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Helmut Becker
Stephan Benzmann
Martin Große Hüttmann
Hartwig Riedel
Kersten Ringe
Karsten Tessmar
Martina Tschirner
Georg Weinmann
Dieser Titel ist auch als digitale Ausgabe click & study unter www.ccbuchner.de erhältlich.
Alle Drucke dieser Auflage sind, weil untereinander unverändert, nebeneinander benutzbar.
Dieses Werk folgt der reformierten Rechtschreibung und Zeichensetzung. Ausnahmen bilden Texte,
bei denen künstlerische, philologische oder lizenzrechtliche Gründe einer Änderung entgegenstehen.
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich
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dere auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen und Mikroverfilmungen. Hinweis zu § 52 a UrhG:
Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk
eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.
www.ccbuchner.de
ISBN 978-3-661-72002-9
Vorwort
Buchners Kompendium Politik ist ein kompaktes Unterrichtswerk für einen zeitgemä-
ßen Politik- und Wirtschaftsunterricht. Basis der Konzeption ist ein stark ausgeweit e-
ter Darstellungsteil, der das gesamte abiturrelevante Politikwissen vermittelt. Die Ein-
beziehung systematischer Informationstexte, die von den Schülerinnen und Schülern
auch eigenständig erarbeitet werden können, strafft die Phase der Informations- bzw.
Faktenvermittlung. Lehrerinnen und Lehrern dient das Kompendium gleichzeitig als
Leitmedium für den Politikunterricht in der Oberstufe.
Jedes Kapitel im Kompendium beginnt jeweils mit einem Einstieg zur Lernstandser-
hebung sowie der Formulierung der zu erwerbenden Kompetenzen. Den Kern jedes
Unterkapitels bildet der ausführlich und verständlich geschriebene Darstellungsteil.
Dieser wird ergänzt durch vorangestellte Leitfragen und spezifische Arbeitsaufträge
sowie Selbstüberprüfungsbögen .
Darauf folgt die Rubrik Kompetenzen anwenden mit ausgewählten vertiefenden, pro-
blematisierenden und kontroversen Materialien. Die Aufgabenstellungen hier leiten
eine lebendige, diskursive Auseinandersetzung mit der jeweiligen Thematik an. Zudem
stärken sie die fachspezifischen Analyse-, Handlungs- und Urteilskompetenzen der
Schülerinnen und Schüler.
Im Band wurde bei der Auswahl der Methoden zwischen Fach- und Unterrichtsme-
thoden unterschieden. Die Fachmethoden ergänzen den Darstellungs- und Material-
teil im Buch und sind thematisch an einzelne Unterkapitel angegliedert. Neben diesem
Angebot im Buch bieten wir zudem einen breiten Katalog an Unterrichtsmethoden in
einem Methodenglossar über sogenannte QR-Codes online auf unserer Homepage
an.
Das Buch wird zudem ergänzt durch eine Auswahl von über 170 einzelnen Zusatzma-
terialien. Hier passen wir uns den Entwicklungen der Zeit an und bieten diese Materi-
alien unkompliziert über unsere Homepage an, wo sie schnell heruntergeladen werden
können.
Abschließend wird das Buch abgerundet durch ein Sachregister sowie Literaturemp-
fehlungen, um den Zugang zu weiteren Quellen zu vereinfachen.
1 GESELLSCHAFT
IN DEUTSCHLAND
. 137
. 144
Methodenkompetenz: Auswertung
1 .1 .1 Soziales Handeln und der Prozess von Statistiken . . . . . . . . . 147
der Sozialisation . . . . . . . . . . 8
1 .1 .2 Gruppen und soziale Rollen . . . . 13 2.5 Finanzpolitik . . . . . . . . . . 150
2.5.1 Aufgaben des Staates in der
1 .2 Aspekte gesellschaftlichen Wandels . 17 Finanzpolitik . . . . . . . . . 150
1.2.1 Demografischer Wandel . . . . 17 2.5.2 Staatsverschuldung . . . . . . 157
1.2.2 Migration und Integration . . . 23
1.2.3 Familie und Pluralisierung der 2.6 Geld- und Währungspolitik. . . 163
Lebensformen . . . . . . . . . 29 2.6.1 Die Geldpolitik der Europäischen
1.2.4 Der Staat und die Familie . . . 34 Zentralbank . . . . . . . . 163
1.2.5 Wandel der Geschlechterverhältnisse . 39 2.6.2 Wechselkurssysteme und
Methodenkompetenz: Karikaturen Währungspolitik . . . . . . 169
analysieren und interpretieren . 45 2.7 Die Globalisierung der Wirtschaft . 175
1.2.6 Strukturwandel der Arbeitswelt 47 2.7.1 Dimensionen der wirtschaftlichen
1.2.7 Wertewandel . . . . . . . . . 51 Globalisierung . . . . . . . . . . . . 175
Methodenkompetenz: 2.7.2 Die Internationalisierung von Handel
Empirische Sozialforschung . 53 und Produktion. . . . . . . . . . . . 180
1.3 Soziale Ungleichheit . . . . . 57 2.7.3 Das Global Economic Governance
1.3.1 Begriff und Dimension sozialer System .. . . . . . . . . . . . . . . 187
Ungleichheit . . . . . . . . . 57 2.8 Ökonomie und Ökologie . . . . . . . 194
1.3.2 Soziale Mobilität . . . . . . . 64 2.8.1 Zum Verhältnis von Ökonomie und
1.3.3 Modelle sozialer Ungleichheit 69 natürlicher Umwelt . . . . . . 194
1.4 Sozialstaat und Sozialpolitik . 75 2.8.2 Externe Effekte und deren
1.4.1 Der Sozialstaat und das System ,,Internalisierung" . . . . . . . 200
sozialer Sicherung . . . . . . . . 75 2.8.3 Ist ökologisches Wirtschaften
1.4.2 Aktuelle Herausforderungen für den (zukünftig) möglich? . . . . . . 206
Sozialstaat . . . . . . . . . . . . . . 80 2.8.4 Reicht das BIP als Wohlstands-
indikator?. . . . . . . . . . . 216
2.8.5 Globale Umweltpolitik . . . . . . . 223
2.8.6 Deutsche Umweltpolitik im
europäischen Mehrebenensystem . . 227
GRUNDLAGEN DER
2 WIRTSCHAFTS-
POLITIK
96
3 POLITISCHE
THEORIE
3.2.2 Die Konkurrenz- und Konkordanz- 5.2 Die Europäische Union als
demokratie . . . . . . . . . . . . . 261 Mehrebenensystem . . . . . 366
Methodenkompetenz: 5.2.1 Organe der Europäischen Union . . 366
Politische Systeme untersuchen . . 263 5.2.2 Entscheidungsverfahren . . . . . . 375
5.3 Zentrale Politikfelder . . . . . . . . 379
5.3.1 Binnenmarkt, Wirtschaft, Währung
DAS POLITISCHE und Soziales . . . . . . . . . . . 379
6
4.1 .1 Die Grundrechte im Grundgesetz . 268
4.1 .2 Die Staatsstrukturprinzipien . . 272 INTERNATIONALE
Methodenkompetenz:
Politische Urteilsbildung . .. . 275
BEZIEHUNGEN
4.2 Die Bürger im politischen Prozess . . 278
4.2.1 Formen der direkten Beteiligung. . . 278
6.1 Merkmale der heutigen Weltordnung . 406
4.2.2 Politische Beteiligung in Deutschland . 283
6.1.1 Das System der internationalen
4.3 Vermittler zwischen Bürgern und Beziehungen . . . . . . . . . 406
politischen Institutionen . . . . . 292 6.1 .2 Krieg und Frieden . . . . . . 415
4.3.1 Politische Parteien . . . . . . . . 292 6.1.3 Das Völkerrecht im Wandel . 422
Methodenkompetenz: Analyse
6.2 Herausforderungen im
einer politischen Rede . . 297
21. Jahrhundert . . . . . . . 428
4.3.2 Interessenverbände . . . 300
6.2.1 Der internationale Terrorismus . . 428
4.3.3 Medien . . . . . . . . . . 304
Methodenkompetenz:
4.4 Das zentrale politische Analyse internationaler Konflikte. . 432
Entscheidungssystem . . . . . . . . . 309 6.2.2 Failed states . . . . . . . . . . . . 437
4.4.1 Die Verfassungsorgane im Überblick . 309 6.2.3 Verbreitung von Massenvernichtungs-
4.4.2 Der Bundestag . . . . . 312 waffen - Proliferation . . . . . . . . . . 443
4.4.3 Die Bundesregierung. . 320 6.2.4 Klimawandel und Ressourcenkonflikte 449
4.4.4 Der Bundesrat . . . . . 325 6.2.5 Bevölkerungswachstum und
4.4.5 Der Bundespräsident . 328 Migration. . . . . . . . . . . . 455
4.5 Staatsaufbau . . . . . . 332 6.3 Die Sicherheitsarchitektur im
4.6 Die Gesetzgebung .. . 338 21. Jahrhundert . . . . . . . . 459
Methodenkompetenz: 6.3.1 Die Vereinten Nationen. . . . . 459
Politikzyklus analysieren . . 342 6.3.2 Die Nordatlantische Vertrags-
organisation (NATO} . . . . . . . 467
4.7 Rechtsordnung der Bundesrepublik 6.3.3 Die Organisatin für Sicherheit und
Deutschland . . . . . . . . . . . 345 Zusammenarbeit in Europa (OSZE) . 474
4. 7 .1 Grundzüge der Rechtsordnung . 345 6.3.4 Deutschland in den Internationalen
4. 7 .2 Das Bundesverfassungsgericht . 349 Beziehungen . . . . . . . . . . . . . 478
6.4 Globale Verteilung von Armut und
Reichtum . . . . . . . . . 484
DIE 6.4.1 Das Nord-Süd-Gefälle . . . . . . . . 484
5
5.1
EUROPÄISCHE
UNION
Anhang
. 491
Global Governance - Idee und Realität 499
KOMPETENZEN
Am Ende dieses Kapitels sollten
Sie Folgendes wissen und können:
Die Collage zeigt Ihnen einige Facetten der bundesdeutschen Gesellschaft und stellt gleich-
zeitig Aspekte des sozialen Wandels dar. Beschreiben und erläutern Sie diese.
• Individuum und Gesellschaft
1 . 1 . 1 Soziales Handeln und der Prozess der Sozialisation
Leitfragen Was beeinflusst unser Handeln? Warum wird der Mensch als Wie werden wir befähigt,
soziales Wesen bezeichnet? in der Gesellschaft zu leben?
Im soziologischen Sinne werden wir nicht als sie schriftlich fixiert sin d. Der j unge Mensch, der
Menschen geboren, sondern erst dazu gemacht. Sch ritt für Schritt in die eigene Kultur hi nein-
Uns werden zwar mit der Geb urt alle lebensnot- wächst, überni mmt dabei die herrschenden Nor-
we ndigen Anlagen mitgegeben, aber ohne unsere men mehr oder weniger automatisch, oh ne sie
mitmenschliche Umwelt wären wir kaum überle- ausdrücklich lernen zu müssen.
bensfähig. Anders als andere Lebewesen erlebe n
Menschen eine zweite, sozial-kulturelle Geburt, Normen können zwischen verschiedenen Gesell-
bei der sie ihre grund legenden menschlichen Ei- schaften, aber auch innerhalb einer Gesellschaft
genschaften und Fähigkeiten ausbilden. von Gruppe zu Gruppe variieren und unterliegen
einem historischen Wandel. Ein g utes Beispiel
Jedes neugeborene Kind ist auf andere Mensch en hierfür ist das Rauchen: War es in den l 950er
a ngewiesen, die es pflegen u nd ernähren, mit ihm Jahren gesellschaftl ich noch vollständig aner-
sprechen, sich ihm emotional zuwenden. Indem es ka nnt u nd u nproblematisch, in öffentlichen Räu-
zuneh mend bewusst auf die Zuwendung reagiert, men eine Zigarette anzuzünden, werden Raucher
lernt es sozial - d. h. au f a ndere Menschen bezo- heutzutage in Raucherzonen verwiesen. Die Tren-
gen - zu ha ndeln. Mit sozialem Handeln ist also nung zwischen Raucher- u nd Nicht raucherzonen
ein Verhalten gemeint, für das wir uns bewusst galt damals noch nicht als Norm. Viele Normen
entscheiden, das nicht instinktiv ist. Da es sich sind a ls Gesetze oder Verord nungen schriftlich
immer u m einen wechselseitigen Vo rgang han- fixiert u nd dadurch fo rmalisiert. Ein solches No r-
delt, spricht man a uch von sozialer Interaktion. mensystem nennen wi r Rech t.
Im Alltag beherrschen wir eine Vielzahl von so- Von der Norm zu unterscheiden sind die Werte,
zialen Ve rhalte nsweisen, ohne dass wir permanent kulturell verbreitete Vo rstellungen von Wünsch-
darüber nachde nken müssen. Uns erscheint es als barem, die als Gru ndprinzipien oder als Leitbilder
selbstverstän dlich, dieses oder jenes von a nderen der Handlungsorient ieru ng dienen. Die Werte
Menschen zu erwarten oder selbst so oder so zu beinhalten die in einer Gesellschaft oder auch in-
handeln. Die Erwartu ngen an das Ha ndeln vo n nerhalb einer bestimmten Gruppe anerkannten
Mensche n inne rhalb einer Gesellschaft bezeichnet gemeinsamen Zielsetzungen. Man unterscheidet
man au ch als soziale Normen. No rme n sind be- zwischen
stimmte Regeln, die vo n der Allgemeinheit a ner-
kan nt werden: Einander bekannte Menschen grü- • moralischen Werten (z. B. Treue, Wahrheit, Au f-
ßen sich, bei Theateraufführungen und Ko nzerten richtigkeit, Gerechtigkeit),
ve rhält man sich ruhig usw. Alle diese Normen • materiellen Werten
werden als selbstverständlich befolgt, ohne dass (z.B. Wohlstand, Eigentum),
1.1 Individuum und Gesellschaft 1
• religiösen Werten (z.B. Gottesfurcht, Nächsten- Sozialisation unterscheidet sich deutlich von dem
liebe), pädagogischen Begriff der Erziehung, der vor al-
• politischen Werten (z. B. Freiheit, Gleichheit, lem die bewusst geplanten und zielgerichteten
Toleranz, Frieden, Gemeinwohl) und Bemühungen von Eltern und Lehrern meint, die
• ästhetischen Werten (z.B. Schönheit, Kunst). Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes zu be-
einflussen. Der Prozess der Sozialisation schließt
Werte entst eh en nicht aus dem Nichts, sondern die Erziehung zwar mit ein, aber dem hera n wach-
erwachsen v ielmehr aus einer Kultur und können senden Indiv iduum wird nicht „beigebracht", v iel-
sich, ähnlich wie auch die Normen, im l aufe der mehr eignet es sich die Welt an.
Zeit ändern. Ein Beispiel aus der Erziehung kann
dies verdeutlichen: So erzog man die Kinder frü-
her zu absolutem Gehorsam und Unterordnung, Phasen und Instanzen der Sozialisation
heute hingegen haben sich die Werte verändert
und man erzieht Kinder zur Selbständigkeit und Die Sozialisation eines Menschen findet an unter-
Verantwortungsübernahme. schiedlichen Schauplätzen statt. Viele Person en
u nd Organisationen sind daran beteiligt. Diese
Werte wi rken innerhalb einer Gesellschaft aber Sozialisationsinstanzen spielen unterschiedliche
keineswegs immer nur ordnend oder verbindend. Rollen: Sie können sich bei der Sozialisation eines
Sie könn en auch Konflikte hervorbringen: Insbe- Menschen unterstützen, sich aber auch gegensei-
sondere in mode rnen Gesellschaften haben Men- tig hemmen. Die wichtigsten Sozialisationsin-
schen häufig sehr unterschiedliche Ziele und ori- stanzen sind neben der Familie die Gleichaltri-
entieren sich an untersc hiedlichen Werten (> Kap gengruppe (peer-group), die Schule u nd die
1.2.7). So können Werte den Zusammenhalt in- Medien. Gewöhnlich wird der Prozess der Sozia-
nerhalb einer Gruppe fördern, andere aber auch lisation in drei Phasen unterteilt:
a usgrenzen.
• die primäre Sozialisation: Herausbildung der
Grundstrukturen der Persönlichkeit, Entwick-
Was bedeutet Sozialisation? lung von Grundmustern für soziales Verhalten.
Instanzen: Eltern bzw. Familie, Kindergarten,
Wie werden die Menschen zu dem, was sie sind? Vorschule;
Wie werden sie ein Mitglied der Gesellschaft? Wie • die sekundä re Sozialisation: Erlernen von neu-
werden sie durch ihre Lebensbedingungen in ih- en und Weiterentwicklung bestehender Verhal-
rem Denken, in ihrem Handeln, in ihren Empfin- tensweisen (Rollen). Instanzen: Schule, peer-g-
dungen beeinfl usst? Wie lernen sie, sich von a n- roups, kjrchliche oder berufliche Gruppierungen,
deren zu unterscheiden, wie werden sie besondere Medien;
und einzigartige Indiv iduen? Für diese Fragestel- • die tertiäre Sozialisation: Weiterentwicklung
lun gen steht der Begriff der Sozialisation: im Berufs- und Privatleben (,,lebenslanges Ler-
nen"). Instanzen: Berufsgruppen, politische Or-
„Der Ausdruck Sozialisation bezeichnet in sehr ganisationen, Medien
allgemeiner Weise das Hereinwachsen des Men-
schen in seine Gesellschaft, die Aneignung all der Die primäre Sozialisation wird als wichtigste Pha-
Kenntnisse und Fertigkeite n, der Wertmaßstäbe se angesehe n, weil in ihr alle entscheidenden Wei-
und Verhaltensregeln, die er braucht, um sich in chen für die spätere Entwicklu ng gelegt werden.
der gesellschaftlichen Umwelt zurechtzufinden. Das Kind übernimmt Werte und Normen des El-
Dieser Vorgang, a uch ,Vergesellschaftung' ge- ternha uses, wobei die Vermittlung über die Spra-
na nnt, hat sein Schwergewicht während der Kind- che eine zentrale Rolle spielt. Da die Beziehungen
heit und des Juge ndalters, wiederholt sich aber im zwischen Erwachsenen und Ki ndern i. d. R. asym-
Prinzip, wann immer j emand sich in einer neuen metrisch sind - d. h. die Kinder sind den Erwach-
Position zurechtfinden muss." senen untergeordnet -, sammeln Kinder in peer-
groups erste Erfah rungen mit gleichberechtigten
Peter Stromberger / Will Teichert, Einführu11g in soziologi- Beziehungen. So verinnerlichen Kinder bis zum
sches Denken, 1978, S. 129 Eintritt in das Schulalter eine Vielzahl von Nor-
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland
men, Werten und Überzeugungen, wobei sie häu- sozialisiert, Kinder aus unteren sozialen Schichten
fig auch ihre eigenen Vorstellungen, ihre spezifi- anders als Kinder der Mittelschicht usw. Man
schen Normen und Werte entwickeln, die sie mit spricht deshalb auch von einer geschlechtsspezi-
Gleichaltrigen teilen. Die Entscheidung, welche fischen und schichtspezifischen Sozialisation.
Normen und Werte in verschiedenen Situationen
zu berücksichtigen sind, ist nicht immer leicht zu
treffen. Die Fähigkeit, solche Entscheidungen zu Sexuelle Identität
treffen, ist j edoch zentral für das Rollenhandeln
im Erwachsenenleben. Die Sozialisation in der Zur Identitätsbildung tragen wesentlich auch Ge-
peer-group ist auch wichtig für die Ausbildung schlecht und Sexualität eines Menschen bei. Die
einer eigenen Identität, die einen Menschen ein- sexuelle Ident ität ist das grundlegende Selbstver-
malig und unverwechselbar macht. Zum Aus- ständnis davon, wie sich Menschen selbst wahr-
druck der Identität werden e ine Reihe von Sym- nehmen und wie sie gesehen werden wollen. Se-
bolen - z. B. Kleidung, Musik, Sprache - sowie xuelle Identität bedeutet, ein Bewusstsein von der
symbolische Handlungen entwickelt. eigenen Männlichkeit bzw. der eigenen Weiblich-
keit zu haben. Sie setzt sich zusammen aus:
Die Identität entwickelt sich heutzutage abe r nicht
mehr nur durch die Erfahrungen, die ein Mensch • dem biologischen Geschlecht (Geschlechtsor-
im direkten Zusammensein mit anderen macht, gane, Chromosomen),
sondern auch in der Welt der Medien. Denn dort • dem sozialen Geschlecht bzw. der Geschlecht-
findet man eine Vielfalt an Identifikationsange- errolle, die bestimmt, wie sich Frau oder Mann
boten. So kann beispielsweise das Fernsehen die in einer bestimmten Kultur oder Gesellschaft zu
Internalisierung (Verinnerlichung) sozialer Nor- verhalten haben,
men und Werte fördern, indem es vo n den Kindern • dem psychischen Geschlecht, der Überzeugung
ve rlangt, das Wissen über Fiktion und Wirklich- des Menschen, ein Mann, eine Frau oder beides
keit, über Gut und Böse a uch Rollen (>Kap. 1.1.2) zu sein, der sexuellen Orientierung, der Wahl
kennen zu lernen und Rollenverhalten zu festigen. der Sexualpartner bzw. Sexualpartnerinnen.
Insbesondere in den sozialen Netzwerken fi nden Im englischen Sprachraum ist es einfacher, das
neue Formen der Gruppenbildung und des Aus- Geschlecht eines Menschen angemessen auszu-
tauschs statt. Aber entspricht das „digitale Ich", drücken: Hier unterscheidet man zwischen Sex
das die Menschen hier darstellen, auch dem „rea- (dem biologischen Geschlecht) und Gender (dem
len ich"? Viele Wissenschaftler gehen mittlerwei- sozialen Geschlecht oder der sozialen Interpreta-
le davon aus, dass sich d ie meisten Nutzer in den tion des biologischen Gesch lechts). Gender be-
sozialen Netzwerken nicht „verfremden", und ihre schreibt die Erwartungen und Anforderungen,
virtuelle auch mit ihrer realen Identität weitge- aber auch die Rollen, die einem Menschen auf-
hend übereinstimmt. grund seines biologischen Geschlechts zugewie-
sen werden. Dabei ist die Vorstellung von dem,
Auch im Berufsleben werden die Menschen weiter was es bedeutet, ein Mann oder eine Frau zu sein
sozialisiert. Jeder Eintritt in eine neue Funktion ab hängig vom jeweiligen gesellschaftlichen und
oder der Wechsel des Arbeitsplatzes erfordert die kulturellen Umfeld und kann sich historisch än-
Aneignung weiterer Fähigkeiten oder Rollen. Der dern.
Sozialisationsprozess setzt sich somit das gesamte
Leben hindurch fort. Dabei sind die Übergänge Es gibt v iele Menschen, die sich einer eindeutigen
von einer Lebensphase in die andere von beson- geschlechtlichen Einordnung entziehen, weil sie
derer Bedeutung, wie z. B. Heirat oder Familien- zwischen den Geschlechtern hin und her wech-
gründung. Die Sozialisation des Individuums wird seln. Diese Transgenderpersonen wi rken oftmals
entscheidend durch die Gesellschaftsstrukturen irritierend auf ihre Umgebung, weil die Gesell-
bestimmt. So gibt es in einer Gesellschaft unter- schaft in der Regel nach eindeutiger Zuordnung
schiedliche Sozialisationsmuster: Mädchen/Frau- verlangt. Aus diesem Grund sind Transgenderper-
en und Jungen/Männer werden unterschiedlich sonen vielfach Diskriminierungen ausgesetzt.
1.1 Individuum und Gesellschaft 1
""
::::
·;::
Alters
• regionale
,:, usw.; Ehescheidung; aufwendige Freizeit- und Urlaubs-
1:: gestaltung • gesundheitliche
0.,
Sozialisations-
""':,:::: Erwachsene 40/45 Auszug der Kinder; Berufstätigkeit beider Elternteile; einflüsse
""
;; späteren Erreichung der höchsten beruflichen Position (Berufs-
·;;;
V,
C Alters 60/65 karriere) bei gleichzeitigem allmählichen Nachlassen der
..; körperlichen Leistungsfähigkeit; aufwendige Freizeit- und
:-s Urlaubsgestaltung
~
,,rüstiger" 60/ 65 Bewältigung der veränderten Lebenssituation durch
""':,:::: Rentner/ Übergang vom Berufs- zum Rentner-/ Pensionärsalter;
.,::
c.., Pensionär 75/ 80 Kontakte zu den Familien der eigenen Kinder; Suche
"'::::
0., nach neuen Freizeitgestaltungsmöglichkeiten (neue
~
..... Hobbys, Garten u. a. m.); gesundheitliche Einschränkun-
0.,
-~ gen; Tod des Ehepartners/ -partnerin; Altersheim;
-5 Mitgliedschaft bei den Grauen Panthern oder anderen
V,
:::: Vereinigungen älterer Menschen (,,Golden-Age-Club")
·;::
.:: Pflegebe- 75/80 zunehmende gesundheitliche und körperliche Beein-
('J
.,::
dürftiger - Tod trächtigungen; Tod des Ehepartners / -partnerin ; Alters-
c..,
Alter Mensch und Pflegeheim
"'
<:
Aufgaben
1. Erläutern Sie den Unterschied zwischen Werten und Normen bzw. zwischen Erziehung und Sozialisation.
2. Erklären Sie am Beispiel einer „Daily Soap", wie das Fernsehen als Sozialisationsinstanz fungieren kann.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Stevie Merie/ Schmiede/ ist Dozentin für Genderforschung und leitet die Protestaktion
„Pinkstinks", die gegen Produkte, Werbe- und Medieninhalte agiert, die Kindern eine
eindeutige Geschlechterrolle zuweisen.
Frau Schmiede!, wo liegt bei der sogenannten Pinkifizierung eigentlich das Problem?
5 Es sind doch nur Farben .. .
Wenn es nur um Farben ginge, wäre das wunderbar. Wenn also der Junge auch eine
rosa Mütze tragen könnte und das Mädchen eine blaue, ohne dass das ständig kom-
mentiert würde. Das hat sich in den letzten zehn Jahren intensiviert. Verständlich, weil
die Wirtschaft damit unglaublich viel Geld verdient[ ...]. Das Problem ist die Einengung,
10 die wir Kindern damit aufdrücken. Wenn ein Junge gern mit Puppen spielt, heißt es
ganz schnell, der sei zu weich. Dann bekommt er mit vier Jahren im Kindergarten zu
hören, er sei schwul.
Aber wenn das Mädchen nun unbedingt die pinke Barbie-Puppe haben möchte...
20 Man muss die Produkte nicht gleich boykottieren und nur noch alternative oder ge-
schlechterneutrale Sachen kaufen. Damit kann man seinem Kind auch Schwierigkeiten
bereiten, weil es sich dann vielleicht einer Welt nicht zugehörig fühlt. Vielmehr sollten
sich Eltern gemeinsam dagegen verbünden und damit der Wirtschaft zeigen, wie wü-
tend sie über diese Entwicklung sind. Außerdem sollte man den Kindern erklären, was
25 dahinter steckt - jedoch ohne erhobenen Zeigefinger.
Aufgaben
1. Erarbeiten Sie die Kritik, die Schmiede! formuliert.
Soz iale Gruppen sind die Bausteine der Gesell- essen. Diese Gruppen sind i. d. R. klein und dienen
sch aft. Sie sind soziale Gebilde, die immer da nn persönlichen Bedürfnissen (Kommunikation, Ge-
entstehen, wenn sich mindestens zwei Menschen sellig keit, Geborgenheit usw.), die in den Groß-
als Gruppe begreifen. Typische Merkmale einer gruppen nicht befriedigt werden kö nne n.
soz ialen Gruppe sind:
pen ganz bestimmte soziale Positionen einnimmt, von Intrarollenkonflikten, wenn einzelne Rollen-
so z.B. in der Familie, in de r Schulklasse, im Be- segmente n icht ve reinbar sind, d. h. wenn die Er-
rufsleben usw. Diese Positionen sind mit bestimm- wartungen unterschiedlicher Pe rsonengruppen an
ten Erwartungen ve rbunden, die sich allerdings eine bestimmte Rolle gegensätzlich sind. Um ei-
nicht an das Indiv iduum, vielmehr an die Position nen Inte rrollenkonflikt handelt es sich, wenn die
richten. Diese gebündelten Erwa rtungen nennt Erwartungen verschiedener Rollen einer Person in
ma n Rolle. Konflikt miteinander geraten bzw. unvereinbar
sind.
Soziologische Rollentheorien wollen beschreiben,
wie und warum Menschen ihr soziales Ve rhalten
an den Erwartungen orientieren, die die Gesell- Habitus
sch aft a n sie hera nträgt, wie gesellschaftlich vor-
gegebene Rollen erle rnt, verin nerlicht, ausgefüllt Ein anderes soziologisches Modell, das versucht
und verändert we rden. Der Begriff der Rolle hat das Ve rhältnis des Menschen zu seine r Umwelt
mittlerweile auch Eingang in die Alltagssprache und sein Verhalten zu erklären, ist der Habitus.
gefunden: Wir sprechen davon, dass ,jemand a us Da mit sind Gewohnheiten, das Denken und Füh-
der Rolle fä llt" oder „keine Rolle mehr spielt", v on len und das gesamte Auftreten, also auch der Le-
einer eindeut igen „Rollenverteilung" innerhalb bensstil, die Sprache, Kleidung und (Essens-, Mu-
einer Organisation usw. sik-, Kunst-)Geschmack usw. gemeint. Die
Soziologen, die den Habit us-Begriff eingefüh rt
ha ben, gehen davo n aus, dass der Habit us verin-
Rollenkonflikte nerlicht wird und ein Teil des eigene n Selbst, ja
sogar des eigene n Körpers, ist. Deshalb kann man
In den Sozialwissenschaften werden zwei Arten den Habitus auch nicht ablegen. Er ist stark ab-
von Rollenkonflikten unterschiede n. Man spricht hä ngig vo n der sozialen Herkunft des Einzelnen.
Aufgaben
1. Stellen Sie dar, wie die Merkmale sozialer Gruppen auch für eine Gruppe gelten, der Sie selbst angehören.
3. Vergleichen Sie die Konzepte Rolle, Habitus und Identität miteinander. Wo sind Unterschiede, w o Gemein-
samkeiten?
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
M 1 Das Asch-Experiment
Ein bekanntes Experiment, das den sog. Konformitätsdruck durch die Gruppe belegte,
wurde 1956 von dem polnisch-amerikanischen Sozialpsychologen Solomon Asch
(1907-1996) durchgeführt. Er wollte feststellen, was den Einzelnen dazu veranlasst,
Gruppendruck nachzugeben oder ihm zu widerstehen.
s Der Versuch:
Eine Strecke (in der Abbildung links) wurde auf eine Leinwand projiziert. Rechts davon
wurden drei Vergleichsstrecken gezeigt. Die Versuchsperson sollte nun von den Stre-
cken auf der rechten Seite die benennen, die in ihrer Länge derjenigen auf der linken
Seite entspräche. (Die Unterschiede der Strecken auf der rechten Seite waren sehr
10 eindeutig.) Der Versuch wurde natürlich mit unterschiedlich langen Strecken mehrmals
wiederholt. Im Raum befand sich neben der einzelnen Versuchsperson noch eine
Gruppe von „eingeweihten" Helfern des Versuchsleiters. Die Versuchsperson wurde in
dem Glauben gelassen, dass es sich bei dieser Gruppe um weitere Versuchsteilnehmer
handle. Alle Personen im Raum (Versuchsperson und Helfer des Versuchsleiters) wur-
1s den nun aufgefordert, ihre Urteile über die „ richtige" Linie öffentlich abzugeben. Die
instruierten Helfer gaben absichtlich als Antwort falsche Vergleichslinien an. Die Ver-
suchsperson stand nun in der Situation, dass ihrem eindeutigen (richtigen) Sinnesein-
druck von der Gruppe der anderen einhellig widersprochen wurde. Die Versuchsper-
son stand nun unbewusst vor der Frage: Benenne ich meinen Sinneseindruck, von
20 dem ich glaube, dass es der richtige ist, oder passe ich mich dem Gruppendruck an
I
Standardreiz
t Vergleichsreiz
B e o b a c h t u n g
'
Abgabe der Beurteilung in Gegenwart anderer
Nach: A lexander Thomas, Grundriss der Sozialpsycholgie, Göttingen 1992, S. 97.ff.
Ergebnisse:
Bei 12 Versuchswiederholungen
• passten sich ca. 75 Prozent der Testpersonen mindestens einmal dem falschen
Urteil der Gruppe an;
• ließen sich ca. 25 Prozent der Testpersonen nicht von der Gruppe beeinflussen und
verhielten sich nicht konform.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
M 2 Gruppenzwang im Vorschulalter
Wie Kleinkinder mit Informationen umgehen, die sie von Gleichaltrigen erhalten, haben
[..] Daniel Haun, der sowohl am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und
am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik forscht, und Michael Tomasello vom
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie untersucht. An ihrer Studie nahmen
s 96 vierjährige Mädchen und Jungen aus 24 verschiedenen Kindergartengruppen teil.
,,Uns interessierte, inwiefern bereits Kleinkinder ihre öffentliche Meinung an der Mehr-
heitsmeinung ausrichten, auch wenn sich diese ganz offensichtlich nicht mit ihrer ei-
genen deckt", sagt Daniel Haun.
Am ersten Teil der Studie nahmen pro Durchgang vier Kinder teil. Sie erhielten schein-
10 bar identische Bücher mit jeweils 30 Doppelseiten, auf denen Tierfamilien dargestellt
waren. Links waren Mutter, Vater und Kind zusammen, rechts nur jeweils ein Familien-
mitglied. Die Kinder sollten nun bestimmen, um welches Familienmitglied es sich han-
delte. Aber nur drei der Bücher waren tatsächlich identisch, beim vierten war manch-
mal auf der rechten Seite ein anderes Bild zu sehen. Die Kinder dachten jedoch, dass
,s sie alle die gleichen Bücher vor sich hatten. ,,Das Kind, welches das abweichende
Buch erhalten hatte, wurde mit der aus seiner Sicht völlig falschen Einschätzung drei-
er Gleichaltriger konfrontiert", erklärt Haun. ,,Von 24 Kindern passten sich 18 Kinder in
einem oder mehreren Fällen dieser mehrheitlichen Einschätzung an , obwohl sie es
eigentlich besser wussten".
20 Aus welchen Gründen sich bereits Vorschulkinder der Mehrheit anpassen, untersuch-
ten die Forscher im zweiten Teil der Studie. Abhängig davon, ob eine Lampe leuchte-
te oder nicht, sollten die Kinder nun die richtige Lösung entweder laut aussprechen
oder still auf das entsprechende Tier zeigen, sodass nur der Studienleiter, nicht aber
die anderen Kinder die Antwort sehen konnten. Von 18 Kindern, die nicht der Mehrheit
2s angehörten, übernahmen 12 in einem oder mehreren Fällen deren Einschätzung, wenn
sie ihre Antwort laut aussprechen mussten. Sollten sie hingegen still auf die richtige
Antwort zeigen, übernahmen nur 8 von 18 Kindern die Mehrheitsmeinung. Die Kinder
passten also in der Regel ihre öffentliche nicht aber ihre private Antwort an die Mehr-
heit an. Das deutet darauf hin, dass die Anpassung soziale Gründe hat, wie zum Bei-
30 spiel die Akzeptanz innerhalb der Gruppe. ,,Bereits vierjährige Kinder unterliegen einem
gewissen Gruppenzwang und beugen sich diesem zum Teil aus sozialen Beweggrün-
den", so Daniel Haun.
Max-Planck-Gesellschaft [SJ/BA], www.mpg.de, 25.10.2 01 1
Aufgaben
1. Erläutern Sie die Anordnung und das Ergebnis des Asch-Experiments (M 1).
2. Definieren Sie vor dem Hintergrund des Experiments den Begriff „Konformitätsdruck".
3. Erläutern Sie die Versuchsanordnung des Experiments mit den Vorschulkindern und erklä-
ren Sie das Ergebnis vor dem Hintergrund des Asch-Experiments (M 2).
5. Beurteilen Sie die Aussage des Soziologien F. Tenbruck zur Bedeutung der sozialen Grup-
pe: .,Unsere Stellung in und zu der Gesellschaft als Ganzem bemisst sich nach unserer
Zugehörigkeit zu ihren Gruppen. [... ) Wer in keiner Gruppe Anerkennung, Zuneigung, Lob
findet, beginnt an seinem Selbstwert zu zweifeln, mit eventuell schweren und dauernden
psychischen Schäden."
Aspekte gesellschaftlichen Wandels
1 .2 .1 Demografischer Wandel
Leitfragen Welche Bereiche sind Welche Faktoren verur- Wie könnten Durch welche Merkmale
vom sozialen Wandel sachen gesellschaftliche zukünftige zeichnet sich die
betroffen? Veränderungen? Entwicklungen „moderne
aussehen? Gesellschaft" aus?
Spätestens seit dem Jahr 1998 - als das Wort Deutschland, sondern auch in vielen Gesellschaf-
,,Rent nerschwemme" zum Un wort des Jahres ge- ten Europas und Nordamerikas in ähnlicher Form
kürt wurde - hörte man immer häufiger von der feststellen kan n. Diese Veränderungen betreffen
,,demografischen Zeitbombe" bzw. wurden „Rent- drei Faktoren, welche die Bevölkerungsstruktu r
nerberge" prognostiziert oder der bevorstehende bestimmen:
„Krieg der Ge nerationen" angekündigt. Seitdem
ist der Wandel der Bevölkerungsstruktur aus de r • Geburten (generatives Verhalten: Geburtenzah-
öffentlichen Diskussion nicht meh r fortzudenken. len, Anzahl der Kinder pro Frau);
Diese Schlagworte beschreiben die demografi- • Lebensdauer (Lebenserwartung, Sterblichkeit);
schen Veränderungen, die man nicht nur in • Migration (Zu- und Abwanderung).
1 300
1 200
Sterbefälle
900
800
814
4
~ ~
700
~
600 .............. cR)....... ...
500 Ge burte n
Tsd.
1~81 © Glob"' Quelle: Statistisches Bundesamt Stand Juli 2016 'vorläufig
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland
Wolfgang Wildfeuer / Wolfgang Beutel, Wochenschau Sekundarstufe /, Heft 3 / 4, 2 005, Sozialer Wandel, S. 105
Die durchschnittliche Lebenserwartung der Frau- Halten die beiden beschriebenen Trends an, so ist
en liegt bei 83,4 Jahren und neun Monaten mit folgenden Entwicklungen zu rechnen:
gegenüber 68,5 Jahren im Jahr 1950, die Lebens-
erwartung der Männer stieg im selbe n Zeitraum • Der Anteil der jüngeren Menschen an der Ge-
von 64 Jahre und fünf Monaten auf 78,4 Jahre samtbevölkerung nimmt ab, während der Anteil
1.2 Aspekte gesellschaftlichen Wandels 1
der Älteren und damit auch das Durchschnittsal- fung der Gesellschaft in der Bundesrepublik ko m-
ter insgesamt steigen. Auch die Zuwanderung men, die bereits heute Auswirkungen auf die so-
wird an dieser Entwicklung wenig ändern, zu- zialen Sicherungssysteme, auf das Zusammenleben
mal viele europäische Länder mit ähnlichen der Menschen und auch auf den Arbeitsmarkt
Problemen zu kämpfen ha ben. Für die Lebens- haben werden (>Kap. 1.2.6).
planung bedeutet die zunehmende Lebenser-
wartung, dass für das Leben und Wohnen im
Alter zunehmend neue Modelle entwickelt wer- Wie sich Zu- und Abwanderung auswirken
den müssen.
Die Migration, also die Zu- und Abwanderung
• Die Menschen werden länger Re nte beziehen, von Menschen, ist ein weiterer wichtiger Faktor
die Anzahl der Pflegebedürftigen wird anstei- der Bevölkerungsentwicklung. Wanderungen be-
gen. Das bedeutet steigende Kosten für Gesund- einflussen maßgeblich die Sozial- und Alters-
heitsversorgung und Alterssicherung. struktur der Gesellschaft. In Deutschland spielten
sie immer eine besondere Rolle. So kam es infolge
• Diese Entwicklung ka nn den Generationenver- des Zweiten Weltkrieges zu massiver Flucht und
trag erheblich belasten. Derzeit kommen 100 Vertreibung von Menschen a us den ehemaligen
Erwerbstätige für die soziale Absicherung von Ostteilen des Landes. Diese Ost- West- Wanderu ng
32 Rentnern auf, Schätzungen des Statistischen war von großer Bedeutung für die Nachkriegsent-
Bundesamts zufolge müssten sie im Jahr 2050 wicklung beider deutscher Staaten. So galt es zu-
doppelt so v iele Ruheständler versorgen. Des- nächst, die Flüchtl inge in die Gesellschaften zu
halb wird in diesem Zusammenha ng auch vo n integrieren, was im Westen nach anfänglichen
einen möglichen Generatione nkonflikt, von Schwierigkeiten g ut gelang. Die „Vertriebenen",
Verteilungskämpfen zwischen Jung und Alt ge- wie man diese Menschen fortan nannte, wurden
sprochen und mehr Gerechtigkeit für die j ünge- zu einem wesentlichen Faktor des westdeutschen
re Generation gefordert, damit diese nicht allein ,,Nachkriegswirtsc haftswunders".
die Lasten dieser Entwicklung zu t ragen hat.
Die Bundesrepublik zählte auch in den Folgejah-
• Das Angebot an Arbeitskräften kön nte sich ren zu den wichtigsten Einwanderungsländern der
deutlich verringern u nd ältere Arbeitnehmer Welt. Ab den 1950er-Jahren ka men a ngeworbene
werden einen größeren Anteil der Belegschaften Arbeitskräfte aus Südeu ropa hi nzu, d ie im Laufe
in den Unternehmen a usmachen. der Zeit ihre Familien nachholten und dauerhaft
in Deutschland blieben. Die Einwa nderungen lös-
Bleiben diese Trends so erhalten, kann es sowohl ten hier ein Bevölkeru ngswachstum aus und wirk-
zu einer Überalterung als auch zu einer Schrump- ten positiv a uf die wirtschaftliche und soziale
Entwicklung. 2015 hatten 17, 1 Mio. Menschen in
Deutschland ei ne „Migrationsgeschichte". In der
DDR verlief die Entwicklung hingegen anders:
Generationenvertrag Hier schrumpfte die Bevölkerung seit den 1950er
Politische Bezeichnung für das Grundprinzip der Jahren durch Abwanderungen. Die Massenfl ucht
gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland, am Ende der l 980er-Jahre war schließlich ursäch-
dem zufolge immer der gerade (i. d. R. nicht-selbst- lich für den Zusammenbruch des Staates. Seit dem
ständig) arbeitende Teil der Bevölkerung für die Ende de r DDR sind 2,6 Mio. Menschen von Ost-
Rentenzahlungen an den nicht mehr arbeitenden nach Westdeutschland gezogen, hingegen aber
Teil aufkommt, d. h., die im laufe eines Erwerbsle-
nur ca. 1,6 Mio. von West- nach Ostdeutschland.
bens gezahlten Rentenbeiträge summieren sich
nicht zu einem Kapitalstock, von dem die spätere
Rente bezahlt wird, vielmehr wird durch die gezahl- Seit 201 5 stellt die Einwanderung von mehreren
ten Rentenbeiträge lediglich eine Anwartschaft auf Hunderttausend Flüchtlingen vor allem aus dem
Rentenzahlung erworben. Nahen Osten Staat und Gesellschaft vor neue He-
rausforderungen. Wie sich diese Zuwanderu ng
Klaus Schubert / Martina Klein, Das Politiklexikon -
Begriffe, Fakten , Zusamme11hii11ge, 201 6, S. 128 langfristig auswirken wird, bleibt abzuwarten
(>Kap. 6.2.5).
1 Die moderne Gesellschaft in Deu tschland
Zudem werden in den gesellschaftspolitischen • Reform der Alterssicherung (Renten- und Pfle-
Diskussionen der jüngsten Zeit immer häufiger die geversicherung, Anhebung des Rentenalters,
Cha ncen betont, die mit dem demografischen Förderung der Eigenvorsorge)
Wandel verbunden sind, denn die längere gesun- • Stärkere Anreize fü r die Familiengründu ng
de und aktive Lebensspanne der Bevölkerung er- (Kindergeld, Ausbau der Kinderbetreuungsein-
öffnet nicht nur für die Wi rtschaft zusätzliche richtu ngen, Steuerfreibeträge, Elternzeit, El-
Wachstumspot enziale, da v iele Me nschen a uch im te rngeld, flexiblere Arbeitszeitmodelle);
Alter noch arbeiten können und wollen. Der de- • Öffentliche Debatte u nd Aufklärung;
mografische Wandel wird sich a uch auf die Sied- • Kontrollierte Zuwa nderung (z.B. Zuwande-
lungsstrukturen und das Zusammenleben de r rungsgesetz)
Deutsche Lebensbäume
1910 Alter in Jahren 1950 2016* Alter in Jahren 2060* Alter in Jahren
100 100 j 100 ...
95 ' 95 L
d i 90 l d d J 90 1. d -
. 95 „
90 -
.70 .„
. . 85 . .
185 .i111111 85 . . . .
-- 6700 --
Männer Frauen Männer Frauen Männer ... .... Frauen Männer Frauen
j 80 l 80
. . . . 75 . . . .
. . . 80 -
.1 75 . . . . 75 -
..... 60 -
1!!1111 70 ~
-6 0 - -5-4-30050 ---
. . . 65 . . .
• 65 . . - 65 -
- 350 -
- 55 - - 55 -
... 45 -..
. . 50 -
.1111111 40 --.. - 45 -
..... 2205 -- -- 2250 --
000 150 500
1 250
15
10
5
0
250 500 150 1doo
Einwohner in Tausend Einwohner in Tausend Einwohner in Tausend
1doo 150 500 250
-1-50 --
- 15 -
°
Einwohner in Tausend
250 500 75() , 000
~
•Annahmen der Vorausberechnungen: Steigerung de< Lebenserwartl.Wlg bei Geburt auf 84.8 Jahre bei
Jungen und 88,8 JalYe bei Mädchen b is z:um Jahr 2060; Sinken der jährlichen Differenz von Zu- und
o Globus Abwanderung auf plus 100000 Menschen ab 2021: Geburten 1,4 Kinder je Frau
Aufg abe
Erläutern Sie die Ursachen und Auswirkungen der demografischen Entwicklung in Deutschland.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Gerd Bosbach, Professor für Statistik und Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung
an der Hochschule Koblenz, im Interview mit Deutschlandradiokultur.
Das Lamento kennen Sie bestimmt: Wir werden immer weniger. Deutschland schrumpft.
Und bestimmt kennen Sie auch den von der Statistik und Experten immer gern be-
s mühten demografischen Wandel. [.. .] Es gibt ja das schöne Sprichwort: ,,Traue keiner
Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast." Stimmt also der neue Trend? Werden wir
gar nicht weniger? Die Voraussagen der letzten 40 Jahre sind nicht eingetroffen.
Bosbach: Was die fernere Zukunft anbetrifft, kann ich nichts voraussagen. Allerdings
hat man uns jetzt seit 40 Jahren schon vorausgesagt, dass wir wegen zu wenigen
10 Kindern halt immer kleiner werden in Deutschland. Und in den letzten 40 Jahren hat
das nicht zugetroffen, noch ohne die Flüchtlingsströme. Jetzt kommen viele Flüchtlin-
ge zu uns, auch viele junge Flüchtlinge, die auch Kinder haben oder Kinder bekommen
werden. Das heißt, es ist eher wahrscheinlich, dass zumindest in den nächsten Jahren
die Bevölkerung weiter wächst, wie sie seit 1970 gewachsen ist.
1s Das ist ja schon ungeheuerlich, denn man hat ja wirklich, wie Sie ja selber sagten,
jahrzehntelang gedacht, dass wir diesen demografischen Wandel haben werden. Müs-
sen wir den jetzt abblasen?
Bosbach: Ich würde den demografischen Wandel gar nicht so fokussieren auf die
Bevölkerungszahl. Was ist schlimm daran, wenn wie in einer Stadt wie Köln mit einer
20 Million halt zehn Prozent weniger da sind? Wir hätten alle mehr Platz, mehr Raum, und
Arbeitslose würden sich freuen, dass sie eben eine Chance auf dem Arbeitsmarkt
haben.
Die Hauptangst wurde ja vor der Alterung gezeichnet. Wir werden immer älter, und
immer mehr Rentner, und das können wir uns gar nicht leisten. [...]
2s Aber ich sage einfach nur mal [ .. .), gucken Sie doch mal ins vergangene Jahrhundert
hinein. Was ist denn im vergangenen Jahrhundert passiert? Wir sind um dreißig Jahre
gealtert im Schnitt, der Kinderanteil hat sich halbiert, der Rentneranteil hat sich mehr
als verdreifacht.
Also aus heutiger Sicht, aus der Demografie-Angst heraus, müsste das letzte Jahrhun-
30 dert eine wirtschaftlich-soziale Katastrophe gewesen sein, bei dieser Alterung, weniger
Kinder, mehr Rentner. Und stattdessen ist der Sozialstaat explodiert, ist der Wohlstand
für alle explodiert. Das heißt, diese Faktoren mit Alterung, weniger Kinder, führen über-
haupt nicht automatisch zu weniger Wohlstand und weniger Sozialstaat.
Aber Fakt bleibt doch, dass wir immer älter werden. Das ist ja eine Tatsache, die wir
3s ja auch belegen können. Und die Sicherung der Altersversorgung wird natürlich auf
immer weniger Schultern verteilt.
Bosbach: Das „auf immer weniger Schultern" habe[... ] ich einfach mal umgerechnet.
Das wird so dramatisch dargestellt, weil man alle Veränderungen von 50 Jahren zu-
sammenzählt. Und natürlich, wenn man 50 Jahre zusammenzählt, kommt auch was
40 Größeres raus. Ich habe es mal auf die jährliche Veränderung umgerechnet.
Und zwar habe ich die Zahlen genommen, die als Angst-Zahlen in die Welt gesetzt
wurden. Und die habe ich mal angeguckt und auf eine jährliche Veränderung umge-
rechnet, und da kam ich zu einer ganz überraschenden Zahl, die habe ich auch mehr-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
fach nachgerechnet und mehrfach geprüft mit anderen Leuten. Ich kam darauf, dass
45 das pro Jahr etwa einen von 130 Erwerbstätigen ausmacht, die wir ersetzen müssen
wegen der Alterung. Einen von 130.
Als ich das halt einigen Zeitungsredakteuren vorgelegt hatte, haben die gesagt, die
wollen bei uns zehn Prozent kürzen, nicht einen von 130. Also die Alterung macht da
nur einen ganz, ganz kleinen Anteil an jährlicher Veränderung aus, und die Angst be-
50 kommen wir, weil die uns zusammengerechnet für 50 Jahre vorgelegt wird. Für For-
scher ist es schwer, das eigene Scheitern einzugestehen.
Das heißt, wer sind denn die? Das ist ja die etablierte Demografie, also die Wissen-
schaft von der Bevölkerungswirtschaft. Hat die sich geirrt, Ihrer Meinung nach ja dann
ja.
55 Bosbach: Ja, die hat sich geirrt. Die müsste ja auch schon längst ihre Vorhersagen
von 1990 oder 2000 zurücknehmen und sagen, es ist doch gar nicht so gekommen,
wie wir angenommen haben. Das tut sie nicht. Ich weiß jetzt auch nicht, ob da Bös-
willigkeit dahintersteckt.
Es ist für einen Forscher immer schwer, wenn man jahrzehntelang in eine Richtung
60 publiziert und anschließend sagt, oh, war alles falsch. Das ist das Erste. Und das
Zweite: Ich habe ja selber in dieser Demografenwelt halt mit diskutiert und war auf
Konferenzen von denen. Demografie, Bevölkerungswissenschaft, ist eigentlich ein
staubtrockenes Statistikthema. Ab 2000 etwa bekamen die plötzlich Forschungsgel-
der, bekamen die Öffentlichkeit, bekamen einige Leute mindestens einmal die Woche
65 ein großes Interview in der Zeitung. [... ]
Ich glaube nicht, dass die Politik der wissenschaftlichen Demografie folgt[... ]. Aber es
gibt ganz große lnteressensgruppen. Die größte lnteressensgruppe, oder die deut-
lichste, ist die Versicherungswirtschaft. Die Versicherungswirtschaft wollte an den ge-
setzlichen Rentenanteil, der immerhin zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus-
70 macht, teilhaben. Und eine zweite Gruppe, die auch ganz ehrlich sagt, wir wollen
Lohnnebenkosten senken, und der größte Teil der Lohnnebenkosten sind für die Ar-
beitgeber die Rentenbeiträge.
Aufgaben
1 . Stellen Sie dar, weshalb wir nach Ansicht des Statistikers Bosbach keine Angst vor der
Zukunft haben sollten.
2. Erläutern Sie, weshalb dennoch immer wieder von der Demografie-Angst gesprochen wird.
3. Diskutieren Sie auf der Grundlage des Textes, inwiefern der demografische Wandel auch
Chancen mit sich bringt.
1 .2.2 Migration und Integration
Leitfragen Wer wandert ein Kann die Zuwanderung das Wo liegen Chancen und
und warum? demografische Problem lösen? Probleme der Integration?
Migration bedeutet ursprünglich Wanderung und l 950er J ahren h at entscheidend zum sozialen
wird definiert als dauerhafte Verlagerung des Le- Wandel in Deutschland beigetragen. Ende 2016
bensmittelpunktes in eine andere Region oder eine lebten 82,5 Mill ionen Menschen in Deutschland,
andere Gesellsch aft. Es gibt v iele untersch iedliche von denen 18,6 Millionen eine n so gen annten
Formen der Migration. Man unterscheidet zum Migrationshintergrund hatten. Die Einwohnerzahl
Beispiel: steigt seit d em Jahr 2010 kontinuierlich an, weil
mehr Menschen nach Deutschland einwandern als
• Binnenmigration (Wohnortwechsel innerhalb wegziehen.
eines Staatsgebietes; innerhalb der EU spricht
man vo n EU-Binnenmigratio n)
• Emigration (Auswanderung, internationale Mi- Menschen mit
gration) Migrationshintergrund
• [mmigration (Einwanderung)
• Remigration (Rückwanderung) Das Statistische Bundesamt spricht (seit 2005) von
einer Person mit einem Migrationshintergrund,
wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht
Jede Migration ist mit der Hoffnung auf ein bes-
mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde.
seres Leben im Zielland verbunde n. Dabei ist sie Diese Definition umfasst zugewanderte und nicht
kein Phänomen der Modeme, denn Migration gibt zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer, zu-
es, seitdem es Menschen auf der Welt gibt. Histo- gewanderte und nicht zugewanderte Eingebürger-
rische Beispiel sind in der Antike die g riechische te, (Spät-) Aussiedlerinnen und (Spät-) Aussiedler
Kolonisatio n oder die so genannte Völkerwande- sowie die als Deutsche geborenen Nachkommen
dieser Gruppen.
rung, im Mittelalter bzw. frü her Neuzeit die Ver-
treibung der Jude n und der Hugenotten, im 19.
Jahrhundert die europäische Auswanderung in
die USA oder die Einwanderung ins Ruhrgebiet Die g roße Vielfalt der deutschen Gesellschaft
mit der Industrialisierung. sprachlich richtig darzustellen, ist nicht e infach.
Man spricht deshalb von einer „multiethnischen
Fragt ma n nach den Motiven für die Migratio n, Gesellschaft" und von Menschen mit „Migrations-
lasse n sich mehrere Migrationsformen unterschei- hi ntergrund".
den, wobei eine trennscharfe Abgrenzung schwie-
rig ist, da häufig mehrere Motive ursächlich s ind: Nach einer anderen Definition sind Migranten
Personen, d ie nicht eindeut ig ei nem Nationalstaat
• Fluchtmigration zugerechnet werden können, weil sie sich mehr als
• Fa miliennachzug einem Staat verbu nden füh len oder weil sie ihren
• Heiratsmigration Lebensmittelpunkt über Staatsgrenzen hinweg
• Arbeitsmigration verlegt haben. Danach gibt es in Deutschland u. a.
• Expertenmigration fo lgende Personengruppen mit z.T. unterschiedli-
• Armutsmigration chem rechtlichen Status:
Integration der Migra nten im Sinne gesellschaft- fein von Vertretern der Bundesregierung, den
licher Teilhabe u nd Chancengleichheit zu fördern. Bundesländern, den Kommunen, Migrantenorga-
Dies soll über Sprachkurse, die Vermittl ung von nisationen, Verbänden der Wirtschaft, Sportver-
Wissen zur Orientierung im Alltag und von Kennt- bänden u nd vielen anderen zivilgesellschaftlichen
nissen über die Rechtsordnung u nd die Geschich- Gru ppierungen erarbeitet u nd verabschiedet wur-
te geschehen. Weiterhin entscheidet auch das Be- de. Er soll alle integrationspolitischen Maßnah-
stehen eines staatsbürgerkundlichen Tests über men bündel n und enthält zahlreiche Selbstver-
die Einbürgerung. Diese Tests sind nach wie vor pflichtungen, um eine bessere Integration der
umstritten. Weitere Neuregelungen des Zuwande- Migrantinnen und Migranten zu erreichen. Auf
rungsgesetzes betreffen das Asylrecht. der Grundlage dieses Integrationsplans ist schließ-
lich ein „Aktionsplan zur Umsetzung" beschlossen
Seit 2007 gibt es in Deutschland einen Nationalen worden, der ko nkrete politische Handlungsfelder
Integrationsplan der auf den sog. Integrationsgip- (z.B. Sprache, Bildung usw.) benennt.
das Schulwese n sind vor allem die Lä nder und Jugendlichen verringert. Dennoch haben die
Gemeinden gefordert. Ohne die Unterstütz ung PISA-Studien gezeigt, dass Jugendliche mit
von vielen Tausend FreiwiHigen, die sich in der Migrationshintergru nd im Vergleich zu ihren Al-
Flüchtlingsarbeit ehre namtlich engagieren, ist die tersgenossen ohne Migrationshintergrund we-
Situation immer noch nicht zu meistern. sentlich geringere Chancen haben, eine Realschu -
le oder ei n Gymnasium zu besuchen, auch wenn
Aber nichtjeder heißt die Flüchtlinge in Deutsch- sie derselben sozialen Schicht angehören. Deut-
la nd willkommen. Viele Menschen haben Angst, lich schlechtere Chancen haben Einwanderer auch
dass der Sozialstaat überlastet wird, dass ihr eige- in der Berufsausbildung. Von der Bevölkerung
ner Lebensstandard sinken könnte oder sie keine zwischen 25 und 65 Jahren mit Migrationshinter-
Wohnung mehr finden könnten. Auch befürchten grund hatte im J a hr 2011 (Mikrozensus) mehr als
sie die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Rechts- ein Drittel keinen Berufsabschluss (35,4 Prozent).
populistische Gruppen und Parteien wie Pegida Der Anteil war damit fast viermal so hoch wie bei
oder die AfD erhalten seith er starken Zulauf. In der gleichaltrigen Bevölkerung oh ne Migrations-
den sozialen Netzwerken vermehrten sich zudem hintergrund (9,2 Prozent).
die Hass- und Hetzkommentare und es gibt immer
häufiger Angriffe auf Menschen. Die Zuwande-
rung spaltet die Gesellschaft, was seit 2015 immer Welche Ursachen lassen
wieder durch neue Umfragen bestätigt wird; wäh- sich hierfür benennen?
rend ca. die Hälfte der Bevölkerung die Flüchtlin-
ge als Bereicherung der Gesellschaft begreift, Der geringere Schulerfolg der Kinder mit Migrati-
fürchtet die andere Hälfte sich allerdings eher. onshintergrund lässt sich soziologisch auf zwei
Weisen erklären. Zum einen sind diese Kinder mit
deutlich geringem „sozialen und kulturellen Ka-
Welche Problemlagen zeigen sich langfristig? pital" ausgestattet. Damit ist gemeint, dass sie
(und ihre Eltern) neben sprachlichen Defiziten und
Die sozialen Ungleichheiten zwischen den Zuge- anderen Umgangsformen auch sozial weniger
wanderten und der deutschen Mehrheitsgesell- vernetzt sind. Die führt dazu, dass sie nur einfache
schaft sind nach wie vor erheblich. Sie schlagen oder mittlere Bildungsabschlüsse erlangen und
sich in deutlichen Unterschieden etwa in der Ar- eine geringere Erwerbsbeteiligung aufweisen.
beitslosenquote, im Einkommen und im Armuts- Zum anderen erweist sich das Bildungssystem als
risiko sowie in der Wohnsituation nieder. Hindern is, weil es den Kindern mit Migrationshin-
tergru nd zu wenig Zeit lässt, Defizite auszuglei-
Eine wichtige Rolle bei der sozialen Integration chen. Darüber hinaus haben sie beim Übertritt in
spielt die Bildung. Hier gelang es der zweiten Ein- die Sekundarstufe I nur selten Zugang zu Gy mn-
wanderergeneration, v iele Defizite abzubauen, asien. So haben Wissenschaftler herausgefunden,
auch wenn in diesem Bereich noch viel zu tun ist. dass Kinder mit Migrationshintergrund keine
Der Anteil der nichtdeutschen Abiturienten steigt Gymnasialempfehlung erhalten, auch wenn sie
kontinuierlich, während sich gleichzeitig der An- die gleichen Noten haben wie Kinder ohne Mig-
teil der Hauptschüler unter den ausländischen rationshintergrund.
Aufgaben
1 . Stellen Sie die Phasen der Migration nach Deutschland dar.
2. Benennen Sie einige Problemfelder, die sich mit der Migration ergeben. Unterscheiden Sie dabei zwischen
den Aufnahmeländern und den Ländern, die die Menschen verlassen.
3. ,,Integration kann nicht verordnet werden. Sie erfordert Anstrengungen von allen, vom Staat und von der Ge-
sellschaft, die aus Menschen mit und ohne Migrationshintergrund besteht." Erläutern Sie diese Feststellung
aus dem Vorwort des „Nationalen Integrationsplans".
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Herr Oltmer, seit etwa zwei Jahren gibt es eine lebhafte Debatte über Fragen rund um
Flucht und Asyl. Begrüßen Sie das als Migrationsforscher?
Ich halte die seit vielen Monaten laufenden intensiven Debatte um Migration, Flucht und
5 Asyl für außerordentlich wichtig: Natürlich sind sie kontrovers, nicht wenige Äußerungen
sind platt, populistisch, zum Teil sogar schwer erträglich oder gefährlich. Aber wir leben
in einer Demokratie, in der die verschiedensten Akteure aushandeln sollen und aushan-
deln müssen, wie sie zu Fragen von Migration und Integration stehen. Wir haben in den
vergangenen Jahrzehnten erlebt, dass der Themenkomplex Migration nur relativ spora-
,o disch und wenig intensiv diskutiert worden ist. Die recht geringe Präsenz hat dazu
beigetragen, dass lange nur wenig Kenntnisse und Kompetenzen zu Migration und In-
tegration zu finden waren - wie könnte es auch anders sein. Wenn nicht über Gegen-
stände gesprochen wird, kann sich auch kein Wissen darüber verbreiten.
Das Gesetzespaket ist zum einen geprägt durch die laufenden Wahlkämpfe. Es soll
Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft demonstrieren. Vor dem Hintergrund,
20 dass das Asylpaket I erst wenige Monate alt ist, fragt man sich: Warum muss ein Asyl-
paket II mit mehr oder minder identischen Regelungsbereichen innerhalb kürzester Frist
folgen? Die Antwort scheint mir zu sein: Weil sich die Ziele - Verminderung der Asylzu-
wanderung und Verstärkung der Rückkehrneigung bereits in Deutschland befindlicher
Flüchtlinge - nicht mit diesen Instrumenten umsetzen ließen. Ich gehe davon aus, dass
25 sehr bald weitere Asylpakete folgen werden, um immer wieder Handlungsfähigkeit zu
demonstrieren, obgleich die Regelungen wenig bewirken. Hinzu kommt: Es sind für die
kommenden Jahre diverse Gerichtsentscheide zu erwarten, die die beiden Asylpakete
Stück für Stück für rechtswidrig erklären werden. [ ... ]
Was bedeutet die starke Zunahme der Asylsuchenden für die deutsche Gesellschaft?
30 Welche Chancen und welche Herausforderungen sehen Sie?
Die Bundesrepublik kennt schon seit vielen Jahrzehnten die zunehmende Bedeutung
von Migration. Ich möchte nur an die 1990er Jahre erinnern, als es nicht nur starke
Zuwanderungen von Asylsuchenden und Flüchtlingen gab, sondern zugleich auch von
Aussiedlern, DDR-Zuwanderern oder von Arbeitsmigration aus dem östlichen Europa.
35 Natürlich gibt es - erneut - Herausforderungen: Die Behörden sind von der starken
Zuwanderung überrascht worden, es gibt weiterhin keine Übersicht über die Zuwan-
derungen, der größte Teil der Menschen, die 2015 gekommen sind, weiß noch nicht,
welchen Status er bekommt. Es gibt noch überhaupt keine Planungsziffern für Integra-
tion. Und Chancen: Die Bundesrepublik wird das Selbstverständnis als offene Repu-
40 blik, die Heterogenität und Diversität als gesellschaftliche Ressource versteht, weiter
ausbauen können. [ ...]
men und ärmsten Staaten weltweit , nur ein geringer Teil der globalen Flüchtlinge er-
reicht Europa oder Deutschland. Und hier wäre auch der zentrale Anknüpfungspunkt:
Die globale Flüchtlingsfrage ist nicht neu, wir beobachten seit langem eine europäische
und auch deutsche „ Kultur des Wegschauens" - Europa hat sich in den vergangenen
so Jahren und Jahrzehnten nur sehr begrenzt um die globale Flüchtlingsfrage gekümmert,
hat von daher auch keine Kompetenzen und Kenntnisse im Umgang damit erworben
und hat das ohnehin sehr fragile globale Flüchtlingsregime in seinem Dämmerzustand
belassen.
Welche Probleme sind in der jetzigen Situation am drängendsten und welche Proble-
ss me kommen noch auf uns zu?
Ein Großteil der Flüchtlinge, die 2015 in die Bundesrepublik gekommen sind, wird
bleiben. Deutschland wird mit ihnen leben müssen und auch gut leben können. Maß-
nahmen von Grenzsicherung und Grenzschließung führen im Moment zu einem Rück-
gang der Zahl der Menschen, die Deutschland erreichen. Probleme haben aktuell vor
so allem die Flüchtlinge: Ihre Bewegungen werden riskanter, die Kosten steigen, die
Chancen schwinden, in Europa Aufnahme zu finden, vielleicht überhaupt Schutz und
Zukunft zu finden.
M 2 Du dich anpassen
Aufgaben
1. Arbeiten Sie die Chancen und Herausforderungen heraus, die nach Oltmer auf die
deutsche Gesellschaft zukommen und erörtern Sie diese (M 1).
2. Erläutern Sie die Probleme, die er künftig auf die flüchtenden Menschen zukommen sieht.
4. informieren Sie sich über den aktuellen Stand der Diskussion und vergleichen Ihre Ergeb-
nisse mit der Einschätzung von Oltmer.
1 .2.3 Familie und Pluralisierung der Lebensformen
Leitfragen Was sind Merkmale und Welche Faktoren haben Inwieweit hat sich d ie Ist die Familie
Funktionen der Familie? den Wandel von Ehe und Bedeutung der Familie ein Auslauf-
Familie beeinflusst? in den vergangenen modell?
Jahrzehnten verändert?
früher, in den späten 1950er und 1960er Jahren, • Die Familie übernimmt die Befriedigung emo-
war die Beantwortung der Frage „Was ist über- tionaler Bedürfnisse durch Schutz und Gebor-
haupt eine Familie?" einfach: Eine Familie ist ein genheit sowie die Ausbildung des Selbstwertge-
Ehepaar, bestehend aus einem Mann und e iner fühls;
Frau, das zusammen mit den leiblichen Kindern • Die Fami)je regelt die biologische Reprodukt ion
in e inem gemeinsamen Haushalt lebt. Der Mann einer Gesellschaft und ermöglicht als primäre
ist berufstätig und nimmt die Ernährerrolle ein, Sozialisatfonsinstanz, dass die Kinder den so-
die Frau kümmert sich um die Kinder und den zialen Ansprüchen und Erwartungen der Gesell-
Haushalt. schaft gerecht werden;
• Sie stärkt die Solidarität zwischen den Genera-
Diese so genan nte „eheliche Kernfamilie" wa r vor tionen;
50 Jahren weit verbreitet und galt als „normal". • Sie ermöglicht ihren Mitgliedern die soziale
Die Dominanz einer Lebensform ist histo risch a l- Platzierung, d. h., die Familie sorgt dafür, dass
lerdings eher ungewöhnlich. Insbesondere im 18. ihre Mitglieder in dem komplizierten Netz der
und 19., aber auch im 20. Jahrhundert gab es eine Rollen und Positionen innerhalb der Gesell-
große Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen schaft in der Lage sind, unterschiedliche Rollen
bzw. Familienkonstellationen, weil sich viele zu übernehmen und diese auszufüllen. Darüber
Menschen eine Heirat nicht leisten konnten oder hinaus bestimmt die Familie in hohem Maße die
standesrechtliche Heiratsverbote existieren. Darü- soziale Position, die ein Mensch in der Gesell-
ber hinaus war zudem das Risiko der Verwitwung schaft einnimmt.
sehr hoch, so dass v iele Menschen nach dem Tod
des Partners alleine lebten. Vielfalt war und ist
a lso ein typisches Merkmal vo n Familien. Wie verändern sich Familie und Lebensformen
im laufe der Zeit?
So verwundert es auch nicht, dass es keine ein-
heitliche Definition von Familie gibt, sie wird viel- Der Wandel vo n familiären und anderen Lebens-
mehr heutzutage als „moving target" beschrieben. formen umfasst folgende Aspekte:
Damit ist ihre Wandelbarkeit im historischen und
kulturellen Zusam menhang gemeint. Im deutsch- • Geburtenrückgang,
sprachigen Raum gilt heutzutage eine Eltern- • veränderte Rolle der Ehe und
Kind-Gemeinschaft als Familie. • Pluralisierung der Lebensformen.
gerschaft zu tun. Die Zunahme der nichtehelichen Die Lebensformen neben der bürgerlichen Kernfa-
Lebensgemeinschaften muss aber auch im Zusam- milie sind so vielfältig und häufig geworden, dass
menhang mit strukturellen Veränderungen gese- man sie längst nicht mehr als unkonventionell be-
hen werden: Die Ausbildungszeiten insbesondere zeichnet, auch wenn die Familie mit Kindern im-
der Akademiker si nd lang, der Arbeitsmarkt for- mer noch die relative Mehrheit der Lebensformen
dert immer mehr Mobilität, was die gemeinsame bildet. Abweichungen vom traditionellen Modell
Lebensführung deutlich erschwert und häufig zu der Kernfamilie finden sich überdurchschnittlich
Wochenendbeziehungen führt. häufig in Großstädten und in höheren Bildungs-
schichten. Die Familiensoziologen beobachten seit
Der Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit seit dem einigen Jahren auch eine Zunahme der multiloka-
Ende der 1960er Jahre hat Millionen von Frauen len Mehrgenerationenfamilie. Zu dieser Familien-
die finanzielle Unabhängigkeit gebracht und ist form gehören neben den Mitgliedern der Eltern mit
auch Ausdruck eines tiefgreifenden gesellschaft- ihren Kindern auch die Großeltern, die zwar nicht
lichen Wertewandels, der die Einstellung zur Fa- im selben Ha ushalt, aber in erreichbarer Nähe woh-
milie deutlich verändert hat. Die Familie ist ein nen und sich um die Kinder kümmern, weil beide
Ort, der partnerschaftliche Beziehungen, Unab- Elternteile berufstätig sind.
häng igkeit und Selbstentfalt ung ermöglichen soll
und die Selbstaufopferung der Frau fü r die Fami-
lie i. d. R. abgeschafft hat. Wie hat die Politik auf den Wandel der Lebens-
formen reagiert?
An die Ehe werden dadurch immer neue und hö-
here Anforderungen gestellt. Sie wird hä ufig nicht Auch die Politik hat auf die Pluralisierung der Le-
mehr als eine Lebensgemeinschaft auf Dauer ge- bensformen in Deutschland reagiert. 2001 wurde
sehen, sondern vielmehr a ls Lebensabschni tts- per Gesetz die Institution der „eingetragenen Le-
partnerschaft. Die Ehe hat als Lebensform nicht an benspartnerschaft" geschaffen, welche im Ver-
Bedeutung verloren, lediglich ist die Bereitschaft gleich zur Ehe zwischen Mann und Frau mit den
der Menschen geringer geworde n, eine unglückli- gleichen Pflichten, aber weniger Rechten ausge-
che Ehe weiterzuführen. stattet war. Im Februar 2013 hatte das Bundesver-
fass ungsgericht gleichgeschlechtlichen Paaren
Neben der Ehe und dem „klassischen" Familienle- das Recht auf die sukzessive Adoption eingeräumt.
ben haben sich auf diese Weise v ielfältige neue Danach ko nnten gleichgeschlecht liche Partner ein
Formen des Zusammenlebens etabliert. Die Sozi- von ihrem einget ragenen Lebenspartner bereits
ologen sprechen deshalb von der Pluralisierung adoptiertes Kind oder auch leibliches Kind nach-
der Lebensformen. träglich adoptieren.
Allein lebend 20 %
Alleinstehende in
Mehrpersonen-
2
%
haushalten
Lebenspartner
Lebenspartner
alleinerziehende Elternteile
Aufgaben
1. Beschreiben Sie die Aufgaben, die die Familie in der Gesellschaft wahrnimmt.
2. Erklären Sie, was man unter der Pluralisierung der Lebensformen versteht.
3. Angesichts der vielfältigen Leistungen, die die Familie für die gesamte Gesellschaft erbringt, wird immer
wieder darüber nachgedacht, ob man Kinderlose nicht mit einer zusätzlichen Abgabe (Steuer) belasten soll.
Diskutieren Sie die Vor- und Nachteile einer solchen Regelung.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Ein erster Mythos ist die weit verbreitete Annahme, es hätte eine Entwicklung von einer
vorindustriellen Groß- zu einer modernen Kleinfamilie gegeben. Ausgehend von der
Vorstellung, die Familie in der Vergangenheit sei typischerweise die Großfamilie gewe-
sen, in der drei Generationen zusammen unter einem Dach lebten, wird unterstellt, es
s hätte eine lineare Verkleinerung der Familie gegeben, die bis heute nicht zum Stillstand
gekommen ist. Aus heutiger Sicht ist klar, dass die Dreigenerationenfamilie in der
Vergangenheit nicht weit verbreitet, sondern eher die Ausnahme war. Vielfach dürften
Familien im 19. Jahrhundert kleinere Einheiten mit vier bis sechs Personen gewesen
sein, für die, im Unterschied zu heute, das Vorhandensein von Gesinde typisch war.
10 Die Kleinheit ergab sich aus einer Vielzahl von Gründen. Zu den wichtigsten gehörte
sicherlich die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit. In manchen Zeiten und Regio-
nen sind wohl bis zur Hälfte der Kinder während ihrer ersten drei Lebensjahre verstor-
ben.
Das Klischee der Familie als Hort von Harmonie und Glück kann ebenfalls getrost als
1s Mythos bezeichnet werden. Unter dem Diktat von Knappheit und Not war Familie
zumeist nicht der Harmonieraum, zu dem sie bis heute romantisiert wird. Vielmehr kann
davon ausgegangen werden, dass die Familie verbreitet ein Ort von Konflikten, Gewalt
und Unterdrückung war, unter der besonders Frauen und Kinder und nach der Hof-
übergabe auch Alte zu leiden hatten.
20 Weiterhin ist der Deutung entgegenzutreten, der Wandel der Familie sei im Sinne eines
werden. Mit der These des Funktionswandels war die Annahme verknüpft, dass sich
diese Entwicklung auch auf die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Familie
ausgewirkt habe: Die von der unmittelbaren Subsistenzsicherung entlastete Kernfami-
lie schaffe Raum für Emotionalität, Intimität und Liebe zwischen den Partnern bzw.
30 zwischen Eltern und Kindern und stelle die moderne Familie auf eine völlig neue Grund-
No rbert F. Schneider, Familie. Zwischen traditioneller Institution und individuell gestalteter Lebensform, in:
Stefan Hradil (Hrsg.): Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde, 2012, S. 95f
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
M 2 Brauchen Kinder einen Vater und eine Mutter, um sich wohl zu fühlen?
Gegner der Ehe für alle und der rechtlichen Gleichstellung beim Thema Adoption be-
harren darauf, dass zu einer Familie immer Vater und Mutter gehören würden. "Der
Einfluss eines Vaters und der Mutter sind wichtig für die Entwicklung eines Kindes. Das
lernt jeder Pädagoge", twitterte die AfD Berlin. Studien zur Entwicklung von Kindern
5 in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften kommen jedoch alle zu dem Ergebnis, dass
es den Kindern in Regenbogenfamilien gut geht. Ob Kinder mit homosexuellen oder
heterosexuellen Eltern aufwachsen, wirkt sich demnach nicht auf ihre Entwicklung aus.
Eine der längsten Studien zu diesem Thema wird seit 1986 in den USA durchgeführt
und begleitet Familien lebischer Paare. Forschungsleiterin Nanette Gartrell fand zwar
10 zusammen mit ihren Kollegen auch keine nachteiligen Auswirkungen der Homosexu-
alität der Eltern auf die Kinder. Weder wurden diese häufiger kriminell, noch beeinfluss-
te es deren eigene sexuelle Orientierung. Die Untersuchungsergebnisse weisen aber
darauf hin, dass das Erleben von Diskriminierung bei den Kindern zu Verhaltensauffäl-
ligkeiten führen kann. Im "Tagesspiegel" warnte sie 2013: "Ärzte und Therapeuten
15 sollten aufmerksam sein auf das negative Potenzial von homophoben Reaktionen".
Die erste größere, deutsche Studie zur Lebenssituation von Kindern in Lebenspartner-
schaften wurde durch das Justizministerium 2009 veröffentlicht. Das Fazit: Es gibt
keine nennenswerten Unterschiede bei der Entwicklung von Kindern von homo- oder
heterosexuellen Eltern. Die Regenbogenfamilie hatte auf Kinder eher Vorteile: Ein hö-
20 heres Selbstwertgefühl. [...)
Die Psychologin lna Bovenschen hat zusammen mit ihren Kollegen vom Expertise- und
Forschungszentrum Adoption (EFZA) internationale und nationale Studien zu diesem
Thema zusammengetragen. Sie kann die Kritik an den Studien nicht nachvollziehen.
"Nicht die Familienform ist für das Kindeswohl entscheidend, sondern die Art und
25 Weise, wie Familie gelebt wird" , sagt sie. Letztendlich kommen alle Studien zur Situ-
ation von Kindern in homosexuellen Partnerschaften zum gleichen Ergebnis: Es gibt
keine signifikanten Nachteile für Kinder.
Melanie Bender, Und was ist mit den Kindern? A RD Faktenfinder, 30.6.2017
Aufgaben
1. Erarbeiten Sie die Mythen, von denen Schneider im Hinblick auf den historischen Wandel
der Familie spricht (M 1).
2. Arbeiten Sie aus dem Text (M 2) die Ergebnisse der Untersuchungen von Kindern, die mit
gleichgeschlechtlichen Eltern leben, heraus und stellen Sie diese dar.
3. Diskutieren Sie, inwiefern die Einführung einer „Ehe für alle" ihre Berechtigung hat.
1 .2.4 Der Staat und die Familie
Leitfragen Inwiefern ist Wer ist für Was sind Leistungen des Wie sehen neuere
Familienpolitik Aufgabe familienpolitische Staates für Familien? Entwicklungen in
des Staates? Fragen zuständig? diesem Bereich aus?
„Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Länder und Gemeinden sorgen u. a. für:
Schutze der staatlichen Ordnung", heißt es in Ar-
tikel 6 des Grundgesetzes. Aus dieser besonderen • Wohnungsversorgung und Gestaltung eines
Verantwortung des Staates gegenüber der Ehe und kinder- und familiengerechten Wohnumfeldes;
Familie leitet sich die staatliche Familienpolitik • Kinderkrippen und Kindergärten;
ab. Allgemein versteht man darunter alle politi- • Schulen und Ganztagseinrichtungen;
schen Aktivitäten, die dem Schutz und der wirt- • öffentliche Spielplätze und Sportstätten ;
schaftlichen sowie sozialen Förderung der Famil ie • Beratungs- und Hilfseinrichtungen für die erzie-
dienen. henden Eltern und Kinder sowie Jugendliche.
lohns ersetzt. Diese Lohnersatzleistung können ternzeit in die Vollzeit berufstät igkeit zurück, wäh-
Eltern bis zu 14 Mo nate la ng beziehen. rend die Mütter, wenn sie berufstätig sind, hä ufig
Teilzeit arbeite n. Die Frauen kehren früher, i. d. R.
Bereits v or de r Einführun g des Elterngeldes, im bereits nach eine m Jahr, in den Beruf zurück,
Zuge der „Nachhaltigen Familienp olitik" unter wenn sie zu vor berufstätig waren. Ob der A nstieg
den rot-grüne n Regierungen Gerhard Schröders der Geburtenrate seit 201 1 tatsäch lich a uf die Ein-
( 199 8-2005), wurde die Politik n eu ausgerichtet. führung des Elterngeldes zurückzuführen ist,
Fa m ilienpolitik wurde forta n nun auch betrieben, kann nicht genau festgestellt werden.
um die Geburtenzahlen zu erhöhen. Die Förde-
rung einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung in Das 201 5 neu eingeführte ElterngeldPlus s oll Fa-
den Familien und die Änderung des Rollenver- milien, die sich schon nach der Geburt fü r eine
ständnisses waren alle rdi ngs wen iger beabsich- Teilzeitbeschäfti gung entscheiden, unterstützten.
tigt. Das Elterngeld zeigte rasch Wirkung : So be- Sie können die Bezugsdauer a uf bis auf 28 Mona-
zogen im Ja hr 2010 schon 25,3 Prozent der Väter te ausdehnen. Das Eltern geld sta nd von Anbeginn
der in diesem Jah r geborenen Ki nder Eltern geld seiner Einfü hru ng in der Kritik. So wurde bemän-
u nd unterb rachen für zumindest zwei Monate (die gelt, dass es vor alle m gut und doppelt verdienen-
vom Gesetzgeber gefo rderten „Partnermo nate") de Eltern unterstütze, sich nach der Geburt ihrer
die Berufstätigkeit, um im ersten Lebensj ahr der Kinder eine „Auszeit" zu neh men. Da Eltern mit
Kinder Elternzeit z u nehmen. 2014 waren es be- geringerem Einkommen au ch weniger Elt erngeld
reits 34,2 D/o. Interessant dabei ist aber, dass d ie erh ielte n, könnten diese sich die lä ngere Elternzeit
Väte r nur unwesentlich lä nger als vom Gesetzge- gar nicht leisten. Diese Befürchtungen best ätigten
ber v orgeschrieben in Elte rnzeit bleiben, um den sich im Laufe der Jahre durch die empirisch en Da-
vollen A nspruch auf das Elterngeld zu haben. Dies ten.
liegt u. a. dara n, dass Mä nner im Durchschnitt im-
mer noch mehr verdienen als Frau en. Hä ufig fehlt In der Frage der Kinderbetreuung wurden in den
es in den Unternehmen a ber auch a n der notwen- vergangenen J a hren eben falls gesetzliche Ände-
d igen Unterstützung der Väter, auc h wenn dort run gen eingeführt: Auch hier galt la nge Zeit, dass
langsam ein Umde nken zu beobachte n ist. Anders es Aufgabe der Frauen sei, sich um Kinder und
als die Mütter kehre n aber die Väter nac h der EI- Familie zu k ümmern: Seit 2008 haben alle Kinder
35 % , - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -----:;;;c--
Durchschnittliche Bezugsdauer*
15 % ,__ _ _ _ _ _ _ _ Väter - 3, 1 Monate
Mütter 11,6 Monate
10 %
2008 2009 2010 2011 201 2 2013 2014
*für 2014 geborene Kinder
ab dem 3. Lebensjahr einen Anspruch auf einen Geldleistung soll die Differenz zum Vollzeitein-
Kindergartenplatz und dem I. August 2013 gilt kommen ausgleichen. Sie soll aber nur dann ge-
der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz währt werden, wenn beide Elternteile die Arbeits-
für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebens- zeit reduzieren. Damit soll erreicht werden, dass
jahr. Trotz der gesetzlichen Verpflichtung ist die vor allem Mütter, die nach der Geburt der Kinder
Versorgung längst noch nicht in allen Kommunen zumeist in Teilzeit oder geringfügig beschäftigt
auf dem gleichen Stand. sind, länger arbeiten und mehr verdienen, Väter
sollen so mehr in die Erziehung eingebunden wer-
Seit 2016 wird in der politischen Öffentlichkeit den. Zustimmung findet dieser Vorschlag v or al-
über die Einführung einer Familienarbeitszeit ge- lem bei SPD, den Grünen und Gewerkschaften,
stritten. Dabei sollen Eltern oder Alleinerziehende während Unternehmen und Wirtschaftsverbände
nach Ablauf der Elternzeit die Möglichkeit erhal- sowie die CSU ihn ablehnen, weil h ier ein neues
ten, eine Lohnersatzleistung zu erh alten, wenn sie Instrument geschaffen werden soll, dass in die
ihre Vollzeittätigkeit reduzieren. Diese staatliche unternehmerische Freiheit eingreife.
Aufgaben
1. Stellen Sie die unterschiedlichen Instrumente der Familienpolitik in Deutschland grafisch dar.
2. Wählen Sie aus den familienpolitischen Instrumenten eines aus, dass Ihnen besonders sinnvoll oder fragwür-
dig erscheint, und begründen Sie Ihre Auswahl.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
5 Junge Väter und Mütter wollen Zeit für die Familie haben und trotzdem berufstätig sein,
so die Umfragen. Deshalb bezeichnet [Bundesfamilienministerin] Schwesig ihr Modell
als ein Angebot für junge Eltern. Seiden Bedürfnisse wolle sie Rechnung tragen, sagt
sie: ,,Ich will Väter ermutigen, Zeit mit den Kindern zu verbringen und Mütter, weiter
beruftätig zu sein."
10 24 Monate lang sollen Eltern pro Kind ein Familiengeld von insgesamt 300 Euro, 150
Euro pro Partner {Alleinerziehende sollen 300 Euro bekommen) erhalten. Vorausset-
zung: Beide reduzieren ihre Arbeitszeit auf 80 - 90 Prozent ihrer regulären Vollzeit. Das
entspreche einer Arbeitszeit zwischen 28 und 36 Stunden die Woche. Schwesig be-
zeichnet diesen „Stundenkorridor als flexibel ".
Vera Rosigkeit, Familiena rbeitszeit, So will Manuela Schwesig den Nerv junger Familien treffen, in:
Vorwärts, 19.7.201 6
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Beruf und Kinder zu vereinbaren ist oft schwer. [Die ehemalige} Familienministerin
Schwesig plädiert daher für eine 32-Stunden-Woche. Die Wirtschaft protestiert.
Schwesig hatte dem Berliner „Tagesspiegel" gesagt: ,,Meine Vision ist die Familienar-
beitszeit." Vollzeit sollte für Eltern mit kleinen Kindern nicht 40 Stunden bedeuten, son-
dern zum Beispiel 32 Stunden. Eltern dürften in dieser Familienphase keine Nachteile
erleiden, wenn sie im Beruf zurücksteckten. Vielmehr müssten Arbeitgeber auf die Be-
,o dürfnisse junger Familien flexibel reagieren. Schwesig hatte hinzugefügt: ,,Das wird ein
Schwerpunkt meiner Familienpolitik sein: Ich will damit aufräumen, dass Eltern immer
wieder das Gefühl vermittelt bekommen, sie müssten sich zwischen Kind und Job ent-
scheiden. Beides muss möglich sein."
Von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BOA) kam harsche
15 Kritik: ,,Wir brauchen keine starren staatlichen Vorgaben zur Arbeitszeit. Die betriebliche
Realität ist längst von flexiblen Arbeitszeiten geprägt", sagte ein Sprecher der „Bild"-Zei-
tung. Wenn Eltern ihre Arbeitszeit reduzieren wollten, könnten sie das schon heute tun.
