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Eduardo Frei - Eine Alternative zu Fidel Castro?

Wirtschaftliche und soziale Aspekte des chilenischen Regierungsprogramms

Prof. Dr. Franz-Josef Hinkelammert, Santiago de Chile

Nach den Parlamentswahlen in Chile vom 7. Merz 1965, die mit einer überweltigenden Mehrheit
für die Partei des christdemokratischen Presidenten Eduardo Frei endeten, ist Chile wie schon
einmal nach dem 4. September 1964, als Frei die Presidentschaftswahlen gewann, in den Blick-
punkt der WeltoffenHichkeit gerückt. Frei, dessen Programm sich zwar christdemokratisch nennt,
dosaber Züge oufweist, die in Europa als .Iinks· angesehen würden, besitzt die Zustimmung
eines überwiegenden Teiles der Bevolkerung seines landes und kann dementsprechend mit voller
Kraft an die Verwirklichung der wirtschaftlichen und sozialen Reformen herangehen, die, sollten
sie gelingen, Chile zu einem Gegengewicht zu dem an Ausstrahlungskraft noch immer starken
Kuba Fidel Castros werden lassen konnten.

ie ehristdemokratisehe Partei Chiles ist in ihrem Ein interessantes BeispieI für diese Wandlung kann
D Kern eine bürgerliehe Partei, die sieh von den tradi- die konservative Partei abgeben. Traditionell vertritt
tionellen bürgerliehen Parteien Chiles vor allem da- sie die Interessen des GroBgrundbesitzes. SoIange
dureh unterseheidet, daB sie - wenn man einmal die- die Mogliehkeit des Wahlzwanges auf dem Land groB
ses Wort benutzen will - industrialisierungsbewuBt war, setzte sieh ihre Wahlerzahl vor allem aus
ist. Ihr Ziel ist, das Land, das wirtsehaftlieh und so- Landarbeitern und Kleinbauern zusammen, die sie
zial zurückgeblieben ist, zu entwi.ck.eln. Zum Un ter- natürlieh nimt vertrat. Mit der modernen Entwicklung
schied von den tracLitionellen bürgerliehen Parteien sank daher ihre Bedeutung auf dem Land fast vollig,
aber weiB sie, daB diese Aktivierung nieht einfaeh und die Vertr,etung der Laooarbeiter und Bauern
eine Angelegenheit des Kapitals und der Investitio- teilt sieh heute zwiseh'en der Volksfront und den
nen ist, sondern die soziale Integration der übrigen Christdemokraten.
Volksgruppen, vor allem der Arbeiter- und Bauern-
sehaft, voraussetzt. Sie hat sieh daher mit ihrem Pro- Eine ahnliehe Entwicklung setzte überall ein. Erste
gramm an diese Volksgruppe gewandt, und es ist ihr Sehritte dazu stellten die demagogisehen Sammlungs-
dadureh gelungen, eine Volkspartei zu werden. Mit bewegungen rein personalistiseher Art dar, die sich
diesem Ansatz ist sie zur groBten Massenpartei Chiles um einen "Caudillo" gruppierten und mit dem Ver-
geworden, groBer aIs die kommunistisehe oder die sehwinden dieses Volksführers wieder untergingen.
sozialistisehe Partei. Sieentstand gleiehzeitig in einem Aber die heutigen Massenparteien der Volksfront
Moment, in dem erstmals moderne Massenparteien und der Christdemokraten sirrd nieht mehr Samm-
das politische Bild Chiles bestimmten. Man erkennt Iungsbewegungen dieser Art, sondern strukturierte
dies sehon an der Entwicklung der Wahlerzahl, die Parteien, die sieh um ein Programm herum bilden und
der demographisehen Explosion Lateinamerikas ahn- nieht mehr im gleic:hen MaBe von Führerpersonlieh-
¡ieh ist. Sie erfolgte aber wesentlieh sehneller, und keiten abhangig sin<!. Diese Entwicklung ist inzwi-
standig wurden neue Volkskreise in den WahlprozeB sehen in Chile weiter fortgesehritten als in irgend-
hineingezogen. In den letzten drei Prasidentsehafts- einem anderen lateinamerikanisehen Land.
