilienz nutzen?
können Eine viel geringere, als man lange dachte! Es ist Was wird denn gerade besonders heiß diskutiert?

selbst zwar belegt, dass einige Gen-Konstellationen

Einfluss auf die Resilienz haben: Menschen mit
Resilienz wird längst nicht mehr nur auf indi-
vidueller Ebene betrachtet. Zunehmend rückt
einschnei- einem langen 5-HTTG-Gen sind zufriedener die Betrachtung ganzer Gesellschaften oder

dendste und psychisch stabiler als Menschen mit der

kurzen Variante. Wer die aktive Variante eines
Unternehmen in den Fokus. Es geht darum, wie
Systeme nach einer Krise leistungsfähiger oder
Erlebnisse Gens namens 12-MAO-A in sich trägt, ist be- langlebiger werden. Wie bleiben die Einsatz-

verkraften« sonders widerstandsfähig in Bezug auf trauma-

tische Ereignisse. Aber Studien zeigen auch:
Donya Gilan Wir können unsere Resilienz unabhängig von
unserer genetischen Grundausstattung stär-
ken. Resilienz ist keine angeborene Eigenschaft,
sondern ein lebenslanger Prozess, der sich
durch Interaktion mit der Umwelt entwickelt.
Was prägt uns auf diesem Weg?
All unsere Erfahrungen spielen eine Rolle: Um-
welteinflüsse, gesellschaftliche Rahmenbedin-
gungen, unser Verhalten. Die Neurowissen-
schaften haben gezeigt, dass unser Gehirn le-
benslang veränderbar und lernfähig ist. Also ist
auch Resilienz nicht statisch. Neue Forschun-
HINTERGRUND
kräfte von Polizei oder Feuerwehr beim Katas-
trophenmanagement handlungsfähig? Wie
können wir unsere kritische Infrastruktur
schützen, also Informationstechnik, Wasserver-
sorgung oder das Gesundheitssystem?
Es bleibt also spannend …
O ja! Und bis das erforscht ist, bleiben uns die
erprobten Wege, um die individuelle Resilienz
zu trainieren. Wir sollten uns immer wieder
verdeutlichen: Wir sind keine Opfer, wir sind
Schöpfer! Wir können selbst einschneidendste
Erlebnisse verkraften – wenn wir es schaffen,
unsere Ressourcen zu aktivieren und aktiv zu
werden. 2

Tipps für mehr Resilienz

So stärken Sie Ihre seelische Widerstandskraft

• Gönnen Sie sich Erholung •
Eine gelassene Grundhaltung ist das
beste Mittel, um stressvolle Ereignisse
gut zu überstehen. Planen Sie also
genügend Zeit für Entspannung und
Erholung in Ihren Alltag ein – und zwar
am besten täglich. Fernsehen auf
dem Sofa ist damit nicht gemeint.
Viel gesünder für Körper und Psyche
sind Spaziergänge, Sport oder Entspan-
nungsverfahren wie autogenes Training,
progressive Muskelrelaxation und
achtsamkeitsbasierte Meditation.
• Pflegen Sie Freundschaften •
Soziale Unterstützung ist ein wissen-
schaftlich gut belegter Faktor für die
Stärkung Ihrer Resilienz. Denn gute
Freunde helfen Ihnen, in Krisenzeiten
Belastungen auszuhalten und Probleme
zu lösen – zum Beispiel durch konkrete
Hilfe im Alltag und durch emotionale
Unterstützung. Studien zeigen: Oft ge-
nügt schon das Wissen darum, dass man
jemanden um Hilfe bitten könnte,
damit man sich nicht so verloren und
ohnmächtig fühlt. Übrigens: Auch wenn
Sie sich professionelle Unterstützung
holen, stärken Sie Ihre Resilienz.
• Besinnen Sie sich auf Ihre Werte •
Wer das eigene Tun als sinnvoll empfin-
det, kann besser mit Stress umgehen.
Daher trägt auch die Beschäftigung mit
den eigenen Werten zur Stärkung der
Resilienz bei. Fragen Sie sich regelmäßig:
Was ist mir wirklich wichtig? Dabei
können »Werte-Listen« helfen, von denen
es im Internet zahlreiche gibt. Überlegen
Sie, wie sehr Sie schon nach Ihren Werten
leben und was Sie ändern können, um
einen Wert, der Ihnen wichtig ist, mehr
auszuleben.
• Stärken Sie Ihre Selbstwirksamkeit •
Wir sind keine hilflosen Opfer, sondern
haben unser Leben in der Hand – dieses
Bewusstsein für Selbstwirksamkeit ist
überaus wichtig für einen aktiven Umgang
mit Herausforderungen. Um Ihre Selbst-
wirksamkeit zu stärken, können Sie sich
zum Beispiel frühere Erfolge bewusst
machen. Überlegen Sie, welche
Eigenschaften und Fähigkeiten Ihnen in
früheren Krisen geholfen haben und
wie diese Ihnen auch bei aktuellen
Problemen helfen können.
• Bleiben Sie dran •
Es gibt verschiedene Angebote, mit
denen Sie Ihre Resilienz online und offline
trainieren können, unter anderem an
vielen Volkshochschulen (www.volkshoch-
schule.de) und bei privaten Anbietern
(einfach nach »Resilienz Kurs / Workshop
/ Seminar« suchen). Auch die Meditations-
App »7mind« bietet einen Onlinekurs zum
Thema an. Dieser achtwöchige Kurs
»Resilienz im Umgang mit Stress« wird
von Krankenkassen bezuschusst. Weitere
Informationen: https://www.7mind.de/
krankenkasse/resilienz

42     G E S U N D LEBEN
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Frauen, die zu Intimbereich

gut schützen –
Hautreizungen
im äußeren
Genitalbereich
neigen, können
dank der Vagisan
Schutz-Salbe

so geht’s
aufatmen

Ist die Haut im Intimbereich gerötet und

gereizt, kann das sehr unangenehm sein. Ein Pro-
blem, das viele Frauen kennen, für das es aber

w
zum Glück sanfte Abhilfe gibt

enn es im äußeren Intimbereich juckt, brennt

oder sich wunde Stellen in der Pofalte bilden, ist
das für betroffene Frauen ein heikles Thema.
Dabei ist es vollkommen normal, dass die Haut
im Intimbereich häufiger gereizt ist, weil sie besonders zart
und empfi ndlich ist. Scheuert Haut auf Haut, kommt es umso
schneller zum Wundsein – vor allem im Sommer, wenn sich
der Schweiß durch das vermehrte Schwitzen in den Haut-
falten staut. Harninkontinenz, Übergewicht, aber auch län-
gere Fahrradtouren oder enge Kleidung können das Problem
Vagisan zusätzlich verstärken. Hat sich die Haut im Intimbereich
schützt und wund gescheuert, ist das für viele Frauen sehr unangenehm.
pflegt den Deshalb ist es besonders wichtig, auf die ersten Anzeichen
äußeren zu achten und die empfi ndliche Haut zu schützen. Die
Intimbereich atmungsaktive Vagisan Schutz-Salbe wurde speziell für die
gezielt, beruhigt Bedürfnisse der zarten, sensiblen Haut im äußeren Intim-
bereits gereizte und Analbereich entwickelt. Sie bildet einen angenehmen
Haut und ist Schutzfi lm gegen äußere Reizstoffe oder Reibung und
frei von Mine- lässt die Haut dabei trotzdem „atmen“, damit kein
ralfetten und Feuchtigkeitsstau entsteht. Neben dieser Schutzwirkung
Silikonen sorgen die pflegenden Fette und Öle pflanzlichen Ursprungs
für die notwendige Rückfettung, die die trockene Haut so
dringend braucht. Einfach morgens nach dem Duschen dünn
auf den gesamten äußeren Intimbereich auftragen – bei Be-
darf auch in die Pofalte – zum Schutz vor Hautreizungen
und als tägliche Intimpflege. Damit Sie sich rundum wohl-
fühlen in Ihrer Haut.

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Apotheke oder unter: vagisan.de
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Hautbarriere
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Nicht immer
scheckheft-
gepflegt
Manche Männer kümmern sich lieber um ihr perfekt gewartetes
Auto als um ihre Gesundheit. Passt schon, denken sie – aber
ILLUSTRATIONEN: ELA STRICKERT

im Schnitt leben sie fünf Jahre kürzer als Frauen. Worauf Sie bei
Körper und Psyche achten sollten. Plus: das Wichtigste über
Herz, Hormone, Potenz, Check-ups und übersehene Krankheiten

G E S U N D L E B E N      45
 DOSSIER

Scheinbar
­unverwundbar
Starker Mann? Von wegen. Männer sind anfälliger Zahlen
für Herzinfarkte, Krebs und Infektionen. Aber warum
ist vielen von ihnen ihre Gesundheit trotzdem egal?
VON CONSTANZE LÖFFLER; ILLUSTRATIONEN: ELA STRICKERT 78,6 Lebensjahre
liegen statistisch
ge­sehen vor im Jahr
2022 geborenen Jungs;
Mädchen haben
eine ­Lebens­erwartung
von 83,4 Jahren.

2
»Männer haben Muskeln, Männer sind
furchtbar stark, Männer können alles,
Männer kriegen ’nen Herzinfarkt.«
Schon vor Jahrzehnten sang Herbert Gipfel:
Grönemeyer diese Zeilen. Am männ­ Zwischen 15 und 34
lichen Rollenbild hat sich seither nicht und zwischen 55
so viel geändert. Immer noch gehen und 69 Jahren ist die
Männer kaum von sich aus zum Arzt, sie Sterberate der Män-
ner doppelt so hoch wie
ernähren sich ungesünder, nehmen Vorsorgeuntersuchungen
die der Frauen.
selten wahr – umso weniger, je stärker sie sich an männlichen

8–10
­Normen orientieren. Gesund sein – klar! Sich um die Gesundheit
kümmern? Bloß nicht! Das Klischee kennt man: Männer bringen
lieber ihr Auto in die Werkstatt, als ihren Körper zu warten.
Dabei ähneln sich Werkstatt- und Hausarztbesuch: Druck prüfen, Jahre
Schäden frühzeitig erkennen, schlecht einsehbare Ecken ausleuch­ vor den Frauen
ten. Wo liegt also das Problem? Krankheit wird oft als Mangel und ­bekommen Männer
Schwäche gesehen. Männer möchten unverwundbar sein – oder einen Herzinfarkt.

28
­zumindest erscheinen.

Männer überschätzen sich und ihre Gesundheit

Dabei täte Männern mehr Selbstfürsorge gut, immerhin sterben
Prozent
sie durchschnittlich fünf Jahre vor den Frauen. Aus biologischen der Männer, aber nur
­Gründen. Und weil sie wegen ihres oft ungesünderen Lebens- 19 Prozent der Frauen
stils – mehr Fleisch, Zigaretten, Alkohol – eher zu Herz-Kreislauf- greifen regelmäßig zu
Erkrankungen neigen und daher ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt Zigaretten.

5.
und Schlaganfall haben. Sie sammeln im Vergleich zu Frauen mehr
Bauch- und Leberfett und erkranken häufiger an Diabetes. Auch bei
der Häufigkeit von Krebserkrankungen stehen Männer schlechter
Jeder
da. Vermutlich, weil sie mit nur einem X-Chromosom ausgestattet
und so weniger vor Tumorwachstum geschützt sind. Oft meinen deutsche Mann
ist zumindest
Männer, fitter zu sein, als sie es in der Realität sind, zeigt der
­zeitweise impotent –
­Männergesundheitsbericht. Dabei müsste das nicht sein. Studien was oft ein Anzeichen
zeigen, dass gesunder Lebensstil gar nicht viel Aufwand ist. Schon für andere chronische
zwei Einheiten Kardiotraining pro Woche haben demnach einen Erkrankungen wie
positiven Effekt auf das Herz und viele andere Organe. Arteriosklerose ist.

46     G E S U N D LEBEN
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Bedrohte Spezies
Dass Männer kürzer leben,
wird vom Lebensstil, den Hormonen
und Genen beeinflusst

Mehr Probleme bei der Geburt

Männliche Babys tragen ein größeres Ri­siko,
zu früh­auf die Welt zu kommen, sind
­anfälliger für Infektionen und sorgen mit
ihrem größeren Kopf eher für Komplika­

Schmerzen bekämpfen?
tionen bei der Entbindung. Deshalb sterben
mehr männliche als weibliche Babys.

Mehr Unfälle und Verletzungen

Männer verhalten sich riskanter und
sind häufiger in Unfälle verwickelt.
­»Männliche« Berufe bringen zudem eher
Verletzungen und Unfälle mit sich.
Mehr Suizide
Drei Viertel der jährlich 10 000 Suizide
begehen Männer. Eine der Ursachen:
Bei Männern werden psychische Leiden
wie Depressionen seltener erkannt.
Ungesundes Leben
Die Quittung für den »männlichen« Lebens­
stil: Männer bekommen häufiger eine
Fettleber durch zu viel Alkohol, Lungen­
krebs durchs Rauchen und Herz-Kreislauf-
Erkrankungen wegen ungesunder Ernährung,
zu wenig Bewegung und Übergewicht.
Können Sie im Schlaf.
Muskel- und Gelenkschmerzen sind nicht nur tagsüber
einschränkend – sie können auch verhindern, dass wir
nachts gut schlafen. Und wenn erholsamer Schlaf fehlt,
fühlen sich Schmerzen noch stärker an. Hier kann ein
starkes Schmerzgel helfen!
Doppelt konzentriert für gezielte Wirkung
Bei belastenden Schmerzen sorgt Diclox forte für
langanhaltende Linderung. Mit dem bekannten
Wirkstoff Diclofenac in doppelter Konzentration* wirkt
es gezielt dort, wo der Schmerz sitzt – und muss nur
2x täglich aufgetragen werden.
Diclox forte vor dem Schlafengehen
Ohne Schmerzen kann Ihr Körper im Schlaf besser
regenerieren. Tragen Sie deshalb Diclox forte einmal auf,
bevor Sie ins Bett gehen. Es kühlt angenehm und hat
dadurch einen wohltuenden Soforteffekt.

Pflanzliche Mittel
für den Mann
e
Doppefflt-
In der indischen Heil- Prostatakrebswachs-
kunde Ayurveda setzen tum verlangsamen.
Heiler die Schlafbeere Insbesondere fermen- Wirksto n*
atio
konzentr
(Ashwagandha) für tierter Granatapfelsaft
mehr Stressresistenz scheint ebenfalls effek-
und Fruchtbarkeit ein. tiv zu sein. Kürbiskern-
Die Ginseng-Wurzel extrakte werden wie
soll laut traditioneller Brennnesselwurz oder
chinesischer Medizin Sägepalmenfrüchte bei
gegen Schwäche, Mü- einer leichten Prostata­
digkeit und Infekte vergrößerung bewor-
­ elfen; sie wird auch als
h ben. Die Studienlage
natürliches Stärkungs- bei pflanzlichen Heil- * Doppelt konzentriert im Vergleich
«|

zu 1% igen Diclofenac-Gelen.
mittel und gegen mitteln ist – wegen
­Diabetes eingesetzt. mangelnder Vorgaben
Sekundäre Pflanzen- zu Zubereitung und Diclox forte 20 mg/g Gel
stoffe aus dem Granat- Wirkstoffmengen – oft Wirkstoff: Diclofenac-N-Ethylethanamin. Anwendungsgebiete: Für Erwachsene und Jugendliche ab 14
Jahren: Zur lokalen symptomatischen Behandlung von Schmerzen bei akuten Zerrungen,
apfel, sogenannte Poly- dürftig. Placeboeffekte Verstauchungen oder Prellungen infolge eines stumpfen Traumas. Warnhinweis: AM enth. Butylhydroxy-
phenole, sollen das dürfte auch mitwirken. toluol u. einen Duftstoff mit Benzylalkohol (0,15 mg/g), Citronellol, Geraniol, Linalool, D-Limonen, Citral,
Farnesol, Cumarin u. Eugenol. Apothekenpflichtig. Zu Risiken und Nebenwirkungen
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9–14 Jahre
J2-Vorsorge
16–17 Jahre Gut geplant
Jungensprechstunde Arztbesuche im Blick Check-up 35
ab 10 Jahre ab 35 alle 2 Jahre
DOSSIER J1-Vorsorge Hoden-Selbstuntersuchung Hautkrebs-Check
12–14 Jahre ab 18 Jahre monatlich einmal ab 35 alle 2 Jahre
Alter 9 10 12 16 18 35

Geh doch mal

zum Arzt »Darmkrebs­
vorsorge –
­peinlich? Peinlich
Vorsorge? Das ist doch was für Weicheier, wäre es, wenn
man keine
denken viele Männer. Nur wenige ­Vor­sorge macht
gehen zur empfohlenen Früherkennung. und an einem
­Tumor erkrankt,
Warum es lohnt, sich zu überwinden der leicht zu
verhindern
­gewesen wäre.«

Männer und Vorsorge – das passt zusam-

men wie Schwarzwälder Kirschtorte und Zahlen

40
Bier. Oder ein Grillabend im Smoking.
Nicht mal die Hälfte der harten Kerle
geht zu den Checks, die chronische Er-
krankungen und Krebs zeitig entdecken
sollen. Dabei wäre es bei ihnen beson- Prozent
der deutschen Männer
ders ratsam: Männer erleiden 15 bis gehen zur Vorsorge.
20 Prozent mehr Krebserkrankungen als Frauen, es sterben auch Bei den Frauen sind es
mehr daran – weil ihre Gene sie weniger gut vor Tumoren schützen, zwei Drittel.

15
weil sie oft ungesünder leben oder eher in Berufen mit Gesundheits-
risiken arbeiten. Dass Früherkennung sinnvoll ist, zeigt sich etwa
bei Darmkrebs: Seit Einführung der vorsorglichen Darmspiegelung
im Jahr 2002 ist die Rate an Kolonkarzinomen unter Männern um
21 Prozent zurückgegangen. Neuerdings zahlen Krankenkassen die Prozent
sinnvolle Untersuchung schon mit 50, fünf Jahre vor den Frauen. der Männer erkranken
jährlich an Krebs –
265 200 im Jahr 2018,
Bluttest und Selbstuntersuchung bei den Frauen
Nicht ganz so effektiv ist die Tastuntersuchung beim Urologen für waren es 232 700.

8,6
Prostatakrebs, da die Mediziner nur einen Teil der Karzinome ent-
decken. Urologen empfehlen, das Prostata-spezifische Antigen (PSA)
im Blut zu messen. »Tumorzellen bilden deutlich mehr PSA als
gesunde Prostatazellen. Einige gute Studien zeigen, dass durch den
PSA-Test weniger Männer an Prostatakrebs sterben«, sagt Sami- Prozent
Ramzi Leyh-Bannurah, Urologe am St. Antonius Hospital Gronau. der Männer, aber
Die Kehrseite: Für jeden verhinderten Krebstod werden dreißig nur 4,5 Prozent der
Frauen zwischen 50
­Männer an der Prostata operiert oder bestrahlt, deren Tumor nie
und 54 Jahren bekom-
­Beschwerden verursacht oder gestreut hätte. Männer sollten sich men einen Darmtumor.
daher vor der Messung beraten lassen. Um Hodenkrebs zu ver­
hindern, gilt die Empfehlung, sich ab 18 Jahren einmal monatlich
selbst zu untersuchen. »Männer sollten auf die Größe und Druck-
empfindlichkeit des Hodens sowie auf Verhärtungen oder Knoten
125891
Männer
im Hodensack achten«, sagt Sabine Kliesch, Präsidentin der Deut- starben 2020 an
schen Gesellschaft für Andrologie. Vorsorgeuntersuchungen sind Krebs, das sind
vor allem dann wichtig, wenn nahe Verwandte die fraglichen Krank- 54 Prozent aller
heiten bereits hatten, egal ob Krebs, Diabetes oder Bluthochdruck. Krebstoten.
 Darmkrebs* Altersimpfungen
50–75 Jahre ab 60 Jahre
Prostata (Grippe, Gürtelrose,
und äußere Pneumokokken)
Genitalien Aneurysma der Bauchaorta
ab 45 jährlich ab 65 Jahre einmalig
45 50 60 65 75 Jahre
* Stuhltest: 50–54 jährlich, ab 55 alle zwei Jahre. Oder: Darmspiegelung ab 50, eine weitere nach 10 Jahren

Den Dingen auf den Grund sehen Schüt-

zender
Check-up 35
Der Arzt fragt nach Beschwerden, Lebensgewohn-
weis im Stuhl mithilfe eines immunologischen
Stuhltests (iFOBT). Beide Untersuchungen sind Piks
heiten, Erkrankungen in der Familie. Er untersucht zu empfehlen.
wichtige Organe und nimmt Blut ab. Der Check HPV
weist lediglich auf Risikofaktoren für Erkrankungen Prostatakrebs Schützt vor ­Anal-,
hin – beseitigen kann er sie nicht. Fazit: guter Über den Enddarm betastet der Arzt mit dem Zei- Penis- und Mund-
Anstoß, um den Lebensstil im Blick zu behalten. gefinger die Prostata. Das Ergebnis hängt von der krebs sowie
Lage und Größe des Tumors und von der Erfahrung Frauen vor Gebär-
Hautkrebs des Untersuchenden ab. Manche Tumoren werden mutterhalskrebs.
Für die Hautkrebsvorsorge sucht die Ärztin oder spät oder gar nicht entdeckt, Männer wiegen ­Impfung sollte vor
der Arzt mit Lampenlicht und bloßem Auge die sich fälschlicherweise in Sicherheit, wenn nichts erstem Sex ab­
Haut nach verdächtigen Stellen ab. Ob sich dadurch gefunden wird. Daher begrenzte Empfehlung. geschlossen sein
tatsächlich Tode vermeiden lassen, ist nicht belegt. (zwei Pikse, fünf
Wegen steigender Hautkrebszahlen in den letzten Bauchaorten-Aneurysma Monate ­Abstand).
Jahrzehnten raten Experten vor allem zu einem Per Ultraschall sucht der Arzt ab 65 Jahren nach
besseren Sonnenschutz. Aussackungen in der Bauchschlagader. Da ein Riss
tödlich enden kann, ist die Untersuchung sinnvoll,
Covid-19
Darmkrebs besonders für Raucher, die ein erhöhtes Risiko Männer erkranken
Bei der Untersuchung betrachtet der Arzt per haben. Allerdings werden bei dieser Untersuchung an Covid-19 häufi-
Spiegelung die Darmschleimhaut und entfernt zu- auch Ausbuchtungen gefunden, die nie gefährlich ger und schwerer.
gleich auffälliges Gewebe. Alternative: Blutnach- geworden wären. Deshalb vor der
Coronawelle im
Herbst vollständig
Impfschutz
­checken und ge-
gebenenfalls
boostern lassen!
Osteoporose
Einer von fünf Unterschätzt, einseitige, an-
fallartige Kopf- Mumps

nicht entdeckt
Patienten ist schmerzen, die Nicht gegen
männlich, über 50 mehrmals pro Mumps Geimpfte,
ist das Risiko, Woche bis wenige die sich mit dem
an Knochenschwund Male im Jahr Virus infizieren,
zu erkranken, Mitunter werden Krankheiten auftreten. Männer können eine
­größer als das für bei Männern übersehen, weil Ärzte brauchen oft mehr ­Hoden- oder
­Prostatakrebs. bei ihnen nicht damit rechnen. Schmerzmittel,
Nebenhoden­
Wirbelbrüche Welche sind das, wie erkennt man sie? weil sie häufig
entzündung
­werden oft nicht schlechter darauf
­bekommen.
entdeckt – und ansprechen.
­Unfruchtbarkeit
nicht behandelt.
Rückenschmerzen, ist wahrscheinlich lich ist Brust­ Chla mydien danach ist aber
Rundrücken und ähnlich hoch. krebs bei Männern Unbehandelt kann selten, weil meist
Grüßenverlust hundertmal sel­ die Geschlechts- nur ein Hoden
sind Hinweise. Essstörungen tener als bei krankheit zu ­betroffen ist.
Rund 25 Prozent Frauen. Die Sym­ Entzündungen von
Depression der Betroffenen ptome gleichen Prostata, Hoden, Hepatitis
Statistisch sind männlich. sich: Knoten, Nebenhoden sowie A/B
erkranken Männer Auffälligster Flüssigkeit aus zu Unfruchtbar-
der Brustwarze, keit führen. Fie- Empfohlen für
halb so oft an Unterschied: Bei
D
­ epression wie Männern gehen eingezogene ber, Schmerzen in Männer, die
Frauen – weil die Essstörungen oft Brusthaut sollten Hoden oder Unter- häufig ­wechselnde
Krankheit sich mit dem Streben dringend abge­ bauch weisen auf und ungeschützte
bei ihnen anders nach Muskeln und klärt werden. eine Infektion ­Sexualkontakte
äußert. Männern einem athletischen hin; oft verläuft haben. Bei An­
neigen zu Aggres- Körper einher. Migräne sie unbemerkt. steckung sonst
sion, Rückzug, Etwa jeder dritte Bei wechselnden Gefahr für Leber-
Spiel-, Alkohol-, Brustkrebs Migränepatient Sexualpartnern entzündung,
Online-Sucht. Die Mit 600 bis 700 ist ein Mann. regelmäßig testen Schrumpfleber bis
Erkrankungsrate Betroffenen jähr- Betroffene zeigen lassen. hin zu Leberkrebs.

