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Helmut Becker
Stephan Benzmann
Martin Große Hüttmann
Hartwig Riedel
Kersten Ringe
Karsten Tessmar
Martina Tschirner
Georg Weinmann

C. C. Buchner Verlag · Bamberg


Buchners Kompendium Politik - neu
Bearbeitet von Helmut Becker, Stephan Benzmann, Martin Große Hüttmann, Hartwig Riedel, Kersten
Ringe, Karsten Tessmar, Martina Tschirner und Georg Weinmann

Zu diesem Lehrwerk ist erhältlich:

• Digitales Lehrermaterial click & teach Einzellizenz, Bestell-Nr. 720121


• Digitales Lehrermaterial click & teach Box (Karte mit Freischaltcode), ISBN 978-3-661-72012-8

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Dieser Titel ist auch als digitale Ausgabe click & study unter www.ccbuchner.de erhältlich.

1 . Auflage, 1. Druck 2018

Alle Drucke dieser Auflage sind, weil untereinander unverändert, nebeneinander benutzbar.

Dieses Werk folgt der reformierten Rechtschreibung und Zeichensetzung. Ausnahmen bilden Texte,
bei denen künstlerische, philologische oder lizenzrechtliche Gründe einer Änderung entgegenstehen.

Die Mediencodes enthalten ausschließlich optionale Unterrichtsmaterialien. Auf verschiedenen Seiten


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dere auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen und Mikroverfilmungen. Hinweis zu § 52 a UrhG:
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eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.

Redaktion: Benjamin Rego


Layout und Satz: HOCHVIER GmbH & Co. KG, Bamberg
Umschlag: HOCHVIER GmbH & Co. KG, Bamberg
Druck und Bindung: Firmengruppe Appl, aprinta Druck, Wemding

www.ccbuchner.de

ISBN 978-3-661-72002-9
Vorwort
Buchners Kompendium Politik ist ein kompaktes Unterrichtswerk für einen zeitgemä-
ßen Politik- und Wirtschaftsunterricht. Basis der Konzeption ist ein stark ausgeweit e-
ter Darstellungsteil, der das gesamte abiturrelevante Politikwissen vermittelt. Die Ein-
beziehung systematischer Informationstexte, die von den Schülerinnen und Schülern
auch eigenständig erarbeitet werden können, strafft die Phase der Informations- bzw.
Faktenvermittlung. Lehrerinnen und Lehrern dient das Kompendium gleichzeitig als
Leitmedium für den Politikunterricht in der Oberstufe.

Jedes Kapitel im Kompendium beginnt jeweils mit einem Einstieg zur Lernstandser-
hebung sowie der Formulierung der zu erwerbenden Kompetenzen. Den Kern jedes
Unterkapitels bildet der ausführlich und verständlich geschriebene Darstellungsteil.
Dieser wird ergänzt durch vorangestellte Leitfragen und spezifische Arbeitsaufträge
sowie Selbstüberprüfungsbögen .

Darauf folgt die Rubrik Kompetenzen anwenden mit ausgewählten vertiefenden, pro-
blematisierenden und kontroversen Materialien. Die Aufgabenstellungen hier leiten
eine lebendige, diskursive Auseinandersetzung mit der jeweiligen Thematik an. Zudem
stärken sie die fachspezifischen Analyse-, Handlungs- und Urteilskompetenzen der
Schülerinnen und Schüler.
Im Band wurde bei der Auswahl der Methoden zwischen Fach- und Unterrichtsme-
thoden unterschieden. Die Fachmethoden ergänzen den Darstellungs- und Material-
teil im Buch und sind thematisch an einzelne Unterkapitel angegliedert. Neben diesem
Angebot im Buch bieten wir zudem einen breiten Katalog an Unterrichtsmethoden in
einem Methodenglossar über sogenannte QR-Codes online auf unserer Homepage
an.

Das Buch wird zudem ergänzt durch eine Auswahl von über 170 einzelnen Zusatzma-
terialien. Hier passen wir uns den Entwicklungen der Zeit an und bieten diese Materi-
alien unkompliziert über unsere Homepage an, wo sie schnell heruntergeladen werden
können.

Abschließend wird das Buch abgerundet durch ein Sachregister sowie Literaturemp-
fehlungen, um den Zugang zu weiteren Quellen zu vereinfachen.

Zusätzlich zu der Aneignung politischen Basiswissens bietet Buchners Kompendium


Politik den Raum für die Einbeziehung aktueller politischer Ereignisse. Gerade in der
Oberstufe erweist es sich als großer Vorteil, fundiertes Wissen zu allen potenziellen
Abiturthemen in einem Band verfügbar zu haben. Aufgrund der umfassenden Darstel-
lung der relevanten Themenfelder eignet sich das Kompendium gleichermaßen als
Arbeitsbuch wie auch als Nachschlagewerk.

Über die QR-Codes in diesem Buch können die Zusatzmaterialien


sowie das Methodenglossar direkt angesteuert werden. Diese kön-
nen außerdem auch über die Eingabe von Mediencodes im Such-
l'tl:•:-;~~!~' feld auf www.ccbuchner.de aufgerufen werden.
Mediencode: 72002-00
INHALT

DIE MODERNE 2.4 Einkommens- und

1 GESELLSCHAFT
IN DEUTSCHLAND

1.1 Individuum und Gesellschaft. . . . 8


Vermögensverteilung .
2.4.1 Einkommensverteilung -
Akteure und Konzepte . .
2.4.2 Der Prozess der staatlichen
Umverteilung . . . . . . . .
. 137

. 137

. 144
Methodenkompetenz: Auswertung
1 .1 .1 Soziales Handeln und der Prozess von Statistiken . . . . . . . . . 147
der Sozialisation . . . . . . . . . . 8
1 .1 .2 Gruppen und soziale Rollen . . . . 13 2.5 Finanzpolitik . . . . . . . . . . 150
2.5.1 Aufgaben des Staates in der
1 .2 Aspekte gesellschaftlichen Wandels . 17 Finanzpolitik . . . . . . . . . 150
1.2.1 Demografischer Wandel . . . . 17 2.5.2 Staatsverschuldung . . . . . . 157
1.2.2 Migration und Integration . . . 23
1.2.3 Familie und Pluralisierung der 2.6 Geld- und Währungspolitik. . . 163
Lebensformen . . . . . . . . . 29 2.6.1 Die Geldpolitik der Europäischen
1.2.4 Der Staat und die Familie . . . 34 Zentralbank . . . . . . . . 163
1.2.5 Wandel der Geschlechterverhältnisse . 39 2.6.2 Wechselkurssysteme und
Methodenkompetenz: Karikaturen Währungspolitik . . . . . . 169
analysieren und interpretieren . 45 2.7 Die Globalisierung der Wirtschaft . 175
1.2.6 Strukturwandel der Arbeitswelt 47 2.7.1 Dimensionen der wirtschaftlichen
1.2.7 Wertewandel . . . . . . . . . 51 Globalisierung . . . . . . . . . . . . 175
Methodenkompetenz: 2.7.2 Die Internationalisierung von Handel
Empirische Sozialforschung . 53 und Produktion. . . . . . . . . . . . 180
1.3 Soziale Ungleichheit . . . . . 57 2.7.3 Das Global Economic Governance
1.3.1 Begriff und Dimension sozialer System .. . . . . . . . . . . . . . . 187
Ungleichheit . . . . . . . . . 57 2.8 Ökonomie und Ökologie . . . . . . . 194
1.3.2 Soziale Mobilität . . . . . . . 64 2.8.1 Zum Verhältnis von Ökonomie und
1.3.3 Modelle sozialer Ungleichheit 69 natürlicher Umwelt . . . . . . 194
1.4 Sozialstaat und Sozialpolitik . 75 2.8.2 Externe Effekte und deren
1.4.1 Der Sozialstaat und das System ,,Internalisierung" . . . . . . . 200
sozialer Sicherung . . . . . . . . 75 2.8.3 Ist ökologisches Wirtschaften
1.4.2 Aktuelle Herausforderungen für den (zukünftig) möglich? . . . . . . 206
Sozialstaat . . . . . . . . . . . . . . 80 2.8.4 Reicht das BIP als Wohlstands-
indikator?. . . . . . . . . . . 216
2.8.5 Globale Umweltpolitik . . . . . . . 223
2.8.6 Deutsche Umweltpolitik im
europäischen Mehrebenensystem . . 227
GRUNDLAGEN DER

2 WIRTSCHAFTS-
POLITIK

2.1 Wirtschaftsordnungen und Märkte.


2.1.1 Wirtschaftsordnungen . . . . .
2.1.2 Märkte und Preise . . . . .. .
Methodenkompetenz: Arbeiten
mit Modellen . . . . . . . .
88
88
93

96
3 POLITISCHE
THEORIE

3.1 Politik und Demokratie. . . . . . . . . 238


2.1.3 Die Soziale Marktwirtschaft . . 99
3.1.1 Politik als Begriff und Organisations-
2.2 Konjunktur- und Wirtschaftspolitik. . 105 prinzip menschlichen Handelns . . . . 238
2.2.1 Wirtschaftliche Entwicklung und Methodenkompetenz:
Konjunkturzyklus. . . . . . . . . . . 105 Politik multidimensional untersuchen . 241
2.2.2 Konjunktur- und Wirtschaftspolitik in 3.1.2 Politische Ideengeschichte . . . . . 242
Deutschland . . . . . . . . . . . . . . 111 3.1.3 Identitäts-, Konkurrenz- und
2.2.3 Wirtschaftspolitische Grundkonzepte . 119 Pluralismustheorie der Demokratie . 246
2.3 Strukturwandel und Arbeitsmarkt . 125 3.1.4 Kernelemente moderner Demokratien 252
2.3.1 Wirtschaftsstrukturen im Wandel . 125 3.2 Formen demokratischen Regierens . . 257
2.3.2 Die Auswirkungen des Struktur- 3.2.1 Parlamentarismus, Präsidentialismus
wandels auf den Arbeitsmarkt . . . 130 und Semipräsidentialismus . . . . . . 257
INHALT

3.2.2 Die Konkurrenz- und Konkordanz- 5.2 Die Europäische Union als
demokratie . . . . . . . . . . . . . 261 Mehrebenensystem . . . . . 366
Methodenkompetenz: 5.2.1 Organe der Europäischen Union . . 366
Politische Systeme untersuchen . . 263 5.2.2 Entscheidungsverfahren . . . . . . 375
5.3 Zentrale Politikfelder . . . . . . . . 379
5.3.1 Binnenmarkt, Wirtschaft, Währung
DAS POLITISCHE und Soziales . . . . . . . . . . . 379

4 SYSTEM DER 5.3.2 Außen- und Sicherheitspolitik . . . . 386


5.3.3 Justiz- und Innenpolitik . . . . . . . 392
BUNDESREPUBLIK
5.4 Die Zukunft der EU - Perspektiven
DEUTSCHLAND und Szenarien . . . . . . . . . . . . 396
Methodenkompetenz: Szenariotechnik 399
4.1 Die Grundlagen des politischen
Systems . . . . . . . . . . . . . 268

6
4.1 .1 Die Grundrechte im Grundgesetz . 268
4.1 .2 Die Staatsstrukturprinzipien . . 272 INTERNATIONALE
Methodenkompetenz:
Politische Urteilsbildung . .. . 275
BEZIEHUNGEN
4.2 Die Bürger im politischen Prozess . . 278
4.2.1 Formen der direkten Beteiligung. . . 278
6.1 Merkmale der heutigen Weltordnung . 406
4.2.2 Politische Beteiligung in Deutschland . 283
6.1.1 Das System der internationalen
4.3 Vermittler zwischen Bürgern und Beziehungen . . . . . . . . . 406
politischen Institutionen . . . . . 292 6.1 .2 Krieg und Frieden . . . . . . 415
4.3.1 Politische Parteien . . . . . . . . 292 6.1.3 Das Völkerrecht im Wandel . 422
Methodenkompetenz: Analyse
6.2 Herausforderungen im
einer politischen Rede . . 297
21. Jahrhundert . . . . . . . 428
4.3.2 Interessenverbände . . . 300
6.2.1 Der internationale Terrorismus . . 428
4.3.3 Medien . . . . . . . . . . 304
Methodenkompetenz:
4.4 Das zentrale politische Analyse internationaler Konflikte. . 432
Entscheidungssystem . . . . . . . . . 309 6.2.2 Failed states . . . . . . . . . . . . 437
4.4.1 Die Verfassungsorgane im Überblick . 309 6.2.3 Verbreitung von Massenvernichtungs-
4.4.2 Der Bundestag . . . . . 312 waffen - Proliferation . . . . . . . . . . 443
4.4.3 Die Bundesregierung. . 320 6.2.4 Klimawandel und Ressourcenkonflikte 449
4.4.4 Der Bundesrat . . . . . 325 6.2.5 Bevölkerungswachstum und
4.4.5 Der Bundespräsident . 328 Migration. . . . . . . . . . . . 455
4.5 Staatsaufbau . . . . . . 332 6.3 Die Sicherheitsarchitektur im
4.6 Die Gesetzgebung .. . 338 21. Jahrhundert . . . . . . . . 459
Methodenkompetenz: 6.3.1 Die Vereinten Nationen. . . . . 459
Politikzyklus analysieren . . 342 6.3.2 Die Nordatlantische Vertrags-
organisation (NATO} . . . . . . . 467
4.7 Rechtsordnung der Bundesrepublik 6.3.3 Die Organisatin für Sicherheit und
Deutschland . . . . . . . . . . . 345 Zusammenarbeit in Europa (OSZE) . 474
4. 7 .1 Grundzüge der Rechtsordnung . 345 6.3.4 Deutschland in den Internationalen
4. 7 .2 Das Bundesverfassungsgericht . 349 Beziehungen . . . . . . . . . . . . . 478
6.4 Globale Verteilung von Armut und
Reichtum . . . . . . . . . 484
DIE 6.4.1 Das Nord-Süd-Gefälle . . . . . . . . 484

5
5.1
EUROPÄISCHE
UNION

Die Entwicklung der europäischen


6.4.2 Entwicklungspolitik. . . . . . . . .
6.5

Anhang
. 491
Global Governance - Idee und Realität 499

Integration . . . . . . . . . . . . . . 356 Sachregister . . . . . . . . . . . . . 506


5.1.1 Politik in Europa - Idee und Praxis. . 356 Literaturempfehlungen . . . . . . . . 523
5.1 .2 Der lange Weg zur Europäischen Erläuterungen zu den Operatoren . . 526
Union . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . 528
Zusatzmaterial zu Kapitel 1
Mediencode: 72002-01

KOMPETENZEN
Am Ende dieses Kapitels sollten
Sie Folgendes wissen und können:

erläutern, wie man ein Mitglied der Gesellschaft wird

an einzelnen Beispielen den sozialen Wandel in


Deutschland erklären

die lndividualisierungstheorie als eine Theorie


des sozialen Wandels beschreiben

erläutern, was man unter sozialer Ungleichheit


versteht und deren Dimensionen beschreiben

beurteilen, inwiefern die Gesellschaft der Bundes-


republik durch soziale Mobilität gekennzeichnet ist

einzelne Modelle sozialer Ungleichheit


voneinander unterscheiden
Aufgabe

Die Collage zeigt Ihnen einige Facetten der bundesdeutschen Gesellschaft und stellt gleich-
zeitig Aspekte des sozialen Wandels dar. Beschreiben und erläutern Sie diese.
• Individuum und Gesellschaft
1 . 1 . 1 Soziales Handeln und der Prozess der Sozialisation

Leitfragen Was beeinflusst unser Handeln? Warum wird der Mensch als Wie werden wir befähigt,
soziales Wesen bezeichnet? in der Gesellschaft zu leben?

Was prägt unser Handeln?

Im soziologischen Sinne werden wir nicht als sie schriftlich fixiert sin d. Der j unge Mensch, der
Menschen geboren, sondern erst dazu gemacht. Sch ritt für Schritt in die eigene Kultur hi nein-
Uns werden zwar mit der Geb urt alle lebensnot- wächst, überni mmt dabei die herrschenden Nor-
we ndigen Anlagen mitgegeben, aber ohne unsere men mehr oder weniger automatisch, oh ne sie
mitmenschliche Umwelt wären wir kaum überle- ausdrücklich lernen zu müssen.
bensfähig. Anders als andere Lebewesen erlebe n
Menschen eine zweite, sozial-kulturelle Geburt, Normen können zwischen verschiedenen Gesell-
bei der sie ihre grund legenden menschlichen Ei- schaften, aber auch innerhalb einer Gesellschaft
genschaften und Fähigkeiten ausbilden. von Gruppe zu Gruppe variieren und unterliegen
einem historischen Wandel. Ein g utes Beispiel
Jedes neugeborene Kind ist auf andere Mensch en hierfür ist das Rauchen: War es in den l 950er
a ngewiesen, die es pflegen u nd ernähren, mit ihm Jahren gesellschaftl ich noch vollständig aner-
sprechen, sich ihm emotional zuwenden. Indem es ka nnt u nd u nproblematisch, in öffentlichen Räu-
zuneh mend bewusst auf die Zuwendung reagiert, men eine Zigarette anzuzünden, werden Raucher
lernt es sozial - d. h. au f a ndere Menschen bezo- heutzutage in Raucherzonen verwiesen. Die Tren-
gen - zu ha ndeln. Mit sozialem Handeln ist also nung zwischen Raucher- u nd Nicht raucherzonen
ein Verhalten gemeint, für das wir uns bewusst galt damals noch nicht als Norm. Viele Normen
entscheiden, das nicht instinktiv ist. Da es sich sind a ls Gesetze oder Verord nungen schriftlich
immer u m einen wechselseitigen Vo rgang han- fixiert u nd dadurch fo rmalisiert. Ein solches No r-
delt, spricht man a uch von sozialer Interaktion. mensystem nennen wi r Rech t.

Normen - festgelegte Regeln Werte

Im Alltag beherrschen wir eine Vielzahl von so- Von der Norm zu unterscheiden sind die Werte,
zialen Ve rhalte nsweisen, ohne dass wir permanent kulturell verbreitete Vo rstellungen von Wünsch-
darüber nachde nken müssen. Uns erscheint es als barem, die als Gru ndprinzipien oder als Leitbilder
selbstverstän dlich, dieses oder jenes von a nderen der Handlungsorient ieru ng dienen. Die Werte
Menschen zu erwarten oder selbst so oder so zu beinhalten die in einer Gesellschaft oder auch in-
handeln. Die Erwartu ngen an das Ha ndeln vo n nerhalb einer bestimmten Gruppe anerkannten
Mensche n inne rhalb einer Gesellschaft bezeichnet gemeinsamen Zielsetzungen. Man unterscheidet
man au ch als soziale Normen. No rme n sind be- zwischen
stimmte Regeln, die vo n der Allgemeinheit a ner-
kan nt werden: Einander bekannte Menschen grü- • moralischen Werten (z. B. Treue, Wahrheit, Au f-
ßen sich, bei Theateraufführungen und Ko nzerten richtigkeit, Gerechtigkeit),
ve rhält man sich ruhig usw. Alle diese Normen • materiellen Werten
werden als selbstverständlich befolgt, ohne dass (z.B. Wohlstand, Eigentum),
1.1 Individuum und Gesellschaft 1

• religiösen Werten (z.B. Gottesfurcht, Nächsten- Sozialisation unterscheidet sich deutlich von dem
liebe), pädagogischen Begriff der Erziehung, der vor al-
• politischen Werten (z. B. Freiheit, Gleichheit, lem die bewusst geplanten und zielgerichteten
Toleranz, Frieden, Gemeinwohl) und Bemühungen von Eltern und Lehrern meint, die
• ästhetischen Werten (z.B. Schönheit, Kunst). Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes zu be-
einflussen. Der Prozess der Sozialisation schließt
Werte entst eh en nicht aus dem Nichts, sondern die Erziehung zwar mit ein, aber dem hera n wach-
erwachsen v ielmehr aus einer Kultur und können senden Indiv iduum wird nicht „beigebracht", v iel-
sich, ähnlich wie auch die Normen, im l aufe der mehr eignet es sich die Welt an.
Zeit ändern. Ein Beispiel aus der Erziehung kann
dies verdeutlichen: So erzog man die Kinder frü-
her zu absolutem Gehorsam und Unterordnung, Phasen und Instanzen der Sozialisation
heute hingegen haben sich die Werte verändert
und man erzieht Kinder zur Selbständigkeit und Die Sozialisation eines Menschen findet an unter-
Verantwortungsübernahme. schiedlichen Schauplätzen statt. Viele Person en
u nd Organisationen sind daran beteiligt. Diese
Werte wi rken innerhalb einer Gesellschaft aber Sozialisationsinstanzen spielen unterschiedliche
keineswegs immer nur ordnend oder verbindend. Rollen: Sie können sich bei der Sozialisation eines
Sie könn en auch Konflikte hervorbringen: Insbe- Menschen unterstützen, sich aber auch gegensei-
sondere in mode rnen Gesellschaften haben Men- tig hemmen. Die wichtigsten Sozialisationsin-
schen häufig sehr unterschiedliche Ziele und ori- stanzen sind neben der Familie die Gleichaltri-
entieren sich an untersc hiedlichen Werten (> Kap gengruppe (peer-group), die Schule u nd die
1.2.7). So können Werte den Zusammenhalt in- Medien. Gewöhnlich wird der Prozess der Sozia-
nerhalb einer Gruppe fördern, andere aber auch lisation in drei Phasen unterteilt:
a usgrenzen.
• die primäre Sozialisation: Herausbildung der
Grundstrukturen der Persönlichkeit, Entwick-
Was bedeutet Sozialisation? lung von Grundmustern für soziales Verhalten.
Instanzen: Eltern bzw. Familie, Kindergarten,
Wie werden die Menschen zu dem, was sie sind? Vorschule;
Wie werden sie ein Mitglied der Gesellschaft? Wie • die sekundä re Sozialisation: Erlernen von neu-
werden sie durch ihre Lebensbedingungen in ih- en und Weiterentwicklung bestehender Verhal-
rem Denken, in ihrem Handeln, in ihren Empfin- tensweisen (Rollen). Instanzen: Schule, peer-g-
dungen beeinfl usst? Wie lernen sie, sich von a n- roups, kjrchliche oder berufliche Gruppierungen,
deren zu unterscheiden, wie werden sie besondere Medien;
und einzigartige Indiv iduen? Für diese Fragestel- • die tertiäre Sozialisation: Weiterentwicklung
lun gen steht der Begriff der Sozialisation: im Berufs- und Privatleben (,,lebenslanges Ler-
nen"). Instanzen: Berufsgruppen, politische Or-
„Der Ausdruck Sozialisation bezeichnet in sehr ganisationen, Medien
allgemeiner Weise das Hereinwachsen des Men-
schen in seine Gesellschaft, die Aneignung all der Die primäre Sozialisation wird als wichtigste Pha-
Kenntnisse und Fertigkeite n, der Wertmaßstäbe se angesehe n, weil in ihr alle entscheidenden Wei-
und Verhaltensregeln, die er braucht, um sich in chen für die spätere Entwicklu ng gelegt werden.
der gesellschaftlichen Umwelt zurechtzufinden. Das Kind übernimmt Werte und Normen des El-
Dieser Vorgang, a uch ,Vergesellschaftung' ge- ternha uses, wobei die Vermittlung über die Spra-
na nnt, hat sein Schwergewicht während der Kind- che eine zentrale Rolle spielt. Da die Beziehungen
heit und des Juge ndalters, wiederholt sich aber im zwischen Erwachsenen und Ki ndern i. d. R. asym-
Prinzip, wann immer j emand sich in einer neuen metrisch sind - d. h. die Kinder sind den Erwach-
Position zurechtfinden muss." senen untergeordnet -, sammeln Kinder in peer-
groups erste Erfah rungen mit gleichberechtigten
Peter Stromberger / Will Teichert, Einführu11g in soziologi- Beziehungen. So verinnerlichen Kinder bis zum
sches Denken, 1978, S. 129 Eintritt in das Schulalter eine Vielzahl von Nor-
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

men, Werten und Überzeugungen, wobei sie häu- sozialisiert, Kinder aus unteren sozialen Schichten
fig auch ihre eigenen Vorstellungen, ihre spezifi- anders als Kinder der Mittelschicht usw. Man
schen Normen und Werte entwickeln, die sie mit spricht deshalb auch von einer geschlechtsspezi-
Gleichaltrigen teilen. Die Entscheidung, welche fischen und schichtspezifischen Sozialisation.
Normen und Werte in verschiedenen Situationen
zu berücksichtigen sind, ist nicht immer leicht zu
treffen. Die Fähigkeit, solche Entscheidungen zu Sexuelle Identität
treffen, ist j edoch zentral für das Rollenhandeln
im Erwachsenenleben. Die Sozialisation in der Zur Identitätsbildung tragen wesentlich auch Ge-
peer-group ist auch wichtig für die Ausbildung schlecht und Sexualität eines Menschen bei. Die
einer eigenen Identität, die einen Menschen ein- sexuelle Ident ität ist das grundlegende Selbstver-
malig und unverwechselbar macht. Zum Aus- ständnis davon, wie sich Menschen selbst wahr-
druck der Identität werden e ine Reihe von Sym- nehmen und wie sie gesehen werden wollen. Se-
bolen - z. B. Kleidung, Musik, Sprache - sowie xuelle Identität bedeutet, ein Bewusstsein von der
symbolische Handlungen entwickelt. eigenen Männlichkeit bzw. der eigenen Weiblich-
keit zu haben. Sie setzt sich zusammen aus:
Die Identität entwickelt sich heutzutage abe r nicht
mehr nur durch die Erfahrungen, die ein Mensch • dem biologischen Geschlecht (Geschlechtsor-
im direkten Zusammensein mit anderen macht, gane, Chromosomen),
sondern auch in der Welt der Medien. Denn dort • dem sozialen Geschlecht bzw. der Geschlecht-
findet man eine Vielfalt an Identifikationsange- errolle, die bestimmt, wie sich Frau oder Mann
boten. So kann beispielsweise das Fernsehen die in einer bestimmten Kultur oder Gesellschaft zu
Internalisierung (Verinnerlichung) sozialer Nor- verhalten haben,
men und Werte fördern, indem es vo n den Kindern • dem psychischen Geschlecht, der Überzeugung
ve rlangt, das Wissen über Fiktion und Wirklich- des Menschen, ein Mann, eine Frau oder beides
keit, über Gut und Böse a uch Rollen (>Kap. 1.1.2) zu sein, der sexuellen Orientierung, der Wahl
kennen zu lernen und Rollenverhalten zu festigen. der Sexualpartner bzw. Sexualpartnerinnen.

Insbesondere in den sozialen Netzwerken fi nden Im englischen Sprachraum ist es einfacher, das
neue Formen der Gruppenbildung und des Aus- Geschlecht eines Menschen angemessen auszu-
tauschs statt. Aber entspricht das „digitale Ich", drücken: Hier unterscheidet man zwischen Sex
das die Menschen hier darstellen, auch dem „rea- (dem biologischen Geschlecht) und Gender (dem
len ich"? Viele Wissenschaftler gehen mittlerwei- sozialen Geschlecht oder der sozialen Interpreta-
le davon aus, dass sich d ie meisten Nutzer in den tion des biologischen Gesch lechts). Gender be-
sozialen Netzwerken nicht „verfremden", und ihre schreibt die Erwartungen und Anforderungen,
virtuelle auch mit ihrer realen Identität weitge- aber auch die Rollen, die einem Menschen auf-
hend übereinstimmt. grund seines biologischen Geschlechts zugewie-
sen werden. Dabei ist die Vorstellung von dem,
Auch im Berufsleben werden die Menschen weiter was es bedeutet, ein Mann oder eine Frau zu sein
sozialisiert. Jeder Eintritt in eine neue Funktion ab hängig vom jeweiligen gesellschaftlichen und
oder der Wechsel des Arbeitsplatzes erfordert die kulturellen Umfeld und kann sich historisch än-
Aneignung weiterer Fähigkeiten oder Rollen. Der dern.
Sozialisationsprozess setzt sich somit das gesamte
Leben hindurch fort. Dabei sind die Übergänge Es gibt v iele Menschen, die sich einer eindeutigen
von einer Lebensphase in die andere von beson- geschlechtlichen Einordnung entziehen, weil sie
derer Bedeutung, wie z. B. Heirat oder Familien- zwischen den Geschlechtern hin und her wech-
gründung. Die Sozialisation des Individuums wird seln. Diese Transgenderpersonen wi rken oftmals
entscheidend durch die Gesellschaftsstrukturen irritierend auf ihre Umgebung, weil die Gesell-
bestimmt. So gibt es in einer Gesellschaft unter- schaft in der Regel nach eindeutiger Zuordnung
schiedliche Sozialisationsmuster: Mädchen/Frau- verlangt. Aus diesem Grund sind Transgenderper-
en und Jungen/Männer werden unterschiedlich sonen vielfach Diskriminierungen ausgesetzt.
1.1 Individuum und Gesellschaft 1

Der Weg z ur e ige nen Persönlichkeit - der Sozialisationsproze ss


Phase Alter Soziale Be reiche und bedeutende Ergebnisse der Phasenüber-
Sozialisation greifende Einflüsse
und Dimensionen
der Sozialisation
Säugling 0-1 Mutter und weitere Mitglieder der Kleinfamilie (Familie als In der Sozialisations-
primäre Sozialisationsinstanz); Entwicklung von Vertrauen forschung wird
Kleinkind 1-4 Kleinfamilie sowie Verwandte, Freunde und Nachbarn; zwischen grund-
Erlernen des Gehens und der Sprache; Entwicklung legenden Theorie-
eigener Autonomie ansätzen, die sich an
Namen wie Freud,
Spielkind 4-6 zusätzlich zur 2. Phase: Kindergarten und (nachbarschaft-
Parsons, Mead oder
liehe) Spielgruppen als sekundäre Sozialisationsinstanzen
Piaget festmachen
erweitern den eigenen Erfahrungsbereich
lassen, und empiri-
Schulkind 6- zusätzlich zur 2. Phase: Schule und Freundeskreis sehen Forschungsan-
15/ 16 (peer-group); systematisches Lernen in Klassen- und sätzen, die sich mit
Kursverbänden; Schulentlassung; Geschlechtsreife; verschiedenen
Adoleszenz [Phase des Erwachsenwerdens, des Aspekten der
Heranwachsens]; Medieneinflüsse Sozialisation beschäf-
Jugend 14-18 Kleinfamilie, Schule, Freundeskreis, Übergang in die tigen, unterschieden.
Berufsausbildung / ins Studium (Betrieb als tertiäre Solche Aspekte der
Sozialisationsinstanz); jugendspezifische Freizeitaktivitä- Sozialisation können
ten; Geschlechtspartnersuche sein:
• schichten-
Heranwach- 18 - 21 Auszug aus dem Elternhaus und Gründung eines
spezifische
sende Single-Haushaltes; gesetzliche Volljährigkeit; Wahlalter;
• geschlechts-
Wehr- bzw. Sozialdienst, Soziales Jahr; Studium / Beruf
spezifische
Junge 21 -25 Orientierung an eigener Familiengründung; mittel- bis • sexuelle
Erwachsene langfristige Berufsplanung, berufliche Mobilität; Mitglied- • religiöse
schaft in Vereinen, Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, • kulturelle
~
Bürgerinitiativen u. a. m.; zunehmende Bedeutung von • mediale
vi
oi langfristigen Konsumausgaben und Urlaubsreisen • konforme oder
0
0
Erwachsene 25- Heirat, Elternrolle, Berufsunterbrechung der Mutter, abweichende
~

:::: mittleren 40/45 Übernahme von verantwortlichen Positionen in Beruf, • historische


Parteien, Vereinen, Gewerkschaften, Elternvereinigungen • politische
0.,

""
::::
·;::
Alters
• regionale
,:, usw.; Ehescheidung; aufwendige Freizeit- und Urlaubs-
1:: gestaltung • gesundheitliche
0.,
Sozialisations-
""':,:::: Erwachsene 40/45 Auszug der Kinder; Berufstätigkeit beider Elternteile; einflüsse
""
;; späteren Erreichung der höchsten beruflichen Position (Berufs-
·;;;
V,
C Alters 60/65 karriere) bei gleichzeitigem allmählichen Nachlassen der
..; körperlichen Leistungsfähigkeit; aufwendige Freizeit- und
:-s Urlaubsgestaltung
~
,,rüstiger" 60/ 65 Bewältigung der veränderten Lebenssituation durch
""':,:::: Rentner/ Übergang vom Berufs- zum Rentner-/ Pensionärsalter;
.,::
c.., Pensionär 75/ 80 Kontakte zu den Familien der eigenen Kinder; Suche
"'::::
0., nach neuen Freizeitgestaltungsmöglichkeiten (neue
~
..... Hobbys, Garten u. a. m.); gesundheitliche Einschränkun-
0.,
-~ gen; Tod des Ehepartners/ -partnerin; Altersheim;
-5 Mitgliedschaft bei den Grauen Panthern oder anderen
V,
:::: Vereinigungen älterer Menschen (,,Golden-Age-Club")
·;::
.:: Pflegebe- 75/80 zunehmende gesundheitliche und körperliche Beein-
('J
.,::
dürftiger - Tod trächtigungen; Tod des Ehepartners / -partnerin ; Alters-
c..,
Alter Mensch und Pflegeheim
"'
<:

Aufgaben
1. Erläutern Sie den Unterschied zwischen Werten und Normen bzw. zwischen Erziehung und Sozialisation.

2. Erklären Sie am Beispiel einer „Daily Soap", wie das Fernsehen als Sozialisationsinstanz fungieren kann.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Frauen werden weniger geachtet

Stevie Merie/ Schmiede/ ist Dozentin für Genderforschung und leitet die Protestaktion
„Pinkstinks", die gegen Produkte, Werbe- und Medieninhalte agiert, die Kindern eine
eindeutige Geschlechterrolle zuweisen.

Frau Schmiede!, wo liegt bei der sogenannten Pinkifizierung eigentlich das Problem?
5 Es sind doch nur Farben .. .
Wenn es nur um Farben ginge, wäre das wunderbar. Wenn also der Junge auch eine
rosa Mütze tragen könnte und das Mädchen eine blaue, ohne dass das ständig kom-
mentiert würde. Das hat sich in den letzten zehn Jahren intensiviert. Verständlich, weil
die Wirtschaft damit unglaublich viel Geld verdient[ ...]. Das Problem ist die Einengung,
10 die wir Kindern damit aufdrücken. Wenn ein Junge gern mit Puppen spielt, heißt es
ganz schnell, der sei zu weich. Dann bekommt er mit vier Jahren im Kindergarten zu
hören, er sei schwul.

Was macht das mit den Kindern?


Die Stereotype übertragen sich. Wenn ein Junge immer wieder hört, er sei schwul,
15 dann glaubt er, dass das schlimm sei. Dadurch entsteht schon früh Homophobie.
Außerdem vermittelt es den Kindern das Gefühl, dass sie nicht geliebt werden. Weil
sie so, wie sie sind, nicht akzeptiert sind. Das macht Angst - und die Kinder versuchen
sich anzupassen.

Aber wenn das Mädchen nun unbedingt die pinke Barbie-Puppe haben möchte...
20 Man muss die Produkte nicht gleich boykottieren und nur noch alternative oder ge-
schlechterneutrale Sachen kaufen. Damit kann man seinem Kind auch Schwierigkeiten
bereiten, weil es sich dann vielleicht einer Welt nicht zugehörig fühlt. Vielmehr sollten
sich Eltern gemeinsam dagegen verbünden und damit der Wirtschaft zeigen, wie wü-
tend sie über diese Entwicklung sind. Außerdem sollte man den Kindern erklären, was
25 dahinter steckt - jedoch ohne erhobenen Zeigefinger.

Wie hat sich das Gender-Marketing in den vergangenen Jahren entwickelt?


Das ist viel mehr geworden. Ich bin selbst immer überrascht, was es inzwischen alles
gibt - vom Mineralwasser für Mädchen bis hin zu Gewürzgurken. Sogar Monopoly gibt
30 in zwei Farben. Selbst das Bobby Car gibt es in Pink und Blau. [.. .]

Eigentlich ist die Gesellschaft doch sensibler geworden[... ]


Eine gebildete Masse ist definitiv sensibler geworden und agiert auch differenzierter.
Aber wir sehen zum Beispiel an dem Aufstieg der AfD oder dem Protest in Baden-Würt-
temberg gegen die neuen Bildungspläne zur sexuellen Vielfalt als Unterrichtsthema,
35 dass es immer noch viel Widerstand gegen alles gibt, was mit Gender zu tun hat.

Interview: Melanie Reinsch, Frankfurter Rundschau, 3. I .2017

Aufgaben
1. Erarbeiten Sie die Kritik, die Schmiede! formuliert.

2. Verdeutlichen Sie an weiteren Beispielen, was unter „Pinkifizierung" verstanden wird.

3. Diskutieren Sie, inwiefern diese Kritik gerechtfertigt ist.


1 .1 .2 Gruppen und soziale Rollen
Leitfragen Was bedeutet der Begriff Wodurch zeichnen sich Welche Bedeutung haben
der „sozialen Rolle"? Gruppen aus? Gruppen für den Einzelnen?

Merkmale von Gruppen

Soz iale Gruppen sind die Bausteine der Gesell- essen. Diese Gruppen sind i. d. R. klein und dienen
sch aft. Sie sind soziale Gebilde, die immer da nn persönlichen Bedürfnissen (Kommunikation, Ge-
entstehen, wenn sich mindestens zwei Menschen sellig keit, Geborgenheit usw.), die in den Groß-
als Gruppe begreifen. Typische Merkmale einer gruppen nicht befriedigt werden kö nne n.
soz ialen Gruppe sind:

• eine bestimmte Anzahl vo n Mitgliedern Gruppenrollen


• gemeinsame Interessen und Ziele
• ein gemeinsames Normen- und Wertesystem Die Mitglieder einer Gruppe nehmen i. d. R. unter-
• u nterschiedliche aufeina nder bezogene Rollen schiedlich e gruppentypische Positionen bzw. Rol-
und Positionen len ein. So g ibt es z.B. Anführer, Beliebte, Mitläu-
• ein „Wir- Gefühl". fer, Sündenböcke und Auße nseiter. Ma n darf sich
Gruppe n aber nicht als statische Gebilde vorstel-
len - vielmehr befind en sie sich in einem stetigen
Wie unterscheiden sich Gruppen voneinander? Prozess der Verä nderung, der Entwicklung oder
des Konflikts. Ma n spricht deshalb auch von
Soziale Gruppen lassen sich in v ier Kategorein Gruppe ndy n amik. Sie besch reibt die v ielfält igen
einteilen: sozialen Interaktionen zwischen den Gruppe nmit-
gliedern u nd wird durch mehrere Faktoren be-
Primärgruppen werden durch gefühlsmäßige und stimmt (Größe, Zusa mmenhalt, Füh rung der
persönliche Bindungen der Mitglieder zueinander Gruppe).
cha rakterisiert. Die bedeutendste Primärgruppe ist
die Fa milie, in der das Indiv iduum seine grundle- Gruppe n grenzen sich vo n a nderen ab. Gruppen-
genden sozialen Erfahrungen macht. Andere Bei- gr enzen h aben die Funktion, Mitglieder innerhalb
spie le sind die Nachba rschaftsgruppe oder die und Nichtmitglieder „draußen" zu halte n. Diese
Clique. Grenzen werden auch ma rkiert oder durc h Sym-
bole dargestellt. Oft bildet sich innerhalb einer
In den Sekundärgruppen sind die Beziehungen Gruppe ein spezielles Vokabular heraus, das eben-
der Mitglieder zueinander stärker durch recht liche falls zur Abgrenzu ng und zur Stä rkung des „Wir-
und form ale Regelungen b estimmt. Die sozialen Gefühls" beiträgt. Da neben hilft ein „gemeinsa-
Beziehungen sind unpersönliche r und zwecko- mer Gegne r", die Zusammengehörigkeit zu
rien tiert. Wir fin den sie in Betriebe n, Schulen und stä rken. Spo rtgruppen fu nktionieren auf diese
in Organisationen wie Gewerksch aften oder Par- Weise, auch die häufig zu beobachtenden Rivali-
teie n. täten von Do rfgemeinschaften im lä ndlichen
Raum folgen diesem Prin zip. Die Mitg liedschaft in
Formelle Gruppen findet man überall dort, wo einer Gruppe muss für ihre Mitglieder aber nicht
Me nschen pla nvoll ein gemeinsames Ziel errei- nur Geborgenheit bedeuten. Vielmehr erleben v ie-
chen wolle n, also insbesondere im beruflichen le Menschen eine n Gruppenzwang.
Be reich. Unternehmen oder a uch a ndere Organi-
sationen sin d in erster Linie fo rma l strukturiert.
Soziale Rolle
Informelle Gruppen bilden sich innerhalb der fo r-
mellen Gruppen und Organisationen au fg rund Die moderne Soziologie geht davon aus, dass j eder
persönlicher Zuneigung oder gem einsamer Inter- Mensch inn erhalb der Gesellschaft und in Grup-
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

pen ganz bestimmte soziale Positionen einnimmt, von Intrarollenkonflikten, wenn einzelne Rollen-
so z.B. in der Familie, in de r Schulklasse, im Be- segmente n icht ve reinbar sind, d. h. wenn die Er-
rufsleben usw. Diese Positionen sind mit bestimm- wartungen unterschiedlicher Pe rsonengruppen an
ten Erwartungen ve rbunden, die sich allerdings eine bestimmte Rolle gegensätzlich sind. Um ei-
nicht an das Indiv iduum, vielmehr an die Position nen Inte rrollenkonflikt handelt es sich, wenn die
richten. Diese gebündelten Erwa rtungen nennt Erwartungen verschiedener Rollen einer Person in
ma n Rolle. Konflikt miteinander geraten bzw. unvereinbar
sind.
Soziologische Rollentheorien wollen beschreiben,
wie und warum Menschen ihr soziales Ve rhalten
an den Erwartungen orientieren, die die Gesell- Habitus
sch aft a n sie hera nträgt, wie gesellschaftlich vor-
gegebene Rollen erle rnt, verin nerlicht, ausgefüllt Ein anderes soziologisches Modell, das versucht
und verändert we rden. Der Begriff der Rolle hat das Ve rhältnis des Menschen zu seine r Umwelt
mittlerweile auch Eingang in die Alltagssprache und sein Verhalten zu erklären, ist der Habitus.
gefunden: Wir sprechen davon, dass ,jemand a us Da mit sind Gewohnheiten, das Denken und Füh-
der Rolle fä llt" oder „keine Rolle mehr spielt", v on len und das gesamte Auftreten, also auch der Le-
einer eindeut igen „Rollenverteilung" innerhalb bensstil, die Sprache, Kleidung und (Essens-, Mu-
einer Organisation usw. sik-, Kunst-)Geschmack usw. gemeint. Die
Soziologen, die den Habit us-Begriff eingefüh rt
ha ben, gehen davo n aus, dass der Habit us verin-
Rollenkonflikte nerlicht wird und ein Teil des eigene n Selbst, ja
sogar des eigene n Körpers, ist. Deshalb kann man
In den Sozialwissenschaften werden zwei Arten den Habitus auch nicht ablegen. Er ist stark ab-
von Rollenkonflikten unterschiede n. Man spricht hä ngig vo n der sozialen Herkunft des Einzelnen.

Aufgaben
1. Stellen Sie dar, wie die Merkmale sozialer Gruppen auch für eine Gruppe gelten, der Sie selbst angehören.

2. Nennen Sie Beispiele für Intra- und lnterrollenkonflikte.

3. Vergleichen Sie die Konzepte Rolle, Habitus und Identität miteinander. Wo sind Unterschiede, w o Gemein-
samkeiten?
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Das Asch-Experiment

Ein bekanntes Experiment, das den sog. Konformitätsdruck durch die Gruppe belegte,
wurde 1956 von dem polnisch-amerikanischen Sozialpsychologen Solomon Asch
(1907-1996) durchgeführt. Er wollte feststellen, was den Einzelnen dazu veranlasst,
Gruppendruck nachzugeben oder ihm zu widerstehen.

s Der Versuch:
Eine Strecke (in der Abbildung links) wurde auf eine Leinwand projiziert. Rechts davon
wurden drei Vergleichsstrecken gezeigt. Die Versuchsperson sollte nun von den Stre-
cken auf der rechten Seite die benennen, die in ihrer Länge derjenigen auf der linken
Seite entspräche. (Die Unterschiede der Strecken auf der rechten Seite waren sehr
10 eindeutig.) Der Versuch wurde natürlich mit unterschiedlich langen Strecken mehrmals

wiederholt. Im Raum befand sich neben der einzelnen Versuchsperson noch eine
Gruppe von „eingeweihten" Helfern des Versuchsleiters. Die Versuchsperson wurde in
dem Glauben gelassen, dass es sich bei dieser Gruppe um weitere Versuchsteilnehmer
handle. Alle Personen im Raum (Versuchsperson und Helfer des Versuchsleiters) wur-
1s den nun aufgefordert, ihre Urteile über die „ richtige" Linie öffentlich abzugeben. Die
instruierten Helfer gaben absichtlich als Antwort falsche Vergleichslinien an. Die Ver-
suchsperson stand nun in der Situation, dass ihrem eindeutigen (richtigen) Sinnesein-
druck von der Gruppe der anderen einhellig widersprochen wurde. Die Versuchsper-
son stand nun unbewusst vor der Frage: Benenne ich meinen Sinneseindruck, von
20 dem ich glaube, dass es der richtige ist, oder passe ich mich dem Gruppendruck an

und wähle die falsche Vergleichslinie?

I
Standardreiz
t Vergleichsreiz

B e o b a c h t u n g

lnstru er e He fer Versuchs-


person
1
Beurteilungssituation

'
Abgabe der Beurteilung in Gegenwart anderer
Nach: A lexander Thomas, Grundriss der Sozialpsycholgie, Göttingen 1992, S. 97.ff.

Ergebnisse:
Bei 12 Versuchswiederholungen
• passten sich ca. 75 Prozent der Testpersonen mindestens einmal dem falschen
Urteil der Gruppe an;
• ließen sich ca. 25 Prozent der Testpersonen nicht von der Gruppe beeinflussen und
verhielten sich nicht konform.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 2 Gruppenzwang im Vorschulalter

Wie Kleinkinder mit Informationen umgehen, die sie von Gleichaltrigen erhalten, haben
[..] Daniel Haun, der sowohl am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und
am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik forscht, und Michael Tomasello vom
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie untersucht. An ihrer Studie nahmen
s 96 vierjährige Mädchen und Jungen aus 24 verschiedenen Kindergartengruppen teil.
,,Uns interessierte, inwiefern bereits Kleinkinder ihre öffentliche Meinung an der Mehr-
heitsmeinung ausrichten, auch wenn sich diese ganz offensichtlich nicht mit ihrer ei-
genen deckt", sagt Daniel Haun.
Am ersten Teil der Studie nahmen pro Durchgang vier Kinder teil. Sie erhielten schein-
10 bar identische Bücher mit jeweils 30 Doppelseiten, auf denen Tierfamilien dargestellt

waren. Links waren Mutter, Vater und Kind zusammen, rechts nur jeweils ein Familien-
mitglied. Die Kinder sollten nun bestimmen, um welches Familienmitglied es sich han-
delte. Aber nur drei der Bücher waren tatsächlich identisch, beim vierten war manch-
mal auf der rechten Seite ein anderes Bild zu sehen. Die Kinder dachten jedoch, dass
,s sie alle die gleichen Bücher vor sich hatten. ,,Das Kind, welches das abweichende
Buch erhalten hatte, wurde mit der aus seiner Sicht völlig falschen Einschätzung drei-
er Gleichaltriger konfrontiert", erklärt Haun. ,,Von 24 Kindern passten sich 18 Kinder in
einem oder mehreren Fällen dieser mehrheitlichen Einschätzung an , obwohl sie es
eigentlich besser wussten".
20 Aus welchen Gründen sich bereits Vorschulkinder der Mehrheit anpassen, untersuch-

ten die Forscher im zweiten Teil der Studie. Abhängig davon, ob eine Lampe leuchte-
te oder nicht, sollten die Kinder nun die richtige Lösung entweder laut aussprechen
oder still auf das entsprechende Tier zeigen, sodass nur der Studienleiter, nicht aber
die anderen Kinder die Antwort sehen konnten. Von 18 Kindern, die nicht der Mehrheit
2s angehörten, übernahmen 12 in einem oder mehreren Fällen deren Einschätzung, wenn

sie ihre Antwort laut aussprechen mussten. Sollten sie hingegen still auf die richtige
Antwort zeigen, übernahmen nur 8 von 18 Kindern die Mehrheitsmeinung. Die Kinder
passten also in der Regel ihre öffentliche nicht aber ihre private Antwort an die Mehr-
heit an. Das deutet darauf hin, dass die Anpassung soziale Gründe hat, wie zum Bei-
30 spiel die Akzeptanz innerhalb der Gruppe. ,,Bereits vierjährige Kinder unterliegen einem

gewissen Gruppenzwang und beugen sich diesem zum Teil aus sozialen Beweggrün-
den", so Daniel Haun.
Max-Planck-Gesellschaft [SJ/BA], www.mpg.de, 25.10.2 01 1

Aufgaben
1. Erläutern Sie die Anordnung und das Ergebnis des Asch-Experiments (M 1).

2. Definieren Sie vor dem Hintergrund des Experiments den Begriff „Konformitätsdruck".

3. Erläutern Sie die Versuchsanordnung des Experiments mit den Vorschulkindern und erklä-
ren Sie das Ergebnis vor dem Hintergrund des Asch-Experiments (M 2).

4. Erklären Sie, inwiefern der Konformitätsdruck im menschlichen Sozialverhalten eine zentra-


le Rolle spielt.

5. Beurteilen Sie die Aussage des Soziologien F. Tenbruck zur Bedeutung der sozialen Grup-
pe: .,Unsere Stellung in und zu der Gesellschaft als Ganzem bemisst sich nach unserer
Zugehörigkeit zu ihren Gruppen. [... ) Wer in keiner Gruppe Anerkennung, Zuneigung, Lob
findet, beginnt an seinem Selbstwert zu zweifeln, mit eventuell schweren und dauernden
psychischen Schäden."
Aspekte gesellschaftlichen Wandels
1 .2 .1 Demografischer Wandel

Leitfragen Welche Bereiche sind Welche Faktoren verur- Wie könnten Durch welche Merkmale
vom sozialen Wandel sachen gesellschaftliche zukünftige zeichnet sich die
betroffen? Veränderungen? Entwicklungen „moderne
aussehen? Gesellschaft" aus?

Was bestimmt die Struktur der Bevölkerung?

Spätestens seit dem Jahr 1998 - als das Wort Deutschland, sondern auch in vielen Gesellschaf-
,,Rent nerschwemme" zum Un wort des Jahres ge- ten Europas und Nordamerikas in ähnlicher Form
kürt wurde - hörte man immer häufiger von der feststellen kan n. Diese Veränderungen betreffen
,,demografischen Zeitbombe" bzw. wurden „Rent- drei Faktoren, welche die Bevölkerungsstruktu r
nerberge" prognostiziert oder der bevorstehende bestimmen:
„Krieg der Ge nerationen" angekündigt. Seitdem
ist der Wandel der Bevölkerungsstruktur aus de r • Geburten (generatives Verhalten: Geburtenzah-
öffentlichen Diskussion nicht meh r fortzudenken. len, Anzahl der Kinder pro Frau);
Diese Schlagworte beschreiben die demografi- • Lebensdauer (Lebenserwartung, Sterblichkeit);
schen Veränderungen, die man nicht nur in • Migration (Zu- und Abwanderung).

Geburten und Sterbefälle


in Deutschland in Tausend
1946 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 00 05 10 15•
1 400 1 357

1 300

1 200

Sterbefälle

900

800
814
4
~ ~
700
~
600 .............. cR)....... ...
500 Ge burte n
Tsd.
1~81 © Glob"' Quelle: Statistisches Bundesamt Stand Juli 2016 'vorläufig
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

Geburtenrückgang niedrigsten Geburtenraten - und das, obwohl


sich Umfragen zufolge mehr als 80 Prozent der
Seit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhun- bundesdeutschen Bevölkerung ein Kind wün-
dert sind die Geburtenraten in Deutschland und schen. Die Ursachen fü r diese Entwicklung sind
den meisten Industrienationen ständig gefallen. vielfältig (s. u.).
Unterbrochen wurde dieser historische Trend
durch den sog. Baby-Boom, der unmittelbar auf In der DDR lagen die Geburtenraten deutlich über
die Folgen des Zweiten Weltkriegs zurückzufüh- den westdeutschen; mit dem Ende des sozialisti-
ren ist und in Westdeutschland Ende der l 950er schen Systems 1989/90 gingen die Geburtenzif-
Jahre ausbrach. Dieser dauerte bis zur Mitte der fern schlagartig zurück. Ähnlich verhielt es sich
l 960er Jahre an (,,Pillenknick"). Seit über zwei auch mit der Anzahl der Eheschließungen und
Jahrzehnten hat Deutschland eine der weltweit Scheidungen.

Mögliche Gründe für den Geburtenrückgang in Deutschland

Persönliche Gründe Medizinische Gründe


• Erwerbstätigkeit und Emanzipation der Frau • Empfängnisverhütung
• Gestiegener Bildungsgrad • Alter (von Mann/ Frau)
• Lange Ausbildungszeiten • Erkrankung
• Allgemeine Lebenslage
• Lebensstandard
• Fehlender Partner
• Zukunftseinschätzung
• Kind als Störung, Last
• Erfüllung des Kinderwunsches wurde zu lange
herausgeschoben
Politische Gründe Gesellschaftliche/ wirtschaftliche Gründe
• unzureichende staatliche Leistungen • Steigerung der Lebensansprüche
(Kindergeld, Elterngeld) • Hohe Kosten für Bildung und Ausbildung der
• unzureichende Kinderbetreuungsangebote Kinder
(Kindergärten, Ganztagsschulen) • Wohnungsgröße
• Familienleitbild • Geringes Familieneinkommen
• Arbeitslosigkeit

Wolfgang Wildfeuer / Wolfgang Beutel, Wochenschau Sekundarstufe /, Heft 3 / 4, 2 005, Sozialer Wandel, S. 105

Anstieg der Lebenserwartung und neun Monate. Die höhere Lebenserwartung


der Frauen lässt sich nicht eindeutig erklären. Eine
Der Anstieg der Lebenserwartung ist ein zweiter mögliche Ursache liegt im gesundheitsbewusste-
Trend, den man beim demografischen Wandel ren Lebensstil, den Frauen eher als die Män ner
einbeziehen muss. Als Ursachen gelten pflegen; aber auch Arbeitsbedingungen spielen
bei der Lebenserwartung eine Rolle, üben Männer
• der medizinische Fortschritt, doch häufiger als Frauen gefährliche und körper-
• die verbesserte Hygiene, lich belastende Berufe aus.
• die verbesserte Gesundheitsversorgung der Be-
völkeru ng und
• die allgemeine Steigerung des Wohlstands. Wie wandelt sich die Bevölkerungsstruktur?

Die durchschnittliche Lebenserwartung der Frau- Halten die beiden beschriebenen Trends an, so ist
en liegt bei 83,4 Jahren und neun Monaten mit folgenden Entwicklungen zu rechnen:
gegenüber 68,5 Jahren im Jahr 1950, die Lebens-
erwartung der Männer stieg im selbe n Zeitraum • Der Anteil der jüngeren Menschen an der Ge-
von 64 Jahre und fünf Monaten auf 78,4 Jahre samtbevölkerung nimmt ab, während der Anteil
1.2 Aspekte gesellschaftlichen Wandels 1

der Älteren und damit auch das Durchschnittsal- fung der Gesellschaft in der Bundesrepublik ko m-
ter insgesamt steigen. Auch die Zuwanderung men, die bereits heute Auswirkungen auf die so-
wird an dieser Entwicklung wenig ändern, zu- zialen Sicherungssysteme, auf das Zusammenleben
mal viele europäische Länder mit ähnlichen der Menschen und auch auf den Arbeitsmarkt
Problemen zu kämpfen ha ben. Für die Lebens- haben werden (>Kap. 1.2.6).
planung bedeutet die zunehmende Lebenser-
wartung, dass für das Leben und Wohnen im
Alter zunehmend neue Modelle entwickelt wer- Wie sich Zu- und Abwanderung auswirken
den müssen.
Die Migration, also die Zu- und Abwanderung
• Die Menschen werden länger Re nte beziehen, von Menschen, ist ein weiterer wichtiger Faktor
die Anzahl der Pflegebedürftigen wird anstei- der Bevölkerungsentwicklung. Wanderungen be-
gen. Das bedeutet steigende Kosten für Gesund- einflussen maßgeblich die Sozial- und Alters-
heitsversorgung und Alterssicherung. struktur der Gesellschaft. In Deutschland spielten
sie immer eine besondere Rolle. So kam es infolge
• Diese Entwicklung ka nn den Generationenver- des Zweiten Weltkrieges zu massiver Flucht und
trag erheblich belasten. Derzeit kommen 100 Vertreibung von Menschen a us den ehemaligen
Erwerbstätige für die soziale Absicherung von Ostteilen des Landes. Diese Ost- West- Wanderu ng
32 Rentnern auf, Schätzungen des Statistischen war von großer Bedeutung für die Nachkriegsent-
Bundesamts zufolge müssten sie im Jahr 2050 wicklung beider deutscher Staaten. So galt es zu-
doppelt so v iele Ruheständler versorgen. Des- nächst, die Flüchtl inge in die Gesellschaften zu
halb wird in diesem Zusammenha ng auch vo n integrieren, was im Westen nach anfänglichen
einen möglichen Generatione nkonflikt, von Schwierigkeiten g ut gelang. Die „Vertriebenen",
Verteilungskämpfen zwischen Jung und Alt ge- wie man diese Menschen fortan nannte, wurden
sprochen und mehr Gerechtigkeit für die j ünge- zu einem wesentlichen Faktor des westdeutschen
re Generation gefordert, damit diese nicht allein ,,Nachkriegswirtsc haftswunders".
die Lasten dieser Entwicklung zu t ragen hat.
Die Bundesrepublik zählte auch in den Folgejah-
• Das Angebot an Arbeitskräften kön nte sich ren zu den wichtigsten Einwanderungsländern der
deutlich verringern u nd ältere Arbeitnehmer Welt. Ab den 1950er-Jahren ka men a ngeworbene
werden einen größeren Anteil der Belegschaften Arbeitskräfte aus Südeu ropa hi nzu, d ie im Laufe
in den Unternehmen a usmachen. der Zeit ihre Familien nachholten und dauerhaft
in Deutschland blieben. Die Einwa nderungen lös-
Bleiben diese Trends so erhalten, kann es sowohl ten hier ein Bevölkeru ngswachstum aus und wirk-
zu einer Überalterung als auch zu einer Schrump- ten positiv a uf die wirtschaftliche und soziale
Entwicklung. 2015 hatten 17, 1 Mio. Menschen in
Deutschland ei ne „Migrationsgeschichte". In der
DDR verlief die Entwicklung hingegen anders:
Generationenvertrag Hier schrumpfte die Bevölkerung seit den 1950er
Politische Bezeichnung für das Grundprinzip der Jahren durch Abwanderungen. Die Massenfl ucht
gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland, am Ende der l 980er-Jahre war schließlich ursäch-
dem zufolge immer der gerade (i. d. R. nicht-selbst- lich für den Zusammenbruch des Staates. Seit dem
ständig) arbeitende Teil der Bevölkerung für die Ende de r DDR sind 2,6 Mio. Menschen von Ost-
Rentenzahlungen an den nicht mehr arbeitenden nach Westdeutschland gezogen, hingegen aber
Teil aufkommt, d. h., die im laufe eines Erwerbsle-
nur ca. 1,6 Mio. von West- nach Ostdeutschland.
bens gezahlten Rentenbeiträge summieren sich
nicht zu einem Kapitalstock, von dem die spätere
Rente bezahlt wird, vielmehr wird durch die gezahl- Seit 201 5 stellt die Einwanderung von mehreren
ten Rentenbeiträge lediglich eine Anwartschaft auf Hunderttausend Flüchtlingen vor allem aus dem
Rentenzahlung erworben. Nahen Osten Staat und Gesellschaft vor neue He-
rausforderungen. Wie sich diese Zuwanderu ng
Klaus Schubert / Martina Klein, Das Politiklexikon -
Begriffe, Fakten , Zusamme11hii11ge, 201 6, S. 128 langfristig auswirken wird, bleibt abzuwarten
(>Kap. 6.2.5).
1 Die moderne Gesellschaft in Deu tschland

Wie aussagekräftig sind Menschen auswirken, d. h. Sozial- und Infrastru k-


Bevölkerungsprognosen? turen verändern sich nachhaltig. Gerade diese
Entwicklung gilt es rechtzeitig zu erkennen und
Viele Gesellschaftswissenschaftler zweifeln an der zu gestalten, denn sonst werden die „Schreckens-
Aussagekraft von Prognosen, weil man heute szenarien" von entvölkerten Stadtteilen und ver-
nicht absehen könne, wie sich die Bevölke rungs- ödeten Landschaften Wirklichkeit.
struktur entwickle. Prognosen seien nur Modelle,
und un vorhergesehene Umstände könnten die Si-
tuation schlagartig ändern. So habe man in der Wie hat die Politik bereits auf den
Vergangenheit weder die Weltkriege noch die An- demografischen Wandel reagiert?
ti- Baby-Pille oder die Einwanderung von Arbeits-
migranten absehen können, und diese hätte n die Seit geraumer Zeit versucht die Politik, auf den
demografische Entwicklung der letzten 50 J ahre gesellschaftlichen Wandel zu reagieren u nd die-
in Deutschland sta rk geprägt. sen zu gestalten. Maßnahmen sind z. B.:

Zudem werden in den gesellschaftspolitischen • Reform der Alterssicherung (Renten- und Pfle-
Diskussionen der jüngsten Zeit immer häufiger die geversicherung, Anhebung des Rentenalters,
Cha ncen betont, die mit dem demografischen Förderung der Eigenvorsorge)
Wandel verbunden sind, denn die längere gesun- • Stärkere Anreize fü r die Familiengründu ng
de und aktive Lebensspanne der Bevölkerung er- (Kindergeld, Ausbau der Kinderbetreuungsein-
öffnet nicht nur für die Wi rtschaft zusätzliche richtu ngen, Steuerfreibeträge, Elternzeit, El-
Wachstumspot enziale, da v iele Me nschen a uch im te rngeld, flexiblere Arbeitszeitmodelle);
Alter noch arbeiten können und wollen. Der de- • Öffentliche Debatte u nd Aufklärung;
mografische Wandel wird sich a uch auf die Sied- • Kontrollierte Zuwa nderung (z.B. Zuwande-
lungsstrukturen und das Zusammenleben de r rungsgesetz)

Deutsche Lebensbäume

Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland

1910 Alter in Jahren 1950 2016* Alter in Jahren 2060* Alter in Jahren
100 100 j 100 ...
95 ' 95 L
d i 90 l d d J 90 1. d -
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. . . 65 . . .
• 65 . . - 65 -

- 350 -
- 55 - - 55 -

... 45 -..
. . 50 -

.1111111 40 --.. - 45 -
..... 2205 -- -- 2250 --
000 150 500
1 250
15
10
5
0
250 500 150 1doo
Einwohner in Tausend Einwohner in Tausend Einwohner in Tausend
1doo 150 500 250
-1-50 --
- 15 -

°
Einwohner in Tausend
250 500 75() , 000

~
•Annahmen der Vorausberechnungen: Steigerung de< Lebenserwartl.Wlg bei Geburt auf 84.8 Jahre bei
Jungen und 88,8 JalYe bei Mädchen b is z:um Jahr 2060; Sinken der jährlichen Differenz von Zu- und
o Globus Abwanderung auf plus 100000 Menschen ab 2021: Geburten 1,4 Kinder je Frau

Aufg abe
Erläutern Sie die Ursachen und Auswirkungen der demografischen Entwicklung in Deutschland.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Demografie-Angst: Völlig unbegründet?

Gerd Bosbach, Professor für Statistik und Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung
an der Hochschule Koblenz, im Interview mit Deutschlandradiokultur.

Das Lamento kennen Sie bestimmt: Wir werden immer weniger. Deutschland schrumpft.
Und bestimmt kennen Sie auch den von der Statistik und Experten immer gern be-
s mühten demografischen Wandel. [.. .] Es gibt ja das schöne Sprichwort: ,,Traue keiner
Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast." Stimmt also der neue Trend? Werden wir
gar nicht weniger? Die Voraussagen der letzten 40 Jahre sind nicht eingetroffen.

Bosbach: Was die fernere Zukunft anbetrifft, kann ich nichts voraussagen. Allerdings
hat man uns jetzt seit 40 Jahren schon vorausgesagt, dass wir wegen zu wenigen
10 Kindern halt immer kleiner werden in Deutschland. Und in den letzten 40 Jahren hat
das nicht zugetroffen, noch ohne die Flüchtlingsströme. Jetzt kommen viele Flüchtlin-
ge zu uns, auch viele junge Flüchtlinge, die auch Kinder haben oder Kinder bekommen
werden. Das heißt, es ist eher wahrscheinlich, dass zumindest in den nächsten Jahren
die Bevölkerung weiter wächst, wie sie seit 1970 gewachsen ist.

1s Das ist ja schon ungeheuerlich, denn man hat ja wirklich, wie Sie ja selber sagten,
jahrzehntelang gedacht, dass wir diesen demografischen Wandel haben werden. Müs-
sen wir den jetzt abblasen?

Bosbach: Ich würde den demografischen Wandel gar nicht so fokussieren auf die
Bevölkerungszahl. Was ist schlimm daran, wenn wie in einer Stadt wie Köln mit einer
20 Million halt zehn Prozent weniger da sind? Wir hätten alle mehr Platz, mehr Raum, und
Arbeitslose würden sich freuen, dass sie eben eine Chance auf dem Arbeitsmarkt
haben.
Die Hauptangst wurde ja vor der Alterung gezeichnet. Wir werden immer älter, und
immer mehr Rentner, und das können wir uns gar nicht leisten. [...]
2s Aber ich sage einfach nur mal [ .. .), gucken Sie doch mal ins vergangene Jahrhundert
hinein. Was ist denn im vergangenen Jahrhundert passiert? Wir sind um dreißig Jahre
gealtert im Schnitt, der Kinderanteil hat sich halbiert, der Rentneranteil hat sich mehr
als verdreifacht.
Also aus heutiger Sicht, aus der Demografie-Angst heraus, müsste das letzte Jahrhun-
30 dert eine wirtschaftlich-soziale Katastrophe gewesen sein, bei dieser Alterung, weniger
Kinder, mehr Rentner. Und stattdessen ist der Sozialstaat explodiert, ist der Wohlstand
für alle explodiert. Das heißt, diese Faktoren mit Alterung, weniger Kinder, führen über-
haupt nicht automatisch zu weniger Wohlstand und weniger Sozialstaat.

Aber Fakt bleibt doch, dass wir immer älter werden. Das ist ja eine Tatsache, die wir
3s ja auch belegen können. Und die Sicherung der Altersversorgung wird natürlich auf
immer weniger Schultern verteilt.

Bosbach: Das „auf immer weniger Schultern" habe[... ] ich einfach mal umgerechnet.
Das wird so dramatisch dargestellt, weil man alle Veränderungen von 50 Jahren zu-
sammenzählt. Und natürlich, wenn man 50 Jahre zusammenzählt, kommt auch was
40 Größeres raus. Ich habe es mal auf die jährliche Veränderung umgerechnet.
Und zwar habe ich die Zahlen genommen, die als Angst-Zahlen in die Welt gesetzt
wurden. Und die habe ich mal angeguckt und auf eine jährliche Veränderung umge-
rechnet, und da kam ich zu einer ganz überraschenden Zahl, die habe ich auch mehr-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

fach nachgerechnet und mehrfach geprüft mit anderen Leuten. Ich kam darauf, dass
45 das pro Jahr etwa einen von 130 Erwerbstätigen ausmacht, die wir ersetzen müssen
wegen der Alterung. Einen von 130.
Als ich das halt einigen Zeitungsredakteuren vorgelegt hatte, haben die gesagt, die
wollen bei uns zehn Prozent kürzen, nicht einen von 130. Also die Alterung macht da
nur einen ganz, ganz kleinen Anteil an jährlicher Veränderung aus, und die Angst be-
50 kommen wir, weil die uns zusammengerechnet für 50 Jahre vorgelegt wird. Für For-
scher ist es schwer, das eigene Scheitern einzugestehen.

Das heißt, wer sind denn die? Das ist ja die etablierte Demografie, also die Wissen-
schaft von der Bevölkerungswirtschaft. Hat die sich geirrt, Ihrer Meinung nach ja dann
ja.

55 Bosbach: Ja, die hat sich geirrt. Die müsste ja auch schon längst ihre Vorhersagen
von 1990 oder 2000 zurücknehmen und sagen, es ist doch gar nicht so gekommen,
wie wir angenommen haben. Das tut sie nicht. Ich weiß jetzt auch nicht, ob da Bös-
willigkeit dahintersteckt.
Es ist für einen Forscher immer schwer, wenn man jahrzehntelang in eine Richtung
60 publiziert und anschließend sagt, oh, war alles falsch. Das ist das Erste. Und das
Zweite: Ich habe ja selber in dieser Demografenwelt halt mit diskutiert und war auf
Konferenzen von denen. Demografie, Bevölkerungswissenschaft, ist eigentlich ein
staubtrockenes Statistikthema. Ab 2000 etwa bekamen die plötzlich Forschungsgel-
der, bekamen die Öffentlichkeit, bekamen einige Leute mindestens einmal die Woche
65 ein großes Interview in der Zeitung. [... ]
Ich glaube nicht, dass die Politik der wissenschaftlichen Demografie folgt[... ]. Aber es
gibt ganz große lnteressensgruppen. Die größte lnteressensgruppe, oder die deut-
lichste, ist die Versicherungswirtschaft. Die Versicherungswirtschaft wollte an den ge-
setzlichen Rentenanteil, der immerhin zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus-
70 macht, teilhaben. Und eine zweite Gruppe, die auch ganz ehrlich sagt, wir wollen
Lohnnebenkosten senken, und der größte Teil der Lohnnebenkosten sind für die Ar-
beitgeber die Rentenbeiträge.

Interview: Na na Brink, www.deutschla11dradiokultur.de, 12.10.2015

Aufgaben

1 . Stellen Sie dar, weshalb wir nach Ansicht des Statistikers Bosbach keine Angst vor der
Zukunft haben sollten.

2. Erläutern Sie, weshalb dennoch immer wieder von der Demografie-Angst gesprochen wird.

3. Diskutieren Sie auf der Grundlage des Textes, inwiefern der demografische Wandel auch
Chancen mit sich bringt.
1 .2.2 Migration und Integration
Leitfragen Wer wandert ein Kann die Zuwanderung das Wo liegen Chancen und
und warum? demografische Problem lösen? Probleme der Integration?

Was ist Migration?

Migration bedeutet ursprünglich Wanderung und l 950er J ahren h at entscheidend zum sozialen
wird definiert als dauerhafte Verlagerung des Le- Wandel in Deutschland beigetragen. Ende 2016
bensmittelpunktes in eine andere Region oder eine lebten 82,5 Mill ionen Menschen in Deutschland,
andere Gesellsch aft. Es gibt v iele untersch iedliche von denen 18,6 Millionen eine n so gen annten
Formen der Migration. Man unterscheidet zum Migrationshintergrund hatten. Die Einwohnerzahl
Beispiel: steigt seit d em Jahr 2010 kontinuierlich an, weil
mehr Menschen nach Deutschland einwandern als
• Binnenmigration (Wohnortwechsel innerhalb wegziehen.
eines Staatsgebietes; innerhalb der EU spricht
man vo n EU-Binnenmigratio n)
• Emigration (Auswanderung, internationale Mi- Menschen mit
gration) Migrationshintergrund
• [mmigration (Einwanderung)
• Remigration (Rückwanderung) Das Statistische Bundesamt spricht (seit 2005) von
einer Person mit einem Migrationshintergrund,
wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht
Jede Migration ist mit der Hoffnung auf ein bes-
mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde.
seres Leben im Zielland verbunde n. Dabei ist sie Diese Definition umfasst zugewanderte und nicht
kein Phänomen der Modeme, denn Migration gibt zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer, zu-
es, seitdem es Menschen auf der Welt gibt. Histo- gewanderte und nicht zugewanderte Eingebürger-
rische Beispiel sind in der Antike die g riechische te, (Spät-) Aussiedlerinnen und (Spät-) Aussiedler
Kolonisatio n oder die so genannte Völkerwande- sowie die als Deutsche geborenen Nachkommen
dieser Gruppen.
rung, im Mittelalter bzw. frü her Neuzeit die Ver-
treibung der Jude n und der Hugenotten, im 19.
Jahrhundert die europäische Auswanderung in
die USA oder die Einwanderung ins Ruhrgebiet Die g roße Vielfalt der deutschen Gesellschaft
mit der Industrialisierung. sprachlich richtig darzustellen, ist nicht e infach.
Man spricht deshalb von einer „multiethnischen
Fragt ma n nach den Motiven für die Migratio n, Gesellschaft" und von Menschen mit „Migrations-
lasse n sich mehrere Migrationsformen unterschei- hi ntergrund".
den, wobei eine trennscharfe Abgrenzung schwie-
rig ist, da häufig mehrere Motive ursächlich s ind: Nach einer anderen Definition sind Migranten
Personen, d ie nicht eindeut ig ei nem Nationalstaat
• Fluchtmigration zugerechnet werden können, weil sie sich mehr als
• Fa miliennachzug einem Staat verbu nden füh len oder weil sie ihren
• Heiratsmigration Lebensmittelpunkt über Staatsgrenzen hinweg
• Arbeitsmigration verlegt haben. Danach gibt es in Deutschland u. a.
• Expertenmigration fo lgende Personengruppen mit z.T. unterschiedli-
• Armutsmigration chem rechtlichen Status:

• EU-Bürger (die aufgrund der Freizügigkeit in-


Wer sind die Migranten in Deutschland? nerhalb des EU-Binnenmarktes ihren Lebens-
mittelpu nkt verlegen);
Die Migration a usländischer Arbeitnehmerinnen • Spätau ssiedler (die als deutsche Staatsangehö-
und Arbeitneh mer sowie ihrer Familien seit den rige aus Osteuropa im Zuge eines speziellen
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

Aufnahmeverfahrens ihren Aufenthalt in wahrgenommen zu werden. Immer wieder müssen


Deutschland begründen) ; sie a uf die im Pri nzip gut gemeinte Frage, woher
• Asylbewerber, d ie vor politischer Verfolg ung in sie ko mmen, antworte n und das nur, weil ihr
ihrem Heimatland geflohen sind ; Name ausländisch klingt oder s ie eine dunkle
• Angehörige von in Deutschland lebenden Aus- Haut- oder Haarfarbe haben. Sie fühl en sich des-
ländern (Familiennachzug ); halb a usgegrenzt. Sie möchte n als Einheimische
• Arbeitsmigranten (Arbeit nehmer aus Staaten und n icht als Eingewa nderte angesprochen wer-
außerhalb der EU, etwa Saisonarbeiter, Pflege- den.
kräfte;
• Flüchtlinge (mit befristeter oder unbefristeter
Aufenthaltsgenehmigung) Migration und Bevölkerungsentwicklung

Der Zuzug vo n Migranten macht De utschland zu


Ist Migration eine Einbahnstraße? ei nem Einwanderungsland. Nach zahlreiche n
Maßna hmen zur Begrenzung der Zuwanderung
Lange Zeit hat man dies in Deutschla nd so gese- (z. B. Verschärfu ng des Asylrechts) wird sie heute
hen. Man ging davon aus, d ass Migration nur in zunehmend als Chance gesehen, der Schrumpfu ng
eine Richtung verläuft u nd sich die Eingewander- und Üb eralteru ng der deutschen Gesellschaft zu
ten an die Gesellschaft in De utschland a ngleichen begegnen. Auch der Fachkräftemangel in vielen
und assimilieren müssen, d ass sie also völlig in Bereichen der deutsche n Wirtschaft trägt zu ei-
der deutschen Gesellschaft „aufgehen" sollte n. nem Umdenken bei. Um d ie Probleme abzumil-
,.Die sollen sich integrieren !", ist deshalb eine im- dern, d ie durch den demografischen Wandel ent-
mer wieder erhobene Forderu ng. Man fordert, stehen, müssten nach Berechnungen der UNO
dass die „Neuen" so werden wie die „Alten". Diese langfristig über eine halbe Million Menschen pro
Anfo rderu ng an die Eingewanderten geht von der Jah r nach Deutschland einwandern.
Tatsache aus, dass die Gesellschaft aus einem
„Wir" und „Anderen" besteht (> Ka p. 1.1.2) und
ignoriert, dass das „Wir" sehr vielfält ig ist. Man Integrationspolitik
kan n Integration a uch anders verstehen und zwar
im Hinblick auf die Gesellschaft als Ganze. Migra nten tragen v iel zur wirtsc haftlichen Ent-
wicklung Deutschlands bei u nd bereichern das
So versteht man beispielsweise unter der euro päi- Zusammenleben a uch kultu rell. Faktisch ist die
schen Integration das Zusammenwachsen und Bu ndesrepublik seit den J960er Jahren ein Ein-
den Zusammenhalt zwische n den europäischen wande rungsland, auch wenn die Politik diese Tat-
St aaten, der sich aber immer wieder verändert. sache lange Zeit nicht anerkannt hat. Deshalb hat
Beide Formen, die Integration in eine Gesellschaft man es versäumt, frü hzeitig über ein tragfähiges
und die Integratio n als Gesellschaft sollte man Konzept zur Integration nachzudenken. So mus-
zusammende nken. Deshalb fo rdern einige Sozial- sten die Städte u nd Gemeinden als Orte der sozia-
wissenschaftler auch, die Integration als Aufgabe le n Integration in der Einwanderungsgesellschaft
von allen Menschen zu begreifen, die in Deutsch- die Aufgabe der Integration selbständig meistern.
land leben. Dazu gehörten a uch Konfli kte und Es g ibt trotz unübersehbarer sozialer Brennpu n k-
Reibungen, aber auch Annä herung, Sympathie te mittlerweile eine Vielzahl vo n Beispielen und
und Neugierde. Integrationsprozesse sind darüber langjährig erprobten Kon zepten gelungener In-
hinaus aber auch langwierige Prozesse, da man sie tegratfon im kommunalen Bereich.
nicht schnell erzwingen kann. Eine so ve rstande-
ne Integration kommt dem ursprünglich lateini- Mittlerweile hat man aber auch erkannt, dass man
sche n Wort sehr nahe: ,.integrare" bedeutet näm- Integration politisch steuern kann u nd muss. Seit
lich so viel wie etwas erneuern, ergänzen oder 2005 gibt es in Deutschland ein Zuw anderungs-
vervollständigen. gesetz, das den Aufent halt, die Erwerbstätigkeit
und d ie Integration vo n Ausländern in Deutsch-
Viele Deutsche, die a us Einwandererfamilien land regeln soll. Kernstück des Gesetzes sind In-
stammen, kämpfen dagegen, nur als Migra nt tegrat ionskurse, welche das Ziel verfolgen, die
1.2 Aspekte gesellschaftlichen Wandels 1

Integration der Migra nten im Sinne gesellschaft- fein von Vertretern der Bundesregierung, den
licher Teilhabe u nd Chancengleichheit zu fördern. Bundesländern, den Kommunen, Migrantenorga-
Dies soll über Sprachkurse, die Vermittl ung von nisationen, Verbänden der Wirtschaft, Sportver-
Wissen zur Orientierung im Alltag und von Kennt- bänden u nd vielen anderen zivilgesellschaftlichen
nissen über die Rechtsordnung u nd die Geschich- Gru ppierungen erarbeitet u nd verabschiedet wur-
te geschehen. Weiterhin entscheidet auch das Be- de. Er soll alle integrationspolitischen Maßnah-
stehen eines staatsbürgerkundlichen Tests über men bündel n und enthält zahlreiche Selbstver-
die Einbürgerung. Diese Tests sind nach wie vor pflichtungen, um eine bessere Integration der
umstritten. Weitere Neuregelungen des Zuwande- Migrantinnen und Migranten zu erreichen. Auf
rungsgesetzes betreffen das Asylrecht. der Grundlage dieses Integrationsplans ist schließ-
lich ein „Aktionsplan zur Umsetzung" beschlossen
Seit 2007 gibt es in Deutschland einen Nationalen worden, der ko nkrete politische Handlungsfelder
Integrationsplan der auf den sog. Integrationsgip- (z.B. Sprache, Bildung usw.) benennt.

Phasen der Ausländerpolitik in Deutschland bis 2015

1980-1998 Abwehr und Begrenzung


Deutschland ist Ziel von Flüchtlingen aus internationa-
len Krisengebieten; 1980 gibt es 108.000 Asylbewerber.
Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge kommen in den
1973-1980 Konsolidierung 1990er Jahren vor allem aus Bosnien-Herzegowina und
Durch Familiennachzug und Geburten aus dem Kosovo. In Deutschland werden Begrenzungs-
steigt die ausländische Wohnbevölke- maßnahmen diskutiert, das Asylrecht wird 1993 einge-
rung an, obwohl die Arbeitnehmerzahl schränkt (,,Drittstaatenregelung"); die Einbürgerung wird
unter 2 Mio. sinkt; teilweise besteht In- erleichtert (Rechtsanspruch nach 15 Jahren Dauerau-
teresse an Einwanderung. fenthalt). Die Zahl der erwerbstätigen Ausländer steigt
zwischen 1987 und 1993 von 1,8 auf 3,0 Mio.

1950 1960 1970 1980 1990 2000

1955 - 1973 Anwerbung seit 1998 Akzeptanz und Integration


Arbeitskräfte aus Mittelmeerländern werden auf- Stärkeres Bemühen, Ausländer zu akzeptieren
grund des Arbeitskräftemangels in Deutschland und zu integrieren; der Anwerbestopp wird 2000
angeworben; etwa 14 Mio. Ausländer kommen, für IT-Spezialisten aufgehoben; das geänderte
etwa 11 Mio. kehren zurück (Rotationsprinzip). Staatsangehörigkeitsgesetz erleichtert erneut die
Amtlich als Ausländer bezeichnet, werden sie in der Einbürgerung: Demnach besteht ein Einbürge-
Öffentlichkeit „Gastarbeiter" genannt. 1956 wird rungsanspruch nach acht Jahren Daueraufenthalt.
das erste Ausländergesetz verabschiedet; 1973 Die doppelte Staatsbürgerschaft kann mit Opti-
erfolgt ein Anwerbestopp wegen Ölkrise und Wirt- onsrecht bis zum 23. Lebensjahr gewährt werden.
schaftsrezession. 2005 tritt das Zuwanderungsgesetz in Kraft.

Die Flüchtlingssituation seit 2015 - Schulturnhallen, Zelten und Containern u nterge-


Schaffen wir das? bracht wurden. Beim Bundesamt für Migration
u nd Flüchtlinge (BAMF), das für die Asylverfah-
Im Jahr 2015 kamen 890.000 Flüchtlinge nach ren zuständig ist, häuften sich unterdessen Hun-
Deutschland. Im Jahr 2016 waren es noch 280.000. derttausende von Anträgen. Darüber hinaus galt
Die meisten von ihnen kamen aus dem Bürger- u nd gilt es, Konzepte zu entwickeln und umzuset-
kriegsland Syrien. Die Einwanderung de r Flücht- zen, wie die vielen Menschen lang- und länger-
linge traf Deutschland relativ unvorbereitet. So fristig in Deutschland leben können. Vom Woh-
fehlte es überall a n geeigneten Unterkü nften, wes- nungsbau über Sprach- u nd Integrationskurse bis
halb die Flüchtlinge in den ersten Monaten in hin zur Integration der vielen Flüchtlingsldnder in
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

das Schulwese n sind vor allem die Lä nder und Jugendlichen verringert. Dennoch haben die
Gemeinden gefordert. Ohne die Unterstütz ung PISA-Studien gezeigt, dass Jugendliche mit
von vielen Tausend FreiwiHigen, die sich in der Migrationshintergru nd im Vergleich zu ihren Al-
Flüchtlingsarbeit ehre namtlich engagieren, ist die tersgenossen ohne Migrationshintergrund we-
Situation immer noch nicht zu meistern. sentlich geringere Chancen haben, eine Realschu -
le oder ei n Gymnasium zu besuchen, auch wenn
Aber nichtjeder heißt die Flüchtlinge in Deutsch- sie derselben sozialen Schicht angehören. Deut-
la nd willkommen. Viele Menschen haben Angst, lich schlechtere Chancen haben Einwanderer auch
dass der Sozialstaat überlastet wird, dass ihr eige- in der Berufsausbildung. Von der Bevölkerung
ner Lebensstandard sinken könnte oder sie keine zwischen 25 und 65 Jahren mit Migrationshinter-
Wohnung mehr finden könnten. Auch befürchten grund hatte im J a hr 2011 (Mikrozensus) mehr als
sie die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Rechts- ein Drittel keinen Berufsabschluss (35,4 Prozent).
populistische Gruppen und Parteien wie Pegida Der Anteil war damit fast viermal so hoch wie bei
oder die AfD erhalten seith er starken Zulauf. In der gleichaltrigen Bevölkerung oh ne Migrations-
den sozialen Netzwerken vermehrten sich zudem hintergrund (9,2 Prozent).
die Hass- und Hetzkommentare und es gibt immer
häufiger Angriffe auf Menschen. Die Zuwande-
rung spaltet die Gesellschaft, was seit 2015 immer Welche Ursachen lassen
wieder durch neue Umfragen bestätigt wird; wäh- sich hierfür benennen?
rend ca. die Hälfte der Bevölkerung die Flüchtlin-
ge als Bereicherung der Gesellschaft begreift, Der geringere Schulerfolg der Kinder mit Migrati-
fürchtet die andere Hälfte sich allerdings eher. onshintergrund lässt sich soziologisch auf zwei
Weisen erklären. Zum einen sind diese Kinder mit
deutlich geringem „sozialen und kulturellen Ka-
Welche Problemlagen zeigen sich langfristig? pital" ausgestattet. Damit ist gemeint, dass sie
(und ihre Eltern) neben sprachlichen Defiziten und
Die sozialen Ungleichheiten zwischen den Zuge- anderen Umgangsformen auch sozial weniger
wanderten und der deutschen Mehrheitsgesell- vernetzt sind. Die führt dazu, dass sie nur einfache
schaft sind nach wie vor erheblich. Sie schlagen oder mittlere Bildungsabschlüsse erlangen und
sich in deutlichen Unterschieden etwa in der Ar- eine geringere Erwerbsbeteiligung aufweisen.
beitslosenquote, im Einkommen und im Armuts- Zum anderen erweist sich das Bildungssystem als
risiko sowie in der Wohnsituation nieder. Hindern is, weil es den Kindern mit Migrationshin-
tergru nd zu wenig Zeit lässt, Defizite auszuglei-
Eine wichtige Rolle bei der sozialen Integration chen. Darüber hinaus haben sie beim Übertritt in
spielt die Bildung. Hier gelang es der zweiten Ein- die Sekundarstufe I nur selten Zugang zu Gy mn-
wanderergeneration, v iele Defizite abzubauen, asien. So haben Wissenschaftler herausgefunden,
auch wenn in diesem Bereich noch viel zu tun ist. dass Kinder mit Migrationshintergrund keine
Der Anteil der nichtdeutschen Abiturienten steigt Gymnasialempfehlung erhalten, auch wenn sie
kontinuierlich, während sich gleichzeitig der An- die gleichen Noten haben wie Kinder ohne Mig-
teil der Hauptschüler unter den ausländischen rationshintergrund.

Aufgaben
1 . Stellen Sie die Phasen der Migration nach Deutschland dar.

2. Benennen Sie einige Problemfelder, die sich mit der Migration ergeben. Unterscheiden Sie dabei zwischen
den Aufnahmeländern und den Ländern, die die Menschen verlassen.

3. ,,Integration kann nicht verordnet werden. Sie erfordert Anstrengungen von allen, vom Staat und von der Ge-
sellschaft, die aus Menschen mit und ohne Migrationshintergrund besteht." Erläutern Sie diese Feststellung
aus dem Vorwort des „Nationalen Integrationsplans".
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 „Diversität als gesellschaftliche Ressource"

Interview mit dem Migrationsforscher Jochen 0/tmer, Universität Osnabrück

Herr Oltmer, seit etwa zwei Jahren gibt es eine lebhafte Debatte über Fragen rund um
Flucht und Asyl. Begrüßen Sie das als Migrationsforscher?

Ich halte die seit vielen Monaten laufenden intensiven Debatte um Migration, Flucht und
5 Asyl für außerordentlich wichtig: Natürlich sind sie kontrovers, nicht wenige Äußerungen

sind platt, populistisch, zum Teil sogar schwer erträglich oder gefährlich. Aber wir leben
in einer Demokratie, in der die verschiedensten Akteure aushandeln sollen und aushan-
deln müssen, wie sie zu Fragen von Migration und Integration stehen. Wir haben in den
vergangenen Jahrzehnten erlebt, dass der Themenkomplex Migration nur relativ spora-
,o disch und wenig intensiv diskutiert worden ist. Die recht geringe Präsenz hat dazu
beigetragen, dass lange nur wenig Kenntnisse und Kompetenzen zu Migration und In-
tegration zu finden waren - wie könnte es auch anders sein. Wenn nicht über Gegen-
stände gesprochen wird, kann sich auch kein Wissen darüber verbreiten.

In Deutschland hat das Bundeskabinett gerade das Asylpaket II verabschiedet. Das


15 Gesetzespaket sieht u. a. vor, den Familiennachzug für subsidiär schutzberechtigte
Flüchtlinge für zwei Jahre auszusetzen und Abschiebehemmnisse abzubauen. Wie
bewerten Sie das Gesetzespaket?

Das Gesetzespaket ist zum einen geprägt durch die laufenden Wahlkämpfe. Es soll
Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft demonstrieren. Vor dem Hintergrund,
20 dass das Asylpaket I erst wenige Monate alt ist, fragt man sich: Warum muss ein Asyl-
paket II mit mehr oder minder identischen Regelungsbereichen innerhalb kürzester Frist
folgen? Die Antwort scheint mir zu sein: Weil sich die Ziele - Verminderung der Asylzu-
wanderung und Verstärkung der Rückkehrneigung bereits in Deutschland befindlicher
Flüchtlinge - nicht mit diesen Instrumenten umsetzen ließen. Ich gehe davon aus, dass
25 sehr bald weitere Asylpakete folgen werden, um immer wieder Handlungsfähigkeit zu
demonstrieren, obgleich die Regelungen wenig bewirken. Hinzu kommt: Es sind für die
kommenden Jahre diverse Gerichtsentscheide zu erwarten, die die beiden Asylpakete
Stück für Stück für rechtswidrig erklären werden. [ ... ]

Was bedeutet die starke Zunahme der Asylsuchenden für die deutsche Gesellschaft?
30 Welche Chancen und welche Herausforderungen sehen Sie?

Die Bundesrepublik kennt schon seit vielen Jahrzehnten die zunehmende Bedeutung
von Migration. Ich möchte nur an die 1990er Jahre erinnern, als es nicht nur starke
Zuwanderungen von Asylsuchenden und Flüchtlingen gab, sondern zugleich auch von
Aussiedlern, DDR-Zuwanderern oder von Arbeitsmigration aus dem östlichen Europa.
35 Natürlich gibt es - erneut - Herausforderungen: Die Behörden sind von der starken
Zuwanderung überrascht worden, es gibt weiterhin keine Übersicht über die Zuwan-
derungen, der größte Teil der Menschen, die 2015 gekommen sind, weiß noch nicht,
welchen Status er bekommt. Es gibt noch überhaupt keine Planungsziffern für Integra-
tion. Und Chancen: Die Bundesrepublik wird das Selbstverständnis als offene Repu-
40 blik, die Heterogenität und Diversität als gesellschaftliche Ressource versteht, weiter
ausbauen können. [ ...]

Kann die deutsche Gesellschaft eine unbegrenzte Zahl an Schutzsuchenden aufneh-


men? Was wäre die Alternative?
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

Eine unbegrenzte Zahl an Schutzsuchenden steht sicherlich nicht zu erwarten. Die


45 Aufnahme von Flüchtlingen ist auch weiterhin vor allem eine Herausforderung der ar-

men und ärmsten Staaten weltweit , nur ein geringer Teil der globalen Flüchtlinge er-
reicht Europa oder Deutschland. Und hier wäre auch der zentrale Anknüpfungspunkt:
Die globale Flüchtlingsfrage ist nicht neu, wir beobachten seit langem eine europäische
und auch deutsche „ Kultur des Wegschauens" - Europa hat sich in den vergangenen
so Jahren und Jahrzehnten nur sehr begrenzt um die globale Flüchtlingsfrage gekümmert,
hat von daher auch keine Kompetenzen und Kenntnisse im Umgang damit erworben
und hat das ohnehin sehr fragile globale Flüchtlingsregime in seinem Dämmerzustand
belassen.

Welche Probleme sind in der jetzigen Situation am drängendsten und welche Proble-
ss me kommen noch auf uns zu?

Ein Großteil der Flüchtlinge, die 2015 in die Bundesrepublik gekommen sind, wird
bleiben. Deutschland wird mit ihnen leben müssen und auch gut leben können. Maß-
nahmen von Grenzsicherung und Grenzschließung führen im Moment zu einem Rück-
gang der Zahl der Menschen, die Deutschland erreichen. Probleme haben aktuell vor
so allem die Flüchtlinge: Ihre Bewegungen werden riskanter, die Kosten steigen, die
Chancen schwinden, in Europa Aufnahme zu finden, vielleicht überhaupt Schutz und
Zukunft zu finden.

In terview: Sinah Grotefels / Sabine Schmidt-Peter, www.bpb.de, 10.3.201 6

M 2 Du dich anpassen

Karikatur: Ma rtin Erl

Aufgaben

1. Arbeiten Sie die Chancen und Herausforderungen heraus, die nach Oltmer auf die
deutsche Gesellschaft zukommen und erörtern Sie diese (M 1).

2. Erläutern Sie die Probleme, die er künftig auf die flüchtenden Menschen zukommen sieht.

3. Interpretieren Sie die Karikatur M 2 von Martin Erl (, Methodenkompetenz: Karikaturen


analysieren und interpretieren).

4. informieren Sie sich über den aktuellen Stand der Diskussion und vergleichen Ihre Ergeb-
nisse mit der Einschätzung von Oltmer.
1 .2.3 Familie und Pluralisierung der Lebensformen

Leitfragen Was sind Merkmale und Welche Faktoren haben Inwieweit hat sich d ie Ist die Familie
Funktionen der Familie? den Wandel von Ehe und Bedeutung der Familie ein Auslauf-
Familie beeinflusst? in den vergangenen modell?
Jahrzehnten verändert?

Was ist überhaupt eine Familie?

früher, in den späten 1950er und 1960er Jahren, • Die Familie übernimmt die Befriedigung emo-
war die Beantwortung der Frage „Was ist über- tionaler Bedürfnisse durch Schutz und Gebor-
haupt eine Familie?" einfach: Eine Familie ist ein genheit sowie die Ausbildung des Selbstwertge-
Ehepaar, bestehend aus einem Mann und e iner fühls;
Frau, das zusammen mit den leiblichen Kindern • Die Fami)je regelt die biologische Reprodukt ion
in e inem gemeinsamen Haushalt lebt. Der Mann einer Gesellschaft und ermöglicht als primäre
ist berufstätig und nimmt die Ernährerrolle ein, Sozialisatfonsinstanz, dass die Kinder den so-
die Frau kümmert sich um die Kinder und den zialen Ansprüchen und Erwartungen der Gesell-
Haushalt. schaft gerecht werden;
• Sie stärkt die Solidarität zwischen den Genera-
Diese so genan nte „eheliche Kernfamilie" wa r vor tionen;
50 Jahren weit verbreitet und galt als „normal". • Sie ermöglicht ihren Mitgliedern die soziale
Die Dominanz einer Lebensform ist histo risch a l- Platzierung, d. h., die Familie sorgt dafür, dass
lerdings eher ungewöhnlich. Insbesondere im 18. ihre Mitglieder in dem komplizierten Netz der
und 19., aber auch im 20. Jahrhundert gab es eine Rollen und Positionen innerhalb der Gesell-
große Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen schaft in der Lage sind, unterschiedliche Rollen
bzw. Familienkonstellationen, weil sich viele zu übernehmen und diese auszufüllen. Darüber
Menschen eine Heirat nicht leisten konnten oder hinaus bestimmt die Familie in hohem Maße die
standesrechtliche Heiratsverbote existieren. Darü- soziale Position, die ein Mensch in der Gesell-
ber hinaus war zudem das Risiko der Verwitwung schaft einnimmt.
sehr hoch, so dass v iele Menschen nach dem Tod
des Partners alleine lebten. Vielfalt war und ist
a lso ein typisches Merkmal vo n Familien. Wie verändern sich Familie und Lebensformen
im laufe der Zeit?
So verwundert es auch nicht, dass es keine ein-
heitliche Definition von Familie gibt, sie wird viel- Der Wandel vo n familiären und anderen Lebens-
mehr heutzutage als „moving target" beschrieben. formen umfasst folgende Aspekte:
Damit ist ihre Wandelbarkeit im historischen und
kulturellen Zusam menhang gemeint. Im deutsch- • Geburtenrückgang,
sprachigen Raum gilt heutzutage eine Eltern- • veränderte Rolle der Ehe und
Kind-Gemeinschaft als Familie. • Pluralisierung der Lebensformen.

Die verringerte Geburtenrate geht einher mit dem


Welche Funktion hat Familie? Rückgang der Ehehäufigkeit und dem Anstieg der
Scheidungsrate (mehr als j ede dritte Ehe wird wie-
Die Familie übernimmt als besondere soziale der geschieden). Nicht nur in Deutschland,
Gruppe w ichtige Aufgabe n für die Gesellschaft. sondern auch in v ielen anderen westlichen In-
Diese Funktionen der Familie sind in nahezu a l- dustriestaaten hat die Zahl der nichtehelichen
len Gesellschaften und Kulturen gleich, auch Lebensgemeinschaften in den vergangenen 20
wenn Familienformen von Gesellschaft zu Gesell- J ahren deutlich zugenommen. Die Eheschließung
schaft variieren und einem historischen Wandel findet später statt und hat immer mehr mit der
unterliegen. Erfüllung des Kinderwunsches und einer Schwan-
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

gerschaft zu tun. Die Zunahme der nichtehelichen Die Lebensformen neben der bürgerlichen Kernfa-
Lebensgemeinschaften muss aber auch im Zusam- milie sind so vielfältig und häufig geworden, dass
menhang mit strukturellen Veränderungen gese- man sie längst nicht mehr als unkonventionell be-
hen werden: Die Ausbildungszeiten insbesondere zeichnet, auch wenn die Familie mit Kindern im-
der Akademiker si nd lang, der Arbeitsmarkt for- mer noch die relative Mehrheit der Lebensformen
dert immer mehr Mobilität, was die gemeinsame bildet. Abweichungen vom traditionellen Modell
Lebensführung deutlich erschwert und häufig zu der Kernfamilie finden sich überdurchschnittlich
Wochenendbeziehungen führt. häufig in Großstädten und in höheren Bildungs-
schichten. Die Familiensoziologen beobachten seit
Der Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit seit dem einigen Jahren auch eine Zunahme der multiloka-
Ende der 1960er Jahre hat Millionen von Frauen len Mehrgenerationenfamilie. Zu dieser Familien-
die finanzielle Unabhängigkeit gebracht und ist form gehören neben den Mitgliedern der Eltern mit
auch Ausdruck eines tiefgreifenden gesellschaft- ihren Kindern auch die Großeltern, die zwar nicht
lichen Wertewandels, der die Einstellung zur Fa- im selben Ha ushalt, aber in erreichbarer Nähe woh-
milie deutlich verändert hat. Die Familie ist ein nen und sich um die Kinder kümmern, weil beide
Ort, der partnerschaftliche Beziehungen, Unab- Elternteile berufstätig sind.
häng igkeit und Selbstentfalt ung ermöglichen soll
und die Selbstaufopferung der Frau fü r die Fami-
lie i. d. R. abgeschafft hat. Wie hat die Politik auf den Wandel der Lebens-
formen reagiert?
An die Ehe werden dadurch immer neue und hö-
here Anforderungen gestellt. Sie wird hä ufig nicht Auch die Politik hat auf die Pluralisierung der Le-
mehr als eine Lebensgemeinschaft auf Dauer ge- bensformen in Deutschland reagiert. 2001 wurde
sehen, sondern vielmehr a ls Lebensabschni tts- per Gesetz die Institution der „eingetragenen Le-
partnerschaft. Die Ehe hat als Lebensform nicht an benspartnerschaft" geschaffen, welche im Ver-
Bedeutung verloren, lediglich ist die Bereitschaft gleich zur Ehe zwischen Mann und Frau mit den
der Menschen geringer geworde n, eine unglückli- gleichen Pflichten, aber weniger Rechten ausge-
che Ehe weiterzuführen. stattet war. Im Februar 2013 hatte das Bundesver-
fass ungsgericht gleichgeschlechtlichen Paaren
Neben der Ehe und dem „klassischen" Familienle- das Recht auf die sukzessive Adoption eingeräumt.
ben haben sich auf diese Weise v ielfältige neue Danach ko nnten gleichgeschlecht liche Partner ein
Formen des Zusammenlebens etabliert. Die Sozi- von ihrem einget ragenen Lebenspartner bereits
ologen sprechen deshalb von der Pluralisierung adoptiertes Kind oder auch leibliches Kind nach-
der Lebensformen. träglich adoptieren.

Es gibt Im Sommer 2017 verabschiedete der Bundestag


ein Gesetz, das die Ehe auch für gleichgeschlecht -
• Patchwork-Familien (zusammengesetzte Le- liche Paare erlaubt. Durch diese „Ehe für alle", die
bensgemeinschaften wie Stief- oder Fortset- es zuvor be reits in 14 europäischen Staaten gab,
zungsfamilien, freie Wohn- und Lebensgemein- wurden homosexuelle Paare heterosexuellen
schaften), rechtlich gleichgestellt. Das bedeutet, dass sie im
• Wochenendfamilien, Erb- und Steuerrecht, bei Unterhaltsregelungen
• gleichgeschlechtliche Lebensformen, oder auch der Adoption die gleichen Rechte besit-
• Regenbogenfamilien, in denen Kindern mit zen. Die „Ehe fü r alle" ist trotz der großen gesell-
gleichgeschlechtlichen Paaren leben, schaftlichen Akzeptanz (bei einer Befragung im
• verheiratete und unverheiratete Paare mit ge- Jahr 2016 sprachen sich 83 0/o der Bevölkerung
trennter oder gemeinsamer Wohnung, dafür aus) nicht unumstritten. Ihre Gegner beru-
• alleine rziehende Mütter und Väter sowie fen sich darauf, dass die Ehe als Verbindung zwi-
• Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen schen Mann und Frau eine lange Tradition habe.
allein leben und häufig pauschal als Singles be- Die „Ehe für alle" widerspreche auch der christli-
zeichnet werden. In Deutschland wa re n im Jahr chen Auffassung, wonach die Fortpflanzung Ziel
201 6 4 1°10 aller Haushalte Singlehaushalte. der Eh e sei.
1.2 Aspekte gesellschaftlichen Wandels 1

Lebensformen der Bevölkerung in Deutschland, 2013

Allein lebend 20 %

Alleinstehende in
Mehrpersonen-
2
%
haushalten

Lebenspartner

Lebenspartner
alleinerziehende Elternteile

Datenquelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen: Biß © Biß 2015 / demografie-portal.de

Aufgaben
1. Beschreiben Sie die Aufgaben, die die Familie in der Gesellschaft wahrnimmt.

2. Erklären Sie, was man unter der Pluralisierung der Lebensformen versteht.

3. Angesichts der vielfältigen Leistungen, die die Familie für die gesamte Gesellschaft erbringt, wird immer
wieder darüber nachgedacht, ob man Kinderlose nicht mit einer zusätzlichen Abgabe (Steuer) belasten soll.
Diskutieren Sie die Vor- und Nachteile einer solchen Regelung.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Drei Mythen über die Familie

Ein erster Mythos ist die weit verbreitete Annahme, es hätte eine Entwicklung von einer
vorindustriellen Groß- zu einer modernen Kleinfamilie gegeben. Ausgehend von der
Vorstellung, die Familie in der Vergangenheit sei typischerweise die Großfamilie gewe-
sen, in der drei Generationen zusammen unter einem Dach lebten, wird unterstellt, es
s hätte eine lineare Verkleinerung der Familie gegeben, die bis heute nicht zum Stillstand
gekommen ist. Aus heutiger Sicht ist klar, dass die Dreigenerationenfamilie in der
Vergangenheit nicht weit verbreitet, sondern eher die Ausnahme war. Vielfach dürften
Familien im 19. Jahrhundert kleinere Einheiten mit vier bis sechs Personen gewesen
sein, für die, im Unterschied zu heute, das Vorhandensein von Gesinde typisch war.
10 Die Kleinheit ergab sich aus einer Vielzahl von Gründen. Zu den wichtigsten gehörte

sicherlich die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit. In manchen Zeiten und Regio-
nen sind wohl bis zur Hälfte der Kinder während ihrer ersten drei Lebensjahre verstor-
ben.
Das Klischee der Familie als Hort von Harmonie und Glück kann ebenfalls getrost als
1s Mythos bezeichnet werden. Unter dem Diktat von Knappheit und Not war Familie
zumeist nicht der Harmonieraum, zu dem sie bis heute romantisiert wird. Vielmehr kann
davon ausgegangen werden, dass die Familie verbreitet ein Ort von Konflikten, Gewalt
und Unterdrückung war, unter der besonders Frauen und Kinder und nach der Hof-
übergabe auch Alte zu leiden hatten.
20 Weiterhin ist der Deutung entgegenzutreten, der Wandel der Familie sei im Sinne eines

fortschreitenden Funktionsverlusts erfolgt, in dem die Familie zunächst die Produkti-


onsfunktion abgegeben habe. Von einem progressiven Funktionsverlust der Familie
kann nach den Befunden der historischen Familienforschung nicht gesprochen wer-
den, bestenfalls von einer gewissen Spezialisierung. Entscheidend scheint nicht die
2s Abgabe von Funktionen zu sein, sondern die veränderte Form, in der sie heute erbracht

werden. Mit der These des Funktionswandels war die Annahme verknüpft, dass sich
diese Entwicklung auch auf die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Familie
ausgewirkt habe: Die von der unmittelbaren Subsistenzsicherung entlastete Kernfami-
lie schaffe Raum für Emotionalität, Intimität und Liebe zwischen den Partnern bzw.
30 zwischen Eltern und Kindern und stelle die moderne Familie auf eine völlig neue Grund-

lage. Eine solche Charakterisierung dürfte die Entwicklung überzeichnen, weil es


durchaus Befunde dafür gibt, dass auch vorindustrielle Familienbeziehungen nicht
ausschließlich instrumentell waren, wie ja umgekehrt heutzutage ökonomische oder
pragmatische Gesichtspunkte bei Eheschließungen bzw. Familiengründungen durch-
3s aus bedeutsam sind.

No rbert F. Schneider, Familie. Zwischen traditioneller Institution und individuell gestalteter Lebensform, in:
Stefan Hradil (Hrsg.): Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde, 2012, S. 95f
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 2 Brauchen Kinder einen Vater und eine Mutter, um sich wohl zu fühlen?

Gegner der Ehe für alle und der rechtlichen Gleichstellung beim Thema Adoption be-
harren darauf, dass zu einer Familie immer Vater und Mutter gehören würden. "Der
Einfluss eines Vaters und der Mutter sind wichtig für die Entwicklung eines Kindes. Das
lernt jeder Pädagoge", twitterte die AfD Berlin. Studien zur Entwicklung von Kindern
5 in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften kommen jedoch alle zu dem Ergebnis, dass
es den Kindern in Regenbogenfamilien gut geht. Ob Kinder mit homosexuellen oder
heterosexuellen Eltern aufwachsen, wirkt sich demnach nicht auf ihre Entwicklung aus.
Eine der längsten Studien zu diesem Thema wird seit 1986 in den USA durchgeführt
und begleitet Familien lebischer Paare. Forschungsleiterin Nanette Gartrell fand zwar
10 zusammen mit ihren Kollegen auch keine nachteiligen Auswirkungen der Homosexu-
alität der Eltern auf die Kinder. Weder wurden diese häufiger kriminell, noch beeinfluss-
te es deren eigene sexuelle Orientierung. Die Untersuchungsergebnisse weisen aber
darauf hin, dass das Erleben von Diskriminierung bei den Kindern zu Verhaltensauffäl-
ligkeiten führen kann. Im "Tagesspiegel" warnte sie 2013: "Ärzte und Therapeuten
15 sollten aufmerksam sein auf das negative Potenzial von homophoben Reaktionen".
Die erste größere, deutsche Studie zur Lebenssituation von Kindern in Lebenspartner-
schaften wurde durch das Justizministerium 2009 veröffentlicht. Das Fazit: Es gibt
keine nennenswerten Unterschiede bei der Entwicklung von Kindern von homo- oder
heterosexuellen Eltern. Die Regenbogenfamilie hatte auf Kinder eher Vorteile: Ein hö-
20 heres Selbstwertgefühl. [...)
Die Psychologin lna Bovenschen hat zusammen mit ihren Kollegen vom Expertise- und
Forschungszentrum Adoption (EFZA) internationale und nationale Studien zu diesem
Thema zusammengetragen. Sie kann die Kritik an den Studien nicht nachvollziehen.
"Nicht die Familienform ist für das Kindeswohl entscheidend, sondern die Art und
25 Weise, wie Familie gelebt wird" , sagt sie. Letztendlich kommen alle Studien zur Situ-
ation von Kindern in homosexuellen Partnerschaften zum gleichen Ergebnis: Es gibt
keine signifikanten Nachteile für Kinder.

Melanie Bender, Und was ist mit den Kindern? A RD Faktenfinder, 30.6.2017

Aufgaben
1. Erarbeiten Sie die Mythen, von denen Schneider im Hinblick auf den historischen Wandel
der Familie spricht (M 1).

2. Arbeiten Sie aus dem Text (M 2) die Ergebnisse der Untersuchungen von Kindern, die mit
gleichgeschlechtlichen Eltern leben, heraus und stellen Sie diese dar.

3. Diskutieren Sie, inwiefern die Einführung einer „Ehe für alle" ihre Berechtigung hat.
1 .2.4 Der Staat und die Familie

Leitfragen Inwiefern ist Wer ist für Was sind Leistungen des Wie sehen neuere
Familienpolitik Aufgabe familienpolitische Staates für Familien? Entwicklungen in
des Staates? Fragen zuständig? diesem Bereich aus?

Was leistet der Staat für die Familien?

„Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Länder und Gemeinden sorgen u. a. für:
Schutze der staatlichen Ordnung", heißt es in Ar-
tikel 6 des Grundgesetzes. Aus dieser besonderen • Wohnungsversorgung und Gestaltung eines
Verantwortung des Staates gegenüber der Ehe und kinder- und familiengerechten Wohnumfeldes;
Familie leitet sich die staatliche Familienpolitik • Kinderkrippen und Kindergärten;
ab. Allgemein versteht man darunter alle politi- • Schulen und Ganztagseinrichtungen;
schen Aktivitäten, die dem Schutz und der wirt- • öffentliche Spielplätze und Sportstätten ;
schaftlichen sowie sozialen Förderung der Famil ie • Beratungs- und Hilfseinrichtungen für die erzie-
dienen. henden Eltern und Kinder sowie Jugendliche.

Familienpolitik wird auch als Querschnittsaufga- Aufgrund der unterschiedlichen Regelungen in


be bezeichnet, weil sie kein abgegrenztes Politik- den Bundesländern kommt es bei der Versorgung
feld ist und wirtschafts- , sozial-, bildungs- sowie mit Kinderbetreuungseinrichtungen zu regionalen
wohnungsbaupolitische Themen aufgreift. Auf- Unterschieden. So gibt es in den östlichen Bun-
gru nd des föderalen Staatsaufbaus „teilen" sich desländern deutlich mehr Krippenplätze als im
Bund, Länder und Gemeinden die farnilienpoliti- Westen. Oder Bayern zahlt für Kinder unter drei
schen Aufgaben bzw. ergänzen sich in manchen Jahren, die nicht von ein er Tagesmutter oder in
Bereichen. einer Kinderbetreuungseinrichtung betreut wer-
den, ein Betreuungsgeld, da das 2013 auf Druck
Seitens des Bundes ist das Ministerium für Fami- der CSU eingeführte Betreuungsgeld für Kinder,
lie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ , ge- die zuhause betreut werden, vom Bundesverfas-
gründet 1953) für Familienpolitik zuständig. In sungsgericht für nichtig erklärt wurde.
den Ländern und Kommunen sind damit die Län-
derministerien, kommunale Beratungsstellen, Kir-
chen und Sozialverbände betraut. Zu den primä- Familienpolitik im laufe der Jahre
re n fam ilienpolitischen Aufgaben des Bundes
zählen beispielsweise: War d ie Familienpolitik in den ersten drei Jah r-
zehnten der Bundesrepublik noch eindeutig am
• die Zahlung von Kindergeld, Kinderzuschlägen, „männlichen Ernährermodell" orientiert, ist sie
Elterngeld, ElterngeldPlus; seit ca. 30 Jahren stärker auf die Vereinbarkeit von
• die Gewährung vo n Kinderfreibeträgen sowie Familie und Beruf ausgerichtet. So w urde im Lau-
des Familien- bzw. Ehegattensplittings in der fe der Zeit z.B. ein Mutterschutzurlaubsgeld
Steuergesetzgebung; ( 1979) eingeführt, das im Ja hr 1986 durch das
• die Gewährung und Finanzierung der Elternzeit; Erziehungsgeld abgelöst, welches formal beide
• die Regelung des Kündigungsschutzes für Müt- Elternteile in Anspruch nehmen konnten. Die ge-
ter in der Schwangerschaft und Eltern in der ringe Höhe von nur 600 DM verhinderte aber eine
Elternzeit im Arbeitsrecht; Inanspruchnahme durch die Mä nner, da diese
• Regelungen zur Kinderbetreuung; i. d. R. die Haupternährer und besser Verdienende n
• Anerkennung von Kindererziehungszeiten bei waren. Im Jahr 2007 wurde von der Großen Koa-
Berechnung der Rente; lit ion unter Angela Merkel (2005-2009) schließ-
• die Zahlung von Leistungen nach dem Bundes- lich das Elterngeld eingeführt, das bis 67 Prozent
ausbildungsförderungsgesetz (BAföG). (max. 1.800 Euro) des zuvor erhaltenen Netto-
1.2 Aspekte gesellschaftlichen Wandels 1

lohns ersetzt. Diese Lohnersatzleistung können ternzeit in die Vollzeit berufstät igkeit zurück, wäh-
Eltern bis zu 14 Mo nate la ng beziehen. rend die Mütter, wenn sie berufstätig sind, hä ufig
Teilzeit arbeite n. Die Frauen kehren früher, i. d. R.
Bereits v or de r Einführun g des Elterngeldes, im bereits nach eine m Jahr, in den Beruf zurück,
Zuge der „Nachhaltigen Familienp olitik" unter wenn sie zu vor berufstätig waren. Ob der A nstieg
den rot-grüne n Regierungen Gerhard Schröders der Geburtenrate seit 201 1 tatsäch lich a uf die Ein-
( 199 8-2005), wurde die Politik n eu ausgerichtet. führung des Elterngeldes zurückzuführen ist,
Fa m ilienpolitik wurde forta n nun auch betrieben, kann nicht genau festgestellt werden.
um die Geburtenzahlen zu erhöhen. Die Förde-
rung einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung in Das 201 5 neu eingeführte ElterngeldPlus s oll Fa-
den Familien und die Änderung des Rollenver- milien, die sich schon nach der Geburt fü r eine
ständnisses waren alle rdi ngs wen iger beabsich- Teilzeitbeschäfti gung entscheiden, unterstützten.
tigt. Das Elterngeld zeigte rasch Wirkung : So be- Sie können die Bezugsdauer a uf bis auf 28 Mona-
zogen im Ja hr 2010 schon 25,3 Prozent der Väter te ausdehnen. Das Eltern geld sta nd von Anbeginn
der in diesem Jah r geborenen Ki nder Eltern geld seiner Einfü hru ng in der Kritik. So wurde bemän-
u nd unterb rachen für zumindest zwei Monate (die gelt, dass es vor alle m gut und doppelt verdienen-
vom Gesetzgeber gefo rderten „Partnermo nate") de Eltern unterstütze, sich nach der Geburt ihrer
die Berufstätigkeit, um im ersten Lebensj ahr der Kinder eine „Auszeit" zu neh men. Da Eltern mit
Kinder Elternzeit z u nehmen. 2014 waren es be- geringerem Einkommen au ch weniger Elt erngeld
reits 34,2 D/o. Interessant dabei ist aber, dass d ie erh ielte n, könnten diese sich die lä ngere Elternzeit
Väte r nur unwesentlich lä nger als vom Gesetzge- gar nicht leisten. Diese Befürchtungen best ätigten
ber v orgeschrieben in Elte rnzeit bleiben, um den sich im Laufe der Jahre durch die empirisch en Da-
vollen A nspruch auf das Elterngeld zu haben. Dies ten.
liegt u. a. dara n, dass Mä nner im Durchschnitt im-
mer noch mehr verdienen als Frau en. Hä ufig fehlt In der Frage der Kinderbetreuung wurden in den
es in den Unternehmen a ber auch a n der notwen- vergangenen J a hren eben falls gesetzliche Ände-
d igen Unterstützung der Väter, auc h wenn dort run gen eingeführt: Auch hier galt la nge Zeit, dass
langsam ein Umde nken zu beobachte n ist. Anders es Aufgabe der Frauen sei, sich um Kinder und
als die Mütter kehre n aber die Väter nac h der EI- Familie zu k ümmern: Seit 2008 haben alle Kinder

Immer mehr Väter nehmen Elternzeit


Anteil der Neugeborenen, deren Vater Elterngeld bezogen hat, nach Geburtsjahr

35 % , - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -----:;;;c--

Durchschnittliche Bezugsdauer*
15 % ,__ _ _ _ _ _ _ _ Väter - 3, 1 Monate
Mütter 11,6 Monate

10 %
2008 2009 2010 2011 201 2 2013 2014
*für 2014 geborene Kinder

Quelle: Statistisches Bundesamt


1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

ab dem 3. Lebensjahr einen Anspruch auf einen Geldleistung soll die Differenz zum Vollzeitein-
Kindergartenplatz und dem I. August 2013 gilt kommen ausgleichen. Sie soll aber nur dann ge-
der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz währt werden, wenn beide Elternteile die Arbeits-
für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebens- zeit reduzieren. Damit soll erreicht werden, dass
jahr. Trotz der gesetzlichen Verpflichtung ist die vor allem Mütter, die nach der Geburt der Kinder
Versorgung längst noch nicht in allen Kommunen zumeist in Teilzeit oder geringfügig beschäftigt
auf dem gleichen Stand. sind, länger arbeiten und mehr verdienen, Väter
sollen so mehr in die Erziehung eingebunden wer-
Seit 2016 wird in der politischen Öffentlichkeit den. Zustimmung findet dieser Vorschlag v or al-
über die Einführung einer Familienarbeitszeit ge- lem bei SPD, den Grünen und Gewerkschaften,
stritten. Dabei sollen Eltern oder Alleinerziehende während Unternehmen und Wirtschaftsverbände
nach Ablauf der Elternzeit die Möglichkeit erhal- sowie die CSU ihn ablehnen, weil h ier ein neues
ten, eine Lohnersatzleistung zu erh alten, wenn sie Instrument geschaffen werden soll, dass in die
ihre Vollzeittätigkeit reduzieren. Diese staatliche unternehmerische Freiheit eingreife.

Aufgaben

1. Stellen Sie die unterschiedlichen Instrumente der Familienpolitik in Deutschland grafisch dar.

2. Wählen Sie aus den familienpolitischen Instrumenten eines aus, dass Ihnen besonders sinnvoll oder fragwür-
dig erscheint, und begründen Sie Ihre Auswahl.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Was könnte eine Familienarbeitszeit leisten?

[Die ehemalige Bundesfamilienministerin] Manuela Schwesig legt in Berlin ein Modell


zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf vor: Die Familienarbeitszeit. Ein Fa-
miliengeld soll Eltern unterstützen, in gleichem Umfang arbeiten und sich um die Fa-
milie kümmern zu können. Doch es ist an Voraussetzungen geknüpft. [. . .]

5 Junge Väter und Mütter wollen Zeit für die Familie haben und trotzdem berufstätig sein,
so die Umfragen. Deshalb bezeichnet [Bundesfamilienministerin] Schwesig ihr Modell
als ein Angebot für junge Eltern. Seiden Bedürfnisse wolle sie Rechnung tragen, sagt
sie: ,,Ich will Väter ermutigen, Zeit mit den Kindern zu verbringen und Mütter, weiter
beruftätig zu sein."
10 24 Monate lang sollen Eltern pro Kind ein Familiengeld von insgesamt 300 Euro, 150
Euro pro Partner {Alleinerziehende sollen 300 Euro bekommen) erhalten. Vorausset-
zung: Beide reduzieren ihre Arbeitszeit auf 80 - 90 Prozent ihrer regulären Vollzeit. Das
entspreche einer Arbeitszeit zwischen 28 und 36 Stunden die Woche. Schwesig be-
zeichnet diesen „Stundenkorridor als flexibel ".

15 Frauen vor Altersarmut schützen


Warum diese vollzeitnahe Regelung? Der Beruf muss existenzsichernd sein, erklärt die
Familienministerin. Nur 28 Prozent der Mütter mit Kindern zwischen ein und vier Jah-
ren gelänge es derzeit, mit ihren durchschnittlich 25 Wochenstunden ein Einkommen
oberhalb des Grundsicherungsniveaus zu erreichen - gegenüber 83 Prozent der Väter
20 mit Kindern im gleichen Alter. Auch das sei ein Grund für die bestehende Lohnlücke
zwischen Frauen und Männern in Deutschland, sagt Schwesig.
Die derzeit in Deutschland übliche Aufteilung der Arbeitszeit fördere zudem die Alter-
sarmut, fügt sie hinzu. Ihr Modell der Familienarbeitszeit und der vollzeitnahen Arbeit
soll diese negative Entwicklung verhindern und stattdessen die Angleichung berufli-
25 eher Entwicklungschancen und Löhne von Männern und Frauen unterstützen.

ElterngeldPlus war erster Schritt


60 Prozent der Eltern wünschten sich, dass beide Partner in gleichem Umfang arbeiten
und sich um die Familie kümmern können, zitiert Schwesig die Ergebnisse einer Studie
des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung {DIW). Doch nur einem kleinen Teil
30 von Eltern, derzeit 14 Prozent, würde das gelingen. Und laut Umfrage des Instituts für
Demoskopie Allensbach finden nur noch zehn Prozent der Eltern mit Kindern unter
sechs Jahren das Alleinverdienermodell ideal. Bisher aber trage nur das Elterngeld
dazu bei, dass Väter mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen können. Das gelte aber
nur innerhalb des ersten Lebensjahres.
35 Mit dem ElterngeldPlus habe sie eine Antwort auf das zweite Lebensjahr gegeben,
erklärt Schwesig. Das im Januar 2015 eingeführte ElterngeldPlus sei ein erster Schritt
in Richtung Familienarbeitszeit und bereits gut angenommen worden, fährt sie fort. Die
Möglichkeit, Elterngeldbezug und Teilzeitarbeit miteinander zu kombinieren, würden
bereits 18 Prozent der Eltern nutzen, regional seien es bis zu 28 Prozent. Ob ihr Kon-
40 zept einer modernen Familienpolitik in dieser Legislaturperiode noch in das parlamen-
tarische Verfahren kommt? Mit ihrem Modell der Familienarbeitszeit treffe sie den Nerv
junger Eltern, sagt Schwesig. Auch deshalb wolle sie mit hren Vorschlägen über die
Legislaturperiode hinausdenken, fügt sie hinzu. Das sei ihre Aufgabe als Ministerin.
,,Ich wollte es frühzeitig machen, damit es nicht im Wahlkampf untergeht", sagt sie.

Vera Rosigkeit, Familiena rbeitszeit, So will Manuela Schwesig den Nerv junger Familien treffen, in:
Vorwärts, 19.7.201 6
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 2 „Wir brauchen keine starren staatlichen Vorgaben zur Arbeitszeit."

Beruf und Kinder zu vereinbaren ist oft schwer. [Die ehemalige} Familienministerin
Schwesig plädiert daher für eine 32-Stunden-Woche. Die Wirtschaft protestiert.

Wirtschaftsverbände haben den Vorstoß von Bundesfamilienministerin Manuela Schwe-


sig (SPD) zu einer kürzeren Regelarbeitszeit für Eltern kleiner Kinder scharf zurückge-
5 wiesen. Auch die CSU winkte ab. Sympathie äußerten hingegen die Grünen.

Schwesig hatte dem Berliner „Tagesspiegel" gesagt: ,,Meine Vision ist die Familienar-
beitszeit." Vollzeit sollte für Eltern mit kleinen Kindern nicht 40 Stunden bedeuten, son-
dern zum Beispiel 32 Stunden. Eltern dürften in dieser Familienphase keine Nachteile
erleiden, wenn sie im Beruf zurücksteckten. Vielmehr müssten Arbeitgeber auf die Be-
,o dürfnisse junger Familien flexibel reagieren. Schwesig hatte hinzugefügt: ,,Das wird ein
Schwerpunkt meiner Familienpolitik sein: Ich will damit aufräumen, dass Eltern immer
wieder das Gefühl vermittelt bekommen, sie müssten sich zwischen Kind und Job ent-
scheiden. Beides muss möglich sein."
Von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BOA) kam harsche
15 Kritik: ,,Wir brauchen keine starren staatlichen Vorgaben zur Arbeitszeit. Die betriebliche

Realität ist längst von flexiblen Arbeitszeiten geprägt", sagte ein Sprecher der „Bild"-Zei-
tung. Wenn Eltern ihre Arbeitszeit reduzieren wollten, könnten sie das schon heute tun.
Die Politik sei vielmehr gefordert, den Ausbau der Kinderbetreuung weiter voranzubrin-
gen und mehr Ganztagsangebote zu schaffen.

20 ZDH: ,,Familienpolitik auf Kosten der Unternehmen"


Widerspruch kam auch vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). ZDH-Ge-
neralsekretär Holger Schwannecke erklärte in der „ Bild"-Zeitung: ,,Eine pauschale Re-
duzierung der Wochenarbeitszeit von Eltern auf 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich
- die Politik will offenbar Familienpolitik auf Kosten der Unternehmen betreiben". Der
25 Arbeitgeberverband Gesamtmetall verwies auf den Teilzeitanspruch in der Branche. ,,In
der Metall- und Elektro-Industrie gilt für die Mehrheit der Mitarbeiter die 35-Stunden-Wo-
che sowie für alle der grundsätzliche Anspruch aufTeilzeitarbeit", sagte Hauptgeschäfts-
führer Oliver Zander dem Blatt.
Auch die CSU hält von einer neuen Regelung nichts. ,,Vollzeit muss Vollizeit bleiben."
30 Eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit für Eltern auf 32 Stunden bei vollem Lohnaus-
gleich sei illusorisch und von den Betrieben nicht zu finanzieren, warnte der Vorsitzende
der CSU-Mittelstands-Union, Hans Michelbach. Er plädierte auch dafür, die Ausgestal-
tung familienfreundlicher Arbeitsbedingungen den Betrieben und Mitarbeitern zu über-
lassen. Das Modell der SPD- Ministerin würde die Arbeitskosten massiv in die Höhe
35 treiben und stelle die internationale Wettbewerbsfähigkeit erheblich infrage. Die Grünen
hingegen begrüßten den Vorstoß. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagte: ,,Die
Idee ist im Kern 'ne gute." Aber gemessen an den Aussagen im Koalitionsvertrag von
Union und SPD sei die Wahrscheinlichkeit groß, dass es eine Vision bleibe.

Mitte/bayrische (dpa), www.mittelbayrische.de, 9 . I .2014

Aufgaben
1. Erarbeiten Sie aus den beiden Texten M 1 und M 2 die Argumente, die für bzw. gegen die
Einführung der Familienarbeitszeit sprechen.

2. Diskutieren Sie, ob Sie die Einführung der Familienarbeitszeit per Gesetz als sinnvoll erach-
ten.
1 . 2. 5 Wandel der Geschlechterverhältn isse
Leit fragen Welche Fortschritte in der Gleichberechtigung In welchen Bereichen sind Frauen noch
der Geschlechter wurden erreicht? immer benachteiligt und warum?

Auf dem Weg zur Gleichstellung?

In Deutschland ist die Gleichberechtigung der Ge- j e höher das Gehalt sind, desto geringe r ist der
schlechter a ls gesellschaftliches Prinzip im Grund- Frau ena nteil. Auch wenn die Frauen zunehmend
gesetz verankert. Art. 3 Abs. 1 GG schreibt fest: Leitungspos it ionen einnehmen , sind die m eisten
„Mä nner und Frauen sind gleichberechtigt." Das Führungsetagen in Wi rtschaft und Verwaltu ng
Gru ndgesetz wurde 1994 da hingehend ergänzt, nach wie vor reine Mä nnerdomä nen. Selbst in den
dass die Förderung der „tatsächlichen Durchset- tradit ionell weiblich besetzten Berufsspa rten -
zung" der Gleichberechtigung von Frauen und etwa im Bildungs- und Gesundheitswesen - wer-
Männern sowie die „Beseitigung bestehender den die me isten Führungspositionen von Män-
Nachteile" zur Aufgabe des Staates erklärt wurde nern ausgeübt.
(Art. 3 Abs. 2 GG). Es dauerte aber noch bis zu m
J ahr 2006, bis ein Allgemeines Gleichbehand- Die Ursache n h ierfür sind v ielschichtig :
lungsgesetz (Antidiskriminierungsgesetz) vom
Bundestag verabschiedet w urde. Dieses Gesetz hat • Die klassische Rollenteilung in de r Fa milie ist
zum Ziel, ungerechtfertigte Benachte iligungen aus nach wie vor ein großes Hinde rnis für eine
Gründen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, weibliche Karriere. Fra uen tragen imme r noch
der Religion , der Weltanscha uung, einer Behinde- die Hauptverantwortung für Kindererziehung
rung, des Alters oder der sexuellen Identität zu u nd Haushaltsführung und verzichte n oft
verhindern und zu beseitigen. So müssen z.B. Stel- zugunsten der Familie auf eine beruflich e Kar-
lena nzeigen in Zeitungen so abgefasst werden, riere.
dass sich grundsätzlich j ede Interessentin bzw. j e-
der Interessent a uf die Stelle bewerben kann. • Auch infolge der oft schwierigen Vereinbarke it
v on Familie und Berufsteigen v iele qualifizier-
te Frauen v orübergehend aus dem Beruf aus
Worin bestehen die Benachteiligungen? oder wechseln in eine Teilzeitbeschäftigung,
während ihre männlichen Altersgenossen Kar-
Trotz dieser rechtlich forma len Gleichberecht i- riere mache n.
gung der Geschlechter erleben Fra uen in v ielen
Bereichen der Gesellschaft nach w ie v or deutliche • Die Berufswahl v ieler Fraue n verläuft weiterhi n
Ben achteiligungen. Obw ohl Mä dc hen und junge nach klassischen Muste rn: Sie entsch eiden sich
Fra uen ihre männlichen Altersgenossen be i den nach wie vo r hä ufig fü r „typisch weibliche"
höher qua lifizierten Schulabschlüssen mittlerwei- Ausbildungsgä nge und Studienfächer, die tradi-
le überholt haben, können sie ihren höheren Bil- tion ell oft gesellschaftlich weniger a nerka nnt
dungssta nd v ielfach nicht in bessere Berufscha n- und schlechter bezahlt sind a ls typische „Män-
cen umsetzen. Die Situation berufstätiger Frauen nerberufe".
ist oft gekennzeichnet durch
• Die Ursachen für das Lohngefälle sind allerdings
• schlechtere Ar beitsbedingungen , schwierig zu be nennen, da es vor a llem auf der
• gerin gere Bezahlung, Tatsache b eruht, dass Frauen andere Tätigkeiten
• Arbe itsplätze mit niedrige rem Sozialprestige so- ausüben a ls Männer, sie ihre Berufstätigke it
w ie (wegen de r Familie) öfter unterbreche n u nd des-
• ein höheres Armuts- und Arbeitsplatzrisiko. ha lb au ch von Fort- und Weiterbildung ausge-
schlossen sind bzw. ihnen deshalb auch die Be-
Hinsichtlich der beruflichen Aufstiegsch ancen gilt rufse rfa hrung fehlt. Es gibt aber dennoch eine
nach wie vor: Je höher die berufliche Position und Lücke, die sich nicht durch Bildung, Berufser-
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

fahrung, Teilzeit und spezifische Berufs- und riere in einem Unternehmen beende, auch wenn
Brancheneigenheiten erklären lässt. ihre Qualifikationen für höhere Positionen sprä-
chen. Ursachen dafür sei immer noch die starke
• Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass Bevorzugung männlicher Kollegen, da die Per-
Frauen im Laufe ihre r Berufstätigkeit immer sonalverantwortlichen befürchteten, die Frauen
wieder a n die „gläserne Decke" (glass ceiling) würden sich aufgrund ihrer fam iliären Ver-
stießen, eine unsichtbare Barriere, die ihre Kar- pflichtungen weniger engagieren.

Frauen in Spitzengremien 1111.IJ[II


Anteil der Frauen in den Vorständen und Aufsichtsräten der 200 größten Unternehmen Deutschlands
(ohne Finanzsektor) in Prozent

% 1
30 - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Anteil in den
Aufsichtsräten
30 % - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Frauenquote für Aufsichtsräte*

22,6
Anteil in den 19,7
20 Vorständen 18,4
15,1
12,9
11 ,9
9,8 10,6
8,6 9,3
10 7,8 8,2

2006 07 08 09 10 11 12 13 14 15 2016

• bei rund 100 börsennotierten und voll mitbestimmungspflichtigen Unternehmen sowie bei Aufsichtsgremien, in

[~.[
© Globus
denen dem Bund mindestens 3 Sitze zustehen; rund 3500 Unt ernehmen, die börsennotiert oder mitbestimmungs-
pflichtig sind, müssen sich (flexible) Frauenquoten für Vorstand, Aufsichtsrat, oberes und mittleres Management
selbst verordnen.
jeweils am Jahresende Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2017)

Wandel der Rollenbilder Diese Männer kämpfen aber häufig noch um An-
erkennung und werden oft als Ausnahmen wahr-
Trotz der häufig zu beobachtenden Festlegung der genommen, weil die traditionellen männlichen
Geschlechter auf ihre tradit ionellen Rollen lässt Lebensentwürfe nach wie vor dominieren. Sie ma-
sich beobachten, dass diese langsam in Bewegung chen nicht selten die Erfahrung, dass ihr „Abwei-
geraten. Vor allem im Selbstverständnis der Män- chen" von der traditionellen Rollenzuweisung mit
ner und ihrem Verhältnis zu Familie und Kindern Ausgrenzung und einem Karrierebruch einhergeht.
werden Veränderungen spürbar: Noch ha ben sich neue männliche Leitbilder gesell-
schaftlich nicht vollständig durchgesetzt.
• Zunehmend begreifen auch Männer die Betreu-
ung ihrer Kinde r als persönliche Bereicherung Die Politik hat, wenn auch häufig nur zögerlich,
und nehmen die Elternzeit für s ich in Anspruch; auf die ung leichen Chancen der Geschlechter mit
• Beide Elternteile teilen sich Haushalt und Kin- Gleichstellungsgesetzen und Frauenförderplänen
dererziehung und sind teilzeitberufstätig; reagiert, sodass zumindest im Staatsdienst die
• Immer mehr Männer erkennen, dass die Gleich- deutliche Unterrepräsenta nz von Frauen mittler-
berechtigung der Geschlechter eine notwendige weile rückläufig ist. Nach wie vo r fehlt es aber in
und positive Entwicklung für die gesamte Ge- vielen Bereichen a n einer zielgerichteten ge-
sellschaft darstellt. schlechtergerechten Personalplanung.
1.2 Aspekte gesellschaftlichen Wandels 1

Kann die Politik die Benachteiligung von 105 Unternehmen, in den Vorständen der übrigen
Frauen gesetzlich abmildern? Unternehmen ändere sich die Situation kaum,
denn dort lag der Frauenanteil im Sommer 2017
Kann die Politik den gesellschaftlichen Wandel immer noch bei 6, 1 °10. Deshalb wird nach wie vor
politisch steuern und beispielsweise über Gesetze eine Quotenregelung für alle Führungsebenen in
die Benachteiligung von Frauen abmildern oder Wirtschaft und öffentlicher Verwaltu ng gefordert.
gar ganz abschaffen? Darüber wird immer wieder
heftig debattiert. Seit Ende der l 990er Jahre gibt Ein anderes, ebenfalls sehr strittige Thema ist die
es mit dem gender mainstreaming eine neue Bekämpfung der Lohnungleichheit. Die Lücke
Strategie in der Politik fü r eine geschlechterge- zwischen den Löhnen und Gehältern, verändert
rechte Gesellschaft. Gender mainstreaming be- sich seit J ahren nicht. Deshalb fordern immer
deutet, in alle Entscheidungssituationen die Pers- mehr Politiker, Gewerkschaften und Verbände die
pektive des Geschlechterverhältnisses einzu- Einführung vo n mehr Transparenz in den Unter-
bringen und alle Entscheidungen im Sinne der nehmen. So ist im Sommer 2017 das „Entgelttra ns-
Gleichstellung der Geschlechter zu fä llen. Ge- parenzgesetz" in Kraft getreten, das die Forderung
schlechterpolitik meint also Politik für Männer nach „gleichem Lohn für gleiche oder gleichwer-
und Frauen und das Verhältnis zwischen ihnen. tige Arbeit" umsetzen soll. So müssen Arbeitgeber
Die Geschlechterrollen werden als historisch ge- mit mehr als 200 Beschäftigten auf Anfrage ihren
wachsen und damit auch als politisch gestaltbar Beschäftigten erläutern, nach welchen Kriterien
begriffen.

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Gesetze zu


verabschieden, die die Benachteiligung in einzel-
nen Bereichen direkt bestreffen (Gleichstellungs-
Die Lücke beim Gehalt
Durchschnittlicher Bruttostundenverdienst* 1

'
1
politik). So wurde beispielsweise lange über die von Frauen und Männern in Euro
Einführung einer Geschlechterquote bei der Be- in Westdeutschland
/
setzung von Führungspositionen gestritten. Be- (einschließlich Berlin)
fürworter verwiesen auf die Erfolge, die eine sol- - Männer - Frauen
che Quote in den EU-Partnerländern (z.B. in den in Ostdeutschland \,...,.._.,.,,.,/
1
skandinavischen Ländern, Frankreich, Niederlan- - Männer Frauen 1
1
1

1
de) erzielen kon nte, Gegner sahen darin nur eine 1
1

Differenz in Prozent 1
1
staatliche Bevormundung der Unternehmen und (Gender Pay Gap) 1
1

befürchteten eine Benachteiligung der Männer, '


2010 11 12 13 14
wenn nur „Quotenfraue n" in die Führungspositi-
onen kämen. Deshalb setzte die Politik, vo r allem
die Parteien CDU und CSU, lange Zeit auch auf
eine freiwillige Selbstverpflichtung der Unterneh-
men. Seit dem 1. Januar 201 6 gibt es allerdings
20

-
19,55
Euro
19,91
20,41 20,66
-
21,00

22,9
22,9
eine feste Geschlechterquote vo n 30 Prozent für West
23,7%
alle neu zu besetzende Aufsichtsratsposten in den 16,19
15,59 15,94
börsennotierten und voll mitbestimmten Unter-
nehmen. Darü ber hinaus wurden ca. 3500 weitere
Unternehmen dazu verpflichtet, eigene Zielgrößen
zur Erhöhung des Frauenanteils in Aufsichtsräten,
15
--
14,92

13,66
6,7%
15,23

13,91
Ost
14,19 14,41
7,9
-
14,78

8 ,7

13,50
Vorständen und obersten Management-Ebenen zu 13,03 13,28
12,75 12,88
setzen. Die Einfü hrung der Geschlechterquote
zeigte bereits im ersten Jah r Wirkung, im zweiten
10
Jahr nach der Einführung wurde sie mit 30,1 °10
Angaben ab 2011 vorläufig rundungsbed. Differenzen ~
(2017) erfüllt. Die zuständige Ministerin sah da rin
*unabhängig vom Beschäftigungsumfang (z.B. Vollzeit, Teilzeit) f7:!
einen großen Erfolg, Kritiker warfe n der Minis- und der Stellung im Beruf (z.B. Hilfs-, Führungskraft) '::l
teri n das „Schönreden" einer umstrittenen gesetz- Quelle: Statistisches Bundesamt © Globus 10176
lichen Regelung vor, denn sie gelte lediglich für
1 Die moderne Gesellschaft in Deu tschland

sie wie bezah lt werden. In größeren Betrieben nehmen in Deutschland. Neu ist, dass das Gesetz
bzw. Unterneh men muss regelmäßig über die Ein- j etzt eine ausdrückliche Regelu ng des Gebots der
haltung des Gleichheitsgrundsatzes bei der Bezah- Entgeltgleichheit für Frauen und Männer bei glei-
lung berichtet werden. Die Verpflichtung, beim cher und gleichwertiger Arbeit enthä lt und genau
Lohn n icht zu diskrimi nieren und geschlechtsbe- defini ert, was u nter g leichwertiger Arbeit zu ver-
zogene Diskriminierung zu beseitigen, galt schon stehen ist. Das Gesetz war von Anbeginn sehr
vor Inkrafttreten dieses Gesetzes fü r alle Unter- umstritten.

Karikatu r : Thomas Plaßmann

Aufgaben
1 . Stellen Sie den Wandel der Geschlechterrollen dar.

2. Erläutern Sie mögliche Gründe, die zur Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern führen.

3 . Untersuchen Sie Beispiele für Geschlechtergleichheit bzw. -ungleichheit in Ihrer Schule / Ihrem Umfeld.

4 . Entwickeln Sie ein Konzept, wiegender mainstreaming im Bereich der Schule aussehen könnte.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Lohngleichheitsgesetz: Unlauterer Eingriff in die Privatsphäre

Skandalös findet die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann die Tatsache, dass


Frauen und Männer für gleiche Arbeit bis heute teils ungleich bezahlt werden. Skep-
tisch sieht sie aber das neue Lohngleichheitsgesetz. Soll wirklich der Staat die Ge-
schlechtergerechtigkeit herstellen?

s Natürlich ist es skandalös, dass die gleiche Arbeit, die von Frauen und Männern ge-
leistet wird, zum Teil bis heute ungleich bewertet und bezahlt wird. Obwohl der Kampf
für die Gleichberechtigung der Geschlechter schon lange währt und dies auch in un-
serem Grundgesetz festgeschrieben ist. Dennoch stellt sich die Frage, wie wir dies in
möglichst vielen relevanten gesellschaftlichen Feldern erreichen? Der jüngste Versuch
10 [ ••. ] ist das Lohngleichheitsgesetz. Kern dieser Gesetzesinitiative ist aber nicht etwa

die tatsächliche Lohngleichheit, was mit der geltenden Tarifautonomie auch schwerlich
vereinbar wäre, sondern die Pflicht, über die vermutete Ungleichbehandlung zu infor-
mieren.
Wirtschaftsverbände und Arbeitgeber haben bereits die zugrunde liegenden statisti-
1s sehen Daten moniert. Denn die Lohnlücken entstehen unter anderem, weil Frauen
häufiger in den schlechter bezahlten Sozialberufen oder in Teilzeit arbeiten und fami-
lienbedingte Pausen einlegen. Zudem sind die avisierten Prüf- und Berichtspflichten
und die Offenlegung der Löhne und Gehälter mit einem immensen bürokratischen
Aufwand verbunden.

20 Transparenz versus Privatsphäre


Was aber darüber hinaus Zweifel an dem gesamten Vorhaben nährt, ist die staatliche
Anweisung zur Transparenz eines zwischen zwei Parteien eingegangenen Vertrags.
Dies berührt zum einen die Vertragsfreiheit und zum anderen die Privatsphäre der
Beschäftigten [ ... ]. Der Streit, inwieweit sich der Staat in die Angelegenheiten seiner
2s Bürger zum Zwecke der Erziehung und ihres Wohlergehens einmischen sollte, währt
seit Jahrhunderten. Wo soll er korrigierend eingreifen und wann handelt es sich um
eine paternalistische Übergriffigkeit? [... ]
Aber ist der Staat tatsächlich der richtige Akteur, um die traditionelle Geschlechterord-
nung und die damit verbundene Arbeitsteilung abzuschaffen? Er kann kluge Rahmen-
bedingungen setzen, um zum Beispiel die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu er-
30 leichtern. [... ] Inzwischen sind wir eigentlich erwachsen genug, um selbst für eine
Gleichberechtigung der Geschlechter einzutreten. Denn Selbstbestimmung und auto-
nomes Handeln lassen sich nicht staatlich verordnen.

Ulrike Ackermann, www.deutschla11dfu11kkultur.de, 15 .1.201 7

M 2 Männer werden besser bezahlt als Frauen. Transparenz würde helfen

taz: Frau Holst, wie oft kommt es vor, dass Frauen und Männer für die gleiche Arbeit
unterschiedlich bezahlt werden?
Elke Holst: Dafür habe ich nur grobe Anhaltspunkte. Denn genau das ist ja heutzutage
nicht transparent. [... ] Häufig wird befürchtet, dass Frauen ihren Berufsweg für Kinder
s unterbrechen und dem Unternehmen nicht rund um die Uhr zur Verfügung stehen.
Wohlgemerkt: Das muss im Einzelfall gar nicht zutreffen, aber derartige Risiken werden
bewusst oder unbewusst bei Frauen eingepreist. Bei den Männern wird hingegen
angenommen: Der muss mal eine Familie ernähren und wird sich dafür voll beruflich
engagieren.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

10 taz: Viele Firmen halten ihr Lohnsystem für geschlechtsneutral.


EH: Da muss man schauen, ob und warum die Frauen schlechter bezahlt werden. Wie
sehen die jeweiligen Anforderungen aus? Werden in Frauenjobs auch so hohe Boni
gezahlt wie in Männerjobs? Werden Frauen genauso schnell befördert w ie Männer?

taz: Viele Frauen wollen gar nicht aufsteigen, so jedenfalls sagen die Firmen.
15 EH: Wenn Führungsposten so angelegt sind, dass sie nur auszufüllen sind, wenn zu
Hause jemand kocht, putzt und die Kinder betreut, dann sehen sich viele Frauen vor
die Entscheidung gestellt: Karriere oder Familie. Hier ist mehr Flexibilität in den Unter-
nehmen nötig. Das könnte sich demnächst ändern, weil immer mehr Männer ebenfalls
Flexibilität einfordern.

20 taz: Demnach wird ja alles von allein voranschreiten und man braucht gar kein Gesetz.
EH: Die Frage ist: Wie lange wollen Sie warten? Sozialer Wandel geschieht gewöhnlich
unendlich langsam. Das sehen Sie an der Lohnlücke, die liegt seit Jahren bei 22 bis
23 Prozent.

taz: Wenn eine Chefin der Meinung ist, der Mann sei besser, dann hilft die schönste
25 Transparenz nicht, oder? Niemand wird sie daran hindern, den Mann besser zu bezah-
len.
EH: Ja, aber es ist natürlich viel schwerer, große Ungerechtigkeiten durchzusetzen,
wenn alle zugucken. Das wäre der Produktivität und dem Klima im Unternehmen sicher
nicht zuträglich.

30 Genau das fürchten die Arbeitgeberinnen. Unfrieden im Betrieb.


Das ist wohl auch Sinn des Gesetzes. Wo es unfair wird, da gibt es Unmut.

Zugleich sollen die Tarifparteien ihr Tarifgefüge verbessern. Dort werden typisch weib-
liche Tätigkeiten oft geringer bewertet als männliche. Wie soll das gehen, wenn doch
Tariffreiheit herrscht?
3s Die Gewerkschaften könnten dann Druck ausüben.

Tun sie doch bisher auch nicht.


Das Gesetz bringt aber Öffentlichkeit. Wenn ein Bericht Ungleichheiten offenlegt, dann
wird darüber geredet. Und das erzeugt mit Sicherheit Druck.

Elke Holst ist Forschungsdirektorin Gender Studies im Vorstandsbereich des Deutschen Instituts fü r
Wirtschaftsforschu11g Berlin (DIW} und Spezialistin für Gender Pay Gaps.

Interview: Heide Oestreich, w1vw.taz.de, 12.3.2015

Aufgaben
1 . Arbeiten Sie die Argumente aus dem Texten heraus, die für und gegen eine gesetzlich
eingeführte Lohntransparenz angeführt werden.

2. Erörtern Sie das Für und Wider einer gesetzlich geregelten Lohntransparenz.

3. Diskut ieren Sie auf der Grundlage der Texte und Materialien dieses Kapitels, ob Sie die
staatlichen Regulierungen zur Gleichberechtigung der Geschlechter grundsätzlich als
sinnvoll erachten.
METHODEN KOMPETENZ

Karikaturen analysieren und interpretieren

Das Wort Karikatur stammt ursprünglich aus dem dem ihn bewusst zum Nachdenken a nregen. Der
Italienische n (caricare) und meint „überladen" Karikaturist bedient sich dabei unterschiedlicher
oder „übertreiben". Karikaturen sind „gezeichnete gestalterischer Mittel, die bei der Analyse und In-
Meinungen", sie beziehen kritisch und polemisch terp retation berücksichtigt werden müssen. Des-
Stellung zu einem polit ischen, gesellschaftlichen halb sollten Karikaturen in einem ersten Schritt
oder ökonomischen Sachverhalt, kommentieren sehr genau beschrieben werden, um sie darauf
Ereignisse oder das Handeln von Personen. Sie aufbauend interpretieren zu können. Der fo lgende
wollen den Betrachter nicht nur unterhalte n, son- Leitfaden soll dabei helfen:

Schritt 1: Orientierung

• Was ist das Thema der Karikatur?


• Welche Informationen lassen sich über den Karikaturisten, den Veröffentlichungsort und das Datum fi nden?
(Wichtig bei nicht tagesaktuellen Karikaturen)

Schritt II: Beschreibung

• Wie ist die Karikat ur aufgebaut? Welche Text- und Bildelemente enthält sie?
Wie sind Vorder- und Hintergrund gestaltet?
• Wen oder was zeigt d ie Karikatur?
• Welche Symbolik und Metaphorik haben einzelne zeichnerische Elemente?
(Personifikationen auflösen, Symbole deuten, Mensch-Tier-Vergleiche untersuchen,
natürliche Erscheinungen deuten, politische Metaphern deuten)
• Welche Gestaltungsmittel fallen auf? (ggf. Farbgebung, Schattierungen, Verzerrungen usw.)

Schritt III: Deutung

• Auf welchen politischen, gesellschaftlichen ökonomischen usw. Sachverhalt bezieht sich die Karikatur?
• Welche Ziele verfolgt der Karikaturist?
• Wogegen wendet er sich, was verteid igt er? Welchen Standpunkt nimmt er ein?
• An wen wendet sich die Karikatur? (Adressatenbezug)
• Was sind die Kernaussagen?

Schritt IV: Bewertung

• Wird die Aussage der Karikatur präzise vermittelt?


• Sind die darstellerischen Mittel (z. B. Elemente der Verzerrung, Symbolik, Metaphorik, Farbgebung,
räumliche Bildgestaltung) geeignet , die Ziele zu erreichen?
• Passen Bild und Text zusammen?
• Worin ist dem Karikaturisten zuzustimmen?
• Was kann man ihm entgegen halten?
1METHODENKOMPETENZ

Beispiel:

GESOllECHTsuM.wANPUJNG .1?
lvÜRJ/ fCf{ MiK ÜBERLEGEN.

Karikatur: Thomas Plaßma11n

Orientierung: Deutung:
Thema der Kari katur sind die ungleichen Chancen Da mit wird auf die unterschiedlichen Karriere-
von Frauen und Männern, Karriere zu machen chancen von Frauen und Männern hingewiesen:
bzw. in Leitungspositionen aufzusteigen. Karriere machen vor alle m Männer. Durchschnitt-
Der Zeichner Thomas Plaßmann ist ein mehrfach lich 200/o aller deutschen Unternehmen haben
a usgezeichneter Karikaturist und zeichnet täglich Fra uen in führenden Positionen. In den 200 größ-
Cartoons bzw. Karikaturen für Tageszeitungen. Er ten Unternehmern sitzen 8,2 °10 Frauen in den Vor-
ve röffentlicht regelmäßig in der Frankfurter ständen, aber nur 2,9 0/o sind Vorstandvorsitzende.
Rundschau, der Hannoverschen Allgemeinen Zei- Plaßmann macht au f die ungleichen Karrier-
tung, der Neuen Ruhr Zeitung, der Berliner Zei- echancen aufmerksam, indem er den Mann sagen
tung. Über die Veröffentlichung (Ort, Zeit) der lässt, die Frau am Tisch solle von einer Ge-
vo rliegenden Karikatur ist n ichts bekannt. schlechtsumwandlung absehen. Als Frau, so ent-
steht der Anschein, könne man keine Karriere
Beschreibung: mache n. Er wendet sich nicht a n eine bestimmte
Eine Frau und ein Mann sitzen gemeinsam a m Zielgruppe, vielmehr soll die Karikatur alle an-
Tisch in einem Lokal und trinken Kaffee. Die Frau sprech en.
macht einen resoluten Eindruck: Sie sitzt seitlich
zum Tisch, hat die Beine übereina ndergeschlagen, Bewertung:
stützt sich mit der rechten Ha nd auf dem Ober- Die Aussage wird aufgrund ihrer eindeutigen Über-
schenkel a b und schlägt mit der linken Faust auf spitzung sehr deutlich. Frauen können gar keine
den Tisch. Dabei sagt sie: ,,Ich will Karriere ma- Karriere machen, ohne eine Geschlechtsumwand-
chen !" Der Mann ihr gegenübe r macht einen deut- lung vornehmen zu lassen. Plaßmann arbeitet mit
lich entspannten Eindruck. Er umfasst die Tasse dem Stilmittel des Sarkasmus. Text und Bild, die
mit beiden Händen, stützt dabei die Elle nbogen empörte Frau, der enspannte Mann, der sich auch
a uf und antwortet der Frau: ,,Geschlechtsum- keine Sorgen um mögliche weibliche Konkurrenz
wandlu ng !? Würd' ich mir überlegen." machen muss, passen sehr gut zusammen.
1 .2.6 Strukturwandel der Arbeitswelt
Leitfragen Welche aktuellen Entwicklungen Welche Folgen ergeben sich Welche arbeitsmarkt-
bedingen den Wandel in der daraus für den Arbeitnehmer? politischen Maßnahmen
Arbeitswelt? steuern den Wandel?

Veränderungen der Arbeitswelt

Arbeit als bezahlte Erwerbsarbeit erfüllt in unserer • Flexibilität, d. h. eine zeitliche und räumliche
Gesellschaft eine zentrale Funkt ion: Sie sichert Verfügbarkeit, die zu nehmend von den Arbeit-
nicht nur die Existenz, sondern g ibt dem Leben nehmern gefordert wird. Die vorhersehbare Ein-
darüber hinaus Struktur und Sin n, weiterhin ver- teilung des Arbeitstages und die Ausführung
leiht sie soziale und personale Identität. Diese von vorgegebenen Arbeitssch ritten weichen
Vorstellung von Arbeit ist unmittelbar mit der einer Tätigkeit, die auf Problemlösung in flexi-
Herausbildung der modernen Industriegesell- bler Arbeitszeit a usgerichtet ist. Arbeit erhält
scha ft verbunden. häufiger einen anderen zeitlichen, räumlichen
und a uch sozialen Zuschnitt.
Ken nzeichen der Arbeit in der Industriegesell-
schaft, die ihren Höhepunkt in Deutschland unge- • Abnahme der „Normalarbeitsplätze" - damit
fähr zwischen 1850 und den 1950er und 1960er sind Beschäftigungsverhält nisse gemeint, die
Jahren erlebte, war die deutliche Trennung von unbefristet sind und über Arbeit in Vollzeit ein
Arbeitsplatz und Familie bzw. Lebensort. Die In- ex istenzsicherndes Einkommen gewährl eisten.
dustrie und nicht mehr Landwirtschaft und Roh- Damit geht die Zunahme der atypischen Be-
stoffgewinnung prägte das gesellschaftliche Le- schäftigungsv erhältnisse einher.
ben. Die Erwerbsarbeit war durch Tarifverträge
und die Sozialversiche rung in hohem Maße sozial • l ebenslanges Lernen im Sinne ständiger Qua-
abgesichert. lifizierung und mehrmaliger Wechsel der Be-
schäftigungsverhältnisse wird zur Normalität.
In diesem Zusammenhang spricht ma n auch
Wie hat sich die Arbeitswelt in der von der „fragmentierten Erwerbsbiografie".
Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft
entwickelt? • Internationalisierung: Die weltweite Vernet-
zung und Arbeitsteilung in der globalisierten
Mit der zuneh menden A utomatisierung und Di- Welt bedingt die Verlagerung ganzer Arbeitsbe-
gitalisierung durch den Einsatz neuer Technolo- reiche in andere Länder mit Hightech-Standor-
gien wandelte sich auch der Charakter der Arbeit. ten oder billigere n Produktionsbedingungen
Computergesteuerte Arbeitsvo rgänge t raten an (,,Outsourcing").
die Stelle menschlicher (Ha nd- )Arbeit, hoch ent-
wickelte und vielseit ig einsetzbare Maschinen Die vo n den Arbeitnehmern geforderte Flexibilität
übe rnahmen in v ielen Bereichen komplett die und Mobilität wird hä ufig als Chance für eine in-
menschliche Arbeit. Menschliche Arbeitskraft div iduellere Gestalt ung der Lebens- und Arbeits-
wird seither zunehmend durch int elligente Tech- zeit, als Ausdruck eines individualisie rten Lebens-
nologie ersetzt. stils begriffen. Viele Beschäftigte sehen darin
einerseits eine Chance auf mehr Selbstverwirkli-
Die Ve rä nderungen in der Arbeitswelt gingen ein- chung. Andererseits beklagen viele Menschen in
her mit dem Strukturwandel der Wirtschaft, der den „neuen Beschäftigungsverhältnissen" den
auch als Wandel von der Industrie- zur Dienstleis- Verlust sozialer Bindungen und finanzieller Si-
tu ngs- und Wissensgesellschaft beschrieben wird cherheit und sie empfi nden die neue Eigenverant-
(>Kap. 2.3). folgende Merkmale sind fü r den Wan- wortung im Beruf auch als Überforderun g und
del de r Arbeitswelt kennzeichnend: Quelle von Stress und gesundheitlicher Belastu ng.
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

Welche Formen atypischer Was bedeutet Arbeitswelt 4.0?


Beschäftigung gibt es?
Die Digitalisierung der Arbeitswelt schreitet im-
Seit der J ahrtausendwende arbeiten immer mehr mer weiter voran. Grundlage dieser Entwicklung
Menschen in so genan nten atypischen Beschäfti- ist der technologische Fortschritt. So sind die
gungsverhältnissen. Dazu zählen u. a.: Rechner in den letzten J ahren immer schneller
und leistungsfähiger geworden, immer mehr Da-
• zeitl ich befristete Beschäftigungsverhältnisse, ten können gespeichert werden, die Bandbreite
die nicht dem gesetzlichen Kündigungsschutz der Datenübertragung hat sich vervielfacht, und
unterliegen und i. d. R. weder Urlaubs- noch mobile Geräte wie Tablets oder Smartphones ma-
Weihnachtsgeld beinhalten; chen es möglich, vo n überall auf Daten und Infor-
mationen zuzugreifen. Durch die immer stärkere
• Teilzeitbeschäftigung mit 20 und weniger Stun- Vernetzung können sich künftig alle Akteure in
den; einem Produktionsprozess - vom Rohstoffliefe-
ranten über Zulieferer, Fabrik und Handel bis zum
• Leiharbeitsverhältnisse, hier werden Arbeitneh- Endkunden - direkt miteinander verbinden.
mer von speziellen Zeit- oder Leiharbeitsfirmen
an andere Unternehmen „ausgeliehen"; Arbeitswelt oder Industrie 4.0 ist ein Schlagwort,
das diese Entwicklung der Vernetzung zwischen
• geringfügig Beschäftigte üben ihre Tätigkeit un- Maschinen, aber auch zwischen Mensch und Ma-
terhalb des allgemein gült igen Sozialversiche- schine beschreibt. Es nimmt Bezug auf die voran-
rungsschutzes aus {sog. Minijobs); gegangenen „Revolutionen" in de r Arbeitswelt:

• {schein-)selbständige Arbeit oder Werkvertrags- • Die {erste) Industrielle Revolution des 19. Jah r-
arbeit, häufig ein Beschäftigungsverhältnis hunderts,
ohne arbeits- und sozialrechtliche Absicherung,
obwohl die Selbständigen von einem Auftrag- • die Einführung der Fl ießbandproduktion zu Be-
geber abhä ngig sind ; ginn des 20. Jahrhu ndert {Industrie 2.0),

• illegale Beschäftigung {,,Schwarzarbeit"). • die Automatisierung und Digitalisierung mit der


Ei nführung des Computers am Ende der l 970er
Der Anteil der atypischen Beschäftigten war auf J ahre {Industrie 3.0).
der Grundlage der Berechnungen der Bundesan-
stalt für Arbeit im Jahr 2016 mit 39,3 °10 erneut Die Folgen der Entwicklung hin zur Digitalisie-
gestiegen und befand sich auf dem höchsten rung der Arbeitswelt sind jedoch längst noch
Stand seit 13 J ahren. nicht absehbar {> Kap. 2.3.1 ).

Aufgaben
1 . Stellen Sie dar, wie sich der Wandel der Arbeit in der modernen Gesellschaft vollzogen hat.

2. Erläutern Sie die mit diesen Veränderungen einhergehenden Risiken für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Über das Lesen von dienstlichen E-Mails im Urlaub

„liiihh" kreischte es gestern aus der Redaktionsstube nebenan. ,,693 Mails". Was war
passiert? Eigentlich nichts Aufregendes: der Kollege von nebenan war in Urlaub und
gerade mal zehn Arbeitstage weg gewesen. Währenddessen hatte sich die tägliche
E-Mail-Flut aufgestaut und wartete jetzt geduldig darauf, abgearbeitet zu werden. Und
s unerbittlich.
Einfach alles löschen? Keine Alternative. Wer weiß, welche superwichtige Nachricht
darunter wäre - deren Urheber dann jedenfalls zut iefst beleidigt wäre, weil er keine
Antwort bekommen hat. Oder Neuigkeiten, die man einfach kennen muß, um mitreden
zu können.
10 Wieder hörte ich von nebenan einen entnervten Aufschrei: ,,Neeeiiiin, jetzt bekomme

ich keine Mail mehr raus." Das kenne ich nur zu gut: Das Martyrium ist damit auch
noch fest zementiert: Erst wenn der Berg deutlich abgeschmolzen ist, bewegt sich
wieder etwas auf dem Datenhighway. Denn das Schlimmste an dieser Situation ist:
Solange die 693 E-Mails im Posteingang schmoren, tut sich nichts mehr - der Com-
1s puter lässt keine einzige Antwort-Mail mehr raus, kein noch so kleines E-Mail verlässt
den PC.
Es gibt also kein Entrinnen, die ersten Stunden nach dem Urlaub sind verplant. Nur
eins ist auch klar: Diese Stunden ruhigen Abarbeiten gönnt einem ohnehin niemand.
Alle, die ein Ansinnen für den Urlaubsheimkehrer haben, legen sich dies gleich für den
20 ersten Tag schon mal „auf Termin" - um ihn gleich anzurufen, gleich bei ihm vorbeizu-

schauen oder ihm gleich diese oder jene Aufgabe zu übertragen. Abgesehen von der
normalen Post, die sich gestapelt hat. Die ist übrigens plötzlich wieder ganz sympa-
thisch: Sie liegt einfach nur da, sie behindert nichts und lässt sich sogar notfalls nach
Hause mitzunehmen.
2s Kein Wunder also, dass viele Leute ihre Dienst-E-Mails auch im Urlaub oder am Wo-

chenende lesen und beantworten. Die Gartner Group fragte nach und wartete jetzt mit
einem Umfrageergebnis aus USA auf: 42 % aller Arbeitnehmer rufen dort ihre E-Mails
auch im Urlaub regelmässig ab, am Strand, im Gebirge oder zu Hause. 23 % der An-
gestellten sind besonders pflichteifrig und bearbeiten sogar jedes Wochenende ihre
30 Mails. [...)

Und, ich gebe es zu: Auch ich habe klein beigegeben - und sichte im Urlaub die
E-Mails. Die Familie verzeiht es mir, mild nachsichtig lächelnd. Im Urlaub nehmen sie
es gerade mal hin, fünfzehn Minuten am Tag auf mich zu verzichten. Aber keine Minu-
te mehr.
Claudia Tödt mann, wwiv.hande/sb/att.de, 2 I .9.200 1

M 2 Jeder Zweite checkt seine E-Mails nach Feierabend

Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen


Presse-Agentur ergab, dass fast jeder zweite Erwerbstätige in Deutschland nach Fei-
erabend seine beruflichen E-Mails checkt. Etwa jeder Dritte hat in seinem letzten Ur-
laub mindestens einmal in die Dienst-Mails geschaut. Gleichzeitig stört es etwa 40
s Prozent aller Deutschen, wenn ihre Begleitung im Urlaub berufliche E-Mails liest. Dabei
wird die ständige Erreichbarkeit auch nach Feierabend von etwa jedem Dritten als
,,eher" oder „sehr belastend" empfunden.
Die ständige Erreichbarkeit hat noch mehr Schattenseiten als genervte Partner. Sie
bleibt nicht ohne gesundheitliche Folgen. Einer Untersuchung der Initiative Gesundheit
10 und Arbeit (IGA) aus dem Jahr 2013 zufolge sind Beschäftigte im Dienstleistungsbe-

reich stärker betroffen als im Verarbeitendem Gewerbe. Erholzeiten werden verkürzt


1 KOMPETENZEN ANWENDEN

oder unterbrochen, auch der Abstand zwischen Arbeit und nächtlicher Ruhe falle unter
Umständen schmaler aus und könne zu Schlafstörungen führen. Eine ernste Konse-
quenz könne ein Erschöpfungszustand sein. [ ...]
15 Etwa ein Fünftel der Befragten in der Studie gaben an, in ihren Schlaf- und Erholungs-
zeiten beeinträchtigt zu sein. Etwa ein Drittel fühlen sich im Familienleben und bei
Freizeitaktivitäten während der Wochen und am Wochenende gestört. Stressbedingte
Gesundheitsbeschwerden wie Bluthochdruck und psychische Beschwerden wie
Ängstlichkeit, Schlafstörungen, Burnout oder ernsthafte Krankheiten wie Depression
20 seien schlimmstenfalls die Folge.
Einige Konzerne haben inzwischen Schutzmechanismen für ihre Mitarbeiter einge-
führt. Der Vorstand der Deutschen Telekom hat zur Maßgabe gemacht, dass leitende
Angestellte ihren Mitarbeitern nach Dienstschluss, am Wochenende und im Urlaub
keine Mails schicken. ,,Jeder kann sich darauf berufen" , sagt ein Telekom-Sprecher.
25 Die Vorgabe gilt bei flexiblen Arbeitszeiten auch am Nachmittag. ,,Diese ständige Er-
reichbarkeit wird dadurch ausgehebelt" , so der Telekom-Sprecher. Das solle die Mit-
arbeiter in Zeiten von Blackberry und Smartphone auch vor sich selbst schützen.
,,Erholzeiten sind Erholzeiten."
Bei BMW und Volkswagen räumen spezielle Regelungen den Beschäftigten ein Recht
30 auf Nichterreichbarkeit ein. VW hatte vor einigen Jahren bereits eine E-Mail-Sperre
eingerichtet, die Tarifmitarbeiter in den Randzeiten - etwa abends - von E-Mails ab-
koppelt. Sie können dann weder Mails empfangen noch senden. Daimler stellt seinen
Mitarbeitern frei, eingehend E-Mails während ihres Urlaubs einfach löschen zu lassen.
Daimler arbeitet nach den Worten von Gesamtbetriebsratschef Michael Brecht gerade
35 an einer Betriebsvereinbarung, die auch das Recht auf Nichterreichbarkeit einschlie-
ßen soll. Doch andere Konzerne wie beispielsweise Siemens oder Eon überlassen das
den Mitarbeitern. ,,Wir setzen auf Eigenverantwortung", sagt ein Siemens-Sprecher.
[ ... ]
In den Gewerkschaften wird inzwischen ein Rechtsanspruch auf Nicht-Erreichbarkeit
40 diskutiert. ,,Es gibt Regelungsbedarf", sagt Oliver Suchy, Leiter des Projektes „Arbeit
der Zukunft" beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Das Arbeitsministerium hat Fragen
der Erreichbarkeit in seinem „Grünbuch Arbeit 4.0" zur Diskussion gestellt.
,,Erreichbarkeit ist ein zweischneidiges Schwert", sagt Suchy. Einerseits werde da-
durch flexibles Arbeiten ermöglicht, was im Interesse der Beschäftigten sei. Doch es
45 gebe zu wenige Regelungen, häufig arbeiteten die Beschäftigten unentgeltlich in ihrer
Freizeit, Überstunden würden am Ende doch nicht abgegolten.
Erst jüngst berichtete der Tagesspiegel über eine aktuelle Statistik des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) - demnach leisteten die Arbeitnehmer im
vergangenen Jahr in Deutschland fast eine Milliarde unbezahlte Überstunden. Diese
50 Belastung sei für die Chefs häufig nicht sichtbar, sagt Suchy. Außerdem sparen die
Unternehmen Geld: ,,Arbeit muss auch bezahlt werden."

Der Tagesspiegel {dpa), www.tagesspiegel.de, 26.7.2016

Aufgaben
1. Erarbeiten Sie aus den Materialien die Chancen und Risiken, die sich aus der ständigen
Erreichbarkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ergeben (M 1 und M 2).

2. Bewerten Sie die Regelungen, die in einige Unternehmen zwischenzeitlich getroffen


wurden. In Frankreich gilt seit dem 1. Januar 2017 ein bislang weltweit einmaliges Gesetz:
Arbeitnehmer müssen nicht mehr rund um die Uhr erreichbar sein. Diskutieren Sie die Vor-
und Nachteile einer gesetzlichen Regelung.
1 .2 .7 Wertewandel
Leitfragen Woher wissen wir, an welchen Wie lassen sich Werte und Wert- Warum verändern sich
Werten sich die Individuen und orientierungen überhaupt messen? Wertorientierungen?
die Gesellschaft orientieren?

Wie verändern sich Werte?

Werte legen allgemeine Ziele fest und bilden einen den Indiv iduen internalisiert, d. h. verinnerlicht
Orient ierungsrahmen: das Handeln. Wie wir ha n- werden. Werte sind keine unveränderliche n Grö-
deln, hängt in hohem Maß von dem ab, was wir ßen, v ielmehr unterliegen sie dem gesellschaftli-
als Wert erachten (>Kap 1.1 .1). J eder von uns hat chen Wandel. Auf die Frage, unter welchen Um-
eigene Wertvorstellungen; was fü r den einen ein ständen sie sich jedoch genau verändern, gibt es
Wert ist, muss für den a nderen noch lange nicht keine eindeutige Antwort. So kann der Wertewan-
wichtig sein. Pünktlichkeit und Verlässlichkeit del auch durch staatliches Ha ndeln eingeleitet und
können beispielsweise dem einen wertvoll sein, vorangetrieben oder auch durch die wirtschaftli-
dem a nderen jedoch nicht. che Entwicklung beeinflusst werden. Dies hat die
Geschichte der Menschheit immer wieder gezeigt.
Die individuellen Wertvorstellunge n verändern Manche We rte ä ndern sich schnell, andere haben
sich i. d. R. im La ufe des Lebens. Dies geschieht vor hingegen eine große Beharrungskraft. Die Wis-
alle m beim Übergang von der Kindheit zum Ju- senschaftler sind sich jedoch darin ein ig, dass kei-
gendalter und dann wieder zum Erwachsenenal- ne Werte ewigen Bestand ha ben und somit u ni-
ter. Damit sie wi rksam werde n, müssen sie vo n versell gültig sind.

Werte zwischen den 1950er und den 201 Oer

50er 60er 70er 80er 90er 2010er


Vorrang der Wirtschafts- Alternative zum Schneller, Neue Unüber- Digitale Natives
Wirtschaft wachstum genormten höher, weiter sichtlichkeit • Mobilität
• Recht und • Prosperität Leben • Hedonismus • lndividualis- • Kommunika-
Ordnung • Materieller • Unabhängig- • Ich- mus tion /
• Leistung und Woh lstand keit Bezogenheit • Beziehung / Erreichbarkeit
Disziplin • Soziale • Selbstver- • Erlebnis- Kommuni- • Soziale
• Leben, um Sicherheit wirklichung orientierung kation Netzwerke
zu arbeiten • Aufsteigen • Alternative • Oberfläch- • Authentizität • Abschottung
• Pflichtgefühl Lebens- lichkeit • Prosperität
• Prestige • Internet
bewegung
• Konsumieren • Selbst- • Realismus
• Konsumkritik darstellung • Flexibilität
• Soziale
Bewegung,
Frieden,
Ökologie,
Frauen,
Psychoboom

Aufbau und Haben und Sein und Selbst- Genießen und Sein, Haben und Haben, Teilen,
Erhalten Zeigen bestimmung Exponieren Genießen Berichten,
Austauschen
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Trend zu Individualisierung und Pluralisierung
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Nach: Gesellschaft für Innovative Marktforschung, Delphi-Studie 2001, Heidelberg 2001 (aktualisiert)
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

Kann man Werte messen? Wertewandel gehe einher mit einer zunehmende n
Polit is ierung der Gesellschaft insgesamt und sei
Einstellungen oder Werte lassen sich nicht direkt somit ein evolutionäre Ergebnis. Damit wertet In-
beobachten oder messen. De nnoch kann man sie glehart und auch die in seinem Sin n forschenden
erfassen, indem ma n Wertentscheidungen, die sich Wissenschaftler den Wertewandel als gesell-
in bestimmten Handlungen oder Äußerungen aus- schaftlichen Fortschritt.
drücken, registriert. Dabei ist es aber notwendig, die
soziale Situation, in der diese Handlungen und Äu- Helmut Klages (* 1930, Verwal-
ßerungen vollzogen werden, zu berücksichtigen. tungswissenschaftle r, Universi-
Ob sich Werte tatsächlich ändern, kann man nur tät Speyer) Auch Klages geht
beurteilen, wenn man auch die Veränderungen der von einem Wertewandel aus. Er
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beachtet. leitet seine Theorie aus der Er-
Mit einer einmaligen Erhebung von Werten kann forschung der elterliche n Erzie-
man den Wertewandel selbstverständlich nicht hungsstile a b, die von dem Mei-
nachweisen. Hierzu benötigt man ei ne Basiserhe- nungsforschungsinstitut EMNID seit mehreren
bung und mit einem gewissen zeitlichen Abstand Jahrzehnten untersucht werden. Demnach habe es
dann Wiederholungen der Befragung. einen Bedeutungsverlust der sog. ,,Akzeptanz-
und Pflichtwerte" (z. 8. Ordnungsliebe, Fleiß) zu-
gunsten der Selbstentfaltungswerte (Selbständig-
Wie lässt sich der Wertewandel erklären keit, Individualität, Spaß) gegeben. An der Theorie
Ingleharts kritisiert Klages, dass es sich beim Wer-
Der Wertewandel, der sich seit Mitte der 1960er tewandel nicht um eine evolutionäre Entwicklung
J ahre vollzog, g ilt allgemein als einschneidend handele.
und fo lgenreich, wird allerdings unterschiedlich
bewertet: Elisabeth Noelle- Neumann
(191 6-2010, Professorin für
Ronald Inglehart (* 1934, US- Kommunikationswissenschaft,
amerikanischer Politikwissen- Universität Mainz) Noelle-Neu-
schaftler): Theorie des Postma- mann war lange Zeit Leiterin
terialismus. lng leharts Theorie des „Allensbacher Instituts fü r
basiert auf einer sehr breiten Demoskopie". Sie und ihre Mit-
Datenbasis, die über einen Lan- arbeiter gehen aufgrund ihrer Forschungen vo n
gen Zeitraum erhoben wurde. Er einem Verfall der Werte aus und beklagen das
geht von einem tiefgreifenden Wertewandel in Vordringen der Selbstentfalt ungswerte auf Kosten
den westlichen Industriestaaten aus, der durch die der Be reitschaft zu Disziplin und Pflichterfüllung.
Abwendung vo n materiellen Werten und einer Weiterhin befürchten sie eine Aus höhlung der
stärkeren Hinwendung zu postmateriellen Werten Fundamente der Gesellschaft, weil u. a. die Bin-
gekennzeichnet sei. Ursache dieses Wandels sei dung d er Menschen an Kirche und Religion stän-
die zunehmende materielle Sicherheit der Men- dig abnehme, bewährte Tugenden o der auch die
schen (Abwesenheit vo n Krieg, wirtschaftlicher Bereitschaft sich politisch für das Gemeinwesen
A ufschwung, soziale Sicherheit, Bildung). Dieser zu engagieren, nachlasse.

Aufgaben

1 . Stellen Sie die unterschiedlichen Auffassungen von Ronald lnglehart, Helmut Klages und Elisabeth Noelle-
Neumann in Form eines wissenschaftlichen Posters (, Methodenglossar) dar.

2. Erklären Sie, was mit der folgenden Aussage gemeint ist: ,,Werte müssen nicht nur im Kopf präsent, sondern
auch im Herzen wirksam sein!".

3. H. Klages geht in seiner Theorie des Wertewandels von einer Zunahme der Orientierung an den Selbstentfal-
tungswerten aus. Verdeutlichen Sie an möglichst konkreten Beispielen aus Ihren eigenen Lebenszusammen-
hängen, was damit gemeint ist.
METHODEN KOMPETENZ

Empirische Sozialforschung

Empirie bezeichnet sowohl eine philosophische 1. die erfahrbare Wirklichkeit präzise zu beschrei-
Strömung (J. Locke; D. Hume) als auch ein All- ben,
ta gs- und Wissensch aftsverständnis, das sich von 2. sie unvoreingenommen zu a nalysieren, um
der Erfahrung und den erfahrbaren Tatsachen lei- 3. unser Wissen und unsere Erfahrung zu vertie-
ten lässt[...]. Die empirische Sozialforschung [ist] fe n (d. h. aus Vergangenem zu lernen) und für
zen traler Bestandteil sozialwissenschaftlichen Ar- kommende Probleme, Fragen, Entscheidungen
beitens. Ihre wichtigsten Techniken sind etc. von Nutzen zu sein.

a) die (teilnehmende/nicht teilnehmende) Beob- Wä hrend das empirische Denken kaum noch auf
achtung, Ablehnung stößt, bleibt in den Sozialwisse nschaf-
b) das Experiment, ten umstritten, was als Erfahrung und Tatsache
c) die (schri ftliche/mündliche) Befragung und definiert werden kann: nur das, was konkret ge-
d) die Inhaltsanalyse. messen, gezählt und gewogen (quantifiziert) wer-
den kann, oder a uch das, was zwar (qualitativ) mit
Die mit diesen Techniken gewo nne nen Daten und unseren Sinnen erfasst (und ggf. beschrieben)
Informationen werden mittels spezieller Verfah- werden kann, sich aber einer p räzisen zahlenmä-
ren (Methoden) analysiert und a uf der Basis theo- ßigen Festlegung entzieht (Gefühle, Ideale).
retischer Annahmen interpretiert. Techniken, Me- Nach: Klaus Schubert/ Martina Klein: Das Politiklexikon -
thoden und Theorien dienen dazu, Begriffe, Fakten, Zusammenhänge, 2016, S. 94f

1: Methoden der quantitativen Sozialforschung

Mit den Methoden der quantitativen Sozialforschung (,,Umfrageforschung") werden zählbare


Eigenschaften gemessen, um Forschungsfragen (sog. Hypothesen) in der sozialen Wirklichkeit zu überprüfen.
So erforschen die Soziologen die Häufigkeit eines bestimmten sozialen Phänomens und versuchen,
dies in einen Zusammenhang zu anderen sozialen Faktoren zu setzen. Diese Forschungsmet hode w ird
sehr häufig in der Meinungs-, Einstellungs- oder Wahlforschung angewandt. Sie eignet sich gut, um große
Erhebungen durchzuführen und dann repräsentative, das heißt verallgemeinerungsfähige Aussagen zu treffen.
Forsc hungs- bzw. Erhebungsinstrumente der quantitativen Sozialforschung sind z. B. Fragebögen,
sog. standardisierte Interviews oder Beob achtungen.

Beispiel: 17. Shell-Jugendstudie - die Wertorientierung Jugendlicher (2015)

Die „Shell-Jugendstudie" versteht sich als „ Langzeit-Berichterstattung über die junge Generation" und
wird in Deutschland im Auftrag d es Mineralölkonzerns Shell seit 1953 durchgeführt. Untersucht werden
Einstellungen, Wertorientierung und das Sozialverhalten junger Menschen im Alter zwischen 12 und 25 Jahren.
Für diese Stichprobe wurden z. B. für die 17. Studie 2.558 repräsentative Jugendliche für die quantitative
und 21 Jugendliche für die qualitative Erhebung ausgewählt.

Umfrage: Wertorientierungen der Jugendlichen im Alter von 12 - 25 Jahren (Angaben in%)

Jeder Mensch hat ja bestimmte Vorstellungen, die sein Leben und Verhalten bestimmen. Wenn du einmal
daran denkst, was du in deinem Leben eigentlich anstrebst: Wie wichtig sind dann die folgenden Di11ge
für dich persönlich? (Skala 1 »unwichtig« bis 7 »außerordentlich wichtig«)
1METHODENKOMPETENZ

Wertorientierungen der Jugendlichen im Alter von 12 - 25 Jahren (Angaben in %)

Besonders Wichtig Teils, teils Unwichtig Weiß nicht/


wichtig (5-7) (4) (1-3) keine
(6-7) Angabe

Gute Freunde haben, 94 97 1 2 0 2010


die einen anerkennen 89 97 2 1 0 2015
Einen Partner haben, 89 95 3 2 0 2010
dem man vertrauen kann 85 93 3 3 1 2015
Ein gutes Familienleben 77 92 5 3 0 2010
führen 72 90 7 3 0 2015
Eigenverantwortlich leben 71 90 6 4 0 2010
und handeln 69 88 8 3 1 2015
Viele Kontakte zu anderen 64 87 8 5 0 2010
Menschen haben 53 80 12 8 0 2015
Von anderen Menschen 63 84 9 7 0 2010
unabhängig sein 64 84 9 6 1 2015
Fleißig und ehrgeizig sein 60 83 11 6 0 2010
57 82 12 6 0 2015
Gesetz und Ordnung 61 81 10 9 0 2010
respektieren 64 84 9 7 0 2015
Seine Phantasie und 56 79 13 8 0 2010
Kreativität entwickeln 55 79 14 6 1 2015
Nach Sicherheit streben 55 79 13 8 0 2010
51 79 14 6 1 2015
Das Leben in vollen 57 78 15 7 0 2010
Zügen genießen 58 80 14 5 1 2015
Gesundheitsbewusst 53 78 14 8 0 2010
leben 57 80 13 7 0 2015

Nach: Thomas Gensicke, Die Wertorientierungen der Jugend (2002-2015), in: Mathias Albert et al. {Hrsg.):
17. Shell Jugendstudie - Jugend 2015, 2015, S. 239

Aufgaben
1 . Analysieren Sie die Daten zur Wertorientierung Jugendlicher. Gehen Sie dabei nach dem folgenden Analyse-
schema vor:
i. Was wird dargestellt? Geben Sie Thema, Titel, Erhebungsart und Quelle der Daten an.
ii. Beschreiben Sie das Diagramm/die Tabelle. Achten Sie dabei auf die Einheiten (absolute/ relative Zahlen)
und die Bezeichnung der Zeilen und Spalten.
iii. Beschreiben Sie die einzelnen Entwicklungen und Besonderheiten der Zahlenreihen.
iv. Fassen Sie die Ergebnisse der Einzelaussagen zusammen, soweit dies die Daten erlauben.

2. Führen Sie die Umfrage in Ihrem Kurs/in Ihrer Jahrgangsstufe durch und vergleichen Sie die Ergebnisse. Sie
können die Untersuchung ausweiten, indem Sie auch jüngere Schüler einbeziehen und zusätzlich Alter sowie
Geschlecht erheben und diese Daten mithilfe z.B. von GrafStat (, www.grafstat.de) auswerten.
METHODEN KOMPETENZ

II. Methoden der qualitativen Sozialforschung

Anders als mit den quantitativen Methoden wird mit den qualitativen Methoden der Sozialforschung
nicht mit standardisierten Daten gearbeitet. Hier gewinnen die Wissenschaftler insbesondere in offenen
lnteNiews oder Gruppendiskussionen, die eher einem Gespräch ähneln, ihre Erkenntnisse. Dabei geht es
nicht um große Fallzahlen und repräsentative Ergebnisse, vielmehr möchte man in einer sehr genauen
Fallanalyse die subjektive Selbst- und Weltwahrnehmung einzelner Menschen analysieren. Ein wichtiges
Instrument d er qualitativen Forschung ist das LeitfadeninteNiew: Dem lnteNiewten wird anhand eines
„roten Fadens" die Möglichkeit gegeben, z. B. seine Sicht auf bestimmte Dinge darzulegen oder Einzelheiten
aus seiner Biografie zu erzählen. Die lnteNiews werden aufgenommen, dann wörtl ich aufgeschrieb en
und im Anschluss analysiert. Qualitative Methoden wendet man an, um neue Forschungsfelder zu
untersuchen und neue Forschungsfragen (sog. Hypothesen) zu entwickeln. Deren Überprüfung wiederum
kann dann anhand der quantitativen Sozialforschung vorgenommen werden.

Beispiel: lnterviewauszug mit Analysen der Sozialforscher


(16. Shell-Jugendstudie 2010)

Onur: 15 Jahre alt - geht in die 9. Klasse der Theater, Schülermitverwaltung, Kirche, oder gibt's
Hauptschule - lebt bei seiner Mutter in München, da nichts, was Du machst?
der Vater hat seine Anstellung verloren und be-
kommt Hartz W, die Eltern kommen aus der Tür- Doch, die mache n so'n paar Sachen, schon. Ich
kei - hat bis vor kurzem Fußball im Verein ge- mach dort n icht so mit, weil, ich hab ... Wissen
spielt. Sie, meine Freizeit ist kostbar, vo r allem dieses
Jahr, weil, ich hab fast kaum eine Freizeit. Jetzt
► Der Quali: das Wichtigste im Moment kommt der Qu ali auch und dann verbring ich halt
so v iel Zeit wie möglich dra ußen im f reien oder
Zurzeit ist die Schule das Wichtigste überhaupt. einfach nur, dass ich mal eine Sekunde abschalten
Ich konzentrier mich nur noch auf die Schule, weil kann und sagen kan n, okay, j etzt nicht Schule.
j etzt beginnt langsam die Endphase. Um einen
gescheiten Quali zu machen, muss ma n lernen. ► Karriere
Man ka nn es nicht, auch wen n man so gut ist wie
j eder andere, superschlau ist, ohne zu lernen, Also, Ka rrie re machen ist sehr wichtig, weil, jeder
schafft man es nicht. Beim Quali steht man unter Mensch will aus seinem Leben was machen. Und
so einem Druck. Das hab ich letztes Jahr gemerkt, Karriere ist eigent lich das, dass man einfach das
obwohl ich das sowieso n icht machen wollte. Da Ziel dann hat, dass j eder einzelne Mensch im gan-
vergisst man v ieles, was man le rnt davor. [...] Also, zen Universum hier im Kopf hat. Jeder will Kar-
zuversicht lich bin ich nicht, weil, man weiß nie, riere machen, ei nfach viel Geld haben. Vor allem
was kommt. Was ist, wenn ich doch Panik bekom- die J ugendlichen jetzt. Viel Geld machen, ein
me im Quali und das doch alles da nn ein bisschen schönes Auto fa hren, ein schönes Ha us haben.
verm asse!? Also, ich will nicht so große Töne spu- Karriere ist sehr wichtig, also für mich.
cken, damit ich danach sag, j a, ich schaffs locker
und so, und am Ende schaff ich's nicht. Also, Und welche Dinge möchtest Du erreicht haben, bis
schaffen will ich es gerne, und der Herr S. hat Du 30 bist?
gesagt, ich muss einen guten Quali sch reiben we-
gen meinen Noten schon überhaupt. [... ] Also, bis ich 30 bin, will ich mein Studiu m been-
det haben. Ja, das Studium dauert schon lange,
Und gibt es sonst noch irgendwas, vielleicht was ich weiß. Aber ich will es beendet haben bis dahin.
auch in der Schule statt.findet, was mit Musik oder Ich will dann einen guten Job haben, wo ich sagen
1METHODENKOMPETENZ

kann, okay, das ist zum Beispiel gut. Zum Beispiel berechtigt wo rden. Und so was kannten halt
Richter werden. Damit ich sagen ka nn, ich verdien meine Eltern auch nicht davor, und das wa r auch
schönes Geld. Ich kann mir die Probleme von den sehr schön, glaub ich. [...]
a nderen a nhören. Ich bin ja der, der sie am Ende
lösen darf. Das ist schon ein Traumjob sozusagen, ► Analyse
einfach jemanden anzuschauen und die Gabe zu
haben, zu wissen, der ist gut und der ist nicht gut Onur steht durchaus u nter Druck. Sein Leben
und der sagt nur so. [...] scheint sich gerade n ur noch um de n Qualifizie-
renden Hauptschulabschluss zu drehen, das Ticket
Wie siehst Du denn die Chancen am Arbeitsmarkt auf die weiterführende Schule. Denn ohne den
für junge Menschen? Quali ist es aus mit dem Traum, aus seinem Leben
etwas zu machen, so sieht er es. Di e Alternative
Also, die sind ... zurzeit werden sie besser, aber so hat er sich [...] vor Augen geführt [...]: Au f dem
gut sind sie j etzt auch nicht. Man muss schon Bau arbeiten oder a ls »Kloputzen< für 500 €. [...]
einen besseren Absc hl uss haben. Mit dem Quali
wirst du vielleicht ein Klop utzer jetzt und ver- Jetzt h at ihn der Ehrgeiz gepackt, wobei sein Klas-
die nst deine 500 - plus das Nebengeld, also was senlehrer in der n euen Schule eine zentrale Rolle
die dort reinschmeißen, vielleicht ein bisschen spielt. Auch die Mutter ist enorm wichtig für Onur
mehr. Mit dem Quali - Sie wissen's ja - konnte [...]. Die Beziehung zu seinem Lehrer und zu den
man früher v iel, viel mehr machen, viel, v iel bes- Eltern, besonders der Mutter, sind die „Stabil isa-
sere Jobs haben. [...] Manche Jugendliche fühlen toren" in Onurs derzeitiger Situat ion. [...]
s ich einfach ben achteiligt. Deswegen kommt dan n
auch immer Die Deutschen ... Warum denn? Die Onurs Geschichte hat am stärksten verdeutlicht,
geben sich halt Mühe in der Schule. Ich hab auch dass w ir es hier tatsächlich mit Opt ionen für die
immer so gesagt: immer die Deutschen und die Gestaltung des Lebens zu tun ha ben, die ergriffen
sind bevorteilt, also Vo rteile haben die und a lles werde n können oder eben auch nicht, die in der
so. Das stimmt nicht. Die haben genauso ein einen Lebensphase vielleicht individuell passen,
schwieriges Leben w ie wir, weil, die h aben ... In die in einer anderen aber weniger verfügba r sind.
Deutschland ist es wirklich so, wo meine Eltern Und sie zeigt auch, wie wichtig manchmal Zu-
hergeko mmen sind, sie ha ben vo n null angefan- fallskonstellationen sein können. Wäre Onur nicht
ge n und haben sich nach oben ... Also, im Ur- auf diese Schule und zu diesem Lehre r gekommen,
sprung war unten. Man ist in Deutschland gleich- hätte er es heute ungleich schwerer.
Sibylle Picot/ M ichaela Willert, Jugend unter Druck? 20 Fallstudien, in: Mathias Albert et al. (Hrsg.): 16.
Shell Jugendstudie - Jugend 2010, 2010, S. 307Jf

Aufgaben

1. Stellen Sie dar, wie die Sozialforscher die Antworten Onurs analysieren.

2. Qualitative und quantitative Untersuchungen sollen sich ergänzen. So können Interviews die Ergebnisse von
Umfragen verdeutlichen. Untersuchen Sie die Aussagen Onurs daraufhin, ob auch sie die Ergebnisse der
qualitativen Forschung verdeutlichen können. Achten Sie bitte darauf, dass Onur an der 16. Studie (2010)
teilgenommen hat.
■ Soziale Ungleichheit
1 .3.1 Begriff und Dimension sozialer Ungleichheit

Leitfragen Was ist soziale Ungleich- Welche Formen sozialer Was versteht man unter Chan-
heit und wie lässt sie sich Ungleichheit werden am cengleichheit, und inwieweit ist sie
erfassen? stärksten diskutiert? realisiert?

Was ist soziale Ungleichheit?

Menschen sind aufgrund ihrer Individualität druck kommen, dass man mit diesen Merkmalen
grundsätzlich verschieden. Dies begründet aber d ie Gesellschaft in „Oben und Unten" u ntertei-
noch keine soziale Ungleichheit. Soziale Un- len ka nn.
gleichheit im soziologischen Sinn liegt dann vor,
wenn die Unterscheide zwischen Individuen oder • Darüber hinaus gibt es horizontale Ungleich-
Gruppen mit einer Schlechter- oder Besserstellung heiten. Die Soziologen nennen in diesem Zu-
verbunde n sind und we nn es unterschiedliche sammenhang Arbeits-, Freizeit-, Wohn-, Um-
Möglichkeiten zur Teilhabe an der Gesellschaft welt und Gesundheitsbedingungen und be-
und an der Verfügung über gesellschaftlich not- zeichnen diese als „neue soziale Ungleichhei-
wendigen Ressourcen gibt. Damit sind materielle ten", weil ihnen in der modernen soziologischen
Ressourcen wie das verfügbare Einkommen oder Forschung immer größere Bedeutung zukommt.
auch immaterielle wie Bildung, ein problemloser Horizo ntale Ungleichheit existiert z.B. zwischen
Zugang zu gesundheitlicher Versorgung, ein ge- Männern und Frauen, verschiedenen Generati-
sundes Wohn- und Arbeitsumfeld usw. gemeint. onen und Regionen (Ost und West), zwischen
Menschen unterschiedlicher Nationalität, Ver-
Unabhängig von der Persönlichkeit des Individu- heirateten und Unverheirateten, Kinderlosen
ums sind mit Verfügbarkeit über Ressourcen und und Kinderreichen.
der Möglichkeit zur Teilhabe an d er Gesellschaft
bestimmte Lebens- und Handlungsbedingungen Die horizon talen Ungleichheiten haben einen
verbunden, aber auch Rahmenbedingungen, die starken Einfluss auf die Lebensbedingungen und
die Person nicht selbst beeinflussen kann. So sind den sozialen Status eines Menschen. Sog. ,.Status-
manche Berufsgruppen angesehene r als andere, inkonsistenzen" (inkonsistent = u nzusammen-
unterscheiden sich die gesellschaftlichen Positio- hängend, unbeständig) werden dabei immer mehr
nen vo n Männern und Frauen, In- und Auslän- zur Regel; z. B. hängt ein hoher Bildungsstand
dern usw. Diese Differenzen, die Menschen inner- nicht mehr zwangsläufig mit hohem Einkommen
halb des gesellschaftlichen Gefüges günstige oder oder guten beruflichen Chancen zusammen, so
ung ünstige Lebensbedingungen zuweisen, be- wie dies noch vor einigen J ahrzehnten der Fall
zeichnet man als soziale Ungleichheit. In moder- wa r. So sind Menschen mit einem hoch qualifi-
nen Gesellschaften offenbaren sich mehrere zierten Bildungsabschluss materiell nicht auto-
Dimensionen sozialer Ungleichheit. So unter- matisch besser gestellt, wenn sie kei ne angemes-
scheidet man: sene berufliche Anstellu ng finden. Umgekehrt
gibt es aber auch genügend Beispiele dafü r, dass
• vertikale Ungleichheiten in Bildungsabschlüs- Menschen mit geringer qualifizierten Schulab-
sen, Einkommen, Erwerbschancen, Teilhabe a n schlüssen oder gebrochenen Bildungsbiografien
Macht und Prestige, die die Lebenschancen der gesellschaftlich hohes Ansehen genießen und zu
Indiv iduen prägen und ihr Verhalten bestim- materiellem Reichtum gelangen (z.B. Fußball pro-
m en. Mit dem Zusatz „vertikal" soll zum Aus- fis, Musiker).
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

Zentrale Dimensionen sozialer Ungleichheit tet. Grund dafür ist, dass die Einkommen von Per-
sonen, die in unterschiedlich großen Haushalten
In entwickelten Gesellschaften sind zentrale Di- leben, nicht miteinander vergleichbar sind, da in
mensionen sozialer Ungleichheit: größeren Haushalten Einspareffekte (Economies
of Scale) auftreten (zum Beispiel durch gemeinsa-
• Materieller Wohlstand (Einkommen, Vermögen, me Nutzung von Wohnraum oder Haushaltsgerä-
Lebensstandard), ten)."
• Erwerbstätigkeit (auch: Verteilung der Erwerb- S tatisches Bundesamt, www.destatis.de, Abruf : 5. 6.2 018

sch ancen),
• Wertschätzung (z.B. im Beruf), Die Verteilung von Vermögen und Einkommen ist
• Macht und Prestige bzw. Einflussmöglichkeiten, ein wichtiger Indikator für soziale Gerechtigkeit
• Bildung, in ein er Gesellschaft. Einer neuen Untersuchung
• Möglichkeiten der Teilhabe (an Gesellschaft, des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsfor-
Wirtschaft, Kultur). schung, Berlin) zu Folge wi rd die Kluft zwischen
den Besserverdienenden und der weniger verdie-
nenden Bevölkerung demnach immer größer,
Einkommensverteilung auch wenn die real verfügbaren Haushaltsein-
kommen seit der Jahrtausendwende um 50/o ge-
Um die Schichtung der Einkommensunterschiede stiegen sind (> Kap. 2.4.2).
zu ermitteln und das Wohlstandsniveau von
Haushalten unterschiedlicher Größe vergleichbar
zu machen, stehen Statistikern unterschiedliche Gini-Koeffizient
Berechnungsmethoden zur Verfügung. Das Statis-
t ische Bundesamt arbeitet beispielsweise mit dem Eine weitere sehr verbreitete Variante, die Vertei-
Äquivalenzeinkommen: lung der Einkommen zu bestimmen, ist die Ver-
wendung des Gini- Koeffizienten. Nach dem ita-
„Das Äquivalenzeinkommen ist ein Wert, der sich lienischen Statistiker Corrado Gini benannt ist der
aus dem Gesamteinkommen eines Haushalts und „Gini-Koeffizient" eine statistische Maßzahl, mit
der Anzahl und dem Alter der von diesem Ein- der sich die Einkommenskonzentration in einer
kommen lebenden Personen ergibt. Das Äquiva- Zahl zwischen 1 und O ausdrücken lässt. Je höher
lenzei nkommen wird vor allem für die Berech- der Wert, desto g rößer ist die Vermögensungleich-
nung von Einkommensverteilung, Einkommens- heit. Liegt der Gini-Koeffizient bei null, so ist ha-
ungleichheit und Armut verwendet. Mithilfe einer ben alle Menschen das gleiche Vermögen. Wenn
Äquivalen zskala werden die Einkommen nach er allerdings bei eins liegt, so besitzt der reichste
Haushaltsgröße und Zusammen setzung gewich- Mensch im Land alles.

Entwicklung der Einkommensgleichheit 1991 bis 2014


0,300 . - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

0,275 1 - - - - - - - -

Gini-Koeffizient der verfügbaren


0,248 Haushaltseinkommen

0,225 t - -- - - - - -

o,200 991 19921993199419951996 19971998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

Nach: Wirtschafts- und Soz ialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler- Stiftung, WS! Verteilungsbericht 2 01 7, S tand Februar 20 18
1.3 Soziale Ungleichheit 1

Verfügbare Haushaltseinkommen1 nach Einkommensdezilen


Veränderung gegenüber 2000 in Prozent
Die Haushalte werden in zehn glei-
che Teile (Dezile) eingeteilt. Dann
wird deren jeweiliges verfügbares
Haushaltseinkommen zusammen-
gefasst. Die Grafik zeigt dann die
Veränderung des verfügbaren
Haushaltseinkommens vom 1., 5.
und 10. Dezil der Verteilung ge-
genüber dem J ahr 2000 in Prozent.

1
Personen in Privathaushalten;
reale Einkommen in Preisen von
2010, bedarfsgewichtete
Jahreseinkommen im Folgejahr
erhoben, bedarfsgewichtet mit 2000 2002 2004 2006 2008 201 0 201 2
der modifizierten OECD-Äquiva-
lenzskala. Ja n Goebel et al., DIW Wochenbericht N r. 25, 2 01 5, S. 577

Weshalb nimmt die Einkommens-


ungleichheit immer weiter zu?

Die realen Einkommen im obersten Zehntel der standard hat sich aber noch nicht ko mplett ange-
Einkommensverteilung sind zwischen 2000 und glichen.
2012 um mehr als 15 °10 gestiegen. Die mittleren
Einkommen stagnierten, während die unteren um
40 0/o real gesunken sind. Als Ursachen werden Armut in Deutschland
angegeben:
Die Kluft zwischen Armut und Reichtum in
• Zunahme der Teilzeitbeschäftigung. Vor allem Deutschland ist größer geworden, wie die Armuts-
Frauen arbeiten immer mehr in Teilzeit; und Reichtumsberichte der Bundesregieru ng, der
• Zunahme der atypischen Beschäftigungsver- Wohlfahrtsverbände und anderer Organisationen
hältnisse; immer wieder belegen. Armut zu defi nieren, ist
• Seit Mitte der l 990er Jahre wurden die hohen aber nicht d nfach. Wo Armut anfängt, hängt vom
Einko mmen und die Vermögen steuerlich ent- Wohlstand der umgebenden Gesellschaft ab: Ar-
lastet ; mut in unserer Gesellschaft beginnt dann, wen n
• Unternehmenssteuern wurde gesenkt, Kapital- man nicht a m üblichen sozialen Leben teil nehmen
einkünfte werden seit 2009 nur noch pauschal kann. Wenn Menschen kein Geld haben, um sozi-
mit 250/o steuerlich belastet; ale Kontakte zu pflegen und anderen Aktivitäten
• Veränderungen in der Haushaltsstruktur, etwa nachzugehen. Deshalb unterscheidet ma n zwi-
Zuwächse bei den Single-Haushalten oder von schen absoluter und relativer Armut.
Alleinerziehenden.
Jemand gilt als absolut arm, wenn er a m physi-
Hinsichtlich der Einkommen gibt es aber auch schen Existenzminimum lebt. Die Weltbank legt
gravierende Unterschiede zwischen den Bildungs- dieses bei einem Einkommen von weniger als 1,60
und Berufsgruppen. Auch regionale Abweichun- Dollar pro Tag an. Relativ arm ist, wer am Ra nd
gen sind nach wie vor bedeutsam: So haben sich des soziokulturellen Existenzminimums lebt, also
in den ostdeutschen Bundesländern bezüglich der in seiner Teilhabe an den materiellen, kulturellen
Verteilung der Einkommensunterschiede zwar und sozialen Möglichkeiten der Gesellschaft stark
,,westliche" Verhältnisse eingestellt, der Lebens- eingeschränkt ist.
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

Relative Armut bedeutet für die Betroffenen Als armutsgefährdet gelten:

• ein geringes Einkommen, • (Langezeit-)Arbeitslose,


• eingeschränkte Teilhabe am kulturellen und so- • Alleinerziehende und ihre Kinder,
zialen Leben, • Hauptschulabgänger ohne Schulabschluss,
• ein erhöhtes Krankheitsrisiko und • an- und ungelernte Arbeitnehmer,
• eine geringere Lebenserwartung. • ältere Menschen,
• Personen in prekärer Beschäftigung.
Nach wie vor sind Arbeitslose am stärksten von
Armut betroffen. Aber auch viele Erwerbstätige Soziologen zufolge hat die Zunahme der Ein-
drohen zunehmend a n die Armutsgrenze abzurut- kommensungleichheit in Deutschland dazu ge-
schen, denn sie kommen mit ihrem Einkommen führt, dass sich trotz zeitweise positiver wirt-
oft nicht mehr aus. Diese Entwicklung ist neu; schaftlicher Entwicklung immer mehr Menschen
bislang entfaltete sich Armut immer a ußerhalb der um ihre Zukunft sorgen. Die Angst vor Armut und
geregelten Beschäftigungsverhältnisse. Ob die sozialem Abstieg sei vom Rand in die Mitte der
Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes im Gesellschaft gerückt.
Jahr 2015 diesen Trend langfristig wird abmildern
können, bleibt noch abzuwarten(>Kap. 2.4.1 ). Bis-
lang sank die Zahl der so genannten „Aufstocker", Arm dran in einem reichen Land: Kinderarmut
also jener Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit
Hilfe zum Lebensunterhalt (Hartz N) erhalten nur Die Armut betrifft zunehmend auch Kinder. Das
geringfügig. Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen ist
seit Ende der 1990er Jahre angestiegen. In
Deutschland leben zurzeit (2017) ca. 2,5 Mio. Kin-
Kinderarmut steigt in den meisten Bundesländern der in Einkommensarmut, was etwa 19,4 Prozent
Anteil der unter 18-jährigen, die in Deutschland auf Hartz IV aller Personen unter 18 Jahren entspricht. Seit
angewiesen sind nunme hr 20 Jahren verharrt die Zahl auf diesem
Berlin 32„2 % Niveau. Soziologen sprechen bereits vo n einem
-,3,7 %
31 ,8 %
Prozess der Infantilisierung der Armut. Beson-
Bremen
28,8 % ders betroffen von Armut sind Kinder in zwei Fa-
Sachsen-Anhalt 23,8 %
26,1 % milienkonstellationen: Von allen Minderjährigen
Mecklenburg- 23,8 % in staatlicher Grundsicherung (,,Hartz IV") leben
Vorpommern 23,7 %
die Hälfte bei Alleine rziehenden und 36 Prozent
Hamburg - - - - - - - - - - 20,8 %
20,9 % in Familien mit drei oder mehr Kindern.
Nordrhein- 18 6 %
Westfalen 17,o 61/o
Armut hat weitreichende Auswirkungen auf das
17,6 %
Saarland 15,0 % weitere Leben. So weisen arme Kinder und Ju-
Brandenburg 17,0 % gendliche überdurchschnittlich häufig chronische
19,3 %
Sachsen 16,9 % Krankheiten, Übergewicht und Verhaltensauffäl-
20,1 %
Thüringen 15,9 % 1igkeiten auf. Bildungschancen und Schulerfolg
18,0 % sind im Schnitt geringer als bei Kindern aus wohl-
Schleswig- 15_,,3 %
Holstein 14,, % habenden Familien.
Niedersachsen 1\;26~ Die Experten sind sich einig, dass bei der Bekämp-
Hessen 11i4 %
13,., % fung von (Kinder- )Armut ein Zusammenspiel von
Rheinland- 11_.Ji % Einzelmaßnahmen in unterschiedlichen Politikbe-
Pfalz 10, , %
■ 2011 2015 reichen - z.B. in der Beschäftigungs-, Familien-,
Baden- 81-0 %
7,o % Gesamt: Bildungs- , Gesundheits- und Stadtentwicklungs-
Württemberg
6,8 %
2011 -14,3% politik - Not in vielen Bereichen lindern kön nte.
Bayern 6,4 % 2015-14,7 % Die betroffenen Fam ilien einzig mit mehr Geld
auszustatten, greife dabei zu kurz.
Quelle: Bertelsma1111 Stiftung
1.3 Soziale Ungleichheit 1

Bildung Erde ist der Schulerfolg eines Kindes so stark ab-


hängig vo n der sozialen Herkunft wie in Deutsch-
Ein formaler Bildungsabschluss ist heutzutage land. I(jnder armer Eltern oder von Migranten
nicht nur die Voraussetzung zur Aufnahme einer haben nach wie vor in allen Bundesländern deut-
qualifizierten Berufstätigkeit, sondern auch die lich geringere Chancen nach der Grundschule ein
Grundlage für gesellschaftliche und politische Teil- Gymnasium zu besuchen als Kinder von Akade-
habe. Bildung ist die wichtigste Grundlage für den mikern. Darüber hinaus gibt es im Schulsystem
materiellen, aber auch den kulturellen und ideellen eine Durchlässigkeit fast nur von oben nach un-
Reichtum einer Gesellschaft. Umgekehrt ermög- ten. Eine St udie der Bertelsm ann Stiftung zeigt,
licht aber erst der materielle Reichtum einer Gesell- wie häufig dieses Downgrading in Deutschland
schaft den j ahrelangen Besuch vo n teuren Bildungs- vorkommt : Allein im Schuljahr 2010/2011 muss-
einrichtungen. Die Entwicklung Deutschlands zur ten 50.000 Schüler auf eine niedrigere Schulform
modernen Industrie- und Dienstleistungsgesell- wechseln. Nur fü r 23.000 Schüler ging es hinge-
schaft bzw. zur Wissens- und Informationsgesell- gen aufwärts. Das deutsche Schulsystem produ-
schaft und die damit verbundenen Anforderungen ziert demnach mehr als doppelt so v iele Absteiger
an die Individue n haben seit den 1960er Jahren zu wie Aufsteiger. In einigen Bundesländern (Hessen,
einer enormen Bildungsexpansion geführt. Berlin, Niedersachsen, Sachsen) kommen auf je-
den Aufsteiger vo n der Realschule auf das Gym-
Gewinnerinnen dieser Bildungsexpansion sind nasium sogar elf Absteiger.
eindeutig Mädchen und junge Frauen. Im allge-
mein bildenden Schulwesen bis einschließlich
zum Abitur haben sie die Jungen mittlerweile Macht und Prestige
überholt. Betrug der Jungenanteil im Gymnasium
im Schuljahr 1960/61 noch 60 Prozent, sank er im Der Dimension ungleicher Machtverteilung wird
Schuljahr 2014/ 15 auf 48 Prozent. bei der Betrachtung sozialer Ungleichheit beson-
dere Bedeutung beigemessen. Macht im s oziolo-
Was erfolgreiche Abschlüsse betrifft, habe n Frau- gischen Sinn bedeutet die Überlegenheit von
en im berufsbildenden Bereich und an den Hoch- Menschen über andere und damit die Chance, den
schulen inzwischen mit den Männern gleichgezo- eigenen Willen (z. B. in Entscheidungssituationen)
gen. Frauen entscheiden sich nach Ende des gegenüber anderen durchzusetzen. In modernen
Studiums aber immer noch deutlich seltener für Gesellschaften geht Macht in geregelten Formen
den nächsten Karriereschritt in der Wissenschaft, von Machtpositionen aus. Die Inhaber von Spit-
die Promotion. zenfunktione n werden auch als Machteliten be-
zeichnet.
Die Anhebung des Gesamtbildungsniveaus führte
j edoch nicht zu einer Umverteilung der Bildungs- Die Zuweisung vo n Prestige fä llt vo n Gruppe zu
chancen. Insbesondere die I(jnder der ungelernten Gruppe unterschiedlich aus. Ein typisches Beispiel
Arbeiter sind vom Bildungsboom kaum erfasst hierfür ist der Besitz eines großen PKW. Dieser
worden; Beamtenkinder konnten ihren Vorsprung kann an bestimmten Stellen großen Eindruck ma-
an Gymnasien und Universitäten hingegen deut- chen, in anderen Situationen aber auch zu Ableh-
lich ausbauen. In kaum einem anderen Land der nung führen.

Aufgaben

1 . Erläutern Sie den Unterschied zwischen „sozialer Ungleichheit" und „sozialem Unterschied".

2. Analysieren Sie die Entwicklung der Einkommensverteilung in Deutschland.

3. Stellen Sie die Ursachen und Auswirkungen der Armut von Kindern und Jugendlichen dar.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Marcel Fratzscher: Die Elite verschließt die Augen

„Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig," schrieb Kurt
Tucholsky 1931 mit einem Schuss Ironie über die Manipulation der Bürger durch die
Politik. Das Zitat trifft auch heute noch zu. Viele Menschen in Deutschland klagen über
eine zu hohe soziale Ungleichheit. Sie fühlen sich abgehängt und sorgen sich um ihre
s Zukunft. Die Elite dagegen klagt, Bürgerinnen und Bürger verkennten die Realität. Es
ginge Deutschland doch eigentlich gut. Die soziale Marktwirtschaft sei lebendig, und
es gehe in unserem Land gerecht zu.
Damit erhebt die Elite Anspruch auf die Deutungshoheit über die Fakten, über die
Wahrheit. Aber kann es sein, dass es nicht die Menschen sind, die das meiste falsch
,o verstehen, sondern die kleine Gruppe von Entscheidern in Politik, Wirtschaft und Me-
dien?
Das Grundgefühl vieler Menschen in Deutschland heute ist eines der Angst und Sorge
vor der Zukunft und vor Chancenlosigkeit. In Umfragen sagen 70 Prozent der Deut-
schen , dass sie die soziale Ungleichheit als zu hoch empfinden. Immer mehr Men-
15 sehen fühlen sich abgehängt. [...] Viele befürchten, dass ihre soziale Absicherung

schwach ist und im Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Alter nicht reichen wird,
um ein massives Absinken ihres Lebensstandards zu verhindern. [... ]
Große Teile der Elite in Deutschland leugnen jedoch, dass die soziale Ungleichheit ein
zentrales Problem sei. Sie reagieren erbost auf die Schlussfolgerung, die Soziale
20 Marktwirtschaft breche ihr Versprechen. [. . .] Viele leugnen das Problem mit Verweis

auf die wirtschaftlichen Erfolge der vergangenen zehn Jahre. Die Arbeitslosenquote ist
von über 5 Millionen auf heute 2,7 Millionen halbiert worden. Wir sind stolz, Export-
Vizeweltmeister zu sein, und auf die vielen deutschen Weltmarktführer. Deutschland
ist viel besser durch die globale Finanzkrise und die europäische Wirtschaftskrise
25 gekommen als die meisten unserer Nachbarn.

Viele ignorieren jedoch, dass diese Erfolge nicht allen, sondern nur wenigen Menschen
zugute gekommen sind. Das reale Einkommen mehr als jedes dritten Haushalts in
Deutschland ist in den vergangenen 15 Jahren geschrumpft. Mehr Menschen arbeiten
in prekärer Beschäftigung, oder sie würden gerne mehr arbeiten und damit auch mehr
30 Geld verdienen. Die Ungleichheit der Einkommen der unter 40-Jährigen ist heute dop-

pelt so hoch wie in der Generation ihrer Eltern. [ ... ]


Kinder aus sozial schwächeren Familien haben es enorm schwer, ihre Talente und
Fähigkeiten zu nutzen und Eigenverantwortung für ihr Leben übernehmen zu können.
Frauen werden im Arbeitsmarkt deutlich diskriminiert und die Politik tut noch immer
35 zu wenig, um dies zu beenden. Auch Menschen mit Migrationshintergrund haben es

ungleich schwerer, ihre Fähigkeit zu nutzen und bei Bildung, im Arbeitsmarkt und in
der Gesellschaft eine faire Chance zu bekommen.
Viele Vertreter der sogenannten Elite bestreiten das oder spielen das Problem herunter.
Sie sehen kein Scheitern von Politik und Gesellschaft, die Ungleichheit zu adressieren
40 und den sozialen Konflikt zu entschärfen. Einige behaupten, die Globalisierung oder

Europa trügen Verantwortung für den zunehmenden politischen Extremismus und die
Unzufriedenheit der Menschen. Andere wollen die Zuwanderung verantwortlich ma-
chen, die Schwierigkeiten der Integration von Flüchtlingen oder die Tatsache, dass
Deutschland seit langem ein Einwanderungsland ist.
45 Sie alle verstehen das Problem falsch: Die Unzufriedenheit rührt nicht aus einem kul-

turellen Konflikt. Weder die Globalisierung noch Europa sind schuld an ihr. Deshalb ist
auch die von den Eliten anvisierte Lösung falsch. Die Politik zu renationalisieren, die
Grenzen auch für EU-Bürger höher zu ziehen, Europa und seine Institutionen zu schwä-
chen, andere Kulturen und Religionen in Deutschland abzulehnen - all das wird nicht
50 das grundlegende Problem der sozialen Ungleichheit lösen.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

Genauso falsch ist der[ ... ] Versuch der Bundesregierung, die Bürger mit Geldgeschen-
ken ruhigzustellen [... ]Viele der diskutierten Rentenerhöhungen und Steuersenkungen
kommen eben nicht den Menschen zugute, die diese Hilfe bräuchten. [...] Denn diese
fordert eine massive Investitionsoffensive in Bildung und Ausbildung, in die Integration
55 von Menschen in den Arbeitsmarkt und eine zielgenaue Stärkung der Sozialsysteme.

Es sind nicht die Menschen, die mit ihrer Unzufriedenheit über die hohe soziale Un-
gleichheit falsch liegen. Sandern es ist die Politik, die diese unbequeme Tatsache nicht
wahrhaben möchte. Denn dies erfordert ein grundlegendes Umdenken hin zu einer
zielgenaueren Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie große Investitionen. Der gewählte
so Weg der Ausweitung von staatlichen Transfers an zu meist eh schon privilegierte Grup-
pen wird nichts grundlegend am Problem der sozialen Ungleichheit in Deutschland
ändern.

Der Autor ist Direktor des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DI W}, Berlin.

Marce/ Fratzscher, www.zeit.de, 23.12.2016

M 2 Armut in Deutschland

Karikatu r: Klaus Stuttmann

Aufgaben
1. Arbeiten Sie aus dem Text heraus, worin Fratzscher das eigentliche Problem bei der sozia-
len Ungleich sieht (M 1).

2. Analysieren Sie die Karikatur (, Methodenkompetenz: Karikaturen analysieren und interpre-


tieren) vor dem Hintergrund der von Fratzscher formulierten Kritik (M 2).

3. Bewerten Sie den Vorschlag von Fratzscher zur politischen Lösung des Problems. Verfas-
sen Sie dafür einen Kommentar.
1 .3.2 Soziale Mobilität

Leitfragen Was ist mit dem Begriff der sozialen Mobilität gemeint? Was sagt das Ausmaß sozialer
Mobilität über eine Gesellschaft aus?

Was ist soziale Mobilität?

Als soziale Mobilität bezeichnet man das Maß, in • Die Intergenerationenmobilität ist in den ver-
dem es Menschen gelingt, sich im Laufe ihres Le- gangenen Jahrzehnten geringfügig gestiegen.
bens aus ihren sozialen Lagen fortzubewegen.
Dabei muss man zwischen den individuellen Auf- • Die im internatio nale n Vergleich insgesamt ge-
stiegschancen innerhalb des Lebenslaufs eines ri nge Karrieremobilität hat zugenommen.
Einzelnen und dem Wandel der sozialen Ungleich-
heit innerhalb der Gesellschaft unterscheiden. • Bei der Mobilität überwiegt Kurzstreckenmobi-
Weiterhin unterscheidet ma n zwischen der hori- lität in benachbarte Positionen.
zontalen und der vertikalen Mobilität.
• Allgemein sind Bildungspositionen und
Horizontale Mobilität nennt man die Bewegun- -schichte n offener zugänglich als dies bei Be-
gen zwischen Positionen, die sich nach ihrer Art, sitzpositionen und -schichten der Fall ist.
nicht aber ihrem Rang unterscheiden, die soziale
Schicht oder Klasse wird dabei nicht verlassen. • Die Sozialstruktur veränderte sich weniger durch
Ein Beispiel ist der Wechsel vom Facharbeitern zu hohe Ab- und Zustromquoten als durch eine
einfachen Büroberufen . Die Veränderung des so- Anhebung des Gesamtniveaus.
zialen oder beruflichen Status wird demgegenüber
als vertikale Mobilität beschrieben. Für das The- Trotz de r Betonung der Chancengleichheit im Bil-
ma der soziale n Ungleichheit ist die vertikale Mo- dungswesen und des Leistungsgeda nkens in der
bilität von größerer Bedeutu ng. Sie umfasst Inter- Berufswelt gilt nach wie vo r: Je höher der soziale
und Intragenerationenmobilität. Status der Eltern, umso wahrscheinlicher ist der
Besuch einer weiterführenden Schule durch die
• Intergenerationenmobilität meint den soziale n Ki nder und die Vererbung des beruflichen und
Auf- und Abstieg zwischen den Generationen sozialen Status.
bzw. das Ausmaß, in dem die Kindergeneration
andere berufliche Positionen erreichen kann als
die Elterngeneration. Warum schaffen so wenige den sozialen
Aufstieg über das Bildungssystem?
• Intragenerationenmobilität oder Karrieremobi-
lität beschreibt den Verla uf des eigenen Fort- Die Ursachen für die schichtspezifischen Unter-
kommens, d. h. die Beweglichkeit innerhalb des schied e im Bildungssystem sind nur in einzelnen
eigenen Lebenslaufs. Aspekten erforscht. Aber viele Bildungsforscher
sind sich einig, dass es im deutschen Bildungssys-
Die Mobilitätsforschung untersucht, inwieweit es tem einen „sozialen Filter" gäbe. Man spricht a uch
Kindern aus ungünstigen Herkun ftsbedingungen von „sozialer Selektivität" oder „schicht-spezifi-
gelingt, eine gute Berufsposition zu erlangen bzw. schen Bildungschancen." Folgt man dem franzö-
inwieweit berufliche Positionen „weitervererbt" sische n Soziologen Raymond Boudon, wirken im
werden. Die soziale Mobilität g ibt Aufschluss über Bildungssystem „primäre und sekundäre Her-
das Maß der Chancengleichheit innerhalb einer kunftseffekte".
Gesellschaft. Eine a usgeprägte soziale Mobilität
ist somit a uch Ausdruck von sozialer Gerechtig- Die größeren finanziellen Ressourcen und die kul-
keit und führt zum Abbau sozialer Gegensätze. turelle n Anregungen in den sozial höher gestellten
Für Deutschland sind gegenwärtig folgende Ent- Familien würden die Entwicklung von Fähigkei-
wicklungen feststellbar: ten und Motivationen fördern, die gute Schulleis-
1.3 Soziale Ungleichheit 1

.,abschrecken", weil sie im Hinblick auf ihren Stu-


Der Bildungstrichter in Deutschland
dienerfolg und ihre Arbeitsmarktchancen unsi-
cherer und pessimistischer seien. Auch würden die
TT
Kosten für ein Studium sehr hoch eingeschätzt.
100 100
An den Leistungen liege es nicht, dass sich so
wenige Kinder aus nicht akademischen Familie
für ein Studium entschieden. Das Bildungssystem,
so das Fazit v ieler Bildungswissenschaftler, sei
nicht in der Lage, die Herkunftseffekte auszuglei-
chen. Im Gegenteil: Es konnte nachgewiesen
werden, dass das Bildungssystem die Herkunfts-
Universität Fachhochschule effekte noch verstärke, weil Lehrer bei der Über-
gangsempfe hlung zur weiterführenden Schule die
soziale Herkunft der Kinder und das Bildungs-
niveau der Eltern berücksichtigten.