wahlen konnen wir jedesmal eine Verdoppelung der Das Programm einer solmen Massenpartei ist natür-
Wahlerzahlen feststellen, in der Jetzten fast eine Ver- lieherweise anders als das Programm von Honoratio-
dreifaehung. Parallel dazu entwickelte sieh die Wahl- renparteien, die lediglieh eine einzelne Volkssehieht
freiheit. Zunehmend sind Wahlbesteehung un<! Wahl- gegenüber anderen Volkssehiehten vertreten. Die Ho-
zwang fortgefallen, die früher geradezu entseheidend noratiorenpartei behandelt das Volk als Objekt, für
waren für den Ausgang von Prasidentsehaftswahlen. das man etwas tun muB. Und die traditionellen Par-
teien haben in diesem Sinne sieher für das Volk
Die traditionellen Parteien waren dieser Entwicklung mehr getan, als man in der ehilenisehen Offentlieh-
nieht gewaehsen. Sie sind Honoratiorenparteien, die keit heute zuzugestehen geneigt ist. Aber sie haben
ihre Bedeutung nur bewahren konnten, solange das gerade dort versagt, wo es darum gegangen ware,
Bürgertum in der Wahl praktiseh unter sieh war. das Volk zum SubJekt werden zu Iass,en.
Diese Bedeutung ging verloren, als sieh die Wahlen
in Massenwahlen verwandelten. Die Auseinanderset-
zung zwisehen den Christdemokraten und der tradi- DIE HAUPTZIELE DES REGIERUNGSPROGRAMMS
tionellen Reehten sollte daher nieht einfam als ein
beliebiges Intrigenspiel verstanden werden. Es han- Das Regierungsprogramm der ehristdemokratisehen
delt sieh um mehr, namlieh um den Sieg einer ent- Partei setzt sieh zum Ziele, eine Integration aller Be-
stehenden Massenpartei über die traditionellen volkerungsgruppen "'in die soziale und wirtsehaftliche
Honoratiorenparteien. Entwicklung des Landes zu erreimen. Um verstand-

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lich zu machen, was man unter dieser Art Integration ung. Haufig haben diese Elendsviertel kein Wasser,
versteht, ist es erforderlich, die Hauptmerkmale die- keine Elektrizitat, keine Müllabfuhr, keine Pflaste-
ses Programms zu analysieren. rung und daher auch keine Verkehrsverbindung.

Das Regierungsprogr.amm ist ein Programm der Ent- Die Anzahl der zu 16senden elementaren Aufgaben
wicklung und der Industrialisierung. Aber es sieht ist hier betrachtlich. In vielen dieser Viertel haben
das Problem der Entwicklung unter dem Aspekt der sich kleine Selbstverwaltungsk6rperschaften gebildet,
Notwendigkeit, alle chilenischen Bev6lkerungsgrup- Nachbarschaftsrate (Juntas de V.ecinos), die aus Wah-
pen zu integrieren. Daher stehen seine sozialen Ziele len ganz informeller Art entstehen und die zur Or-
im Vordergrund - soziale Ziele im weitesten Sinne g:anisierung von Selbsthilfeaktionen und zur Vertre-
des Wortes verstanden. Es soll eine Gesellschafts- tung gegenüber den Kommunen dienen sollen. Aber
struktur gesdIaffen werden, in der vor allem die sie bleiben weitgehend ineffizient, weil sie von den
heute ausgeschlossenen Bev6lkerungsgruppen ihren Kommunen nicht anerkannt werden und in all ihren
Willen zum Ausdruck bringen k6nnen und daher die Schritten gehemmt wurden. Man sieht daher vor,
Leistungen, die zu ihren Gunsten erbracht werden, diese Nachbarschaftsrate als Teil der kommunalen
Antworten auf eine WillensauBerung sind und nidIt Selbstverwaltung formell anzuerkennen, soweit sie
Geschenke von Staats wegen. Dies soll in den Elends- bereits existieren, und sie zu schaffen, soweit sie feh-
vierteln gesch,ehen, wo Selbstverwaltungen notwen- len, Sie sollen damit zur kleinsten Einheit der kom-
dig sind, die die Erfordernisse ihrer Viertel nicht nur munalen Selbstverwaltung werden. Unter ihrer Betei-
vor den Staatsorganen und in der Offentlichkeit ver- ligung und mit ihrer Initiative soll dann ein Pro-
treten, sondern die auch zur Mitarbeit herangezogen gramm der Slumbereinigung durchgeführt werden.