G E S U N D L E B E N      49
 DOSSIER

Der Stoff,
aus dem die
Männer sind Hilfe
Testosteron steuert nicht nur die sexuelle Lust, bei Haar-
sondern auch komplexe Stoffwechselprozesse ausfall
im männlichen Körper
Minoxidil
Weitet die Gefäße, so-
dass die Haarwurzeln
besser mit Nährstoffen
versorgt sind. Schaum
oder Lösung direkt
Testosteron steht für Männlichkeit, Kraft und Muskeln. Produziert und dauerhaft auf die
wird es von den Zellen des Hodens. Es steuert Emotionen, Sexuali- Kopfhaut auftragen.
tät und den Stoffwechsel. Beginnend zwischen 30 bis 40 Jahren sinkt
der Spiegel des Hormons jährlich um ein bis zwei Prozent. Von Ebbe aber Finasterid
kann keine Rede sein: »Auch wenn man früher in Anlehnung an die Me- Verhindert, dass Tes-
nopause von der Andropause gesprochen hat – gesunden Männern tosteron am Haarfolli-
mangelt es auch im Alter normalerweise nicht an Testosteron«, kel zu Dihydrotestos-
sagt Armin Soave, Oberarzt der Urologie am Uniklinikum Ham- teron (DHT) umgebaut
burg-Eppendorf. Nur zwei Prozent der Männer ab 50 haben so wird, das wiederum
zu anlagebedingtem
niedrige Werte, dass diese Beschwerden verursachen – etwa Lust­
Haarausfall führt. Kann
losigkeit und Abgeschlagenheit – und dass körperliche Veränderungen Fruchtbarkeit, Libido,
auftreten. Testosteron-Ersatz ist dennoch beliebt – oft getriggert von Potenz mindern.
falschen Erwartungen: »Testosteron bremst weder den Alterungspro-
zess beim Mann, noch ist das Hormon ein Potenzmittel«, sagt Soave. Män- Diphenyl­
ner sollten es nur dann einsetzen, wenn ihr Normwert unterschritten cyclopropenon
ist und sie Beschwerden haben. Prostata und PSA-Wert müssen dann re- (DCP)
gelmäßig kontrolliert werden, weil das Hormon ein Wachstum der Pros-
Löst eine allergische
tata und möglicherweise von Prostatakrebszellen begünstigen kann. Reaktion auf der Kopf-
haut aus und lockt so
bei kreisrundem Haar-
ausfall die Abwehrzel-

Hormone fürs Leben len von den entzünde-

ten Haarwurzeln weg.
Nur in spezialisierten
Zentren angeboten.
Testosteronspiegel
Gemächlicher
Sinkflug: Haartrans­
Nur bei wenigen plantation
Männern geht Aufwendige und kost-
das Testosteron spielige Angelegenheit.
so stark zurück, Nach dem Eingriff
dass eine Behand- braucht das Haar bis
lung notwendig zu zwölf Monate,
wäre. bis das Endresultat
Alter 10 20 30 40 50 60 70 80 90 Jahre erreicht wird.

50     G E S U N D LEBEN
 Muskeln, Sex und Pickel
Was genau macht Testosteron – und welche Folgen hat es,
wenn der Spiegel des Hormons zu sehr absinkt?

Haut und Haare Sexualleben Intellekt

Testosteron bewirkt, dass männliche
Haut dicker ist, mehr Feuchtigkeit spei-
chert, mehr Kollagen enthält und damit
straffer erscheint. Es stimuliert aber
auch die Talgdrüsen und begünstigt Mit-
esser, Pickel und Akne-Knoten. Dihydro-
testosteron, das aus Testosteron
­entsteht, steuert das Haarwachstum.
Psyche
Ein erhöhter Testosteronspiegel sorgt
für mehr Aggressivität; ein niedriger
Wert geht mit Müdigkeit, depressiver
Verstimmung, Reizbarkeit und Schlaf-
störungen einher – wohl, weil Testoste-
ron Botenstoffe im Gehirn wie Seroto-
nin, Adrenalin, Noradrenalin beeinflusst.
Ohne Testosteron läuft nichts: Das
­Hormon regt die Hoden an, Spermien zu
produzieren. Es sorgt dafür, dass der
­Penis steif wird, stimuliert sexuelle Aktivi-
tät und Fantasie. Mit sinkendem Spiegel
nehmen Libido, die Anzahl der Erektionen,
Orgasmen und Samenergüsse ab.
Kraft
Vor allem Bodybuilder wissen diese
Wirkung zu nutzen: Testosteron lässt
Muskeln wachsen und Fett schrumpfen –
indem es die Umwandlung von Stamm-
zellen in Muskelzellen fördert und die
Bildung von Fettzellen hemmt. Anders-
herum hebt körperliches Training den
natürlichen Testosteronspiegel an.
Einige kognitive Fähigkeiten wie räum­
liches und mathematisches Vorstellungs-
vermögen und auch die Sprache scheinen
zumindest teilweise vom Testosteron-
wert abhängig zu sein. Sinkt er, nehmen
intellektuelle Aktivität und räumliche
Orientierung nachweislich ab.
Knochen
Natürliches Testosteron unterstützt
den Knochenaufbau in der Pubertät,
indem sich mehr Kalzium in den Knochen
einlagert und knochenaufbauende
Zellen aktiver sind. Ein Testosteron-
mangel kann zu Osteoporose führen.
Im Extrem­fall können Ersatzprodukte
die Knochen stärken.

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Bowls & Currys
120 Seiten, durchgehend
farbig bebildert,
Flexocover, 19 x 23 cm
ISBN: 978-3-96058-437-7
€ 12,99

EDITION LEMPERTZ Hauptstraße 354, 53639 Königswinter

® Lizenz der Marke CHEFKOCH durch Chefkoch GmbH, eine 100% Tochter der Gruner + Jahr Deutschland GmbH
DOSSIER

Sorge um den Hilfe bei

Impotenz

guten Samen Gesünder

­leben
Mit weniger Nikotin,
mehr Schlaf, Sport
und Gemüse werden
Forschende schlagen Alarm: Es mehren sich Gefäße wieder
die Zeichen, dass Männer weltweit ihre Potenz ­elastischer, die
Durchblutung nimmt
einbüßen. Lässt sich etwas dagegen tun? zu – auch im Penis.

Apps
Den inneren
Schweinehund für
einen gesünderen
Lebensstil z­ u überwin­
den ist oft schwer. Die
App »Kranus Edera«
Die Aufgabe für die männlichen Geschlechtsorgane ist bietet Unterstützung
eindeutig: Nachkommen zeugen. Zuletzt wurden aller­ speziell bei Potenzpro­
dings Zweifel laut, wie lange Männer das wohl noch blemen: mit Übungen,
Aus­dauertraining und
­können. In den vergangenen 35 Jahren sei die Anzahl der
für mehr Achtsamkeit
Samenzellen im Sperma von Männern aus westlichen und Körpergefühl.
Ländern um mehr als die Hälfte zurückgegangen, ver­ Gibt’s auf Rezept.
meldeten vor fünf Jahren Forschende um Hagai Levine
von der Hebrew University Hadassah in Jerusalem, Medikamente
Israel. Sie hatten 185 Gesundheitsstudien zwischen 1973 Sildanefil, bekannt als
und 2011 durchforstet, deren Teilnehmer auch Samenproben abgeben »Viagra«, weitet
mussten. Hielte dieser Trend an, hätten Männer 2030 gar keine Sper­ Ge­fäße, sodass mehr
mien mehr im Ejakulat. Führende Andrologen geben jedoch Entwar­ Blut in den Penis fließt.
nung: Mit im Schnitt 47 Millionen Spermien pro Milliliter Ejakulat liegt Drei weitere Wirkstof­
der Wert weit über dem, den die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fe sind hierzulande
zugelassen. Nur mit
als Untergrenze angibt, nämlich 15 Millionen. Doch die Sorge bleibt:
Rezept erhältlich.
Werden Männer immer unfruchtbarer?
Penispumpe
Unter Verdacht: zu enge Unterhosen
Alternativ können
Grund für diese Sorge ist auch, dass Reproduktionsprobleme bei
Männer auf eine
­Männern zunehmen – neben Hodenkrebs auch Hodenhochstand, ­Penispumpe aus­
Fehlbildungen der Harnröhre und niedrigere Testosteronspiegel. weichen. Sie erzeugt
­Experten diskutieren verschiedene Ursachen: Luftschadstoffe, zu enge mittels Unterdruck
Unterhosen, Weichmacher in Plastik, die den Hormonstoffwechsel eine Erektion. Funk­
beeinflussen, Übergewicht, Handystrahlen. Diese Dinge stehen im tioniert mechanisch
Verdacht, die Spermienanzahl zu reduzieren. Einigen der Risiko­ oder elektrisch.
faktoren ließe sich leicht entgegenwirken. Moderater Sport etwa ist
eine einfache wie günstige Strategie, um die Fruchtbarkeit anzu­ Stoßwellen­
kurbeln. Ebenfalls von Vorteil: Normalgewicht. Zehn Kilo extra, so die therapie
Schätzung, drosseln die Fruchtbarkeit bei Männern um zehn Prozent. Die Stoßwellentherapie
Zum einen gilt viszerales Bauchfett als Entzündungsherd – Boten­ kommt für Männer mit
stoffe, die dort entstehen, mindern die Potenz. Adipöse Männer Gefäßerkrankungen
infrage. Schockwellen
haben zudem niedrigere Testosteronspiegel. Allerdings liegt die
lassen neue Gefäße
­sinkende Fertilität von Paaren nicht allein an den Männern: Forschen­ an Penisschaft und
de weisen darauf hin, dass Frauen sich immer später im Leben für Beckenboden sprießen
eine Schwangerschaft entscheiden, ihre Fruchtbarkeit jedoch mit und bessern so
dem Alter dramatisch sinkt. die Potenz.
 Alles an seinem Platz Was ist
­Hoden…
1 Penis, … -Torsion?
2 ­Hodensack und Der Hoden verdreht
3 Harnröhre sich, meist spontan.
sind die äußeren Muss innerhalb von
­Geschlechtsorgane vier Stunden
des Mannes. Die 7 operativ zurück­
4 Prostata (Vor- gedreht werden.
steherdrüse) gehört
zu den ­inneren … -Hochstand?
­Geschlechtsorganen,
genau wie 5 Hoden, Wenn der Hoden im
6 Nebenhoden, Leistenkanal oder
7 ­Samenleiter, Bauchraum liegt.
­8 Samenbläschen Muss mit Arzneien
1 8 + 9
und kleinere 9 Drüsen oder operativ
nahe der Harnröhre. behandelt werden,
4
sonst droht Krebs.
3 6
5 … -Krampf-
2 ader?
Keine Behandlung
notwendig. Nur bei
unerfülltem Kinder­
wunsch gilt das
Stilllegen der
Krampfader als
Therapie­option.
Für eine gesunde
­Prostata Standfestigkeit
Für den einen ist sie ein Lustorgan, beim als Hinweis
anderen löst sie Harndrang aus: Potenzprobleme sind ein frü
hes I
­ ndiz
Die Vorsteherdrüse kann Freude und Schmerz für einige chronische K
­ rankheiten:
bereiten. Es lohnt sich, sie gut zu pflegen
• Arteriosklerose
Impotenz ist ein wichtiges
Marker-
Symptom für eine Arterienv
erkalkung.
Denn die Arterien im Penis
Männer ver- ne Prostatawachstum und -krebs viel feiner als die Herzkr
sind
binden mit der begünstigen kann. Den Hor- anzgefäße.
Daher treten Durchblutung
sstörungen
Vorsteherdrü- monhaushalt des menschlichen des Gliedes Jahre vor Anzeic
hen
se oft eher un- Körpers wiederum kann eine wie Herzenge auf.
angenehme gesunde Ernährung beeinflus-
Vorstellungen, etwa nächtliche sen. Empfehlenswert ist eine • Diabetes
Hohe Blutzuckerwerte schädi
Toilettengänge und Probleme »prostataschonende« Ernäh- gen feine
Nerven und Gefäße, auch die
beim Wasserlassen. Dabei ist die rung, die an die asiatische Küche der
Schwellkörper im Penis. Die
Wahr-
Drüse »Zentralorgan« bei der angelehnt ist: mit viel pflanzli- scheinlichkeit, Erektionsstö
rungen zu
schönsten Sache der Welt: Sie gilt chen Fetten und ungesättigten bekommen, ist bei Diabetike
rn viermal
als männlicher G-Punkt. Und sie Fettsäuren wie Raps- und Lein- höher als bei Nicht-Diabetik
ern.
bildet eine Flüssigkeit, die die öl sowie Walnüssen. Dazu Bal-
• Zahnfleischentzündung
Spermien schützt. Männer kön- laststoffe, Hülsenfrüchte und Keime in der Mundhöhle bil
nen einiges tun, damit es ihrem Sojaprodukte, die viele Phyto­ den
Giftstoffe, die das Abwehr
system des
Lustorgan gutgeht. Man weiß, östrogene enthalten – genau wie Körpers befeuern. Die dabei
aktivier-
dass eine Verschiebung der Getreideflocken aus Hafer, Wei- ten Entzündungsstoffe gre
ifen auch
männlichen Geschlechtshormo- zenkleie und Leinsamen. die feinen Penisgefäße an.
Je gravie-
render die Parodontitis, des
to
schlim mer sind die Erektions
probleme.

G E S U N D L E B E N      53
 DOSSIER

Mir geht’s
blendend!
Wann hört unsere Gesellschaft auf,
seelische Erkrankungen von Männern zu

3
tabuisieren? Noch immer gestehen sich
viele Männer allenfalls einen »Burn-out«
ein – und nur selten eine Depression

Mythen
Ausgebrannt sein ist noch in Ordnung. Ein Burn-out sendet
Männer haben keine
nämlich auch eine positive Botschaft aus: Da hat sich je- Komplexe.
mand überdurchschnittlich verausgabt und engagiert. Was Und ob! Das starke
aber, wenn der Stress zur echten Überforderung wird? Wenn Geschlecht zweifelt
einst problemlos bewältigte Aufgaben plötzlich unlösbar an seinem sexuellen
erscheinen? Dann kann das Gefühl von Hektik und stän- Können, an Länge und
digem Druck krank machen, aus unbewältigten Dicke des Penis. Mil­
­Konflikten können psychische Probleme wie Depres- lionen Männer haben
sexuelle Schwierigkei­
sionen und Ängste entstehen. Doch in der ärztlichen
ten – und entsprechen
Praxis wird das oft übersehen. Denn viele Männer damit ganz und gar
­klagen anstatt über Angst, Traurigkeit und Selbstzweifel eher über nicht dem Bild des
körperliche Beschwerden wie Müdigkeit, Gereiztheit, Rücken- oder omnipotenten Mannes.
Kopfschmerzen. Dann wird der Magen behandelt, der rebelliert, das
Herz, das unregelmäßig schlägt, oder eine »Persönlichkeitsstörung«, Männern haben keine
weil Männer aggressiv und gewalttätig werden. Das passt ja besser Depressionen.
zum gelernten Rollenbild. Für die korrekte Diagnose sind deshalb Doch, nur mit anderen
Anzeichen. Depressive
Arzt und Patient gefragt: Männer müssen lernen, wahrheitsgemäß Männer neigen zu
von ihren Gedanken, Gefühlen, Ängsten und Nöten zu erzählen. Aggressionen, sind
Und Ärzte, die männliche Fassade mit geschultem Blick zu durch- reizbar, konsumieren
schauen – damit sie Hilfe anbieten können, die die Seele unterstützt. mehr Alkohol und
Drogen: Verhaltens­
weisen, die nicht gleich
an eine Depression
denken lassen.
Schlaf, Männlein, schlaf Viel Arbeit macht
depressiv.
Schlafprobleme Ursachen Schlafapnoe Abhilfe Berufstätige leiden
Von wegen »nur Neben Schichtarbeit Vor allem Männer Schlafprobleme seltener unter
Frauen schlafen und Stress stören ab 40 sind von dieser machen kraftlos. Des- Depressionen als
schlecht«! Jedem auch nächtlicher Schlafstörung betrof- halb ist Schlafhygiene Arbeitslose oder
fünften Mann geht Harndrang, aber fen: Bei ihnen setzt wichtig: nicht zu spät, Menschen, die arbeits­
es ebenso. Die auch Alkohol und die Atmung für meh- zu viel, zu fettig essen. unfähig sind. Allerdings
Schwierigkeiten Drogen den männli- rere Sekunden aus, Zwei Stunden vor der kann ein Burn-out,
betreffen sowohl chen Schlaf. Das da die Muskulatur der Bettruhe entspannen also das Gefühl, durch
das abendliche kann auf Dauer zu oberen Atemwege und nichts mehr den Job ausgebrannt
Einschlafen als auch verschiedenen ­erschlafft. Schadet trinken. Schlafzimmer zu sein, in eine De­
das Durchschlafen. Krankheiten führen. Herz und Gehirn. ­lüften und kühl halten. pression übergehen.

54     G E S U N D LEBEN
Die Fortschritte in der Krebsmedizin in den letzten Jahren sind groß. Ein gutes
und langes Leben trotz Krebs wird zunehmend Realität. Entscheidend sind dabei
frühzeitige Diagnose und Therapie. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt, Ihrer Ärztin.

Mit unserer Forschung wollen wir bei Bristol Myers Squibb möglichst viele Leben
berühren und verändern. Doch der Kampf gegen Krebs ist komplex. Er benötigt
echtes Teamwork. Nur gemeinsam kommen wir der Vision Zero, dass eines Tages

© 2022 Bristol-Myers Squibb Company. All rights reserved. ONC-DE-2200114

niemand mehr an Krebs sterben muss, näher. Wir geben weiter unser Bestes,
damit Krebspatient:innen mehr besondere Momente erleben können.

#gemeinsamgegenkrebs bms.com/de krebs.de

 HEILPFLANZE

Senna
(Senna alexandrina Mill.)
Der leuchtend gelb blühende Strauch enthält Wirkstoffe gegen Verstopfung.
Bei der Anwendung ist allerdings einiges zu beachten

Rezept: Senna-Tee
Für einen Tee mit abführender
Wirkung ½ bis 1 Teelöffel
getrocknete und zerkleinerte
Blätter mit 150 Milliliter
heißem, nicht mehr kochendem
Wasser aufgießen und zehn bis
zwanzig Minuten ziehen lassen

DOSIS UND WIRKUNG

Die Geschichte: Die Senna, auch
Sennes(pflanze) genannt, wurde
schon in der Antike als Abführmittel
genutzt, in Afrika wohl auch gegen
Würmer. Der bis zu zwei Meter hohe
Strauch mit den gelben Blüten
Anwendung und Anbau: Kultiviert
wird Senna in Ägypten, dem Sudan,
Pakistan und Indien. Genutzt werden
die getrockneten Blätter und Hülsen
als Tee gegen Verstopfung. Auch
Tabletten und Dragees mit Pulver
siger und passiert den Verdauungs-
trakt schneller. Senna sollte man
maximal zwei Wochen lang nehmen,
weil sie langfristig Darmträgheit
verstärken und den Kaliumhaushalt
stören kann. Bei unklarem Bauchweh
FOTO: D.HARMS/WILDLIFE

gehört zu den Hülsenfrüchtlern, ist
also mit Erbsen und Bohnen ver­
wandt. Die Senna liebt es warm und
trocken und kommt von Zentralafri­
ka über Arabien bis nach Indien vor.
oder Extrakt sind im Handel. Die
abführende Wirkung rührt von
Anthrachinonen her: Sie halten
Wasser, Natrium und andere Ionen
im Darm zurück. Der Stuhl wird flüs­
oder entzündlichen Darmleiden wie
Morbus Crohn sollte man darauf ver-
zichten, auch sind Wechselwirkungen
mit Herzpräparaten wie Digitalis
2
möglich.  NICOLE HEISSMANN

56     G E S U N D LEBEN
 Einfach mal durchatmen mit FLOW.

Mini-Kurs &
Liebevolle
Zettel-
Botschaften

Titelthema:
Entdecke dich neu
– WER DU NOCH
SEIN KANNST

DAS MAGAZIN, DAS SICH ZEIT NIMMT.

 ERNÄHRUNG

Drei Höfe,
Ziegen, Kühe –
und der ewige
Kreislauf
Lebensmittel produzieren im Einklang mit Tier und Natur,
finanziert durch feste Beiträge der Kunden: Auf den Schinkeler Höfen
bei Kiel lebt man das Konzept »Solidarische Landwirtschaft«
VON RUTH HOFFMANN; FOTOS: VALESKA ACHENBACH

58     G E S U N D LEBEN
 »Kommt,
Mädels!«: Auf
Hof Mevs in der
Nähe von Kiel
hilft Noah, 8,
seiner Mutter
Katya Schneider
beim sanften
Ziegen-in-den-
Stall-Lotsen
 Enges Verhältnis:
Thomas Schmidt von
Hof Mevs in
Zwiesprache mit
Ziege Shinobi

»SIE SIND UNSERE

ZIEGEN, UND WIR SIND
IHRE MENSCHEN«

Damit die Milch

gut fließt, melkt
Katya jede Zitze
Über schmale einmal kurz mit der
Holzstege klettern Hand an, bevor
die Ziegen in sie die Melkbecher
den Melkstand ansetzt

Was, wenn gar nicht stimmt, was viele immer er-
zählen? Dass Wohlstand nur durch Wachstum zu
haben ist, Biolebensmittel nur was für Gutverdie-
ner sind – und man als Bauer nur mit immer mehr
Fläche über die Runden kommt? Ginge es nicht
auch anders? Hoch im Norden, gut zehn Kilome-
ter westlich von Kiel, wollen sie es ver-
suchen. Hier ist ein Zusammenschluss
aus rund 200 Privathaushalten und fünf
Betrieben angetreten, um zu realisieren,
was viele für Utopie halten: hochwer­tige
Lebensmittel zu produzieren, ressour-
censchonend, unter guten Bedingungen
für Mensch und Tier und zu erschwing-
lichen Preisen. »Solawi«, Solidarische
Landwirtschaft, heißt das Konzept, bei
dem Verbraucher und Bauern gleicher-
maßen profitieren: die einen von Ernte-
anteilen in bester Qualität, die anderen
von sicheren Einnahmen, die nicht den
Schwankungen des Weltmarkts oder
dem Preisdruck einer Supermarktkette
unterliegen. Denn finanziert wird hier
die Wirtschaftsweise, nicht das einzelne
Lebensmittel. Wer mitmachen will, ver-
pflichtet sich für mindestens ein Jahr
und zahlt für den Ernteanteil 195 Euro
monatlich.
Die Idee ist nicht neu. Überall in
Deutschland gibt es inzwischen Solawi-
Keine Standard-
Betriebe. Nirgends aber ist das Angebot so vielfäl-
tig wie bei den Schinkeler Höfen: Auf dem Wur-
zelhof wachsen Gemüse, Salate und Kräuter. Vom
Hof Rzehak kommen Milch, Quark, Joghurt, Käse
und Fleisch. Die Bäckerei Kornkraft steuert Bröt-
Zwischenfrucht-
chen und Brot bei. Das Getreide dafür stammt vom
Hof Mevs, der außerdem Kartoffeln, Flocken­
mischungen und Hülsenfrüchte liefert. Und dann
ist da noch die Ziegenherde, deren Milch die Ernte­
anteile um Rohmilchkäse bereichert.
Einmal die Woche werden die Lebensmittel in
die 21 Depots in Kiel und Umgebung gefahren, wo
sich die Solawistas ihre Ernteanteile abholen. Die
setzen sich aus dem zusammen, was die Betriebe
gerade bieten können, denn individuelle Bestellun-
gen würden den logistischen Aufwand erhöhen.
»Mir gefällt, dass die Bauern und die jeweilige Sai-
son bestimmen, was geliefert wird«, sagt Wiebke
Freudenberg, die schon von Anfang an dabei ist und
mitgeholfen hat, die Infrastruktur aufzubauen.
»Außerdem gibt es immer wieder Überraschungen
vom Acker, Bäcker oder aus der Molkerei.« Oft be-
kommen die Solawistas noch eine Extraportion
Kartoffeln, Salat oder Kohl.
Und auch wenn die Ernte wegen Trockenheit
oder früher Fröste einmal knapper ausfällt, muss
Dieter Pansegrau vom Wurzelhof nicht um seine
Einnahmen fürchten: Die festen Beiträge finanzie-
ren seine Arbeit. Dafür haben die Solawi-Anteile
Vorrang. Den Rest der Ernte verkauft er auf Wo-
chenmärkten. »Es geht eben nicht um Rendite, son-
dern darum, kostendeckend zu arbeiten«, sagt er.
»Auf diese Weise verlieren die Lebensmittel den
Preis und bekommen ihren Wert zurück.«
Dass die Sache aufgeht, merkt man, sobald man
den Hof betritt: Wohnhaus und Wirt-
schaftsgebäude sind aus Holz, auf allen
Dächern wächst Wiese, überall summt
und zwitschert es. Zwei Gänse watscheln
durch den Matsch der Einfahrt. Gepflas-
tert ist nur, wo es unbedingt sein muss.
In den Pfützen badet eine Spatzenfami-
lie, und unter einem rot-weiß gestreif-
ten Sonnenschirm essen die Erntehelfe-
rinnen und -helfer gerade zu Mittag. Ein
paar Hühner hocken daneben im Schat-
ten, unterm Ahorn stapeln sich leere
­Gemüsekisten.
Die Vielfalt der Natur imitieren
Ein Stück weiter, hinter dem Knick, lie-
gen die Felder. »Ich dachte immer, ich sei
Gemüsebauer«, sagt Pansegrau im Gehen.
»Inzwischen ist mir klar, dass ich in Wirk-
lichkeit die Lebewesen im Boden versor-
ge. Wie gut Kohl oder Tomaten gedeihen,
ist eigentlich nur ein Zeichen dafür, wie
gut mir das gelingt.« Offenbar ziemlich
gut: So weit das Auge reicht, stehen Mais,
ware: frisches Zucchini, Kürbisse, Porree, Rot- und Grünkohl in
Mehl (o.) aus üppiger Pracht. In unbeheizten Folienhäusern rei-
der hofeigenen fen Bohnen, Auberginen, Paprika und neuerdings
Mühle, Samen sogar Ingwer. Dazwischen leuchten Kapuzinerkres-
(u.) für eine se und Ringelblumen. »So finden nützliche Insek-
mischung,
ten Nahrung und helfen beim Bestäuben. Und für
die den Boden uns ist es Arbeiten im Blumenstrauß.«
verbessert Nur alle sechzehn Jahre pflanzt Pansegrau auf
einer Fläche wieder dasselbe Gemüse an. Im kon-
ventionellen Anbau liegen die Fruchtfolgen erheb-
lich enger, ein Zyklus dauert meist drei bis vier
­Jahre. Außerdem ist die Zahl unterschiedlicher
Kulturen viel geringer. Mais oder Weizen werden
häufig sogar zweimal hintereinander angebaut.
Das entzieht dem Boden aber einseitig Nährstof-
fe und verschafft spezialisierten Unkräutern,
­Pilzen und Bakterien die Möglichkeit, sich aus­
zubreiten und im Boden anzureichern. Der 4
G E S U N D L E B E N      61
Yannick Rzehak
fängt ein Kälbchen
ein, das zur Mutter
gelaufen ist. Mehr-
mals am Tag dürfen
die Kleinen zu ihren
Müttern