Die Politik sei vielmehr gefordert, den Ausbau der Kinderbetreuung weiter voranzubrin-
gen und mehr Ganztagsangebote zu schaffen.
Aufgaben
1. Erarbeiten Sie aus den beiden Texten M 1 und M 2 die Argumente, die für bzw. gegen die
Einführung der Familienarbeitszeit sprechen.
2. Diskutieren Sie, ob Sie die Einführung der Familienarbeitszeit per Gesetz als sinnvoll erach-
ten.
1 . 2. 5 Wandel der Geschlechterverhältn isse
Leit fragen Welche Fortschritte in der Gleichberechtigung In welchen Bereichen sind Frauen noch
der Geschlechter wurden erreicht? immer benachteiligt und warum?
In Deutschland ist die Gleichberechtigung der Ge- j e höher das Gehalt sind, desto geringe r ist der
schlechter a ls gesellschaftliches Prinzip im Grund- Frau ena nteil. Auch wenn die Frauen zunehmend
gesetz verankert. Art. 3 Abs. 1 GG schreibt fest: Leitungspos it ionen einnehmen , sind die m eisten
„Mä nner und Frauen sind gleichberechtigt." Das Führungsetagen in Wi rtschaft und Verwaltu ng
Gru ndgesetz wurde 1994 da hingehend ergänzt, nach wie vor reine Mä nnerdomä nen. Selbst in den
dass die Förderung der „tatsächlichen Durchset- tradit ionell weiblich besetzten Berufsspa rten -
zung" der Gleichberechtigung von Frauen und etwa im Bildungs- und Gesundheitswesen - wer-
Männern sowie die „Beseitigung bestehender den die me isten Führungspositionen von Män-
Nachteile" zur Aufgabe des Staates erklärt wurde nern ausgeübt.
(Art. 3 Abs. 2 GG). Es dauerte aber noch bis zu m
J ahr 2006, bis ein Allgemeines Gleichbehand- Die Ursache n h ierfür sind v ielschichtig :
lungsgesetz (Antidiskriminierungsgesetz) vom
Bundestag verabschiedet w urde. Dieses Gesetz hat • Die klassische Rollenteilung in de r Fa milie ist
zum Ziel, ungerechtfertigte Benachte iligungen aus nach wie vor ein großes Hinde rnis für eine
Gründen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, weibliche Karriere. Fra uen tragen imme r noch
der Religion , der Weltanscha uung, einer Behinde- die Hauptverantwortung für Kindererziehung
rung, des Alters oder der sexuellen Identität zu u nd Haushaltsführung und verzichte n oft
verhindern und zu beseitigen. So müssen z.B. Stel- zugunsten der Familie auf eine beruflich e Kar-
lena nzeigen in Zeitungen so abgefasst werden, riere.
dass sich grundsätzlich j ede Interessentin bzw. j e-
der Interessent a uf die Stelle bewerben kann. • Auch infolge der oft schwierigen Vereinbarke it
v on Familie und Berufsteigen v iele qualifizier-
te Frauen v orübergehend aus dem Beruf aus
Worin bestehen die Benachteiligungen? oder wechseln in eine Teilzeitbeschäftigung,
während ihre männlichen Altersgenossen Kar-
Trotz dieser rechtlich forma len Gleichberecht i- riere mache n.
gung der Geschlechter erleben Fra uen in v ielen
Bereichen der Gesellschaft nach w ie v or deutliche • Die Berufswahl v ieler Fraue n verläuft weiterhi n
Ben achteiligungen. Obw ohl Mä dc hen und junge nach klassischen Muste rn: Sie entsch eiden sich
Fra uen ihre männlichen Altersgenossen be i den nach wie vo r hä ufig fü r „typisch weibliche"
höher qua lifizierten Schulabschlüssen mittlerwei- Ausbildungsgä nge und Studienfächer, die tradi-
le überholt haben, können sie ihren höheren Bil- tion ell oft gesellschaftlich weniger a nerka nnt
dungssta nd v ielfach nicht in bessere Berufscha n- und schlechter bezahlt sind a ls typische „Män-
cen umsetzen. Die Situation berufstätiger Frauen nerberufe".
ist oft gekennzeichnet durch
• Die Ursachen für das Lohngefälle sind allerdings
• schlechtere Ar beitsbedingungen , schwierig zu be nennen, da es vor a llem auf der
• gerin gere Bezahlung, Tatsache b eruht, dass Frauen andere Tätigkeiten
• Arbe itsplätze mit niedrige rem Sozialprestige so- ausüben a ls Männer, sie ihre Berufstätigke it
w ie (wegen de r Familie) öfter unterbreche n u nd des-
• ein höheres Armuts- und Arbeitsplatzrisiko. ha lb au ch von Fort- und Weiterbildung ausge-
schlossen sind bzw. ihnen deshalb auch die Be-
Hinsichtlich der beruflichen Aufstiegsch ancen gilt rufse rfa hrung fehlt. Es gibt aber dennoch eine
nach wie vor: Je höher die berufliche Position und Lücke, die sich nicht durch Bildung, Berufser-
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland
fahrung, Teilzeit und spezifische Berufs- und riere in einem Unternehmen beende, auch wenn
Brancheneigenheiten erklären lässt. ihre Qualifikationen für höhere Positionen sprä-
chen. Ursachen dafür sei immer noch die starke
• Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass Bevorzugung männlicher Kollegen, da die Per-
Frauen im Laufe ihre r Berufstätigkeit immer sonalverantwortlichen befürchteten, die Frauen
wieder a n die „gläserne Decke" (glass ceiling) würden sich aufgrund ihrer fam iliären Ver-
stießen, eine unsichtbare Barriere, die ihre Kar- pflichtungen weniger engagieren.
% 1
30 - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Anteil in den
Aufsichtsräten
30 % - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Frauenquote für Aufsichtsräte*
22,6
Anteil in den 19,7
20 Vorständen 18,4
15,1
12,9
11 ,9
9,8 10,6
8,6 9,3
10 7,8 8,2
2006 07 08 09 10 11 12 13 14 15 2016
• bei rund 100 börsennotierten und voll mitbestimmungspflichtigen Unternehmen sowie bei Aufsichtsgremien, in
[~.[
© Globus
denen dem Bund mindestens 3 Sitze zustehen; rund 3500 Unt ernehmen, die börsennotiert oder mitbestimmungs-
pflichtig sind, müssen sich (flexible) Frauenquoten für Vorstand, Aufsichtsrat, oberes und mittleres Management
selbst verordnen.
jeweils am Jahresende Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2017)
Wandel der Rollenbilder Diese Männer kämpfen aber häufig noch um An-
erkennung und werden oft als Ausnahmen wahr-
Trotz der häufig zu beobachtenden Festlegung der genommen, weil die traditionellen männlichen
Geschlechter auf ihre tradit ionellen Rollen lässt Lebensentwürfe nach wie vor dominieren. Sie ma-
sich beobachten, dass diese langsam in Bewegung chen nicht selten die Erfahrung, dass ihr „Abwei-
geraten. Vor allem im Selbstverständnis der Män- chen" von der traditionellen Rollenzuweisung mit
ner und ihrem Verhältnis zu Familie und Kindern Ausgrenzung und einem Karrierebruch einhergeht.
werden Veränderungen spürbar: Noch ha ben sich neue männliche Leitbilder gesell-
schaftlich nicht vollständig durchgesetzt.
• Zunehmend begreifen auch Männer die Betreu-
ung ihrer Kinde r als persönliche Bereicherung Die Politik hat, wenn auch häufig nur zögerlich,
und nehmen die Elternzeit für s ich in Anspruch; auf die ung leichen Chancen der Geschlechter mit
• Beide Elternteile teilen sich Haushalt und Kin- Gleichstellungsgesetzen und Frauenförderplänen
dererziehung und sind teilzeitberufstätig; reagiert, sodass zumindest im Staatsdienst die
• Immer mehr Männer erkennen, dass die Gleich- deutliche Unterrepräsenta nz von Frauen mittler-
berechtigung der Geschlechter eine notwendige weile rückläufig ist. Nach wie vo r fehlt es aber in
und positive Entwicklung für die gesamte Ge- vielen Bereichen a n einer zielgerichteten ge-
sellschaft darstellt. schlechtergerechten Personalplanung.
1.2 Aspekte gesellschaftlichen Wandels 1
Kann die Politik die Benachteiligung von 105 Unternehmen, in den Vorständen der übrigen
Frauen gesetzlich abmildern? Unternehmen ändere sich die Situation kaum,
denn dort lag der Frauenanteil im Sommer 2017
Kann die Politik den gesellschaftlichen Wandel immer noch bei 6, 1 °10. Deshalb wird nach wie vor
politisch steuern und beispielsweise über Gesetze eine Quotenregelung für alle Führungsebenen in
die Benachteiligung von Frauen abmildern oder Wirtschaft und öffentlicher Verwaltu ng gefordert.
gar ganz abschaffen? Darüber wird immer wieder
heftig debattiert. Seit Ende der l 990er Jahre gibt Ein anderes, ebenfalls sehr strittige Thema ist die
es mit dem gender mainstreaming eine neue Bekämpfung der Lohnungleichheit. Die Lücke
Strategie in der Politik fü r eine geschlechterge- zwischen den Löhnen und Gehältern, verändert
rechte Gesellschaft. Gender mainstreaming be- sich seit J ahren nicht. Deshalb fordern immer
deutet, in alle Entscheidungssituationen die Pers- mehr Politiker, Gewerkschaften und Verbände die
pektive des Geschlechterverhältnisses einzu- Einführung vo n mehr Transparenz in den Unter-
bringen und alle Entscheidungen im Sinne der nehmen. So ist im Sommer 2017 das „Entgelttra ns-
Gleichstellung der Geschlechter zu fä llen. Ge- parenzgesetz" in Kraft getreten, das die Forderung
schlechterpolitik meint also Politik für Männer nach „gleichem Lohn für gleiche oder gleichwer-
und Frauen und das Verhältnis zwischen ihnen. tige Arbeit" umsetzen soll. So müssen Arbeitgeber
Die Geschlechterrollen werden als historisch ge- mit mehr als 200 Beschäftigten auf Anfrage ihren
wachsen und damit auch als politisch gestaltbar Beschäftigten erläutern, nach welchen Kriterien
begriffen.
'
1
politik). So wurde beispielsweise lange über die von Frauen und Männern in Euro
Einführung einer Geschlechterquote bei der Be- in Westdeutschland
/
setzung von Führungspositionen gestritten. Be- (einschließlich Berlin)
fürworter verwiesen auf die Erfolge, die eine sol- - Männer - Frauen
che Quote in den EU-Partnerländern (z.B. in den in Ostdeutschland \,...,.._.,.,,.,/
1
skandinavischen Ländern, Frankreich, Niederlan- - Männer Frauen 1
1
1
1
de) erzielen kon nte, Gegner sahen darin nur eine 1
1
Differenz in Prozent 1
1
staatliche Bevormundung der Unternehmen und (Gender Pay Gap) 1
1
-
19,55
Euro
19,91
20,41 20,66
-
21,00
22,9
22,9
eine feste Geschlechterquote vo n 30 Prozent für West
23,7%
alle neu zu besetzende Aufsichtsratsposten in den 16,19
15,59 15,94
börsennotierten und voll mitbestimmten Unter-
nehmen. Darü ber hinaus wurden ca. 3500 weitere
Unternehmen dazu verpflichtet, eigene Zielgrößen
zur Erhöhung des Frauenanteils in Aufsichtsräten,
15
--
14,92
13,66
6,7%
15,23
13,91
Ost
14,19 14,41
7,9
-
14,78
8 ,7
13,50
Vorständen und obersten Management-Ebenen zu 13,03 13,28
12,75 12,88
setzen. Die Einfü hrung der Geschlechterquote
zeigte bereits im ersten Jah r Wirkung, im zweiten
10
Jahr nach der Einführung wurde sie mit 30,1 °10
Angaben ab 2011 vorläufig rundungsbed. Differenzen ~
(2017) erfüllt. Die zuständige Ministerin sah da rin
*unabhängig vom Beschäftigungsumfang (z.B. Vollzeit, Teilzeit) f7:!
einen großen Erfolg, Kritiker warfe n der Minis- und der Stellung im Beruf (z.B. Hilfs-, Führungskraft) '::l
teri n das „Schönreden" einer umstrittenen gesetz- Quelle: Statistisches Bundesamt © Globus 10176
lichen Regelung vor, denn sie gelte lediglich für
1 Die moderne Gesellschaft in Deu tschland
sie wie bezah lt werden. In größeren Betrieben nehmen in Deutschland. Neu ist, dass das Gesetz
bzw. Unterneh men muss regelmäßig über die Ein- j etzt eine ausdrückliche Regelu ng des Gebots der
haltung des Gleichheitsgrundsatzes bei der Bezah- Entgeltgleichheit für Frauen und Männer bei glei-
lung berichtet werden. Die Verpflichtung, beim cher und gleichwertiger Arbeit enthä lt und genau
Lohn n icht zu diskrimi nieren und geschlechtsbe- defini ert, was u nter g leichwertiger Arbeit zu ver-
zogene Diskriminierung zu beseitigen, galt schon stehen ist. Das Gesetz war von Anbeginn sehr
vor Inkrafttreten dieses Gesetzes fü r alle Unter- umstritten.
Aufgaben
1 . Stellen Sie den Wandel der Geschlechterrollen dar.
2. Erläutern Sie mögliche Gründe, die zur Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern führen.
3 . Untersuchen Sie Beispiele für Geschlechtergleichheit bzw. -ungleichheit in Ihrer Schule / Ihrem Umfeld.
4 . Entwickeln Sie ein Konzept, wiegender mainstreaming im Bereich der Schule aussehen könnte.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
s Natürlich ist es skandalös, dass die gleiche Arbeit, die von Frauen und Männern ge-
leistet wird, zum Teil bis heute ungleich bewertet und bezahlt wird. Obwohl der Kampf
für die Gleichberechtigung der Geschlechter schon lange währt und dies auch in un-
serem Grundgesetz festgeschrieben ist. Dennoch stellt sich die Frage, wie wir dies in
möglichst vielen relevanten gesellschaftlichen Feldern erreichen? Der jüngste Versuch
10 [ ••. ] ist das Lohngleichheitsgesetz. Kern dieser Gesetzesinitiative ist aber nicht etwa
die tatsächliche Lohngleichheit, was mit der geltenden Tarifautonomie auch schwerlich
vereinbar wäre, sondern die Pflicht, über die vermutete Ungleichbehandlung zu infor-
mieren.
Wirtschaftsverbände und Arbeitgeber haben bereits die zugrunde liegenden statisti-
1s sehen Daten moniert. Denn die Lohnlücken entstehen unter anderem, weil Frauen
häufiger in den schlechter bezahlten Sozialberufen oder in Teilzeit arbeiten und fami-
lienbedingte Pausen einlegen. Zudem sind die avisierten Prüf- und Berichtspflichten
und die Offenlegung der Löhne und Gehälter mit einem immensen bürokratischen
Aufwand verbunden.
taz: Frau Holst, wie oft kommt es vor, dass Frauen und Männer für die gleiche Arbeit
unterschiedlich bezahlt werden?
Elke Holst: Dafür habe ich nur grobe Anhaltspunkte. Denn genau das ist ja heutzutage
nicht transparent. [... ] Häufig wird befürchtet, dass Frauen ihren Berufsweg für Kinder
s unterbrechen und dem Unternehmen nicht rund um die Uhr zur Verfügung stehen.
Wohlgemerkt: Das muss im Einzelfall gar nicht zutreffen, aber derartige Risiken werden
bewusst oder unbewusst bei Frauen eingepreist. Bei den Männern wird hingegen
angenommen: Der muss mal eine Familie ernähren und wird sich dafür voll beruflich
engagieren.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
taz: Viele Frauen wollen gar nicht aufsteigen, so jedenfalls sagen die Firmen.
15 EH: Wenn Führungsposten so angelegt sind, dass sie nur auszufüllen sind, wenn zu
Hause jemand kocht, putzt und die Kinder betreut, dann sehen sich viele Frauen vor
die Entscheidung gestellt: Karriere oder Familie. Hier ist mehr Flexibilität in den Unter-
nehmen nötig. Das könnte sich demnächst ändern, weil immer mehr Männer ebenfalls
Flexibilität einfordern.
20 taz: Demnach wird ja alles von allein voranschreiten und man braucht gar kein Gesetz.
EH: Die Frage ist: Wie lange wollen Sie warten? Sozialer Wandel geschieht gewöhnlich
unendlich langsam. Das sehen Sie an der Lohnlücke, die liegt seit Jahren bei 22 bis
23 Prozent.
taz: Wenn eine Chefin der Meinung ist, der Mann sei besser, dann hilft die schönste
25 Transparenz nicht, oder? Niemand wird sie daran hindern, den Mann besser zu bezah-
len.
EH: Ja, aber es ist natürlich viel schwerer, große Ungerechtigkeiten durchzusetzen,
wenn alle zugucken. Das wäre der Produktivität und dem Klima im Unternehmen sicher
nicht zuträglich.
Zugleich sollen die Tarifparteien ihr Tarifgefüge verbessern. Dort werden typisch weib-
liche Tätigkeiten oft geringer bewertet als männliche. Wie soll das gehen, wenn doch
Tariffreiheit herrscht?
3s Die Gewerkschaften könnten dann Druck ausüben.
Elke Holst ist Forschungsdirektorin Gender Studies im Vorstandsbereich des Deutschen Instituts fü r
Wirtschaftsforschu11g Berlin (DIW} und Spezialistin für Gender Pay Gaps.
Aufgaben
1 . Arbeiten Sie die Argumente aus dem Texten heraus, die für und gegen eine gesetzlich
eingeführte Lohntransparenz angeführt werden.
2. Erörtern Sie das Für und Wider einer gesetzlich geregelten Lohntransparenz.
3. Diskut ieren Sie auf der Grundlage der Texte und Materialien dieses Kapitels, ob Sie die
staatlichen Regulierungen zur Gleichberechtigung der Geschlechter grundsätzlich als
sinnvoll erachten.
METHODEN KOMPETENZ
Das Wort Karikatur stammt ursprünglich aus dem dem ihn bewusst zum Nachdenken a nregen. Der
Italienische n (caricare) und meint „überladen" Karikaturist bedient sich dabei unterschiedlicher
oder „übertreiben". Karikaturen sind „gezeichnete gestalterischer Mittel, die bei der Analyse und In-
Meinungen", sie beziehen kritisch und polemisch terp retation berücksichtigt werden müssen. Des-
Stellung zu einem polit ischen, gesellschaftlichen halb sollten Karikaturen in einem ersten Schritt
oder ökonomischen Sachverhalt, kommentieren sehr genau beschrieben werden, um sie darauf
Ereignisse oder das Handeln von Personen. Sie aufbauend interpretieren zu können. Der fo lgende
wollen den Betrachter nicht nur unterhalte n, son- Leitfaden soll dabei helfen:
Schritt 1: Orientierung
• Wie ist die Karikat ur aufgebaut? Welche Text- und Bildelemente enthält sie?
Wie sind Vorder- und Hintergrund gestaltet?
• Wen oder was zeigt d ie Karikatur?
• Welche Symbolik und Metaphorik haben einzelne zeichnerische Elemente?
(Personifikationen auflösen, Symbole deuten, Mensch-Tier-Vergleiche untersuchen,
natürliche Erscheinungen deuten, politische Metaphern deuten)
• Welche Gestaltungsmittel fallen auf? (ggf. Farbgebung, Schattierungen, Verzerrungen usw.)
• Auf welchen politischen, gesellschaftlichen ökonomischen usw. Sachverhalt bezieht sich die Karikatur?
• Welche Ziele verfolgt der Karikaturist?
• Wogegen wendet er sich, was verteid igt er? Welchen Standpunkt nimmt er ein?
• An wen wendet sich die Karikatur? (Adressatenbezug)
• Was sind die Kernaussagen?
Beispiel:
GESOllECHTsuM.wANPUJNG .1?
lvÜRJ/ fCf{ MiK ÜBERLEGEN.
Orientierung: Deutung:
Thema der Kari katur sind die ungleichen Chancen Da mit wird auf die unterschiedlichen Karriere-
von Frauen und Männern, Karriere zu machen chancen von Frauen und Männern hingewiesen:
bzw. in Leitungspositionen aufzusteigen. Karriere machen vor alle m Männer. Durchschnitt-
Der Zeichner Thomas Plaßmann ist ein mehrfach lich 200/o aller deutschen Unternehmen haben
a usgezeichneter Karikaturist und zeichnet täglich Fra uen in führenden Positionen. In den 200 größ-
Cartoons bzw. Karikaturen für Tageszeitungen. Er ten Unternehmern sitzen 8,2 °10 Frauen in den Vor-
ve röffentlicht regelmäßig in der Frankfurter ständen, aber nur 2,9 0/o sind Vorstandvorsitzende.
Rundschau, der Hannoverschen Allgemeinen Zei- Plaßmann macht au f die ungleichen Karrier-
tung, der Neuen Ruhr Zeitung, der Berliner Zei- echancen aufmerksam, indem er den Mann sagen
tung. Über die Veröffentlichung (Ort, Zeit) der lässt, die Frau am Tisch solle von einer Ge-
vo rliegenden Karikatur ist n ichts bekannt. schlechtsumwandlung absehen. Als Frau, so ent-
steht der Anschein, könne man keine Karriere
Beschreibung: mache n. Er wendet sich nicht a n eine bestimmte
Eine Frau und ein Mann sitzen gemeinsam a m Zielgruppe, vielmehr soll die Karikatur alle an-
Tisch in einem Lokal und trinken Kaffee. Die Frau sprech en.
macht einen resoluten Eindruck: Sie sitzt seitlich
zum Tisch, hat die Beine übereina ndergeschlagen, Bewertung:
stützt sich mit der rechten Ha nd auf dem Ober- Die Aussage wird aufgrund ihrer eindeutigen Über-
schenkel a b und schlägt mit der linken Faust auf spitzung sehr deutlich. Frauen können gar keine
den Tisch. Dabei sagt sie: ,,Ich will Karriere ma- Karriere machen, ohne eine Geschlechtsumwand-
chen !" Der Mann ihr gegenübe r macht einen deut- lung vornehmen zu lassen. Plaßmann arbeitet mit
lich entspannten Eindruck. Er umfasst die Tasse dem Stilmittel des Sarkasmus. Text und Bild, die
mit beiden Händen, stützt dabei die Elle nbogen empörte Frau, der enspannte Mann, der sich auch
a uf und antwortet der Frau: ,,Geschlechtsum- keine Sorgen um mögliche weibliche Konkurrenz
wandlu ng !? Würd' ich mir überlegen." machen muss, passen sehr gut zusammen.
1 .2.6 Strukturwandel der Arbeitswelt
Leitfragen Welche aktuellen Entwicklungen Welche Folgen ergeben sich Welche arbeitsmarkt-
bedingen den Wandel in der daraus für den Arbeitnehmer? politischen Maßnahmen
Arbeitswelt? steuern den Wandel?
Arbeit als bezahlte Erwerbsarbeit erfüllt in unserer • Flexibilität, d. h. eine zeitliche und räumliche
Gesellschaft eine zentrale Funkt ion: Sie sichert Verfügbarkeit, die zu nehmend von den Arbeit-
nicht nur die Existenz, sondern g ibt dem Leben nehmern gefordert wird. Die vorhersehbare Ein-
darüber hinaus Struktur und Sin n, weiterhin ver- teilung des Arbeitstages und die Ausführung
leiht sie soziale und personale Identität. Diese von vorgegebenen Arbeitssch ritten weichen
Vorstellung von Arbeit ist unmittelbar mit der einer Tätigkeit, die auf Problemlösung in flexi-
Herausbildung der modernen Industriegesell- bler Arbeitszeit a usgerichtet ist. Arbeit erhält
scha ft verbunden. häufiger einen anderen zeitlichen, räumlichen
und a uch sozialen Zuschnitt.
Ken nzeichen der Arbeit in der Industriegesell-
schaft, die ihren Höhepunkt in Deutschland unge- • Abnahme der „Normalarbeitsplätze" - damit
fähr zwischen 1850 und den 1950er und 1960er sind Beschäftigungsverhält nisse gemeint, die
Jahren erlebte, war die deutliche Trennung von unbefristet sind und über Arbeit in Vollzeit ein
Arbeitsplatz und Familie bzw. Lebensort. Die In- ex istenzsicherndes Einkommen gewährl eisten.
dustrie und nicht mehr Landwirtschaft und Roh- Damit geht die Zunahme der atypischen Be-
stoffgewinnung prägte das gesellschaftliche Le- schäftigungsv erhältnisse einher.
ben. Die Erwerbsarbeit war durch Tarifverträge
und die Sozialversiche rung in hohem Maße sozial • l ebenslanges Lernen im Sinne ständiger Qua-
abgesichert. lifizierung und mehrmaliger Wechsel der Be-
schäftigungsverhältnisse wird zur Normalität.
In diesem Zusammenhang spricht ma n auch
Wie hat sich die Arbeitswelt in der von der „fragmentierten Erwerbsbiografie".
Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft
entwickelt? • Internationalisierung: Die weltweite Vernet-
zung und Arbeitsteilung in der globalisierten
Mit der zuneh menden A utomatisierung und Di- Welt bedingt die Verlagerung ganzer Arbeitsbe-
gitalisierung durch den Einsatz neuer Technolo- reiche in andere Länder mit Hightech-Standor-
gien wandelte sich auch der Charakter der Arbeit. ten oder billigere n Produktionsbedingungen
Computergesteuerte Arbeitsvo rgänge t raten an (,,Outsourcing").
die Stelle menschlicher (Ha nd- )Arbeit, hoch ent-
wickelte und vielseit ig einsetzbare Maschinen Die vo n den Arbeitnehmern geforderte Flexibilität
übe rnahmen in v ielen Bereichen komplett die und Mobilität wird hä ufig als Chance für eine in-
menschliche Arbeit. Menschliche Arbeitskraft div iduellere Gestalt ung der Lebens- und Arbeits-
wird seither zunehmend durch int elligente Tech- zeit, als Ausdruck eines individualisie rten Lebens-
nologie ersetzt. stils begriffen. Viele Beschäftigte sehen darin
einerseits eine Chance auf mehr Selbstverwirkli-
Die Ve rä nderungen in der Arbeitswelt gingen ein- chung. Andererseits beklagen viele Menschen in
her mit dem Strukturwandel der Wirtschaft, der den „neuen Beschäftigungsverhältnissen" den
auch als Wandel von der Industrie- zur Dienstleis- Verlust sozialer Bindungen und finanzieller Si-
tu ngs- und Wissensgesellschaft beschrieben wird cherheit und sie empfi nden die neue Eigenverant-
(>Kap. 2.3). folgende Merkmale sind fü r den Wan- wortung im Beruf auch als Überforderun g und
del de r Arbeitswelt kennzeichnend: Quelle von Stress und gesundheitlicher Belastu ng.
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland
• {schein-)selbständige Arbeit oder Werkvertrags- • Die {erste) Industrielle Revolution des 19. Jah r-
arbeit, häufig ein Beschäftigungsverhältnis hunderts,
ohne arbeits- und sozialrechtliche Absicherung,
obwohl die Selbständigen von einem Auftrag- • die Einführung der Fl ießbandproduktion zu Be-
geber abhä ngig sind ; ginn des 20. Jahrhu ndert {Industrie 2.0),
Aufgaben
1 . Stellen Sie dar, wie sich der Wandel der Arbeit in der modernen Gesellschaft vollzogen hat.
2. Erläutern Sie die mit diesen Veränderungen einhergehenden Risiken für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
„liiihh" kreischte es gestern aus der Redaktionsstube nebenan. ,,693 Mails". Was war
passiert? Eigentlich nichts Aufregendes: der Kollege von nebenan war in Urlaub und
gerade mal zehn Arbeitstage weg gewesen. Währenddessen hatte sich die tägliche
E-Mail-Flut aufgestaut und wartete jetzt geduldig darauf, abgearbeitet zu werden. Und
s unerbittlich.
Einfach alles löschen? Keine Alternative. Wer weiß, welche superwichtige Nachricht
darunter wäre - deren Urheber dann jedenfalls zut iefst beleidigt wäre, weil er keine
Antwort bekommen hat. Oder Neuigkeiten, die man einfach kennen muß, um mitreden
zu können.
10 Wieder hörte ich von nebenan einen entnervten Aufschrei: ,,Neeeiiiin, jetzt bekomme
ich keine Mail mehr raus." Das kenne ich nur zu gut: Das Martyrium ist damit auch
noch fest zementiert: Erst wenn der Berg deutlich abgeschmolzen ist, bewegt sich
wieder etwas auf dem Datenhighway. Denn das Schlimmste an dieser Situation ist:
Solange die 693 E-Mails im Posteingang schmoren, tut sich nichts mehr - der Com-
1s puter lässt keine einzige Antwort-Mail mehr raus, kein noch so kleines E-Mail verlässt
den PC.
Es gibt also kein Entrinnen, die ersten Stunden nach dem Urlaub sind verplant. Nur
eins ist auch klar: Diese Stunden ruhigen Abarbeiten gönnt einem ohnehin niemand.
Alle, die ein Ansinnen für den Urlaubsheimkehrer haben, legen sich dies gleich für den
20 ersten Tag schon mal „auf Termin" - um ihn gleich anzurufen, gleich bei ihm vorbeizu-
schauen oder ihm gleich diese oder jene Aufgabe zu übertragen. Abgesehen von der
normalen Post, die sich gestapelt hat. Die ist übrigens plötzlich wieder ganz sympa-
thisch: Sie liegt einfach nur da, sie behindert nichts und lässt sich sogar notfalls nach
Hause mitzunehmen.
2s Kein Wunder also, dass viele Leute ihre Dienst-E-Mails auch im Urlaub oder am Wo-
chenende lesen und beantworten. Die Gartner Group fragte nach und wartete jetzt mit
einem Umfrageergebnis aus USA auf: 42 % aller Arbeitnehmer rufen dort ihre E-Mails
auch im Urlaub regelmässig ab, am Strand, im Gebirge oder zu Hause. 23 % der An-
gestellten sind besonders pflichteifrig und bearbeiten sogar jedes Wochenende ihre
30 Mails. [...)
Und, ich gebe es zu: Auch ich habe klein beigegeben - und sichte im Urlaub die
E-Mails. Die Familie verzeiht es mir, mild nachsichtig lächelnd. Im Urlaub nehmen sie
es gerade mal hin, fünfzehn Minuten am Tag auf mich zu verzichten. Aber keine Minu-
te mehr.
Claudia Tödt mann, wwiv.hande/sb/att.de, 2 I .9.200 1
oder unterbrochen, auch der Abstand zwischen Arbeit und nächtlicher Ruhe falle unter
Umständen schmaler aus und könne zu Schlafstörungen führen. Eine ernste Konse-
quenz könne ein Erschöpfungszustand sein. [ ...]
15 Etwa ein Fünftel der Befragten in der Studie gaben an, in ihren Schlaf- und Erholungs-
zeiten beeinträchtigt zu sein. Etwa ein Drittel fühlen sich im Familienleben und bei
Freizeitaktivitäten während der Wochen und am Wochenende gestört. Stressbedingte
Gesundheitsbeschwerden wie Bluthochdruck und psychische Beschwerden wie
Ängstlichkeit, Schlafstörungen, Burnout oder ernsthafte Krankheiten wie Depression
20 seien schlimmstenfalls die Folge.
Einige Konzerne haben inzwischen Schutzmechanismen für ihre Mitarbeiter einge-
führt. Der Vorstand der Deutschen Telekom hat zur Maßgabe gemacht, dass leitende
Angestellte ihren Mitarbeitern nach Dienstschluss, am Wochenende und im Urlaub
keine Mails schicken. ,,Jeder kann sich darauf berufen" , sagt ein Telekom-Sprecher.
25 Die Vorgabe gilt bei flexiblen Arbeitszeiten auch am Nachmittag. ,,Diese ständige Er-
reichbarkeit wird dadurch ausgehebelt" , so der Telekom-Sprecher. Das solle die Mit-
arbeiter in Zeiten von Blackberry und Smartphone auch vor sich selbst schützen.
,,Erholzeiten sind Erholzeiten."
Bei BMW und Volkswagen räumen spezielle Regelungen den Beschäftigten ein Recht
30 auf Nichterreichbarkeit ein. VW hatte vor einigen Jahren bereits eine E-Mail-Sperre
eingerichtet, die Tarifmitarbeiter in den Randzeiten - etwa abends - von E-Mails ab-
koppelt. Sie können dann weder Mails empfangen noch senden. Daimler stellt seinen
Mitarbeitern frei, eingehend E-Mails während ihres Urlaubs einfach löschen zu lassen.
Daimler arbeitet nach den Worten von Gesamtbetriebsratschef Michael Brecht gerade
35 an einer Betriebsvereinbarung, die auch das Recht auf Nichterreichbarkeit einschlie-
ßen soll. Doch andere Konzerne wie beispielsweise Siemens oder Eon überlassen das
den Mitarbeitern. ,,Wir setzen auf Eigenverantwortung", sagt ein Siemens-Sprecher.
[ ... ]
In den Gewerkschaften wird inzwischen ein Rechtsanspruch auf Nicht-Erreichbarkeit
40 diskutiert. ,,Es gibt Regelungsbedarf", sagt Oliver Suchy, Leiter des Projektes „Arbeit
der Zukunft" beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Das Arbeitsministerium hat Fragen
der Erreichbarkeit in seinem „Grünbuch Arbeit 4.0" zur Diskussion gestellt.
,,Erreichbarkeit ist ein zweischneidiges Schwert", sagt Suchy. Einerseits werde da-
durch flexibles Arbeiten ermöglicht, was im Interesse der Beschäftigten sei. Doch es
45 gebe zu wenige Regelungen, häufig arbeiteten die Beschäftigten unentgeltlich in ihrer
Freizeit, Überstunden würden am Ende doch nicht abgegolten.
Erst jüngst berichtete der Tagesspiegel über eine aktuelle Statistik des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) - demnach leisteten die Arbeitnehmer im
vergangenen Jahr in Deutschland fast eine Milliarde unbezahlte Überstunden. Diese
50 Belastung sei für die Chefs häufig nicht sichtbar, sagt Suchy. Außerdem sparen die
Unternehmen Geld: ,,Arbeit muss auch bezahlt werden."
Aufgaben
1. Erarbeiten Sie aus den Materialien die Chancen und Risiken, die sich aus der ständigen
Erreichbarkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ergeben (M 1 und M 2).
Werte legen allgemeine Ziele fest und bilden einen den Indiv iduen internalisiert, d. h. verinnerlicht
Orient ierungsrahmen: das Handeln. Wie wir ha n- werden. Werte sind keine unveränderliche n Grö-
deln, hängt in hohem Maß von dem ab, was wir ßen, v ielmehr unterliegen sie dem gesellschaftli-
als Wert erachten (>Kap 1.1 .1). J eder von uns hat chen Wandel. Auf die Frage, unter welchen Um-
eigene Wertvorstellungen; was fü r den einen ein ständen sie sich jedoch genau verändern, gibt es
Wert ist, muss für den a nderen noch lange nicht keine eindeutige Antwort. So kann der Wertewan-
wichtig sein. Pünktlichkeit und Verlässlichkeit del auch durch staatliches Ha ndeln eingeleitet und
können beispielsweise dem einen wertvoll sein, vorangetrieben oder auch durch die wirtschaftli-
dem a nderen jedoch nicht. che Entwicklung beeinflusst werden. Dies hat die
Geschichte der Menschheit immer wieder gezeigt.
Die individuellen Wertvorstellunge n verändern Manche We rte ä ndern sich schnell, andere haben
sich i. d. R. im La ufe des Lebens. Dies geschieht vor hingegen eine große Beharrungskraft. Die Wis-
alle m beim Übergang von der Kindheit zum Ju- senschaftler sind sich jedoch darin ein ig, dass kei-
gendalter und dann wieder zum Erwachsenenal- ne Werte ewigen Bestand ha ben und somit u ni-
ter. Damit sie wi rksam werde n, müssen sie vo n versell gültig sind.
Aufbau und Haben und Sein und Selbst- Genießen und Sein, Haben und Haben, Teilen,
Erhalten Zeigen bestimmung Exponieren Genießen Berichten,
Austauschen
.........................................................................................................................................................................................................
.. .. .. .
Kann man Werte messen? Wertewandel gehe einher mit einer zunehmende n
Polit is ierung der Gesellschaft insgesamt und sei
Einstellungen oder Werte lassen sich nicht direkt somit ein evolutionäre Ergebnis. Damit wertet In-
beobachten oder messen. De nnoch kann man sie glehart und auch die in seinem Sin n forschenden
erfassen, indem ma n Wertentscheidungen, die sich Wissenschaftler den Wertewandel als gesell-
in bestimmten Handlungen oder Äußerungen aus- schaftlichen Fortschritt.
drücken, registriert. Dabei ist es aber notwendig, die
soziale Situation, in der diese Handlungen und Äu- Helmut Klages (* 1930, Verwal-
ßerungen vollzogen werden, zu berücksichtigen. tungswissenschaftle r, Universi-
Ob sich Werte tatsächlich ändern, kann man nur tät Speyer) Auch Klages geht
beurteilen, wenn man auch die Veränderungen der von einem Wertewandel aus. Er
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beachtet. leitet seine Theorie aus der Er-
Mit einer einmaligen Erhebung von Werten kann forschung der elterliche n Erzie-
man den Wertewandel selbstverständlich nicht hungsstile a b, die von dem Mei-
nachweisen. Hierzu benötigt man ei ne Basiserhe- nungsforschungsinstitut EMNID seit mehreren
bung und mit einem gewissen zeitlichen Abstand Jahrzehnten untersucht werden. Demnach habe es
dann Wiederholungen der Befragung. einen Bedeutungsverlust der sog. ,,Akzeptanz-
und Pflichtwerte" (z. 8. Ordnungsliebe, Fleiß) zu-
gunsten der Selbstentfaltungswerte (Selbständig-
Wie lässt sich der Wertewandel erklären keit, Individualität, Spaß) gegeben. An der Theorie
Ingleharts kritisiert Klages, dass es sich beim Wer-
Der Wertewandel, der sich seit Mitte der 1960er tewandel nicht um eine evolutionäre Entwicklung
J ahre vollzog, g ilt allgemein als einschneidend handele.
und fo lgenreich, wird allerdings unterschiedlich
bewertet: Elisabeth Noelle- Neumann
(191 6-2010, Professorin für
Ronald Inglehart (* 1934, US- Kommunikationswissenschaft,
amerikanischer Politikwissen- Universität Mainz) Noelle-Neu-
schaftler): Theorie des Postma- mann war lange Zeit Leiterin
terialismus. lng leharts Theorie des „Allensbacher Instituts fü r
basiert auf einer sehr breiten Demoskopie". Sie und ihre Mit-
Datenbasis, die über einen Lan- arbeiter gehen aufgrund ihrer Forschungen vo n
gen Zeitraum erhoben wurde. Er einem Verfall der Werte aus und beklagen das
geht von einem tiefgreifenden Wertewandel in Vordringen der Selbstentfalt ungswerte auf Kosten
den westlichen Industriestaaten aus, der durch die der Be reitschaft zu Disziplin und Pflichterfüllung.
Abwendung vo n materiellen Werten und einer Weiterhin befürchten sie eine Aus höhlung der
stärkeren Hinwendung zu postmateriellen Werten Fundamente der Gesellschaft, weil u. a. die Bin-
gekennzeichnet sei. Ursache dieses Wandels sei dung d er Menschen an Kirche und Religion stän-
die zunehmende materielle Sicherheit der Men- dig abnehme, bewährte Tugenden o der auch die
schen (Abwesenheit vo n Krieg, wirtschaftlicher Bereitschaft sich politisch für das Gemeinwesen
A ufschwung, soziale Sicherheit, Bildung). Dieser zu engagieren, nachlasse.
Aufgaben
1 . Stellen Sie die unterschiedlichen Auffassungen von Ronald lnglehart, Helmut Klages und Elisabeth Noelle-
Neumann in Form eines wissenschaftlichen Posters (, Methodenglossar) dar.
2. Erklären Sie, was mit der folgenden Aussage gemeint ist: ,,Werte müssen nicht nur im Kopf präsent, sondern
auch im Herzen wirksam sein!".
3. H. Klages geht in seiner Theorie des Wertewandels von einer Zunahme der Orientierung an den Selbstentfal-
tungswerten aus. Verdeutlichen Sie an möglichst konkreten Beispielen aus Ihren eigenen Lebenszusammen-
hängen, was damit gemeint ist.
METHODEN KOMPETENZ
Empirische Sozialforschung
Empirie bezeichnet sowohl eine philosophische 1. die erfahrbare Wirklichkeit präzise zu beschrei-
Strömung (J. Locke; D. Hume) als auch ein All- ben,
ta gs- und Wissensch aftsverständnis, das sich von 2. sie unvoreingenommen zu a nalysieren, um
der Erfahrung und den erfahrbaren Tatsachen lei- 3. unser Wissen und unsere Erfahrung zu vertie-
ten lässt[...]. Die empirische Sozialforschung [ist] fe n (d. h. aus Vergangenem zu lernen) und für
zen traler Bestandteil sozialwissenschaftlichen Ar- kommende Probleme, Fragen, Entscheidungen
beitens. Ihre wichtigsten Techniken sind etc. von Nutzen zu sein.
a) die (teilnehmende/nicht teilnehmende) Beob- Wä hrend das empirische Denken kaum noch auf
achtung, Ablehnung stößt, bleibt in den Sozialwisse nschaf-
b) das Experiment, ten umstritten, was als Erfahrung und Tatsache
c) die (schri ftliche/mündliche) Befragung und definiert werden kann: nur das, was konkret ge-
d) die Inhaltsanalyse. messen, gezählt und gewogen (quantifiziert) wer-
den kann, oder a uch das, was zwar (qualitativ) mit
Die mit diesen Techniken gewo nne nen Daten und unseren Sinnen erfasst (und ggf. beschrieben)
Informationen werden mittels spezieller Verfah- werden kann, sich aber einer p räzisen zahlenmä-
ren (Methoden) analysiert und a uf der Basis theo- ßigen Festlegung entzieht (Gefühle, Ideale).
retischer Annahmen interpretiert. Techniken, Me- Nach: Klaus Schubert/ Martina Klein: Das Politiklexikon -
thoden und Theorien dienen dazu, Begriffe, Fakten, Zusammenhänge, 2016, S. 94f
Die „Shell-Jugendstudie" versteht sich als „ Langzeit-Berichterstattung über die junge Generation" und
wird in Deutschland im Auftrag d es Mineralölkonzerns Shell seit 1953 durchgeführt. Untersucht werden
Einstellungen, Wertorientierung und das Sozialverhalten junger Menschen im Alter zwischen 12 und 25 Jahren.
Für diese Stichprobe wurden z. B. für die 17. Studie 2.558 repräsentative Jugendliche für die quantitative
und 21 Jugendliche für die qualitative Erhebung ausgewählt.
Jeder Mensch hat ja bestimmte Vorstellungen, die sein Leben und Verhalten bestimmen. Wenn du einmal
daran denkst, was du in deinem Leben eigentlich anstrebst: Wie wichtig sind dann die folgenden Di11ge
für dich persönlich? (Skala 1 »unwichtig« bis 7 »außerordentlich wichtig«)
1METHODENKOMPETENZ
Nach: Thomas Gensicke, Die Wertorientierungen der Jugend (2002-2015), in: Mathias Albert et al. {Hrsg.):
17. Shell Jugendstudie - Jugend 2015, 2015, S. 239
Aufgaben
1 . Analysieren Sie die Daten zur Wertorientierung Jugendlicher. Gehen Sie dabei nach dem folgenden Analyse-
schema vor:
i. Was wird dargestellt? Geben Sie Thema, Titel, Erhebungsart und Quelle der Daten an.
ii. Beschreiben Sie das Diagramm/die Tabelle. Achten Sie dabei auf die Einheiten (absolute/ relative Zahlen)
und die Bezeichnung der Zeilen und Spalten.
iii. Beschreiben Sie die einzelnen Entwicklungen und Besonderheiten der Zahlenreihen.
iv. Fassen Sie die Ergebnisse der Einzelaussagen zusammen, soweit dies die Daten erlauben.
2. Führen Sie die Umfrage in Ihrem Kurs/in Ihrer Jahrgangsstufe durch und vergleichen Sie die Ergebnisse. Sie
können die Untersuchung ausweiten, indem Sie auch jüngere Schüler einbeziehen und zusätzlich Alter sowie
Geschlecht erheben und diese Daten mithilfe z.B. von GrafStat (, www.grafstat.de) auswerten.
METHODEN KOMPETENZ
Anders als mit den quantitativen Methoden wird mit den qualitativen Methoden der Sozialforschung
nicht mit standardisierten Daten gearbeitet. Hier gewinnen die Wissenschaftler insbesondere in offenen
lnteNiews oder Gruppendiskussionen, die eher einem Gespräch ähneln, ihre Erkenntnisse. Dabei geht es
nicht um große Fallzahlen und repräsentative Ergebnisse, vielmehr möchte man in einer sehr genauen
Fallanalyse die subjektive Selbst- und Weltwahrnehmung einzelner Menschen analysieren. Ein wichtiges
Instrument d er qualitativen Forschung ist das LeitfadeninteNiew: Dem lnteNiewten wird anhand eines
„roten Fadens" die Möglichkeit gegeben, z. B. seine Sicht auf bestimmte Dinge darzulegen oder Einzelheiten
aus seiner Biografie zu erzählen. Die lnteNiews werden aufgenommen, dann wörtl ich aufgeschrieb en
und im Anschluss analysiert. Qualitative Methoden wendet man an, um neue Forschungsfelder zu
untersuchen und neue Forschungsfragen (sog. Hypothesen) zu entwickeln. Deren Überprüfung wiederum
kann dann anhand der quantitativen Sozialforschung vorgenommen werden.
Onur: 15 Jahre alt - geht in die 9. Klasse der Theater, Schülermitverwaltung, Kirche, oder gibt's
Hauptschule - lebt bei seiner Mutter in München, da nichts, was Du machst?
der Vater hat seine Anstellung verloren und be-
kommt Hartz W, die Eltern kommen aus der Tür- Doch, die mache n so'n paar Sachen, schon. Ich
kei - hat bis vor kurzem Fußball im Verein ge- mach dort n icht so mit, weil, ich hab ... Wissen
spielt. Sie, meine Freizeit ist kostbar, vo r allem dieses
Jahr, weil, ich hab fast kaum eine Freizeit. Jetzt
► Der Quali: das Wichtigste im Moment kommt der Qu ali auch und dann verbring ich halt
so v iel Zeit wie möglich dra ußen im f reien oder
Zurzeit ist die Schule das Wichtigste überhaupt. einfach nur, dass ich mal eine Sekunde abschalten
Ich konzentrier mich nur noch auf die Schule, weil kann und sagen kan n, okay, j etzt nicht Schule.
j etzt beginnt langsam die Endphase. Um einen
gescheiten Quali zu machen, muss ma n lernen. ► Karriere
Man ka nn es nicht, auch wen n man so gut ist wie
j eder andere, superschlau ist, ohne zu lernen, Also, Ka rrie re machen ist sehr wichtig, weil, jeder
schafft man es nicht. Beim Quali steht man unter Mensch will aus seinem Leben was machen. Und
so einem Druck. Das hab ich letztes Jahr gemerkt, Karriere ist eigent lich das, dass man einfach das
obwohl ich das sowieso n icht machen wollte. Da Ziel dann hat, dass j eder einzelne Mensch im gan-
vergisst man v ieles, was man le rnt davor. [...] Also, zen Universum hier im Kopf hat. Jeder will Kar-
zuversicht lich bin ich nicht, weil, man weiß nie, riere machen, ei nfach viel Geld haben. Vor allem
was kommt. Was ist, wenn ich doch Panik bekom- die J ugendlichen jetzt. Viel Geld machen, ein
me im Quali und das doch alles da nn ein bisschen schönes Auto fa hren, ein schönes Ha us haben.
verm asse!? Also, ich will nicht so große Töne spu- Karriere ist sehr wichtig, also für mich.
cken, damit ich danach sag, j a, ich schaffs locker
und so, und am Ende schaff ich's nicht. Also, Und welche Dinge möchtest Du erreicht haben, bis
schaffen will ich es gerne, und der Herr S. hat Du 30 bist?
gesagt, ich muss einen guten Quali sch reiben we-
gen meinen Noten schon überhaupt. [... ] Also, bis ich 30 bin, will ich mein Studiu m been-
det haben. Ja, das Studium dauert schon lange,
Und gibt es sonst noch irgendwas, vielleicht was ich weiß. Aber ich will es beendet haben bis dahin.
auch in der Schule statt.findet, was mit Musik oder Ich will dann einen guten Job haben, wo ich sagen
1METHODENKOMPETENZ
kann, okay, das ist zum Beispiel gut. Zum Beispiel berechtigt wo rden. Und so was kannten halt
Richter werden. Damit ich sagen ka nn, ich verdien meine Eltern auch nicht davor, und das wa r auch
schönes Geld. Ich kann mir die Probleme von den sehr schön, glaub ich. [...]
a nderen a nhören. Ich bin ja der, der sie am Ende
lösen darf. Das ist schon ein Traumjob sozusagen, ► Analyse
einfach jemanden anzuschauen und die Gabe zu
haben, zu wissen, der ist gut und der ist nicht gut Onur steht durchaus u nter Druck. Sein Leben
und der sagt nur so. [...] scheint sich gerade n ur noch um de n Qualifizie-
renden Hauptschulabschluss zu drehen, das Ticket
Wie siehst Du denn die Chancen am Arbeitsmarkt auf die weiterführende Schule. Denn ohne den
für junge Menschen? Quali ist es aus mit dem Traum, aus seinem Leben
etwas zu machen, so sieht er es. Di e Alternative
Also, die sind ... zurzeit werden sie besser, aber so hat er sich [...] vor Augen geführt [...]: Au f dem
gut sind sie j etzt auch nicht. Man muss schon Bau arbeiten oder a ls »Kloputzen< für 500 €. [...]
einen besseren Absc hl uss haben. Mit dem Quali
wirst du vielleicht ein Klop utzer jetzt und ver- Jetzt h at ihn der Ehrgeiz gepackt, wobei sein Klas-
die nst deine 500 - plus das Nebengeld, also was senlehrer in der n euen Schule eine zentrale Rolle
die dort reinschmeißen, vielleicht ein bisschen spielt. Auch die Mutter ist enorm wichtig für Onur
mehr. Mit dem Quali - Sie wissen's ja - konnte [...]. Die Beziehung zu seinem Lehrer und zu den
man früher v iel, viel mehr machen, viel, v iel bes- Eltern, besonders der Mutter, sind die „Stabil isa-
sere Jobs haben. [...] Manche Jugendliche fühlen toren" in Onurs derzeitiger Situat ion. [...]
s ich einfach ben achteiligt. Deswegen kommt dan n
auch immer Die Deutschen ... Warum denn? Die Onurs Geschichte hat am stärksten verdeutlicht,
geben sich halt Mühe in der Schule. Ich hab auch dass w ir es hier tatsächlich mit Opt ionen für die
immer so gesagt: immer die Deutschen und die Gestaltung des Lebens zu tun ha ben, die ergriffen
sind bevorteilt, also Vo rteile haben die und a lles werde n können oder eben auch nicht, die in der
so. Das stimmt nicht. Die haben genauso ein einen Lebensphase vielleicht individuell passen,
schwieriges Leben w ie wir, weil, die h aben ... In die in einer anderen aber weniger verfügba r sind.
Deutschland ist es wirklich so, wo meine Eltern Und sie zeigt auch, wie wichtig manchmal Zu-
hergeko mmen sind, sie ha ben vo n null angefan- fallskonstellationen sein können. Wäre Onur nicht
ge n und haben sich nach oben ... Also, im Ur- auf diese Schule und zu diesem Lehre r gekommen,
sprung war unten. Man ist in Deutschland gleich- hätte er es heute ungleich schwerer.
Sibylle Picot/ M ichaela Willert, Jugend unter Druck? 20 Fallstudien, in: Mathias Albert et al. (Hrsg.): 16.
Shell Jugendstudie - Jugend 2010, 2010, S. 307Jf
Aufgaben
1. Stellen Sie dar, wie die Sozialforscher die Antworten Onurs analysieren.
2. Qualitative und quantitative Untersuchungen sollen sich ergänzen. So können Interviews die Ergebnisse von
Umfragen verdeutlichen. Untersuchen Sie die Aussagen Onurs daraufhin, ob auch sie die Ergebnisse der
qualitativen Forschung verdeutlichen können. Achten Sie bitte darauf, dass Onur an der 16. Studie (2010)
teilgenommen hat.
■ Soziale Ungleichheit
1 .3.1 Begriff und Dimension sozialer Ungleichheit
Leitfragen Was ist soziale Ungleich- Welche Formen sozialer Was versteht man unter Chan-
heit und wie lässt sie sich Ungleichheit werden am cengleichheit, und inwieweit ist sie
erfassen? stärksten diskutiert? realisiert?
Menschen sind aufgrund ihrer Individualität druck kommen, dass man mit diesen Merkmalen
grundsätzlich verschieden. Dies begründet aber d ie Gesellschaft in „Oben und Unten" u ntertei-
noch keine soziale Ungleichheit. Soziale Un- len ka nn.
gleichheit im soziologischen Sinn liegt dann vor,
wenn die Unterscheide zwischen Individuen oder • Darüber hinaus gibt es horizontale Ungleich-
Gruppen mit einer Schlechter- oder Besserstellung heiten. Die Soziologen nennen in diesem Zu-
verbunde n sind und we nn es unterschiedliche sammenhang Arbeits-, Freizeit-, Wohn-, Um-
Möglichkeiten zur Teilhabe an der Gesellschaft welt und Gesundheitsbedingungen und be-
und an der Verfügung über gesellschaftlich not- zeichnen diese als „neue soziale Ungleichhei-
wendigen Ressourcen gibt. Damit sind materielle ten", weil ihnen in der modernen soziologischen
Ressourcen wie das verfügbare Einkommen oder Forschung immer größere Bedeutung zukommt.
auch immaterielle wie Bildung, ein problemloser Horizo ntale Ungleichheit existiert z.B. zwischen
Zugang zu gesundheitlicher Versorgung, ein ge- Männern und Frauen, verschiedenen Generati-
sundes Wohn- und Arbeitsumfeld usw. gemeint. onen und Regionen (Ost und West), zwischen
Menschen unterschiedlicher Nationalität, Ver-
Unabhängig von der Persönlichkeit des Individu- heirateten und Unverheirateten, Kinderlosen
ums sind mit Verfügbarkeit über Ressourcen und und Kinderreichen.
der Möglichkeit zur Teilhabe an d er Gesellschaft
bestimmte Lebens- und Handlungsbedingungen Die horizon talen Ungleichheiten haben einen
verbunden, aber auch Rahmenbedingungen, die starken Einfluss auf die Lebensbedingungen und
die Person nicht selbst beeinflussen kann. So sind den sozialen Status eines Menschen. Sog. ,.Status-
manche Berufsgruppen angesehene r als andere, inkonsistenzen" (inkonsistent = u nzusammen-
unterscheiden sich die gesellschaftlichen Positio- hängend, unbeständig) werden dabei immer mehr
nen vo n Männern und Frauen, In- und Auslän- zur Regel; z. B. hängt ein hoher Bildungsstand
dern usw. Diese Differenzen, die Menschen inner- nicht mehr zwangsläufig mit hohem Einkommen
halb des gesellschaftlichen Gefüges günstige oder oder guten beruflichen Chancen zusammen, so
ung ünstige Lebensbedingungen zuweisen, be- wie dies noch vor einigen J ahrzehnten der Fall
zeichnet man als soziale Ungleichheit. In moder- wa r. So sind Menschen mit einem hoch qualifi-
nen Gesellschaften offenbaren sich mehrere zierten Bildungsabschluss materiell nicht auto-
Dimensionen sozialer Ungleichheit. So unter- matisch besser gestellt, wenn sie kei ne angemes-
scheidet man: sene berufliche Anstellu ng finden. Umgekehrt
gibt es aber auch genügend Beispiele dafü r, dass
• vertikale Ungleichheiten in Bildungsabschlüs- Menschen mit geringer qualifizierten Schulab-
sen, Einkommen, Erwerbschancen, Teilhabe a n schlüssen oder gebrochenen Bildungsbiografien
Macht und Prestige, die die Lebenschancen der gesellschaftlich hohes Ansehen genießen und zu
Indiv iduen prägen und ihr Verhalten bestim- materiellem Reichtum gelangen (z.B. Fußball pro-
m en. Mit dem Zusatz „vertikal" soll zum Aus- fis, Musiker).
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland
Zentrale Dimensionen sozialer Ungleichheit tet. Grund dafür ist, dass die Einkommen von Per-
sonen, die in unterschiedlich großen Haushalten
In entwickelten Gesellschaften sind zentrale Di- leben, nicht miteinander vergleichbar sind, da in
mensionen sozialer Ungleichheit: größeren Haushalten Einspareffekte (Economies
of Scale) auftreten (zum Beispiel durch gemeinsa-
• Materieller Wohlstand (Einkommen, Vermögen, me Nutzung von Wohnraum oder Haushaltsgerä-
Lebensstandard), ten)."
• Erwerbstätigkeit (auch: Verteilung der Erwerb- S tatisches Bundesamt, www.destatis.de, Abruf : 5. 6.2 018
sch ancen),
• Wertschätzung (z.B. im Beruf), Die Verteilung von Vermögen und Einkommen ist
• Macht und Prestige bzw. Einflussmöglichkeiten, ein wichtiger Indikator für soziale Gerechtigkeit
• Bildung, in ein er Gesellschaft. Einer neuen Untersuchung
• Möglichkeiten der Teilhabe (an Gesellschaft, des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsfor-
Wirtschaft, Kultur). schung, Berlin) zu Folge wi rd die Kluft zwischen
den Besserverdienenden und der weniger verdie-
nenden Bevölkerung demnach immer größer,
Einkommensverteilung auch wenn die real verfügbaren Haushaltsein-
kommen seit der Jahrtausendwende um 50/o ge-
Um die Schichtung der Einkommensunterschiede stiegen sind (> Kap. 2.4.2).
zu ermitteln und das Wohlstandsniveau von
Haushalten unterschiedlicher Größe vergleichbar
zu machen, stehen Statistikern unterschiedliche Gini-Koeffizient
Berechnungsmethoden zur Verfügung. Das Statis-
t ische Bundesamt arbeitet beispielsweise mit dem Eine weitere sehr verbreitete Variante, die Vertei-
Äquivalenzeinkommen: lung der Einkommen zu bestimmen, ist die Ver-
wendung des Gini- Koeffizienten. Nach dem ita-
„Das Äquivalenzeinkommen ist ein Wert, der sich lienischen Statistiker Corrado Gini benannt ist der
aus dem Gesamteinkommen eines Haushalts und „Gini-Koeffizient" eine statistische Maßzahl, mit
der Anzahl und dem Alter der von diesem Ein- der sich die Einkommenskonzentration in einer
kommen lebenden Personen ergibt. Das Äquiva- Zahl zwischen 1 und O ausdrücken lässt. Je höher
lenzei nkommen wird vor allem für die Berech- der Wert, desto g rößer ist die Vermögensungleich-
nung von Einkommensverteilung, Einkommens- heit. Liegt der Gini-Koeffizient bei null, so ist ha-
ungleichheit und Armut verwendet. Mithilfe einer ben alle Menschen das gleiche Vermögen. Wenn
Äquivalen zskala werden die Einkommen nach er allerdings bei eins liegt, so besitzt der reichste
Haushaltsgröße und Zusammen setzung gewich- Mensch im Land alles.
0,275 1 - - - - - - - -
0,225 t - -- - - - - -
o,200 991 19921993199419951996 19971998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014
Nach: Wirtschafts- und Soz ialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler- Stiftung, WS! Verteilungsbericht 2 01 7, S tand Februar 20 18
1.3 Soziale Ungleichheit 1
1
Personen in Privathaushalten;
reale Einkommen in Preisen von
2010, bedarfsgewichtete
Jahreseinkommen im Folgejahr
erhoben, bedarfsgewichtet mit 2000 2002 2004 2006 2008 201 0 201 2
der modifizierten OECD-Äquiva-
lenzskala. Ja n Goebel et al., DIW Wochenbericht N r. 25, 2 01 5, S. 577
Die realen Einkommen im obersten Zehntel der standard hat sich aber noch nicht ko mplett ange-
Einkommensverteilung sind zwischen 2000 und glichen.
2012 um mehr als 15 °10 gestiegen. Die mittleren
Einkommen stagnierten, während die unteren um
40 0/o real gesunken sind. Als Ursachen werden Armut in Deutschland
angegeben:
Die Kluft zwischen Armut und Reichtum in
• Zunahme der Teilzeitbeschäftigung. Vor allem Deutschland ist größer geworden, wie die Armuts-
Frauen arbeiten immer mehr in Teilzeit; und Reichtumsberichte der Bundesregieru ng, der
• Zunahme der atypischen Beschäftigungsver- Wohlfahrtsverbände und anderer Organisationen
hältnisse; immer wieder belegen. Armut zu defi nieren, ist
• Seit Mitte der l 990er Jahre wurden die hohen aber nicht d nfach. Wo Armut anfängt, hängt vom
Einko mmen und die Vermögen steuerlich ent- Wohlstand der umgebenden Gesellschaft ab: Ar-
lastet ; mut in unserer Gesellschaft beginnt dann, wen n
• Unternehmenssteuern wurde gesenkt, Kapital- man nicht a m üblichen sozialen Leben teil nehmen
einkünfte werden seit 2009 nur noch pauschal kann. Wenn Menschen kein Geld haben, um sozi-
mit 250/o steuerlich belastet; ale Kontakte zu pflegen und anderen Aktivitäten
• Veränderungen in der Haushaltsstruktur, etwa nachzugehen. Deshalb unterscheidet ma n zwi-
Zuwächse bei den Single-Haushalten oder von schen absoluter und relativer Armut.
Alleinerziehenden.
Jemand gilt als absolut arm, wenn er a m physi-
Hinsichtlich der Einkommen gibt es aber auch schen Existenzminimum lebt. Die Weltbank legt
gravierende Unterschiede zwischen den Bildungs- dieses bei einem Einkommen von weniger als 1,60
und Berufsgruppen. Auch regionale Abweichun- Dollar pro Tag an. Relativ arm ist, wer am Ra nd
gen sind nach wie vor bedeutsam: So haben sich des soziokulturellen Existenzminimums lebt, also
in den ostdeutschen Bundesländern bezüglich der in seiner Teilhabe an den materiellen, kulturellen
Verteilung der Einkommensunterschiede zwar und sozialen Möglichkeiten der Gesellschaft stark
,,westliche" Verhältnisse eingestellt, der Lebens- eingeschränkt ist.
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland
Aufgaben
1 . Erläutern Sie den Unterschied zwischen „sozialer Ungleichheit" und „sozialem Unterschied".
3. Stellen Sie die Ursachen und Auswirkungen der Armut von Kindern und Jugendlichen dar.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
„Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig," schrieb Kurt
Tucholsky 1931 mit einem Schuss Ironie über die Manipulation der Bürger durch die
Politik. Das Zitat trifft auch heute noch zu. Viele Menschen in Deutschland klagen über
eine zu hohe soziale Ungleichheit. Sie fühlen sich abgehängt und sorgen sich um ihre
s Zukunft. Die Elite dagegen klagt, Bürgerinnen und Bürger verkennten die Realität. Es
ginge Deutschland doch eigentlich gut. Die soziale Marktwirtschaft sei lebendig, und
es gehe in unserem Land gerecht zu.
Damit erhebt die Elite Anspruch auf die Deutungshoheit über die Fakten, über die
Wahrheit. Aber kann es sein, dass es nicht die Menschen sind, die das meiste falsch
,o verstehen, sondern die kleine Gruppe von Entscheidern in Politik, Wirtschaft und Me-
dien?
Das Grundgefühl vieler Menschen in Deutschland heute ist eines der Angst und Sorge
vor der Zukunft und vor Chancenlosigkeit. In Umfragen sagen 70 Prozent der Deut-
schen , dass sie die soziale Ungleichheit als zu hoch empfinden. Immer mehr Men-
15 sehen fühlen sich abgehängt. [...] Viele befürchten, dass ihre soziale Absicherung
schwach ist und im Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Alter nicht reichen wird,
um ein massives Absinken ihres Lebensstandards zu verhindern. [... ]
Große Teile der Elite in Deutschland leugnen jedoch, dass die soziale Ungleichheit ein
zentrales Problem sei. Sie reagieren erbost auf die Schlussfolgerung, die Soziale
20 Marktwirtschaft breche ihr Versprechen. [. . .] Viele leugnen das Problem mit Verweis
auf die wirtschaftlichen Erfolge der vergangenen zehn Jahre. Die Arbeitslosenquote ist
von über 5 Millionen auf heute 2,7 Millionen halbiert worden. Wir sind stolz, Export-
Vizeweltmeister zu sein, und auf die vielen deutschen Weltmarktführer. Deutschland
ist viel besser durch die globale Finanzkrise und die europäische Wirtschaftskrise
25 gekommen als die meisten unserer Nachbarn.
Viele ignorieren jedoch, dass diese Erfolge nicht allen, sondern nur wenigen Menschen
zugute gekommen sind. Das reale Einkommen mehr als jedes dritten Haushalts in
Deutschland ist in den vergangenen 15 Jahren geschrumpft. Mehr Menschen arbeiten
in prekärer Beschäftigung, oder sie würden gerne mehr arbeiten und damit auch mehr
30 Geld verdienen. Die Ungleichheit der Einkommen der unter 40-Jährigen ist heute dop-
ungleich schwerer, ihre Fähigkeit zu nutzen und bei Bildung, im Arbeitsmarkt und in
der Gesellschaft eine faire Chance zu bekommen.
Viele Vertreter der sogenannten Elite bestreiten das oder spielen das Problem herunter.
Sie sehen kein Scheitern von Politik und Gesellschaft, die Ungleichheit zu adressieren
40 und den sozialen Konflikt zu entschärfen. Einige behaupten, die Globalisierung oder
Europa trügen Verantwortung für den zunehmenden politischen Extremismus und die
Unzufriedenheit der Menschen. Andere wollen die Zuwanderung verantwortlich ma-
chen, die Schwierigkeiten der Integration von Flüchtlingen oder die Tatsache, dass
Deutschland seit langem ein Einwanderungsland ist.
45 Sie alle verstehen das Problem falsch: Die Unzufriedenheit rührt nicht aus einem kul-
turellen Konflikt. Weder die Globalisierung noch Europa sind schuld an ihr. Deshalb ist
auch die von den Eliten anvisierte Lösung falsch. Die Politik zu renationalisieren, die
Grenzen auch für EU-Bürger höher zu ziehen, Europa und seine Institutionen zu schwä-
chen, andere Kulturen und Religionen in Deutschland abzulehnen - all das wird nicht
50 das grundlegende Problem der sozialen Ungleichheit lösen.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Genauso falsch ist der[ ... ] Versuch der Bundesregierung, die Bürger mit Geldgeschen-
ken ruhigzustellen [... ]Viele der diskutierten Rentenerhöhungen und Steuersenkungen
kommen eben nicht den Menschen zugute, die diese Hilfe bräuchten. [...] Denn diese
fordert eine massive Investitionsoffensive in Bildung und Ausbildung, in die Integration
55 von Menschen in den Arbeitsmarkt und eine zielgenaue Stärkung der Sozialsysteme.
Es sind nicht die Menschen, die mit ihrer Unzufriedenheit über die hohe soziale Un-
gleichheit falsch liegen. Sandern es ist die Politik, die diese unbequeme Tatsache nicht
wahrhaben möchte. Denn dies erfordert ein grundlegendes Umdenken hin zu einer
zielgenaueren Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie große Investitionen. Der gewählte
so Weg der Ausweitung von staatlichen Transfers an zu meist eh schon privilegierte Grup-
pen wird nichts grundlegend am Problem der sozialen Ungleichheit in Deutschland
ändern.
Der Autor ist Direktor des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DI W}, Berlin.
M 2 Armut in Deutschland
Aufgaben
1. Arbeiten Sie aus dem Text heraus, worin Fratzscher das eigentliche Problem bei der sozia-
len Ungleich sieht (M 1).
3. Bewerten Sie den Vorschlag von Fratzscher zur politischen Lösung des Problems. Verfas-
sen Sie dafür einen Kommentar.
1 .3.2 Soziale Mobilität
Leitfragen Was ist mit dem Begriff der sozialen Mobilität gemeint? Was sagt das Ausmaß sozialer
Mobilität über eine Gesellschaft aus?
Als soziale Mobilität bezeichnet man das Maß, in • Die Intergenerationenmobilität ist in den ver-
dem es Menschen gelingt, sich im Laufe ihres Le- gangenen Jahrzehnten geringfügig gestiegen.
bens aus ihren sozialen Lagen fortzubewegen.
Dabei muss man zwischen den individuellen Auf- • Die im internatio nale n Vergleich insgesamt ge-
stiegschancen innerhalb des Lebenslaufs eines ri nge Karrieremobilität hat zugenommen.
Einzelnen und dem Wandel der sozialen Ungleich-
heit innerhalb der Gesellschaft unterscheiden. • Bei der Mobilität überwiegt Kurzstreckenmobi-
Weiterhin unterscheidet ma n zwischen der hori- lität in benachbarte Positionen.
zontalen und der vertikalen Mobilität.
• Allgemein sind Bildungspositionen und
Horizontale Mobilität nennt man die Bewegun- -schichte n offener zugänglich als dies bei Be-
gen zwischen Positionen, die sich nach ihrer Art, sitzpositionen und -schichten der Fall ist.
nicht aber ihrem Rang unterscheiden, die soziale
Schicht oder Klasse wird dabei nicht verlassen. • Die Sozialstruktur veränderte sich weniger durch
Ein Beispiel ist der Wechsel vom Facharbeitern zu hohe Ab- und Zustromquoten als durch eine
einfachen Büroberufen . Die Veränderung des so- Anhebung des Gesamtniveaus.
zialen oder beruflichen Status wird demgegenüber
als vertikale Mobilität beschrieben. Für das The- Trotz de r Betonung der Chancengleichheit im Bil-
ma der soziale n Ungleichheit ist die vertikale Mo- dungswesen und des Leistungsgeda nkens in der
bilität von größerer Bedeutu ng. Sie umfasst Inter- Berufswelt gilt nach wie vo r: Je höher der soziale
und Intragenerationenmobilität. Status der Eltern, umso wahrscheinlicher ist der
Besuch einer weiterführenden Schule durch die
• Intergenerationenmobilität meint den soziale n Ki nder und die Vererbung des beruflichen und
Auf- und Abstieg zwischen den Generationen sozialen Status.
bzw. das Ausmaß, in dem die Kindergeneration
andere berufliche Positionen erreichen kann als
die Elterngeneration. Warum schaffen so wenige den sozialen
Aufstieg über das Bildungssystem?
• Intragenerationenmobilität oder Karrieremobi-
lität beschreibt den Verla uf des eigenen Fort- Die Ursachen für die schichtspezifischen Unter-
kommens, d. h. die Beweglichkeit innerhalb des schied e im Bildungssystem sind nur in einzelnen
eigenen Lebenslaufs. Aspekten erforscht. Aber viele Bildungsforscher
sind sich einig, dass es im deutschen Bildungssys-
Die Mobilitätsforschung untersucht, inwieweit es tem einen „sozialen Filter" gäbe. Man spricht a uch
Kindern aus ungünstigen Herkun ftsbedingungen von „sozialer Selektivität" oder „schicht-spezifi-
gelingt, eine gute Berufsposition zu erlangen bzw. schen Bildungschancen." Folgt man dem franzö-
inwieweit berufliche Positionen „weitervererbt" sische n Soziologen Raymond Boudon, wirken im
werden. Die soziale Mobilität g ibt Aufschluss über Bildungssystem „primäre und sekundäre Her-
das Maß der Chancengleichheit innerhalb einer kunftseffekte".
Gesellschaft. Eine a usgeprägte soziale Mobilität
ist somit a uch Ausdruck von sozialer Gerechtig- Die größeren finanziellen Ressourcen und die kul-
keit und führt zum Abbau sozialer Gegensätze. turelle n Anregungen in den sozial höher gestellten
Für Deutschland sind gegenwärtig folgende Ent- Familien würden die Entwicklung von Fähigkei-
wicklungen feststellbar: ten und Motivationen fördern, die gute Schulleis-
1.3 Soziale Ungleichheit 1
tungen und eine erfolgreiche Bildungskarriere Verbunden mit dem Thema der Mobilität haben
begünstigen. Musikunterricht, gemeinsame Kon- Untersuchungen zum Thema Elitenbildung und
zert- und Theaterbesuche, der Besuch von Museen Führungsgruppen an Stellenwert gewonnen.
und Ausstellungen oder Sportkurse seien in diesen Machteliten finden sich in nahezu allen Bereichen
Familien ei ne Selbstverständlichkeit. Eltern aus der modernen Gesellschaften. Dieser kleine Perso-
diesen Schichten, die in der Regel selbst über ei- nenkreis übt bei zent ralen Entscheidungen, die
nen höheren Bildungsabschluss verfügten, wür- v iele oder manchmal auch alle Mitglieder der Ge-
den den Kindern vorleben, dass Bildung etwas sellschaft betreffen, großen Einfluss aus. Die
Erstrebenswertes sei, was sich positiv a uf die Leis- Machteliten spiegeln weder die Struktur der Ge-
tungsbereitschaft der Kinder auswirke. Darüber samtgesellschaft wider, noch sind sie eine in sich
hinaus wirke sich auch die gehobene Sprache, die geschlossene Gruppe. Etwa die Hälfte aller Eliten-
die Kinder in diesen Familien erlernten, positiv angehörigen hat Väter, die selbst zu den Machte-
auf den Bildungserfolg aus. liten gehören. In Ostdeutschland hat sich in den
vergangenen Jahren der Einfluss der sozialen Her-
Diese Eltern würden ihre Kinder selbst bei mäßi- kunft deutlich vergrößert. Kennzeichen der Eliten
gen Leistungen und entgegen den Lehrerempfeh- in Deutschland sind:
lun gen auf das Gymnasium schicken. Sie würden
Statusverluste befürchten, ginge ihr Kind nicht • ein meist hohes Bildungsniveau;
a uf ein Gymnasium. Die Eltern a us den so ge- • eine relativ hohe Rekrutierung aus sozial und
na nnte n „bildungsfernen Schichten", die in der beruflich privilegierten Bevölkerungsschichten;
Regel über keinerlei Erfahrung mit länge ren Bil- • eine geringe Homogenität aufgrund der ver-
dungswegen auf den höheren oder auch mittleren schiedenen Wirkungsbereiche und der dezent-
Ebenen des Bildungssystems verfügten, würden ralen Struktur der Bundesrepublik.
ihre Kinder seltener auf ein Gymnasium schicken.
Ähnliches lasse sich bei der Entscheidung für ein Als Probleme der Elitenbildung gelten u. a.:
Studium beobachten. Auch hier hat die Abiturno-
te nur wenig Einfluss. Jugendliche aus Akademi- • die soziale Selektivität bei den Aufstiegschancen
kerfamilien würden sich quasi „automatisch" für in die Eliten;
ein Studium entscheiden, weil ihren Familien die • die mangelnde Zirkulation zwischen den Eliten
akadem ische Ausbildung vertraut sei. Die Abitu- verschiedener Bereiche;
rientinnen und Abiturienten aus Arbeiterfamilien • der geringe Frauenanteil;
ließen sich dagegen häufig von einem Studium • Ausmaß und Einfluss vo n Elitenetzwerken.
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland
Mobilität - vertikale und horizontale Mobilität, Auf- und Abstiegsraten 1976 - 2014
Westdeutschland Ostdeutschland
1976- 1981 - 1991 - 2000- 2010- 1991 - 2000- 2010-
1980 1990 1999 2009 2014 1999 2009 2014
Männer
Gesamtmobilität(%) 66 66 64 67 67 60 62 61
Gesamtmobilität umfasst:
vertikale Mobilität 51 50 51 54 56 51 50 51
horizontale Mobilität 15 16 13 13 11 10 12 10
Verhältnis vertikale/
3,3 3,1 4,0 4,0 4,9 5,2 4,1 5,1
horizontale Mobilität
vertikale Mobilität umfasst:
Aufwärtsmobilität 36 35 35 37 38 31 25 26
Abwärtsmobilität 15 15 16 17 18 20 24 24
Vehältnis Aufstiege/
2,4 2,4 2,2 2,1 2,2 1,5 1,0 1,1
Abstiege
Frauen 1
Gesamtmobilität(%) 77 77 78 77 78 74 77 78
Gesamtmobilität umfasst:
vertikale Mobilität 59 55 58 58 61 63 59 63
horizontale Mobilität 18 22 19 19 17 11 18 15
Verhältnis vertikale/
3,3 2,5 3,0 3,1 3,6 5,8 3,4 4,1
horizontale Mobilität
vertikale Mobilität umfasst:
Aufwärtsmobilität 26 26 31 31 33 36 30 34
Abwärtsmobilität 33 28 27 27 28 28 29 29
Vehältnis Aufstiege/
0,8 0,9 1,2 1,2 1,2 1,3 1,0 1,2
Abstiege
Bis in die 1980er Jahren ging es für alle Gesell- Seit d en 1990er gäbe es diesen Fahrstuhl aller-
schaftsschichten „nach oben": Auch wenn es grö- dings nicht mehr, stellen einige Wissenschaftler
ßere soziale Ungleichheiten zwischen den Ärms- fest. Aus der Gesellschaft des sozialen Aufstiegs
ten und den Reichsten gab, verringerte sich aber sei eine Gesellschaft des Abstiegs und der Preka-
die Armut und sozialer Aufstieg war möglich. Die rität geworden. Dafür verwenden sie die Metapher
Einkommen stiegen insgesamt, ebenso die Bil- der Rolltreppe: auf dieser könnten sich auch die
dungschancen, Freizeit und Konsum. Der Sozio- Abstände zwischen den einzelnen Individuen ver-
loge Ulrich Beck sprach deshalb vo n einem „Fahr- ändern, je nachdem auf welcher Stufe man stehe
stuhleffekt" : Alle sozialen Klassen standen oder ob man nach unten oder oben fahre. Einige
gemeinsam im Aufzug und fuhren kollektiv nach erreichten bereits die nächste Etage, während v ie-
oben. Die Ungleichheiten blieben die gleichen, le nach unten fahren müssten. Dieser Prozess habe
aber sie spielten gesellschaftlich eine geringere sich schleichend entwickelt und es handele sich
Rolle, weil es allen besser erging. noch nicht um ein Massenphänomen. Die Haup-
1.3 Soziale Ungleichheit 1
tursache für den Übergang in die „Abstiegsgesell- dischen Bevölkerung sowie der Alleinerziehenden
schaft'' sehen die Wissenschaftler in der Erschüt- zu Randgruppen gerechnet. Randgruppen weisen
terung der Arbeitsverhältnisse (> Kap. 2.3.2). meist folgende Merkmale auf:
Aufgaben
1 . Erläutern Sie den Begriff der sozialen Mobilität.
3. Werten Sie die Tabelle (Mobilität) aus (, Methodenkompetenz: Kritische Auswertung von Statistiken). Beurtei-
len Sie Ihre Ergebnisse.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
M 1 Bildungschancen - Karikatur
Der französische Soziologe Didier Eribon wuchs in den 1950er bzw. 1960er Jahren im
französischen Arbeitermilieu auf. Er war der erste und einzige aus seiner Familie, der
ein Gymnasium besuchen und später auch studieren konnte. Er erzählt in seinem Buch
,,Rückkehr nach Reims" von seiner ersten Zeit auf dem Gymnasium:
s „Kurz nach meiner Einschulung im Gymnasium (ich war elf) lernten wir im Englischun-
terricht einen Weihnachtsreim. Zu Hause angekommen, sagte ich zu meiner Mutter:
„ Ich hab ein Gedicht gelernt" und begann es aufzusagen. [... ] ,,1 wish you a merry
Christmas, a horse und a gig, and a good fat pig, to kill next year." Der Ärger, ja Zorn
stieg so schnell in ihr auf, dass sie mich nicht einmal ausreden ließ. ,,Du weißt doch
,o ganz genau, dass ich kein Englisch kann", schrie sie, ,,sofort übersetzt du mir das!"
Dachte sie, ich wollte mich über sie lustig machen? Sie erniedrigen? Eine Überlegen-
heit demonstrieren, die schon aus ein paar Monaten Gymnasium resultierte? Ich über-
setzte das Gedicht. Sie beruhigte sich schnell. Mir war aber schlagartig klar geworden,
dass sich zwischen jenem Außen, welches das Gymnasium und das Lernen darstell-
,s ten, und dem Innenraum der Familie ein Riss aufgetan hatte, der mit der Zeit nur
größer werden konnte.
Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, 2016, S. 75J
Aufgaben
2. Erläutern Sie die Episode, die Eribon aus seiner Schulzeit berichtet (M 2). Erklären Sie an
diesem Beispiel, was man im Hinblick auf die Bildungschancen unter den primären und
sekundären Herkunftseffekten versteht.
3. Nehmen Sie Stellung zu der folgenden These: Leistung alleine lohnt nicht, um im Bildungs-
system erfolgreich zu sein.
Mit der starken Ausprägung der sozialen Gegen- chen Interessen können demnach zu Konflikten
sätze in der Phase der Industrialisierung seit dem innerhalb der Gesellschaft führen. Die Klassen-
ausgehe nden 18. Jahrhundert und der Einsicht, theorie untersucht deshalb auch die Machtbe-
dass soziale Ungleichheit nicht gottgewollt oder ziehungen und Konflikte zwischen den Klassen
natürlichen Ursprungs, sondern auch veränderbar der Gesellschaft. Ein „Schichtbewusstsein" und
ist, began nen Menschen über die Ursachen der unterschiedliche „Schichtinteressen" bilden sich
ungleichen Verteilung von Lebenschancen nach- nach den Schichtmodellen hingegen nicht aus.
zudenken. Seitdem sind die Analyse der sozialen
Ungleichheit und die Erforschung des Denkens • Schichtmodelle beschreiben die Gliederung ei-
und Verhaltens von Menschen in unterschiedli- ner Gesellschaft, Klassentheorien gehen über die
chen Bevölkerungsgruppen und sozialen Schich- Beschreibung hinaus und fragen nach den Ur-
ten mit Hilfe von sozialwissenschaftlichen Model- sachen vo n Konflikten und Machtbeziehungen.
len ein fester Bestandteil der Gesellschafts-
wissenschaften. Sozia le Schichtung beschreibt die vertikale Glie-
derung einer Gesellschaft in größere Bevölke-
rungsgruppen, die nach gemeinsamen Merkmalen
Klasse und Schicht zusammengefasst werden. Die Schichtungstheo rie
wurde in der Bundesrepublik bis weit in die 1970er
Zur Analyse sozialer Ungleichheit waren in der Jahre als die zentrale Theorie zur Analyse sozialer
Soziologie lange zwei Theorien vorherrschend: Ungleichheit herangezogen. In vereinfachenden
die Klassen- und die Schichtungstheorie. Sowohl Modellen wurden anhand bestimmter Kriterien -
in der Klassen- als auch in der Schichtungstheorie etwa Beruf, Ei nkommen, Werte - soziale Un-
werden Menschen mit ähnlicher sozioökonomi- gleichheiten erfasst. Bekannt sind die zwiebelför-
scher Lage zusammengefasst. Von Klasse oder mige Beschreibung der bundesdeutschen
Schicht spricht man dann, wenn die folgenden Gesellschaft des Soziologen Karl Martin Bolte
Merkmale erfüllt sind: sowie das „Hausmodell" des Soziologen Ralf
Dahre ndorf. Entstanden in den l 960er Jahren, Kritik an den Klassen- und
wurden diese Modelle immer wieder weiterentwi- Schichtenmodellen
ckelt bzw. verfeinert.
In Westeuropa und Nordamerika gelten d ie Klas-
Die Schichtungsmodelle, die die vertikale Un- sen- und Schichtenmodelle schon seit langem als
gleichheit deutlich betonen, gewinnen angesichts geeign ete Modelle, die Sozialstru ktu r einer Gesell-
der Arbeitslosigkeit und der zunehmenden Ein- schaft zu beschreiben. In Deutschland hingegen
kommensunterschiede in Deutschla nd wieder diskutiert man immer wieder die Bede utung dieser
meh r an Bedeutung. Modelle. Viele Sozialwissenschaftler zweifeln an
der Richtigkeit dieser vertikalen Modelle zur Be-
schreibu ng der sozialen Wirklichkeit. Sie gehen
davon aus, dass sich die Klassen und Schichte n
aufgelöst hätten, weil sich a ufgru nd des gestiege-
Klasse
nen Wohlstands und der Bildungsexpansion in
Der Begriff der Klasse zur Erklärung der sozialen Ungleichheit geht Deutschland eine große Vielfalt von Lebensstile n
auf Karl Marx (1818 - 1883) zurück. Danach sei die soziale Un- und Lebenslagen entwickelt habe und vor allem
gleichheit der Menschen auf ihre Stellung innerhalb des Produkti- die Schicht- bzw. Klasse nzugehö rigkeit von den
onsprozesses zurückzuführen: So gäbe es Besitzer (Kapitalisten,
j eweiligen Mitgliedern so nicht mehr wahrgenom-
Bourgeoisie) und Nichtbesitzer (Arbeiter, Proletariat) von Produk-
tionsmitteln (Fabriken, Maschinen, Werkzeuge). Zwischen diesen men würde. Es existiere eine Gesellschaft „j enseits
beiden Klassen existiere ein Abhängigkeitsverhältnis, da die Pro- von Klasse und Schicht", wie es der Soziologe Ul-
letarier gezwungen seien, ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten zu rich Beck 1986 fo rmulierte.
verkaufen. Aus diesem Abhängigkeitsverhält nis leitete Marx die
entgegengesetzten Interessen dieser beiden Klassen ab: Das In- Andere Sozialwissenschaftler halten hingegen an
teresse der Kapitalisten bestehe demnach im Erhalt der bestehen- der Theorie vo n der sozialen Schichtung der Ge-
den Verhältnisse, das Interesse der Proletarier hingegen sei an
sellschaft fest, denn die Verteilung der Chancen
Veränderung orientiert.
z.B. a uf eine gute Bildung und die gesellschaftli-
Schichtmodell nach Ralf Dahrendorf Schichtmodell nach Rainer Geißler : Soziale Schich-
tung der westdeutsch en Bevölkerung im Jahr 2009
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Dienstleister ! Facha rbeiter !! Facha rbeiter 1 %
10 % ! 11 % !!
Arbeiterschicht ausländische ... ·····································L ························...j 14% ... Mitt~~:~: : ;
un- ,
angele rnte 2 % un-, a ngelernte ! un-, a ngelernte : ! 2 ausländische
Die ns tleister Dienstleiste r : Arbeiter : : % un-, angelernte
11 8
% Untersc!icht 6 % % !! 1 % auslän: ;s: ~:er
Unterschicht Unterschicht
c::::::J Deutsche
c::::::J Ausländer
Quelle, Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deut sch • Quelle, Rainer Geißler, Die Sozialstru ktu r Deutschl ands, 7. Aufl., Wiesbaden 2014, S. 100
land, München 1965, S. 105
1.3 Soziale Ungleichheit 1
ehe Teilhabe, a ber a uch hi nsichtlich der Lebensri- der Gesellschaft gelangen. So unterscheiden So-
siken sei a bhängig von der sozialen Schicht, in die ziologen z.B. Machteliten, Bildungseliten, Mana-
man hineingeboren worden wird. Auch die Ver- ger, Experten, Studenten, ,,Normalverdiener" (mit
teilung des Wohlstands innerhalb der Bevölke- geringen, mittleren u nd hohen Risiken), Rentner,
rung sehen diese Wissenschaftler als Bestätigung Arbeitslose, Arme und Randgruppen.
der Klassen-Schichten-Theorien.