werden k6nnen. Zentren dafür sollen noch zu gründende Sozialzentren
(Centros Sociales) sein, in denen V.ersarnmlungs-
Ahnliches gilt für das Gebiet der Lohnpolitik, wo durch raume für die Nachbarschaftsrate, Polikliniken, Sozial-
die Gewahrung der lange unterdrückten Gewerkschafts- beratung und Erwachsenenbildungsprogramme zusam-
freiheit eine Verlagerung der Lohnpolitik vom Staat mengefaBt werden.
auf die sozialen Gruppen vorgenommen werden sollo
Das gleiche soll auf dem Larrd geschehen, wo ein Parallel dazu soll eine starke Aktivitat zum Ausbau
durch die Agrarreform zu schaffendes selbstandiges der Infrastruktur dieser Viertel und zum Wohnungs-
Bauerntum seine Ausdrucksm6glichkeiten finden soll bau beginnen. Das Gesamtziel ist, insgesamt 600 000
in einem starken Genossenschaftswesen und selb- Wohnungen in Freis Regierungszeit (6 Jahre) zu
standigen Bauernverbanden. All diesen Reformen soll bauen. Dies bedeutet eine groBe Steigerung des bis-
als Basis eine Erneuerung des gesamten Erziehungs- herigen Wohnungsbauprogramms, das in der vergan-
wesens dienen. Die Gesamtheit dieser MaBnahmen genen Regierungsperiode zum Bau von etwa 200000
stellt das dar, was man in Chile die Erganzung der Wohnungen führte. Die Christdemokraten kritisieren
formalen Demokratie durch die reale Demokratie an diesem Programm, daB es hauptsachlich zum Bau
nennt, der eigentliche Inhalt der Revolution in Frei- von Wohnungen für die besser verdienenden Schich-
heit. ten führte und daher relativ vi el zu teure Einheiten
gebaut wurden. Hiermit begründen sie U. a. auch die
Sie soll dann die Grundlage geben für ein ehrgeizi- M6glichkeit, eine solch groBe Steigerung der Zahl der
ges Wirtschaftsprogramm und begleitet werden von produzierten Einheiten wirtschaftlich durchstehen zu
einer generellen Reform des Finanz- und Steuer- k6nnen.
systems, die Chile auf den Weg 'eines kontinuier-
lichen wirtschaftlichen W.achstums in relativer sozia-
ler Harmonie bringen sollo DIE POLITIK DER SOZIALEN INTEGRATION
(PROMOCióN POPULAR)
In den Stadten ist die L6sung des Problems der
Elendsviertel am dringendsten. Diese Elendsviertel Damit ein solches Programm der Beseitigung von
ziehen sich in ,einem endIosen Gürtel um den Stadt- Elendsvierteln nachhaltige Wirkung hat, muB es von
kern aller groBen Stadte Chiles. Das Lebensniveau in einem wirtschaftlichen Aufschwung begleitet werden,
diesen Vierteln ist unvorstellbar niedrig. Sie sind in der den betroff.enen Bev6lkerungsschichten stabile
ihrer Mehrzahl in den letzten 20 Jahren als Ergebnis Einkommen und damit die M6glidIkeit gi"bt, die Woh-
der Bev6lkerungsexplosion und der Abwanderung nungskosten auch zu tragen und Abzahlungsverpflich-
vom Land entstanden. Sie werden bewohnt von Per- tungen für den Kauf einer Wohnung einzugehen. Da-
sonen, die gew6hnlich ein sehr niedriges Ausbil- her muB die Situation des Arbeiters auch von der
dungsniveau haben und daher nur zu den einfachsten Einkommensseite her gesichert werden. Es geht dabei
Hilfsarbeiten fahig sind. Da die Wirtschaft nicht fahig nicht so sehr um Einkommenserh6hungen genereller
war, diese Arbeitermassen aufzunehmen, sind viele Art, als um die SidIerung der Einkommen und um
von ihnen mit Gelegenheitsarbeiten beschaftigt, an- die Schaffung von sozialen Kanalen zur Fixierung der
dere sogar v6llig ohne Arbeit. Bei dem Fehlen jeder Einkommen.