»BEI UNS WACHSEN

K ÄLBER BEI
IHREN MÜTTERN AUF«

Mehr als nur

eine Nummer:
Auf Hof Rzehak
kennt man jedes
Tier beim Namen

Schädlingsdruck nimmt zu, das natürliche Gleich­
gewicht gerät aus den Fugen.
»Damit es gar nicht erst so weit kommt, versu­
chen wir, gewissermaßen die Vielfalt der Natur zu
imitieren«, erklärt Pansegrau. Wie in der
Natur ist die Erde auf seinen Feldern nie
unbedeckt: Untersaaten sprießen um die
Gemüsepflanzen, zwischen den Reihen
liegt eine Mulchschicht aus gehäckseltem
Stroh. So wird die Erde vor Sonne und
Wind geschützt, und das Milliardenheer
emsiger Kleinstlebewesen hat organi­
sches Material zum Zersetzen. Das ist weit
mehr als bloßes Düngen und selbst im
Ökolandbau selten: Der Boden bekommt
nicht nur zurück, was ihm der Gemüse­
anbau nimmt, es wird auch zusätzlich
fruchtbarer Humus aufgebaut. Je nach
Ackerboden liegt der Humusgehalt nor­
malerweise bei kaum mehr als zwei Pro­
zent, in Panse­graus Folienhäusern sind es
dagegen sieben, und auch im Freiland ist
die Tendenz steigend.
Wicken, Erbsen und Lupinen
Mit dem Zustand des Bodens steht und
fällt auch der Ertrag auf den Feldern von
Wiebke Stock und Jahne Zastrow vom Hof Mevs
nebenan. Sie arbeiten mit vielfältigen Frucht­
folgen, Blühstreifen und Untersaaten, die den
­Boden durchwurzeln und Nützlingen Nahrung
bieten. Nach der Ernte säen sie Wicken, Erbsen
oder Lupinen aus, die bis zur nächsten Aussaat
Stickstoff in die Erde bringen. »So eine Zwischen­
frucht kostet richtig Geld, schon weil Saatgut
einfach teuer ist. Außerdem hat man damit fast
genauso viel Arbeit wie mit dem Getreide, ver­
dient aber nichts dabei.« Jahne zuckt die Schul­
tern – keine Klage, nur eine Feststellung: So ist
es eben. Wer sich für biologische Landwirtschaft
entscheidet, weiß, dass der Schutz natürlicher
­Ressourcen oberste Priorität hat, weil sie die Ba­
sis für alles sind. Nur ein gesunder Boden kann
gute Erträge bringen und den nächsten Genera­
tionen das Über­leben sichern.
Was wie ein pathetisches Manifest klingt, lässt
sich hier unmittelbar im Alltag erfahren: Ohne
Chemie muss man die Wirtschaftsweise der Na­
tur anpassen, nicht umgekehrt. Jeder Standort ist
anders, jede Pflanze hat ihre Bedürfnisse. Mal kom­
men Schädlinge oder Pilze, mal ist der Sommer zu
trocken oder der Winter zu nass. Kunstdünger und
Pestizide können solche Widrigkeiten zwar kurz­
fristig in Schach halten, mittelfristig schaffen sie
aber neue Probleme wie resistente Unkräuter,
langfristig richten sie sogar massiven Schaden an.
Um stattdessen das komplexe Zusammenspiel
der Kräfte in Balance zu halten, müssen auch
erfahrene Landwirtinnen und Landwirte wie
Wiebke und Jahne immer wieder ausprobie­
ren, genau beobachten und notfalls gegen­
»WIR HABEN DEN LUXUS,
SO ARBEITEN ZU
KÖNNEN, WIE WIR ES
RICHTIG FINDEN«
steuern. So wie im letzten Sommer, als
zwischen dem Dinkel plötzlich massen-
haft Kornblumen blühten – ein Zeichen
für zu viel Kali. »Tatsächlich hatte ich mit
der doppelten Menge Mist gedüngt und
damit versehentlich das Falsche geför-
dert«, sagt Jahne. »›Viel hilft viel‹ ist eben
Quatsch.«
Dank Solawi können sich die beiden
auch Experimente erlauben. Vergangenes
Jahr haben sie erstmals ein Gemisch aus
Hafer, Linsen und Leindotter ausgesät.
»Für die Solawistas kam dabei leider nur
jeweils eine kleine Tüte Linsen heraus«,
erzählt Wiebke. »Aber wir bleiben dran.
Wir wollen in Zukunft noch mehr
Hülsenfrüchte anbauen, weil die als
regio­nale Eiweißquelle auch Futtermit-
tel-Importe ersetzen können.« Der Be-
triebsverbund macht vieles möglich, was
auf dem freien Markt nicht denkbar wäre.
Yannick Rzehak So sind Wiebke und Jahne nicht gezwun-
mit seiner Frau gen, standardisierte Mehle zu produzieren:
Anna Kenner (l.)
und Baby Jakob; Kornkraft-Bäckermeister Tjark-Erik Barkmann
rechts Yannicks versteht sein Handwerk und kann sich auf die
Schwester Backeigen­schaften der jeweiligen Ernte einstellen.
Tonia, die den In der Mühle von Hof Mevs wird das Korn nur ver-
hofeigenen Käse mahlen und das Mehl anschließend nicht in sei-
produziert
ne Einzelteile zerlegt, um Kleberanteil und Type
exakt zu steuern.
Mit dem umgehen, was da ist – dieser Grundsatz
zieht sich als roter Faden durch die Arbeit der Ge-
meinschaft. Und teilt sich auch den beteiligten Ver-
braucherinnen und Verbrauchern mit: Als Solawis-
ta ist man nah genug dran, um ein Gespür dafür zu
bekommen, was es heißt, Landwirtschaft zu betrei-
ben. Mit wie vielen Risiken und Unvorhersehbar-
keiten man es zu tun hat, welche Geduld man auf-
bringen muss, wie viel mühsame Plackerei nötig ist.
Und vor allem: wie alles mit allem zusammenhängt.
Joghurt, Quark Dass Äcker Mist brauchen und Tiere Eiweiß, dass es
und Käse werden
als Ernteanteil,
ohne die Geburt von Kälbern keine Milch geben
im Hofladen, in kann, bei der Produktion also unweigerlich Fleisch
Naturkostläden anfällt. Rein vegetarische Ernteanteile gibt es bei
und auf Wochen- den Schinkeler Höfen darum grundsätzlich nicht.
märkten in und um
Kiel verkauft Die Höfe bilden einen eigenen Kreislauf
In der ökologischen Landwirtschaft denkt man
in Kreisläufen und versucht sie möglichst
zu schließen. Das aber ist oft nicht leicht
zu verwirklichen: Als reiner Pflanzenbauer
fehlt einem Mist zum Düngen, ein Be-
trieb mit Tieren braucht Grünfutter
und Stroh. Durch den Zusammen-
schluss können sich die Schinkeler
Biohöfe gegenseitig ergänzen 4
G E S U N D L E B E N      63

»N ÜTZLICHE INSEKTEN
FINDEN NAHRUNG UND
HELFEN BEIM BESTÄUBEN«
und bilden so einen eigenen Kreislauf.
Wirtschaftlich arbeiten alle Betriebe
trotzdem unabhängig voneinander
und bedienen weiterhin auch ihre
­anderen Vertriebswege.
Jahne Zastrow war anfangs skeptisch.
Er fürchtete, dass ihm durch die Solawi
ständig Leute in seine Arbeit reinreden
würden, die nichts von Landwirtschaft
verstehen. Doch so kam es nicht, und in-
zwischen kann er sich keine andere Art
zu wirtschaften mehr vorstellen. Der
eigentliche Anstoß für den Verbund
kam aber von außen: 2015 war eine
Gruppe Attac-Aktivistinnen und -Ak-
tivisten auf die Höfe zugegangen, um sie
für die Idee einer betriebsübergreifen-
den Solawi zu gewinnen.
Die Wertschöpfung bleibt vor Ort
Yannick Rzehak war damals gerade mit dem
Studium fertig und überlegte, ob er den Bio-
Milchviehbetrieb der Eltern übernehmen solle.
»Eigentlich hatte ich Lust dazu, aber ich wollte
auch Zeit für meine Familie haben und nicht
so viel ackern wie meine Eltern«, erzählt er. Mit
64     G E S U N D LEBEN
Hüter der Vielfalt: Dieter
Pansegrau auf seinem
Gemüsefeld mit Rot- und
Grünkohl, dazwischen
»Untersaaten« wie
Sonnenblumen (vorn)
Solawi schien das möglich, das machte die Ent­
scheidung leichter. Auch bei den anderen ver­
schwanden die Zweifel schnell: Nur wenige
Monate nach der Kontaktaufnahme begannen die
Betriebe mit der Lieferung.
Heute leben 35 Milchkühe mit ihrem Nach­
wuchs auf Hof Rzehak – zehn Tiere weniger als frü­
her. Neben vielen anderen Veränderungen trägt
auch die verkleinerte Herde dazu bei, dass Yannick
und seine Frau Anna Kenner auf tierfreundliche
Weise wirtschaften können: »Bei uns wachsen die
Kälber bei ihren Müttern auf, und wir verkaufen
keine Bullenkälber mehr«, sagt er. Diese »kuh­
gebundene Kälberaufzucht« ist noch immer die
absolute Ausnahme. In der Regel werden Mutter
und Kind unmittelbar nach der Geburt getrennt.
Bei Rzehaks hingegen bleiben die Kälber die ers­
ten Tage ganz bei der Mutter und können in den
Wochen danach mehrmals am Tag bei ihr
trinken, bis sie schließlich entwöhnt
sind. Der erheblich höhere finan­
zielle Aufwand wird durch die So­
lawi mit aufgefangen.
Unterstützt durch ein zusätzli­
Eine Mulch-
schicht aus ches Crowdfunding wurde 2018
gehäckseltem außerdem eine eigene Meie­
Stroh schützt rei gebaut. So bleibt die
den Boden vor Wertschöpfung vor
Wind und Sonne Ort, der Kreislauf
und liefert
Futter für
wird geschlos­
Bodenlebewesen sen: Die anfal­
lende Molke
bekommen 4

»ICH WOLLTE HANDWERK
UND NICHT AN EINER
MASCHINE STEHEN«
drei Schweine, vermischt mit Kleie von Hof Mevs.
»Natürlich ist sehr viel zu tun – jeden Tag und
das ganze Jahr über«, sagt Anna. »Aber wir haben
den Luxus, so arbeiten zu können, wie wir es rich-
tig finden. Wir haben mehr Freizeit als Yannicks
Eltern damals. Und die Kühe können wieder
Hörner tragen.«
Anders würden auch Katya Schneider und Tho-
mas Schmidt nicht arbeiten wollen. Sie sind vor
vier Jahren nach Schinkel gezogen und kümmer-
ten sich zuerst ein Jahr lang probehalber um die
Ziegen auf Hof Mevs. Inzwischen bilden sie mit gut
90 Milchziegen und 3 Ziegenböcken ihren eigenen
Betrieb im Verbund der Schinkeler Höfe.­
75 Zicklein wurden in diesem Frühjahr geboren, im
letzten waren es 110. Dass sie bei ihren Müttern
aufwachsen, ist auch hier selbstverständlich.
»Milchviehhaltung geht ohne Solawi im Grunde
gar nicht«, sagt Thomas, »sonst knechtet man die
Tiere und sich selbst.« Als ein-
zelner Betrieb wären sie
aber zu spezialisiert –
erst im Verbund mit
den anderen funktio-
niert die Direktvermark-
tung an die Solawistas.
66     G E S U N D LEBEN
Bäckermeister Tjark-Erik
Barkmann wiegt in der
Kornkraft-Bäckerei Mehle
ab, die von Hof Mevs
nebenan geliefert werden
»Kommt, Mädels!«, ruft Katya und lotst die
­ erde von der Weide in den Stall. Sohn Noah flitzt
H
nebenher und hilft nach, wenn ein Tier falsch ab­
biegt oder trödelt. Über zwei Holzstege klettern die
Ziegen in den erhöht gelegenen Melkstand. Jede
weiß, was zu tun ist. Alles läuft selbstverständlich
und ohne Hektik. »Die haben Lust auf die Arbeit
mit uns«, sagt Katya, während sie die
Melkbecher an die Euter setzt. »Sie
sind unsere Ziegen und wir ihre
Menschen.« Nach einer Weile zieht
sie an einer Schnur, die Bügel klap­
pen nach oben, sodass die Tiere den
Melkstand zur anderen Seite ver­
lassen können. »Danke schön!«, ruft
Katya. An der Luke warten schon die
nächsten.
Zukunft der Landwirtschaft?
Seit Kurzem können Katya und Tho­
mas einen Teil der Ziegenmilch
selbst verarbeiten: Neben dem Stall
ist dank Solawi eine eigene Käserei
entstanden. Wiebke und Jahne bau­
en gerade eine Ölmühle, damit aus
Schinkel bald Raps- und Leinöl
kommen können. Und um in eini­
Sauerteig ist
Handarbeit und gen Jahren auch Obst im Sortiment zu haben, hat
erfordert Können, die Gemeinschaft gerade eine Wiese gepachtet und
FOTO: IMAGO STOCK
weil er sich angefangen, Bäume zu pflanzen. Die Zukunft der
immer wieder Landwirtschaft? In Schinkel ist sie schon jetzt so,
anders verhält
wie wir sie uns eigentlich wünschen: nachhaltig,
regional, vielfältig – und solidarisch.2
VEGETARISCH & VEGAN GENIESSEN

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 DIE THERAPEUTIN

Raus aus dem Trott

Reizen und Impulsen widerstehen, Körper und Geist neu
kennenlernen, innehalten statt reagieren: Darum geht es bei der
Alexander-Technik, einer Mischung aus Meditation und Therapie
VON BEATE WAGNER; FOTOS: MONIKA KEILER

Berlin-Schöneberg an Denn eine Stunde Alexander-Technik ist eine

einem trüben, lauten Herausforderung. Nix mit Wellness, Augen schlie-
Freitag. Autos hu- ßen, wegdriften und einfach nur schön auf der
pen, Baustellenge- ­Liege liegen. Es ist anstrengend, es geht um Kon-
rüste versperren den zentration – und Konfrontation: mit dem jetzigen
Bürgersteig, überall Moment, mit unbewussten Gewohnheiten, mit
wuselt es geschäftig. der Schwierigkeit loszulassen. »Viele Menschen
Betritt man jedoch das haben schon mal von der Alexander-Technik ge-
­Simio-Studio für Körpercoaching, verstummt der hört, vor allem, dass Schauspielerinnen und Schau-
Krach der Großstadt. Eine Treppe führt in die zur spieler damit arbeiten«, sagt Heisecke. »Was aber
Praxis umfunktionierte Beletage-Wohnung, oben wirklich dahintersteckt, kann man besser erfah-
grüßt sanft lächelnd Karin Heisecke. Die Lehrerin ren als erklärt bekommen.«
für Alexander-Technik trägt eine knallgrüne Hose, Die Alexander-Technik, auch Alexander-Metho-
kurze silbergraue Haare und eine dunkle Brille. de oder F.-M.-Alexander-Technik genannt, ist eine
Ihr Blick ist warm und freundlich, die Stimme lei- körperbezogene, prozessorientierte, ganzheitliche
se. Ihre Bewegungen in Richtung Behandlungs- Methode, die Bewegungsabläufe harmonisieren
raum sind geschmeidig. Jetzt wird es gleich chillig und dynamisieren soll. So erklärt es die Website
und entspannt, könnte man meinen. Das Gegen- des größten Alexander-Technik-Berufsverbands
teil ist der Fall. in Deutschland, ATVD. Sie geht auf den austra­
Karin Heisecke lischen Schauspieler Frederick Matthias Alexan-
ist Sozialwissenschaft­ der zurück. Der Theatermann war Ende des
lerin und Projekt­ 19. Jahrhunderts als Shakespeare-Rezitator
leiterin der MaLisa erfolgreich, bis er zunehmend unter
Stiftung für benach­
Stimmproblemen und Heiserkeit litt.
teiligte Frauen und
Mädchen in aller Welt. Auf der Suche nach den Ursachen be-
Mit der Alexander- obachtete er sich selbst vor dem Spie-
Technik bekam sie ihre gel und stieß auf seine ungünstige Kör-
Rückenprobleme in perhaltung. Aus dem Versuch, sie mit
den Griff. Die Methode selbst entwickelten Bewegungen, aber
hilft ihr aber auch, auch mit einer Art Meditation zu verbes-
neue Blickwinkel
sern, entwickelte er schließlich die Alex-
in der politi­
schen Arbeit
ander-Technik. Mit ihr heilte er erst sich
zu finden selbst, dann andere, und das so erfolgreich,
dass er die Schauspielerei schließlich aufgab und
eine eigene Therapie-Schule gründete. Und zwar
ganz buchstäblich: Im Jahr 1931 startete er in Lon-
Hals und don den ersten ­regulären Ausbildungskurs.
­Rücken ste- Die Alexander-Therapie ist ganzheitlich. Ihr
hen bei der Schwerpunkt liegt auf dem Zusammenspiel von
Alex­ander-
Kopf, Hals und Rücken. »Das ist sozusagen die
Technik im
­Mittelpunkt. Schaltzentrale, die alle anderen Abläufe im Körper
Das Wichtigste beeinflusst«, sagt Heisecke. »Ist die Koordination
aber spielt sich zwischen Kopf, Hals und Rumpf gestört, kann sich
im Kopf ab das auf alle anderen Körperbereiche übertragen.«

68     G E S U N D LEBEN
 Weg zur Selbsterkenntnis: Als Hilfsmittel legt die Alexander-
Therapeutin eingepackte Bücher unter den Kopf
Andersherum gilt: Ist sie ausbalanciert, können
auch alle anderen Bewegungen frei und gelöst ab-
laufen. Und nicht nur das: Auf Dauer soll die Ale-
xander-Technik dabei helfen, das Wechselspiel
zwischen Körper und Geist und die Eigenwahrneh-
mung zu verbessern. Gewohnheiten ließen sich
dadurch ­bewusster machen , überflüssige Körper-
spannung und festgefahrene Denkmuster ab-
bauen, sagt Heisecke.
In der ersten Schnupperstunde merkt man von
alldem noch nichts. Es fühlt sich eher so an, als hal-
te man das große Nichts aus. Die Schülerin sitzt
auf einem Hocker. Die Lehrerin steht dahinter und
berührt mit den Händen sanft ihren Nacken. Dann
soll die Sitzende sich vorstellen aufzustehen. Aber
nur vorstellen, denn das Aufstehen selbst gehört
nicht zur Übung. Stattdessen spricht die Lehrerin:
»Stopp, nicht aufstehen!« Und gibt dann leise fol-
gende Gedankenanweisung: »Stell dir vor, dein
Hals ist frei. Dein Kopf geht nach vorne und oben.
Sodass sich dein Rücken längen und weiten kann.«
Mehr nicht. Aber dieses Nichts ist ganz schön an-
strengend!
»Wenn wir zum Arzt oder zur Ärztin gehen, ha-
ben wir die Erwartung, dass dieser oder diese, ein-
fach gesagt, etwas tut, damit es
uns besser geht«, sagt Heisecke.
»Bei der Alexander-Technik geht
es eher darum, innezuhalten, statt
durch zusätzliches Tun eine positi-
ve Veränderung zu bewirken.«
Nächste Übung: Die Schülerin liegt so
entspannt wie möglich und mit offenen
Augen auf der harten Liege. Der Kopf ruht auf ein
paar in Folie eingepackten Büchern. Durch die har-
te Unterlage können alle Muskeln entspannen und
die Wirbelsäule sich gerade ausrichten. Nun win- »Anstatt auf
kelt die Lehrerin das Bein der Schülerin an. Die Reize sofort
Schülerin selbst tut nichts – außer dem Impuls zu zu reagieren,
widerstehen, die passive B ­ ewegung durch eine
eigene Muskelanspannung zu begleiten. geht es dar-
um, zunächst
Nur im Moment sein – in 3-D einmal inne-
Stattdessen folgt sie wieder der mantramäßig
­geflüsterten Gedankenanweisung: »Stell dir vor,
zuhalten«
dein Hals ist frei. Dein Kopf geht nach vorne und Karin Heisecke
oben. Sodass sich dein Rücken längen und weiten
kann.« »Wir setzen durch Berührung oder sanfte,
passive Bewegungen Impulse«, sagt Heisecke, »und
begleiten die Schülerinnen und Schüler dabei, 4
G E S U N D L E B E N      69
 Auch wenn es
so aussieht:
Mit herkömmlicher
Massage haben die
innezu­halten, anstatt – wie
Berührungen der
Alexander-Technik erlernt und gewohnt – sofort
nichts zu tun. auf d­ iese Reize zu reagieren.«
Sie dienen eher als Nur im Moment sein. Nur
Denkanstöße, um das Hier und Jetzt spüren.
eigene Gewohnheiten Nichts tun. Das erinnert an
zu hinterfragen ­Meditation. Kein Wunder, dass
und zu verändern der Londoner Alexander-Lehrer Pe-
ter Nobes sein Buch über die Alexander-
Technik »Mindfulness in 3D« genannt hat,
übersetzt: »Achtsamkeit in 3-D«. »Durch die regel-
mäßige Praxis der Alexander-Technik lernen Klien-
tinnen und Klienten, sich diese Denkanweisung
Das Prinzip selbst unbewusst immer wieder im Alltag zu ge-
des »Non-­ ben«, sagt Heisecke. »Langfristig führt das bewuss-
doing«: te Stoppen zwischen Reiz und Reaktion dazu, dass
sie ungünstige Reaktionsmuster durchbrechen.«
Es geht
mehr ums Mehr Denken als Handeln
Denken Alexander-Experten sprechen dabei auch gern von
als ums dem Prinzip des »Non-doing«. Heißt so viel wie:
Handeln Es geht mehr ums Denken als ums Handeln. Statt
der tatsächlichen Bewegung lernen Klienten also,
spielerisch mental mit Bewegung und Körperhal-
tung zu experimentieren, durch Berührungs­
impulse die eigenen Bewegungsabläufe zu
­untersuchen und sich gedanklich selbst mehr
wahrzunehmen. Mit der Zeit werden ihnen so un-
günstige Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten
bewusst. Und können, zu-
nächst mithilfe des Lehrers,
später allein abgebaut und
verändert werden.
Die Zahl der wissenschaft-
lichen Studien zur Alexander-
Technik ist bisher überschaubar,
auch wenn erste Arbeiten bereits in
den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts
durchgeführt wurden. Es gibt Hinweise, dass
die Alexander-Technik tatsächlich Rücken- und
Nackenschmerzen verbessern kann und Betroffe-
ne befähigt, besser mit chronischen Schmerzen
umzugehen. »Je öfter Klientinnen und Klienten
die Alexander-Technik anwenden, desto eher kön-
nen sie kons­truktiv mit Stress umgehen, natürli-
cher atmen und sprechen, klarer denken und fast
jede erdenkliche Tätigkeit besser und wirksamer
ausüben«, sagt Heisecke.
Dass die Alexander-Technik tatsächlich heilsam
sein kann, hat die Berlinerin in den 1990er-Jahren
selbst erlebt. Sie studierte damals in London Poli-
tik, Internationale Beziehungen und Wirtschaft
und litt unter extremen Rückenschmerzen. Von
der Orthopädie über die Chiropraktik bis hin zur
Osteopathie versuchte sie alles, nichts half. Selbst
mit mehr Sport wurde es nur schlimmer.
Dann kam die Studentin über eine Mitbewoh-
nerin zur Alexander-Technik, die in Großbritan-