Soziale Milieus
Soziale Lagen
Spätest ens seit den 1980er Jahren wurden sowohl
Die Modelle der Sozialen Lagen wurden seit dem die horizontalen Ungleichheitsmerkmale wie Al-
Ende der 1980er Jahre als Erweiterung der Klas- ter und Geschlecht als auch subjektive Faktoren
sen- Schichten-Modelle formuliert, weil diese v. a. der Lebensbedingungen verstärkt in die Analyse
die vertikalen Ungleichheiten beschreiben. Mit der Sozialstruktur einbezogen. Nach Ansicht vo n
ihne n lassen sich die horizontalen Ungleichheiten Kritikern sind die Klassen- und Schichtungstheo-
nicht abbilden. rien mit ihrer eindeutigen Orientierung an der
vertikalen Ungleichheit v iel zu starr, um die Le-
Soziale Lagen werden insbesondere in der Wohl- benswirklichkeit der Individuen angemessen zu
fahrtsforschung untersucht; sie beschreiben die erfassen. Neben den Begriff der Schicht traten die
Lebenschancen und die Lebensqualität einzelner Beg riffe „Milieu" und „Lebensstil" zur Analyse
Bevölkerungsgruppen. Bei der Zuordnung der Le- sozialer Ungleichheit. Anders als die Schichtungs-
benslage n werden unterschiedliche Faktoren wie und Klassentheo rie liefern diese Ansätze eher Be-
Beruf, Einkommen, Arbeitsplatzsicherheit, Bil- schreibungen als Erklärungen für soziale Un-
dung, Freizeitgestaltung und Zufriedenheit be- g leichheit. Die Milieuforschung entsta nd aus der
rücksichtigt. Der Vorzug der „Lagenmodelle" liegt Markt- und Wahlforschung und arbeitet mit re-
dari n, dass sie zu einem mehrdimensionalen Bild präsentative n Interviews.
Oberschicht Sinus B1
/ Obere 1 Sinus C1
Liberal-intellektuelles
Mittel- Sinus AB12 Milieu der
Milieu
Schicht Konservativ- Performer
7% Sinus C12
etabliertes 8%
Sinus B12 Expeditives
Milieu
Sozialökologisches Milieu
10%
Mittlere 2 Milieu Sinus C2 8%
Mittel- 7% Adaptiv-
Schicht pragmatisches
Sinus B23 Milieu
Sinus AB23 Bürgerliche Mitte 10%
Traditionelles Milieu 13%
13% Sinus BC23
Untere 3
Mittel- Hedonisitisches
Schicht/ Milieu
Sinus B3 15%
Unter-
Prekäres Milieu
Schicht
9%
A B C
soziale
Lage Traditions- Moderni- Lebensstandard, Selbstverwirklichung, Multioptionalität, Exploration,
verwurze- sierte Status, Besitz Emanzipation, Beschleunigung Refokussierung,
Grund lung Tradition ,,Haben & Genießen" Authentizität Pragmatismus neue Synthesen
·en- .,Festhai- .,Bewah- ,,Sein & Verändern" .,Machen & Erleben" „Grenzen
Orl ten" ren" überwinden"
tierung Tradition Modernisierung / Individualisierung Neuorientierung
Sinus-Milieumodell 2017
Als „soziale Milieus" werden Gruppen von Gleich- wissenschaften wieder z u, da der Zusammenhang
gesinnten verstanden, die große Ähnlichkeiten in zwisch en der sozialen Herkunft, den Bildungsab-
ihrer Lebensführung, in den Beziehungen zu den schlüssen und der wirtschaftlichen Stellung in
Mitmenschen, in ihren Einstellungen a ufweisen. jüngsten Studien deutlich herausgestellt wurde.
Die Milieutheorien nehmen für sich in Anspruch, Den „neuen" Schichtungs- und Klassentheoreti-
die soziale Ungleichheit in Deutschland besser als kern zufolge stellt die wirtschaftliche Situ ation
andere Ansätze beschreiben zu können, weil sie eines Einzelnen die zent rale Grundlage bei der
sowohl vertikale als auch horizontale Merkmale Verteilung der Lebenschancen und -risiken dar.
sozialer Ung leichheit berücksichtigen. So werden
unabhängig von der beruflichen Stellung die Le- Das Modell Exklusion-Inklusion ist das jüngste
bensstile der Individu en erfasst. Die Grundlage der Sozialstrukturmodell. Es unterscheidet nicht mehr
Lebensstilanalyse bildet die Erforschung vo n Ge- zwisch en dem Oben und Unten in einer Gesell-
schmack und Verhalten, von Freizeitgestaltung schaft, sondern untersucht das „Drinnen und
und Konsumgewohnheiten. Sehr bekan nt sind Draußen", die Zugehörigkeit und das Ausge-
beispielsweise die sog. ,,Sinus- Milieus", a n wel- schlossensein, was sich in mehreren gesellschaft-
chen insbesondere die Markt- und Parteienfor- lichen Dimensionen zeigen kann. So kann sich das
schung interessiert ist. Ausgeschlossensein z.B. im Ausschluss vom Er-
werbsleben (Arbeitslosigkeit), soziale Ausgren-
zung durch das Leben in einem sozialen Brenn-
Neuere Forschungsansätze punkt oder aufgrund der Zugehörigkeit zu einer
bestimmten eth nischen Gruppe, a ber auch in
Aktuell nimmt die Diskussion neuer Schichten- mangelnder Teilhabe am kulturellen und politi-
und Klassenmodelle innerhalb der Gesellschafts- schen Leben zeigen. Untersu cht werden aber auch
1.3 Soziale Ungleichheit 1
die Auflösung der traditionellen sozialen Netz- zialer und politischer Ungleichheit. So konnte für
werke oder das A usgeschlossensein aufgru nd von die Bundestagswahlen 2009 und 20 13 fest gestellt
körperlich en oder psychischen M erkmalen etc. werden, dass die Wahlbeteiligung der oberen so-
Auch wenn sich das Modell auf die extrem be- zial en Schichten um bis zu 40 0/o höher lag als die
nachteiligten Mitglieder der Gesellsch aft bezieht, unteren Schichten, die damit im politischen Sys-
wird es denn och als ein Vorzug erachtet, da es auf tem deutlich unterrepräsentiert waren. Durch das
v ielfält ige Ausgrenzungsmechanismen in allen A uftreten der A fD wurde diese Spalt ung bei den
sozialen Schichten und M ilieus aufmerksam ma- Bundestagwahlen 201 7 überwunden : Die Bürger
ch en kann, denn Exklusion passiert in allen sozi- aus den unteren sozialen Schichten gingen ver-
al en Räumen. mehrt wi eder zur Wahl und wählten die A fD : Je
sozial prekärer die Lage in einem Stimmbezirk,
Neuere Studien zur Sozialstruktur besch äftigen desto besser schnitt die A fD dort ab und desto
sich auch mit dem Zusammenhang zwischen so- höher fiel en i hre Zuwächse aus.
Vertikale soziale Vertikale soziale Vertikale und horizontale Vertikale und horizontale
Ungleichheiten Ungleichheiten soziale Ungleichheiten soziale Ungleichheiten
Aufgaben
1. Grenzen Sie die einzelnen Gesellschaftsmodelle voneinander ab und erläutern Sie, weshalb sich die Modelle
im laufe der Zeit immer stärker ausdifferenziert haben.
2. Benennen Sie die möglichen Auftraggeber von Sozialstudien und erläutern Sie die unterschiedlichen Interes-
senlagen.
i ,
11111
M lieu ,,,,,,,,, 7%
11111
11 % ' ,,,,~ ozialökologisches
1
56 % aller SPD-Wähler
•
111111
Mittlere 1
,, ,~ 111ilieu 7 %
Mittelschicht ,,,
1,,11 Adaptiv-
111
,,,,, p gmatisches
111111
Bürgerliche Mitte ,,
11
Milieu
'/1,,.
Traditionelle Milieu 13% ,,,,, 10 %
14 % 1,,,,,,,
1111
" 111.
"'11.
~ 9%
Grundorientierung
Tradition Modernisierung / Individualisierung Neuorienierung
Traditions- Moderni- Lebensstandard, Selbstverwirklichung, Multioptionalität, Exploration,
verwurze- sierte Status, Besitz Emanzipation, Beschleunigung Refokussierung,
lung Tradition Authentizität Pragmatismus neue Synthesen
Kurz Erklärt: Diese Abbildung zeigt, auf welcher Seite der Diagonalen die Wähler der verschiedenen Parteien
verortet sind. Die Diagonale trennt die Gesellschaft grob in zwei Hälften - die Modernisierungsskeptiker unterhalb
der Diagonal en und die Modernisierugsbefürworter oberhalb der Diagonalen. Dabei zeigt sich deutlich: Die Wäh-
ler der GRÜNEN, DIE LINKEN, FDP, SPD und CDU/ CSU sind mehrheitlich den Modernisierungsbefürwortern zu-
zuordnen. Das somit entstandene Vakuum unterhalb der Diagonalen füllt nun die AfD - 65 Prozent ihrer Wähler
stammen aus den Milieus der Traditionellen, der Prekären, der Bürgerlichen Mitte, dem konsumorientierten Teil der
Hedonisten sowie der Hälfte der Konservativ-Etablierten. Der jeweilige Wäh lerant eil wurde auf Basis einer aus
Umfragedaten und Stimmbezirksanalysen geschätzten Wahlbeteiligung soi der Parteiergebnisse in den verschie-
denen Milieus berechnet.
Robert Veh rkamp / Klaudia Wegschaider, Populiire Wahlen, Mobilisierung und Gegenmobilisierung
der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017, www.bertelsmann-stiftung.de, 201 7, S. I5
Aufgaben
1. Beschreiben Sie die Verteilung der Wahlberechtigen auf die sozialen Milieus.
3. Diskutieren Sie die Aussage „Durch die Bundestagswahl 2017 hat sich die soziale
Spaltung in Deutschland verringert".
■ Sozialstaat und Sozialpolitik
1 .4.1 Der Sozialstaat und das System sozialer Sicherung
Leitfragen Inwiefern sichert Worin liegen die Welche Bereiche und Was versteht man unter den
das Grundgesetz zentralen Aufgaben Maßnahmen umfasst sozialethischen Prinzipien von
den Sozialstaat? des Sozialstaats? Sozialpolitik? ,,Solidarität" und „Subsidiarität"
In Art. 20 Abs. l des Grundgesetzes wird die Bun- Fürsorge m acht und die Freiheit zur eigenverant-
desrepublik Deutschland als „demokratischer und wortlichen Lebensführung in unangemessener
sozialer Bundesstaat" definiert. Art. 28 Abs. 1 GG Weise einschränkt. Zur Sozialpolitik gehören auch
führt näher aus : ,,Die verfassungsmäßige Ordnung Regelungen zur Gestaltung der Arbeitsordnung
in den Ländern muss den Grundsätzen des repu- (Arbeitszeit, Arbeitsschutzbestimmungen etc.),
blikanischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne Maßnahmen im Bereich der öffentlichen
dieses Grundgesetzes entsprechen." Gesundheit, der Umwelt, des Wohnens sowie des
Bildungswesens.
Aufgru nd dieses Sozialstaatsgebots (auch: So-
zialstaatsprinzip) des Grundgesetzes formulierten
die Richter des Bundesverfassungsgerichts zwei Welche Maßnahmen und Bereiche der
Aufgaben für alle staatlichen Organe: Sie solle n Sozialpolitik gibt es?
durch entsprechende polit ische Maßnahmen für
sozialen Ausgleich und für die Sicherung der so- Sozialpolitik umfasstjene Maßnahmen des Staa-
zialen Existenz der Bürger sorgen. Konkret be- tes, der Sozialversicherung und der Betriebe, die
deutet dies : allen Gesellschaftsmitgliede rn Schutz vor Not und
Mangellagen gewährleisten sollen.
• Schutz vor Not;
• Sicherung gegen Wechselfälle des Lebens (z.B. Das System sozialer Sicherung gilt als Kernstück
Einkommensausfall infolge von Alter, Krank- der Sozialstaatlichkeit. In diesem Rahmen ist die
heit, Invalidität oder Arbeitslosigkeit) ; Sozialversicherung zentral. Sie ist ein gesetzlich
• Bekämpfung g roßer sozialer Ungleichheit; geregeltes Pflicht-Vorsorgesystem für nahezu die
• Mehrung des Wohlstandes insgesamt. gesamte Bevölkerung und nicht nur fü r die Be-
nachteiligten der Gesellschaft. Ziel der Sozialver-
Die Wege zur Erreichung dieser Ziele werden der sicherung ist es, durch Beitragszahlungen der
Gestaltung durch demokratische Mehrheiten Versicherten wichtige Lebensrisiken und ihre Aus-
überlassen (Offenheit des Sozialstaatsprinzips). wirkungen finanziell auszugleichen oder zumin-
Das Ordnungsprinzip des Sozialstaatsgebotes dest zu begrenzen. Zudem sollen besonders für
zählt zum unveränderlichen Verfassungskern des sozial Schwache Verbesserungen ihrer materiellen
Gru ndgesetzes (>Kap. 4.1. 2). Situation und damit die Bedingungen für mehr
soziale Gerechtigkeit erreicht werden, womit sich
Das Ziel des Sozialstaats besteht darin, soziale Si- die Ziele des Sozialstaatsgebots - Existenzsiche-
cherheit, soziale Ge rechtigkeit und soziale Integ- rung und sozialer Ausgleich - vermischen.
ration für alle Gesellschaftsmitglieder zu ermög-
lichen. Nicht gemeint ist hingegen die Errichtung Versicherungspflichtig sind i. d. R. alle Arbeitneh-
eines allumfassenden Wohl fahrtsstaates, der die mer, deren Bruttoeinkommen unterhalb der sog.
Menschen zum Objekt umfassender staatlicher Versicherungspflichtgrenze bzw. der Beitragsbe-
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland
Sozialabgaben im Überblick
Aufgaben
1. Beschreiben Sie die einzelnen Grundsätze, die die Grundlage der sozialen Sicherung in Deutschland bilden.
Im 21. Jahrhundert ist der Kapitalismus, die historische Vorgabe des Sozialstaats,
wieder ins Gerede gekommen. Zusammen ergeben Kapitalismus und Sozialstaat die
von G0sta Esping-Andersen als „Wohlfahrtskapitalismus" bezeichnete gesellschaftli-
che Regime-Formation. Freilich unter einer Bedingung, die die Sozialpolitik zugleich
s gefährdet und benötigt: der Globalisierung. Zum einen, weil sie ihre nationalwirtschaft-
liche und nationalstaatliche Konstitution gefährdet. Zum anderen, weil die Globalisie-
rung wiederum eine fundamentaldemokratische, nämlich menschenrechtliche und
damit verstärkt ideelle Begründung der Sozialpolitik fordert. Es bleibt ausreichend
Grund zur Beunruhigung über fortbestehende, globale Ungleichheit und Armut, wie
10 die breite Resonanz auf Thomas Pikettys „ Das Kapital im 21. Jahrhundert" demonst-
riert. Daher gibt es gute Gründe, die Sozialpolitik als eine zentrale Arena der Gesell-
schaftsgestaltung im 21. Jahrhundert zu betrachten. Im Folgenden geht es um eine
aktuelle und hoch bedeutsame Diskussion: Wäre eine allgemeine, gleiche und unmit-
telbare Nutznießung aller Menschen an den Erträgen der kapitalistisch verfassten Wirt-
,s schaft durch sozialpolitische Regulierung ratsam? Und wenn ja, wie könnte diese
Regulierung öffentlicher Güter als Ensemble sozialer Rechte gelingen? Würde ein all-
gemeines und gleiches, garantiertes Grundeinkommen in einem solchen Zukunftsent-
wurf eine zentrale Rolle einnehmen?[ ... ]
Ein Grundeinkommen ist das Recht auf ein existenzsicherndes Einkommen, das jedes
20 Mitglied einer Gesellschaft unabhängig von Leistung und Herkunft beanspruchen
kann. Eine Gesellschaft mit Grundeinkommen ist eine andere Gesellschaft als die
heutige. Sie ist eine Gesellschaft für Alle. Ihre Institutionen richten sich zuerst, so die
Idee, an den Menschenrechten aus. Etwa die Hälfte des gesellschaftlichen Einkom-
mens wird vor aller weiteren Verteilung über Arbeit oder Vermögen allen Bürgern als
2s Grundrecht garantiert. Eine Grundeinkommensgesellschaft ist eine reiche Gesell-
bende Gesellschaften noch genauer prüfen, welche Zuwanderer die besten Integrati-
onschancen haben. Aber das gilt für jede gute Sozialpolitik, ob bei Gesundheit,
Bildung, Wohnen oder Pflege. Am besten wird daher ein Grundeinkommen Schritt um
Schritt weltweit erkämpft. Deutschland ist hier schon weit. Während auf der Vorder-
3s bühne der politischen Debatte noch immer um die „wirklich Bedürftigen" und die „ar-
beitende Mitte" gestritten wird, haben sich die höchsten Gerichte und die klare Mehr-
heit der Bevölkerung längst entschieden: wir brauchen soziale Grundrechte für alle
Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben. Das Grundrecht auf ein Einkommen
gehört dazu.
Mittels eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE), das auch als „Bürger-" bzw.
„Existenzgeld", als „Sozialdividende" oder als „negative Einkommensteuer" firmiert
und Inländern ohne Bedürftigkeitsprüfung gezahlt werden soll, hoffen vor allem Bezie-
her staatlicher Transferleistungen (Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe) sowie ihre orga-
s nisatorischen Netzwerke, die Bedürftigkeit und die bürokratische Gängelung durch
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Aufgabe
In der sozialpolitischen Diskussion steht das so genannte bedingungslose Grundeinkommen (oder auch Bür-
gergeld) immer wieder im Mittelpunkt. Das ist ein fester Betrag, der jeden Monat vom Staat auf die Konten
der Bürgerinnen und Bürger überwiesen wird, ohne dass diese etwas dafür tun müssten. Die Höhe variiert in
den jeweiligen Vorschlägen. In Finnland wird 2017/ 18 versuchsweise ein teilweise bedingtes Grundeinkom-
men gezahlt.
Erarbeiten Sie aus den Texten die Argumente, die für bzw. gegen das Grundeinkommen sprechen und
bewerten Sie dieses sozialpolitische Instrument.
1 .4 .2 Aktuelle Herausforderungen für den Sozialstaat
Leitfragen Welche Ursachen sind für die Wie können zukünftige Wird aus dem einstigen Vorzeige-
aktuellen Probleme unseres Entwicklungen aussehen? modell ein Auslaufmodell?
Sozialstaates verantwortlich?
Die gesellschaftlichen Realitäten und wirtsch aft- stärkt den Einn ahmeschwu nd der Sozialversi-
lichen Voraussetzungen hab en sich in den ver- cheru ngen.
gangene n drei J a hrzehnten deutlich gewandelt,
sodass der Sozialstaat immer mehr unter Druck • Die Kosten der deutschen Einheit haben den
geraten ist. fo lgende Faktoren gelten als Ursa- Sozialstaat sta rk belastet (hohe Transferleistun-
chen für die Belastung des Sozialstaates: gen zwecks A ng leichung der Lebensverhältnisse
in Ost und West).
• Der demografische Wandel u nd die da mit ver-
bundene „Alterung" der Gesellschaft fü hren ge- • Die Pluralisierung der Lebensformen und die
genwärtig zu einer Minde rung der Einna hmen Veränderungen in den Familienstru kturen be-
und zur Steigeru ng der Ausgaben der Sozialver- deuten deutlich w eniger „Wohlfahrtsprodukti-
sicherungssysteme. Das Verhältnis zwischen on" innerhalb de r Familie und da mit neue An -
Beitrag zahl enden Erwerbstätigen und Empfän- fo rderungen a n die staatliche Sozialpolitik. So
gern vo n Leistunge n gerät mehr und mehr in ka nn etwa die Pflege älterer Menschen hä ufig
eine Schiefl age. So spricht man beispielsweise nicht mehr in der Familie geleistet werden, son-
in der Gesetzlichen Rentenversicherung davon, dern wird in Pflegeheime verlagert.
dass der Generationenvertrag brüchig wird
(> Kap. 1.2.1).
Wie hat die Politik auf die Herausforderungen
• Eine vo n den 1970er bis zu r Mitte der 2000er reagiert?
J ahren fast stetig steigende bzw. durchgängig
hohe Arbeitslosigkeit und das verlangsa mte Die Politik hat in den vergangenen J ahren mit
Wi rtschaftswachstum zur J ah rtausendwende einer kaum noch überscha uba ren V ielzahl vo n
t rugen n icht nur zu Einna hmeausfällen in den Einzelmaßnahmen, Gesetzen und Neuregelungen
Sozialversicherungssystemen bei, sondern zur au f die verä nderten gesellschaftlich en und wirt-
soziale n „Schieflage" insgesamt. Die Ein nahme- schaftlichen Bedingunge n reagiert. Dabei lassen
basis der sozialen Sicherungssysteme war und sich folgende Entwicklungen feststellen:
ist im Schwinden begriffen.
• Sowohl in der Renten- wie auch in der Arbeits-
• Die Globalisierung führt z unehmend zur Verla- losen versiche ru ng kam es zum Abbau fina n zi-
gerung von Arbeitsplätzen ins Ausla nd und eller Leistungen für die Leistungsb ezieher.
trägt z. T. zu steige nden Arbeitslosenzah len bei.
Gleichzeitig geraten die Löhne unter Druck, weil • In der Krankenversicherung entstanden durch
Unternehmen da mit drohen könne n, die Pro- Erhöhung der Zuzahlungen, Leistungskürzun-
duktion ins Ausla nd zu verlagern. Bei sinkenden gen und höhere Beitragslasten e rhebliche fi-
Einko mmen der Versicherten sinken auch die na nzielle Mehrbelastungen für die Versicherten.
Einna hmen der sozialen Siche rungssysteme Die Grundp rinzipien der Solidarität u nd Pa rität
(> Kap. 2.7). wurden dadurch geschwäc ht.
• Eine Zuna hme neuer Formen v on Arbeit, die • In de r Pflegeversicherung gab es in jüngster
nich t sozialversicherungsptlichtig sind, ver- Zeit zwar einige Leistungsverbesserungen, ins-
1.4 Sozialstaat und Sozialpolitik f
Sozialpolitische Leitbilder
Wohlfahrtsstaat / Aktivierender Sozialstaat
Kompensatorischer Sozialstaat
Staatliches Steue- Steuernder Staat Vermittelnder Staat
rungsverständnis (hierarchisch, bestimmend) (kooperativ, verhandelnd) Das Individu-
Menschenbild Die gesellschaftlichen Bedingungen um braucht staatliche Unterstützung,
prägen die Handlungsspielräume des um unter den gesellschaftlichen
Individuums. Bedingungen frei handeln zu können.
Wirtschaftspoliti- Der Staat fängt negative Auswirkungen Der Staat muss Möglichkeiten schaffen,
sches Verständnis des Marktes auf. damit die negativen Auswirkungen des
Marktes von den Einzelnen individuell
aufgefangen werden können.
Sozialpolitisches Ausgleich von Benachteiligungen durch Befähigung des Einzelnen zur Selb sthil-
Verständnis Versicherung, Vorsorge und Fürsorge fe, damit Benachteiligungen gar nicht
erst entstehen, durch Stärkung der
Eigenvorsorge
Individueller Schutz vor Armut, Arbeitnehmer sollen Verknüpfung von individueller Sicherheit
Schutz durch Umverteilung weniger vom Markt mit Marktorientierung
abhängig sein
Jürgen Boekh et al., Aktuelle sozialpolitische Leitbildung, in: lnforma tio11en zur politischen Bildu11g, Nr. 327, 201 5, S. 30
besonde re für deme nzerkra nkte Pflegebedürfti- Welche Perspektiven hat der Sozialstaat?
ge, diese Leistungsanpassung hatten jedoch
la nge auf sich warten lassen. Mit Einführung Immer wieder wi rd in der sozialpolitischen Dis-
der sozialen Pflegeversicherung Mitte der kussion die Frage laut, ob nicht der fü rsorgende
l 990er J ah re waren die Leistungen unverä ndert u nd vorsorgende Sozialstaat endgültig a usgedient
geblieben und wurden nicht den allgemeinen habe. Das neue Leitbild des „aktiv ierenden Sozial-
Preissteigerungen a ngepasst. Zudem muss der staats" ist ein Anzeichen dafür, dass s ich die
erweiterte Leistungskatalog mit einer Beitrag- Richtung in der Sozialpolitik deutlich vo m wohl-
sanhebung fina nziert werden. fah rtsstaatlichen Verständnis a bgewandt hat.
„Fördern und Fordern" heißt nun das Credo in der
• Es gibt einen polit isch erwünschten Trend zum Sozialpolitik. Gemeint ist damit der teilweise
Ausbau der privaten Versicherung (z. B. in der Rückzug des Staates aus der Verantwortung in der
Renten- und Pflegeversicherung), der sich im- Erbringung von sozialen Leistungen u nd d ie Stär-
mer weiter verstärkt. kung der Eigenverantwortung der Bürger, wie sie
z. B. bereits in den Regelungen der Arbeitslosen-
• Ein zentrales Mot iv für alle Reformen, denen die versicherun g und Sozialhilfe mit den sog.
Sozialversicherungen in den vergangenen J ah- Hartz-Gesetzen deutlich wi rd (> Kap. 2.3.2). Das
re n unterzogen wurden, lag in der Verbilligung heißt auch, dass hier das Subsidia ritätsprinzip ge-
des Faktors Arbeit durch eine Senkung der sog. genüber dem Solidarprinzip eine deut liche Auf-
Lohnnebenkosten, u m so de n Wirtschafts- wertung erfäh rt.
standort Deutschland attraktiver bzw. wettbe-
werbsfähiger zu machen. In der Diskussion u m diese „Neujustierun g" des
Sozialstaates wird hervorgehobe n, der a uf mehr
• Das Leitbild des „aktivierenden Sozialst aats", Eigenverantwortung des Einzelnen setzende So-
nach dem staatliches Ha ndeln ausgerichtet zialstaat befreie die „bevormundeten" Bürger von
wi rd, löst das da mit konkurriere nde Leitbild des Zwang und Pflicht mitgliedscha ften und gebe ih-
„kompensierenden Wohlfahrtsstaates" mehr nen die Freiheit, ihr Kapital dort zu investieren,
u nd mehr ab. wo sie es fü r richt ig und notwendig erachten. Geg-
1 Die moderne Gesellschaft in Deutschland
ner dieses Konzepts betonen, dass die soziale Si- die Familien, die Standardrisiken wieder selbst
cherheit eine Grundvoraussetzung für die Wahr- trage n zu müssen, komme einer Entsolidarisie-
nehmung von bürgerlichen Freiheitsrechten sei. rung gleich und leiste einer Polarisierung der
Sozialstaatliche Demokratie bedeute für alle die Gesellschaft Vorschub. Die Grundsatzdiskussion
Freiheit, über ihr Leben selbst bestimmen zu kön- über A bbau, Um ba u und Reform d es deutschen
nen und letztlich auch die Freiheit, nicht unab- Sozialstaates ist dementsprechend noch lange
hängig von j eder beruflichen Qualifikation j ede nicht abgeschlossen und wird die gesellschaftspo-
Tätigkeit a nnehmen zu müssen. Die Rückverlage- lit ischen Debatten auch noch in den kommenden
rung von Verantwortung auf die Individuen und Jahren maßgeblich mitbestimmen.
Aufgaben
1. Nennen Sie die hier angesprochenen Ursachen für die Belastung des Sozialstaates.
2. Analysieren Sie die Karikatur (, Methodenkompetenz: Karikaturen analysieren und interpretieren) vor dem
Hintergrund der "Alterung" der Gesellschaft.
3. Recherchieren Sie (arbeitsteilig) auf den Internetauftritten der politischen Parteien und der Wohlfahrtsverbän-
de (z.B. Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Diakonisches Werk) deren Forderungen zur Sozialpolitik und führen Sie
darauf aufbauend im Kurs eine Debatte.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Seit einigen Jahren ist der Sozialstaat vor allem durch die kontroversen Debatten über
Kürzungen von Sozialleistungen, den Umbau und die Reformfähigkeit der sozialen
Sicherungssysteme präsent. Ursache dafür sind eine Reihe von tiefgreifenden Verän-
derungen und Entwicklungen, die sich in ihrer Wirkung in den nächsten Jahren noch
5 verschärfen werden. Dabei spielen sowohl interne (aus dem Sozialstaat selbst hervor-
gegangene) als auch externe Faktoren eine Rolle. Dazu gehören
würde eine Spaltung der Sozialen Sicherung eintreten, die eigentlich dem Ziel des
Sozialstaats widerspricht.
Diese Szenarien jenseits der aktuellen , konkreten Debatten und Krisendiagnosen stel-
len die Optionen und Perspektiven der Entwicklung unseres Sozialstaates dar.
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die drei möglichen Szenarien von Schmid im Hinblick auf die Entwicklung
des Sozialstaats.
2. Arbeiten Sie aus den jeweiligen Szenarien die Konsequenzen für den einzelnen Bürger
heraus.
3. Diskutieren Sie die These „Sozialstaatliche Demokratie bedeutet für alle die Freiheit, über
ihr Leben selbst bestimmen zu können und letztlich auch die Freiheit, nicht unabhängig
von jeder beruflichen Qualifikation jede Tätigkeit annehmen zu müssen."
SELBSTD IAGNOSE t
Im Laufe des letzten Kapitels haben Sie sich mit der modernen Gesellschaft in Deutschland beschäf-
tigt. Lesen Sie die folgenden Sätze und entscheiden Sie jeweils für sich, welche der Spalten sie an-
kreuzen können.
KOMPETENZEN
Am Ende dieses Kapitels sollten
Sie Folgendes wissen und können:
J eden Tag gehen Millionen von Menschen in wie wird gewährleistet, dass die unterschiedliche n
Deutschland zum Mittagessen, sei es in Kantinen, Bedürfnisse der Konsumenten berücksichtigt wer-
in Resta urants oder an Imbissbuden. Dort werden den ? An diesem Beispiel zeigt sich die zentrale
die unterschiedlichsten Gerichte a ngeboten - z.B. Frage des menschlichen Wirtschaftens: Wie kann
italienische Küche, deutsche Küche oder auch Ke- die tägliche Koordination zw ischen Nachfrage
bab, Sushi und Hamburger. Die Zutaten zu den und Angebot v on Gütern gelingen? Oder wie es
Essen werden nicht nur aus der Region, sondern Adam Smith, der Begründer der modernen Wirt-
aus der ganzen Welt angeliefert. schaftswissenschaften, schon im 18. J ahrhundert
formul ierte: Wie kann die Erwirtschaftu ng des
Doch wie kann es gelingen, dass die Nachfrage größtmöglich en Gemeinwohls für eine Volksw irt-
nach diesen ganz verschiedenen Gerichten mit schaft erzielt werden?
dem Angebot täglich in etwa übereinstimmt bzw.
• Im System der Planwirtschaft, auch zent rale Mit dem Zusammenbruch der meisten sozialisti-
Verwaltungswirtschaft ge na nnt, übernimmt der schen Staaten hat sich weitgehe nd die Wirt-
Staat bzw. eine zentrale Plankommission die schaftsordnun g einer auf Privatbesitz basierenden
Koordination des Wirtschaftsgeschehens. Über Marktwirtschaft durchgesetzt. Sie wird in der öf-
ei nen Plan werden Umfa ng und Art de r gesell- fentlichen Diskussion auch als freie oder a ls kapi-
schaftli chen Produktion weitgehend bestimmt. talistische Marktwirtschaft bezeichnet. Die lange
Die Idee der Planwirtschaft basiert auf den The- vorherrschende internatio nale „Systemkonkur-
orien des polit ischen Sozialismus bzw. Marxis- renz" scheint damit entschieden, da auch sozialis-
mus des 19. Jahrhunderts. Durch die zentrale tische Staaten, wie etwa China, zunehmend auf
Planung soll die - von Marx diagnostizierte - Marktprozesse und Privateigentum setzen. Unter-
Krisenanfälligkeit der Marktwirtschaft vermie- schiedliche Positionen bestehen in den Wirt-
de n werden. schaftswissenschaften aber weiterhin über die
konkrete A usgestaltung des marktwirtschaftli-
Die Regelung der Eigentumsverhältnisse ist ein chen Systems. Kontrovers wird diskutiert:
zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen den
beiden Wirtschaftso rdnungen. In einer Marktwirt- • ob und wie viel der Staat planend in den Wirt-
schaft überwiegt das Privateigentum an den Pro- schaftsprozess eingreife n sollte,
duktionsmitteln (a uch kapitalistische Markt- • welche Aufga be n in einer Volkswirtschaft sinn-
wirtscha ft genannt), die Unternehmen sind voller privat oder öffentlich organisiert werden
typischerweise in Privatbesitz, die Eigentümer be- sollten,
stimmen über die Ziele des Unternehmens und das • ob es Unte rnehmen in Staatsbesitz geben sollte,
zentrale Ziel des Wi rtschaftens ist in der Regel die • ob es gen ossenschaftl ich organisierte Betriebe
Gewinnerzielung. In einer Pla nwirtschaft sind dem geben sollte und nicht zuletzt,
gegenüber die Produktionsmittel in staatlichem Be- • ob Gewinnerzielung als oberstes Ziel durchgän-
sitz (auch sozialistische Planwirtschaft genannt) gig das Wi rtschaftsgeschehen (und zunehmend
und der wi rtschaftliche Entscheidungsspielraum auch andere gesellschaftliche Bereiche) bestim-
für einzelne gering. men sollte.
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
A f aben
2. Beurteilen Sie den Stellenwert der Eigentumsverhältnisse in einer Marktwirtschaft und in einer Planwirtschaft.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Noch im Jahr 1980 lebten rund 1.500 Millionen Menschen unter dem System einer
sehr strikten Planwirtschaft. Gegen Ende der achtziger Jahre kam es dann in Mittel-
und Osteuropa, in der ehemaligen Sowjetunion und in China zu einer fundamentalen
Umwälzung des Wirtschaftssystems mit dem Ziel, eine funktionsfähige Marktwirt-
s schaft zu etablieren. Die Hauptursache für diese Wirtschaftstransformation lag darin,
dass die Planwirtschaft mehr und mehr damit überfordert war, Produktionspläne von
Millionen von Unternehmen in einer arbeitsteiligen Wirtschaft so zu koordinieren, dass
sie mit den individuellen Konsumwünschen der Verbraucher im Einklang standen.
Die Planwirtschaft versuchte, das Koordinationsproblem einer arbeitsteiligen Wirt-
10 schaft fast ausschließlich durch den Mechanismus der Hierarchie zu lösen. Die Pro-
duktion aller Güter und Dienstleistungen wurde also gleichsam in einem einzigen gi-
gantischen Unternehmen erstellt, an dessen Spitze die zentrale Planungsbehörde
stand. Basierend auf allgemeinen politischen Zielvorgaben wurden von dieser Pla-
nungsbehörde alle volkswirtschaftlich relevanten Entscheidungen alljährlich (teilweise
1s auch in der Form von Fünfjahres-Plänen) [...] im zentralen Plan festgelegt. Es wurde
also Jahr für Jahr bis ins kleinste Detail bestimmt,
20 Konkret geschah das in den ehemals sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas
sowie in der ehemaligen Sowjetunion in der Weise, dass diese llnformationen von der
zentralen Planungsbehörde an Branchenministerien weitergegeben wurden, die die
Vorgaben wiederum den ihnen unterstehenden Unternehmen übermittelten. Jedes
einzelne Unternehmen hatte somit also eine klare Planvorgabe über die von ihm zu
2s produzierenden Güter und die dafür einzusetzenden Inputs. Auf der Unternehmens-
ebene verblieben somit keine nennenswerten Entscheidungsbefugnisse. Zentrale be-
triebswirtschaftliche Fragen, wie z.B. die Produktentwicklung, die Finanzierung, Inves-
titionsentscheidungen und Marketing, waren in der Planwirtschaft nicht auf der Unter-
nehmensebene zu entscheiden. [ ... ] Die Unternehmensleiter konnten höchstens der
30 Zentrale zurückmelden, dass sie mit den gegebenen Inputs nicht in der Lage seien ,
die von ihnen geforderte Outputmenge zu erstellen, um so eine Revision der Output-
menge nach unten zu erreichen.
Im Großunternehmen „Planwirtschaft" wurden somit alle Entscheidungen über die
vertikale Hierarchie des Planungsprozesses getroffen. Vertragliche Beziehungen zwi-
35 sehen den einzelnen Unternehmen waren grundsätzlich ausgeschlossen. Eine wichti-
ge Voraussetzung für die Planwirtschaft war daher die Abschaffung des Privateigen-
tums an Unternehmen. Denn nur wenn der Großteil der Unternehmen in staatlichem
Eigentum steht, ist es für die Planbürokratie möglich, die Volkswirtschaft insgesamt
nach ihren Vorstellungen zu steuern.
40 Die Verbraucher hatten bei diesem System ebenfalls keinen direkten Einfluss auf den
Produktionsprozess. Sie mussten mit den Gütern vorlieb nehmen, die die Planungs-
behörde für sie bei den Unternehmen „bestellt" hatte. [... ] Das Ergebnis waren große
Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage. Sie spiegelten sich in sehr lan-
gen Lieferzeiten oder großen Warteschlangen vor den Geschäften wider.
ternehmungen würden im Chaos enden. Diies ist jedoch nicht der Fall. Marktwirtschaf-
ten haben sich als bemerkenswert erfolgreich bei der Aufgabe erwiesen, Volkswirt-
schaften zu organisieren und zugleich die soziale Wohlfahrt zu fördern.
In seinem 1776 erschienen Buch „ The Wealth of Nations" machte Adam Smith die
2s berühmte und höchst bedeutsame Aussage: Haushalte und Unternehmungen wirken
auf Märkten zusammen, als ob sie von einer „unsichtbaren Hand" zu guten Markt-
ergebnissen geführt würden. [ ... ] Beim Studium der Volkswirtschaftslehre werden Sie
begreifen, dass Preise die Instrumente sind, mit denen die unsichtbare Hand die wirt-
schaftliche Aktivität dirigiert. Die Preise spiegeln beides: den gesellschaftlichen Wert
30 eines Guts und die sozialen Kosten der Produktion. Weil Unternehmungen und Haus-
halte bei ihren Kauf- und Verkaufsentscheidungen auf die Preise sehen, berücksichti-
gen sie bei ihren Entscheidungen unbewusst soziale Nutzen und Kosten ihrer Aktivi-
täten. Preise führen die individuellen Entscheidungsträger zu Ergebnissen, die in vielen
Fällen auch die soziale Wohlfahrt maximieren.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie den Ablauf des Planungsprozesses in einer Planwirtschaft (M 1).
2. Erläutern Sie, mit welchen Problemen eine Planwirtschaft bei der GüteNersorgung
konfrontiert wird (M 1 und M 2).
3. Entwerfen Sie eine Rede (> Methodenglossar) zum Thema „Vor- und Nachteile einer
Marktwirtschaft gegenüber einer Planwirtschaft".
2.1 .2 Märkte und Preise
Leitfragen Wie funktioniert die Welche Rolle spielen Wie lässt sich der Wirtschaftsprozess
Preisbildung in einer Angebot und Nachfrage? modellhaft darstellen?
Marktwirtschaft?
Ein Markt ist jeder Ort, an dem Güter getauscht höheren Preis und somit höh eren Verkaufserlösen
werden. Der Wochenma rkt in einer Kleinstadt ist mehr des entsprechenden Guts a n als bei einem
ebenso ein Ma rkt wie Verkaufsbörsen im Internet, niedrigen Preis. Beim Gleichgewichtspreis, bei
bei denen Güter angeboten oder nachgefragt wer- dem die angebotene mit der nachgefragten Menge
den. Au f einem Markt treffe n die Wünsche und übereinstim mt, bieten die Verkäufer gena u d ie
Absichten vo n Konsumenten und Produzenten Menge an, die die Käufer zu diesem Preis kau fen
aufeinander, von Arbeitgebern und -nehmern, wollen. Bei höheren Preisen e rgibt sich ein Ange-
von Ve rmietern und Mietern - kurz: von Käu fern botsüberschuss, umgekehrt fü hren niedrigere
u nd Verkäufern. Die Funktion des Marktes besteht Preise zu einem Nachfrageüberschuss.
dari n, d ie Pläne von Anbietern und Nachfragern
zu koo rdinieren. Der Ausgleich vo n Angebot u nd
Nachfrage erfo lgt durch den Markt- bzw. Preisme- Wie wirken Angebot und Nachfrage
chanismus. zusammen?
Die Haushalte als Nach frager streben eine Nutzen- Die Preisbildung bei vollkommener Konkurrenz
maximieru ng an, d. h. sie geben ih r Einkommen entspricht dem Ideal der Marktwirtschaft. Sie lässt
so aus, dass möglichst viele Bedürfnisse befriedigt sich mithilfe von mathematischen Modellen dar-
werden können(>Kap. 2.1.1 ). Wenn der Preis eines stellen und u ntersuchen: Das Verhalten der An-
Guts steigt, werden die Konsumenten die Nachfra- bieter und Nach frager wird durch Kurven inner-
ge nach diesem Gut verringern und im umgekehr- halb eines Koordinatensystems dargestellt. Die
ten Fall steigern. Die Unterneh men verfolgen das Nachfragekurve zeigt, wie die Nachfragemenge
Ziel der Gewinnmaximierung, sie bieten bei einem eines Gutes vom Preis abhä ngt. Dabei wird unter-
Informationsfunktion Koordinationsfunktion
Der Preis gibt Auskunft über den relativen Anbieter und Nachfrager planen ihr Ange-
Knappheitsgrad eines Gut es oder einer bot bzw. ihre Nachfrage nach einem Gut
Dienstleistung. Ein steigender Preis deutet oder einer Dienstleistung auf der Grundla-
auf eine zunehmende Knappheit hin und ge des Preises.
umgekehrt.
Knappheitsindikator Ausgleich von Angebot und Nachfrage
Selektionsfunktion Allokationsfunktion
Es können nur Unternehmen auf dem Preise lenken die Produktionsfaktoren Ar-
Markt bestehen, die zumindest kostende- beit und Kapital in die Wirtschaftsberei-
ckend anbieten, die anderen scheiden aus che, wo die erzielbaren Einkommen (Löh-
dem Markt aus. Nur Nachfrager, die bereit ne, Gewinne) am höchsten sind. Unter-
sind, den Preis zu bezahlen, erhalten das nehmen haben einen permanenten Anreiz
Gut oder die Dienstleistung. für die effiziente Verwendung knapper
Ressourcen.
Zuteilung und Auslese Anreize und Lenkung
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
stellt, dass die nachgefragte Menge bei sinkendem gibt, die als einzelne keinen Einfluss a uf den
Preis zunimmt, die Nachfragekurve hat daher eine Marktpreis haben (Modell der vollkommenen
negative Steigung. Andere Einflussgrößen der Konkurrenz). Von vollkommener Konkurrenz
Nachfrage sind etwa die Einkommen oder die Be- spricht man, wenn
dürfnisse der Haushalte. Wenn sich eine dieser
Einflussgrößen ändert, kommt es zu einer Ver- • sich am Markt eine sehr große Zahl von Anbie-
schiebung der Nachfragekurve. tern und Nachfragern gegenüberstehen,
• die ein praktisch identisches Gut handeln (Be-
Die Angebotskurve zeigt, wie die Angebotsmenge dingung der Homogenität),
eines Gutes vom Preis abhängt. Man geht davon • vollkommene Marktübersicht herrscht,
aus, dass die angebotene Menge bei steigendem • d ie Anpassungsprozesse am Markt schnell ab-
Preis zunimmt. Die Angebotskurve hat daher eine laufen und
positive Steigung. Ändern sich andere Einfluss- • es ansonsten keinen Grund gibt, einen Markt-
größen des Angebots, etwa die Produktionstech- teilnehmer einem anderen vorzuziehen (keine
nologie oder die Koste n, kommt es zu einer Ver- zeitlichen, persönlichen, sachlichen und räumli-
schiebung der Angebotskurve. Der Schnittpunkt chen Präferenzen).
von Angebots- und Nachfragekurve bestimmt das
Marktgleichgewicht. In der Regel trifft mindestens eine dieser Bedin-
gungen auf real existierende Märkte nicht zu, so
Das funktionieren des Preismechanismus setzt dass man hier von unvo llkommenen Märkten
einen Markt mit Wettbewerb und Konkurrenz vo- spricht.
raus, auf dem es viele Anbieter und Nachfrager
Aufgaben
2. Erklären Sie, warum die Nachfragekurve von links oben nach rechts unten und die Angebotskurve von links
unten nach rechts oben verläuft.
1METHODENKOMPETENZ
Die ökonomische Modellbildung ist d ie Untersu- flussgröße n wie der Nutzen, den verschiedene
chungs- und Erklä run gsmeth ode der Wirtschafts- Güter sti fte n, oder Preise u nd Kon summengen
t heorie. Dabei werden komplizierte wi rtschaftli- untersucht. Das Modell hat dabei den Vorteil, dass
che Zusammenhä nge au f möglichst einfache Art ökono mische Zusammenhänge (z.B. zwischen In-
und Weise da rgestellt. [...] A ußerdem wird häufig fl atio n und Arbeitslosigkeit) leichter zu durch-
a ngen ommen, dass alle Ein flussgrößen und Be- schauen sind u nd Teilausschnitte der Wirklichkeit
gle itumstände, die nicht un tersucht werden sol- (deshalb au ch Partialanalyse gen annt) untersucht
len, im Modell unverä ndert bleiben, die sog. Ce- werde n können, währen d die sonstigen Rahmen-
teris-paribus-Methode (unter sonst gleiche n bedingungen unverä ndert ble iben.
Bedingu nge n). Unter d iesen modellhafte n Bedi n- Duden Wirtschaft von A bis Z, Grundlagenwissen für Schule
gu ngen werden ve rschieden e ökonomische Ein- und Studium, Beruf und Alltag, 2013
Schritt 1: Orientierung
• Welcher Zusammenhang bzw. welche Zusammenhänge sollen durch das Modell erklärt werden?
• Welches sind die zentralen Einflussgrößen im Modell?
• Was sind die Kernaussagen des Modells?
Schrittl~Bewertung
Beispiel: Der Wirtschaftsprozess als ten Wirtschaftsweise. Zudem hat sich in entwickel-
Kreislaufmodell ten Volkswirtschaften die Trennung der Sphären
der privaten Haushalte und der Unternehmen
Die Wirtschaftswissenschaften versuchen durch herausgebildet. Die Wirtschaftstheorie spricht von
Modelle die Komp lexität von einzelwirtschaftli- Haushalten, in denen konsumiert wird, und von
chen Vorgängen verständlich zu machen. Eines Unternehmen, in denen die Produktion stattfindet.
der ersten Modelle der Wirtschaftswissenschaften
ist der Wirtschaftskreislauf, zuerst entwickelt vo n Stellt man die zwei Sektoren Haushalte und Un-
dem französischen Arzt und Ökonomen Francois ternehmen jn einem einfachen Wirtschaftskreis-
Quesnay ( 1694-177 4). Angelehnt an das System lauf dar, dann stellen die Haushalte den Unterneh-
des menschlichen Blutkreislaufs werden die Geld- men Faktorleistungen bzw. Produktionsfaktoren
u nd Güterströme einer Volkswirtschaft darge- zu r Verfügung (Boden, Kapital, Arbeit). Damit
stellt. Durch die Methode der Aggregation, d. h. produzieren die Unternehmen Güter und stellen
der Zusammenfassung von Einzelgrößen, werden diese den Haushalten zur Verfügung (Konsumgü-
ökonomische Transaktionen zu Strömen zusam- ter). Die Haushalte beziehen von den Unterneh-
mengefasst sowie gleichartige Wirtschaftssubjek- men entsprechende Faktoreinkommen (Löhne,
te zu Sektoren. Zinsen, Miete). Mit dem Einkommen bezahlen sie
die von den Unternehmen produzierten Güter
(Konsumausgaben).
Der einfache Wirtschaftskreislauf
Im Wirtschaftskreislauf entspricht jedem Güter-
Arbeitsteilung, Tausch und Geld gelten seit Adam strom ein Geldstrom, weswegen im Modell nur die
Smith als die prägendsten Elemente einer effizien- Geldströme erfasst werden.
private
••••••••
••••••••
Unternehmen
Haushalte
Güterkreislauf
--+ Geldkreislauf
Für den einfachen Wirtschaftskreislauf g ilt, dass zieren Unternehmen nicht nur Konsumgüter, son-
die mit der Produktion entstehenden Einkommen dern auch Investitionsgüter, mit denen sie ihren
in voller Höhe für den Konsum ausgegeben wer- Kapitalstock erweitern. Durch das Sparen der
den. Tatsächlich verwenden die Haushalte aber Haushalte und die Investitionstätigkeit der Unter-
nu r einen Teil ihres Einkommens für Ko nsumgü- nehmen fi ndet ein Vermögenszuwachs in der
ter, einen anderen Teil sparen sie. Ebenso produ- Volkswirtschaft statt.
1METHODENKOMPETENZ
Kapitalsammelstellen
(Vermögensänderung)
~ ...............- - -------
Löhne, Gehälter
Konsumausgaben
Unternehmen
Haushalte
Zinsen Steuern l
Export-
Import-
vergütung
,1.
_ s_ u_b_v_en_t_
io_ne_n_ _ erlöse
Löhne, Soziale Leist.
Steuern, Gebühren Transferzahlungen
Aufgabe
Prüfen Sie mithilfe des einfachen und des erweiterten Wirtschaftskreislaufs, welche Konsequenzen sich bei
folgenden wirtschaftlichen Ereignissen ergeben:
a) Sie schalten zuhause den Fernseher an.
b) Sie verlieren den Job.
c) Der Staat erhöht die Meh rwertsteuer.
2.1 .3 Die Soziale Marktwirtschaft
Leitfragen Was ist das Leitbild der Welche Aufgaben über- Auf welche Herausforderungen stößt
Sozialen Marktwirtschaft? nimmt der Staat in einer das Konzept der Sozialen Marktwirt-
Sozialen Marktwirtschaft? schaft?
Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ent- kungen des Marktprozesses zu verhindern oder
stand gegen Ende des Zweiten Welt kriegs und zumindest abzumildern. In den Worten von Mül-
g riff Elemente des Liberalismus und der christli- ler-Armack: ,,Die Freiheit des Marktes mit sozi-
chen Soziallehre auf. In dem Modell wird die aler Verantwortung verbinden. Primäres Koordi-
Marktwirtschaft als Grundprinzip anerkannt, nat ionsprinzip bleibt der Wettbewerb". Das
j edoch dem Staat eine aktive Rolle im Wirt- bedeutet, dass Verbraucher frei entscheiden kön-
schaftsprozess zugewiesen. Geistige Väter des nen, welche Güter sie kaufen (Konsumfreiheit).
Konzepts waren Walter Eucken ( 1891 - 1950), Pro- Unternehmer haben das Recht auf Eigentum an
fesso r für Volkswirtschaftslehre, und Alfred Mül- den Produktionsmitteln und die Freiheit, Güter
ler-Armack (1901 - 1978), von 1958 bis 1963 nach ihrer Wahl zu produzieren und abzusetzen.
Staatssekretär im Bundesministerium für Wirt- Der Wettbewerb zwischen den Unternehmen soll
schaft. Politisch geprägt wurde die Soziale Markt- das Erreichen der optimalen Verwendung der vor-
wirtschaft in Deutschland von Ludwig Erhard handenen Ressourcen gewährleisten.
( 1897- 1977), der von 1949-63 Wirtschaftsminis-
ter und von 1963-66 Bundeskanzler war. Die so-
zialliberale Koalition (1969-82) baute daran an- Welche Aufgaben übernimmt der Staat in der
schließend die sozialen Sicherungssysteme aus Sozialen Marktwirtschaft?
und erweiterte die betriebliche Mitbestimmung.
In der Sozialen Marktwirtschaft kann der Staat die
In der Sozialen Marktwirtschaft kommt dem Staat Marktfreiheit dort beschränken, wo die soziale
die Aufgabe zu, sozial unerwünschte Auswir- Gerechtigkeit und die soziale Sicherheit gefähr-
[_ Art. 2, 9, 11 , 12,
14 Abs. 1 GG
Art. 109 GG Art. 14 Abs. II., 15,
20GG
det sind. Der staatlichen Wirtschaftspolitik kommt Marktprozesses, da die Preisbildung dann nicht
die Aufgabe zu, die negativen Folgen vo n Markt- mehr, wie im Marktmodell skizziert, stattfindet.
prozessen wie etwa Konjunkturschwankungen
und Arbeitslosigkeit abzufedern. Auch sollen zu Betrachtet man die Situation in Deutschland,
starke Ungleichheite n in der Einkommens- und da nn bestehen auf vielen wichtigen Teilmä rkten
Vermögensverteilung staatlich ko rrigiert werden oligopolistische Marktstrukturen. Oft bildet sich
(>Kap. 2.2 - 2.4). dabei die Marktführerschaft eines Unternehmens
heraus, dessen Preissetzung die anderen Unter-
Der Staat übernimmt zudem Aufgaben, die über nehmen folgen.
Märkte nur sehr eingeschränkt wahrgenommen
werden können, wie etwa in der Bildungspolitik,
Sozialpolit ik und Strukturpolitik. Risiken wie Wie kann der Staat das Funktionieren des
Krankheit und Arbeitslosigkeit werden vom Staat Marktmechanismus gewährleisten?
durch gesetzliche Versicherungssysteme abge-
deckt. Zudem bilden die Mitbestimmung in Groß- Die Aufgabe des Staates in der Sozialen Markt-
unternehmen und die Beteiligungsrechte der Be- wirtschaft ist es, das Funktionieren des Marktpro-
triebsräte einen wichtigen Bestandteil der sozialen zesses zu gewährleisten. Diese Aufgabe über-
Marktwirtschaft in der Bundesrepublik. Diese nimmt in Deutschland das Bundeskartellamt,
wurden besonders in den l 970er J ahren in West- welches 1958 auf Grundlage des Gesetzes gegen
deutschland ausgebaut. Und nicht zuletzt soll der Wettbewerbsbeschränkung (GWB) gegründet
Staat den Wettbewerb a uf den Märkten garantie- wurde. Seine Hauptaufgaben sind
re n, d.h. verhi ndern, dass marktbeherrschende
Unternehmen entstehen, die den Marktmechanis- • die Fusionskontrolle,
mus a ußer Kraft setzen. • die Missbrauchsaufsicht bei marktbeherrschen-
den Unternehmen und
• die Überwachung des Kartellverbots.
Warum muss der Staat den Wettbewerb auf
Märkten kontrollieren? Bei Zu sammenschlüssen bzw. Fusionen von Un-
ternehmen können auf einzelnen Märkten Unter-
Das Marktmodell hat zur Voraussetzung, dass nehmen mit hohen Marktanteilen entstehen. Das
vollkommene Konkurrenz auf den Einzelmärkten Bundeskartellamt geht von ei ner Marktbeherr-
herrscht; das bedeutet, dass die einzelnen Anbie- schung aus, wenn drei Unternehmen einen Markt-
ter einen so geringen Marktanteil haben, dass sie anteil vo n mindestens 50 Prozent erreichen. Zu-
die Preisbildung nicht beeinflussen können (Poly- sammenschlüsse von Unternehmen k ann das
pol). Jeder Anbieter wird j edoch versuchen, einen Bundeskartellamt verbieten oder nur unter be-
möglichst großen Marktanteil für sein jeweiliges stimmten Auflagen erlauben. Allerdings sieht
Produkt zu erreichen und andere Anbieter aus das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung eine
dem Markt z u drängen. Häufig gibt es da rum auf Ministererlaub nis vor, d.h. das Bundeswirtschafts-
Märkten nur wenige An bieter mit j eweils ein em ministerium kann Zusammenschlüsse erlauben,
großen Marktanteil, die zusammen den Markt be- wenn gesamtwirtschaftliche Gründe - etwa der
herrschen (Oligopol). Wenn sich einer dieser An- Erhalt von Arbeitsplätzen - dafür sprechen. Au-
bieter gegenüber seinen Konkurrenten durchsetzt, ßerdem ist seit 2004 auf europäischer Ebene die
dann erlangt dieser dadurch eine Monopolstel- Europäische Kommission mit der Prüfung vo n
lung. Unternehmenszusammenschlüssen befasst, die
eine grenzü berschreitende Bedeutung haben.
In einem oligopolistischen Markt sind Preisab-
sprachen oder ein abgestimmtes Verhalte n der Weiterhin hat das Bundeskartellamt die Au fgabe,
Marktteilnehmer - die sogenannte Bildung vo n die Ausnutzung einer marktbeherrschenden
Kartellen - zur Verhinderung, Einschrä nkung Stellung durch Unternehmen zu kontrollieren,
oder Verfälschung des Wettbewerbs eher möglich zu verhindern bzw. mit Hilfe von Bußgeldern zu
als auf einem polypolistischen Markt. Dadurch sanktionieren. Anfang 2018 hat das Bundeskar-
besteht die Gefahr einer Beeinträchtigung des tellamt z.B. eine Branchenuntersuchung im Be-
2.1 Wirtschaftsordnungen und Märkte f
reich Online-Werbung eingeleitet, um die Ver- gionale Aufteilung von Märkten, sogenannte
marktung von Werbeflächen im Internet (z.B. bei Kartelle. Dies ist durch das GWB verboten, den-
Google, facebook) zu überprüfen. noch werden immer wieder illegale Kartelle gebil-
det bzw. Preisabsprachen getroffen. Die Aufgabe
Zudem treffen Unternehmen, um harte Preis- des Bundeskartellamts ist es, diese aufzudecken
kämpfe zu verhindern, Absprachen über Preise, u nd entsprechende Bußgelder zu verhängen
über zu produzierende Mengen oder über die re- (>Schaubild).
Die Rolle des Staates im Wirtschaftsprozess wird Mit Blick auf die stetig steigenden Staatsausgaben
unterschiedlich bewertet. In der klassischen Pers- wi rd in der öffentlichen Diskussion immer wieder
pektive wird dem Staat lediglich der Schutz des die Frage aufgeworfen, inwieweit die Staatsaus-
Eigentu ms, die Schaffung und Durchsetzung des gaben im bisherigen Ausmaß zu finanzieren sind
Rechtsrahmens (die so genannte Ordnungspoli- bzw. inwieweit die zunehmende Staatstätigkeit
tik) und der Schutz nach a ußen zugeordnet; in hinderlich für die Entwicklung einer funktion ie-
den Wirtschaftsprozess selbst sollte er nicht ein- renden (Sozialen) Marktwirtschaft ist. Zur Be-
greifen. Geht man jedoch davon aus, dass immer schreibung der Entwicklung der Staatstätigkeit
wieder Fälle von Marktversagen auftreten, dann wi rd die Staatsquote bzw. Staatsausgabenquote
erscheint es sinnvoll, dass der Staat in den Markt- herangezogen. Sie misst den Anteil der Staatsaus-
prozess eingreift (Prozesspolitik). Immer wieder gaben am BIP eines Landes. Betrachtet man die
weisen Ökonomen daraufhin, dass a uch staatliche Situation in Deutschland, dann stieg die Staats-
Eingriffe in den Marktmechanismus Krisen auslö- quote kontinuierlich. Während sie im Jahr 1960
sen können; in solchen Fällen h andelt es sich in Westdeutschland 32,90/o betrug, pendelte sie in
dann eher um Staatsversagen als um Marktversa- den letzten Jahren um die 440/o (> Schaubild auf
gen (> Kap. 2.2.3). der nächsten Seite).
2 Grundlagen der W irtschaftspolitik
70
60
50
- Deutschland
40
- Frankreich
Vereinigtes Königreich
30
USA
Japan
20
10
0
1995 2000 2005 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 201 7
Quelle: BMF
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die Aufgaben des Staates in der sozialen Marktwirtschaft. Beziehen Sie auch die Rolle des
Bundeskartellamts in Ihre Überlegungen mit ein.
2. Am 8. Dezember 2016 trat die Ministererlaubnis „Edeka / Kaiser's Tengelmann" vom damaligen Bundeswirt-
schaftsminister Sigmar Gabriel in Kraft. Stellen Sie den Fall in einem Referat vor (, Methodenglossar).
3. Diskutieren Sie die Aussage, die staatlichen Ausgaben für den Erhalt der sozialen Marktwirtschaft in
Deutschland seien in Zukunft nur noch schwer zu finanzieren.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Wenn die unsichtbare Hand so w underbar funktioniert, wozu brauchen wir dann die
Regierung? Nun, eine Aufgabe der Regierung besteht gerade darin, die unsichtbare
Hand zu schützen. Märkte werden nur dann richtig funktionieren, wenn die Eigentums-
rechte durchgesetzt werden. Kein Bauer wird Getreide anbauen, wenn er damit rech-
5 nen muss, dass seine Ernte gestohlen wird. Kein Restaurant wird Speisen servieren,
wenn nicht sichergestellt ist, dass der Gast vor dem Verlassen auch dafür bezahlt. Wir
alle verlassen uns darauf, dass staatliche Institutionen wie z.B. die Polizei und die
Gerichte unsere Rechte über die Güter sichern, die wir produzieren.
Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund, warum wir die Regierung benötigen. Ob-
10 wohl Märkte gewöhnlich gute Mechanismen für die Steuerung ökonomischer Aktivitä-
ten sind, gibt es einige wichtige Ausnahmen von dieser Regel. Es gibt zwei wichtige
Gründe für eine Regierung, in der Marktwirtschaft zu intervenieren: zur Steigerung der
Effizienz und zur Förderung der Gerechtigkeit. Die meisten politischen Maßnahmen
zielen also darauf ab, entweder den wirtschaftlichen Kuchen zu vergrößern oder seine
15 Aufteilung in Stücke zu verändern.
Die unsichtbare Hand bringt Märkte gewöhnlich dazu, die Ressourcen effizient zu
verteilen. Ungeachtet dessen gibt es mehrere Gründe dafür, dass die unsichtbare Hand
manchmal nicht funktioniert. Die Ökonomen verwenden den Begriff Marktversagen für
eine Situation, in der ein Markt alleine es nicht schaffen würde, die Ressourcen effizient
20 zuzuteilen. Ein möglicher Grund von Marktversagen sind externe Effekte oder so ge-
nannte Externalitäten. Eine Externalität ist die Wirkung der Handlungen einer Person
auf die Wohlfahrt eines unbeteiligten Dritten. Das klassische Beispiel ist die Luftver-
schmutzung.
Eine andere mögliche Ursache für Marktversagen kann in der Marktmacht liegen.
25 Marktmacht ist die Fähigkeit eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe, die Marktprei-
se übermäßig zu beeinflussen. Nehmen wir z. B. an, jedermann in einer Stadt braucht
Wasser, es gebe aber nur eine einzige Quelle. Der Eigentümer der Quelle hat Markt-
macht - in diesem Fall ein Monopol - über den Verkauf von Wasser. Der Eigentümer
der Quelle unterliegt nicht dem rigorosen Wettbewerb, mit dem die unsichtbare Hand
30 üblicherweise die Eigeninteressen unter Kontrolle hält. Sie werden erkennen, dass in
diesem Fall eine Regulierung des vom Monopolisten verlangten Preises möglicherwei-
se eine Effizienzsteigerung nachsichziehen kann.
Noch weniger befähigt ist die unsichtbare Hand dazu, den ökonomischen Wohlstand
gerecht zu verteilen. Eine Marktwirtschaft belohnt die Menschen nach ihrer Fähigkeit
35 zur Herstellung von Gütern, für die andere bereit sind zu bezahlen. Der weltbeste
Basketballspieler verdient mehr als der weltbeste Schauspieler, weil die Menschen
mehr bezahlen, um den Basketballspieler zu sehen. Die unsichtbare Hand garantiert
nicht, dass jedermann genug zu essen, Kleidung und die notwendige ärztliche Betreu-
ung hat. Ein Ziel verschiedener politischer Maßnahmen, wie etwa der Einkommensbe-
40 steuerung oder des Sozialhilfesystems, ist die gleichmäßigere Verteilung des ökono-
mischen Wohlstands.
Zu sagen, dass die Regierung die Marktergebnisse zeitweilig verbessern kann, heißt
nicht, dass dies tatsächlich immer geschehen wird. Die Politik wird nicht von Engeln
gemacht, sondern von einem beileibe nicht vollkommenen politischen Prozess gestal-
45 tet. Manchmal werden Maßnahmen einfach deshalb erfunden, um mächtige Gruppen
zu belohnen. Manchmal werden sie von gutwilligen politischen Führern entworfen, die
nicht hinreichend unterrichtet sind.
N. Gregory Mankiw / Ma rk P. Taylor, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 5. übera rbeite und erweiterte
Auflage, übersetzt von Adolf Wagner/ Ma rco Herrmann, 2012, S. I Jf
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Aufgaben
1. Nennen Sie die Gründe, die aus der Sicht von Mankiw für einen Eingriff von Regierungen in
den Marktprozess sprechen (M 1).
2. Arbeiten Sie die Kernaussage der Karikatur M 2 heraus (> Methodenkompetenz: Karikatu-
ren analysieren).
3 . Erörtern Sie vor dem Hintergrund Ihrer Ergebnisse aus Aufgabe 1 und 2 die Rolle des
Staates in der Sozialen Marktwirtschaft.
• Konjunktur- und Wirtschaftspolitik
2.2.1 Wirtschaftliche Entwicklung und Konjunkturzyklus
Leitfragen Wie wird die wirtschaftliche Welche Schwankungen im Wie lassen sich die
Entwicklung anhand des Wirtschaftsablauf können Schwankungen begründen?
Bruttoinlandsprodukts unterschieden werden?
gemessen?
Als zentraler Maßstab für die EntwickJung des Da ein Teil der im Inland nachgefragten Waren
Wirtschaftsgeschehens gilt das Bruttoinlandspro- und Dienstleistungen im Ausland produziert
dukt (BIP). Das BIP erfasst die Summe aller in wird, müssen die Importe (M) zur Ermittlung des
einer Periode in einer Volkswirtschaft produzier- BfP abgezogen werden. Die Verwendung des
ten Waren und Dienstleistungen, b ewertet in Prei- BIP kann somit mit der fo lgenden Formel be-
sen. Um Doppelzählungen zu vermeiden, müssen schrieben werden:
bei der Berechnung des BIP Vo rleistungen abge-
zogen werden. Dabei h andelt es sich u m Güter, die
von anderen Unternehmen bezogen und in der
gleichen Wirtschaftsperiode im Produktionspro- • Die Verteilungsrechnung ermittelt die bei der
zess eingesetzt werden. Bei der Ermittlung des Produktion entstandenen Einkommen, die sich
Bruttoinlandsprodukts zu Marktpreisen geht man aufteilen a uf die Arbeitnehmerentgelte sowie
vom Inl andskonzept aus: Erfasst werden die Leis- die Unternehmens- und Vermögenseinkommen.
tungen, die in der Bundesrepublik Deutschland
erbracht worden sind, gleichg ültig, ob es sich um
inländische oder ausländische Unternehmen han- Reales und nominales BIP
delt. Es lassen sich drei Grundformen der Berech-
nung des Bruttoinlandsprodukts unterscheide n: In der Volkswirtschaftslehre unterscheidet man
zwischen nomi naler und realer Darstellung von
• Die Entstehungsrechnung erfasst die Brutto- wirtschaftlichen Größen. Nominale Größen sind
wertschöpfung der Unternehmen (das ist der a usgedrückt im aktuellen Geldwert eines J ahres,
P rodu ktio nswert abzüglich der Vorleistungen), bei realen Größen wird diejährliche Preisentwick-
ergänzt um die indirekten Steuern abzüglich der lung heraus gerechnet, es findet eine Inflations-
Subvent ion en, woraus sich das gesamtwirt- bereinigung statt. Steigt beispielsweise das nomi-
schaftliche Angebot ergibt. nale BIP in einem Jahr um 2 Prozent und die
Inflationsrate steigt um 1 Prozent, so beträgt der
• In der Verwendungsrechnung werden die fol- Anstieg des realen BIP 1 Prozent, da tatsächlich
genden aggregierten Bestandteile der gesamt- zusätzliche Leistungen in Form von Waren und
wirtschaftl ichen Nachfrage zusammengefasst: Dienstleistungen nur in dieser Größenordnung
erstellt worden sind. Für den Vergleich vo n Grö-
a) Private Konsumausgaben (CH) ßen über mehrere J ahre verwendet man deshalb
b) Staatsausgaben (C5l) in der Regel reale Werte.
c) Bruttoinvestitio nen (IbJ
d) Exporte (X) Das reale Bruttoi nlandsprodu kt dient in der Wirt-
e) Importe (M) schaftstheorie sowie in der Öffentlichkeit meist als
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
zentraler Indikator für die wirtschaftliche Ent- wird als Indikator zur besseren Vergleichbarkeit
wicklung einer Volkswirtschaft, wobei ein mög- das BIP pro Kopf benutzt, da sich nur dadurch
lichst hohes Wachstum des BfP traditionell als unterschiedlich große Volkswirtschaften sinnvoll
positiv bewertet wird. Im internationalen Kontext vergleichen lassen.
USA 62.152,07
Deutschland
Kanada
Frankreich
Großbritannien
Japan
Südkorea
Russland 11.946,65
Türkei - 11.114,26
Brasilien - 10.224,03
China - 10.087,83
Indien i 2.134,75
0 10.000 20.000 30.000 40.000 50.000 60.000 70.000
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in US-Dollar
f:!Statista 2018
Wirtschaftliche Schwankungen und Konjunktur dukts wird als prozentuale Veränderung im Ver-
gleich zum Vorjahr angegeben und gilt als wich-
Meldungen, wie „das Wachstum des Bruttoin- tiger Indikator.
landsprodukts hat im letzten Quartal erneut zuge-
nommen", ,,die Konsumneigung steigt an", ,,die
Arbeitslosigkeit ist auf einem neuen Tiefstand", Die Phasen des Konjunkturzyklus
„die Investitionsquote ist in den letzten Jahre n
zurückgegangen" und „Exporte stagnieren erst- Konjunkturelle Schwa nkungen lassen sich ideal-
malig" laufen täglich durch die Medien. Sie ver- typisch mit vier Phasen in einem Konjunkturzy-
mitteln, dass die wirtschaftliche Entwicklung ei- klus darstellen. Die Dauer der Zyklen ist unter-
ner Volkswirtschaft nicht stetig verläuft, sondern schiedlich und bewegt sich für die Bundesrepublik
einem Auf und Ab unterliegt. zwischen vier bis zehn Jahren. Im Einzelnen las-
sen sich die vier Konjunkturphasen modellhaft
Auch wenn sich marktwirtschaftlich organisierte wie fo lgt beschreiben:
Volkswirtschaften in der Regel durch ein ständi-
ges Wachstum des Bruttoinlandsproduktes aus- • Der Aufschwung ist gekennzeichnet durch ein
zeich nen, treten mit einer gewissen Regelmäßig- steigendes Bruttoinlandsprodukt, eine steigende
keit wirtschaftliche Schwankungen um den Produktion und Investitionstätigkeit der Unter-
Wachstumstrend auf. Sie werden mit dem Begriff nehmen, etwas verzögert steigendem privaten
Konjunktur bezeichnet. Zur Beschreibung der Konsum und meist abnehmender Arbeitslosig-
konjunkturellen Lage wird zumeist das reale (in- keit. Die Gewinne steigen, nach und nach auch
flationsbereinigte) Bruttoinlandsprodukt genutzt. die Löhne, Zinsen und Inflation bleiben zu-
Die j ährliche Veränderung des Bruttoinlandspro- nächst niedrig, aber mit steigender Tendenz.
2.2 Konjunktur- und Wirtschaftspolitik 1
geringen Nachfrage, was Produktionseinschrän- • Exogene Theorien sehen die Ursachen für kon-
kungen und eine Freisetzung von Arbeitskräf- junkturelle Schwankungen in Gründen, die
ten zur Folge hat. außerhalb des Wirtschaftsgeschehens liegen,
bedingt etwa durch natürliche Einwirkungen
• Die Überproduktionstheorie betont dagegen die wie Naturkatastrophen und Klimawandel oder
Tendenz, dass eine ständige Ausdehnung und polit ische Krisen und Kriege.
Rationalisierung der Produktion - bedingt
durch die Ko nkurrenz um Marktanteile - zu zy-
klischen Angebotsüberschüssen führt. Wie lässt sich die konjunkturelle Entwicklung
messen?
• Monetäre Theorien gehen davon aus, dass Geld-
mengen- und Zinsveränderungen u rsächlich Zur Beschreibung der konjunkturellen Lage und
verantwortlich für die Auf- und Abwärtsbewe- für Prognosen über die zukünftige wirtschaftl iche
gungen des Bruttoinlandsprodukts sind. Dem- Entwic klun g werden neben dem BIP auch ver-
nach fü h rt z. B. eine Ausdehnung der Geldmen- schiedene andere Indikatoren genutzt. Dazu wird
ge zu einem Aufschwung, der dann in eine z.B. auf die Entwicklung der Industrieproduktion,
Rezession münden kan n, wenn die Zentralbank der Kapazitätsauslastung der Unternehmen, der
bei einer Gefährdung des Preisniveaus aufgrund Arbeitslosigkeit und der Verbraucherpreise zu-
steigender Inflationsraten mit einer Geldmen- rückgegriffen. Nach dem zeitlichen Ablauf lassen
genbegrenzung und mit Zinserhöhungen re- sich Früh-, Präsens- und Spätindikatoren unter-
agiert (> Kap. 2.2.5). scheiden.
Konjunkturindikatoren
l
z.B. Geschäftsklima-
l
z. B. Kapazitätsauslas-
l
z.B. Arbeitsmarkt,
index, Auftragseingän- tung, Produktionsindex, Bruttoinlandsprodukt,
ge, Baugenehmigungen Handelsbilanz Preisindex
Aufgaben
1 . Stellen Sie einige typische Saisonarbeitsplätze aus Ihrem Erfahrungsumfeld vor und ermitteln Sie an einem
Beispiel, in welchem Arbeitsverhältnis dort Beschäftigte stehen.
3. In welcher Konjunkturphase befindet sich aktuell die deutsche Volkswirtschaft? Begründen Sie Ihre
Einschätzung.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Die deutsche Wirtschaft wächst im achten Jahr und kein Abschwung ist in Sicht.
Eines haben so ziemlich alle Länder dieser Welt gemein: In ihrer Wirtschaft geht es auf
und ab. Mal herrscht eitel Sonnenschein - und dann, scheinbar wie aus heiterem
Himmel, ziehen düstere Wolken auf, und die Gewinne der Unternehmen gehen zurück.
5 Also senken sie ihre Ausgaben für neue Maschinen, Anlagen und Gebäude, fahren ihre
Produktion runter und reduzieren ihr Personal. Und zwar so lange, bis sie wieder Ge-
winne erzielen und sich die gesamte Volkswirtschaft wieder erholt.
Lange galt dieses konjunkturelle Auf und Ab als unumstößliches Gesetz. Doch seit
einiger Zeit scheint die deutsche Wirtschaft den Zyklus durchbrochen zu haben. Der
10 letzte Abschwung in Deutschland ist, gemessen an den Erfahrungen der Vergangen-
heit, eine halbe Ewigkeit her, ausgelöst wurde er durch die globale Finanz- und Wirt-
schaftskrise 2007/2008. Seither ging es eigentlich nur noch voran: Aufs Jahr gerech-
net, wuchs die deutsche Wirtschaft 2016 zum siebten Mal in Folge. Die letzte Phase
mit Negativwachstum ist drei Jahre her, doch nach einem kurzen Quartal verzogen sich
15 die Wolken wieder.
Konsum. Hinzu kommt, dass in Zeiten der Hochkonjunktur normalerweise auch die
Löhne und Preise überhitzen - was in Deutschland ebenso wenig zu beobachten ist.
Stephan Kaufman n, Aufschwung nicht für alle, in: Frankfurter Rundschau, 26.8.2017, S. 11
Aufgaben
2. Erläutern Sie, welche Ursachen Maja Brankovic und Stephan Kaufmann für den Auf-
schwung in Deut schland verantwortlich m achen (M 1 und M 2).
3. Nehmen Sie in einem Leserbrief Stellung zum Kommentar von Stephan Kaufmann (M 2).
2. 2. 2 Konjunktur- und Wirtschaftspolitik in Deutschland
Leit fragen Welche wirtschaftspolitischen Wie werden die Ziele Inwiew eit bestehen Zielkonflikte
Ziele werden in der sozialen begründet und und wie können diese gelöst
Marktwirtschaft verfolgt? gemessen? werden?
Verl ief der wirtschaftl iche Wiederau fschwung in konflikten im „magischen Viereck" kommt. Wäh-
Westdeutschla nd nach 1948 zunäc hst relativ rend die Ziele Wirtschaftswachstum und hoher
krisenfrei, flammte mit der erste n Wirtschaftskri- Beschäftigungsstand meist als kompatibel a ngese-
se 1966-67 die Diskussion um die Notwendigkeit hen werden, geht man davon aus, dass Voll be-
staatlicher Ko nj u nkturpol itik neu au f. 1967 ver- schäftigung und Preisniveaustabilität i. d. R. schwer
abschiedete die da malige große Koalition unter gleichzeitig zu erreichen sind. Welchen Zielen Vor-
Federführung des Wirtschaftsprofessors u n d da- rang eingerä umt wird, hängt von den anstehenden
maligen Wirtschafts ministers Karl Sch iller (1966- Problemen ab, aber auch von der wirtschaftstheo-
72) das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und retischen Position sowie von politisch en Präferen-
des Wachstums der Wirtschaft" (Stabilitätsgesetz). zen. Zudem sind im Stabilitätsgesetz Ziele nicht
In ihm wurden in Artikel 1 die Ziele einer staatli- berücksichtigt, die nach 1967 stärker in den Blick-
che n Wirtschaftspolitik fo rmuliert: punkt rückten (,,magisches Vieleck"); so z. B.
,,Bund u nd Länder haben bei ihren wirtschafts- • das Ziel einer gerechten Einkommens- und
und fin a nzpolit ischen Maß nahme n die Erforder- Vermögensverteilung (>Kap. 2.4),
nisse des gesamtwirtschaftlic hen Gleichgewichts • die Reduzierung der zunehmenden Staats-
zu beachten. Die Maßna hmen sind so zu treffen, verschuldung (>Kap. 2.5) und
dass sie im Ra hmen der ma rktwirtsch aftlichen • das Ziel einer umweltverträglichen Wirtschafts-
Ordnung gleichzeitig zur Stabilit ät des Preisni- entwicklung (>Kap. 2.8).
veaus, zu einem hohen Beschäftig ungsstan d und
außenwirtschaftlich em Gleichgewicht bei einem
stetigen und angemessen en Wirtschaftswachstum Das magische Viereck der Wirtschaftspolitik
Angaben für Deutschland
beitrage n."
Wirtschaftswachstum Saldo der Le1stungsb1lanz
1n Prozent m M1lharden Euro
+ 2,0
Ziel: Preisstabilität
iiiii eJ
• ein außen wirtschaftliches Gleich gewicht, + 1,5
2012 201 3 2014 2015 2016 2012 2013 2014 2015 2016
Die vier Ziele des Stabilitätsgesetzes können nicht •Arbeitslose in % aller zivilen Erwerbspersonen Quelle: Stat. Bundesamt, Deutsche Bundesbank,
C Globus Bundesagentur fur- Arbeit
gleichzeitig erreicht werden, so dass es stets zu Ziel-
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
Das Wachstums-Klima
Realer Zuwachs oder Rückgang des Bruttoinlands-
produkts (in %)
0
(\j
....
r-.
r,j
00
,...:
Deutschland
in
lt) M
lt)
"'lt)
'
ab 1990: Gesamtdeutschland
BIP bis 1991 in Preisen von 1991
ab 1992: Kettenindex
auf Vorjahrespreisbasis
Quelle: Destatis
1990/91: IAB Stand: 2/2018
Früheres Bundesgebiet :J-
~---------------
· _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ IZAHLENBILDERl-ffi
c Bergmoser + Höller Verlag AG 220000
Ziel einer erfo lgreichen Konjunkturpolitik ist da- nicht gerecht verteilt wü rden, zunehmende öko-
rum die Vermeidung m aterieller Verluste durch logische Schäden (z.B. übermäßiger Wasserver-
Wirtschaftskrisen bzw. ein stetiges Wirtschafts- brauch) durch Wachstum entstünde n und über-
wachstum. Wie hoch ein angemessenes Wirt- flüssiger Konsum gefördert werde (> Kap. 2.8).
schaftswachstum zu veranschlagen ist, ist nicht
eindeutig definiert, zumal hoch entwickelte
Volkswirtschaften langsamer wachsen als solche II. Vollbeschäftigung als konjunktur-
in Entwicklung. Als sinnvoll wird oft ein Wachs- politisches Ziel
tum von mindestens 2 Prozent angesehen, da man
sich davon eine Zunahme von Arbeitsplätzen ver- Arbeitslosigkeit stellt für die Betroffenen eine hohe
spricht. Allerdings fallen die Wachstumsraten in Belastung dar, da sie mit finanziellen Einbußen und
den h ochentwickelten Volkswirtschaften in den persönlichen Einschränkungen verbunden ist.
letzten Jahren im Schnitt eh er geringer aus. Gleichzeitig belastet sie häufig auch die Beziehun-
gen zum gesellschaftlichen Umfeld und kann sogar
Gegen das Ziel des Wirtschaftswachstums wird zu einem Rückzug aus dem gesellsch aftlichen Le-
eingewandt, dass Wirtschaftswachstum auch Ar- ben führen. Gesamtwirtschaftlich gesehen ergeben
beitsp lätze vernichten könne, die Einkommen sich für den Staat aus Arbeitslosigkeit Steuermin-
2.2 Konjunktur- und Wirtschaftspolitik f
Arbeitslosigkeit in Deutschland
1950-2015
1990: Deutsche Einigung 2005:
Arbeits- Arbeits-
~ markt- lose
Rekonstruktion der in Mio
deutschen Wirtschaft Umbau der ost- reform 2009: (Jahres-
1. Ölkrise 2. Ölkrise deutschen Wirtschaft Finanz- durch-
,,Wirtschaftswunder" Globalisierung krise schnitt)
---V--- --V-- -y- T
Eingliederung
der Flüchtlinge - 4-
und Vertriebenen
1973: Stopp
1961: Bau der Arbeitskräfte-
der Mauer anwerbung
---y- -r- 3
Vollbeschäftigung
Anwerbung 2
ausländischer
Arbeitnehmer
k . . . :.J
1-
0
1950 55 60 65 70 75 80 85 90 95 2000 05 10 15 1617
1950-90: früheres Bundesgebiet {bis 1958 ohne Saarland); ab 1991: Deutschland
IZAHLENBILDERl-ffi
e> Bergmoser + Höller Verlag AG 2582/9
dereinnahmen und Beitragsausfälle bei den Sozial- Die Arbeitslosenquote allein ist jedoch nu r von
versicherungen (> Kap. 2.5. 1). Hinzu kommen er- beschränkter Aussagefäh igkeit. Sie erfasst nur ei-
hebliche Kosten durch arbeitsmarktpolitische nen Teil der Erwerbslosen; nämlich die bei der
Maß nahmen wie Lohnersatzleistun gen (Arbeitslo- Agentur fü r Arbeit registrierten Arbeitslosen. Die
sengeld) und Arbeitsbeschaffungsmaßnah men. Zu- Gruppe der nicht registrierten A rbeitslosen wird
dem ist die Binnennachfrage bei hoher Arbeitslo- als „Stille Reserve" bezeichnet. Sie umfasst Perso-
sigkeit geringer als bei einem hohen Beschäfti- nen, die ein e Arbeit suchen, ohne arbeitslos ge-
gungsstand (> Kap. 2.2.3). meldet zu sein : z.B. Jugendliche, die keine Lehr-
stelle gefunden haben sowie weitere Personen, die
Insgesamt kann Arbeitslosigkeit als ein Brachliegen durch länge re Arbeitslosigkeit oder unterbrochene
wirtschaftlicher Ressource n a ngesehen werden. Im Berufstätigkeit den Zuga ng zum Arbeitsmarkt
Stabilitätsgesetz ist darum das Ziel eines hohen Be- verloren haben.
schäftigungsstands, in der öffentlichen Diskussion
griffiger auch als Vollbeschäftigung bezeichnet, Im weiteren Sinne fallen darunter auch alle Per-
festgeschrieben. sonen d ie s ich in arbeitsmarktpolitischen Maß-
nahmen der Bundesagentur fü r Arbeit befinden,
dies wird au ch als „verdeckte" oder „versteckte"
Wie wird Arbeitslosigkeit erfasst? Arbeitslosigkeit bezeichnet. Gelegentlich wird
auch die Kurza rbeit dazu gezählt.
In Deutschland wird die Arbeitslosenquote (AQ)
definiert als A nteil der bei den Arbeitsämtern re- Zur Beschreibu ng der Beschäftigungssituation in
gistrierten Arbeitslosen an den gesamten Erwerb- einem Land zieht man zusätzlich den Indikator
spersonen in Prozent: ,,offene Stellen" heran. Er weist die freien Arbeits-
plätze aus, d ie Unternehmen der Agentur für Ar-
A Q= Registrierte Arbeitslose x lOO O/o beit melden. Aber auch hier gibt es Einschränkun-
Erwerbspersonen gen, den n die Zahl der tatsäch lichen offenen
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
Erwerbstätigenquote der 20-64-Jährigen in Deutschland nach Geschlecht von 2000 bis 2016
85%
81,7% 82,1% 82,1% 82,2% 82,3% 82,7%
80,4%
80, 1 % 796%
79,1% '
80% 01 78% 78,6%
77 3°/c 77' 7 /O
76,5% 76,4% 76,5% 76,9% ' 0
75,6%
74,8%
$ 74% 74,2% 73 6% 74,5%
g 75% 73,1 % '
c:r
C
72,5%
Q)
O')
71,3% 71,6%
~ 69,7%
~ 68 7°/c 69•1 % 68 8% 68,7%
! 70% ' 0 ' 68,4% 67,9%
67,8%
w 66,7%
65%
~-...----....
61,6% 61,8% 62%
60,7%
~
60%
Stellen ist meist deutlich höher als die der gemel- gleich vo n Arbeitsangebot und -nachfrage am
deten, da die Arbeitgeber keiner Meldepflicht von Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
offenen Stelle n unterliegen.
• Saisonale Arbeitslosigkeit ist bedingt durch
Fü r die Beurteilung des Beschäftigungsstands und Witterungs- und andere jahreszeitliche Einflüs-
die Entwicklung einer Volkswirtschaft ist a uch se, die zu Schwankungen im Arbeitsvolumen
interessant, wie sich der Anteil der Erwerbstätigen führen.
an der Wohnbevölkerung im erwerbsfähigen Alter
(definiert ab 15 Jahren bis zum gesetzlichen • Konjunkturelle Arbeitslosigkeit entsteht bei ei-
Renteneintritt) entwickelt (Erwerbstätigenquote). nem konjunkturell bedingten Rückgang der ge-
Hierbei spielt auch die Höhe der Frauenerwerbs- samtwirtschaftlichen Nachfrage. Sie ist eher
tätigkeit eine große Rolle (> Schaubild: Erwerbs- mittelfristiger Natur und man geht davon aus,
tätigenquote). dass sie im Laufe eines erneuten Aufschwungs
wieder zurückgeht.
Deutschlands Außenbilanzen
Überschuss{+) bzw. Defizit{-) in Milliarden Euro
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016*
300
H ndelkbilanz 1 1
260,0 261,3
L istunlgsbilanz
250 - - -- - - --- t- --- - -
200
156,1
150 132,8
100 Handelsbilanz:
S~ldo des Warenverkehrs
m,t dem Ausland
50 Leistungsbilanz:
Handelsbilanz + Dienstleis-
tungsbilanz (z B R .
· · e,seaus-
0 gaben) + Saldo der Über-
tra?ungen und Einkommen
zwischen In- und
Ausland
- 50 -37,0
Quelle: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bundesbank ' vorläufig Stand April 2017 ©GloJ~,I
2 Grundlagen der W irtschaftspolitik
schuldung der betroffenen Volkswirtschaft bewir- genwert von Gütern - weniger wert ist. Für Un-
ken ka nn, ka nn ein anda uernder Überschuss ternehmen wi rd die Planu ng des Produktions- so-
wiederum das Wachstum einer Volkswirtschaft wie des Investitionsprozesses erschwert. Im
fördern u nd zur Sicherung von Arbeitsplätzen Extremfall verliert das Geld seine Funktion als
beitragen, dies a ber unter Umständen auf Kosten Wertaufbewahrungsmittel oder gar als Zahlungs-
der defizitären Volksw irtschafte n (> Kap. 2.5.2). mittel.