Sozialunterstützung und den niedrigen L6hnen be-
deutet dies eine Lebensführung haufig unter dem Das Ziel des Regierungsprogramms ist, die Entwick-
physischen Existenzminimum. Es fehlen einfadIste hy- lung der Realeinkommen an den Index der Arbeits-
gienische Voraussetzungen und medizinische Betreu- produktivitat zu binden. Man will aber von der bis-

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herigen Methode der Einkommensfixierung abgehen. seine starke Neigung zur Abwanderung in die Stadte
Bisher war das Hauptmittel die Fixierung von gesetz- die dortigen Probleme standig noch zusatzlic:h ver-
lichen Mindesteinkommen durch den Staat. Der Staat groBert. Dieses Landproletariat ist der eigentliche
setzte für die Arbeiter einen Mindestlohn, für die Herd der sozialen Instabilitiit. Es ist seinem BewuBt-
Angestellten ein Mindestgehalt fest. Diese Aufgabe sein nach bauerlich. Der Slogan, der auf dem Land
der Einkommensfixierung soll an die Wirtschaftspart- wirkt, ist daher: "Das Land dem, der es bearbeitet."
ner direkt übergeben werden. Dafür ist es notig, all- Die heutige Struktur des GroBbesitzes - ganz abge-
gemeine Gewerkschaftsfreiheit zu geben. Auf dem sehen davon, daB sie bei den herrschenden techni-
Lande herrschte bisher praktisch ein volliges Verbot schen und organisatorischen Voraussetzungen nicht
des Gewerkschaftswesens, und die "Gewerkschaften", mtionell ist - kann keine soziale Stabilitat auf dem
die in der Industrie existieren, sind im Grunde Be- Lande sichern. Deshalb ist das Ziel der angestrebten
triebsrate, denen eine überbetriebliche Organisation Agrarreform,eine breite Schicht von lebensfahigen
verboten ist und die auf Betriebsebene eine Aufgabe selbstandigen Bauern zu schaffen. Das Programm
in der Lohnpolitik haben. Eine legale nationale Ge- sieht vor, etwa insgesamt 100000 neue Siedlerstellen
werkschaftszentrale oder eine überbetriebliche ge- zu schaffen, jahrlich also etwa 17000.
werkschaftliche Lohnpolitik gibt es daher nicht.
Diese Aufgabe ist nur befriedigend zu losen, wenn
Das Ziel des Programms ist daher, die Lohnpolitik sich diese Landreform nicht einfach auf eine neue
den Sozialpartnern zu übergeben, wobei sich aller- Bodenverteilung beschrankt, sondern gleichzeitig ein
dings der Staat eine starke Position bei der Schlich- Programm der sozialen Entwicklung des Bauern ent-
tung von Lohnstreitigkeiten vorbehalt. Ebenfalls ist halt, die im ganzen vielleicht noch weiter zurück ist
es Ziel des Programms, die im chilenischen Lohn- als die Entwicklung des Bewohners der stadtischen
system enthaltene Diskriminierung des Arbeiters ge- Elendsviertel.