70     G E S U N D LEBEN

Die mithilfe
der Alexander-
Technik über den
eigenen Körper erlangten
Erkenntnisse sollen in den
Alltag mit­genommen werden
nien bereits damals viel verbreiteter war als in
Deutschland. »­ Hätte ich gewusst, wie tiefgreifend
die Veränderungen sind, wie sehr es darum geht,
sich selbst, seine Gewohnheiten, Glaubenssätze
und das eigene Verhalten zu hinterfragen: Ich bin
nicht sicher, ob ich mich drauf eingelassen hätte«,
erinnert sich Heisecke. »Doch aus der Notlage
heraus nahm ich regelmäßig Stunden – und die
Rückenschmerzen gingen komplett weg.«
Seitdem ist das Körpercoaching aus dem Leben
der Sozialwissenschaftlerin nicht mehr wegzu-
denken. Fünf Jahre schon ist sie selbst Alexander-
Lehrerin, unterbrochen nur durch die Corona-
Pandemie. Nun kann die Arbeit mit den Schülern
wieder losgehen und der Austausch unter den Ale-
xander-Therapeuten. Im August 2022 treffen sich
Lehrer, Trainees und Interessierte aus aller Welt
bei einem internationalen Treffen in Berlin. Hei-
secke wird dort einen Workshop und ein Panel zum
Thema »Alexander-Technik und politisches Han-
deln« geben.
Ruhe und Klarheit – auch für die Politik
»Die Alexander-Technik hilft mir nämlich auch in
meiner politischen Arbeit«, sagt Heisecke. »Sie gibt
mir mehr Ruhe und Klarheit, um auf politische An-
forderungen zu reagieren, mehr Raum, um neue Lö-
sungen zu finden, von ausgetretenen Pfaden abzu-
weichen und das große Ganze im Blick zu haben.«
Zudem fördere die Alexander-Technik das Mit-
gefühl. Durch die Praxis weiß Heisecke, wie ver­
unsichernd es sein kann, neue Wege zu gehen und
Gewohntes loszulassen. »Veränderung bedeutet,
entgegen einer lebenslangen Gewohnheit des
­Lebens zu handeln«, zitiert sie F. M. Alexander.
»Wenn sich Menschen, die ich für eine politische
Veränderung gewinnen möchte, zunächst dagegen
wehren, kann ich das dank der Alexander-Technik
gut nachvollziehen«, sagt Heisecke. Und zitiert
noch mal den Begründer: Jeder will es richtig ma-
chen, aber niemand hält inne, um zu überlegen, ob
2
seine Vorstellung von richtig die richtige ist.
HINTERGRUND
Alexander-
Technik
Die in Großbritannien populäre
Methode wird zum Beispiel
gegen Verspannungen oder Rücken-
schmerzen eingesetzt
Was ist das?
Sitzen oder Stehen, Schreiben oder Essen: Viele unse-
rer Alltagsroutinen sind von ungesunden Bewegungs-
mustern, innerer Unruhe oder Anspannung begleitet.
Die Alexander-Technik hilft, sich dieser Haltungen
und Gewohnheiten bewusst zu werden, bevor sie zu
chronisch schlechter Laune, Schlafproblemen oder
funktionellen Störungen führen. Klienten der Alexan-
der-Technik lernen, bei dem, was sie tun, darauf zu
achten, wie sie es tun. So nehmen sie unbewusste
­Gewohnheiten eher wahr, können diese stoppen und
bessere Bewegungsabläufe für sich entdecken. Durch
das bewusste Innehalten will die Alexander-Technik
einen Freiraum schaffen, sich gedanklich neu zu
orientieren. Selbst unter großer Belastung sollen
dann gesündere Bewegungen, ein freier Atem und eine
angenehme Muskelspannung möglich werden. Klienten
sollen ihre natürliche Bewegungskoordination neu
entdecken und lernen, gelassener mit körperlichen
und mentalen Herausforderungen umzugehen.
Für wen eignet sich die Methode? »Die
Die Alexander-Technik kann jeder lernen, unabhängig Technik
vom Alter oder von körperlichen Voraussetzungen.
Besonders häufig wird die Methode von Schauspielern, gibt mir
Musikern und anderen Menschen, die beruflich Prä- mehr
senz zeigen müssen, angewendet. In Großbritannien, Ruhe und
wo sie besonders verbreitet ist, wird die Alexander-
Technik auch in Schulen und an Universitäten gelehrt, Klarheit,
zum Beispiel auf dem Elite-College Eton. mehr Raum,
Wer bietet die Therapie an? um neue
Der Begründer der Alexander-Technik ist Frederick Lösungen
Matthias Alexander. 1869 in Australien geboren, ent-
wickelte der Schauspieler die Methode Ende des
zu finden«
19. Jahrhunderts, um seine zunehmende Heiserkeit zu Karin Heisecke
therapieren. Heute ist seine Technik weltweit bekannt
und auch in Deutschland verbreitet. Wer sie lernen
möchte, kann Einzel- oder Gruppenunterricht neh-
men, der oft themenbezogen ist – etwa für Musiker,
Reiter, Zahnärzte, Golfer, Artisten oder als Methode
für Stressmanagement und Ergonomie am Arbeits-
platz. Eine Einzelstunde dauert 30 bis 50 Minuten.
Wichtig ist, dass die Klienten die Technik von Beginn
an auch im Alltag zu Hause anwenden und umsetzen.
Für eine anhaltend positive Wirkung empfehlen Exper-
ten 20 bis 30 Stunden. Wer die Alexander-Technik selbst
lehren möchte, muss eine dreijährige Ausbildung ab-
solvieren. Weltweit gibt es etwa 3000 Lehrende.
Wer zahlt?
Die Kosten für eine Einzelstunde liegen zwischen 50
und 80 Euro, für den Gruppenunterricht variieren sie
entsprechend der Gruppengröße und Dauer. Eine
Kostenübernahme durch die Krankenkassen erfolgt
nach Einzelfallentscheidung.
G E S U N D L E B E N      71
 Stockkunst namens Fluf fi
Seit mein Vater an Alzheimer erkrankt ist,
macht er »Stockkunst«: Er schnitzt
intensiv an Stöckern und Holzstücken herum.
Dieses Holz hat er im Wald gefunden,
kurz nachdem er die Diagnose bekommen hatte.
Damals haben wir noch mit ihm über
jeden Stock sprechen und jedem einen Namen
geben können. Der hier heißt »Fluffi«.

72     G E S U N D LEBEN
 MENSCH

PAPAS LANGER
Ein Sohn erzählt WEG
Der Vater von Oskar Seyfert erkrankte
mit Anfang fünfzig an Alzheimer – da war sein Sohn elf.
Was das für die ganze Familie bedeutet und wie
sich das Leben veränderte, beschreibt der Teenager hier

VON OSKAR SEYFERT; FOTOS: MARIANNE MOOSHERR

 Vor fünf
Jahren
erkrankte
Hallo, mein Name ist Oskar. Ich Oskar fahren noch richtig reden und ir-
bin 16 Jahre alt. Als ich 11 war, Seyferts gendwann auch nicht mehr rich-
hat mein Vater Alzheimer be- Vater an tig denken können würde.
Alzheimer
kommen. Meine Mutter erzählte uns
Früher waren wir eine ganz einmal, was mein Vater gesagt
normale Familie: zwei Eltern mit hat, als ihm die Testergebnisse
drei Kindern. Eine Familie ohne zu einer möglichen Alzheimer-
große Besonderheiten. Meine El- Erkrankung mitgeteilt wurden.
tern waren beide berufstätig, wir Er soll gesagt haben: »Wenn das
lebten in einem schönen großen mein Schicksal ist, will ich es tra-
Haus, hatten oft Besuch, waren gen!« Wenn das wirklich seine
gesund, glücklich und hatten alles oder fast al- FRÜHER WAREN allererste Reaktion gewesen ist, habe ich wirklich
les, was dazugehört. Wir machten tolle Urlaube WIR EINE allen Grund, stolz auf meinen Vater zu sein. Das
und hatten viel Spaß miteinander. Damals habe NORMALE klingt jetzt vielleicht albern, aber es gibt ja Leute,
ich mich oft gewundert, wie einfach das Leben
FAMILIE. die nach so schlechten Diagnosen depressiv wer-
so ist. Die größte Hürde für mich war damals
DANN WURDE den oder sich sogar umbringen.
MEIN VATER
mein Silber-Schwimmabzeichen gewesen. Auch Das Erste, wenn ich mich an die Zeit nach der
DEMENT. DABEI
mein Bruder und meine Schwester kannten nur Diagnose erinnere, ist, dass mein Vater nicht
WAR ER ERST
kleine Hürden: Sie waren so wie ich gut in der mehr zur Arbeit ging und an einem Abend mit
54 JAHRE ALT
Schule, beliebt, hatten tolle Hobbys und waren meiner Mutter darüber redete, dass er sich un-
immer gut drauf. Eines Tages aber passierte et- wichtig fühlte. Meine Geschwister und ich nah-
was, was unser Leben extrem erschweren und unsere erste rich- men die Krankheit trotzdem nicht so wahr. Zumindest realisier-
tige Prüfung im Leben sein sollte. Mein Vater wurde dement … ten wir nicht so ganz, wie schlimm sie war. Es gab auf jeden Fall
Dabei war er erst 54 Jahre alt. fortan immer mehr Momente, in denen sich mein Vater völlig
Die Zunahme der Vergesslichkeit meines Vaters dauerte ziem- anders verhielt als früher.
lich lange. Es war auch nicht so, dass durch Zufall herauskam,
dass mein Vater dement ist. Schon vor der Diagnose war mein Er vergaß, dass die Söhne zu Besuch waren
Vater zerstreuter als früher. Und ungefähr ein Jahr vor der Dia- Einmal fuhr meine Mutter mit mir und meinen Geschwistern
gnose war es zum ersten Mal so, dass ich meinen Vater irgend- aufs Land in ein Ferienhaus, da wir dort an einem Wochenende
wie seltsam fand. Er stellte mehrmals innerhalb einer halben den Geburtstag meiner Großmutter mit der restlichen Familie
Stunde dieselbe Frage. mütterlicherseits feiern wollten.
Ich weiß noch, dass mein Bruder und ich uns damals über ihn Meine beiden Halbbrüder, seine Söhne aus erster Ehe, kamen
lustig machten. Wir sagten hinter seinem Rücken als Scherz so zu meinem Vater nach Hause, um dort mit ihm die beiden Tage
Sachen wie, dass wir uns auch so zu verbringen. Doch an dem
ein gutes Gedächtnis wie das Ich finde, hier hält Papa das Holz wie eine Krone Morgen, nachdem seine Kinder
von unserem Vater wünschen. über den Kopf. Irgendwie beschützt ihn diese bei ihm angekommen waren,
Dabei lachten wir, ohne zu wis- Krone auch. Vor was, weiß ich auch nicht so genau fuhr er einfach weg. Er fuhr zu
sen, dass das der Anfang der uns, weil er uns überraschen
vielleicht schlimmsten Sache wollte. Er vergaß dabei aber,
war, die jemals in unserer Fa­ dass seine Söhne ja zu Besuch
milie und in unserem Leben zu ihm gekommen waren.
passiert ist. Solche Aktionen häuften sich
Meine Mutter und mein Va- mit der Zeit, und irgendwann
ter hatten schon eine ganze Zeit wurde mir klar, dass diese
vor der Diagnose bemerkt, dass Krankheit sehr viel mehr Ein-
er immer vergesslicher wurde, fluss auf mein Leben haben
weshalb ja mit meinem Vater würde als gedacht. Wir mussten
so ein Test auf Alzheimer ge- zum Beispiel viel sparsamer
macht wurde. mit Geld umgehen. Mein Vater
Ich kann mich heute nicht war auch viel trauriger als frü-
mehr an den Tag erinnern, als her. Er lachte und redete auch
bei meinem Papa Alzheimer dia- viel weniger, als er es vor der
gnostiziert wurde. Ich glaube Diagnose getan hatte.
auch, dass meine Eltern es mir Was sich zudem in den letz-
und meinen Geschwistern am ten Jahren bei meinem Vater
ersten Tag nicht sagten, weil sie änderte, war die Art des Verges-
vielleicht erst mal überlegen sens. Am Anfang unterliefen
mussten, wie es jetzt weiterge- ihm logische Denkfehler. In
hen würde, und erst mal damit einer anderen Phase nach sei-
klarkommen, dass mein Vater ner Erkrankung fiel uns auf,
bald weder arbeiten noch Auto dass er immer leiser wurde 4
74     G E S U N D LEBEN
 Indianerfrau oder
Schweinspfötchen?
In diesem Stock erkennen wir in
meiner Familie ganz viel: Meine Mutter
sieht darin eine Indianerfrau, mein
Bruder ein Schweinspfötchen. Und meine
kleine Schwester findet, wir
sollten den Stock unserem Hund schenken.

G E S U N D L E B E N      75
 Eine Vernissage mit
Papas Kunstwerken
Wir haben aus den 25 schönsten Stöckern
eine Foto-und-Objekt-Ausstellung
für Papa organisiert. Eine Nachbarin kam auf
die Idee: weil er dann einmal Gast
auf seiner eigenen Vernissage sein konnte.
Das war eine sehr coole Feier.
Und mein Vater hatte viel Spaß.
und sich mehr und mehr zurückzog. Er fing an, »Stockkunst« zu wird sie die Pflege meines Vaters irgendwann überhaupt nicht
machen, das heißt intensiv an Stöckern herumzuschnitzen. In mehr bewältigen können.
der Phase fing er dann auch an, so zu vergessen, wie man sich Also jedem, der meint, dass er das alles wunderbar hinkriegt
Vergessen vorstellt: Er verlegte Dinge, fragte mehrmals nach und und seinen Vater oder Ehemann nie in ein Heim stecken würde,
vergaß einfach generell, wie er manches machen sollte, was er möchte ich sagen, dass er sich hundertprozentig irrt!
immer schon gemacht hatte. Es gab in solchen Phasen nur we-
nig, was ihn aufheiterte. In dieser Zeit gab mein Vater auch sei- Er suchte den Hund – und streichelte ihn dabei
nen Führerschein freiwillig ab, weil wir in der Familie dachten, Ich war damals elf Jahre alt. Wir hatten an dem Tag über die
es wäre sehr viel sicherer, wenn er nicht mehr fahren würde. Krankheit geredet, alle zusammen. Und jetzt sah ich meinen Va-
Mittlerweile ist es so bei ihm, dass er sich wegen sehr vieler ter weinen. Er saß einfach da und ließ die Tränen zu. Er ließ zu,
Sachen aufregt. Zum Teil seufzt er einfach, wenn einer im Raum dass er in dem Moment der Verletzlichste im Raum war. Der, der
etwas sagt. Dafür muss er ja nicht verstehen, was gerade das Hilfe brauchte und Zuneigung. Er war total hilflos. Der Mann,
Thema ist. Aber wenn jemand was sagt, guckt er genervt. Ich der immer für mich da sein sollte als eine Art Beschützer, der
glaube, er bewältigt damit seine Situation. Er ist lieber der Ge- Mann, der bis dahin nie geweint hatte.
nervte als der Vergessliche. Ein weiteres Merk- Die meisten meiner Freunde wissen zwar von
mal des Zustands, in dem er sich momentan be- der Demenz meines Vaters, aber ich rede mit ih-
ALS ARZT
findet, ist die Art, wie er spricht. Er bringt nur WUSSTE MEIN nen trotzdem nicht gern darüber. Mit ihnen will
noch halbe Sätze heraus, die zu einem großen Teil VATER ich halt Spaß haben und abschalten. Früher habe
überhaupt keinen Sinn ergeben. ZIEMLICH ich eigentlich nur Fußball gespielt und mich mit
Bald wird es aber noch schlimmer bei ihm sein. GENAU, DASS Freunden bei mir oder bei ihnen getroffen. Ich
Bald wird er nicht mehr lachen können, dann wird ER IM MER treffe mich immer noch mit Freunden, und auch
er irgendwann überhaupt nicht mehr sprechen WENIGER DINGE Sport ist immer noch Teil meines Alltags. Aber
können, noch später wird er nicht mehr laufen WÜRDE MACHEN wenn man einen Vater hat, der, auch wenn er
oder essen können. Er wird all das irgendwann KÖNNEN nichts dafür kann, einen die ganze Zeit beschul-
nicht mehr können. Und digt, ein Werkzeug wie zum
dann, noch viel später, wird Beispiel eine Kneifzange
er wahrscheinlich auch von ihm gestohlen zu ha-
nicht mehr denken können. ben, verliert das Treffen mit
Freunden zu Hause schon
Irgendwann ins Heim ziemlich an Reiz.
Aus irgendeinem Grund, Es hat sich aber auch viel
den ich selber nicht verste- bei meinem Vater verändert.
he, habe ich keine wirklich Er war am Anfang der Krank-
große Angst vor dem Zeit- heit sehr traurig. Als Arzt
punkt, ab dem mein Vater wusste er wahrscheinlich
das alles nicht mehr können ziemlich genau, dass er im-
wird. Ich denke, dass meine mer weniger Dinge würde
Geschwister und ich uns machen können, die er frü-
daran gewöhnen werden,
­ her noch machen konnte.
wenn mein Vater einfach Arbeiten, Auto fahren, hand-
nichts mehr tut. Aber wahr- werkliche Reparaturen, über
scheinlich wird er ja vorher Biologie reden und nachden-
In Papas Hütte im Garten sieht es ähnlich chaotisch aus
in ein Heim kommen. Wir ken. Er kann jetzt viele Din-
wie in unseren Kinderzimmern. Aber wir fühlen uns
werden es daher nicht direkt hier alle wohl. Wenn Papa einen bestimmten Stock sucht, ge überhaupt nicht mehr.
mitbekommen, wenn mein dann kann es dauern, bis wir den finden Ich denke, viel schlimmer,
Vater mit der Zeit immer als dass ich bestimmte Ge-
mehr seine Grundfähigkei- spräche mit meinem Vater
ten verliert. Ich halte es, auch wenn es schlimm klingt, für mög- nicht mehr führen kann, ist es, dass ich mein Vorbild verloren
lich, dass der Tag, an dem mein Vater in ein Heim kommt, nicht habe – und dass ich meinen Vater täglich so traurig sehe.
der schlimmste Tag meines Lebens sein wird. Für ihn wird es Das Schlimme daran ist, dass ich nicht weiß, wie ich es hinbe-
­sicher das Beste sein, da wir alle irgendwann nicht mehr in der kommen könnte, ihn glücklicher zu machen. Angeblich ist das
Lage sein werden, uns um ihn zu kümmern. Gefühl, verstanden zu werden, besonders wichtig, wenn man
Ich denke, dass viele es wahrscheinlich für total unmoralisch Alzheimer hat. Deswegen bemühe ich mich täglich darum und
halten, den Ehemann und Vater in ein Heim zu stecken. Aber sage meinem Vater zum Beispiel, dass ich ihm recht gebe. Das
ich sehe, wie viel Kraft die gegenwärtige Situation von meiner Problem dabei ist aber, dass es echt schwer ist, durchgehend so
Mutter fordert. Für sie ist dies eine der schwersten Zeiten auf ihn einzugehen. Immer häufiger rutscht mir ein »He?«, ein
in ihrem Leben. »Was?« oder Ähnliches heraus.
Sie muss uns Kinder erziehen, arbeitet fünfzig Stunden in der Extrem wichtig ist auch, dass man ihm weiterhin Aufgaben
Woche, macht den Haushalt, passt auf meinen Vater auf und gibt und er so das Gefühl kriegt, immer noch wichtig zu sein.
muss darauf achten, dass sie keinen Burn-out oder so etwas Ähn- Das ist aber auch mittlerweile fast unmöglich, da mein Vater in
liches kriegt. Und wenn das alles immer schwerer für sie wird, den meisten Fällen überhaupt nicht mehr in der Lage ist, 4
G E S U N D L E B E N      77
selbst kleine Aufgaben zu übernehmen. Vor Kurzem streichel- Aber tatsächlich gibt es indirekt positive Folgen, die derzeit
te er unseren Hund und fragte dabei, wo unser Hund ist, da er noch gar nicht so richtig erkennbar sind und einen gewisser-
mit ihm Gassi gehen wollte. Wir sagten es ihm, woraufhin er die maßen privilegieren. Die Krankheit hat mich, meine Mutter und
Leine holen ging. Auf dem Rückweg fragte er wieder, wo der meine Geschwister extrem zusammengeschweißt. Wir haben
Hund gerade ist. Und dann noch einmal. Daran merken wir, dass gelernt, durch unbedingten Zusammenhalt die Lücke zu fül-
er bald nicht mehr in der Lage sein wird, mit unserem Hund spa- len, die die Krankheit meines Vaters verursacht hat. Eigentlich
zieren zu gehen. Ihm das Gefühl von Wichtigkeit bald überhaupt hat fast jeder im Haus momentan mehr zu tun als vor fünf
nicht mehr geben zu können macht mich sehr traurig. Und ihn ­Jahren. Also, meine Geschwister und ich jobben und haben auch
vor allem auch. un­sere Hobbys. Meine Mutter arbeitet deutlich mehr als ­früher,
Ich habe früher immer zu meinem Vater aufgesehen. Ich habe und trotzdem verbringen wir viel Zeit zusammen. Wir reden
seine großartigen Taten bewundert, wie zum Beispiel das Ret- viel über meinen Papa.
ten von Leben bei seiner Arbeit als Arzt, aber habe auch seine Die Gespräche, die wir miteinander haben, sind wichtig, wenn
schelmischen und witzigen Taten geliebt. man in der Familie von einer Krankheit oder
Dieses Vorbild nicht mehr zu haben ist für DIESES einem anderen Unglück getroffen wird. Vielleicht
mich wirklich ein unglaublicher Verlust. Ich glau- VORBILD ist das sogar das Wichtigste bei uns. Man muss zu-
be nicht, dass es je wieder möglich sein wird, die- NICHT MEHR sammenhalten, denn wenn wir das als Familie
se Lücke zu füllen, da ein Vater für sein Kind et- ZU HABEN nicht tun würden, hätte die Krankheit gewonnen.
was Unersetzliches ist. Er ist natürlich nicht weg, IST FÜR MICH Wie wichtig Erinnerungen sind, fiel mir wirk-
aber es ist für mich einfach nicht mehr möglich, WIRKLICH lich vor allem durch die Krankheit meines Vaters
außer bei Erinnerungen an alte Geschichten, EIN UN- auf. Das Erinnern ist so eine Sache, die man als
noch irgendwie zu ihm aufzublicken. GLAUBLICHER selbstverständlich betrachtet, aber dann wert-
Allerdings war da vor Kurzem etwas, was uns VERLUST schätzt, wenn man sie verliert. Ich habe sie na-
alle erheitert hat. Ein Mann vom Buchverlag be- türlich nicht verloren und habe deswegen noch
suchte uns und sah, dass wir in einer Ecke des einige schöne Erinnerungen an ihn.
Hauses einen Tischfußballtisch stehen haben. Er
fragte, ob jemand Lust auf ein Spiel hat, und mein Das geklaute Panini-Heft
Vater sagte Ja. Die zwei gingen an den Tisch, spiel- Ich erinnere mich noch an das Jahr 2014, als ich
ten, und mein Vater gewann. Er war für einige Mi- gerade anfing, mich für Fußball zu interessieren.
nuten unglaublich gut, und ich glaube, dieser Ich sammelte Panini-Sticker zur Weltmeister-
kleine Sieg hat ihm sehr gefallen. schaft in Brasilien und steckte mein ganzes Ta-
schengeld der letzten zwei Jahre in dieses Heft
Unbedingter Zusammenhalt mit den Stickern. Als mir nur noch eine einstel-
Natürlich ist das Leben meines Vaters mit der lige Zahl von Stickern fehlte, wurde unser Auto
Krankheit viel schlechter, als es sein Leben vor- geklaut, und in ihm war mein Heft. Als ich mei-
her war – aber es gab, gibt und wird auch immer nen Papa, der gerade als Arzt in der Dialyse arbei-
wieder schöne Momente geben. Für ihn wie für tete, weinend anrief und ihm erzählte, dass die
die ganze Familie. Diebe jetzt auch mein Heft hätten, sagte er, dass
Beschäftigung,
Im Titel meines Buches steht das Wort »Pri- Neues entdecken – das er jetzt gerade nicht könne und er leider aufle-
vileg«. Mir ist natürlich klar, dass man damit ist die Stockkunst gen müsse.
ein Problem haben kann. Dass viele es wahr- für meinen Papa Das ist jetzt über acht Jahre her, und ich weiß
scheinlich unmöglich finden, dass ich von nicht mehr, wie ich mich damals gefühlt habe;
einem Privileg spreche. Ich müsste lügen, wenn ich behaup- auf jeden Fall kam mein Vater etwa eine Stunde später nach Hau-
ten würde, dass diese Krankheit etwas sehr Tolles ist. Es se – mit Stickern mit einem Gesamtwert von über hundert Euro.
wäre auch gelogen zu behaupten, dass ich, wenn ich die Mög- Er hatte extra seine Arbeit unterbrochen, nur um mir diese Sti-
lichkeit hätte, diese Krankheit verschwinden zu lassen, cker zu kaufen. Ich habe mich extrem darüber gefreut, aber mein
das nicht tun würde. Ja, es stimmt: Diese Krankheit ist alles Vater machte keine große Sache daraus. Er hat das alles auch nicht
andere als schön. besonders kommentiert, sondern nur gesagt, dass die Sticker für

HINTERGRUND

Die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu
erkranken, steigt im Alter stark an. Die
meisten Betroffenen sind über 65 Jahre
alt oder sogar weit darüber. Doch auch
Jüngere kann es treffen: Einzelne Fälle
kommen schon bei Unter-40-Jährigen
vor. Insgesamt aber ist das Risiko vor
dem Rentenalter gering. In der Alters-
gruppe von 45 bis 64 Jahren wird die
Prävalenzrate auf 0,1 Prozent und etwas
drüber geschätzt. In Deutschland wären
demnach mehr als 25 000 Personen von
früh beginnenden Demenzen betroffen.
Gerade weil die Wahrscheinlichkeit einer
Demenzerkrankung bei Jüngeren so nied-
rig ist, werden manche Fälle aber wohl zu-
nächst nicht erkannt. Es kommt vor, dass
Ärztinnen und Ärzte erst einmal Burn-
out oder Depressionen als Ursache von
Persönlichkeitsveränderungen und Ge-
dächtnisproblemen vermuten. Manchmal
dauert es Jahre bis zur richtigen Diagnose.
Experten halten es deshalb für möglich,
dass es eine hohe Dunkelziffer gibt.