Darüber hinaus führen Außenhandelsüberschüsse
zu einer wachsenden Abhängigkeit vo n de r inter- Aus diesen Gründen wi rd im Stabilitätsgesetz das
nationalen Wirtschaftsentwicklung. Ziel der Preisniveaustabilität form uliert. Die Eu-
ropäische Zentralbank hat für den Euro die Ziel-
m arke einer Inflationsrate unter, aber nahe zwei
IV. Stabilität des Preisniveaus als Prozen t festgelegt (>Kap. 2.6. 1). Auch eine Defl a-
konjunkturpolitisches Ziel tion - also ein Sinken des Preisniveaus - gilt als
problematisch, weil Unternehmen u nd Konsu-
Mit dem Begriff Inflation wird ein an haltender menten sonst Neuinvestit ionen bzw. größere Neu-
Prozess der Preissteigerungen bezeichnet. Steigen anschaffungen in Erwartung sinkender Preise auf
die Lohneinkomme n und die Sozialleistungen schieben wü rden, was zu einer Absch wächu ng des
nicht in entsprechendem Maße, kommt es für die Wirtschaftswachstums oder gar einer Rezession
Konsu me nten zu einem Verlust an Kaufkraft, da führen kann. Bis vor einigen J ahren spielte die
man für ein bestimmtes Einko mmen nach und Gefahr einer Deflation keine Rolle, d och nach der
nach weniger Waren erhält. Ebenso betroffen vo n Finanzkrise 2007/2008 bestanden im Euro-Rau m
einer Inflation sind Sparer, da ihr Sparguthaben deflationäre Tende nzen.
am Ende des Anlagezeit raums real - also in Ge-
Aufgaben
1 . Geben Sie die vorrangigen Ziele der Konjunkturpolitik in Deutschland wieder.
2. Recherchieren und analysieren Sie die aktuellen Daten zum „magischen Viereck"(, Grafik).
3. Eine Schlagzeile aus der Tageszeitung: ,,Historisch niedrige Inflationsrate - gute Aussichten für die Verbrau-
cher". Setzen Sie sich kritisch mit der Schlagzeile auseinander.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Achtung, dieser Text kann Ihnen die Laune verderben! Dabei hat Deutschland gerade
beste Laune, wirtschaftlich gesehen zumindest. Es gibt so wenig Arbeitslose wie seit
Jahren nicht mehr, die Steuereinnahmen sind hoch, die Firmen haben zu tun, die Leu-
te kaufen ordentlich ein, nehmen Kredite auf, bauen Häuser. Deutschlands Wirtschaft
5 - so könnte man es sagen - schmeißt eine Party mit Erdbeerbowle.
Doch auf jeder allzu wilden Party gibt es immer einen, der am Ende das Licht anschal-
tet und „Die Party ist vorbei" ruft. In diesem Artikel spielt diese Rolle Giemens Fuest,
der neue Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts lfo in München. Er sagt: ,,Meines
Erachtens ist das größte wirtschaftliche Problem, das wir derzeit haben, der Rückgang
10 des Wachstums. Auch in Deutschland."
Das passt kaum mit dem aktuell guten Gefühl der Deutschen zusammen. Um Fuest
zu verstehen, muss man einen Schritt zurücktreten und nicht nur auf die Arbeitslosen-
zahlen blicken, sondern auf das Wachstum. Die deutsche Wirtschaft ist im vergange-
nen Jahr um 1,7 Prozent gewachsen, für dieses Jahr rechnen die Prognostiker mit 1,6
15 Prozent. Das ist für unsere Verhältnisse nicht schlecht, aber auch nicht berauschend.
[... ]
Die Inflation ist extrem niedrig, und das Wachstum hat sich zwar europaweit wieder
etwas erholt, es gibt auch positive Ausreißer nach oben, aber eben auch Ausreißer
nach unten. Ein Boom in Europa sähe anders aus. 2015 wuchs der Euroraum etwa im
20 gleichen Tempo wie Deutschland: um 1,7 Prozent. [... ]
„Wer sagt, dass wir kein Wachstum mehr brauchen, der denkt oft, er brauche doch
kein zweites oder drittes Auto", sagt Fuest. In Wirklichkeit geht es aber um etwas
anderes: Haben wir teil am medizinischen Fortschritt? Haben wir teil an neuen Formen
der Kommunikation? Und nicht zuletzt hilft Wachstum, Beschäftigung zu schaffen.
25 Viele Länder Europas leiden noch immer unter hoher Arbeitslosigkeit, insbesondere
Jugendarbeitslosigkeit. ,,Es ist inhuman zu fordern, dass das Wachstum aufhören
muss" , findet Fuest. [ ... ]
Doch wie sind wir in die neue Gemächlichkeit hineingerutscht? Zum einen ist sie eine
Folge der Finanzkrise und der Überschuldung, zu der es vorher kam. Seit der Krise
30 wird weniger investiert, weil Staaten überschuldet und Firmenlenker pessimistisch sind
- und weil Unternehmen den Banken nicht mehr so vertrauen wie zuvor. Das drückt
das Wachstum. Aber wenn man noch einen Schritt zurücktritt und nicht nur die ver-
gangenen Jahre, sondern die vergangenen paar Jahrzehnte in den Blick nimmt, dann
sieht man: Der Trend ging auch schon vorher in Richtung Gemächlichkeit. Die lndus-
35 trieländer insgesamt befinden sich schon seit einiger Zeit in einer Phase geringeren
Wachstums. ,,Das Wachstum war zu lange zu langsam", warnte etwa Maurice Obst-
feld, Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, kürzlich.
Giemens Fuest findet, dass gerade auch Deutschland sich Gedanken machen muss.
Denn die Produktion je Arbeiter (die sogenannte Arbeitsproduktivität) stagniert in un-
40 serem Land seit fast zehn Jahren. 2007, vor der Finanzkrise, war sie etwa genauso
hoch wie 2015, zwischenzeitlich war sie sogar gesunken. Das bedeutet, dass das
Wachstum, das wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, nur dadurch entstand ,
dass wir mehr Leute in Arbeit gebracht haben. Jeder zusätzliche Mensch, der arbeitet,
produziert auch etwas zusätzlich. Pro Kopf aber haben wir uns nicht gesteigert. Sprich:
45 Wir haben es nicht geschafft, produktiver und effizienter zu werden.
„Die Staats- und Regierungschefs befassen sich bei ihren Treffen, die seit 2008 jährlich
stattfinden, traditionell mit Fragen des Wachstums der Weltwirtschaft"
Endlich wieder wachsen. Das scheint mit Blick auf die Weltwirtschaft der größte
Wunsch der Staat- und Regierungschef_innen zu sein. Im letzten Jahr haben sie sich
5 am 4. und 5. September [2016] in Hangzhou in China versammelt. In ihrem zwölfseiti-
gen Abschlusskommunique taucht der Begriff Wachstum im Sinne von Wirtschafts-
wachstum allein 62 Mal auf.
Den Ausbau des Freihandels und die weitere Deregulierung der Märkte für Güter und
Dienstleistungen ist für die G20* ein wesentlicher Hebel, um Wirtschaftswachstum zu
10 schaffen. Mehr Welthandel, so ihr Credo, führt zu mehr Wirtschaftswachstum. Dabei
ist in den letzten Jahren durch die Zunahme des Welthandels in erster Linie der Güter-
verkehr gewachsen und deutlich langsamer die Güterproduktion. In einer Studie vom
Frühjahr 2016, die im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infra-
struktur erstellt wurde, wird davon ausgegangen, dass die nationalen Gütertransporte
15 bis Ende 2019 nur geringere Zuwächse zeigen werden, aber für „die grenzüberschrei-
tenden Güterverkehre - Versand, Empfang und Durchgangsverkehre von Gütern -
deutlich höhere Wachstumsraten zu erwarten sind." Güter werden also über immer
weitere Strecken transportiert, ohne dass dies insgesamt einen Wohlfahrtsgewinn
ergäbe. Im Gegenteil, die damit einher gehende Naturzerstörung führt zu Wohlfahrts-
20 verlusten. Trotzdem erklären die G20 in ihrem Abschlusskommunique 2016: ,,Wir wer-
den verstärkt am Aufbau einer offenen Weltwirtschaft arbeiten, Protektionismus eine
Absage erteilen sowie Welthandel und weltweite Investitionen fördern, auch durch die
weitere Stärkung des mult ilateralen Handelssystems, und breitgefächerte Möglichkei-
ten, die sich durch mehr Wachstum in einer globalisierten Wirtschaft ergeben, sowie
25 die breite Unterstützung der Öffentlichkeit dafür sicherstellen." [... ]
Die Frage, ob Wirtschaftswachstum überhaupt notwendig ist, um die Probleme der
Welt, also Hunger, soziale Ungleichheit, Naturzerstörung, Krieg, Flucht zu lösen, wird
auf den Gipfeltreffen der G20 nicht gestellt. Und ob Wirtschaftswachstum angesichts
des Klimawandels nicht vielleicht sogar schädlich ist, weil es den Raubbau an der
30 Natur beschleunigt, ist genauso wenig Thema. Die Austeritäts- und Freihandelspolitik
der G20-Staaten wurde und wird immer wieder damit begründet, dass sie Wachstum
und damit Wohlstand für alle schaffe. Eingelöst wurden die Versprechen nicht. Trotz-
dem wird von Seiten der G20 diese Politik nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, je
weniger sie nützt, umso nachdrücklicher werden sie propagiert.
Thomas Eberhardt-Köster••, Die G20 und der Fetisch Wachstum, www.theorieblog.attac.de, 8. I .201 7
• G20-Gruppe: Treffen der Regierungschefs der 20 wichtigsten Volkswirtschaften der Welt(, Kap. 2. 7.3).
Aufgaben
1. Geben Sie die Argumente pro und contra Wachstum mit Hilfe von M 1 und M 2 wieder.
2. Erläutern Sie, warum aus der Sicht von Thomas Eberhardt-Köster die thematische
Schwerpunktsetzung der G20 falsch ist (M 2).
3. Erörtern Sie in diesem Zusammenhang die These von Frau Nienhaus, dass die Wachs-
tumsraten in einer alternden Gesellschaft zurück gehen.
2. 2. 3 Wirtschaftspolitische Grundkonzepte
Leitfragen Welche Grundkonzepte prägen Wie unterscheiden sich Welche Instrumente werden
die Wirtschaftspolitik? die Grundkonzepte zur Bekämpfung von konjunk-
voneinander? turellen Schwankungen
vorgeschlagen?
In der Wirtschaftstheorie existieren zwei dominie- Gleichgewic ht auf allen Märkten führt (> Kap.
rende Grundkonzepte, a us denen Empfehlungen 2. 1.2), wa r Keynes der Überzeugung, dass es au f
für die staatliche Wirtschaftspolitik abgeleitet dem Arbeits markt zu lä nger a nhalte nder Unterbe-
werden. Zum einen der von John M. Keynes ent- schäftigung kommen kann.
wickelte Keynesianismus und zum anderen der
dazu in Konkurrenz stehende Neoliberalismus. Die Hoffnung, dass bei einem Überangebot an Ar-
Beide unterscheiden sich grundlegend in ihren beitskräften durch ein Fallen der Löhne s ich ein
wirtschaftspolitischen Grunda nnahmen, ihren Lö- Gleichgewicht a m Arbeitsma rkt ergebe, teilte
sungsansätzen und de n daraus ableitba ren Maß- Keynes n ich t, da die Löhne nach unten unflexibel
nahmen sowie ihrer Annahme darüber, welche seien und z udem Lohnsenkungen zu einem Rück-
Wirkung Wirtschaftspolit ik entfalten ka nn bzw. gang de r Konsumnachfrage der privaten Haushal-
soll. Im Grunde t rennt die beiden A nsätze die Fra- te führe. Folglich reichen aus seiner Sicht die
ge, ob Wirtschaftspolitik nachfrage- (Key nesia- Marktkräfte alleine nicht zu r Behebung einer stär-
nismus) oder angebotsorientiert (Neoliberalis- keren Wi rtschaftskrise bzw. zur Beseitigung von
mus) agieren sollte. Arbeitslosigkeit aus. Der Staat solle desh alb eine
aktive Rolle bei der Steuerung des Konjunkturver-
lau fs übe rnehmen.
Die Ursprünge des Keynesianismus - Keynes'
Kritik an der klassischen Wirtschaftstheorie
Was zeichnet eine Wirtschaftspolitik
Unter dem Eindruck der hohen Arbeitslosigkeit nach Keynes aus?
wäh rend der Weltwirtschaftskrise der J930er Jah -
re unterzog der britische Ökonom John M. Keynes Ein e fehlende private Nachfrage kann der St aat
die zu diesem Zeitpunkt vorherrschende klassi- nach Ansich t von Keynes durch eine Erh öhung
sche bzw. neoklassische Wirtschaftsth eorie einer der Staatsausgaben vor allem in Form von staat-
g rundlegenden Kritik. Während diese davon aus- lichen Inv estitionsprogrammen ausgleichen.
geht, dass eine funktio nierende „freie" Ma rktwirt- Durch die Initialzündung höherer Staatsinvestiti-
sch a ft mittel- bis langfristig immer zu einem onen soll ein positiver, sich selbst verstärkender
Wirtschaftsprozess in Ga ng gesetzt werden : Zu-
sätzliche st aatliche Investit ionen schaffen Nach-
frage bei den Unternehmen, diese n ehmen
John M. Keynes
Neuinvest itio nen vor, es entstehen neue Arbeits-
plätze und der Konsum steigt.
John Maynard Keynes
(1883-1946), britischer Eine solche Entwicklung wird in de r Volkswirt-
Ökonom und schaftslehre Multiplikat oreffekt genan nt. Der
Regierungsberater, gilt Multiplikato r bestimmt, wie groß die Wirkung
als Begründer der eines Ausgaben- bzw. Kürzungsprogra mms - als
nachfrageorientierten
wirtschaftlicher Impuls - ausfällt. Folgt man die-
Wirtschaftspolitik.
ser Sichtweise, sollte der Staat eine zum Ko njunk-
turverlauf antizyklische Ausgaben- bzw. Kon-
junkturpolitik betreiben. D.h. wä hrend der Staat
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
E
::,
Die keynesianische Wirtschaftspolitik
'lii
.c:
in der Kritik ()
~
Bis etwa Mitte der I 970er Jahre herrschte in den
Wirtschaftswissenschaften die Meinung vor, Staatsausgaben 1Staatseinnahmen
durch eine keynesianische Wirtschaftspolitik
könnten die Ausschläge der Konjunkturzyklen ge- Zeit
glättet und die negativen Folgen einer Depression
abgemildert werden. Seit der Krise 1974/75 und
späteste ns seit der Krise 1981 /82 geriet die keyne-
sianische Wirtschaftspolitikjedoch zun ehmend in Der Neoliberalismus als Gegenreaktion auf
die Kritik. die keynesianische Wirtschaftspolitik
Folgende Punkte werden von den Kritikern immer Die Kritik am Keynesianismus vor allem von
wieder vorgebracht: Vertretern des Neoliberalismus greift im Wesent-
lichen auf die Ideen des klassischen Wirtschafts-
• Unkalkulierbare Wirkungsverzögerungen: libera lismus des I 8. und 19. Jahrhunderts zurück.
Zwischen wirtschaftspolitischen Entscheidun- Der Neoliberalismus fordert ein e weitgehende
gen und ihren Wirkungen können erhebliche Nichteinmischung des Staates in die Wirtschafts-
zeitliche Verzögerungen (time lags) liegen. tätigkeit und vertraut auf die Selbstregulation des
Gründe hierfür sind längerfristige politische Marktes. Entsprechend plädieren die Theoretiker
Entscheidungsprozesse und der Umstand, dass des Neoliberalismus für
getroffene Maßnahmen nicht sofort greifen, was
zur Folge haben kann, dass antizyklische Maß- • eine Einschränkung der Staatstätigkeit,
nahmen zu spät bzw. sogar prozyklisch wirken • einen Abba u bürokratischer Hürden und
könne n. • die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen.
• Ausweitung des staatlichen Sektors: Mit der Diese Positionen entstanden vor allem in Reaktion
keynesianischen Wirtschaftspolitik ist der An- auf die kontinuierliche Ausdehnung der Staats-
teil der Staatsausgaben am BIP deutlich gestie- tätigkeit in den marktwirtschaftlichen Volkswirt-
gen. In Folge dessen stiegen Steuern und Abga- schaften nach dem Zweiten Weltkrieg.
ben.
her werden die daraus abgeleiteten wirtschaftspo- Betrachtungen, ob u nd inwieweit eine ausrei-
litischen Empfehlungen als Angebotspolitik be- chende Nachfrage in einer Volkswirtschaft be-
zeichnet. In den keynesianisch orientierten steht, entsp rechend werden Empfehlungen dieser
Theorieansätzen steht dagegen im Zentrum der Art als Nachfragepolitik bezeich net.
Nach: Bankenverband (Hrsg.), SCHUL/BANK Schule und Wirtschaft, Lehrermappe Wirtschaft, 2014, S. 60
Die lange wirtschaftliche Aufschwungphase nach In den USA und Großbritannien wurde die Aus-
dem Zweiten Weltkrieg bas ierte aus keynesiani- weitung des Finanzsektors sowie die Zurücknah-
scher Sicht auf der Ausdehnung des Massenkon- me des Staates aus dem Wirtschaftsprozess in den
sums bedi ngt durch das Wachstum der Kaufkraft l 980er J ahren von Ronald Reagan und Margaret
auch der Arbeiter und Angestellt en. Dieses Wachs- Thatcher gefördert und die Gewerksch aften ge-
tumsmodell stieß jedoch Mitte der J970er Jahre an schwächt. Im Gegensatz dazu fußte das deutsche
Grenzen. In den l 980er Jahren löste der Neolibe- System la nge au f der traditionelle n Zusammenar-
ralismus den Keynesianismus von daher als do- beit zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber-
minierende Wirtschaftstheorie ab. Zusammen verbänden; Unternehmen finanzierten sich tradi-
mit der Liberalisierun g des Welthandels führte tionell eher über Bankkredite (i. d. R. bei ihrer
dies zu einer zu nehmenden Fina nzialisierung und ,,Hausbank") und der Finanzsektor spielt eine ge-
Globalisierung der Wirtschaft. ringere Rolle. Bedeutend für die Wirtschaft in
Deutschla nd waren neben den Banken die indus-
Mit dem Beg riff der Finanzialisierung wird eine triellen Großkonzerne sowie eine breite Palette
immer stärkere Ausdehnung des Fina nzsektors - industrieller mittelstä ndischer Unternehmen. In
auch befördert durch politische Entscheidungsträ- der Zeit der rot-grünen Bundesreg ierung unter
ger in verschiedenen Staaten - im Vergleich zu der Gerha rd Schröder (1998-2005) setzte j edoch auch
industriellen Produktion (der „Realwirtschaft") in Deutschland eine zunehmende Finanzialisie-
gekennzeichnet. rung der Wirtschaft ein.
2.2 Konjunktur- und Wirtschaf tspolitik f
Krisenpolitik zwischen Keynesianismus und schuldung aufg rund der kreditfi nanzierten Pro-
Neoliberalismus? gramme erheblich anwuchs (z.B. in Spanien und
Irland).
Die weltweite Finanzkrise 2007 /08 stellte einen
starken Einschnitt in der konjunkturellen Ent- Seit Beginn der Eurokrise dominieren hingegen
wicklung der letzten Jahrzehnte dar. Als Aus- die Instrumente der neoliberalen Wirtsch aftspo-
gangspunkt der Finanzkrise werden der Zusam- litik. Die in Europa beschlossenen Maßnahmen
menbruch des Immobilienmarkts in den USA und zur Eindämmung der Staatsschuldenkrise bzw.
die da mit verbundene Pleite der Investmentbank Eurokrise fußen im Wesentlichen auf diesem Kon-
Lehman Brothers benannt. Diese Ereignisse stehen zept (>Kap. 5), so z.B. die Einführung der Schul-
in einem direkten Zusammenhang mit der in den denbremse im Europäischen Fiskalpakt sowie die
J980er Jahren einsetzenden neoliberale n Wende Reformprogra mme, die den hoch verschuldeten
der Wirtschaftspolitik in den e ntwickelten Volks- Eurostaaten (Griechenland, Irla nd, Portugal) vor-
Volkswirtschaften, insbesondere der Ausdehnu ng geschrieben wurden.
des Fina nzsektors.
Aufgaben
1 . Ordnen Sie die folgenden Thesen begründet der angebotsorientierten oder der nachfrageorientierten
Position zu:
- Der Staat sollte nicht in den Wirtschaftsprozess eingreifen.
- Der Staat sollte Maßnahmen gegen konjunkturelle Arbeitslosigkeit ergreifen.
- Antizyklische Konjunkturpolitik erhöht die Staatsverschuldung und überfordert den Staat.
- Mehr Wachstum führt nicht unbedingt zu mehr Beschäftigung.
2. Recherchieren (, Methodenglossar) Sie Aussagen der im Bundestag vertretenen Parteien zur Wirtschafts-
politik und ordnen Sie diese der Angebots- bzw. Nachfragepolitik zu.
3. Überprüfen und diskutieren Sie, ob bei den untersuchten Parteien eine der wirtschaftspolitischen Konzeptio-
nen überwiegt.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
M 1 Die Regierung soll sich nicht einmischen, sondern den Rahmen schaffen
Jede Rezession, so gering sie auch sein mag, lässt die politisch schreckhaften Ge-
setzgeber und Regierungsbeamten in ihrer ewigen Angst erschauern, sie könnte viel-
leicht ein Vorbote eines neuen 1929/33 sein. So beeilt man sich, staatliche Ausga-
ben-Programme in der einen oder anderen Art auszuarbeiten. Viele dieser Programme
15 treten dann tatsächlich erst in Kraft, nachdem die Rezession vorüber ist. [...]
Was wir dringend für eine stabile und wachsende Wirtschaft brauchen, ist eine redu-
zierte, nicht eine vermehrte Einmischung der Regierung.
Eine solche Reduzierung würde der Regierung immer noch eine bedeutende Rolle auf
diesem Gebiet überlassen. Es ist vor allem wünschenswert, dass die Regierung einen
20 festen Geld- und Finanzrahmen für die freie Wirtschaft liefert - als einen Teil ihrer Funk-
Milton Friedman, Kapitalismus und Freiheit, 1976, übersetzt von Paul C. Marti, S . 62J, BOJ, 108
Aufgaben
2. Analysieren Sie die Argumentation von Friedman aus einer keynesianischen Perspektive.
3. Erörtern Sie vor diesem Hintergrund das Für und Wider eines „starken Staats" in der Wirt-
schafts- bzw. Konjunkturpolitik.
• Strukturwandel und Arbeitsmarkt
2.3.1 Wirtschaftsstrukturen im Wandel
Leitfragen Was bedeutet wirtschaftlicher Welche Auswirkungen hat der Wie kann der Staat den
Strukturwandel? Strukturwandel? Strukturwandel beeinflussen
und sollte er das tun?
31,5%
2.493 Baugewerbe
617 Land- und Forstwirtschaft, Fischerei
478 Grundstücks- und Wohnungswesen
Erwerbstätige 2017: 1.162 Finanz- und Versicherungsdienstleister
ca. 44,28 Mio
1.279 Information und Kommunikation
6.049 Unternehmensdienstleister
10.087 ■ Handel, Verkehr und Gastgewerbe
13.942 Öffentliche und sonstige private
13,7%
Dienstleister
2. lntrasektoraler Strukturwandel: A uch inner- Geschehen ein. Zwar gilt das für die marktw irt-
halb der großen Wirtschaftssekto ren - Agrar, schaftliche Ordnung ko nstitutive Prinzip, dass der
Industrie, Dienstleistun gen und Information - Strukturwandel von den Wirtschaftsakteuren
finden strukturelle Veränderungen statt. Ein- selbst zu bewältigen ist; soziale Härte n für Indivi-
zelne Bra nchen schrumpfen oder verschwin- duen, Unternehmen oder Regionen sollen aber
den, andere wachsen. In der Industrie- durch staatliche Eingriffe au fgefangen werden
produktion übernehmen Maschinen gefährli- (>Kap. 2.1.3). Gesetzliche Grundlage dafü r sind die
che, schwere oder belastende Arbeiten. Auch Art. 72, Abs. 2 und Art. 106 des Grundgesetzes,
die Nachfrage nach Arbeitskräften wandelt welche den Staat zur „Herstellung gleichwertiger
sich: gut qualifizierte Arbeitskräfte werden Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" verpflichten.
mehr nachgefragt, während es immer weniger
Arbeit für gering Qua lifizierte gibt. Die strukturpolitischen Instrumente des Staates
sind v ielfältig: Zur Steuerung der Regionalstruk-
3. Regionaler Strukturwandel: In einzelnen Re- tur dient vo r allem der Ausbau der Infrastruktur
gione n verändern sich die wirtschaftlichen (Stra ßen, Na hverkehr, Bildungseinrichtungen,
Strukturen besonders stark mit zum Teil ein- Kommunikation) sowie die Förderung von Unter-
schneidenden Konsequenzen für den Arbeits- neh mensgründungen. Zur Steuerung sektoraler
markt. Anschau liche Beis piele hierfür sind die Anpassungsprozesse betreibt der Staat Arbeits-
Entwicklung im Ruhrgebiet und in Ostdeutsch- ma rktpolitik, Subventions-, Technologie- und
land seit der Wiedervereinigung. Gerade das Forschungspolitik. Neben der Strukturpolitik des
Ruhrgebiet wandelt sich mit dem Niedergang Bundes und der Länder ist die Strukturpolitik der
des Bergbaus und der Montanindustrie von ei- EU immer wichtige r geworden. Mit der Kohäsi-
ner Schwerindustrieregion in ein Zentrum für onspolitik der EU sollen stru kturschwache Regio-
hochtechnologische Industrien (z.B. im Um- nen innerha lb der EU finanziell unterstützt wer-
weltschutzbereich) und moderne Dienstleistun- den (>Kap. 5.1 ).
gen.
Wie stark der Staat in den Strukturwa ndel eingrei-
fen sollte, ist dabei umstritten. Vor allem Erhal-
Der Aufstieg des Informationssektors tungssubventionen (z. B. im Kohlebergbau) wer-
den als ma rktwirtschaftlich bedenklich betrachtet,
In den letzten J ahrzehnten erweist sich der Infor- weil sie notwend ige Strukturanpassungsprozesse
mationssektor weltweit als Triebkraft der wirt- verhindern oder verzögern können. Ebenso wird
schaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. staatliche Industriepolitik bzw. die Förderung vo n
Im weiteren Sinne fasst man unter dem Informa- Zukunftstechnologien kontrovers beurteilt, da da-
tionssektor Branchen zusammen, in denen Kom- durch unternehmerische Risiken auf den Staat
munikat ionstechnologien und Informatio ns- übertragen werden.
dienstleistungen a ngeboten werden, also alle
Branchen, die sich mit der Erstellung, Verarbei-
tung und dem Verkauf vo n Info rmationen (Daten Beispiele staatlicher Strukturpolitik
und Wissen) im weitesten Sinne beschäftigen.
Wegen der h erausragenden Bedeutung vo n Infor- Die Probleme staatlicher Strukturpolitik zeigen
matio nen und Kommunikation wird die gegen- sich anschaulich im „Aufbau Ost", in welchen der
wärtige Phase der Entwicklung auch als Wissens- Staat seit 1990 über 1,4 Billionen Euro für stru k-
gesellschaft bezeichnet. In ihr gelten Wissen und turpolitische Maßnahmen investiert hat. Mit dem
Informationen als die zent ra len Ressourcen. ersten Solidarpakt (seit 1995) wurden die neuen
Lä nder in den bundesstaatlichen Finanza usgleich
einbezogen. Bund und Länder unterstützten mit
Welche Rolle spielt der Staat dem Solidarpakt den Abbau der teilungsbedingte n
beim Strukturwandel? Sonderlasten der ostdeutschen Länder (einschließ-
lich Berlins). Der 2001 vereinba rte Solidarpakt II
In Deutschland greift der Staat über Konjunktur- sichert die Fortsetzung der u rsprüng lich bis 2004
und Strukturpo litik aktiv in das wirtschaftliche beschlossenen Förderung bis zum Jahr 2019. Mit
2.3 Strukturwan del und Arbeitsmarkt f
ihm stellte der Bund den neuen Ländern weitere ren kann die Produktion aber auch bei gleicher
156,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Im Koaliti- Beschäftigtenzahl um die dem Produktivitätsfort-
onsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD von schritt entsprechende Menge erhöht werden. Die
2018 wurde eine schrittweise Abschaffung des Frage ist, ob die Unternehmen die zusätzliche
Solidaritätszuschlags beschlossen. Trotz eines in Menge auf dem Markt auch absetzen können.
der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen
fina nziellen Kraftakts, bleiben die struktur- Gesamtwirtschaftlich ergibt sich daraus verallge-
schwächsten Regionen mit der höchsten Arbeits- meinert folgende Rechnung : Steigt die Produkti-
losigkeit j edoch nach wie vor im Osten v ität schneller als das BIP, werden Arbeitsplätze
Deutschlands zu finden. vernichtet, steigt die Wachstumsrate des BIP
schneller, werden neue Arbeitsplätze geschaffen.
Als ein aktuelles Beispiel für staatliche Struktur-
politik gilt die Förderung der „Industrie 4.0".
Doch gerade hier stellt sich die Frage: Werden
du rch die Digitalisierung der Produktion nicht
viele Arbeitsplätze vernichtet? Industrie 4.0
„ Industrie 4.0" ist ein Marketingbegriff [... ] der
deutschen Bundesregierung. Die sog. vierte indus-
Vernichtet der technische trielle Revolution, auf welche die Nummer verweist,
Fortschritt Arbeitsplätze? zeichnet sich durch Individualisierung (selbst in der
Serienfertigung) bzw. Hybridisierung der Produkte
Besonderen Einfluss hat der technische Fortschritt (Kopplung von Produktion und Dienstleistung) und
auf den Arbeitsmarkt, da alte Berufe verschwin- die Integration von Kunden und Geschäftspartnern
den und neue entstehen können. Inwieweit durch in Geschäfts- und Wertschöpfungsprozesse aus.
Wesentliche Bestandteile sind eingebettete Syste-
den tech nischen Fortschritt Arbeitsplätze geschaf-
me sowie (teil-)autonome Maschinen, die sich ohne
fen oder vernichtet werden, hängt in besonderer menschliche Steuerung in und durch Umgebungen
Weise davon ab, wie die Unternehmen den damit bewegen und selbstständig Entsc heidungen tref-
verbundenen technischen Fortschritt nutzen. fen, und Entwicklungen wie 3D-Drucker. Die Ver-
netzung der Technologien und mit Chips versehe-
So kann zum ei nen die Produktion bei gleicher nen Gegenstände resultiert in hochkomplexen
produzierter Menge rationalisiert we rden, d. h. es Strukturen und [... ] im Internet der Dinge.
können Arbeitsplätze eingespart werden - und Oliver Bendel, Stichwort: Industrie 4. 0, in: Gabler
Wirtschaftslexikon, Abruf am 20. 12.2017
damit auch Kosten für Unternehmen. Zum ande-
Aufgaben
1. Recherchieren (, Methodenglossar) und beschreiben Sie Beispiele für einen Strukturwandel in Ihrer Region.
2. Erläutern Sie, inwieweit man den Ausbau einer Autobahnstrecke in einer Region als strukturpolitische
Maßnahme betrachten kann.
3. Erörtern Sie, inwieweit der technische Fortschritt zur Vernichtung von Arbeitsplätzen führen kann.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Vor drei Jahren verfasste Carl Benedikt Frey, Professor für Volkswirtschaftslehre an der
Universität Oxford, gemeinsam mit seinem Kollegen Michael Osborne eine Studie mit
dem Titel „Die Zukunft der Beschäftigung" und der sinngemäßen Anschlussfrage, wie
leicht Arbeitsplätze durch Digitalisierung und Automatisierung ersetzt werden können.
5 [ ••• ]
Dabei zeichneten sich nicht wie bei den lndustrialisierungsschüben der Vergangenheit
nur die Geringqualifizierten als Verlierer ab. Diesmal drohen auch Beschäftigte der
Mittelschicht unter die Räder der Modernisierung zu geraten. Vom einfachen Anwalt
bis zum technischen Assistenten durfte sich niemand mehr sicher sein, von der tech-
10 nischen Arbeitslosigkeit nicht erwischt zu werden, die schon John Maynard Keynes
tun. Führt der Einsatz von künstlicher Intelligenz und vernetzter Maschinen zu einer
neuen Welle der Massenarbeitslosigkeit, nachdem sich die Arbeitsmärkte in den meis-
ten Industrieländern gerade langsam von den Folgen der Finanzkrise erholten?
Anschlussstudien schossen wie Pilze aus dem Boden, Regierungen wollten wissen,
20 was in ihrem Land infolge der Digitalisierung droht. [... ] Für die einen haben Frey und
sich die Art des Einflusses ändert, ,,weil du viel eingeladen wirst und die Chance be-
kommst, viele Leute zu treffen und zu beraten". Tatsache ist, dass Freys Rat äußerst
gefragt ist. Ob bei den Vereinten Nationen und der OECD oder Konzernen wie Telef6ni-
ca, Deloitte oder PWC - überall will man wissen, welche Welle aus den Laboren und
30 Entwicklungszentren der Welt auf uns zurollt.
Im Weißen Haus war Frey allerdings noch nicht. Dessen künftiger Bewohner Donald
Trump will viele neue Jobs schaffen und könnte eigentlich fachmännischen Rat gut
gebrauchen. Viel Ermutigendes hätte der Oxford-Ökonom dem neuen Präsidenten
jedoch nicht zu sagen. Selbst wenn durch Digitalisierung und Protektionismus die
35 Produktion wieder in amerikanische Fabriken zurückkehren sollte - der Beschäfti-
gungsmotor früherer Tage werde sie nie wieder werden, sagt Frey. Als Beispiel führt er
an, dass die drei größten Unternehmen in Detroit 1990 zusammen auf einen Umsatz
von rund 250 Milliarden Dollar kamen und auf 1,2 Millionen Beschäftigte. Die drei
Größen des Silicon Valley erzielten 2014 ebenfalls fast 250 Milliarden Dollar Umsatz -
40 mit 137 000 Mitarbeitern.
,,Trump wird es nicht schaffen, die Fabrikjobs zurückzubringen". Er könne nur versu-
chen, den Wandel zu managen. Wer in Detroit oder Cleveland seine Arbeit verliere,
müsse flexibel und mobil genug sein, um anderswo in neuen Branchen arbeiten zu
können. Dazu müssten günstigere Häuser und Wohnungen in Ballungszentren ge-
4s schaffen werden, auch Umsiedlungshilfen hält Frey für sinnvoll.
Es habe sich - nicht nur in Amerika - in einigen Bevölkerungsschichten gehöriger Un-
mut angestaut, da Menschen das Gefühl hätten, dass sie von neuer Technologie nicht
profitierten und nicht daran teilhaben könnten [... ]
Und was rät der Zukunftsforscher der Arbeit angesichts des rasenden technologischen
so Wandels für die Berufswahl? Da habe sich gar nicht so viel verändert, glaubt Frey, der
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
sein Alter übrigens trotz seiner Medienpräsenz erfolgreich geheim hält und den man
spontan irgendwo in den späten Vierzigern verorten würde. Junge Menschen sollten
herausfinden, worin sie gut sind und was ihnen Spaß macht. Informatiker zu werden
sei aber vom heutigen Standpunkt aus betrachtet ein ziemlich sicherer Weg. Da es
55 aber keine Welt nur aus Informatikern geben könne, böten sich noch viele Gebiete an,
auf denen die Menschen auf absehbare Zeit den Maschinen noch überlegen seien:
Kreativität, soziale Intelligenz und Wahrnehmung. Die Frey/Osborne-Liste könne bei
der Berufswahl mit Sicherheit auch eine Rolle spielen. Taugt sie als einziges Kriterium
für die Karriereplanung? ,,0 mein Gott", sagt der Schwede und ächzt, ,,bestimmt
so nicht".
Sven Astheimer, www.Jaz.net, I 8. I I.2016
Trotz Robotern: In den kommenden Jahren wird der Mangel an Arbeitskräften noch
größer, sagt eine neue Untersuchung. Nur eine Berufsgruppe wird nicht profitieren.
künftig gefragt.
Die einzige Branche, in der es 2030 laut Studie einen Überschuss an Arbeitskräften
geben wird, ist die Transport- und Logistikbranche. Vor allem Hilfsarbeiter leiden unter
der Digitalisierung und Automatisierung. Schon 2020, so die Prognose, wird sich der
20 aktuelle Engpass an Hilfskräften in einen Überschuss verwandelt haben.
Aufgaben
1. Geben Sie die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung von Frey und Osborne wieder
(M 1).
3. Diskutieren Sie vor diesem Hintergrund verschiedene mögliche Prognosen zur Entwicklung
der Nachfrage nach Arbeitskräften in Deutschland.
4. Überprüfen Sie, ob bzw. w ie die Informationen aus M 1 und M 2 Ihre Überlegungen zur
Berufswahl beeinflussen.
2 .3.2 Die Auswirkungen des Strukturwandels auf den
Arbeitsmarkt
Leitfragen Welche Faktoren bestimmen Mit welchen Instrumen- Welche Rolle spielt die „Hartz-lV-
Nachfrage und Angebot nach ten kann Arbeitslosig- Reform" für die Entwicklung der
Arbeitskräften? keit bekämpft werden? Arbeitslosigkeit?
Der Arbeitsmarkt
Deutschlands Arbeitsplätze
Zahl der Erwerbstätigen in Millionen Aufteilung nach
Veränderung
Wirtschafts- 2017 gegen-
1991 95 00 05 10 15 17* bereichen 2017 über 1991
in Millionen in Prozent
46
Mio.
Dienstleistungs-
bereich + 39%
44
42
40 Produzierendes
Gewerbe
, -26%
38
, - 14 %
hilfe wurde zum Arbeitslosengeld ll (ALG II) - dem einerseits und ungesicherten, schlechter bezahlten
sogenannten „Hartz N" - zusammengefasst. Das fl exiblen Arbeitsverhältnissen andererseits. Man
ALG II ist keine Versicherungsleistung und be- spricht hier a uch von einer Prekarisierung der
rechnet sich nicht - wie zuvor - nach dem frühe- Arbeitsverhältnisse. Davon sind besonders die
ren Arbeitseinkomme n, sondern soll die Grundsi- jüngeren Arbeitnehmer betroffen sowie Beschäf-
cherung des Lebensunterhalts gewährleisten. Eine tigte in dem sich stark ausdehnenden Bereich der
wichtige Voraussetzung für den Bezug des ALG II personennahen Dienstleistungen - Tätigkeiten in
ist das Kriterium der Bedürftigkeit, d. h. vorhan- den Bereichen Transport und Sicherheit etwa, aber
denes Vermögen wird ab bestimmten Freigrenzen auch im Pflege- und Gesundheitsbereich.
a ngerechn et. Nach dem Hartz N-Grundsatz „För-
dern und Fordern" wu rde zudem die Zumut barkeit Als weiterer Einwand gegen die positive Wirkung
bei der Vermittlung von Stellen für Arbeitslose der Hartz-Reformen wird vorgebracht, dass die
verschärft. Wer seine n Pflichten nicht nachkommt deutsche Volkswirtschaft nach einigen Jahren
oder eine als zumutbar definierte Arbeitsstel le sinkender internationaler Wettbewerbsfähigkeit
nicht antritt, muss mit Kürzungen seiner Bezüge (Deutschland wurde um 2000 als „kranker Mann
rechnen. Europas" bezeichnet) ab 2005 wieder einen posi-
tiven Wachstumspfad eingeschlagen hat. Dieser
basiert jedoch auf der starken Exportorientierung
Was hat sich mit der Agenda 201 0 geändert? bei gleichzeitig relativ schwachem Wachstum der
Lohneinkommen (>Kap. 2.7). Die starke Zunahme
Ob der Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland der Erwerbstätigenzahlen kö nne man im Wesent-
seit 2005 auf die Hartz-Reformen zurückgefüh rt lichen darauf zurückführen. Zudem hat sich die
werden kann, wird in der Öffentlichkeit kontrovers Förderung von Frühverrentungen bis etwa 2010
diskutiert. Zwar haben sie - im Sinne der Angebot- positiv auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt.
stheorie - zu einer Flexibilisierung des Arbeitsmark-
tes geführt, Kritiker weisen jedoch auf die sozialen
Folgen der Maßnahmen hin. Zum einen sanken die Vor welchen Herausforderungen steht der
Lohnersatzleistungen für längerfristig Arbeitslose deutsche Arbeitsmarkt?
stark - z.B. für einen Arbeitnehmer im Alter von
Mitte 50, der nach langer Berufstätigkeit seine Ar- In Deutschland kreuzen sich au f dem Arbeits-
beitsstelle verliert und nach zweijähriger Arbeitslo- ma rkt in den nächsten Jahren die Tendenz zum
sigkeit und geringen Chancen auf eine neue Arbeits- Abbau der Arbeitslosigkeit aufgrund einer posi-
stelle nur noch Arbeitslosengeld Il erhält. Zum tiven Wirtschaftsentwicklung sowie der demo-
anderen weiteten sich verschiedene Formen ungesi- grafischen Entwicklung mit der Tendenz zu ei-
cherter Arbeitsverhältnisse stark aus, etwa befristete nem erneuten Rationalisierungsschub in der
Arbeitsverträge, geringfügige Beschäftigungen (450 Produ ktion u nd dem Dienstleistungssektor. Wie
Euro-Jobs) und Zeitarbeit. Auch die Teilzeitarbeit weit d as zu einer weiteren Flexibilisieru ng oder
nahm zu. Prekarisierung des Arbeitsmarkts führt, ist noch
nicht absehbar. Auch ist diese Entwicklung
In Großbetrieben entwickelte sich in diesem Zuge von den politischen Entscheidungen über die
eine Spaltung in eine sogenannte Stammbeleg- Rahmenbedingungen des Arbeitsmarkts abhän-
schaft mit gesicherten und gut bezahlten Jobs gig.
Aufgaben
1 . Stellen Sie die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit der Wiedervereinigung dar.
2 . Recherchieren (, Methodenglossar) Sie einzelne Maßnahmen aus dem deutschen Konjunkturpaket 2009
(, Kap. 2.2.3) und erläutern Sie wie deren Wirkung auf den Arbeitsmarkt bewertet werden.
Der 14. März 2003 markiert zunächst einmal das Ende einer Hoffnung: Mehrere Jahre
lang hatte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) bemüht, zusammen mit Ge-
werkschaften und Wirtschaftsverbänden ein „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wett-
bewerbsfähigkeit" zu schmieden. [... ] Die regelmäßigen deutschen Konsens-Treffen
5 aber brachten [... ] fast nichts. Dabei trieb die notorische deutsche Wachstumsschwä-
che nach dem Kollaps des Neuen Marktes zwei Kenngrößen immer weiter in die Höhe:
die Arbeitslosigkeit und das Haushaltsdefizit.
Der Handlungsdruck stieg, die Zeit für konsensorientierte Lösungsversuche lief ab.
Dann wandte sich Schröder an jenem 14. März mit einer Rede an den Bundestag, die
10 Fakten schuf. Die Regierungserklärung „Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung"
brüskierte die Gewerkschaften und nahm zugleich die rot-grüne Koalition für ein hartes
und schon bis ins Detail ausgearbeitetes Reformprogramm in die Pflicht. Das war der
Startschuss zur „Agenda 2010". [ .. .]
Zehn Jahre nach der Verkündung der Agenda 2010 hat sich Deutschland vom „kranken
15 Mann Europas" zum wirtschaftlichen Zugpferd des gesamten Kontinents entwickelt.
Über die Frage, wie viel Agenda-Rendite im „German Jobwunder" und dem Auf-
schwung steckt, wird dabei anlässlich des zehnten Jahrestages heftig diskutiert: Wel-
chen Beitrag dazu hat die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes wirklich geleistet? Wel-
chen Anteil hat die Tarifpolitik daran, dass die deutsche Industrie weltweit so erfolgreich
20 wurde? Wie stabil sind die Sozialkassen heute wirklich? Und welche der damaligen
Ankündigungen sind bis heute aktuell? Die Redaktion hat Schlüsselsätze aus Schrö-
ders Rede in diesem Sinne untersucht. Die Rede ist in jedem Fall ein wichtiges Zeit-
dokument. Und sie hält wohl auch noch für weitere zehn Jahre reichlich politischen
Diskussionsstoff bereit.
25 „Arbeit und Wirtschaft, das ist das Herzstück unserer Reformagenda [...] Wir wollen
das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch die Mög-
lichkeit bekommt. Wir haben die Arbeitsmärkte deshalb für neue Formen der Be-
schäftigung und Selbständigkeit geöffnet."
[ ... ] Der Arbeitsmarkt litt [2003] laut Diagnose vieler Ökonomen unter dem lnsider-Out-
30 sider-Problem: Wer Arbeit hatte, war gut dran. Wer keine hatte, blieb allzu oft auf
Dauer ausgesperrt. Das hatte viel mit dem hohen Kündigungsschutz zu tun: Arbeitge-
ber scheuten sich, Geringqualifizierte einzustellen - aus Sorge, sich später kaum noch
von ihnen trennen zu können.
So wurde der Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit seit den siebziger Jahren mit jedem
35 Konjunkturzyklus größer. Schröders Regierung packte den Kündigungsschutz nur vor-
sichtig an, öffnete jedoch den Arbeitsmarkt für neue Beschäftigungsformen. Die Libe-
ralisierung der Zeitarbeit sowie die Hartz-Gesetze I und II (unter anderem Minijobs und
lch-AGs) zählen dazu, auch wenn sie am Tag der Agenda-Rede schon beschlossen
waren. Zudem wurde die Bundesanstalt zur Bundesagentur für Arbeit umgebaut.
40 Mit der Hartz-lV-Reform wurden 2005 eine Million erwerbsfähiger Sozialhilfebezieher
erstmals statistisch erfasst, was die Arbeitslosenzahl im Februar 2005 auf die Höchst-
marke von 5,3 Millionen trieb. Doch schon im Aufschwung 2006 begannen die Refor-
men zu wirken. Die Arbeitgeber stellten nun schneller Personal ein. Dabei haben Mi-
nijobs, Teilzeit, Zeitarbeit und Befristungen das „Normalarbeitsverhältnis" nicht
45 verdrängt, sondern ergänzt. Allerdings bedeutete dies: Der Anteil der Arbeitsplätze im
Niedriglohnsektor stieg auf mehr als 20 Prozent und erreichte britische Verhältnisse.
Zehn Jahre nach der Agenda-Rede hat Deutschland fast 42 Millionen Erwerbstätige,
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
so viele wie noch nie. 29 Millionen Beitragszahler füllen die Sozialkassen. Die Arbeits-
losigkeit lag im Jahresdurchschnitt zuletzt unter 3 Millionen.
50 Die Arbeitsverwaltung, früher ein Milliardengrab, sparte in den guten Jahren fast 20
Milliarden Euro Rücklagen an, die dann während der Wirtschaftskrise genutzt werden
konnten. Während das Ausland das „German Job-Wunder" bestaunt, geht der Trend
im Inland jedoch hin zu Reregulierung und Verteilungsfragen: Die Lohnlücke zwischen
Stamm- und Leiharbeitern wurde auf Druck der Politik von den Tarifvertragsparteien
55 geschlossen. Die SPD tritt nun für einen einheitlichen Mindestlohn von mindestens
8,50 Euro ein. Selbst CDU/CSU und FDP haben sich mittlerweile sehr weit in diese
Richtung bewegt. Eine spannende Frage der nächsten zehn Jahre wird sein, ob der
Arbeitsmarkt nun robust genug ist, um eine solche Kursänderung zu verkraften.
,,Wir werden die Kommunen ab dem 1 . Januar 2004 von der Zahlung für die arbeits-
oo fähigen Sozialhilfeempfänger entlasten.[...] Wer zumutbare Arbeit ablehnt - wir wer-
den die Zumutbarkeitskriterien verändern - der wird mit Sanktionen rechnen müs-
sen."
Inhaltlich die wohl folgenschwersten Sätze der Rede: Die meisten Menschen denken
heute automatisch an Hartz IV, wenn von der Agenda 2010 die Rede ist. ,,Agenda
s5 2010". [... ] Das Arbeitslosengeld II ersetzte die bisherige Arbeitslosenhilfe und die
Sozialhilfe für Erwerbsfähige. Parallel wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds 1
auf im Regelfall zwölf Monate verkürzt - wer seine Stelle verlor, rutschte nun also
schnell ins neue System. Kanzler Schröder hob dafür das Prinzip „Fördern und For-
dern" auf den Schild, auf staatliche Leistungen solle gefälligst eine Gegenleistung
10 folgen .
Gewerkschaften und Sozialverbände schäumten, doch der Kanzler legte die Latte
hoch: Wer „unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindes-
tens drei Stunden täglich" arbeiten könnte, gilt seitdem als erwerbsfähig. Das ist selbst
im internationalen Vergleich eine niedrige Grenze, die sich zudem als finanzieller Bu-
75 merang erwies. Eigentlich wollte Rot-Grün durch Hartz IV Geld sparen, faktisch aber
schossen die Kosten erst mal hoch. Viele Kommunen erklärten bis zu 90 Prozent ihrer
bisherigen Sozialhilfebezieher als erwerbsfähig. Einige stuften selbst Komapatienten
als arbeitsfähig ein. Die Regierung hatte indes gehofft, dass rund ein Viertel der bishe-
rigen Arbeitslosenhilfebezieher ihren Leistungsanspruch verlieren würden, da deren
80 Partner über genug Einkommen verfügten.
Tatsächlich zogen viele Arbeitslose in eigene Wohnungen um. Die Zahl der erwerbsfä-
higen Hilfebedürftigen schnellte auf 5 Millionen Menschen; erwartet hatte die Regie-
rung weniger als 3,5 Millionen. Die Ausgaben für Hartz IV stiegen auf 25 Milliarden
Euro, etwa 11 Milliarden Euro mehr als geplant. Für Streit sorgte von Anfang an auch
85 die Höhe des steuerfinanzierten Arbeitslosengeldes II, die faktisch auf das Niveau der
Sozialhilfe begrenzt wurde. Das traf vor allem die früheren Arbeitslosenhilfebezieher
hart, sie gehörten zu den Verlierern der Reform. [ ... ]
Für Empörung sorgte vor zehn Jahren auch, dass die Regierung alle Zumutbarkeits-
regeln strich. Empfänger des Arbeitslosengeldes II müssen im Prinzip jede Arbeit an-
oo nehmen. Die Angst, vom Straßenbauingenieur unvermittelt zum Straßenfeger zu wer-
den, fraß sich bis tief in die Mittelschicht. Lehnt ein Bedürftiger eine zumutbare Arbeit
ab, wird sein Regelsatz für drei Monate um 30 Prozent gesenkt. Trotzdem haben mehr
als eine Million Menschen seit Einführung von Hartz IV den Sprung aus dem Arbeits-
losengeld II nie geschafft.
Sven Astheimer et al., www.jaz.net, I 3.3.2013
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Jubiläen sind dafür berüchtigt, dass die Gratulanten es mit der Wahrheit nicht immer
so genau nehmen. Schließlich gilt es, den Jubilar mit Komplimenten zu überhäufen
und ihn angesichts seiner Hochleistungen glänzen zu lassen. So war es auch vor drei
Wochen, als sich Gerhard Schröders unter dem Titel „Agenda 201 0" bekannt gewor-
s dene Regierungserklärung zum zehnten Mal jährte.
Angesichts der von sämtlichen Agenda-Befürwortern hervorgehobenen Triumphmel-
dungen auf wirtschaftlichem Gebiet ist die Legende fast schon zum Gemeinplatz ge-
worden, Schröders Reform sei die Mutter der heutigen Erfolge der Bundesrepublik auf
dem Weltmarkt. [...]
10 Zwar ist die Zahl der Erwerbstätigen gestiegen und die der registrierten Arbeitslosen
Neben der Agenda 2010 ist Hartz IV die Chiffre für den tiefsten Einschnitt in das deut-
2s sehe Sozialmodell seit 1945. Dass die Gesamtzahl der Transferleistungsempfänger
zuletzt ebenso abgenommen hat wie die relative Höhe der Zahlbeträge, liegt nicht etwa
an einem Rückgang der Armut beziehungsweise der materiellen Bedürftigkeit, sondern
primär an den durch die Agenda-Reformen drastisch verschärften Voraussetzungen ,
Kontrollen und Repressalien der Jobcenter und Sozialämter. Sowohl die Agenda 2010
30 als auch Hartz IV als ihr Herzstück fungierten als Drohkulisse und Disziplinierungsins-
trument.
Unterschlagen werden meist die psychosozialen, gesundheitlichen und soziokulturel-
len Folgen der Reformagenda. Es verletzte das Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit,
dass jahrzehntelang tätige Arbeitnehmer nach einer kurzen Schonfrist auf das Fürsor-
3s geniveau von Menschen herabgedrückt wurden, die noch nie gearbeitet haben.
,,Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt"
Die hierfür von Gerhard Schröder gegebene Begründung, die „Zusammenlegung" von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe (auf dem Niveau der letzteren) solle Arbeitswillige von den
Arbeitsscheuen trennen, musste ihnen als Hohn erscheinen. Denn nicht bloß fehlten
damals die erforderlichen Stellen. Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe wurde
40 auch das für den Wohlfahrtsstaat bis dahin konstitutive Prinzip der Sicherung des
Lebensstandards außer Kraft gesetzt.
Das als Ersatz eingeführte Arbeitslosengeld II orientiert sich nicht mehr am früheren
Nettoverdienst eines Langzeitarbeitslosen. Es lässt vielmehr selbst Angehörige der
Mittelschicht wie Facharbeiter und Ingenieure, wenn sie nicht bald wieder eine neue
1 KOMPETEN Z EN A NW ENDEN
45 Stelle finden, nach einer kurzen Schonfrist auf das Sozialhilfe-Niveau abstürzen. Aus
der Sozialhilfe wurde auch das für Hartz IV typische Konstrukt der „Bedarfsgemein-
schaft" entlehnt. Dieses ermöglichte es, Einkommen und Vermögen von Personen, die
mit dem Antragsteller weder verwandt noch ihm zum Unterhalt verpflichtet sind, aber
mit ihm in einer Wohnung leben, bei der Prüfung von Bedürftigkeit anzurechnen.
50 Das rigidere Arbeitsmarktregime erhöht auch den Druck auf Belegschaften, Betriebs-
räte und Gewerkschaften, niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu
akzeptieren. So ist es zu einem Haupteinfallstor für Erwerbs- und die ihr zwangsläufig
folgende Altersarmut geworden. Armut, in der Bundesrepublik lange Zeit eher ein
Randgruppenphänomen, drang durch Hartz IV zur gesellschaftlichen Mitte vor.
55 Ein Fahrstuhleffekt, bei dem alle Gesellschaftsschichten gemeinsam nach oben fah-
ren, blieb aus. Stattdessen gibt es einen Paternostereffekt: Während die einen nach
oben fahren, fahren die anderen zur selben Zeit nach unten. Letztlich hat das Reform-
programm die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich vertieft. Denn niedrige
Löhne ermöglichten hohe Gewinne. Außerdem entlastete die Steuerreform, die Be-
60 standteil der Agenda 2010 war und in ihrer verteilungspolitischen Bedeutung oft un-
terschätzt wird, vornehmlich Kapitaleigentümer und Spitzenverdiener.
Aufgaben
1. Benennen Sie wichtige Aspekte der Agenda 2010 und der Hartz IV-Reformen (M 1).
2. Erläutern Sie, auf welche Probleme die Agenda 2010 eine Antwort liefern sollte
(M 1 und M 2).
3. Setzen Sie sich kritisch mit dem Prinzip „Fördern und Fordern" auseinander (M 1 und M 2).
4 . Beurteilen Sie, inwieweit die Agenda 2010 als Erfolg bewertet werden kann.
Einkommens- und
• Vermögensverteilung
2.4.1 Einkommensverteilung - Akteure und Konzepte
Leitfragen Wie erfasst man die Welche Rolle übernehmen Gewerk- Welche lohnpolitischen
Einkommensverteilung in schaften und Arbeitgeberverbände bei Konzepte lassen sich
einer Volkswirtschaft? Lohnverhandlungen? unterscheiden?
Um zu beschreiben, wie in einer Volkswirtschaft • Bezieht man das Einkommen auf die einzelnen
die Einkommen auf die am Wirtschaftsprozess Wirtschaftssubjekte, unabhängig von der Ein-
teilnehmenden Menschen - Wirtschaftsobjekte - kommensquelle, spricht man von der personel-
verteilt sind, untersche idet man zwischen der pri- len Einkommensverteilung.
mären, der sekundären, der funktionalen und der
personellen Ein kom mensvertei Iu ng:
Wie werden in Deutschland
• Die Primärverteilung zeigt die Verteilung des die Löhne bestimmt?
Volkseinkommens, die sich am Markt aufgrund
des Einsatzes der Produktionsfaktoren in Form In Deutschland sind die Tarifve rhandlungen zwi-
von Lohn, Gewinn, Pacht oder Zins ergibt. An- schen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden
genommen, ein Arbeitnehmerhaushalt bezieht in der Öffentlichkeit sehr präsent. In regelmäßig
durch Arbeitstätigkeit, durch Zinsen a uf Spar- (meistjährlich) stattfindenden Tarifrunden werden
guthaben und durch Vermietung von Wohn- zwischen den Vertretern die Löhne und Arbeitsbe-
raum ein Bruttoeinkommen von 4.000 Euro, so dingungen - meist für einzelne Branchen - kollek-
ist dies sein Einkommen, das er im Rahmen der tiv ausgehandelt. Die zwischen den Gewerkschaf-
Primärverteilung erhält. ten und den Arbeitgeberverbänden vereinbarten
Tarifve rträge gelten für eine bestimmte Laufzeit
• Zieht man hiervon die Lohnsteuer und die So- und e nthalten Regelungen zur Höhe der Löhne
zialversicherungsabgaben ab (> Kap. 1.4.1) und und Gehälter (Lohntarifverträge), aber auch Re-
addiert staatliche Transferleistungen wie etwa gelungen über die Wochenarbeitszeit, die Zahl der
das Kindergeld hinzu, so erhält man das Ein- Urlaubstage, z. T. auch Vereinbarungen bezüglich
kommen des Arbeitnehmerhaushalts nach der der Fortbildung der Beschäftigen und verschiede-
Umverteilung durch den Staat. Man spricht ne Aspekte der Arbeitsgestaltung können mitauf-
dan n von der sekundären Einkommensvertei- genommen werden (Manteltarifverträge).
lung.
Die kollektive Aushandlung der Löhne kann vor-
• Bei der funktionalen Einkommensverteilung teilhaft für Arbeitnehmer und Arbeitgeber sein, da
betrachtet man die Verteilung des Einkommens die individuellen Kosten für Verhandlungen und
auf die an der Erstellung des Sozialprodukts be- Informationsbescha ffung, die sogenannten Trans-
teiligten Produktionsfaktoren Arbeit (Löhne a ktionskosten, vermindert werden. Für den einzel-
und Gehä lter) und Kapital (Gewinn, Zins und nen Arbeitnehmer sind Tarifverträge i.d.R von
Bodenrente). Vorteil, da er eine schwächere Verhandlungsposi-
1 2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
■
IG Metall berverbände (BOA) bzw. ihre Fachverbände ver-
0 -0,5 %
2263 Tsd. handeln für die darin organisierten Unternehmen
•~
!:!BCE
ver.di
0
-1 ,2
-1,1
-0,02
mit den Gewerkschaften. Der Bundesverband der
deutschen Industrie (BDI) und seine industrielle n
Einzelverbände verstehen sich als w irtschaftspo-
lit ische Vertreter der Unternehmen. Zudem sind
die Industrie- und Handelskammern Selbstver-
waltungsorgane der Wirtschaft. Sie übernehmen
- 278
Aufgaben mit öffentlich-rechtlichem Charakter
IG Bauen-Agrar-Umwelt
0 -3,5 (Körpe rschaften des öffentlichen Rechts), so z.B.
- 255 bei der Berufsausbildung. Dachverband ist der
Gew. Nahrung-Genuss-Gaststätten
0 -0,8 deutsche Industrie- und Hande lskammertag
- 200 (DIHK). Auch diese Verbände nehmen über die
:VG Eisenbahn- u. Verkehrsgewerkschaft 0 -1 ,5 Lohnverhandlungen hinaus die allgemeinpoliti-
•
- 190 schen Interessen der Arbeitgeber wahr.
Gewerkschaft der Polizei
- 185 fGl 0 + 2,9
Lohnkonzeptionen in Deutschland
Quelle: Deutscher Gewerkschaftsbund ~©Globus
.3
t; BOA
J
Cl)
Präsidium - Hauptgeschäftsführung
14 Landesvereinigungen 49 Bundesfachve,bände
I
Vorstand aus den Bereichen
(zentrales
Beschlussorgan) Ind ustrie 21
Vorsitzende der
◄
Handel 2
Mitgliedsverbände
3 Vertreter Finanzwirtschaft 2
BOA- naher Institutionen
Verkehr 5
bis zu 28 weitere,
gewählte Mitglieder Handwerk 2
t
Wahl
Dienstleistungen 15
1
Landwirtschaft 2
► ◄
Mitglieder-
versammlung
1 1 1 1
Über Mitgliedsverbände sind etwa 1 Mio Betriebe mit über 20 Mio Beschäftigten mit der BOA verbunden
Vorschlag der Spitzenorganisationen der Arbeit- beachten, dass sich der Anteil der Selbstständigen
geber und Arbeitnehmer von der Bundesregierung an den Erwerbstätigen von J ahr zu J ahr verändert.
berufen. Die ha uptsächlich von Arbeitgeberseite
prognostizie rte negative Auswirkung des Min- Dieser Effekt wird bei der Berechnung der berei-
destlo hns auf den Arbeitsmarkt ist bisher nicht nigte n Lohnquote berücksichtigt.
eingetreten.
Lohnquote in Deutschland
2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 20 15 2016
Sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in an sich, sondern um die Möglichkeiten Einkom-
großen Teilen der politischen Parteien hat sich j e- men zu generieren. Hiernach sollen alle am Wirt-
doch der Grundsatz der Chancengerechtigkeit schaftsgeschehen Teilnehmenden die gleichen
bzw. - gleichheit durchgesetzt. In diesem Sinne Zugangs-, Aufstiegs- und damit auch Verdienst-
geht es weniger um die Verteilung der Einkommen chancen besitzen.
Korporatistische Aushandlungsprozesse -
der Staat als Rahmen setzender Akteur
In Deutschland (wie in den meisten entwickelten zu Lasten schwach oder gar nicht organisierter
Volkswirtschaften) besteht eine Vielzahl von lnte- Gruppen (> Kap. 4.3.2). Als klassisches Beispiel
ressenverbänden, von denen viele versuchen, für korporatistische Aushandlungsprozesse gilt
politische und wirtschaftliche Entscheidungen die in Deutschland stark ausgeprägte Sozialpart-
zu beeinflussen. In der Politikwissenschaft nerschaft. Das Aufeinanderprallen gegensätzli-
spricht man hierbei von Korporatismus. Dies be- eher Interessen, aber auch das Zusammenspiel
zeichnet die Einbindung von lnteressenverbän- der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbän-
den in den politischen und wirtschaftlichen Ent- de ist besonders in den Auseinandersetzungen
scheidungsprozess. Allerdings setzen Gruppen, um die Einkommens- und Vermögensverteilung
die besonders gut organisiert sind (bzw. deren zu beobachten. In diesem Prozess tritt der Staat
Interessen auch gut zu organisieren sind), ihre als Rahmen setzender und unter Umständen
Interessen stärker durch, gegebenenfalls auch vermittelnder Akteur hinzu.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie die Unterschiede zwischen primärer und sekundärer Einkommensverteilung.
2. Recherchieren (, Methodenglossar) Sie den Verlauf einer aktuellen Tarifverhandlung. Erläutern Sie, wie Ge-
werkschaft und Arbeitgeber ihre Forderungen jeweils begründen.
3. Beurteilen Sie das Ergebnis der Verhandlungen vor dem Hintergrund der lohnpolitischen Konzeptionen in
Deutschland.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
5 Dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, dass die Schere
zwischen den Einkommen oder Vermögen immer weiter klafft, gehört seit jeher zu den
Standardbehauptungen der Kapitalismuskritik. Viel Rechnerkapazität ist aufgewandt
worden und noch mehr Tinte geflossen, um nachzuweisen, in welchem Ausmaß dies
der Fall ist oder ob der Befund einer stetig zunehmenden materiellen Ungleichheit nicht
10 doch auf einer statistischen Täuschung beruht. Für Marcel Fratzscher indes, den Prä-
sidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW}, ist die Sache klar.
,,Deutschland ist heute eines der ungleichsten Länder in der industrialisierten Welt",
schreibt Fratzscher in seinem neuen Buch mit dem reißerischen Titel „Verteilungs-
kampf" . Damit aber nicht genug: ,,Das Erhardsche Ziel ,Wohlstand für alle' ist heute
15 nur mehr eine Illusion". Die von Erhard ins Leben gerufene Soziale Marktwirtschaft, ,,in
der die soziale Sicherung aller Bevölkerungsgruppen gewährleistet war" - sie existie-
re nicht mehr, und das nicht etwa deshalb, weil die Marktwirtschaft nach zahllosen
Eingriffen ihren Namen kaum mehr verdient. Untergegangen sei das Soziale. Als Beleg
seiner These präsentiert Fratzscher mit populärwissenschaftlich leichter Feder eine
20 schier erschlagende Fülle von empirischer Evidenz, illustriert mit Tabellen und Graphi-
ken.
Sein Kernbefund lässt sich in drei Beobachtungen zusammenfassen: In Deutschland
sei erstens das Vermögen nicht nur sehr ungleich verteilt, was unter anderem an dem
starken Besatz mit Familienunternehmen liege. Es falle trotz der legendär hohen Spar-
25 quote insgesamt auch im internationalen Vergleich gering aus, unter anderem deshalb,
weil die Deutschen außerordentlich untalentierte Anleger seien.
Zweitens habe auch die Ungleichheit von Löhnen, am Markt erwirtschafteter Einkom-
men und nach Steuern und Transfers verfügbarer Einkommen in den vergangenen
Jahrzehnten deutlich zugenommen, wozu auch die „Agenda 201 O" von Bundeskanz-
30 ler Gerhard Schröder (SPD) beigetragen habe. Dass gerade die sogenannten atypi-
schen Beschäftigungsverhältnisse eine Brücke in den Arbeitsmarkt bauen und deshalb
ein sonst verschüttetes Potential heben, streitet er ab.
Drittens lasse die sogenannte soziale Mobilität zu wünschen übrig, wobeii zu den größ-
ten Verlierern die Mittelschicht gehöre. ,,Nirgendwo bleibt Arm so oft Arm und Reich
35 so oft Reich ", schreibt Fratzscher anklagend; es gebe in Deutschland immer weniger
Aufstiegsgeschichten. Die staatliche Umverteilung sei außerstande, einen Ausgleich
zu schaffen, denn sie sei zwar umfassend, aber reichlich ineffizient. Allzu oft fließe das
Geld nur von den einen Bessergestellten zu den anderen Bessergestellten. Sowohl die
Fiskal- als auch die Geldpolitik trügen immer wieder zur Steigerung der Ungleichheit
40 bei, ebenso wie die externen Einflüsse Globalisierung und Digitalisierung. Insgesamt
bedinge dies einen dramatischen Mangel an Chancengleichheit; die Leidtragenden
seien alle. [...]
Fratzschers Abgesang auf die Soziale Marktwirtschaft ist gewiss verfrüht. In seinen
politischen Forderungen zur Stärkung besserer Chancen für alle gibt es trotzdem -
45 oder gerade deshalb - so manches, worin man ihm gerne folgt. So betont er zu Recht,
wie notwendig die Pflege der zu lange vernachlässigten Infrastruktur in Deutschland
ist, wie wichtig mehr Investitionen in frühkindliche Bildung sind oder wie nützlich ein
allgemeines Schulfach Wirtschaft wäre. Er mahnt an, die staatliche Umverteilung
schlanker, fokussierter und effizienter zu gestalten, und er ruft dazu auf, die nach
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Karen Horn lebt als freie Wissenschaftlerin und Publizistin in Zürich. Sie lehrt ökono-
mische Ideengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin und an der Universität
Erfurt.
Karen Horn, Ein verfrühter Abgesang auf die Soziale Marktwirtschaft, i11: Ökonomenblog
(Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft}, 15.3.2016
M 2 Einkommensschichten in Deutschland
Verteilung der Bevölkerung in Deutschland nach Einkommensschichten von 1995 bis 2014
25%
24,1% 24,7% 24,1% 24,5%
22,6%
0%
1995 2000 2005 2010 2014
100% = Durchschnittseinkommen
■ weniger als 50% mehr als 100% bis 120% ■ mehr als 150% bis 200%
mehr als 50% bis 75% mehr als 125% bis 150% über 200%
■ mehr als 75% bis 100%
Quelle: S0EP '° Statista 201 7
Aufgaben
1 . Benennen Sie die Argumente von Marcel Fratzscher anhand der Darstellung von Karen
Horn (M 1).
3. Begründen Sie einen eigenen Standpunkt zur Kritik von Horn (M 1 ). Beziehen Sie M 2 in
Ihre Argumentation mit ein.
2 .4.2 Der Prozess der staatlichen Umverteilung
Leitfragen Welche Gründe werden für und Mit welchen Instrumenten Welche Bedeutung hat die
gegen eine staatliche Umvertei- kann der Staat die Einkom- Vermögensverteilung in einer
lung vorgebracht? mensverteilung verändern? Volkswirtschaft?
Die Versorgung von nicht Erwerbstätigen, wie z.B. Der deutsche Einkommensteuertarif ist ein
Kinder, Jugendliche, Arbeitslose, Kranke und Mischsystem aus progressiven und proportiona-
Rentner erfordert eine Umverteilung des Einkom- len Tarifen.
mens. Aber auch Erwerbstätige können auf eine
Umverteilung a ngewiesen sein, wenn das eigene Während die Steuerprogression bei der Lohn- und
Einkommen nicht zur Sicherung der eigenen Exis- Einkommenssteuer in Deutschland a ls Teil eines
tenz ausreicht. Neben der informellen Umvertei- ausgleichenden Sozialsystems allgemeine Akzep-
lung in den Familien übernimmt deshalb der Staat tanz findet, wird regelmäßig über die konkrete
durch vielfältige Maßnahmen eine Umverteilung Ausgestaltung des Steuertarifs gestritten. Gegen
der Einkommen. zu hohe Steuersätze wird dabei meist das Argu-
ment vorgebracht, dass sie zu einer Minderung der
Staatliche Eingriffe in die Einkommens- und Ver- Leistungsbereitschaft, einem Ausweichen in die
mögensverteilung können darum als ein wesent- Schattenwirtschaft und Kapitalverlagerungen in
liches Element der sozialen Marktwirtschaft be- das Ausla nd führen können.
trachtet werden (> Kap. 2. 1.3). Inwieweit dies
jedoch zu gewünschten Ergebnissen führt, ist Im besonderen Fokus der Öffentlichkeit steht da-
stark umstritten, so dass die Ausgestaltung des bei der Spitzensteuersatz, der seit 1999 mehrmals
Umverteilungsprozesses über das Steuer- und So- gesenkt und 2007 für ein zu versteuerndes Ein-
zialversicherungssystem der ständigen politischen kommen über 250.000 Euro für Alleinstehende
Auseinandersetzung unterliegt. und 500.000 Euro für Verheiratete von 42 auf 45
Prozent angehoben wurde.
Als zentrales Mittel der staatlichen Umverteilung Eine Einkommensumverteilung findet in Deutsch-
fungiert das Steuersystem und hier im Besonderen land in erheblichem Maß über das Steuer- und
die Ausgestaltung der Einkommenssteuer. Die Sozialversicherungssystem statt. Inwieweit diese
Einkommensteuer (ESt) ist eine Steuer, die auf das Umverteilungsvorgänge j edoch zu einer gleich-
Einkommen natürlicher Personen erhobe n wird. mäßigeren Einkommensverteilung fü hren, darü-
Sie stellt eine der wichtigsten Einnahmequelle n ber herrscht sowohl in der Wissenschaft als auch
des Staates dar. Der Einkommensteuertarif gibt in der öffentlichen Diskussion keine Einigkeit.
dabei an, wie v iel der Einzelne an Steuern auf sein Beobachten lässt sich jedoch, dass sich die Ein-
zu versteuerndes Einkommen zahlen muss. kommensverteilung in Deutschland in den letzten
Jahren zugunsten der Bezieher höherer Einkom-
Bei der Erhebung der Einkommensteuer wird ge- men - vor allem aufgrund vo n Einkünften aus
nerell zwischen einem progressiven und einem Vermögen - entwickelt hat. Stärker in den Blick-
proportionalen Tarif unterschieden. Bei einem punkt rückt deshalb die Vermögensverteilung.
progressiven Steuertarif werden hohe Einkom-
men prozentual h öher besteuert als geringe Ein- Individuelles Ve rmögen ermöglicht dem Besitzer
kommen. Beim proportionalen Steuertarif wer- die Erzielung von zusätzlichem Einkommen, ist
den alle Einkommen prozentual gleich besteuert. wichtig für die Alterssicherung, beeinflusst die
2.4 Einkommens- und Vermögensverteilung 1
70 %
.000
7.000
6.000
5.000 til
e
Spitzensteuersatz
4.000
{linke Achse)
3 .000
20 %
M+H 2.000
10 % Eingangssteuersatz 1.000
(linke Achse)
0 %...__ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ ____._o
1998 1999 2999 2991 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
Aus bildung von Kindern meist positiv und kan n • Ein weiterer A nsatzpunkt ist die Erbschaftssteu-
wirtschaftl iche un d polit ische Macht verleihen. er, ergänzt durch die Schenku ngssteuer. S ie wird
Mit Blick auf d ie Cha ncengerechtigkeit (, Kap. in Deutschla nd seit 1906 erhoben u nd wurde
2.4.1) stellt s ich Frage, inwiefern eine st ark un- 2016 a ufg rund eines Urteils des Bundesverfas-
gleiche Vermögensverteilung wünschenswert ist. sungsgerichts neu geregelt. Umstritte n wa r und
Betrachtet man die Situation in Deutschland, ist ihre genaue Ausgestaltu ng. Ein wesentlicher
dann betrug das private Geldvermögen Ende 20 17 Streitpunkt besteht da rin, wie Betriebsvermögen
über 5,8 Billionen Euro. Noch mehr als beim Ein- beha ndelt werden müssen, um Familienunter-
kommen fällt die starke Ungleichheit bei der Ver- nehmen in ihrem Besta nd zu sch ützen. Grund-
mögensverteilung in Deu tschland a uf, welche sätzlich wenden die Kritiker dieser Steuer ein,
eine der höchst en im Euroraum ist (> Schaubild dass die Erbsch aftssteuer in das Eigentumsrecht
Vermögensverteilung auf der nächsten Seite). eing reift, seh r aufwendig in der Erhebung ist
und vergleichsweise wenig einbringt. Dagegen
wird eingewandt, dass d ies nur a n de n recht
Sollte die Vermögensverteilung hohen Freibeträgen und den in Deutschland
korrigiert werden? vergleichsweise geringen Erbschaftsteue rsätzen
liege.
Der St aat verfügt im Hinblick auf eine Umvertei-
lung der Vermögen über folgende Instrumente : • A m umstrittensten ist die Vermögensst eu er, da
sie eine Substanzsteuer ist u nd somit nicht au f
• Am unproblematischste n erscheint die Förde- la ufende Einkomme n bezogen ist. Sie w ird seit
rung der Vermögensbildung. Dies gescha h in 1997 in Deutschla nd nich t mehr erhoben, da das
Westdeutschla nd seit den J950er Ja hren. Da s ie Bundesverfassungsgerichtsurteil die da maligen
fast ausschließlich der Alterssic herung u nd der Bemessun gsgrundlagen fü r verfassungswidrig
Fina nzierung größerer A nschaffu ngen diente, erklärte. Die Wiedereinführung einer solchen
bl ieben die in diesem Zusamme nha ng gebilde- Steuer wird regelmä ßig in die öffentlic he Dis-
ten Vermögen allerdings besch rä nkt. kussion eingebracht.
2 Grundlagen der W irtschaftspolitik
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(1J
~
\.'.)
Aufgaben
1. Erläutern Sie, warum der Staat eine umverteilende Einkommenspolitik betreibt.
2. Erklären Sie, warum eine stark ungleiche Verteilung der Vermögen ein Problem für die Chancengerechtigkeit
innerhalb einer Gesellschaft sein kann.
3. Verfassen Sie eine kurze Rede(, Methodenglossar), in der Sie sich für bzw. gegen die Wiedereinführung der
Vermögenssteuer wenden.
METHODENKOMPETENZt
Eine Statistik ist die systematische Sammlung und • Säulendiagramm: verdeutlicht meist Zeitreihen.
Ordnung von Informationen in Form von Zahlen. • Punktediagramm : bietet sich an, u m Korrelati-
Diese Zahlen werden entweder in Tabelle n oder onsvergleiche darzustellen. Ein Korrelations-
optisch aufbereitet a ls Diagramme oder Schaubil- vergle ich gibt a n, ob die Relation (Beziehung)
der dargestellt und a usgewertet. Es gibt verschie- z wischen zwei Va riablen dem „norma len", d. h.
den e Arten von Diagrammen, die fü r u nterschied- erwarteten Muster folgt oder nicht.
lich e Zwecke geeignet sind:
Die verwend eten Zahlen ka nn man als absolute
• Kreisdiagramm: eignet sich besonders gut, um (gena ue, gerundete) Zahlen oder als P rozentza h-
Anteile a n Gesamtmengen darzustellen. len angeben. Einige Statistiken verwenden auch
• Balkendiagramm: stellt Zahlenwe rte in ihrer Indexwerte, d. h. Verhältniszahlen, die sich auf
Re ihenfolge dar. einen auf 100 gesetzten Wert eines Ausga ngsja h-
• Kurvendiagramm : ka nn Entwicklungslinien res beziehen und deren Veränderung im Verhä lt-
bzw. Trendkurven verdeutlichen. nis zu diesem Bezugspunkt betrachtet wird.
• Wer hat in wessen Auftrag die Statistik erstellt? Müssen Begriffe geklärt werden?
• Wie wurden die Werte ermittelt? Ist die Erhebung repräsentativ?
• Welches Thema wird behandelt (Diagrammüber oder - unterschritt)?
• Was wird in Beziehung zueinander gesetzt?
• Welche Kriterien des Vergleichs werden verwendet?
• Welche Hinweise erhalten Sie aus der Form der Darstellung (Kreis-, Säulendiagramm etc.)?
• Welche Zahlenarten werd en verwendet (absolut/ relativ, Prozent- oder Indexzahlen)?
• Wiegenau sind die Zahlenwerte (gerundet, geschätzt, vorläufig, ,,k. A." = ,,keine Angabe")?
• Auf welc hen Zeitraum bezieht sich die Statistik?
• Wie sind die Achsen eingeteilt (Zeitsprünge, Maßeinheiten, Verzerrungen durch Gruppenbildung u. a.)?
Beispiele:
~-------------------------IZAHLENBILDERl-ffi
c Bergmoser + Höller Verlag AG 181 274
500.000
300.000
100.000
-3.000 Euro
5. 10. 15. 20. 25. 30. 35. 40. 45. 50. 55. 60. 65. 70. 75. 80. 85. 90. 95.
Perzentil
Quelle: WSI- Verteilu11gsmo11itor 2016 / Hans Böckler Stiftung
1 Aufgabe
Entwicklung Bilanzsumme (in Mio. Euro) Entwicklung Bilanzsumme (in Mio. Euro)
2.600 5.500
2.500 5.000
2.400 4.500
2.300 4.000
3.500
2.200
3.000
2.100
2.500
2.000
2.000 - -~r.w---
1.500 1.500
1.000 1.000
500 500
0 0
2001 2002 2003 2004 2001 2002 2003 2004
Aufwärtstrend Aufwärtstrend
(Entwicklung deutscher Messestände) (Entwicklung deutscher Messestände)
6,2
"' 9,6 158.060 6 ,2
"' 9,6
158.060
Au ssteller vermietet e Fläche Besuc her Ausst eller vermietete Fläc he Besucher
in Tausend in Mio . m 2 in Mio. in Tausend in Mio. m 2 in Mio.
Aufgaben
1. Werten Sie die Statistiken „Entwicklung der Bilanzsumme" und „Aufwärtstrend" arbeitsteilig aus.
3. Welche der Darstellungen halten Sie für weniger manipulativ? Begründen Sie Ihre Meinung.
Finanzpolitik
2.5.1 Aufgaben des Staates in der Finanzpolitik
Leitfragen Welche Finanzierungsquellen Welche Aufgaben hat die Wie ist das Steuersystem in
stehen dem Staat zur Verfügung? Finanzpolitik? Deutschland ausgestaltet?
Staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen eine aktivere Rolle des Staates ein. Unumstritten
erleben wir täglich unmittelbar: wir bezahlen ist dabei der Auftrag des Staates, einen Ordnungs-
Mehrwertsteuer beim Einkaufe n, sehen die Abzü- rahmen für die Wirtschaft herzustellen und zu
ge auf unserem Gehaltszettel, benutzen öffentli- gewährleisten (Ordnungspolitik). Ebenso trägt er
che Einrichtungen - kostenfrei oder gegen Gebüh- die Verantwortung für die öffentliche Infrastruk-
ren bzw. erhalt en Kindergeld oder Ausbildungs- tur. Zudem fällt dem Staat in der Sozialen Markt-
förderun g. Während v ielen diese staatlichen Ak- wirtschaft zusätzlich die Aufgabe der sozialen
tivitäten zu weit gehen, fordern andere hingegen Sicherung der Bürger zu.
Finanzierung öffentlicher Güter Finanzierung von Maßnahmen Steuerung der Ausgaben und
wie z. B. Schulen, Verkehrswege zum Ausgleich sozialer Einnahmen um unerwünschten
oder Krankenhäuser Ungleichgewichte wie z. B. W irkungen von Konjunkturschwan-
Transferleistungen kungen wie z. B. Arbeitslosigkeit
entgegenwirken zu können
Die Einnahmen und Ausgaben der staatlichen In- kalpolitik ist es, Struktur und Höhe der Staatsaus-
stitut ionen - auch öffe ntliche Hand genan nt - gaben zu bestimmen und mit Hilfe von Steuerein-
werden j ährlich in den öffentlichen Haushalten nahmen, von Abgaben und durch Kredita ufnahme
a ufgestellt. Aufga be der Finanzpolitik bzw. Fis- zu finanzieren.
2.5 Finanzpolitik f
Mehr als eine Billion Euro gibt der deutsche Staat • Nach der Ertragshoheit: Mineralöl- und Tabak-
pro Jahr aus, wovon der Bund den g rößten Anteil steuer stehen ausschließlich dem Bund zur Ver-
verteilt. Dazu ko mmen die Ausgaben der Länder, fügung, während die Einkommensteuer nach
der Kommunen sowie der Sozialversicherungen. einem bestimmte n Schlüssel auf Bund, Länder
Der Spielraum von Finanzministern und Kämme- und Gemeinden aufgeteilt wird. Gleiches g ilt für
rern ist j edoch deutlich geringer geworden, da die die Umsatzsteuer. Reine Ländersteuern sind die
Haushaltspolitik unter dem Zwang gesetzlich vo r- Kfz- und die Grunderwerbsteuer. Den Gemein-
gegebener Leistungen steht. den fließt die Gewerbe- und die Gru ndsteuer zu.
Seitjeher fordern Staaten von ihren Bürgern Steu- Steuern sind die wichtigste Einnahmequelle des
ern. Sie können so gegliedert werden: Staates zur Finanzierung der vielfältigen öffent-
lichen Aufgaben. Darüber hinaus kö nnen Steuern
• Direkte Steuern werden auf Einkommen und a uch zur Erreichung wirtschafts-, sozial- oder ge-
Vermögen erhoben. Hierzu zählen die Lohn-, sundheitspolitischer Ziele eingesetzt werden. So
Einkommens- und Körperschaftsteuer. Der werden z.B. Familien mit Kindern du rch Freibeträ-
Steuerzahler ist hier der Steuerträger. ge bei der Einkommensteuer gefördert, durch die
Erhöhung der Tabaksteuer soll gesu ndheitsschäd-
• Indirekte Steuern sind die Umsatzsteuer bzw. liches Verhalten sanktioniert werden, und schließ-
Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuern, wie z.B. lich gewährt der Staat Vorteile bei der Besteuerung
die Tabaksteuer. Sie sind in den Preisen der Pro- von jungen Unternehmen (Startups). Durch eine
dukte enthalten und werden von den Unterneh- bestimmte Steuerpolitik können also Personen-
men an den Staat gezahlt. Steuerträger sind die gruppen, Unternehmen oder Wirtschaftsbra nchen
Endverbraucher, also d ie privaten Haushalte, gefördert werden. Man spricht in diesem Zusam-
deren Belastung sich nach ihrem Verbrauch menhang deshalb von einer Lenkungs- und Um-
richtet und nicht nach dem Einkommen. verteilungsfunktion der Steuerpolitik.
Daneben vergibt der Staat auch d irekte Subven- Trotz der genannten Einwände ist der Einsatz von
t ionen, Zahlungen ohne direkte Gegenleistungen Steuern und Subvent ionen zur Erreichung wirt-
zur Förderung eines bestimmten Ziels, etwa für schaftspolitischer Ziele allgemein akzeptiert. Be-
den Kohlebergbau, in der Landwirtschaft, in der sonders in der Sozialpolitik, der Strukturpolitik
Forschu ng, fü r So laranlagen oder für die Export- und zunehme nd auch in der Umweltpolitik sind
förderung. Da Subventionen einen Eingriff in das sie als Steuerungsinstrumente unverzichtbar.
Marktgeschehen bedeuten, sind sie umstritten Auch die Konjunkturpolitik wäre ohne den Ein-
und sollten nur in geringen Maßen angewandt satz finanzpolitischer Instrumente nicht denkbar.
und regelmäßig überprüft werden. Politisch Die Finanzpolitik ist somit - neben der Geldpolitik
scheint die Abschaffung einer Subvention aber oft (> Kap. 2.6), die aber einer direkten politischen
schwer durchsetzbar, besonders wenn einflussrei- Steuerung entzogen ist - das wichtigste Element
che Interessengruppen betroffen sind. der wirtschaftspolitischen Steuerung.
Prozent 1
601~
55 l
:i
Bei der Frage, wie Steuern auf die einzelnen Bür- rechtfertigen, da diejenigen, die Benzin tanken,
ger und Bürgerinnen aufgeteilt werden sollen, auch d iejen igen sind, die den Nutzen aus dem öf-
lassen sich zwei Prinzipien unte rscheiden: zum fe ntlich finanzierten Straßennetz ziehen.
einen das Äquivalenzprinzip und zum anderen
das Leistungsfähigkeitsprinzip. Nach dem Äqui- Da Steuern aber nicht zweckgebunden erhoben
valenzprinzip würde j ede Steuerbelastung den aus werden, der Steuerzahler also nicht den Anspruch
de n Leistungen empfangenen Vorteilen entspre- auf eine bestimmte Verwendung seines Steuerauf-
chen. Damit ließe sich etwa die Mineralölsteuer kommens hat, wird bei der Gestaltung des Steuer-
2.5 Fin anzpolitik f
systems auf das Leistu ngsfähigkeitsprinzip zurück steuertarif dient somit nicht nur der Finanzierung
gegriffen, d.h. die Steuern steigen progressiv mit der staatlichen Aufgaben, sondern auch dem Ziel
dem Einkommen. Der progressive Einkommens- der Umverteilung (>Kap. 2.4.2).