Bildungstrichter aus der 20. Sozialerhebung 1


c Deutsches Studentenwerk Was sind Eliten?

tungen und eine erfolgreiche Bildungskarriere Verbunden mit dem Thema der Mobilität haben
begünstigen. Musikunterricht, gemeinsame Kon- Untersuchungen zum Thema Elitenbildung und
zert- und Theaterbesuche, der Besuch von Museen Führungsgruppen an Stellenwert gewonnen.
und Ausstellungen oder Sportkurse seien in diesen Machteliten finden sich in nahezu allen Bereichen
Familien ei ne Selbstverständlichkeit. Eltern aus der modernen Gesellschaften. Dieser kleine Perso-
diesen Schichten, die in der Regel selbst über ei- nenkreis übt bei zent ralen Entscheidungen, die
nen höheren Bildungsabschluss verfügten, wür- v iele oder manchmal auch alle Mitglieder der Ge-
den den Kindern vorleben, dass Bildung etwas sellschaft betreffen, großen Einfluss aus. Die
Erstrebenswertes sei, was sich positiv a uf die Leis- Machteliten spiegeln weder die Struktur der Ge-
tungsbereitschaft der Kinder auswirke. Darüber samtgesellschaft wider, noch sind sie eine in sich
hinaus wirke sich auch die gehobene Sprache, die geschlossene Gruppe. Etwa die Hälfte aller Eliten-
die Kinder in diesen Familien erlernten, positiv angehörigen hat Väter, die selbst zu den Machte-
auf den Bildungserfolg aus. liten gehören. In Ostdeutschland hat sich in den
vergangenen Jahren der Einfluss der sozialen Her-
Diese Eltern würden ihre Kinder selbst bei mäßi- kunft deutlich vergrößert. Kennzeichen der Eliten
gen Leistungen und entgegen den Lehrerempfeh- in Deutschland sind:
lun gen auf das Gymnasium schicken. Sie würden
Statusverluste befürchten, ginge ihr Kind nicht • ein meist hohes Bildungsniveau;
a uf ein Gymnasium. Die Eltern a us den so ge- • eine relativ hohe Rekrutierung aus sozial und
na nnte n „bildungsfernen Schichten", die in der beruflich privilegierten Bevölkerungsschichten;
Regel über keinerlei Erfahrung mit länge ren Bil- • eine geringe Homogenität aufgrund der ver-
dungswegen auf den höheren oder auch mittleren schiedenen Wirkungsbereiche und der dezent-
Ebenen des Bildungssystems verfügten, würden ralen Struktur der Bundesrepublik.
ihre Kinder seltener auf ein Gymnasium schicken.
Ähnliches lasse sich bei der Entscheidung für ein Als Probleme der Elitenbildung gelten u. a.:
Studium beobachten. Auch hier hat die Abiturno-
te nur wenig Einfluss. Jugendliche aus Akademi- • die soziale Selektivität bei den Aufstiegschancen
kerfamilien würden sich quasi „automatisch" für in die Eliten;
ein Studium entscheiden, weil ihren Familien die • die mangelnde Zirkulation zwischen den Eliten
akadem ische Ausbildung vertraut sei. Die Abitu- verschiedener Bereiche;
rientinnen und Abiturienten aus Arbeiterfamilien • der geringe Frauenanteil;
ließen sich dagegen häufig von einem Studium • Ausmaß und Einfluss vo n Elitenetzwerken.
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

Mobilität - vertikale und horizontale Mobilität, Auf- und Abstiegsraten 1976 - 2014

Westdeutschland Ostdeutschland
1976- 1981 - 1991 - 2000- 2010- 1991 - 2000- 2010-
1980 1990 1999 2009 2014 1999 2009 2014
Männer
Gesamtmobilität(%) 66 66 64 67 67 60 62 61
Gesamtmobilität umfasst:
vertikale Mobilität 51 50 51 54 56 51 50 51
horizontale Mobilität 15 16 13 13 11 10 12 10
Verhältnis vertikale/
3,3 3,1 4,0 4,0 4,9 5,2 4,1 5,1
horizontale Mobilität
vertikale Mobilität umfasst:
Aufwärtsmobilität 36 35 35 37 38 31 25 26
Abwärtsmobilität 15 15 16 17 18 20 24 24
Vehältnis Aufstiege/
2,4 2,4 2,2 2,1 2,2 1,5 1,0 1,1
Abstiege
Frauen 1

Gesamtmobilität(%) 77 77 78 77 78 74 77 78
Gesamtmobilität umfasst:
vertikale Mobilität 59 55 58 58 61 63 59 63
horizontale Mobilität 18 22 19 19 17 11 18 15
Verhältnis vertikale/
3,3 2,5 3,0 3,1 3,6 5,8 3,4 4,1
horizontale Mobilität
vertikale Mobilität umfasst:
Aufwärtsmobilität 26 26 31 31 33 36 30 34
Abwärtsmobilität 33 28 27 27 28 28 29 29
Vehältnis Aufstiege/
0,8 0,9 1,2 1,2 1,2 1,3 1,0 1,2
Abstiege

Nach: Bu11deszentrale für politische Bildung, Datenreport 2016

Leben wir mittlerweile in


einer Abstiegsgesellschaft?

Bis in die 1980er Jahren ging es für alle Gesell- Seit d en 1990er gäbe es diesen Fahrstuhl aller-
schaftsschichten „nach oben": Auch wenn es grö- dings nicht mehr, stellen einige Wissenschaftler
ßere soziale Ungleichheiten zwischen den Ärms- fest. Aus der Gesellschaft des sozialen Aufstiegs
ten und den Reichsten gab, verringerte sich aber sei eine Gesellschaft des Abstiegs und der Preka-
die Armut und sozialer Aufstieg war möglich. Die rität geworden. Dafür verwenden sie die Metapher
Einkommen stiegen insgesamt, ebenso die Bil- der Rolltreppe: auf dieser könnten sich auch die
dungschancen, Freizeit und Konsum. Der Sozio- Abstände zwischen den einzelnen Individuen ver-
loge Ulrich Beck sprach deshalb vo n einem „Fahr- ändern, je nachdem auf welcher Stufe man stehe
stuhleffekt" : Alle sozialen Klassen standen oder ob man nach unten oder oben fahre. Einige
gemeinsam im Aufzug und fuhren kollektiv nach erreichten bereits die nächste Etage, während v ie-
oben. Die Ungleichheiten blieben die gleichen, le nach unten fahren müssten. Dieser Prozess habe
aber sie spielten gesellschaftlich eine geringere sich schleichend entwickelt und es handele sich
Rolle, weil es allen besser erging. noch nicht um ein Massenphänomen. Die Haup-
1.3 Soziale Ungleichheit 1

tursache für den Übergang in die „Abstiegsgesell- dischen Bevölkerung sowie der Alleinerziehenden
schaft'' sehen die Wissenschaftler in der Erschüt- zu Randgruppen gerechnet. Randgruppen weisen
terung der Arbeitsverhältnisse (> Kap. 2.3.2). meist folgende Merkmale auf:

• Defizite in gesellschaftlich wichtigen Bereichen,


An den Rand gedrängt? etwa bei d er wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
(Einkommen) oder bei Bildung und Sprache;
In unserer Gesellschaft gibt es Bevölkerungsgrup-
pen, die zwar nicht im Hinblick auf alle Dimensi- • Diskriminierung oder Benachteiligung, z.B.
onen sozialer Ungleichheit schlecht gestellt sind, durch verweigerte Chancengleichheit im Bil-
aber dennoch soziale Benachteilig ungen erfah ren dungsbereich;
und von der Teilhabe am gesellschaftl ichen, kul-
turellen und politischen Leben ausgeschlossen • Weitgehende Einflusslosigkeit in Gesellschaft
sind, d. h., sie sind nicht oder nur unzureichend in und Politik.
die Kerngesellschaft integriert. Angesichts der
großen Vielfalt und Vielgestaltigkeit von sozialen Einige Randgruppen zeichnen sich dadurch aus,
Problemgruppen ist es nicht immer zutreffend, sie dass sie die innerhalb der Kerngesellschaft gelten-
gleich dem gesellschaftlichen Rand zuzuordnen. den Normen und Werte (z.B. Streben nach Wohl-
Es müssen sich i. d. R. erst bestimmte ungünstige stand und Reichtum) wen ig bis gar nicht anerken-
Faktoren anhäufen, bevor man von Randständig- nen und vo n dieser wiederum als Bedrohung der
keit sprechen kan n. Zu den sozialen Randgruppen gesellschaftlich en Ordnung empfunde n werden.
in Deutschland zählen Deshalb sind sie häufig Ziel von Vorurteilen und
Stigmatisierungen. Die Zugehörigkeit zu gesell-
• Wohnsitzlose, schaftlichen Randgruppen ist i. d. R. auf folgende
• Drogenabhängige, Ursachen zurückzuführen:
• Strafentlassene,
• Langzeita rbeitslose, • schlechte materielle Lebensbedingungen (z. B.
• Entlassene aus stationäre r psychiatrischer Be- Armut, Wohnsitzlosigkeit);
handlung oder • schwierige Beziehungen zur übrigen Bevölke-
• Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern. rung (z.B. Vorurteile, Diskriminierung);
• ein besonderes Verhält nis zu staatlichen Ein-
Weiterhin werden unter bestimmten Bedingungen richtungen (z.B. Strafvollzug, staatliche Betreu-
auch Teile der älteren Menschen und der auslän- ung).

Aufgaben
1 . Erläutern Sie den Begriff der sozialen Mobilität.

2. Erklären Sie, weshalb der Bildungsaufstieg in Deutschland so schwierig ist.

3. Werten Sie die Tabelle (Mobilität) aus (, Methodenkompetenz: Kritische Auswertung von Statistiken). Beurtei-
len Sie Ihre Ergebnisse.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Bildungschancen - Karikatur

Karikatur : Thomas Plaßman n

M 2 Bildungsunterschiede in der Familie

Der französische Soziologe Didier Eribon wuchs in den 1950er bzw. 1960er Jahren im
französischen Arbeitermilieu auf. Er war der erste und einzige aus seiner Familie, der
ein Gymnasium besuchen und später auch studieren konnte. Er erzählt in seinem Buch
,,Rückkehr nach Reims" von seiner ersten Zeit auf dem Gymnasium:

s „Kurz nach meiner Einschulung im Gymnasium (ich war elf) lernten wir im Englischun-
terricht einen Weihnachtsreim. Zu Hause angekommen, sagte ich zu meiner Mutter:
„ Ich hab ein Gedicht gelernt" und begann es aufzusagen. [... ] ,,1 wish you a merry
Christmas, a horse und a gig, and a good fat pig, to kill next year." Der Ärger, ja Zorn
stieg so schnell in ihr auf, dass sie mich nicht einmal ausreden ließ. ,,Du weißt doch
,o ganz genau, dass ich kein Englisch kann", schrie sie, ,,sofort übersetzt du mir das!"
Dachte sie, ich wollte mich über sie lustig machen? Sie erniedrigen? Eine Überlegen-
heit demonstrieren, die schon aus ein paar Monaten Gymnasium resultierte? Ich über-
setzte das Gedicht. Sie beruhigte sich schnell. Mir war aber schlagartig klar geworden,
dass sich zwischen jenem Außen, welches das Gymnasium und das Lernen darstell-
,s ten, und dem Innenraum der Familie ein Riss aufgetan hatte, der mit der Zeit nur
größer werden konnte.
Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, 2016, S. 75J

Aufgaben

1. Analysieren Sie die Karikatur in M 1 (, Methodenkompetenz: Karikaturen analysieren und


interpretieren).

2. Erläutern Sie die Episode, die Eribon aus seiner Schulzeit berichtet (M 2). Erklären Sie an
diesem Beispiel, was man im Hinblick auf die Bildungschancen unter den primären und
sekundären Herkunftseffekten versteht.

3. Nehmen Sie Stellung zu der folgenden These: Leistung alleine lohnt nicht, um im Bildungs-
system erfolgreich zu sein.

4 . Recherchieren Sie (, Methodenglossar) Informationen zur Initiative „Arbeiterkind" und prä-


sentieren Sie diese. Bewerten Sie das Engagement der Initiative vor dem Hintergrund der
Erkenntnisse der Bildungswissenschaftler über die Wirkung von Herkunftseffekten.
1 .3 .3 Modelle sozialer Ungleichheit
Leitfragen Welche Modelle zur Analyse Inwiefern sind sie jeweils geeignet,
der Sozialstruktur gibt es? gesellschaftliche Strukturen zu erklären?

Wie beschreibt man die Gesellschaft?

Mit der starken Ausprägung der sozialen Gegen- chen Interessen können demnach zu Konflikten
sätze in der Phase der Industrialisierung seit dem innerhalb der Gesellschaft führen. Die Klassen-
ausgehe nden 18. Jahrhundert und der Einsicht, theorie untersucht deshalb auch die Machtbe-
dass soziale Ungleichheit nicht gottgewollt oder ziehungen und Konflikte zwischen den Klassen
natürlichen Ursprungs, sondern auch veränderbar der Gesellschaft. Ein „Schichtbewusstsein" und
ist, began nen Menschen über die Ursachen der unterschiedliche „Schichtinteressen" bilden sich
ungleichen Verteilung von Lebenschancen nach- nach den Schichtmodellen hingegen nicht aus.
zudenken. Seitdem sind die Analyse der sozialen
Ungleichheit und die Erforschung des Denkens • Schichtmodelle beschreiben die Gliederung ei-
und Verhaltens von Menschen in unterschiedli- ner Gesellschaft, Klassentheorien gehen über die
chen Bevölkerungsgruppen und sozialen Schich- Beschreibung hinaus und fragen nach den Ur-
ten mit Hilfe von sozialwissenschaftlichen Model- sachen vo n Konflikten und Machtbeziehungen.
len ein fester Bestandteil der Gesellschafts-
wissenschaften. Sozia le Schichtung beschreibt die vertikale Glie-
derung einer Gesellschaft in größere Bevölke-
rungsgruppen, die nach gemeinsamen Merkmalen
Klasse und Schicht zusammengefasst werden. Die Schichtungstheo rie
wurde in der Bundesrepublik bis weit in die 1970er
Zur Analyse sozialer Ungleichheit waren in der Jahre als die zentrale Theorie zur Analyse sozialer
Soziologie lange zwei Theorien vorherrschend: Ungleichheit herangezogen. In vereinfachenden
die Klassen- und die Schichtungstheorie. Sowohl Modellen wurden anhand bestimmter Kriterien -
in der Klassen- als auch in der Schichtungstheorie etwa Beruf, Ei nkommen, Werte - soziale Un-
werden Menschen mit ähnlicher sozioökonomi- gleichheiten erfasst. Bekannt sind die zwiebelför-
scher Lage zusammengefasst. Von Klasse oder mige Beschreibung der bundesdeutschen
Schicht spricht man dann, wenn die folgenden Gesellschaft des Soziologen Karl Martin Bolte
Merkmale erfüllt sind: sowie das „Hausmodell" des Soziologen Ralf

• Die soziale Lage wird mit anderen geteilt, sie ist


kein Einzelschicksal, die Menschen bilden auf-
grund ähnlicher Erfahrungen ähnliche Persön-
Sozialwissenschaftliche Modelle
lichkeitsmerkmale (Einstellungen, Wertorientie-
rung, Interessen, Lebensstile usw.) a us; Ein Modell ist ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit und be-
• Die soziale Lage ist dauerhaft und nicht vorü- schränkt sich deshalb auf einige Aspekte. Es versucht, das We-
bergehend; sentliche darzustellen. Was wesentlich ist, hängt aber vom Be-
trachter (Benutzer) des Modells ab. Von Bedeutung ist dabei, was
• Die soziale Lage wird an die Kinder weitergege-
man mit einem Modell erreichen will bzw. wozu es dient. Modelle
ben. werden häufig mit Karten verglichen. Diese sind ebenfalls keine
1:1 Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern bieten unterschiedliche
Klassen- und Schichtmodelle unterscheiden sich Orientierungen: z.B. als Straßenkarte, als Wanderkarte, als geo-
j edoch in wese ntlichen Bereichen: grafische Karte usw. Deshalb liegen jedem Modell Annahmen zu-
grunde, die über die Art der Darstellung, über Begriffe und Erläu-
• Nach der Klassentheorie bilden die Angehörigen terungen deutlich gemacht werden. Diese Annahmen unterliegen
einem historischen Wandel, was letztlich zur Veränderung von
einer Klasse ein gemeinsames Klasseninteresse
Modellen führt.
und Klassenbewusstsein aus. Die gegensätzli-
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

Dahre ndorf. Entstanden in den l 960er Jahren, Kritik an den Klassen- und
wurden diese Modelle immer wieder weiterentwi- Schichtenmodellen
ckelt bzw. verfeinert.
In Westeuropa und Nordamerika gelten d ie Klas-
Die Schichtungsmodelle, die die vertikale Un- sen- und Schichtenmodelle schon seit langem als
gleichheit deutlich betonen, gewinnen angesichts geeign ete Modelle, die Sozialstru ktu r einer Gesell-
der Arbeitslosigkeit und der zunehmenden Ein- schaft zu beschreiben. In Deutschland hingegen
kommensunterschiede in Deutschla nd wieder diskutiert man immer wieder die Bede utung dieser
meh r an Bedeutung. Modelle. Viele Sozialwissenschaftler zweifeln an
der Richtigkeit dieser vertikalen Modelle zur Be-
schreibu ng der sozialen Wirklichkeit. Sie gehen
davon aus, dass sich die Klassen und Schichte n
aufgelöst hätten, weil sich a ufgru nd des gestiege-
Klasse
nen Wohlstands und der Bildungsexpansion in
Der Begriff der Klasse zur Erklärung der sozialen Ungleichheit geht Deutschland eine große Vielfalt von Lebensstile n
auf Karl Marx (1818 - 1883) zurück. Danach sei die soziale Un- und Lebenslagen entwickelt habe und vor allem
gleichheit der Menschen auf ihre Stellung innerhalb des Produkti- die Schicht- bzw. Klasse nzugehö rigkeit von den
onsprozesses zurückzuführen: So gäbe es Besitzer (Kapitalisten,
j eweiligen Mitgliedern so nicht mehr wahrgenom-
Bourgeoisie) und Nichtbesitzer (Arbeiter, Proletariat) von Produk-
tionsmitteln (Fabriken, Maschinen, Werkzeuge). Zwischen diesen men würde. Es existiere eine Gesellschaft „j enseits
beiden Klassen existiere ein Abhängigkeitsverhältnis, da die Pro- von Klasse und Schicht", wie es der Soziologe Ul-
letarier gezwungen seien, ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten zu rich Beck 1986 fo rmulierte.
verkaufen. Aus diesem Abhängigkeitsverhält nis leitete Marx die
entgegengesetzten Interessen dieser beiden Klassen ab: Das In- Andere Sozialwissenschaftler halten hingegen an
teresse der Kapitalisten bestehe demnach im Erhalt der bestehen- der Theorie vo n der sozialen Schichtung der Ge-
den Verhältnisse, das Interesse der Proletarier hingegen sei an
sellschaft fest, denn die Verteilung der Chancen
Veränderung orientiert.
z.B. a uf eine gute Bildung und die gesellschaftli-

Schichtmodell nach Ralf Dahrendorf Schichtmodell nach Rainer Geißler : Soziale Schich-
tung der westdeutsch en Bevölkerung im Jahr 2009

...,.._ _ _ _ _ _ _ _ _ _ Eliten
unter 1 %
aus lä ndis che obere \

Arbeite reliten
~ ; ;;;:: :: l •---y</o;,~~:~~•:,,,,\:::::,...',..____o_b_,:;~:~;;:~~~

m;utm f;•:""•~• <_:\·.)-3~%~---Mi~!~~~::;


Mittelstand
r··A~b~ii~~·:· ! ...,.!--+-+-"?'" Landwirte
ausländische
gelernte
........................................i...elite.
1 .'/o ........ J..;..y. 0,6 %

Die
1 %ns
_ tleister
__ gelernte ! !! aus lä ndische
Dienstleister ! Facha rbeiter !! Facha rbeiter 1 %
10 % ! 11 % !!
Arbeiterschicht ausländische ... ·····································L ························...j 14% ... Mitt~~:~: : ;
un- ,
angele rnte 2 % un-, a ngelernte ! un-, a ngelernte : ! 2 ausländische
Die ns tleister Dienstleiste r : Arbeiter : : % un-, angelernte
11 8
% Untersc!icht 6 % % !! 1 % auslän: ;s: ~:er
Unterschicht Unterschicht

c::::::J Deutsche
c::::::J Ausländer
Quelle, Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deut sch • Quelle, Rainer Geißler, Die Sozialstru ktu r Deutschl ands, 7. Aufl., Wiesbaden 2014, S. 100
land, München 1965, S. 105
1.3 Soziale Ungleichheit 1

ehe Teilhabe, a ber a uch hi nsichtlich der Lebensri- der Gesellschaft gelangen. So unterscheiden So-
siken sei a bhängig von der sozialen Schicht, in die ziologen z.B. Machteliten, Bildungseliten, Mana-
man hineingeboren worden wird. Auch die Ver- ger, Experten, Studenten, ,,Normalverdiener" (mit
teilung des Wohlstands innerhalb der Bevölke- geringen, mittleren u nd hohen Risiken), Rentner,
rung sehen diese Wissenschaftler als Bestätigung Arbeitslose, Arme und Randgruppen.
der Klassen-Schichten-Theorien.

Soziale Milieus
Soziale Lagen
Spätest ens seit den 1980er Jahren wurden sowohl
Die Modelle der Sozialen Lagen wurden seit dem die horizontalen Ungleichheitsmerkmale wie Al-
Ende der 1980er Jahre als Erweiterung der Klas- ter und Geschlecht als auch subjektive Faktoren
sen- Schichten-Modelle formuliert, weil diese v. a. der Lebensbedingungen verstärkt in die Analyse
die vertikalen Ungleichheiten beschreiben. Mit der Sozialstruktur einbezogen. Nach Ansicht vo n
ihne n lassen sich die horizontalen Ungleichheiten Kritikern sind die Klassen- und Schichtungstheo-
nicht abbilden. rien mit ihrer eindeutigen Orientierung an der
vertikalen Ungleichheit v iel zu starr, um die Le-
Soziale Lagen werden insbesondere in der Wohl- benswirklichkeit der Individuen angemessen zu
fahrtsforschung untersucht; sie beschreiben die erfassen. Neben den Begriff der Schicht traten die
Lebenschancen und die Lebensqualität einzelner Beg riffe „Milieu" und „Lebensstil" zur Analyse
Bevölkerungsgruppen. Bei der Zuordnung der Le- sozialer Ungleichheit. Anders als die Schichtungs-
benslage n werden unterschiedliche Faktoren wie und Klassentheo rie liefern diese Ansätze eher Be-
Beruf, Einkommen, Arbeitsplatzsicherheit, Bil- schreibungen als Erklärungen für soziale Un-
dung, Freizeitgestaltung und Zufriedenheit be- g leichheit. Die Milieuforschung entsta nd aus der
rücksichtigt. Der Vorzug der „Lagenmodelle" liegt Markt- und Wahlforschung und arbeitet mit re-
dari n, dass sie zu einem mehrdimensionalen Bild präsentative n Interviews.

Die Sinus- Milieus in Deutschland 2017 Soziale Lage und Grundorientierung

Oberschicht Sinus B1
/ Obere 1 Sinus C1
Liberal-intellektuelles
Mittel- Sinus AB12 Milieu der
Milieu
Schicht Konservativ- Performer
7% Sinus C12
etabliertes 8%
Sinus B12 Expeditives
Milieu
Sozialökologisches Milieu
10%
Mittlere 2 Milieu Sinus C2 8%
Mittel- 7% Adaptiv-
Schicht pragmatisches
Sinus B23 Milieu
Sinus AB23 Bürgerliche Mitte 10%
Traditionelles Milieu 13%
13% Sinus BC23
Untere 3
Mittel- Hedonisitisches
Schicht/ Milieu
Sinus B3 15%
Unter-
Prekäres Milieu
Schicht
9%

A B C
soziale
Lage Traditions- Moderni- Lebensstandard, Selbstverwirklichung, Multioptionalität, Exploration,
verwurze- sierte Status, Besitz Emanzipation, Beschleunigung Refokussierung,
Grund lung Tradition ,,Haben & Genießen" Authentizität Pragmatismus neue Synthesen
·en- .,Festhai- .,Bewah- ,,Sein & Verändern" .,Machen & Erleben" „Grenzen
Orl ten" ren" überwinden"
tierung Tradition Modernisierung / Individualisierung Neuorientierung

Na ch: S inus Sociovision GmbH, 2017


1 Die moderne Gesellschaft in Deu tschland

Sinus-Milieumodell 2017

Gesellschaftliche Leitmilieus Traditionelle Milieus


Sinus B1 Das selbstbewusste Establish- Sinus A1 2 Das alte deutsche Bildungsbür-
(Etablierte) ment: Erfolgs-Ethik, Machbarkeits- (Konservative) gertum: konservative Kulturkritik,
denken und ausgeprägte humanistisch geprägte Pflichtauf-
Exklusivitätsansprüche fassung und gepflegte Umgangs-
formen
Sinus B12 Das aufgeklärte Nach-68er-Milieu: Sinus A23 Die Sicherheit und Ordnung
(Postmaterielle) Liberale Grundhaltung, postmate- (Traditionsver- liebende Kriegsgeneration:
rielle Werte und intellektuelle wurzelte) verwurzelt in der kleinbürgerl ichen
Interessen Welt bzw. in der t raditionellen
Arbeiterkultur
Sinus C12 Die junge, unkonventionelle Sinus AB2 Die resignierten Wende-Verlierer:
(Moderne Leistungselite: intensives Leben - (DDR-Nostalgi- Festhalten an preußischen
Performer) beruflich und privat, Multi-Optio- sehe) Tugenden und altsozialistischen
nalität, Flexibilität und Multime- Vorstellungen von Gerechtigkeit
dia-Begeisterung und Solidarität
Mainstream-Milieus Hedonistische Milieus
Sinus B2 Der statusorientierte moderne Sinus C2 Die extrem individualistische neue
(Bürgerliche Mainstream: Streben nach (Experimentalis- Boheme: Ungehinderte Spontan-
Mitte) beruflicher und sozialer Etablie- ten) eität, Leben in Widersprüchen,
rung, nach gesicherten und Selbstverständnis als
harmonischen Verhältnissen Lifestyle-Avantgarde
Sinus B3 Die stark materialistisch geprägte Sinus BC3 Die Spaß-orientierte moderne
(Konsum- Unterschicht: Anschluss halten an (Hedonisten) Unterschicht/untere Mittelschicht:
Materialisten) die Konsum-Standards der breiten Verweigerung von Konventionen
Mitte als Kompensationsversuch und Verhaltenserwartungen der
sozialer Benachteiligungen Leistungsgesellschaft

Als „soziale Milieus" werden Gruppen von Gleich- wissenschaften wieder z u, da der Zusammenhang
gesinnten verstanden, die große Ähnlichkeiten in zwisch en der sozialen Herkunft, den Bildungsab-
ihrer Lebensführung, in den Beziehungen zu den schlüssen und der wirtschaftlichen Stellung in
Mitmenschen, in ihren Einstellungen a ufweisen. jüngsten Studien deutlich herausgestellt wurde.
Die Milieutheorien nehmen für sich in Anspruch, Den „neuen" Schichtungs- und Klassentheoreti-
die soziale Ungleichheit in Deutschland besser als kern zufolge stellt die wirtschaftliche Situ ation
andere Ansätze beschreiben zu können, weil sie eines Einzelnen die zent rale Grundlage bei der
sowohl vertikale als auch horizontale Merkmale Verteilung der Lebenschancen und -risiken dar.
sozialer Ung leichheit berücksichtigen. So werden
unabhängig von der beruflichen Stellung die Le- Das Modell Exklusion-Inklusion ist das jüngste
bensstile der Individu en erfasst. Die Grundlage der Sozialstrukturmodell. Es unterscheidet nicht mehr
Lebensstilanalyse bildet die Erforschung vo n Ge- zwisch en dem Oben und Unten in einer Gesell-
schmack und Verhalten, von Freizeitgestaltung schaft, sondern untersucht das „Drinnen und
und Konsumgewohnheiten. Sehr bekan nt sind Draußen", die Zugehörigkeit und das Ausge-
beispielsweise die sog. ,,Sinus- Milieus", a n wel- schlossensein, was sich in mehreren gesellschaft-
chen insbesondere die Markt- und Parteienfor- lichen Dimensionen zeigen kann. So kann sich das
schung interessiert ist. Ausgeschlossensein z.B. im Ausschluss vom Er-
werbsleben (Arbeitslosigkeit), soziale Ausgren-
zung durch das Leben in einem sozialen Brenn-
Neuere Forschungsansätze punkt oder aufgrund der Zugehörigkeit zu einer
bestimmten eth nischen Gruppe, a ber auch in
Aktuell nimmt die Diskussion neuer Schichten- mangelnder Teilhabe am kulturellen und politi-
und Klassenmodelle innerhalb der Gesellschafts- schen Leben zeigen. Untersu cht werden aber auch
1.3 Soziale Ungleichheit 1

die Auflösung der traditionellen sozialen Netz- zialer und politischer Ungleichheit. So konnte für
werke oder das A usgeschlossensein aufgru nd von die Bundestagswahlen 2009 und 20 13 fest gestellt
körperlich en oder psychischen M erkmalen etc. werden, dass die Wahlbeteiligung der oberen so-
Auch wenn sich das Modell auf die extrem be- zial en Schichten um bis zu 40 0/o höher lag als die
nachteiligten Mitglieder der Gesellsch aft bezieht, unteren Schichten, die damit im politischen Sys-
wird es denn och als ein Vorzug erachtet, da es auf tem deutlich unterrepräsentiert waren. Durch das
v ielfält ige Ausgrenzungsmechanismen in allen A uftreten der A fD wurde diese Spalt ung bei den
sozialen Schichten und M ilieus aufmerksam ma- Bundestagwahlen 201 7 überwunden : Die Bürger
ch en kann, denn Exklusion passiert in allen sozi- aus den unteren sozialen Schichten gingen ver-
al en Räumen. mehrt wi eder zur Wahl und wählten die A fD : Je
sozial prekärer die Lage in einem Stimmbezirk,
Neuere Studien zur Sozialstruktur besch äftigen desto besser schnitt die A fD dort ab und desto
sich auch mit dem Zusammenhang zwischen so- höher fiel en i hre Zuwächse aus.

Modelle sozialer Ungleichheit

Klassen Soziale Schichten Soziale Lagen Soziale Milieus

Entwickelt in den 1930er Entwickelt in den 1980er Entwickelt in den 1980er


Entwickelt im 19. Jh.
Jahren Jahren Jahren

Vertikale soziale Vertikale soziale Vertikale und horizontale Vertikale und horizontale
Ungleichheiten Ungleichheiten soziale Ungleichheiten soziale Ungleichheiten

Unterscheidung nach Unterscheidung nach Unterscheidung nach Unterscheidung nach


der Stellung im Produk- den objektiven Lebens- den objektiven Lebens- den Wertorientierungen,
tionsprozess und dem bedingung (Beruf, bedingung (Beruf, Einstellung und
Besitz- bzw. Nichtbesitz Einkommen, Vermögen, Einkommen, Vermögen, Lebensstilen z. B. zum
von Produktionsmitteln Bildung, Sozialprestige, Bildung, Sozialprestige, Konsum, Familie,
(Kapitalisten - Arbeiter/ Einfluss) Einfluss) und nach Partnerschaft, Politik
Proletariat ) horizontalen Kriterien
(Alter Geschlecht,
Kinderzahl)

Nach: Basiswissen Schule, Politik Wirtschaft Abitur, 20 16, S. 291

Aufgaben
1. Grenzen Sie die einzelnen Gesellschaftsmodelle voneinander ab und erläutern Sie, weshalb sich die Modelle
im laufe der Zeit immer stärker ausdifferenziert haben.

2. Benennen Sie die möglichen Auftraggeber von Sozialstudien und erläutern Sie die unterschiedlichen Interes-
senlagen.

3. Bewerten Sie grundsätzlich die Aussagekraft von Modellen.


1 KOMPETEN Z EN ANWENDEN

M 1 Soziale Milieus bei der Bundestagswahl 2017

Die Sinus-Milieus - Verteilung aller Wahlberechtigten

l1111. Liberal-inte llektuelles Milieu der


Oberschicht 1,,,,,,, Milieu 7 %
/ Obere 1
111l//1,
Performer
''11.1111 72 % aller Grünen-Wähler 8%
Mittelschicht Konstrvativ- 1,,111, Expeditives
1111 62 % aller DIE LINKEN-Wähler Milieu
etabfliertes ,,

i ,
11111
M lieu ,,,,,,,,, 7%
11111
11 % ' ,,,,~ ozialökologisches
1
56 % aller SPD-Wähler

111111
Mittlere 1
,, ,~ 111ilieu 7 %
Mittelschicht ,,,
1,,11 Adaptiv-
111
,,,,, p gmatisches
111111
Bürgerliche Mitte ,,
11
Milieu
'/1,,.
Traditionelle Milieu 13% ,,,,, 10 %
14 % 1,,,,,,,
1111
" 111.
"'11.

Untere (1.) 65 % aller AfD-Wähler Hedonisitis6~,


·1· ,,,,,111
Mittel- j M 11eu ,,
1
1111111
schicht/ (1.) Prekäres 13 % ,,,,,

Unterschicht ~ Milieu '111,,

~ 9%
Grundorientierung
Tradition Modernisierung / Individualisierung Neuorienierung
Traditions- Moderni- Lebensstandard, Selbstverwirklichung, Multioptionalität, Exploration,
verwurze- sierte Status, Besitz Emanzipation, Beschleunigung Refokussierung,
lung Tradition Authentizität Pragmatismus neue Synthesen

Kurz Erklärt: Diese Abbildung zeigt, auf welcher Seite der Diagonalen die Wähler der verschiedenen Parteien
verortet sind. Die Diagonale trennt die Gesellschaft grob in zwei Hälften - die Modernisierungsskeptiker unterhalb
der Diagonal en und die Modernisierugsbefürworter oberhalb der Diagonalen. Dabei zeigt sich deutlich: Die Wäh-
ler der GRÜNEN, DIE LINKEN, FDP, SPD und CDU/ CSU sind mehrheitlich den Modernisierungsbefürwortern zu-
zuordnen. Das somit entstandene Vakuum unterhalb der Diagonalen füllt nun die AfD - 65 Prozent ihrer Wähler
stammen aus den Milieus der Traditionellen, der Prekären, der Bürgerlichen Mitte, dem konsumorientierten Teil der
Hedonisten sowie der Hälfte der Konservativ-Etablierten. Der jeweilige Wäh lerant eil wurde auf Basis einer aus
Umfragedaten und Stimmbezirksanalysen geschätzten Wahlbeteiligung soi der Parteiergebnisse in den verschie-
denen Milieus berechnet.

Robert Veh rkamp / Klaudia Wegschaider, Populiire Wahlen, Mobilisierung und Gegenmobilisierung
der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017, www.bertelsmann-stiftung.de, 201 7, S. I5

Aufgaben

1. Beschreiben Sie die Verteilung der Wahlberechtigen auf die sozialen Milieus.

2. Erklären Sie den möglichen Zusammenhang zwischen Milieuzugehörigkeit und Wahl-


verhalten.

3. Diskutieren Sie die Aussage „Durch die Bundestagswahl 2017 hat sich die soziale
Spaltung in Deutschland verringert".
■ Sozialstaat und Sozialpolitik
1 .4.1 Der Sozialstaat und das System sozialer Sicherung

Leitfragen Inwiefern sichert Worin liegen die Welche Bereiche und Was versteht man unter den
das Grundgesetz zentralen Aufgaben Maßnahmen umfasst sozialethischen Prinzipien von
den Sozialstaat? des Sozialstaats? Sozialpolitik? ,,Solidarität" und „Subsidiarität"

Was ist das Sozialstaatsgebot?

In Art. 20 Abs. l des Grundgesetzes wird die Bun- Fürsorge m acht und die Freiheit zur eigenverant-
desrepublik Deutschland als „demokratischer und wortlichen Lebensführung in unangemessener
sozialer Bundesstaat" definiert. Art. 28 Abs. 1 GG Weise einschränkt. Zur Sozialpolitik gehören auch
führt näher aus : ,,Die verfassungsmäßige Ordnung Regelungen zur Gestaltung der Arbeitsordnung
in den Ländern muss den Grundsätzen des repu- (Arbeitszeit, Arbeitsschutzbestimmungen etc.),
blikanischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne Maßnahmen im Bereich der öffentlichen
dieses Grundgesetzes entsprechen." Gesundheit, der Umwelt, des Wohnens sowie des
Bildungswesens.
Aufgru nd dieses Sozialstaatsgebots (auch: So-
zialstaatsprinzip) des Grundgesetzes formulierten
die Richter des Bundesverfassungsgerichts zwei Welche Maßnahmen und Bereiche der
Aufgaben für alle staatlichen Organe: Sie solle n Sozialpolitik gibt es?
durch entsprechende polit ische Maßnahmen für
sozialen Ausgleich und für die Sicherung der so- Sozialpolitik umfasstjene Maßnahmen des Staa-
zialen Existenz der Bürger sorgen. Konkret be- tes, der Sozialversicherung und der Betriebe, die
deutet dies : allen Gesellschaftsmitgliede rn Schutz vor Not und
Mangellagen gewährleisten sollen.
• Schutz vor Not;
• Sicherung gegen Wechselfälle des Lebens (z.B. Das System sozialer Sicherung gilt als Kernstück
Einkommensausfall infolge von Alter, Krank- der Sozialstaatlichkeit. In diesem Rahmen ist die
heit, Invalidität oder Arbeitslosigkeit) ; Sozialversicherung zentral. Sie ist ein gesetzlich
• Bekämpfung g roßer sozialer Ungleichheit; geregeltes Pflicht-Vorsorgesystem für nahezu die
• Mehrung des Wohlstandes insgesamt. gesamte Bevölkerung und nicht nur fü r die Be-
nachteiligten der Gesellschaft. Ziel der Sozialver-
Die Wege zur Erreichung dieser Ziele werden der sicherung ist es, durch Beitragszahlungen der
Gestaltung durch demokratische Mehrheiten Versicherten wichtige Lebensrisiken und ihre Aus-
überlassen (Offenheit des Sozialstaatsprinzips). wirkungen finanziell auszugleichen oder zumin-
Das Ordnungsprinzip des Sozialstaatsgebotes dest zu begrenzen. Zudem sollen besonders für
zählt zum unveränderlichen Verfassungskern des sozial Schwache Verbesserungen ihrer materiellen
Gru ndgesetzes (>Kap. 4.1. 2). Situation und damit die Bedingungen für mehr
soziale Gerechtigkeit erreicht werden, womit sich
Das Ziel des Sozialstaats besteht darin, soziale Si- die Ziele des Sozialstaatsgebots - Existenzsiche-
cherheit, soziale Ge rechtigkeit und soziale Integ- rung und sozialer Ausgleich - vermischen.
ration für alle Gesellschaftsmitglieder zu ermög-
lichen. Nicht gemeint ist hingegen die Errichtung Versicherungspflichtig sind i. d. R. alle Arbeitneh-
eines allumfassenden Wohl fahrtsstaates, der die mer, deren Bruttoeinkommen unterhalb der sog.
Menschen zum Objekt umfassender staatlicher Versicherungspflichtgrenze bzw. der Beitragsbe-
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

Leistungen der gesetzlichen Rentenversiche-


Wer finanziert den rung erhalten die Versicherten nach dem Äqui-
valenzprinzip - j e höher die Einzahlung, desto
Sozialstaat? höhe r die Leistung.
Anteile im Jahr 2015
in Deutschland • In der gesetzlichen Kra nken- und Pflegeversi-
in Prozent (Schätzung) cherung erhalten alle Versicherten una bhängig
vo n der Höhe ihres Einkommens und damit
private auch ihrer Beiträge die gleichen Leistungen.
Haushalte - Unternehmen Hier greift das Solidarprinzip: Darunter ver-
steh t man die Umverteilung vo n Lasten u nd
Leistungen zugunsten der materiell schwächer
gest ellten Bevölkerungsgruppen (Umlagever-
private fahren). So sind Singles mit Familien solidar-
Organisationen, isch, Ju nge mit Alten, Gesunde mit Kra nken,
Sozialversicherung
1,9 Besserverdienende mit weniger gut Verdienen-
den usw.
Länder Gemeinden
9,0 9,9
Quelle: BMAS @
GlobJ~ol • Vers orgungsprinzip: All diej enigen, die für die
st aatliche Gemeinschaft besondere Leistungen
erbringen oder wirtschaftliche Nachteile erfa h-
ren, erhalten Unterstützu ng aus Steuermitteln
(>Kap. 2.4.2).
messungsgrenze liegt. Mit geringfügigen Schwan-
ku ngen liegen die gesamte n Beiträge, die vo m • Fürs orgeprinzip : Wenn in einer individuelle n
Bruttoarbeitslohn zu entrich ten sind, seit Mitte Notlage alle anderen sozialen Sicherungssyste-
der 1990er J ahre bei ca. 40 Prozent. Etwa 20 Pro- me nicht greifen, erhalten Bedürftige vo m Staat
zent werden den Arbeitnehmern direkt vom Lohn Unterstützung aus dem Steueraufko mmen. Die
a bgezogen, die Arbeitgeber überweisen noch ein- Lage einer Person muss aber so prekär sein, dass
mal etwa die gleiche Summe an die Sozialversi- eine menschenw ürdige Lebensführung nicht
cherung (paritätische Fina nzierung). mehr möglich ist. Dies muss durch die Behörden
über eine Bedürftigkeitsprüfung festgestellt
Bestimmte Personeng ruppen tragen nicht oder werden.
nur in geringerem Maß e zur Finan zierun g der So-
zialversicherung bei. Das sind neben alle n Selb- • Vom Subsidiaritätsprinzip als dem Gegenprin-
ständigen - mit Ausnahme der Landwirte - und zip zum Solidarprinzip spricht ma n, wenn eine
Arbeit nehmern, die mehr verdienen, als die Versi- gesellschaftli che oder staatliche A ufgabe erst
cherungspflichtgrenze vorgibt, a uch Beamte (Leh- dann von der nächsthöheren Einheit übernom-
rer, Polizisten, Richter usw.), Geistliche und Sol- men wird, we nn sie von der unteren n icht mehr
daten, a be r auch nicht erwerbstätige Familien- wahrgenommen werden ka n n. Dadurch soll
mitglieder und Studenten bis zu einer Altersgren- eine sachliche Angemessenheit und eine Perso-
ze vo n 25 Jahren. nennähe gewährleistet werden sowie die Effek-
tivität der sozialen Maßnahmen gesteigert und
eine un nötige Regelungsdichte verhindert wird.
Grundsätze sozialer Sicherung
• Eigenvorsorge und Selbsthilfe: Um eine Über-
• Versicherungsprinzip: Da nach sind alle Mit- lastung der Sozialversicherungssysteme zu ver-
gliede r der gesetzlichen Sozialversicherung ge- hindern, wird die private Vorsorge und Absiche-
gen allgemeine Lebensrisiken abgesichert. Die rung der Bürger als immer wicht iger angesehen.
1.3 Soziale Ungleichheit 1

Sozialabgaben im Überblick

Renten- Gesetzliche Pflege- Arbeitslosen- Unfall-


versicherung Kranken- versicherung versicherung versicherung
versicherung
Pflicht- Angestellte, Angestellte und Angestellte und Angestellte und Alle Arbeitneh-
versicherte Arbeiter, Arbeiter bis zu Arbeiter bis zu Arbeiter bis zu mer,
manche einem Monat- einem Monat- einem Monat- Schüler,
Selbständige, sein kommen seinkommen seinkommen ehrenamtlich
Kindererziehen- von 4.950 € von 4.950 € von Tätige
de, Pflegeper- brutto brutto 6.200 €/West
sonen bis zu 5.400 €/Ost
einem Monat-
seinkommen
von
6.500 € / West
5.800 €/Ost
Träger Versicherungs- Krankenkassen Pflegekassen Bundesagentur Berufsgenos-
anstalten der Kranken- für Arbeit senschaften,
kassen Unfallkassen
Leistungen Renten bei Medizinische Geld- und Arbeitslosen- Behandlungs-
verminderter Hilfe, Sachleistungen geld, berufliche kosten und
Erwerbsfähig- Maßnahmen zur je nach Grad Aus- und Förderungs-
keit im Alter, Vermeidung und der Pflegebe- Fortbildung, maßnahmen,
Finanzierung Früherkennung dürftigkeit Umschulung, evtl. Rente bei
von Rehabilitati- von Krankhei- Arbeitsvermitt- Unfällen am
onsmaßnah- ten, Kranken- lung Arbeitsplatz und
men, Hinterblie- geld auf dem Weg
benenrente dorthin sowie
Berufskrankhei-
ten
Pfl ichtbeiträ- 18,6 % je zur 14,6 % je zur 2,55% je zur 2,8 % je zur Pflichtbeiträge
ge in % des Hälfte Arbeit- Hälfte Arbeit- Hälfte Arbeit- Hälfte Arbeitge- der Arbeitgeber;
Brutto- nehmer und nehmer und nehmer und ber und Höhe je nach
verdienstes Arbeitgeber Arbeitgeber + Arbeitgeber Arbeitnehmer Gefahrenklasse
0,9 % Arbeit- (Ausnahme und Betriebs-
nehmersonder- Sachsen) größe
beitrag + 0,25 % für
(= 15,5% Kinderlose ab
allgemeiner 23 Jahren
Beitragssatz).
Festschreibung
des AG-Anteils;
Z usatzbeitrag
allein vom AN
zu zahlen, so-
fern Einnahmen
aus regulären
Beiträgen nicht
ausreichen
Eigene Zusam me11stel/u11g, Stand: 2018

Aufgaben
1. Beschreiben Sie die einzelnen Grundsätze, die die Grundlage der sozialen Sicherung in Deutschland bilden.

2. Erläutern Sie das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes.


1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Michael Opielka: Was für ein Grundeinkommen spricht

Im 21. Jahrhundert ist der Kapitalismus, die historische Vorgabe des Sozialstaats,
wieder ins Gerede gekommen. Zusammen ergeben Kapitalismus und Sozialstaat die
von G0sta Esping-Andersen als „Wohlfahrtskapitalismus" bezeichnete gesellschaftli-
che Regime-Formation. Freilich unter einer Bedingung, die die Sozialpolitik zugleich
s gefährdet und benötigt: der Globalisierung. Zum einen, weil sie ihre nationalwirtschaft-
liche und nationalstaatliche Konstitution gefährdet. Zum anderen, weil die Globalisie-
rung wiederum eine fundamentaldemokratische, nämlich menschenrechtliche und
damit verstärkt ideelle Begründung der Sozialpolitik fordert. Es bleibt ausreichend
Grund zur Beunruhigung über fortbestehende, globale Ungleichheit und Armut, wie
10 die breite Resonanz auf Thomas Pikettys „ Das Kapital im 21. Jahrhundert" demonst-

riert. Daher gibt es gute Gründe, die Sozialpolitik als eine zentrale Arena der Gesell-
schaftsgestaltung im 21. Jahrhundert zu betrachten. Im Folgenden geht es um eine
aktuelle und hoch bedeutsame Diskussion: Wäre eine allgemeine, gleiche und unmit-
telbare Nutznießung aller Menschen an den Erträgen der kapitalistisch verfassten Wirt-
,s schaft durch sozialpolitische Regulierung ratsam? Und wenn ja, wie könnte diese
Regulierung öffentlicher Güter als Ensemble sozialer Rechte gelingen? Würde ein all-
gemeines und gleiches, garantiertes Grundeinkommen in einem solchen Zukunftsent-
wurf eine zentrale Rolle einnehmen?[ ... ]
Ein Grundeinkommen ist das Recht auf ein existenzsicherndes Einkommen, das jedes
20 Mitglied einer Gesellschaft unabhängig von Leistung und Herkunft beanspruchen

kann. Eine Gesellschaft mit Grundeinkommen ist eine andere Gesellschaft als die
heutige. Sie ist eine Gesellschaft für Alle. Ihre Institutionen richten sich zuerst, so die
Idee, an den Menschenrechten aus. Etwa die Hälfte des gesellschaftlichen Einkom-
mens wird vor aller weiteren Verteilung über Arbeit oder Vermögen allen Bürgern als
2s Grundrecht garantiert. Eine Grundeinkommensgesellschaft ist eine reiche Gesell-

schaft, die ihren Reichtum allen Mitgliedern zugänglich macht.


Lässt sich ein Grundeinkommen als soziales Bürgerrecht mit großer Migration und
Flüchtlingsintegration vereinbaren? Würde nicht durch ein Grundeinkommen auch für
Flüchtlinge das Vorurteil bestätigt, dass Ausländer in opulente Sozialsysteme einwan-
30 dern wollen? Vermutlich dürfte ein Grundeinkommen dazu beitragen, dass wohlha-

bende Gesellschaften noch genauer prüfen, welche Zuwanderer die besten Integrati-
onschancen haben. Aber das gilt für jede gute Sozialpolitik, ob bei Gesundheit,
Bildung, Wohnen oder Pflege. Am besten wird daher ein Grundeinkommen Schritt um
Schritt weltweit erkämpft. Deutschland ist hier schon weit. Während auf der Vorder-
3s bühne der politischen Debatte noch immer um die „wirklich Bedürftigen" und die „ar-

beitende Mitte" gestritten wird, haben sich die höchsten Gerichte und die klare Mehr-
heit der Bevölkerung längst entschieden: wir brauchen soziale Grundrechte für alle
Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben. Das Grundrecht auf ein Einkommen
gehört dazu.

M icha el Opielka, Netzdebatte.bpb, 02.03 .201 5

M 2 Christoph Butterwegge: Was spricht gegen ein Grundeinkommen

Mittels eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE), das auch als „Bürger-" bzw.
„Existenzgeld", als „Sozialdividende" oder als „negative Einkommensteuer" firmiert
und Inländern ohne Bedürftigkeitsprüfung gezahlt werden soll, hoffen vor allem Bezie-
her staatlicher Transferleistungen (Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe) sowie ihre orga-
s nisatorischen Netzwerke, die Bedürftigkeit und die bürokratische Gängelung durch
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

das Jobcenter bzw. das Grundsicherungsamt überwinden zu können.


Sieht man genauer hin, überwiegen jedoch eindeutig die Nachteile: Es handelt sich
beim BGE um eine alternative Leistungsart, die mit der Konstruktionslogik des beste-
henden, früher als Jahrhundertwerk gefeierten Wohlfahrtsstaates bricht sowie seine
10 ganze Architektur bzw. Struktur zerstören würde. Dieser basiert seit dem 19. Jahrhun-
dert auf Sozialversicherungen, die Standardlebensrisiken (Krankheit, Alter, Invalidität,
Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit) kollektiv absichern, sofern der versicherte
Arbeitnehmer und sein Arbeitgeber vorher entsprechende Beiträge gezahlt haben. Nur
wenn dies nicht der Fall oder der Leistungsanspruch bei Arbeitslosigkeit erschöpft ist,
1s muss man auf steuerfinanzierte Leistungen (Arbeitslosengeld II, Sozialgeld bzw. Sozi-
alhilfe) zurückgreifen.
Das bedingungslose Grundeinkommen soll den Armen nützen, ist aber nach dem
Lebensmodell eines reichen Müßiggängers konstruiert und funktioniert nach dem
Gießkannenprinzip. Auf ungleiche Einkommens- und Vermögensverhältnisse würde
20 mit einer Geldzahlung in gleicher Höhe reagiert, obwohl Gleiches gleich und Unglei-
ches ungleich behandelt werden muss, soll es gerecht zugehen. Außerdem stellt die
Finanzierung des Grundeinkommens seine Befürworter vor ein Dilemma: Entweder
erhält jeder Bürger das Grundeinkommen, unabhängig von seinen Einkommens- und
Vermögensverhältnissen. In diesem Fall müssten riesige Finanzmassen bewegt wer-
2s den, die das Volumen des heutigen Bundeshaushaltes (ca. 300 Mrd. Euro) um ein
Mehrfaches übersteigen, die öffentliche Armut vermehren dürften und die Verwirkli-
chung des BGE per se ins Reich der Utopie verweisen. Außerdem würde sich unter
Gerechtigkeitsaspekten die Frage stellen, warum selbst Milliardäre vom Staat monat-
lich ein von ihnen vermutlich als „Peanuts" betrachtetes Zubrot erhalten sollten, wäh-
30 rend beispielsweise Schwerstbehinderte viel mehr als den für alle Bürger einheitlichen
Geldbetrag viel nötiger hätten.
Alternativ bekommen wohlhabende und reiche Bürger das Grundeinkommen nicht
bzw. bekommen es im Rahmen der Steuererhebung wieder abgezogen. Dann wäre es
allerdings weder allgemein und bedingungslos. Auch würde die Prüfung der Einkom-
35 mens- und Vermögensverhältnisse nicht entfallen, müsste doch in jedem Einzelfall
herausgefunden werden, ob die Anspruchsvoraussetzungen nicht durch (verdeckte)
anderweitige Einkünfte verwirkt sind. Hinsichtlich seiner Kontrollfunktion träte das Fi-
nanzamt also an die Stelle des Jobcenters.

Christoph Butterwegge, Netzdebatte.bpb, 02.03.2015

Aufgabe

In der sozialpolitischen Diskussion steht das so genannte bedingungslose Grundeinkommen (oder auch Bür-
gergeld) immer wieder im Mittelpunkt. Das ist ein fester Betrag, der jeden Monat vom Staat auf die Konten
der Bürgerinnen und Bürger überwiesen wird, ohne dass diese etwas dafür tun müssten. Die Höhe variiert in
den jeweiligen Vorschlägen. In Finnland wird 2017/ 18 versuchsweise ein teilweise bedingtes Grundeinkom-
men gezahlt.

Erarbeiten Sie aus den Texten die Argumente, die für bzw. gegen das Grundeinkommen sprechen und
bewerten Sie dieses sozialpolitische Instrument.
1 .4 .2 Aktuelle Herausforderungen für den Sozialstaat

Leitfragen Welche Ursachen sind für die Wie können zukünftige Wird aus dem einstigen Vorzeige-
aktuellen Probleme unseres Entwicklungen aussehen? modell ein Auslaufmodell?
Sozialstaates verantwortlich?

Gerät der Sozialstaat zunehmend


unter Druck?

Die gesellschaftlichen Realitäten und wirtsch aft- stärkt den Einn ahmeschwu nd der Sozialversi-
lichen Voraussetzungen hab en sich in den ver- cheru ngen.
gangene n drei J a hrzehnten deutlich gewandelt,
sodass der Sozialstaat immer mehr unter Druck • Die Kosten der deutschen Einheit haben den
geraten ist. fo lgende Faktoren gelten als Ursa- Sozialstaat sta rk belastet (hohe Transferleistun-
chen für die Belastung des Sozialstaates: gen zwecks A ng leichung der Lebensverhältnisse
in Ost und West).
• Der demografische Wandel u nd die da mit ver-
bundene „Alterung" der Gesellschaft fü hren ge- • Die Pluralisierung der Lebensformen und die
genwärtig zu einer Minde rung der Einna hmen Veränderungen in den Familienstru kturen be-
und zur Steigeru ng der Ausgaben der Sozialver- deuten deutlich w eniger „Wohlfahrtsprodukti-
sicherungssysteme. Das Verhältnis zwischen on" innerhalb de r Familie und da mit neue An -
Beitrag zahl enden Erwerbstätigen und Empfän- fo rderungen a n die staatliche Sozialpolitik. So
gern vo n Leistunge n gerät mehr und mehr in ka nn etwa die Pflege älterer Menschen hä ufig
eine Schiefl age. So spricht man beispielsweise nicht mehr in der Familie geleistet werden, son-
in der Gesetzlichen Rentenversicherung davon, dern wird in Pflegeheime verlagert.
dass der Generationenvertrag brüchig wird
(> Kap. 1.2.1).
Wie hat die Politik auf die Herausforderungen
• Eine vo n den 1970er bis zu r Mitte der 2000er reagiert?
J ahren fast stetig steigende bzw. durchgängig
hohe Arbeitslosigkeit und das verlangsa mte Die Politik hat in den vergangenen J ahren mit
Wi rtschaftswachstum zur J ah rtausendwende einer kaum noch überscha uba ren V ielzahl vo n
t rugen n icht nur zu Einna hmeausfällen in den Einzelmaßnahmen, Gesetzen und Neuregelungen
Sozialversicherungssystemen bei, sondern zur au f die verä nderten gesellschaftlich en und wirt-
soziale n „Schieflage" insgesamt. Die Ein nahme- schaftlichen Bedingunge n reagiert. Dabei lassen
basis der sozialen Sicherungssysteme war und sich folgende Entwicklungen feststellen:
ist im Schwinden begriffen.
• Sowohl in der Renten- wie auch in der Arbeits-
• Die Globalisierung führt z unehmend zur Verla- losen versiche ru ng kam es zum Abbau fina n zi-
gerung von Arbeitsplätzen ins Ausla nd und eller Leistungen für die Leistungsb ezieher.
trägt z. T. zu steige nden Arbeitslosenzah len bei.
Gleichzeitig geraten die Löhne unter Druck, weil • In der Krankenversicherung entstanden durch
Unternehmen da mit drohen könne n, die Pro- Erhöhung der Zuzahlungen, Leistungskürzun-
duktion ins Ausla nd zu verlagern. Bei sinkenden gen und höhere Beitragslasten e rhebliche fi-
Einko mmen der Versicherten sinken auch die na nzielle Mehrbelastungen für die Versicherten.
Einna hmen der sozialen Siche rungssysteme Die Grundp rinzipien der Solidarität u nd Pa rität
(> Kap. 2.7). wurden dadurch geschwäc ht.

• Eine Zuna hme neuer Formen v on Arbeit, die • In de r Pflegeversicherung gab es in jüngster
nich t sozialversicherungsptlichtig sind, ver- Zeit zwar einige Leistungsverbesserungen, ins-
1.4 Sozialstaat und Sozialpolitik f

Sozialpolitische Leitbilder
Wohlfahrtsstaat / Aktivierender Sozialstaat
Kompensatorischer Sozialstaat
Staatliches Steue- Steuernder Staat Vermittelnder Staat
rungsverständnis (hierarchisch, bestimmend) (kooperativ, verhandelnd) Das Individu-
Menschenbild Die gesellschaftlichen Bedingungen um braucht staatliche Unterstützung,
prägen die Handlungsspielräume des um unter den gesellschaftlichen
Individuums. Bedingungen frei handeln zu können.

Wirtschaftspoliti- Der Staat fängt negative Auswirkungen Der Staat muss Möglichkeiten schaffen,
sches Verständnis des Marktes auf. damit die negativen Auswirkungen des
Marktes von den Einzelnen individuell
aufgefangen werden können.
Sozialpolitisches Ausgleich von Benachteiligungen durch Befähigung des Einzelnen zur Selb sthil-
Verständnis Versicherung, Vorsorge und Fürsorge fe, damit Benachteiligungen gar nicht
erst entstehen, durch Stärkung der
Eigenvorsorge
Individueller Schutz vor Armut, Arbeitnehmer sollen Verknüpfung von individueller Sicherheit
Schutz durch Umverteilung weniger vom Markt mit Marktorientierung
abhängig sein

Rechtliche Universeller Rechtsanspruch auf Individuelle Leistungen, die an Mitwir-


Ausgestaltung Standardleistungen kungspflichten gekoppelt sind

Jürgen Boekh et al., Aktuelle sozialpolitische Leitbildung, in: lnforma tio11en zur politischen Bildu11g, Nr. 327, 201 5, S. 30

besonde re für deme nzerkra nkte Pflegebedürfti- Welche Perspektiven hat der Sozialstaat?
ge, diese Leistungsanpassung hatten jedoch
la nge auf sich warten lassen. Mit Einführung Immer wieder wi rd in der sozialpolitischen Dis-
der sozialen Pflegeversicherung Mitte der kussion die Frage laut, ob nicht der fü rsorgende
l 990er J ah re waren die Leistungen unverä ndert u nd vorsorgende Sozialstaat endgültig a usgedient
geblieben und wurden nicht den allgemeinen habe. Das neue Leitbild des „aktiv ierenden Sozial-
Preissteigerungen a ngepasst. Zudem muss der staats" ist ein Anzeichen dafür, dass s ich die
erweiterte Leistungskatalog mit einer Beitrag- Richtung in der Sozialpolitik deutlich vo m wohl-
sanhebung fina nziert werden. fah rtsstaatlichen Verständnis a bgewandt hat.
„Fördern und Fordern" heißt nun das Credo in der
• Es gibt einen polit isch erwünschten Trend zum Sozialpolitik. Gemeint ist damit der teilweise
Ausbau der privaten Versicherung (z. B. in der Rückzug des Staates aus der Verantwortung in der
Renten- und Pflegeversicherung), der sich im- Erbringung von sozialen Leistungen u nd d ie Stär-
mer weiter verstärkt. kung der Eigenverantwortung der Bürger, wie sie
z. B. bereits in den Regelungen der Arbeitslosen-
• Ein zentrales Mot iv für alle Reformen, denen die versicherun g und Sozialhilfe mit den sog.
Sozialversicherungen in den vergangenen J ah- Hartz-Gesetzen deutlich wi rd (> Kap. 2.3.2). Das
re n unterzogen wurden, lag in der Verbilligung heißt auch, dass hier das Subsidia ritätsprinzip ge-
des Faktors Arbeit durch eine Senkung der sog. genüber dem Solidarprinzip eine deut liche Auf-
Lohnnebenkosten, u m so de n Wirtschafts- wertung erfäh rt.
standort Deutschland attraktiver bzw. wettbe-
werbsfähiger zu machen. In der Diskussion u m diese „Neujustierun g" des
Sozialstaates wird hervorgehobe n, der a uf mehr
• Das Leitbild des „aktivierenden Sozialst aats", Eigenverantwortung des Einzelnen setzende So-
nach dem staatliches Ha ndeln ausgerichtet zialstaat befreie die „bevormundeten" Bürger von
wi rd, löst das da mit konkurriere nde Leitbild des Zwang und Pflicht mitgliedscha ften und gebe ih-
„kompensierenden Wohlfahrtsstaates" mehr nen die Freiheit, ihr Kapital dort zu investieren,
u nd mehr ab. wo sie es fü r richt ig und notwendig erachten. Geg-
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland

ner dieses Konzepts betonen, dass die soziale Si- die Familien, die Standardrisiken wieder selbst
cherheit eine Grundvoraussetzung für die Wahr- trage n zu müssen, komme einer Entsolidarisie-
nehmung von bürgerlichen Freiheitsrechten sei. rung gleich und leiste einer Polarisierung der
Sozialstaatliche Demokratie bedeute für alle die Gesellschaft Vorschub. Die Grundsatzdiskussion
Freiheit, über ihr Leben selbst bestimmen zu kön- über A bbau, Um ba u und Reform d es deutschen
nen und letztlich auch die Freiheit, nicht unab- Sozialstaates ist dementsprechend noch lange
hängig von j eder beruflichen Qualifikation j ede nicht abgeschlossen und wird die gesellschaftspo-
Tätigkeit a nnehmen zu müssen. Die Rückverlage- lit ischen Debatten auch noch in den kommenden
rung von Verantwortung auf die Individuen und Jahren maßgeblich mitbestimmen.

Karikatur: Thomas Plaßma11n

Aufgaben

1. Nennen Sie die hier angesprochenen Ursachen für die Belastung des Sozialstaates.

2. Analysieren Sie die Karikatur (, Methodenkompetenz: Karikaturen analysieren und interpretieren) vor dem
Hintergrund der "Alterung" der Gesellschaft.

3. Recherchieren Sie (arbeitsteilig) auf den Internetauftritten der politischen Parteien und der Wohlfahrtsverbän-
de (z.B. Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Diakonisches Werk) deren Forderungen zur Sozialpolitik und führen Sie
darauf aufbauend im Kurs eine Debatte.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Probleme und Zukunftsperspektiven des Sozialstaates

Seit einigen Jahren ist der Sozialstaat vor allem durch die kontroversen Debatten über
Kürzungen von Sozialleistungen, den Umbau und die Reformfähigkeit der sozialen
Sicherungssysteme präsent. Ursache dafür sind eine Reihe von tiefgreifenden Verän-
derungen und Entwicklungen, die sich in ihrer Wirkung in den nächsten Jahren noch
5 verschärfen werden. Dabei spielen sowohl interne (aus dem Sozialstaat selbst hervor-
gegangene) als auch externe Faktoren eine Rolle. Dazu gehören

• der demografische Wandel,


• die soziokulturellen Herausforderungen,
• die politisch-ökonomischen Veränderungen,
10 • die Globalisierungsfolgen und

• die zunehmende Europäisierung. [.. .]

Perspektiven und mögliche Entwicklungen


Was folgt aus alledem? Der Sozialstaat gehört zu den institutionell, kulturell und men-
tal tief verankerten Elementen der modernen westlichen Gesellschaften; er vermittelt
15 zwischen Demokratie und Kapitalismus und trägt zur Funktionsfähigkeit fast aller Le-
bensbereiche und Teilsysteme bei. Dabei muss jede Zeit ihre speziellen sozialstaatli-
chen Arrangements finden, abhängig von den jeweiligen ökonomischen, politischen
und soziokulturellen Rahmenbedingungen.
Damit wird freilich die hohe Kontinuität gerade des deutschen Sozialstaates teilweise
20 zu einem Problem: Angesicht der drastischen neuen Herausforderungen droht ein
,,mismatch" von sozialen Problemlagen auf der einen sowie den sozialstaatlichen Ins-
titutionen und politischen Lösungsstrategien und Instrumenten auf der anderen Seite.
Franz-Xaver Kaufmann [...] spricht in diesem Zusammenhang von einem „Veralten"
der etablierten Arrangements. Die Lösung liegt daher in vielen Fällen nicht mehr in
25 einem Ausbau der etablierten Leistungen und Interventionsmuster, sondern in ihrer
grundlegenden Reform und Ergänzung um neue Elemente- eben im Umbau. Zu den-
ken wäre hier etwa an die Bildungspolitik, die zunehmend im Zusammenhang mit der
Sozialpolitik gesehen wird.
In seinem Essay „Warum brauchen wir eine Reform des Sozialstaats?" geht Esping-An-
30 dersen von einer ähnlichen Lage aus. Er konzentriert sich in seiner Antwort auf die
Aspekte Kinder, Frauen und Bildung, weil dies den demografischen Wandel abfedert,
einen positiven Effekt des Wohlfahrtsstaates auf die Wirtschaft ausübt und die Men-
schen in ihrer Startphase für den gesamten Verlauf ihres Lebens mit wichtigen Res-
sourcen ausstattet. Das rechnet sich ebenfalls langfristig und sogar für die Älteren: ,,Es
35 mag paradox aussehen, aber eine Strategie, in unsere Kinder zu investieren, muss das
Flaggschiff unserer umgestalteten Rentenpolitik sein. Die zukünftigen Kohorten von
Menschen im Arbeitsalter sind klein, also sollten sie maximal produktiv sein."

Drei mögliche Szenarien der künftigen Entwicklung


Man kann nun versuchen, die skizzierten Verschiebungen und neuen Herausforderun-
40 gen aus den Rahmenbedingungen des Sozialstaats einerseits und die darauf bezoge-
nen bzw. bislang erfolgten Reformen und (Umbau- oder Kürzungs-) Maßnahmen an-
dererseits perspektivisch zu bündeln, und drei Szenarien zu entwickeln, die
mittelfristig denkbar sind:
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

Der Wohlfahrtsstaat als Risikomanager durch Infrastruktur und Aktivierung


45 Globalisierung und Internationalisierung der Wirtschafts- und Sozialräume reduzieren
in diesem Szenario die Relevanz des nationalen Sozialstaates und lassen seine Finan-
zierungsspielräume erheblich schrumpfen. Materielle Gleichheit als Leitprinzip sozialer
Gerechtigkeit oder gar die Garantie eines hohen Lebensstandards werden abgelöst
durch die Prinzipien der Fairness, der Chancengleichheit und der Grundsicherung.
50 Sozialpolitik wird hier weit verstanden und ist vornehmlich aktivierend und investiv, das
heißt sie versteht sich als lnfrastrukturpolitik mit dem Ziel, Benachteiligungen zu mini-
mieren und eine Verwirklichung von Marktchancen via Beschäftigung für alle in Aus-
sicht zu stellen. Kurz: Es wird verstärkt von passiven auf aktive Leistungen umgestellt
(nach dem Motto „fördern und fordern" in der Arbeitsmarktpolitik beziehungsweise
55 dem o. a. Zitat von Esping-Andersen), und das oberste Ziel ist die Integration Aller -
also auch Älterer, Frauen und Behinderter - in den Arbeitsmarkt.

Dominanz des Sozialversicherungsstaates, Spaltung und Ende der Umverteilung


Ein zweites Szenario betont die Stärkung des Versicherungsprinzips und das Zurück-
drängen von bedarfsorientierten beziehungsweise beitragsfreien Versorgungsleistun-
oo gen sowie Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt. Die Umverteilungszumutungen ge-
genüber den Beitragszahlern werden damit geringer - und das ethisch anspruchslose
Äquivalenzprinzip (d. h. Leistungen entsprechen voll den Beiträgen) beziehungsweise
die Beitragsgerechtigkeit reguliert dann den Sozialstaat, dem dann enge Grenzenge-
setzt sind. Für Alle außerhalb der sozialpolitischen Normalitätsfiktion (Normalarbeits-
65 verhältnis, Normalfamilie) und den Standardrisiken bleibt nur die Sozialhilfe. Damit

würde eine Spaltung der Sozialen Sicherung eintreten, die eigentlich dem Ziel des
Sozialstaats widerspricht.

Abbau des Sozialstaates und Privatisierung der Sozialen Sicherung


Eine dritte Variante läuft darauf hinaus, dass mit der Schwächung der Nationalstaaten
70 auch deren sozialpolitische Aktivitäten reduziert werden. Solidarische Hilfe und Aus-
gleich gegen die Risiken des Marktes finden nur noch in kleinformatigen, subsidiären
beziehungsweise kommunitaristischen und zivilgesellschaftlichen zusammenhängen
statt. Der Sozialstaat kann und soll nur noch in besonderen Notlagen unterstützen.
Hinzu kommt eine verstärkte Hinwendung zur privaten Sicherung - aus der sich aber
75 neue Risiken von Unterversorgung und eine erhebliche soziale Ungleichheit entwickeln
können.

Diese Szenarien jenseits der aktuellen , konkreten Debatten und Krisendiagnosen stel-
len die Optionen und Perspektiven der Entwicklung unseres Sozialstaates dar.

Josef Schmid, www.bpb. de, 31.5.2012

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die drei möglichen Szenarien von Schmid im Hinblick auf die Entwicklung
des Sozialstaats.

2. Arbeiten Sie aus den jeweiligen Szenarien die Konsequenzen für den einzelnen Bürger
heraus.

3. Diskutieren Sie die These „Sozialstaatliche Demokratie bedeutet für alle die Freiheit, über
ihr Leben selbst bestimmen zu können und letztlich auch die Freiheit, nicht unabhängig
von jeder beruflichen Qualifikation jede Tätigkeit annehmen zu müssen."
SELBSTD IAGNOSE t

Im Laufe des letzten Kapitels haben Sie sich mit der modernen Gesellschaft in Deutschland beschäf-
tigt. Lesen Sie die folgenden Sätze und entscheiden Sie jeweils für sich, welche der Spalten sie an-
kreuzen können.

Ich kenne ... vollständig teilweise (noch) nicht

. . . bedeutende Gruppen und Ergebnisse innerhalb des


Sozialisationsprozesses.

. . . die drei Faktoren, die die Bevölkerungsstruktur bestimmen .

. . . die Auswirkungen von Migration auf die bundesdeutsche


Gesellschaft sowie die Bedeutung von Integrationspolitik .
. . . die Bedeutung der Familie für das Individuum und die
Gesellschaft.
. .. die Herausforderungen, die mit dem Wandel der
Geschlechterverhältnisse verbunden sind .

. . . unterschiedliche Aspekte des Wandels der Arbeitswelt.

... den Begriff der sozialen Mobilität.

... verschiedene Modelle von sozialer Ungleichheit.

.. das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes.

Ich kann ... vollständig teilweise (noch) nicht

. . . die Begriffe soziale Rolle und Rollenkonflikt erklären .

. . . den demografischen Wandels beschreiben und erläutern .

. . . den Begriff der Migration erklären.

. . . familienpolitische Leistungen des Staates nennen und im


Hinblick auf ihre Intention bewerten .
. .. Ergebnisse der quantitativen und qualitativen Sozialfor-
schung nachvollziehen und bewerten .
. .. den Wandel der Arbeitswelt an ausgewählten Beispielen
erläutern und Folgen für das Individuum beurteilen .

. . . den Begriff der sozialen Ungleichheit erläutern .

... erklären, weshalb es unterschiedliche Modelle sozialer


Ungleichheit gibt.
... die Bedeutung des Sozialstaatsgebots für Deutschland
beurteilen.
Zusatzmaterial zu Kapitel 2
Mediencode: 72002-02

KOMPETENZEN
Am Ende dieses Kapitels sollten
Sie Folgendes wissen und können:

Merkmale von Wirtschaftsordnungen erläutern

Schwankungen im Wirtschaftsablauf analysieren

wirtschaftspolitische Zielsetzungen bewerten

wirtschaftspolitische Maßnahmen aus angebots-


und nachfrageorientierter Sicht beurteilen

die Geld- und Währungspolitik der Europäischen


Zentralbank beurteilen

den Globalisierungsprozess charakterisieren und sich


mit seinen Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort
Deutschland auseinandersetzen

das Verhältnis von Ökonomie und Ökologie erläutern


Aufgabe

Stellen Sie in einer Mindmap (, Methodenglossar) dar, welche wirtschaftspolitischen Problem-


stellungen auf den Bildern thematisiert werden.
Wirtschaftsordnungen und Märkte
2.1 .1 Wirtschaftsordnungen
Leitfragen 1 Wie kann die Güterversorgung 1 Was sind die Aufgaben einer 1 WelcheWirtschaftsordnungen
in einer Volkswirtschaft Wirtschaftsordnung? können unterschieden werden?
gewährleistet werden?

Warum wirtschaftet der Mensch?

J eden Tag gehen Millionen von Menschen in wie wird gewährleistet, dass die unterschiedliche n
Deutschland zum Mittagessen, sei es in Kantinen, Bedürfnisse der Konsumenten berücksichtigt wer-
in Resta urants oder an Imbissbuden. Dort werden den ? An diesem Beispiel zeigt sich die zentrale
die unterschiedlichsten Gerichte a ngeboten - z.B. Frage des menschlichen Wirtschaftens: Wie kann
italienische Küche, deutsche Küche oder auch Ke- die tägliche Koordination zw ischen Nachfrage
bab, Sushi und Hamburger. Die Zutaten zu den und Angebot v on Gütern gelingen? Oder wie es
Essen werden nicht nur aus der Region, sondern Adam Smith, der Begründer der modernen Wirt-
aus der ganzen Welt angeliefert. schaftswissenschaften, schon im 18. J ahrhundert
formul ierte: Wie kann die Erwirtschaftu ng des
Doch wie kann es gelingen, dass die Nachfrage größtmöglich en Gemeinwohls für eine Volksw irt-
nach diesen ganz verschiedenen Gerichten mit schaft erzielt werden?
dem Angebot täglich in etwa übereinstimmt bzw.

Wie kann der Wirtschaftsprozess


koordiniert werden?

Der Mensch - ein homo oeconomicus?


Soll ein zusamme nha ngloses Nebeneinander der
Jede Volkswirtschaft steht vor der Aufgabe, das Grundproblem Aktivitäten der Wirtschaftssubjekte - wie die a m
des Wirtschaftens zu lösen: Während die Bedürfnisse der Wirt- Wirtschaftsprozess teilnehmenden Menschen in
schaftssubjekte fast grenzenlos erscheinen, sind die verfügbaren den Wirtschaftswissenschaften genannt werden -
Mittel begrenzt. Darum stellt sich die Frage, wie und welche Be-
vermieden werden, braucht es Regeln. Ähnlich wie
dürfnisse mit den verfügbaren Ressourcen befriedigt werden
können, welche Kosten dabei entstehen und wie viel Nutzen
beim Sport hängen die wirtschaftlichen Aktiv itä-
diese stiften. Im Wirtschaftsprozess werden also ständig Kosten ten in ihrer genauen Ausführung und in ihren Er-
und Nutzen in Relation gesetzt (Handeln nach dem Kosten-Nut- gebnissen von bestimmten Regeln ab. Solche Re-
zen-Prinzip). geln oder Verfahren werden auch als Institutionen
Nutzen gegen Kosten abwägen, mit knappen Mitteln das opti- bezeichnet. Für die Wirtschaft besonders wicht ig
male Ergebnis erwirtschaften - w ie soll das gehen? In der Wirt- sind zum Beispiel das Vertragsrecht und das Geld-
schaftswissenschaft wurde das Modell des homo oeconomicus
wesen.
entwickelt. Er wird beschrieben als ein rational kalkulierender,
umfassend informierter, individualistischer und eigennütziger
Nutzenmaximierer. Wie die einzelne n Produktions- bzw. Konsumpläne
Empirische Untersuchungen legen jedoch nahe, dass Menschen der Wirtschaftssubjekte miteinander abgestimmt
nicht durchgängig rational bzw. eigennützig handeln. Trotzdem werden, ist Aufgabe de r j eweiligen Wirtschafts-
ist das Modell des homo oeconomicus durchaus nützlich zur ordnung. Sie regelt:
Erklärung ökonomischer Verhaltensweisen und liegt deswegen
vielen wirtschaftswissenschaftlichen Erklärungen zugrunde
• wer (z.B. welche Unternehmen),
(, Methodenkompetenz: Modellbildung).
• was (welche Güter)
• für wen (eine Frage der Verteilung) und
2.1 Wirtschaftsordnungen und Märkte f

• wie mit welchen Produktionsmitteln


produziert. Adam Smith
Adam Smith (1723-1 790) legte in sei-
nem Hauptwerk, .,Der Wohlstand der
Typen von Wirtschaftsordnungen Nationen" (1776) die Grundlagen für die
Ideen des wirtschaftlichen Liberalis-
Idealtypisch gesehen lassen sich da bei zwei mit- mus. Nach Adam Smith führt der Markt-
prozess dazu, dass sich die Verfolgung
einander konkurrierende Wirtschaftsordnungen
des individuellen Vorteils durch jeden
unterscheiden:
Einzelnen zum gegenseitigen Vorteil al-
ler auswirkt. So sagt er: .,Nicht vom
• Die marktwirtschaftliche Ordnung ist geprägt Wohlwollen des Metzgers, Brauers und
von den Ideen des politischen Liberalismus des Bäckers erwarten wir das, was wir zum
18. J ahrhunderts und basiert auf der Koordina- Essen brauchen, sondern davon, dass
tion des Wirtschaftsprozesses durch den Markt- sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht
mechanismus. Über die Preisbildung entsteht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen
nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vor-
ein Ausgleich von Angebot und Nachfrage nach
teil." In dieser Sichtweise bewirken individuelle Kosten-Nut-
Gütern und Dienstleistungen auf dem Ma rkt. zen-Überlegungen, modellhaft betrachtet, dass die Marktteil-
Modellhaft betrachtet, ergeben sich dadurch die nehmer - Käufer wie Verkäufer, Nachfrager wie Anbieter - aus
bestmögliche Befriedigung der Bedürfnisse der arbeitsteiliger Produktion und anschließendem Tausch Vorteile
Marktteilnehmer und die effizienteste Verwen- für sich ziehen.
dung der verfügbaren knappen Produktionsfak-
to ren. Es kommt zur einer „optimalen Allokati-
on der Ressourcen", wie es in der Sprache der Das marktwirtschaftliche Modell -
Wirtschaftswissenschaften heißt. Gewinner der Systemkonkurrenz?

• Im System der Planwirtschaft, auch zent rale Mit dem Zusammenbruch der meisten sozialisti-
Verwaltungswirtschaft ge na nnt, übernimmt der schen Staaten hat sich weitgehe nd die Wirt-
Staat bzw. eine zentrale Plankommission die schaftsordnun g einer auf Privatbesitz basierenden
Koordination des Wirtschaftsgeschehens. Über Marktwirtschaft durchgesetzt. Sie wird in der öf-
ei nen Plan werden Umfa ng und Art de r gesell- fentlichen Diskussion auch als freie oder a ls kapi-
schaftli chen Produktion weitgehend bestimmt. talistische Marktwirtschaft bezeichnet. Die lange
Die Idee der Planwirtschaft basiert auf den The- vorherrschende internatio nale „Systemkonkur-
orien des polit ischen Sozialismus bzw. Marxis- renz" scheint damit entschieden, da auch sozialis-
mus des 19. Jahrhunderts. Durch die zentrale tische Staaten, wie etwa China, zunehmend auf
Planung soll die - von Marx diagnostizierte - Marktprozesse und Privateigentum setzen. Unter-
Krisenanfälligkeit der Marktwirtschaft vermie- schiedliche Positionen bestehen in den Wirt-
de n werden. schaftswissenschaften aber weiterhin über die
konkrete A usgestaltung des marktwirtschaftli-
Die Regelung der Eigentumsverhältnisse ist ein chen Systems. Kontrovers wird diskutiert:
zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen den
beiden Wirtschaftso rdnungen. In einer Marktwirt- • ob und wie viel der Staat planend in den Wirt-
schaft überwiegt das Privateigentum an den Pro- schaftsprozess eingreife n sollte,
duktionsmitteln (a uch kapitalistische Markt- • welche Aufga be n in einer Volkswirtschaft sinn-
wirtscha ft genannt), die Unternehmen sind voller privat oder öffentlich organisiert werden
typischerweise in Privatbesitz, die Eigentümer be- sollten,
stimmen über die Ziele des Unternehmens und das • ob es Unte rnehmen in Staatsbesitz geben sollte,
zentrale Ziel des Wi rtschaftens ist in der Regel die • ob es gen ossenschaftl ich organisierte Betriebe
Gewinnerzielung. In einer Pla nwirtschaft sind dem geben sollte und nicht zuletzt,
gegenüber die Produktionsmittel in staatlichem Be- • ob Gewinnerzielung als oberstes Ziel durchgän-
sitz (auch sozialistische Planwirtschaft genannt) gig das Wi rtschaftsgeschehen (und zunehmend
und der wi rtschaftliche Entscheidungsspielraum auch andere gesellschaftliche Bereiche) bestim-
für einzelne gering. men sollte.
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Historischer Hintergrund der Modelle


Marktwirtschaft und Planwirtschaft Karl Marx
Karl Marx (1818-1883) sah
Ausgehend von den Geda nken der Aufklärung
das zentrale Problem des
entwickelte sich im 18. Jahrhundert vorwiegend marktwirtschaftlich- kapi-
in Großbrita nnien (der zu dieser Zeit wirtschaft- talistischen Systems in der
lich a m weitesten entwickelten Volkswirtschaft) privaten Verfügungsgewalt
die polit ische Theorie des Liberalismus. Von den über die Produktionsmit-
absolutistische n Regierungen wurde mehr politi- tel. Entsprechend forderte
sche Freiheit gefordert, welche a us Sicht der libe- er deren Enteignung und
ihre Überführung in Kollek-
ralen Denker nur zusammen mit bzw. durch mehr
tiveigentum.
ökonomische Freiheit zu verwirklichen war. Die
Zeit des Absolutismus war bis dahin von einer
Vielzahl noch aus de r mittelalterlichen Zunftwirt-
schaft stammenden Beschränkungen der Wirt-
sch aftstätigkeit sowie von staatlichen Regulierun- Die im frühkapitalistischen England verb reitete
gen geprägt, die der Entwicklung der entstehenden Ki nderarbeit und das Elend von Hunderttausen-
Nationalstaaten dienen sollten (merkantilistische den von Fabrikarbeitern waren für die im 19.
Wirtschaftspolitik). Jahrhundert entstehende sozialistisch e Bewe-
gung der Beleg dafür, dass die Verwirklichung
Dagegen sahen die Vertrete r des Liberalismus in ei ner I iberalen marktwirtschaftlichen Wirtschafts-
der freien Entfaltung der wirtschaftlichen Tätig- ordnung zu wirtschaftlichen Krisen und einer un-
keit de r Individuen das beste Mittel zur Entwick- gerechten Verteilung vo n Einkomme n, Vermögen,
lung des Wohlstands. Der Staat sollte sich auf die wirtschaftlicher und politischer Macht führt. Des-
Gestaltung eines Ordnungsra hmens beschränken. halb plädierte der fü hrende Theoretiker der sozia-
Dazu gehörte wesentlich auch die Garantie des listischen Bewegung im 19. Jahrhundert, Karl
persönl ichen Eigentums. Getragen wurden diese Marx, für eine gesellschaftliche Pla nung des Pro-
Forderungen von dem entstehenden Bürgertum. duktionsprozesses. Das sozialistische Wirtschafts-
Begleitet wurde diese Entwicklung durch die in- system, in der früheren UdSSR seit den 192Oer
dustrielle Revolut ion sowie der Entstehung vo n Jahren und den Staaten des früheren Ostblocks
mehr und mehr Manufakturen, in denen die be- nach 1948 umgesetzt, b asierte auf den Grundge-
triebliche Arbeitsteilung rasant zunah m. danke n von Karl Marx.

A f aben

sen Sie die wichtigsten Aufgaben einer Wirtschaftsordnung zusammen.

2. Beurteilen Sie den Stellenwert der Eigentumsverhältnisse in einer Marktwirtschaft und in einer Planwirtschaft.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Warum die Planwirtschaften gescheitert sind

Noch im Jahr 1980 lebten rund 1.500 Millionen Menschen unter dem System einer
sehr strikten Planwirtschaft. Gegen Ende der achtziger Jahre kam es dann in Mittel-
und Osteuropa, in der ehemaligen Sowjetunion und in China zu einer fundamentalen
Umwälzung des Wirtschaftssystems mit dem Ziel, eine funktionsfähige Marktwirt-
s schaft zu etablieren. Die Hauptursache für diese Wirtschaftstransformation lag darin,
dass die Planwirtschaft mehr und mehr damit überfordert war, Produktionspläne von
Millionen von Unternehmen in einer arbeitsteiligen Wirtschaft so zu koordinieren, dass
sie mit den individuellen Konsumwünschen der Verbraucher im Einklang standen.
Die Planwirtschaft versuchte, das Koordinationsproblem einer arbeitsteiligen Wirt-
10 schaft fast ausschließlich durch den Mechanismus der Hierarchie zu lösen. Die Pro-

duktion aller Güter und Dienstleistungen wurde also gleichsam in einem einzigen gi-
gantischen Unternehmen erstellt, an dessen Spitze die zentrale Planungsbehörde
stand. Basierend auf allgemeinen politischen Zielvorgaben wurden von dieser Pla-
nungsbehörde alle volkswirtschaftlich relevanten Entscheidungen alljährlich (teilweise
1s auch in der Form von Fünfjahres-Plänen) [...] im zentralen Plan festgelegt. Es wurde
also Jahr für Jahr bis ins kleinste Detail bestimmt,

• welche Güter für die Konsumenten verfügbar sein sollten ,


• welche Unternehmen diese Güter produzieren sollten und
• mit welchen Produktionsfaktoren dies zu erfolgen hatte.

20 Konkret geschah das in den ehemals sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas
sowie in der ehemaligen Sowjetunion in der Weise, dass diese llnformationen von der
zentralen Planungsbehörde an Branchenministerien weitergegeben wurden, die die
Vorgaben wiederum den ihnen unterstehenden Unternehmen übermittelten. Jedes
einzelne Unternehmen hatte somit also eine klare Planvorgabe über die von ihm zu
2s produzierenden Güter und die dafür einzusetzenden Inputs. Auf der Unternehmens-
ebene verblieben somit keine nennenswerten Entscheidungsbefugnisse. Zentrale be-
triebswirtschaftliche Fragen, wie z.B. die Produktentwicklung, die Finanzierung, Inves-
titionsentscheidungen und Marketing, waren in der Planwirtschaft nicht auf der Unter-
nehmensebene zu entscheiden. [ ... ] Die Unternehmensleiter konnten höchstens der
30 Zentrale zurückmelden, dass sie mit den gegebenen Inputs nicht in der Lage seien ,
die von ihnen geforderte Outputmenge zu erstellen, um so eine Revision der Output-
menge nach unten zu erreichen.
Im Großunternehmen „Planwirtschaft" wurden somit alle Entscheidungen über die
vertikale Hierarchie des Planungsprozesses getroffen. Vertragliche Beziehungen zwi-
35 sehen den einzelnen Unternehmen waren grundsätzlich ausgeschlossen. Eine wichti-
ge Voraussetzung für die Planwirtschaft war daher die Abschaffung des Privateigen-
tums an Unternehmen. Denn nur wenn der Großteil der Unternehmen in staatlichem
Eigentum steht, ist es für die Planbürokratie möglich, die Volkswirtschaft insgesamt
nach ihren Vorstellungen zu steuern.
40 Die Verbraucher hatten bei diesem System ebenfalls keinen direkten Einfluss auf den
Produktionsprozess. Sie mussten mit den Gütern vorlieb nehmen, die die Planungs-
behörde für sie bei den Unternehmen „bestellt" hatte. [... ] Das Ergebnis waren große
Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage. Sie spiegelten sich in sehr lan-
gen Lieferzeiten oder großen Warteschlangen vor den Geschäften wider.

Peter Bofinger, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre,


Eine Einfü hrung in die Wissenschaft von Märkten, 2011, S. 55f S. 3
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 2 Märkte sind gewöhnlich gut für die Organisation des Wirtschaftslebens

Der Zusammenbruch des Kommunismus in der Sowjetunion und in Osteuropa war


wohl die bedeutendste Veränderung der Welt in den letzten fünfzig Jahren. Kommu-
nistische Länder arbeiteten unter der Prämisse, dass zentrale Planer der Regierung
bestens befähigt wären, die Volkswirtschaft zu leiten. Die Planer entschieden, welche
s Waren und Dienstleistungen produziert wurden, wie viel davon hergestellt wurde und
wer diese Güter produzierte und konsumierte. Hinter der Zentralplanung stand eine
Theorie, wonach nur die Regierung volkswirtschaftliche Aktivitäten auf eine Art und
Weise organisieren konnte, die der sozialen Wohlfahrt des Landes insgesamt dienlich
war.
10 Heutzutage haben die meisten Planwirtschaften das System abgeschafft und den

Versuch unternommen, Marktwirtschaften zu werden. In einer Marktwirtschaft werden


die Entscheidungen der zentralen Planungsbehörden durch Millionen Einzelentschei-
dungen von Unternehmungen und Haushalten ersetzt.
Unternehmungen entscheiden, welche Leute sie einstellen und was sie produzieren.
1s Haushalte oder Familien entscheiden darüber, wo sie arbeiten und was sie mit ihren
Einkommen kaufen wollen. Diese Unternehmungen und Haushalte wirken auf den
Märkten zusammen, wobei sie durch Preise und Eigeninteressen bei ihren Entschei-
dungen geleitet werden.
Auf den ersten Blick ist der Erfolg von Marktwirtschaften rätselhaft. Man hat zunächst
20 den Eindruck, die dezentralen Entscheidungen von Millionen von Haushalten und Un-

ternehmungen würden im Chaos enden. Diies ist jedoch nicht der Fall. Marktwirtschaf-
ten haben sich als bemerkenswert erfolgreich bei der Aufgabe erwiesen, Volkswirt-
schaften zu organisieren und zugleich die soziale Wohlfahrt zu fördern.
In seinem 1776 erschienen Buch „ The Wealth of Nations" machte Adam Smith die
2s berühmte und höchst bedeutsame Aussage: Haushalte und Unternehmungen wirken

auf Märkten zusammen, als ob sie von einer „unsichtbaren Hand" zu guten Markt-
ergebnissen geführt würden. [ ... ] Beim Studium der Volkswirtschaftslehre werden Sie
begreifen, dass Preise die Instrumente sind, mit denen die unsichtbare Hand die wirt-
schaftliche Aktivität dirigiert. Die Preise spiegeln beides: den gesellschaftlichen Wert
30 eines Guts und die sozialen Kosten der Produktion. Weil Unternehmungen und Haus-

halte bei ihren Kauf- und Verkaufsentscheidungen auf die Preise sehen, berücksichti-
gen sie bei ihren Entscheidungen unbewusst soziale Nutzen und Kosten ihrer Aktivi-
täten. Preise führen die individuellen Entscheidungsträger zu Ergebnissen, die in vielen
Fällen auch die soziale Wohlfahrt maximieren.

N. Gregory Mankiw / Mark P. Taylor, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre,


übersetzt von Adolf Wagner / Marco Herrmann, 2012, S. l 2J

Aufgaben
1. Beschreiben Sie den Ablauf des Planungsprozesses in einer Planwirtschaft (M 1).

2. Erläutern Sie, mit welchen Problemen eine Planwirtschaft bei der GüteNersorgung
konfrontiert wird (M 1 und M 2).

3. Entwerfen Sie eine Rede (> Methodenglossar) zum Thema „Vor- und Nachteile einer
Marktwirtschaft gegenüber einer Planwirtschaft".
2.1 .2 Märkte und Preise

Leitfragen Wie funktioniert die Welche Rolle spielen Wie lässt sich der Wirtschaftsprozess
Preisbildung in einer Angebot und Nachfrage? modellhaft darstellen?
Marktwirtschaft?

Markt und Preis - wie funktioniert ein Markt?

Ein Markt ist jeder Ort, an dem Güter getauscht höheren Preis und somit höh eren Verkaufserlösen
werden. Der Wochenma rkt in einer Kleinstadt ist mehr des entsprechenden Guts a n als bei einem
ebenso ein Ma rkt wie Verkaufsbörsen im Internet, niedrigen Preis. Beim Gleichgewichtspreis, bei
bei denen Güter angeboten oder nachgefragt wer- dem die angebotene mit der nachgefragten Menge
den. Au f einem Markt treffe n die Wünsche und übereinstim mt, bieten die Verkäufer gena u d ie
Absichten vo n Konsumenten und Produzenten Menge an, die die Käufer zu diesem Preis kau fen
aufeinander, von Arbeitgebern und -nehmern, wollen. Bei höheren Preisen e rgibt sich ein Ange-
von Ve rmietern und Mietern - kurz: von Käu fern botsüberschuss, umgekehrt fü hren niedrigere
u nd Verkäufern. Die Funktion des Marktes besteht Preise zu einem Nachfrageüberschuss.
dari n, d ie Pläne von Anbietern und Nachfragern
zu koo rdinieren. Der Ausgleich vo n Angebot u nd
Nachfrage erfo lgt durch den Markt- bzw. Preisme- Wie wirken Angebot und Nachfrage
chanismus. zusammen?

Die Haushalte als Nach frager streben eine Nutzen- Die Preisbildung bei vollkommener Konkurrenz
maximieru ng an, d. h. sie geben ih r Einkommen entspricht dem Ideal der Marktwirtschaft. Sie lässt
so aus, dass möglichst viele Bedürfnisse befriedigt sich mithilfe von mathematischen Modellen dar-
werden können(>Kap. 2.1.1 ). Wenn der Preis eines stellen und u ntersuchen: Das Verhalten der An-
Guts steigt, werden die Konsumenten die Nachfra- bieter und Nach frager wird durch Kurven inner-
ge nach diesem Gut verringern und im umgekehr- halb eines Koordinatensystems dargestellt. Die
ten Fall steigern. Die Unterneh men verfolgen das Nachfragekurve zeigt, wie die Nachfragemenge
Ziel der Gewinnmaximierung, sie bieten bei einem eines Gutes vom Preis abhä ngt. Dabei wird unter-

Funktionen von Preisen und Märkten

Informationsfunktion Koordinationsfunktion
Der Preis gibt Auskunft über den relativen Anbieter und Nachfrager planen ihr Ange-
Knappheitsgrad eines Gut es oder einer bot bzw. ihre Nachfrage nach einem Gut
Dienstleistung. Ein steigender Preis deutet oder einer Dienstleistung auf der Grundla-
auf eine zunehmende Knappheit hin und ge des Preises.
umgekehrt.
Knappheitsindikator Ausgleich von Angebot und Nachfrage

Selektionsfunktion Allokationsfunktion
Es können nur Unternehmen auf dem Preise lenken die Produktionsfaktoren Ar-
Markt bestehen, die zumindest kostende- beit und Kapital in die Wirtschaftsberei-
ckend anbieten, die anderen scheiden aus che, wo die erzielbaren Einkommen (Löh-
dem Markt aus. Nur Nachfrager, die bereit ne, Gewinne) am höchsten sind. Unter-
sind, den Preis zu bezahlen, erhalten das nehmen haben einen permanenten Anreiz
Gut oder die Dienstleistung. für die effiziente Verwendung knapper
Ressourcen.
Zuteilung und Auslese Anreize und Lenkung
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Marktmechanismus am Beispiel des Preises für ein Kilogramm Erdbeeren

Märkte im Gleichgewicht e::, Angebot


Der Markt befindet sich im Gleichgewicht, die w Gl~hgewichtspreis
zum Gleichgewichtspreis angebotene Menge
an Erdbeeren entspricht genau der nachge-
C
C
~ 2,00
I
fragten Menge. Das Gleichgewicht findet man 4)
4)
da, wo sich Angebots- und Nachfragekurve ..c
schneiden. Hier beträgt der Gleichgewicht- ~
w
spreis 2,00 Euro je kg Erdbeeren: Zu diesem Ol [ Gleichgewichtsmenge
~
Preis werden 70 kg Erdbeeren angeboten und ,-
... i/
nachgefragt.
-
:::,
rJl
-~
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 1011 12 13
Menge in 10 kg Erdbeeren
a..

Märkte abseits des Gleichgewichts


e::, Angebot
w
Bei einem Marktpreis von 2,50 Euro (liegt über .!:: 2,50
dem Gleichgewichtspreis) werden 40 kg C

Erdbeeren nachgefragt und 100 kg angeboten ~ 2,00


(Angebotsüberschuss). Die Anbieter versu- i 1,50
Nac hfrage
chen, den Absatz durch Preissenkungen zu ~
steigern; dies verändert den Preis in Richtung
w
Ol
~
des Gleichgewichtspreises. Bei einem Preis ,-
von 1,50 Euro werden 100 kg Erdbeeren ...
nachgefragt und 40 kg angeboten (Nachfrage-
überschuss). Die Anbieter werden den Preis in
--~
:::,
rJl
Menge in
Richtung des Gleichgewichtspreises anheben. a.. 10 kg Erdbeeren

Unwetter lässt das


e::, Ai Angebot sinken
Folgen eines Angebotsrückgangs w
Ein Unwetter vermindert die Angebotsmenge, .!::
zum gleichen Preis wird jetzt weniger C
~ t 2,50 ............... .
angeboten als vor dem Unwetter. Dies bewirkt
eine Linksverschiebung der Angebotskurve i 2,00 ........... .
von A1 nach A2. Der Gleichgewichtspreis ~
w
steigt von 2,00 Euro auf 2,50 Euro und die Ol
Gleichgewichtsmenge sinkt von 70 kg auf ~ Preis ...
40 kg.
-
::5
rJl
1 1
4,._7
j ..
Menge in
-~
a.. ... und niedrigerer Menge 10 kg Erdbeeren

N2 Fest lässt die


Folgen einer Nachfragesteigerung Nachfrage ansteigen
Ein großes regionales Fest lässt die nachge- Angebot
fragte Menge an Erdbeeren auf dem Markt
steigen, da hier viele Haushalte mehr Erdbee-
ren konsumieren. Zum gleichen Preis wird also
jetzt mehr nachgefragt als vorher. Die
Nachfragekurve verschiebt sich nach rechts.
Der Gleichgewichtspreis steigt von 2,00 Euro Ol
auf 2,50 Euro, die Gleichgewichtsmenge steigt ~ Nachfrage
von 70 kg auf 100 kg.
rJl
..
Menge in
·@
a.. ... und höherer Menge 10 kg Erdbeeren
2.1 Wirtschaftsordnungen und M ärkte f

stellt, dass die nachgefragte Menge bei sinkendem gibt, die als einzelne keinen Einfluss a uf den
Preis zunimmt, die Nachfragekurve hat daher eine Marktpreis haben (Modell der vollkommenen
negative Steigung. Andere Einflussgrößen der Konkurrenz). Von vollkommener Konkurrenz
Nachfrage sind etwa die Einkommen oder die Be- spricht man, wenn
dürfnisse der Haushalte. Wenn sich eine dieser
Einflussgrößen ändert, kommt es zu einer Ver- • sich am Markt eine sehr große Zahl von Anbie-
schiebung der Nachfragekurve. tern und Nachfragern gegenüberstehen,
• die ein praktisch identisches Gut handeln (Be-
Die Angebotskurve zeigt, wie die Angebotsmenge dingung der Homogenität),
eines Gutes vom Preis abhängt. Man geht davon • vollkommene Marktübersicht herrscht,
aus, dass die angebotene Menge bei steigendem • d ie Anpassungsprozesse am Markt schnell ab-
Preis zunimmt. Die Angebotskurve hat daher eine laufen und
positive Steigung. Ändern sich andere Einfluss- • es ansonsten keinen Grund gibt, einen Markt-
größen des Angebots, etwa die Produktionstech- teilnehmer einem anderen vorzuziehen (keine
nologie oder die Koste n, kommt es zu einer Ver- zeitlichen, persönlichen, sachlichen und räumli-
schiebung der Angebotskurve. Der Schnittpunkt chen Präferenzen).
von Angebots- und Nachfragekurve bestimmt das
Marktgleichgewicht. In der Regel trifft mindestens eine dieser Bedin-
gungen auf real existierende Märkte nicht zu, so
Das funktionieren des Preismechanismus setzt dass man hier von unvo llkommenen Märkten
einen Markt mit Wettbewerb und Konkurrenz vo- spricht.
raus, auf dem es viele Anbieter und Nachfrager

Aufgaben

1 . Beschreiben Sie die Funktionsweise des Marktmechanismus.

2. Erklären Sie, warum die Nachfragekurve von links oben nach rechts unten und die Angebotskurve von links
unten nach rechts oben verläuft.
1METHODENKOMPETENZ

Arbeiten mit Modellen

Die ökonomische Modellbildung ist d ie Untersu- flussgröße n wie der Nutzen, den verschiedene
chungs- und Erklä run gsmeth ode der Wirtschafts- Güter sti fte n, oder Preise u nd Kon summengen
t heorie. Dabei werden komplizierte wi rtschaftli- untersucht. Das Modell hat dabei den Vorteil, dass
che Zusammenhä nge au f möglichst einfache Art ökono mische Zusammenhänge (z.B. zwischen In-
und Weise da rgestellt. [...] A ußerdem wird häufig fl atio n und Arbeitslosigkeit) leichter zu durch-
a ngen ommen, dass alle Ein flussgrößen und Be- schauen sind u nd Teilausschnitte der Wirklichkeit
gle itumstände, die nicht un tersucht werden sol- (deshalb au ch Partialanalyse gen annt) untersucht
len, im Modell unverä ndert bleiben, die sog. Ce- werde n können, währen d die sonstigen Rahmen-
teris-paribus-Methode (unter sonst gleiche n bedingungen unverä ndert ble iben.
Bedingu nge n). Unter d iesen modellhafte n Bedi n- Duden Wirtschaft von A bis Z, Grundlagenwissen für Schule
gu ngen werden ve rschieden e ökonomische Ein- und Studium, Beruf und Alltag, 2013

Schritt 1: Orientierung

• Was wird durch das Modell dargestellt?


• Wie ist das Modell aufgebaut?

Schritt II: Beschreibung

• Welche Elemente enthält das Modell?


• Was wird durch die Elemente im Modell dargestellt? (Akteure, Organisationen, Strukturen, etc.)
• Welche Elemente stehen mit welchen Elementen in einer Beziehung?
• Wie werden d iese Beziehungen dargestellt:
a) Werden Hierarchien in Form von Über- und Unterordnung dargestellt?
b) Sollen Prozesse, Entwicklungen bzw. Einfluss über Pfeile dargestellt werden?
c) Handelt es sich um eine Darstellung eines Netzwerks?
d) Spielen Überschneidungen eine Rolle?

Schritt III: Deutung

• Welcher Zusammenhang bzw. welche Zusammenhänge sollen durch das Modell erklärt werden?
• Welches sind die zentralen Einflussgrößen im Modell?
• Was sind die Kernaussagen des Modells?

Schrittl~Bewertung

• Wird der zu erklärende Zusammenhang durch das Modell verstehbar?


• Sind d ie gewählten Mittel (Elemente, Beziehungen, etc.) geeignet ?
• Was lässt sich mit dem Modell nicht erklären?
• Welche Elemente werden nicht beachtet?
• Haben diese im Sinne der Ceteris-paribus-Methode einen Einfluss?
METHODEN KOMPETENZ !

Beispiel: Der Wirtschaftsprozess als ten Wirtschaftsweise. Zudem hat sich in entwickel-
Kreislaufmodell ten Volkswirtschaften die Trennung der Sphären
der privaten Haushalte und der Unternehmen
Die Wirtschaftswissenschaften versuchen durch herausgebildet. Die Wirtschaftstheorie spricht von
Modelle die Komp lexität von einzelwirtschaftli- Haushalten, in denen konsumiert wird, und von
chen Vorgängen verständlich zu machen. Eines Unternehmen, in denen die Produktion stattfindet.
der ersten Modelle der Wirtschaftswissenschaften
ist der Wirtschaftskreislauf, zuerst entwickelt vo n Stellt man die zwei Sektoren Haushalte und Un-
dem französischen Arzt und Ökonomen Francois ternehmen jn einem einfachen Wirtschaftskreis-
Quesnay ( 1694-177 4). Angelehnt an das System lauf dar, dann stellen die Haushalte den Unterneh-
des menschlichen Blutkreislaufs werden die Geld- men Faktorleistungen bzw. Produktionsfaktoren
u nd Güterströme einer Volkswirtschaft darge- zu r Verfügung (Boden, Kapital, Arbeit). Damit
stellt. Durch die Methode der Aggregation, d. h. produzieren die Unternehmen Güter und stellen
der Zusammenfassung von Einzelgrößen, werden diese den Haushalten zur Verfügung (Konsumgü-
ökonomische Transaktionen zu Strömen zusam- ter). Die Haushalte beziehen von den Unterneh-
mengefasst sowie gleichartige Wirtschaftssubjek- men entsprechende Faktoreinkommen (Löhne,
te zu Sektoren. Zinsen, Miete). Mit dem Einkommen bezahlen sie
die von den Unternehmen produzierten Güter
(Konsumausgaben).
Der einfache Wirtschaftskreislauf
Im Wirtschaftskreislauf entspricht jedem Güter-
Arbeitsteilung, Tausch und Geld gelten seit Adam strom ein Geldstrom, weswegen im Modell nur die
Smith als die prägendsten Elemente einer effizien- Geldströme erfasst werden.

Löhne und Gehälter (Einkommen der Haushalte)

Faktorleistungen (Arbeit, Boden, Kapitel)

private
••••••••
••••••••
Unternehmen
Haushalte

Waren- und Dienstleistungen (Konsumgüter)

Konsumausgaben (Einkommen der Unternehmen)

Güterkreislauf
--+ Geldkreislauf

Der erweiterte Wirtschaftskreislauf

Für den einfachen Wirtschaftskreislauf g ilt, dass zieren Unternehmen nicht nur Konsumgüter, son-
die mit der Produktion entstehenden Einkommen dern auch Investitionsgüter, mit denen sie ihren
in voller Höhe für den Konsum ausgegeben wer- Kapitalstock erweitern. Durch das Sparen der
den. Tatsächlich verwenden die Haushalte aber Haushalte und die Investitionstätigkeit der Unter-
nu r einen Teil ihres Einkommens für Ko nsumgü- nehmen fi ndet ein Vermögenszuwachs in der
ter, einen anderen Teil sparen sie. Ebenso produ- Volkswirtschaft statt.
1METHODENKOMPETENZ

Um den Aspekt der Vermögensbildung bzw. ver- • Subventionen an Unternehmen: Geldleistun-


änderung in das Modell zu integrieren, braucht es gen z.B. fü r Forschung oder die Steinkohle;
einen weiteren Sektor, den der Kapitalsammelstel-
len, mit denen die privaten Haushalte und die Un- • Transferzahlungen an die Haushalte: staatliche
ternehmen interagieren. Unterstützungsleistungen wie Kindergeld, Pen-
sionen oder Sozialversicherungslefatungen.
Werden zudem die wirtschaftlichen Aktivitäten
des Staates in das Kreislaufmodell über den Sektor Die positive Differenz aus Einnahmen und Ausga-
Staat einbezogen, dann sind weitere Transaktio- ben des Staates wird als Ersparnis des Staat es be-
nen zu berücksichtigen: zeichnet. übersteigt dagegen der Ausgabenstrom
die Einna hmen, gleicht der Staat den Fehlbetrag
• Steuern: die Erhebung vo n Einkommens- und durch Kreditaufnahme aus. Moderne Volkswirt-
Ertragssteuern, der Mehrwertsteuer und von schaften verfügen zusätzlich über eine Vielzahl
Verbrauchssteuern (z. B. Mineralölsteuer), wel- von Wirtschaftsbeziehungen zum Ausland. Ein
che vo n den Unternehmen in die Produktpreise Teil der inländischen Produktion wi rd in das Aus-
eingerechnet werden. Hierzu gehören verein- land exportiert, im Gegenzug importiert die inlän-
facht auch die Sozialversicherungsbeiträge; dische Volkswirtschaft Güter aus dem Ausland.
Werden die st aatlichen Aktivitäten und die gren-
• Staatlicher Konsum: Kauf von Sachgütern und züberschreitenden Transaktionen durch die Ein-
Dienstleistungen bei Unternehmen und Erfas- führung des Sektors Ausland erfasst, gelangt man
sung vo n Gemeinschaftsgütern (Bildung, Si- zum Kreislaufmodell einer offenen Volkswirt-
cherheit, Gesundheit etc.); schaft mit staatlicher Aktivität.

Spareinlagen, Kreditzinsen liquide Mittel, Kreditzinsen

Kredite, Guthabenzinsen Kredite, Guthabenzinsen


Kredite

Kapitalsammelstellen
(Vermögensänderung)

~ ...............- - -------
Löhne, Gehälter
Konsumausgaben
Unternehmen
Haushalte
Zinsen Steuern l
Export-
Import-
vergütung
,1.
_ s_ u_b_v_en_t_
io_ne_n_ _ erlöse
Löhne, Soziale Leist.
Steuern, Gebühren Transferzahlungen

Aufgabe

Prüfen Sie mithilfe des einfachen und des erweiterten Wirtschaftskreislaufs, welche Konsequenzen sich bei
folgenden wirtschaftlichen Ereignissen ergeben:
a) Sie schalten zuhause den Fernseher an.
b) Sie verlieren den Job.
c) Der Staat erhöht die Meh rwertsteuer.
2.1 .3 Die Soziale Marktwirtschaft

Leitfragen Was ist das Leitbild der Welche Aufgaben über- Auf welche Herausforderungen stößt
Sozialen Marktwirtschaft? nimmt der Staat in einer das Konzept der Sozialen Marktwirt-
Sozialen Marktwirtschaft? schaft?

Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ent- kungen des Marktprozesses zu verhindern oder
stand gegen Ende des Zweiten Welt kriegs und zumindest abzumildern. In den Worten von Mül-
g riff Elemente des Liberalismus und der christli- ler-Armack: ,,Die Freiheit des Marktes mit sozi-
chen Soziallehre auf. In dem Modell wird die aler Verantwortung verbinden. Primäres Koordi-
Marktwirtschaft als Grundprinzip anerkannt, nat ionsprinzip bleibt der Wettbewerb". Das
j edoch dem Staat eine aktive Rolle im Wirt- bedeutet, dass Verbraucher frei entscheiden kön-
schaftsprozess zugewiesen. Geistige Väter des nen, welche Güter sie kaufen (Konsumfreiheit).
Konzepts waren Walter Eucken ( 1891 - 1950), Pro- Unternehmer haben das Recht auf Eigentum an
fesso r für Volkswirtschaftslehre, und Alfred Mül- den Produktionsmitteln und die Freiheit, Güter
ler-Armack (1901 - 1978), von 1958 bis 1963 nach ihrer Wahl zu produzieren und abzusetzen.
Staatssekretär im Bundesministerium für Wirt- Der Wettbewerb zwischen den Unternehmen soll
schaft. Politisch geprägt wurde die Soziale Markt- das Erreichen der optimalen Verwendung der vor-
wirtschaft in Deutschland von Ludwig Erhard handenen Ressourcen gewährleisten.
( 1897- 1977), der von 1949-63 Wirtschaftsminis-
ter und von 1963-66 Bundeskanzler war. Die so-
zialliberale Koalition (1969-82) baute daran an- Welche Aufgaben übernimmt der Staat in der
schließend die sozialen Sicherungssysteme aus Sozialen Marktwirtschaft?
und erweiterte die betriebliche Mitbestimmung.
In der Sozialen Marktwirtschaft kann der Staat die
In der Sozialen Marktwirtschaft kommt dem Staat Marktfreiheit dort beschränken, wo die soziale
die Aufgabe zu, sozial unerwünschte Auswir- Gerechtigkeit und die soziale Sicherheit gefähr-

Das Grundgesetz (GG) und die Soziale Marktwirtschaft

[_ Art. 2, 9, 11 , 12,
14 Abs. 1 GG
Art. 109 GG Art. 14 Abs. II., 15,
20GG

■ Freie Entfaltung der Persön- ■ Gesamtwirtschaftliches ■ Soziale Verpflichtung


lichkeit, Handlungsfreiheit Gleichgewicht als des Eigentums
Zielvorgabe
■ Vereinigungs- und ■ Recht zur Enteignung
Koalitionsfreiheit ■ Konkretisiert durch zu Gunsten des
das „Gesetz zur Förderung Allgemeinwohls
■ Freizügigkeit der Stabilität und des
Wachstums der Wirtschaft" ■ Möglichkeit zur
■ Freie Berufs- und Sozialisierung im Rahmen
Arbeitsplatzwahl ■ Kein allgemeines Recht der Verfassung
auf Arbeit, aber Recht
■ Recht auf Eigentum auf soziale Sicherung ■ Sozialstaatsgebot
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

det sind. Der staatlichen Wirtschaftspolitik kommt Marktprozesses, da die Preisbildung dann nicht
die Aufgabe zu, die negativen Folgen vo n Markt- mehr, wie im Marktmodell skizziert, stattfindet.
prozessen wie etwa Konjunkturschwankungen
und Arbeitslosigkeit abzufedern. Auch sollen zu Betrachtet man die Situation in Deutschland,
starke Ungleichheite n in der Einkommens- und da nn bestehen auf vielen wichtigen Teilmä rkten
Vermögensverteilung staatlich ko rrigiert werden oligopolistische Marktstrukturen. Oft bildet sich
(>Kap. 2.2 - 2.4). dabei die Marktführerschaft eines Unternehmens
heraus, dessen Preissetzung die anderen Unter-
Der Staat übernimmt zudem Aufgaben, die über nehmen folgen.
Märkte nur sehr eingeschränkt wahrgenommen
werden können, wie etwa in der Bildungspolitik,
Sozialpolit ik und Strukturpolitik. Risiken wie Wie kann der Staat das Funktionieren des
Krankheit und Arbeitslosigkeit werden vom Staat Marktmechanismus gewährleisten?
durch gesetzliche Versicherungssysteme abge-
deckt. Zudem bilden die Mitbestimmung in Groß- Die Aufgabe des Staates in der Sozialen Markt-
unternehmen und die Beteiligungsrechte der Be- wirtschaft ist es, das Funktionieren des Marktpro-
triebsräte einen wichtigen Bestandteil der sozialen zesses zu gewährleisten. Diese Aufgabe über-
Marktwirtschaft in der Bundesrepublik. Diese nimmt in Deutschland das Bundeskartellamt,
wurden besonders in den l 970er J ahren in West- welches 1958 auf Grundlage des Gesetzes gegen
deutschland ausgebaut. Und nicht zuletzt soll der Wettbewerbsbeschränkung (GWB) gegründet
Staat den Wettbewerb a uf den Märkten garantie- wurde. Seine Hauptaufgaben sind
re n, d.h. verhi ndern, dass marktbeherrschende
Unternehmen entstehen, die den Marktmechanis- • die Fusionskontrolle,
mus a ußer Kraft setzen. • die Missbrauchsaufsicht bei marktbeherrschen-
den Unternehmen und
• die Überwachung des Kartellverbots.
Warum muss der Staat den Wettbewerb auf
Märkten kontrollieren? Bei Zu sammenschlüssen bzw. Fusionen von Un-
ternehmen können auf einzelnen Märkten Unter-
Das Marktmodell hat zur Voraussetzung, dass nehmen mit hohen Marktanteilen entstehen. Das
vollkommene Konkurrenz auf den Einzelmärkten Bundeskartellamt geht von ei ner Marktbeherr-
herrscht; das bedeutet, dass die einzelnen Anbie- schung aus, wenn drei Unternehmen einen Markt-
ter einen so geringen Marktanteil haben, dass sie anteil vo n mindestens 50 Prozent erreichen. Zu-
die Preisbildung nicht beeinflussen können (Poly- sammenschlüsse von Unternehmen k ann das
pol). Jeder Anbieter wird j edoch versuchen, einen Bundeskartellamt verbieten oder nur unter be-
möglichst großen Marktanteil für sein jeweiliges stimmten Auflagen erlauben. Allerdings sieht
Produkt zu erreichen und andere Anbieter aus das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung eine
dem Markt z u drängen. Häufig gibt es da rum auf Ministererlaub nis vor, d.h. das Bundeswirtschafts-
Märkten nur wenige An bieter mit j eweils ein em ministerium kann Zusammenschlüsse erlauben,
großen Marktanteil, die zusammen den Markt be- wenn gesamtwirtschaftliche Gründe - etwa der
herrschen (Oligopol). Wenn sich einer dieser An- Erhalt von Arbeitsplätzen - dafür sprechen. Au-
bieter gegenüber seinen Konkurrenten durchsetzt, ßerdem ist seit 2004 auf europäischer Ebene die
dann erlangt dieser dadurch eine Monopolstel- Europäische Kommission mit der Prüfung vo n
lung. Unternehmenszusammenschlüssen befasst, die
eine grenzü berschreitende Bedeutung haben.
In einem oligopolistischen Markt sind Preisab-
sprachen oder ein abgestimmtes Verhalte n der Weiterhin hat das Bundeskartellamt die Au fgabe,
Marktteilnehmer - die sogenannte Bildung vo n die Ausnutzung einer marktbeherrschenden
Kartellen - zur Verhinderung, Einschrä nkung Stellung durch Unternehmen zu kontrollieren,
oder Verfälschung des Wettbewerbs eher möglich zu verhindern bzw. mit Hilfe von Bußgeldern zu
als auf einem polypolistischen Markt. Dadurch sanktionieren. Anfang 2018 hat das Bundeskar-
besteht die Gefahr einer Beeinträchtigung des tellamt z.B. eine Branchenuntersuchung im Be-
2.1 Wirtschaftsordnungen und Märkte f

reich Online-Werbung eingeleitet, um die Ver- gionale Aufteilung von Märkten, sogenannte
marktung von Werbeflächen im Internet (z.B. bei Kartelle. Dies ist durch das GWB verboten, den-
Google, facebook) zu überprüfen. noch werden immer wieder illegale Kartelle gebil-
det bzw. Preisabsprachen getroffen. Die Aufgabe
Zudem treffen Unternehmen, um harte Preis- des Bundeskartellamts ist es, diese aufzudecken
kämpfe zu verhindern, Absprachen über Preise, u nd entsprechende Bußgelder zu verhängen
über zu produzierende Mengen oder über die re- (>Schaubild).

Die höchsten Kartellstrafen in Deutschland


Vom Bundeskartellamt verhängte Bußgelder nach Branchen in Millionen Euro
Summe der verhängten Bußgelder - - - - - - - - - - - - - ,
Branche Jahr davon höchstes verhängtes Einzelbußgeld gegen ein Unternehmen
T
Zement 2003 9 ______ 396,0 Mio. €
Wurst 338,5
Bier 338,0
Zucker 281,7
Flüssiggas 249,0
Tondachziegel 188,1
Kaffee 159,0
Industrieversicherungen 2005 151 ,4
Schiene/ DB 2013 - - --:.c
103
.....0"" 134,5
Brillengläser 2010 115,0
Automobilzulieferer 2015 89,7
Dekorpapier 2008 M.;o 61 ,0
dpa-26937 Quelle: Bundeskartellamt 1

Wie viel Staat braucht die


Soziale Marktwirtschaft?

Die Rolle des Staates im Wirtschaftsprozess wird Mit Blick auf die stetig steigenden Staatsausgaben
unterschiedlich bewertet. In der klassischen Pers- wi rd in der öffentlichen Diskussion immer wieder
pektive wird dem Staat lediglich der Schutz des die Frage aufgeworfen, inwieweit die Staatsaus-
Eigentu ms, die Schaffung und Durchsetzung des gaben im bisherigen Ausmaß zu finanzieren sind
Rechtsrahmens (die so genannte Ordnungspoli- bzw. inwieweit die zunehmende Staatstätigkeit
tik) und der Schutz nach a ußen zugeordnet; in hinderlich für die Entwicklung einer funktion ie-
den Wirtschaftsprozess selbst sollte er nicht ein- renden (Sozialen) Marktwirtschaft ist. Zur Be-
greifen. Geht man jedoch davon aus, dass immer schreibung der Entwicklung der Staatstätigkeit
wieder Fälle von Marktversagen auftreten, dann wi rd die Staatsquote bzw. Staatsausgabenquote
erscheint es sinnvoll, dass der Staat in den Markt- herangezogen. Sie misst den Anteil der Staatsaus-
prozess eingreift (Prozesspolitik). Immer wieder gaben am BIP eines Landes. Betrachtet man die
weisen Ökonomen daraufhin, dass a uch staatliche Situation in Deutschland, dann stieg die Staats-
Eingriffe in den Marktmechanismus Krisen auslö- quote kontinuierlich. Während sie im Jahr 1960
sen können; in solchen Fällen h andelt es sich in Westdeutschland 32,90/o betrug, pendelte sie in
dann eher um Staatsversagen als um Marktversa- den letzten Jahren um die 440/o (> Schaubild auf
gen (> Kap. 2.2.3). der nächsten Seite).
2 Grundlagen der W irtschaftspolitik

Staatsquote Deutschlands im Vergleich ausgewählter Länder

70

60

50

- Deutschland
40
- Frankreich
Vereinigtes Königreich
30
USA
Japan
20

10

0
1995 2000 2005 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 201 7

Quelle: BMF

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die Aufgaben des Staates in der sozialen Marktwirtschaft. Beziehen Sie auch die Rolle des
Bundeskartellamts in Ihre Überlegungen mit ein.

2. Am 8. Dezember 2016 trat die Ministererlaubnis „Edeka / Kaiser's Tengelmann" vom damaligen Bundeswirt-
schaftsminister Sigmar Gabriel in Kraft. Stellen Sie den Fall in einem Referat vor (, Methodenglossar).

3. Diskutieren Sie die Aussage, die staatlichen Ausgaben für den Erhalt der sozialen Marktwirtschaft in
Deutschland seien in Zukunft nur noch schwer zu finanzieren.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Regierungen können manchmal Marktergebnisse verbessern

Wenn die unsichtbare Hand so w underbar funktioniert, wozu brauchen wir dann die
Regierung? Nun, eine Aufgabe der Regierung besteht gerade darin, die unsichtbare
Hand zu schützen. Märkte werden nur dann richtig funktionieren, wenn die Eigentums-
rechte durchgesetzt werden. Kein Bauer wird Getreide anbauen, wenn er damit rech-
5 nen muss, dass seine Ernte gestohlen wird. Kein Restaurant wird Speisen servieren,
wenn nicht sichergestellt ist, dass der Gast vor dem Verlassen auch dafür bezahlt. Wir
alle verlassen uns darauf, dass staatliche Institutionen wie z.B. die Polizei und die
Gerichte unsere Rechte über die Güter sichern, die wir produzieren.
Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund, warum wir die Regierung benötigen. Ob-
10 wohl Märkte gewöhnlich gute Mechanismen für die Steuerung ökonomischer Aktivitä-
ten sind, gibt es einige wichtige Ausnahmen von dieser Regel. Es gibt zwei wichtige
Gründe für eine Regierung, in der Marktwirtschaft zu intervenieren: zur Steigerung der
Effizienz und zur Förderung der Gerechtigkeit. Die meisten politischen Maßnahmen
zielen also darauf ab, entweder den wirtschaftlichen Kuchen zu vergrößern oder seine
15 Aufteilung in Stücke zu verändern.
Die unsichtbare Hand bringt Märkte gewöhnlich dazu, die Ressourcen effizient zu
verteilen. Ungeachtet dessen gibt es mehrere Gründe dafür, dass die unsichtbare Hand
manchmal nicht funktioniert. Die Ökonomen verwenden den Begriff Marktversagen für
eine Situation, in der ein Markt alleine es nicht schaffen würde, die Ressourcen effizient
20 zuzuteilen. Ein möglicher Grund von Marktversagen sind externe Effekte oder so ge-
nannte Externalitäten. Eine Externalität ist die Wirkung der Handlungen einer Person
auf die Wohlfahrt eines unbeteiligten Dritten. Das klassische Beispiel ist die Luftver-
schmutzung.
Eine andere mögliche Ursache für Marktversagen kann in der Marktmacht liegen.
25 Marktmacht ist die Fähigkeit eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe, die Marktprei-
se übermäßig zu beeinflussen. Nehmen wir z. B. an, jedermann in einer Stadt braucht
Wasser, es gebe aber nur eine einzige Quelle. Der Eigentümer der Quelle hat Markt-
macht - in diesem Fall ein Monopol - über den Verkauf von Wasser. Der Eigentümer
der Quelle unterliegt nicht dem rigorosen Wettbewerb, mit dem die unsichtbare Hand
30 üblicherweise die Eigeninteressen unter Kontrolle hält. Sie werden erkennen, dass in
diesem Fall eine Regulierung des vom Monopolisten verlangten Preises möglicherwei-
se eine Effizienzsteigerung nachsichziehen kann.
Noch weniger befähigt ist die unsichtbare Hand dazu, den ökonomischen Wohlstand
gerecht zu verteilen. Eine Marktwirtschaft belohnt die Menschen nach ihrer Fähigkeit
35 zur Herstellung von Gütern, für die andere bereit sind zu bezahlen. Der weltbeste
Basketballspieler verdient mehr als der weltbeste Schauspieler, weil die Menschen
mehr bezahlen, um den Basketballspieler zu sehen. Die unsichtbare Hand garantiert
nicht, dass jedermann genug zu essen, Kleidung und die notwendige ärztliche Betreu-
ung hat. Ein Ziel verschiedener politischer Maßnahmen, wie etwa der Einkommensbe-
40 steuerung oder des Sozialhilfesystems, ist die gleichmäßigere Verteilung des ökono-
mischen Wohlstands.
Zu sagen, dass die Regierung die Marktergebnisse zeitweilig verbessern kann, heißt
nicht, dass dies tatsächlich immer geschehen wird. Die Politik wird nicht von Engeln
gemacht, sondern von einem beileibe nicht vollkommenen politischen Prozess gestal-
45 tet. Manchmal werden Maßnahmen einfach deshalb erfunden, um mächtige Gruppen
zu belohnen. Manchmal werden sie von gutwilligen politischen Führern entworfen, die
nicht hinreichend unterrichtet sind.

N. Gregory Mankiw / Ma rk P. Taylor, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 5. übera rbeite und erweiterte
Auflage, übersetzt von Adolf Wagner/ Ma rco Herrmann, 2012, S. I Jf
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 2 Jeder hat sein Päckchen zu tragen .. .

Karikatur: Walter Hanel

Aufgaben

1. Nennen Sie die Gründe, die aus der Sicht von Mankiw für einen Eingriff von Regierungen in
den Marktprozess sprechen (M 1).
2. Arbeiten Sie die Kernaussage der Karikatur M 2 heraus (> Methodenkompetenz: Karikatu-
ren analysieren).
3 . Erörtern Sie vor dem Hintergrund Ihrer Ergebnisse aus Aufgabe 1 und 2 die Rolle des
Staates in der Sozialen Marktwirtschaft.
• Konjunktur- und Wirtschaftspolitik
2.2.1 Wirtschaftliche Entwicklung und Konjunkturzyklus

Leitfragen Wie wird die wirtschaftliche Welche Schwankungen im Wie lassen sich die
Entwicklung anhand des Wirtschaftsablauf können Schwankungen begründen?
Bruttoinlandsprodukts unterschieden werden?
gemessen?

Das BIP als zentrale Größe in der Volkswirt-


schaftlichen Gesamtrechnung (VGR)

Als zentraler Maßstab für die EntwickJung des Da ein Teil der im Inland nachgefragten Waren
Wirtschaftsgeschehens gilt das Bruttoinlandspro- und Dienstleistungen im Ausland produziert
dukt (BIP). Das BIP erfasst die Summe aller in wird, müssen die Importe (M) zur Ermittlung des
einer Periode in einer Volkswirtschaft produzier- BfP abgezogen werden. Die Verwendung des
ten Waren und Dienstleistungen, b ewertet in Prei- BIP kann somit mit der fo lgenden Formel be-
sen. Um Doppelzählungen zu vermeiden, müssen schrieben werden:
bei der Berechnung des BIP Vo rleistungen abge-
zogen werden. Dabei h andelt es sich u m Güter, die
von anderen Unternehmen bezogen und in der
gleichen Wirtschaftsperiode im Produktionspro- • Die Verteilungsrechnung ermittelt die bei der
zess eingesetzt werden. Bei der Ermittlung des Produktion entstandenen Einkommen, die sich
Bruttoinlandsprodukts zu Marktpreisen geht man aufteilen a uf die Arbeitnehmerentgelte sowie
vom Inl andskonzept aus: Erfasst werden die Leis- die Unternehmens- und Vermögenseinkommen.
tungen, die in der Bundesrepublik Deutschland
erbracht worden sind, gleichg ültig, ob es sich um
inländische oder ausländische Unternehmen han- Reales und nominales BIP
delt. Es lassen sich drei Grundformen der Berech-
nung des Bruttoinlandsprodukts unterscheide n: In der Volkswirtschaftslehre unterscheidet man
zwischen nomi naler und realer Darstellung von
• Die Entstehungsrechnung erfasst die Brutto- wirtschaftlichen Größen. Nominale Größen sind
wertschöpfung der Unternehmen (das ist der a usgedrückt im aktuellen Geldwert eines J ahres,
P rodu ktio nswert abzüglich der Vorleistungen), bei realen Größen wird diejährliche Preisentwick-
ergänzt um die indirekten Steuern abzüglich der lung heraus gerechnet, es findet eine Inflations-
Subvent ion en, woraus sich das gesamtwirt- bereinigung statt. Steigt beispielsweise das nomi-
schaftliche Angebot ergibt. nale BIP in einem Jahr um 2 Prozent und die
Inflationsrate steigt um 1 Prozent, so beträgt der
• In der Verwendungsrechnung werden die fol- Anstieg des realen BIP 1 Prozent, da tatsächlich
genden aggregierten Bestandteile der gesamt- zusätzliche Leistungen in Form von Waren und
wirtschaftl ichen Nachfrage zusammengefasst: Dienstleistungen nur in dieser Größenordnung
erstellt worden sind. Für den Vergleich vo n Grö-
a) Private Konsumausgaben (CH) ßen über mehrere J ahre verwendet man deshalb
b) Staatsausgaben (C5l) in der Regel reale Werte.
c) Bruttoinvestitio nen (IbJ
d) Exporte (X) Das reale Bruttoi nlandsprodu kt dient in der Wirt-
e) Importe (M) schaftstheorie sowie in der Öffentlichkeit meist als
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

zentraler Indikator für die wirtschaftliche Ent- wird als Indikator zur besseren Vergleichbarkeit
wicklung einer Volkswirtschaft, wobei ein mög- das BIP pro Kopf benutzt, da sich nur dadurch
lichst hohes Wachstum des BfP traditionell als unterschiedlich große Volkswirtschaften sinnvoll
positiv bewertet wird. Im internationalen Kontext vergleichen lassen.

BIP pro Kopf in ausgewählten Industrie- und Schwellenländern


in jeweiligen Preisen im Jahr 2018

USA 62.152,07

Deutschland

Kanada

Frankreich

Großbritannien

Japan

Südkorea

Russland 11.946,65

Türkei - 11.114,26

Brasilien - 10.224,03

China - 10.087,83

Indien i 2.134,75
0 10.000 20.000 30.000 40.000 50.000 60.000 70.000
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in US-Dollar
f:!Statista 2018

Wirtschaftliche Schwankungen und Konjunktur dukts wird als prozentuale Veränderung im Ver-
gleich zum Vorjahr angegeben und gilt als wich-
Meldungen, wie „das Wachstum des Bruttoin- tiger Indikator.
landsprodukts hat im letzten Quartal erneut zuge-
nommen", ,,die Konsumneigung steigt an", ,,die
Arbeitslosigkeit ist auf einem neuen Tiefstand", Die Phasen des Konjunkturzyklus
„die Investitionsquote ist in den letzten Jahre n
zurückgegangen" und „Exporte stagnieren erst- Konjunkturelle Schwa nkungen lassen sich ideal-
malig" laufen täglich durch die Medien. Sie ver- typisch mit vier Phasen in einem Konjunkturzy-
mitteln, dass die wirtschaftliche Entwicklung ei- klus darstellen. Die Dauer der Zyklen ist unter-
ner Volkswirtschaft nicht stetig verläuft, sondern schiedlich und bewegt sich für die Bundesrepublik
einem Auf und Ab unterliegt. zwischen vier bis zehn Jahren. Im Einzelnen las-
sen sich die vier Konjunkturphasen modellhaft
Auch wenn sich marktwirtschaftlich organisierte wie fo lgt beschreiben:
Volkswirtschaften in der Regel durch ein ständi-
ges Wachstum des Bruttoinlandsproduktes aus- • Der Aufschwung ist gekennzeichnet durch ein
zeich nen, treten mit einer gewissen Regelmäßig- steigendes Bruttoinlandsprodukt, eine steigende
keit wirtschaftliche Schwankungen um den Produktion und Investitionstätigkeit der Unter-
Wachstumstrend auf. Sie werden mit dem Begriff nehmen, etwas verzögert steigendem privaten
Konjunktur bezeichnet. Zur Beschreibung der Konsum und meist abnehmender Arbeitslosig-
konjunkturellen Lage wird zumeist das reale (in- keit. Die Gewinne steigen, nach und nach auch
flationsbereinigte) Bruttoinlandsprodukt genutzt. die Löhne, Zinsen und Inflation bleiben zu-
Die j ährliche Veränderung des Bruttoinlandspro- nächst niedrig, aber mit steigender Tendenz.
2.2 Konjunktur- und Wirtschaftspolitik 1

Der idealtypische Konjunkturzyklus vom Verbraucherverhalten werden kurzfristige


Schwankungen ausgelöst. So steigen die Einzel-
BIP handelsumsätze während des Weihnachtsge-
schäfts erheblich an. Saisonale Schwankungen
Boom wi rken sich in der Regel nicht nachteilig auf die
Entwicklung einer Volkswirtschaft aus, Nachteile
für die Beschäftigten versucht man durch ver-
schiedene arbeitsmarktpolitische Instrumente
aufzufangen (z.B. Saison-Kurzarbeitergeld).

Zeit Wie entstehen konjunkturelle Schwankungen?

Unterschiedliche Konjunkturtheorien versuchen


• In der Hochkonjunktur (Boom) steigt die Pro- die zykl ische Entwicklung der gesamtwirtschaftli-
duktion zunächst weiter, ebenso der Konsum, im chen Aktivit äten zu erklären. Hier einige Beispiele:
Idealfall herrscht Vollbeschäftigung. Es kommt
zu Kosten- und Preissteigerungen, das Zins- • Die Unterkonsumtionstheorie begründet Rezes-
niveau und die Löhne steigen. Es entstehen sionen damit, dass die Konsumgüternachfrage
Marktsättigungen und ab dem oberen Wende- hinter den Produktionsmöglichkeiten zurück
punkt gehen die Wachstumsraten zurück. bleibt, da Löhne und Gehälter nicht im gleichen
Umfang steigen, wie die Gewinne. Die dadurch
• Es folgt die Phase des Konj unkturabschwungs bedingte Begrenzung der Kaufkraft der Arbeit-
(Rezession) mit fa llenden Wachstumsraten, nehmerhaushalte führt phasenweise zu einer zu
rücklä ufiger Produktion und Investitionen, sin-
kendem Konsum und steigender Arbeitslosig-
keit. Nach gängiger Definition liegt eine Rezes-
sion vor, wenn das Wachstum des BIP in zwei Konjunkturtheorie
aufeinanderfolgenden Quartalen zurückgeht. und Wachstumstheorie
Die Konjunkturtheorie betrachtet die kurz- bis mittelfristige
• Im Tiefpunkt (Depression) sinken das Bruttoin- Wirtschaftsentwicklung. Die Wachstumstheorie unter-
landsprodukt, die privaten Investitionen und sucht die längerfristige Entwicklung von Volkswirtschaf-
der private Konsum, die Arbeitslosigkeit nimmt ten, das Wachstum des Produktionspotentials. Historisch
weiter zu. Aufgrund sinkender Preise, Zinsen und regional betrachtet sind ganz unterschiedliche Wachs-
und Löhne sowie dem Rückgang des Angebots tumsdynamiken von Volkswirtschaften zu beobachten. Als
Gründe dafür werden in der Wachstumstheorie zuvorderst
durch Unternehmenspleiten ergeben sich An-
die Entwicklung des Arbeitsvolumens und der Arbeitspro-
sätze für einen e rneuten Aufschwung. duktivität angegeben. Letztere wird vor allem bestimmt
von der Höhe der Investitionen und dem technischen Fort-
schritt in eiiner Volkswirtschaft. Neuere Wachstumstheori-
Saisonale und langfristige Schwankungen en betonen zudem die Rolle des Humankapitals (die Sum-
me der wirtschaftlich nutzbaren Fähigkeiten, Kenntnisse
Haben die oben beschriebenen Konjunktur- und auch Verhaltensweisen der Erwerbsbevölkerung einer
Volkswirtschaft) sowie die Rolle von Institutionen und in-
schwankungen mittelfristigen Charakter, sind die
formellen Regeln.
j ährlich a uftretenden saisonalen A usschläge des In den letzten Jahren weisen viele Schwellenländer eine
Wirtschaftsprozesses mit ei ner Dauer von meist hohe Wachstumsdynamik auf, während sie in den hoch-
ein bis drei Monaten von kurzfristiger Natur. Sie entwickelten Volkswirtschaften abzunehmen scheint. In
betreffen nur Teilbereiche der Volkswirtschaft und der Wirtschaftstheorie bleibt umstritten, ob und warum in
sind jahreszeitlich bedingt: Während z.B. im Win- entwickelten Volkswirtschaften die Wachstumsdynamik
ter die Tätigkeiten auf dem Bau eingeschränkt abnimmt. Und sind entwickelte Volkswirtschaften sogar
ohne Wachstum vorstellbar? Diese Frage stellt sich seit
werden, herrscht im Sommer in der Bauwirtschaft
dem Entstehen der Ökologiebewegung seit Mitte der
Hochbetrieb. Stark saisonabhäng ig ist ebenfalls
1970er Jahre regelmäßig (>Kap. 2.2.8).
das Gaststätten- und Tourismusgewerbe. Auch
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

geringen Nachfrage, was Produktionseinschrän- • Exogene Theorien sehen die Ursachen für kon-
kungen und eine Freisetzung von Arbeitskräf- junkturelle Schwankungen in Gründen, die
ten zur Folge hat. außerhalb des Wirtschaftsgeschehens liegen,
bedingt etwa durch natürliche Einwirkungen
• Die Überproduktionstheorie betont dagegen die wie Naturkatastrophen und Klimawandel oder
Tendenz, dass eine ständige Ausdehnung und polit ische Krisen und Kriege.
Rationalisierung der Produktion - bedingt
durch die Ko nkurrenz um Marktanteile - zu zy-
klischen Angebotsüberschüssen führt. Wie lässt sich die konjunkturelle Entwicklung
messen?
• Monetäre Theorien gehen davon aus, dass Geld-
mengen- und Zinsveränderungen u rsächlich Zur Beschreibung der konjunkturellen Lage und
verantwortlich für die Auf- und Abwärtsbewe- für Prognosen über die zukünftige wirtschaftl iche
gungen des Bruttoinlandsprodukts sind. Dem- Entwic klun g werden neben dem BIP auch ver-
nach fü h rt z. B. eine Ausdehnung der Geldmen- schiedene andere Indikatoren genutzt. Dazu wird
ge zu einem Aufschwung, der dann in eine z.B. auf die Entwicklung der Industrieproduktion,
Rezession münden kan n, wenn die Zentralbank der Kapazitätsauslastung der Unternehmen, der
bei einer Gefährdung des Preisniveaus aufgrund Arbeitslosigkeit und der Verbraucherpreise zu-
steigender Inflationsraten mit einer Geldmen- rückgegriffen. Nach dem zeitlichen Ablauf lassen
genbegrenzung und mit Zinserhöhungen re- sich Früh-, Präsens- und Spätindikatoren unter-
agiert (> Kap. 2.2.5). scheiden.

Konjunkturindikatoren

Frühindikatoren Präsensindikatoren Spätindikatoren

zeigen Entwicklungen reagieren mit einer


beschreiben die
des Wirtschaftsverlaufs gewissen Verzögerung
aktuelle w irtschaftliche
früh an und sind daher auf die wirtschaftliche
Situation
für Prognosen geeignet Entwicklung

l
z.B. Geschäftsklima-
l
z. B. Kapazitätsauslas-
l
z.B. Arbeitsmarkt,
index, Auftragseingän- tung, Produktionsindex, Bruttoinlandsprodukt,
ge, Baugenehmigungen Handelsbilanz Preisindex

Aufgaben
1 . Stellen Sie einige typische Saisonarbeitsplätze aus Ihrem Erfahrungsumfeld vor und ermitteln Sie an einem
Beispiel, in welchem Arbeitsverhältnis dort Beschäftigte stehen.

2. Beschreiben Sie die aktuelle Konjunkturlage in Deutschland mithilfe geeigneter Indikatoren.

3. In welcher Konjunkturphase befindet sich aktuell die deutsche Volkswirtschaft? Begründen Sie Ihre
Einschätzung.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Wo ist das konjunkturelle Auf und Ab geblieben?

Die deutsche Wirtschaft wächst im achten Jahr und kein Abschwung ist in Sicht.

Eines haben so ziemlich alle Länder dieser Welt gemein: In ihrer Wirtschaft geht es auf
und ab. Mal herrscht eitel Sonnenschein - und dann, scheinbar wie aus heiterem
Himmel, ziehen düstere Wolken auf, und die Gewinne der Unternehmen gehen zurück.
5 Also senken sie ihre Ausgaben für neue Maschinen, Anlagen und Gebäude, fahren ihre
Produktion runter und reduzieren ihr Personal. Und zwar so lange, bis sie wieder Ge-
winne erzielen und sich die gesamte Volkswirtschaft wieder erholt.
Lange galt dieses konjunkturelle Auf und Ab als unumstößliches Gesetz. Doch seit
einiger Zeit scheint die deutsche Wirtschaft den Zyklus durchbrochen zu haben. Der
10 letzte Abschwung in Deutschland ist, gemessen an den Erfahrungen der Vergangen-
heit, eine halbe Ewigkeit her, ausgelöst wurde er durch die globale Finanz- und Wirt-
schaftskrise 2007/2008. Seither ging es eigentlich nur noch voran: Aufs Jahr gerech-
net, wuchs die deutsche Wirtschaft 2016 zum siebten Mal in Folge. Die letzte Phase
mit Negativwachstum ist drei Jahre her, doch nach einem kurzen Quartal verzogen sich
15 die Wolken wieder.

Ereignisse hätten das Wachstum dämpfen können


Auch im zweiten Quartal 2017 stand abermals ein kräftiges Plus zu Buche. Um 0,6
Prozent ging es zwischen April und Juni gegenüber dem Vorquartal voran, nach 0,7
Prozent zum Jahresauftakt. Fachleute könnten kaum zuversichtlicher sein, manche
20 gehen sogar davon aus, dass die Wirtschaft in diesem Jahr zum ersten Mal seit 2011
um 2 Prozent oder mehr wachsen könnte.
Dabei gab es in den vergangenen Jahren genug Ereignisse, die das stetige deutsche
Wachstum hätten dämpfen können. Das Brexit-Votum der Briten, der Wahlsieg Donald
Trumps und der drohende Handelsstreit zwischen Amerika und China sind die jüngsten
25 Beispiele. Auch das nachlassende Wachstum in China und Indien, die nicht enden
wollenden Schwierigkeiten in Griechenland oder die unsichere Zukunft der Europäi-
schen Union hätten eigentlich das Zeug dazu, das offene deutsche Wirtschaftsmodell
zu gefährden.

Nur wenig Anzeichen für Überhitzung


30 Warum also ging es stattdessen immer weiter bergauf? Für manche Konjunkturfor-
scher liegt die Ursache in der Natur des aktuellen Wachstumstreibers: des Konsums.
Waren frühere Phasen des Aufschwungs eher von der Exportwirtschaft getrieben, sind
es heute vor allem die privaten Verbraucher, die den Konjunkturmotor am Laufen hal-
ten. Im Gegensatz zu den Unternehmen oder dem Staat passen sie ihr Verhalten
35 weniger stark an wirtschaftliche oder politische Veränderungen an. Das reduziert die
Ausschläge, nach oben wie nach unten. Mit dem Ergebnis, dass der Wachstumspfad
weniger steil angelegt ist, sich dafür aber zuverlässiger entwickelt. Ein Ende des langen
Aufschwungs? Ist nach Einschätzung der allermeisten Ökonomen erst einmal nicht in
Sicht.
40 Gegen einen baldigen Abschwung spricht, dass die deutsche Volkswirtschaft selbst
in ihrem achten Wachstumsjahr noch immer nur leichte Anzeichen einer Überhitzung
zeigt. Dabei müssten gerade in einer Situation mit gut ausgelasteten Kapazitäten, wie
sie derzeit in Deutschland zu sehen ist, die Investitionen deutlich steigen. Von einem
Investitionsboom ist die Wirtschaft aber meilenweit entfernt. Zwar gaben die Unter-
45 nehmen zuletzt wieder mehr Geld für Anlagen, Maschinen, Geräte und Software aus.
Doch im Gegensatz zu früheren Hochphasen steigen die Nettoinvestitionen, die den
Kapitalaufbau einer Volkswirtschaft messen, nach wie vor langsamer als der private
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

Konsum. Hinzu kommt, dass in Zeiten der Hochkonjunktur normalerweise auch die
Löhne und Preise überhitzen - was in Deutschland ebenso wenig zu beobachten ist.

50 Bildung ausbauen und bessere Rahmenbedingungen schaffen


Viel spricht dagegen dafür, dass die deutsche Wirtschaft auch in den nächsten Jahren
weiter wachsen wird. Obwohl noch nie so viele Menschen in Deutschland eine Be-
schäftigung hatten wie heute, bauen die Unternehmen weiterhin Stellen auf. Die Re-
allöhne werden auch in diesem Jahr trotz steigender Preise einen Sprung nach oben
55 machen. Entsprechend hoch wird die Kauffreude der Verbraucher bleiben. Auch sind
deutsche Autos, Maschinen und Chemieerzeugnisse allen Krisen zum Trotz noch im-
mer sehr gefragt, nach einer starken ersten Jahreshälfte deutet sich ein abermaliger
Exportrekord an. Der stärkere Euro, der die heimischen Erzeugnisse im Ausland ver-
teuert, könnte zwar leichte Spuren hinterlassen, ernsthaft bedrohen wird die Aufwer-
oo tung die Exportwirtschaft aber nicht.
Maja Brankovic, www.faz.net, I 7.8.2017

M 2 Wo ist das konjunkturelle Auf und Ab geblieben?

Am deutschen Wirtschaftswachstum gibt es nichts zu meckern. Nicht nur die Exporte


steigen, sondern auch die Importe, was die Konjunktur bei den Handelspartnern stützt.
Immer mehr Menschen gehen einer bezahlten Arbeit nach, die Löhne ziehen an. Und
Firmen investieren mehr. Alles gut so weit.
5 Es sollte aber nicht vergessen werden: Die Früchte des Wachstums verteilen sich
unterschiedlich. Zwar wächst die Erwerbstätigkeit, gleichzeitig liegt der Anteil atypi-
scher Jobs wie Teilzeit oder Leiharbeit unverändert hoch bei einem Fünftel. Immer
weniger Arbeitnehmer sind durch Tarifverträge geschützt. Viele haben wenig vom Auf-
schwung. Die Armutsquote sinkt nicht, auch der Mindestlohn schützt nicht vor Armut.
10 Rund 40 Prozent der einkommensärmeren Haushalte konnten in den vergangenen
Jahrzehnten kaum Zuwächse erzielen. Die reichsten zehn Prozent der Haushalte fah-
ren fast ein Drittel aller Einkommen ein. Ihnen gehören rund zwei Drittel des Vermö-
gens. Die Ungleichheit wächst nicht, aber sie schrumpft auch nicht, trotz Mara-
thon-Aufschwung.
15 All dies kann die Bundesregierung ändern. Wenn sie will. Den Aufschwung, der ihr
zugutekommt, kann sie nicht steuern. Er fällt ihr in den Schoß.

Stephan Kaufman n, Aufschwung nicht für alle, in: Frankfurter Rundschau, 26.8.2017, S. 11

Aufgaben

1. Fassen Sie die Kernaussagen von Maja Brankovic zusammen (M 1).

2. Erläutern Sie, welche Ursachen Maja Brankovic und Stephan Kaufmann für den Auf-
schwung in Deut schland verantwortlich m achen (M 1 und M 2).

3. Nehmen Sie in einem Leserbrief Stellung zum Kommentar von Stephan Kaufmann (M 2).
2. 2. 2 Konjunktur- und Wirtschaftspolitik in Deutschland
Leit fragen Welche wirtschaftspolitischen Wie werden die Ziele Inwiew eit bestehen Zielkonflikte
Ziele werden in der sozialen begründet und und wie können diese gelöst
Marktwirtschaft verfolgt? gemessen? werden?

Welche Ziele verfolgt die deutsche


Konjunktur- und Wirtschaftspolitik?

Verl ief der wirtschaftl iche Wiederau fschwung in konflikten im „magischen Viereck" kommt. Wäh-
Westdeutschla nd nach 1948 zunäc hst relativ rend die Ziele Wirtschaftswachstum und hoher
krisenfrei, flammte mit der erste n Wirtschaftskri- Beschäftigungsstand meist als kompatibel a ngese-
se 1966-67 die Diskussion um die Notwendigkeit hen werden, geht man davon aus, dass Voll be-
staatlicher Ko nj u nkturpol itik neu au f. 1967 ver- schäftigung und Preisniveaustabilität i. d. R. schwer
abschiedete die da malige große Koalition unter gleichzeitig zu erreichen sind. Welchen Zielen Vor-
Federführung des Wirtschaftsprofessors u n d da- rang eingerä umt wird, hängt von den anstehenden
maligen Wirtschafts ministers Karl Sch iller (1966- Problemen ab, aber auch von der wirtschaftstheo-
72) das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und retischen Position sowie von politisch en Präferen-
des Wachstums der Wirtschaft" (Stabilitätsgesetz). zen. Zudem sind im Stabilitätsgesetz Ziele nicht
In ihm wurden in Artikel 1 die Ziele einer staatli- berücksichtigt, die nach 1967 stärker in den Blick-
che n Wirtschaftspolitik fo rmuliert: punkt rückten (,,magisches Vieleck"); so z. B.

,,Bund u nd Länder haben bei ihren wirtschafts- • das Ziel einer gerechten Einkommens- und
und fin a nzpolit ischen Maß nahme n die Erforder- Vermögensverteilung (>Kap. 2.4),
nisse des gesamtwirtschaftlic hen Gleichgewichts • die Reduzierung der zunehmenden Staats-
zu beachten. Die Maßna hmen sind so zu treffen, verschuldung (>Kap. 2.5) und
dass sie im Ra hmen der ma rktwirtsch aftlichen • das Ziel einer umweltverträglichen Wirtschafts-
Ordnung gleichzeitig zur Stabilit ät des Preisni- entwicklung (>Kap. 2.8).
veaus, zu einem hohen Beschäftig ungsstan d und
außenwirtschaftlich em Gleichgewicht bei einem
stetigen und angemessen en Wirtschaftswachstum Das magische Viereck der Wirtschaftspolitik
Angaben für Deutschland
beitrage n."
Wirtschaftswachstum Saldo der Le1stungsb1lanz
1n Prozent m M1lharden Euro

► Z ie l: Angemessenes Wachstum ► Ziel: Außenwirtschattliches Gleichgewicht


+ 1,7 + 1,9 + 260 + 261
,,Magisches Viereck" oder „Vieleck"?

Insgesamt w urden durch das Stabilitätsgesetz vier


stabilitätspolitische Ziele für die deutsche Wirt-
schaftspolitik defi niert, die a uch als „magisches 2012 2013 2014 2015 2016 2012 2013 2014 2015 2016

Viereck" ch arakterisiert werden, da zwischen den


Zielen wechselseit ige Beziehungen und Zielkon-
flikte bestehen. Die Ziele s in d:

• ein stetiges un d a ngemessen es Wirtschafts-


wachstum,
.•,,,,
► Ziel: Vollbeschäftigung

+ 2,0
Ziel: Preisstabilität

iiiii eJ
• ein außen wirtschaftliches Gleich gewicht, + 1,5

• ein hoher Besch äftigu ngssta nd u n d +0,9


+0,5
• ein sta biles Preisniveau. + 0,3

2012 201 3 2014 2015 2016 2012 2013 2014 2015 2016
Die vier Ziele des Stabilitätsgesetzes können nicht •Arbeitslose in % aller zivilen Erwerbspersonen Quelle: Stat. Bundesamt, Deutsche Bundesbank,
C Globus Bundesagentur fur- Arbeit
gleichzeitig erreicht werden, so dass es stets zu Ziel-
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

1. Wirtschaftswachstum als konjunktur- politik angesehen. Wirtschaftswachstum verspricht


politisches Ziel eine Mehrung des gesellschaftlichen Wohlstands,
ermöglicht höhere Einkommen und damit einen
Das wirtschaftliche Wachstum einer Volkswirt- steigenden Lebensstandard, schafft in der Regel
schaft - gemessen am jährlichen prozentualen neue Arbeitsplätze und vergrößert d en Spielraum
Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts - wird staatlicher Aktivitäten durch ein erhöhtes Steuer-
traditionell als zentrales Ziel der Wirtschafts- aufkommen.

Das Wachstums-Klima
Realer Zuwachs oder Rückgang des Bruttoinlands-
produkts (in %)

0
(\j
....

r-.
r,j
00
,...:
Deutschland
in
lt) M
lt)

"'lt)
'
ab 1990: Gesamtdeutschland
BIP bis 1991 in Preisen von 1991
ab 1992: Kettenindex
auf Vorjahrespreisbasis

Quelle: Destatis
1990/91: IAB Stand: 2/2018
Früheres Bundesgebiet :J-
~---------------
· _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ IZAHLENBILDERl-ffi
c Bergmoser + Höller Verlag AG 220000

Ziel einer erfo lgreichen Konjunkturpolitik ist da- nicht gerecht verteilt wü rden, zunehmende öko-
rum die Vermeidung m aterieller Verluste durch logische Schäden (z.B. übermäßiger Wasserver-
Wirtschaftskrisen bzw. ein stetiges Wirtschafts- brauch) durch Wachstum entstünde n und über-
wachstum. Wie hoch ein angemessenes Wirt- flüssiger Konsum gefördert werde (> Kap. 2.8).
schaftswachstum zu veranschlagen ist, ist nicht
eindeutig definiert, zumal hoch entwickelte
Volkswirtschaften langsamer wachsen als solche II. Vollbeschäftigung als konjunktur-
in Entwicklung. Als sinnvoll wird oft ein Wachs- politisches Ziel
tum von mindestens 2 Prozent angesehen, da man
sich davon eine Zunahme von Arbeitsplätzen ver- Arbeitslosigkeit stellt für die Betroffenen eine hohe
spricht. Allerdings fallen die Wachstumsraten in Belastung dar, da sie mit finanziellen Einbußen und
den h ochentwickelten Volkswirtschaften in den persönlichen Einschränkungen verbunden ist.
letzten Jahren im Schnitt eh er geringer aus. Gleichzeitig belastet sie häufig auch die Beziehun-
gen zum gesellschaftlichen Umfeld und kann sogar
Gegen das Ziel des Wirtschaftswachstums wird zu einem Rückzug aus dem gesellsch aftlichen Le-
eingewandt, dass Wirtschaftswachstum auch Ar- ben führen. Gesamtwirtschaftlich gesehen ergeben
beitsp lätze vernichten könne, die Einkommen sich für den Staat aus Arbeitslosigkeit Steuermin-
2.2 Konjunktur- und Wirtschaftspolitik f

Arbeitslosigkeit in Deutschland
1950-2015
1990: Deutsche Einigung 2005:
Arbeits- Arbeits-
~ markt- lose
Rekonstruktion der in Mio
deutschen Wirtschaft Umbau der ost- reform 2009: (Jahres-
1. Ölkrise 2. Ölkrise deutschen Wirtschaft Finanz- durch-
,,Wirtschaftswunder" Globalisierung krise schnitt)
---V--- --V-- -y- T
Eingliederung
der Flüchtlinge - 4-
und Vertriebenen
1973: Stopp
1961: Bau der Arbeitskräfte-
der Mauer anwerbung
---y- -r- 3

Vollbeschäftigung
Anwerbung 2
ausländischer
Arbeitnehmer

k . . . :.J
1-

0
1950 55 60 65 70 75 80 85 90 95 2000 05 10 15 1617
1950-90: früheres Bundesgebiet {bis 1958 ohne Saarland); ab 1991: Deutschland
IZAHLENBILDERl-ffi
e> Bergmoser + Höller Verlag AG 2582/9

dereinnahmen und Beitragsausfälle bei den Sozial- Die Arbeitslosenquote allein ist jedoch nu r von
versicherungen (> Kap. 2.5. 1). Hinzu kommen er- beschränkter Aussagefäh igkeit. Sie erfasst nur ei-
hebliche Kosten durch arbeitsmarktpolitische nen Teil der Erwerbslosen; nämlich die bei der
Maß nahmen wie Lohnersatzleistun gen (Arbeitslo- Agentur fü r Arbeit registrierten Arbeitslosen. Die
sengeld) und Arbeitsbeschaffungsmaßnah men. Zu- Gruppe der nicht registrierten A rbeitslosen wird
dem ist die Binnennachfrage bei hoher Arbeitslo- als „Stille Reserve" bezeichnet. Sie umfasst Perso-
sigkeit geringer als bei einem hohen Beschäfti- nen, die ein e Arbeit suchen, ohne arbeitslos ge-
gungsstand (> Kap. 2.2.3). meldet zu sein : z.B. Jugendliche, die keine Lehr-
stelle gefunden haben sowie weitere Personen, die
Insgesamt kann Arbeitslosigkeit als ein Brachliegen durch länge re Arbeitslosigkeit oder unterbrochene
wirtschaftlicher Ressource n a ngesehen werden. Im Berufstätigkeit den Zuga ng zum Arbeitsmarkt
Stabilitätsgesetz ist darum das Ziel eines hohen Be- verloren haben.
schäftigungsstands, in der öffentlichen Diskussion
griffiger auch als Vollbeschäftigung bezeichnet, Im weiteren Sinne fallen darunter auch alle Per-
festgeschrieben. sonen d ie s ich in arbeitsmarktpolitischen Maß-
nahmen der Bundesagentur fü r Arbeit befinden,
dies wird au ch als „verdeckte" oder „versteckte"
Wie wird Arbeitslosigkeit erfasst? Arbeitslosigkeit bezeichnet. Gelegentlich wird
auch die Kurza rbeit dazu gezählt.
In Deutschland wird die Arbeitslosenquote (AQ)
definiert als A nteil der bei den Arbeitsämtern re- Zur Beschreibu ng der Beschäftigungssituation in
gistrierten Arbeitslosen an den gesamten Erwerb- einem Land zieht man zusätzlich den Indikator
spersonen in Prozent: ,,offene Stellen" heran. Er weist die freien Arbeits-
plätze aus, d ie Unternehmen der Agentur für Ar-
A Q= Registrierte Arbeitslose x lOO O/o beit melden. Aber auch hier gibt es Einschränkun-
Erwerbspersonen gen, den n die Zahl der tatsäch lichen offenen
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Erwerbstätigenquote der 20-64-Jährigen in Deutschland nach Geschlecht von 2000 bis 2016
85%
81,7% 82,1% 82,1% 82,2% 82,3% 82,7%
80,4%
80, 1 % 796%
79,1% '
80% 01 78% 78,6%
77 3°/c 77' 7 /O
76,5% 76,4% 76,5% 76,9% ' 0
75,6%
74,8%
$ 74% 74,2% 73 6% 74,5%
g 75% 73,1 % '
c:r
C
72,5%
Q)
O')
71,3% 71,6%
~ 69,7%
~ 68 7°/c 69•1 % 68 8% 68,7%
! 70% ' 0 ' 68,4% 67,9%
67,8%
w 66,7%

65%

~-...----....
61,6% 61,8% 62%
60,7%
~
60%

+ Männer + Frauen Insgesamt


Quelle: Statistisches Bundesamt • Die Angaben sind vorläufig . © Statista 2018

Stellen ist meist deutlich höher als die der gemel- gleich vo n Arbeitsangebot und -nachfrage am
deten, da die Arbeitgeber keiner Meldepflicht von Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
offenen Stelle n unterliegen.
• Saisonale Arbeitslosigkeit ist bedingt durch
Fü r die Beurteilung des Beschäftigungsstands und Witterungs- und andere jahreszeitliche Einflüs-
die Entwicklung einer Volkswirtschaft ist a uch se, die zu Schwankungen im Arbeitsvolumen
interessant, wie sich der Anteil der Erwerbstätigen führen.
an der Wohnbevölkerung im erwerbsfähigen Alter
(definiert ab 15 Jahren bis zum gesetzlichen • Konjunkturelle Arbeitslosigkeit entsteht bei ei-
Renteneintritt) entwickelt (Erwerbstätigenquote). nem konjunkturell bedingten Rückgang der ge-
Hierbei spielt auch die Höhe der Frauenerwerbs- samtwirtschaftlichen Nachfrage. Sie ist eher
tätigkeit eine große Rolle (> Schaubild: Erwerbs- mittelfristiger Natur und man geht davon aus,
tätigenquote). dass sie im Laufe eines erneuten Aufschwungs
wieder zurückgeht.

Formen der Arbeitslosigkeit • Strukturelle Arbeitslosigkeit ist zurück zu füh-


ren auf Umbrüche in der Wirtschaftsstruktur
Je nach den zugrunde liegenden Ursachen unter- und die sich dadurch verändernden Anforde-
scheidet man folgende Formen der Arbeitslosigkeit: rungen a n die Beschäftigten. Entlassungen in
der Schwerindustrie z.B. laufen parallel zu Ar-
• Friktionelle Arbeitslosigkeit entsteht vorüber- beitskräftemangel in Branchen der Hochtechno-
gehend beim freiwilligen oder auch unfreiwilli- logie. Dadurch entstehen Ungleichgewichte
gen Wechsel des Arbeitsplatzes bis zum Antritt zwischen dem Angebot an Arbeitskräften und
einer neuen Stelle. Sie wird auch als Such- der Nachfrage, ein sogenanntes „mismatch".
arbeitslosigkeit bezeichnet, ist meist kurzfristig Durch den Produktivitätsfortschritt aufgrund
und wird als notwendig betrachtet, um den Aus- des Einsatzes neuer Technologien und durch
2.2 Konjunktur- und Wirtschaf tspolitik f

Rationalisierungsmaßnahmen werden Arbeits- Das deutsche außenwirtschaftliche


plätze abgebaut. Ob bzw. wie weit diese durch (Un-)Gleichgewicht in der Kritik
neu entstehende Arbeitsplätze in anderen Sek-
toren ersetzt werden, ist phasenweise sehr un- Das Ziel des außenwirtschaftlichen Gleichge-
terschiedlich. wichts spielte bis vor einiger Zeit in der wirt-
schaftspolitischen Diskussion in Deutschland eine
eher untergeordnete Rolle. Insbesondere Handels-
III. Außenwirtschaftliches Gleichgewicht als bilanzüberschüsse wurden in der öffentlichen Dis-
konjunkturpolitisches Ziel kussion zumeist als erstrebenswert und als Indiz
für die Leistungsstärke der deutschen Volkswirt-
Im Hinblick auf d ie Frage nach dem „außenwirt- schaft angesehen. Die deutschen Überschüsse
schaftlichen Gleichgewicht", lässt das Stabilitäts- wurden dabei durch eine im internationalen Ver-
gesetz offen, was darunter zu verstehen ist. Als gleich verhaltene Binnennachfrage, geringe
Indikatoren werden in der Regel die Handels- oder Lohnstückkosten und die Mitgliedschaft in der
die Leistungsbilanz genutzt (> Grafik). Als anzu- Währungsunion (unterbleibende Aufwertung der
streben gilt eine mittelfristig ausgeglichene Leis- Währung) begünstigt. Im Ausland wird Deutsch-
tungsbilanz. In der Neufassung des Stabilitäts- land jedoch zunehmend für seine andauernden
und Wachstumspakts der EU von 2011 ist ein großen Handelsbilanzüberschüsse kritisiert.
Frühwarnsystem für wirtschaftliche Fehlentwick-
lungen verankert (> Kap. 5.3.1). Demnach sollte Handelsbilanzüberschüsse entstehen genau dann,
sich das Leistungsbilanzsaldo in den letzten drei wenn der Wert der Exporte aus einer Volkswirt-
J ahren in einem Spielraum zwischen -4 Prozent schaft den Wert der Importe in diese Volkswirt-
und +6 Prozent bewegen. Deutschland hat dieses schaft übersteigen. Umgekehrt spricht man von
Ziel in den letzten Jahren verfehlt, der Leistungs- einem Außenhandelsdefizit. Während ein andau-
bilanzüberschuss lag jeweils über 6 Prozent. erndes Defizit eine zunehmende Auslandsver-

Deutschlands Außenbilanzen
Überschuss{+) bzw. Defizit{-) in Milliarden Euro
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016*
300
H ndelkbilanz 1 1
260,0 261,3
L istunlgsbilanz
250 - - -- - - --- t- --- - -

200

156,1
150 132,8

100 Handelsbilanz:
S~ldo des Warenverkehrs
m,t dem Ausland
50 Leistungsbilanz:
Handelsbilanz + Dienstleis-
tungsbilanz (z B R .
· · e,seaus-
0 gaben) + Saldo der Über-
tra?ungen und Einkommen
zwischen In- und
Ausland
- 50 -37,0

Quelle: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bundesbank ' vorläufig Stand April 2017 ©GloJ~,I
2 Grundlagen der W irtschaftspolitik

schuldung der betroffenen Volkswirtschaft bewir- genwert von Gütern - weniger wert ist. Für Un-
ken ka nn, ka nn ein anda uernder Überschuss ternehmen wi rd die Planu ng des Produktions- so-
wiederum das Wachstum einer Volkswirtschaft wie des Investitionsprozesses erschwert. Im
fördern u nd zur Sicherung von Arbeitsplätzen Extremfall verliert das Geld seine Funktion als
beitragen, dies a ber unter Umständen auf Kosten Wertaufbewahrungsmittel oder gar als Zahlungs-
der defizitären Volksw irtschafte n (> Kap. 2.5.2). mittel.
Darüber hinaus führen Außenhandelsüberschüsse
zu einer wachsenden Abhängigkeit vo n de r inter- Aus diesen Gründen wi rd im Stabilitätsgesetz das
nationalen Wirtschaftsentwicklung. Ziel der Preisniveaustabilität form uliert. Die Eu-
ropäische Zentralbank hat für den Euro die Ziel-
m arke einer Inflationsrate unter, aber nahe zwei
IV. Stabilität des Preisniveaus als Prozen t festgelegt (>Kap. 2.6. 1). Auch eine Defl a-
konjunkturpolitisches Ziel tion - also ein Sinken des Preisniveaus - gilt als
problematisch, weil Unternehmen u nd Konsu-
Mit dem Begriff Inflation wird ein an haltender menten sonst Neuinvestit ionen bzw. größere Neu-
Prozess der Preissteigerungen bezeichnet. Steigen anschaffungen in Erwartung sinkender Preise auf
die Lohneinkomme n und die Sozialleistungen schieben wü rden, was zu einer Absch wächu ng des
nicht in entsprechendem Maße, kommt es für die Wirtschaftswachstums oder gar einer Rezession
Konsu me nten zu einem Verlust an Kaufkraft, da führen kann. Bis vor einigen J ahren spielte die
man für ein bestimmtes Einko mmen nach und Gefahr einer Deflation keine Rolle, d och nach der
nach weniger Waren erhält. Ebenso betroffen vo n Finanzkrise 2007/2008 bestanden im Euro-Rau m
einer Inflation sind Sparer, da ihr Sparguthaben deflationäre Tende nzen.
am Ende des Anlagezeit raums real - also in Ge-

Aufgaben
1 . Geben Sie die vorrangigen Ziele der Konjunkturpolitik in Deutschland wieder.

2. Recherchieren und analysieren Sie die aktuellen Daten zum „magischen Viereck"(, Grafik).

3. Eine Schlagzeile aus der Tageszeitung: ,,Historisch niedrige Inflationsrate - gute Aussichten für die Verbrau-
cher". Setzen Sie sich kritisch mit der Schlagzeile auseinander.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 In der Wirtschaftspolitik geht nichts voran

Achtung, dieser Text kann Ihnen die Laune verderben! Dabei hat Deutschland gerade
beste Laune, wirtschaftlich gesehen zumindest. Es gibt so wenig Arbeitslose wie seit
Jahren nicht mehr, die Steuereinnahmen sind hoch, die Firmen haben zu tun, die Leu-
te kaufen ordentlich ein, nehmen Kredite auf, bauen Häuser. Deutschlands Wirtschaft
5 - so könnte man es sagen - schmeißt eine Party mit Erdbeerbowle.

Doch auf jeder allzu wilden Party gibt es immer einen, der am Ende das Licht anschal-
tet und „Die Party ist vorbei" ruft. In diesem Artikel spielt diese Rolle Giemens Fuest,
der neue Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts lfo in München. Er sagt: ,,Meines
Erachtens ist das größte wirtschaftliche Problem, das wir derzeit haben, der Rückgang
10 des Wachstums. Auch in Deutschland."
Das passt kaum mit dem aktuell guten Gefühl der Deutschen zusammen. Um Fuest
zu verstehen, muss man einen Schritt zurücktreten und nicht nur auf die Arbeitslosen-
zahlen blicken, sondern auf das Wachstum. Die deutsche Wirtschaft ist im vergange-
nen Jahr um 1,7 Prozent gewachsen, für dieses Jahr rechnen die Prognostiker mit 1,6
15 Prozent. Das ist für unsere Verhältnisse nicht schlecht, aber auch nicht berauschend.
[... ]
Die Inflation ist extrem niedrig, und das Wachstum hat sich zwar europaweit wieder
etwas erholt, es gibt auch positive Ausreißer nach oben, aber eben auch Ausreißer
nach unten. Ein Boom in Europa sähe anders aus. 2015 wuchs der Euroraum etwa im
20 gleichen Tempo wie Deutschland: um 1,7 Prozent. [... ]
„Wer sagt, dass wir kein Wachstum mehr brauchen, der denkt oft, er brauche doch
kein zweites oder drittes Auto", sagt Fuest. In Wirklichkeit geht es aber um etwas
anderes: Haben wir teil am medizinischen Fortschritt? Haben wir teil an neuen Formen
der Kommunikation? Und nicht zuletzt hilft Wachstum, Beschäftigung zu schaffen.
25 Viele Länder Europas leiden noch immer unter hoher Arbeitslosigkeit, insbesondere
Jugendarbeitslosigkeit. ,,Es ist inhuman zu fordern, dass das Wachstum aufhören
muss" , findet Fuest. [ ... ]
Doch wie sind wir in die neue Gemächlichkeit hineingerutscht? Zum einen ist sie eine
Folge der Finanzkrise und der Überschuldung, zu der es vorher kam. Seit der Krise
30 wird weniger investiert, weil Staaten überschuldet und Firmenlenker pessimistisch sind
- und weil Unternehmen den Banken nicht mehr so vertrauen wie zuvor. Das drückt
das Wachstum. Aber wenn man noch einen Schritt zurücktritt und nicht nur die ver-
gangenen Jahre, sondern die vergangenen paar Jahrzehnte in den Blick nimmt, dann
sieht man: Der Trend ging auch schon vorher in Richtung Gemächlichkeit. Die lndus-
35 trieländer insgesamt befinden sich schon seit einiger Zeit in einer Phase geringeren
Wachstums. ,,Das Wachstum war zu lange zu langsam", warnte etwa Maurice Obst-
feld, Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, kürzlich.
Giemens Fuest findet, dass gerade auch Deutschland sich Gedanken machen muss.
Denn die Produktion je Arbeiter (die sogenannte Arbeitsproduktivität) stagniert in un-
40 serem Land seit fast zehn Jahren. 2007, vor der Finanzkrise, war sie etwa genauso
hoch wie 2015, zwischenzeitlich war sie sogar gesunken. Das bedeutet, dass das
Wachstum, das wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, nur dadurch entstand ,
dass wir mehr Leute in Arbeit gebracht haben. Jeder zusätzliche Mensch, der arbeitet,
produziert auch etwas zusätzlich. Pro Kopf aber haben wir uns nicht gesteigert. Sprich:
45 Wir haben es nicht geschafft, produktiver und effizienter zu werden.

Lisa Nienhaus, Wirtschaftswachstum: Da geht nichts voran, www.Jaz. net, 15.6.2016


1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 2 Der Fetisch Wachstum

„Die Staats- und Regierungschefs befassen sich bei ihren Treffen, die seit 2008 jährlich
stattfinden, traditionell mit Fragen des Wachstums der Weltwirtschaft"

Endlich wieder wachsen. Das scheint mit Blick auf die Weltwirtschaft der größte
Wunsch der Staat- und Regierungschef_innen zu sein. Im letzten Jahr haben sie sich
5 am 4. und 5. September [2016] in Hangzhou in China versammelt. In ihrem zwölfseiti-
gen Abschlusskommunique taucht der Begriff Wachstum im Sinne von Wirtschafts-
wachstum allein 62 Mal auf.
Den Ausbau des Freihandels und die weitere Deregulierung der Märkte für Güter und
Dienstleistungen ist für die G20* ein wesentlicher Hebel, um Wirtschaftswachstum zu
10 schaffen. Mehr Welthandel, so ihr Credo, führt zu mehr Wirtschaftswachstum. Dabei
ist in den letzten Jahren durch die Zunahme des Welthandels in erster Linie der Güter-
verkehr gewachsen und deutlich langsamer die Güterproduktion. In einer Studie vom
Frühjahr 2016, die im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infra-
struktur erstellt wurde, wird davon ausgegangen, dass die nationalen Gütertransporte
15 bis Ende 2019 nur geringere Zuwächse zeigen werden, aber für „die grenzüberschrei-
tenden Güterverkehre - Versand, Empfang und Durchgangsverkehre von Gütern -
deutlich höhere Wachstumsraten zu erwarten sind." Güter werden also über immer
weitere Strecken transportiert, ohne dass dies insgesamt einen Wohlfahrtsgewinn
ergäbe. Im Gegenteil, die damit einher gehende Naturzerstörung führt zu Wohlfahrts-
20 verlusten. Trotzdem erklären die G20 in ihrem Abschlusskommunique 2016: ,,Wir wer-
den verstärkt am Aufbau einer offenen Weltwirtschaft arbeiten, Protektionismus eine
Absage erteilen sowie Welthandel und weltweite Investitionen fördern, auch durch die
weitere Stärkung des mult ilateralen Handelssystems, und breitgefächerte Möglichkei-
ten, die sich durch mehr Wachstum in einer globalisierten Wirtschaft ergeben, sowie
25 die breite Unterstützung der Öffentlichkeit dafür sicherstellen." [... ]
Die Frage, ob Wirtschaftswachstum überhaupt notwendig ist, um die Probleme der
Welt, also Hunger, soziale Ungleichheit, Naturzerstörung, Krieg, Flucht zu lösen, wird
auf den Gipfeltreffen der G20 nicht gestellt. Und ob Wirtschaftswachstum angesichts
des Klimawandels nicht vielleicht sogar schädlich ist, weil es den Raubbau an der
30 Natur beschleunigt, ist genauso wenig Thema. Die Austeritäts- und Freihandelspolitik
der G20-Staaten wurde und wird immer wieder damit begründet, dass sie Wachstum
und damit Wohlstand für alle schaffe. Eingelöst wurden die Versprechen nicht. Trotz-
dem wird von Seiten der G20 diese Politik nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, je
weniger sie nützt, umso nachdrücklicher werden sie propagiert.

Thomas Eberhardt-Köster••, Die G20 und der Fetisch Wachstum, www.theorieblog.attac.de, 8. I .201 7

• G20-Gruppe: Treffen der Regierungschefs der 20 wichtigsten Volkswirtschaften der Welt(, Kap. 2. 7.3).

** Thomas Eberhardt-Köster für das 1998 entstandene globalisierungskritische Netzwerk Attac.

Aufgaben
1. Geben Sie die Argumente pro und contra Wachstum mit Hilfe von M 1 und M 2 wieder.

2. Erläutern Sie, warum aus der Sicht von Thomas Eberhardt-Köster die thematische
Schwerpunktsetzung der G20 falsch ist (M 2).

3. Erörtern Sie in diesem Zusammenhang die These von Frau Nienhaus, dass die Wachs-
tumsraten in einer alternden Gesellschaft zurück gehen.
2. 2. 3 Wirtschaftspolitische Grundkonzepte
Leitfragen Welche Grundkonzepte prägen Wie unterscheiden sich Welche Instrumente werden
die Wirtschaftspolitik? die Grundkonzepte zur Bekämpfung von konjunk-
voneinander? turellen Schwankungen
vorgeschlagen?

Welche Grundkonzepte prägen die heutige


Wirtschaftspolitik?

In der Wirtschaftstheorie existieren zwei dominie- Gleichgewic ht auf allen Märkten führt (> Kap.
rende Grundkonzepte, a us denen Empfehlungen 2. 1.2), wa r Keynes der Überzeugung, dass es au f
für die staatliche Wirtschaftspolitik abgeleitet dem Arbeits markt zu lä nger a nhalte nder Unterbe-
werden. Zum einen der von John M. Keynes ent- schäftigung kommen kann.
wickelte Keynesianismus und zum anderen der
dazu in Konkurrenz stehende Neoliberalismus. Die Hoffnung, dass bei einem Überangebot an Ar-
Beide unterscheiden sich grundlegend in ihren beitskräften durch ein Fallen der Löhne s ich ein
wirtschaftspolitischen Grunda nnahmen, ihren Lö- Gleichgewicht a m Arbeitsma rkt ergebe, teilte
sungsansätzen und de n daraus ableitba ren Maß- Keynes n ich t, da die Löhne nach unten unflexibel
nahmen sowie ihrer Annahme darüber, welche seien und z udem Lohnsenkungen zu einem Rück-
Wirkung Wirtschaftspolit ik entfalten ka nn bzw. gang de r Konsumnachfrage der privaten Haushal-
soll. Im Grunde t rennt die beiden A nsätze die Fra- te führe. Folglich reichen aus seiner Sicht die
ge, ob Wirtschaftspolitik nachfrage- (Key nesia- Marktkräfte alleine nicht zu r Behebung einer stär-
nismus) oder angebotsorientiert (Neoliberalis- keren Wi rtschaftskrise bzw. zur Beseitigung von
mus) agieren sollte. Arbeitslosigkeit aus. Der Staat solle desh alb eine
aktive Rolle bei der Steuerung des Konjunkturver-
lau fs übe rnehmen.
Die Ursprünge des Keynesianismus - Keynes'
Kritik an der klassischen Wirtschaftstheorie
Was zeichnet eine Wirtschaftspolitik
Unter dem Eindruck der hohen Arbeitslosigkeit nach Keynes aus?
wäh rend der Weltwirtschaftskrise der J930er Jah -
re unterzog der britische Ökonom John M. Keynes Ein e fehlende private Nachfrage kann der St aat
die zu diesem Zeitpunkt vorherrschende klassi- nach Ansich t von Keynes durch eine Erh öhung
sche bzw. neoklassische Wirtschaftsth eorie einer der Staatsausgaben vor allem in Form von staat-
g rundlegenden Kritik. Während diese davon aus- lichen Inv estitionsprogrammen ausgleichen.
geht, dass eine funktio nierende „freie" Ma rktwirt- Durch die Initialzündung höherer Staatsinvestiti-
sch a ft mittel- bis langfristig immer zu einem onen soll ein positiver, sich selbst verstärkender
Wirtschaftsprozess in Ga ng gesetzt werden : Zu-
sätzliche st aatliche Investit ionen schaffen Nach-
frage bei den Unternehmen, diese n ehmen
John M. Keynes
Neuinvest itio nen vor, es entstehen neue Arbeits-
plätze und der Konsum steigt.
John Maynard Keynes
(1883-1946), britischer Eine solche Entwicklung wird in de r Volkswirt-
Ökonom und schaftslehre Multiplikat oreffekt genan nt. Der
Regierungsberater, gilt Multiplikato r bestimmt, wie groß die Wirkung
als Begründer der eines Ausgaben- bzw. Kürzungsprogra mms - als
nachfrageorientierten
wirtschaftlicher Impuls - ausfällt. Folgt man die-
Wirtschaftspolitik.
ser Sichtweise, sollte der Staat eine zum Ko njunk-
turverlauf antizyklische Ausgaben- bzw. Kon-
junkturpolitik betreiben. D.h. wä hrend der Staat
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

in der Rezession die Ausgaben kreditfinanziert Antizyklische Haushaltspolitik


erhöht (,,deficit spending"), sollten im Boom die
steigenden Steuereinnahmen zur Rückzahlung
',F. Konjunkturverlauf
der Staatsschulden oder zur Bildung von Rückla- .5
gen verwendet werden (>Kap. 2.2. !). Q.
äi
V)
Q)
i::,

E
::,
Die keynesianische Wirtschaftspolitik
'lii
.c:
in der Kritik ()

~
Bis etwa Mitte der I 970er Jahre herrschte in den
Wirtschaftswissenschaften die Meinung vor, Staatsausgaben 1Staatseinnahmen
durch eine keynesianische Wirtschaftspolitik
könnten die Ausschläge der Konjunkturzyklen ge- Zeit
glättet und die negativen Folgen einer Depression
abgemildert werden. Seit der Krise 1974/75 und
späteste ns seit der Krise 1981 /82 geriet die keyne-
sianische Wirtschaftspolitikjedoch zun ehmend in Der Neoliberalismus als Gegenreaktion auf
die Kritik. die keynesianische Wirtschaftspolitik

Folgende Punkte werden von den Kritikern immer Die Kritik am Keynesianismus vor allem von
wieder vorgebracht: Vertretern des Neoliberalismus greift im Wesent-
lichen auf die Ideen des klassischen Wirtschafts-
• Unkalkulierbare Wirkungsverzögerungen: libera lismus des I 8. und 19. Jahrhunderts zurück.
Zwischen wirtschaftspolitischen Entscheidun- Der Neoliberalismus fordert ein e weitgehende
gen und ihren Wirkungen können erhebliche Nichteinmischung des Staates in die Wirtschafts-
zeitliche Verzögerungen (time lags) liegen. tätigkeit und vertraut auf die Selbstregulation des
Gründe hierfür sind längerfristige politische Marktes. Entsprechend plädieren die Theoretiker
Entscheidungsprozesse und der Umstand, dass des Neoliberalismus für
getroffene Maßnahmen nicht sofort greifen, was
zur Folge haben kann, dass antizyklische Maß- • eine Einschränkung der Staatstätigkeit,
nahmen zu spät bzw. sogar prozyklisch wirken • einen Abba u bürokratischer Hürden und
könne n. • die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen.

• Ausweitung des staatlichen Sektors: Mit der Diese Positionen entstanden vor allem in Reaktion
keynesianischen Wirtschaftspolitik ist der An- auf die kontinuierliche Ausdehnung der Staats-
teil der Staatsausgaben am BIP deutlich gestie- tätigkeit in den marktwirtschaftlichen Volkswirt-
gen. In Folge dessen stiegen Steuern und Abga- schaften nach dem Zweiten Weltkrieg.
ben.

• Wachsende Staatsverschuldung: Die kreditfi- Milton Friedman


nanzierten Investitionsprogramme führten z u
einem Anstieg der Staatsverschuldu ng, die in Der US-amerikanische
Zeiten einer Hochkonjunktur nicht wieder abge- Wirtschaftsnobelpreis-
baut wurden (>Kap. 2.5). träger Milton Friedman
(1912 - 2006) gilt als
• Eingeschränkte Wirkung: Vor dem Hintergrund einer der einfluss-
z unehmender internationaler wirtschaftlicher reichsten neoliberalen
Ökonomen des
Verflechtungen können Konjunkturprogramme
20. Jahrhunderts.
im nationalen Rahmen nur eine eingeschrän kte
Wirkung entfalten.
2.2 Konjunktur- und Wirtschaftspolitik 1

Wesentlich geprägt wurde der Neoliberalismus Die neoliberale Wirtschaftspolitik


von der „Chicagoer Schule" um Milton Friedman. in der Kritik
Die Schüler von Friedman - die sogenannten
,,Chicago Boys" - erlangten seit den 1980er Jah- Aus Sicht der Kritiker ist es zweifelhaft, ob eine
ren hohe Positionen in internationalen Wirt- neoliberale Austeritätspolitik und somit der Ab-
schaftsinstitutionen und gewannen großen Ein- bau der Staatsverschuldung zu einem konjunktu-
fluss als wirtschaftspolitische Berater. Eine rellen Neuaufschwung führen kann. Sie weisen
wichtige Rolle spielten sie im Transformations- darauf hin, dass eine Einschränkung des Staats-
prozess der mittel- und osteuropäischen Volks- konsums im Gegenteil Abschwungtendenzen ver-
wirtschaften, aber auch als Berater der totalitären stärken könnte und die Staatsverschuldung ge-
Pinochet-Regierung in Chile. messen als Prozentanteil am BIP dann sogar
zunehmen würde. Die wirtschaftliche Entwick-
Der Begriff Neoliberalismus wird seit den l 990er lung nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 so-
Jahren über die Wirtschaftswissenschaften hinaus wie in Griechenland in Folge der Eurokrise ab
als eine Leitidee verstanden, die w irtschafts- und 2010 gelten hierfür als Beispiel.
sozialpolitische Entscheidungen sowie die Ausge-
staltung des Globalisierungsprozesses wesentlich Weiter wird krit isiert, dass Sparmaßna hmen über-
prägte (>Kap. 2.7). wiegend den Sozialsektor (als den in der Regel
größten Posten der Staatsausgaben) betreffen.
Eine erfolgreiche neoliberale Wirtschaftspolitik
Was kennzeichnet eine neoliberale sei dementsprechend gleichbedeutend mit dem
Wirtschaftspolitik? Abbau der sozialen Sicherungssysteme sowie
der Einschränkung von über Jahrzehnte ge-
Im Zentrum der Kritik des Neoliberalismus am- wachsenen Arbeitnehmerrechten. Staatliche Re-
Keynesianismus steht die Rolle des Staates. Volks- gulierungen wie Mindestlöhne und Arbeitszeitre-
wirtschaftliche Instabilitäten werden hauptsäch- gulierungen werden in der Angebotstheorie als
lich auf zu starke staatliche Eingriffe in den Kostenfaktor für die Unternehmen betrachtet und
Wirtschaftsprozess zurückgeführt. Diese bewirken nicht als soziale Schutzmechanismen. Auch wird
einen Rückgang der privaten Investitionen und die Höhe der Löhne in der Angebotstheorie allein
sind somit verantwortlich für Unterbeschäftigung. unter Kostenaspekten betrachtet.
Durch eine zu starke staatliche Regulierung werde
die Eigeninitiative der Wirtschaftssubjekte ge- Ausgeblendet wird zudem, so die Kritiker, dass die
bremst und die Anforderungen an den Staat näh- Höhe der Löhne ein wesentliches Element der
men überhand; zudem drohe der Staat zur „sozi- Nachfrage bilde (Kaufkraftargument) und stei-
alen Hängematte" zu werden. Aus Sicht des gende Gewinne bei stagnierender Nachfrage nicht
Neoliberalismus ergeben sich daraus folgende automatisch in Investitionen flößen, sondern zu
wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen: einem Abbau von Arbeitsplätzen führen würden.
Die Angebotspolitik führe so insgesamt zu einem
• die Rückführung der Staatsquote und Senkung Abbau des Sozialstaats, zu einer ungerechteren
der Steuern, Einkommensverteilung, zu einer Schwächung der
• der Abbau der Staatsverschuldung (Austeritäts- Position der Gewerkschaften und entsprechend
politik), einer Stärkung der Position der Unternehmer.
• die Privatisierung bisher staatlich organisierter
Bereiche,
• die Rücknahme der zu starken staatlichen Regu- Nachfrage- und Angebotspolitik im Vergleich
lierung des Wirtschaftsprozesses (Deregulierung),
• die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Die neoliberale Wirtschaftstheorie bezieht sich in
die unternehmerische Tätigkeit z.B. durch Steu- ihren Überlegungen vorrangig auf die Bedingun-
ersenkungen und gen, unter denen das Angebot in einer Volkswirt-
• den Vorrang der Geldpolitik gegenüber der schaft entsteht bzw. mit anderen Worten: auf das
staatlichen Finanzpolitik, so dass das Ziel der Umfeld für die unternehmerischen Tätigkeiten
Preisstabilität an Wichtigkeit gewinnt. bzw. für den privaten Investitionsprozess. Von da-
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

her werden die daraus abgeleiteten wirtschaftspo- Betrachtungen, ob u nd inwieweit eine ausrei-
litischen Empfehlungen als Angebotspolitik be- chende Nachfrage in einer Volkswirtschaft be-
zeichnet. In den keynesianisch orientierten steht, entsp rechend werden Empfehlungen dieser
Theorieansätzen steht dagegen im Zentrum der Art als Nachfragepolitik bezeich net.

Nachfrage- und Angebotspolitik im Vergleich

1. Geldmenge ist entscheidend für die


Nachfrageschwankungen als Auslöser Grund- Produktion

von Krisen annahme 2. Rentabilität der Produktion bestimmt
das Wachstum

Stärkung des gesamtwirtschaftlichen


Nutzung des Staatshaushalts zur Stärkung +- Lösungs- ➔ Angebots durch Verbesserung der Produk-
der Gesamtnachfrage ansatz tionsbedingungen und Anpassen der
Geldmenge an die Realwirtschaft

• Erhöhung des Staatskonsums durch • Verrringerung der Staatsausgaben / des


öffentliche Ausgabenprogramme (Aus- Staatskonsums
gaben für lnfrastrukturmaßnahmen etc.)
• Ausweitung des privaten Sektors und
• Schaffung verbrauchsfördernder konkrete Deregulierung zur Flexibilisierung und
Rahmenbedingungen (Senkung v. +- Maßnahmen ➔ Innovation der Produktion
Steuern; Zuschüsse zu Konsummaßnah-
men) • Abschaffung von Mindestlöhnen
• Anreize zur Förderung von Investitionen • Schaffung von angebotsfreundlichen
der Unternehmen Rahmenbedingungen

• Kurzfristige Beseitigung von Gleichge-


wichtsstörungen ;--+ Mittel- bis längerfristige Beseitigung
• Staatliche Nachfragen als „Initialzün-
+- Wirkung
gleichgewichtsstörender Auslösefaktoren
dung"

Nach: Bankenverband (Hrsg.), SCHUL/BANK Schule und Wirtschaft, Lehrermappe Wirtschaft, 2014, S. 60

Die Konzepte in der Praxis

Die lange wirtschaftliche Aufschwungphase nach In den USA und Großbritannien wurde die Aus-
dem Zweiten Weltkrieg bas ierte aus keynesiani- weitung des Finanzsektors sowie die Zurücknah-
scher Sicht auf der Ausdehnung des Massenkon- me des Staates aus dem Wirtschaftsprozess in den
sums bedi ngt durch das Wachstum der Kaufkraft l 980er J ahren von Ronald Reagan und Margaret
auch der Arbeiter und Angestellt en. Dieses Wachs- Thatcher gefördert und die Gewerksch aften ge-
tumsmodell stieß jedoch Mitte der J970er Jahre an schwächt. Im Gegensatz dazu fußte das deutsche
Grenzen. In den l 980er Jahren löste der Neolibe- System la nge au f der traditionelle n Zusammenar-
ralismus den Keynesianismus von daher als do- beit zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber-
minierende Wirtschaftstheorie ab. Zusammen verbänden; Unternehmen finanzierten sich tradi-
mit der Liberalisierun g des Welthandels führte tionell eher über Bankkredite (i. d. R. bei ihrer
dies zu einer zu nehmenden Fina nzialisierung und ,,Hausbank") und der Finanzsektor spielt eine ge-
Globalisierung der Wirtschaft. ringere Rolle. Bedeutend für die Wirtschaft in
Deutschla nd waren neben den Banken die indus-
Mit dem Beg riff der Finanzialisierung wird eine triellen Großkonzerne sowie eine breite Palette
immer stärkere Ausdehnung des Fina nzsektors - industrieller mittelstä ndischer Unternehmen. In
auch befördert durch politische Entscheidungsträ- der Zeit der rot-grünen Bundesreg ierung unter
ger in verschiedenen Staaten - im Vergleich zu der Gerha rd Schröder (1998-2005) setzte j edoch auch
industriellen Produktion (der „Realwirtschaft") in Deutschland eine zunehmende Finanzialisie-
gekennzeichnet. rung der Wirtschaft ein.
2.2 Konjunktur- und Wirtschaf tspolitik f

Krisenpolitik zwischen Keynesianismus und schuldung aufg rund der kreditfi nanzierten Pro-
Neoliberalismus? gramme erheblich anwuchs (z.B. in Spanien und
Irland).
Die weltweite Finanzkrise 2007 /08 stellte einen
starken Einschnitt in der konjunkturellen Ent- Seit Beginn der Eurokrise dominieren hingegen
wicklung der letzten Jahrzehnte dar. Als Aus- die Instrumente der neoliberalen Wirtsch aftspo-
gangspunkt der Finanzkrise werden der Zusam- litik. Die in Europa beschlossenen Maßnahmen
menbruch des Immobilienmarkts in den USA und zur Eindämmung der Staatsschuldenkrise bzw.
die da mit verbundene Pleite der Investmentbank Eurokrise fußen im Wesentlichen auf diesem Kon-
Lehman Brothers benannt. Diese Ereignisse stehen zept (>Kap. 5), so z.B. die Einführung der Schul-
in einem direkten Zusammenhang mit der in den denbremse im Europäischen Fiskalpakt sowie die
J980er Jahren einsetzenden neoliberale n Wende Reformprogra mme, die den hoch verschuldeten
der Wirtschaftspolitik in den e ntwickelten Volks- Eurostaaten (Griechenland, Irla nd, Portugal) vor-
Volkswirtschaften, insbesondere der Ausdehnu ng geschrieben wurden.
des Fina nzsektors.

Infolge der Finanzkrise kam es zu einem in diesem Klotzen statt Kleckern:

Maße nicht erwarteten Rückgang der Produktion. Konjunkturprogramme im Vergleich


Staatliche Mittel im Kampf gegen die Wirtschaftskrise
Die Schärfe der Krise und ihre Auswirkungen wur- in % des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts 2008, ausgewählte Länder
qJ-?
den verglichen mit der Weltwirtschaftskrise 1929. ,(),~
In Deutschland ka m es z.B. 2009 zu einem Rück-
gang des BIP um 5,6 Prozent (>Ka p. 2.2.2).
+
In der öffentlichen Diskussion verstärkte sich da-
raufhin dieKritik an neoliberalen wirtschaftspo-
litische n Positionen. Ihre Vertreter wurden für die
Krise mitvera ntwortlich gemacht. Gleichzeitig
leistet en keynesianisch fundierte Konjunktur-
programme einen Beitrag zur Stabilisierung der
wirtschaftlichen Entwicklung, füh rten jedoch
a uch dazu, dass in v ielen Staaten die Staatsver-

Aufgaben

1 . Ordnen Sie die folgenden Thesen begründet der angebotsorientierten oder der nachfrageorientierten
Position zu:
- Der Staat sollte nicht in den Wirtschaftsprozess eingreifen.
- Der Staat sollte Maßnahmen gegen konjunkturelle Arbeitslosigkeit ergreifen.
- Antizyklische Konjunkturpolitik erhöht die Staatsverschuldung und überfordert den Staat.
- Mehr Wachstum führt nicht unbedingt zu mehr Beschäftigung.

2. Recherchieren (, Methodenglossar) Sie Aussagen der im Bundestag vertretenen Parteien zur Wirtschafts-
politik und ordnen Sie diese der Angebots- bzw. Nachfragepolitik zu.

3. Überprüfen und diskutieren Sie, ob bei den untersuchten Parteien eine der wirtschaftspolitischen Konzeptio-
nen überwiegt.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Die Regierung soll sich nicht einmischen, sondern den Rahmen schaffen

In den vergangenen Jahrzehnten sind die Begriffe „Vollbeschäftigung" und „Wirt-


schaftswachstum" für die Regierung zu erstklassigen Entschuldigungen geworden,
sich immer mehr in wirtschaftliche Angelegenheiten einzumischen. Eine Wirtschaft des
freien Unternehmertums, so sagt man, sei von Natur aus unstabil. Sich selbst überlas-
s sen, schaffe sie abwechselnde Zyklen von Boom und Bankrott. Die Regierung müsse
also einschreiten, um einen sicheren Kurs zu steuern. [... ]
Wenn die Privatausgaben aus irgendeinem Grund sinken, so sagt man, müssten die
Staatsausgaben steigen, um die Gesamtausgaben stabil zu halten; umgekehrt: Wenn
die Privatausgaben steigen, sollten die Staatsausgaben sinken. UnglückHcherweise ist
10 das Steuerrad nicht ausgewuchtet.

Jede Rezession, so gering sie auch sein mag, lässt die politisch schreckhaften Ge-
setzgeber und Regierungsbeamten in ihrer ewigen Angst erschauern, sie könnte viel-
leicht ein Vorbote eines neuen 1929/33 sein. So beeilt man sich, staatliche Ausga-
ben-Programme in der einen oder anderen Art auszuarbeiten. Viele dieser Programme
15 treten dann tatsächlich erst in Kraft, nachdem die Rezession vorüber ist. [...]

Was wir dringend für eine stabile und wachsende Wirtschaft brauchen, ist eine redu-
zierte, nicht eine vermehrte Einmischung der Regierung.
Eine solche Reduzierung würde der Regierung immer noch eine bedeutende Rolle auf
diesem Gebiet überlassen. Es ist vor allem wünschenswert, dass die Regierung einen
20 festen Geld- und Finanzrahmen für die freie Wirtschaft liefert - als einen Teil ihrer Funk-

tion, einen festen gesetzlichen Rahmen zu schaffen. [...]


Für die Finanzpolitik wäre das angemessene Gegenstück zur oben aufgestellten Regel
für die Geldpolitik eine Planung von Ausgabenprogrammen, die sich ganz und gar nach
dem ausrichtet, was die Allgemeinheit lieber mit Hilfe des Staates tun will als privat.
25 Dabei dürfte keine Rücksicht auf die Probleme der von Jahr zu Jahr verschiedenen

wirtschaftlichen Stabilität genommen werden. Die Steuerquoten müssten danach aus-


gerichtet werden, genügende Einnahmen für die geplanten Ausgaben zu haben, und
zwar im Mehrjahresdurchschnitt, wiederum ohne Rücksicht auf die jährlichen Schwan-
kungen in der wirtschaftlichen Stabilität. Vor allem müssten erratische Schwankungen
30 bei Staatsausgaben oder den Steuern vermieden werden.

Milton Friedman, Kapitalismus und Freiheit, 1976, übersetzt von Paul C. Marti, S . 62J, BOJ, 108

Aufgaben

1. Fassen Sie die Ausführungen von Friedman zusammen.

2. Analysieren Sie die Argumentation von Friedman aus einer keynesianischen Perspektive.

3. Erörtern Sie vor diesem Hintergrund das Für und Wider eines „starken Staats" in der Wirt-
schafts- bzw. Konjunkturpolitik.
• Strukturwandel und Arbeitsmarkt
2.3.1 Wirtschaftsstrukturen im Wandel

Leitfragen Was bedeutet wirtschaftlicher Welche Auswirkungen hat der Wie kann der Staat den
Strukturwandel? Strukturwandel? Strukturwandel beeinflussen
und sollte er das tun?

Was bedeutet Strukturwandel, Dimensionen des Strukturwandels


was treibt ihn an?
Im Wesentlkhen lassen sich drei Dimensionen
Seit Beginn der industriell en Revolution haben beim Strukturwandel der Wirtschaft unterscheiden:
laufend Veränderungen in der Wirtschaft stattge-
funden; so der Übergang von der Agrar- zur In- 1. Intersektoraler Strukturwandel: Damit ist der
dustriegesellschaft gegen Ende des 19. Jahrhun- Übergang von einer Agrar- in eine Industriege-
derts und in den letzten Jahrzehnten der Übergang sellschaft und seit Mitte des letzten J ahrhun-
von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. derts in eine Dienstleistungsgesellschaft ge-
Als Motor dieser Entwicklung gilt der technische meint. Mittlerweile sind die Beschäftigten
Fortschr itt, durch den Produkte, Produktionsver- überwiegend in den Dienstleistungsbranchen
fah ren, Arbeitsbedingungen u nd auch das Kon- bzw. im Informationssektor tätig. Besonders
sumverhalten verändert werden. Diese Innovatio- expa nsiv entwickeln sich Gesundheitsdienst-
nen werden durch den Wettbewerb der Unter- leistungen und unternehmens nahe Dienstleis-
nehmen vorangetrieben, wodurch alte Berufe ver- tungen wie Werbung, Finanzierung und Kun-
schwi nde n und neue entstehen, erworbenes Wis- denservice. Die letzten Beispiele zeigen jedoch
sen und Können veraltet und somit stetig erneuert auch, dass Industrie und Dienstleistungen eng
werden muss. miteinand er verzahnt sind.

Erwerbstätige in Deutschland 2017 nach Wirtschaftsbereichen (in 1.000)

8.169 ■ Produzierendes Gewerbe (ohne


Baugewerbe

31,5%
2.493 Baugewerbe
617 Land- und Forstwirtschaft, Fischerei
478 Grundstücks- und Wohnungswesen
Erwerbstätige 2017: 1.162 Finanz- und Versicherungsdienstleister
ca. 44,28 Mio
1.279 Information und Kommunikation
6.049 Unternehmensdienstleister
10.087 ■ Handel, Verkehr und Gastgewerbe
13.942 Öffentliche und sonstige private
13,7%
Dienstleister

Quelle: Statistisches Bundesamt


1 2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

2. lntrasektoraler Strukturwandel: A uch inner- Geschehen ein. Zwar gilt das für die marktw irt-
halb der großen Wirtschaftssekto ren - Agrar, schaftliche Ordnung ko nstitutive Prinzip, dass der
Industrie, Dienstleistun gen und Information - Strukturwandel von den Wirtschaftsakteuren
finden strukturelle Veränderungen statt. Ein- selbst zu bewältigen ist; soziale Härte n für Indivi-
zelne Bra nchen schrumpfen oder verschwin- duen, Unternehmen oder Regionen sollen aber
den, andere wachsen. In der Industrie- durch staatliche Eingriffe au fgefangen werden
produktion übernehmen Maschinen gefährli- (>Kap. 2.1.3). Gesetzliche Grundlage dafü r sind die
che, schwere oder belastende Arbeiten. Auch Art. 72, Abs. 2 und Art. 106 des Grundgesetzes,
die Nachfrage nach Arbeitskräften wandelt welche den Staat zur „Herstellung gleichwertiger
sich: gut qualifizierte Arbeitskräfte werden Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" verpflichten.
mehr nachgefragt, während es immer weniger
Arbeit für gering Qua lifizierte gibt. Die strukturpolitischen Instrumente des Staates
sind v ielfältig: Zur Steuerung der Regionalstruk-
3. Regionaler Strukturwandel: In einzelnen Re- tur dient vo r allem der Ausbau der Infrastruktur
gione n verändern sich die wirtschaftlichen (Stra ßen, Na hverkehr, Bildungseinrichtungen,
Strukturen besonders stark mit zum Teil ein- Kommunikation) sowie die Förderung von Unter-
schneidenden Konsequenzen für den Arbeits- neh mensgründungen. Zur Steuerung sektoraler
markt. Anschau liche Beis piele hierfür sind die Anpassungsprozesse betreibt der Staat Arbeits-
Entwicklung im Ruhrgebiet und in Ostdeutsch- ma rktpolitik, Subventions-, Technologie- und
land seit der Wiedervereinigung. Gerade das Forschungspolitik. Neben der Strukturpolitik des
Ruhrgebiet wandelt sich mit dem Niedergang Bundes und der Länder ist die Strukturpolitik der
des Bergbaus und der Montanindustrie von ei- EU immer wichtige r geworden. Mit der Kohäsi-
ner Schwerindustrieregion in ein Zentrum für onspolitik der EU sollen stru kturschwache Regio-
hochtechnologische Industrien (z.B. im Um- nen innerha lb der EU finanziell unterstützt wer-
weltschutzbereich) und moderne Dienstleistun- den (>Kap. 5.1 ).
gen.
Wie stark der Staat in den Strukturwa ndel eingrei-
fen sollte, ist dabei umstritten. Vor allem Erhal-
Der Aufstieg des Informationssektors tungssubventionen (z. B. im Kohlebergbau) wer-
den als ma rktwirtschaftlich bedenklich betrachtet,
In den letzten J ahrzehnten erweist sich der Infor- weil sie notwend ige Strukturanpassungsprozesse
mationssektor weltweit als Triebkraft der wirt- verhindern oder verzögern können. Ebenso wird
schaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. staatliche Industriepolitik bzw. die Förderung vo n
Im weiteren Sinne fasst man unter dem Informa- Zukunftstechnologien kontrovers beurteilt, da da-
tionssektor Branchen zusammen, in denen Kom- durch unternehmerische Risiken auf den Staat
munikat ionstechnologien und Informatio ns- übertragen werden.
dienstleistungen a ngeboten werden, also alle
Branchen, die sich mit der Erstellung, Verarbei-
tung und dem Verkauf vo n Info rmationen (Daten Beispiele staatlicher Strukturpolitik
und Wissen) im weitesten Sinne beschäftigen.
Wegen der h erausragenden Bedeutung vo n Infor- Die Probleme staatlicher Strukturpolitik zeigen
matio nen und Kommunikation wird die gegen- sich anschaulich im „Aufbau Ost", in welchen der
wärtige Phase der Entwicklung auch als Wissens- Staat seit 1990 über 1,4 Billionen Euro für stru k-
gesellschaft bezeichnet. In ihr gelten Wissen und turpolitische Maßnahmen investiert hat. Mit dem
Informationen als die zent ra len Ressourcen. ersten Solidarpakt (seit 1995) wurden die neuen
Lä nder in den bundesstaatlichen Finanza usgleich
einbezogen. Bund und Länder unterstützten mit
Welche Rolle spielt der Staat dem Solidarpakt den Abbau der teilungsbedingte n
beim Strukturwandel? Sonderlasten der ostdeutschen Länder (einschließ-
lich Berlins). Der 2001 vereinba rte Solidarpakt II
In Deutschland greift der Staat über Konjunktur- sichert die Fortsetzung der u rsprüng lich bis 2004
und Strukturpo litik aktiv in das wirtschaftliche beschlossenen Förderung bis zum Jahr 2019. Mit
2.3 Strukturwan del und Arbeitsmarkt f

ihm stellte der Bund den neuen Ländern weitere ren kann die Produktion aber auch bei gleicher
156,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Im Koaliti- Beschäftigtenzahl um die dem Produktivitätsfort-
onsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD von schritt entsprechende Menge erhöht werden. Die
2018 wurde eine schrittweise Abschaffung des Frage ist, ob die Unternehmen die zusätzliche
Solidaritätszuschlags beschlossen. Trotz eines in Menge auf dem Markt auch absetzen können.
der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen
fina nziellen Kraftakts, bleiben die struktur- Gesamtwirtschaftlich ergibt sich daraus verallge-
schwächsten Regionen mit der höchsten Arbeits- meinert folgende Rechnung : Steigt die Produkti-
losigkeit j edoch nach wie vor im Osten v ität schneller als das BIP, werden Arbeitsplätze
Deutschlands zu finden. vernichtet, steigt die Wachstumsrate des BIP
schneller, werden neue Arbeitsplätze geschaffen.
Als ein aktuelles Beispiel für staatliche Struktur-
politik gilt die Förderung der „Industrie 4.0".
Doch gerade hier stellt sich die Frage: Werden
du rch die Digitalisierung der Produktion nicht
viele Arbeitsplätze vernichtet? Industrie 4.0
„ Industrie 4.0" ist ein Marketingbegriff [... ] der
deutschen Bundesregierung. Die sog. vierte indus-
Vernichtet der technische trielle Revolution, auf welche die Nummer verweist,
Fortschritt Arbeitsplätze? zeichnet sich durch Individualisierung (selbst in der
Serienfertigung) bzw. Hybridisierung der Produkte
Besonderen Einfluss hat der technische Fortschritt (Kopplung von Produktion und Dienstleistung) und
auf den Arbeitsmarkt, da alte Berufe verschwin- die Integration von Kunden und Geschäftspartnern
den und neue entstehen können. Inwieweit durch in Geschäfts- und Wertschöpfungsprozesse aus.
Wesentliche Bestandteile sind eingebettete Syste-
den tech nischen Fortschritt Arbeitsplätze geschaf-
me sowie (teil-)autonome Maschinen, die sich ohne
fen oder vernichtet werden, hängt in besonderer menschliche Steuerung in und durch Umgebungen
Weise davon ab, wie die Unternehmen den damit bewegen und selbstständig Entsc heidungen tref-
verbundenen technischen Fortschritt nutzen. fen, und Entwicklungen wie 3D-Drucker. Die Ver-
netzung der Technologien und mit Chips versehe-
So kann zum ei nen die Produktion bei gleicher nen Gegenstände resultiert in hochkomplexen
produzierter Menge rationalisiert we rden, d. h. es Strukturen und [... ] im Internet der Dinge.

können Arbeitsplätze eingespart werden - und Oliver Bendel, Stichwort: Industrie 4. 0, in: Gabler
Wirtschaftslexikon, Abruf am 20. 12.2017
damit auch Kosten für Unternehmen. Zum ande-

Aufgaben
1. Recherchieren (, Methodenglossar) und beschreiben Sie Beispiele für einen Strukturwandel in Ihrer Region.

2. Erläutern Sie, inwieweit man den Ausbau einer Autobahnstrecke in einer Region als strukturpolitische
Maßnahme betrachten kann.

3. Erörtern Sie, inwieweit der technische Fortschritt zur Vernichtung von Arbeitsplätzen führen kann.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Wie viele Jobs kostet die digitale Revolution?

Vor drei Jahren verfasste Carl Benedikt Frey, Professor für Volkswirtschaftslehre an der
Universität Oxford, gemeinsam mit seinem Kollegen Michael Osborne eine Studie mit
dem Titel „Die Zukunft der Beschäftigung" und der sinngemäßen Anschlussfrage, wie
leicht Arbeitsplätze durch Digitalisierung und Automatisierung ersetzt werden können.
5 [ ••• ]

Dabei zeichneten sich nicht wie bei den lndustrialisierungsschüben der Vergangenheit
nur die Geringqualifizierten als Verlierer ab. Diesmal drohen auch Beschäftigte der
Mittelschicht unter die Räder der Modernisierung zu geraten. Vom einfachen Anwalt
bis zum technischen Assistenten durfte sich niemand mehr sicher sein, von der tech-
10 nischen Arbeitslosigkeit nicht erwischt zu werden, die schon John Maynard Keynes

beschrieben hat. [ ... ]


Vor allem eine Zahl breitete sich erst in wissenschaftlichen Zirkeln, später in den Mas-
senmedien wie ein Lauffeuer aus: 47 Prozent der Amerikaner sind einem hohen Risiko
ausgesetzt, ihren Arbeitsplatz an einen Roboter oder Algorithmus zu verlieren. Politiker,
15 Gewerkschafter und Beschäftigte rund um den Globus bekamen es mit der Angst zu

tun. Führt der Einsatz von künstlicher Intelligenz und vernetzter Maschinen zu einer
neuen Welle der Massenarbeitslosigkeit, nachdem sich die Arbeitsmärkte in den meis-
ten Industrieländern gerade langsam von den Folgen der Finanzkrise erholten?
Anschlussstudien schossen wie Pilze aus dem Boden, Regierungen wollten wissen,
20 was in ihrem Land infolge der Digitalisierung droht. [... ] Für die einen haben Frey und

Osborne damit die wichtigste technisch-ökonomische Debatte der Gegenwart ange-


stoßen, andere sprechen von reißerischen Thesen, die unnötige Ängste schüren.[ ... ]
Auf die Frage, wie seine Forschungsergebnisse über Digitalisierung seine eigene Arbeit
verändert haben, antwortet er mit einem Schmunzeln: ,,Ich lese meinen Namen öfters
25 in der Zeitung, und ich reise ein bisschen mehr."[... ] Etwas ernsthafter fügt er an, dass

sich die Art des Einflusses ändert, ,,weil du viel eingeladen wirst und die Chance be-
kommst, viele Leute zu treffen und zu beraten". Tatsache ist, dass Freys Rat äußerst
gefragt ist. Ob bei den Vereinten Nationen und der OECD oder Konzernen wie Telef6ni-
ca, Deloitte oder PWC - überall will man wissen, welche Welle aus den Laboren und
30 Entwicklungszentren der Welt auf uns zurollt.

Im Weißen Haus war Frey allerdings noch nicht. Dessen künftiger Bewohner Donald
Trump will viele neue Jobs schaffen und könnte eigentlich fachmännischen Rat gut
gebrauchen. Viel Ermutigendes hätte der Oxford-Ökonom dem neuen Präsidenten
jedoch nicht zu sagen. Selbst wenn durch Digitalisierung und Protektionismus die
35 Produktion wieder in amerikanische Fabriken zurückkehren sollte - der Beschäfti-

gungsmotor früherer Tage werde sie nie wieder werden, sagt Frey. Als Beispiel führt er
an, dass die drei größten Unternehmen in Detroit 1990 zusammen auf einen Umsatz
von rund 250 Milliarden Dollar kamen und auf 1,2 Millionen Beschäftigte. Die drei
Größen des Silicon Valley erzielten 2014 ebenfalls fast 250 Milliarden Dollar Umsatz -
40 mit 137 000 Mitarbeitern.

,,Trump wird es nicht schaffen, die Fabrikjobs zurückzubringen". Er könne nur versu-
chen, den Wandel zu managen. Wer in Detroit oder Cleveland seine Arbeit verliere,
müsse flexibel und mobil genug sein, um anderswo in neuen Branchen arbeiten zu
können. Dazu müssten günstigere Häuser und Wohnungen in Ballungszentren ge-
4s schaffen werden, auch Umsiedlungshilfen hält Frey für sinnvoll.
Es habe sich - nicht nur in Amerika - in einigen Bevölkerungsschichten gehöriger Un-
mut angestaut, da Menschen das Gefühl hätten, dass sie von neuer Technologie nicht
profitierten und nicht daran teilhaben könnten [... ]
Und was rät der Zukunftsforscher der Arbeit angesichts des rasenden technologischen
so Wandels für die Berufswahl? Da habe sich gar nicht so viel verändert, glaubt Frey, der
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

sein Alter übrigens trotz seiner Medienpräsenz erfolgreich geheim hält und den man
spontan irgendwo in den späten Vierzigern verorten würde. Junge Menschen sollten
herausfinden, worin sie gut sind und was ihnen Spaß macht. Informatiker zu werden
sei aber vom heutigen Standpunkt aus betrachtet ein ziemlich sicherer Weg. Da es
55 aber keine Welt nur aus Informatikern geben könne, böten sich noch viele Gebiete an,

auf denen die Menschen auf absehbare Zeit den Maschinen noch überlegen seien:
Kreativität, soziale Intelligenz und Wahrnehmung. Die Frey/Osborne-Liste könne bei
der Berufswahl mit Sicherheit auch eine Rolle spielen. Taugt sie als einziges Kriterium
für die Karriereplanung? ,,0 mein Gott", sagt der Schwede und ächzt, ,,bestimmt
so nicht".
Sven Astheimer, www.Jaz.net, I 8. I I.2016

M 2 Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus

Trotz Robotern: In den kommenden Jahren wird der Mangel an Arbeitskräften noch
größer, sagt eine neue Untersuchung. Nur eine Berufsgruppe wird nicht profitieren.

Deutschland droht trotz der voranschreitenden Automatisierung ein immer größerer


Engpass an Arbeitskräften. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Wirtschaftsprü-
5 fungsgesellschaft PWC und des Darmstädter Wirtschaftsforschungsinstituts Wifor,

wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung exklusiv berichtet.


Der Untersuchung zufolge werden dem Arbeitsmarkt im Jahr 2030 rund 3,5 Millionen
Menschen weniger zur Verfügung stehen als heute. Der digitale Wandel und die damit
verbundene Produktivitätssteigerungen reichen demnach nicht aus, um die Lücke zwi-
,o sehen Arbeitskräftenachfrage und -angebot zu schließen: Nur zwei von potentiell vier
Millionen fehlenden Arbeitskräften könnten so kompensiert werden.
Die Studie untersucht die Auswirkungen des demographischen Wandels in Deutsch-
land auf Qualifikationen, Berufsgruppen und Branchen bis zum Jahr 2030. Der Kampf
um Fachkräfte werde sich verschärfen, vor allem Akademiker, Spezialisten der lnfor-
15 mations- und Kommunikationstechnologie und Absolventen der MINT-Fächer seien

künftig gefragt.
Die einzige Branche, in der es 2030 laut Studie einen Überschuss an Arbeitskräften
geben wird, ist die Transport- und Logistikbranche. Vor allem Hilfsarbeiter leiden unter
der Digitalisierung und Automatisierung. Schon 2020, so die Prognose, wird sich der
20 aktuelle Engpass an Hilfskräften in einen Überschuss verwandelt haben.

Jenni Thier, www.faz. net, 9.7.20 16

Aufgaben

1. Geben Sie die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung von Frey und Osborne wieder
(M 1).

2. Vergleichen Sie die zentralen Aussagen von M 1 und M 2.

3. Diskutieren Sie vor diesem Hintergrund verschiedene mögliche Prognosen zur Entwicklung
der Nachfrage nach Arbeitskräften in Deutschland.

4. Überprüfen Sie, ob bzw. w ie die Informationen aus M 1 und M 2 Ihre Überlegungen zur
Berufswahl beeinflussen.
2 .3.2 Die Auswirkungen des Strukturwandels auf den
Arbeitsmarkt

Leitfragen Welche Faktoren bestimmen Mit welchen Instrumen- Welche Rolle spielt die „Hartz-lV-
Nachfrage und Angebot nach ten kann Arbeitslosig- Reform" für die Entwicklung der
Arbeitskräften? keit bekämpft werden? Arbeitslosigkeit?

Der Arbeitsmarkt

Auf dem Arbeitsmarkt treffen Angebot und Nach-


frage zusammen wie auf j edem Markt. Während
Arbeit - Erwerbsarbeit
die Arbeitgeber Arbeit nachfragen, bieten die Ar- In der Statistik und in weiten Teilen der Wirtschafts-
beitnehmer ihre Arbeitskraft an. Der Lohn kann wissenschaften sowie in der öffentlichen Wahrneh-
als der Preis der Arbeitskraft verstanden werden, mung wird Arbeit meist mit Erwerbsarbeit gleichge-
der Angebot und Nachfrage - modellhaft betrach- setzt, d. h. eine Arbeit, mit der auf dem Markt ein
tet - in das Gleichgewicht bringt (>Kap. 2. 1.2). Einkommen erzielt wird. Hausarbeit, Kindererzie-
hung und Pflege von Angehörigen (in der neueren
Diskussion als Gare-Arbeit oder Sorgearbeit be-
Doch die phasenweise hohen Arbeitslosenzahlen zeichnet) fällt so aus dem klassischen Verständnis
in vielen Volkswirtschaften scheinen ein Indiz da- von Arbeit als Erwerbsarbeit heraus. Traditionell
für zu sein, dass der Arbeitsmarkt oft nicht im wurde bzw. wird dieser Bereich überwiegend von
Gleichgewicht ist. In den Wirtschaftswissenschaf- Frauen übernommen. Allerdings entwickelt sich
ten gibt es dafür zwei Erklärungen: während auf parallel zur Ausdehnung der Frauenerwerbstätig-
der einen Seite Arbeitslosigkeit mit zu hohen Löh- keit die Tendenz, diese Tätigkeiten als Erwerbsar-
beit zu organisieren, d. h. sie als bezahlte Dienst-
nen bzw. mit zu hohen Lohnersatzleistungen er-
leistungen anzubieten.
klärt wird, wird Arbeitslosigkeit a uf der anderen
Seite durch eine zu geringe gesamtwirtschaftliche
Nachfrage erklärt (>Kap. 2.2.3).
und parallel laufenden Rationalisierungsprozes-
sen nahe, d. h. es handelte sich um eine Form
Wie entwickelte sich der Arbeitsmarkt in struktureller Arbeitslosigkeit (>Kap. 2.2.2).
Deutschland?
Neben der Nachfrage nach Arbeit ist auch die Ent-
Betracht et man die Entwicklung des Arbeits- wicklung des Angebots an Arbeit zu berücksich-
markts in Westdeutschland und ab 1990 im wie- tigen. Dieses wird in Deutschland bedingt durch
dervereinigten Deutschland, kann man drei Pha- drei wesentliche Faktoren; entscheidend ist hier
sen unterscheiden:
• die Zunahme der Erwerbstätigenquote
• nach dem Zweiten Weltkrieg sank die Arbeits- (>Kap. 2.2.2),
losigkeit während des „Wirtschaftswunders" bis • die Rolle Deutsch lands als Einwanderungsland
1966, (>Kap. 1.2.2) sowie
• seit der Wirtschaftskrise 1966/67 setzte ein • die Verringerung des Angebots an Arbeitskräf-
Trend zu wachsenden Arbeitslosenzahlen ein, ten aufgrund der demografischen Entwicklung
die 2005 einen bisherigen Höhepunkt erreich- (>Kap. 1.2.1).
t en ;
• seitdem ist ein abnehmender Trend zu beobach-
ten. Mit welchen wirtschaftspolitischen Mitteln
kann Arbeitslosigkeit begegnet werden?
Der Trend zu wachsenden Arbeitslosenzahlen lief
in etwa parallel zu abnehm enden Wachstumsra- Am Beispiel der Beschäftigungspolitik werden die
ten. Dies legt eine Erklärung der Arbeitslosenzah- unterschiedlichen Ansätze der angebots- und
len aus einer schwächeren Wachstumsdynamik nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik beson-
2.3 Strukturwandel und Arbeitsmarkt 1

ders deutlich. Entsprechend der unterschiedlichen gungsprogramme die private Nachfrageschwä-


Erk.Järungsa nsätze - zu hohe Löhne contra zu ge- che ausgleichen.
ringe Nachfrage - werden folgende Strategien
vorgeschlagen(>Kap. 2.2.3) :
Wie wurde in Deutschland auf das Problem
• Für die Angebotstheorie sind fehlende Investi- Arbeitslosigkeit reagiert?
tionen der Unternehmen die wesentliche Ursa-
che für Unterbeschäftigung. Kritisiert werden Die Rede des damaligen Bundeskanzlers Gerhard
vor allem zu hohe Arbeits- und Lohnnebenkos- Schröder (1998-2005) am 14. März 2003 vor dem
ten, zu hohe Steuern und Sozialabgaben, ein- Bundestag m arkierte den Sta rt der sogenannten
schränkende und unnötige Regu lierun gen sowie Agenda 2010, mit der die damalige Bundesregie-
eine zu geringe Flexibilität des Arbeitsma rktes rung der seit Beginn der l 990er Jahre stark a nge-
(z. B. durch Kündigungsschutz), ausufernde Bü- wachsenen Arbeitslosigkeit in Deutschland be-
rokratie, eine zu hohe Staatsquote und zu kurze gegnen wollte. Im Fokus der Öffentlichkeit stan-
Arbeitszeiten. Dementsprechend fo rdern die den dabei die nach Peter Hartz - dem Leiter der
Angebotstheoretiker, die Rahmenbedingungen Kommission zur Arbeitsmarktreform - benannten
für die Investitionstätigkeit der Unternehmen zu Hartz-Gesetze. Mit den Hartz IV-Regelungen, die
verbessern. am l . Janua r 2005 in Kraft getreten sind, wurden
die Bezugsmodalitäte n für das Arbeitslosengeld
• Für die Nachfragetheorie ist eine zu geringe völlig neu geregelt.
volkswirtschaftliche Nachfrage für Arbeitslo-
sigkeit verantwortlich. De r Staat sollte in einem Das Arbeitslosengeld (ALG l) wurde in der Regel
solchen Fall seine Ausgaben - ggf. auch finan- nur noch für ein Jah r, maximal für zwei Jahre,
ziert durch Staatsverschuldung - erhöhen und abhängig vo n der Höhe der letzten Arbeitsein-
durch staatliche Investitionen und Beschäfti- kommen gezahlt. Die Arbeitslosen- bzw. Sozial-

Deutschlands Arbeitsplätze
Zahl der Erwerbstätigen in Millionen Aufteilung nach
Veränderung
Wirtschafts- 2017 gegen-
1991 95 00 05 10 15 17* bereichen 2017 über 1991
in Millionen in Prozent
46
Mio.
Dienstleistungs-
bereich + 39%
44

42

40 Produzierendes
Gewerbe
, -26%
38
, - 14 %

36 Land-, Forst- -47%


wirtschaft,
Fischerei

1~ 1 © Glob"' Quelle: Statistisches Bundesamt (Jan. 2018) •vorläufig


2 Grundlagen der W irtschaftspolitik

hilfe wurde zum Arbeitslosengeld ll (ALG II) - dem einerseits und ungesicherten, schlechter bezahlten
sogenannten „Hartz N" - zusammengefasst. Das fl exiblen Arbeitsverhältnissen andererseits. Man
ALG II ist keine Versicherungsleistung und be- spricht hier a uch von einer Prekarisierung der
rechnet sich nicht - wie zuvor - nach dem frühe- Arbeitsverhältnisse. Davon sind besonders die
ren Arbeitseinkomme n, sondern soll die Grundsi- jüngeren Arbeitnehmer betroffen sowie Beschäf-
cherung des Lebensunterhalts gewährleisten. Eine tigte in dem sich stark ausdehnenden Bereich der
wichtige Voraussetzung für den Bezug des ALG II personennahen Dienstleistungen - Tätigkeiten in
ist das Kriterium der Bedürftigkeit, d. h. vorhan- den Bereichen Transport und Sicherheit etwa, aber
denes Vermögen wird ab bestimmten Freigrenzen auch im Pflege- und Gesundheitsbereich.
a ngerechn et. Nach dem Hartz N-Grundsatz „För-
dern und Fordern" wu rde zudem die Zumut barkeit Als weiterer Einwand gegen die positive Wirkung
bei der Vermittlung von Stellen für Arbeitslose der Hartz-Reformen wird vorgebracht, dass die
verschärft. Wer seine n Pflichten nicht nachkommt deutsche Volkswirtschaft nach einigen Jahren
oder eine als zumutbar definierte Arbeitsstel le sinkender internationaler Wettbewerbsfähigkeit
nicht antritt, muss mit Kürzungen seiner Bezüge (Deutschland wurde um 2000 als „kranker Mann
rechnen. Europas" bezeichnet) ab 2005 wieder einen posi-
tiven Wachstumspfad eingeschlagen hat. Dieser
basiert jedoch auf der starken Exportorientierung
Was hat sich mit der Agenda 201 0 geändert? bei gleichzeitig relativ schwachem Wachstum der
Lohneinkommen (>Kap. 2.7). Die starke Zunahme
Ob der Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland der Erwerbstätigenzahlen kö nne man im Wesent-
seit 2005 auf die Hartz-Reformen zurückgefüh rt lichen darauf zurückführen. Zudem hat sich die
werden kann, wird in der Öffentlichkeit kontrovers Förderung von Frühverrentungen bis etwa 2010
diskutiert. Zwar haben sie - im Sinne der Angebot- positiv auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt.
stheorie - zu einer Flexibilisierung des Arbeitsmark-
tes geführt, Kritiker weisen jedoch auf die sozialen
Folgen der Maßnahmen hin. Zum einen sanken die Vor welchen Herausforderungen steht der
Lohnersatzleistungen für längerfristig Arbeitslose deutsche Arbeitsmarkt?
stark - z.B. für einen Arbeitnehmer im Alter von
Mitte 50, der nach langer Berufstätigkeit seine Ar- In Deutschland kreuzen sich au f dem Arbeits-
beitsstelle verliert und nach zweijähriger Arbeitslo- ma rkt in den nächsten Jahren die Tendenz zum
sigkeit und geringen Chancen auf eine neue Arbeits- Abbau der Arbeitslosigkeit aufgrund einer posi-
stelle nur noch Arbeitslosengeld Il erhält. Zum tiven Wirtschaftsentwicklung sowie der demo-
anderen weiteten sich verschiedene Formen ungesi- grafischen Entwicklung mit der Tendenz zu ei-
cherter Arbeitsverhältnisse stark aus, etwa befristete nem erneuten Rationalisierungsschub in der
Arbeitsverträge, geringfügige Beschäftigungen (450 Produ ktion u nd dem Dienstleistungssektor. Wie
Euro-Jobs) und Zeitarbeit. Auch die Teilzeitarbeit weit d as zu einer weiteren Flexibilisieru ng oder
nahm zu. Prekarisierung des Arbeitsmarkts führt, ist noch
nicht absehbar. Auch ist diese Entwicklung
In Großbetrieben entwickelte sich in diesem Zuge von den politischen Entscheidungen über die
eine Spaltung in eine sogenannte Stammbeleg- Rahmenbedingungen des Arbeitsmarkts abhän-
schaft mit gesicherten und gut bezahlten Jobs gig.