78     G E S U N D LEBEN

Aus der Balance
Mit der Zeit der Krankheit
wird die Koordination für meinen
Vater immer schwerer.
Was er anfangs noch leicht
konnte, mit den Stöcken balancieren,
geht heute gar nicht mehr.
Auch schneidet er sich häufiger,
wenn er schnitzt.
mich seien. Schließlich fuhr er rasch wie-
der weg, weil seine Arbeit einfach wich-
tig für ihn war. Aber in diesem Moment
stellte er mich, seinen weinenden Jun-
gen, über die Arbeit und über alles.
Die Briefe an seine Kinder
Von solchen Erinnerungen, die den Cha-
rakter meines Vaters zeigen, hätte ich
gern viele mehr. Ich hätte gern mehr von
ihm erlebt! Aber vor Kurzem erzählte
mir meine Mutter von Briefen, die er am
Anfang der Krankheit an seine Kinder
schrieb. Für mich hat er natürlich auch
einen geschrieben, und ich werde ihn le-
sen dürfen, wenn ich achtzehn bin.
Dieser Brief ist seine letzte Nachricht
an mich. Und momentan treibt mich der
Brief in gewisser Weise an. Er wird mir in
ein paar Jahren noch einmal zeigen, wie
mein Papa war, wie sein Charakter war,
der durch seine Krankheit immer mehr
verblasst, aber er ist immer noch in unse-
ren Köpfen, weil wir nicht seine Krank-
heit haben.
Dafür sollten wir, meine Mutter und
meine Geschwister, dankbar sein, denn
Erinnerungen oder an Erinnerungen
denken zu können ist ein Geschenk, das
meiner Meinung nach viel zu wenig
wertgeschätzt wird!
Ich werde meiner Schwester bei ihrer
Hochzeit den Brief von unserem Papa
vorlesen, dafür, dass sie keinen Vater
mehr haben wird, der sie zum Altar be-
gleitet. Aber das werde ich dann tun.
Überhaupt: Es gibt viele Situationen, in
denen wir dann unseren Papa vertreten
werden. Wie schon gesagt: weil sonst die
Krankheit gewinnt. 2
Oskar Seyfert (Jg. 2006) schreibt
in seinem Buch »Vom Privileg,
einen kranken Vater zu haben«,
wie die Alzheimer-Erkrankung seines
Vaters das Familienleben
veränderte (hier in Auszügen
nachgedruckt).
Westend, 64 Seiten, 12 Euro
G E S U N D L E B E N      79
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Bankinstitut
SEPA-Lastschriftmandat: Ich ermächtige die DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH, Am Baumwall 11, 20459
Hamburg, Gläubiger-Identifikationsnummer DE77ZZZ00000004985, wiederkehrende Zahlungen von meinem
Konto mittels Lastschrift einzuziehen. Zugleich weise ich mein Kreditinstitut an, die von der DPV Deutscher
Pressevertrieb GmbH auf mein Konto gezogenen Lastschriften einzulösen. Die Mandatsreferenz wird mir sepa-
rat mitgeteilt. Hinweis: Ich kann innerhalb von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstat-
tung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Widerrufsrecht: Sie können die Bestellung binnen 14 Tagen ohne Angabe von Gründen formlos widerrufen.
Die Frist beginnt an dem Tag, an dem Sie die erste bestellte Ausgabe erhalten, nicht jedoch vor Erhalt einer
Widerrufsbelehrung gemäß den Anforderungen von Art. 246a § 1 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB. Zur Wahrung der Frist ge-
nügt bereits das rechtzeitige Absenden ihres eindeutig erklärten Entschlusses, die Bestellung zu widerrufen. Sie
können hierzu das Widerrufs-Muster aus Anlage 2 zu Art. 246a EGBGB nutzen. Der Widerruf ist zu richten an:
STERN-Kundenservice, 20080 Hamburg, Telefon: 040-5555 78 00, E-Mail: kundenservice@dpv.de

Die Belieferung soll frühestens ab dem beginnen. (optional) Datum Unterschrift

Anbieter des Abonnements ist Gruner + Jahr Deutschland GmbH. Belieferung, Betreuung und Abrechnung erfolgen durch DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH als leistenden Unternehmer.
 HAUSMITTEL

Knoblauch
Die würzige Knolle soll vor Herz- und Gefäßleiden schützen.
In hoher Dosis ist Vorsicht bei der Kombination mit bestimmten Arzneien geboten

Knoblauch lässt sich auf vielfältige Weise in

die Küche integrieren: Man kann ihn in
Öl oder Essig einlegen, als Aioli, Zaziki oder
Spaghetti Aglio e Olio genießen. Bei
Erkältung: Brot mit Knoblauch einreiben
oder dünne Scheiben drauflegen,
dann mit etwas Honig beträufelt essen

FOTO: JONAS VON DER HUDE ; STYLING: ANKA REHBOCK

DOSIS UND WIRKUNG

Die Tradition: Welche Bedeutung
Knoblauch als Abwehrmittel traditio-
nell zugeschrieben wird, zeigt sich an
seiner Rolle im Aberglauben: Er soll vor
Dämonen und Vampiren ebenso schüt-
zen wie vor dem bösen Blick. In der
Volksmedizin wurde Knoblauch schon
im alten Ägypten, Griechenland und
Rom genutzt und wird es bis heute in
Indien (gegen Diabetes), China oder
Uganda (gegen Schlangenbisse).
Das sagt die Wissenschaft: Knob-
lauch ist eine gut untersuchte Heil-
pflanze mit antibakterieller, antiviraler,
blutdrucksenkender und gerinnungs-
hemmender Wirkung. Er wird einge-
setzt bei Infekten oder zur Vorbeugung
von Alzheimer oder Herz-Kreislauf-
Krankheiten wie Arteriosklerose, Blut-
hochdruck und Herzleiden. Hochdosiert
kann Knoblauch die Wirkung von gerin-
nungshemmenden Medikamenten und
spezieller Antivirusmittel verstärken.
Empfehlenswert und sicher: Knoblauch
in die Ernährung integrieren, ohne zu
übertreiben. Eine erhöhte D ­ osis nur
gezielt bei Infekten oder als Kur ein-
nehmen – im Zweifel nach Rücksprache
mit dem Arzt. Sechs Tage vor einer OP
auf Knoblauch verzichten, um Blutun-
gen zu verhindern. Was jede stillende
Mutter merkt: Knoblauch geht in die
Muttermilch. 2  ANNETTE KERCKHOFF

82     G E S U N D LEBEN
 er kasse
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 E S S AY
Gefährlicher Sog
Millionen Menschen glauben an Verschwörungserzählungen. Viele
geraten immer tiefer in den Strudel, manche setzen ihre
Gesundheit aufs Spiel. Was Angehörige und Freunde tun können
VON KATHARINA NOCUN; ILLUSTRATIONEN: KAVEL RAFFERTY
Glauben Sie an Verschwörungs­
erzählungen? Wenn Sie jetzt sofort
mit »Nein!« antworten, sind Sie dafür
vielleicht nicht so empfänglich.
Allerdings sind die Übergänge
zwischen einer gewissen (und
durchaus gesunden) Skepsis
und echtem Verschwörungsglau­
ben oft fließend: Natürlich denken
viele von uns zu Recht, man müsse etwa mächtige
Lobbyverbände von Pharma- oder Autoindustrie
kontrollieren und ihren Einfluss auf politische Ent­
scheidungen transparent machen. Kaum jemand
würde unterschreiben, dass es besser wäre, vertrau­
ensselig durchs Leben zu schweben.
Doch einige Vorstellungen gehen deutlich über
eine solche rational-kritische Haltung hinaus:
Manche Menschen wähnen sich inmitten einer
Geheimwelt, zu der nur sie Zugang haben, deuten
Ereignisse systematisch als Folge einer Verschwö­
rung, angezettelt durch vermeintlich mächtige
­Eliten, oder misstrauen Forschung und Medizin
so stark, dass sie wirksame Therapien ablehnen
und sich stattdessen »Heilern« oder angeblichen
Wundermitteln zuwenden.
Der Glaube an Verschwörungserzählungen ist
weiter verbreitet, als viele erwarten würden: In
Deutschland glaubte laut einer repräsentativen
Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung schon 2019
– vor Corona – mehr als ein Drittel der Bevölke­
rung, Politiker und andere Führungspersönlichkei­
ten seien nur »Marionetten« dahinterstehender
Mächte. Für Millionen Menschen sind also Ver­
schwörungserzählungen entscheidend dafür, wie
sie die Welt sehen. Menschen wie die Schwester von
Katharina Nocun
ist Wirtschafts- und
Paula (die im echten Leben anders heißt).
Politikwissenschaft­ Paula wuchs mit ihrer Schwester und ihrer Mut­
lerin. In Büchern und ter in einer Kleinstadt im Osten Deutschlands auf.
Podcasts setzt sich Als nach der Wende in den Neunzigern der Eso­terik-
die Publizistin mit Trend aus dem Westen herüberschwappte, machte
Digitalisierung und De- sie sich anfangs keine großen Gedanken. »Bei mei­
mokratie auseinander. ner Schwester habe ich immer gedacht, dass sie für
Im Herbst erscheint
so etwas nicht empfänglich wäre«, sagt Paula. Doch
ihr Buch »Gefährlicher
Glaube. Die radikale aus einer zunächst harmlos wirkenden Begeiste­
Gedankenwelt rung für Anthroposophie und alternative Heilme­
der Esoterik« (mit thoden wurde über die Jahre etwas, das Paula Angst
Pia Lamberty) machte: »Heute glaubt meine Schwester nicht mehr
84     G E S U N D LEBEN
an ›Schulmedizin‹ und fährt total auf Selbstheilung
ab. Als jemand aus meiner Familie eine Psychothe­
rapie machte, reagierte sie mit Sprüchen wie: ›Die
wollen dir in dein Unterbewusstsein reinreden!‹
Später wurde bei ihr eine schwere Krankheit dia­
gnostiziert, bei der sie darauf bestand, sich selbst zu
heilen. Zum Glück hat sie das überlebt. Aber nun
glaubt sie umso mehr an den ganzen Kram.« Heute
fühlt sich Paula ihrer Schwester zunehmend fremd.
Links zu Wundermitteln werden geteilt
Es gibt viele Familien mit ähnlichen Problemen.
Die Behauptung, Wissenschaft und »Pharmalobby«
hätten sich gegen die Menschheit verschworen, ge­
hört seit jeher zum Standardrepertoire dubioser
Heiler. Auch Impfgegnerschaft ist in diesen Milieus
verbreitet. Zahlreiche Wellness-Influencer haben
mittlerweile in das Geraune um einen angeblichen
»großen Plan« hinter Corona eingestimmt. In ver­
schwörungsideologischen Telegram-Gruppen, in
denen man sich in einer »Corona-Diktatur« wähnt,
werden regelmäßig Links zu Wundermitteln geteilt.
Werbung für dubiose Anbieter und Produkte fällt
dort auf fruchtbaren Boden. Eine wissenschaftli­
che Studie kam schon vor Ausbruch der Pandemie
zu dem Ergebnis, dass Menschen mit ausgeprägter
Verschwörungsmentalität häufiger auf esoterische
Verfahren setzen, während sie Insulintherapie, ILLUSTRATION: KAVEL RAFFERTY; STRICHZEICHNUNG: ANJE JAGER/SOOTHING SHADE
Antibiotika oder Schmerzmittel eher ablehnen.
Esoterik und die Idee einer bedrohlichen »Phar­
maverschwörung« bilden eine toxische Mischung.
Was in gesundem Zustand vielleicht noch harm­
los wirkt, kann angesichts einer Krebsdiagnose
oder eines schweren Corona-Verlaufs über Leben
und Tod entscheiden. Wer sich durch einschlägige
Telegram-Gruppen scrollt, bekommt dort mehr als
nur Heilsteine gegen Krebs präsentiert. Die Ver­
teufelung der evidenzbasierten Medizin treibt er­
schreckende Blüten. Bei Hautkrebs wird manch­
mal zu »Schwarzer Salbe« geraten, einer giftigen
Substanz, die krebsartige, aber auch gesunde Haut­
schichten großflächig verätzt und zu dauerhafter
Entstellung führen kann. International sind meh­
rere Todesfälle im Zusammenhang mit solchen
»Behandlungen« dokumentiert.
Oft wird auch Chlordioxidlösung (CDL) empfoh­
len. Die Substanz ähnelt gängigen Industriebleich­

Umwölkt: Verschwörungsglaube macht es oft schwer, zu jemanden durchzudringen
mitteln. Vergiftungssymptome wie Durchfall wer­
den kurzerhand zum Wirkbeleg umgedeutet. Es
wird sogar geraten, Minderjährigen entsprechen­
de Präparate einzuflößen, um Impfstoffe »aus­
zuleiten«. Im Klartext heißt das: Eltern werden
dazu aufgerufen, ihre Kinder mit Industriebleiche
zu vergiften.
Wenn Angehörige zu intervenieren versuchen,
stoßen sie oft auf ein bereits in sich geschlossenes
Weltbild, etwa auf die Vorstellung, dass Journalis­
ten, Wissenschaftler und Pharmaindustrie ohne­
hin ständig Lügen verbreiten würden. Diskussio­
nen verlaufen regelmäßig im Sande oder enden in
Streit. Drastische Behauptungen werden in den
Raum gestellt, oft durch Suggestivfragen wie:
»Könnte es sein, dass Corona von langer Hand ge­
plant wurde?« – frei nach dem Motto: »Ich stelle
doch nur Fragen!« Und Kritik an der eigenen Ver­
schwörungserzählung wird zum Beleg dafür um­
gedeutet, dass man tatsächlich ein ganz heißes
Eisen angepackt hätte. Wer derart überzeugt ist,
den lassen auch Nachfragen wie diese kalt: »Wie
kannst du in Gesundheitsfragen blind auf Tele­
33
Prozent der
Deutschen
zwischen
18 und 97
gram vertrauen, wenn du doch sonst immer be- Jahren
tonst, man solle alles hinterfragen?« halten
Gerade beim Thema Gesundheit werden wahre Politiker für
Schreckensszenarien entworfen: Impfungen wer-
den als »Giftspritze« abgewertet, Kinderärzte des
»Mario­
Mordes bezichtigt. Einwände wie »Folge der Spur netten«
des Geldes!« gelten als wasserdichter Beleg dafür,
dass die Impfstoffhersteller hinter Corona stecken
müssten. Unablässig wird man mit irreführenden
Studien oder fragwürdigen Expertenmeinungen
bombardiert. Entweder wird der Wissenschaft
komplett misstraut (»Traue keiner Statistik, die du
nicht selbst gefälscht hast!«) – oder aber anekdo-
tische Einzelfälle werden höher bewertet als groß
angelegte wissenschaftliche Studien.
Wer mit so einem eingefleischten Verschwö-
rungsgläubigen diskutiert, merkt schnell, dass
manchmal selbst das beste Argument einfach ver-
pufft. Einen Erklärungsansatz, warum das so ist,
liefert die Psychologie: Menschen mit ausgepräg-
ter Tendenz, an ­Verschwörungen zu glauben, nei-
gen zu einem »holistischen« Denkstil. Sie lassen
sich eher von Intuition und dem Blick aufs gro- 4
G E S U N D L E B E N      85
 Manchmal
spielt die
Sehnsucht
nach Ge-
meinschaft
und Zugehö-
rigkeit eine
Rolle

Gehalten: In Kontakt bleiben ist wichtig – auch wenn es viel Kraft kostet

ße Ganze lenken. Ein Mensch mit holistischem tienten munter durch die Sonne. Der Zustand, wenn
Denkstil tendiert dazu, Widersprüche zu ignorie- Anspruch und Wirklichkeit im Widerspruch zuein-
ren, etwa bei angeblichen »Wundermitteln«. Der ander stehen, wird in der Psychologie als kognitive
Kontrast zwischen den eigenen »guten« Erfahrun- Dissonanz bezeichnet. »Dissonanz« kommt aus dem
Hier gibt es gen und dem Fehlen wissenschaftlicher Belege Lateinischen und bedeutet Missklang oder Unstim-
Rat und Hilfe macht schließlich nur einen kleinen Teil des auf migkeit, »kognitiv« bezieht sich auf unsere Denkpro-
• Sekten-Info Nord-
Ganzheitlichkeit ausgelegten Weltbildes aus. Bis zesse und unsere Verarbeitung von Informationen.
rhein-Westfalen • ein Mensch mit einer holistischen Art zu denken Kognitive Dissonanz meint also so etwas wie »wi-
Der Verein im Deut- sein Weltbild umwirft, müssen also sehr viele In- dersprüchliche Empfindungen«. Merken Menschen,
schen Paritätischen konsistenzen auftreten. dass sie sich in so einer Situation befinden, führt das
Wohlfahrtsverband zu Stress und Unbehagen. Das Phänomen wurde
(DPWV) informiert seit Umdeutung der Realität 1957 erstmals vom Sozialpsychologen Leon Festin-
den 80er-Jahren über Für einen Menschen mit eher analytischer Weltsicht ger beschrieben – am Beispiel einer Ufo-Sekte in
religiöse und ideologi-
führt dagegen das Lesen seriöser Studien recht einem Vorort von Chicago. Die von ihm einge-
sche Gemeinschaften
(sekten-info-nrw.de). schnell zu Inkonsistenzen. Er wird daher versuchen, schleusten Forscher beobachteten dort etwas Er-
sich vermeintliche Heilerfolge rational zu erklären. staunliches. Dorothy Martin, eine Dame um die
• Veritas • Und dann vielleicht zu dem Schluss kommen, dass fünfzig, war Anführerin der Gruppe und hatte Dra-
Die Anlaufstelle berät statt des »Wundermittels« eher ein Placebo-Effekt matisches vorhergesagt: Am 17. Dezember 1954 soll-
Angehörige und an­
dere Betroffene sowie
am Werk war. Apropos Inkonsistenzen: Wären die te Gott eine große Flutkatastrophe über die Erde
Fachkräfte persönlich, drastischen Warnungen prominenter Impfgegner bringen. Nur ihre Gruppe sei auserwählt, von Außer-
per Telefon, Mail oder gerechtfertigt gewesen, müsste die Mehrheit der irdischen in Raumschiffen gerettet zu werden.
Videogespräch Bundesbürger längst verstorben sein. Stattdessen Doch dieser Termin – und ein weiterer – ver-
(veritas-beratung.de). spazieren viele rüstige vierfach geimpfte Risikopa- strichen, ohne das etwas passierte. Die Gruppe

86     G E S U N D LEBEN
 wurde unruhig. Irgendwann verkündete Dorothy
Martin, Gott habe nun entschieden, die Erde die-
ses Mal zu verschonen. Laut einer Botschaft, die
sie empfangen habe, sei dies allein der positiven
Energie der Anhänger der Ufo-Sekte zu verdan-
ken, die sich in ihrem Glauben nicht hatten beir-
ren lassen. Während sich daraufhin Menschen mit
lediglich losem Kontakt zur Gruppe enttäuscht
abwandten, war bei überzeugten Anhängern ein
gegenteiliger Effekt zu beobachten: Wer in fester
Erwartung einer Zukunft im All schon seinen
Partner verlassen oder seinen Job gekündigt hat-
te, dessen Glaube schien nach der krachend ge-
scheiterten Prophezeiung paradoxerweise sogar
gefestigt. Fehler einzugestehen kostet offenbar
umso größere Überwindung, je stärker man be-
reits auf die falsche Karte gesetzt hat. Einfacher
scheint es da, mittels Umdeutung der Realität
auf kognitive Dissonanz zu reagieren. Und so ant-
wortete der engere Kreis der Gläubigen geradezu
euphorisch auf die Nachricht, sie allein hätten die
Katastrophe verhindert.
Geschichten eines großen Komplotts docken oft
geschickt an unsere psychologischen Bedürfnisse
an. Sehr gut untersucht ist der Zusammenhang
zwischen dem Gefühl, die Kontrolle über das eige-
ne Leben verloren zu haben, und der Neigung, an
Verschwörungen zu glauben. Der Gedanke, es gäbe
einen geheimen Plan, schafft eine Illusion von
Kontrolle. Gerade in ungewissen Zeiten bieten Ver-
schwörungserzählungen Struktur. Selbst wenn sie
oft apokalyptische Züge tragen, ist dies für Anhän-
ger leichter zu ertragen als pures Chaos. Es droht
eine Spirale: Um neue Ängste – auch infolge der
Verschwörungserzählung selbst – zu kompensie-
ren, gräbt man sich immer tiefer in diesem Kanin-
chenbau ein. Die Protagonisten wähnen sich in-
mitten eines Kampfes von David gegen Goliath.
Im Kern erinnert das an Heldengeschichten aus
Hollywood. Dabei geht es auf psychologischer Ebe-
ne auch um die Aufwertung der eigenen Person,
um das Gefühl, besonders zu sein. Esoteriker und
ILLUSTRATION: KAVEL RAFFERTY; STRICHZEICHNUNG: ANJE JAGER/SOOTHING SHADE
Verschwörungsgläubige sehen sich als Wahrheits-
sucher, die Zugang zu exklusivem Wissen haben.
Dies wiederum knüpft an unser Bedürfnis nach
Einzigartigkeit an. Man gefällt sich in der Rolle,
einer der wenigen zu sein, die »gegen den Strom
schwimmen«.
Erfolg, wenn der andere ins Grübeln gerät
Über die Zeit können Verschwörungserzählungen
einen gefährlichen Sog entfalten: Eine Geschich-
te führt zur nächsten, bis hinter jeder Ecke Ver-
schwörungen lauern. Wer daher als Partnerin,
Freund oder Angehörige früh interveniert, ist klar
im Vorteil. Manchmal hilft schon der Hinweis auf
einen Faktencheck, etwa zum Thema Impfen oder
Corona. Wenn jemand sich allerdings über Mona-
te oder Jahre hinweg in etwas verrannt hat, gilt es,
realistisch zu bleiben. Da kann man es schon als
Erfolg verbuchen, wenn der andere durch gute Ar-
gumente oder Fragen ins Grübeln gerät oder zu-
mindest einräumt, dass die Welt in der jeweiligen
Frage eben doch nicht so schwarz-weiß ist. Der-
artige Interventionen sind ein Marathon und kein
Sprint. Bevor ein Gespräch eskaliert, sollte man die
Diskussion daher lieber vertagen.
Bei stark ausgeprägtem Verschwörungsglauben
raten Beratungsstellen Partnern, Freunden oder
Angehörigen sogar teilweise davon ab, weiter in-
haltlich zu diskutieren. Stattdessen lohnt es zu
überlegen: Warum ist diese Geschichte für den an-
deren so attraktiv? Welche psychologischen Be-
dürfnisse werden hier bedient, und wie lässt sich
dem der Nährboden entziehen? Manchmal spielt
die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Zugehörig-
keit eine Rolle. Wenn es darum geht, mehr als ein
Rädchen im Getriebe sein zu wollen, fehlt es wo-
möglich an Selbstwirksamkeitserfahrungen im »Wir haben in
Alltag. In einigen Fällen flüchten sich Menschen den letzten
auch in apokalyptische Szenarien, um reale Pro­ beiden Jahren
bleme zu verdrängen. Wer in dem Glauben lebt, vermutlich mehr
die »Pharmalobby« plane eine »Bevölkerungsre- Tote durch
duktion«, der kann Beziehungs- und Jobprobleme Desinformation als
einfacher als Bagatelle abtun. Verkehrstote.
Werden die zugrunde liegenden Probleme an- Es braucht dringend
mehr Aufklärung
gegangen, kann der Drang abnehmen, sich in Fan-
über die Denkfallen
tasiewelten zu flüchten. Allein schon das Durch- der Schwurbler.
brechen der ständigen obsessiven Beschäftigung Danke für diesen
mit der jeweiligen Geschichte kann helfen, etwa Artikel!«
indem man einen Tag gemeinsam offline in der
Natur verbringt. Schwelgen in gemeinsamen schö-
nen Erinnerungen verdeutlicht, dass es neben dem
Verschwörungsglauben noch so viel anderes Wich-
tiges im Leben gibt. Eine 180-Grad-Wendung soll-
ten Angehörige angesichts solcher Strategien al-
lerdings nicht erwarten. Ein Patentrezept existiert
nicht. Im Zweifel hilft es, frühzeitig eine Bera-
tungsstelle zu kontaktieren (siehe Seite 86).
Für viele Angehörige fühlt sich die Beschäfti-
gung mit dem Verschwörungsglauben der Liebs-
ten wie ein Kampf gegen Windmühlen an – auch
für Paula: Zu jedem Familientreffen fährt sie mit
einem Kloß im Hals; sie weiß, dass es wieder Dis-
kussionen geben wird, bei denen sie irgendwann
nicht weiterweiß. »Wenn meine Schwester sich ar-
gumentativ in die Ecke gedrängt fühlt, bricht sie
das Gespräch schnell ab«, sagt Paula. »Daher ver-
suche ich mittlerweile, das Thema sanfter anzuge-
hen. Aber schweigen kann ich nicht.« Längst geht
es auch um politische Vorstellungen. Immerzu
glaubt die Schwester, jemand wolle sie manipulie-
ren. Mehrfach hat Paula darüber nachgedacht, den Mit der Sozialpsycho-
Kontakt abzubrechen, es aus Rücksicht auf ihre Fa- login Pia Lamberty
milie aber nicht getan. Diesen Marathon zu laufen hat Katharina Nocun
kostet Kraft, das weiß auch Paula. Eine Abkürzung zwei Bücher über
gibt es leider nicht. Doch der Einsatz lohnt sich. Verschwörungserzäh-
lungen geschrieben:
Denn Verschwörungserzählungen untergraben
»Fake Facts« umreißt
nicht nur unsere Gesellschaft und unsere Demo- das Problem, »True
kratie. Gerade bei schweren Erkrankungen und der Facts« zeigt Lösungen
Frage nach einer sinnvollen Therapie geht es auch auf (Quadriga Verlag,
tatsächlich oft irgendwann um Leben oder Tod. 2 19,90 und 12 Euro)
G E S U N D L E B E N      87
 S P O RT
Der Beckenboden
und ich
Unser Autor Kester Schlenz lernte
erst sehr spät schwimmen.
Protokoll einer Überwindung
VON KESTER SCHLENZ; FOTOS: SEIN ALBUM
»Ich habe mit 52 Jahren mein Seepferdchen gemacht.
Das war aufregend.«
Richtig rein ins Wasser. Mit der gan-
zen Birne. Blickrichtung Beckenboden. Los,
noch mal!« Es ist schon ein bisschen her,
aber ich höre die Kommandos meiner Frau heute
noch. Sie war eine strenge Lehrerin, als sie mir
eines schönen Sommers das Schwimmen bei-
brachte. Und ich war mächtig stolz. Denn ich dach-
te nicht, dass ich es jemals lernen würde – das sanf-
te Gleiten durchs Wasser ohne Panik und Zappeln.
Aber der Reihe nach: Als Kind konnte ich nicht
schwimmen. Man hatte es mir nie beigebracht.
Meine Eltern nicht. In der Schule nicht. Und spä-
ter auch nicht. Ich bin Jahrgang 1958. Damals in
den 60ern war Schwimmunterricht noch keine
Selbstverständlichkeit. Und meine Eltern schie-
nen es auch nicht sonderlich wichtig zu finden,
dass sich ihr Sohn über Wasser halten konnte. Ich
selbst wurde auch nicht aktiv. Also blieb ich – trotz
meines Sternzeichens Fische – ein Nichtschwim- »WENN
mer und mied das kalte Nass, sooft ich konnte, MEIN KOPF
besonders das tiefe Wasser. Denn sobald ich UNTER WASSER
keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, GERIET,SPÜRTE
überkam mich eine Woge der Furcht. Ebenso
wenn mein Kopf unter Wasser geriet. Dann
ICH NUR
zappelte ich bei meinen seltenen Badeversu- NOCH NACKTE
chen schnell wieder in Richtung Ufer. PANIK«
»Unterduckern« war kein putziges Spiel
Aber es gab noch eine Steigerung. »Die Hölle, das
sind die anderen«, schrieb schon Jean-Paul Sartre.
Und er hatte so recht. Am meisten fürchtete ich
das gewaltsame Reindrücken unter Wasser, das so-
genannte Unterduckern. Für die anderen war’s ein
putziges Spielchen – für mich Waterboarding, bei
dem ich Todesängste ausstand. Sie können sich
also vorstellen, dass ich nicht als Schwimmbad-
Dauerkartenbesitzer bekannt war. Ich nahm mein
Nichtschwimmer-Sein stoisch an wie andere De-
fizite meines jugendlichen Daseins: schiefe Zäh-
88     G E S U N D LEBEN
ne (Zahnspangen
waren auch noch
nicht so in Mode)
und eine nicht gerade
beeindruckende Physio-
gnomie. Mit anderen Worten:
Ich war ein schwimmunfähi-
ger Spiddel mit einem zu kleinen
Mund. Der allerdings zur sprich-
wörtlichen »großen Klappe« mutie-
ren konnte. Was mein Körper nicht aus-
strahlte, machte ich verbal gut. Leute zum
Lachen zu bringen erwies sich als gute Kompen-
sation. Und »mündlich« war ich in der Schule
immer gut. Besonders in den »Laberfächern«.
So gingen die Jahre ins Land. Man kam als j­ unger
Mann auch ohne den Besuch von Badeanstalten
ganz gut durch. Strandurlaub vermied ich. War
auch nicht sonderlich schwer. Geld zum Ver­
reisen hatte ich ohnehin nicht.
Meine ersten Freundinnen schwammen
auch nicht sonderlich gern. Sie störte nicht,
dass ich nicht gern in Wasser ging. Aber dann
traf ich die Liebe meines Lebens, mit der ich
jetzt 33 Jahre verheiratet bin. Gesa ist eine
­Bomben-Schwimmerin, war sogar mal in einem
Schwimmverein und krault wie an einer unsicht-
baren Leine gezogen durch Becken, Seen und Mee-
re. Viele Jahre sah ich ihr dabei zu. Meist am Ufer
oder Beckenrand. Gelegentlich gesellte ich mich
kurz zu ihr ins Wasser, planschte ein wenig in Ufer-
nähe herum und verließ dann schnell wieder das
nasse Element, während Gesa kopfschüttelnd wie
ein attraktiver Torpedo davonkraulte.
Wir wurden dann Eltern zweier großartiger Söh-
ne. Beide lernten schnell schwimmen. Dafür sorg-
te meine Frau. Anfangs fiel den beiden nicht auf,
dass nur Mama mit ihnen im tiefen Wasser
schwamm. Ich war für die Unterhaltung im Flachen