Steuerspirale 2017
Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden sonstige Steuern
138 Mio.€
734 513 Millionen Euro*
davon entfielen auf 143 • Zweitwohnungsteuer
349 • Hundesteuer
368 • Schaumweinsteuer
121 @ Glob,s Quelle: BMF *7262 Mio. Euro für Erstattungen aus der Kernbrennstoffsteuer bereits abgezogen
Aufgaben
1. Beschreiben Sie die zentralen Funktionen des Staatshaushalts.
2. Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Die Staatseinnahmen sollen durch eine Steuererhöhung gesteigert
werden. Im Gespräch ist eine Erhöhung der Einkommenssteuer bzw. eine Erhöhung der Mehrwertsteuer.
a) Erläutern Sie die Wirkungsweise der Maßnahmen sowie deren sozialen Auswirkungen.
b) Welche Art der Besteuerung würden Sie bevorzugen? Begründen Sie Ihre Auswahl.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Lange Zeit war es ruhig um das Thema Steuern . Plötzlich aber ist die Forderung nach
Entlastungen wieder zurück auf der Agenda. Stefan Bach, Experte des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung, zeigt sich skeptisch. Es sei ziemlich teuer, breite
Bevölkerungskreise zu entlasten, gibt er zu bedenken.
Geht so. Steuern sind das Geld der Gesellschaft. Sie müssen sein, um den Staat zu
finanzieren. Aber anders als Sozialabgaben oder Gebühren bringen Steuern keine direk-
te Gegenleistung, da neigt man dazu, sich zu drücken. Dieser Grundkonflikt zwischen
kollektivem und individuellem Interesse prägt die Steuerpolitik seit Jahrhunderten.
10 Also zahlen Sie eher aus Einsicht, dass es eben sein muss ...
Genau. Der Staat braucht die Steuereinnahmen, um das gewünschte Maß an öffentli-
chen Gütern bereitzustellen, also Infrastruktur, Bildung, soziale Sicherung, Umvertei-
lung etc. Die gibt es auf dem Markt nicht zu kaufen. Und nicht zuletzt muss die Wirt-
schaft in Krisen stabilisiert werden, das geht nur mit einem starken Staat.
Die Deutschen sind sicherlich staatskritischer geworden, auch die Mittelschichten, die
eigentlich in erheblichem Umfang vom Staat profitieren. Dies erklärt einen gewissen
20 Widerstand gegen Steuerbelastungen und auch die Bereitschaft, Steuern ohne größe-
re moralische Skrupel zu hinterziehen.
Die Menschen mit mittleren Einkommen tragen mit ihrem Geld aber auch den Staat.
Richtig. Die Masse füllt die Kasse. Der Staat finanziert sich zum großen Teil über Lohn-
und Umsatzsteuer. Die zahlen die breiten Bevölkerungsschichten. Wenn eine Regie-
2s rung die Mittelschicht spürbar entlasten möchte, wird es gleich ziemlich teuer. Um die
riesigen Einnahmeausfälle zu kompensieren, muss die Politik an die Ausgaben heran
und dort kürzen. Das geht dann schnell ans Eingemachte, etwa bei Infrastruktur, Uni-
versitäten und Schulen oder bei den Sozialleistungen. Das bezahlen dann die Mittel-
schichten aus der linken Tasche, und langfristig leidet dann auch das Wachstum. [... ]
30 Andererseits eilen die Steuereinnahmen von Rekord zu Rekord . Ist nicht allein deswe-
gen eine Entlastung überfällig?
Die Geschichte von den ständigen Steuerrekorden ist ein Mythos. Die Wirtschaft und
unsere Einkommen wachsen ebenfalls Jahr für Jahr. Insofern ist es wenig verwunder-
35 lieh, dass auch das Steueraufkommen zunimmt. Die Steuerquote, also der Anteil der
Steuern am Bruttoinlandsprodukt, ist zwar in den letzten Jahren gestiegen. Sie liegt
aber noch unter den Niveaus früherer Zeiten wie Ende der 1990er Jahre oder Mitte der
1970er Jahre.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Die zehn Prozent mit den höchsten Einkommen tragen über die Hälfte des Aufkom-
40 mens aus der Einkommenssteuer. Schröpft der Staat seine Leistungsträger?
Die Einkommenssteuer ist in der Tat progressiv. Das heißt: Die relative Belastung nimmt
mit steigendem Einkommen überproportional zu. Da gibt es dann die „kalte Progres-
sion". Die Einkommenssteuern machen aber nur die Hälfte des Steueraufkommens
aus. Besserverdiener zahlen relativ zu ihrem Einkommen weniger indirekte Steuern wie
45 Mehrwertsteuer oder Energiesteuern. Denn sie sparen einen höheren Anteil ihres Ein-
kommens und geben nicht alles im Supermarkt oder an der Tankstelle aus. Die
Gesamtbelastung ist gar nicht so progressiv.
Wissen wir überhaupt, wie viel die Reichen versteuern oder auch nicht?
Wir wissen, was sie versteuern, aber nicht, wie viel sie tatsächlich verdienen. Reiche
so und Superreiche können auf legalen oder illegalen Wegen ihr Geld ins Ausland bringen
oder anderweitig Steuern sparen. Hinzu kommt, dass sie ihre Vermögen in Unterneh-
men, Stiftungen oder „family offices" stecken haben. Diese Vermögenswerte, die in
den letzten Jahren wieder kräftig gestiegen sind, werden aber in den gängigen Belas-
tungsstatistiken gar nicht erfasst. Würde man das mit einbeziehen, läge die Steuerbe-
ss lastung der hohen Einkommen wohl niedriger.
Bei den Spitzeneinkommen hat die Politik draufgesattelt, etwa mit der Reichensteuer.
Ist da noch Spielraum?
Seit den 1990er Jahren haben viele Länder, auch Deutschland, hohe Einkommen und
Vermögen systematisch entlastet. Wir haben die Vermögenssteuer abgeschafft und
60 die Spitzentarife der Einkommenssteuer reduziert. Die Unternehmenssteuersätze, die
bei sehr hohen Einkommen eine Rolle spielen, sind ebenfalls gesunken. Und die Erb-
schaftssteuer dümpelt mit wenig Aufkommen dahin, trotz Erbschaftswelle.
Die Vermögenssteuer ist ein schwieriges Geschäft. Sie wirkt ähnlich wie eine laufende
6s Steuer auf Kapitalerträge. Zusätzlich muss man aber das Vermögen erfassen. Dieser
Aufwand lohnt sich nur, wenn man daraus nennenswerte Einnahmen erzielt. Ein Auf-
kommen von zehn bis 15 Milliarden Euro im Jahr wäre durchaus möglich. Damit träfe
man vor allem die mittelständischen Unternehmen. Von dort kommt massiver Wider-
stand , siehe die gescheiterte Reform der Erbschaftssteuer.
Wenn es um Steuervermeidung geht, stehen meist Konzerne wie Apple oder Starbucks
am Pranger. Doch auch Dax-Konzerne nutzen Steuergesetze für sich. Eine neue
Untersuchung zeigt, wie der Chemiekonzern BASF Steuerzahlungen drückt. {. . .}
s Wenn es um die Steuerflucht von Konzernen geht, denken viele zuerst an amerikani-
sche IT-Konzerne wie Apple, Google oder Amazon. Doch auch große europäische
Unternehmen nutzen Steuertricks, was in der öffentlichen Debatte manchmal unter-
geht. Die EU-Kommission hat bereits zwei europäische Konzerne im Visier. Der italie-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
nische Autohersteller Fiat nutzte illegale Finanztricks in Luxemburg und muss 20 Mil-
10 lionen Euro nachzahlen, entschied die Kommission schon 2015. Und nur wenige
Wochen nach der Apple-Entscheidung verkündete die Brüsseler Behörde, dass sie
gegen den französischen Energiekonzern Engie ermittelt, früher bekannt unter dem
Namen GOF Suez. Wieder stehen Finanzdeals in Luxemburg im Verdacht, die Steuern
illegal gedrückt zu haben. Allerdings sind in diesem Fall die Ermittlungen nicht abge-
,s schlossen, ein Urteil steht noch aus.
Die BASF-Analyse richtet nun den Blick auf deutsche Konzerne. Denn BASF ist ein
Traditionsunternehmen, das viel exportiert. Es steht beispielhaft für die deutsche Wirt-
schaft, ist derzeit der viertwertvollste Konzern im Dax, dem Ranking der größten Akti-
engesellschaften des Landes.
20 Die Untersuchung hat sich die BASF-Niederlassungen in vier Steueroasen angeschaut,
in Belgien, Malta, der Schweiz und den Niederlanden, und die Finanzberichte für die
Jahre 2010 bis 2014 ausgewertet. Unterm Strich steht eine grobe Schätzung, wie viel
Steuern BASF diesen Daten zufolge vermieden haben könnte. Der Report kommt auf
eine Summe von 923 Millionen Euro. [ .. .]
2s Der Vergleich von BASF mit dem Steuertrickser Apple erscheint zudem nicht unfair,
tionale Konzerne und Mittelständler die gleichen Regeln gelten. Bisher besonders auf-
wendige Steuertricks lohnen sich umso mehr, je größer ein Unternehmen ist. Das
bevorzugt Großkonzerne im Wettbewerb mit kleineren Anbietern.
Die EU-Kommission hofft, dass die Firmen die Reform begrüßen. Tatsächlich würden
40 einheitliche !Regeln weniger Bürokratie für sie bedeuten. BASF befürwortet eine ent-
sprechende Einführung, wenn sie alle Ertragsteuern einschließt, sagt eine Sprecherin.
Doch dem Vorstoß müsste jedes EU-Land zustimmen. Die Niederlande gelten zwar als
beliebte Steueroase für deutsche Unternehmen, die Regierung hat zuletzt allerdings
mehrere Steuerreformen in der EU mitgetragen. Offen ist, ob Irland ein Veto einlegt.
45 Das Land fühlt sich gerade wegen der Apple-Entscheidung an den Pranger gestellt
und sieht sein Geschäftsmodell als Volkswirtschaft angegriffen. Das könnte dazu füh-
ren, dass das Land sich querstellt.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie an einzelnen Beispielen, welche Spielräume bei einer Reform des
Steuersystems bestehen. (M 1 - M 2).
2. Arbeiten Sie anhand einzelner finanzpolitischer Instrumente deren jeweilige Vor- und Nach-
teile heraus. Beachten Sie auch, welche Interessengruppen davon betroffen wären .
3. Diskutieren Sie die Aussage: ,,Bei wachsenden Steuereinnahmen sollte der Staat die
Steuern senken".
2.5.2 Staatsverschuldung
Leitfragen Was sind die Ursachen und Wie wird eine hohe Welche Mittel werden zum
Folgen einer Staatsverschuldung? Staatsverschuldung Abbau der Staatsverschuldung
beurteilt? vorgeschlagen?
Dass sich Staaten verschulden, ist n icht ungewöhn- Teil seiner Einnahmen für Zinszahlungen ver-
lich, da es aufgru nd vo n Unsicherheiten bei der wandt wi rd und somit nicht für andere Ausgaben
Schätzung der Steuereinnahmen immer zu Abwei- zur Verfügung steht.
chungen vo n der tatsächlichen Entwicklung kom-
men kann. Zudem können im Laufe eines Jahres • Eine hohe Staatsverschuldung wird oft als unge-
Mehrausgaben oder neue Aufgaben entstehen, für recht gegenüber der nächsten Generation be-
deren Finanzierung dann Nachtragshaushalte auf- zeichnet, da diese die Schulden erbe und zurück-
gestellt werden müssen. zahlen müsse. Diese Argumentation übersieht
j edoch, dass zum einen die folgende Generation
Zur Deckung größerer Finanzierungslücken im auch von den getätigten Investitionen profitiert
Haushalt kann der Staat Wertpapiere z.B. in Form und zum a nderen die Ansprüche an den Staat, d. h.
von Bundesschatzbriefen oder Anleihen ausgeben, die Staatsanleihen, vererbt werden, wodurch ein
die über den Kapitalmarkt von privaten oder insti- Umverteilungseffekt innerhalb der nächsten Ge-
tutio nellen Anlegern (z.B. Banken und Versicherun- neration stattfindet (>Kap. 2.4). Die genannte Kri-
gen) gekauft werden. Staatsanleihe n sind am Kapi- tik trifft vor allem dann zu, wenn Staaten die auf-
talmarkt interessante Geldanlagen, da in der Regel genommenen Kredite vorrangig zur Finanzierung
bei einem geringen Risiko eine sichere Verzinsung des laufenden Konsums und weniger für Investi-
garantiert wird. tionen nutzen.
a. 250% 235,96%
jjj
E
:::,
N
C 200%
0
~
-a;
a:
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·;;, 150%
C
:::,
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108,02%
96,35%
~ 100% 87,33%
<ll
68,91 %
1
u5 50%
59,81 %
51 ,21 %
18,67%
0%
~<:'
-~
Ci
die Kreditgeber ein völliger Ausfall der Kre- Eurozone: Staatsschulden und Defizit
ditrückzahlung vermieden werden kann. Das Angaben für 2017 jeweils in Prozent des Bruttoinlandsprodukts
H1ulh11t10berschun (+) bzw. -deflJlt (·) Schuldenstand am Jahresende
jün gste Beispiel ist Griechenland, dem 2012 Teile
~=:i~ " Malta 50,8 %
der Staatsschulden erlassen wurden. Zypern 97,5
Luxemburg
Deutschland 64.1
Niederlande 56,7
Griechenland 178,6
Haushaltsüberschüsse in Deutschland - alles Litauen 39,7
Slowenien 73,6
in den Schuldenabbau stecken? E,tland
l~and 68,0
Lettland 40,1
Aufgrund der positiven wirtschaftlichen Entwick-
lung erzielte die Bundesrepublik Deutschla nd in
Finnland
Osterreich
Slowakei
61,4
50,9
78,4 *
Belgien 103,1
den Jahren von 2014 bis 2017 j edes Jahr einen Italien 131,8
Frankreich 97,0
Haushaltsüberschuss. In der Öffentlichkeit wird Portugal 125,7
darum immer wieder darüber diskutiert, wie dieser Spanien 98,3
Ouollo: EU·Kornn-<$&ion °""'olungmilzwol_,_.....,._
Überschuss am sinnvollsten zu verwenden sei. In O GIOl><Js~
rundungsbed. Differenzen
+ 0,7
- 1-
1 + 0,8
'Bruttoinlandsprodukt
-~ + 0,6
O Globus
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie den Stand der Staatsverschuldung in der Eurozone. Recherchieren (, Methodenglossar) Sie
dafür auch die aktuellen Daten.
2. Analysieren Sie, welche Faktoren die beschriebene Staatsverschuldung verursacht haben können.
3. Nehmen Sie Stellung zur Aussage „Staatsschulden verstoßen gegen die Generationengerechtigkeit".
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Zum ersten Mal seit 1969 legt eine Bundesregierung einen Haushaltsentwurf ohne Neu-
verschuldung vor. Die „ schwarze Null" [für das Jahr 2016} ist eine gute Sache, meint
Wirtschaftsprofessor Hüther gegenüber tagesschau. de. Die Politik zeige Verantwortung.
5 Sie ist gut, weil sie Versprechen wahr macht und Erwartungen einlöst. Sie zeigt, dass
die Finanzpolitik nach der Krise wieder auf Tragfähigkeit setzt. Die Bundesregierung
zeigt damit Verantwortung und Glaubwürdigkeit. Dies sind in der Politik wichtige
Standort- und Investitionsbedingungen. Der Verzicht auf weitere unkontrollierte
Kreditaufnahmen ist ein entscheidender Schritt, um künftig handlungsfähig zu sein.
10 Wird der Sparkurs irgendwann teuer, weil wichtige Investitionen nicht getätigt werden?
20 Wir dürfen künftigen Generationen nicht unsere Ausgaben aufbürden. Insofern ist dies
ein wichtiger und richtige Schritt. Noch besser wäre aber, man würde nicht zum Bei-
spiel mit der jetzigen Rentenpolitk die Beiträge für künftige Generationen in die Höhe
treiben.
25 Nachhaltig sorgt man für höhere Einnahmen nicht durch höhere Steuersätze oder neue
Steuern, sondern durch wirtschaftliche Dynamik. In den letzten Jahren haben wir eine
kräftige Volkswirtschaft und einen stabilen Arbeitsmarkt erlebt. Dadurch haben wir
dynamisch sich entwickelnde Steuereinnahmen und Sozialbeiträge. Je besser die
Wirtschaft läuft, desto mehr Einnahmen hat der Staat. Wir sind also auf gutem Wege.
Eine Schuldenbremse im Grundgesetz ist natürlich immer nur die zweitbeste Lösung.
Eine kluge, vorausschauende Politik bräuchte dies nicht. Dass wir die Schuldenbrem-
se haben, ist eher ein Zeichen der Schwäche. Aber immerhin bindet sie die Politik. Man
kann fragen, ob ihr damit genug Flexibilität bleibt. Ich denke ja. Eleganter wäre aber
35 eine Konsolidierungspolitik ohne selbstverordnete Kandarre.
Michael Hüther ist Leiter des Instituts der deutschen W irtschaft in Köln. Seine Fo rschungsschwerpunkte
sind Konjunktu rprognosen und Krisenintervention.
Ein Unternehmenschef, der bei niedrigen Schulden und Zinsen hoch rentable Investi-
tionen ablehnt, würde aus dem Amt gejagt. Doch für Finanzminister gelten andere
Regeln.
Wolfgang Schäuble ist stolz auf den neuen Bundeshaushalt für das kommende Jahr.
5 Als dieser in der vergangenen Woche in Berlin verabschiedet wurde, erhielt der Finanz-
minister viel Lob. Stolz zählte er die Errungenschaften auf: Trotz der Mehrausgaben für
Flüchtlinge habe man erneut einen Haushalt ohne Neuverschuldung erreicht. Zugleich
gebe man mehr Geld für die Infrastruktur aus, und auch für Forschung und Entwick-
lung.
10 In der offiziellen Darstellung der Bundesregierung hört es sich tatsächlich beeindru-
ckend an: Die Investitionsausgaben steigen demnach um fast sechs Prozent auf mehr
als 33 Milliarden Euro. Besonders stark werden die Verkehrsinvestitionen erhöht. Seit
Beginn der Legislaturperiode seien diese Ausgaben um stolze 25 Prozent gestiegen.
Für den Breitbandausbau, dessen Ausbau bislang mit 2,7 Milliarden Euro in den
15 Büchern steht, würden bis 2020 weitere 1,3 Milliarden Euro bereitgestellt.
Auf den ersten Blick scheinen die Zahlen enorm hoch. Dennoch sind diese Investitio-
nen weit davon entfernt, die Bedürfnisse der deutschen Wirtschaft zu erfüllen. Selbst
nach den neuesten Erhöhungen im Bundeshaushalt.
Die öffentlichen Investitionen in Deutschland reichen gerade einmal aus, um den Ver-
20 schleiß auszugleichen. Wenn vorher fast gar nichts mehr investiert wurde, bleibt die
Summe auch nach einem Plus von 25 Prozent niedrig. Die EU-Kommission hat be-
rechnet, wie viel voraussichtlich übrig bleibt, wenn man von den öffentlichen Investiti-
onen die fälligen Abschreibungen für Abnutzung abzieht. Ihr Ergebnis: null.
Das ist zwar besser als im Rest der Eurozone, der in langen Rezessionsjahren die
25 öffentlichen Ausgaben für Infrastruktur und Gebäude noch weiter kürzte. Aber es ist
auch viel weniger, als in Deutschland vor den Sparpaketen der Regierung Schröder
investiert wurde - oder im Rest der Eurozone vor der Krise von 2008.
Und es ist ganz klar zu wenig: Die deutsche Wirtschaft wächst im Trend um vielleicht
1,5 bis 2 Prozent pro Jahr. Die Bevölkerung wächst dank Zuwanderung. Der öffentliche
30 Kapitalstock aber bleibt bestenfalls unverändert. Im Klartext heißt das: Eine immer
größere Wirtschaft soll auf dem Fundament einer lnfrastrukturausstattung wie aus den
späten 1990ern stehen. Wie eine moderne, wachsende Volkswirtschaft ohne Verbes-
serungen in der Verkehrs-, Daten- und Verwaltungsinfrastruktur auskommen soll? Das
hat auch Finanzminister Schäuble noch nicht überzeugend erklären können.
35 All das ist längst kein abstraktes Problem mehr: Konkrete Schwierigkeiten mit der
Infrastruktur findet man inzwischen in allen Bereichen.
Nach Daten des ADAC haben Stauzeiten und Staulängen in den vergangenen Jahren
deutlich zugenommen. Das deckt sich auch mit Umfragen unter Unternehmern. Einer
Umfrage des Handwerksverbands Nordrhein-Westfahlen zufolge verlieren die Hand-
40 werker an Rhein und Ruhr in der Woche acht Stunden durch marode Straßeninfrastruk-
tur. Rund die Hälfte gibt an , der Zustand der Straßen habe sich in den vergangenen
zehn Jahren verschlechtert.
In anderen Ballungsgebieten sieht es nicht viel besser aus. Diese verlorenen Stauzeiten
sind Zeiten, in denen die Kleinunternehmer eben gerade keinen Kundenauftrag aus-
45 führen können, keinen Kurzschluss beheben und keine Maschine reparieren können.
Kein Wunder, dass derzeit die gemessene Produktivität der deutschen Wirtschaft nur
noch im Schneckentempo zulegt.
Trotz der Initiativen zum Breitbandausbau liegt Deutschland bei der Internetversorgung
weit hinter anderen Ländern. Nach jüngsten Zahlen der Industrieländerorganisation
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
50 OECD kommen auf 100 Einwohner gerade einmal 37,6 Internetanschlüsse - in der
Schweiz waren es mehr als 50, selbst im traditionell Internet-skeptischen Frankreich
waren es noch 40,4 . Bei der gemessenen durchschnittlichen Download-Geschwin-
digkeit rangiert Deutschland bestenfalls im Mittelfeld. [...]
Und bei den Ausgaben für Bildung rangiert das vermeintliche Land der Dichter und
55 Denker in der Statistik der Industrieländerorganisation OECD im hinteren Drittel. Wäh-
rend Finnland 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung ausgibt und selbst
Großbritannien noch 5,5 Prozent, ist den Deutschen ihr Bildungssystem gerade einmal
4,2 Prozent des BIP wert - wen iger als den Polen, Mexikanern oder Türken, die alle-
samt mehr ausgeben.
60 Geld ist natürlich nicht alles im Bildungssystem. Es sollte aber nicht überraschen, wenn
fehlende finanzielle Mittel in der Bildung am Ende das Vorankommen der deutschen
Wirtschaft ähnlich hindern wie versäumte Investitionen im Straßenbau.[ ... ]
Schäuble mahnt, man dürfe sich „nicht auf den erreichten Erfolgen ausruhen". Laut
dem Finanzminister haben auch glückliche Rahmenbedingungen wie der Rückgang
65 der Zinsen zu der schwarzen Null beigetragen. Um bei einem Zinsanstieg nicht in
große Defizite zu laufen, müssten deshalb heute die Ausgaben begrenzt werden.
Das Argument gilt sicher, wenn die Frage ist, ob Steuergeschenke oder soziale Wohl-
taten verteilt und mit neuen Schulden finanziert werden sollen. Solche Maßnahmen
kosten heute, ohne morgen etwas einzuspielen. Das Argument geht aber völlig ins
10 leere, wenn die Frage ist, ob lnfrastrukturinvestitionen auf Pump gemacht werden
sollten.
Natürlich werden die Zinsen irgendwann steigen. Allerdings wären ja die Zinsen für
Investitionen, die der Bund heute tätigt und mit etwa 30-jährigen Anleihen finanziert,
über die Laufzeit festgeschrieben. [ ... ]
15 Selbst wenn der Staat nur einen Teil dieser Gewinne über höhere Steuereinnahmen
wieder einstreichen kann: Vom aktuellen Zinsniveau nahe Null ist eine Menge Luft für
höhere Zinsen, bevor sich solche Ausgaben für den Finanzminister nicht mehr rentie-
ren. Oder anders ausgedrückt: Ausgaben in Infrastruktur und Bildung dürften aller
Voraussicht nach Schäubles Nachfolgern mehr Steuereinnahmen bringen, als sie an
80 Zinsen kosten.
Man kann es leider nicht oft genug wiederholen: Wirtschaftlich ist es ein grober Fehler,
bei massivem Investitionsbedarf auf schuldenfinanzierte Investitionen zu verzichten.
Jeder CEO, der für sein Unternehmen bei niedrigem Schuldenstand und niedrigen
Zinsen hoch rentable Investitionen ablehnt, würde von den Aktionären zu Recht aus
85 dem Amt gejagt. Nur in der Politik scheint man es als Tugend anzusehen, das Funda-
ment der Vo lkswirtschaft auf dem Altar der schwarzen Null zu opfern.
Sebastian Dullie11 ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft
Berlin und Senior Policy Fellow am European Councilfor Foreign Relations.
Aufgaben
1 . Fassen Sie die Argumente aus M 1 für die Einhaltung der „schwarzen Null" zusammen.
2. Erläutern Sie, warum es aus der Sicht von Sebastian Dullien keinen Sinn macht, die
..schwarze Null" einzuhalten (M 2).
Leitfragen Welche Aufgaben hat eine Welche Strategie verfolgt die EZB in Wo liegen die Grenzen
Zentralbank? der Geldpolitik? der Geldpolitik?
Täglich bezahlen wir unsere Einkäufe mit Geld Die Unabhängigkeit der EZB ist in Art. 130 und
ode r sparen es für größere Ansch affungen. Doch 282 des „Vertrages über die Arbeitsweise der Eu-
wie viele Zinsen erhalte ich auf das Sparguth a- ropäischen Union" (AElJV) verankert. Danach
ben ? Wie v iel Zinsen muss ich zahlen, wenn ich dürfen weder d ie EZB noch eine nationale Zent-
mir Geld leihe? Bildet sich der Zinssatz nach An - ralba nk Weisungen von politischen Instanzen
gebot und Nachfrage a uf de m Ma rkt? Und wie entgegennehmen. Die Unabhä ngigkeit der EZB
wird der Wert des Geldes eigentlic h gesichert? All wird dadu rch deutlich, dass sie freie Hand bei der
diese Fragen sind eng verbu nden mi t dem Geld- Festlegung der Strategie, der Auswahl und dem
system, an dessen Sicherung Staaten ein erhebli- Einsatz der geldpolitischen Instrumente hat. Lan-
ches Interesse haben. ge Amtszeiten fü r die Mitglieder des EZB-Rates
(acht Ja hre, keine Wiederwahl möglich) sollen die
Die meisten Volkswirtschaften ve rfügen zur Regu- personelle Unabhängigkeit gara ntieren.
lierung der Geld- und Kreditversorgung und des
Geldumlaufs über eine staatlich e Zentralbank
ode r Notenbank. Sie ist v erantwo rtlich fü r die Welche Ziele verfolgt die Europäische
Ausgabe der Ba nknoten un d verwaltet die Wäh- Zentralbank?
rungs reserven. Oft übernehme n Zentralbanken
auch die Au fga be der Ba n kenaufsicht. Zent ral- Das zentrale geldpolitische Ziel der EZB ist die
ba nken sind zumeist u nabhä ngig von politischen Gewährleistung der Geldwertstabilität im Euro-
Weisungen, um einen di rekten Einfluss der Polit ik raum. Als Zielgröße hat sich die EZB einen An-
auf die Geldpolitik zu vermeiden. stieg des Preisniveaus v on unter, aber nahe 2 Pro-
zent gesetzt. Ma ßgröße für die Geldwertstabilität
ist der Harmonisierte Verbrauch erpreisindex, der
Wie ist das europäische System die Entwicklung der Verbraucherpreise fü r a lle
der Zentralbanken organisiert? beteiligten Eurostaaten in gleiche r Weise erfasst.
Weite r hat die EZB bzw. das ESZB die Aufgabe,
Die wirtschaftspolitischen Aufgaben einer Zent- die Wirtscha ftspolit ik in der EU zu unterstützen,
ralb ank werde n unter dem Begriff der Geldpolitik soweit dies die Preisniveaustabilität nicht gefähr-
zusam mengefasst. Die Zentralba nk für Deutsch- det (Art. 127 AEUV).
la nd ist die Deutsche Bundesba nk. Mit de r Einfüh-
rung des Euro wurden 1999 die geld- und wäh- Die genaue Zielsetzung der Geldpolitik wird in
rungspolit ischen Kompetenzen vo n den natio nalen Wissenschaft und Politik unterschiedlich defi-
Notenba nken der a m Euro teil nehmenden Staaten niert. In der Praxis lässt sich das unterschiedliche
auf die Europäische Zentralbank (EZB) übertra- Verständnis der Aufgaben einer Notenba n k an-
gen. Sie bildet mit allen nation alen Zentralba nken ha nd der EZB und der US-Notenban k (Federal
der EU-Staaten das Europäische System der Zen- Reserve System, ,,Fed") verdeut lichen: Wä hre nd
tralbanken (ESZB). die EZB die Erreichung der Geldwertstabilität als
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
Nationale Zentralbanken
des Euro-Währungsgebiets
,__
Europäische
Zentralbank
__
...,_
übrige nationale Zentralbanken
der EU
Direktorium
Präsident und Prasident und
Vizeprasident
der [Z B und vier •••••• Vizeprasident
der EZ B
EURO - weitere Mitglieder
SYSTEM
Präsidenten
•
• EZB- ••
der nationalen : Rat :
Zentralbanken
des Euro- ••• •••
Währungsgebiets
•••••
1
bestimmt die Geldpolitik beschließt über Maßnah- Europäische
im Euro-Raum. men für einen reibungs-
setzt die Leitzinsen fest.
genehmigt die Ausgabe
- losen Zahlungsverkehr,
Ober Fragen der Finanz-
Zentralbank
von Euro-Banknoten aufsicht usw.
(EZB)
IZAHLENBILDER Im
c Bergmoser + Höller Verlag AG 751560
vorrangiges Ziel hat, definiert die Fed zusätzlich rauf Zinsen zahlen. Erhöht die EZB die Zinsen, zu
zur Geldwertstabilität einen hohen Beschäfti- denen sie Zentralbankgeld abgibt, verteuert sie
gungsstand als Ziel. deren Kreditaufnahme. Die Banken geben ihre hö-
heren Geldbeschaffungskosten an die privaten
Kreditnehmer - Unternehmen und private Haus-
Wie wirkt sich die Geldpolitik halte - weiter, indem sie höhere Zinsen für ihre
der EZB auf die Wirtschaft aus? Bankkredite verlangen. Dies kann zur Folge ha-
ben, dass kreditfinanzierte Investitionen für Un-
Die Zentralbank besitzt das Monopol auf das Zen- ternehmen unrentabel werden bzw. Konsumenten
tralbankgeld, bestehend aus Bargeld und Einla- angesichts höherer Zinsen kreditfinanzierte An-
gen der Gesch äftsbanken. Privatbanken können schaffungen verschiebe n. Dem hingegen kann die
durch Kreditvergabe zwar ebenfalls Geld schöpfe n EZB durch eine Senkung der Zinsen versuchen,
(Giralgeld), müssen sich aber selbst bei der Zent- die Investitionsneigung bei Unternehmen sowie
ralbank mit Bargeld versorgen und somit „refi- die Konsumausgaben zu fördern.
nanzieren". An dieser Stelle kann die Zentralbank
mit ihrem geldpolitischen Instrumentarium anset- Der Wirksamkeit geldpolitischer Maßnahmen sind
zen und den Geschäftsbanken Liquidität bereit- Grenzen gesetzt. Selbst steigende Zinsen dämpfen
stellen oder entziehen. Das Ziel von expansiven die Investitions- und Konsumbereitschaft in einem
oder restriktiven Maßnahmen der Geldpolitik ist Konjunkturaufschwung nicht, wenn die Rentabili-
es, den Nichtbankensektor - also die private Wirt- tät von Investitionen höher ist als die Kreditzinsen
schaft - zu beeinflussen. und dfr Einkommen steigen. Umgekehrt führt ein
niedriger Leitzins nicht zu mehr Investitionen und
Will ein Unternehmen investieren oder ein priva- kreditfin a nzierter Konsumnachfrage, wenn die zu-
ter Haushalt ein Auto anschaffen, wird meist ein künftige Wirtschaftsentwicklung negativ einge-
Kredit bei einer Geschäftsbank au fgeno mmen. schätzt wird. Ebenso schränkt die Zunahme inter-
Diese muss sich aber selbst mit Zentralbankgeld nationaler Finanzströme die Ha ndlungsmöglich-
versorgen und wie bei jeder Kreditgewährung da- keiten der Notenbanken ein.
2.6 Geld- und Währungspolitik f
Das Instrumentarium der EZB - damit jedoch erschöpft. Die EZB legte deshalb
Refinanzierungsgeschäfte im Mittelpunkt verschiedene Programme zum Ankauf von lang-
fristigen Anleihen auf dem Kapitalmarkt a uf, wo-
Im Mittelpunkt des geldpolitischen Instrumenta- durch sich die Zentralbankgeldmenge erheblich
riums der EZB stehen die den Banken wöchentlich ausweitete. Diese seit Anfa ng 2015 von der EZB
angebotenen Hauptrefinanzierungsgeschäfte mit betriebene Politik der quantitativen Lockerung
einer Laufzeit von einer Woche. Dabei handelt es (quantitative easing) ist j edoch umstritten.
sich um Kredite, mit denen die Zentralbank den
Geschäftsbanken Zentralbankgeld zur Verfügung
stellt. Die EZB berechnet hierfür einen Zinssatz, Die EZB-Politik in der Sackgasse?
den Hauptrefinanzierungssatz, der als europäi-
scher Leitzins gilt. Zur Kreditsicherung überlassen Der Erfolg - und auch die Rechtmäßig keit - der
die Banken der EZB während der Laufzeit einen quantitativen Lockerung werden sowohl in den
entsprechende n Bestand an sicheren Wertpapie- Wirtschaftswissenschaften als auch in der Politik
ren. kontrovers diskutiert; selbst das Bundesverfas-
sungsgericht war mit de r Problematik beschäftigt.
Durch die nahtlose Aneinanderreihung vo n Refi- Die folgenden Einwände werden vorgebracht:
nanzierungsgeschäften (zwischen einem Tag und
mehreren Monaten) steuert die EZB die Liquidität • Die EZB übertritt mit dem Ankauf von Staatspa-
der Geschäftsbanken und das Zinsniveau. Ein so- pieren ihr Mandat und finanziert dadurch indi-
genannter Zinskorridor ergibt sich durch den (ver- rekt die Staatsschulden der Euroländer, was ihr
gleichsweise hohen) Zinssatz für Übernacht-Kre- nicht erlaubt ist;
dite bei der EZB (Spitzenrefinanzierungsfazilität) • Der Ankaufvon Staatspapieren der Krisenländer
einerseits, dem (niedrigeren) Zinssatz für Bank- vermindert den Druck a uf diese, die Staats-
einlagen bei der EZB andererseits. Dazwischen schulden abzubauen und strukturelle Reformen
bewegt sich der Zinssatz für die Hauptrefinanzie- vorzunehmen;
rungsgeschäfte. Der wichtige Tagesgeldzins am • Das Ziel, den Unternehmen günstige Kredite zu-
Geldmarkt, an dem sich z. B. Geschäftsbanken kommen zu lassen und damit Investitionen an-
untereinander Geld leihen, bewegt sich zumeist in zuregen, wird nicht erreicht;
der Nähe des Leitzinses. • Stattdessen führt die Ausdehnung der Geldmen-
ge zu erhöhten Preisen auf Aktien- und Immobi-
lienmärkten und befördert die Angst vor Speku-
Die Finanzkrise -
Wendepunkt in der Geldpolitik?
Entwicklung der Leitzinsen
2005 2010 2015 2018
Als Reaktion auf die Finanzkrise 2007 /08 senkten
alle wichtigen Notenbanken die Leitzinsen, um die 7 t t
Konjunktur anzuschieben und deflationären Ten- % GBR
denzen entgegen zu wirken. Durch die Eurokrise 5,75
...
% --+-------,t----t-------t~-t-----+~-t-----+-~ t-------+--~
6 USA
ab 2010 verschärfte sich die Situation so, dass
mehrere Euroländer vo r der Zahlungsunfähigkeit 5
standen, Banken von der Pleite bedroht waren und
dem Euroraum auseinanderzubrechen drohte. 4
3
Aus Sicht der EZB musste das starke Ansteigen der
Zinsen auf die Staatsa nleihen der Krisenländer
2
verhindert und dem Bankensystem genügend Li-
quidität zur Verfügung gestellt werden. In den fol-
genden J ahren bewegten die Leitzinse n sich folg-
lich in den meisten wichtigsten Volkswirtschaften 0
gegen null Prozent. Der Spielraum für eine kon-
dpa,27833 Quelle: Notenbanken
ventionelle Geldpolitik mit Hilfe des Leitzinses war
2 Grundlagen der W irtschaftspolitik
..
Eine Notenbank „druckt" ... um Wertpapiere, meist Durch den Erwerb will die
für sich Geld (meist in Staats- oder Unternehmens- Zentralbank langfristige
elektronischer Form), ... anleihen, zu kaufen. Zinsen drücken.
... und so die Wirtschaft Denn mehr Kredite können Die Notenbank will, dass
ankurbeln. zu mehr Investitionen Investoren so günstiger an
führen .. . frisches Geld kommen.
lationsblasen, da das „billige Geld" n icht investiert Ausbau der Infrastruktur in den Bereichen Bil-
wird, sondern in spekulative A nlagen fließt ; du ng, Gesu ndheitswesen und Ökologie a u fgelegt
• Der Zinssatz für einfach e Spare inlagen bewegt werde n. Aus neoliberaler bzw. n eoklassischer
sich durch d ie locke re Geldpolitik gegen Null. Sicht dagegen wi rd auf die Notwendigkeit weite-
Spa ren z. B. für die private Alterssicheru ng w ird rer Strukturreformen h ingewiesen, die bei einer
damit unrentabler. lockeren Geldpolitik eher au fgeschoben würden.
Die Verteidiger der EZB- Polit ik weisen darau f hin, Vor de m Hinterg rund der positiven konjunktu rel-
dass a llein die Geldpolitik der EZB die Eurokrise len Situ ation in Europa (2018) stellt sich die Frage,
eingedämmt habe. Die Ankündigu ng des EZB- Prä- ob die umfa ng reichen Progra mme der quantitati-
sidente n Draghi am 26. Juli 2012, a lle zur Verfü- ven Lockerung zurückgefahren u nd die Leitzinsen
gung stehe nden Mittel zur Rettung des Euro ein- nach und nach wieder erhöht werden müssen.
zusetzen, sei e rfol greich gewesen. Auch habe die Währe nd die Fed seit Ende 2015 e ine schrittweise
lockere Geldpolitik den Ko njunkturaufschw ung leicht e Erhöhung der Leitzinsen betre ibt, hat die
im Euroraum gestützt. EZB im Juni 2018 entschieden , dass sie ihr Kau f-
prog ra mm schrittweise zurückfah ren möchte. Sie
Aus keynesia nischer Sicht stößt die Geldpolitik belässt jedoch den Leitzins vo rerst bei null P ro-
de r EZB a n Grenze n und müsste durch eine ex- zent. Die Frage, ob, wann und wie d ie Leitzinsen
pansivere Fiskalpolitik ergänzt werde n. So könn- w ieder erhöht werden sollen, wird die Geldpolit ik
ten z. B. au f EU-Ebene Förderprogramme zum in den nächsten Jah ren bestimme n.
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie einige ökonomische Rahmenbedingungen, die eine Notenbank zu einer Erhöhung
der Leitzinsen veranlassen könnten.
2. Erläutern Sie die Auswirkungen einer Leitzinserhöhung auf die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung.
Noch nie in der jüngeren Finanzgeschichte haben drei Worte eines Zentralbankers so
durchschlagende Wirkung gehabt. Die EZB werde „alles Notwendige tun" (,,whatever
it takes"), um den Euro zu erhalten, sagte Maria Draghi vor zwei Jahren. ,,Und glauben
Sie mir, es wird genug sein", fügte er hinzu. Die Rede auf einer lnvestorenkonferenz in
s London am 26. Juli 2012 schlug an den Märkten ein wie der Blitz. Die zuvor stark
gestiegenen Zinsen für Krisenländeranleihen fielen sturzartig, der Euro stabilisierte
sich, die Börsenkurse sind steil gestiegen. Es waren „magische Worte", sagt Holger
Schmieding von der Berenberg-Bank, ein eifriger Eurobefürworter. Draghi habe den
Euro „gegen eine irrationale Marktpanik verteidigt".
==.
Renditen zeh njähriger Staatsanleihen in Prozentn , am 26.7.2012 in London:
. . . . .!. . . G·~-;~~h~·~·j·~·~i·. . . . . . . . . . . . . r. . . . . . . . . . . . . . . . . . .T.... .......,7.6. . . ,,~~,EJ! ~!r:;~Ir~z~o:;~~t~i~.e .........
2.51... ::=.P_?rtu~a1............................._.........;.............................. Und glauben Sie mir, es wird
! - Spanien ' ausreichen."
20···•···
...... - Italien
! ......................... ! i
... '" ............ .............._., .............,........................... .............·.......... ..... ,:..........................................,........................................
~
! :
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· Frankreich
. .15.i ==l)•u!SC.~.1.~~.d. _ ····················: ·· .........
...10.;...........................................t". .
5,9
3,6
. . . s.1- - 2,7
2013
'" "'
.................J ,6
201 4 1,2
2,5
[F]ür Finanzpolitiker der großen Koalition und für deutsche Ökonomen ist die EZB nicht
mehr tabu. Man müsse aus dem Agieren der Zentralbank in der Euro-Krise den Schluss
ziehen, dass im EZB-Rat gerade keine unabhängigen Experten säßen, kritisiert der
Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung, Garsten Linnemann. Hans-Werner Sinn,
s scheidender Präsident des lfo-lnstituts in München, wirft der EZB in einem Beitrag für
die F.A.Z. Selbstherrlichkeit, Überdehnung ihres Mandats und Umgehung demokrati-
scher Hürden vor. Selbst der Wirtschaftsweise Peter Bofinger, normalerweise der EZB
wohlgesonnen, sagt: ,,Draghi hat überzogen."
Das ist heftig. Und es geht weit über die Kritik an einzelnen geldpolitischen Maßnah-
,o men und ihren unerwünschten Folgen hinaus. Die Kritiker bemängeln, die EZB über-
dehne ihr Mandat und missbrauche ihre Privilegien: Zur Disposition steht die Unab-
hängigkeit der Notenbank. [ .. .]
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Tatsächlich ist sich die Wissenschaft bis heute einig, dass unabhängige Zentralbanken
erfolgreicher dabei sind, eine stabilitätsorientierte Politik umzusetzen. Daraus folgt: Die
15 Errichtung der Bundesbank unabhängig von politischem Einfluss kommt einer gewoll-
ten Selbstentmachtung des Parlaments gleich. Der demokratische Staat gründet eine
Staatsbank und erklärt zugleich im Interesse des Wohles seiner Bürger alle Entschei-
dungen dieser Bank für sakrosankt. Zusätzlich wird die unabhängige Macht der Bank
durch eine lange Amtszeit ihrer Führungsfiguren sichtbar gemacht. [ ...]
20 Das Mandat, das die Unabhängigkeit begründet, kann man eng oder weit interpretie-
ren. Seit Beginn der Finanz- und Euro-Krise verfolgt Mario Draghi eine extrem expan-
sive Geldpolitik mit Mitteln, die auch er selbst als „unkonventionelle Maßnahmen"
betrachtet: Die Bank kauft in großem Stil Staatsanleihen, neuerdings auch Unterneh-
mensanleihen , verlangt von den Geschäftsbanken Strafzinsen auf Einlagen [...). Vor
25 allem: Draghi verspricht, auf Gedeih und Verderb den Euro zu retten (,,whatever it ta-
kes"). [...]
Der EZB-Präsident ist geschickt genug, alles, was er unternimmt, als vom Mandat
gedeckt zu deuten. In keiner seiner Reden kommt er ohne die Formel „within our
mandate" aus, mit der er sich den Freifahrschein ausstellt. Draghis deutsche Kritiker
30 bezweifeln die Legitimität. ,,Wie eine Dampfwalze" rolle Draghi über alle rechtlichen
Bedenken hinweg und leugne Grenzen des Mandats, kritisiert der Freiburger Rechts-
gelehrte Dietrich Murswiek. Otmar lssing, lange EZB-Chefvolkswirt, beklagt eine
„Überfrachtung" der Aufgaben. Auch eher linke Kritiker wie der Ex-Wirtschaftsweise
Bert Rürup oder DIW-Chef Marcel Fratzscher machen sich diese Kritik zu eigen und
35 reden von Überdehnung.
Alle monieren, Draghis unkonventionelle Maßnahmen hätten gefährliche Verteilungs-
wirkungen. Sparer fühlen sich enteignet, Mieter klagen über Preissteigerungen, Aktio-
näre jubeln (in den vergangenen Monaten allerdings weniger). Die Stimmung in der
Bevölkerung kippt: Seit langem schon fühlen sich viele Deutschen von der EZB nicht
40 mehr vertreten, verschwinden in die innere Emigration und zweifeln, ob Geld überhaupt
noch etwas wert ist. Einige fragen noch grundsätzlicher: Kann es das Mandat der EZB
mit einschließen, den Euro um jeden Preis zu retten? Ist dafür nicht die Politik zustän-
dig? [...)
Tatsächlich können die Akteure im EZB-Rat - es sind die Notenbankgouverneure der
45 Eurostaaten - nicht von ihren nationalen Interessen absehen und Klientelpolitik vermei-
den. Nehmerländer ziehen Geberländer über den Tisch, wie die Aktionen zur Rettung
des Euros gezeigt haben. Kritiker dieser Entscheidungen wie der deutsche Bundes-
bank-Chef Jens Weidmann können leicht übergangen werden, da jedes Land nur eine
Stimme hat (neuerdings durch Rotation sogar noch weniger) und da nicht nach Kapi-
50 taleinlagen oder Wirtschaftskraft differenziert wird. Sabine Lautenschläger, die zweite
Deutsche im EZB-Rat, steht ohnehin unter Konformitätserwartung, weil sie Mitglied in
Draghis Schattenkabinett ist, dem Direktorium.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie unter Zuhilfenahme der Grafik, welche Wirkung die drei Worte „alles Not-
wendige tun" (,,whatever it takes") des Zentralbankers Maria Draghi entfaltet haben (M 1).
2. Erläutern Sie die Einwände gegen die geldpolitischen Entscheidungen der EZB (M 2).
Bei Zahlungen über die Landesgrenzen hinweg Umtausch großer Mengen von Devisen genehmigt
müssen in der Regel einheimische Zahlungsm ittel werden.
in auslä ndische umgetauscht werden. Solche
Tauschgeschäfte erfolgen zum jeweils gültigen Die USA gaben 1971 die Golddeckung des Dollars
Wechselkurs der Währungen. Unter einem Wech- wegen zunehmender Verschuldung auf - unter
selkurs versteht man dabei das Austauschverhält- anderem aufgrund der Finanzierung des Vietnam-
nis zweier Währungen. fremde Währungen wer- kriegs. 1973 hoben die meisten am System betei-
den auch als Devisen bezeichnet, deshalb spricht ligten Staaten die Bindung ihrer Währungen an
man auch von Devisenkursen. den Dollar auf, woraufhin sich zwischen den ent-
wickelten kapitalistischen Volkswirtschaften ein
Historisch haben sich Systeme vo n festen bzw. System freier Wechselkurse durchsetzte (> Kap.
fixen und freien bzw. flexiblen Wechselkursen 5.3. 1). Dazu trug auch die nach und nach erfolgte
herausgebildet. In einem System fester Wechsel- Freigabe des Kapitalverkehrs und der damit rapide
kurse werden die Kurse von den beteiligten Staa- steigende Umfang des Devisenhandels bei.
ten fixiert. Abweichungen vom Kurs sind inner-
halb festgelegter Bandbreiten zugelassen. Bei
stärkeren Schwankungen müssen die j eweiligen Welchen Einfluss haben Wechsel-
Zentralban ken durch Zu- oder Verkäufe ihrer kurse auf die Wirtschaft?
Währung oder anderer Devisen intervenieren.
Kommt es zu längeren Abweichungen vom fest- Ein fester Wechselkurs bietet Unternehmen Pla-
gelegten Kurs, wird ein neuer Leitkurs fixiert. In nungssicherheit bei Im- und Exporten. Jedoch
einem System freier Wechselkurse bilden sich die- verläuft die wirtschaftliche Entwicklung in ver-
se nach Angebot und Nachfrage an den Devisen- schiedenen Volkswirtschaften unterschiedlich,
börsen. was sich auf die Produktivität, die Preise und die
Löhne auswirkt. Blickt man beispielsweise auf
zwei Volkswirtschaften mit unterschiedlichen
Feste und freie Wechselkurse Preisniveaus oder vergleicht eine mit stabilen
Preisen mit einer Volkswirtschaft mit einer hohen
Traditionell wurden Wechselkurse staatlich fi- Inflationsrate, dann können dadurch Vor- und
x iert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Nachteile im Wettbewerb für diejeweiligen Unter-
Wechselkurssystem geschaffen, das nach dem Ta- nehmen entstehen. Dies kann zu Ausfuhrüber-
gungsort benannte System von Bretton Woods, schüssen einerseits und zu einer Auslandsver-
in dem die Alliierten schon im Juli 1944 die zu- schuldung andererseits führen. In Folge dessen
künftige Währungsordnung berieten. Der US- Dol- verändern sich die Im- und Exportströme u nd
lar, im Verlauf des Zweiten Weltkriegs zur stärks- entsprechend auch die Nachfrage nach denjewei-
ten Währung geworden, wurde zur Leitwährung ligen Währungen.
bestimmt. Die Kurse aller anderen teilnehmenden
Währungen wurden jeweils im Verhältnis zum Diese sich unterschiedlich entwickelnden Wettbe-
US- Dollar fix iert. Dieser wiederum konnte j eder- werbsbeding ungen können im Falle von festen
zeit (theoretisch) in Gold eingetauscht werden, da Wechselkursen durch Auf- und Abwertungen und
der Wert eines US-Dollars in Gold garantiert war im Falle von freie n Wechselkursen über das Fallen
(Goldstandard). Ergänzt wu rde das System durch bzw. Steigen der Devisenkurse am Markt ausge-
Kapitalverkehrskontrollen; so musste z.B. der glichen werden. Solche Wechselkurssysteme er-
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
Wechselkurs des Euro gegenüber dem US-Dollar von 1999 bis 2016
1,5
1,4
1,3
f,fi
(/)
:::>
II 1,2
0:
:::>
UJ
1,1 1,07
0,9
1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
füllen - in begrenztem Maße - die Funktion eines und Devisenspekulationen durch Banken, Versi-
Ausgleichsmechanismus zwischen den verschie- cherungen, Investmentfonds und Hedgefonds, die
denen Volkswirtschaften. kleinste Zinsunterschiede und Devisenschwan-
kungen zwischen verschiedenen internationalen
Börsenstandorten zu kurzfristigen Geschäften
Wieso nehmen Staaten Einfluss auf die ausnutzen. Da die Kursbewegungen somit in ei-
Wechselkurse? nem abnehmenden Zusammenhang zu realwirt-
schaftlichen Aktivitäten stehen, ergeben sich da-
Der Wechselkurs kann von Staaten im internatio- raus zunehmend Risiken für international tätige
nalen Wettbewerb als Instrument zur Exportför- Unternehmen. Die Planungssicherheit sinkt und
derung genutzt werden. Eine Unterbewertung der es entstehen Kosten aufgrund der Absicherung
Währung verschafft Vorteile fü r d ie Exportwirt- vor Kursschwankungen.
schaft. So war die Deutsche Mark im Laufe der
l 950er und 60er Jahre gegenüber dem Dollar
meist unterbewertet, was für die Exporte der west- Wieso betreiben einige Notenbanken
deutschen Wirtschaft in dieser Zeit förderlich war. ,,Kurspflege" für ihre Währungen?
Eine systematische Unterbewertung des Wechsel-
kurses wird z.B. China seit Jahren vorgeworfen, Sind Notenbanken im System der festen Wäh-
besonders von Seiten der USA. rungskurse dazu verpflichtet, durch An- und Ver-
käufe ihrer Währungen oder vo n Fremdwährun-
Die durch die internationalen Handelsströme aus- gen den Währungskurs zu stützen, fä llt diese
gelösten Devisenbewegungen mache n inzwischen Aufgabe bei freien Wechselkursen grundsätzlich
j edoch nur noch einen kleinen und ständig ab neh- weg. Notenbanken können j edoch weiterhin den
menden Teil an den gesamten Währungsbewe- Währungskurs durch Geschäfte auf dem Devisen-
gungen aus. Größeren Einfluss auf die weltweiten markt beeinflussen. Die Schweizer Notenbank
Devisenbewegungen haben heutzutage die rasant beispielsweise stabilisierte vo n 2011 bis 2015
gewachsenen internationalen Kapitalbewegungen durch Devisenan- und -verkäufe den aufgrund der
2.6 Geld- und Währungspolitik f
Eurokrise steigenden Kurs des Sch weizer Franken ,,Kurspflege" bei der Größe des täglichen Devisen-
bei ca. 1,20 Fra nken pro Euro, u m Nachteile für ha ndels, insbeson dere bei Währungsspekulat io-
die Expo rtwirtschaft und den einheimischen Tou- nen noch sinnvoll bzw. überhaupt möglich ist, ist
rismus abzuschwächen. Wie weit eine solche umstritten.
f Wechselkurs-
systeme
< f• •'j
Eurozone- ~~ :-~
.... l ~ ~:--.
..--,"\
J
....
---. .,..
aben
chreiben Sie die Funktionsweise des Bretton-Wood-Systems.
2. Nehmen Sie Stellung zu der Aussage „Ein schwacher Euro hilft der deutschen Wirtschaft".
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Donald Trump hat dem US-Handelsdefizit den Kampf angesagt. Nun liefert ihm aus-
gerechnet die Bundesbank Argumente, um gegen die Euro-Zone vorzugehen: Europa
könnten harte Sanktionen drohen. [... ]
Mit entsprechender Sorge dürften Berlin und Brüssel deshalb die aktuellen Äußerun-
5 gen der Bundesbank vernommen haben . Denn was diese in ihrem Monatsbericht
verkündet, könnte den neuen Machthaber in Washington ernstlich erzürnen. Nach
ihrer aktuellen Studie hat die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB)
den Euro künstlich geschwächt. Vor allem die Beschlüsse zu billionenschweren Anlei-
hekäufen bewirkten seit 2014 eine Abwertung des Euro um 6,5 Prozent. Die gleichzei-
10 tige Straffung der Geldpolitik in den USA im gleichen Zeitraum habe mit 6,8 Prozent
einen ähnlichen Effekt gehabt.
Seit 2014 hat die Gemeinschaftswährung ein Fünftel zum Dollar abgewertet. Die Bun-
desbank hat nun quasi amtlich gemacht, dass rund 14 Prozent der Abwertung auf die
Geldpolitik der EZB zurückzuführen sind. Für Donald Trump, der sich selten mit Details
15 aufhält, ist es nun ein leichtes, die EZB der Währungsmanipulation zu beschuldigen
und die Länder der Euro-Zone mit Sanktionen zu belegen. Es wäre das erste Mal seit
1994, dass ein Land als Währungsmanipulator gebrandmarkt wird. Damals war es
China, das beschuldigt wurde, den Yuan künstlich zu drücken, 1988 gerieten Korea
und Taiwan in die Kritik. [... ]
20 Anlässe für Trump gäbe es auch so schon genug. Die Vereinigten Staaten verbuchen
mit der Euro-Zone ein gigantisches Außenhandelsdefizit. Die Amerikaner kaufen der-
zeit für insgesamt rund 100 Milliarden Euro mehr Waren und Dienstleistungen in Euro-
pa ein, als sie selber auf dem Kontinent absetzen.
Allein Deutschland ist für rund die Hälfte des amerikanischen Handelsbilanzdefizits
25 verantwortlich, aber auch andere Länder der Währungsunion erwirtschaften in den
USA ein Plus.
Der neue US-Präsident hat dem amerikanischen Handelsbilanzdefizit nun aber den
Kampf angesagt. In seinen Augen werden die USA durch einseitige Freihandelsverträ-
ge oder unfaire Wirtschaftspraktiken anderer Staaten ausgeraubt. Bereits in den ersten
30 100 Tagen seiner Amtszeit will Trump auf diesem Gebiet handeln.
Um den aktuellen Wettstreit zwischen Euro und Dollar zu verstehen, lohnt ein Blick in
die Historie: In den Anfängen der heutigen Geldsysteme war eine wichtige Vorausset-
zung verankert, nämlich dass Geld nur in bestimmter Menge vorhanden war und zu
Zeiten der „Golddeckung" exakt der hinterlegten Menge an physischem Edelmetall
5 entsprach. Man ersparte den Besitzern der Edelmetalle durch die Einführung von
Papier-Äquivalenten schlichtweg den komplizierten Transport und die riskante Aufbe-
wahrung. Sie entstanden indem von sogenannten Geldverleihern Quittungen zur
Bestätigung der Hinterlegung ausgestellt wurden. [ ... ]
Über mehrere Zwischenlösungen bildeten sich irgendwann staatliche Ausgabestellen
10 von Geld, die wir heute als Notenbanken kennen. In den heutigen Volkswirtschaften
arbeiten wir mit einem ungedeckten Papiergeldsystem, das von unabhängiger Seite
an die Leistungsfähigkeit einer jeweiligen Produktionsgesellschaft und deren Vermö-
gen gekoppelt ist. Die verfügbare Geldmenge soll also möglichst kongruent zur ge-
samten Gütermenge und vorhandenen Produktionspotenzialen sein. [... ]
15 Das gegenwärtige Geldproduktionsmonopol haben die staatlichen Zentralbanken
inne, sie gelten als unabhängig von der Politik und haben sich der Währungsstabilität
verpflichtet. Läuft es in einer Volkswirtschaft einmal nicht so gut, weil zum Beispiel
fiskalpolitische Rahmenparameter versagen, ist der Anreiz groß, mittels geldpolitischer
Eingriffe die internationalen Wechselkurse nicht nur indirekt, sondern auch direkt zu
20 beeinflussen. Ein veritables Beispiel dafür liefert die Europäische Zentralbank (EZB),
die seit Ausbruch der Finanzkrise viele Maßnahmen der Geldvermehrung in Angriff
genommen hat. [... ]
Die USA sind es schon länger gewohnt, mit dem Dollar Politik zu betreiben und der
frisch gewählte 45. Präsident gibt sich besonders Mühe, seinen zentralen Handelspart-
25 nern unlautere Währungsmanipulation zu unterstellen. Die wichtigsten unter ihnen sind
Deutschland, Mexiko, China, Japan und Korea - vor der Schelte der Trump-Adminis-
tration ist aber derzeit kaum ein Partner sicher.
Nach den Vorwürfen gegen Deutschland , die Euro-Währung zu eigenen Gunsten zu
steuern, richtete sich der Affront gegen Nippon und wiederum China. Nach Trumps
30 Auffassung würden beide Länder die global geltenden Spielregeln nach Gutdünken
auslegen und ihre eigenen Währungen ständig abwerten. ,,Und wir sitzen hier wie eine
Horde Dummköpfe", sagte Trump am Rande einer Veranstaltung der Pharmaindustrie
Amerikas. Noch schneller als die prompte Verneinung aus Tokio war das Dementi der
Bundeskanzlerin zu hören, die jegliche Spekulation über die Integrität sowohl der Bun-
35 desbank als auch der EZB entschieden zurückwies. An den Verunglimpfungen konnte
dieses Dementi aber nicht mehr rütteln. [... ]
Die auffällige Häufung und ungewöhnliche Schärfe der Beschimpfungen aus Washing-
ton schüren nun die Sorge, dass sich die USA nach zwei Jahrzehnten endgültig vom
bisherigen Credo eines starken Dollar lossagen könnten. Einst beschied John Connal-
40 ly, US-Finanzminister unter Richard Nixon, den Rest der westlichen Welt: ,,Der Dollar
ist unsere Währung, aber euer Problem." Befürchtet wird diesmal, dass Trump womög-
lich sogar ganz bewusst einen Währungskrieg mit dem Rest der Welt anzetteln könn-
te. Damit offenbart sich, dass die protektionistischen Ziele seiner Administration ganz
offensichtlich auch Währungsfragen beinhalten.
45 Ein finaler Schritt bis zur Abkehr vom bisherigen System freier Wechselkurse wäre
dann auch nicht mehr allzu weit. Vorerst halten sich aber die Argumente für und wider
den US-Dollar die Waage. Für den US-Dollar spricht, dass die amerikanische Wirt-
schaft sich in guter Verfassung befindet: Es herrscht quasi Vollbeschäftigung und die
Unternehmensgewinne steigen kontinuierlich. Unter dem Strich wächst die Wirtschaft
50 zwar noch eher moderat (BIP 2016 nur +1,6 Prozent) - aber immerhin besser als in
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Europa und die Inflation ist für die Notenbanker noch immer zu niedrig. Optimale Vo-
raussetzungen für eine fortgesetzte Anhebung des US-Leitzinses und damit implizit
einer weiteren Dollarstärkung.
Das überbordende Argument für eine starke US-Währung heißt aber „America first":
55 Künftig sollen die Importe im Rahmen bleiben, d. h. man erzieht den US-Konsumenten
zu „Buy American", somit kann das chronische Leistungsbilanzdefizit spürbar zurück-
gehen. Wenn die Industriepolitik eines St aates gänzlich aus dem Ruder läuft, sind
sogar Eingriffe der Notenbanken möglich, doch nicht immer sind sie erfolgreich. [ ...]
Derzeit herrscht am Devisenmarkt [zudem] eine Situation, die die Trump-Administrati-
50 on unter Druck bringt, denn Trump kann keinen starken US-Dollar brauchen (,,lt's killing
us"). Will sie wie versprochen Jobs in die USA zurückzuholen, braucht sie einen deut-
lich schwächeren US-Dollar. Damit amerikanische Exportwaren für Ausländer günsti-
ger werden und ausländische Produkte in den USA teurer angeboten werden.
Um einen Währungskrieg oder Abwertungswettlauf an den Finanzmärkten beginnen
65 zu können, müsste Trump allerdings zunächst die US-Notenbank Federal Reserve als
Hüterin des Dollar auf seine Seite ziehen. Ein schwacher Dollar und in der Folge stei-
gende Importpreise würde zudem die Inflation in Amerika anfachen. Dies ist zwar in
Maßen gewünscht , deutlich wahrscheinlicher als ein Währungskrieg ist aus Trumps
Sicht aber eine Aufkündigung bestehender Handelsabkommen Amerikas mit seinen
10 Handelspartnern.
Carsten Mum m, Chefvolkswirt und Leiter der Kapitalmarktanalyse bei der Privatbank Donner Et Reuschel.
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie den Zusammenhang zwischen der Geldpolitik der EZB und der
Entwicklung des Euro in Dollar (M 1).
2. Erklären Sie, warum die Unter- oder Überbewertung einer Währung i. d. R. als Verzerrung
der internationalen Handelsbeziehungen angesehen wird (M 1 - M 2).
3. Überprüfen Sie, inwiefern die Beeinflussung von Währungskursen der eigenen Wirtschaft
dienen kann.
Die Globalisierung der Wirtschaft
2. 7.1 Dimensionen der wirtschaftlichen Globalisierung
Leitfragen Welche Faktoren charakterisieren Wie beeinflussen politische Welche Rolle spielen die
den Prozess der wirtschaftlichen Entscheidungen diesen Prozess? Finanzmärkte?
Globalisierung?
Der sich seit den 1990er Jahren beschleunigende Erweiterung der Absatzmärkte sowie neue
Globalisierungsprozess der Wirtschaft wird vo n Standorte für Tochterunternehmen.
Befürwortern und Kritikern in seinen Auswirkun-
gen unterschiedlich bewertet. Gerade in der letz- • Mit dem Ende des Bretton- Woods- System
ten Zeit haben die politischen Auseinandersetzun- setzte sich parallel dazu das neoliberale Para-
gen über die Vor- und Nachteile der Globalisierung digma in der Politikberatung durch. Es folgte
wieder zugenommen. Der wirtschaftliche Globali- eine Deregulierung bzw. Neuordnung der in-
sierungsprozess lässt sich dabei mit Hilfe der fo l- ternationalen Wirtschafts- und Handelsbezie-
genden ökonomischen Entwicklungen cha rakteri- hungen sowie des Finanzsektors, wodurch das
sieren: rapide Wachstum der internationalen Finanz-
märkte ermöglicht wurde.
• der Zunahme des internationalen Waren- und
Dienstleistungsverkehrs,
• der Zunahme von Direktinvestitionen im Aus- Globalisierung - mehr Wohlstand für alle?
land,
• die zunehmenden Internationalisierung der ln den 1990er und beginnenden 2000er Jahren
Produktion sowie wuchs die Weltwirtschaft überproportional. Der
• dem rasanten Wachstum der internationalen Globalisierungsprozess wurde deswegen im öf-
Finanzmärkte. fentlichen Diskurs zunächst als ein Gewinn für
alle Teilnehmer dargestellt. Aus neoliberaler Sicht
Die genannten ökonomischen Entwicklungen werden folgende Aspekte besonders hervorgeho-
wurden beschleunigt durch technische Innovati- ben:
onen insbesondere in der Transportwirtschaft und
in der Computer- und Informationstechnologie. • Der internationale Handel bewirkt Wachstums-
Dadurch sanken nicht nur die Kosten, sondern impulse und damit einen steigenden Wohlstand
auch die Zulieferung ,just-in-time" von Einzeltei- für alle daran teilnehmenden Volkswirtschaften.
len in der Produktion oder internationale Kapit- Besonders die Schwellenländer profitieren von
altransaktionen in Sekundenschnelle wären so der Teilnahme am Welthandel;
heutzutage nicht möglich. Eine weitere wichtige
Rolle für die Beschleunigung des Globalisierungs- • Es sind globale Märkte entstanden und das Wa-
prozesses spielten j edoch auch verschiedene poli- renangebot ist angestiegen. Durch steigende
tische Ereignisse und Prozesse: Konkurrenz und entstehende Kostenvorteile
sind Preissenkungen mög lich;
• Der Zusammenbruch der sozialistischen Sys-
teme in den ! 990er Jahren brachte für die west- • Die internationale Konkurrenz beschleunigt den
lich-kapitalistischen Unternehmen eine große technischen Fortschritt und Innovationsprozess.
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
Der Globalisierungsprozess wird aber a uch kri- • die Verlierer des Strukturwandels mehr Unter-
tisch gesehen. Die Kritik fokussiert sich auf die stützung erhalten sollten,
folgenden Punkte: • Korrekturen an der sich verschärfenden Ein-
kommens- und Vermögensverteilung vorge-
• Es fi ndet eine Verlagerung von Arbeitsplätzen nommen werden sollten oder
aus den hochentwickelten Volkswirtschaften in • die ö ffe ntliche Infrastruktur wieder mehr geför-
Billiglohnländer statt. In de n „alten" Industrie- dert werden sollte.
ländern schrumpfen ganze Branchen (z.B. die
Textilindustrie und die Stahlindustrie). Die Ge-
werkschaften werden in ihrer Verhandlungs- Wie ist die Expansion der internationalen
macht geschwächt und das Lohnniveau stag- Finanzmärkte zu erklären?
niert oder sinkt gar ab ;
Das Wachstum der internationalen Finanztrans-
• Die Möglichkeit der nationalen Steuerung des aktionen ist zunächst durch das Anwachsen des
Wirtschaftsprozesses nimmt ab, insbesondere Handels und der ausländischen Direktinvestitio-
im Hinblick auf die Ausgestaltung des Steuer- nen zu erklären. Durch die Deregulierung der in-
systems und von Umweltstandards. Es besteht ternationalen Wirtschaftsbeziehungen und des
die Gefahr einer stärkeren Krisenanfälligkeit des Finanzsektors fand darüber hinaus ein gemessen
Wirtschaftssystems; am Wachstum der internationalen Produktio n
überproportional starkes Wachstum der Devisen-
• Der Finanzsektor wächst vo r allem in den hoch- umsätze und des internationalen Wertpapierhan-
entwickelten Volkswirtschaften. Seine Ausdeh- dels statt. Schätzungen gehen davon aus, dass
nung und Deregulierung wurde (seit den 1990er lediglich nur noch 5 Prozent der Finanzströme zur
J ahren bis zur Finanzkrise) politisch gefördert, so Abwicklung der realen Wirtschaftsströme dienen.
dass weltweit unkontrollierte Finanzströme ent-
standen sind ; dabei löst sich der Finanzsektor Zudem wurden Finanzinstrumente verfeinert
zunehmend von der Realwirtschaft ab. und neu entwickelt. Hierzu zählen beispielsweise
neue fo rmen von Wertpapieren, Derivaten, Ter-
mingeschäften und sogenannte Leerverkäufe vo n
Gewinner und Verlierer der Globalisierung Aktien. Weiter treten neue Akteure auf den Fi-
nanzmärkten auf, so etwa Hedgefonds, die große
Die Wohlstandsgewinne im Prozess der Globalisie- Mengen an Kapital zu spekulativen Zwecken ein-
rung sind sowohl international als auch national setzen. Hedgefonds z.B. wetten auf steigende und
unterschiedlich verteilt. Einzelne Volkswirtschaf- fallende Kurse vo n Aktien, Rohstoffen oder An-
ten wachsen überdurchschnittlich - Schwellen- leihen. Dazu sammeln sie Geld von privaten und
länder wie z. B. China und Indien - und andere institutionellen Anlegern ein und ergänzen dieses
weniger, wie die meisten afrikanischen Staaten oft noch um Kredite.
südlich der Sahara. Gleichzeitig stagnieren bzw.
sinken in den hochentwickelten Volkswirtschaften
die Löhne und Berufschancen einzelner Beschäf- Re-Regulierung des Finanzsektors -
tigtengruppen durch de n verstärkten Struktur- eine Lösung?
wa ndel und die internationale Konkurrenz. Gerade
bei unqualifizierten Beschäftigten macht sich die- Mit der globalen Expansion der Finanzmärkte ist
se Entwicklung besonders bemerkbar. an eine rein nationalstaatliche Kontrolle des Fi-
nanzsektors nicht mehr zu denken. Der Verlauf der
Vor dem Hintergrund der Globalisierungsfolgen Finanzkrise ab 2007 /2008 und die folgende Euro-
bzw. - risiken wird in der Öffentlichkeit die Rolle krise haben eine solche Einschätzung bestätigt.
des Staates in der Wirtschafts- und Sozialpolitik Vor diesem Hintergru nd verstärkt sich die Diskus-
neu verhandelt. Im Raum steht dabei immer wie- sion darüber, ob und wie eine Reregulierung des
der die Frage, ob und wie der Staat den Prozess Finanzsektors stattfinden solle. Sollten auf inter-
der Globalisierung gestalten kann bzw. sollte. Dis- nationaler Ebene bestimmte Finanzprodukte und
kutiert wird beispielsweise, ob -transaktionen wieder stärker reguliert, die Ban-
2.7 Die Globalisierung der Wirtschaft f
Aufgaben
1. Benennen Sie die für den Globalisierungsprozess zentralen ökonomischen Entwicklungen.
3. Führen Sie eine Umfrage zum Thema Vor- und Nachteile der Globalisierung durch (, Methodenglossar). Neh-
men Sie Stellung zu den verschiedenen Äußerungen und formulieren Sie vor diesem Hintergrund eine eigene
Position.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Bei der Einführung der Finanztransaktionssteuer - kurz FTT - handelt es sich um eine
sehr schwere Geburt. Mit anhaltenden Wehen. An diesem Montag verstrich ein weite-
res von bereits so vielen gesetzten Ultimaten für eine Einigung.
Die EU-Staaten, die schon seit drei Jahren verhandeln, geben sich erneut mehr Zeit.
s „Wir haben eine Entscheidung bis Jahresende", sagte Österreichs Finanzminister
Hans Jörg Schelling. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, schaut man sich den bisherigen
Verlauf der Verhandlungen an. [ ...]
Die Steuer verfolgt zwei Ziele. Zum einen soll durch die Besteuerung des Handels die
Spekulation an den internationalen Finanzmärkten eingedämmt werden. Investoren
10 sollen länger an ihren Finanzprodukten festhalten. Die Finanzmärkte sollten stabiler
werden.
Vor allem aber sollte genügend Geld anfallen, um soziale Projekte, den Kampf gegen
Armut und Klimawandel zu finanzieren. Eine einfache Idee. Genial, wie Befürworter
fanden. Künstler wie Heike Makatsch und Jan Josef Liefers warben in Spots für das
15 Projekt.
Doch der Widerstand war enorm. Auf globaler Ebene fand sich nicht genügend Unter-
stützung. Die USA sind nicht bereit, die Wall Street noch stärker zu reglementieren.
Auch die Europäische Union scheiterte - diesmal am Widerstand von Großbritannien.
[...l
20 Und so entschied sich 2013 eine Gruppe von zunächst elf EU-Staaten, die Steuer im
Alleingang einzuführen - im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit und unter
Mithilfe der Europäischen Kommission. Deutschland, Frankreich und Italien gehören
zu dieser Gruppe, die nur noch zehn Staaten umfasst. Seit 2015 führt Österreich den
Vorsitz.
25 Es ist ein frustrierender Job für Österreichs Finanzminister Schelling. Der ÖVP-Politiker
musste navigieren zwischen den nationalen Interessen. Es wurde über die Frage ge-
stritten, für welche Finanzprodukte die Steuer denn nun gelten solle und wie die Ge-
winne verteilt würden. [... ]
Der Bundesfinanzminister [ ... ] glaubt offenbar schon nicht mehr so recht an die Eini-
30 gung auf europäischer Ebene. Beim G-20-Finanzministertreffen vor wenigen Wochen
im chinesischen Chengdu warb Wolfgang Schäuble deshalb für eine neue Idee: die
Einführung einer Finanztransaktionsteuer auf globaler Ebene. Es klang wie der Abge-
sang auf die Steuer.
Was sich in Europa wegen vieler unterschiedlicher Interessen schon nicht durchsetzen
3s lässt, könnte erst recht weltweit scheitern. Belgien zum Beispiel stellt sich gerade
kategorisch gegen die Steuer. Das Land richtete sich zuletzt gegen die Besteuerung
von an Staatsanleihen gekoppelten Derivaten mit der Begründung, damit würden die
Refinanzierungskosten für das Land steigen.
,,Belgien trägt eine unverschämte Forderung vor", klagt Sven Giegold, Grünen-Finanz-
40 experte im Europaparlament gegenüber der „Welt". ,,Das Land profitiert von der Nied-
rigzinspolitik und lehnt trotzdem aus Sorge um die Refinanzierungskosten die Steuer
auf Finanztransaktionen ab. Das ist absurd."
Giegold hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass das Projekt am Ende noch Realität
werden wird. ,,Wir sind nicht mehr weit von einer Einigung über die Finanztransaktion-
4s steuer entfernt", sagte er. Es wäre in der Tat eine Zangengeburt gewesen.
M 2 Manager Käffchen
t~
1
Aufgaben
1 . Nennen Sie die in M 1 dargestellten Gründe, die für bzw. gegen die Einführung einer
Finanztransaktionssteuer sprechen.
2. Analysieren Sie den Streit um die Einführung einer Finanztransaktionssteuer mit Hilfe des
Politikzyklus (, Methodenkompetenz: Politikzyklus analysieren). Recherchieren Sie ggf.
weitere Informationen.
Leitfragen Wie kam es zu der lnternatio- Was ist die Rolle von multinati- Wie ist die Position Deutsch-
nalisierung von Handel und onalen Unternehmen im lands im Globalisierungspro-
Produktion? Globalisierungsprozess? zess einzuschätzen?
„Ein Familienvater der weitsichtig handelt, folgt schaften seit Adam Smith. Gerade in den letzten
dem Grundsatz, niemals etwas herzustellen zu Jah rzehnten hat der Handel zwischen den hochent-
versuchen, was er sonst wo billiger kaufen kann. wickelten Volkswirtschaften stark zugenommen.
[...] Was aber vernü nftig im Verhalten einer ein-
zelnen Familie ist, kann für ein mächtiges König- Angetrieben wurde diese Entwicklung von multi-
reich kaum töricht sein. Kann uns also ein anderes nationalen bzw. transnationalen Unternehmen, die
Land eine Ware liefern, die wir selbst nicht billiger betriebswirtschaftlich betrachtet die Vorteile der
herzustellen imstande sind, dann ist es für uns ,,economies of scale" nutzen, also die Kostener-
einfach vorteilhafter, sie mit einem Teil unserer sparnisse bei der Ausdehnung der Produktion. Je
Erzeugnisse zu ka ufen, die wir wiederum günsti- größer die Produktionsmenge ei nes Gutes ist, des-
ger als das Ausland herstellen können." to geringer werden die Stückkosten. Deshalb setzen
Unternehmen zunehmend auf den Export ihrer
Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, aus dem
Englischen übersetzt von H. C. Recktenwald, I993, S. 3 7 If Waren. Hierfür stehen nicht nur bekannte multina-
tionale Unternehmen, sondern z.B. auch mittel-
ständische deutsche Unternehmen. Gerade die
Handel bringt Vorteile für alle, die daran teilneh- deutsche Maschinenbaubranche ist für ihre hoch-
men - das ist ein Credo der Wirtschaftswissen- spezialisierten Maschinen weltweit bekannt.
2 000 · · ..................... .
WELTWIRTSCHAFTS-
1 500 · ......................................... ·· ····• ······························ ... ü~istüNG···········-- ..... .
1 165
(Bruttoinlandsprodukt) 1 065
1 ooo .......................................................·tsia........... ........................................92s..
Seit den l 970er Jahren gehen Unternehmen zu- Multinationale Unternehmen (MNU) gelten als
nehmend dazu über, nicht komplette Bereiche ih- Schrittmacher und Gewinner der Globalisierung
rer Produktion in das Ausland auszulagern, son- zugleich. Ein wachsender Teil der weltweiten Wa-
dern nur die einzelner Komponenten. Dadurch ren- und Dienstleistungsströme entsteht durch
sind internationale Produktions- und Wertschöp- den Austausch zwischen den einzelnen Konzern-
fungsketten und Warenströme entstanden. Der teilen. MNU treiben den grenzüberschreitenden
Großteil dieser Warenströme wird dabei zwischen Transfer vo n Kapital, Technologie und Manage-
den verschiedenen internationalen Standorten der mentfähigkeiten voran.
multinationalen bzw. transnationalen Unterneh-
men abgewickelt. Investitionen dieser Unternehmen können in sich
entwickelnden Volkswirtschaften die folgenden
Die Muttergesellschaften dieser Unternehmen ha- posit iven Effekte haben:
ben ihren Sitz bisher überwiegend in westlichen
Industriestaaten und erschließen sich durch ihre • die Einbindung einheimischer Zulieferbetriebe in
inte rnationale Tätigkeit neue u nd größere Absatz- die Wertschöpfungsketten,
märkte sowie Kostenvorteile in Form vo n Erspar- • einen Technologietransfer,
nissen bei Arbeits-, Rohstoff-, Energie- und • im Landesvergleich gut bezahlte Arbeitsplätze,
Tra nsportkosten. Zudem gelingt es so, die Abhän- • die Ausbildung der Mitarbeiter
g igkeit der Unterneh men von nationaler Wirt- sowie
schaftspolitik und Gesetzgebung sowie von nati- • die Schaffung von Deviseneinnahmen durch Ex-
onalen Konjunkturschwan kungen zu verringern. porte für die betreffenden Volkswirtschaften.
Aufgaben
1. Benennen Sie Beispiele für internationale Wertschöpfungsketten in der deutschen Industrieproduktion.
2. Analysieren Sie, aus welchen Gründen multinationale Unternehmen als Schrittmacher der Globalisierung
angesehen werden.
3. Deutschland wird besonders im Ausland als einer der Gewinner der Globalisierung betrachtet. Diskutieren
Sie Argumente für oder gegen diese Sichtweise.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Durch Abkommen wie TTIP sollen alle Staaten profitieren. Doch die Sache hat einen
Haken.
Auf den ersten Blick wirkt die Debatte um das transatlantische Freihandelsabkommen
absurd. Ist der universale Güterverkehr nicht längst Selbstverständlichkeit? Seit zwei,
5 drei Jahrzehnten lautet das wirtschaftspolitische Mantra, dass die „Globalisierung" ein
unausweichliches Faktum sei. Weltweiter Kapitalmarkt, transnationale Direktinvestiti-
onen, globale Arbeitsteilung, Handels- und Rohstoffkreisläufe. Wie kann man da noch
streiten über die Berechtigung von Freihandel? [... ]
Echte Hürden für den Handel über den Atlantik bilden die höheren Zolltarife, die dem
10 Schutz einheimischer Produzenten und Märkte dienen. Und außerdem die „nicht-tari-
fären" Zulassungsschranken aller Art, die Risiken für Gesundheit, Umwelt und ähnlich
Schützenswertes minimieren sollen. Doch diese letzteren Hindernisse fallen ins politi-
sche Fach.
Denn wie weit Verbraucher, Daten, Arbeitnehmer, Klima und Umwelt vor Folgen der
15 Güterproduktion zu schützen sind, ist nicht wirtschaftlich, sondern normativ zu ent-
scheiden. Der politische Streit zwischen Washington und Brüssel im nicht-tarifären
Bereich ist also unvermeidlich und muss entsprechend offen mit politischen Argumen-
ten ausgetragen werden. Mit den monetären Zolltarifen hat dies wenig zu tun. Um sie
aber geht es im Kern der Freihandelstheorie. Die Abschaffung aller Schutzzölle, be-
20 haupten ihre Vertreter, sei eine schlichte Folge ökonomischer Vernunft. Bei näherem
Hinsehen erweist sich dies als unhaltbare Doktrin.
Noch immer beruft sie sich auf die von David Ricardo Anfang des 19. Jahrhunderts
aufgestellte Lehre der „komparativen Kostenvorteile". Vereinfacht besagt sie, dass ein
Land, das alle seine Waren unproduktiver (also zu höheren Kosten) herstellt als ein
25 anderes Land, trotzdem mit diesem zu beiderseitigem Gewinn Güter austauschen
kann. Voraussetzung ist, dass beide Länder sich bei der Wahl ihrer Produktpalette nicht
nur an den direkten Herstellungskosten orientieren, sondern die „Opportunitätskos-
ten" einbeziehen.
Unter Opportunitätskosten - der kleine Exkurs muss sein - versteht man verpasste
30 Gewinne, also die Gewinne, die einem entgehen, wenn man mit dem verfügbaren
Kapital nicht die maximalen Verwertungschancen nutzt. Um es mit Ricardos Beispiel
zu illustrieren: Wenn Portugal Wein und auch Tuch kostengünstiger herstellt als Eng-
land, aber w iederum Wein noch günstiger als Tuch, sollte es nicht beides selbst her-
stellen, sondern England die Herstellung von Tuch überlassen und es von dort impor-
35 tieren, um sich ganz auf die lukrative Weinproduktion zu konzentrieren.
England gibt im Gegenzug die Weinherstellung auf und verlegt sich allein aufs Tuch.
Von dieser Arbeitsteilung profitieren beide. Das englische Tuch kostet Portugal jetzt
zwar etwas mehr, als es bei eigener Herstellung zahlen müsste. Doch dafür erzielen
die Portugiesen jetzt maximale Gewinne mit den Mitteln, die frei geworden sind für
40 zusätzliche hochproduktive Weinherstellung. Ihr Extragewinn, auch durch Weinexport
nach England , macht den etwas höheren Importpreis für englisches Tuch mehr als
wett. Und umgekehrt bezieht England den importierten Wein nun billiger als zuvor den
selbst hergestellten.
Die Protagonisten eines deutschen Wegs der Wirtschaftspolitik kokettierten gern mit
ihrer Fähigkeit zur Abstinenz von wirtschaftspolitischem Handeln. Tatsächlich war es
aber die sichtbare Hand des Staates, die die wirtschaftliche Orientierung der Bundes-
republik von Anfang an bestimmte. [... ]
s Erhard verband sein Ideal einer „weltoffenen Handelspolitik" mit einer kühnen Vision.
Er konnte sich die Zukunft jener 50 Millionen Menschen, die „auf einem schmalen
Streifen zwischen Elbe und Rhein" lebten, ,,nur als Werkstatt der Welt, bei stärkstem
Export von Maschinen und Konsumgütern" vorstellen. Werkstatt Europas zu sein, wie
es der amerikanischen Nachkriegsstrategie entsprach, reicht nicht aus, um „mit den
10 weiteren Bezirken in Übersee, die einer neuen Epoche technisierter Urproduktion und
Werner Abelshauser ist Wirtschaftshistoriker und Mitglied der Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte
des Bundeswirtschaftsministeriums und seiner Vorläufer zwischen l 91 7 bis zur Wiedervereinigung l 990.
Werner Abelshauser, Das andere Wi rtschaftswunder, in: Fra nkfurter Al/gemeine Zeitung, 7. l 2.2016, S. l 8
Aufgaben
1 . Erläutern Sie die Ausführungen von Andreas Zielcke zur Freihandelstheorie (M 1).
3. Nehmen Sie Stellung zu der kontroversen Position von Zielcke vor dem Hintergrund des
von Werner Abelshauser skizzierten deutschen Wirtschaftswunders (M 1 und M 2).
2. 7. 3 Das Global Economic Governance System
Leitfragen Sollte der wirtschaftliche Welche internationalen Welche Möglic hkeiten und
Globalisierungsprozess Organisationen spielen dabei Grenzen hat die wirtschaftliche
gesteuert werden? eine Rolle? Globalisierung?
Auf de r Ko nferenz von Bretton Woods 1944 wur- gramme die Sanierung zahlungsunfähiger Staaten
den neben der Konstruktion des neuen Währungs- oft erfolgreich begleitet und damit mehrmals Wäh-
systems (>Kap. 2.6.2) auch die Grundlagen fü r das rungs- und Finanzturbulenzen geglättet. Kritiker
internationale Wirtschafts- und Handelssystem weisen j edoch darauf hin, dass der IWF eine neo-
gelegt. Dabei sollten die Lehren aus der Weltwirt- liberale Agenda verfolgt und negative Effekte der
schaftskrise von 1929 gezogen werden, auf wel- Strukturanpassungsprogramme für das Wirt-
che die Staaten mit protektionistischen Maßnah- schaftswachstum und die Sozialpolitik in den je-
men reagiert hatten. Stattdessen sollte ein weiligen Ländern ignoriert (>Kap. 2.2.3).
geordnetes, auf freiem Handel beruhendes inte r-
natio nales Wirtschaftssystem entstehen. Dafür Kritisiert wu rde zudem lange auch die Stimmenge-
wurden der Internationale Währungsfonds wichtung, die sich nach dem Kapitalanteil der ein-
(IWF), die Weltbank und das Allgemeine Zoll- zelnen Mitg liedstaaten richtet. Daraus ergab sich
und Handels abkommen (GATT) bzw. später die ein deutlich es Übergewicht der großen Industrie-
Welthandelsorganisation (WTO), die bis heute länder. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise im
das internationale Wirtschafts- und Ha ndelssys- Dezember 2010 hat der IWF deshalb eine Reform
tem prägende n Institutionen, geschaffen. im Bereich der Stimmengewichtung beschlossen,
um den Einfluss der Schwellen- und Entwick-
lungsländer auf die Entscheidungsfindung zu stär-
Der Internationale Währungsfonds (IWF) ken. Hiervon profitieren vor allem China, Indien
und Russla nd, während Deutschland, Frankreich
Der Internationale Währungsfonds wurde 1944 mit u nd Großbritannien Stimmanteile verlieren.
dem Ziel gegründet, eine stabile Weltwährungs-
ordnung zu sch affen. Er unterstützt seine Mit-
gliedsstaaten bei Zahlungsschwierigkeiten mit Kre- Die Weltbank
diten, wodurch verhindert werden soll, dass Staaten
zahlungsunfähig werden und somit eine schwere Im Ja hr 1945 wurde die Weltbank geg.r ündet. Ihre
Störung des internationalen Geld- und Kapitalver- Aufgabe ist es, Armut zu bekämpfen und WohJ-
kehrs verursachen können. Die Kreditvergabe stand zu fördern. Während die Weltbank in ihren
durch den IWF ist in der Regel mit Auflagen ver- Anfangsjahre n überwiegend Kredite fü r den Wie-
bunden, welche in den Empfängerländern oft als deraufbau Europas gewährte, stehen heute Ent-
Einmischung in die eigene Wirtschafts- und Sozial- wickl ungslä nder sowie Projekte zur Arm utsbe-
politik empfunden werden. In sogenan nten Struk- kämpfu ng im Mittelpunkt ihrer Arbeit:
turanpassungsprogrammen werden u. a. Kürzun-
gen der Staatsausgaben und eine Verschlankung • Zur Entwicklungsfö rderung vergibt die Welt-
des Staatsapparats, ei ne Entbürokratisierung, die bank Darlehen und sogenannte Mikrokredite;
Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen, der • Sie leistet technische Hilfe, koordiniert Entwick-
Abbau von Subventionen und die Deregulierung lungsproj ekte und unterstützt Entwicklungslän-
von Märkten festgeschrieben. der in den Bereichen Bildung, Infrastruktur und
Kommunikation;
Aus Sicht vieler Ökonomen hat der lWF du rch sei- • Sie fördert Programm zur Ko rruptionspräventi-
ne Kreditvergabe und die geforderten Reformpro- on ;
2 Grundlagen der W irtschaftspolitik
• Auch finanziert sie Projekte zur Gesundheitsför- licht werden sollte. Vor allem Zölle, Mengenkon-
derung, so etwa ein Programm zum Kampf ge- tinge nte und Handelshemmnisse wie spezielle
gen HIV/AIDS. Normen und Vorschriften für einzelne Produkte
wurden in jährlichen Verhandlungsrunden abge-
Auch die Kredite der Weltbank sind an Bedingun- baut. Aus den GATT-Verhandlungen entstand
gen und Auflagen gekoppelt, mit denen die Welt- J995 die Welthandelsorganisation, die World Tra-
bank auf die Politik der Empfängerländer Einfluss de Organisation (WTO). Sie hat die folgenden Zie-
nehmen möchte. Vo n Kritikern wird dabei die zu le und Aufgaben:
starke Ausrichtung auf ökonomisches Wachstum
mit der Gefahr der Förderung von ökologisch und • die Liberalisierung des internationalen Handels,
sozial bedenkl ichen Großprojekten bemängelt. In- • den Abbau vo n Handelsbeschränkungen sowie
nerhalb der Weltbank hat aber ein Strategiewan- • die Schlichtung von Handelsstreit igkeiten zwi-
del stattgefunden. Der Schwerpunkt der Projekte schen den Mitgliedstaaten.
hat sich von der Förderung d es Wachstums hin zur
Armutsbekämpfung verlagert. Dies beruht auf der Die WTO umfasst 164 Mitgliedstaaten (Stand
Einschätzung, dass Wachstum allein nicht auto- 2018). Die für die Mitglieder bindenden Beschlüs-
matisch Armut verringert. se werden nach dem Ko nsensprinzip gefasst, wo-
beijedes Land eine Stimme hat. Da mit soll erreicht
werde n, dass starke Wirtschaftsmächte die schwä-
Die Welthandelsorganisation WTO cheren Staaten n icht dominieren können. Zur Bei-
legung von Streitigkeiten steht der WTO ein
1947 wurde ergänzend z u den beiden gen a nnten Streitschlichtungsmecha nismus zur einvernehm-
„Bretton-Woods-Organisationen" das General lichen Einigung zur Verfügung. Die WTO verfolgt
Agreement on Tarifs a nd Trade (GATT, Nlgemei- die folgenden Prinzipien, die vo n den Mitglied-
nes Zoll- und Handelsabko mmen) mit dem Ziel staaten anerkan nt werden müssen:
der Liberalisierung des Welthandels geschlossen.