Aufgaben
1 . Stellen Sie die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit der Wiedervereinigung dar.

2 . Recherchieren (, Methodenglossar) Sie einzelne Maßnahmen aus dem deutschen Konjunkturpaket 2009
(, Kap. 2.2.3) und erläutern Sie wie deren Wirkung auf den Arbeitsmarkt bewertet werden.

3 . Bewerten Sie die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt.


KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Die Agenda 2010 - eine Bilanz

Der 14. März 2003 markiert zunächst einmal das Ende einer Hoffnung: Mehrere Jahre
lang hatte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) bemüht, zusammen mit Ge-
werkschaften und Wirtschaftsverbänden ein „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wett-
bewerbsfähigkeit" zu schmieden. [... ] Die regelmäßigen deutschen Konsens-Treffen
5 aber brachten [... ] fast nichts. Dabei trieb die notorische deutsche Wachstumsschwä-
che nach dem Kollaps des Neuen Marktes zwei Kenngrößen immer weiter in die Höhe:
die Arbeitslosigkeit und das Haushaltsdefizit.
Der Handlungsdruck stieg, die Zeit für konsensorientierte Lösungsversuche lief ab.
Dann wandte sich Schröder an jenem 14. März mit einer Rede an den Bundestag, die
10 Fakten schuf. Die Regierungserklärung „Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung"
brüskierte die Gewerkschaften und nahm zugleich die rot-grüne Koalition für ein hartes
und schon bis ins Detail ausgearbeitetes Reformprogramm in die Pflicht. Das war der
Startschuss zur „Agenda 2010". [ .. .]
Zehn Jahre nach der Verkündung der Agenda 2010 hat sich Deutschland vom „kranken
15 Mann Europas" zum wirtschaftlichen Zugpferd des gesamten Kontinents entwickelt.
Über die Frage, wie viel Agenda-Rendite im „German Jobwunder" und dem Auf-
schwung steckt, wird dabei anlässlich des zehnten Jahrestages heftig diskutiert: Wel-
chen Beitrag dazu hat die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes wirklich geleistet? Wel-
chen Anteil hat die Tarifpolitik daran, dass die deutsche Industrie weltweit so erfolgreich
20 wurde? Wie stabil sind die Sozialkassen heute wirklich? Und welche der damaligen
Ankündigungen sind bis heute aktuell? Die Redaktion hat Schlüsselsätze aus Schrö-
ders Rede in diesem Sinne untersucht. Die Rede ist in jedem Fall ein wichtiges Zeit-
dokument. Und sie hält wohl auch noch für weitere zehn Jahre reichlich politischen
Diskussionsstoff bereit.

25 „Arbeit und Wirtschaft, das ist das Herzstück unserer Reformagenda [...] Wir wollen
das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch die Mög-
lichkeit bekommt. Wir haben die Arbeitsmärkte deshalb für neue Formen der Be-
schäftigung und Selbständigkeit geöffnet."

[ ... ] Der Arbeitsmarkt litt [2003] laut Diagnose vieler Ökonomen unter dem lnsider-Out-
30 sider-Problem: Wer Arbeit hatte, war gut dran. Wer keine hatte, blieb allzu oft auf
Dauer ausgesperrt. Das hatte viel mit dem hohen Kündigungsschutz zu tun: Arbeitge-
ber scheuten sich, Geringqualifizierte einzustellen - aus Sorge, sich später kaum noch
von ihnen trennen zu können.
So wurde der Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit seit den siebziger Jahren mit jedem
35 Konjunkturzyklus größer. Schröders Regierung packte den Kündigungsschutz nur vor-
sichtig an, öffnete jedoch den Arbeitsmarkt für neue Beschäftigungsformen. Die Libe-
ralisierung der Zeitarbeit sowie die Hartz-Gesetze I und II (unter anderem Minijobs und
lch-AGs) zählen dazu, auch wenn sie am Tag der Agenda-Rede schon beschlossen
waren. Zudem wurde die Bundesanstalt zur Bundesagentur für Arbeit umgebaut.
40 Mit der Hartz-lV-Reform wurden 2005 eine Million erwerbsfähiger Sozialhilfebezieher
erstmals statistisch erfasst, was die Arbeitslosenzahl im Februar 2005 auf die Höchst-
marke von 5,3 Millionen trieb. Doch schon im Aufschwung 2006 begannen die Refor-
men zu wirken. Die Arbeitgeber stellten nun schneller Personal ein. Dabei haben Mi-
nijobs, Teilzeit, Zeitarbeit und Befristungen das „Normalarbeitsverhältnis" nicht
45 verdrängt, sondern ergänzt. Allerdings bedeutete dies: Der Anteil der Arbeitsplätze im
Niedriglohnsektor stieg auf mehr als 20 Prozent und erreichte britische Verhältnisse.
Zehn Jahre nach der Agenda-Rede hat Deutschland fast 42 Millionen Erwerbstätige,
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

so viele wie noch nie. 29 Millionen Beitragszahler füllen die Sozialkassen. Die Arbeits-
losigkeit lag im Jahresdurchschnitt zuletzt unter 3 Millionen.
50 Die Arbeitsverwaltung, früher ein Milliardengrab, sparte in den guten Jahren fast 20
Milliarden Euro Rücklagen an, die dann während der Wirtschaftskrise genutzt werden
konnten. Während das Ausland das „German Job-Wunder" bestaunt, geht der Trend
im Inland jedoch hin zu Reregulierung und Verteilungsfragen: Die Lohnlücke zwischen
Stamm- und Leiharbeitern wurde auf Druck der Politik von den Tarifvertragsparteien
55 geschlossen. Die SPD tritt nun für einen einheitlichen Mindestlohn von mindestens
8,50 Euro ein. Selbst CDU/CSU und FDP haben sich mittlerweile sehr weit in diese
Richtung bewegt. Eine spannende Frage der nächsten zehn Jahre wird sein, ob der
Arbeitsmarkt nun robust genug ist, um eine solche Kursänderung zu verkraften.

,,Wir werden die Kommunen ab dem 1 . Januar 2004 von der Zahlung für die arbeits-
oo fähigen Sozialhilfeempfänger entlasten.[...] Wer zumutbare Arbeit ablehnt - wir wer-
den die Zumutbarkeitskriterien verändern - der wird mit Sanktionen rechnen müs-
sen."

Inhaltlich die wohl folgenschwersten Sätze der Rede: Die meisten Menschen denken
heute automatisch an Hartz IV, wenn von der Agenda 2010 die Rede ist. ,,Agenda
s5 2010". [... ] Das Arbeitslosengeld II ersetzte die bisherige Arbeitslosenhilfe und die
Sozialhilfe für Erwerbsfähige. Parallel wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds 1
auf im Regelfall zwölf Monate verkürzt - wer seine Stelle verlor, rutschte nun also
schnell ins neue System. Kanzler Schröder hob dafür das Prinzip „Fördern und For-
dern" auf den Schild, auf staatliche Leistungen solle gefälligst eine Gegenleistung
10 folgen .
Gewerkschaften und Sozialverbände schäumten, doch der Kanzler legte die Latte
hoch: Wer „unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindes-
tens drei Stunden täglich" arbeiten könnte, gilt seitdem als erwerbsfähig. Das ist selbst
im internationalen Vergleich eine niedrige Grenze, die sich zudem als finanzieller Bu-
75 merang erwies. Eigentlich wollte Rot-Grün durch Hartz IV Geld sparen, faktisch aber
schossen die Kosten erst mal hoch. Viele Kommunen erklärten bis zu 90 Prozent ihrer
bisherigen Sozialhilfebezieher als erwerbsfähig. Einige stuften selbst Komapatienten
als arbeitsfähig ein. Die Regierung hatte indes gehofft, dass rund ein Viertel der bishe-
rigen Arbeitslosenhilfebezieher ihren Leistungsanspruch verlieren würden, da deren
80 Partner über genug Einkommen verfügten.
Tatsächlich zogen viele Arbeitslose in eigene Wohnungen um. Die Zahl der erwerbsfä-
higen Hilfebedürftigen schnellte auf 5 Millionen Menschen; erwartet hatte die Regie-
rung weniger als 3,5 Millionen. Die Ausgaben für Hartz IV stiegen auf 25 Milliarden
Euro, etwa 11 Milliarden Euro mehr als geplant. Für Streit sorgte von Anfang an auch
85 die Höhe des steuerfinanzierten Arbeitslosengeldes II, die faktisch auf das Niveau der
Sozialhilfe begrenzt wurde. Das traf vor allem die früheren Arbeitslosenhilfebezieher
hart, sie gehörten zu den Verlierern der Reform. [ ... ]
Für Empörung sorgte vor zehn Jahren auch, dass die Regierung alle Zumutbarkeits-
regeln strich. Empfänger des Arbeitslosengeldes II müssen im Prinzip jede Arbeit an-
oo nehmen. Die Angst, vom Straßenbauingenieur unvermittelt zum Straßenfeger zu wer-
den, fraß sich bis tief in die Mittelschicht. Lehnt ein Bedürftiger eine zumutbare Arbeit
ab, wird sein Regelsatz für drei Monate um 30 Prozent gesenkt. Trotzdem haben mehr
als eine Million Menschen seit Einführung von Hartz IV den Sprung aus dem Arbeits-
losengeld II nie geschafft.
Sven Astheimer et al., www.jaz.net, I 3.3.2013
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 2 Zehn Jahre Agenda 201 0 - Auf dem Weg nach unten

Jubiläen sind dafür berüchtigt, dass die Gratulanten es mit der Wahrheit nicht immer
so genau nehmen. Schließlich gilt es, den Jubilar mit Komplimenten zu überhäufen
und ihn angesichts seiner Hochleistungen glänzen zu lassen. So war es auch vor drei
Wochen, als sich Gerhard Schröders unter dem Titel „Agenda 201 0" bekannt gewor-
s dene Regierungserklärung zum zehnten Mal jährte.
Angesichts der von sämtlichen Agenda-Befürwortern hervorgehobenen Triumphmel-
dungen auf wirtschaftlichem Gebiet ist die Legende fast schon zum Gemeinplatz ge-
worden, Schröders Reform sei die Mutter der heutigen Erfolge der Bundesrepublik auf
dem Weltmarkt. [...]
10 Zwar ist die Zahl der Erwerbstätigen gestiegen und die der registrierten Arbeitslosen

zurückgegangen, seit das Reformprogramm wirksam wurde. Das war allerdings


hauptsächlich der anziehenden Weltkonjunktur zu verdanken. Außerdem wurden Stel-
len aufgespalten, weshalb das Arbeitsvolumen gar nicht zunahm, und mehr Frauen
kehrten als Teilzeitkräfte in den Beruf zurück.
1s Selbst wenn die im Vergleich zu anderen europäischen Volkswirtschaften größere Kri-
senresistenz der Bundesrepublik tatsächlich auf die Agenda-Politik zurückginge: Der
Preis wäre zu hoch, den das Land und vor allem seine unterprivilegierten Bewohner
dafür zahlen müssen. Besonders für die Bezieher niedriger Einkommen sind die
Reallöhne gesunken. Unter dem Trend zur Prekarisierung von Arbeits- und Lebensbe-
20 dingungen leidet die Qualität der Jobverhältnisse: Millionen Menschen haben kein

sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis, das ihnen Schutz vor elementaren


Lebensrisiken bieten würde. Sofern dieser gegeben ist, leisten sie vielfach nur Leih-
arbeit oder befinden sich in (Zwangs-)Teilzeit.

Drohkulisse und Disziplinierungsinstrument

Neben der Agenda 2010 ist Hartz IV die Chiffre für den tiefsten Einschnitt in das deut-
2s sehe Sozialmodell seit 1945. Dass die Gesamtzahl der Transferleistungsempfänger
zuletzt ebenso abgenommen hat wie die relative Höhe der Zahlbeträge, liegt nicht etwa
an einem Rückgang der Armut beziehungsweise der materiellen Bedürftigkeit, sondern
primär an den durch die Agenda-Reformen drastisch verschärften Voraussetzungen ,
Kontrollen und Repressalien der Jobcenter und Sozialämter. Sowohl die Agenda 2010
30 als auch Hartz IV als ihr Herzstück fungierten als Drohkulisse und Disziplinierungsins-
trument.
Unterschlagen werden meist die psychosozialen, gesundheitlichen und soziokulturel-
len Folgen der Reformagenda. Es verletzte das Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit,
dass jahrzehntelang tätige Arbeitnehmer nach einer kurzen Schonfrist auf das Fürsor-
3s geniveau von Menschen herabgedrückt wurden, die noch nie gearbeitet haben.

,,Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt"

Die hierfür von Gerhard Schröder gegebene Begründung, die „Zusammenlegung" von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe (auf dem Niveau der letzteren) solle Arbeitswillige von den
Arbeitsscheuen trennen, musste ihnen als Hohn erscheinen. Denn nicht bloß fehlten
damals die erforderlichen Stellen. Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe wurde
40 auch das für den Wohlfahrtsstaat bis dahin konstitutive Prinzip der Sicherung des
Lebensstandards außer Kraft gesetzt.
Das als Ersatz eingeführte Arbeitslosengeld II orientiert sich nicht mehr am früheren
Nettoverdienst eines Langzeitarbeitslosen. Es lässt vielmehr selbst Angehörige der
Mittelschicht wie Facharbeiter und Ingenieure, wenn sie nicht bald wieder eine neue
1 KOMPETEN Z EN A NW ENDEN

45 Stelle finden, nach einer kurzen Schonfrist auf das Sozialhilfe-Niveau abstürzen. Aus
der Sozialhilfe wurde auch das für Hartz IV typische Konstrukt der „Bedarfsgemein-
schaft" entlehnt. Dieses ermöglichte es, Einkommen und Vermögen von Personen, die
mit dem Antragsteller weder verwandt noch ihm zum Unterhalt verpflichtet sind, aber
mit ihm in einer Wohnung leben, bei der Prüfung von Bedürftigkeit anzurechnen.
50 Das rigidere Arbeitsmarktregime erhöht auch den Druck auf Belegschaften, Betriebs-
räte und Gewerkschaften, niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu
akzeptieren. So ist es zu einem Haupteinfallstor für Erwerbs- und die ihr zwangsläufig
folgende Altersarmut geworden. Armut, in der Bundesrepublik lange Zeit eher ein
Randgruppenphänomen, drang durch Hartz IV zur gesellschaftlichen Mitte vor.
55 Ein Fahrstuhleffekt, bei dem alle Gesellschaftsschichten gemeinsam nach oben fah-
ren, blieb aus. Stattdessen gibt es einen Paternostereffekt: Während die einen nach
oben fahren, fahren die anderen zur selben Zeit nach unten. Letztlich hat das Reform-
programm die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich vertieft. Denn niedrige
Löhne ermöglichten hohe Gewinne. Außerdem entlastete die Steuerreform, die Be-
60 standteil der Agenda 2010 war und in ihrer verteilungspolitischen Bedeutung oft un-
terschätzt wird, vornehmlich Kapitaleigentümer und Spitzenverdiener.

Leistung und Konkurrenz im Mittelpunkt

Neben schmerzhaften materiellen Einschnitten für Millionen Menschen brachte die


Agenda-Politik auch schwere mentale Wandlungsprozesse mit sich. Sie verschlech-
terte das soziale Klima und beeinträchtigte die politische Kultur der Bundesrepublik.
65 Erwerbslose, Arme und ethnische Minderheiten stoßen auf noch größere Ressenti-
ments, wohingegen Markt, Leistung und Konkurrenz zentrale Bezugspunkte der Ge-
sellschaftsentwicklung geworden sind.
Heute findet die Maxime „Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt" erheb-
lich mehr Widerhall als zu einer Zeit, da man die SPD noch für die lnteressenvertrete-
70 rin der kleinen Leute hielt. überhaupt ist die Distanz zwischen Regierenden und Re-
gierten erheblich gewachsen, weil von den Reformen unmittelbar Betroffene nicht
ohne Grund befürchten, mit ihren Interessen und Bedürfnissen im Parlament nicht
(mehr) vertreten zu sein. Dies kann, wenn dem nicht politisch begegnet wird, zu einer
Krise der Demokratie führen.
75 Das Ziel der Agenda 2010, Deutschlands ökonomische und politische Vormachtstel-
lung in Europa zu sichern, wurde erreicht. Umso leichter müsste es der Bundesrepu-
blik fallen, mehr als bisher für die Verlierer der Reformpolitik zu tun.

Christoph Butterwegge, www.sueddeutsche.de, 3.4.2013

Aufgaben

1. Benennen Sie wichtige Aspekte der Agenda 2010 und der Hartz IV-Reformen (M 1).

2. Erläutern Sie, auf welche Probleme die Agenda 2010 eine Antwort liefern sollte
(M 1 und M 2).

3. Setzen Sie sich kritisch mit dem Prinzip „Fördern und Fordern" auseinander (M 1 und M 2).

4 . Beurteilen Sie, inwieweit die Agenda 2010 als Erfolg bewertet werden kann.
Einkommens- und
• Vermögensverteilung
2.4.1 Einkommensverteilung - Akteure und Konzepte

Leitfragen Wie erfasst man die Welche Rolle übernehmen Gewerk- Welche lohnpolitischen
Einkommensverteilung in schaften und Arbeitgeberverbände bei Konzepte lassen sich
einer Volkswirtschaft? Lohnverhandlungen? unterscheiden?

Wie lässt sich die Verteilung von


Einkommen erfassen?

Um zu beschreiben, wie in einer Volkswirtschaft • Bezieht man das Einkommen auf die einzelnen
die Einkommen auf die am Wirtschaftsprozess Wirtschaftssubjekte, unabhängig von der Ein-
teilnehmenden Menschen - Wirtschaftsobjekte - kommensquelle, spricht man von der personel-
verteilt sind, untersche idet man zwischen der pri- len Einkommensverteilung.
mären, der sekundären, der funktionalen und der
personellen Ein kom mensvertei Iu ng:
Wie werden in Deutschland
• Die Primärverteilung zeigt die Verteilung des die Löhne bestimmt?
Volkseinkommens, die sich am Markt aufgrund
des Einsatzes der Produktionsfaktoren in Form In Deutschland sind die Tarifve rhandlungen zwi-
von Lohn, Gewinn, Pacht oder Zins ergibt. An- schen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden
genommen, ein Arbeitnehmerhaushalt bezieht in der Öffentlichkeit sehr präsent. In regelmäßig
durch Arbeitstätigkeit, durch Zinsen a uf Spar- (meistjährlich) stattfindenden Tarifrunden werden
guthaben und durch Vermietung von Wohn- zwischen den Vertretern die Löhne und Arbeitsbe-
raum ein Bruttoeinkommen von 4.000 Euro, so dingungen - meist für einzelne Branchen - kollek-
ist dies sein Einkommen, das er im Rahmen der tiv ausgehandelt. Die zwischen den Gewerkschaf-
Primärverteilung erhält. ten und den Arbeitgeberverbänden vereinbarten
Tarifve rträge gelten für eine bestimmte Laufzeit
• Zieht man hiervon die Lohnsteuer und die So- und e nthalten Regelungen zur Höhe der Löhne
zialversicherungsabgaben ab (> Kap. 1.4.1) und und Gehälter (Lohntarifverträge), aber auch Re-
addiert staatliche Transferleistungen wie etwa gelungen über die Wochenarbeitszeit, die Zahl der
das Kindergeld hinzu, so erhält man das Ein- Urlaubstage, z. T. auch Vereinbarungen bezüglich
kommen des Arbeitnehmerhaushalts nach der der Fortbildung der Beschäftigen und verschiede-
Umverteilung durch den Staat. Man spricht ne Aspekte der Arbeitsgestaltung können mitauf-
dan n von der sekundären Einkommensvertei- genommen werden (Manteltarifverträge).
lung.
Die kollektive Aushandlung der Löhne kann vor-
• Bei der funktionalen Einkommensverteilung teilhaft für Arbeitnehmer und Arbeitgeber sein, da
betrachtet man die Verteilung des Einkommens die individuellen Kosten für Verhandlungen und
auf die an der Erstellung des Sozialprodukts be- Informationsbescha ffung, die sogenannten Trans-
teiligten Produktionsfaktoren Arbeit (Löhne a ktionskosten, vermindert werden. Für den einzel-
und Gehä lter) und Kapital (Gewinn, Zins und nen Arbeitnehmer sind Tarifverträge i.d.R von
Bodenrente). Vorteil, da er eine schwächere Verhandlungsposi-
1 2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

sehen sowie die sozialen, politischen und kultu-


rellen Interessen von Arbeitnehmern auf der po-
litischen Ebene. Weiter werden die Arbeit der
Betriebsräte und die betriebliche bzw. überbe-
Mitglieder Ende 2017: 6,0 Millionen Veränderung triebliche Mitbestimmung stark von den Gewerk-
(- 0,9 % gegenüber Ende 2016) gegenüber schaften geprägt.
Ende 2016
davon Ende 2017 in Tausend in Prozent Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitge-


IG Metall berverbände (BOA) bzw. ihre Fachverbände ver-
0 -0,5 %
2263 Tsd. handeln für die darin organisierten Unternehmen

•~
!:!BCE
ver.di

IG Bergbau, Chemie, Energie


638
1987

Gew. Erziehung und Wissenschaft


0

0
-1 ,2

-1,1

-0,02
mit den Gewerkschaften. Der Bundesverband der
deutschen Industrie (BDI) und seine industrielle n
Einzelverbände verstehen sich als w irtschaftspo-
lit ische Vertreter der Unternehmen. Zudem sind
die Industrie- und Handelskammern Selbstver-
waltungsorgane der Wirtschaft. Sie übernehmen
- 278
Aufgaben mit öffentlich-rechtlichem Charakter
IG Bauen-Agrar-Umwelt
0 -3,5 (Körpe rschaften des öffentlichen Rechts), so z.B.
- 255 bei der Berufsausbildung. Dachverband ist der
Gew. Nahrung-Genuss-Gaststätten
0 -0,8 deutsche Industrie- und Hande lskammertag
- 200 (DIHK). Auch diese Verbände nehmen über die
:VG Eisenbahn- u. Verkehrsgewerkschaft 0 -1 ,5 Lohnverhandlungen hinaus die allgemeinpoliti-


- 190 schen Interessen der Arbeitgeber wahr.
Gewerkschaft der Polizei
- 185 fGl 0 + 2,9

Lohnkonzeptionen in Deutschland
Quelle: Deutscher Gewerkschaftsbund ~©Globus

Bei den Tarifverhandlungen zwischen Gewerk-


schaften und Arbeitgeberverbänden haben sich
tion hat, über weniger Informationen über den Ar- verschiedene lohnpolitische Konzepte entwickelt:
beitsmarkt verfügt, und - entscheidend - i.d.R auf
den „Verkauf' seiner Arbeitskraft angewiesen ist. • Das gängigste Konzept ist die produktivitäts-
orientierte Lohnpolitik: Die Arbeitsproduktivi-
tät wird als eine Orientierungsgröße für stabili-
Wie sind Gewerkschaften und tätsgerechte Tarifabschlüsse angesehen. Denn
Arbeitgeberverbände organisiert? wenn die Löhne im gleichen Maße steigen wie
die Arbeitsproduktivität, dann bleiben die
Die Freiheit zur Bildung von Vereinigungen „zur Lohnstückkosten konstant. Es kommt nicht zu
Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingun- lohnkoste nbedingten Preissteigerungen und die
ge n" ist in Deutschland in Artikel 9, Absatz 3 des Verteilungsrelation zwischen Löhnen und Ge-
Grundgesetzes garantiert. Dieses Grundrecht winnen bleibt gleich.
schließt auch das Recht au f A rbeitskampfmaß-
nahmen ein, also auf Streiks der Gewerkschaften. • Beim Konzept der beschäftigungsorientierten
Die Aussperrung, also die zeitweilige Lösung der Lohnpolitik wird davon ausgegangen, dass
Arbeitsverhältnisse und der Lohnzahlungspflicht Lohnerhöhungen bis zum Abbau der Arbeitslo-
im Arbeitskampf vo n Seiten der Arbeitgeber, war sigkeit unterha lb der Produktivitätssteigerun-
rechtlich umstritten, ist aber inzwischen durch gen bleiben sollten. Dieses Konzept wurde seit
richterliche Urteile abgedeckt. den 1980er Jahren vo n den Arbeitgeberverbän-
den in den Lohnverhandlu ngen vertreten.
Die nach Branchen organis ierten Einzelgewerk-
schaften und der Deutsche Gewerkschaftsbund • Die Gewerkschaften setzten dagegen au f Ar-
(DGB) als Dachverband vertreten die ökonomi- beitszeitverkürzungen a ls Mittel gegen Ar-
2.4 Einkommens- und Vermögensverteilung 1

Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände


0

.3
t; BOA
J
Cl)
Präsidium - Hauptgeschäftsführung

14 Landesvereinigungen 49 Bundesfachve,bände
I
Vorstand aus den Bereichen
(zentrales
Beschlussorgan) Ind ustrie 21
Vorsitzende der


Handel 2
Mitgliedsverbände

3 Vertreter Finanzwirtschaft 2
BOA- naher Institutionen
Verkehr 5
bis zu 28 weitere,
gewählte Mitglieder Handwerk 2
t
Wahl
Dienstleistungen 15
1

Landwirtschaft 2
► ◄
Mitglieder-
versammlung

1 1 1 1
Über Mitgliedsverbände sind etwa 1 Mio Betriebe mit über 20 Mio Beschäftigten mit der BOA verbunden

Quelle: BOA Stand 2017 1ZAH LENBILOERl-ffi


~ - - - - - - - - - - --==================--
C> Bergmoser + Höller Verlag AG 236J50

beitslosigkeit; die Lohnerhöhungen fallen dan n Löhne und Tarifbindung


bei Anrechnung der Kosten der Arbeitszeitver-
kürzung entsprechend n iedriger aus. Auch die- Die in Ta rifverträgen vereinbarten Löhne werden
ses Konzept wurde seit den l 980er J ahren a n- als Tariflöhne bezeichnet. Da für nicht im Arbeit-
gewandt, in der Metallindustrie z. B. wurde die geberverband organisierte Unternehmen keine
40-Stunden- Woche schrittweise von der Tarifbindung besteht, können die Löhne in einzel-
35-Stunden-Woche abgelöst. nen Betrieben auch deutlich unter den Tariflöhnen
liegen. Andererseits zahlen einzelne Unternehmen
• Von gewerkschaftlicher Seite wird zum Teil auch freiwillige Zulagen zum Tariflohn, die t atsächlich
eine expansive Lohnpolitik vertreten. Da die gezahlten Löhne und Gehälter werden als Effek-
Einkommensverteilung zwischen Löhnen und t ivlöhne bezeichnet. Die Effektivlöhne können je
Gewinnen als ungerecht betrachtet wird, wird so nach konjunktureller Lage und Branche unter-
zusätzlich eine Umverteilungskomponente zu- schiedlich stark über den Tariflöhnen liegen.
gunsten der Lohneinkünfte gefordert.
Aufgru nd der Aufweichung der Tarifbindung u nd
Da bei einem Steigen des Preisniveaus die Kauf- des Entstehe ns eines Billiglohnsektors in Deutsch-
kraft der Nominallöhne sinkt, wird in der Regel land e ntwickelte sich eine kontroverse Diskussion
bei Lohnverhand lungen diejährliche Inflationsra- um die Einführu ng eines gesetzlichen Mindest-
te mit berücksichtigt. Unte r dem Nominallohn ist loh ns. Dieser wurde 2015 verwirkl icht und wird
dabei das gezahlte Entgelt für geleistete Arbeit zu alle zwei J ahre überprüft. Die Anpassung des Min-
verstehen. Der Reallohn g ibt die Entwicklung der destlohns erfolgt durch die Mindestlohnkommis-
Kaufkraft der Löhne und Gehälter wieder, d. h. den sion. In diese werden jeweils drei stimmberechtig-
um die Inflation bereinigten Nom inallohn. te Mitglieder und ein beratendes Mitglied au f
1 2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Vorschlag der Spitzenorganisationen der Arbeit- beachten, dass sich der Anteil der Selbstständigen
geber und Arbeitnehmer von der Bundesregierung an den Erwerbstätigen von J ahr zu J ahr verändert.
berufen. Die ha uptsächlich von Arbeitgeberseite
prognostizie rte negative Auswirkung des Min- Dieser Effekt wird bei der Berechnung der berei-
destlo hns auf den Arbeitsmarkt ist bisher nicht nigte n Lohnquote berücksichtigt.
eingetreten.

Gibt es eine gerechte Einkommensverteilung?


Die Lohnquote - Maßstab für
Verteilungsgerechtigkeit? Zur Beurteilung der Einkommensverteilung wer-
den drei Konzepte genutzt:
Der Lohnquote ko mmt in der verteilungspolit i-
schen Diskussion eine besondere Bedeutung zu. • Nach dem Leistungsprinzip soll das Einkommen
Sie misst den Anteil der Einkommen aus unselbst- gemäß dem Beitrag verteilt werden, den der Ein-
ständiger Tätigkeit, also der Arbeitnehmerentgel- zelne zur Entsteh ung des Gesamteinkommens
te, am Volkseinkommen. Die Gewinnquote erfasst geleistet hat.
hingegen die Einkommen aus Unternehmertätig-
keit und Vermögen. Die Lohnquote wird oft als • Nach dem Bedarfsprinzip soll jeder so viel Ein-
Maßstab für die Gerechtigkeit der Einkommens- kommen erhalten, wie er zur Deckung seiner
verteilung betrachtet. Eine fallende Lohnquote Bedürfnisse benötigt. In einem Sozialstaat soll-
bedeutet eine relative Verschlechterung der Ein- ten zumindest die Grundbedürfnisse gewähr-
kommenssituation der Arbeitnehmer. Bei der Be- leistet werden. Weiter geht das Konzept eines
urteilung der Lohnquote ist zu berücksichtigen, Grundeinkommens.
dass auch Lohnempfänger Vermögenseinkünfte -
wie z.B. Zinsen oder Mieten - beziehen und der • Vertreter des Egalitätsprinzips dagegen fordern
Gewinnquote a uch die Arbeitseinkommen der eine Gleichverteilung der Einkommen, unab-
Selbstständigen zugerechnet werden. Weiter ist zu hängig von Qualifikation und Stellung.

Lohnquote in Deutschland

Der Anteil der Arbeitnehmer


Arbeitnehmerentgelte in Prozent des Volkseinkommens* in Deutschland(= Lohnquote)

71 ,0 71 •1 7o,9 67,7 66 6 65 5 68,4 66 8 66 1 67,7 67,8 68,2 68,0 68,3


% ' 64,3 63,6 , ' '

2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 20 15 2016

'Volkse;nkommeo = A,be;toehme,eotgelte + Uotemehmeos- ood Ve=ögeose;okommeo

Quelle: Statistisches Bundesamt © Globus


IG
12000
1
2.4 Einkommens- und Vermögensverteilung 1

Sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in an sich, sondern um die Möglichkeiten Einkom-
großen Teilen der politischen Parteien hat sich j e- men zu generieren. Hiernach sollen alle am Wirt-
doch der Grundsatz der Chancengerechtigkeit schaftsgeschehen Teilnehmenden die gleichen
bzw. - gleichheit durchgesetzt. In diesem Sinne Zugangs-, Aufstiegs- und damit auch Verdienst-
geht es weniger um die Verteilung der Einkommen chancen besitzen.

Korporatistische Aushandlungsprozesse -
der Staat als Rahmen setzender Akteur

In Deutschland (wie in den meisten entwickelten zu Lasten schwach oder gar nicht organisierter
Volkswirtschaften) besteht eine Vielzahl von lnte- Gruppen (> Kap. 4.3.2). Als klassisches Beispiel
ressenverbänden, von denen viele versuchen, für korporatistische Aushandlungsprozesse gilt
politische und wirtschaftliche Entscheidungen die in Deutschland stark ausgeprägte Sozialpart-
zu beeinflussen. In der Politikwissenschaft nerschaft. Das Aufeinanderprallen gegensätzli-
spricht man hierbei von Korporatismus. Dies be- eher Interessen, aber auch das Zusammenspiel
zeichnet die Einbindung von lnteressenverbän- der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbän-
den in den politischen und wirtschaftlichen Ent- de ist besonders in den Auseinandersetzungen
scheidungsprozess. Allerdings setzen Gruppen, um die Einkommens- und Vermögensverteilung
die besonders gut organisiert sind (bzw. deren zu beobachten. In diesem Prozess tritt der Staat
Interessen auch gut zu organisieren sind), ihre als Rahmen setzender und unter Umständen
Interessen stärker durch, gegebenenfalls auch vermittelnder Akteur hinzu.

Aufgaben
1. Beschreiben Sie die Unterschiede zwischen primärer und sekundärer Einkommensverteilung.

2. Recherchieren (, Methodenglossar) Sie den Verlauf einer aktuellen Tarifverhandlung. Erläutern Sie, wie Ge-
werkschaft und Arbeitgeber ihre Forderungen jeweils begründen.

3. Beurteilen Sie das Ergebnis der Verhandlungen vor dem Hintergrund der lohnpolitischen Konzeptionen in
Deutschland.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Ein verfrühter Abgesang auf die Soziale Marktwirtschaft

In seinem neuen Buch „ Verteilungskampf: Warum Deutschland immer ungleicher wird"


beklagt Marcel Fratzscher die wachsende Ungleichheit in Deutschland. Die Soziale
Marktwirtschaft existiere nicht mehr und Wachstumschancen gingen verloren. Hat er
recht? ÖkonomenBlog Autorin Karen Horn hat das Buch gelesen.

5 Dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, dass die Schere
zwischen den Einkommen oder Vermögen immer weiter klafft, gehört seit jeher zu den
Standardbehauptungen der Kapitalismuskritik. Viel Rechnerkapazität ist aufgewandt
worden und noch mehr Tinte geflossen, um nachzuweisen, in welchem Ausmaß dies
der Fall ist oder ob der Befund einer stetig zunehmenden materiellen Ungleichheit nicht
10 doch auf einer statistischen Täuschung beruht. Für Marcel Fratzscher indes, den Prä-
sidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW}, ist die Sache klar.
,,Deutschland ist heute eines der ungleichsten Länder in der industrialisierten Welt",
schreibt Fratzscher in seinem neuen Buch mit dem reißerischen Titel „Verteilungs-
kampf" . Damit aber nicht genug: ,,Das Erhardsche Ziel ,Wohlstand für alle' ist heute
15 nur mehr eine Illusion". Die von Erhard ins Leben gerufene Soziale Marktwirtschaft, ,,in
der die soziale Sicherung aller Bevölkerungsgruppen gewährleistet war" - sie existie-
re nicht mehr, und das nicht etwa deshalb, weil die Marktwirtschaft nach zahllosen
Eingriffen ihren Namen kaum mehr verdient. Untergegangen sei das Soziale. Als Beleg
seiner These präsentiert Fratzscher mit populärwissenschaftlich leichter Feder eine
20 schier erschlagende Fülle von empirischer Evidenz, illustriert mit Tabellen und Graphi-
ken.
Sein Kernbefund lässt sich in drei Beobachtungen zusammenfassen: In Deutschland
sei erstens das Vermögen nicht nur sehr ungleich verteilt, was unter anderem an dem
starken Besatz mit Familienunternehmen liege. Es falle trotz der legendär hohen Spar-
25 quote insgesamt auch im internationalen Vergleich gering aus, unter anderem deshalb,
weil die Deutschen außerordentlich untalentierte Anleger seien.
Zweitens habe auch die Ungleichheit von Löhnen, am Markt erwirtschafteter Einkom-
men und nach Steuern und Transfers verfügbarer Einkommen in den vergangenen
Jahrzehnten deutlich zugenommen, wozu auch die „Agenda 201 O" von Bundeskanz-
30 ler Gerhard Schröder (SPD) beigetragen habe. Dass gerade die sogenannten atypi-
schen Beschäftigungsverhältnisse eine Brücke in den Arbeitsmarkt bauen und deshalb
ein sonst verschüttetes Potential heben, streitet er ab.
Drittens lasse die sogenannte soziale Mobilität zu wünschen übrig, wobeii zu den größ-
ten Verlierern die Mittelschicht gehöre. ,,Nirgendwo bleibt Arm so oft Arm und Reich
35 so oft Reich ", schreibt Fratzscher anklagend; es gebe in Deutschland immer weniger
Aufstiegsgeschichten. Die staatliche Umverteilung sei außerstande, einen Ausgleich
zu schaffen, denn sie sei zwar umfassend, aber reichlich ineffizient. Allzu oft fließe das
Geld nur von den einen Bessergestellten zu den anderen Bessergestellten. Sowohl die
Fiskal- als auch die Geldpolitik trügen immer wieder zur Steigerung der Ungleichheit
40 bei, ebenso wie die externen Einflüsse Globalisierung und Digitalisierung. Insgesamt
bedinge dies einen dramatischen Mangel an Chancengleichheit; die Leidtragenden
seien alle. [...]
Fratzschers Abgesang auf die Soziale Marktwirtschaft ist gewiss verfrüht. In seinen
politischen Forderungen zur Stärkung besserer Chancen für alle gibt es trotzdem -
45 oder gerade deshalb - so manches, worin man ihm gerne folgt. So betont er zu Recht,
wie notwendig die Pflege der zu lange vernachlässigten Infrastruktur in Deutschland
ist, wie wichtig mehr Investitionen in frühkindliche Bildung sind oder wie nützlich ein
allgemeines Schulfach Wirtschaft wäre. Er mahnt an, die staatliche Umverteilung
schlanker, fokussierter und effizienter zu gestalten, und er ruft dazu auf, die nach
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

50 Deutschland zuwandernden Flüchtlinge rasch in den Arbeitsmarkt zu integrieren.


Aber Fratzscher ruft auch nach einer stärkeren Besteuerung des Kapitals, setzt dem-
gegenüber ein wenig zu optimistisch auf die Multiplikatorwirkung staatlicher Ausgaben
und liebäugelt mit einer Vermögenspolitik in Form einer „gezielten Förderung von Im-
mobilienerwerb" durch den Staat, obwohl er kurz zuvor selber darstellt, wie just eine
55 solche wohlmeinende Politik in den Vereinigten Staaten seinerzeit die große Immobi-
lienblase produziert hat, in deren Folge die ganze Welt in eine tiefe Krise rutschte - die
„verheerendste seit dem Zweiten Weltkrieg". Eine Erörterung, an welchen Stellen der
Staat die Chancen gerade für Menschen am unteren Ende der Einkommensverteilung
befördern würde, indem er hemmende Regulierungen lockerte und sich ein wenig
60 zurückzöge, fehlt.

Karen Horn lebt als freie Wissenschaftlerin und Publizistin in Zürich. Sie lehrt ökono-
mische Ideengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin und an der Universität
Erfurt.
Karen Horn, Ein verfrühter Abgesang auf die Soziale Marktwirtschaft, i11: Ökonomenblog
(Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft}, 15.3.2016

M 2 Einkommensschichten in Deutschland

Verteilung der Bevölkerung in Deutschland nach Einkommensschichten von 1995 bis 2014

100% 3,6% 3,2% 4,2% 4,4%


73% 8 4% 8,4% 9,1%
0)
C 9,6% 11 % 9,6% 10,4% 9,4%
2
~ 75%
"5 18,7% 15,7% 18,1% 16% 15,8%
ai
Cil
a;
-o 50%
·a; 27,5% 31,1% 26% 25,8% 24,4%
1=
<(

25%
24,1% 24,7% 24,1% 24,5%
22,6%

0%
1995 2000 2005 2010 2014
100% = Durchschnittseinkommen

■ weniger als 50% mehr als 100% bis 120% ■ mehr als 150% bis 200%
mehr als 50% bis 75% mehr als 125% bis 150% über 200%
■ mehr als 75% bis 100%
Quelle: S0EP '° Statista 201 7

Aufgaben
1 . Benennen Sie die Argumente von Marcel Fratzscher anhand der Darstellung von Karen
Horn (M 1).

2. Analysieren Sie die Grafik in M 2 (, Methodenkompetenz: Kritische Auswertung von


Statistiken).

3. Begründen Sie einen eigenen Standpunkt zur Kritik von Horn (M 1 ). Beziehen Sie M 2 in
Ihre Argumentation mit ein.
2 .4.2 Der Prozess der staatlichen Umverteilung

Leitfragen Welche Gründe werden für und Mit welchen Instrumenten Welche Bedeutung hat die
gegen eine staatliche Umvertei- kann der Staat die Einkom- Vermögensverteilung in einer
lung vorgebracht? mensverteilung verändern? Volkswirtschaft?

Warum werden Einkommen umverteilt?

Die Versorgung von nicht Erwerbstätigen, wie z.B. Der deutsche Einkommensteuertarif ist ein
Kinder, Jugendliche, Arbeitslose, Kranke und Mischsystem aus progressiven und proportiona-
Rentner erfordert eine Umverteilung des Einkom- len Tarifen.
mens. Aber auch Erwerbstätige können auf eine
Umverteilung a ngewiesen sein, wenn das eigene Während die Steuerprogression bei der Lohn- und
Einkommen nicht zur Sicherung der eigenen Exis- Einkommenssteuer in Deutschland a ls Teil eines
tenz ausreicht. Neben der informellen Umvertei- ausgleichenden Sozialsystems allgemeine Akzep-
lung in den Familien übernimmt deshalb der Staat tanz findet, wird regelmäßig über die konkrete
durch vielfältige Maßnahmen eine Umverteilung Ausgestaltung des Steuertarifs gestritten. Gegen
der Einkommen. zu hohe Steuersätze wird dabei meist das Argu-
ment vorgebracht, dass sie zu einer Minderung der
Staatliche Eingriffe in die Einkommens- und Ver- Leistungsbereitschaft, einem Ausweichen in die
mögensverteilung können darum als ein wesent- Schattenwirtschaft und Kapitalverlagerungen in
liches Element der sozialen Marktwirtschaft be- das Ausla nd führen können.
trachtet werden (> Kap. 2. 1.3). Inwieweit dies
jedoch zu gewünschten Ergebnissen führt, ist Im besonderen Fokus der Öffentlichkeit steht da-
stark umstritten, so dass die Ausgestaltung des bei der Spitzensteuersatz, der seit 1999 mehrmals
Umverteilungsprozesses über das Steuer- und So- gesenkt und 2007 für ein zu versteuerndes Ein-
zialversicherungssystem der ständigen politischen kommen über 250.000 Euro für Alleinstehende
Auseinandersetzung unterliegt. und 500.000 Euro für Verheiratete von 42 auf 45
Prozent angehoben wurde.

Umverteilung durch Steuern -


wer zahlt wie viel? Ist die Einkommensumverteilung effektiv?

Als zentrales Mittel der staatlichen Umverteilung Eine Einkommensumverteilung findet in Deutsch-
fungiert das Steuersystem und hier im Besonderen land in erheblichem Maß über das Steuer- und
die Ausgestaltung der Einkommenssteuer. Die Sozialversicherungssystem statt. Inwieweit diese
Einkommensteuer (ESt) ist eine Steuer, die auf das Umverteilungsvorgänge j edoch zu einer gleich-
Einkommen natürlicher Personen erhobe n wird. mäßigeren Einkommensverteilung fü hren, darü-
Sie stellt eine der wichtigsten Einnahmequelle n ber herrscht sowohl in der Wissenschaft als auch
des Staates dar. Der Einkommensteuertarif gibt in der öffentlichen Diskussion keine Einigkeit.
dabei an, wie v iel der Einzelne an Steuern auf sein Beobachten lässt sich jedoch, dass sich die Ein-
zu versteuerndes Einkommen zahlen muss. kommensverteilung in Deutschland in den letzten
Jahren zugunsten der Bezieher höherer Einkom-
Bei der Erhebung der Einkommensteuer wird ge- men - vor allem aufgrund vo n Einkünften aus
nerell zwischen einem progressiven und einem Vermögen - entwickelt hat. Stärker in den Blick-
proportionalen Tarif unterschieden. Bei einem punkt rückt deshalb die Vermögensverteilung.
progressiven Steuertarif werden hohe Einkom-
men prozentual h öher besteuert als geringe Ein- Individuelles Ve rmögen ermöglicht dem Besitzer
kommen. Beim proportionalen Steuertarif wer- die Erzielung von zusätzlichem Einkommen, ist
den alle Einkommen prozentual gleich besteuert. wichtig für die Alterssicherung, beeinflusst die
2.4 Einkommens- und Vermögensverteilung 1

Eckwerte im Einkommenssteuertarif 1998 bis 2017

80 % Grundfreibetrag in Euro (rechte Achse) · 10.000

70 %

.000

7.000

6.000

5.000 til
e
Spitzensteuersatz
4.000
{linke Achse)

3 .000
20 %
M+H 2.000
10 % Eingangssteuersatz 1.000
(linke Achse)
0 %...__ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ ____._o
1998 1999 2999 2991 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

201 : Eingangssteuersatz: ab 8.820€; Spitzensteuersatz: ab 53.666€; Reichensteuer: ab 256.303 €


Quelle: Bundesfinanzministerium (zuletzt 2016): Datensammlung zur Steuerpolitik sozialpolitik-aktuell.de

Aus bildung von Kindern meist positiv und kan n • Ein weiterer A nsatzpunkt ist die Erbschaftssteu-
wirtschaftl iche un d polit ische Macht verleihen. er, ergänzt durch die Schenku ngssteuer. S ie wird
Mit Blick auf d ie Cha ncengerechtigkeit (, Kap. in Deutschla nd seit 1906 erhoben u nd wurde
2.4.1) stellt s ich Frage, inwiefern eine st ark un- 2016 a ufg rund eines Urteils des Bundesverfas-
gleiche Vermögensverteilung wünschenswert ist. sungsgerichts neu geregelt. Umstritte n wa r und
Betrachtet man die Situation in Deutschland, ist ihre genaue Ausgestaltu ng. Ein wesentlicher
dann betrug das private Geldvermögen Ende 20 17 Streitpunkt besteht da rin, wie Betriebsvermögen
über 5,8 Billionen Euro. Noch mehr als beim Ein- beha ndelt werden müssen, um Familienunter-
kommen fällt die starke Ungleichheit bei der Ver- nehmen in ihrem Besta nd zu sch ützen. Grund-
mögensverteilung in Deu tschland a uf, welche sätzlich wenden die Kritiker dieser Steuer ein,
eine der höchst en im Euroraum ist (> Schaubild dass die Erbsch aftssteuer in das Eigentumsrecht
Vermögensverteilung auf der nächsten Seite). eing reift, seh r aufwendig in der Erhebung ist
und vergleichsweise wenig einbringt. Dagegen
wird eingewandt, dass d ies nur a n de n recht
Sollte die Vermögensverteilung hohen Freibeträgen und den in Deutschland
korrigiert werden? vergleichsweise geringen Erbschaftsteue rsätzen
liege.
Der St aat verfügt im Hinblick auf eine Umvertei-
lung der Vermögen über folgende Instrumente : • A m umstrittensten ist die Vermögensst eu er, da
sie eine Substanzsteuer ist u nd somit nicht au f
• Am unproblematischste n erscheint die Förde- la ufende Einkomme n bezogen ist. Sie w ird seit
rung der Vermögensbildung. Dies gescha h in 1997 in Deutschla nd nich t mehr erhoben, da das
Westdeutschla nd seit den J950er Ja hren. Da s ie Bundesverfassungsgerichtsurteil die da maligen
fast ausschließlich der Alterssic herung u nd der Bemessun gsgrundlagen fü r verfassungswidrig
Fina nzierung größerer A nschaffu ngen diente, erklärte. Die Wiedereinführung einer solchen
bl ieben die in diesem Zusamme nha ng gebilde- Steuer wird regelmä ßig in die öffentlic he Dis-
ten Vermögen allerdings besch rä nkt. kussion eingebracht.
2 Grundlagen der W irtschaftspolitik

Der Gini-Koeffizient der Vermögensverteilung ausgewählter Länder

0
00
0
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40

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a.,
0
(1J

~
\.'.)

Daten: Allianz Global Wealth Report 2 01 7

Aufgaben
1. Erläutern Sie, warum der Staat eine umverteilende Einkommenspolitik betreibt.

2. Erklären Sie, warum eine stark ungleiche Verteilung der Vermögen ein Problem für die Chancengerechtigkeit
innerhalb einer Gesellschaft sein kann.

3. Verfassen Sie eine kurze Rede(, Methodenglossar), in der Sie sich für bzw. gegen die Wiedereinführung der
Vermögenssteuer wenden.
METHODENKOMPETENZt

Auswertung von Statistiken

Eine Statistik ist die systematische Sammlung und • Säulendiagramm: verdeutlicht meist Zeitreihen.
Ordnung von Informationen in Form von Zahlen. • Punktediagramm : bietet sich an, u m Korrelati-
Diese Zahlen werden entweder in Tabelle n oder onsvergleiche darzustellen. Ein Korrelations-
optisch aufbereitet a ls Diagramme oder Schaubil- vergle ich gibt a n, ob die Relation (Beziehung)
der dargestellt und a usgewertet. Es gibt verschie- z wischen zwei Va riablen dem „norma len", d. h.
den e Arten von Diagrammen, die fü r u nterschied- erwarteten Muster folgt oder nicht.
lich e Zwecke geeignet sind:
Die verwend eten Zahlen ka nn man als absolute
• Kreisdiagramm: eignet sich besonders gut, um (gena ue, gerundete) Zahlen oder als P rozentza h-
Anteile a n Gesamtmengen darzustellen. len angeben. Einige Statistiken verwenden auch
• Balkendiagramm: stellt Zahlenwe rte in ihrer Indexwerte, d. h. Verhältniszahlen, die sich auf
Re ihenfolge dar. einen auf 100 gesetzten Wert eines Ausga ngsja h-
• Kurvendiagramm : ka nn Entwicklungslinien res beziehen und deren Veränderung im Verhä lt-
bzw. Trendkurven verdeutlichen. nis zu diesem Bezugspunkt betrachtet wird.

Schritt 1: 1. Einordnen und Beschreiben 1

• Wer hat in wessen Auftrag die Statistik erstellt? Müssen Begriffe geklärt werden?
• Wie wurden die Werte ermittelt? Ist die Erhebung repräsentativ?
• Welches Thema wird behandelt (Diagrammüber oder - unterschritt)?
• Was wird in Beziehung zueinander gesetzt?
• Welche Kriterien des Vergleichs werden verwendet?
• Welche Hinweise erhalten Sie aus der Form der Darstellung (Kreis-, Säulendiagramm etc.)?
• Welche Zahlenarten werd en verwendet (absolut/ relativ, Prozent- oder Indexzahlen)?
• Wiegenau sind die Zahlenwerte (gerundet, geschätzt, vorläufig, ,,k. A." = ,,keine Angabe")?
• Auf welc hen Zeitraum bezieht sich die Statistik?
• Wie sind die Achsen eingeteilt (Zeitsprünge, Maßeinheiten, Verzerrungen durch Gruppenbildung u. a.)?

Schritt II: Erklären

• Benennen Sie Minimal- und Maximalwerte.


• Beschreiben Sie Häufigkeitsverteilungen und zeitliche Entwicklungen (gleichmäßig, sprunghaft).
• Werden Verlaufsphasen deutlich (Zu- und Abnahme, Stagnation)?
• Prüfen Sie, ob sich die dargestellten Zahlen vergleichen lassen.
• Zeigen Sie zusammenhänge auf.
• Leiten Sie Entwicklungstendenzen und Arbeitshypothesen ab.

Schritt III: Bewerten

• Ist d ie gewählte grafische Darstellung geeignet?


• Wurden bei relativen Zahlenangaben die Bezugswerte genannt?
• Ist eine Vergleichbarkeit mit anderen Materialien möglich?
• Entspricht das statistische Material dem unterstellten Aussagewert?
1METHODENKOMPETENZ

Beispiele:

Einkünfte ... erzielten ... trugen


so viel % so viel %
und Steuerlast der der Ein-
gesamten kommen- Quelle: BMF,
Fortschreibung
Die
.. .
..
.......
Einkünfte
.......
steuerlast 2015

der Steuerpflichtigen ...

~-------------------------IZAHLENBILDERl-ffi
c Bergmoser + Höller Verlag AG 181 274

Nettovermögen der privaten Haushalte 2014

So ungleich ist Deutschland


722.000 Euro
Die privaten Haushalte verfügen über ein Nettovermögen von ...

500.000

300.000

100.000
-3.000 Euro

5. 10. 15. 20. 25. 30. 35. 40. 45. 50. 55. 60. 65. 70. 75. 80. 85. 90. 95.
Perzentil
Quelle: WSI- Verteilu11gsmo11itor 2016 / Hans Böckler Stiftung

1 Aufgabe

~ Sie die beiden Statistiken im Sinne der Methode aus.


METHODENKOMPETENZt

Manipulation des Betrachters von Diagrammen

Beim ersten Betrachten eines Diagra mms entsteht Mögliche Einflussgrößen:


der erste Eindruck von einem Sa chverha lt - der
,,Botschaft" des Diagra mms. • Auswahl des da rgestellten Zeitraums, bzw. der
einzelnen Datenpunkte
Dieser Eindruck, bzw. die Botschaft, wird dabei • Ska lierung der Achsen
du rch die Darste llung der Werte oder die Art des • Darstellung im Diagramm
Diagra mms stark beeinflusst. • Wahl der Art des Diagramms

Eine Statistik - zwei Darstellungen

Entwicklung Bilanzsumme (in Mio. Euro) Entwicklung Bilanzsumme (in Mio. Euro)

2.600 5.500
2.500 5.000
2.400 4.500
2.300 4.000
3.500
2.200
3.000
2.100
2.500
2.000
2.000 - -~r.w---
1.500 1.500
1.000 1.000
500 500
0 0
2001 2002 2003 2004 2001 2002 2003 2004

Aufwärtstrend Aufwärtstrend
(Entwicklung deutscher Messestände) (Entwicklung deutscher Messestände)

6,2
"' 9,6 158.060 6 ,2
"' 9,6

158.060

Au ssteller vermietet e Fläche Besuc her Ausst eller vermietete Fläc he Besucher
in Tausend in Mio . m 2 in Mio. in Tausend in Mio. m 2 in Mio.

Nach : Westdeutscher Rundfunk Köln , Mit Zali/en lügen, 2006

Aufgaben

1. Werten Sie die Statistiken „Entwicklung der Bilanzsumme" und „Aufwärtstrend" arbeitsteilig aus.

2. Vergleichen Sie die jeweiligen Statistiken miteinander.

3. Welche der Darstellungen halten Sie für weniger manipulativ? Begründen Sie Ihre Meinung.
Finanzpolitik
2.5.1 Aufgaben des Staates in der Finanzpolitik
Leitfragen Welche Finanzierungsquellen Welche Aufgaben hat die Wie ist das Steuersystem in
stehen dem Staat zur Verfügung? Finanzpolitik? Deutschland ausgestaltet?

Wozu braucht der Staat Geld?

Staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen eine aktivere Rolle des Staates ein. Unumstritten
erleben wir täglich unmittelbar: wir bezahlen ist dabei der Auftrag des Staates, einen Ordnungs-
Mehrwertsteuer beim Einkaufe n, sehen die Abzü- rahmen für die Wirtschaft herzustellen und zu
ge auf unserem Gehaltszettel, benutzen öffentli- gewährleisten (Ordnungspolitik). Ebenso trägt er
che Einrichtungen - kostenfrei oder gegen Gebüh- die Verantwortung für die öffentliche Infrastruk-
ren bzw. erhalt en Kindergeld oder Ausbildungs- tur. Zudem fällt dem Staat in der Sozialen Markt-
förderun g. Während v ielen diese staatlichen Ak- wirtschaft zusätzlich die Aufgabe der sozialen
tivitäten zu weit gehen, fordern andere hingegen Sicherung der Bürger zu.

Funktionen des Staatshaushaltes

Bedarfsdeckungsfunktion Umverteilungsfunktion Konjunktursteuerung

Finanzierung öffentlicher Güter Finanzierung von Maßnahmen Steuerung der Ausgaben und
wie z. B. Schulen, Verkehrswege zum Ausgleich sozialer Einnahmen um unerwünschten
oder Krankenhäuser Ungleichgewichte wie z. B. W irkungen von Konjunkturschwan-
Transferleistungen kungen wie z. B. Arbeitslosigkeit
entgegenwirken zu können

Nach : Jörn Altmann, Wirtschaftspolitik, 7. Aufl., 2000, S. 284

Die öffentlichen Haushalte -


was macht der Staat mit Geld?

Die Einnahmen und Ausgaben der staatlichen In- kalpolitik ist es, Struktur und Höhe der Staatsaus-
stitut ionen - auch öffe ntliche Hand genan nt - gaben zu bestimmen und mit Hilfe von Steuerein-
werden j ährlich in den öffentlichen Haushalten nahmen, von Abgaben und durch Kredita ufnahme
a ufgestellt. Aufga be der Finanzpolitik bzw. Fis- zu finanzieren.
2.5 Finanzpolitik f

Mehr als eine Billion Euro gibt der deutsche Staat • Nach der Ertragshoheit: Mineralöl- und Tabak-
pro Jahr aus, wovon der Bund den g rößten Anteil steuer stehen ausschließlich dem Bund zur Ver-
verteilt. Dazu ko mmen die Ausgaben der Länder, fügung, während die Einkommensteuer nach
der Kommunen sowie der Sozialversicherungen. einem bestimmte n Schlüssel auf Bund, Länder
Der Spielraum von Finanzministern und Kämme- und Gemeinden aufgeteilt wird. Gleiches g ilt für
rern ist j edoch deutlich geringer geworden, da die die Umsatzsteuer. Reine Ländersteuern sind die
Haushaltspolitik unter dem Zwang gesetzlich vo r- Kfz- und die Grunderwerbsteuer. Den Gemein-
gegebener Leistungen steht. den fließt die Gewerbe- und die Gru ndsteuer zu.

Wie finanziert sich der Staat? Durch Steuern steuern?

Seitjeher fordern Staaten von ihren Bürgern Steu- Steuern sind die wichtigste Einnahmequelle des
ern. Sie können so gegliedert werden: Staates zur Finanzierung der vielfältigen öffent-
lichen Aufgaben. Darüber hinaus kö nnen Steuern
• Direkte Steuern werden auf Einkommen und a uch zur Erreichung wirtschafts-, sozial- oder ge-
Vermögen erhoben. Hierzu zählen die Lohn-, sundheitspolitischer Ziele eingesetzt werden. So
Einkommens- und Körperschaftsteuer. Der werden z.B. Familien mit Kindern du rch Freibeträ-
Steuerzahler ist hier der Steuerträger. ge bei der Einkommensteuer gefördert, durch die
Erhöhung der Tabaksteuer soll gesu ndheitsschäd-
• Indirekte Steuern sind die Umsatzsteuer bzw. liches Verhalten sanktioniert werden, und schließ-
Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuern, wie z.B. lich gewährt der Staat Vorteile bei der Besteuerung
die Tabaksteuer. Sie sind in den Preisen der Pro- von jungen Unternehmen (Startups). Durch eine
dukte enthalten und werden von den Unterneh- bestimmte Steuerpolitik können also Personen-
men an den Staat gezahlt. Steuerträger sind die gruppen, Unternehmen oder Wirtschaftsbra nchen
Endverbraucher, also d ie privaten Haushalte, gefördert werden. Man spricht in diesem Zusam-
deren Belastung sich nach ihrem Verbrauch menhang deshalb von einer Lenkungs- und Um-
richtet und nicht nach dem Einkommen. verteilungsfunktion der Steuerpolitik.

Der Bundeshaushalt Veränderung zu


Ausgaben in Milliarden Euro Aufteilung 2017 (Soll) 2016 in Prozent
2007 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17
329,1 ■ Eil~HIIII Arbeit und Soziales @ +5,9 %
303 7 306,8 307,8 . 37,0 Verteidigung @ +7,9

■ 27,9 Verkehr, digitale Infrastruktur @ + 13,6

■ 20,0 Bundesschuld @ -20,8

117,6 Bildung, Forschung @ +7,6


1 15,2 Gesundheit @ +4,0
l 11,2 allgemeine Finanzverwaltung @ -24,9
19,5 Familie, Senioren, Frauen, Jugend @ +4,6
19,0 Inneres @ + 15,1

Nettokreditaufnahme in Milliarden Euro


18,5 Entwicklungshilfe @ + 15,3
17,7 Wirtschaft, Energie @ +1,5
1 6,2 Finanzen @ +5,2
16,0 Ernährung, Landwirtschaft @ +7--;-
0 0 0 0
15.6 Umwelt, Naturschutz, Bau, Reaktorsicherheit @ +23,7
Soll Soll
1 5,2 Auswärtiges @ +8,8

1~51 © Globus Quelle: Bundesfinanzministerium Stand Nov. 2016 Sonstiges 4,9


2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Daneben vergibt der Staat auch d irekte Subven- Trotz der genannten Einwände ist der Einsatz von
t ionen, Zahlungen ohne direkte Gegenleistungen Steuern und Subvent ionen zur Erreichung wirt-
zur Förderung eines bestimmten Ziels, etwa für schaftspolitischer Ziele allgemein akzeptiert. Be-
den Kohlebergbau, in der Landwirtschaft, in der sonders in der Sozialpolitik, der Strukturpolitik
Forschu ng, fü r So laranlagen oder für die Export- und zunehme nd auch in der Umweltpolitik sind
förderung. Da Subventionen einen Eingriff in das sie als Steuerungsinstrumente unverzichtbar.
Marktgeschehen bedeuten, sind sie umstritten Auch die Konjunkturpolitik wäre ohne den Ein-
und sollten nur in geringen Maßen angewandt satz finanzpolitischer Instrumente nicht denkbar.
und regelmäßig überprüft werden. Politisch Die Finanzpolitik ist somit - neben der Geldpolitik
scheint die Abschaffung einer Subvention aber oft (> Kap. 2.6), die aber einer direkten politischen
schwer durchsetzbar, besonders wenn einflussrei- Steuerung entzogen ist - das wichtigste Element
che Interessengruppen betroffen sind. der wirtschaftspolitischen Steuerung.

Unternehmenssteuern von 1996 bis 2016

Prozent 1
601~
55 l
:i

1997 2000 2003 2006 2010 2015 2016 J ahr


Quelle: KPMG: Corporate and lndlrect Tax Rate Survey 2007, 2009, 2016
Uzen~ Creative Commons by•nc-nd/3.0/de
BundesZentrale für polibsche Bildung 2017 1 www.bpb.de

Steuersätze in Prozent, j eweils am 1. Januar

Prinzipien des deutschen Steuersystems

Bei der Frage, wie Steuern auf die einzelnen Bür- rechtfertigen, da diejenigen, die Benzin tanken,
ger und Bürgerinnen aufgeteilt werden sollen, auch d iejen igen sind, die den Nutzen aus dem öf-
lassen sich zwei Prinzipien unte rscheiden: zum fe ntlich finanzierten Straßennetz ziehen.
einen das Äquivalenzprinzip und zum anderen
das Leistungsfähigkeitsprinzip. Nach dem Äqui- Da Steuern aber nicht zweckgebunden erhoben
valenzprinzip würde j ede Steuerbelastung den aus werden, der Steuerzahler also nicht den Anspruch
de n Leistungen empfangenen Vorteilen entspre- auf eine bestimmte Verwendung seines Steuerauf-
chen. Damit ließe sich etwa die Mineralölsteuer kommens hat, wird bei der Gestaltung des Steuer-
2.5 Fin anzpolitik f

systems auf das Leistu ngsfähigkeitsprinzip zurück steuertarif dient somit nicht nur der Finanzierung
gegriffen, d.h. die Steuern steigen progressiv mit der staatlichen Aufgaben, sondern auch dem Ziel
dem Einkommen. Der progressive Einkommens- der Umverteilung (>Kap. 2.4.2).

Steuerspirale 2017
Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden sonstige Steuern
138 Mio.€
734 513 Millionen Euro*
davon entfielen auf 143 • Zweitwohnungsteuer

349 • Hundesteuer

368 • Schaumweinsteuer

383 • Sport- und


Rennwettsteuer

nicht veranlagte • 451 • Feuerschutzsteuer


Steuern vom Ertrag
20 918 664 • Biersteuer
Solidaritäts- .
zuschlag 1 048 • Vergnügungsteuer
17 953
1057 • Kaffeesteuer

Tabaksteuer • 1121 • Luftverkehrsteuer


N
14 399
C 1453 • Lotteriesteuer
~
~
i5
Grundsteuer • 2094 e Branntweinsteuer
Q) 13 965
ö, 5063 . Zölle
C

Q) Versicherungsteuer •
J:J 6114
(/) 13 269 • Erbschaftsteuer
Ol
C
::, 6944 .
'O
C
13139. A • Stromsteuer
2 Grunderwerbsteuer W
8948 7333
Kfz-Steuer Abgeltungsteuer auf Zins- und Veräußerungserträge

121 @ Glob,s Quelle: BMF *7262 Mio. Euro für Erstattungen aus der Kernbrennstoffsteuer bereits abgezogen

Aufgaben
1. Beschreiben Sie die zentralen Funktionen des Staatshaushalts.

2. Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Die Staatseinnahmen sollen durch eine Steuererhöhung gesteigert
werden. Im Gespräch ist eine Erhöhung der Einkommenssteuer bzw. eine Erhöhung der Mehrwertsteuer.

a) Erläutern Sie die Wirkungsweise der Maßnahmen sowie deren sozialen Auswirkungen.
b) Welche Art der Besteuerung würden Sie bevorzugen? Begründen Sie Ihre Auswahl.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Breite Bevölkerungskreise zu entlasten, ist teuer

Lange Zeit war es ruhig um das Thema Steuern . Plötzlich aber ist die Forderung nach
Entlastungen wieder zurück auf der Agenda. Stefan Bach, Experte des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung, zeigt sich skeptisch. Es sei ziemlich teuer, breite
Bevölkerungskreise zu entlasten, gibt er zu bedenken.

s Herr Bach, zahlen Sie gerne Steuern?

Geht so. Steuern sind das Geld der Gesellschaft. Sie müssen sein, um den Staat zu
finanzieren. Aber anders als Sozialabgaben oder Gebühren bringen Steuern keine direk-
te Gegenleistung, da neigt man dazu, sich zu drücken. Dieser Grundkonflikt zwischen
kollektivem und individuellem Interesse prägt die Steuerpolitik seit Jahrhunderten.

10 Also zahlen Sie eher aus Einsicht, dass es eben sein muss ...

Genau. Der Staat braucht die Steuereinnahmen, um das gewünschte Maß an öffentli-
chen Gütern bereitzustellen, also Infrastruktur, Bildung, soziale Sicherung, Umvertei-
lung etc. Die gibt es auf dem Markt nicht zu kaufen. Und nicht zuletzt muss die Wirt-
schaft in Krisen stabilisiert werden, das geht nur mit einem starken Staat.

1s Allerdings empfinden die Deutschen anders als etwa Menschen in skandinavischen


Ländern das Steuersystem als ungerecht und neigen daher eher dazu, Steuern zu
vermeiden.

Die Deutschen sind sicherlich staatskritischer geworden, auch die Mittelschichten, die
eigentlich in erheblichem Umfang vom Staat profitieren. Dies erklärt einen gewissen
20 Widerstand gegen Steuerbelastungen und auch die Bereitschaft, Steuern ohne größe-
re moralische Skrupel zu hinterziehen.

Die Menschen mit mittleren Einkommen tragen mit ihrem Geld aber auch den Staat.

Richtig. Die Masse füllt die Kasse. Der Staat finanziert sich zum großen Teil über Lohn-
und Umsatzsteuer. Die zahlen die breiten Bevölkerungsschichten. Wenn eine Regie-
2s rung die Mittelschicht spürbar entlasten möchte, wird es gleich ziemlich teuer. Um die
riesigen Einnahmeausfälle zu kompensieren, muss die Politik an die Ausgaben heran
und dort kürzen. Das geht dann schnell ans Eingemachte, etwa bei Infrastruktur, Uni-
versitäten und Schulen oder bei den Sozialleistungen. Das bezahlen dann die Mittel-
schichten aus der linken Tasche, und langfristig leidet dann auch das Wachstum. [... ]

30 Andererseits eilen die Steuereinnahmen von Rekord zu Rekord . Ist nicht allein deswe-
gen eine Entlastung überfällig?

Die Geschichte von den ständigen Steuerrekorden ist ein Mythos. Die Wirtschaft und
unsere Einkommen wachsen ebenfalls Jahr für Jahr. Insofern ist es wenig verwunder-
35 lieh, dass auch das Steueraufkommen zunimmt. Die Steuerquote, also der Anteil der
Steuern am Bruttoinlandsprodukt, ist zwar in den letzten Jahren gestiegen. Sie liegt
aber noch unter den Niveaus früherer Zeiten wie Ende der 1990er Jahre oder Mitte der
1970er Jahre.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

Die zehn Prozent mit den höchsten Einkommen tragen über die Hälfte des Aufkom-
40 mens aus der Einkommenssteuer. Schröpft der Staat seine Leistungsträger?

Die Einkommenssteuer ist in der Tat progressiv. Das heißt: Die relative Belastung nimmt
mit steigendem Einkommen überproportional zu. Da gibt es dann die „kalte Progres-
sion". Die Einkommenssteuern machen aber nur die Hälfte des Steueraufkommens
aus. Besserverdiener zahlen relativ zu ihrem Einkommen weniger indirekte Steuern wie
45 Mehrwertsteuer oder Energiesteuern. Denn sie sparen einen höheren Anteil ihres Ein-
kommens und geben nicht alles im Supermarkt oder an der Tankstelle aus. Die
Gesamtbelastung ist gar nicht so progressiv.

Wissen wir überhaupt, wie viel die Reichen versteuern oder auch nicht?

Wir wissen, was sie versteuern, aber nicht, wie viel sie tatsächlich verdienen. Reiche
so und Superreiche können auf legalen oder illegalen Wegen ihr Geld ins Ausland bringen
oder anderweitig Steuern sparen. Hinzu kommt, dass sie ihre Vermögen in Unterneh-
men, Stiftungen oder „family offices" stecken haben. Diese Vermögenswerte, die in
den letzten Jahren wieder kräftig gestiegen sind, werden aber in den gängigen Belas-
tungsstatistiken gar nicht erfasst. Würde man das mit einbeziehen, läge die Steuerbe-
ss lastung der hohen Einkommen wohl niedriger.

Bei den Spitzeneinkommen hat die Politik draufgesattelt, etwa mit der Reichensteuer.
Ist da noch Spielraum?

Seit den 1990er Jahren haben viele Länder, auch Deutschland, hohe Einkommen und
Vermögen systematisch entlastet. Wir haben die Vermögenssteuer abgeschafft und
60 die Spitzentarife der Einkommenssteuer reduziert. Die Unternehmenssteuersätze, die
bei sehr hohen Einkommen eine Rolle spielen, sind ebenfalls gesunken. Und die Erb-
schaftssteuer dümpelt mit wenig Aufkommen dahin, trotz Erbschaftswelle.

Kann die Vermögenssteuer mehr Gerechtigkeit schaffen?

Die Vermögenssteuer ist ein schwieriges Geschäft. Sie wirkt ähnlich wie eine laufende
6s Steuer auf Kapitalerträge. Zusätzlich muss man aber das Vermögen erfassen. Dieser
Aufwand lohnt sich nur, wenn man daraus nennenswerte Einnahmen erzielt. Ein Auf-
kommen von zehn bis 15 Milliarden Euro im Jahr wäre durchaus möglich. Damit träfe
man vor allem die mittelständischen Unternehmen. Von dort kommt massiver Wider-
stand , siehe die gescheiterte Reform der Erbschaftssteuer.

In terview: Markus Sievers, www.fr-online.de, 27.1. 2 0 17

M 2 Steuerflucht von Konzernen

Wenn es um Steuervermeidung geht, stehen meist Konzerne wie Apple oder Starbucks
am Pranger. Doch auch Dax-Konzerne nutzen Steuergesetze für sich. Eine neue
Untersuchung zeigt, wie der Chemiekonzern BASF Steuerzahlungen drückt. {. . .}

s Wenn es um die Steuerflucht von Konzernen geht, denken viele zuerst an amerikani-
sche IT-Konzerne wie Apple, Google oder Amazon. Doch auch große europäische
Unternehmen nutzen Steuertricks, was in der öffentlichen Debatte manchmal unter-
geht. Die EU-Kommission hat bereits zwei europäische Konzerne im Visier. Der italie-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

nische Autohersteller Fiat nutzte illegale Finanztricks in Luxemburg und muss 20 Mil-
10 lionen Euro nachzahlen, entschied die Kommission schon 2015. Und nur wenige

Wochen nach der Apple-Entscheidung verkündete die Brüsseler Behörde, dass sie
gegen den französischen Energiekonzern Engie ermittelt, früher bekannt unter dem
Namen GOF Suez. Wieder stehen Finanzdeals in Luxemburg im Verdacht, die Steuern
illegal gedrückt zu haben. Allerdings sind in diesem Fall die Ermittlungen nicht abge-
,s schlossen, ein Urteil steht noch aus.
Die BASF-Analyse richtet nun den Blick auf deutsche Konzerne. Denn BASF ist ein
Traditionsunternehmen, das viel exportiert. Es steht beispielhaft für die deutsche Wirt-
schaft, ist derzeit der viertwertvollste Konzern im Dax, dem Ranking der größten Akti-
engesellschaften des Landes.
20 Die Untersuchung hat sich die BASF-Niederlassungen in vier Steueroasen angeschaut,

in Belgien, Malta, der Schweiz und den Niederlanden, und die Finanzberichte für die
Jahre 2010 bis 2014 ausgewertet. Unterm Strich steht eine grobe Schätzung, wie viel
Steuern BASF diesen Daten zufolge vermieden haben könnte. Der Report kommt auf
eine Summe von 923 Millionen Euro. [ .. .]
2s Der Vergleich von BASF mit dem Steuertrickser Apple erscheint zudem nicht unfair,

wenn man die konzernweite Steuerrate vergleicht. Professionelle Aktionäre schauen


gerne auf diese Kennzahl - und finden sie in der Regel umso besser, je niedriger sie
ist. BASF kam zuletzt auf einen Wert von 22,5 Prozent. Apple zahlte im gleichen Jahr
26,4 Prozent, also deutlich mehr. Der Fall BASF zeige, sagt der grüne EU-Abgeordne-
30 te Sven Giegold: ,,Deutsche Unternehmen benutzen wie andere Großkonzerne Steu-

ertricks, um hohe Millionenbeträge am Fiskus vorbeizuschleusen".


Um die Steuerflucht von Konzernen in Europa einzudämmen, hat die Europäische
Kommission gerade ein neues Gesetz vorgeschlagen. Es würde vereinheitlichen, wie
die Gewinne von Konzernen berechnet werden, auf die dann die Steuern angelegt
35 werden. Das wäre das Aus für viele Tricks - und würde sicherstellen, dass für multina-

tionale Konzerne und Mittelständler die gleichen Regeln gelten. Bisher besonders auf-
wendige Steuertricks lohnen sich umso mehr, je größer ein Unternehmen ist. Das
bevorzugt Großkonzerne im Wettbewerb mit kleineren Anbietern.
Die EU-Kommission hofft, dass die Firmen die Reform begrüßen. Tatsächlich würden
40 einheitliche !Regeln weniger Bürokratie für sie bedeuten. BASF befürwortet eine ent-

sprechende Einführung, wenn sie alle Ertragsteuern einschließt, sagt eine Sprecherin.
Doch dem Vorstoß müsste jedes EU-Land zustimmen. Die Niederlande gelten zwar als
beliebte Steueroase für deutsche Unternehmen, die Regierung hat zuletzt allerdings
mehrere Steuerreformen in der EU mitgetragen. Offen ist, ob Irland ein Veto einlegt.
45 Das Land fühlt sich gerade wegen der Apple-Entscheidung an den Pranger gestellt

und sieht sein Geschäftsmodell als Volkswirtschaft angegriffen. Das könnte dazu füh-
ren, dass das Land sich querstellt.

Bastian Brinkmann, www.sueddeutsche.de, 8.11.2016

Aufgaben
1. Beschreiben Sie an einzelnen Beispielen, welche Spielräume bei einer Reform des
Steuersystems bestehen. (M 1 - M 2).

2. Arbeiten Sie anhand einzelner finanzpolitischer Instrumente deren jeweilige Vor- und Nach-
teile heraus. Beachten Sie auch, welche Interessengruppen davon betroffen wären .

3. Diskutieren Sie die Aussage: ,,Bei wachsenden Steuereinnahmen sollte der Staat die
Steuern senken".
2.5.2 Staatsverschuldung

Leitfragen Was sind die Ursachen und Wie wird eine hohe Welche Mittel werden zum
Folgen einer Staatsverschuldung? Staatsverschuldung Abbau der Staatsverschuldung
beurteilt? vorgeschlagen?

Warum verschulden sich Staaten?

Dass sich Staaten verschulden, ist n icht ungewöhn- Teil seiner Einnahmen für Zinszahlungen ver-
lich, da es aufgru nd vo n Unsicherheiten bei der wandt wi rd und somit nicht für andere Ausgaben
Schätzung der Steuereinnahmen immer zu Abwei- zur Verfügung steht.
chungen vo n der tatsächlichen Entwicklung kom-
men kann. Zudem können im Laufe eines Jahres • Eine hohe Staatsverschuldung wird oft als unge-
Mehrausgaben oder neue Aufgaben entstehen, für recht gegenüber der nächsten Generation be-
deren Finanzierung dann Nachtragshaushalte auf- zeichnet, da diese die Schulden erbe und zurück-
gestellt werden müssen. zahlen müsse. Diese Argumentation übersieht
j edoch, dass zum einen die folgende Generation
Zur Deckung größerer Finanzierungslücken im auch von den getätigten Investitionen profitiert
Haushalt kann der Staat Wertpapiere z.B. in Form und zum a nderen die Ansprüche an den Staat, d. h.
von Bundesschatzbriefen oder Anleihen ausgeben, die Staatsanleihen, vererbt werden, wodurch ein
die über den Kapitalmarkt von privaten oder insti- Umverteilungseffekt innerhalb der nächsten Ge-
tutio nellen Anlegern (z.B. Banken und Versicherun- neration stattfindet (>Kap. 2.4). Die genannte Kri-
gen) gekauft werden. Staatsanleihe n sind am Kapi- tik trifft vor allem dann zu, wenn Staaten die auf-
talmarkt interessante Geldanlagen, da in der Regel genommenen Kredite vorrangig zur Finanzierung
bei einem geringen Risiko eine sichere Verzinsung des laufenden Konsums und weniger für Investi-
garantiert wird. tionen nutzen.

• Als kritisch ist eine hohe Staatsverschuldung dann


Steigende Verschuldung - zu beurteilen, wenn auf den Kapitalmärkten die
wachsende ökonomische Probleme? Kreditfähigkeit eines Staates in Zweifel gezogen
wird. Da Staatsanleihen ebenso wie Unterneh-
Häufig sind kreditfinanzierte Konjunkturprogram- mensanleihen Bewertungen durch Ratingagentu-
me im Rahmen einer anti-zyklischen Fiskalpolitik in ren erhalten, führt eine negative Bewertung meist
Reaktion auf rückläufige Wachstumsraten und stei- zu steigenden Zinsen. Im Extremfall wi rd der be-
gende Arbeitslosigkeit ein Grund für eine wachsen- treffende Staat da nn nicht mehr als kreditwürdig
de Staatsverschuldung, insbesondere dann, wenn eingestuft, was zur Zahlungsunfähigkeit führen
bei guter Ko njun ktur Steuereinnahmen nicht zur kann. In der Geschichte kam es immer wieder zu
SchuldentiJgung genutzt werden (> Kap. 2.2.3). Die solchen „Staatsbankrotten", für die es bisher - im
Budgetpraxis der Staaten scheint dies zu belegen. Gegensatz zu Unternehmensinsolvenzen - keine
Problematisch wird es dann, wenn es zu einer struk- Regeln gibt.
turellen Verschuldung kommt. Dies ist der Fall, wenn
die Steuereinnahmen die Ausgaben über einen län- Inwieweit es eine Höchstgrenze fü r die Staatsver-
geren Zeitraum nicht decken. schuldung g ibt, ist umstritten, da ein eindeutiger
Zusammenhang zwischen der Höhe der Staatsver-
In den Wirtschaftswissenschaften werden als nega- schuldung und daraus abzuleitenden negativen Fol-
tive Folgen einer wachsenden Staatsverschuldung gen nicht zu belegen ist. Auch die Maastricht- Krite-
folgende Punkte genan nt: rien, in der öffentlichen Diskussion als Maßstab fü r
die Staatsverschuldung in der Europäischen Union
• Staatsverschuldung kan n die Handlungsfähigkeit genutzt, sind kein wissenschaftlich begründetes,
eines Staates einschränken, da ein wachsender sondern ein politisch definiertes Ziel (>Kap. 5.3. 1).
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Staatsverschuldung in ausgewählten Industrie- und Schwellenländern 2018*


300%

a. 250% 235,96%
jjj
E
:::,
N
C 200%
0
~
-a;
a:
C
·;;, 150%
C
:::,
'O
-s
.c
108,02%
96,35%
~ 100% 87,33%
<ll
68,91 %
1
u5 50%
59,81 %
51 ,21 %

18,67%

0%
~<:'
-~
Ci

© Statista 2018 • Schätzungen des IWF für 2018

Wie hängen Staatsschulden und zung der Staatsverschuldung unumstritten. Als


Zahlungsunfähigkeit zusammen? eine Alternative oder Ergänzung zum Abbau der
Staatsverschuldung durch Kürzungen bei den
In der Regel tritt die Zahlungsunfähigkeit einer Staatsausgaben wi rd die Privatisierung öffentli-
Volkswirtschaft erst dann ein, wenn zu der Staats- cher Aufgaben vorgeschlagen, etwa beim Schul-
verschuldung und der ebenfalls zu berücksichti- bau, im Straßenbau, bei der öffentlichen Versor-
gen privaten Verschuldung ein hohes Leistungs- gung (Wasser, Müllabfuhr), gelegentlich sogar bei
bilanzdefizit hinzukommt. Betroffen davon ware n Gefängnissen (wie in den USA) und der öffentli-
in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahr- chen Sicherheit. ln solchen Fällen werden jedoch
hundert bisher hauptsächlich Schwellenländer; die Gestaltung und Qualität der öffentlichen Auf-
also sich noch entwickelnde Volkswirtschaften, gaben der politischen Entscheidung und Kontrol-
wie z.B. Mexiko und Argentinien. le entzogen. Auch sind die entstehenden Kosten
bei einer „öffentlich-privaten Partnerschaft"
In Folge der Finanzkrise 2007 /08 erhöhte sich j e- (ÖPP, auch PPP abgekürzt, public-private-part-
doch auch in mehreren Staaten der Europäischen nership) für die öffentliche Hand langfristig gese-
Union die Staatsverschuldung aufgrund des Ein- hen zum Teil deutlich höher als bei Durchführung
satzes von Konjunkturprogrammen und Ret- in Eigenregie.
tungsmaßnahmen für Banken (> Kap. 2.2.3)
sprunghaft. Beispielhaft dafür stehen die beiden Eher keynesianisch orientierte Ökonomen gehen
Staaten Spanien und Irland, die bis dahin relativ davon aus, dass die Staatsverschuldung vor allem
gering verschuldet wa ren. durch ein stetiges Wirtschaftswachstum - auch
gestützt durch kreditfinanzierte öffentliche Inves-
titionen - abgebaut werden kann, da wachsende
Wie ist ein Abbau der Staatsver- Einko mmen entsprechend mehr Staatseinnahmen
schuldung zu bewerkstelligen? bewirken. Zudem kann es auch sinnvoll sein, über-
schuldeten Staaten einen Schuldenerlass zu ge-
Auch wenn die Gefahr, die von einer hohen währleisten. Dadurch kann bestenfalls die Kredit-
Staatsverschuldung ausgeht, unterschiedlich be- würdigkeit wieder hergestellt werden. Schulden-
urteilt wird, so ist die Notwendigkeit einer Begren- erlasse wurden immer wieder gewäh rt, da so für
2.5 Fin anzpolitik f

die Kreditgeber ein völliger Ausfall der Kre- Eurozone: Staatsschulden und Defizit
ditrückzahlung vermieden werden kann. Das Angaben für 2017 jeweils in Prozent des Bruttoinlandsprodukts
H1ulh11t10berschun (+) bzw. -deflJlt (·) Schuldenstand am Jahresende
jün gste Beispiel ist Griechenland, dem 2012 Teile
~=:i~ " Malta 50,8 %
der Staatsschulden erlassen wurden. Zypern 97,5
Luxemburg
Deutschland 64.1
Niederlande 56,7
Griechenland 178,6
Haushaltsüberschüsse in Deutschland - alles Litauen 39,7
Slowenien 73,6
in den Schuldenabbau stecken? E,tland
l~and 68,0
Lettland 40,1
Aufgrund der positiven wirtschaftlichen Entwick-
lung erzielte die Bundesrepublik Deutschla nd in
Finnland
Osterreich
Slowakei
61,4

50,9
78,4 *
Belgien 103,1
den Jahren von 2014 bis 2017 j edes Jahr einen Italien 131,8
Frankreich 97,0
Haushaltsüberschuss. In der Öffentlichkeit wird Portugal 125,7
darum immer wieder darüber diskutiert, wie dieser Spanien 98,3
Ouollo: EU·Kornn-<$&ion °""'olungmilzwol_,_.....,._
Überschuss am sinnvollsten zu verwenden sei. In O GIOl><Js~

den Lösungsvorschlägen spiegeln dabei j eweils


unterschiedliche ökonomische Konzepte. Folgen- Staatsfinanzen
de Möglichkeiten st ehen im Raum: Angaben für die öffentlichen Haushalte in Deutschland in Milliarden Euro

2014 2015 2016 2017


Prognose
• Die Verwendung der Überschüsse zum Abbau 1500
1450,4
1414,7
der Staatsverschuldung. 1354,8
1400
• Die Senkung der Einnahmen bzw. eine Begren- 1306,8 1388,4
1431,3

zung der Zunahme durch Steuersenkungen. 1300 1333,9


■ Ausgaben 1 298,2
Man verspricht sich davon einen wachsenden ■ Einnahmen 1 258,4
1200
Konsum oder die Zunahme von privaten Inves- + 20,9 + 26,4 + 19,1
+ 8,6
titionen. Finanzierungssaldo
- 5,4
• Die Überschüsse könnten für zusätzliche staat- Mrd.€

liche Investitionen (in Verkehrsinfrastruktur, Bil-


dungssystem, Umweltschutz etc.) genutzt wer-
den, um durch eine verbesserte Infrastruktur
Wachstumseffekte für die Zukunft zu generieren.
DefiziVÜberschuss in %
der Wirtschaftsleistung•
= Maastricht-Quote

Oue41e: Stat. Bundesamt, ifo Institut


-0,2%
+ 0,3

rundungsbed. Differenzen
+ 0,7

- 1-
1 + 0,8

'Bruttoinlandsprodukt
-~ + 0,6

O Globus

Aufgaben

1 . Beschreiben Sie den Stand der Staatsverschuldung in der Eurozone. Recherchieren (, Methodenglossar) Sie
dafür auch die aktuellen Daten.

2. Analysieren Sie, welche Faktoren die beschriebene Staatsverschuldung verursacht haben können.

3. Nehmen Sie Stellung zur Aussage „Staatsschulden verstoßen gegen die Generationengerechtigkeit".
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Die „schwarze Null" ist eine gute Sache

Zum ersten Mal seit 1969 legt eine Bundesregierung einen Haushaltsentwurf ohne Neu-
verschuldung vor. Die „ schwarze Null" [für das Jahr 2016} ist eine gute Sache, meint
Wirtschaftsprofessor Hüther gegenüber tagesschau. de. Die Politik zeige Verantwortung.

Ist die „schwarze Null" eine gute Sache?

5 Sie ist gut, weil sie Versprechen wahr macht und Erwartungen einlöst. Sie zeigt, dass
die Finanzpolitik nach der Krise wieder auf Tragfähigkeit setzt. Die Bundesregierung
zeigt damit Verantwortung und Glaubwürdigkeit. Dies sind in der Politik wichtige
Standort- und Investitionsbedingungen. Der Verzicht auf weitere unkontrollierte
Kreditaufnahmen ist ein entscheidender Schritt, um künftig handlungsfähig zu sein.

10 Wird der Sparkurs irgendwann teuer, weil wichtige Investitionen nicht getätigt werden?

Es gibt einen lnvestitonsbedarf in der Infrastruktur von geschätzten 12 Milliarden Euro


pro Jahr. Diesen Betrag kann man durch Umschichtungen im Haushalt und durch die
Einbindung privater Investoren freisetzen. Die Konsolidierung schreddert nicht die
Infrastruktur. Das zu behaupten, ist unlauter. Im internationalen Ranking liegen wir
15 aufgrund unserer guten Infrastruktur und der Rechtssicherheit nach wie vor weit vorn.
Wir müssen allerdings auf der Ausgabenseite umschichten. Mit der Mütterrente und
dem Betreuungsgeld wurde Klientelpolitik betrieben, statt dies Geld für Investitionen
einzusetzen.

Wie wichtig ist ein ausgeglichener Haushalt für die Generationengerechtigkeit?

20 Wir dürfen künftigen Generationen nicht unsere Ausgaben aufbürden. Insofern ist dies
ein wichtiger und richtige Schritt. Noch besser wäre aber, man würde nicht zum Bei-
spiel mit der jetzigen Rentenpolitk die Beiträge für künftige Generationen in die Höhe
treiben.

Brauchen wir mehr Einnahmen?

25 Nachhaltig sorgt man für höhere Einnahmen nicht durch höhere Steuersätze oder neue
Steuern, sondern durch wirtschaftliche Dynamik. In den letzten Jahren haben wir eine
kräftige Volkswirtschaft und einen stabilen Arbeitsmarkt erlebt. Dadurch haben wir
dynamisch sich entwickelnde Steuereinnahmen und Sozialbeiträge. Je besser die
Wirtschaft läuft, desto mehr Einnahmen hat der Staat. Wir sind also auf gutem Wege.

30 Beschneidet die Politik durch die Schuldenbremse ihren Handlungsspielraum?

Eine Schuldenbremse im Grundgesetz ist natürlich immer nur die zweitbeste Lösung.
Eine kluge, vorausschauende Politik bräuchte dies nicht. Dass wir die Schuldenbrem-
se haben, ist eher ein Zeichen der Schwäche. Aber immerhin bindet sie die Politik. Man
kann fragen, ob ihr damit genug Flexibilität bleibt. Ich denke ja. Eleganter wäre aber
35 eine Konsolidierungspolitik ohne selbstverordnete Kandarre.

Michael Hüther ist Leiter des Instituts der deutschen W irtschaft in Köln. Seine Fo rschungsschwerpunkte
sind Konjunktu rprognosen und Krisenintervention.

Interview: Simone von Stosch, www.tagesschau.de, 22. / 0.2015


KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 2 Bundeshaushalt: Schäubles schwarze Null hat null Sinn

Ein Unternehmenschef, der bei niedrigen Schulden und Zinsen hoch rentable Investi-
tionen ablehnt, würde aus dem Amt gejagt. Doch für Finanzminister gelten andere
Regeln.

Wolfgang Schäuble ist stolz auf den neuen Bundeshaushalt für das kommende Jahr.
5 Als dieser in der vergangenen Woche in Berlin verabschiedet wurde, erhielt der Finanz-
minister viel Lob. Stolz zählte er die Errungenschaften auf: Trotz der Mehrausgaben für
Flüchtlinge habe man erneut einen Haushalt ohne Neuverschuldung erreicht. Zugleich
gebe man mehr Geld für die Infrastruktur aus, und auch für Forschung und Entwick-
lung.
10 In der offiziellen Darstellung der Bundesregierung hört es sich tatsächlich beeindru-
ckend an: Die Investitionsausgaben steigen demnach um fast sechs Prozent auf mehr
als 33 Milliarden Euro. Besonders stark werden die Verkehrsinvestitionen erhöht. Seit
Beginn der Legislaturperiode seien diese Ausgaben um stolze 25 Prozent gestiegen.
Für den Breitbandausbau, dessen Ausbau bislang mit 2,7 Milliarden Euro in den
15 Büchern steht, würden bis 2020 weitere 1,3 Milliarden Euro bereitgestellt.
Auf den ersten Blick scheinen die Zahlen enorm hoch. Dennoch sind diese Investitio-
nen weit davon entfernt, die Bedürfnisse der deutschen Wirtschaft zu erfüllen. Selbst
nach den neuesten Erhöhungen im Bundeshaushalt.
Die öffentlichen Investitionen in Deutschland reichen gerade einmal aus, um den Ver-
20 schleiß auszugleichen. Wenn vorher fast gar nichts mehr investiert wurde, bleibt die
Summe auch nach einem Plus von 25 Prozent niedrig. Die EU-Kommission hat be-
rechnet, wie viel voraussichtlich übrig bleibt, wenn man von den öffentlichen Investiti-
onen die fälligen Abschreibungen für Abnutzung abzieht. Ihr Ergebnis: null.
Das ist zwar besser als im Rest der Eurozone, der in langen Rezessionsjahren die
25 öffentlichen Ausgaben für Infrastruktur und Gebäude noch weiter kürzte. Aber es ist
auch viel weniger, als in Deutschland vor den Sparpaketen der Regierung Schröder
investiert wurde - oder im Rest der Eurozone vor der Krise von 2008.
Und es ist ganz klar zu wenig: Die deutsche Wirtschaft wächst im Trend um vielleicht
1,5 bis 2 Prozent pro Jahr. Die Bevölkerung wächst dank Zuwanderung. Der öffentliche
30 Kapitalstock aber bleibt bestenfalls unverändert. Im Klartext heißt das: Eine immer
größere Wirtschaft soll auf dem Fundament einer lnfrastrukturausstattung wie aus den
späten 1990ern stehen. Wie eine moderne, wachsende Volkswirtschaft ohne Verbes-
serungen in der Verkehrs-, Daten- und Verwaltungsinfrastruktur auskommen soll? Das
hat auch Finanzminister Schäuble noch nicht überzeugend erklären können.
35 All das ist längst kein abstraktes Problem mehr: Konkrete Schwierigkeiten mit der
Infrastruktur findet man inzwischen in allen Bereichen.
Nach Daten des ADAC haben Stauzeiten und Staulängen in den vergangenen Jahren
deutlich zugenommen. Das deckt sich auch mit Umfragen unter Unternehmern. Einer
Umfrage des Handwerksverbands Nordrhein-Westfahlen zufolge verlieren die Hand-
40 werker an Rhein und Ruhr in der Woche acht Stunden durch marode Straßeninfrastruk-
tur. Rund die Hälfte gibt an , der Zustand der Straßen habe sich in den vergangenen
zehn Jahren verschlechtert.
In anderen Ballungsgebieten sieht es nicht viel besser aus. Diese verlorenen Stauzeiten
sind Zeiten, in denen die Kleinunternehmer eben gerade keinen Kundenauftrag aus-
45 führen können, keinen Kurzschluss beheben und keine Maschine reparieren können.
Kein Wunder, dass derzeit die gemessene Produktivität der deutschen Wirtschaft nur
noch im Schneckentempo zulegt.
Trotz der Initiativen zum Breitbandausbau liegt Deutschland bei der Internetversorgung
weit hinter anderen Ländern. Nach jüngsten Zahlen der Industrieländerorganisation
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

50 OECD kommen auf 100 Einwohner gerade einmal 37,6 Internetanschlüsse - in der
Schweiz waren es mehr als 50, selbst im traditionell Internet-skeptischen Frankreich
waren es noch 40,4 . Bei der gemessenen durchschnittlichen Download-Geschwin-
digkeit rangiert Deutschland bestenfalls im Mittelfeld. [...]
Und bei den Ausgaben für Bildung rangiert das vermeintliche Land der Dichter und
55 Denker in der Statistik der Industrieländerorganisation OECD im hinteren Drittel. Wäh-
rend Finnland 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung ausgibt und selbst
Großbritannien noch 5,5 Prozent, ist den Deutschen ihr Bildungssystem gerade einmal
4,2 Prozent des BIP wert - wen iger als den Polen, Mexikanern oder Türken, die alle-
samt mehr ausgeben.
60 Geld ist natürlich nicht alles im Bildungssystem. Es sollte aber nicht überraschen, wenn
fehlende finanzielle Mittel in der Bildung am Ende das Vorankommen der deutschen
Wirtschaft ähnlich hindern wie versäumte Investitionen im Straßenbau.[ ... ]
Schäuble mahnt, man dürfe sich „nicht auf den erreichten Erfolgen ausruhen". Laut
dem Finanzminister haben auch glückliche Rahmenbedingungen wie der Rückgang
65 der Zinsen zu der schwarzen Null beigetragen. Um bei einem Zinsanstieg nicht in
große Defizite zu laufen, müssten deshalb heute die Ausgaben begrenzt werden.
Das Argument gilt sicher, wenn die Frage ist, ob Steuergeschenke oder soziale Wohl-
taten verteilt und mit neuen Schulden finanziert werden sollen. Solche Maßnahmen
kosten heute, ohne morgen etwas einzuspielen. Das Argument geht aber völlig ins
10 leere, wenn die Frage ist, ob lnfrastrukturinvestitionen auf Pump gemacht werden
sollten.
Natürlich werden die Zinsen irgendwann steigen. Allerdings wären ja die Zinsen für
Investitionen, die der Bund heute tätigt und mit etwa 30-jährigen Anleihen finanziert,
über die Laufzeit festgeschrieben. [ ... ]
15 Selbst wenn der Staat nur einen Teil dieser Gewinne über höhere Steuereinnahmen
wieder einstreichen kann: Vom aktuellen Zinsniveau nahe Null ist eine Menge Luft für
höhere Zinsen, bevor sich solche Ausgaben für den Finanzminister nicht mehr rentie-
ren. Oder anders ausgedrückt: Ausgaben in Infrastruktur und Bildung dürften aller
Voraussicht nach Schäubles Nachfolgern mehr Steuereinnahmen bringen, als sie an
80 Zinsen kosten.
Man kann es leider nicht oft genug wiederholen: Wirtschaftlich ist es ein grober Fehler,
bei massivem Investitionsbedarf auf schuldenfinanzierte Investitionen zu verzichten.
Jeder CEO, der für sein Unternehmen bei niedrigem Schuldenstand und niedrigen
Zinsen hoch rentable Investitionen ablehnt, würde von den Aktionären zu Recht aus
85 dem Amt gejagt. Nur in der Politik scheint man es als Tugend anzusehen, das Funda-
ment der Vo lkswirtschaft auf dem Altar der schwarzen Null zu opfern.

Sebastian Dullie11 ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft
Berlin und Senior Policy Fellow am European Councilfor Foreign Relations.

Sebastian Dullien, www.zeit.de, I. J 2.2016

Aufgaben

1 . Fassen Sie die Argumente aus M 1 für die Einhaltung der „schwarzen Null" zusammen.

2. Erläutern Sie, warum es aus der Sicht von Sebastian Dullien keinen Sinn macht, die
..schwarze Null" einzuhalten (M 2).

3. Begründen Sie eine eigene Position zu der Kontroverse


Geld- und Währungspolitik
2.6.1 Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank

Leitfragen Welche Aufgaben hat eine Welche Strategie verfolgt die EZB in Wo liegen die Grenzen
Zentralbank? der Geldpolitik? der Geldpolitik?

Wer betreibt Geldpolitik?

Täglich bezahlen wir unsere Einkäufe mit Geld Die Unabhängigkeit der EZB ist in Art. 130 und
ode r sparen es für größere Ansch affungen. Doch 282 des „Vertrages über die Arbeitsweise der Eu-
wie viele Zinsen erhalte ich auf das Sparguth a- ropäischen Union" (AElJV) verankert. Danach
ben ? Wie v iel Zinsen muss ich zahlen, wenn ich dürfen weder d ie EZB noch eine nationale Zent-
mir Geld leihe? Bildet sich der Zinssatz nach An - ralba nk Weisungen von politischen Instanzen
gebot und Nachfrage a uf de m Ma rkt? Und wie entgegennehmen. Die Unabhä ngigkeit der EZB
wird der Wert des Geldes eigentlic h gesichert? All wird dadu rch deutlich, dass sie freie Hand bei der
diese Fragen sind eng verbu nden mi t dem Geld- Festlegung der Strategie, der Auswahl und dem
system, an dessen Sicherung Staaten ein erhebli- Einsatz der geldpolitischen Instrumente hat. Lan-
ches Interesse haben. ge Amtszeiten fü r die Mitglieder des EZB-Rates
(acht Ja hre, keine Wiederwahl möglich) sollen die
Die meisten Volkswirtschaften ve rfügen zur Regu- personelle Unabhängigkeit gara ntieren.
lierung der Geld- und Kreditversorgung und des
Geldumlaufs über eine staatlich e Zentralbank
ode r Notenbank. Sie ist v erantwo rtlich fü r die Welche Ziele verfolgt die Europäische
Ausgabe der Ba nknoten un d verwaltet die Wäh- Zentralbank?
rungs reserven. Oft übernehme n Zentralbanken
auch die Au fga be der Ba n kenaufsicht. Zent ral- Das zentrale geldpolitische Ziel der EZB ist die
ba nken sind zumeist u nabhä ngig von politischen Gewährleistung der Geldwertstabilität im Euro-
Weisungen, um einen di rekten Einfluss der Polit ik raum. Als Zielgröße hat sich die EZB einen An-
auf die Geldpolitik zu vermeiden. stieg des Preisniveaus v on unter, aber nahe 2 Pro-
zent gesetzt. Ma ßgröße für die Geldwertstabilität
ist der Harmonisierte Verbrauch erpreisindex, der
Wie ist das europäische System die Entwicklung der Verbraucherpreise fü r a lle
der Zentralbanken organisiert? beteiligten Eurostaaten in gleiche r Weise erfasst.
Weite r hat die EZB bzw. das ESZB die Aufgabe,
Die wirtschaftspolitischen Aufgaben einer Zent- die Wirtscha ftspolit ik in der EU zu unterstützen,
ralb ank werde n unter dem Begriff der Geldpolitik soweit dies die Preisniveaustabilität nicht gefähr-
zusam mengefasst. Die Zentralba nk für Deutsch- det (Art. 127 AEUV).
la nd ist die Deutsche Bundesba nk. Mit de r Einfüh-
rung des Euro wurden 1999 die geld- und wäh- Die genaue Zielsetzung der Geldpolitik wird in
rungspolit ischen Kompetenzen vo n den natio nalen Wissenschaft und Politik unterschiedlich defi-
Notenba nken der a m Euro teil nehmenden Staaten niert. In der Praxis lässt sich das unterschiedliche
auf die Europäische Zentralbank (EZB) übertra- Verständnis der Aufgaben einer Notenba n k an-
gen. Sie bildet mit allen nation alen Zentralba nken ha nd der EZB und der US-Notenban k (Federal
der EU-Staaten das Europäische System der Zen- Reserve System, ,,Fed") verdeut lichen: Wä hre nd
tralbanken (ESZB). die EZB die Erreichung der Geldwertstabilität als
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Nationale Zentralbanken
des Euro-Währungsgebiets
,__
Europäische
Zentralbank
__
...,_
übrige nationale Zentralbanken
der EU

Direktorium
Präsident und Prasident und
Vizeprasident
der [Z B und vier •••••• Vizeprasident
der EZ B
EURO - weitere Mitglieder

SYSTEM
Präsidenten

• EZB- ••
der nationalen : Rat :
Zentralbanken
des Euro- ••• •••
Währungsgebiets
•••••
1
bestimmt die Geldpolitik beschließt über Maßnah- Europäische
im Euro-Raum. men für einen reibungs-
setzt die Leitzinsen fest.
genehmigt die Ausgabe
- losen Zahlungsverkehr,
Ober Fragen der Finanz-
Zentralbank
von Euro-Banknoten aufsicht usw.
(EZB)
IZAHLENBILDER Im
c Bergmoser + Höller Verlag AG 751560

vorrangiges Ziel hat, definiert die Fed zusätzlich rauf Zinsen zahlen. Erhöht die EZB die Zinsen, zu
zur Geldwertstabilität einen hohen Beschäfti- denen sie Zentralbankgeld abgibt, verteuert sie
gungsstand als Ziel. deren Kreditaufnahme. Die Banken geben ihre hö-
heren Geldbeschaffungskosten an die privaten
Kreditnehmer - Unternehmen und private Haus-
Wie wirkt sich die Geldpolitik halte - weiter, indem sie höhere Zinsen für ihre
der EZB auf die Wirtschaft aus? Bankkredite verlangen. Dies kann zur Folge ha-
ben, dass kreditfinanzierte Investitionen für Un-
Die Zentralbank besitzt das Monopol auf das Zen- ternehmen unrentabel werden bzw. Konsumenten
tralbankgeld, bestehend aus Bargeld und Einla- angesichts höherer Zinsen kreditfinanzierte An-
gen der Gesch äftsbanken. Privatbanken können schaffungen verschiebe n. Dem hingegen kann die
durch Kreditvergabe zwar ebenfalls Geld schöpfe n EZB durch eine Senkung der Zinsen versuchen,
(Giralgeld), müssen sich aber selbst bei der Zent- die Investitionsneigung bei Unternehmen sowie
ralbank mit Bargeld versorgen und somit „refi- die Konsumausgaben zu fördern.
nanzieren". An dieser Stelle kann die Zentralbank
mit ihrem geldpolitischen Instrumentarium anset- Der Wirksamkeit geldpolitischer Maßnahmen sind
zen und den Geschäftsbanken Liquidität bereit- Grenzen gesetzt. Selbst steigende Zinsen dämpfen
stellen oder entziehen. Das Ziel von expansiven die Investitions- und Konsumbereitschaft in einem
oder restriktiven Maßnahmen der Geldpolitik ist Konjunkturaufschwung nicht, wenn die Rentabili-
es, den Nichtbankensektor - also die private Wirt- tät von Investitionen höher ist als die Kreditzinsen
schaft - zu beeinflussen. und dfr Einkommen steigen. Umgekehrt führt ein
niedriger Leitzins nicht zu mehr Investitionen und
Will ein Unternehmen investieren oder ein priva- kreditfin a nzierter Konsumnachfrage, wenn die zu-
ter Haushalt ein Auto anschaffen, wird meist ein künftige Wirtschaftsentwicklung negativ einge-
Kredit bei einer Geschäftsbank au fgeno mmen. schätzt wird. Ebenso schränkt die Zunahme inter-
Diese muss sich aber selbst mit Zentralbankgeld nationaler Finanzströme die Ha ndlungsmöglich-
versorgen und wie bei jeder Kreditgewährung da- keiten der Notenbanken ein.
2.6 Geld- und Währungspolitik f

Das Instrumentarium der EZB - damit jedoch erschöpft. Die EZB legte deshalb
Refinanzierungsgeschäfte im Mittelpunkt verschiedene Programme zum Ankauf von lang-
fristigen Anleihen auf dem Kapitalmarkt a uf, wo-
Im Mittelpunkt des geldpolitischen Instrumenta- durch sich die Zentralbankgeldmenge erheblich
riums der EZB stehen die den Banken wöchentlich ausweitete. Diese seit Anfa ng 2015 von der EZB
angebotenen Hauptrefinanzierungsgeschäfte mit betriebene Politik der quantitativen Lockerung
einer Laufzeit von einer Woche. Dabei handelt es (quantitative easing) ist j edoch umstritten.
sich um Kredite, mit denen die Zentralbank den
Geschäftsbanken Zentralbankgeld zur Verfügung
stellt. Die EZB berechnet hierfür einen Zinssatz, Die EZB-Politik in der Sackgasse?
den Hauptrefinanzierungssatz, der als europäi-
scher Leitzins gilt. Zur Kreditsicherung überlassen Der Erfolg - und auch die Rechtmäßig keit - der
die Banken der EZB während der Laufzeit einen quantitativen Lockerung werden sowohl in den
entsprechende n Bestand an sicheren Wertpapie- Wirtschaftswissenschaften als auch in der Politik
ren. kontrovers diskutiert; selbst das Bundesverfas-
sungsgericht war mit de r Problematik beschäftigt.
Durch die nahtlose Aneinanderreihung vo n Refi- Die folgenden Einwände werden vorgebracht:
nanzierungsgeschäften (zwischen einem Tag und
mehreren Monaten) steuert die EZB die Liquidität • Die EZB übertritt mit dem Ankauf von Staatspa-
der Geschäftsbanken und das Zinsniveau. Ein so- pieren ihr Mandat und finanziert dadurch indi-
genannter Zinskorridor ergibt sich durch den (ver- rekt die Staatsschulden der Euroländer, was ihr
gleichsweise hohen) Zinssatz für Übernacht-Kre- nicht erlaubt ist;
dite bei der EZB (Spitzenrefinanzierungsfazilität) • Der Ankaufvon Staatspapieren der Krisenländer
einerseits, dem (niedrigeren) Zinssatz für Bank- vermindert den Druck a uf diese, die Staats-
einlagen bei der EZB andererseits. Dazwischen schulden abzubauen und strukturelle Reformen
bewegt sich der Zinssatz für die Hauptrefinanzie- vorzunehmen;
rungsgeschäfte. Der wichtige Tagesgeldzins am • Das Ziel, den Unternehmen günstige Kredite zu-
Geldmarkt, an dem sich z. B. Geschäftsbanken kommen zu lassen und damit Investitionen an-
untereinander Geld leihen, bewegt sich zumeist in zuregen, wird nicht erreicht;
der Nähe des Leitzinses. • Stattdessen führt die Ausdehnung der Geldmen-
ge zu erhöhten Preisen auf Aktien- und Immobi-
lienmärkten und befördert die Angst vor Speku-
Die Finanzkrise -
Wendepunkt in der Geldpolitik?
Entwicklung der Leitzinsen
2005 2010 2015 2018
Als Reaktion auf die Finanzkrise 2007 /08 senkten
alle wichtigen Notenbanken die Leitzinsen, um die 7 t t
Konjunktur anzuschieben und deflationären Ten- % GBR
denzen entgegen zu wirken. Durch die Eurokrise 5,75
...
% --+-------,t----t-------t~-t-----+~-t-----+-~ t-------+--~
6 USA
ab 2010 verschärfte sich die Situation so, dass
mehrere Euroländer vo r der Zahlungsunfähigkeit 5
standen, Banken von der Pleite bedroht waren und
dem Euroraum auseinanderzubrechen drohte. 4

3
Aus Sicht der EZB musste das starke Ansteigen der
Zinsen auf die Staatsa nleihen der Krisenländer
2
verhindert und dem Bankensystem genügend Li-
quidität zur Verfügung gestellt werden. In den fol-
genden J ahren bewegten die Leitzinse n sich folg-
lich in den meisten wichtigsten Volkswirtschaften 0
gegen null Prozent. Der Spielraum für eine kon-
dpa,27833 Quelle: Notenbanken
ventionelle Geldpolitik mit Hilfe des Leitzinses war
2 Grundlagen der W irtschaftspolitik

Was ist Quantitative Lockerung?


Bei einer „Quantitativen Lockerung" nimmt die Menge, also die Quantität des Zentralbankgeldes, zu.
Im Idealfall kommt das zusätzliche Geld bei Unternehmen und Verbrauchern an und hilft der Wirtschaft.

..
Eine Notenbank „druckt" ... um Wertpapiere, meist Durch den Erwerb will die
für sich Geld (meist in Staats- oder Unternehmens- Zentralbank langfristige
elektronischer Form), ... anleihen, zu kaufen. Zinsen drücken.

... und so die Wirtschaft Denn mehr Kredite können Die Notenbank will, dass
ankurbeln. zu mehr Investitionen Investoren so günstiger an
führen .. . frisches Geld kommen.

Stand April 2016 Quelle: dpa, Bundesbank

lationsblasen, da das „billige Geld" n icht investiert Ausbau der Infrastruktur in den Bereichen Bil-
wird, sondern in spekulative A nlagen fließt ; du ng, Gesu ndheitswesen und Ökologie a u fgelegt
• Der Zinssatz für einfach e Spare inlagen bewegt werde n. Aus neoliberaler bzw. n eoklassischer
sich durch d ie locke re Geldpolitik gegen Null. Sicht dagegen wi rd auf die Notwendigkeit weite-
Spa ren z. B. für die private Alterssicheru ng w ird rer Strukturreformen h ingewiesen, die bei einer
damit unrentabler. lockeren Geldpolitik eher au fgeschoben würden.

Die Verteidiger der EZB- Polit ik weisen darau f hin, Vor de m Hinterg rund der positiven konjunktu rel-
dass a llein die Geldpolitik der EZB die Eurokrise len Situ ation in Europa (2018) stellt sich die Frage,
eingedämmt habe. Die Ankündigu ng des EZB- Prä- ob die umfa ng reichen Progra mme der quantitati-
sidente n Draghi am 26. Juli 2012, a lle zur Verfü- ven Lockerung zurückgefahren u nd die Leitzinsen
gung stehe nden Mittel zur Rettung des Euro ein- nach und nach wieder erhöht werden müssen.
zusetzen, sei e rfol greich gewesen. Auch habe die Währe nd die Fed seit Ende 2015 e ine schrittweise
lockere Geldpolitik den Ko njunkturaufschw ung leicht e Erhöhung der Leitzinsen betre ibt, hat die
im Euroraum gestützt. EZB im Juni 2018 entschieden , dass sie ihr Kau f-
prog ra mm schrittweise zurückfah ren möchte. Sie
Aus keynesia nischer Sicht stößt die Geldpolitik belässt jedoch den Leitzins vo rerst bei null P ro-
de r EZB a n Grenze n und müsste durch eine ex- zent. Die Frage, ob, wann und wie d ie Leitzinsen
pansivere Fiskalpolitik ergänzt werde n. So könn- w ieder erhöht werden sollen, wird die Geldpolit ik
ten z. B. au f EU-Ebene Förderprogramme zum in den nächsten Jah ren bestimme n.

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie einige ökonomische Rahmenbedingungen, die eine Notenbank zu einer Erhöhung
der Leitzinsen veranlassen könnten.

2. Erläutern Sie die Auswirkungen einer Leitzinserhöhung auf die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung.

3. Erörtern Sie die Probleme eines Leitzinssatzes von Null Prozent.


KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Draghi verteidigt den Euro gegen eine irrationale Marktpanik

Noch nie in der jüngeren Finanzgeschichte haben drei Worte eines Zentralbankers so
durchschlagende Wirkung gehabt. Die EZB werde „alles Notwendige tun" (,,whatever
it takes"), um den Euro zu erhalten, sagte Maria Draghi vor zwei Jahren. ,,Und glauben
Sie mir, es wird genug sein", fügte er hinzu. Die Rede auf einer lnvestorenkonferenz in
s London am 26. Juli 2012 schlug an den Märkten ein wie der Blitz. Die zuvor stark
gestiegenen Zinsen für Krisenländeranleihen fielen sturzartig, der Euro stabilisierte
sich, die Börsenkurse sind steil gestiegen. Es waren „magische Worte", sagt Holger
Schmieding von der Berenberg-Bank, ein eifriger Eurobefürworter. Draghi habe den
Euro „gegen eine irrationale Marktpanik verteidigt".

Der Draghi-Effekt auf die Zinsen EZB-Präsident Maria Draghi

==.
Renditen zeh njähriger Staatsanleihen in Prozentn , am 26.7.2012 in London:
. . . . .!. . . G·~-;~~h~·~·j·~·~i·. . . . . . . . . . . . . r. . . . . . . . . . . . . . . . . . .T.... .......,7.6. . . ,,~~,EJ! ~!r:;~Ir~z~o:;~~t~i~.e .........
2.51... ::=.P_?rtu~a1............................._.........;.............................. Und glauben Sie mir, es wird
! - Spanien ' ausreichen."
20···•···
...... - Italien
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... '" ............ .............._., .............,........................... .............·.......... ..... ,:..........................................,........................................
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· Frankreich
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...10.;...........................................t". .
5,9
3,6
. . . s.1- - 2,7

2009 2010 2011


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2013
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201 4 1,2
2,5

1) Jüngster Stand: 25.7.2014, im Tagesverlauf. Quelle: Bloomberg / F.A.Z.-Grafik Brocker

P/J ilip Plickert, www.Jaz.net, 25.7.2 0 14

M 2 Wer kann Mario Draghi stoppen?

[F]ür Finanzpolitiker der großen Koalition und für deutsche Ökonomen ist die EZB nicht
mehr tabu. Man müsse aus dem Agieren der Zentralbank in der Euro-Krise den Schluss
ziehen, dass im EZB-Rat gerade keine unabhängigen Experten säßen, kritisiert der
Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung, Garsten Linnemann. Hans-Werner Sinn,
s scheidender Präsident des lfo-lnstituts in München, wirft der EZB in einem Beitrag für
die F.A.Z. Selbstherrlichkeit, Überdehnung ihres Mandats und Umgehung demokrati-
scher Hürden vor. Selbst der Wirtschaftsweise Peter Bofinger, normalerweise der EZB
wohlgesonnen, sagt: ,,Draghi hat überzogen."
Das ist heftig. Und es geht weit über die Kritik an einzelnen geldpolitischen Maßnah-
,o men und ihren unerwünschten Folgen hinaus. Die Kritiker bemängeln, die EZB über-
dehne ihr Mandat und missbrauche ihre Privilegien: Zur Disposition steht die Unab-
hängigkeit der Notenbank. [ .. .]
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

Tatsächlich ist sich die Wissenschaft bis heute einig, dass unabhängige Zentralbanken
erfolgreicher dabei sind, eine stabilitätsorientierte Politik umzusetzen. Daraus folgt: Die
15 Errichtung der Bundesbank unabhängig von politischem Einfluss kommt einer gewoll-
ten Selbstentmachtung des Parlaments gleich. Der demokratische Staat gründet eine
Staatsbank und erklärt zugleich im Interesse des Wohles seiner Bürger alle Entschei-
dungen dieser Bank für sakrosankt. Zusätzlich wird die unabhängige Macht der Bank
durch eine lange Amtszeit ihrer Führungsfiguren sichtbar gemacht. [ ...]
20 Das Mandat, das die Unabhängigkeit begründet, kann man eng oder weit interpretie-
ren. Seit Beginn der Finanz- und Euro-Krise verfolgt Mario Draghi eine extrem expan-
sive Geldpolitik mit Mitteln, die auch er selbst als „unkonventionelle Maßnahmen"
betrachtet: Die Bank kauft in großem Stil Staatsanleihen, neuerdings auch Unterneh-
mensanleihen , verlangt von den Geschäftsbanken Strafzinsen auf Einlagen [...). Vor
25 allem: Draghi verspricht, auf Gedeih und Verderb den Euro zu retten (,,whatever it ta-
kes"). [...]
Der EZB-Präsident ist geschickt genug, alles, was er unternimmt, als vom Mandat
gedeckt zu deuten. In keiner seiner Reden kommt er ohne die Formel „within our
mandate" aus, mit der er sich den Freifahrschein ausstellt. Draghis deutsche Kritiker
30 bezweifeln die Legitimität. ,,Wie eine Dampfwalze" rolle Draghi über alle rechtlichen
Bedenken hinweg und leugne Grenzen des Mandats, kritisiert der Freiburger Rechts-
gelehrte Dietrich Murswiek. Otmar lssing, lange EZB-Chefvolkswirt, beklagt eine
„Überfrachtung" der Aufgaben. Auch eher linke Kritiker wie der Ex-Wirtschaftsweise
Bert Rürup oder DIW-Chef Marcel Fratzscher machen sich diese Kritik zu eigen und
35 reden von Überdehnung.
Alle monieren, Draghis unkonventionelle Maßnahmen hätten gefährliche Verteilungs-
wirkungen. Sparer fühlen sich enteignet, Mieter klagen über Preissteigerungen, Aktio-
näre jubeln (in den vergangenen Monaten allerdings weniger). Die Stimmung in der
Bevölkerung kippt: Seit langem schon fühlen sich viele Deutschen von der EZB nicht
40 mehr vertreten, verschwinden in die innere Emigration und zweifeln, ob Geld überhaupt
noch etwas wert ist. Einige fragen noch grundsätzlicher: Kann es das Mandat der EZB
mit einschließen, den Euro um jeden Preis zu retten? Ist dafür nicht die Politik zustän-
dig? [...)
Tatsächlich können die Akteure im EZB-Rat - es sind die Notenbankgouverneure der
45 Eurostaaten - nicht von ihren nationalen Interessen absehen und Klientelpolitik vermei-
den. Nehmerländer ziehen Geberländer über den Tisch, wie die Aktionen zur Rettung
des Euros gezeigt haben. Kritiker dieser Entscheidungen wie der deutsche Bundes-
bank-Chef Jens Weidmann können leicht übergangen werden, da jedes Land nur eine
Stimme hat (neuerdings durch Rotation sogar noch weniger) und da nicht nach Kapi-
50 taleinlagen oder Wirtschaftskraft differenziert wird. Sabine Lautenschläger, die zweite
Deutsche im EZB-Rat, steht ohnehin unter Konformitätserwartung, weil sie Mitglied in
Draghis Schattenkabinett ist, dem Direktorium.

Rainer Hank, www.faz.net, 7.4.2016

Aufgaben

1. Beschreiben Sie unter Zuhilfenahme der Grafik, welche Wirkung die drei Worte „alles Not-
wendige tun" (,,whatever it takes") des Zentralbankers Maria Draghi entfaltet haben (M 1).

2. Erläutern Sie die Einwände gegen die geldpolitischen Entscheidungen der EZB (M 2).

3. Begründen Sie Ihre eigene Position zu den Ausführungen der „Draghi-Kritiker".


2.6.2 Wechselkurssysteme und Währungspolitik

Leitfragen Welche Wechselkurssysteme Warum schwanken 1 Welche Bedeutung haben


kann man unterscheiden? Wechselkurse? Wechselkurse für den
Außenhandel?

Was sind Wechselkurse?

Bei Zahlungen über die Landesgrenzen hinweg Umtausch großer Mengen von Devisen genehmigt
müssen in der Regel einheimische Zahlungsm ittel werden.
in auslä ndische umgetauscht werden. Solche
Tauschgeschäfte erfolgen zum jeweils gültigen Die USA gaben 1971 die Golddeckung des Dollars
Wechselkurs der Währungen. Unter einem Wech- wegen zunehmender Verschuldung auf - unter
selkurs versteht man dabei das Austauschverhält- anderem aufgrund der Finanzierung des Vietnam-
nis zweier Währungen. fremde Währungen wer- kriegs. 1973 hoben die meisten am System betei-
den auch als Devisen bezeichnet, deshalb spricht ligten Staaten die Bindung ihrer Währungen an
man auch von Devisenkursen. den Dollar auf, woraufhin sich zwischen den ent-
wickelten kapitalistischen Volkswirtschaften ein
Historisch haben sich Systeme vo n festen bzw. System freier Wechselkurse durchsetzte (> Kap.
fixen und freien bzw. flexiblen Wechselkursen 5.3. 1). Dazu trug auch die nach und nach erfolgte
herausgebildet. In einem System fester Wechsel- Freigabe des Kapitalverkehrs und der damit rapide
kurse werden die Kurse von den beteiligten Staa- steigende Umfang des Devisenhandels bei.
ten fixiert. Abweichungen vom Kurs sind inner-
halb festgelegter Bandbreiten zugelassen. Bei
stärkeren Schwankungen müssen die j eweiligen Welchen Einfluss haben Wechsel-
Zentralban ken durch Zu- oder Verkäufe ihrer kurse auf die Wirtschaft?
Währung oder anderer Devisen intervenieren.
Kommt es zu längeren Abweichungen vom fest- Ein fester Wechselkurs bietet Unternehmen Pla-
gelegten Kurs, wird ein neuer Leitkurs fixiert. In nungssicherheit bei Im- und Exporten. Jedoch
einem System freier Wechselkurse bilden sich die- verläuft die wirtschaftliche Entwicklung in ver-
se nach Angebot und Nachfrage an den Devisen- schiedenen Volkswirtschaften unterschiedlich,
börsen. was sich auf die Produktivität, die Preise und die
Löhne auswirkt. Blickt man beispielsweise auf
zwei Volkswirtschaften mit unterschiedlichen
Feste und freie Wechselkurse Preisniveaus oder vergleicht eine mit stabilen
Preisen mit einer Volkswirtschaft mit einer hohen
Traditionell wurden Wechselkurse staatlich fi- Inflationsrate, dann können dadurch Vor- und
x iert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Nachteile im Wettbewerb für diejeweiligen Unter-
Wechselkurssystem geschaffen, das nach dem Ta- nehmen entstehen. Dies kann zu Ausfuhrüber-
gungsort benannte System von Bretton Woods, schüssen einerseits und zu einer Auslandsver-
in dem die Alliierten schon im Juli 1944 die zu- schuldung andererseits führen. In Folge dessen
künftige Währungsordnung berieten. Der US- Dol- verändern sich die Im- und Exportströme u nd
lar, im Verlauf des Zweiten Weltkriegs zur stärks- entsprechend auch die Nachfrage nach denjewei-
ten Währung geworden, wurde zur Leitwährung ligen Währungen.
bestimmt. Die Kurse aller anderen teilnehmenden
Währungen wurden jeweils im Verhältnis zum Diese sich unterschiedlich entwickelnden Wettbe-
US- Dollar fix iert. Dieser wiederum konnte j eder- werbsbeding ungen können im Falle von festen
zeit (theoretisch) in Gold eingetauscht werden, da Wechselkursen durch Auf- und Abwertungen und
der Wert eines US-Dollars in Gold garantiert war im Falle von freie n Wechselkursen über das Fallen
(Goldstandard). Ergänzt wu rde das System durch bzw. Steigen der Devisenkurse am Markt ausge-
Kapitalverkehrskontrollen; so musste z.B. der glichen werden. Solche Wechselkurssysteme er-
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Wechselkurs des Euro gegenüber dem US-Dollar von 1999 bis 2016

1,5

1,4

1,3
f,fi
(/)
:::>
II 1,2
0:
:::>
UJ

1,1 1,07

0,9
1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

Quelle: EZB © Statista 2017

füllen - in begrenztem Maße - die Funktion eines und Devisenspekulationen durch Banken, Versi-
Ausgleichsmechanismus zwischen den verschie- cherungen, Investmentfonds und Hedgefonds, die
denen Volkswirtschaften. kleinste Zinsunterschiede und Devisenschwan-
kungen zwischen verschiedenen internationalen
Börsenstandorten zu kurzfristigen Geschäften
Wieso nehmen Staaten Einfluss auf die ausnutzen. Da die Kursbewegungen somit in ei-
Wechselkurse? nem abnehmenden Zusammenhang zu realwirt-
schaftlichen Aktivitäten stehen, ergeben sich da-
Der Wechselkurs kann von Staaten im internatio- raus zunehmend Risiken für international tätige
nalen Wettbewerb als Instrument zur Exportför- Unternehmen. Die Planungssicherheit sinkt und
derung genutzt werden. Eine Unterbewertung der es entstehen Kosten aufgrund der Absicherung
Währung verschafft Vorteile fü r d ie Exportwirt- vor Kursschwankungen.
schaft. So war die Deutsche Mark im Laufe der
l 950er und 60er Jahre gegenüber dem Dollar
meist unterbewertet, was für die Exporte der west- Wieso betreiben einige Notenbanken
deutschen Wirtschaft in dieser Zeit förderlich war. ,,Kurspflege" für ihre Währungen?
Eine systematische Unterbewertung des Wechsel-
kurses wird z.B. China seit Jahren vorgeworfen, Sind Notenbanken im System der festen Wäh-
besonders von Seiten der USA. rungskurse dazu verpflichtet, durch An- und Ver-
käufe ihrer Währungen oder vo n Fremdwährun-
Die durch die internationalen Handelsströme aus- gen den Währungskurs zu stützen, fä llt diese
gelösten Devisenbewegungen mache n inzwischen Aufgabe bei freien Wechselkursen grundsätzlich
j edoch nur noch einen kleinen und ständig ab neh- weg. Notenbanken können j edoch weiterhin den
menden Teil an den gesamten Währungsbewe- Währungskurs durch Geschäfte auf dem Devisen-
gungen aus. Größeren Einfluss auf die weltweiten markt beeinflussen. Die Schweizer Notenbank
Devisenbewegungen haben heutzutage die rasant beispielsweise stabilisierte vo n 2011 bis 2015
gewachsenen internationalen Kapitalbewegungen durch Devisenan- und -verkäufe den aufgrund der
2.6 Geld- und Währungspolitik f

Eurokrise steigenden Kurs des Sch weizer Franken ,,Kurspflege" bei der Größe des täglichen Devisen-
bei ca. 1,20 Fra nken pro Euro, u m Nachteile für ha ndels, insbeson dere bei Währungsspekulat io-
die Expo rtwirtschaft und den einheimischen Tou- nen noch sinnvoll bzw. überhaupt möglich ist, ist
rismus abzuschwächen. Wie weit eine solche umstritten.

f Wechselkurs-
systeme
< f• •'j
Eurozone- ~~ :-~
.... l ~ ~:--.
..--,"\
J

....
---. .,..

--.. feste Bindung


an eine andere Währung/
Quelle:
Bundesbank/ lWF
1 einen Währungskorb
weniger feste flexible Wechselkurse,
(Stand: 2013, Wechselkursanbindung häufigere Interventionen möglich
Eurozone 2014)
sonstige Lenkungs- frei schwankende
regelungen Wechselkurse
ffi ZAHLENBILDER
<D Bergmoser + Höller Verlag AG 625 103

aben
chreiben Sie die Funktionsweise des Bretton-Wood-Systems.

2. Nehmen Sie Stellung zu der Aussage „Ein schwacher Euro hilft der deutschen Wirtschaft".
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Währungsmanipulation durch die EZB?

Donald Trump hat dem US-Handelsdefizit den Kampf angesagt. Nun liefert ihm aus-
gerechnet die Bundesbank Argumente, um gegen die Euro-Zone vorzugehen: Europa
könnten harte Sanktionen drohen. [... ]
Mit entsprechender Sorge dürften Berlin und Brüssel deshalb die aktuellen Äußerun-
5 gen der Bundesbank vernommen haben . Denn was diese in ihrem Monatsbericht
verkündet, könnte den neuen Machthaber in Washington ernstlich erzürnen. Nach
ihrer aktuellen Studie hat die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB)
den Euro künstlich geschwächt. Vor allem die Beschlüsse zu billionenschweren Anlei-
hekäufen bewirkten seit 2014 eine Abwertung des Euro um 6,5 Prozent. Die gleichzei-
10 tige Straffung der Geldpolitik in den USA im gleichen Zeitraum habe mit 6,8 Prozent
einen ähnlichen Effekt gehabt.
Seit 2014 hat die Gemeinschaftswährung ein Fünftel zum Dollar abgewertet. Die Bun-
desbank hat nun quasi amtlich gemacht, dass rund 14 Prozent der Abwertung auf die
Geldpolitik der EZB zurückzuführen sind. Für Donald Trump, der sich selten mit Details
15 aufhält, ist es nun ein leichtes, die EZB der Währungsmanipulation zu beschuldigen
und die Länder der Euro-Zone mit Sanktionen zu belegen. Es wäre das erste Mal seit
1994, dass ein Land als Währungsmanipulator gebrandmarkt wird. Damals war es
China, das beschuldigt wurde, den Yuan künstlich zu drücken, 1988 gerieten Korea
und Taiwan in die Kritik. [... ]

20 Anlässe für Trump gäbe es auch so schon genug. Die Vereinigten Staaten verbuchen
mit der Euro-Zone ein gigantisches Außenhandelsdefizit. Die Amerikaner kaufen der-
zeit für insgesamt rund 100 Milliarden Euro mehr Waren und Dienstleistungen in Euro-
pa ein, als sie selber auf dem Kontinent absetzen.
Allein Deutschland ist für rund die Hälfte des amerikanischen Handelsbilanzdefizits
25 verantwortlich, aber auch andere Länder der Währungsunion erwirtschaften in den
USA ein Plus.
Der neue US-Präsident hat dem amerikanischen Handelsbilanzdefizit nun aber den
Kampf angesagt. In seinen Augen werden die USA durch einseitige Freihandelsverträ-
ge oder unfaire Wirtschaftspraktiken anderer Staaten ausgeraubt. Bereits in den ersten
30 100 Tagen seiner Amtszeit will Trump auf diesem Gebiet handeln.

Draghi kommt der schwache Euro gelegen


Da kommt ihm die Bundesbank-Studie vermutlich gerade recht. In ihrer Studie unter-
suchten die Experten die Reaktionen am Devisenmarkt auf die Geldpolitik der Eu-
ro-Wächter im Zeitraum 2014 bis Ende 2016. Während vor allem die Ankündigungen
35 des Anleihekaufprogramms zu einer Abwertung des Euro führten, hatten die späteren
tatsächlichen Bondkäufe nach den EZB-Beschlüssen keine signifikanten zusätzlichen
Auswirkungen auf den Kurs.
EZB-Chef Maria Draghi betont zwar in jeder Sitzung, dass die Währungshüter keine
aktive Wechselkurspolitik betreiben würden. Das sei allein schon wegen der internati-
40 analen Vereinbarungen verboten. Gleichwohl kommt Draghi eine Abschwächung des
Euro nicht ungelegen. Denn dadurch verteuern sich etwa Importe in den Euro-Raum,
was die aus EZB-Sicht zu niedrige Inflation antreibt. Zudem werden Produkte aus dem
Währungsgebiet dadurch auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger, was der Exportwirt-
schaft zugutekommt.
Holger Zschäpitz, www.welt.de, 24. 1.2017
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 2 Droht uns ein Währungskrieg?

Um den aktuellen Wettstreit zwischen Euro und Dollar zu verstehen, lohnt ein Blick in
die Historie: In den Anfängen der heutigen Geldsysteme war eine wichtige Vorausset-
zung verankert, nämlich dass Geld nur in bestimmter Menge vorhanden war und zu
Zeiten der „Golddeckung" exakt der hinterlegten Menge an physischem Edelmetall
5 entsprach. Man ersparte den Besitzern der Edelmetalle durch die Einführung von
Papier-Äquivalenten schlichtweg den komplizierten Transport und die riskante Aufbe-
wahrung. Sie entstanden indem von sogenannten Geldverleihern Quittungen zur
Bestätigung der Hinterlegung ausgestellt wurden. [ ... ]
Über mehrere Zwischenlösungen bildeten sich irgendwann staatliche Ausgabestellen
10 von Geld, die wir heute als Notenbanken kennen. In den heutigen Volkswirtschaften
arbeiten wir mit einem ungedeckten Papiergeldsystem, das von unabhängiger Seite
an die Leistungsfähigkeit einer jeweiligen Produktionsgesellschaft und deren Vermö-
gen gekoppelt ist. Die verfügbare Geldmenge soll also möglichst kongruent zur ge-
samten Gütermenge und vorhandenen Produktionspotenzialen sein. [... ]
15 Das gegenwärtige Geldproduktionsmonopol haben die staatlichen Zentralbanken
inne, sie gelten als unabhängig von der Politik und haben sich der Währungsstabilität
verpflichtet. Läuft es in einer Volkswirtschaft einmal nicht so gut, weil zum Beispiel
fiskalpolitische Rahmenparameter versagen, ist der Anreiz groß, mittels geldpolitischer
Eingriffe die internationalen Wechselkurse nicht nur indirekt, sondern auch direkt zu
20 beeinflussen. Ein veritables Beispiel dafür liefert die Europäische Zentralbank (EZB),
die seit Ausbruch der Finanzkrise viele Maßnahmen der Geldvermehrung in Angriff
genommen hat. [... ]
Die USA sind es schon länger gewohnt, mit dem Dollar Politik zu betreiben und der
frisch gewählte 45. Präsident gibt sich besonders Mühe, seinen zentralen Handelspart-
25 nern unlautere Währungsmanipulation zu unterstellen. Die wichtigsten unter ihnen sind
Deutschland, Mexiko, China, Japan und Korea - vor der Schelte der Trump-Adminis-
tration ist aber derzeit kaum ein Partner sicher.
Nach den Vorwürfen gegen Deutschland , die Euro-Währung zu eigenen Gunsten zu
steuern, richtete sich der Affront gegen Nippon und wiederum China. Nach Trumps
30 Auffassung würden beide Länder die global geltenden Spielregeln nach Gutdünken
auslegen und ihre eigenen Währungen ständig abwerten. ,,Und wir sitzen hier wie eine
Horde Dummköpfe", sagte Trump am Rande einer Veranstaltung der Pharmaindustrie
Amerikas. Noch schneller als die prompte Verneinung aus Tokio war das Dementi der
Bundeskanzlerin zu hören, die jegliche Spekulation über die Integrität sowohl der Bun-
35 desbank als auch der EZB entschieden zurückwies. An den Verunglimpfungen konnte
dieses Dementi aber nicht mehr rütteln. [... ]
Die auffällige Häufung und ungewöhnliche Schärfe der Beschimpfungen aus Washing-
ton schüren nun die Sorge, dass sich die USA nach zwei Jahrzehnten endgültig vom
bisherigen Credo eines starken Dollar lossagen könnten. Einst beschied John Connal-
40 ly, US-Finanzminister unter Richard Nixon, den Rest der westlichen Welt: ,,Der Dollar
ist unsere Währung, aber euer Problem." Befürchtet wird diesmal, dass Trump womög-
lich sogar ganz bewusst einen Währungskrieg mit dem Rest der Welt anzetteln könn-
te. Damit offenbart sich, dass die protektionistischen Ziele seiner Administration ganz
offensichtlich auch Währungsfragen beinhalten.
45 Ein finaler Schritt bis zur Abkehr vom bisherigen System freier Wechselkurse wäre
dann auch nicht mehr allzu weit. Vorerst halten sich aber die Argumente für und wider
den US-Dollar die Waage. Für den US-Dollar spricht, dass die amerikanische Wirt-
schaft sich in guter Verfassung befindet: Es herrscht quasi Vollbeschäftigung und die
Unternehmensgewinne steigen kontinuierlich. Unter dem Strich wächst die Wirtschaft
50 zwar noch eher moderat (BIP 2016 nur +1,6 Prozent) - aber immerhin besser als in
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

Europa und die Inflation ist für die Notenbanker noch immer zu niedrig. Optimale Vo-
raussetzungen für eine fortgesetzte Anhebung des US-Leitzinses und damit implizit
einer weiteren Dollarstärkung.
Das überbordende Argument für eine starke US-Währung heißt aber „America first":
55 Künftig sollen die Importe im Rahmen bleiben, d. h. man erzieht den US-Konsumenten
zu „Buy American", somit kann das chronische Leistungsbilanzdefizit spürbar zurück-
gehen. Wenn die Industriepolitik eines St aates gänzlich aus dem Ruder läuft, sind
sogar Eingriffe der Notenbanken möglich, doch nicht immer sind sie erfolgreich. [ ...]
Derzeit herrscht am Devisenmarkt [zudem] eine Situation, die die Trump-Administrati-
50 on unter Druck bringt, denn Trump kann keinen starken US-Dollar brauchen (,,lt's killing
us"). Will sie wie versprochen Jobs in die USA zurückzuholen, braucht sie einen deut-
lich schwächeren US-Dollar. Damit amerikanische Exportwaren für Ausländer günsti-
ger werden und ausländische Produkte in den USA teurer angeboten werden.
Um einen Währungskrieg oder Abwertungswettlauf an den Finanzmärkten beginnen
65 zu können, müsste Trump allerdings zunächst die US-Notenbank Federal Reserve als
Hüterin des Dollar auf seine Seite ziehen. Ein schwacher Dollar und in der Folge stei-
gende Importpreise würde zudem die Inflation in Amerika anfachen. Dies ist zwar in
Maßen gewünscht , deutlich wahrscheinlicher als ein Währungskrieg ist aus Trumps
Sicht aber eine Aufkündigung bestehender Handelsabkommen Amerikas mit seinen
10 Handelspartnern.

Carsten Mum m, Chefvolkswirt und Leiter der Kapitalmarktanalyse bei der Privatbank Donner Et Reuschel.

Carsten Mumm , www.manager-magazin.de, 2 I .4.2017

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie den Zusammenhang zwischen der Geldpolitik der EZB und der
Entwicklung des Euro in Dollar (M 1).

2. Erklären Sie, warum die Unter- oder Überbewertung einer Währung i. d. R. als Verzerrung
der internationalen Handelsbeziehungen angesehen wird (M 1 - M 2).

3. Überprüfen Sie, inwiefern die Beeinflussung von Währungskursen der eigenen Wirtschaft
dienen kann.
Die Globalisierung der Wirtschaft
2. 7.1 Dimensionen der wirtschaftlichen Globalisierung
Leitfragen Welche Faktoren charakterisieren Wie beeinflussen politische Welche Rolle spielen die
den Prozess der wirtschaftlichen Entscheidungen diesen Prozess? Finanzmärkte?
Globalisierung?

Was zeichnet den Prozess der


wirtschaftlichen Globalisierung aus?

Der sich seit den 1990er Jahren beschleunigende Erweiterung der Absatzmärkte sowie neue
Globalisierungsprozess der Wirtschaft wird vo n Standorte für Tochterunternehmen.
Befürwortern und Kritikern in seinen Auswirkun-
gen unterschiedlich bewertet. Gerade in der letz- • Mit dem Ende des Bretton- Woods- System
ten Zeit haben die politischen Auseinandersetzun- setzte sich parallel dazu das neoliberale Para-
gen über die Vor- und Nachteile der Globalisierung digma in der Politikberatung durch. Es folgte
wieder zugenommen. Der wirtschaftliche Globali- eine Deregulierung bzw. Neuordnung der in-
sierungsprozess lässt sich dabei mit Hilfe der fo l- ternationalen Wirtschafts- und Handelsbezie-
genden ökonomischen Entwicklungen cha rakteri- hungen sowie des Finanzsektors, wodurch das
sieren: rapide Wachstum der internationalen Finanz-
märkte ermöglicht wurde.
• der Zunahme des internationalen Waren- und
Dienstleistungsverkehrs,
• der Zunahme von Direktinvestitionen im Aus- Globalisierung - mehr Wohlstand für alle?
land,
• die zunehmenden Internationalisierung der ln den 1990er und beginnenden 2000er Jahren
Produktion sowie wuchs die Weltwirtschaft überproportional. Der
• dem rasanten Wachstum der internationalen Globalisierungsprozess wurde deswegen im öf-
Finanzmärkte. fentlichen Diskurs zunächst als ein Gewinn für
alle Teilnehmer dargestellt. Aus neoliberaler Sicht
Die genannten ökonomischen Entwicklungen werden folgende Aspekte besonders hervorgeho-
wurden beschleunigt durch technische Innovati- ben:
onen insbesondere in der Transportwirtschaft und
in der Computer- und Informationstechnologie. • Der internationale Handel bewirkt Wachstums-
Dadurch sanken nicht nur die Kosten, sondern impulse und damit einen steigenden Wohlstand
auch die Zulieferung ,just-in-time" von Einzeltei- für alle daran teilnehmenden Volkswirtschaften.
len in der Produktion oder internationale Kapit- Besonders die Schwellenländer profitieren von
altransaktionen in Sekundenschnelle wären so der Teilnahme am Welthandel;
heutzutage nicht möglich. Eine weitere wichtige
Rolle für die Beschleunigung des Globalisierungs- • Es sind globale Märkte entstanden und das Wa-
prozesses spielten j edoch auch verschiedene poli- renangebot ist angestiegen. Durch steigende
tische Ereignisse und Prozesse: Konkurrenz und entstehende Kostenvorteile
sind Preissenkungen mög lich;
• Der Zusammenbruch der sozialistischen Sys-
teme in den ! 990er Jahren brachte für die west- • Die internationale Konkurrenz beschleunigt den
lich-kapitalistischen Unternehmen eine große technischen Fortschritt und Innovationsprozess.
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Der Globalisierungsprozess wird aber a uch kri- • die Verlierer des Strukturwandels mehr Unter-
tisch gesehen. Die Kritik fokussiert sich auf die stützung erhalten sollten,
folgenden Punkte: • Korrekturen an der sich verschärfenden Ein-
kommens- und Vermögensverteilung vorge-
• Es fi ndet eine Verlagerung von Arbeitsplätzen nommen werden sollten oder
aus den hochentwickelten Volkswirtschaften in • die ö ffe ntliche Infrastruktur wieder mehr geför-
Billiglohnländer statt. In de n „alten" Industrie- dert werden sollte.
ländern schrumpfen ganze Branchen (z.B. die
Textilindustrie und die Stahlindustrie). Die Ge-
werkschaften werden in ihrer Verhandlungs- Wie ist die Expansion der internationalen
macht geschwächt und das Lohnniveau stag- Finanzmärkte zu erklären?
niert oder sinkt gar ab ;
Das Wachstum der internationalen Finanztrans-
• Die Möglichkeit der nationalen Steuerung des aktionen ist zunächst durch das Anwachsen des
Wirtschaftsprozesses nimmt ab, insbesondere Handels und der ausländischen Direktinvestitio-
im Hinblick auf die Ausgestaltung des Steuer- nen zu erklären. Durch die Deregulierung der in-
systems und von Umweltstandards. Es besteht ternationalen Wirtschaftsbeziehungen und des
die Gefahr einer stärkeren Krisenanfälligkeit des Finanzsektors fand darüber hinaus ein gemessen
Wirtschaftssystems; am Wachstum der internationalen Produktio n
überproportional starkes Wachstum der Devisen-
• Der Finanzsektor wächst vo r allem in den hoch- umsätze und des internationalen Wertpapierhan-
entwickelten Volkswirtschaften. Seine Ausdeh- dels statt. Schätzungen gehen davon aus, dass
nung und Deregulierung wurde (seit den 1990er lediglich nur noch 5 Prozent der Finanzströme zur
J ahren bis zur Finanzkrise) politisch gefördert, so Abwicklung der realen Wirtschaftsströme dienen.
dass weltweit unkontrollierte Finanzströme ent-
standen sind ; dabei löst sich der Finanzsektor Zudem wurden Finanzinstrumente verfeinert
zunehmend von der Realwirtschaft ab. und neu entwickelt. Hierzu zählen beispielsweise
neue fo rmen von Wertpapieren, Derivaten, Ter-
mingeschäften und sogenannte Leerverkäufe vo n
Gewinner und Verlierer der Globalisierung Aktien. Weiter treten neue Akteure auf den Fi-
nanzmärkten auf, so etwa Hedgefonds, die große
Die Wohlstandsgewinne im Prozess der Globalisie- Mengen an Kapital zu spekulativen Zwecken ein-
rung sind sowohl international als auch national setzen. Hedgefonds z.B. wetten auf steigende und
unterschiedlich verteilt. Einzelne Volkswirtschaf- fallende Kurse vo n Aktien, Rohstoffen oder An-
ten wachsen überdurchschnittlich - Schwellen- leihen. Dazu sammeln sie Geld von privaten und
länder wie z. B. China und Indien - und andere institutionellen Anlegern ein und ergänzen dieses
weniger, wie die meisten afrikanischen Staaten oft noch um Kredite.
südlich der Sahara. Gleichzeitig stagnieren bzw.
sinken in den hochentwickelten Volkswirtschaften
die Löhne und Berufschancen einzelner Beschäf- Re-Regulierung des Finanzsektors -
tigtengruppen durch de n verstärkten Struktur- eine Lösung?
wa ndel und die internationale Konkurrenz. Gerade
bei unqualifizierten Beschäftigten macht sich die- Mit der globalen Expansion der Finanzmärkte ist
se Entwicklung besonders bemerkbar. an eine rein nationalstaatliche Kontrolle des Fi-
nanzsektors nicht mehr zu denken. Der Verlauf der
Vor dem Hintergrund der Globalisierungsfolgen Finanzkrise ab 2007 /2008 und die folgende Euro-
bzw. - risiken wird in der Öffentlichkeit die Rolle krise haben eine solche Einschätzung bestätigt.
des Staates in der Wirtschafts- und Sozialpolitik Vor diesem Hintergru nd verstärkt sich die Diskus-
neu verhandelt. Im Raum steht dabei immer wie- sion darüber, ob und wie eine Reregulierung des
der die Frage, ob und wie der Staat den Prozess Finanzsektors stattfinden solle. Sollten auf inter-
der Globalisierung gestalten kann bzw. sollte. Dis- nationaler Ebene bestimmte Finanzprodukte und
kutiert wird beispielsweise, ob -transaktionen wieder stärker reguliert, die Ban-
2.7 Die Globalisierung der Wirtschaft f

kenaufsicht verstärkt und sogenannte Offsho-


re-Finanzplätze, das sind Finanzplätze außerhalb Spekulative Finanzinstrumente
offizieller Rechtsnormen, trockengelegt werden?
Eine hoch spekulative Anlagestrateg ie auf internationalen Finanz-
märkten sind Leerverkäufe. Ein Börsenhändler erwartet den
Ein vieldiskutiertes Beispiel für Reregulierung ist Kursverfall eines Wertpapiers und hofft, daran verdienen zu kön-
die Finanztransaktionssteuer, zuerst angeregt vo n nen, indem er es jetzt verkauft und später zu einem niedrigeren
dem globalisierungskrit ischen Netzwerk Attac, Kurs wieder erwirbt. Dabei handelt er nicht mit eigenen Wertpapie-
mit Hilfe derer die zunehmende Spekulation mit ren, sondern leiht sich die benötigten Aktien für die Dauer der
Devisen und die damit verbundenen Schwankun- Transaktion von anderen aus. Auf diese Weise können mit relativ
gen de r Wechselkurse eingedämmt werden soll. geringem Kapitaleinsatz große Kapitalbeträge bewegt werden. Bei
Leerverkäufen wirkt sich eine relativ geringe Änderung des Aktien-
kurses überproportional aus und kann hohe Gewinne, aber auch
Das Ziel einer solchen Finanztransaktionssteuer extreme Verluste auf das eingesetzte Kapital erbringen.
bzw. Tobin- Steuer (benannt nach dem US-ameri- Unter Derivaten versteht man dem hingegen Finanzterminge-
kanischen Ökonomen J ames Tobin, 1918-2002) ist schäfte, die sich auf einen Basiswert stützen und deren Preisent-
es, bei j edem Währungsumtausch eine Steuer von wicklung oder Kursentwicklung von der zukünftigen Entwicklung
bis zu 0,5 Prozent auf den Umsatz der Transaktion des Basiswertes abhängig ist. Beispiele für Derivate sind Options-
zu erheben, damit kurzfristige Devisenspekulatio- scheine auf Aktien, Währungen und Zertifikate. Bei dieser Art von
Termingeschäften werden Aktien oder andere Wirtschaftsgüter
nen weniger rentabel würden. Wirkung und Rea-
gekauft oder verkauft, bei denen die eigentliche Übergabe des
lisierbarkeit derTobin-Steuer werden unterschied- Vertragsgegenstands erst zu einem späteren Zeitpunkt stattfindet.
lich beurteilt, inzwischen wird aber über ihre Diese Termingeschäfte können an der Börse gehandelt werden,
Einführung in einer Reihe von EU-Staaten, u. a. auch Futures genannt.
a uch in Deutschland, diskutiert.

Aufgaben
1. Benennen Sie die für den Globalisierungsprozess zentralen ökonomischen Entwicklungen.

2. Erläutern Sie, ob bzw. inwieweit politische Entscheidungen den wirtschaftlichen


Globalisierungsprozess beeinflussen können.

3. Führen Sie eine Umfrage zum Thema Vor- und Nachteile der Globalisierung durch (, Methodenglossar). Neh-
men Sie Stellung zu den verschiedenen Äußerungen und formulieren Sie vor diesem Hintergrund eine eigene
Position.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Kommt die „Steuer gegen Armut"?

Bei der Einführung der Finanztransaktionssteuer - kurz FTT - handelt es sich um eine
sehr schwere Geburt. Mit anhaltenden Wehen. An diesem Montag verstrich ein weite-
res von bereits so vielen gesetzten Ultimaten für eine Einigung.
Die EU-Staaten, die schon seit drei Jahren verhandeln, geben sich erneut mehr Zeit.
s „Wir haben eine Entscheidung bis Jahresende", sagte Österreichs Finanzminister
Hans Jörg Schelling. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, schaut man sich den bisherigen
Verlauf der Verhandlungen an. [ ...]
Die Steuer verfolgt zwei Ziele. Zum einen soll durch die Besteuerung des Handels die
Spekulation an den internationalen Finanzmärkten eingedämmt werden. Investoren
10 sollen länger an ihren Finanzprodukten festhalten. Die Finanzmärkte sollten stabiler

werden.
Vor allem aber sollte genügend Geld anfallen, um soziale Projekte, den Kampf gegen
Armut und Klimawandel zu finanzieren. Eine einfache Idee. Genial, wie Befürworter
fanden. Künstler wie Heike Makatsch und Jan Josef Liefers warben in Spots für das
15 Projekt.

Doch der Widerstand war enorm. Auf globaler Ebene fand sich nicht genügend Unter-
stützung. Die USA sind nicht bereit, die Wall Street noch stärker zu reglementieren.
Auch die Europäische Union scheiterte - diesmal am Widerstand von Großbritannien.
[...l
20 Und so entschied sich 2013 eine Gruppe von zunächst elf EU-Staaten, die Steuer im
Alleingang einzuführen - im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit und unter
Mithilfe der Europäischen Kommission. Deutschland, Frankreich und Italien gehören
zu dieser Gruppe, die nur noch zehn Staaten umfasst. Seit 2015 führt Österreich den
Vorsitz.
25 Es ist ein frustrierender Job für Österreichs Finanzminister Schelling. Der ÖVP-Politiker
musste navigieren zwischen den nationalen Interessen. Es wurde über die Frage ge-
stritten, für welche Finanzprodukte die Steuer denn nun gelten solle und wie die Ge-
winne verteilt würden. [... ]
Der Bundesfinanzminister [ ... ] glaubt offenbar schon nicht mehr so recht an die Eini-
30 gung auf europäischer Ebene. Beim G-20-Finanzministertreffen vor wenigen Wochen
im chinesischen Chengdu warb Wolfgang Schäuble deshalb für eine neue Idee: die
Einführung einer Finanztransaktionsteuer auf globaler Ebene. Es klang wie der Abge-
sang auf die Steuer.
Was sich in Europa wegen vieler unterschiedlicher Interessen schon nicht durchsetzen
3s lässt, könnte erst recht weltweit scheitern. Belgien zum Beispiel stellt sich gerade
kategorisch gegen die Steuer. Das Land richtete sich zuletzt gegen die Besteuerung
von an Staatsanleihen gekoppelten Derivaten mit der Begründung, damit würden die
Refinanzierungskosten für das Land steigen.
,,Belgien trägt eine unverschämte Forderung vor", klagt Sven Giegold, Grünen-Finanz-
40 experte im Europaparlament gegenüber der „Welt". ,,Das Land profitiert von der Nied-
rigzinspolitik und lehnt trotzdem aus Sorge um die Refinanzierungskosten die Steuer
auf Finanztransaktionen ab. Das ist absurd."
Giegold hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass das Projekt am Ende noch Realität
werden wird. ,,Wir sind nicht mehr weit von einer Einigung über die Finanztransaktion-
4s steuer entfernt", sagte er. Es wäre in der Tat eine Zangengeburt gewesen.

A ndre Tauber, www.welt. de, l l .10.2016


KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 2 Manager Käffchen

t~
1

Karikatur: Thomas Plaßmann

Aufgaben

1 . Nennen Sie die in M 1 dargestellten Gründe, die für bzw. gegen die Einführung einer
Finanztransaktionssteuer sprechen.

2. Analysieren Sie den Streit um die Einführung einer Finanztransaktionssteuer mit Hilfe des
Politikzyklus (, Methodenkompetenz: Politikzyklus analysieren). Recherchieren Sie ggf.
weitere Informationen.

3. Analysieren Sie die Karikatur in M 2 (, Methodenkompetenz: Karikaturen analysieren und


interpretieren) vor dem Hintergrund Ihrer Ergebnisse aus der Bearbeitung von M 1 .
2. 7 .2 Die Internationalisierung von Handel und Produktion

Leitfragen Wie kam es zu der lnternatio- Was ist die Rolle von multinati- Wie ist die Position Deutsch-
nalisierung von Handel und onalen Unternehmen im lands im Globalisierungspro-
Produktion? Globalisierungsprozess? zess einzuschätzen?

Welche Rolle spielt der internationale Handel?

„Ein Familienvater der weitsichtig handelt, folgt schaften seit Adam Smith. Gerade in den letzten
dem Grundsatz, niemals etwas herzustellen zu Jah rzehnten hat der Handel zwischen den hochent-
versuchen, was er sonst wo billiger kaufen kann. wickelten Volkswirtschaften stark zugenommen.
[...] Was aber vernü nftig im Verhalten einer ein-
zelnen Familie ist, kann für ein mächtiges König- Angetrieben wurde diese Entwicklung von multi-
reich kaum töricht sein. Kann uns also ein anderes nationalen bzw. transnationalen Unternehmen, die
Land eine Ware liefern, die wir selbst nicht billiger betriebswirtschaftlich betrachtet die Vorteile der
herzustellen imstande sind, dann ist es für uns ,,economies of scale" nutzen, also die Kostener-
einfach vorteilhafter, sie mit einem Teil unserer sparnisse bei der Ausdehnung der Produktion. Je
Erzeugnisse zu ka ufen, die wir wiederum günsti- größer die Produktionsmenge ei nes Gutes ist, des-
ger als das Ausland herstellen können." to geringer werden die Stückkosten. Deshalb setzen
Unternehmen zunehmend auf den Export ihrer
Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, aus dem
Englischen übersetzt von H. C. Recktenwald, I993, S. 3 7 If Waren. Hierfür stehen nicht nur bekannte multina-
tionale Unternehmen, sondern z.B. auch mittel-
ständische deutsche Unternehmen. Gerade die
Handel bringt Vorteile für alle, die daran teilneh- deutsche Maschinenbaubranche ist für ihre hoch-
men - das ist ein Credo der Wirtschaftswissen- spezialisierten Maschinen weltweit bekannt.

Handel in der globalisierten Welt


Reale Entwicklung (Index 1950 = 100)
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2016*
"
4 000 · ..... · " "
....................... · " " " " "
.3904
Lesebeispiel:
Seit 1950 sind die welt-
3 500 .. weiten Exporte preisbereinigt................................................................................... . ....
auf das 39-fache gestiegen.
3 265 3 274
3 000 · ............................... .
WELTHANDEL
(Exporte)
2 500 · .................... .

2 000 · · ..................... .

WELTWIRTSCHAFTS-
1 500 · ......................................... ·· ····• ······························ ... ü~istüNG···········-- ..... .
1 165
(Bruttoinlandsprodukt) 1 065
1 ooo .......................................................·tsia........... ........................................92s..

Quelle: WTO, eigene Berechnungen •Schätzung


2.7 Die Globalisierung der Wirtschaft f

Vom internationalen Handel zur globalisierten Multinationale Unternehmen - treibende Kraft


Produktion der Globalisierung?

Seit den l 970er Jahren gehen Unternehmen zu- Multinationale Unternehmen (MNU) gelten als
nehmend dazu über, nicht komplette Bereiche ih- Schrittmacher und Gewinner der Globalisierung
rer Produktion in das Ausland auszulagern, son- zugleich. Ein wachsender Teil der weltweiten Wa-
dern nur die einzelner Komponenten. Dadurch ren- und Dienstleistungsströme entsteht durch
sind internationale Produktions- und Wertschöp- den Austausch zwischen den einzelnen Konzern-
fungsketten und Warenströme entstanden. Der teilen. MNU treiben den grenzüberschreitenden
Großteil dieser Warenströme wird dabei zwischen Transfer vo n Kapital, Technologie und Manage-
den verschiedenen internationalen Standorten der mentfähigkeiten voran.
multinationalen bzw. transnationalen Unterneh-
men abgewickelt. Investitionen dieser Unternehmen können in sich
entwickelnden Volkswirtschaften die folgenden
Die Muttergesellschaften dieser Unternehmen ha- posit iven Effekte haben:
ben ihren Sitz bisher überwiegend in westlichen
Industriestaaten und erschließen sich durch ihre • die Einbindung einheimischer Zulieferbetriebe in
inte rnationale Tätigkeit neue u nd größere Absatz- die Wertschöpfungsketten,
märkte sowie Kostenvorteile in Form vo n Erspar- • einen Technologietransfer,
nissen bei Arbeits-, Rohstoff-, Energie- und • im Landesvergleich gut bezahlte Arbeitsplätze,
Tra nsportkosten. Zudem gelingt es so, die Abhän- • die Ausbildung der Mitarbeiter
g igkeit der Unterneh men von nationaler Wirt- sowie
schaftspolitik und Gesetzgebung sowie von nati- • die Schaffung von Deviseneinnahmen durch Ex-
onalen Konjunkturschwan kungen zu verringern. porte für die betreffenden Volkswirtschaften.

Die größten Exporteure der Welt


Ausfuhren im Jahr 2017 in Milliarden Dollar

China 2263 Mrd. S


USA 1547
Deutschland 1448
Japan 698
Niederlande 652
Südkorea 574
Hongkong* 550
Frankreich 535
Italien 506
Großbritannien 445
Belgien 430
Kanada 421
Mexiko 409
Singapur* 373
Verein. Arab. Emirate** 360
Russland 353
Spanien 321
Taiwan 317
Schweiz : : : 300
Indien 298
Thailand - 237
Polen - 231
Australien - 231
Malaysia - 218
Saudi-Arabien - 218 Quelle: WTO •einschl. Transitwaren „geschätzt O Glob"• 12 1
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

zahlen müssen(>Kap. 2.5. 1).


Kritik an multinationalen Unternehmen Kontrovers wird auch die Auswirkung auf die
Beschäftigung im jeweiligen Stammland der
Die Rolle von multinationalen Unternehmen im multinationalen Unternehmen diskutiert. Wäh-
Globalisierungsprozess wird jedoch auch kritisch rend einerseits eine Verlagerung von Arbeitsplät-
betrachtet: Sie agieren oft auf hochkonzentrierten zen in „Billiglohnländer" stattfinden kann, wird
Märkten und können aufgrund ihrer ökonomi- andererseits die Sicherung von einheimischen,
schen Größe einen erheblichen politischen Ein- hochtechnologischen Arbeitsplätzen im Stamm-
fluss - gerade in Entwicklungsländern - ausüben. land hervorgehoben.
Häufig entsprechen dabei die Vermögenswerte
und Umsätze von einzelnen Unternehmen dem
BIP nicht nur von Entwicklungsländern, sondern Standortkonkurrenz im globalen Maßstab
auch von wirtschaftsstarken Staaten. So überstei-
gen für das Jahr 2015 z.B. die Vermögenswerte Mit dem Globalisierungsprozess verschärft sich
von Volkswagen von 417 Mrd. US-Dollar das BIP der Standortwettbewerb zwischen den Volkswirt-
von Norwegen mit 406 Mrd. US-Dollar. schaften. Als Kriterien für die Attraktivität eines
Standorts werden meist die Höhe der Löhne, der
Konzernen werden bei Neuansiedlungen zudem Steuern und der Sozialabgaben sowie der Grad der
meist auch vergünstigte Steuersätze eingeräumt. gesetzlichen Regulierung angeführt. Dabei be-
Dies führt dazu, dass die Gewinne eines Unterneh- steht aus Sicht von Globalisierungskritikern die
mens oft in Staaten verlagert werden, in denen die Gefah r eines „race to the bottom", da Unterneh-
geringsten Steuern anfallen. Unternehmen versu- men ihre Produktion in solche Volkswirtschaften
chen dementsprechend über ihre Standortwahl verlagern bzw. damit drohen, die über
bzw. über Tochterfirmen Gewinne und Verluste so
zu verrechnen, dass sie möglichst wenig Steuern • niedrige Löhne und Unternehmenssteuern,

Deutschlands wichtigste Handelspartner


Angaben für 2017 in Milliarden Euro

Import: Die größten Lieferanten Export: Die größten Kunden

China 100,5 Mrd.€ 111 ,5 Mrd.€ USA


Niederlande 91 ,4 105,2 Frankreich
Frankreich 64,2 86,2 China
USA - - - - ~ 85,9 Niederlande
Italien 84,4 Großbritannien
Polen 65,6 Italien
Tschechien 46,3 62,8 Österreich
Schweiz Polen
Österreich - - - Schweiz
Belgien Belgien
Großbritannien 43,0 : : : : Spanien
Spanien 41 ,6 Tschechien
Russland 31 ,4 26,6 - Schweden
Ungarn - 26,3 25,9 - Russland
Japan - 22,9 24,9 - Ungarn
Türkei - 16,2 21,5 - Türkei

Quelle: Statistisches Bundesamt (Februar 2018) vorläufige Angaben oo,_,1261


2.7 Die Globalisierung der Wirtschaft f

• schlechtere Arbeitsschutzauflagen bzw. Arbeits-


bedingungen sowie Inzwischen wird Deutschland als Gewinner des
• schwache gesetzliche Regelungen im Bereich Globalisierungsprozesses angesehen. Entschei-
des Verbraucherschutzes und der Umwelt- dend dafür ist die Position Deutschlands im Welt-
schutzstandards verfügen . handel. Deutschland gehört neben China und den
USA zu den drei führenden Exportnationen der
Als Reaktion darauf wird befürchtet, dass Staaten Welt und konnte sich immer wieder mit dem Titel
mit hohen Standards anfangen diese herabzusen- „Exportweltmeister" schmücken. Im Jahr 20 11
ken, um konkurre nzfähig zu bleiben. Gleichzeitig überstieg der Wert der deutschen Ausfuhren zum
ist j edoch auch zu beachten, dass eine gut ausge- ersten Mal die Billionengrenze. Deutschland hat
baute Infrastruktur, ein funktionierendes stabiles mit über 70 Prozent eine überdurchschnittlich
politisches System sowie rechtsstaatliche Struktu- hohe Außenhandelsquote. Die Außenhand elsquo-
ren ebenso als Standortfaktoren gelten. Eine Ver- te entspricht dabei dem prozentualen Anteil des
lagerung des Standorts allein aus Kostengesichts- Warenexports und -imports eines Staates am je-
punkten dürfte nu r für einzelne weiligen Bruttoinlandsprodukt(>Kap. 2.2.1).
Produktionsbereiche sinnvoll sein; insbesondere
für solche mit einem hohen Lohnkostenanteil. Die wesentlichen Exportsektoren der deutschen
Wirtschaft sind der Maschinenbau, der Fahrzeug-
bau und die chemische Industrie. Die wichtigsten
Standort Deutschland - konkurrenzfähig? Handelspartner sind die Mitgliedsstaaten der EU,
die USA und zunehmend auch Schwellenländer,
In den 1990er und frühen 2000er Jahren häuften insbeso ndere China. Die deutschen Exporte tragen
sich in Deutschland, nicht zuletzt durch die Wie- zur Sicherun g der Arbeitsplätze in Deutschland
dervereinigung, verschiedene wirtschaftliche Pro- bei, da fast jeder vierte Arbeitsplatz in Deutsch-
bleme, die Arbeitslosigkeit stieg und die Staats- land vom Außenhandel abhängig ist. Damit ver-
verschuldung nahm stark zu. Es begann eine bunden ist allerdings auch eine starke Abhängig-
heftige Diskussion darüber, ob Deutschland im keit der deutschen Wirtschaft von der EntwickJung
internationalen Standortwettbewerb zu wenig der Weltwirtschaft (>Kap. 2.2.2).
konkurrenzfähig sei (>Kap 2.3.2).

Aufgaben
1. Benennen Sie Beispiele für internationale Wertschöpfungsketten in der deutschen Industrieproduktion.

2. Analysieren Sie, aus welchen Gründen multinationale Unternehmen als Schrittmacher der Globalisierung
angesehen werden.

3. Deutschland wird besonders im Ausland als einer der Gewinner der Globalisierung betrachtet. Diskutieren
Sie Argumente für oder gegen diese Sichtweise.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Der Freihandel beruht auf einer weltfremden Theorie

Durch Abkommen wie TTIP sollen alle Staaten profitieren. Doch die Sache hat einen
Haken.

Auf den ersten Blick wirkt die Debatte um das transatlantische Freihandelsabkommen
absurd. Ist der universale Güterverkehr nicht längst Selbstverständlichkeit? Seit zwei,
5 drei Jahrzehnten lautet das wirtschaftspolitische Mantra, dass die „Globalisierung" ein
unausweichliches Faktum sei. Weltweiter Kapitalmarkt, transnationale Direktinvestiti-
onen, globale Arbeitsteilung, Handels- und Rohstoffkreisläufe. Wie kann man da noch
streiten über die Berechtigung von Freihandel? [... ]
Echte Hürden für den Handel über den Atlantik bilden die höheren Zolltarife, die dem
10 Schutz einheimischer Produzenten und Märkte dienen. Und außerdem die „nicht-tari-
fären" Zulassungsschranken aller Art, die Risiken für Gesundheit, Umwelt und ähnlich
Schützenswertes minimieren sollen. Doch diese letzteren Hindernisse fallen ins politi-
sche Fach.
Denn wie weit Verbraucher, Daten, Arbeitnehmer, Klima und Umwelt vor Folgen der
15 Güterproduktion zu schützen sind, ist nicht wirtschaftlich, sondern normativ zu ent-
scheiden. Der politische Streit zwischen Washington und Brüssel im nicht-tarifären
Bereich ist also unvermeidlich und muss entsprechend offen mit politischen Argumen-
ten ausgetragen werden. Mit den monetären Zolltarifen hat dies wenig zu tun. Um sie
aber geht es im Kern der Freihandelstheorie. Die Abschaffung aller Schutzzölle, be-
20 haupten ihre Vertreter, sei eine schlichte Folge ökonomischer Vernunft. Bei näherem
Hinsehen erweist sich dies als unhaltbare Doktrin.
Noch immer beruft sie sich auf die von David Ricardo Anfang des 19. Jahrhunderts
aufgestellte Lehre der „komparativen Kostenvorteile". Vereinfacht besagt sie, dass ein
Land, das alle seine Waren unproduktiver (also zu höheren Kosten) herstellt als ein
25 anderes Land, trotzdem mit diesem zu beiderseitigem Gewinn Güter austauschen
kann. Voraussetzung ist, dass beide Länder sich bei der Wahl ihrer Produktpalette nicht
nur an den direkten Herstellungskosten orientieren, sondern die „Opportunitätskos-
ten" einbeziehen.
Unter Opportunitätskosten - der kleine Exkurs muss sein - versteht man verpasste
30 Gewinne, also die Gewinne, die einem entgehen, wenn man mit dem verfügbaren
Kapital nicht die maximalen Verwertungschancen nutzt. Um es mit Ricardos Beispiel
zu illustrieren: Wenn Portugal Wein und auch Tuch kostengünstiger herstellt als Eng-
land, aber w iederum Wein noch günstiger als Tuch, sollte es nicht beides selbst her-
stellen, sondern England die Herstellung von Tuch überlassen und es von dort impor-
35 tieren, um sich ganz auf die lukrative Weinproduktion zu konzentrieren.
England gibt im Gegenzug die Weinherstellung auf und verlegt sich allein aufs Tuch.
Von dieser Arbeitsteilung profitieren beide. Das englische Tuch kostet Portugal jetzt
zwar etwas mehr, als es bei eigener Herstellung zahlen müsste. Doch dafür erzielen
die Portugiesen jetzt maximale Gewinne mit den Mitteln, die frei geworden sind für
40 zusätzliche hochproduktive Weinherstellung. Ihr Extragewinn, auch durch Weinexport
nach England , macht den etwas höheren Importpreis für englisches Tuch mehr als
wett. Und umgekehrt bezieht England den importierten Wein nun billiger als zuvor den
selbst hergestellten.

Jede Spezialisierung kann zu unbeherrschbaren Abhängigkeiten führen


45 Jedes der beiden Länder, so rechnet man es seit Ricardo vor, erzielt durch die wech-
selseitig optimierte Ausnutzung der relativen Kostenvorteile zusätzliche Wohlstands-
gewinne. Beide werden reicher, eben auch das unproduktivere Land. Statt Schutzzöl-
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

len für einen unökonomischen Status quo eine geschickte zwischenstaatliche


Arbeitsteilung, die allen nutzt.
so So weit die Theorie. Ihr Problem aber ist, dass sie, um stimmig zu sein, für die betei-
ligten Länder Unterstellungen machen muss, die nicht nur weltfremd und ahistorisch
sind, sondern auch asozial. So muss die Urlehre Ricardos gleiche Lohnsätze in den
Ländern voraussetzen, aber auch Vollbeschäftigung, totale Mobilität der Arbeitskräfte
innerhalb eines Landes bei gleichzeitiger lmmobilität zwischen den Ländern; Trans-
ss portkosten sind mit null angesetzt. Alles zusammengenommen bar jeder Realität. In-
zwischen sind die theoretischen Freihandelsmodelle zwar komplexer geworden. Ent-
scheidend bleibt aber der Grundmangel, dass auch sie Länder wie Unternehmen
behandeln und Arbeitskräfte wie beliebig umfunktionierbare Produktionsfaktoren. Und
dass sie das Pferd vom Schwanz her aufzäumen.
so Prinzipiell müssten die Länder ja, um komparative Vorteile wirklich realisieren zu kön-
nen, stets zuerst ihre gesamte Produktionsstruktur umstellen und auf den Weltmarkt
hin spezialisieren, bevor sie in der Lage sind, ihre Schutzzölle freizugeben. So müsste
die Schrittfolge sein. Doch Freihandelsabkommen denken andersherum: Man verein-
bart, die Zölle abzubauen, und zwingt die Länder, ihre nationalen Wirtschaften entspre-
6s chend umzubauen. [ ... ]
Generell kann jede Spezialisierung zu unbeherrschbaren Abhängigkeiten von der Prei-
sentwicklung auf dem Weltmarkt führen. Beispiele von lateinamerikanischen oder
nahöstlichen Ländern gibt es genug, die mit ihren Hauptausfuhrprodukten wie Kaffee,
Baumwolle oder jetzt auch Mineralöl gnadenlos den schwankenden Weltmarktpreisen
10 ausgesetzt sind. Temporäre Vorteile können im Nu in schwere Behinderungen um-
schlagen, natürlich auch in Europa.
Dann heißt es, das Produktionsspektrum des ins Hintertreffen geratenen Landes um-
zukrempeln. Doch um solche erzwungenen, zähen und schmerzvollen Wandlungspro-
zesse ganzer Gesellschaften zu beschreiben, ist das begriffliche Arsenal der Freihan-
1s delstheorie äußerst armselig. Die Prämisse, Arbeitskräfte könnten zwischen überholten
und zukunftsträchtigen Produktionsanlagen hin und her geschoben werden wie Euro-
paletten, ist grotesk. Rücksicht auf Arbeitsbiografien und soziale Bindungen kennt sie
ohnehin nicht. Zudem ist die Annahme, Arbeitsqualifikationen seien beliebig aus-
tauschbar, schon ökonomisch irrational.

Andreas Zielcke, www.sueddeutsche.de, 9.5.2016

M 2 Das andere Wirtschaftswunder

Die Protagonisten eines deutschen Wegs der Wirtschaftspolitik kokettierten gern mit
ihrer Fähigkeit zur Abstinenz von wirtschaftspolitischem Handeln. Tatsächlich war es
aber die sichtbare Hand des Staates, die die wirtschaftliche Orientierung der Bundes-
republik von Anfang an bestimmte. [... ]
s Erhard verband sein Ideal einer „weltoffenen Handelspolitik" mit einer kühnen Vision.
Er konnte sich die Zukunft jener 50 Millionen Menschen, die „auf einem schmalen
Streifen zwischen Elbe und Rhein" lebten, ,,nur als Werkstatt der Welt, bei stärkstem
Export von Maschinen und Konsumgütern" vorstellen. Werkstatt Europas zu sein, wie
es der amerikanischen Nachkriegsstrategie entsprach, reicht nicht aus, um „mit den
10 weiteren Bezirken in Übersee, die einer neuen Epoche technisierter Urproduktion und

allgemeiner Industrialisierung entgegengehen, zu neuen Verbindungen zu kommen."


Lange bevor 1980 der Begriff „Schwellenländer" aufkam, nahm Erhard damit jene
Länder ins Visier, die dabei waren, in den Club der Industrieländer einzutreten. Es galt,
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

Partner eines neuen „weltwirtschaftlichen Wachstumsgeschäfts" zu werden, das „gro-


15 Be Aufgaben und verheißungsvollen Absatz" versprach. Vor allem die deutsche Wirt-
schaft, die mit den ,Neuen Industrien ' Großchemie, Maschinenbau und Elektrotechnik
über hohe Qualitäten als Ausstatter für Schwellenländer verfügte und im Maschinen-
und Anlagenbau seit dem späten 19. Jahrhundert zur nach industriellen Maßschneide-
rei fähig war, musste von dieser Entwicklung des Weltmarktes profitieren.
20 Dem Bundeswirtschaftsministerium war schon Anfang der 50er Jahre bewusst, dass
der Überseehandel mit einem „bloßen Warenverkehr" immer weniger gemein hatte.
Galt im 19. Jahrhundert noch die Devise „trade follows the flag " - und damit die Präro-
gative der Kolonialmächte-, war das Wirtschaftsministerium jetzt davon überzeugt,
dass die Phase „trade follows the engineer" angebrochen war, in der den deutschen,
25 von Anfang an weltmarktorientierten Neuen Industrien komparative Wettbewerbsvor-
teile zuwuchsen.
Viele der Erhardschen Schwellenländer, wie Argentinien, Ägypten, Mexiko, die Türkei
oder Indonesien, erfüllten zwar die in sie gesetzten Hoffnungen nicht oder verharrten,
wie Indien oder Brasilien, dauerhaft in diesem Status. Für die Aussichten der west-
30 deutschen Außenwirtschaftspolitik änderte dies freilich wenig, rückten doch immer
neue Länder in dieses „Pioniergeschäft der wirtschaftlichen Erschließung" nach.
Die eigentliche Bedeutung von Erhards Werben um die Schwellenländer der fünfziger
und sechziger Jahre lag aber in der Konditionierung des deutschen Exports für die
Globalisierung. Deutsche Wirtschaftspolitik hat dieses Marktpotential schon zu einer
35 Zeit erkannt, als dies in der wissenschaftlichen Diskussion noch weitgehend ignoriert
wurde und die positiven Erfahrungen der deutschen Exportwirtschaft in der ersten
Phase der ,Globalisierung' vor 1914 unter dem Eindruck zweier Kriege und der Welt-
wirtschaftskrise verblasst waren. Sie wurde reichlich belohnt, als mit China (1978) und
den Ostblockstaaten (1990) wichtige Kunden in den Weltmarkt eintraten und die Dy-
40 namik einer neuen Generation von Schwellenländern dafür sorgte, dass Deutschland
seine seit 1952 bestehende Position als führendes und nachhaltiges Überschussland
weiter ausbauen konnte.
Paradoxerweise stärkte die wachsende Bedeutung des Weltmarktes auch Deutsch-
lands Interesse an europäischer Integration. Als die Regierung Kohl 1983 nichts weni-
45 ger als „die Übernahme einer europäischen Führungsrolle (analog der amerikanischen
im Bündnis)" anstrebte, folgte das Bundeswirtschaftsministerium dem Bundeskanz-
leramt bereitwillig, gerade weil es darin die Voraussetzung sah, die nötige Handlungs-
freiheit am Weltmarkt zu gewährleisten. Nicht zuletzt den Vereinigten Staaten wurde
so „klar zu verstehen gegeben, dass kein Land die internationalen Spielregeln nach
50 eigenem Gusto interpretieren kann". Auf dem Markt konnte die Bundesrepublik den
Amerikanern leicht auf Augenhöhe begegnen. Wenn es um die Macht ging, die Spiel-
regeln auszuhandeln, war sie gleichwohl auf den Rückhalt der EU angewiesen.

Werner Abelshauser ist Wirtschaftshistoriker und Mitglied der Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte
des Bundeswirtschaftsministeriums und seiner Vorläufer zwischen l 91 7 bis zur Wiedervereinigung l 990.

Werner Abelshauser, Das andere Wi rtschaftswunder, in: Fra nkfurter Al/gemeine Zeitung, 7. l 2.2016, S. l 8

Aufgaben
1 . Erläutern Sie die Ausführungen von Andreas Zielcke zur Freihandelstheorie (M 1).

2. Beschreiben Sie die grundlegende Strategie der deutschen Außenwirtschaftspolitik ab den


1950er Jahren (M 2).

3. Nehmen Sie Stellung zu der kontroversen Position von Zielcke vor dem Hintergrund des
von Werner Abelshauser skizzierten deutschen Wirtschaftswunders (M 1 und M 2).
2. 7. 3 Das Global Economic Governance System

Leitfragen Sollte der wirtschaftliche Welche internationalen Welche Möglic hkeiten und
Globalisierungsprozess Organisationen spielen dabei Grenzen hat die wirtschaftliche
gesteuert werden? eine Rolle? Globalisierung?

Welche Akteure agieren in der internationalen


Wirtschaftspolitik?

Auf de r Ko nferenz von Bretton Woods 1944 wur- gramme die Sanierung zahlungsunfähiger Staaten
den neben der Konstruktion des neuen Währungs- oft erfolgreich begleitet und damit mehrmals Wäh-
systems (>Kap. 2.6.2) auch die Grundlagen fü r das rungs- und Finanzturbulenzen geglättet. Kritiker
internationale Wirtschafts- und Handelssystem weisen j edoch darauf hin, dass der IWF eine neo-
gelegt. Dabei sollten die Lehren aus der Weltwirt- liberale Agenda verfolgt und negative Effekte der
schaftskrise von 1929 gezogen werden, auf wel- Strukturanpassungsprogramme für das Wirt-
che die Staaten mit protektionistischen Maßnah- schaftswachstum und die Sozialpolitik in den je-
men reagiert hatten. Stattdessen sollte ein weiligen Ländern ignoriert (>Kap. 2.2.3).
geordnetes, auf freiem Handel beruhendes inte r-
natio nales Wirtschaftssystem entstehen. Dafür Kritisiert wu rde zudem lange auch die Stimmenge-
wurden der Internationale Währungsfonds wichtung, die sich nach dem Kapitalanteil der ein-
(IWF), die Weltbank und das Allgemeine Zoll- zelnen Mitg liedstaaten richtet. Daraus ergab sich
und Handels abkommen (GATT) bzw. später die ein deutlich es Übergewicht der großen Industrie-
Welthandelsorganisation (WTO), die bis heute länder. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise im
das internationale Wirtschafts- und Ha ndelssys- Dezember 2010 hat der IWF deshalb eine Reform
tem prägende n Institutionen, geschaffen. im Bereich der Stimmengewichtung beschlossen,
um den Einfluss der Schwellen- und Entwick-
lungsländer auf die Entscheidungsfindung zu stär-
Der Internationale Währungsfonds (IWF) ken. Hiervon profitieren vor allem China, Indien
und Russla nd, während Deutschland, Frankreich
Der Internationale Währungsfonds wurde 1944 mit u nd Großbritannien Stimmanteile verlieren.
dem Ziel gegründet, eine stabile Weltwährungs-
ordnung zu sch affen. Er unterstützt seine Mit-
gliedsstaaten bei Zahlungsschwierigkeiten mit Kre- Die Weltbank
diten, wodurch verhindert werden soll, dass Staaten
zahlungsunfähig werden und somit eine schwere Im Ja hr 1945 wurde die Weltbank geg.r ündet. Ihre
Störung des internationalen Geld- und Kapitalver- Aufgabe ist es, Armut zu bekämpfen und WohJ-
kehrs verursachen können. Die Kreditvergabe stand zu fördern. Während die Weltbank in ihren
durch den IWF ist in der Regel mit Auflagen ver- Anfangsjahre n überwiegend Kredite fü r den Wie-
bunden, welche in den Empfängerländern oft als deraufbau Europas gewährte, stehen heute Ent-
Einmischung in die eigene Wirtschafts- und Sozial- wickl ungslä nder sowie Projekte zur Arm utsbe-
politik empfunden werden. In sogenan nten Struk- kämpfu ng im Mittelpunkt ihrer Arbeit:
turanpassungsprogrammen werden u. a. Kürzun-
gen der Staatsausgaben und eine Verschlankung • Zur Entwicklungsfö rderung vergibt die Welt-
des Staatsapparats, ei ne Entbürokratisierung, die bank Darlehen und sogenannte Mikrokredite;
Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen, der • Sie leistet technische Hilfe, koordiniert Entwick-
Abbau von Subventionen und die Deregulierung lungsproj ekte und unterstützt Entwicklungslän-
von Märkten festgeschrieben. der in den Bereichen Bildung, Infrastruktur und
Kommunikation;
Aus Sicht vieler Ökonomen hat der lWF du rch sei- • Sie fördert Programm zur Ko rruptionspräventi-
ne Kreditvergabe und die geforderten Reformpro- on ;
2 Grundlagen der W irtschaftspolitik

• Auch finanziert sie Projekte zur Gesundheitsför- licht werden sollte. Vor allem Zölle, Mengenkon-
derung, so etwa ein Programm zum Kampf ge- tinge nte und Handelshemmnisse wie spezielle
gen HIV/AIDS. Normen und Vorschriften für einzelne Produkte
wurden in jährlichen Verhandlungsrunden abge-
Auch die Kredite der Weltbank sind an Bedingun- baut. Aus den GATT-Verhandlungen entstand
gen und Auflagen gekoppelt, mit denen die Welt- J995 die Welthandelsorganisation, die World Tra-
bank auf die Politik der Empfängerländer Einfluss de Organisation (WTO). Sie hat die folgenden Zie-
nehmen möchte. Vo n Kritikern wird dabei die zu le und Aufgaben:
starke Ausrichtung auf ökonomisches Wachstum
mit der Gefahr der Förderung von ökologisch und • die Liberalisierung des internationalen Handels,
sozial bedenkl ichen Großprojekten bemängelt. In- • den Abbau vo n Handelsbeschränkungen sowie
nerhalb der Weltbank hat aber ein Strategiewan- • die Schlichtung von Handelsstreit igkeiten zwi-
del stattgefunden. Der Schwerpunkt der Projekte schen den Mitgliedstaaten.
hat sich von der Förderung d es Wachstums hin zur
Armutsbekämpfung verlagert. Dies beruht auf der Die WTO umfasst 164 Mitgliedstaaten (Stand
Einschätzung, dass Wachstum allein nicht auto- 2018). Die für die Mitglieder bindenden Beschlüs-
matisch Armut verringert. se werden nach dem Ko nsensprinzip gefasst, wo-
beijedes Land eine Stimme hat. Da mit soll erreicht
werde n, dass starke Wirtschaftsmächte die schwä-
Die Welthandelsorganisation WTO cheren Staaten n icht dominieren können. Zur Bei-
legung von Streitigkeiten steht der WTO ein
1947 wurde ergänzend z u den beiden gen a nnten Streitschlichtungsmecha nismus zur einvernehm-
„Bretton-Woods-Organisationen" das General lichen Einigung zur Verfügung. Die WTO verfolgt
Agreement on Tarifs a nd Trade (GATT, Nlgemei- die folgenden Prinzipien, die vo n den Mitglied-
nes Zoll- und Handelsabko mmen) mit dem Ziel staaten anerkan nt werden müssen:
der Liberalisierung des Welthandels geschlossen.
Ziel des Abkommens war der kontinuierliche Ab- • Meistbegünstig ung: Alle handelspol itischen
bau von Handelsschranken zwischen den Mit- Zugeständnisse, die sich zwei Staaten unterein-
gliedsländern, wodurch ein freier Handel sowie ander machen, gelten automatisch auch für alle
Wohlstandsgewinne für alle Beteil igten ermög- anderen Staaten ;

Akteure der wirtschaftlichen Globalisierung

G20 (seit 1999)


GB
+
Argentinien, Australien, Brasilien, - Financial Stability Board
China, Indien, Indonesien, Mexiko, - „Finanzstabilitätsrat" (seit
Saudi Arabien, Südafrika, Südkorea,
2009) vorher FSF (Financial
die Türkei, die EU vertreten durch
die EU-Präsidentschaft und die EZB Stability Forum) u.a. mit
Vertretern der G20, Bank für
G7 / GB (seit 1975) internationalen Zahlungs-
ausgleich, Weltbank, EZB,
USA, Japan, Kanada, Deutsc hland
Europäische Kommission.
Frankreich, Großbritannien, Italien
mit Russland (seit 1998)
ohne Russland (seit 2014)

fffl
2.7 Die Globalisierung der Wirtschaft f

• Reziprozität: Handelserleichterungen, die ei- über 90 Prozent des Weltsozialprodukts u nd


nem Handelspartner eingeräumt werden, muss knapp zwei Drittel der Erdbevölkerung. In Folge
dieser in gleicher Weise erwidern; der Finanzkrise wurde die G20 -Gruppe 2009 auf-
• Nich tdiskriminierung: Kei ne Begünstigung in- gewertet zu einem regelmäßigen Treffen der Re-
ländischer gegenüber auslä ndischen Gütern gierungschefs. Sie gilt inzwischen als wichtigstes
u nd Dienstleistu ngen. Forum für den Dialog zwischen den Industrie-
und Schwellenlä ndern auf dem Gebiet der inter-
Zwar ist weitgehend unbestritten, dass der schritt- nation alen wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
weise Abbau von Zöllen und Handelsschranken
Wo hlfahrtseffekte erzeugt hat. J edoch wird inzwi- Die OECD (Organization for Econ om ic Coopera-
schen gerade von Seiten vieler Schwellenländer in tion a n d Development, deutsch Organisation für
Zweifel gezogen, ob ein völliger Abbau vo n wirtsch aftlich e Zusamm enarbeit u nd Entwick-
Schutzmechanismen u nd Subventionen und der lung) ist eine Organisation ursprünglich der west-
u nbesch ränkte Zugang ausländischen Kapitals lichen Industrieländer zur Koo rdi nierung der
der Entwicklung einer eigenständ igen Volkswirt- Wirtschafts-, Handels- und Entwicklungspolitik
schaft nutzt. Seit der 2005 begonnenen u nd in den letzten Jahren zunehmend au ch der
,,Doha-Verh andlungsrunde" ist darum eine wei- Bildungs- und Sozialpolitik. Sie versteht sich als
tere Liberalisierung des Welth andels im Ra hmen Forum de r 35 Mitglieder zum Erfahrungsaus-
der WTO nicht meh r vorangekommen. tausch über wirtschaftspolitische Fragen. Die
OECD erstellt dazu Dokumentationen, Analysen
Von internationalen Nichtregierungsorganisatio- und Empfehl ungen, z.B. in jährlichen Länderbe-
nen, die die Verhandlungsprozesse beobachten, richten. Diese sollen den Mitgliedsstaaten ermög-
wird zudem eine gerechtere Weltwirtschaftsord- lichen, auf wirtschafts- u nd sozialpolitische Ent-
nung eingeklagt, die soziale un d ökologische wicklungen angemessen zu reagieren.
Mindeststandards berücksichtigt und eine zumin-
dest moderate Umverteilung des Woh lstands auf Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich
internationaler Ebene ermöglicht. (BIZ) in Basel gewann seit der Finanzkrise im Ja hr
2007 /2008 an Bedeutung. Mitglieder in ihr sind
die wichtigsten Zentralbanken. Sie verwaltet Teile
Wachsende internationale Zusammenarbeit der internation alen Währungsreserven und koor-
diniert die internationale Zusammenarbeit der
Neben dem lWF, der Weltbank und der WTO ent-
stand in Laufe der Zeit ein Netzwerk globaler
transgouvernem entaler Zusammen arb eit:
Freihandel vs. Protektionismus
Seit 197 5 findet das regelmäßige Treffen der
wichtigsten westlichen Industriestaaten statt, die In der Diskussion um Freihandel und Protektionismus wiederholt
G7-Gruppe (Deutschland, Frankreich, Großbri- sich eine alte Auseinandersetzung aus der Wirtschaftstheorie.
tan nien, Italien, Japan, Ka nada und d ie USA sowie Während d ie Klassiker die Vorteile des Freihandels betonten, gab
im Beobachterstatus die Europäische Kommissi- es immer wieder Stimmen, die den Nutzen des Protektionismus für
die Entwicklung einer Volkswirtschaft erörterten. Protektionismus
on), zeitweise erweitert um Russland (GB-Staa-
bedeutet dabei den Schutz inländischer vor ausländischer Produk-
ten). Das ursprüngliche Ziel der Gruppe war eine
tion durch Zölle oder Einfuhrkontingente. Dadurch soll die Entwick-
Koordination in Fina nz- u nd Währu ngsfragen, lung international noch nicht konkurrenzfähiger Industriezweige
inzwischen werden a ber auch außenpolitische ermöglicht werden. Der Nutzen einer vorübergehenden protektio-
Themen erörtert. nistischen Politik für Länder in Entwicklung wird unterschiedlich
beurteilt. Befürworter betonen die Notwendigkeit, sich entwickeln-
In Reaktion auf das Erstarken der Schwellenlä nder de Industriezweige zu schützen. Auch wird ein Schutz des klein-
bäuerlichen landwirtschaftlichen Sektors vor Importen für sinnvoll
und der Kritik an der domin a nten Position der
gehalten. Kritiker dagegen betonen, dass - ähnlich wie bei der
Ind ustriestaaten wurde 1999 ein informelles Dia-
Strukturpolitik -ein zu langer Schutz der heimischen Industriezwei-
logforum der Finanzminister und Notenbankgou- ge die wirtschaftliche Dynamik hemme.
verneure aus Industrie- und Schwellenländern
geschaffen, die G20. Diese Staaten repräsentieren
2 Grundlagen der W irtschaftspolitik

Zent ralbanken. Zunehmendes Gewicht erhalten Comprehensive Economic a nd I rade Agreement)


die im Rahmen der BIZ mehrmals übera rbeiteten und den USA (TIIP, Transatla ntic I rade and In-
Basler Vereinbarungen zur internationalen Koor- vestment Partnership) in die Kritik. Neben der Ge-
dinat ion der Bankena ufsicht . fa hr, d ass sich arbeitsrechtliche, soziale und Um-
weltst a ndards durch ein Abkommen absenken
Nebe n der staatliche n Zusammena rbeit im inter- kö nnte n, wurden vor allem auch die folgenden
na tionalen Bereich wird aber a uch der Einfluss Punkte bemä ngelt:
v on Nichtregierungsorganisationen (NGO's) auf
internationaler Eben e immer wichtiger (> Kap. • die geheimen, von der Öffentlichkeit nicht nach -
6.5). Sie erhalten zunehmend einen Berater- oder vollziehbaren Verhandlungen;
zumindest Beobachterstatus bei internationalen • die A us richtung der Verhandlungen vor allem
Konfe renzen und könne n so a n der weltweiten an unternehmerischen Interessen;
politischen Diskussion teilnehmen, ob bzw. wie • die Bildung von Schiedsgerichten für Streitig-
der wirtschaftliche Globalisie rungsprozess voran- keiten zwischen a uslä ndische n Investoren und
getrieben oder eher begrenzt werden sollte. Staaten, die neben der una bhängigen nationa-
len Rechtsprechung agieren; sowie
• die mögliche rweise entstehenden Einschrän -
Globale Herausforderungen kungen für die Gesetzgebung der beteiligten
Staaten (Souveränitätsverlust). Gesetzesvorha-
Als Reakt ion auf das Stocke n der WTO- Verhand- ben würden ggfs. nicht weiter verfolgt, die zu
lungen wurden zu nehmend bilaterale und regio- Schadene rsatzansprüchen von Seiten auslä ndi-
nale Freihandelsabkommen geschlossen bzw. ver- scher Investoren führen könnte n.
handelt. Der da rin vereinba rte Abbau von
Handelshemmnissen gilt nur j eweils für die teil- Seit einiger Zeit wird a ber auch in entwickelten
nehmenden Staaten, was auf Kosten der Handels- Lä ndern der Ruf nach protektionistischen Maß-
beziehungen mit anderen Staaten geh en kann. nahmen la uter. Beispielhaft stehen dafür die von
Dies widerspricht den Prinzipen der WTO, die auf US-Präside nt Trump an gesetzten Schutzzölle. In
der Prämisse der Gleichbeh a ndlung aller Teilneh- der W irtschaftstheorie we rden solche Sch ritte
merstaaten aufge baut wurde. überwiegend als kontraproduktiv angeseh en, ge-
rade im Hi nblick auf die Gefahren durch sich auf-
In der öffe ntliche Diskussion geriet das Thema scha ukelnde Ha ndelskriege. Es stellt sich die Fra-
Freihandelsabkommen durch die Auseina nderset- ge, ob der in den letzten J a hren dominierende
zungen um die Verhandlungen der Ha ndelsab- Prozess der Globalisierung vo n eine r Phase eines
kommen zwischen der EU mit Kanada (CETA, zunehmenden Protektionismus abgelöst wird.

Aufgaben
1. Fassen Sie die Argumente zusammen, die für und gegen bilaterale Handelsabkommen vorgebracht werden.

2. Recherchieren (, Methodenglossar) Sie den aktuellen Stand der Verhandlungen zu CETA, TTIP und anderen
Handelsabkommen. Werten Sie den jeweiligen Stand der Verhandlungen aus.

3. Diskutieren Sie die Vor- und Nachteile einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit bei der Regulie-
rung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Erschließen Sie dafür die Aufgaben der wichtigsten damit
befassten internationalen Institutionen.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 G20-Alternative: Verbände rufen zum Handeln auf

Unmittelbar vor dem Start des G20-Gipfels in Hamburg haben [ ...] Vertreter von 75
Initiativen mehr Engagement für Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung durch die
wirtschaftlich führenden Nationen gefordert. Nach Angaben der Veranstalter trafen
sich rund 2.000 Menschen aus 20 Ländern in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel
5 zu dem zweitägigen Kongress mit dem Titel „Gipfel der globalen Solidarität". Die Ex-
perten forderten die Einhaltung und Umsetzung von bereits getroffenen Abkommen
wie dem Pariser Klimaschutzabkommen und der Agenda 2030.

Globale Investoren in der Kritik


Im Verlauf der Tagung hatten Teilnehmer auch global agierende Investoren für ihr Ver-
,o halten kritisiert. Ausländische Groß-Investoren zerstörten beispielsweise im afrikani-
schen Tansania durch aggressive Landkäufe die regionale Landwirtschaft, schilderte
ein Vertreter des dortigen Bauernverbandes. Die Umweltorganisation Greenpeace
forderte von den Staats- und Regierungschefs ehrgeizige Schritte für einen Umbau der
Wirtschaft. ,,Die G20 haben die Verantwortung und die Chance, diesen Umbau heute
15 voranzubringen und dadurch die Rechte der Schwächsten zu schützen", sagte Green-

peace-Chefin Jennifer Morgan am Donnerstag beim Alternativgipfel der Kritiker in der


Kulturfabrik Kampnagel.
,,Nirgends trifft das mehr zu als in Deutschland", betonte sie. Es könne Bundeskanz-
lerin Angela Merkel (CDU) nicht alleine um erneuerbare Energien und gute Klimapolitik
20 gehen, es müsse ihr auch um globale Gerechtigkeit gehen. ,,Dabei führt kein Weg

vorbei an einem sozial abgefederten und gut geplanten Kohlausstieg bis zum Jahr
2030", so Morgan.

Scharfe Kritik an G20-Gruppe


Aus Sicht vieler Teilnehmer kann die Politik der G20 die großen Probleme der Welt wie
25 Klimawandel, Kriege und Hunger nicht lösen. Im Gegenteil: ,,Ich sehe die G20 selbst
als Sherpas", sagte die indische Globalisierungskritikerin und Trägerin des Alternativen
Nobelpreises, Vandana Shiva, am Mittwoch in der Eröffnungsrede. Damit spielte sie
auf die „ Sherpas" genannten hohen Regierungsbeamten an, die den Weg zum Gipfel
für die Staatsführer vorbereiten. ,,Sie sind die Sherpas der globalen Finanzwirtschaft" ,
30 sagte Shiva und beklagte eine „Wirtschaft der Gier" . Der Begriff „ Sherpa" leitet sich
von dem gleichnamigen Volk ab, aus dem sich viele Bergführer im Himalaya-Gebiet
rekrutieren. Im Vorwege der Tagung waren die Politiker des G20 als „Kofferträgern des
internationalen Kapitals" bezeichnet worden.

Vorwurf: G20 verschärfen Probleme


35 Organisiert wurde der „Gipfel der globalen Solidarität" von einem Bündnis aus rund 75
Initiativen - unter anderem mehrere Delegationen des Flüchtlingsrats sowie der
Grünen-nahe Heinrich-Söll-Stiftung. Zu den weiteren Teilnehmern gehörten die Natur-
schutzorganisation Robin Wood und die lnterventionistische Linke.
Achim Heier vom globalisierungskritischen Netzwerk Attac erwartete vor dem Start
40 des Gipfels kontroverse Debatten , da die Überzeugungen und Forderungen sehr
unterschiedlich seien. zusammengefunden habe man sich in der Überzeugung, dass
die G20 die globalen Krisen dieser Welt nicht lösen, sondern in vielen Punkten eher
verschärfen, so Heier.

Lange Liste mit Vorwürfen


45 Die Liste der Vorwürfe der Organisatoren des alternativen Gipfels an die G20 ist lang.
,,Wirtschaftswachstum ist der G20 wichtiger, als die globale Erwärmung und die Ver-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

nichtung der Lebensgrundlagen zu stoppen", schreiben sie. Bei der Bekämpfung von
Armut und Flucht gebe es nur Lippenbekenntnisse. Viele der G20-Regierungen
schränkten die Rechte von Beschäftigten ein und verschärften mit ihrer Politik die
50 Umverteilung von unten nach oben.

Suche nach Gegenentwürfen


In den Diskussionen wurden Ausbeutung, die wachsende Kluft zwischen Arm und
Reich, die Macht multinationaler Konzerne, ihre Monopolbildung und die Zerstörung
55 natürlicher Ressourcen kritisiert.
Daniel Kaiser, www.ndr.de, 6.7.2017

M 2 Wer G20 abschaffen will, betreibt das Geschäft der Populisten

Das Gipfeltheater, die gestellten Fotos, den Sicherheitswahnsinn, die Lippenbekennt-


nisse. Viel zu teuer, zu wenig konkret, alles nur Symbole. Zu undemokratisch, zu auf-
wendig, zu unverbindlich. Und dann die Teilnehmer: warum der, warum jener nicht?
All diese Kritik ist berechtigt. Wenn sich alljährlich Tausende Delegierte zu G20 ver-
5 sammeln und am Ende ein wortreiches, aber inhaltsarmes Kommunique steht, muss
immer wieder die Frage gestellt werden, was das eigentlich soll.
Also alles überflüssig? Abschaffen? Schließlich gibt es ja die Vereinten Nationen und
ihre Vollversammlung, an deren Rand sich jeden Herbst die Staats- und Regierungs-
chefs der Welt begegnen.
10 Nein. Je weiter die Globalisierung voranschreitet, je mehr sie die nationalen Regierun-
gen entmachtet, desto wichtiger werden alle Formate, in denen die Anliegen der
Menschheit gemeinsam verhandelt werden. Wenn alles global ist, Krisen und Klima-
wandel, Finanzen und Flüchtlinge, Terror und Treibhausgase, braucht die Menschheit
so etwas wie eine Weltregierung.
15 Die G20 vertritt 60 Prozent der Weltbevölkerung und 80 Prozent der Wirtschaftsmacht
der Erde, wenn sie sich, und sei es noch so vage und wolkig, über Ziele und Prinzipi-
en für die Menschheit verständigt, hat das Folgen. Ihre Haltung ist wichtig. Auch von
einer unverbindlichen Schlusserklärung kann Signalwirkung ausgehen. Politik ist
immer auch symbolisches Handeln, sie braucht Bilder und Kulissen.
20 Die Vereinten Nationen allein können das nicht leisten. Sie sind zu groß, zu schwerfäl-
lig, die Reform, von der seit Jahrzehnten die Rede ist, kommt nicht zustande, der
Sicherheitsrat, ein Format aus längst vergangenen Zeiten, ist ständig blockiert.
Sicher, auch die G20 ist kein Klub von Gleichgesinnten. Doch zu den westlichen Wer-
ten zählt schließlich auch die Verständigung im Gespräch, wie mühsam sie auch sein
25 mag, der Glaube daran, dass Reden hilft.
Einen Westen, der den Ton angibt und an einem Strang zieht, gibt es seit Donald Trump
ohnehin nicht mehr. Aber es entstehen neue Allianzen, das Ziel ist möglichst große
Übereinstimmung, was die gemeinsamen Interessen der Menschheit sind: den Klima-
wandel verlangsamen, Freihandel ausweiten oder zumindest aufrechterhalten,
30 Steuerflucht bekämpfen und Gerechtigkeit endlich global denken.
Trumps Absage an das Multilaterale kann da nur Ansporn sein. Gerade w eil der ame-
rikanische Präsident das Weltgeschehen als Wrestling-Arena begreift, in der jeder für
sich allein kämpft, muss der Rest der Welt an Formaten festhalten, in denen multilate-
ral und zivilisiert gesprochen, gedacht und gestritten wird. Wer das jetzt infrage stellt,
35 betreibt das Geschäft der Populisten, das Geschäft von Donald Trump. Ohnehin wirkt
die Kritik der Globalisierungsgegner am Gipfel als Veranstaltung seltsam verrutscht:
Sie bekämpfen die G20 als Symbol der Globalisierung, als könnte man diese rückgän-
gig machen, indem man künftig keine Gipfel mehr abhält. Das Gegenteil ist richtig:
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

Wenn sich die negativen Folgen der Globalisierung mildern lassen, dann im Rahmen
40 globaler Verständigung.

Die G20 ist kein ideales Format, aber es kann verbessert werden. Afrika ist unterreprä-
sentiert. Wenn Deutschland es mit seinem Engagement für diesen Kontinent ernst
meint, sollte es sich dafür starkmachen, dass neben Südafrika ein zweiter afrikanischer
Staat permanent dabei ist. Und die Verbindung zur Uno sollte gestärkt werden. Man
45 muss nicht gleich [ ...] den ganzen Gipfel nach New York verlegen. Aber die G20 muss

mehr Einfluss auf die Uno nehmen, sie muss die Ergebnisse des Gipfels in den Sicher-
heitsrat und die Vollversammlung tragen. Und der Uno-Generalsekretär könnte stän-
diges Mitglied sein. Womit man bei G22 wäre.
Gleichzeitig , und das ist kein Widerspruch, müssen die Gipfel kleiner werden. Die G20
so entstand aus der Kritik an G7, dem exklusiven Klub der führenden Industriestaaten,
das war richtig. Die Zivilgesellschaft wurde beteiligt - als Reaktion auf die Einwände
gegen einen abgehobenen, undemokratischen Klüngel. Aber die guten Absichten
haben die G20 vom Gesprächsforum zum Groß-Event gemacht. Jetzt ist es Zeit, sie
wieder effektiver zu organisieren, intimer, exklusiver. Muss China wirklich mit einer
55 tausendköpfigen Delegation anreisen? Und Saudi-Arabien mit mehreren hundert Teil-

nehmern? Man könnte die Zahl der Delegierten drastisch beschränken, weniger Brim-
borium, weniger Beethoven. Die G20 muss vom Ausnahmezustand zur Normalität
werden, zu einer regulären Kabinettssitzung der Weltregierung. Dann gern auch zwei-
mal im Jahr.
Christiane Hoffmann, www.spiegel.de, 7.7.2017

Aufgaben

1 . Geben Sie die in M 1 dargestellte Kritik an dem Format G20 wieder.

2. Überprüfen Sie die Stichhaltigkeit der Kritikpunkte unter Zuhilfenahme von M 2.

3. Entwickeln Sie einen Katalog von Maßnahmen zum Umgang mit der Globalisierung. Simu-
lieren Sie dafür in einem Konferenzspiel (• Methodenglossar) ein Treffen zwischen Vertretern
der G20 und Globalisierungskritikern.
.. ..
■ Okonomie und Okologie
2.8.1 Zum Verhältnis von Ökonomie und natürlicher Umwelt

Leitfragen Welche Bedeutung Welches sind die globalen Stehen ökonomisches Welche Grenzen
hat die Umwelt für Megatrends von Umwelt- und ökologisches hat „klassisches
den Menschen? einflüssen durch wirtschaft- Handeln im Widerspruch W irtschaftswachs-
liches Handeln? zueinander? tum"?

Welche Bedeutung hat die Umwelt für den


Menschen?

In de n 1970er Jahren begann eine Diskussion da- Als Ökosystemleistungen werden all jene Leistun-
rüber, ob und inwieweit das Wirtschaftswachstum gen verstanden, die die Natur dem Menschen zur
die natürliche Umwelt in Mitleidenschaft ziehe. Verfügung stellt. Grundlegend sind dies zunächst
Die Bedeutung der natürlichen Umwelt ist dabei Nahrungsmittel, Rohstoffe, Arzneimittel und
für den Menschen deutlich vielfältiger, als sie auf Trinkwasser (Basisleistungen), aber auch soge-
den ersten Blick erscheinen mag. Menschen sind nan nte Versorgungsleistungen, Regulierungs-
überall und zu j eder Zeit auf die natürliche Um- leistunge n und kulturelle Leistungen werden
welt und deren Prozesse angewiesen. Um diese vom Menschen aus der Natur bezogen (> Schau-
Bedeutung unabhängig von einer individuelle n bild). Die Umwelt stellt in diesem Sinne eine na-
Umweltwahrnehmung besch reibbar zu machen, türliche Ressource dar, die sowohl Konsumgut,
wird sie mit dem Begriff der Ökosystemleistun- Produktionsfaktor als a uch Aufnahmemedium
gen ausgedrückt. zugleich ist.

. ' .. § ÖKOSYSTEM- ., . ' '. ,·.


~ LEISTUNGEN
. . ill •. , .
'' ,

Nach: Wo rld Wide Fund for Nature (WWF) Deutschland (Hg.): Living Planet Report 201 6. Kurzfassung. 2016, S. 17
2.8 Ökonomie und Ökologie f

Daraus wird deutlich, dass eine (da uerhafte) Schä- mit der zunehme nden Intensität von Naturkatas-
digung oder gar Zerstörung der Umwelt mit einer trophen, dem Ansteigen des Meeresspiegels und
Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen in der Gefahr, dass ganze Regionen ü berflutet wer-
j eder Hinsicht gleichzusetzen ist. den. Neben solchen Klimafolgen wi rken sich diese
Entwicklungen aber auch negativ auf die Arten-
v ielfalt (Biodiversität) aus, da Lebensräume und
Megatrends der ökologischen Entwicklung damit verbundene Organismen vernichtet werden.
Der Klimawandel nimmt dementsprechend nicht
Heutzutage ist der anth ropogene Klimawandel nur direkt au f den Menschen Einfluss, sondern
(griech. : anthropos = Mensch) das prominenteste zieht a uch die Umwelt in Mitleidenschaft, was
und meist diskut ie rte Thema, we nn es um die ne- sich wiederum auf die Verfügbarkeit de r Ökosys-
gatjve Beeinflussung der Umwelt durch wirt- temleistungen auswirkt.
schaftliches Handeln geht. Als anthropogen wird
die Erderwä rmung deshalb gekennzeichnet, da sie Die Ursachen für den sich beschleu nigenden Kli-
vo n Menschen bzw. deren Verh alten hervorgeru- mawa ndel lassen sich spätestens seit den frühen
fen wird. 1960er Jahren ausmachen. So z. B. durch

Die Erderwärmung ist dabei Ergebnis des Aussto- • den Anstieg der C0 2- Emissionen,
ßes von klimaschädlichen Gasen und hier insbe- • eine wachsende Weltbevölkerung,
sondere Kohlensto ffdioxid (C0 2 ), aber a uch Met- • die Entwicklung hin zu einem weltumspannen-
han (CH4) und Distickstoffox id (N20), deren st ark den Tra ns portwese n,
erhöhte Werte in der Atmosphäre d en Strahlungs- • der vermehrte Einsatz vo n Düngemitteln,
haushalt der Erde negativ beeinflussen. Der Aus- • die Abholzung der tropischen Regenwälder
stoß dieser sog. Treibhausgase kann als (uner- sowie
wünschter) Nebeneffekt einerseits der industriellen • die Intensiv ierung der Hochseefischerei.
Güterproduktion (inkl. des Gütertransports) und
andererseits des weltweit gesteigerten Konsums
(inkJ. z. B. des Individualverkehrs oder vo n Woh- Grenzen des Wachstums
nungen) beschrieben werden.
In den Wi rtschaftswissenschaften ging man tradi-
Die Gefahren des Klimawandels werden dan n tionell davo n aus, dass wirtschaftliche Aktivitäten
konkret, wenn dieser in Verbindung gebracht wird sich in einem geschlossenen System abs pielen.

Stand globaler Indikatoren der Umweltbelastungen

Vorindustrieller '.!) Belastungsgrenze des Planeten


Wert Klimawandel Kohlenstoffdioxidkonzentratlon in der Atmosphäre, in Teile pro Million {ppm)
280 ) 387
Artensterben Anzahl der ausgestorbenen Arten, pro Million und Jahr
0, 1- 1
Stic kstoffkreislauf Der Atmosphäre entzogene Stickstoffmenge, in Mio. Tonnen pro Jahr
0
Phosphorkrei slauf Phosphorzufluss in die Meere, in Mio. Tonnen pro Jahr
-1 ) 8,5-9,5 e 11

t
Verlust der Ozonschicht Ozonkonzentration, in Dobsen (Einheit IDB)
290 :u re1 276
Übersäuerung der Meere Mittlerer Sättigungsgrad von Aragonit an der Meeresoberfläche, in Proz•e~~ ) ,
3,44 2 75
Süßwasserverbrauch Süßwasserverbrauch der Weltbevölkerung, in k rn3 pro Jahr
415 -------~12~
Fläche nverbrauch landwirtschaftliche Flächennutzung, in Prozent der Gesamtfläche
• 4~

5 l 11,7 15
Atmosphärische Ae rosole Noch nicht qualifiziert

Verschmutzung durch Chemikalien: z.B. durch langlebige Ofganische Schadstoffe, Schwermetalle oder ~ Aktueller Wert
Atommüll, noch nicht q ualifiziert

Nach: Le Monde diplomatique {Hrsg.}, Altas der Globalisierung. Weniger wi rd mehr, 201 5, S. 119
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Nicht berücksichtigt wurde, dass diese in einem zung der Ressourcen (Rohstoffe und Energie), aber
Wechselverhält nis zu der sie umgebenden Natur auch Grenzen für den Ausstoß vo n Abfällen der
bzw. zu dem ökologischen System Erde stehen. Produktion, etwa für Schadstoffe.
Dementsprechend wurde die Natur meist als „frei-
es Gut" ohne Preis betrachtet, soweit sie nicht
einem Eigentumsverhältnis unterliegt. Erst mit Beziehungen zwischen
der Studie des Club of Rome „D ie Grenzen des (wirtschafts-)politischen Zielen
Wachstums" aus dem Jahr 1972 rückte dieser Zu-
sammenhang in das Bewusstsein. Obwohl sich die Voraussagen der Studie von 1972
als zeitlich zu pessimistisch erwiesen, ist die
Die Autoren, das Ehepaar Meadows, formu lierten Gesamtaussage heute wissenschaftlich weitge-
die These von der Endlichkeit natürlicher Ressour- he nd anerka nnt. Es ist unbestritten, dass ein auf
cen. Während man in der marktwirtschaftlichen ungezügeltem Ressourcenverbrauch basierendes
Ökonomie von dem Postulat eines ständigen, im und die Umwelt zusätzlich belastendes Wirt-
besten Fall stetigen Wachstums ausgeht - was in schaftswachstum auf Dauer nicht tragbar ist.
der klassischen Theorie mit einem kontinuierli-
chen Zuwachs des Wohlstands gleichgesetzt wird Wirtschaftliches Handeln, das mehr als die vor-
-, weisen ökologische Systeme Grenzen auf. Das handenen bzw. regenerierbaren Gesamtressour-
Ehepaar Meadows stellte in seiner Untersuchung cen verbraucht u nd mehr Abfälle als die natürlich
ein exponentielles Wachstum sowohl des wirt- abbaubaren hinterlässt, steht im Widerspruch zur
schaftlichen Systems als auch der Bevölkerung Bewahrung der Umwelt. Insofern steht auch das
seit Beginn der Industrialisierung fest. Aus der politische Ziel des Wirtschaftswachstums (zumin-
Begrenztheit des ökologischen Systems Erde erge- dest unter den beschriebenen Bedingungen) in
ben sich aber für das ökonomische System Gren- einem Zielkonflikt zum politischen Ziel des Um-
zen des Wachstums, konkret Grenzen für die Nut- weltschutzes. Allgemein gesproch en kö nnen

Karikatur: Gerhard Mester / Baaske Cartoons


2.8 Ökonomie und Ökologie f

(wirtschafts-)politische Ziele komplementär, neu- Wie viel Erde bräuchten wir, wenn alle Leute der Welt
tral oder in Konflikt zueinander stehen: so leben würden wie die Bewohner von ...

1. Von Zielkomplementarität spricht man, wenn


das Verfolgen eines Ziels das Erreichen eines
weiteren ebenfalls fördert. Viele Ökonomen
und Politiker gehen von einer Komplementari-
1111§

illl Australien
U.S.A. 5.0

4.1 •••••
··••~
tät zwischen „Wirtschaftswachstum" und „ho-
hem Beschäftigungsstand" aus.

2. Zielneutralität ist gegeben, wenn Maßnahmen


-
!•! Südkorea

Russland
3.5

3.3 ···-
···-
zur Realisierung eines Ziels ein a nderes weder
positiv noch negativ beeinflussen.

3. Zielkonflikte existieren dan n, wenn die Ver-


wirklichung eines Ziels die eines anderen be-
IIJI Schweiz
~11)!!!'1!;,
Deutschland 3.0

U.K.
2.9

2.9
•••
••••
••
hindert. Solche Gegensätze werden häufig für '!"'41~

•••
die Zielbeziehungen „Wirtschaftswachstum -
Umweltschutz" und „hoher Beschäftigungs- 1 1 Frankreich 2.8

•••
stand - Preisniveaustabilität" behauptet.

Es w ird also zentrale politische Aufgabe der kom- • Japan 2.8

menden J ahre und Jahrzehnt sein, entweder den


Zielkonflikt zwischen Ökonomie und Ökologie
zumindest in Richtung einer Zielneutralität zu
1I
:;:: Spanien
Italien 2.6

2.3 ··-
··-
••~
entwickeln oder global ökonomische Ansätze zu
finden, umweltschädliches Wirtschaftswachstum
verzichtbar zu machen (>Kap. 2.8.3).
III China 2.2

Der ökologische Fußabdruck


!Ca Brasilien
Indien
1.8

0.7 ••
•·-

Mit dem ökologischen Fußabdruck steht seit 1994
ein leicht kommunizierbares und transparentes gesamte
1.6
Instrument zur Verfügung, um die ökologischen Welt
Auswirkungen des Konsums von Einzelpersonen Global Footprint Network, www.f ootprintnetwork.org, 2018

bzw. ganzer Volkswirtschaften darzustellen. In


dem Berechnungsverfahre n wi rd j e ne Fläche er- den zur Verfügung stehenden Ressourcen dann
mittelt, die es braucht, um die Ressourcen zur Ver- ergibt sich aus diesem Verhältnis der ökologische
fügung zu stellen, die eine Person benötigt, um Fußabdruck. Mit Hilfe dieses Indikato rs lässt sich
den eigenen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. aufzeigen, dass in den westlichen Industriestaaten
Zudem fließt in die Berechnungen auch j e ne Flä- die Menschen einen ökologischen Fußabdruck ha-
che mit ein, die es braucht, um die notwendigen ben, der die zur Verfügung stehende Fläche bei
Produkte wieder zu beseitigen. Um den ökologi- weitem übersteigt. Würde man z.B. den Konsum
schen Fußabdruck vergleichbar zu machen, wurde (in) der Bundesrepublik Deutschland im Ja hr 2018
ein weltweiter „Standardhektar" konstruiert, der betrachten und diesen auf die Welt übertragen,
angibt, wie viele Ressourcen ein Mensch auf der dann würde n dafür 3,0 Erden benötigt (> Grafik).
Erde prinzipiell zur Verfügung gestellt bekommt.
Bezogen auf den Konsum in den Vereinigten Staa-
Vergleicht man den Verbrauch eines Menschen ten von Amerika wären 5,0 Erden vonnöten. Und
gemessen an C0 2-Emissionen, Ackerland, Wald, obwo hl insbesondere die afrikanische n Staaten
Weideland, Fischgründen und bebauter Fläche mit nahezu alle unter einem v irtuellen Bedarf von 1,0
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

bleiben, wären für den derzeitigen weltweiten Ge- Der ökologische Rucksack -
samtkonsum gesehen 1,6 Erden notwendig. An- ein Beispiel
ders ausgedrückt: Rechnerisch wa ren bereits a m
Mirja wacht auf und legt ihre 12,5 Kilogramm
2. Mai 2018 in Deutschland die Ressourcen für das schwere Armbanduhr um ihr Gelenk, sie schlüpft in
Jahr 2018 aufgebraucht; bezogen auf die Welt ihre 35 Kilogramm schwere Jeans, macht sich Kat-
wird dies im August 2018 sein. (sog. ,,Welter- fee in ihrer 52 Kilogramm schweren Maschine und
schöpfungstag"). trinkt aus ihrem 1,5 Ki logramm schweren Becher die
gewohnte Erfrischung. Nachdem sie ihre 3,5 Kilo-
Während der Vorteil des Konzepts die gute Visua- gramm schweren Joggingtreter angezogen hat, ra-
delt sie mit ihrem 400 Kilogramm schweren Fahrrad
lisierung und Kommunizierbarkeit ist, weist der
zum Büro. Dort angekommen, schaltet sie ihren 12
ökologische Fußabdruck j edoch auch Schwächen Tonnen schweren Computer ein und führt ihr erstes
a uf. Die Redukt ion auf eine Ken nzahl birgt die Gespräch mit ihrem 70 Kilogramm schweren Smart-
Gefahr, dass soziale Aspekte bzw. auch ande re re- phone.
levante Umweltgrößen nicht betrachtet werden. Nach: Friedrich Schmidt-8/eek, Grüne Lügen. Nichts für
die Umwelt, alles fürs Geschäft - wie Politik und
Dazu gehören in diesem Fall z.B. die Arte nvielfalt
Wirtschaft die Welt zugrunde richten, 2014, S. 55
oder a uch der Wasserverbrauch.