zuständig (Bälle werfen und fangen, Mons­
terangriffe in Ufernähe). Aber irgendwann
wurde auch den Jungs klar: Ihr Vater war ein lau­
siger Schwimmer. Na ja, eigentlich gar kein Schwim­
mer, nur eine Art humoristischer Wattwurm. M ­ eine
Familie verspottete mich milde. Ich, der respektier­
te Gatte und Vater – wurde in Schwimmbädern be­
FOTOS: STOCK ADOBE ; GETTY; PRIVAT
handelt wie Opi in der Reha-Gruppe. Das tat weh,
aber die Wasserscheu war stärker.
Dann kam ein Bandscheibenvorfall im Nacken,
viel Krankengymnastik und die immer wiederkeh­
rende Aufforderung, im Rücken und Schulter­
bereich »Muskeln aufzubauen«. Am besten durch
regelmäßiges Schwimmen. Ich erklärte allen The­
rapeutinnen und Therapeuten, dass Schwimmen
bei mir hektisches Zappeln mit über-
strecktem Hals sei, um bloß nicht mit
der Rübe unter Wasser zu geraten.
Daraufhin riet mir natürlich jeder
der orthopädisch Gebildeten vom
Schwimmen ab. Das sei ja nun
wirklich kontraproduktiv.
Aber ich hatte es weiter im Na-
cken, war oft verspannt und steif,
wo ich es nicht sein wollte.
­Muckibuden waren keine Alter-
native für mich, und so haderte
ich mit mir und dem fehlenden
Muskelaufbau. Tja, und dann,
als wieder einmal ein massiger
Masseur schwärmte, wie ver-
dammt klasse die Schwimmerei
nacken-und rückentechnisch sei,
und ich zu Hause davon erzählte,
da sagte meine Frau: »Verdammt, es
reicht. Ich bring es dir bei, das rich-
tige Schwimmen! Gleich morgen
fangen wir an.«
Und widerwillig, aber irgendwie
tief drinnen doch motiviert,
schleppte ich mich mit meiner Gat-
tin am nächsten Abend in ein Frei-
zeitbad. Hatte ich schon erwähnt, dass
ich dieses ganze Aus-und Angeziehe, die
engen Garderobenschränke und die von
­anderen Gästen eingenässten Schlüsselbänder
widerlich finde?
Egal. Gesa war eine perfekte Lehrerin.
Wir ignorierten das Treiben um uns her-
um, suchten uns eine etwas ruhigere Ecke
und begannen mit dem Unterricht:
Schwimmbrille auf, Kopf unter Wasser, aus-
atmen, Kopf wieder hoch, einatmen – und
vor allem ruhig bleiben und nicht zappeln
wie ein Molch. Es hat etwas gedauert, aber
nach ein paar Übungseinheiten schwamm ich
– in meinen Augen – schon so stark wie einst
Michael Phelps bei den Olympischen Spielen.
Gesa meinte dazu nur, ich könne mich ja jetzt
immerhin schon selbstständig über Wasser
­halten. Und das sei ein echter Fortschritt.
Wie eine Robbe apportierte ich den Ring
Jetzt musste das Ganze auch kodifiziert werden.
Ich war echt scharf auf ein Emblem an der Bade-
Wird er es je lernen? hose. Gesa informierte sich also über die Anfor-
Die amüsierte
derungen an das Seepferchen-Abzeichen und re-
Schwimmlehrerin
ferierte: »Also da wären: ein beherzter Sprung
Gesa beobachtet
ihren im Wasser vom Beckenrand mit anschließendem 25 Meter-
zappelnden Gatten Schwimmen in Bauch- oder Rückenlage. Während
vom Beckenrand aus der Bauchlage muss du sichtbar ins Wasser aus-
atmen.« »Kein Problem«, brummte ich. »Sonst
noch was?« »Ja, da gibt es noch das Heraufholen
eines Gegenstandes aus schultertiefem Wasser.
Und die ausreichende Kenntnis der Baderegeln.
Morgen höre ich dich ab.« Dann warf sie einen 4
G E S U N D L E B E N      89
Gummiring ins flache Wasser, und ich
sprang wie eine leptosome, alte Robbe
hinterher und apportierte. Die Theorie-
prüfung am kommenden Tag bestand ich
auch. Ich hatte mein erstes Schwimmab­
zeichen! Wenn auch nur virtuell. Auf der
­Badehose tragen wollte ich es dann doch
­lieber nicht.
Aber nun hatte ich Chlor geleckt. Ich wollte
mehr. Das Freischwimmer-Abzeichen musste
her. Heute heißt das allerdings »Deutsches
Schwimmabzeichen Bronze«. Eisenhart ging ich
jede Woche an zwei Tagen vor oder nach der
Arbeit schwimmen, und nach zwei Monaten zog
ich zwanzig Bahnen durch, als ob ich nie etwas an-
deres gemacht hätte. Aus einem wasserscheuen
Sack war ein veritabler Bahnschwimmer gewor-
den. Also sagte ich zu meiner Frau: »Schatz, bitte
prüfe mich«.
Und so geschah es. Gesa ging streng nach Regle-
ment vor. Ich absolvierte also einen Sprung kopf-
wärts vom Beckenrand und vom Startblock und
schwamm dann tapfer 15 Minuten. »Du musst da-
bei mindestens 200 Meter zurückzulegen«, rief sie
mir zu. »Davon 150 Meter in Bauch- oder Rü-
ckenlage in einer erkennbaren Schwimmart
und 50 Meter in der anderen Körperlage.«
Ich tat, wie mir geheißen. Gesa meinte zwar,
die Schwimmart sei nicht unbedingt klar er-
kennbar, aber sie wolle mal ein Auge zudrücken.
Erschöpft, aber zufrieden stieg ich dann nach
einer Viertelstunde aus dem Becken.
Gesa stand schon da. Wieder mit einem dieser
schweren Gummiringe. »Den«, sagte sie, »musst
du aus zwei Meter Tiefe raufholen.« Ich schluck-
te. Zwei Meter. So tief war ich noch nie getaucht.
Würde mein Körper dem ungeheuren Druck da
unten überhaupt standhalten?
Gesa warf den Ring ins Wasser. Gefühlt dauerte
es mehrere Minuten, ehe er den Grund erreichte.
Ich zögerte. Zwei kleine Jungen beobachteten mich
aufmerksam. Ich glaube, sie wetteten um eine Por-
tion Pommes, ob ich den Job erledigen würde oder
nicht. Scheiß drauf! Ich sprang. Der Ring der Macht.
Da lag er. Der Auftrieb zog mich wieder nach oben.
Aber ich durfte nicht versagen. Nicht vor den bei-
den kleinen Bengeln am Beckenrand. Also tauch-
te ich tiefer. Und es ging. Da! Nur noch wenige
Zentimeter. Dieser Druck! Mein Kopf drohte zu
bersten. Dann hatte ich den Ring erreicht, griff
zu, schoss wieder nach oben, durchbrach die
Wasseroberfläche und stieß mit dem Ring in
der Hand ein Triumphgeheul aus. So musste
sich Sir Edmund Hillary damals auf dem
Mount Everest gefühlt haben.
Ein Mann wie ein »Ist ja gut. Die Leute gucken schon«, sagte Gesa
Baum – sie nannten und sah den beiden Jungs nach, die bereits zum
ihn Bonsai. Autor Imbiss wanderten.
Schlenz verlässt
das Becken, Duschen wie Sandstrahlgebläse
das Seepferdchen
Heute schwimme ich also gern. Ich hätte das nie
ist geschafft
für möglich gehalten. Und ich will Ihnen, liebe Le-
serinnen und Leser, dringend ans Herz legen, es
mir nachzutun. Mediziner, Physiotherapeuten,
Psychotherapeuten – alle empfehlen das Schwim-
men. Man fühlt sich wirklich besser, wird fitter und
»HEUTE nicht fetter und kommt mit einem echt guten Ge-
SCH WIM ME fühl nach Hause, wenn man eine halbe Stunde
ICH GERN. richtig krass durchs Becken gepflügt ist.
ICH HÄTTE DAS Allerdings – und hier schließe ich an meine
obigen Ausführungen an – muss man halt
NIE FÜR ­einige Dinge um einen herum einfach ausblen-
MÖGLICH den. Aber, hey, irgendeinen Haken gibt’s ja im-
GEHALTEN« mer. Ignorieren Sie also das gelegentliche
­Gedrängel und Gewusel, das Kreischen Halbwüch-
siger und das Gepruste und Gegrunze in den
Duschräumen, wenn sich haarige, dicke Männer
einschäumen und säubern. Halten Sie es einfach
stoisch aus, wenn das Wasser aus den Duschköp-
fen sandstrahlartig mit mörderischem Druck
Ihren Rücken rötet.
Und bleiben Sie cool, wenn Sie mit schrulligen
Typen das Becken teilen. Der dürre Fast-Rentner
mit der komischen blauen Schwimmbrille –­
das bin vielleicht ich. Sprechen Sie mich gern an.
Codewort: Seegurke. 2
R ATG E B E R

Schwimmen lernen als Erwachsener

Keine Sorge: Sie sind nicht die oder der
Einzige. Je älter, desto lausiger – so könn-
te man die Schwimmfähigkeit der Deut-
schen zusammenfassen. Eine Studie der
DLRG (Deutsche Lebens-Rettungs-Gesell-
schaft) ergab: 61 Prozent der 14- bis
ab 60 Jahre geben an, sicher schwimmen
zu können. Leider hat auch unter Kindern
der Anteil der sicheren Schwimmer in den
vergangenen Jahren kontinuierlich abge-
nommen. Die Corona-Pandemie hat diesen
Trend noch verstärkt. Viele Städte bieten
Angstabbau,Techniktraining und die ers-
ten Bahnen im tiefen Wasser. »Es ist nie
zu spät, schwimmen zu lernen«, sagt die
DLRG-Schwimmlehrerin Britta Wunder-
lich aus Langenfeld. Wer sich anschauen
will, wie ein Erwachsenen-Schwimmkurs
FOTOS: STOCK ADOBE ; PRIVAT

29-Jährigen bezeichnen sich als sichere
Schwimmer, ebenso 52 Prozent der 30-
bis 44-Jährigen. In der Altersklasse 45
bis 59 sind es aber nur noch 47 Prozent.
Und lediglich 36 Prozent der Befragten
in ihren Schwimmhallen Kurse für erwach-
sene Nichtschwimmer an. Rufen Sie
einfach an, und erkundigen Sie sich. Im
Prinzip sind die Kurse aufgebaut wie die
für Kinder: Es geht um Wassergewöhnung,
abläuft, kann sich im Internet ein Video
auf der Seite der DLRG ansehen (etwa
bis zur Mitte scrollen):
www.dlrg.de/informieren/ausbildung/
schwimmen-lernen

90     G E S U N D LEBEN
 NUR IN DER APOTHEKE

Gut für

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 G E S P R ÄC H

»ICH LEBE IMMER MIT

MEINEN FÄLLEN«
Woran erkennen wir einen Menschen wieder?
Constanze Niess ist Rechtsmedizinerin
und rekonstruiert die Gesichter von Verstorbenen

INTERVIEW: ECKART VON HIRSCHHAUSEN

Constanze Niess braucht Diese Person wies schwerste Brandverletzun-

keine Krimis, sie ist jeden
Arbeitstag ganz nah dran
an echten Verbrechen, an
hässlichen Dingen, Ge-
walt, Niedertracht und
Tod. Niess ist Rechtsmedi-
zinerin am Universitätsklini-
kum Frankfurt. Und einer der wenigen Menschen
weltweit, die dem Tod ein Gesicht geben. Sie ist in
der Kunst des Gesichtmodellierens einer der füh-
renden Köpfe – wenn man das so sagen darf. Vor
Kurzem war sie bei mir zu Gast in »Hirschhausens
Quiz des Menschen« im Ersten. Als ich diese ruhi-
ge und zugleich neugierige Frau erlebte, fragte
ich mich, ob irgendjemand beim heiteren Berufe-
raten je darauf gekommen wäre, dass sie einen
großen Teil ihrer Freizeit freiwillig mit Schädeln
verbringt. Ich fühlte mich bei unserem Gespräch
sehr genau beobachtet, denn ich wusste aus ihrem
Buch »Die Gesichter der Toten«, dass ihr Neben-
gen auf, hatte noch fast einen Tag auf der Inten-
sivstation überlebt, war aber unkenntlich, vor
allem durch die Hitzeeinwirkung. Der Schädel
hatte keine Haare mehr, der Mensch war ent-
stellt. Neben diesen Brandverletzungen hatte
er eine Messerstichverletzung im Bauch, des-
halb kam er in die Rechtsmedizin. Wir haben
uns vor allem auf die Messerstichverletzung
konzentriert, konnten aber rausfinden, dass
diese nicht lebensbedrohlich war, sondern er
letztlich an den Brandverletzungen gestorben
ist. Wir dachten, jetzt ist der Fall gelöst. Aber er
»ICH FÜHLTE konnte nicht identifiziert werden. Die Krimi-
MICH BEI nalpolizei gab mir dann den Auftrag zur Ge-
UNSEREM sichtsrekonstruktion.
GESPR ÄCH Gab es denn keine anderen markanten Merk­
SEHR GENAU male mehr?
BEOBACHTET« Es waren noch ein laienhaftes Tattoo und eine
Operationsnarbe am Fuß zu erkennen, aber die
Eckart von
Kriminalpolizei kam nicht weiter.
Hirschhausen

FOTOS: ARD/WDR HIRSCHHAUSENS QUIZ DES MENSCHEN; BORIS ROESSLER/DPA; CONSTANZE NIESS
beruf ihren Blick verändert hat. Ich kann mir vorstellen, dass ein
Sie achtet bei ihren Mitmen- echtes Foto der Leiche weder an­
schen genau darauf, wie sich sehnlich noch hilfreich gewesen
Augenober- und -unterlid am wäre, um den Menschen wieder­
äußeren Augenwinkel treffen, zuerkennen. Was bringt da eine
wie Hautfalten verlaufen, auf Gesichtsrekonstruktion?
welche Weise die Iris gefärbt ist Mit dem wiederhergestellten
oder wo der Haaransatz sitzt. Gesicht kann die Polizei an die
Alles Dinge, die uns ermöglichen, Öffentlichkeit gehen und auf
jemanden zu erkennen – aber Hinweise zur Identität des Unbe-
weg sind, wenn man nur noch kannten hoffen. Der große Vorteil
einen blanken Schädel vor sich der plastischen Rekonstruktion
hat. ist die Darstellung des Kopfes in
Ihre erste Gesichtsrekonstruk- allen drei Dimensionen. Er wird
tion 2002 war gleich eine wich- dadurch regelrecht greifbar und
tige. Sie sollten einen Menschen lebendig. Dieser Effekt kann bei
identifizieren, der mehrere einer Zeichnung oder Computer-
Zeichen von Gewalteinwirkung animation nicht so erzielt werden.
aufwies: Feuer und Messersti- Im Wort »Animation« steckt ja
Rechtsmedizinerin
che. Und den offenbar niemand vermisste. Es gab Constanze Niess die »Anima«, die Seele, das Wiedererwecken
keine Fahndung. Eine verkohlte Leiche, mehr mit Eckart zum Leben. Hat die künstlerische Form eines Ge­
nicht. Wie geht man da vor? von Hirschhausen sichtes für Sie auch mehr Seele? 4
92     G E S U N D LEBEN
 Der Schädel weist den Weg:
Um ein Gesicht aus Modelliermasse
zu rekonstruieren, orientiert
sich Constanze Niess exakt
an den individuellen knöchernen
Formen des Kopfes

Schlinge, Spatel und Skalpell:

Modellierwerkzeuge wie diese
und Plastilin-Masse auf Ölbasis
verwenden auch Künstler
 Der Mann mit der Hasenscharte
Auf dem Schädel werden zunächst Marker-
Stäbchen platziert. Sie zeigen, wie dick
die Plastilinschicht werden soll
Ja, das kann man so sagen. Mein Eindruck ist:
Wenn das Leben aus einem Körper entwichen
ist, verliert auch das Gesicht seinen individu-
ellen Charakter. Damit man dieses Aha-Erleb-
nis des Wiedererkennens beim Betrachten des
Kopfes hat, braucht es diese verschiedenen
Blickwinkel, und ein bisschen »Fleisch« auf den
Knochen ist wie ein Hauch von Leben.
In der Schöpfungsgeschichte wurde mal mit
einer Rippe, mal mit Lehm gearbeitet. Sie haben
ebenfalls Knochen und Knetmasse zur Verfü-
gung.Wie gehen Sie vor, wenn Sie Ihre Gesichter
erschaffen?
Ich nehme den Schädel als Ausgangspunkt. Er
ist die Basis unseres individuellen Gesichts.
Und dann gibt es nicht nur Erfahrungswerte,
sondern auch wissenschaftlich etablierte Me-
thoden, Datenbanken aus unzähligen anatomi-
schen Vermessungen, sodass ich weiß, wie dick
etwa das Unterhautfettgewebe im Schnitt an
welcher Stelle sein muss. Dann nehme ich den
Schädel, entferne gegebenenfalls noch restli-
94     G E S U N D LEBEN
Schicht für Schicht, Auge um Auge
Mit hautfarbenem Plastilin wird
grob vormodelliert, Glasaugen hauchen
dem Kopf Leben ein
ches Weichgewebe und setze meine eigenen
Marker, das sind solche kleinen Stifte, die mir
die markanten Punkte und Höhen der äußeren
Erscheinung geben.
Sie sind dem Tod nah und auch dem Ton. Die Mas­
se, die Sie da nutzen, erinnert mich an meinen
»EIN Kunstunterricht, in dem ich tausend Tode ge­
BISSCHEN storben bin.
›FLEISCH‹ Mir macht das Freude! Ich arbeite mit Plastilin,
AUF DEN einer Knetmasse auf Ölbasis. Ton ist auf Wasser-
KNOCHEN IST basis, deshalb schrumpft er nach dem Modellie-
WIE EIN ren. Würde ich damit auf dem Schädel arbeiten,
HAUCH VON würde die Rekonstruktion nach dem Trocknen
LEBEN« abbröckeln, und die ganze Arbeit wäre dahin. Plas-
Constanze Niess tilin hat allerdings den Nachteil, dass es weich
und formbar bleibt, sprich, wenn ich da jetzt dran-
komme oder der Kopf herunterfällt, kann die
­ganze Arbeit ebenfalls wieder kaputtgehen.
Welche Rolle spielen die Augen? Einem Schädel
kann man ja ansehen, ob er groß oder klein ist,
ob die Stirn wulstig nach vorne tritt oder eher
»flieht«, aber eine Augenhöhle verrät doch
nichts mehr über unsere Augenfarbe und un­
seren Blick …
Die Augenhöhle verrät schon ein bisschen. Ich
vermesse zum Beispiel genau die Höhe und die
ZUR PERSON
Dr. med. Constanze Niess ist Fachärztin für
Rechtsmedizin und eine führende Expertin für die
Rekon­struktion von Gesichtern. Sie studierte
FOTOS: CONSTANZE NIESS; BORIS ROESSLER/DPA
Medizin in Marburg und arbeitet seit 1996
als Ärztin am Insti­tut für Rechtsmedizin am
Universitätsklinikum der Goethe-Universität
Frankfurt.
Ihre Gesichtsrekonstruktionen historischer
Persönlichkeiten wurden als Exponate in zahlreichen
Ausstellungen gezeigt. 2014 erschien ihr Buch
»Die Gesichter der Toten« (Bastei Lübbe, 256 S.,
16,99 Euro), in dem sie ihre Technik anhand
einer Reihe spannender Fälle erklärt.
 Ein Antlitz entsteht
Anhand von Körpergewicht und Alter wird
ein passendes Gesicht ausgeformt
Breite und platziere die Augen nahezu in der
Mitte. Der Augapfel darf nicht zu tief in der
­Augenhöhle sitzen. Um das einzuschätzen, hilft
mir die obere und untere Augenhöhlenbegren-
zung. Zudem erkennt man am Knochen den
Tränenkanal, da liegt der innere Augenwinkel.
Kann man anhand des Schädels auch wissen, wie
die Nase aussah?
Ja, das Nasenbein gibt uns den Verlauf des Na-
senrückens an der Nasenwurzel vor, die knö-
cherne Nasenöffnung bestimmt die Breite der
Nase. Und wir haben alle so einen ganz kleinen
knöchernen Nasenstachel, der sagt uns, ob die
Nasenspitze nach oben oder unten zeigt. All das
wird vermessen und dann modelliert.
Und die Ohren, ob die abstehen oder nicht, das
sieht man doch nicht am Schädel, oder?
Nein, absolut nicht. Das Einzige, was wir sehen,
ist der äußere knöcherne Gehörgang. Da muss
auch die modellierte Ohröffnung ansetzen. Es
gibt Anhaltspunkte: Die Ohren sind so groß, wie
die Nase von der Nasenwurzel bis zur Spitze
Möglichst neutral
Haare oder Bart werden oft nur
angedeutet, um kein falsches
Bild zu prägen
lang ist. Die Ohrachse ist immer ein bisschen
nach hinten gedreht. Aber wie die Form ge­
wesen ist, das wissen wir nicht, denn das Ohr
besteht nur aus Knorpel, und der verwest.
­Beruhigend zu wissen ist aber, dass Menschen
in der Regel nicht an ihren Ohren identifi-
»FÜR DIE ziert werden.
AUGENFARBE Prince Charles vielleicht. Aber zurück zu den
GIBT ES ­Augen. Die sind doch wirklich relevant für die
TAUSENDE Rekonstruktion!
VARIANTEN« Ja, für mich sind die Augen sehr wichtig, weil
Constanze Niess ich finde, sie hauchen meinen Köpfen Leben
ein. Ich habe lange gesucht, wer solche speziel­
len Augen herstellt, denn die kann ich nicht
selber aus Plastilin machen. Ich habe eine Fir­
ma gefunden, die für lebendige Menschen
­Augenprothesen herstellt, sodass die so le­
Wiederauferste- bensecht wie möglich gestaltet werden. Für die
hung einer Augenfarbe gibt es Tausende Varianten. Man­
Volksheiligen: che haben um die Pupille herum einen dunk­
Bleistiftzeich-
len oder hellen Stern oder einen Ring um die
nung (r.) und
Modell der ganze Iris. Andere haben strahlenförmige
seligen Christina Streifen oder kleine eingestreute Punkte. Zu­
von Stommeln dem wird das Augenweiß speziell bearbeitet:
Es hat, wenn man genauer hinguckt, rote Li­
nien, eine Äderung. Wenn die Personen älter
sind, wird noch Gelb für die Fetteinlagerun­
gen dazugegeben. Die Augen werden also in­
dividuell ausgesucht und bearbeitet, wie bei
einem Glasbläser.
Das heißt, Ihre Augen gucken nicht einfach,
sondern verraten auch etwas über den Lebens­
wandel.
Genau, sie sind einfach lebendig. Ich liebe die
Augen.
Wie sind Sie eigentlich auf diese Kunst ge­
kommen?
Eher zufällig. Ich reise gern und kombiniere das
mit Kongressbesuchen im Ausland. Dabei hat
es sich ergeben, dass ich bei einer wunderbaren
Vorlesung dabei gewesen bin. Und ich habe ge­
spürt: Das will ich ausprobieren. Habe ich dann
gemacht und bin seitdem, seit über zwanzig
Jahren, dabeigeblieben. 4
G E S U N D L E B E N      95
Mal ganz banal: Worin unterscheiden sich männ-
liche und weibliche Schädel?
Eine Frau besitzt einen kleineren und grazile-
ren Schädel, ein schwächer ausgeprägtes Profil,
eine steilere Stirn. Ihr fehlt die Wulst über den
Augenbrauen, und sie hat kleinere Warzenfort-
sätze hinter den Ohren, die man an sich selbst
ertasten kann: Das ist dieser knöcherne Knub-
bel hinter und leicht unterhalb des Ohres, wo
der Kopfwende- oder Kopfnickermuskel an-
setzt. Wenn man den Kopf nach rechts unten
dreht und mit der linken Hand an der linken
Halsseite tastet, spürt man die Vorderkante die-
ses Muskels, der zum inneren Schlüsselbein
zieht. Da dieser wie alle Muskeln bei Männern
meist kräftiger ausgebildet ist, zieht er auch
kräftiger am knöchernen Warzenfortsatz, so-
dass dieser größer ist.
Können Sie auch etwas über die Ethnie heraus-
finden?
Ja, es gibt Hinweise: Ein asiatischer Schädel hat
beispielsweise ein flacheres Profil als der eines
Westeuropäers. Bei einer schwarzen Person sind
sowohl Hinterkopf als auch Kiefer hervortre-
tender, und die Nasenöffnung ist breiter.
Man muss sich dabei immer bewusst machen,
woran wir einen Menschen wiedererkennen.
Verblüffenderweise sind Brille oder Frisur kei-
ne Merkmale, die wirklich wichtig sind.
Aber wehe, wenn wieder keiner merkt, dass der
Partner oder die Partnerin beim Friseur war …
Das gibt natürlich Ärger. Aber woran erkennt
man wirklich eine alte Freundin oder einen
Freund wieder, die man lange nicht gesehen
hat? Eher an den Gesichtsproportionen, der
Stellung von Mund, Auge und Nase zueinan-
der – denn Bart, Brille, Haarfarbe, das ändert
sich ja über die Lebensphasen. Das kann man
gut bei Schultreffen beobachten: Alle haben
Falten, graue Haare, Glatzen, aber wir erkennen
sie p­ roblemlos wieder, weil sich Kopfform und
­charakteristische Anordnung der Merkmale
nicht verändern.
Kriegen Sie eigentlich daheim Ärger, wenn Sie
sich Arbeit mit nach Hause nehmen?
Ich mache das immer zu Hause. Meine Kinder
sind von klein auf daran gewöhnt, und weil ich
das schon über zwanzig Jahre mache, waren die
Köpfe ja auch zuerst da. Ich bearbeite sie zu
Hause, weil ich mich dann dransetzen kann,
wenn ich Muße dazu habe, und nicht zwischen
8 und 18 Uhr im Institut. Die Kinder und ihre
Freunde sind manchmal auch meine Test­
personen. Ich frage zum Beispiel: Findet ihr,
dass er echt aussieht? Schaut er euch an? Oder
ich bitte sie, das Alter der rekonstruierten
­Person zu schätzen: Habe ich ihr zu viele Falten
gemacht?
Eine meiner Skulpturen steht im Archäologi-
schen Museum in Frankfurt, und als ein Nach-
barsmädchen mit der Schule einen Ausflug da-
96     G E S U N D LEBEN
hin machte, sagte sie: ›Die kenne ich, die steht
bei Conny im Esszimmer.‹ Auch wenn ich als
Mutter zweier Kinder nach Feierabend abzu-
schalten versuche, beeinflusst meine Arbeit
mein Leben. Als Fußgängerin stelle ich mich nie
direkt an den Straßenrand aus Respekt vor Lkw-
Fahrern und ihrem Sekundenschlaf. Die Unfall-
opfer liegen oft genug auf unseren Stahltischen.
Für mich gehören auch Messerblöcke nicht in
Küchen. Meiner Erfahrung nach verleiten sie
zu Straftaten.
Kommen wir zurück zu Ihrem ersten bekannten
Fall mit dem Messer im Bauch. Was gab es Mar­
kantes am Schädel?
Der Mann hatte eine Lippen-Kiefer-Gaumen-
spalte, im Volksmund Hasenscharte genannt.
Eine Hasenscharte ist nicht nur optisch mar-
»BRILLE kant, sondern führt, da die Luft durch den
ODER FRISUR Nasenrachenraum entweicht, auch zu einer
SIND KEINE nasalen Sprache, die womöglich jemandem im
MERKMALE, Gedächtnis bleibt.
DIE Werden solche Merkmale dann in der Rekon­
WIRKLICH struktion besonders betont dargestellt?
WICHTIG Ein so markantes Merkmal wie eine Lippen-
SIND« Kiefer-Gaumen-Spalte ist wie ein Sechser im
Constanze Niess
Lotto für die Rekonstruktion, das wird auf je-
den Fall dargestellt. Aber es kommt auch auf
einen stimmigen Gesamteindruck an. Wir sind
gehalten, die wenig oder nicht bekannten
Eigenschaften eines Gesichtes möglichst un-
auffällig zu gestalten, um den Betrachter nicht
in eine falsche Richtung zu lenken, also etwa
Frisur und Haarfarbe. Früher habe ich manch-
mal Perücken verwendet, aber die irritieren
mehr, als dass sie helfen. Wenn ich ein Gesicht
rekonstruiere, gestalte ich manchmal mehrere
Fassungen. Meine erste Version von dem Mann,
mit sehr starkem Doppelkinn, schien mir über-
trieben. Deshalb habe ich mehrere angefertigt.
Ich wusste, dass er etwa Mitte 50 gewesen sein
Historischer musste und übergewichtig. Wegen der Hasen-
Gelehrter: scharte habe ich ihn mit einem Oberlippenbart
Das Gesicht von dargestellt, ein häufiger Weg bei Männern, die
Ortolph Fomann
Narben zu verdecken. Ich bin mir bewusst, dass
dem Jüngeren,
gestorben 1640, ich damit auch danebenliegen kann. Ich stellte
wurde auf ein ihn einmal lächelnd und einmal ernst dar, und
3-D-Modell davon gingen dann Fotoserien in die Öffent-
des Schädels lichkeit.
aufgetragen. Hat sich daraufhin jemand gemeldet?
Der Original-
Schädel sollte
Ja, eine Dame, die ihm ein Zimmer vermietet
zurück ins Grab hatte. Bei ihr war seit Monaten keine Miete
mehr eingegangen, und sie hat sich mehr em-
pört als mitfühlend gemeldet: »Den kenne ich,
der schuldet mir noch so und so viel Miete.« Sie
hatte ein paar Briefe und ein Fotoalbum aufge-
FOTOS: CONSTANZE NIESS
hoben, und ich war natürlich sehr aufgeregt, ob
die Fotos meiner Gesichtsrekonstruktion ähn-
lich sehen würden.
Warum gab es keine Vermisstenanzeige?
Tatsächlich führte die Spur von der Vermiete-
rin zur Schwester des Toten. Sie war mit der 4
 Vorbereitung zur Rekonstruktion:
Mithilfe von Vergleichstabellen, Lineal
und Skalpell werden die weißen Marker-
stäbchen auf die richtige Länge gebracht