genüber dem Angestellten zu beseitigen und dadurch
ein Krebsübel der chilenischen Arbeitsverfassung zu Eine solche Agrarreform ist sehr risikoreich. Hierfür
beseitigen, das ein wesentliches Hindernis für jede gibt es in Südamerika auBerordentlich negative Er-
wirtschaftliche Entwicklung ist. Die Mindesteinkom- fahrungen. In Bolivien z. B. führte man 1952 nach der
men, die der Staat fixierte, unterscheiden streng zwi- Revolution eine Landreform durch, die sich in der
schen Arbeitern und Angestellten und gestanden dem mechanischen Neuverteilung des Bodens an die Bau-
Angestellten ein etwa doppelt so hohes Mindestein- ern erschopfte. AIs Folge davon brach die Agrarpro-
kommen zu wie dem Arbeiter. Darin reflektiert sich duktion vollig zusarnrnen und schrumpfte innerhalb
die vollige Unterbewertung der korperlichen Arbeit. kurzer Zeit auf die Halfte. Wenn eine Agrarreform
Der ungelernte Arbeiter, der sich oder seinen Kin- Sinn haben 5011, muB sie diese Fehler vermeiden. Sie
dern ein Fortkommen sichern will, denkt daher nicht muB gleichzeitig mit der Landverteilung den einzel-
daran, Facharbeiter zu werden. nen Landwirt befahigen, seine Produktion rationell
durchzuführen und einen Markt dafür zu fin den. Hier-
Da aber die Berufsausbildung und die Anlernung von für sind ein gut funktionierender Vermarktungsappa-
Facharbeitern ein wesentliches Erfordernis der Wirt- rat und ein landwirtschaftliches Beratungssystem er-
schaftsentwicklung ist, ist es einfach notwendig, die forderlich. In Chile soll dieser Vermarktungsapparat
Mindereinschatzung der korperlichen Arbeit zu besei- durch den Ausbau des bestehenden Genossenschafts-
tigen, eine Aufstiegsmoglichkeit für Arbeiter zu schaf- systems geschaffen werden. Parallel dazu 5011 das
fen und damit der verheerenden Tendenz zu Ange- landwirtschaftliche Erziehungswesen ausgebaut und
stelltenberufen und damit zur Aufblahung der Büro- ein landwirtschaftlicher Beratungsdienst geschaffen
kratie entgegenzuwirken. werden, ein Programm, das durch staatliche Entwick-
lungskredite unterstützt werden 5011, da diese Ent-
Zu diesen Reformen, die hauptsachlich die sozialen wicklung aus den MiUeln der Landwirtschaft nicht
Verhaltnisse in der Stadt betreffen, tritt die Verande- finanziert werden kann.
rung der sozialen Strukturen auf dem Land durch die
Agrarreforrn. Angesichts der Bedeutung des landwirt- Grundlage all dieser Reformen wird die Entwiddung
schaftlichen Sektors für die Wirtschaft Chiles wird des Erziehungswes'ens sein, das vollig im argen liegt.
von einem Gelingen dieser Aktion Erfolg oder MiB- Die offiziellen Ziffern über den Analphabetismus tau-
erfolg des Regierungsprogramms abhangen. sch·en darüber hinweg, obwohl sie schwerwiegend
genug sind. Danach betragt der Analphabetismus etwa
Das AgI'arproblem ist gleichzeitig ein Problem des 20 Ofo. Wichtiger als diese Ziffer aber ist die Tatsache,
GroBgrundbesitz·es und der Zwergbetriebe. Die Ein- daB das allgemeine Ausbildungsniveau sehr gering
heiten des GroBgrundbesitzes sind so groB, daB sie ist und es eine übermaBig groBe Schulflucht gibt.
die Fahigkeit der Besitzer zur rationellen Bearbeitung 65 Ofo aller Kinder verlassen frühzeitig die Grund-
übersteigen, und die Zwergbetriebe sind so klein, schule, haufig schon nac:h 2 oder 3 Jahren Schulunter-
daB sie eine rationelle Bewirtschaftung nicht zulas- richt. 75 Ofo verlassen vorzeitig die Oberschule und
sen. 1m Laufe der Zeit hat sich ein landlic:hes Pro- 40 Ofo vorzeitig di'e Universitat. Die Tatsache, daB je-
letariat gebildet, das bei rationeller Bewirtschaftung mand 2 oder 3 Jahre die Schule besucht hat, genügt
durchaus als Arbeitskraft notwendig ware, das aber schon, um statistisch nicht mehr als Analphabet zu
angesic:hts der unrationellen Bewirtschaftung als ar- gelten. Eine groBe Zahl dieser Sc:hüler verlernt jedoch
beitsloses Proletariat das Land bevolkert und durch nach kurzer Zeit wieder Lesen und Schreiben. Das

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Bildungsniveau blei'bt daher sehr niedrig und reimt Beide MaBnahmen - die durm ein System anderer
als Basis für die Ausübung komplizierter Berufe steuerlicher MaBnahmen erganzt werden - spiegeln
nimt aus. die mangelnde Privatinitiative des milenischen Unter-
nehmers wider, der viel eher dazu neigt, einmal
Hinzu kommt, daB Klassenraume und Lehrer fehlen,
erworbene Einkommensmancen zu nutzen und zu
die alle Smüler aufnehmen k6nnten, Es fehlt aum
simern, alsan einem ProzeB wirtschaftlimer und
eine ausreimende Lehrerausbildung und die Chance
ihres sozialen Aufstiegs. Das Ziel des Regierungspro- temnismer Entwicklung teilzunehmen. Er neigt dann
gramms ist daher, eine reale Durmsetzung der allge- dazu, erworbene Reserven nimt in neuen Unterneh-
meinen Schulpflimt zu erreichen, um damit dem vor- mungen anzulegen, sondern in unproduktiven Ver-
gesehenen Ausbau des Berufsschulwesens eine Basis mogen - vor allem Grundbesitz -, auf deren Aus-
an Allgemeinbildung zu geben. beutung er nur im Notfall angewiesen ist.