Der ökologische Rucksack


ist als das Produkt selber. Erfasst werden die Mls
Ein weiteres Konzept, den Ressourcenverbrauch in fü nf verschiedenen Umweltkategorien:
und die Umweltbelastung von Produktion und
Konsum auszudrücken, ist d er sogenannte ökolo- • Biotische Ressourcen, also die Biomasse aus be-
gische Rucksack, der vom gemeinnützigen Wup- wirtschafteten und nicht-bewirtschafteten Ge-
pertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gleich bieten
nach seiner Gründung 1992 a ufgenommen und • Abiotische Ressourcen wie z.B. Metalle, Mine-
weiterentwickelt wurde. ralie n und fossile Energieträger (Erdöl, Kohle... )
• Bodenbewegung v. a. durch agrarische Nutzung
Das Institut weist fü r jedes denkbare Produkt ei- • Wasser (sowohl an der Oberfläche als auch un-
nen Material-Input (MJ) in JGlogramm aus, das die teri rdisch)
Summe für den Produktionsprozess bewegten • Luft (bzw. Umwandlung vo n deren Bestandtei-
oder entnommenen Grundmaterialien (z.B. Holz, len z. 8. durch Verbrennung)
Kunststoffe, Metalle... ) darstellt. Dabei reicht der
MI-Faktor vom 1,2-fachen (für l kg Rundholz Als Vorteile des Berechnungsmodells führt das
werden ca. 1,2 kg Natur eingesetzt) bis zum Wuppertal Institut an, dass ein umfassendes Bild
550.000-fachen (für ein Kilogramm Goldring wer- der Wirkung des Wirtschaftens auf die Natur ent-
den 550.000 kg Natur eingesetzt) des Eigenge- lang d er Produktions- bzw. der gesamten „Wert-
wichts des produzierten Gutes. J edes Gut trägt schöpfungs"-Kette entsteht und nicht nur einzel-
also einen „Rucksack" von in es eingeflossener ne Umweltbelastungen wie Schadstoffemissionen
Natur mit sich, der bis zu 550.000 Mal schwerer oder Wasserverbrauch etc. abgebildet werden.

Aufgaben

1. Fassen Sie die wesentlichen weltweiten ökologischen Herausforderungen zusammen.

2. Erklären Sie die ökologische Problematik des Wirtschaftswachstums mittels geeigneter Modellvorstellungen.

3. Analysieren Sie die Karikatur (, Methodenkompetenz: Karikaturen analysieren und interpretieren).

4. Prüfen Sie, welches Konzept zur Darstellung der ökologischen Hauptproblematiken am sinnvollsten ist.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Menschliche Einflüsse auf den Planeten Erde

WORLD POPULATION CARBON DIOXIDE (CO:J


8~- - - - - - - - - - -~ - - - 390~- - - - - - - - - - -~ - - -
7-+-- - - - - - - - - - -_.__ __
6-+-- - - - - - - - - - --+-- - - C 360-+-- - - - - - - - - - --+-- -,._____.
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a.
~1==~~~~~-:.;-;.-;.-;.~••-.11=.::;;;;;. 270- + - - -.......- -.......- -.......- - - + - - - - - , -
1750 1800 1850 1900 1950 2000 1750 1800 1850 1900 1950 2000

FERTILIZER CONSUMPTION FRESHWATER USE


200--r-- - - - - - - - - - -~ - - - 4,5--r-- - - - - - - - - - ---.-- - -
180-+-- - - - - - - - - - --+-- - - 4-+-- - - - - - - - - - --+-- - -
160-+-- - - - - - - - - - - _ . __ __ 3,5 - + - - - - - - - - - - - - - - i - - - -
Cll 140-+-- - - - - - - - - - - ~ - - -
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20-+-- - - - - - - - - - - . . . . ; . . . . .
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1750 1800 1850 1900 1950 2000
o-1---~-~-------
0,5-t-- - - - - - - - - - : -- - ~

1150 1800 1850 1900 1950 2000

TROPICAL FOREST LOSS MARINE FISH CAPTURE


30~- - - - - - - - - - -~ - - - 80--r-- - - - - - - - - - - - - . - - - -
70+-- - - - - - - - - - -_._-----::c:rrr-
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0 -+-----.-----.-----.----+---""T""' 0 - + - - -.......- -.......- -.......---+---"""T"""
1750 1800 1850 1900 1950 2000 1750 1800 1850 1900 1950 2000

Figures illustrate trends and how the size and scale of TRANSPORATION
events have changed. Source: IGBP, 2016. 1400--r-- - - - - - - - - - ---.-- - -
1200-+-- - - - - - - - - - - - - - -
World Wide Fund Jor Nature (WWF) international (Hrsg.):
Livi11g Planet Report 2 016. 2016, S. 59 gJlOOO-+-- - - - - - - - - - - _ . __ __
~ 800-+-- - - - - - - - - - -_.__ __
..c
(l)
Aufgaben > 600-+-- - - - - - - - - - -_,__ _
C
~ 400-+------------_._-
1 . Beschreiben Sie die Trends der menschlichen
Einflüsse auf die ökologische Entwicklung seit
'E 200-+-- - - - - - - - - - --+--
dem Jahr 1900.
1750 1800 1850 1900 1950 2000
2. Arbeiten Sie die Wirkungszusammenhänge
zwischen den einzelnen Einflüssen heraus.
Key
3. Der Anstieg der Weltbevölkerung ist Ursache
der schwerwiegenden ökologischen Rest of the world BRICS countries
Probleme im 21. Jahrhundert. Bewerten Sie
- OECD countries - World
diese Aussage.
2. 8. 2 Externe Effekte und deren „1 nternalisierung"
Leitfragen Was versteht m an Welche Bedeutung Wie können externe Kosten Ist die Schaffung von
unter freien Gütern haben externe Kosten zu Lasten des Verursachers Gemeingütern die Lösung
und externen bzw. hat externer gehen (Internalisierung)? globaler Umweltprobleme?
Effekten? Nutzen?

Welche Bedeutung haben freie Güter in der


Umweltpolitik?

In der Ökonomik unterscheidet man verschiedene 3. Meritorische Güter (auch : ,,erkorene" öffentli-
Arten von Gütern. Freie bzw. öffentliche Güte r che Güter) könnten eigentlich a uf Märkten ge-
haben die Eigenschaften, dass niema nd grund- handelt werden, aber sie werde n polit isch bzw.
sätzlich von deren Konsum ausgeschlossen wer- sozial für so bedeutsa m gehalten, dass sie staat-
den kann und dass das Gut (zunächst) ohne Nach- lich für alle Bürger verfügbar gemacht werden
teil für alle anderen konsumiert werden kann. Ein (z.B. Kranken-, Arbeitslosenversicherung,
typisches Beispiel für ein ö ffentliches Gut sind Schulbildung).
Deiche. Alle profitieren vo m Flutschutz (kein Aus-
schluss vom Ko nsum) und a lle Persone n kö nnen 4. Bei Allmendegütern handelt es sich um Güter,
den Deich in gleicher Weise nutzen (keine Kon- von deren Konsum eben falls niemand ausge-
sumrivalität). Allerdings führe n diese Eigenschaf- schlossen werden kann, bei de ne n wegen be-
ten von öffentlichen Güter nach der Annahme grenzter Ressourcen aber Rivalität im Konsum
traditioneller Wirtscha ftswissenschaften a uch besteht (z.B. gemeinsam genutztes Weideland,
dazu, dass Privatpersonen keine Deiche bauen Fischgründe, saubere Luft, (nicht verstopfte)
würden, da sie sie nicht als privat e Güter ökono- Innenstädte). Auch hier gibt es also ein polit i-
misch nutze n könnten. sches Regulierungsbedürfnis.

Die natürliche Umwelt wurde in den Wirtschafts-


Der Güterbegriff der Ökonomik wissenschaften lange als freies Gut betrachtet, da
sie von allen Personen genutzt werden kann und
In den Wirtschaftswissenschaften werden ver- zugleich der Zugang vo n anderen d adurch nicht
schiedene Güterarten voneina nder unterschieden, eingeschränkt wird. Betrachtet man jedoch die
die sich nach den Kriterien „Grad der Rivalität im Kosten, die für die Um welt entstehen, wenn j e-
Konsum" und „Ausschließbarkeit vom Konsum" mand mit einem Auto fä hrt, mit d em Flugzeug
voneinander unterscheiden lassen: fliegt bzw. durch die industrielle Produktion, dann
lässt sich feststellen, dass diese Kosten nicht ge-
1. Von der Nutzung privater Gütern (z.B. Speise- nerell in die Preise miteinberechnet sind. Es ent-
eis, Autos) können Mensche n prinzipiell ausge- stehen , um mit dem Terminus des britischen Öko-
schlossen werden, außer sie sind bereit einen nomen Arthur C. Pigou (1 877-1959) zu sprechen,
bestimmten Preis zu zahlen (Ausschließbarkeit). negative externe Effekte oder auch externe Kos-
Gleichzeitig herrscht Konsumrivalität, weil ge- ten.
nerell gilt, dass der Konsum de r einen Person
eine andere Person vom Konsum ausschließt.
Was versteht man unter externen Kosten?
2. Öffentliche Güte r könne n von J edem ohne
Nachteil für alle anderen be nutzt werden (keine Die von Pigou erstmals beschriebenen externen
Konsumrivalität) und man kann niemanden Effekte bestehen darin, dass das w irtschaftliche
vom Gebrauch ausschließen (z.B. Deiche, Stra- Handeln eines Akteurs Nebenfolgen hat, die a ber
ßenbeleuchtung, Landesverteidigung). Aller- für den Handelnden keine Konsequenzen nach
dings stellt deswegen auch kein privater Anbie- sich ziehen. Dabei ist zwischen positiven externen
ter diese Güter zur Verfügung, sondern sie Effekten (externer Nutzen) und negativen (externe
müssen vom Staat bereitgehalten werden. Kosten) zu unterscheiden:
2.8 Ökonomie und Ökologie f

Ein externer Nutzen liegt vor, wenn die ökono- schaftlichen Nachweisaufwand sowie dadurch,
mische Betätigung positive (z.B. ökologische) Fol- dass bei strengerer Umweltgesetzgebung in einem
gen hat, fü r die der Verursacher auf dem Markt Land d iesem gegenüber andere wirtschaftliche
keine n Preis erzielen kann. Das klassische Beispiel Nachteile entstehen könnten.
sind Imker, deren Bienen nicht nur Honig eintra-
gen (für den ein Marktpreis zu erzielen ist), son- Drittens könnten - wie schon von Pigou vorge-
dern die auch die Pflanzen in der Umgebung be- schlagen - Öko- Steuern beschlossen werden. So-
stäuben und damit für deren Fortbestand sorgen mit wird nach dem Verursacherprinzip der Um-
(für diese Leistung erhält der Imker nichts - ex- weltverbrauch (teilweise) in den Endpreis des
terner Nutzen). Produkts eingepreist, der Konsu m dadurch verteu-
ert und in der Folge wahrscheinlich verringert,
Externe Kosten entstehen dan n, wenn wirtschaft- was Schonungseffekte für die Umwelt zur Folge
liches Handeln zu Lasten vo n Dritten (oder auch haben sollte. Ein wesentlicher Nachteil besteht
der Umwelt) geht, ohne dass für d iese „Schädi- allerdings darin, dass die Einnahmen aus der Öko-
gung" ein Preis entrichtet werden musste. Letzt- Steuer in den Gesamthaushalt fließen und nicht
lich muss für d ie Schäden nicht deren Verursacher, zwingend für Umweltschutz ausgegeben werden.
sondern die Allgemeinheit aufkommen. Sowohl Außerdem wird die Höhe der Steuer politisch be-
Produzenten können externe Kosten verursachen stimmt und amortisiert damit auch nicht unbe-
(z.B. Luftverschmutzung durch Fabrikanlagen) als
auch Konsumenten (z.B. Lärm durch lautes Mu-
sikhören). Im Fall der Umweltbelastungen wird Reduktion von Treibhausgasen
deutlich (, Kap. 2.8.1 ), dass es Aufgabe der Polit ik als soziales Dilemma
sein muss, externe Kosten so weit wie möglich zu
senken, um die Folgen unter Kon trolle halten zu In einem [ ...) basalen theoret ischen Zugriff kann man das Problem
des Klimawandels als „Soziales Dilemma" interpretieren. Von ei-
können.
nem Sozialen Dilemma wird sozialwissenschaftlich dann gespro-
chen, wenn ein Widerspruch vorliegt zwischen der gesellschaftli-
chen Rationalität einerseits, d. h. dem, was für die die Gesellschaft,
Wie können externe Kosten verringert werden? für die Welt als Ganzes vorteilhaft wäre, und der individuellen
Rationalität andererseits, d. h. dem, was aus Sicht des einzelnen
Grundsätzlich stehen vier Typen politischer Inst- Arbeitnehmers, Verbrauchers und Unternehmen im individuellen
rumente zur Verfügung, mit denen externe Kosten wirtschaftlichen Alltagshandeln einen größeren Eigennutzen ver-
spricht. Während die Begrenzung der globalen Erwärmung auf +2°
verringert werden können:
C für das globale Kollektiv ein rationales Ziel darstellt, wird (in einer
Welt ohne klimapolitische Gesetze) vom einzelnen Akteur eine
Erstens kön nen Appelle an die Wirtschaftssubjek- deutliche Reduktion seine bisherigen C02 -Emissionen erstens für
te genutzt werden, umweltschonender zu produ- sein individuelles ökonomisches Wohlergehen in vielen Fällen
zieren und zu ko nsumieren. Der Vorteil solcher nicht als rational, sondern als kontraproduktiv empfunden, da dies
Appelle liegt darin, die Handlu ngsfreiheit nicht meist (nicht: immer) hohe individuelle Kosten (Verzicht , Geld, zeit-
einzuschränken. Allerdings sind Appelle zumeist liehe Inflexibilität u.ä.) verursacht. Zweitens ist der Klimaschutz ein
öffent liches Gut, sodass derjenige Akteur, der kostenintensive
kaum wirksam, da sich zumindest ein erheblicher
eigene Anstrengungen zum Klimaschutz leistet, andere Akteure,
Teil der Wirtschaftssubjekte nicht daran gebunden die keinen Beitrag zum Klimaschutz leisten (sog. Trittbrettfahrer),
fühlt und sich so einen Preisvorteil gegenüber der von dem d amit verbundenen Nutzen nicht ausschließen kann.
Konkurrenz mit auferlegter Selbstbeschränku ng Drittens ist der positive Effekt individuellen klimafreundlichen Han-
verschafft (sog. Freerider- oder Trittbrettfah rer- delns auf das globale Klima ohnehin extrem gering, sodass fak-
Problematik; vgl. Kap. 2.8.5). tisch kein Nutzen generiert wird.
Deshalb sind viele Bürger in den Industrieländern kaum bereit, die
individuellen Nachteile, die ihnen als Berufswähler, Arbeitnehmer
Zweitens kön nen ordnu ngsrech tliche Maßnah-
und Verbraucher z.B. durch einen Verzicht auf besonders klima-
men wie Ve rbote oder Grenzwerte beschlossen schädliche Flugreisen entstehen könnten, hinzunehmen. Gegen
werden. Der Vorteil dieser Instru mente ist ihre solche Anreizstrukturen ist offenbar auch ein ökologisches Be-
uneingeschränkte Bindungswirkung, denn Ver- wusstsein weitgehend machtlos[.)
stöße werden mit (empfindlichen) Strafen geahn- Thorsten Hippe, Herausforderung Klimaschutzpolitik. Probleme, Lösungs-
det. Nachteile entstehen durch den vergleichswei- strategien und Kontroversen, 2016, S. 47
se hohen staatlichen Kontroll- bzw. privatwirt-
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

di ngt die (ohnehi n schwierig und exakt zu ermit- bekannteste der EU-Emissionshandel ist. Die re-
telnden) Kosten fü r die Umweltzerstörung. gulierende Stelle (hier die Organe der Europäi-
schen Union) legen einen verschärfenden Gren-
V iertens ist es staatlicherseits möglich, durch zwert fest und verteilen (oder versteigern)
Subventionen oder andere finanzielle Förder- Versch mutzungsrechte an Staaten bzw. einzelne
maßnahmen externe Kosten zu senken. Beispiels- Unternehmen. Alle Staaten bzw. Firmen, die ihr
weise könnten durch staatliche Finanzzuschüsse Verschmutzungskontingent unterschreiten, kön-
(direkte Subventionen), Steuererleichterungen nen ih re Rechte auf dem freien (Emissions-)Markt
oder zinsvergünstigte Kredite (indirekte Subven- an Staaten oder Unternehmen verkau fen, die
tionen) der Ein- oder Neubau umweltschonender meh r als die zugeteilten Mengen benötigen (>Kap.
Produktionsmittel oder Umweltschutzmaß nah- 2.8.6).
men an privaten Bauten (Wärmedämmung etc.)
gefördert werden. So vergibt d ie Kreditanstalt für Der Vorteil des Verschmutzungsrechtehandels
Wiedera ufbau (Ktw) beispielsweise Kredite an liegt in der Wirku ng der Preisfunktion en, nämlich
Personen, die Eigen heime erwerben oder bauen, der In Formations- und vor allem der Disziplinie-
zu günstigeren Konditionen im Vergleich zu den rungsfunktion des Preises (>Kap. 2. 1.2).Allerdings
marktübl ichen Zinsen, wenn bestimmte Umwelt- ist der Erfolg des Emissionsrechtehandels davo n
standards eingehalten werden. abh ängig, künstliche Knappheit politisch zu er-
zeugen. Wenn die Menge der Zertifikate die Men-
ge der Emissionen nicht (deutlich) u nterschreitet,
Können externe Kosten (auch) über das kommt der Handel nicht in Gang und es entsteht
Marktprinzip verringert werden? kein wirtschaftlicher Anreiz, Verschmutzungen zu
reduzieren. Außerdem können sich - ähnlich wie
Externe Kosten kö nne n auch über marktförmige bei den ordnungsrechtlichen Maßnahmen - im
Instrumente verringert werden, von denen das internationalen Vergleich Wettbewerbsnachteile

Instrumente der Umweltpolitik

ordnungspolitische Instrumente Selbstverpflichtungen


Instrumente des Marktes und Information

Beispiele Beispiele Beispiele


• Gebote, z.B. Vorgabe • Umweltsteuern, z.B. • Vereinbarungen
von Immissionswerten, Ökosteuer, Schwefel- zur Rücknahme
Flächennutzungspläne steuer auf Kfz-Kraft- von Verpackungen
für Neubaugebiete stoffe • autofreie Sonntage
• Verbote, z. B. Verbot der • Emissionshandel, • Umweltaktions-
Produktion von FCKW COr Zertifikate veranstaltungen
• Umweltverträglichkeits- • Abgaben, z.B. • Veröffentlichung
prüfungen Abwasserabgaben von Umweltbilanzen
• Naturschutzmaßnah- • Subventionen, z.B. • Umweltsiegel
men für die Einspeisung
• Kennzeichnungsverord- von Solarstrom
nungen

Nach: Thomas lnt-Veen u. a., Strukturwissen Wirtschafts- und Sozialkunde, Troisdorf 2009, S. 124
2 .8 Ökonomie und Ökologie f

ergeben, wenn nur ein Staat bzw. eine Region den mit freie n Gütern, sondern sie bestehen eher in der
Emissionsha ndel einführt. kollektiven Regelbildung und Regeleinhaltu ng
zur Nutzung freier Güter, um deren Übernutzung
zu verhindern. Dabei sind Commons vo n der Idee
Etablierung weltweiter „Commons" zum getragen, dass das genutzte und regelgeleitet ver-
Schutz der Umwelt waltete Gut allen gehört und die Erträge allen in
gleicher Weise zust ehen.
Im Jahr 1968 veröffentlichte der Ökologe Garrett
Hard in ( 19 I 5-2003) einen sehr einflussreichen
Artikel mit dem Titel „The Tragedy of Commons". Wie kann der Verbrauch von freien Gütern
Darin behauptete er auf den ersten Blick nachvoll- geregelt werden?
ziehbar, dass bei der Nutzung von Gütern, die sich
im Besitz der Gemeinschaft befinden und gemein- Im 21. Jahrhundert wurden Ansätze entwickelt,
sam genutzt werden (Allmenden), sich automa- das dargestellte Commons-Verständnis über loka-
tisch eine Übernutzung einstelle: Nach Hardins le bzw. regiona le Räume hinaus auszuweiten. Da-
Analyse würde j eder einzelne Nutzer eines Ge- bei entstand das Problem, dass sich die Nutzer
meinguts (z.B. einer gemeinsamen Weide) seinen eines Gemeinguts nicht persönlich kannten bzw.
individuellen Nutzen zu maximieren versuchen. in gänzlich unterschiedlichen kulturellen und so-
Würde a uch nur ein Nutzer mit d er egoistischen zialen Zusammenhängen sozialisiert waren.
Nutzenmaximierung beginnen, würden alle ande-
ren gezwungenermaßen nachzie hen, um keine Dennoch versprechen sich die Vertreter der Per-
Nachteile zu erleiden. Die Kosten, die durch die spektive von Ostrom, dass durch die Idee des Ge-
,,Übernutzungsspira le" entstünden, wü rden sozia- meinbesitzes a n natürlichen Ressourcen globale
lisiert, müssten also vo n der gesamten Gemein- Ressourcenschonung möglich werden würde. So
schaft getragen werden. könne man beispielsweise eine Atmosphäre-Treu-
handgesellschaft (,,Sky-Trust") gründen, die den
Die Politikwissenschaftlerin und Wirtschaftsn- Gemein besitz der Weltbevölkerung an Verschmut-
obelpreisträgerin von 2009 Elinor Ostrom (1933- zungsrechte n verwaltet. Firmen müssten in Ver-
2012) widerlegte durch ihre Forschungen die lan- steigerungen Verschmutzungsrechte von der
ge Zeit anerkannte und teilweise heute noch Weltbürgergemeinschaft erwerben und die Ein-
vertretene These Garrett Hardins. Mit ihrer For- nahmen würden entweder komplett als Jahresdi-
schergruppe untersuchte sie jahrzehntelangen Ge- vidende zu gleichen Teilen an jeden Menschen
mein besitz in unterschiedlichen Kontinenten - ausgeschüttet oder ein Teil der Erlöse wü rde in die
wie z.B. Wassernutzungsrechte an Flüssen in Entwicklung kJimaschonender Technologien in-
trockenen Regionen. Dabei fand sie heraus, dass vestiert. Die höheren Produktionskosten würden
die lokalen Nutzergruppen Regeln entwickelten die Firmen wahrscheinlich auf ihre Kunden umle-
und für deren Einhaltung sorgten, sodass Über- gen, indem sie die Preise für ihre Produkte ent-
nutzung zum Schaden aller eben gerade nicht sprechend erhöhen. Allerdings würden nur dieje-
stattfand. Diese Regeln waren meist informell, nigen Menschen (mehr als) ihre Öko-Dividende
aber umso wirksamer. Commons, so kann man wieder ausgeben müssen, die einen energieinten-
zusammenfassen, s ind also nicht zu verwechseln siven Lebens- bzw. Konsumstil pflegen.

Aufgaben

1. Erklären Sie externe Kosten (externer Nutzen, externe Kosten) an eigenen Beispielen (aus Ihrem Lebensum-
feld). Verwenden Sie dazu auch den Begriff „freie Güter".

2. Beurteilen Sie, welche umweltpolitischen Instrumente den größten Erfolg bei weltweiten Problemen wie dem
anthropogenen Klimawandel versprechen.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Die COrDividende für den Verbraucher

Umweltpolitiker [sind] zumeist ratlos, wenn es um das Individuum [bzw. dessen Ver-
halten] geht. Und lassen dabei viel Raum für Fantasie und visionäre Konzepte. Der
bisher radikalste Plan kommt aus Großbritannien [.. .]: Angefangen bei der Queen,
würde jeder Brite ein einheitliches Kohlenstoffbudget bekommen, das auf einer Art
s Kreditkarte gespeichert wird. Beim Tanken, Heizen oder Buchen eines Flugs müssten
die Kunden dann nicht nur mit Geld bezahlen, sondern auch mit Kohlenstoffpunkten,
sogenannten Carbon Points.
Wer viel fliegt oder fährt, wäre dann recht schnell in den Kohlenstoffmiesen - und
müsste sich bei einer Kohlenstoff-Zentralbank zusätzliche Carbon Points kaufen.
10 Sparsame Familien, die kein Auto fahren, ihren Urlaub in Cornwall statt in der Karibik

verbringen oder sich eine Solaranlage aufs Dach setzen, könnten überschüssige Punk-
te an die Bank verkaufen und damit echtes Geld verdienen.
Das Revolutionäre an der Idee [des ehemaligen britischen Umweltministers] Miliband:
Nicht nur die Großverschmutzer aus der Industrie nehmen am Emissionshandel teil,
1s sondern jeder einzelne Bürger. Dafür musste Miliband jede Menge Kritik einstecken:
Verlierer seien die armen Leute, die sich kein sparsames Auto leisten könnten; oder
Rentner, die im Winter ihre alten Heizungen abstellen müssten, um Geld zu sparen,
hieß es in wütenden Briefen an sein Ministerium. [... ]
[Jörg] Haas [von der Heinrich-Böll-Stiftung] hat [... ] zusammen mit dem US-amerika-
20 nischen Ökounternehmer Peter Barnes ein anderes Modell entwickelt [... ]: den Sky-

Trust. Dabei geht Haas vom Prinzip der öffentlichen Güter aus: ,,Die Atmosphäre gehört
allen Menschen und nicht nur ein paar Konzernen." Ein unabhängiger Sky-Trust, eine
Art „Himmels-Treuhand" würde die COrZertifikate verwalten und an die Industrie ver-
steigern. Bezahlen müsste also zunächst jedes Unternehmen, das Kohlenstoff[dioxid]
2s in Umlauf bringt. Wenn die Unternehmen die Mehrkosten dann auf die Preise umlegen,

würden klimaschädliche Produkte deutlich teurer.


Das Besondere am Sky-Trust: Die Milliardengewinne aus der COrVersteigerung wer-
den als Dividende ausgeschüttet - an jeden einzelnen Bürger. Die werden so für die
höheren Energiepreise entschädigt. ,,Dieses System würde die richtigen Anreize für
30 Klimaschutz schaffen", sagt Haas. Denn ein Geländewagenfahrer würde an der Tank-

stelle mehr Geld zusätzlich bezahlen, als er als Dividende zurückbekommt. Wer Fahr-
rad fährt, erhält dagegen mehr zurück, als er einzahlt.
Für das Sky-Trust-Modell müsste das bestehende europäische Emissionshandelssys-
tem weiterentwickelt werden. Denn bisher verschenken die Regierungen die Ver-
3s schmutzungsrechte noch zum größten Teil an die Industrie. Während die mit dem

Verkauf der Gratiszertifikate große Gewinne einfahren kann, lässt das alte System die
Verbraucher mit den höheren Preisen allein.

Nikolai Fichtner, Die COi-Dividende für den Verbraucher, in: taz, 5.5.2 007, S. 3

M 2 Der Mythos vom globalen Umweltmanagement

Roadmap - das hört sich nach Friedensplan an, und vielleicht geht es darum auch.
Um einen friedlicheren, das heißt nicht zerstörerischen Umgang mit der Natur. Ob die
aktuellen Formen internationaler Klimapolitik dazu beitragen, ist fraglich. [ ... ]
Die Lage ist in der Tat ernst. Der Weltklimarat spricht von „Kipppunkten", an denen in
s bestimmten Regionen der Welt das Klima umkippen, sich also dramatisch verändern
1 kann. Es gehört heute zum Allgemeinwissen, dass kleine Inselstaaten und Küstenge-
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

biete bei weiterem weltweiten Temperaturanstieg verschwinden werden. Es sind also


sehr grundlegende Veränderungen unserer Wirtschafts- und Lebensweise notwendig.
Die Frage ist, ob die internationale Umweltdiplomatie [... ] ein angemessenes lnstru-
10 ment ist. Zweifellos ist es wichtig, dass Regierungen auf das Problem aufmerksam

werden und verbindliche Politiken verabreden. Allerdings ist die internationale Umwelt-
diplomatie nicht nur unzureichend, sondern sie droht uns [... ] seit der UNO-Konferenz
zu Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro [im Jahr 1992] auf die falsche Fährte zu
locken.
15 „Führungsqualität" sollen die Regierungen beweisen. Das geschieht mitunter bei der

Verhandlung von Abschlusserklärungen. Doch schon am heimischen Kabinettstisch


müssen die Umweltminister wieder vor den Wirtschaftsministern klein beigeben. Im
Standortwettbewerb und bei der Arbeitsplatzsicherung, so das Argument, ist nicht viel
Spielraum für grundlegend andere Politiken.
20 Die Regierungen trauen sich auch nicht, der eigenen Bevölkerung reinen Wein einzu-

schenken. Die müsste nämlich einen radikalen Umbau des Verkehrssystems - weg
von der Auto-Mobilität - akzeptieren und auch selbst praktizieren. Der Fleischkonsum
und jener von Elektrogeräten müsste deutlich sinken. Die immer absurder werdende
Konkurrenz vieler Unternehmen um den Zugang zu Ressourcen, um noch billiger- und
25 umweltschädlicher - zu produzieren gehört verändert. All das ist bekannt, wird in der

Öffentlichkeit seit einem Jahr intensiv diskutiert und verschwindet gleichzeitig hinter
dem diplomatischen Jonglieren von Klimareduktionszielen.
Die Krux ist: Die Regierungen auf der lokalen, nationalen und europäischen Ebene
müssten sich mit mächtigen ökonomischen Interessen und mit Wählern anlegen: Mit
ao der Erdölindustrie, den Energieerzeugern, die neue Kohlekraftwerke bauen wollen, den
Automobilherstellern und Transportunternehmen, der Lebensmittelindustrie. Aber
eben auch mit den Verbrauchern, die ihren Lebensstil nicht ändern wollen. Der [ehe-
malige] deutsche Umweltminister Gabriel verpackt diese Tatsache geschickt: ,,Die
Leute wollen ihren Wohlstand halten." Wer kann dagegen etwas sagen? Hinter solche
35 einer Aussage verschwindet aber die Frage, wie der Wohlstand produziert wird, wer

daran verdient - und welche Alternativen es gibt.

Ulrich Brand ist Professor fur Internationale Politik an der Universität Wien.

Ulrich Brand, Der Mythos 110m globalen Umweltmanagement, in: Der Standard, 17.12.2007, S. 23

Aufgaben

1 . Geben Sie die von Fichtner beschriebenen Ideen zur C02 -Emissionsreduktion wieder.

2. Erläutern Sie das Problem des globalen Umweltmanagements nach Ulrich Brand.

3. Erörtern Sie die Idee eines weltweiten Sky-Trusts vor dem Hintergrund der (unterschied-
lichen) Interessen von Unternehmen, Konsumenten und Umweltschutzorganisationen.
Führen Sie dafür eine Konfliktanalyse durch (>Methodenkompetenz).
2. 8. 3 Ist ökologisches Wirtschaften (zukünftig) möglich?
Leitfragen Wann ist Handeln Ist es möglich, durch „Grünes Ist Schrumpfung und Re-
ökologisch, ökonomisch Wachstum" Ökonomie und Ökologie Regionalisierung im Westen der
und sozial nachhaltig? miteinander zu vereinbaren? richtige Weg zu einer ökologi-
schen Ökonomie?

Kritik am quantitativen Wachstum

Aus den vorherigen Ausführungen geht hervor, !er Ansatz. Die beiden moderaten Varianten lassen
dass die bisherige Vorstellung von Wirtschafts- sich mit den Begriffen Effizienz und Konsistenz
wachstum an ihre ökologischen Grenzen stößt. beschreiben, der radikale Ansatz setzt dem hinge-
Gerade in den westlichen Industriestaaten und in gen a uf Suffizienz.
den BRIC-Staat en (Brasilien, Russland, Indien,
China) stehen Wachstum und Umweltbewahrung
in einem Spannungsverhältnis zueinander, wenn Was versteht man unter Nachhaltigkeit?
nicht sogar im Widerspruch. Es werden sowohl
mehr Ressourcen verbraucht, als zur Verfügung Der Nachhaltigkeitsbegriff stamm t bereits aus
stehen, als auch mehr Abfall erzeugt, als die Natur dem späten 17. J ahrhundert, hat aber in den ver-
zu kompensieren im Stande ist. gangenen g ut 30 Jahren erstens eine große Po-
pularität und zweitens eine deut liche terminolo-
Kritiker der Fixierung auf ökonomisches Wachs- gische Erweiterung erfahren:
tum sprechen sich alle für Alternativen a us, die
eng mit dem Beg riff der Nachhaltigkeit verbunden • Seine ursprüngliche Verwendu ng prägte Johann
sind. Aus der Kritik heraus e ntwickelten sich drei Carl von Carlowitz ( 1645-171 4), der später als
grundlegende Reformansätze: zwei davon eher Begründer der Forstwissenschaft galt. Er formu-
moderater Natur und ein vergleichsweise radika- lierte die Forderung, dass einem Ökosystem (hier

Dimensionen und Strategien der Nachhaltigkeit

Ökologische Ziele
(Erhaltung der Naturfunktionen,
Kreislaufgerechtigkei t)

Ökonomische Ziele
(Sicherung angemessener
Bedürfnisbefriedigung,
Beschäftigung)
! Soziale Ziele
(intra- und intergenerative
Gerechtigkeit)

Nach : Bernd Siebenhi.iner, Homo sustinens. Auf dem Weg zu einem Menschenbild der Nachhaltigkeit, 2001, S. 78
2.8 Ökonomie und Ökologie f

dem Wald) nur so viel entnommen werden soll- • Die Verwobenheit der Dime nsionen Ökonomie,
te, wie in einer gewissen Zeit regeneriert werden Ökologie und Soziales macht den Kern heutiger
könne. Nachhaltigkeitsvorstellungen aus. Im Rahmen
wirtsc haftlicher Entscheidungen wird dabei das
• Eine Erweiterung erhielt der Nachhaltigkeitsbe- Konzept der Nachhaltigkeit oft m it der Aussage
griff spätestens 1987 durch den sog. Brundt- zum Ausdruck gebracht, dass wirtschaftliche
land-Bericht der Vereinten Nationen unter der Gewinne bereits unter Berücksichtigung ökolo-
Federführung der ehemaligen norwegischen gischer und sozialer Belange erzielt werden sol-
Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland. len. Dementsprechend zielt Nachhalt igkeit dar-
Nachhaltige Entwicklung wurde hier definiert auf ab, Umweltschäden und soziale Verwer-
als „eine Entwicklung, die gewährt, dass künf- fungen nicht erst im Nachhinein zu kompensie-
tige Generationen nicht schlechter gestellt sind, re n.
ihre Bedürfnisse zu befriedigen, als gegenwärtig
lebende". Da bei gilt diese Aussage fü r die ge-
samte Weltbevölkerung (räumliche Dimension Modelle von Nachhaltigkeit
mit der Konsequenz der Umverteilung des
Wohlstands von Nord nach Süd) und ist über- Das aktuelle Nachhaltigkeitsverständnis lässt sich
dies in die Zukunft gerichtet (zeitliche Dimensi- anhand von drei schematischen Darstellungen il-
on der „Generationengerechtigkeit"). Weiter lustrieren: Neben dem „Drei-Säulen-Modell" in
heißt es : ,,Im Wesentlichen ist nachhaltige Ent- welchem das Dach „Nachhaltigkeit" von den Säu-
wicklung ein Wandlungsprozess, in dem die len Ökologie, Ökonomie und Soziales getragen
Nutzung vo n Ressourcen, das Ziel von Investi- wird, finden zudem auch das Dreiklang-Modell
tionen, die Ric htung technologischer Entw ick- und das Nachhaltigkeitsdreieck Anwendung.
lung und institutioneller Wandel miteinander
harmonieren und das derzeitige und künftige Kritiker des aktuellen Verständnisses von Nach-
Potential vergrößern, menschliche Bedürfnisse haltigkeit bemängeln jedoch die weite Dehnung
und Wünsche zu erfüllen." Durch diese Aussage und damit die drohende Unschärfe des Begriffs
wird die Ganzheitlichkeit der damals neuartigen sowie die fehlende bzw. undeutliche Gewichtung
Nachhaltigkeitsvorstellung deutlich. der drei in den Modellen genannten Begriffsdi-

0)
E
:(0
..c ui
C
~ (l)
0) Ökonomie .D Ökologie
....
:(0 (l)
t
(l)
'fü
.D
::J

Ökologie soziales

Ökonomie soziales

gerecht

Dreiklangmodell Nachhaltigkeitsdreieck

Nach : Iris Pufe, Was ist Nachhaltigkeir? Dimensionen und Chancen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64, H. 31-32, 2 01 4, 5. 18
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

me nsionen. Sie halten die ökologische Dimension dabei Produkte entstehe n und genutzt werden, die
und damit die Erhaltung der natürlichen Lebens- ,,ressourcenleicht" und „verbrauchsarm" sind.
grundlagen für die Basis.
Durch diesen Ansatz kommt es zu einem zumin-
dest partiellen ökonomischen Paradigmenwech-
1. Ressourceneffizienz und -konsistenz - Ver- sel. So geht es nicht mehr primär um die Effizi-
einbarkeit von Wachstum und Umweltschutz? enzsteigerung im Bereich der Arbeit (Erhöhung
der Arbeitsproduktivität durch technologischen
Ressourceneffizientes Wirtschaften meint, den Fortschritt), sondern um Ressourcen effizienz. Zu-
Verbrauch natürlicher Ressourcen und (v. a. fos- dem soll der Konsum vo n Standardprodukten ge-
siler) Energieträger sowie de n Schadstoffausstoß rade nicht durch deren Verb rauch künstlich ange-
so weit wie möglich zu vermindern. Wie soll das kurbelt werden, sondern die (ökologischen und
möglich sein, wenn doch n ach landläufiger An- wirtschaftlichen) Folgekosten der Produkte solle n
nahme es einen proportionalen Zusammenhang möglichst niedrig sein. Beispiele dafür sind ersten
g ibt zwische n wirtschaftlicher Tätigkeit und Res- die gegenüber herkömmlichen Leuchtmitteln sehr
sourceneinsatz? Es geht den Vertretern dieses An- verbrauchsarmen und langlebigeren Energiespar-
satzes v or allem darum, innovative Technologie n lampen oder zweitens Passivhäuser mit einer aus-
zu entwickeln, den Ressourcenaufwand und den geglichenen Klimabilanz bezogen auf Heizwärme
Schadstoffausstoß bei der Produktion und beim und Warmwasser.
Konsum so weit wie möglich zu senken. Es solle n
Hinsichtlich der Konsistenz ko mmen noch weitere
Überlegungen hinzu. Hierbei geht es nicht nur um
das Einsparen von Ressourcen, sondern um deren
naturverträgliche Nutzung und Erzeugung. Aus
dem Prinzip, dass industrielle Stoffwechselprozesse
natürliche nicht beeinträchtigen dürfen, ergeben
sich Entscheidungen für Produkt ionsverfahren wie
ökologische Landwirtschaft, die Energiegewin-
nung a us regenerativen Quellen a u f der einen
Seite u nd die neutrale Ökobilanz von Abfallpro-
dukten durch deren biologische Abbaubarkeit
oder Recycl ing auf der anderen Seite.

Wenn sowohl Ressourceneffizienz als auch -kon-


sistenz zusammenko mmen, sprechen viele vo n
ökologisch nachhaltigem Wirtschaften. Drei Be-
dingungen müssen für diese Art von Nachhaltig-
keit gegeben sein: Erstens dürfen regenerativen
(also sich selbst reproduzierenden) Quellen nicht
mehr Ressourcen entnommen werden bzw. die
Quelle n dürfen durch Verschmutzung nicht stär-
ker geschädigt werden, als im selben Zeitraum
regeneriert werden. Zweitens dürfen Lagerstätten
nicht- regenerativer Quellen (z.B. fossile Brenn-
stoffe wie Öl, Gas und Kohle) nicht intensiver aus-
gebeutet werden, als gleichzeitig regenerative
Quelle n fü r dieselbe Nutzung geschaffen werden.
Dritten s darf die Menge schädlicher Emissionen
nicht höher liegen als die Kapazität der natürli-
»Hurra, wieder 2,5% höher!cc
chen Systeme, sie a ufzun ehme n und umzuwan-
Karikatur: Horst Haitzinger deln (Assimilationskapazität).
2.8 Ökonomie und Ökologie f

II. Ökologisch verträgliches Wachstum -


Notwendigkeit oder Wachstumschance? OECD: Fünf Kanäle umwelt-
freundlichen Wachstums
Vertreter des Green Growth-Wirtschaftsmodells Durch umweltverträgliches Wachstum können
gehen sogar noch weiter. Sie behaupten nämlich ökonomische und ökologische Herausforderungen
nicht nur, dass ressourceneffizientes und - konsis- potenziell bewältigt und neue Wachstumsquellen
tentes Wirtschaften für den Erhalt der Lebens- erschlossen werden, und zwar über folgende
Kanäle:
grundlagen und der ökonomischen Basis n otwen-
dig seie n, sondern sie halte n den Umbau der
• Produktivität . Anreize für einen effizienteren Ein-
Wirtschaft hin zu einer ökologisch verträglichen satz von Ressourcen und Naturgütern: Steige-
für die weltweit größte Wachstumschance. Die Or- rung der Produktivität [= Verhältnis der produzier-
gan isation fü r Wirtschaftli che Zusa mmena rbeit ten Güter und der eingesetzten Menge von
u nd Entwicklung (OECD) ve röffentlichte im Jahr Produktionsfaktoren wie Arbeit und natürliche
201I das Strategiepapier „Towards Green Growth", Ressourcen], Verringerung von Ressourcenver-
geudung und Energieverbrauch sowie Förderung
das den Schutz der Umwelt u nd der natürlichen
einer Ressourcennutzung mit möglichst hoher
Ressourcen im Wesentlich en ökonomisch begrün-
Wertschöpfung.
det. In diese m Schutz sieht es den zentralen • Innovationstätigkeit. Förderung von Innovat i-
Wachstumsmotor der kommenden J ahrzehnte. onschancen durch Politikmaßnahmen und Rah-
menbedingungen, die neuen Formen der Wert-
schöpfung und Bewältigung von Umweltproble-
Green Growth men den Weg ebnen.
• Neue Märkte. Schaffung neuer Märkte durch
Ankurbelung der Nachfrage nach umweltfreund-
„Green Growth beschreibt eine n alternativen
lichen Technologien, Produkten und Dienstleis-
Wachstumspfad in Kontrast zum konventionellen tungen; Schaffung eines Potenzials für neue Be-
Wirtschaftswachstumsp aradigma. Grünes Wachs- schäftigungschancen.
tum basiert auf einer nachhaltigen Nutzung vo n • Vertrauen. Stärkung des Vertrauens der Investo-
natürlichen Ressourcen, die die Grundlage für Le- ren durch Erhöhung der Vorhersehbarkeit und
bensqualität da rstellt. Die Idee ist, dass der unter Kontinuität staat lichen Handelns in wichtigen
Umweltfragen.
Umweltgesichtspunkten notwend ige Umbau der
• Stabilität. Ausgewogenere makroökonomische
Wirtschaft hin zu mehr Energie- und Resso urce-
Rahmenbedingungen, weniger Volatilität [= Ten-
neffizienz und eine m besseren Management vo n denz zu (starken) Schwankungen] bei den Roh-
Natu rkapital ein sta rker Treiber für Wachstum stoffpreisen und Unterstützung der Konsolidie-
sein kann. Die Erschließung n euer grüner Märkte, rung der öffentlichen Haushalte, beispielsweise
die Entwicklung von Ökoinnovationen u nd das durch eine Überprüfung von Zusammensetzung
Man agement vo n Ökosystemdienstleistungen und Effizienz der öffentlichen Ausgaben sowie
durch eine Erhöhung der Einnahmen über die Be-
schaffen Wettbewerbsvorteile u nd neue Ge-
preisung von Umweltbelastungen.
sch äftsfelde r, so die These. OECD, Towards Green Growtfr. Summary
in German, 20 11, S. 2
Green Growth soll [...] Antworten auf die Krise
geben und ein Bekenntnis da rstellen, dass Wachs-
tum u nd Umweltsch utz Hand in Hand gehen kön- als eine neue polit ische Strategie zu ve rsteh en, um
nen. Green Growth wird begrifflich von der OECD nachhaltige Entwicklung zu erreichen."
geprägt. 2009 haben 34 Minister eine Green
Growth Decla rat ion verabschiedet und da mit der Lexikon der Nach haltigkeit, Green Growth, Green Economy,
Green New Dea l, www.nachhaltigkeit.info, 12. 11.2015
OECD ein politisch es Ma ndat e rteilt, an einer
Green Growt h Strateg ie zu arbeit en. Die St rategie
wu rde 2011 unter dem Titel Towa rds Green Growth Die OECD leitet a us der Entwicklung der vorange-
als Startpunkt einer lang frist igen Green Growth gangen en J ahrzehnte ab, dass die Kosten, die der
Agenda veröffent licht. Sie gilt als p olit ischer Rah- internationa len Gemeinschaft, den Staate n, aber
men und Richtsch nur für nationale Anstrengun- auch de n Unterneh me n durch Umweltverschmut-
gen, wie grünes Wachstum erreicht werden ka nn. zung und knapper werdende endliche Ressourcen
Wie die Green Economy, ist auch Green Growth entstehen, gleichsam exponent iell wachsen wer-
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Green New Deal Effizienz- oder Ko nsistenzüberlegungen abgelei-


teten Wachstums modelle für ö kologisch und sozi-
Begriff in Anlehnung an das große Wirtschaftspro- al nicht tragfähig. M it anderen Worten glauben
gramm (,,New Deal") des US-amerikanischen Prä- sie n icht an die Möglichkeit, den bish erigen Le-
sidenten Franklin D. Roosevelt zur Bekämpfung bens- bzw. Konsumstil der westlich en Industrie-
der Wirtschaftskrise 1929 und in den Folgejahren, staaten a ufrecht zu erha lten. Zudem bezweifeln
bei dem staatlicherseits massiv in den Ausbau von sie, dass der Ko nsum von Umweltschäden und
Infrastruktur investiert und d amit zunächst viele
Ressourcenausbeutun g abzu koppeln sei.
Arbeitsplätze im Straßenbau usw. geschaffen wur-
den; hier ökologische Wende des Kapital ismus, mit
dem Ziel einer Wachstumswirtschaft, die aber res- Sie verwerfe n damit das Konzept des Green
sourcen- und emissionsneutral ist. Growth a ls u nreal istisch. Den wachstumsbasier-
ten Konzepte n setzen sie dem hingegen nicht die
Vorstellung der Schrumpfung entgegen , da diese
zu Lasten der ohne hin unterpriv ilegierten Bevöl-
den. Da her müsse es Aufgabe aller sein, regenera- kerungsschichten ginge. Vielmehr entfalte n sie -
tive Que llen zu nutzen und Umwelt belastungen so zumindest in den letzten J ahren - eine umfassen-
weit w ie möglich zu verhinde rn. Dazu kä men emi- de Vorstellung glo balen, sozia l gerechten
nent hohe Einna hmemöglich keiten du rch d ie Ent- Zusammenlebens und Wirtschafte ns, deren Mi t-
wicklung innovativer Technologien, die eben telpun kt der Begriff der Su ffizienz bildet. Darunter
möglichst umweltschonende u nd ressourcen neu- versteh en sie das Finden eines rechten Maßes des
t rale Produktio nsprozesse u nd Ko nsumvorgänge Verbra uchs von Natur - auch unter Inkaufnahme
ermöglichen. Da m it kö nnte und würde Green von Konsumverzicht - sowie di e menschengemä-
Grow th der Tendenz niedriger j ährlicher Wachs- ße Entschleu nig u ng gesellschaftl iche r un d öko no-
tums raten in allen westlichen Industrienatio nen mische r Vorgänge. Hinzu ko mmt zudem au ch der
entgegenwirken . Ausba u (direkter) politischer Partizipatio nsm ög-
lichke iten für die Bevölkerung.
Um das Ziel eines „Grünen Wirtschaftswachs-
tums" zu e rreichen, schlägt die OECD einen Poli-
tikmix aus wirtschafts- und umweltpolitisch en Was ist Degrowth?
Ma ßnahmen v or. Die Produktivität und di e Inno-
vationsgeschw indig keit im Bereich umwelt- Der Begriff „degrowth" geht a u f die intern atio n a-
freund licher P rodukt io n soll vor allem über An- le Degrowth-Kon fe renz 2008 in Pa ris zurück.
reize erhö ht werden. So z.B. über fina nzielle Verbunden dam it sind ein Abwenden vom Wachs-
Anreize in Form von Steuererleichteru ngen, zins- tumsbegriff, die Ab lehnung des Konku rrenzprin-
losen Darlehen für die entsprechende Entw icklung zips beim Wirtsch a ftens sowie
und Etab lierung umweltfreu ndlic her Technolog i-
en in Untern ehmen, aber au ch üb er direkte Sub- • ,,Eine Orientierung am guten Leb en für alle.
ve ntionen. Gleichzeit ig sollen Umweltbelastun- Dazu gehören Entschleunig ung, Zeitwohlstand
ge n st aatlicherseits mit eine m Preis beziffe rt und [= Verfügung über genügend fre ie Zeit] und
damit verteuert werden (, Kap. 2.5.1). Als drittes Konvivia lität [= Kunst des Zusammenlebens].
Instrument ko mmt - neben einer verl ässliche n • Eine Verringeru ng vo n P rodu ktio n un d Kons um
und la ngfristig a ngelegten Wi rtschafts- und Um- im glo ba len Norde n, eine Befreiung vom einsei-
weltpolitik - die Ankurbelung der Nachfrage für tigen westlichen EntwickJu ngsparadigma und
umweltscho nende Produkte h inzu, was a uch die dam it die Ermöglichu ng einer selbstbestim mte n
staatl iche Nachfrage explizit mit einschl ießt. Gest a ltun g von Gesellschaft im glo balen Süden.
• Ein Ausbau demokratischer Entscheidu ngsfo r-
men, um echte politische Teil habe zu ermögli-
III. Postwachstum als ökologisch einzig chen .
mögliche Gesellschafts- und Wirtschaftsform? • Sozia le Veränderun gen und Orientierung a n
Suffizienz, statt bloßen technologischen Neue-
Die Ve rtreter der Idee des Postwachstums (ode r ru nge n und Effizienzsteigerung, um ökologi-
„Degrowth" bzw. ,,Decroissance") halten alle aus sche P robleme zu lösen. Wir betrachten die
2.8 Ökonomie und Ökologie f

These von der Möglichkeit der a bsoluten Ent-


kopplung vo n Wirtschaftswachstum und Res- Weltweite Ungleichheit
in der Naturnutzung
sourcenverbrauch als historisch widerlegt.
• Regional verankerte, aber miteinander vernetz- [E]in Nordamerikaner konsumierte 2008 rund 75,3
te und offene Wirtschaftskreisläufe." Kilogramm wirtschaftlich genutzte Materialien am
Tag (ohne Abraum usw.), ein Einwohner Ozeaniens
Degrowth-Webportal, www.degrowth.de, Abruf: 24. 10.20 17 und Australiens 98 Kilogramm, ein Europäer 40,2
Kilogramm, ein Lateinamerikaner 36,4, ein Asiate
23,8 und ein Afrikaner 14,5 Kilogramm. Der Ver-
Die Kritiker der Degrowth-Bewegung sehen im brauch unterscheidet sich in den Regionen der
Falle einer politischen Etablierung der Idee die Welt beinahe um den Faktor 7! Der Weltdurch-
Gefahr, dass Menschen in ihrer Lebensgestaltung schnitt lag (2008) bei 27,9 Kilogramm pro Kopf am
politisch bevormundet werden, indem sie zum Tag. Der Pro-Kopf-Wert Deutschlands entspricht
Konsumverzicht gezw ungen werden. Dadurch mit 40,5 Kiilogramm fast genau dem europäischen
ginge, anders als vo n den Postwachstums-Befür- Durchschnittswert.
Teilen wir die veranschlagte Höchstmenge von 50
wortern propagiert, politische Freiheit der Bürger
Milliarden Tonnen [bewegter Natur] unter sieben
verloren. Milliarden Menschen auf, dann kommen wir auf 7, 1
Tonnen Ressourcen, auf die jeder Mensch gerech-
terweise im Jahr Anspruch erheben kann [ ... ] Das
Welche Möglichkeiten würde eine sind rund 22 Kilogramm am Tag. Wächst die Erd-
Dematerialisierung bieten? bevölkerung weiter[.. .], dann muss dieses Budget
verringert werden.
Friedrich Schmidt-Bleek, Grüne Lügen. Nichts für die
Der Gründungsvizepräsident des gemeinnützigen Umwelt, alles fürs Geschäft - wie Politik und Wirtschaft
Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie die Welt zugrunde richten, 2014, S . 102f
beschreibt die derzeitige Umweltpolitik der Bun-
desrepublik Deutschland und auch weltweit als im
Wesentlichen verengt auf den Aspekt des Klima-
sch utzes. Um die gesamten (wirtsch aftlich beding- Neben der n achträglichen Dematerialisierung fo r-
ten) Natureingriffe des Menschen zu bemessen dern die Vertreter dieses Ansatzes „Vorsorge statt
u nd a nschaulich darzustellen hat das Institut das Nachsorge". Darunter verstehen sie, dass selbst bei
Instrument des Materialinputs für jedes Gut wei- der bisherigen Wirtschaftsweise erkennbare öko-
tere ntwickelt und daraus den „ökologischen logische Einsparpotenziale liegen. So sei es kurz-
Rucksack", den j edes Produkt mit sich führt, er- sichtig, Elektromobilität zu fördern und so schnell
rechnet (, Kap. 2.8. l ). wie möglich die Autofahrer dazu zu bringen, den
Fuhrpark zu ersetzen. Mit solchen Zielen würde
Um den ökologischen Rucksack der kompletten nur ein Umwelt belastender Faktor bekämpft, in
weltweit produzierten Gütermenge auf ein ökolo- diesem Fall der COr Ausstoß (vo rausgesetzt der
gisch dauerhaft verträgliches Maß zu „erleich - Strom für die E-Autos stammt aus regenerativen
tern", müsste um den Faktor 10 dematerialisiert Quellen).
werden. Das heißt, dass nur ein Zehntel der bisher
für die wirtschaftlichen Aktivitäten bewegten Ma- Sinnvoller sei es zunächst (und ergänzend), die
terialien a us der Natur tatsächlich bewegt (also Produktions- und Wertschöpfungskette für Auto-
aus ihrem eigentlichen ökologischen Zusammen- mobile zu a nalysieren und an j edem Schritt die
hang entnomme n) werden dürften! Umwälzung der natürlichen Ressourcen zu ver-
ringern. Diese vo rsorglich e Dematerialisierung
Diese enorme Dematerialisierung müsste natür- auf alle Güter a ngewendet würde zu Ketteneffek-
lich vor allem in den westlichen Industrienationen ten führen, nämlich z.B. zur Senkung des Ener-
und a uch in den großen Schwelle nlä ndern (v. a. giebedarfs (etwa wegen verringerten Transportge-
Ostasiens) stattfinden, da dort de r „Naturkonsum" wichts) oder zur langsameren Ab nutzun g von
aufg rund der Wirtschaftsweise sehr viel höhe r ist Verkehrswegen. Die Summe aller ökolog ischen
als beispielsweise in a frikanischen Entwicklungs- Rucksäcke (zumindest im Westen) sänke bereits
ländern. erkennbar.
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Worin unterscheiden sich die Ansätze ökologisch nachhaltigen Wirtschaftens?

Ansatz Grundüberzeugung Kernbegriff Haltung zu Verhältnis zum


Wirtschafts- bisherigen
wachstum Wirtschaften

Umweltschäden innerhalb Weiterentwicklung


Ökologische
bisheriger Wirtschaftsform Effizienz befürwortend (z. T. bereits
Effizienz
(technisch} minimierbar umgesetzt)

Weiterentwicklung
Effizienz,
Wirtschaft expandiert durch (vereinzelt bereits
Green Growth Konsistenz, befürwortend
ökologische Ausrichtung umgesetzt)
Innovation

Notwendiger Umwelterhalt allein


Bruch/ Paradig-
Degrowth durch Schrumpfung von Produkti- Suffizienz ablehnend
menwechsel
on und Konsum möglich
- -

Aufgaben
1 . Fassen Sie die Entwicklung des Begriffes Nachhaltigkeit zusammen.

2. Erläutern Sie das jeweilige Verständnis von Nachhaltigkeit der Vertreter von „Green Growth", von „Degrowth"
(Postwachstum) sowie von „Dematerialisierung".

3. Diskutieren Sie die Forderung, ,,Dematerialiserung" zum Grundsatz der deutschen Wirtschaftspolitik zu ma-
chen.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Schritte zu einer Postwachstumsökonomie

Als „Postwachstumsökonomie" wird eine Wirtschaft bezeichnet, die ohne Wachstum


des Bruttoinlandsprodukts über stabile, wenngleich mit einem vergleichsweise redu-
zierten Konsumniveau einhergehende Versorgungsstrukturen verfügt. Die Postwachs-
tumsökonomie grenzt sich von landläufigen, auf Konformität zielende Nachhaltigkeits-
s visionen wie „qualitatives", ,,nachhaltiges" , ,,grünes" , ,,dematerialisiertes" oder
„decarbonisiertes" Wachstum ab. Den vielen Versuchen, weiteres Wachstum der in
Geld gemessenen Wertschöpfung dadurch zu rechtfertigen, dass deren ökologische
„Entkopplung" kraft technischer Innovationen möglich sei, wird somit eine Absage
erteilt. [... ]

10 Gründe für die Alternativlosigkeit einer Postwachstumsökonomie

1. Die Möglichkeit, in Geld und über Märkte transferierte Wertschöpfung systematisch


von ökologischen Schäden zu entkoppeln, entbehrt jeder theoretischen und empi-
rischen Grundlage.

2. Nach Erreichen eines bestimmten Niveaus bewirken Zunahmen des Einkommens


1s bzw. Konsums keine weitere Steigerung des individuellen Wohlbefindens (Lebens-
zufriedenheit oder sog. ,,Glück").

3. Die soziale Logik des Wachstumsimperativs, wonach Hunger, Armut oder Vertei-
lungsungerechtigkeit durch ökonomische Expansion zu beseitigen sei, ist hochgra-
dig ambivalent. Das Eintreten kontraproduktiver sozialer Effekte des wirtschaftli-
20 chen Wachstums ist nicht minder wahrscheinlich.

4. Wirtschaftswachstum stößt an ökonomische Grenzen. Das als „Peak Oil" apostro-


phierte Phänomen einer zu erwartenden Ressourcenverknappung weitet sich ab-
sehbar dergestalt aus, dass von einem herannahenden „Peak Everything" auszuge-
hen ist. Insbesondere die explosionsartige Nachfragesteigerung von Aufsteiger-
2s nationen wie China und Indien führt zu einer entsprechenden Verteuerung jener
Ressourcen, auf deren bislang vermeintlich unbegrenzter Verfügbarkeit der materi-
elle Wohlstand basierte.

Umsetzung

Der Weg zur Postwachstumsökonomie fußt auf fünf Entwicklungsschritten, die sich
ao auf einen Wandel von Lebensstilen, Versorgungsmustern, Produktionsweisen und auf
institutionelle Innovationen im Bereich des Umgangs mit Geld und Boden beziehen:

1. Entrümpelung und Entschleunigung. Es entspricht ökonomischer Logik in Reinform,


sich klug jenes Ballasts zu entledigen, der Zeit, Geld, Raum und ökologische Res-
sourcen beansprucht, aber nur minimalen Nutzen stiftet. Eine solchermaßen be-
as gründete Suffizienzstrategie konfrontiert die Suche nach weiteren Steigerungen von
Güterwohlstand und Komfort mit einer Gegenfrage: Von welchen Energiesklaven,
Konsum- und Komfortkrücken ließen sich übervolle Lebensst ile und schließlich die
Gesellschaft als Ganzes befreien?

2. Balance zwischen Selbst- und Fremdversorgung. Wer von monetär basierter Fremd-
40 versorgung abhängig ist, verliert seine Daseingrundlage, wenn die Geld speiende
Wachstumsmaschine ins Stocken gerät. Sozial stabil sind nur Versorgungsstruktu-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

ren mit geringerer Distanz zwischen Verbrauch und Produktion. Dazu zählt die Re-
aktivierung von Kompetenzen, manuell und kraft eigener Fertigkeiten Bedürfnisse
jenseits kommerzieller Märkte zu befriedigen. Durch eine Umverteilung der Er-
45 werbsarbeit ließen sich Selbst- und Fremdversorgung so kombinieren, dass die
Geld- und Wachstumsabhängigkeit sinkt. Eigenarbeit, (urbane) Subsistenz, Com-
munity-Gärten, Tauschringe, Netzwerke der Nachbarschaftshilfe, Verschenkmärkte,
Einrichtungen zur Gemeinschaftsnutzung von Geräten/Werkzeugen etc. würde zu
einer graduellen De-Globalisierung verhelfen.

so 3. Regionalökonomie. Viele Bedarfe ließen sich durch regionale Märkte, verkürzte


Wertschöpfungsketten bis hin zu Konzepten wie Community Supported Agriculture
(CSA) befriedigen. Regionalwährungen könnten Kaufkraft an die Region binden und
damit von globalisierten Transaktionen abkoppeln. So würden die Effizienzvorteile
einer geldbasierten Arbeitsteilung weiterhin genutzt, jedoch innerhalb eines ökolo-
ss gieverträglicheren und krisenresistenteren Rahmens.

4. Stoffliche Nullsummenspiele. Konsumansprüche, die sich nicht entrümpeln oder


durch lokale/ regionale Versorgungsstrukturen substituieren [= ersetzen] lassen, bil-
den die weiter zu minimierende Restgröße an industrieller und ggf. globalisierter
Produktion. Die damit korrespondierenden Produkte und Infrastrukturen ließen sich
Go über noch weitgehend unausgeschöpfte Möglichkeiten der Nutzungsdauerverlän-
gerung oder Nutzungsintensivierung dergestalt optimieren , dass anstelle zusätzli-
cher materieller Produktion die Instandhaltung und Aufwertung bereits vorhandener
Artefakte [hier: Gegenstände] träte.

5. Institutionelle Innovationen. [... ] [D]ie noch immer fehlende Abschätzung, Zurech-


65 nung und Deckelung von Umweltbeanspruchungen [wäre] dadurch zu beheben,
dass der dehnbare Nachhaltigkeitsbegriff durch individuelle COr Bilanzen konkre-
tisiert wird. Jede Person hätte ein Anrecht auf dasselbe jährliche Emissionskontin-
gent (ca. 2-3 Tonnen), das allerdings handelbar wäre. Die Summe aller Kontingente
dürfte höchstens der globalen Gesamtbelastung entsprechen, die mit der Einhal-
70 tung des Zwei-Grad-Klimaschutzziels vereinbar wäre.

Niko Paech ist Volkswirt mit den Schwerpunkten Umweltökonomie und Nachhaltigkeitsforschung.

Niko Paech, www.postwachstumsoekonomie.de, Abruf am 24.5.2018

Community S upported Agriculture = .,Solidarische Landwirtschaft", bei der eine Gruppe von Verbra uchern
mit einem lokalen Partner-Landwirt kooperiert (z. B. exklusiv dessen Produkte abnimmt)

Regionalwährung= Wäh rung, die nur in einer (kleinen) Region als zwischen Verbrauchern und Anbietern
vereinbartes Zahlungsmittel dient

M 2 Die Idee einer Steady State Economy

Herman Daly wirft die Frage über die optimale physische Größe der Wirtschaft auf.
Daly und andere Advokaten stellen fest, dass das ökonomische Subsystem, das in
ökologische Systeme eingebettet ist, mitt lerweile mehr als ausgewachsen ist. Wirt-
schaftswachstum sei bereits unwirtschaftlich geworden: es schafft in Summe keinen
s Wohlstand mehr, sondern verringert den Kapitalstock, auf dem unser Wohlstand auf-
gebaut ist. Auf dieser Grundlage kritisiert Daly die Pro-Wachstums-Orthodoxie und
schlägt eine alternative Vision vor: die Steady State Economy (SSE).
Die SSE kennzeichnet sich durch einen konstanten physischen Kapitalstock und eine
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

konstante Bevölkerung, die beide auf einem optimalen Niveau aufrechterhalten wer-
10 den sollen. Die SSE ist somit ein physisches Konzept, mit dem Ziel, einen wünschens-
werten physischen Kapitalstock mit einem Minimum an Materialdurchsatz aufrecht zu
erhalten. Eine SSE impliziert keinen konstanten Materialdurchsatz, oder weniger tech-
nologischen Fortschritt, oder ein unendliches Leben für das Wirtschaftssystem. Sie ist
eine Strategie für die längstmögliche Erhaltung unseres „Spaceship Earth" . In Herman
15 Daly's Vision stirbt unsere Ökonomie irgendwann an Altersschwäche und nicht am
Krebs von „Growthmania" .
Die Gesetze der Thermodynamik spielen eine wichtige Rolle in dieser Vision. Sie stel-
len den theoretischen Rahmen für die SSE dar. Den thermodynamischen Gesetzen
folgend steht der Menschheit ein begrenztes Budget an Energie mit niedriger Entropie
20 zur Verfügung, mit der sie wirtschaften und leben kann. Wenn zu viel dieser Energie
für wirtschaftliche Aktivitäten verwendet wird, beginnen die komplexen lebenserhal-
tenden ökologischen Systeme zu versagen. Herman Daly übt auf dieser Basis Kritik
an der orthodoxen ökonomischen Theorie und der Wachstumslogik, weil sie gegen
das zweite Gesetz der Thermodynamik verstößt[... ]: eine Wirtschaft könne mit einem
25 begrenzten Vorrat an Energie und Ressourcen einfach nicht unendlich wachsen. Aus-
gehend von diesen theoretischen Überlegungen schlägt Daly drei Institutionen für die
Erreichung und Aufrechterhaltung einer SSE vor. Erstens, eine Institution mit dem
Auftrag die Bevölkerung konstant zu halten. Als Instrument werden beispielsweise
handelbare Geburten-Lizenzen vorgeschlagen, die durch die Institution verwaltet wür-
30 den. Zweitens, eine Institution, die für einen konstanten physischen Kapitalstock sorgt
und den Materialdurchsatz innerhalb ökologischen Grenzen hält. Dieses Ziel könnte
beispielsweise durch die Implementierung von Cap-Auction-Trade-Systemen für na-
türliche Ressourcen erreicht werden, die ähnlich funktionieren wie der Emissionshan-
del. Und drittens eine Institution für mehr Verteilungsgerechtigkeit, um die Ungleich-
35 verteilung von konstanten Kapitalstöcken zwischen den Menschen einer konstanten
Gesamtbevölkerung zu begrenzen. Als verteilungsgerechte Maßnahme schlägt Daly
beispielsweise die Einführung von Obergrenzen für Einkommen und Vermögen vor. Mit
diesen Ideen beschreibt Daly ein Modell , das auf den existierenden Institutionen von
Privateigentum und marktwirtschaftlichen Grundsätzen aufbaut. In diesem Sinne ist
40 es recht konservativ.
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie diese Wirtschaft funktionieren könnte,
stelle man sich einen alten Wald vor. Ein Wald wächst irgendwann nicht mehr, sondern
ist ein komplexes lebendiges System, in dem verschiedene Lebewesen kooperieren
und konkurrieren, und in dem sich über die Zeit neue Arten und Ökosysteme entwi-
45 ekeln. Nicht mehr zu wachsen ist nicht gleichbedeutend mit Stagnation. Es geht viel-
mehr um ein dynamisches Gleichgewicht. Umgelegt auf eine SSE bedeutet das, dass
sie sich zwar weiter entwickelt, dabei aber innerhalb der regenerativen Kapazitäten der
Natur bleibt.

Bundesministerium fü r Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft (Hrsg.), Wachstum im


Wandel. Z ukunftsdossier Nr. 3: A lternative-Wirtschafts- und Gesellschaftskonzepte, Wien 20 12, S. 3 /f

Aufgaben
1 . Fassen Sie die in M 1 und M 2 formulierte Kritik an der wachstumsorientierten Wirtschaft
zusammen.

2. Vergleichen Sie die Argumentationen miteinander. Bilden Sie dazu zuerst geeignete Ver-
gleichskategorien.

3. Nehmen Sie Stellung zur Idee der Postwachstumsökonomie (M 1) bzw. zu den „drei Insti-
tutionen einer Steady State Economy"(M 2).
2.8.4 Reicht das BIP als Wohlstandsind ikator?
Leitfragen Welchen Nutzen hat das Welche Kritik am BIP ist Welche Typen von anderen
Bruttoinlandsprodukt? berechtigt? Wirtschafts- bzw. Wohlstands-
indikatoren existieren?

Existiert ein Zusammenhang zwischen


Wirtschaftswachstum und Wohlstand?

Politisch wird häufig folgender Zusammenhang auch die individuelle Arbeits- und damit die ge-
zwischen Wirtschaftswachstum und materiellem sellschaftliche Produktivkraft durch die standbe-
Wohlstand für die Gesamtbevölkerung konstru- dingte Verzögerung auf dem Weg oder den verlet-
iert: Wirtschaftswachstum führe einerseits als zungsbedingten Arbeitsausfall sinkt.
qualitatives Wachstum zu Produktinnovationen,
die den Menschen zu Gute kämen, da der Ge- In sozialer Hinsicht wird an der Verwendung des
brauchswert steige. Als Beispiele können medizin- BIPs als Wohlstandsindikator kritisiert, dass es
technologische Entwicklungen oder auch Freizeit- keine Aussage über die Verteilung der (zunehmen-
technologie dienen. Andererseits habe den) materiellen Mittel einer Ökonomie zulässt. Es
quantitatives Wirtschaftswachstum zur Folge, lässt sich zwar beobachten, dass in stark entwick-
dass nicht nur das Gesamtniveau des materielle n lungsfähigen Volkswirtschaften, wie z.B. dem zer-
Wohlstands steige, sondern dass auch Anteile die- störten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
ses Wohlstands über höhere Löhne, über einen oder sich zu Schwellenländern emporarbeitenden
Arbeitsplatzgewi nn bei vorheriger Arbeitslosig- Entwicklungsländern das Wirtschaftswachstum
keit oder über erhöhte Sozialtransfers bei den Bür- einen eindeut igen Effekt im Hinblick auf das ma-
gern anko mme. terielle Gesamtwohl hat. Allerdings wären starke
BIP-Steigerungen auch in einem System möglich,
in dem nur sehr wenige Personen vom Wirt-
Warum steht das BIP als Wohlstands- schaftswachstum profitieren würden. Denn ledig-
indikator in der Kritik? lich in ökonomisch noch wenig entwickelten
Staaten konnten sog. Trickle-down-Effekte beob-
Das Bruttoinlandsprodukt und somit auch ökono- achtet werden, wonach eine BIP-Steigerung auch
misches Wachstum stehen a ls Maßstab für Wohl- eine gewisse materielle Wohlfahrtssteigerun g für
stand immer mehr in der Kritik, weil sie a us öko- einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen
nomischer, sozialer und ökologischer Hi nsicht nach sich zieht.
angreifbar sind:
Neben der Ei nschränkung, dass Wirtschafts-
In ökonomischer Hinsicht wird das BIP als un- wachstum nicht zwingend zur materiellen Wohl-
vollständig betrachtet, da der Wert monetär nicht stands mehrung der Gesamtbevölkerung führt, ist
abgegoltene r, gleichwohl aber produktiver Tätig- das BIP zudem a uch ökologisch gesehen wenig
keiten wie häusliche (Hausarbeit, Kinderbetreu- aussagekräftig. Vielmehr werden noch immer vie-
ung) und kulturelle Reproduktionsarbeit (Eh- le negative externe Kosten (> Kap. 2.8.3) verur-
renamt) nicht berücksichtigt wird. Demgegenüber sacht, z.B. durch Luftverschmutzung oder den
wird die illegale Schattenwirtschaft (Schwarzar- Ressourcenverbrauch, jedoch nicht in den Wert
beit, Drogenhandel, Schmuggel) mit einem Schätz- eines Gutes u nd somit auch nicht in das BIP ein-
wert in das BIP eingepreist. Oftmals wi rd auch gepreist. Mit anderen Worten das BIP fiele gerin-
kritisiert, dass Ereignisse wie Staus oder Unfälle ger aus, würden die externen Kosten des Wirt-
einen positiven volkswirtschaftlichen Effekt hät- schaftens komplett oder nur zum Teil internalis iert.
ten (etwa durch erhöhten Benzinverbrauch im Die Kompensation der Verluste durch ein umwelt-
ersten oder Behandlungsdienstleistungen und Au- neutrales oder umweltse nsibles Wirtschafts-
to reparaturen im letzten Fall). Allerdings dürfen wachstum kon nten bisher j edoch noch nicht ge-
solche Effekte nicht isoliert betrachtet werden, da nerell nachgewiesen werden.
2.8 Ökonomie und Ökologie f

Welche alternativen Wohlstandsindikatoren


werden vorgeschlagen?
C\
Um ökologische, aber a uch soziale Effekte in die
Wohlstandsbestimmung von Staaten mit einzube- W ACHSTUMSHELFER
zieh en und damit au ch den polit ischen Ha nd-
lungsdruck zu erhöhen, können in Ergänzung
zum BIP bzw. in Konkurrenz zu diesem weitere
Indikatoren zur Wohlstandsbestimmung betrach -
ten werden. Dies sind zum einen Indikatoren mit
einem aggregierten Wert und zum anderen Indi-
Nohnmgsrnittelproduktion DiMStltistungtn
katoren, die die einzelnen wohlsta ndsb eeinflus-
senden Faktoren nebeneinander d arstellen.

Zu den wichtigsten aggregierten Indikatoren ge-


hören folgende:

• Mit dem Human Development Index (HDI) ver- Kr<lnkhtitsl<osten


sucht die UNO seit 1990, den sozialen und ma-
teriellen Entwicklungsstand eines Landes zu
beschreiben. Teilindikatoren sind z.B. das Bil-
du ngsniveau der Bevölkerun g (z. B. gemessen
an der Alphabetisierungsquote, der fakti schen
Durchschnittsdauer des Schulbesuchs), die Ge-
sundheitsversorgung (gemessen a n der durch- Mossentiulloltung SochgüTu-erzwgung
schnittlichen Lebenserwartung) und das Brutto-
n ationaleinkommen bzw. das Pro- Kopf-Ein- Der Freitag, 9.12.2010
kommen.

• Der 2006 entwickelte Happy Planet Index (HPI) flussgröße. Alle Politik in Bhutan ist de r Erhö-
versucht über den HDI hinaus au ch ökologische hung des Brutt onationalglücks verpflichtet, da
Nachhaltigkeit in die Wohlfahrtsrechnung mit es Verfassungsrang genießt. Ecuador und Boli-
einzubeziehen. Werte für die durchschnittliche vien führten ähnliche Indizes 2008 bzw. 2009
Lebenserwartung und die durch Befragungen per Verfassungsänderung ein.
eingesch ätzte Lebenszufriedenheit werden mul-
tipl iziert und da nn das Ergebnis dividiert durch • Im Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI), der im
den Ökologischen Fußabdruck. Dieses Verfahren Auftrag des Um weltbundesamtes und des Um-
führt dazu, dass die materielle Seite des Wohl- weltministeriums von den Wirtscha ftswissen-
stands deutlich weniger Gewicht gewinnt als in schaftlern Roland Zieschank und Ha ns Diefen-
anderen Indizes. So liegt z. B. das wirtschaftl ich bache r entwickelt und im Ja hr 201 2 aktualisiert
sehr a rme Ba ngladesch wege n seines vergleichs- wurde, werden insgesamt 21 Indikatoren (ge-
weise kleinen ökologischen Fußabdrucks in den plant sind noch zwei weitere) erfasst, um sie in
oberen 15 HPI-Staaten. eine Zahl zu gießen, die die Höhe und die Ent-
wicklung des gesellschaftlichen Wohlstands
• Der da malige König von Bhuta n schuf 1979 das zeigen soll. Ein Schwerpunkt liegt da bei mit
Bruttonationalglück (BNG). Dieser Index um- n eun (bzw. gepla nt 11) Indikatoren in den Be-
fasst die v ie r Säulen Schaffung einer sozial ge- reiche n Umweltschutz und Ressourcenverwen-
rechte n Gesellsch aftsordnung, Umweltschutz, dung. Aber auch materielle Güterverteilung und
Bewahrung und Förderung der Kultur und gute materiell nicht entlohnte Arbeit sollen u. a. als
Regierungs- und Verwaltungsstrukturen. Mate- Berechnungsgrößen einbezogen werden. Da mit
rielles Wirtschaftswachstum wird nicht explizit geht der NWI a uch ökonomisch weit über das
erwähnt und ist somit nur eine sekundäre Ein- BIP hinaus.
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Nationaler Wohlfahrtsindex - eine Alternative zum BIP?


Im Auftrag des Umweltbundesamtes und des Umweltministeriums entwickelten die Wirtschaftswissen-
schaftler Hans Diefenbacher und Roland Zieschank mit dem Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI) eine
alternative Kenngröße zum BIP.

120

115

110
/ i\ V
- II -II

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105

100 - -
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90

85
--- r-.. /

80
1991 1994 1997 2000 2003 2006 2009 2012 2015

Indexzahlen (2000 = 100)

Freie Universität Berlin; Forschungsstätte der Eva11gelische11 Studiengemeinschaft (FEST); www.fest-nwi.de

Was berücksichtigt der NWI?


1 Gesellschaftliche Einkommensverteilung

13 Schäden im Zuge von Bodenbelastungen
1---(_g_e_m_e_s_s_e_
n_a_m_ G_i_
ni_
·-_
K_o_e_
f f_
iz_ie_n_te
_n_)_ _ _ _ _-1 14 Schäden durch Luftverschmutzung
2 Gewichtete Konsumausgaben 15 Schäden durch Lärm
3 Wert der Hausarbeit
16 Verlust bzw. Gewinn durch die Veränderung
4 Wert der ehrenamtlichen Arbeit der Fläche von Feuchtgebieten
5 Öffentliche Ausgaben für Gesundheits- und 17 Schäden durch Verlust von landwirtschaftlich
Bildungswesen nutzbarer Fläche
6 Dauerhafte Konsumgüter Kosten/Nutzen 18 Ersatzkosten durch Ausbeutung nicht erneuer-
(Differenz aus Kosten für Gebrauchsgüter und barer Ressourcen
dem Nutzen, der pro Jahr aus ihrem Gebrauch 19 Schäden durch COrEmissionen
realisiert wird)
,___ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ __, 20 Nettowertänderungen des Anlagevermögens
7 Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (Veränderung der Ausstattung der Erwerbstäti-
8 Kosten von Verkehrsunfällen gen mit Produktionsmitteln (ohne Bauten),
Investitionen)
9 Kosten von Kriminalität
21 Veränderungen der Kapitalbilanz (Außenhan-
10 Kosten alkoholassoziierter Krankheiten delsbilanz)
11 Gesellschaftliche Ausgaben zum Ausgleich 22 Kosten anthropogen (mit)verursachter Natur-
von Umweltbelastungen katastrophen [geplant]
12 Schäden durch Wasserverschmutzung 23 Kosten des Artenschwundes [geplant]

Hans Diefenbacher et al., NWT 2.0 - Weiterentwicklung und Aktualisierung des Nationalen Wohlfahrtsindex, 2 013, S. 44
2 .8 Ökonomie und Ökologie f

Welche nicht aggregierten Wohlstands- tistische Bundesamt und die Landesämter fü r


indikatoren werden vorgeschlagen? Statistik erstellt u nd veröffentlicht. Die UGR soll
die Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und
Die zu einem Index aggregierten Indikatoren ha- Umwelt in Ergänzung zum BIP darstellen, wozu
ben den Vorteil, dass ihr Stand bzw. ihre Entwick- d ie Umweltindikatoren in die Bereiche „Um
lu ng in nur einer Zahl bzw. einer Zahlenreihe weltbelastung", ,,Umweltzustand" und „Um-
darzustellen ist. Veränderungen sind somit leicht weltmaßnahmen" gegliedert werden.
ablesbar, internationale Vergleiche einfach mög-
lich. Allerdings neigen sie zur Intransparenz be- • Das WJ-Indikatorenbündel (WJ) wurde von ei-
züglich der einbezogenen Indikatoren/Messgrö- ner Enquete-Kommission des Bundestages ent-
ßen u nd deren Gewichtung. Wie beim Happy wickelt u nd vom Sachverständigenrat zur Be-
Planet Index sind Verzerrungen durchaus mög- gutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent-
lich, aus denen politischer Handlungsbedarf bzw. wicklung in seinem Jah resgutachten 2013/ 14
Stil lstand resultieren kö nnte. vorgestellt. Dabei we rden drei Wohlstandssäu-
len angenommen (Materieller Wohlstand, Sozi-
Vorteile n icht aggregierter lndikatorensysteme ales und Teilhabe, Ökologie), denen jeweils „Lei-
liegen in der Transparenz der Aufna hme von ein- tindikatoren" zugeordnet sind. Diese Indikato ren
zelnen Messgrößen. Allerdings sind sie auch viel werden jährlich erhoben und dokumentiert u nd
sch wieriger zu messen und erschweren so die Ein- sollen der Bundesregierung helfen, ihre Politik
schätzung der Wohlstandsentwicklu ng. Die be- entsprechend a uszurichten. Zu den Leitindika-
kanntesten solcher Indikatorenbündel sind : toren gibt es für j ede Säule noch drei als „Warn-
lampen" bezeichnete Indikatoren, die nur „an-
• Bereits seit 1990 wird die sog. Umweltökono- springen"., wen n sich in diesem Bereich eine
mische Gesamtrechnung (UGR) durch das Sta- problematische Entwicklung ergibt.

Module der deutschen Umweltökonomischen Gesamtrechnungen

Belastung Zustand Maßnahmen

Material und Umweltzustand Umweltschutzmaßnahmen


Energieflussrechnung
Quantitative und qualitative Umweltbezogene monetäre
Physische Materialströme Bestandsveränderungen des Ströme und Bestände
Naturvermögens in physischen
• Gesamtwirtschaftliches • Umweltschutzausgaben
Einheiten
Materialkonto
• Siedlungsflächen nach Branchen • Umweltsteuern
• Rohstoffrechnung nach Branchen
• Energieflussrechnung nach
Branchen
• Primärmaterial nach Branchen
• Emissionsrechnung nach
Branchen
• Wassergesamtrechnung nach
Branchen
• Physische Input-Output -Tabellen

Sektorale Berichtsmodule • Verkehr und Umwelt


• Landwirtschaft und Umwelt
• Waldgesamtrechnungen
• Private Haushalte und Umwelt

Nach: Statis tisches Bundesamt, Einführung in die UGR, 2 01 5, S. 6


2 Grundlagen der W irtschaftspolitik

W3-lndikatorenbündel (W3)

Materieller Wohlstand Soziales und Teilhabe Ökologie

Bruttoinlandsprodukt Beschäftigung
BIP pro Kopf Veränderungsra- Beschäftigungsquote Treibhausgase
te des BIP pro Kopf (Rang Bildung nationale Emissionen
--
des absoluten BIP global) 21 Sekundärabschluss-II-Quote Stickstoff
Einkommensverteilung Gesundheit nationaler Überschuss
--
PB0IP20 Lebenserwartung Artenvielfalt
Staatsschulden Freiheit nationaler Vogelindex
Schuldensstandsquote Weltbank-Indikator
(Tragfähigkeitslücke)31 ,. Voice & Accountability"

..
Nettoinvestitionen
Nettoinvestitionsquote Treibhausgase
Qualität der Arbeit
Vermögensverteilung Unterbeschäftigungsquote globale Emissionen
P90/P50 Stickstoff
--
Weiterbildung
Finanzielle Nachhalti gkeit Teilnahmequote an globaler Überschuss
des Privatsektors --
Fort- und Weiterbildung Artenvielfalt
Kreditlücke in Relation zum globaler Vogelindex
Gesundheit
BIP
gesunde Lebensjahre
reale Aktienkurslücke
reale Immobilienpreislücke
1) Neben den Leitindikatoren und Warnlampen umfasst das W3-lndikatorensystem in der ersten Säule, dem materiellen Wohl-
stand, noch die sogenannte Hinweislampe „nicht-marktvermittelte Produktion". Zu dieser gehören etwa Hausarbeit oder ehren-
amtliche Tätigkeiten. - 2) Angegeben wird hier zusätzlich der Rang, den die jeweils betrachtete Volkswirtschaft in der Rangliste
aller Volkswirtschaften bezogen auf das Niveau des Bruttoinlandsprodukts (in Kaufkraftparitäten) einnimmt. - 3) Die Tragfähig-
keitslücke gibt als zusätzliche Information an, um wieviel die Primärsalden ab dem Betrachtungszeitpunkt dauerhaft höher sein
müssten, damit die öffentlichen Haushalte langfristig tragfähig sind.

Nach: Sachverständigen rat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen E11twick lu11g, Gegen eine
rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik, Jahresgutachten 2013/14, 2013, S. 485

Aufgaben
1. Geben Sie die zentralen Kritikpunkte am BIP als Indikator für Wohlstand wieder.

2. Erläutern Sie den Unterschied zwischen aggregierten und nicht aggregierten lndikatorensystemen.

3. Setzen Sie sich kritisch m it der Wohlstandsentwicklung in Deutschland auseinander. Entscheiden Sie sich
für einen für Sie geeigneten Indikator bzw. ein für Sie geeignetes lndikatorensaystem. Begründen Sie Ihre
Entscheidung.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Nationaler Wohlfahrtsindex: Pro

Der gemeinsame, vom Deutschen Bundestag angenommene Antrag der Fraktionen


von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen hatte es 2010 sehr klar formu-
liert: ,,Um eine geeignete Grundlage zur Bewertung politischer Entscheidungen an-
hand ökonomischer, ökologischer und sozialer Kriterien zu schaffen, ist zu prüfen, wie
5 die Einflussfaktoren von Lebensqualität und gesellschaftlichem Fortschritt angemes-
sen berücksichtigt und zu einem gemeinsamen Indikator zusammengeführt werden
können."
Das hat die Projektgruppe 2 der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Le-
bensqualität" nicht geschafft, sondern in ihrem gerade veröffentlichten Abschlussbe-
10 richt ein System von zehn Leitindikatoren plus zehn „Warn-" beziehungsweise „ Hin-
weislampen" vorgelegt. Damit wurde eine große Chance vertan, dem BIP auf
Augenhöhe einen alternativen Wohlfahrtsindex an die Seite zu stellen, mit dem ein
anderes Konzept einer nachhaltigen und zukunftsfähigen gesellschaftlichen Entwick-
lung hätte besser vermittelt werden können.
15 Um einem möglichen Missverständnis von vornherein vorzubeugen: Ein Plädoyer für
einen nationalen Wohlfahrtsindex bedeutet nicht, dass lndikatorensysteme abgelehnt
würden, im Gegenteil: Als „mittlere Ebene" zwischen den statist ischen Rohdaten und
Kennziffern darunter und dem Gesamtindex darüber sind sie unverzichtbar, um Infor-
mationen über komplexe Entwicklungen in Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft auf-
20 zuarbeiten und um das Monitoring einzelner Politikfelder zu ermöglichen. [ ... ] Ein na-
tionaler Wohlfahrtsindex wäre der Versuch, diese Aspekte auf transparente Weise in
einem Index zusammenzuführen, um so einen anderen Blick auf Wachstums- und
Entwicklungsprozesse zu ermöglichen.
Gegen Versuche dieser Art wird häufig eingewendet, dass bei der Auswahl und der
25 monetären Bewertung all dieser Faktoren Werturteile, die das ganze Unterfangen aus
dem Bereich der Wissenschaft oder gar der Statistik herausführen würden, erforderlich
seien. [... ]Ein nationaler Wohlfahrtsindex ist [gleichwohl] notwendig, weil das BIP- mit
stillschweigender Tolerierung von Wissenschaft und Statistik - in Politik und Öffent-
lichkeit in den letzten Jahrzehnten zunehmend als Wohlfahrtsmaß verwendet wurde
30 und so ein zu starkes Gewicht als Orientierungspunkt der Politik erhielt. Ein „echtes"
Wohlfahrtsmaß soll das BIP nicht ersetzen, es kann das BIP aber auf eine Weise rela-
tivieren, wie dies lndikatorensysteme [wie W3] nicht erreichen können [... ].

Hans Diefenbacher ist stellvertretender Leiter der interdisziplinären Forschungsstätte der Evangelischen
Studiengemeinschaft e. V. (FEST) und außerplanmäßiger Professor an der Universität Heidelberg.

Hans Diefenbacher, Nationaler Wohifahrtsindex: Pro, in: Wi.rtschaftsdienst 93, H. 2, 2013, S. 66

M 2 Nationaler Wohlfahrtsindex: Contra

Es ist völlig unstrittig: Das Bruttoinlandsprodukt hat als Maß für den Wohlstand eines
Landes große Schwächen. Mindestens drei davon stechen hervor. Erstens ist das BIP
unvollständig. Es berücksichtigt im Wesentlichen nur die zu Marktpreisen bewertete
Produktion; der Wert von Freizeit und Ehrenamt bleibt außen vor. Zweitens lässt das
5 BIP völlig offen, wem die Wertschöpfung zugutekommt. Einkommensverteilung, Le-
bensqualität und subjektives Glücksempfinden werden nicht quantifiziert. Und drittens
misst das BIP nicht die Nebenwirkungen der Produktion auf die Umwelt. Es ist also,
wenn man so will, ökologisch blind.
Wegen dieser Schwächen wird derzeit der Ruf laut, das BIP durch einen umfassenden
10 Indikator zu ersetzen. Dieser soll, so die Forderung, dem „wahren" Zustand der Ge-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

sellschaft im Sinne der Gesellschaft näher kommen. Aber wie könnte er aussehen?
Soll es wirklich ein einzelner Indikator sein, so müsste er all die genannten unterschied-
lichen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens in irgendeiner Form messen und
gewichten, und zwar ohne, dass er sich auf den harten Grund der Bewertung durch
,s den Markt verlassen kann.
Es müsste also eine Instanz geben, die - als Ersatz für den Markt - eine Bewertung
vornimmt. Wahrlich eine gigantische Aufgabe! Man stelle sich vor: Der Wert von Freizeit
und Ehrenamt, von Einkommensverteilung, Lebensqualität und subjektivem Glück-
sempfinden, von dem ökologischen Zustand der Welt (und zwar heute und im Fall des
20 Klimawandels auch in der Zukunft!), all dies müsste annähernd objektiv festgestellt

werden. Das ist schon technisch eine kaum lösbare Aufgabe. Und das Ergebnis wäre
natürlich politisch höchst umstritten, egal was dabei herauskäme. Es hätte fast zwin-
gend den Charakter einer zentralistischen Erfassung menschlicher Werte, eine Art
totalitäres Maß des Pegelstands der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Kein schöner Ge-
2s danke in einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft.

Es bleiben deshalb nur viel bescheidenere Lösungen. Dazu hat die Enquete-Kommis-
sion des Deutschen Bundestags „Wachstum -Wohlstand - Lebensqualität" [... ] einen
Vorschlag erarbeitet. Er läuft darauf hinaus, eine Reihe von Indikatoren aus verschie-
denen gesellschaftlichen Bereichen zu einem Spektrum zusammenzutragen, sie aber
30 nicht zu gewichten. Es entsteht ein sogenanntes Armaturenbrett (,,dashboard"), das

den Piloten der Politik helfen soll, die Gesellschaft angemessen zu steuern. Nicht mehr
nur der Blick auf das BIP, sondern die breitere Kenntnisnahme wichtiger gesellschaft-
licher Kennzahlen soll helfen, eine gute Grundlage für politische Entscheidungen zu
liefern. [... ] Dieser Weg ist der einzig realistische.

Karl- Heinz Paque ist Professor .für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Magdeburg und Botschaf-
ter der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft''. Vo n 2002 bis 2006 wa r er für die FDP Finanzminister in
Sachsen-Anhalt.

Karl-Heinz Paque, Nationaler Wohlfahrtsindex: Contra, in: Wirtschaftsdienst 93, H. 2, 2013, S. 66

Aufgabe
1 . Fassen Sie die Argumentationen von Diefenbacher und Paque gegen bzw. für das W3-ln-
dikatorenbündel zusammen (M 1 und M 2).

2. Stellen Sie die Argumentationen einander gegenüber und arbeiten Sie heraus, auf welchen
Ebenen die Autoren jeweils argumentieren.

3. ,,Der Nationale Wohlfahrtsindex sollte das BIP als Messgröße offiziell ergänzen." Diskutie-
ren Sie diese Forderung.
2.8.5 Globale Umweltpolitik
Leitfragen Warum sollte Umweltpolitik Welche umweltpolitischen Warum kommt es nicht zu
global und nicht nur national Meilensteine gab es noch viel weitreichenderem
betrieben werden? international seit 1970? internationalen Umweltschutz?

Warum Internationalisierung der Umweltpolitik?

Eine weltumspannende Internationalisierun g der magase, die Bedrohungen des Klimawandels tref-
Umweltpolit ik war und ist notwendig, da zum ei- fen aber ha uptsächlich die schlecht geschützten
nen alle bedeutenden anthropogenen Umweltbe- Entwicklungslä nder. Dabei handelt es sich vor
lastungen grenzübersch reitenden Charakter ha- allem um Versorgungsprobleme au fgru nd schnell
ben. Zum anderen ist die Ansiedlung der meisten voranschreitender Desertifikation (Ausdehnung
internationalen Umweltregime (> Kap. 6.1.1) bei von Wüsten), massive Überschwemmungen auf-
bei den Vereinten Nationen grundsätzlich sehr grund des sich erhöhenden Meeresspiegels u. ä.
sinnvoll, weil nicht notwendigerweise (und auch
nicht in den meisten Fällen) die Hauptverursacher Wesentliche globale und damit nur international
der Umweltschäden auch deren Hauptlasten zu zu bekämpfende Umweltprobleme bestehen im
tragen haben. Vielmehr sind westliche Industrie- anthropogen en Klimawandel, dem Verlust von
staaten - und im letzten J a hrzehnt vermehrt auch Biodiversität (Artenvielfalt), Luftversch mutzu ng
die große n Schwellenländer - Hauptemittenden und Belastung der Weltmeere durch Abfälle und
der für die Erderwärmung ve rantwortlichen Kli- Gifte.

Höhe der COr Emissionen nach ausgewählten Ländern weltweit

10.151
China
2.423
5.312
USA
5.11 5
2.431
Indien

1.635
Russland
2.590
1.209
Japan
1.156
Deutschland 798

Iran

Saudi-Arabien

Südkorea

Kanada

Brasilien

Mexiko

Vereinigtes
Königreich
0 1.000 2.000 3.000 4.000 5.000 6.000 7.000 8.000 9.000 10.000 11.000
1990 ■ 2016 C02-Emission in Millionen Tonnen

c Statista 20 18
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Meilensteine internationaler Umweltpolitik

Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre fa nd ,,Umweltprogramm der Vereinten Nationen" ge-
die sich entwickelnde gesellschaftliche Um- gründet und institutionell veran kert. Viele kon-
weltsensibilität in Industriestaaten nicht nur im krete Vereinbarungen der folgenden beiden Jahr-
Entstehen nationaler Umweltbewegungen ihren zehnte gehen auf diese Konferenz zurück.
Ausdruck, sondern auch in ersten Bemühungen,
auf internationaler Ebene verbindliche umweltpo- Ende der 1970er bis Mitte der J980er J ahre stan -
litische Entscheidungen zu treffen. Bereits im Jahr den die Themen Luftverschmutzung (saurer Re-
1972, in dem a uch das Ehepaar Meadows seine gen/Waldsterben) und Bewahrung der Ozon-
einflussreich e Studie zu den Grenzen des Wachs- schicht im Fokus der Bemühungen des Umwelt-
tums vo rlegte (>Kap. 2.8.1 ), fand in Stockholm die programms. Auf Konferenzen in Genf und Wien
erste Weltumweltkonferenz der Vereinten Natio- wurden e rfolgreich internationale Regeln gefun-
nen statt, die gemeinhin als Start der inte rnatio- den und recht zügig implement iert. Aus dieser
nalen Umweltpolitik gilt. Die Ergebnisse waren für Zeit datiert auch die Festlegung der Vereinten Na-
die damalige Zeit weitreichend: Es wurde n 26 tionen auf den erweiterten Nachhaltigkeitsbegriff
Prinzipien und 109 Empfehlungen zum internati- durch den sog. ,,Brundtland-Bericht" (> Kap.
onalen Umweltschutz deklariert und das sog. 2.8.3).

Einwohnerzahl (in Mio.) und Anteil an den weltweiten COr Emissionen in 2015

Anteil C02 -Emission Einwohnerzahl

2
China

USA
28,0% 1.318

325
••
3

5
Indien

Russland

Japan
1.332

146

126
•••
6 Deutschland 81

7 Korea 50 •
8 Kanada 36 •
Quelle: Countrymeters/Germanwtch/EIA/UN

Weltklimaverhandlungen tion en nicht negativ zu beeinflussen) erstmals


politisch wirksam werden sollte;
I 992 fa nd dann die vielbeachtete Konferenz der
Vereinten Nationen über Umwelt und Entwick- • die Klimarahmenkonvention, durch die vertrag-
lung in Rio de Janeiro statt. Wichtige Ergeb nisse lich eine Verlangsamung der globalen Erwär-
waren u. a. mung festgeschrieben w urde (wenn auch nicht
deren Umfang oder konkrete Maßnahmen);
• die Agenda 21, durch die Umweltfragen in na-
hezu allen anderen Politikbereichen berücksich- • die (bis heute weiterentwickelte) Biodiversi-
tigt werden sollten und Brundtlands Verständ- täts-Ko nventio n zum Schutz der biologischen
nis nachhaltiger Entwicklung (sustainable Vielfalt - a uch durch die Nachhaltigkeit ihrer
developement mit dem Ziel, zukünftige Genera- Nutzung.
2.8 Ökonomie und Ökologie f

Wichtige Ergebnisse von Weltklimaverhandlungen nach 1992

Jahr Konferenz Ergebnisse


1997 Kyoto Verbindliche Festlegung der Verringerung der Treibhausgas-Emissionen der
(Japan) Industriestaaten um durchschnittlich 5,2 % im Vergleich zu 1990; 2005 in Kraft
getreten, Laufzeit bis 2012; von den USA nicht ratifiziert.

2010 Cancun Vertragliche Festlegung des Ziels, die globale Erwärmung auf max. 2° C
(Mexiko) gegenüber der Durchschnittstemperatur vor Beginn der Industrialisierung zu
beschränken (2-Grad-Ziel: die Folgen eines solchen Temperaturanstiegs
werden gerade noch als beherrschbar vorhergesagt); keine verbindliche
Festlegung auf Maßnahmen oder konkrete Emissionsreduktionsziele.

2012 Doha (Katar) Verlängerung des Kyoto- Protokolls bis 2020

2015 Paris Weltklimavertrag von 194 Staaten (erstmals auch Entwicklungsländer) mit einer
(Frankreich) verbindlichen Vereinbarung der Erderwärmung auf unter +2° C gegenüber der
vorindustriellen Zeit, wozu die Netto-Treibhausgasemissionen (Brutto- Emissio-
nen abzüglich der z.B. von Pflanzen wieder aufgenommenen und der techno-
logisch z.B. unterirdisch gespeicherten COr Menge) ab 2050 auf null sinken
sollen; noch keine Vereinbarung konkreter Maßnahmen dazu.

2016 Marrakesch Die 47 von den Folgen des Klimawandels besonders betroffenen Schwellen-
(Marokko) und Entwicklungsländer, die sich zum „Climate Vulnerable Forum" zusammen-
geschlossen haben, veröffentlichten eine Vereinbarung, bis zum Jahr 2050 ihre
gesamte Energieversorgung auf erneuerbare Energien umzustellen. Die großen
Klimagas-Emittenten konnten sich nicht auf Sanktionen bei Grenzüberschrei-
tungen o. ä. einigen.

In den Jahrzehnten seit de n frühen 1990er Jahren sind (Auslegung des Verursacherprinzips). Die
prägten die Verha ndlungen zur Eindä mmung des entwickelten Industrienatione n argumentieren für
a nt hropogene n Klimawandels die umweltpoliti- eine weitgeh ende Gleichverteilung der Emissions-
schen Bemühungen der UNO. Dazu fanden seit reduktion, Schwelle nländer wie vor allem China
1997 mindestens 10 g roße Konferenzen statt, die und auch Entwicklungsländer fo rdern eine n deut-
aber aufg rund stark divergierende r Interessen in lich stärkere n Einsatz der alten Industriestaaten,
der Welt- ..Gemeinschaft" nur in wenigen Teilen da diese historisch fü r den Löwenanteil des Schad-
Erfolge im Sinne verbindlicher Ve reinba rungen stoffausstoßes verantwortlich sind. Zum a nderen
aufweisen. war kein entscheide nder Akteur politisch vollau f
gewillt, sich eigeninitiativ rigide Selbstbeschrä n-
Dass internat ional nicht v iel früher, schneller und kungen bezogen auf Emissionen aufzue rlegen,
konzertierter gegen die Ursachen des Klimawan- denn alle befürchteten, dass die zu rückhaltenden
dels vorgegangen wo rden ist , liegt in z weierlei Nationen diese Entscheidung zum „Trittbrettfah-
strukturellen Blockaden begründet. Zum einen ren" nutzen würden. Dazu kommt noc h, dass es
konnte ka um eine Einigung darüber erzielt wer- (v. a. in den USA) noch politisc h sehr einflussrei-
den , nach welchem Prinzip die ökonomischen che Leugne r des anthropogenen Klimawandels
„Lasten" durch den Umweltschutz zu verteilen gibt.

Aufgaben
1 . Charakterisieren Sie die Ergebnisse der internationalen Klimaverhandlungen seit 1992.

2. Erläutern Sie mit Hilfe des Free-Rider-Theorems die Schwierigkeiten, ein starkes internationales Klimaabkom-
men zu beschließen.

3. Beurteilen Sie den erreichten Stand der internationalen Klimaverhandlungen.


1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Klimakonferenz

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Karikatur: Ti/ Mette/ Baaske Cartoons

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die Karikaturen in M 1 .

2. Analysieren Sie die Karikatur M 1 . Beziehen Sie sich dabei auch auf Ihre Kenntnis der
Weltklimaverhandlungen seit 1992 sowie auf die Free-Rider-Problematik.

3. Beurteilen Sie die Chance, die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2050 vereinbarungsge-


mäß auf Null zu senken.
2.8.6 Deutsche Umweltpolitik im europäischen
Mehrebenensystem

Leitfragen Welche Bedeutung hat die EU Welchen Prinzipien soll In welchen Punkten ist die
für die Umweltpolitik (deutsche) Umweltpolitik deutsche Umweltpolitik zu
Deutschlands? folgen? kritisieren?

Welchen Einfluss hat die EU auf die deutsche


Umweltpolitik?

Bei der Umweltpolitik handelt es sich um eines der • Sicherung von Gesundheit und Lebensqualität
stärksten vergemeinschafteten Politikfelder der der Menschen in der EU
Europäischen Union, was bedeutet, dass die Uni- • Globale Herausforderungen
onsgremien weitgehende Regelungskompetenz
für die Mitgliedsstaaten haben. Seit dem Vertrag Diese Handlungsfelder sind j eweils mit konkreti-
von Maastricht ( 1993) ist nachhaltige Entwick- sierenden Un terpunkten versehen. So gliedert sich
lung ins europäische Vertragswerk a ufgenommen der Punkt „Globale [umweltpolitische] Hera usfor-
worden, mit dem Vertrag von Amsterdam (1 999 derungen" für die EU in die Bereiche „Sauberhal-
in Kraft getreten) wurde sie zu einem vorra ngigen tung von Luft, Meeren und anderen Wasserres-
Ziel der Union erklärt. sourcen", ,,Nachhalt ige Bewirtschaftung von Land
und Ökosystemen" sowie „Eindämmen des Klima-
Wie alle anderen Entscheidungen in vergemein - wa ndels in beherrschbaren Grenzen".
schafteten Politikbereichen bedürfen umweltpoli-
tische „EU-Gesetze" seit 2009 (Vertrag von Lissa-
bon) nicht mehr der Zustimmung aller Mit- Wie versucht die EU den Klimawandel einzu-
gliedsstaaten, sondern unterliegen dem „ordentli- dämmen?
che n Gesetzgebungsverfahren" (> Kap. 5.2.2). Die
Harmo nisierun g der nationalen Gesetzgebungen Bezogen auf den Kl imaschutz hat sich die EU zum
bzw. Zentralisierung der Gesetzgebung in diesem Ziel gesetzt, bis 2030 den Ausstoß der kli maschäd-
Bereich ist zudem auch sinnvoll, da die Umwelt- lichen Gase um 400/o gegenüber dem Niveau von
probleme grenzübergreifenden Ch arakter aufwei- 1990 und den Energieverbrauch um 27 °10 zu sen-
sen (> Kap. 2.8.5) und zudem die Europäische ken sowie den Anteil erneuerbarer Energie n (etwa
Union als einzelner Akteur in Weltklimaverhand- für Stromerzeugung) um 27 °10 zu steigern.
lungen (zumindest theoretisch) stärkeren Einfluss
ausüben kann als die einzelnen europäischen Das wichtigste Beispiel für marktförmige Instru-
Staaten für sich. mente ist de r Emissionshandel in der Europäi-
schen Union. Seit 2005 gibt die Europäische Uni-
on Verschmutzungsrechte (hier: COi-Emissions-
Welche umweltpolitischen Zielsetzungen zertifikate) an Unternehmen aus Branchen aus,
verfolgt die EU mit welchen Instrumenten? die besonders viel C02 e mittieren. Im J a hr 201 7
sind davon ca. 12.000 eu ropäische Firmen be-
Die EU legt ihre umweltpolitischen Ziele in sog. troffen. Überschreitet ein Unternehmen die zuläs-
„Umweltaktionsprogrammen" (UAP) fest, die in sige Menge, muss es von einem anderen, das un-
unregelmäßigen Abständen erneuert werden. Im ter den zulässigen Ausstoßmengen bleibt, Ver-
siebten UAP „Gut leben innerhalb der Belastbar- schmutz ungsrechte zuka ufen. So soll aus dem
keitsgrenzen unseres Planeten" (2013- 2020) sind Zusammenwirken vo n Angebot und Nachfrage
vier Handlungsfelder vorgesehen : ein marktförmiger Preis (> Kap. 2. 1.2) für COi-
Em issionen entsteh en und die Firmen „diszipli-
• Grünes Wac hstum nieren", so wenig Klimagase wir möglich zu er-
• Naturschutz zeugen.
2 Grundlagen d er Wirtschaftspolitik

Wie funktioniert Emissionshandel?

Vor der Mit Minderungs- Vor der Mit Minderungs-


Minderungs- verpflichtung und Minderungs- verpflichtung und

! . · · ···· · · · · · · · ··· · {. . i
- -
verpflichtung Handel verpflichtung Handel

i ~
......
50.000 t - -
- -

--
- 130.000 t
50.000 t -

--
-
--
--
50.000 t

Die Politik legt für die kommenden fünf Jahre eine Emissionsreduzierung von 20 Prozent fest. Unternehmen
A und Unternehmen B betreiben Anlagen, die in den Emissionshandel einbezogen sind. Diese emittieren in
der Ausgangssituation jeweils 20.000 t C02 . Weil die Emissionen um 20 Prozent reduziert werden sollen,
erhalten beide Unternehmen für nur 40.000 t C02 kostenlose Emissionsberechtigungen. Die Unternehmen
müssen nun entscheiden, ob sie ihre Emissionen reduzieren oder weitere Emissionsberechtigungen zukau-
fen .

'° Deutsche Emissionshandelsstelle (DEHSt) im Umweltbundesamt

Die Menge der ausgegebenen Zertifikate unter- Ein prominentes Beispiel für Auflagen der EU ist
scheidet sich nach der Ausgabephase - bis 2020 die sogenannte C0 2 -Neuwagenverodnung, die
läuft Ausgabephase III. Da absehbar ist, dass mit bestimmt, wie viel Kohlenstoffdioxid ein Auto aus
der derzeitigen Ausgabemenge das 400/o-Redukti- der Neuwagenflotte eines Herstellers im Durch-
onsziel bis 2030 nicht zu erreichen sein wird, wird schnitt pro Kilometer ausstoßen darf. Bis zum Jahr
eine weitere Verknappung der Verschmutzungs- 2021 ist eine Durchschnittsemission von 130g
rechte für die Ausgabephase N diskutiert. C0 2 /km zulässig, danach 95g C0 2 /km. Wenn die
Durchschnittsemission höher liegt, müssen die je-
weiligen Hersteller für j edes Gramm C0 2-Über-
Kritik an der Politik der EU schreitung pro Wagen Strafzahlungen leisten. An
diesen Regelungen wird häufig kritisiert, dassder
Erstens werden die Zertifikate kostenlos ausgege- Druck auf die Autofirmen nicht hoch genug sei,
ben und nicht etwa von Anfang an versteigert um die tech nischen Potenziale der C0 2 -Reduktio n
oder anderswie bepreist. Somit geht der EU einer- vollauf auszuschöpfen, da die Grenzwerte nicht
seits eine Einnahmequelle und a ndererseits ein streng genug seien. Sie würden - auch durch den
Anreiz zur schnelleren C0 2 -Reduktion verloren. Einfluss der Automobillobby und durch vom Au-
Zweitens wurden bereits mehrfach mehr Zertifi- tomobilbau abhängige Staaten wie z. B. Deutsch-
kate ausgegeben als überhaupt benötigt wurden, land - wieder verwässert.
was den intendierten Mechanismus vollkommen
unterbrach und statt zu einem Redukt ionsanreiz
zu einem Preisverfall für die Verschmutzungs- Charakteristika der deutschen Umweltpolitik
rechte führte. Drittens wird die Menge der in einer
Ausgabephase zur Verfügung gestellten Emissi- Grundsätzlich kämpft die deutsche Umweltpolitik
onsrechte politisch ausgehandelt, weswegen wirt- mit dem Umstand, dass sie eine Querschnittsau f-
schaftliche Interessen erheblichen Einfluss au f gabe zu vielen anderen Politikbereichen darstellt
umweltpolitische Entscheidungen nehmen. und damit auch zu regierungsinternen Konflikten
2.8 Ökonomie und Ökologie f

führt. So nimmt die Umweltpolit ik u. a. Einfluss


auf die Steuer-, die Verkehrs-, die Energie-, und Prinzipien deutscher Umweltpolitik
die Wirtschaftspolitik sowie den Städte- und
Wohnungsbau, ohne jeweils ihre eigene Logik • Nach dem Verursacherprinzip muss derjenige für die Kosten
vollauf durchsetzen zu können. der Beseitigung von Umweltbelastungen aufkommen, der sie
hervorgerufen hat.
Grundsätzlich beschäftigt sich die Umweltpolitik • Das Vorsorgeprinzip soll bewirken, dass Umweltschäden gar
nicht erst entstehen.
in Deutschland mit allen oben genannten Politik- • Das Kooperationsprinzip besagt, dass in umweltpolitischen
feldern, wobei a uch hier der Bereich Klima und Fragen alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte zu einer
Energie der prominenteste ist. Die Bundesregie- möglichst einvernehmlichen Problemlösung gelangen. Aus die-
rung ve rfolgt nach eigenen Aussagen aktiv das sem Prinzip leitet sich z B. die Zusammenarbeit von Bund, Län-
2-Grad-Erwärmungsziel und hat sich dafür die dem und Gemeinden in umweltpolitischen Fragen, die Bürger-
Meilensteine gesetzt, bis 2020 die Treibhausgase- beteiligung bei öffentlichen Bauvorhaben oder die Beteiligung
von Verursachern wie Geschädigten bei der Beseitigung von
missionen um 400/o gegenüber 1990 zu senken
Umweltschäden ab.
(,,Aktionsprogramm Klimaschutz 2020") und bis
• Nach dem Gemeinlastprinzip kommt die Gemeinschaft (öffent-
2050 sogar ein „treibhausneutrales" Deutschland liehe Hand) dann für die Beseitigung von Umweltschäden auf,
zu schaffen, was eine Verringerung des Ausstoßes wenn das Verursacherprinzip nicht durchgesetzt werden kann.
um 90-950/o bedeuten würde (,,Klimaschutzplan Beispielhaft lässt sich das bei der Frage der Kostenübernahme
2050"). des Rückbaus der stillgelegten Atomkraftwerke in Deutschland
beobachten. Der Bund zwingt die Kraftwerkbetreiber zu Rück-
stellungen in Milliardenhöhe, um den Rückbau nach dem Atom-
ausstieg zu finanzieren (Verursacherprinzip). Die Stromkonzerne
Wie wird in Deutschland Umweltpolitik
fordern vom Bund eine finanzielle Beteiligung an den Kosten
betrieben? (Gemeinlastprinzip).
Nach: Basiswissen Schule. Politik Wirtschaft Abitur, 2016, S. 2 71
Zentrale umweltpolitische Maßnahmen sind ei-
nerseits der Ausbau erneuerbarer Energien (und
damit der Verringerung des Anteils fossiler und damit nicht das Problem behoben, dass Wind- und
damit klimaschädlicher Energieträger wie Kohle Sonnenlichtstrom dann erzeugt wird, wenn Wind
und Öl) bzw. das Einsparen vo n Energie. Wich- weht bzw. Sonne scheint, und nicht unbedingt
tigstes umweltpolitisches Instrument für die Aus- dan n, wann Verbrauchsspitzen entstehen.
weitung erneuerbarer Quellen ist das Erneuerbare
Energien Gesetz (EEG) a us dem Jahr 2000, das bis Um solche Spitzen ökologisch, also ohne die Nut-
2025 einen Ausbau der Energieversorgungsan- zung konventioneller Energieerzeugung (Kohle,
teils aus regenerativen Quellen wie Wind- und Gas, Atomkraft), bedienen zu können, bedürfte es
Wasserkraft sowie Sonnenlicht auf 40-45°/o und einer effizienten Speichertechnologie großen
bis 2035 auf 55-600/o vorsieht. Wesentliche Ausmaßes. Für Pumpspeicherwerke dieser Grö-
Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieser Ziele ßenordnung liegen in Deutschland nicht die geo-
sind einerseits die Stromspeicherung bei aktuell grafischen Gegebenheiten vor, die „Power-to-
nicht benötigen, aber dennoch vor allem aus Gas-Technologie", bei der mit momentan
Windkraft und Sonnenlicht produzierten Strom- ,,überflüssigem" Windstrom Wasser in elementa-
mengen, und der Stromtransport vo n Nord nach ren Sauerstoff und elementaren Wasserstoff zer-
Süd. legt und letzterer ins Gasnetz eingespeist wird, hat
ebenfalls relativ enge Kapazitätsgrenzen.
Für die geplante „Energiewende" sind - nach mas-
siven öffentlichen Protesten gegen überirdische Aus dieser Logik heraus liegt es nahe, die Entwick-
Hochspannungsleitungen - zwei große, weitge- lung von Speichersystemen (wie Lithium-Io-
hend unterirdisch verlaufende „Stromautobah- nen-Akkus) massiv zu fördern. Die „Forschungs-
nen" geplant (,,Südlink", ,,Südostlink"), deren Bau initiative Energiespeicher" der Bundesministerien
2025 beendet sein soll. Diese Stromtrassen sind für Wirtschaft und Energie bzw. Forschung fördert
notwendig, um den Ökostrom aus dem windrei- innovative Speichertechnologien, wobei der Um-
chen Norden in den windärmeren Süden der Bun- fang für die Bedeutsamkeit der Aufgabe von Kri-
desrepublik zu transportieren. Allerdings wird tikern als viel zu niedrig eingestuft wird.
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik

Die Verringerung der genutzten Energiemenge des Bundesverfassungsgerichts, wonach der


soll vor allem durch die Energieeinsparverord- Bund die Atomkraftwerke betreibenden Strom-
nung sichergestellt werden, die Grenzwerte für die konzerne wegen der verkürzten Restlaufzeiten
Energieabflüsse von Gebäuden regelt. Ergänzende finanziell entschädigen muss.
Gesetze sollen den Einbau verbrauchsarmer Heiz-
systeme forcieren sowie die Deckung eines Teils Auch die jüngsten Novellen des EEG ernteten nicht
des Wärmebedarfs bei Neubauten aus erneuerba- uneingeschränkte Zustimmung. Während Erzeu-
ren Energien. Dazu kommen noch Einzelmaßnah- ger von Strom aus regenerativen Quellen (gleich
men wie z.B. das Regierungsziel, bis 2020 1 Mil- ob Firmen oder private Betreiber von Photovol-
lion Elektroautos a uf deutsche Straßen zu bringen, taik-Anlagen) früher eine feste Einspeisevergü-
die, wenn sie mit Ökostrom „betankt" werden, eine tung pro Kilowattstunde Strom erhielten, fand
deutliche bessere Kl imabilanz aufweisen als PKW 2016 ein Wechsel zum sogenannten Ausschrei-
mit Verbrennungsmotoren. Dafür wurde 2016 bungsmodell satt, nach dem diejenigen Strom er-
eine Elektroauto-Kaufprämie von insg. 1,2 Mrd. zeugenden Unternehmen subvention iert werden,
Euro beschlossen, wo nach de r Bund bei Kauf eines die die geringsten staatlichen Beihilfen zur Stro-
neuen Elektroautos 2.000,- Euro Förderung be- merzeugung verlangen. Krit iker dieser Maßnahme
reitstellt und der jeweilige Hersteller zusätzlich befürchten, dass dadurch die Anreize gesenkt wer-
einen Bet rag von 2.000,- Euro nachlässt. den, mehr Strom ökologisch zu produzieren. Zu-
dem wurde der Anteil von Ökostrom im Strommix
gedeckelt - offiziell um de n Endkundenpreis nicht
Kritik an der deutschen Umweltpolitik zu sta rk a nsteigen zu lassen. Eine Studie der Hoch-
schule für Technik und Wirtschaft Berlin kommt
Obwohl vor allem die kJimapolitischen Ziele der zu dem Ergebnis, dass sich mit dieser Gesetzes-
Bundesrepublik Deutschland im internationalen novelle die Pariser Klimaschutzziele der Bundesre-
Vergleich durchaus ambit ioniert erscheinen, regt publik Deutschland nicht erreichen lassen werden.
sich z. T. massive Kritik an der Art und Weise bzw.
der Konsequenz des Verfolgens dieser Ziele:
Mit welchen Hürden hat die Umwe'ltpolitik in
• So weist Deutschland einen sehr starken Auto- Deutschland zu kämpfen?
mobil produzierenden Sektor auf(inkJ. Zuliefer-
firmen), weswegen sich die Bundesregierung Zudem erschweren immer wieder regional- bzw.
mehrfach genötigt sah, in der gesamten EU zu arbeits marktpolitische Erwägungen eine sinnvolle
setzende Emissionsgrenzwerte für den Schad- Klimaschutzpolitik. So stoppte das Bundeswirt-
stoffausstoß von Autos durch polit ische Inter- schaftsministerium im November 2016 den ei-
ventionen abzumildern. Zwar scheint sie mit der gentlich beschlussfertigen Klimaschutzplan des
Kaufprämie für Elektroautos einen Anreiz zu Bundesumweltministeriums zur Umsetzung der
verstärkt ökologischem Individualverkeh r ge- Pariser Klimaschutzziele bis zum Jahr 2050. Es
schaffen zu haben. Allerdings wurde z.B. die reagierte damit u. a. auf Kritik derj enigen Bundes-
Förderung eines massiven Ausbaus der Ladein- länder (insb. Bra ndenburg, aber a uch Sachsen,
frastruktur (bundesweites Netz an „schnellen Sachsen-Anh alt, Nordrhein-Westfalen), deren
Stromtankstellen") erst recht spät beschlossen, Wirtschaft zu nicht unerheblichen Anteilen vom
weswegen u. a. ein signi fikanter Anstieg des Abbau von (Braun-)Kohle abhä ngt.
Verkaufs vo n Elektroautos bisher ausblieb.
Besonders öffentlichkeitswirksam wurde Ende
• Zudem wird der Regierung immer wieder Inkon- 2017 das Bekanntwerden eines internen Berichts
sequenz beim Umsetzen der Energiewende vor- des Bundesumweltministeriums, wonach Deutsch-
geworfen. So war der 200 2 beschlossene Aus- land sein eigenes Ziel einer 40-prozentigen Ver-
stieg aus der Stromerzeugung per Atomkraft ringerung der klimaschädlichen Emissionen im
2010 zuerst wieder zurückgenommen wo rden, Vergleich zu 1990 deutlich verfehlen wi rd. Noch
um später vor dem Hintergrund der Reaktorka- ein Jahr zuvor war die Koalitionsregierung aus
tastrophe in Fukushima 2011 wieder e rneut be- CDU/CSU und SPD davon ausgegangen, dieses
schlossen zu werden. Dies führte zu einem Urteil Ziel zu erreichen. In dem Bericht wird vo n einem
2 .8 Ökonomie und Ökologie f

,,erheblichen[n] Rückschlag" fü r die deutsche Kli- Die im März 2018 gebildete, ebenfalls schwarz-ro-
maschutzpolitik gesprochen. Zurückgefüh rt wird te Regierun gskoalition reagierte auf die Zielver-
die trotz Ausbaus der erneuerbaren Energiegewin- fehlung, indem sie in ihrem Koalitionsvertrag eine
nung deutliche Zielverfehlung im Wesentlichen Kommission ankündigte, die bis Ende 2018 ein
auf drei Umstände: Aktionsprogramm erarbeiten soll. Diese Maßnah-
me wird in der Öffentlichkeit ambivalent aufge-
1. Es werde weiterhin zu v iel Strom mittels Koh- nommen. Kritisiert wird ihre Offenheit, da das
leverbrennung erzeugt; Entwickeln von Maßnahmen weitgehend in eine
2. Auto-Verbrennungsmotoren würden zwar im Kommission ausgelagert wird. Außerdem werden
Durchschnitt immer effizienter, die Zahl der keine konkreten Daten für das Abschalten der be-
gefahrenen Kilometer großer, schwerer Fahr- sonders klimaschädlichen Kohlekraftwerke ge-
zeuge wie SUVs steige allerdings gleichzeitig, nannt. Umweltschützer begrüße n allerdings, dass
wodurch sich der eigentliche Einspareffekt ins die Kohleverstromung nicht mehr, wie noch im
Gegenteil verkehre; Koa litionsvertrag von 2013, als notwe ndige „Brü-
3. Es gibt noch immer n icht die seit Jahren ange- ckentechnologie" bezeichnet und konventionelle
strebte Einigung zwischen Bund und Ländern Stromerzeugung nicht mehr als „auf absehba re
zur steuerlichen Absetzbarkeit von Energie- Zeit unverzichtbar" tituliert wird.
sparmaßnahmen (Dämmung etc.) an Häusern.
Es deutet sich ein vorsichtiger Abschied von der
Noch gravierender als ohnehin schon erscheint die ,,Strukturerhaltungspolitik" in Bezug auf die kon-
Zielverfehlung durch die Tatsache, dass ein n icht ventionelle Stromerzeugung an, auch wenn die
unerheblicher Teil der Emissionseinsparungen Widerstände aus den Regionen sowie aus der
durch das Zusammenbrechen der DDR-Industrie Energiewirtschaft erheblich sind. Dennoch ist
zu verda nken war, die extrem viele Schadstoffe festzuhalten, dass die Absichtserklärungen der
ausgestoßen hatte. Das Verfehlen der Klimaschutz- Bundesrepublik hinter den erreichbaren - und
ziele wird Deutschland ab dem Jahr 2020 über den umweltpolit isch wünschenswerten - Ergebnissen
europäischen Emissions ha ndel kompensiere n zurückbleiben, da wirtschafts- u nd sozialpoliti-
müssen. Dafür wird die Bundesrepublik Experten- sch e Erwägungen weiterhin großes Gewicht ha-
schätzungen zufolge mehrere hundert Millionen ben. Der Zielkonflikt zwischen umwelt- und wirt-
Euro für Verschmutzungsrechte a n andere Staaten schaftspolitischen Zielen scheint dementsprechend
der Union bezah len. keineswegs aufgelöst.

Aufgaben

1. Stellen Sie die zusammenhänge deutschen Umweltpolitik im Mehrebenensystem in einem übersichtlichen


Schaubild dar.

2. Analysieren Sie die Schwierigkeiten, sinnvolle umwelt- bzw. klimapolitische Maßnahmen in Deutschland
politisch durchzusetzen.

3. Entwickeln Sie vor dem Hintergrund Ihrer Kenntnisse Möglichkeiten, das Verursacherprinzip und das Vorsor-
geprinzip in der deutschen Umweltpolitik wirksamer als bisher zu berücksichtigen.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Zur Erreichbarkeit der Klimaschutzziele mit deutscher Energiepolitik

[Z]ur klimaverträglichen Deckung des Verbrauchs in den Sektoren Wärme und Verkehr
[bedarf es bis 2040 erheblicher zusätzlicher Strommengen]. [... ]
Um das Elektrizitätsversorgungssystem stabil zu halten, erbringen derzeit fossile Kraft-
werke verschiedene Systemdienstleistungen. Um diese Kraftwerke endgültig stilllegen
s zu können, müssen die Rahmenbedingungen für die Netzstabilität so verändert wer-
den, dass erneuerbare Kraftwerke in Kombination mit Speichern die Systemdienstleis-
tungen schnellstmöglich vollständig übernehmen können. Eine schnelle Errichtung
von neuen Speichern ist dazu anzustreben.
Wird der Strom ausschließlich durch erneuerbare Energien gedeckt, kommen dabei
,o vor allem fluktuierende Erzeuger wie Photovoltaik und Windkraft zum Einsatz. Um eine
stetige Verfügbarkeit der Energieversorgung über das ganze Jahr zu gewährleisten,
sind große Speicherkapazitäten erforderlich, die sich aus Batterie- und Gasspeichern
zusammensetzen. [... ]

[Bei einem] Szenario [der Stromversorgung 2040] mit hohen Effizienzmaßnahmen er-
,s gibt sich durch den hohen Anteil fluktuierender erneuerbarer Energien ein stark gestei-
gerter Speicherbedarf. Neben Batterien muss er vor allem durch die Speicher im vor-
handenen Gasnetz gedeckt werden, die große Energiemengen aufnehmen und zeitlich
ebenso wie räumlich verteilt wieder abgeben können. Um einen schnellen Kohleaus-
stieg realisieren zu können, ist der Ausbau von Speichern von großer Dringlichkeit, um
20 die Versorgungssicherheit letztendlich ohne fossile Backup-Kraftwerke sicherstellen

zu können. Durch den steigenden Speicherbedarf erhöht sich auch der Strombedarf
durch Umwandlungs- und Speicherverluste um 20 %, sodass sich auch bei hoher
Effizienz ein gesamter Elektrizitätsbedarf von 1320 Twh ergibt. Das entspricht[ ... ] über
dem Doppelten des heutigen Strombedarfs. [.. .]

Sektoren mit Effizienzmaßnahmen TWh Anteil

Stromverbrauch ohne weitere Sektorkopplung 500 37,9 %

Raumwärme und Warmwasser 150 11,4 %

lndustrieprozesswärme von Industrie und GHD 250 18,4%

Verkehr 200 15,2 %


Speicher- und Übertragungsverluste im Stromsektor 220 16,7%

Summe 1320 100 %

Entwicklung des Strombedarfs für eine klimaneutrale Energieversorgung mit Effizienzmaßnahmen

2s Diese Zahlen machen deutlich, dass für einen erfolgreichen Klimaschutz von einem
deutlich steigenden Strombedarf auszugehen ist , der bereits im Jahr 2040 klimaneu-
tral ausschließlich durch erneuerbare Energien gedeckt werden muss. [... ] [M]it den
Ausbauzielen des EEG 2014 [ist] bis zum Jahr 2040 lediglich eine regenerative Stromer-
zeugung von rund 460 TWh zu erwarten[ .. . ]. Diese würde nicht einmal ausreichen, den
30 heutigen Strombedarf klimaneutral zu decken [... ].
Folglich bedarf es einer dringenden und umfassenden Anhebung der Ausbaukorrido-
re für Windkraft und Photovoltaikanlagen und nicht einer Kürzung. Wie die geplanten
zusätzlichen Reduktionen der Ausbauziele für die Windkraft mit den Klimaschutzbe-
kenntnissen zu vereinbaren sind, lässt sich auch bei bestem Willen nicht erkennen.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

3s Bild 15 zeigt den Verlauf der regenerativen Stromerzeugung bei dauerhaftem Einhalten
der Zielkorridore aus dem EEG 2014 und stellt diese dem Stromverbrauch bei erfolg-
reichem Klimaschutz [...) gegenüber. Im Jahr 2040 können dabei erneuerbare Energi-
en gerade einmal rund 35 % des Bedarfs decken. Ein erfolgreicher Klimaschutz ist
damit unmöglich.

1400
TWh
1200 ■ Andere
Photovoltaik
1000 ■ Windkraft
offshore
800 Windkraft
onshore
■ Biomasse
600
■ Wasserkraft

400

200

0
0
O'l
O'l
l!)
O'l
O'l
0
0
0
l!)
0
0
....
0
0
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....
0
0
C\J
0
l!)
C\J
0
0
(")
0
l!)
(")
0
0
'St"
0
C\J C\J C\J C\J C\J C\J C\J C\J C\J

Entwicklung der regenerativen Stromerzeugu ng und des Stromverbrauchs bis 2040 bei dauerhaftem
Einhalten der EEG-Zielkorridore aus dem EEG 2014 bei Berücksichtigung von Effizienzmaßnahmen

40 Da diese zusammenhänge zumindest in groben Zügen den politisch Verantwortlichen


bekannt sein sollten, kann entweder davon ausgegangen werden, dass das Verfehlen
der Pariser Klimaschutzziele bewusst in Kauf genommen oder bereits jetzt auf eine
nachträgliche Korrektur[...) gesetzt wird.

Volker Quaschning ist Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hocl1schule für Technik und
Wirtschaft (HTW) in Berlin.

Volker Quaschning, Sektorkopplung durch die Energiewende. Anforderungen an den Ausbau erneuerbarer
Energien zum Erreichen der Pariser Klimaschutzziele unter Berücksichtigung der Sektorkopplung, 2016,
S. 26

M 2 Das Superministerium für Umwelt

So könnte es kommen: Auf dem Verkaufstisch liegen zwei Smartphones. Das eine hat
ein Preisschild: ,,399 Euro". Das andere kostet 39 Euro mehr - und es hat noch ein
zweites Preisschild. Darauf steht: ,,Akku austauschbar", ,,garantierte Lebensdauer 3
Jahre" und „Rohstoffe nicht aus Konfliktregionen".[ ...) [Der] Vorschlag mit dem „zwei-
s ten Preisschild" stammt aus ihrem neuen „integrierten Umweltprogramm 2030", das
[die damalige Bundesumweltministerin Barbara] Hendricks am Wochenende bei der
offiziellen Feier zum 30. Geburtstag ihres Ministeriums präsentieren wird. ,,Den ökolo-
gischen Wandel gestalten" heißt das Konzept, und es soll auch den privaten Konsum
umfassen. Weil Preise und Preisschilder die ökologische Wahrheit sagen sollen, will
,o das Ministerium ein Konzept entwickeln, ,,das Umweltschäden und Ressourcenver-
brauch von besonders umweltrelevanten Produkten und Dienstleistungen darstellen
soll", heißt es in dem 130-seitigen Papier.
Hendricks denkt dabei weniger an Lebensmittel als an Elektronik oder Textilien. Und
dafür will sie mehr Druck auf der EU-Ebene machen , um die Brüsseler „Öko-De-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

15 sign-Richtlinie" zu reformieren. Die regelt schon seit langem, wie effizient Glühbirnen
und Staubsauger sein müssen.
Vor allem aber greift mit dem „Umweltprogramm 2030" das Umweltministerium nach
mehr Macht. Die Zeit, wo Umweltpolitik „die Kollateralschäden eines aus dem Ruder
gelaufenen Wirtschaftsmodells beseitigt", soll vorbei sein. Zudem fordert das Pro-
20 gramm mal eben „grundlegende Veränderungen in Gesellschaft, Industrie und Land-
wirtschaft, Energie- und Ressourcennutzung, Verkehr und Infrastruktur" - also prak-
tisch überall.
Einen Weg dafür hat Barbara Hendricks auch: Sie will ein „Initiativrecht in anderen
Geschäftsbereichen der Bundesregierung", wie es bisher schon in der Frauenpolitik
25 und beim Verbraucherschutz möglich ist. So könnte die Ministerin bei der Landwirt-
schaft und im Verkehr Gesetze der Kollegen auf Öko-Aspekte durchleuchten lassen
oder selbst dazu eigene Vorschläge machen. Eines will Hendricks allerdings nicht: ein
Vetorecht im Kabinett, wie es ihr „Sachverständigenrat für Umweltfragen" angeregt
hatte.
30 Auch so wären die Eingriffe in die anderen Ressorts schwerwiegend genug: Weiterent-
wicklung der Ökosteuer, öffentliche Investitionen an der Nachhaltigkeit orientieren,
über „Divestment" von Steuergeld aus fossilen Bereichen reden. Ganz konkret droht
sie ihren Ministerkollegen von der Landwirtschaft und dem Verkehr mit Einmischung
in deren innere Angelegenheiten: Sie will eine „grundlegende Neuausrichtung der
35 Landwirtschaft", ihr Haus wird eine „Stickstoffstrategie" erarbeiten und es will die „ Ko-
Federführung bei der Mitgestaltung der EU-Agrar- und Fischereipolitik".
Das Umweltministerium will auch eine „umfassende Mobilitätsstrategie" entwickeln,
in Brüssel für strengere Abgaswerte bei Autos kämpfen und eine „ Lärmminderungs-
strategie" entwerfen, die besonders auf den Verkehr zielt. Für die geplanten „bran-
40 chenspezifischen Roadmaps für nachhaltiges Wirtschaften in Wirtschaft und Finan-
zen" ist bisher auch eher das Wirtschaftsministerium zuständig - und für das „zweite
Preisschild" sicherlich der Verbraucherminister. [... ]
Die Revolution für mehr Öko-Power in der Regierung wird nicht über Nacht kommen,
da ist sich die Sozialdemokratin Hendricks sicher. Die stärkere Rolle des Umwelt- und
45 Bauministeriums sei „eine Aufgabe für die nächste Regierung." Ob sie denn über ihre
Vorschläge schon mit dem Kollegen Landwirtschaftsminister gesprochen habe? Das
müsse sie gar nicht, signalisiert die Ministerin. ,,Naturschutz, Artenschutz, Boden-
schutz und Wasserschutz liegen in meiner Verantwortung", sagt Hendricks. [... ]
Wie wenig sich ihre Kollegen Minister davon beeindrucken lassen, zeigen sie gerade.
50 [Sie strichen] [ ... ] in der Ressortabstimmung aus Hendricks' ,,Klimaschutzplan 2050"
[ ... ] alle harten Ziele und ambitionierten Termine heraus.

Bernha rd Pötter, www. taz.de, 8.9.2016

Aufgaben
1. Beschreiben Sie die Herausforderungen der Umweltpolitik in Deutschland mit Hilfe des
Materials von Volker Quaschning und Bernhard Pötter (M 1 und M 2).

2. Arbeiten Sie die Strategien heraus, mit denen Barbara Hendricks striktere Umweltpolitik
auf nationaler und EU-Ebene durchsetzen möchte.

3. Beurteilen Sie die Chancen, Hendricks' Strategien tatsächlich umzusetzen.


SELBSTDIAGNOSE 1

Im laufe des letzten Kapitels haben Sie sich mit den Grundlagen der Wirtschaftspolitik beschäftigt.
Lesen Sie die folgenden Sätze und entscheiden Sie jeweils für sich, welche der Spalten sie ankreuzen
können.

Ich kenne ... vollständig teilweise (noch) nicht

. .. die wesentlichen Aufgaben einer Wirtschaftsordnung .

... die wesentlichen Aufgaben einer Wirtschaftsordnung .

. . . verschiedene Konzepte der Wirtschaftspolitik.

. . . die Auswirkungen des Strukturwandels .

. .. die Aufgaben der Gewerkschaften und der Arbeitgeber-


verbände .

... die wesentlichen Aufgaben der Finanzpolitik.

. . . die Aufgaben der Europäischen Zentralbank (EZB) .

. .. wesentliche Entwicklungen der wirtschaftlichen


Globalisierung und die kontroverse Diskussion darüber.
. . . die wesentlichen weltweiten Umweltbelastungen sowie
deren Urheber, Ursachen und voraussichtliche Folgen .
. . . die Grenzen des Bruttoinlandsprodukts als Wohlstands-
indikator sowie alternative Vorschläge für entsprechende
1ndikatoren(systeme).

Ich kann ... vollständig teilweise (noch) nicht

. . . die Funktionsweise von Marktwirtschaft und Planwirtschaft


vergleichen und erklären .
. . . den Verlauf eines typischen Konjunkturzyklus beschreiben
und erläutern .
. . . verschiedene Instrumente einer staatlichen Wirtschafts-
politik benennen und in ihrer Wirkung beurteilen .
... Probleme der Einkommensverteilung in Deutschland
wiedergeben und verschiedene Einschätzungen dazu
erörtern .
... die Problematik der Staatsverschuldung darlegen und
verschiedene Sichtweisen darauf vergleichen .
... anhand von ausgewählten Statistiken und Grafiken
w ichtige Elemente des wirtschaftlichen Globalisierungs-
prozesses herausarbeiten .
... die Trittbrettfahrer-/Freerider-Problematik in umwelt-
politischen Verhandlungen auf internationaler Ebene
identifizieren .
. . . die Wirksamkeit bzw. ökologische Nachhaltigkeit
umweltpolitischer Vorschläge und tatsächlicher umwelt-
politischer Entscheidungen und Strategien überprüfen.
Zusatzmaterial zu Kapitol 3
Mediencode: 72002-03

KOMPETENZEN
Am Ende dieses Kapitels sollten
Sie Folgendes wissen und können:

die Begriffe Politik, Staat und politisches System von-


einander unterscheiden und erklaren

die komplexen Wirklichkeiten von Politik anhand der


drei Dimensionen des Politischen analysieren

Kernelemente moderner Demokratien identifizieren

Staatsformen von Herrschaftsformen unterscheiden

verschiedene Demokratietheorien voneinander unter-


scheiden sowie deren Auswirkungen auf moderne
Demokratien erläutern

unterschiedliche Aspekte politischer Systeme auf ei-


ner grundlegenden Ebene verglelchend analysieren
und Alternativen bewerten
r
Aufgabe

Ordnen Sie Jedem der Bilder Jeweils einen der Begriffe „Politik", ..Staat" und „Demokratie" zu.
Begründen Sie Ihre Entscheidung.
• Politik und Demokratie
3.1 .1 Politik als Begriff und Organisationsprinzip
menschlichen Handelns

Leitfragen Was ist Politik? Was ist ein Staat? Was ist ein politisches
System?

Der Politikbegriff

Politik als Begriff ist in der heutigen medialisier- Konflikten zwischen Menschen in Gruppen (z.B.
ten Gesellschaft allgegenwärtig, d. h. er wird zur Verein, Schulklasse) zu einer spezifischen Form
Beschreibung unterschiedlichster Phänomene der Konfliktregelung führt. Polit ik ist in diesem
verwendet und erfährt darüber hinaus bereits seit Zusammenhang j edoch nicht der eigentliche
der Antike verschiedene Ausprägungen. Auch in- Zweck der Gruppe. Der Zweck eines Sportvereins
nerhalb der Politikwissensch aft wird der Begriff ist z.B. das gemeinsame Sportmachen und doch
z um Teil unterschiedlich, j edoch oftmals im Zu- kann es zu verschiedenen Ansichten über die Ge-
sammenhang mit menschlichem Handeln defi- staltung der Sportstätte kommen, die ein kon-
niert. Von politischem Handeln wird i. d. R. immer tliktlösendes Handeln erforderlich machen.
dann gesprochen, wenn das Zusammenleben vo n
Menschen als solches zu Problemen führt bzw. Politik im engeren Sinn e findet statt, wenn sich
etwas Konflikthaftes in ihm besteht und das Han- innerhalb einer Gesellschaft Institutionen etab-
deln a uf eine Lösung des Problems bzw. des Kon- liert haben, deren vordergründiger Zweck es ist,
fliktes gerichtet ist. verbindliche Regeln des Zusammenlebens für die
Gesamtgesellschaft festzulegen. Ziel dieser Insti-
Somit ist zunächst unter Politik im weiteren Sin- tution en ist es somit, durch politisches Handeln
ne menschliches Handeln zu verstehen, das bei Konflikte, die durch die verschiedenen Interessen
der unterschiedlichen gesellscha~lichen Gruppen
entsteh en, zu regeln. Gegenstand dieser Instituti-
onen ist dann z.B. d ie Umweltpolitik, die Bil-
Institution dungspolitik oder die Sozialpolitik etc.
Institution ist ein politisch-soziologischer Begriff für stabile, auf
Dauer angelegte Einrichtungen zur Regelung, Herstellung oder Zur U nterscheidung der komplexen Wirklichkeit
Durchführung bestimmter Zwecke. Im Einzelnen kann der Begriff von Politik werden in der Politikwissenschaft drei
unterschiedliche Bedeutungen haben: Dimensionen unterschieden:
1) Institution meint eine soziale Verhaltensweise oder Norm (wie
z. B. die Institution „ Ehe"); • das institutionelle Normengefüge bzw. der poli-
2) Institution meint konkrete, materielle, zweckgerichtete Einrich- tische Ha ndlungsrahmen (polity),
tungen (wie z. B. das Parlament, das Amt des Bundeskanzlers, • der Ablauf der politischen Prozesse (politics)
die öffentliche Verwaltung, die Parteien); und
3) Institution meint abstrakte, immaterielle, zweckgerichtete Ein- • die Inhalte von Politik (policy).
richtungen (wie z.B. das Grundgesetz, die demokratische
Mehrheitsregel).
Diese unterschiedlichen Dimensionen werden in-
Klaus Schubert/Martina Klein, Das Politiklexikon - Begriffe - Fakten - nerhalb der Politikwissenschaft u. a. zur Analyse
Zusa mmenhänge, 6., aktualisierte und erweiterte Auflage, 2016, S. 155 von Politik in Staaten bzw. politischen Systemen
verwe ndet (>Kap. 4).
3.1 Politik und Demokratie

Der Staat

Aus soziologischer Perspektive ka nn ein Staat sehen Prozessen, d. h. der Politikformulierung und
nach dem deutschen Soziologen Max Weber ( 1864 Umsetzung beteiligt sind (>Kap. 4.6). Politische
- 1920) als eine Gesellschaft, die in einem Gebiet Systeme sind keine starren Gebilde, sondern ei-
das Monopol legitime r physischer Gewalt bean- nem stetigen Wandel unterzogen und um fassen
sprucht und damit als eine Herrschaft von Men- neben spezifische n Herrschaftsformen und Regi-
schen über Menschen defini ert werden. metypen auch Formen gesellschaftlicher und po-
litische r Repräsentation.
Der Staatsrechtler Georg Jellinek (1851 - 19 11) hat
mit der sog. ,,Drei-Elemente-Lehre" den Staats- Input und Output des politischen Systems
begriff anhand von drei Eleme nten definiert.
Demnach wird ein Staat durch ein Hoheitsgebiet Das politische System ist Adressat gesellschaftli-
(Staatsgebiet), eine dara uf ansässige (Kern-)Be- cher Forderungen (Input). Diese Forderungen, die
völkerung (Staatsvolk) sowie eine auf diesem Ge- sich konfliktär gegenüberstehen können, sind das
biet herrschende Gewalt (Staatsgewalt) definiert. ,,Rohmaterial", a us dem die politischen Entschei-
Diese drei Eleme nte sind lau t J ellinek erforderlich, dungen entstehen. Beispiele dafür sind Forderun-
damit ein Staat den Status eines Völkerrechtssub- gen nach m eh r Ki ndergeld oder mehr Zuwendun-
j ekts erl angen kann. gen im Bildu ngsbereich. Parteien, Inte ressen-
verbände und Massenmedien agieren dabei im
Ein St aat trifft nicht nu r verbindliche Regeln des intermediäre n Bereich, d. h. in dem Bereich zwi-
Zusammenlebens, er verfügt auch über eine öf- schen Gesellschaft u nd Staat. Ihr Ziel ist es, die
fentliche Verwaltung, die Entscheidungen umsetzt Interessen der Bürger in die Entscheidungsinstitu-
sowie über ein Rechtssystem, das Konflikte regu- tionen einzubringen. Die wesentlichen Entschei-
liert. Zur Durchsetzung seiner Entscheidungen dungsinstitut ionen sind in Deutschland auf Bun-
besitzt ein Staat das Gewaltmonopol und sichert desebene die Bundesregierung, der Bundestag und
d ie Souverä ni tät des Staates nach innen und au- der Bundesrat. Hier werden Forderungen gebün-
ßen . Er ist somit die Gesamtheit de r öffentlichen delt, abgeschwächt, zurückgewiesen bzw. Ent-
Institutionen, die das Zusammenleben regeln. scheidungen getroffen und vereinbart, die auf die
Gesellschaft zurückwirken, da sie fü r die Bevölke-
run g verbindlich sind (Output).
Aufbau eines demokratischen Staates aus der
Perspektive der Politikwissenschaft Das politische Entscheidungssystem

Zentrales Entscheidungssystem: Das politische Entscheidungssystem entspricht im


Exekutive, Legislative, Judikative Grunde den staat lichen Institutionen und dient
Intermediäre Akteure: Parteien,
dazu, politische Entscheidungen zu t reffen (Regel-
lnteressengruppenNerbände, setzung), die Vernünftigkeit dieser Entscheidun-
soziale Bewegungen, Medien gen zu überprüfe n (Regelkontrolle) und die Ent-
Bürger
scheidungen umzusetzen (Regelanwendung). Aus
den Entscheidungen können sich wieder neue
Darstellung nach: Bagok, CC BY-SA 3.0, 22.3.2012 Forderungen ergeben. Input und Output sind so-
mit in einem Regelkreis miteinander verbunden.
In diesem Regelkreis hängt die Stabilität d es poli-
Das politische System tischen Syst ems davon ab, wie gut die Entschei-
dungsinstitutionen die verschiedenen Interessen
Der Begriff des Politischen System s ist umfang- der Bürger widerspiegeln. Probleme kön nen in
reicher als der des Staates. Ein politisches System einem politischen System en tstehen, wen n keine
kann als die Gesamtheit der staatlichen und geeig neten Vermittler zwischen Bürgern und po-
au ßerstaatlichen Institutionen, Normen und Ak- litischem Entscheidungszentru m existieren und
teure sowie Verfahren verstanden werden, die in somit bedeu tende Forderungen der Bürger nicht
einem verbindlichen Handlu ngsrahmen an polit i- aufgegriffen werden.
3 Politische Theorie

Modell* des politischen Systems

TRANSFORMATION

zentrales politisches Entscheidungssystem 0


C
'0
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Institutionen: rr
Parlament / Regieru ng / Rechtssystem z
0
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N Ebenen: (1)
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t; Kommunen / Länder / Nat ionalstaat ......
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::,-
...... (1)
C a:
Q)
Ol
Verwaltung C
:,
C CO
:, (1)
....Q) :,
c:
~ Massenmedien O"
0 (1)
LL ....

Freundeskreise

Rückkoppelung Auswirkungen

• Modelle stellen ei11e vereinf achte Darstellu11g grundlegender Merkmale e.illes Sachverlwltes, ei11es Begriffes oder eines
Phänome11s dar. Sie sind somit nicht der Gege11stand selbst, erleichtern jedoch ein strukturelles Verstehe11.

Aufgaben
1. Geben Sie in eigenen Worten wieder, was unter „Staat" und „Politisches System" zu verstehen ist.

2. Beschreiben Sie die Funktionsweise des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland mit Hilfe des
Input-Output-Modells.

3. Erläutern Sie, inwiefern Energiepolitik Politik im engeren Sinne ist und worin der Unterschied zu Politik im
weiteren Sinne besteht.

4. Ermitteln Sie in Ihrem näheren Umfeld eine Gruppe von Menschen, in der Politik im weiteren Sinne betrieben
w ird . Nennen Sie den eigentlichen Zweck der Gruppe und überprüfen Sie mit Hilfe des Modells, welche Rolle
sie im politischen System einnimmt.
METHODENKOMPETENZt

Politik multfdime□sional ur:itersuchen

Politik ist ein fa cettenreiches Phä nomen, dass aus Leitfragen sollen dabei helfen, die verschiedenen
unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet wer- Kategorien der jeweiligen Dime nsion zu einem
den kann. Generell unterscheidet man dabei drei polit ischen Problem bzw. Konflikt näher zu be-
Dimensionen des Politischen: den Ordnungs- und trachten. Das Ziel ist es, die unterschiedlichen
Handlungsrahmen (polity), die politischen Inhal- Aspekte von Politik in den Blick zu bekommen
te und Probleme (policy) sowie den Prozess der und die Wechselwirkungen zwischen polity, po-
politischen Gestalt ung (politics). licy und polit ics zu identifizieren.

Polity
Polity bezeichnet den Ordnungs- und Handlungsrahmen, innerhalb dessen politisches Handeln
stattfindet bzw. stattfinden kann.
Kategorien Grundgesetz 1nstitutionen Gesetze Abkommen
(Bsp.)
Leitfragen Welche Regeln Welche Welche Gibt es internationale Abkam-
schreibt das Institutionen verbindlichen men, die einen Ordnungs- und
Grundgesetz sind beteiligt? Rechtsnormen Handlungsrahmen vorgeben?
vor? Was für bzw. Gesetze
Kompetenzen gelten?
haben sie?

Policy
Policy bezeichnet die Inhalte und Probleme, mit denen sich Politik auseinandersetzt. Diese können
sich u. a. auf verschiedene Politikfelder beziehen (z.B. Umweltpolitik, Gesundheitspolitik etc.).
Kategorien Problem Programme Ergebnisse Folgen Beurteilung
(Bsp.)
Leitfragen Was genau ist Welchen Ziel- Welche Welche Folgen Zu welchem
das politische horizont geben Entscheidung hatte die Urteil bzw.
Problem, um politische wurde Entscheidung? Lösungen
das es geht? Programme getroffen? kommen
vor? verschiedene
lnteressens-
gruppen?

Politics
Politics bezeichnet den Prozess der politischen Gestaltung durch Akteure, der durch die
Vermittlung von Interessen sowie Konflikt und Konsens gekennzeichnet ist
Kategorien Akteure Interessen Macht Legitimität
(Bsp.)
Leitfragen Welche Akteure Welche Wer kann sich Wie kommen Entscheidungen
sind beteiligt/ Interessen durchsetzen? zustande? Wie werden Mehr-
betroffen? werden heiten gefunden?
vertreten/
artikuliert?

Awf.gaöen
. Analysieren Sie eine aktuelle politische Frage in Ihrem Bundesland (z. B. die Bildungspolitik) oder eine kom-
munalpolitische Fragestellung (z.B. ein Bauvorhaben, zu dem sich Bürgerinitiativen gegründet haben) nach
dieser Methode.

Diskutieren Sie anschließend, inwiefern die multidimensionale Analyse nach den drei Dimensionen des Politi-
schen ein tieferes Verstehen von Politik ermöglicht.
3.1 .2 Politische Ideengeschichte

Leitfragen Was bedeuten Liberalismus, Welche sind ihre Wie haben sich politische
Sozialismus und Konservatismus? zentralen Ideen? Ideen im l aufe der Zeit
gewandelt?

Zentrale politische Denkschulen

Die großen gesellschaftlich en, sozialen und wirt- Gilden und Zünfte sowie die Stä ndegesellschaft
schaftliche n Veränderungen des 18. und 19. Jahr- und forderte eine gene relle Gewerbefreiheit für
hunde rts führten zu politischen Forderungen, auf alle Menschen. Der Staat sollte hierfür einen
die politische Theoretiker versucht haben Antwor- rechtlich en Rahmen schaffen u nd die Menschen
ten zu fi nden. Diese fielen zum Teil sehr unter- nur in äußersten Notlagen u nterstützen. In seiner
schiedlich aus. Die politischen Theoretiker be- Rein fo rm st ellt sich der Liberalismus somit bis auf
sch äftigten sich mit den Bedingungen eines äußerste Notlagen gegen j edwede staatlichen Ein-
geordneten Zusa mme nlebe ns, dem Verhält nis griffe in das soziale und wirtschaftliche Leben der
zwischen Einzelnen und der Ge meinschaft sowie Menschen und plädiert für eine Selbsthil fe der
de r Ausgestaltung und Legitimatio n staatlicher Menschen in allen Lebenslage n. Noch heute sind
He rrschaft. Dabei haben sich vor allem drei liberale Parteien Verfechter des Freiheitsgeda nken
Grundströmungen herausgebildet, die als ideolo- und lehnen Eingriffe des Staates in die Privat-
g ische Traditionslinien bis in die heutige Zeit für sphä re des Einzelnen ab.
Parteien in Deutschland und in anderen europäi-
schen St aaten vo n Bedeutun g bzw. identitätsstif- Der Sozialismus verfolgt das Ziel der Erschaffu ng
tend s ind: der Liberalismus, der Sozialismus und einer solida rischen Gesellschaft. Soziale Unter-
der Konservatismus. schied e werden abgelehnt. Die indiv iduelle Frei-
heit soll dort ende n, wo sie der Gesamtgesellschaft
Der Liberalismus hat als Kernziele die Freiheit schadet. Die Idee des Sozialismus e ntsta nd im
des Einzelnen sowie die Beschränkung staatli- Laufe der Industrialisierung in Zusammenha ng
cher Herrschaft, die nur soweit reichen soll, bis mit de r Herausbildung der Arbeiterbewegung und
sie die Freiheit des Einzelnen begrenzt. Nach den der sozialen Frage. In der Folge bildeten sich Pa r-
Ideen des Liberalismus soll der Staat ein sog. teien, die die Ideen des Sozialismus vertraten u nd
.,Nachtwächterstaat" sein. Seine Aufga be ist es, sich u. a. gegen den Klassenunterschied zwischen
uneingeschrän ktes Wirtschaften sicherzustellen. Fabrikbesitzern und Arbeitern wandten. Während
Der Liberalismus stellte sich grundsätzlich gegen ko mmunistische Parteien die revolutionä re Ab-
schaffung der ka pitalistischen Wirtschaftsord-
nung fo rderten, waren a ndere Parteien wie die
Ideologie Sozialdemokraten n icht davon überzeugt, dass
sich dje Freiheit des Einzelnen g rundsätzlich dem
Im politischen Sinne dienen Ideologien zur Begründung und
Gemeinwo hl unterordnen soll. Auch heutige sozi-
Rechtfertigung politischen Handelns. Ideologien sind daher im-
aldemokratische Parteie n vertreten nicht die Ziele
mer eine Kombination von (...] bestimmten Weltanschauungen,
die jeweils eine spezifische Art des Denkens und des Wertsetzens des ursprünglichen Sozialismus. Sie stehen den
bedingen, und (...] eine Kombination von bestimmten Interessen Gewerkschaften j edoch noch immer na he und
und Absic hten, die i. d. R. eigenen Zielen dienen, d. h. neben der stellen in ihren Programmen „das Soziale" als be-
Idee und Weltanschauung auch den Wunsch zur konkreten politi- sonderen Aspekt heraus.
sehen und sozialen Umsetzung ausdrücken. Ideologien sind we-
sentlicher Teil politischer Orientierung; sie s ind sowohl Notwen-
Der Konservatismus e ntwickelte sich in Oppositi-
digkeit als auch Begrenzung politischen Handelns.
on zu liberalen und demokratisch en Ideen, die
Klaus Schubert/Martina Klein, Das Politiklexikon - Begriffe - j eweils neu e Herrschaftso rdnungen anstrebten.
Fakten - Zusammenhänge, 6., aktualisierte und erweiterte A uflage, Nach d er ko nservativen Idee soll die herrschende
20 / 6, S. l 50f
polit ische Ordnung bewahrt werden. Ungleich-
heiten zwischen den Menschen wurden als na-
3.1 Politik und Demokratie

turgegeben angesehen, jedoch durch das Prinzip auch heute i. d. R. gegen j edweden sozialistischen
der Nächstenliebe zumindest abgemildert. Im Lau- Kollektiv ismus sowie unbeschränkte n liberalen
fe der Zeit hat sich eine als liberaler Konservatis- Individualis mus. Die Christdemokratie, in der
mus zu bezeichnende Ideologie entwickelt, die konservative Werte erhalten geblieben sind, be-
sich nicht gegen demokratische Herrschaftsfor- tont den christlichen Werten fo lgend stark den
men wendet. Dennoch sind konservat ive Parteien Schutz der Familie.

Denkschulen im Vergleich

Liberalismus Sozialismus Konservatismus


Zentrale Idee Die Freiheit des Einzel- Eine politisch und sozial Bewahren überlieferter
nen hat Vorrang vor der gerechte Gesellschaft. Autoritäten, Werte,
Gemeinschaft. Sitten und Gebräuche.
Menschenbild Der Mensch ist vernunft- Der Mensch ist von Der Mensch ist von
begabt und hat von Natur aus gemeinwohlo- Natur aus schwach und
Natur aus ein Recht auf rientiert. bedarf der Einbindung
Freiheit und Eigentum. in Staat, Familie und
Religion.
Gesellschaftsbild Aus der freien Entfaltung Die Gemeinschaft hat Die Gesellschaft w ird
des Einzelnen entsteht Vorrang vor dem durch den Staat,
Wohlstand und Fort- Einzelnen. Alle müssen Autoritäten und überlie-
schritt der Gesellschaft. nach dem Gemeinwohl ferte Werte zusammen-
streben. gehalten.
Bild vom Staat Der Staat hat die Der Staat sorgt mittels Der Staat hat die
Funktion, die Freiheit Umverteilung für Funktion, die Menschen
des Einzelnen zu soziale und politische zu schützen und für
schützen und Rechts- Gleichheit. Ordnung zu sorgen.
sicherheit zu gewähr-
leisten.
Zentrale politische Ziele 1. Freiheit des Einzelnen, 1. Politische und soziale 1. Verankerung staatli-
2. Beschränkung Gleichheit, eher Ordnung in
staatlicher Macht, 2. Vergesellschaftung traditionellen Werten,
3. Trennung von Staat der Produkt ionsmittel. 2. Recht und Ordnung
und Kirche, als zentrale Staats-
4. Freie Marktwirtschaft. aufgaben,
3. Keine revolutionären
Veränderungen.
Wichtige Vertreter John l ocke, John Stuart August Bebel, Edmund Burke,
Mill, Adam Smith Jean-J acques Thomas Hobbes
Rousseau,
Karl Marx

Aufgaben
1. Im Bereich der Sozialpolitik werden u. a. folgende Ansätze diskutiert:
- steuerfinanzierte Grundsicherung für alle Bürger
- Auflösung der privaten Krankenkassen zugunsten einer einheitlichen gesetzlichen Krankenkasse für alle
- nur geringe Fürsorge für stark Bedürftige
- Abschaffung der Pflichtversicherungen

Ordnen Sie die die Ansätze jeweils eine der Grundströmungen der zentralen politischen Denkschulen zu
und formulieren Sie Erwiderungen von Vertretern der anderen Lager.

2. Ermitteln Sie in den Programmen der FDP, SPD und CDU/ CSU Forderungen und Ziele, in denen die Kon-
tinuität des traditionellen Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus zu erkennen sind. Stellen Sie Ihre
Ergebnisse anschließend Ihren Mitschülern vor.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Über politische Ideale

Aber von allen politischen idealen ist der Wunsch, die Menschen glücklich zu machen,
vielleicht der gefährlichste. Ein solcher Wunsch führt unvermeidlich zu dem Versuch,
anderen Menschen unsere Ordnung „höherer" Werte aufzuzwingen, um ihnen so die
Einsicht in Dinge zu verschaffen, die uns für ihr Glück am wichtigsten zu sein scheinen;
s also gleichsam zu dem Versuch, ihre Seelen zu retten. Dieser Wunsch führt zu Utopis-
mus und Romantizismus. Wir alle haben das sichere Gefühl, dass jedermann in der
schönen, der vollkommenen Gemeinschaft unserer Träume glücklich sein würde. Und
zweifellos wäre eine Welt, in der wir uns alle lieben, der Himmel auf Erden. Aber [ ... ]
der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle.

Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen,
8. Aufl., durchgesehen und ergänzt, 2003, S. 277J

M 2 Zwei Beispiele zeitgenössischer politischer Strömungen

a) Frauenbewegung und Feminismus

Die Frauenbewegung vereint zahlreiche Initiativen und Organisationen, die sich in


emanzipatorischer Absicht für die Interessen von Frauen in der Gesellschaft einsetzen.
Im Zentrum steht die Forderung nach politischer und sozialer Gleichberechtigung der
Frauen in allen Lebensbereichen (Gleichstellung von Mann und Frau). [ .. .]
s Die Frauenbewegung entwickelte sich ab Ende des 18. Jh. aus Protest gegen die
großen sozialen und politischen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Gefor-
dert wurde das Recht auf Bildung und Berufstätigkeit, vor allem aber das Wahlrecht
für Frauen, das in Europa zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten realisiert wurde: zuerst
in Finnland 1906 (als allgemeines Wahlrecht), in Deutschland 1918 und in der Schweiz
10 erst 1971 .
Feminismus ist jene theoretische Richtung der Frauenbewegung, die Individuum und
Gesellschaft aus der Perspektive des Geschlechterverhältnisses analysiert.
Die feministische Herrschaftskritik am Geschlechterverhältnis führt die Ungleichheit
zwischen Männern und Frauen auf die gesamtgesellschaftlichen (Unterdrückungs-)
1s Verhältnisse in einer männlich-patriarchalischen Kultur zurück. [... ]
Von großer Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht
(engl. sex) und kultureller/sozialer Rollenprägung (engl. gender). Die bestehenden
Männer- und Frauenrollen (,,Geschlechterrollen") und die damit verbundenen Verhal-
tensweisen werden als Ergebnis gesellschaftlicher Konventionen interpretiert: ,,Man
20 kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es" (Simone de Beauvoir).
Neue feministische Theorien sehen die Diskriminierung verknüpft mit solchen Faktoren
wie Hautfarbe, Armut, Migration oder sexueller Orientierung.
Zur Analyse der bis heute weltweit bestehenden sozialen, rechtlichen und politischen
Benachteiligungen von Frauen wurde der interdisziplinäre Ansatz der Geschlechter-
2s forschung (Gender Studies) entwickelt, der die sozialen Beziehungen zwischen Män-
nern und Frauen ins Zentrum stellt.

b) Neue Soziale Bewegungen

Neue Soziale Bewegungen sind Protestbewegungen, die sich mit unterschiedlichen


Schwerpunkten gegen soziale, ökonomische und politische Missstände in Gegen-
wartsgesellschaften richten.
KO MPETENZEN ANWENDEN 1

30 Ihr Wirken ist darauf gerichtet, durch öffentliche Protest- und Aktionsformen gesell-
schaftliches Problembewusstsein zu wecken und sozialen Wandel über grundlegende
Reformen zu erreichen.
Die Neuen Sozialen Bewegungen haben die politische Kultur und Praxis in den west-
lichen Industriestaaten deutlich verändert und eine Theorieströmung befördert, die das
3s außerparlamentarische politische Engagement von Bürgern unter dem Begriff der Bür-
ger- oder Zivilgesellschaft* diskutiert.
Teile von ihnen haben sich in die etablierten politischen Strukturen integriert, wie z. 8.
die [... ] grün-alternativen Parteien in Europa.

•Zivilgesellschaft= Gemeinschaft selbständiger, politisch und sozial engagierter Bürger, die zwischen
Politik und Staat, Wirtschaft und Privatsphäre agieren. Ihr Handeln ist durch Eigenaktivität, Selbstorga ni-
sation und Verantwo rtung fü r das Gemeinwohl gekennzeichnet.

Zentrale Ziele
Frauenbewegung Politische und soziale Gleichberechtigung von Männern und Frauen
Umweltschutzbewegung, Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und Ressourcen (u. a.
Anti-AKW-Bewegung Umweltschutz, Konsumkritik, ökologisches Gleichgewicht; Stopp der
Nutzung „ziviler Atomkraft" ... )
Alternativbewegung Alternative Lebens- und Arbeitspraxis (neue Geschlechterrollen,
Familienmodelle, Werte) als Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft
Friedensbewegung Friedliches Zusammenleben der Völker, globale
militärische Abrüstung (gegen Krieg als Mittel der Politik, für alternative
militärische Sicherheitsstrategien, zivile Konfliktlösungen)
Menschen- und Verwirklichung der Menschen- und Bürgerrechte (national, internatio-
Bürgerrechtsbewegung nal), Demokratisierung, politische Freiheiten
Dritte-Welt- / Eine-Welt- Aufhebung der ökonomischen Abhängigkeit (,,Ausbeutung") der
Bewegung unterentwickelten Länder von den Industrieländern
Antiglobalisierungsbewegung Gegen Folgen der Globalisierung (politische / ökonomische/
soziale Ungerechtigkeiten)

Basiswissen Schute, Politik, Wirtschaft Abitur, 20 16, S. 30.ff.

Aufgaben
1. Erläutern Sie, was der Philosoph Karl Popper unter der Aussage „der Versuch, den Himmel
auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle" verstand (M 1).

2. Recherchieren ( Methodenglossar) Sie in Gruppenarbeit jeweils Beispiele für zwei der aufgeführten
sozialen Bewegungen. Stellen Sie deren Ziele der Aussage Poppers gegenüber (M 1, M 2).
3.1 .3 Identitäts-, Konkurrenz-
und Pluralismustheorie der Demokratie

Leitfragen Was ist Demokratie Worin unterscheiden sich Welchen Einfluss hatten bzw. haben
und wie lässt si e sich Identitäts- und Konkurrenz- politische Theorien auf das politische
verwirklichen? bzw. Pluralismustheorie? System Deutschlands?

Demokratietheorien

„Demokratie ist Regierung des Volkes durch das Zwar gab es bereits in der Antike St aatstheoreti-
Volk für das Volk". A uf diese zunächst einfach ker, die sich mit dem demokratischen Aufbau
erscheinende Formel hat der einstige amerikani- eines Staates auseinandergesetzt haben, seit
sche Präsident Abraham Lincoln (1809 - 1865) die Beginn der Aufklärung wurden jedoch moderne
Frage danach, was Demokratie (von griech. demos Demokratietheorien fü r die heutigen Staaten rele-
= Volk, kratein = herrschen) eigentlich ist, ge- vant. Neben der von Jean-Jaques Rousseau ( 1712 -
bracht. Doch lässt sie völlig offen, wie die Regie- 1778) entwickelten Identitätstheorie, entstand im
rung mit Macht ausgestattet, wie das gesamte angelsächsischen Raum u. a. durch James
Volk herrschen und wie Gesetze für das gesamte Madison ( 1751 - 1836) die Konkurrenztheorie,
Volk, in dem es oft fundamental verschiedene In- die in Deutschland durch Ernst Fraenkel ( 1898 -
teressen gibt, beschlossen werden sollen. Staats- 1975) zur Pluralismustheorie weiterentwickelt
theoretiker haben teilweise sehr unterschiedliche wurde. Die Theorien unterscheiden sich insbeson-
Antworten auf die Frage, wie Demokratie genau dere da hingehend, wie in einem Staat das Ge-
a usgestaltet sei n soll, hervorgebracht. meinwohl erreicht werden kann.

Staatsform versus Herrschaftsform


Innerhalb der Politikwissenschaft unterscheidet man rungssystem auch die Regierung wählen. Bei der
Staatsformen von Herrschaftsformen. Staatsfor- direkten Demokratie werden politische Entschei-
men beschreiben die äußere politische Organisati- dungen durch plebiszitäre Abstimmungen direkt vom
onsform eines Staates. Es gibt mehrere Möglichkei- Volk gefällt. Dabei können die Bürger entweder über
ten, Staatsformen voneinander abzugrenzen. Ist das einen bestimmten politischen Sachverhalt abstim-
.,Staatsoberhaupt" das zentrale Unterscheidungskri- men oder zwischen mehreren politischen Alternati-
terium, gibt es weltweit nur zwei unterschiedliche ven auswählen. Diktatorische Herrschaftsformen
Typen von Staatsformen: Republik und Monarchie. sind gekennzeichnet durc h die Eingrenzung oder
Während eine Monarchie über ein gekröntes oder Abschaffung der Grund- und Menschenrechte.
fürstlic hes Staatsoberhaupt verfügt, sind alle Staaten Gleichzeitig wird die Macht über Volk und Staat von
ohne Kaiser, König oder Fürsten Republiken. Bei den einer Einzelperson oder einer Gruppe bzw. Partei un-
Herrsc haftsformen wird danach unterschieden, von eingeschränkt ausgeübt. Im Gegensatz zu autoritä-
wem die Staatsgewalt ausgeht. Hauptsächlich unter- ren Diktaturen weisen totalitäre Diktaturen als be-
scheidet man zwischen Demokratie und Diktatur. sonderes Merkmal zusätzlich eine allgemeingültige
Klassisch werden sowohl zwei demokratische als Staatsideologie (Nationalsozialismus, Stalinismus
auch zwei diktatorische Herrschaftsformen vonein- etc.) und/oder einen speziellen Personenkult (z.B.
ander unterschieden: Innerhalb einer repräsentati- Führerkult) auf.
ven Demokratie wählen die Staatsbürger Volksver-
treter, die in einem Parlament stellvertretend für die
Bevölkerung Gesetze erlassen und je nach Regie- t Herrschaftsform
7
+ Staatsform
7Monarchie
Demokratie
~'---.. ~
Diktatur
'---..
direkte repräsentative autoritäre totalitäre
Republik Demokratie Demokratie Diktatur Diktatur
3.1 Politik und Demokratie

Identitätstheorie

Rousseau war vom abso- ne und gleiche Wahlrecht entwickelt und die Skla-
1utistischen Regierungs- verei abgeschafft. Zugleich diente die Ide ntitäts-
system Frankreichs ge- theo rie aber auch zur Legitimation vo n Diktaturen.
prägt, gegen das er sich In der Tradi tion dieses Demokratieverständnisses
mit seiner Staatstheorie standen z. B. die kommunistischen „Volksdemo-
wandte. Sein Prämisse kratien". Auch der bedeutende deutsche Staats-
war: ,,Der Mensch ist zwar rechtler Carl Schmitt ( I 888 - 1985), der die Herr-
frei geboren, doch überall sch aft Hitlers theoretisch zu recht fertigen suchte,
liegt er in Ketten". Im Mit- war ein Anhänge r der Identitätstheo rie. Dass die
Jean-Jacques Rousseau
telpunkt seines Denkens Ident itätsth eorie in der Praxis auch z ur Entwic k-
beeinflusste mit seiner
1762 erschienenen
stand die Idee der Volks- lung von Diktaturen führen kann, ist dabei be-
Schrift „Du Contrat souveränität, d. h. dass reits in der Theorie von Rousseau angelegt, da die
Social" den Diskurs über das Volk oberste Gewalt Untero rdnung des Einzelnen unter die Gemein-
Demokratie nachhaltig. des Staates ist und dass schaft die Gefahr a utoritärer und totalitärer Ent-
staatliches Handel n nur wicklungen birgt.
du rch das Volk legitimiert werden kann. Ein wei-
terer zentraler Punkt von Rousseaus Identitätsthe-
orie ist die Orie ntierung an einem einheitlichen Konkurrenztheorie
Volkswillen und einem vorgegebenen (a priori)
Gemeinwohl, welches vernunftgeleitet, d. h. ob- In bewusster Abgrenzung
j ektiv erkennbar und einheitlich ist und deshalb zu Rousseau entwickelten
von vornherein feststeht. Meinungsverschieden- die a merikanischen Ver-
heiten bzw. egoistische Einzelinteressen zwischen fassungsväter die Konkur-
den Bürgern gibt es nur aufgrund mangelnden renztheorie. Sie waren der
Wissens. Sie werden in der Volksversammlu ng Ansicht, dass d ie Voraus-
ausgeglichen, indem jeder aufgrund eines ver- setzungen für eine Demo-
nünftigen Urteils entscheidet. Eine der Entschei- kratie nach Rousseau
dung vorausgehende Diskussion ist somit genau- nicht gegeben wa ren. Zu-
James Madison
so wenig zulässig wie intermediä re Organisationen, dem gingen sie davo n begründete im Federa-
z. B. Parteien oder Verbä nde, da diese Träger ego- a us, dass es kein objekti- List-Artikel Nr. 10 seine
istischer Sonderinteressen sind, die sich gegen das ves Gemeinwohl gibt, Vorstellung von einem
Gemeinwohl wenden. In einer De mokratie nach sondern dass die Gesell- demokratischen
diesen Prämissen sind die Regierten und die Re- schaft in verschiedene S t aatswesen.
gierenden identisch. Voraussetzun gen für die Um- Gruppen aufgeteilt ist, die
setz ung der Identitätstheorie sind, dass das Staats- naturgegeben verschiedene polit ische Interessen
gebiet klein ist (da s ich sonst nicht alle Bürger vertreten. J ames Madison hat dara uf basierend
treffen kön nen), die Gesellschaft möglichst homo- eine Theorie für eine demokratische Herrschafts-
gen ist und in der Erziehu ng die Ausbildung ver- form entwickelt, die auch den Anforderungen ei-
nunftgeleiteter Entsch eidungen berücksichtigt nes großen Territo rialstaats Rechnung trägt. Die
wird. Theorie sieht vor, dass die Willensbildung in solch
einem Staat durch einen offenen Prozess zwischen
den heterogenen Gruppeninteressen geschehen
Einfluss der Identitätstheorie soll. Die Bürger wählen hierfür Repräsentanten,
auf moderne Staaten die ihre jeweiligen Interessen vertreten. Aufgru nd
der Vielfalt der möglichen ko nfliktären Interessen
Unter dem Einfluss der Ide ntitätsth eorie wurde im werden Entscheidungen durch das Mehrheitsprin-
Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts das allgemei- zip herbeigeführt.
3 Politische Theorie

Fortentwicklung der Konkurrenztheorie:


die Pluralismustheorie Gemeinwohl
Der deutsche Politikwis- Politisch-soziologische Bezeichnung für das Ge-
mein- oder Gesamtinteresse einer Gesellschaft,
senschaftler Ernst Fraen-
das oft als Gegensatz zum Individual- oder Grup-
kel stimmte in wesentli- peninteresse gesetzt wird. Dabei wird i. d. R. über-
chen Punkten mit sehen, dass in pluralistischen, offenen Gesellschaf-
Madison überein. Er lehn- ten die konkrete inhaltliche Bestimmung des
te die Idee eines a priori Gemeinwohls immer von den Interessen und Zielen
Gemeinwohls a b, da er derjenigen abhängig ist, die sich auf das Gemein-
dies a us wissenschaftli- wohl berufen und das Gemeinwohl bestimmen
(wollen) und/oder derjenigen, denen die Verwirkli-
cher Sicht nicht als be-
Ernst Fraenkel publizier- weisbar bet rachtete. Das chung des Gemeinwohls nutzt. [Es] bleibt strittig, a)
te seine grundlegende ob sich das jeweils konkrete Gemeinwohl lediglich
Abhandlung zum
Gemeinwohl soll vielmehr als Summe der individuellen Interessen ergibt oder
Pluralismus im Band (a posteriori) durch einen ob es eine eigene spezifische Qualität hat und b) ob
„Deutschland und die Interessena usgleich zwi- erst rückblickend (ex post) oder bereits vorher (ex
westlichen Demokratien" sche n den einzelne n ante) festgestellt werden kann, ob ein konkretes
( 1964). Grup pen erreicht werden. Vorhaben dem Gemeinwohl tatsächlich dient.
Fraenkel sah es als unbe- Klaus Schubert/ Ma rtina Klein, Das Politiklexikon -
streitbare Tatsache a n, dass es Bereiche des Zu- Begriffe - Fakten - Zusammenhänge,
6., aktualisierte und erweiterte Auflage, 2016, S. 128
sammenlebens gibt, übe r die man unausweichlich
abstimmen müsse, da sich die Bevölkerung über
deren Ausgest altung uneinig sei (es gibt also plu-
rale = mehrere Interessen). Er verstand es j edoch werde n da rf. Hierzu gehören die Achtung der
als consensus omniu m, d. h. als Übereinstimmung Menschenrechte, die Orientierung an den Prinzi-
aller Bürger, dass Teile des gesellschaftlichen Le- pien d es Rechtsstaates, das Mehrheitsprinzip so-
bens feststehen und über diese nicht abgestimmt wie politische Freiheiten, wie z.B. die Meinungs-

Identitäts- und Pluralismustheorie im Überblick

Identitätstheorie der Demokratie Pluralismustheorie der Demokratie


Ziel: Demokratie als „Konkurrenz"
Identität von
Entscheidung Gemeinwi lle und
Einzelinteressen

Gemeinwille
allgemeiner Wille

Repräsen- Repräsen-
tanten tanten
Filter scheidet egoistische Einzelinteressen aus,
lässt nur gemeinwohlorientierte Ziele durch
Konkurrenz
0)
C
::::,
Zustimmung .0
Qi
Unterstützung ~

Wahl

Ragnar Müller, 1998 - 201 J D@dalos - politische Bildung, Demokratieerziehung, Menschenrechtsbildung, Friedenspädagogik,
www.dadalos-d. org, 23.1.20 17
3. 1 Politik und Demokratie

freiheit. Die Achtung dieses Grundkonsenses soll ihnen gibt. Hierin liegen wesentliche Kritikpunkte
der Staat im Rahmen eines pluralistischen Sys- der Pluralismustheorie, da die Interessen von wirt-
tems sicherstellen. Damit innerhaJb eines Staates schaftlich besonders potenten Gruppen (z.B. Ge-
die pluralistischen Interessen positive Wirkungen werkschaften, Arbeitgeberverbände) oftmals ei-
entfalten können, ist es von hoher Bedeutung, nen stärkeren Einfluss auf politische Entschei-
dass möglichst alle wesentlichen in der Gesell- dungsprozesse entfalten können als die Interessen
schaft bestehenden Interessen politisch organi- von wirtschaftlich schwächeren Gruppen (z.B.
siert sind und es ein Machtgleichgewicht zwischen Kinder, Rentner).

Vergleich der Identitätstheorie und der erweiterten Konkurrenztheorie/ Pluralismustheorie

Rousseau Fraenkel

Identitätstheorie Erweiterte Konkurrenztheorie,


Pluralismustheorie

Menschenbild Der Mensch ist frei, gleich und Der Mensch hat von Natur aus
friedlich. Da erst die Zivilisation zu unterschiedliche Interessen, die
Unterdrückung und Herrschaft führt, berechtigt sind.
muss jeder Mensch quasi gezwungen
werden frei zu sein.

Gemeinwohl besteht a priori consensus omnium + Entstehung


a posteriori

Verhältnis Regierende/ identisch Repräsentation


Regierte

Entscheidungs- plebiszit är Wahl von Volksvertretern


verfahren

Menschen- und werden dem Gemeinwohl sind unabänderlich


Bürgerrechte untergeordnet

Minderheitenschutz/ nicht legitim (keine Partikular- durch Wertekodex und Bildung


Partikularinteressen interessen) von Parteien

Voraussetzungen kleiner Staat, homogene Gesellschaft, Organisat ion aller Interessen,


Erlernen der Bildung Machtgleichheit zwischen den
vernunftsbezogener Urteile lnteressensgruppen, der Staat schützt
den consensus omnium

Kritik Gefahr des Machtmissbrauchs Bevorzugung der Interessen wirt-


durch Diktaturen schaftlich Bessergestellter

Aufgaben

1. Geben Sie die Kerngedanken des rouseau'schen Demokratieverständnisses wieder.

2. Erläutern Sie, wie diktatorische Herrschaftssysteme unter Rückgriff auf die Identitätstheorie ihre autoritären
und totalitären Regime rechtfertigen könnten.
1 KO MPETENZEN ANWENDEN

M 1 Im Sog der Gedanken - ein Gespräch mit dem Philosophen


Jürgen Habermas

Markus Schwering: Sie stiegen 1961 mit Ihrer Habilitationsschrift über den „Struktur-
wandel der Öffentlichkeit" in die intellektuelle Arena. Diese hat sich mittlerweile, zumal
durch die Neuen Medien, radikal verändert. Wie lässt sich Ihr normativ imprägnierter
Begriff von Öffentlichkeit auf die aktuellen Verhältnisse beziehen?

s Jürgen Habermas: Heute kann man sogar im Westen beobachten, wie demokratische
Verfahren und Einrichtungen ohne eine funktionierende Öffentlichkeit zu bloßen Fas-
saden verkommen. Und politische Öffentlichkeiten funktionieren nur unter anspruchs-
vollen normativen Voraussetzungen. Vor allem dürfen die öffentlichen Kommunikati-
onskreisläufe nicht von aller inhaltlichen Substanz entleert und von den tatsächlichen
10 Entscheidungsprozessen abgekoppelt werden. Diese beiden Aspekte ließen sich an-
hand der europäischen Krisenpolitik der letzten Jahre gut illustrieren.

Marl<us Schwering: Bedeutet das Internet Demokratiegewinn oder Demokratie-


verlust?

Jürgen Habermas: Weder, noch. Ich betrachte die Einführung der digitalen Kommu-
1s nikation - nach den Erfindungen der Schrift und des Buchdrucks - als die dritte große
Medienrevolution. Mit diesen jeweils neuen Medien haben immer mehr Personen zu
immer vielfältigeren und immer dauerhafter gespeicherten Informationen einen immer
leichteren Zugang gefunden. Mit dem letzten Schub hat auch eine Aktivierung statt-
gefunden - aus Lesern werden Autoren. Aber die Errungenschaften einer politischen
20 Öffentlichkeit folgen daraus nicht automatisch. Im 19. Jahrhundert sind mithilfe des
Zeitungsdrucks und der Massenpresse in großflächigen Nationalstaaten Öffentlichkei-
ten entstanden, in denen die Aufmerksamkeit einer unübersehbar großen Zahl von
Personen zur gleichen Zeit auf dieselben Themen gelenkt worden ist. Das erklärt sich
nicht von selbst aus den technischen Vorzügen der Vervielfältigung, Ausbreitung, Be-
2s schleunigung und verlängerten Haltbarkeit von Daten. Das sind die zentrifugalen Be-
wegungen, die wir nun auch im Web beobachten. Demgegenüber hat die klassische
Öffentlichkeit eine Struktur, die d ie Aufmerksamkeit eines großen anonymen Publi-
kums von Staatsbürgern auf wenige große, politisch wichtige und regelungsbedürftige
Themen konzentriert. Das Netz bringt diese Leistung nicht aus sich selbst hervor, im
30 Gegenteil: Es zerstreut. Denken Sie an die spontan auftauchenden Portale, sagen wir:
für hochspezialisierte Briefmarkenfreunde, Europarechtler oder anonyme Alkoholiker.
Solche Kommunikationsgemeinschaften bilden im Meer der digitalen Geräusche weit
verstreute Archipele - vermutlich gibt es Milliarden davon. Den in sich abgeschlosse-
nen Kommunikationsräumen fehlt das Inklusive, die alle und alles Relevante einbezie-
3s hende Kraft einer Öffentlichkeit. Für diese Konzentration braucht man die Auswahl und
kenntnisreiche Kommentierung von einschlägigen Themen, Beiträgen und Informati-
onen. Die nach wie vor nötigen Kompetenzen des guten alten Journalismus sollten im
Meer der digitalen Geräusche nicht verloren gehen. [...]

Markus Schwering: Mitunter wird Ihnen vorgeworfen, Ihr Politikmodell verfehle, inso-
40 fern es politische Entscheidungsprozesse nach dem Modell wissenschaftlicher Er-
kenntnis forme, wesentliche Dimensionen des „Politischen" .

Jürgen Habermas: In einer kulturell und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft


ist das demokratische Verfahren die einzige Quelle für Entscheidungen, die als legitim
anerkannt werden. Dieses Verfahren gewährleistet grundsätzlich zwei Dinge: einerseits
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

45 Inklusion, also die Einbeziehung aller Bürger, andererseits Deliberation*, z.B. Wahl-
kämpfe und Parlamentsdebatten, die den politischen Entscheidungen von Wählern
oder Gesetzgebern vorausgehen müssen. Das Ergebnis von pol itischen Wahlen, die
über die Machtverteilung zwischen konkurrierenden Parteien entscheiden, unterschei-
det sich von demoskopischen Umfrageergebnissen vor allem durch dieses Element
50 vorangehender öffentlicher Debatten. Das hat nichts mit wissenschaftlicher Erkennt-
nis, aber viel mit der Erwartung zu tun, dass politische Probleme auf eine möglichst
rationale Weise gelöst werden. Diese Rationalitätserwartung verlangt nämlich, dass
zuverlässige Informationen und gute Gründe für relevante Vorschläge öffentlich auf
den Tisch kommen. Dabei spielen normative Gründe oft eine viel wichtigere Rolle als
55 empirische Feststellungen und wissenschaftliche Expertisen - aber es sind in jedem
Fall Gründe, die zählen sollen. Diese kognitive Dimension der Willensbildung von Bür-
gern und Politikern ist umso wichtiger, je größer die Unsicherheit ist, unter der politi-
sche Entscheidungen gefällt werden müssen.

Markus Schwering, Kölner Stadt-Anzeiger, 14.6.2014

• Delibera tion [Deliberative Demokratie} beschreibt eine auf de11 A ustausch vo11 Argumente11 angelegte Form
der Entscheidungsfindung un ter Gleichberechtigten. Das bessere Argument und nicht die Mehrheitsabstim-
mung soll die Entscheidungen prägen und zu besseren Entschlüssen führen, weil - im ldeaifa /1 - alle
Argumente gegeneinander abgewogen werden und eine Einigung auf die „beste" Lösung möglich ist. [...].
Die Beratungen sollen laut der Theo rie geprägt sein du rch: Austausch von A rgumenten, Inklusion und
Öffentlichkeit.

Martin Große Hüttmann / Hans-Georg Wehling, Das Europalexikon,


2., aktualisierte und erweiterte Auflage, 2013, S. 82

Aufgaben
1. Fassen Sie den Kerngedanken der deliberativen Demokratie zusammen.

2. Arbeiten Sie aus dem Text M 1 heraus, welche Position Habermas zum Demokratiegewinn
durch das Internet und zur Deliberativen Demokratie vertritt.
3 .1 .4 Kernelemente moderner Demokratien
Leitfragen Welche Elemente kennzeich- Wie wird demokratische Herrschaft Vor welchen Herausforde-
nen die Demokratie? kontrolliert und begrenzt? rungen stehen die modernen
Demokratien?

Merkmale moderner Demokratien

Nicht nur die Grundströmungen des politischen nachdem, ob alle, nur ein gewisser Teil oder gar
Denkens und der politischen Theorien entwickeln keiner dieser Wahlgrundsätze bei einer Wahl ge-
sich st ets fort, sondern auch demokratische poli- geben sind, unterscheidet man zwischen freien
tische Systeme sind nie endgültig abgeschlossen oder unfreien Wahlen.
und passen sich an neue Begebenheiten an. Den-
noch kö nnen Kernelemente identifiziert werden,
die moderne Demokratien auszeichnen. Rechtsstaat

Das Rech tsstaatsprinzip entstand als Idee im 19.


Volkssouveränität Jahrhundert. Unter Rechtsstaatlichkeit ist zu-
nächst zu verstehe n, dass die Gesetze in einem
Volkssouv eränität ist ein fu ndamentales Merk- Staat sowohl nach bestimmten Regeln zustande
mal aller Demokratien, welches besagt, dass die ko mmen als auch dass sich der Staat an diese
höchste Gewalt des Staates und oberste Quelle der Gesetze hält (formales Rechtsstaatprinzip). Prob-
Legitimi tät das Staatsvolk selbst ist (,.Alle Staats- lematisch an dieser Form der Anwendung des
gewalt geht vom Volke aus.", Art. 20 Abs. 2 GG). Rechtsstaatsprinzips ist jedoch, dass ohne eine
Die Idee der Volkssouveränität setzte sich mit den Bindung der staatlichen Macht an un umstößliche
Menschenrechtserklärungen des 18. Jah rhunderts Gru ndwerte eine „Diktatur der Mehrheit" entste-
allgemein du rch und wurde mit dem Prinzip der hen könnte, d. h. dass zwar das gesamte Volk der
Gewaltenteilung zum Fundament des modernen Souverä n ist und dieses Recht durch Wahlen auch
Ve rfassungsstaates. wahrnimmt, doch durch Mehrheitsentscheide Po-
lit ik nur zugunsten einer Mehrheit gemacht wird
Unter der Prämisse, dass alle Me nschen von Natur und die Interessen der Minderheit nicht berück-
aus gleiche Rechte haben, lässt sich eine Herr- sichtigt werden.
schaft von Menschen über Menschen, ohne dass
diese zustimmen, nicht rechtfertigen. Herrschaft In modernen Demokratien g ilt deshalb neben dem
für das Volk geht somit Hand in Ha nd mit Herr- form alen Rechtsstaatsprinzip auch das materielle
sch aft durch das Volk. Staatliche Herrschaft muss Rechtsstaatsprinzip. Danach ist der Staat nicht
also durch das Volk legitimiert werden. Dies be- nur a n die von ihm verabschied eten Gesetze
deutet j edoch nicht, dass das Volk die Herrschaft gebunden, sondern ha ndelt auch nach dem
unmittelbar ausüben muss. Moderne Demokratien Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzip und darf
sind vielmehr durch politische und gesellschaftli- nicht gegen die Grund-
che Institutionen (Parlamente, Parteien etc.) ge- und Menschenrechte ver-
kennzeichnet, die die Teilhabe der Bevölkerung stoßen. Kennzeichen eines
a uf gesetzlich geregelte Tei lhabeverfahren (z. 8 .
Wahlen) beschränken. Wahlen sichern die Volks-
souveränität, indem sie die Herrschaft legitimie- Alexis lle Tocquevi/le (I 805 -
ren und das Staatsvolk an politische n Entschei- I 859) untersuchte in seinem
dungsprozessen beteiligen. In den meisten Werk „ Über die Demokratie in
Amerika" die Grunlllagen von
modernen Demokratien gelt en sog. Wahlgrund- Staat und Politik, besonders
sätze, nach denen die Wahlen allgemein, frei, ge- das Verhältnis von Freiheit unll
heim, g leich und direkt stattfinden müssen. J e Gleichheit.
3. 1 Politik und Demokratie

Rechtsstaates sind weiter eine u nabhängige Ver- Weitere Formen der Gewaltenteilung sind
fassungsgerichtsbarkeit, garantierte Rechtssicher-
heit sowie faire Gerichtsverfahren für alle Bürger. • d ie vertikale Gewaltenteilung durch die Vertei-
lung der Macht auf verschiedene politische Ebe-
Gewaltenteilung nen (z. B. Bund, Land, Gemeinde),

Wirksame politische Partizipation und gesell- • die temporale Gewalten teilung, indem d ie po-
schaftliche Impulse sind stark eingeschränkt, litischen Ämter auf Zeit vergeben werden u nd
wenn die gesamte staatliche Macht bei einer Par- sich die Entscheidungsträger zum Erhalt der
tei oder einem Individuum konzentriert ist, wie Macht Neuwahlen stellen müssen,
z.B. in einer Diktatur oder einer absolutistischen
Mo narchie. Wesentliches Merkmal eines Rechts- • d ie konstitutionelle Gewaltenteilung, nach der
staates und dessen tragendes Organisationsprin- einige Entscheidungen nur mit qualifizierter
zip ist deshalb die Gewalte nteilu ng. Sie soll zu Mehrheit (z. B. Zweidrittelmehrheit) getroffen
einer Ausbalancierung und Kontro lle politischer werden können oder einige Verfassungsprinzi-
Macht führen und Machtmissbrauch durch einen pien wie die Grundrechte unveränderlich sind
Träger politischer Herrschaft mögl ichst verhin- sowie
dern. Deshalb wird die polit ische Macht auf meh-
rere Organe verteilt, die sich gegenseitig ein- • die dezisive Gewaltenteilung durch den plura-
sch ränken. Den Überlegungen von Charles de listischen Prozess der Entscheidungsfindu ng, in
Mo ntesquieu fo lgend, werden in demokratischen dessen Rah men Parteien, Interessenverbände
Staaten die Exekutive (ausführende Gewalt), d ie und Medien Einfluss auf politische Entschei-
Legislative (gesetzgebende Ge- dungen ausüben.
walt) u nd die Judikative
(richterliche Gewalt) von- Pluralismus
einander unterschieden.
Unter Plural ismus ist der legitime Wett bewerb
u nterschied lichster und zum Teil a uch entge-
Charles de Mo ntesquieu gengesetzter Interessen zu verstehen. Er basiert
(1689 - 1755),Jranzösi-
auf der Gewährleistu ng zentraler Grundrechte
scher Staatstheoretiker,
auf den das Prinzip der wie der Meinungs- und Pressefreiheit, der Ver-
Gewaltenteilung z u rückge- sammlu ngsfreiheit u nd dem Recht auf Bildung
führt wird. von Vereinen u nd Parteien.

Aufgaben
1. ,,Der Geist der Machtanmaßung strebt danach, die Gewalt aller Ämter in einem zusammenzufassen und so
unabhängig von der Regierungsform praktisch den Despotismus herbeizuführen. [... )Das menschliche Herz
[neigt dazu] Macht zu missbrauchen." (George Washington, 1732 - 1799)

Erklären Sie ausgehend von George Washingtons Zitat, warum aus demokratietheoretischer Sicht Machtbe-
schränkungen sinnvoll sind und welche Formen vorstellbar sind.

2. Erläutern Sie, inwiefern die einzelnen Kernelemente moderner Demokratien miteinander zusammenhängen.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Zukunft der Demokratie - Krise? Krise!

Auch wenn man mit guten theoretischen wie empirischen Gründen die Existenz eines
Goldenen Zeitalters der Demokratie für einen Mythos hält, wird man nicht umhinkom-
men, massive Gefährdungen der Demokratie zu diagnostizieren, die die Legitimitäts-
achsen in den reifen Demokratien verschieben. Diese Dynamik lässt sich anschaulich
5 auf drei zentralen Ebenen der Demokratie zeigen: der Partizipation, der Repräsentati-
on und der Frage: Wer regiert eigentlich?

Zum Kanon der Krisendiagnosen gehört seit drei Jahrzehnten, dass Kernfunktionen
der Demokratie wie Partizipation, Repräsentation und Inklusion in den entwickelten
Demokratien ausgehöhlt werden. Die Partizipation nimmt ab, die Repräsentation
10 bricht, die Inklusion versagt. Die Demokrat ie verliert ihren partizipativen Kern und ver-
kommt zur elitären Zuschauerdemokratie. Stimmt das?

In Deutschland, West- und noch viel stärker in Osteuropa geht die Wahlbeteiligung
zurück. In Westeuropa gaben 1975 durchschnittlich 82 Prozent, im Jahr 2·012 nur noch
72 Prozent der Wahlberechtigten in nationalen Wahlen ihre Stimme ab. In Osteuropa
15 ist der Rückgang dramatischer: Von 72 Prozent im Jahre 1991 sank die Wahlbeteili-
gung 2012 auf 55 Prozent. In den Vereinigten Staaten und der Schweiz wären selbst
diese Zahlen alles andere als alarmierend. Die durchschnittliche Beteiligung an den
Kongresswahlen betrug in den vergangenen zwei Jahrzehnten durchschnittlich nicht
mehr als 44 Prozent. In der Schweiz gingen im selben Zeitraum weniger als 46 Prozent
20 zu den nationalen Parlamentswahlen.

Das Problem ist jedoch nicht die Wahlbeteiligung an sich , sondern die mit ihr einher-
gehende soziale Selektivität. Denn als empirisch gesicherte Faustregel kann gelten,
dass mit der sinkenden Wahlbeteiligung die soziale Exklusion steigt. Die unteren
Schichten verschwinden, die Mittelschichten bleiben. Fragt man Angehörige der Un-
25 terschicht, ob das Wählen oder ihre politische Teilnahme einen Einfluss auf politische
Entscheidungen hätten, antworten mehr als zwei Drittel resigniert mit Nein. Konfron-
tiert man Bürger aus den Mittelschichten mit derselben Frage, antworten mehr als zwei
Drittel selbstbewusst: Ja, das mache einen Unterschied. Inzwischen deutet einiges
darauf hin, dass die amerikanische Krankheit der Unterschichtsexklusion auch die
30 europäischen und deutschen Wähler ergreift. Der Wahldemos bekommt Schlagseite:
Die Dominanz der Mittelschichten verstärkt sich, die unteren Schichten brechen weg.
Allerdings gilt es, die abnehmende Wahlbeteiligung und den rapiden Mitglieder-
schwund der Parteien mit neuen Formen nichtkonventioneller Partizipation zu verrech-
nen. Solche aktiven Formen der Beteiligung und Einmischung haben in den vergange-
35 nen Jahrzehnten erheblich zugenommen. Das muss als positives zivilgesellschaftliches
Engagement angesehen werden. Aber auch auf diesem Feld verschärft sich als unbe-
absichtigte Nebenfolge das soziale Selektionsproblem der Demokratie. Tätigkeit in
zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Amnesty International, Greenpeace, Attac,
Human Rights Watch, Transparency International, in Protestbewegungen, Eltern- oder
40 Umweltverbänden sind sozial hochgradig selektiv: Es engagieren sich vor allem junge,
gut ausgebildete Menschen für die Demokratie.

Der Protest gegen Stuttgart 21 wird zusätzlich von Angehörigen reiferer Jahrgänge
getragen, aber auch sie sind meist Akademiker oder Bessergestellte. Einwanderer und
die bildungsfernen unteren Schichten trifft man kaum an. Dasselbe gilt übrigens auch
45 für die Abhaltung von Referenden. In den sogenannten Volksabstimmungen stimmt
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

vor allem das besser gebildete Volk ab, die unteren Schichten fehlen meist. Das gilt
für die Fiskalpolitik in der Schweiz und Kalifornien ebenso wie für die Schulpolitik in
Hamburg. Kurzum: Weder die Zivilgesellschaft noch Volksabstimmungen oder die so-
genannte deliberative Politik vermögen das Übel der sozialen Selektion zu verhindern.
50 Im Gegenteil, sie verstärken es sogar noch. Der Trend geht zur Zwei-Drittel- oder gar
halbierten Demokratie.

Parteien sind im zwanzigsten Jahrhundert zu den wichtigsten Vermittlern zwischen


Gesellschaft und Staat geworden. Sie haben die Meinungen der Bürger gesammelt,
geformt, artikuliert, im Parlament repräsentiert und in der Regierung exekutiert. Den
55 Parteien aber laufen seit drei Jahrzehnten die Mitglieder davon, oder sie sterben weg.

Die SPD hat seit der deutschen Wiedervereinigung fast die Hälfte ihrer Mitglieder ver-
loren, die CDU ein gutes Drittel. Die Parteien drohen zu mitgliedsarmen Kartellen mit
monopolistischem parlamentarischem Repräsentationsanspruch zu verkommen. Al-
ternative Organisationen aber, die mit derselben demokratischen Legitimität allgemei-
so ner Wahlen Repräsentationsfunktionen im 21. Jahrhundert übernehmen könnten, sind
nicht in Sicht.

Ein weiterer beunruhigender Befund ist die zunehmend niedrige Zustimmung der Bür-
ger zu Parteien und Parlamenten. Polizei, Militär, Kirchen, Expertengremien , Verfas-
sungsgerichte und Zentralbanken erzielen deutlich höhere Unterstützungswerte. Je
s5 weiter öffentliche Institutionen vom Kerngeschäft der Politik entfernt sind, umso bes-
sere Umfragewerte erhalten sie. In Deutschland nennt man das Politikverdrossenheit.
Es droht eine Verschiebung der Legitimitätsachse von „majoritären" demokratischen
Verfahren zu „nicht-majoritärer" Expertise. [...]

Im Zuge der Globalisierung werden Entscheidungen auf zentralen Politikfeldern wie


10 der Geld-, Finanz- und Fiskalpolitik zunehmend außerhalb nationaler demokratischer

Verfahren getroffen. Hinter dieser Verlagerung stehen deregulierte Märkte, globale Fir-
men, Großinvestoren, weltumspannende Banken, finanzstarke Lobbys und suprana-
tionale Organisationen und Regime. Mit dem österreichischen Ökonomen Friedrich
15 August von Hayek (1899 - 1992) mag man darin den Sieg der überlegenen evolutio-

nären Logik der Märkte über den zum Scheitern verurteilten Versuch erkennen, die
Märkte politisch einzuhegen. Demokratisch ist das sicherlich nicht. Zudem hat der
bewusste Rückzug der Politik aus dem internationalen Marktgeschehen spätestens
seit dem Washington Consensus auch zur Finanzkrise von 2008 beigetragen und den
eo Nimbus überlegener Marktlogik erheblich in Mitleidenschaft gezogen.

In der Finanz- und Eurokrise deklarieren Regierende bisweilen zentrale Entscheidun-


gen wie die Bankenrettung, Hilfspakete zur Rettung des Euro oder den Export deut-
scher Sparpolitik kurzerhand als alternativlos. Dies würde die These der Postdemo-
kratie bestätigen: Die großen (finanz-)politischen Fragen werden von nicht legitimierten
a5 Finanzjongleuren in Großbanken und Hedgefonds entschieden, jedenfalls nicht in
demokratischen Verfahren. Wäre die Alternativlosigkeit der Politik ihnen gegenüber
tatsächlich die ganze Wahrheit, würde die Demokratie eine ihrer wichtigsten Legitima-
tionsquellen verlieren, nämlich die demokratische Auseinandersetzung darüber, wel-
ches die besten Lösungen sind, die dem Gemeinwohl und damit den Bürgern dienen.
oo Alarmistische Krisenszenarien für die Zukunft der entwickelten Demokratien sind the-
oretisch wenig überzeugend und empirisch meist nicht begründet. Auch die postde-
mokratische Annahme, früher, in einem imaginierten Goldenen Zeitalter der Demokra-
tie, sei es besser gewesen, ist kaum haltbar. Man frage nur, ob ein Afroamerikaner in
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

den Vereinigten Staaten der fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, eine
95 Schweizer Frau in den sechziger Jahren oder Homosexuelle in Deutschland und an-
derswo lieber in den siebziger Jahren gelebt hätten als heute, und die Annahme glo-
rioser demokratischer Vergangenheit entpuppte sich rasch als Chimäre.

Richtig ist vielmehr, dass die entwickelten Demokratien unterschiedliche Trends durch-
ziehen: Frauen haben mehr Rechte und Chancen als vor 40 Jahren, kulturelle und
100 sexuelle Minderheiten sind besser geschützt, die Transparenz der Parteien, Parlamen-
te und der politischen Klasse ist höher. Aber es verschieben sich die Legitimitätsach-
sen demokratischen Regierens. Die Hochzeit der politischen Parteien ist mit dem 20.
Jahrhundert zu Ende gegangen, und Ersatz ist für das 21 . Jahrhundert nicht in Sicht.
Die undemokratischen Nebenwirkungen anonymisierter „Diskurse" im Netz oder deli-
105 berationsarmer elektronischer Abstimmungen sind erheblich. Die Macht der Banken,
Ratingagenturen und globalen Unternehmen ist immens gestiegen. Die Globalisierung
der Märkte schränkt demokratische Spielräume ein. Supranationale Regime wie die
EU und internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds lassen
sich weder nach dem Muster noch nach der Qualität von Nationalstaaten demokrati-
110 sieren.

Was schon schmerzvoll in der Europäischen Union sichtbar wird, gilt aber umso mehr
auf der globalen Ebene. Das Regieren jenseits des Nationalstaates wird nicht nur an-
ders und komplexer, sondern auch weniger demokratisch sein.

Wolfgang Merkel, www.faz.net, 5 .5.2013

Aufgaben

1. Arbeiten Sie aus dem Text M 1 heraus, was laut Wolfgang Merkel zu einer Krise der Demo-
kratie führt.

2. Erörtern Sie auf Basis des Textes M 1 die These: ,,Die Demokratie ist die beste Herr-
schaftsform , um heutige gesellschaftliche Herausforderungen zu lösen".
Formen
• demokratischen Regierens

3.2.1 Parlamentarismus, Präsidentialismus


und Semipräsidentialismus

Leitfragen Was machen parlamentarische und Worin unterscheiden sie Was ist unter semipräsidenti-
präsidentielle Regierungs- sich? ellen Regierungssystemen zu
systeme aus? verstehen?

Idealtypen demokratischen Regierens Parlamentarismus

In den modernen Demokratien stellen präsidenti- In parlamentarischen Regierungssystemen wird


elle und parlamentarische Regierungssysteme nur das Parlament direkt vom Volk gewählt. Die
Idealtypen dar, die einen institutionellen Hand- Regierung geht aus der Parlamentsmehrheit her-
lungsrahmen beschreiben, innerhalb dessen poli- vor, weshalb die Regierung vom Parlament auch
tische Prozesse und Entscheidungen ablaufen. wieder abgewählt werden kann. Es besteht also
Daneben entwickelten sich Mischtypen beider eine sehr enge Verbindung zwischen Regierung
Regierungssysteme, die als semipräsidentielle und Parlament, da die Regierung zum einen vom
Regierungssysteme bezeichnet werde n. Trotz Vertrauen des Pa rlaments abhängig ist und zum
durchaus unterschiedlicher realer Ausgestaltun- anderen eine enge Verschränkung von Exekutive
gen könne n die demokratischen Regierungssyste- und Legislative stattfindet. Die Gewaltenteilung
me vieler Länder meistens einem dieser (Ideal-) zwischen Exekutive und Legislative ist in parla-
Typen zugeschrieben werden. mentarischen Regierungssystemen vom Ko nflikt
zwischen Opposition und Regierung(-smehrheit)
Präsidentialismus geprägt. Das parlamentarische Regierungssystem
fordert und fördert auf diese Weise die Entstehung
In präsidentiellen Regierungssystemen werden von Parteien, die im Parlament Fraktio nen bilden,
Regierungschef (Präsident) und Parlament jeweils Mehrheiten organisieren und die Regierung stüt-
durch getrennte Wahlen direkt vo m Volk gewählt zen bzw. als Opposition fungieren. Klassisches
und sind somit voneinander unabhä ngig. Der Prä- Beispiel und gleichzeitig Vorbild für andere par-
side nt kann weder vom Parlament abberufen wer- lamentarische Regierungssysteme ist das Regie-
den noch kann der Regierungschef das Parlament rungssystem von Großbritannien.
auflösen. Idealtypisch sind in präsidentiellen Re-
g ierungssystemen Exekutive und Legislative von- Semipräsidentialismus
einander getrennt. So dürfen Regierungsmitglie-
der nicht Teil der Legislative sein und sind nur Neben den reinen präsidentiellen und parlamen-
dem Präsidenten gegenüber verantwortlich. Die tarischen Regierungssystemen entwickelten sich
Exekutive hat kein Gesetzesinitiativrecht im Par- auch Regierungssysteme, die nicht eindeutig ei-
lament. Damit entsprechen präsidentiel le Regie- nem der beiden Idealtypen zugeordnet werden
rungssysteme formal der Gewaltenteilungsleh re. können. Hie r spricht man deshalb von einem drit-
Klassisches Beispiel für ein präsidentielles Regie- ten Typus, dem semipräsidentiellen Regierungs-
rungssystem ist das Regierungssystem der USA. system. Dieses Regierungssystem weist sowohl
3 Politische Theorie

Elemente des präsident iellen als auch des pa rla- menarbeiten. Idealtypisch bestimmt der Präsident
mentarischen Regie rungssystems auf. In semi- den polit ischen Entscheidungsprozess, wenn Prä-
präsident iellen Regierungssystemen wird der Prä- sident, Regieru ngschef und Parlamentsmehrheit
sident wie im präsidentielle n Regieru ngssystem der gleichen Partei angehören. Sollten j edoch der
direkt vom Volk gewählt. Er ernennt selbstständig Präsident auf der einen Seite und Regierungschef
einen Regierungschef und die weiteren Regie- und Pa rlamentsmehrheit a uf der ande ren Seite aus
ru ngsmitglieder. Die Regierung muss allerdings unterschiedlichen Lagern kommen, bestimmt die
wie im parlamentarischen Regierungssyst em von Regierung den politischen Entscheidungsprozess,
der Parlamentsmehrheit mitgetragen werden. Das während die Befugnisse des Präsidenten sich auf
Parlament wird durch eine getrennte Wahl legit i- die Außen- und Sicherheitspolitik konzentrieren.
miert u nd kan n die Regierung du rch ein Misstrau- Klassisches Beispiel fü r ein semipräsidentielles
ensvotu m stürzen. Präsident und Parlam ent müs- Regierungssystem ist das Regieru ngssystem
sen bei der Regieru ngsbildung also eng zusam- Frankreichs.

Regierungssystem versus Regierungsform


Innerhalb der Politikwissenschaft kommt dem Begriff det. Dieser wird allerdings unterschiedlich definiert
des Regierungssystems - neben der Unterscheidung und interpretiert. Am häufigsten wird jedoch die Be-
von Staats- und Herrschaftsformen - eine zentrale schaffenheit des Regierungssystems mit der jeweili-
Bedeutung zu. Das Regierungssystem beschreibt gen Herrschaftsform verknüpft. So tauchen immer
die formale Ausgestaltung und Funktionsweise einer wieder Begriffe wie z.B. präsidentielle oder parla-
Regierung. Hierbei liegt das Hauptaugenmerk auf mentarische Demokratie in der politischen Diskussi-
der Stellung und den Kompetenzen des Staatsober- on auf. Überträgt man diese Terminologie auf Dikta-
haupts, des Regierungschefs sowie deren Wechsel- turen, müsste man im Umkehrschluss allerdings
beziehungen zum Parlament. auch von absoluten oder parlamentarischen Diktatu-
Oftmals wird neben dem Begriff des Regierungs- ren sprechen. Dies ist im gängigen Sprachgebrauch
sys-tems auch der Begriff Regierungsform verwen- de facto aber nicht der Fall.

Regierungssystem

1
in Republiken
7 in Monarchien

präsidentiell parlamentarisch semipräsidentiell parlamentarisch konstitutionell absolut

Regierungsform

1
Demokratie '
'''
''
'
Diktatur
----
----
~
''
/ l A ' --- ''
'
-- --,
präsidentiell parlamentarisch semipräsidentiell parlamentarisch '
konstitutionell absolut
3.2 Formen demokratischen Regierens

Regierungssysteme im Überblick

Idealtypus Idealtypus Typus


Parlamentarismus Präsidentialismus Semipräsidentialismus

Legitimation Das Volk wählt nur das Das Volk wählt Präsident Das Volk wählt Präsident
der Regierung Parlament, welches und Parlament. Die und Parlament. Die Regie-
daraufhin die Regierung Regierungsspitze wird rung mit dem Regierungs-
wählt. somit unabhängig von den chef wird auf der Grundla-
Kräfteverhältnissen im ge der Kräfteverhältnisse
Parlament bestellt. im Parlament vom Präsi-
denten ernannt.

Abberufbarkeit Durch das Parlament. Kein Abberufungsrecht des Das Parlament kann die
der Regierung Parlamentes. Regierung abberufen, nicht
aber den Präsidenten.

Auflösung des Die Regierungsspitze kann Der Präsident kann das Auflösungsrecht des
Parlamentes das Parlament auflösen. Parlament nicht auflösen. Präsidenten nicht
obligatorisch.

Vorteile Kontrolle der Regierung; Hohe Legitimität der Hohe Legitimität des
auch durch Möglichkeit der Regierung durch deren Präsidenten, aber gleich-
Abwahl, keine Blockade Direktwahl, klare Gewalten- zeitig parlamentarische
zwischen Regierung und teilung, höhere Wahr- Kontrolle der Regierung.
Parlament. scheinlichkeit der Anwen- Trotz verschiedener
dung des freien Mandats Parteizugehörigkeit des
durch Abgeordnete. Präsidenten und der
Parlamentsmehrheit
Blockadepolitik eher
unwahrscheinlich.

Nachteile Lenkung des Parlamentes Durchregieren des Lenkung des Parlamentes


durch die Regierung, Präsidenten, Blockade durch die Regierung,
Fraktionsdisziplin (Siehe- zwischen Parlament und Fraktionsdisziplin, ,,Winner
rung der Regierungsmehr- Regierung, ,,Winner takes it takes it all"-Prinzip durch
heit). all" -Prinzip durch Mehr- Mehrheitswahl bei der
heitswahl bei der Präsiden- Präsidentenwahl.
tenwahl.

Aufgaben
1. Beschreiben Sie die drei idealtypischen Regierungssysteme mit ihren grundlegenden Merkmalen.

2. Erläutern Sie den Begriff des Regierungssystems und grenzen diesen von den Begriffen Staats- und Herr-
schaftsform ab.

3. Wenn Sie Mitglied in einem Rat zur Reform eines Regierungssystems wären, für welchen der drei (Ideal-)
Typen würden Sie sich entscheiden? Diskutieren Sie in Gruppen und begründen Sie Ihre Ergebnisse.
1 KO MPETENZEN ANWENDEN

M 1 Das US-amerikanische Regierungssystem

Judikative
sident (einmalige Wiederwahl möglich)
Aufschiebendes Veto gegen Gesetz
Ernennung
Ausgabenbewilligungsrecht der Richter
auf Lebenszeit
(mit Zustim-
mung des
Kein Sturz 1 Senats)
durch Miss-
trauens-
Repräsentanten- Senat votum Verfassungs-
rechtliche
haus
435 Abgeordnete 100 Senatoren Kontrolle
Kein Auf-
lösungsrecht
T Kongress T Wahl auf 4 Jahre Oberstes Bundesgericht
1 1 1
Wahl auf 2 Jahre Wahl auf 6 Jahre
(alle 2 Jahre 1/3)
Das
US-amerikanische
Regierungssystem
!ZAHLENBILDER!-ffi
© Bergmoser + Höller Verlag AG 854 511

M 2 Das britische Regierungssystem


Regierung
Das britische
außerhalb
Regierungs- Premier- des Kabinetts:
minister li-===-.
system Staatsminister
Parlamentarische
Sekretäre u.a.

Oberster Privy Council


Gerichtshof
des Vereinigten
Königreichs Vertrauen
Verantwortunl
1

iAuflösung

Gesetzgebung kann Gesetzesein-


Oberhaus Kontrolle Unterhaus wände des Oberhauses
überstimmen; entscheidet
House of Lords de r Regie rung House of Commons
über Haushalt und Steuern
Politische
ca. 730 Mitglieder 646 Abgeordnete
Beratunge n und
Debatten

Dezentrale Gesetzgebungsorgane:
Nordirische Versammlung
Schottisches Parlament
Walisische Nationalversamm lung

© Bergmoser + Höller Verlag AG

Aufgaben

1. Erarbeiten Sie in Gruppen die Merkmale der Regierungssysteme von Großbritannien und den USA. Verdeut-
lichen Sie dabei, inwiefern die jeweiligen Regierungssysteme einem parlamentarischen, präsidentiellen oder
semipräsidentiellen Regierungssystem entsprechen.

2. Diskutieren Sie die Vor- und Nachteile der beiden Regierungssysteme anhand eines Beispiels. Beziehen Sie
sich im Hinblick auf die USA auf das Problem der Haushaltssperre und in Großbritannien auf den Brexit.
Recherchieren ( Methodenglossar) Sie dafür den aktuellen Stand der Dinge.

3. 2. 2 Die Konkurrenz- und Konkordanzdemokratie


Leitfragen Durch welche Verfahren können politische Entschei- Worin unterscheiden sich Konkurrenz-
dungen herbeigeführt werden? und Konkordanzdemokratie?

Demokratietypen

Dem Politikbegriff aus Kapitel 3.1.1 folgend steht Häufig wird der Begriff Mehrheitsdemokratie sy-
am Ende eines politischen Prozesses eine politi- nony m zum Begriff Konkurrenzdemokratie ver-
sche Entscheidung, welche verbindlich für das wendet. Dieser hebt die Entscheidungsfindung
Zusammenleben der Menschen in einem Staat ist. durch Mehrheit hervor, während der Begriff Kon-
Im Vorfeld einer polit ischen Entscheidung stehen kurrenzdemokratie den Aspekt des Wettbewerbs
verschiedene Gruppen in demokratischen Syste- in den Vordergrund stellt.
men im Wettbewerb zueinander, um für ein poli-
tisches Problem eine spezifisch an ihrer Ideologie Die Konkordanz- und Konsensdemokratie
bzw. ihrem Interesse ausgerichtete politische Ent-
scheidung herbeizuführen. Dieser Wettbewerb um In Staaten, in denen es stark ausgeprägte Konflik-
politische Alternativen ist eines der wesentlichen te zwischen ethnischen oder religiösen Gruppen
Kennzeichen moderner demokratischer Staaten. gibt, werden andere Verfahren zur Entscheidungs-
Es können j edoch verschiedene Demokratietypen findung benötigt, damit gewährleistet werden
unterschieden werden, in denen es auf jeweils un- kann, dass bei Mehrheitsentscheidungen die grö-
terschiedliche Art und Weise zu politischen Ent- ßere Gruppe die kleinere nicht unterdrückt. In
scheidungen ko mmt. solchen demokratischen Staaten werden politi-
sche Entscheidungen im Konsens der verschiede-
Die Konkurrenz- und Mehrheitsdemokratie nen am politischen Prozess beteiligten Gruppen
gefällt. Sie werden deshalb als Konkordanzdemo-
In einer Konkurrenzdemokratie werden politi- kratien (Konkordanz von lat. übereinstimmen)
sche Entscheidungen durch Mehrheitsentscheide bezeichnet. In Konkordanzdemokratien werden
herbeigeführt. Dabei stehen sich idealtypisch zwei politische Probleme und Konflikte durch Ver-
große Parteien gegenüber, die gegeneinander im handlungen und Kompromisse herbeigeführt. Bei
Wettbewerb um Wählerstimmen stehen. Ihr Ziel politischen Entscheidungen sollte möglichst ein
ist es, die Mehrheit von Abgeordneten zu stellen, hoher Grad an Übereinstimmung zwischen den
um über Gesetze entscheide n und j e nach Regie- Gruppen herrschen. Aus diesem Grund gibt es in
rungssystem auch die Regierung wählen zu kön- diesen Demokratien formal isierte Verfahrens- und
nen. Innerhalb dieses Demokratietyps hat eine Proporzregeln, damit auch Minderheiten ange-
Partei die Mehrheit im Parlament, stellt evtl. zu- messen am Prozess der politischen Entschei-
sätzlich die Regierung und fällt a uch gegen den dungsfindung beteiligt sind. Gleichzeitig gibt es
größten Widerstand der sich in der Minderheit das Vetorecht aller am Entscheidungsprozess be-
befindlichen Opposition politische Entscheidun- teiligten Gruppen. Ziel ist es, dass keine Gruppe
gen. Damit es nicht ständig zu Aufständen der den politischen Entscheidungen fundamental ent-
Minderheit kommt, die das politische System ge- gegensteht und möglichst alle Gruppen ihre Inte-
fäh rden können, gibt es wichtige Voraussetzun- ressen in einer Entscheidung berücksichtigt sehen.
gen für eine Konkurrenzdemokratie: Ein Beispiel für eine Proporzregel ist z.B. die sog.
Schweizer „Zauberformel", die genau festlegt, in
• Es sollte keine den Wettbewerb prägenden gro- welchem Verhält nis die Parteien an der Zusam-
ßen Konflikte zwischen religiösen oder ethni- mensetzung der siebenköpfigen Bundesregierung
schen Gruppen geben. (Bundesrat) beteiligt sind.
• Die Minderheit muss in der Lage sein, bei der
nächsten Wahl die Mehrheit stellen zu können, Der Begriff Konsensdemokratie wird oftmals sy-
was bestmöglich oft geschehen sollte. nonym zu dem Begriff Konkordanzdemokratie
3 Politische Theorie

verwendet. Dieser hebt ä hnlich wie bei der andere n z ugesch rieben. So ist Deutschland durch
Unterscheidung zwischen Konkurrenz- und Mehr- die Anwendung der Mehrheitsregeln und der Kon -
heitsdemokratie die Entsch eidungsfindung im kurren z um Wählerstimmen dem Typus der Kon-
Konsens hervor, während Konkordanz eher die kurrenzde mokratie zuzuschreiben. Durch die Ver-
Intera ktion zwischen den Parteien beschreibt. ha ndlungspra ktiken zwischen Bund und Lä ndern
(>Kap. 4.6) oder der Notwendigkeit v on Zweidrit-
Reinformen der beiden Demokratieformen exis- telmeh rheiten bei einigen Entscheidungen t reffe n
tie ren in der Realität nur äußerst selten. Vielmehr auf die Bundesrepublik jedoch auch einige cha-
wird ein politisches System in der Mehrzahl der rakteristische Merkmale (z.B. Verha ndlung und
Merkmale eher einem der beiden Systeme als dem Kompromiss) der Konkorda nzdemokratie zu.

Konkurrenz- / Mehrheitsdemokratie und Konkordanz- / Konsensdemokratie im Vergleich

Konkurrenz- und Konkordanz- und


Mehrheitsdemokratie Konsensdemokratie
Politische durch Mehrheitsentscheid durch Verhandlung und Kompromiss,
Entscheidungsfindung Vetorecht aller beteiligten Gruppen
Vorteile - klare Alternativen für die Bürger - Beteiligung aller gesellschaftlichen
- schnelle Entscheidungen Gruppen am Prozess der Entschei-
- großer Hand lungsspielraum der dungsfindung
Regierung und damit trotz Differen- - keine Dominanz der Mehrheit
zen effiziente Politikergebnisse gegenüber Minderheiten
möglich - stabile politische Verhältnisse
- Integration und Repräsentation aller
gesellschaftlichen Gruppen am
Entscheidungsprozess
- hoher Grad an Legitimität

Nachteile - tiefgreifende Polit ikwechsel möglich - langwieriger Kompromissfindungs-


- Dominanz von Mehrheiten gegen- prozess
über Minderheiten - geringe Qualität der Entscheidungs-
- geringe Legitimität d urch große ergebnisse durch Kompromiss auf
Minderheit (im ungünst igsten Fall kleinstem gemeinsamem Nenner
49 Prozent) - geringer Handlungsspielraum der
Regierung durch Vetorecht aller
Beteiligten
- Gefahr der Entstehung eines kleinen
Machtzirkels
- Gefahr der Unzufriedenheit durch
langsame Fortschritte
Beispiel USA Schweiz

Aufgaben
1. Fassen Sie die wesentlichen Elemente der Konkurrenz- und Konkordanzdemokratie zusammen.

2. Erörtern Sie, welcher Demokratietyp eher geeignet ist, dringende Reformen durchzusetzen.
Gehen Sie dabei jeweils auf mögliche Folgen nach der Verabschiedung einer Reform ein.
METHODENKOMPETENZ t •

Politische Systeme untersuchen

Die vergleichende Analyse ist eines der Kernberei- wie Leitfragen, die helfen, die Analyse zu struktu-
che der Politikwissenschaft. Sie wird u. a. als Me- rieren.
thode angewendet, um generalisierende Aussagen
treffen zu kö nnen oder um Gemeinsamkeiten bzw. Die Kategorien bzw. Leitfragen können auch zur
Besonderheiten der j eweils zu vergleichenden As- Beschreibung eines einzelnen polit ischen Sys-
pekte herauszustellen. tems bzw. für eine Analyse zu Unterschieden wäh-
rend verschiedener Perioden im politischen Sys-
Ausgangspunkt einer vergleichenden Analyse ist tem verwendet werden.
i. d. R. eine Fragestellung, aus der sich weitere (Un-
ter- )Fragestellungen ergeben könne n. Die Frage- Beispiele für Firagestellu119en·
stellungen kön nen auch von einer konkreten Be-
obachtung ausgehen, die man näher untersuchen Warum stellen im Bundestag der Bundesre-
möchte. Oft sind die Untersuchungsgegenstände publik Deutschland mehrere und im Kongress
umfang reicher als es auf den ersten Blick er- der USA nur zwei einflussreiche Parteien Frak-
scheint. Es ist deshalb sinnvoll, sich auf einen tionen?
Aspekt zu konzentrieren.
Welche Auswirkungen bzw. Vor- und Nachteile
Die folgende Darstellung liefert eine Übersicht sind fü r das jeweilige Regierungssystem charak-
über mögliche Aspekte, die bei po litischen Syste- teristisch (Kategorien u. a. : Entwicklung, Partei-
men mitein ander verglichen werden können so- ensystem, Wahlsystem, Gewalte nteilung)?