Ziel des Abkommens war der kontinuierliche Ab- • Meistbegünstig ung: Alle handelspol itischen
bau von Handelsschranken zwischen den Mit- Zugeständnisse, die sich zwei Staaten unterein-
gliedsländern, wodurch ein freier Handel sowie ander machen, gelten automatisch auch für alle
Wohlstandsgewinne für alle Beteil igten ermög- anderen Staaten ;
fffl
2.7 Die Globalisierung der Wirtschaft f
Aufgaben
1. Fassen Sie die Argumente zusammen, die für und gegen bilaterale Handelsabkommen vorgebracht werden.
2. Recherchieren (, Methodenglossar) Sie den aktuellen Stand der Verhandlungen zu CETA, TTIP und anderen
Handelsabkommen. Werten Sie den jeweiligen Stand der Verhandlungen aus.
3. Diskutieren Sie die Vor- und Nachteile einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit bei der Regulie-
rung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Erschließen Sie dafür die Aufgaben der wichtigsten damit
befassten internationalen Institutionen.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Unmittelbar vor dem Start des G20-Gipfels in Hamburg haben [ ...] Vertreter von 75
Initiativen mehr Engagement für Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung durch die
wirtschaftlich führenden Nationen gefordert. Nach Angaben der Veranstalter trafen
sich rund 2.000 Menschen aus 20 Ländern in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel
5 zu dem zweitägigen Kongress mit dem Titel „Gipfel der globalen Solidarität". Die Ex-
perten forderten die Einhaltung und Umsetzung von bereits getroffenen Abkommen
wie dem Pariser Klimaschutzabkommen und der Agenda 2030.
vorbei an einem sozial abgefederten und gut geplanten Kohlausstieg bis zum Jahr
2030", so Morgan.
nichtung der Lebensgrundlagen zu stoppen", schreiben sie. Bei der Bekämpfung von
Armut und Flucht gebe es nur Lippenbekenntnisse. Viele der G20-Regierungen
schränkten die Rechte von Beschäftigten ein und verschärften mit ihrer Politik die
50 Umverteilung von unten nach oben.
Wenn sich die negativen Folgen der Globalisierung mildern lassen, dann im Rahmen
40 globaler Verständigung.
Die G20 ist kein ideales Format, aber es kann verbessert werden. Afrika ist unterreprä-
sentiert. Wenn Deutschland es mit seinem Engagement für diesen Kontinent ernst
meint, sollte es sich dafür starkmachen, dass neben Südafrika ein zweiter afrikanischer
Staat permanent dabei ist. Und die Verbindung zur Uno sollte gestärkt werden. Man
45 muss nicht gleich [ ...] den ganzen Gipfel nach New York verlegen. Aber die G20 muss
mehr Einfluss auf die Uno nehmen, sie muss die Ergebnisse des Gipfels in den Sicher-
heitsrat und die Vollversammlung tragen. Und der Uno-Generalsekretär könnte stän-
diges Mitglied sein. Womit man bei G22 wäre.
Gleichzeitig , und das ist kein Widerspruch, müssen die Gipfel kleiner werden. Die G20
so entstand aus der Kritik an G7, dem exklusiven Klub der führenden Industriestaaten,
das war richtig. Die Zivilgesellschaft wurde beteiligt - als Reaktion auf die Einwände
gegen einen abgehobenen, undemokratischen Klüngel. Aber die guten Absichten
haben die G20 vom Gesprächsforum zum Groß-Event gemacht. Jetzt ist es Zeit, sie
wieder effektiver zu organisieren, intimer, exklusiver. Muss China wirklich mit einer
55 tausendköpfigen Delegation anreisen? Und Saudi-Arabien mit mehreren hundert Teil-
nehmern? Man könnte die Zahl der Delegierten drastisch beschränken, weniger Brim-
borium, weniger Beethoven. Die G20 muss vom Ausnahmezustand zur Normalität
werden, zu einer regulären Kabinettssitzung der Weltregierung. Dann gern auch zwei-
mal im Jahr.
Christiane Hoffmann, www.spiegel.de, 7.7.2017
Aufgaben
3. Entwickeln Sie einen Katalog von Maßnahmen zum Umgang mit der Globalisierung. Simu-
lieren Sie dafür in einem Konferenzspiel (• Methodenglossar) ein Treffen zwischen Vertretern
der G20 und Globalisierungskritikern.
.. ..
■ Okonomie und Okologie
2.8.1 Zum Verhältnis von Ökonomie und natürlicher Umwelt
Leitfragen Welche Bedeutung Welches sind die globalen Stehen ökonomisches Welche Grenzen
hat die Umwelt für Megatrends von Umwelt- und ökologisches hat „klassisches
den Menschen? einflüssen durch wirtschaft- Handeln im Widerspruch W irtschaftswachs-
liches Handeln? zueinander? tum"?
In de n 1970er Jahren begann eine Diskussion da- Als Ökosystemleistungen werden all jene Leistun-
rüber, ob und inwieweit das Wirtschaftswachstum gen verstanden, die die Natur dem Menschen zur
die natürliche Umwelt in Mitleidenschaft ziehe. Verfügung stellt. Grundlegend sind dies zunächst
Die Bedeutung der natürlichen Umwelt ist dabei Nahrungsmittel, Rohstoffe, Arzneimittel und
für den Menschen deutlich vielfältiger, als sie auf Trinkwasser (Basisleistungen), aber auch soge-
den ersten Blick erscheinen mag. Menschen sind nan nte Versorgungsleistungen, Regulierungs-
überall und zu j eder Zeit auf die natürliche Um- leistunge n und kulturelle Leistungen werden
welt und deren Prozesse angewiesen. Um diese vom Menschen aus der Natur bezogen (> Schau-
Bedeutung unabhängig von einer individuelle n bild). Die Umwelt stellt in diesem Sinne eine na-
Umweltwahrnehmung besch reibbar zu machen, türliche Ressource dar, die sowohl Konsumgut,
wird sie mit dem Begriff der Ökosystemleistun- Produktionsfaktor als a uch Aufnahmemedium
gen ausgedrückt. zugleich ist.
Nach: Wo rld Wide Fund for Nature (WWF) Deutschland (Hg.): Living Planet Report 201 6. Kurzfassung. 2016, S. 17
2.8 Ökonomie und Ökologie f
Daraus wird deutlich, dass eine (da uerhafte) Schä- mit der zunehme nden Intensität von Naturkatas-
digung oder gar Zerstörung der Umwelt mit einer trophen, dem Ansteigen des Meeresspiegels und
Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen in der Gefahr, dass ganze Regionen ü berflutet wer-
j eder Hinsicht gleichzusetzen ist. den. Neben solchen Klimafolgen wi rken sich diese
Entwicklungen aber auch negativ auf die Arten-
v ielfalt (Biodiversität) aus, da Lebensräume und
Megatrends der ökologischen Entwicklung damit verbundene Organismen vernichtet werden.
Der Klimawandel nimmt dementsprechend nicht
Heutzutage ist der anth ropogene Klimawandel nur direkt au f den Menschen Einfluss, sondern
(griech. : anthropos = Mensch) das prominenteste zieht a uch die Umwelt in Mitleidenschaft, was
und meist diskut ie rte Thema, we nn es um die ne- sich wiederum auf die Verfügbarkeit de r Ökosys-
gatjve Beeinflussung der Umwelt durch wirt- temleistungen auswirkt.
schaftliches Handeln geht. Als anthropogen wird
die Erderwä rmung deshalb gekennzeichnet, da sie Die Ursachen für den sich beschleu nigenden Kli-
vo n Menschen bzw. deren Verh alten hervorgeru- mawa ndel lassen sich spätestens seit den frühen
fen wird. 1960er Jahren ausmachen. So z. B. durch
Die Erderwärmung ist dabei Ergebnis des Aussto- • den Anstieg der C0 2- Emissionen,
ßes von klimaschädlichen Gasen und hier insbe- • eine wachsende Weltbevölkerung,
sondere Kohlensto ffdioxid (C0 2 ), aber a uch Met- • die Entwicklung hin zu einem weltumspannen-
han (CH4) und Distickstoffox id (N20), deren st ark den Tra ns portwese n,
erhöhte Werte in der Atmosphäre d en Strahlungs- • der vermehrte Einsatz vo n Düngemitteln,
haushalt der Erde negativ beeinflussen. Der Aus- • die Abholzung der tropischen Regenwälder
stoß dieser sog. Treibhausgase kann als (uner- sowie
wünschter) Nebeneffekt einerseits der industriellen • die Intensiv ierung der Hochseefischerei.
Güterproduktion (inkl. des Gütertransports) und
andererseits des weltweit gesteigerten Konsums
(inkJ. z. B. des Individualverkehrs oder vo n Woh- Grenzen des Wachstums
nungen) beschrieben werden.
In den Wi rtschaftswissenschaften ging man tradi-
Die Gefahren des Klimawandels werden dan n tionell davo n aus, dass wirtschaftliche Aktivitäten
konkret, wenn dieser in Verbindung gebracht wird sich in einem geschlossenen System abs pielen.
t
Verlust der Ozonschicht Ozonkonzentration, in Dobsen (Einheit IDB)
290 :u re1 276
Übersäuerung der Meere Mittlerer Sättigungsgrad von Aragonit an der Meeresoberfläche, in Proz•e~~ ) ,
3,44 2 75
Süßwasserverbrauch Süßwasserverbrauch der Weltbevölkerung, in k rn3 pro Jahr
415 -------~12~
Fläche nverbrauch landwirtschaftliche Flächennutzung, in Prozent der Gesamtfläche
• 4~
5 l 11,7 15
Atmosphärische Ae rosole Noch nicht qualifiziert
Verschmutzung durch Chemikalien: z.B. durch langlebige Ofganische Schadstoffe, Schwermetalle oder ~ Aktueller Wert
Atommüll, noch nicht q ualifiziert
Nach: Le Monde diplomatique {Hrsg.}, Altas der Globalisierung. Weniger wi rd mehr, 201 5, S. 119
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
Nicht berücksichtigt wurde, dass diese in einem zung der Ressourcen (Rohstoffe und Energie), aber
Wechselverhält nis zu der sie umgebenden Natur auch Grenzen für den Ausstoß vo n Abfällen der
bzw. zu dem ökologischen System Erde stehen. Produktion, etwa für Schadstoffe.
Dementsprechend wurde die Natur meist als „frei-
es Gut" ohne Preis betrachtet, soweit sie nicht
einem Eigentumsverhältnis unterliegt. Erst mit Beziehungen zwischen
der Studie des Club of Rome „D ie Grenzen des (wirtschafts-)politischen Zielen
Wachstums" aus dem Jahr 1972 rückte dieser Zu-
sammenhang in das Bewusstsein. Obwohl sich die Voraussagen der Studie von 1972
als zeitlich zu pessimistisch erwiesen, ist die
Die Autoren, das Ehepaar Meadows, formu lierten Gesamtaussage heute wissenschaftlich weitge-
die These von der Endlichkeit natürlicher Ressour- he nd anerka nnt. Es ist unbestritten, dass ein auf
cen. Während man in der marktwirtschaftlichen ungezügeltem Ressourcenverbrauch basierendes
Ökonomie von dem Postulat eines ständigen, im und die Umwelt zusätzlich belastendes Wirt-
besten Fall stetigen Wachstums ausgeht - was in schaftswachstum auf Dauer nicht tragbar ist.
der klassischen Theorie mit einem kontinuierli-
chen Zuwachs des Wohlstands gleichgesetzt wird Wirtschaftliches Handeln, das mehr als die vor-
-, weisen ökologische Systeme Grenzen auf. Das handenen bzw. regenerierbaren Gesamtressour-
Ehepaar Meadows stellte in seiner Untersuchung cen verbraucht u nd mehr Abfälle als die natürlich
ein exponentielles Wachstum sowohl des wirt- abbaubaren hinterlässt, steht im Widerspruch zur
schaftlichen Systems als auch der Bevölkerung Bewahrung der Umwelt. Insofern steht auch das
seit Beginn der Industrialisierung fest. Aus der politische Ziel des Wirtschaftswachstums (zumin-
Begrenztheit des ökologischen Systems Erde erge- dest unter den beschriebenen Bedingungen) in
ben sich aber für das ökonomische System Gren- einem Zielkonflikt zum politischen Ziel des Um-
zen des Wachstums, konkret Grenzen für die Nut- weltschutzes. Allgemein gesproch en kö nnen
(wirtschafts-)politische Ziele komplementär, neu- Wie viel Erde bräuchten wir, wenn alle Leute der Welt
tral oder in Konflikt zueinander stehen: so leben würden wie die Bewohner von ...
illl Australien
U.S.A. 5.0
4.1 •••••
··••~
tät zwischen „Wirtschaftswachstum" und „ho-
hem Beschäftigungsstand" aus.
Russland
3.5
3.3 ···-
···-
zur Realisierung eines Ziels ein a nderes weder
positiv noch negativ beeinflussen.
U.K.
2.9
2.9
•••
••••
••
hindert. Solche Gegensätze werden häufig für '!"'41~
•••
die Zielbeziehungen „Wirtschaftswachstum -
Umweltschutz" und „hoher Beschäftigungs- 1 1 Frankreich 2.8
•••
stand - Preisniveaustabilität" behauptet.
2.3 ··-
··-
••~
entwickeln oder global ökonomische Ansätze zu
finden, umweltschädliches Wirtschaftswachstum
verzichtbar zu machen (>Kap. 2.8.3).
III China 2.2
0.7 ••
•·-
•
Mit dem ökologischen Fußabdruck steht seit 1994
ein leicht kommunizierbares und transparentes gesamte
1.6
Instrument zur Verfügung, um die ökologischen Welt
Auswirkungen des Konsums von Einzelpersonen Global Footprint Network, www.f ootprintnetwork.org, 2018
bleiben, wären für den derzeitigen weltweiten Ge- Der ökologische Rucksack -
samtkonsum gesehen 1,6 Erden notwendig. An- ein Beispiel
ders ausgedrückt: Rechnerisch wa ren bereits a m
Mirja wacht auf und legt ihre 12,5 Kilogramm
2. Mai 2018 in Deutschland die Ressourcen für das schwere Armbanduhr um ihr Gelenk, sie schlüpft in
Jahr 2018 aufgebraucht; bezogen auf die Welt ihre 35 Kilogramm schwere Jeans, macht sich Kat-
wird dies im August 2018 sein. (sog. ,,Welter- fee in ihrer 52 Kilogramm schweren Maschine und
schöpfungstag"). trinkt aus ihrem 1,5 Ki logramm schweren Becher die
gewohnte Erfrischung. Nachdem sie ihre 3,5 Kilo-
Während der Vorteil des Konzepts die gute Visua- gramm schweren Joggingtreter angezogen hat, ra-
delt sie mit ihrem 400 Kilogramm schweren Fahrrad
lisierung und Kommunizierbarkeit ist, weist der
zum Büro. Dort angekommen, schaltet sie ihren 12
ökologische Fußabdruck j edoch auch Schwächen Tonnen schweren Computer ein und führt ihr erstes
a uf. Die Redukt ion auf eine Ken nzahl birgt die Gespräch mit ihrem 70 Kilogramm schweren Smart-
Gefahr, dass soziale Aspekte bzw. auch ande re re- phone.
levante Umweltgrößen nicht betrachtet werden. Nach: Friedrich Schmidt-8/eek, Grüne Lügen. Nichts für
die Umwelt, alles fürs Geschäft - wie Politik und
Dazu gehören in diesem Fall z.B. die Arte nvielfalt
Wirtschaft die Welt zugrunde richten, 2014, S. 55
oder a uch der Wasserverbrauch.
Aufgaben
2. Erklären Sie die ökologische Problematik des Wirtschaftswachstums mittels geeigneter Modellvorstellungen.
4. Prüfen Sie, welches Konzept zur Darstellung der ökologischen Hauptproblematiken am sinnvollsten ist.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
.8
C
100-+-- - - - - - - - - - -_.__ _ _ -o 2,5-+-- - - - - - - - - - -- + - - ----,
C
<11
~
(/)
Figures illustrate trends and how the size and scale of TRANSPORATION
events have changed. Source: IGBP, 2016. 1400--r-- - - - - - - - - - ---.-- - -
1200-+-- - - - - - - - - - - - - - -
World Wide Fund Jor Nature (WWF) international (Hrsg.):
Livi11g Planet Report 2 016. 2016, S. 59 gJlOOO-+-- - - - - - - - - - - _ . __ __
~ 800-+-- - - - - - - - - - -_.__ __
..c
(l)
Aufgaben > 600-+-- - - - - - - - - - -_,__ _
C
~ 400-+------------_._-
1 . Beschreiben Sie die Trends der menschlichen
Einflüsse auf die ökologische Entwicklung seit
'E 200-+-- - - - - - - - - - --+--
dem Jahr 1900.
1750 1800 1850 1900 1950 2000
2. Arbeiten Sie die Wirkungszusammenhänge
zwischen den einzelnen Einflüssen heraus.
Key
3. Der Anstieg der Weltbevölkerung ist Ursache
der schwerwiegenden ökologischen Rest of the world BRICS countries
Probleme im 21. Jahrhundert. Bewerten Sie
- OECD countries - World
diese Aussage.
2. 8. 2 Externe Effekte und deren „1 nternalisierung"
Leitfragen Was versteht m an Welche Bedeutung Wie können externe Kosten Ist die Schaffung von
unter freien Gütern haben externe Kosten zu Lasten des Verursachers Gemeingütern die Lösung
und externen bzw. hat externer gehen (Internalisierung)? globaler Umweltprobleme?
Effekten? Nutzen?
In der Ökonomik unterscheidet man verschiedene 3. Meritorische Güter (auch : ,,erkorene" öffentli-
Arten von Gütern. Freie bzw. öffentliche Güte r che Güter) könnten eigentlich a uf Märkten ge-
haben die Eigenschaften, dass niema nd grund- handelt werden, aber sie werde n polit isch bzw.
sätzlich von deren Konsum ausgeschlossen wer- sozial für so bedeutsa m gehalten, dass sie staat-
den kann und dass das Gut (zunächst) ohne Nach- lich für alle Bürger verfügbar gemacht werden
teil für alle anderen konsumiert werden kann. Ein (z.B. Kranken-, Arbeitslosenversicherung,
typisches Beispiel für ein ö ffentliches Gut sind Schulbildung).
Deiche. Alle profitieren vo m Flutschutz (kein Aus-
schluss vom Ko nsum) und a lle Persone n kö nnen 4. Bei Allmendegütern handelt es sich um Güter,
den Deich in gleicher Weise nutzen (keine Kon- von deren Konsum eben falls niemand ausge-
sumrivalität). Allerdings führe n diese Eigenschaf- schlossen werden kann, bei de ne n wegen be-
ten von öffentlichen Güter nach der Annahme grenzter Ressourcen aber Rivalität im Konsum
traditioneller Wirtscha ftswissenschaften a uch besteht (z.B. gemeinsam genutztes Weideland,
dazu, dass Privatpersonen keine Deiche bauen Fischgründe, saubere Luft, (nicht verstopfte)
würden, da sie sie nicht als privat e Güter ökono- Innenstädte). Auch hier gibt es also ein polit i-
misch nutze n könnten. sches Regulierungsbedürfnis.
Ein externer Nutzen liegt vor, wenn die ökono- schaftlichen Nachweisaufwand sowie dadurch,
mische Betätigung positive (z.B. ökologische) Fol- dass bei strengerer Umweltgesetzgebung in einem
gen hat, fü r die der Verursacher auf dem Markt Land d iesem gegenüber andere wirtschaftliche
keine n Preis erzielen kann. Das klassische Beispiel Nachteile entstehen könnten.
sind Imker, deren Bienen nicht nur Honig eintra-
gen (für den ein Marktpreis zu erzielen ist), son- Drittens könnten - wie schon von Pigou vorge-
dern die auch die Pflanzen in der Umgebung be- schlagen - Öko- Steuern beschlossen werden. So-
stäuben und damit für deren Fortbestand sorgen mit wird nach dem Verursacherprinzip der Um-
(für diese Leistung erhält der Imker nichts - ex- weltverbrauch (teilweise) in den Endpreis des
terner Nutzen). Produkts eingepreist, der Konsu m dadurch verteu-
ert und in der Folge wahrscheinlich verringert,
Externe Kosten entstehen dan n, wenn wirtschaft- was Schonungseffekte für die Umwelt zur Folge
liches Handeln zu Lasten vo n Dritten (oder auch haben sollte. Ein wesentlicher Nachteil besteht
der Umwelt) geht, ohne dass für d iese „Schädi- allerdings darin, dass die Einnahmen aus der Öko-
gung" ein Preis entrichtet werden musste. Letzt- Steuer in den Gesamthaushalt fließen und nicht
lich muss für d ie Schäden nicht deren Verursacher, zwingend für Umweltschutz ausgegeben werden.
sondern die Allgemeinheit aufkommen. Sowohl Außerdem wird die Höhe der Steuer politisch be-
Produzenten können externe Kosten verursachen stimmt und amortisiert damit auch nicht unbe-
(z.B. Luftverschmutzung durch Fabrikanlagen) als
auch Konsumenten (z.B. Lärm durch lautes Mu-
sikhören). Im Fall der Umweltbelastungen wird Reduktion von Treibhausgasen
deutlich (, Kap. 2.8.1 ), dass es Aufgabe der Polit ik als soziales Dilemma
sein muss, externe Kosten so weit wie möglich zu
senken, um die Folgen unter Kon trolle halten zu In einem [ ...) basalen theoret ischen Zugriff kann man das Problem
des Klimawandels als „Soziales Dilemma" interpretieren. Von ei-
können.
nem Sozialen Dilemma wird sozialwissenschaftlich dann gespro-
chen, wenn ein Widerspruch vorliegt zwischen der gesellschaftli-
chen Rationalität einerseits, d. h. dem, was für die die Gesellschaft,
Wie können externe Kosten verringert werden? für die Welt als Ganzes vorteilhaft wäre, und der individuellen
Rationalität andererseits, d. h. dem, was aus Sicht des einzelnen
Grundsätzlich stehen vier Typen politischer Inst- Arbeitnehmers, Verbrauchers und Unternehmen im individuellen
rumente zur Verfügung, mit denen externe Kosten wirtschaftlichen Alltagshandeln einen größeren Eigennutzen ver-
spricht. Während die Begrenzung der globalen Erwärmung auf +2°
verringert werden können:
C für das globale Kollektiv ein rationales Ziel darstellt, wird (in einer
Welt ohne klimapolitische Gesetze) vom einzelnen Akteur eine
Erstens kön nen Appelle an die Wirtschaftssubjek- deutliche Reduktion seine bisherigen C02 -Emissionen erstens für
te genutzt werden, umweltschonender zu produ- sein individuelles ökonomisches Wohlergehen in vielen Fällen
zieren und zu ko nsumieren. Der Vorteil solcher nicht als rational, sondern als kontraproduktiv empfunden, da dies
Appelle liegt darin, die Handlu ngsfreiheit nicht meist (nicht: immer) hohe individuelle Kosten (Verzicht , Geld, zeit-
einzuschränken. Allerdings sind Appelle zumeist liehe Inflexibilität u.ä.) verursacht. Zweitens ist der Klimaschutz ein
öffent liches Gut, sodass derjenige Akteur, der kostenintensive
kaum wirksam, da sich zumindest ein erheblicher
eigene Anstrengungen zum Klimaschutz leistet, andere Akteure,
Teil der Wirtschaftssubjekte nicht daran gebunden die keinen Beitrag zum Klimaschutz leisten (sog. Trittbrettfahrer),
fühlt und sich so einen Preisvorteil gegenüber der von dem d amit verbundenen Nutzen nicht ausschließen kann.
Konkurrenz mit auferlegter Selbstbeschränku ng Drittens ist der positive Effekt individuellen klimafreundlichen Han-
verschafft (sog. Freerider- oder Trittbrettfah rer- delns auf das globale Klima ohnehin extrem gering, sodass fak-
Problematik; vgl. Kap. 2.8.5). tisch kein Nutzen generiert wird.
Deshalb sind viele Bürger in den Industrieländern kaum bereit, die
individuellen Nachteile, die ihnen als Berufswähler, Arbeitnehmer
Zweitens kön nen ordnu ngsrech tliche Maßnah-
und Verbraucher z.B. durch einen Verzicht auf besonders klima-
men wie Ve rbote oder Grenzwerte beschlossen schädliche Flugreisen entstehen könnten, hinzunehmen. Gegen
werden. Der Vorteil dieser Instru mente ist ihre solche Anreizstrukturen ist offenbar auch ein ökologisches Be-
uneingeschränkte Bindungswirkung, denn Ver- wusstsein weitgehend machtlos[.)
stöße werden mit (empfindlichen) Strafen geahn- Thorsten Hippe, Herausforderung Klimaschutzpolitik. Probleme, Lösungs-
det. Nachteile entstehen durch den vergleichswei- strategien und Kontroversen, 2016, S. 47
se hohen staatlichen Kontroll- bzw. privatwirt-
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
di ngt die (ohnehi n schwierig und exakt zu ermit- bekannteste der EU-Emissionshandel ist. Die re-
telnden) Kosten fü r die Umweltzerstörung. gulierende Stelle (hier die Organe der Europäi-
schen Union) legen einen verschärfenden Gren-
V iertens ist es staatlicherseits möglich, durch zwert fest und verteilen (oder versteigern)
Subventionen oder andere finanzielle Förder- Versch mutzungsrechte an Staaten bzw. einzelne
maßnahmen externe Kosten zu senken. Beispiels- Unternehmen. Alle Staaten bzw. Firmen, die ihr
weise könnten durch staatliche Finanzzuschüsse Verschmutzungskontingent unterschreiten, kön-
(direkte Subventionen), Steuererleichterungen nen ih re Rechte auf dem freien (Emissions-)Markt
oder zinsvergünstigte Kredite (indirekte Subven- an Staaten oder Unternehmen verkau fen, die
tionen) der Ein- oder Neubau umweltschonender meh r als die zugeteilten Mengen benötigen (>Kap.
Produktionsmittel oder Umweltschutzmaß nah- 2.8.6).
men an privaten Bauten (Wärmedämmung etc.)
gefördert werden. So vergibt d ie Kreditanstalt für Der Vorteil des Verschmutzungsrechtehandels
Wiedera ufbau (Ktw) beispielsweise Kredite an liegt in der Wirku ng der Preisfunktion en, nämlich
Personen, die Eigen heime erwerben oder bauen, der In Formations- und vor allem der Disziplinie-
zu günstigeren Konditionen im Vergleich zu den rungsfunktion des Preises (>Kap. 2. 1.2).Allerdings
marktübl ichen Zinsen, wenn bestimmte Umwelt- ist der Erfolg des Emissionsrechtehandels davo n
standards eingehalten werden. abh ängig, künstliche Knappheit politisch zu er-
zeugen. Wenn die Menge der Zertifikate die Men-
ge der Emissionen nicht (deutlich) u nterschreitet,
Können externe Kosten (auch) über das kommt der Handel nicht in Gang und es entsteht
Marktprinzip verringert werden? kein wirtschaftlicher Anreiz, Verschmutzungen zu
reduzieren. Außerdem können sich - ähnlich wie
Externe Kosten kö nne n auch über marktförmige bei den ordnungsrechtlichen Maßnahmen - im
Instrumente verringert werden, von denen das internationalen Vergleich Wettbewerbsnachteile
Nach: Thomas lnt-Veen u. a., Strukturwissen Wirtschafts- und Sozialkunde, Troisdorf 2009, S. 124
2 .8 Ökonomie und Ökologie f
ergeben, wenn nur ein Staat bzw. eine Region den mit freie n Gütern, sondern sie bestehen eher in der
Emissionsha ndel einführt. kollektiven Regelbildung und Regeleinhaltu ng
zur Nutzung freier Güter, um deren Übernutzung
zu verhindern. Dabei sind Commons vo n der Idee
Etablierung weltweiter „Commons" zum getragen, dass das genutzte und regelgeleitet ver-
Schutz der Umwelt waltete Gut allen gehört und die Erträge allen in
gleicher Weise zust ehen.
Im Jahr 1968 veröffentlichte der Ökologe Garrett
Hard in ( 19 I 5-2003) einen sehr einflussreichen
Artikel mit dem Titel „The Tragedy of Commons". Wie kann der Verbrauch von freien Gütern
Darin behauptete er auf den ersten Blick nachvoll- geregelt werden?
ziehbar, dass bei der Nutzung von Gütern, die sich
im Besitz der Gemeinschaft befinden und gemein- Im 21. Jahrhundert wurden Ansätze entwickelt,
sam genutzt werden (Allmenden), sich automa- das dargestellte Commons-Verständnis über loka-
tisch eine Übernutzung einstelle: Nach Hardins le bzw. regiona le Räume hinaus auszuweiten. Da-
Analyse würde j eder einzelne Nutzer eines Ge- bei entstand das Problem, dass sich die Nutzer
meinguts (z.B. einer gemeinsamen Weide) seinen eines Gemeinguts nicht persönlich kannten bzw.
individuellen Nutzen zu maximieren versuchen. in gänzlich unterschiedlichen kulturellen und so-
Würde a uch nur ein Nutzer mit d er egoistischen zialen Zusammenhängen sozialisiert waren.
Nutzenmaximierung beginnen, würden alle ande-
ren gezwungenermaßen nachzie hen, um keine Dennoch versprechen sich die Vertreter der Per-
Nachteile zu erleiden. Die Kosten, die durch die spektive von Ostrom, dass durch die Idee des Ge-
,,Übernutzungsspira le" entstünden, wü rden sozia- meinbesitzes a n natürlichen Ressourcen globale
lisiert, müssten also vo n der gesamten Gemein- Ressourcenschonung möglich werden würde. So
schaft getragen werden. könne man beispielsweise eine Atmosphäre-Treu-
handgesellschaft (,,Sky-Trust") gründen, die den
Die Politikwissenschaftlerin und Wirtschaftsn- Gemein besitz der Weltbevölkerung an Verschmut-
obelpreisträgerin von 2009 Elinor Ostrom (1933- zungsrechte n verwaltet. Firmen müssten in Ver-
2012) widerlegte durch ihre Forschungen die lan- steigerungen Verschmutzungsrechte von der
ge Zeit anerkannte und teilweise heute noch Weltbürgergemeinschaft erwerben und die Ein-
vertretene These Garrett Hardins. Mit ihrer For- nahmen würden entweder komplett als Jahresdi-
schergruppe untersuchte sie jahrzehntelangen Ge- vidende zu gleichen Teilen an jeden Menschen
mein besitz in unterschiedlichen Kontinenten - ausgeschüttet oder ein Teil der Erlöse wü rde in die
wie z.B. Wassernutzungsrechte an Flüssen in Entwicklung kJimaschonender Technologien in-
trockenen Regionen. Dabei fand sie heraus, dass vestiert. Die höheren Produktionskosten würden
die lokalen Nutzergruppen Regeln entwickelten die Firmen wahrscheinlich auf ihre Kunden umle-
und für deren Einhaltung sorgten, sodass Über- gen, indem sie die Preise für ihre Produkte ent-
nutzung zum Schaden aller eben gerade nicht sprechend erhöhen. Allerdings würden nur dieje-
stattfand. Diese Regeln waren meist informell, nigen Menschen (mehr als) ihre Öko-Dividende
aber umso wirksamer. Commons, so kann man wieder ausgeben müssen, die einen energieinten-
zusammenfassen, s ind also nicht zu verwechseln siven Lebens- bzw. Konsumstil pflegen.
Aufgaben
1. Erklären Sie externe Kosten (externer Nutzen, externe Kosten) an eigenen Beispielen (aus Ihrem Lebensum-
feld). Verwenden Sie dazu auch den Begriff „freie Güter".
2. Beurteilen Sie, welche umweltpolitischen Instrumente den größten Erfolg bei weltweiten Problemen wie dem
anthropogenen Klimawandel versprechen.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Umweltpolitiker [sind] zumeist ratlos, wenn es um das Individuum [bzw. dessen Ver-
halten] geht. Und lassen dabei viel Raum für Fantasie und visionäre Konzepte. Der
bisher radikalste Plan kommt aus Großbritannien [.. .]: Angefangen bei der Queen,
würde jeder Brite ein einheitliches Kohlenstoffbudget bekommen, das auf einer Art
s Kreditkarte gespeichert wird. Beim Tanken, Heizen oder Buchen eines Flugs müssten
die Kunden dann nicht nur mit Geld bezahlen, sondern auch mit Kohlenstoffpunkten,
sogenannten Carbon Points.
Wer viel fliegt oder fährt, wäre dann recht schnell in den Kohlenstoffmiesen - und
müsste sich bei einer Kohlenstoff-Zentralbank zusätzliche Carbon Points kaufen.
10 Sparsame Familien, die kein Auto fahren, ihren Urlaub in Cornwall statt in der Karibik
verbringen oder sich eine Solaranlage aufs Dach setzen, könnten überschüssige Punk-
te an die Bank verkaufen und damit echtes Geld verdienen.
Das Revolutionäre an der Idee [des ehemaligen britischen Umweltministers] Miliband:
Nicht nur die Großverschmutzer aus der Industrie nehmen am Emissionshandel teil,
1s sondern jeder einzelne Bürger. Dafür musste Miliband jede Menge Kritik einstecken:
Verlierer seien die armen Leute, die sich kein sparsames Auto leisten könnten; oder
Rentner, die im Winter ihre alten Heizungen abstellen müssten, um Geld zu sparen,
hieß es in wütenden Briefen an sein Ministerium. [... ]
[Jörg] Haas [von der Heinrich-Böll-Stiftung] hat [... ] zusammen mit dem US-amerika-
20 nischen Ökounternehmer Peter Barnes ein anderes Modell entwickelt [... ]: den Sky-
Trust. Dabei geht Haas vom Prinzip der öffentlichen Güter aus: ,,Die Atmosphäre gehört
allen Menschen und nicht nur ein paar Konzernen." Ein unabhängiger Sky-Trust, eine
Art „Himmels-Treuhand" würde die COrZertifikate verwalten und an die Industrie ver-
steigern. Bezahlen müsste also zunächst jedes Unternehmen, das Kohlenstoff[dioxid]
2s in Umlauf bringt. Wenn die Unternehmen die Mehrkosten dann auf die Preise umlegen,
stelle mehr Geld zusätzlich bezahlen, als er als Dividende zurückbekommt. Wer Fahr-
rad fährt, erhält dagegen mehr zurück, als er einzahlt.
Für das Sky-Trust-Modell müsste das bestehende europäische Emissionshandelssys-
tem weiterentwickelt werden. Denn bisher verschenken die Regierungen die Ver-
3s schmutzungsrechte noch zum größten Teil an die Industrie. Während die mit dem
Verkauf der Gratiszertifikate große Gewinne einfahren kann, lässt das alte System die
Verbraucher mit den höheren Preisen allein.
Nikolai Fichtner, Die COi-Dividende für den Verbraucher, in: taz, 5.5.2 007, S. 3
Roadmap - das hört sich nach Friedensplan an, und vielleicht geht es darum auch.
Um einen friedlicheren, das heißt nicht zerstörerischen Umgang mit der Natur. Ob die
aktuellen Formen internationaler Klimapolitik dazu beitragen, ist fraglich. [ ... ]
Die Lage ist in der Tat ernst. Der Weltklimarat spricht von „Kipppunkten", an denen in
s bestimmten Regionen der Welt das Klima umkippen, sich also dramatisch verändern
1 kann. Es gehört heute zum Allgemeinwissen, dass kleine Inselstaaten und Küstenge-
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
werden und verbindliche Politiken verabreden. Allerdings ist die internationale Umwelt-
diplomatie nicht nur unzureichend, sondern sie droht uns [... ] seit der UNO-Konferenz
zu Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro [im Jahr 1992] auf die falsche Fährte zu
locken.
15 „Führungsqualität" sollen die Regierungen beweisen. Das geschieht mitunter bei der
schenken. Die müsste nämlich einen radikalen Umbau des Verkehrssystems - weg
von der Auto-Mobilität - akzeptieren und auch selbst praktizieren. Der Fleischkonsum
und jener von Elektrogeräten müsste deutlich sinken. Die immer absurder werdende
Konkurrenz vieler Unternehmen um den Zugang zu Ressourcen, um noch billiger- und
25 umweltschädlicher - zu produzieren gehört verändert. All das ist bekannt, wird in der
Öffentlichkeit seit einem Jahr intensiv diskutiert und verschwindet gleichzeitig hinter
dem diplomatischen Jonglieren von Klimareduktionszielen.
Die Krux ist: Die Regierungen auf der lokalen, nationalen und europäischen Ebene
müssten sich mit mächtigen ökonomischen Interessen und mit Wählern anlegen: Mit
ao der Erdölindustrie, den Energieerzeugern, die neue Kohlekraftwerke bauen wollen, den
Automobilherstellern und Transportunternehmen, der Lebensmittelindustrie. Aber
eben auch mit den Verbrauchern, die ihren Lebensstil nicht ändern wollen. Der [ehe-
malige] deutsche Umweltminister Gabriel verpackt diese Tatsache geschickt: ,,Die
Leute wollen ihren Wohlstand halten." Wer kann dagegen etwas sagen? Hinter solche
35 einer Aussage verschwindet aber die Frage, wie der Wohlstand produziert wird, wer
Ulrich Brand ist Professor fur Internationale Politik an der Universität Wien.
Ulrich Brand, Der Mythos 110m globalen Umweltmanagement, in: Der Standard, 17.12.2007, S. 23
Aufgaben
1 . Geben Sie die von Fichtner beschriebenen Ideen zur C02 -Emissionsreduktion wieder.
2. Erläutern Sie das Problem des globalen Umweltmanagements nach Ulrich Brand.
3. Erörtern Sie die Idee eines weltweiten Sky-Trusts vor dem Hintergrund der (unterschied-
lichen) Interessen von Unternehmen, Konsumenten und Umweltschutzorganisationen.
Führen Sie dafür eine Konfliktanalyse durch (>Methodenkompetenz).
2. 8. 3 Ist ökologisches Wirtschaften (zukünftig) möglich?
Leitfragen Wann ist Handeln Ist es möglich, durch „Grünes Ist Schrumpfung und Re-
ökologisch, ökonomisch Wachstum" Ökonomie und Ökologie Regionalisierung im Westen der
und sozial nachhaltig? miteinander zu vereinbaren? richtige Weg zu einer ökologi-
schen Ökonomie?
Aus den vorherigen Ausführungen geht hervor, !er Ansatz. Die beiden moderaten Varianten lassen
dass die bisherige Vorstellung von Wirtschafts- sich mit den Begriffen Effizienz und Konsistenz
wachstum an ihre ökologischen Grenzen stößt. beschreiben, der radikale Ansatz setzt dem hinge-
Gerade in den westlichen Industriestaaten und in gen a uf Suffizienz.
den BRIC-Staat en (Brasilien, Russland, Indien,
China) stehen Wachstum und Umweltbewahrung
in einem Spannungsverhältnis zueinander, wenn Was versteht man unter Nachhaltigkeit?
nicht sogar im Widerspruch. Es werden sowohl
mehr Ressourcen verbraucht, als zur Verfügung Der Nachhaltigkeitsbegriff stamm t bereits aus
stehen, als auch mehr Abfall erzeugt, als die Natur dem späten 17. J ahrhundert, hat aber in den ver-
zu kompensieren im Stande ist. gangenen g ut 30 Jahren erstens eine große Po-
pularität und zweitens eine deut liche terminolo-
Kritiker der Fixierung auf ökonomisches Wachs- gische Erweiterung erfahren:
tum sprechen sich alle für Alternativen a us, die
eng mit dem Beg riff der Nachhaltigkeit verbunden • Seine ursprüngliche Verwendu ng prägte Johann
sind. Aus der Kritik heraus e ntwickelten sich drei Carl von Carlowitz ( 1645-171 4), der später als
grundlegende Reformansätze: zwei davon eher Begründer der Forstwissenschaft galt. Er formu-
moderater Natur und ein vergleichsweise radika- lierte die Forderung, dass einem Ökosystem (hier
Ökologische Ziele
(Erhaltung der Naturfunktionen,
Kreislaufgerechtigkei t)
Ökonomische Ziele
(Sicherung angemessener
Bedürfnisbefriedigung,
Beschäftigung)
! Soziale Ziele
(intra- und intergenerative
Gerechtigkeit)
Nach : Bernd Siebenhi.iner, Homo sustinens. Auf dem Weg zu einem Menschenbild der Nachhaltigkeit, 2001, S. 78
2.8 Ökonomie und Ökologie f
dem Wald) nur so viel entnommen werden soll- • Die Verwobenheit der Dime nsionen Ökonomie,
te, wie in einer gewissen Zeit regeneriert werden Ökologie und Soziales macht den Kern heutiger
könne. Nachhaltigkeitsvorstellungen aus. Im Rahmen
wirtsc haftlicher Entscheidungen wird dabei das
• Eine Erweiterung erhielt der Nachhaltigkeitsbe- Konzept der Nachhaltigkeit oft m it der Aussage
griff spätestens 1987 durch den sog. Brundt- zum Ausdruck gebracht, dass wirtschaftliche
land-Bericht der Vereinten Nationen unter der Gewinne bereits unter Berücksichtigung ökolo-
Federführung der ehemaligen norwegischen gischer und sozialer Belange erzielt werden sol-
Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland. len. Dementsprechend zielt Nachhalt igkeit dar-
Nachhaltige Entwicklung wurde hier definiert auf ab, Umweltschäden und soziale Verwer-
als „eine Entwicklung, die gewährt, dass künf- fungen nicht erst im Nachhinein zu kompensie-
tige Generationen nicht schlechter gestellt sind, re n.
ihre Bedürfnisse zu befriedigen, als gegenwärtig
lebende". Da bei gilt diese Aussage fü r die ge-
samte Weltbevölkerung (räumliche Dimension Modelle von Nachhaltigkeit
mit der Konsequenz der Umverteilung des
Wohlstands von Nord nach Süd) und ist über- Das aktuelle Nachhaltigkeitsverständnis lässt sich
dies in die Zukunft gerichtet (zeitliche Dimensi- anhand von drei schematischen Darstellungen il-
on der „Generationengerechtigkeit"). Weiter lustrieren: Neben dem „Drei-Säulen-Modell" in
heißt es : ,,Im Wesentlichen ist nachhaltige Ent- welchem das Dach „Nachhaltigkeit" von den Säu-
wicklung ein Wandlungsprozess, in dem die len Ökologie, Ökonomie und Soziales getragen
Nutzung vo n Ressourcen, das Ziel von Investi- wird, finden zudem auch das Dreiklang-Modell
tionen, die Ric htung technologischer Entw ick- und das Nachhaltigkeitsdreieck Anwendung.
lung und institutioneller Wandel miteinander
harmonieren und das derzeitige und künftige Kritiker des aktuellen Verständnisses von Nach-
Potential vergrößern, menschliche Bedürfnisse haltigkeit bemängeln jedoch die weite Dehnung
und Wünsche zu erfüllen." Durch diese Aussage und damit die drohende Unschärfe des Begriffs
wird die Ganzheitlichkeit der damals neuartigen sowie die fehlende bzw. undeutliche Gewichtung
Nachhaltigkeitsvorstellung deutlich. der drei in den Modellen genannten Begriffsdi-
0)
E
:(0
..c ui
C
~ (l)
0) Ökonomie .D Ökologie
....
:(0 (l)
t
(l)
'fü
.D
::J
Ökologie soziales
Ökonomie soziales
gerecht
Dreiklangmodell Nachhaltigkeitsdreieck
Nach : Iris Pufe, Was ist Nachhaltigkeir? Dimensionen und Chancen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64, H. 31-32, 2 01 4, 5. 18
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
me nsionen. Sie halten die ökologische Dimension dabei Produkte entstehe n und genutzt werden, die
und damit die Erhaltung der natürlichen Lebens- ,,ressourcenleicht" und „verbrauchsarm" sind.
grundlagen für die Basis.
Durch diesen Ansatz kommt es zu einem zumin-
dest partiellen ökonomischen Paradigmenwech-
1. Ressourceneffizienz und -konsistenz - Ver- sel. So geht es nicht mehr primär um die Effizi-
einbarkeit von Wachstum und Umweltschutz? enzsteigerung im Bereich der Arbeit (Erhöhung
der Arbeitsproduktivität durch technologischen
Ressourceneffizientes Wirtschaften meint, den Fortschritt), sondern um Ressourcen effizienz. Zu-
Verbrauch natürlicher Ressourcen und (v. a. fos- dem soll der Konsum vo n Standardprodukten ge-
siler) Energieträger sowie de n Schadstoffausstoß rade nicht durch deren Verb rauch künstlich ange-
so weit wie möglich zu vermindern. Wie soll das kurbelt werden, sondern die (ökologischen und
möglich sein, wenn doch n ach landläufiger An- wirtschaftlichen) Folgekosten der Produkte solle n
nahme es einen proportionalen Zusammenhang möglichst niedrig sein. Beispiele dafür sind ersten
g ibt zwische n wirtschaftlicher Tätigkeit und Res- die gegenüber herkömmlichen Leuchtmitteln sehr
sourceneinsatz? Es geht den Vertretern dieses An- verbrauchsarmen und langlebigeren Energiespar-
satzes v or allem darum, innovative Technologie n lampen oder zweitens Passivhäuser mit einer aus-
zu entwickeln, den Ressourcenaufwand und den geglichenen Klimabilanz bezogen auf Heizwärme
Schadstoffausstoß bei der Produktion und beim und Warmwasser.
Konsum so weit wie möglich zu senken. Es solle n
Hinsichtlich der Konsistenz ko mmen noch weitere
Überlegungen hinzu. Hierbei geht es nicht nur um
das Einsparen von Ressourcen, sondern um deren
naturverträgliche Nutzung und Erzeugung. Aus
dem Prinzip, dass industrielle Stoffwechselprozesse
natürliche nicht beeinträchtigen dürfen, ergeben
sich Entscheidungen für Produkt ionsverfahren wie
ökologische Landwirtschaft, die Energiegewin-
nung a us regenerativen Quellen a u f der einen
Seite u nd die neutrale Ökobilanz von Abfallpro-
dukten durch deren biologische Abbaubarkeit
oder Recycl ing auf der anderen Seite.
Weiterentwicklung
Effizienz,
Wirtschaft expandiert durch (vereinzelt bereits
Green Growth Konsistenz, befürwortend
ökologische Ausrichtung umgesetzt)
Innovation
Aufgaben
1 . Fassen Sie die Entwicklung des Begriffes Nachhaltigkeit zusammen.
2. Erläutern Sie das jeweilige Verständnis von Nachhaltigkeit der Vertreter von „Green Growth", von „Degrowth"
(Postwachstum) sowie von „Dematerialisierung".
3. Diskutieren Sie die Forderung, ,,Dematerialiserung" zum Grundsatz der deutschen Wirtschaftspolitik zu ma-
chen.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
3. Die soziale Logik des Wachstumsimperativs, wonach Hunger, Armut oder Vertei-
lungsungerechtigkeit durch ökonomische Expansion zu beseitigen sei, ist hochgra-
dig ambivalent. Das Eintreten kontraproduktiver sozialer Effekte des wirtschaftli-
20 chen Wachstums ist nicht minder wahrscheinlich.
Umsetzung
Der Weg zur Postwachstumsökonomie fußt auf fünf Entwicklungsschritten, die sich
ao auf einen Wandel von Lebensstilen, Versorgungsmustern, Produktionsweisen und auf
institutionelle Innovationen im Bereich des Umgangs mit Geld und Boden beziehen:
2. Balance zwischen Selbst- und Fremdversorgung. Wer von monetär basierter Fremd-
40 versorgung abhängig ist, verliert seine Daseingrundlage, wenn die Geld speiende
Wachstumsmaschine ins Stocken gerät. Sozial stabil sind nur Versorgungsstruktu-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
ren mit geringerer Distanz zwischen Verbrauch und Produktion. Dazu zählt die Re-
aktivierung von Kompetenzen, manuell und kraft eigener Fertigkeiten Bedürfnisse
jenseits kommerzieller Märkte zu befriedigen. Durch eine Umverteilung der Er-
45 werbsarbeit ließen sich Selbst- und Fremdversorgung so kombinieren, dass die
Geld- und Wachstumsabhängigkeit sinkt. Eigenarbeit, (urbane) Subsistenz, Com-
munity-Gärten, Tauschringe, Netzwerke der Nachbarschaftshilfe, Verschenkmärkte,
Einrichtungen zur Gemeinschaftsnutzung von Geräten/Werkzeugen etc. würde zu
einer graduellen De-Globalisierung verhelfen.
Niko Paech ist Volkswirt mit den Schwerpunkten Umweltökonomie und Nachhaltigkeitsforschung.
Community S upported Agriculture = .,Solidarische Landwirtschaft", bei der eine Gruppe von Verbra uchern
mit einem lokalen Partner-Landwirt kooperiert (z. B. exklusiv dessen Produkte abnimmt)
Regionalwährung= Wäh rung, die nur in einer (kleinen) Region als zwischen Verbrauchern und Anbietern
vereinbartes Zahlungsmittel dient
Herman Daly wirft die Frage über die optimale physische Größe der Wirtschaft auf.
Daly und andere Advokaten stellen fest, dass das ökonomische Subsystem, das in
ökologische Systeme eingebettet ist, mitt lerweile mehr als ausgewachsen ist. Wirt-
schaftswachstum sei bereits unwirtschaftlich geworden: es schafft in Summe keinen
s Wohlstand mehr, sondern verringert den Kapitalstock, auf dem unser Wohlstand auf-
gebaut ist. Auf dieser Grundlage kritisiert Daly die Pro-Wachstums-Orthodoxie und
schlägt eine alternative Vision vor: die Steady State Economy (SSE).
Die SSE kennzeichnet sich durch einen konstanten physischen Kapitalstock und eine
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
konstante Bevölkerung, die beide auf einem optimalen Niveau aufrechterhalten wer-
10 den sollen. Die SSE ist somit ein physisches Konzept, mit dem Ziel, einen wünschens-
werten physischen Kapitalstock mit einem Minimum an Materialdurchsatz aufrecht zu
erhalten. Eine SSE impliziert keinen konstanten Materialdurchsatz, oder weniger tech-
nologischen Fortschritt, oder ein unendliches Leben für das Wirtschaftssystem. Sie ist
eine Strategie für die längstmögliche Erhaltung unseres „Spaceship Earth" . In Herman
15 Daly's Vision stirbt unsere Ökonomie irgendwann an Altersschwäche und nicht am
Krebs von „Growthmania" .
Die Gesetze der Thermodynamik spielen eine wichtige Rolle in dieser Vision. Sie stel-
len den theoretischen Rahmen für die SSE dar. Den thermodynamischen Gesetzen
folgend steht der Menschheit ein begrenztes Budget an Energie mit niedriger Entropie
20 zur Verfügung, mit der sie wirtschaften und leben kann. Wenn zu viel dieser Energie
für wirtschaftliche Aktivitäten verwendet wird, beginnen die komplexen lebenserhal-
tenden ökologischen Systeme zu versagen. Herman Daly übt auf dieser Basis Kritik
an der orthodoxen ökonomischen Theorie und der Wachstumslogik, weil sie gegen
das zweite Gesetz der Thermodynamik verstößt[... ]: eine Wirtschaft könne mit einem
25 begrenzten Vorrat an Energie und Ressourcen einfach nicht unendlich wachsen. Aus-
gehend von diesen theoretischen Überlegungen schlägt Daly drei Institutionen für die
Erreichung und Aufrechterhaltung einer SSE vor. Erstens, eine Institution mit dem
Auftrag die Bevölkerung konstant zu halten. Als Instrument werden beispielsweise
handelbare Geburten-Lizenzen vorgeschlagen, die durch die Institution verwaltet wür-
30 den. Zweitens, eine Institution, die für einen konstanten physischen Kapitalstock sorgt
und den Materialdurchsatz innerhalb ökologischen Grenzen hält. Dieses Ziel könnte
beispielsweise durch die Implementierung von Cap-Auction-Trade-Systemen für na-
türliche Ressourcen erreicht werden, die ähnlich funktionieren wie der Emissionshan-
del. Und drittens eine Institution für mehr Verteilungsgerechtigkeit, um die Ungleich-
35 verteilung von konstanten Kapitalstöcken zwischen den Menschen einer konstanten
Gesamtbevölkerung zu begrenzen. Als verteilungsgerechte Maßnahme schlägt Daly
beispielsweise die Einführung von Obergrenzen für Einkommen und Vermögen vor. Mit
diesen Ideen beschreibt Daly ein Modell , das auf den existierenden Institutionen von
Privateigentum und marktwirtschaftlichen Grundsätzen aufbaut. In diesem Sinne ist
40 es recht konservativ.
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie diese Wirtschaft funktionieren könnte,
stelle man sich einen alten Wald vor. Ein Wald wächst irgendwann nicht mehr, sondern
ist ein komplexes lebendiges System, in dem verschiedene Lebewesen kooperieren
und konkurrieren, und in dem sich über die Zeit neue Arten und Ökosysteme entwi-
45 ekeln. Nicht mehr zu wachsen ist nicht gleichbedeutend mit Stagnation. Es geht viel-
mehr um ein dynamisches Gleichgewicht. Umgelegt auf eine SSE bedeutet das, dass
sie sich zwar weiter entwickelt, dabei aber innerhalb der regenerativen Kapazitäten der
Natur bleibt.
Aufgaben
1 . Fassen Sie die in M 1 und M 2 formulierte Kritik an der wachstumsorientierten Wirtschaft
zusammen.
2. Vergleichen Sie die Argumentationen miteinander. Bilden Sie dazu zuerst geeignete Ver-
gleichskategorien.
3. Nehmen Sie Stellung zur Idee der Postwachstumsökonomie (M 1) bzw. zu den „drei Insti-
tutionen einer Steady State Economy"(M 2).
2.8.4 Reicht das BIP als Wohlstandsind ikator?
Leitfragen Welchen Nutzen hat das Welche Kritik am BIP ist Welche Typen von anderen
Bruttoinlandsprodukt? berechtigt? Wirtschafts- bzw. Wohlstands-
indikatoren existieren?
Politisch wird häufig folgender Zusammenhang auch die individuelle Arbeits- und damit die ge-
zwischen Wirtschaftswachstum und materiellem sellschaftliche Produktivkraft durch die standbe-
Wohlstand für die Gesamtbevölkerung konstru- dingte Verzögerung auf dem Weg oder den verlet-
iert: Wirtschaftswachstum führe einerseits als zungsbedingten Arbeitsausfall sinkt.
qualitatives Wachstum zu Produktinnovationen,
die den Menschen zu Gute kämen, da der Ge- In sozialer Hinsicht wird an der Verwendung des
brauchswert steige. Als Beispiele können medizin- BIPs als Wohlstandsindikator kritisiert, dass es
technologische Entwicklungen oder auch Freizeit- keine Aussage über die Verteilung der (zunehmen-
technologie dienen. Andererseits habe den) materiellen Mittel einer Ökonomie zulässt. Es
quantitatives Wirtschaftswachstum zur Folge, lässt sich zwar beobachten, dass in stark entwick-
dass nicht nur das Gesamtniveau des materielle n lungsfähigen Volkswirtschaften, wie z.B. dem zer-
Wohlstands steige, sondern dass auch Anteile die- störten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
ses Wohlstands über höhere Löhne, über einen oder sich zu Schwellenländern emporarbeitenden
Arbeitsplatzgewi nn bei vorheriger Arbeitslosig- Entwicklungsländern das Wirtschaftswachstum
keit oder über erhöhte Sozialtransfers bei den Bür- einen eindeut igen Effekt im Hinblick auf das ma-
gern anko mme. terielle Gesamtwohl hat. Allerdings wären starke
BIP-Steigerungen auch in einem System möglich,
in dem nur sehr wenige Personen vom Wirt-
Warum steht das BIP als Wohlstands- schaftswachstum profitieren würden. Denn ledig-
indikator in der Kritik? lich in ökonomisch noch wenig entwickelten
Staaten konnten sog. Trickle-down-Effekte beob-
Das Bruttoinlandsprodukt und somit auch ökono- achtet werden, wonach eine BIP-Steigerung auch
misches Wachstum stehen a ls Maßstab für Wohl- eine gewisse materielle Wohlfahrtssteigerun g für
stand immer mehr in der Kritik, weil sie a us öko- einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen
nomischer, sozialer und ökologischer Hi nsicht nach sich zieht.
angreifbar sind:
Neben der Ei nschränkung, dass Wirtschafts-
In ökonomischer Hinsicht wird das BIP als un- wachstum nicht zwingend zur materiellen Wohl-
vollständig betrachtet, da der Wert monetär nicht stands mehrung der Gesamtbevölkerung führt, ist
abgegoltene r, gleichwohl aber produktiver Tätig- das BIP zudem a uch ökologisch gesehen wenig
keiten wie häusliche (Hausarbeit, Kinderbetreu- aussagekräftig. Vielmehr werden noch immer vie-
ung) und kulturelle Reproduktionsarbeit (Eh- le negative externe Kosten (> Kap. 2.8.3) verur-
renamt) nicht berücksichtigt wird. Demgegenüber sacht, z.B. durch Luftverschmutzung oder den
wird die illegale Schattenwirtschaft (Schwarzar- Ressourcenverbrauch, jedoch nicht in den Wert
beit, Drogenhandel, Schmuggel) mit einem Schätz- eines Gutes u nd somit auch nicht in das BIP ein-
wert in das BIP eingepreist. Oftmals wi rd auch gepreist. Mit anderen Worten das BIP fiele gerin-
kritisiert, dass Ereignisse wie Staus oder Unfälle ger aus, würden die externen Kosten des Wirt-
einen positiven volkswirtschaftlichen Effekt hät- schaftens komplett oder nur zum Teil internalis iert.
ten (etwa durch erhöhten Benzinverbrauch im Die Kompensation der Verluste durch ein umwelt-
ersten oder Behandlungsdienstleistungen und Au- neutrales oder umweltse nsibles Wirtschafts-
to reparaturen im letzten Fall). Allerdings dürfen wachstum kon nten bisher j edoch noch nicht ge-
solche Effekte nicht isoliert betrachtet werden, da nerell nachgewiesen werden.
2.8 Ökonomie und Ökologie f
• Der 2006 entwickelte Happy Planet Index (HPI) flussgröße. Alle Politik in Bhutan ist de r Erhö-
versucht über den HDI hinaus au ch ökologische hung des Brutt onationalglücks verpflichtet, da
Nachhaltigkeit in die Wohlfahrtsrechnung mit es Verfassungsrang genießt. Ecuador und Boli-
einzubeziehen. Werte für die durchschnittliche vien führten ähnliche Indizes 2008 bzw. 2009
Lebenserwartung und die durch Befragungen per Verfassungsänderung ein.
eingesch ätzte Lebenszufriedenheit werden mul-
tipl iziert und da nn das Ergebnis dividiert durch • Im Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI), der im
den Ökologischen Fußabdruck. Dieses Verfahren Auftrag des Um weltbundesamtes und des Um-
führt dazu, dass die materielle Seite des Wohl- weltministeriums von den Wirtscha ftswissen-
stands deutlich weniger Gewicht gewinnt als in schaftlern Roland Zieschank und Ha ns Diefen-
anderen Indizes. So liegt z. B. das wirtschaftl ich bache r entwickelt und im Ja hr 201 2 aktualisiert
sehr a rme Ba ngladesch wege n seines vergleichs- wurde, werden insgesamt 21 Indikatoren (ge-
weise kleinen ökologischen Fußabdrucks in den plant sind noch zwei weitere) erfasst, um sie in
oberen 15 HPI-Staaten. eine Zahl zu gießen, die die Höhe und die Ent-
wicklung des gesellschaftlichen Wohlstands
• Der da malige König von Bhuta n schuf 1979 das zeigen soll. Ein Schwerpunkt liegt da bei mit
Bruttonationalglück (BNG). Dieser Index um- n eun (bzw. gepla nt 11) Indikatoren in den Be-
fasst die v ie r Säulen Schaffung einer sozial ge- reiche n Umweltschutz und Ressourcenverwen-
rechte n Gesellsch aftsordnung, Umweltschutz, dung. Aber auch materielle Güterverteilung und
Bewahrung und Förderung der Kultur und gute materiell nicht entlohnte Arbeit sollen u. a. als
Regierungs- und Verwaltungsstrukturen. Mate- Berechnungsgrößen einbezogen werden. Da mit
rielles Wirtschaftswachstum wird nicht explizit geht der NWI a uch ökonomisch weit über das
erwähnt und ist somit nur eine sekundäre Ein- BIP hinaus.
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
120
115
110
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105
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90
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80
1991 1994 1997 2000 2003 2006 2009 2012 2015
■
1 Gesellschaftliche Einkommensverteilung
■
13 Schäden im Zuge von Bodenbelastungen
1---(_g_e_m_e_s_s_e_
n_a_m_ G_i_
ni_
·-_
K_o_e_
f f_
iz_ie_n_te
_n_)_ _ _ _ _-1 14 Schäden durch Luftverschmutzung
2 Gewichtete Konsumausgaben 15 Schäden durch Lärm
3 Wert der Hausarbeit
16 Verlust bzw. Gewinn durch die Veränderung
4 Wert der ehrenamtlichen Arbeit der Fläche von Feuchtgebieten
5 Öffentliche Ausgaben für Gesundheits- und 17 Schäden durch Verlust von landwirtschaftlich
Bildungswesen nutzbarer Fläche
6 Dauerhafte Konsumgüter Kosten/Nutzen 18 Ersatzkosten durch Ausbeutung nicht erneuer-
(Differenz aus Kosten für Gebrauchsgüter und barer Ressourcen
dem Nutzen, der pro Jahr aus ihrem Gebrauch 19 Schäden durch COrEmissionen
realisiert wird)
,___ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ __, 20 Nettowertänderungen des Anlagevermögens
7 Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (Veränderung der Ausstattung der Erwerbstäti-
8 Kosten von Verkehrsunfällen gen mit Produktionsmitteln (ohne Bauten),
Investitionen)
9 Kosten von Kriminalität
21 Veränderungen der Kapitalbilanz (Außenhan-
10 Kosten alkoholassoziierter Krankheiten delsbilanz)
11 Gesellschaftliche Ausgaben zum Ausgleich 22 Kosten anthropogen (mit)verursachter Natur-
von Umweltbelastungen katastrophen [geplant]
12 Schäden durch Wasserverschmutzung 23 Kosten des Artenschwundes [geplant]
Hans Diefenbacher et al., NWT 2.0 - Weiterentwicklung und Aktualisierung des Nationalen Wohlfahrtsindex, 2 013, S. 44
2 .8 Ökonomie und Ökologie f
W3-lndikatorenbündel (W3)
Bruttoinlandsprodukt Beschäftigung
BIP pro Kopf Veränderungsra- Beschäftigungsquote Treibhausgase
te des BIP pro Kopf (Rang Bildung nationale Emissionen
--
des absoluten BIP global) 21 Sekundärabschluss-II-Quote Stickstoff
Einkommensverteilung Gesundheit nationaler Überschuss
--
PB0IP20 Lebenserwartung Artenvielfalt
Staatsschulden Freiheit nationaler Vogelindex
Schuldensstandsquote Weltbank-Indikator
(Tragfähigkeitslücke)31 ,. Voice & Accountability"
..
Nettoinvestitionen
Nettoinvestitionsquote Treibhausgase
Qualität der Arbeit
Vermögensverteilung Unterbeschäftigungsquote globale Emissionen
P90/P50 Stickstoff
--
Weiterbildung
Finanzielle Nachhalti gkeit Teilnahmequote an globaler Überschuss
des Privatsektors --
Fort- und Weiterbildung Artenvielfalt
Kreditlücke in Relation zum globaler Vogelindex
Gesundheit
BIP
gesunde Lebensjahre
reale Aktienkurslücke
reale Immobilienpreislücke
1) Neben den Leitindikatoren und Warnlampen umfasst das W3-lndikatorensystem in der ersten Säule, dem materiellen Wohl-
stand, noch die sogenannte Hinweislampe „nicht-marktvermittelte Produktion". Zu dieser gehören etwa Hausarbeit oder ehren-
amtliche Tätigkeiten. - 2) Angegeben wird hier zusätzlich der Rang, den die jeweils betrachtete Volkswirtschaft in der Rangliste
aller Volkswirtschaften bezogen auf das Niveau des Bruttoinlandsprodukts (in Kaufkraftparitäten) einnimmt. - 3) Die Tragfähig-
keitslücke gibt als zusätzliche Information an, um wieviel die Primärsalden ab dem Betrachtungszeitpunkt dauerhaft höher sein
müssten, damit die öffentlichen Haushalte langfristig tragfähig sind.
Nach: Sachverständigen rat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen E11twick lu11g, Gegen eine
rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik, Jahresgutachten 2013/14, 2013, S. 485
Aufgaben
1. Geben Sie die zentralen Kritikpunkte am BIP als Indikator für Wohlstand wieder.
2. Erläutern Sie den Unterschied zwischen aggregierten und nicht aggregierten lndikatorensystemen.
3. Setzen Sie sich kritisch m it der Wohlstandsentwicklung in Deutschland auseinander. Entscheiden Sie sich
für einen für Sie geeigneten Indikator bzw. ein für Sie geeignetes lndikatorensaystem. Begründen Sie Ihre
Entscheidung.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Hans Diefenbacher ist stellvertretender Leiter der interdisziplinären Forschungsstätte der Evangelischen
Studiengemeinschaft e. V. (FEST) und außerplanmäßiger Professor an der Universität Heidelberg.
Es ist völlig unstrittig: Das Bruttoinlandsprodukt hat als Maß für den Wohlstand eines
Landes große Schwächen. Mindestens drei davon stechen hervor. Erstens ist das BIP
unvollständig. Es berücksichtigt im Wesentlichen nur die zu Marktpreisen bewertete
Produktion; der Wert von Freizeit und Ehrenamt bleibt außen vor. Zweitens lässt das
5 BIP völlig offen, wem die Wertschöpfung zugutekommt. Einkommensverteilung, Le-
bensqualität und subjektives Glücksempfinden werden nicht quantifiziert. Und drittens
misst das BIP nicht die Nebenwirkungen der Produktion auf die Umwelt. Es ist also,
wenn man so will, ökologisch blind.
Wegen dieser Schwächen wird derzeit der Ruf laut, das BIP durch einen umfassenden
10 Indikator zu ersetzen. Dieser soll, so die Forderung, dem „wahren" Zustand der Ge-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
sellschaft im Sinne der Gesellschaft näher kommen. Aber wie könnte er aussehen?
Soll es wirklich ein einzelner Indikator sein, so müsste er all die genannten unterschied-
lichen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens in irgendeiner Form messen und
gewichten, und zwar ohne, dass er sich auf den harten Grund der Bewertung durch
,s den Markt verlassen kann.
Es müsste also eine Instanz geben, die - als Ersatz für den Markt - eine Bewertung
vornimmt. Wahrlich eine gigantische Aufgabe! Man stelle sich vor: Der Wert von Freizeit
und Ehrenamt, von Einkommensverteilung, Lebensqualität und subjektivem Glück-
sempfinden, von dem ökologischen Zustand der Welt (und zwar heute und im Fall des
20 Klimawandels auch in der Zukunft!), all dies müsste annähernd objektiv festgestellt
werden. Das ist schon technisch eine kaum lösbare Aufgabe. Und das Ergebnis wäre
natürlich politisch höchst umstritten, egal was dabei herauskäme. Es hätte fast zwin-
gend den Charakter einer zentralistischen Erfassung menschlicher Werte, eine Art
totalitäres Maß des Pegelstands der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Kein schöner Ge-
2s danke in einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft.
Es bleiben deshalb nur viel bescheidenere Lösungen. Dazu hat die Enquete-Kommis-
sion des Deutschen Bundestags „Wachstum -Wohlstand - Lebensqualität" [... ] einen
Vorschlag erarbeitet. Er läuft darauf hinaus, eine Reihe von Indikatoren aus verschie-
denen gesellschaftlichen Bereichen zu einem Spektrum zusammenzutragen, sie aber
30 nicht zu gewichten. Es entsteht ein sogenanntes Armaturenbrett (,,dashboard"), das
den Piloten der Politik helfen soll, die Gesellschaft angemessen zu steuern. Nicht mehr
nur der Blick auf das BIP, sondern die breitere Kenntnisnahme wichtiger gesellschaft-
licher Kennzahlen soll helfen, eine gute Grundlage für politische Entscheidungen zu
liefern. [... ] Dieser Weg ist der einzig realistische.
Karl- Heinz Paque ist Professor .für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Magdeburg und Botschaf-
ter der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft''. Vo n 2002 bis 2006 wa r er für die FDP Finanzminister in
Sachsen-Anhalt.
Aufgabe
1 . Fassen Sie die Argumentationen von Diefenbacher und Paque gegen bzw. für das W3-ln-
dikatorenbündel zusammen (M 1 und M 2).
2. Stellen Sie die Argumentationen einander gegenüber und arbeiten Sie heraus, auf welchen
Ebenen die Autoren jeweils argumentieren.
3. ,,Der Nationale Wohlfahrtsindex sollte das BIP als Messgröße offiziell ergänzen." Diskutie-
ren Sie diese Forderung.
2.8.5 Globale Umweltpolitik
Leitfragen Warum sollte Umweltpolitik Welche umweltpolitischen Warum kommt es nicht zu
global und nicht nur national Meilensteine gab es noch viel weitreichenderem
betrieben werden? international seit 1970? internationalen Umweltschutz?
Eine weltumspannende Internationalisierun g der magase, die Bedrohungen des Klimawandels tref-
Umweltpolit ik war und ist notwendig, da zum ei- fen aber ha uptsächlich die schlecht geschützten
nen alle bedeutenden anthropogenen Umweltbe- Entwicklungslä nder. Dabei handelt es sich vor
lastungen grenzübersch reitenden Charakter ha- allem um Versorgungsprobleme au fgru nd schnell
ben. Zum anderen ist die Ansiedlung der meisten voranschreitender Desertifikation (Ausdehnung
internationalen Umweltregime (> Kap. 6.1.1) bei von Wüsten), massive Überschwemmungen auf-
bei den Vereinten Nationen grundsätzlich sehr grund des sich erhöhenden Meeresspiegels u. ä.
sinnvoll, weil nicht notwendigerweise (und auch
nicht in den meisten Fällen) die Hauptverursacher Wesentliche globale und damit nur international
der Umweltschäden auch deren Hauptlasten zu zu bekämpfende Umweltprobleme bestehen im
tragen haben. Vielmehr sind westliche Industrie- anthropogen en Klimawandel, dem Verlust von
staaten - und im letzten J a hrzehnt vermehrt auch Biodiversität (Artenvielfalt), Luftversch mutzu ng
die große n Schwellenländer - Hauptemittenden und Belastung der Weltmeere durch Abfälle und
der für die Erderwärmung ve rantwortlichen Kli- Gifte.
10.151
China
2.423
5.312
USA
5.11 5
2.431
Indien
1.635
Russland
2.590
1.209
Japan
1.156
Deutschland 798
Iran
Saudi-Arabien
Südkorea
Kanada
Brasilien
Mexiko
Vereinigtes
Königreich
0 1.000 2.000 3.000 4.000 5.000 6.000 7.000 8.000 9.000 10.000 11.000
1990 ■ 2016 C02-Emission in Millionen Tonnen
c Statista 20 18
2 Grundlagen der Wirtschaftspolitik
Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre fa nd ,,Umweltprogramm der Vereinten Nationen" ge-
die sich entwickelnde gesellschaftliche Um- gründet und institutionell veran kert. Viele kon-
weltsensibilität in Industriestaaten nicht nur im krete Vereinbarungen der folgenden beiden Jahr-
Entstehen nationaler Umweltbewegungen ihren zehnte gehen auf diese Konferenz zurück.
Ausdruck, sondern auch in ersten Bemühungen,
auf internationaler Ebene verbindliche umweltpo- Ende der 1970er bis Mitte der J980er J ahre stan -
litische Entscheidungen zu treffen. Bereits im Jahr den die Themen Luftverschmutzung (saurer Re-
1972, in dem a uch das Ehepaar Meadows seine gen/Waldsterben) und Bewahrung der Ozon-
einflussreich e Studie zu den Grenzen des Wachs- schicht im Fokus der Bemühungen des Umwelt-
tums vo rlegte (>Kap. 2.8.1 ), fand in Stockholm die programms. Auf Konferenzen in Genf und Wien
erste Weltumweltkonferenz der Vereinten Natio- wurden e rfolgreich internationale Regeln gefun-
nen statt, die gemeinhin als Start der inte rnatio- den und recht zügig implement iert. Aus dieser
nalen Umweltpolitik gilt. Die Ergebnisse waren für Zeit datiert auch die Festlegung der Vereinten Na-
die damalige Zeit weitreichend: Es wurde n 26 tionen auf den erweiterten Nachhaltigkeitsbegriff
Prinzipien und 109 Empfehlungen zum internati- durch den sog. ,,Brundtland-Bericht" (> Kap.
onalen Umweltschutz deklariert und das sog. 2.8.3).
Einwohnerzahl (in Mio.) und Anteil an den weltweiten COr Emissionen in 2015
2
China
USA
28,0% 1.318
325
••
3
5
Indien
Russland
Japan
1.332
146
126
•••
6 Deutschland 81
•
7 Korea 50 •
8 Kanada 36 •
Quelle: Countrymeters/Germanwtch/EIA/UN
2010 Cancun Vertragliche Festlegung des Ziels, die globale Erwärmung auf max. 2° C
(Mexiko) gegenüber der Durchschnittstemperatur vor Beginn der Industrialisierung zu
beschränken (2-Grad-Ziel: die Folgen eines solchen Temperaturanstiegs
werden gerade noch als beherrschbar vorhergesagt); keine verbindliche
Festlegung auf Maßnahmen oder konkrete Emissionsreduktionsziele.
2015 Paris Weltklimavertrag von 194 Staaten (erstmals auch Entwicklungsländer) mit einer
(Frankreich) verbindlichen Vereinbarung der Erderwärmung auf unter +2° C gegenüber der
vorindustriellen Zeit, wozu die Netto-Treibhausgasemissionen (Brutto- Emissio-
nen abzüglich der z.B. von Pflanzen wieder aufgenommenen und der techno-
logisch z.B. unterirdisch gespeicherten COr Menge) ab 2050 auf null sinken
sollen; noch keine Vereinbarung konkreter Maßnahmen dazu.
2016 Marrakesch Die 47 von den Folgen des Klimawandels besonders betroffenen Schwellen-
(Marokko) und Entwicklungsländer, die sich zum „Climate Vulnerable Forum" zusammen-
geschlossen haben, veröffentlichten eine Vereinbarung, bis zum Jahr 2050 ihre
gesamte Energieversorgung auf erneuerbare Energien umzustellen. Die großen
Klimagas-Emittenten konnten sich nicht auf Sanktionen bei Grenzüberschrei-
tungen o. ä. einigen.
In den Jahrzehnten seit de n frühen 1990er Jahren sind (Auslegung des Verursacherprinzips). Die
prägten die Verha ndlungen zur Eindä mmung des entwickelten Industrienatione n argumentieren für
a nt hropogene n Klimawandels die umweltpoliti- eine weitgeh ende Gleichverteilung der Emissions-
schen Bemühungen der UNO. Dazu fanden seit reduktion, Schwelle nländer wie vor allem China
1997 mindestens 10 g roße Konferenzen statt, die und auch Entwicklungsländer fo rdern eine n deut-
aber aufg rund stark divergierende r Interessen in lich stärkere n Einsatz der alten Industriestaaten,
der Welt- ..Gemeinschaft" nur in wenigen Teilen da diese historisch fü r den Löwenanteil des Schad-
Erfolge im Sinne verbindlicher Ve reinba rungen stoffausstoßes verantwortlich sind. Zum a nderen
aufweisen. war kein entscheide nder Akteur politisch vollau f
gewillt, sich eigeninitiativ rigide Selbstbeschrä n-
Dass internat ional nicht v iel früher, schneller und kungen bezogen auf Emissionen aufzue rlegen,
konzertierter gegen die Ursachen des Klimawan- denn alle befürchteten, dass die zu rückhaltenden
dels vorgegangen wo rden ist , liegt in z weierlei Nationen diese Entscheidung zum „Trittbrettfah-
strukturellen Blockaden begründet. Zum einen ren" nutzen würden. Dazu kommt noc h, dass es
konnte ka um eine Einigung darüber erzielt wer- (v. a. in den USA) noch politisc h sehr einflussrei-
den , nach welchem Prinzip die ökonomischen che Leugne r des anthropogenen Klimawandels
„Lasten" durch den Umweltschutz zu verteilen gibt.
Aufgaben
1 . Charakterisieren Sie die Ergebnisse der internationalen Klimaverhandlungen seit 1992.
2. Erläutern Sie mit Hilfe des Free-Rider-Theorems die Schwierigkeiten, ein starkes internationales Klimaabkom-
men zu beschließen.
M 1 Klimakonferenz
-=t,,/
~(), DIE SITUATION ERFORDERT
--:::7~ \ (" EINE STREN(iERE DURCH -
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CA
SEHUN'1 \/ON UMWELT -
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- - POLITISCHEN MASSNAHMHJ ,
ABER NUR, WENN SIE
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r
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die Karikaturen in M 1 .
2. Analysieren Sie die Karikatur M 1 . Beziehen Sie sich dabei auch auf Ihre Kenntnis der
Weltklimaverhandlungen seit 1992 sowie auf die Free-Rider-Problematik.
Leitfragen Welche Bedeutung hat die EU Welchen Prinzipien soll In welchen Punkten ist die
für die Umweltpolitik (deutsche) Umweltpolitik deutsche Umweltpolitik zu
Deutschlands? folgen? kritisieren?
Bei der Umweltpolitik handelt es sich um eines der • Sicherung von Gesundheit und Lebensqualität
stärksten vergemeinschafteten Politikfelder der der Menschen in der EU
Europäischen Union, was bedeutet, dass die Uni- • Globale Herausforderungen
onsgremien weitgehende Regelungskompetenz
für die Mitgliedsstaaten haben. Seit dem Vertrag Diese Handlungsfelder sind j eweils mit konkreti-
von Maastricht ( 1993) ist nachhaltige Entwick- sierenden Un terpunkten versehen. So gliedert sich
lung ins europäische Vertragswerk a ufgenommen der Punkt „Globale [umweltpolitische] Hera usfor-
worden, mit dem Vertrag von Amsterdam (1 999 derungen" für die EU in die Bereiche „Sauberhal-
in Kraft getreten) wurde sie zu einem vorra ngigen tung von Luft, Meeren und anderen Wasserres-
Ziel der Union erklärt. sourcen", ,,Nachhalt ige Bewirtschaftung von Land
und Ökosystemen" sowie „Eindämmen des Klima-
Wie alle anderen Entscheidungen in vergemein - wa ndels in beherrschbaren Grenzen".
schafteten Politikbereichen bedürfen umweltpoli-
tische „EU-Gesetze" seit 2009 (Vertrag von Lissa-
bon) nicht mehr der Zustimmung aller Mit- Wie versucht die EU den Klimawandel einzu-
gliedsstaaten, sondern unterliegen dem „ordentli- dämmen?
che n Gesetzgebungsverfahren" (> Kap. 5.2.2). Die
Harmo nisierun g der nationalen Gesetzgebungen Bezogen auf den Kl imaschutz hat sich die EU zum
bzw. Zentralisierung der Gesetzgebung in diesem Ziel gesetzt, bis 2030 den Ausstoß der kli maschäd-
Bereich ist zudem auch sinnvoll, da die Umwelt- lichen Gase um 400/o gegenüber dem Niveau von
probleme grenzübergreifenden Ch arakter aufwei- 1990 und den Energieverbrauch um 27 °10 zu sen-
sen (> Kap. 2.8.5) und zudem die Europäische ken sowie den Anteil erneuerbarer Energie n (etwa
Union als einzelner Akteur in Weltklimaverhand- für Stromerzeugung) um 27 °10 zu steigern.
lungen (zumindest theoretisch) stärkeren Einfluss
ausüben kann als die einzelnen europäischen Das wichtigste Beispiel für marktförmige Instru-
Staaten für sich. mente ist de r Emissionshandel in der Europäi-
schen Union. Seit 2005 gibt die Europäische Uni-
on Verschmutzungsrechte (hier: COi-Emissions-
Welche umweltpolitischen Zielsetzungen zertifikate) an Unternehmen aus Branchen aus,
verfolgt die EU mit welchen Instrumenten? die besonders viel C02 e mittieren. Im J a hr 201 7
sind davon ca. 12.000 eu ropäische Firmen be-
Die EU legt ihre umweltpolitischen Ziele in sog. troffen. Überschreitet ein Unternehmen die zuläs-
„Umweltaktionsprogrammen" (UAP) fest, die in sige Menge, muss es von einem anderen, das un-
unregelmäßigen Abständen erneuert werden. Im ter den zulässigen Ausstoßmengen bleibt, Ver-
siebten UAP „Gut leben innerhalb der Belastbar- schmutz ungsrechte zuka ufen. So soll aus dem
keitsgrenzen unseres Planeten" (2013- 2020) sind Zusammenwirken vo n Angebot und Nachfrage
vier Handlungsfelder vorgesehen : ein marktförmiger Preis (> Kap. 2. 1.2) für COi-
Em issionen entsteh en und die Firmen „diszipli-
• Grünes Wac hstum nieren", so wenig Klimagase wir möglich zu er-
• Naturschutz zeugen.
2 Grundlagen d er Wirtschaftspolitik
! . · · ···· · · · · · · · ··· · {. . i
- -
verpflichtung Handel verpflichtung Handel
i ~
......
50.000 t - -
- -
--
- 130.000 t
50.000 t -
--
-
--
--
50.000 t
Die Politik legt für die kommenden fünf Jahre eine Emissionsreduzierung von 20 Prozent fest. Unternehmen
A und Unternehmen B betreiben Anlagen, die in den Emissionshandel einbezogen sind. Diese emittieren in
der Ausgangssituation jeweils 20.000 t C02 . Weil die Emissionen um 20 Prozent reduziert werden sollen,
erhalten beide Unternehmen für nur 40.000 t C02 kostenlose Emissionsberechtigungen. Die Unternehmen
müssen nun entscheiden, ob sie ihre Emissionen reduzieren oder weitere Emissionsberechtigungen zukau-
fen .
Die Menge der ausgegebenen Zertifikate unter- Ein prominentes Beispiel für Auflagen der EU ist
scheidet sich nach der Ausgabephase - bis 2020 die sogenannte C0 2 -Neuwagenverodnung, die
läuft Ausgabephase III. Da absehbar ist, dass mit bestimmt, wie viel Kohlenstoffdioxid ein Auto aus
der derzeitigen Ausgabemenge das 400/o-Redukti- der Neuwagenflotte eines Herstellers im Durch-
onsziel bis 2030 nicht zu erreichen sein wird, wird schnitt pro Kilometer ausstoßen darf. Bis zum Jahr
eine weitere Verknappung der Verschmutzungs- 2021 ist eine Durchschnittsemission von 130g
rechte für die Ausgabephase N diskutiert. C0 2 /km zulässig, danach 95g C0 2 /km. Wenn die
Durchschnittsemission höher liegt, müssen die je-
weiligen Hersteller für j edes Gramm C0 2-Über-
Kritik an der Politik der EU schreitung pro Wagen Strafzahlungen leisten. An
diesen Regelungen wird häufig kritisiert, dassder
Erstens werden die Zertifikate kostenlos ausgege- Druck auf die Autofirmen nicht hoch genug sei,
ben und nicht etwa von Anfang an versteigert um die tech nischen Potenziale der C0 2 -Reduktio n
oder anderswie bepreist. Somit geht der EU einer- vollauf auszuschöpfen, da die Grenzwerte nicht
seits eine Einnahmequelle und a ndererseits ein streng genug seien. Sie würden - auch durch den
Anreiz zur schnelleren C0 2 -Reduktion verloren. Einfluss der Automobillobby und durch vom Au-
Zweitens wurden bereits mehrfach mehr Zertifi- tomobilbau abhängige Staaten wie z. B. Deutsch-
kate ausgegeben als überhaupt benötigt wurden, land - wieder verwässert.
was den intendierten Mechanismus vollkommen
unterbrach und statt zu einem Redukt ionsanreiz
zu einem Preisverfall für die Verschmutzungs- Charakteristika der deutschen Umweltpolitik
rechte führte. Drittens wird die Menge der in einer
Ausgabephase zur Verfügung gestellten Emissi- Grundsätzlich kämpft die deutsche Umweltpolitik
onsrechte politisch ausgehandelt, weswegen wirt- mit dem Umstand, dass sie eine Querschnittsau f-
schaftliche Interessen erheblichen Einfluss au f gabe zu vielen anderen Politikbereichen darstellt
umweltpolitische Entscheidungen nehmen. und damit auch zu regierungsinternen Konflikten
2.8 Ökonomie und Ökologie f
,,erheblichen[n] Rückschlag" fü r die deutsche Kli- Die im März 2018 gebildete, ebenfalls schwarz-ro-
maschutzpolitik gesprochen. Zurückgefüh rt wird te Regierun gskoalition reagierte auf die Zielver-
die trotz Ausbaus der erneuerbaren Energiegewin- fehlung, indem sie in ihrem Koalitionsvertrag eine
nung deutliche Zielverfehlung im Wesentlichen Kommission ankündigte, die bis Ende 2018 ein
auf drei Umstände: Aktionsprogramm erarbeiten soll. Diese Maßnah-
me wird in der Öffentlichkeit ambivalent aufge-
1. Es werde weiterhin zu v iel Strom mittels Koh- nommen. Kritisiert wird ihre Offenheit, da das
leverbrennung erzeugt; Entwickeln von Maßnahmen weitgehend in eine
2. Auto-Verbrennungsmotoren würden zwar im Kommission ausgelagert wird. Außerdem werden
Durchschnitt immer effizienter, die Zahl der keine konkreten Daten für das Abschalten der be-
gefahrenen Kilometer großer, schwerer Fahr- sonders klimaschädlichen Kohlekraftwerke ge-
zeuge wie SUVs steige allerdings gleichzeitig, nannt. Umweltschützer begrüße n allerdings, dass
wodurch sich der eigentliche Einspareffekt ins die Kohleverstromung nicht mehr, wie noch im
Gegenteil verkehre; Koa litionsvertrag von 2013, als notwe ndige „Brü-
3. Es gibt noch immer n icht die seit Jahren ange- ckentechnologie" bezeichnet und konventionelle
strebte Einigung zwischen Bund und Ländern Stromerzeugung nicht mehr als „auf absehba re
zur steuerlichen Absetzbarkeit von Energie- Zeit unverzichtbar" tituliert wird.
sparmaßnahmen (Dämmung etc.) an Häusern.