Ein solmes Programm sozialer Reformen verlangt


naturgemaB groBe finanzielle MiUel. Sie sind nur zum DIE AUFGABEN DES PLANUNGSAMTES
Teil aus dem Lande selbst zu bekommen. Zu einem
groB·en Teil remnet man mit Krediten und Hilfen aus Dieser Mangel an Privatinitiative des milenischen
dem Ausland. Diese Hoffnungen sind durmaus real. Unternehmertums haUe schon früher zu staatlichen
Die Vereinigten Staaten haben für 1965 bereits eine MaBnahmen geführt, die zur Weckung einer solmen
Wirtschaftshilfe von 125 MilI. $ zugesagt, und aum Privatinitiative und zur Ubernahme von Industriepro-
in der Bundesrepublik besteht die erklarte Bereit- jekten in staatlime Initiative führen sollten. Es han-
schaft zu finanzieller Hilfe. Aber es ist gleichzeitig delt sich um das 1939 gegründete staatliche Entwick-
n6tig, die Finanzquellen des eigenen Landes heran- lungsamt (CORFO - Corporación de Fomento) 1),
zuziehen. dem in dem jetzigen Regierungsprogramm entschei-
dende Bedeutung zufallen soll.
DIE STEUERREFORM
Das wirtschaftspolitische Programm der Regierung
Mit Hilfe der Steuerreform sollen die h6heren Ein- Frei baut im wesentlimen auf den Vorarbeiten dieses
kommen starker belastet und, was wesentlich wim- Entwicklungsamtes auf. Hier ist daher auch der
tiger ist, die Steuermoral des Landes verbessert wer- eigentlime Ansatz für eine Kontinuitat zwischen dem
den. Bisher ist es nur in geringem MaBe gel ungen, Programm der vergangenen Regierung und dem der
die hoheren Einkommen zur Steuerleistung heranzu- Jetzigen. Frei verdankt zweifellos auf dem rein wirt-
ziehen. Das Steuersystem stützte sich vor 'allem auf schaftspolitischen Gebiet der vorangegangenen Ad-
indirekte Steuern, AuBenhandelsabgaben und die von ministration Alesandri auBerordentlich viel. In gewis-
Lohnen und Gehaltern abgezogenen direkten Steuern. sem Sinne kann man sogar sagen, dan die sozialen
Die direkte Steuer auf Einkommen freier Berufe und Reformen Freis dieses unter Alesandri entworfene
Kapitaleinkommen wurde in ganz besonders groBem und vorbereitete wirtsmaftspolitische Programm rea-
AusmaB hinterzogen. Ebenfalls waren die MaBnah- lisierbar mamen sollen. Diese Vorbereitung unter
men gegen SteuersdlUldner smwam, und periodisch Alesandri hezieht simeinmal auf die Durchführung
muBten Steuerschuldenerlassen werden. Einen be- von Projekten der Infrastruktur, die un ter Ales'andri
sonderen Vorteil haUen die Steuerzahler, die auf eine groBe Rolle gespielt haben (Ausbau des StraBen-
Grund von Steuererklarungen ihre Steuer aus der netzes, Flughafen, Elektrifizierung von Eisenbahnen
Inflation zahlten. Bei Geldentwertungssatzen von usw.). Es sind damit wesentlime Voraussetzungen
etwa 50 G/o liegt smon ein wesentlimer SteuererlaB dafür geschaffen worden, jetzt zu einer starkeren
darin, erst ein Jahr nach Entstehung des Einkommens relativen Entwicklung von Industriekapazitaten über-
zahlen zu müssen. zugehen.
Dies ist allerdings nur eine Seite der Steuerreform.