Jedes Paar ein Unikat: eine Kiste Augenprothesen

beim Hersteller F.Ad. Müller Söhne in
Wiesbaden. Hier werden die Augen für rekon­
struierte Gesichter individuell gefertigt
 Positioniert und markiert
Um den Tod eines Mannes aufzuklären,
wird sein Schädel per Laser-Wasserwaage
ausgerichtet und mit Markern beklebt
Vermieterin zusammen zur Polizei gegangen
und hatte vom Verschwinden berichtet. Aber je-
der mündige Erwachsene besitzt ein Recht auf
Eigenbestimmung, kann also selbst entschei-
den, wo er oder sie leben will. Folglich hat der
diensthabende Beamte die Angelegenheit nicht
weiterverfolgt und auch keine Veranlassung ge-
sehen, eine Vermisstenanzeige aufzunehmen.
Nur beim Verdacht auf eine Straftat sucht man
nach einem Verschwundenen.
Wie war es, am Ende die Fotos neben Ihre nach-
empfundene Schöpfung zu halten?
Der Moment, in dem die Polizei mir Fotos vor-
legt, ist immer aufregend, und ich bin immer er-
leichtert, wenn meine Rekonstruktion Ähnlich-
keiten mit dem vorgelegten Foto aufweist. Aber
zuerst zeigte die Polizei der Schwester die Bilder
meiner Gesichtsrekonstruktion. Und tatsächlich:
Sie erkannte ihren Bruder wieder! Einige Tage
später brachte mir ein Beamter das Familienal-
bum ins Institut. Auf einem Foto, inmitten einer
Feier, grinste der Mann, dessen Namen ich inzwi-
schen kannte. Er hatte eine kleine, stumpfe Nase
und Grübchen in den Wangen, wenn er lächelte,
genau wie bei meiner Skulptur. Und er trug tat-
sächlich einen Oberlippenbart, der vermutlich
vom Feuer abgesengt worden war.
Wir wissen heute, dass der Mann an seinen
­ausgedehnten Verbrennungsverletzungen ge-
storben ist: Über achtzig Prozent der Körperober-
fläche waren verbrannt und teils verkohlt. Rät-
selhaft blieb die Messerstichverletzung im Bauch
und wieso er bei der Gartenhütte war. Es konnte
kein Bezug zur Hütte hergestellt werden, der Be-
sitzer, der selten dort war, kannte ihn nicht. Auch
die Tatwaffe konnte nicht gefunden werden.
Gibt es einen Fall, der Sie verfolgt hat, weil Sie
dabei einer menschlichen Tragödie nahekamen?
Ich lebe immer mit meinen Fällen. Im Institut
bin ich auch Expertin für Kindesmisshandlung,
und das geht mir als Mutter natürlich sehr nahe,
wenn ich feststellen muss, dass Eltern oft, ohne
es zu beabsichtigen, ihre schreienden Kleinkin-
der geschüttelt haben und dabei die empfind-
lichen Blutgefäße im Hirn tödlich verletzt wur-
den. Auch lebenden Kindern, die ich beurteilen
muss, wurde nicht immer Gewalt zugefügt,
wenn ich gerufen werde – aber die Dunkel­-
ziffer ist hoch.
98     G E S U N D LEBEN
Das fertige Gesicht
Die Rekonstruktion ergab, dass es
sich um einen jungen Mann asiatischer
Herkunft handelte
Das ist leider immer noch nicht jedem bekannt.
Nie, nie, nie Kinder schütteln! Daran erinnere ich
mich auch noch aus meiner Zeit in der Kinder-
neurologie, dass man als Ärztin oder Arzt immer
»SIE HABEN überlegen muss, ob bei Verletzungen eines Kin-
JA OFT NICHT des die Schilderungen zu den Blutergüssen und
GER ADE Befunden passen. Sie haben ja oft im Job nicht
MIT DER gerade mit der Sonnenseite des Lebens zu tun.
SONNENSEITE Anderseits haben Sie durch Ihre Kunst auch die
DES LEBENS Möglichkeit, Köpfe für Museen zu gestalten.
ZU TUN« Was ich an meiner Arbeit liebe, ist diese Mi­
Eckart von schung aus Wissenschaft und Kunst. Einerseits
HIrschhausen bin ich die Ärztin, die sich an Forschungsergeb­
nissen orientiert. Aber bei der Arbeit für Aus­
stellungen geht das auch mehr ins Künstleri­
sche, in die Bildhauerei. Mein allerneuester Fall
ist ein mumifizierter Schädel, der in der Uni­
versität in Mainz gefunden worden ist.
Ein Langzeitstudent?
Nein, es ist wohl tatsächlich eine ägyptische
Mumie, und wir wollen schauen, wie der
Mensch damals ausgesehen haben könnte, vor
geschätzt zweieinhalbtausend Jahren.
Heute gibt es Computer und 3-D-Drucker, war-
Die fehlende Nase: um ist es Ihnen so wichtig, dieses Aussehen mit
Auch wenn der Ihren Händen und viel Liebe zu gestalten?
Nasenknorpel Weil ich finde, dass meine Köpfe durch die plas­
verwest ist,
tische Darstellung als dreidimensionaler Kopf
lässt sich an
knöchernen und insbesondere durch die Augen viel mehr
Fortsätzen die Charakter und Leben haben. Und gerade für die
Form einer Nase Museen ist es viel schöner, eine realitätsnahe,
rekonstruieren. greifbare Skulptur auszustellen. Das bringt ir­
Hier wird gendwie mehr rüber. Ich finde es auch immer
ihre Länge
mithilfe einer
spannend, heimlich die Kommentare der ers­
Schieblehre ten Besucher bei der Ausstellungseröffnung
vermessen mitzuhören. Man merkt, dass sie sich mit dem
Kopf auseinandersetzen und jeder seine in­
dividuelle Vorstellung vom dargestellten his­
torischen Menschen entwickelt. Dadurch, dass
meine Rekonstruktionen nicht hyperrealis­
tisch mit jedem Barthaar dargestellt sind, er­
lauben sie es den Betrachtern, ihre Fantasie
spielen zu lassen – und damit bauen sie eine
FOTOS: CONSTANZE NIESS
kleine Beziehung zu dem verstorbenen Men­
schen auf.
Herzlichen Dank für diesen Einblick in Ihre
künstlerische und ja auch manchmal für
die polizeiliche Tätigkeit ganz entschei-
dende Arbeit. 2
MIT MEHR
LEBENS­ERFAHRUNG
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DER BRIGITTE WOMAN PODCAST

MENO AN MICH Frauen mitten im Leben Gleich reinhören
Das Flüsschen Wakenitz, das bei Lübeck in die Trave mündet, gilt wegen seines
naturnahen und dicht bewachsenen Laufs als »Amazonas den Nordens«

100     G E S U N D LEBEN
 OUTDOOR

GLEITKULTUR
Das gemütliche Rudern im

Kahn befreit von moderner

Hast und unnötigem Streben.

Und jetzt ablegen: Wir folgen

dem norddeutschen Flüsschen

Wakenitz, auch bekannt

als »Amazonas des Nordens«

VON ANDREAS BEERLAGE; FOTOS: ACHIM MULTHAUPT

Hin und wieder tuckert ein Ausflugsschiff vorbei.
Man grüßt sich, denn die Flussmenschen sind freundliche Wesen

Entlang der Wakenitz wurden mehr als 2000 Tier- und Pflanzenarten
4
gezählt. Eine Folge der einstigen deutsch-deutschen Grenze

Unerbittlich brennt die Sonne an diesem heißen
Mittwoch im Mai, und das schon vormittags. Sach-
te schiebt der junge Mann vom Bootsverleih an der
Lübecker Moltkebrücke den Bug des Ruderbootes
vom Steg, und nach ein paar Zügen gleitet es in
südlicher Richtung davon, dem Amazonas ent-
gegen. Nicht dem echten natürlich, der ist laut
Luft­linienrechner 9056,09 Kilometer entfernt.
Doch der Fluss Wakenitz, hier im Zentrum der
Hansestadt noch zum See gestaut und gerade mal
15 Kilometer lang, wird in Tourismusbroschüren
gern und ganz unhanseatisch mit dem Beinamen
»Amazonas des Nordens« beworben. Ob das passt?
Mal schauen.
Nach einigen Zügen nimmt der Kahn Fahrt auf.
»Gerade das gemütliche Gleiten ermöglicht durch
aufmerksames Beobachten besondere Einblicke
und Erlebnisse in paradiesisch anmutender
­Natur«, heißt es in der Wakenitz-Broschüre des
Landesumweltamtes Schleswig-Holstein. Zu-
nächst wird aber eher der Sozialneid getriggert,
denn auf den ersten Kilometern zieht man mit
­seinen knapp fünf Quadratmetern Kunststoffboot
an den gepflegten Gärten der Lübecker Villen in
Uferlage vorbei. Auch nicht schlecht.
VEKTORGRAFIK: SHUTTERSTOCK
Die Entdeckung Lübecks im Jahr 2022
Doch im Gegensatz zum Immobilienbesitzer ist
der Ruderer unabhängig und ungebunden. Er
macht halt, wo er will. Dafür muss er allerdings
erst einmal dorthin kommen. Und dafür hat die
Seefahrt die Navigation erfunden. Google Maps
sagt: einfach immer den Fluss entlang, beim
»­ kleinen See« rechts unter der Eisenbahnbrücke
durch. Dann ist das Ziel, das Kanu-Center in Ro­
thenhusen, eigentlich nicht zu verfehlen.
Das Boot nimmt Fahrt auf, trotz des Gegenwinds,
das Kielwasser gurgelt leise und zieht sich schnur-
gerade Richtung Horizont. Der See verengt sich, LEISE
die Baumkronen beider Ufer berühren sich beina-
he. Es geht dicht am linken Ufer vorbei, mit dem GURGELT
Blick auf weitere Traumimmobilien, dann dreht
der Wind, und die Fahrt wird leicht – bis sachter
DAS KIEL­
Zweifel aufkommt beim Blick auf die beiden mit WASSER
Kupfer bedachten Kirchtürme in Fahrtrichtung.
Irgendwie sehen sie bekannt aus. Ja, sie gehören UND ZIEHT
dem Lübecker Dom. Das Boot ist wieder auf dem
Rückweg.
SICH
Des Rätsels Lösung: Google Maps hat die Insel SCHNUR­
Spieringshorst in seiner Kartenansicht einfach
weggelassen. Wer immer brav am Ufer entlang­ GERADE
rudert, umrundet sie in einer großen Schleife und
fährt somit retour. Der Irrtum sorgt für zusätz­liche
RICHTUNG
HORIZONT
Ein Kajak gleitet
vorbei, die Möwe
zwei Kilometer im Logbuch. Aber egal, ähnliche bewacht das
Schutzgebiet.
Fehlleistungen haben schon ganz andere reisen- Vor Tim-Eike vom
de Entdecker vollbracht. Man denke nur an Ko- Kanu-Center lüf-
lumbus. ten die Turnschuhe
Ein zweites Mal zieht der Kahn nun an der von einer Schüler-
Google weggezauberten Insel vorbei, die seit fast gruppe aus (r.)
430 Jahren bewohnt ist. Hier stand einst ein »Fi-
scherhorst«. Kaiser Friedrich Barbarossa verlieh
der Stadt Lübeck 1188 Fischereiprivilegien für den
Fluss, die bis heute gelten. Die Fischer aber hatten
das ständige Zurückrudern in die Stadt satt und
errichteten sich zunächst Hütten, die »Fischerbu-
den« (im Singular ist es »der Fischerbuden«). Spä-
ter durften sie dann feste Gebäude bauen, eben die
»Horste«, deren Spuren sich heute in regel-
mäßigen Abständen entlang des Flusses
finden. 4
G E S U N D L E B E N      103
Seinen heiß gelaufenen Muskelapparat kann Autor Andreas Beerlage
im Ratzeburger See bei Rothenhusen abkühlen

Diogenes-mäßig wird die Nacht im Fass verbracht.

Der Kanu-Center-Betreiber nennt das »Glamping«
Aufgeweckt von Kuckuck-Quadrofonie geht es mit 4
den ersten Sonnenstrahlen zurück aufs Wasser
G E S U N D L E B E N      105
 Die Wakenitz trug im Mittelalter reichlich Ver-
kehr. »Böter«, wie die Schiffsführer hießen, liefer-
ten Gemüse, Getreide, Baumaterial und Briefpost
aus. Flüsse waren lange Zeit wichtige Lebensadern,
das platte Land mit Sümpfen und Mooren nur be-
grenzt gangbar. Die Barkasse »Zander« pöttert
jetzt vorbei, mit einer Schute voller Holzbohlen
im Schlepptau – ein Gruß an die Geschichte.
FRÜHER
STANDEN Die Natur übernimmt
Endlich kommt die Eisenbahnbrücke in Sicht. Da-
SICH HIER nach übernimmt die Natur. Lichte Auwälder säu-
men das Ufer, Seerosenblätter winken im Wind. Ein
OST UND Kormoran fliegt vorbei wie ein schwarzer Pfeil. Das
WEST Wasser ist klar und lässt tief blicken, geschätzt
1,50 Meter. Es gilt als »mäßig belastet«: In Schul-
WAFFEN- noten ausgedrückt wäre das eine glatte Zwei, denn
völlig rein sind hierzulande nur Gebirgsgewässer
STARREND kurz hinter der Quelle. Schwarzerlen dominieren
GEGENÜBER
Bio-Nackensteak
vom geliehenen
Grill sorgt für ab jetzt das Bild, ihre Stelzwurzeln erinnern an die
Proteinzufuhr.
Passende Lektüre: von Mangroven. Und dieser Baumstamm da hin-
»Drei Mann in ten im Wasser, mit seiner gleichmäßig gekerbten
einem Boot« von Rinde – der könnte glatt ein Kaiman sein.
Jerome K. Jerome Die innige Einsamkeit in der Natur ist aber nicht
von langer Dauer, denn langsam füllt sich das Was-
ser. Kanufahrer überholen, Stand-up-Paddler glei-
ten vorbei, ein kleines Ausflugsschiffchen hupt
sich den Wasserweg frei. Alle grüßen freundlich,
das Flussvolk fühlt sich untereinander verbunden.
Beim ehemaligen Fischerhorst »Müggenbusch«,
heute ein Ausflugslokal, ist Bergfest: Gut sieben
von vierzehn Kilometern sind geschafft. Darauf
einen kräftigen Schluck aus der Wasserpulle. Im-
mer an die Hydrate denken!
Dann nähert sich das Boot der Stelle, an der sich
einst entschied, warum die Wakenitz nie verbaut
wurde und heute als Perle der Biodiversität gilt:
106     G E S U N D LEBEN
Ab der Höhe von Absalonshorst markiert der Fluss
die Grenze zwischen den Bundesländern Schles-
wig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.
Vor 33 Jahren standen sich hier im Kalten Krieg
Ost und West waffenstarrend gegenüber. Auf der
Ostseite wurde ein Streifen von 500 Meter Breite
abgesperrt und sich selbst überlassen. Über einen
Bohlenweg marschierten die Grenzschützer den
Fluss entlang. Wobei sie es noch besser hatten als
ihre West-Kollegen: Die mussten auf manchen
Strecken von Baumwurzel zu Baumwurzel sprin-
gen, um voranzukommen. Wer danebenhüpfte,
versank im Morast.
In den Jahrzehnten, in denen nahezu alle deut-
schen Flüsse den industriellen Bedürfnissen an-
gepasst wurden, verteidigte man hier seine poli-
tischen Überzeugungen. Für Begradigungen war
da keine Zeit. Entlang der gesamten deutsch-deut-
schen-Grenze ist so das »Grüne Band« naturna-
her Landschaft erhalten geblieben. Die Wakenitz
gehört dazu. Nach einer Bestandsaufnahme von
70 Experten zum »GEO-Tag der Artenvielfalt« im
Jahr 1999 fanden sich auf den untersuchten zwölf
Quadratkilometern 2066 Tier- und Pflanzenarten.
Seit den 1990ern wurden auf beiden Seiten zu-
sammen fast 1000 Hektar unter Schutz gestellt. Die
Bäume sprießen urwaldartig, wie sie eben wollen.
Hier wächst eine Weide kraftstrotzend 30 Meter
hoch in den Himmel, dort liegt eine tote, zerbrö-
selte Erle quer und bietet Insektenlarven eine
­Heimat. In den Niederungssümpfen des Ostufers
blühen Schwertlilie und Calla, haust die seltene
Waldschnepfe, baut die winzige Schwanzmeise ihr
Nest, ruft der Pirol, quaken Laub- und Moorfrosch
um die Wette. Außerdem, so schreibt eine Umwelt-
stiftung, besteht »Brutverdacht auch für Ziegen-
melker, Gänsesäger und Wachtelkönig«.
Wobei es ein Irrglaube ist, man blicke hier in
sachter Vorbeifahrt auf völlig unberührte Natur.
Es ist, im Gegenteil, die reinste Kulturlandschaft.
Schon Ende des 12. Jahrhunderts wurde die Wake-
nitz aufgestaut. Der Fluss trieb Mühlräder an, aus
seinem Wasser wurde Bier gebraut, der beliebte
Energydrink des Mittelalters. So entstanden die
großen Feuchtgebiete als Kollateralschaden des
­Alkoholkonsums.
Artenvielfalt aus dem Kalten Krieg
Bei Harbershorst sitzen zwei Männer in Polohem-
den mit Porzellantassen in der Hand am Anleger.
Sie sind mit dem Golfcart die hundert Meter vom
Haus hinunter an den Fluss gefahren. Und die Ers-
ten an diesem Tag, die sich einem freund­lichen
Schwätzchen verweigern: keine Zeit, man sei »im
VEKTORGRAFIK: SHUTTERSTOCK
Stress«. Die Armen … Was der richtige Zeitpunkt
wäre, um die inneren Werte es Ruderns anzuprei-
sen – es ist im Grunde ein völliger Gegenentwurf
zum »Immer mehr, immer schneller, immer gna-
denloser«-Lebensstil, in dem Zeit Geld ist.
Beim Rudern im Kahn fehlt, im Vergleich zur
Fortbewegung in Kajak oder Kanu, das aggressive
 HINTERGRUND