Es deutet sich ein vorsichtiger Abschied von der
Noch gravierender als ohnehin schon erscheint die ,,Strukturerhaltungspolitik" in Bezug auf die kon-
Zielverfehlung durch die Tatsache, dass ein n icht ventionelle Stromerzeugung an, auch wenn die
unerheblicher Teil der Emissionseinsparungen Widerstände aus den Regionen sowie aus der
durch das Zusammenbrechen der DDR-Industrie Energiewirtschaft erheblich sind. Dennoch ist
zu verda nken war, die extrem viele Schadstoffe festzuhalten, dass die Absichtserklärungen der
ausgestoßen hatte. Das Verfehlen der Klimaschutz- Bundesrepublik hinter den erreichbaren - und
ziele wird Deutschland ab dem Jahr 2020 über den umweltpolit isch wünschenswerten - Ergebnissen
europäischen Emissions ha ndel kompensiere n zurückbleiben, da wirtschafts- u nd sozialpoliti-
müssen. Dafür wird die Bundesrepublik Experten- sch e Erwägungen weiterhin großes Gewicht ha-
schätzungen zufolge mehrere hundert Millionen ben. Der Zielkonflikt zwischen umwelt- und wirt-
Euro für Verschmutzungsrechte a n andere Staaten schaftspolitischen Zielen scheint dementsprechend
der Union bezah len. keineswegs aufgelöst.
Aufgaben
2. Analysieren Sie die Schwierigkeiten, sinnvolle umwelt- bzw. klimapolitische Maßnahmen in Deutschland
politisch durchzusetzen.
3. Entwickeln Sie vor dem Hintergrund Ihrer Kenntnisse Möglichkeiten, das Verursacherprinzip und das Vorsor-
geprinzip in der deutschen Umweltpolitik wirksamer als bisher zu berücksichtigen.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
[Z]ur klimaverträglichen Deckung des Verbrauchs in den Sektoren Wärme und Verkehr
[bedarf es bis 2040 erheblicher zusätzlicher Strommengen]. [... ]
Um das Elektrizitätsversorgungssystem stabil zu halten, erbringen derzeit fossile Kraft-
werke verschiedene Systemdienstleistungen. Um diese Kraftwerke endgültig stilllegen
s zu können, müssen die Rahmenbedingungen für die Netzstabilität so verändert wer-
den, dass erneuerbare Kraftwerke in Kombination mit Speichern die Systemdienstleis-
tungen schnellstmöglich vollständig übernehmen können. Eine schnelle Errichtung
von neuen Speichern ist dazu anzustreben.
Wird der Strom ausschließlich durch erneuerbare Energien gedeckt, kommen dabei
,o vor allem fluktuierende Erzeuger wie Photovoltaik und Windkraft zum Einsatz. Um eine
stetige Verfügbarkeit der Energieversorgung über das ganze Jahr zu gewährleisten,
sind große Speicherkapazitäten erforderlich, die sich aus Batterie- und Gasspeichern
zusammensetzen. [... ]
[Bei einem] Szenario [der Stromversorgung 2040] mit hohen Effizienzmaßnahmen er-
,s gibt sich durch den hohen Anteil fluktuierender erneuerbarer Energien ein stark gestei-
gerter Speicherbedarf. Neben Batterien muss er vor allem durch die Speicher im vor-
handenen Gasnetz gedeckt werden, die große Energiemengen aufnehmen und zeitlich
ebenso wie räumlich verteilt wieder abgeben können. Um einen schnellen Kohleaus-
stieg realisieren zu können, ist der Ausbau von Speichern von großer Dringlichkeit, um
20 die Versorgungssicherheit letztendlich ohne fossile Backup-Kraftwerke sicherstellen
zu können. Durch den steigenden Speicherbedarf erhöht sich auch der Strombedarf
durch Umwandlungs- und Speicherverluste um 20 %, sodass sich auch bei hoher
Effizienz ein gesamter Elektrizitätsbedarf von 1320 Twh ergibt. Das entspricht[ ... ] über
dem Doppelten des heutigen Strombedarfs. [.. .]
2s Diese Zahlen machen deutlich, dass für einen erfolgreichen Klimaschutz von einem
deutlich steigenden Strombedarf auszugehen ist , der bereits im Jahr 2040 klimaneu-
tral ausschließlich durch erneuerbare Energien gedeckt werden muss. [... ] [M]it den
Ausbauzielen des EEG 2014 [ist] bis zum Jahr 2040 lediglich eine regenerative Stromer-
zeugung von rund 460 TWh zu erwarten[ .. . ]. Diese würde nicht einmal ausreichen, den
30 heutigen Strombedarf klimaneutral zu decken [... ].
Folglich bedarf es einer dringenden und umfassenden Anhebung der Ausbaukorrido-
re für Windkraft und Photovoltaikanlagen und nicht einer Kürzung. Wie die geplanten
zusätzlichen Reduktionen der Ausbauziele für die Windkraft mit den Klimaschutzbe-
kenntnissen zu vereinbaren sind, lässt sich auch bei bestem Willen nicht erkennen.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
3s Bild 15 zeigt den Verlauf der regenerativen Stromerzeugung bei dauerhaftem Einhalten
der Zielkorridore aus dem EEG 2014 und stellt diese dem Stromverbrauch bei erfolg-
reichem Klimaschutz [...) gegenüber. Im Jahr 2040 können dabei erneuerbare Energi-
en gerade einmal rund 35 % des Bedarfs decken. Ein erfolgreicher Klimaschutz ist
damit unmöglich.
1400
TWh
1200 ■ Andere
Photovoltaik
1000 ■ Windkraft
offshore
800 Windkraft
onshore
■ Biomasse
600
■ Wasserkraft
400
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Entwicklung der regenerativen Stromerzeugu ng und des Stromverbrauchs bis 2040 bei dauerhaftem
Einhalten der EEG-Zielkorridore aus dem EEG 2014 bei Berücksichtigung von Effizienzmaßnahmen
Volker Quaschning ist Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hocl1schule für Technik und
Wirtschaft (HTW) in Berlin.
Volker Quaschning, Sektorkopplung durch die Energiewende. Anforderungen an den Ausbau erneuerbarer
Energien zum Erreichen der Pariser Klimaschutzziele unter Berücksichtigung der Sektorkopplung, 2016,
S. 26
So könnte es kommen: Auf dem Verkaufstisch liegen zwei Smartphones. Das eine hat
ein Preisschild: ,,399 Euro". Das andere kostet 39 Euro mehr - und es hat noch ein
zweites Preisschild. Darauf steht: ,,Akku austauschbar", ,,garantierte Lebensdauer 3
Jahre" und „Rohstoffe nicht aus Konfliktregionen".[ ...) [Der] Vorschlag mit dem „zwei-
s ten Preisschild" stammt aus ihrem neuen „integrierten Umweltprogramm 2030", das
[die damalige Bundesumweltministerin Barbara] Hendricks am Wochenende bei der
offiziellen Feier zum 30. Geburtstag ihres Ministeriums präsentieren wird. ,,Den ökolo-
gischen Wandel gestalten" heißt das Konzept, und es soll auch den privaten Konsum
umfassen. Weil Preise und Preisschilder die ökologische Wahrheit sagen sollen, will
,o das Ministerium ein Konzept entwickeln, ,,das Umweltschäden und Ressourcenver-
brauch von besonders umweltrelevanten Produkten und Dienstleistungen darstellen
soll", heißt es in dem 130-seitigen Papier.
Hendricks denkt dabei weniger an Lebensmittel als an Elektronik oder Textilien. Und
dafür will sie mehr Druck auf der EU-Ebene machen , um die Brüsseler „Öko-De-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
15 sign-Richtlinie" zu reformieren. Die regelt schon seit langem, wie effizient Glühbirnen
und Staubsauger sein müssen.
Vor allem aber greift mit dem „Umweltprogramm 2030" das Umweltministerium nach
mehr Macht. Die Zeit, wo Umweltpolitik „die Kollateralschäden eines aus dem Ruder
gelaufenen Wirtschaftsmodells beseitigt", soll vorbei sein. Zudem fordert das Pro-
20 gramm mal eben „grundlegende Veränderungen in Gesellschaft, Industrie und Land-
wirtschaft, Energie- und Ressourcennutzung, Verkehr und Infrastruktur" - also prak-
tisch überall.
Einen Weg dafür hat Barbara Hendricks auch: Sie will ein „Initiativrecht in anderen
Geschäftsbereichen der Bundesregierung", wie es bisher schon in der Frauenpolitik
25 und beim Verbraucherschutz möglich ist. So könnte die Ministerin bei der Landwirt-
schaft und im Verkehr Gesetze der Kollegen auf Öko-Aspekte durchleuchten lassen
oder selbst dazu eigene Vorschläge machen. Eines will Hendricks allerdings nicht: ein
Vetorecht im Kabinett, wie es ihr „Sachverständigenrat für Umweltfragen" angeregt
hatte.
30 Auch so wären die Eingriffe in die anderen Ressorts schwerwiegend genug: Weiterent-
wicklung der Ökosteuer, öffentliche Investitionen an der Nachhaltigkeit orientieren,
über „Divestment" von Steuergeld aus fossilen Bereichen reden. Ganz konkret droht
sie ihren Ministerkollegen von der Landwirtschaft und dem Verkehr mit Einmischung
in deren innere Angelegenheiten: Sie will eine „grundlegende Neuausrichtung der
35 Landwirtschaft", ihr Haus wird eine „Stickstoffstrategie" erarbeiten und es will die „ Ko-
Federführung bei der Mitgestaltung der EU-Agrar- und Fischereipolitik".
Das Umweltministerium will auch eine „umfassende Mobilitätsstrategie" entwickeln,
in Brüssel für strengere Abgaswerte bei Autos kämpfen und eine „ Lärmminderungs-
strategie" entwerfen, die besonders auf den Verkehr zielt. Für die geplanten „bran-
40 chenspezifischen Roadmaps für nachhaltiges Wirtschaften in Wirtschaft und Finan-
zen" ist bisher auch eher das Wirtschaftsministerium zuständig - und für das „zweite
Preisschild" sicherlich der Verbraucherminister. [... ]
Die Revolution für mehr Öko-Power in der Regierung wird nicht über Nacht kommen,
da ist sich die Sozialdemokratin Hendricks sicher. Die stärkere Rolle des Umwelt- und
45 Bauministeriums sei „eine Aufgabe für die nächste Regierung." Ob sie denn über ihre
Vorschläge schon mit dem Kollegen Landwirtschaftsminister gesprochen habe? Das
müsse sie gar nicht, signalisiert die Ministerin. ,,Naturschutz, Artenschutz, Boden-
schutz und Wasserschutz liegen in meiner Verantwortung", sagt Hendricks. [... ]
Wie wenig sich ihre Kollegen Minister davon beeindrucken lassen, zeigen sie gerade.
50 [Sie strichen] [ ... ] in der Ressortabstimmung aus Hendricks' ,,Klimaschutzplan 2050"
[ ... ] alle harten Ziele und ambitionierten Termine heraus.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie die Herausforderungen der Umweltpolitik in Deutschland mit Hilfe des
Materials von Volker Quaschning und Bernhard Pötter (M 1 und M 2).
2. Arbeiten Sie die Strategien heraus, mit denen Barbara Hendricks striktere Umweltpolitik
auf nationaler und EU-Ebene durchsetzen möchte.
Im laufe des letzten Kapitels haben Sie sich mit den Grundlagen der Wirtschaftspolitik beschäftigt.
Lesen Sie die folgenden Sätze und entscheiden Sie jeweils für sich, welche der Spalten sie ankreuzen
können.
KOMPETENZEN
Am Ende dieses Kapitels sollten
Sie Folgendes wissen und können:
Ordnen Sie Jedem der Bilder Jeweils einen der Begriffe „Politik", ..Staat" und „Demokratie" zu.
Begründen Sie Ihre Entscheidung.
• Politik und Demokratie
3.1 .1 Politik als Begriff und Organisationsprinzip
menschlichen Handelns
Leitfragen Was ist Politik? Was ist ein Staat? Was ist ein politisches
System?
Der Politikbegriff
Politik als Begriff ist in der heutigen medialisier- Konflikten zwischen Menschen in Gruppen (z.B.
ten Gesellschaft allgegenwärtig, d. h. er wird zur Verein, Schulklasse) zu einer spezifischen Form
Beschreibung unterschiedlichster Phänomene der Konfliktregelung führt. Polit ik ist in diesem
verwendet und erfährt darüber hinaus bereits seit Zusammenhang j edoch nicht der eigentliche
der Antike verschiedene Ausprägungen. Auch in- Zweck der Gruppe. Der Zweck eines Sportvereins
nerhalb der Politikwissensch aft wird der Begriff ist z.B. das gemeinsame Sportmachen und doch
z um Teil unterschiedlich, j edoch oftmals im Zu- kann es zu verschiedenen Ansichten über die Ge-
sammenhang mit menschlichem Handeln defi- staltung der Sportstätte kommen, die ein kon-
niert. Von politischem Handeln wird i. d. R. immer tliktlösendes Handeln erforderlich machen.
dann gesprochen, wenn das Zusammenleben vo n
Menschen als solches zu Problemen führt bzw. Politik im engeren Sinn e findet statt, wenn sich
etwas Konflikthaftes in ihm besteht und das Han- innerhalb einer Gesellschaft Institutionen etab-
deln a uf eine Lösung des Problems bzw. des Kon- liert haben, deren vordergründiger Zweck es ist,
fliktes gerichtet ist. verbindliche Regeln des Zusammenlebens für die
Gesamtgesellschaft festzulegen. Ziel dieser Insti-
Somit ist zunächst unter Politik im weiteren Sin- tution en ist es somit, durch politisches Handeln
ne menschliches Handeln zu verstehen, das bei Konflikte, die durch die verschiedenen Interessen
der unterschiedlichen gesellscha~lichen Gruppen
entsteh en, zu regeln. Gegenstand dieser Instituti-
onen ist dann z.B. d ie Umweltpolitik, die Bil-
Institution dungspolitik oder die Sozialpolitik etc.
Institution ist ein politisch-soziologischer Begriff für stabile, auf
Dauer angelegte Einrichtungen zur Regelung, Herstellung oder Zur U nterscheidung der komplexen Wirklichkeit
Durchführung bestimmter Zwecke. Im Einzelnen kann der Begriff von Politik werden in der Politikwissenschaft drei
unterschiedliche Bedeutungen haben: Dimensionen unterschieden:
1) Institution meint eine soziale Verhaltensweise oder Norm (wie
z. B. die Institution „ Ehe"); • das institutionelle Normengefüge bzw. der poli-
2) Institution meint konkrete, materielle, zweckgerichtete Einrich- tische Ha ndlungsrahmen (polity),
tungen (wie z. B. das Parlament, das Amt des Bundeskanzlers, • der Ablauf der politischen Prozesse (politics)
die öffentliche Verwaltung, die Parteien); und
3) Institution meint abstrakte, immaterielle, zweckgerichtete Ein- • die Inhalte von Politik (policy).
richtungen (wie z.B. das Grundgesetz, die demokratische
Mehrheitsregel).
Diese unterschiedlichen Dimensionen werden in-
Klaus Schubert/Martina Klein, Das Politiklexikon - Begriffe - Fakten - nerhalb der Politikwissenschaft u. a. zur Analyse
Zusa mmenhänge, 6., aktualisierte und erweiterte Auflage, 2016, S. 155 von Politik in Staaten bzw. politischen Systemen
verwe ndet (>Kap. 4).
3.1 Politik und Demokratie
Der Staat
Aus soziologischer Perspektive ka nn ein Staat sehen Prozessen, d. h. der Politikformulierung und
nach dem deutschen Soziologen Max Weber ( 1864 Umsetzung beteiligt sind (>Kap. 4.6). Politische
- 1920) als eine Gesellschaft, die in einem Gebiet Systeme sind keine starren Gebilde, sondern ei-
das Monopol legitime r physischer Gewalt bean- nem stetigen Wandel unterzogen und um fassen
sprucht und damit als eine Herrschaft von Men- neben spezifische n Herrschaftsformen und Regi-
schen über Menschen defini ert werden. metypen auch Formen gesellschaftlicher und po-
litische r Repräsentation.
Der Staatsrechtler Georg Jellinek (1851 - 19 11) hat
mit der sog. ,,Drei-Elemente-Lehre" den Staats- Input und Output des politischen Systems
begriff anhand von drei Eleme nten definiert.
Demnach wird ein Staat durch ein Hoheitsgebiet Das politische System ist Adressat gesellschaftli-
(Staatsgebiet), eine dara uf ansässige (Kern-)Be- cher Forderungen (Input). Diese Forderungen, die
völkerung (Staatsvolk) sowie eine auf diesem Ge- sich konfliktär gegenüberstehen können, sind das
biet herrschende Gewalt (Staatsgewalt) definiert. ,,Rohmaterial", a us dem die politischen Entschei-
Diese drei Eleme nte sind lau t J ellinek erforderlich, dungen entstehen. Beispiele dafür sind Forderun-
damit ein Staat den Status eines Völkerrechtssub- gen nach m eh r Ki ndergeld oder mehr Zuwendun-
j ekts erl angen kann. gen im Bildu ngsbereich. Parteien, Inte ressen-
verbände und Massenmedien agieren dabei im
Ein St aat trifft nicht nu r verbindliche Regeln des intermediäre n Bereich, d. h. in dem Bereich zwi-
Zusammenlebens, er verfügt auch über eine öf- schen Gesellschaft u nd Staat. Ihr Ziel ist es, die
fentliche Verwaltung, die Entscheidungen umsetzt Interessen der Bürger in die Entscheidungsinstitu-
sowie über ein Rechtssystem, das Konflikte regu- tionen einzubringen. Die wesentlichen Entschei-
liert. Zur Durchsetzung seiner Entscheidungen dungsinstitut ionen sind in Deutschland auf Bun-
besitzt ein Staat das Gewaltmonopol und sichert desebene die Bundesregierung, der Bundestag und
d ie Souverä ni tät des Staates nach innen und au- der Bundesrat. Hier werden Forderungen gebün-
ßen . Er ist somit die Gesamtheit de r öffentlichen delt, abgeschwächt, zurückgewiesen bzw. Ent-
Institutionen, die das Zusammenleben regeln. scheidungen getroffen und vereinbart, die auf die
Gesellschaft zurückwirken, da sie fü r die Bevölke-
run g verbindlich sind (Output).
Aufbau eines demokratischen Staates aus der
Perspektive der Politikwissenschaft Das politische Entscheidungssystem
TRANSFORMATION
Freundeskreise
Rückkoppelung Auswirkungen
• Modelle stellen ei11e vereinf achte Darstellu11g grundlegender Merkmale e.illes Sachverlwltes, ei11es Begriffes oder eines
Phänome11s dar. Sie sind somit nicht der Gege11stand selbst, erleichtern jedoch ein strukturelles Verstehe11.
Aufgaben
1. Geben Sie in eigenen Worten wieder, was unter „Staat" und „Politisches System" zu verstehen ist.
2. Beschreiben Sie die Funktionsweise des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland mit Hilfe des
Input-Output-Modells.
3. Erläutern Sie, inwiefern Energiepolitik Politik im engeren Sinne ist und worin der Unterschied zu Politik im
weiteren Sinne besteht.
4. Ermitteln Sie in Ihrem näheren Umfeld eine Gruppe von Menschen, in der Politik im weiteren Sinne betrieben
w ird . Nennen Sie den eigentlichen Zweck der Gruppe und überprüfen Sie mit Hilfe des Modells, welche Rolle
sie im politischen System einnimmt.
METHODENKOMPETENZt
Politik ist ein fa cettenreiches Phä nomen, dass aus Leitfragen sollen dabei helfen, die verschiedenen
unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet wer- Kategorien der jeweiligen Dime nsion zu einem
den kann. Generell unterscheidet man dabei drei polit ischen Problem bzw. Konflikt näher zu be-
Dimensionen des Politischen: den Ordnungs- und trachten. Das Ziel ist es, die unterschiedlichen
Handlungsrahmen (polity), die politischen Inhal- Aspekte von Politik in den Blick zu bekommen
te und Probleme (policy) sowie den Prozess der und die Wechselwirkungen zwischen polity, po-
politischen Gestalt ung (politics). licy und polit ics zu identifizieren.
Polity
Polity bezeichnet den Ordnungs- und Handlungsrahmen, innerhalb dessen politisches Handeln
stattfindet bzw. stattfinden kann.
Kategorien Grundgesetz 1nstitutionen Gesetze Abkommen
(Bsp.)
Leitfragen Welche Regeln Welche Welche Gibt es internationale Abkam-
schreibt das Institutionen verbindlichen men, die einen Ordnungs- und
Grundgesetz sind beteiligt? Rechtsnormen Handlungsrahmen vorgeben?
vor? Was für bzw. Gesetze
Kompetenzen gelten?
haben sie?
Policy
Policy bezeichnet die Inhalte und Probleme, mit denen sich Politik auseinandersetzt. Diese können
sich u. a. auf verschiedene Politikfelder beziehen (z.B. Umweltpolitik, Gesundheitspolitik etc.).
Kategorien Problem Programme Ergebnisse Folgen Beurteilung
(Bsp.)
Leitfragen Was genau ist Welchen Ziel- Welche Welche Folgen Zu welchem
das politische horizont geben Entscheidung hatte die Urteil bzw.
Problem, um politische wurde Entscheidung? Lösungen
das es geht? Programme getroffen? kommen
vor? verschiedene
lnteressens-
gruppen?
Politics
Politics bezeichnet den Prozess der politischen Gestaltung durch Akteure, der durch die
Vermittlung von Interessen sowie Konflikt und Konsens gekennzeichnet ist
Kategorien Akteure Interessen Macht Legitimität
(Bsp.)
Leitfragen Welche Akteure Welche Wer kann sich Wie kommen Entscheidungen
sind beteiligt/ Interessen durchsetzen? zustande? Wie werden Mehr-
betroffen? werden heiten gefunden?
vertreten/
artikuliert?
Awf.gaöen
. Analysieren Sie eine aktuelle politische Frage in Ihrem Bundesland (z. B. die Bildungspolitik) oder eine kom-
munalpolitische Fragestellung (z.B. ein Bauvorhaben, zu dem sich Bürgerinitiativen gegründet haben) nach
dieser Methode.
Diskutieren Sie anschließend, inwiefern die multidimensionale Analyse nach den drei Dimensionen des Politi-
schen ein tieferes Verstehen von Politik ermöglicht.
3.1 .2 Politische Ideengeschichte
Leitfragen Was bedeuten Liberalismus, Welche sind ihre Wie haben sich politische
Sozialismus und Konservatismus? zentralen Ideen? Ideen im l aufe der Zeit
gewandelt?
Die großen gesellschaftlich en, sozialen und wirt- Gilden und Zünfte sowie die Stä ndegesellschaft
schaftliche n Veränderungen des 18. und 19. Jahr- und forderte eine gene relle Gewerbefreiheit für
hunde rts führten zu politischen Forderungen, auf alle Menschen. Der Staat sollte hierfür einen
die politische Theoretiker versucht haben Antwor- rechtlich en Rahmen schaffen u nd die Menschen
ten zu fi nden. Diese fielen zum Teil sehr unter- nur in äußersten Notlagen u nterstützen. In seiner
schiedlich aus. Die politischen Theoretiker be- Rein fo rm st ellt sich der Liberalismus somit bis auf
sch äftigten sich mit den Bedingungen eines äußerste Notlagen gegen j edwede staatlichen Ein-
geordneten Zusa mme nlebe ns, dem Verhält nis griffe in das soziale und wirtschaftliche Leben der
zwischen Einzelnen und der Ge meinschaft sowie Menschen und plädiert für eine Selbsthil fe der
de r Ausgestaltung und Legitimatio n staatlicher Menschen in allen Lebenslage n. Noch heute sind
He rrschaft. Dabei haben sich vor allem drei liberale Parteien Verfechter des Freiheitsgeda nken
Grundströmungen herausgebildet, die als ideolo- und lehnen Eingriffe des Staates in die Privat-
g ische Traditionslinien bis in die heutige Zeit für sphä re des Einzelnen ab.
Parteien in Deutschland und in anderen europäi-
schen St aaten vo n Bedeutun g bzw. identitätsstif- Der Sozialismus verfolgt das Ziel der Erschaffu ng
tend s ind: der Liberalismus, der Sozialismus und einer solida rischen Gesellschaft. Soziale Unter-
der Konservatismus. schied e werden abgelehnt. Die indiv iduelle Frei-
heit soll dort ende n, wo sie der Gesamtgesellschaft
Der Liberalismus hat als Kernziele die Freiheit schadet. Die Idee des Sozialismus e ntsta nd im
des Einzelnen sowie die Beschränkung staatli- Laufe der Industrialisierung in Zusammenha ng
cher Herrschaft, die nur soweit reichen soll, bis mit de r Herausbildung der Arbeiterbewegung und
sie die Freiheit des Einzelnen begrenzt. Nach den der sozialen Frage. In der Folge bildeten sich Pa r-
Ideen des Liberalismus soll der Staat ein sog. teien, die die Ideen des Sozialismus vertraten u nd
.,Nachtwächterstaat" sein. Seine Aufga be ist es, sich u. a. gegen den Klassenunterschied zwischen
uneingeschrän ktes Wirtschaften sicherzustellen. Fabrikbesitzern und Arbeitern wandten. Während
Der Liberalismus stellte sich grundsätzlich gegen ko mmunistische Parteien die revolutionä re Ab-
schaffung der ka pitalistischen Wirtschaftsord-
nung fo rderten, waren a ndere Parteien wie die
Ideologie Sozialdemokraten n icht davon überzeugt, dass
sich dje Freiheit des Einzelnen g rundsätzlich dem
Im politischen Sinne dienen Ideologien zur Begründung und
Gemeinwo hl unterordnen soll. Auch heutige sozi-
Rechtfertigung politischen Handelns. Ideologien sind daher im-
aldemokratische Parteie n vertreten nicht die Ziele
mer eine Kombination von (...] bestimmten Weltanschauungen,
die jeweils eine spezifische Art des Denkens und des Wertsetzens des ursprünglichen Sozialismus. Sie stehen den
bedingen, und (...] eine Kombination von bestimmten Interessen Gewerkschaften j edoch noch immer na he und
und Absic hten, die i. d. R. eigenen Zielen dienen, d. h. neben der stellen in ihren Programmen „das Soziale" als be-
Idee und Weltanschauung auch den Wunsch zur konkreten politi- sonderen Aspekt heraus.
sehen und sozialen Umsetzung ausdrücken. Ideologien sind we-
sentlicher Teil politischer Orientierung; sie s ind sowohl Notwen-
Der Konservatismus e ntwickelte sich in Oppositi-
digkeit als auch Begrenzung politischen Handelns.
on zu liberalen und demokratisch en Ideen, die
Klaus Schubert/Martina Klein, Das Politiklexikon - Begriffe - j eweils neu e Herrschaftso rdnungen anstrebten.
Fakten - Zusammenhänge, 6., aktualisierte und erweiterte A uflage, Nach d er ko nservativen Idee soll die herrschende
20 / 6, S. l 50f
polit ische Ordnung bewahrt werden. Ungleich-
heiten zwischen den Menschen wurden als na-
3.1 Politik und Demokratie
turgegeben angesehen, jedoch durch das Prinzip auch heute i. d. R. gegen j edweden sozialistischen
der Nächstenliebe zumindest abgemildert. Im Lau- Kollektiv ismus sowie unbeschränkte n liberalen
fe der Zeit hat sich eine als liberaler Konservatis- Individualis mus. Die Christdemokratie, in der
mus zu bezeichnende Ideologie entwickelt, die konservative Werte erhalten geblieben sind, be-
sich nicht gegen demokratische Herrschaftsfor- tont den christlichen Werten fo lgend stark den
men wendet. Dennoch sind konservat ive Parteien Schutz der Familie.
Denkschulen im Vergleich
Aufgaben
1. Im Bereich der Sozialpolitik werden u. a. folgende Ansätze diskutiert:
- steuerfinanzierte Grundsicherung für alle Bürger
- Auflösung der privaten Krankenkassen zugunsten einer einheitlichen gesetzlichen Krankenkasse für alle
- nur geringe Fürsorge für stark Bedürftige
- Abschaffung der Pflichtversicherungen
Ordnen Sie die die Ansätze jeweils eine der Grundströmungen der zentralen politischen Denkschulen zu
und formulieren Sie Erwiderungen von Vertretern der anderen Lager.
2. Ermitteln Sie in den Programmen der FDP, SPD und CDU/ CSU Forderungen und Ziele, in denen die Kon-
tinuität des traditionellen Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus zu erkennen sind. Stellen Sie Ihre
Ergebnisse anschließend Ihren Mitschülern vor.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Aber von allen politischen idealen ist der Wunsch, die Menschen glücklich zu machen,
vielleicht der gefährlichste. Ein solcher Wunsch führt unvermeidlich zu dem Versuch,
anderen Menschen unsere Ordnung „höherer" Werte aufzuzwingen, um ihnen so die
Einsicht in Dinge zu verschaffen, die uns für ihr Glück am wichtigsten zu sein scheinen;
s also gleichsam zu dem Versuch, ihre Seelen zu retten. Dieser Wunsch führt zu Utopis-
mus und Romantizismus. Wir alle haben das sichere Gefühl, dass jedermann in der
schönen, der vollkommenen Gemeinschaft unserer Träume glücklich sein würde. Und
zweifellos wäre eine Welt, in der wir uns alle lieben, der Himmel auf Erden. Aber [ ... ]
der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle.
Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen,
8. Aufl., durchgesehen und ergänzt, 2003, S. 277J
30 Ihr Wirken ist darauf gerichtet, durch öffentliche Protest- und Aktionsformen gesell-
schaftliches Problembewusstsein zu wecken und sozialen Wandel über grundlegende
Reformen zu erreichen.
Die Neuen Sozialen Bewegungen haben die politische Kultur und Praxis in den west-
lichen Industriestaaten deutlich verändert und eine Theorieströmung befördert, die das
3s außerparlamentarische politische Engagement von Bürgern unter dem Begriff der Bür-
ger- oder Zivilgesellschaft* diskutiert.
Teile von ihnen haben sich in die etablierten politischen Strukturen integriert, wie z. 8.
die [... ] grün-alternativen Parteien in Europa.
•Zivilgesellschaft= Gemeinschaft selbständiger, politisch und sozial engagierter Bürger, die zwischen
Politik und Staat, Wirtschaft und Privatsphäre agieren. Ihr Handeln ist durch Eigenaktivität, Selbstorga ni-
sation und Verantwo rtung fü r das Gemeinwohl gekennzeichnet.
Zentrale Ziele
Frauenbewegung Politische und soziale Gleichberechtigung von Männern und Frauen
Umweltschutzbewegung, Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und Ressourcen (u. a.
Anti-AKW-Bewegung Umweltschutz, Konsumkritik, ökologisches Gleichgewicht; Stopp der
Nutzung „ziviler Atomkraft" ... )
Alternativbewegung Alternative Lebens- und Arbeitspraxis (neue Geschlechterrollen,
Familienmodelle, Werte) als Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft
Friedensbewegung Friedliches Zusammenleben der Völker, globale
militärische Abrüstung (gegen Krieg als Mittel der Politik, für alternative
militärische Sicherheitsstrategien, zivile Konfliktlösungen)
Menschen- und Verwirklichung der Menschen- und Bürgerrechte (national, internatio-
Bürgerrechtsbewegung nal), Demokratisierung, politische Freiheiten
Dritte-Welt- / Eine-Welt- Aufhebung der ökonomischen Abhängigkeit (,,Ausbeutung") der
Bewegung unterentwickelten Länder von den Industrieländern
Antiglobalisierungsbewegung Gegen Folgen der Globalisierung (politische / ökonomische/
soziale Ungerechtigkeiten)
Aufgaben
1. Erläutern Sie, was der Philosoph Karl Popper unter der Aussage „der Versuch, den Himmel
auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle" verstand (M 1).
2. Recherchieren ( Methodenglossar) Sie in Gruppenarbeit jeweils Beispiele für zwei der aufgeführten
sozialen Bewegungen. Stellen Sie deren Ziele der Aussage Poppers gegenüber (M 1, M 2).
3.1 .3 Identitäts-, Konkurrenz-
und Pluralismustheorie der Demokratie
Leitfragen Was ist Demokratie Worin unterscheiden sich Welchen Einfluss hatten bzw. haben
und wie lässt si e sich Identitäts- und Konkurrenz- politische Theorien auf das politische
verwirklichen? bzw. Pluralismustheorie? System Deutschlands?
Demokratietheorien
„Demokratie ist Regierung des Volkes durch das Zwar gab es bereits in der Antike St aatstheoreti-
Volk für das Volk". A uf diese zunächst einfach ker, die sich mit dem demokratischen Aufbau
erscheinende Formel hat der einstige amerikani- eines Staates auseinandergesetzt haben, seit
sche Präsident Abraham Lincoln (1809 - 1865) die Beginn der Aufklärung wurden jedoch moderne
Frage danach, was Demokratie (von griech. demos Demokratietheorien fü r die heutigen Staaten rele-
= Volk, kratein = herrschen) eigentlich ist, ge- vant. Neben der von Jean-Jaques Rousseau ( 1712 -
bracht. Doch lässt sie völlig offen, wie die Regie- 1778) entwickelten Identitätstheorie, entstand im
rung mit Macht ausgestattet, wie das gesamte angelsächsischen Raum u. a. durch James
Volk herrschen und wie Gesetze für das gesamte Madison ( 1751 - 1836) die Konkurrenztheorie,
Volk, in dem es oft fundamental verschiedene In- die in Deutschland durch Ernst Fraenkel ( 1898 -
teressen gibt, beschlossen werden sollen. Staats- 1975) zur Pluralismustheorie weiterentwickelt
theoretiker haben teilweise sehr unterschiedliche wurde. Die Theorien unterscheiden sich insbeson-
Antworten auf die Frage, wie Demokratie genau dere da hingehend, wie in einem Staat das Ge-
a usgestaltet sei n soll, hervorgebracht. meinwohl erreicht werden kann.
Identitätstheorie
Rousseau war vom abso- ne und gleiche Wahlrecht entwickelt und die Skla-
1utistischen Regierungs- verei abgeschafft. Zugleich diente die Ide ntitäts-
system Frankreichs ge- theo rie aber auch zur Legitimation vo n Diktaturen.
prägt, gegen das er sich In der Tradi tion dieses Demokratieverständnisses
mit seiner Staatstheorie standen z. B. die kommunistischen „Volksdemo-
wandte. Sein Prämisse kratien". Auch der bedeutende deutsche Staats-
war: ,,Der Mensch ist zwar rechtler Carl Schmitt ( I 888 - 1985), der die Herr-
frei geboren, doch überall sch aft Hitlers theoretisch zu recht fertigen suchte,
liegt er in Ketten". Im Mit- war ein Anhänge r der Identitätstheo rie. Dass die
Jean-Jacques Rousseau
telpunkt seines Denkens Ident itätsth eorie in der Praxis auch z ur Entwic k-
beeinflusste mit seiner
1762 erschienenen
stand die Idee der Volks- lung von Diktaturen führen kann, ist dabei be-
Schrift „Du Contrat souveränität, d. h. dass reits in der Theorie von Rousseau angelegt, da die
Social" den Diskurs über das Volk oberste Gewalt Untero rdnung des Einzelnen unter die Gemein-
Demokratie nachhaltig. des Staates ist und dass schaft die Gefahr a utoritärer und totalitärer Ent-
staatliches Handel n nur wicklungen birgt.
du rch das Volk legitimiert werden kann. Ein wei-
terer zentraler Punkt von Rousseaus Identitätsthe-
orie ist die Orie ntierung an einem einheitlichen Konkurrenztheorie
Volkswillen und einem vorgegebenen (a priori)
Gemeinwohl, welches vernunftgeleitet, d. h. ob- In bewusster Abgrenzung
j ektiv erkennbar und einheitlich ist und deshalb zu Rousseau entwickelten
von vornherein feststeht. Meinungsverschieden- die a merikanischen Ver-
heiten bzw. egoistische Einzelinteressen zwischen fassungsväter die Konkur-
den Bürgern gibt es nur aufgrund mangelnden renztheorie. Sie waren der
Wissens. Sie werden in der Volksversammlu ng Ansicht, dass d ie Voraus-
ausgeglichen, indem jeder aufgrund eines ver- setzungen für eine Demo-
nünftigen Urteils entscheidet. Eine der Entschei- kratie nach Rousseau
dung vorausgehende Diskussion ist somit genau- nicht gegeben wa ren. Zu-
James Madison
so wenig zulässig wie intermediä re Organisationen, dem gingen sie davo n begründete im Federa-
z. B. Parteien oder Verbä nde, da diese Träger ego- a us, dass es kein objekti- List-Artikel Nr. 10 seine
istischer Sonderinteressen sind, die sich gegen das ves Gemeinwohl gibt, Vorstellung von einem
Gemeinwohl wenden. In einer De mokratie nach sondern dass die Gesell- demokratischen
diesen Prämissen sind die Regierten und die Re- schaft in verschiedene S t aatswesen.
gierenden identisch. Voraussetzun gen für die Um- Gruppen aufgeteilt ist, die
setz ung der Identitätstheorie sind, dass das Staats- naturgegeben verschiedene polit ische Interessen
gebiet klein ist (da s ich sonst nicht alle Bürger vertreten. J ames Madison hat dara uf basierend
treffen kön nen), die Gesellschaft möglichst homo- eine Theorie für eine demokratische Herrschafts-
gen ist und in der Erziehu ng die Ausbildung ver- form entwickelt, die auch den Anforderungen ei-
nunftgeleiteter Entsch eidungen berücksichtigt nes großen Territo rialstaats Rechnung trägt. Die
wird. Theorie sieht vor, dass die Willensbildung in solch
einem Staat durch einen offenen Prozess zwischen
den heterogenen Gruppeninteressen geschehen
Einfluss der Identitätstheorie soll. Die Bürger wählen hierfür Repräsentanten,
auf moderne Staaten die ihre jeweiligen Interessen vertreten. Aufgru nd
der Vielfalt der möglichen ko nfliktären Interessen
Unter dem Einfluss der Ide ntitätsth eorie wurde im werden Entscheidungen durch das Mehrheitsprin-
Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts das allgemei- zip herbeigeführt.
3 Politische Theorie
Gemeinwille
allgemeiner Wille
Repräsen- Repräsen-
tanten tanten
Filter scheidet egoistische Einzelinteressen aus,
lässt nur gemeinwohlorientierte Ziele durch
Konkurrenz
0)
C
::::,
Zustimmung .0
Qi
Unterstützung ~
Wahl
Ragnar Müller, 1998 - 201 J D@dalos - politische Bildung, Demokratieerziehung, Menschenrechtsbildung, Friedenspädagogik,
www.dadalos-d. org, 23.1.20 17
3. 1 Politik und Demokratie
freiheit. Die Achtung dieses Grundkonsenses soll ihnen gibt. Hierin liegen wesentliche Kritikpunkte
der Staat im Rahmen eines pluralistischen Sys- der Pluralismustheorie, da die Interessen von wirt-
tems sicherstellen. Damit innerhaJb eines Staates schaftlich besonders potenten Gruppen (z.B. Ge-
die pluralistischen Interessen positive Wirkungen werkschaften, Arbeitgeberverbände) oftmals ei-
entfalten können, ist es von hoher Bedeutung, nen stärkeren Einfluss auf politische Entschei-
dass möglichst alle wesentlichen in der Gesell- dungsprozesse entfalten können als die Interessen
schaft bestehenden Interessen politisch organi- von wirtschaftlich schwächeren Gruppen (z.B.
siert sind und es ein Machtgleichgewicht zwischen Kinder, Rentner).
Rousseau Fraenkel
Menschenbild Der Mensch ist frei, gleich und Der Mensch hat von Natur aus
friedlich. Da erst die Zivilisation zu unterschiedliche Interessen, die
Unterdrückung und Herrschaft führt, berechtigt sind.
muss jeder Mensch quasi gezwungen
werden frei zu sein.
Aufgaben
2. Erläutern Sie, wie diktatorische Herrschaftssysteme unter Rückgriff auf die Identitätstheorie ihre autoritären
und totalitären Regime rechtfertigen könnten.
1 KO MPETENZEN ANWENDEN
Markus Schwering: Sie stiegen 1961 mit Ihrer Habilitationsschrift über den „Struktur-
wandel der Öffentlichkeit" in die intellektuelle Arena. Diese hat sich mittlerweile, zumal
durch die Neuen Medien, radikal verändert. Wie lässt sich Ihr normativ imprägnierter
Begriff von Öffentlichkeit auf die aktuellen Verhältnisse beziehen?
s Jürgen Habermas: Heute kann man sogar im Westen beobachten, wie demokratische
Verfahren und Einrichtungen ohne eine funktionierende Öffentlichkeit zu bloßen Fas-
saden verkommen. Und politische Öffentlichkeiten funktionieren nur unter anspruchs-
vollen normativen Voraussetzungen. Vor allem dürfen die öffentlichen Kommunikati-
onskreisläufe nicht von aller inhaltlichen Substanz entleert und von den tatsächlichen
10 Entscheidungsprozessen abgekoppelt werden. Diese beiden Aspekte ließen sich an-
hand der europäischen Krisenpolitik der letzten Jahre gut illustrieren.
Jürgen Habermas: Weder, noch. Ich betrachte die Einführung der digitalen Kommu-
1s nikation - nach den Erfindungen der Schrift und des Buchdrucks - als die dritte große
Medienrevolution. Mit diesen jeweils neuen Medien haben immer mehr Personen zu
immer vielfältigeren und immer dauerhafter gespeicherten Informationen einen immer
leichteren Zugang gefunden. Mit dem letzten Schub hat auch eine Aktivierung statt-
gefunden - aus Lesern werden Autoren. Aber die Errungenschaften einer politischen
20 Öffentlichkeit folgen daraus nicht automatisch. Im 19. Jahrhundert sind mithilfe des
Zeitungsdrucks und der Massenpresse in großflächigen Nationalstaaten Öffentlichkei-
ten entstanden, in denen die Aufmerksamkeit einer unübersehbar großen Zahl von
Personen zur gleichen Zeit auf dieselben Themen gelenkt worden ist. Das erklärt sich
nicht von selbst aus den technischen Vorzügen der Vervielfältigung, Ausbreitung, Be-
2s schleunigung und verlängerten Haltbarkeit von Daten. Das sind die zentrifugalen Be-
wegungen, die wir nun auch im Web beobachten. Demgegenüber hat die klassische
Öffentlichkeit eine Struktur, die d ie Aufmerksamkeit eines großen anonymen Publi-
kums von Staatsbürgern auf wenige große, politisch wichtige und regelungsbedürftige
Themen konzentriert. Das Netz bringt diese Leistung nicht aus sich selbst hervor, im
30 Gegenteil: Es zerstreut. Denken Sie an die spontan auftauchenden Portale, sagen wir:
für hochspezialisierte Briefmarkenfreunde, Europarechtler oder anonyme Alkoholiker.
Solche Kommunikationsgemeinschaften bilden im Meer der digitalen Geräusche weit
verstreute Archipele - vermutlich gibt es Milliarden davon. Den in sich abgeschlosse-
nen Kommunikationsräumen fehlt das Inklusive, die alle und alles Relevante einbezie-
3s hende Kraft einer Öffentlichkeit. Für diese Konzentration braucht man die Auswahl und
kenntnisreiche Kommentierung von einschlägigen Themen, Beiträgen und Informati-
onen. Die nach wie vor nötigen Kompetenzen des guten alten Journalismus sollten im
Meer der digitalen Geräusche nicht verloren gehen. [...]
Markus Schwering: Mitunter wird Ihnen vorgeworfen, Ihr Politikmodell verfehle, inso-
40 fern es politische Entscheidungsprozesse nach dem Modell wissenschaftlicher Er-
kenntnis forme, wesentliche Dimensionen des „Politischen" .
45 Inklusion, also die Einbeziehung aller Bürger, andererseits Deliberation*, z.B. Wahl-
kämpfe und Parlamentsdebatten, die den politischen Entscheidungen von Wählern
oder Gesetzgebern vorausgehen müssen. Das Ergebnis von pol itischen Wahlen, die
über die Machtverteilung zwischen konkurrierenden Parteien entscheiden, unterschei-
det sich von demoskopischen Umfrageergebnissen vor allem durch dieses Element
50 vorangehender öffentlicher Debatten. Das hat nichts mit wissenschaftlicher Erkennt-
nis, aber viel mit der Erwartung zu tun, dass politische Probleme auf eine möglichst
rationale Weise gelöst werden. Diese Rationalitätserwartung verlangt nämlich, dass
zuverlässige Informationen und gute Gründe für relevante Vorschläge öffentlich auf
den Tisch kommen. Dabei spielen normative Gründe oft eine viel wichtigere Rolle als
55 empirische Feststellungen und wissenschaftliche Expertisen - aber es sind in jedem
Fall Gründe, die zählen sollen. Diese kognitive Dimension der Willensbildung von Bür-
gern und Politikern ist umso wichtiger, je größer die Unsicherheit ist, unter der politi-
sche Entscheidungen gefällt werden müssen.
• Delibera tion [Deliberative Demokratie} beschreibt eine auf de11 A ustausch vo11 Argumente11 angelegte Form
der Entscheidungsfindung un ter Gleichberechtigten. Das bessere Argument und nicht die Mehrheitsabstim-
mung soll die Entscheidungen prägen und zu besseren Entschlüssen führen, weil - im ldeaifa /1 - alle
Argumente gegeneinander abgewogen werden und eine Einigung auf die „beste" Lösung möglich ist. [...].
Die Beratungen sollen laut der Theo rie geprägt sein du rch: Austausch von A rgumenten, Inklusion und
Öffentlichkeit.
Aufgaben
1. Fassen Sie den Kerngedanken der deliberativen Demokratie zusammen.
2. Arbeiten Sie aus dem Text M 1 heraus, welche Position Habermas zum Demokratiegewinn
durch das Internet und zur Deliberativen Demokratie vertritt.
3 .1 .4 Kernelemente moderner Demokratien
Leitfragen Welche Elemente kennzeich- Wie wird demokratische Herrschaft Vor welchen Herausforde-
nen die Demokratie? kontrolliert und begrenzt? rungen stehen die modernen
Demokratien?
Nicht nur die Grundströmungen des politischen nachdem, ob alle, nur ein gewisser Teil oder gar
Denkens und der politischen Theorien entwickeln keiner dieser Wahlgrundsätze bei einer Wahl ge-
sich st ets fort, sondern auch demokratische poli- geben sind, unterscheidet man zwischen freien
tische Systeme sind nie endgültig abgeschlossen oder unfreien Wahlen.
und passen sich an neue Begebenheiten an. Den-
noch kö nnen Kernelemente identifiziert werden,
die moderne Demokratien auszeichnen. Rechtsstaat
Rechtsstaates sind weiter eine u nabhängige Ver- Weitere Formen der Gewaltenteilung sind
fassungsgerichtsbarkeit, garantierte Rechtssicher-
heit sowie faire Gerichtsverfahren für alle Bürger. • d ie vertikale Gewaltenteilung durch die Vertei-
lung der Macht auf verschiedene politische Ebe-
Gewaltenteilung nen (z. B. Bund, Land, Gemeinde),
Wirksame politische Partizipation und gesell- • die temporale Gewalten teilung, indem d ie po-
schaftliche Impulse sind stark eingeschränkt, litischen Ämter auf Zeit vergeben werden u nd
wenn die gesamte staatliche Macht bei einer Par- sich die Entscheidungsträger zum Erhalt der
tei oder einem Individuum konzentriert ist, wie Macht Neuwahlen stellen müssen,
z.B. in einer Diktatur oder einer absolutistischen
Mo narchie. Wesentliches Merkmal eines Rechts- • d ie konstitutionelle Gewaltenteilung, nach der
staates und dessen tragendes Organisationsprin- einige Entscheidungen nur mit qualifizierter
zip ist deshalb die Gewalte nteilu ng. Sie soll zu Mehrheit (z. B. Zweidrittelmehrheit) getroffen
einer Ausbalancierung und Kontro lle politischer werden können oder einige Verfassungsprinzi-
Macht führen und Machtmissbrauch durch einen pien wie die Grundrechte unveränderlich sind
Träger politischer Herrschaft mögl ichst verhin- sowie
dern. Deshalb wird die polit ische Macht auf meh-
rere Organe verteilt, die sich gegenseitig ein- • die dezisive Gewaltenteilung durch den plura-
sch ränken. Den Überlegungen von Charles de listischen Prozess der Entscheidungsfindu ng, in
Mo ntesquieu fo lgend, werden in demokratischen dessen Rah men Parteien, Interessenverbände
Staaten die Exekutive (ausführende Gewalt), d ie und Medien Einfluss auf politische Entschei-
Legislative (gesetzgebende Ge- dungen ausüben.
walt) u nd die Judikative
(richterliche Gewalt) von- Pluralismus
einander unterschieden.
Unter Plural ismus ist der legitime Wett bewerb
u nterschied lichster und zum Teil a uch entge-
Charles de Mo ntesquieu gengesetzter Interessen zu verstehen. Er basiert
(1689 - 1755),Jranzösi-
auf der Gewährleistu ng zentraler Grundrechte
scher Staatstheoretiker,
auf den das Prinzip der wie der Meinungs- und Pressefreiheit, der Ver-
Gewaltenteilung z u rückge- sammlu ngsfreiheit u nd dem Recht auf Bildung
führt wird. von Vereinen u nd Parteien.
Aufgaben
1. ,,Der Geist der Machtanmaßung strebt danach, die Gewalt aller Ämter in einem zusammenzufassen und so
unabhängig von der Regierungsform praktisch den Despotismus herbeizuführen. [... )Das menschliche Herz
[neigt dazu] Macht zu missbrauchen." (George Washington, 1732 - 1799)
Erklären Sie ausgehend von George Washingtons Zitat, warum aus demokratietheoretischer Sicht Machtbe-
schränkungen sinnvoll sind und welche Formen vorstellbar sind.
2. Erläutern Sie, inwiefern die einzelnen Kernelemente moderner Demokratien miteinander zusammenhängen.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Auch wenn man mit guten theoretischen wie empirischen Gründen die Existenz eines
Goldenen Zeitalters der Demokratie für einen Mythos hält, wird man nicht umhinkom-
men, massive Gefährdungen der Demokratie zu diagnostizieren, die die Legitimitäts-
achsen in den reifen Demokratien verschieben. Diese Dynamik lässt sich anschaulich
5 auf drei zentralen Ebenen der Demokratie zeigen: der Partizipation, der Repräsentati-
on und der Frage: Wer regiert eigentlich?
Zum Kanon der Krisendiagnosen gehört seit drei Jahrzehnten, dass Kernfunktionen
der Demokratie wie Partizipation, Repräsentation und Inklusion in den entwickelten
Demokratien ausgehöhlt werden. Die Partizipation nimmt ab, die Repräsentation
10 bricht, die Inklusion versagt. Die Demokrat ie verliert ihren partizipativen Kern und ver-
kommt zur elitären Zuschauerdemokratie. Stimmt das?
In Deutschland, West- und noch viel stärker in Osteuropa geht die Wahlbeteiligung
zurück. In Westeuropa gaben 1975 durchschnittlich 82 Prozent, im Jahr 2·012 nur noch
72 Prozent der Wahlberechtigten in nationalen Wahlen ihre Stimme ab. In Osteuropa
15 ist der Rückgang dramatischer: Von 72 Prozent im Jahre 1991 sank die Wahlbeteili-
gung 2012 auf 55 Prozent. In den Vereinigten Staaten und der Schweiz wären selbst
diese Zahlen alles andere als alarmierend. Die durchschnittliche Beteiligung an den
Kongresswahlen betrug in den vergangenen zwei Jahrzehnten durchschnittlich nicht
mehr als 44 Prozent. In der Schweiz gingen im selben Zeitraum weniger als 46 Prozent
20 zu den nationalen Parlamentswahlen.
Das Problem ist jedoch nicht die Wahlbeteiligung an sich , sondern die mit ihr einher-
gehende soziale Selektivität. Denn als empirisch gesicherte Faustregel kann gelten,
dass mit der sinkenden Wahlbeteiligung die soziale Exklusion steigt. Die unteren
Schichten verschwinden, die Mittelschichten bleiben. Fragt man Angehörige der Un-
25 terschicht, ob das Wählen oder ihre politische Teilnahme einen Einfluss auf politische
Entscheidungen hätten, antworten mehr als zwei Drittel resigniert mit Nein. Konfron-
tiert man Bürger aus den Mittelschichten mit derselben Frage, antworten mehr als zwei
Drittel selbstbewusst: Ja, das mache einen Unterschied. Inzwischen deutet einiges
darauf hin, dass die amerikanische Krankheit der Unterschichtsexklusion auch die
30 europäischen und deutschen Wähler ergreift. Der Wahldemos bekommt Schlagseite:
Die Dominanz der Mittelschichten verstärkt sich, die unteren Schichten brechen weg.
Allerdings gilt es, die abnehmende Wahlbeteiligung und den rapiden Mitglieder-
schwund der Parteien mit neuen Formen nichtkonventioneller Partizipation zu verrech-
nen. Solche aktiven Formen der Beteiligung und Einmischung haben in den vergange-
35 nen Jahrzehnten erheblich zugenommen. Das muss als positives zivilgesellschaftliches
Engagement angesehen werden. Aber auch auf diesem Feld verschärft sich als unbe-
absichtigte Nebenfolge das soziale Selektionsproblem der Demokratie. Tätigkeit in
zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Amnesty International, Greenpeace, Attac,
Human Rights Watch, Transparency International, in Protestbewegungen, Eltern- oder
40 Umweltverbänden sind sozial hochgradig selektiv: Es engagieren sich vor allem junge,
gut ausgebildete Menschen für die Demokratie.
Der Protest gegen Stuttgart 21 wird zusätzlich von Angehörigen reiferer Jahrgänge
getragen, aber auch sie sind meist Akademiker oder Bessergestellte. Einwanderer und
die bildungsfernen unteren Schichten trifft man kaum an. Dasselbe gilt übrigens auch
45 für die Abhaltung von Referenden. In den sogenannten Volksabstimmungen stimmt
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
vor allem das besser gebildete Volk ab, die unteren Schichten fehlen meist. Das gilt
für die Fiskalpolitik in der Schweiz und Kalifornien ebenso wie für die Schulpolitik in
Hamburg. Kurzum: Weder die Zivilgesellschaft noch Volksabstimmungen oder die so-
genannte deliberative Politik vermögen das Übel der sozialen Selektion zu verhindern.
50 Im Gegenteil, sie verstärken es sogar noch. Der Trend geht zur Zwei-Drittel- oder gar
halbierten Demokratie.
Die SPD hat seit der deutschen Wiedervereinigung fast die Hälfte ihrer Mitglieder ver-
loren, die CDU ein gutes Drittel. Die Parteien drohen zu mitgliedsarmen Kartellen mit
monopolistischem parlamentarischem Repräsentationsanspruch zu verkommen. Al-
ternative Organisationen aber, die mit derselben demokratischen Legitimität allgemei-
so ner Wahlen Repräsentationsfunktionen im 21. Jahrhundert übernehmen könnten, sind
nicht in Sicht.
Ein weiterer beunruhigender Befund ist die zunehmend niedrige Zustimmung der Bür-
ger zu Parteien und Parlamenten. Polizei, Militär, Kirchen, Expertengremien , Verfas-
sungsgerichte und Zentralbanken erzielen deutlich höhere Unterstützungswerte. Je
s5 weiter öffentliche Institutionen vom Kerngeschäft der Politik entfernt sind, umso bes-
sere Umfragewerte erhalten sie. In Deutschland nennt man das Politikverdrossenheit.
Es droht eine Verschiebung der Legitimitätsachse von „majoritären" demokratischen
Verfahren zu „nicht-majoritärer" Expertise. [...]
Verfahren getroffen. Hinter dieser Verlagerung stehen deregulierte Märkte, globale Fir-
men, Großinvestoren, weltumspannende Banken, finanzstarke Lobbys und suprana-
tionale Organisationen und Regime. Mit dem österreichischen Ökonomen Friedrich
15 August von Hayek (1899 - 1992) mag man darin den Sieg der überlegenen evolutio-
nären Logik der Märkte über den zum Scheitern verurteilten Versuch erkennen, die
Märkte politisch einzuhegen. Demokratisch ist das sicherlich nicht. Zudem hat der
bewusste Rückzug der Politik aus dem internationalen Marktgeschehen spätestens
seit dem Washington Consensus auch zur Finanzkrise von 2008 beigetragen und den
eo Nimbus überlegener Marktlogik erheblich in Mitleidenschaft gezogen.
den Vereinigten Staaten der fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, eine
95 Schweizer Frau in den sechziger Jahren oder Homosexuelle in Deutschland und an-
derswo lieber in den siebziger Jahren gelebt hätten als heute, und die Annahme glo-
rioser demokratischer Vergangenheit entpuppte sich rasch als Chimäre.
Richtig ist vielmehr, dass die entwickelten Demokratien unterschiedliche Trends durch-
ziehen: Frauen haben mehr Rechte und Chancen als vor 40 Jahren, kulturelle und
100 sexuelle Minderheiten sind besser geschützt, die Transparenz der Parteien, Parlamen-
te und der politischen Klasse ist höher. Aber es verschieben sich die Legitimitätsach-
sen demokratischen Regierens. Die Hochzeit der politischen Parteien ist mit dem 20.
Jahrhundert zu Ende gegangen, und Ersatz ist für das 21 . Jahrhundert nicht in Sicht.
Die undemokratischen Nebenwirkungen anonymisierter „Diskurse" im Netz oder deli-
105 berationsarmer elektronischer Abstimmungen sind erheblich. Die Macht der Banken,
Ratingagenturen und globalen Unternehmen ist immens gestiegen. Die Globalisierung
der Märkte schränkt demokratische Spielräume ein. Supranationale Regime wie die
EU und internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds lassen
sich weder nach dem Muster noch nach der Qualität von Nationalstaaten demokrati-
110 sieren.
Was schon schmerzvoll in der Europäischen Union sichtbar wird, gilt aber umso mehr
auf der globalen Ebene. Das Regieren jenseits des Nationalstaates wird nicht nur an-
ders und komplexer, sondern auch weniger demokratisch sein.
Aufgaben
1. Arbeiten Sie aus dem Text M 1 heraus, was laut Wolfgang Merkel zu einer Krise der Demo-
kratie führt.
2. Erörtern Sie auf Basis des Textes M 1 die These: ,,Die Demokratie ist die beste Herr-
schaftsform , um heutige gesellschaftliche Herausforderungen zu lösen".
Formen
• demokratischen Regierens
Leitfragen Was machen parlamentarische und Worin unterscheiden sie Was ist unter semipräsidenti-
präsidentielle Regierungs- sich? ellen Regierungssystemen zu
systeme aus? verstehen?
Elemente des präsident iellen als auch des pa rla- menarbeiten. Idealtypisch bestimmt der Präsident
mentarischen Regie rungssystems auf. In semi- den polit ischen Entscheidungsprozess, wenn Prä-
präsident iellen Regierungssystemen wird der Prä- sident, Regieru ngschef und Parlamentsmehrheit
sident wie im präsidentielle n Regieru ngssystem der gleichen Partei angehören. Sollten j edoch der
direkt vom Volk gewählt. Er ernennt selbstständig Präsident auf der einen Seite und Regierungschef
einen Regierungschef und die weiteren Regie- und Pa rlamentsmehrheit a uf der ande ren Seite aus
ru ngsmitglieder. Die Regierung muss allerdings unterschiedlichen Lagern kommen, bestimmt die
wie im parlamentarischen Regierungssyst em von Regierung den politischen Entscheidungsprozess,
der Parlamentsmehrheit mitgetragen werden. Das während die Befugnisse des Präsidenten sich auf
Parlament wird durch eine getrennte Wahl legit i- die Außen- und Sicherheitspolitik konzentrieren.
miert u nd kan n die Regierung du rch ein Misstrau- Klassisches Beispiel fü r ein semipräsidentielles
ensvotu m stürzen. Präsident und Parlam ent müs- Regierungssystem ist das Regieru ngssystem
sen bei der Regieru ngsbildung also eng zusam- Frankreichs.
Regierungssystem
1
in Republiken
7 in Monarchien
Regierungsform
1
Demokratie '
'''
''
'
Diktatur
----
----
~
''
/ l A ' --- ''
'
-- --,
präsidentiell parlamentarisch semipräsidentiell parlamentarisch '
konstitutionell absolut
3.2 Formen demokratischen Regierens
Regierungssysteme im Überblick
Legitimation Das Volk wählt nur das Das Volk wählt Präsident Das Volk wählt Präsident
der Regierung Parlament, welches und Parlament. Die und Parlament. Die Regie-
daraufhin die Regierung Regierungsspitze wird rung mit dem Regierungs-
wählt. somit unabhängig von den chef wird auf der Grundla-
Kräfteverhältnissen im ge der Kräfteverhältnisse
Parlament bestellt. im Parlament vom Präsi-
denten ernannt.
Abberufbarkeit Durch das Parlament. Kein Abberufungsrecht des Das Parlament kann die
der Regierung Parlamentes. Regierung abberufen, nicht
aber den Präsidenten.
Auflösung des Die Regierungsspitze kann Der Präsident kann das Auflösungsrecht des
Parlamentes das Parlament auflösen. Parlament nicht auflösen. Präsidenten nicht
obligatorisch.
Vorteile Kontrolle der Regierung; Hohe Legitimität der Hohe Legitimität des
auch durch Möglichkeit der Regierung durch deren Präsidenten, aber gleich-
Abwahl, keine Blockade Direktwahl, klare Gewalten- zeitig parlamentarische
zwischen Regierung und teilung, höhere Wahr- Kontrolle der Regierung.
Parlament. scheinlichkeit der Anwen- Trotz verschiedener
dung des freien Mandats Parteizugehörigkeit des
durch Abgeordnete. Präsidenten und der
Parlamentsmehrheit
Blockadepolitik eher
unwahrscheinlich.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie die drei idealtypischen Regierungssysteme mit ihren grundlegenden Merkmalen.
2. Erläutern Sie den Begriff des Regierungssystems und grenzen diesen von den Begriffen Staats- und Herr-
schaftsform ab.
3. Wenn Sie Mitglied in einem Rat zur Reform eines Regierungssystems wären, für welchen der drei (Ideal-)
Typen würden Sie sich entscheiden? Diskutieren Sie in Gruppen und begründen Sie Ihre Ergebnisse.
1 KO MPETENZEN ANWENDEN
Judikative
sident (einmalige Wiederwahl möglich)
Aufschiebendes Veto gegen Gesetz
Ernennung
Ausgabenbewilligungsrecht der Richter
auf Lebenszeit
(mit Zustim-
mung des
Kein Sturz 1 Senats)
durch Miss-
trauens-
Repräsentanten- Senat votum Verfassungs-
rechtliche
haus
435 Abgeordnete 100 Senatoren Kontrolle
Kein Auf-
lösungsrecht
T Kongress T Wahl auf 4 Jahre Oberstes Bundesgericht
1 1 1
Wahl auf 2 Jahre Wahl auf 6 Jahre
(alle 2 Jahre 1/3)
Das
US-amerikanische
Regierungssystem
!ZAHLENBILDER!-ffi
© Bergmoser + Höller Verlag AG 854 511
iAuflösung
Dezentrale Gesetzgebungsorgane:
Nordirische Versammlung
Schottisches Parlament
Walisische Nationalversamm lung
Aufgaben
1. Erarbeiten Sie in Gruppen die Merkmale der Regierungssysteme von Großbritannien und den USA. Verdeut-
lichen Sie dabei, inwiefern die jeweiligen Regierungssysteme einem parlamentarischen, präsidentiellen oder
semipräsidentiellen Regierungssystem entsprechen.
2. Diskutieren Sie die Vor- und Nachteile der beiden Regierungssysteme anhand eines Beispiels. Beziehen Sie
sich im Hinblick auf die USA auf das Problem der Haushaltssperre und in Großbritannien auf den Brexit.
Recherchieren ( Methodenglossar) Sie dafür den aktuellen Stand der Dinge.
•
Demokratietypen
Dem Politikbegriff aus Kapitel 3.1.1 folgend steht Häufig wird der Begriff Mehrheitsdemokratie sy-
am Ende eines politischen Prozesses eine politi- nony m zum Begriff Konkurrenzdemokratie ver-
sche Entscheidung, welche verbindlich für das wendet. Dieser hebt die Entscheidungsfindung
Zusammenleben der Menschen in einem Staat ist. durch Mehrheit hervor, während der Begriff Kon-
Im Vorfeld einer polit ischen Entscheidung stehen kurrenzdemokratie den Aspekt des Wettbewerbs
verschiedene Gruppen in demokratischen Syste- in den Vordergrund stellt.
men im Wettbewerb zueinander, um für ein poli-
tisches Problem eine spezifisch an ihrer Ideologie Die Konkordanz- und Konsensdemokratie
bzw. ihrem Interesse ausgerichtete politische Ent-
scheidung herbeizuführen. Dieser Wettbewerb um In Staaten, in denen es stark ausgeprägte Konflik-
politische Alternativen ist eines der wesentlichen te zwischen ethnischen oder religiösen Gruppen
Kennzeichen moderner demokratischer Staaten. gibt, werden andere Verfahren zur Entscheidungs-
Es können j edoch verschiedene Demokratietypen findung benötigt, damit gewährleistet werden
unterschieden werden, in denen es auf jeweils un- kann, dass bei Mehrheitsentscheidungen die grö-
terschiedliche Art und Weise zu politischen Ent- ßere Gruppe die kleinere nicht unterdrückt. In
scheidungen ko mmt. solchen demokratischen Staaten werden politi-
sche Entscheidungen im Konsens der verschiede-
Die Konkurrenz- und Mehrheitsdemokratie nen am politischen Prozess beteiligten Gruppen
gefällt. Sie werden deshalb als Konkordanzdemo-
In einer Konkurrenzdemokratie werden politi- kratien (Konkordanz von lat. übereinstimmen)
sche Entscheidungen durch Mehrheitsentscheide bezeichnet. In Konkordanzdemokratien werden
herbeigeführt. Dabei stehen sich idealtypisch zwei politische Probleme und Konflikte durch Ver-
große Parteien gegenüber, die gegeneinander im handlungen und Kompromisse herbeigeführt. Bei
Wettbewerb um Wählerstimmen stehen. Ihr Ziel politischen Entscheidungen sollte möglichst ein
ist es, die Mehrheit von Abgeordneten zu stellen, hoher Grad an Übereinstimmung zwischen den
um über Gesetze entscheide n und j e nach Regie- Gruppen herrschen. Aus diesem Grund gibt es in
rungssystem auch die Regierung wählen zu kön- diesen Demokratien formal isierte Verfahrens- und
nen. Innerhalb dieses Demokratietyps hat eine Proporzregeln, damit auch Minderheiten ange-
Partei die Mehrheit im Parlament, stellt evtl. zu- messen am Prozess der politischen Entschei-
sätzlich die Regierung und fällt a uch gegen den dungsfindung beteiligt sind. Gleichzeitig gibt es
größten Widerstand der sich in der Minderheit das Vetorecht aller am Entscheidungsprozess be-
befindlichen Opposition politische Entscheidun- teiligten Gruppen. Ziel ist es, dass keine Gruppe
gen. Damit es nicht ständig zu Aufständen der den politischen Entscheidungen fundamental ent-
Minderheit kommt, die das politische System ge- gegensteht und möglichst alle Gruppen ihre Inte-
fäh rden können, gibt es wichtige Voraussetzun- ressen in einer Entscheidung berücksichtigt sehen.
gen für eine Konkurrenzdemokratie: Ein Beispiel für eine Proporzregel ist z.B. die sog.
Schweizer „Zauberformel", die genau festlegt, in
• Es sollte keine den Wettbewerb prägenden gro- welchem Verhält nis die Parteien an der Zusam-
ßen Konflikte zwischen religiösen oder ethni- mensetzung der siebenköpfigen Bundesregierung
schen Gruppen geben. (Bundesrat) beteiligt sind.
• Die Minderheit muss in der Lage sein, bei der
nächsten Wahl die Mehrheit stellen zu können, Der Begriff Konsensdemokratie wird oftmals sy-
was bestmöglich oft geschehen sollte. nonym zu dem Begriff Konkordanzdemokratie
3 Politische Theorie
verwendet. Dieser hebt ä hnlich wie bei der andere n z ugesch rieben. So ist Deutschland durch
Unterscheidung zwischen Konkurrenz- und Mehr- die Anwendung der Mehrheitsregeln und der Kon -
heitsdemokratie die Entsch eidungsfindung im kurren z um Wählerstimmen dem Typus der Kon-
Konsens hervor, während Konkordanz eher die kurrenzde mokratie zuzuschreiben. Durch die Ver-
Intera ktion zwischen den Parteien beschreibt. ha ndlungspra ktiken zwischen Bund und Lä ndern
(>Kap. 4.6) oder der Notwendigkeit v on Zweidrit-
Reinformen der beiden Demokratieformen exis- telmeh rheiten bei einigen Entscheidungen t reffe n
tie ren in der Realität nur äußerst selten. Vielmehr auf die Bundesrepublik jedoch auch einige cha-
wird ein politisches System in der Mehrzahl der rakteristische Merkmale (z.B. Verha ndlung und
Merkmale eher einem der beiden Systeme als dem Kompromiss) der Konkorda nzdemokratie zu.
Aufgaben
1. Fassen Sie die wesentlichen Elemente der Konkurrenz- und Konkordanzdemokratie zusammen.
2. Erörtern Sie, welcher Demokratietyp eher geeignet ist, dringende Reformen durchzusetzen.
Gehen Sie dabei jeweils auf mögliche Folgen nach der Verabschiedung einer Reform ein.
METHODENKOMPETENZ t •
Die vergleichende Analyse ist eines der Kernberei- wie Leitfragen, die helfen, die Analyse zu struktu-
che der Politikwissenschaft. Sie wird u. a. als Me- rieren.
thode angewendet, um generalisierende Aussagen
treffen zu kö nnen oder um Gemeinsamkeiten bzw. Die Kategorien bzw. Leitfragen können auch zur
Besonderheiten der j eweils zu vergleichenden As- Beschreibung eines einzelnen polit ischen Sys-
pekte herauszustellen. tems bzw. für eine Analyse zu Unterschieden wäh-
rend verschiedener Perioden im politischen Sys-
Ausgangspunkt einer vergleichenden Analyse ist tem verwendet werden.
i. d. R. eine Fragestellung, aus der sich weitere (Un-
ter- )Fragestellungen ergeben könne n. Die Frage- Beispiele für Firagestellu119en·
stellungen kön nen auch von einer konkreten Be-
obachtung ausgehen, die man näher untersuchen Warum stellen im Bundestag der Bundesre-
möchte. Oft sind die Untersuchungsgegenstände publik Deutschland mehrere und im Kongress
umfang reicher als es auf den ersten Blick er- der USA nur zwei einflussreiche Parteien Frak-
scheint. Es ist deshalb sinnvoll, sich auf einen tionen?
Aspekt zu konzentrieren.
Welche Auswirkungen bzw. Vor- und Nachteile
Die folgende Darstellung liefert eine Übersicht sind fü r das jeweilige Regierungssystem charak-
über mögliche Aspekte, die bei po litischen Syste- teristisch (Kategorien u. a. : Entwicklung, Partei-
men mitein ander verglichen werden können so- ensystem, Wahlsystem, Gewalte nteilung)?
Kategorie Leitfragen
Regierung Wie wird die Regierung bestellt bzw. legitimiert? Wird die Regierung i. d. R.
von einer Partei oder Koalition gewählt ? Gibt es einen Präsidenten? Welche
Machtbefugnisse hat er? Wie oft legt er ein Veto im Gesetzgebungsprozess
ein? Wie oft wurde das Parlament durch die Regierung aufgelöst?
Gewaltenteilung Wie strikt ist die Trennung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative?
Wie groß ist der Einfluss der Regierung auf das Parlament? Welche Formen
d er Gewaltenteilung existieren?
(ldeal-)Typus Regie- Welchem (ldeal-)Typus kann das Regierungssystem zugeschrieben werden
rungssystem (parlamentarisch, präsidentiell, semipräsidentiell)? Wie oft kommt es zu
Krisen (z. B. Blockaden), die auf diese Form des Regierungssystems zurück-
zuführe n sind? Welche Rolle hat die Opposition?
Parteiensystem Wie viele einflussreiche Parteien gibt es und welchen politischen Grundrich-
tungen (z. B. konservativ, sozialdemokratisch, liberal} können die einzelnen
Parteien zugeschrieben werden? Gibt es Gründe für die Anzahl der Parteien?
Gibt es große Konflikte zwischen den Parteien? Welchen Einfluss hat das
Wahlsystem? Stimmen die Parteien im Parlament oft geschlossen ab? Gibt
es viele radikale Parteien im Parlament?
Parlament Welche Rechte hat das Parlament in Bezug auf die Regierung? Kann es die
Regierung wählen oder abberufen? Wie viele Gesetze werden in einem
bestimmten Zeitrahmen verabschiedet? Wie viele große Reformen wurden in
den letzten Jahren verabschiedet? Wie oft wurde die Regierung abgewählt?
Wie oft fanden Mehrheitswechsel statt? Gibt es zwei oder nur eine Kammer
d es Parlamentes?
Entwicklung Welche hist orischen Entwicklungen haben zur heutigen Ausgestaltung des
politischen Systems geführt? Hat es viele Reformen der Verfassung gege-
ben? Welche Entwicklungen sind zukünftig zu erwarten?
1METHODENKOMPETENZ
Demokratieform An welchen Stellen des politischen Systems ist eine Orientierung an die Ident itäts-
theorie bzw. Konkurrenz-/ Pluralismustheorie zu erkennen? Gibt es viele Volksent-
scheide? Wer hat die Volksentscheide initiiert? Wer war für oder gegen die
Inhalte? Welche Interessen standen hinter den Volksentscheiden? Hatten
Ergebnisse populistischen Charakter?
Wahlsystem Wie werden die Repräsentanten des Parlamentes gewählt (Verhältniswahlrecht/
Mehrheitswahlrecht/personalisiertes Verhältniswahl recht)? Wie hoch ist die
Wahlbeteiligung? Gibt es eine Wahlpflicht?
Entscheidungsprozess Ist der Prozess der politischen Entscheidungsfindung eher konkurrenzdemokra-
tisch oder konkordanzdemokratisch? Gibt es viele Aufstände gegen Gesetze?
Auf welche Weise sind pluralistische Interessen an den Entscheidungen beteiligt?
Beispiel:
.I
Verfassungsrat
1
1 prüft Gesetze auf
1 ihre Vertassungs-
1
Vertrauen 1 mäßigkeit
verantworthch Misstrauensvotum 1
1
1 Oberster Rat
Ansprache an 1 fur den
1 Richterstand
Senat Ge set z- National- das Parlament 1
V
versammlung ,+-Auf/6suna---...,
- - Initiative- - - - - - - - - I> Volksent - Staa at
1
348 Senatoren gebung 577 Abgeordnete scheid
oberstes Verwal-
tungsgericht,
Direkte Wahl beratendes Organ
auf 5 Jahre
Ind irekt e Wahl Direkt e Wahl (höchstens 2 .mal Verteidiger
auf 6 Jahre auf 5 Jahre in Folge) der Rechte
(alle 3 Jahre zur Hälfte) 1
• überwacht Einhaltung
(\,>;~~!~~:~~:!'!!!~!~!1f\\ ~u
durch die gewählten Vertreter der • l _. 1 der bürgerlichen Rechte
und Freiheiten
Gem~~~:~/~.8ts~=....
nedm_sf_,~_~ z_·0Rs_:g
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_n_e n_ _\ _• _\ _\
1ZAHL ENBILDERI B9
© Bergmoser + Höller Verlag AG 799 3 11
Entwickeln Sie in Gruppen eigene Fragestellungen für den Vergleich eines Aspektes zwischen den politischen
Systemen Großbritanniens, Frankreichs und der USA.
) Identifizieren Sie mit Hilfe der Kategorien anschließend Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie deren
Ursachen.
Benennen Sie die Auswirkungen der Unterschiede für die politischen Systeme.
Im Laufe des letzten Kapitels haben Sie sich mit den Grundlagen der politischen Theorie beschäftigt.
Lesen Sie die folgenden Sätze und entscheiden Sie jeweils für sich, welche der Spalten sie ankreuzen
können.
KOMPETENZEN
Am Ende dieses Kapitels sollten
Sie Folgendes wissen und können:
Ordnen Sie die Begriffe „Demokratie", ,,Rechtsstaat", ,,Partizipation", ,,Regieren" und „Politik"
den Bildern zu. Begründen Sie Ihre Einteilung.
Die Grundlagen
• des politischen Systems
4.1. 1 Die Grundrechte im Grundgesetz
Leitfragen Was sind Grundrechte? Wie definieren die Grundrechte das Verhältnis von
Individuum und Staat?
Das Grundgesetz
Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Bürgerrechte sind z. B. das Wahlrecht (Art. 38)
Deutschlands (GG) ist die deutsche Verfassung. Es oder das Recht auf freie Berufswahl (Art. 12). Ne-
wurde am 23. Mai 1949 verkündet, gilt seitdem ben Rechten nennt das GG auch Pflichten, wie
für die alten Bundesländer und seit 1990 auch für z. B. die Meldepflicht (Art. 73) oder die Pflicht der
die neuen Bundesländer. Das Grundgesetz besteht Eltern zur Erziehung ihrer Kinder (Art. 6).
im Wesentl ichen aus den Grundrechten sowie
Festlegungen über den Staatsaufbau. Die im
Grundgesetz festgelegten Grundrechte sind un- Das Verhältnis von Individuum und Staat
ve ränderlich und der Staat ist an ihre Einhaltung
und ihren Schutz gebunden. Nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialis-
mus wurden in das Grundgesetz Elemente au fge-
nommen, die einzelne Indiv iduen, aber auch Grup-
Die Grundrechte pen vor Übergriffen des Staates schützen. Der
höchste Grundsatz im Grundgesetz ist dabei die
Unter den Grundrechten werden in der Regel die sog. Staatsfundamentalnorm der Menschenwürde,
in den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes fest- von der alle weiteren Grundrechte abgeleitet wer-
gelegten Grundsätze verstanden. Jedoch werden den. In Art. 1 heißt es: .,Die Würde des Menschen
auch in weiteren Artikeln wichtige Grundrechte ist u na ntastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
festgelegt, wie z.B. das Rech t auf einen gesetzli- Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
chen Richter (Art. 101). Zu unterscheiden ist zu-
dem zw ischen den Mensch enrechten, die Jedem Der Staat ist dazu verpflichtet, die Würde jedes
zustehen, sowie Bürgerrechten, die auf die Bürger Menschen zu achten und vo r Verletzungen der
beschränkt sind. Menschenwürde durch andere zu schützen. Hin-
zukommen die Abwehrrechte, mit denen Über-
Eine der Grundannahmen des Grundgesetzes ist griffe des Staates verhindert werden sollen. Hierzu
es, dass ein Mensch von Natur a us Träger be- gehören z.B. das Brief-, Post- und Fernmeldege-
stimmter Rechte ist, die ihm allein durch die Tat- heimnis (Art. 10) sowie die Unverletzlichkeit der
sache zustehen, dass er oder sie ein Mensch ist. Wohnung (Art. 13). Neben den Abwehrrechten
Diese Rechte sind universell; d. h. sie gelten für gibt es die Mitwirkungsrechte. Diese legen fest,
alle Menschen und umfassen u. a.: dass der Einzelne aktiv an der Gestaltung der Ge-
sellschaft und der Pol itik mitwirken kann. Die
• den Schutz und die Achtung der Würde des Gleichheitsrechte sichern die Chancen- und
Menschen (Art. !), Rechtsgleichheit der Bürger. Weiterhin ist Diskri-
• den Schutz der Freiheit der Person und das Recht minierung aufgrund des Geschlechts, der Abstam-
auf Leben (Art. 2), mung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und
• die Religionsfreiheit (Art. 4) sowie Herkunft, des Glaubens, der politischer Anschau-
• das Recht auf freie Meinungsä ußerung (Art. 5). ungen und wegen Behi nderung (Art. 3) verboten.
4.1 Die Grundlagen des politischen Systems
Die Grundrechte
Grundgesetz für die Bu ndesrepublik Deutschland, Artikel 1 bis 19
Grundrechtskonflikte
Einzelne Grundrechte können miteina nder in Im Ei nzelfall muss darum in der Prax is deswegen
Konflikt geraten. In der Regel legt dann ein wei- oft abgewogen werden, ob die Freiheit des Einzel-
teres Gesetz die genauen Regelungen fest oder das nen durch den Staat zugunste n von mehr Sicher-
Bundesverfassungsgericht entscheidet. Einer der heit beschnitten werden soll. So können Kameras
klassischen Grundrechtskonflikte ist der Konflikt a uf öffentlichen Plätzen mehr Siche rheit erwir-
zwisch en Freiheit und Sich erheit. Beide Grund- ken, schrän ken gleichzeitig aber auch die Freiheit
rechte können aus Art. 2 GG a bgeleitet werden: der Personen ein, da ihre Handlungen überwacht
werden. Gerade nach Anschlägen wird die Debat-
Art. 2 Abs 2 GG „Jeder hat das Recht auf Leben te über mehr Sicherheit intensiv geführt und das
und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Verhältnis von Sicherheit und Freiheit wird neu
Person ist unverletzlich." a usgehandelt.
Aufgaben
1. Zählen Sie drei Grundrechte auf, auf die Sie nicht verzichten möchten.
2. Erläutern Sie in einem Kurzvortrag (, Methodenglossar), wie in Deutschland das Verhältnis von Staat und
Individuum geregelt wird.
3. Diskutieren Sie kritisch, in welchen Fällen aus Ihrer Sicht eine Einschränkung der Grundrechte legitim ist.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Absolute Sicherheit kann es genauso wenig geben wie grenzenlose Freiheit. Doch den
magischen Punkt, an dem Freiheit und Sicherheit ein für alle Mal im Gleichgewicht
wären, gibt es auch nicht. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - das sind seit der Fran-
zösischen Revolution die Fixsterne am europäischen Wertefirmament. Am hellsten
5 strahlt die Freiheit; sie ist Grundlage und Ziel zugleich aller demokratischen Organisa-
tions- und Regierungsformen. Verschattet ist der Glanz der Gleichheit: Sie hat den
Verdacht auf sich gezogen, dass sie, weil die Menschen faktisch ungleich sind, als
politisches Ziel zu einem Zwangsregime führen kann, zu einer Gleichmacherei, die den
Einzelnen in seinen Entfaltungsmöglichkeiten einschränkt und damit die Freiheit ge-
10 fährdet; uneingeschränkte Berechtigung w ird ihr im Grund nur noch als Gleichheit vor
dem Recht zugesprochen. Die Brüderlichkeit, der moralisch am stärksten aufgeladene
Begriff, kann zwar nicht direkt eingefordert werden, ist jedoch unter den Namen Soli-
darität oder Gerechtigkeit als Motor des modernen Sozialstaats zur wirkmächtigsten
politischen Entwicklung der vergangenen hundert Jahre geworden.
15 Nicht zum modernen Grundwertekanon wird üblicherweise die Sicherheit gezählt. Da-
bei steht sie am Anfang der neuzeitlichen Staats- und Rechtsphilosophie. Der Englän-
der Thomas Hobbes (1588 bis 1679) hat sie als Voraussetzung allen menschlichen
Zusammenlebens bezeichnet. Deshalb errichten die Menschen per Vertrag eine Herr-
schaft, deren vornehmste Aufgabe es sei, die innere und äußere Sicherheit der Gesell-
20 schaft, das heißt jedes Einzelnen, zu sichern. Ohne Sicherheit gibt es für niemanden
Freiheit, sondern den hobbesschen „Krieg eines jeden gegen jeden", in dem das Leben
,,einsam, arm, hässlich, tierisch und kurz" wäre.
Sicherheit in Verruf
a
hat peu peu zum Auf- und Ausbau einer globalen Sicherheitsarchitektur geführt; dazu
gehört auch das Datenerfassungsprogramm „Prism" des amerikanischen Geheim-
so dienstes NSA.
Dass dabei nicht hinter Schimären hergejagt wird, zeigen unter anderem die blutigen
Terroraktionen von Djerba 2002, in Madrid 2004 oder in London 2005. Darüber, wie
viele Anschläge verhindert werden konnten, kann man nur spekulieren. Dass mit der
Überwachung Eingriffe in die Privatsphäre einhergehen, ist eine Realität.
ss Die subjektive Komponente ist das „Sicherheitsgefühl", genauer gesagt: das Gefühl
des Bedrohtseins, das bei Menschen und Nationen unterschiedlich ausgeprägt ist.
Seit den Angriffen von „Nine Eleven" fühlt sich Amerika besonders bedroht. Das hat
seine Berechtigung angesichts von Abneigung und Hass, welche die „einzig verblie-
bene Weltmacht" in vielen Teilen der Welt auf sich zieht. Aus guten Gründen sieht sich
so auch Israel als besonders gefährdet an. Scharfe Sicherheitsvorkehrungen sind hier wie
da mit Einschränkungen der persönlichen Freiheit verbunden , die mit der Gefahrenla-
ge gerechtfertigt, deswegen aber auch weithin akzeptiert werden.
Absolute Sicherheit kann es genauso wenig geben wie grenzenlose Freiheit. Doch den
magischen Punkt, an dem Freiheit und Sicherheit ein für alle Mal im Gleichgewicht
65 wären, gibt es auch nicht. Das Verhältnis muss immer neu austariert werden. Gegen-
wärtig steht Datenschutz als Teil der informationellen Selbstbestimmung, die ein Frei-
heitsrecht ist, hoch im Kurs. Das kann sich mit dem nächsten Anschlag wieder ändern.
Aufgaben
1. Fassen Sie den Text M 1 zusammen.
3. Weniger Freiheit zu Gunsten von mehr Sicherheit? Nehmen Sie Stellung zu dieser Frage,
indem sie auf die im Text genannten objektiven und subjektiven Komponenten eingehen.
4.1 .2 Die Staatsstrukturprinzipien
Leitfragen Wie bilden die Staatsstrukturprinzipien die Können die Staatsstruk- Was ist unter einer
Grundlage für den Aufbau der turprinzipien verändert wehrhaften Demokratie zu
Bundesrepublik Deutschland? werden? verstehen?
Sozialstaatlichkeit
Durch das Sozialstaatsprinzip wi rd den Men- setzgebung oder die in den Artikeln I und 20 nie-
schen in Deutschla nd eine Grundsicherung garan- dergelegten Grundsätze berüh rt werden, ist unzu-
tiert, die aus Art. 1 Abs. 1 GG mit Bezug a uf die lässig."
Menschenwürde abgeleitet wird. Konkrete Festle-
gungen über die Ausgestaltung des Sozialstaats- Auch die in Art. 2 - 19 GG festgelegten Grund-
prinzips macht das Grundgesetz jedoch nicht. rechte dürfe n in ihrem Wesensgehalt nicht verän-
Diese sind Gegenstand des Polit ikbereichs der dert werden. Alle anderen Artikel können mit ei-
Sozialpolit ik. ner Zweidrittelmehrheit geändert werden, so dass
eine Anpassu ng an aktuelle Entwicklungen erfol-
gen kan n.