Kategorie Leitfragen
Regierung Wie wird die Regierung bestellt bzw. legitimiert? Wird die Regierung i. d. R.
von einer Partei oder Koalition gewählt ? Gibt es einen Präsidenten? Welche
Machtbefugnisse hat er? Wie oft legt er ein Veto im Gesetzgebungsprozess
ein? Wie oft wurde das Parlament durch die Regierung aufgelöst?
Gewaltenteilung Wie strikt ist die Trennung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative?
Wie groß ist der Einfluss der Regierung auf das Parlament? Welche Formen
d er Gewaltenteilung existieren?
(ldeal-)Typus Regie- Welchem (ldeal-)Typus kann das Regierungssystem zugeschrieben werden
rungssystem (parlamentarisch, präsidentiell, semipräsidentiell)? Wie oft kommt es zu
Krisen (z. B. Blockaden), die auf diese Form des Regierungssystems zurück-
zuführe n sind? Welche Rolle hat die Opposition?
Parteiensystem Wie viele einflussreiche Parteien gibt es und welchen politischen Grundrich-
tungen (z. B. konservativ, sozialdemokratisch, liberal} können die einzelnen
Parteien zugeschrieben werden? Gibt es Gründe für die Anzahl der Parteien?
Gibt es große Konflikte zwischen den Parteien? Welchen Einfluss hat das
Wahlsystem? Stimmen die Parteien im Parlament oft geschlossen ab? Gibt
es viele radikale Parteien im Parlament?
Parlament Welche Rechte hat das Parlament in Bezug auf die Regierung? Kann es die
Regierung wählen oder abberufen? Wie viele Gesetze werden in einem
bestimmten Zeitrahmen verabschiedet? Wie viele große Reformen wurden in
den letzten Jahren verabschiedet? Wie oft wurde die Regierung abgewählt?
Wie oft fanden Mehrheitswechsel statt? Gibt es zwei oder nur eine Kammer
d es Parlamentes?
Entwicklung Welche hist orischen Entwicklungen haben zur heutigen Ausgestaltung des
politischen Systems geführt? Hat es viele Reformen der Verfassung gege-
ben? Welche Entwicklungen sind zukünftig zu erwarten?
1METHODENKOMPETENZ

Demokratieform An welchen Stellen des politischen Systems ist eine Orientierung an die Ident itäts-
theorie bzw. Konkurrenz-/ Pluralismustheorie zu erkennen? Gibt es viele Volksent-
scheide? Wer hat die Volksentscheide initiiert? Wer war für oder gegen die
Inhalte? Welche Interessen standen hinter den Volksentscheiden? Hatten
Ergebnisse populistischen Charakter?
Wahlsystem Wie werden die Repräsentanten des Parlamentes gewählt (Verhältniswahlrecht/
Mehrheitswahlrecht/personalisiertes Verhältniswahl recht)? Wie hoch ist die
Wahlbeteiligung? Gibt es eine Wahlpflicht?
Entscheidungsprozess Ist der Prozess der politischen Entscheidungsfindung eher konkurrenzdemokra-
tisch oder konkordanzdemokratisch? Gibt es viele Aufstände gegen Gesetze?
Auf welche Weise sind pluralistische Interessen an den Entscheidungen beteiligt?

Beispiel:

Das französische Regierungssystem


Staatsoberhau pt
Oberbefehlshaber
der Streitk räfte

.I
Verfassungsrat
1
1 prüft Gesetze auf
1 ihre Vertassungs-
1
Vertrauen 1 mäßigkeit
verantworthch Misstrauensvotum 1
1
1 Oberster Rat
Ansprache an 1 fur den
1 Richterstand
Senat Ge set z- National- das Parlament 1
V
versammlung ,+-Auf/6suna---...,
- - Initiative- - - - - - - - - I> Volksent - Staa at

1
348 Senatoren gebung 577 Abgeordnete scheid
oberstes Verwal-
tungsgericht,
Direkte Wahl beratendes Organ
auf 5 Jahre
Ind irekt e Wahl Direkt e Wahl (höchstens 2 .mal Verteidiger
auf 6 Jahre auf 5 Jahre in Folge) der Rechte
(alle 3 Jahre zur Hälfte) 1
• überwacht Einhaltung

(\,>;~~!~~:~~:!'!!!~!~!1f\\ ~u
durch die gewählten Vertreter der • l _. 1 der bürgerlichen Rechte
und Freiheiten
Gem~~~:~/~.8ts~=....
nedm_sf_,~_~ z_·0Rs_:g
_nio
_n_e n_ _\ _• _\ _\

1ZAHL ENBILDERI B9
© Bergmoser + Höller Verlag AG 799 3 11

Entwickeln Sie in Gruppen eigene Fragestellungen für den Vergleich eines Aspektes zwischen den politischen
Systemen Großbritanniens, Frankreichs und der USA.

Beschreiben Sie zunächst das zu untersuchende Phänomen.

) Identifizieren Sie mit Hilfe der Kategorien anschließend Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie deren
Ursachen.

Benennen Sie die Auswirkungen der Unterschiede für die politischen Systeme.

Stellen Sie Ihre Ergebnisse den anderen Gruppen vor.


SELBSTDIAGNOSE 1 •

Im Laufe des letzten Kapitels haben Sie sich mit den Grundlagen der politischen Theorie beschäftigt.
Lesen Sie die folgenden Sätze und entscheiden Sie jeweils für sich, welche der Spalten sie ankreuzen
können.

Ich kenne ... vollständig teilweise (noch) nicht

. . . die drei Dimensionen des Politischen .

. . . den Begriff der Institution .

... die schematische Darstellung eines demokratischen


Staates
... die zentralen Ideen der drei klassischen politischen
Denkschulen .
. . . die theoretischen Überlegungen zur Identitäts- und
Konkurrenzdemokratie .
. . . mindestens fünf Kriterien zur Unterscheidung von Identi-
täts- und Konkurrenzdemokratie .

... fünf Kernelemente moderner Demokratien .

. . . mögliche Ursachen für die Krise der modernen Demokratien .

. .. die Vor- und Nachteile der Konkurrenz- und Konkordanz-


demokratie.

. .. Beispiele für den Vergleich politischer Systeme.

Ich kann ... vollständig teilweise (noch) nicht

. . . den Begriff Politik erklären .

. . . die Rolle der Gesellschaft im politischen System erläutern .

. . . ein politisches System mit Hilfe von Input- und Output-


Strömen charakterisieren .
. .. politische Phänomene anhand der drei Dimensionen
des Politischen analysieren .
. . . die zentralen politischen Denkschulen mit Hilfe von zwei
Kernelemente charakterisieren .
. . . die Begriffe Staats- und Herrschaftsform voneinander
unterscheiden .
. . . die Rolle des Gemeinwohls in der Pluralismustheorie
erläutern .
. .. die drei Idealtypen demokratischen Regierens voneinander
unterscheiden .
. . . Regierungssysteme dem Parlamentarismus, dem Präsi-
dentialismus oder dem Semipräsidentialismus zuordnen.
. . . mit Hilfe ausgewählter Aspekte politische Systeme
miteinander vergleichen.
Zusatzmaterial zu Kapitel 4
Mediencode: 72002-04

KOMPETENZEN
Am Ende dieses Kapitels sollten
Sie Folgendes wissen und können:

die freiheitlich demokratische Grundordnung der


Bundesrepublik Deutschland beschreiben

den Aufbau des politischen Systems der Bundesrepu-


blik und das Zusammenwirken der obersten Staatsor-
gane erläutern

demokratische Beteiligungsmöglichkeiten kennen


und deren Nutzen bewerten

zu grundlegenden und aktuellen politischen Themen


bzw. Fragestellungen anhand von Kriterien ein eige-
nes Urteil bilden

hinsichtlich der Funktionsweise der Verfassungsorga-


ne zwischen Verfassungstheorie und Verfassungs-
wirklichkeit unterscheiden
Aufgabe

Ordnen Sie die Begriffe „Demokratie", ,,Rechtsstaat", ,,Partizipation", ,,Regieren" und „Politik"
den Bildern zu. Begründen Sie Ihre Einteilung.
Die Grundlagen
• des politischen Systems
4.1. 1 Die Grundrechte im Grundgesetz

Leitfragen Was sind Grundrechte? Wie definieren die Grundrechte das Verhältnis von
Individuum und Staat?

Das Grundgesetz

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Bürgerrechte sind z. B. das Wahlrecht (Art. 38)
Deutschlands (GG) ist die deutsche Verfassung. Es oder das Recht auf freie Berufswahl (Art. 12). Ne-
wurde am 23. Mai 1949 verkündet, gilt seitdem ben Rechten nennt das GG auch Pflichten, wie
für die alten Bundesländer und seit 1990 auch für z. B. die Meldepflicht (Art. 73) oder die Pflicht der
die neuen Bundesländer. Das Grundgesetz besteht Eltern zur Erziehung ihrer Kinder (Art. 6).
im Wesentl ichen aus den Grundrechten sowie
Festlegungen über den Staatsaufbau. Die im
Grundgesetz festgelegten Grundrechte sind un- Das Verhältnis von Individuum und Staat
ve ränderlich und der Staat ist an ihre Einhaltung
und ihren Schutz gebunden. Nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialis-
mus wurden in das Grundgesetz Elemente au fge-
nommen, die einzelne Indiv iduen, aber auch Grup-
Die Grundrechte pen vor Übergriffen des Staates schützen. Der
höchste Grundsatz im Grundgesetz ist dabei die
Unter den Grundrechten werden in der Regel die sog. Staatsfundamentalnorm der Menschenwürde,
in den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes fest- von der alle weiteren Grundrechte abgeleitet wer-
gelegten Grundsätze verstanden. Jedoch werden den. In Art. 1 heißt es: .,Die Würde des Menschen
auch in weiteren Artikeln wichtige Grundrechte ist u na ntastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
festgelegt, wie z.B. das Rech t auf einen gesetzli- Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
chen Richter (Art. 101). Zu unterscheiden ist zu-
dem zw ischen den Mensch enrechten, die Jedem Der Staat ist dazu verpflichtet, die Würde jedes
zustehen, sowie Bürgerrechten, die auf die Bürger Menschen zu achten und vo r Verletzungen der
beschränkt sind. Menschenwürde durch andere zu schützen. Hin-
zukommen die Abwehrrechte, mit denen Über-
Eine der Grundannahmen des Grundgesetzes ist griffe des Staates verhindert werden sollen. Hierzu
es, dass ein Mensch von Natur a us Träger be- gehören z.B. das Brief-, Post- und Fernmeldege-
stimmter Rechte ist, die ihm allein durch die Tat- heimnis (Art. 10) sowie die Unverletzlichkeit der
sache zustehen, dass er oder sie ein Mensch ist. Wohnung (Art. 13). Neben den Abwehrrechten
Diese Rechte sind universell; d. h. sie gelten für gibt es die Mitwirkungsrechte. Diese legen fest,
alle Menschen und umfassen u. a.: dass der Einzelne aktiv an der Gestaltung der Ge-
sellschaft und der Pol itik mitwirken kann. Die
• den Schutz und die Achtung der Würde des Gleichheitsrechte sichern die Chancen- und
Menschen (Art. !), Rechtsgleichheit der Bürger. Weiterhin ist Diskri-
• den Schutz der Freiheit der Person und das Recht minierung aufgrund des Geschlechts, der Abstam-
auf Leben (Art. 2), mung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und
• die Religionsfreiheit (Art. 4) sowie Herkunft, des Glaubens, der politischer Anschau-
• das Recht auf freie Meinungsä ußerung (Art. 5). ungen und wegen Behi nderung (Art. 3) verboten.
4.1 Die Grundlagen des politischen Systems

Die Grundrechte
Grundgesetz für die Bu ndesrepublik Deutschland, Artikel 1 bis 19

Schutz der O Menschenwürde


Freiheit der Person E) E) Gleichheit vor dem Gesetz
Glaubens- und Gewissensfreiheit O O Freie Meinungsäußerung
Schutz von Ehe und Familie O O Elternrechte, staatliche Schulaufsicht
Versammlungsfreiheit O C) Vereinigungsfreiheit
Brief- und Telefongeheimnis e G) Recht der Freizügigkeit
Freie Berufswahl G') ~ Wehrdienst/ Zivildienst
Unverletzlichkeit der Wohnung e fl' Eigentumsgarantie
Überführung in Gemeineigentum e ( ) Staatsangehörigkeit, Ausl ieferung
Asylrecht ~ U-l!~;:::f'!,,.I. G Petitionsrecht
Aberkennung von Grundrechten e e:) Rechtsweggarantie

Volkssouveränität, Widerstandsrecht e e Anspruch auf den gesetzlichen Richter


Gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern S ~ Anspruch au f rechtliches Gehör vor Gericht
Wahlrecht e~ Schutz vor willkürlicher Verhaftung

e> Bergmoser + Höller Verlag AG 60110

Grundrechtskonflikte

Einzelne Grundrechte können miteina nder in Im Ei nzelfall muss darum in der Prax is deswegen
Konflikt geraten. In der Regel legt dann ein wei- oft abgewogen werden, ob die Freiheit des Einzel-
teres Gesetz die genauen Regelungen fest oder das nen durch den Staat zugunste n von mehr Sicher-
Bundesverfassungsgericht entscheidet. Einer der heit beschnitten werden soll. So können Kameras
klassischen Grundrechtskonflikte ist der Konflikt a uf öffentlichen Plätzen mehr Siche rheit erwir-
zwisch en Freiheit und Sich erheit. Beide Grund- ken, schrän ken gleichzeitig aber auch die Freiheit
rechte können aus Art. 2 GG a bgeleitet werden: der Personen ein, da ihre Handlungen überwacht
werden. Gerade nach Anschlägen wird die Debat-
Art. 2 Abs 2 GG „Jeder hat das Recht auf Leben te über mehr Sicherheit intensiv geführt und das
und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Verhältnis von Sicherheit und Freiheit wird neu
Person ist unverletzlich." a usgehandelt.

Aufgaben

1. Zählen Sie drei Grundrechte auf, auf die Sie nicht verzichten möchten.

2. Erläutern Sie in einem Kurzvortrag (, Methodenglossar), wie in Deutschland das Verhältnis von Staat und
Individuum geregelt wird.

3. Diskutieren Sie kritisch, in welchen Fällen aus Ihrer Sicht eine Einschränkung der Grundrechte legitim ist.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Freiheit und Sicherheit

Absolute Sicherheit kann es genauso wenig geben wie grenzenlose Freiheit. Doch den
magischen Punkt, an dem Freiheit und Sicherheit ein für alle Mal im Gleichgewicht
wären, gibt es auch nicht. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - das sind seit der Fran-
zösischen Revolution die Fixsterne am europäischen Wertefirmament. Am hellsten
5 strahlt die Freiheit; sie ist Grundlage und Ziel zugleich aller demokratischen Organisa-
tions- und Regierungsformen. Verschattet ist der Glanz der Gleichheit: Sie hat den
Verdacht auf sich gezogen, dass sie, weil die Menschen faktisch ungleich sind, als
politisches Ziel zu einem Zwangsregime führen kann, zu einer Gleichmacherei, die den
Einzelnen in seinen Entfaltungsmöglichkeiten einschränkt und damit die Freiheit ge-
10 fährdet; uneingeschränkte Berechtigung w ird ihr im Grund nur noch als Gleichheit vor
dem Recht zugesprochen. Die Brüderlichkeit, der moralisch am stärksten aufgeladene
Begriff, kann zwar nicht direkt eingefordert werden, ist jedoch unter den Namen Soli-
darität oder Gerechtigkeit als Motor des modernen Sozialstaats zur wirkmächtigsten
politischen Entwicklung der vergangenen hundert Jahre geworden.
15 Nicht zum modernen Grundwertekanon wird üblicherweise die Sicherheit gezählt. Da-
bei steht sie am Anfang der neuzeitlichen Staats- und Rechtsphilosophie. Der Englän-
der Thomas Hobbes (1588 bis 1679) hat sie als Voraussetzung allen menschlichen
Zusammenlebens bezeichnet. Deshalb errichten die Menschen per Vertrag eine Herr-
schaft, deren vornehmste Aufgabe es sei, die innere und äußere Sicherheit der Gesell-
20 schaft, das heißt jedes Einzelnen, zu sichern. Ohne Sicherheit gibt es für niemanden
Freiheit, sondern den hobbesschen „Krieg eines jeden gegen jeden", in dem das Leben
,,einsam, arm, hässlich, tierisch und kurz" wäre.

Sicherheit in Verruf

Die Idee, dass es eines absoluten Herrschers bedürfe, um Sicherheit zu gewährleisten,


ist von der politischen Theorie widerlegt und von der Geschichte überholt worden.
25 Aber die vom Gewaltmonopol des Staates gestützte innere und äußere Sicherheit ist
eine feste Größe der Politik geblieben; in ihrer zivilisierten und juristisch ausbuchsta-
bierten Form als Rechtssicherheit ist sie die Grundlage des menschlichen Zusammen-
lebens.
Dennoch kommt Sicherheit von Zeit zu Zeit in Verruf, weil sie mit Einschränkungen
30 oder Zumutungen verbunden ist, welche die Freiheit gefährden können. Darum geht
es auch in dem Streit über die Ausspäh- und Überwachungsprogramme, die von Staa-
ten betrieben werden, um ihre Bürger gegen terroristische Anschläge (oder gegen
organisierte Kriminalität) zu schützen. Dabei wird immer wieder das Bild eines „Gleich-
gewichts", also einer Waage, gebraucht, um zu vermitteln, dass Freiheit und Sicherheit
35 in einen Zustand der Verhältnismäßigkeit gebracht werden müssen: Eingriffe in Frei-
heitsrechte oder in die Privatsphäre der Bürger müssen gerechtfertigt werden mit den
Bedrohungen, denen Leib, Leben und Eigentum der Bürger wegen einer Gefahrenlage
ausgesetzt sind.
Was da gegeneinander abgewogen werden soll, um den Gleichgewichtspunkt der
40 Verhältnismäßigkeit zu treffen, hat objektive und subjektive Komponenten. Objektiv
gesehen kann sich die Lage ändern. Anschauungsunterricht darüber geben die Sicher-
heitsvorkehrungen, die seit den späten sechziger Jahren auf den Flughäfen der Welt
eingeführt wurden, um die sprunghafte Zunahme von Flugzeugentführungen zu stop-
pen: Einschränkungen der persönlichen Freiheit bis hin zur Körpervisitation sind inzwi-
45 sehen Routine. Nach den Terroranschlägen in Amerika vom 11. September 2001 haben
Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen eine neue Qualität bekommen: Der Versuch,
einem internationalen Terrornetz beizukommen, um weitere Anschläge zu verhindern,
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

a
hat peu peu zum Auf- und Ausbau einer globalen Sicherheitsarchitektur geführt; dazu
gehört auch das Datenerfassungsprogramm „Prism" des amerikanischen Geheim-
so dienstes NSA.

Den magischen Punkt gibt es nicht

Dass dabei nicht hinter Schimären hergejagt wird, zeigen unter anderem die blutigen
Terroraktionen von Djerba 2002, in Madrid 2004 oder in London 2005. Darüber, wie
viele Anschläge verhindert werden konnten, kann man nur spekulieren. Dass mit der
Überwachung Eingriffe in die Privatsphäre einhergehen, ist eine Realität.
ss Die subjektive Komponente ist das „Sicherheitsgefühl", genauer gesagt: das Gefühl
des Bedrohtseins, das bei Menschen und Nationen unterschiedlich ausgeprägt ist.
Seit den Angriffen von „Nine Eleven" fühlt sich Amerika besonders bedroht. Das hat
seine Berechtigung angesichts von Abneigung und Hass, welche die „einzig verblie-
bene Weltmacht" in vielen Teilen der Welt auf sich zieht. Aus guten Gründen sieht sich
so auch Israel als besonders gefährdet an. Scharfe Sicherheitsvorkehrungen sind hier wie
da mit Einschränkungen der persönlichen Freiheit verbunden , die mit der Gefahrenla-
ge gerechtfertigt, deswegen aber auch weithin akzeptiert werden.
Absolute Sicherheit kann es genauso wenig geben wie grenzenlose Freiheit. Doch den
magischen Punkt, an dem Freiheit und Sicherheit ein für alle Mal im Gleichgewicht
65 wären, gibt es auch nicht. Das Verhältnis muss immer neu austariert werden. Gegen-

wärtig steht Datenschutz als Teil der informationellen Selbstbestimmung, die ein Frei-
heitsrecht ist, hoch im Kurs. Das kann sich mit dem nächsten Anschlag wieder ändern.

Günther Nonnenmacher, www.faz.net, 18.7.2013

Aufgaben
1. Fassen Sie den Text M 1 zusammen.

2. Charakterisieren Sie das dargestellte Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit.

3. Weniger Freiheit zu Gunsten von mehr Sicherheit? Nehmen Sie Stellung zu dieser Frage,
indem sie auf die im Text genannten objektiven und subjektiven Komponenten eingehen.
4.1 .2 Die Staatsstrukturprinzipien

Leitfragen Wie bilden die Staatsstrukturprinzipien die Können die Staatsstruk- Was ist unter einer
Grundlage für den Aufbau der turprinzipien verändert wehrhaften Demokratie zu
Bundesrepublik Deutschland? werden? verstehen?

Welche generellen Prinzipien gibt das Grund-


gesetz vor?

Art. 20 GG Souverän fungiert und durch Wahlen seinem Wil-


( 1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demo- len Ausdruck verleiht. Mit der Nennung von be-
kratischer und sozialer Bundesstaat. sonderen staatlichen Organen im Grundgesetz
(2) Alle Staatsgewalt geht vo m Volke aus. Sie wird wird zudem die repräsentative Demokratie festge-
vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und legt, in welcher die Interessen der Bürger durch
durch besondere Organe der Gesetzgebung, der gewählte Repräsentanten im Parlament vertreten
vollziehenden Gewalt u nd der Rechtsprechung werden. Die Repräsentanten entscheiden nach
ausgeübt. dem Mehrheitsprinzip (>Kap. 3.2). Eine Diktatur
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßi- oder eine Autokratie als Herrschaftsform schließt
ge Ordnung, die vollziehende Gewalt und die das Grundgesetz damit aus.
Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht ge-
bunden.
Rechtsstaatlichkeit
Die drei Absätze des Art. 20 haben eine herausra-
gende Stellung. Sie werden auch als Verfassung Die Festlegu ng auf Rechtsstaatlichkeit führt dazu,
in Kurzform bezeichnet, da sie die fünf Staats- dass Entscheidungen des Parlaments nicht den
strukturprinzipien für die staatl iche Ordnung Grundrechten widersprechen dürfen. Auch die Re-
Deutschlands festlegen: gierun g muss sich an die Grundrechte sowie gel-
tenden Gesetze halten. Auf diese Weise werden die
• Republik Bürger vor Willkür geschützt und es wird ihnen
• Demokratie Gleichheit vor dem Gesetz garantiert. Unabh ängi-
• Sozialstaatlichkeit ge Gerichte wachen zudem über die Einhaltung
• Föderalismus (Bundesstaat) der Gesetze.
• Rechtsstaatlichkeit

Im Einzelnen bedeuten diese Staatsstrukturprinzi- Föderalismus


pien folgendes:
Mit dem Prinzip des Föderalismus w ird der histo-
rischen Entwicklung Deutschlands Rechnung ge-
Republik tragen. Lange Zeit waren viele deutsche Länder
unabhängig und eher lose miteinander verbun-
Mit der Bezeichnung Bundesrepublik legt das den, bevor sie als Gliedstaaten (Bundesländer)
Grundgesetz fest, dass Deutschland keine Monar- einen gemeinsamen Bund bildeten. Die Bundes-
ch ie ist bzw. das Staatsoberh au pt nicht durch Erb- lände r habe n in Deutschland weit reichende Be-
folge bestimmt, sondern gewählt wird. fugnisse, insbesondere in den Politikbereichen
In nere Sicherheit, Bildung und Kultur. Durch den
Bundesrat sind sie zudem an vielen Entscheidun-
Demokratie gen auf Bundesebe ne beteiligt, insbesondere bei
denen, die sie betreffen. Art. 29 GG lässt die Mög-
Da die Demokratie als Herrschaftsform festgelegt lichkeit einer Zusammenlegung von Bundeslän-
ist, geht die Staatsgewalt vom Volk aus, das als dern bzw. eine Neugliederung der Länder zu.
4.1 Die Grundlagen des politischen Systems

Grundsätze der Verfassung


Republik Demokratie Bundesstaat Sozialstaat Rechtsstaat

• Freiheitliche, • Alle Staatsgewalt • Staatliche Hoheit • Schutz der • Gesetzlichkeit


anti- geht vom des Bundes und Menschenwürde • Gewaltenteilung
diktatorische Volke aus der Länder • Schutz von Ehe
Staatsform • Rechtsgleichheit
• Mittelbare • Verteilung der und Familie
• Bestimmung der repräsentative Kompetenzen in • Freiheitssicherung
• Gleichberech-
politischen Volksvertretung Gesetzgebung, tigung von
Exekutivorgane • allgemeine, Verwaltung und Mann und Frau
durch Wahlen unmittelbare, Rechtsprechung
auf Bund und • Sozialpflichtigkeit
• Gewähltes freie, gleiche des Eigentums
Staatsoberhaupt und geheime Länder
Wahlen • Mitwirkung • Schutz vor den
(Bundes- großen sozialen
präsident) • Meinungsfreiheit der Länder an der
Gesetzgebung Risiken durch
• Versammlungs- des Bundes Sozial-
freiheit versicherung,
• Vereins- und soziale
Vereinigungs- Grundsicherung
freiheit

c Bergmoser + Höller Verlag AG 60040

Sozialstaatlichkeit

Durch das Sozialstaatsprinzip wi rd den Men- setzgebung oder die in den Artikeln I und 20 nie-
schen in Deutschla nd eine Grundsicherung garan- dergelegten Grundsätze berüh rt werden, ist unzu-
tiert, die aus Art. 1 Abs. 1 GG mit Bezug a uf die lässig."
Menschenwürde abgeleitet wird. Konkrete Festle-
gungen über die Ausgestaltung des Sozialstaats- Auch die in Art. 2 - 19 GG festgelegten Grund-
prinzips macht das Grundgesetz jedoch nicht. rechte dürfe n in ihrem Wesensgehalt nicht verän-
Diese sind Gegenstand des Polit ikbereichs der dert werden. Alle anderen Artikel können mit ei-
Sozialpolit ik. ner Zweidrittelmehrheit geändert werden, so dass
eine Anpassu ng an aktuelle Entwicklungen erfol-
gen kan n.
Unveränderlichkeit der Strukturprinzipien -
das Ewigkeitsgebot
Deutschland - eine wehrhafte Demokratie
Durch Art. 79 Abs. 3 GG werden die Staatsstruk-
tu rprinzipien als unveränderlich festgeschrieben. In der Weimarer Republik (19 18 - 1933) haben
Damit wird eine Veränderung der Staats- und verschiedene Parteien, wie z.B. die NSDAP, auf der
Herrschaftsform durch das Gru ndgesetz verh in- Basis der Grundsätze des Pluralismus und der Frei-
dert. Konkret heißt es: heitsrechte am politischen Wettbewerb teilgenom-
men. Ihr Ziel war es jedoch, gerade diese Gru nd-
Art. 79 Abs. 3 GG sätze abzuschaffen und einen Staat zu errichten,
,,Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch wel- der nicht den o.g. Strukturp rinzipien entsprach.
che die Gliederung des Bundes in Länder, die Das Grundgesetz setzt deshalb Gegnern der gel-
grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Ge- tenden Herrschafts- und Staatsform Grenzen:
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

Art. 20 Abs. 4 GG der Demokratie sollen die Freiheiten der Demo-


Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung kratie nicht nutzen können, um die Demokratie
zu beseitige n, haben alle Deutschen das Recht abzuschaffen. Das Grundgesetz erlaubt es deswe-
zum Widerstand, wen n andere Abhilfe nicht mög- gen, Grundrechte einzuschränken. So ist es z. B.
lich ist. in diesem Rahmen möglich

Die damit errichtete sog. ,,wehrhafte Demokratie" • die Versammlungs-, Meinungs- sowie die Ver-
manifestiert sich u. a. auch in diesen Artikeln bzw. einigun gsfreiheit einzuschränken
Rechten, die eine Abschaffung der Staatsstruktur- oder
prinzipien verhindern sollen: • Parteien zu verbieten.

Art. 21 Abs. 2 GG Die FDGO wi rd im Grundgesetz zwar mehrmals


Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem erwähnt, aber nicht erklärt, was sie ausmacht. Im
Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die Jahr 1956 hat dies das Bundesverfassungsgericht
freiheitliche demokratische Grundordnung zu be- im Rahme n eines Parteie nverbotsverfahrens for-
einträchtigen oder zu beseit igen oder den Bestand muliert. Die FDGO ist demnach eine Ordnung:
der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, „die nur unter Ausschluss jeglicher Gewalt- u nd
sind verfassungswidrig. Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herr-
schaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbe-
Art. 9 Abs. 2 GG stimmung des Volkes nach dem Willen der j ewei-
Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit ligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit
den St rafgesetzen zuwiderlau fen oder die sich ge- da rstellt."
gen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen
den Gedanken der Völkerverständigung richten, Zu den grundlegenden Prinzipien der FDGO ge-
sind verboten. höre n laut der Definition des Bundesverfassungs-
gerichts von 1956 u. a.:
Art. 18 GG
Wer die Freiheit zum Ka mpfe gegen die freiheitli- • Achtung vor den im Grundgesetz konkretisier-
che demokratische Grundordnung missbraucht, ten Menschenrechten;
verwirkt diese Grundrechte. • Volkssouveränität;
• Gewaltenteilung;
• Ve rantwortlichkeit der Regierung;
Die freiheitlich-demokratische • Gesetzmäßigkeit der Verwaltung;
Grundordnung (FDGO) • Unabhängigkeit der Gerichte;
• Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit
Die freiheitlich-demokratische Grundordnung für alle politischen Parteien mit dem Recht auf
(FDGO) in Deutschland wird durch das Konzept verfassungsmäßige Bildung und Ausüb ung ei-
der wehrhaften Demokratie geschützt. Die Feinde ner Opposition.

Aufgaben

1 . Nennen Sie die unterschiedlichen Staatsstrukturprinzipien in Deutschland.

2. Arbeiten Sie die Eigenschaften der Staatsstrukturprinzipien heraus und präsentieren Sie Ihre Ergebnisse auf
Informationsplakaten.

3. Setzen Sie sich kritisch mit dem Ewigkeitsgebot der Staatsstrukturprinzipien auseinander. Führen Sie eine
Pro-Kontra-Diskussion (• Methodenglossar) durch.
METHODENKOMPETENZ t

Politische Urteilsbildung

Politische Urteile werden von allen Menschen der Ein politisches Urteil beinhaltet immer ein Sach-
Gesellschaft jeden Tag gefällt. Sie drücken die und e in Werturteil. Beim Sachurteil wird zunächst
subjektive Position zu politischen Themen aus. nach der Effizienz gefragt bzw. d iese beurteilt.
Das Tra ining der Urteilsbild ung ist deshalb e iner Dies betrifft z.B. die Problemlösungsfähigkeit,
der zentralen Bereiche der politischen Bildung. Jm Wirtschaftlichkeit, Schnelligkeit und Genauigkeit
Fokus der Urteilsbildung steht dabei, worauf bei einer Maßnahme. Mit dem Werturteil wird hinge-
einem Urteil zu achten ist, wie man sich an zent- gen die Legitimität beurteilt. Hierbei werden poli-
ra le n Kriterien orientieren kann und wie man Feh- tische Werte zur Bewertung und Begründu ng
ler vermeiden kan n, so dass das politische Urteil verwendet, so z. B. die Menschenwürde, Freiheit,
nicht oberflächl ich ausfällt. soziale Gerechtigkeit oder Frieden.

Schritt 1: Formulierung einer Entscheidungsfrage


• Einführung des Sachgegenstandes und Formulierung eines Themas in Form einer Fragestellung
(Entscheidungsfrage), ausgehend von einem aktuellen Problem.
• Konfrontation mit einem Thema, z.B. durch eine Schlagzeile oder eine Karikat ur.

Schritt II: Spontanes Urteil zu der Fragestellung


• Oftmals noch sehr vage, ungenau und ohne stichhaltige Begründung.
• Umsetzbar z.B. durch Punktabfrage oder die Positionierung zwischen zwei Polen.

~
Schritt III: Erstellung einer Pro- Kontra-Tabelle
• Sortieren der Argumente nach Kriterien.
• In jedem Fall müssen sowohl Argumente für die Effizienz als auch die Legitimität formuliert werden.
1. d. R. gibt es für die Legitimität mehr Argumente.

Schritt IV: Abwägen aller Argumente und Erstellung einer Prioritätenliste


• Einen Kriterien- bzw. Kategorienkatalog erarbeiten, nach dem die Argumente abgewogen werden.
• Entscheidend sind hier die Begründungen für die einzelnen Kategorien, deren Bewertung
zum Gesamturteil führen.

Schritt V: Entscheidung für eine Position und Begründung des Urteils.


• Um sich für oder gegen etwas auszusprechen, müssen nicht mehr Argumente auf der Kontraseite
befürwortet werden, sondern das entscheidende Argument genannt werden.
• Offenlegen der eigenen Entscheidungskriterien und Ableitung des eigenen Urteils.
1METHODENKOMPETENZ

Die Ergebnisse von Sach- und Wertu rteilen kön -


nen sich widersprechen. So wäre es zu r Lösung
des Demografischen Wandels effizient, die An -
zahl der Kinder zu erhöhen, j edoch u nter
Wertaspekte n wäre eine Pflicht dazu nicht
legitim und widerspricht u. a. der Me nschen -
würde.
Für beide Bereiche ist es wichtig, die Pers-
pektive offenz ulegen, aus der ein Thema
betrachtet wird. So werden verschieden e
Themen aus verschiedenen Perspektiven
untersch iedlich beurteilt.

Beispiele für mögliche Fragestellungen

• Soll in Deutsch la nd eine Vermögenssteuer


eingeführt werden?
• Sollen die Bundesländer Ha mburg und
Schleswig-Holstein zusammengelegt werden?
• Soll der Bundespräsident direkt gewählt
werden?
• Soll in Deutschla nd eine Vorratsda te nspeiche-
rung beibehalten werden?
• Soll es in Deutschla nd eine Grundsicheru ng
für alle Bürger geben?

Operatoren,
die z u einem politischen Urteil auffordern:

• Nehmen Sie Stell ung ...


• Beurteilen Sie ...
• Bewerten Sie...
• Diskutieren Sie ...

Ausdrucksformen politischer Urteile:

• Erörterungen
• Kommentare
• Leserbriefe
Abwägende Justitia • Reden
• Karikaturen
METHODENKOMPETENZ t

Beispiel:

:-~
- ..::::;::::?-,~
-::;:::::::--
_-.,,

~ol

/ -
-- . - . -c..-:,,__,.......- 1/
~
Karikatur: Klaus Stuttman11

Aufgaben
1 . Interpretieren Sie die Karikatur.
a) Formulieren Sie eine Fragestellung, die sich aus der Karikatur ergibt.
b) Positionieren Sie sich in ihrer Lerngruppe in Form einer Meinungslinie zu der eigens formulierten Fragestel-
lung.

2. Recherchieren Sie arbeitsteilig Argumente, die für und gegen die von Ihnen in Aufgabe 1 formulierte
Fragestellstellung sprechen. Die Gruppen setzen sich mit diesen Kategorien auseinander: Umweltschutz,
Wirtschaftlichkeit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit (insbesondere Grundgesetzartikel die dafür und dagegen
sprechen).
Wichtig: Für jede der Kategorien sollen Pro- und Kontra-Argumente recherchiert werden. Achten Sie bei der
Formulierung der Argumente auf die Struktur, die These, die Begründung, die Belege und Beispiele.

3. Nachdem Sie die Argumente verglichen haben: Sortieren Sie die Argumente nach der für Sie bestehenden
Wichtigkeit.

4. Erörtern Sie die Fragestellung. Stellen Sie zunächst die Argumente dar, die nicht Ihrer Position entsprechen,
und dann die Argumente, die Ihrer Position stützen, und legen Sie am Schluss offen, was für Sie das ent-
scheidende Argument ist.
Die Bürger im politischen Prozess
4.2."1 Formen der direkten Beteili9 ung

Leitfragen Welche Formen der Worin bestehen die Unterschiede Welche plebiszitären
Beteiligung gibt es in einer zwischen direkten und Elemente gibt es
Demokratie? repräsentativen Demokratien? in Deutschland?

Grundmodelle in einer Demokratie

Demokratien lassen sich hinsichtlich ihrer Betei- In der gegenwärtigen Staatenwelt gibt es keine
ligungsformen für die Bürger zwei Grundmodel- Herrschaftsform, die dem Idealtypus der direkten
len zuordnen: Demokratie vollständig entspricht. Am nächste n
kommt die Schweiz diesem Modell, aber auch hier
• Direkte Demokratie: Alle Bürger sind an allen werden Repräsentanten gewählt. Alle modernen
politischen Entscheidungen beteiligt. Demokratien sind demnach repräsentative Demo-
kratien, bieten jedoch ihren Bürgern abhängig
• Repräsentative Demokratie: Das Volk wä hlt von der konkreten Ausgestaltung mehr oder we-
Vertreter, die in seinem Namen pol itische Ent- niger Möglichkeiten an, bestimmte polit ische Ent -
scheidungen treffen. scheidungen direkt zu beeinflussen.

Direkte und repräsentative Demokratie


Worin sie sich unterscheiden

Direkte Demokratie

Herrschafts- Ständige unmittelbare Beteili- Mittelbare Beteiligung der Bürger


ausübung gung der Aktivbürgerschaft an an der Staatstätigkeit durch
der Staatstätigkeit durch Volks- Wahl einer Repräsentativkörper-
initiativen, Volksbegehren und schaft (Parlament), die für die
Volksabstimmungen. Dauer der Wahlperiode in
Vertretung des Volkes handelt.

Mandat Imperatives Mandat: Die von Freies Mandat: Die gewählten


den Bürgern bestellten Funktions- Vertreter sind an keine Aufträge
träger sind an deren Weisungen und Weisungen gebunden. Sie
und Aufträge gebunden. Sie kön- sollen stets die Erfordernisse des
nen w ieder abberufen werden. ganzen Volkes mitbedenken.

Demokratie- Die Träger des Volkswillens sind Die wichtigen politischen Fragen
auffassung mündige Bürger mit ausreichen- sind zu komplex, um sie von
der Kompetenz in politischen Laien entscheiden zu lassen.
Urteilen (dank Bildung, Zugang Direkte Demokratie birgt die
zu Informationen und demokra- Gefahr, von Demagogen miss-
tischem Bewusstsein). braucht zu werden.
ffi!ZAHLENBILDERI - - - - - - - - - - - - - - · ...,_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ ___

c Bergmoser + Höller Verlag AG 95090


4.2 Die Bürger im politischen Prozess

Verfahren der direkten Demokratie

Bei direktdemokratischen Abstimmungen lassen • Bei Volksinitiativen für Gesetze stoßen die Bür-
sich zwei Verfahren u nterscheiden: ger einen politischen Entscheidungsprozess an.
Diese Initiative kön nen die Parlamentarier an-
• Bei einem Referendum wird dem Volk entweder nehmen oder ablehnen. Im Falle der Ablehnu ng
von der politischen Elite oder aufgrund eines kann u nter Umständen ein Teil der stimmbe-
Volksbegehrens eine bestimmte Frage vorgelegt, rechtigten Bü rger ein Volksbegehren beantra-
über die es entscheiden soll. In Großbritannien gen. In Sachsen sind dies z.B. bei einer stimm-
hat die Bevölkerung im Juni 2016 eine äußerst berechtigten Gruppe von etwa über 3 Millionen
weitreichende Entscheidung auf diesem Weg Menschen 450.000 Bü rger. Nur wen n das Volks-
getroffen, indem sie für einen Austritt des Ver- begehren erfolgreich ist, findet aufLänderebene
einigten Königreichs aus der Europäischen Uni- ein Volksentscheid statt, bei dem die Mehrheit
on (,,Brexit") stimmte. der Bürger entscheidet.

Direkte Demokratie Ihre Verbreitung rund um die Erde

-- Anwendung direktdemokratischer Verfahren


Direktdemokratische Verfahren gesetzlich vorgesehen ,
seit 1980 aber nicht genutzt
D
-
Direktdemokratische Verfahren nur auf unterer staatlicher bzw. kommunaler Ebene
Quelle: IDEA
Keine direktdemokratischen Verfahren; keine Information verfügbar
ffi IZAHLENBILDERI _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _____.
<0 Bergmoser + Höl/er Verlag AG 603 625

Wie können die Bürger in der Bundesrepublik entscheide ha ndelt, da nur die Bevölkerung der
auf Bundesebene mit entscheiden? betroffenen Bundeslände r stimmberechtigt ist.
Bislang wurden nu r zwei Volksen tscheide mit
In Deutschland gibt es auf Bundesebene kaum Blick auf den Zuschnitt vo n Bundesländern
Möglichkeiten für Bürger, über polit ische Sach- durchgeführt:
fragen abzustimme n. Eine Ausnahme bildet die
Regelung, dass eine Neugliederung von Bundes- • Nach einem Volksentscheid ging 1952 aus den
ländern der „Bestätig ung du rch Volksentscheid" eigenständigen Bundesländern Baden, Württem-
bedarf (Art. 29 GG). Es lässt sich darübe r streiten, berg-Baden und Württemberg- Hohenzollern das
ob es sich dabei überhaupt um nationale Volks- Bundesland Baden-Württemberg hervor.
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

• 1996 fand in Brandenburg und Berlin ein Volks- Direkte Demokratie auf Länderebene
entscheid über die Fusion beider Länder statt. und in den Gemeinden
Dafür mussten mindestens 25 Prozent der Bür-
ger in beiden Ländern teilnehmen und vo n den In allen Bundesländern gibt es die Möglichkeit der
Abstimmenden mussten sich mehr als die Hälf- Volksgesetzgebung. Sie unterscheiden sich zu-
te für die Vereinigung aussprechen. Der Volks- meist in der notwendigen Zahl der stimmberech-
entscheid scheiterte daran, dass in Brandenburg tigten Unterstützer oder in den Zeiten, in der die
weniger als 25 Prozent der Bürgerinnen und notwendigen Unterschriften gesammelt werden
Bürger an der Abstimmung teilnahmen. müssen. Im J ahr 2016 z.B. wurden insgesamt 12
direktdemokratische Verfahren in sieben Bundes-
Der weitgehende Verzicht auf direktdemokrat i- ländern eingeleitet. Bestimmte Themen sind je-
sche Elemente auf Bundesebene war ursprünglich doch davon ausgenommen. Hierzu gehören alle
eine bewusste Entscheidung, weil die Mütter und Geldfragen, über die nur die Parlamente entschei-
Väter des Grundgesetzes der Ansicht waren, dass den können (Haushaltsvorbehalt).
die Volksabstimmungen in der Weimarer Republik
den Aufstieg der Nationalsozialisten begünstigt Die umfangreichsten Möglichkeiten haben Bürger
hatten. Der erste deutsche Bundespräsident Theo- in den Gemeinden. Die Instrumente Bürgerbegeh-
dor Heuss bezeichnete Volksabstimmungen als ren und Bürgerentscheid wu rden in den l 990er
,,Prämie für j eden Demagogen". Jahren eingeführt und finden sich heute in den
Gemeindeordnungen aller Bundesländer.
Die jüngsten Erfahrungen mit Referenden auf na-
tionaler Ebene (Brexit) scheinen Theodor Heuss zu
bestätigen. Gerade beim Brexit war festzustellen, Deutschland im Vergleich der Staaten
dass es den Befürwortern des Austritts gelungen
war, mit Panikmache und unwahren Behauptun- In den westlichen Demokratien werden direktde-
gen viele Menschen dazu zu bringen, für den Aus- mokratische Elemente unterschiedlich stark ge-
tritt zu stimmen (> Kap. 5. 1.1 ). Generell stellt sich nutzt. In zahlreichen westeuropäischen Staaten
deshalb die Frage, ob Referenden und Volksab- fanden Volksabstimmungen im Zusammenhang
stimmungen angesichts wachsender populisti- mit der EU statt (> Kap. 5.1.2). Aber auch in Ost-
scher Beeinflussungsversuche als geeignetes de- europa wurde 2003 die Frage des Beitritts zur EU
mokratisches Verfahren zur Entscheidungsfindung in neun von zehn Beitrittsländern durch eine
angesehen werden können. Volksabstimmung legitimiert.

Aufgaben

1. Geben Sie den Unterschied zwischen einem Volksbegehren, einem Volksentscheid und einem Referendum
mit eigenen Worten wieder.

2. Vergleichen Sie den Volksentscheid und das Referendum bezüglich der Einflussmöglichkeiten der Bevölke-
rung.

3. Setzen Sie sich kritisch mit dem Schaubild zur direkten Demokratie im Hinblick auf die Position der Bundes-
republik Deutschland im internationalen Vergleich auseinander.
.

KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Warum wir Volksabstimmungen brauchen

Jetzt die direkte Demokratie für den Brexit haftbar zu machen, ist so, als würden wir
das Recht auf Scheidungen für die Scheidungen selbst verantwortlich machen. Die
direkte Demokratie hilft zu offenbaren, wie es um eine Gesellschaft bestellt ist. Sie hilft,
ihren Zustand zu erkennen. Sie ist für die Gesellschaft wie ein Spiegel. So wenig wie
s ein Spiegel verantwortlich ist für das, was er abbildet, so wenig ist die direkte Demo-
kratie für den Zustand einer Gesellschaft verantwortlich. [... ]
Tatsächlich wissen wir jetzt mehr darüber, wie die Briten über Europa denken und auch
die Briten selbst heften sich nun Denkzettel an die Pinnwand der gesellschaftlichen
Aufgaben. Knapp 75 Prozent der unter 25-Jährigen waren für den Verbleib in der EU ,
10 60 Prozent der über 60-Jährigen dagegen. Ein Generationenkonflikt. [...]

Zu einfach wäre allerdings die Formel, es müsste nicht weniger, sondern mehr Refe-
renden geben. Auf europäischer Ebene (wie auch auf Bundesebene in Deutschland}
fehlt die direkte Demokratie gänzlich. Notwendig wäre die Möglichkeit, Volksbegehren
initiieren zu können, so dass die Bürgerinnen und Bürger von unten Themen auf die
15 politische Tagesordnung setzen und notfalls auch bis zu einer Abstimmung durchtra-

gen könnten. Die Politik könnte wie über einen Seismografen ablesen, was den Men-
schen auf den Nägeln brennt - und reagieren. Diese Form der direkten Demokratie,
die „von unten" ausgelöste Volksabstimmung, ist viel weniger zugänglich für Macht-
spiele als „von oben" angesetzte Referenden.
20 Natürlich verbindet sich mit dieser Forderung ein Menschenbild, das jede und jeden

in der Gesellschaft als fähig ansieht, Bürgerin und Bürger zu sein, also für die Gesell-
schaft auch zu bürgen, sich verantwortlich zu zeigen. Ja, es gibt komplexe Themen.
Der Austritt aus der EU ist bestimmt ein solches. Aber können wir, weil uns der Brexit
missfällt, Tante Emma und Bob dem Baumeister absprechen, dass sie sich eine Mei-
25 nung bilden und eine Position haben? [...]

Wer hat das Recht, zu entscheiden, ob ein Thema zu komplex für das Volk ist? Nur
das Volk selbst! Mit der direkten Demokratie von unten kommt es nur zu einer Abstim-
mung, wenn die Unterschrittenhürde bei einem Volksbegehren genommen wird. Hier
zeigt sich und zeigt das Volk selbst, ob es ein Thema für zu schwierig oder zu schwer-
30 wiegend ansieht.

Und generell gilt, was Olof Palme, der 1986 ermordete schwedische Ministerpräsident,
formuliert hat: ,,Es ist eine Irrlehre, dass es Fragen gibt, die für normale Menschen zu
groß oder zu kompliziert sind. Akzeptiert man einen solchen Gedanken, so hat man
einen ersten Schritt in Richtung Technokratie, Expertenherrschaft, Oligarchie getan.
35 Politik ist zugänglich, ist beeinflussbar für jeden. Das ist der zentrale Punkt der Demo-

kratie." Damit sei zugleich der Finger in eine offene Wunde dieser EU gelegt: Mehr
Demo-, weniger Bürokratie!

Ralf-Uwe Beck, www.cicero.de, 27.6.20 16

M 2 Repräsentative Demokratie wollten wir gar nicht infrage stellen

Andreas Nitsche, einer der Programmierer von Liquid Feedback, erzählt im Interview,
warum flüssige Demokratie das Vertrauen der Bürger in Politik wieder herstellen könn-
te.

ZEIT ONLINE: Was will Liquid Democracy?


s Andreas Nitsche: Für uns ist das ein Organisationsprinzip, das die Nachteile der
beiden Demokratieformen kompensieren will: Direkte Demokratie führt zu einer Über-
forderung der Menschen; parlamentarische Demokratie hat zwar den Vorteil der Ar-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

beitsteilung, ist dafür aber statisch - wer mitmachen will, muss sich wählen lassen.
Liquid Democracy will die Arbeitsteilung dynamisieren: Jeder beteiligt sich genau da
10 selbst, wo er etwas beitragen will und kann. In anderen Gebieten kann er seine Stimme
einem Menschen oder einer Gruppe übertragen, er kann sie an jemanden delegieren,
dem er vertraut. [ ... ]

ZEIT ONLINE: Könnte eine Liquid Democracy in der Zukunft Wahlen ersetzen?
Nitsche: Es handelt sich um eine Vision, ein Gedankenexperiment. Eine Liquid-De-
1s mocracy-Gesellschaft lässt sich zwar nicht für alle Zeiten ausschließen. Ich kann al-
lerdings aus heutiger Sicht keinen realistischen Weg dahin sehen. Es ist beispielswei-
se unklar, ob die vollständige Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen Politik und
Bürger, also jeden Bürger zum Politiker zu machen, überhaupt ein sinnvolles Ziel ist.
[... ] Es gibt aber auch technische Hürden. Mit einem Computer kann man nicht wählen.
20 Denn es gibt keinen Weg, über Computer und Internet geheim abzustimmen und das

Ganze dabei vertrauenswürdig zu gestalten. [ ... ]

ZEIT ONLINE: In der derzeitigen Gesellschaftsstruktur ist es also kein Ersatz für Wah-
len, sondern höchstens eine Ergänzung?
Nitsche: Uns erschien, als wir die Software Liquid Feedback programmierten, der di-
2s rekte Parlamentarismus als wenig praxisnah. Das Problem der direkten Demokratie ist
aus meiner Sicht die Überforderung des Einzelnen. Es sind viele Entscheidungen über
komplexe Probleme zu treffen. Wir wollten es daher vor allem Parteien und Organisa-
tionen anbieten Dort sammeln sich Menschen, die sich an Politik beteiligen wollen.
Außerdem gibt es bei Parteien viel Gestaltungsspielraum, Mitglieder können miteinan-
30 der die Richtung verhandeln. Das ist in der gesamten Gesellschaft nicht so leicht. Die
repräsentative Demokratie wollten wir gar nicht infrage stellen. Wir wollten erreichen,
dass Parteien volksnäher werden. Damit wäre schon sehr viel gewonnen. [...]

ZEIT ONLINE: Was für eine Form von Demokratie schwebt Ihnen vor?
Nitsche: Eine parlamentarische Demokratie mit Parteien, die jedoch wesentlich volks-
3s näher sind als heute. Indem sie beispielsweise ihren Mitgliedern d ie direkte Mitbestim-
mung ermöglichen. Ohne diese gläserne Decke aus Delegierten, die letztlich zur Ver-
selbständigung von Politik führt. Dann würde die parlamentarische Demokratie wieder
attraktiver. Man muss das Thema daher gar nicht auf die Ebene von Volksentscheiden
und Grundgesetzänderungen holen, denn es spricht ja nichts dagegen, dass Parteien
40 Zusammenschlüsse von Menschen sind, die sich für ein Thema interessieren.

Kai Bierma nn, www.zeit.de, 15 .2.201 3

Aufgaben
1. Stellen Sie die Argumente von Ralf-Uwe Beck in M 1 dar.

2. Vergleichen Sie die Positionen von Ralf-Uwe Beck (M 1) und Andreas Nitsche (M 2) zum
Thema Demokratie.

3. Diskutieren Sie in einem Streitgespräch (, Methodenglossar) die Einsatzmöglichkeiten und


-grenzen von Volksabstimmungen und Liquid Democracy.
4. 2. 2 Politische Beteiligung in Deutschland
Leitfragen Welche Bedeutung haben Welche Grundformen von Welche weiteren Möglichkeiten der
Wahlen in einer Demokratie? Wahlsystemen lassen sich Beteiligung im politischen Prozess
unterscheiden? haben die Bürger in Deutschland?

Beteiligung in Deutschland

In der repräsentativen Demokratie der Bundesrepu- Art. 38 des Grundgesetzes legt Wahlgrundsätze
blik gibt es für die Bürger im Prinzip sechs unter- fest, die bei Wahlen in der Bundesrepublik Deutsch-
schiedliche Möglichkeiten, sich im politischen Pro- land erfüllt sein müssen:
zess zu beteiligen und die eigenen Interessen
einzubringen. Dies sind • Wahlen müssen allgemein sein, d. h. unabhän-
gig z.B. von Geschlecht, Rasse, Sprache, Ein-
• Teilnahmen an Wahlen und Abstimmungen ; kommen Bildung, Konfession oder politischer
• Parteibezogene Aktivitäten; Überzeugung sind alle Staatsbürger stimmbe-
• Gemeinde-, Wahlkampf und Politiker bezogene rechtigt. Einige Voraussetzungen müssen je-
Aktiv itäten; doch erfüllt sein: ein bestimmtes Alter, deutsche
• legaler Protest; Staatsbürgerschaft, Besitz der geistigen Kräfte
• ziviler Protest und und der bürgerlichen Ehrenrechte sowie volle
• Politische Gewalt. rechtliche Handlungsfähigkeit.

Hierbei kann zwischen konventionellen (verfass- • Wahlen müssen frei sein, d. h. die Bürger müssen
ten, gesetzlich garantierten und geregelten) und zwischen mehreren miteinander ko nkurrieren-
unkonventionellen (nicht verfassten) Formen der den politischen Alternativen frei auswä hlen
politischen Beteiligung unterschieden werden. könne n. S ie dürfen nicht zur Wahl einer Partei
oder Person gedrängt oder gezwungen werden.
Während die Teilnahme an Wahlen eine konventi- Gleichzeitig kö nnen die Bürger auch frei ent-
onelle Form der Beteiligung ist, steht jedem über scheiden, ob sie von ihrem Wahlrecht Gebrauch
das Demonstrationsrecht eine unkonventionelle machen wollen.
Form der Beteiligung zu, d. h. das Recht, sich „ohne
Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waf- • Wahlen müssen geheim sein, d. h. es muss recht-
fen zu versammeln" (Art. 8 GG). Bürgerinitiativen lich und organisatorisch gewährleistet sein, dass
als eine weitere Form der unkonventionellen Betei- jeder Wähler eine nicht von anderen erkennba-
ligung werden meist aus der Bevölkerung heraus re Wahlentscheidung t reffen kann.
gebildet und wollen Einfluss au f die öffentliche
Meinung, auf staatliche Einrichtungen, Parteien • Wahlen m üssen gleich sein, d. h. jeder Wahlbe-
oder a ndere gesellschaftliche Gruppierun gen neh- rechtigte besitzt das gleiche Stimmengewicht -
men. der Zählwert der Stimmen der Wahlberechtigten
muss g leich sein. Dies bedeutet a uch, dass die
Wahlkreiseinteilung stets daraufhin zu überprü-
Beteiligung durch Wahlen - ein fen ist, ob das Verhältnis der Bevölkerungsan-
faires Verfahren? zahl zur Zahl der zu wählenden Abgeordneten
in den Wahlkreisen den Gleichheitsgru ndsatz
Zu den wichtigsten Rechten der Bürger hinsicht- nicht verletzt.
lich der politischen Mitwirkung in einer repräsen-
tativen Demokratie gehört das Wahlrecht. Dabei • Wahlen müssen unmittelbar sein, d. h. das Volk
unterscheidet man das Recht zu wählen (aktives muss seine Repräsentanten direkt ins Parlament
Wahlrecht) und das Recht sich selbst zur Wa hl zu wählen. Die Beauftragung von Dritten mit der
stellen (passives Wahlrecht). Wahl ist nicht zulässig.
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

Was soll ein Wahlsystem leisten?

Der deutsche Polit ikwissenschaftler Dieter No hle n 5. Legitimität: Das Wahlsystem und seine Ergeh-
hat fünf Anforderungen ide ntifiziert, die Wahl- nisse sollen allgemein akzeptiert sein.
systeme erfüllen müssen:

1. Repräsentation: Alle relevanten gesellschaftli- Welche Typen von Wahlsystemen gibt es?
chen Gruppen sollen möglichst entsprechend
ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung im Wahlsysteme stellen Verfahren bereit, mittels de-
Parlament vertreten sein. Die Wählerstimmen rer die Stimmen der Wähler entsprechend ihrer
sollen sich dabei proportional in Abgeord ne- Partei- oder Ka ndidatenpräferenz in Mandate
te nmandaten niederschlagen. übertragen werde n und die Zusammensetzung
von Parlamenten bestimmt wird. Die Ausgestal-
2. Konzentration: Die Zahl der im Parlament ver- tung des Wa hlsystems in demokratischen Staaten
t retenen Parteien soll möglichst gering sein, um ist i. d . R. das Ergebnis von Kompromissen zwi-
die Bildung stabiler pa rla mentarischer Mehr- schen den wichtigsten gesellschaftlichen und po-
heiten zu vereinfachen. lit ischen Gru ppierungen. Dies erklärt die enorme
Vielfalt verschiedenster Wahlsysteme, die sich
3. Partizipation: Die Wähler sollen möglichst gro- aber größtenteils alle au f zwei Grundtypen zu-
ße Mitwirkungsmöglichkeiten haben und ins- rückführen lassen: die Mehrheitswahl und die
besondere neben der Parteienwahl auch eine Verhältniswahl.
personelle Wahl treffen kön nen.
Bei de r Mehrheitswahl wird das Wahlgeb iet in so
4. Einfachheit: Die Wähler sollen die Funktions- v iele Wahlkreise eingeteilt, wie Mandate zu ver-
weise des Wahlsystems verstehen und der geben sind. In allen Wahlkreisen stellen sich Kan-
Wahlvorgang soll transparent sein. didaten zur Wahl. Gewählt ist, wer in diesem

W? ,~ysteme:
Mehrheitswahl
Einfache oder relative Absolute Mehrheit
Mehrheit

~
~
Erreicht keiner
Gewählt ist, Gewählt ist, der Kandidaten
wer die wer mehr C • die absolute
meisten als die Hälfte Mehrheit, findet
Stimmen aller Stimmen ggf. ein zweiter
8
erhält erhält Wahlgang statt

Beispiel:
Wahl in Einer-Wahlkreisen ■
,
----•----- ----•-----
In jedem Wahlkreis Die Wähler geben
ist ein Mandat zu vergeben, jeweils einem der Kandidaten
um das sich mehrere (A, B, C, D ...)
Kandidaten bewerben ihre Stimme ~

Wahlberechtigte
Bevölkerung
~-~mt\.
~
in gleich großen
Wahlkreisen

.___ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ IZAHLENBILDERl-ffi
c Bergmoser + Höl/er Verlag AG 85 010
4.2 Die Bürger im politischen Prozess

systeme:
Verhältniswahl
Beispiel: Listenwahl
,,,.
Sitzverteilung entspricht
annähernd dem Stimmenanteil

Wahl in großen
Wahlkreisen,
in denen mehrere Umrechnung der Stimmen in Mandate
Mandate zu Zuteilung der Mandate an die Listenbewerber
vergeben sind 1 1

1
~
4 --
=- ~1
~
4-
=- ~1
~
4--
==- Kandidatenlisten
der Parteien
5 - 5 -- 5 --
~

A=
a=
c= Die Wählerinnen und Wähler
Qo= entscheiden sich mit ihrer Stimme
für die Liste einer P artei

'------------===================-- IZAHLENBILDERl f f i
Cl Bergmoser + Höller Verlag AG 85 015

Wahlkreis die meisten Stimmen erhält (relative Vor- und Nachteile beider Wahlsysteme
Mehrheitswahl). Diese Variante wird z.B. bei der
Wahl zum Unterhaus im Vereinigten Königreich Die Mehrheitswahl hat als großen Vorteil den
oder den Kongresswahle n in den USA a ngewandt. mehrheitsbildenden Effekt, d. h. dass sie zu stabi-
Bei de r absoluten Mehrheitswahl ist derjenige len Mehrheiten führt und eine schnelle Regie-
Kandidat gewählt, der die a bsolute Mehrheit der run gsbildung möglich macht. Gewöhnlich kann
Stimmen (die sogenannte Formel 50 °10 plus eine die Mehrheitspartei ohne Koalitionspartner die
Stimme) im Wahlkreis erhält. Da eine solche Regierung stelle n. Es best eht zudem eine enge
Mehrheit meist ni cht sofort zu erreichen ist, wird Verbindung des Abgeordneten zu seinem Wahl-
meist ein zweiter Wahlgang zwischen den beiden kreis.
Bestplatzierten no twendig.
Der Nachteil liegt darin, dass alle Stimmen, die für
Bei der Verhältniswahl legen hingegen die Partei- die unterlegenen Kandidaten im Wahl kreis abge-
en Listen mit Namen von Kandidaten für das j e- geben wurden, u nter den Tisch fallen. Ein großer
weilige Wahlgebiet vor. Alle Stimmen, die fü r eine Teil der Wa hlbevölkerung ist demnach nicht im
Partei abgegeben wurden, werden zusammenge- Parlament repräsentiert, da ein ebenso gro ßer na-
zählt. Aus dem Gesamtergebnis wird dann errech- tionaler Stimmenanteil nicht in Mandate umge-
net, wie v iele Parlame ntssitze den Parteien nach rechnet wird. Der mehrheitsbildende Effekt kommt
ihrem Stimmenanteil zustehen. Wenn eine Partei großen Parteien zugute und geht zu Lasten der
z. B. 20 O/o der Wählerstimmen errungen hat, be- kleineren Parteie n. Wegen der Benachteiligung
komm t diese auch gru ndsätzlich 20 °10 der Parla- kleinerer Parteien spricht man von der „Feindlich-
mentssitze. Diese Sitze werden da nn a n die Kan- keit der Mehrheitswahl gegen Drittparteien". Es
d idaten in der Reihenfolge verteilt, wie sie auf der können sich meist nur zwei große Parteien im Par-
Liste ihrer Partei platzie rt wa ren. lament etablieren.
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

Dies kan n allerdings dazu führen, dass das Parl a-


So funktioniert die Bundestagswahl
ment in seiner Zusammensetzung seh r stark frag-
mentiert ist, weil v iele verschieden e politische
Wahlberechtigte Parteien rep räsentiert sin d. Zur Bildung einer Re-
Bevölkerung gierun g ist dann i. d. R. eine Koalition erforderlich.
Wahl-
Wahl- Wahl- kreis 3
Je mehr (klein ere) Parteien dazu nötig sind, desto
kreis 1 kreis 2 instabiler wird die Regierung. Das Ausscheren ei-
Wähler aufgeteilt in
ner einzigen kleinen Partei aus der Koalition kan n
299 etwa gleich dann dazu führen, dass die Regierung keine Par-
große Wahlkreise.
lamentsmehrheit mehr besitzt und abgewählt wird
bzw. zurücktreten muss.
Jeder Wähler kann zwei Stimmen abgeben:

Stimmzettel
Parteien können - Erststimme Zweitstimme - Die Zweitstimme Das Wahlsystem der Bundesrepublik
pro Wahlkreis O Kandidat A O Partei A gilt den Parteien.
einen Kandidaten O Kandidat 8 0 Partei B
aufstellen. Das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland
0 KandidatC O ParteiC
~ KandidatD ll( Partei D versucht die Vorteile beider Wahlsysteme mitein-
ander zu verbinden u nd deren Schwächen so weit
wie möglich auszu gleichen. Es wird als persona-
lisierte Verhältniswahl bezeich net. Mit diesem
Wahlergebnis im Wahlkreis Zweit stimmen der einzelnen Parteien Verfahren werden 598 Sitze im Bundestag besetzt.
werden bundesweit addiert. Parteien Jeder Wähler hat dabei zwei Stimmen. Mit der

Kandidat
.1.1
A B C D
mit weniger als 5 % aller Stimmen
werden nicht weiter berücksichtigt. Erststimme werden nach der relativen Mehrheits-
wahl 299 Direktmandate vergeben. Dazu wird das
Wahlgebiet in entsprechend v iele Wahl kreise ein-
+
f
Der Kandidat D hat die
meisten Stimmen und Partei A Partei B Partei C Partei D
geteilt, in denen die Parteien ihre Kandidaten a uf-
stellen. Die gewählten Kandidaten ziehen au f je-
8 zieht für seine Partei in <5%
den Fall in den Bundestag ein.
111..g)' den Bundestag ein. Entsprechend der Stimmanteile werden
die 598 Bundestagsmandate auf die
Bundestag
Parteien verteilt". Die Zweitstimme ist die wichtigere der beiden
Stimmen. Mit ihr wird eine Partei gewählt. Die
Die Bundestagssitze werden
..""""'---c zur Hälfte mit den Wahlkreis- Zweitstimme entscheidet über die Gesamtzahl der
gewinnern besetzt. Die
übrigen freien Plätze füllen
Sitze für eine Partei im Bundestag. Dazu stelle n

..
die Parteien mit Kandidaten die Parteien in den Bundesländern La ndesliste n
ihrer Landeslisten.
mit Kand idat en auf. Für diese Listen geben die
598 Sitze
Wähler ihre Zweitstimmen ab. Nach dem Sain-
-
+ Uberhangmandate III III te-Lague / Schepers-Verfahren wird ermittelt, wie
viele Kandidaten von der Landesliste der Partei in
Wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreissieger hat,
als ihr dort anteilig Sitze zustehen, bekommt sie zusätzliche Sitze. den Bundestag einziehen dürfen. Davon werden
Die anderen Parteien erhalten so viele Ausgleichsmandate, bis die schon erreichten Direktma ndate abgezogen
das ursprüngliche Kräfteverhältnis wieder hergestellt ist.
und die restlic hen Mandate werden nach der Rei-
hen folge der Ka ndidaten über die Landeslisten der
dpa 19572
0 'Saint-Lague-Berechnungsverfahren Quelle: BpB, Korte
Parteien besetzt. Die beiden Stimmen können für
verschieden e Parteien abgegeben werden (Stim-
Anders als bei der Mehrheitswahl sind bei der Ver- mensplitting).
hältniswahl gru ndsätzlich a lle Parteien im Parla-
ment vertreten, die eine ausreichende Zahl a n Um eine zu starke Zersplitterung des Parlaments
Stimmen erhalten haben. Jede Wä hlerstimme wird zu vermeiden, wurde eine sog. Sperrklausel
bei der Umrechnung des Wahlergeb nisses in Par- (Fünf-Prozent-Klausel) eingeführt. Danach wer-
lamentssitze in gleicher Weise berücksichtigt. Das den bei der Sitzverteilung nur die Zweitstimmen
Parla ment ist dementsprechend die „Landkarte der von Parteien gewertet, die mi ndestens fünf Pro-
Gesellschaft". zent der abgegebenen gültigen Zweitstimmen
4.2 Die Bürger im politischen Prozess

Verschiedene Rechenverfahren zur Umrechnung von Wählerstimmen in Mandate

nach d ' Hondt


Von der
Wählerstimme
j)-
Beispiel: Es sind Sitze zu vergeben

geteilt durch
1
2
---
Partei A

6000
3000
0
e
Partei

3100 .
1550 0
B Partei C

2950
1475
0
e
zum Mandat
vertahren der
Stimmenverrechnung
in Verhältniswahl-
systemen
3 2000 0 1 033 E> 983 ~~

4 1 500 0 775 738


5 1 200 0 620 590
6 1 000 0, 517 492
..l,.,., ...... ..

Die zu vergebenden Sitze


.;, /.,:,:: . . ;,

bis werden in der


., ',<t ·, .
)1 ; :·~
Reihenfolge der Höchstzahlen
r •-
auf die Parteien verteilt '

- ---- T T T I'
,.
. ,,,,.,..

nach Hare/Niemeyer nach Sainte-Lague/Schepers

Es sind Sitze zu vergeben Es sind Sitze zu vergeben

Partei A Partei B Partei C Partei A Partei B Partei C

lfäd,@Mid1.-mI1111Eilll mmlllmDIIIEilll
Für jede Partei wird berechnet: Die Stimmen der Parteien, die an
der Sitzvergabe teilnehmen, werden
Gesamtzahl der Sitze x Stimmenzahl der Partei durch einen Divisor geteilt. Als Divi-
Gesamtzahl der Stimmen aller Parteien sor eignet sich die auf einen Sitz
durchschnittlich entfallende Anzahl
der Stimmen, hier: 1 095.
5,48 2,83 2,69
Die Ergebnisse der Division werden
anschließend auf ganze Zahlen auf -
Am Ergebnis ist vor dem Komma oder abgerundet. An den ganz-
abzulesen, wie viele Sitze jede Partei zahligen Resultaten lässt sich die
mindestens erhält. Sitzverteilung unmittelbar ablesen.
Die dann noch zu vergebenden Sitze Ist ihre Summe größer/kleiner als
werden den Parteien in der Reihen- erforderlich, wird die Rechnung mit
folge der größten Zahlenbruchteile einem größeren /kleineren Divisor
hinter dem Komma zugeteilt. wiederholt.

5,48 2, 83 2, 69
5,48 2,83 2,69
abgerundet aufgerundet aufgerundet
T T +1 T +1 T T T
L----......:=.a _ _ _ L----......:=.I _ _ _

,_v_e_r_ei_nf_ac_h_te_M_od_e_ll_re_ch_n_u_ng_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ l ZAHLENBILDERl - f f i

<C Bergmoser + Höller Verlag AG 86 131


4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

oder mindestens drei Direktmandate erhalten ha- 2012 auch das reformierte Wahlverfahren nach
ben. So zog die PDS 1994 gemäß der Sperrklausel Sainte-Lague / Schepers als teilweise rechtswidrig
mit 30 Abgeordneten in Gruppenstärke in den eingestuft.
Bundestag ein, obwohl sie bei den Wahlen nur 4,4
Prozent der Zweitstimmen, dafür aber vier Direkt- Am 21. Februar 2013 verabschiedete der Bundes-
mandate gewonnen hatte. 2002 zogen zwei Kan- tag schließlich eine Änderung des Bundeswahlge-
didaten der PDS per Direktmandat als fraktions- setzes mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/
lose Abgeordnete in den Bundestag ein, da die CSU, SPD, FDP und Bündnis 90 / Die Grü nen. Die
Partei lediglich vier Prozent der Zweitstimmen Linksfraktion stimmte dagegen. In dieser Version
erreichen konnte. werde n die sog. Überhangmandate durch Aus-
gleichsman date neutralisiert. Das neue Modell
Gewinnt eine Partei in einem oder mehreren Bun- läuft darauf hinaus, dass die Parteien, die weniger
desländern mehr Direktmandate als ihr nach ih- oder keine Überhangmandate gewonnen haben,
rem Zweitstimmenanteil eigentlich zustehen, so zum Ausgleich genauso viele Mandate zugestan-
behält sie diese als Überhangma ndate. Der Bun- den bekommen, bis die ursprünglichen Mehrheits-
destag vergrößert sich dan n um die Zahl der Über- verhältnisse wieder hergestellt sind.
hangma ndate aller Parteien.
Bei der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am
Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Ent- 22. September 2013 wu rde das neue Wahlverfah-
scheidung im Jahr 2008 das damals gültige Wahl- ren zum ersten Mal angewandt. Das Ergebnis
verfahren nach Hare/Niemeyer teilweise für rechts- führte zu einer Vergrößerung des Bundestages.
widrig erklärt, da es durch die Verrechnung der Mit der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag vom
Landeslisten gegeneinander z u Benachteiligu ngen 24.9.2017 sind sieben Parteien mit 709 Abgeord-
kommen kan n. Nach der Wahlrechtsreform von neten aufgrund von Überhang- und Ausgleichs-
2011 hat das Bundesverfassungsgericht am 5. Juni mandaten im Parlament vertreten.

Die Nichtwähler
Nicht abgegebene Stimmen
bei den Bundestagswahlen
In % aller Wahlberechtigten

1949 '53 '57 '61 '65 '69 '72 '76 '80 '83 '87 '90 '94 '98 '02 '05 '09 '13 2017

ffi IZAHLENBILDERI _ _-======================,,,...----'


10 Bergmoser + Höller Verlag AG 88607
4.2 Die Bürger im politischen Prozess

Wählertypen

Das Wahlverhalten in der Bundesrepublik • Wechselwähler : Wechselwähler identifizieren


Deutschland hat sich in den vergangenen J ah ren sich kaum oder gar nicht mit einer bestimmten
stark verändert. Die Zahl der Stammwähler hat Partei u nd bleiben da her i. d. R. auch keiner Par-
immer weiter abgenommen, die Zahl der Wechsel- tei ü ber mehrere Wahlen hinweg treu. Ein
wähler und der Nichtwähler dagegen stetig zuge- Wechselwähler im engeren Sinne ist, wer seine
nommen. Für die Parteien bedeutet dies, dass sie Entscheidung für eine Partei vo n einer Wah l zur
sich „ihrer" Klientel nicht mehr sicher sein kön- nächsten ändert.
nen. Wahlforscher unterscheiden dabei folgende
Wählertypen voneinander: • Nichtwähler: Nichtwähler beteiligen sich aus
unterschiedlichen Gründen nicht an Wahlen. Da
• Stammwähler: Stammwähler si nd Wähler, die die Höhe der Wahlbeteiligung generell a ls Aus-
sich stark mit einer Partei identifizieren und die- druck der Zustimmung der Bevölkerung zur
se über mehrere Wahlen hi nweg wählen. Sie Demokratie gewertet werden kann, wird die
sind von den anderen Parteien kaum zum Wech- Zahl der Wahlenthaltungen meist krit isch beob-
sel ihrer Stimmabgabe zu überreden. achtet.

Aufgaben
1. Beschreiben Sie die Möglichkeiten, in Deutschland am politischen Prozess zu partizipieren.

2 . Vergleichen Sie die Vor- und Nachteile der beiden Wahlsysteme mit Hilfe einer Tabelle.

3. Beurteilen Sie, inwiefern das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag den Anforderungen Nohlens an Wahlen
gerecht wird. Verteilen Sie dazu jeweils Punkte auf die einzelnen Kriterien (0 Punkte= nicht erfüllt bis 5 Punk-
te = voll erfüllt). Begründen Sie Ihre Zuordnung.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Wer nicht wählen will, soll zahlen

Neben den Schnarchnasen, Vergesslichen und Uninformierten gibt es viele, die ganz
bewusst nicht wählen gehen. Sie haben politische Überzeugungen und Ziele. Die For-
sa-Studie bescheinigt sogar der Mehrheit der Nichtwähler (59 Prozent) ein Interesse
am politischen Geschehen dieses Landes. Viele Nichtwähler wollen ein Zeichen setzen
5 und ihre Unzufriedenheit mit dem Status quo oder dem Angebot der Parteien äußern.
Doch leider geht diese Logik nicht auf. Über die Zusammensetzung des Bundestages
entscheidet die prozentuale Verteilung der gültigen Stimmen. Die Parteien bekommen
das Nichtwählen, und sei es noch so politisch motiviert, überhaupt nicht zu spüren,
jedenfalls nicht, solange alle Parteien gleichermaßen von den Nichtwählern bestraft
10 werden. Daher haben Parteien grundsätzlich auch kein Interesse daran, alle Wahlbe-
rechtigen an die Urnen zu locken. Der parteitreue Wähler ist gern gesehen, alle ande-
ren sind gefährliche freie Radikale, die den potenziellen Sieg vermasseln. Theoretisch
könnte der gesamte Bundestag von nur ein paar Tausend Leuten gewählt werden und
wäre dennoch handlungs- und beschlussfähig.
15 Nicht zu wählen führt demnach nicht zur Veränderung von politischen Positionen oder
Machtverhältnissen, eher bestärkt es im Zweifel etablierte Kräfte und ihre Meinungen.
Und genau dort liegt der Ursprung jenes Stillstandes, der nicht nur dem Nichtwähler,
sondern auch allen anderen gehörig auf die Nerven geht. [... ]
Denn wählen zu gehen ist nicht nur ein Akt der Unterstützung für eine bestimmte Par-
20 tei und ihre Repräsentanten (die uns zugegebenermaßen aktuell nicht besonders ge-
fallen). Wählen bedeutet in erster Linie einen Beitrag zur Erzeugung eines gesellschaft-
lichen Meinungsbildes. Wahlen zeigen, wie zufrieden oder unzufrieden wir mit den
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen sind. Sie legen dar, was wir als
wichtig und was als unwichtig empfinden. Unsere Gesellschaft, also wir, braucht die-
2s ses verbindliche Stimmungsbarometer, um Weichen für die Zukunft zu stellen. Daher
schaden wir mit dem Nichtwählen nicht nur unseren Interessen, sondern unserem
Gemeinwesen im Ganzen. Nichtwähler stellen keine Weichen, sondern sprengen
gleich den ganzen Gleisabschnitt.

Ein Enthaltungsfeld für Wahlverweigerer

Darum plädieren wir für die Einführung einer gesetzlich verankerten Wahlpflicht in
30 Verbindung mit einem zusätzlichen „Enthaltungsfeld" auf jedem Wahlzettel. Jede und
jeder Wahlberechtige muss wählen gehen, auch wenn er oder sie nur Enthaltung an-
kreuzt. Sollte man nicht zur Wahl erscheinen oder den Briefwahlumschlag nicht ab-
senden, ist eine kleine zweckgebundene Abgabe fällig. Das gesammelte Geld kann
beispielsweise in den Bildungsetat der Länder einfließen, um politische Bildung an
35 Schulen stärker zu unterstützen.
Die Vorteile einer Wahlpflicht liegen auf der Hand. Die größere Wahlbeteiligung erhöht
die Legitimation des Parlaments und der Regierung, die es dann wählt. Durch die
Enthaltungsoption kann der Wähler wirksam und direkt eine Nachricht an die Politik
senden. Ein Kreuz in einem Enthaltungsfeld hat mehr Aussagekraft, als von der Wahlur-
40 ne wegzubleiben.
Außerdem regt eine Wahlpflicht dazu an, nachzudenken, zu diskutieren und zu ent-
scheiden. Das wird unsere Demokratie beleben und den Wettbewerb um die besten
Ideen und Lösungskonzepte befeuern.
Es wird gerne behauptet, eine Wahlpflicht verletze Persönlichkeitsrechte und begren-
45 ze so unsere Freiheit. Könnte es aber nicht eher sein, dass Freiheit hier mit Flucht aus
der Verantwortung verwechselt wird? Seim Wählen geht es nicht bloß um die Aus-
übung einer Freiheit, es geht darum, Verantwortung anzuerkennen. Freiheit ohne Ver-
KOMPETENZEN ANWENDEN 1 •

antwortung führt zu Unfreiheit, entkernt die Demokratie und führt letzten Endes zu
Anarchie, dem totalen Verlust von Gemeinschaft. [... ]
50 Folglich ist die Wahlpflicht kein Instrument, das die Bürger enger an den Staat bindet,
sondern eine Möglichkeit, die Bürger vom illegitimen Einfluss anderer zu befreien. Die
Wahlpflicht ist mehr Chance als Zwang , mehr ein kluges Korrektiv als ein Akt der Be-
vormundung. Und somit erinnert uns die Wahlpflicht daran, unsere Freiheit wahrzu-
nehmen und dadurch zu wahren.

Vincent-l mmanuel H err / Martin Speer, www.zeit.de, 25.8.20 13

M 2 Vom Recht, unpolitisch zu sein

Die ganze Diskussion missachtet sträflich ein Grundprinzip einer freiheitlichen Gesell-
schaft: Das Recht, unpolitisch zu sein, das Recht, das Wählen den anderen zu über-
lassen, das Recht, sich um die „res publica" nicht zu kümmern, das Recht, sich als
Trittbrettfahrer unseres demokratischen Gemeinwesens wohl zu fühlen. Ich finde sol-
5 ehe Zeitgenossen weder vorbildlich noch sonderlich klug, aber ich respektiere ihre freie
Entscheidung. Das unterscheidet nämlich die freiheitliche von der totalitären Gesell-
schaft.
Manche Bürger wählen nicht mehr, weil sie „denen da oben" ohnehin nichts zutrauen.
Andere Nichtwähler verstehen gar nicht, was die Parteien unterscheidet. Eine dritte
10 Gruppe wiederum vertritt die Ansicht, die Sonne werde auch am Morgen nach dem
Wahltag aufgehen, ganz gleich, wer am Tag zuvor wie viele Stimmen bekommen hat.
Wahlabstinenz kann durchaus auch ein Zeichen eines diffusen Grundvertrauens sein:
Es ist noch immer gut gegangen.
Eine niedrige Wahlbeteiligung ist unter dem Aspekt der Legitimation der Gewählten
15 zweifellos unerfreulich. Schlimmer noch: Eine niedrige Wahlbeteiligung hilft den Popu-
listen von rechts und links, weil die ihre „Wutwähler" meist besser zu mobilisieren
verstehen als die Volksparteien mit ihrer eher satten Wählerschaft. Aber soll man des-
halb eine Wahlpflicht einführen, etwa die Wahlabstinenz mit Geldbußen bekämpfen
wie in Belgien? Oder gar mit Gefängnis wie in Ägypten?
20 Wir Deutsche haben ja Erfahrung mit Zeiten, in denen sich „das ganze Volk" angeblich
freudig erregt aufmachte, mit seiner Stimme dem „Führer" zu huldigen oder zum Sieg
des Sozialismus beizutragen. Im Dritten Reich wie im real existierenden Sozialismus
machte sich verdächtig, wer sich am Wahltag abseits stellte. Heute muss niemand
irgendwelche Nachteile befürchten, wenn ihm das Faulenzen zu Hause oder der Aus-
25 flug ins Grüne wichtiger ist als die Stimmabgabe. Und genau das macht eine freiheit-
liche, demokratische Gesellschaft aus: dass sie jeden nach seiner Facon selig werden
lässt, auch den Wahlverweigerer.
Rüstet also ab, ihr „Wahlrecht-ist-Wahlpflicht"-Prediger. An einer niedrigen Wahlbetei-
ligung ist noch keine Demokratie zerbrochen.

H ugo Müller- Vogg, www.ci cero.de, 16.9.2014

Aufgaben
1 . Fassen Sie die Position und die Argumentation der beiden Autoren aus M 1 und M 2 zur
Einführung einer Wahlpflicht zusammen.

2. Erklären Sie, warum Hugo Müller-Vogg sich für das Recht ausspricht, unpolitisch zu sein
(M2).

3. Beurteilen Sie die Einführung einer Wahlpflicht und stellen Sie Ihre Position auf einer Positi-
onslinie dar. Verwenden Sie zur Begründung Ihrer Position auch Argumente, die Sie aus
M 1 und M 2 erschlossen haben.
Vermittler zwischen Bürgern
• und politischen Institutionen
4.3."1 Politische Parteien

Leitfragen Was sind Parteien? Welche Funktionen haben Welche rechtlichen Grund-
Parteien? lagen gibt es für Parteien?

Was sind Parteien?

Das Grundgesetz weist Parteien im politischen (2) Eine Vereinigung verliert ihre Rechtsstellung
System der Bundesrepublik eine besondere Stel- als Partei, wenn sie sechs Jahre lang weder a n
lung zu. Indem ihnen als Aufgabe explizit die po- ei ner Bundestagswahl noch an einer Landtags-
litische Willensbildung des Volkes zugewiesen wahl mit eigenen Wahlvorschlägen teilgenommen
wird, schreibt es ihnen sogar Verfassungsrang zu: hat.

Art. 21 Abs. 1 GG „Die Parteie n wirken bei der Das Parteiengesetz definiert damit genau was Par-
politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre teien s ind und wann sie ihre Rechtsstellung als
Gründu ng ist frei. Ihre innere Ordnung muss de- Partei wieder verliert. Entscheidend ist, dass sie
mokratischen Grundsätzen entsprech en. Sie müs- bei Wahlen antritt.
sen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mit-
tel sowie über ihr Vermögen öffentlich
Rechensch aft geben." Das Parteiensystem

Parteien streben danach, ihre Interessen in den Unter dem Begriff des Parteiensystems werden die
politischen Entscheidungsprozess einzubringen. Beziehungen und Interaktionen der einzelnen
Der Begriff Partei leitet sich vom lateinischen pars Parteien zueinander subsummiert. In der Politik-
(= Teil) ab. Dies weist darauf hin, dass Parteien wissenschaft wird meistens zwischen Zwei- und
jeweils nur einen Teil der Bevölkerung bzw. deren Mehrparteiensystemen unterschieden. Bei der
Interessen repräsentieren und diese gegeneinan- konkreten Ausgestaltung des Parteiensystems
der bei Wahlen anbieten. Der Wettbewerb der spielen vor allem die Einflussfakto ren Gesell-
Parteien um Stimmen prägt dabei in besonderer schaft, politisches System und Geschichte/ Kultur
Weise das politische Leben innerhalb der reprä- eine Rolle. Während eine eher interessenshomo-
sentativen Demokratie Deutschlands. gene Gesellschaft eher zu einem Zweiparteiensys-
tem führt, herrscht bei einer interessensheteroge-
Neben dem Grundgesetz gibt es in Deutschland nen Gesellschaft eher ein Mehrparteiensystem
ein Parteiengesetz, das sich explizit mit Parteien vor. Zudem hat aber auch das Wahlsystem einen
auseinandersetzt bzw. die gesetzliche Grundlage Einfluss auf das Parteiensystem, so dass bei einem
für ihr Wirken darstellt. Hierin heißt es u. a.: Mehrheitswahlrecht eher ein Zweiparteiensystem
und beim Ve rhältniswahlrecht eher ein Mehrpar-
PartG Art. 2 teiensystem zu erwarten ist.
( 1) Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die
dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Auch die historische Verwurzelung von Parteien
Bundes oder eines Landes auf die politische Wil- in den verschiedenen Milieus einer Gesellschaft
lensbildung Einfluss nehmen und a n der Vertre- (> Kap. 1.3) begünstigt eher ein Mehrparteiensys-
tung des Volkes im Deutschen Bundestag oder tem. Auch heute noch reflektieren Parteien histo-
einem Landtag mitwirken wollen [...]. rische Konflikte - die sog. Cleavages. Oft werden
4.3 Vermittler zwischen Bürgern und politischen Institutionen

Parteiensysteme auch in ein Links-Rechts-Sche- bzw. auf zweieinhalb Parteien mit der FDP als
ma eingeteilt. Rechts werden konservative sowie „Zünglein an der Waage" gab, ist es seit den
eher marktliberale Parteien eingeordnet, während l 980er Jahren zu einer Ausdifferenzierung des
links Parteien eingeordnet werden, die einen so- Parteiensystems gekommen.
zialen Ausgleich bzw. größere gesellschaftliche
Liberalität fordern. Im 19. Deutschen Bundestag sind mit CDU, CSU,
SPD, FDP, Bündnis 90 / Die Grünen, der Linken
Während es in Deutschland bis in die 1970er Jah- und der AfD insgesamt sieben Parteien in sechs
re eine Konzentration des Parteiensystems auf drei Fraktionen jm Parlament vertreten.

Die Wahlen zum Deutschen Bundestag


Stimmenanteile in % (Zweitstimmen)

1949 53 57 61 65 69 72 76 80 83 87 90 94 98 2002 05 09 13 17**

- - - Gesamtdeutschland - - -

20,5
14 12,6

5,8

dpa•27265 1949 nur eine Stimme pro Wähler *vormals PDS **vorläufiges amtliches Endergebnis

Volks- und Interessenparteien In Deutschland werden vor allem die Unionspar-


teien und die SPD als Volksparteien bezeichnet, da
Bei Parteien kann generell zwischen Volks- und sie keine miteinander völlig unvereinbaren Teilin-
Interessenparteien unterschieden werden. Volks- teressen repräsentieren.
parteien haben für sich den Anspruch formul iert,
alle Bevölkerungsgruppen bzw. deren Interessen Interessenparteien bzw. Klientelparteien, aber
zu vertreten und miteinander in Einklang zu brin- auch Parteien im Allgemeinen, geraten dabei im-
gen. Dem gegenüber stehen Interessenparteien, mer wieder dann in die Kritik, wenn sie politische
die aufgrund ihrer Größe oder aufgrund einer Ni- Entscheidungen durchsetzen wollen, ohne das All-
sch e im Parteiensystem nur spezifische Interessen gemeinwohl zu berücksichtigen - und somit eine
vertreten (wollen) . gesellschaftliche Gruppe bevorzugen würden.
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

Welche Funktion erfüllen Parteien im politi- Diese Regelungen orient ieren sich an der freiheit-
schen Prozess? lichen demokratischen Grundordnung (FDGO) der
Bundesrepublik Deutschland. So gelten für Partei-
Als Organisationen im intermediären System, en u. a . auch die Elemente Volkssouveränität, Ge-
d. h. im Bereich zwischen Bürger und Staat, in dem walten teilung, Verantwortlichkeit der Exekut ive,
die Parteien als Mittler a uftreten, können ver- Minde rheitenschutz, das Mehrheitsprinzip, die
schiedene Funktionen von Parteien unterschieden Freiheit des Einzelnen, der Pluralismus und die
werden: Rechtsstaatlichkeit. Wesentlich ist folgendes gere-
gelt:
• Personalrekrutierung: Parteien wählen Ka ndi-
daten aus, die in ihrem Sinne öffentliche Ämter • Mitgliedschaft: Alle Bürgerin nen und Bürger
übernehmen sollen. haben das Recht - ohne Ausnahmen, d. h. un-
abhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion
• Interessenartikulation: Parteien formuliere n etc. - in eine Partei eint reten zu kö nnen.
Interessen und damit Forderungen nach Verän-
derung, die sie in Form von politischen Ent- • Teilhabe an Willensbildung von unten nach
scheidungen umsetzen wollen. oben: Die Parteimitglieder kö nnen an den Pro-
g rammen mit arbeiten, indem sie ein Antrags-
• Programmfunktion: Parteien bündeln und in- recht haben, und an der Aufstellung vo n Kan-
t egrieren die Interessen de r Bevölkerung und didaten teilnehmen. Die Parteien müssen sich
erstellen auf dieser Basis ein Programm, welches hierfür territorial gliedern.
die Forderungen und Vorha ben bein halten, die
sie beim Eintritt in die Regie rung durchsetzen • Organe der Legislative, Exekut ive und Judika-
wollen. Mit diesen Programmen t reten sie bei tive: Als oberstes legislatives Organ beschließt
Wahlen an und werben um Wählerstimmen. die Mitgliederversammlung das Parteiprogramm
und wählt den Vorstand. Die Vorstände leiten
• Partizipationsfunktion : Parteien ermögliche n als exekutives Organ das Tagesgeschäft einer
es den Bürgern, an politischen Entscheidungen Partei, sind den Mitgliederversammlungen re-
mitzuwirken und sich damit auf Basis ihrer in- chenschaftspflichtig und kön nen abgewählt
dividuellen Interessen polit isch zu beteiligen. werden. Parteischiedsgerichte schlichten Strei-
Zudem erhalten die Bürger durch sie die Mög- tigkeiten zwischen der Partei und einzelnen
lichkeit, sich an der Gestaltung der Pa rteipro- Mitgliedern.
gramme zu beteiligen und bei der Auswahl der
Kandidaten mitzuentscheiden.
Wie finanzieren sich Parteien?
• Legitimationsfunktion: Durc h die Verbindung
zwischen Staat und Gesellschaft, dem Einbrin- Zur Erla ng ung fin anzieller Mittel, die Parteien
gen von Interesse n sowie die Info rmation und u. a. benötigen, um Wahlkämpfe zu betreiben u nd
Begründung politischer Entscheidungen tragen ha upta mtliche Mita rbeiter zu bezahlen, stehen ih-
Parteien zur Akzepta nz der politischen Ordnung nen v ier Einnahmequellen zur Verfüg ung: Mit-
bei. gliedsbeiträge, Spenden, staatliche Fina nzierung
und wirtschaftliche Betätigungen.

Innerparteiliche Demokratie Die Finanzierung der Parteien, insbesondere die


staatliche Finanzierung (> Schaubild), ist nicht un-
Aufgrund des großen Einflusses, den Parteien auf umstritten. Gegner a rgument ieren, dass die Partei-
politische En tscheidungen haben, sollen sie allen en sich nur aus den Mitgliedsbeiträgen fi na nzieren
Bürgern zur Mitwirkung offenstehen. Für die in- sollten, da sie auch nur die Interessen der Mitglie-
nerparteiliche Organisation legt Art. 21 Abs. 1 GG der vertreten. Befürworter der staatlichen Finan-
eine demokratische Ordnung fest. Auch im Partei- zierung hingegen führen an, dass die demokrati-
engesetz wird den Parteien in den Artikeln 6- 16 sche Grundordnung in Deutschla nd Parteien
eine innerparteiliche Demokratie vorgeschrieben. benötige, da diese wesentliche Funktionen über-
4.3 Vermittler zwischen Bürgern und politischen Institutionen

· Parteienfinanzierung
Private Mittel
., --Staatliche Mittel
----------------~
Beiträge · Zuschüsse für Wählerstimmen
von Mitgliedern • je 0,85 € für die ersten 4 Millionen Stimmen,
und Mandats-
trägern • 0,70 € für jede weitere Stimme
bei den jeweils letzten Bundestags-, Europa-
und Landtagswahlen
Voraussetzung: ein Stimmenanteil von mind. 0,5 % bei
Spenden Wahlen auf Bundesebene bzw. 1,0 % bei Landtagswahlen

Zuschüsse zu den Beitrags- und


Einnahmen Spendeneinnahmen
aus Partei- • 0,38 € für jeden Euro aus privaten Beiträgen
vermögen und Spenden (bis zu einem Betrag von 3 300 €
pro Person und Jahr)

Sonstige Die staatlichen Zuschüsse dürfen nicht höher


Einnahmen sein als die Eigeneinnahmen einer Partei. Für alle
Parteien zusammen dürfen sie eine jährlich
anzupassende Obergrenze* nicht übersteigen

* 2014: 156,7 Mio€


1 ZAHLENBILDERl - f f i

10 Bergmoser + Höller Verlag AG 95054

nehmen und deshalb die Parteien auch staatlich de die rechtsextremistische Sozia listische Reichs
fina nziert werden sollen. Aber auch Pa rteispenden Partei (SRP) verboten und 1956 die Kommunisti-
als Fina nzierungsmittel von Parteie n stehen in der sch e Partei Deutschlands (KPD). 2001 wurde durch
Kritik, da stets der Verdacht der Korruption im den Bundestag, den Bundesrat und die Bundesre-
Raum steht. Deshalb fordern einige auch ein Verbot gierung ein Ve rb ot der Natio na ldemokratischen
von Parteispenden bzw. mehr Transparenz. Partei Deutschlands (NPD) beantragt. Dieser war
j edoch nicht erfolgreich.
Kann eine Partei verboten werden?
Im J a hr 201 2 hat der Bundesrat dan n erneut ein
Nac h den Erfahrungen mit der Diktatur der Nati- Verbot der NPD beant ragt, das vom Bundesverfas-
ona lsozialisten, die u. a. durch die mehrhe itlich sungsgericht 2017 abgewiesen wurde. Nach der
gewählte, aber demokratie feindliche NSDAP ein- Ansicht der Richter ist die NPD zwa r verfassungs-
gele itet wurde, wurde die Möglichkeit des Partei- feindlich gesinnt und wese nsverwandt mit dem
verbots in das Grundgesetz aufgenommen. Natio nalsozia lismus, jedoch sehen sie durch die
Partei die Demokratie in Deutschland nicht ge-
Art. 21 Abs. 2 GG: .,Pa rteien, die nach ihren Zielen fä hrdet.
oder nach dem Verha lte n ihrer Anhä nger darauf
ausgehen, die freiheitliche demokratische Grund-
ordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen Vor welchen Herausforderungen
ode r den Bestand der Bundesrepublik Deutschla nd stehen Parteien?
zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die
Frage der Verfass ungswidrigkeit entscheidet das Sozialer Wa ndel und insbesondere die Folgen der
Bundesverfassungsgericht." Globalisierun g füh ren zu maßgeblichen Verände-
run gen in der Parteienla ndschaft. In den letzten
In der Geschichte der Bundesrepublik kam es bis- Jahren sind die Parteien vermehrt in die Kriti k
her zw ei Ma l zum Verbot von Parte ien : 1952 wu r- geraten bzw. es wird vo n einer Krise des Parteien-
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

systems gesprochen. Nebe n rückläufiger Wahlbe- Parteien die Bevölkerung noch a usreichend reprä-
teiligung, rapidem Rückgang der Parteimitglieder sent ieren. Auch Individualisierungstendenzen in
werden die Wahlerfolge von rechten und populis- der Gesellschaft, die durch die sozialen Medien
tischen Parteien als Ausdruck der Krise verstan- gefördert werden, führen zur Frage, ob es geeig-
den. Aber auch Konflikte wie beispielsweise Stutt- netere Formen gibt, wie die Bürger ihre Interessen
gart 21 haben zu Diskussionen geführt, ob die einbringen können bzw. wollen.

Mit Parteibuch
Mitglieder ausgewählter Parteien jeweils am Jahresende in Tausend
1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016

1000
943

800

600

433
400
432

200

0 -------Im
12 1 © Glob"' Quelle: Oskar Niedermayer, FU Berlin, dpa '2007 Vereinigung von PDS und WASG

Aufgaben
1. Stellen Sie auf einem Poster (, Methodenglossar) mit der Überschrift „Parteien in Deutschland" die Parteien-
landschaft in Deutschland dar.

2. Vergleichen Sie die Begründung des Bundesverfassungsgerichts zum Verbotsantrag des Bundesrats von
2012 mit Artikel 21 Abs. 2 des Grundgesetzes. Welcher Aspekt im Grundgesetz war für die Verfassungsrich-
ter entscheidend?

3. Setzen Sie sich kritisch mit der Forderung auseinander, der Krise der Parteien mit der Stärkung direktdemo-
kratischer Elemente zu begegnen.
METHODENKOMPETENZ t

Analyse einer politischen Rede

Man könnte die Sprache als das Ha ndwerkszeug In einer Rede versucht der Redner mit sprachli-
der Politiker bezeichnen, denn ihr Handeln drückt chen Mitteln bestimmte Ziele zu erreichen, z.B.
sich überwiegend durch Sprache a us. Einschät- a ndere Abgeordneten davon zu überzeugen, poli-
zunge n, Absichten und Vorhaben werden über- tische Vorhaben zu unterstützen und in seinem
wiegend in Reden vorgetragen, sei es im Bundes- Sinne abzustimmen. Die Intentionen eines Red-
tag, vor einem bestimmten Publikum oder zu ners und die rhetorisc hen Mittel, die er verwendet,
besonderen Anl ässen. müssen desha lb analysiert werden.

Schritt 1: Den Redner analysieren

• Wer ist der Redner und in welcher Funktion spricht er?


• Welche weltanschaulichen Grundpositionen leiten ihn?
• Welche Strategien werden genutzt? (Aufwertung, Abwertung, Beschwichtigung)?
• Welche Wirkung will der Redner (offensichtlich) erzielen?
• Welche sprachlich-rhetorischen Mittel verwendet der Redner?
• Welche politischen Leitbegriffe, Schlagwörter, Floskeln etc. verwendet der Redner?

Schritt II: Die Rede im Fokus

• Welche Absicht verfolgt der Redner mit der Red e?


• Was ist das zentrale Thema der Rede, worum geht es?
• Wie ist die Red e inhaltlich gegliedert?
• Welche Struktur liegt der Rede zugrunde?
• Wie ist die Argumentation aufgebaut?
• Welche Argumente werden vorgeb racht?

Schritt III: Den Kontext beachten

• Wo, wann und zu welchem Anlass bzw. in welchem Kontext wird die Rede gehalten?
• Welches ist der thematische Zusammenhang, in der sie gehalten wird?
• Welches ist der zeitliche Zusammenhang, in der sie gehalten wird?
• Wer sind die Adressaten der Rede?
• Handelt es sich um eine homogene Gruppe?
• Sind in der Gruppe nur Anhänger oder nur Gegner des Redners oder beides?
• (Wie) Stellt der Redner während seiner Rede eine Beziehung zu den Adressaten her?
• Wie reagieren diese?

Schritt IV: Vortrag und Wirkung beurteilen

• Wie wird die Rede vorgetragen (Lautstärke, Tempo, Emotionalität)?


• Wie wirkt die Rede (auf mich)?
1METHODENKOMPETENZ

Beispiel: tumsherrschaft, noch ganz gut kan nten. (Beifall


bei der LINKEN) [...]
Die Menschen wollen kein, Weiter so' mehr. Rede Offenbar hat selbst ein Donald Trump wirtschafts-
von Sahra Wagenknecht in der Haushaltsdebatte politisch mehr drauf als Sie.
des Bundestages am 23.11.2016
(Lach en bei der CDU/CSU - Widerspruch bei der
Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): SPD - Zuruf von der SPD: Der neue Rassismus!)
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Frau Bundeskanzlerin! Es ist schon verblüffend, Denn immerhi n hat der Mann begriffen, [...] dass
wie Politik manchmal funktioniert. [...] staatliche Industriepolitik besser ist als billige
In Europa ist die deutsche Regierung so isoliert Dienstleistungsjobs und dass gegen Krise und ma-
wie la nge nicht mehr. [...] Als bevorzugten Partner rode Infrastruktur nicht Kürzungspolitik hilft,
hat sich die Kanzlerin a usgerechnet einen türki- sondern ein groß angelegtes öffentliches Investi-
schen Diktator ausgesucht, der Journalisten und tionsprogramm. (Beifall bei der LINKEN )
Oppositionelle ins Gefängnis werfen lässt und die Weil schon die Ankündigung dieses Programms
Todesstrafe großartig findet. zu höheren Zinsen in den USA geführt hat, wird
Europa unter Ihrer Führung wohl lieber mit sei-
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) nem Geld neue Brücken und moderne Netze in den
USA finanzieren, statt den Niedergang der euro-
Trotz allem scheint sich die CDU/CSU - das zeigt päisch e n Infrastruktur endlich zu stoppen und
Ihre w underbare Stimmung heute - auf ein Wei- Industriearbeitsplätze auch in Frankreich und Ita-
ter-so mit dieser Kanzlerin, mit Frau Merkel, alle n lien zu verteidigen und zu retten. Aber merken Sie
Ernstes zu freuen. denn gar nicht, dass es genau diese fatale Politik
ist, die Europa spaltet und immer mehr kaputtge-
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU) hen lässt? [...]
Auch in Deutschland haben immer mehr Men-
Ich kann nur sagen : Die Menschen in diesem Land schen gute Gründe, enttäuscht und wütend zu
können sich darauf nicht freuen. Ich sage Ihnen sein : über eine großkoalitionäre Einheitspolitik,
deswegen auch: Dazu wird es nicht kommen. (Bei- die sich für ihre elementaren Lebensinteressen
fa ll bei der LINKEN) und Zukunftsängste überhaupt nicht mehr inter-
Angesichts Ihres Verh altens fällt einem wirklich essiert, [...] sondern gleichgültig und emotionslos
nur noch der Satz von Albert Einstein ein: Die immer wieder Entscheidungen fällt, die die Rei-
reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Al- chen noch reicher, die Konzerne noch unver-
ten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich schämter und das Leben der arbeitenden Mitte
etwas ändert. Am Ende ändert sich dann doch und d er Ä rmeren noch unsicherer und prekärer
meistens etwas, aber vielleicht anders als erhofft. machen. Ich finde, eine solche Politik ist unglaub-
lich, und sie ist vera ntwortungslos. (Beifall bei der
(Volke r Kauder (CDU/CSU): Bei Ihnen ändert sich LINKEN)
gar nichts! Sie sind knallrot von oben bis unten! Aus allen wichtigen Bereichen, in denen er früher
- Gegenruf der Abg. Heike Hänsel (DIE LINKE): dem Leben der Menschen Stabilität und Sicherheit
Ruhe da drüben!) gegeben hat, hat sich der Staat zurückgezogen.
Nicht nur die Sozialversicherungen wurden de-
In den USA hat die Führung der Demokraten den moliert, auch kommunale Wohnungen wurden
Hoffnungsträger Bernie Sanders verhindert, [...] privaten Renditejägern auf dem Silbertablett ser-
um dan n mit einer Kandidatin des Establishments, viert, gena u wie Krankenhäuser und Pflegeein-
die im Grunde all das verkörpert, [...] was die Men- richtungen. Weil es sich nicht rechnet, fährt zu
sche n an der Demokratie verzweifeln lässt, Donald kleinen Orten kein Bus mehr, und der nächste Arzt
Trump den Weg ins Weiße Haus zu ebnen. Das ist meilenweit entfernt.
sollte nicht nur der SPD zu denken geben, sondern Auch der jahrelange Personalabbau bei der Polizei
natürlich au ch der CDU, die immerhin auch schon hat ganze Wohnviertel zu nächtlichen No-go-
Ka nzler hatte, die de n Unterschied zwischen einer Areas gemacht. In den baufälligen Schulen dieser
Demokratie und einer Oligarchie, einer Reich- Viertel werden von überlasteten Lehrern auch
METHODENKOMPETENZ t ••

nicht die hochqualifizierten Fachkräfte der Zu- Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben Herrn Trump
kunft ausgebildet, sondern junge Menschen, von nach seiner Wahl zur Anerkennu ng von Demokra-
denen viele im Leben nie eine Chance bekommen tie, Freiheit und Respekt vor dem Recht und der
werden, weil das chronisch unterfinanzierte Bil- Würde des Menschen aufgefordert. Ganz abgese-
dungssystem dieses reichen Landes noch nicht hen davon, dass wir uns ähnlich deutliche Worte
einmal in der Lage ist, ihnen elementare Lese-, an die Adresse Ihres türkischen Freundes Erdogan
Sch reib- und Rechenfähigkeiten beizubringen. [...] a uch einmal gew ünscht hätten: (Beifall bei der
LINKEN)
(Be ifall bei der LINKEN - Sabine Weiss (Wesel I) Bedurfte es wirklich eines Donald Trump, um zu
(CDU/CSU): Unerträglich!)[...] verstehen, dass es um Demokratie, Freiheit und
Menschenwürde in der westlichen Welt nicht
Natürlich ist das alles nicht a lternativlos. Natür- mehr gut bestellt ist?
lich kann man auch die Riesenvermögen der Mul- Der frühere US-Präsident Jimmy Carter hat die
timillionäre besteuern, statt Städte und Gemein- USA schon vor Jahren eine „Oligarchie mit unbe-
den am langen Arm verhungern zu lassen. grenzter politischer Korruption" genannt. Dass
Natürlich kann man Patent- und Lizenzgebühren, eine Supermacht, die mit ihren völkerrechtswidri-
die nur dazu dienen, Konzerngewinne in Steu- gen Ölkriegen und ihren Drohnenmorden ganze
eroasen zu verschieben, einfach nicht mehr als Regionen dieser Welt chaotisiert und islamistische
gewin nmindernd anerkennen, und dann sind die Terrorbanden damit so gestärkt hat, dass die als
ganzen Steuertricks der Multis erledigt. Das kön- Vorkämpferin für Demokratie und Freiheit aus-
nen Sie hier in Deutschland beschließen. Dafü r fällt, das hätte man, glaube ich, auch vor Trump
brauchen Sie noch nicht einmal die EU. (Beifall schon begreifen können.
bei der LINKEN)
Natürlich kann man den Sozialstaat wiederher- (Beifall bei der LINKEN) ...
stellen und ein ordentliches Arbeitsrecht schaffen,
das die Beschäftigten schützt und die Verhand- Sehr geehrte Damen und Herren, auch bei uns
lungs macht der Gewerkschaften stärkt. Natürlich w ird die Demokratie nur eine Zukunft haben,
kann man schlicht politisches Rückgrat h aben wenn die Menschen wieder das Gefühl bekom-
und sich den eiskalten Rend itekalkülen globaler men, dass ihre Würde und ihre elementaren Le-
Konzerne entgegenstellen, statt ihnen die Be- bensbedürfnisse von der Politik geachtet und a n-
sch äftigten schutzlos und wehrlos a uszuliefern. erkannt werden und sie wichtiger sind als die
Aber wer das alles nicht tut, der sollte dann auch Wunschlisten irgendwelcher Wirtschaftslobbyis-
aufhören, sich den Trumps und Le Pens dieser ten. Nehmen Sie das endlich ernst, wenn Sie nicht
Welt moralisch überlegen zu fühle n. (Beifall bei irgendwann dafür vera ntwortlich sein wollen,
der LINKEN) einem deutschen Donald Trump den Weg ins
Das sind Sie nicht. Kanzleramt geebnet zu haben.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Ihre Rede (Lebhafter Beifall bei der LINKEN - Thomas
fördert die! Unfassbar! Populisten unter sich!) Oppermann (SPD): Da arbeiten Sie doc h dran! -
Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Eigentlich
Denn es ist Ihre gemeinsame Politik, die die Rech- fast traurig!)
te inzwischen auch in Deutschland starkgemacht
hat.

Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 18/202, Stenografischer Bericht, 202. Sitzung, 23. 11.2016

A f abe
ieren Sie die Rede Sahra Wagenknechts vom 23.11 .2016 im Deutschen Bundestag nach den angege-
benen Analyseschritten.
4.3.2 Interessenverbände
Leitfragen Welche politischen Funktio- Wie lassen sich Interessenver- Welche Methoden nutzen
nen nehmen Interessenver- bände klassifizieren? Interessenverbände, um politische
bände in einer Demokratie Prozesse zu beeinflussen?
wahr?

Plurale Interessen in einer Gesellschaft Welche Aufgaben haben Verbände?

Ausgehend vo n der theoretischen Annahme, dass Interessenverbände haben folgende Aufgaben im


Menschen verschiedene Interessen haben und das polit ischen System:
Gemeinwohl in einer Gesellschaft durch einen ln-
teressensausgleich entsteht, wurde die Bundesre- • Interessenaggregation: Die Bündelung heteroge-
publik im Grundgesetz als Ko nkurre nzdemokratie ner Interessen zu einheitlichen Forderungen bzw.
gestaltet(>Kap. 3.1 ). Entscheidungs- und Handlungsalternativen.
• lnteressensselektion: Die Auswahl vo n Interes-
Menschen können j edoch nicht einem einzigen sen, die besonders wicht ig, erfolg reich durch-
Interesse zugeordnet werden, sondern stets meh- setzb ar oder Ergebnis eines Kompromisses sind.
reren. Ein Mensch ka nn z.B. so wen ige Steuern • Interessenarti kulation : Das Einbringen bzw.
wie möglich bezahle n wolle n, mehr Lohn als Ar- Mitteilen von Interessen in bzw. an politische
beiter erhalten wollen und vor ungerechten For- Entsch eidungsinstanzen.
derunge n seines Vermieters geschützt werden • Integration: Durc h das politische Mitwirken
wollen. Ein anderer kann wiederum Interesse an werden die Bürger in den Staat integriert.
v ielen staatlichen Leistungen wie Bildung haben, • Partizipation: Verbände bieten die Möglichkeit
als Vermieter die Möglichkeit flexibler Mieten for- der politischen Teilh abe a uch a ußerhalb von
dern u nd als Unternehmer mög lichst geringe Löh- Wah len und Parteien.
ne auszahlen wollen. Die Interessen in einer Ge- • Legitim ierung: Verbände machen politisches
sellschaft sind also plural und können zudem Ha ndeln legitim, da sie durch die Vermittlung
entgegengesetzt sein. gesellschaftlicher Interessen dafür sorgen, dass
sich Politik mit diesen auch auseina ndersetzt.

Welche Rolle spielen Verbände in der pluralen


Gesellschaft? Tätigkeitsfelder von Verbänden

Zur Organisation bzw. Durchsetzung von Interes- Sektor Beispiele


sen kö nnen Menschen nebe n der Mitgliedschaft Wirtschaft und Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB),
und der Wahl von Parteien und Abgeordneten Arbeit Bundesvereinigung der Deutschen
auch Mitglied in Verbänden sein, d ie danach stre- Arbeitgeberverbände (BOA)
ben, Interessen in politische Entscheidungen ein- Soziales und Deutsches Rotes Kreuz (DRK),
zubringen. Gesundheit Kinderschutzbund
Freizeit und Deutscher Olympischer Sportbund
Das Grundgesetz erlau bt in Artikel 9 ausdrücklich Erholung (DOSB), Deutscher Chorverband (DCV)
das Gründen von Vereinen und damit Verbänden. Religion, Welt - Bund für Umwelt und Naturschutz
Auch der Bundestag und die Bundesregierung se- anschauung und (BUND), Zentralrat der Juden in
hen die Mitwirkung von Verbänden in ihren Ge- gesellschaftliches Deutschland (ZdJ), Deutsches Institut
Engagement für Menschenrechte
schäftsordnun gen ausdrücklich vor. Verbände
sind Interessenorga nisation en, die ähnlich wie Kultur, Bildung Bundesvereinigung Kulturelle Jugend-
und Wissenschaft bildung (BKJ), Stifterverband für die
Parteien im intermediären Bereich zwischen Be-
Deutsche Wissenschaft
völkerun g und Staat zu verorten sind und die In-
teressen bestimmter Bevölke rungsteile in staatli- Ulrich von Alemann, Interessenverbände, in: Info rmationen
che Entscheidungen einzubringen versuchen. zur politischen Bildung, Heft 253, S. 21
4.3 Vermittler zwischen Bürgern und politischen Institutionen

Adressaten der Einflussnahme

Es können mehrere Adressaten der Einflussnahme der Einbringung von Gesetzen in das Parlament
durch Verbände unterschieden werden. Im Einzel- bzw. bereits während der Koalitionsverhandlun-
nen sind dies: gen, damit frühze itig Vorhaben a ngestoßen oder
unliebsame Inhalte vermieden werden können.
• Öffentlichkeit: Neben dem direkten Kontakt zu Der Bundestag führt eine öffentliche Liste von
politischen Entscheidungsträgern kö nnen Ver- Verbänden.
bände durch öffentlichkeitswirksames Agieren
Druck ausüben. Mögliche Formen sind z.B. das • Regierung und Ministerialverwaltung: Ver-
Erstellen vo n Kampagnen sowie das Organisie- bände haben Kontakt zu Regierungsmitgliedern
ren von Demonstrationen und Streiks. und den Mitarbeitern in den Ministerien. Auch
diese versuchen sie von ihrer Position zu über-
• Parteien: Oftmals stehen Verbände einer politi- zeugen und bringen somit ihren Sachversta nd
schen Partei besonders nah, unterstützen diese in Regierungskreise ein. Gesetze werden über-
und streben danach, ihre Ziele in Parteipro- wiegend von der Bundesregierung in den Bun-
gramme einzubringen. destag eingebracht, so dass die Verbände früh-
zeitig versuchen, Einfluss zu nehmen.
• Parlamente: Verbände haben Kontakt zu den
Abgeordneten in Berlin sowie in den Hauptstäd- • Organe der Europäischen Union: Aufgrund der
ten der Bundesländer und versuchen, diese vo n Tatsache, dass v iele politische Entscheidungen
ihrer Position zu überzeugen. Sie sitzen als Ex- von der EU getroffen werden, richten sich die
perten auch in Parlamentsausschüssen und ver- Aktivitäten vieler gerade größerer Verbände
suchen auf diese Weise Einfluss zu nehmen. Die auch an die politische Entscheidungsträger der
Einflussnahme geschieht in der Regel noch vor EU in Straßburg und Brüssel (>Kap. 5.3).

Einflussnahme durch Verbände

Bundesregierung Bundestag
. . . . . .... ◄ .......

/
.............. .... ·•·····
···-...
Ministerialbürokratie
...... Adressaten
; ... .... ···
.........

Politische Öffentliche
Parteien Meinung

t t
Kontakte Eingaben,
Stimmenpakete Information
Information Unterstützung Personelle
Spenden Stellungnahme Mittel
Eingaben (oder Sabotage) Durchsetzung
Personelle Demonstraton
Personelle von Sachverstand
Durchsetzung Eigene Medien
Durchsetzung Maßnahmen

+ - - Unmittelbare Einflussnahme
Verbände ◄ . . ........ . Mittelbarer Einfluss der
Verbände

Nach: Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 9.


Auflage, 201 5, S. 86
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

Kritik an Verbänden

In einer pluralistischen Demokratie ist die Vertre- Der Einfluss der Verbände ist schwer zu erheben
tung von Interessen durch Verbände nicht nur und damit zu kontrollieren. Während beim Bun-
legitim, sondern wicht ig. Dennoch wurde das destag über 2.000 Verbände sowie deren An-
Agieren vo n Verbänden oft kritisiert. Für das pro- sprechpartner freiwillig registriert sind, wird ge-
blematische Verhalten vo n Verbänden wird häufig schätzt, dass in Berlin gut 6.000 professionelle
der Begriff Lobbyismus verwendet. Dieser kommt Interessenvertreter ansässig sind. Die Zugangs-
von dem Begriff Lobby bzw. Vorhalle des Pa rla- möglichkeiten sind dabei vielfältig: der Kontakt
mentes, durch die die Abgeordnet en sinnbildlich zum einzelnen Abgeordneten, über Parteien, in
schreiten und von Lobbyisten beeinflusst werden den Ministerie n oder über die Medien. Gleichzeitig
können, bevor sie ins Plenum gehen. ka nn jedoch der Zugang zur politischen Sphäre
nicht gleichgesetzt werden mit Einfluss. Wieviel
Bei der Kritik an der Tätigkeit von Verbänden ist Einfluss Verbände auf politische Entscheidungen
zwischen me hreren Bereichen zu unterscheiden. ha ben ist jedoch für die Bürger nicht ersichtlich.
Gänzlich illegal ist die Erpressung oder Beste-
chung von politischen Entscheidungsträgern. Be-
reits mehrfach ist es zu Fällen von Korruption in Wie viel Einfluss haben Verbände?
Deutschland gekommen, was zu massiver Kritik
an Verbänden und Politik geführt hat. Neben dem Kritisiert wird oftmals die personelle Durchdrin-
illegalen Bereich gibt es eine n grauen Bereich, in gung von Parteien, Parlamenten und Regierungen
dem zwar formal keine illegalen Verhaltensweisen durch externe Mitarbeiter von Verbänden und
vorkommen, deren Legitimität j edoch angezwei- Wirtschaftsunternehmen. Große Verbände kön-
felt wird. nen durch ihren Einfluss wichtige Reformen ver-
hindern, wenn diese ihren Interessen entgegen-
Generell ist zu beobachten, dass Verbände mit gro- laufen. Diese Vetostellung ist durch das
ßen finanziellen Ressourcen, wie Wirtschaftsver- Grundgesetz nicht vo rgesehen.
bände, oder j ene mit einem hohen Störpotential
besonders erfolgreich bei der Beeinflussung von Für Kritik sorgt zudem, dass einige Politiker nach
politischen Entscheidungen sind. Die attraktivsten Aufgabe ihrer politischen Ämter, Jobs in der Pri-
Polit ikfelder für Lobbying sind vor allem j ene, in vatwirtschaft übernehmen und dort ihre Expertise
denen Staat stark regulatorisch tätig ist: Ener- sowie ihre Netzwerke nutzen. Diese Wechsel las-
giepolitik, Industriepolitik, Gesundheit, Finanz- sen Kriti ker vermuten, dass für einzelne politische
märkte und Banken, Verkehr und Verteidigung. Entscheidungen im Sinne bestimmter Unterneh-
Dem hingegen finden schwer organisierbare Inte- men bzw. Branchen attraktive Posten angeboten
ressen beispielsweise vo n Randgruppen oder von bzw. in Aussicht gestellt werden. Andererseits
Kindern, alten Menschen und Hausfrauen weniger wird diesen Argumenten auch entgegnet, dass
Gehör im politische n Entscheidungssystem. Die ehemalige Politike r durch ihre bisherigen Tätig-
Interessen sind dementsprechend nicht gleichge- keiten Kompetenzen erworben haben, die in ei-
wichtig vertreten, wie es aus Sicht der Pluralismus- nem Unternehmen gerade im Hinblick auf den
theorie (>Kap. 3. 1.3) notwendig wäre. Umgang mit Polit ik gefragt sind.

Aufgaben
1 . Nennen Sie Beispiele für Verbände in Deutschland und erstellen Sie darauf aufbauend eine Mindmap
(• Methodenglossar) zu Interessenverbänden im politischen System der Bundesrepublik Deutschland.

2. Erläutern Sie die Relevanz von Verbänden für den Bürger.

3. Brauchen wir in Deutschland eine gesetzlich verpflichtende Karenzzeit für Politiker, die nach ihrer Amts-
und Mandatszeit in die freie Wirtschaft wechseln? Begründen Sie Ihre Meinung.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1 •

M 1 Privatwirtschaft läuft Sturm gegen die Frauenquote

Die Einigung von Union und SPD auf eine gesetzliche Frauenquote in Aufsichtsräten
trifft in der Wirtschaft auf scharfen Protest. Arbeitgeber und Industrie sprachen am
Montag von einem erheblichen Eingriff in die unternehmerischen Freiheiten, die Be-
sonderheiten der Betriebe und Branchen blieben dabei unberücksichtigt. ,,Eine starre
5 Frauenquote ist der falsche Weg, um den Anteil von Frauen in Führungspositionen zu
erhöhen", kritisierte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
(BDA). Neue gesetzliche Regelungen seien nicht erforderlich und belasteten unnötig
die Unternehmen.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie klagte, die Privatwirtschaft werde „ein-
10 seitig zur Verwirklichung gesellschaftspolitischer Ziele in die Pflicht genommen und in
ihrer unternehmerischen Freiheit erheblich eingeschränkt". Von einer Quote für staat-
liche Institutionen sei dagegen keine Rede. ,,Wozu will die Politik den Unternehmen
eine Quote aufzwingen, wenn es die Frauen durch Führungskraft und Qualifikation
selbst schaffen?", fragte der Präsident der Familienunternehmer, Lutz Goebel. Schließ-
15 lieh werde schon jetzt jedes vierte Familienunternehmen von einer Frau geführt.
Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger verwies auf den generell geringen Frauenanteil
in seiner Branche. Nur 20 Prozent der Ingenieursabsolventen seien weiblich. ,,Ich hal-
te es für sehr gewagt zu glauben, dass eine verbindliche Quote bei den Aufsichtsräten
das ändern wird", meinte Dulger. Die Chefin der Jungen Unternehmer, Lencke Wisch-
20 husen, kritisierte, die Union werde „immer mehr zum Durchregulierer". Als Unterneh-
merin wolle sie ihre Mitarbeiter „nach ihrer Qualifikation aussuchen, nicht nach dem
Geschlecht". [...]
Die Lobbygruppe FidAR und ihre Chefin Schulz-Strelow [hat sich] in den vergangenen
Jahren zu Wortführern für die Frauenquote gemacht. Das Familienministerium hat die
25 FidAR-Arbeit seit 2009 mit insgesamt 590.000 Euro gefördert, ähnlich wie den Deut-
schen Juristinnenbund (djb): Seit 2010 besuchen die Juristinnen Hauptversammlun-
gen börsennotierter Unternehmen - allein im Jahr 2012 waren es 76. Im April 2014
läuft die finanzielle Förderung des Familienministeriums aus - bis dahin wird der djb
für seine Arbeit rund 650.000 Euro erhalten haben.
30 Zwar lag der Fokus von FidAR und djb bislang immer auf den börsennotierten Firmen,
FidAR-Chefin Schulz-Strelow erweiterte ihre Forderung nach Frauenquoten aber un-
längst auf Unternehmen der öffentlichen Hand. Das allerdings geht der Politik dann
wohl doch etwas zu schnell. Zusammen mit dem Wissenschaftler Ulf Papenfuß, Juni-
or-Professor für Public Management an der Universität Leipzig, muss Schulz-Strelow
35 sich nun erst einmal auf eine Inventur der Frauen in den Spitzengremien der öffentli-
chen Unternehmen beschränken.

Stefan von Borste// Sven Clausen, www.welt.de, 18.11.2013

Aufgaben

1. Stellen Sie die unterschiedlichen Positionen der im Text genannten Verbände zur Frauen-
quote dar.

2. Analysieren Sie, inwiefern die Verbände in diesem Fall ihre Aufgaben wahrnehmen.

3. Beurteilen Sie das Vorgehen der jeweiligen Verbände im Hinblick auf ihre Aufgaben im
politischen System der Bundesrepublik Deutschland.
4.3.3 Medien
Leitfragen Welche politischen Wie sehen aktuelle Entwicklungen Ist Deutschland auf dem
Aufgaben erfüllen Medien in auf dem Medienmarkt aus? Weg von einer Parteiende-
einer Demokratie? mokratie zu einer
,,Mediendemokratie"?

Warum braucht die moderne Demokratie


Medien?

In mode rnen großen Gesellschaften können die Das Bundesverfass ungsgericht stellte zude m 1986
einzelne n Mitglieder und Gruppen nicht mehr alle fest: ,,Meinungsvielfalt, deren Erhaltung und Si-
direkt miteinander kommunizieren. Zudem kön- cherung Aufgabe der Rundfun kfreiheit ist, wird in
nen sie Abläufe und Gesche hnisse innerhalb und besonderem Maße gefährdet durch eine Entste-
a ußerhalb der Gesellschaft nicht unmittelbar er- hung vorherrschender Meinungsmacht." Mit Mei-
fahren. Medien übe rnehmen desh alb diese Rolle nungsmacht ist insbesondere die Konzentration
und sind damit ein wicht iger Akteur des gesell- des Medie nma rktes au f wenige Medienunterneh-
schaftlichen Zusammenlebe ns. Da mi t kommen men gemeint. Die Medien unterliegen deshalb
den Medien weitreichende Funktionen zu, da sie dem Ka rtellrecht. Zusammenschlüsse im Bereich
sowohl Forum als a uch Akteur sind. Sie konstru- der Presse werden vom Kartella mt beobachtet und
ieren j edoch da mit a uch die Wirklichkeit und soll- ko ntrolliert.
ten deshalb stets hinterfragt werde n.

Welche Funktion erfüllen Medien


Die rechtlichen Grundlagen im politischen System?

Das Grundgesetz versteht die Meinungs-, Infor- Insgesamt kö nnen mehrere Funktion en und An-
mations- und Pressefreiheit als Grundrecht und forderungen der Medie n im politische n System
schützt diese. Die Meinungs- und Informations- unterschieden werden:
freiheit sind Indiv idualrechte, während die Pres-
sefreiheit vom Bundesverfassungsgeric ht als kon- • Informationsfunktion : Die Medien sollen voll-
stitut ives Merkmal der freiheitlichen Grund- st ändig und sachlich Bericht erstatten, sodass
ordnung de r Bundesrepublik besch rieben hat. Ins- die Bürger in der Lage sind, polit ische, gesell-
besondere das Zensurverbot schützt die Medien schaftliche und wirtschaftliche Geschehnisse zu
v or staatlichen Zugriffen. Gleichzeitig sichert das verfolgen und Zusammenhänge verstehen kön-
Grundgesetz den Bürgern j edoch auch Schutz vor nen. Auf diese Weise kö nnen die Bürger ihre
den Medien und gegen Eingriffe in die Persönlich- Interessen fo rmen bzw. konkretisieren und sind
keitsrechte zu: in der Lage, aktiv a m politischen Prozess zu par-
t izipieren.
Art. 5 GG
( I) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, • Urteilsbildungs- bzw. Meinungsbildungsfunk-
Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten t ion: Medien tragen dazu bei, dass in einer De-
und sich aus allgemein zugänglich en Quelle n un- mokratie politische Themen frei und offen disku-
gehinde rt zu unterrichten. Die Pressefreiheit und tiert werden können. Sie geben die Argumente
die Freiheit der Berichterstattung durch Run dfun k im politischen bzw. öffentlichen Diskurs wieder,
und Film werden gewährleist et. Eine Zensur find et a nalysieren und bewerten zudem polit ische The-
nicht statt. men sowie das Agieren der Volksvertreter und
stellen alternative Handlungsoptionen da r. Sie
(2) Diese Rechte finden ihre Schran ken in den Vor- machen den Bürgern komplizierte politische Pro-
schriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzli- zesse verständlich, sodass diese sich ein eigenes
chen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und Urteil bilden und davon a usgehend ihre Interes-
in dem Recht der persönlich en Ehre. sen artikulieren und verfolgen kön nen.
4.3 Vermittler zwischen Bürgern und politischen Institutionen

Funktionen der Medien

Medien Informationsfunktion
Information über Inhalte, z.B.:
politische Programme

D Konsumgüter
kulturelle Entwicklung

+
Meinungsbildungsfunktion
1111 freie und offene Argumentation für
Mehrheiten und Minderheiten

Kontrollfunktion
Kontrolle und Kritik
aufspüren und berichten über

D Missstände

Nach: Bundeszentrale für politische Bildung, 22. 11.20 16

• Kritik- u nd Kon trollfunktion : Im deutschen Trotz der bedeutende n Fun ktio n der Medien in
parlamentarischen Regieru ngssystem hat insbe- modernen demokratischen Gesellschaften werden
so ndere die Opposit ion die Aufgabe, die Regie- private Medienunternehmen nicht gegründet, um
ru ng zu kontrollieren und zu kritisieren. Doch diese Funktion wahrzunehmen, sondern u m Ge-
auch die Medien üben diese Fu nktion aus. Sie win n zu erwirtschaften und diesen zu maximie-
werden deshalb neben den drei herkömmlichen ren. Die Nä he einiger Unternehmen zu politischen
Gewalten auch oft als „v ierte Gewalt" bezeich- Ideologie n kann zudem zu einer eher subjekt iven
net. Durch das Aufdecken von Skandalen und statt objektiven Berichterstattung führen.
Missständen verhindern sie u. a. Korrupt ion
oder bürokratische Willkü r und wenden damit Krit isiert wird zudem häufig, dass einige gesell-
Umgang mit Politik gefragt sind. schaftliche Akteure und Gru ppen, die besonders
wirtschaftlich potent bzw. bereits im Fokus des
öffentlichen Interesses sind, bessere Aussichten
Die deutsche Medienlandschaft haben, mit ihren Interessen in den Medien beach-
tet zu werde n.
Eine Besonderheit der deutschen Medi enland-
schaft ist der Bereich der öffen tlich- rechtlichen
Rundfunk- u nd Fernseha nstalten. Diese so llen Medienkonzentration
eine Grundv ersorgu ng der Bevölkeru ng mit In-
formation, Kultur und Unterhaltung sicherzustel- Bis heute ist das deutsche Zeitschriften- und Zei-
len. Daneben gibt es private Medien unternehmen. tu ngsangebot im internat ionalen Vergleich äu-
ßerst v ielfältig. Dennoch gibt es einen Trend zur
Alle d iese Medie n berichten über Themen, d ie sie Medienkonzentration. Dies lässt sich a n mehre-
für wichtig halten, können diese au f d ie politische ren Entwicklu ngen ablesen :
Tagesordnung bri ngen u nd da mit Kontroversen in
der Gesellschaft in Ga ng setzen. In einem solchen • Verlagskonzentration: Die gleiche Anzahl v on
Fall spricht man dan n auch von einem medialen Zeitschriften wird von immer weniger Verlagen
Age nda - Setting. herausgegeben.
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

• Publizistische Konzentration: Rückgang redak- wachsen, während kleine Zeitungen oft aufge-
tionell selbständiger Tageszeitungen mit einer ben müssen.
Vollredaktion.
• Lokalkonzentration: Es gibt immer mehr
• Auflagenkonzentration: Steigende Gesamtau- Ein-Zeitungs-Kreise, also Kreise oder kreisfreie
flagen bei einem Rückgang der Zeitungsredak- Städte, in denen nur noch eine regionale oder
tionen und Verlage. Objekte mit hohen Auflagen lokale Tageszeitung erscheint.

Anteil an Zeitschriften in Deutschland im 1. Halbjahr 2016

Bauer Burda Bertelsmann Springer

21,1 % 18,2 % 17 % 13,9 %

Dem Bauer-Verlag gehören In Deutschland gibt der Verlag Die Bertelsmann-Aktiengesell- Die Axel Springer AG ist der
mehrere Verlage für Fachzeit- unter anderem „Bunte", ,,Fo- schaft ist der größte Medien- größte Zeitungsverlag in Euro-
schriften und Romanhefte, cus" und „Freundin" heraus. konzern Europas. Die Bertels- pa und bringt mit „Bild", ,,Bild
Zeitschriften in Großbritannien mann- Tochter Gruner + Jahr am Sonntag" und „Welt am
und den USA. gibt Zeitschriften wie „Stern", Sonntag" die auflagenstärks-
„Brigitte" und „Hamburger ten Boulevard- und Sonntags-
Morgenpost " heraus. zeitschriften heraus.

Nach: Die Medienanstalten, www.blm.de, 1.9.2016

Das Zusammenspiel von Medien und Politik

In Deutschland ist eine zunehmende Bedeutung • Trend zur Personalisierung: Nicht die eher tro-
kommunikativer Strategien zu beobachten. Wahl- ckenen und sachlichen politischen Programme
forscher bezeichnen dies als „Arnerikanisierung" der Parteien, sondern die Kandidaten und ihre
der Wahlkämpfe. Man spricht in diesem Zusam- Erscheinung, Vergangenheit, ihr Charisma und
menhang auch von Politainment. Es handelt sich ggf. Skandale stehen im Fokus der Öffentlich-
jedoch nicht um ein einseitig forciertes Phäno- keit. Gerade in parlamentarischen Demokratien,
men, sondern um ein zweiseitiges Zusammen- in denen nicht nur Spitzenkandidaten auf Lan-
spiel. Die Medien stellen Sachverhalte möglichst des- und Bundesebene gewählt werden, ist dies
einfach und unterhaltend dar, um viele Menschen problematisch, da nur ein sehr ungenaues Bild
zu erreichen bzw. Quoten zu erhalten. Politiker der politischen Realität vermittelt wird.
hingegen setzen sich gerne in Szene. Im Zusam-
menspiel von Medien und Politik, das vor allem • Trend zur Verkürzung: Komplexe politische In-
die demokrat ische Grundordn ung stützen soll, halte werden simplifiziert und verkürzt, da um-
kommt es zu folgenden Trends: fangreiche Erklärungen viel Platz, Zeit und Geld
erfordern und nicht in dem Maße Aufmerksam-
• Trend zur Inszenierung: Politik ähnelt einem keit binden können und somit auch weniger zu
Schauspiel und damit Formaten der Unterhal- monetarisieren sind, wie verkürzte Darstellungen.
tungskultur. Parteitage, Wahlkampfveranstal-
tungen und Politikerduel I werden zu perfekt • Trend zu r Polarisierung: Auseinandersetzun-
organisierten Medienereignissen. Wahlkämpfe gen werden auf ein Gegenüber von Extrempo-
werde n neben den Parteizentralen auch von ex- sitionen zugespitzt, da diese klarer abzugren zen
ternen Experten bzw. PR-Agenturen gepla nt, sind. Politikern kommt dies entgegen, weil es
die für ein gutes Image sorgen sollen und die ihrer Profilierung dient. Da so über bestimmte
Ko ntakt zu den Medien haben. Sogenan nte Inhalte heftig gestritten wird, über die eigentlich
„spin doctors" sollen den Spitzenkandidaten im politischen Alltag Einigkeit besteht, kommt
den rich tigen Dreh (,,spin") geben. es zur Verzerrung der politischen Realität.
4 .3 Vermittler zwischen Bürgern und politischen Institutionen

Soziale Medien - Fluch oder Segen? gute Werte zu erhalten, besteht die Gefah r, dass
sie unangenehme, aber nötige Entscheidungen
Soziale Netzwerke werden oft sehr ambivalent be- und Reformen vermeidet und der Populismus
trachtet. Im Arabischen Frühling wurden sie z. B. überhandnimmt. Für die Wirkung demoskopi-
von vielen als Plattform für offenen freiheitlichen scher Daten si nd mehrere Effekte denkbar:
Diskurs und als Verbreiter von demokratischen
Forderungen gefeiert. Soziale Medien bieten poli- • Mobilisierungs-Effekt: Wird bekannt, dass es
tischen Institutionen und Akteuren zudem einen zwischen Kandidaten ein Kopf-an-Kopf-Ren-
direkten Kontakt mit den Bürgern und können ne n gibt, könnte dies bislang unentschlossene
damit zur Legitimierung und Interessensartikula- Wähler dazu bringen, ihre Stimme abzugeben,
tion beitragen. Demgegenüber werden sie jedoch um ihrem Ka ndidaten zum Sieg zu verhelfen.
auch für die Verbreitung vo n Sexismus, Rassismus • Defätismus-Effekt: An hänger des Kandidaten,
und Homophobie in Wahlkämpfen bzw. bei der dessen Werte schlecht sind, könnten entmutigt
Auseinandersetzung über politische Inhalte ver- werden und auf die Abgabe ihrer Stimme ver-
antwortlich gemacht. Zudem verbreiten sich in zichten, weil ihr Kandidat den Prognosen zufol-
ihnen sog. ,,Fake News" - als Fakten dargestellte ge ohnehin verlieren wird.
Lügen - rasend schnell. Die politische Meinungs- • Lethargie-Effekt: Wird umgekehrt ein Kandidat
bildung wird dadurch erheblich erschwert bzw. als sicherer Sieger gehandelt, kön nten seine An-
manipulierbar. hänger darauf verzichten, ihn zu wählen, weil
das Ergebnis vermeintlich bereits feststeht.
• Bequemlichkeits-Effekt: Deuten die Umfrage-
Demoskopie ergebnisse darauf hin, d ie Wahl sei bereits ent-
schieden, könnten unentschlossene Wähler da-
Unt rennbar mit dem Verhältnis von Medien und heim bleibe n, weil sie gla uben, ihre Stimme
Politik verbunden ist die politische Meinungsfor- werde am Ergebnis ohnehin nichts mehr verän-
schung, die Demoskopie. Der Begri ff geht auf die dern.
altgriechischen Begriffe „demos" (Volk) und „sko-
pein" (ausspähen) zurück und beschreibt die Er-
mittlung von Stimmungen, Wünschen und Über- Deutschland - eine Mediendemokratie?
zeugungen der Bevölkerung. Durch Befragungen
eines repräsentativen Querschnitts der Bevölke- In der Tradition der Bundesrepublik als repräsen-
rung werden Daten erhoben und a usgewertet. Die tative parlamentarische Demokratie wurde
wichtigsten Meinungsforschungsinstitute in Deutschland häufig als Parteiendemokratie be-
Deutschland sind das Institut für Demoskopie AI- zeichnet, da die Parteien die zentrale n Organisa-
lensbach, Infratest dimap, forsa und Emnid. tionen im intermediären Bereich und damit das
zentrale Bindungsglied zwischen Bürger und
Auch we nn die Meinungsforschung als sinnvolles Staat waren . In den letzten Jahren wird Deutsch-
Frühwarnsystem funktioniert und Politikern die land j edoch häufig auch als Mediendemokratie
Forderungen und Einschätzungen der Bevölke- bezeichnet, da Parteibindungen abnehmen und
rung vermitteln ka nn, ist sie nicht unumstritten. die Meinungs- und Willensbildung verstärkt über
Wenn die Politik nur danach strebt, in Umfragen Massenmedien stattfinden.

Aufgaben
1. Beschreiben Sie die Funktionen der Medien im politischen System.

2. Dem ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder wird der Spruch zugeschrieben, er brauche nur „Bild,
BamS und Glotze" für erfolgreiches Regierungshandeln. Erklären Sie diese Aussage.

3. Setzen Sie sich mit den Einflussmöglichkeiten von Parteien, Interessenverbänden und Medien im politischen
Prozess auseinander. Nutzen Sie dafür auch die Möglichkeiten der empirischen Sozialforschung (, Metho-
denkompetenz: Empirische Sozialforschung).
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Unwort des Jahres 2014: Lügenpresse

Die Lügenpresse ist wieder einmal in aller Munde. Der Schmähbegriff wird immer dann
aus der Mottenkiste geholt, wenn es darum geht, der jeweils anderen Seite die Legi-
timation zu entziehen. Eine kleine Geschichte des Unworts des Jahres 2014.
Ein altes englisches Sprichwort lautet: ,,Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit."
5 Das galt besonders vor 100 Jahren, als die sich bis aufs Messer bekämpfenden Staa-
ten umgehend an den „Heimatfronten" Nachrichten ganz unterdrückten, stark schön-
ten oder gleich fälschten - um einerseits die eigene Bevölkerung zu beruhigen und
andererseits den „Feind" auszugrenzen und herabzusetzen, ja Hass gegen ihn zu
schüren
10 Schon Ende 1914 erschien ein Buch mit dem Titel: ,,Der Lügenfeldzug unserer Feinde:
Die Lügenpresse" . [ ...] Das diffamierende Wort „Lügenpresse" ist sicherlich damals
nicht erst erfunden worden. Außerdem ist zu bedenken, dass antisemitische Wahnide-
en schon Ende des 19. Jahrhunderts die Wiener Presse ins Visier nahmen. Sie wurde
als eine Art Instrument der „jüdischen Weltherrschaft" attackiert, die wiederum die
15 „deutsche Rasse" systematisch verdumme. [...] Ein Schmähbegriff, der übrigens von
den Journalisten selbst kam, war „die Journaille" (in Anlehnung an das französische
Wort Kanaille). Kein Geringerer als Karl Kraus brachte es 1902 in Umlauf, und zwar als
„Empfehlung" eines angeblich „geistvollen Mannes", anlässlich eines gemeinsamen
Gesprächs „über die Verwüstung des Staates durch die Presse-Mafia". [ ...]
20 In dem Artikel mit dem Titel „Die Journaille" provozierte der „Fackel"-Herausgeber mit
solchen Fragen: ,,Darf eine Zeitung beschimpft werden? Darf der einfache Mann aus
dem Volke, dem jede Erkenntnis über das Zeitungswesen mangelt, aus der der Her-
ausgeber der ,Fackel' aufreizende, zwingende Argumente für Hass und Verachtung
gegen die parasitären Zerstörter des Geisteslebens schöpft - darf einer, der ihr Wirken
2s nicht durchschaut, dem aber endlich ein Ahnen die Augen öffnet, dem dumpfen Gefühl
von Abscheu und Ekel in einem Schimpfwort den erlösenden Ausdruck geben?"[... ]
Nach dem Ende des kaiserlichen Deutschlands wurden die Schmähbegriffe weiterhin
benutzt, um die Zeitungen als unpatriotisch hinzustellen, die auf dem Boden der Wei-
marer Republik standen. Der Begriff „Lügenpresse" kommt jedoch weder in Adolf
30 Hitlers Buch „Mein Kampf" noch in seinen Reden direkt vor. [ ...] Bei Hitlers Chefpro-
pagandist Joseph Goebbels lässt sich der Begriff „Lügenpresse" nachweisen in des-
sen Tagebüchern - so am 18. Januar 1930 und am 20. Dezember 1939, hier bezogen
auf die Auslandspresse. Meist bevorzugte Goebbels den Begriff Journaille, auch „jü-
dische Journaille" und „Asphaltpresse".
35 Während der Anfänge der Bonner Republik bezeichneten hin und wieder westdeut-
sche Journalisten die ostdeutschen Medien als „Lügenpresse". Und in der DDR war
gern von der „westlichen Lügenpresse" die Rede.
Der Schmähbegriff wird immer dann aus der Mottenkiste geholt, wenn es darum geht,
der jeweils anderen Seite die Legitimation zu entziehen. Wer sich selbst im Besitz der
40 absoluten Wahrheit wähnt, bezichtigt schnell diejenigen, die anderer Auffassung sind,
der hinterhältigen Lüge beziehungsweise der Meinungsunterdrückung.

Rainer 8 /asius, www.faz. net, 13 . 1.2015


Aufgaben
1. Arbeiten Sie die historische Entwicklung des Begriffes „Lügenpresse" aus dem Text her-
aus.

2. ,,Der Schmähbegriff w ird immer dann aus der Mottenkiste geholt, wenn es darum geht,
der jeweils anderen Seite die Legitimation zu entziehen." Beurteilen Sie diese Aussage
unter Hinzunahme der in diesem Kapitel genannten Trends im Zusammenspiel von Medien
und Politik, der Rolle sozialer Medien und Meinungsmacht.
Das zentrale politische
■ Entscheidungssystem
4.4.1 Die Verfassungsorgane im Überbl ick

Leitfragen Welche Verfassungsorgane Wie sind sie legit imiert? Wie arbeiten sie zusammen?
entscheiden über die Politik in der
Bundesrepublik Deutschland?

Die Verfassungsorgane

Verfassungsorgane sind diej enigen Staatsorgane, Die weiteren Verfassungsorgane sind:


dere n Rechte und Pflichten im Grundgesetz fest-
geschrieben sind. Sie stehen in einem gegenseit i- • der Bundesrat,
gen Treueverhältnis zueinander. Deshalb darf sich • der Bundespräsident,
kein Verfassungsorgan so verhalten, dass ein an- • d ie Bundesregierung und
deres dadurch an seiner Pflichtausübung gehin- • das Bundesverfassungsgericht.
dert wird. Die Verfassungsorgane sind zudem in
ihre n Funktio nen aufeinander abgest immt. Daneben existieren zwei weitere nichtständige
Verfassungsorgane:
Der Bu ndestag ist das einzige Verfassungsorgan,
welches von der Bevölkerung direkt gewählt • Die Bundesversammlung, welche sich aus-
wird. Er kann deshalb als die zent rale Institution schließlich für die Bu ndespräsidentenwahl kon-
im politischen System der Bundesrepublik stituiert.
Deutschland bezeichnet werden u nd genießt die • Der Gemeinsame Ausschuss, welcher im Vertei-
höchste Legit imität. d igungsfall als „Notparlament" d ient.

Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland

Bundes- _ _ _V_o_
rs_ch_la~g_ / \ B~:1ä~r:~nt
kanzler Ernennung ~ Bundes-
verfassungs-
gericht

Wahl
f
Wahl auf 5 Jahre
Wahl der Richter je zur Hälfte
durch Bundestag und Bundesrat

Bundestag Bundesrat

7
598 * :~:n:~::- ~ m~
er~ng
9 ee!7:tit- 69
Abgeordnete gheder Mitglieder
------- -------~
~~ t
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Wahl auf 4 Jahre
W_
Wahlen

Lan~es-
parlamente _.
Landes-
regierungen

1
: .:;,,~~,}~,~~1,,11/Mtt;:;i1i1!\11}t'~t\1 ,~-1.,~~l
• zuzuglich Uberhang-
und Ausgleichsmandaten
A Wahlberechtigte Bevolkerung AA A~A
I~ZA
A
_H_ L_E-N B
- 1-LD- E~Rl-ffi-

«:> Bergmoser + Höller Verlag AG 62 1/0


1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Republik der lchlinge?

Die Repräsentanten der Verfassungsorgane dieser Republik haben sich von den guten
Sitten der Altvorderen abgewandt. Statt sich gegenseitig zu respektieren, liefern sie
sich eine offene Saalschlacht. Das rührt an die Grundfesten der Demokratie und sollte
dringend aufhören.
5 Es gibt ein paar ungeschriebene Gesetze in der Politik und anderen existentiell lebens-
wichtigen Bereichen unseres gesellschaftlichen Beisammenseins. Sie werden erfreu-
licherweise nach wie vor eingehalten und unterliegen nicht der allgemeinen Erosion
der Gepflogenheiten.

Drei der w ichtigsten ungeschriebenen Gesetze lauten:

10 • Die Politik mischt sich nicht in Lohn- und Gehaltsverhandlungen von Arbeitgebern
und Gewerkschaften ein. Man nennt das Tarifautonomie.
• Die Politik beißt sich lieber auf die Zunge, als seinerzeit der Bundesbank oder heute
der Europäischen Zentralbank öffentlich Ratschläge zu deren Zinspolitik zu geben.
Man nennt das Unabhängigkeit der Geldmarktpolitik.
15 • Beim Fußball drischt der Spieler den Ball ins Aus, wenn ein Spieler der gegnerischen

Mannschaft verletzt am Boden liegt. Man nennt das Fairplay.

Vom Fairplay war bisher auch das Zusammenspiel der obersten Verfassungsorgane in
Deutschland bestimmt. Der Kanzler oder die Kanzlerin redete dem Bundespräsidenten
nicht rein, der Präsident nicht dem Parlament, das Parlament nicht dem Präsidenten
20 des Bundesverfassungsgerichts.
Das ist seit einigen Wochen radikal anders geworden. Unter dem Druck der Euro-Kri-
se heißt das neue Spiel unter den vier Verfassungsinstitutionen: jeder gegen jeden. Ein
kleiner Abriss der Ereignisse: Erst mutmaßte der Bundespräsident öffentlich, wie das
Bundesverfassungsgericht in der Sache Eilantrag ESM wohl urteilen würde. Eine Äu-
25 ßerung, die Joachim Gauck inzwischen selbst als dusselig eingeschätzt hat.
Dann konterte das Bundesverfassungsgericht öffentlich, der Präsident möge das zu-
grunde liegende Gesetz doch besser erst einmal nicht unterschreiben. Anschließend
erbat sich das Gericht demonstrativ viel Zeit für seine Eilentscheidung und brachte vor
allem die Kanzlerin in Bedrängnis. Schließlich mischte sich der Bundestagspräsident
30 ein und schurigelte das Bundesverfassungsgericht. Schließlich hatte dieses zwar das
sogenannte Zwölfergremium des Bundestages zur geheimen Findung der Verfas-
sungsrichter für rechtens erklärt, hingegen das sogenannte Neunergremium desselben
Hauses für die Belange der akuten Euro-Rettungspolitik als nicht verfassungsgemäß
erachtet.

Es läuft etwas schief im Staate Deutschland

35 Hier läuft etwas grundlegend schief im Staate Deutschland. Es ist völlig normal und
geradezu erwünscht, das in der Parteipolitik und im Parlamentarismus eine gewisse
Rauflust herrscht. Dieses Schauspiel gehört zu unserer Demokratie wie Brot und Spie-
le im Circus Maximus von Rom. Aber die obersten Repräsentanten der vier Verfas-
sungsorgane sollten nicht als Gladiatoren in diese Arena herabsteigen und mitmachen.
40 Am ehesten noch darf die Nummer drei im Staat , die Bundeskanzlerin, diese Form von
Politik ausleben. Die natürliche politische Auslese auf dem Weg ins Kanzleramt sorgt
ohnehin dafür, dass nur außerordentlich willensstarke und rauferprobte Persönlichkei-
ten dort hinkommen. ,,Ich will hier rein!" ist die Triebkraft dieser Ausnahmeerscheinun-
gen von Willen und Machtanspruch. Und auch wenn Angela Merkel im Unterschied zu
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

45 ihrem Vorgänger diesen Satz verbrieft nie so gesagt hat: Sie wollte auch unbedingt
,,da" - also ins Kanzleramt - rein, und vor allem: Sie tut alles, um dort drin zu bleiben.
Aus diesem Antrieb heraus ist auch sie beteiligt an der derzeitigen Situation. Dass sie
Andreas Voßkuhle zur Verhinderung von Joachim Gauck vor vier Monaten zum Bun-
despräsidenten machen wollte, war nicht nur der Eignung Voßkuhles geschuldet. Sie
50 wollte diesen Mann, den Urheber des Lissabon-Urteils, mit dem die Karlsruher Richter
der europäischen Integration verfassungsrechtliche Grenzen setzten, unschädlich ma-
chen und ihn auf den vergleichsweise einflussloseren Posten in Schloss Bellevue hin-
wegbefördern.
Voßkuhle, der wohl politikaffinste Präsident des Verfassungsgerichts, den dieses Land
55 je hatte, roch den Braten und blieb lieber auf seinem Posten in Karlsruhe - weil er sich
von dem zu Recht operativ viel mehr Macht versprach. Diese Politiklust von Voßkuhle
führt neben der Sache dazu, dass das Bundesverfassungsgericht mehr denn je mitten
drinsteckt in der politischen Auseinandersetzung.

Es droht eine Verfassungskrise

Voßkuhle hat ein politisches Super-Ego, ebenso wie der Mann, der statt seiner schließ-
so lieh Bundespräsident wurde. Joachim Gauck hielt sich lange schon für den Besten und
musste lange warten, bis das die Mehrheit in der Bundesversammlung auch so sah.
So etwas kann zu Übermotivation führen. Er ist ein großer Mann des Wortes, was aber
die Gefahr mit sich bringt, dass ihn seine Begeisterung über seine eigenen Worte
hinfortreißt.
s5 Auch der dritte Mann in diesem Verbund, Bundestagspräsident Norbert Lammert, hat
eine mehr als hinreichend hohe Meinung von sich, von seinen intellektuellen und rhe-
torischen Fähigkeiten. Alle drei, Voßkuhle, Gauck und Lammert, sind große lchlinge.
Nicht ohne Grund, aber auch nicht ohne Schaden. Denn die Institutionen, denen sie
vorstehen, die höchsten in diesem Staate, leben davon, dass sich die Amtsinhaber
10 zurücknehmen und nicht in den Vordergrund spielen. Daran mangelt es im derzeitigen
Zusammenspiel dreier lchlinge im Präsidialamt, Karlsruhe und im Bundestag sowie
einer Regierungschefin, die qua Amt ein lchling sein muss.
Die Erregungslust der Wallungsdemokratie, in der wir leben, verlangt einen immer
größeren Nervenkitzel von der Politik. Der Druck der Krise tut ein Übriges. Aber an den
15 Pforten vom Präsidialamt, vom Bundesverfassungsgericht, vor dem Hochsitz im Bun-
destag sollte Schluss mit diesen Sperenzchen sein . Sonst droht die Staatsschmelze,
die man offiziell Verfassungskrise nennt. Um es also mit einem abgewandelten Wort
des Bestsellerautors Stephane Hessel zu sagen:
Besinnt euch!
Christoph Schwe1111 ick, www.spiegel.de, 23.7.2012

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die drei ungeschriebenen Gesetze der deutschen Politik.

2. Inwiefern sieht Christoph Schwennick die drei ungeschriebenen Gesetze der deutschen
Politik verletzt? Analysieren Sie dafür seine Kritik am politischen Personal.

3. Setzen Sie sich kritisch mit dem von Christoph Schwennick präferierten Verhaltenskodex
auseinander.
4.4.2 Der Bund estag
Leitfragen Wie wird der Wie ist seine Arbeit Welche Stellung haben die Abgeordneten des
Bundestag gebildet? organisiert? Deutschen Bundestages im
politischen System Deutschlands?

Wie ist der Bundestag aufgebaut?

Der Bundestag ist das Parlam ent der Bundesrepu- nur aus ihre n Reihen geübt. Aus der Gewaltentei-
bl ik Deutschland und die Versammlung der von lung ist also eine Gewaltenverschränkung zwi-
den deutschen Bürgern gewählten Repräsent an- schen Exekut ive und Legislative geworden, da die
ten. Die klassische Vorst ellung von der Gewalten- Exeku tive mit der Parlamentsmehrheit eng zu-
teilung in Legislative, Exekutive und Judikat ive sammenarbeitet, mit ihr verflochten ist und dem
lässt vermuten, dass der Bu ndestag im Ganzen als kleineren Teil des Parlamentes - der Oppositio n
Kontrolleur de r Exekutive a uftritt und ihr somit - gegenübersteht. Bestärkt wird diese Gewalten-
als Ein heit gegenübe rsteht. versch ränku ng noch dadurch, dass die Regie-
rungsmitglieder i. d. R. gleichzeitig auch ein Abge-
Da aber der Bundeskanzler von der Meh rheit des ordnetenmandat im Bundestag innehaben, also
Bundestags gewählt und anschließend unterstützt über ih re eigenen Gesetzesvorschläge mit a bstim-
wird, ist der eigentl iche Gegenspieler der Regie- men kö nnen u nd oftmals zusätzlich noch wichti-
rung nicht der gesamte Bu ndestag, sondern die ge Mitglieder der Parteien sind, die sie im Parl a-
Opposition. Kritik an der Regierun g wird meist ment stützen.

Die Aufgaben des Bundestags

Bundesregierung ~/h.rl=-i11ei·äfot·I////~
~ ~
~ Die direkte Wahl durch ~ ,ti Bundesverfassungsgericht
wählt ~ das Volk macht d as ~
.,_
ka•n•n• •ab•w
•a • n- ~ Parlament zum höchsten ~
•· h•le
~ Verfassungso rgan. ~ Bundestag und

......... ........·.
Bundesrat wählen
~ ~
~
~
~ ........... ~
~
~
------------
gemeinsam Richter

·------
kontrolliert
~
~ : •• • • ••• ••• • • •• ••
::::.•····•·\~: ~
~
L?a Bundesrat

i
,,, ••• •• • • •••
~
(A nf ragen, ~ ~
Untersuchungs- ~////////////////////////ß. _ _ _ _ _ _ _ _ _....,.
ausschüsse, beschließt
gemeinsame (großteils gemeinsam
st ellt SO % mit Bundesrat)
Beratungen)

,!.,!.•!• Bundesversammlung

verabschiedet

€ Bundeshaushalt •~• Bundespräsident § Bundesgesetze

1g 1 © Glob"' Auswahl der wichtigsten Aufgaben Quelle: Deutscher Bundestag, BpB


4.4 Das zentrale politische Entscheidungssystem

Wie organisiert der Bundestag seine Arbeit?

Die Organisation des

------Bundestags präsident
1
Bundestags- Präsidium Ältestenrat
verwaltung Bundestags-Präsidium
1a.1a1a.1a
Bundesrat

+
Stellvertreter/innen

♦ Wahl
alululululululululululululull
r + 23 von den Fraktionen
,__.
benannte Mitglieder

Fraktionen

•••••••••••••••
Plenum 1••···
+ ••••• Abgeordnete •••••
Zusammen-
schlüsse der
Abgeordneten
einer Partei

••••••••••••••••••
• • • • •J
(Mindeststärke:

•••••••••••••••••••
/
5 % der Mitglieder
des Bundestags)

Ständige Sonder- Untersuchungs- Enquete-


Ausschüsse ausschüsse ausschüsse kommissionen

.___ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ IZAHLENBILDERl f f i
© Bergmoser + Höller Verlag AG 64 110

Die Fraktionen Die Ausschüsse

Der Bundestag ist ein „Fraktionenparlament". Der Bundestag wird als Arbeitsparlament be-
Mindestens fünf Prozent der Mitglieder des Bun- zeichnet, was angesichts der oft halbleeren Ränge
destages, die i. d. R. derselben Partei angehören, im Plenum, der Vollversa mmlung aller Abgeord-
können eine Fraktion bilden und somit gemein- neten, für den Beobachter zunächst ungewöhnlich
same Ziele durchsetzen. Die Fraktionen können erscheint. Doch das Plenum ist meist der Ort im
als „parlamentarischer Arm" der Parteien bezeich- Bundestag, der von der Öffentlichkeit wahrge-
net werden. Da nicht jeder Abgeordnete ein Spe- nommen wird. Die Debatten und Abstimmungen
zialist für alle politischen Fragen sein kann, teilen sind j edoch nur der Schluss der eigentlichen Ar-
sich die Fraktionen das politische Feld in Sachge- beit, die vor allem in den Ausschüssen stattfindet.
biete auf. Die einzelnen Abgeordneten werden Analog zum Arbeitsbereich jedes Ministeriums
dann bestimmten Spezialgebieten zugeteilt. In gibt es normalerweise einen Ausschuss. Die Aus-
den Fraktionen wird auch das gemeinsame Ver- schüsse spiegeln in ihrer Zusammensetzung die
halten in den Abstimmungen über die Gesetzes- Mehrheitsverhältnisse im Bundestag wider; hier
vorlagen ve reinbart. Zentrales Beschlussgremium arbeiten die Experten der einzelnen Fraktionen
einer Fraktion ist die Fraktionsversammlung. Sie eines j eweiligen Fachgebiets und diskutieren die
wählt den Fraktionsvorstand mit dem oder der Gesetzesvorlagen und Anträge in allen Details. Da
Fraktionsvorsitzenden an der Spitze. Die Frakti- nicht alle Abgeordneten mit den Feinheiten aller
onsvorsitzenden gehören neben den Regierungs- Sachgebiete vertraut sein können, geben die Aus-
mitgliedern und den Parteivorsitzenden der Bun- schussmitglieder nach ihren Beratungen Be-
destagsparteien zu den mächtigsten Akteuren auf schlussemp feh lungen an ihre Fraktionskollegen
dem politischen Parkett. für die Abstimmung im Plenum weiter.
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

Welche Rolle spielt der Bundestag destag die Hälfte der Richter des Bundesverfas-
im politischen System? sungsgerichts und wirkt an der Bestellung der
Richter der obersten Bundesgerichte mit. Diese
Der Bundestag übernimmt folgende Funktion im Staatsorgane erhalten so eine indirekte demo-
politischen System der Bundesrepublik Deutsch- kratische Legitimation.
land:
4. Interessenartikulation: Der Bundestag ist das
1. Legislativfunktion: Alle Bundesgesetze müssen Forum der politischen Ausei nandersetzung in
vom Bundestag beschlossen werden. Die Initi- Deutschland. Hier sollen alle gesellschaftlich
ative zur Gesetzgebung (Gesetzesinitiative) wichtigen Themen und Standpunkte kontrovers
kann von den im Bundestag vertretenen Frak- diskutiert werden. Die öffentlichen Debatten
tionen, von der Bundesregierung oder vom vermitteln den Bürgern die politischen Vorstel-
Bundesrat a usgehen. Die Gesetzesvorlagen lungen der Parteien und geben ihnen so die
müssen im Bundestag eingebracht, dort in drei Möglichkeit, sich ein eigenes Urteil über die
Lesungen besprochen und dann als Gesetz ver- politischen Sachfragen zu bilden. Die Abgeord-
abschiedet werden. Traditionell wird das Bud- neten sollen die Interessen der Wähler reprä-
get- oder Haushaltsrecht als das bedeutendste sentieren; dies bedeutet aber nicht, dass die
Recht des Bundestages angesehen. Der Entwurf einzelnen Bevölkerungsgruppen und ihre Inte-
für das Haushaltsgesetz, mit dem die geplanten ressen proportional zu ihrem Anteil an der Ge-
Einnahmen und Ausgaben fü r das jeweils samtbevölkerung vertreten sein müssen. Die
nächste Jahr beschlossen werden, wird von der soziale Zusammensetzung des Bundestages
Bundesregierung eingebracht und muss vom spiegelt nicht die Zusammensetzung der Ge-
Bundestag verabschiedet werden. Neben der samtbevölkerung wider. So sind z.B. Arbeiter
Verabschiedung von Gesetzen muss der Bun- und Frauen stark unter- und Akademiker stark
destag auch internationale Abkommen und überrepräsentiert.
Verträge ratifizieren, die erst dann offiziell in
Kraft treten und damit für die Bundesrepublik
Deutschland Gültigkeit erlange n. Der Bundes- Wie kontrolliert der Bundestag
tag kann jedoch den im Vertrag getroffenen die Bundesregierung?
Vereinbarungen lediglich zustimmen oder sie
ableh nen. Außerdem entscheidet der Bundestag Zur Kontrolle der Regierung steht dem Bundestag
über den Einsatz der Bundeswehr im Ausland. ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfü-
gung, welches in vollem Umfang überwiegend
2. Kontrollfunktion: Der Bundestag überwacht von der Opposition genutzt wird:
die Arbeit der Regierung. Die Fraktionen kont-
rollieren, kritisieren und beeinflussen die Re- • Fragerecht: Mindestens fü nf Prozent der Abge-
gierung im Vorfeld der Entscheidungen. Sie ordneten oder eine Fraktion können in schrift-
prüfen, ob die Regierung den beschlossenen licher Form Fragen zu einem bestimmten Thema
politischen Kurs und die inhaltlichen Vereinba- an die Regierung stellen, die diese beantworten
rungen einhält. Die öffentliche Kontrolle und muss. Kleine Anfragen beantwortet die Regie-
Kritik ist Sache der Opposition. Die Oppositi- rung ausschließlich in schriftl icher Form. Große
onsfraktionen versuchen der Regierung Fehler Anfragen werden hingegen im Bundestag de-
und Fehlverhalten nachzuweisen und machen battiert. Da es sich bei Großen Anfragen meist
sowohl inhaltlich als auch personell Alternativ- um wichtige politische Themen handelt, hat die
angebote. Opposition so die Möglichkeit, kritische Fragen
in den öffentlichen Sitzungen zu stellen und
3. Wahlfunktion: Der Bundestag hat die Aufgabe, ihre eigene Meinung dazu dazulegen. Jedes ein-
andere Staatsorgane zu bestellen. Er wählt mit zelne Bundestagsmitglied kann monatlich bis
absoluter Mehrheit seiner Mitglieder den Bun- zu vier Fragen zur schriftlichen Beantwortung
deskanzler und stellt die Hälfte der Delegierten an die Regierung richten. Darüber hinaus hat
in de r Bundesversammlung, die den Bundes- jeder Abgeordnete das Recht, für die sog. Fra-
präsidenten wählt. Außerdem wähl t der Bun- gestunde bis zu zwei Fragen pro Sitzungswoche
4.4 Das zentrale politische Entscheidungssystem

an die Regierung zu richten. Die Fragen werden heit seiner Mitglieder einen neuen Bundeskanz-
in der Fr agestunde von der Regierung mündlich ler wählt und den Bundespräsidenten ersucht,
beantwortet. den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundes-
präsident muss dem Antrag entsprechen.
• Weiterhin kann die Regierung a uf Antrag vo n
mindestens fünf Prozent der Abgeordneten oder • Die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen
einer Fraktion in aktuellen Stunden zu einem durch den Bundestag erfolgt nur a us aktuellem
aktuellen Thema befragt werden. Eine Mehrheit Anlass und mit Zustimmung von mi ndestens
der Parlamentarier kann zudem einzelne Minis- einem Viertel der Bundestagsabgeordneten. Un-
te r in Bundestagssitzungen zitieren, um vo n tersuchungsausschüsse werden meist dazu ge-
ihne n Informationen zu erha lten. nutzt, politische und bürokratische Missstände
und Fehlverhalten in der Regierung, im Bundes-
• Ablehnung oder Änderung von Gesetzesent- tag oder d er Verwaltung zu prüfen und aufzu-
würfen der Regierung bis hin zur Zurückwei- klären. Die Untersuchungsausschüsse verfügen
sung des Haushaltsentwurfs. dabei über weitgehende Rechte. Der Ausschuss
kann Zeugen und Sachverständige lad en und
• Das konstruktive Misstrauensvotum ist das unter Eid vernehmen, sich Akten vorlegen las-
schärfste Ko ntrollinstrument des Parlamentes sen und Gerichte und Verwaltungsbehörden um
gegenüber der Regierung. Demnach kann der Amtshilfe ersuchen. Am Ende der Untersuchung
Bundestag dem Bundeskanzler das Misstra uen stehen ein Bericht, mediale Aufmerksamkeit
aussp rechen, indem er mit der a bsoluten Mehr- u nd eine Debatte im Bundestag.

Parlamentarische Kontrollrechte

Große Anfrage Kleine Anfrage

?
Schriftliche Anfrage zu einem Schriftliche Anfrage zu konkreten
größeren politischen Themenkom- Einzelthemen durch eine Fraktion
plex durch eine Fraktion bzw. bzw. mindestens 5% der
mindestens 5% der Abgeordneten Abgordneten

An die Beantwortung durch die Die Antwort erfolgt schriftlich


Bundesregierung schließt sich in durch das jeweils zuständige
der Regel eine Debatte vor dem Bundesministerium
Bundestag an
Fragerechte
des Bundestags

Hauptfunktionen:
Fragestunde Aktuelle Stunde
1 ► Beschaffung von
Informationen
Einzelfragen zur mündlic hen od er Politische Debatte mit Kurzbeiträ-
schriftlichen Beantwortung, von ► öffentliche gen zu einem aktuellen Thema
einzelnen Abgeordneten einge- Herausforderung auf Verlangen einer Fraktion bzw.
bracht der Regierung von mindestens 5% der Abgeord-
durch die neten oder nach Vereinbarung im
Mündliche Beantwortung in den Opposition Ältestenrat
beiden wöchentlichen Fragestun- ► Gelegenheit,
den des Bundestags die Haltung der Redezeit für die Abgeordneten: 5
Opposition min: Gesamtdauer: 1 Stunde +
Möglichkeit für die Abgeordneten, darzulegen Redezeit der Regierung
mit Zusatzfragen nachzuhaken
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

Die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der


Bundestagsabgeordneten

Die rechtliche Stellung der Bundestagsabgeord- nehmigung des Bundestages zulässig ist. Eine
neten ist durch drei Prinzipien gekennzeichnet: Ausnahme gilt nur dann, wenn der Abgeordne-
te auf frischer Tat ertappt oder im Laufe des
• Indemnität: Wegen einer Abstimmung oder ei- folgenden Tages festgenommen wird.
ner politischen Äußerung, die ein Abgeordneter
im Bundestag oder in einem seiner Ausschüsse • Zeugnisverweigerungsrecht: Der Abgeordnete
getan hat, darf er zu keiner Zeit gerichtlich oder muss nicht über Gespräche mit Personen aussa-
dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des gen, wenn er diese Gespräche in seiner Eigen-
Bundestages zur Verantwortung gezogen wer- schaft als Abgeordneter geführt hat. Insoweit ist
den. Niemand kann also einen Abgeordneten auch die Beschlagnahme von Dokumenten ver-
wegen seiner Abstimmung zur Rechenschaft boten, wen n diese Informationen über die Ge-
ziehen, auch nicht nach Beendigung seiner spräche enthalten.
Mandatszeit. Der Bundestag kann die Indemni-
tät eines Abgeordneten nicht aufheben. Diese Sonderrechte sollen den Abgeordneten davor
schützen, durch Übergriffe oder fingierte Beschul-
• Immunität: Sie besagt, dass jede strafrechtliche digungen in seiner Abgeordnetentätigkeit beein-
Verfolgung oder j ede Beschränkung der persön- trächtigt oder behindert zu werden. Außerdem wird
lichen Freiheit eines Abgeordneten nur mit Ge- die Funktionsfähigkeit des Parlamentes gesichert.

l f tl ~ Diäten der Bundestags-


~rn
III

abgeordneten

Abgeordneten- Amtsausstattung Nach Beendigung


entschädigung des Mandats

9 327 €/Monat Kostenpauschale: Altersentschädigung:


einkommensteuerpflichtig; 4 305 €/Monat steuerfrei für jedes Jahr im Bundestag
jährliche Anpassung an (z.B. für Wahlkreisbüro, 2,5 % der Abgeordneten-
Nominallohnindex Zweitwohnung am Sitz des entschädigung (max. 67,5 %)
Bundestags)
Kranken- und Pflege- Übergangsgeld
versicherung: Büroausstattung: bis zur Aufnahme einer
wahlweise Beihilfe nach bis zu 12 000 € jährlich Berufsstätigkeit:
beamtenrechtlichen für jedes Jahr im Bundestag
Maßstäben oder hälftiger Mitarbeitervergütung: 1 Monatsbetrag der Abgeord-
Beitragszuschuss 19 913 €/Monat brutto netenentschädigung (bis zu
(von Bundestagsverwaltung 18 Monate); Erwerbseinkünfte
direkt an Mitarbeiter gezahlt) werden angerechnet
Sachleistungen
(u.a. eingerichtetes Bundes-
tagsbüro, Freifahrkarte der
Deutschen Bahn, Nutzung der
Dienstfahrzeuge in Berlin)
(__ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _.!:II_ _ _ _ _ _ _ _IIIIIIIIL.._ _ _ _ IZAHLENBILDERl-ffi
<0 Bergmoser + Höller Verlag AG 88765
4.4 Das zentrale politische Entscheidungssystem

Die Abgeordneten sollen zudem wirtschaftlich so Der einzelne Abgeordnete gewinnt durch die Zu-
gestellt sein, dass zum einen für ihr Mandat eine gehörigkeit zu einer Fraktion mehr Einfluss auf
finanzielle Entschädigung erhalten und zum an- den parlamentarischen Entscheidungsprozess, als
dere n die sog. Diäten Verdienstausfälle ausglei- er dies als Individuum hätte. In der Realität wird
chen sollen, die den Abgeordneten durch die Aus- das freie Mandat dementsprechend durch die For-
übung ihres Mandats entstehen und ihre derung nach Fraktionsdisziplin eingeschränkt, der
materielle Unabhängigkeit garantieren. Ihre Höhe sich der einzelne Abgeordnete freiwillig unter-
wird auf Grundlage einer Empfehlung des Bun- wi rft. So können die Fraktionen, um Mehrheiten
destagspräsidenten vom Bundestag beschlossen. zu schaffen oder zu erhalten, auf die Stimmen
Sie orientiert sich u. a. an den Bezügen von einfa- aller ihrer Mitglieder vertrauen, besonders dann,
chen Richtern der obersten Bundesgerichte. wenn die Mehrheit sehr knapp ist. Das Abweichen
der Abgeordneten vo n der Fraktionslinie wird
schnell als fehlende Geschlossenheit und Uneinig-
Politische Stellung - zwischen freiem Mandat keit und damit als Schwäche der Fraktion inter-
und Fraktionsdisziplin pretiert. Gleichzeitig beschließt die Fraktion als
Ganzes, welchen Standpunkt sie in einer politi-
Nach Art. 38 GG verfügen die Abgeordneten über schen Frage einnimmt; hierbei hat jedes Frakti-
ein freies Mandat, d. h. sie sind a ls Vertreter des onsmitglied die Möglichkeit, in der Diskussion
ganzen Volkes „an Au~räge und Weisungen nicht seine Meinung zu vertreten und dafür zu werben.
gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen".
Weder die Wähler noch die eigenen Fraktionen Die Forderung nach Fraktionsdisziplin wird im
dürfen den Abgeordneten d irekte Aufträge oder Allgemeinen dann aufgehoben, wenn es in einer
Weisungen über ein bestimmtes Abstimmungs- anstehe nden Abstimm ung um eine so g rundsätz-
verhalten erteilen. So erlangt der einzelne Abge- liche Frage geht, dass allein das Gewissen des Ab-
ordnete die Freiheit, die er braucht, um am Prozess geordneten seine Entscheidung bestimmen kann
der parlamentarischen Willensbildung zu partizi- (z.B. bei der Zulassung von gentechnischer For-
pieren. schung an menschlichen Embryonen).

Aufgaben
1. Stellen Sie die Arbeitsweise des Bundestages mit eigenen Worten dar. Gehen Sie dabei auf die Bedeutung
der Fraktionen und der Ausschüsse ein.

2. Erklären Sie, warum sowohl die Fraktionen als auch die Ausschüsse wichtige Teile des Bundestages sind.

3. Erläutern Sie die Funktionen des Bundestages in je zwei Sätzen.

4. Beurteilen Sie die Wirksamkeit der Kontrollinstrumente des Bundestages und erstellen Sie eine Rangliste (am
wenigsten wirksam bis hin zu am wirksamsten).
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Der Deutsche Bundestag ist nicht immer so gut, wie er sein sollte

Aus der Abschiedsrede des Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert. 7.


September 2017

Der Deutsche Bundestag ist im Vergleich zu anderen Parlamenten innerhalb und au-
ßerhalb der Europäischen Union in seinen verfassungsmäßigen Aufgaben, in seiner
Zusammensetzung und in seiner Ausstattung stärker und einflussreicher als die meis-
ten Parlamente auf diesem Globus. Für Minderwertigkeitskomplexe besteht kein An-
s lass. Aber der Deutsche Bundestag ist nicht immer so gut, wie er sein könnte und
vielleicht auch sein sollte. Dass Parlamente Regierungen nicht nur bestellen, sondern
auch kontrollieren, ist im Allgemeinen unbestritten; im konkreten parlamentarischen
Alltag ist der Eifer bei der zweiten Aufgabe nicht immer so ausgeprägt wie bei der
ersten. [... )
10 Dass die Regierungsbefragung in jeder Sitzungswoche des Deutschen Bundestages

noch immer zu den Themen stattfindet, die die Regierung vorgibt und nicht das Par-
lament, ist unter den Mindestansprüchen, die ein selbst-bewusstes Parlament für sich
gelten lassen muss. Das wird auch dadurch nicht völlig ausgeglichen, dass es in-zwi-
schen immerhin gelungen ist, sicherzustellen, dass leibhaftige Mitglieder der Bundes-
1s regierung an der Regierungsbefragung teilnehmen.

Norbert Lammert, www.bundestag.de, 5 .9.2017

M 2 Wenn die Regierung mauert

Für Petra Sitte, Parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion, gehören sie zu


den Königsrechten des Parlaments: die Kleinen Anfragen, mit denen die Fraktionen
oder einzelne Abgeordnete Auskünfte von der Bundesregierung verlangen können.
3621 wurden in der zu Ende gehenden Wahlperiode - Stand 19. Juni - gestellt, davon
s 2026 von der Linken, 1595 von den Grünen, 38 von CDU/ CSU und SPD gemeinsam
sowie eine von der Unionsfraktion. Unterm Strich: 99 Prozent der Kleinen Anfragen
kamen von der Opposition.
Bei den Großen Anfragen sieht die Verteilung ganz ähnlich aus: Neun stellte die Links-
fraktion, sechs die Grünen. Die Koalitionsfraktionen haben in der 18. Wahlperiode des
10 Bundestages, die mit der Bundestagswahl am 24. September zu Ende geht, keine

einzige Große Anfrage gestellt. (... ]


Allerdings sieht sich die Linksfraktion bei ihrer Regierungskontrolle nach eigener Dar-
stellung zunehmend behindert - weil die Regierung Anfragen nicht korrekt beantwor-
tet habe, lückenhaft oder auch gar nicht. Allein in den vergangenen zwei Jahren seien
1s 53 Antworten bzw. größere Antwortkomplexe auf schriftliche Fragen, mündliche Fra-
gen sowie Kleine Anfragen der Linksfraktion als vertraulich, geheim oder „Nur für den
Dienstgebrauch" eingestuft worden, berichtet Sitte. [...]
Dass immer häufiger Auskünfte verweigert werden, belegt die Linksfraktion konkret
am Beispiel der Hochschulpolitikerin Nicole Gohlke, die sich bei der Regierung regel-
20 mäßig nach den Forschungsgeldern aus dem Verteidigungsministerium für Hochschu-

len und Forschungseinrichtungen erkundigt. Antworten dazu seien in der Vergangen-


heit noch frei zugänglich gewesen, nun aber könnten angeblich „aus der Summe der
veröffentlichten Informationen Rückschlüsse auf wehrtechnische lnteressensschwer-
punkte und damit letztlich Fähigkeitslücken der Bundeswehr gezogen werden".

Matthias Meisner, www.tagesspiegel.de, 27.6.2017


KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 3 Die Mini-Opposition

Ohne eine leistungsfähige Opposition im Parlament, die Kritik äußert, die Regierung
kontrolliert und politische Alternativen aufzeigt, ist die parlamentarische Demokratie
zum aufrechten Gang nicht fähig. [... ]
In Zeiten von schnell aufeinanderfolgenden Krisen wie Bankenkrise, Eurorettung,
s Migrations- und Flüchtlingskrise sowie Terroranschlägen unterliegt Regieren einem
extrem hohen Problem- und Handlungsdruck. Es handelt sich um Kipppunkte des
Regierens, in denen besonders schnell unter mangelhafter Wissensbasis von einem
kleinen Kreis politischer Entscheider gravierende Weichenstellungen mit unklaren Fol-
gen, oft aus einem Bauchgefühl heraus getroffen werden, um Katastrophen im letzten
10 Moment abzuwenden.

Turboregieren suggeriert Alternativlosigkeit. Es reduziert die Entscheidungsmöglich-


keiten vermeintlich auf Zustimmung oder Unregierbarkeit: Sicherheit der Bankeinlan-
gen von Millionen Bürgerinnen und Bürgern oder Bank Run, Finanztransfers für Grie-
chenland oder Ende des Euro, Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge oder humanitäre
1s Katastrophe. [...]
Fleißige Mitarbeit der Opposition im Bundestag reicht nicht mehr aus. Denn der Bun-
destag ist nicht alleiniger Gesetzgeber. Regieren und damit notwendigerweise auch
Opponieren geschieht vielerorts in einem unübersichtl ichen verflochtenen föderalen
Mehrebenensystem aus Regierungen und Parlamenten in der Europäischen Union, im
20 Bund, in den Ländern und den Kommunen. [...]

Große Anfragen zu umfangreicheren Themenbereichen sind deutlich rückläufig. Hinzu


kommt, dass in den vergangenen vier Jahren vom wichtigen Oppositionsrecht auf
Einsetzung einer Enquetekommission in keinem einzigen Fall Gebrauch gemacht wur-
de. Schwerverständlich, denn Enquetekommissionen erschließen Handlungsspielräu-
2s me für den Umgang mit bedeutsamen Zukunftsproblemen. Warum initiierten Linkspar-

tei und Grüne angesichts der enormen Herausforderungen der Flüchtlingskrise für die
kommenden Jahrzehnte keine Enquetekommission „Gestaltung der Integration"?
Zu den selbst verursachten Problemen zählt zweitens, dass es der Linkspartei und den
Grünen kaum gelang, ihre Parteibeschlüsse mithilfe des Bundesrats durchzusetzen.
30 CDU/CSU und SPD verfügen dort nur über 16 von 35 erforderlichen Stimmen für die

Mehrheit. Aufgrund der umgekehrten parteipolitischen Mehrheiten in Bundestag und


Bundesrat haben Landesregierungen, in denen Grüne beziehungsweise Linkspartei
regieren oder mitregieren, hohe Blockademacht. Doch erstaunlicherweise findet die
Blockade nicht statt. Der Vermittlungsausschuss tagte so selten wie kaum zuvor.

Stephan Bröchler, www.taz.de, 9.8.2017

Aufgaben

1 . Arbeiten Sie aus M 1 - M 3 die zentralen Aussagen der Autoren zum Problem der Kontrol-
le der Exekutive durch das Parlament heraus.

2. Diskutieren Sie auf der Grundlage der Textaussagen und Ihrer Kenntnis die Frage „Die
Kontrolle der Exekutive durch das Parlament - alles nur Theorie?" .
4.4.3 Die Bundesregierung
Leitfragen Welche Aufgaben und Wie wird sie gebildet? Welche Rolle hat der Bundeskanzler in
Befugnisse hat die der Bundesregierung und im
Bundesregierung? politischen lnstitutionengefüge?

Welche Aufgaben hat die Bundesregierung?

Die Bundesregierung hat die Aufgabe der polit i- fe der Bundesregierung stellt zudem sich er, dass
schen Führung und der Ausführung der Bundes- zur Umsetzung der Ziele auch die nötigen Finanz-
gesetze durch die Bundesbehörden. Sie soll de n mittel z ur Verfügung gestellt werden. Zustim-
politischen Willen de r parlame ntarischen Mehr- mungspflichtige Gesetze müssen allerdings auch
heit in praktische Politik umsetzen und die inne- noch vom Bundesrat verabschiedet werden, bevor
re n, gesellschaftlichen Verhältnisse und die aus- sie in Kraft treten können. Dies erfordert nicht
wärtigen Beziehungen d er Bundesrepublik selten a uch die Abstimmu ng mit Parteien, die
Deutschland gestalte n. Dies geschieht in erster nicht jn der Regierung sind (> Kap. 4.4.4).
Linie durch die Gesetzgebung, welche von der
Bundesregierung dominiert w ird (> Kap. 4.6).
Wie wird die Bundesregierung gebildet?
Da die Regierung in all er Regel die Mehrheit im
Bundestag h inter sich hat, k a nn sie damit rech- Das Grundgesetz legt in Art. 63 und Art. 64 die
nen, dass ihre Gesetzesentwürfe verabschiedet Bildung der Bundesregierung klar fest. Auf Vor-
we rden. Die Verabschiedung der Gesetzesentwür- schlag des Bundespräsidenten wählt der Bundes-

Die Aufgaben der Bundesregierung


::r////////41 ,.,..,..,..,..,..,..,..,~
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Ausland ~ Als Exekutive soll sie den politischen ~
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~ Willen der parlamentarischen Mehrheit ~
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Bundestag

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&.\ /.a Auslandseinsätze
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Bundeswehr
.. rt ! ! beaufsichtigt t
er1ass
~