Einstechen ins Wasser. Sanft werden die Ruder-

Reise-Infos
blätter eingetaucht, im runden Schwung durchge-
• Planen •
zogen, dabei sorgfältig und intuitiv ausbalanciert. Auf www.kanu-center.de/
Und der Blick schweift zurück, dorthin, von wo wakenitz findet sich eine
man gekommen ist. Der krampfhafte Fokus auf detaillierte Beschreibung
das, was in der Zukunft liegt, ist dem retrospek­ der Tour auf dem Fluss.
tiven Ruderer völlig fremd. Er schaut nur hin und
wieder über die Schulter. • Rudern •
Der britische Schriftsteller Jerome K. Jerome hat Ein Ruderboot von www.
bootsvermietung-luebeck.
es in seinem 1889 erschienenen Reisebuch »Three
de kostet 40 Euro am Tag.
Men in a Boat« perfekt zusammengefasst: »Rudern Der Anleger ist 35 Minuten
ist so völlig frei von unruhiger Hast und vehemen- zu Fuß vom Hauptbahnhof
tem Streben, die mehr und mehr zum Fluch unse- entfernt.
res 19.-Jahrhundert-Lebens werden.« Es sei »eine
wunderbare Lektion, um Ehrgeiz und Hochmut • Schlafen •
einzudämmen«. Ein weiterer Vorteil des breiten Übernachtung im Camping-
Ruderboots liegt klar auf der Hand: Es fasst ohne fass in Rothenhusen kostet
35 Euro pro Person und
Murren auch die massive Kühlbox. Nacht, Freitag bis Sonntag
Immer schmaler wird der Fluss, gleichzeitig 45 Euro (www.kanu-center.
drängt sich ein fernes Rauschen allmählich in den de). Hier gibt es auch Kanus
Vordergrund. Da steht dann bald die Wakenitzbrü- zu mieten. Das Kanu-Cen-
cke der Autobahn 20 in ihrer ganzen Hässlichkeit. ter ist mit dem öffentlichen
Doch sie zieht schnell vorüber. Langsam ändert Nahverkehr oder den
sich die Uferlandschaft, im Westen sind fette Wie- Wakenitz-Ausflugsbooten
In Lübeck säumen beeindrucken- erreichbar (www.wakenitz-
sen zu sehen, nun stehen Buchen und Eichen am
de Villen das Wakenitz-Ufer schifffahrt-quandt.de).
Fluss, dazwischen stellt ein Rehbock prüfend sei-
ne Lauscher auf. Eine kleine Ringelnatter 4

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fehlung: 1 x täglich den Inhalt eines Beutels in ein Glas mit 150 ml Wasser
geben, durch kurzes Umrühren auflösen und trinken. Stand: Juli 2021
 durchschwimmt das Wasser Richtung Osten, dann
kommt der Zielort in Sicht.
Rothenhusen liegt am Nordufer des Ratzeburger
Sees. Alle übers Wasser kommenden Güter muss-
ten hier früher ausgeladen, vermessen und verzollt
werden. »Stapelzwang« wurde das genannt. Heu-
ES SUMMT, te stapeln sich hier nur noch die Boote des Kanu-
Centers. Und die Gäste in den Stockbetten des
BRUMMT, TI- ­»Wakenitzhauses«, das zum Center gehört. Der
RILIERT UND ­Ruderer aber hat sich ein »Campingfass« geleis-
tet. Ein Sprung noch in den kalten See, dann wird
QUAKT. DIE der Grill angeworfen. Es sei der erste Tag mit
­nennenswerten Mückenattacken, sagt Eike vom
KILOMETER Kanu-Center und zaubert ein Pumpfläschchen
STROMAB Mückenspray aus der Kiste mit vergessenen
Gegenständen. Nach 16 Kilometer Rudern geht’s
VER­FLIEGEN früh ins Fass. Die Schulklasse auf Ausflug ist
­verblüffend leise. Dafür rufen mindestens vier
WIE IM ­Kuckucke um die Wette.
RAUSCH
Mehr als
30 Kilometer die
Wakenitz rauf- und
Sex unter Karpfen
runtergerudert,
im Austausch Am nächsten Tag geht es kurz nach Sonnenauf-
hat Autor Andreas gang aufs Wasser. Schon am Kai ist dichter Flug-
Beerlage verkehr von Reihern, Enten, Gänsen und Grau-
eine Schwiele reihern zu beobachten. Der Fluss zieht kräuselnd
an der Hand nach Norden, überzogen mit einem zarten Film
von Pollen. Multipler Vogelgesang schallt dicht
unter den Baumkronen. Und dann gleitet auch
noch ein Kranichpaar über die Wakenitz, als
Scherenschnitt im flirrenden Gegenlicht. Ab
­diesem Zeitpunkt führt das rhythmische Ein­
tauchen der Ruderblätter zum Abtauchen in eine
Parallelwelt, in der es summt und brummt und
tiriliert und quakt. Die ersten sieben Kilometer
stromab mit leichtem Rückenwind verfliegen
wie im Rausch. Ein »Natural High«, spendiert von
Mutter Natur.
Am Anleger von Müggenbusch schaut ein Paar
verträumt aufs Wasser, die beiden haben hier vor
zehn Jahren geheiratet. Später kommt eine Frau
und wischt mit dem Schwamm das »Geschlosse-
ne Gesellschaft« von der Tafel. Ob’s vielleicht
einen Kaffee gibt? – »Theoretisch ja. Praktisch
nein!« Auf dem weiteren Weg wird ein Angler pas-
siert, der ein riesiges Fisch-Imitat aus Gummi
durchs Wasser zieht. Hier lauern räuberische
108     G E S U N D LEBEN
Hechte und große Welse, sagt er. Benannt sein soll
die Wakenitz aber nach einem anderen Fisch:
»Barschfluss« heiß sie in der Sprache der alten
­slawischen Siedler.
Nicht weit entfernt klatscht es im Seerosenfeld,
zwei mächtige Rückenflossen buckeln hervor. Es
ist ein Karpfenpaar. Ab 18 Grad Wassertemperatur
geraten die Fische in Stimmung, das Tropenwet-
ter ist nicht folgenlos geblieben. Bald kommen
auch schon wieder die Zwillingstürme des Lübe-
cker Doms in Sicht, die schönen Villen, dann der
Bootsverleih. Der Vermieter aber macht gerade
Pause, hat das Gelände verschlossen. Sorgfältig
wird also das Gefährt von eigener Hand vertäut.
Tschüs, Boot! Mit einem Sprung über den Metall-
zaun ist das Amazonas-Abenteuer schon wieder
Geschichte.
Und der Beiname des Flusses: Der geht völlig in
Ordnung. 2
TRAINING
Rudern ist für
alle(s) da
Rudern zählt zu den wenigen Sportarten, die fast
alle Muskelgruppen beanspruchen – Schultern,
Arme, Beine, Bauch, Rücken. Trainiert werden
Kraft und Ausdauer (und damit Herz und
Kreislauf), Koordination, Flexibilität und
Schnelligkeit. Und: Der Sport ist, richtig betrieben,
überwiegend gelenkschonend. Er kann auf Breiten-
sportniveau bis ins hohe Alter betrieben werden.
In einem Gutachten zum Rudersport schrieb der
Sportmedizin-Professor Wildor Hollmann: »Aus
­gesundheitlicher Sicht stellt (…) Rudern eine
empfehlenswerte Sportart dar. Die beiden
wichtigsten motorischen Hauptbeanspruchungs-
formen, Ausdauer (organische Leistungsfähigkeit)
und Kraft (Halte- und Bewegungsapparat),
werden gleichermaßen gefördert.«
Das gilt zuerst einmal für das echte Rudern auf
dem Wasser. Aber auch gute Rudergeräte
im Fitnessstudio sorgen für Kraft und Ausdauer.
Wichtig dabei ist aber, sich den richtigen
Bewegungsablauf zeigen lassen!
Dazu gehört
1) den Rücken gerade zu halten,
2) den Griff entspannt anzufassen und
VEKTORGRAFIK: SHUTTERSTOCK
3) die Schultern nicht zu den Ohren hochzuziehen.
Profi-Tipps für die korrekten Bewegungsabläufe
auf dem Rudergerät gibt Weltmeister Hannes
Ocik, Schlagmann im Achter, bei Youtube:
www.youtube.com/watch?v=KOacKLOpWkI
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 unserer Bewegungen koordiniert, erklärte der
ESSEN MIT NEBENWIRKUNG
Blutstau nicht nur die Schmerzen, sondern auch
die Probleme mit dem Gleichgewicht. Leider ging

Druck im es dem Mann rapide schlechter. Die Ärzte muss-

ten operieren, um das malträtierte Gehirn zu ent-
lasten. Zuerst durchbohrten sie die Schädeldecke

Schädel und ließen über einen Drainageschlauch einen Teil

der gestauten Hirnflüssigkeit ab. Dann frästen sie
ein Stück der hinteren Schädeldecke heraus, um
dem gequetschten Kleinhirn mehr Raum zu
Mitten im Training bekommt ein junger
Sportler erst Kopfweh, dann wird ihm geben. Einige Zeit nach dem Eingriff wurde der
US-Soldat zur weiteren Behandlung in die Ver-
schlecht. Was anfangs harmlos klingt,
einigten Staaten ausgeflogen. Er litt immer noch
endet mit einer dramatischen Operation unter Bewegungsstörungen, unter anderem an den
Augäpfeln, sodass er sich noch einer Augen-OP
unterziehen musste. Sein Fall war so dramatisch,
dass die Ärzte ihn später im Fachjournal »Mili­tary
Medicine« beschrieben.
Was konnte den Schlaganfall ausgelöst haben?
Der Mann gehörte keiner Risikogruppe an, war
weder Bluthochdruck-Patient noch Raucher oder
Der Mann wirkte durchtrainiert und Diabetiker. Allerdings hatte er vor dem Training
kerngesund: 25 Jahre alt, ohne Vorerkran- etwas geschluckt: Um seine Leistung zu steigern,
kungen. Doch an diesem Tag hatte er hatte er zwei Löffel eines »Pre-Workout«-Pulvers
plötzlich neurologische Ausfallerschei- in Wasser angerührt und getrunken – empfoh-
nungen. Er wurde von heftigen Kopf- len war laut Packung ein Löffel. Diese auch als
schmerzen geplagt, die er mit »Stufe 10 »Booster« bezeichneten Nahrungsergänzungs-
von 10« beschrieb – also als kaum auszu- mittel werden fast unkontrolliert im Internet
halten. Sein Gleichgewicht konnte er nicht mehr angeboten und damit beworben, dass sie wach
halten, ihm war übel, und er hatte sich übergeben. machen und während des Workouts helfen, kör-
In die Notaufnahme kam er direkt vom Sport. Sein perliche Grenzen zu überwinden. Oft enthalten sie
45-minütiges Krafttrai- aufputschende Substan-
ning mit Gewichten zen wie Koffein. In die-
hatte er abbrechen sem Pulver fanden sich
müssen. Davor sei alles zudem Kreatin-Mono-
okay gewesen, sagte er, phosphat, das die Mus-
doch im Training habe kel-Regeneration be-
er plötzlich leichte und schleunigt, sowie eine
dann schlimmere Kopf- Stammsubstanz von
schmerzen bekommen. Designerdrogen: Beta-
Am Ende habe er alles Phenethylamin kurbelt
doppelt gesehen und die Ausschüttung anre-
geschwankt. In diesem gender Hormone wie
Zustand hatte er sich Adrenalin und Dopamin
zur Notaufnahme der an. Nach Einnahme der
US-Militärbasis im drei Stoffe wurden
pfälzischen Ramstein schon einzelne Schlag-
Nicole Heißmann geschleppt. Der junge anfälle oder Hirnblu-
ist Ernährungs-­ Mann war nämlich Sol- tungen beobachtet, auch
Expertin beim dat der amerikanischen Todesfälle nach dem
stern. Sie Luftstreitkräfte. Schlucken von »Pre-
schreibt oft
Sofort veranlassten die Workout-Boostern«
über unser
­zwiespältiges Ärzte eine Computer- und Kernspin-Tomografie sind belegt. Beweisen konnten die Ärzte den Zu-
­Verhältnis des Kopfes, außerdem eine Angiografie, ein Bild der sammenhang in diesem Fall nicht, sie halten ihn
ILLUSTRATION: LOTTA WINTER

zu ­Lebensmitteln Blutgefäße. Dabei fiel eine große Blutansammlung
im hinteren Schädel auf, die auf das Kleinhirn
drückte. Der Air-Force-Soldat hatte durch die
Hirnblutung einen »hämorrhagischen Schlagan-
fall« erlitten. Da das Kleinhirn einen Großteil
110     G E S U N D LEBEN
aber für plausibel. Sie regen an, gerade Soldaten,
die oft in einer extremen »Fitnesskultur« leben,
öfter nach solchen Mitteln zu fragen. Der Fall des
Mannes wurde von den Ärzten an die US-Arznei-
behörde FDA gemeldet. 2
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BAH_MT_03.22
 FIT MIT …

… Tomaten
Gevierteilt? Zerhackt? Passiert! Wie frisch vergossenes Blut
färben Tomaten Teller und Küchenschürzen rot.
Dabei sind sie das Gegenteil von gefährlich: Sie sind gesund
VON STEFANIE NICKEL

Eine Prise Salz, etwas
Pfeffer und eine
Boeing 747: Das sind
die besten Zutaten
für einen besonders
leckerenTomatensaft.
Dass der den meisten
Menschen in 10 000 Meter Höhe besser schmeckt
als am Boden, wissen nicht nur Flugbegleiterin-
nen und Flugbegleiter, es ist inzwischen auch wis-
senschaftlich erwiesen. Der niedrige Luftdruck in
der Kabine lässt fruchtige Gerüche und süße, küh-
lende Geschmackseindrücke tatsächlich in den
Vordergrund treten. Und der ansonsten eher wäss-
rige Tomatensaft schmeckt auf einmal so richtig
sonnenreif, aromatisch und frisch geerntet. Wie
es sein soll.
Für den optimalen Genuss hier unten auf der
Erde ist vor allem die Jahreszeit entscheidend. Als
Früchte des Südens lieben Tomaten Sonne und Wär-
me. Deshalb schmecken sie im Sommer nicht nur
am besten, auch ist ihre Auswahl jetzt am größten.
Rot, gelb und orange leuchten sie auf dem Wochen-
markt, sie heißen »Ochsenherz«, »Lukul-
lus«, »Red Zebra« oder »Deutscher
Fleiß«. Weltweit soll es mehr als 10 000
verschiedene Sorten geben.
Die Urheimat der Tomaten liegt in
Mittel- und Südamerika. Die spani-
schen Eroberer nahmen die »Tomatl« der Azteken
im 16. Jahrhundert mit nach Europa. Dort hießen
besonders die Italiener sie auf das Herzlichste will-
kommen. Das älteste überlieferte neapolitanische
Rezept für »Tomatensauce nach spanischer Art«
stammt aus dem Jahr 1692.
Bei uns im Norden kam die Tomate erst Anfang
des 20. Jahrhunderts so richtig an. Heute ist die
­leckere Rote aus der Familie der Nachtschatten­
gewächse – die botanisch gesehen eine Beeren-
frucht ist – auch aus der deutschen Küche nicht
mehr wegzudenken.
Zumal sie auch für die Gesundheit einiges
zu ­bieten hat. Tomaten bestehen zu 94 Prozent
aus Wasser und belasten uns deshalb mit gerade
mal 17 Kilokalorien je 100 Gramm. Außerdem
enthalten sie Vitamin C, Kalium und Ballaststof-
fe. Dazu kommen gelbrote Pflanzenfarbstoffe,
die sogenannten Carotinoide, darunter Beta-Ca-
rotin und Lycopin. Studien zeigen, dass Lycopin
unsere K ­ örperzellen schützt und damit das
Schlaganfallrisiko senken kann. Außerdem kann
es das Risiko für bestimmte Krebserkrankungen
schmälern. Lycopin wird vom Körper übrigens
sogar besser aus gekochten und verarbeiteten
Tomaten aufgenommen als aus rohen.
Beim Einkaufen gilt deshalb für
rote Sorten: Je intensiver die Far-
be, desto besser.2

DAS KÄLTE­
EMPFINDLICHE 1. Meister sind
die Roten
Tomaten sind das
2. Saison ist
fast immer
Die meisten
3. Raus aus dem
Kühlschrank
Frische Tomaten
4. Eigenwillige
Nachbarn
Tomaten geben das
LIEBLINGS­
mit Abstand be- unserer Tomaten sind kälteemp- Reifegas Ethylen
GEMÜSE MIT
FOTOS: IRINA MELIUKH/STOCKFOOD;

liebteste Gemüse beziehen wir aus findlich. Sie ab. Daher verdirbt
BESONDERER der Deutschen und Holland. Weitere sollten daher Obst in ihrer Nähe
AUSSTRAHLUNG machen mehr als Importe kommen aus nicht im Kühl- schneller. Man
ein Viertel des Spanien, Belgien schrank, sondern kann diesen Effekt
MAURITIUS IMAGES

gesamten Gemüse- und Marokko – das bei Zimmertempe- aber auch ausnut-
verbrauches aus. ganze Jahr über. ratur aufbewahrt zen, um etwa das
Jahres-Pro-Kopf- Bei uns wird nur werden – am Nachreifen von
Verbrauch: circa von März bis De- besten an einem harten Kiwis zu
30 Kilogramm. zember geerntet. dunklen Platz. beschleunigen.

112     G E S U N D LEBEN
5. Gesund bis
ins Mark
Der besonders
6. Hoch konzen-
triert
Durch das Ein­
7. Aroma-Booster
Zucker
Geben Sie zu
8. Auch in Grün
unbedenklich
Tomatenpflanzen
wertvolle Inhalts­- dicken lassen sich Tomatengerichten enthalten den
stoff Lycopin in eine 200-Gramm- ruhig eine kleine Pflanzenschutz-
ist hitzestabil Tube Tomatenmark Prise Zucker. stoff Tomatin. In
und bleibt auch etwa 1,5 Kilo Dadurch können den reifen Früchten
bei der Verarbei- frische Tomaten Sie das typische ist er kaum mehr
tung erhalten. quetschen. Das Aroma der Tomate enthalten. Von den
Deshalb sind Konzentrieren unterstreichen nicht ausgereif-
Tomaten als Soße, verstärkt Aromen, und den Säurege- ten grünen sollte
Saft, Mark und aber auch Nähr- schmack etwas man aber nicht zu
Suppe gesund. und Wirkstoffe. abpuffern. viele essen.
 MORGENS
Feines Zusammenspiel:
Zitrone und Ingwer
unterstreichen das Aroma
der Tomaten. Perfekt zu
Käse oder als Dip
Vegan!
TOMATEN MARMELADE
• Zutaten für 6 Gläser • 1200 g Tomaten,
500 g Gelierzucker 2:1, 2 EL Zitronensaft,
2 TL Ingwer, Salz
1. Die Tomaten waschen, die Schale kreuzweise
ein­schneiden. Tomaten kurz in einen Topf kochendes
Wasser geben. Herausnehmen, mit kaltem Wasser
abschrecken und die Schale abziehen.
2. Tomaten halbieren, den Strunk entfernen und
das Fruchtfleisch grob würfeln. Dann mit Gelierzucker,
Zitronensaft sowie Ingwer in einem großen Topf
vermischen und etwa 30 Minuten ruhen lassen.
3. Die Tomatenmischung unter Rühren aufkochen und
6 bis 7 Minuten sprudelnd kochen lassen. Marmelade
sofort randvoll in sechs sterile Marmeladengläser (circa
250 ml) füllen. Verschließen und auskühlen lassen.
Die Tomatenmarmelade kühl aufbewahren.
114     G E S U N D LEBEN
MITTAGS
Der Sattmacher aus der
Küche des östlichen
Mittelmeerraums überzeugt
mit würzigem Gemüse
und pochierten Eiern
SCHAKSCHUK A VOM BLECH
• Zutaten für 4 Portionen • 2 rote Paprikaschoten,
1 Zwiebel, 2 Knoblauchzehen, 3 EL Olivenöl,
2 EL Tomatenmark, 2 TL Kreuzkümmelpulver,
1 EL Paprikapulver, ½ TL Chiliflocken, 1 EL Zucker, Salz,
FOTOS: GREAT STOCK/STOCKFOOD; ZS VERLAG/NEUBAUER/STOCKFOOD;
Pfeffer, 1 kg Tomaten (Dose), 8 Eier, 2 Stängel Petersilie
1. Backofen auf 180 °C Ober-/Unterhitze vorheizen.
Paprikaschoten putzen und würfeln. Zwiebel und
Knoblauch abziehen, würfeln. Olivenöl in einer Pfanne
erhitzen. Zwiebel, Knoblauch und Paprika darin
ca. 5 Minuten braten. Tomatenmark, Gewürze und
PHOTOCUISINE/STOCKFOOD; F1-ONLINE
Zucker unterrühren, salzen und pfeffern.
2. Tomaten mit Gemüse-Mix in eine Form (ca. 25 × 35 cm)
geben. Im Ofen etwa 20 Minuten garen. Herausnehmen
und mit einem Esslöffel acht Mulden in die Masse
drücken. Eier aufschlagen und jeweils in Mulden geben.
Schakschuka mit Alufolie abdecken und weitere 20 Mi­
nuten backen, bis die Eier gestockt sind. Mit gehackter
Petersilie bestreut servieren.
 ABENDS
Die cremig gefüllten
Tomaten schmecken warm
oder auch abgekühlt auf
Salat. Die Zubereitung
ist überraschend einfach

POCHIERTE TOMATEN
MIT BURR ATA-FÜLLUNG
• Zutaten für 4 Portionen • 8 Tomaten (gelb, rot),
1 Knoblauchzehe, 1 Sternanis, 2 Nelken, 2 Stängel Rosmarin,
750 ml Gemüsebrühe, Salz, Pfeffer, 200 g Burrata,
1 EL Olivenöl, 1 EL Schnittlauchröllchen,
¼ TL rosa Pfefferbeeren, ¼ TL Chiliflocken
1. Tomaten kreuzweise einschneiden, mit heißem
Wasser übergießen, ziehen lassen und kalt abschrecken.
Dann die Schale abziehen.
2. Knoblauch schälen und hacken. Mit Anis, Nelken,
Rosmarin und Brühe in einem Topf aufkochen. Fond mit
Salz und Pfeffer würzen. Tomaten zufügen, vom Herd
nehmen und 6 bis 7 Minuten ziehen lassen.
3. Tomaten aus der Brühe heben, abtropfen lassen.
Burrata in kleine Stücke zupfen, mit Olivenöl, Salz und
Pfeffer vermischen. Von den Tomaten den Deckel
abschneiden und die Früchte aushöhlen. Burrata in die
Tomaten füllen, mit Schnittlauch, Pfefferbeeren und Chili
garnieren. Mit etwas Sud beträufelt servieren.
 TAGT R Ä U M E

Erinnerungen
Wiese. Blumen. Blauer Sommerhimmel. Als wir Kinder waren, konnte dies ein
Abenteuerspielplatz sein. Erinnerungen an früher steigen empor:
Barfuß-Leben. Freiheit. Neugierde. Horch, wer brummt denn da? Und da,
ein Grashüpfer! Und schau mal, ihhh, eine Spinne! Biene Maja,
Willi, Flip und Thekla – in dieser Landschaft hättet ihr euch wohlgefühlt.
An was denken Sie heute? An Heuschnupfen? An Rasenmähen?
Oder vielleicht an die Sehnsucht nach Unbeschwertheit und Leichtigkeit?
FOTOS: TINE POPPE/INSTITUTE

Schließen Sie für einen Moment die Augen. Spüren

Sie die Wärme dieses Tages? Hören Sie das Zirpen der Zikaden?
Eine Einladung zum Innehalten in drei Bildern

FOTOS: TINE POPPE

G E S U N D L E B E N      117
Was macht Eckart?

Live auf Tour

5./6.9. Halle/Saale
Weitere Termine und
mehr Infos: www.
hirschhausen.com/
tour/alle-termine.php

TV
Immer mittwochs:
»Wissen vor acht –
Erde«. Das Erste,
19.45 Uhr. Alle Folgen
sind auch in der ARD-
Mediathek zu finden
30.7. »Hirschhausens
Quiz des Menschen«,
Das Erste, 20.15 Uhr
25.7. bis 12.8. »Team
Hirschhausen«,
Das Erste, werktags
15.10 Uhr, neuer Nach-
mittags-Talk mit
Eckart und Gästen

Buch
Am 20. Juli erscheint
Eckart von Hirsch­
hausens aktuelles
Buch »Mensch, Erde!
Wir könnten es so
schön haben« als
Taschenbuch. dtv,
528 Seiten, 15 Euro

Social Media

FOTO: MARINA ROSA WEIGL ; GETTY IMAGES/EYEEM; STRICHZEICHNUNG: ANJE JAGER / SOOTHING SHADE
TREFFPUNKT
GESUNDE
ERDE – GESUNDE
MENSCHEN
»Spaziergänge durch den Wald sollen ja
sehr gesund sein. Aber was, wenn der
Wald nicht gesund ist? Darüber spreche
ich mit Peter Wohlleben, Oberförster
der Nation, der mich dahin mitnimmt,
wo man den Wald vor lauter Bäumen
nicht sieht. Er zeigt mir, welche
Schädlinge hinter der Rinde lauern und
was wir Menschen damit zu tun haben.
Und ich lerne, warum Bäume die
›Schweißdrüsen‹ von Mutter Erde sind
Eckart und »Gesunde
Erde – Gesunde

und uns enorm kühlen.«

Menschen« finden sich
auch auf Instagram

122     G E S U N D LEBEN
NEU!

GEO Bildband „DIE ERDE VON OBEN –

EIN NEUER BLICK AUF DIE WELT“
Mehr als 4 Millionen Mal verkaufte sich die erste
Auflage von „Die Erde von oben“, das große Werk
des Fotografen Yann Arthus-Bertrand, weltweit.
Nun erscheint der Bestseller erstmals in neuem
Format, durchgängig umweltfreundlich gedruckt,
mit bisher unveröffentlichten Texten und mehr als
150 neuen Motiven. Mit einem ungewöhnlichen
Blick auf unsere einzigartige Erde regt dieses
fantastische Porträt aus der Vogelperspektive zur
Besinnung und zum Nachdenken an. Eine Welt,
die sich im ständigen Wandel befindet, gespiegelt
in den großen aktuellen Themen unserer Zeit:
Weltbevölkerung, Flucht, Nahrungsknappheit,
neue Technologien, verantwortungsvolle Ökono-
mie, Biodiversität und den engagierten Einsatz der
Jugend für den Klimaschutz.

Maße: 22 x 28,5 cm, ca. 432 Seiten

Best.-Nr.: G729350
Preise: 39,90 € (D)/41,10 € (A)/43.90 Fr. (CH)

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