Neben diesen ,ausgebauten Projekten der Infrastruk-
Ein anderes Moment leitet über zum Ziel der Indu-
tur hinterlieB die Regierung Alesandri den von der
strialisierung des Landes. Ein Umbau des Steuer-
CORFOausgearbeiteten 10-Jahres-Plan (1961-1970),
systems soll die Initiativen in Richtung der wirt-
der die wesentlimen wirtsmaftlichen Ziele aum der
smaftlichen Entwicklung wecken. Zwei wimtige MaB-
Regierung Frei umsmreibt. Die durmsmnittlime jahr-
nahmen dieser Art sind zu nennen. Einmal die Erho-
liche Zuwachsrate des Sozialprodukts soll dadurch
hung der Einkommensteuer mit niedrigen Satzen für
auf 5,5 G/o und die relative Zuwamsrate auf 2,9 Ofo ge-
reinvestierte Einkommen. Diese MaBnahme soll dazu
steigert werden.
beitragen, die heute auBerordentlich geringe Sparrate
der Unternehmer zu erhohen. Daneben 5011 eine rela- Alle Einzelplane, die sich aus diesem allgemeinen
tiv hohe Verm6gensteuer gesmaffen werden (pro- Ziel ergeben, sind zwei vordringlimen Zielsetzungen
gressiv 1,5 bis 3 Ofo). Sie 5011 die Eigentümer unpro- unterstellt, der wahrungspolitischen Stabilisierung
duktiv angelegter Vermogen dazu zwingen, diese und der Losung des Zahlungsbilanzproblems. Beide
Vermogen entweder produktiv zu nutzen oder sie hangen 'auBerordentlim eng zusammen.
auf dem Markt an solche Unternehmer zu verkaufen,
die bereit und in der Lage sind, eine produktive Aus- 1) Vgl. Werner Ti II m a n n: Ein Vierteljahrhundert CORFO.
Wirtschaftsplanung in Chile. In: WIRTSCHAFTSDlENST, 44. Jg.
nutzung zu simern. (1964), S. 303 f.

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Die lnflation ist in Chile ein chronisehes UbeI. Seit rend die Planungsabteilung einem direkt dem Prasi-
über 70 Jahren ist sie das Symbol mangelnder wirt- denten unterstellten Planungsbüro übergeben werden
sehaftlieher Stabilitat. Wahrend sie aber bis zum soll, das die Aufgabe hat, alle sozialen und wirtschaft-
Zweiten Weltkrieg mit jahrliehen Raten zwischen 10 liehen Programme der Regierung zu koordinieren.
und 20 o/~ relativ gemaBigt war, schnellte sie naeh
dem Zweiten Weltkrieg pl6tzlieh in die H6he und Für die kommende Regierungsperiode besteht eine
erreichte 1954 80010. 1m Zuge eines danach einsetzen- Reihe von Planen für einzelne lndustriezweige, die zu
den Stabilisierungsplans sank die Rate dann wieder einer grundlegenden L6sung des Exportproblems und
ab und stieg in den letzten 2 Jahren wieder auf etwa damit der standig prekaren Zahlungsbilanzsituation
50 Ofo j ahrlieh. führen sollen. Sie beziehen sieh vor allem auf die
Fisehindustrie, die Zellulose- und Papierindustrie, die
Es ist klar, daB eine solche lnflation die soziale und Zuckerindustrie, die Hüttenindustrie und den Kupfer-,
wirtschaftliche Stabilitat unterminiert, Sparen und ra- Eisenerz- und Kohlebergbau. Die natürlichen Voraus-
tionales Kalkulieren unm6glich und die Speku- setzungen auf allen diesen Gebieten sind auBerordent-
lation zu einer zentralen wirtschaftichen Beschaftigung lieh günstig. Zum Teil sind die vorgesehenen Projekte
macht. Die Ursaehen der lnflation sind vielfaltig, die sehon in Angriff genommen worden.