organis,e Gesetzesausführung

~~~ Bundesbehörden ' ~-f Bundesländer


(jl
~
Rechtsverordnungen
Verwaltungsvorschriften

Quelle: BpB, Uni Göttingen, Bundesregierung Auswahl der wichtigsten Aufgaben Stand 2017 @
GlobJ~ I
4.4 Das zentrale politische Entscheidungssystem

tag den Bundeskanzler. Allein der Bundeskanzler Das Kanzlerprinzip und das Kollegialprinzip ste-
wird direkt v om Bundest ag gewä hl t und erhält hen in eine m Spa nnungsverhältnis zueina nder:
somit eine indirekte Legitimation durch die Bevöl- Wenn die Rk htlin ien vom Kanzler im Alleinga ng
kerung. Nach seiner Wahl schlägt der Bundes- bestimmt werden, dann kön nen nich t z ugleich
kanzler dem Bundespräsidenten die Minister vor. alle wichtigen Fragen vo m gesamten Ka binett ge-
Der Bundespräsident muss diese M inister ernen- meinsam entschieden werden. In vielen Fällen ist
nen. Bundeskanzler und Bundes minister bilden der Bundeskanzler an die Mehrheitsentscheidun-
zusammen die Bundesregierung. gen des Kabinetts gebu nden und kann sogar vo n
diesem überstimmt werden. Es ist dah er in hohem
In der politischen Praxis begin nt die Regierungs- Maße von der Person des j eweiligen Kan zlers, von
bildung jedoch nicht erst mit dem Vorschlag des seinem Prestige im eigenen Regierungslager und
Bun despräsidenten, sondern erg ibt sich aus dem in der Bevölkerung abhängig, wie sehr er sich im
Wahlergebnis zur Bundestagswahl. Generell liegt Einzelfall du rchsetzen kan n.
bei der stärksten Fra ktion im Bundestag das Initi-
ativ recht, zu Koalitionsverha ndlungen einzula-
den . In den Koalitionsverhandlungen verabreden Die Stellung des Bundeskanzlers
die an der Regierung teilnehmenden Parteien das
Regierungsprogra mm und legen die Anzahl u nd Die besondere Stellung des Bundeska nzlers im
Zust ändigkeitsbereiche der Bund esminister fest. Machtzentrum der Bundesrepublik Deutschla nd
Hier werden nicht nur die Wünsche der Koaliti- beruht auf einer großen Machtfülle, die ihm zu-
onspartne r, sondern auch wicht ige Gruppen und mindest zun ächst in der Theorie nach dem Grund-
Strömungen sowie sta rke La ndesverbände in der gesetz zukommt:
eigenen Partei berücksicht igt.
• Die Richtlinienkompetenz erlaubt es allein ihm,
in allen Po litikbereichen die polit ischen Grund-
Welche Prinzipien bestimmen die Arbeitsweise linien festzulegen, an dene n sich die a nderen
der Bundesregierung? Regierun gsmitglieder orie ntieren müssen.

Art. 65 GG gibt die Grundprinzipien der Arbeits- • Das Kabinettsbildungsrecht schreibt n ur de m


weise der Bu ndesregierung als Ra hmen vor. Dabei Bundeska nzler das Recht zu, Minister durch den
werden Elemente der Alleinführung des Bundes- Bundespräsidente n zu ernennen ode r zu entlas-
kanzlers mit Elementen einer Kollektiv führung sen. Auße rdem kann er die Aufgabenbereiche
durch das Kabinett kombiniert. Drei Prinzipien der Minister festlegen.
bestimmen die Arbeit der Bundesregierung:
• Nur der Bundeskanzle r ka nn die Vertrauensfra-
• Das Kanzlerprinzip weist dem Bundeskanzler ge stellen. Kombiniert er diese mit der Entschei-
die Richtlinienkompetenz zu. Es besagt, dass der dun g übe r eine Sachfrage, kan n er die Regie-
Bundeskanzler die Richtlinien der Politik be- rungsfraktionen dazu b ringen, ihm bei einer
stimmt und die Verantwortung dafür trägt. Der umstritten en Entscheidung de n Rücken zu stär-
Ka nzler wird dadu rch deut lich aus dem Kreis der ke n und in seinem Sinne abzustimmen. Versagt
Regierungsmitglieder hervorgehoben. ihm die Mehrheit des Parlamentes diese Zustim-
mung, ka nn der Bundeskanzler den Bundesprä-
• Das Ressortprinzip bestimmt, d ass im Rahmen sidenten bitten, den Bundestag aufz ulösen. Dies
der Richtlin ienkompetenz des Bun deskanzlers hätte Neuwahlen zur Folge.
die Minister ihre Gesch äftsbereiche (Ressorts) in
eigener Vera ntwortung leiten. • Im Verteidigungsfall hat der Bundeska nzler den
Oberbefehl über die Bundeswehr.
• Das Kollegial- oder Kabinettsprinzip legt fest,
dass wichtige Entscheidungen vom Ka binett ge- Diese Macht fülle hat dazu gefüh rt, dass die Demo-
m einsam getroffen werden solle n. Auch bei kratie der Bun desrepublik Deutschla nd oft als
Meinungsverschiedenheiten zwischen Minis- Kanzlerdemokratie bezeichnet wird. Unumstrit-
tern soll das Kabinett entscheide n. ten gilt diese Bezeichnung allerdings nur fü r die
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

Die Stellung des Bundeskanzlers

Vertrauensfrage
konstruktives Misstrauensvotum Bundestag
Wahl

Vorschlag
Richtlinienkompetenz
(Kanzlerprinzip)
/
zur Entlassung Keine Möglichkeit,
und Ernennung Minister zum Rück-

••••••
tritt zu zwingen
/

Bundesminister
(Kollegialprinzip, Ressortprinzip)

Amtszeit des ersten deutsche n Kanzlers Konrad takt d er Ministerien zum Bundestag sind parla-
Adenauer (1949 - 1963). Er ließ seinen Bundes- mentarische Staatssekretäre verantwortlich.
ministern wenig Rau m zur eigenen politischen
Entfaltung. folgende Kriterien für eine Kanzler- Die Bundesministerien fü r Finanzen, Verteidigung
demokratie waren in der Amtszeit Adenauers be- u nd Justiz sind im Grundgesetz festgeschrieben.
sonders gegeben : Daneben zählen das Bundesministerium des In-
nern u nd das Auswärtige Amt zu den fünf klas-
• Der Kanzler spielt eine zentrale Rolle bei der sischen Ministerien der Bundesrepublik Deutsch-
Vorbereitung der wichtigen Kabinettsentschei- land. Die Anzahl der Ministerie n ist j edoch nicht
dungen und verkörpert die Regierungspoliti k in festgelegt und kan n sich durch Aufteilung oder
der Öffentlichkeit. Zusammenlegung von Ministerien z.B. nach Bun-
destagswahlen oder Neugewichtung bestimmter
• Der Kanzler verfügt über ein hohes Ansehen Politikfelderz. B. Errichtung des Bundesministeri-
sowohl im Regierungslager als auch in der Be- ums fü r Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
völkeru ng und steht im Mittelpunkt der media- heit 1986 ru nd fünf Wochen nach der Reaktorka-
len Berichterstattung. tastrophe von Tschernobyl oder der Aufl ösung des
Bundesministeriums für Post und Telekommuni-
• Der Kanzler ist unumstrittener Vorsitzender sei- kation 1998 im Zuge der weitgehenden Privatisie-
ner Partei. rung seiner Aufgaben ändern.

• Der Kanzler ist ein wichtiger Akteur in der Au-


ßenpo litik. Er übt das Amt des Auswärtigen zu- Wie arbeitet die Bundesregierung
nächst selbst aus und greift danach in das Res- in der politischen Praxis?
sort des Außenministers ein.
Besonders groß sind die Kompeten zen der Bun-
desregierung im Bereich der Au ßenpolitik und
Welche Aufgaben haben die Minister? den europäischen Angelegenheiten. Nur die Bun-
desregierung kan n völkerrechtliche Verträge ab-
Jeder Minister leitet sein Ressort in eigener Ver- schließen und außenpolit ische Verhandlungen
antwortung. Bundesministerien sind oberste fü hren. Weiterhin leitet die Bundesregieru ng als
Bu ndesbehörden. Die Minister sind die Vorgesetz- oberstes Exekutivorgan die Arbeit der Bundesbe-
ten aller Mitarbeiter in dem ihnen zugeordneten hö rden. Dabei übern immt jeweils ein Fachminis-
Aufgabenbereich. Sie werden in ihren Ministerien terium die Verantwortu ng fü r einen bestimmten
durch Staatssekretäre unterstützt. Für den Kon- Teil der Bundesbehörden.
4.4 Das zentrale politische Entscheidungssystem

~
Die tatsächliche Arbeitsweise der Bundesregie-
rung unterscheidet sich erheblich vo n der Theorie Die Kanzler
des Grundgesetzes. Abweichungen von den Koa- Die Regierungschefs der
litio nsvereinbarungen können auch nicht durch Bundesrepublik Deutschland
die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers
durchgesetzt werden. Die grund legenden Ent- CDU Angela Merkel
scheidungen werden i. d. R. weder durch eine ver- seit 2005
bindliche Entscheidung des Bundeskanzlers im
Alleingang noch durch einen Mehrheitsentscheid
SPD Gerhard Schröder
nach dem Kollegialprinzip im Kabinett getroffen.
, 1998-2005
Sie werden vielmehr in sog. Koal it ionsrunde n der
Vorsitzenden und wicht iger Fachpolitiker derbe-
teiligten Parteien au f Grundlage der programma- CDU Helmut Kohl
tischen Ausrichtung der Regierungsparteien a us- 1982-1998
geh andelt.
SPD Helmut Schmidt
1974-1982
Welche Faktoren begrenzen die Macht des
Kanzlers?
SPD Willy Brandt
1969-1974
Obwohl dem Kanzler nach dem Grundgesetz for-
mal eine sehr große Machtfülle zukommt - er hat
sowohl das Recht der Kabinettsbildung und der CDU Kurt Georg Kiesinger
1966-1969
Festlegung der Richtlinien der Politik - wird diese
Macht in der politischen Realität in aller Regel
durch den Zwang zur Bildung von Koalitionen CDU Ludwig Erhard
eingeschränkt. Bisher hat es nach Bundestags- 1963-1966
wahlen nie eine absolute Mehrheit für eine einzi-
ge Partei gegeben (Anmerkung zur Bundestags-
CDU Konrad Adenauer
wahl 1957: Damals errangen die beiden 1949-1963 [Gl
~
Schwester- bzw. Unionsparteien CDU und CSU die
absolute Mehrheit. Beide Parteien schlossen sich
© Glob"'
im Bundestag bisla ng immer zu einer einzigen
Fraktion zusammen. Dennoch sind CDU u nd CSU
zwei eigenständige Parteien mit jeweils eigenem
Parteivo rsitzenden sowie Wa hl- bzw. Parteipro- Die entscheidenden Akteure in den Koa litio nsver-
gra mm). Regierungen wa re n somit immer auf ha ndlungen sind dann meist die Parteiführungen.
Bündnisse von mindestens zwei Parteien ange- Ihr Gewicht in den Verhandlungen hängt in erster
wiesen. Die progra mmat ische Grundlage einer Lin ie vom Wahlergebnis ihrer Partei ab. Eine Par-
gem einsamen Regierung sind Koalitionsverträge tei mit fünf Prozent der Zweitstimmen kann nicht
oder Koalitionsvereinbarungen, die vo n den be- so viele Min isterposten beanspruchen und nicht
teiligten Parteien ausgehandelt und au f Parteita- so viele ihrer Ziele umsetzen wie eine Partei mit
gen beschlossen werden. 30 Prozent Stimmenanteil.

Aufgaben

1 . Stellen Sie das Spannungsverhältnis zwischen der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers und der
Arbeitsweise der Bundesregierung dar.

2. Charakterisieren Sie die Stellung des Bundeskanzlers innerhalb der Bundesregierung.

3. Setzen Sie sich damit auseinander, warum Politiker regieren wollen. Führen Sie dafür eine Podiums-
diskussion (, Methodenglossar) durch.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Kritik an Merkels Kurs

Gut ein Jahr vor der Bundestagswahl geht SPD-Chef Sigmar Gabriel deutlich auf Di-
stanz zu Angela Merkel. Der Kanzlerin wirft er schwere Fehler in der Flüchtlingspolitik
vor und greift indirekt eine Forderung der CSU auf.
AFP, www.faz.net, 28.8.2016

M 2 Merkels Macht schwindet rapide

In Europa ist die Kanzlerin isoliert, der Koalitionspartner setzt sich ab, die AfD wächst
gewaltig, in der Union rumort es [...) Angela Merkel spürt die Kanzlerdämmerung. Um
sie herum macht sich eine Stimmung breit wie 2005 um Gerhard Schröder. Was damals
die Agenda-2010-Politik war, das ist heute die Multikulti-Migrationspolitik. Beides po-
s larisiert die Gesellschaft und verschreckt das jeweils eigene Lager bis ins Mark. Dem
damaligen Erfolg der Linkspartei steht heute der AfD-Aufstieg gegenüber. Und einst
wie jetzt wankt die Kanzlerfigur ihrem politischen Untergang entgegen. Merkels Macht
schwindet im Zeitraffertempo
Wolfram Weimer, www.ntv.de, 30.8.2016

M 3 Ein Dämpfer für Merkel, aber kein Debakel

Auf dem CDU-Parteitag ist Bundeskanzlerin Angela Merkel mit 89,5 Prozent der Stim-
men als Parteivorsitzende wiedergewählt worden. Das Abstimmungsergebnis ist das
zweitschlechteste ihrer knapp 17-jährigen Amtszeit als CDU-Chefin. Zuvor hatte Mer-
kel auf dem Essener Parteitag um Unterstützung im Bundestagswahlkampf gebeten.

Anna Engelke, www.ndr.de, 06.12.2016

M 4 Merkels Macht bröckelt

Nur ein paar Hausaufgaben seien zu erledigen: Nach den historischen Verlusten bei
der Wahl spielt Angela Merkel auf Zeit. Doch in der Partei rumort es, der CDU droht
ein neuer Richtungsstreit.
Philipp Wittrock, www.spiegel.de, 25.9.2017

M 5 Das wird hart

Nach der Wahl scheint eine Jamaika-Regierung die einzige Option zu sein. Doch ob
das klappt? Neben persönlichen Animositäten gibt es viele inhaltliche Hindernisse.

Katharina Sehufer et al., www.zeit.de, 25.9.2017

Aufgaben

1 . Überprüfen Sie anhand der dargestellten Beispiele die Aussagen zu den „Grenzen der
Kanzlermacht".

2. Erklären Sie, welche weiteren Grenzen deutlich werden .

3. Gestalten Sie ein Poster (, Methodenglossar) zum Thema Handlungsspielräume und Gren-
zen beim Regieren.
4.4.4 Der Bundesrat
Leit fragen Welche Aufgaben nimmt Wie setzt sich der Bundesrat Wie ist sein Verhältnis
der Bundesrat wahr? zusammen? zum Bund geregelt?

Welche Aufgaben hat der Bundesrat?

Der Bundesrat ist für den deutsche n Föderalismus Bundesrat entspricht da bei nicht der exakten Re-
typisch. Er ist in dieser Form einmalig au f der präsentation der j eweiligen Einwohnerzahlen,
Welt. Er ist sowohl Ausdruck einer vertikale n Ge- sondern ist ein Komp ro miss, um der „föderativen"
waltenteilung als auch einer v ertikalen Gewal- Gleichbehandlung der Lä nder zu entsprechen. Zu-
tenverschränkung zwischen Bund und Ländern. dem wird verhindert, dass die großen die kleinen
Die Bundesratsmitglieder sollen keineswegs a us- Länder einfach übertrumpfe n bzw. die kleinen die
sch ließlich Länderinteressen vertreten, sondern großen Länder nicht maj orisieren können.
„Bundes- und Länderinteressen in möglichste
Übe reinstimmung bringen" (Art. 50 GG). Anders als die Abgeordneten des Bundestages ha-
ben die Delegierten der Länderregierungen im
Durch den Bundesrat sind die Länder an der Ge- Bundesrat e in imperatives Mandat, das heißt, sie
setzgebung des Bundes beteiligt. Er soll es er- sind a n bestimmte Weisu ngen und Aufträge ge-
mög lichen, dass die Länder die Gesetze mitgestal- bunden. Au ßerdem müssen die Delegierten eines
ten, die ihre Inte ressen berühre n. Zugleich soll die Landes ihre Stimme einheitlich abgeben. Da mit
Qualität der Gesetzgebung du rch die Einbezie- sind die Mitglieder des Bundesrats die Boten der
hung der Lä nder verbessert werde n. Die Verwal- Entscheidungen ihrer Landesregierungen.
tungsaufgaben üben nä mlich in aller Regel die
Lä nde r aus; diese Kompetenzen und damit ver-
bunde ne Interessen sollen bei der Gestaltung der Kompetenzen des Bundesrats
Gesetze beachtet werden.
Der Bundesrat hat folgende Kompetenzen:

Wie setzt sich der Bundesrat zusammen? 1. Mitwirkung an der Gesetzgebung: Er ka nn


Gesetzesvorlagen einbringen und zu Gesetzes-
Im Bundesrat ist meist bei Beschlüssen ein e abso- entwürfen des Bundes Stellung n ehmen. Bei
lute Mehrheit der 69 Stimmen e rforderlich, bei verfass ungsändernden sowie bei Gesetzen, die
Verfassungsänderungen eine Zweidrittelmehrheit. Lä nderinteressen berühren, ist seine Zustim-
Der Bundesrat besteht aus Mitglied ern der 16 Lä n- mung erforderlich (Zustimmungsgesetze). Bei
derregie rungen; er ist ein sog. ,,ewiges Organ" allen a nderen Gesetzen (Einspruc hsgesetze)
ohne a bgegrenzte Legislaturperioden. Nach Land- ka nn er einen Einspruch erheben.
tagswahlen ka nn sich die Regierungszusammen- 2. Mitwirkung a n der Verwaltung: Der Bundesrat
setzung au f Länderebene ä nde rn und damit auch wirkt beim Erlass von Rechtsverordnungen des
die parteipolitische Ausrichtung der Bundesrats- Bundes m it. Au ch bei allgemeinen Verwal-
delegierten eines Lan des. tungsvorschriften ist die Zustimmung des Bun-
desrats erfo rderlich.
Nach Art. 52 GG hat j edes Bundesla nd im Bun- 3. Mitwirkung an der Europa politik: We nn eine
desrat mindestens drei Stimmen. Einige Lä nder EU-Angelegenheit ausschließlich in die Lä n-
haben mehr als drei Stimmen. So haben Lä nder derkompetenz fällt, dann muss die Bu ndesre-
mi t mehr als zwei Millionen Einwohnern v ier gierung die vom Bundesrats ausgedrückten
Stimmen, mit mehr als sechs Millionen Einwoh- Interessen berücksichtigen.
nern fünf und mit mehr als sieben Millionen Ein- 4. Kontrolle des Bundes: Der Bundesrat soll da r-
wohne rn sechs Stimmen. Das Stimmengewicht im über wachen, dass der Bund nicht Kompetenzen
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

...r~
Stimmenverteilung im Bundesrat

Baden-Württemberg
Bayern
6
6

...-
Niedersachsen 6

::::m:::: Nordrhein-Westfalen 6

...
Hessen 5
,- Berlin 4 C
Cl>
E
Brandenburg 4 E
:;;

..-
Cl)
Rheinland-Pfalz 4 cn
Sachsen
Sachsen-Anhalt
4
4
-
(0

E
CO
(J)
(1)

-~-=
Ol
(J)
:::m:::: Schleswig-Holls tein 4 -~
Thüringen 4
Bremen 3
m
-
..!!..
Hamburg
Mecklenburg-Vorpommern
Saarland
3
3
3

an sich zieht, die Befugnisse der Länder aus- • eine parteipolitische Konfliktlinie zwischen den
höhlen. Bei den zustimmungspflichtigen Geset- Parteien a ufgrund der programmatischen Orien-
zen kontrolliert er, ob die Interessen der Länder tie rung und/oder dem Streben nach einer Stim-
ausreichend berücksichtigt wurden. menmaximierung.
5. Mitwirkung an der Bestellung anderer Staats-
organe: Der Bundesrat wählt die Hälfte der Die parteipolitische Konfliktlinie behe rrscht ge-
Richter des Bundesverfassungsgerichts. wöhnlich das Abstimmungsve rhalten im Bundes-
rat. Dies führt bei gegenläufigen Mehrheiten in
Bundestag und Bundesrat zur Verbreitung des
Konfliktlinien im Bundesrat Vorwurfs, die Opposit ionsparteien missbrauchten
den Bundesrat für ihre Zwecke. De r Vorwurf ist
Im Bundesrat gibt es zwei grundlegende Kon- j edoch nicht so tragfähig, wie es auf den ersten
fliktlini en, die sich bei bestimmten Entschei- Blick scheint. Die Landesregierungen kommen in-
dungsprozessen überlagern kö nnen: direkt durch Landtagswahlen in ihr Amt. Die
Wähler auf Landesebene können von den Regie-
• eine Konfliktlinie zwischen den Länderblöcken rungen durchaus erwarten, dass sie landesspezifi-
im Bundesrat, etwa zwische n finanzstarken und sche Interessen über ein Engagement im Bundes-
finanzschwachen Ländern und rat nach der Wahl verfolgen.

Aufgaben
1. Nennen Sie die beiden im Bundesrat vorherrschenden Konfliktlinien.

2. Erklären Sie die Zusammensetzung des Bundesrates unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung und im
Hinblick auf die Stimmenverteilung der Bundesländer (, Grafik).

3. Erstellen Sie einen Kurzvortrag bzw. Referat (, Methodenglossar) über den Bundesrat (Aufgaben, Zusam-
mensetzung, Zustandekommen, Entscheidungsfindung bzw. Abstimmungsverhalten).
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Zu bunt

Wolfgang Schäuble sitzt seit 1972 im Bundestag, vor 32 Jahren wurde er zum ersten
Mal Minister. Niemand dürfte die strukturellen Probleme im politischen Geschäft bes-
ser kennen als er. Auch deshalb lässt jetzt ein Vorstoß Schäubles aufhorchen. Der
Bundesfinanzminister fordert eine Änderung des Grundgesetzes, um die Blocka-
5 de-Macht des Bundesrates zu beschneiden. Es geht dabei um ein Schreckgespenst,
das schon seit vielen Jahren durch die Hauptstadt geistert: die angeblich blockierte
Republik.
Seit aus dem deutschen Drei-Parteien-System in einigen Landesparlamenten sogar
ein Sechs-Parteien-System geworden ist, ist die Lage im Bundesrat ziemlich unüber-
10 sichtlich. Nicht einmal Angela Merkels große Koalition kann sich noch auf eine Mehr-
heit in der Länderkammer stützen. Die allein von CDU, SPD und CSU regierten Länder
kommen zusammen nicht einmal auf ein Drittel der Stimmen. Derzeit regieren in den
16 Bundesländern elf verschiedene Koalitionen. [... ]
Genau das ist in der Praxis ein Problem für Schäuble. Trotz der Föderalismusreformen
15 sind noch knapp 40 Prozent aller Gesetzentwürfe des Bundes zustimmungspflichtig.
Das heißt , dass sie nur dann Gesetz werden, wenn sie auch der Bundesrat billigt. In
der Länderkammer ist dafür immer die absolute Mehrheit nötig. Das macht das politi-
sche Geschäft so schwer, und deshalb verlangt Schäuble eine Änderung von Artikel
52 Absatz 3 des Grundgesetzes.
20 Dort heißt es bisher: ,,Der Bundesrat fasst seine Beschlüsse mit mindestens der Mehr-
heit seiner Stimmen" , also mit mindestens 35 der 69 Stimmen. Schäuble hat in einem
Grundsatzpapier „für die Verbesserung der Aufgabenerledigung im Bundesstaat" jetzt
aufschreiben lassen, was stattdessen in einem geänderten Grundgesetzartikel stehen
solle. ,,Der Bundesrat fasst Beschlüsse künftig mit einfacher Mehrheit", heißt es in
25 Punkt 14 des Schäuble-Papiers. Die 35-Stimmen-Grenze würde also fallen.[.. .]
Im Bundesrat ist man über den Vorstoß des Finanzministers naturgemäß nicht sonder-
lich erfreut. Niemand lässt sich gerne seine Macht beschneiden. Es gibt jedoch auch
erstaunliche Zahlen darüber, wie es tatsächlich um die angeblich blockierte Republik
bestellt ist.
Seit der Bundestagswahl 2013 sind der Länderkammer 319 vom Bundestag beschlos-
30 sene Gesetzesvorlagen zugeleitet worden. [...] Nur in zwei der 319 Fälle wurde der
Vermittlungsausschuss angerufen, um Änderungen zu erreichen - darunter d ie Reform
der Erbschaftsteuer. Aber selbst in diesen beiden Fällen gab es inzwischen eine Ver-
ständigung. Kurzum: Es mag für Merkels große Koalition zwar mühsam geworden sein,
ihre Gesetzentwürfe durch den Bundesrat zu bekommen. Immer öfter sind schon vor-
35 ab Kompromisse und Absprachen nötig. Von einer blockierten Republik kann aber
keine Rede sein.
Robert Roßmann, www.sueddeutsche.de, 12.10.2016

Aufgaben
1 . Benennen Sie das Problem, dass Wolfgang Schäuble mit dem Bundesrat hat.

2. Analysieren Sie die Beweggründe von Schäuble für eine Beschneidung der Kompetenzen
des Bundesrats.

3. Erörtern Sie auf der Basis des Textes, ob die Mitsprachemöglichkeiten des Bundesrates
bei der Gesetzgebung des Bundes eingeschränkt werden sollen.
4.4.5 Der Bund espräsident
Leitfragen Welche Stellung hat der Bundespräsident Welches sind seine Kompetenzen und
in der Bundesrepublik Deutschland? Aufgaben?

Bedeutung und Aufgaben

Der Bundespräsident ist das Staatsobe rh aupt der Der Einfluss des Bundespräsidenten auf die inne-
Bundesrepublik und repräse ntiert den Staat nach re und äußere Politik als höchster Repräsentant
innen u nd nach außen. Zur Kernfun ktion des po- des Staates beru ht auf seiner Überzeugu ngskraft
lit ischen Systems, für den Staat und die Bürger und seinem Ansehen. So kann er durch Anspra-
ve rbindliche Entscheidungen herbeizuführen, che n a u f Fehlentwicklungen hinweisen und An-
leistet er nur einen geringen Beit rag. Der Bu ndes- stöße für politische Verän deru ngen geben sowie
präsident hat kein Gesetzesin itiativrecht und ver- bei Staatsbesuchen im Ausland das internationale
fügt bei de r politischen Wille nsbildung über keine Anseh en Deutsc hlands fö rdern.
fo rmalen Einflussmöglich keiten. Seine Amts-
handlungen müssen vo m Ka nzler oder den Fach-
Die Bundespräsidenten
ministern gegengezeich net werden. Bedeutungs- der Bundesrepublik Deutschland
los ist der Bundespräsident aber keineswegs. Er
erfüllt v or allem folgende A ufgaben: Theodor Roman
Heuss Herzog
• Prüfung von Gesetzen auf ih re Verfassungsmä- (FDP) (CDU)
1949-1959 1994- 1999
ßigkeit sowie deren Un terzeich nung;
• Ernen nung un d En tlassung von Bundeskanzler,
Bundesministern und Bu n desrichtern ;
Heinrich Johannes
• Un terzeichnu ng von völkerrecht lichen Verträ-
Lübke Rau

-
-C;.
gen, die vorher durch die Regierung a usgeh a n- (CDU) '- I (SPD)

~
delt wurden ; 1959-1969 1999-2004
~
• Entsch eidung über Begnadigu ngen.

Bei diesen Aufga ben ha ndelt es sich i. d. R. um rein Gustav Horst


formale Kompetenzen. In po litischen Krisenzeiten Heinemann Köhler
(SPD) (CDU)
mit unkla ren Mehrheitsverhältnissen im Bundes- 1969-1974 2004-2010
tag kommen dem Bundespräsidenten j edoch zwei
v erfassungsrechtlich bedeutsame Einflussmög-
lichkeiten zu: Walter Christian
Scheel Wulff
• Da er das Vorschlagsrecht für das Amt des Bun- (FDP) (CDU)
1974- 1979 2010- 2012
deskan zlers besitzt, kann er bei unkla ren Mehr-
heitsverhältnissen nach Bundestagswahle n
durch den Vorschlag eines Ka ndidaten ggf. die
Karl Joachim
Wahl des Bundeskanzlers beeinfl ussen. Im Nor-
Carstens Gauck
malfall schlägt er den Kandidaten vo r, der die (CDU) (parteilos)
Meh rheit im Bundestag hinter sich hat. 1979- 1984 201 2-2017

• Eine echt e Entscheidu ngskompeten z ko mmt


Frank-Walter
ihm zu, wenn nach einer gescheiterten Vertrau- Richard v.
Steinmeier
ensfrage der Bundeskanzler den Antrag auf ,, ..,.~ Weizsäcker
(SPD)
(CDU)
Auflösung des Bundestages und die Ausschrei- seit März
1984- 1994
201 7
bung von Neuwahlen stellt. Dies ka n n der Bun-
despräsident auch ablehnen. Nach: dpa-Grajik 16197
4.4 Das zentrale politische Entscheidungssystem

Wie kommt der Bundespräsident ins Amt? Amtsführung

Die Amtszeit des Bundespräsidenten beträgt fünf Die bisherigen Amtsinhaber haben das Amt des
Jahre. Er kann nur einmal wiedergewählt werden. Bundespräsidenten überwiegend so ausgestaltet,
Anders als etwa in der Weimarer Republik oder dass es als eine Art „Gewissen der Nation" fun-
auch heute in Österreich wählt n icht das Volk, giert. Durch Reden zu grundsätzlichen politischen
sondern die eigens für diese Wahl zusammenge- Fragen übt der Präsident zwar keine formale
stellte Bundesversammlung. Außer fü r die Wahl Macht aus, er kan n aber die öffentliche Debatte
des Staatsoberhaupts hat die Bundesversammlung wirksam beeinflussen. Für großes Aufsehe n sorg-
keinerlei Funktion. te etwa Bundespräsident Richard vo n Weizsäcker
mit seiner Parteienkritik. Bei Reden innerha lb
Die von den Landesparlamenten für die Bundes- Deutschlands muss sich der Bundespräsident da-
versammlung nominierten Vertreter müssen selbst bei nicht mit dem Bundeskanzler abstimmen.
keine Mitglieder der Landesparlamente sein. Da- Wenn der Bundespräsident dagegen als Vertreter
her umfasst die Bundesversam mlung auch immer Deutschlands im Ausland unterwegs ist, muss er
wieder Prominente aus Sport und Medien wie seine Rede zuvor dem Bundeskanzler vorlegen.
etwa den Fußbal l- Bundestrainer Joachim Löw Gewöhnlich genießt die Person des Bundespräsi-
oder den Entertainer und Comedi an Hape Kerke- denten in Deutschland ein höheres Ansehen als
ling. die des Bundeskanzlers.

Wahl zum Bundespräsidenten

Bundestag Bundesversammlung Landesparlamente


tritt im Regelfall alle
Alle Bundestags- 5 Jahre zusammen Gleiche Anzahl von
abgeordneten (spätestens 30 Tage vor Ende der Amtszeit Delegierten der Landesparla-
des Bundespräsidenten; im Fall vorzeitiger mente w ie die Bundestags-
Beendigung der Amtszeit tritt sie spätestens abgeordneten
30 Tage nach diesem Zeitpunkt zusammen)

Wahl auf 5 Jahre


(einmalige Wiederwahl möglich)

Aufgaben
1. Beschreiben Sie, welche Stellung der Bundespräsident in Deutschland inne hat und welche Aufgaben er
erfüllt.

2. Erläutern Sie die These „Das Amt des Bundespräsidenten ist kein politisches Amt!".

3. Erstellen Sie ein Kurzportrait des Bundespräsidentenamtes.

4. Beurteilen Sie die Bedeutung des Amtes des Bundespräsidenten in der parlamentarischen Demokratie
Deutschlands.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Direktwahl des Bundespräsidenten?

Die Politik stemmt sich dagegen, aber es zeigt sich immer wieder: Der Bundespräsi-
dent sollte von den Bürgern in Direktwahl bestimmt werden.
Der 23. Mai hat einmal mehr gezeigt: Die Kür des Bundespräsidenten ist zur bloßen
Show verkommen , die nur mühsam verdeckt, dass die Mehrheit der Bundesversamm-
s lung bloß nachvollzieht, was Parteiführungen hinter der Bühne längst entschieden
haben. Das ist einer Demokratie unwürdig und dürfte Horst Köhler dazu bewogen
haben, gleich nach seiner Wiederwahl mehr Volksbeteiligung anzumahnen: Auch eine
Direktwahl des Bundespräsidenten könne aus dieser Diskussion nicht ausgeklammert
werden, sagte Köhler nach seiner Wiederwahl im ZDF.
10 Selbst Parteigrößen wie Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Bundeskanzle-

rin Angela Merkel wurden vor laufenden Kameras nicht müde zu betonen, wie sehr die
Wahl Köhlers dem Willen der Deutschen entspreche, und erwiesen so, vermutlich
unabsichtlich, der Volkswahl ihre Reverenz. Dennoch hält die Bundeskanzlerin hartnä-
ckig am „Abba-Prinzip" (Alles bleibt beim Alten) fest. Sie will den Personalentscheid
1s offenbar nicht aus der Hand geben. Außerdem scheint sie zu fürchten, neben einem
direkt gewählten Bundespräsidenten würden die demokratischen Mängel von Parla-
ment und Regierung erst recht offenkundig. Und damit hat sie völlig recht. Ist aber
nicht gerade das ein Argument für die Direktwahl? [... ]
Derzeit hat das Volk ja fast nichts zu sagen. Statt seiner entscheiden die Parteien vor
20 der Wahl, wer Abgeordneter wird, und nach der Wahl durch Koalitionsvereinbarungen,

wer die Regierung stellt. Parlamente und Regierungen sind, bei lichte besehen, gar
keine Vertretungen des Volks, sondern der Parteien. Wenn die Direktwahl des Bundes-
präsidenten dazu beitrüge, die Entmachtung des Volks offenzulegen und nötige Re-
formen anzustoßen, wäre das zu begrüßen. Und dass ein direkt gewählter Bundesprä-
2s sident zwangsläufig mehr Kompetenzen benötigte, ist eine bloße Schutzbehauptung.

Das zeigt sich in Österreich. Dort wird der Bundespräsident direkt gewählt, hat aber
auch nicht mehr Befugnisse als sein deutscher Kollege.
Nach 60 Jahren Demokratieerfahrung im Westen und 20 Jahre nach der unblutigen
Revolution im Osten sollte niemand uns Deutschen mehr die demokratische Reife für
30 Direktwahlen und direkte, demokratische Sachentscheidungen absprechen dürfen.

Der Bundespräsident sollte sich auch in Zukunft in Sachen mehr Demokratie den Mund
nicht verbieten lassen.
Hans Herbert von Arnim, www.welt.de, 29.5.2009

M 2 Die Direktwahl des Bundespräsidenten wäre das falsche Mittel

Das Staatsoberhaupt vom Volk wählen zu lassen, klingt sympathisch. Doch für Bür-
gerbeteiligung gibt es bessere Gelegenheiten.
Die Forderung, grundsätzliche Dinge vom Volk entscheiden zu lassen, gehört zu den
Forderungen, die in einer Demokratie grundsätzlich sympathisch sind. Die Argumente,
s die gegen Plebiszite und Volksabstimmungen angeführt werden, klingen ja oft so, als
bestünde das Volk aus Halbidioten, die man vor sich selber schützen müsse.
Weil sich diese skeptische Betrachtung streng genommen auch aufs allgemeine Wahl-
recht erstrecken müsste, gestehen die Gegner von Plebiszit und Volksabstimmung
dem Volk alle paar Jahre einen lichten Augenblick zu: just dann, wenn es um die Be-
10 stätigung der politischen Repräsentanten geht. Aber mehr, so heißt es, soll bitte nicht
sein; ein Mehr an Demokratie gefährde die Demokratie. Eine solche Argumentation ist
darauf aus, die Angst des Volks vor sich selbst zu wecken; sie kann so nicht richtig
sein.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

Die Forderung, den Bundespräsidenten künftig nicht von den 1 260 Wahlleuten der
15 Bundesversammlung, sondern vom Volk wählen zu lassen, also von potentiell 62 Mil-
lionen Wahlberechtigen, klingt deshalb erst einmal sympathisch. Die Forderung wird
in den Umfragen von siebzig Prozent der Bundesbürger geteilt; darin spiegelt sich
sowohl die Lust auf mehr Demokratie, die bei Personalia besonders groß ist, als auch
Ärger darüber, dass die Kandidaten fürs höchste Staatsamt auf undurchsichtige Weise
20 ausgekungelt werden. Aber die Direktwahl wäre das falsche Mittel, dem Ärger Luft zu
geben; dann wären die neuen Probleme größer als die, die man damit abstellen will.
[...]
Nicht alles was zunächst sympathisch klingt, ist auch richtig. Es ist so: Die Mütter und
Väter des Grundgesetzes haben sich gegen ein Präsidenten-Regierungssystem ent-
25 schieden. Und die Erfahrungen, die man derzeit in der Türkei, in Polen und in anderen
Staaten Osteuropas damit macht, sind nicht geeignet, näher an ein solches Regie-
rungssystem heranzurücken. Die Direktwahl des Präsidenten würde die Gewichte im
parlamentarischen System ein Stück weit in Richtung auf ein präsidentielles System
rücken.
30 Deutschland hätte dann einen direkt gewählten Präsidenten, der aber nach der Grund-
gesetz wenig zu sagen hat, weniger als der in Österreich - der aber, weil er nun einmal
direkt gewählt wurde, darauf bestehen würde, dass er die Richtlinien der Politik mit-
bestimmen darf. Die Machtbalance würde schwieriger. Das gilt erst recht dann, wenn
man dem Präsidenten neue Kompetenzen gäbe. Welche eigentlich?
35 Die deutschen Erfahrungen sind nicht gut: Hindenburg hat mit der Kraft des volksge-
wählten Reichspräsidenten die Legitimität der Weimarer Republik durch Notverord-
nungen ausgehöhlt. Die schmalen Kompetenzen des Bundespräsidenten waren die
Lehre, die der Parlamentarische Rat 1948/49 daraus zog.
Man wollte dem direkt gewählten Parlament keinen direkt gewählten Bundespräsiden-
40 ten entgegensetzen. Die Zurückhaltung war so groß, dass überlegt wurde, auf ein
Staatsoberhaupt ganz zu verzichten und dessen Funktionen dem Präsidenten des
Bundestags oder dem des Bundesverfassungsgerichts zu übertragen - was auch kei-
ne ganz schlechte Lösung wäre.
Für mehr Bürgerbeteiligung gibt es wichtigere und bessere Gelegenheiten: Volksent-
45 scheide auf Bundesebene. Wer bei dieser Forderung aufschreit, weil er AfD und Co
fürchtet, verwechselt Ursache und Wirkung. Das grassierende Gefühl, dass „ die da
oben eh machen, was sie wollen'', ein Gefühl, das zu Politikverdrossenheit und Poli-
tikverachtung geführt hat, hätte sich nicht so gefährlich ausgebreitet, wenn es Plebis-
zite gäbe.
Her ibert Prantl, www.sueddeutsche.de, J3.6.2016

Aufgaben
1. Stellen Sie die Argumente für und gegen die Direktwahl des Bundespräsidenten in
Deutschland mit Hilfe von M 1 und M 2 in einer Tabelle dar.

2. Recherchieren Sie (, Methodenglossar), welche Stellung der Bundespräsident in Österreich


hat und vergleichen diese mit der des Bundespräsidenten in Deutschland.

3. Überprüfen Sie die Aussage Herbert von Arnims, der österreichische Präsident habe nicht
mehr Kompetenzen als der deutsche Bundespräsident.

4. Beurteilen Sie, ob der deutsche Bundespräsident vom Volk direkt gewählt werden sollte.
Führen Sie dafür eine Eishockey-Debatte (• Methodenglossar) durch.
• Staatsaufbau

Leitfragen Wie ist das föderale Welche Funktion hat der Föderalismus im Wodurch unterscheiden sich
System in Deutschland Hinblick auf die Gewaltenteilung? Zentral- und
organisiert? Bundesstaaten?

Wie ist die staatliche Gewalt zwischen dem


Bund und den Ländern aufgeteilt?

Man unterscheidet Föderalismus und Zentralis- • In Deutschla nd muss es sowohl eine souverä n e
mus: Die Begriffe Föderation und Föderalismus Bundes- als auch eine eigenständige Länder-
gehen auf das lateinisch e Wort „foedus" für eben e geben. Es ist aber möglich, Ländergren-
,.Bund" zurück. Das staatliche Organisationsprin- zen zu ändern, bestehende Länder aufzulösen
zip des Föderalismus zielt darauf, die politische oder miteinander zu vereinigen. 1996 unternah-
Macht zwischen einer zentral- und einer bu ndes- men Berlin und Brandenburg eine n - geschei-
staatlichen Ebene zu teilen, d. h. es besteht eine te rten - Versuch, zu einem gemeinsamen Bun-
Aufgabenteilung zwischen dem Bund und den desland zu fusionieren (>Kap. 4.2. 1).
einzelnen Bundesländern. Das Organisationsprin-
zip des Zentralismus hingegen konzentriert die • Sowohl die Bundes- als auch die Län derebene
politische Macht au f der nationalen Ebene. müssen eigenständige politisch e Kompetenzen
sowie jeweils eine gewisse finanzielle Eigen -
Deutschland ist ein Bundesstaat (Föderation). ständigkeit hab en.
Dieses Modell des Staatsaufbaus liegt zwisch en
einem Modell des Staatenbunds (Konföderation) Das Kernelement einer föderativen Ordnung ist
und dem Modell eines Zentral- oder Einheits- die Verteilung der Aufgaben zwisch en den staat-
staats. Im Bundesstaat wird die politische Macht lichen Ebenen. Grundsätzlich sollen die Aufgaben
zwischen einer zentralen Reg ierung und regiona- von der Ebene erfüllt werden, die dafü r am beste n
len Regierungen geteilt. Dab ei muss j ede Regie- geeign et ist (Subsidiaritätsprinzip). Laut dem
rungsebene bestimmte politische Kompetenzen Grundgesetz ist für bestimmte Au fgaben einzig
haben, die sie unabhängig vo n der anderen Regie- der Bund zuständig, für andere sind es ausschließ-
rungsebene wah rnehme n kann. Obwohl der Fö- lich die Länder. Im Bereich der konkurrierenden
deralismus in Deutschland a uf eine lange Tradit i- Gesetzgebung ist es de m Bund e rlaubt, für alle
o n zurückblickt, entschied man sich nach dem Länder verbindliche Gesetze zu erlassen, wenn
Zweiten Weltkrieg vor allem aus einem Grund für ,.die Herstellung gleichwertiger Lebensverhält nis-
dieses Organisatio nsprinzip: Man wollte eine se im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts-
Macht konzentration verhindern, die die Herr- oder W irtschaftseinheit im gesamtstaatlichen In-
schenden zu Missbrauch hätte verleiten können. teresse eine bundesgesetzliche Regelung erfo rder-
lich macht" (sog. ,.Bedürfnisklausel"; Art. 72 GG).
Die Lä nder konnten bis zur Föderalismusreform
Welche Bedeutung hat der Föderalismus für 2006 da n n keine abweic henden Regelungen mehr
die staatliche Ordnung der Bundesrepublik? treffen. Diese Regelung war das Einfallstor da für,
dass sich im Namen gleichwertige r Lebensverhält-
Das deutsche Grundgesetz erklärt die föderale nisse im gesamten Staatsgebiet d ie Gesetzge-
Ordnu ng Deutschlands für unabänderbar (Art. 79 bungskompet enzen immer stärker auf zentral-
Abs. 3). Dies bedeutet: staatlicher Ebene konzentrierten.
4.5 Staatsaufbau

Bundesstaatliche Ordnung
GG Was dazu im Grundgesetz steht
Artikel
0
20 „Die Bundesrepublik Deutschlan d
ist ein demokratischer und sozialer
Bundesstaat"
79 Das bundesstaatliche Prinzip darf
nicht aufgehoben oder geändert werden
30 Eigenstaatlichkeit der Lände r
50 Mitwirkung der Länder an der Gesetz-
23 gebung des Bundes und in Angelegen -
heiten der Europäischen Union durch
den Bundesrat
70-74 Gesetzgebung: Aufteilung der Zustän -
digkeiten zwischen Bund und Länder n
83 Zuordnung der staatlic hen V erwaltungs-
-91 d aufgaben. Gemeinschaftsaufgaben .
Verwaltungszusammenarbei t
104a Finanzhoheit. Verteilung des Steuer -
-109a aufkommens zwischen Bund und
Ländern. Unabhängige Haushalts-
wirtschaft. Gemeinsame Verpflichtun g
zur Haushaltsdisziplin

e> Bergmoser + Höller Verlag AG 60060

Kooperativer Föderalismus dere. Sie bemängelten, dass der politische Ent-


scheidungsprozess zu lange dauere. Außerdem
Mit dem Begriff des kooperativen Föderalismus könne niemand mehr genau sagen, wer für welche
wird die wechselseitige Unterstützung vo n Bund politische Entscheidung verantwortlich sei. Ins
und Ländern bei ihrer Aufgabe nerfüllung be- Kreuzfeuer der Kritik geriet vor allem, dass der
zeichnet. Der kooperative Föderalismus soll regi- Bundesrat bei nahezu allen Entscheidungen auf
onale Spezialisierung mit dem Ziel verbinden, Bundesebene mitentscheiden kon nte. Gleichzeitig
ausgleichend und umverteilend eine Gleichwer- hätten d ie Länder nicht mehr genügend Möglich-
tigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland zu keiten, Polit ik zu gestalten. Eine Föderalismusre-
erreichen. Die enge Verzahnung u nd Zusammen- form sollte d iese Probleme lösen.
arbeit der Exekutiven auf Bundes- und La ndes-
ebene bei vergleichsweise geringem Einfluss der Die 2006 von Bundestag und Bundesrat beschlos-
Länderparlamente wird als Exekutivföderalismus sene Föderalismusreform ist die umfassendste Än-
bezeichnet. Das Gegenmodell zum kooperativen derung des Grundgesetzes in der Geschichte der
Föderalismus ist ein kompetitiver Föderalismus. Bundesrepublik. Im Zuge dieser Reform wurden
Er ist durch eine strenge Trennung der Ebenen vo n die Rechte der Länder gestärkt. So kön nen sie im
Bund und Ländern sowie einen politischen Wett- Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung auch
bewerb der Länder um die beste politische Lösung dann Regelungen treffen, wenn der Bund bereits
gekennzeichnet. ein Gesetz erlassen hat. Eine Reihe von Kompe-
tenzen fällt nun in die alleinige Zuständigkeit der
Länder. Seitdem sind die Länder u. a. allein für die
Föderalismusreform 2006 Bildungspolitik vera ntwortlich.

Krit iker warfen dem System des kooperativen Fö- Der Anteil de r Bundesgesetze, die einer Zustim-
deralismus in den J990er J ahren zunehmend vor, mung des Bundesrats bedürfen, sollte laut Prog-
dass er notwendige politische Reformen behin- nosen des Wissenschaftlichen Dienstes des Deut-
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

sehen Bundestages v on rund 60 Prozent auf rund Am 14. Okt ober 2016 haben sich die Regierungs-
35 bis 40 Prozent sinken. Dies sollte gelingen, chefinnen und -chefs der Lä nder mit der Bundes-
indem künftig bei Bundesgesetzen, welche Rege- regierung über die Neuordnung der Bund-Län-
lungen zum Verwaltungsverfahren enthalten, die der-Finanzbeziehungen nach Auslaufen des
Zustimmungspflicht entfällt. Die Länder dürfen Solidarpaktes geeinigt. Es wurden ein Ausgleichs-
dafür nun das Verfahren auch abweichend regeln. system zwischen Bund und Ländern zur Stärkung
Die tatsächlichen Auswirkungen dieser Neurege- der finanzschwächeren Länder und weitere wich-
lung sind umstritten, da die Anzahl der seit der tige Maßnahmen zur Verbesserung der Aufgabe-
Föderalismusreform von 2006 beschlossenen Ge- nerledigung (,,Eckpunkte für die Neuordnung der
setze noch keine empirische Einschätzung darüber Finanzbeziehungen") im Bundesstaat besprochen
erlaubt. Weiterhin darf der Bund den Gemeinden und beschlossen.
keine Aufgaben oder Kosten durch Bundesgesetze
übertragen.
Die Bundesländer

Föderalismusreform II Die Länder der Bundesrepublik Deutschland besit-


zen „Staatsqualität", sind also nicht nur große
Nachdem die Föderalismusreform vo n 2006 in Selbstverwaltungskörper wie die Gemeinden,
erster Linie eine klarere Zuordnung der Kompe- Kreise oder Bezirke. Die Landesverfassungen gel-
tenzen zwische n Bund und Ländern zum Ziel hat- ten unabhängig und selbstständig neben dem
te, sta nd bei der Föderalismusreform II eine Re- Grundgesetz. Keine der beiden Ebenen im Bundes-
form der staatlichen Finanzbeziehungen im staat kann allein die Befugnisse der anderen Ebe-
Vordergrund. Zu m 1. August 2009 wurden für ne beschneiden. Für eine Grundgesetzänderung
Bund und Länder neue Schuldengrenzen verein- ist demnach nicht nur eine Zweidrittelmehrheit im
bart. Demnach sind die Ha ushalte von Bund und Bundestag, sondern auch eine Zweidrittelmehr-
Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen a us Kre- heit im Bundesrat erforderlich. Die Länder verfü-
diten auszugleichen. Ausnahmen des Kreditauf- gen zudem über definierte eigene Herrschaftsbe-
nahmeverbots für Bund und Länder sind unter reiche und sind insofern nicht nur Vollzugs- oder
folgenden Voraussetzungen eingeschränkt zuge- Ausführungsorgane des Zentralstaates. Daher
lassen: müssen die Länderregierungen eigen e, vom Bund
nicht angreifbare Entscheidungskompetenzen be-
• Bei einer von der Normallage abweichenden sitzen, die ausschließlich in ihrer Verantwortung
Konjunkturentwicklung. Kreditaufnahmen liegen. Die Länder sind beispielsweise allein ver-
könne n im Abschwung d an n zugelassen wer- antwortlich für das Bildungswesen, das Polizeiwe-
den, wenn sie im A ufschwung zurückgeführt sen, d ie inne re Sicherheit und Teilbereiche des
werden (,,konjunkturelle Komponente"). Gesundheitswesens.
• In Fällen von Natu rkatastrophe n oder außerge-
wöhnlichen Notsituationen. Ob eine solche Si-
tuation vorliegt, wird für den Bund mit einer Gemeinden
Mehrheit des Bundestages entschieden.
Die Gemeinden bilden keine eigene Ebene im
Für den Bundeshaushalt ist es darüber hinaus zu- Staatsaufbau; sie gehören zu den Ländern. Über
lässig, Einnahmen aus Krediten bis zur Höhe von die Gemeindegrenzen und die Kommunalverfas-
0,35 Prozent des Bruttoinla ndsprodukts (BIP) j ähr- sungen wird in den Landtagen entschieden. Wich-
lich in Anspruch zu nehmen (,,strukturelle Kompo- tigste Pflichtaufgaben der Gemeinden sind:
nente" - Artikel 109 GG und Artikel 115 GG).
• Müllabfuhr, Versorgung mit Strom, Gas und Was-
Eine Übergangsregelung sieht die Einhaltung der ser, Straßenreinigung, öffentlicher Nahverkehr;
0,35 Prozent- Grenze für de n Bund ab dem Jahr • Kinderbetreuung durch Kindergärten und Horte;
2016 zwingend vor. Das Verbot der Nettokredit- • Bau und Wartung vo n Schulgebäuden ;
aufnahme für die Lä nder tritt ab dem J a hr 2020 • Auszahlung von Wohn- u nd Heizgeld nach
in Kraft. Hartz IV;
4.5 Staatsaufbau

• Einwohnermeldewesen; denen A ufgaben im Auftrag vo n Land oder Bund.


• Bereitstellung vo n Feuerwehr, Rettung, Katast- Bei weisungsgebundenen Aufgaben haben die
rophenschutz; Gemeinden keinen Spielraum, wie etwa bei der
• Durchführung vo n Wahlen (Kommune, Land, Durchführung von Wahlen oder der Auszahlung
Bund) ; von Leistungen für Empfänger von Arbeitslosen-
• Bau- und Wohnungswesen sowie Verkehr. geld II. Bei anderen weisungsgebundenen Aufga-
ben gibt es einen gewissen Spielraum. So müssen
Freiwillige Aufgaben der Kommunen sind z.B.: die Gemeinden Schulen bauen; wie diese ausse-
hen, können sie selbst bestimmen. Geht es um die
• Betrieb von Schwimmbädern und Sportanlagen; Erfüllung von weisungsfreien Aufgaben, hat der
• Betrieb von Musikschulen, Bibliotheken, Begeg- Gemeinderat das letzte Wort, sonst trifft der Bür-
nungsstätten, Jugendclubs, Altenheimen; germeister die Entscheidung. Die Arbeit der Ge-
• Unterhaltung von Grünanlagen. meinden ist nicht einheitlich geregelt. Es haben
s ich zwei Typen der Kommunalverfassung durch-
Zu unterscheide n ist mit Blick auf die Aufgaben gesetzt: die Süddeutsche Ratsverfassung und die
zwischen weisungsfreien und weisungsgebun- Magistratsverfassung.

Funktionen und Kompetenzen des Bürgermeisters in den Ratsverfassungen

Süddeutsche Ratsverfassung Unechte Magistratsverfassung*

Gemeindevor-
stand / Magistrat
Der Magistrat leitet die
'
Gemeinde Verwaltung Gemeinde Verwaltung

repräsentiert leitet repräsentiert leitet


nach außen nach außen (als Mitglied
mit Stimmrecht)
Bürgermeister Bürgermeister
leitet leitet nimmt an nimmt teil
(als Mitglied (als Mitglied Sitzungen teil (ohne Stimmrecht)
mit Stimmrecht) mit Stimmrecht) (ohne Stimmrecht)

Gemeinderat Ausschüsse Gemeindevertre- Ausschuss-


tung / Stadtverord- sitzungen
netenversammlung
Leitung hat der
Vorstand bzw.
Stadtverordneten-
vorsteher inne
*Vereinfachte Darstellung

c Ralf Vandamme, www.bpb.de, 19. 10.2 017

Aufgaben
1 . Fassen Sie in Stichworten die wesentlichen Elemente der bundesstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik
zusammen.

2. Erläutern Sie die Bedeutung des Föderalismus für Deutschland.

3. Recherchieren (, Methodenglossar) Sie zum Thema Föderalismusreformen in Deutschland und überprüfen


Sie die Wirksamkeit der umgesetzten Reformen.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten

Unser Land ist lernfähig. Nach einschneidenden Ereignissen gibt es zwar übliche Ri-
tuale, die von einem „Weiter so" bis zum „Alles muss anders werden" reichen. Nach
einer Debatte folgen jedoch in der Regel vernünftige Kompromisse. [...]
Nach dem schrecklichen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in
5 Berlin werden erneut Konsequenzen folgen. [... ] Angesichts denkbarer Krisen und Ka-
tastrophen auch in Deutschland, angesichts der digitalen Weiterentwicklung und der
wachsenden Globalisierung müssen wir feststellen, dass unser Staat auf schwierige
Zeiten noch besser vorbereitet werden muss als bisher. Wir sind an Normalität und das
Ausbleiben von Katastrophen gewöhnt. Und so ist unser Land auch organisiert. Die
10 Zeiten ändern sich aber. In Deutschland gibt es viele Regelungen nicht, die in anderen
Demokratien weltweit selbstverständlich sind:
Wir haben keine Zuständigkeit des Bundesstaates für nationale Katastrophen. Die
Zuständigkeiten für die Bekämpfung des internationalen Terrorismus sind zersplittert.
Die Bundespolizei ist in ihrer Wirkungsmöglichkeit auf Bahnhöfe, Flughäfen und die
15 Grenzsicherung beschränkt. Bei Angriffen im und aus dem Internet verhalten wir uns
nicht ausreichend koordiniert und rein abwehrend. [... ] Um unser Land, aber auch
Europa, krisenfest zu machen, halte ich Neuordnungen für erforderlich.

• Ein starker Staat setzt in gesamtstaatlichen Angelegenheiten einen starken Bund


voraus. Der Föderalismus stärkt den Staat und schafft die erforderliche Nähe für
20 regionale Angelegenheiten. Die Sicherheit im Bund muss aber auch vom Bund zu
steuern sein. Die örtliche Polizeiverantwortung kann in der Fläche sachgerecht nur
bei den Ländern liegen. Aber dort, wo Bund und Länder in Angelegenheiten der Si-
cherheit des Bundes zusammenarbeiten, braucht der Bund eine Steuerungskompe-
tenz über alle Sicherheitsbehörden. (...] Wir brauchen einheitliche Regeln und eine
25 bessere Koordinierung, zum Beispiel bei der Kontrolle von Gefährdern. Hier ist sogar
an ein Initiativrecht für die Sicherheitsbehörden gegenüber anderen Behörden zu
denken, zum Beispiel bei der Antragstellung für eine Abschiebehaft.
• Beim Verfassungsschutz sollten wir diskutieren, die gesamte Aufgabe in die Bundes-
verwaltung zu übernehmen. Die Arbeit beim Verfassungsschutz ist letztlich allein auf
3o gesamtstaatliche Schutzgüter bezogen. Kein Gegner unserer Verfassung strebt die
Beseitigung der Verfassung in nur einem Bundesland an.
• Wir brauchen wirksamere polizeiliche Fahndungsmaßnahmen in unserem Land. Die
derzeitige geographische Bindung der Schleierfahndung der Bundespolizei an den
30-Kilometer-Grenzraum wird der grenzüberschreitenden Kriminalität im 21 . Jahr-
35 hundert nicht mehr gerecht. Die Bundespolizei braucht die Möglichkeit, ihre Fahn-
dungsmaßnahmen stärker an den Hauptverkehrswegen zu orientieren und auch
bundesweit durchzuführen. Zudem muss die Bundespolizei neben den Polizeien der
Länder eine zentrale Verfolgungs- und Ermittlungszuständigkeit zur konsequenten
Feststellung unerlaubter Aufenthalte in Deutschland erhalten. Die Bundespolizei soll
40 schrittweise zu einer echten Bundes-Polizei werden. [...] Die Bundespolizei muss
sich künftig noch stärker als bisher in Drittstaaten und an der Außengrenze einbrin-
gen.
• Wir haben in unserem Land nach wie vor zu unterschiedliche Strukturen für den
Umgang mit einem Katastrophenfall. Auch hier schlage ich eine gebündelte Organi-
45 sation mit mehr Zuständigkeiten für den Bund vor. Bei nationalen Katastrophen muss
der Bund Zuständigkeiten bekommen. Es gibt in Deutschland keine Institution, die
von Rechts wegen in der Lage wäre, bei großflächigen und zeitkritischen Ereignissen,
die mehrere Bundesländer gleichzeitig betreffen oder das gesamte Bundesgebiet
umfassen, die Länder zu koordinieren. [. .. ]
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

50 • Einen starken Staat brauchen wir auch im digitalen Katastrophenfall. [... ] Mein Vor-
schlag ist, das nationale Cyber-Abwehrzentrum so weiterzuentwickeln, dass es bei
komplexen Schadenslagen die Federführung an sich ziehen kann, um etwa die
schnellen Eingreiftruppen anderer Sicherheitsbehörden, gegebenenfalls auch der
Bundeswehr, zu koordinieren. [.. .]
55 • Angesichts des zu erwartenden deutlichen Anstiegs der Zahl von Ausreisepflichtigen
nach Abarbeitung aller Asylverfahren brauchen wir eine nationale Kraftanstrengung
beim Thema Rückkehr. Der Vollzug der Ausreisepflicht ist Teil unserer Rechtsord-
nung. Zu Verbesserungen sind wir mit den Ländern im Gespräch.

Thomas de Maiziere, www.faz.net, 3. 1.2017

M 2 Kritik für de Maizieres starken Staat

Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im vergangenen Dezember hat bun-
desweit für eine neue Debatte über die Funktionsfähigkeit des Sicherheitsapparates
gesorgt. Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) hat als Reaktion darauf sei-
ne „Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten" vorgelegt. Kritik kommt
5 sowohl von den Ländern als auch der Opposition im Bund. [... ]
Sein Vorhaben, welches im Wesentlichen auf einer Zentralisierung der Sicherheitsar-
beit und Befugniserweiterungen für die Behörden basiert, lenke nur von den eigentli-
chen Problemen in der Terrorismusbekämpfung ab, kritisierte der bayerische Innenmi-
nister Joachim Herrmann (CSU). Sein nordrhein-westfälischer Amtskollege Ralf Jäger
10 (SPD) warnte, Zentralisierung mache die Behörden behäbiger im Kampf gegen den
Terrorismus. [ ... ]
Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) erklärte: ,,Wir müssen jetzt sagen, was wir tun wollen ,
und nicht erst große Behördenumstrukturierungen machen". De Maizieres Pläne liefen
auf eine Föderalismusreform hinaus, die Jahre dauern könne. Auch der hessische ln-
15 nenminister Peter Beuth, Parteikollege des Bundesministers, übte Kritik: ,,Schnell-
schüsse dieser Art untergraben nicht nur das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in
den Staat, sie stellen die gesamte föderale Sicherheitsarchitektur in Frage" .
Christian Linder, Vorsitzender der FDP, schaltete sich nun ebenfalls in die Diskussion
ein und mahnte zu mehr Besonnenheit: ,, Die Zusammenarbeit der deutschen Sicher-
20 heitsbehörden muss verbessert werden" sagte er. Dabei dürfe eine Diskussion über
die Kompetenzverteilung von Bund und Ländern „nicht künstlich tabuisiert werden".
Zentralisierung löse zwar nicht jedes Problem, doch sei „ Kleinstaaterei umgekehrt
auch kein Wert an sich".

Legal Tribu ne Online (dpa/mam), www.lto.de, 4. 1.2017

Aufgaben
1 . Geben Sie die von Thomas de Maizieres identifizierten Defizite der föderalen Ordnung
Deutschlands und seine Vorschläge zu deren Abbau wieder (M 1).

2. Erschließen Sie sich die zentralen Argumente der Gegner von de Maizieres Vorschlägen
mit eigenen Worten (M 2).

3. Nehmen Sie auf der Grundlage der Argumente beider Seiten Stellung zu der Frage, ob die
bestehende föderale Ordnung Deutschlands überholt ist.
■ Die Gesetzgebung

Leitfragen Wie verläuft das Warum ist das Welche Rolle spielt der
Gesetzgebungsverfahren Gesetzgebungsverfahren Vermittlungsausschuss bei
in Deutschland? kompliziert? der Gesetzgebung?

Welche Prinzipien gelten für die Gesetzgebung Bundestag (eine Fraktion oder mindestens fünf
in Deutschland? Prozent der Abgeordneten) besitzen das Initia-
tivrecht (> Kap. 4.2.2). In der polit ische n Praxis
Gesetze - d. h. allgemein verbindliche Normen kommen meh r als die Hälfte der Initiativen aus
bzw. Handlungsgebote und -verbote - regeln das den Reihen der Bundesregierung. Die Entwürfe
Zusammenleben von Menschen in einer Gesell- der Bundesregierung werden in den Fachminis-
schaft und greifen damit unmittelbar in das Leben terien ausgearbeitet.
der Bürgerinnen und Bürger eines Staates ein. Die
Ausgestaltung des Gesetzgebungsprozess in ei- 2. In d er ersten Lesung debattiert der Bundestag
nem Staat ist darum von zen traler Bedeutung. In die Grundzüge des Gesetzentwurfes. Anschlie-
Demokratien ist deshalb genau festgeschrieben, ßend wird der Entwurf an die Ausschüsse ver-
wie die Bürger die gesetzgebende Gewalt bestim- wiesen, in dene n eine eingehende Prüfung und
men und wie diese bei der Festlegung vo n Geset- Beratung stattfindet. In diesem komplizierten
zen agieren muss. Prozess werden auch Experten und Vertreter
von Interessenverbänden (> Ka p. 4.3.2) gehört.
Gesetze innerhalb einer modernden Demokratie Die Ausschüsse tagen i. d. R. nicht öffentlich.
weisen im Allgemeinen drei Merkmale auf:
3. Anschließend berät das Plenum in zweiter Le-
• sie sind durch rechtstaatliche Verfahren ent- sung die Änderungen und Ergänzungen, die in
standen, den Ausschüssen vo rgenommen w urden. In der
• sind allgemein gültig und dementsprechend auf dritten Lesung findet nach der abschließenden
alle Fälle anzuwenden sowie Debatte die Schlussabstimmung statt. Bei ein-
• müssen sie von allen eingehalten werden. fachen Gesetzen reicht die einfache Mehrheit
der anwese nden Parlamentarier aus, bei verfas-
sungsändernden Gesetzen sind die Stimmen
Wie kommen Gesetze zustande? von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundesta-
ges notwe ndig.
Die Gesetzgebung ist die klassische Aufgabe des
Parlaments, d. h. im politisch en System der Bun-
desrepublik Deutschla nds des Bundestages. Die Mitwirkung des Bundesrats an der
gesetzlichen Rahmenbedi ngungen zum Gesetzge- Gesetzgebung
bungsprozess in Deutschla ndsind sind im Grund-
gesetz in Kapitel IV in den Paragraphen 70-82 Hat der Bundestag de n Gesetzesentwurf ange-
geregelt. nommen, wird die Vorlage an den Bundesrat wei-
tergeleitet. Mit Blick auf den Einfluss des Bundes-
1. Am Beginn des Verfahrens steht das Initiativ- rats auf die Gesetzgebung ist die Unterscheidung
recht, d. h. das Rec ht, einen Gesetzesentwurf in Einspruchsgesetze und Zustimmu ngsgesetze
einzubringen. Bundesregierung, Bundesrat und von grundlegender Bedeutung (>Kap. 4.4.4).
4.6 Die Gesetzgebung 1

Der Gang der Gesetzgebung


~ - - - - - - -Gesetzesinitiative - - - - - - - ~
r-------- 1------- -• ................1...............
BUNDESREGIERUNG BUNDESTAG .: BUNDESRAT .:
Geset~ svorlage n
.............................
.. ______ --i i-- -- -- . ..
Gesellirrlagerr==== BU::;:~:~;:~: G
·············i·r·············
: BUNDESRAT :
•.............................
Stellungnahme : il Jj. Stellungnahme
r••••••••••••••••••
• BUNDESTAG •
1. Lesung •⇒ Ausschuss-
• 2. und 3. Lesung •<:=: beratungen
~-----------------~
Einfache Gesetze Zustimmungsgesetze
..............................
, - - -B_i_lli_g_u_
ng_ d_e_s_G_e_s_e_tz_e_s_ _ _ =
_•_••""ff ~:ft~:rt
.: BUNDESRAT .:
ZusUmmung

••••••••••••••!.••••••••••••
: VERMITTLUNGS-
•. / '--1
Y-----.
BUNDESREGIERUNG
·
1
1 ; Antrag auf Beratung
--~<===~----BUNDESTAG---~
ohne Änderung •••w:~~iJ~:~
1 AUSSCHUSS

ohne;~:::~~••~ ••••••••

. . . . . . . . . . . . . .:<===•.........1.........:====>:.. . . . . . . . . . . . . ..
• 1 • •

...........................:
BUNDESRAT

11
Billigung
11
Einspruch
BUNDESTAG
~-----------------~
ß'
beschlie t erneut
:...........................
BUNDESRAT

K I.I
eine
z . 1
ust1mmung
1
:
:

\~~)) D, Zustimmung l L ;
r••••••••••••••••••
1
• BUNDESTAG
1 1

~-----------------~
Einspruch
11 11
überstimmt wird nicht überstimmt
\ J) l__l >

- - - - - - - - - - - ~" BUNDESREGIERUNG !<.,.____________~

GESETZ GESETZ
~ usfertigung _ _ _ _.....__ _ _.. Ausfertigung ,
<
.
Verkündung
BUNDESPRÄSIDENT
Verkündung

Verfassungsändernde Gesetze erfordern eine 2/3-Mehrheit


im Bundestag und im Bundesrat IZAHLENBILDERl - f f i

~ Bergmoser + Höller Verlag AG 66005


4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

Bei den Einspruchsgesetzen kann der Bundesrat Der Vermittlungsausschuss


lediglich einen Einspruch einlegen u nd dies auch
erst, wenn er einen Kompromiss m it dem Bundes- Wenn ein im Bundestag verabschiedetes Gesetz
tag gesucht hat. Wenn eine einfache Mehrheit des auf die Ablehnung einer Mehrheit des Bundesrats
Bundesrats einen Einspruch einlegt, kann der stößt, kommt ein bedeutsames, wenn auch in der
Bundestag diesen mit einfacher Mehrheit über- Öffentlichkeit we nig bekanntes Organ der deut-
stimmen. Sollten aber zwei Drittel der Mitglieder sche n Demokratie ins Spiel: der Vermittlungsaus-
des Bundesrats Einspruch einlegen, kann das Ge- schuss. Er soll Konflikte zwischen Bundestags-
setz nur in Kraft treten, wenn der Einspruch vo n meh rheit und Bundesratsmehrheit lösen. Er kann
zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages nicht von sich aus tätig werden, sondern nur auf
überstimmt wird. Antrag von Bundesrat, Bundestag oder Bundesre-
gierung. Meist geht die Initiative vom Bundesrat
Zustimmungsgesetze sind Gesetze, die nur verab- aus; dieser kan n bei allen Gesetzen den Vermitt-
schiedet werden können, wenn eine Mehrheit der lungsausschuss anrufen. Der Verm ittlungsaus-
Bundesratsmitglieder zustimmt. In diesen Bereich schuss wird zu Begin n jeder Legislaturperiode des
fallen alle Bundesgesetze, die Länderinteressen Bundestages neu gebildet. Seine Zusammenset-
berühren. In der Vergangenheit waren alle Bun- zung kann sich aber durch La ndtagswahlen ver-
desgesetze zustimmungspflichtig, die Vorgaben ändern.
zur Behördenorganisation oder zum Verwaltungs-
verfahren enthielten, da dies üblicherweise Auf- Bei de n Abstimmungen im Vermittlungsausschuss
gabenbereiche der Länder sind. Dies hat sich sind die Delegierten der Landesregierungen im
durch die Föderalismusreform von 2006 geändert; Gegensatz zu den Sitzungen im Bundesrat formal
dadurch sollte der Anteil der Zustimmungsgesetze nicht an Weisungen ihrer Regierungen gebunden.
deutlich sinken. Die Sitzungen des Vermittlungsausschusses sind

BUNDESTAG
Der Vermittlungsausschuss
Gesetzes+ beschluss

nicht einverstanden:
BUNDESRAT ruft Vermittlungs- --+
ausschuss an Vermittlungsausschuss
32 Mitglieder
BUNDESREGIERUNG _ ruftVAan, --+ ije 16 Vertreter des Bundestages
falls der Bundesrat
und des Bundesrats)
BUNDESTAG - ein Zustimmungs- --+
gesetz ablehnt
Einigungsvorschlag

! 1 i
Aufhebung od er Änderung oder Bestätigung des Gesetzes-
beschlusses

erneuter ► BUNDESRAT
BUNDESTAG
Beschluss

stimmt
l 1
Nicht zustimmungs - Zustimmungs-
Aufhebung
zu bedürftiges Gesetz gesetz
1 1

l
kann vom
Bundestag - Einspruch Kein Zustim- Keine Zu-
überstimmt Einspruch mung stimmung
we. en +
+ + +
ffi IZAHLENBILDERI
"' Bergmoser + Höller Verlag A G
j ~ 66 120
4.6 Die Gesetzgebung

streng vertraulich. Der Grund für die Geheimnis- veröffentlich t. Zwei Wochen nach der Verkün-
krämerei ist, dass die Mitglieder a nderenfalls dung tritt das Gesetz i. d. R. in Kraft.
kaum in der Lage wären, durch gegenseit iges
Nachgeben einigungsfähige Kompromisse zu er-
zielen. Hinter den verschlossenen Türen des Ver- Warum ist das Gesetzgebungsverfahren so
mittlungsausschusses wird manches Problem ge- kompliziert?
löst, über das zuvor lautstark und hitzig in den
Talkshows der Republik debattiert wurde. Die wichtigen Gesetzgebungsverfahren beanspru-
chen vom ersten Anstoß bis zur Verabschiedung
Schlägt der Vermittlungsausschuss Ä nderungen eine recht lange Zeit. Schn ellschüsse sollen be-
eines vom Bundestag vera bschiedeten Gesetzes- wusst vermieden werden, weil ansonsten eine
entwurfs vor, dann ist eine vierte Lesung im Bun- nicht durchdachte Gesetzgebung zu befürchten
destag notwendig. Der Bundestag hat das Recht, ist. Die Machtverteilung hat zudem den Zweck,
den Vermittlungsvorschlag anzun ehmen oder ihn dass im Sinne des Pluralismus möglichst viele ge-
abzulehnen. Es wird aber - und dies ist mit Blick sellschaftliche Interessen auf das Gesetzgebungs-
au f die Machtstellung des Vermittlungsausschus- verfahren einwirken können. Dabei muss das Ge-
ses von großer Bedeutung - nicht mehr über die setzgebungsverfah ren offen sein für Stimmen
Positionen zu den Veränderungen des Entwurfs a ußerhalb des politische n Systems. Bei Regie-
debattiert. rungswechseln gibt es selten g rundlegende politi-
sche Kurskorrekturen. Die Kehrseite davon ist,
dass wichtige politische Entscheidungen häufig
Wann tritt ein Gesetz in Kraft? als eine Polit ik des kleinsten gemeinsamen Nen-
ners a ngeseh en werden können.
Hat ein Gesetz Bundestag und Bundesrat passiert,
wird es vo m Bundeskanzler und den zuständigen
Ministern unterzeichnet. Anschließend geht das Gesetzgebungsnotstand
Gesetz zum Bundespräsidenten. In aller Regel
unterzeichnet er das Gesetz. Wenn er allerdings Der Gesetzgebungsnotstand kann vo n der Bun-
der Ansicht ist, dass der Inhalt des Gesetzes oder desregierung beantragt werden, wenn der Bun-
das Zustandekommen verfassungswidrig ist, kan n destag ihr das Vertrauen verweigert u nd anschlie-
er die Unterschrift verweigern. In der Geschichte ßend ein vo n der Bundesregie rung als dringlich
der Bundesrepublik hat es acht solch er Fälle ge- bezeich netes Gesetz nicht verabschiedet. Nach
geben; zuletzt 2006: Bundespräsident Horst Köh- Antrag der Bundesregierun g kann der Bundesprä-
ler hatte entschieden das Gesetz z ur Neuregelung sident mit Zustimmung des Bundesrates den Not-
der Flugsicherung und das Gesetz zu r Neurege- stand erklären. Das Gesetz kan n dann allein vom
lung des Rechts der Verbraucherinformation nicht Bundesrat b eschlossen werden. Der Bundestag
auszufertigen. Nach der Unterschrift des Bundes- kann dies vermeiden, wenn er einen neuen Kanz-
präsidenten wird ein Gesetz im Bundesgesetzblatt ler wählt.

Aufgaben
1 . Stellen Sie den Gesetzgebungsprozess anhand eines aktuell beschlossenen Gesetzes dar
(, Methodenkompetenz: Politikzyklus analysieren).

2. Erklären Sie die Funktion des Vermittlungsausschusses im Gesetzgebungsprozess.

3. Setzen Sie sich kritisch mit der Komplexität des Gesetzgebungsprozess auseinander.
1METHODENKOMPETENZ

Politikzyklus analysieren

Der Politikzyklus ist ein Analyseinstrumen t, mit Die Phasen des Politikzyklus:
de m politische Entscheidungsprozesse untersucht
werden können. Politik wird hier als ein dy na mi- 1. Phase: Proble mdefi n ition
scher Prozess versta nden, in dem stets wiederkeh - 2. Phase: Auseinandersetzung
rend politische Probleme neu the matisiert werden. 3. Phase : Entscheidung
Ausgangspunkt sind somit Probleme, die im Zu- 4. Phase: Implementation der Entscheidu ng
sammenleben der Menschen entstehen, die die 5. Phase: Evaluatio n der Entscheidung
Politik lösen soll. 6. Phase: Terminierung oder erneute Problemstel-
lung

Terminierung oder
erneute
Problemstellung Problem-
definition

Evaluation der Politik-


Entscheidung Auseinander-
zyklus
setzung

Implementation
der Entscheidung Entscheidung

Vorteile des Modells: Nachteile des Modells:

Politik und dessen Prozesscharakter lassen sich Das Modell gliedert den politischen Prozess klarer
gut da rstellen. Das Modell ka nn au ch von Men- als dies in der Realität der Fall ist. Die einzelnen
schen, d ie keine Politik-Experten sind, a ngewen - Phasen des Prozesses sind in der Realität nicht so
det werde n. sauber getrennt.
METHODENKOMPETENZ t

Beispiel: der CDU-En ergieexperte Dr. Klaus Lippold. Wirt-


schaft und Verb rau ch er würden in konjunkturell
Der Einstieg zum Ausstieg aus d er sch wierigen Zeiten belastet. Die sichersten Atom-
Atomenergie kraftwerke in Europa würden abgeschaltet u nd
wen iger sichere in den Nachba rlä ndern blieben
Mit der Novelle des Atomgesetzes vollendet die a m Netz. ,,Sie machen Sch nellschüsse, oh ne sich
rot- grüne Koalition ( 1998 bis 200 5) am 22. April genau zu überlegen, welche Konsequenzen da raus
2002 eines ihrer wichtigsten Vorh aben: Das „Ge- resultieren", sagte Lippo ld. Außerdem gefährde
setz zur geordneten Beendigung der Kernen ergie- der Atomausstieg deutsche Klimaschutzziele und
nutzung zur gewerblich en Erzeug ung von Elekt- bedeute einen zusätzlichen Kohlendioxida usstoß
rizität" ä nderte die seit 1959 in der Bundes- v on rund hundert Millionen Ton nen pro Ja hr.
republik geltende Rechtslage grundlegend. An die Auch die FDP-Abgeordnete Birgit Ha mburger kri-
Stelle des bisherigen At omförderungsgesetzes trat tisierte, dass der Atomausstieg zulasten des Kli-
ein neues Atomausstiegsgesetz. maschutzes gehe. Anstelle der abgeschalteten
Bereits im Koalitionsvertrag hatten SPD und Kraftwerke müsste, wen n nicht auf importierte
Bün dnis 90/Die Grünen a ngekündigt: ,,Der Aus- Kernenergie, massiv a uf fossile Brennträger zu-
stieg aus der Nutzung der Kernene rgie wird inner- rückgegriffe n werden. Die Konzeptlosigkeit
h alb dieser Legislaturperiode umfassend und un- rot-grüner Politik zeigte sich in den Augen der
umkehrbar geregelt." Ein erfreulich er Tag war es Liberalen a n kaum einer Stelle so deutlich wie bei
dan n auch fü r den damaligen Bundesumwelt mi- der Energieversorgung und beim Kl imaschutz.
nister Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grüne n), als
das Ato mausstiegsgesetz a m 14. Dezember 2001
in d ritter Lesung mit den Stimmen der rot- grünen Sicherheit geht vor
Koa litionsmehrheit den Bundestag passierte.
SPD u nd Bündnis 90/Die Grünen hingegen vertei-
digten das Reformproj ekt vor allem mit de m Hin-
Atomkonsens sichert Reformwerk weis au f die Sicherheitsrisiken der Kerntechnolo-
gie. Trittin fügte h inzu: ,,Wir sind dabei nicht
Rechtlich sicherte das wichtige Reformwerk der allein." Die Mehrheit der Mitglieder der Europäi-
rot-grünen Koali tion, wie es de r SPD-Polit iker schen Union sei auf dem Weg, aus der Atomener-
Horst Kubatschka fo rmulierte, die im Juni 2001 gie auszusteigen.
unterzeichnete Vereinbarung zwischen de r Bun- Nach der Novellierung des Atomgesetzes vo m 22.
desregierung und der Atomwirtschaft zum Aus- April 2002 sollten bis etwa 202 1 alle 19 deutschen
stieg aus der Atomenergie, den sogenannten Kernkra ftwerke abgeschaltet sein. Der Bau neuer
Atomkonsens, ab. Nach schwierigen Verha ndlun- gewerb licher Ato mkraftwerke und Wiederaufbe-
gen wurde sich darauf verstä ndigt, die Nutzung reitungsanlagen war nicht mehr erlaubt. Am 26.
der Kernenerg ie in Deutschla nd geordnet zu be- Ap ril, dem sechzehnt en Jah restag der Reaktorka-
enden. tastrophe vo n Tsche rnobyl, verkündet, trat das
Im Bundest ag war ein solcher Konsens mit den Atomausstiegsgesetz einen Tag später a m 27. Ap-
Oppositionsfrakt ionen nicht zu erzielen. Die Uni- ril 2002 in Kraft. Als erstes ging 2003 der Reaktor
onsfraktion bekräftigte ihre Absic ht, den Atom- Stade (Niede rsachsen) vom Netz, 2005 der Reaktor
ausstieg so bald wie möglich rückgängig zu ma- Obrigheim (Baden-Württembe rg).
che n. Die FDP warf der Regierung Konzeptlosigkeit
vo r. Der PDS - Vorgängerin der he utigen Frakt ion
Die Linke - g ing der Ausstieg nicht sch nell genug. Schwarz-Gelb rudert zurück

Im September 2010 setzte die schwarz-gelbe Re-


Scharfe Kritik von der Opposition gierungskoalition die La ufzeitverlängerung der
Atomkraftwerke um acht beziehungsweise 14
„He rr Trittin, Sie freuen sich zu früh. Wir werden J ah re durch. Nach der Reaktorkatastrophe in Fu-
das, was sie als dauerhaften Kernene rgieausstieg kushima am 11. März 20 11 wurde mit dem soge-
bezeichnen, wieder rückgängig m achen", sagte nannten Atom-Moratorium die Lau fzeitverlä nge-
1METHODENKOMPETENZ

rung für drei Monate ausgesetzt und die geordnete stimmten dafür, 79 A bgeordnete dage-
Abschaltung der sieben ältesten deutschen Reak- gen, acht ent hielten sich der Stimme. Die sieben
to ren für die Zeit des Moratoriu ms beschlossen. ältesten Kernkraftwerke un d Krü mmel wurden
Danach beschloss die schwarz-gelbe Koalition, vom Netz genommen. Die verb leibende n neun
de n Atomausstieg wieder vo rzuziehen. Am 30. soll en bis spätestens 20 22 abgeschaltet werden.
Juni 2011 verabschiedete der Bundestag mit gro-
ßer Mehrheit den Atoma usstieg bis 2022. 513 Ab- klz, www. bu11destag.de, 2012

Abschaltung der noch betriebenen Reaktoren gemäß Atomgesetz (AtG)

BMUB, Atomkraftwerke in Deutschland, Stcmd: l 1.01.2018

Aufgabe
Analysieren Sie den Atomausstieg anhand des Politikzyklus und ordnen Sie die einzelnen Schritte den Phasen
zu. Recherchieren Sie ggf. weitere Informationen.
Rechtsordnung der
• Bundesrepublik Deutschland
4.7.1 Grundzüge der Rechtsordnung
Leitfragen Was ist ein Wie funktioniert das Was unterscheidet das Rechtssystem
Rechtssystem? deutsche Rechtssystem? vom politischen System?

Funktion der Rechtsordnung

In der frühen Neuzeit entstand die Forderung nach • Gesetze: Die vo n der Legislative verabschiede-
der Ordnung des gesellschaftli ch en Lebens durch ten Gesetze gelten fü r alle Bürger. Sie dürfen
das Recht, da eine friedenssichernde und ord nen- j edoch de n Grundrechten bzw. dem EU-Recht
de Grundlage fü r das gemeinsame Zusammenle- nicht widersprechen.
ben fehlte. Als eine Rechtsordnung wird dabei die
Gesamtheit der gültigen ve rbindlichen Normen • Rechtsverordnungen: Als Verordnungen be-
und Regeln in dere n Anwendungsbereichen be- zeichnet ma n Entscheidungen über Verfa hrens-
zeic hnet, z. B. in einem Staat. Dazu gehören neben weisen bei der Ausführung von Gesetzen oh ne
dem durch die Legislative verabschiedeten Recht die Mitwirkung der Legislative. Das Parla ment
auch die Interpretation durch die Judikative sowie muss der Regierung j edoch die Befugnis für die
die Ausführung des Rechts durch d ie Exekut ive. Erlassung vo n Rechtsverordnunge n erteilen.
Eine Rechtsordnung soll die fri edliche und faire
Regelung v on Problemen und Konflikten in einer • Satzungen und Geschäftsordnungen: In Sat-
Gesellschaft ermöglichen. zungen und Geschäftso rdnungen werden Ange-
legenheiten einer Instit ut ion geregelt.

Rechtsquellen Wenn au f einen Sachverhalt v erschiede ne Rechts-


form en angewendet werden kön nen, spricht man
• EU-Recht: Das Europa recht ist das überst aatli- von Normen kollision. Diese werde n durch die Hi-
che Recht in der Europäischen Union. Das Ver- erarchisierung von Rechtsno rmen gelöst.
hältnis zwisch en Grundgesetz und Europarecht
war häufig Gegenstan d vo n En tscheidungen des
Bundesverfass ungsgerichts, da Europa recht An- Privatrecht und Öffentliches Recht
wendungsrecht gegenüber n ationalem Recht
hat, aber nicht über dem Grundgesetz steht. Das Recht wird in zwei Rechtsgebiete unterteilt:
Vielmehr wird oft von einem Nebeneina nder Das Privatrecht und das Öffentliche Rech t. Das
oder situativ a nhä ngigen Hiera rchien gespro- Privatrecht regelt die Beziehungen der Bürger un-
ch en. tereinander. Es ist im Kern im Bürgerlichen Ge-
setzbuch (BGB) festgelegt. Dieses enthält z.B. Re-
• Verfassungsnormen: Das Grundgesetz in gelungen über de n Umgang mit Gütern und für
Deutschland legt die Grundrechte sowie die po- Eheschl ießungen. Mit dem öffentlichen Recht
litische Ordnung fest. Die von der Leg islative werden die Beziehung des Einzelnen zur ö ffentli-
beschlossenen Gesetze dürfen nicht verfas- chen Gewalt sowie die Beziehu ngen der St aatsor-
sungswidrig sein, wo rüber das Bundesverfas- gane untereinander geregelt. Hierzu gehören das
sungsgericht entscheidet (>Kap. 4.7 .2). Strafrecht und das Verfassungsrecht.
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

Aufteilung der
Öffentliches Recht Rechtsgebiete Privatrecht

Staats- und Verfassungsrecht Bürgerliches Recht

1 Verwaltungsrecht Schuldrecht Sachenrecht

Delikts- und Schadensrecht


Polizeirecht Kommunalrecht
Familienrecht Erbrecht
Beamtenrecht Baurecht

Verkehrsrecht Hochschulrecht
Handelsrecht
Umweltrecht Schulrecht u.a.
Gesellschaftsrecht

1 Prozessrecht Strafrecht Wertpapierrecht


11
Steuerrecht Sozialrecht Verbraucherschutzrecht
11
Völkerrecht Kirchenrecht Urheber - und Erfinderrecht
11

Arbeitsrecht

1 Wirtschaftsrecht
IZAHLENBILDERlffi
c Bergmoser + Höller Verlag AG 128020

Grundsätze der Rechtsprechung Zweige der Gerichtsbarkeit

Neben der Polizei (als Exekutivorgan des Staates) Die Gerichtsbarkeit Deutschlands besteht aus fünf
sind die Gerichte dafü r verantwortl ich, das von Zweigen:
den demokratisch legitimierten politischen Ent-
scheidungsträgern gesetzte Recht zu wahren. Un- • Die „ordentlichen" Gerichte wie z.B. das Amts-
ter allen staatlichen Organen - Polizei, Ein woh- gericht verhandeln Strafsachen und Zivilsachen
nermeldeamt etc. - nehmen die Gerichte eine einschließlich der Ehe- und Familiensachen.
besondere Stellung ein. Die Richter sollen sich bei
ihren Entscheidungen n ur an das Recht halten • Die Arbeitsgerichte verhandeln arbeitsrechtli-
und sind von Weisungen unabhängig. Dabei muss che Streitigkeiten. Obgleich es sich um zivil-
der einzelne Richter auch dann sein Urteil spre- rechtliche Konflikte handelt, wurde für diesen
chen, wenn die gesetzten Regelungen seinen eige- zentralen Bereich des Lebens eine eigene Ge-
nen Überzeugungen widersp rechen. Nur wenn ein richtsbarkeit geschaffen.
vo n ihm a nzuwendendes Gesetz nach seiner Auf-
fassung dem Verfassungsrecht widerspricht, muss • Die Verwaltungsgerichte sind zuständig für alle
er dies dem Bundesverfassungsgericht mitteilen öffentlich-rechtlichen Prozesse im Verwal-
und das Gesetz prüfen lassen. tungsrecht.

Die richterliche Unabhängigkeit ist ein hohes Gut • Die Sozialgerichte verhandeln über Rechtsstrei-
in Deutschland und wird dadurch geschützt, dass tigkeite n, die die Sozialversicherung und sozia-
Richter nur dann entlassen werden können, wenn le Leistungen wie das Kindergeld betreffen.
sie in besonderer Schwere gegen das Dienstrecht
verstoßen habe n. Dafür muss ein Richter j edoch • Die Finanzgerichte befassen s ich mit Steuer und
schon Beweismaterial unterschlagen oder Beste- Abgabesachen. Meist geht es in den Prozessen
chungsgelder annehmen. um Einsprüche gegen Steuerbescheide.
4.7 Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland

Gerichtsbarkeiten der Bundesrepublik Deutschland

Bundesvertassungsgericht

Ordentliche Gerichtsbarkeit Allgemeine Finanz- Sozial- Arbeits-


Verwaltungs- gerichts- gerichts- gerichts-
Zivilgerichte Strafgerichte gerichtsbarkeit barkeit barkeit barkeit

Gemeinsamer Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes

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Oberverwaltungs- Finanz- Landessozial- Landesarbeits-
Oberlandesgerichte
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Amtsgerichte

_ . . Rechtsmittel der Berufung Rechtsmittel der Revision

Nach: Basiswissen Schule, Politik Wirtschaft Abitu r, 2 016, S. I 80

A f aben
nen Sie drei unterschiedliche Rechtsquellen.

autern Sie in eigenen Worten, was man unter einer Rechtsordnung versteht.
1 KOMPETENZEN A NWENDEN

M 1 Gerichte durch große Anzahl Asylklagen überlastet

Die deutschen Verwaltungsgerichte schlagen Alarm: 250.000 Asylklagen sollen derzeit


anhängig sein. Es fehlen aber Richter und Personal.
Die Verwaltungsgerichte in Deutschland sehen sich durch die große Zahl von Asylkla-
gen völlig überlastet. ,,Die Lage ist dramatisch, wir stoßen derzeit komplett an unsere
s Grenzen", sagte der Vorsitzende des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter, Robert
Seegmüller, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.
Vor deutschen Gerichten seien derzeit Verfahren von mehr als 250.000 Personen an-
hängig. Mit Verspätung sch lägt sich die Flüchtlingswelle aus dem Jahr 2015 an den
Gerichten nieder. ,,Eine derartige Zahl an Verfahren kann die Verwaltungsgerichtsbar-
10 keit auf Dauer nicht aushalten." Irgendwann breche alles zusammen.

Richter und Personal fehlen

,,Das ist wie bei einem Motor, der im roten Bereich gefahren wird", sagte Seegmüller:
„Eine Zeit lang geht es gut, aber nicht dauerhaft." Der Vorsitzende erwartet für das
gesamte Jahr 2017 eine Verdoppelung der Verfahren gegenüber dem Vorjahr. Doch es
fehlten Richter und Personal, teilweise auch Räume und IT-Kapazitäten. ,,Die Justiz-
,s verwaltungen sind zwar gewillt aufzustocken, aber sie finden das dringend benötigte
Personal immer schwerer."
Die Zahl von 250 .000 klagenden Asylbewerbern ergibt sich dem Redaktionsnetzwerk
zufolge aus einem Abgleich der Statistiken des Bundesamts für Migration und Flücht-
linge mit denen der EU-Behörde Eurostat. Die Brüsseler Statistiker rechnen Asylbe-
20 werber, die gegen ihren Bescheid klagen, zur Gesamtzahl der Asylsuchenden dazu,

das Bundesamt klammert sie aus. Eurostat nennt für April 2017 rund 483.000 Asylbe-
werber, das Bundesamt 232.000. Die Differenz von rund 250.000 seien diejenigen, die
gegen ihren Bescheid klagten. [ ... ]
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle waren 2015 rund 890.000 Asylsuchende
2s nach Deutschland eingereist. In dem Jahr wurden aber beim BAMF weniger als 500.000

Asylanträge gestellt.
Im Jahr 2016, als die Zahl der neu nach Deutschland kommenden Asylsuchenden
schon deutlich zurückgegangen war, gingen dann fast 750.000 Asylanträge ein. Klagen
sind erst möglich, wenn über einen Antrag entschieden ist. Deshalb macht sich die
30 Flüchtlingswelle an den Gerichten mit Verspätung bemerkbar.

Westdeutsche Al/gemeine Zeitung (epd/law}, www.waz.de, 20.7.2017

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie das dargestellte Problem der deutschen Verwaltungsgerichte.

2. Erklären Sie, wie es zur zu dieser Situation gekommen ist.

3. Prüfen Sie, inwiefern das Fehlen von Richtern und Personal in der Öffentlichkeit und der
Politik eine Chance hat, Gehör zu finden .
4. 7 .2 Das Bundesverfassungsgericht
Leitfragen Welche Aufgaben hat das Wie ist das Bundesverfassungs- Welchen Platz nimmt es
Bundesverfassungsgericht? gericht organisiert? im politischen System
der Bundesrepublik ein?

Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts

In der Bundesrepublik ist das in Grundgesetzfra- • Sicherstellung, dass das Grundgesetz Vorrang
gen höchste Gericht das Bundesverfassungsge- gegenüber einfachen Gesetzen hat
rich t. Entstanden ist es nach den Erfahrungen mit
der Zeit des Nationalsozialismus, um Macht miss- Wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz
brauch durch staatliche Institutionen vorzubeu- für nicht verfassungskonform befindet, kann es
gen. Seine wesentlichen Aufgaben sind: dieses für nichtig erklären. Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts sind für alle staatli-
• In Streitfällen das Verfassungsrecht auslegen chen Organe verbindlich. Das Instrument der Be-
• Verstöße gegen das Grundgesetz unterbinden rufung gegen ein Urteil des Bundesverfassu ngs-
• Gesetze aufVerfassungskonformität zu überprü- gerichts gibt es nicht. Das Bundesverfassungs-
fen gericht darf jedoch keine Politik betreiben, d. h.
• Über Verfassungsbeschwerden entscheiden anstelle des Parlaments oder der Regierung poli-
• Über Verfassungsstreitigkeiten zw ischen staatli- tische Entscheidungen treffen. Grundsätzlich gilt
chen Organen entscheiden zudem, dass es nur aktiv wird, wenn es a ngeru-
• Parteiverbote auszusprechen fen bzw. Klage bei ihm einreicht wi rd. Von sich
• Prüfung einer erfolgten Bundestagswahl aus wird es nicht tätig.

Das Bundesverfassungsgericht
Sitz: Karlsruhe

Präsident/in Vizepräsident/in
zugleich Vorsitzende/ r zugleich Vorsitzende/r
eines Senats eines Senats

Erster Senat zweiter Senat

AAAIA1AAAA AAAAfA1AAA
Kammern Kammern

wählt die Hälfte wählt die Hälfte


der Richter Das Bundesverfassungsgericht der Richter
jedes Senats ent scheidet unter anderem jedes Senats
• über Verfassungsbeschwerden
Wahlausschuss
• über Streitigkeiten zwischen Bundes-
des Deutschen
organen oder zwischen Bund und Ländern
Bundesrat
Bundestages • über die Vereinbarkeit von Bundes-
oder Landesrecht mit dem Grundgesetz
• über die Verfassungswidrigkeit von Parteien

~ - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - IZAHLENBILDERl-ffi
c Bergmoser + Höller Verlag AG 1290 15
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

Zusammensetzung und Rechtsprechung des


Bundesverfassungsgerichts

J eder Bürger kann Verfassungsbeschwerde einle- • Schutz von Demokratie und Verfassung
gen (Art. 93 Abs. 1 GG), wenn er sich durch staat- • Verfassungsstreitigkeiten zwische n staatlichen
liche Handlungen in seinen Grundrechten verletzt Organen
gla ubt. Eine Klage am Bundesverfassungsgericht
erfolgt in letzter Instanz, da i. d. R. der Rechtsweg Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei
ausgeschöpft sein muss; außer es handelt sich um Senaten, in denen j eweils acht Rich ter urteilen.
eine Verfassungsbeschwerde „allgemeiner Bedeu- Die Richter des Bundesverfassungsgerichts wer-
tung" oder die Rechtswege rschöpfung würde zu den jeweils zur Hälfte durch einen Rich-
,,unzumutbaren Ergeb nissen" führen. Die Recht- ter-Wahlausschuss des Bundestages sowie vo m
sprechung des Bundesverfassungsgerichts um- Bundesrat gewählt. Für die Wahl eines Richters
fasst nach Art. 93 GG vier Bereiche: si nd breite Mehrheiten nötig, da in beiden Insti-
tu tionen Zweidrittelmehrheiten notwendig sind.
• Verfassungsbeschwerden In der Regel kann so keine Partei einen Kandida-
• Konkrete und abstrakte Normenkontrolle ten im Alleingang durchsetzen.

Wichtige Urteile des Bundesverfassungsgerichts

Verfassungsbeschwerde:
Schutz der Grundrechte der Bürger und des verfassungs- ► 1983: Volkszählungsurteil
mäßig garantierten Rechts. Verfassungsbeschwerden ► 1995: ,,Kruzifix"-Urteil
machen den größten Anteil an den Vorgängen aus - etwa
5.000 jährlich, wobei etwa 97 Prozent als unzulässige
► 2012: Urteil zum Europäischen Stabilitäts-
mechanismus (ESM)
oder unbegründete Beschwerden erst gar nicht zur
Entscheidung angenommen werden. Normenkontrollver-
fahren stehen an zweiter Stelle der Bearbeitung.

konkrete Normenkontrolle:
Überprüfung eines Gesetzes im Rahmen eines konkreten ► 1975: Urteil zum sog. ,,Radikalen-Be-
Rechtskonflikts schluss"

abstrakte Normenkontrolle:
allgemeine Überprüfung eines Gesetzes auf Verfassungs- ► 1975: Urteil zum Abtreibungsparagrafen
mäßigkeit 218
Verfassungsstreitigkeiten zwischen staatlichen Organen: ► 1994: Urteil zu „out of area"-Einsätzen der
Streitigkeiten zwischen Bundesorganen, Landesorganen Bundeswehr
und zwischen Bund und Land ► 1999: Urteil zum Länderfinanzausgleich
allgemeiner Schutz von Demokratie und Verfassung: ► 1952: SRP-Verbot
Beschwerden im Wahlprüfungsverfahren des Bundestags, ► 1956: KPD-Verbot
Parteiverbote, Verwirkung von Grundrechten, Anklagen
► 2003: Scheitern des NPD-Verbotsantrags
gegen Bundespräsidenten und gegen Richter
► 2017: Verbot der NPD abgelehnt

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die verfassungsrechtliche Stellung sowie die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts.

2. Vergleichen Sie die Legitimation des Bundestags mit der des Bundesverfassungsgerichts.

3 . Setzen Sie sich kritisch mit dem Stellenwert des Bundesverfassungsgerichts im Gesetzgebungsprozess
anhand eines Beispiels auseinander(• Methodenkompetenz: Politikzyklus analysieren). Nehmen Sie Bezug zu
einem der wichtigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Richter am Bundesverfassungsgericht: heimliche Politiker in Roben?

Vor dem obersten deutschen Gericht ging es um das Betreuungsgeld. [... ] Die CSU
boxte das Gesetz im Bundestag durch, nach fast zehnjähriger politischer Rauferei,
unter anderen mit der SPD. Die verlor das Gefecht gegen die Bayern, zog aber nach
Karlsruhe, um die Sache juristisch für sich zu entscheiden.

Sätze wie aus dem staatsrechtlichen Lehrbuch

5 Die Chancen dafür stehen gut. Kommt es so, wie es der Verlauf der Verhandlung er-
warten lässt, werden die acht Richter kurzen Prozess machen und das familienpoliti-
sche Herzensanliegen der Konservativen mit einem Federstrich für verfassungswidrig
erklären. Sie zitierten Artikel 72 Absatz 2 des Grundgesetzes, wonach nicht der Bund,
sondern die Länder für die Einführung einer Erziehungsprämie zuständig seien.
10 Der Prozessbevollmächtigte der Bundesregierung wies zwar darauf hin, dass man das
Betreuungsgeld nicht isoliert von der komplexen Entstehungsgeschichte, sondern als
Teil eines „Gesamtkonzepts" des Gesetzgebers betrachten müsse. Das aber ließ
Kirchhof nicht gelten. Man könne, so der Senatsvorsitzende, die Kompetenzzuweisun-
gen der Verfassung „nicht durch politische Kompromisse überspielen". Der „bloße
15 Wille des Gesetzgebers" mache sein Handeln nicht verfassungsgemäß.
Das sind Sätze wie aus dem staatsrechtlichen Lehrbuch. Und es sind Sätze, die das
Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts beschreiben. Das geht so: Berlin ,
der Sitz von Regierung und Parlament, ist ein Ort der Machtkämpfe. Im Bemühen, die
widerstreitenden Interessen in Einklang zu bringen, werden die Regeln des Grundge-
20 setzes dort gelegentlich eher als hinderlich empfunden.
530 Kilometer Luftlinie entfernt dagegen sitzen die Hüter der Verfassung. In Karlsruhe,
der Residenz des Rechts, wachen 16 Richter darüber, dass alle Staatsgewalt an die
Grundrechte gebunden bleibt - und auch Formalitäten wie die Zuständigkeitsregeln
beachtet werden. Am Ende, so sehen es die Männer und Frauen in ihren roten Roben,
25 stiften die Urteile des Bundesverfassungsgerichts Rechtsfrieden in der Republik.

Immer mehr Urteile, die nicht für Rechtsfrieden sorgen

In der mittlerweile 135 Bände umfassenden amtlichen Sammlung der Gerichtsent-


scheidungen lassen sich Belege dafür finden, dass Karlsruhe diesem Anspruch meist
gerecht geworden ist. Das Problem ist nur: In der jüngeren Vergangenheit tun die
Richter wenig dafür, ihre Erfolgsgeschichte fortzuschreiben. Es mehren sich Urteile,
30 die nicht für Rechtsfrieden sorgen, sondern Unruhe stiften.
Zum Beispiel in Deutschlands Schulen. 2003 hatte der Zweite Senat des Gerichts
entschieden, dass es für ein Verbot für Lehrerinnen, in der Schule ein Kopftuch zu
tragen, keine gesetzliche Grundlage gebe. Der Gesetzgeber könne eine solche Grund-
lage jedoch schaffen. Neun Bundesländer folgten dieser Aufforderung und schrieben
35 ein Kopftuchverbot in ihre Schulgesetze.
Im Januar 2015 nun vollzog Karlsruhe eine Kehrtwende. Plötzlich urteilte der Erste
Senat, dass „ ein pauschales Verbot" mit der Verfassung unvereinbar sei. Das heißt:
Die Länder müssen ihre gerade beschlossenen Schulgesetze wieder ändern. Wie, das
geben die Richter sehr genau vor. Voraussetzung für ein Verbot soll nun eine „konkre-
te Gefährdung oder Störung des Schulfriedens" sein.
40 Rechtsfrieden? Die Entscheidung löste eher Entsetzen aus. Der frühere Berliner Be-
zirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) befand, die Richter hätten „null Ahnung"
von der Praxis vor Ort.
Die Chefin der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Gerda Hasselfeldt, sagte: ,,Beim
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

Kopftuch-Urteil trägt das Bundesverfassungsgericht die Konflikte in die Schule, das


ist meines Erachtens kontraproduktiv." Und sogar der ehemalige Präsident Karlsruhes,
4s Hans-Jürgen Papier, kritisierte die früheren Kollegen. Die neuen Vorgaben, so der
Staatsrechtler, könnten geradezu als „Anregung zur Schaffung von konkreten Gefähr-
dungs- und Störungsszenarien" wirken.
Wie, so fragt man sich, kommt so eine Entscheidung der Verfassungshüter zustande?
Der amtierende Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle hat den Beratungsprozess ein-
so mal so beschrieben: Über Monate, manchmal Jahre hinweg würde um Argumente
gerungen, immer wieder neue Vorschläge kämen auf den Tisch - bis sich am Ende ein
Ergebnis herauskristallisiere. ,, Diese Art der Entscheidungsfindung", so Voßkuhle, ,,un-
terscheidet sich wesentlich von vielen anderen Lebensbereichen." Zum Beispiel von
der Politik, soll das heißen, mit ihrer steten Hektik, den Machtkämpfen und den öffent-
ss liehen Eitelkeiten. [ ...]

Lammert, der das Bundesverfassungsgericht „ mit allem gebotenen Respekt" bei un-
terschiedlichen Anlässen kritisiert hat, hält den „ deutlich erkennbaren Gestaltungsan-
spruch" der Richter in „hochpolitischen Fragen" wie der Ausgestaltung des Wahlrechts
für problematisch. Auch die CSU-Frau Hasselfeldt beklagt, dass Karlsruhe zunehmend
60 versuche, sic h „relativ stark" in die politische Entscheidungsfreiheit einzumischen. Das
sehe sie kritisch, denn: ,,Karlsruhe ist nicht der bessere Gesetzgeber" .
Im Kanzleramt teilt man diese Ansicht. Zwar schweigen Angela Merkel und ihre füh-
renden Mitarbeiter nicht nur öffentlich, sondern auch in Hintergrundgesprächen und
halten sich mit Kritik strikt zurück. Doch es ist ein dröhnendes Schweigen. Merkel, so
6s viel ist sicher, findet vor allem die sozialpolitischen Intervent ionen wenig hilfreich. Kar-
lsruhe hat mit seinen Urteilen zum Asylbewerberleistungsgesetz und zum Existenzmi-
nimum Rahmenbedingungen geschaffen, die ungeregelte Zuwanderung vor allem aus
Südosteuropa geradezu anlocken.
Mit Befremden wird auch registriert, dass Karlsruhe bei der Steuerpolitik Gestaltungs-
ehrgeiz entwickelt. Zwar war damit gerechnet worden, dass die letzte Reform der
10 Erbschaftsteuer vor Gericht durchfällt. Doch im Urteil beschrieben die Richter gleich
den Weg, wie der Schaden behoben werden müsse: mit einer „ Bedürfnisprüfung".
Dieser aus der Sozialgesetzgebung entlehnten Vorstellung nach sollen Firmenerben
künftig konkret nachweisen müssen, wie die Besteuerung einer vererbten Firma Ar-
beitsplätze gefährdet. Dem eigentlichen Gesetzgeber bleibt nur noch d ie konkrete
1s Ausgestaltung - als wäre der Bundestag eine nachgeordnete Behörde.

Robin Alexander et al., www.welt.de, 19.4.2015

Aufgaben

1 . Fassen Sie die Kernaussagen des Textes zusammen.

2. Erklären Sie, warum das Abschieben von Entscheidungen nach Karlsruhe ein zweischnei-
diges Schwert für die Politik sein kann.

3. Überprüfen Sie, ob es zu Kompetenzüberschreitungen gekommen ist. Nutzen Sie hierzu


das Grundgesetz.
SELBSTD IAGNOSE

Im l aufe des letzten Kapitels haben Sie sich mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutsch-
land beschäftigt. Lesen Sie die folgenden Sätze und entscheiden Sie jeweils für sich, welche der
Spalten sie ankreuzen können.

Ich kenne ... vollständig teilweise (noch) nicht

... die Grundrechte im Grundgesetz.

. . . die fünf Staatsstrukturprinzipien .

. . . Formen der Beteiligung in einer Demokratie .

... die Bedeutung von Wahlen in einer Demokratie.

. .. die Funktionen und Aufgaben von Parteien .

... die Funktionen und Aufgaben von Verbänden und Medien.

. . . die Verfassungsorgane und ihre Aufgaben in Deutschland .

... die einzelnen Stationen des Gesetzgebungsprozesses.

... die Funktionen der Rechtsordnung .

... die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts.

Ich kann ... vollständig teilweise (noch) nicht

... das Verhältnis von Individuum und Staat in den


Grundrechten erklären .

. . . mich bei einem politischen Urteil an Kategorien orientieren .

. . . Formen der politischen Beteiligung miteinander


vergleichen .

. . . das Wahlsystem in Deutschland erklären .

... aktuelle Veränderungen des Parteiensystems erklären .

. .. aktuelle Veränderungen im Verhältnis zwischen Medien und


Politik erklären.

... die Kräfteverhältnisse im Entscheidungssystem erläutern .

. . . die Bedeutung des Föderalismus in Deutschland erklären .

... politische Prozesse mit dem Politikzyklus analysieren .

. . . die Rolle des Bundesverfassungsgerichts beurteilen.


Zusatzmaterial zu Kapitel 5
Mediencode: 72002- 05

KOMPETENZEN
Am Ende dieses Kapitels sollten
Sie Folgendes wissen und können:

Wichtige Etappen der Entwicklung der Europäischen


Union (EU) benennen sowie Motive und Ziele der eu-
ropäischen Integration beschreiben

Zentrale Institutionen der Europäischen Union und die


politischen Entscheidungsprozesse im Mehrebenen-
system der EU darstellen

Chancen und Probleme der demokratischen Partizi-


pation in der EU bewerten

Beispiele für die Bedeutung der EU für das Leben in


den Mitgliedstaaten nennen

Perspektiven und aktuelle Herausforderungen der EU


analysieren und bewerten
Aufgabe

.,Europa bedeutet für mich ... " - Finden Sie möglichst viele Satzergänzungen, die zeigen,
welche Bedeutung die Europäische Union für Sie persönlich hat.
Die Entwicklung
• der europäischen Integration
5.1. 1 Politik in Europa - Idee und Praxis

Leitfragen Was wird unter „europäischer Warum lässt sich die EU Welche Prinzipien leiten
Integration" verstanden? als „Mehrebenensystem" europäische Politik an?
beschreiben?

Die Idee eines friedlichen Europas

,,Nie wieder Krieg in Europa !" Das war das Motto, und Verwüstung mit verursacht hat, sollte durch
das am Anfang des europäischen Einig ungspro- eine n eue Form der europäischen Integration u nd
zesses nach dem Zweiten Weltkrieg stand: Europa die Schaffu ng einer „immer engeren Union der
wurde zu nächst als Friedensproj ekt betrachtet. Völker Europas", wie es in der Einleitung des
Der aggressive Nationalismus, der im 20. Jahr- EU-Vertrags steht, gebändigt werden und so sei-
hundert zwei schreckliche Weltkriege mit millio- nen Schrecken verlieren. Die Idee eines geeinten
nenfachem Tod, Zerstörung, Leid, Massenmord Eu ropas ist also älter als die EU selbst.

I I
-
Belgien
Deutschland
1 1 Frankreich
* 1958
* 1958
* 1958
Einwohner
20161 in Mio.
f 11.4 Mio.
f 82,8
f 67,0
--• 34,2 Tsd.€
35,7
30,3
■ Gründungsmitglieder

=
1 l 1talien

--
* 1958 f 60,6 27.9

=
==
Luxemburg
Niederlande

Dänemark
* 1958
* 1958
* 1973
f 0,6
f 17,1
f 5,7
- 77,4
37,5
36,4

:1: Großbritannien * 1973 f 65,8 31 ,2


FINNLAND

1 I Irland * 1973 f 4,8 53,2

·---
~ Griechenland * 1981 f 10,8
f 10,3

19,5 4 SCHWEDEN

--

22,4 (I
-
.. Portugal
Spanien
* 1986
* 1986 f 46,5
• 26,5
I
~
ESTLAND

+--
=
==
Finnland
Österreich

Schweden
* 1995
* 1995
* 1995
f 5,5
f 8,8
f 10,0
31,7
36,7
35,9
(
LITAUEN
LETTLAND

=
IRLAND
f 1,3

- Estland * 2004 21,5
POLEN
f 2,0

Lettland * 2004 19,0
f 2,8

- Litauen * 2004 21,9

-
' ■ Malta
Polen
* 2004
* 2004
f 0,4
f 38,0 •

27,6
20,1
STERREICH
SLOWAKEI

UNGA,RN
RUMÄNIEN
- Slowakei * 2004 f 5.4 ■ 22.4
iill Slowenien * 2004 f 2,1

24,1

=
. . . Tschechien

Ungarn
* 2004
* 2004
f 10,6
fg,8


25,7
19,5
PORTUGAL

SPANIEN
.. - GRIECHENLAND
BULGARIEN

Zypern * 2004 f 0,9 ■ 23,6

- Bulgarien
1 1 Rumänien
:C Kroatien
* 2007
* 2007

* 2013
f 7,1
f 19,6
f 4,2
1


13,9
17,2
17,3 1~2, © Globus
MALTA --
'zum Teil vorläufig oder geschätzt . 2kaufkraftbereinigt
ZYPERN

Quelle: Eurostat
5.1 Die Entwicklung der europäischen Integration I

Das Mehrebenensystem der EU Was bedeutet „Europäische Integration"?


In einer supranat ionalen (bedeutet: ,,übernationa- Der von dem lateinischen Wort „integratio" (Wiederherstellung ei-
len", lat., supra = oberhalb) Organisation wie der nes Ganzen, Erneuerung ...) abgeleitete Begriff „ Integration" be-
EU übertragen die Mitgliedstaaten Aufgaben und zeichnet im heutigen Sprachgebrauch im Wesentlichen dreierlei:
Befugnisse (Kompetenztransfer) an die supranati-
onale Ebene und akzeptieren, dass die Entschei- 1. Die Herstellung bzw. Wiederherstellung einer Einheit aus zuvor
dungen dieser supranationalen Organisation für Ausgegliedertem; auch eine Vervollständigung;
2. die Einbeziehung, die Eingliederung eines Teils in ein größeres
sie bindend sind. Einzelne Institutionen wie etwa
Ganzes;
die EU-Kommission in Brüssel oder der Europäi- 3. einen Zustand, in dem sich etwas befindet, nachdem es integ-
sche Gerichtshof in Luxemburg stehen stellvertre- riert worden ist.
tend für die „Supranationalität" der Europäischen
Union. Sie treten aber nicht an die Stelle der na- Die Besonderheit des Begriffs „Integration" besteht darin, dass er
tionalen Behörden, sondern übernehmen nur Auf- sowohl einen Prozess (Herstellung einer Einheit) als auch einen
gaben, mit denen die einzeln en Mitgliedstaaten Zustand (nach der Herstellung einer Einheit) bezeichnen kann. Das
lässt ihn für den nach wie vor unabgeschlossenen, sich in immer
überfordert wären (Subsidiaritätsprinzip).
weiteren Schritten vollziehenden Prozess der europäischen Eini-
gung, wie er sich heute vor allem in der EU manifestiert, als be-
„Europäische" Politik wird jedoch nicht nur in und sonders angemessen erscheinen.
von „Brüssel" gemacht, sondern auch und vor al-
Gabriele Clemens et al.,
lem in den europäischen Hauptstädten und auf den
Geschichte der europiiiscl!en /11 tegratio11, 2008, S. 22
unter ihnen angesiedelten polit ischen Entschei-
dungsebenen (Regionen, Länder, Städte und Ge-
meinden). Die EU wird deshalb in der Politikwis-
senschaft auch als „Mehrebenensystem" beschrie-
ben, in dem die einzelnen Entscheidungs- und Ver- Diese Norm en machen die Europäische Union zu
waltungsstruktu ren ganz eng miteinander ver- einer „Wertegemeinschaft". Möchte ein Staat in
flochten sind und in der die eine Ebene von der diesen „Club" aufgenommen werden, dann muss
Kooperationsbereitschaft der anderen abhä ngig ist. er nachweisen, dass diese Werte geachtet werden
Die EU hat viele Etappen der „Erweiterung" und u nd sich die politische Agenda an ihnen a usrich-
„Vertiefung" durchlaufen: So ist zum einen die tet. 1993 wurden im Vorfeld der Osterweiterung
Zahl der Mitgliedstaaten von ursprünglich sechs in den sogenannten Kopenhagener Kriterien zu-
auf 28 (Stand 2018) schrittweise gestiegen, wo- sätzlich Normen und Werte neben politischen und
durch sich die Gemeinschaft geografisch ausge- wirtschaftlichen Bedingungen festgeschrieben,
dehnt hat (,,Erweiterung"). Zum a nderen hat die um der EU beitreten zu können.
EU erst durch zahlreiche Reformen der Verträge
den heutigen Stand a n „Vertiefung" erreicht. Dazu gehören:

• die politische Stabilität eines Landes (z.B. auch


Die Erweiterung der Europäischen Union der erfolgreiche Kampf gegen Korruption);

Die EU ist prinzipiell offen für neue Mitglieder. Die • eine funktionsfähige Marktwirtschaft, um dem
Aufnahme ist jedoch an eine Reihe von Bedingun- Wettbewerbsdruck im europä ischen Binnen-
gen gebunden. Zu den Voraussetzungen, die ein markt gewachsen zu sein;
Staat erfüllen muss, wenn sein Antrag a uf Mit-
gliedschaft: erfolgreich sein soll, gehören die Aner- • die Fähigkeit von Politik und Verwaltung, die
kerrnung von „europäischen" Werten, wie z.B. die EU-Vorgaben umsetzen zu können und die Be-
reitschaft, die allgemeinen Ziele der EU zu teilen
• Achtung der Menschenrechte, sowie
• Freiheit,
• Demokratie, • eine Antwort auf die Frage, ob die Europäische
• Gleichheit und Union in der Lage ist, neue Mitglieder aufzuneh-
• Rechtsstaatlichkeit. men, ohne ihre Handlungsfähigkeit zu v e rlieren.
5 Die Europäische Union

Die Erweiterung der Europäischen Union

-
Gründer-
staaten
Belgien
Deutschland
Frankreich
Beitrittsjahr der EU-Mitgliedstaaten
Eli
Estland
Lettland
Litauen
Malta
Polen
Italien Slowakei
Luxemburg Slowenien
Niederlande Tschechien
Ungarn

-
Zypern
Dänemark
Großbritannien
Irland Rumänien
Bulgarien

Griechenland

-
Kroatien

Portugal
Spanien Beitritts-
kandidaten

EI
Finnland
Albanien
Mazedonien
Montenegro
Österreich
Serbien
Schweden
G ay , Türkei
© Globus 10147 Quelle: Europäische Kommission Stand 2015 Q MLT ........ f

Wie läuft der Beitrittsprozess ab?


Brexit - der Abschied
Großbritanniens von der EU
Bevor es zur Erweiterung ko mmt, muss ein au f-
wändiges Verfahren e rfolgreich abgeschlossen
Am 23. Juni 2016 führte die britische Regierung unter Premiermi-
sein, das mitunter viele Jahre dauern ka nn. In sei-
nister David Cameron eine Volksbefragung zum Verbleib Großbri-
nem Verlauf müssen die Kandidaten ein en lang-
tanniens in der EU durch. Eine knappe Mehrheit (51 ,89 Prozent)
sprach sich dafür aus, die Europäische Union zu verlassen. wierigen Prozess der „Europäisierung" hinter
sich bringen. Sie müssen dafür ihre Verwalt ung
Nach der Übergabe des offiziellen Austrittsgesuches am 29. März sowie das gesamte polit ische und wirtschaftliche
2017 durch die Nachfolgeregierung unter Theresa May trat die System umba uen, damit es an den Maßstäben der
zweijährige Frist in Kraft, innerhalb derer laut Art. 50 des Vertrags EU ausgeric htet werden kann. Die EU prüft stän-
über die Europäische Union die Details der Entflechtung festgelegt
dig, wie erfolgreich die Kandidaten in diesem
werden müssen. Wichtige Punkte der Gespräche sind die Höhe
Transformationsprozess sind und wo noch „Haus-
der finanziellen Verbindlichkeiten, die das Vereinigte Königreich
gegenüber der Europäischen Union noch zu begleichen hat, sowie aufgaben" zu erledigen sind. Die EU unterstützt
die Aufenthaltsrechte von EU-Bürgern in Großbritannien bzw. bri- die Aspiranten j edoch a uch durch technische und
tischer Staatsbürger in anderen Ländern der EU. Verhandlungs- insbesondere fi nanzielle Hilfe, um die Reformen
gegenstand ist darüber hinaus der Grenzverkehr zwischen der zu begleiten.
Republik Irland und Nordirland.
Zwisch en dem Beit rittsantrag und der tatsächli-
Der Begriff „ Brexit" wurde von den Medien geschaffen und setzt
chen Aufnahme in die EU können viele Jahre ver-
sich zusammen aus „ British" und „ exit" (engl., Austritt); er wurde
in Analogie zum Begriff „Grexit" gebildet, also dem möglichen gehen: Bulgarien und Rumänien hatte n beide
Austritt Griechenlands aus der Eurozone(• Kap. 5.3.1). 1995 ihren Antrag gestellt und wurden erst zum
Jahresbeginn 2007 in die EU aufgenommen. Beide
Staaten waren in ihrem politischen und ökonomi-
5 .1 Die Entwicklung der europäischen Int egration I

sehen Transformationsprozess sehr v iel weniger Vertiefung in der Europäischen Union


erfolg reich, als etwa die baltischen Staaten Est-
land, Lettland und Litauen, die bereits im Mai Ehe die EU ihre heutige Gestalt erreicht hat, durch-
2004 zusammen mit sieben anderen Staaten a uf- lief sie neben vielen Etappen der „Erweiterung"
genommen wurden. auch mehrere Runden der „Vertiefung". Damit ist
gemeint, dass durch Reformen der Verträge neue
Aufgaben und Kompetenzen übertragen sowie
Die Türkei - der ewige Beitrittsprozess? neue Institutionen innerhalb der EU geschaffen
wurden bzw. bestehende Organe mehr Mitwir-
Einen besonderen Fall stellt die Türkei dar: Sie kungs- oder Kontrollrechte bekommen haben.
hatte bereits 1987 einen Antrag auf Mitgliedschaft
in der Gemeinschaft gestellt. Aufgrund der politi- Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen
schen und wirtschaftlichen Situation der Türkei Erweiterung und Vertiefung: Es liegt auf der
galt eine Aufnahme in die Gemeinschaft damals Hand, dass eine Staatengemeinschaft ihre politi-
als illusorisch. Nach entsprechenden Reformen schen Spielregeln und ihre Organisation anpassen
seit den 2000er Jahren hat die EU 2005 Beitritts- muss, wenn sie sich vergrößert (• Kap. 5.1.2). Im-
gespräche mit der Türkei aufgenommen. mer wieder im Gespräch ist eine Verkleinerung der
Europäischen Kommission oder auch die Verein-
Diese Gespräche haben aber bislang kaum Ergeb- fachung der Entscheidungsprozesse in den EU-Or-
nisse hervorgebracht und stecken angesichts der ganen, zum Beispiel durch die Möglichkeit von
jün geren politischen Entwicklungen in der Türkei Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat, dem
mit weitreichenden Einschränkungen der Demo- Vertretungsorgan der Mitgliedstaaten.
kratie und Rechtsstaatlichkeit fest.

Aufgaben

1. Geben Sie in eigenen Worten die Idee der europäischen Integration wieder.

2. Erklären Sie, welche Herausforderungen durch das europäische Mehrebenensystem bei der Entscheidungs-
findung entstehen.

3. Gehen Sie auf Probleme ein, die sich aus der Erweiterung für die EU ergeben können und entwickeln Sie
Lösungsvorschläge. Beziehen Sie auch die Vertiefung der Europäischen Union in Ihre Überlegungen mit ein.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Geht die europäische Idee verloren?

,,In Europa und anderen Teilen der Welt zeichnet sich seit einigen Jahren eine verstö-
rende Entwicklung ab. [...]
Es ist die unerwartete Rückkehr des Nationalismus, genauer: die erschreckende Aus-
breitung nationaler Denkmuster in Politik und Gesellschaft, die Häufung nationalisti-
s scher und ausländerfeindlicher Exzesse in Deutschland und anderswo, das Auftreten
von Protestparteien mit unverhohlen rechtspopulistischer und rassistischer Program-
matik. [...]
Auch auf der Ebene des Denkens und Sprechens lassen sich gerade im Alltag auffal-
lende Veränderungen beobachten. Politische Debatten beschränken sich wieder zu-
10 nehmend auf nationale Bezugsräume und weniger auf den ganzen Kontinent Europa;

scheinbar längst vergessene Klischees, nationale Vorurteile und Stereotype tauchen


wieder auf und vergiften das Zusammenleben der Völker. [...]
Der neue Nationalismus, der heute vielerorts in Europa sein Haupt erhebt, ist im Grun-
de der alte Nationalismus, den die Europäer aus ihrer Geschichte zu Genüge kennen:
15 Feindbilder sind für ihn unverzichtbar. Eine bestürzende Intoleranz gegenüber ,den

Anderen', seien sie nun Minderheiten oder Flüchtlinge oder andere Nationen, und ein
kruder Rassismus, für den etwa die Hautfarbe ein zentrales Kriterium ist, gehören zum
Kernbestand der mit ihm verbundenen Überzeugungen. Er will die Völker Europas
wieder spalten, nicht versöhnen und einen. Die scheinbar so eingängige Unterschei-
20 dung zwischen ,wir' und ,die Anderen', die für alles Mögliche als Sündenböcke her-

halten müssen, ist dabei nur auf den ersten Blick eindeutig. Denn die naheliegende
Frage: Wer sind eigentlich ,wir'?, bleibt im Unklaren und Ungefähren. [... ]
Mit der [Europäischen] Union verbindet die überwältigende Mehrheit der Europäer
ungeachtet aller Krisen, Rückschläge, berechtigter Skepsis und Kritik immer noch die
25 Hoffnung auf einen prosperierenden und friedlichen Kontinent, in dem sich der libera-

le Nationalismus erledigt und der extreme Nationalismus keine Chance hat.[... ]


Die Feststellung Jean-Claude Junckers, des Präsidenten der EU-Kommission, ist
wahrscheinlich zutreffend: Die Menschen wollen keine Vereinigten Staaten von Euro-
pa. Aber wollen sie, dass sich das integrierende Europa zerbricht und damit die er-
30 staunlichen Erfolge von fast sieben Jahrzehnten mühseliger Arbeit zum Nutzen der

Menschen zunichte gemacht werden? Ein Europa, in dem die nationalen Egoismen,
der Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit wieder das Sagen haben, will sicher kein
mit Vernunft begabter Mensch. [ .. .] Offen bliebe beim Zerbrechen der Union zudem
die Frage, was an die Stelle eines miteinander kooperierenden und solidarisch han-
35 delnden Europas treten sollte. [ ... ]

Stimmen, die leichtfertig eine Auflösung der Europäischen Union fordern oder einer
eigenständigen Entwicklung der Euro-Zone das Wort reden, sind noch die Ausnahme.
Wer von Auflösung der Union redet, muss dabei auch deutlich sagen, was an ihre
Stelle treten soll. Die Renaissance untereinander rivalisierender Nationalstaaten? Na-
40 tionale Abschottung und die hemmungslose Vertretung nationaler Interessen? Die frei-

oder widerwillige Akzeptanz amerikanischer oder russischer Vorherrschaft?"

Peter A lter, Nationalismus. Ein Essay über Europa, 2016, S. 7-9 und 170 - 174

M 2 Heimat ist die schönste Utopie

„Ist die Flucht zurück in den Nationalstaat, in das Kleine und überschaubare, nicht ein
natürlicher Reflex, wenn das Große für den Einzelnen nicht mehr nachvollziehbar und
durchschaubar ist?
KOMPETENZEN ANWENDEN I

Die Welt, das Große und Ganze, war für den Einzelnen doch nie durchschaubar, nicht
einmal im Neolithikum. Deswegen bastelt sich jeder ein Weltbild, in dem er sich aus-
5 kennt und nach Hause findet. Der Nationalismus ist so ein primitiver Navigator: Man
taumelt durch das Leben, eine martialische Stimme sagt: ,,Bitte wenden und dann
rechts abbiegen!" - und man denkt, endlich kenne ich mich aus. Tatsächlich ist „Na-
tion" genauso komplex und schwer durchschaubar wie jedes andere Modell der ge-
sellschaftlichen und politischen Organisation von Menschen. Der Unterschied ist nur,
10 dass wir die historische Erfahrung haben und beherzigen müssten, dass die Nation
kriminelle Energie produziert, weil sie Gemeinschaft nicht ohne innere und äußere
Feinde oder Konkurrenten herstellen kann. Das Europäische Projekt war die Konse-
quenz, die aus dieser Erfahrung gezogen wurde. Die Sehnsucht nach Rückkehr in
wieder souveräne Nationalstaaten ist daher kein natürlicher, sondern ein geistloser und
15 geschichtsvergessener Reflex. Nun ist aber Geist, beziehungsweise Bewusstsein, Be-
standteil der menschlichen Natur. Zumindest als Anspruch ...

Führt die Zustimmung zu Nation wirklich automatisch zu Nationalismus? Können wir


die Nation und alles, was daran anknüpft, tatsächlich nur mit dem Blick auf die Irrwege
und verheerenden Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts sehen?
20 Natürlich können wir es auch anders sehen. Das tun ja genug Menschen. Es spricht
nichts dagegen - außer eben unsere historischen Erfahrungen. Kann es einen
Schweinsbraten ohne Schwein geben? Egal , wie artgerecht Sie ein Schwein halten,
am Ende ist es ein Schweinsbraten, je artgerechter, umso mehr! So glücklich und
friedlich kann keine Nation sein, ohne dass irgendwann der Nationalismus auf dem
25 Tisch ist. Vor allem in Zeiten ökonomischer Krisen entwickeln Nationen aggressive
Dynamiken. Sei kündigen Bündnisse auf, revidieren internationalen Verträge oder set-
zen sie außer Kraft - wir sehen das heute besonders deutlich in der Politik von Groß-
britannien. Wir sehen das auch in den geistlosen Ressentiments, die es heute in
Deutschland gegenüber „den Griechen" gibt und umgekehrt. Und am Ende der Dyna-
30 mik, wenn so genannte „nationale Interessen" nicht mehr politisch verteidigt werden
können, versucht man, sie mit Gewalt durchzusetzen. Die historische Erfahrung ist,
dass dies nie nachhaltig glückt, aber auf jeden Fall größtes Elend produziert [...].
Und in der heutigen, zunehmend vernetzten und verschränkten globalen Situation ist
die Vorstellung, dass eine Nation die Mehrheitsinteressen ihrer Population gegen an-
35 dere durchsetzen und[... ] ihr „Glück" finden kann, völlig absurd. Unter den gegebenen
Bedingungen, in denen wir uns organisieren und unser Leben machen müssen, ge-
schieht alles transnational: die Wertschöpfung, die Finanzströme, die Ökologie, die
Kommunikation, die Kultur. Was soll da der Nationalstaat noch machen?[... ]
Auch wenn bei „Schönwetter" der Nationalismus heiter als Patriiotismus oder als Hei-
40 matliebe erscheint, Nationalismus ist im Licht der Geschichte nicht mehr unschuldig
und wird es nie mehr sein. Er ist politischer Missbrauch von Heimatliebe."

Robert Menasse, geboren I 954, ist österreich ischer Essayist und Romanschriftsteller (.,Die Hauptstadt").

Robert Menasse, Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa, 2014, S. I 62f

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie mögliche Ursachen für die „unerwartete Rückkehr des Nationalismus" in
Europa (M 1).

2. Erläutern Sie, warum Robert Menasse ein Problem mit der Flucht in den Nationalstaat hat
(M 2).

3. Diskutieren Sie die These von Peter Alter „Wer von Auflösung der Union redet, muss dabei
auch deutlich sagen, was an ihre Stelle treten soll" vor dem Hintergrund des Brexit.
5.1 .2 Der lange Weg zur Europäischen Union

Leitfragen Wie sind die Europäische Welche historischen Gründe und Welche Merkmale kennzeich-
Union bzw. ihre Vorläufer- Motive gibt es für den europäischen nen die wichtigsten Etappen
organisationen entstanden? Einigungsprozess? des Integrationsprozesses?

Was treibt europäische Integration an?

Neben der Friedensidee gab es weitere Gründe und Gemeinschaft a us der Hand zu nehmen und sie in
Motive im europäischen Integrationsprozess. Die- eine gemeinsame Verwaltung zu übertragen, um
se anderen Motive wa ren dadurch da uerhaft zu verhindern, dass die euro-
päische n Nachbarn gegeneinander in den Krieg
• ökonomisch, ziehen. Da sie über die für die Rüstungsprodu kti-
• bündnispolitisch, on wicht igen Güter nicht mehr allein verfügen
• deutschlandpolitisch und ko nnten, sollte Krieg in Westeuropa un möglich
• europa politisch werde n.

begründet. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft


(EWG)
Im „Kalten Krieg", also die sich schon rasch nach
Ende des Zweiten Weltkriegs herausbildende Aus dieser Gemeinschaft, der nur die Verwaltung
Blockkonfrontation zwischen Ost und West, sollte von Kohle und Stahl übertragen wurde, ist in ei-
den freie n westeuropäischen Staaten die Mitglied- nem nächsten Schritt die Europäische Wirt-
schaft in de r NATO und der Europäischen Ge- schaftsgemeinschaft EWG hervo rgegangen. Wie
meinschaft, die die USA von Anfang an massiv der Name schon sagt, war dieses Proj ekt sehr viel
unterstützten, Sicherheit gebe n. ambitionierter und umfasste neben Kohle und
Stahl auch andere Wirtschaftsbereiche. Eines der
Zudem war für die Gründergeneration die feste zentralen Ziele war die Abschaffu ng der Zölle
Einbindung der jungen Bundesrepublik Deutsch- zwischen den Mitgliedstaaten und die Errichtung
land in die westlichen Bündnisstrukture n eine eines sogenannte n „Binnenmarktes". Bevor dieses
Rückversicherung gegen eine Wiederkehr deut- Proj ekt j edoch Realität wurde, sollte es noch bis
scher Expansionspolitik. Vor allem Frankreich in die Mitte der 1980er Jahre dauern - aber als
hatte daran ein besonderes Interesse, da es seit Ziel war es von Anfang an vorgesehen .
1870 dreimal im Krieg mit Deutschland gestanden
hatte. Von Anfang an sta nd darum auch die Im Jah r 1957 wu rden die Römischen Verträge un-
deutsch- französische Aussöhnung im Mittel- terzeichnet; damit waren die Eu ropäische Wirt-
punkt der europäischen Einigung. schaftsgemeinschaft (EWG) und die Euro päische
Atomgemeinschaft (EURATOM) geschaffen. Auf
dieser vertraglichen Grundlage verfolgte die Eu-
Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und ro päische Gemeinschaft vo n nun a n ihre Ziele.
Stahl (EGKS) sollte Krieg verhindern Der Vertrag zur Gründung der EWG formulierte
das Ziel der Gemeinschaft in Artikel 2 so :
Zu den Grü nderstaaten der Europäischen Gemein-
schaft für Kohle und Stahl, die a uch als „Montan- ,.Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Er-
union" bezeichnet wird, gehörten die Bundesre- richtu ng eines Gemeinsamen Marktes und die
publik Deutschland, Fra nkreich und Italie n sowie schrittweise Annäherung der Wi rtschaftspolit ik
Belgien, die Niede rlande und Luxemburg. der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwick-
lung d es Wirtschaftslebens innerhalb der Gemein-
Die Idee der Gründervät er war es, die Produkt ion schaft, eine beständige und ausgewogene Wirt-
und Verwaltung de r für die Rüstung wichtigen schaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine
Be reiche Kohle und Stahl de n Mitgliedst aaten der beschleunigte Hebung der Lebens haltung und
5.1 Die Entwicklung der europäischen Integration I

engere Beziehungen zwischen den Staaten zu för- Meilensteine europäischer Integration


dern, die in dieser Gemeinschaft zusammenge-
schlossen sind." 2017 Antrag der brit. Regierung zum
EU-Austritt (,,Brexit") eingereicht
2015 Erster EU-,,Migrationsgipfel"
Damit wird deutlich, dass mit diesem Vertrag zwar
eine Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, 2012 EU erhält den Friedensnobelpreis
das Projekt j edoch über rein ökonomische Ziele 2011 EU-,,Fiskalpakt" (,,Eurokrise")
hinausgehen sollte. 2009 Vertrag von Lissabon
2005 Scheitern des Verfassungsvertrags
2004 EU-Verfassungsvertrag in Rom
Die Einheitliche Europäische Akte (EEA)
unterzeichnet
2003 Vertrag von Nizza tritt in Kraft
In den 1980er Jahren sahen die Europäer sich von
2003 EU-Verfassungsvertrag liegt vor
der Konkurrenz aus Japan und den USA heraus-
gefordert und kamen zu der Überzeugung, dass 2002 EU-Verfassungskonvent
der japanische bzw. amerikanische Vorsprung nur 2002 Einführung des Euro als Bargeld
durch gemeinsame europäische Anstrengungen 1999 Vertrag von Amsterdam
auf dem Gebiet von Wirtschaft und Technologie 1995 Abschaffung der Grenzkontrollen
einzuholen sei. Nach mehreren Krisen in den zwischen den „Schengen"-Staaten
1960er und 1970er Jahren, die die Gemeinschaft 1993 Vertrag von Maastricht
gelähmt hatten, schafften es die Europäer erst
1987 Einheitliche Europäische Akte
Mitte der 1980er Jahre mit der „Einheitlichen
1979 Erste Direktwahl zum
Europäischen Akte" der Gemeinschaft neue Auf-
Europäischen Parlament
ga ben und Kompetenzen zu übertragen. Zu den
1968 Zollunion
Themenbereichen, in denen die Gemeinschaft zu-
1965-66 „Politik des leeren Stuhls"
sammen mit den Mitgliedstaaten nun tätig werden
(Frankreich boykottiert)
kon nte, gehörten Umwelt, Forschung und Tech-
1958 Römische Verträge (EWG und
nologie, Reg ionalpolitik und eine engere Abstim- Euratom) treten in Kraft
mung auf dem Gebiet der Außenpolitik.
1957 Unterzeichnung der
Römischen Verträge

Wie hat sich die europäische Integration nach 1952 EGKS: monosektorale Integration
dem Kalten Krieg verändert? 1950 Plan für EGKS von Robert Schuman

Das Ende des Ost-West-Konfliktes und des „Kalten


Krieges", der den Einigungsprozess und den Zu- ehemaligen „Ostblock" -Staaten ermöglicht wer-
sammenhalt der Westeuropäer geprägt hatte, ver- den, nachdem sie Jahrzehnte jenseits des soge-
änderte die weit- und europapolitische Lage nannten „Eisernen Vorhangs" unter der Vorherr-
grundlegend und ermöglichte - n eben der 1990 schaft der Sowjetunion eine ganz andere politische
vollzogenen deutschen Einheit - erste Schritte in und wirtschaftliche Entwicklung in Richtung Ein-
Richtung einer europäischen „Wiedervereini- parteienherrschaft und sozialistischer Planwirt-
gung". Nun traten die Europäer in einen fast per- schaft erfahren hatten.
manenten Reformprozess ein, der - n ach einigen
Rückschlägen und Umwegen - erst mit dem In- Der Vertrag von Maastricht, der zwischen 1991
krafttreten des a ktuell gültigen Vertrags von Lis- und 1992 ausgehandelt wurde und 1993 in Kraft
sabon, der 2009 in Kraft getreten ist, zu einem trat, war eine Antwort auf das Ende des Kalten
vorläufigen Ende ka m: Krieges und eine Chance, die deutsche Einheit mit
der europäischen Vereinigung zu verknüpfen.
Der Fall der Berliner Mauer am 9. November Wichtige Ziele des neuen EU-Vertrags waren die
1989 war das Sinnbild für ein neues und freies Stärkung der Handlungsfähigkeit und der demo-
Europa. Mit dem Ende der Blockkonfrontation kratischen Legitimation der EU; letztere sollte
sollte zudem auch die „Rückkehr nach Europa" der durch die Ausweitung der Kontroll- und Mitwir-
5 D ie Europ äische Union

kungsrechte des Europäisch en Parlaments im Ge- lamentsbeschluss bzw. durch Volksabstimmung


setzgebungsprozess, die Schaffung einer EU-Uni- (Referendum) in allen Mitgliedstaaten und durch
onsbürgerschaft und das neue Amt eines das Europäische Parlament.
Europäischen Bürgerbeauftragten erreicht werden.

In den J ahren da nach unterna hm die Europäische Der Weg nach Lissabon
Union mehrere Anläufe, um „fit" zu werden für
die näc hste Erweiterungsrunde und bereit zu sein Die neuen EU-Verträge, die die ursprünglichen
für neue Aufgaben. Institutionelle Reformen und Gründungsverträge erweiterten, sfod benannt
die „Europäisierung" weiterer Politikbereich e nach den Städten, in denen die Staats- und Regie-
standen im Mittelpunkt de r EU-Reformagenda. run gschefs sie unterzeichnet haben. Nach dem
Konkret betraf dies Vertrag vo n Maastricht ( 1991) fo lgte der Vertrag
von Amsterdam ( 1997 unterzeichnet), dann der
• die Justiz- und Innenpolitik (Visa-, Asyl- und Vertrag von Nizza (2000) und schließlich der „Ver-
Einwa nderungspolitik, polizeiliche Kooperation), trag über eine Verfassung für Eu ropa" (2003), der
vom Verfassungskonvent in Brüssel erarbeitet und
• die Umwelt-, Sozial- und Verbraucherpolitik da nn später von den Staats- und Regierungschefs
(hohes Schutzniveau; Protokoll über die Sozial- unterzeichnet wurde. Dieser Verfassungsvertrag
politik; Angleichung der Rechtsvorschriften) ist j edoch 2005 in Fra nkreich und in den Nieder-
sowie landen nach Referenden gescheitert. Eine knappe
Mehrheit der Bürger, die sich an der Abstimmung
• die Außen- und Sicherheitspolitik (Friedenssi- beteiligt haben, lehnte ihn ab.
cherung; weltweite Förderung von Demokratie
und Menschenrechten). Nach einer zweijährigen Phase der Unsicherheit
hatten die EU-Regierungen dann 2007 einen neu-
Jede Ausweitung der Kompetenzen der Europäi- en Anlauf genommen und die Inhalte des Verfas-
schen Union und jede Ä nderung der Entschei- sungsvertrags weitgehend in den Vertrag von
dungsverfahren (etwa die Erweiterung der Kont- Lissabon überführt. Dieser neue Vertrag wurde
rollrechte des Europäischen Parlaments) mussten von den europäischen Staats- und Regierungs-
durch eine Änderung der bestehenden EU-Verträge chefs in der portugiesischen Hauptstadt im De-
rechtlich verankert werden. J ede Vertragsä nderung zembe r 2007 unterzeichnet und trat 2009 in Kraft.
erforderte zudem eine Ratifizierung, also die völ- Dieser Text stellt bis heute die rechtliche Grund-
kerrechtlich verbindliche Zustimmung durch Par- lage der Europäischen Union dar.

Aufgaben
1. Beschreiben Sie den Stellenwert der deutsch-französischen Freundschaft in der Entwicklung der europäi-
schen Integration.

2. Entwerfen Sie eine Pressemitteilung für das Nobelkomitee, in der die Verleihung des Friedensnobelpreises an
die EU begründet wird. Recherchieren (• Methodenglossar) Sie die Original-Version der Begründung aus dem
Jahr 2012 im Internet und vergleichen Sie diesen Text mit Ihren Arbeitsergebnissen.

3 . .. Die Geschichte der EU ist die Geschichte ihrer Krisen." Nehmen Sie Stellung zu dieser Aussage.
KOMPETENZEN ANWENDEN I

M 1 Die Flagge der EU - das bekannteste Symbol

Auf den ersten Blick könnte man glauben, dass die Sterne die Mitgliedstaaten der
Europäischen Union symbolisieren. Aber das ist ein Trugschluss . Seit die Mitgliedstaa-
ten die Flagge 1985 zum offiziellen Symbol gemacht haben, hat sich die Zahl der
Sterne nicht geändert. Es waren schon immer zwölf goldene Sterne auf blauem Hin-
s tergrund, und es werden auch immer zwölf Sterne bleiben.
Der Kreis steht für Harmonie und Solidarität zwischen den europäischen Völkern. Die
Zahl zwölf ist traditionell das Symbol der Vollkommenheit und Einheit. So gibt es zwölf
Sternzeichen, ein Jahr hat zwölf Monate, und auf dem Ziffernblatt von Uhren sind zwölf
Stunden abgebildet. (...]
10 Am 29. Mai 1986 wurde die Flagge zum ersten Mal vor dem Kommissionsgebäude

gehisst - neben den Flaggen der EU-Mitgliedsländer. Heute wehen vor dem Sitz der
Kommission nur noch die EU-Flaggen. [ ... ] Sowohl die Flagge als auch die Hymne
[,,Ode an die Freude" aus Beethovens 9. Sinfonie] sind allerdings nicht als offizielle
Symbole im EU-Vertrag verankert. Einigen Mitgliedstaaten - allen voran Großbritanni-
1s en -wäre dies ein zu großer Schritt in Richtung ,Vereinigte Staaten von Europa' gewe-
sen. An der Verwendung in der Praxis ändert dies allerdings nichts."

Ruth Reichenstein, Die Europäische Union. Die 101 wichtigsten Fragen, 2016, S. 37J

M 2 Die Fahne der EU nach dem Brexit?

Aufgaben

1. Erläutern Sie, für welche Symbolik die Flagge der EU steht (M 1).

2. Interpretieren Sie M 1 vor dem Hintergrund des Austritts Großbritanniens aus der EU.

3. Erörtern Sie vor dem Hintergrund von M 1 und M 2, inwiefern die Gefahr besteht, dass die
,,europäische Idee verloren gehen" könnte.
Die Europäische Union
als Mehrebenensystem
5.2."1 Organe der Europäischen Union

Leitfragen Welche sind die institutionel- Welche Organe existieren Welchen Einfluss haben
len Besonderheiten der EU? innerhalb der EU? die einzelnen Organe?

Wer macht was in der EU?

Die Europäische Union und ihre Institutionen sind Das EU-System hat sich in den mehr als 60 Jahren
nach dem Prinzip der Gewaltenteilung (,,checks seit der Gründung der Europäischen Wirtschafts-
and balances") a ufgebaut. Die typische Form der gemeinschaft verändert. Die institutionelle
Verschränkung von Exekutive, Legislative und Grundstruktur blieb j edoch bis heute weitgehend
Judikative folgt jedoch einem eigenen Muster im erhalten. Was sich geändert hat, ist die - im Ver-
Gegensatz zu den in Nationalstaaten üblichen gleich zu den Anfangszeiten - deutlich gewach-
Modellen. sene Rolle des Europäischen Parlaments als Mit-
gestalter und Kontrolleur der EU-Politik und die
Das Besondere an der EU ist, dass die drei Teilge- im Zuge der letzten Krisen (> Kap. 5.3.1) heraus-
walten nicht jeweils nur einem Organ zugewiesen gehobene Bedeutung, die dem Europäischen Rat,
sind, sondern dass sie auf mehrere Institutionen, also der Ve rsammlung der Staats- und Regie-
einerseits auf der Ebene der Mitgliedstaaten und rungschefs der 28 EU-Mitgliedstaaten (Stand
andererseits auf der EU-Ebene, angesiedelt sind. 2018) zukommt.

Die EU auf einen Blick ~ "'!i ~


Europäischer Rat Rat der EU (Ministerrat)
* EU-Kommission

, ,~••••iiiii•••,
28 Staats- und Fachminister aus den 28 Kommissare
Regierungschefs 28 M itgliedsländern (ein unabhängiger Kommissar
(z.B. Außen- oder Agrarminister) je Mitgliedsland)

,~. . ,,,,u„u.a.,, ... . . ,,,,.1.,u.a.,, ...


gibt allgemeine
politische Richtung vor
••••iiHii••• schlägt Gesetze vor

Weitere Einrichtungen und


G:sc:/z~~1r
beschließen gemeinsam Gesetze und EU-Haushalt
Organe der EU (Auswahl)

Gerichtshof der
Europa1schen Union
wacht über
Verträge t
Europäisches Parlament ~ gt, ,oo,,,,,••,
fordert zum Rücktritt auf,
mehr als 750 Abgeordnete stellt Misstrauensantrag
Europaischer kontrolliert
~ aus den 28 Mitgliedsländern

--*4
Rechnungshof Ausgaben

Europ. Wirtschafts-
und Sozialausschuss
beratende
Aufgaben
~
~ -4_ - .
- .t._ _:::- _:._
~ --- J.
~ --·

Ausschuss der beratende


Regionen der EU Aufgaben

sorgt für Stabilität


Europa1sche
Zentralbank des Finanzsystems
und der Preise
5 .2 Die Europäische Union als Mehrebenensystem I

Welche Rolle spielt das Europäische


Parlament (EP)?

Auf den ersten Blick e rscheint das Europäische Regieru ngen aus den Mitgliedstaaten versammelt)
Parlame nt als ein ganz normales Parlament und gehört das EP zur Legislative der EU.
unterscheidet sich kaum vom Deutschen Bu ndes-
tag in Berlin oder der Nationalversammlung in Das Europäische Parlament verfügt neben dem
Paris. Im Eu ropäischen Parlament - abgekürzt EP Gesetzgebun gsrecht auch über das Ha ushalts-
- sitzen direkt gewählte Abgeordnete aus recht. Das bedeutet, dass oh ne die Zustim mung
des Parlaments weder der j ährliche EU-Ha ushalt,
• allen Mitgliedstaaten der EU, noch der au f mehrere Jahre a ngelegte Finanzrah-
• die nach politischen Frakt ionen getrennt sind, men verabschiedet werden kann. Durch sein
• die in Ausschüssen arbeiten und Haushaltsrecht ka n n das EP indirekt die EU-Poli-
• im Plenum über Gesetzesvorschläge abstimmen. tik beeinflussen : Es hat in der Vergangenheit im-
mer wieder die Ko mmission und die Mitgliedstaa-
Das Besondere a m EP ist, dass es ein „multinatio- te n dazu bringen können, durch eine Umverteilung
nales" Parlament ist und dass es „mul tilingual" der Mittel im Haushalt politische Akzente zu set-
arbeit et, denn die Abgeordneten kommunizieren zen. Das Haushaltsrecht w ird oft als „Königs-
übe r Dolmetscher miteinander in den 24 Amts- recht" der Parlamente bezeich net, da Politik
sprachen der EU. meist a uf finanzielle Mittel angewiesen ist, um
ihre Ziele zu erreichen.
Eine besondere Rolle, die das Selbstverständnis
des Eu ropäischen Parlaments seit j e her prägt, ist
die des Ideengebers und Motors in europäischen Welche Aufgaben hat das Europäische
Refo rm- und Verfassungsdebatte n. So hat bei- Parlament?
spielsweise 1984 das Europäische Parlament einen
nach dem italienischen Europaabgeordneten AJti- Wicht ig fü r die Arbeit des Eu ropäischen Parla-
ero Spinelli benan nten und von ihm maßgeblich ments sind die Kontrolle der EU-Kommission und
gep rägten Entwurf (der sogenannte „Spinelli-Ent- insbesondere seine zentrale Rolle in der EU-Ge-
wurf') für eine „Verfassung für eine Europäische setzgebung, die in den letzten Jahrzeh nten schritt-
Unio n" (der Begriff war damals neu) vorgelegt. weise a usgebaut wo rden ist. Das Pa rlament hat
Dieser Text hatte eine Reihe von Ideen präsent iert, darüber hina us das Recht, die Kommission in ihrer
die damals u topisch erschienen, j edoch J ahrzehn- Gesamtheit, also nicht nu r einzelne Kommissare,
te später t atsächlich in den EU-Vertrag Eingang die sich Fehlverhalten haben zuschulden kommen
gefu nden haben ; dazu zählte etwa die Idee einer lassen, zum Rückt ritt zu zwingen (Misstrauensvo-
„Unio nsbürgerschaft", die Schaffung einer echten tum). Auch bei der Wahl des Präsidenten der
Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik so- EU- Kommission spielt das Europäische Parlament
wie ein eu ropäischer Grundrechte-Katalog. inzwische n eine deutlich größere Rolle als früher.
Das Parlament kann Untersuchungsausschüsse
einsetzen, parlamenta rische Anfragen stel]en und
Welche Kompetenzen liegen beim Europäi- spielt darübe r hinaus eine wichtige Rolle in der
schen Parlament? Handelspolitik der EU, also de n Außenwirtschafts-
beziehungen mit Drittstaaten; ohne die Zustim-
Das Europäische Parlament ist das einzige direkt mung des Eu ropäischen Parlaments können keine
gewählte Organ der EU; diese Legitimation weist Handelsabkommen in Kraft treten.
ihm einen besonde ren Platz im Gesetzgebungs-
prozess der Eu ropäischen Union zu. Viele Ko nt-
roll- u nd Mitwirkungsrechte hat das Parlament Wie wird das Europäische Parlament gewählt?
aber erst im Laufe der Zeit bekommen ; vor allem
seit den J990er Jahren ist sein politisches Gewicht Das Europäische Parlament wird alle fünf Jahre
meh r und mehr gewachsen (>Kap. 5.1 .2). Zusam- von den Bürgerin nen und Bürgern in den EU- Mit-
men mit dem „Rat" (dort sind die Vertreter der gliedstaaten gewäh lt ; die Wahl findet in der Regel
5 Die Europäische Union

Befugnisse und Aufgaben des Europäischen Parlaments

! Haushaltsplan beraten und ändern 1

lß.ommission Entlastung erteilen 1


Kommission und Hohen Vertreter für Außen-
und Sicherheitspolitik billigen oder ablehnen
{8äushaltsplan zustimmen 1

1Haushaltsplan ablehnen 1

~ aben überwachen 1
Beric~üfen
ffinanzkontrolle 1

Mitarbeit und Mitentscheidung


Ge nach Politikbereich und Verfahren)

Bundeszentrale für politische Bildung, 1vww.bpb.de, 2 010

im Juni des Wahlj ahres an d en traditionellen na- Wie hoch ist Beteiligung an den Wahlen
tionalen Wahltagen statt: in Deutschland also an zum Europäischen Parlament?
einem Sonnt ag, in einzelnen EU-Staaten entspre-
chend werktags. Die Beteiligung an den Wahlen zum Europäische n
Pa rlament ist in den letzten Jahren fast stetig ge-
Großbrita nnien wird wegen des Referendums vom sunken. Bei der Wa hl 201 4 haben im EU- Durch-
Juni 2016, in dem sich eine knappe Mehrheit de r schnitt nur 42,6 0/o aller Wählerinnen und Wähler
Wähler für den Austritt des La ndes a us der EU ihr Wa hlrecht wahrgenommen (bei Europawahle n
(,,Brex it") ausgesprochen h atte (> Kap. 5.1 .1 ), an sind EU-Bürger auch a ußerhalb ihres Heimatstaa-
den nächsten Wa hlen zum Europäischen Pa rla- tes wahlberechtigt, wenn sie in dem a ndere n Land
me nt im Mai 201 9 nicht mehr teilnehmen. zum Beispiel dauerhaft wohnen). Bei de n ersten
Direktwahlen im J a hr 1979 lag die Wahlbeteili-
Die Organisation der Wahle n zum Europäischen gung mit knapp 62 °10 noch deutlich höher.
Parla ment ist nation al unterschiedlic h geregelt: In
einigen Staaten g ibt es eine Prozenthürde (z.B. Vergleicht man die Zahlen in den einzelnen Mit-
5 0/o), in an deren j edoch nicht. In der Bundesrepu- gliedstaaten, so zeigt sich eine sehr große Band-
blik Deutschla nd gab es bei der Europawahl 2014 breite: Wä hrend in Malta die Wahlbeteiligu ng mit
- im Unterschied zu den Bundestagswahlen - kei- 74,8 0/o im J a hr 201 4 im EU-Vergleich realtiv hoch
ne Fünf-Prozent- Klausel; die Folge davo n war, wa r, bildete die Slowakische Republik mit 13,0 0/o
dass bei der Wahl 201 4 auch kleine Parteien wie das Schlusslicht. In Deutschla nd lag die Beteili-
die NPD oder die Satirepartei „Die Partei" Vertreter gung mit 48, 1 °10 übe r dem EU- Durc hschnitt
in das Europäische Parlament entsenden konnten, (42,60/o). Die Unterschiede in der Höhe der Wa hl-
die beispielsweise bei Bundestags- oder La ndtags- beteiligung erklären sich teilweise a uch dadurch,
wahlen regelmäßig an de r Fünfprozenthürde dass in einzelnen EU- Mitgliedstaaten eine Wahl-
scheitern. pflicht herrscht.
5 .2 Die Europäische Union als Mehrebenensystem I

Wer sitzt im Europäischen Parlament?

Dem Europäischen Parlament gehören 751 Abge-


Das ABC
ordnete aus den 28 Mitgliedstaaten (Stand 2018)
des Europäischen Parlaments
an; insgesamt sind im Parlament 206 u nterschied- 8. Wahlperiode
liche nationale politische Parteien vertreten, die
sich zu acht Fraktionen zusammengeschlossen
751
haben (Stand Februar 2018). Die EU-Abgeordneten
werden für die Dauer von
Die Abgeordneten im Parlament sitzen nicht nach / fünf Jahren in allgemeinen ~
Ländern getrennt, sondern gemäß ihrer parteipo- 1 unmittelbaren Wahlen gewählt. 14
litischen Ausrichtung in den einzelnen Fraktio- Präsident Vizepräsidenten
nen. Traditionell arbeiten die beiden größten
Fraktionen, in denen die christdemokratischen
und konservativen bzw. die sozialdemokratischen EU-Abgeordnete nach Fraktion
u nd sozialistischen Parteien versammelt sind, oft Stand: 02/2018
ergänzt durch die Grü nen und die Liberalen, als
„Große Koal ition" zusammen. Die Fraktionen sind
(in Klammern die Zahl der Sitze):

• Die größte Fraktion ist die Europäische Volks-


partei (EVP) mit 217 Abgeo rdneten, die knapp
30 Prozent der Sitze hat; hier sind die 34 deut-
schen Abgeordneten von CDU un d CSU versam-
melt.
• Die zweitgrößte Fraktion ist die „Progressive 'Nach den Europwahlen 2014
Allia nz der Sozialisten und Dem okraten" (S&D),
welche mit 189 Vertretern im EP versammelt ist;
hier sind etwa die 27 deutschen Abgeordneten
der SPD vertrete n. Wie wird eine Fraktion gebildet?
• Europäische Ko nservative u nd Reformen EKR
(74),
• Allianz der Liberalen und Demokraten fü r Eu-
. .
ropa ALDE (68),
.. . . ..
• Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne
Linke GUE/NGL (52),
. ..
• Die Grünen/Europä ische Freie Allianz (Grüne/
Zur Bildung In jeder Fraktion müssen EU-Abgeordnete
EFA) (51),
einer Fraktion sind EU-Abgeordnete aus können nur
• Fraktion Europa der Freiheit und der direkten mindestens 25 wenigstens einem Viertel einer Fraktion
Demokratie EFDD (44), EU-Abgeordnete der Mitlgiedsstaaten angehören.
• Europa der Nationen u nd der Freiheit ENF (37) erforderlich. vertreten sein.
• 19 Parlamentarier sind fraktio nslos.

Die Zahl der Abgeordneten pro Land richtet sich Die EU-Abgeordneten verteilen sich
nach der Bevölkerungsgröße. Da die Bundesrepu- auf standige Ausschüsse,
blik Deutschland mit über 80 Millionen Einwoh- die jeweils für E>estimmte Bereiche
nern die meisten Einwohner innerhalb der EU hat, zuständig sind.
ist die Gruppe der deutschen Abgeordneten im
Europäischen Parlament mit 96 entsprechend am
20 Ausschüsse l 2 Unterausschüsse l 1 Sonderausschuss
größten. Frankreich ist mit 74 und Italien mit 73
Abgeord neten vertreten, Malta, a ls das klei nste
Land, mit nur sechs.
<D European Union 2 018 -EP
5 Die Europäische Union

Sitzungen der Ministerräte vor. Der COREPER


Die Aufgaben des Präsidenten wird in seiner Arbeit unterstützt vo n einer großen
des Europäischen Rates Zahl an Experten-Ausschüssen und Arbeitsgrup-
Nach Artikel 15 Abs. 6 des EU-Vertrags gilt: pen, die die häufig sehr technisch ausgerichtete
Der Präsident des Europäischen Rates
Detailarbeit leisten. Der Rat trifft sich, j e nach
a) führt den Vorsitz bei den Arbeiten des Europäischen Rates und Thema, in unterschiedlichen Formationen:
gibt ihnen Impulse,
b) sorgt in Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Kommission • Allgemeine Angelegenheiten (hier treffen sich
auf der Grundlage der Arbeiten des Rates „Allgemeine Angele- die für Europapolitik zuständigen Minister der
genheiten" für die Vorbereitung und Kontinuität der Arbeiten EU-Staaten ; sie koordinieren die anderen Rats-
des Europäischen Rates [Hinweis: Der Rat „Allgemeine Ange-
fo rmationen und sorgen für ein einheit liches
legenheiten" übt eine Koordinierungsfunktion gegenüber den
anderen Ministerräten aus], Auftreten des Rates als EU-Organ)
c) wirkt darauf hin, dass Zusammenhalt und Konsens im Europä- • Auswärtige Angelegenheiten
ischen Rat gefördert werden, • Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und
d) legt dem Europäischen Parlament im Anschluss an jede Tagung Verbraucherschutz
des Europäischen Rates einen Bericht vor. • Bildung, Jugend, Kultur und Sport
• Justiz und Inneres
Der Präsident des Europäischen Rates nimmt auf seiner Ebene
• Landwirtschaft und Fischerei
und in seiner Eigenschaft, unbeschadet der Befugnisse des Ho-
hen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, die • Umwelt
Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen • Verkehr, Telekommunikation und Energie
Außen- und Sicherheitspolitik wahr. • Wettbewerbsfähigkeit
• Wirtschaft und Finanzen (auch „Ecofin-Rat" ge-
Der Präsident des Europäischen Rates darf kein einzelstaatliches nannt)
Amt ausüben.

Welche Rolle spielt der Europäische Rat?

Welche Rolle spielt der Rat Der Europäische Rat ist für alle „großen" euro-
der Europäischen Union? papolitischen Themen und Entscheidungen zu -
ständig, wie z.B. bei allen Fragen der „Vertiefung",
Der Rat (auch „Rat der Europäischen Union" oder die Änderungen des EU-Vertrags oder die Über-
„Ministerrat" genan nt) bildet zusammen mit dem tragung neuer Aufgaben und Kompetenzen a uf
Europäischen Parlament die Legislative der EU. Im die europäische Ebene einschließt(> 5. 1.1 ).
Rat (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen
Rat oder dem Europarat), beraten bzw. beschlie- Im Europäischen Rat (nicht zu verwechseln mit
ßen die Fachministerinnen und -minister der Mit- dem Rat der EU und auch nicht mit dem Europarat
gliedstaaten die von der EU-Kommission vorge- in Straßburg) versammeln sich die Staats- und
legten Vorschläge für europäische Gesetze. Der Regierungschefs. Sie geben der EU, wie es im Ver-
Rat dient dabei als „Scharnier" zwischen der trag heißt, die „für ihre Entwicklung erforderli-
EU-Ebene und den Mitgliedstaaten. chen Impulse" und legen „die allgemeinen politi-
schen Zielvo rstellungen und Prioritäten hierfür
Den Vorsitz im Rat und die Leitung der Sitzungen fest". Ob eine Bundeskanzlerin, wie im Falle der
und Arbeitsgruppen übernimmtjeweils ein Regie- Bundesrepublik Deutschland, oder der französi-
rungsvertreter aus dem EU-Land, welches die sche Präsident das j eweilige Land im Europäi-
halbjährlich wechselnde Ratspräsidentschaft in- schen Rat vertritt, hängt von den nationalen ver-
nehat. Eine besondere Bedeutung haben die soge- fassu n gsrechtlichen Bestimmungen ab.
nannten Ständigen Vertreter der Mitgliedstaa-
ten, die als Botschafter in Brüssel tätig sind; sie
treffen sich im Ausschuss der Ständigen Vertreter Wie arbeitet der Europäische Rat?
(AStV bzw. die französische und in Brüssel ge-
bräuchliche Abkürzung lautet COREPER = Comite Vorbereitet und geleitet werden d ie EU-Gipfel
des representants permanents) und bereiten alle vom Präsidenten des Europäischen Rates. Dieses
5 .2 Die Europäische Union als Mehrebenensystem I

Der Europäische Rat

,,EU-Gipfel" • die Staats- und


Regierungschefs der
tagt mindestens EU-Mitgliedstaaten,
zweimal im Halbjahr • der Präsident des
unter Vorsitz des Europäischen Rats
Präsidenten des • und der Präsident
Europäischen Rats der Kommission

C
Rolle des Europäischen Rats
bei der Besetzung
der EU-Spitzenpositionen:
» Der Europäische Rat Der Europäische Rat
Wahl des Präsidenten gibt der Union die für ihre beschließt auch
des Europäischen Rats Entwicklung erforderlichen
Vorschlag und Ernennung des über die strategischen
Impulse und legt die
Präsidenten der Europäischen allgemeinen politischen Interessen und Ziele
Kommission; offizielle Ernennung des auswärtigen Handelns
der gesamten Kommission Zielvorstellungen und
Prioritäten hierfür fest.« der EU, insbesondere
Ernennung des Hohen
Vertreters für die Außen- Vertrag über die der Gemeinsamen Außen-
und Slcherheltspolltlk Europäische Union, Artikel 15 und Sicherheitspolitik
Emennun des Direktoriums

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Amt wurde mit dem Vertrag v on Lissabon 2009 Brüssel - der Präsident des Europä ischen Parla-
neu geschaffe n. Zu den Aufgaben des Präsidenten ments.
gehört es, den Europäischen Rat zu leiten, ihm
Impulse zu gebe n und den Zusammenhalt zu si-
che rn - er ist also eine Art Moderator, der die 28 Welche Rolle spielt die Europäische
Staats- und Regierungschefs (Sta nd 2018) zu e iner Kommission im EU-Entscheidungssystem?
gemeinsamen Politik führen soll.
Die Europäische Kommission ist das EU- Orga n,
Am Ende der Sitzungen info rmiert der Präsident das sich - z usammen mit dem Europäischen Par-
die Öffentlichkeit und das Europä ische Parla ment. la ment - als Vertreterin des Gemeinschaftsinter-
Der Präsident darf laut EU-Vertrag kein zusätzli- esses versteht. Diese Aufgabe w ird ihr durch den
ches politisches Amt in einem EU-Staat bekleiden. EU- Vertrag a usdrücklich übertrage n; laut Artikel
Um jedoch von den Staats- und Regierungschefs 17 im EU-Ve rtrag fördert sie „die a llgemeinen In-
ernst genommen zu werden, hat sich die unge- teressen der Union" und schlägt „geeignete Initi-
schriebene Regel herausgebildet, dass der EU-Prä- ativen zu diesem Zweck" v or.
side nt e in ehe ma liger Regierungschef sein so llte,
der mit den amtierenden Staats- und Regierun gs- Die 28 Kommissare (Sta nd 201 8), die von den Re-
che fs „auf Augenhöhe" verhandelt. Der Präsident gierungen der EU-Staaten gestellt werden, sind
vertritt - zusammen mit dem Hoh en Vertreter der v on diesen weisungsuna bhängig (was Konsultati-
Gem einsamen Außen- und Sicherheitspolit ik - onen zw ischen den nat ionalen Regierungen und
die EU a uf der internationalen Bühne. .,ihren" Kommissaren nicht ausschließt). Die Eu-
ropä ische Ko mmission wird häufig a ls die „Regie-
Bei den Treffen des Europä ischen Rates kommen run g" der EU beschrieben, weil sie neben der zen-
j edoch nicht nur die Staats- und Regierungschefs tralen Au fgabe, europä ische Gesetzesinit iativen
zusamme n; a nwesend ist auch de r Präsident der auf den Weg zu bringen, vor a llem exekut ive
EU- Kommission sowie - zu Beginn der Gipfel in Kompetenzen besitzt; das heißt, sie füh rt die vom
5 Die Europäische Union

Ministerrat und dem Europäischen Parlament be- Vertrag vorgegebenen Aufgaben zu erweitern.
schlossenen Maßnahmen als Verwaltungsbehörde Das wird vo n einigen Mitgliedstaaten und vo n
a us und achtet als „Hüterin des Unionsrechts" da- Kritikern der Kommission jedoch als Überschrei-
rauf, dass dieses in den Mitgliedstaaten auch tat- tu ng ihrer Kompetenzen angesehen.
sächlich umgesetzt wird.

Mit den Jahren hat die EU-Kommission ihren po- Kompetenzen der Europäischen Kommission
litischen Gestaltungsanspruch stetig erweitert und
besonders auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Das wicht igste Instrument der Europäischen Kom-
Währungspolitik oder in der Asylpolitik mehr mission ist ihr exklusives Initiativrecht. Mit die-
Kompetenzen eingefordert bzw. versucht, die vom sem Monopol ist die Brüsseler Behörde die einzige

Organe der EU im Überblick

EU-Organe Aufgaben Zusammensetzung Legitimation


Europäischer Rat Grundsatzentscheidungen; 28 Staats- und gewählt durch die Bürger oder
Leitorgan Regierungschefs die nationalen Parlamente
Europäisches • beschließt „Gesetze", 750 Abgeordnete + Direktwahl durch die EU-Bürger/
Parlament zusammen mit dem der Präsident des EPs innen
Ministerrat
• Haushaltskompetenzen
• Zustimmung bei völkerrecht-
lichen Verträgen und bei
Aufnahme neuer Mitglieder
• Kontrollfunktion
(Misstrauensvotum gegen
Kommission, Unter-
suchungsausschüsse)
Rat der • beschließt „Gesetze" 28 Fachminister - Wahl und Ernennung durch
Europäischen zusammen mit dem wechselnd nach Ressort nationale Verfahren;
Union (Ministerrat) Europäischen Parlament Kontrolle durch mitgliedstaatliche
• Haushaltspolitik Parlamente
• Pflege der Außenbeziehungen
EU- Kommission • Überwachung der 28 Kommissare, Europäischer Rat schlägt
EU-Verträge inkl.: EU-Kommissionspräsident vor,
• Motor der EU-Integration • EU-Kommissionspräsident der vom Europäischen Parlament
• Hohe/r Vertreter/in für per Wahl bestätigt werden muss.
• Initiativrecht für
,,EU-Gesetze" Außen- und Sicherheits- Die Kommissare werden von den
politik der EU europäischen Regierungen
• Außenvertretung der EU
benannt; der Kommissionspräsi-
• Verwaltung dent teilt ihnen ihre Aufgaben zu.
• Kontrollaufgaben (z.B. Die Kommission wird dann in ihrer
Vertragsverletzungsverfahren) Gesamtheit vom Parlament
bestätigt oder abgelehnt.
Gerichtshof Wahrung des EU-Rechts bei Der Gerichtshof der EU setzt EuGH, EuG und Fachgerichte:
der Europäischen der Auslegung und Anwen- sich zusammen aus dem Ernennung seitens der Regierun-
Union dung der Verträge der eigentlichen Gerichtshof gen der Mitgliedsländer (Europäi-
Europäischen Union und der (EuGH) und dem beigeordne- scher Rat)
EU-Gesetze ten Gericht (EuG):
• EuGH: ein/e Richter/in je
Mitgliedstaat sowie 8
Generalanwälte (" Berichter-
statter")
• EuG: 47 Richter (ab 1.9.2019:
2 Richter je Mitgliedstaat)
5 .2 Die Europäische Union als M ehreb en ensystem I

Institution, die europäische Gesetzgebungspro- chende Rechtsakte nicht in nationales Gesetz


zesse anstoßen kann. Darum ist sie die wichtigste übertragen, kann die Kommission als „Hüterin
Anlaufstelle für die Regierungen der EU-Staaten, der Verträge" diesen Staat zunächst ermahnen
für die Abgeordneten im Europäischen Parlament und am Ende vor dem Europäischen Gerichtshof
und für die zahl reichen Interessenvertreter in verklagen.
Brüssel. Alle müssen sie die Kommission von ih-
rem Anliegen überzeugen, erst dann besteht die • In der Haushaltspolitik ist die EU-Kommission
Chance, dass ihre Vorschläge aufgegriffen werden verantwortlich für die Umsetzung des Haus-
und in Gesetzesinitiativen der EU einfließen. ln haltsp lans und die Verwaltung der Gelder.
einigen Politikbereichen besitzt die Kommission
zudem auch Exekutivkompetenzen:
Wie ist die Europäische Kommission
• In der Wettbewerbspolitik agiert sie eigenstän- zusammengesetzt?
dig und kann die Fusion von Unternehmen ver-
bieten, die Vergabe von staatlichen Subventio- J eder Mitgliedstaat entsendet einen Vertreter oder
nen kontrollieren und einschreiten, wenn eine Vertreterin in die Kommission. Alle bisheri-
Unternehmen eine marktbeherrschende Stel- gen Versuche, die im Zuge der Osterweiterung sehr
lung einnehmen. viel g röße r gewordene Kommission wieder zu ver-
kleinern, sind gesch eitert. Vor allem die kleineren
• Die Kommission verhandelt stellvertretend für EU-Staaten wollen auf „ihren" Kommissar in
die Mitgliedstaaten mit Drittstaaten alle EU- Brüssel nicht verzichten; aber auch die großen
Handelsabkommen (z. B. TIIP oder CETA), da Staaten, die bei einem Rotationsprinzip zeitweise
die Handelspolitik zu den wenigen Politikberei- auf einen Vertreter hätten verzichten müssen, hal-
chen gehört, in denen die EU ausschließliche ten an der bisherigen Regelung fest.
Kompetenzen besitzt.
Den einzelnen Komm issaren sind untersch iedliche
• Eine weitere wichtige Funktion übt die Kommis- Themenbereiche und Ressorts zugeteilt, wie etwa
sion in der Erweiterungspolitik aus : Hier ist sie Justiz, Klima, Ha ndel, Wettbewerb, etc. Eine be-
für die Planung und Umsetzung der Verhand- sondere Rolle kommt dem „Hohen Vertreter" der
lungen verantwortl ich; sie prüft die Reformfort- EU-Außenpolitik(>Kap. 5.3.2) z u, der als Vizeprä-
schritte in den Ka ndidatenstaaten und teilt den sident einerseits Mitglied der Europäischen Kom-
EU-Staaten mit, ob die Beitrittsaspiranten „reif' mission und andererseits als Vorsitzender des Ra-
für eine Aufnahme in die EU sind. tes für Auswärtige Angelegenheiten in die Ent-
scheidungen der nationalen Außenminister einge-
• Die Kommission ist zudem auch verantwortlich bunden ist - er bzw. sie t rägt einen sogenannten
für die Umsetzung der EU-Beschlüsse und ,.Doppelhut".
Richtlinien: Wenn einzelne EU-Staaten entspre-

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die Rolle der Europäischen Kommission im europäischen Entscheidungsprozess.

2. Erläutern Sie, welche Folgen mit der Einführung einer 5 %-Hürde in allen EU-Mitgliedstaaten für die Wahlen
zum Europäischen Parlament verbunden sein könnten.

3. Diskutieren Sie die Forderung nach einem Initiativrecht für das Europäische Parlament in der europäischen
Gesetzgebung.

4. Die Anforderungen, die im EU-Vertrag (Artikel 15 Absatz 6) an den Präsidenten des Europäischen Rates ge-
stellt werden , sind relativ allgemein formuliert. Entwerfen Sie eine detaillierte Stellenausschreibung für dieses
Amt und nennen Sie die Qualifikationen und Erfahrungen, die ein Bewerber bzw. eine Bewerberin mitbringen
sollte.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Vom Anlass bis zum Gesetz ist es ein weiter Weg

Vom Anlass bis zum Gesetz ist es ein weiter Weg: Ein Beispiel sind die Nährwertanga-
ben auf Lebensmitteln. Die entsprechende EU-Verordnung wurde 2011 verabschiedet
und muss[te] bis Ende 2014 umgesetzt sein. [ . .)

Initiative: Im Mai 2007 legt die EU-Kommission zunächst das Weißbuch „Ernährung,
5 Übergewicht, Adipositas: Eine Strategie für Europa" vor. Zentrale Punkte: Die gelten-
den Vorschriften zur Nährwertkennzeichnung sollen überarbeitet werden. Auch eine
EU-weite Gesundheitsumfrage wird angekündigt. Im Januar 2008 legt die EU-Kom-
mission schließlich einen Entwurf für eine neue Lebensmittel-Verordnung vor. [ ... ]
Lobbyisten: Der Kommissions-Entwurf stößt auf Kritik. Verbraucherschützer fordern
10 eine einheitliche Kennzeichnung in der Europäischen Union, um die Käufer nicht zu
verwirren. Auch die Lebensmittelindustrie findet keinen Gefallen an den Plänen: Sie
warnt insbesondere vor einem immensen Bürokratieaufwand durch die Kennzeich-
nungspflicht. [...)
Beratung: Sowohl das Europäische Parlament als auch die Mitgliedstaaten müssen
15 der EU-Verordnung zustimmen. Im März 2010 nehmen die Pläne die erste Hürde: Der
Ausschuss für Gesundheit und Umwelt des Parlaments gibt grünes Licht. Es gibt aber
noch Streitpunkte. So wollen einige Abgeordnete Kleinbetriebe von der Kennzeich-
nung ausnehmen. Die Lebensmittel-Ampel Oe nach Fett- und Zuckergehalt erscheinen
auf der Verpackung die Signale Rot, Gelb oder Grün] wird ebenfalls weiter diskutiert,
20 die Abgeordneten lehnen sie aber letztlich mehrheitlich ab. Auch aus einzelnen Staaten
werden Änderungsvorschläge laut: Deutschland drängt darauf, Lebensmittelimitate
wie Pseudo-Schinken oder Analogkäse zu kennzeichnen.
Verabschiedung: Im Juni 2011 legen die Verbraucherminister der EU-Staaten abschlie-
ßende Details fest. Im Juli 2011 stimmt das Europäische Parlament dem neuen Regel-
25 werk zu. Die Verordnung wird dann am 22. November 201 1 im Amtsblatt der EU ver-
öffentlicht und tritt damit in Kraft. Damit sich die Industrie umstellen kann, werden die
Vorgaben aber erst Ende 2014, im Fall der Nährwert-Tabelle sogar erst 2016 Pflicht.
Ergebnis: In dem Gesetzgebungsverfahren wurde der ursprüngliche Entwurf mehrfach
überarbeitet. Die endgültige Vereinbarung umfasst etwa auch Details zur Schriftgröße
30 der Nährwertangaben. Sie soll mindestens 1,2 Millimeter groß sein. [ ...) Bei frischem
Fleisch muss die Herkunft angegeben werden. Vor Allergenen muss auch bei unver-
packter Ware gewarnt werden.
Umsetzung: Zum Zeitpunkt der Verabschiedung stehen laut EU bereits auf etwa 70
Prozent der Lebensmittel-Verpackungen die Nährwerte. Aber gerade bei besonders
35 fett- oder zuckerhaltigen Produkten wie Kalbsleberwurst oder Süßigkeiten werden
diese gerne verschwiegen. Die Hersteller müssen sich hier nun umstellen. Nationale
Gesetze zur Umsetzung der EU-Verordnung sind nicht notwendig.

Tanja Wolter, www.swp.de, 9.4.2014

Aufgaben
1. Stellen Sie dar, mit welcher Strategie die Europäische Kommission versucht hat, die Ak-
zeptanz für die gesetzliche Lösung bei allen beteiligten Akteuren zu erhöhen.

2. Erläutern Sie, ob sich diese Art des Vorgehens auf andere Bereiche der europäischen
Politik übertragen ließe.

3. Entwerfen Sie eine Rede (, Methodenglossar) entweder für einen Vertreter der Verbrauch-
erorganisationen in Europa oder für einen Repräsentanten der europäischen Lebensmit-
telindustrie über die Notwendigkeit einer besseren Kennzeichnung von Inhaltsstoffen in
Lebensmitteln.
5. 2. 2 Entscheidungsverfahren
Leitfragen Wie werden in der EU Wie werden in der Europäi- Welche Merkmale kennzeichnen
Entscheidungen getroffen? schen Union Richtlinien und den supranationalen Politikstil?
Verordnungen verabschiedet?

Entscheidungsverfahren in der EU:


Wie werden europäische Gesetze verhandelt?

Das durch den Vertrag vo n Lissabon (2009) ein- EU-Parlament oder Verbänden und Interessenver-
geführte Standard-Verfahren ist das sogenannte tretern in Brüssel zurück (> Kap. 5.2.1 ).
Ordentliche Gesetzgebungsverfahren (früher hieß
es „Mitentscheidungsverfa hren"). Der Begriff „or- Der Rat kann in vielen Bereichen mit sogenannter
dentlich" bedeutet hier, dass es im Regelfall zur qualifizierter Mehrheit entscheiden. Eine solche
Anwendung kommt; das betrifft etwa alle Verfah- Mehrheit ist dann erreicht, wenn hinter einer Ent-
ren, die den Binnenmarkt regeln. scheidu ng 55 Prozent der im Rat versammelten
Regierungsvertreter stehen u nd wenn diese Staa-
In der europäischen Gesetzgebung bilden der Rat ten zudem mindestens 65 Prozent der Bevölke-
u nd das Europäische Parlament zusammen d ie rung aller Mitgliedstaaten repräsentieren. Diese
Legislative. Eine besondere Bedeutung kommt der sehr kompliziert an mutende Formel soll sicher-
EU-Kommission zu, denn sie allein besitzt das stellen, dass Entscheidungen nur dann zustande
Recht, durch Gesetzesinitiativen den Legislativ- kommen, wen n sowohl eine Staatenmeh rheit als
prozess in der EU zu starten (Initiativmonopol). auch eine Bevölkeru ngsmehrheit gesichert sind.
Die Kommission greift dabei auf Vorschläge und Man spricht desh alb von einer „doppelten Meh r-
Anregungen von den Mitgliedstaaten, dem heit".

Kommission
unterbreitet einen
Europäische Gesetzgebung
Vorschlag für Ordentliches Gesetzgebungsverfahren nach Art. 294
einen Rechtsakt des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
----♦
'"'- _+
_____
Parlament Rat
legt seinen
Standpunkt 1 Kommission 1
dazu fest 1

l legt abwei-
chenden verlangt Ab-
wirkt auf Annäherung
der Standpunkte hin

Rat
stimmt dem
Standpunkt
des Parla-
ments zu
Standpunkt ♦
fest
Parlament
stimmt dem
Standpunkt
des Rates zu
lehnt ab
änderungen • _
1
Rat
--~
..........
akzeptiert
alle
Abänderungen
,.+,l
Vermittlungs-
ausschuss

l
Kompromiss, keine
dem Rat
und Parlament
T""9

zustimmen

Rechtsakt ist Rechtsakt ist Rechtsakt ist Rechtsakt Ist Rechtsakt ist Rechtsakt ist
angenommen angenommen gescheitert angenommen angenommen gescheitert

Will der Rat sich mit seinem Votum über den Vorschlag oder die Stellungnahme
der Kommission hinwegsetzen, ist Einstimmigkeit erforderlich
'-----------------------=========-- iZAHLENBILDER 1-ffi
~Bergmoser + Höf/er Verlag A G 7l 542 0
5 Die Europäische Union

du ng besch leunigt werden kann, w ird oft so lange


Europäische Rechtsakte weiterverhandelt, bis ein Konsens gefunden ist.
Das Europarecht kennt unterschiedlicher Rechtsakte, mit denen Der Politikwissenschaftler Wolfgang Wessels
die in den Verträgen formulierten Ziele umgesetzt werden. Hierzu spricht im Hinblick auf die Konsensfindung im
zählen: Rat von zwei Reflexen auf Seiten der einzelnen
europäischen Regie rungen, die im Rahmen euro-
• Verordnungen, die in allen EU-Ländern in vollem Umfang um- päisch er Politik miteinander in Einklang gebracht
gesetzt werden müssen;
werde n müssen:
• Richt linien, in denen ein zu erreichendes Ziel festgelegt wird; es
liegt jedoch im Ermessen der einzelnen Staaten, wie dieses Ziel
erreicht wird; • Einerseits folgen die Mitgliedstaaten einem Ko-
• Beschlüsse haben immer einen konkreten Adressaten (z. B. ein ordinationsreflex, weil sie erkennen, dass sie
konkretes EU-Land oder ein einzelnes Unternehmen) und sind v iele Probleme, mit denen sie in e iner komple-
nur für diesen verbindlich; xen und globalisierten Welt konfrontiert sind,
• Empfehlungen werden von einzelnen EU-Organisationen gege- nur n och gemeinsam lösen kö nnen.
ben, sind jedoch nicht bindend;
• Stellungnahmen werden von den wichtigsten EU-Organen
(Kommission , Rat, Parlament) sowie dem Ausschuss der Regi- • Andererseits sind die EU-Staaten jedoch immer
onen und dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss darauf bedacht, ihre nationale Eigenständigkeit
zu bestimmten Themen abgegeben, sind jedoch nicht verbind- zu b ewahren und diese nur im Ausnahmefall
lieh. einschränken zu lassen (Souveränitätsreflex).
Aus der Sicht v ieler EU-Regierungen ist die
Übertragung von Kompetenzen au f die Europä-
isch e Union mit einem Verlust a n Auto nomie
Welche Rolle das Europäische Parlament im Ent- verbunden; andere Staaten sehen j edoch gerade
scheidungsprozess der EU spielt, hängt konkret von in einer Politik der Richtung „Meh r Europa" die
dem Problem ab, das durch ein europäisches „Ge- einzige Chance, die schwindende nationalstaat-
setz" gelöst werden soll. In manchen Fällen steht liche „Souveränität" durch den Aufbau einer
das Pa rlament am Spielfeldra nd, in anderen ist es ,,Europäischen Souve rä nität" zurückzugewin-
ein echter Mitspieler auf dem Platz und kann in den nen.
Verhandlungen eigene Ideen und Vorschläge ein-
bringen und durchsetzen. In den meisten Fällen Da die Mitgliedstaaten bei einzelnen Themen mal
kommt ohne seine Zustimmung kein Entschei- ehe r dem Koordinationsreflex und bei anderen
dungsverfahren zustande, es besitzt „Vetomacht". Theme n dann wiederum eher dem Souveränitäts-
reflex fol gen, kommt es immer wied er zu einem
Streit im Kreis der EU-Staaten, ob überhaupt und
Konsensfindung im Rat wenn j a, wie weit eine Vertiefung der europäi-
schen Integration gehen soll. Das erklärt u. a.,
Auch wenn eine Entsch eidung im Rat mit Mehr- weshalb d ie Übertragung vo n neuen Aufgaben a uf
heit getroffen und damit d ie Entscheidungsfin- die europäische Ebene häufig erst nach langen
und schwierigen Verhandlungen möglich ist;
wenn kein Konsens erreicht werden ka nn, schei-
tern d iese Verhandlungen oder werden vertagt.
Was bedeutet „Souveränität"?
„Unter S[ouveränität] versteht man die Autonomie der politischen Wie funktioniert europäische Politik?
Entscheidungsgewalt innerhalb eines Territoriums. Historisch tritt
S[ouveränität] erst mit dem modernen Staat auf den Plan, der für
Das ständige Suchen nach Kompromissen u nd Lö-
sein Staatsgebiet Zuständigkeit in jeder Hinsicht beanspruchen
und gegenüber äußeren und inneren Konkurrenten [ ... ] durchset- su ngen , mit denen am Ende alle leben können,
zen kann. Die Ausübung von S[ouveränität] setzt also die Durch- wird v on den Ständigen Vertretern geleistet (>Kap.
setzungsfähigkeit politischer Entscheidungen voraus." 5.2. 1) .. J e nach Thema stimmen darauf a ufbau end
die eu ropä ischen Regierungen mal m it der einen
Peter Niesen, ,.Sou11eränität", in: Dieter Fuchs/ Edeltraud Roller (Hrsg.):
Lexikon Politik. Hundert Grundbegriffe, 2 007, S. 266
Gruppe von Staaten und ma l mit der a nderen ab;
dauerhafte Koalitionen zwischen den großen
5 .2 Die Europäische Union als Mehrebenensystem I

Staaten auf der einen und den kleinen auf der Welche Rolle spielen nationale Parlamente?
anderen sind nicht die Regel. Oft wi rd ein Konsens
erst durch das Schnüren von „Paketen" erreicht, Die Regierungsvertreter im Rat müssen sich in
in denen für jeden etwas „drin ist" und sich alle der Regel für ihre Positionen ein Mandat des
als Gewinner füh len dürfen. nationalen Parlaments für die Abstimmung
einholen. Wie eng diese Abstimmung zwischen
Lässt sich kein Kompromiss erzielen, wird nicht Brüssel u nd den Ha uptstädten in den EU- Staaten
selten auf den Grundsatz eines „Europas der ver- ist, hängt von den nationalen Bestimmungen ab.
schiedenen Geschwindigkeiten" zurückgegriffen. In Dänemark zum Beispiel ist diese Abstimmung
Dabei vollziehen nur einige Staaten Schritte der zwischen dem dänischen Regierungsvertreter, der
Integration, halten aber die Tür offen für EU-Mit- in Brüssel verhandelt und dem Parlament zu
glieder, die sich zu einem späteren Zeitpunkt ent- Hause sehr eng, in anderen Ländern ist sie
sprechenden Initiativen anschließen wollen. Die eher lose. Der Deutsche Bundestag hat wie
Wahrung der Souveränität ist auf diesem Wege auch der Bundesrat seit den I 990er J ahren seine
weitgehend vereinbar mit der Bereitschaft zur Ab- Mitwirkungs- und Kontrollrechte gegenüber
gabe von staatlichen Hoheitsrechten an die sup ra- ,,seinen" Vertretern im Rat nach und nach aus-
nationale Ebene. Kritische Stimme n weisen jedoch gebaut. Das ist in der Brüssel er Praxis nicht immer
darauf hin, dass die unterschiedlich stark ausge- leicht zu organisieren, da ein sehr enges Mandat
prägte Integrationsbereitschaft der Mitgliedstaa- für die EU-Verhandlungen Konsequenzen hat, da
ten im Extremfall das gemeinsame Entwick- europäische Politik auf ein Geben und Nehmen
lun gstempo gefährden könne. angewiesen ist.

Aufgaben
1. Beschreiben Sie die einzelnen Stationen der europäischen Gesetzgebung.

2. Vergleichen Sie das Vorgehen mit dem Gesetzgebungsprozess in Deutschland(, Kap. 4.6).

3. Erörtern Sie, inwieweit das „Prinzip der doppelten Mehrheit" dazu geeignet ist, Entscheidungen im
EU-Ministerrat herbeizuführen.

4. Beurteilen Sie die Tatsache, dass „ständig wechselnde Koalitionen" den Politikstil auf der supranationalen
Ebene wesentlich beeinflussen.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Europa a la carte?

,,Die Grundidee der Europäischen Gemeinschaft bestand in dem Aushandeln gemein-


samer Integrationsschritte, die von allen Mitgliedsländern grundsätzlich gleichzeitig
vollzogen werden. Je mehr Länder Mitglieder einer Gemeinschaft und je heterogener
die Gegebenheiten und Interessen sind, desto schwieriger ist es, Integrationsvorhaben
s zu verabreden, die den Präferenzen [Vorstellungen] und Möglichkeiten aller Mitglieds-
länder entsprechen. Seit den 1980er-Jahren mehren sich die Vorschläge, in ausge-
wählten Bereichen Mitgliedern der Gemeinschaft die Entscheidung zu überlassen,
einen Integrationsschritt später zu vollziehen, und damit zwei oder mehr Gruppen zu
haben, welche die Integration mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vollziehen.
10 Das Sehengen-Abkommen und die Einführung des Euros sind die bekanntesten Bei-
spiele für die Vereinbarung einer vertieften Integration, die aber zunächst nur von einer
kleineren Gruppe umgesetzt wird. Getrennt davon handelt es sich bei dem Konzept
a
,Europa la carte' um die Idee, dass Mitgliedstaaten auch dauerhaft unterschiedliche
Integrationswege beschreiten. Statt stets gemeinsam voranzuschreiten, wählen Län-
1s der jene Bereiche aus, in denen die Integration gewollt ist. Dem gegenüber steht die
Möglichkeit, eine einmal vorgenommene Integration wieder rückgängig zu machen
und im Extrem sogar den Austritt aus der EU (Artikel 50 EUV) vorzusehen."

Hans Adam und Peter Mayer, Europäische Integration, 2. Aufl., 2016, S. 35f

M 2 „Multitrack-Europa": Europa der unterschiedlichen Zielsetzungen?

Der damalige Außenminister Sigmar Gabriel im Interview mit dem Spiegel:

,,Seit Jahren hören wir stets vom Multispeed-Europa, einem Europa der unterschied-
lichen Geschwindigkeiten. Man müsste dankbar sein, wenn es so wäre, denn dann
würden immerhin alle in die gleiche Richtung gehen, nur unterschiedlich schnell. In
s Wahrheit haben wir längst ein Multitrack-Europa: ganz unterschiedliche Zielsetzungen.
Die traditionellen Unterschiede zwischen Nord und Süd in der Finanz- und Wirtschafts-
politik sind weit weniger problematisch als die zwischen Ost- und Westeuropa. Im
Süden und im Osten gewinnt Ch ina stetig an Einfluss, so sehr, dass einige europäische
Mitgliedstaaten es nicht mehr wagen, Entscheidungen gegen chinesische Interessen
10 zu treffen. Man merkt es überall: China ist das einzige Land auf der Welt mit einer
echten geopolitischen Strategie."

Interview: Christiane Hoffmann/ Klaus Brinkbäumer, in: Der Spiegel, Nr. 2/2018, S. 35f

Aufgaben

1 . Benennen Sie grundlegende Prinzipien europäischer Politik im Falle eines „Europa a la


carte" bzw. eines „Multitrack-Europa".

2. Stellen Sie Vor- und Nachteile eines „Europa a la carte" einander gegenüber.
3. informieren Sie sich über das Zustandekommen des Sehengen-Abkommens und beur-
teilen Sie, ob sich in diesem Fall die „Integration mit unterschiedlicher Geschwindigkeit"
bewährt hat. Nutzen Sie dafür das Konzept des Politikzyklus (, Methodenkompetenz:
Politikzyklus analysieren).
■ Zentrale Politikfelder
5.3.1 Binnenmarkt, Wirtschaft , Währung und Soziales

Leitfragen Welche Bedeutung hat Warum kam es zur Schaffung Wie hat die EU auf die
der Binnenmarkt für die einer gemeinsamen Währung? Wirtschafts- und Finanzkrise
Europäische Union? reagiert?

Alltag, Arbeit und Wirtschaft


im europäischen Binnenmarkt

„Unser Leben hört ja nicht an der Grenze auf. Wir überwiegend von in der ganzen EU verstreuten
kau fen Autos, Äpfel und Aktien aus an deren Län- Zulieferern, sind Ergebn is einer intensiven euro-
dern, konkurrieren mit Produkten vo n a nderswo, päischen Arbeitsteilung. ,,Made in Europe" ist in-
wir ve rschmutzen Flüsse, d ie woanders hin fli e- zwischen meist zutreffender als „made in Germa-
ßen, Luft, die woanders hi ngeht, gehen im Aus- ny, France, ltaly"."
land studieren, vielleicht verl ieben wir u ns dort
Christian Beck, Hat der Euro die Demokratie gestohlen? in:
sogar, heiraten , ziehen um. Die meisten an- Alexander Schdlinger / Philipp Steinberg (Hrsg.}, Die
spruchsvollen Produkte stammen inzwischen Zukunft der Eurozone, 2016, S. 28

Die vier Freiheiten im Binnenmarkt

Wegfall der Kontrollen an den Niederlassungsrecht; Offenheit


Binnengrenzen für grenzüberschreitende Dienst-
leistungen
Harmonisierung der Asyl- und
Zuwanderungspolitik Liberalisierung der Bank- und
Freizügigkeit für Arbeitnehmer, Versicherungsdienstleistungen
Niederlassungs- und Aufent- Öffnung der Transport-, Post-, Tele-
haltsrecht für EU -Bürger kommunikations-, Energiemärkte

Wegfall der Grenzkontrollen Freizügigkeit für den Zahlungs-


Keine Zölle oder mengen- verkehr und den Kapitalverkehr
mäßigen Beschränkungen (Investitionen und Anlagen)
in der EU und nach außen
Harmonisierung oder
gegenseitige Anerkennung von Integration der Finanzmärkte
Normen und Vorschriften Liberalisierung
Steuerharmonisierung des Wertpapierverkehrs

.___ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ IZAHLENBILDERl-ffi-
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5 Die Europäische Union

Der Binnenmarkt als „ Herzstück" der europäi-


schen Integration

Das Projekt, einen gemeinsamen Markt zu schaf- Die Vorschläge bekamen durch den Fall der
fen, war bereits in den Verträgen der Europäischen Berliner Mauer im November I 989 und die sich
Wirtschaftsgemeinschaft ( 1957) angelegt (> Kap. abzeichnende Wiedervereinigung eine neue
5.1.2). Schrittweise sollte in Europa ein Binnen- Dynamik.
markt errichtet und ein freier Austausch von Wa-
ren, Dienstleistungen, Kapital und Personen mög-
lich werden. Es dauerte dann aber noch viele Mit der deutschen Einheit kommt die
Jahrzehnte, ehe diese „vier Freiheiten" tatsächlich gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion
realisiert werden konnten.
Da in den europäischen Partnerstaaten die Sorge
Ein Binnenmarkt funktioniert jedoch nur dann, aufkam, die deutsche Einheit trage dazu bei, dass
we nn die Marktteilnehmer eine Reihe von Regeln die größer und dadurch mächt iger werdende Bun-
einhalten. Die EU-Kommission ist verantwortlich, desrepublik Deutschland ihrer europapolit ischen
dass die Regeln für den Binnenmarkt nicht ver- Verantwortung nicht mehr gerecht werden könn-
letzt werden ; sie geht deshalb etwa gegen Wettbe- te, war die Unte rstützung der Bundesregierung
werbsverzerrung vor, sie greift ein bei Verstößen unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) einer gemeinsa-
gegen das Kartellverbot, bei Missbrauch einer men Wirtschafts- und Währungsunion ein wich-
marktbeherrschenden Stellung durch eine Firma tiges Signal. Zudem wa r das wiedervereinigte
oder bei Unternehmensfusionen zum Schaden der Deutschland mehr denn je an einer Vertiefung der
Verbraucher und der anderen Mitbewerber (>Kap. europäischen Integration interessiert. Die bereits
5.2. 1). Neben der Kontrolle ist für das reibungslo- Mitte der l 980er Jahre konkret in Angriff genom-
se Funktionieren des Binnenmarktes auch eine mene Errichtung eines Gemeinsamen Binnen-
möglichst weitgehende Angleichung der Rechts- marktes, die bis Ende 1992 abgeschlossen sein
und Verwaltungsvorschriften in den Mitgliedstaa- sollte, machte die Einführung einer gemeinsamen
ten vonnöten. Währung in der EU aus der Sicht ihrer Befürwor-
ter zu einem logischen nächsten Schritt - es galt
das Motto: Wer A sagt zum Binnenmarkt, muss
Das Europäische Währungssystem (EWS) auch B sagen zur gemeinsamen Währung.

Erste Pläne für eine gemeinsame Währung in den


EG-Staaten wurden schon in den l 970er Jahren Die Schaffung der Wirtschafts-
geschmiedet (,,Werner-Plan"). Diese konnten aber und Währungsunion (WWU)
aufgrund der ungünstigen gesamtwirtschaftli-
chen Situation (Ölpreiskrise) nicht umgesetzt wer- Im Vertrag von Maastricht haben sich die EU-Staa-
den und verschwanden zunächst in der Schub- ten darauf verständigt, eine gemeinsame Wäh-
lade. Mit der Einführung des sogenannten Euro- rung einzuführen (> Kap. 5.1.2). Dieser Währung
päischen Währungssystems (EWS) Ende der gaben die europäischen Finanzminister den Na-
l 970er Jahre war ein erster Zwischenschritt er- men „Euro"; der damalige deutsche Finanzminis-
reicht; mit diesem Instrument sollten die innereu- ter Theo Waigel (CSU) ist als Erfinder des Namens
ropäischen Währungsschwankungen begrenzt in die Geschichte eingegangen. Eine Vorausset-
werden (> Kap. 2.6.2). zung war, dass der Name in allen europäischen
Sprachen gut auszusprechen ist. Deshalb hatten
Anfang der l 990er Jahre geriet das Europäische andere Vorschläge wie „Gulden" oder technokra-
Währungssystem jedoch in eine schwere Krise. tisch klingende Abkürzungen wie „ECU" (Europe-
Bereits Ende der 1980er J ahre wa ren Plä ne zur an Currency Unit) keine Chance.
Errichtung einer Währungsunion geschmiedet
wo rden. Unter dem Vorsitz des EU-Kommissions- Der Vertrag von Maastricht, mit dem die Wirt-
präsidenten J acques Delors hatte eine Experten- schafts- und Währungsunion umgesetzt werden
gruppe einen nach ihm benannten Plan vo rgelegt. sollte, sah drei Stufen vor:
5.3 Zentrale Politikfelder I

1. 1990- 1993: Beginn des freien Kapitalmarktes ten, zum Abbau ihrer Staatsschulden bzw. zu hö-
2. 1994- 1998 : Reformen in den EU-Staaten, um herer Haush altsdisziplin gezwu ngen werde n.
die strengen Aufna hmebedingu ngen zu erfül-
len und Aufba u des Europäische n Währungsin- Zur Aufnahme in die WWU musste n die soge-
st ituts (EWI), dem Vorläufer der Europäischen nannten Maastricht-Kriterie n (auch: Konver-
Zentralbank (EZB) ; genz-Kriterien) erfüllt sein, die im EU-Vertrag
3. 1999- 2001: Prüfung, ob die Reformen erfolg- festgeschrieben wurden.
reich wa ren du rch EU- Kommission und EWI ;
a uf dieser Grundlage fällt die Entsch eidung,
welche Staaten in die Wirtsch a fts- u nd Wäh - Der Euro als Symbol für die europäische
rungsunion aufgenommen we rde n können. Einigung

Die Einführung einer gemeinsa men Währung hat-


Welche Bedingungen waren an die Einführung te in den Staaten, die die notwendigen Vorausset-
der neuen Währung geknüpft? zungen dafür erfü llten, nicht nu r weit reichende
ökonomisch e Folgen. Dieser Sch ritt war auch von
Aus Sicht der deutschen Bundesregieru ng war es großer polit ischer Symbolkraft. In 19 EU-Staaten,
wic htig, ein en Mechanismus zu h aben, mit dem die ihn inzwischen nutzen (Stand 20 18), ist der
die St abilität der neuen Währung dauerhaft gesi- Euro ein Stück Europa zum Anfassen. Mit Aus-
che rt werden konnte. Ein erste r Baustein dafür nahme von Dä ne mark, Schweden u nd Großbri-
war der St abilitäts- u nd Wachstumspakt, der 1997 tan nien haben alle da maligen EU-Mitgliedstaaten
auf Drä ngen der deutschen Bundesregierung ein- die gemeinsame Währu ng eingefüh rt. Großbritan-
gefü h rt wurde. Dami t sollten Euro-Staaten, die nien u nd Dänemark h atte n bereits im Vertrag v on
au ch nach ihrem Beit ritt zur Wä h run gsu nion die Maastricht eine Sonderregelung (,.opt ing out")
Krit erien des Maastrichter Vertrags nicht einhiel- erreicht. In Schweden scheiterte die Ein führung

Beginn der
Der Weg Endstufe Europäische Zentralbank
zur Wirtschafts- derWWU:
,, Eurosystem"
und Währungs- Nationale Zentralbanken
union

Abgestimmte, Unabhängige,
stabilitäts- einheitliche
orientierte Geld- und
Wirtschafts-und
Finanzpolitik

Die Inflationsrate Das jährliche Defizit Teilnahme am EWS- Die langfristigen


liegt um maximal beträgt höchstens Wechselkursverbund Zinsen liegen um
1,5 Prozentpunkte 3 % , die gesamte seit mindestens zwei max. 2 Prozentpunkte
höher als in den Staat sschuld höchs- Jahren ohne große höher als in den
drei „preisstabilsten" tens 60 %des Brutto- Kursschwankungen drei „preisstabilsten"
EU-Mitgliedstaat en inland sprodukts EU-Mitgliedst aaten

Voraussetzungen für die Aufnahm e in die WWU


! ZAHLENB ILDERl-ffi
e> Bergmoser + Höller Verlag AG 715520
5 Die Europäische Union

des Euro, weil sich die Mehrheit der Bevölkerung würde. Die Folge war, dass die Zinsen, um neue
2003 in einem Referendum dagegen ausgespro- Kredite gewährt zu bekommen, in die Höhe schos-
chen hatte. Alle anderen EU-Staaten - auch die in sen und sich Griechenland diese nicht mehr leis-
den Jahren 2004, 2007 und 2013 neu aufgenom- ten konnte.
men Länder - sind laut EU-Vertrag verpflichtet,
den Euro einzuführen, wenn sie die ökonomischen Daraufhin setzte ein Domino-Effekt ein, der die
Voraussetzungen und die strengen Stabilitätskri- gesamte Eurozone in Gefahr zu bringen drohte -
terien erfüllt haben. mit unabsehbaren Folgen für das gesamte inter-
nationale Finanzsystem. Die Finanzmärkte und
Zu der ersten Grup pe, die 1999 auf den Euro als internationalen Kreditgeber hatten angesichts der
Rechnungsgeld umgestellt hat, gehörten : Belgien, Entwicklung in Griechen land auch Zweifel be-
Deutschland, Irland, Spanien, Frankreich, Italien, kommen, ob Länder, wie Irland, Portugal, Spanien
Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal und oder Italien in der Lage sein würden, ihre Schul-
Finnland. Im Jahr 2001 kam Griechenland dazu, den zurückzuzah len (> Kap. 2.5.2). Auch diese
dann folgten Slowenien (2007), Zypern und Mal- Staaten gerieten ebenfalls in eine Schiefl age, da
ta (2008), die Slowakische Republik (2009) und sie am internationalen Kapitalmarkt kaum mehr
schließlich die drei baltischen Staaten Estland neue Kredite erhielten.
(2011), Lettla nd (2014) sowie Litauen (2015).

Europäische Sozialpolitik - eine Antwort


Der griechische Schockmoment auf gemeinsame Herausforderungen?

In den ersten zehn Jahren entwickelte sich die Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat in einigen
neue Währung gut und etab lierte sich neben dem Ländern der Europäischen Un ion die Lage vieler
US-Dollar als eine der wichtigsten internationalen Menschen durch Arbeitslosigkeit und prekäre Le-
Währungen. Als jedoch 2009 die griechisch e Re- bensverhältnisse wie (Alters-)Armut oder lücken-
gierung öffentlich zugeben musste, dass die Haus- hafte Gesundheitsverso rgung verschärft. Auch
haltszahlen, die man nach Brüssel gemeldet hatte, Umbrüche in der Arbeitswelt wie die Globalisie-
um seine „Reife" für den Beitritt zur Eurozone zu rung, der digitale Strukturwandel und die demo-
belegen, gefälscht waren, geriet Griechenland in grafische Entwicklung sorgen für sozialpolitische
große Schwierigkeite n. Herausforderungen (> Kap. 2).

Auf den internationalen Finanzmärkten konnte Aus Sicht der Europäischen Kommission gilt dabei
sich die Regierung in Athen nicht mehr mit fri- der Grundsatz: ,,Wirtschaftspolitik ist Sozialpoli-
schem Geld versorgen, da die Kreditwürdigkeit des tik und Sozialpolitik ist Wirtschaftspolitik." Des-
Landes ve rloren gegangen war und somit Kred it- halb wird u. a. das Binnenmarktprojekt als derje-
geber kein Vertrauen mehr darin hatten, dass der nige Bereich betrachtet, in dem viele sozial-
griechische Staat seine Schulden zurückzahlen politische Maßnahmen greifen sollen. Einen
Schwerpunkt bildet der Arbeitsmarkt. Zahlreiche
Programme haben zum Ziel, dass Beschäftigung
aufgenommen, gesichert und ausgebaut werden
Was heißt Solidarität? kan n. Nebe n dem Broterwerb spielt zudem auch
eine verbesserte fi nanzielle Ausstattung der Sozi-
,,Solidarität (S.) meint die wechselseitige Verpflichtung, als Mitglie- alsysteme eine große Rolle: Durch steigende Bei-
der von Gruppen oder Organisationen füreinander einzustehen tragsaufkommen und weniger Transfers an eine
und sich gegenseitig zu helfen. S. entspringt gemeinsamen Inter-
si nkende Zahl an Leistungsberechtigten sollen die
essen und Überzeugungen und beruht auf einem Zusammenge-
hörigkeitsgefühl. Dass aus Bindungen Verpflichtungen erwach- sozialen Sich erungssysteme funktionsfähig blei-
sen, die begründungsbedürftig und -fähig sind, bildet den Kern ben und die Lebenschancen des Einzelnen verbes-
des Solidaritätsproblems." sert werden.

Manfred Groser, Solidarität, in: Dieter Nohlen und Florian Grotz {Hrsg.),
Kleines Lexikon der Politik, BpB, 2 01 5, S. 5 86
Auch wenn die Sozialpolitik überwiegend auf der
nationalen Ebene der EU-Mitgliedstaaten ange-
5 .3 Zentrale Politi k felder I

siedelt ist, haben grenzüberschreitende Probleme • faire Arbeitsbedingungen sowie


und Entwicklu ngen zu gemeinsamem Vorgehen • d ie Eingliederung von Menschen mit Behinde-
geführt. So versucht die „Europäische Säule sozi- ru ngen.
aler Rechte" einen Rahmen z u liefern, an dem sich
die Mitgliedstaaten der EU bei der Ausgestaltung Oftmals sind die europäischen Maßnahmen dazu
sozialer Maßnah men orientieren können und ggf. gedacht, Anstrengungen der EU-Mitgliedstaaten
auch orientieren müssen. Im Mittelpunkt stehen auf sozialpolitischem Gebiet zu unterstützen, ein
dabei Bewusstsein für Probleme zu schaffen, den Infor-
mationsaustausch zu vertiefen und das Wesen der
• Chancengleichheit, EU als Wertegemeinschaft zu betonen. Auch im
• Absicherung gegen Lebensrisiken wie Krankheit diesem Zusammenhang kommt dem Stichwort
oder Erwerbslosigkeit, ,,Solidarität" eine wichtige Bedeutung zu.

Anteil der Menschen, die im Jahr 2016 von Armut oder


Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen waren, in Prozent

soziale Bulgarien
Rumänien
40,4 %
38,8
Griechenland 35,6
Ausgrenzung Litauen 30,1
Italien 28,7
in der EU Kroatien 28,5
Lettland 28,5

**** *
Spanien 27,9
Zypern 27,7
* * Ungarn 26,3
* *•* * Irland 26,0
Portugal 25,1
KRITERIEN Estland 24,4
Großbritannien 22,2
Armutsgefährdung Polen 21,9
Haushaltseinkommen Belgien 20,7
ist geringer als 60 % Malta 20,1
des mittleren Einkommens Deutschland 19,7
der Gesamtbevölkerung
Luxemburg 19,7
Soziale Ausgrenzung Slowenien 18,4
Personen, die sich Grund- Schweden 18,3
legendes nicht leisten können Frankreich 18,2
(z.B. Waschmaschine) Slowakei 18,1
und/oder (unter 60-Jährige) Österreich 18,0
die in Haushalten mit sehr Niederlande 16,8
geringer Erwerbstätigkeit leben Dänemark 16,7

Quelle: Eurostat
Finnland
Tschechien
16,6
13,3 ca,o...121
Aufgaben
1. Erklären Sie, warum es sich beim Binnenmarktprojekt um das „Herzstück" der europäischen Integration
handelt.

2. Erörtern Sie, inwiefern es sinnvoll wäre, die Eurozone in absehbarer Zeit auf alle Mitgliedstaaten der EU aus-
zudehnen.

3. Diskutieren Sie folgenden Grundsatz der Europäischen Kommission: ,,Wirtschaftspolitik ist Sozialpolitik und
Sozialpolitik ist Wirtschaftspolitik".

4. Führen Sie in Ihrer Lerngruppe eine Debatte zu folgendem Thema: Sollte die Europäische Kommission bei
der Verwirklichung eines „sozialen Europas" einflussreicher sein oder sind hauptsächlich die EU-Mitgliedstaa-
ten dafür verantwortlich?
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Europa-Rede

Auszug aus der Europa-Rede von Martin Schulz in seiner damaligen Funktion als Prä-
sident des Europäischen Parlamentes am 9.11.2012, Berlin

Zeiten der Krise sind immer Zeiten der Exekutive. Unter dem Ereignisdruck der Märk-
te sind schnelle Entscheidungen gefragt. Denn Parlamente, die nationalen gleicher-
5 maßen wie das Europäische, werden zusehends an den Rand gedrängt. Einmalig mag
das hinzunehmen sein, aber als perpetuierter [dauerhafter] Ausnahmezustand gefähr-
det dies die Demokratie. Der Trend der[... ] Vergipfelung, die Zunahme der Gipfeltreffen
des Europäischen Rates, bei denen immer mehr Detailfragen entschieden werden,
höhlt die Demokratie aus. [Der Philosoph] Jürgen Habermas hat das als „Selbster-
10 mächtigung des Europäischen Rates" bezeichnet. Mich erinnert dieses Vorgehen an
den „Wiener Kongress" im 19. Jahrhundert. Damals lautete die Maxime: Nationale
Interessen durchdrücken[,] und das ohne demokratische Kontrolle.
Begründet wird dieses Vorgehen mit einer vermeintlichen Steigerung der Handlungs-
fähigkeit. Ich sage vermeintlich, weil es in der Tat oftmals zu einer Verunmöglichung
15 von Entscheidungen und Handlungen führt. Denn im Europäischen Rat wird gemäß
dem Einstimmigkeitsprinzip entschieden- das heißt nichts anderes, als dass das lang-
samste und unwilligste Mitglied das Tempo vorgibt. [... ]
Die Herausforderung an die Politik heute ist: Die Handlungsfähigkeit und zugleich die
Demokratie zu bewahren.
20 Die Krise macht uns bewusst, dass wir bereits heute nicht mehr im nationalen Rahmen,
sondern im eng verflochtenen Europa leben. Ein Land kann alle anderen mit in den Ab-
grund reißen. [...] Unsere Volkswirtschaften, unsere Gesellschaften, unsere Leben sind
bereits untrennbar miteinander verknüpft. Die Menschen haben das begriffen. Sie inte-
ressieren sich bereits mehr dafür, was in ihren Nachbarländern passiert. (... ]Allerdings
25 negieren [verneinen] manche Regierungen diesen bereits existierenden europäischen
Bezugsrahmen noch. Sie halten lieber an der Fiktion nationalstaatlicher Souveränität
fest. An der Inszenierung Brüsseler Gipfeltreffen, auf dem nationale Interessen durchge-
boxt werden und die Ergebnisse dann jeweils als Sieg verkauft werden.[... ] Dass Nati-
onalstaaten in vielen Bereichen ihre Handlungsfähigkeit bereits weitgehend eingebüßt
30 haben, erleben wir jeden Tag. Auf den unkontrollierten und teilweise hemmungslosen
Finanzmärkten werden Nationalstaaten zum Spielball der Finanzinteressen.[... ]
Es besteht kein Bedarf, jetzt in der Krise das Rad neu zu erfinden. Die Gemeinschafts-
methode in den Gemeinschaftsinstitutionen veranker[n], das ist die Basis, um Hand-
lungsfähigkeit und Demokratie in Europa zu bewahren. Denn die EU , und das wird oft
35 vergessen, ist ja der Versuch nicht nur supranationale Lösungen für transnationale
Probleme zu finden, sondern die Demokratie dabei zu retten. Eben nicht Regierungs-
chefs in intergouver[ne]mentalen Foren, hinter verschlossenen Türen, der Öffentlichkeit
unzugänglich, Absprachen treffen zu lassen, die die heimischen Parlamente nur mehr
durchwinken sollen[,] [s]ondern parlamentarisch legitimierte Entscheidungen über
40 Sachverhalte, die uns alle angehen und die [die] Handlungsfähigkeit von Nationalstaa-
ten übersteigen, auf transnationaler Ebene zu treffen.
Für mich bedeutet der Auftrag des Friedensnobelpreises der Politik der Kurzfristigkeit
eine Absage zu erteilen und wieder zu einer Politik der Langfristigkeit zurückzukehren.
Denn nur eine langfristige Perspektive macht eine nachhaltige Politik möglich. Erlau-
45 ben Sie mir, hierzu zum Abschluss drei Anmerkungen zu machen.
Erstens, wir müssen uns den überall in Europa wieder aufflammenden nationalisti-
schen Vorurteilen entgegenstellen. Die Zentrifugalkräfte der Krise drohen uns ausein-
anderzutreiben. Viele Deutsche sehen sich als Zahlmeister für den Schlendrian Ande-
rer in Haftung genommen. Andere Völker sehen sich als Opfer einer von außen
KOMPETENZEN ANWENDEN I

so oktroyierten [aufgezwungenen], in Berlin entschiedenen Sparpolitik, sie fühlen sich um


ihre Selbstbestimmung gebracht und ihre Demokratie beschädigt. [ ...]
In dieser wirtschaftlich und sozial angespannten Lage fällt die Hetze von Populisten
und Extremisten auf fruchtbaren Boden: Die Saat von Zwietracht und Groll ist ausge-
bracht. Die Dämonen der Vergangenheit zeigen heute w ieder ihre hässliche Fratze.
55 Dämonen, die immer nur Unglück über die Völker Europas brachten. [... ]

Zweitens, wir müssen uns der Spaltung Europas entgegenstellen. Das Europa der
unterschiedlichen Geschwindigkeiten kam ja bereits vor einigen Jahren in intellektuel-
le Mode. Joschka Fischer erklärte, eine „Avantgarde" müsse die „Rolle der Lokomo-
tive bei der politischen Integration " übernehmen. Wolfgang Schäuble und Karl Lamers
60 sprachen sich für ein „ Kerneuropa" aus. Heute stehen manche dieser Ideen vor der

Umsetzung. Droht doch zusehends die Spaltung in Euro- und Nicht-Euro Länder. Das
mag zunächst sogar einleuchtend sein. Warum sollten Länder, die nicht im Euro sind,
an Entscheidungen der Euro-Governance beteiligt sein? Aber schalten wir von der
kurzfristigen auf die langfristige Perspektive, dann ergibt sich ein anderes Bild: Der
ss Euro ist die Währung der Europäischen Union. Alle EU-Mitgliedsländer- außer zweien,
die sich ein Opt-Out erbeten haben - sind verpflichtet, den Euro einzuführen, sobald
sie die Kriterien erfüllen. Macht es also Sinn, diese Länder von Schlüsselentscheidun-
gen auszuschließen, die sie in naher Zukunft unmittelbar betreffen werden? [... ]
Für Länder, die sich langfristig aus bestimmten Gemeinschaftspolitiken ausgeklam-
10 mert haben oder dies beabsichtigen, müssen sicherlich Prozeduren gefunden werden.

Das gilt nicht nur für die jeweiligen Abgeordneten im Europäischen Parlament, sondern
auch für die Kommissare, die Fachminister, die Richter beim Europäischen Gerichts-
hof.
Drittens, die Europäische Union ist ein Langzeit-Projekt, das immer Langzeit-Dividen-
75 den abgeworfen hat - und sie verdient eine Langzeit-Perspektive, über die Tagespoli-

tik, über Umfragewerte, über Wahltermine hinaus. Alle Erfolge der Europäischen Union
waren Langzeiterfolge: Die Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Europäische Wirt-
schaftsgemeinschaft, die Aufnahme junger Demokratien, der Euro und die Osterwei-
terung. Wir erleben gewiss die schwerste Krise seit der Gründung der EU. Aber ein Teil
80 der Krise ist sicherlich auch, dass uns viele dieser Erfolge selbstverständlich geworden

sind - auf dem wohlhabendsten Kontinent dieser Erde frei reisen, arbeiten und leben
zu können, mit einem Lebensstandard und einem Grundrechteschutz, der in anderen
Teilen der Welt wie ein Traum erscheint.
Wie leichtfertig wird derzeit über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen debattiert!
85 Oder die Aufgabe des Euros propagiert, der doch eine stabile Währung ist und zu

unserem Wohlstand beigetragen hat!

Konrad-Adena uer-Stiftung e. V., Stiftung Zukunft Berlin, Robert Bosch Stiftung (Hrsg.) :
„Die Rückkehr zur Langfristigkeit. ", 2013, S. 16ff

Aufgaben
1 . Stellen Sie die Auffassungen des Autors in eigenen Worten dar.

2. Erläutern Sie mögliche Zielkonflikte zwischen der Handlungsfähigkeit der EU-Exekutive und
der demokratischen Grundlage einer politischen Entscheidung auf supranationaler Ebene.

3. Recherchieren Sie zum Stichwort „Gemeinschaftsmethode" und informieren Ihre Lerngrup-


pe in einem Referat (• Methodenglossar) über Ihre Ergebnisse.

4. Diskutieren Sie, inwiefern die Gemeinschaftsmethode dazu geeignet ist, sowohl der Hand-
lungsfähigkeit der EU-Exekutive als auch dem Demokratiegebot gerecht zu werden.
5.3.2 Außen- und Sicherheitspolitik
Leitfragen Welche Merkmale kennzeichnen Wie lässt sich der Politikan- Vor welchen internationalen
das Selbstverständnis der EU in satz der „Soft Power" Herausforderungen steht
der internationalen Politik? charakterisieren? die EU?

Die EU als internationaler Akteur Welche Rolle spielt die EU


auf der globalen Bühne?
Der Vertrag von Maastricht a us dem Jahre 1993
hat eine neue Basis für die engere Zusammenar- Die Europäische Union wird häufig als „Zivil-
beit der EU-Mitgliedstaaten auf dem Feld der Au- macht" oder „Soft Power" beschrieben. Das be-
ßen- und Sicherheitspolitik geschaffen. Der Ver- deutet, dass sie auf eine zivile, also nicht-militä-
trag spricht vo n ei ner „Gemeinsamen Außen- und rische Polit ik in ihren Beziehungen zu Nach-
Sicherheitspolitik" (abgekürzt „GASP"); diese bie- barregionen und Drittstaaten wie Russland oder
tet einen polit ischen und rechtlichen Rahmen für China setzt. Das politische Gewicht der EU beruht
eine breite Palette von Themen und Herausforde- dabei vor a llem auf der eigenen wirtschaftlichen
rungen, mit denen sich die EU und ihre Mitglied- Macht, die mit dem größten Binnenmarkt der Welt
staat en in der internationalen Politik konfrontiert von über 500 Millionen Menschen einhergeht und
sehen. Zu diesen Themen gehören beispielsweise sie zum attraktiven Gesprächspartner macht für
die Entwicklungszusammenarbeit, der Kampf ge- alle, die Zuga ng zu diesem riesigen Markt haben
gen den internationalen Terrorismus, die Außen- wollen. Ein Blick in den EU-Vertrag zeigt zudem,
handelspolitik, die Umwelt- und Klimapolitik so- dass die Europäische Union darüber hinaus auch
wie die globale Migration oder die europä ische als „normative Macht" verstanden werden kann,
Energieversorgu ng. die bestimmten Normen und Werten und nicht n ur

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

@, Europäischer Rat
(EU-Gipfel)
bestimmt die strategischen
► Interessen der Union und
legt Ziele und allgemeine
Leitlinien der GASP fest

► gestaltet die GASP


beschließt über Aktionen
Rat ► und Standpunkte der Union
(Ministerrat) und über deren Durchführung
► setzt Sonderbeauftragte ein
d

◄ Anhörung
Europäisches Unterrichtung Hoher Vertreter ► leitet die GASP
Parlament macht Vorschläge zur Fest-
► Empfehlungen der Union für Außen-

legung der GASP und
und Sicherheitspolitik sichert ihre Durchführung

► beobachtet die internationale


Europäischer Politisches und Lage, gibt Stellungnahmen ab
Auswärtiger Sicherheitspolitisches
► kontrolliert und leitet Krisen-
Dienst Komitee bewältigungsoperationen

f f i lZAHLENBILDE] _ _- - = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =- - -
c Bergmoser + Höller Verlag AG 71 5 200
5.3 Zentrale Politi kfelder I

politischen und wirtscha ftlich en Interessen ver-


pflichtet ist. Soft Power
Der Begriff (engl., ,,weiche Macht") beschreibt eine besondere
Form der politischen Machtausübung, die sich nicht auf klassi-
Agiert die EU auch militärisch? sche militärische Ressourcen wie Raketen, Panzer, Flugzeugträ-
ger und Armeen (,,hard power") stützt. Zu den Mitteln und Instru-
Vor dem Hintergrund der Balkan -Kriege in den menten einer „Soft Power" gehören die Attraktivität und
Überzeugungskraft politischer Normen und Werte oder die eigene
l 990er Ja hren, in denen die EU mit ihren Vermitt-
kulturelle Anziehungskraft auf andere Staaten und Gesellschaften
lu ngsbemühungen gescheitert war, entwickelte (z.B. ,,American Way of Life", Hollywoodfilme, Coca Cola). Die
die Europ äische Union in Reaktion dara uf seit USA gelten traditionell nicht nur als militärische Macht, sondern
1999 sch rittweise eine eigenstä ndige Europäische als klassische „Soft Power". Aber auch andere Staaten wie China
Sich erheits- und Ve rteidigungspolit ik (ESVP). Im und politische Gemeinschaften wie die Europäische Union verste-
Vertrag v on Lissabon (2009) w urde sie in „Ge- hen sich als „weiche Macht": Bei der EU gelten die Erweiterungs-
meinsame Siche rheits- und Verteidigun gspolitik" und Nachbarschaftspolitik, mit der sie ihr Politik-, Gesellschafts-
und Wirtsc haftsmodell auf andere Staaten überträgt, sowie die
(abgekürzt: GSVP) umbena nnt. Die GSVP ist dabei
Vorreiterrolle in der internationalen Klimapolitik als Beispiele für
Teil der umfassenderen Gemeinsa men A ußen- ihre „weiche Macht".
und Sicherhe itspolitik und beinhaltet folgende
Politikfelder:
'-+------------------------'

• Abrüstu ngspolitik;
• Konfliktverhütu ng und friedenserha ltende Au f- • regionale Ko nflikte,
gabe n; • scheiternde Staaten und
• Ka mpfeinsätze im Ra hmen der Krisenbewä lti- • organisierte Kriminalität.
gung einschließlich Friedenserh altung ;
• Bekä mpfung des inte rnation alen Terrorismus; Die Hauptziele der europäische n Außen - u nd Si-
• Beista ndsverpflichtung bei bewaffneten A ngrif- cherheitspolit ik sind vor dem Hintergrund dieser
fen auf einen EU-Mitgliedst aat sow ie Bedrohungsanalyse die Sicherung von politischer
• die Gemeinsame Verte idigung. u nd gesellschaftlicher Stabilität in den Nachbar-
regione n Eu ropas, die Stä rkung des „Mult ilatera-
Seit 2003 wurden im Rahmen der Ge meinsamen lismus", a lso der engen und effektiven Zusam-
Sich erheits- und Verteidigungsp olit ik de r EU menarbeit mit a nderen Staaten im Rahme n von
za hlreiche zivile Missionen und militä rische Ope- internationa len Organ isationen wie den Vereinten
rationen beschlossen und umgesetzt. Der Einsatz Natio nen sowie die Aufrechterh altung eine r Welt-
militärischer Mittel wird somit von der EU nicht ordnu ng, in der die vo m Völkerrecht und der
grundsätzlich abgelehnt, milit ärische Ressourcen UN-Charta gesicherten Normen und Werte gelten.
sollen j edoch nur als letztes Mittel (,,ultima rat io")
eingesetzt werden. Kernpri nzip in der Sicherheitsstrategie war der
Ansatz der vorbeugenden Prävention : Diplomati-
sche, w irtsch aftliche und e ntwickl ungspolitische
Die Ziele in der Außen- und Mittel sollten dazu beitragen, dass Konflikte und
Sicherheitspolitik der EU Kriege - so die Idealvorstellung - gar nicht erst
a usbreche n. Im J ahr 20 16 veröffentlichte die EU
Im Jahr 2003 wurde vo m Europä ischen Rat die eine „Globale Strategie", in der der Anspruch der
Eu ro päische Sicherheitsstrategie verabschiedet; ersten Sicherheitsstrategie aus dem Jah r 2003,
der Titel lautete „Ein sicheres Europa in einer bes- weltweit de n „eu ro pä ischen" Werten u nd Ideen
sere n Welt". In diesem Dokument legte n die Euro- mehr Geltu ng zu verschaffen, relativ iert w u rde.
päer erstma ls ihre auße n- und sicherheitspoliti-
sch en Ziele da r und na nnten die a us europä ischer
Sicht größten Bedrohungen. Dies waren : Wer vertritt die EU international?

• Terrorismus, In den 1970 er J ahren soll der damalige US-ame-


• Verbreitu ng von Massenvernichtungswaffen, rika nische Außenmi nister Henry Kissin ger die
5 Die Europäische Union

Europa heute

Wlm•&lt14ml'l,it•l,l- ----------- ---- ---- ------- ----.


1 1

• : : Sehengen-Gebiet
• L ~ h'ii-Hihi
Euro-Währungsgebiet ..............................
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Osterreich Belgien Estland
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Frankreich -Deut schland Griechenland Italien Dänemark ■1 - Europäische ,
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Bulgarien Kroatien Rumänien
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___________ .. ______________________ Vereinigtes Königr~ich
--11 w

Ukraine

Europäische
Zollunion 11 -
3
111,;1 • -
Andorra Monaco San Marino Türkei

Nato Kanada Vereinigte


Staaten von
Amerika

Frage gestellt haben: ,.Wen soll ich anrufen, wenn sie sich mit den a nde ren Kollegen in Europa ab-
ich mit Europa sprechen will?" Auch wenn Kissin- gestimmt ha ben.
ge r diesen Satz so nie for muliert hat, bringt die
ihm zugesch riebene Frage das zentrale Problem in Dies war ein e rster Schritt in Richtung einer euro-
der europäischen Außen- u nd Sicherhe itspolit ik päisch e n Außenpolitik, a uch wenn die Anfä nge
a uf den Punkt: Die Frage, wer für „Europa" in sehr b escheiden waren und die beteiligten Minis-
außenpolitischen Angelegenheiten spricht bzw. ter und Beamtena pparate sich erst daran gewöh-
sprechen darf. nen mussten, das neue Verfahren auch zu nutzen.
Trotzdem galt die EPZ a ls zu schwerfällig. Die
Mit dem Problem, wie eine mehr oder wenige r „europä ische" Außenpolitik war n ach Ansicht vo n
einheitliche „europä ische" Außenpolitik erreicht Experten eine Mischung aus der Außenpolitik, die
werden kann, beschäftigt sich die Europä isch e Ge- die einzelnen Mitgliedstaaten verfolgten und ers-
me inschaft seit J ahrzehnte n. Bereits 1970 wurde ten zaghaften Ansätzen e iner wirklich gemeinsa-
der Grundstein gelegt für die Europäische Politi- men Polit ik.
sche Zusammenarbeit (EPZ). Diese war rein zwi-
schenstaatlich in Form eines Mecha nismus zwi- Im Vertrag von Maastricht, der 1993 in Kraft ge-
schen den Auße nministern der da maligen treten ist, wurde der Gemeinsamen Außen- und
EG-Staaten organisiert. Es sollte sichergestellt Sicherheitspolitik ein eigenes, umfangreiches Ka-
werden, dass sich bei einer intern atio nalen Krise pitel gewidmet. Dieses Politikfeld blieb zwar wei-
nationale Außenminister erst dann äußern, wenn terhin „i ntergouvernemental",jedoch sollte durch
5 .3 Zentrale Politikfelder I

die Einführung neuer Institutionen und Instru- Außenpolitikerin Federica Mogherini als EU-Au-
mente ein höheres Maß a n „Europäisierung" er- ßenbeauftragte ihr Amt a ngetreten ; zu ihren bis-
reicht werden. Bei nachfolgenden Reformen wur- her größten diplomatischen Erfolgen gehört die
de der Weg einer verstärkten Zusammenarbeit Vertretung der EU in den 201 5 erfolg reich abge-
weiterverfolgt. schlossenen Verhandlungen zu einem internat io-
nalen Atomabkommen mit Iran.

Der „Hohe Vertreter der EU für die


Außen- und Sicherheitspolitik" Vor welchen Herausforderungen steht die EU?

Die wichtigste Änderung im Hinblick au f die Fra- Seit dem Referendum zum EU-Austritt Großbri-
ge nach einem europäischen Ansprechpartner tanniens (,,Brexit") im Juni 2016 und der Wahl des
kam mit dem Vertrag von Amsterdam und der US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump
Einführung ei nes neue n Amtes: Der „Hohe Vertre- im November desselben Jahres hat s ich d ie Dis-
ter der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik". kussion um eine Stärkung der Europäisch en Si-
Dieser wird häufig a uch als A ußenbeauftragter der cherheits- und Verteidigungspolitik verändert:
EU beschrieben und sollte der Union „Gesicht und Viele Beobachter und Politiker sahen - auch vor
Stimme" auf der globalen Bühne geben sowie die dem Hinterg rund einer als aggressiv wa hrgenom-
Außenpolitik der Mitglieder zusammenführen. Zu men en russischen Außenpolit ik - nun die Chance,
seinen Aufgaben gehört es,Vorschläge und Ideen aber a uch die Notwendigkeit, dass die Euro päische
zu entwickeln und Entscheidungen vorzubereiten. Union stärker als bislang verteidigungsp olitisch
Seit dem Vertrag von Lissabon wird der Hohe Ver- auf eigene Ressourcen setzt.
treter vom Europäischen Auswärtigen Dienst
(EAD) un terstützt, in dem Beamte a us der EU-Kom- Eine Folge dieser neuen Situation wa r die Prokla-
mission zusammen mit Beamten aus den A ußen- mation einer „Verteidigungsunion" Ende 2017.
ministerien der Mitgliedstaaten der EU a rbeiten. Fast alle EU-Staaten h atten sich darauf im Rah-
men der sogena nnten „Ständigen Strukturierten
Der erste Politiker, der das Amt des Hohen Vertre- Zusammenarbeit" (engl. Abkürzung la utet Pesco,
ters übernahm und bis 2009 innehatte, wa r Javier ,,Permanent Structured Cooperation") dara u f ver-
Sola na, der als ehemaliger NATO-Generalsekretär ständigt, ihre verteidigungs- und rüstungspoliti-
große internatio nale Erfahrung und beste Kontak- schen Anstrengungen zu verstärken und die Zu-
te mitbrachte. Ihm nachgefolgt ist die Britin sammena rbeit zwisch en den nationalen Streit-
Catherine Ashton, die dieses Amt bis 2014 beklei- kräften effektiver zu organisieren.
dete. Am 1. November 2014 hat die italienische

Aufgaben
1. Benennen Sie die Bereiche der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit in der EU.

2. Charakterisieren Sie die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen den Staaten in Europa mit drei
Schlagwörtern. Diskutieren Sie Ihre Ergebnisse in der Lerngruppe.

3. Erörtern Sie, inwieweit die Europäische Union eine Soft Power ist.

4. Wen würden Sie im Hinblick auf die Henry Kissinger zugeordnete Frage nac h der Telefonnummer Europas im
außenpolitischen Krisenfall anrufen? Begründen Sie ihre Auswahl.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Warum hat die EU keinen Sitz im UN-Sicherheitsrat?

Die Europäische Union ist kein eigenständiger Staat und kann deshalb keinen Sitz für
sich beanspruchen. Das verbieten die Regeln der Vereinten Nationen. Allerdings hat
die Gemeinschaft seit 2011 einen neuen Status, in der Vollversammlung der Vereinten
Nationen sprechen nicht mehr die Vertreter der Mitgliedstaaten, sondern je nach The-
s ma der Ratspräsident, der Kommissionspräsident oder die Hohe Beauftragte für die
Außen- und Sicherheitspolitik.
Zum ersten Mal in der UN-Geschichte sprach Herman van Rompuy im Namen der
Europäischen Union bei der 66. Vollversammlung im September 2011. [ ... ]
Die Europäische Union soll durch diese neue Regel ein wiedererkennbares Gesicht auf
10 der internationalen Ebene bekommen. Im Namen der Europäischen Union spricht nicht

mehr der jeweilige Regierungschef eines beliebigen Mitgliedstaates, sondern der Prä-
sident aller 28 Länder. [ ... ]
Die neue Regelung führt dazu, dass der EU-Vertreter in den Diskussionen früher spre-
chen und an der Eröffnungsdebatte teilnehmen darf. Allerdings wird dies nicht auto-
1s matisch zur Folge haben, dass sich die Mitgliedstaaten in allen außenpolitischen Fra-
gen auf eine gemeinsame Position einigen. [ ... ]Einige Außenpolitiker im Europäischen
Parlament wünschen sich langfristig trotz der Schwierigkeiten einen EU-Sitz im Sicher-
heitsrat. Dafür müsste allerdings erst die UN-Charta geändert werden.

Ruth Reichenstein, Die Europäische Union. Die 10 1 wichtigsten Fragen, 2016, 5. 148-149

M 2 Rüstung, keine Aufrüstung

Knut Fleckenstein, der stellvertretende Vorsitzende der Fraktion der Progressiven Alli-
anz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament wurde gefragt, weshalb eine
breite Debatte um eine stärkere europäische Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik
ausgebrochen sei:

Warum ist die Debatte um eine stärkere europäische Zusammenarbeit in der


Sicherheitspolitik, Stichwort „europäische Armee", wieder aufgelebt?
s In den letzten Jahren hat sich die Sicherheitslage Europas deutlich verschlechtert:
Konflikte und Kriege, Instabilität in Nachbarstaaten, der wachsende Extremismus und
Terrorismus und die damit verbundenen Anschläge in Europa führen zu einem verstärk-
ten Sicherheitsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger. Die Finanzkrise und die darauf
folgende Austeritätspolitik haben mit zu wachsender Ungleichheit und Ungerechtigkeit
10 geführt und somit einen Nährboden für Konflikte geschaffen. Auch Russlands Bruch

des Völkerrechts in der Ukraine hat dazu beigetragen. Und nicht zuletzt sorgt das
Verhalten des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump für Unruhe.
Derzeit geht es nicht um den Aufbau einer „europäischen Armee", sondern um die
Integration der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und damit vor allem
1s um effizientere Kapazitätenplanung und -beschaffung. Wichtig ist eine auf EU-Ebene
abgestimmte Rüstung, keine Aufrüstung: Wir müssen Doppelungen vermeiden und
Interoperabilität schaffen. Die Geschichte der EU zeichnet sich durch ihre „soft power"
aus. Bei all den Debatten um Sicherheit und Verteidigung darf dieser Ansatz nicht
vernachlässigt werden.
20 Ist die EU reif für eine stärkere verteidigungspolitische Zusammenarbeit?

Zunächst einmal geht es um die Frage: Sind die Mitgliedstaaten bereit, mehr als bisher
zu kooperieren und ein Stück weit Souveränität abzugeben? Nur auf der Grundlage
von ausreichend politischem Willen der Mitgliedstaaten wird eine stärkere verteidi-
KOMPETENZEN ANWENDEN I

gungspolitische Zusammenarbeit möglich und erfolgreich sein. Dann muss die Finan-
2s zierung geklärt werden: Soll die EU mehr Aufgaben übernehmen, dann müssten die