wichtigsten sind sicher der defizitare Staatshaushalt
und das fehlende Gleichgewicht zwischen Unterneh- Es handelt sich hierbei allerdings um Entwicklungs-
mer- und Arbeitgeberseite in der Lohn- und Preispoli- anstrengungen, die nur mit Hilfe auswartiger Kredite
tik. Da aber rationales Kalkulieren und Rechenhaftig- m6glieh sind. Die derzeitige Handelsbilanzsituation
keit wesentliche Voraussetzungen jeder lndustrialisie- ist überaus schlecht. So schatzt man die für 1965 n6ti-
rung sind, ist eine auf der lnflation aufgebaute Wirt- gen Gesamtimporte auf 613 MilI. $, wobei die Han-
schaftsentwicklung in sich zum Scheitern verurteilt. Sie delsbilanz ein Defizit von 76 Mill. $ haben wird. Un-
zerst6rt dureh die lnflation ihre eigene Basis, die Re- ter Berücksichtigung der falligen Verpfliehtungen an
chenhaftigkeit. Zinsen und Kapitaldiensten ins Ausland würde sich
dieses Defizit auf insgesamt 195 MilI. $ erh6hen. Man
Vordringlich für die Regierung ist daher die Herstel- erhofft daher von chilenischer Seite einen Aufschub
lung der monetaren Stabilitat. Man hofft, dieses Ziel dieser Kreditverpflichtungen bis zum Zeitpunkt nach
innerhalb von 2 bis 3 Jahren erreichen zu k6nnen. der Durchführung dieses Plans zur Entwicklung der
Dies soll u. a. dadurch geschehen, daB das Gleich- Exportindustrien und die Gewahrung von neuen Kre-
gewicht des Staatshaushalts hergestellt wird und diten, die die Realisierung dieses Plans in m6glichst
die Rea1l6hne an den lndex der Wachstumsrate der kurzer Zeit sichern sollen.
Produktion gebunden werden. AuBerdem soll versucht
w€rden, durch lntensivierung der lndustrieentwicklung Das Programm ist konsequent und realistisen. Aber es
das Zahlungsbilanzproblem zu lOsen. enthalt keinen absoluten Brueh mit der Vergangenheit,
sondern wahrt die Kontinuitat. Es ist ein Programm,
In gleicher Richtung 5011 auch die CORFO arbeiten, das vielfach dazu geführt hat, den Christdemokraten
die ihre Funktionen allerdings etwas verandern sollo Linkstendenzen vorzuwerfen. Wenn man das Wort in
Bisher hatte das Entwicklungsamt zwei groBe Abtei- dem Sinne nimmt, wiees vielfach in Lateinamerika
lungen, die Planungsabteilung und die Projektabtei- gebraueht wird, hat man damit recht. Denn in Latein-
lung. Die Planungsabteilung arbeitete Projekte aus, amerika bedeutet "links" das Eintreten für die Ab16-
wahrend die Projektabteilung diese Projekte entweder
sung der alten sterHen Oberschicht und für die Mo-
priva ten Unternehmern zur eigenverantwortlichen
dernisierung des Landes. Versteht man links hingegen
Durehführung unter Beratung und Kredithilfe durch
in einem ideologischen Sinne, kann davon offensicht-
die CORFO übergab oder die Projekte direkt in eige-
lieh keine Rede sein. Das Programm hat die Absicht,
ner Regie durchführte, um sie hinterher entweder in
Staatshand zu behalten oder an die Privatwirtschaft zu eine Sozialstruktur zu errichten, wie sie in den ent-
V'erkaufen. Beispiel für direkt von der CORFO durch- wickelten Landern Westeuropas heute besteht. Nicht
geführte Projekte sind das der CAP (Compañía de zuletzt hat die Kenntnis der Bundesrepublik, die sieh
Acero del Pacifico) geh6rende Stahlwerk Huachipato eine Reihe verantwortlicher Politiker Chiles duren
oder die ENAP (Empresa Nacional de Petroleo). Das Reisen erworben hat, eine Rolle gespielt.
Werk Huachipato wurde an die Privatwirtschaft ver-
Das Regierungsprogramm der Regierung Frei hat
kauft, wahrend die ENAP in Staatshand blieb und
wohl aueh bleiben wird. Chile zu einem lateinamerikanischen Modellfall ge-
macht. Sollte es miBlingen, müBte dies zu einer Neu-
Nach der vorgesehenen institutionellen Anderung soll orientierung aller in lateinamerikanischen Landern an-
die CORFO nur die Projektabteilung behalten, wah- gewendeten Entwicklungsmodelle führen.

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