Mitgliedstaaten auch mehr Mittel zur Verfügung stellen. Zudem braucht es gut aufge-
stellte Institutionen, wobei in erster Linie die Europäische Verteidigungsagentur (EVA)
eine größere Rolle einnehmen sollte und die Rolle des Parlaments geklärt werden
muss.
30

Wie ist die Haltung zu einer „europäischen Armee" im Europäischen Parlament"?


Von einer „europäischen Armee" sind wir weit entfernt. Wir konzentrieren uns zurzeit
auf die nächsten Schritte einer sinnvollen Integration. In ihrem Reflexionspapier über
die Zukunft der europäischen Verteidigung zeigt die Kommission drei Szenarien auf,
die verschiedene Grade der Integration beschreiben: 1. Zusammenarbeit im Sicher-
35 heits- und Verteidigungsbereich, 2. geteilte Verantwortung für Sicherheit und Verteidi-
gung und 3. gemeinsame Sicherheit und Verteidigung.
Die politischen Konfliktlinien verlaufen vor allem entlang der Frage, wie sehr die EU
sich auf „hard power" ausrichtet oder inwieweit „soft power" durch „hard power" er-
setzt wird.
40

Was sind die nächsten Schritte auf dem Weg zu einer strategischen Autonomie?
Alles steht und fällt mit dem politischen Willen der Mitgliedstaaten. Es wird sich zeigen,
ob sie wirklich bereit sind, in der Rüstungsforschung und bei der Beschaffung zu ko-
operieren und sich miteinander abzustimmen. Der erste Schritt wird der Ausbau exis-
tierender und der Aufbau neuer grenzüberschreitender Projekte sein, zum Beispiel in
45 den Bereichen Cyberkriminalität und Terrorismusbekämpfung. Zudem muss die Steu-

erung auf europäischer Ebene stattfinden und die Mitgliedstaaten werden Kompeten-
zen an die EVA abgeben sowie das geschaffene „EU-Headquarter" weiter ausbauen
müssen. Was dabei nicht missverstanden werden darf: Die NATO ist und bleibt für die
territoriale Verteidigung Europas zuständig. Die strategische Autonomie wird aber dazu
so führen, dass der EU-Pfeiler in der NATO gestärkt und die EU eine größere Rolle bei
globalen Einsätzen spielen wird.

Interview: Sidonie Wetzig, in: Friedrich-Ebert-Stiftung {Hrsg.): info, Heft 3, 2017, S. 30

Aufgaben
1. Stellen Sie dar, warum eine einheitliche europäische Außen- und Sicherheitspolitik für die
EU von Vorteil wäre.

2. Erläutern Sie die Möglichkeiten und Grenzen des „Soft-Power"-Konzepts für die EU.

3. ,,Auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik müssen wir nach meiner Überzeu-
gung an einem stärkeren Europa arbeiten. Natürlich, Europa ist in erster Linie eine Soft
Power. Aber auch die stärkste Soft Power kann langfristig nicht ohne ein Mindestmaß an
integrierten Verteidigungskapazitäten auskommen." (Jean-Claude Juncker, Präsident der
Europäischen Kommission, Politische Leitlinien für die Europäische Kommission, 15. Juli
2014). Beurteilen Sie die Aussagen des Kommissionspräsidenten.

4. Entwickeln Sie Vorschläge zur Überwindung von Problemen, die die Entwicklung einer
koordinierten Außenpolitik der EU behindern. Diskutieren Sie zudem die Frage, inwieweit
ein EU-Sitz im Sicherheitsrat in diesem Rahmen sinnvoll sein kann.
5 Die Europäische Union

5.3.3 Justiz- und Innenpolitik


Leitfragen Was bedeutet die EU als Wie wird versucht, Zielkonflikte Welche Herausforderungen bringt
„Raum der Freiheit, der in diesem Politikfeld zu lösen? die Flüchtlingsfrage für die Justiz-
Sicherheit und des Rechts"? und Innenpolitik der EU mit sich?

Was ist der Raum der Freiheit,


der Sicherheit und des Rechts?

In Artikel 3 Absatz 2 des Vertrages über die Euro- gungen unternehme n muss, um die in Art. 3 Abs.
päische Union (EUV) wird eines der wichtigsten 2 (EUV) a ngelegten Zielkonflikte zu überwinden.
Ziele des europäischen Ein igungsprozesses for- So soll u. a. im Ra hmen der vier Freiheiten des
muliert. In ihm wird die Absicht bekundet, de n Binnenmarktes die Freizüg ig keit der EU- Bürge-
.,Bürgerinnen und Bürgern einen Rau m der Frei- rinnen und -Bürger so wenig wie möglich einge-
heit, der Siche rheit und des Rechts ohne Binnen- schränkt werden. Gleichzeit ig besteht die Ver-
g renzen [zu bieten], in dem - in Verbindung mit pflic htung, dem Sicherheitsbedürfnis der Be-
geeign eten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrol- v ölkerung zu entsprechen. Deshalb kommt es bei-
len a n den Außen grenzen, das Asyl, die Einwan- spielsweise immer wieder zu einer en gen polizei-
derung sowie die Verhütung und Bekämpfung der lichen und justiziellen Zusammena rbeit in Straf-
Kriminalität - der freie Personenverkehr gewähr- sachen oder zu einem abgestimmten Vorgehen bei
leist et ist." der Drogen- und Terrorbekämpfung.

Angesichts der Tatsache, dass mit dieser Absicht Die Übertragung von Befugnissen im Sicherheits-
sehr wicht ige Felder der nationalen Eigenständig- bereich vo n der n ationalen a u f die europäische
keit von EU- Mitgliedstaaten berührt werden, ver- Ebene wird von den beteiligten Ländern unter-
wundert es nicht, dass dieser „Raum der Freiheit, schiedlich eingeschätzt. Während einige EU-Mit-
der Sicherheit und des Rechts" (RFSR) mit dem gliedstaaten das Prinzip der Subsidia rität betonen,
Ve rtrag von Lissabon (2009) erst relativ spät ver- nach dem die europäische Ebene nur das leisten
gemeinschaftet worden ist. Im Vo rfeld kam es im soll, was national nicht bewältigt werden ka nn,
Ra hmen des Schengener Abkommens 1985 zu- betonen a ndere Staaten eher die Notwendigkeit,
nächst zur Auflösung der Binneng renzen zwi- grenzüberschreitende n Gefahren auch gemeinsam
schen den teilnehmenden Staaten. zu begegnen.

J edoch wurden nicht nur die Binnengrenzen auf-


gelöst, sondern zugleich auch die Auße ngrenzen Herausforderungen in der europäischen
stärke r in den europäischen Fokus gerückt. Hier- Justiz- und Innenpolitik
für wurden zahlreiche Agenture n und Behörden
eingerichtet bzw. a usgebaut (Frontex, Europol, Nationale Traditionen, unterschiedliche Vorstel-
Eurojust). Es ka m da rüber hi na us durch einen in- lungen von Sicherheit und Probleme bei der ge-
tensiveren Daten austausch zwischen den Sehen- rechte n Verteilung vo n polit ischen, organisatori-
gen-Staate n zu weiteren Anstre ngungen, um die schen und finanziellen Lasten haben dazu geführt,
innere und äußere Sicherheit in de r Europäischen dass vor allem in de r Flüchtlingspo litik der EU
Union zu gewährleisten. erhebliche r Klärungs- und Handlungsbedarf ent-
sta nde n ist. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen
haben sich sechs Schwerpunkte ergeben, mit de-
Zielkonflikte im Raum der Freiheit, nen die EU ihre Justiz- und Innenpolit ik den ak-
der Sicherheit und des Rechts tuellen Beding ungen a npassen möchte :

He rausforderungen wie die erhöhte Terrorgefahr • Zusammena rbeit mit den Herkun fts- und Tran-
oder das große Flüchtlingsaufkommen der letzten sitlä nde rn ;
Jahre haben gezeigt, dass die EU große Anstren- • Stärkung der EU-Außeng renzen ;
5 .3 Zentrale Po liti k feld er I

• Steuerung der Migrationsbewegungen und Be- tenzgrundlage vor Ort auf längere Sicht zu si-
kämpfung des Schleuserwesens; chern. Darüber hinaus wurden Maßnahmen zur
• Reform des europäischen Asylsystems; Eindämmung des Schleuserwesens und des Men-
• Schaffung legaler Migrationswege; schenhandels erheblich ausgebaut.
• Förderung der Integration von Drittstaatenan-
gehörigen. Aus Sicht vieler EU-Mitgliedstaaten handelt es
sich bei dem Flüchtlingsthema j edoch weniger um
Diese Maßnahmen waren und sind Gegenstand ein europäisches Problem, sondern um die Ange-
der Kritik vo n verschiedenen Seiten. So bemän- legenheit einzelner Staaten der Eu ropäischen Uni-
geln Menschenrechtsorganisationen, dass die on. Der Appell an europäische Solidarität sei da-
Schritte zu spät eingeleitet wo rden seien. Außer- her nicht angemessen. Gleichzeitig halten
dem lasse der Ansatz Weitblick und Nachhaltig- Experten der EU eine „Scheckbuch-Diplomatie"
keit vermissen, weil er kaum an den Ursachen für vor: Hohe Summe n würden dafür eingesetzt,
Flucht und Migration ansetze. Flüchtlinge von der EU fernzuhalten und die Pro-
bleme in Nicht-EU-Staaten zu verlagern. So wer-
de gegen finanzielle Zuwendungen Verantwor-
Flüc htlingspolitik: Prüfstein für d ie EU? tung delegiert, die eigentlich bei der EU liege.
Politische Akteure geben des Weiteren zu beden-
Das Dublin-Abkommen zur Aufnahme von Dritt- ken, dass die enge Zusammenarbeit mit bestimm-
staats-Angehörigen in der EU hat sich in der Ver- ten Staaten in der Flüchtlingsfrage (z. B. mit der
gangenheit nur teilweise bewährt. Geltende Vor- Türkei} Abh ängig keiten für die Europäische Union
schriften wurde n zum Teil nicht beachtet oder schaffen könne.
zeitweise außer Kraft gesetzt. So kam es in den
einzelnen EU-Staaten zu unterschiedlichen Aner- Die globalen Flucht- und Migrationsbewegungen
kennungsquoten beim Flüchtlingszuzug und stellen sich als Herausforderung für das Politikfeld
unterschiedlichen Belastungen der einzelnen der Justiz- und Innenpolitik dar. Zugleich ist in
EU-Mitgliedsländer im Zuge der massiven Zu- den letzten Jahren deutlich geworden, dass die
wanderung im Sommer 201 5. Vielschichtigkeit des Problems einen großen Re-
gelungsbeda rf mit sich bringt. Absprachen, die
Die bisherigen Erfahrungen ha ben zudem gezeigt, Planung und Verwirklichung von Initiat iven so-
dassauch Migranten den Weg in die EU suchen, wie Nachbesserungen haben in der Vergangenheit
die die Kriterien zur Gewährung eines Aufent- zu Verzögerungen bei der Umsetzung von Maß-
halts- oder Asylstatus nicht erfülle n. Die Europä- nahmen geführt. Darüber hinaus wurde die Ange-
ische Union strebt deshalb a n, diese Flüchtlinge in messenheit des Vorgehens in vielen Fällen in Fra-
ihre Herkunfts- oder Transitländer zurückzuschi- ge gestellt. A uch deshalb wird die Migrations- und
cken und hat zu diesem Zweck eine Rückfüh- Flüchtlingspolitik a uf absehbare Zeit für die EU
rungsrichtlinie für „irreguläre Drittstaatsangehö- eine politische, fina nzielle, polizeiliche, diploma-
rige" beschlossen. Mit den Herkunftsstaaten sollen tische, organisatorische, militärische und soziale
Rücknahmeabkommen vereinbart werden. Sie Daueraufgabe bleiben, die ihren Platz im „Raum
zielen darauf a b, die Flüchtlinge wieder in die Her- der Freiheit, der Sicherheit u nd des Rechts" immer
kunftsgesellschafte n aufzunehmen und ihre Exis- wieder neu bestimmen muss.

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit im Raum der Freiheit, der Sicherheit
und des Rechts (RFSR).

2. Erläutern Sie, inwiefern d ie europäische Justiz- und Innenpolitik durch Terrorismus und Migrations-
bewegungen herausgefordert wird.

3. Prüfen Sie, welche Maßnahmen in der Europäischen Union im Hinblick auf die Flüchtlingsfrage realisierbar
sind. Führen Sie dazu eine Konfliktanalyse durch (• Methodenkom petenz: Analyse internationaler Konflikte).
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Erstanträge auf Asyl in der Europäischen Union

Auf der Suche nach Asyl


EU-Staaten mit den meisten
Zahl der Erstanträge auf Asyl in der erstmaligen Asylbewerbern 2017
Europäischen Union
1 257 030
Deutschland 198 255
1 206 120 Italien 126 550
Frankreich 91 070
Griechenland - 57020
Großbritannien - 33310
Spanien - 30445

Hauptherkunftsländer
der erstmaligen Asylbewerber 2017
Syrien ■■■■ 102 385
Irak - 47525
Afghanistan - 43 625

150·•---
Nigeria - 39 090
206 880 Pakistan - 29 570
Eritrea ■ 24 355

2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
Albanien
Bangladesch
■ 22 075

■ 19 280 IQ 1

Quelle: Eurostat © Globus 12385

M 2 Gibt es eine EU-Polizei?

Wenn eine Behörde diesen Namen verdient, dann ist es Europol in Den Haag. Nach
dem Vorbild von Interpol, der internationalen kriminalpolitischen Organisation, grün-
deten die EU-Mitgliedsländer 1992 ihr eigenes Polizeiamt: Europol. Gefälschte Euro-
noten machen schließlich nicht an der deutsch-tschechischen Grenze halt. Und Ko-
s kain aus Kolumbien wird in Spanien genauso verkauft wie in Deutschland oder
Belgien. Europol soll solche zusammenhänge erkennen und den Mitgliedsländern die
Suche nach Verdächtigen erleichtern.
Die rund 800 Europol-Angestellten - darunter Grenzschützer, Zollbeamte und Mitglie-
der der Küstenwache - bearbeiten nach eigenen Angaben jedes Jahr 13 500 Fälle.
10 Ähnlich wie bei Eurojust [eine EU-Institution, die die europaweite Verfolgung von Straf-

taten erleichtern soll] dürfen auch die EU-Polizisten nicht selbst Ermittlungen gegen
Verdächtige einleiten. Sie dürfen auf eigene Faust keine Personen festnehmen, keine
Häuser durchsuchen oder Dokumente beschlagnahmen. Aber sie können
den nationalen Beamten helfen, wenn sie darum gebeten werden.[ ... ]
1s Die wichtigste Waffe im Kampf gegen Kriminelle und Terroristen ist die Datenbank von
Europol. Damit führt die Behörde Buch über gestohlene Gegenstände und verdächti-
ge Personen. Fällt einem Polizisten in Madrid ein Fahrzeug auf, kann er nicht nur in
seiner lokalen und nationalen Datenbank nachschauen, ob es sich um ein gestohlenes
Auto handelt, sondern auch bei Europol. Aktuelle Fälle wollen die Fahnder nicht ver-
20 öffentlichen. Aber ein Fall von Menschenhandel aus Italien von 2001 veranschaulicht,

wie das System funktioniert: Damals hatten Carabinieri einen Frauenhändlerring ent-
deckt. Als sie feststellten, dass die Frauen alle aus Osteuropa kamen, haben sie Eu-
ropol gebeten, Telefonnummern in Ländern der Europäischen Union, in der Ukraine
KOMPETENZEN ANWENDEN I

und in Moldawien abzugleichen. Innerhalb von neun Monaten wurde das ganze Netz-
werk aufgedeckt - dank der ausgetauschten Daten über Europol. Über 80 Personen
2s wurden festgenommen.
Die Schwerpunkte der EU-Polizei haben sich seit den Anfängen erheblich verschoben:
Begonnen hat Europol in den 1990er Jahren mit dem Kampf gegen Drogenhandel. 100
Tonnen Heroin kommen nach Schätzungen der EU-Polizisten jedes Jahrs in die Euro-
päische Union. Nur acht bis 15 werden sichergestellt.
30 Mittlerweile ist der Drogenhandel nur ein Bereich von vielen. Die Terrorismusbekämp-
fung ist seit den Anschlägen vom 11 . September 2001 immer wichtiger geworden.
Auch die Ermittlungen gegen Menschenhandel und Kinderpornografie haben zuge-
nommen.(...)
Europol kümmert sich aber auch um Erpressung wie zum Beispiel gegen den schwe-
Js dischen Möbelkonzern IKEA. Die Erpresser hatten in mehreren EU-Staaten Sprengs-
ätze in IKEA-Geschäften gezündet. Europol übernahm die Organisation der europa-
weiten Fahndung nach den Verdächtigen und im Oktober 2011 konnten die
mutmaßlichen Täter in Polen festgenommen werden. Die Europäische Union gibt für
ihre Polizei rund 82 Millionen [Euro] im Jahr aus.

Ruth Reichenstei n, Die Europäische Union. Die 101 wichtigsten Fragen, 20 16, S. 76-78

Aufgaben
1 . Analysieren Sie die Grafik in M 1 (• Methodenkompetenz: Kritische Auswertung von Statis-
tiken).

2. Beschreiben Sie, ob bzw. wie sich Ihr Blick auf Europa verändert hat, seit immer mehr
Menschen „auf der Suche nach Asyl" sind (M 1). Beziehen Sie zudem in Ihre Überlegun-
gen mit ein, wie die geografische Herkunft Ihrer Familie Ihre Sicht auf Heimat und Migration
geprägt hat.

3. Die Tätigkeit von Europol und die Form der Verbrechen, mit denen sich die „EU-Polizei"
beschäftigt, haben sich seit den 1990er Jahren verändert (M 2). informieren Sie sich Sie im
aktuellen Jahresbericht von Europol (, www.europol.europa.eu) über die neuesten Entwick-
lungen und bewerten Sie anschließend die Arbeit von Europol.

4. Mit dem Aufbau des Europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
(RFSR) werden klassische staatliche Aufgaben im Bereich der Justiz- und Innenpolitik
(z.B. Zuwanderung, Asyl, polizeiliche und justizielle Zusammenarb eit) von den EU-Mitglied-
staaten auf die Europäische Union übertragen. Erörtern Sie, ob die EU dadurch mehr und
mehr zu einem Europäischen „Staat" wird.
Die Zukunft der EU -
• Perspektiven und Szenarien

Leitfragen Vor welchen Heraus- Wie reagiert die Europäische Inwieweit beeinflussen die Veränderun-
forderungen steht die EU? Union auf die neuen gen den Verlauf des europäischen
Rahmenbedingungen? Einigungsprozesses insgesamt?

Die herausgeforderte Union

Die Europäische Union hat momentan zahlreiche feststehen, wie sich das Verhältnis zwischen Groß-
Bewährungsproben z u bestehen. Der Umgang mit britannien und der Europäischen Union in der
den schwierigen Aufgaben wird zeigen, wie es um ,.post-EU-Ära" des Vereinigten Königreiches ent-
ihre Handlungsfähigkeit bestellt ist. Auf der einen wickeln könnte. Wenn die Verhandlungsergebnis-
Seite haben die letzten Jahre deutlich gemacht, se abstimmungsreif werden, sind das Europäische
dass es unterschiedliche Vorstellungen (Diver- und das britische Parlament dazu aufgerufen, über
genz) darüber gi bt, in welche Richtung sich die die Resultate zu entscheiden. Nach den bisherigen
Union entwickeln sollte (Finalität). Andererseits Erfahrungen kann man davon ausgehen, dass es
lassen sich in manchen Bereichen Politikansätze bis zu diesem Zeitpunkt noch einige kritische Pha-
erkennen, die gleiche oder ähnliche Auffassungen sen geben wird. Die unterschiedliche Auslegung
der politisch VerantwortUchen widerspiegeln von Absprac hen, politische Kontroversen und
(Konvergenz). Verzögerungen im Zeit plan deuten darauf hin,
dass bis zum endgültigen Abschied Großbritanni-
Um die anstehenden Probleme lösen zu können, ens aus der EU und da rüber hinaus von allen Be-
wird die Fähigkeit zum Kompromiss für die EU teiligten ein besonders hohes Maß an Flexibilität
von herausragender Bedeutung bleiben. Sie ist gefordert werden könnte.
eine wicht ige Voraussetzung dafür, dass sich Ver-
handlungspartner nicht als „Verlierer" sehen.
Sollte das der Fall sein, wären neue Gräben zwi- II. Die EU als Sicherheits- und
schen EU- Mitgliedstaaten oder ein gesteigertes Verteidigungsunion
Misstrauen gegenüber den europäischen Instituti-
onen nicht ausgeschlossen. Als Folge könnte der In sicherheitspolitischen Fragen haben sich für die
Rückhalt für das europäisch e Projekt nachlassen EU nach dem Abschied Großbritanniens aus der
und die populistische Strömung in der Europäi- Europäischen Union neue Spielräume eröffnet.
schen Union gestärkt werden. Das Vereinigte Königreich galt in Fragen der stär-
keren militärischen Zusammenarbeit in der Euro-
Zu den Herausforderungen für die Europäische päische n Union traditionell als „Bremser". Darüber
Union zählen im Wesentlichen fo lgende Bereiche: hinaus haben Terroranschläge in einigen Metro-
polen europaweit zu einem Klima der Verunsiche-
rung geführt und dadurch den Ha ndlungsdruck
1. Der EU-Austritt Großbritanniens (,,Brexit") erhöht.

Als Beispiel für die Wirkung „zent rifugaler Kräf- Dabei dient der Begriff „Sicherheit" als Sammel-
te", die EU-Staaten vom Zentrum der europäi- bezeichnung für verschiedene Ziele und Vorge-
schen Einigung immer weiter entfernen, verwei- hensweisen. Sie reichen von der Abwehr der ter-
sen Beobachter auf den EU-Austritt Groß- roristischen Bedrohung bis zu r verstärkten
britanniens (,,Brex it"). Es ist geplant, diesen bis militärischen Zusammenarbeit zwischen EU-Staa-
zum 29. März 2019 abzuschließen. Dann soll auch ten. Die geplante Vertiefung in diesem Bereich
5.4 Die Zukunft der EU - Perspektiven und Szenarien I

geht nicht zuletzt auch auf die Forderung des unter dem Begriff „Zugangspolitiken" zusammen-
US-Präsidenten Donald Trump zurück, die EU sol- gefasst: Menschen a us verschiedenen Regionen
le a ls Ergänzung zur NATO mehr Verantwortung der Welt versuchen aus unterschiedlichen Grün-
in der internationalen Politik übernehmen (>Kap. den und auf verschiedene Art in die Euro pä ische
6.3.2). Der französische Staatspräsident Man uel Union zu gelangen und dort ihr weiteres Leben zu
Macron hat sich mit Unterstützung der Bundesre- gestalten. Die Krisenherde im Nahen Osten und in
gierung ebenfalls für ein stärkeres verteidigungs- Afrika habe n dazu geführt, dass sich die Flucht-
politisches Engagement der EU ausgesprochen; und Migrationsbewegungen intensiviert haben.
entsprechende jüngere Initiativen werden unter Durch ihr Ausmaß und die damit verbundenen
dem Stichwort „Verteidigungsunion" diskut iert. Probleme wurden die Grenzen der europäischen
Zusammenarbeit und Solidarität offensichtlich.

III. Die EU als Werte- und Rechtsgemeinschaft Dieser Umstand betrifft sowohl das Verhält nis ein-
zelner EU-Staaten zueinander a ls auch die Euro-
Während sich die EU in ihren Beziehungen zu päische Union als Ganzes. Künftig geht es vor
Staaten außerhalb der Union als Förderer westli- allem darum, entsprechende Konfliktpotenziale
cher Werte sieht, besteht in dieser Hinsicht inner- zu verringern sowie Rechts- und Sicherheitsbe-
halb der Union Klärungsbedarf. Gru nd dafür sind la nge mit e iner fairen Lastenverteilung in Ein-
Bemühungen in Ländern wie Ungarn und Polen, klang zu bringen. An der Migrations-, Flücht-
demokratische und rechtstaatliche Grundsätze lings- und Asylpolitik w ird sich besonders deutlich
wie die Gewaltenteilung oder die Unabhängigkeit zeigen, ob die Europäische Union ihrem e igenen
der Justiz zugunsten der Exekutive in Frage zu Anspruch als Wertegemeinschaft gerecht werden
stellen. kann, die die Menschenwürde als Dreh- u nd An-
gelpunkt ihrer Politik betrachtet.
Die Europäische Kom mission und der Europäische
Rat haben bislang ohne Erfolg darauf hingewie-
sen, dass die Rückkehr zu den Standards westli- V. Die Vertiefung der Wirtschafts- und
cher Demokratien die Voraussetzung dafür ist, das Währungsunion
,,Rechtstaatsverfahren" gegen die beiden EU-Mit-
glieder einzustellen. Dabei geht es darum, die Ein- Die Erholung der EU-Länder vo n der Finanzkrise
haltung demokratischer Vorgehensweisen zu verläuft in unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
überwachen und bei Bedarf Sanktionen einzulei- Aktu elle Initiativen zielen darauf ab, d iese Kluft
ten. In beiden Fällen kam es zu Vertragsverlet- und die Krisenanfälligkeit einzelner Volkswirt-
zungsverfahren, dem der Entzug des Stimmrechts schaften zu verringern. Konkret ist u. a. ein eige-
in EU-Gremien folgen kann. Dieser Schritt müss- nes Budget für die Länder des Euro-Raumes im
te a llerdings mit Unterstützung a ller EU-Lä nder Gespräch, für das ein „europäischer Finanzminis-
vollzogen werden. Auch die Feststellung e iner ter" ve ra ntwortlich sein soll. Während die Befür-
sch werwiegenden Verletzung von elementaren worter auf neue Gestaltungsspielräume bei der
Grundsätzen der EU ist an Mehrheitsverhä ltnisse wirtschaftlichen Belebung und die Stärkung des
gebunden, die sich derzeit noch nicht abzeichnen. europä ischen Wir-Gefühls hinweisen, betonen
Skeptiker, dass die Budgethoheit ausschließlich
Vor diesem Hintergrund wird es in der EU der bei den nationalen Parlamenten liege. Die Debat-
Zukunft auch um die Frage gehen, wie durchset- te zwischen den Anhä ngern einer auf mehr Aus-
zungsfähig das EU-Recht ist und ob die Werte, für gaben a ngelegten (expansiven) Wirtschaftspolitik
die die EU bislang steht, a uch künftig das Selbst- und den Befürwortern eines Sparkurses (A usteri-
verstä ndnis aller Mitglieder prägen werden. tät) wird bereits seit einiger Zeit geführt (> Kap.
2.2.3). Die Frage einer gemeinsamen Verantwor-
tung fü r Haushaltsdefizite im Euro-Raum und
IV. Migration, Flucht und Asyl Anreize zum Schuldenabbau gehören ebenso zu
dieser Kontroverse wie die Möglichkeit einer neu-
Die Polit ikfelder Migration, Flucht und Asyl wer- en Machtbalance zwischen der EU-Kommission
den mit Blick auf ihre Ausgestaltung in der EU und den Mitgliedsländern der EU.
5 Die Europäische Union

VI. Ein soziales Europa VII. Digitalisierung

Der gesteigerte Wettbewerbsdruck durch die Glo- Die Europäische Union erfolgreich ins digitale
balisierung, eine Überalterung der europäischen Zeitalter zu führen, wi rd von vielen politischen
Gesellschaften, Spätfolgen der Wirtschafts- und Akteuren als eines der wichtigsten EU-Projekte
Finanzkrise sowie neue Anfo rderungen in der Ar- für die kommenden Jahrzeh nte betrachtet. Die
beitswelt im Zuge der Digitalisierung (,,Industrie ,,Digitale Agenda für Europa" geht davon aus,
4.0") sorgen aus Sicht der EU und ihrer Mitglied- dass die Umbrüche, die mit der entstehenden In-
staaten zunehmend für Handlungsbedarf auf so- formationsgesellschaft einhergehen, sowohl Vor-
zialpolitischen Gebieten (> Ka p. 2.3). Vor diesem teile als auch Nachteile mit sich bringen. In wirt-
Hintergru nd wu rden 2017 Gru ndsätze für ein ge- schaftl icher Hinsicht schreibt ma n dieser Trans-
rechteres Europa verabschiedet. Sie reichen von fo rmation ein großes Wachstumspotenzial zu
der Chancengleichheit a uf dem Arbeitsmarkt über (>Kap. 2.3. 1).
faire Arbeitsbedingungen bis zur Inanspruchnah-
me von Leistungen, die die Sozialsysteme der Deshalb sind die bisherigen Maßnahmen nicht
EU-Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen. Die zuletzt darauf ausgerichtet, den „Digitalen Bin-
Zukunftsfähigkeit de r Unionsbürger soll darüber nenmarkt" möglichst rasch zu verwirklichen. A nt-
hinaus durch besondere Anstrengungen auf dem worten auf rechtliche Fragen und die Berücksich-
Gebiet der (Fort-)Bildung gesteigert werden. Zu- tigung von Sicherheitsbelangen geh ören dabei
dem werden sich die politischen Akteure mit dem ebenso zu den Entwicklungsfeldern wie eine flä-
Problem der Juge ndarbeitslosigkeit langfristig be- chendeckende und leistungsfähige Infrastruktu r.
sch äftigen müssen, um die Entstehung einer „ver- Damit Problemlösungen und Reformvorhaben
lorenen Generation" z u verhindern. Kritiker der erfolgreich sein können, muss die Politik im Mehr-
„Europäischen Säule sozialer Rechte" bemängeln ebenensystem der EU in verschiedene Richtungen
die Unverbindlichkeit der Proklamation. noch e nger vernetzt werden.

Aufgaben

1. Erläutern Sie, warum die genannten Themengebiete für die Entwicklung der EU von großer Bedeutung sind.

2. ,,Großbritannien verlässt die Europäische Union, nicht Europa." Erklären und beurteilen Sie diese Aussage
der britischen Premierministerin Theresa May.

3. Diskutieren Sie Möglichkeiten und Grenzen des Konsensprinzips, das die Entscheidungsfindung in der EU
dominiert.

4. Erörtern Sie, ob die Europäische Union als Wertegemeinschaft, die sich international für Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit einsetzt, an Glaubwürdigkeit verliert, wenn einzelne EU·Mitgliedstaaten im Innern diese
Werte missachten.
METHODENKOMPETENZt

Szenariotechnik

Die Szenariotechnik ist eine Methode zur politi- ist eine angemessene Beschreibung und Gewich-
schen Planung u nd zur Bestimmung der Wahr- tung der möglichen Faktoren.
scheinlichkeit einer bestimmten Zukunftserwa r-
tu ng oder des Eintretens eines Szenarios in fünf, Auch die Darstellung u nd Besch reibung der aktu-
zehn oder 20 J ahren. In der Methode wird davon ellen Situation muss klar und nachvollziehbar
ausgegangen, dass bei u nterschiedlichen Vora us- sein. Den n unterschiedliche Beobachter werden
setzungen auch unterschiedliche „Zukünfte" möglicherweise eine unterschiedliche Perspektive
wahrscheinlich und entsprechend in variierenden a uf den aktuellen Zustand des „Problems" haben
Szenarien darstellbar sind. Ob das eine oder das und es som it auch anders beschreiben.
andere Szenario eint ritt, hängt ab von den Fakto-
ren (auch „Deskriptoren" genannt) und dem Ge- Der Blick beispielsweise a uf die EU ist heute in der
wicht, das ihnen zugeschrieben wird. In der Regel Regel geprägt von (unterschiedlichen) Erfahrun-
werden Extremszenarios (positives/negatives Ex- gen a us der Vergangenheit und variierenden Er-
tremszenario bzw. Best Case- oder Worst Case- wartungen an die Zukunft - wo der eine Beobach-
Szenario) u nd Trendszenarien voneinander unter- ter den Stand der europäischen Integrat ion als
sch ieden. völlig ausreichend ansieht und deshalb am Status
quo festhalten oder diesen eher reduzieren will, ist
In de r Szenariotech nik wird zur Veranschauli- aus der Sicht eines anderen Beobachters die heu-
chung mit einem Trichtermodell gearbeitet. Der tige EU nur dan n überlebensfähig, wenn sie sich
Szenariotrichter zeigt auf der Zeitachse zum einen stärker vergemeinschaftet und in Richt ung einer
das Trendszenario als Fortschreibung des heuti- ,,politischen Union" weiterentwickelt.
gen Zustands (Status quo) in die Zu kunft und zum
anderen zwei Extremszenarien als bestmögliche Die Attraktivität und Bewertung des einen oder
bzw. als schlechtestmögliche Entwicklung. Je wei- anderen Szenarios hängt also a uch davon ab, wie
ter man auf der Zeitachse in die Zukunft blickt, man de n Gegenstand wa hrnimmt - was für den
um die Wahrscheinlichkeit des Eintretens des ei- einen Beobachter vor diesem Hintergrund als po-
nen oder anderen Szenarios zu beurteilen, umso sitives Extremszenario erscheint, wird ein anderer
unsicherer werden die Aussagen. Umso wichtiger eher als Worst Case-Szenario beschreiben.

positives
Extremszenario

Trendszenario

negatives
Extremszenario

heute kurzfristig mittelfristig langfristig


(ca. 0- 10 Jahre) (ca. 11-20 Jahre) (über 20 Jahre)
1METHODENKOMPETENZ

Schritt 1: Problemanalyse

Am Anfang jedes Szenarios steht die Frage, ob ein bestimmter Sachverhalt als „Problem" wahrgenommen wird,
für das eine Lösung gefunden werden soll. Dieses Problem gilt es genau zu beschreiben und zu fragen,
wer von diesem Problem in besonderer Weise betroffen ist.

~
Schritt II: Einflussanalyse und Faktorenbestimmung

Im zweiten Schritt geht es darum, die Einflussfaktoren, die die Zukunft und die Wahrscheinlichkeit
des Eintretens einzelner Szenarien beeinflussen können, zu bestimmen und zu gewichten.
Dabei gilt es zu beachten, dass die einzelnen Faktoren sich wechselseitig beeinflussen und sich in
ihrer Wirkung verstärken oder auch abschwächen können.

Schritt III: Entwicklung und Interpretation von Szenarien

Im dritten Schritt werden ausführliche Szenarien, also umfassende „Zukunftsbilder" erstellt.


So werden mögliche Zukunftsentwicklungen und die damit einhergehenden Folgen sichtbar und
nachvollziehbar. Auf der Grundlage der erarbeiteten Faktoren aus Schritt 2 sollen stimmige Beschreibungen
eines bestmöglichen und schlechtestmöglichen Extremszenarios erstellt werden. Bei der Formulieru ng und
Präsentation der Szenarien ist darauf zu achten, dass sie konsistent sind und nicht bei der Änderung
z.B. nur eines Einflussfaktors ihre gesamte Plausibilität einbüßen und in sich zusammenfallen.

Schritt IV: Gewichtung der Einflussfaktoren und


Analyse der möglichen Wechselwirkungen

In dieser Phase der Methode soll herausgearbeitet und analysiert werden, welche Einflussfaktoren unter
welchen Umständen und in welcher Kombination die extrem negative bzw. die extrem positive Entwicklung
beeinflussen. Vor allem d ie mögliche Verknüpfung und die unterschiedlichen Wechselwirkungen von
Einflussfaktoren (z.B. Verstärkung, Neutralisierung) gilt es hier herauszustellen und zu gewichten.

Schritt V: Maßnahmen und Handlungsmöglichkeiten

Im letzten Schritt soll auf der Basis der Gewichtung der Einflussfaktoren die Frage erörtert werden, welche
Folgen sich aus den unterschiedlichen Szenarien ergeben und welche Handlungsstrategien sinnvoll erscheinen,
um wünschenswerte Entwicklungen zu verstärken und negative Szenarien abzuwehren bzw. in ihrem Ausmaß
abzuschwächen. Hier steht vor allem die Frage im Mittelpunkt, was einzelne staatliche, gesellschaftliche und
ökonomische Institutionen und Gruppen beitragen können, um das gewählte Szenario zu verwirklichen:

• Was kann der oder die Einzelne beitragen und tun?


• Was können Gruppen tun (Verbände, politische Parteien, Vereine, Bürgerinitiativen, etc.)?
• Was können/sollten Wirtschaftsunternehmen tun?
• Was können/sollten große Verbände wie Gewerkschaften, Unternehmerverbände oder
Nichtregierungsorganisationen und die Zivilgesellschaft tun?
• Was können/sollten der Staat, die Regierung, das Parlament, die Gerichte und die Medien tun?
• Was können/sollen Staaten und Regionen in und außerhalb Europas und Internationale Organisationen tun?
METHODENKOMPETENZ t

Bei·spiel: Zukunftsperspektiven der EU

Am 1. März 2017 hat die EU-Kommission ein Bürgern entsprechen - vorausgesetzt, d ie Mit-
,,Weißbuch zur Zukunft Europas" vorgelegt. gliedstaaten haben gemeinsame Zielvorstellungen
,,Weißbücher" sind Veröffentlichungen der Kom- und einen gemeinsamen Willen, die Reformagen-
mission zu Themen und Problemen, zu denen sie da auch umzusetzen.
Lösungsvorschläge und Ideen präsentiert. Das im
Frühjahr 2017 vorgelegte und 30 Seiten umfas- Szenario 2 :
sende Dokument diskutiert verschiedene Szenari-
en und Modelle, wie die EU im Jahr 2025 aussehen ,,Schwerpunkt Binnenmarkt"
kön nte. Die zentrale Frage, die das Weißbuch au f- In diesem Szenario gelingt es den Mitgliedstaaten
wirft, lautet: ,,Welche Zukunft wollen wir für uns, nicht, die beschlossene Reformagenda abzuarbei-
unsere Kinder und unsere Union?". ten. Die Interessen in den meisten Politikfeldern
s ind zu unterschiedlich, so dass sie sich nur auf
Die Kommission unterscheidet fünf Szenarien und eine Zusammenarbeit im ursprünglichen Kern der
zeigt, welche Auswirkungen das j eweilige Szena- europäischen Integration verständigen können -
rio in unterschiedlichen Politikbereichen hätte. das ist der Binnenmarkt. Das heißt, auf den Fel-
Sie versteht diese Modelle als A nregung zum dern der Migration, Verteidigung und Außenpoli-
Nachdenken, nicht als detaillierte „Blaupause" tik gibt es keine Fortschritte, auftretende Probleme
oder als Plan, den es abzuarbeiten g ilt. Die Brüs- werden nicht im EU-Rahmen gelöst, sondern von
sele r Behörde will mit ihren Überlegungen neuen einzelnen Staaten von Fall zu Fall a ngegangen.
Schwung in die europapolitische Debatte bringen; Die Kommissio n beschreibt dieses Modell so: ,,Der
sie verzichtete bewusst au f weitreichende institu- Binnenmarkt für Waren und Kapital wird gestärkt;
tionelle Reformvorschläge zum Umbau der EU in Standards weisen weiter Unterschiede auf; Freizü-
Richtung ei ner „Politischen Union". Das Ziel des gigkeit und freier Dienstleistungsverkehr si nd
Papiers ist es, unterschiedliche Möglichkeiten und nicht vollumfänglich gewährleistet." (Weißbuch
Szenarien aufzuzeigen. Die Kommission lässt 2017, s. 19).
zwar erkennen, dass sie eine Vorliebe für eine en-
gere Zusammenarbeit hat, sie überlässt es aber Szenario 3:
den Mitgliedstaaten, a us den verschiedenen Opti-
onen diejenige auszuwählen, die den Interessen ,,Wer m ehr will, tut mehr"
der europäischen Bürgerinnen und Bürgern am Hier würden sich diejenigen Staaten enger zusam-
besten dient. menschließen, die mehr Integration in einzelnen
Politikfeldern als notwendig ansehen. Es könnten
Szenario 1: sich „Koalitionen der Willigen" etwa auf dem Ge-
biet der Verteidigung, inneren Sicherheit, Steuer-
,,Weiter wie bisher " oder Sozialpolitik bilden. Die anderen Staaten, die
In diesem Modell konzentriert sich die EU auf ihre keine engere Integration wünschen, würden ihren
Reformagenda, die die Kommission 2014 unter Status behalten und könnten, wenn sie dies wol-
dem Titel „Ein neuer Start für Europa" beschrieben len, später in den Kreis der stärker integrierten
hat u nd die die EU-Staaten in ihrer „Bratisla- Staaten, dazustoßen. Obwohl die Kommission den
va-Erklärung" 2016 bestätigten; der Schwerpunkt Begriff des „Europas der zwei Geschwindigkeiten"
liegt auf wirtschaftlichen Themen, das sind vor hier nicht verwendet, ist mit diesem Szenario ge-
allem Beschäftigung, Wachstum und Investitio- nau das gemeint. Die 19 Euro-Staaten könnten
nen, die Stärkung des Binnenmarktes, der Aufbau zum Beispiel, zusammen mit Staaten, die den Euro
einer digitalen Infrastru ktur sowie eine moderne noch nicht eingeführt haben, in der Steuerpolitik
Verkehrs- und Energiepolitik. Aber a uch in der eine Harmonisierung und Angleichung vor-
Außen- und Sicherheits- wie auch in der Migrati- nehmen, um die Steuerhinterziehung in Europa
onspoliti k sind Verbesserungen und ein höheres grenzüberschreitend bekämpfen zu können. Eine
Maß an Geschlossenheit zu erwarten. In diesem Gruppe von Staaten kö nnte auch ein gemeinsa-
Szenario liefert die EU ko nkrete politische Ergeb- mes „Wirtschaftsgesetzbuch" erarbeiten und da-
nisse, die den Erwartu ngen der Bürgerinnen und mit die grenzüberschreitende wirtschaftliche Tä-
1METHODENKOMPETENZ

tigkeit von Unternehmen erleichtern; gerade für das in einem gemeinsamen Binnenmarkt nötig ist.
kleine und mittelständische Unternehmen wäre Ein Problem, das hier auftauchen würde: Wenn
dies eine Erleichterung, weil es für sie dann klare einzelne EU-Staaten billiger produzieren, weil sie
und einheitliche rechtliche Vorgaben gäbe. Ein keine oder deutlich niedrigere Umwelt- und Pro-
anderes Beispiel, das die Kommission nennt, zielt duktionsstandards im Vergleich zu den anderen
auf die engere polizeiliche und staatsanwaltliche Staaten hätten, würden sie sich dadurch einen
Zusammenarbeit zwischen einer Gruppe von unerlaubten „Wettbewerbsvorteil" verschaffen,
EU-Staaten ab, um die grenzüberschreitende Kri- sie würden damit gegen europarechtliche Vorga-
minalität etwa durch eine komplette Vernetzung ben verstoßen. Ein weiteres Problem ist, dass die
der Datenbanken und die Weitergabe der Informa- EU-Staaten sich schon in der Vergangenheit im-
tio nen an das Nachbarland effektiver bekämpfen mer wieder uneinig waren und es kei nen Konsens
zu können. gab, in welchen Bereichen die EU mehr tun und
wo sie ihr Engagement reduzieren sollte.
Szenario 4:
Szenario 5:
,,Weniger, aber effizienter"
In diesem Modell würde die Europäische Union ,,Viel mehr gemeinsames Handeln"
sich nur noch auf die Probleme und Politikberei- Dieses Modell ist am ambitioniertesten, weil es da-
che konzentrieren, in denen der europäische von ausgeht, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten
,,Mehrwert" offensichtlich ist und die EU-Mit- auf allen Politikfeldern noch enger als bislang
gliedstaaten durch eine enge Zusammenarbeit schon zusammenarbeiten : Eine Stärkung und ein
und die Übertragung der Problemlösung a uf neu Ausbau der Eurozone wird ebenso a ngesprochen,
zu schaffende EU-Institutionen gewährleistet wie eine gemeinsame Politik auf den Gebieten der
wird. Als Beispiel nennt die Kommission eine internationalen Handelspolitik, Verteidigungs-
EU-Agentur zur Terrorismusbekämpfung oder und Sicherheitspolitik (,,Europäische Verteidi-
eine europäische Telekom-Behörde, die Funkfre- gungsunion"), Außenpolitik, Migrationspolitik,
quenzen für grenzüberschreitende Kommunikati- Klimapolitik, humanitäre Hilfe und Entwicklungs-
onsdienste vergibt. Die Idee ist, dass sich die EU politik. Ebenso genannt werden die Vollendung des
durch eine Konzentration auf einige wenige Auf- Binnenmarktes in den Bereichen Energie, Digitali-
gaben (z.B. Innovation, Handel, Sicherheit, Mi- sierung und Dienstleistungen sowie die Schaffung
gration) Freiräume schafft und Ressourcen ein- eines „Europäischen Währungsfonds", der kriseln-
sparen kann in den Politikbereichen, in denen der de Euro-Staaten durch Kredite unterstützt. Ein Pro-
europäische Mehrwert nicht auf der Hand liegt. blem dieses Szenarios könnte sein, dass sich Teile
Die europäischen Staaten würden sich Kompeten- der Gesellschaft in (einzelnen) Mitgliedstaaten von
zen von der EU zurückholen, etwa auf dem Gebiet der EU abwenden, weil sie, wie die Kommission in
der Regionalpolitik, Beschäftigungs- und Sozial- ihrem Zukunfts-Weißbuch schreibt, ,,das Gefühl
politik. Die Vereinheitlichung und Standardisie- haben, der EU ma ngele es an Leg itimität bzw. sie
rung in den Bereichen von Verbraucher-, Umwelt- hätte den nationalen Behörden zu viel Macht ab-
und Arbeitsschutz wird auf ein Minimum reduziert, genommen".

Aufgaben
1 . Wenden Sie auf der Basis der im Weißbuch formulierten Zukunftsbilder der Europäischen Kommission die
Szenariotechnik an.

2. Werten Sie die Szenarien aus und entwic keln Sie auf der Grundlage dieser Analyse einzelne Strategien und
Maßnahmen, um ein zukunftsfähiges Modell der EU zu entwerfen, das sowohl Skeptiker als auch Befür-
worter einer Vertiefung der europäischen Integration gleichermaßen überzeugen kann.
SELBSTD IAGNOSE

Im laufe des letzten Kapitels haben Sie sich mit der Europäischen Union beschäftigt. Lesen Sie die
folgenden Sätze und entscheiden Sie jeweils für sich, welche der Spalten Sie ankreuzen können.

Ich kenne ... vollständig teilweise (noch) nicht

. . . die Bedeutung der europäischen Integration für Frieden


in Europa.
-
... die Besonderheiten des europäischen
Mehrebenensystems. 1
-
... die zentralen Stationen der europäischen Integration.
- -.
... die wichtigsten Verträge im europäischen Einigungspro-
zess. ·1
-
... die relevanten Akteure in der Europäischen Union.

... den Ablauf des Ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens


1
... die Bedeutung des Ministerrats in der EU-Gesetzgebung.

... die vier Freiheiten im europäischen Binnenmarkt.


- 1
... die zentralen Stationen bis zur Einführung des Euro.
-

... die Möglichkeiten und Grenzen der europäischen


Außen- und Sicherheitspolitik. 1
... die Zielkonflikte im Raum der Freiheit, der Sicherheit und
des Rechts.

Ich kann ... vollständig teilweise (noch) nicht

... die Bedeutung des Mottos „Nie wieder Krieg in Europa!"


erläutern. -

... den Unterschied zwischen dem Europäischen Rat


und dem Rat der Europäischen Union erklären. 1
-
... die Unterschiede zwischen Verordnungen, Richtlinien,
Beschlüssen, Empfehlungen und Stellungnahmen
erläutern.
... die Einflussmöglichkeiten der einzelnen EU-Organe
-
im europäischen Entscheidungsprozess beurteilen. 1
-
... beurteilen, welche Bedeutung die Finanzkrise bzw.
die Flüchtlingskrise für die Europäische Union hat. -

... die Rolle der Europäischen Union in den internationalen


Beziehungen charakterisieren. 1
-
.. . die Möglichkeiten von Vertiefung in der europäischen
Verteidigungspolitik beurteilen.
-
... die Bedeutung zentraler Herausforderungen für die
Entwicklung der EU erläutern. 1
-
... mit Hilfe der Szenariotechnik europäische Politik
analysieren.
Zusatzmaterial zu Kapitel 6
Mediencode: 72002-06

KOMPETENZEN
Am Ende dieses Kapitels sollten
Sie Folgendes wissen und können:

das System der internationalen Beziehungen be-


schreiben und anhand theoretischer Modelle erklären

globale Risiken im 21. Jahrhundert beurteilen

Chancen und Grenzen der Durchsetzung des Völker-


rechts sowie der Menschenrechte beurteilen

zentrale internationale Sicherheitsorganisationen wie


die UNO und die NATO beschreiben sowie deren Ein-
satz für Frieden und Sicherheit beurteilen

die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in den


Kontext aktueller Herausforderungen einordnen

beurteilen, ob Global Governance globale Problemla-


gen lösen kann
Aufgabe

Ordnen Sie die folgenden Bedrohungen des Friedens den Bildern zu: Unkontrollierte Verbreitung
von Massenvernichtungswaffen (Proliferation), Ressourcenkonflikte und Bevölkerungswachstum,
internationaler Terrorismus, innerstaatliche Konflikte und Staatszerfall (Failing States). Begründen
Sie, welche dieser Bedrohungen Sie als eine direkte Gefahr für Deutschland ansehen.
Merkmale der
• heutigen Weltordnung
6.1. 1 Das System der Internationalen Beziehungen

Leitfragen Welche Akteure Warum spielt Sicherheit Wie hat sich der Wie lassen sich die
nehmen Einfluss auf in den Internationalen Sicherheitsbegriff Internationalen
die internationale Beziehungen eine so im laufe der Zeit Beziehungen anhand
Politik? große Rolle? verändert? theoretischer Modelle
erklären?

Was unterscheidet die internationale Politik


von den Internationalen Beziehungen?

Im Sprachgebrauch werden die beiden Bezeich- durch andere Staaten ausgesetzt zu sein. j eder
nungen Internationale Beziehungen und interna- Staat muss darum, um Sicherheit herstellen zu
tionale Politik oft gleichgesetzt. Unter internati- können, paradoxerweise gewaltbereit sein.
onale Politik kann jede Interaktion und Aktivität
zwischen zwei bzw. mehreren Akteuren innerhalb Verbunden mit dieser anarchischen Grundord-
der internationalen Umwelt verstanden werden, nung ist das sogenannte Sicherheitsdilemma:
die in irgendeiner Form einen politischen Gehalt Solange die Welt anarchisch strukturiert ist und
haben (>Kap. 3). Demgegenüber sind die Interna- auf weltpolitischer Ebene keine übergeordnete Re-
tionalen Beziehungen sehr viel weiter gefasst, da gelungs- und Sanktionsinstanz in Form einer Art
hier nicht nur explizit politische Interaktionen Weltjustiz mit durchsetzungsfähiger Weltpolizei
bzw. Aktivitäten miteingeschlossen werden, son- existiert, muss j eder Staat um seine Sicherheit
dern alle grenzüberschreitenden Handlungen fürchten. Die einzige Sicherheit vor Angriffen
von den unterschiedlichsten Akteuren. Hierzu ge- scheint in der eigenen militärischen Stärke zu lie-
hören beispielsweise neben Staaten auch gen (Abschreckung). Im Streben nach Sicherheit
nicht-staatliche Akteure, wie Unternehmen und sind die Staaten gezwungen, immer mehr militä-
Verbände, abe r auch internationale Organisatio- rische Macht anzu häufen. Dies führt wiederum
nen. Die internationale Politik stellt dementspre- dazu, dass andere Staaten dies als Bedrohung
chend eine Teilmenge der Internationalen Bezie- empfinden und ihrerseits nach Macht streben.
hungen dar.
Nach der Logik des Sicherheitsdilemmas ergibt
sich aus dem Streben nach Sicherheit und des Be-
Anarchie in den Internationalen Beziehungen harrens auf sicherheitspolitischen Interessen eine
paradoxe Situation: Jeder Staat baut zum eigenen
Im Gegensatz zum Nationalstaat gibt es in der Schutz seine militärische Ressourcen auf, um für
internationalen Politik kein Gewaltmonopol und andere die Kosten soweit zu erhöhen, dass sich ein
dementsprechend keine Instanz, die die Sicherheit Angriff nicht lohnt. Der eigene Schutz wird j edoch
von Staaten bzw. Menschen garantiert oder Feh l- gleichzeitig aber zur Gefahr des anderen. Da sich
verhalten sa nktioniert (> Kap. 3.1. 1). Dies hat zur in einer solchen Welt kein Staat je ganz sicher
Konsequenz, dass man sich nicht darauf verlassen fühlen kann, ergibt sich ein Wettlauf um militä-
kann, dass andere Staaten friedlich sind ; sie müs- rische Macht und ein Teufelskreis von Sicher-
sen in einem solchen System sogar davon ausge- heitsbedürfnis, Machtanhäufung und Bedrohung.
hen, dass andere Staaten aggressiv sind. Eine sol- Das klassische Beispiel hierfür ist das ko nventio-
che Anarchie bedeutet für den einzelnen Staat, nelle und atomare Wettrüsten zwischen den USA
ständig dem Risiko von Gewalt und Aggression und der Sowjetunion im Kal ten Krieg.
6.1 Merkmale der heutigen Weltordnung 1

Die Frage der Sicherheit als


Grundkonstante internationaler Politik
Das Sicherheitsdilemma - ein altes
Problem?
Während der bipolaren Weltordnung bis 1990 war
Sicherheit bzw. Unsicherheit traditionell durch Im 5. Jahrhundert v. Chr. waren in der griechischsprachigen Welt
Athen und Sparta die mächtigsten Stadtstaaten. Nachdem es be-
obj ektiv gegebene oder subjektiv empfundene Be-
reits Krieg zwischen den beiden gegeben hatte, führten beide
drohungen von außen auf einen Staat gekenn- nach einem 30-jährigen Waffenstillstand ab 431 v. Chr. wieder
zeichnet. Diese vorrangig militärisch gefärbte Krieg gegeneinander. Über diesen zweiten „ Peloponnesischen
Auffassung vo n Sicherheit bestimmte das sicher- Krieg" berichtet Thukydides, der in seinem Werk über die Gründe
heitspolitische Denken, welches durch ideologi- für den Ausbruch des Krieges berichtet: ,,Den wahrsten Grund
sche, politisch-ökonomische und militärische Ge- freilich, zugleich den meist beschwiegenen, sehe ich im Wachs-
gensätze zwischen den Supermächten USA u nd turn Athens, das die erschreckten Spartaner zum Krieg zwang. [...]
Zu diesem Beschluss der Spartaner, dass der Vertrag (über den
Sowjetunion geprägt war.
dreißigjährigen Frieden) gebrochen sei, hatten freilich die Verbün-
deten mit ihren Reden weniger beigetragen als die Furcht vor
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts 1990 än- Athen, dass es immer noch mächt iger werden könne, da sie ihm
derte sich die sicherheitspolitische Lage schlagar- doch den größten Teil von Hellas bereits Untertan sahen. [...] Nun
tig. Der einzig verbliebenen Supermacht USA aber, da die Macht Athens so augenscheinlich stieg und ihren (den
stand kein militärisch ebenbürtiger Feind mehr Spartanischen) Bund antastete, da riss ihre Geduld, und sie ent-
gegenüber. Die Gefahr eines global geführten schlossen sich anzugreifen und alles einzusetzen, um seine Größe
zu stürzen, wenn sie könnten und eben den Krieg zu erklären."
(Atom-)Kriegs bzw. eines konventionellen zwi-
T/Jukydides, Peloponnesischer Krieg, 1, 23, 89, 118
schenstaatlichen Kriegs mit globalen Auswirkun-
gen waren in der unipolaren Welt nach dem Ende
des kalten Kriegs in den Hintergrund getreten.
Vielmehr traten neue sicherheitspolitische Aspek-
te in den Vordergrund:
• Die zweite Dimension ist die Sachdimension,
• die weltweite Verbreitung von Massenvernich- also die Frage, in welchem Problembereich der
tungswaffen, das damit verbu ndene, internati- Politik Sicherheitsgefahren festgestellt werden.
onal organisierte Verbrechen sowie der interna-
tio nale Terrorismus; • Die dritte Dimension betrifft die Raumdimensi-
• die zunehmenden innerstaatlichen Konflikte o n, mithin die Frage, für welches geografische
und Kriege, die mit massiven Menschenrechts- Gebiet Sicherheit angestrebt wird.
verletzungen einhergehen u nd zu Staatszerfall
sowie regionaler Destab ilisierung führen; • Die vierte Dimension betrifft schließlich die Ge-
• die Zunah me von ökonomischen (z.B. Bedro- fahrendimension, also die Frage, wie das Prob-
hung der Energieversorgung), sozialen (z.B. lem konzeptualisiert wird, auf das Sicherheits-
Armut) und ökologischen (z.B. Arm ut) Risiko- politik antwo rten soll.
potentialen.
Der erweiterte Sicherheitsbegriff bezieht sich
nicht nu r auf militärische Sicherheit im Sinne des
Der erweiterte Sicherheitsbegriff Schutzes der staatlichen Außengrenzen, sondern
erfasst auch wirtschaftliche, soziale, politische,
Der Wandel des Sicherheitsbegriffs aufgrund der kulturelle Sicherheit. Zwar ist militärische Stärke
veränderten internationalen Rahmenbedingun- nach wie vor ein Element der staatlichen Sicher-
gen hat zum „erweiterten Sicherheitsbegriff' ge- heitspolitik, militärische Fähigkeiten allein rei-
führt. Der Politikwissenschaftler Christopher Daa- chen aber nicht aus, um Sicherheit z.B. in der
se hat dafür 2012 ein vierdimensionales Modell ökologischen Dimension herzustellen. Umfassen-
entwickelt: de Sicherheit erfordert auch Kommunikation und
Kooperation zwischen Staaten und Prävention.
• Die erste Dimension betrifft das Referenzobjekt, Konfliktrisike n sollen möglichst früh wahrge-
also die Frage, wessen Sicherheit gewährleistet nommen werden und vorbeugende Maßnahmen
werden soll. ergriffen werden (präventive Sicherheit).
6 Internationale Beziehungen

Dimensionen des erweiterten Sicherheitsbegriffs

Raumdimension Gefahrendimension

Sachdimension Referenzdimension

Nach: Christopher Daase, Wandel der Sicherheitskultur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 50, 2010, S. 10

Welche Akteure prägen die Welche Rolle spielen nicht-staatliche Akteure?


Internationalen Beziehungen?
Entgegen der Formulierung von Bell sind die Na-
Die dominantesten Akteure sowohl in der inter- tionalstaaten im gegenwärtigen System der Inter-
nationalen Politik als auch den Internationalen nationalen Beziehungen immer noch die wich-
Beziehungen sind Staaten. Der moderne National- tigsten Akteure. Ihre Handlungsmacht wird j edoch
staat bildete sich im Laufe des 16. Jahrhunderts zunehmend durch nichtstaatliche Akteure beein-
heraus und dominierte mit dem Westfälischen flusst und eingeschränkt. Zu den nichtstaatlichen
Frieden von 1648 b is zum Ende der bipolaren Akteuren, die in ihrer Summe die Handlungs-
Weltordnung 1990 das System der Internationa- macht der Staaten begrenzen, gehören internati-
len Beziehungen. Definiert wird er dabei durch ein onale Organisationen, wie
eindeutig umrissenes Territorium, Kongruenz der
Reichweite der Politik mit nationalen Grenzen, • die Vereinten Natio nen (UNO),
einem Staatsvolk sowie einer souveränen Aus- • die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zu-
übung von Staatsgewalt (> Kap. 3.1.1 ). sammenarbeit in Europa),
• transnationale Konzerne mit großer finanzieller
Die Folgen, die das Ende des Ost-West-Konflikts und wirtschaftlicher Macht, wie die großen Öl-
mit sich brachten, und die immer spürbarer wer- und Gaskonzerne (z.B. Shell, Exxon, Gazprom,
denden Auswirkungen der Globalisierung, führten Rosneft),
zu einer Krise des Nationalstaats. Der amerikan i- • Nichtregierungsorganisationen (NRO bzw. engl.
sche Soziologe Daniel Bell (1919 - 2011) formulier- NGO), wie Amnesty International, Greenpeace
te dies folgendermaßen: ,,Der Nationalstaat ist für oder Attac, die vor allem menschenrechtliche
die kleinen Probleme zu groß und für die großen und ökologische Ziele verfolgen,
Probleme zu klein geworden." Zunehmender • international agierende kriminelle Banden, wie
Machtverlust der Nationalstaaten angesichts glo- die südamerikanischen Drogenkartelle und
baler Probleme wird mit den Schlagwörtern „Dena- nicht zuletzt auch
tionalisierung", ,,Entgrenzung" und „Disembed- • weltweit, wenn auch mit regionalen Schwer-
ding" bezeichnet. Immer öfter heißt es in der Politik, punkten agierende Terrornetzwerke, wie z.B.
dieses Problem lässt sich nicht national lösen. der Islamische Staat (IS).
6.1 Merkmale der heutigen Weltordnung 1

Akteure in der internationalen Politik

Akteure Aktionsformen und Beispiele


Handlungsoptionen

Supranationale supranationale Politik und Verfahren • Internationaler Strafgerichtshof


(übernationale, (Wahrnehmung von Weisungs- und • Kriegstribunale
überstaatliche) Strafbefugnissen gegenüber Staaten • Streitschlichtungsverfahren der
Einrichtungen und Personen) WTO

Staatenverbund supranationale und zwischenstaatli- • Europäische Union


che Politik (Integration als regionale
Friedens- und Wertegemeinschaft,
auf Problemlösungen orientiert)

Staatsgruppen internationale Politik (Gestaltung der • G8 (Gruppe der führenden


Beziehungen zwischen Staaten und Industrieländer)
den internationalen staatlichen • G20 (Gruppe der führenden
Organisationen) Industrie und Schwellenländer)

Internationale • UNO, Weltbank, IWF, OSZE


Organisationen, • NATO, Rio-Pakt
Bündnisse

Einzelne Außenpolitik (Wahrnehmung der • amerikanische Irak-Politik


Regierungen allgemeinpolitischen, wirtschaftlichen, • deutsche Europapolitik
militärischen und soziokulturellen • australische Einwanderungspolitik
Interessen eines Staates in seinem • russische Syrienpolitik
internationalen Umfeld)

Einzelressorts, transstaatliche Politik (grenz- • Zusammenarbeit von Ministern


substaatliche überschreitende Kooperation mit verschiedener Staaten in
Verwaltungseinheiten Einrichtungen anderer Staaten) EU-Fachministerräten
• Städtepartnerschaften

Nationale Zivilgesell- außenpolitische Einflussnahme Haltungen von


schaft (innergesell- (durch Lobbyarbeit oder Mobilisie- • Gewerkschaften
schaftliche Organisatio- rung der öffentlichen Meinung) • Industrieverbänden
nen, Verbände, soziale • Friedensgruppen zum Einsatz der
Bewegungen) Bundeswehr in Krisenregionen

Internationale Zivilge- transnationale Politik (grenzüber- • Internationale Handelskammer


sellschaft (Parteien, schreitende Einflussnahme auf (ICC}
Kirchen, Unternehmen, Entscheidungsträger in der internati- • Greenpeace oder Amnesty
Akteure der Finanzmärk- onalen Politik) International
te, Interessengruppen, • NGO-Gegenkonferenzen zu
soziale Bewegungen) Wirtschaftsgipfeln
• World Economic Forum in Davos

International organi- Geldwäsche, Korruption, Terror, • Geldwäsche, Korruption


sierte Kriminalität Schwächung staatlicher Gewalt - • Terror
(kriminelle Banden, Staatszerfall als Ziel • Schwächung staatlicher Gewalt
Mafia, Drogenkartelle, • Staatszerfall als Ziel
Terrornetzwerke)

Nach : Basiswissen Sch ule, Politik, Wi rtschaft Abitur, 20 16, S. 347f


6 Internationale Beziehungen

Konkurrierende Weltordnungsmodelle

Allgemein gilt die klassische Annahme, dass der In Weltordnungsmodellen sollen dabei Vorstel-
Zustand der Staatenwelt durch Anarchie - also das lungen über den Zustand oder die Ordnung der
fehlen von Herrschaft - gekennzeichnet ist. Zur Internationalen Beziehungen festgehalten wer-
Überwindung dieser werden in der Forschung drei den. Anhand solcher Modelle sollen komplexe
alternative Weltordnungsmodelle diskutiert: Die Besonderheiten vereinfacht dargestellt und
hegemoniale Ordnung, die horizontale Selbstorga- grundlegende Merkmale eines Sachverhaltes, Be-
nisation und der Weltstaat. griffs oder Phänomens hervorgehoben werden.

Anarchie der Staatenwelt:


Staaten befinden sich im Sicherheitsdilemma - streben nach Stärke und Macht, um Sicherheitsrisiken
zu beherrschen, es herrschen Konkurrenz und Misstrauen (Unilateralismus).

Überwindung Überwindung Überwindung


durch durch durch

~ ~ ~
Horizontale Hegemoniale Ordnung Weltstaat
Selbstkoordination Ein Staat kann aufgrund seiner Staaten sind bereit, Souveräni-
Kooperation und Koordination Vormachtstellung anderen sei- tät an eine supranationale Insti-
der Interessen durch bilaterale nen Willen aufzwingen. Er hat tution abzutreten, die zur
und multilaterale Verträge bzw. quasi ein Gewaltmonopol. So Durchsetzung von Entschei-
durch Vereinbarungen in inter- kann Stabilität, Frieden und dungen legitimiert ist (Gewalt-
nationalen Organisationen. Die Demokratie gewährleistet wer- monopol). Das Gewaltmonopol
Einhaltung der Verträge kann den, kann jedoch auch zu Un- wird demokratisch legitimiert
nicht erzwungen werden (Multi- terdrückung und Willkür führen. und kontrolliert.
lateralismus).

Welche Funktion haben Theorien Der (Neo-)Realismus - nach


in den Internationalen Beziehungen? Macht strebende Staaten

Theorien in den Internatio nalen Beziehungen die- Die realistische Schule basiert auf den theoreti-
en dazu, den Gegenstand so zu analysieren, dass schen Überlegungen des amerikanischen Politik-
allgemeine Grundsätze und Regelmäßigkeiten in wissenschaftlers Hans Joachim Morgenthau ( 1904
ternationaler Politik sichtbar werden. Mit Hilfe - 1980). Ähnlich wie schon Thomas Hob bes ( 1588-
dieser Theorien können beschreibende (deskripti- 1679) sieht Morgenthau zerstörerisches Handeln in
ve) und erklärende (kausale) Aussagen gemacht der Natur des Menschen begründet. Der Prämisse
we rden. Das Feld der Theorien über die Internati- folgend, dass das Zusammenleben der Menschen
o nalen Beziehungen befindet sich dabei in einem vom „Krieg aller gegen alle" und durch ständige
Zustand ständiger Ausdifferenzierung und ist ge- Unsicherheiten - Ana rchie - geprägt ist, überträgt
prägt von einem Nebeneinander verschiedener Morgenthau dieses Konzept der Anarchie a uf die
und konkurrierender Theorien, Ansätze, Perspek- Internationalen Beziehungen. Da auf dieser Ebene
tiven und Konzepte. Dennoch lassen sich als zen- eine zentrale Entscheidungs- und Sanktionsgewalt
trale bzw. dominante Denkschulen der Internati- feh lt, ist die internationale Politik durch den
onalen Beziehungen vier verschiedene Groß- Hauptakteur des nach Macht strebenden souverä-
theorien unterscheiden: ne n Nationalstaates gekennzeichnet. Oberstes Ziel
j eder Außenpolitik muss deshalb die egoistische
• der (Neo-)Realismus, Durchsetzung der eigenen Interessen gegen die
• der Liberalismus (Idealismus), Interessen anderer Staaten sein, da jeder Staat für
• der lnstitutionalismus und seine Sicherheit in einem „System der Selbsthil fe"
• der Konstruktivismus. selbst sorgen muss.
6.1 Merkmale der heutigen Weltordnung 1

Liberalismus - Kooperation demokratischer stehen internatio nale Organisationen im Zentrum


Gesellschaften des Interesses, welche die Einhaltung vo n ausge-
handelten Verträgen überwachen und garantie-
Die liberale bzw. auch idealistische Denkschule ren.
steht in direktem Gegensatz zu den Annahmen des
Realismus und geht auf das idealistische Men- Internationale Regime schaffen erweiterte koope-
schenbild von Imman uel Kant ( 1724 -1804) zu- rative Strukturen, die informelle und formelle,
rück. Kant nahm an, dass der Mensch vo n Natur rechtliche und nicht-verrechtlichte Elemente auf
aus vernunftbegabt, lernfähig und einsichtsvoll weisen. Beispiele dafür sind das Welthandelsregi-
ist. Deshalb wird der Liberalismus von Anhängern me (GATI/WTO), das Regime zur Nichtverbrei-
des Realismus auch abwertend als Idealismus be- tung von Atomwaffen, das Weltklimaregime oder
zeichnet. Modeme Vertreter des Liberalismus, wie das Menschenrechtsregime der UN. Regime kön-
der amerikanische Politikwissenschaftler Andrew nen dabei verstanden werden als freiwillige Ko-
Moravcsik, gehen nicht davon aus, dass die sou- operationen und vertragliche Vereinbarungen, die
verä nen Nationalstaaten die zentralen Akteure im ein verpfli chtendes Regelwerk darstellen, um
System der Internationalen Beziehungen sind. Konflikte zwischen Staaten zu lösen. Sie können
Vielmehr hängt jedes staatliche Interesse vo n in- im Gegensatz zu internationalen Organisationen
nerstaatlichen Gegebenheiten, wie den materiel- jedoch nicht eigenständig handeln.
len und die ideellen Interessen der verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen ab.
Konstruktivismus - Internationale Beziehungen
Unter der Prämisse, dass staatliches Handeln im- als soziales Konstrukt der Wirklichkeit
mer das Ergebnis ganz spezifischer gesellschaftli-
cher Ve rhältnisse ist, sind liberaldemokratische Auf die Auflösung der Bipolarität nach dem Ende
Gesellschaftssysteme Voraussetzung für eine des Ost-West-Konflikts konnten weder realisti-
friedliche Koexistenz der Staaten im System der sche, liberale noch instit utionelle Theorien eine
Inte rnatio nalen Beziehungen. Der Liberalismus schlüssige Antwort geben. Wie kann es sein, dass
geht darum davon aus, dass liberaldemokratische Staaten in feindlicher Konkurrenz zueinander ste-
Staaten auch a ufgrund vo n Interdependenzen un- hen und dann wieder koo perieren u nd Bündnisse
terein ander Wege der Kooperation zum gegensei- eingehen? A us Sicht des Konstruktivismus ist die
tigen Nutzen finde n und so den anarchischen Anarchie im internationalen System nicht „wirk-
Charakter der Internationalen Beziehungen be- lich" existierend. Es gibt sie nur, weil Akteu re sie
herrschen können. für real halten und in diesem Rahmen denken und
handeln. Eine wichtige Rolle spielen dabei Diskur-
se, in welchen soziale Realitäten konstruiert wer-
lnstitutionalismus - Kooperationen in den und somit einen Rahmen dafür setzen , was in
Institutionen und Regimen einem bestimmten Kontext gesagt werden kann
und was nicht.
Ähnlich wie im Realismus geht auch die instit uti-
onal istische Denkschule von einem anarchisch Vor dem Hintergrund von Diskursen spricht man
strukturierten System der Internationalen Bezie- darum von einer internationalen Sozialstruktur,
hungen aus, welches nur durch Kooperationen, die durch wandelbare Normen, Werte, Ideen sowie
die aufgrund von Interdependenzen zwingend durch Lernprozesse gekennzeichnet ist. Sie unter-
sind, beherrschbar ist. Im Institutionalismus ste- liegt stets der Wahrnehmung der internationalen
hen die Kooperationspotentiale zwischen den Akteure und somit dem steten sozialen Wandel.
Staaten im Fokus. Der lnstitutionalismus geht bis Der Konstruktivismus ist in dieser Hinsicht keine
a uf die These von Hugo Grotius (l 583 -1645) zu- explizite Großtheorie der Internationalen Bezie-
rück, dass Kriege du rch Institutionen, die Regeln hungen als vielmehr eine soziologisch geprägte
setzen, verhi ndert werden kön nen. Für moderne Theorie, die das Verhalten im internationalen Sys-
Vertreter des Institutionalismus, wie z.B. den tem in Abhä ngigkeit von sich entwickelnden wer-
deutschen Politikwissenschaftler Michael Zürn, torientierten soziale n Strukturen erklärt.
6 Internationale Beziehungen

Vergleich der Haupttheorien der Internationalen Beziehungen

Realismus Liberalismus lnstitutionalismus Konstruktivismus


Menschenbild Mensch vertraut Mensch ist von Akteure handeln Die Welt ist durch
nicht auf Vernunft Grund auf vernunft- egoistisch, zweck- unsere individuelle
oder moralische begabt und kann rational und richten Wahrnehmung
Normen, er ist sein Handeln an ihre Politik am konstruiert; es
triebgesteuert - er Idealen ausrichten Eigennutz aus existiert keine
lebt in permanenter objektive Welt
Unsicherheit und außerhalb der sub-
versucht , diese jektiven Wahrneh-
durch Macht zu mung; der Mensch
überwinden ist lernbereit und
handelt gemäß
sozial erlangten
Wissens und
Wissensstrukturen

Sichtweise Multiplurales Sich stetig entwi- Das anarchische Akteure verhalten


Internationaler Staatensystem ohne ekelnde Weltgesell- System wird ergänzt sich gemäß der in
Beziehungen zentrale Entschei- schaft vernünftiger durch eine wach- den Sozialstrukturen
dungs- und Individuen und sende zwischen- vorgegebenen
Sanktionsinstanz sozialer Gruppen staatliche lnterde- Werte und Verhal-
pendenz tensstandards
Hauptakteure Souveräne National- Individuen und Staaten und Untersucht werden
staaten deren gesellschaftli- internationale alle Akteure in den
ehe Zusammen- Organisationen Internationalen
schlüsse (Zivilge- Beziehungen
sellschaft)
Handlungsziele Durchsetzung Überwindung der Staaten verfolgen Eine Veränderung
nationaler lnteres- Anarchie durch eigene Wohlfahrts- der Internationalen
sen bzw. Stabilisie- Herstellung einer interessen und sind Beziehungen gelingt
rung des internat io- internationalen weniger auf relative nur über die
nalen Systems Friedensordnung Machtgewinne Konstruktion neuer
durch Machtgleich- angewiesen Ideen, Werte und
gewicht Normen
Mittel zur Krieg als Mittel der Aufklärung und Mit Hilfe von Schaffung gemein-
Verwirklichung Politik, Machtge- Erziehung zur internationalen samer Werte und
der Zielmittel winn, Selbsthilfe, Mündigkeit, Regimen werden Normen jenseits von
Bündnis-und Demokratisierung, handlungsleitende Gewalt; das Ver-
Gleichgewichts- Vernetzung und Regelwerke für halten der Staaten
politik internationale spezifische wird nicht durch die
Zusammenarbeit, Probleme geschaf- Verteilung materiel-
grundsätzliche fen, die über ler Ressourcen be-
Ablehnung von Gebote, Verbote st immt als vielmehr
Gewalt und Verfahrensre- über die Verteilung
geln die internatio- von Wissen,
nale Anarchie welches institutio-
bändigen nalisiert weitergege-
ben wird

Aufgaben
1. Benennen Sie eine Theorie der Internationalen Beziehungen, in der das Sicherheitsdilemma eine zentrale
Rolle spielt und legen Sie dar, wie beide miteinander zusammenhängen.

2. Ordnen Sie die Großtheorien Internationaler Beziehungen jeweils den Weltordnungsmodellen zu und begrün-
den Sie Ihre Zuordnung.

3. Erklären Sie, wie und warum sich der Sicherheitsbegriff im l aufe der Zeit verändert hat.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Die Prämissen der neorealistischen Sicht auf internationale Politik

Namenhafte Entscheidungsträger (u. a. Stalin, Roosevelt, Kennedy, de Gaulle, Kissin-


ger, Schmidt, Hurd, Fischer, Sarkozy, Putin usw.) waren bzw. sind Realisten, selbst
wenn sie sich nicht immer so konsequent des entsprechenden Vokabulars bedient
haben, wie ihre akademischen Gesinnungsgenossen. Das Hauptaugenmerk der rea-
5 listischen Theorieperspektive gilt traditionell der Frage nach den Kriegsursachen sowie
den Bedingungen für einen einigermaßen stabilen Friedenszustand zwischen den
mächtigeren Staaten. [... ]

Das Milieu der internationalen Politik ist ,anarchisch'

Die Anarchie der internationalen Politik ist logische Konsequenz der staatlichen Souve-
ränität. Anarchie heißt nicht per se Chaos oder Konflikt, sondern meint ein fundamenta-
10 les Ordnungsprinzip der internationalen Politik, das sich vom Ordnungsprinzip innerhalb
souveräner Staaten (= Hierarchie) unterscheidet. Im internationalen Milieu interagieren
souveräne Staaten, die aufgrund ihrer Souveränität keiner höherrangigen Autorität un-
terstehen. Das heißt, keine überstaatliche Sanktionsinstanz sorgt für Ordnung. [... ]

Staaten streben nach Macht

Der Antrieb eines jeden Staates[...] ist das Streben nach Macht - im Sinne von Einfluss
15 auf das Denken und handeln anderer Staaten/Regierungen. Dieses Streben ist zwar
abhängig von Zeit und Raum, insofern die Ausübung von Macht/Einfluss zu verschie-
denen Zeiten an unterschiedliche Quellen und Ressourcen gebunden ist. Dies ändert
aber nichts daran, dass Staaten/Regierungen zu jedem Zeitpunkt versucht haben, ihre
Macht zu erhalten, zu demonstrieren und/oder zu vermehren. Indikatoren staatlicher
20 Macht sind v.a. geografische Lage, territoriale Größe, Bevölkerungszahl, wirtschaftli-
che Kapazität, politisches Ansehen und militärische Schlagkraft. Letztere bemisst sich
im Atomzeitalter vorrangig aus der Verfügung über nukleare Waffen; neuerdings spie-
len auch biologische und chemische Waffen eine Rolle.[ ... ]

Staaten befinden sich in einem Zustand der Unsicherheit

Kein Staat kann sich sicher sein, dass andere Staaten ihre Machtressourcen nicht zum
25 Einsatz bringen. Das heißt nicht, dass alle Staaten zu jedem Zeitpunkt kriegerische
Absichten hegen. Es bedeutet lediglich , dass ein verlässlicher Zustand nationaler Si-
cherheit unmöglich ist, da Staaten ihre Macht auch durch Krieg vergrößern können.
Staaten stehen vor dem Dilemma, angesichts äußerer Bedrohungen selbst nicht zu
wenig, aber mit Blick auf etwaige Verunsicherungen ihrer Umwelt auch nicht viel Macht
30 anzuhäufen. [ ... ]

Staaten handeln klug und nicht moralisch ,gut'

In einem anarchischen Milieu sind Staaten dem Postulat politischer Klugheit verpflich-
tet. Staaten entscheiden immer mit Blick auf mögliche Konsequenzen ihres Tuns für
ihre Machtposition. Kluges im Sinne von erfolgreichem Handeln zeichnet sich dadurch
aus, dass Staaten Strategien verfolgen, um ihre Machtposition nicht zu verlieren. Un-
35 kluges Handeln bedeutet, dass Staaten Entscheidungen treffen, in deren Folge sie an
Macht einbüßen. Politik ist insofern moralisch, als Staaten dem verantwortungsethi-
schen Gebot machtpolitischer Vernunft folgen. Die Moral der internationalen Bezie-
hungen besteht aus Postulaten des Machterhalts. [...]
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

Staaten errichten ein Gleichgewicht

Aufgrund ihrer Pflicht zum Machterhalt, achten Staaten bzw. Regierungen argwöh-
40 nisch auf jede Veränderung der herrschenden Machtkonstellation. Auf Machtverschie-
bungen reagieren sie mit Aufrüstung und/oder der Bildung von Bündnissen. Die stän-
dige Reaktion aller Staaten auf vermeintliche Machtgewinne anderer Staaten führt in
der Regel zu einem unwirklichen, unzuverlässigen und daher prekären Gleichgewicht.
Dieses Gleichgewicht ist gleichzeitig die einzige Vorkehrung gegen einen Krieg der
4s mächtigeren Staaten gegeneinander. Jeder Krieg zwischen den mächtigeren Staaten
resultiert aus einer Störung des Gleichgewichts, hat allerdings zur Folge, dass sich von
Neuem ein Gleichgewicht zwischen den mächtigen Staaten herausbildet.

Günther Auth, Theorien der Internationalen Beziehungen Kompakt, 2015, S. 2/f

M 2 Der militärische Aspekt internationaler Politik rückt in den Hintergrund

Grundsätzlich gilt in Zeiten asymmetrischer Interdependenz, dass die Macht eines


Staates durch seine Fähigkeit definiert ist, Abhängigkeiten anderer Staaten im Rahmen
von Verhandlungen für seine eigenen Zwecke auszunutzen. Macht hat nicht mehr
primär etwas mit militärischer Stärke und einer hervorgehobenen Position zu tun. Nicht
s zuletzt die Realisierung politischer Interessen durch Krieg ist angesichts der damit
verbundenen Kosten (Reputationsverlust) für den Wiederaufbau [.. .] verhältnismäßig
teuer. Der Anreiz zur Selbsthilfe wird durch den Glauben aller Staaten an die Möglich-
keit von Kooperationsgewinnen überlagert. Der militärische Aspekt internat ionaler
Politik rückt in den Hintergrund. Allerdings ist es nicht so, dass militärisch starke Staa-
,o ten überhaupt keinen Vorsprung mehr haben. Solche Staaten besitzen immer noch ein
beträchtliches Maß an Einfluss darauf, ob Verhandlungssysteme[ ...] eingerichtet (wer-
den), welche Sachbereiche als Verhandlungsmaterien festgelegt, und welche Staaten
als Teilnehmer zu den Verhandlungen zugelassen werden[... ].
Zunehmende Interdependenz kann dazu führen, dass die Zahl der Verhandlungssys-
,s teme immer weiter zunimmt und das Netz der Verrechtlichung politischer Probleme
dichter wird. Dabei entsteht nicht zwangsläufig eine „neue heile Welt" der Kooperation,
die eine „alte böse Welt" internationaler Konflikte ersetzt. Konflikte bleiben erhalten
und werden zunächst „nur" in die Gremien von Verhandlungssystemen verschoben .
[ ... ]Freilich „zivilisiert" das Verhandeln in Institutionen den Konfliktaustrag im Vergleich
20 zur Kommunikation mit Massenvernichtungswaffen beträchtlich. Mithilfe von Instituti-

onen regulieren Staaten den regellosen Zustand der Anarchie.

Günther Auth, Theorien der fntemationalen Beziehungen Kompakt, 20 15, S. 101

Aufgaben
1. Analysieren Sie die beiden Texte hinsichtlich der Frage, wie Anarchie überwunden werden
kann (M 1 und M 2).

2. Ordnen Sie die in M 2 formulierte Kritik an der realistischen Perspektive einer der Theorien
für Internationale Beziehungen zu.

3. Simulieren Sie im Rahmen eines Rollenspiels (, Methodenglossar) ein Gespräch jeweils mit
einem Vertreter des Realismus, des Liberalismus, des lnstitutionalismus und des Kons-
truktivismus darüber, wie die Anarchie in den Internationalen Beziehungen überwunden
werden kann.
6.1 .2 Krieg und Frieden

Leitfragen Was unterscheidet die Wie verändert sich die Kriegsführung Wie sind die neuen
„neuen Kriege" vom durch den Einsatz von Drohnen, Waffen zur Kriegsführung
klassischen Krieg? Robotern und Cyberattacken? zu beurteilen?

Was sind Kriege?

„De r Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik Fragt man n ach den Gründen von Krieg, so lassen
mit anderen Mitteln. So sehen wir also, dass der sich drei unterschiedliche Erklä rungsebenen von-
Krieg nicht bloß ein polit ischer Akt, sondern ein eina nder abgrenzen :
wahres politisch es Instrument ist."
• Auf der indiv idualistischen und psychologi-
Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 1994 schen Ebe ne sehen einige Wissenschaftl er eine
[Erstausgabe 1832-1834], S. 17
dem Menschen innewohnende Aggression als
Ursache.
Diese klassische Aussage v on Clausewitz prägt bis
heute das Verständnis von Krieg als ein polit isches • Auf der gesellschaftlichen Ebene geht der mar-
Instrument. Die Hamburger A rbe itsgemeinsch aft x istisch - leninistische Ansatz davon aus, dass
Kriegsursachenfo rschung (AKUF) verst eht Krieg die ökonomische Entwicklung des Kapitalis-
als einen gewaltsa men Massenkonflikt, der die mus zwan gsläu fig zu Kriegen u m Ressourcen
fo lgenden Merkmale a ufweist : fü hren muss.

,,(a) an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaff- • Auf der systemischen Ebene wird die Anarchie
nete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich des internationalen Staatensystems als Ursa-
mindestens auf einer Seite u m regulä re Streit- che für Kriege gesehen.
kräfte (Militär, para militä rische Verbände,
Po lizeieinheiten) der Regierung handelt;
(b) auf beiden Seiten muß ein Mindestma ß an zen- Lassen sich Kriege voneinander
tralgele nkter Organisation der Kriegfüh re nden unterscheiden?
und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn
dies nicht mehr bedeutet als organisierte be- Kriege ziehen sich wie ein roter Faden durch die
waffnete Verteidigung oder planmäßige Über- Geschichte der Menschheit. Kriegerische A usein-
fälle (Guerillaoperationen, Pa rtisan enkrieg andersetzun gen gab es schon immer zwischen
usw.); untersc hiedlichen Akteuren: Staaten, Kön igreiche
(c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit und politische Gruppen a uch innerhalb eines
einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht Staates. Besonders verheerend waren die beiden
nur als gelegentliche, spontane Zusammenstö- großen Weltkriege im 20. Jahrhundert.
ße, d. h. beide Seiten operieren nach einer pla n-
m äßige n Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe 2017 zählten Konfli ktforscher aus Heidelberg 20
auf dem Gebiet eine r oder meh rerer Gesell- Kriege und 385 Kon flikte, 222 wa ren davon ge-
sch aften stattfi nden und wie la nge sie dauern. waltsam. Eine grobe Unterscheidung ist d ie zwi-
sch en staatlichen und nicht staatlichen Kon-
Kriege werden als beendet angesehen, wen n die fliktparteien: Symmetrische zwischenstaatliche
Ka mpfha ndlu ngen dau erhaft, d. h. für den Zeit- Kriege, also Gewaltko nflikte, die zwischen zwei
raum von mindestens eine m J ahr, eingestellt bzw. Staaten ausget rage n werden oder asy mmetrische
nur unterhalb der AKUF-Kriegsdefi nition fortge- Kriege zwischen einer staatlichen und einer nicht
setzt werden." staatlichen Partei. Asymmetrische Kriege lassen
sich wiederum u nterteile n in innerstaatliche Ge-
Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF}, waltkonflikte - also Kriege zwischen einem nicht-
Kriegsdefinition und Kriegstypologie, 2016 staatlichen Akteur und einem Staat innerhalb
6 Internationale Beziehungen

bestehender Staatsgrenzen (Bürgerkrieg) - und ßerhalb bestehender Staatsgrenzen (wie beispiels-


extrastaatliche Gewaltkonflikte zwischen einem weise der Krieg der westlichen NATO-Staaten ge-
nichtstaatlichen und einem staatlichen Akteur au- gen die Taliban in Afghanistan).

Bewaffnete Binnenkonflikte und nichtstaatliche Konflikte

Zahl der bewaffneten Konflikte Nichtstaatliche Konflikte -


60 Binnenkonflikte•
Zwischenstaatliche Konflikteb -

50

40 - - - - - - - - - - - - - - - - - - -- -- - -

30 - - - - - - - - - - - - - - - - ~

20 t--- - - - - - - - - -

10

0
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010
a. Schließt internationalisierte Binnenkonflikte ein b. Schließt extrasystemische Konflikte ein.
Quelle: UCDP und PR/0 2013; UCDP 2013

Nach: Deutsche Gesellschaft.für die Vereinten Nationen e. V., Bericht über die menschliche Entwicklung 2014
(Deutsche Ausgabe}, 2014, S.62

Was sind die „neuen Kriege"? Anstelle offener Feldschlachten verwenden die
Kriegsparteien Techniken des Guerilla- oder Par-
Die klassische Vorstellung von Krieg wird durch tisanenkampfes. Sogenannte Warlo rds, welche
die großen zwischenstaatlichen Kriege geprägt immer häufiger an neuen Kriegen beteiligt sind,
(z. B. Erster und Zweiter Weltkrieg). Heutzutage privatisieren gleichsam die Kriegsführung. Sie er-
entsprechen Kriege jedoch we niger diesem Mus- hoffen sich eine hohe Kriegsbeute durch Ressour-
ter, sondern sind vor allem Begleiterscheinungen cen, wie z.B. Gold oder Diamanten, sowie du rch
des Zerfalls von Staaten. Ein wesentliches Merk- Einnahmen von Schutzgeldern. Häufig wird die
mal der neuen Kriege ist die Entstaatlichung der Zivilbevölkerung in die Kampfhandlungen einbe-
Gewalt, so dass neben staatlichen Kräften immer zogen, teilweise als Geiseln genommen oder ge-
mehr auch bewaffnete Banden und ei nzelne auf- zielt getötet. Um sich zu weh ren, sich vor Raub,
gerüstete Gruppen im Rahmen dieser Konflikte Plünderung und Vergewaltigung zu schützen,
Gewalt anwenden. Sind in zwischenstaatlichen greifen die Menschen wiederum selber in die
Kriegen Staaten prinzipiell verpflichtet, internati- Kampfhandlungen ein bzw. schließen sich einer
onale Konventionen bei der Kriegsführung einzu- der Konfliktparteien an. Sogar Kinder werde n
halten, z.B. Regeln zum Umgang mit Kriegsgefan- dazu gezwungen, sich an Ka mpfhandlungen als
genen, so gibt es in den neuen Kriegen keine Kindersoldaten zu beteiligen.
Anerkennung solcher Verhal tensregeln.
,,Der Begriff hybride Kriegsführung wurde erst-
Ein weiteres Kennzeichen der neuen Kriege ist die mals 2005 vom amerikanischen Mil itärautor und
asymmetrische bzw. hybride Kriegsführung. Politikwissenschaftler Frank G. Hoffman verwen-
6.1 Merkmale der heutigen Weltordnung 1

det. Im Nachgang zum Libanonkrieg 2006 fand Verbi ndung mit terroristischen Aktionen und kri-
der Terminus weitere Verbreitung. Hoffman be- mi nellem Verhalten in einem Kampfgebiet, all
wertete diesen Krieg als eine Art Prototyp. Er dies, um politische Ziele zu erreichen."
definierte hybride Kriegsführu ng als zumeist
gleichzeitige u nd synergetische Kombination Oliver Tamminga, Hybride Kriegsführung, in:
konventioneller und irregulärer Kampfweise in SWP-Aktue/1 27, März 201 5, S. I

Das klassische Kriegsbild löst sich auf

Krieg Auflösung des klassischen Kriegsbildes


• Wendung des staatlichen Gewaltmonopols • Wendung militärischer Gewaltanwendung in die
nach außen Innensphäre zerfallender einzelstaatlicher Subjekte
• Fortsetzung des politischen (Staaten-)
Verkehrs unter Einmischung anderer Mittel
• Zweck: innergesellschaftlicher Machterhalt von lnter- 1
essengruppen, Clans, Warlords; Sicherung von Beute,
schnellem Profit und persönlichen Abhängigkeiten;
1
Zentrale politische +
Auseinander-
• Identitätsstiftung zur Herrschaftssicherung

Aufhebung der
zentralen politischen
Auseinandersetzung
zwischen bewaffneten
Primat
der Politik + Kontrolle durch
legitimierte
Entscheidungs-
+ setzung
zwischen
militärischen
Primat der
(ethnonationalen)
Gruppeninteressen
+ Kontrolle und +
rationalen strategi-
Volksgruppen, Milizen,
Privatarmeen,
träger Großverbänden schen Gesamtleitung marodierenden Gangs
und Banden unabhängig
operierender Hecken-
Prinzip von Befehl Zentrale Gesamt- Aufhebung des schützen
und Gehorsam ....+ strategischen
leitung nach rationalen
Prinzipien
Prinzips von Befehl
und Gehorsam ♦
Aufhebung der Trennung von
Kampfzone und (sicherem)
Hinterland '

,,Chaotisierung der Kriegsführung" oder Anarchie?

Nach: Reinhard Meyers, Krieg und Frieden, in: Wichard Woyke (Hrsg.}, Hand wörterbuch internationale Politik, 2004, S. 307

Eine neue Dimension der Kriegsführung -


Drohnen, Killerroboter, Cyberkrieg

Im 21 . Jah rhundert ist das Internet zum Kriegs- den, das Abhören von Kommunikationsverbin-
schau platz geworden, da ein einfache r Laptop dungen oder die Manipulation von Anwen-
genügt, um ein hochtech n isiertes Raketenabwehr- dungsprogrammen.
system lahmzulegen. Waren zu r Zeit des Kalten
Kriegs die möglichen Kriegsparteien überschaubar Darüber hinaus stellen Drohnen und Roboter eine
u nd klar zu benennen, so ist heute die Zahl po- neue Kriegstechnik dar. Wurden die ersten Droh-
tentieller Angreifer unüberschaubar u nd kaum zu nen noch zur Aufklärung eingesetzt, sind sie in-
lokalisieren. Der Krieg der nahen Zukunft findet zwischen Präzisionswaffen. Statt Piloten für
somit auch im virtuellen Raum - dem Cyberspace Kampfjets auszubilde n, werden heute sogenannte
- statt. Cyberattacken zielen auf die die digitale Telepiloten zum Einsatz von Drohnen ausgebildet.
Steuerung von gegnerischen Waffensystemen ab.
Zivile sowie m ilitärische Informationstechnologi- Dabei wird der asymmetrischen Kriegführu ng des
en und Kommuni kationsnetze des Gegners Terrorismus die asymmetrische Kriegsführung
werden so attackiert, dass lebenswichtige Infra- durch Drohnen entgegengesetzt. Droh nen sind
strukturbereiche lahmgelegt werden, wie z.B. die hochgradig flexibel und global einsetzbar. So
Strom- oder Wasserversorgung. schnell, wie Terroristen ihre Operationsgebiete
verlagern, folgen ihnen die Drohnen. Zusätzlich
Zu den „Waffen" im Cyberwar gehören das Kop ie- sollen Kampfroboter Einsätze ermöglichen, ohne
ren, Löschen oder Modifizieren von Datenbestän- das Leben vo n Soldaten zu gefährden.
6 Internationale Beziehungen

Die ethische Beurteilung scher und psychischer Gewalt beschreiben. Diese


der neuen Kriegsführung Definition erfasst nicht nur die Abwesenheit von
Krieg, sondern die friedliche und demokratische
Die Einschätzungen der Kriegsführung mit Droh- Konfliktregelung auf allen Ebenen.
nen und Kampfrotobern sind un terschiedlich. Op-
timisten glauben, dass sie dem Menschen beim
moralischen Abwägen in Kampfsituationen durch Wie könnte eine „Architektur
ihre schnellere Informationsverarbeitung überle- des Friedens" aussehen?
gen sind und so programmiert werden könnten,
dass ihr Einsatz mit den Normen des Völkerrechts Der deutsche Friedensforscher Dieter Senghaas
vereinbar ist. Dem gegenüber streben Menschen- entwickelte in den 1990er J ahren ein Modell für
rechtso rganisationen - wie beispielsweise Human die Entstehung eines dauerhaften Friedens - be-
Right Watch - eine internationale Ächtung sol- stehend aus sechs Forderungen für eine Zivilisie-
cher Waffen an. rung der in ner- und zwischengesellschaftlichen
Beziehungen (,,zivilisatorisches Hexagon"):
Insgesamt besteht beim Einsatz von Drohnen und
Robotern noch erheblicher Klärungsbedarf: So 1. Mit einer Durchsetzung des Gewaltmonopols
stellt sich die Frage, was passiert, wenn sich ein des Staates wären Bürgerkriege ausgeschlossen
Kampfroboter im Krieg nicht regelkonform ver- (wie z.B. im zerfallenden Jugoslawien oder im
hält. Kann eine Maschine zur Rechenschaft gezo- Libanon). Zwischenstaatliche Kriege könnten
gen werden - oder soll der Befehlshaber, der Pro- durch das Gewaltmonopol bei überstaatlichen
grammierer oder der Hersteller dann sanktioniert Institutionen wie der UNO verhindert werden.
werden? Selbst bei noch so umfassender Program-
mierung kön nen Kampfroboter - so die Kritiker 2. Das Gewaltmonopol des Staates muss durch
- zwischen Zivilisten und Kämpfern, zwischen Rechtsstaatlichkeit, das heißt vor allem durch
einem Angreifer oder einem Verwundeten bzw. die Bindung des Staates an eine freiheitlich-de-
einem Gegner, der sich ergibt, nicht unterschei- mokratische Verfassung ziv ilisiert werden, um
den. Im Zweifel besteht die Gefahr, dass in alle n diktatorische Regime zu verhindern.
Fällen getötet wird, was ein Verstoß gegen inter-
nationales Kriegsrecht und das humanitäre Völ- 3. Die demokratische, gleichberechtigte Teilhabe
kerrecht wäre. aller gesellschaftlichen Gruppen, einschließlich
religiöser oder ethnischer Minderheiten, ver-
hindert, dass sich Teile der Bevölkerung von
Was heißt Frieden? politischen Entscheidungen ausgeschlossen
und diskriminiert fühlen und ihre Interessen im
Das Streben nach Sicherheit ist ein Grundbedürf- äußersten Falle gewaltsam vertreten.
nis des Menschen. Frieden ist eine Grundvoraus-
setzung für ein Leben in Sicherheit. Die Definiti- 4. Das Ziel der sozialen Gerechtigkeit im Sinne
onen fü r Frieden s ind v ielfältig. Grundsätzlich von Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit so-
lassen sich positiver und negativer Frieden unter- wie einer Sicherung der Grundbedürfnisse muss
scheiden. Der negative Friedensbegriff als Abwe- politisch verfolgt werden, um zu verhindern,
senheit von militärischer Gewalt bestimmte die dass sich Teile der Gesellschaft ausgegrenzt und
bipolare Weltordnung in Zeiten des Kalten Krieges chancenlos fühlen. Sozialpolit ik ist somit eine
bis 1990. ,,Wettrüsten", ,,Gleichgewicht des Schre- Bedingung für die Erhaltung des inneren Frie-
ckens", ,,Abschreckung" und „Abrüstung" si nd dens.
Schlagworte des Kalten Krieges, der sich auf alle n
Ebenen de r Beziehungen zwischen Ost und West 5. Die fried liche Austragu ng von Konflikten im
zeigte - politisch / kulturell, ideologisch, wirt- Rahmen von Regelungsinstitutionen (z.B. Ge-
schaftlich und militärisch. richten) muss getragen sein von einer Soziali-
sation, deren Ziel Selbstbeherrschung und Af-
Erweitert und heute allgemein anerkannt lässt fektkontrolle bei den Konfliktparteien ist. Es
sich Frieden als Abwesenheit strukturell er, physi- muss also die Bereitschaft in der Gesellschaft
6.1 Merkmale der heutigen Weltordnung 1

vorherrsche n, sich a uf die institutionalisierte rung sein und die politische Kultur prägen. Die
Konfliktregelu ng zu verlassen und nicht sein rechtsstaatlichen Regeln und demokratischen
vermeintliches Recht gewaltsam zu verfolgen. Institutionen des Gemeinwesens werden so von
einer positiven emotio nalen Einstellung der
6. Die Bereitschaft zur Ko mpromisssuche bei Kon- Bürger getragen.
flikten sowie eine tolerante Grundhaltung muss Dieter Senghaas, Frieden als Zivilisationsprojekt, in : ders.
in der Gesellschaft selbstverständliche Orientie- (Hrsg.), Den Frieden denken, 1995, S. 198.ff.

Das zivilisatorische Hexagon

Gewaltmonopol

Rechts- Interdependenz
staatlichkeit und Affektkontrolle

Soziale
Demokratische Gerechtigkeit
Prinzipien

Konflikt kultur

Nach: Dieter Senghaas, Frieden als Zivilisationsprojekt, in: ders. (Hrsg.), Den Frieden denken, 1995, S. 196 - 223, Auszüge
und Dieter Senghaas, Zum irdischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen, 2004, S. 30.ff.

Aufgaben
1 . Nennen Sie drei grundlegende Merkmale eines Krieges.

2. Analysieren Sie die Stellungnahmen zum Krieg von Carl von Clausewitz.

3. Erläutern Sie die Sicherheitsrisiken, die sich mit dem Einsatz von Cyberattacken ergeben können.

4. Entwickeln Sie für alle der drei beschriebenen Ebenen (Individuum, Gesellschaft, System) Lösungsvorschläge
zur Friedenssicherung.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Alle wollen Frieden

~ / o.,, ./

AllE Wouw fltElt"N

M 2 Eine kurze Geschichte des Demokratischen Friedens

Die Vorstellung, dass Demokratie eine Friedensursache ist, geht auf das Zeitalter der
Aufklärung zurück. Besondere Bekanntheit hat eine Passage in Immanuel Kants Spät-
werk „Zum ewigen Frieden" (1795) erlangt, die wir hier nur leicht gekürzt zitieren wollen:

,,Wenn [... ] die Bestimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen,
s ,ob Krieg sein solle, oder nicht', so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsa-
le des Krieges über sich selbst beschließen müßten[... ], sie sich sehr bedenken wer-
den, ein so schlimmes Spiel anzufangen: Da hingegen in einer Verfassung, wo der
Untertan nicht Staatsbürger [... ] ist, es die unbedenklichste Sache der Welt ist, weil
das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigentümer ist , an seinen Tafeln,
,o Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u.d.gl. durch den Krieg nicht das mindeste ein-
büßt."
Ähnliche Gedanken über den Zusammenhang von Herrschaftsform und Außenverhal-
ten finden sich auch bei Montesquieu (1689-1855) und Thomas Paine (1736-1809).
Politisch wirksam werden sie zur Zeit des Ersten Weltkrieges. In Großbritannien grün-
,s den liberale Politiker die „Union of Democratic Control", deren Kernforderung die ver-
stärkte demokratische Kontrolle der Außenpolitik ist. Gegen Ende des Krieges mach-
te der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1913-1921) die Demokratisierung
des Deutschen Reiches zur Voraussetzung für Friedensverhandlungen und erhob
Demokratie zu einem Hauptpfeiler der von ihm anvisierten Nachkriegsordnung. Vom
20 Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre spielte die Idee der Demokratie als Frieden-

sursache dann wiederum keine nennenswerte Rolle. Das Ende des Ost-West-Konflikts
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

fällt dann mit der Widerentdeckung und schnellen Popularisierung der Demokratie als
Friedens-These zusammen.
Im Gegensatz zur Diskussion im Zeitalter der Aufklärung und zu Beginn des 20. Jahr-
2s hunderts werden in der zeitgenössischen Debatte zum Zusammenhang zwischen De-
mokratie und Frieden jedoch zwei Varianten streng voneinander getrennt. Die soge-
nannte dyadische Variante behauptet, dass Demokratien untereinander Frieden halten,
aber anderen (nicht-demokratischen) Staaten gegenüber genauso gewaltbereit sind,
wie andere Staaten. Hingegen behauptet die so genannte monadische Variante, dass
30 Demokratien generell friedlicher sind als andere Staaten. Diese Unterscheidung ent-

spricht der Trennung von internationaler Politik als Ergebnis von Interaktionen zwi-
schen Staaten auf der einen Seite und von Außenpolitik als Handlung eines Staates
auf der anderen Seite.
Die monadische These, wonach Demokratien generell friedlicher sind, ist bis heute
3s umstritten. Vieles hängt davon ab, was genau unter „Friedlichkeit" verstanden wird.

Nimmt man die Zahl von Kriegen, in die Demokratien verwickelt sind, wird man in der
Regel keine besondere Friedfertigkeit finden. Untersucht man allerdings das Ausmaß
an staatlicher Gewalt, beispielsweise die Zahl der Kriegstoten, zeigt sich, dass von
Demokratien begonnene Kriege weit weniger eigene Verluste mit sich bringen als von
40 Nicht-Demokratien begonnene Kriege. Auch in weiteren Aspekten f inden sich Indizien

einer höheren Friedensneigung von Demokratien: Sie würden sowohl Kriege als auch
militarisierte zwischenstaatliche Dispute seltener initiieren und sich eher um eine fried-
liche Konfliktlösung bemühen. [.. . ]
Der empirische Befund, dass Demokratien untereinander Frieden halten, wird hinge-
45 gen kaum noch in Frage gestellt. Jack Levy hat die dyadische Version sogar als größ-

te Annäherung an ein „empirisches Gesetz der internationalen Beziehungen" bezeich-


net. Ob es keinen einzigen oder doch einige wenige Kriege zwischen Demokratien
gegeben hat, hängt von der Einschätzung einiger Grenzfälle ab. Dazu gehören der
Krieg Großbritannien gegen die USA 1812, der Amerikanische Bürgerkrieg (1861-
so 1865), der Krieg Englands gegen Transvaal und den „Organge Free State" in Südafrika
(,,Burenkrieg", 1899-1902), der Krieg Finnlands gegen die Alliierten im Zweiten Welt-
krieg und der Kargil-Krieg zwischen Indien und Pakistan 1999. Verteidiger der Demo-
kratie/ Frieden-These argumentieren, dass es sich weder beim Amerikanischen noch
beim Burenkrieg um einen internationalen Krieg handelte, weil jeweils eine Seite inter-
ss national nicht als eigenständiger Staat anerkannt war; dass Großbritannien bis zu den
Wahlrechtsreformen Mitte des 19. Jahrhunderts keine Demokratie war und dass es
zwischen Finnland und der Sowjetunion, nicht aber den demokratischen Alliierten
Kampfhandlungen gegeben hat. Hinsichtlich des Kargil-Krieges (wird angemerkt]( ... ],
dass es sich nicht um einen zweifelsfrei zwischenstaatlichen Konflikt handelte, [ ... ]
so dass es sich [aber] um einen Ausnahmefall vom Demokratischen Frieden handeln
könnte. Zusammen genommen machen die verschiedenen Grenzfälle deutlich, wie viel
von der Definition der beiden Kernbegriffe „Demokratie" und „Frieden" abhängt.

Anna Geis / Wolfgang Wagner, Demokratischer Frieden, Demokratischer Krieg und „liberales peacebuil-
ding", in: Tobias Die (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung, 2017, S. l JJJJ

Aufgaben
1 . Analysieren Sie die Karikat ur (, Methodenkompetenz: Karikaturen analysieren und interpre-
tieren). Gehen Sie dabei ausführlich auf die Sichtweise des Karikaturisten ein und prüfen
Sie seine in der Karikatur entwickelte Perspektive.

2. Halten Sie einen Kurzvortag (, Methodenglossar) zur Geschichte des Demokratischen


Friedens und ergänzen Sie diesen um einen Katalog von Maßnahmen zur Sicherung des
Friedens heute.
6.1 .3 Das Völkerrecht im Wandel

Leitfragen Was ist unter dem Wie entwickelte sich Welche Bedeutung hat Wie sind humanitäre
Völkerrecht zu verstehen das Völkerrecht? der Internationale Interventionen
und was sind seine Strafgerichtshof? völkerrechtlich zu
Grundsätze? beurteilen?

Völkerrecht - das Recht der


Internationalen Beziehungen

Das Völkerrecht beschreibt das Recht d er Inter- ka nn teste Doku ment mit dieser Zielsetzung ist die
nationalen Beziehungen. Unter dem Völkerrecht 1948 im Rahmen der Vereinten Nationen be-
versteht man j ene Rechtsnormen, die das Verhält- schlossene Allgemeine Erklärung der Men-
nis von Staaten, ihre gegenseit igen Rechte und schenrechte. Diese Erklärung hat zwar keine
Pflichten sowie die Rechtsteilung internationaler rechtlich bindende Wirkung, die darin veranker-
Organisationen verbindlich regeln. Diese Normen ten Menschenrechte gelten aber qua langjähriger
haben sich a us Verträgen und internationalen Ab- Praxis und gemeinsamer Rechtsüberzeugungen
kommen sowie aus langjähriger Praxis auf der als Völkergewohnheitsrecht.
Grundlage gemeinsamer Rechtsüberzeugungen
gebildet. Der wesentliche Unterschied zwische n
dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht
besteht im Fehlen eines für alle verbindlichen Ge-
Genfer Abkommen
setzgebungsorgans und Exekutivorgans. Kernstück des humanitären Völkerrechts sind die
vier Genfer Abkommen (auch: Genfer Konventio-
nen) von 1949 und ihre Zusatzprotokolle von 1977
Völkerrechtliche Grundsätze und 2005. An die Abkommen sind fast alle Staaten
der Welt gebunden: Derzeit sind 197 Staaten (2016)
Vertragsparteien der vier Genfer Abkommen.
• Äußere und innere Souveränität: Alle Staaten
genießen souveräne Gleichheit. Die Unverletz-
lichkeit der Grenzen bzw. des Staatsgebiets und Das humanitäre Völkerrecht ist ein Sonderrecht,
die politische Una bhängigkeit gelten gleichbe- das für Kriegs- und Konfliktsituatio nen geschaf-
rechtigt für jeden Staat. fen wurde. Es beinhaltet Regeln fü r den Schutz
von Personen, die nicht oder nicht mehr an
• Interventionsverbot: Das Prinzip der Nichtein- Kampfhandlungen teilnehmen (wie Verwundete,
mischung besagt, dass Staaten oder internatio- Kriegsgefangene und Zivilisten) u nd legt den
nale Organisatione n nicht das Recht haben, sich Konflikt parteien Beschränkungen hinsichtlich der
in die inneren Angelegenheiten eines Staates Art und Weise der Kriegsführung auf.
einzumischen. Dieser Grundsatz gerät zuneh-
mend in Konflikt mit anderen Normen des Völ-
kerrechts (Schutz der Menschenrechte, Verant- Sind Menschenrechte universell gültig?
wortung der internationale n Staatengemein-
schaft). Nach dem westlichen Verständnis der Menschen-
rechte sind diese vorstaatlichen Rechte natur-
• Pacta sunt servanda: ,,Ve rträge müssen ei nge- rechtlich begründet, unveräußerlich und un wan-
halten werden" - Es gilt das Prinzip der Ver- delbar. Diese Auffassung der Menschenrechte
tragstreue. steht in Konflikt mit dem asiatischen Verständnis
von Mensche nrechten. Der Konfuzianismus ver-
Besonders seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges tritt z.B. die Auffassung, dass der Mensch keine
wurde das Völkerrecht durch verschiede ne Ab- individualistisch zu begründeten Menschenrechte
kommen ergänzt, die de n Schutz der Menschen- beanspruchen kann. Indiv idualrechte stehen
rechte international garantieren sollen. Das be- gleichwertig neben kollektiven Rechten. Im Zwei-
6.1 Merkmale der heutigen Weltordnung 1

fel haben sogar Kollektivrechte Vorrang; d. h. der der diesen Straftatbestand genauer definiert u nd
Erhalt und das Wohl der Gemeinschaft stehen der von allen Unterzeichnerstaaten gebilligt wur-
übe r den Rechten des Einzelnen. So kann sich die de. Folter und Vergewaltigung fallen gena uso da-
Würde des Menschen als Norm nur im gesell- runter wie Verfolgung aus ethnischen oder relig i-
schaftlichen Kontext entwickeln u nd ist kein un- ösen Gründen bzw. Deportationen und Sklaverei.
verä ußerliches, vorstaatliches Individualrecht. Auch „Verbrechen der Aggression" und „Terroris-
mus" sollen verfol gt werden, sobald sich die Mit-
glieder auf eine juristische Definition dieser Tat-
Internationale Gerichte als bestände geeinigt haben.
Hüter des Völkerrechts

Im Gegensatz zum innerstaatlichen Recht fehlten Wann wird der IStGH tätig?
lange Zeit Möglichkeiten, völkerrechtliche Nor-
men mithilfe von Gerichten durchzusetzen. 1946 Der IStGH kann keine Verbrechen ahnden, die vor
gründete die UNO den Internationalen Gerichts- dem 1. Juli 2002 - seinem offiziellen Gründungs-
hof (IGH) mit Sitz in Den Haag, vor dem Staaten tag - begangen wurden. Die bedeutsamsten
wegen Verletzung von Verträgen oder Abkommen Grundsätze für die Tätigkeit des JStGH sind nach
klagen und verklagt we rden können. Vorausset- dem Römischen Statut:
zung für die Wirksamkeit seiner Urteile ist , dass
sich die Staaten seiner Gerichtsbarkeit unterstel- • Der Gerichtshof darf erst tätig werden, wenn der
len und die Urteile akzeptieren. Mit seinen Ent- mutmaßliche Täter die Staatsangehörigkeit ei-
scheidungen trägt der IGH zur Weiterentwicklung nes Vertragsstaats des Römischen Statuts besitzt
des Völkerrechts bei. oder dieser Staat die Gerichtsbarkeit des Ge-
richtshofs anerkan nt hat; gleiches gilt, wenn
Nachdem die UNO j eweils UN-Kriegsverbrecher-
tribunale für die im ehemaligen Jugoslawien und
in Ruanda verübten Kriegsverbrechen etabliert
hatte, wurde die Gründung des ständigen Interna- Kriegsverbrechen
tionalen Strafgerichtshofs (IStGH) im Jahre 2002 [sind] schwere Verstöße von Angehörigen eines Krieg führenden
als Durchbruch bei der strafrechtlich en Verfol- oder sich in einem Bürgerkrieg befindlichen Staates gegen das
gung schwerster Menschen rech tsverletzu ngen völkerrechtliche Kriegsrecht. Nach den Bestimmungen der Genfer
gefeiert. Grundlage seiner Arbeit ist das Statut Konventionen vom 12.8.1949 (Genfer Vereinbarungen) und dem
von Rom, das bisher von 124 Staaten (Stand: Ok- 1. Zusatzprotokoll von 1977 besteht die Verpflichtung der Staaten,
tober 2017) ratifiziert wurde. durch ihre Justizorgane Kriegsverbrechen zu verfolgen und zu
ahnden, andernfalls macht sich der Staat eines völkerrechtlichen
Delikts schuldig. Als schwere Verletzungen und somit Kriegsver-
Nicht mit dabei sind die USA. Sie hatten das Sta- brec hen sind aufgeführt: vorsätzliche Tötung, Folterung und un-
tut zwar unterschrieben, die Unterzeichnung aber mensc hliche Behandlung einschließlich biologischer Versuche,
wieder zurückgenommen. Der Grund: Vor dem vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwerer Beein-
IStGH kön nen Individuen entweder wegen eines trächtigung der körperlichen Unversehrtheit, die Zerstörung und
Verbrechens in einem Unterzeichnerland ange- Aneignung von Eigentum, die durch militärische Erfordernisse
klagt werden oder wenn sie die Staatsangehörig- nicht gerechtfertigt sind, ferner die rechtswidrige Verursachung
schwerer Schäden unter der Zivilbevölkerung und zivilen Objek-
keit eines Unterzeichnerlandes besitzen. Die USA
ten, die Verschleppung von Zivilpersonen u. a. Strafbar ist derje-
wollen aber verhindern, dass sich US-Staatsange- nige, der den Befehl zu einer solchen Tat gegeben hat oder ohne
hörige vor dem IStGH aus politischen Motiven Befehl handelte. Nicht geregelt ist die Strafbarkeit des Handelns
verantworten müssen. auf Befehl, sodass in Bezug hierauf auf allgemeine Verantwortlich-
keitsregeln (Gehorsam) zurückgegriffen werden muss.
Nach dem Römischen Statut verfolgt das Gericht
Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit Zur Ahndung von Kriegsverbrechen wurden sowohl Kriegsverbre-
cherprozesse durchgeführt als auch Kriegsverbrechertribunale
und Kriegsverbrechen, die vor nationalen Gerich-
eingerichtet.
ten straffrei blieben. Bei ihrer Verfolgung von
Verbrechen gegen die Menschlichkeit können sich Duden Recht A-Z. Fachlexikon für Studium, Ausbildung und Beruf
die 18 Richter a uf einen festen Katalog stützen, 3. Auflage, 2015
6 Internationale Beziehungen

( hl7\\
l~J
~
Der Internationale Strafgerichtshof
Das Gericht Anklagebehorde Die Angeklagten Das Verfahren

Präsidentin Chefanklägerin Individuen,


Voraussetzung: §
Silvia Alejandra
Fernändez de Gunnendi
Fatou Bensouda
(Gambia)
M keine Staaten
Der Staat, in dem das
Verbrechen begangen
(Argentinien) wegen: wurde, kann oder will
+ 17 weitere Richter die Straftat nicht verfolgen.
Stellvertreter
Ehemalige Richter bleiben im James Stewart • Völkermord
, Amt, bis ihr Fall beendet ist. ~ (Kanada) • Verbrechen gegen 0 Internationaler Strafgerichtshof
die Menschlichkeit wird aktiv auf/wegen:
• Kriegsverbrechen • Initiative eines Vertragsstaates
• eigenständig Richter und Chefankläger werden • Verbrechen der Aggression • Resolution des
• kein Teil d er UN von Versammlung der (Anwendung frühestens 2017) UN-Sicherheitsrats
• Sitz in Den Haag (Niederlande) Vertragsstaaten bestimmt. • Initiative des Anklägers
Derzeit haben 124 Länder den Vertrag (das Römische Statut)
ratifiziert. f) Ermittlungen
0 Vorermittlungskammer (Pre-Toial)
Bedingungen für Anklage Fälle tritt zusammen, Vorladung des
Angeklagten, ggf. wird
Bisher Verfahren wegen Haftbefehl ausgestellt
• Taten müssen nach Inkrafttreten des Römischen Statuts
Verbrechen in Uganda,

1
(am 1.7.2002) begangen worden sein
• Verbrechen wurden in einem Vertrag.sstaat verübt oder der Dem. Rep. Kongo, 8 Prozess
Sudan, der Zentralafrik. Höchststrafe
• Angeklagter hat Staatsangehöoigkeit eines Vertragsstaates
Republik, Kenia, Libyen, Mali 30 Jahre Haft oder
und der Elfenbeinküste lebenslänglich ~
Quelle: IStGH, Römisches Statut, Auswärtiges Amt Stand April 2016 C Globus 1092

sich die Tat auf dem Hoheitsgebiet eines solchen sident Umar al- Baschir soll sich vor de m Gericht
Staats ereignet hat. wegen Kriegsv erbrechen, Völkermord und Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit in der sudanesi-
• Der IStGH wird tätig, wen n Staaten nicht in der schen Provinz Darfur verantworten.
Lage sind, eine schwere Straftat zu verfolgen
bzw. dies nicht wollen, der Sicherheitsrat der Seit 2017 st eht Dominic Ongwen vor Gericht. Fast
Vereinten Nationen kann einen Fall verweise n zehn Jahre lang fah ndete der Strafgerichtshof nach
oder ein Ank.Jäger übernimmt die Initiative Ongwen, Washi ngton setzte fün f Millionen Dollar
(,,proprio motu"). Beloh nung für seine Festnahme aus. Er gilt als ei-
ner der wichtigsten Stellvertreter des Warlords und
• Der Kompetenzbe reich des IStGH beschränkt Kriegsve rbrechers Joseph Kony in Uganda. Ong-
sich auf Völkermord, Verbrechen gegen die wen werden 70 Kriegsverbrechen und Verbrechen
Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und soll zu- gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt - so vie-
künftig das Verbrechen der Aggression behan- le wie noch keinem anderen Angeklagten des Tri-
deln, da diese die internationale Gemeinsch aft bunals. Vergewaltigung und die Ent führung von
als Ganzes betreffen. Ki ndern zählen dazu, die dann als Kindersoldaten
oder Sexsklavin nen missbraucht wurde n. Gleich-
zeitig wird ihm die bestialische Verstümmelung
Urteile des IStGH und Ermordung von Ziv il isten zur Last gelegt.

Die erste Anklage erhob das Gericht Ende Ja nuar


2007 gegen den kongolesischen Milize nführer Responsibility to Protect
Thomas Lubanga, dem die Rekrutierung von Kin-
Der Begriff „Responsibility to Protect" (dt. Schutz-
dersoldaten in der Demokratischen Republik Kon-
verantwortung) ist ein relativ neues Konzept der
go vorgeworfen wurde. Er ist auch der erste An- internationalen Politik. Unter diesem Schlagwort
geklagte, de r im Rahmen eines aufwendigen wird eine ethische und moralische Verantwortlich-
Ge richtsverfa hrens vom IStGH am 14. März 2012 keit der internationalen Staatengemeinschaft, vor-
für schuldig gesprochen wurde. nehmlich der UN, gegenüber Staaten und ihrer
politischen Führung bezeichnet, die innerhalb ihres
Im Mä rz 2009 erließ der Internat ionale Strafge- Territoriums die Kriterien von Good Governance
(dt. gute Regierungsführung) entweder nicht erfül-
richtshof erstmals einen Haftbefehl gegen ein am-
len können oder wollen.
tierendes Staatsoberha upt: Der sudanesische Prä-
6 .1 Merkmale der heutigen Weltordnung 1

Wandel des Völkerrechts - Interventionsverbot


vs. humanitäre Interventionen

Ausgehend von dem Fall, dass die Menschenrech- Humanitäre Intervention bedeutet, so einige Kri-
te innerhal b eines Staates nicht mehr gelten und tiker, die Ausschaltung des staatlichen Souveräni-
z. B. Völkermorde geschehen, stellt s ich die Frage, tätsprinzips und das Führen eines Angriffskrieges,
ob völkerrechtliche Grundsätze verletzt werden was einen Bruch des bisherigen Völkerrechts dar-
dürfen, wie das in der UN-Charta festgeschriebene stellt. Bis zum Jahr 2006 galt die Rechtsauffas-
Gewaltverbot, das Souveränitätsprinzip und das sung, dass eine Humanitäre Intervention - also
Nichteinmischungsgebot in innere Angelegenhei- die Ausschaltung des staatlichen Souveränitäts-
ten eines Staates. Im Kern geht es also um eine prinzips und das Führen eines Angriffskrieges
Abwägu ng zweier völkerrechtlicher Grundsätze: (Krieg für „höhere" Ziele) ein Bruch des damaligen
Völkerrechts zur Ko nsequenz hatte. Dann über-
Auf der einen Seite steht die Achtung und der nahm der Sicherheitsrat der UN die zuvor von der
Schutz der staatl ichen Souveränität und Nichtein- Generalversammlung beschlossene „Responsibili-
mischung in die inneren Angelegenheiten eines ty to Protect". Sie besagt, dass j eder Staat die
Staates. Auf der a nderen Seite die Achtung und Pflicht hat, seine Bevölkerung zu schützen. Wenn
der Schutz der Menschenrechte, dabei vor allem der Staat dies nicht tut, hat die internationale Ge-
der Schutz des Lebens. Zum Schutze des Lebens meinschaft für den Fall, dass die Bevölkerung ei-
sollen militärische Zwangsmittel auf fremden Ter- nes Landes großem Leid ausgesetzt ist, die Pflicht,
ritorien eingesetzt werden dürfen. Dies bedeutet diesen Schutz zu gewährleisten. Legitimiert ist das
aber massive Gewalt anzuwenden, ja Krieg für Recht zur militärischen Intervent ion durch einen
,,höhere" Ziele zu führen. Beschluss des UN-Sicherheitsrats.

Aufgaben

1. Stellen Sie den Internationalen Strafgerichtshof in einem Kurzreferat (, Methodenglossar) vor.

2. Erläutern Sie, inwieweit die Anerkennung der Universalität des Völkerrechts Voraussetzung für die Arbeit des
IStGH ist.

3. Recherchieren Sie, welche Verfahren gegenwärtig beim Internationalen Strafgerichtshof anhängig sind.
(, Homepage des ICC: www.icc-cpi. int)

4. Erklären Sie das Spannungsverhältnis zwischen dem Interventionsverbot auf der einen Seite und dem Prinzip
der Schutzverantwortung auf der anderen Seite.

5. Diskutieren Sie die Stärken und Schwächen des Strafgerichtshofs . Halten Sie die wichtigsten Argumente fest.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Für oder wider Humanitäre Interventionen

Eine Humanitäre Intervention ist militä-


rische Gewalt und deshalb unvermeid- Die Humanitäre 1
verletzt das p . . ntervention
bar mit der Tötung und Verletzung von liehen So ~'.nzip der staat-
Menschen verknüpft. Die Tötung und uveranrt
1
grität das . a und lnte-
Verletzung von Menschen aber kann ' eine E. ·
in die inneren A inm1schung
auch um der edelsten Ziele willen nicht ten eines St nge/egenhei-
gerechtfertigt werden; denn der
Zweck heiligt nicht jedes Mittel. deshalb ist s:a~,f:gi~:tetet;

Dass das Völkerrecht einige Ausnahmen vom


Gewaltverbot erlaubt (Selbstverteidigung,
Die Souveränität und Integrität des Staates Rettung eigener Staatsangehöriger, Notstand),
ist kein absolutes Recht, sondern nur ein zeigt schon, dass auch das Gewaltverbot kei-
sekundäres Folgerecht aus den Grund- ne absolute Geltung besitzt, sondern gegen
rechten der Individuen. (Die Unverletzlich- andere Prinzipien abgewogen werden muss.
keit des Staates ist nur die Voraussetzung, Ein Völkerrecht, das zwar einerseits die Waf-
unter der der Staat seinen primären fengewalt verbietet, andererseits aber keine
Rechtszweck, Leib und Leben seiner Bür- Rechtsinstitution erlaubt, die den Einsatz
ger zu schützen, erfüllen kann.) Das be- massiver Waffengewalt im Inneren eines
deutet umgekehrt, dass ein Staat, der Staates unterbindet, enthält entweder eine
nicht fähig oder nicht willens ist, seine Bür- empfindliche Lücke oder ist inkonsistent.
ger in ihren Grundrechten an Leib und Le-
ben zu schützen, dem Begriff des Staates
als zwangsmächtiger Autorität wider-
spricht. Erst recht ein Staat, der seinen
obersten Rechtszweck mit Füßen tritt,
indem er Leib und Leben selbst massen- Selbst wenn sich historisch einmal eine Huma-
haft zerstört, hat sein Recht auf Nicht-Ein- nitäre Intervention unter sehr eng eingegrenz-
mischung von außen verwirkt. ten Ausgangsbedingungen irgendwie recht-
fertigen ließe, zeigt doch die Geschichte
deutlich, dass die angeblich humanitären Zie-
le meist nur Pseudo-Gründe waren, die der
kritischen Öffentlichkeit die wahren Motive
der intervenierenden Staaten, nämlich Macht-
Was die _ Ge~ner ein verwerfliches „Aufrechnen" erweiterung, Zugriff auf neue Ressourcen
n~_nnen, i~t in Wahrheit nur jene gewissenhafte
usw., verschleiern sollten.
Guterab~agung, die für alle Verantwortungsethik
g~boten ist. Nur realitätsferne Gesinnungsethiker
konnen sich einreden, dass das quantitative Aus-
~aß _menschlichen Leidens keinerlei Bedeutung
fur die ethische Einzelfallentscheidung habe und
habe_ n solle. Ihre Tabuisierung der quantitativen Die Humanitäre 1
Gew1chtun_g l~uft darauf hinaus, dass, damit ihre verstößt kl ntervention
hehren Pnnz1pien nicht verletzt werden, ganze mentare p ~r ~egen das e/e-
nnz1p des G
Scharen von Menschen elendig sterben müssen. verbots w· . ewalt-
' ie es ,n Art 2 Ab
4 der UN-Ch · , s.
ist. Folglich . ta~a _formuliert
is sie illegitim.
KOMPETENZEN ANWENDEN

Diese Beobachtung eines Missbrauchs, der die


Menschenrechte zum Vorwand für die Durchset-
zung eigennütziger Interessen nimmt, ist sicherlich
höchst richtig und wichtig. Doch alle berechtigte
Empörung an solchem Missbrauch ändert nichts
daran, dass man unterscheiden muss zwischen
der quaestio juris, ob die Humanitäre Intervention
rechtlich wie ethisch illegitim oder legitim sein soll,
und der quaestio facti, ob es sich beim histori-
schen Fall x oder y wirklich um eine Humanitäre
Intervention gehandelt hat. Ein humanitäres Anlie-
gen kann auch durch wiederholten Missbrauch
nicht als solches diskreditiert werden.

Dieses schwerwiegendste Bedenken gegen


die Humanitäre Intervention ist kein hinrei-
chender Einwand. Es gibt nicht nur eine Schuld
der Begehung (durch Tötung), sondern auch
eine Schuld der Unterlassung (dadurch, dass
die massenhafte Tötung und Verletzung von
Menschen akzeptiert wird, obwohl Mittel zu
deren Beendigung zu Gebote stehen). Daher
kann auch der Verzicht auf Tötung der Sache
nach ein Beitrag zur Tötung sein . Die Unter-
scheidung zwischen einem illegitimen Töten
und einem legitimen Tötenlassen ist moralisch
nicht akzeptabel. Zweck der Humanitären In-
tervention ist nicht Tötung und Leiden einiger
Die Begründung der Hu ...
über das Argument d . marntaren Intervention Menschen, sondern umgekehrt die Beendi-
bedeutet, dass das :~~~~;s_ a mt kleineren Übels gung von Töten und Leiden zahlreicher Men-
und voraussehbaren ~ .. t Jener beobachteten schen. Falls sie das insgesamt kleinere Übel
O innerhalb einer Ökonomie des Bösen ist, ist
die mit Duldung od u_ngen und Verletzungen
er gar 1m Na · ' sie kein Recht, sondern vielmehr eine Pflicht
begangen werden i . men eines Staates
gesetzt wird zu d'e n eA1n quantitatives Verhältnis
m usmaß an
0 pfern, die unbeabsicht' t .
t . mu maßl1chen
tervention verursacht igd er W~1se durch die In-
ist ein verwerfliches A wfer hen. Dieses Kalkül aber
ben und Menschen! u'drec nen von Menschenle-
die Humanitäre lntee1 gt~geneinander, so dass
rven 10n auch .
Grunde abzulehnen ist. aus diesem

Hubertus Busche
www.Jemu11i-hage11.de, 17. J 1.201;

Aufgaben

1. Ordnen Sie die Argumente nach Pro und Contra Interventionen.

2. V~rg_leichen Sie die jeweiligen Begründun en f" .


m1te1nander. Nutzen Sie dafür die Kat g ~r oder wider Humanitäre Interventionen
historisch-politisch. egonen volker- bzw. staatsrechtlich, ethisch und

3. Wählen Sie eines der Argumente aus und .. . .


glossar), warum Sie dem Argument zustim~gru~den s,e ,n ei~er kurzen Rede (, Methoden-
en zw. warum Sie das Argument ablehnen.
Globale Risiken und
Herausforderungen
6.2."1 Der internationale Terrorismus

Leitfragen Warum ist der Terrorismus Was sind Ursachen für Wie kann der transnationale
eine Bedrohung für die Terrorismus? Terrorismus eingedämmt
internationale Sicherheit? werden?

Was ist Terrorismus?

Bisla ng gibt es keine einheitliche Definit ion von (Euska di Ta Askatasuna, dt. ,,Baskenland und Frei-
Terrorismus. Fasst man die wissenschaftlichen Be- heit") in Spanien oder die IRA (Irisch- Republika-
schreibungen zusammen, kommt man auf folgen- nische Armee) in Nordirland.
de allgemeine Merkmale: Terrorismus bezeichnet
demnach eine andauernde und geplante Gewal- Betrachtet man den bisher verheerendsten terro-
tanwendung mit politischer Zielsetzung, um mit ristischen Anschlag auf das World Irade Center
terroristischen Methoden das Verhalten des Geg- am 11 . September 2001 (9/ 11 - nine eleven) in den
ners zu beeinflussen. USA, so war dieser kennzeichnend für de n heuti-
gen transnationalen Terrorismus, dem prinzipiell
• ,,Andauernd" bedeutet da bei, dass Einzeltaten, j eder zum Opfer fallen kann, der sich zum Zeit-
wie polit ische Attentate, nicht zum Terrorismus punkt des Anschlages a n einem beliebigen Ort auf
hinzu gerechnet werde n. der Welt aufhält.
• ,,Geplant" verdeutlicht, dass es eine Abgrenzung
zu spontaner Gewaltausübung, wie z. B. bei ei-
ner Demonstration, gibt. Opfer von 33182 35 000

• Mit „politischer Zielsetzung" wird verdeutlicht,


dass organisierte Kriminalität nicht zum Terro-
Terroranschlägen
- 30 000
rismus mit dazu gezählt wird. Bei terroristischen Anschlägen getötete
Menschen weltweit
• Aus „terroristische Methoden" lässt sich fol-
■ Europa
gern, dass sich im Unterschied zum Freiheits-, -25 000
Afrika südl. der Sahara
Partisa nen- oder Guerillakampf keine Trennli-
■ Naher Osten und Nordafrika
nie zwischen den Ko nfliktparteien (am Ko nflikt
■ Asien -20 000
Beteiligten (Kombattanten) und unschuldigen
■ Amerika
Dritten (Nicht-Kombattanten) ziehen lässt. US-Truppen-
aufstockung
im Irak -15 000
Anschläge
Erscheinungsformen des Terrorismus Syrischer
vom
11 . Sept. -10 000
Nationaler Terrorismus als eine Form politisch USA mar-
motiv ierter Gewalta nwendung reicht weit in die
Geschichte zurück. Bis in die 1980er Jahre waren -5000
(/)
terroristische Gruppierungen dominierend, die :,
.0
0
sich dem linksextremen politischen Spektrum zu- a
ordnen ließen; so z. B. die Rote Armee Fraktion 0 ©

~
1 1 1 1

(RAF) und Organisationen, deren Ziel die nationa- 2000 2005 2010
20~4
le Autonomie bzw. der „nationale Befreiungs- Stand Nov. 2015, Australien und Ozeanien: insg. 6 Opfer
Quelle: Global Terrorism Database, University of Maryland 10664
ka mpf' ist oder war. Beispiele hierfür sind die ETA
6.2 Globale Risiken und Herausforderungen 1

Was macht den islamistischen


Terrorismus besonders?

Der heutige transnationale Terrorismus verbindet Im Jahr 2004 formte sich aus Teilen der aufstän-
sich vor allem mit den Namen Al-Qaida und dem dischen Gruppierungen gegen die Amerikaner im
Islamischen Staat (IS). Beginnend mit Auftreten Irak eine Te ilgruppe vo n AI-Qaida (AQI). Darauf-
des Te rrornetzwerks Al-Qa ida und den Anschlä- hin folgte ab 2006 bzw. 2007 der islamische Staat
gen von 9/ 11 in den USA hatte der religiös funda- im Irak (ISI) und von 2011 bis Juni 2014 der Isla-
mentalistische Terrorismus eine neue Qualität mische Staat im Irak und in Syrien (ISIS). Mit der
hinsichtlich seiner Ziele, Mittel und Motive er- Ausrufung des Kalifats am 29. Juni 2014 nennt
reicht. Mit ihr verbunden ist der Name ihres Grün- sich die Organisation nur noch islamischer Staat
ders und Anführers Osama bin La den, der jedoch und steht vor allem im Syrienkrieg in Konkurrenz
2011 von US-Soldaten getötet wurde. zur AI-Qaida und a nderen Gruppen.

Formen des Terrorismus

nationaler Terrorismus internationaler Terrorismus transnationaler Terrorismus


Anwendung von Gewalt innerhalb Anschläge auf Bürger oder das Agieren in transnationalen
eines Staates - Täter und Opfer Territorium eines anderen Staates Netzwerken und Räumen - ohne
unterliegen der gleichen staatli- - Täter und Opfer gehören lokale Verortung; der Westen
chen Autorität; verschiedenen Staaten an; (bes. Weltmacht USA) ist erklärter
Gegner;
zielt auf die Veränderung einer zielt auf die Veränderung einer zielt auf Veränderung der
nationalen Ordnung nationalen Ordnung internationalen Ordnung
• ,,Klassische" Form des • Bilden von Außenstellen, ohne • transnationale Ideologie
Terrorismus, bildete sich im 19. Stammsitz aufzugeben • dezentrale netzwerkartige
und 20. Jh. heraus; • Kooperation zwischen Terror- Organisationsformen global
• stand/steht im Zusammenhang gruppen, z. B. beim OPEC-At- • global Leitungsebene, ,,Opera-
mit antikolonialen Befreiungs- tentat 1975 in Wien teure", Terrorzellen mit koope-
bewegungen, sozialrevolutionä- • Arbeitsteilung zwischen rierenden Terrorgruppen
ren Ideologien, ethnonationa- Kommandostrukturen und verbunden
lem Separatismus oder rekrutierten Attentätern • multinationales Unternehmen
religiösem Fundamentalismus; • Internationalisierung der mit zahlreichen Finanzierungs-
• ist weltweit vorherrschend Finanzierung und Logistik formen
Typische Beispiele für die Zeit Beispiele: Prototyp:
nach 1945: • palästinensische Hamas transnationales Netzwerk
• baskische ETA • libanesische Hisbollah AI-Qaida (Attentat auf das World
• kurdische PKK Trade Center 2001}
• deutsche RAF jeweils mit weltweiten Verbindun-
gen bis nach Lateinamerika und islamischer Staat
• nordirische IRA
Westafrika
Nach: Basiswissen Schule, Politik, Wirtschaft Abitur, 2016, S. 387

Ziele, Mittel und Motive des Ideologie: Islamistische Vereinigungen g rü nden


transnationalen Terrorismus sich auf entsprechend interpretierten religiösen
Lehren und zielen a uf die Errichtung eines Gottes-
Internationalisierung: Der Terror ismus ist deut- staates ab. In diesem gilt dann eine Interpretation
lich internationa ler bzw. transnationaler gewor- des islamischen Rechts, der Scharia. Der islamis-
den, was mit insgesamt steigender internationaler tische Terrorismus wendet sich dabei gegen eine
Vernetzungsmöglichkeiten und Mobilität zusam- „Verwestlichung" isla mischer Regionen und ruft
menhä ngt. Gerade die Möglichkeiten zur Kommu- zum „Heiligen Krieg" gegen die „Ungläubigen"
nikatio n im Internet leisten hier ihren Beitrag. auf.
6 Internationale Beziehungen

Der Terror des Islamischen Staats


Die Terrororganisation islamischer Staat (IS) ist vor allem im Nahen Osten,
in Asien und Nordafrika aktiv.
Länder und Regionen in
,~. ~ denen der IS ...

o· . ... eigene Provinzen


ausgerufen hat.

~ ... sein Kerngebiet hat.


V
• IS-oder
IS-inspirierte
Anschläge in
Westeuropa

dpa, 23888 Quelle: Institute for the Study of War, dpa

Strategie: Terro risten heutiger Prägung geht es Welche Ursachen hat der islamistisch-
immer seltener darum, bestimmte Personen zu fundamentalistische Terrorismus?
treffen. Sie g reifen vielmehr symbolische Orte und
Gebäude an, die die Werte, Systeme und Einstel- Der religiös-fundamentalistische Terrorismus ist
lungen des Gegners repräsentieren. Als An- von der Ablehnung gegenüber g lobalen Moderni-
schlagsorte werden a uch sog. weiche Ziele a usge- sierungs- und Säkularisierungstendenzen ge-
wä hlt, an denen sich viele Menschen a ufhalten. prägt. Der Dominanz westlicher Werte, z.B. in
Dabei geht es um möglichst hohe Opferzahlen. Form religiöser Indifferenz sowie der kapitalisti-
Dafür gibt es mehrere Gründe: Der Schrecken des schen und freiheitlichen Marktwirtschaft, wird die
Anschlages wird gesteigert; Angst und Verunsi- Rückkehr zu einem ausschließlich auf religiösen
cherung steigen. Das Ereignis findet größere Be- Grundlagen beruhenden Leben entgegengestellt.
rücksicht igung in den Medien. Den eigenen An-
hängern kann die Schlagkraft und Wirksamkeit Die mit der Globalisierung eng verbundene inten-
des Kampfes nachhaltig verdeutlicht we rden. sive Ausbreitung westlicher Wertvorstellungen,
Leitbilder, Lebens- und Konsumstile wird von ter-
Organisation: Der islamistisch-fundamentalisti- ro ristischen Vereinigungen als Angriff auf ihre
sche Terrorismus bedient sich transnationaler, de- religiös begründete kulturelle ldentität wahrge-
zentraler Netzwerke; Leitun gsebene und Terror- nommen, gegen die sie sich stemmen, um die He-
zellen sind unterschiedlich eng miteinande r rausbildung einer westlich orientierten Weltkultur
verknüpft. zu verhindern. Teilweise interpretieren sie diejün-
gere Geschichte als fortgesetzte Erniedrigung
Anschlagsserien: Typisch für den Terrorismus ihrer Kultur durch den Westen. Die Ko nfro ntation
neuartiger Qualität sind koordinierte und zeitlich mit den technisch, wirtschaftlich und militärisch
aufeinander abgestimmte Anschlagsserien sowie überlegenen USA und Eu ropa fördert Minderwer-
die große Zahl von Selbstmordanschlägen durch tigkeits- und Ohnmachtsgefühle, die sich im Hass
sogenannte Schläfer. auf die „Ungläubigen" kanalisieren.
6.2 Globale Risiken und Herausforderungen 1

Gleichzeitig wächst die Bevölkerung in islami- rund 490 Milliarden Dollar erhöhter Ausgaben der
schen Regionen. Sie besteht zu einem großen Teil US-Regierung für die Sicherung des Heimatlandes
aus jungen Menschen bzw. Jugendlichen. Zudem und die Geheimdienste. Die Kosten der Bundes-
hat der Urbanisierungsprozess stark zugenommen staaten und der Kommunen für erhöhte Sicherheit
und führt zu Elendsvierteln am Rande der großen werden auf 110 Milliarden Doll ar geschätzt.
Städte, die mit der Unterbringung und Versorgung
der vom Land kommenden Zuwanderer überfor- Politisch führten die Anschläge zu einer Verschär-
dert sind. Mit diesen Prozessen hat die wirtschaft- fung der Gesetzgebung im Bereich der inneren
liche und soziale Entwicklung dieser Länder j e- Sicherheit (Anti-Terror-Gesetze). Der ehemalige
doch nicht Schritt halten können. Die Folge ist Präsident George W. Bush (2000 - 2008) richtete
Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit gerade für Terrorverdächtige auf dem US-Marinestütz-
bei der jungen Bevölkerung, was wiederum im punkt Guantanamo Bay im Süden Kubas ein Ge-
Hass auf den Westen kanalisiert werden kann. fangenenlager ein . Seit Anfang 2002 werden dort
vor allem mutmaßliche Taliban- und AJ-Qaida-
Mitglieder festgehalten, denen die Rechte als
Welche Folgen hat der internationale Kriegsgefangene verwehrt blieben. Durch Berich-
Terrorismus für den Westen? te über willkürliche Misshandlungen, Erniedri-
gungen und Folter von Häftlingen wurde Guan-
Der Anschlag auf das World Trade Center 2001 tanamo zum Synonym für die Missachtung von
hatte vor allem für die USA negative wirtschaftli- Menschenrechten im Kampf gegen de n Terroris-
che Folgen. In den Wochen nach den Anschlägen mus.
verringerte sich die amerikanische Wirtschafts-
leistung erheblich. Fabriken stellten temporär ihre Biometrische Ausweise, Datenvorratssammlung,
Produktion ein, weil mit dem Zusa mmenbruch des strengere Kontrollen von Flugpassagieren, Raster-
Flugverkehrs und wegen drastisch verschärfter fahndung, neue Überwachungsmethoden digita-
Kontrollen im Land- und Flugverkehr die Zuliefe- ler Kommunikation - dies sind n ur einige der
rung von Vorprodukten nicht mehr gewährleistet staatlichen Maßnahmen, die die Bürger auch in
war. Deutschland nach zahlreichen schweren Terro-
ranschlägen vor Gewalt oder Terrorismus schüt-
Zusätzlich verursachten die Kriege in Afghanistan zen sollen. Diese sind j edoch nicht unumstritten:
und im Irak erhebliche Kosten. Nach offizieller Es stellt sich bei j eder einzelnen Maßnahme die
Rechnung wurden für diese Kriege bislang über Frage, ob der Staat damit zu sehr in die Freiheits-
eine Billion Dollar ausgegeben. Hinzu kommen rechte der Bürger eingreift.

Aufgaben
1. Benennen Sie Ursachen des islamistischen Terrorismus.

2. Arbeiten Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen nationalem und transnationalem Terrorismus
heraus.

3. Setzen Sie sich mit der These auseinander, dass zur Abwehr von Terror die Freiheitsrechte der Bürger einge-
schränkt werden dürfen.
1METHODENKOMPETENZ

Analyse internationaler Konflikte

Konflikte sind Auseinandersetzungen zwischen Die vorliegende Übersicht zeigt Untersuchungsbe-


zwei oder mehr Personen bzw. Gruppierungen, die reiche und Leitfragen auf, mit denen inner- und
unvereinba re Perspektiven auf einen Gegenstand zwischenstaatliche Konflikte analysiert werden
haben. So können z.B. Konflikte darüber entstehen, können. Dabei ist es wichtig, dass man sich bei der
wie knappe Ressourcen verteilt werden oder wie Analyse eines konkreten Konfliktes auf die für die
gegebene Ziele realisiert werden sollen. Aber auch Untersuchungsaufgabe relevanten Aspekte fokus-
die Auseinandersetzung über die Legitimität von siert und damit eine Auswahl und Reduktion der
konkreten Werten kann zu einem Konflikt führen. Fragestellungen vornehmen kann.

Schritt 1: Inhalt und Entwicklung des Konflikts

Beschreiben Sie die aktuelle Situation.


Beschreiben Sie zudem, wie sich der Konflikt bisher entwickelte (Entstehung, Phasen).
• Worum geht es in dem !Konflikt?
• Welche aktuellen (tagespolitischen) Bezüge sind vorhanden?
• Wie entwickelte sich der Konflikt (Anlass, Verlauf)?
• Wer ist in welcher Weise von dem Konflikt betroffen?

Schritt II: Konfliktstrukturen

Erklären Sie, welche Parteien sich gegenüberstehen und erläutern Sie, welche Interessen und Ziele diese
verfolgen. Untersuchen Sie, welche Rolle internationale Organisationen spielen.
• Wer sind die Konfliktparteien?
• Welche Interessen spielen in dem Konflikt eine Rolle?
• Wie verhalten sich die internat ionalen Hauptakteure?
• Welche strukturellen Ursachen hat der Konflikt?

Schritt III: Beurteilungen

Erläutern Sie die unterschiedlichen Positionen und Perspektiven zur Beurteilung des Konflikts aus der
Sicht des Völkerrechts, aus der Sicht der Machtverteilung und der Sicherheit. Beurteilen Sie dann den
Konflikt aus Ihrer persönlichen Sicht. Ermitteln Sie die Präsenz des Konfliktes in den Medien und
beurteilen Sie die mediale Darstellung des Konflikts.
• Wie ist der Konflikt zu beurteilen? Mögliche Beurteilungskriterien:
rechtlich: Internationales RechWölkerrecht
Stabilität: stabile Staaten-/Weltordnung
• Wie gestaltet sich die mediale Darstellung des Konflikts?

Schritt IV: Lösungsmöglichkeiten, Handlungsoptionen

Beschreiben Sie Szenarien, wie sich der Konflikt lösen bzw. weiterentwickeln könnte. Erläutern Sie die
Handlungsoptionen der Beteiligten. Beurteilen Sie Möglichkeiten der Konfliktlösung ..
• Gibt es Möglichkeiten der Konfliktlösung?
• Welche Handlungsoptionen haben die Konfliktparteien?
• Wer kann zur Konfliktlösung beitragen?
• Wer ist an einer Konfliktlösung interessiert bzw. profitiert davon?
METHODEN KOMPETENZ

Fallbeispiel: Krieg in Syrien Bevölkerung einzusetzen [...]. US-Präsident Ba-


rack Obama bezeichnet den Einsatz von Chemie-
1. Der Konfliktverlauf waffen als rote Linie.

► März 2011 - Folter in Daraa ► Sommer / Herbst 2013 - Giftgas gegen das
In der Stadt Daraa verhaften die Behörden Kinder eigene Volk
und foltern sie, weil sie regimekritische Slogans Das syrische Regime setzt Giftgas in einer Protest-
an Hauswände gemalt hatten, die sie aus TV-Be- hochburg in Damaskus ein. Mehrere Hundert
richten über den Arabischen Frühling kannten. Menschen kommen ums Leben. US-Präsident Ba-
Die Eltern fordern ihre Freilassung [ohne Erfolg] rack Obama droht mit Bombardierungen. Was-
[...]. Prompt gehen Hunderte Bürger auf die Stra- hington und Moskau einigen sich darauf, das sy-
ße. Damaskus schickt Pa nzer und Soldaten. In rische Chemiewaffenprogramm außer Landes zu
anderen Städten und Dörfern formieren sich De- schaffen und zu vernichten. Damaskus willigt ein.
monstrationen aus Solidarität mit Daraa [...]. Das [... ]
Regime verhaftet tausende Studenten und Akti-
visten. Gleichzeitig lässt es aus seinen Kerkern ► Sommer 2014 - Amerikanische Luftangriffe
Dschihadisten frei, die den Aufstand unterwan- Unter iranischer Vermittlung gelingt ein wichtiger
dern sollen. Kompromiss zwischen dem Regime und seinen
Gegnern : Die letzten Rebellen ziehen aus Horns
► Sommer 2011 - Bewaffneter Protest ab, im Gegenzug für freies Geleit in den Norden
In Horns und Hama kommt es regelmäßig zu Mas- Syriens. Baschar al-Assad erklärt sich zum Sieger
sendemonstrationen. Doch die Protestbewegung einer angeblichen Volksabstimmung und zum
fängt an, sich zu spalten. Manche glauben ange- neuen Präsidenten Syriens. Der IS ruft ein Kalifat
sichts der brutalen Repression durch das syrische in Teilen Syriens und im Irak aus. Eine internati-
Regime nicht mehr an friedliche Proteste und fan- onale Koalition unter Führung der USA beginnt
gen an, sich zu bewaffnen. Zu ihnen stoßen syri- Luftschläge gegen den IS in Syrien und im Irak,
sche desertierte Soldaten, die nicht mehr auf die nicht gegen Assad. [...]
eigene Bevölkerung schießen wollen. Westliche
Regierungen fordern den Rücktritt Assads. ► Sommer/ Herbst 2015 - Die Pro-Assad-Alli-
anz rüstet auf
► Herbst 2011 bis Frühjahr 2012 - Vermittler Russland greift mit Luftangriffen in den Bürger-
scheitern krieg ein - zugunsten Assads. Eine Koalition aus
Damaskus akzeptiert einen Friedensvermittlungs- Russland, Iran, Irak und dem syrischen Regime
plan der Arabischen Liga. Doch das syrische Re- formiert sich, um die Rebellen endgültig zu schla-
gime hält sich nicht an die Vereinbarung. Damas- gen. Diese konnten im Nordwesten Syriens zuletzt
kus akzeptiert einen Vorschlag der Uno ; eine Siegesserie gegen das Regime verzeichnen.
Uno- Beobachter kommen ins Land. Doch das Re- Syrien ist in mindestens fünf Machtbereiche zer-
gime setzt auch diese Vereinbarungen nicht um fallen [...].
- weder den Abzug der Panzer und Artillerie aus
Wohngebieten noch einen Waffenstillstand. Die ► Frühjahr 2016 - Neue Verhandlungen in Genf
Uno-Vermittlung scheitert. Eine unter Führung der USA und Russland ausge-
handelte Feuerpause führt zu einer deutlichen
► Sommer 2012 - Die ersten Fassbomben Reduktion der Kriegshandlungen. In Dutzenden
Mit immer brutaleren Mitteln versucht Damaskus, Städten und Dörfern, die in Gebieten liegen, die
die Aufstände niederzuschlagen. Nicht nur Bo- von der Opposition kontrolliert werden, kommt es
dentruppen, sondern auch die Luftwaffe werden daraufhin erneut zu Demonstrationen gegen Ba-
gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt. Das sy- schar al-Assad. Gleichzeitig breitet sich die Nus-
rische Regime hat die Kont rolle über weite Teile ra-Front [... ] in den von der Opposition kontrol-
des Landes verloren. Zunehmend kommen inter- lierten Gebieten aus. In Genf t reffen erneut
nationale Dschihadisten über die Grenze zur Tür- Vertreter des syrischen Regimes und der Opposi-
kei nach Syrien. Das syrische Regime beginnt tion ein, um über eine Übergangsregierung zu
damit, sogenannte Fassbomben gegen die eigene verhandeln. [...]
1METHODENKOMPETENZ

► Sommer 2016 - Schlacht um Aleppo Grenze auf syrisch en Boden vor. Ziel der Kampa-
Im Juli 2016 gelingt es der syrischen Armee und gne sei es, das türkisch-syrische Grenzgebiet vo n
verb ündeten Milizen, die sogenannte Castello Terrororganisationen zu säubern, teilt die Regie-
Road einzunehmen - die letzte Verbindungslinie, rung in Ankara mit. In erste Linie geht es aber
über die Nachschub vo n der türkischen Grenze in darum, die Ku rden zurückzudrängen.
den von Aufständischen kontrollierten Osten
Almut Cieschinger et al., www. spiegel.de, I 7.2.2 016
Aleppos gebracht werden konnte. Damit sind
mehr als 200.000 Menschen eingekesselt. Darauf-
hin starten islamistische Milizen von der Provinz ► Anfang 2017
ldlib aus eine Militäroperation, um den Belage- In Genf beginnen erneut Friedensgespräche unter
rungsring zu durchbrechen. Angeführt werden sie Schirmherrschaft der Vereinten Nationen (UN).
von der Dschabhat Fatah al-Scham, de r ehemali- Die Gespräche zwischen Vertretern der syrischen
gen Nusra-Fro nt. [...] Nach rund ei ner Woche Opposition und der Regierung in der kasachischen
schwerer Gefechte gelingt es dem Bündnis, zu den Hauptstadt Astana hatten unter Vermittlung Russ-
Eingeschlossenen in Aleppo vorzudringen. Die lands, der Türkei und des Irans stattgefunden. Ein
zweitgrößte Stadt Syriens bleibt damit weiterhin von Russland vorgelegter Verfassungsentwurf für
umkämpft. Syrien wu rde von der Opposition abgelehnt.

► August 2016 - Einmarsch der Türkei ► Mitte 2017


Im August 2016 startet die Türkei die Militärope- Auf dem G 20 Gipfel in Hamburg verständigen
ration „Schutzschild Euphrat". Die Luftwaffe greift sich die USA und Russland auf eine teilweise Waf-
Stellungen des IS und der kurd ischen YPG-Miliz fenruhe im Südwesten des Landes (Deeskalations-
in Nordsyrien an. Außerdem rücken Bodentrup- zone). Erfolge beim Kampf gegen die Terrormiliz,
pen und verbündete arabische Milizen über die die immer weniger Gebiete kontrolliert.

Der Krieg in Syrien


Diese Konfliktparteien kontrollieren die eingefärbten Landesteile:
■ Assad-Regime Syrische Rebellen Kurdische Miliz ■ Terrormiliz islamischer Staat (IS)
Februar 2017 Oktober 201 7

TÜRKEI TÜRKEI
. / -.--
Kob ne
.
Hasaka

100 km
-=:::J

Quelle: ISW, dpa dpa•27570


METHODEN KOMPETENZ

II. Wer sind die Akteure und welche Interessen verfolgen sie?

Politische Interessen Verlust der beiden kurdischen Grenzorte Kobane


und Tal Abyad kontrolliert der IS noch hundert
Islamischer Staat Der Islamische Staat (IS} be- Kilometer Grenze zur Türkei, du rch die seine
herrscht mehr als die Hälfte des syrischen ländli- Nachschubwege gehen. Neben Assad will der tür-
che n Territoriu ms, auch wenn dort nur ein Zehn- kische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Syrien
tel der Bevölkerung lebt. Die Gotteskrieger sind an vor allem die Autonomieabsichten der Kurden
keinerlei Verhandlungen interessiert. Sie wollen bekämpfen. Seine Luftwaffe trat zwar forma l der
den syrischen Staat komplett zum Einsturz brin- westlich- ara bischen Allianz gegen den IS bei, at-
gen, ein panarabisches Kalifat errichten und die tackiert aber fast nur Stellungen der PKK (kurdi-
von Europäern im Ersten Weltkrieg gezogenen sche Arbeiterpartei} und YPG (kurdische Volks-
postosmanischen Grenzen vo n der Landkarte til- schutzeinheiten) in Nordirak und Nordsyrien.
gen. Der globale Zustrom ausländischer Extremis-
ten ist nach wie vo r ungebrochen. Letzte Schät- Arabische Staaten Alle arabischen Staaten sind in
zungen gehen vo n 30.000 Kämpfern aus, die aus den Konflikt ve rwickelt. Der Libanon und Jordani-
mehr als hundert Ländern stammen. en tragen zusammen mit dem Irak und der Türkei
die Hauptlast bei den Flüchtlingen. Aus Tunesien
Iran Für den Iran ist Syrien der wichtigste Verbün- und Marokko stammen neben Saudi-Arabien die
dete im Nahen und Mittleren Oste n. Während des meiste n ausländischen IS-Krieger. Die Golfstaaten
ersten Golfkrieges von 1980 bis 1988 unterstützte unter Führung von Riad halten eisern a n dem Ziel
Syrien als einziges arabisches Land die islamische fest, Assad zu beseitigen. Mit hohen Geldsummen
Republik gegen den Angreifer Saddam Hussein - unterstützen sie die Rebellen der islamistischen
eine Allianz, die bis heute ungebroche n ist. Irani- Eroberungsarmee. Ägypten und Irak dagegen se-
sche Kommandeure führen zusammen mit der li- hen sich eher an der Seite Putins und Assads.
banesischen Hisbollah mittlerweile fast überall
das Komma ndo [... ]. Jetzt wurden erstmals auch USA und EU Die Unterstützu ng Assads durch Pu-
reguläre persische Bodentruppen nach Syrie n ver- tin wird offenbar von Washington toleriert, eine
legt. Sie sollen die alawitischen Kerngebiete gegen direkte Konfrontation mit Russland wird vermie-
die herandrängende Rebellenarmee (,,J aish al-Fa- den. Das Pen tagon liefert Waffen an die Rebellen
ta h"} verteidigen, hinter der Saudi-Arabien, Katar und unterstützt die Ku rden. Die EU hat die die
und die Türkei stehen. Ein Sturz Assads wäre ein Forderung nach Assads Rücktritt, um so eine
empfindlicher Rückschlag für den Iran und sein Übergangsregierung bilden zu kön nen, inzwi-
Streben nach Hegemonie in der Region. schen nicht mehr mit Nachdruck vertreten. Gleich-
wohl prangert die EU die Kriegsverbrechen Assads
Russland Moska u unterhält seit 1971 einen Mari- scharf an. Frankreich startete nach den Terroran-
nestützpunkt in Tartus, seinen einzigen im gesam- schlägen in Paris vom November 2015 seine Luft-
ten Mittelmeer. Wladimir Putin g reift an der Seite schläge gegen den IS in Syrien. Außerdem bat das
Assads direkt in die Kämpfe ein. Russla nd will ein Land die EU-Mitgliedstaaten offiziell um Beistand
Überleben des Assad- Regimes in einem Restsyri- nach Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrages. Fol-
en entlang der Küste garantieren. Diesen alawiti- gerichtig billigte der Bundestag im Dezember
schen Kleinstaat möchte Moskau nicht allein Te- 201 5 die Beteiligung Deutschlands am Kampf ge-
hera n als Einflusszone überlassen - eine Absicht, gen den IS zu - und zwar mit dem Einsatz vo n
die die meisten arabischen Staaten begrüßen. 1.200 Soldaten außerhalb Syriens. Die Bundes-
wehr unterstützt mit einer Fregatte u nd sechs Auf-
Türkei Das Kriegsziel Ankaras war von Anfa ng an klärungsflugzeugen vom Typ Tornado die fra nzö-
der Sturz von Baschar al-Assad. Jahrelang dulde- sischen Streitkräfte.
te die Türkei den Einstrom von Dschihadisten aus
aller Welt in das Kampfgebiet. Auch nach dem Nach: Martin Gehlen, Badische Zeitung, 6.10.2015
1METHODENKOMPETENZ

Konfliktparteien und Allianzen in Syrien


..,... kämpfen gegeneinander ..... kooperieren teilweise/
gehen vorübergehend
Zweckbündnisse ein
Internationale
Verbündete

Verbündete in

Quelle: dpa, APA, LeMonde dpo•23259

Wirtschaftliche Interessen

Wirtschaftlich steht Syrien in einem harten Kon- unterstützt, will über diese Pipeline Europa mit
flikt um den globalen Energiemarkt. Es geht um Erdgas beliefern. Nach Ansicht von Assad und
den Zugriff auf Erdöl und Erdgas und um die Russland soll diese Pipeline nicht gebaut werden.
Wä hrung, in der diese Ressourcen bezahlt werden. Neben dem Einfluss auf den eu ropäischen Ener-
Für Russland ist Syrien von enormer strategischer giemarkt geht es j edoch auch um die Währu ng, in
Bedeutung, weil es verhi ndern will, dass Katar für der Erdöl und Erdgas bezahlt werden. Der Dollar
den europäischen Energiemarkt zum konkurrie- steht immer mehr unter Druck, seinen Status als
renden Anbieter wird. Sollte Russland seinen Ein- Weltreservewährung und als Ölwährung zu ver-
fluss in Syrien verliere n, würde auch das derzeiti- lieren. Saudi-Arabien als Verbündeter der USA
ge Monopol der Gaslieferung nach Europa fallen. wird am Dollar festhalten, was nicht unbedingt
Saudi-Arabien plant gemeinsam mit Katar eine den Interessen Russlands entsp richt. Gleichzeitig
Pipeline, die vom Golf bis in die Türkei verlaufen lässt sich der Konflikt nicht allein auf diese Inte-
soll. Katar, das die syrischen Rebellen finanziell ressen reduzie ren.

1 Aufgabe
~ eren Sie den Syrienkrieg. Gehen Sie dabei so vor, wie auf der Methodenseite beschrieben.
6.2.2 Fragile Staaten
Leitfragen Was sind die Merkmale und Inwiefern bedroht der Staatszerfall Was lässt sich gegen
Ursachen von Staatszerfall? die internationale Sicherheit? Staatszerfall tun?

Merkmale fragiler Staatlichkeit

Das typische Merkmal fragiler Staaten ist der Ver- Zudem bestimmen die Machtinteressen autoritä-
lust des Gewaltmonopols des Staates. Dies äußert rer Eliten die Verteilung der wirtschaftlichen Res-
sich in der Unfähigkeit staatlicher Institutionen, sourcen meist zu Lasten der Mehrheit der Bürger.
die Sicherheit der Bürger nach innen und nach In das staatliche Vakuum stoßen dann hä ufig
außen h erzustellen. Damit einher geht die Erosion Warlords, also selbst ernannte regionale Kriegs-
der Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Teil- herren, die das wirtschaftliche, gesellschaftliche
habe. Der Staat ist zudem nicht mehr in Lage, und politische Leben durch Korruption, Vettern-
seinen Wohlfahrtsaufgaben n achzukommen und wirtschaft, illegale Geschäfte mit Drogen, Waffen
die Pflege der Infrastruktur (Bildung, Gesundheit, und Rohstoffen sowie durch Menschenhandel
Polizei) zu gewährleisten. oder Prostitution ersetzen.

Dimensionen fragiler Staatlichkeit

Starker Staat schwacher Staat zerfallender Staat zerfallener Staat


strong state weak state failing state Failed state
Gewaltmonopol des instabile Staatsversagen, Staat Wiederaufbau / state
Staates Regierungen kann S ic herheit seiner building
Bürger nicht mehr
gewährleisten

Frieden und Sicherheit Wirtschaftliche und~ Bürgerkrieg / Terror Hilfe durch Staatenge-
politische Krisen, / Menschenrechtsverlet- meinschaft, Eingriffe
Unruhen zungen externer Akteure,
veränderte sicherhe its-
politische Lage
....
rote Linie= Ausmaß des Verfalls staatlicher Strukturen und Institutionen.

Warum scheitern Staaten? - Ursachen des Zu den exogenen Faktoren zählen:


Staatszerfalls
• Nachwirkungen des Kolonialismus - die w illkür-
Der Zerfall staatlicher Strukturen lässt sich auf liche Bestimmung von Landesgre nzen durch
endogene und exogene Ursachen zurückführen, Kolonialmächte, ohne Rücks icht auf ethnische
wobei meist beide Ursachenformen zusammen- und religiöse Zugehörig keiten zu nehmen
wirken. • die Ausbeutung von Rohstoffen und damit wirt-
schaftlicher Ressourcen im Zuge der globalisier-
Zu den endogenen Ursachen zählen: ten Wirtsc haft durch externe Akteure (Industrie-
lä nder und transnationale Unternehmen)
• schlechte, undemokratische politische Führung • geringe Verha ndlungsmacht aufgrund vo n wirt-
(Bad Governance), Korruption, Nepotismus, Ar- schaftlicher Unterlegenheit
mut in der Bevölkerung bei gleichzeitigem • Ressource nkonflikte aufgrund von klimatischen
Reichtum von Eliten Veränderungen (Wasserkonflikte, Desertifikati-
• Unterdrückung von Minderheiten on und Hungersnöte)
1 6 Internationale Beziehungen

Index fragiler Staatlichkeit

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1. Somalia 114 9,7 9,7 9,4 9,5 9,3 9 9,5 9 9,7 9,7 10 9,5
2. South Sudan 113,8 9,9 10 9,9 6,6 9 9,3 9,7 10 9,7 10 9,7 10
3. Central African 112,1 8,7 10 9,3 7,2 9,9 8,6 9,8 10 9,9 9,2 10 9,5
Republic
4. Sudan 111,5 9 10 9,8 9,1 7,6 8,7 9,8 9,1 9,3 9,2
10 9,9
5. Yemen 111,5 9,5 9,6 9,5 7,5 8,4 9,4 9,4 9,3 9,4 10,0 9,5 10,0
6. Syria 110,8 8,4 10,0 10,0 8,6 7,4 7,8 10,0 8,9 9,8 10,0 9,9 10,0
7. Chad 110,1 9,9 9,8 8,5 8,9 9,3 8,0 9,2 9,8 9,3 9,1 9,8 8,5
8. Congo (D. R.) 110,0 9,1 9,7 9,7 6,8 8,9 8,1 9,3 9,7 10,0 9,2 9,8 9,7
9. Afghanistan 107,9 9,5 9,5 8,6 8,4 7,5 8,5 9,1 9,6 8,7 10,0 8,6 9,9
10. Haiti 105,1 9,2 7,9 6,7 9,0 9,5 8,9 9,4 9,4 7,7 7,9 9,6 9,9
...
165. Germany 28,6 2,2 5,7 4,8 1,8 3 2,4 1 1,3 1,3 1,8 2,3 1
...
175. Denmark 21,5 2,2 1,8 4,6 1,6 1,8 2,2 0,6 1,1 1,7 1,4 1,4 1,1
176. New Zealand 21,3 1,6 1,5 3,8 1,8 2,5 3,8 0,6 1,6 0,7 1,4 1,1 0,9
177. Norway 21,2 1,7 3 3,8 1,3 1,7 1,7 0,5 1,1 1,6 2,2 1, 1 1,5
178. Finland 18,8 1,3 2,5 2 2 1,2 3,7 0,6 1 1 1,4 1, 1 1

Nach: J. J. M essner u. a., Fragile States Tndex 2 01 6, S. 19.ff.

Wie gefährlich ist fragile Staatlichkeit?

Generell wird in den Internationalen Beziehungen dem Zusammenbruch der Verwaltung kan n der
davon a usgegangen, dass mit nachlassender Ord- Staat seinen Wohlfahrtsaufgaben nicht mehr
nungskraft innerhalb eines Nationalstaates und nachkommen. In letzter Konsequenz entstehen so
dem Bedeutungszuwachs nichtstaatlicher Akteure Gebiete der Instabilität, die einen erheblichen ne-
die Kriegswahrscheinlichkeit steigt. Diese Gefahr gativen Einfluss auf ihre Regio n haben.
besteht vor allem bei fragilen Staaten, die vom
Zerfa ll bedroht sind.
Somalia - Beispiel eines fragil en Staate s und
Solche Staaten sind gekennzeichnet du rch ein die Auswirkungen auf die internationale
nicht mehr funktionsfähiges Gewalt monopol, das Sicherheit
zu einer Aufsplitterung der Gesellschaft in ver-
schiedene Gruppen führt. Der Staat ist n icht mehr Gibt d er Staat sein Gewaltmonopol auf und herr-
in der Lage, seine Bürger voreinander zu schützen. schen anarchische Zustände innerhalb eines Staa-
Durch fehlende Rechtsstaatlichkeit und mangeln- tes, ist dies häufig ein Einfallstor für den religi-
de Partizipationsmöglichkeiten kommt es zusätz- ös-fund ame ntalistischen Terrorismus (> Kap.
lich zu gravierenden Legitimitätsproblemen. Mit 6.2.1 ). Somalia gilt dafür als ein Beispiel. In So-
6.2 Globale Risiken und Herausforderungen j

Stabile Staaten, fragile Staaten 2016


Der „ Fragile States Index" bewertet d ie Gefahr eines Landes zu kollabieren anhand von zwölf Bereichen
wie z. B. Flüchtlinge, Menschenrechte und Abwanderung von Fachkräften. Das sind die fünf stabilsten und
fünf fragilsten von insgesamt 178 Ländern:

zukunftsfähig/sehr stabil - - - - - - fragil/sehr schwach

Norwegen

✓-~

üdsudan EI ~-~f„i~, . ., ,

lliJ Neuseeland , - -' 1- ~, , . / }

l,~ LGlobas Quelle: The Fund for Peace

malia herrscht im Grunde Gesetzlosigkeit. Seit wurde v on verschiedenen Kolonialmächten do mi-


mehr als zwei J ahrzehnten tobt do rt ein Bürger- niert. Im Zuge der zunehmenden Isla misierung der
krieg. Rivalisierende Clan s un d isla mistische Mi- Somali- Region kam es schon im 16. J a hrhundert
lizen kä mpfen um die Vo rh errsch aft in dem afri- zu kriegerischen Ha ndlu ngen gegen das nö rdlich
ka nische n Land. Die Zentralregierung ko ntrolliert gelegene und eher ch ristlich geprägte Nachbar-
nur einige Städte, während sich lä ndliche Gebiete land Äthiopien.
unter der Kontro lle von Al-Sha baab befinden.
AJ-Shabaab ist eine milita nte islamistische Bewe- 1964 kam es zum Grenzkrieg zwischen Somalia
gung in Somalia. Sie kontrolliert Teile Südsoma- und Äthiopien, dessen Ergebnis bis heute n icht
lias und setzt dort die Scharia in strenger Form geklärt ist, d a der genaue Gre nzverla uf weiterhi n
durch. Ihr Ziel ist die Errichtung eines islamischen umstritten ist. 1969 wendete sich Somalia einem
Staates am Horn v on Afrika und die Beteilig ung Bündnis mit der Sowjetunion zu, 1977 kam es
an eine m weltweiten Dschihad. zum Bruch d ieses Bündnisses, da die Ud SSR auch
das verfeindete Regime in Äthiopien stützte. Im
Die somalische Gesellschaft wird von Sta mmes- gleichen J ahr begann Somalia den zwei J a hre a n-
den ken und Cla n-Strukturen behe rrscht. Kä mpfer dauernden Ogade n-Krieg. In diesem Konfli kt zwi-
von Al-Shabaa b nehmen Zoll und Steuern ein und schen den beiden Staaten versuchte Somalia, die
fina nzieren ihre Operationen durch illegalen Ha n- Kontrolle übe r das hauptsächlich von Somali be-
del. 201 6 wurde Somalia a uf dem Korru pt ionsin- siedelte Ogaden wiederzuerla ngen, j edoch endete
dex v on Tra nspa rency Internation al auf Platz 176 die Auseinandersetzung mit einer Niederlage, da
(von 176 erfassten Ländern) als das weltweit ko r- Äthiopien massiv durch den Einsatz kubanischer
rup teste Land aufgeführt. Soldaten seitens der Sowj etun ion gestützt wu rde.
Die Folgen d ieser Gebietsaufteil ungen und Kriege
Lan ge Zeit existierte n am Horn von Afri ka keiner- zwischen Somalia und seinen Nachbarn Äthiopi-
lei feste, einem Staat gleichende Strukturen. Die en und Kenia sind zum einen die relativ g roße
von steten Wanderbewegungen betroffene Region Zersplitterung der Bevölkerungsgruppe der Soma-
6 Internationale Beziehungen

li und zum anderen der stete Kampf um die Vor- und fürchtete, sie werde die von Ali Mahdi gebil-
herrschaft in der Region, welcher im somalische n dete Regierung ane rkennen. Im November 1992
Bürgerkrieg von 1991 seinen letzten, bis heute boten daraufhin die USA unter Präsident George
nachwirkenden Höhepunkt erfahren hat. Seit her H. W. Bush an, eine multinationale Truppe unter
ist es keiner Regierung gelungen, ihre Macht zu eigener Führung zu entsenden. Allerdings stellten
behaupten. unterschiedliche Erwartungen innerhalb Somali-
as wie auch in der internationalen Gemeinschaft
Kampfhandlungen und Plünderungen führten sowie mangelnde Kennt nis der lokalen Gegeben -
1992 zu einer Verschlechterung der Versorgungs- heiten Probleme dar.
lage bis hin zur Hungersnot im Süden Somalias,
die schätzungsweise 300.000 bis 500.000 Men- Teile der somalischen Bevölkerung sahen in den
schen das Leben kostete. Die Hungersnot erhielt entsandten Truppen eine Besatzungsmacht und
ab Mitte 1992 Aufmerksamkeit in den internatio- unterstellten insbesondere den USA ganz andere
nalen Medien. Im selben Jahr beschlossen die Ver- Motive, wie die Erlangu ng der Kontrolle über Erd-
einten Nationen zudem die Entsendung der UNO- ölvorräte oder die dauerhafte Errichtung von Mi-
SOM-Mission, die zunächst j edoch nur einen litärbasen am strategisch wichtigen Horn von
Waffenstillstand zwischen Mo hammed Farah Ai- Afrika.
did und Ali Mahdi Mohammed überwachen sollte,
die beide das Präsidentenamt für sich beanspruch- Seit 2000 kam es dann vermehrt zu Piraterie vor
ten. Da Hilfsgüter für die von der Hungersnot Be- der Küste Somalias am Horn von Afrika, welche
troffene n immer wieder geplündert wurden, wu r- wichtige internationale Schifffahrtsrouten be-
de der Ruf nach einer humanitären Intervention drohte. Zur Sicherung der Seefahrtsrouten ent-
(>Kap. 6 . .1 .3) zur Sicherung der Lieferungen la uter. sandten die NATO und die EU (Ope ration „Atalan-
ta") Kriegsschiffe in die Region. Derzeit kämpfen
Der Frieden hielt nicht lange. Insbesondere Aidid zudem Soldaten der Afrikanischen Union, der Ar-
wandte sich mit seiner Somali National Alliance mee des Nachbarlandes Äthiopien und der USA
offen gegen die UNOSOM und verla ngte ihren Ab- gegen Islamisten in Soma lia, um die Ursachen im
zug, da er sie als Bedrohung seiner Macht a nsah Land zu bekämpfen.

Aufgaben
1. Beschreiben Sie die Ursachen für den Zerfall von Staaten.

2. Die Indikatoren für fragile Staaten sind in soziale, wirtschaftliche und politisch/militärische gegliedert. Erläu-
tern Sie, inwieweit diese Bereiche miteinander verknüpft sind.

3. Somalia ist kein Einzelfall eines fragilen Staates in Afrika. Begründen Sie, warum gerade in Afrika besonders
viele Staaten als fragil gelten.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Fragile Staatlichkeit als globales Sicherheitsrisiko

Das zentrale Ziel der internationalen Gemeinschaft ist die Stärkung oder (Wieder-)
Herstellung des legitimen staatlichen Gewaltmonopols. Doch wie soll mit jenen Kräften
umgegangen werden, die keine Bereitschaft erkennen lassen, sich konstruktiv an der
Stärkung von Staatlichkeit zu beteiligen[... ]? Soll man manifeste para-staatliche Struk-
5 turen zerschlagen, oder besteht eine realistische Chance, diese in den Staatsaufbau
zu integrieren? In den meisten Fällen müssen in der Tat state-building-Aktivitäten ge-
gen die Interessen solcher Akteure durchgesetzt werden. Andererseits sind Fortschrit-
te oftmals nur zu erreichen, wenn man einige dieser [... ] Machthaber in den Prozess
einbindet, sie an den zentralen Institutionen beteiligt bzw. ihnen für begrenzte Zeit
10 Freiräume oder Privilegien einräumt. [ ...)
Externe Akteure stehen häufig vor dem Problem, dass die Kooperation lokaler Eliten
oder zumindest von Teilen der Elite fast ausschließlich durch den Wunsch nach einer
Maximierung von „politischen Renten" motiviert ist. Dies verschärft in der Regel die
Abhängigkeit von externer Hilfe und birgt die Gefahr, dass etwa durch Finanzhilfen,
15 humanitäre Hilfe oder Entwicklungsgelder klientelistische Strukturen bzw. die „Schat-
tenökonomie" vor Ort gestärkt und damit kurz- und mittelfristige Reformen eher er-
schwert werden. [ ... ]
Inwieweit sollen die Maßnahmen von lokalen oder externen Akteuren gesteuert wer-
den? Einerseits ist es für die Nachhaltigkeit von Reformen oder Wiederaufbaumaßnah-
20 men notwendig, dass wesentliche Entscheidungen von den Akteuren vor Ort selbst
getroffen werden (ownership). [.. .]Andererseits darf die Präferenz für ownership nicht
dazu führen, in kritischen Fällen wichtige Maßnahmen zu unterlassen. Diese müssen
ggf. von Externen in eigener Regie umgesetzt werden, um humanitäre Katastrophen ,
den Rückfall in den Bürgerkrieg oder Gefahren für die regionale/internationale Sicher-
25 heit abzuwenden. [...]
Sollen sich externe Akteure primär auf d ie Verbesserung der Sicherheitslage im Land
und damit auf die Stärkung bzw. Reform des Sicherheitssektors konzentrieren? Oder
muss es darum gehen, alle relevanten Bereiche von Staatlichkeit gleichermaßen im
Blick zu behalten - z.B. politische Institutionen, Rechtsstaat, wirtschaftliche Aspekte,
Gesundheits- und Bildungssektor? Während der erste Ansatz - auch Security First
30 genannt - Gefahr läuft, einseitig die Kapazitäten des staatlichen Sicherheitsapparates
zu stärken und damit möglicherweise politische Reformen zu unterminieren, droht der
zweite Ansatz die externen Akteure auf Dauer zu überfordern. Letztlich müssen prag-
matische, auf den Einzelfall abgestimmte Mittelwege gefunden werden, da für sich
genommen keine der beiden Positionen überzeugen kann und auch wohl keine Aus-
35 sieht auf Erfolg haben dürfte. [... ]
Trotz dieser Dilemmata ist die Alternative, sich von Krisenregionen und fragilen Staaten
fern zu halten und nach Möglichkeit abzuschotten, weder realistisch noch wünschens-
wert. Die Alternative des disengagement bedeutet letztlich, dass man in bestimmten
Teilen der Welt die Dinge mehr oder minder sich selbst überlässt - auf die Gefahr hin,
40 dass sich die Zustände dramatisch verschlechtern, Krisen und Kriege wahrscheinli-
cher werden und weitere Länder in den Sog des Staatszerfalls geraten. Notwendig ist
stattdessen eine breite Debatte und Konsensbildung in- und außerhalb der UNO, um
zu einer Prioritätensetzung und Aufgabenteilung beim Umgang mit fragilen Staaten zu
kommen.
45 Der Zerfall von Staaten , ob abrupt oder schleichend, ist nicht selten verbunden mit
gewaltsamen Auseinandersetzungen, die in der Literatur als „neue Kriege" bezeichnet
werden. Dabei geht es im Wesentlichen um innerstaatliche Gewaltkonflikte (Bürger-
kriege), die allerdings in der Regel eine internationale Dimension annehmen, da exter-
ne Akteure aktiv beteiligt sind oder aber in Mitleidenschaft gezogen werden.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

50 Es handelt sich zumeist um schwelende Langzeitkonflikte auf einem, verglichen mit


zwischenstaatlichen Kriegen, relativ niedrigen Gewaltniveau mit gelegentlichen Eska-
lationen (low intensity conflicts). Obgleich innerstaatliche Kriege schon seit 1945 der
vorherrschende Konflikttyp sind, lassen sich in den neunziger Jahren einige qualitative
Veränderungen beobachten, die heutige Bürgerkriege grosso modo von früheren un-
55 terscheiden und die erhebliche Effekte für die staatlichen Strukturen haben. Die „ neu-

en Kriege" sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Mischung aus regulärem Krieg,
organisiertem Verbrechen und massiven Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbe-
völkerung darstellen, bei denen sich die Unterscheidung von öffentlichen und privaten,
politischen und ökonomischen Akteuren sukzessive auflöst. Betont w ird dabei der
60 Trend zur Privatisierung und Kommerzialisierung des Krieges.

Eine zentrale Rolle spielen dabei manifeste Bürgerkriegs- oder Gewaltökonomien, von
denen diverse interne und externe Akteure profitieren. Die staatlichen Strukturen wer-
den durch die Prozesse zersetzt und letztlich zerstört, wobei zumeist (vormals) staat-
liche Akteure ihren Teil dazu beitragen, indem sie sich an der allgemeinen Plünderung
65 von Ressourcen beteiligen, eigene Milizen gründen oder die Armee kommerzialisieren.

Gleichzeitig nimmt insgesamt die Zahl der so genannten „spoiler" zu - jener „Stören-
friede", die kein oder kaum Interesse an einer Konfliktlösung und schon gar nicht an
einer geordneten Staatlichkeit haben.
Fragile Staaten räumen nichtstaatlichen, gewaltkompetenten Akteuren erhebliche
10 Spielräume ein. Dabei lassen sich verschiedene Typen unterscheiden: klassische Gue-

rilla- und Rebellenbewegungen, Stammes- oder Clanführer, religiöse Führer, Kriegs-


herren (warlords), Milizen, Paramilitärs, Marodeure, Söldner und Kriminelle (z.B.
Schmuggler, Drogenbarone, Banden, mafiaähnliche Kartelle), private Sicherheits- und
Militärfirmen. Sie nutzen systematisch die Kontroll- und Legitimationsdefizite des
15 Staates, sie unterwandern und unterhöhlen staatliche Institutionen und Autorität, sie

füllen sogar teilweise jene Lücken, die der von Konflikten zersetzte bzw. vom Zerfall
bedrohte Staat hinterlässt. Sie treten in den von ihnen dominierten Räumen als „Si-
cherheitsdienstleister" auf, in vielen Fällen gegen den Willen der betroffenen Bevölke-
rung, in manchen Fällen aber durchaus mit einer gewissen Legitimation, da sie zumin-
so dest einen rudimentären Schutz bieten, der allerdings mit Wohlverhalten und Loyalität
erkauft wird.
Diese Funktion üben vor allem jene Gewaltakteure aus, die in der Lage sind, auf Dau-
er Teile des Staatsgebietes zu kontrollieren und dort para-staatliche Strukturen etab-
lieren. Sie üben eine De-facto-Herrschaft aus, zumeist über informelle Mechanismen,
s5 die parallel neben den formalen staatlichen Institutionen existieren. Das Ergebnis sind

konkurrierende Gewaltansprüche, in manchen Fällen auch die Bildung von „Gewalto-


ligopolen", die das staatliche Gewaltmonopol zur Schimäre werden lassen. Diese Kon-
stellation gilt in erster Linie für Nachkriegssituationen, in denen die Akteure, die durch
den Krieg zu Einfluss gekommen sind, zumeist auch die neue Ordnung dominieren und
oo nach ihren politischen bzw. ökonomischen Bedürfnissen gestalten.

Ulrich Sch neckener, Fragile Staatlichkei t als global es Sicherheitsrisiko, i n: Aus Politik und Zeitgeschichte,
Nr. 28/29, 2005, S. 27ff.

Aufgaben

1. Legen Sie die vom Autor genannten Handlungsalternativen beim state-building dar.

2. Charakterisieren Sie die Herausforderungen beim Aufbau von stabilen staatlichen Struktu-
ren.

3. Entwickeln Sie einen eigenen tragfähigen Katalog von Maßnahmen zum „state-building"
in Somalia. Simulieren Sie dafür in einem Konferenzspiel (, Methodenglossar) ein Treffen
zwischen externen und internen Kräften.
6. 2. 3 Verbreitung von Massenvernichtungswaffen
Leitfragen Was macht die Verbreitung Wie funktioniert das internationale Schafft das Atomabkommen
von Massenvernichtungs- Regime nuklearer Nichtverbreitung? mit dem Iran mehr Sicherheit ?
waffen so bedrohlich?

Die Verbreitung von ABC-Waffen


als Sicherheitsrisiko

Die internationale Sicherheitspo lit ik hat sich Staaten wi e der Iran und No rdkorea sehen in
durch aufstrebende Regionalmächte nach dem Atomwaffen ein geeignetes Mittel, um aus ihrer
Kalten Krieg erheblich verändert. Bis 1990 achte- Sicht bestehende Bedrohungen abzuwehren. Auf
ten d ie beiden Atommächte USA und Sowjetunion diesem Wege sollen eigene polit ische Forderungen
und deren Verbündete streng darauf, dass Mas - gegenüber Nachbarstaaten oder der internationa-
senvernichtungswaffen nicht in die Hände ihrer len Staatengemeinschaft durchgesetzt werden.
Gegner fallen konnten und die atomare Pattsit u- Diese Entwicklung ka nn in den Nachba rlä ndern
ation erhalten blieb. Mit dem Zerfall des Ostblocks wiederum zu einer Neubewertung der eigenen Be-
und der Öffnung der Grenzen sowie den durch die drohungslage führe n.
Globalisierung ermöglichten Info rmations- und
Wissenstra nsfers konnte sich das Know- how zur
Herstellung von Massenvernichtungswaffen a us- Die Gefahr des Wettrüstens
breiten. Heute stellt die weltweite Verbreitung
bzw. Proliferation atomarer, bio logischer oder Um gegenüber den Risiken der Proliferation und
chemischer Massenvernichtungswaffen (ABC- der Erp ressbarkeit durch sogenannte „Sch urken-
Wa ffen) eines der größten Sicherheitsrisiken dar. staaten" und Terro risten gewappnet zu sein, ent-
schlossen sich die USA zum Aufba u eines natio-
nalen Raketenabwehrsystems, welches feindliche
Worin besteht das Risiko? Interkontine ntalraketen bereits im Weltraum or-
ten und zerstören kann. Im Februar 201 2 gaben
Nicht nur Staate n auch Terro rg ruppen streben die USA bekannt, dass der Raketenabwehrschirm
nach Massenvernichtungswaffen bzw. nach den zu einem europäischen Raketenabwehrprogramm
Materialien und Plänen zu de ren Herstellung. Je
g rößer das Verbreitungsgebiet dieser Waffen ist,
desto größer ist a uch das Drohpotential, die Ge-
fahr von Missbrauch, Diebstahl, Sabotage oder
Unfällen.

Ein wesentliches Merkmal der Proliferation von


Massenve rnichtungsmitteln im 2 1. Jahrhundert
besteht darin, dass sie sich ve rdeckt vollzieht. In
der Regel werden keine fertigen ABC-Waffen
transferiert, sondern deren Rohstoffe, Anlagen
und Komponenten zur Herstellung dieser Waffen
sch rittweise beschafft. Inte ressierte Staaten versu-
che n, im Rahm en ihrer wissenschaftli ch-techni-
schen Fähigkeite n, selbst Forschung und Entwick-
lung zu betreiben und ggf. eigene Produk-
tionsstätten aufzubaue n, um vorhandene Waffen- Alph~helisierung ind1r Al·Ouaida•Schule
systeme bzw. Raketenprogramme zu Massenver-
nichtungswaffen auszubauen. Karikatur: Baaske Cartoons / Mester
1 6 Internationale Beziehungen

im Rahmen der NATO ausgebaut wird. Eine erste Langstreckenraketen an und Nordkorea a ntworte-
Einsatzfähigkeit des Schirmes wurde auf dem NA- te mit dem Test vo n Atombomben. Die USA haben
TO-Gipfeltreffen in Chicago im Mai 2012 verkün- daraufhin n ochmals deutlich gemacht, dass sie
det. Dieser einseitige Ausbau eines US-amerika- gemäß ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie bereit
nisch geführten Sicherheitssystems fü hrte si nd, militärisch zu intervenieren, um Staaten da-
wiederum zu Misstrauen und Kritik anderer Staa- ran zu hindern, in den Besitz von Massenvernich-
ten. Russla nd kündigt e umgehend den Bau neue r tungswaffen zu gelangen.

Atommächte
Anfang 2016 besaßen neun Länder insgesamt 15 395 Nuklearwaffen (geschätzt).
Rund 4 120 davon waren einsatzbereit.

Großbritannien
215 .


Frankreich
300
Israel
80 e

Pakistan •
Nordkorea
•10

110 -130 Indien


Geschätzte Anzahl der Nuklearwaffen weltweit 100 - 120

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..c
0
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Quelle: Sipri

Das Regime der atomaren


Nichtverbreitung

Mit zahlreichen Rüstungskontrollverträgen und Deutschland ist dem Vertrag am 2. Mai 1975 bei-
durch internationale Organisationen versuchen getreten. In einem fü r einen multilateralen Vertrag
Atomwaffen- und Nichtatomwaffenstaaten seit ungewöhnlichen Stil werden die Vertragsstaaten
den 1960er Jah ren die unkontrollierte Verbreitung strikt in zwei verschiedene Kategorien geteilt:
von Atomwaffen zu verhindern und vorhandene Staaten mit Ato mwaffen (Nuclear-Weapon-Sta-
Bestände abzubaue n oder einzufrieren. Der wich- tes, NWS) und Nichtatomwaffenstaaten (Non-Nuc-
tigste multilaterale Vertrag ist immer noch der lear- Weapon-States, NNWS). Wichtigstes Ziel des
Ato mwaffensperrvertrag (Treaty on the Non-Pro- NPT ist die Verhinderung der Verbreitung von
liferation of Nuclear Weapons - NPT), der 1970 in Atomwaffen. So statuiert der Vertrag in Art. I NPT
Kraft trat. Dem NPT gehören 190 Staaten an, v ier die Pflicht für die NWS, keine Atomwaffen oder
Staaten sind nicht Mitglied: Indien, Pakistan, Isra- dafür notwendige (Träger-)Technologie an einen
el und Südsudan. No rdkorea hat im Januar 2003 NNWS weiterzugeben. Spiegelbildlich verpflich-
seinen Rücktritt vom Vertrag erklärt, der endgül- ten sich die NNWS in Art. II NPT weder Ato mwaf-
tige Status Nordkoreas wird seither offen gehalten. fen zu erwerben noch solche selbst zu entwickeln.
6.2 Globale Risiken und Herausforderungen 1

Die wichtigsten Rüstungskontrollverträge

Unterzeichnet Name Parteien Inhalt


(in Kraft}
05.08.1963 Partielles 131 Staaten Vertrag zum Verbot von Nuklearwaffentests in der
(10.10.1963) Atomtest- Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser
stopp-Vertrag
(PTBl)
01.07.1968 Atomwaffen- 189 Staaten Verbietet die Weitergabe von Atomwaffen,
(05.03.1970) Sperrvertrag verpflichtet zur Abrüstung
(NPl)
26.05.1972 ABM-Vertrag USA/UdSSR Vertrag zur Begrenzung von Systemen zur Abwehr
(03.10.1972) von ballistischen Raketen
08.12.1987 INF-Vertrag USA/UdSSR Verbot der Herstellung und Lagerung von Mittel-
(01.06.1988) strecken-Raketen
19.11.1990 KSE-Vertrag NATO/ Eliminierung quantitativer Asymmetrien bei fünf
(09.11.1992} Warschauer Pakt Hauptwaffensystemen in vier Zonen vom Atlantik
(WP) bis zum Ural
3 1.07.1991 START-1 USA/UdSSR Reduzierung von strategischen Nuklearwaffen
(05.12.1994) innerhalb von 7 Jahren um ca. ein Drittel gegen-
über 1991 auf gemeinsame Obergrenzen von
1.600 Trägersystemen und 6.000 Gefechtsköpfen
24.03.1992 Vertrag über den 26 NATO- und Öffnung des Territoriums für unbewaffnete
(01.01.2002) offenen Himmel ehern. WP-Staa- Überwachungsflüge
(Open Skies) ten
03.01.1993 START-II USA/Russland Weitere Reduktion der strategischen Nuklearwaf-
fen auf 3.000-3.500 Sprengköpfe pro Seite und
verbot von Mehrfachsprengköpfen. Entfiel nach
Inkrafttreten des SORT-Vertrages von 2002
10.11.1996 Umfassender 182 Unterzeich- Verbot jeglicher Art von Nuklearexplosionen
Teststoppvertrag ner-Staaten, 151
(CTBl) Ratifikations-
Staaten. Es
fehlen 13
Staaten.
24.05.2002 Moskauer USA/Russland Reduktion der strategischen Nuklearwaffen auf ca.
(01.06.2003) Abkommen 1.700 bis 2.200 Sprengköpfe 2012
(SORl)
08.04.2010 Der neue USA/Russland Reduktion der strategischen Nuklearwaffen auf je
START-Vertrag 1.550

Nach: Götz Neuneck/ Christian Mölling, Die Zukunft der Rüstu11gsko11trolle, 2005;
Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, www.armscontrol.de, Abruf: 16.10.2017

Welche Rolle spielt die Internationale setzten Gouverneursrat a ls Exekutivorgan sowie


Atomenergie-Organisation (IAEO)? ein Sekretariat für die operativen Aufgaben, an
dessen Spitze ein Generaldirektor steht. Sie über-
Die IAEO ist die wichtigste internationale Organi- wacht die sich für die Unterzeichnerstaaten des
sation für die Zusammenarbeit in nuklearen Fra- NPT ergebenden Pflichten und ist gleichzeitig
gen. Sie kontrolliert die Atompolitik der Staaten. weltweit die e inzige Organisation, der die Natio-
Die IAEO wurde 1957 mit Sitz in Wien gegründet. nalstaaten Einblicke in ihre Atomprogramme ge-
Als internationale Organisation verfügt sie über ben. Die Kontrollen der IAEO sind für alle Unter-
eine Gene ra lkonferenz als Vollversammlung aller zeichnerstaaten des NPT verpflichtend, für andere
Mitgliedstaaten, einen mit Staatenvertretern be- Staaten sind sie freiwillig.
6 Internationale Beziehungen

Wie wirksam ist das internationale Regime


der atomaren Nichtverbreitung?

Mit Indien, Israel und Pakistan, die den Atomwaf- Die Lage im Nahen Osten ist besonders prekär, da
fensperrvertrag nicht unterzeichnet haben, leidet sich Israel in seiner Existenz durch den Iran be-
das internationale Regime der atomaren Nichtver- droht sieht. Trotz der Bede nken aus Israel wurde
breitung bis heute an mangelnder Universalität. 2015 nach 13 J ahren Atomstreit um das nukleare
Gleichzeitig ist es für die Vertragsstaaten verhält- Potential des Irans eine Einigung hinsichtlich der
nismäßig leicht, vom Vertrag zurückzutreten (z. B. Reduktion der Uran-Bestände und des Rückbaus
Nordkorea 2003). Dies kann dazu führen, dass ein von Atomanlagen erzielt (>Kap. 5.3.2). Im Gegen-
Staat zunächst von den Kooperationspflichten der zug wurden ab 2016 die Wirtschaftssanktionen
Atomwaffenstaaten beim Aufbau eines zivilen der USA und der EU aufgehoben. Die USA haben
Atomprogramms profitiert, um den Vertrag an- j edoch unter der Präsidentschaft von Donald
schließend zu verlassen und das erlangte Wissen Trump das Iran-Abkommen im Mai 2018 wieder
für militärische Zwecke zu nutzen. aufgekündigt und die alten Sanktionen durch zu-
sätzliche ergänzt.
Mit der Trennung zwischen Atomwaffen- und
Nichtatomwaffenstaaten kommt es für erstere zu Eine große Bedrohung für den Frieden stellen zu-
einem Verlust an Autorität bei der Argumentation dem die zahlreichen Atomtests Nordkoreas dar.
gegen die Weiterverbreitung dieses Rechts. Atom- Nordkorea verb raucht ein Drittel seines Bruttona-
waffen zuerst entwickelt zu haben, ist kaum hin- tionaleinkommens für sein Militär. lm Verhältnis
reichende Legitimation für deren alleinigen Besitz zur Bevölkerungszahl ist es das Land mit dem
und die NWS müssen sich von den NNWS zu größten Militär weltweit. Südkorea fühlt sich da-
Recht vorwerfen lassen, durch den Atomwaf- durch direkt in seiner Existenz bedroht. Nordkorea
fensperrvertrag ihre Machtposition zementiert zu hält sich zudem nicht an internationale Regeln,
haben. Die als Entgegenkommen für diese Un- und auch Sanktionen ha ben bisher nicht zu einem
gleichheit vorgesehene Abrüstungsverpflichtung Einlenken oder Stopp der Nukleartests geführt.
der NWS kommt hingegen faktisch kaum über das Die verhängten Sanktionen waren bisher erfolg-
vertragliche Versprechen hinaus und ist stark vom los, auch weil das Regime in Pjöngjang von China
Willen Russlands und den USA abhängig. als Verbündetem gestützt wird.

Aufgaben

1 . Beschreiben Sie, warum Proliferation ein Risiko für den Frieden darstellt.

2. Vergleichen Sie im Hinblick auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen die unterschiedlichen Gegen-
maßnahmen vom Atomwaffensperrvertrag bis hin zur Strategie der USA

3. Diskutieren Sie folgende Ansicht im Rahmen einer Eishockey-Diskussion (, Methodenglossar): .,Warum soll-
ten nicht weitere Staaten Atomwaffen besitzen dürfen, wenn schon große Länder darüber verfügen dürfen".
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Pro und Contra Atomabkommen mit dem Iran - Ist dem Iran zu trauen
oder nicht?

Pro
Lange verhandelten die USA mit den Mullahs wegen deren atomarer Ambitionen. Nun
gibt es einen Vertrag. [ ...] [D]ass eine Verständigung zwischen Washington und Tehe-
ran über nukleare Rüstungskontrolle nach einem Jahrzehnt des Tricksens und Täu-
schens möglich erscheint, ist ein politischer Fortschritt - wenn auch keine Garantie für
5 eine konfliktfreie Zukunft. Dass damit eine iranische Atombombe für alle Ewigkeit ver-
hindert wäre, werden auch die größten Optimisten nicht behaupten. Wenn Teheran die
Bombe will, dann bekommt Teheran auch eine Bombe - das ist die bittere Wahrheit.
Das allerdings wäre wegen der Sanktionen nur unter großen Opfern möglich, die vor
allem die iranische Bevölkerung nicht mehr bedingungslos zu zahlen bereit sind. Wer
10 die Bilder von jubelnden, tanzenden Menschen auf den Straßen iranischer Städte
gesehen hat, sollte begreifen, dass hier nicht das Regime gefeiert wird. Die Menschen
hoffen darauf, dass sich die Tür zu einem besseren Leben nun wenigstens einen Spalt
breit öffnen lässt. Der Pakt von Lausanne ist also nicht nur ein Abkommen zwischen
Staaten. Er setzt im Iran auch eine innenpolitische Dynamik in Gang, die man nur
15 begrüßen kann, weil sie die Mullahs unter Erfolgsdruck setzt. Einen Grund, dem Regi-
me zu vertrauen, hat Teheran dem Westen freilich nie geliefert. Die Frage, wie die
Kontrollmechanismen implementiert werden können, ist deshalb entscheidend.
Gleichzeitig müssen sich Kritiker bei aller Skepsis aber eines klarmachen: Eine ernst
zu nehmende militärische Option zur Verhinderung des iranischen Atomprogramms
20 liegt nicht auf dem Tisch. Nach dem Stand der Dinge würde eine Bombardierung der
Atomanlagen nicht einmal sicher dazu führen, das Nuklearprogramm zurückzuwerfen.
Und die militärische Gegenreaktion des Irans würde die Weltökonomie in eine massive
Krise stürzen - von politischen Folgen ganz abgesehen. Teheran kontrolliert die Straße
von Hormus, eine 30 Kilometer schmale Meerenge, durch die jährlich 40 Prozent der
25 weltweiten Ölexporte verschifft werden. Die von Teheran gesteuerte Hisbollah lauert
an der Grenze Israels. Ob man es mag oder nicht: Der Iran ist heute ein erheblicher
Machtfaktor in der Region. Nicht zuletzt die ungeschickte und planlose Interventions-
politik der Amerikaner hat dazu geführt, dass die Mullahs ihre strategische Stellung
massiv verbessern konnten.
Mit dieser Realität muss Washington nun fertig werden - und zwar mit den Mitteln der
30 Realpolitik. Das scheint nicht unmöglich. Zwischen dem Iran und den USA gibt es
partielle Interessenüberschneidungen: An einer weltweiten Ölkrise hat niemand Inter-
esse, ebenso wenig am Erstarken des sunnitisch befeuerten „ islamischen Staats". Das
iranische Regime will eine Garantie für seine Existenz, die Amerikaner wollen geord-
nete Verhältnisse im Irak - von einer Vorzeigedemokratie im Nahen Osten ist da schon
35 lange keine Rede mehr. [.. .]
Dass Teheran an der Seite Washingtons agiert, ist ein gewöhnungsbedürftiger Gedan-
ke. Aber schon heute koordinieren Amerikaner und Iraner ihren Kampf gegen den
gemeinsamen Feind „ islamischer Staat". Wählerisch waren die USA nie: Seit langem
sind sie mit Saudi-Arabien verbündet, einem Regime, dessen Verbrechen bei Amnes-
40 ty International Aktenschränke füllen. Ein Vertrag mit dem Iran ist für den Westen nach
Lage der Dinge jedenfalls die beste Option - weil es keine Alternativen gibt.

Clous Christian Maizah n, www.welt.de, 5 .4.2015


1 KOMPETENZEN ANWENDEN

Contra
Das islamistische Regime in Teheran ist aus den Atomverhandlungen in Lausanne als
klarer Sieger hervorgegangen. Zwar musste es hinsichtlich der Intensität der Weiterent-
wicklung seines Atomprogramms und dessen internationaler Kontrolle erhebliche Zu-
45 geständnisse machen. Doch behält es die technologischen Kapazitäten, die es ihm

ermöglichen würden, seine nukleare Produktion kurzfristig wieder so weit hochzufahren,


dass es den Bau der Bombe vollenden kann. Ob sich die iranische Nuklearproduktion
wirklich so lückenlos überwachen lässt, wie es die als Vorstufe zu einem endgültigen
Vertragsabschluss ausgehandelten Eckpunkte vorsehen, darf angesichts der jahrzehn-
50 telang bewiesenen Meisterschaft Teherans im Tricksen und Täuschen bezweifelt wer-

den. Unabhängig davon aber bedeutet die Vereinbarung an sich eine enorme internati-
onale Aufwertung des Mullah-Regimes. Von seiner aggressiven, auf regionale
Hegemonie und die Vernichtung Israels gerichteten Politik musste es als Gegenleistung
für den Abschluss keine Abstriche machen. [...] Die zugesagte Aufhebung der Sanktio-
55 nen würde der destruktiven Politik des iranischen Regimes zusätzliche Durchschlags-

kraft verleihen - bedeutete sie doch eine gewaltige Stärkung der Wirtschaftskraft der
islamischen Republik namentlich durch Ölexporte. Unvermindert kann der Iran indessen
seine Lang- und Mittelstreckenraketen fortentwickeln, die im Bedarfsfall atomar be-
stückt werden können. Ein jüngst mit Russland abgeschlossenes Militärabkommen
60 lässt erkennen, was hinter Teherans vermeintlicher Kompromissbereitschaft steckt. Es

will im Atomstreit Druck der internationalen Gemeinschaft von sich nehmen, um umso
entschiedener sein strategisches Ziel verfolgen zu können: den Aufbau einer antiwest-
lichen Front mit der Maßgabe, den Einfluss der USA und ihrer Ideen von Demokratie und
Menschenrechten aus der Region zu tilgen. Dass Teheran seine nukleare Infrastruktur
65 mit dem Segen des Westens behalten wird, verschiebt die Machtkonstellationen im

Nahen Osten dramatisch. Mit der latenten Drohung im Rücken, jederzeit auf die atoma-
re Option zurückgreifen zu können, wird Teheran zu einer Schlüsselmacht, ohne deren
Wohlwollen in der Region nichts mehr geht. Nicht nur Israel, auch Saudii-Arabien und
andere arabische Golfstaaten, die den Iran als Hauptbedrohung betrachten, fühlen sich
10 von den USA im Stich gelassen. Der jüdische Staat und die Saudis finden sich nun in

einer paradoxen lnteressenskoalition vereint und werden noch massiver für die aus ihrer
Sicht kaum mehr vermeidbare direkte Konfrontation mit dem gemeinsamen Feind rüs-
ten. Statt den zerrütteten Nahen Osten zu stabilisieren, stellt die Einigung von Lausanne
womöglich die Weichen für einen großen Krieg. Solchen verheerenden Aussichten steht
15 die Hoffnung gegenüber, die wirtschaftliche Öffnung Irans werde seiner Zivilgesellschaft

so sehr Auftrieb geben, dass es zu einer inneren Aufweichung der islamistischen Dikta-
tur kommt. Daran, und dass sich Iran durch Zugeständnisse zu einem verantwortlichen
Stabilitätspartner läutern lasse, scheint der sich sonst so ideologiefrei gebende Barack
Obama inbrünstig zu glauben. Dabei verkennt er aber offenbar den apokalyptischen
ao Glutkern des terroristischen Mullah-Regimes, das sich auch unter Irans neuem, ,,gemä-
ßigtem" Präsidenten Ruhani mittels äußerst brutaler Repression an der Macht hält.

Richard H erzi nger, www.welt .de, 5.4.2015

Aufgaben

1. Arbeiten Sie die Argumente Pro und Contra heraus.

2. Begründen Sie, warum eine Atommacht Iran eine besondere Bedrohung für die internatio-
nale Sicherheit darstellen würde.

3. Verfassen Sie ausgehend von den beiden Stellungnahmen eine Rede, in der Ihre eigene
Position deutlich wird.
6.2.4 Kl imawandel und Ressourcenkonflikte
Leitfragen Warum kann der Klimawandel Wie sind die Ergebnisse internationaler Welche Risiken
als Gefährdung internationaler Klimapolitik zu beurteilen? entstehen durc h
Sicherheit gesehen werden? Ressourcenkonflikte?

Der Klimawandel als globales


ökologisches Risiko

Die menschliche Hochkultur hat s ich in den letz- • Durch eine steigende Erwärmung ve rstä rken
ten Jahrtausenden in einem relativ stabilen Welt- sich sch on vo rhandene Risiken im Gesundheits-
klima entwickelt. In den vergangenen 2.000 Jah- bereich.
ren schwankte die globale Temperatur um deutlich • Länder die vor allem von der Land-, Forst- und
weniger als 1°C. Seit der Industriellen Revolution Fischereiwirtschaft profitieren, können erhebli-
ist die durchschnittliche Temperatur der bodenna- che Einbußen bei der wirtschaftlichen Leis-
hen Luftschichten durch vom Menschen verur- tungsfähigkeit spüren.
sachte Treibhausgasemissio nen um 0,8°C gestie- • Es droht ein Verlust an biologischer Vielfalt mit
gen. Auf der Grundlage plausibler Annahmen für A uswirkungen a uf die damit verbunden en
künftige Emissionen können Klimaforscher die Ökosysteme.
Bandbreite des globalen Temperaturanstiegs ab- • Durch die Gefährdung bzw. Zerstörung der Le-
sch ätze n. Die Ä nderung der mittleren globalen bensgrundlage vieler Menschen gepaart mit ei-
Erdoberflächentemperatur für den Zeitraum von ner nicht a usreichenden Anpassungsfähigkeit
2016-2035 bezogen auf 1986 - 2005 wi rd wahr- v ieler Länder drohen Destabilisierun g und
scheinlich im Bereich vo n 0,3 °C bis 0,7 °C liegen. Migration aufgrund vo n Umweltrisiken.
In Bezug auf den Durchschnitt der Jah re 1850 bis
1900 wi rd projiziert, dass d ie Änderung der glo-
balen Erdoberflächentemperatur am Ende des 21. Klimaschutz braucht
Jahrhunderts wahrscheinlich 1,5 °C überschreiten internationale Kooperation
wird.
Der Klimawandel wird vo m menschlich en Verhal-
Der Klimawandel h at das Potential, Gesell- ten z umindest mit veru rsacht (anthropogener
schafts- u n d Wirtschaftskrisen auszulösen. Klimawandel). Als Ursache sehen Forscher den zu
Staaten mit überwiegend armer Bevölkerung sind hohen C02- Anteil der Luft (Treibhauseffekte),
besonders gefährdet, aber auch reiche Staaten der zu einem Großteil aus der Verbrennu ng von
sind nicht immun. Dies g ilt insbesondere bei einer fossi len Rohstoffen wie Kohle, Erdöl oder Erdgas
Temperatu rerhöhung vo n mehr als 2°C. Mit fol- entsteht. Da de r Klimawa ndel nicht vor nationa-
genden Wirkungen muss bei ungebremstem Kli- len Grenzen Halt macht, können nur internatio-
mawandel gerechnet werden: nale Kooperationen zu einem umfa ngreichen Kl i-
maschutz führen.
• Durch Wetterextreme und eine Veränderung der
Niederschlagsmenge drohen Prob leme bei der Das maßgebliche völkerrechtliche Vertragswerk
Wasserversorgung. zum internationalen Klimaschutz ist die Klima-
• Durch Dürren und Bodendegradation droht die rah menkonvent ion der Vereinten Nationen (Uni-
Produkt io n von Nah rungsmitteln zu sinken ; ted Nations Framework Convention on Climate
steigende Preise wären die Konsequenz und eine Ch ange, UNFCCC). Die Klimarahmenkonvent ion
Ab nahme der ökonomischen Leistungsfähigkeit wurde am 9 . Mai 1992 in New York City verab-
in den betroffenen Staaten. schiedet und im selben Jahr auf der Konferenz
• Wenn der Meeresspiegel steigt , dann sind dicht über Umwelt und Entwicklung (U NCED) in Rio de
besiedelte Regionen an den Küsten und große J a neiro von 154 Staaten unterschrieben. Die heu-
Städte, wie London, Mumbai oder New York ge- te 195 Vertragsstaaten der Konvention treffen sich
fährdet. jährlich zu Konferenzen (>Kap. 2.8.5).
1 6 Internationale Beziehungen

Klimasünder
Staaten mit dem größten Kohlendioxid-Ausstoß 2015

C02-Emissionen Veränderung C02-Emissionen


in Millionen Tonnen seit 1990 in Prozent je Einwohner in Tonnen

China 10 720 M io. t ------- ► + 355 %


USA ►+ 3
Indien
----- ► +272
Russland - 26
Japan
Deutschland
Kanada ► + 23 19,0
Iran + 214
Südkorea
--► + 129
► + 201
Saudi-Arabien
Indonesien
..
~.::.::.::.::.::~
----► +214
Brasilien
Mexiko
Australien 18,6

dpa-26699 Quelle: Europäische Kommission

Wie wirksam ist die internationale Klimapolitik?

Die Kosten für den Kampf gegen den Klimawandel Notwendig ist darum aus der Sicht der Kritiker eine
werden selbst für die ehrgeizigsten Szenarien auf aktivere Politik der weltweit tätigen Nichtregie-
we niger als 0 , 12 Prozent des weltweiten jährli- rungsorganisationen, wie beispielsweise Greenpe-
chen Bruttoinlandsprodukts (BIP) geschätzt. ace oder WWF, um die Weltöffentlichkeit für das
Selbst im teuerst en Fall müssten demnach bis zum Problem weiter zu sensibilisieren, Verhandlungs-
Jahr 2030 schätzungsweise weniger als drei Pro- prozesse zu begleiten und voranzutreiben. Insofern
zent des BIP aufgewendet werden (>Kap. 2.2. 1). stellt die Entwicklung der internationalen Umwelt-
politik ein Beispiel für die Herausbildung von Glo-
Die dürftigen Ergebnisse von zahlreichen Konfe- bal Governance dar (>Kap. 6.5). Zudem wird auch
renzen, vor allem solcher vor Paris (> Kap. 2.8.5), infolge der zähe n internationalen Verhandlungen
wurden in der Weltöffentlichkeit als Rückschritt die Notwendigkeit von Aktivitäten einzelner Grup-
charakterisiert. Der Sinn und Zweck solcher Mas- pen au f lokaler und regionaler Ebene wie auch das
senkonferenzen wurde darum mehr und mehr in Umweltverhalten der einzel nen Bürger immer
Frage gestellt. festzuhalten ist aber, dass über die mehr in den Vordergrund gerückt.
sich verschärfende Problematik des Klimawa ndels
über Jahrzehnte ein umfangreicher Diskussions-
prozess in Gang gesetzt wurde und an der gemein- Warum Ressourcenkonflikte
samen Lösung des Problems gearbeitet wird. Kri- zum Risiko werden
tiker verweisen da rauf, dass dieser Prozess zu
langsam voranschreite und er immer wieder durch In dem 1972 vom Club of Rome veröffentlichten
nationale Sonderinteressen sowie durch den Ein- Bericht „Die Grenzen des Wachstums" wurde erst-
fluss starker Lobbys behindert werde. mals die Unvereinbarkeit von ungebremstem
Wirtschaftswachstum und der Endlichkeit der
Dies spiegelt j edoc h die Normalität internationaler vorhandene n Ressourcen thematisiert. Im Mittel-
Politik bzw. politischer Prozesse überhaupt wieder. punkt der Diskussion stehen seither die Verknap-
6.2 Globale Risiken und Herausforderungen j

Die Welt-Energievorräte

Stand 2013/14 Kohle Erdöl Erdöl Erdgas Uran Thorium


in Milliarden Tonnen 1 1
Steinkohleneinheiten konventionelle aus
Vorkommen Ölschiefer
Ölsan usw.
1 295 Mrd t SKE


Reserven

unter heutigen
wirtschaflichen
und technischen
Bedingungen sicher
gewinn bare
Energievorräte

18 830 Mrd t SKE


Ressourcen

geschätzte zusätzlich
gewinn bare
Energiemengen
• zusätzliche Erdgasressourcen aus
Kohleflözen, Schiefergestein,
Quelle: BGR; eigene Umrech11u11ge11 Grundwasserleiteren, Gashydraten

pung von fossilen Energieträgern (z.B. von Erdöl Wasser als neues Konfliktpotential
und Erdgas) u nd mineralischen Rohstoffen, d ie
Verschmutzu ng u nd Übernutzu ng vo n Gewässern, Der weltweite Wasserverbrauch hat sich in den
die Verschlechterung von Böden (Degradation) vergangene n 100 J ahren fast verzeh nfacht. Heute,
und der Süßwassermangel für immer mehr Men- bei einer Weltbevölkerung von rund 7 ,6 Milliar-
schen. den Menschen, ist das Wasser in vielen Teilen der
Welt bereits knapp und teilweise erh eblich ver-
Die internationalen Bemühungen um eine Lösung schmutzt. 78 Prozent aller Arbeitsplätze weltweit
der Probleme sind allerdings aufgru nd von Inter- hängen laut Angaben der UNO von der Ressource
essengegensätzen innerhalb der Staatengemein- Wasser ab. Zunehmender Wasserma ngel oder feh-
sch aft in Ansätzen stecken geblieb en. In der wis- lender Zugang zu Wasser können in den nächsten
senschaftlichen u nd politischen Diskussion J a hrzehnten zu weniger Wachstum und zum Ver-
besteht jedoch weitgehende Ein igkeit darüber, lust von Arbeitsplätzen führen.
dass diese Probleme zumindest mittelfristig glo-
bale Sicherheitsfragen berühren werden. Die Er- Für die ökologischen Bedrohungen werden vor-
weiterung des Sicherheitsbegriffs ist eine Reakti- wiegend der Lebensstil und die Wirtschaftsweise
on auf die neue Wahrnehmung der ökologischen der industrialisierten Länder verantwortlich ge-
Risiken (>Kap. 6.1.1 ). macht. Zum Beleg dient der durchschnittlichen
Wasser- und Energieverbrauchs z.B. in den USA
Während die Verknappung de r Erdöl- und Erdgas- oder Eu ropa mit jenem in afrikanische n Ländern
vorräte als mögliche Ursache für g lobale Vertei- der Sahelzone. Die Globalisierung erhöht zudem
lu n gskonflikte u nd Kriege schon lange gesehen den Wasserverbrauch durch ökonomisches Wachs-
wird, wurde die Versorgung mit Wasser und d ie tum und durch die Verbreitung von verbrauchsin-
Erha ltung der Bodenfruchtbarkeit bisher weniger tensiven Lebensstilen (> Kap 2.8.1). Ursachen der
im Fokus internationaler Ko nflikte gesehen. Wasserknappheit sind dementsprechend:
6 Internationale Beziehungen

• die erhöhte Nachfrage durch rasante Zunahme phrat und Tigris, Jordan und Karun sowie weißer
der Weltbevölkerun g, und blauer Nil. Um Euph rat und Tigris, die am
• der Anstieg des individuellen Wasserverbrauchs, häufigsten gestaute n Flüssen des Erdballs, streiten
• klimatische Veränderungen, sich die Türkei, Syrien u nd der Irak. Der Nil ent-
• fehlende oder ma ngelhafte Trinkwassersysteme zweit Äthiopien und Ägypten, der J ordan Israel
infolge von Armut, und Jorda nien sowie der Ka run Iran und Irak.
• Nutzungskonkurrenz bzw. gegenläufige Interes-
sen der Wasserverbraucher (Wasser für die Bei transnationalen Strömen sind dabei in der Re-
Landwirtschaft fehlt andernorts als Trinkwas- gel die Oberlieger im Vorteil, da sie - zumindest
ser). theoretisch - die Abflüsse kontrollieren können.
Dies ist im Falle des Euphrat, dessen Wasser in
steigendem Maße in Anatolien genutzt wird, zum
Konflikt um den Zugang zu Wasser Schaden der Unterlieger Syrien und Irak der Fall.
Beide Länder sind darauf angewiesen, dass die
Im Na hen und Mittleren Osten leiden v iele Staaten Türkei genug Wasser übrig lässt. Das jüngste sehr
unter Wassermangel. Entsprechend heftig streiten umstrittene türkische Projekt am Tigris ist der 11-
die Staaten der Region um die Nutzung der Was- 1isu-D amm, der rund 40 Prozent des Flussvolu-
serressourcen der großen Ströme der Region - Eu- mens abzweigen soll.

Konfliktstoff Wasser

Zahl der Wasserkonflikte 1935 bis 2011 *


._____s,z_
20 ................................. ... .................................... ...... · ........................................... ........ .
2011
18,5

15
1999
11
10 ............................................................................. · · ................................. .
1943 1991
6 5,5
5··············· ················ ···········195 1 ···············································
2

19353739414345474951535557596163656769717375777981838587899193959799010305070911

*2-Jahres-Durchschnitt wegen jahresübergreifender Ereignisse

l~l@Glob"' Quelle: Dr. Peter Gleick, Pacific Institute, The World's Water Vol. 8

Nach: Dr. Peter Gleick, Pacific Insti tute, The World ·s Wa ter Vol. 8

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die globalen Folgen des Klimawandels.

2. Erläutern Sie den Zusammenhang zwischen Klimawandel und knappen Wasserressourcen.

3. Halten Sie die Kritik an den Klimaschutzabkommen für berechtigt? Begründen Sie Ihre Stellungnahme
(, Methodenkompetenz: Politische Urteilsbildung).

4. Entwerfen Sie einen Leitfaden mit zehn Handlungsempfehlungen für die Schülerinnen und Schüler Ihrer
Schule zum Thema Klimaschutz bzw. zum Umgang mit Wasser.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Konfliktpotential Wasser

Seit Jahrtausenden kämpfen Staaten um seltene Rohstoffe wie Gold, Öl und Diaman-
ten. Wasser spielte dagegen als Kriegsgrund höchstens eine untergeordnete Rolle.
Doch das könnte sich bald ändern. [ ... ] Schuld an dieser Entwicklung sind vor allem
zwei Faktoren: Bevölkerungswachstum und Klimawandel.
5 Die Vereinten Nationen schätzen, dass die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2040 von
derzeit etwa sieben Milliarden Menschen auf knapp neun Milliarden anwachsen wird.
Dann würden die Süßwasservorkommen der Erde nur noch 70 Prozent des Bedarfs
decken. Durch Klimawandel bedingte Gletscherschmelze und Ausbreitung von Wüs-
ten könnten mehreren Studien zufolge zudem ausgerechnet in dicht besiedelten Re-
10 gienen zu Wasserknappheit führen. Mit anderen Worten: Wasser wird ein seltener,
wertvoller Rohstoff wie Gold, Öl und Diamanten - und um die werden Kriege geführt.

Gefahr vor allem im Nahen Osten

„In den vergangenen Jahren hat die Gefahr eines Wasserkrieges vor allem im Nahen
Osten und in Südasien zugenommen", sagt der Konfliktforscher Ashok Swain von der
15 schwedischen Universität Uppsala. Israel streitet sich seit Jahrzehnten mit seinen
Nachbarstaaten und den Palästinensern um das Frischwasser des Jordanbeckens.
Obwohl die Verteilung des Wassers im Osloer Friedensvertrag von 1994 formell gere-
gelt werde, bezichtigen sich beide Seiten gegenseitig, zu viel Wasser zu verbrauchen.
Doch das größte Konfliktpotenzial in der Region liegt an den Flüssen Euphrat und
20 Tigris. Die türkische Regierung plant im Südosten des Landes den Bau von 22 Stau-
dämmen für Bewässerung und Stromerzeugung, neun von ihnen sind bereits fertigge-
stellt. Der flussabwärts gelegene Irak ist darüber wenig erfreut. ,,Die türkischen Stau-
dämme haben den Fluss des Euphrats und Tigris stark eingeschränkt", sagt Swain.
,,Aufgrund innenpolitischer Probleme konnte sich der Irak bislang nicht ernsthaft da-
25 gegen zur Wehr setzen. Doch sobald in Bagdad wieder stabilere Verhältnisse herr-
schen, rückt ein Konflikt mit der Türkei näher." [ ... ]
Die Situation am Nil ist ähnlich. Das chronisch dürregeplagte Äthiopien startete vor
Kurzem erstmals Bewässerungsprojekte mit Nilwasser. In der Vergangenheit hatte
Ägyptens ehemaliger Machthaber Husni Mubarak für diesen Fall immer mit Krieg ge-
droht: Jede Begrenzung des Nilflusses würde Ägypten „zur Konfrontation drängen, um
30 unsere Rechte und unser Leben zu verteidigen".[... ]
Auch Pakistans Landwirtschaft hängt an einem einzigen Fluss: dem Indus. Daher ver-
sucht die Regierung in Islamabad mit aller Macht, den Erzfeind Indien am Bau hydro-
elektrischer Staudämme flussaufwärts zu hindern, bislang ohne Erfolg. Vor allem der
im Bau befindliche Baglihar-Damm erhitzt die Gemüter. islamistische Terroristen dro-
35 hen mit Sprengstoffanschlägen auf das Projekt. Vor zwei Jahren kündigte der Extremist
Abdur Rehman Makki an, er werde einen „Fluss voller Blut" freilassen, falls Indien den
Indus blockieren sollte.
Weiter östlich wird Chinas Durst nach Flusswasser zunehmend z.u einem Problem. Das
Land beherbergt 20 Prozent der Weltbevölkerung, hat aber nur acht Prozent der welt-
40 weiten Süßwasservorräte. Um seine rapide wachsende Industrie mit Strom zu versor-
gen, verfolgt Peking im Rahmen des derzeitigen Fünfjahresplans die umfangreichsten
Dammbauten, die je ein Land vorgenommen hat. 140.000 Megawatt sollen die neuen
hydroelektrischen Staudämme an den Flüssen Mekong, Salween und Brahmaputra
generieren, so viel Wasserkraft produzieren die USA und Kanada zusammen. [... ]
45 „Wasser ist der neue Keil zwischen Indien und China" , sagt der Konfliktforscher und
ehemalige Berater der indischen Regierung, Brahma Chellaney. ,,Chinas exzessive
Dammbauprojekte gefährden die Interessen aller flussabwärts gelegenen Staaten.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

Doch kein Land wird wohl ein größerer Verlierer sein als Indien, denn der größte Anteil
an chinesischem Flusswasser fließt dorthin weiter."[ ...)
50 Seit mehreren Jahren zirkulieren in Peking Pläne, den Brahmaputra, einen der größten
Flüsse Asiens, so umzuleiten, dass er nicht mehr nach Indien fließt, sondern stattdes-
sen die Felder in China bewässert. Technisch ist das schwer umsetzbar, denn für die
Schaffung eines neuen Flussbetts müssten ganze Berge beseitigt werden. Dies ist
bislang nur mit nuklearen Explosionen möglich. Indiens Premier Manmohan Singh ist
55 dennoch so besorgt, dass er die chinesische Führung immer wieder mit dem Problem
konfrontiert. Bislang beteuert Peking, die Pläne nicht umsetzen zu wollen.
Das Konfliktpotenzial am Brahmaputra wird dadurch verschärft, dass kein Vertrag die
Verteilung des Wassers zwischen den Staaten regelt. An Nil, Jordan und Indus gibt es
solche Abkommen, in manchen Fällen haben sie die internationalen Spannungen
60 merklich verringert. Doch ihr Nutzen könnte in Zukunft sinken. ,,Der Klimawandel ver-
ändert die Menge an Wasser in Flüssen dramatisch", sagt Ashok Swain, ,,doch die
Verträge berücksichtigen dies nicht."
Die veralteten Abkommen könnten so zu einer möglichen Ursache von Konflikten wer-
den. Zudem bleibt selbst bei einer vertraglich geregelten Aufteilung von Süßwasser
65 immer die Angst, dass das stromaufwärts gelegene Land eines Tages den Vertrag
einfach aufkündigt und den Fluss gänzlich stoppt. Es ist daher nicht überraschend,
dass die Studie des US-Außenministeriums am Nil wie am Brahmaputra zunehmende
internationale Spannungen erwartet. [ ...)
Doch es gibt auch Anlass zur Hoffnung. Anton Earle vom Stockholmer Internationalen
10 Wasserinstitut (SIWI) arbeitete mehrere Jahre für eine Kommission, die Staaten des
Okavango-Beckens im südlichen Afrika bei der Aufteilung des Wassers aus dem
gleichnamigen Fluss berät. Nach dem Ende des Bürgerkrieges in Angola im Jahr 2004
begann das Land mit der Planung von Staudämmen und Bewässerungsprojekten.
,,Dies löste im flussabwärts gelegenen Botswana große Ängste aus", sagt Earle. ,,Tei-
75 le der Bevölkerung forderten, Angola zu bombardieren."
Doch stattdessen begannen die Staaten des Flussbeckens, im Rahmen einer gemein-
samen Organisation zu kooperieren. ,,Angola verzichtete darauf, Dämme ohne Rück-
sprache zu bauen und stimmte stattdessen grenzübergreifenden Machbarkeitsstudien
zu", sagt Earle. Er sehe die Zukunft dieser Zusammenarbeit sehr optimistisch.
so Doch solche positiven Beispiele sind selten, und weltweit deutet alles auf zunehmen-
de Spannungen hin. ,,Es ist schwer zu sagen, wann der nächste Wasserkrieg ausbre-
chen könnte", sagt der Konfliktforscher Swain. Ein Meinungsstück der pakistanischen
Zeitung „Nawa-i-Waqt" lässt befürchten, dass es nicht mehr lange dauern wird. ,,Pa-
kistan sollte Indien klarmachen, dass ein Krieg um Wasser möglich ist", hatte siege-
s5 schrieben. ,,Und dieses Mal wird es ein Atomkrieg sein."

Konrad Putzier, www.welt.de, 30.7.2012

Aufgaben
1. Nennen Sie Gründe dafür, dass Wasser zum Konfliktpotential werden kann.

2. Arbeiten Sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen im Text
genannten Fällen heraus.

3. Diskutieren Sie, inwieweit Kooperationen Konflikte um Wasser entschärfen können. Bezie-


hen Sie auch die Merkmale der Internationalen Beziehungen mit ein (• Kap. 6. 1 .1 ).
6. 2. 5 Bevölkerungswachstum und Migration
Leitfragen Welchen Einfluss hat das Welche Ursachen führen Welche sicherheitspolitischen Risiken
Bevölkerungswachstum zu weltweiter Migration? sind mit Migration verbunden?
auf globale Risiken?

Bevölkerungswachstum

Die Entwicklung der Weltbevölkerung hat erheb- und Zuwanderung in die Städte; die Zahl der
liche Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von ,,Megastädte" nimmt zu (Trend zur Verstädter-
Ressourcen, das ökologische Gleichgewicht, die ung/ Urbanisierung).
Lebensqualität der Menschen und damit auch auf
den Weltfrieden. Wuchs die Menschheit bis 1800 • Wachsende Städte mit z. T. großen Armuts-
a uf eine Milliarde a n, so wa r die zweite Milliarde v ierteln, ungenügenden Versorgungsstrukturen
bereits nach weiteren 125 J ahren erreicht. Inzwi- und Ernährungsunsicherheit sind „demografi-
schen wächst die Welt bevölkerung in etwa zwölf sche Stressfaktoren", welche die Wahrschein-
J ahren um jeweils eine weitere Milliarde und be- lichkeit für soziale Konflikte erhöhe n.
trägt aktuell mehr als sieben Milliarden Men-
schen. Das Bevölkerungswachstum wird bis zum • Die zunehme nde Abholzung der Wälder zur
J ahre 2050 in den verschiedenen Weltregio nen Acker- bzw. Landgewinnung füh rt zu weiteren
höchst unterschiedlich verla ufen. 2050 werden Beeint rächtigungen des Klimas und z. T. zu
voraussichtlich kna pp 90 Prozent der Bevölke- schlechter nutzbaren Böden.
rung in heute weniger entwickelten oder beson-
ders armen Ländern leben.
Migration aufgrund von ökologischen, sozialen,
wirtschaftlichen und politischen Problemen
Welche Herausforderungen entstehen
durch Bevölkerungswachstum? Etwa ein Drittel der weltweiten Migration findet
zwischen En twicklungsländern statt. Nach Schät-
Durch die rasante Zunahme der Bevölkerung wird zungen der UN leben etwa 7 5 Millionen Menschen
das globale Gleichgewicht zwischen den mensch- als Migranten oder Flüchtlinge in Entwicklungs-
lichen Nutzungsa nsprüchen und den begrenzten ländern. Herkunfts-, Transit- und Aufn ahmelän-
natürlichen Ressourcen gestört - die Umweltbe- der sind dabei mit jeweils unterschiedlichen Risi-
lastung nimmt zu: ken konfrontiert.

• Der Bedarf an Energieträge rn und Rohstoffen Die ökologischen und demografischen Verände-
sowie an nutzbaren Flächen und Wasser steigt rungen fö rdern Fluchtbewegungen in andere Lan-
und bedingt Ressourcenknappheit. desteile (Binnenflucht) oder Staaten mit dem Risi-
ko von Verteilungskonflikten zwischen Migran-
• Es ko mmt zu steigenden Emissionen, zu wach- ten und einheimischer Bevölkerung. Die zuneh-
senden Müllbergen und Abwässern. menden Flucht- und Migrationsbewegungen sind
wesentlich durch ökologische, soziale, wirtschaft-
• Info lge des Bevölkerungswachstums, zuneh- liche und polit ische Probleme in den Heimatregi-
mender Wüstenbildu ng u nd Ressourcenknap p- onen bedingt.
heit wird es schwieriger, für Ernährungssicher-
heit zu sorgen; die Anforde rungen a n moderne Das Gros de r Wa nderungs- und Fluchtbewegun-
La nd wirtschaft, Düngung und gerechte Vertei- gen geht dabei in die jeweiligen Nachbarräume,
lung steigen. findet also innerhalb eines Landes statt. Schät-
zungsweise rund zehn Prozent der Migranten flie-
• Info lge oft schwieriger Lebensbedingungen auf hen in a ndere Kontinente, Schwerpun kte de r welt-
dem Land kommt es zu verstärkter Landflucht weiten Flüch tlingsbewegungen sind hauptsächlich
6 Internationale Beziehungen

Das Wachstum der Menschheit heute fliehen mehr Mensch en vor Um weltkatast-
2100
Weltbevölkerung in Milliarden Aufteilung in M illionen rophen als vor Kriegen. Die UNO sch ätzt, dass im
2030 2050 2100
2017
Jahr 20 12 mehr als 50 Millionen Menschen auf-
12
Mrd. grun d von Wüstenbildung, Übersch wemm ungen
oder anderen ökologischen Katast rophen ihre
11
2017 Wohngeb iete verlassen haben.
10 Asien

Ob Menschen au fg rund vo n Krieg, Armut oder


9 Umweltkatastrophen fli ehen oder sch licht auf der
Suche nach Lebensumständen sin d, die das ü ber-
8
leben sichern, ist nicht immer eindeu t ig zu klären.

--
Weder der Begriff des „p olitischen Flüchtlings"
nach 2017 Prognosen
Afrika noch der des „Wi rtschaftsfl üchtlings" wird dieser

__-_k~
Ko mplexität immer gerecht.
Europa

Lateinamerika·

. 41
Nordamerika
Ozeanien
·881
72
Migrationspolitik
~ O Globus S1and Mitte 2011 ·mn Karibik Quelle: Vereinte Na1ionen {UN)

Die In dustriestaaten versuchen einerseits, ihre n a-


tion alen Handlungsmöglichkeiten auszubauen
u nd d ie Wa nderungsbewegungen z u kontrollie-
die Krisenregio nen in Afrika und Südwestasien ren. Andererseits erst reben sie gemeinsa me Rege-
sowie Bürgerkriegsgebiete. lungen, indem sie beispielsweise die regionale
Zusammena rbeit wie im Rahmen der Gemeinsa-
Es gibt vielfält ige Gründe, die Menschen dazu be- men Innen- u nd Justizpol itik der EU vertiefe n
wegen, ihre Heimat zu verlassen. Oft sind sie auf oder teilweise mit internationalen Organ isationen
komplexe Weise miteina nder verbu nden. Ein zusammena rbeiten und somit Zustän digkeiten
wicht iger Faktor sind Umweltproble me: Bereits abgeben. So haben in den vergangenen Jahren der

Ursachen für Migration

ö konomische
Kriege, Bürger- Politische Ethnische und Armut, hohe
Krisen,
kriege Verfolgung religiöse Konflikte Arbeitslosigkeit
soziale Probleme

Nat ur-
katastrophen Kl imawandel
(Erdbeben, Dürre)
Druckfaktoren

Nach: Basiswissen Sch ule, Politik, Wirtschaft Abitur, 20 16, S. 434


6.2 Globale Risiken und Herausforderungen 1

UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) und eine Bevölkeru ng mit einer ausgeglichenen Ge-
die International Organization for Migration schlechts- und Altersstruktur. Zuwanderer kön-
(IOM) neue Aufgaben bei der Betreuung von nen a uch ein Sicherheitsrisiko für das Aufna hme-
Flüchtlingen und Migranten übernommen. land darstellen, wenn es dort gewaltbereite oder
kriminelle Gruppen gibt, die Migranten für ihre
Zwecke rekrutieren und a usbeuten. Auswande-
Welche Sicherheitsrisiken stehen in rung kann die Stabilität und Sicherheit im Her-
Verbindung mit Migration? kunftsla nd beeinträchtigen, wenn es zu einem
massiven Verlust an qualifizierten Arbeitskräften
„Die Migrationsforschung zeigt, dass es keine kommt (,,Braindrain")".
quantitativ bestimmbare „Grenze der Aufnahme-
Bundesministerium .fiir wirtschaftliche Zusammenarbeit und
fäh igkeit" gibt. Die Sicherheit eines Aufna hme- Entwicklung {Hrsg.): Migration und Sicherheit, Risiken und
land es kann aber bedroht sein, wenn die Zuwan- Chancen der Süd-Süd-Migration .fiir Frieden und Entwick-
derung eine bestehende Ressourcenknappheit lung, Dokumentation der Fachtagung in Berlin, 2 .12.2009
oder Konkurrenz um Arbeitsplätze verstärkt oder
Migranten Konflikte ihres Herkunftslandes in das Gerade in ä rmeren Aufnahmeländern konkurrie-
Aufnahmeland importieren. Ob Zuwa nderung zu ren Migranten oft mit der einheimischen Bevölke-
Konflikten oder gar Gewalt führt, hängt ab von rung um die sowieso schon knappen Ressourcen.
der Stabilität un d der Funktionsfähigkeit staatli- Bei einer solchen Konkurrenzsituationen können
che r Institutionen sowie der Fähigkeit von Regie- im Extremfall gewaltsame Konflikte entstehen, da
rungen, gesellschaftlichen Vorurteilen und Ängs- unerwünsch te bzw. unkontrollierte Migration in
ten vo r Zuwanderung entgegenzu wirken. den Aufnahmeländern meist als Bedrohung der
nationalen Identität ode r der gesellschaftlichen
Neben der wirtschaftlichen Lage des Aufnahme- Kohäsio n empfunden wird. Diese Ängste kön nen
la ndes und der Verfügbarkeit einer intakten Infra- polit isch ausgenutzt werde n, indem vorh andene
struktur sind a uch demografische Faktoren von ethnische bzw. soziale Konflikte geschürt bzw.
Bedeutung. So kan n z. B. eine überwiegend junge vorgeschoben werden. Dies kann j edoch auch
und männliche Bevölkerung (,,youth bulge") ein die Beziehungen zu den Herkunftsländern der
größeres Destabilisierun gspotentia l aufweisen als Migranten erheblich belasten.

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie den Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Migration.

2. Migration entsteht aus einer Vielzahl von Faktoren. Erläutern Sie die soziokulturellen/religiösen, politischen,
wirtschaftlichen, ökologischen und kriegerischen Faktoren.

3. Begründen Sie, warum eine verstärkte globale Migration eine Gefahr für die internationale Sicherheit darstellt.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Bevölkerungsaufbau in Libyen und Botswana 2025

Libyen 2025
Alter in Jahren
100+

d 95-99
90-94

Männer

---

85-89
80-84
75-79 ---
• Frauen

70-74
65-69
60-64
55-59
50-54
-
45-49
40-44
35-39
30-34
25-29
20-24
15-19
10-14
5-9
0-4
1
350 300 250 200 150 100 50 o o 50 100 150 200 250 300 350
Einwohner in Tausend

Botswana 2025
Alter in Jahren
100+

d 95-99
90-94
85-89
Männer

-- - • 80-84

Frauen

-
- -
-
75-79
70-74
65-69
60-64
55-59
50-54
45-49
40-44
35-39
30-34
25-29
20-24
15-19
10-14
5-9
0 -4
1 1 1
140 120 100 s'o 60 40 20 6 6 20 40 s'o 80 100 120 ~4o
Einwohner in Tausend

Daten: United Nations, Department of Economic and Social Aifairs,


Population Division: World Population Prospects: The 2017 Revision, 2018

Aufgaben
1 . Analysieren Sie die grafische Darstellung des Altersaufbaus der Bevölkerung von Libyen
und Botswana im Jahr 2025 (, Methodenkompetenz: Kritische Analyse von Statistiken).

2. Einige Konfliktforscher sehen im Bevölkerungswachstum gerade in Entwicklungsländern


und dem damit einhergehenden „Jugend-Überschuss" (engl. = youth bulge) ein großes
Konfliktpotential. Prüfen Sie, inwiefern diese These auf die Beispiele Libyen und Botswana
zutrifft.

3. Erörtern Sie, ob die demographische Entwicklung eines Landes verbunden mit einem
,.Jugend-Überschuss" als Frühwarnsystem für kriegerische Konflikte tauglich ist.
Die Sicherheitsarchitektur
• im 21. Jahrhundert

6.3.1 Die Vereinten Nationen

Leitfragen Welche Normen bestimmen Wie sind die Vereinten Nationen Welche Möglichkeiten der
das Handeln der Vereinten institutionell organisiert? kollektiven Friedenssicherung
Nationen? haben die Vereinten Nationen?

Warum wurden die Vereinten Die Charta


Nationen gegründet?
Die Charta der Vereinten Nationen ist das Grund-
Am 24. Oktober 1945 wu rden die Vereinten Nati- satzdokument der Vereinten Nationen. In den ers-
onen (VN bzw. UNO = United Nations Organizati- ten beiden Artikeln setzten sich die damaligen
on) von 51 Staaten gegründet. Sie entstanden Gründerstaaten folgende Ziele:
unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs mit
dem Ziel, durch eine globale Orga nisation kü nftig Artikel 1
Frieden und Sicherheit in der Welt zu gewährleis- 1. Den Weltfrieden und die internationale Sicher-
ten. Damals dachte man vor allem a n die Verhin- heit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame
derung von zwischenstaatlichen Kriegen: Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohun-
gen des Friedens zu verhüten und zu b eseitige n,
„Wir, die Völker der Vereinten Nationen [sind] fest Angriffs handlungen und a ndere Friedensbrü-
entschlossen künftige Geschlechter vor der Geißel che zu unterdrücken und intern ationale Strei-
des Krieges zu bewahren, die zweima l zu unseren tigkeiten oder Situat ionen, die zu einem Frie-
Lebzeiten unsagbares Leid über die Men schheit densbruch führen könnten, durch fried liche
gebracht hat." Mittel nach den Grundsätzen der Gerech tigkeit
und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizu-
Präambel der UN-Charta legen;

2. Freundschaftliche, auf der Achtung vor dem


Welche Ziele und Prinzipien bestimmen Gru ndsatz der Gleichberechtigung und Selbst-
die Vereinten Nationen? bestimmung der Völker beruhende Beziehun-
gen zwischen den Nationen zu e ntwickeln und
Die UNO beruht auf dem Prinzip der kollektiven andere geeign ete Maßnahmen zur Festigu ng
Sicherheit, womit ein System vo n Sicherheit zwi- des Weltfriedens zu treffen ;
schen gleichberecht igten souveränen Staaten ge-
meint ist, das durch Zusammenarbeit nach innen 3. Eine internat iona le Zusammenarbeit herbeizu-
Wirksamkeit entfaltet und im Prinzip nicht gegen führen, um internationale Problemewirtschaft-
einen äußeren Feind gerichtet sein sollte. Im Ge- licher, sozialer, kulturelle r und huma nitärer Art
gen satz zur EU treten die Mitgliedstaaten keinerlei zu lösen und die Achtung vor den Menschen-
Souveränitäts rechte an die UNO ab. Allerdings rechten und Grundfre iheiten für alle ohne Un-
verpflichten sich die Mitgliedstaaten, ihr Verha l- terschied der Rasse, des Geschlechts, der Spra-
ten a n den in der Charta der Vereinten Nationen che oder der Religion zu fördern und zu festigen;
festgelegten Prinzi pien zu orientieren. Für die Si-
cherung des Friedens besonders w icht ig sind hier 4. Ein Mittelpunkt zu sein, in dem die Bemühun-
die Verpflichtung zur Beilegung von Streitfällen gen der Nationen zur Verwirklichun g dieser
mi t friedlichen Mitteln und das Verbot der A ndro- gemeinsamen Ziele aufeinander abgestimmt
hung oder Anwendung vo n Gewalt. werden.
1 6 Internationale Beziehungen

Artikel 2 Die Organisation der VN

Die Organisation und ihre Mitgliede r handeln im Das im Laufe der J ahre en tstanden e, ä ußerst kom-
Verfolg der in Artikel I da rgelegten Ziele nach plexe UNO-System besteht aus den Haupt organen
fo lgenden Grundsätzen: und den durch die UNO geschaffenen Hilfso rga-
nisationen (z. B. Kin derhilfswerk UNICEF, Ent-
1. Die Orga nisation beruht a uf dem Grundsatz de r wicklungsprogra mm UNDP) sowie den durch Ab-
souverä nen Gleichheit a ll er ihrer Mitglieder. kom men a n die UNO gebundenen Sonderorga-
nisationen (z.B. die UNESCO oder der Internatio-
2. Alle Mitglieder erfüllen, um ih nen a llen die aus nale Währungsfo nds IWF). Die UNO hat 193 Mit-
der Mitgliedschaft erwachsenden Rechte und gliedstaaten ; diese haben ihre Tätigkeitsbereiche
Vorteile zu siche rn, nach Treu und Glauben die inzwischen auf alle Weltprob leme ausgeweitet -
Ve rpflichtungen, die sie m it dieser Ch arta über- von der Bekämpfung von Armut und Hunger über
nehmen. den Klimawandel bis zu Kindera rbeit und Bil-
dungsprogrammen.
3. Alle Mitglieder legen ihre internationalen Strei-
tigkeiten durch friedl iche Mittel so bei, dass de r
Weltfriede, die internatio nale Sicherheit u nd Die Generalversammlung
die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.
Die i. d. R. einmal j ä hrlich tagende Generalver-
4. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internatio- sammlung ist offi ziell das zentrale Beratungsorg-
nalen Beziehungen jede gegen die territoriale an der UNO. J edes Mitglied hat in ih r eine Stimme.
Unversehrtheit oder die politische Unabhängig- Die Generalversammlung wä hlt für j eweils fün f
keit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Jahre einen Ge neralsekretä r, der die lau fenden
Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Gesch äfte fü hrt. Neben Wa hlen für weite re UN-Or-
And rohung ode r Anwendung vo n Gewalt. gane beschränkt sich die Tätigkeit der Generalver-
sammlung im Wesentlichen da rauf, den Haushalt
5. Alle Mitglieder leisten den Ve reinten Nation en zu genehmigen, und Resolutionen zu verabschie-
jeglichen Beistand bei jeder Maßnahme, welche den, d ie für die Mitglieder aber nicht verbindlich
die Organisation im Einklang mit dieser Charta sind.
ergreift; sie leisten einem Staat, gegen de n die
Organ isation Vorbeugungs- oder Zwangsmaß-
nahmen ergreift, keinen Beistand. Der Sicherheitsrat

6. Die Organisation t rägt dafür Sorge, daß Staat en , Der Sicherheitsrat verfügt über weit meh r Macht
die nicht Mitglieder der Vereinten Natione n und ist besonders im Hi nblick auf die Erha ltung
s ind, insoweit nach d iesen Grundsätze n h an- des Weltfriedens das eigentliche Entscheidungs-
deln, als dies zur Wahrung des Weltfriedens und organ. Er besteht aus fünf ständigen und zehn
der internatio nalen Sicherheit erforderlich ist. nichtstä ndige n, von der Generalversammlung auf
zwei J a hre gewählten Mitgliedern. Der Sicher-
7. Aus dieser Cha rta kann eine Befugnis der Ver- heitsrat (auch: Weltsicherheitsrat) stellt fest, ob
einten Natio nen zum Eing reifen in Angelegen- eine Bedrohung des Friedens vo rl iegt, u nd kann
heite n, die ihrem Wesen n ach zur inneren Zu- Zwangsmaßnahmen zur Wahrung des Weltfrie-
ständigkeit eines Staat es gehören, oder eine dens beschließen, die von Wirtschaftssanktionen
Ve rpflichtung der Mitglieder, solche Angele- bis zu r A nwendung v on Waffengewalt zur Her-
genheiten einer Regelung aufgrund dieser stell ung und Sicherung des Friedens reichen. In
Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden. Art. 27 der UN-Charta heißt es: .,Beschlüsse des
Sicherheitsrats [...] bedürfen der Zustim mu ng vo n
neu n Mitgliedern einschließlich sämt licher stän-
digen Mitglieder". Der Artikel 27 besagt, dass
Nach: Charta der Verein ten Nationen,
w ichtige Entscheidungen des Sicherheitsrats nicht
verabschiedet am 26. Juni 1945 ohne die Stimmen aller fü nf ständigen Mitglieder
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert

Wie ist die UNO institutionell aufgebaut?

Die Vereinten Nationen


Hauptorgane
General- Sicherheitsrat Wirtschafts- Sekretariat Internationaler Treuhandrat
versammlung und Sozialrat Gerichtshof
Sitz in New York New York New York Hauptsitz New York Den Haag New York
193 Mitgliedstaaten 15 Mitglieder 54 Mitglieder mit Generalsekretär 15 Richter/innen 5 Mitglieder

Ausgewählte Fachorganisationen und Nebenorgane


Sonderorganisationen* Spezialorgane VP1 wa11tlt1.• Org,m1satoor1i>11
Auswahl Sitz in Auswahl Auswahl
UNESCO Bildung, Kultur Paris UNCTAD Handel Genf lf Welthandel Genf
ILO Arbeitsorganisation Genf UNHCR Flüchtlingshilfe Genf IAEA Atomenergie Wien
WHO Weltgesundheits- Genf WFP Welternährungsprog. Rom OPC Verbot Den Haag
organisation UNICEF Kinderhilfswerk New York chemischer
FAO Ernährungs- Rom UNDP Entwicklung New York Waffen
organisation UNFPA Bevölkerungs- New York
IWF Internat. Washington fonds
Währungsfonds UNEP Umwelt Nairobi
Weltbankgruppe Washington HABITAT Wohnungsprog. Nairobi
UNU UN-Universität Tokio
Quelle: Vereinte Nationen, Stand Frühjahr 2014 *rechtlich und finanziell selbstständig

getroffen werden können, d. h. zur Verhinderung Friedens und der internationalen Sicherheit zu
einer Entscheidung genügt das Veto eines der gefährden" (Artikel 99, UN-Charta),
ständigen Mitglieder. Die UNO-Mitglieder sind
verpflichtet, die Resolutio nen des Sicherheitsrats • eigenständig wichtige Aufgaben im Bereich der
umzusetzen; bei militärischen Einsätzen ist die präventiven Diplomatie wahrnehmen und
UNO allerdings immer darauf angewiesen, dass
vo n den Mitgliedstaaten ausreich end Streitkräfte • Impulse für alle anderen Arbeitsbereiche der
zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus Vereinten Nationen geben.
kann ohne Zustimmung des Sicherheitsrats kein
Mitglied der UNO ausgeschlossen werden oder Zentral ist seine Rolle außerdem bei der Koordi-
kein neues Mitglied aufgenommen werden. nierung der Aktivitäten im gesamten UNO-Sys-
tem. Wese nt liche Kompetenzen des Generalsekre-
tärs sind ferner die ihm durch a ndere
Der Generalsekretär Hauptorgane - vor allem durch die Generalver-
sammlung und den Sicherheitsrat - übertragenen
Seit 2017 ist der Portugiese Antonio Guterres der Aufgaben. Die Leitung der UN-Friedensmissionen
Generalsekretär der UNO. Er leitet die Verwaltung nimmt darunter eine besonders herausragende
der UNO, ist also der höchste Verwaltungsbeamte Stellung ein.
und Repräsentant der Weltorganisation. Er wird
auf Vorschlag des Sicherheitsrates von der Gene-
ralversammlung für fünf Jahre gewählt, mit der Kollektive Friedenssicherung - Wie kann
Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl. Ihm die UN Frieden sichern?
steht ein ganzes Bündel an Kompetenzen zu. Der
Generalsekretär kann In der UN-Charta wurden wichtige Prinzipien für
die Friedenserhaltung festgelegt:
• .,die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrates auf
jede Angelegenheit lenken, die nach seinem Da- • Verpflichtung aller Staaten zur friedlichen Bei-
fürhalten geeignet ist, die Wahrung des Welt- legung von Konflikten;
6 Internationale Beziehungen

• Verbot der Androhung und Anwend ung vo n Mandat" (Kapitel VI der UN-Charta), das nur fried-
Gewalt außer zur Selbstverteidigung; liche Mittel zur Konfliktlösung vorsieht, u nd ei-
• Beistandsverpflichtung aller UN-Mitglieder für nem „robusten Mandat" (Kapitel VII der UN-Char-
Maßnahmen der UNO. ta), das UNO- Blauhelmen auch den Einsatz von
Waffen gewalt gestattet. Die Friedenseinsätze der
Nur der UN-Sicherheitsrat ist befugt, im Falle ei- Vereinten Nationen habe n sich zu einem wichti-
ner Friedensbedrohung Zwangsmaßnahmen, gen Instrument des UN- Sicherheitsrats bei der
Sanktionen oder Militäraktion en zu beschließen. Wahrnehmung seiner Verantwortung für den Frie-
Es wird untersch ieden zwisch en einem „weichen den entwickelt.

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Blauhelme .r' •e ::.,~ ~' Georgien

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• Abgeschlossene Missionen
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1956- 67
1958
Nahost (Sinai)
Nahost (Libanon)
) Angola
Namibia •
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(Osttimor)
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I ,
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ONUC 1960•64 Kongo
UNSF 1962·63 West-Neuguinea UNPREDEP 1995.99 Mazedonien
UNYOM 1963·64 Jemen UNMIBH 1995-02 Bosnien-Herieg.
DOMREP 1965-66 Dominik. Republik UNTAES 1996· 98 Kroatien
UNIPOM 1965·66 Kaschmir UNMOP 1996·02 Kroatien
UNEFII 1973. 79 Nahost (Sinai) UNSMIH 1996•97 Haiti
UNGOMAP 1988·90 Afghanistan/ Pakistan MINUGUA 1997 Guatemala
UNIIMOG 1988·91 Irak/Iran MONUA 1997.99 Angola Lautende
UNAVEM 1 1989 - 91 Angola UNTMIH 1997 Haiti
UNTAG 1989·90 Namibia MIPONUH 1997-00 Haiti • UN-Friedensmissionen
ONUCA 1989-92 Zentralamerika UNCPSG 1998 Kroatien seit
UNIKOM 1991·03 Irak/Kuwait MINURCA 1998·00 Zentralafrika UNTSO 1948 Nahost (Palästina)
UNAVEM II 1991• 95 Angola UNOMSIL 1998·99 SierraLeone UNMOGIP 1949 Kaschmir
ONUSAL 1991•95 EI Salvador UNAMSIL 1999·05 Sierra Leone (Indien/Pakistan)
UNAMIC 1991-92 Kambodscha UNTAET 1999·02 Osttimor UNFICYP 1964 Zypern
UNPROFOR 1992·95 KroalienJBosnien-H. MONUC 1999· 10 O.R. Kongo UNDOF 1974 Nahost (Golan)
UNTAC 1992- 93 Kambodscha UNMEE 2000-08 Ailliopief\/Eritrea UNIFIL 1978 Nahost (Libanon)
UNOSOM I 1992· 93 Somalia UNMISET 2002•05 Timor-Leste MINURSO 1991 West-Sahara
ONUMOZ 1992-94 Mosambik ONUB 2004·06 Burundi UNMIK 1999 Kosovo
UNOSOMII 1993· 95 Somalia UNMIS 2005· 11 Sudan UNMIL 2003 Liberia
UNOMUR 1993.94 Ruanda/Uganda UNMIT 2006-12 nmor-Leste UNOCI 2004 COte d'lvoire
UNOMIG 1993·09 Georgltn MINURCAT 2007-10 Z.A.R/Tschad MINUSTAH 2004 Haiti
UNOMIL 1993• 97 Liberia UNSMIS 2012 Syrien UNAMID' 2007 Sudan
UNMIH 1993·96 Haiti MONUSCO 2010 D.R. Kongo
UNAMIR 1993·96 Ruanda UNISFA 2011 Abiyel/Sudan
UNASOG 1994 Tschad/ Libyen UNMISS 2011 SOdsudan
UNMOT 1994-00 Tadschikistan Quelle: OPKO MINUSMA 2013 Mali
UNAVEM 111 1995-97 Angola Stand: Januar 2017 MINUSCA 2014 Zentralafrik. Republik
UNCRO 1995·96 Kroatien * Gemeinsame Mission
UN/ Afrikanische Union
1ZAHLENBILDER lffi-
c Bergmoser + Höller Verlag AG 6155 JO

Peacekeeping - Peacebuilding - Jan-Höhen, im Libanon oder auf Zypern bis heute


Peace-Enforcement andauern. 1988 wurden die VN-Blauhelme dafür
mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Die
Peacekeeping bedeutet militärische Friedenssi- schrittweise Erweite ru ng seiner Befugnisse und
cherung ohne militä rischen Zwang. ,,There is no Zuständigkeiten ermöglichte dem Sicherheitsrat
peacekeeping if there is no peace to keep" heißt in der Folge zunehmend das Eingreifen in inner-
zunächst, dass eine tragfähige Waffenruhe bzw. staatliche A useinandersetzungen und „n eu e Ge-
ei n Friedenssch luss notwendig ist, bevor dieser neration en" internation aler Friedensmissionen.
von Friedensschützern in ein er UN-Mission über-
wacht werden kann. Die Phase des klassischen Die Konzeption dafür legte VN-Generalsekretär
peacekeeping (,,erste Generation vo n Friedensmis- Boutros Boutros- Ghali 1992 in seiner „Agenda
sionen") erstreckte sich über 40 Jahre von 1948 für de n Frieden " vor. Darin definierte er die bis
bis 1988. In dieser Zeit wurde n 15 Friedensmissi- heute geltenden Begriffe der sog. ,,Friedens-Fami-
on en begonnen, von denen einige, wie die in Is- lie" : Präventive Diplomatie, Friedensschaffung,
rael / Palästina, im Kaschmirtal, auf den Go- Friedenssicherung und Friedenskonsolidierung.
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert 1

Zu den erweiterten Friedensmissionen gehört der narien) statt. Im Gegensatz dazu fo rderten die
Einsatz ziviler Experten etwa a us den Bereichen Einsätze der „dritten Gen eration" milit ärischen
Ziv ilpolizei, Rechtspflege, öffentliche Verwaltung Zwang (robustes Ma ndat). Mit dem Mandat für die
ode r humanitäre Hilfe. Ih re Aufgaben umfassen Operation UNOSOM II in Somalia wurde 1993
hauptsächlich, den Wiederaufbau von Staat und erst mals ein Blau helm-Mandat auf der Grun dlage
Verwalt ung zu unterstützen. Diese Missionen wer- von Kapitel VII mit der Anwendung vo n militä ri-
den im Begriff „p eacebuilding" zusammengefasst schem Zwa ng verbunden. Statt einen ausgeha n-
(,,zweite Generation"). Bei dieser Fortentwickl ung delten Fried en zu schützen, sollten die Bla uhelme
des peacekeepin g-Konzepts fußten die Missionen diesen erzwingen (peace enforcement). UNOSOM
weiterhin auf den Blauhelm-Prinzipien und fan- II scheiterte ; nach erheblichen Verlusten wurden
den in post conflict scenarios (Na chkonflikt-Sze- die UNO-Truppen abgezogen.

Handlungsoptionen bei Friedensmissionen

Sicherheit, Show Schaffung und Absicheru ng eines stabilen Umfeldes für die Verwirklichung der
of Force politischen Ziele des Einsatzes durch Überwachung von Waffenstillständen oder
Friedensabkommen, Abschreckung möglicher Friedensstörer; Entwaffnung von
Banden
Humanitäre Hilfe Bereitstellung von Lebensmitteln, Versorgungsgütern, medizinischer Hilfe;
Repatriierung von Flüchtlingen
Disarmament, Maßnahmen zur Entwaffnung und Demobilisierung von Kämpfern und deren
Demobilization Wiedereingliederung in ein ziviles Leben
and
Reintegration
(DDR)
Aufbau von Befristete Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben; Hilfe und Ausbildung beim
(staatlichen) (Wieder)Aufbau legitimer staatlicher sowie nichtstaatlicher Institutionen, insbeson-
Institutionen dere im Sicherheit ssektor (Militär, Polizei), aber auch in Justiz, Verwaltung, Schulen,
Gesundheitswesen und Infrastruktur
Wirtschaftliche Unterst ützung von wirtschaftl ichem Wiederaufbau, der Schaffung selbsttragender
und soziale ökonomischer Strukturen und soziale Gerechtigkeit
Entwicklung
Hoheitliche Zeitweise Übernahme staatlicher Souveränitätsrechte durch vom Sicherheitsrat
Aufgaben ernannte Mandatsträger
Z usammenarbeit Kooperation zwischen militärischen und anderen staatlichen Mandatsträgern mit
mit unabhängigen (Hilfs-)Organisationen
nichtstaatlichen
Organisationen
lnteragency z. B. mit NATO, EU, OSZE, AU oder subregionalen Organisationen wie ECOWAS
Cooperation
Robustes Mandat Anwendung von Waffengewalt durch UN-Blauheimsoldaten nicht nur zur Selbst-
verteidigung, sondern auch zur Verteidigung der Mission und von Zivilisten
(rechtliche Grundlage: Kapitel VII der UN-Charta)

Nach: Sven Bernhard Ga reis, Internationale Friedenssicherung, in: Informationen zu r politischen Bildung, Nr. 310, 2011, S. 24

Die UNO - zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die Bila nz der Sicherung des Weltfriedens durch immer wiede r ruft zögerliches Reagieren der Welt-
die UNO ist a ngesichts von mehr als 200 kriege- gemeinschaft auf Verbrechen gegen eine Bevölke-
rischer Konflikten seit 1945 zwiespältig. Zwa r ist run gsgruppe bis h in zu m Genozid Empörung u nd
die Zahl der Friedensmissionen nach dem Ende Zweifel a n d en Fähigkeiten der UNO hervor, Frie-
des Ost- West-Konflikts deutlich gestiegen, aber den zu schaffen oder zu erhalten.
6 Internationale Beziehungen

Finanzierung und Personal der Missionen

UN-Friedensmissionen - Finanzierung und Personal

Die 10 größten Beitragszahler Die 10 größten Truppensteller


Finanzierungsanteil am Budget der Uniformiertes Personal der Friedensmissionen
Friedensmissionen 2017 in% (Militär und Polizei), August 2016

USA 28,5 8326 - Äthiopien


China-10,3 7471 - Indien
Japan - 9 , 7 7161 - Pakistan
Deutschland - 6,4 6772 - Bangladesch
Frankreich - 6,3 6146 - Ruanda
Großbritannien - 5,8 5 1 3 1 - Nepal
Russland - 4,0 3 617 - Senegal
Italien - 3,7 3036 - Burkina Faso
Spanien ■ 2,4 2972 - Ghana
Südkorea ■ 2,0 2 889 - Ägypten

7,87 Mrd 100950


US-Dollar aus 123 Ländern
Gesamtbudget der Friedens- Gesamtstärke des uniformierten
missionen (Fiskaljahr 2016/ 17) Personals der Friedensmissionen

Quelle: UN Department of Peacekeeping Operations


~ - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - = = - - IZAHLENBILDERl f f i
0 Bergmoser + Höller Verlag AG 6J5509

Trotz der in der Charta der Vereinten Nationen Achtung der staatlichen Souveränität) und ande-
verankerten Gleichberechtigung der Mitgliedstaa- rerseits aber auch der Schutz der Menschenrechte
ten besteht ein deutliches Machtgefälle zwischen in der Charta verankert ist. Bei schwersten Men-
den Staaten ohne Vetorecht und den fünf ständi- schenrechtsverletzungen und bei extremen huma-
gen Mitglieder des Sicherheitsrats mit Vetorecht. nitären Notlagen behalf man sich im Sicherheits-
Zudem besteht die Möglichkeit der wirtschaftlich rat darum oft damit, eine über die Grenzen
und militärisch starken Staaten, die UNO zu er- hinausreichende Bedrohung des Weltfriedens zu
pressen, indem Beitragszahlungen einbehalten konstatieren, um so eine rechtliche Basis für eine
werden oder die Hilfe bei Friedensmissionen ver- Intervention zu bekommen (> Kap. 6.1.3). Solche
weigert wird. Die Vetomächte verhi ndern erfah- Anträge wurden jedoch immer wieder durch das
rungsgemäß Beschlüsse des Sicherheitsrats durch Veto von ständigen Mitgliedern bedroht, welche
ihr Veto genau dann, wenn diese den eigenen In- selbst mit ähnlichen inneren Konflikten zu tun
teressen zuwiderlaufen würden, was wirksame hatten (z.B. China m it Tibet oder auch Russland
Lösungen häufig blockiert. mit Tschetschenien).

Im Laufe der letzten Jahrzehnte gab es zudem die


Tendenz, dass sich kriegerisch ausgetragene Kon- Unilateralismus - eine Gefahr
flikte immer mehr von der zwischen- a uf die in- für die Vereinten Nationen?
nerstaatliche Ebene verlagert haben. Die Forde-
rung nach Interventionen geraten jedoch mit den Mit dem Ende des Kalten Kriegs drohte in der
Prinzipien der UN-Charta in Konflikt, da einerseits amerikanischen Politik die Tendenz zum Unila-
das Verbot besteht, sich in innerstaatliche Ange- teralismus Überhand zu nehmen, d a ausschließ-
legenheiten einzumischen (Interventionsverbot, lich die eigene Interessenlage berücksichtigt wur-
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert 1

de, ohne auf internationale Regelwerke Rücksicht die Legitimation der Entscheidungen des Sicher-
zu nehmen oder internationale Institutionen mit heitsrats e rhöhen. In den zahlreichen Reformvor-
einzubinden. Diese Praxis verstärkte s ich massiv, schlägen wird an den fünf ständigen Sitzen mit
als die USA am 11. September 2001 durch isla mis- Vetorecht nicht gerüttelt. Eine Änderung in die-
tische Terroristen in ihrem politischen und ökono- sem Bereich wäre auch kaum durchsetzbar, könn-
mischen Zentrum angegriffen worden waren und te doch j ede einzelne Vetomacht mit ihrem Veto
den „Krieg gegen den Terror" ausriefen. Als sich diese Reform verhindern.
zudem 2002 / 2003 im Sicherheitsrat keine Mehr-
heit für einen militä rischen Einsatz zum Sturz der Im Hinblick auf eine Reformierung des Sicher-
von den USA als Gefahr für die eigene Sicherheit heitsrates legten Brasilien, Deutschland, Indien
eingestuften Diktatur im Irak fan d, führten sie mit und Japan - die sogenannte G4-Gruppe - sowie
einer „Koalition der Willigen" ohne Mandat des 23 weitere Staaten für die Generalversammlung
Sich erheitsrats einen Krieg gegen das Regime 2005 eine n Entwurf vor. Dieser sah eine Erweite-
Saddam Husseins. Die UNO geriet dadurch in eine rung des Rates vor: es sollten sechs ständige Sitze
tiefe Krise, da alle wesentlichen Prinzipien einer Ue zwei für Afrika und Asien,je einer für dfr west-
kollektiven Sicherheitspolitik verletzt wurden. Die lichen Staaten sowie für Lateina merika Et Karibik)
USA machten jedoch die Erfahrung, dass militäri- und vier nicht ständige Sitze Ue einen für Afrika,
sch e Siege beispielsweise im Ira k oder in Afgha- Asien, Lateinamerika Et Karibik sowie Osteuropa)
nistan mit ihren Kapazitäte n einfach zu e rringen hinzukommen. Neben diesem Entwurf gab es zu-
waren, j edoch dauerhafte Stabilität und Frieden dem a uch einen Vorschlag einer Gruppe von 43
nur sehr schwer allei ne zu erreich en sind. afrikanische n Staaten, die im Prinzip dem Grund-
konzept der G4 folgten,jedoch davon abweichend
das Vetorecht für neue ständige Mitglieder sowie
Die Diskussion um Reformen der VN einen zweiten zusätzlichen nichtständigen Sitz
für Afrika forderten. Die a us 12 Staaten bestehen-
Seit 1993 laufen in nerhalb der UNO Bemühungen, de Gruppe "Vereint für den Konsens" um regiona-
den Sicherheitsrat zu reformieren, welcher in sei- le Konku rre nten der G4-Staaten wie Italien, Ar-
ner gegenwärtigen Zusammensetzung die weltpo- gentinien und Pakista n ve rlangte die Einrichtung
litische Machtkonstellation zum Ende des Zweiten v on zehn weiteren nichtstä ndigen Sitzen bei Bei-
Weltkrieges widerspiegelt und damit dringend behaltung d er A nzahl der ständigen Vertreter. Am
reformbedürftig ist. Eine Reform müsste dabei die Ende w urde auf der 59. Generalversammlu ng über
Ung leichgewichte hinsichtlich der Repräsentation keinen der drei Entwürfe abgestimmt, da sich für
besti mmter Weltregionen, vor allem von Latein- keinen Vorschlag die nötige Zwei- Drittel-Mehr-
amerika, Afrika und Asien beseitigen und damit heit abzeichnete.

Aufgaben
1. Beschreiben Sie, auf welche Weise die UNO das Ziel der Sicherung und Wiederherstellung von Frieden
verfolgt und vor welche Probleme sie dabei gestellt wird.

2. ,,Mächtige Nationen sind selten gute Mitglieder eines internationalen Clans, der dafür eingerichtet ist, die
Ausübung nationaler Macht einzugrenzen." Erläutern Sie, was der Historiker Paul Kennedy damit in Bezug
auf die Organisation der UNO gemeint haben könnte.

3. Entwerfen Sie in Gruppenarbeit Vorschläge zur Reform der UNO und vergleichen Sie diese im Kurs.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 ,Muddling Through'* - eine Perspektive für die Vereinten Nationen?

Welche Rolle werden [..] die Vereinten Nationen in der Welt des 21.Jahrhunderts spie-
len? Zunächst ist das Spannungsverhältnis zwischen den Zielen und Grundsätzen der
VN-Charta auf der einen und der politischen Realität auf der anderen Seite offenkun-
dig. [... ] Was bedeutet dies für die Weltorganisation? Es lassen sich aufgrund der
s analytischen Strukturen, Prozesse und Akteure in den Vereinten Nationen und der in-
ternationalen Politik in idealtypischer Weise drei Szenarien für die Entwicklung der
Vereinten Nationen in den verschiedenen Politikfeldern und damit ihre Rolle in der in-
ternationalen Politik ableiten.
•muddle through (engl.) = sich durchwursteln bzw. sich durchschlagen

Sven Bernhard Gareis / Johannes Varwick, Die Vereinten Nationen, Aufgaben, Instrumente und Reformen,
2014, s. 354f

Titanic Weltregierung Muddling Through


Im Bereich der spielen die VN keine spielen die VN eine werden die VN
Friedenssicherung Rolle, das Gewalt- zentrale Rolle, fallweise übergan-
verbot erodiert und erhalten das Gewalt- gen und gelegentlich
die Kriegshäufigkeit monopol und es einbezogen, wenn
nimmt zu entsteht ein funktio- sie ihre Handlungs-
nierendes kollektives fähigkeit beweisen
Sicherheitssystem
Im Bereich des bleiben zwar die werden die zahlrei- muss weiterhin
Menschenrechts- einzelnen Konventi- chen kodifizierten hingenommen
schutzes ... onen bestehen, es Abkommen nicht nur werden, dass eine
gibt aber kein weiterentwickelt, Lücke zwischen
globales Forum sondern auch mit Kodifizierung und
mehr für Debatte, wirksamen Durch- Durchsetzung der
Normentwicklung setzungsmechanis- Normen besteht und
und Kontrolle men versehen Menschenrechtspo-
litik interessengelei-
teter Selektivität
unterworfen bleibt
In den Bereichen entstehen jenseits sind die VN das sind die VN ein
Wirtschaft, der VN problemspe- institutionelle Zen- Akteur und vielen
Entwicklung, zifische Organisatio- trum der globalen und sehr unzurei-
Umwelt ... nen ohne zentrale Strukturpolitik mit chend in der Lage,
Steuerungsinstanz direkter Regelungs- die ambitionierten
kompetenz für vor- Ziele zu erreichen
mals nationalstaatli-
ehe Aufgabenfelder
Die VN spielen in keine Rolle die Rolle als mal die Rolle als
der internationalen zentraler Akteur Akteur, mal als
Politik ... Instrument und mal
als Arena

Nach: Sven Bernhard Gareis / Johannes Varwick, Die Vereinten Nationen, Aufgaben, Instru mente und
Reformen, 20 14, S. 354J

Aufgaben
1. Benennen Sie die Kernelemente der drei Szenarien.

2. Entwerfen Sie nach einer Diskussion eine begründete Stellungahme zur wahrscheinlichen
Zukunftsentwicklung der VN.

3. Erklären Sie in einer politischen Rede (, Methodenglossar), was jeder Einzelne tun kann ,
um den Erfolg der VN in der Zukunft zu sichern.
6.3.2 Die Nordatlantische Vertragsorganisation (NATO)
Leitfragen Wie hat sich die NATO Kann die NATO auch in Zukunft Welche Rolle kann die NATO
seit 1949 entwickelt? Frieden sichern oder ist sie überholt? in der aktuellen europäischen
Sicherheitsarchitektur spielen?

Warum hat sich die NATO gegründet?

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand als Reakti- Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erach-
on auf die gewaltsame Expansion des sowjeti- tet, um die Sicherheit des nordatlantischen Ge-
schen Machtbereichs die NATO (North Atlantic biets wiederherzustellen und zu erhalten. [...] Die
Treaty Organization) als Verteidigungsbündnis Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicher-
des Westens. Gründungsmitglieder waren 1949 heitsrat [...] diejenigen Schritte unternommen hat,
zehn europäische Staaten sowie die USA und Ka- die notwendig sind, um den internationalen Frie-
nada. Die Bundesrepublik Deutschland trat der den und die internationale Sicherheit wiederher-
NATO 1955 bei. Seit 2009 gehören 28 Staaten der zustellen und zu erhalten."
NATO an und mit Montenegro ist 2017 das 29.
Mitgliedsland dem Verteidigungsbündnis beige-
treten. Das Besondere an diesem Bündnis ist, dass Die NATO nach dem Kalten Krieg
die Mitgliedsländer eine gegenseitige Beistands-
verpflichtung für den Fall eines bewaffneten An- Die Allianz war bis 1990 ein klassisches Verteidi-
griffs auf ein Mitglied eingehen, wobei der Bei- gungsbündnis. Mit der Auflösung des Warschauer
stand nicht automatisch in militärischer Form zu Paktes in Folge der Umwälzungen im sowjeti-
leisten ist. schen Machtbereich verlor die NATO ihren Gegner
und damit ihren zentralen Organisationszweck als
Kernelemente des No rdatla ntikvertrags sind Art. Verteidigungsbündnis des Westens. Das eigene
1 sowie Art. 5. In Art. 1 verpflichten sich die Ver- Sicherheitsverständnis war bis dahin eng gefasst,
tragsparteien, ,,in Übereinstimmung mit der Sat- beinhaltete vorwiegend militärische Ziele und fo-
zung der Vereinten Nationen, jeden internationa- kussierte sic h auf die Sicherheit der Bündnispart-
len Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf ner und die Verteidigung der Außengrenzen des
friedlichem Wege so zu regeln, dass der internati- NATO-Gebiets.
onale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit
nicht gefährdet werden, und sich in ihren interna- Nach 1990 strebten einige ehemalige Ostblock-
tionalen Beziehungen j eder Gewaltandrohung staaten die Mitgliedschaft in der NATO an, um
oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den sich gegenüber eventuellen künftigen Hegemo-
Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinba r niebestrebungen Russlands abzusichern. So wur-
sind". den 1999 Polen, Tschechien und Ungarn, 2004
Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien,
In Art. 5 vereinbaren die Vertragsparteien, ,,dass die Slowakei und Slowen ien sowie 2009 Kroatien
ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere und Alba nien aufgenommen.
von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein
Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie verein-
baren daher, dass im Falle eines solchen bewaff- Wie ist die NATO aufgebaut?
neten Angriffs j ede von ihnen in Ausübung des in
Artikel 51 de r Satzung der Vereinten Nationen Die Mitglieder der NATO verstehen sich selber als
anerkannten Rechts der individuellen und kollek- Angehörige sowohl eines Militärbündnis als auch
tiven Selbstverteidigung der Partei oder den Par- als Teil ein er Wertegemeinschaft. Dies spiegelt
teien, die angegriffen werden, Beistand leistet, sich auch in der Zweiteilung der Organisations-
indem j ede von ihnen unverzüglich für sich und struktur wieder. Oberstes Entsch eidungsorgan ist
im Zusammenwirken mit anderen Parteien die der NATO-Rat, in dem die Staats- und Regie-
Maßnahmen, einschließlich der A nwendung von rungschefs oder die Außen- bzw. Verteidigungs-
6 Internationale Beziehungen

Minister der Mitgliedstaaten regelmäßig zweimal Festlegungen gezwungen werden ka n n. Der vo m


im J ahr zusammentreten. Damit ist der Primat NATO-Rat gewählte Generalsekretär - seit Okto-
bzw. Vorrang der Politik über das Militä r gesi- ber 2014 der Norweger Jens Stoltenberg (Stand:
chert; das Militär berät über den Militärausschuss Februa r 2018) - vertritt die NATO bei Verhandlun-
den Rat in allen militärischen Fragen. gen mit a nderen Akteuren und versucht bei Mei-
nungsverschiedenh eiten zwischen den Mitglie-
Alle Entscheidungen im NATO-Rat müssen ein- dern, Kompromisse zu finden. Militärische
stimmig getroffen werden, sodass kein Mitglied Einsätze der NATO werden durch integrierte Kom-
gegen seinen Willen zu ve rteidigungspolit isch en mandobehörden geplant und geleitet.

Aufbau der NATO General- Generalsekretariat


Brüssel
Politische und militärische Organisation sekretär

Euro-Atlantischer
Partnerschaftsrat

NATO-Russland-Rat

Kommission
NATO-Ukraine

Militärausschuss Ko mmission
lnternatlonaler NATO-Georgien
Mllltärstab

Alliiertes Kommando
Operationsführung
Mons, Belgien

! Führungskommandos !
Brunssum,
Niederlande

'° Bergmoser + Höller Verlag AG

Die NATO im Einsatz

Im Frühjahr 1999 führte die NATO Krieg gegen de und nicht vo n einem Mandat der UNO legitimiert
Jugoslawien, was einer Zäsur in der Entwicklung war. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien zeig-
de r NATO gleich ka m, da sie erstmalig Krieg gegen ten zudem, dass die europäischen NATO-Partner
einen souveränen Staat ohne UNO-Mandat fü hrte. ohne die USA bedrohlichen Konflikten selbst un-
Zudem war dies auch der erst e Kriegseinsatzdeut- mittelbar „vor ihrer eigenen Haustür" weitestge-
scher Soldaten seit de m Zweiten Weltkrieg. hen d hilflos gegenüberstanden.

Dieser Einsatz ist bis h eute stark umstritten, da Der NATO- Rat hat zudem am 12. September 2001
einerseits das militärische Eingreifen a ngesichts den Terroranschlag auf das World Trade Center in
de r brutalen Unterdrückungspolitik des jugosla- New York als Angriff auf die USA durch Al- Qaida
wischen Präsidenten Milosevic aus humanitären erklärt. Somit war erstmalig der Bündnisfall nach
Gründen für gerechtfertigt e rachtet wurde, ande- Artikel 5 des NATO-Vertrags ausgerufe n worden.
rerseits a ber die militä rische Intervention zur Lö- Ziel des anschließenden militärische n Eingreifens
sung des Konflikts als ungeeig net betrachtet w ur- in Afghanistan war es, Al-Qaida sowie deren Ver-
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert 1

bündete - die Taliban - niederzuschlagen, die Bil- NATO-Rat a uf ein neues strategisches Konzept.
dung einer afghanischen Regierung zu ermögli- Neben die klassische Aufgabe der Verteidigung
chen und einheimische Sicherheitskräfte des Bündnisgebietes trat die Bewältigung von Kri-
a ufzubauen sowie Afghanistan als demokrati- sen, die unmittelbar oder mittelbar die Sicherheit
schen Rechtsstaat zu stabilisieren. der Mitgliedstaaten bedrohten. Damit konnte das
Bündnis auch außerhalb des NATO-Gebietes aktiv
Gemessen a n diesen Kriegszielen ist der Erfolg der werden (Einsätze „out of area"). Die NATO benö-
NATO in Afghanistan zweifelhaft. Nach vielen tigte hierfür in allen Teilen der Welt rasch einsetz-
Kriegsjahren und vielen gefallenen Soldaten ist bare und mit modernsten Waffen ausgerüstete
Ernüchterung eingekehrt: In Afgha nistan herrscht Einheiten. Deshalb wurde 2002 auf Druck der USA
heute immer noch kein Frieden, Terror bestimmt die Schaffung einer mobilen Eingreiftruppe (NATO
nach wie vor das Leben vor Ort und demokrati- Response Force) beschlossen.
sch e, rechtsstaatliche Strukturen wurden zwar
offiziell implementiert, aber ihre Umsetzung ist Im Jahr 2010 wurde das strategische Konzept der
nur in einem geri ngen Maße gelungen. NATO erneut a ngepasst und diente als Grundlage,
um den sich verändernden Herausforderu ngen der
Zeit gerecht werden zu können:
Wie haben sich die Aufgaben
der NATO verändert? • Es sah zu diesem Zeitpun kt vor a llem eine en-
gere Zusammenarbeit mit Russland, NGOs, der
Nach dem Ende des Kalten Kriegs traten an die EU, der UNO, aber auch mit der Weltbank und
Stelle der Bedrohungen durch die sowj etische Mi- dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vor.
Iitä rmacht rasch neue Gefah ren für Frieden und Auf diese Weise wollte die Allianz Teil ein es glo-
Sicherheit, die ein militärisches Eingreifen erfor- balen Sicherheitsnetzwerkes werden.
derten. Bei den Mitglied ern w urde die NATO nicht
mehr n ur als ein Verteidigungsbündnis angese- • Ein weiteres wichtiges Ziel war die Errichtung
hen, sondern mit ihr war der Anspruch an eine eines gem einsamen Raketenabwehrschildes, der
um fassende Sicherheit verbunde n. Dazu zählte das gesamte eu ropäische NATO-Gebiet vor An-
nicht mehr nur die eigene Verteidigu ng, sondern griffen durch Lenkraketen schützen sollte. Russ-
auch das militärische Krisenmanagement außer- la nd sollte in die Planungen und die Durchfüh-
halb des Bündnisgebiets. ru ng eingebunden werden.

Beginnend mit dem Militäreinsatz „Allied Force" • Daneben w ird explizit der Umgang m it Cy-
im Frühja hr 1999 im Kosovo hat die NATO eine ber-Attacken beschrieben, die nicht zu einem
ganze Reihe an Einsätzen - in der Regel jedoch Bündnisfall nach Art. 5 führen sollen, sondern
mit UN-Mandat - durchgeführt. Das Spektrum der zunächst z u Konsultationen nach Art. 4.
Operationen umfasste dabei :
• Zudem hebt die NATO durch das strategische
• robuste Friedenssicherungsoperationen, Konzept vo n 2010 ausdrücklich hervo r, dass sie
• maritime Anti-Terroroperationen, sich klar zu r atomaren Abrüstung be ke nnt, je-
• Ausbildungsmissionen, doch weiterhin nukleare Absch reckung betreibt,
• humanitäre Hil fseinsätze, sola nge es Atomwaffen gi bt.
• Unterstützungsmissione n anderer Organisatio-
n en.
Die Finanzierung der NATO
Die neuen Aufga ben zur Bewahrung der Sicher-
he it im eu ro-atlantischen Ra um erforderten ein Die USA verla ngen seit v ielen Jahren von den
neues sicherheitspolitisches Konzept. Nachdem Bündnispartnern angesichts der globalen Bedro-
die NATO bereits in den J990er Jahren durch die hungen erhöhte Verteidigungsausgaben. Au f dem
Interventione n im zerfallenden Jugoslawien über Gipfel in Brüssel 2018 wurde darum bekräft igt,
ihre n ursprünglichen Verteidigungsauftrag hin- dass sic h die Mitglieder bis 2024 auf de n 2002 in
ausgegangen war, einigte ma n sich 1999 im Prag beschlossenen Richtwert von 2 O/o des eige-
6 Internationale Beziehungen

nen BIP zuzubewegen. Ein Teil des Geldes soll in lierung, die NATO sei „obsolet", hatte v iele der
die Abwehr von Cyberattacken fließen, nachdem Partner aufgesch reckt, da sie als Distanzierung zur
d ie NATO offiziell die Verteidigung gegen Cyber- NATO interpretiert wurde. Ob zur Verteidigung
a ngriffe n zu ihrem Au ftrag deklariert h at. Don ald nur m ilitärische Ausgaben zu rechnen sind oder
Trump wiederholte au f dem Gipfel als gewählter auch Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit
Präsident seine Forderung aus dem Wahlkampf und Krisenprävention - eine Perspektive vieler
nach höheren Verteidigungsausgaben der Bünd- europäischer Staaten - ist u nter den Mitglieds-
nispartner mit großem Nachdruck. Seine Formu- staaten umstritten.

Militärausgaben der NATO-Staaten


Ausgaben (in Mio. US-Dollar) und Anteilam BIP im Jahr 2015
Anteil am BIP
Ausgaben
USA 641.253 3,6%

Vereinigtes Königreich - 59.634 2,1 %

Frankreich* .

Deutschland
43.473

■ 39.813 -• 1,8%

1,2%

Italien 1 19.566
• 1,0%

Kanada 1 15.191
• 1,0%

Türkei

Spanien
l
l
12.018

11.090
-• 1,7%

0,9%

Polen l 10.596

Niederlande 1 8.873

* Inklusive Ausgaben für nicht einsetzbare Elemente anderer Teilstreitkräfte; ohne Gendarmerie
•• 2,2%

1,2%

Quelle: NATO

Die NATO in der europäischen Die Forderunge n der USA an die Partnerstaaten,
Sicherheitsarchitektur mehr in ihre eigene Sicherheit bzw. Verteidigung
zu investieren, kann einerseits zu einer Entlastung
Die Führu ngsrolle und de r Führungsanspruch der der USA, andererseits zu mehr Eigenständigkeit im
USA in der NATO sind seit ihrer Entstehung 1949 Bündn is und Emanzipation der EU gegenüber den
un umstritten. Grundlage dafür ist die militärische USA fü hren. Welche Ko nsequenzen sich daraus für
Stärke, die wiederum auf seh r hohen Ausgaben für die Außen- und Sicherheitspolitik der USA und die
Verteidigung bzw. Rüstu ngsausgaben der Verei- NATO ergeben werden, ist offen. Ende 2016 bekräf-
nigten Staaten beruhen. In der Vergangenheit tigten sowohl die NATO als auch die EU in einer
ließen die USA keine n Zweifel an ihrem Füh- gemeinsamen Erkläru ng ihre enge Zusammenar-
ru ngsanspruch in der NATO aufkommen. Die Ab- beit seit dem Berlin-Plus-Abkommen. Insbesonde-
hängigkeit der Eu ropäer von der Schutzmacht re soll die Zusammenarbeit in Bereichen wie Ver-
USA blieb darum eine Konstante in der gemein- teidigung gegen hybride Bedrohungen, operative
samen Außen- u nd Sicherheitspolitik (>Kap. 5.3.2) Zusammenarbeit auf See, bei der irregulären
und wurde mit dem Berlin-Plus-Abkommen 2003 Migration, Cybersicherheit und Cyberabwehr durch
zwischen der NATO u nd der EU bekräftigt. gemeinsame Vorgehen verbessert werden.
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert 1

Droht ein neuer Kalter Krieg und die Renais-


sance der NATO als Verteidigungsbündnis?

Mit dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der fühlt sich wiederum durch die Ausdehnung der
1990er Jahre wurden die ehemaligen Sowjetrepu- NATO und der EU an die Staatsgrenzen Russlands
bliken, wie beispielsweise die baltischen Staaten, bedroht. Die Folge dieses Misstrauens au f beiden
Geo rgien, Weißrussland und die Ukraine zu sou- Seiten ist militä risch e Aufrüstung. Angesich ts der
verä nen Staaten. Viele vo n ihnen strebten die a nhaltenden Spann ungen mit Russland im Zu-
Mitgliedschaft in EU und NATO an o der wurden sammenhang mit der Krise in der Ostukraine und
übe r Partnerschaftsverträge assoziiert. Für die der Halbinsel Krim fordern einige NATO-Mitglie-
russische Außenpolitik war es j edoch selbstver- der, das Strategische Konzept zu erneuern und
ständlich, Einfluss a uf die neu entstandenen Staa- gegenüber Russland neu auszurichten und die
ten zu behalten. Russland musste j edoch hinneh- militärische Präsenz in Osteu ropa auszuba uen.
men, dass die baltischen Staate n Mitglied der
NATO und der EU wurde n. Die USA forcieren derweil ihr Raketen abweh rsys-
tem in Europa in Polen und Rumänien und die
Der Ukraine-Konflikt beginnend mit den Protes- NATO verlegt Truppen nach Osteuropa. Putin re-
ten Ende 2013 in der Ukraine bis hin zur Annexi- agierte mit dem Austritt a us dem 1987 von Ronald
on der Krim durch Russland im März 2014 sowie Reagan und Michael Gorbatschow geschlossenen
die militä rische Unterstützung de r prorussischen Vertrag übe r die Abrüstung nu klearer Mittelstre-
Separatisten in der Ostukraine durch Russland ckenraketen (Intermediate Ra nge Nuclear Forces,
führte zur bisher schwersten Krise der Beziehun- INF) und kündigte an, auf den Schiffen der balti-
gen zwischen Russland und dem Westen seit dem schen Flotte, in Kaliningrad und den Gebieten
Ende des Kal ten Krieges. westlich des Urals neue Atomraketen zu stationie-
ren. Der a merikanische Präsident Trump kündigte
Aus der Sicht der NATO ist die Außenpolitik Russ- wiederum 2017 an, den gesamten Wehretat mas-
la nds au f eine gewal tsame Veränderung der euro- siv zu erhöhe n und sieht die Notwendigkeit, auch
päischen Nachkriegsgrenzen geri chtet. Russland atomar aufzurüsten.

Aufgaben
1. Beschreiben Sie, welche veränderten Aufgaben und Ziele die NATO nach dem Ende des Ost-West-Konflik-
t es verfolgt.

2. Erklären Sie, durch welche Organisationsstruktur die NATO ihre Aufgaben und Ziele wahrnimmt.

3. Setzen Sie sich kritisch mit der These eines „neuen Kalten Kriegs" auseinander. Recherchieren (, Methoden-
glossar) Sie dafür Informationen zum aktuellen Stand.

4. Führen Sie eine Konfliktanalyse zu einem aktuellen Konflikt durch (, Methodenkompetenz: Analyse internatio-
naler Konflikte), in den die NATO involviert ist.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Ist die NATO überholt?

Die NATO sei „unverzichtbar" ist bis heute zu hören, obgleich ihr Gegner, die Sowjet-
union, vor 25 Jahren zerfiel, und mit ihr der Warschauer Pakt. Ginge es ohne Atlanti-
sche Allianz wirklich nicht? Hat Russland keinen Grund, sie zu fürchten? Wären die
Europäer nicht in der Lage, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen? Fünf Thesen auf dem
5 Prüfstand.

Die NATO garantiert die Sicherheit des Westens


Daran glauben nur die außenpolitischen Eliten. [... ] Ein [...] beliebtes Argument der
NATO-Unterstützer ist die militärische Abschreckung gegen aggressive Handlungen
der Russen an den osteuropäischen Grenzen. Das heutige Russland ist aber nicht die
10 Sowjetunion - Russland ist vielmehr ein hoffnungsloser Fall. Laut Internationalem
Währungsfonds betrug Russlands Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr 2,05
Billionen Dollar, etwas weniger als das von Italien und Portugal zusammengenommen.
Russland hat außerdem mit ernsten demografischen Problemen - mit geringen Ge-
burtenraten, niedriger Lebenserwartung und ausuferndem Alkoholismus - zu kämp-
15 fen. [... ] Was die anderen vermeintlichen Bedrohungen angeht, denen die NATO ge-
genüber steht [ ... ] nun, welche sind das eigentlich? AI-Kaida? Der islamische Staat?
Es gibt nur wenig Gründe anzunehmen, dass es Amerikanern und Europäern am Wil-
len, an Motiven oder an Möglichkeiten mangeln würde, um den internationalen Terro-
rismus oder andere Probleme, die alle heutigen Mitglieder gleichermaßen betreffen,
20 auch ohne die NATO anzugehen. [...]

Die NATO verbessert unsere militärischen Fähigkeiten für den Fall, dass wir sie
benötigen
Das ist unklar. Die Vereinigten Staaten haben derzeit mehr als 67 000 Soldaten in
Europa stationiert, ein großer Teil davon als Bekenntnis zum Artikel 5, der bestimmt,
25 wann der Bündnisfall eintritt. Ihre eigentliche Mission hat die NATO aber schon vor
zweieinhalb Jahrzehnten erfüllt. Würden die USA die NATO-Mission nicht künstlich am
Leben erhalten, bräuchte es diese Soldaten nicht. (... ]
Der Effekt der NATO besteht letztlich darin, dass die amerikanischen Steuerzahler die
reichen europäischen Wohlfahrtsstaaten subventionieren, indem sie deren Verteidi-
30 gung bezahlen. Derzeit tragen die Vereinigten Staaten 70 Prozent der gesamten NA-
TO-Militärausgaben, obwohl sie nur etwa 56 Prozent des BIP aller NATO-Staaten er-
wirtschaften.
Es ist daher vielleicht kein Zufall, dass das Bekenntnis zu Europa in der amerikanischen
Öffentlichkeit nicht gerade populär ist. [ ... ]

35 Russland hat keinen Grund, die NATO zu fürchten


Versetzen wir uns doch mal in die Lage Russlands. Seit dem Ende des Kalten Krieges
hat das Land deutlich gemacht, dass es die Erweiterung der NATO als eine Bedrohung
wahrnimmt. Wie jede Großmacht fühlt sich Russland dann am sichersten, wenn es die
eigene Nachbarschaft dominieren kann. Jahrzehntelang war das unbestreitbar der
40 Fall. [... ]
Die russische Wahrnehmung der NATO wurde außerdem nicht gerade dadurch ver-
bessert, dass der Fortbestand und die Ausdehnung der NATO auf juristischen und
semantischen Spielchen mit einem schwachen Sowjetpräsidenten basierten. US-Au-
ßenminister James Baker hatte Michail Gorbatschow nie „versprochen", die NATO
45 nicht zu erweitern. Er sagte ihm lediglich, dass sich die NATO „nicht einen Zoll ost-
wärts" bewegen würde, wenn das wiedervereinigte Deutschland NATO-Mitglied wer-
den dürfe.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

Wie die Historikerin Mary Elise Sarotte betont, war es jedoch genau diese Zusage der
NATO, die Gorbatschow zur Zustimmung zur deutschen Einheit verleitete - er ver-
so säumte bloß, das auch vertraglich festzuhalten. Gorbatschow bekannte sich öffentlich
zu der Abmachung, die der Westen in der Folge aufweichte: Man werde „nichts tun ,
was die Sicherheit der Sowjetunion mindern würde" . Ein Versprechen, das die westli-
chen und russischen Machthaber seither sehr unterschiedlich definieren.

Der russische Expansionsdrang wird die NATO neu beleben


ss Wetten Sie besser nicht darauf. Die NATO-Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet,
mindestens 2?Prozent ihres BIP für Verteidigung auszugeben. Derzeit halten sich nur
die USA, Großbritannien, Polen, Estland und Griechenland an diese Vereinbarung.
Mehrere US-Außenminister haben das zum Anlass für Strafpredigten genommen, in
denen sie die Realität einer „Zwei-Klassen-Allianz" beklagten. Angesichts des Ukrai-
eo ne-Konflikts erklärte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nun: ,,Die NATO ist wie-
der da." Der Konflikt müsse in Europa zu höheren Verteidigungsausgaben führen. Dass
es dazu kommen wird, erscheint unwahrscheinlich. Die Europäer geben nicht viel Geld
für Verteidigung aus, weil sie sich sicher fühlen. Und sie fühlen sich sicher, weil sie
sicher sind. Im Kern ist Europa heute sicherer als jemals in den vergangenen 150
es Jahren zuvor - und das würde auch ohne die NATO so bleiben. Anders als die Ameri-
kaner wissen die Europäer ihre Sicherheit zu schätzen und haben nicht die ideologi-
sche Neigung entwickelt, die Welt nach ihren Vorstellungen umzuformen.(...]

Ohne die NATO könnte sich Europa nicht selbst verteidigen


Falsch. Vielmehr hindert die Atlantische Allianz Europa an effektiver Verteidigungszu-
10 sammenarbeit. Das beliebte Argument besagt, dass die Europäer den Sicherheitsver-
lust nicht ausgleichen könnten , sollten sich die Vereinigten Staaten aus der NATO
zurückziehen. Ohne die NATO wäre das postmoderne und pazifistische Europa dann
den heutigen Sicherheitsbedrohungen hilflos ausgeliefert. In Wahrheit wollte Washing-
ton nie eine europäische Verteidigungszusammenarbeit. Immer wenn diese näher
1s rückte, versuchte die amerikanische Regierung, die Bemühungen im Keim zu ersti-
cken. Seit der Gründung der NATO sorgten sich amerikanische Politiker nicht nur um
eine mögliche sowjetische Dominanz in Europa, sondern auch um die Möglichkeit
einer entstehenden „dritten Kraft" der Westeuropäer, abgekoppelt von den Vereinigten
Staaten. Laut Christopher Layne von der Texas University waren führende US-Politiker
ao mindestens seit den frühen fünfziger Jahren darauf bedacht, eine umfangreiche euro-
päische Verteidigungszusammenarbeit zu verhindern. 1952 kabelte Außenminister
Dean Acheson die Warnung nach Washington: Die NATO biete den Vorteil, dass sie
ein Europa „als dritte oder gegnerische Kraft" ausschließe.

Justin Logan, Nordatlantische A llianz - Fünf Thesen auf dem Prüfstand, in: Internationale Politik, Nr. 6,
2015, s.60.fJ.

Aufgaben
1. Fassen Sie die zentralen Argumente aus dem Text von Justin Logan zusammen.

2. Erläutern Sie, welchen Stellenwert die NATO für die europäische Sicherheit hat.

3. ,.Die Nato ist überholt" - Beurteilen Sie diese These Logans.


6.3.3 Die Organisatin für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (OSZE)

Leitfragen W ie ist die OSZE Worin bestehen die sicherheitspolitischen W ie ist die Arbeit der
entstanden? Aufgaben der OSZE? OSZE zu beurteilen?

Von der KSZE zur OSZE

Die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit finden. Als einzige Sicherheitso rganisation, die
und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die vo n alle europäischen Staaten einschließlich der
allen Staaten des Warschauer Pakts (WP), allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Jugosla-
NATO-Mitgliedern und allen neutralen europäi- wiens sowie die USA und Kanada umfasst, schien
schen Staaten im Jahre 197 5 u nterzeichnet wurde, sie ein erseits besonders geeignet, die im zerfallen-
bildete eine Brücke zwischen den Gegnern im Ost- den Ostblock a ufbrechenden Konflikte zu bearbei-
west-Konflikt und verlieh den Entspannungsbe- ten. Andererseits erschwert die große Zahl von 57
mühungen einen entscheid enden Sch ub. Dieser Mitgliedern die für Entscheidungen notwendige
wirkte in den folgenden Jahren weiter und ermög- Einstimmigkeit vo n Beschlüssen (Konsensprin-
lichte wesentliche Fortschritte vor allem a uf dem zip).
Gebiet der Rüstungskontrolle.

Nach dem Ende des Ost- West-Konflikts musste die Die Ziele der OSZE
KSZE, die 1995 in „Organi sation für Sicherheit
und Zusam menarbeit in Europa" (OSZE) umbe- Die Schlussakte von Helsinki (1975), die Charta
nannt wurde, eine neue Rolle in der Weltpolitik von Paris ( 1990), die Europäische Sicherheits-

Amtierender Vorsitzender Generalsekretär


Außenminister der OSZE-
Staaten in jährlichem Wechsel OSZE-Sekretariat
(Wien/Prag)
Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit Gipfeltreffen
in Europa OSZE-Feldoperationen
Staats- und Regierungschefs
der OSZE-Staaten

OSZE-Ministerrat Parlamentarische
Außenminister Versammlung
der 57 Teilnehmerstaaten
(Kopenhagen)
Zentrales Beratungs- und
Büro für demokratische Beschlussorgan der OSZE
Institutionen und tagt in der Regel 1x jährlich
Menschenrechte (Warschau)

Hoher Kommissar für


nationale Minderheiten
Ständiger Rat Forum für Sicher-
heitskooperation
(Den Haag) Permanentes Beratungs-
und Beschlussorgan (Wien) Gremium für Rüstungs-
kontrolle und Vertrauens-
Beauftragter für die
und Sicherheitsbildende
Freiheit der Medien (Wien)
Maßnahmen (Wien)

Vergleichs- und
Wirtschafts- und
Schiedsgerichtshof (Genf) Umweltforum

1ZAHLENBILDER I ffi
'° Bergmoser + Höl/er Verlag AG 7 11 2 12
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert 1

charta von Istanbul ( 1999) und die Gipfelerklä- tet das OSZE-Sekretariat. Das Sekretariat zählt
rung von Ast ana „Auf dem Weg zu einer Sicher- rund 3 10 Mitarbeiter. Der Haushalt der OSZE für
heitsgemeinschaft" (2010) sind die wichtigsten 2017 betrug rund 140 Millionen Euro.
Dokumente der OSZE, in de nen die politisch- mi-
litä rische, die wirtschaftlich e, ökologische sowie Die OSZE verfügt zudem über unabhä ngige Insti-
die menschliche Dimension vo n Sicherheit darge- tutione n, die der Überwachung der OSZE-Ver-
legt wi rd. Dara us abgeleitet gehöre n zu den allge- pflichtungen und damit der Frühwarnung die nen :
meinen Zielen der OSZE:
• Das Büro für Demokratische Institutionen und
• die Schaffung von umfassender und ungeteil- Menschenrechte in Warschau,
ter Sicherheit,
• die Hohe Kommissarin für Nationale Minder-
• die Konfliktverhütung und Konfliktmanage- heiten in Den Haag,
m ent in alle n Phasen von Konflikten und Krisen
im OSZE-Raum, • die OSZE-Beauftrage für Medienfreiheit in Wien

• der Schutz von Menschenrechten, demokrati- • und der Vergleichs- und Schiedsgerichtshof in
sche n und rechtsstaatlichen Standards als Bei- Genf.
trag zu Sicherheit und Stabilität und

• die Abrüstung, vertrauensbildende Maßnah- Aufgaben der OSZE


m en sowie Terrorismusbekämpfung.
Die 16 Feldaktivitäten (Stand: Juni 201 8) (field
operations) in Südosteuropa (Balkan-Staaten),
Organe und Arbeitsweise Osteuropa, Südkaukasus und Zentralasie n gehö-
ren zu den wicht igsten und sichtbarsten Instru-
Die OSZE unterscheidet sich vo n internationalen menten der OSZE. Die Bandbreite umfasst kleine-
Organisationen, wie z.B. der UNO oder der NATO re Einrichtungen mit einem längerfristigen
dadurch, dass ihr kein völkerrechtlicher Vertrag Beratungsa uftrag bei der Implementierung von
zugrunde liegt, der grundlegenden Rechte und OSZE-Standards wie das Büro in Eriwan bis hin
Pflichte n der Teilnehmerstaaten und deren Bezie- zu komplexen Einsätzen in Kriegs- u nd Kon-
hungen zur Organisation regelt. Trotzdem ist ein fliktgebieten wie in der Ukraine.
institut ionalisierter Aufba u der OSZE vorha nden.
Die öffe ntlichkeitswirksame Arbeit der OSZE lässt
Alle 57 OSZE-Teilnehmerstaaten genießen einen sich am Beispiel des Ukraine- Engagements der
gleichberechtigten St atus, Entscheidungen wer- OSZE aufzeigen. In de r Ukraine soll die Einhal-
den im Konsens gefällt und sind politisch, nicht tung der Feu erpa use u nd der Waffenabzug in der
aber rechtlich bindend. Beschlussfassende Gremi- Ostukraine überwacht werden. Da rüber hi naus ist
en der OSZE sind das Treffen der Staats- und Re- die OSZE in der Ukrai ne diplomatisch tätig. Mar-
gierun gschefs, der Ministerrat Uährliche Treffen), t in Sajdik führt als Sonderbeauftragter in der
der aus den Ständigen Vertretern bei de r OSZE in Dreier-Kontaktgruppe (Vertreter der Ukraine,
Wie n bestehende Ständige Rat, der mindestens Russlands und der OSZE) den Vorsitz. Die Aufga-
einmal pro Woche tagt, sowie das wöchentlich be der Kon taktgru ppe ist die Aushandlung der
tagende Forum für Sicherheitskooperation mit ei- Einzelheiten der Umsetzung der Minsker Verein-
gener Beschlusskompetenz in polit isch- militäri- barungen fü r einen Frieden in der Ostukraine.
schen Fragen.
In der Ukrai ne zeigt sich da bei unte r welchen Be-
Der Vorsitz (2017 Österreich, 2018 Italien) trägt dingungen die OSZE tätig werden kann: Nur im
übergreifende Verantwo rtung für exekutive Maß- Einvernehmen des Gastlandes und aller Mitglieder
nahmen. Der Generalsekretär der OSZE (seit Juli des Ständigen Rates kann eine solche Mission
201 7: Botscha~er Thomas Greminger, Schweiz) überhaupt eingerichtet und mit Angehörigen der
unterstützt den Amtierenden Vorsitzenden und lei- Teilnehmerstaaten besetzt werden.
6 Internationale Beziehungen

Bedeutung der OSZE heute OSZE liegt in der Möglichkeit der umfassenden
Einbeziehung aller Staaten mit ihren j eweiligen
Die OSZE gilt als Pfeiler der konventionellen Rüs- Interessen und Perspektiven bezogen auf Proble-
tungskontrolle, der militärischen Transparenz und me und Konflikte. Durch die im Konsens formu-
Vertrauensbildung in Europa. Das Forum für Si- lierten Standards für das Verhalten v on Staaten in
cherheitskooperation der OSZE ist mit seinen den Internationalen Beziehu ngen schafft sie No r-
wöchentlichen Tagungen das Organ für die Wei- men. Diese können zwar nicht eingeklagt werden,
terentwicklung der Rüstungskontrolle und der an ihnen kann aber die Politik von Teilnehmer-
ve rtraue ns- und sicherheitsbildenden Maßnah- staaten im Konfliktfall gemessen werden. Schließ-
men. lich kann die OSZE als eine Art internationale
Reserveorganisation bet rachtet werden, die immer
In den Medien ist die sicherheitspolitische Arbeit dann ein Forum für gleichberechtigte Verhand-
der OSZE kaum präsent. Deshalb erfährt ihre Tä- lungen bietet, wenn andere Verhandlungsformate
tigkeit häufig keine ausreichende Würdigung. In ausgeschöpft sind.
Konflikten kann sie als neut raler Mode rator, Be-
obachter und Schiedsrichter (Beobachtermission) Andererseits erschwert die große Zahl von 57 Mit-
Informationen a us e rster Hand sammeln und wei- gliedern die für Entsc heidungen notwendige Ein-
tergeben. Sie versucht, Krisen frühzeitig zu ent- stimmigkeit vo n Beschlüssen (Konsensprinzip).
schärfen, um sie nicht in gewaltsam ausgetragene Zudem kann die OSZE zur Beendigung vo n Kon-
Konflikte ausarten zu lassen. Wo dies nicht ver- flikten wede r selbst Streitkräfte einsetzen noch
hindert werden konnte, sollen nach Beendigung den Einsatz von Gewalt erlauben. Das Mandat von
der Kampfhandlungen Bedingungen für ein kon- Missionen wie die in der Ukraine unte rliegt Be-
fliktfreies Neben- und Miteinander von Gesell- grenzungen, die sich aus dem Konsensprinzip er-
schaften verbessert werden. geben. So wurde der 2014 von Deutschland und
Frankreich eingebrachte Vorschlag, die SMM
Diese prävent ive und nachsorgende Sicherheits- (Special Monitoring Mission) mit unbewaffneten
politik erfordert ein breites Spektrum vo n Maß- Aufklärungsdrohnen zur Überwachung der ostu-
nahmen, wie etwa die Beobachtung von Wahle n krainischen Konfliktgebiete auszustatten, im
oder die Früherkennung gesellschaftlicher und Herbst 2014 über Mo nate hinweg ergebnislos ver-
politischer Missstände (z. 8. eine diskriminierende handelt. Grundsätzlich ist die OSZE nicht in der
Behandlung von gesellscha ftlichen Minderhei- Lage, einen Konflikt zu beenden oder moderieren,
ten), die häufig erst mittelfristig oder langfristig wenn die Konfliktparteien den Konflikt selbst
Wirkung zeigen. Die Bedeutung der Arbeit der nicht lösen wollen.

Aufgaben
1. Beschreiben Sie die sicherheitspolitischen Aufgaben der OSZE.

2. Erläutern Sie die Möglichkeiten und Grenzen der OSZE in der internationalen Sicherheitspolitik.

3. Entwickeln Sie drei unterschiedliche Szenarien (• Methodenkompetenz: Szenariotechnik) für die Zukunft der
OSZE.
KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Die Wirksamkeit der OSZE

Karikatur: Jürgen Jc111s011

Aufgaben
1 . Analysieren Sie die Karikatur (, Methodenkompetenz: Karikaturen analysieren und interpre-
tieren).

2. Entwerfen Sie in Gruppenarbeit ein Konzept zur Stärkung des Einflusses der OSZE.

3. Diskutieren Sie darüber, ob die OSZE abgeschafft werden sollte.


6.3.4 Deutschland in den Internationalen Beziehungen
Leitfragen Welche Ziele verfolgt Was sind die Grundlagen deutscher Welche Bedeutung hat
Deutschland in den Inter- Außen-und Sicherheitspolitik? die Bundeswehr?
nationalen Beziehungen?

Deutschlands Ziele in den Instrumente deutscher Außen- und


Internationalen Beziehungen Sicherheitspolitik

Der deutschen und europäischen Außen- und Si- Deutschland engagiert sich nicht nur mit den
cherheitspolitik liegt der erweiterte Sicherheitsbe- klassischen Instrumenten der Außen- und Sicher-
griff zugrunde (> Kap. 6.1.1 ). Außenpolitik meint heitspolitik (Diplomatie und Militär), sondern
dabei die Gestaltung der Beziehungen eines Staa- wirkt auch in weiteren außen- und s icherheitspo-
tes zu anderen Staaten und zu internationalen Or- lit isch relevanten Bereichen der Internationalen
ganisationen, besonders die Herstellung zweiseiti- Beziehungen mit :
ger (bilateraler) oder mehrseitiger (multilateraler)
politischer, militärischer, wirtschaftl icher, rechtli- • Außenwirtschaftsbeziehungen: Deutschla nd ist
cher oder kultureller Beziehungen. Bestimmende stark mit der Weltwirtschaft verflochten und
Faktoren der Außenpolitik sind grundsätzlich die von ihrer Entwicklung abhängig. Mehr als jeder
geografische Lage und Größe eines Staates, seine v ierte Euro wird im Export von Waren und
Wirtschaftskraft, Geschichte und politische Ver- Dienstleistungen verdient, mehr als jeder vierte
fasstheit sowie seine politische Kultur: Arbeitsplatz hängt vom Außenhandel ab. Der
Export vo n Waren und Dienstleistungen ist des-
„Deutschlands wirtschaftliches und politisches halb ein zentraler Faktor der deutschen Kon-
Gewicht verpflichtet uns, im Verbund mit unseren junktur. Es ist Aufgabe der deutschen Außenpo-
europäischen und transatlantischen Partnern Ver- litik, deutsche Wirtschaftsinteressen zu förde rn
antwortung für die Sicherheit Europas zu über- und darüber hinaus zur weiteren Entwicklung
nehmen, um gemeinsam Menschenrechte, Frei- einer gerechten und nachhaltigen globalen
heit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Völker- Wirtschaftskooperation beizutragen.
recht zu verteidigen. Noch stärker als bisher müs- • Internationale Rechtsbeziehungen: Hierzu zäh-
sen wir für unsere gemeinsamen Werte eintrete n len etwa die Mitgliedschaft Deutschlands in in-
und uns für Sicherheit, Frieden und eine Ordnung ternatio nalen Gerichtshöfen und die Unter-
einsetzen, die auf Regeln gründet. [...]. Unser Ziel zeichnung völkerrechtlicher Verträge.
sollte dabei stets sein, Krisen und Konflikten vor- • Auswärtige Bildungs- und Kulturpolitik: Sie soll
zubeugen. Sicherheitspolitik muss vorausschau- die kulturellen Beziehungen zwischen Deutsch-
end und nachhaltig sein. Gleichzeitig müssen wir land und anderen Staaten stärken und die inter-
in der Lage sein, schnell auf gewaltsame Konflik- nationale Zusammenarbeit im Bereich For-
te zu reagieren, zu helfen und zu einer raschen schu ng und Hochschule fördern. Akteure der
Konfliktbeilegu ng beizutragen. Dafür ist es uner- auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik sind
lässlich, dass unsere zivilen und militärischen In- insbesondere die Goethe-Institute und die deut-
strumente zusammenwirken. Wir müssen die Welt sche n Ausla ndsschulen. Ein Schwerpunkt ist die
aber auch ehrlich und realistisch betrachten, denn Vermittlung und Förderung der deutschen Spra-
angesichts der Vielzahl an Herausforderungen in che im Ausland.
den Krisenregionen werden wir nicht allen mit
eigenen Kräften begegnen können. Deshalb müs- Welche Bedingungen bestimmen die deutsche
sen auch unsere Partner in anderen Regionen die- Außen- und Sicherheitspolitik?
ser Welt ihren Beitrag leisten. Dazu gehört, dass
wir sie durch eine breite Palette von Maßnahmen Die Rolle Deutschlands ist geprägt durch Bedin-
dazu befähigen, Krisen und Konflikte eigenstän- gungen, die sich aus seiner Lage, Größe und seinen
dig zu lösen." historischen Erfahrungen ergeben. Deutschland ist
Angela Merkel, in: Weißbuch 2016, S. 6 mit ca. 83 Millionen Einwohnern das bevölke-
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert 1

rungsreichste Land Europas und liegt in dessen


Zentrum, ist also von Nachba rstaaten umgeben. Was gibt das Grundgesetz vor?
Art. 1 Abs. 2: Das Deutsche Volk bekennt sich zu unverletzlichen
Deutschla nd hat in de r ersten Hälfte des 20. Jahr- und unveräußerlichen Menschenrechten
hunderts durch seine nationalistische Politik ein
Art. 24 Abs. 2: Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens
großes Maß a n Unglück über die Welt gebracht. einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen;
Viele, die Deutschland nach dem Zweiten Welt-
Art. 25: Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestand-
krieg wieder in die Staatenwelt zurückführen
teil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen
wollten, h atten selbst die Schrecken dieser Zeit
Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundes-
erfahren und vertraten Werte, wie Freiheit, Demo- gebietes.
krat ie und Menschenrechte aus tiefster Überzeu-
gung ; eine Haltung, die nach wie v or die deutsche Art. 26 Abs. 1: Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht
vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker
Außenpolitik bestimmt. Auch die beson dere Ver-
zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzu-
antwortung Deutschla nds gegenüber Israel ist bereiten, sind verfassungswidrig.
eine Konsequenz aus dieser Vergangenheit.
Art. 87a: (1) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. [...]
(2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt
Wä hrend des Ost-West- Konflikts war Deutschland
werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.
durch die Grenze zwischen de n beiden Blöcken
zweigeteilt; heute liegt es a n der „Wohlstands-
grenze" zu de n ehemaligen Ostblockstaaten und bedeuteten fü r Deutschland mehr a ußenpolitische
unte rhält freundschaftliche Beziehungen zu allen Verantwortung. Deutschla nd wurde zur g rößten
Nachbarstaaten. Als rohstoffar mes Land ist europäischen Regionalmac ht und musste neue
Deutschla nd besonders sta rk auf s ichere und sta- Verpflichtungen fü r die NATO bzw. die UNO über-
bile Handelswege a ngewiesen ; und somit auf gut nehmen. Instrumente deutscher Außenpolitik
funkti onierende Außenhandelsb eziehungen. blieben a ber nach wie vo r der Einsatz von Ver-
ha ndlungen und nicht militärischer Druck zur
Die Vereinigung der beide n deutschen Staaten Lösung vo n internationalen Ko nflikten, vor allem
1990 und das Ende der bipolare n Weltordnung im Rahmen der EU und UNO.

Einflussfaktoren auf die deutsche Außenpolitik

weltpolitische Ent-
geografische Lage und geo- Einstellungen der
wicklungen und Konflikte,
politisches Umfeld in der Nachbarländer und
Machtverteilung im
Mitte Europas Partner
internationalen System

Vorgaben und Wert-


vorstellungen des Grund- Bündnisverpflichtungen
gesetzes bzw. seine .........._ durch Mitgliedschaft in EU,
Interpretation durch das ........- UN, NATO, OSZE
Bundesverfassungsgericht

wirtschaftliche Be-
ziehungen zu anderen Einstellungen der
Ländern und Bürger und die öffentliche
weltwirtschaftliche Meinung zu Grundfragen
Entwicklungen der Außenpolitik

konzeptionelle Über-
legungen der Bundes-
t
die aus der deutschen die finanziellen
regierung Vergangenheit abzuleitende Möglichkeiten des
(und ggf. des Bundestagesl Verantwortung Bundeshaushalts
6 Internationale Beziehungen

Welche sicherheitspolitischen Interessen terstüt zt vom Auswärtigen Amt - und vom Bun-
verfolgt die Bundesrepublik Deutschland? deska nzler - assistiert von der auße npolitischen
Abteil ung des Kanzleramts - betrieben.
Im Weißbuch 2016 der Bundesregierung werden
als die sicherheitspolit ischen Interessen Deutsch- Ein wicht iger Bereich für die deutsche Außen- und
lands folgende Punkte formuliert: Sicherheitspolitik ist die internationale Diploma-
tie. Daneben sind a uch viele Aktivitäten anderer
• Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie der Ministerien, wie etwa des Verteidigungsministeri-
Souveränität und territorialen Integrität unseres ums oder des Ministeriums für wirtschaftliche
Landes; Zusammenarbeit und Entwicklung, der Außenpo-
• Schutz der territorialen Integrität, der Souverä- litik zuzuordnen. Außenpolitik ist also im Wesent-
nität sowie der Bürgerinnen und Bürger unserer lichen Aufgabe der Regierung; wenn auch der
Verbündeten; Bundestag zwar häufig über außenpolitische Fra-
• Aufrechterhaltung der regelbasierten internati- gen de battiert, seine Entscheidungskompetenzen
onalen Ordnung a uf der Grundlage des Völker- sind vo r allem auf Haushaltsfragen und der Zu-
rechts; stimmung zu Auslandseinsätzen begrenzt.
• Wohlstand unserer Bü rgerinnen und Bürger
durch Prosperität unserer Wirtschaft und freien
sowie ungehinderten Welthandel; Die Bundeswehr als Parlamentsarmee
• Förderung des verantwortungsvollen Umgangs
mit begrenzten Ressourcen und knappen Gütern Mit dem Ende des Kalten Kriegs und der Wieder-
in der Welt; erlangung der vollen Souveränität w urde von
• Vertiefung der europäischen Integration und Deutschland mehr Engagement in der internatio-
Festigung der transatlantischen Partnerschaft. nalen Sicherheitspolitik erwartet. Damit verbun-
Nach: Weißbuch 2016, S. 24 den war a uch die Beteiligung der Bundeswehr an
internationalen Friedenseinsätzen. Diese vorsich-
tige Neuorientierung löste heftige Debatten in
Wer macht in Deutschland Deutschland aus, wurde j edoch 1994 vom Bun-
Außen- und Sicherheitspolitik? desverfassungsgericht bestätigt, sofern d iese mit
Zustimmung des Bundestages stattfinden. Rein
Akteure der deutschen Außenpolitik sind die mit humanitäre Missionen hingegen bedürfen auch
der Wahrnehmung der auswärtigen Angelegen- weiterhin keiner Billigung durch das Parlament.
heiten betrauten Staatsorgane, interna tionale und Dieses Grundsatzurteil des Bundesverfassungsge-
supranationale Organisation en sowie Nichtregie- richts bekräftigte den Charakter der Bundeswehr
rungsorganisationen (NGOs). In Deutschland wird als einer „Parlamentsarmee".
Außenpolitik vor allem vom Außenminister - un-
Seit Ende des Kalten Krieges erlebt die Bundes-
wehr den Wandel weg von einer Verteidigungsar-
Eckdaten zur Geschichte der mee hin zu einem außen- und sicherheitspoliti-
Bundeswehr sche n Instrument im Hinblick auf die neuen
globalen Herausforderungen und Verpflichtun-
1955 Gründung gen. Damit wandelt sich auch das Selbstbild der
1956 Einführung der allgemeinen Wehrpflicht
Streitkräfte, da die eigenen Fähigkeiten vor einem
1962 Bundeswehr im Einsatz bei der großen Sturmflut in Hamburg
1968 Grundgesetzänderung, wonach die Bundeswehr bei Katas-
militärischen Angriff auf das eigene Land abzu-
trophen im Innern eingesetzt werden darf schrecken, in den Hintergrund treten.
1994 Bundesverfassungsgericht erklärt Bundeswehreinsätze im
Rahmen von Bündniseinsätzen für zulässig Seit 1990 sank dementsprechend auch der Anteil
1999 Beteiligung im Kosovo-Krieg Der Verteidigungsausgaben am Bruttoinla ndspro-
2000 Frauen dürfen nach einem Urteil des EUGH auch Dienst an dukt a uf weniger als die Hälfte, da sich zum einen
der Waffe ausüben
die Bedrohungslage verändert hatte und zum an-
2001 Beteiligung an der Terrorbekämpfung in Afghanistan
deren angesichts der zeitgleichen wirtschaftlichen
2011 Aussetzung der Wehrpflicht
Herausforderungen nach der Wiedervereinigung
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert 1

Ausgaben für Verteidigungsanstrengungen in den der Wehrpflicht, die bei Bedarf mit einfacher
Hintergrund traten. Mehrheit im Bundestag prinzipiell j ederzeit wie-
der eingeführt werden ka nn, gehen Prognosen
Während die Truppenstärke der Bundeswehr in z. T. vo n noch weniger Soldaten a us. Zukünftig
den l 980er J a hren noc h bei fast 500.000 Mann sollen z udem mobile Einheiten mit bis zu 10.000
lag, liegt d ie Anzahl aktuell bei ca. 180.000 Soldaten g leichzeitig im Ausland aktiv sein
Soldaten und Soldatinnen. Durch die Aussetzung können.

Einsätze und einsatzgleiche Verpflichtungen der Bundeswehr

Sea Guardian
Mittelmeer

Einsatz Einsatzgleiche Verpflichtung


Einsatzland/Gebiet Einsatzland/Gebiet

Nach : Einsatzflihrungskommando der Bundeswehr, Stand März 2017

Aufgaben
1. Legen Sie die Ziele und Grundlagen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik dar.

2. Erklären Sie, inwieweit der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik der erweiterte Sicherheitsbegriff zu Grun-
de liegt.

3. Beurteilen Sie, ob die Bundeswehr verstärkt zu Auslandseinsätzen herangezogen werden sollte. Gehen Sie
dabei in Gruppenarbeit vor.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Deutschlands Rolle in der Welt: Anmerkungen zu Verantwortung, Normen


und Bündnissen

Joachim Gauck hat diese Rede auf der 50. Münchner Sicherheitskonferenz am 31.
Januar 2014 in seiner damaligen Funktion als Bundespräsident gehalten.

Fünf Jahrzehnte Münchner Sicherheitskonferenz spiegeln ein gutes Stück Geschichte


der Bundesrepublik Deutschland: von der Verteidigung des Westens hin zur globalen
5 Ordnungspolitik und von der Wehrkunde zu einem umfassenden Sicherheitsbegriff.
Was für ein Bogen! Als die Tagung erstmals hier in München stattfand, waren Deutsch-
land und seine Hauptstadt geteilt und sie standen unter atomarer Bedrohung. Heute
treiben uns neue Spannungen und neue Kriege um: zwischen Staaten und innerhalb
von Staaten, in der Nähe und in der Ferne. [...]
10 Der runde Geburtstag gibt Anlass zur Rückschau , aber natürlich vor allem zum Blick
nach vorn. Deshalb möchte ich heute über den Weg der Bundesrepublik sprechen -
und darüber, wo er in Zukunft hinführen kann. Denn wir Deutschen sind auf dem Weg
zu einer Form von Verantwortung, die wir noch wenig eingeübt haben.
Kurzum: Ich möchte sprechen über die Rolle Deutschlands in der Welt.

15 Eines gleich vorweg: Dies ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir jemals hatten.
Das auszusprechen, ist keine Schönfärberei. Als ich geboren wurde, herrschten die
Nationalsozialisten, die die Welt mit Leid und Krieg überzogen haben. [... ] Unser Land
war zerstört, materiell und moralisch. Schauen wir uns an, wo Deutschland heute steht:
Es ist eine stabile Demokratie, frei und friedliebend, wohlhabend und offen. Es tritt ein
20 für Menschenrechte. Es ist ein verlässlicher Partner in Europa und in der Welt, gleich
berechtigt und gleich verpflichtet. [... ]
Ohne Zweifel stimmt an diesem Argument, dass die deutsche Außenpolitik solide
verwurzelt ist. Ihre wichtigste Errungenschaft ist, dass Deutschland mit Hilfe seiner
Partner auf eine Vergangenheit aus Krieg und Dominanz eine Gegenwart von Frieden
25 und Kooperation gebaut hat. Dazu zählen die Aussöhnung mit unseren Nachbarn, das
Staatsziel der europäischen Einigung sowie das Bündnis mit den Vereinigten Staaten
als Grundpfeiler der Nordatlantischen Verteidigungsallianz. Deutschland tritt ein für
einen Sicherheitsbegriff, der wertebasiert ist und die Achtung der Menschenrechte
umfasst. Im außenpolitischen Vokabular reimt sich Freihandel auf Frieden und Waren-
30 austausch auf Wohlstand. [ ...]
Deutschland ist überdurchschnittlich globalisiert und es profitiert deshalb überdurch-
schnittlich von einer offenen Weltordnung - einer Weltordnung, die Deutschland er-
laubt, Interessen mit grundlegenden Werten zu verbinden. Aus all dem leitet sich
Deutschlands wichtigstes außenpolitisches Interesse im 21. Jahrhundert ab: dieses
35 Ordnungsgefüge, dieses System zu erhalten und zukunftsfähig zu machen. [ ...]
Aber Europas Krise verunsichert uns. Auch an der NATO halten wir fest. Aber über die
Ausrichtung der Allianz debattieren wir seit Jahren, und ihrer finanziellen Auszehrung
werfen wir uns nicht entgegen. Das Bündnis mit den Vereinigten Staaten stellen wir
nicht in Frage. Aber Stresssymptome und Zukunftsungewissheit beobachten wir
40 durchaus. Die regelbasierte Welt der Vereinten Nationen halten wir in hohen Ehren.
Aber die Krise des Multilateralismus können wir nicht ignorieren. Die neuen Weltmäch-
te, wir sähen sie gerne als Teilhaber einer Weltordnung. Aber einige suchen ihren Platz
nicht in der Mitte des Systems, sondern eher am Rande. Wir fühlen uns von Freunden
umgeben, wissen aber kaum, wie wir umgehen sollen mit diffusen Sicherheitsrisiken
45 wie der Privatisierung von Macht durch Terroristen oder Cyberkriminelle. [... ]
Lassen Sie mich ein paar Beispiele in Fragen kleiden: Tun wir, was wir tun könnten, um
unsere Nachbarschaft zu stabilisieren, im Osten wie in Afrika? Tun wir, was wir tun
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

müssten, um den Gefahren des Terrorismus zu begegnen? Und wenn wir überzeugen-
de Gründe dafür gefunden haben, uns zusammen mit unseren Verbündeten auch mi-
so litärisch zu engagieren, sind wir dann bereit, die Risiken fair mit ihnen zu teilen? Tun
wir, was wir sollten, um neue oder wiedererstarkte Großmächte für die gerechte Fort-
entwicklung der internationalen Ordnung zu gewinnen? Ja, interessieren wir uns über-
haupt für manche Weltgegenden so, wie es die Bedeutung dieser Länder verlangt?
Welche Rolle wollen wir in den Krisen ferner Weltregionen spielen? Engagieren wir uns
55 schon ausreichend dort, wo die Bundesrepublik eigene und eigens Kompetenz entwi-

ckelt hat - nämlich bei der Prävention von Konflikten? Ich meine: Die Bundesrepublik
sollte sich als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen.
Deutschland zeigt zwar seit langem, dass es international verantwortlich handelt. Aber
es könnte - gestützt auf seine Erfahrungen bei der Sicherung von Menschenrechten
so und Rechtsstaatlichkeit - entschlossener weitergehen, um den Ordnungsrahmen aus
Europäischer Union, NATO und den Vereinten Nationen aufrechtzuerhalten und zu
formen. Die Bundesrepublik muss dabei auch bereit sein, mehr zu tun für jene Sicher-
heit, die ihr von anderen seit Jahrzehnten gewährt wurde.
Nun vermuten manche in meinem Land im Begriff der „internationalen Verantwortung"
65 ein Codewort. Es verschleiere, worum es in Wahrheit gehe. Deutschland solle mehr

zahlen, so meinen die einen, Deutschland solle mehr schießen, so sagen die anderen.
Und die einen wie die anderen sind davon überzeugt, dass „ mehr Verantwortung" vor
allem mehr Ärger bedeute. Es wird Sie nicht überraschen: Ich sehe das anders. (... ]
Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein. Eines haben wir
10 gerade in Afghanistan gelernt: Der Einsatz der Bundeswehr war notwendig, konnte

aber nur ein Element einer Gesamtstrategie sein. Deutschland wird nie rein militärische
Lösungen unterstützen, es wird politisch besonnen vorgehen und alle diplomatischen
Möglichkeiten ausschöpfen. Aber wenn schließlich der äußerste Fall diskutiert wird -
der Einsatz der Bundeswehr-, dann gilt: Deutschland darf weder aus Prinzip „nein"
15 noch reflexhaft „ja" sagen. [ ... ]

Das Prinzip der staatlichen Souveränität und der Grundsatz der Nichteinmischung
dürfen gewalttätige Regime nicht unantastbar machen. Hier setzt das „Konzept der
Schutzverantwortung" an: Es überträgt der internationalen Gemeinschaft den Schutz
der Bevölkerung vor Massenverbrechen, wenn der eigene Staat diese Verantwortung
so nicht übernimmt. [... ]
Um seinen Weg in schwierigen Zeiten zu finden, braucht Deutschland Ressourcen, vor
allem geistige Ressourcen - Köpfe, Institutionen, Foren. Jedes Jahr eine Sicherheits-
konferenz in München - das ist gut, aber nicht genug [... ]Außenpolitik soll doch nicht
eine Sache von Experten oder Eliten sein - und Sicherheitspolitik schon gar nicht. Das
s5 Nachdenken über Existenzfragen gehört in die Mitte der Gesellschaft. Was alle angeht,

das soll von allen beraten werden.

Joachim Gauck, Deutschlands Rolle in der Welt - Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnis-
sen, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Nr. 7, 2014 S. 166.ff.

Aufgaben

1 . Analysieren Sie die Rede Gaucks im Hinblick auf die zukünftigen Prinzipien und Aufgaben
deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.

2. Setzen Sie sich mit den Gedanken Gaucks zur Außen- und Sicherheitspolitik auseinander.

3. Schreiben Sie, an Gauck adressiert, eine Stellungnahme zu seiner Rede.


Globale Sicherheit,
• Entwicklung und Armut

6.4.1 Das Nord-Süd-Gefälle


Leitfragen Wie hängen Sicherheit. Wie sind Ressourcen, Reichtum Was heißt Unterentwicklung
Entwicklung und Armut und Armut global verteilt? und wo liegen die Ursachen
zusammen? für Unterentwicklung?

Globale Sicherheit und Armut

Auf den ersten Blic k erscheint der Zusammenhang enge Wechselwirkung zwischen Hu n ger und Ar-
zwischen Armut und Sicherheit nicht ersichtlich. mut.
Erst durch die Zunahme der Flüchtlinge weltweit
und dem Zustrom 2015 von fast einer Million Für UNO und Weltbank gelten Menschen als ab-
Menschen nach Deutschland offenbarte sich, dass solut arm, wenn sie weniger als de n Gegenwert
Entwicklungsdefizite häufig die Ursache für von 1,60 US-Dollar am Tag zur Verfügung ha-
Migration darstellt. Deshalb geriet auch die Ent- be n. Dies traf nach UN-Angaben zufolge 1990 auf
wicklu ngspolitik zunehmend in den Fokus. Mit ihr fast die Hälfte der Bevölkerung der Entwicklungs-
ve rband man die Möglichkeit, Entwicklungsdefi- länder zu und ko nnte bis 2015 auf 14 Prozent
zite auszugleichen und damit Fluchtursachen zu gesenkt werden. Der Interessengegensatz, der sich
bekämpfen. Zu den wesentlichen Ursachen für aus d er unterschiedlichen ökonomischen Lage
Flucht gehören gewaltsame Konflikte, Armut, Un- zwischen dem reich en Norden (vor allem Europa,
terdrückung von Minderheiten, failing states und Japan, No rdamerika) und dem armen Süden (vor
Umweltkatastrophen (>Kap. 6.3). allem Afrika, Südasien) ergibt, bestimmt auch die
polit ischen Beziehungen und wird als Nord-Süd-
Konflikt bezeichnet. Dabei umfassen die „Länder
Armut und Entwicklung in der Welt des Globalen Nordens" die industrialisierten Län -
der, während die „Länder des Globalen Südens"
Armut beschreibt allgemein einen Mangel an Gü- die Entwicklungsländer meint. Die Diskussion um
tern, die zum Überleben benötigt werden. Es wird die Ursachen von Armut und der Kluft zwischen
untersch ieden zwischen absoluter und relativer Reich und Arm in der Welt wird ko ntrovers ge-
Armut: Als absolut arm gelten Menschen, die in führt, schließt die jeweilige Antwort doch a uch
einer existenzbedrohenden Mangelsituation leben grav ie rende Vorwürfe an politische und wirt-
(Mangel an Gütern wie Wasser, Nahrung, Klei- schaftliche Akteure mit ein.
dung und Wohnung). Relative Armut bezeichnet
einen Zustand, in dem zwar das physische Exis-
tenzminimum gesichert ist, der Lebensstandard Merkmale von Entwicklungsländern
aber erhebli ch unte r dem Durchschnitt der eige-
nen Gesellschaft liegt (soziokultu relles Existenz- Gemeinhin kann als Charakteristikum für Ent-
minimum). Während relative Armut vor allem ein wicklungsländer gelten, dass diese nicht in der
Problem in Industrielä ndern ist (laut UN-Definiti- Lage sind, für große Teile ihrer Bevölkerung
on stehen weniger als 50 Prozent, la ut EU-Defini- grund legende Existenzbedürfnisse zu befriedigen.
t ion weniger als 60 Prozent des durchschnittli- Eine allgemein gült ige Definitio n ist umsttritten.
chen Einko mmens des jeweiligen Landes zur Entwicklungsländer weisen aber bestimmten
Verfügung), sind Entwicklungsländer vo r allem Merkmalen auf, die in unte rschiedlicher Ausp rä-
von absoluter Armut betroffen. Dort besteht eine gu ng vorkommen, dazu zählen u. a.:
6.4 Globale Sicherheit, Entwicklung und Armut

• hohes Bevölkerungswachstum und Verjüngung • geringes Pro-Kopf-Einkommen


des Bevölkerungsaufbaus • geringe Arbeitsproduktivität
• Unter- bzw. Mangelernährung in weiten Teilen • einseitige Produktionsstruktur
der Bevölkerung • hohe Auslandsverschuldung
• starke Disparitäten zwischen Stadt und Land,
umfangreiche Wanderungsbewegung, unkont- Bei einer genaueren Betrachtung zeigen sich gro-
rollierte Verstädterungsprozesse und Slumbil- ße Unterschiede im Ausmaß und in der Entwick-
dung lung einzelner Staaten. Während es vor allem den
• schlechte medizinische Versorgung, hohe Säug- ostasiatischen Ländern zu gelingen scheint, bitte-
lingssterblichkeit re Armut allmählich zu verringern bzw. eine brei-
• niedrige Lebenserwartung te re Mittelschicht auszubilden, konzentrieren sich
• relativ hohe Analphabetenquote die Probleme in Afrika südlich der Sahara und
• ungleiche Vermögens- und Einkommensver- Südasien. Diese Regionen stehen mittlerweile als
hältnisse Synonym für die Vierte Welt.

Einkommen global

Ungleiche Lebensbedingungen
Zugang zu Zugang zu Kinder- Besuch Gesundheits-
sauberem sanitären sterblichkeiit weiterführen- ausgaben
Wasser Einrichtungen unter 5 Jahren der Schulen

-+---
liii III -+---
,,-, !D!
-=----+--= ---+--
Länder mit in % der Bevöl kerung je 1 000 Kinder in % pro Kopf
niedrigem und der ent- in US-Dollar*
mittlerem sprechenden
Einkommen Altersgruppe

Südasien 234

Naher Osten
und Nordafrika
Ostasien
und Pazifik

Lateinamerika 1 087
und Karibik
Europa und
1 174
Zentralasien
zum Vergleich:
Länder mit 5193
hohem
Einkommen
Quelle: Weltbank 2016 © Glob"' l~I *umgerechnet mit Kaufkraftparitäten
jeweils letzter verfügbarer Stand

Wie kann Entwicklung gemessen werden?

Eine Grundlage zur Messung von Wohlstand stellt • die Lebensdauer gemessen als Lebenserwartung
der „Index der menschlichen Entwicklung" (Hu- bei der Geburt,
man Development Index - HDI) dar, der von einer
Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen konstruiert • das Bildungsniveau gemessen als eine Kombi-
worden ist. Er umfasst drei Teilelemente: nation aus der Analphabetisierungsrate von Er-
6 Internationale Beziehungen

wachse nen (zwei Drittel) sowie der Gesamtein - In den HDI gehen die drei Teilelemente Lebens-
schulungsrate der Kinder und Jugendl ichen, die dauer,. Bildungsniveau und Lebensstanda rd je-
sich auf die verschiedenen Schulstufen verteilen weils zu einem Drittel e in. Der Index wird so be-
rechnet, dass er für alle Länder zwischen O und 1
• und den Lebensstandard gemessen als liegt. Die bewerteten Länder lassen sich dann
Pro-Kopf-Einkommen in realer Kaufkraft, wo- gruppieren. So z.B. Lä nder mit einem hohen (HOi
bei das Einkommen oberhalb eines als angemes- größer als 0,8), mittleren (HDI zwischen 0,5 und
sen betrachteten Gren zwertes in ab nehmendem 0,8) und niedrigen (HDI unter 0,5) Entwicklungs-
Maße berücksichtigt wird. stand.

HOi global

Lebensbedingungen in der Welt


Der Index der menschlichen Entwicklung (HDI) 2015 bewertet den durchschnittlichen Stand von 188 Ländern
in grundlegenden Bereichen der menschlichen Entwicklung. Dazu zählen unter anderem die Lebenserwartung
bei der Geburt, die durchschnittliche Schuldauer und das Pro-Kopf-Einkommen.

Hier ist die menschliche Entwicklung ... • sehr hoch hoch mittel • niedrig • keine Angaben

1 6
- 4


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5 --11"-.!

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Die Länder mit der höchsten


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bzw. niedrigsten menschlichen
Entwicklung

sehr hoch niedrig


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2
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1 Norwegen 184 Burundi
2
3
4
Australien
Schweiz
Dänemark
185
186
187
Tschad
Eritrea
Zentralafr. Rep. ,
,rar}
5 Niederlande 188 Niger
6 Deutschland Quelle: UNDP 2015 © Globus ~

Ursachen der Unterentwicklung

Die Ursachen für Unterentwicklung und Armut Güter und kan n im Extremfall zum Ausfall gan-
sind vielschichtig, meist miteinander verflochten, zer Ernteerträge und da mit zu einer Nichtver-
bedingen sich oft gegenseitig und lassen nicht in sorgung der Bevölkerung führen (> Kap. 6.2.4).
j edem Falle eine tre nnsch arfe Unterscheidung
zwischen natürlichen, externen un d internen Fak- • Das Vorhandensein von Rohstoffen , die abge-
toren zu. Allgemein lasse n sich j edoch folgende baut werden können , ist ein wichtiger Faktor für
Entwicklungshemmnisse ide ntifizieren: die Produkt ion vo n Gütern. Ein Nichtvorhan-
densein w irkt sich als verstärkender Faktor für
Natürliche Faktoren - Rohstoffvorkommen und Unterentwicklung aus (>Kap. 6.2.4).
klimat ische Bedingungen:
• Umweltka tastrophen, wie Erdbebe n und Tsuna-
• Das Klima hat wesentlichen Einfluss a uf die Be- mis können verheerende Auswirkungen auf be-
dingung für den Anbau landwirtschaftlicher reits schon geschwächte Gesellsch aften haben.
6.4 Globale Sicherheit, Entwicklung und Armut 1

Interne Faktoren - Bedingungen in den Entw ick- Externe Faktoren - Einflüsse des Welthandels:
lungsländern:
• Internationale Rohstoffproduzenten beuten
• Durch Kriege und Bürgerkriege sowie Staats- v ielfach die Bodenschätze in Entwicklungs-
zerfall wird in betroffenen Länd ern (z.B. Soma- ländern aus, ohne einen e ntsprechenden Anteil
lia, Sudan) seitens der Regierung, der Verwal- ihrer Gewinne dort zu belassen.
tung bzw. der Konfliktparteien nicht nur
j eglicher Fortschritt verhi ndert, sondern auch • Durch die Abschottung heimischer Märkte hin-
die ohnehin meist sch lechte Infrastruktur ge- dern die Industrieländer die Entwicklungsländer
schädigt. Zugleich lösen sich staatliche Struktu- daran, ihre Exportchancen wahrzunehmen
ren auf, sodass selbst ein Mindestmaß an staat- (Protektionismus); gerade durch Su bventionen
licher Daseinsvorsorge und Sicherheit unmög- fü r die eigene Landwirtsch aft (Agrarprotekt io-
lich wird (> Kap 6.2.2). n ismus) der Industrieländer gehen den Entwick-
lungsländern nach Berechnungen der Weltbank
• In vielen Staaten - vor alle m in Afrika - verhin- jährlich über 60 Milliarden US-Dollar verlo ren
dern Demokratiedefizite, Korruption, Misswirt- (> Kap 2.7. 1).
schaft und Selbstbedienungsme ntalität in der
Führung und Verwaltu ng (,,Bad Governance"), • Produkte mit ein em hohen Verarbeitungsgrad
dass Hilfe von außen wirksam eingesetzt wer- werden in Industrieländern mit hohen Zöllen
den kan n. Zudem wird dadurch die Legitimität belastet. Dies füh rt dazu, dass die meisten Ent-
der Hilfen untergraben. Diese Umstände lähmen wicklungsländer hauptsächlich Rohstoffe ex-
häufig auch die ökonomische Aktivität inner- portieren (z.B. Kakao-, Kaffeebohnen, Baum-
halb der Gesellschaft (>Kap 6.2.2). wolle) und teilweise von nur einem Export-
produkt a bhä ng ig sind. Diese einseitig ausge-
• Die in besonders armen Gesellschaften oft ra- richtete Handelsstruktur führt bei Preisverfall
sante Zunahme der Bevölkerungszahl ve rhin- des jeweiligen Rohstoffes au f dem Weltmarkt zu
dert häufig, dass wirtschaftliche Fortschritte zu erhebliche n Devisenverlusten für die Entwick-
einem Anstieg des Pro-Kopf- Einkommens füh- lungsländer. Die EntwickJungsländer müssen
ren. Es erweist sich meist als unmöglich, für die heute beispielsweise doppelt so viel Kaffee ex-
zunehmende A nzahl von Jugendlichen entspre- portie ren, um die gleiche Menge an Dünger zu
ch ende Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten importieren wie etwa noch vor zwei Jahrzehn-
zu schaffen. Zugleich verstärkt der Anstieg der ten. D. h. die wirtschaftlichen Austauschverhält-
ländlichen Bevölkerung eine Überbeanspru- nisse - die sog. Te rms ofTrade - haben sich zum
chung und Zerstörung der natürlichen Produk- Nachteil der EntwickJungsländer verändert
tionsgrundlagen (>Kap 6.2.5). (> Kap 2. 7 .2).

• In manchen Regionen besteht eine stark unglei-


che Land- und Einkommensverteilung (wenige
Großgrundbesitzer gegenüber zahlreichen
Landlosen). Die extrem ungleichen Besitzver-
Terms of Trade
h ältnisse stören den sozialen Frieden und ver- Die „Terms of Trade" stellen das Verhältnis der
h indern gesamtgesellschaftliche EntwickJung. durchschnittlichen Preise für Exportgüter zu denje-
nigen für Importgüter dar. Steigen beispielsweise
• In v ielen Ländern erweist sich d ie Benachteili- die Exportpreise schneller als die Preise für einge-
gung der Frauen (kaum Chancen auf Schulbil- führte Waren, so verbessern sich die Terms of Tra-
de; bei einer gleichbleibenden Ausfuhrmenge kann
dung für Mädchen, Festlegung auf die innerfa-
also mehr eingeführt werden. Man bezeichnet die
miliäre Rolle) als wichtiger Hinderungsgrund Terms of Trade auch als „reales Austauschverhält-
für positive wirtschaftliche und soziale Ent- nis", weil sie angeben, wieviel Güter man bei einer
wickJungen. Aber auch tradition elle Werteord- gleichbleibenden Ausfuhrmenge einführen kann.
n ungen verhindern beispielsweise durch religi-
öse Gebote an modernen Wirtschaftsordnungen Uli Jäger, Pocket global - Globalisierung in Stich worten,
2004, s. 116
ausgerichtetes Handeln.
6 Internationale Beziehungen

Entwicklungsrückstände - Erklärungsfaktoren

Theorien Maßnahmen / Strategien


endogene Modernisierungstheorie: Weltmarktintegration, Sickereffekte
Ursachen Erklärt Entwicklungsrückstände durch (Trickle-Down-Effect) führen nach Phasen
Modernisierungsdefizite der Entwicklungs- ungleichmäßigen Wachstums der wirt-
länder (z. B. im Bereich Infrastruktur, schaftlichen Zentren auch zu Entwick-
Bildung, Mentalität); lungsfortschritten im gesamten Land
Tribalismus: von traditionellen Stammes- (Peripherie).
strukturen beherrschtes politisch-gesell-
schaftliches System mit wenig individuellen
Entscheidungsspielräumen und hohem
innerstaatlichem Konfliktpotential.
exogene Dependenztheorie: Abkoppelung vom Welthandel, autozent-
Ursachen Entwicklungsrückstände erklären sich rierte Entwicklung
durch ökonomische Abhängigkeiten der
Entwicklungsländer von den Industrielän-
dern. Historisch aufgrund des Kolonialis-
mus, heute aufgrund ungleichen Handels
bei dem die stärkeren Industrieländer mit
ihren transnationalen Unternehmen dank
ihrer Marktmacht den schwächeren
Entwicklungsländern Preisstrukturen und
Lieferbedingungen diktieren können - häu-
fig auch mithilfe protektionistischer
Methoden. Große Abhängigkeiten von
Rohstoffweltmarktpreisen.
natürliche Geodeterminismus: Possibilismus: Den menschlichen Ent-
Ursachen Forschungsansatz aus der Geographie. scheidungs-, Interpretations- und Gestal-
Ursachen der Unterentwicklung sind in tungsspielräumen werden innerhalb
erster Linie durch die natürliche Ausstat- bestimmter sozialer und physischer
tung des Wirtschaftsraums bestimmt. Grenzen Möglichkeiten der Veränderungen
eingeräumt.

Aus unte rschiedlichen Erklärungsansätzen für tutionen wie etwa der Internationale Währungs-
Unterentwicklung entstande n verschiedene Theo- fonds, Regierungen der Industrieländer und die
rien und Lösungsmodelle: Für manche sind die Mehrheit der Wirtschaftsfachleute betonen die
Folgen des Kolonialismus und die fortwährende Vorzüge für alle beteiligten Länder ; Globalisie-
Ausnutzung der schwächere n ökonomischen Po- rungskritiker sehen hingegen als Ergebnis eine
sit ion der Entwicklungsländer durch die Industri- wachsende Kluft zwischen de n Ländern des Glo-
eländer ursächlich für die Armut (Kernthese der balen Nordens und Ländern des Globalen Südens.
Dependenztheorie), a ndere sehen die Ursachen
vor allem in den ungenügenden gesellschaftli - Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich in den
chen, polit ischen und wirtschaftlichen Bed ingun- J ahren verstärkter Globalisierung einerseits ver-
gen in den Entwicklungsländern und fordern die größert. Andererseits verzeichne n einige Regio-
Modernisierung deren gesellschaftlicher und wirt- nen deutliche Fortschritte bei der Armutsreduzie-
schaftlicher Strukturen (Kernthese der Moderni- rung. Weltweit sinkt der Anteil der absolut Armen,
sierungstheorie). wobei g roße Unterschiede zwische n den Weltregi-
onen a uffallen. Folgende Auswirkungen der Glo-
balisierung auf die Entwicklungsländer sind dabei
Globalisierungsfolgen für Entwicklungsländer weitgehend unbestritten:

Die Ko nsequenzen der Globalisierung fü r die wirt- • Länder, die sich gegen internat ionale Wi rt-
schaftliche Lage in den Entwicklungsländern wer- schaftsbeziehungen und den Welthandel ab-
den gegensätzlich beu rteilt. Internationale Insti- schotten, geraten in ihrer ökonomischen Ent-
6.4 Globale Sicherheit, Entwicklung und Armut 1

wicklung gegenüber der globalisierten Welt (Bildungssystem, Verkehrswege, öffentliche


schnell ins Hintertreffen. Verwaltung und Rechtssystem).

• Gleiches gilt für Lände r, welche wegen ihrer in- • Im Zuge der Globalisierung wachsen die Wohl-
n eren Probleme (z. B. Korruption, sch lechte standsunterschiede sowo hl zwischen de n Staa-
Ausbildungsmöglichkeiten bzw. Wirtschafts- ten als au ch innerhalb der Entwicklungs- und
struk turen, etc.) und wegen des Ma ngels an ex- Schwellenlä nder.
portfä higen Produkten bish er vo m internatio-
n alen Wa renaustausch a usgeschlossen sind. • Einige Schwellenlä nder vor allem in Süd- und
Ostasien haben das weltweit höchste Wirt-
• Inwieweit Entwicklungsländer v on der Globali- schaftswachstum. Der durchschnittliche Wohl-
sierung profitieren können, hä ngt davon ab, ob stand der Bevölkerung wächst, allerdings bei oft
der ökonomische Strukturwandel durch staatli- extrem ungleiche r Verteilung der Einkommen
che Maßnahmen abgefedert u nd die Qualität der und bestehender Armut große r Bevölkerungs-
öffe ntlichen Infrastruktur verbessert werden schichten.

Aufgaben

1. Beschreiben Sie den Zusammenhang zwischen Armut und Sicherheit.

2. Erklären Sie, wie natürliche, endogene und exogene Ursachen Unterentwicklung bedingen. Untersuchen Sie
dafür in Gruppen jeweils eines der am wenigsten entwickelten Länder nach den Ursachen der Unterentwick-
lung.

3. Beurteilen Sie, ob eine Flucht aus wirtschaftlichen Gründen legitim ist und reiche Staaten zur Aufnahme
dieser Flüchtlinge verpflichtet sein sollen. Führen Sie dazu eine Eishockey-Diskussion(, Methodenglossar) im
Kurs durch.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

M 1 Sozialtourismus

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Karikatur: Sch1vanvel

Aufgaben

1 . Analysieren Sie die Karikatur (, Methodenkompetenz: Karikaturen analysieren und interpre-


tieren).

2. Interpretieren Sie die Aussage der Karikatur vor dem Hintergrund der Entwicklung der
Lebensbedingungen in der Welt.

3. Entwickeln Sie Strategien gegen Unterentwicklung und Armut. Nehmen Sie Bezug auf den
Umgang mit internen, externen und natürlichen Faktoren.
6.4.2 Entwicklungspolitik
Leitfragen Welche Motive bestimmen die Welche Strategien und Ziele Wie ist Entwicklungs-
Entwicklungszusammenarbeit? sollen Sicherheit herstellen? politik zu beurteilen?

Was macht Entwicklungspolitik aus? Hat Entwicklungszusammenarbeit etwas


mit Sicherheitspolitik zu tun?
Seit den 1960er J ahren gibt es Versuche der In-
dustrieländer, ärmere Staaten bei der ökonomi- Verbreitete Armut und Perspektivlosigkeit in den
schen und gesellschaftlichen Entwicklung zu Entwicklungslä ndern kann unter Umständen
unterstützen. Der lange Zeit gebräuchliche Be- auch die Unterstützung in der Bevölkeru ng für
griff „Entwicklungshilfe" wurde später durch den terroristische Bewegungen bzw. diktatorische Re-
neutraleren Begriff der Entwicklungspolitik er- gierungen erhöhen und gilt dementsprechend als
setzt. Um zu verdeutlichen, dass Erfolge sowohl Sicherheitsrisiko. Entwicklungszusammenarbeit
Bemühungen de r unterstützenden als auch der zu hat deshalb heute einen direkten Bezug zur Si-
entwickelnden Staaten benötigen, wird heute cherheitspolitik. Sie soll einen wesentlichen Bei-
vielfach auch von Entwicklungszusammenar- trag zur Prävention vo n innerstaatlichen und zwi-
beit oder Entwicklungspartnerschaft gesprochen. schenstaatlichen Konflikten leisten. Dahinter
steht die Überzeugung, dass die Ursachen von
Konflikten in sozioökonomische Ungleichheiten
Welche Motive bestimmen die u nd damit verbunden in schwachen staatlichen
Entwicklungspolitik? Stru kturen liegen.

Die Kluft zwischen den Gesellschaften der Indus- So soll Entwicklungszusammenarbeit globalen
trieländer und dem armen Teil der Welt bedeutet Herausforderungen, wie der Destabilisierun g gan-
eine politische und moralische Herausforderung zer Regionen durch Bürgerkriege, Hunge rsnöten,
für die Staatengemeinschaft, gerade angesichts Pandemien mittel- und langfristig entgegenwir-
globaler Bedrohungen. Der Gegensatz zwischen ken. War Entwicklungshilfe früher eher als Almo-
Arm und Reich kann als Ungerechtigkeit gesehen sen für arme Staaten und als Gebot der Mensch-
werden, die aus ethischen bzw. moralischen Grün- lichkeit gesehen worden, ist Entwicklungspolitik
den die reichen Gesellschaften zur Hilfe verpflich- in der globalisierten Welt ein Instrument, globale
tet. Gleichzeitig wird die Politik aus der Kolonial- Sicherheit zu schaffen (> Kap. 6.1.1 ). Sie versteht
zeit für etliche Fehlentwicklungen verantwortlich Sicherheit dabei nicht im globalen Machtgefüge,
gemacht (Grenzziehungen, Ausbe ut ung von Bo- sondern als menschliche Sicherheit. Das Ziel von
denschätzen etc.), woraus eine besondere Verant- Entwicklungspolitik ist dementsprechend der
wortung für die Industrieländer erwächst. Schutz bzw. die Förderung der Überlebens- und
Entfaltungschancen von allen Menschen.
Jedoch g ibt es auch ein Eigeninteresse der Indus-
trieländer an einer Verbesserung der Situation in
den Entwicklungsländern: Hierbei spiele n wirt- Mit welchen Zielen und Strategien ist
schaftliche Motive eine zentrale Rolle, da inzwi- Entwicklungspolitik verbunden?
schen erfolgreiche Schwellenländer gerade aus
Asiens für die Industrieländer nicht n ur zu Kon- Während das grundlegende Ziel von Entwick-
kurrenten geworden sind, sondern sich auch zu lungspolitik - eine Verbesserung der wi rtschaftli-
wichtigen Absatzmärkten entwickeln. Gleichzei- chen Lage - über die J ahre gleichgeblieben ist,
tig soll mit Hilfe vo n Entwicklungspolitik den zu- haben sich die bevorzugten Strategien zum Errei-
nehme nden Migrationsbewegungen durch ver- chen dieses Ziels gewandelt.
besserte Lebensbedingungen in den Heimatländern
entgegengewirkt werden, um so den Zuwande- In den 50er und 60er J ahren des letzten J ahrhun-
rungsdruck beispielsweise auf die EU a bzumildern derts ging man davo n aus, dass endogene Fakto-
(> Kap. 5.4). ren , wie z.B. technischer und wirtschaftlicher
6 Internationale Beziehungen

Wer sind die Akteure der Entwicklungspolitik?

Einzelne Staate
Bilaterale Zusammen-
arbeit mit
Entwicklungsländern Akteure der E'ntwickl 1

llschaftlic
E UN-Generalvers ammlung · W irtschafts- und Sozialrat anisatian
....C1J
II)
We ltkonferenzen (Klimaschutz, Bevölkerung, Frauen u.a.) auf nationaler und
>- UN-Sonderorganisatione n UN- Fonds und -Programme internationaler Ebene
Vl darunter
1
FAQ· IFAD · ILO· UNESCO · UNDP · UNFPA ·UNICEF · WFP ·
z
::, WHO · Weltbank u.a. UNHCR · UN-Habitat · UNEP u.a.
kirchliche Hilfswerke,
private Organisationen,
Ziele und Regeln der Entwick- Durchführung von Entwicklungs- Stiftungen und Fonds
lungszusammenarbeit maßnahmen (Technische Zusam-
menarbeit)
Fina nzierungs institutione n
Weltbank-Gru ppe · Internationaler Währungsfonds
Regionale Entwicklungsbanken (IWF)
l angfristige zinsgünstige Dar- Zahlungsbilanzhilfen, zins-
lehen, Zuschüsse, Garantien, günstige Sonderfazilitäten für
Mobilisierung privaten Kapitals ärmere Entwicklungsländer

WTO Regeln für den Welthandel, Abbau von Handelshemmnissen

Europäische Union OEC D/ DAC


Europäischer Entwicklungsfonds, Koordination der Entwicklungs-
Wirtschaftspartnerschaften politik der Industrieländer
~ - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - I ZAHLENBILDERlffi
CC> Bergmoser + Höller Verlag AG 625310

Rückstand, traditionelle Gesellschaftsstrukturen Weltm arkt gestützt auf die eigenen Ressourcen
Hauptgründe für Unterentwicklung seien. Um Un- und Bedürfnisse, um eine eigenständige Wirt-
terentwicklung zu überwinden, sei die Moderni- schaft und Gesellschaft aufzubauen.
sierung der Gesellschaft u nd der Wirtschaft nötig
(Modernisierungstheorie). Vorbild dafü r waren An dieser Stelle setzt auch d ie Grundbedürfnis-
die Industriestaaten. Entwicklungspolitik setzte strategie an. Mit dieser Strategie wollte man er-
deshalb auf eine nachholende Entwicklung und reichen, dass alle Menschen Zugang zu lebens-
somit auf Marktwirtschaft, Öffnung gegenüber wichtigen Gütern und Dienstleistu ngen bekommen
dem Weltmarkt und Exportorientierung. Nur in und so die Versorgung mit Nahrung, Wasser, Bil-
we nigen Ländern, wie Taiwan oder Südkorea war dung, Kleidung und Wohnung gesichert wird. Zie-
dieses Vorgehen erfolgreich. le waren dementsprechend die Förderu ng der
Landwirtschaft, d ie Durchsetzung von Landrefor-
In den 70er und 80er Jahren setzte s ich deshalb men und der Ausbau der Infrastruktur (Gesund-
die Erkenntnis durch, dass wegen exogen er Fak- heitsversorgung, Bildungseinrichtungen, Ver-
toren, wie die Ausbeutu ng der Entwicklungslän- kehrssysteme etc.).
der durch den Kolonialism us u nd die Unterlegen-
heitim internationalen Handel (Dependenztheorie) An die Stelle der Gru ndbedürfnisstrategie ist heu-
Unterentwicklung nicht beseitigt werden könne. te eine Mischung aus exportorientierten Entwick-
Deshalb sollte Entwicklu ngspolitik Entwicklungs- lungskonzepten und Armutsbekämpfung getre-
länder in ihrer autozentrierten Entwicklung un- ten, welche jeweils darauf abzielen, den
terstützen. Autozentrierte Entwickl ung bedeutet Teufelskreis der Armut mit Hilfe der unterschied-
das Herauslösen der Entwicklungsländer a us dem lichsten Akteure zu durchbrechen.
6.4 Globale Sicherheit, Entwicklung und Armut 1

Teufelskreis der Armut

/ mangelhafte '

" Ausbildung '

geringe mangelhaftes
Produktivität Bildungssystem

geringes geringe
Einkommen Steuereinnahmen

~RMUf/
geringe
Produktion

schlechter
Gesundheitszustand
f~
mangelhafte
Ernährung
geringe
Ersparnis
t
geringe
Investitionen

Nach: Uwe Andersen, Entwicklungsdefizite und mögliche Ursachen, in: Informationen zur politischen Bildung,
Nr. 286, 2005, S . 18

Die Grundidee heutiger Entwicklungspolitik • Ein wichtiger Faktor ist der Kampf gegen Anal-
phabetismus, um die Bildungschancen breiter
Das grundlegende Prinzip heutiger Entwicklungs- Bevölkerungsschichten zu erhöhen.
politik ist „Hilfe zur Selbsthilfe". Handlungslei- • Zentral für verbesserte Lebensbedingungen sind
tend ist hier die Idee, dass ohne Einbindung der die Förderung von Frauen sowie ein Ende ihrer
lokalen Bevölkerung und Berücksichtigung der Diskriminierung. Erfahrungen zeigen, dass die
j eweiligen natürlichen und gesellschaftlichen verstärkte Einbeziehung von Frauen erst die Vo-
Rahmenbedingu ngen eine erfolgreiche Entwick- raussetzung für den Erfolg vieler Entwicklungs-
lung nicht möglich ist. Der Versuch, Entwicklung projekte schafft.
von oben zu generieren, gilt als gescheitert. Es • Die negativen Wirkungen vo n „Bad Governan-
müssen darum Techniken entwickelt und a nge- ce" werden stärker als früher bedacht. So wird
wandt werden, die auf Dauer von der ansässigen die Vergabe von Entwicklungsgeldern seit eini-
Bevölkerung a uc h genutzt werden kön nen. Damit ger Zeit auch an gute Regierungsführung in den
sollen nachha ltige Möglichkeiten einer la ngfristi- Empfängerländern gebunden (Demokratisie-
gen eigenständigen Erzielung von a usreichenden rung, Achtung der Menschenrechte). Allerdings
Erträgen aufgezeigt werden - sei es zur Selbstver- ist der Einfluss von Entwicklungspolitik auf das
sorgung oder zur Vermarktung. Verhalten von Regierung und Verwaltung in
Entwicklungsländern i. d. R. begrenzt.
Nachhaltige Entwicklung muss jedoch auch in
ökologischer Hinsicht gewahrt sein. Alle Projekte
müssen auf Ressourcenverbrauch und Umwelt- Entwicklungspolitik - eine Aufgabe für
verträglichkeit hin überprüft und Hilfen zu r Ver- die gesamte Staatengemeinschaft?
meidung der armutsbedingten Vernichtung natür-
licher Ressourcen (z.B. Ab holzung von Wäldern) Bei der UN-Vollversammlung im September 2000
geleistet werden (> Kap. 2.8.1 ). Weitere wichtige - auch Millenniums-Gipfel genannt - wurden an-
Faktoren sind: gesichts der nach wie vor unbefriedigenden Situ-
1 6 Internationale Beziehungen

ation in einem großen Teil der Entwicklungslän- gliedsstaaten verabschiedet. Sie wurde mit breiter
der acht sog. Millenniumsziele proklamiert, die Beteiligung der Zivilgesellschaft in aller Welt ent-
man bis 2015 möglichst erreicht haben wollte. wickelt und g ilt für alle Staaten dieser Welt. Das
Diese Ziele sind völkerrechtlich nicht verbindlich. Kernstück der Agenda bildet ein ehrgeiziger Ka-
talog mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung
• Halbierung des Anteils der Weltbevölkerung, der (Sustainable Development Goals, SDGs). Die 17
an extremer Armut und Hunger leidet; SDGs berücksichtigen erstmals alle drei Dimensi-
• Gewährleistung der Grundschulbildung für alle onen der Nachhaltigkeit - Soziales, Umwelt, Wirt-
Kinder; schaft - gleichermaßen. Die 17 Ziele sind unteil-
• Förderung der Gleichstellung der Geschlechter bar u nd bedingen einander. Ihnen sind fünf
und Stärkung der Frauenrechte; Kernbotsc haften als hand lungsleitende Prinzipien
• Senkung der Ki ndersterbli chkeit; in der Präambel vora ngestellt:
• Verbesserung der Gesundheit von Müttern;
• Bekämpfung von HN, Malaria und anderen • Die Würde des Menschen im Mittelpunkt (Peo-
übertragbaren Krankheiten; ple): Eine Welt ohne Armut und Hunger ist
• Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit, ver- möglich
stärkter Umweltschutz;
• Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartner- • Den Planeten schützen (Planet): Klimawandel
schaft. begrenzen, natürliche Lebensgrundlagen be-
wahren
Die Bilanz der Weltgemeinschaft, die im letzten
Bericht zur Umsetzung der eigens gesetzten Mill- • Wohlstand für alle fördern (Prosperity): Glo-
enniums- Entwicklungsziele (MDGs) 2015 gezo- balisierung gerecht gestalten
gen wurde, ist insgesamt positiv, wen ngleich nicht
alle Ziele erreicht worden sind. Nach den Angaben • Frieden fördern (Peace): Menschenrechte und
des Berichts sei die weltweite Armut in den letzten gute Regierungsführung
zwei Jahrzehnten deutlich gesunken, konnten
mehr Ki nder die Gru ndschulen besuchen und • Globale Partnerschaften aufbauen (Partner-
na hm die Sterblichkeit von Kindern unter 5 J ah- ship): Global gemeinsam voranschreiten
re n und Müttersterblichkeit deutlich ab. Gleich-
zeitig habe aber die Ungleichheit in den Entwick- Im Englischen spricht man von den „5 Ps": Peop-
lungsländern zugenommen, was zu politischer le, Planet, Prosperity, Peace, Partnership. Die
Instabilität geführt habe. Agenda 2030 geht vo n einem Wohlstandsver-
ständnis aus, das über die Betrachtu ng von
Pro-Kopf-Einkommen hinausgeht und Nachhal-
Leitmotive der UN-Entwicklungspolitik - tigkeit in den Mittelpunkt stellt(>Kap. 2.8.3). Die
die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung Zusammenhänge zwischen Kl imapolitik, nach-
haltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung
Die Agenda 2030 wurde im September 2015 auf werde n berücksicht igt. Nicht genügend berück-
dem Gipfel der Vereinten Nationen von allen Mit- sichtigt werde, so Kritiker, die Handels-, Migra-

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6.4 Globale Sicherheit, Entwicklung und Armut 1

tions- u nd Agrarpolitik. Dabei seien es gerade j ene • Wirtschaftliche Leistungsfähig keit du rch Wachs-
Politikbereiche, die das Leben der Menschen in tum und wirtschaftliche Zusammenarbeit.
den Lä ndern des globalen Südens n egativ beein- • Politische Stabilität durch Frieden, Menschen-
fl ussten. rechte, Demokratie und Gleichberechtigung.
• eine global nachhaltige Entwicklung, die glei-
chermaßen wirtschaftliche Leistungsfähigkeit,
Die deutsche Entwicklungspolitik soziale Gerechtigkeit, ökologische Tragfähigkeit
und politische Stabilität beinhaltet.
In Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes heißt es: ,.Das
Deutsche Volk bekennt sich [..] zu unverletzlichen
u nd u nveräußerlichen Menschenrechten als Entwicklungspolitik zwischen
Grundlage jeder menschlichen Ge meinschaft, des Anspruch und Realität
Friedens u nd der Gerechtigkeit in der Welt." Mit
entwicklungspolitischen Proj ekten soll darum die Damit die Ziele der Entwickl ungszusammenarbeit
deutsche Entwicklungspolitik dazu beitragen, keine Wunschvorstellungen bleiben, wurde 2002
dass Menschen in den Entwicklungsländern in eine Konferenz der Vereinten Nationen zur Ent-
Freiheit, ohne materielle Not und selbstbestimmt wicklu ngsfinanzierung auf der Ebene der Staats-
leben kön nen. und Regierungschefs in Monterrey/Mexiko einbe-
rufen, a n der auch Vertreter aus der Wirtschaft
Die Bundesregierung sieht die Glo balisierung da- und von NGOs teil nahmen. Sie thematisierte als
bei als den Rahmen für erfolgreiche Entwick- erste UN-Konferenz alle Grundprobleme der Ent-
lungspolit ik an. Sie nennt insgesamt vier entwick- wicklungsfinanzierung: die Mobilisierung eigener
lungspolitische Ziele (vgl. Ziele nac hhaltiger Mittel in Entwicklu ngsländern, a uslä ndische Di-
Entwicklu ng) : rekti nvestitionen, den internationalen Handel,
öffentliche Entwicklungshilfe, das Problem der
• Soziale Gerechtigkeit durch Armutsmi nderung Verschuldung und die Regeln des internationalen
und sozialen Ausgleich. Finanz- u nd Handelssystems. Der in Monterrey

Ziele nachhaltiger Entwicklung

Soziale, ökonomische, ökologische


und politische Entwicklung
gehören zusammen

*Diese drei Zieldimensionen bilden das


sog. Zieldreieck von Rio, d. h. der
UN-Konferenz Umwelt und Entwicklung
6 Internationale Beziehungen

erzielte Konsens e nthält dabei wicht ige Elemente Kritik an der Entwicklungspolitik
einer effektiveren Entwicklungspolitik:
Angesichts der nach wie vor problematischen Le-
• Die Industrieländer bestätigten die Untergrenze bensbedingungen in vielen Entwicklungsländern
für öffentliche Entwicklungshilfe von 0,7 Pro- wird immer wieder Kritik an der Praxis de r Ent-
zent des Bruttosozialprodukts (BSP) und sagten wicklungspolitik laut. Die Kritik bezieht sich vor
eine bessere Abstimmung ihrer Hilfe sowie allem auf die folgenden Aspekte:
Schuldenerleichterungen für die armen Länder
und entwicklungsfreundliche Reformen der • Die Industrieländer bleiben nach wie vor weit
Welthandels- und Weltfinanzordnung zu. hinter dem Ziel zurück, 0,7 Prozent ihres BSP
für öffentliche Entwicklungshilfe a u fzuwenden.
• Die Vera ntwortung der Entwicklu ngslä nder für
,,Good Governance" und jene der Industrielän- • Die wirksamste Hilfe für Entwicklungslä nder
der für faire weltwirtschaftliche Rahmenbedin- wäre die Chance, ihre Produkte in die Industri-
gu ngen wu rde bekräftigt. eländer exportieren zu kö nnen. Die Industrie-
länder verhindern dies aber durch protektionis-
• Die Zusagen mehrerer Staaten summierten sich tische Maßnahmen.
zwa r auf 16 Mrd. US-Dollar bis 2006, vorsich-
tige Sch ätzungen errechnen aber einen Finanz- • Radikale Kritiker fordern die Einstellung der
bedarf von mindestens 50 Mrd. US-Dollar, um Zahlungen : Durch Hilfslieferungen würden die
die „Millenniumsziele" bis 201 5 zu erreichen. lokalen Märkte und Produktionsstrukturen zer-
stört, während Geldhilfen häufig nur der per-
Im J ahr 200 8 fand in Doha eine UN-Folgekonfe- sönlichen Bereicherung von Eliten dienten.
renz zur Entwicklungsfinanzierung statt. Diese
sollte weiter reichende Akze nte für die Entwick- • In Deutschla nd wurde sehr kontrovers über Ent-
lungszusammenarbeit setzen. Unter dem Einfluss wicklungspolitik diskutiert, da das Geld z. T. erst
der Finanz krise wurde eine drohende Kürzung der gar nicht bei den Hilfsbedürftigen ankamen,
Entwicklungshilfe zwar abgewendet und die Ziele weil v iele Gelder in Verwaltungen oder korrup-
von Monterrey wurden bekräftigt. Es konnten j e- te Appa rate flossen.
doch kei ne weiteren verbindlichen Vereinbarun-
gen getroffe n we rden. • Problemat isch ist, dass es kaum Instrumente
gibt, mit denen die Nichteinhaltung von ent-
Die UN-Vollversammlung hatte bereits 1970 das wicklungspolitischen Vereinbarungen sanktio-
Ziel gesetzt, die Industrieländer zu einer Abgabe niert werden können.
von 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für die
Entwicklungszusammenarbeit zu bewegen. Hinte r • Entwicklungspolitik ist politisch wenig reizvoll,
diesem Ziel bleiben seitdem die meisten Länder da Wähler ihre Erfolge i. d. R. nicht unmittelba r
weit zurück, unter ihnen auch Deutschland. erkennen können.

Aufgaben

1. Stellen Sie mit Hilfe von Texten, Grafiken und Statistiken (► Methodenkompetenz: Analyse von Statistiken) dar,
inwiefern die Ziele der Entwicklungspolitik bzw. Entwicklungsstrategien erreicht bzw. nicht erreicht wurden.
Nennen Sie mögliche Gründe.

2. Recherchieren (• Methodenglossar) Sie in Gruppen ein Projekt zur Entwicklungszusammenarbeit. Erläutern


Sie darauf aufbauend, w ie das Projekt Entwicklung fördern will und inwiefern die aktuellen Leitmotive zum
Tragen kommen.

3. Begründen Sie, inwiefern Entwicklungspolitik einen Beitrag zum weltweiten Frieden leisten kann.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Sollen wir weiterhin für Entwicklungshilfe Geld spenden?

Weltweit fließen jedes Jahr Milliarden Euro in Entwicklungsländer. [. ..] Doch Not und
Elend hat das viele Geld nicht aus der Welt schaffen können.

Pro „Ein Ausstieg wäre fatal", Paul Bendix, Geschäftsführer von Oxfam Deutschland
{2000-2011)

5 Die Wirksamkeit von Entwicklungshilfe wird heiß diskutiert. Manche Kritik gipfelt darin,
dass sie ganz abgeschafft gehöre, da sie eine wichtige Ursache für die Armut darstelle.
Eine Versachlichung dieser Debatte ist dringend geboten. Es stimmt, dass in zu vielen
Regionen der Welt weiterhin entsetzliche Armut herrscht. Es ist aber reichlich zynisch,
dies der bisherigen Entwicklungshilfe zuzuschreiben. Bei einer fairen Beurteilung der
,o Wirksamkeit müssen zumindest der historische Kontext, die politischen und weltwirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen und die Lernprozesse in der Entwicklungszusam-
menarbeit berücksichtigt werden. Zunächst wird weithin verdrängt, welch verheerende
Rolle Versklavung und Kolonialismus auf die sozialen und wirtschaftlichen Systeme in
den betroffenen Ländern hatten. Viele gewaltsame Eingriffe wirken bis heute nach, etwa
zerstörte Sozialsysteme und willkürliche Grenzziehungen. Zu Zeiten des Ost-West-Kon-
15 fliktes wurde Entwicklungshilfe viel zu oft eher nach geostrategischen Interessen der

Blöcke vergeben denn zur Armutsbekämpfung. In den 80er- und 90er-Jahren wurden
arme Länder, vor allem durch den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank,
gezwungen, ihre öffentlichen Ausgaben zurückzufahren - mit teils verheerenden Folgen:
Gesundheitssysteme brachen zusammen, in vielen Ländern stieg die Mütter- und Kin-
20 dersterblichkeit stark an. Zugleich verweigern die Industrienationen armen Ländern

noch immer den Zugang zu ihren Märkten, überschwemmen aber gleichzeitig deren
Märkte mit Waren aus reichen Ländern. Damit die Entwicklungszusammenarbeit eine
größere Wirkung entfalten kann, muss die internationale Politik deshalb entwicklungs-
förderliche Rahmenbedingungen schaffen. Die Entwicklungszusammenarbeit selbst hat
25 sich in den vergangenen 50 Jahren stark verändert. Die Partner sind sich weitgehend

einig, dass sie nicht mehr aus einer Vielzahl oftmals unverbundener Einzelprojekte be-
stehen sollte. Vielmehr gilt es, von mehreren Gebern gemeinsam finanzierte Programme
zu entwerfen, die den systematischen Aufbau von Systemen zum Beispiel in den Berei-
chen Gesundheitsfürsorge und Bildung vorantreiben. Auch der Dialog zwischen Gebern
30 und Nehmern über Fragen der Regierungsführung, wie etwa einer verbesserten Steue-

rerhebung und der Korruptionsbekämpfung, wurde in den vergangenen Jahren intensi-


viert. [...] Außerdem muss die Zivilgesellschaft in armen Ländern viel stärker unterstützt
werden, damit sie das Handeln ihrer Regierungen und die Verwendung der Mittel auf
nationaler und lokaler Ebene besser kontrollieren kann. Für diese Förderung sind die
35 Nichtregierungsorganisationen in reichen Ländern besonders qualifiziert. Viel zu oft wur-

den entwicklungspolitische Vorhaben nach den Vorstellungen der Geber oder der loka-
len Regierungen konzipiert. Eine zunehmend wichtige Bedingung für wirksame Armuts-
bekämpfung ist die systematische Einbeziehung der Bevölkerung in Planung,
Durchführung und Auswertung der Maßnahmen. Ein Ausstieg aus der Entwicklungshil-
40 fe wäre fatal, da der Staatshaushalt vieler Länder bis zu 40 Prozent von der Geberfinan-

zierung abhängt. lebensnotwendige staatliche Dienstleistungen könnten nicht mehr


finanziert werden, arme Länder würden in ihrer Entwicklung weit zurückgeworfen. Ge-
fragt ist daher eine Entwicklungshilfe mit Augenmaß, die sich an den nationalen Armuts-
bekämpfungsstrategien armer Länder orientiert und deren Reformbemühungen mit
45 gezielten Programmen unterstützt.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

Contra „Milliarden blockieren die Entwicklung", Johannes Michael Nebe, Politik-


wissenschaftler, Universität Trier

„Wer Afrika helfen will, darf kein Geld geben." Diese radikale Kritik an der praktizierten
Entwicklungshilfe erschallt aus Afrika. Immer lautstärker machen gut ausgebildete, re-
50 nommierte Leute wie der kenianische Ökonom James Shikwati oder die sambische

Finanzexpertin Dambisa Moyo die Hilfe des Westens für Entmündigung, Lähmung und
Stillstand verantwortlich. [...] Mehr Milliarden bringen nicht mehr Entwicklung. In den
letzten Jahrzehnten hat sich eine regelrechte „ Entwicklungshilfe-Industrie" in Milliarden-
höhe herausgebildet, die neue Abhängigkeiten schafft. Da die meisten Entwicklungshil-
55 fegelder gratis vergeben werden, brauchen die Beschenkten nichts selbst in die Hand

zu nehmen. Eigeninitiative und auch staatliche Innovationsfreudigkeit verkümmern. Die


weit verbreitete Korruption in Afrika macht eine nachhaltige Entwicklungshilfe nahezu
unmöglich, weil die Eliten einen Großteil der Hilfsgelder abzweigen. Millionenschwere
Gastgeschenke verstärken und zementieren die Korruption. Denn in den meisten afri-
so kanischen Staaten mangelt es an einem gerechten Steuersystem, einem starken Parla-
ment, einer Rechenschaftspflicht der Regierungen und an einer unabhängigen Gerichts-
barkeit. Solange die Gelder zum Teil ohne jegliche Auflagen und Selbstverpflichtungen
gegeben werden, kann von der immer wieder beschworenen „ Entwicklungszusammen-
arbeit" oder gar „ Partnerschaft auf Augenhöhe" keine Rede sein. Erschwerend kommt
65 hinzu, dass auch die internationalen Nichtregierungsorganisationen, die sich auf dem

Feld der Armutsbekämpfung tummeln, für Korruption anfällig sind. Abgestimmte Pro-
gramme gibt es so gut wie nicht. Jede Organisation wurstelt für sich und verschwindet
meist auch wieder, ohne nachhaltige Spuren ihrer Arbeit in den jeweiligen Gebieten zu
hinterlassen. Entwicklungshilfe-Experten setzen sich viel zu wenig mit den besonderen
10 Sozialstrukturen und der ethnischen Situation in einem afrikanischen Vielvölkerstaat und

mit deren unterschiedlichen Kulturen und Traditionen auseinander, um eine sinnvolle


Entwicklungsstrategie zu erarbeiten. Zwar steht die humanitäre Nothilfe für Menschen,
die von Dürre, Flut oder Erdbeben betroffen sind, außerhalb jeder Diskussion. Aber auch
Hungerkatastrophen sind ein Geschäft. Die aus Überschüssen gespeisten kostenlosen
15 Nahrungsmitteltransporte zerstören langfristig die lokalen Märkte in Afrika und untergra-

ben notwendige Vorsorgemaßnahmen wie Vorratshaltung. Wenn die Industrienationen


ernsthaft die Armut bekämpfen und dem Kontinent Zukunftsperspektiven bieten wollen,
müssen sie aufhören, die korrupte, überalterte „ Nilpferd-Generation" zu unterstützen,
die nur an der Machterhaltung interessiert ist. Projektpartner müssen künftig aus der
80 „Geparden-Generation" kommen, das sind engagierte, gut ausgebildete, meist junge

Leute, die einen anderen Politikstil favorisieren und Verantwortung für die Gesellschaft
übernehmen wollen. Sie sind zumeist in zivilgesellschaftlichen Organisationen zu finden,
die sich um Frieden und Entwicklung kümmern. Zusammen mit nachhaltigen und über-
schaubaren Initiativen der Zivilgesellschaft ließe sich die vielbeschworene „ Hilfe zur
85 Selbsthilfe" umsetzen. So verstandene Entwicklungszusammenarbeit würde es den

Menschen in Afrika ermöglichen, ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips eigenverant-


wortlich zu handeln.
Greenpeace Magazin, Entwicklungsll i/fe, Nr. I, 2012

Aufgaben

1. Arbeiten Sie die Argumente für und gegen Spenden aus den beiden Stellungnahmen
heraus.

2. Vergleichen Sie die beiden Positionen zur Entwicklungspolitik.

3. Sollen wir weiterhin Staaten durch Geldmittel unterstützen? - Diskutieren Sie diese Frage.
Global Governance
■ Idee und Realität

Leitfragen Was wird unter Global Wer sind die Akteure von Vor welchen Herausforderungen
Governance verstanden? Global Governance? steht die Umsetzung von Global
Governance?

Global Governance als Antwort auf


globale Herausforderungen?

In d en vergangenen J ahrzehnten wurde deutlic h, und Gesellschaften andererseits. Global Gover-


dass die Nationalstaaten ihre Fähigkeit zur wi rk- nance wi rkt damit stark in nationale Gesellschaf-
samen Steuerung von innergesellschaftlichen und ten hinein, ohne dass dies durch die n ationalen
gren züberschreitenden Entwicklungen immer Regierungen kontrolliert werden kann.
mehr eingebüßt haben. Globale Umweltprobleme,
internationaler Terrorismus, weltweite Migration Der Begriff bedeutet ausdrücklich nicht: Regieren
oder die Verbreitung vo n Massenvernichtungs- durch eine Weltregieru ng (global govemment).
waffen (Proliferation) stellen gren züberschreiten- Global Governance bezeichnet den praktischen
de Probleme dar, die einen hohen internationalen Versuch, in einem System geteilter und sich über-
Regelungsbedarf haben (> Kap. 6.2). Die Grund- lappender Souveränität, polit ische Steuerungsfä-
th ese der Befürwortern einer Global Governance higkeit wied erzuerla ngen und Ko nflikte friedlich
ist, dass sich b ei den globalisierten Problemlagen zu lösen. Diese neue „Weltordnungspolitik" zeich-
a uch die Politik globalisieren müsse, um den Pro- net sich durch mehrere Merkmale aus:
blemen gerecht zu werden.
• Eine wirksame globale Problemlösungspolitik
Global Governance meint dabei „Wege der Bewäl- setzt au f allen polit ischen Ebenen an (lokal, re-
tigung transnationaler Probleme [...] u nd zwar gional, national, global).
ohne einen zentralen Akteur wie eine ,Weltregie- • Regierungsleistungen werden auf der Ebene er-
rung' und unter Einbeziehungen von internatio- bracht, die dafür am besten geeignet ist (Subsi-
nale n und Nichtregierungsorganisationen (NGOs). d iaritätsp rinzip).
Die ihr zugrunde liegenden Strukturen ermögli- • Die Vernetzung zwischen lokaler, regionaler,
chen neben staatlichem Handeln auch das Regie- natio naler und globaler Ebene wird verstärkt.
ren ohne Staatlichkeit, d. h. Selbstorganisation • Für die Problemlösung sind neben formellen
ohne Rückgriff auf übergeordnete Zentralinstan- auch informelle Regelungen von Bedeutung.
zen und ohne Beteiligung vo n Regierungen." • Staatliche, wirtschaftliche und ziv ilgesellschaft-
liche Akteure werden einbezogen und arbeiten
Christian Tuschhaff, /11ternatio11ale Beziehu11ge11, 2015,
s. 247 zusammen.
• Im Sinne der Durchsetzung von Rechtsstaatlich-
keit muss ein Konsens über menschenrechtliche
Mit Global Governance wird das bestimmende Mindeststandards gefu nden und von den Ak-
Strukturmerkmal traditioneller internationaler teuren etabliert werden.
Politik in Frage gestellt: Internationale Politik ist
nicht mehr nur horizo ntale Pol itik zwischen Nati- Im Zentrum der Globa l Governance-Architektur
onalstaaten, sondern hat auch eine vertikale Di- stehen dabei internationale Organisationen wie
mension, nämlich zwischen internationalen Insti- die Vereinten Nationen, die EU oder die WTO. Da-
tutionen und Staaten einerseits sowie Individuen rüber hinaus gewinnen unterhalb einer festen Or-
6 Internationale Beziehungen

ganisationsform stabile und dynamische


Global-Governance-System multilaterale Abkommen und Konferen-
zen (internationale Regime), Netzwerke
Politisches Ziel und internationale Ordnungsprinzipien
(wie das Völkerrecht) zunehmend an Be-
- Welthandelsordnung - Weltumweltordnung
- Internationale Wettbewerbsordnung deutung. Diese Institutionen füh ren zu
- Weltwährungs- und Finanzordnung einer stärkeren Verhaltensverlässlichkeit
- Weltsozialordnung der Staaten. In Form von Verträgen oder
- Weltfriedensordnung
allgemeinen Normen stellen sie notwen-
dige Regeln für die Zusammenarbeit von
Staaten bereit. So können sie helfen, Ko-
operationshindernisse zu überwinden

Konsensuale Entscheidungsfindung
und kooperative Problemlösung;
,.,
~
Zivilisierung der Internationalen Beziehungen

Neudefinition der Rolle von


Nationalstaaten, Bildung/
und den Konfliktaustrag zwischen Staa-
ten zu zivilisieren. Es g ibt weder ein ein-
ziges Modell oder eine einzige Form der
Weltordnungspolitik, noch existiert eine
globale Rechtsstaatlichkeit Reform multilateraler
einzige Ordnungsstruktur. Vielmehr han-
und Rechtsdurchsetzung, Institutionen, Zusammen-
Verwirklichung der spiel der globalen Akteure delt es sich um einen dynamischen und
Menschenrechte (geteilte Souveränität), vernetzten Prozess der Entscheidu ngsfin-
Ausbau internationaler
Regime dung, der sich angesichts sich verändern-
der globaler Problemlagen ständig wei-
Demokratie, Partizipation Neues Verhältnis
~ ~ terentwickelt.
und Legitimierung von Staat,
"1119" "1119"
im Weltmaßstab Politik und Macht
Akteure von Global Governance
Stärkung der pluralistischen Demokratie,
Aufbau von Zivilgesellschaften,
Partizipation der Zivilgesellschaft an Die internationale Politik zeigt in Zeiten
globalpolitischen Prozessen, ,,Good der Globalisierung eine Reihe von Ent-
Goverance" und Bekämpfung von
Korruption wicklungen, die wenigstens teilweise den
Vorstellungen der Global Governan-
ce-Vordenker nahe ko mmen. Folgende
Globalisierte Welt Akteure gestalten schon heute Global
Governance:

• Internationale Organisationen wurden


im Laufe der Jahre für immer mehr
grenzüberschreitende Probleme ge-
gründet: von der Internationalen Ato-
- Akteure - Handlungsebenen
Staaten, Nationale,
menergieagentur IAEA bis zu den
internationale regionale UN-Unterorganisatio nen für Entwick-
Organisationen, und globale lung, Bildungsförderung oder Kinder-
Wirtschaft, Ebene
Zivilgesellschaft hilfe in Armutsregionen. Ihre Tätigkeit
mit NGOs gilt heute bei vielen Akteuren als un-
verzichtbar.

Das Fundament von Global Governance: • Daneben entstanden regionale Organi-


- Elementares Interesse an der Lösung grenzüberschreitender Probleme, sationen, a n die Souveränitäts rechte
die nicht mehr einzelstaatlich oder durch „den Markt" geregelt werden vo n den beteiligten Nationalstaate n
können
abgetreten wu rden und die heute - wie
- Kulturelle Grundwerte und zivilisatorische Grundlagen
vo r allem die EU, aber auch die Afrika-
Achtung der Menschenwürde, Bewahrung der kulturellen Vielfalt,
interkultureller Dialog „Weltehtos" nische Union (AU) - als Akteure der
internationalen Politik auftreten.
6.5 Globale Governance - Idee und Realität 1

• Wichtige Akteure sind a uch Nichtregierungsor- • Sie beobachten kritisch die Tätigkeiten von in-
ganisationen (NGOs: Non-governmental-Orga- ternationalen Akteuren z.B. tra nsnationalen
n ization), die Einfluss auf Entscheidungsprozes- Unternehmen (,,watchdogs") und berichten über
se nehmen (wollen). 1hr Spektrum reicht von Missstände bzw. Normverletzungen;
weltweit agierenden Organisationen wie Green- • Sie wollen ihre Info rmationen und Anliegen ei-
peace oder Am nesty International bis zu lokalen ner breiten Öffentlichkeit zugänglich machen
Umweltgruppen. NGOs spielen eine wichtige und so eine zivilgesellschaftliche Gegenmacht
Rolle im Bereich der Interessenartikulation und zu mächtigen Interessengru ppen, internationa-
sind durch ihren oft nied rigen Organisations- len Institutio nen und Regierungen herstellen ;
grad und ihre Verankerung in der Zivilgesell- • Sie wollen auf Entscheidungen der Akteure in
schaft für viele Hoffn ungsträger ei ner mehr den Internationalen Beziehungen, z.B. in Son-
bürgerorientierten, demokratischeren Weltge- derorganisationen der UN, Einfluss nehmen.
sellschaft.
Inzwischen haben NGOs in internationalen Orga-
• Als institutioneller Ra hmen für die Zusammen- nisationen oder bei Konferenzen u nd sonstigen
arbeit von Natio nalstaaten wurden internatio- internationalen Verhandlungen oftmals den Sta-
nale Netzwerke geschaffen. Ein besonders be- tus als offiziell zur Teilnahme zugelassener Akteu-
kanntes Beispiel ist der alljäh rlich stattfindende re, also eine Akkreditierung, erhalten. Insbeson-
Weltwirtschaftsgipfel der Ga- Staaten - der dere bei den Weltkonferenzen der UNO nehmen
weltweit acht wichtigsten Industriestaaten -, bei Tausende NGO-Vertreter aus aller Welt teil. NGOs
dem im informell en Meinungsaustausch welt- können Themen auf die Tagesordnung internati-
wirtschaftliche Probleme und drängende Si- onaler Politik b ringen und informellen Einfluss
ch erheitsfragen thematisiert werden. Ein Bei- über z.B. Ko ntakte oder Positionspapiere, Exper-
spiel für ein Netzwerk vo n NGOs ist das tisen ausübe n, haben aber keine Entscheidungs-
Weltsozialforum, das mit sein en Aktivitäten kompetenzen. Das zivilgesellschaftliche Engage-
versuc ht, die Öffentlichkeit in den Industrie- ment der NGOs ist einigen Staaten n icht
staaten für die Probleme des armen Teils der willkommen. Sie sehen in der Tätigkeit der NGOs
Welt zu sensibilisieren. eine Bedrohung oder Destabilisierung ihres poli-
tischen Systems. So wurden beispielsweise Ende
• Ein weiterer Schritt auf dem Weg zu Global Go- 2015 mehr als 100 NGOs in Russland zu auslän-
vernance ist die Weiterentwicklung der interna- disc hen „Agenten" erkl ärt, was diese verpflichtet,
tionalen Gerichtsbarkeit sowie eine Stärkung bei jeder Äußerung diesen Zusatz a nz ugeben.
der sie vertretenden Akteure (>Kap. 6. 1.3).

• Durch den gestiegenen internationalen Handel Club-Governance


mit Waren und Dienstleistungen und die Mög-
lichkeiten einer modularen Produktionsweise Staatenclubs wie die G20 (Gruppe der 20 wich-
hat sich in den vergan genen Jahrzehnten a uch t igsten Industrie- und Schwellenländer) wollen
die Zahl und Bedeutung multinationaler Un- Regeln für a usgewählte Politikfelder setzen. Im
te rnehmen stark erhöht (>Kap. 2.6.3). 2013 gab Unterschied zu den Vereinten Nationen, die prin-
es sch ätzungsweise über 80.000 TNCs mit mehr zipiell allen Staaten offen stehen oder zu Regio-
als 900.000 Tochtergesellschaften. Sie wickeln nalorganisationen wie der Afrikanischen Union,
einen großen Teil des Welth andels ab und sind die ihre Mitglieder nach geografisch en Kriterien
so zu wichtigen Akteuren im Prozess der Globa- bestimmen, entscheiden Clubs selbst über ihre
lisieru ng geworden. Mitgliedschaft. Clubs regieren nicht im formellen
Sinne durch den Erlass von Gesetzen oder geset-
zesähnlichen Regelungen. Sie ermöglichen ihren
Welche Rolle spielen NGOs? Mitgliedern, Interessen und Präferenzen zu ver-
handeln und aufeinander abzustimmen. Verein-
NGOs (auch INGOs) erfüllen in der internationalen barungen sind nur dann wirksam, wenn sich die
PolHik wichtige Funktionen: Staaten einig sind.
6 Internationale Beziehungen

Internationale Institutionen und Global Governance

Internationale Institutionen sind


die Säulen der Global Governance

UN-System Institutionen Internationale Regionale Führende Zivilgesell-


mit Sonder- der Regime (wie Gemein- Industrie- schaftliche
o rganisatio- Weltwirt- Regime zur schatten länder Akteure bzw.
nen (wie ILO, schaft (wie Nichtverbrei- (wie EU, (wieG8, NGOs
FAO, WHO, IWF, WTO, tung von regionale OECD) (wie Attac,
UNEP, ALA) Weltbank) Atomwaffen) Entw ick- Greenpeace)
lungsbanken)

Nach: Basiswissen Schule, Politik, Wirtschaft Abitur, 20 16, S. 459

Grenzen von Global Governance

Skepsis von Wissenschaftle rn und Polit ikern im Entsch eidungen in großen multil ateralen Ver-
Hinblick auf die Chancen von Global Governance ha ndlungssystemen nur schwe r herbeiz uführen
stützt sich sowohl auf die bisherigen Erfahrungen - und die Umsetzung einmal getroffe ner Entschei-
mit der Wirksamkeit internationaler Institut ionen dungen hängt vo m Willen der Staaten ab.
als auch auf grundsätzliche Erwägungen. Beson-
ders in den „harten" Bereichen internationaler Da es kein internationales Gewalt monopol gibt,
Politik, in denen v itale Inte ressen von National- können vo r allem mächtige Staaten nicht ge-
staaten b erührt werden, blockieren große Mächte zwungen werden, internationale Vereinbarungen
wie die USA, Russland oder China oft ein rasches auch einzuhalten. Auch die Legiti mat ion vo n
und energisches Vorgehen der internat ionalen NGOs zur allgemein verbindlichen Regelung vo n
Organisationen bei der Lösu ng von globalen oder polit ischen Problemen ist umstritten. Es wird kri-
regionalen Problemen. tisiert, dass besonders aktive und engagierte Ver-
treter sich selbst das Mandat zur Vertretung ge-
So leidet die Lösungskompetenz der UNO bei in- samtgesellschaftlicher An liegen erteilen und nicht
ternationalen Krisen a n der häufigen Uneinigkeit von der Bevölkerung legitimiert sind. Zudem zeigt
der Vetomächte im Sicherheitsrat. Zentrales Pro- die Praxis globaler zivilgesellschaftlicher Aktivi-
blem einer a uf der Selbstkoordination der St aaten täten wie z.B. des Weltsozialforums, dass ange-
beruhenden Global Governance-Architektur sichts der unüberschaubaren Zahl von Teilneh-
bleibt einerseits der Mangel a n Entscheidungsfä- mern mit unte rschiedlichen Interessen und
higkeit und andererseits die Umsetzung von Ent- Zielvo rstellungen eine einheitliche Besch lussfin-
scheidungen. So sind einstimmig zu treffe nde dung nur schwer möglich ist.

Aufgaben
1 . Beschreiben Sie das Konzept von Global Governance im Zusammenhang der Internationalen Beziehungen.

2. Erklären Sie die Rolle von NGOs im System der Internationalen Beziehungen.

3. Diskutieren Sie die Möglichkeiten und Probleme von Global: Governance.


KOMPETENZEN ANWENDEN 1

M 1 Auf der Seite der Guten?

Bei der Diskussion, was man bestellen solle, waren sich [ ..] alle einig, dass der Thun-
fisch keinesfalls ok gehe. Grund: radioaktive Belastung. Auf meine Nachfrage gab man
die Angst vor gesundheitsschädlichen Stoffen an, insbesondere die hohe Belastung
von Meerestieren mit radioaktivem Material durch Fukushima.
5 Diese Belastung existiert nachweislich nicht. Panik um den Verzehr von Fisch nach
dem Reaktorunfall von Fukushima wurde im vergangenen Jahr von interessierten Krei-
sen durch selektive Zitate aus einer Studie geschürt. Tatsächlich zeigt die besagte
Studie der Universität Hawaii genau das Gegenteil: dass seit dem Unfall die Cäsium-
belastung von Thunfisch bereits wieder im Sinken begriffen ist. Eine handelsübliche
10 Büchse Thunfisch strahlt demnach nur 1/20 so stark wie eine gewöhnliche Banane
aufgrund ihrer natürlichen Radioaktivität. [... ]
Auch abseits der emotional nachvollziehbaren Angst vor Nuklearabfällen ist zu beob-
achten, dass mit steigendem Eifer immer heftiger über die schlechte Qualität „ indus-
triell" erzeugter Nahrungsmittel diskutiert wird, während dem Leiter des Bundesinsti-
15 tuts für Risikobewertung zufolge „unsere Lebensmittel so sicher wie nie zuvor" sind.
NGOs wie Foodwatch, Greenpeace oder Oxfam malen regelmäßig Schreckensszena-
rios an die Wand, und viele Journalisten übernehmen die marktschreierischen An-
schuldigungen ungeprüft und verbreiten sie weiter. [...]
Das Geschäftsmodell von Gruppen wie Foodwatch ist es, Geld damit zu verdienen ,
20 andere schlecht zu machen. Und Journalisten unterstützen sie dabei nach Kräften. [...]
Keine Frage. Die Ziele, um die es Greenpeace, Foodwatch & Co zu tun ist, klingen
gerecht. Sie rühren an das menschliche Mitgefühl. Man rettet die Wale oder den Wald,
schützt süße Robbenbabys und verhindert, dass kleine Kinder Gift im Brei schlucken.
Wer traut sich da schon mit skeptischer Miene zu fragen: .,Ist alles wirklich so schlimm?",
25 oder: ,,Welche Belege gibt es dafür denn?" Die enge Bindung eines überproportional
großen Anteils von Journalisten an die Grünen trägt sicher auch nicht zu einem kriti-
schen Klima gegenüber NGOs bei. Doch dass Greenpeace, Foodwatch & Co regel-
mäßig als die Vertreter des Guten schlechthin akzeptiert werden, ist gefährlich.
Zu Nahrungs- und Umweltthemen gibt es schon heute kaum noch eine Pluralität der
30 Meinung in den großen Medien. Auch und gerade die Öffentlich-Rechtlichen tragen
dazu bei, wenn sie Aktivisten wie Michael Sailer vom Öko-Institut e.V. oder Heinz
Smital, der bei Greenpeace engagiert ist, regelmäßig als unabhängige „Nuklearexper-
ten" und nicht als Sprecher ihrer jeweiligen Vereine auftreten lassen. Analoges ist für
Vertreter von Foodwatch und Oxfam als „Nahrungsexperten" zu beobachten. NGOs
35 sind Nichtregierungsorganisationen, d. h. Lobbyverbände, das sollte man sich immer
wieder in Erinnerung rufen. [...]
Aber vertreten Greenpeace, Foodwatch & Co nicht wenigstens genuin menschen-
freundliche, am Gemeinwohl orientierte Interessen? Auch darüber könnte man strei-
ten. Nicht unterschlagen werden sollte in jedem Fall, dass auch das „egoistische"
40 Unternehmerinteresse das Gemeinwohl im Blick haben kann, hinsichtlich der Tatsa-
che, dass Menschen Beschäftigung finden und Erträge erwirtschaftet werden, welche
die Grundlage für die Entrichtung von Steuern sind. Guten Gewissens bezweifeln darf
man hingegen, dass die kurzsichtige Kampagne von Greenpeace gegen den goldenen
Reis, oder PETAs Gleichsetzung von Mensch und Tier, die in der Kampagne „Der
45 Holocaust auf Ihrem Teller" gipfelte, tatsächlich das Etikett gemeinwohlorientiert ver-
dienen. Gesteht man ihnen dieses Etikett aber zu, stellt sich sofort die Frage nach der
demokratischen Legitimation. Wer hat Greenpeace, Foodwatch & Co überhaupt auto-
risiert, für uns alle zu sprechen? Wer kontrolliert die Kontrolleure? Foodwatch bei-
spielsweise wurde von Ritter Sport mit 250.000 Euro anschubfinanziert. Wer legt sol-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN

50 ehe Verflechtungen offen? Was ist, wenn NGOs mächtiger werden als diejenigen,
deren Macht sie etwas entgegensetzen wollten?
Wirklichkeit sind natürlich die großen NGOs längst selbst zu weltumspannenden Kon-
zernen mit einem Milliardenumsatz geworden. Greenpeace etwa akquirierte in den
vergangenen Jahren jeweils mehr als 40 Millionen Euro an Spendengeldern allein in
55 Deutschland, und die radikale Tierrechtsvereinigung PETA noch immer mehrere Milli-
onen. Das funktioniert nur, weil sich diese Organisationen zu quasi religiösen Instituti-
onen entwickelt haben. Der sporadische Spender erwirbt bei der NGO seines Vertrau-
ens einen Ablassbrief wie früher der Sünder bei der katholischen Kirche. Nun kann
man sich gut fühlen, man hat etwas für die gerechte Sache getan. Wie fanatische
60 Gläubiger agieren dann die aktiven Anhänger ihrer jeweiligen Vereinigung. Mit missio-
narischem Eifer wird gefochten und debattiert, man weiß sich sicher auf der Seite des
Guten™.
Dieser Nimbus macht es beinahe unmöglich, mit Kritik durchzudringen. NGOs sind
sakrosankt. Am besten läuft ihr Geschäft, wenn die Gläubigen sich dem Weltuntergang
65 nahe fühlen. Aus diesem Grund haben Greenpeace, Foodwatch & Co ein notwendiges
Eigeninteresse daran, die Angst aufrechtzuerhalten und neue Missstände zu definie-
ren. Es geht ihnen auch um den Selbsterhalt, um das Auskommen ihrer Beschäftigten
und Führungskräfte. Bis heute konnte keine revolutionäre Partei oder Organisation sich
je eingestehen, dass die eigenen Ziele erreicht sind und man überflüssig geworden ist.
10 Niemand schafft sich gerne selbst ab. Mit den modernen Weltverbesserern ist es wie
mit einer Steuer. Einmal eingeführt, wird man sie nicht mehr los.
Um Missverständnissen vorzubeugen. Lobbyismus ist in einer Demokratie unvermeid-
bar, sogar wünschenswert. Gruppen oder Einzelpersonen versuchen, durch Lobbyis-
mus Mehrheiten im Parlament oder im Volk zu gewinnen. Lobbyismus ist ein Grund-
15 bestandteil demokratischer Streitkultur. Um aber Mauscheleien und Klüngeleien im
Hinterzimmer vorzubeugen, sollten die Mechanismen des Lobbyismus transparent
gemacht werden. Mit Hinblick auf offensichtliche Wirtschaftsinteressen wird das auch
und gerade von Vertretern der NGOs eingefordert. [... ]
Denn nichts behindert derzeit eine unvoreingenommene Diskussion über Lobbyismus
80 und dessen Grenzen derart, wie die beinahe religiöse Überhöhung einiger NGOs zu
den Gralshütern eines überparteilichen Wohls. Und letztendlich schadet diese Verklä-
rung sogar noch einem vernünftigen Umgang mit den tatsächlich von Zeit zu Zeit
auftretenden Umweltkatastrophen und Verunreinigungen von Lebensmitteln. Dauern-
de Skandalisierung erzeugt ein Klima der Angst und macht im laufe der Zeit blind für
85 wirkliche Bedrohung. Eine offene Debatte dagegen könnte helfen, den Blick zu schär-
fen, tatsächliche Missstände ausfindig zu machen, aber sich auch einzugestehen, in
wie vielen Bereichen es uns wirklich gut geht. Das müsste auch im Interesse aller
NGO-Aktivisten sein, denen noch die Sache, für die sie einmal eingetreten sind, am
Herzen liegt. Aktivismus ist nichts Schlechtes. Lobbyismus ist nichts Schlechtes. Ein
oo Lobbyismus aber, der als Heilslehre daherkommt und sich unfehlbar gibt wie der
Papst, ist verheerend.

Hasso Mansfeld, A uf der Seite der Guten,..', in: TheEuropean, 25.2.2014

A f aben

ysieren Sie die Kritik des Autors an NGOs.

2. Gestalten Sie einen Kommentar oder Leserbrief aus der Sicht eines NGOs-Vertreters.
SELBSTDIAGNOSE 1

Im laufe des letzten Kapitels haben Sie sich mit den Internationalen Beziehungen beschäftigt. Lesen
Sie die folgenden Sätze und entscheiden Sie jeweils für sich, welche der Spalten sie ankreuzen können.

Ich kenne ... vollständig teilweise (noch) nicht

. . . die Bedeutung von Sicherheit in den Internationalen


Beziehungen .
... die zentralen Großtheorien der Internationalen
Beziehungen .
. . . das Phänomen der „neuen Kriege" in Abgrenzung
zu „alten Staatenkriegen" .

. . . die Bedeutung des Völkerrechts und seine Grenzen .

... die mit fragiler Staatlichkeit einhergehenden Probleme .

... die Gefahren, die aus Proliferation und Wettrüsten


entstehen .
... die Herausforderungen, die mit Klimawandel, Bevölke-
rungswachstum und Migration verbunden sind .

... die Aufgaben und Ziele der VN, der NATO und der OSZE.

... die Grundlagen, Ziele und Instrumente der deutschen


Außen- und Sicherheitspolitik.
... das globale Nord-Süd-Gefälle sowie die damit verbundene
Verteilung von Ressourcen, Reichtum und Armut.

... die Möglichkeiten und Grenzen von Global Governance.

Ich kann ... vollständig teilweise (noch) nicht

.. . die zentralen Großtheorien der Internationalen Beziehun-


gen gegeneinander abgrenzen .

. . . den Einsatz „ neuer Waffen" zur Kriegsführung beurteilen .

... das Spannungsverhältnis zwischen Interventionsverbot und


Humanitären Interventionen charakterisieren .
. . . die für mich wichtigste Gefährdung des Friedens darstellen
und beurteilen .

... internationale Konflikte analysieren .

... die Bedeutung der UN zur Sicherung des Weltfriedens


beurteilen

... die Rolle der NATO und der OSZE charakterisieren .

.. . den Begriff der „ Parlamentsarmee" erklären .

... Deutschlands Einflussmöglichkeiten in den Internationalen


Beziehungen beurteilen .

... die Motive zur Entwicklungszusammenarbeit erläutern .

. . . die Möglichkeiten von Global Governance beurteilen.


1 Sachregister

Sachregister Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung


(AKUF) 415
Arbeitskampfmaßnahmen 138
Arbeitskraft 138
A Arbeitslosengeld (ALG 1, ALG II) 113, 131f.
ABC-Waffen 443 Arbeitslosenquote 113
Abgeordnete 288, 313 Arbeitslosigkeit 80, 100, 112f., 131 , 382
Abgeordnetenmandat 312 Arbeitslosigkeit, Formen der
Abrüstung 418 - friktionelle 114
Abschreckung 406, 418 - saisonale 114
Abstiegsgesellschaft 66 - konjunkturelle- strukturelle 114, 130
Abwehrrechte 268 - verdeckte 113
Achtung der staatlichen Souveränität 464 Arbeitsmarkt 119, 130, 132, 382
Adam Smith 88f. Arbeitsmarktchancen 65
Adenauer, Konrad 321 , 323 Arbeitsmigranten 20, 24
AfD 26 Arbeitsparlament 313
Afghanistan 469 Arbeitsplätze 183
Afrikanische Union 440 Arbeitsplätze, Verlagerung 176
Agenda 2010 132 Arbeitsteilung 88, 90
Agenda 2030 494 Arbeitswelt 4.0 48
Agenda 21 224 Armut 59, 383,484
Agenda für den Frieden 462 Armut, relative 60
Akademikerfamilien 65 Armutsgefährdung 60
Akteure der Entwicklungspolitik 492 Armutsrisiko 60
Akteure in der internationalen Politik 409 Ashton, Catherine 389
Aktien 177 Asyl 397
Aktuelle Stunden 315 Asylbewerber 24
Akzeptanz- und Pflichtwerte 52 Atomabkommen mit Iran 389, 447f.
AI-Baschir, Umar 424 Atomare Pattsituation 443
Allensbacher Instituts für Demoskopie 52 Atomausstieg 343f.
Allgemein gültig 338 Atomkraftwerke 230
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 422 Atomkrieg 407
Allgemeinwohl 293 Atommächte 443f.
Allokation der Ressourcen 89 Atomtests 446
AI-Qaida 429, 431 Atomwaffensperrvertrag (NPT) 444
AI-Shabaab 439 Atomwaffenstaaten 444, 446
Altersstruktur 19 Attac 177, 408
Amerikanisierung 306 Atypische Beschäftigung 48
Amnesty International 408 Auf- und Abwertungen 169
Anarchie 406 Aufbau Ost 126
Angebot und Nachfrage 93 Auflagenkonzentration 306
Angebotskurve 93 Aufnahme in die EU 358
Angebotsmenge 93 Ausgaben- bzw. Konjunkturpolitik,
Angebotsrückgang 94 antizyklische 119f.
Angebotstheorie 131 Ausgleichsmandate 288
Angebotsüberschuss 93 Ausgrenzung 24
Angehörige 24 Aushandlungsprozesse, korporatistische 140
Anleihen 157, 177 Auslandseinsätze 480
Anschlag auf das World Trade Center 428, Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) 370
431 , 468 Ausschüsse 313
Anschläge 430 Außen- und Sicherheitspolitik der EU 387f.
Antidiskriminierungsgesetz 39 Außenhandelsdefizit 116
Äquivalenzeinkommen 58 Außenhandelsquote 183
Äquivalenzprinzip 152 Außenpolitik Russlands 471
Arbeit, neue Formen 80 Außenpolitische Verantwortung 479
Arbeiterfamilien 65 Außenpolitische Verhandlungen 322
Arbeitgeberverbände 122, 137, 138 Außenwirtschaftliches Gleichgewicht 111, 115
Arbeitnehmer 89, 140 Außenwirtschaftsbeziehungen 367
Arbeitnehmerrechte 121 Austeritätspolitik 121
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 113 Auswärtige Amt 322
Sachregister I

Ausweitung des staatlichen Sektors 120 Balte, Karl Martin 69


Auswertung von Statistiken 147, 149 Boom 107
Automatisierung 47 Boutros-Ghali, Boutros 462
Axel Springer AG 306 Braindrain 457
Brandt, Willy 323
B Bretton-Woods-System 169, 175, 187f.
Bad Governance 493 Brexit 279f. , 358, 363, 368, 389, 396
Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) BRIC-Staaten 206
189 Brundtland, Gro Harlem 206
Bauer Verlagsgruppe 306 Brundtland-Bericht 206, 224
Beck, Ulrich 66, 70 Bruttoarbeitslohn 76
Bedingung der Homogenität 93 Bruttoinlandsprodukt (BIP) 105
Bedürfnisbefriedigung 88 Bundesamt für Migration und Flüchtl inge
Bedürfnisklausel 332 (BAMF) 25
Befragungen 307 Bundesbehörden 322
Begrenzte natürliche Ressourcen 455 Bundesebene 332
Beitrittsantrag 358 Bundeshaushalt 151
Beitrittsprozess 358 Bundeskanzler 312, 320ft.
Bell, Daniel 408 Bundeskartellamt 101
Benachteiligung 39, 73 Bundesministerien 322
Benachteiligung von Frauen 41 , 46 Bundesministerien der Verteidigung 322
Berlin-Plus-Abkommen 470 Bundesministerien für Finanzen 322
Bertelsmann AG 306 Bundesministerien für Justiz 322
Berufsausbildung 26 Bundesministerium des Innern 322
Berufschancen von Frauen 39 Bundesministerium für Familie, Senioren,
Berufsleben 10 Frauen und Jugend (BMFSFJ) 34
Berufstätigkeit 61 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz
Beschäftigungsstand 111 , 113 und Reaktorsicherheit 230, 322
Beschlussempfehlungen 313 Bundesministerium für Wirtschaft 101
Beschränkung staatlicher Herrschaft 242 Bundespräsident 328f., 341
Beteiligung 278 Bundespräsident, Aufgaben 328
Beteiligungsrechte 100 Bundesrat 325ft.
Betreuungsplatz, Rechtsanspruch 36 Bundesrat, Kompetenzen
Betriebsräte 100 - Mitwirkung an der Gesetzgebung
Betriebsvermögen 145 - Mitwirkung an der Verwaltung
Bevölkerung 17 - Mitwirkung an der Europapolitik
Bevölkerungsprognosen 20 - Kontrolle des Bundes
Bevölkerungsstruktur 20 - Mitwirkung an der Bestellung anderer
Bevölkerungswachstum 19, 455f. Staatsorgane 325
Bewaffnete Konflikte 416 Bundesrat , Konfliktlinien 326
Bildungschancen 60f. Bundesrat, Stimmverteilung 326
Bildungserfolg 65 Bundesregierung 320ft.
Bildungsexpansion 61 Bundesregierung, Arbeitsweise 320
Bildungskarriere 65 Bundesschatzbriefe 157
Bildungssystem 65 Bundesstaat 272, 332
Bildungstrichter 65 Bundesstaatliche Ordnung 333
Billiglohnländer 181 Bundestag 286, 314ff. , 338
Billiglohnsektor 140 Bundestag, Auflösung 328
Binnenflucht 455 Bundestag, Funktion im politischen System 314
Binnengrenzen 392 Bundestag, Kontrollfunktion 314
Binnenkonflikte 416 Bundestagsabgeordnete, rechtliche Stellung
Binnenmarkt 362, 380 - Indemnität
Biodiversität 195, 223 - Immunität
Biodiversitäts-Konvention 224 - Zeugnisverweigerungsrecht 316
BIP pro Kopf 107 Bundestagssitzung 315
BIP Bundestagswahl 286
- reales Bundesverband der deutschen Industrie (BDI)
- nominales 105 138
Bipolarität 411 Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeber-
Blauhelme 462 verbände (BDA) 138
1 Sachregister

Bundesverfassungsgericht 288, 349f. Demokratie, wehrhafte 273


Bundesverfassungsgericht, Urteile 350 Demokratietheorien
Bundesversammlung 309 - Identitätstheorie
Bundeswahlgesetz 288 - Konkurrenztheorie
Bundeswehr 480 - Pluralismustheorie 246ff.
Bündnisfall 467f. Demokratisches Regieren 257
Bündnisgebiet 469 Demonstrationen 301
Bündnispartner 467 Demonstrationsrecht 283
Bündnisse 323 Demoskopie 307
Bürgerbeteiligung 283 Demoskopie, Effekte
Bürgerinitiativen 283 - Mobilisierungs-Effekt
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) 345 - Defätismus-Effekt
Bürgermeister 335 - Lethargie-Effekt
Bürgerrechte 268 - Bequemlichkeits-Effekt 307
Bürgertum 90 Denationalisierung 408
Büro für Demokratische Institutionen und Dependenztheorie 488
Menschenrechte 4 75 Depression 107
Bush, George H. W. 440 Deregulierung 121, 176
Bush, George W. 431 Derivate 177
Deutsche Außenpolitik, Einflussfaktoren 479
C Deutsche Einheit 380
Carlowitz, Carl von 206 Deutsche Einheit, Kosten 80
Carstens, Karl 328 Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) 138
Chancengleichheit 57, 268 Deutsch-französische Aussöhnung 362
Charta der Vereinten Nationen 459f. Devisen 169,177
Charta von Paris 474 Devisenbewegungen 170
Checks and balances 366 Devisenkurse 169
Chicagoer Schule 121 Devisenspekulationen 170
Clausewitz, Carl von 415 Devisenumsätze 177
Cleavages 292 D'Hondt-Verfahren 287
Club of Rome 196, 450 Diäten 316f.
Club-Governance 501 Die Grenzen des Wachstums 196, 450
COr Ausstoß 211 Die neuen Grenzen des Wachstums 196
C02-Emissionen 195, 197, 223, 224 Dienstleistungsgesellschaft 47
C02-Emissionszertifikate 227 Dienstleistungssektor 132
CO2-Neuwagenverodnung 228 Digitale Agenda für Europa 398
Commons 202 Digitale Binnenmarkt 398
COREPER (Comite des representants Digitalisierung 47f. , 127, 398
permanents) 370 Diktatur
Cyber-Attacken 469 - autoritär
Cyberkrieg 417 - totalitär 246
Cyberspace 417 Dimensionen von Staatlichkeit
Cyberwar 417 - starker Staat
- schwacher Staat
D - zerfallender Staat
Dahrendorf, Ralf 69 - zerfallener Staat 437
DDR 19 Diplomatie 480
Deflation 115 Direktdemokratische Elemente 280
Degrowth 210 Direktinvestitionen 175,181
Deliberation 250f. Direktmandate 286, 288
Delors, Jacques 380 Direktwahl 309, 363
Dematerialisierung 211 Disarmament 463
Demobilization and Reintegration 463 Disembedding 408
Demografischer Wandel 17, 20, 80, 130 Diskriminierung 10, 493
Demokratie 246, 272 Diskurse 411
Demokratie, Grundmodelle Dolmetscher 367
- direkt 246, 278f., 280 Domino-Effekt 382
- repräsentativ 246, 278 Dappelte Mehrheit 375
Demokratie, innerparteiliche 294 Downgrading 61
Demokratie, Kernelemente 252 Drei-Elemente-Lehre 239
Sachregister I

Dreier-Kontaktgruppe 475 Entgelttransparenzgesetz 41 f.


Dritte Lesung 338 Entgrenzung 408
Drittstaaten 386 Entstehungsrechnung 105
Drohnen 417 Entwicklung messen 485
Entwicklung, wirtschaftliche 105f.
E Entwicklungshilfe 491
Economic Governance 187 Entwicklungsländer 455, 484, 488, 491
Economies of scale 180 Entwicklungspartnerschaft 491
Ehe für alle 30 Entwicklungspolitik 491
Eheliche Kernfamilie 29 Entwicklungspolitik in der Kritik 496
Ehrenamt 26 Entwicklungspolitik, deutsche 495
Eigeninitiative der Wirtschaftssubjekte 121 Entwicklungsprogramm der VN (UNDP) 460
Eigentumsverhältnisse 89 Entwicklungsrückstände, Erklärungsfaktoren
Einbindung Deutschlands 362 488
Einflussnahme 301 Entwicklungszusammenarbeit 491, 495
Einführung des Euro 363 Entwicklungszusammenarbeit und Sicherheits-
Eingetragene Lebenspartnerschaft 30 politik 491
Eingewanderte 24 Erbschaftssteuer 145
Einheimische 24 Erhard, Ludwig 99, 323
Einheitliche Europäische Akte (EEA) 363 Ernährerrolle 29
Einheitsstaat 332 Erneuerbare Energien Gesetz (EEG) 229, 230
Einkommen 140 Erste Lesung 338
Einkommen, global 485 Erststimme 286
Einkommens- und Vermögensverteilung 100, Erweiterung 357
111,137,144,176 Erwerbsarbeit 47, 130
Einkommenssteuer 144 Erwerbstätige 113, 125, 132
Einkommenssteuertarif 144, 145 Erwerbstätigenquote 113f., 130
Einkommenssteuertarif, progressiv 153 Erziehung 9
Einkommensunterschiede 58 ETA (Euskadi Ta Askatasuna, dt. ,,Baskenland
Einkommensverteilung 58 und Freiheit") 428
Einkommensverteilung EU als internationaler Akteur 386
- primäre EU-Abgeordnete 369
- sekundäre EU-Bürger 23
- funktionale Eucken, Walter 99
- personelle 137 EU-Entscheidungssystem 371, 375
Einsätze „out of area" 469 EU-Fiskalpakt 363
Einsätze der Bundeswehr 481 EU-Gesetzgebungsprozess 367
Einspruchsgesetze 340 EU-Kommission 367, 372f., 380
Einwandererfamilien 24 EU-Recht 345, 397
Einwanderungsland 19, 24, 130 Euro 380f.
Elektroautos 211 , 230 Euro-atlantischer Raum 469
Elektromobilität 211 Eurojust 392
Eliten 65 Eurokrise 123, 165f., 170, 177, 363, 382
Eliten, (Macht-) 61 Euroländer 382
Elitenbildung, Probleme der 65 Europa 356
Elterngeld 34 Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten
Eltern-Kind-Gemeinschaft 29 377
Elternzeit 35, 40 Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM)
Emissionshandel 227f. 362f.
Emissionsgrenzwerte 230 Europäischer Bürgerbeauftragter 364
Empirie 53 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
Empirische Sozialforschung (EGKS) 362f.
- quantitative Sozialforschung 53 Europäische Gesetzgebung 375ft.
- qualitative Sozialforschung 55 Europäische Integration 356ff. , 362
Ende des Kalten Kriegs 469 Europäische Kommission 101
Ende des Ost-West-Konflikts 474 Europäische Parlament (EP) 363, 366f., 376
Energieerzeugung, konventionelle 229 Europäische Parlament, Kontrollrechte 364
Energiegewinnung 208 Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ)
Energievorräte 451 388
Energiewende 229f. Europäische Rat 366, 370f.
1 Sachregister

Europäische Rechtsakte 376 Finanztransaktionssteuer 177


Europäische Sicherheits- und Verteidigungs- Fiskalpolitik (Finanzpolitik) 150,166
politik (ESVP) 387 Five Ps 494
Europäische Sicherheitscharta von Istanbul Flexibilisierung 132
474f. Flucht 397
Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) 387 Flüchtlinge 24, 25
Europäische Sozialpolitik 382 Flüchtlingsaufkommen 392
Europäische System der Zentralbanken (ESZB) Flüchtlingspolitik der EU 392f.
163, 164 Föderale Ordnung 332
Europäische Union (EU) 227, 356ff. Föderalismus 272, 325, 332
Europäische Währungssystem (EWS) 380 Föderalismus, kooperativer 333
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Föderalismusreform 333f.
362f. Föderation 332
Europäische Zentralbank (EZB) 115, 163f., Fördern und Fordern 132
171 , 381 Formen des Terrorismus
Europäischer Einigungsprozess 362 - nationaler
Europäischer Fiskalpakt 123 - transnationaler
Europäisches Währungsinstitut (EWI) 381 - internationaler 429
Europäisierung 358, 364, 388 Forum für Sicherheitskooperation der OSZE
Europarat 370 476
Europawahlen 368 Fraenkel, Ernst 248
Europol 392 Fragestunde 314
Eurozone 382, 397 Fragile Staaten 437ff
EU-Unionsbürgerschaft 364 Fraktionen 313
EU-Vertassungskonvent 363 Fraktionsdisziplin 317
EU-Vertassungsvertrag 363f. Fraktionsvorsitzende 313
EU-Vertrag 356 Frauenerwerbstätigkeit 30, 114
Ewiges Organ 325 Freie Berufs- und Arbeitsplatzwahl 99
Ewigkeitsgebot 273 Freie Entfaltung der Persönlichkeit 99
Exekutive 239, 345, 366 Freie Entfaltung der wirtschaftlichen Tätigkeit
Exekutivföderalismus 333 90
Exekutivorgane 346 Freies Mandat 317
Existenzminimum Freihandel 189
- physisch Freihandelsabkommen 190
- soziokulturell 59 Freiheit des Einzelnen 242
Exporteure 181 Freiheit des Marktes 99
Exportförderung 170 Freiheit zur Bildung von Vereinigungen 138
Exportorientierung 116 Freiheitlich demokratische Grundordnung
Exportweltmeister 183 (FDGO) 294
Externe Effekte 200 Freizügigkeit 99
Externe Kosten 200 Frieden 415,418
Externer Nutzen 201 Friedenserhaltung 461
Exxon 408 Friedensmissionen, Handlungsoptionen 463
Friedensnobelpreis 363
F Friedenssicherung, kollektive 459, 461
Fachkräftemangel 24 Friedman, Milton 120
Fahrstuhleffekt 66 Frontex 392
Fake News 307 Fünf-Prozent-Hürde 286
Fall der Berliner Mauer 363, 380 Fünf-Prozent-Klausel 286
Familie 29 Fusionen 101
Familiengründung 20
Federal Reserve System, (,,Fed") 163, 166 G
Finanz- und Wirtschaftskrise 382 G20 189,501
Finanzinstrumente 177 G4-Gruppe 465
Finanzinstrumente, Spekulative 176 G7 189
Flnanzkrise 123,158,165,177 GB 189
Finanzmärkte 175ff., 382 Gauck, Joachim 328
Finanzpolitik, antizyklisch 157 Gazprom 408
Finanzprodukte 177 Geburtenrückgang, Gründe
Finanzsektor 122, 175ff. - persönliche
Sachregister I

- wirtschaftliche - konstitutionell
- gesellschaftliche - dezisiv 253
- politische Gewaltenverschränkung 312, 325
- medizinische 18 Gewaltkonflikte 416
Geldmarkt 165 Gewaltmonopol 406, 437
Geldwertstabilität 163 Gewaltmonopol, funktionsunfähiges 438
Gemeinden 334f. Gewerkschaften 122, 137, 138
Gemeinden, Aufgaben 334 Gewinnmaximierung 93
Gemeinsame Ausschuss 309 Gewinnquote 140
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Gewissen der Nation 329
(GASP) 386, 387f. Gini, Corrado 58
Gemeinsame Binnenmarkt 380 Gini-Koeffizient 58
Gemeinschaft 357 Gipfelerklärung von Astana 475
Gemeinwohl 88, 248 Giralgeld 164
Gender mainstreaming 41 Gläserne Decke 40
Generalsekretär der OSZE 475 Gleichberechtigung 39
Generalversammlung derVN 460 Gleichgewicht des Schreckens 418
Generationenvertrag 19 Gleichgewichtspreis 93
Genfer Abkommen 422 Gleichheitsrechte 268
Geodeterminismus 488 Gleichstellung 39
Gerechtigkeitskonzepte Global Governance 499
- Leistungsprinzip Global Governance, Grenzen 502
- Bedarfsprinzip Global Governance, Säulen 502
- Egalitätsprinzip Global Governance-Architektur 499
- Chancengleichheit 140 Global government 499
Gerichte 346 Globale Armut, Ursachen
Gerichtsbarkeit in Deutschland 346f. - natürliche Faktoren
- ,,ordentliche" Gerichte 346 - interne Faktoren
- Arbeitsgerichte 346 - externe Faktoren 486f.
- Verwaltungsgerichte 346 Globale Sicherheit und Armut 484
- Sozialgerichte 346 Globale Strategie der EU 387
- Finanzgerichte 346 Globales Sicherheitsnetzwerk 469
Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 99 Globalisierte Welt 47
Geschlecht Globalisierung 80, 120, 175
- biologisch Globalisierung der Wirtschaft 175
- sozial Globalisierung, Begleiterscheinungen 488f.
- psychisch Globalisierungskritiker 182
- Gender 10 Goldstandard 169
Geschlechterquote 41 Green Growth 209
Gesellschaft 69, 240 Green New Deal 210
Gesellschaft, Spaltung der 26 Greenpeace 408
Gesellschaftlicher Fortschritt 52 Greminger, Thomas 475
Gesellschaftsstrukturen 10 Grenzen des BIP 216
Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Grenzkontrollen, Abschaffung 363
Wachstums der Wirtschaft (Stabilitätsgesetz) Grenzkrieg zwischen Somalia und Äthiopien
111 439
Gesetze 338, 345 Griechische Schockmoment 382
Gesetzentwurf 315, 338 Große Anfragen 314
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung Grotius, Hugo 411
(GWB) 101 Gründerstaaten der EU 362
Gesetzesvorschläge 312 Grundgesetz 268, 272ft.
Gesetzgebung 320, 325, 338ft. Grundgesetzänderung 334
Gesetzgebung, konkurrierende 332f. Grundgesetzfragen 350
Gesetzgebungsnotstand 341 Grundrechte 268
Gesetzgebungsrecht 367 Grundrechtskonflikte 269
Gesetzgebungsverfahren 338 Grundversorgung, mediale 305
Gewaltenteilung 253, 366 Gruppen 8, 13
Gewaltenteilung, Formen - formell 13
- vertikal - informell 13
- temporal Gruppenstärke 288
1 Sachregister

Guantanamo Bay 431


Gütentausch 93 Identität 10
Güter 89, 200 Ideologie 242
- freie 200 Immer engere Union der Völker Europas 356
- private 200 Index der menschlichen Entwicklung (HOi)
- öffentliche 200 485
- meritorische 200 Index fragi ler Staatlichkeit 438
- Allmende 200 lndividualisierungstendenzen 296
Güteraustausch 88 Industrie 4.0 48, 127
Güterversorgung 88 Industrie- und Handelskammern 138
Industrie- und Schwellenländer 158
H Industriegesellschaft 47
Habitus 14 industrielle Revolution
Handel, freier 187 - erste
Handel, internationale 175, 180 - zweite
Handeln, soziales 8, 51 - dritte
Handelsbilanz 116 - vierte 48
Handelspartner 182, 183 Industriestaaten 181 , 206, 451 , 491
Handelspolitik der EU 367 lnfantilisierung der Armut 60
Handelsströme 170 Inflation 115
Handlungsfreiheit 99 Inflationsrate 105, 115, 139
Hardin, Garrett 202 Informationsfreiheit 304
Hare/ Niemeyer-Verfahren 287 Informationsgesellschaft 4 7
Harmonisierte Verbraucherpreisindex 163 Informationssektors 126
Hartz IV 60, 131 Infrastruktur 126
Hartz, Peter 131 lnglehart, Ronald 52
Hartz-Reformen 132 lnitiativmonopol 375
Haushaltseinkommen 58, 59 Initiativrecht 338
Haushaltsrecht 367 Inlandskonzept 105
Haushaltsüberschüsse 159 Institutionen 238, 411
Hedgefonds 177 lnstitutionengefüge 320
Heiliger Krieg 429 Integration 24ff.
Heinemann, Gustav 328 - in eine Gesellschaft 24
Herkunftseffekte - als Gesellschaft 24
- primäre Integrationsgipfel 25
- sekundäre 64 Interessen, Durchsetzung 300
Herrschaft 239 Interessen, Organisation 300
Herrschaft, demokratische 252 Interessengruppen 152
Herrschaftsform 246 Interessenverbände 300
Herzog, Roman 328 Interessenvertreter 375
Heuss.Theodor 328 lntergouvernemental 388
Hilfe zur Selbsthilfe 493 Intermediäres System 294
Hobbes,Thomas 410 International Organization for Migration (IOM)
Hoffman, Frank G. 416 457
Hohe Kommissarin für Nationale Minderheiten Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO)
475 445
Hohe Vertreter der EU für die Außen- und Internationale Gerichtsbarkeit 501
Sicherheitspolitik 389 Internationale Institutionen 502
Homo oeconomicus 88 Internationale Konflikte analysieren 432
Horn von Afrika 439 Internationale Netzwerke 501
Hubert Burda Media 306 Internationale Organisationen 408, 500
Human Development Index (HDI} 485f. Internationale Politik 406
Humanitäre Hilfe 463 Internationale Regime 411 , 443
Humanitäre Intervention 425 Internationale Sicherheit 437
Hungersnot 440 Internationale Strafgerichtshof (IStGH) 423f.
Hüterin des Unionsrechts 372 Internationale Strafgerichtshof (IStGH), Urteile
Hybride Bedrohungen 4 70 424
Internationale Währungsfonds (IWF) 187, 460
Internationalen Gerichtshof (IGH) 423
Internationaler Konflikt 415
Sachregister I

Internationalisierung der Produktion 175 Kollegialprinzip 320


1nterpel lationsrecht 314 Kolonialzeit 491
Interventionsverbot 425, 464 Kommissare 367, 371
Investitionen, st aatl iche 11 9, 159 Kommunen 335
Investmentbank Lehman Brothers 123 Kompromisse 341
IRA (Irisch-Republikanische Armee) 428 Kompromissfindung 376
islamische Staat (IS} 408, 429f. Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (KSZE) 474
J Konferenz über Umwelt und Entwicklung
Judikative 239, 345, 366 (UNCED) 449
Jugoslawien-Krieg 468 Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit 269
Justiz- und Innenpolitik der EU 392 Konflikte, gesellschaftlich 9
Konföderation 332
K Königsrecht der Parlamente 367
Kabinett 320 Konjunktur 107
Kabinettsbildungsrecht 321 Konjunkturelle Lage 107
Kabinettsprinzip 320 Konjunkturindikatoren
Kalter Krieg 362f., 406 - Frühindikatoren
Kampagnen 301 - Präsensindikatoren
Kampf gegen Analphabetismus 493 - Spätindikatoren 108
Kant, Immanuel 41 1 Konjunkturprogramme 158
Kanzlerdemokratie 321 Konjunkturschwankungen 100
Kanzlerprinzip 320 Konjunkturtheorien
Kapital - Unterkonsumtionstheorie 107
- sozial - Überproduktionstheorie 108
- kulturell 26 - Monetäre Theorien 108
Kapitalbewegungen 170 - Exogene Theorien 108
Kapitalmarkt 157 Konjunkturzyklus 105
Kapitalverkehrskontrollen 169 Konjunkturzyklus, Phasen des
Kartelle 101 - Aufschwung 106
Käufer und Verkäufer 93 - Hochkonjunktur 107
Kaufkraft 115 - Konjunkturabschwungs 107
Kaufkraftargument 121 - Tiefpunkt 107
Keynes, John Maynard 119 Konkordanzdemokratie 261ff.
Keynesianismus 123 Konkurrenz, vollkommene 93, 100
Kiesinger, Kurt Georg 111, 323 Konkurrenzdemokratie 261ff., 300
Kinderarbeit 90 Konkurrenzfähigkeit 183
Kinderarmut 60 Konsensdemokratie 261 ff.
Kinderbetreuung 35 Konsensfindung im Rat
Kinderbetreuungseinrichtungen 34 - Koordinationsreflex
Kindergeld 150 - Souveränitätsreflex 376
Kinderhilfswerk (UNICEF) 460 Konsensprinzip 474, 476
Kissinger, Henry 387f. Konservatismus 242f.
Klages, Helmut 52 Konstruktives Misstrauensvotum 315
Klassentheorie 69 Konsum 197
Kleine Anfragen 314 Konsumenten 93
Klimafolgen 195 Konsumfreiheit 99
Klimapolitik 450 Kony, Joseph 424
Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen Kopenhagener Kriterien 357
224,449 Körperschaften des öffentlichen Rechts 138
Klimaschutz 277 Kosten 93
Klimawandel 225, 449f. Kosten-Nutzen-Prinzip 88
Klimawandel, anthropogene 195, 223, 449 Kosten-Nutzen-Überlegungen 89
Koalitionen 323 Kostenvorteile 181
Koalitionsrunden 323 Kranker Mann Europas 132
Koalitionsvereinbarungen 322f. Kreditanstalt für Wiederaufbau (Ktw) 202
Koalitionsverträge 323 Kreditaufnahme 164
Kohäsionspolitik der EU 126 Kreditfähigkeit 157
Kohl, Helmut 323, 380 Kreditwürdigkeit 382
Köhler, Horst 328 Krieg 415
1 Sachregister

Krieg aller gegen alle 41 0 Lithium-Ionen-Akkus 229


Krieg für „höhere" Ziele 425 Lobbyismus 302
Krieg im Irak 431 Löhne 119, 137, 139
Krieg in Afghanistan 431 Lohnnebenkosten 81
Krieg in Syrien 433ff. l ohnpolitische Konzepte
Kriege - produktivitätsorientierte Lohnpolitik
- symmetrisch - produktivitätsorientierte Lohnpolitik
- asymmetrisch 415 - expansive Lohnpolitik
Kriege, neue 415f. - Arbeitszeitverkürzungen 139
Kriegsbild , klassische 417 Lohnquote 140, 141
Kriegsführung Lohntarifverträge 137
- asymmetrische 416 Lohnungleichheit 41 , 42
- hybride 416 Lohnverhandlungen, kollektive 137
- neue 418 Lokalkonzentration 306
Kriegsverbrechen 423 Lubanga, Thomas 424
Krisen 366 Lübke, H~nrich 328
Krisenanfälligkeit der Marktwirtschaft 89
Krisenhaftigkeit marktwirtschaftlicher Systeme M
89 Maastricht-Kriterien 157
Krisenmanagement, militärische 469 Macht 61
Kurspflege 170f. Machtkonzentration 332
Kurzarbeit 113 Madison, James 247
Kürzungen 158 Magisches Vieleck 111
Magisches Viereck 111
L Magistratsverfassung 335
Ladeinfrastruktur 230 Mandat
Länder des Globalen Nordens 484 - weiches
Länder des Globalen Südens 484 - robustes 462
Länderebene 332 Manteltarifverträge 137
Länderinteressen 325 Markt 93, 95
Landesverfassungen 334 Marktbeherrschung 101
Lebensabschnittspartnerschaft 30 Märkte abseits des Gleichgewichts 94
Lebenserwartung 18 Märkte im Gleichgewicht 94
Lebensformen 30 Märkte, ausländische 181
- Patchwork-Famil ien Märkte, globale 175
- Wochenendfamilien Marktformen 100
- gleichgeschlechtliche Lebensformen - Polypol
- Regenbogenfamilien - Oligopol
- verheiratete Paare - Monopol 100
- unverheiratete Paare Marktführerschaft 100
- alleinerziehende Mütter und Väter Marktkräfte 119
- Singles Marktprinzip 202
- Mehrgenerationenfamilie 30 Marktprozesse 88
Lebensgemeinschaften 29 Marktübersicht 93
lebenslanges Lernen 47 Marktwirtschaft 88, 90, 93
Lebensstilanalyse 72 Marktwirtschaft, kapitalistische oder freie 89
Leerverkäufe 177 Marx, Karl 70, 90
Legislative 239, 366 Marxismus 89
Legislative der EU 370, 375 Massenmedien 240
Leistungsbilanz 11 6 Massenvernichtungswaffen 443
Leistungsbilanzdefizit 158 Medien 304
Leistungsbilanzsaldo 11 6 Medien, Funktionen
Leistungsbilanzüberschuss 116 - Informationsfunktion 304
Leistungsfähigkeitsprinzip 153 - Urteilsbildungsfunktion 304
Leitbilder, männlich 40 - Kritik- und Kontrollfunktion 305
Leitbilder, sozialpolitische 81 Mediendemokratie 304, 307
Leitzinsen 165 Medienkonzentration 305
Liberalismus 99, 242f. Medienmarkt 304
Links-Rechts-Schema 293 Mehrebenensystem 227, 356f. , 366
Liquidität 165 Mehrheitsdemokratie 261 ff.
Sachregister I

Mehrheitswahl 285, 292 Modernisierungstheorie 488


- absolut 285 Mogherini, Federica 389
- relativ 285 Monarchie 246
Mehrwertsteuer 150 Montesquieu, Charles de 253
Meinungsforschung 307 Moravcsik, Andrew 411
Meinungsforschungsinstitute Morgenthau, Hans Joachim 410
- Institut für Demoskopie Allensbach Müller-Armack, Alfred 99
- Infratest dimap Multilateralismus 387
- forsa Multinationale Unternehmen (MNU) 181, 501
- Emnid 307 Multiplikatorprozess 119
Meinungsfreiheit 304
Menschenrechte 268, 422, 464 N
Menschenrechtsorganisationen 393 Nachbarräume 455
Menschenrechtsverletzungen 423 Nachfrage 119
Menschenwürde 268 Nachfrage- und Angebotspolitik 121 , 122
Merkantilistische Wirtschaftspolitik 90 Nachfragekurve 93
Merkel, Angela 323 Nachfragemenge 93
Migrant 24 Nachfragesteigerung 94
Migration 19, 23, 397, 455 Nachfragetheorie 131
- Binnenmigration 23 Nachfrageüberschuss 93
- Emigration 23 Nachhaltige Entwicklung 493
- Immigration 23 Nachhaltigkeit 206, 209
- Remigration 23 Nachhaltigkeit, Dimensionen
Migration, Ursachen 456 - Effizienz
Migrationsbewegungen 393 - Konsistenz
Migrationsformen - Suffizienz 207
- Fluchtmigration Nachhaltigkeit, Modelle 208
- Familiennachzug - Dreiklangmodell
- Heiratsmigration - Nachhaltigkeitsdreieck
- Arbeitsmigration Nachkriegswirtschaftswunders 19
- Expertenmigration Nachtwächterstaat 242
- Armutsmigration 23 Nahe Osten 446
Migrationsgipfel 363 Nahe und Mittlere Osten 452
Migrationshintergrund 23, 26 Nationale Sicherheitsstrategie, USA 444
Migrationspolitik der EU 393 Nationaler Wohlfahrtsindex (NWI) 218
Milieus 292 NATO 444
Militärausgaben 470 NATO Response Force 469
Militärbündnis 467 NATO-Generalsekretär 389
Militäreinsatz „Allied Force" 469 NATO-Rat 467f.
Militärische Operationen 387 Neoliberale Wirtschaftspolitik 121
Millenniums-Entwicklungsziele (MDGs) 494 Neoliberalismus 120, 123, 175
Millenniums-Gipfel 493 Nettovermögen 148
Milosevic, Slobodan 468 Neugliederung 279
Mindestlohn 60, 140 Nichtatomwaffenstaaten 444, 446
Minister 320 Nichteinmischung des Staates 120
Ministererlaubnis 101 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) 190,
Mitbestimmung 100, 138 408, 501
Mitgliedstaaten der EU 357 Nichtstaatliche Akteure 408
Mitwirkungsrechte 268 Nichtstaatliche Konflikte 416
Modellbildung 96 Nichtwähler 288f.
Modelle der Gesellschaft Nie wieder Krieg in Europa! 356
- Hausmodell 70 Nine eleven (9/ 11) 428f., 465
- Zwiebelmodell 70 Noelle-Neumann, Elisabeth 52
- Klassen 70, 73 Nordatlantische Vertragsorganisation (NATO)
- Soziale Schichten 70, 73 467ff.
- Soziale Lagen 71 Nord-Süd-Gefälle 484
- Soziale Milieus 71 Normalarbeitsplätze 4 7
- Sinus-Milieumodell 72 Normative Macht 386
- Exklusion-Inklusion-Modell 73 Normen 345, 411
Modelle sozialer Ungerechtigkeit 69
1 Sachregister

Normen, soziale - christdemokratische


- formell - konservative
- informell 8 - sozialdemokratische
Normenkontrolle - sozialistische
- konkrete - grüne
- abstrakte 350 - liberale 369
Nukleare Nichtverbreitung 443 Parteien
Nutzenmaximierung 88, 93 - Volksparteien
Nutzungsansprüchen 455 - Interessenparteien 293
Parteien, Finanzierung 294f.
0 Parteien, Funktionen
Oberbefehl über die Bundeswehr 321 - Personalrekrutierung
Öffentliche Aufgaben 151 - Interessenartikulation
Öffentliche Hand 150 - Programmfunktion
Öffentliches Recht 345 - Partizipation
Öffentlich-private Partnerschaft (ÖPP) 158 - Legitimation 294
Öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehan- Parteiendemokratie 304
stalten 305 Parteiengesetz 292
Ökologie 194 Parteienlandschaft 295
ökologischer Fußabdruck 197 Parteiensystem
ökologischer Rucksack 198, 211 - Zweiparteiensystem
ökologisches Wirtschaften 206 - Mehrparteiensystem 292
Ökosystem 195, 206 Parteiführung 323
Ökosystemleistungen 194f. Parteimitglieder 296
Ongwen, Dominic 424 Parteiverbot 295
Operation „Atalanta" 440 Parteivorsitzende 313
Opposition 312 Peacebuilding 462
Opting out 381 Peace-Enforcement 462
Ordentliche Gesetzgebungsverfahren 375 Peacekeeping 462
Ordnungspolitik 101 , 150 Peergroups 9, 11
Ordnungsrahmen 90 Pegida 26
Organe der EU Phasen der Ausländerpolitik
- Europäischer Rat -Anwerbung
- Europäisches Parlament - Konsolidierung
- Rat der Europäischen Union (Ministerrat) - Abwehr und Begrenzung
- EU-Kommission - Akzeptanz und Integration 25
- Gerichtshof der Europäischen Union 372 Pinochet-Regierung 121
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit Plankommission 89
in Europa (OSZE) 408, 474ff. Planwirtschaft 88ff.
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit Plenum 313
und Entwicklung (OECD) 189, 209 Plurale Interessen 300
Ostblockstaaten 90, 363, 467, 479 Pluralisierung der Lebensformen 29,80
Osterweiterung 357 Pluralismus 253, 341
Ostrom, Elinor 202 Policy 238, 241
Ost-West-Konflikt 407,411,479 Politainment 306
Ost-West-Wanderung 19 Politics 238, 241
OSZE-Beauftrage für Medienfreiheit 475 Politik 238
Politik des leeren Stuhls 363
p Politikfelder der EU 379
Pariser Klimaschutzziele 230 - Binnemarkt
Paritätische Finanzierung 76 - Wirtschaft
Parlament 286, 338 - Währung
Parlamentarische Anfragen 367 - Soziales 379
Parlamentarische Kontrollrechte 315 Politikfelder:
Parlamentarische Mehrheit 320 - Arbeitsmarktpolitik 126
Parlamentarismus 257f. - Außen-und Sicherheitspolitik 478ff.
Parlamentsarmee 480 - Beschäftigungspolitik 60, 130
Parlamentsmehrheit 312 - Bildungspolitik 60, 100
Parteien 240, 292 - Energiepolitik 228
Parteien im Europäischen Parlament - Familienpolitik 34, 60
Sachregister I

- Finanzpolitik 121, 150, 152 Public-private-partnership (PPP) 158


- Forschungspolitik 126 Publizistische Konzentration 305
- Geldpolitik 121, 152, 163 Putin, Wladimir 471
- Geschlechterpolitik 41
- Gesundheitspolitik 60 Q
- Gleichstellungspolitik 41 Qualifizierte Mehrheit 375
- Haushaltspolitik 151 Quantitative Lockerung (quantitative easing)
- Industriepolitik 126 165, 166
- Integrationspolitik 24
- Klimaschutzpolitik 230 R
- Konjunkturpolitik 105, 111 Raketenabwehrschild 443, 469, 471
- Migrationspolitik 456 Randgruppen 67
- Sozialpolitik 75, 100, 152 - Wohnsitzlose
- Stadtentwicklungspolitik 60 - Drogenabhängige
- Steuerpolitik 151, 228 - Strafentlassene
- Strukturpolitik 100, 152 - Langzeitarbeitslose
- Subventionspolitik 126 - Entlassene aus psychiatrischer Behandlung
- Technologiepolitik 126 - psychiatrische Patienten
- Umweltpolitik 152, 223, 224, 227 Rat der Europäischen Union 370
- Verkehrspolitik 228 Ratifizierung 364
- Währungspolitik 169 Ratspräsidentschaft 370
- Wirtschaftspolitik 105, 111, 152, 228 Ratsverfassung 335
Politikzyklus 342 Rau, Johannes 328
Politische Beteiligung 283 Raum der Freiheit, der Sicherheit und des
Politische Entscheidungsebenen 357 Rechts (RFSR) 392
Politische Ideengeschichte 242 Reagan, Ronald 122
Politische Interaktionen 406 Realwirtschaft 122
Politische Parteien 292 Rechenverfahren, Wahl
Politische Rede 297ft. - d/Hondt 287
Politische Willensbildung 292 - Hare/Niemeyer 287f.
Politischer Entscheidungsprozess 292 - Sainte-Lague / Schepers 287f.
Politisches Entscheidungssystem 239 Recht 346
Politisches Entscheidungssystem 302, 309 Recht auf Eigentum 99
Politisches System 239f., 264, 268 Recht auf freie Meinungsäußerung 268
Polity 238, 241 Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
Postwachstum 210 269
Präsident des Europäischen Rats 370 Recht auf soziale Sicherung 99
Präsidentialismus 257f. Recht des Stärkeren 406
Preis 93, 95 Rechtsgleichheit 268
Preisabsprachen 100, 101 Rechtsordnung 345ft.
Preisbildung 93, 100 Rechtsprechung 346, 350
Preismechanismus 93 Rechtsstaat 252
Preisniveau 115, 163 Rechtsstaatlichkeit 338, 272
Preisniveaustabilität 111 , 115 Rechtsstaatlichkeit, fehlende 438
Preissetzung 100 Rechtsstaatprinzip 252
Prekäre Lebensverhältnisse 382 Rechtssystem 345
Prekarisierung 132 Rechtstaatsverfahren 397
Prekarität 66 Rechtsverordnungen 345
Pressefreiheit 304 Recycling 208
Prestige 61 Referendum 279, 364
Primärgruppen 13 Refinanzierungsgeschäfte 165
Privatbesitz 89 Reform der staatlichen Finanzbeziehungen
Privatisierung 120, 121, 158 334
Privatrecht 345 Reformprogramme 123
Produktion 89 Regeln 8, 380, 411
Produktion, globalisierte 180 Regieren durch eine Weltregierung 499
Produktionsfaktoren 89 Regierungsform 258
Produktionsmittel 89 Regierungssystem 258
Proliferation 443 Regierungssysteme
Protektionismus 187, 189 - parlamentarisch 257, 260
1 Sachregister

- präsidentiell 257, 260 Schnüren von „Paketen" 377


- semipräsidentiell 257, 265 Schröder, Gerhard 122, 131, 323
Regime der atomaren Nichtverbreitung 444ff. Schrumpfung der Gesellschaft 19
Regionale Organisationen 500 Schuldenabbau 159
Regionalmächte 443 Schuldenbremse 334
Regulierungen, staatliche 90 Schuldenerlass 158
Reichtum 61 Schuldentilgung 157
- materiell Schutz der Freiheit der Person 268
- kulturell Schutz von Demokratie und Verfassung 350
- ideell Schwankungen, wirtschaftliche 107
Religionsfreiheit 268 Schwellenländer 176, 183, 206
Repräsentanten 312 Sekundärgruppen 13
Republik 246, 272 Semipräsidentialismus 257f.
Re-Regulierung 176, 177 Senghaas, Dieter 418
Responsibility to Protect 424f. Shell 408
Ressortprinzip 320 Shell-Jugendstudie 53, 54
Ressourcen 57 Show of Force 463
- materielle Sicherheit, kollektive 459
- Einkommen Sicherheitsarchitektur 459, 470
- Bildung Sicherheitsbedürfnis 392, 406
- gesundheitliche Versorgung Sicherheitsbegriff, erweiterte 407f.
- gesundes Arbeitsumfeld Sicherheitsdilemma 406f.
- Wohnumfeld Sicherheitspolitik der EU 396
Ressourceneffizientes Wirtschaften 207 Sicherheitspolitik, präventiv 407, 476
Ressourceneffizienz 208 Sicherheitspolitische Risiken 455ft.
Ressourcenkonflikte 449f. Sicherheitsrat 460
Ressourcenleicht 208 Sinus-Milieumodell 72
Rezession 107 - Gesellschaftliche Leitmilieus
Richterliche Unabhängigkeit 346 - Traditionelle Milieus
Richtlinienkompetenz 320f. - Mainstream-Milieus
Risiken 100 - Hedonistische Milieus
Rolle, soziale 13 Sinus-Milieus
Rollenbilder, Wandel der 40 - Konservativ-etabliertes Milieu 71, 74
Rollenkonflikte - Traditionelles Milieu 71, 74
- lnterrollenkonflikt - Milieu der Performer 71, 74
- lntrarollenkonflikt 14 - Sozialökologisches Milieu 71, 74
Rollenteilung, klassisch 39 - Adaptivpragmatisches Milieu 71 , 74
Rolltreppe 66 - Expeditives Milieu 71, 74
Römischen Verträge 363 - Hedonisitisches Milieu 71, 74
Rosneft 408 - Bürgerliche Mitte 71, 74
Rote Armee Fraktion (RAF) 428 - Prekäres Milieu 71, 74
Rousseau,Jean-Jacques 247 Soft Power 386f.
Rüstungskontrollverträge 444f. Solana, Javier 389
Solidarische Gesellschaft 242
s Solidarität 75, 82, 382f.
Sainte-Lague / Schepers-Verfahren 286 Solidarpakt 126, 334
Satzungen und Geschäftsordnungen 345 Somalia 439
Schadstoffe 196 Sorgearbeit 130
Schattenwirtschaft 216 Souveränität 376
Scheel, Walter 328 Sozialabgaben 77
Schengener Abkommen 392 - Rentenversicherung
Sehengen-Staaten 363 - Gesetzliche Krankenversicherung
Schichten 10, 65, 69 - Pflegeversicherung
- bildungsferne 65 - Arbeitslosenversicherung
- Mittelschicht 10 - Unfallversicherung
- Unterschic ht 10 Soziale Ausgrenzung 383
Schichtungstheorie 69 Soziale Hängematte 121
Schiller, Karl 111 Soziale Herkunft 14, 61
Schlussakte von Helsinki 474 Soziale Interaktion 8
Schmidt, Helmut 323 Soziale Marktwirtschaft 99
Sachregister I

Soziale Medien 296, 307 Sozialstaatsprinzip, Offenheit des 75


Soziale Mobilität Sozialstruktur 19f.
- horizontal 64, 66 Sozialversicherungen 76, 113
- vertikal 64, 66 Sozioökonomische Lage 69
- lntergenerationenmobilität 64 Sparmaßnahmen 121
- lntragenerationenmobilität 64 Spätaussiedler 23
- Karrieremobilität 64 Sperrklausel 286, 288
- Kurzstreckenmobilität 64 Spinelli, Altiero 367
Soziale Netzwerke 307 Spinelli-Entwurf 367
Soziale Selektivität 64 Spitzenrefinanzierungsfazilität 165
Soziale Sicherung, Grundsätze 76 Spitzensteuersatz 144
- Versicherungsprinzip Staat 239
- Versorgungsprinzip Staat, demokratisch 239
- Fürsorgeprinzip Staaten 408
- Subsidaritätsprinzip Staatenbund 332
- Eigenvorsorge und Selbsthilfe Staatengemeinschaft 493
Soziale Sicherungssysteme 121, 382 Staatliche Eingriffe 126
Soziale Ungleichheit 26, 57, 69 Staats- und Regierungschefs 366, 370
Soziale Ungleichheit, Dimensionen Staatsaufbau 332ff.
- vertikale Ungleichheiten 57 Staatsausgaben 102
- horizontale Ungleichheiten 57 Staatsbürgerkundlicher Tests 25
- Materieller Wohlstand 58 Staatsfinanzen 159
- Erwerbstätigkeit 58 Staatsform 246
- Wertschätzung 58 Staatsgebiet 239
- Macht und Prestige 58 Staatsgewalt 239
- Einflussmöglichkeiten 58 Staatshaushalt, Funktionen 150
- Bildung - Bedarfsdeckungsfunktion
-Teilhabe - Umverte:ilungsfunktion
Soziale Verpflichtung des Eigentums 99 - Konjunktursteuerung
Sozialer Aufstieg 64, 66 Staatsqualität 334
Sozialer Filter 64 Staatsquote 101f., 121
Sozialer Status 57 Staatsschuldenkrise 123, 382
Sozialer Status, Vererbung des 64 Staatssekretäre 322
Sozialer Wandel 17 Staatsstrukturprinzipien 272
Soziales Europa 398 Staatsversagen 102
Sozialisation 9, 10 Staatsverschuldung 111, 120f., 157f.
- primäre 9 Staatsvolk 239
- sekundäre 9 Staatszerfall 437
- tertiäre 9 Stabilitätsgesetz 113
Sozialisation, Aspekte 11 Städtebau 229
- gesundheitliche Aspekte Ständige Strukturierte Zusammenarbeit 389
- regionale Aspekte Ständige Vertreter 376
- politische Aspekte Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats 464
- historische Aspekte Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten 370
- konforme oder abweichende Aspekte Statut von Rom 423
- mediale Aspekte Steinmeier, Frank-Walter 328
- kulturelle Aspekte Steuer- und Sozialversicherungssystem 144
- religiöse Aspekte Steuerlast 148, 152
- sexuelle Aspekte Steuermindereinnahmen 113
- geschlechtsspezifische Aspekte Steuern 151
- schichtenspezifische Aspekte - direkt
Sozialismus 89, 242f. - indirekt
Sozial-kulturelle Geburt 8 - nach Ertragshoheit
Soziallehre, christliche 99 Steuersenkungen 159
Sozialstaat 75, 80, 82 Steuerspirale 153
- aktivierender 81 Steuersystem 152
- Herausfordeurngen an den 80 Steuertarif 144
- kompensatorischer 81 - progressiv
Sozialstaatlichkeit 272f. - proportional
Sozialstaatsgebot 75, 99 Stimmensplitting 286
1 Sachregister

Stoltenberg, Jens 468 Tribalismus 488


Strafrecht 345 Trump, Donald 190, 389, 470
Streiks 138, 301 Türkei 359, 393
Strukturanpassungsprozesse 126
Strukturerhaltungspolitik 231 u
Strukturwandel 47 Überalterung 19
- der Arbeitswelt Überhangmandate 288
- der Wirtschaft Übernutzungsspirale 202
Strukturwandel der Öffentlichkeit 250 Überwachung 431
Strukturwandel UdSSR 90, 439
- der Arbeit 130 Ukraine-Konflikt 471 , 476
- der Wirtschaft 125, 176 Ultima ratio 387
Strukturwandel, Dimensionen Umverteilung 153
- intersektoral 125 Umverteilung, staatliche 144
- intrasektoral 126 Umwelt 194
- regional 126 Umweltaktionsprogramme (UAP) 227
Stuttgart 21 296 Umweltbelastungen 195
Subsidiarität(-sprinzip) 332, 392 Umweltökonomische Gesamtrechnung (UGR)
Subsistenzwirtschaft 88 219f.
Subventionen 202 Umweltpolitik, Internationalisierung 223
Subventionen, direkte 152 Umweltpolitik, Prinzipien deutscher 229
Subventionen, Erhaltungs- 126 Umweltprogramm der Vereinten Nationen 224
Supermacht USA 407 Umweltschäden 207
Supranationale Organisation 357 Umweltschutz 197,225
Sustainable Development Goals (SDGs) 494 Umweltstandards 202
System der Internationalen Beziehungen 406 Umweltverschmutzung 223
System der Selbsthilfe 410 Umweltverträglichkeit 111
System sozialer Sicherung 75 UN-Friedensmissionen 461 ff.
Systemkonkurrenz 89 UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR)
Szenariotechnik 399ff. 457
Unilateralismus 464
T UN-Kriegsverbrechertribunale 423
Tagesgeldzins 165 UNO-Generalsekretär 461
Taliban 431 , 469 UNO-Mandat 468
Tarifbindung 139, 140 UNOSOM-Mission 440
Tariflöhne 140 UN-Sicherheitsrat, Reformierung 465
Tarifverhandlungen 138 Unsichtbare Hand des Markes 89
Tarifverträge 137 Unterbewertung 170
Technische Fortschritt 127 Unterentwicklung 489, 491 f.
Teilzeitarbeit 35, 40 Unternehmen, marktbeherrschende 100
Termingeschäfte 177 Untersuchungsausschüsse 315, 367
Terms of Trade 487 Urteilsbildung, politische 275
Terrorismus 428
Terrorismus, islamistischer 429f. V
Terrornetzwerke 408 Verantwortung, soziale 99
Teufelskreis der Armut 493 Verbände 240, 300ff. , 375
Thatcher, Margaret 122 Verbände, Adressaten 301
Theorie des Liberalismus 90 - Öffentlichkeit
Theorie des Postmaterialismus 52 - Parteien
Theorien der internationalen Beziehungen - Parlamente
- der (Neo-)Realismus 41 Off. - Regierung
- der Liberalismus (Idealismus) 41 Off. - Ministerialverwaltung
- der lnstitutionalismus 41 Off. - Organe der EU
- der Konstruktivismus 41 Off. Verbände, Aufgaben 300
Tobin, James 177 - lnteressenaggregation
Tobinsteuer 177 - lnteressensselektion
Tocqueville, Alexis de 252 - Interessenartikulation
Transformationsprozess 358 - Integration
Transparency International 439 - Partizipation
Treibhausgase 195, 201 - Legitimierung
Sachregister I

Verbände, Einfluss 302 Völkerrecht 422


Verbände, Tätigkeitsfelder 300 Völkerrechtliche Grundsätze 422
Verbrauchsarm 208 - Äußere und innere Souveränität
Verbrechen gegen die Menschlichkeit 423 - Interventionsverbot
Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht 418 - Pacta sunt servanda
Vereinbarkeit von Familie und Beruf 34, 39 Völkerrechtliche Verträge 322
Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit 99 Volksabstimmungen 280
Vereinten Nationen (VN, UNO) 408, 440, 459ft. Volksbegehren 279
Verfassungsbeschwerden 350 Volksentscheid 279f.
Verfassungskonform 350 Volksinitiativen 279
Verfassungsnormen 345 Volkssouveränität 252
Verfassungsorgane 309 Volkswirtschaft 88
- ständige Vollbeschäftigung 112
- nichtständige Vorleistungen 105
- der Bundesrat
- der Bundespräsident w
- die Bundesregierung W3-lndikatorenbündel (W3) 219
- das Bundesverfassungsgericht Wachstum 175
Verfassungsrecht 345 Wachstumstheorie 107
Verfassungsrichter 350 Wachstumstrend 107
Verfassungswidrig 341 Wahl des Bundeskanzlers 320
Vergesellschaftung 9 Wahl zum Bundespräsidenten 329
Vergleichs- und Schiedsgerichtshof 475 Wahl zum Deutschen Bundestag 288, 293
Verhältniswahl 285, 292 Wahlbeteiligung 296
Verhältniswahl, personalisierte 286 Wahlbeteiligung, Europawahlen 368
Verlagskonzentration 305 Wahlen 252, 283
Verlorene Generation 398 - frei 252
Vermittlungsausschuss 338, 340f. - unfrei 252
Vermögensbildung 145 Wahlen zum Europäischen Parlament 368
Vermögenssteuer 145 Wahlergebnis 323
Vermögensungleichheit 145, 146 Wählertypen 289
Vermögensverteilung 58 - Stammwähler
Vermögensverteilung 144, 145 - Wechselwähler
Verschmutzungsrechtehandels 202 - Nichtwähler
Verschuldung, strukturell 157 Wahlgrundsätze 283
Versicherung, privat 81 - allgemein
Versicherungssysteme 100 - frei
Verteidigungsbündnis 467 - geheim
Verteidigungsfall 321 - gleich
Verteidigungsunion 389 - unmittelbar
Verteilungsrechnung 105 Wahlpflicht 368
Vertiefung 357 Wahlsystem, Anforderungen 284
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen - Repräsentation
Union (AEUV) 163 - Konzentration
Vertrag von Amsterdam 363f. - Partizipation
Vertrag von Lissabon 363f. - Einfachheit
Vertrag von Maastricht 363f. - Legitimität 284
Vertrag von Maastricht 380 Wahlsysteme 284ft.
Vertrag von Nizza 363f. - Mehrheitswahl
Vertragsreformen 359 - Verhältniswahl
Vertrauensfrage 321, 328 Währung 381
Vertriebenen 19 Währungsschwankungen 380
Verwaltungsaufgaben 325 Währungsspekulationen 171
Verwaltungswirtschaft, zentrale 89 Waigel, Theo 380
Verwendungsrechnung 105 Warenströme, internationale 180
Vetomacht 376 Warschauer Pakts (WP) 467, 474
Vetorecht 464 Wasserkonflikte 451ff.
Vier Freiheiten 379f. Wassermangel 452
Vierte Gewalt 305 Wechselkurs US-Dollar-Euro 170
Völkermord 423
1 Sachregister

Wechselkurse 169 Wirtschaftspolitische Grundkonzepte 119


- fest - Keynesianismus
- frei - Neoliberalismus
Wechselkurssysteme 169, 171 Wirtschaftstheorie, neoklassische 119
Weimarer Republik 273 Wirtschaftswachstum 111, 112, 216
Weißbuch 478, 480 Wissensgesellschaft 47, 126
Weizsäcker, Richard von 328 Wohlfahrtsstaat 81
Weltbank 187 Wohlstand 59, 90, 112
Weltfrieden 463 Wohlstandsgewinne 176
Welthandel 183 Wohlstandsgrenze 479
Welthandelsorganisation (WTO) 187, 188 Wohlstandsindikator, BIP 216
Weltklimaverhandlungen 224 Wohlstandsindikatoren, alternative 217f.
Weltordnung 406ft. - Human Development Index (HDI}
Weltordnungsmodelle 410 - Happy Planet Index (HPI)
Weltordnungspolitik, neue 499 - Bruttonationalglück (BNG)
Weltsicherheitsrat 460 - Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI)
Weltumweltkonferenz 224 Wulff, Christian 328
Weltweite Migration 455
Weltwirtschaft 183 y
Weltwirtschaftskrise 123, 187 Youth bulge 457f.
Werner-Plan 380
Werte 411 z
Werte 8f., 51f., 411 Zahlungsmittel 115
- ästhetische 9 Zahlungsunfähigkeit 158
- materielle 8, 51 Zensurverbot 304
- moralische 8 Zentralbankgeld 164
- politische 9 Zentralismus 332
- postmaterielle 51 Zentralstaat 332
- postmoderne 51 Zerfall der Sowjetunion 471
- religiöse 9 Zerfall staatlicher Strukturen 437f.
- Selbstentfaltung 52 - endogene Ursachen
- traditionelle 51 - exogene Ursachen
Werte- und Rechtsgemeinschaft 397 Zerfall von Staaten 416
Werte, europäische 357 Zieldreieck von Rio 495
Wertegemeinschaft 383, 467 Ziele nachhaltiger Entwicklung 495
Wertewandel 30, 51 Zielkonflikt zwischen Ökonomie und Ökologie
Wertorientierungen 51 197
Wertpapiere 157, 177 Zinsniveau 165
Wertvorstellungen, westlich 430 Zivile Missionen 387
Westfälischer Frieden 408 Zivilisatorisches Hexagon 418f.
Wettbewerb 93, 100 Zoll- und Handelsabkommen (GATT) 187f.
Wetterextreme 449 Zollunion 363
Wettrüsten 418, 443 Zu- und Abwanderung 19
Wiedervereinigung 380, 479 Zugangspolitiken 397
Windstrom 229 Zukunftsperspektiven der EU 401 f.
Wirkungsverzögerungen 120 Zürn, Michael 411
Wirtschaften 88 Zusammenbruch der sozialistischen Systeme
Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) 175
380f., 397 Zustimmungsgesetze 340
Wirtschaftsbereiche 125 Zustimmungspflicht 334
Wirtschaftskreislauf, Zuwanderung 20
- einfach 97 Zuwanderung, kontrolliert 20
- erweitert 97f. Zuwanderungsgesetz 24
Wirtschaftskrise 112 Zuwanderungsgesetz 24
Wirtschaftsordnung 88f. Zweidrittelmehrheit 325
- marktwirtschaftliche Ordnung Zweite Lesung 338
- planwirtschaftliche Ordnung Zweitstimme 286, 323
Zwischenstaatliche Konflikte 416, 165
Literaturempfehlungen I

Literaturempfehlungen
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland Bofinger, Peter: Grundzüge der Volkswirtschafts-
lehre, Eine Einführung in die Wissenschaft von
Bäcker, Gerhard/ Naegele, Gerhard/ Bispinck, Märkten, München 2011.
Reinhard / Hofemann, Klaus/ Neubauer, Jenni-
Diefenbacher, Hans / Held, Benjamin / Rodenhäu-
fer: Sozialpolitik und soziale Lage in Deutsch-
ser, Dorothee / Zieschank, Roland: NWI 2.0 -
land, 2 Bände, 5. Auflage, Wiesbaden 2010, Bd.
Weiterentwicklung und Aktualisierung des Nati-
1, S. 43-48; 75-86; 365-381; 425-448; Bd. 2, S.
onalen Wohlfahrtsindex, Berlin / Heidelberg
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2013.
Becker, Rolf (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssozio-
Dohmen, Caspar: Finanzwirtschaft. Wie alles zu-
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Butterwegge, Christoph: Armut in einem reichen
Goodwin, Michael / Burr, Dan E.: Economix, Wie
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Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands
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Henecka, Hans-Peter: Grundkurs Soziologie, 1O.
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Weinmann, Georg: Schule und Europa - zwischen bpb.de)
Operatoren

Erläuterungen zu den Operatoren

Anforderungsbereich 1 (Reproduktion)
Er verlangt in erster Linie das Wiedergeben und Darstellen von fachspezifischen Sachverhalten
aus einem abgegrenzten Gebiet und im gelernten Zusammenhang unter reproduktivem Benutzen
geübter Arbeitstechniken.

Operator(en) Definition

aufzählen / nennen /
Kenntnisse (Fachbegriffe, Daten, Fakten, Modelle) und Aussagen in
wiedergeben /
komprimierter Form unkommentiert darstellen
zusammenfassen

benennen/
Sachverhalte, Strukturen und Prozesse begrifflich präzise aufführen
bezeichnen

beschreiben / darlegen / Wesentliche Aspekte eines Sachverhaltes im logischen Zusammenhang


darstellen unter Verwendung der Fachsprache wiedergeben

Anforderungsbereich II (Reorganisation und Transfer)

Er fordert das selbstständige Erklären, Bearbeiten und Ordnen bekannter fachspezifischer Inhalte
und das angemessene Anwenden gelernter Inhalte und Methoden auf andere Sachverhalte.

Operator(en) Definition
-
Materialien und Sachverhalte kriterienorientiert oder aspektgeleitet
analysieren erschließen, in systematische Zusammenhänge einordnen und
Hintergründe und Beziehungen herausarbeiten

Daten und Einzelergebnisse zu einer abschließenden Gesamtaus-sage


auswerten
zusammenführen

Sachverhalte in ihren Eigenarten beschreiben und diese dann unter


charakterisieren
einem bestimmten Gesichtspunkt zusammenführen

Eine Position zuordnen oder einen Sachverhalt in einen Zusammenhang


einordnen
stellen

Sachverhalte durch Wissen und Einsichten in einen Zusammenhang


erklären (Theorie, Modell, Regel, Gesetz, Funktionszusammenhang) einordnen
und deuten

Wie erklären, aber durch zusätzliche Informationen und Beispiele


erläutern
verdeutlichen

Aus Materialien bestimmte Sachverhalte herausfinden, auch wenn sie


herausarbeiten /
nicht explizit genannt werden, und zusammenhänge zwischen ihnen
ermitteln/ erschließen
herstellen

interpretieren Sinnzusammenhänge aus Materialien erschließen

Sachverhalte gegenüberstellen, um Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und


vergleichen
Unterschiede herauszufinden

Argumente anführen, dass Daten, eine Behauptung, ein Konzept oder


widerlegen
eine Position nicht haltbar sind
Operatoren

Anforderungsbereich III (Reflexion und Problemlösung)


Er umfasst den reflexiven Umgang mit neuen Problemstellungen, den eingesetzten Methoden
und gewonnenen Erkenntnissen, um zu Begründungen, Folgerungen, Beurteilungen und Handlungsop-
tionen zu gelangen.

Operator(en) Definition

Zu einem Sachverhalt komplexe Grundgedanken unter dem Aspekt der


begründen
Kausalität argumentativ und schlüssig entwickeln

Den Stellenwert von Sachverhalten oder Prozessen in einem Zusammen-


beurteilen hang bestimmen, um kriterienorientiert zu einem begründeten Sachurteil
zu gelangen

Wie beurteilen, aber zusätzlich mit Reflexion individueller und politischer


bewerten/
Wertmaßstäbe, die Pluralität gewährleisten und zu einem begründeten
Stellung nehmen
eigenen Werturteil führen

entwerfen Ein Konzept in seinen wesentlichen Zügen erstellen

Zu einem Sachverhalt oder zu einer Problemstellung ein konkretes


entwickeln Lösungsmodell, eine Gegenposition, ein Lösungskonzept oder einen
Regelungsentwurf begründend skizzieren

Zu einer vorgegebenen Problemstellung eine reflektierte, kontroverse


erörtern Auseinandersetzung führen und zu einer abschließenden, begründeten
Bewertung gelangen

Produktorientierte Bearbeitung von Aufgabenstellungen. Dazu zählen


unter anderem das Entwerfen von eigenen Reden, Strategien, Bera-
gestalten tungsskizzen, Karikaturen, Szenarien, Spots und von anderen medialen
Produkten sowie das Entwickeln von eigenen Handlungsvorschlägen und
Modellen

Widersprüche herausarbeiten, Positionen oder Theorien begründend


problematisieren
hinterfragen

Inhalte, Sachverhalte, Vermutungen oder Hypothesen auf der Grundlage


prüfen/
eigener Kenntnisse oder mithilfe zusätzlicher Materialien auf ihre
überprüfen
sachliche Richtigkeit bzw. auf ihre innere Logik hin untersuchen

Zu einem Sachverhalt, zu einem Konzept, zu einer Problemstellung oder


sich auseinander setzen /
zu einer These etc. eine Argumentation entwickeln, die zu einer begrün-
diskutieren
deten Bewertung führt

Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abitu rprüfung Sozialku11de/Politik, Beschluss der Kultusministerkonferenz


vom 1.12.1989 i. d. F. 110111 17.1 1.2005, S. J 7f
1 Bildnachweis

Bildnachweis
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rial Press Ltd - S. 89,247; - / ZUMA Press lnc - S. 119;

Baaske Cartoons/ Mester, Müllheim - S. 196, 443; - / Mette - S. 226; Bergmoser + Höller Verlag AG,
Aachen - S. 112, 138, 139, 148, 164, 171, 260 (2), 264, 269, 273, 278, 279, 284, 285, 287, 288, 295,
309,313,315,316,333,339,340,346,349,371,375,379,381,386,451 , 462,464,468, 474,492;
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, Berlin -S. 344; Bundesregierung
/ Steffen Kugler, Berlin - S. 236; Bundeszentrale für politische Bildung /www.bpb.de / CC BY-NC-ND
3.0, Bonn - S. 152, 305, 368;

Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V./ DGVN , Berlin - S. 416; dpa Infografik, Frank-
furt - S. 286, 293, 328, 430, 434, 436, 450; - / Globus-Grafik, Frankfurt - S. 17, 20, 40, 41, 76, 78, 101 ,
111,113,115,123,131,140,151,153, 159(2), 165,166, 180,181,182, 296,312,320,323,356,358,
366, 383, 394, 424, 428, 439, 444, 452, 456, 461, 486; dpa Picture-Alliance / AA, Frankfurt - S. 405;
- / AFP, Joel Robine - S. 404/405; - / akg-images - S. 236/237; - / Bildarchiv, Heirler - S. 248; - / Uli
Deck - S. 267; - / empics, PA Wire - S. 237; - / Michael Kappeler - S. 267; - / Patrick Seeger - S. 52;
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Arm in Weigel - S. 6; - / Landov Yinhua 4107891 - S. 354/355; - / Yonhap, KCNA - S. 404; - / Zentral-
bild, Jens Kalaene - S. 6;

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engesellschaft mbH & Co. KG, Berlin - S. 217

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offorever - S. 7; - / Sean Gallup - S. 236; Getty Images Plus / DigitalVision, Adam Gault - S. 86; - /
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Josef „Pepsch" Gottscheber, München - S. 420;

Horst Haitzinger, München - S. 208; Walter Hanel, Bergisch-Gladbach - S. 104; Heinrich-Söll-Stiftung


e. V., Berlin / CC BY-SA 4.0 - S. 494;

Imago Stock/ Christian Ohde - S. 365; iStockphoto / Leonsbox - S. 355

Jürgen Janson, Landau - S. 477

Mauritius Images / Edmund Nägele - S. 355

Thomas Plaßmann, Essen - S. 42, 46, 68, 82, 179

Schwarwel, Leipzig - S. 490; Statista GmbH, Hamburg - S. 35, 60, 106, 114, 143, 158, 170, 223, 224,
470; Statistisches Bundesamt, Wiesbaden - S. 31, 125, 146, 148; Klaus Stuttmann, Berlin - S. 63;
277;

ullstein-bild / Lebrecht Music & Arts Photo Library, Berlin - S. 253; - / Roger Viollet - S. 252; Uni
Duisburg-Essen / www.sozialpolitik-aktuell.de - S. 145;

Freitmut Wössner, Berlin - S. 87; WWF Deutschland, Berlin - S. 194, 199; www.wikimedia.org/ Hans-
Böll-Stiftung, CC BY-SA 2.0 - S. 52; www.wikimedia.org/ Alexander Hauk / www.alexander-hauk.de
- S. 266/267; www.wikimedia.org/ Nord Nord West/ GNU 1.2 / CC BY-SA 3.0 - S. 266; www.wiki-
pedia.de - S. 52

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