Unveränderlichkeit der Strukturprinzipien -
das Ewigkeitsgebot
Deutschland - eine wehrhafte Demokratie
Durch Art. 79 Abs. 3 GG werden die Staatsstruk-
tu rprinzipien als unveränderlich festgeschrieben. In der Weimarer Republik (19 18 - 1933) haben
Damit wird eine Veränderung der Staats- und verschiedene Parteien, wie z.B. die NSDAP, auf der
Herrschaftsform durch das Gru ndgesetz verh in- Basis der Grundsätze des Pluralismus und der Frei-
dert. Konkret heißt es: heitsrechte am politischen Wettbewerb teilgenom-
men. Ihr Ziel war es jedoch, gerade diese Gru nd-
Art. 79 Abs. 3 GG sätze abzuschaffen und einen Staat zu errichten,
,,Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch wel- der nicht den o.g. Strukturp rinzipien entsprach.
che die Gliederung des Bundes in Länder, die Das Grundgesetz setzt deshalb Gegnern der gel-
grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Ge- tenden Herrschafts- und Staatsform Grenzen:
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland
Die damit errichtete sog. ,,wehrhafte Demokratie" • die Versammlungs-, Meinungs- sowie die Ver-
manifestiert sich u. a. auch in diesen Artikeln bzw. einigun gsfreiheit einzuschränken
Rechten, die eine Abschaffung der Staatsstruktur- oder
prinzipien verhindern sollen: • Parteien zu verbieten.
Aufgaben
2. Arbeiten Sie die Eigenschaften der Staatsstrukturprinzipien heraus und präsentieren Sie Ihre Ergebnisse auf
Informationsplakaten.
3. Setzen Sie sich kritisch mit dem Ewigkeitsgebot der Staatsstrukturprinzipien auseinander. Führen Sie eine
Pro-Kontra-Diskussion (• Methodenglossar) durch.
METHODENKOMPETENZ t
Politische Urteilsbildung
Politische Urteile werden von allen Menschen der Ein politisches Urteil beinhaltet immer ein Sach-
Gesellschaft jeden Tag gefällt. Sie drücken die und e in Werturteil. Beim Sachurteil wird zunächst
subjektive Position zu politischen Themen aus. nach der Effizienz gefragt bzw. d iese beurteilt.
Das Tra ining der Urteilsbild ung ist deshalb e iner Dies betrifft z.B. die Problemlösungsfähigkeit,
der zentralen Bereiche der politischen Bildung. Jm Wirtschaftlichkeit, Schnelligkeit und Genauigkeit
Fokus der Urteilsbildung steht dabei, worauf bei einer Maßnahme. Mit dem Werturteil wird hinge-
einem Urteil zu achten ist, wie man sich an zent- gen die Legitimität beurteilt. Hierbei werden poli-
ra le n Kriterien orientieren kann und wie man Feh- tische Werte zur Bewertung und Begründu ng
ler vermeiden kan n, so dass das politische Urteil verwendet, so z. B. die Menschenwürde, Freiheit,
nicht oberflächl ich ausfällt. soziale Gerechtigkeit oder Frieden.
~
Schritt III: Erstellung einer Pro- Kontra-Tabelle
• Sortieren der Argumente nach Kriterien.
• In jedem Fall müssen sowohl Argumente für die Effizienz als auch die Legitimität formuliert werden.
1. d. R. gibt es für die Legitimität mehr Argumente.
Operatoren,
die z u einem politischen Urteil auffordern:
• Erörterungen
• Kommentare
• Leserbriefe
Abwägende Justitia • Reden
• Karikaturen
METHODENKOMPETENZ t
Beispiel:
:-~
- ..::::;::::?-,~
-::;:::::::--
_-.,,
~ol
/ -
-- . - . -c..-:,,__,.......- 1/
~
Karikatur: Klaus Stuttman11
Aufgaben
1 . Interpretieren Sie die Karikatur.
a) Formulieren Sie eine Fragestellung, die sich aus der Karikatur ergibt.
b) Positionieren Sie sich in ihrer Lerngruppe in Form einer Meinungslinie zu der eigens formulierten Fragestel-
lung.
2. Recherchieren Sie arbeitsteilig Argumente, die für und gegen die von Ihnen in Aufgabe 1 formulierte
Fragestellstellung sprechen. Die Gruppen setzen sich mit diesen Kategorien auseinander: Umweltschutz,
Wirtschaftlichkeit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit (insbesondere Grundgesetzartikel die dafür und dagegen
sprechen).
Wichtig: Für jede der Kategorien sollen Pro- und Kontra-Argumente recherchiert werden. Achten Sie bei der
Formulierung der Argumente auf die Struktur, die These, die Begründung, die Belege und Beispiele.
3. Nachdem Sie die Argumente verglichen haben: Sortieren Sie die Argumente nach der für Sie bestehenden
Wichtigkeit.
4. Erörtern Sie die Fragestellung. Stellen Sie zunächst die Argumente dar, die nicht Ihrer Position entsprechen,
und dann die Argumente, die Ihrer Position stützen, und legen Sie am Schluss offen, was für Sie das ent-
scheidende Argument ist.
Die Bürger im politischen Prozess
4.2."1 Formen der direkten Beteili9 ung
Leitfragen Welche Formen der Worin bestehen die Unterschiede Welche plebiszitären
Beteiligung gibt es in einer zwischen direkten und Elemente gibt es
Demokratie? repräsentativen Demokratien? in Deutschland?
Demokratien lassen sich hinsichtlich ihrer Betei- In der gegenwärtigen Staatenwelt gibt es keine
ligungsformen für die Bürger zwei Grundmodel- Herrschaftsform, die dem Idealtypus der direkten
len zuordnen: Demokratie vollständig entspricht. Am nächste n
kommt die Schweiz diesem Modell, aber auch hier
• Direkte Demokratie: Alle Bürger sind an allen werden Repräsentanten gewählt. Alle modernen
politischen Entscheidungen beteiligt. Demokratien sind demnach repräsentative Demo-
kratien, bieten jedoch ihren Bürgern abhängig
• Repräsentative Demokratie: Das Volk wä hlt von der konkreten Ausgestaltung mehr oder we-
Vertreter, die in seinem Namen pol itische Ent- niger Möglichkeiten an, bestimmte polit ische Ent -
scheidungen treffen. scheidungen direkt zu beeinflussen.
Direkte Demokratie
Demokratie- Die Träger des Volkswillens sind Die wichtigen politischen Fragen
auffassung mündige Bürger mit ausreichen- sind zu komplex, um sie von
der Kompetenz in politischen Laien entscheiden zu lassen.
Urteilen (dank Bildung, Zugang Direkte Demokratie birgt die
zu Informationen und demokra- Gefahr, von Demagogen miss-
tischem Bewusstsein). braucht zu werden.
ffi!ZAHLENBILDERI - - - - - - - - - - - - - - · ...,_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ ___
Bei direktdemokratischen Abstimmungen lassen • Bei Volksinitiativen für Gesetze stoßen die Bür-
sich zwei Verfahren u nterscheiden: ger einen politischen Entscheidungsprozess an.
Diese Initiative kön nen die Parlamentarier an-
• Bei einem Referendum wird dem Volk entweder nehmen oder ablehnen. Im Falle der Ablehnu ng
von der politischen Elite oder aufgrund eines kann u nter Umständen ein Teil der stimmbe-
Volksbegehrens eine bestimmte Frage vorgelegt, rechtigten Bü rger ein Volksbegehren beantra-
über die es entscheiden soll. In Großbritannien gen. In Sachsen sind dies z.B. bei einer stimm-
hat die Bevölkerung im Juni 2016 eine äußerst berechtigten Gruppe von etwa über 3 Millionen
weitreichende Entscheidung auf diesem Weg Menschen 450.000 Bü rger. Nur wen n das Volks-
getroffen, indem sie für einen Austritt des Ver- begehren erfolgreich ist, findet aufLänderebene
einigten Königreichs aus der Europäischen Uni- ein Volksentscheid statt, bei dem die Mehrheit
on (,,Brexit") stimmte. der Bürger entscheidet.
Wie können die Bürger in der Bundesrepublik entscheide ha ndelt, da nur die Bevölkerung der
auf Bundesebene mit entscheiden? betroffenen Bundeslände r stimmberechtigt ist.
Bislang wurden nu r zwei Volksen tscheide mit
In Deutschland gibt es auf Bundesebene kaum Blick auf den Zuschnitt vo n Bundesländern
Möglichkeiten für Bürger, über polit ische Sach- durchgeführt:
fragen abzustimme n. Eine Ausnahme bildet die
Regelung, dass eine Neugliederung von Bundes- • Nach einem Volksentscheid ging 1952 aus den
ländern der „Bestätig ung du rch Volksentscheid" eigenständigen Bundesländern Baden, Württem-
bedarf (Art. 29 GG). Es lässt sich darübe r streiten, berg-Baden und Württemberg- Hohenzollern das
ob es sich dabei überhaupt um nationale Volks- Bundesland Baden-Württemberg hervor.
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland
• 1996 fand in Brandenburg und Berlin ein Volks- Direkte Demokratie auf Länderebene
entscheid über die Fusion beider Länder statt. und in den Gemeinden
Dafür mussten mindestens 25 Prozent der Bür-
ger in beiden Ländern teilnehmen und vo n den In allen Bundesländern gibt es die Möglichkeit der
Abstimmenden mussten sich mehr als die Hälf- Volksgesetzgebung. Sie unterscheiden sich zu-
te für die Vereinigung aussprechen. Der Volks- meist in der notwendigen Zahl der stimmberech-
entscheid scheiterte daran, dass in Brandenburg tigten Unterstützer oder in den Zeiten, in der die
weniger als 25 Prozent der Bürgerinnen und notwendigen Unterschriften gesammelt werden
Bürger an der Abstimmung teilnahmen. müssen. Im J ahr 2016 z.B. wurden insgesamt 12
direktdemokratische Verfahren in sieben Bundes-
Der weitgehende Verzicht auf direktdemokrat i- ländern eingeleitet. Bestimmte Themen sind je-
sche Elemente auf Bundesebene war ursprünglich doch davon ausgenommen. Hierzu gehören alle
eine bewusste Entscheidung, weil die Mütter und Geldfragen, über die nur die Parlamente entschei-
Väter des Grundgesetzes der Ansicht waren, dass den können (Haushaltsvorbehalt).
die Volksabstimmungen in der Weimarer Republik
den Aufstieg der Nationalsozialisten begünstigt Die umfangreichsten Möglichkeiten haben Bürger
hatten. Der erste deutsche Bundespräsident Theo- in den Gemeinden. Die Instrumente Bürgerbegeh-
dor Heuss bezeichnete Volksabstimmungen als ren und Bürgerentscheid wu rden in den l 990er
,,Prämie für j eden Demagogen". Jahren eingeführt und finden sich heute in den
Gemeindeordnungen aller Bundesländer.
Die jüngsten Erfahrungen mit Referenden auf na-
tionaler Ebene (Brexit) scheinen Theodor Heuss zu
bestätigen. Gerade beim Brexit war festzustellen, Deutschland im Vergleich der Staaten
dass es den Befürwortern des Austritts gelungen
war, mit Panikmache und unwahren Behauptun- In den westlichen Demokratien werden direktde-
gen viele Menschen dazu zu bringen, für den Aus- mokratische Elemente unterschiedlich stark ge-
tritt zu stimmen (> Kap. 5. 1.1 ). Generell stellt sich nutzt. In zahlreichen westeuropäischen Staaten
deshalb die Frage, ob Referenden und Volksab- fanden Volksabstimmungen im Zusammenhang
stimmungen angesichts wachsender populisti- mit der EU statt (> Kap. 5.1.2). Aber auch in Ost-
scher Beeinflussungsversuche als geeignetes de- europa wurde 2003 die Frage des Beitritts zur EU
mokratisches Verfahren zur Entscheidungsfindung in neun von zehn Beitrittsländern durch eine
angesehen werden können. Volksabstimmung legitimiert.
Aufgaben
1. Geben Sie den Unterschied zwischen einem Volksbegehren, einem Volksentscheid und einem Referendum
mit eigenen Worten wieder.
2. Vergleichen Sie den Volksentscheid und das Referendum bezüglich der Einflussmöglichkeiten der Bevölke-
rung.
3. Setzen Sie sich kritisch mit dem Schaubild zur direkten Demokratie im Hinblick auf die Position der Bundes-
republik Deutschland im internationalen Vergleich auseinander.
.
•
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Jetzt die direkte Demokratie für den Brexit haftbar zu machen, ist so, als würden wir
das Recht auf Scheidungen für die Scheidungen selbst verantwortlich machen. Die
direkte Demokratie hilft zu offenbaren, wie es um eine Gesellschaft bestellt ist. Sie hilft,
ihren Zustand zu erkennen. Sie ist für die Gesellschaft wie ein Spiegel. So wenig wie
s ein Spiegel verantwortlich ist für das, was er abbildet, so wenig ist die direkte Demo-
kratie für den Zustand einer Gesellschaft verantwortlich. [... ]
Tatsächlich wissen wir jetzt mehr darüber, wie die Briten über Europa denken und auch
die Briten selbst heften sich nun Denkzettel an die Pinnwand der gesellschaftlichen
Aufgaben. Knapp 75 Prozent der unter 25-Jährigen waren für den Verbleib in der EU ,
10 60 Prozent der über 60-Jährigen dagegen. Ein Generationenkonflikt. [...]
Zu einfach wäre allerdings die Formel, es müsste nicht weniger, sondern mehr Refe-
renden geben. Auf europäischer Ebene (wie auch auf Bundesebene in Deutschland}
fehlt die direkte Demokratie gänzlich. Notwendig wäre die Möglichkeit, Volksbegehren
initiieren zu können, so dass die Bürgerinnen und Bürger von unten Themen auf die
15 politische Tagesordnung setzen und notfalls auch bis zu einer Abstimmung durchtra-
gen könnten. Die Politik könnte wie über einen Seismografen ablesen, was den Men-
schen auf den Nägeln brennt - und reagieren. Diese Form der direkten Demokratie,
die „von unten" ausgelöste Volksabstimmung, ist viel weniger zugänglich für Macht-
spiele als „von oben" angesetzte Referenden.
20 Natürlich verbindet sich mit dieser Forderung ein Menschenbild, das jede und jeden
in der Gesellschaft als fähig ansieht, Bürgerin und Bürger zu sein, also für die Gesell-
schaft auch zu bürgen, sich verantwortlich zu zeigen. Ja, es gibt komplexe Themen.
Der Austritt aus der EU ist bestimmt ein solches. Aber können wir, weil uns der Brexit
missfällt, Tante Emma und Bob dem Baumeister absprechen, dass sie sich eine Mei-
25 nung bilden und eine Position haben? [...]
Wer hat das Recht, zu entscheiden, ob ein Thema zu komplex für das Volk ist? Nur
das Volk selbst! Mit der direkten Demokratie von unten kommt es nur zu einer Abstim-
mung, wenn die Unterschrittenhürde bei einem Volksbegehren genommen wird. Hier
zeigt sich und zeigt das Volk selbst, ob es ein Thema für zu schwierig oder zu schwer-
30 wiegend ansieht.
Und generell gilt, was Olof Palme, der 1986 ermordete schwedische Ministerpräsident,
formuliert hat: ,,Es ist eine Irrlehre, dass es Fragen gibt, die für normale Menschen zu
groß oder zu kompliziert sind. Akzeptiert man einen solchen Gedanken, so hat man
einen ersten Schritt in Richtung Technokratie, Expertenherrschaft, Oligarchie getan.
35 Politik ist zugänglich, ist beeinflussbar für jeden. Das ist der zentrale Punkt der Demo-
kratie." Damit sei zugleich der Finger in eine offene Wunde dieser EU gelegt: Mehr
Demo-, weniger Bürokratie!
Andreas Nitsche, einer der Programmierer von Liquid Feedback, erzählt im Interview,
warum flüssige Demokratie das Vertrauen der Bürger in Politik wieder herstellen könn-
te.
beitsteilung, ist dafür aber statisch - wer mitmachen will, muss sich wählen lassen.
Liquid Democracy will die Arbeitsteilung dynamisieren: Jeder beteiligt sich genau da
10 selbst, wo er etwas beitragen will und kann. In anderen Gebieten kann er seine Stimme
einem Menschen oder einer Gruppe übertragen, er kann sie an jemanden delegieren,
dem er vertraut. [ ... ]
ZEIT ONLINE: Könnte eine Liquid Democracy in der Zukunft Wahlen ersetzen?
Nitsche: Es handelt sich um eine Vision, ein Gedankenexperiment. Eine Liquid-De-
1s mocracy-Gesellschaft lässt sich zwar nicht für alle Zeiten ausschließen. Ich kann al-
lerdings aus heutiger Sicht keinen realistischen Weg dahin sehen. Es ist beispielswei-
se unklar, ob die vollständige Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen Politik und
Bürger, also jeden Bürger zum Politiker zu machen, überhaupt ein sinnvolles Ziel ist.
[... ] Es gibt aber auch technische Hürden. Mit einem Computer kann man nicht wählen.
20 Denn es gibt keinen Weg, über Computer und Internet geheim abzustimmen und das
ZEIT ONLINE: In der derzeitigen Gesellschaftsstruktur ist es also kein Ersatz für Wah-
len, sondern höchstens eine Ergänzung?
Nitsche: Uns erschien, als wir die Software Liquid Feedback programmierten, der di-
2s rekte Parlamentarismus als wenig praxisnah. Das Problem der direkten Demokratie ist
aus meiner Sicht die Überforderung des Einzelnen. Es sind viele Entscheidungen über
komplexe Probleme zu treffen. Wir wollten es daher vor allem Parteien und Organisa-
tionen anbieten Dort sammeln sich Menschen, die sich an Politik beteiligen wollen.
Außerdem gibt es bei Parteien viel Gestaltungsspielraum, Mitglieder können miteinan-
30 der die Richtung verhandeln. Das ist in der gesamten Gesellschaft nicht so leicht. Die
repräsentative Demokratie wollten wir gar nicht infrage stellen. Wir wollten erreichen,
dass Parteien volksnäher werden. Damit wäre schon sehr viel gewonnen. [...]
ZEIT ONLINE: Was für eine Form von Demokratie schwebt Ihnen vor?
Nitsche: Eine parlamentarische Demokratie mit Parteien, die jedoch wesentlich volks-
3s näher sind als heute. Indem sie beispielsweise ihren Mitgliedern d ie direkte Mitbestim-
mung ermöglichen. Ohne diese gläserne Decke aus Delegierten, die letztlich zur Ver-
selbständigung von Politik führt. Dann würde die parlamentarische Demokratie wieder
attraktiver. Man muss das Thema daher gar nicht auf die Ebene von Volksentscheiden
und Grundgesetzänderungen holen, denn es spricht ja nichts dagegen, dass Parteien
40 Zusammenschlüsse von Menschen sind, die sich für ein Thema interessieren.
Aufgaben
1. Stellen Sie die Argumente von Ralf-Uwe Beck in M 1 dar.
2. Vergleichen Sie die Positionen von Ralf-Uwe Beck (M 1) und Andreas Nitsche (M 2) zum
Thema Demokratie.
Beteiligung in Deutschland
In der repräsentativen Demokratie der Bundesrepu- Art. 38 des Grundgesetzes legt Wahlgrundsätze
blik gibt es für die Bürger im Prinzip sechs unter- fest, die bei Wahlen in der Bundesrepublik Deutsch-
schiedliche Möglichkeiten, sich im politischen Pro- land erfüllt sein müssen:
zess zu beteiligen und die eigenen Interessen
einzubringen. Dies sind • Wahlen müssen allgemein sein, d. h. unabhän-
gig z.B. von Geschlecht, Rasse, Sprache, Ein-
• Teilnahmen an Wahlen und Abstimmungen ; kommen Bildung, Konfession oder politischer
• Parteibezogene Aktivitäten; Überzeugung sind alle Staatsbürger stimmbe-
• Gemeinde-, Wahlkampf und Politiker bezogene rechtigt. Einige Voraussetzungen müssen je-
Aktiv itäten; doch erfüllt sein: ein bestimmtes Alter, deutsche
• legaler Protest; Staatsbürgerschaft, Besitz der geistigen Kräfte
• ziviler Protest und und der bürgerlichen Ehrenrechte sowie volle
• Politische Gewalt. rechtliche Handlungsfähigkeit.
Hierbei kann zwischen konventionellen (verfass- • Wahlen müssen frei sein, d. h. die Bürger müssen
ten, gesetzlich garantierten und geregelten) und zwischen mehreren miteinander ko nkurrieren-
unkonventionellen (nicht verfassten) Formen der den politischen Alternativen frei auswä hlen
politischen Beteiligung unterschieden werden. könne n. S ie dürfen nicht zur Wahl einer Partei
oder Person gedrängt oder gezwungen werden.
Während die Teilnahme an Wahlen eine konventi- Gleichzeitig kö nnen die Bürger auch frei ent-
onelle Form der Beteiligung ist, steht jedem über scheiden, ob sie von ihrem Wahlrecht Gebrauch
das Demonstrationsrecht eine unkonventionelle machen wollen.
Form der Beteiligung zu, d. h. das Recht, sich „ohne
Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waf- • Wahlen müssen geheim sein, d. h. es muss recht-
fen zu versammeln" (Art. 8 GG). Bürgerinitiativen lich und organisatorisch gewährleistet sein, dass
als eine weitere Form der unkonventionellen Betei- jeder Wähler eine nicht von anderen erkennba-
ligung werden meist aus der Bevölkerung heraus re Wahlentscheidung t reffen kann.
gebildet und wollen Einfluss au f die öffentliche
Meinung, auf staatliche Einrichtungen, Parteien • Wahlen m üssen gleich sein, d. h. jeder Wahlbe-
oder a ndere gesellschaftliche Gruppierun gen neh- rechtigte besitzt das gleiche Stimmengewicht -
men. der Zählwert der Stimmen der Wahlberechtigten
muss g leich sein. Dies bedeutet a uch, dass die
Wahlkreiseinteilung stets daraufhin zu überprü-
Beteiligung durch Wahlen - ein fen ist, ob das Verhältnis der Bevölkerungsan-
faires Verfahren? zahl zur Zahl der zu wählenden Abgeordneten
in den Wahlkreisen den Gleichheitsgru ndsatz
Zu den wichtigsten Rechten der Bürger hinsicht- nicht verletzt.
lich der politischen Mitwirkung in einer repräsen-
tativen Demokratie gehört das Wahlrecht. Dabei • Wahlen müssen unmittelbar sein, d. h. das Volk
unterscheidet man das Recht zu wählen (aktives muss seine Repräsentanten direkt ins Parlament
Wahlrecht) und das Recht sich selbst zur Wa hl zu wählen. Die Beauftragung von Dritten mit der
stellen (passives Wahlrecht). Wahl ist nicht zulässig.
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland
Der deutsche Polit ikwissenschaftler Dieter No hle n 5. Legitimität: Das Wahlsystem und seine Ergeh-
hat fünf Anforderungen ide ntifiziert, die Wahl- nisse sollen allgemein akzeptiert sein.
systeme erfüllen müssen:
1. Repräsentation: Alle relevanten gesellschaftli- Welche Typen von Wahlsystemen gibt es?
chen Gruppen sollen möglichst entsprechend
ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung im Wahlsysteme stellen Verfahren bereit, mittels de-
Parlament vertreten sein. Die Wählerstimmen rer die Stimmen der Wähler entsprechend ihrer
sollen sich dabei proportional in Abgeord ne- Partei- oder Ka ndidatenpräferenz in Mandate
te nmandaten niederschlagen. übertragen werde n und die Zusammensetzung
von Parlamenten bestimmt wird. Die Ausgestal-
2. Konzentration: Die Zahl der im Parlament ver- tung des Wa hlsystems in demokratischen Staaten
t retenen Parteien soll möglichst gering sein, um ist i. d . R. das Ergebnis von Kompromissen zwi-
die Bildung stabiler pa rla mentarischer Mehr- schen den wichtigsten gesellschaftlichen und po-
heiten zu vereinfachen. lit ischen Gru ppierungen. Dies erklärt die enorme
Vielfalt verschiedenster Wahlsysteme, die sich
3. Partizipation: Die Wähler sollen möglichst gro- aber größtenteils alle au f zwei Grundtypen zu-
ße Mitwirkungsmöglichkeiten haben und ins- rückführen lassen: die Mehrheitswahl und die
besondere neben der Parteienwahl auch eine Verhältniswahl.
personelle Wahl treffen kön nen.
Bei de r Mehrheitswahl wird das Wahlgeb iet in so
4. Einfachheit: Die Wähler sollen die Funktions- v iele Wahlkreise eingeteilt, wie Mandate zu ver-
weise des Wahlsystems verstehen und der geben sind. In allen Wahlkreisen stellen sich Kan-
Wahlvorgang soll transparent sein. didaten zur Wahl. Gewählt ist, wer in diesem
W? ,~ysteme:
Mehrheitswahl
Einfache oder relative Absolute Mehrheit
Mehrheit
~
~
Erreicht keiner
Gewählt ist, Gewählt ist, der Kandidaten
wer die wer mehr C • die absolute
meisten als die Hälfte Mehrheit, findet
Stimmen aller Stimmen ggf. ein zweiter
8
erhält erhält Wahlgang statt
Beispiel:
Wahl in Einer-Wahlkreisen ■
,
----•----- ----•-----
In jedem Wahlkreis Die Wähler geben
ist ein Mandat zu vergeben, jeweils einem der Kandidaten
um das sich mehrere (A, B, C, D ...)
Kandidaten bewerben ihre Stimme ~
Wahlberechtigte
Bevölkerung
~-~mt\.
~
in gleich großen
Wahlkreisen
.___ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ IZAHLENBILDERl-ffi
c Bergmoser + Höl/er Verlag AG 85 010
4.2 Die Bürger im politischen Prozess
systeme:
Verhältniswahl
Beispiel: Listenwahl
,,,.
Sitzverteilung entspricht
annähernd dem Stimmenanteil
Wahl in großen
Wahlkreisen,
in denen mehrere Umrechnung der Stimmen in Mandate
Mandate zu Zuteilung der Mandate an die Listenbewerber
vergeben sind 1 1
1
~
4 --
=- ~1
~
4-
=- ~1
~
4--
==- Kandidatenlisten
der Parteien
5 - 5 -- 5 --
~
A=
a=
c= Die Wählerinnen und Wähler
Qo= entscheiden sich mit ihrer Stimme
für die Liste einer P artei
'------------===================-- IZAHLENBILDERl f f i
Cl Bergmoser + Höller Verlag AG 85 015
Wahlkreis die meisten Stimmen erhält (relative Vor- und Nachteile beider Wahlsysteme
Mehrheitswahl). Diese Variante wird z.B. bei der
Wahl zum Unterhaus im Vereinigten Königreich Die Mehrheitswahl hat als großen Vorteil den
oder den Kongresswahle n in den USA a ngewandt. mehrheitsbildenden Effekt, d. h. dass sie zu stabi-
Bei de r absoluten Mehrheitswahl ist derjenige len Mehrheiten führt und eine schnelle Regie-
Kandidat gewählt, der die a bsolute Mehrheit der run gsbildung möglich macht. Gewöhnlich kann
Stimmen (die sogenannte Formel 50 °10 plus eine die Mehrheitspartei ohne Koalitionspartner die
Stimme) im Wahlkreis erhält. Da eine solche Regierung stelle n. Es best eht zudem eine enge
Mehrheit meist ni cht sofort zu erreichen ist, wird Verbindung des Abgeordneten zu seinem Wahl-
meist ein zweiter Wahlgang zwischen den beiden kreis.
Bestplatzierten no twendig.
Der Nachteil liegt darin, dass alle Stimmen, die für
Bei der Verhältniswahl legen hingegen die Partei- die unterlegenen Kandidaten im Wahl kreis abge-
en Listen mit Namen von Kandidaten für das j e- geben wurden, u nter den Tisch fallen. Ein großer
weilige Wahlgebiet vor. Alle Stimmen, die fü r eine Teil der Wa hlbevölkerung ist demnach nicht im
Partei abgegeben wurden, werden zusammenge- Parlament repräsentiert, da ein ebenso gro ßer na-
zählt. Aus dem Gesamtergebnis wird dann errech- tionaler Stimmenanteil nicht in Mandate umge-
net, wie v iele Parlame ntssitze den Parteien nach rechnet wird. Der mehrheitsbildende Effekt kommt
ihrem Stimmenanteil zustehen. Wenn eine Partei großen Parteien zugute und geht zu Lasten der
z. B. 20 O/o der Wählerstimmen errungen hat, be- kleineren Parteie n. Wegen der Benachteiligung
komm t diese auch gru ndsätzlich 20 °10 der Parla- kleinerer Parteien spricht man von der „Feindlich-
mentssitze. Diese Sitze werden da nn a n die Kan- keit der Mehrheitswahl gegen Drittparteien". Es
d idaten in der Reihenfolge verteilt, wie sie auf der können sich meist nur zwei große Parteien im Par-
Liste ihrer Partei platzie rt wa ren. lament etablieren.
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland
Stimmzettel
Parteien können - Erststimme Zweitstimme - Die Zweitstimme Das Wahlsystem der Bundesrepublik
pro Wahlkreis O Kandidat A O Partei A gilt den Parteien.
einen Kandidaten O Kandidat 8 0 Partei B
aufstellen. Das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland
0 KandidatC O ParteiC
~ KandidatD ll( Partei D versucht die Vorteile beider Wahlsysteme mitein-
ander zu verbinden u nd deren Schwächen so weit
wie möglich auszu gleichen. Es wird als persona-
lisierte Verhältniswahl bezeich net. Mit diesem
Wahlergebnis im Wahlkreis Zweit stimmen der einzelnen Parteien Verfahren werden 598 Sitze im Bundestag besetzt.
werden bundesweit addiert. Parteien Jeder Wähler hat dabei zwei Stimmen. Mit der
Kandidat
.1.1
A B C D
mit weniger als 5 % aller Stimmen
werden nicht weiter berücksichtigt. Erststimme werden nach der relativen Mehrheits-
wahl 299 Direktmandate vergeben. Dazu wird das
Wahlgebiet in entsprechend v iele Wahl kreise ein-
+
f
Der Kandidat D hat die
meisten Stimmen und Partei A Partei B Partei C Partei D
geteilt, in denen die Parteien ihre Kandidaten a uf-
stellen. Die gewählten Kandidaten ziehen au f je-
8 zieht für seine Partei in <5%
den Fall in den Bundestag ein.
111..g)' den Bundestag ein. Entsprechend der Stimmanteile werden
die 598 Bundestagsmandate auf die
Bundestag
Parteien verteilt". Die Zweitstimme ist die wichtigere der beiden
Stimmen. Mit ihr wird eine Partei gewählt. Die
Die Bundestagssitze werden
..""""'---c zur Hälfte mit den Wahlkreis- Zweitstimme entscheidet über die Gesamtzahl der
gewinnern besetzt. Die
übrigen freien Plätze füllen
Sitze für eine Partei im Bundestag. Dazu stelle n
..
die Parteien mit Kandidaten die Parteien in den Bundesländern La ndesliste n
ihrer Landeslisten.
mit Kand idat en auf. Für diese Listen geben die
598 Sitze
Wähler ihre Zweitstimmen ab. Nach dem Sain-
-
+ Uberhangmandate III III te-Lague / Schepers-Verfahren wird ermittelt, wie
viele Kandidaten von der Landesliste der Partei in
Wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreissieger hat,
als ihr dort anteilig Sitze zustehen, bekommt sie zusätzliche Sitze. den Bundestag einziehen dürfen. Davon werden
Die anderen Parteien erhalten so viele Ausgleichsmandate, bis die schon erreichten Direktma ndate abgezogen
das ursprüngliche Kräfteverhältnis wieder hergestellt ist.
und die restlic hen Mandate werden nach der Rei-
hen folge der Ka ndidaten über die Landeslisten der
dpa 19572
0 'Saint-Lague-Berechnungsverfahren Quelle: BpB, Korte
Parteien besetzt. Die beiden Stimmen können für
verschieden e Parteien abgegeben werden (Stim-
Anders als bei der Mehrheitswahl sind bei der Ver- mensplitting).
hältniswahl gru ndsätzlich a lle Parteien im Parla-
ment vertreten, die eine ausreichende Zahl a n Um eine zu starke Zersplitterung des Parlaments
Stimmen erhalten haben. Jede Wä hlerstimme wird zu vermeiden, wurde eine sog. Sperrklausel
bei der Umrechnung des Wahlergeb nisses in Par- (Fünf-Prozent-Klausel) eingeführt. Danach wer-
lamentssitze in gleicher Weise berücksichtigt. Das den bei der Sitzverteilung nur die Zweitstimmen
Parla ment ist dementsprechend die „Landkarte der von Parteien gewertet, die mi ndestens fünf Pro-
Gesellschaft". zent der abgegebenen gültigen Zweitstimmen
4.2 Die Bürger im politischen Prozess
geteilt durch
1
2
---
Partei A
6000
3000
0
e
Partei
3100 .
1550 0
B Partei C
2950
1475
0
e
zum Mandat
vertahren der
Stimmenverrechnung
in Verhältniswahl-
systemen
3 2000 0 1 033 E> 983 ~~
- ---- T T T I'
,.
. ,,,,.,..
lfäd,@Mid1.-mI1111Eilll mmlllmDIIIEilll
Für jede Partei wird berechnet: Die Stimmen der Parteien, die an
der Sitzvergabe teilnehmen, werden
Gesamtzahl der Sitze x Stimmenzahl der Partei durch einen Divisor geteilt. Als Divi-
Gesamtzahl der Stimmen aller Parteien sor eignet sich die auf einen Sitz
durchschnittlich entfallende Anzahl
der Stimmen, hier: 1 095.
5,48 2,83 2,69
Die Ergebnisse der Division werden
anschließend auf ganze Zahlen auf -
Am Ergebnis ist vor dem Komma oder abgerundet. An den ganz-
abzulesen, wie viele Sitze jede Partei zahligen Resultaten lässt sich die
mindestens erhält. Sitzverteilung unmittelbar ablesen.
Die dann noch zu vergebenden Sitze Ist ihre Summe größer/kleiner als
werden den Parteien in der Reihen- erforderlich, wird die Rechnung mit
folge der größten Zahlenbruchteile einem größeren /kleineren Divisor
hinter dem Komma zugeteilt. wiederholt.
5,48 2, 83 2, 69
5,48 2,83 2,69
abgerundet aufgerundet aufgerundet
T T +1 T +1 T T T
L----......:=.a _ _ _ L----......:=.I _ _ _
,_v_e_r_ei_nf_ac_h_te_M_od_e_ll_re_ch_n_u_ng_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ l ZAHLENBILDERl - f f i
oder mindestens drei Direktmandate erhalten ha- 2012 auch das reformierte Wahlverfahren nach
ben. So zog die PDS 1994 gemäß der Sperrklausel Sainte-Lague / Schepers als teilweise rechtswidrig
mit 30 Abgeordneten in Gruppenstärke in den eingestuft.
Bundestag ein, obwohl sie bei den Wahlen nur 4,4
Prozent der Zweitstimmen, dafür aber vier Direkt- Am 21. Februar 2013 verabschiedete der Bundes-
mandate gewonnen hatte. 2002 zogen zwei Kan- tag schließlich eine Änderung des Bundeswahlge-
didaten der PDS per Direktmandat als fraktions- setzes mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/
lose Abgeordnete in den Bundestag ein, da die CSU, SPD, FDP und Bündnis 90 / Die Grü nen. Die
Partei lediglich vier Prozent der Zweitstimmen Linksfraktion stimmte dagegen. In dieser Version
erreichen konnte. werde n die sog. Überhangmandate durch Aus-
gleichsman date neutralisiert. Das neue Modell
Gewinnt eine Partei in einem oder mehreren Bun- läuft darauf hinaus, dass die Parteien, die weniger
desländern mehr Direktmandate als ihr nach ih- oder keine Überhangmandate gewonnen haben,
rem Zweitstimmenanteil eigentlich zustehen, so zum Ausgleich genauso viele Mandate zugestan-
behält sie diese als Überhangma ndate. Der Bun- den bekommen, bis die ursprünglichen Mehrheits-
destag vergrößert sich dan n um die Zahl der Über- verhältnisse wieder hergestellt sind.
hangma ndate aller Parteien.
Bei der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am
Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Ent- 22. September 2013 wu rde das neue Wahlverfah-
scheidung im Jahr 2008 das damals gültige Wahl- ren zum ersten Mal angewandt. Das Ergebnis
verfahren nach Hare/Niemeyer teilweise für rechts- führte zu einer Vergrößerung des Bundestages.
widrig erklärt, da es durch die Verrechnung der Mit der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag vom
Landeslisten gegeneinander z u Benachteiligu ngen 24.9.2017 sind sieben Parteien mit 709 Abgeord-
kommen kan n. Nach der Wahlrechtsreform von neten aufgrund von Überhang- und Ausgleichs-
2011 hat das Bundesverfassungsgericht am 5. Juni mandaten im Parlament vertreten.
Die Nichtwähler
Nicht abgegebene Stimmen
bei den Bundestagswahlen
In % aller Wahlberechtigten
1949 '53 '57 '61 '65 '69 '72 '76 '80 '83 '87 '90 '94 '98 '02 '05 '09 '13 2017
Wählertypen
Aufgaben
1. Beschreiben Sie die Möglichkeiten, in Deutschland am politischen Prozess zu partizipieren.
2 . Vergleichen Sie die Vor- und Nachteile der beiden Wahlsysteme mit Hilfe einer Tabelle.
3. Beurteilen Sie, inwiefern das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag den Anforderungen Nohlens an Wahlen
gerecht wird. Verteilen Sie dazu jeweils Punkte auf die einzelnen Kriterien (0 Punkte= nicht erfüllt bis 5 Punk-
te = voll erfüllt). Begründen Sie Ihre Zuordnung.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Neben den Schnarchnasen, Vergesslichen und Uninformierten gibt es viele, die ganz
bewusst nicht wählen gehen. Sie haben politische Überzeugungen und Ziele. Die For-
sa-Studie bescheinigt sogar der Mehrheit der Nichtwähler (59 Prozent) ein Interesse
am politischen Geschehen dieses Landes. Viele Nichtwähler wollen ein Zeichen setzen
5 und ihre Unzufriedenheit mit dem Status quo oder dem Angebot der Parteien äußern.
Doch leider geht diese Logik nicht auf. Über die Zusammensetzung des Bundestages
entscheidet die prozentuale Verteilung der gültigen Stimmen. Die Parteien bekommen
das Nichtwählen, und sei es noch so politisch motiviert, überhaupt nicht zu spüren,
jedenfalls nicht, solange alle Parteien gleichermaßen von den Nichtwählern bestraft
10 werden. Daher haben Parteien grundsätzlich auch kein Interesse daran, alle Wahlbe-
rechtigen an die Urnen zu locken. Der parteitreue Wähler ist gern gesehen, alle ande-
ren sind gefährliche freie Radikale, die den potenziellen Sieg vermasseln. Theoretisch
könnte der gesamte Bundestag von nur ein paar Tausend Leuten gewählt werden und
wäre dennoch handlungs- und beschlussfähig.
15 Nicht zu wählen führt demnach nicht zur Veränderung von politischen Positionen oder
Machtverhältnissen, eher bestärkt es im Zweifel etablierte Kräfte und ihre Meinungen.
Und genau dort liegt der Ursprung jenes Stillstandes, der nicht nur dem Nichtwähler,
sondern auch allen anderen gehörig auf die Nerven geht. [... ]
Denn wählen zu gehen ist nicht nur ein Akt der Unterstützung für eine bestimmte Par-
20 tei und ihre Repräsentanten (die uns zugegebenermaßen aktuell nicht besonders ge-
fallen). Wählen bedeutet in erster Linie einen Beitrag zur Erzeugung eines gesellschaft-
lichen Meinungsbildes. Wahlen zeigen, wie zufrieden oder unzufrieden wir mit den
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen sind. Sie legen dar, was wir als
wichtig und was als unwichtig empfinden. Unsere Gesellschaft, also wir, braucht die-
2s ses verbindliche Stimmungsbarometer, um Weichen für die Zukunft zu stellen. Daher
schaden wir mit dem Nichtwählen nicht nur unseren Interessen, sondern unserem
Gemeinwesen im Ganzen. Nichtwähler stellen keine Weichen, sondern sprengen
gleich den ganzen Gleisabschnitt.
Darum plädieren wir für die Einführung einer gesetzlich verankerten Wahlpflicht in
30 Verbindung mit einem zusätzlichen „Enthaltungsfeld" auf jedem Wahlzettel. Jede und
jeder Wahlberechtige muss wählen gehen, auch wenn er oder sie nur Enthaltung an-
kreuzt. Sollte man nicht zur Wahl erscheinen oder den Briefwahlumschlag nicht ab-
senden, ist eine kleine zweckgebundene Abgabe fällig. Das gesammelte Geld kann
beispielsweise in den Bildungsetat der Länder einfließen, um politische Bildung an
35 Schulen stärker zu unterstützen.
Die Vorteile einer Wahlpflicht liegen auf der Hand. Die größere Wahlbeteiligung erhöht
die Legitimation des Parlaments und der Regierung, die es dann wählt. Durch die
Enthaltungsoption kann der Wähler wirksam und direkt eine Nachricht an die Politik
senden. Ein Kreuz in einem Enthaltungsfeld hat mehr Aussagekraft, als von der Wahlur-
40 ne wegzubleiben.
Außerdem regt eine Wahlpflicht dazu an, nachzudenken, zu diskutieren und zu ent-
scheiden. Das wird unsere Demokratie beleben und den Wettbewerb um die besten
Ideen und Lösungskonzepte befeuern.
Es wird gerne behauptet, eine Wahlpflicht verletze Persönlichkeitsrechte und begren-
45 ze so unsere Freiheit. Könnte es aber nicht eher sein, dass Freiheit hier mit Flucht aus
der Verantwortung verwechselt wird? Seim Wählen geht es nicht bloß um die Aus-
übung einer Freiheit, es geht darum, Verantwortung anzuerkennen. Freiheit ohne Ver-
KOMPETENZEN ANWENDEN 1 •
antwortung führt zu Unfreiheit, entkernt die Demokratie und führt letzten Endes zu
Anarchie, dem totalen Verlust von Gemeinschaft. [... ]
50 Folglich ist die Wahlpflicht kein Instrument, das die Bürger enger an den Staat bindet,
sondern eine Möglichkeit, die Bürger vom illegitimen Einfluss anderer zu befreien. Die
Wahlpflicht ist mehr Chance als Zwang , mehr ein kluges Korrektiv als ein Akt der Be-
vormundung. Und somit erinnert uns die Wahlpflicht daran, unsere Freiheit wahrzu-
nehmen und dadurch zu wahren.
Die ganze Diskussion missachtet sträflich ein Grundprinzip einer freiheitlichen Gesell-
schaft: Das Recht, unpolitisch zu sein, das Recht, das Wählen den anderen zu über-
lassen, das Recht, sich um die „res publica" nicht zu kümmern, das Recht, sich als
Trittbrettfahrer unseres demokratischen Gemeinwesens wohl zu fühlen. Ich finde sol-
5 ehe Zeitgenossen weder vorbildlich noch sonderlich klug, aber ich respektiere ihre freie
Entscheidung. Das unterscheidet nämlich die freiheitliche von der totalitären Gesell-
schaft.
Manche Bürger wählen nicht mehr, weil sie „denen da oben" ohnehin nichts zutrauen.
Andere Nichtwähler verstehen gar nicht, was die Parteien unterscheidet. Eine dritte
10 Gruppe wiederum vertritt die Ansicht, die Sonne werde auch am Morgen nach dem
Wahltag aufgehen, ganz gleich, wer am Tag zuvor wie viele Stimmen bekommen hat.
Wahlabstinenz kann durchaus auch ein Zeichen eines diffusen Grundvertrauens sein:
Es ist noch immer gut gegangen.
Eine niedrige Wahlbeteiligung ist unter dem Aspekt der Legitimation der Gewählten
15 zweifellos unerfreulich. Schlimmer noch: Eine niedrige Wahlbeteiligung hilft den Popu-
listen von rechts und links, weil die ihre „Wutwähler" meist besser zu mobilisieren
verstehen als die Volksparteien mit ihrer eher satten Wählerschaft. Aber soll man des-
halb eine Wahlpflicht einführen, etwa die Wahlabstinenz mit Geldbußen bekämpfen
wie in Belgien? Oder gar mit Gefängnis wie in Ägypten?
20 Wir Deutsche haben ja Erfahrung mit Zeiten, in denen sich „das ganze Volk" angeblich
freudig erregt aufmachte, mit seiner Stimme dem „Führer" zu huldigen oder zum Sieg
des Sozialismus beizutragen. Im Dritten Reich wie im real existierenden Sozialismus
machte sich verdächtig, wer sich am Wahltag abseits stellte. Heute muss niemand
irgendwelche Nachteile befürchten, wenn ihm das Faulenzen zu Hause oder der Aus-
25 flug ins Grüne wichtiger ist als die Stimmabgabe. Und genau das macht eine freiheit-
liche, demokratische Gesellschaft aus: dass sie jeden nach seiner Facon selig werden
lässt, auch den Wahlverweigerer.
Rüstet also ab, ihr „Wahlrecht-ist-Wahlpflicht"-Prediger. An einer niedrigen Wahlbetei-
ligung ist noch keine Demokratie zerbrochen.
Aufgaben
1 . Fassen Sie die Position und die Argumentation der beiden Autoren aus M 1 und M 2 zur
Einführung einer Wahlpflicht zusammen.
2. Erklären Sie, warum Hugo Müller-Vogg sich für das Recht ausspricht, unpolitisch zu sein
(M2).
3. Beurteilen Sie die Einführung einer Wahlpflicht und stellen Sie Ihre Position auf einer Positi-
onslinie dar. Verwenden Sie zur Begründung Ihrer Position auch Argumente, die Sie aus
M 1 und M 2 erschlossen haben.
Vermittler zwischen Bürgern
• und politischen Institutionen
4.3."1 Politische Parteien
Leitfragen Was sind Parteien? Welche Funktionen haben Welche rechtlichen Grund-
Parteien? lagen gibt es für Parteien?
Das Grundgesetz weist Parteien im politischen (2) Eine Vereinigung verliert ihre Rechtsstellung
System der Bundesrepublik eine besondere Stel- als Partei, wenn sie sechs Jahre lang weder a n
lung zu. Indem ihnen als Aufgabe explizit die po- ei ner Bundestagswahl noch an einer Landtags-
litische Willensbildung des Volkes zugewiesen wahl mit eigenen Wahlvorschlägen teilgenommen
wird, schreibt es ihnen sogar Verfassungsrang zu: hat.
Art. 21 Abs. 1 GG „Die Parteie n wirken bei der Das Parteiengesetz definiert damit genau was Par-
politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre teien s ind und wann sie ihre Rechtsstellung als
Gründu ng ist frei. Ihre innere Ordnung muss de- Partei wieder verliert. Entscheidend ist, dass sie
mokratischen Grundsätzen entsprech en. Sie müs- bei Wahlen antritt.
sen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mit-
tel sowie über ihr Vermögen öffentlich
Rechensch aft geben." Das Parteiensystem
Parteien streben danach, ihre Interessen in den Unter dem Begriff des Parteiensystems werden die
politischen Entscheidungsprozess einzubringen. Beziehungen und Interaktionen der einzelnen
Der Begriff Partei leitet sich vom lateinischen pars Parteien zueinander subsummiert. In der Politik-
(= Teil) ab. Dies weist darauf hin, dass Parteien wissenschaft wird meistens zwischen Zwei- und
jeweils nur einen Teil der Bevölkerung bzw. deren Mehrparteiensystemen unterschieden. Bei der
Interessen repräsentieren und diese gegeneinan- konkreten Ausgestaltung des Parteiensystems
der bei Wahlen anbieten. Der Wettbewerb der spielen vor allem die Einflussfakto ren Gesell-
Parteien um Stimmen prägt dabei in besonderer schaft, politisches System und Geschichte/ Kultur
Weise das politische Leben innerhalb der reprä- eine Rolle. Während eine eher interessenshomo-
sentativen Demokratie Deutschlands. gene Gesellschaft eher zu einem Zweiparteiensys-
tem führt, herrscht bei einer interessensheteroge-
Neben dem Grundgesetz gibt es in Deutschland nen Gesellschaft eher ein Mehrparteiensystem
ein Parteiengesetz, das sich explizit mit Parteien vor. Zudem hat aber auch das Wahlsystem einen
auseinandersetzt bzw. die gesetzliche Grundlage Einfluss auf das Parteiensystem, so dass bei einem
für ihr Wirken darstellt. Hierin heißt es u. a.: Mehrheitswahlrecht eher ein Zweiparteiensystem
und beim Ve rhältniswahlrecht eher ein Mehrpar-
PartG Art. 2 teiensystem zu erwarten ist.
( 1) Parteien sind Vereinigungen von Bürgern, die
dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Auch die historische Verwurzelung von Parteien
Bundes oder eines Landes auf die politische Wil- in den verschiedenen Milieus einer Gesellschaft
lensbildung Einfluss nehmen und a n der Vertre- (> Kap. 1.3) begünstigt eher ein Mehrparteiensys-
tung des Volkes im Deutschen Bundestag oder tem. Auch heute noch reflektieren Parteien histo-
einem Landtag mitwirken wollen [...]. rische Konflikte - die sog. Cleavages. Oft werden
4.3 Vermittler zwischen Bürgern und politischen Institutionen
Parteiensysteme auch in ein Links-Rechts-Sche- bzw. auf zweieinhalb Parteien mit der FDP als
ma eingeteilt. Rechts werden konservative sowie „Zünglein an der Waage" gab, ist es seit den
eher marktliberale Parteien eingeordnet, während l 980er Jahren zu einer Ausdifferenzierung des
links Parteien eingeordnet werden, die einen so- Parteiensystems gekommen.
zialen Ausgleich bzw. größere gesellschaftliche
Liberalität fordern. Im 19. Deutschen Bundestag sind mit CDU, CSU,
SPD, FDP, Bündnis 90 / Die Grünen, der Linken
Während es in Deutschland bis in die 1970er Jah- und der AfD insgesamt sieben Parteien in sechs
re eine Konzentration des Parteiensystems auf drei Fraktionen jm Parlament vertreten.
- - - Gesamtdeutschland - - -
20,5
14 12,6
5,8
dpa•27265 1949 nur eine Stimme pro Wähler *vormals PDS **vorläufiges amtliches Endergebnis
Welche Funktion erfüllen Parteien im politi- Diese Regelungen orient ieren sich an der freiheit-
schen Prozess? lichen demokratischen Grundordnung (FDGO) der
Bundesrepublik Deutschland. So gelten für Partei-
Als Organisationen im intermediären System, en u. a . auch die Elemente Volkssouveränität, Ge-
d. h. im Bereich zwischen Bürger und Staat, in dem walten teilung, Verantwortlichkeit der Exekut ive,
die Parteien als Mittler a uftreten, können ver- Minde rheitenschutz, das Mehrheitsprinzip, die
schiedene Funktionen von Parteien unterschieden Freiheit des Einzelnen, der Pluralismus und die
werden: Rechtsstaatlichkeit. Wesentlich ist folgendes gere-
gelt:
• Personalrekrutierung: Parteien wählen Ka ndi-
daten aus, die in ihrem Sinne öffentliche Ämter • Mitgliedschaft: Alle Bürgerin nen und Bürger
übernehmen sollen. haben das Recht - ohne Ausnahmen, d. h. un-
abhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion
• Interessenartikulation: Parteien formuliere n etc. - in eine Partei eint reten zu kö nnen.
Interessen und damit Forderungen nach Verän-
derung, die sie in Form von politischen Ent- • Teilhabe an Willensbildung von unten nach
scheidungen umsetzen wollen. oben: Die Parteimitglieder kö nnen an den Pro-
g rammen mit arbeiten, indem sie ein Antrags-
• Programmfunktion: Parteien bündeln und in- recht haben, und an der Aufstellung vo n Kan-
t egrieren die Interessen de r Bevölkerung und didaten teilnehmen. Die Parteien müssen sich
erstellen auf dieser Basis ein Programm, welches hierfür territorial gliedern.
die Forderungen und Vorha ben bein halten, die
sie beim Eintritt in die Regie rung durchsetzen • Organe der Legislative, Exekut ive und Judika-
wollen. Mit diesen Programmen t reten sie bei tive: Als oberstes legislatives Organ beschließt
Wahlen an und werben um Wählerstimmen. die Mitgliederversammlung das Parteiprogramm
und wählt den Vorstand. Die Vorstände leiten
• Partizipationsfunktion : Parteien ermögliche n als exekutives Organ das Tagesgeschäft einer
es den Bürgern, an politischen Entscheidungen Partei, sind den Mitgliederversammlungen re-
mitzuwirken und sich damit auf Basis ihrer in- chenschaftspflichtig und kön nen abgewählt
dividuellen Interessen polit isch zu beteiligen. werden. Parteischiedsgerichte schlichten Strei-
Zudem erhalten die Bürger durch sie die Mög- tigkeiten zwischen der Partei und einzelnen
lichkeit, sich an der Gestaltung der Pa rteipro- Mitgliedern.
gramme zu beteiligen und bei der Auswahl der
Kandidaten mitzuentscheiden.
Wie finanzieren sich Parteien?
• Legitimationsfunktion: Durc h die Verbindung
zwischen Staat und Gesellschaft, dem Einbrin- Zur Erla ng ung fin anzieller Mittel, die Parteien
gen von Interesse n sowie die Info rmation und u. a. benötigen, um Wahlkämpfe zu betreiben u nd
Begründung politischer Entscheidungen tragen ha upta mtliche Mita rbeiter zu bezahlen, stehen ih-
Parteien zur Akzepta nz der politischen Ordnung nen v ier Einnahmequellen zur Verfüg ung: Mit-
bei. gliedsbeiträge, Spenden, staatliche Fina nzierung
und wirtschaftliche Betätigungen.
· Parteienfinanzierung
Private Mittel
., --Staatliche Mittel
----------------~
Beiträge · Zuschüsse für Wählerstimmen
von Mitgliedern • je 0,85 € für die ersten 4 Millionen Stimmen,
und Mandats-
trägern • 0,70 € für jede weitere Stimme
bei den jeweils letzten Bundestags-, Europa-
und Landtagswahlen
Voraussetzung: ein Stimmenanteil von mind. 0,5 % bei
Spenden Wahlen auf Bundesebene bzw. 1,0 % bei Landtagswahlen
nehmen und deshalb die Parteien auch staatlich de die rechtsextremistische Sozia listische Reichs
fina nziert werden sollen. Aber auch Pa rteispenden Partei (SRP) verboten und 1956 die Kommunisti-
als Fina nzierungsmittel von Parteie n stehen in der sch e Partei Deutschlands (KPD). 2001 wurde durch
Kritik, da stets der Verdacht der Korruption im den Bundestag, den Bundesrat und die Bundesre-
Raum steht. Deshalb fordern einige auch ein Verbot gierung ein Ve rb ot der Natio na ldemokratischen
von Parteispenden bzw. mehr Transparenz. Partei Deutschlands (NPD) beantragt. Dieser war
j edoch nicht erfolgreich.
Kann eine Partei verboten werden?
Im J a hr 201 2 hat der Bundesrat dan n erneut ein
Nac h den Erfahrungen mit der Diktatur der Nati- Verbot der NPD beant ragt, das vom Bundesverfas-
ona lsozialisten, die u. a. durch die mehrhe itlich sungsgericht 2017 abgewiesen wurde. Nach der
gewählte, aber demokratie feindliche NSDAP ein- Ansicht der Richter ist die NPD zwa r verfassungs-
gele itet wurde, wurde die Möglichkeit des Partei- feindlich gesinnt und wese nsverwandt mit dem
verbots in das Grundgesetz aufgenommen. Natio nalsozia lismus, jedoch sehen sie durch die
Partei die Demokratie in Deutschland nicht ge-
Art. 21 Abs. 2 GG: .,Pa rteien, die nach ihren Zielen fä hrdet.
oder nach dem Verha lte n ihrer Anhä nger darauf
ausgehen, die freiheitliche demokratische Grund-
ordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen Vor welchen Herausforderungen
ode r den Bestand der Bundesrepublik Deutschla nd stehen Parteien?
zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die
Frage der Verfass ungswidrigkeit entscheidet das Sozialer Wa ndel und insbesondere die Folgen der
Bundesverfassungsgericht." Globalisierun g füh ren zu maßgeblichen Verände-
run gen in der Parteienla ndschaft. In den letzten
In der Geschichte der Bundesrepublik kam es bis- Jahren sind die Parteien vermehrt in die Kriti k
her zw ei Ma l zum Verbot von Parte ien : 1952 wu r- geraten bzw. es wird vo n einer Krise des Parteien-
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland
systems gesprochen. Nebe n rückläufiger Wahlbe- Parteien die Bevölkerung noch a usreichend reprä-
teiligung, rapidem Rückgang der Parteimitglieder sent ieren. Auch Individualisierungstendenzen in
werden die Wahlerfolge von rechten und populis- der Gesellschaft, die durch die sozialen Medien
tischen Parteien als Ausdruck der Krise verstan- gefördert werden, führen zur Frage, ob es geeig-
den. Aber auch Konflikte wie beispielsweise Stutt- netere Formen gibt, wie die Bürger ihre Interessen
gart 21 haben zu Diskussionen geführt, ob die einbringen können bzw. wollen.
Mit Parteibuch
Mitglieder ausgewählter Parteien jeweils am Jahresende in Tausend
1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016
1000
943
800
600
433
400
432
200
0 -------Im
12 1 © Glob"' Quelle: Oskar Niedermayer, FU Berlin, dpa '2007 Vereinigung von PDS und WASG
Aufgaben
1. Stellen Sie auf einem Poster (, Methodenglossar) mit der Überschrift „Parteien in Deutschland" die Parteien-
landschaft in Deutschland dar.
2. Vergleichen Sie die Begründung des Bundesverfassungsgerichts zum Verbotsantrag des Bundesrats von
2012 mit Artikel 21 Abs. 2 des Grundgesetzes. Welcher Aspekt im Grundgesetz war für die Verfassungsrich-
ter entscheidend?
3. Setzen Sie sich kritisch mit der Forderung auseinander, der Krise der Parteien mit der Stärkung direktdemo-
kratischer Elemente zu begegnen.
METHODENKOMPETENZ t
Man könnte die Sprache als das Ha ndwerkszeug In einer Rede versucht der Redner mit sprachli-
der Politiker bezeichnen, denn ihr Handeln drückt chen Mitteln bestimmte Ziele zu erreichen, z.B.
sich überwiegend durch Sprache a us. Einschät- a ndere Abgeordneten davon zu überzeugen, poli-
zunge n, Absichten und Vorhaben werden über- tische Vorhaben zu unterstützen und in seinem
wiegend in Reden vorgetragen, sei es im Bundes- Sinne abzustimmen. Die Intentionen eines Red-
tag, vor einem bestimmten Publikum oder zu ners und die rhetorisc hen Mittel, die er verwendet,
besonderen Anl ässen. müssen desha lb analysiert werden.
• Wo, wann und zu welchem Anlass bzw. in welchem Kontext wird die Rede gehalten?
• Welches ist der thematische Zusammenhang, in der sie gehalten wird?
• Welches ist der zeitliche Zusammenhang, in der sie gehalten wird?
• Wer sind die Adressaten der Rede?
• Handelt es sich um eine homogene Gruppe?
• Sind in der Gruppe nur Anhänger oder nur Gegner des Redners oder beides?
• (Wie) Stellt der Redner während seiner Rede eine Beziehung zu den Adressaten her?
• Wie reagieren diese?
nicht die hochqualifizierten Fachkräfte der Zu- Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben Herrn Trump
kunft ausgebildet, sondern junge Menschen, von nach seiner Wahl zur Anerkennu ng von Demokra-
denen viele im Leben nie eine Chance bekommen tie, Freiheit und Respekt vor dem Recht und der
werden, weil das chronisch unterfinanzierte Bil- Würde des Menschen aufgefordert. Ganz abgese-
dungssystem dieses reichen Landes noch nicht hen davon, dass wir uns ähnlich deutliche Worte
einmal in der Lage ist, ihnen elementare Lese-, an die Adresse Ihres türkischen Freundes Erdogan
Sch reib- und Rechenfähigkeiten beizubringen. [...] a uch einmal gew ünscht hätten: (Beifall bei der
LINKEN)
(Be ifall bei der LINKEN - Sabine Weiss (Wesel I) Bedurfte es wirklich eines Donald Trump, um zu
(CDU/CSU): Unerträglich!)[...] verstehen, dass es um Demokratie, Freiheit und
Menschenwürde in der westlichen Welt nicht
Natürlich ist das alles nicht a lternativlos. Natür- mehr gut bestellt ist?
lich kann man auch die Riesenvermögen der Mul- Der frühere US-Präsident Jimmy Carter hat die
timillionäre besteuern, statt Städte und Gemein- USA schon vor Jahren eine „Oligarchie mit unbe-
den am langen Arm verhungern zu lassen. grenzter politischer Korruption" genannt. Dass
Natürlich kann man Patent- und Lizenzgebühren, eine Supermacht, die mit ihren völkerrechtswidri-
die nur dazu dienen, Konzerngewinne in Steu- gen Ölkriegen und ihren Drohnenmorden ganze
eroasen zu verschieben, einfach nicht mehr als Regionen dieser Welt chaotisiert und islamistische
gewin nmindernd anerkennen, und dann sind die Terrorbanden damit so gestärkt hat, dass die als
ganzen Steuertricks der Multis erledigt. Das kön- Vorkämpferin für Demokratie und Freiheit aus-
nen Sie hier in Deutschland beschließen. Dafü r fällt, das hätte man, glaube ich, auch vor Trump
brauchen Sie noch nicht einmal die EU. (Beifall schon begreifen können.
bei der LINKEN)
Natürlich kann man den Sozialstaat wiederher- (Beifall bei der LINKEN) ...
stellen und ein ordentliches Arbeitsrecht schaffen,
das die Beschäftigten schützt und die Verhand- Sehr geehrte Damen und Herren, auch bei uns
lungs macht der Gewerkschaften stärkt. Natürlich w ird die Demokratie nur eine Zukunft haben,
kann man schlicht politisches Rückgrat h aben wenn die Menschen wieder das Gefühl bekom-
und sich den eiskalten Rend itekalkülen globaler men, dass ihre Würde und ihre elementaren Le-
Konzerne entgegenstellen, statt ihnen die Be- bensbedürfnisse von der Politik geachtet und a n-
sch äftigten schutzlos und wehrlos a uszuliefern. erkannt werden und sie wichtiger sind als die
Aber wer das alles nicht tut, der sollte dann auch Wunschlisten irgendwelcher Wirtschaftslobbyis-
aufhören, sich den Trumps und Le Pens dieser ten. Nehmen Sie das endlich ernst, wenn Sie nicht
Welt moralisch überlegen zu fühle n. (Beifall bei irgendwann dafür vera ntwortlich sein wollen,
der LINKEN) einem deutschen Donald Trump den Weg ins
Das sind Sie nicht. Kanzleramt geebnet zu haben.
(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Ihre Rede (Lebhafter Beifall bei der LINKEN - Thomas
fördert die! Unfassbar! Populisten unter sich!) Oppermann (SPD): Da arbeiten Sie doc h dran! -
Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Eigentlich
Denn es ist Ihre gemeinsame Politik, die die Rech- fast traurig!)
te inzwischen auch in Deutschland starkgemacht
hat.
Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 18/202, Stenografischer Bericht, 202. Sitzung, 23. 11.2016
A f abe
ieren Sie die Rede Sahra Wagenknechts vom 23.11 .2016 im Deutschen Bundestag nach den angege-
benen Analyseschritten.
4.3.2 Interessenverbände
Leitfragen Welche politischen Funktio- Wie lassen sich Interessenver- Welche Methoden nutzen
nen nehmen Interessenver- bände klassifizieren? Interessenverbände, um politische
bände in einer Demokratie Prozesse zu beeinflussen?
wahr?
Es können mehrere Adressaten der Einflussnahme der Einbringung von Gesetzen in das Parlament
durch Verbände unterschieden werden. Im Einzel- bzw. bereits während der Koalitionsverhandlun-
nen sind dies: gen, damit frühze itig Vorhaben a ngestoßen oder
unliebsame Inhalte vermieden werden können.
• Öffentlichkeit: Neben dem direkten Kontakt zu Der Bundestag führt eine öffentliche Liste von
politischen Entscheidungsträgern kö nnen Ver- Verbänden.
bände durch öffentlichkeitswirksames Agieren
Druck ausüben. Mögliche Formen sind z.B. das • Regierung und Ministerialverwaltung: Ver-
Erstellen vo n Kampagnen sowie das Organisie- bände haben Kontakt zu Regierungsmitgliedern
ren von Demonstrationen und Streiks. und den Mitarbeitern in den Ministerien. Auch
diese versuchen sie von ihrer Position zu über-
• Parteien: Oftmals stehen Verbände einer politi- zeugen und bringen somit ihren Sachversta nd
schen Partei besonders nah, unterstützen diese in Regierungskreise ein. Gesetze werden über-
und streben danach, ihre Ziele in Parteipro- wiegend von der Bundesregierung in den Bun-
gramme einzubringen. destag eingebracht, so dass die Verbände früh-
zeitig versuchen, Einfluss zu nehmen.
• Parlamente: Verbände haben Kontakt zu den
Abgeordneten in Berlin sowie in den Hauptstäd- • Organe der Europäischen Union: Aufgrund der
ten der Bundesländer und versuchen, diese vo n Tatsache, dass v iele politische Entscheidungen
ihrer Position zu überzeugen. Sie sitzen als Ex- von der EU getroffen werden, richten sich die
perten auch in Parlamentsausschüssen und ver- Aktivitäten vieler gerade größerer Verbände
suchen auf diese Weise Einfluss zu nehmen. Die auch an die politische Entscheidungsträger der
Einflussnahme geschieht in der Regel noch vor EU in Straßburg und Brüssel (>Kap. 5.3).
Bundesregierung Bundestag
. . . . . .... ◄ .......
/
.............. .... ·•·····
···-...
Ministerialbürokratie
...... Adressaten
; ... .... ···
.........
Politische Öffentliche
Parteien Meinung
t t
Kontakte Eingaben,
Stimmenpakete Information
Information Unterstützung Personelle
Spenden Stellungnahme Mittel
Eingaben (oder Sabotage) Durchsetzung
Personelle Demonstraton
Personelle von Sachverstand
Durchsetzung Eigene Medien
Durchsetzung Maßnahmen
+ - - Unmittelbare Einflussnahme
Verbände ◄ . . ........ . Mittelbarer Einfluss der
Verbände
Kritik an Verbänden
In einer pluralistischen Demokratie ist die Vertre- Der Einfluss der Verbände ist schwer zu erheben
tung von Interessen durch Verbände nicht nur und damit zu kontrollieren. Während beim Bun-
legitim, sondern wicht ig. Dennoch wurde das destag über 2.000 Verbände sowie deren An-
Agieren vo n Verbänden oft kritisiert. Für das pro- sprechpartner freiwillig registriert sind, wird ge-
blematische Verhalten vo n Verbänden wird häufig schätzt, dass in Berlin gut 6.000 professionelle
der Begriff Lobbyismus verwendet. Dieser kommt Interessenvertreter ansässig sind. Die Zugangs-
von dem Begriff Lobby bzw. Vorhalle des Pa rla- möglichkeiten sind dabei vielfältig: der Kontakt
mentes, durch die die Abgeordnet en sinnbildlich zum einzelnen Abgeordneten, über Parteien, in
schreiten und von Lobbyisten beeinflusst werden den Ministerie n oder über die Medien. Gleichzeitig
können, bevor sie ins Plenum gehen. ka nn jedoch der Zugang zur politischen Sphäre
nicht gleichgesetzt werden mit Einfluss. Wieviel
Bei der Kritik an der Tätigkeit von Verbänden ist Einfluss Verbände auf politische Entscheidungen
zwischen me hreren Bereichen zu unterscheiden. ha ben ist jedoch für die Bürger nicht ersichtlich.
Gänzlich illegal ist die Erpressung oder Beste-
chung von politischen Entscheidungsträgern. Be-
reits mehrfach ist es zu Fällen von Korruption in Wie viel Einfluss haben Verbände?
Deutschland gekommen, was zu massiver Kritik
an Verbänden und Politik geführt hat. Neben dem Kritisiert wird oftmals die personelle Durchdrin-
illegalen Bereich gibt es eine n grauen Bereich, in gung von Parteien, Parlamenten und Regierungen
dem zwar formal keine illegalen Verhaltensweisen durch externe Mitarbeiter von Verbänden und
vorkommen, deren Legitimität j edoch angezwei- Wirtschaftsunternehmen. Große Verbände kön-
felt wird. nen durch ihren Einfluss wichtige Reformen ver-
hindern, wenn diese ihren Interessen entgegen-
Generell ist zu beobachten, dass Verbände mit gro- laufen. Diese Vetostellung ist durch das
ßen finanziellen Ressourcen, wie Wirtschaftsver- Grundgesetz nicht vo rgesehen.
bände, oder j ene mit einem hohen Störpotential
besonders erfolgreich bei der Beeinflussung von Für Kritik sorgt zudem, dass einige Politiker nach
politischen Entscheidungen sind. Die attraktivsten Aufgabe ihrer politischen Ämter, Jobs in der Pri-
Polit ikfelder für Lobbying sind vor allem j ene, in vatwirtschaft übernehmen und dort ihre Expertise
denen Staat stark regulatorisch tätig ist: Ener- sowie ihre Netzwerke nutzen. Diese Wechsel las-
giepolitik, Industriepolitik, Gesundheit, Finanz- sen Kriti ker vermuten, dass für einzelne politische
märkte und Banken, Verkehr und Verteidigung. Entscheidungen im Sinne bestimmter Unterneh-
Dem hingegen finden schwer organisierbare Inte- men bzw. Branchen attraktive Posten angeboten
ressen beispielsweise vo n Randgruppen oder von bzw. in Aussicht gestellt werden. Andererseits
Kindern, alten Menschen und Hausfrauen weniger wird diesen Argumenten auch entgegnet, dass
Gehör im politische n Entscheidungssystem. Die ehemalige Politike r durch ihre bisherigen Tätig-
Interessen sind dementsprechend nicht gleichge- keiten Kompetenzen erworben haben, die in ei-
wichtig vertreten, wie es aus Sicht der Pluralismus- nem Unternehmen gerade im Hinblick auf den
theorie (>Kap. 3. 1.3) notwendig wäre. Umgang mit Polit ik gefragt sind.
Aufgaben
1 . Nennen Sie Beispiele für Verbände in Deutschland und erstellen Sie darauf aufbauend eine Mindmap
(• Methodenglossar) zu Interessenverbänden im politischen System der Bundesrepublik Deutschland.
3. Brauchen wir in Deutschland eine gesetzlich verpflichtende Karenzzeit für Politiker, die nach ihrer Amts-
und Mandatszeit in die freie Wirtschaft wechseln? Begründen Sie Ihre Meinung.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1 •
Die Einigung von Union und SPD auf eine gesetzliche Frauenquote in Aufsichtsräten
trifft in der Wirtschaft auf scharfen Protest. Arbeitgeber und Industrie sprachen am
Montag von einem erheblichen Eingriff in die unternehmerischen Freiheiten, die Be-
sonderheiten der Betriebe und Branchen blieben dabei unberücksichtigt. ,,Eine starre
5 Frauenquote ist der falsche Weg, um den Anteil von Frauen in Führungspositionen zu
erhöhen", kritisierte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
(BDA). Neue gesetzliche Regelungen seien nicht erforderlich und belasteten unnötig
die Unternehmen.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie klagte, die Privatwirtschaft werde „ein-
10 seitig zur Verwirklichung gesellschaftspolitischer Ziele in die Pflicht genommen und in
ihrer unternehmerischen Freiheit erheblich eingeschränkt". Von einer Quote für staat-
liche Institutionen sei dagegen keine Rede. ,,Wozu will die Politik den Unternehmen
eine Quote aufzwingen, wenn es die Frauen durch Führungskraft und Qualifikation
selbst schaffen?", fragte der Präsident der Familienunternehmer, Lutz Goebel. Schließ-
15 lieh werde schon jetzt jedes vierte Familienunternehmen von einer Frau geführt.
Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger verwies auf den generell geringen Frauenanteil
in seiner Branche. Nur 20 Prozent der Ingenieursabsolventen seien weiblich. ,,Ich hal-
te es für sehr gewagt zu glauben, dass eine verbindliche Quote bei den Aufsichtsräten
das ändern wird", meinte Dulger. Die Chefin der Jungen Unternehmer, Lencke Wisch-
20 husen, kritisierte, die Union werde „immer mehr zum Durchregulierer". Als Unterneh-
merin wolle sie ihre Mitarbeiter „nach ihrer Qualifikation aussuchen, nicht nach dem
Geschlecht". [...]
Die Lobbygruppe FidAR und ihre Chefin Schulz-Strelow [hat sich] in den vergangenen
Jahren zu Wortführern für die Frauenquote gemacht. Das Familienministerium hat die
25 FidAR-Arbeit seit 2009 mit insgesamt 590.000 Euro gefördert, ähnlich wie den Deut-
schen Juristinnenbund (djb): Seit 2010 besuchen die Juristinnen Hauptversammlun-
gen börsennotierter Unternehmen - allein im Jahr 2012 waren es 76. Im April 2014
läuft die finanzielle Förderung des Familienministeriums aus - bis dahin wird der djb
für seine Arbeit rund 650.000 Euro erhalten haben.
30 Zwar lag der Fokus von FidAR und djb bislang immer auf den börsennotierten Firmen,
FidAR-Chefin Schulz-Strelow erweiterte ihre Forderung nach Frauenquoten aber un-
längst auf Unternehmen der öffentlichen Hand. Das allerdings geht der Politik dann
wohl doch etwas zu schnell. Zusammen mit dem Wissenschaftler Ulf Papenfuß, Juni-
or-Professor für Public Management an der Universität Leipzig, muss Schulz-Strelow
35 sich nun erst einmal auf eine Inventur der Frauen in den Spitzengremien der öffentli-
chen Unternehmen beschränken.
Aufgaben
1. Stellen Sie die unterschiedlichen Positionen der im Text genannten Verbände zur Frauen-
quote dar.
2. Analysieren Sie, inwiefern die Verbände in diesem Fall ihre Aufgaben wahrnehmen.
3. Beurteilen Sie das Vorgehen der jeweiligen Verbände im Hinblick auf ihre Aufgaben im
politischen System der Bundesrepublik Deutschland.
4.3.3 Medien
Leitfragen Welche politischen Wie sehen aktuelle Entwicklungen Ist Deutschland auf dem
Aufgaben erfüllen Medien in auf dem Medienmarkt aus? Weg von einer Parteiende-
einer Demokratie? mokratie zu einer
,,Mediendemokratie"?
In mode rnen großen Gesellschaften können die Das Bundesverfass ungsgericht stellte zude m 1986
einzelne n Mitglieder und Gruppen nicht mehr alle fest: ,,Meinungsvielfalt, deren Erhaltung und Si-
direkt miteinander kommunizieren. Zudem kön- cherung Aufgabe der Rundfun kfreiheit ist, wird in
nen sie Abläufe und Gesche hnisse innerhalb und besonderem Maße gefährdet durch eine Entste-
a ußerhalb der Gesellschaft nicht unmittelbar er- hung vorherrschender Meinungsmacht." Mit Mei-
fahren. Medien übe rnehmen desh alb diese Rolle nungsmacht ist insbesondere die Konzentration
und sind damit ein wicht iger Akteur des gesell- des Medie nma rktes au f wenige Medienunterneh-
schaftlichen Zusammenlebe ns. Da mi t kommen men gemeint. Die Medien unterliegen deshalb
den Medien weitreichende Funktionen zu, da sie dem Ka rtellrecht. Zusammenschlüsse im Bereich
sowohl Forum als a uch Akteur sind. Sie konstru- der Presse werden vom Kartella mt beobachtet und
ieren j edoch da mit a uch die Wirklichkeit und soll- ko ntrolliert.
ten deshalb stets hinterfragt werde n.
Das Grundgesetz versteht die Meinungs-, Infor- Insgesamt kö nnen mehrere Funktion en und An-
mations- und Pressefreiheit als Grundrecht und forderungen der Medie n im politische n System
schützt diese. Die Meinungs- und Informations- unterschieden werden:
freiheit sind Indiv idualrechte, während die Pres-
sefreiheit vom Bundesverfassungsgeric ht als kon- • Informationsfunktion : Die Medien sollen voll-
stitut ives Merkmal der freiheitlichen Grund- st ändig und sachlich Bericht erstatten, sodass
ordnung de r Bundesrepublik besch rieben hat. Ins- die Bürger in der Lage sind, polit ische, gesell-
besondere das Zensurverbot schützt die Medien schaftliche und wirtschaftliche Geschehnisse zu
v or staatlichen Zugriffen. Gleichzeitig sichert das verfolgen und Zusammenhänge verstehen kön-
Grundgesetz den Bürgern j edoch auch Schutz vor nen. Auf diese Weise kö nnen die Bürger ihre
den Medien und gegen Eingriffe in die Persönlich- Interessen fo rmen bzw. konkretisieren und sind
keitsrechte zu: in der Lage, aktiv a m politischen Prozess zu par-
t izipieren.
Art. 5 GG
( I) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, • Urteilsbildungs- bzw. Meinungsbildungsfunk-
Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten t ion: Medien tragen dazu bei, dass in einer De-
und sich aus allgemein zugänglich en Quelle n un- mokratie politische Themen frei und offen disku-
gehinde rt zu unterrichten. Die Pressefreiheit und tiert werden können. Sie geben die Argumente
die Freiheit der Berichterstattung durch Run dfun k im politischen bzw. öffentlichen Diskurs wieder,
und Film werden gewährleist et. Eine Zensur find et a nalysieren und bewerten zudem polit ische The-
nicht statt. men sowie das Agieren der Volksvertreter und
stellen alternative Handlungsoptionen da r. Sie
(2) Diese Rechte finden ihre Schran ken in den Vor- machen den Bürgern komplizierte politische Pro-
schriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzli- zesse verständlich, sodass diese sich ein eigenes
chen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und Urteil bilden und davon a usgehend ihre Interes-
in dem Recht der persönlich en Ehre. sen artikulieren und verfolgen kön nen.
4.3 Vermittler zwischen Bürgern und politischen Institutionen
Medien Informationsfunktion
Information über Inhalte, z.B.:
politische Programme
D Konsumgüter
kulturelle Entwicklung
+
Meinungsbildungsfunktion
1111 freie und offene Argumentation für
Mehrheiten und Minderheiten
Kontrollfunktion
Kontrolle und Kritik
aufspüren und berichten über
D Missstände
• Kritik- u nd Kon trollfunktion : Im deutschen Trotz der bedeutende n Fun ktio n der Medien in
parlamentarischen Regieru ngssystem hat insbe- modernen demokratischen Gesellschaften werden
so ndere die Opposit ion die Aufgabe, die Regie- private Medienunternehmen nicht gegründet, um
ru ng zu kontrollieren und zu kritisieren. Doch diese Funktion wahrzunehmen, sondern u m Ge-
auch die Medien üben diese Fu nktion aus. Sie win n zu erwirtschaften und diesen zu maximie-
werden deshalb neben den drei herkömmlichen ren. Die Nä he einiger Unternehmen zu politischen
Gewalten auch oft als „v ierte Gewalt" bezeich- Ideologie n kann zudem zu einer eher subjekt iven
net. Durch das Aufdecken von Skandalen und statt objektiven Berichterstattung führen.
Missständen verhindern sie u. a. Korrupt ion
oder bürokratische Willkü r und wenden damit Krit isiert wird zudem häufig, dass einige gesell-
Umgang mit Politik gefragt sind. schaftliche Akteure und Gru ppen, die besonders
wirtschaftlich potent bzw. bereits im Fokus des
öffentlichen Interesses sind, bessere Aussichten
Die deutsche Medienlandschaft haben, mit ihren Interessen in den Medien beach-
tet zu werde n.
Eine Besonderheit der deutschen Medi enland-
schaft ist der Bereich der öffen tlich- rechtlichen
Rundfunk- u nd Fernseha nstalten. Diese so llen Medienkonzentration
eine Grundv ersorgu ng der Bevölkeru ng mit In-
formation, Kultur und Unterhaltung sicherzustel- Bis heute ist das deutsche Zeitschriften- und Zei-
len. Daneben gibt es private Medien unternehmen. tu ngsangebot im internat ionalen Vergleich äu-
ßerst v ielfältig. Dennoch gibt es einen Trend zur
Alle d iese Medie n berichten über Themen, d ie sie Medienkonzentration. Dies lässt sich a n mehre-
für wichtig halten, können diese au f d ie politische ren Entwicklu ngen ablesen :
Tagesordnung bri ngen u nd da mit Kontroversen in
der Gesellschaft in Ga ng setzen. In einem solchen • Verlagskonzentration: Die gleiche Anzahl v on
Fall spricht man dan n auch von einem medialen Zeitschriften wird von immer weniger Verlagen
Age nda - Setting. herausgegeben.
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland
• Publizistische Konzentration: Rückgang redak- wachsen, während kleine Zeitungen oft aufge-
tionell selbständiger Tageszeitungen mit einer ben müssen.
Vollredaktion.
• Lokalkonzentration: Es gibt immer mehr
• Auflagenkonzentration: Steigende Gesamtau- Ein-Zeitungs-Kreise, also Kreise oder kreisfreie
flagen bei einem Rückgang der Zeitungsredak- Städte, in denen nur noch eine regionale oder
tionen und Verlage. Objekte mit hohen Auflagen lokale Tageszeitung erscheint.
Dem Bauer-Verlag gehören In Deutschland gibt der Verlag Die Bertelsmann-Aktiengesell- Die Axel Springer AG ist der
mehrere Verlage für Fachzeit- unter anderem „Bunte", ,,Fo- schaft ist der größte Medien- größte Zeitungsverlag in Euro-
schriften und Romanhefte, cus" und „Freundin" heraus. konzern Europas. Die Bertels- pa und bringt mit „Bild", ,,Bild
Zeitschriften in Großbritannien mann- Tochter Gruner + Jahr am Sonntag" und „Welt am
und den USA. gibt Zeitschriften wie „Stern", Sonntag" die auflagenstärks-
„Brigitte" und „Hamburger ten Boulevard- und Sonntags-
Morgenpost " heraus. zeitschriften heraus.
In Deutschland ist eine zunehmende Bedeutung • Trend zur Personalisierung: Nicht die eher tro-
kommunikativer Strategien zu beobachten. Wahl- ckenen und sachlichen politischen Programme
forscher bezeichnen dies als „Arnerikanisierung" der Parteien, sondern die Kandidaten und ihre
der Wahlkämpfe. Man spricht in diesem Zusam- Erscheinung, Vergangenheit, ihr Charisma und
menhang auch von Politainment. Es handelt sich ggf. Skandale stehen im Fokus der Öffentlich-
jedoch nicht um ein einseitig forciertes Phäno- keit. Gerade in parlamentarischen Demokratien,
men, sondern um ein zweiseitiges Zusammen- in denen nicht nur Spitzenkandidaten auf Lan-
spiel. Die Medien stellen Sachverhalte möglichst des- und Bundesebene gewählt werden, ist dies
einfach und unterhaltend dar, um viele Menschen problematisch, da nur ein sehr ungenaues Bild
zu erreichen bzw. Quoten zu erhalten. Politiker der politischen Realität vermittelt wird.
hingegen setzen sich gerne in Szene. Im Zusam-
menspiel von Medien und Politik, das vor allem • Trend zur Verkürzung: Komplexe politische In-
die demokrat ische Grundordn ung stützen soll, halte werden simplifiziert und verkürzt, da um-
kommt es zu folgenden Trends: fangreiche Erklärungen viel Platz, Zeit und Geld
erfordern und nicht in dem Maße Aufmerksam-
• Trend zur Inszenierung: Politik ähnelt einem keit binden können und somit auch weniger zu
Schauspiel und damit Formaten der Unterhal- monetarisieren sind, wie verkürzte Darstellungen.
tungskultur. Parteitage, Wahlkampfveranstal-
tungen und Politikerduel I werden zu perfekt • Trend zu r Polarisierung: Auseinandersetzun-
organisierten Medienereignissen. Wahlkämpfe gen werden auf ein Gegenüber von Extrempo-
werde n neben den Parteizentralen auch von ex- sitionen zugespitzt, da diese klarer abzugren zen
ternen Experten bzw. PR-Agenturen gepla nt, sind. Politikern kommt dies entgegen, weil es
die für ein gutes Image sorgen sollen und die ihrer Profilierung dient. Da so über bestimmte
Ko ntakt zu den Medien haben. Sogenan nte Inhalte heftig gestritten wird, über die eigentlich
„spin doctors" sollen den Spitzenkandidaten im politischen Alltag Einigkeit besteht, kommt
den rich tigen Dreh (,,spin") geben. es zur Verzerrung der politischen Realität.
4 .3 Vermittler zwischen Bürgern und politischen Institutionen
Soziale Medien - Fluch oder Segen? gute Werte zu erhalten, besteht die Gefah r, dass
sie unangenehme, aber nötige Entscheidungen
Soziale Netzwerke werden oft sehr ambivalent be- und Reformen vermeidet und der Populismus
trachtet. Im Arabischen Frühling wurden sie z. B. überhandnimmt. Für die Wirkung demoskopi-
von vielen als Plattform für offenen freiheitlichen scher Daten si nd mehrere Effekte denkbar:
Diskurs und als Verbreiter von demokratischen
Forderungen gefeiert. Soziale Medien bieten poli- • Mobilisierungs-Effekt: Wird bekannt, dass es
tischen Institutionen und Akteuren zudem einen zwischen Kandidaten ein Kopf-an-Kopf-Ren-
direkten Kontakt mit den Bürgern und können ne n gibt, könnte dies bislang unentschlossene
damit zur Legitimierung und Interessensartikula- Wähler dazu bringen, ihre Stimme abzugeben,
tion beitragen. Demgegenüber werden sie jedoch um ihrem Ka ndidaten zum Sieg zu verhelfen.
auch für die Verbreitung vo n Sexismus, Rassismus • Defätismus-Effekt: An hänger des Kandidaten,
und Homophobie in Wahlkämpfen bzw. bei der dessen Werte schlecht sind, könnten entmutigt
Auseinandersetzung über politische Inhalte ver- werden und auf die Abgabe ihrer Stimme ver-
antwortlich gemacht. Zudem verbreiten sich in zichten, weil ihr Kandidat den Prognosen zufol-
ihnen sog. ,,Fake News" - als Fakten dargestellte ge ohnehin verlieren wird.
Lügen - rasend schnell. Die politische Meinungs- • Lethargie-Effekt: Wird umgekehrt ein Kandidat
bildung wird dadurch erheblich erschwert bzw. als sicherer Sieger gehandelt, kön nten seine An-
manipulierbar. hänger darauf verzichten, ihn zu wählen, weil
das Ergebnis vermeintlich bereits feststeht.
• Bequemlichkeits-Effekt: Deuten die Umfrage-
Demoskopie ergebnisse darauf hin, d ie Wahl sei bereits ent-
schieden, könnten unentschlossene Wähler da-
Unt rennbar mit dem Verhältnis von Medien und heim bleibe n, weil sie gla uben, ihre Stimme
Politik verbunden ist die politische Meinungsfor- werde am Ergebnis ohnehin nichts mehr verän-
schung, die Demoskopie. Der Begri ff geht auf die dern.
altgriechischen Begriffe „demos" (Volk) und „sko-
pein" (ausspähen) zurück und beschreibt die Er-
mittlung von Stimmungen, Wünschen und Über- Deutschland - eine Mediendemokratie?
zeugungen der Bevölkerung. Durch Befragungen
eines repräsentativen Querschnitts der Bevölke- In der Tradition der Bundesrepublik als repräsen-
rung werden Daten erhoben und a usgewertet. Die tative parlamentarische Demokratie wurde
wichtigsten Meinungsforschungsinstitute in Deutschland häufig als Parteiendemokratie be-
Deutschland sind das Institut für Demoskopie AI- zeichnet, da die Parteien die zentrale n Organisa-
lensbach, Infratest dimap, forsa und Emnid. tionen im intermediären Bereich und damit das
zentrale Bindungsglied zwischen Bürger und
Auch we nn die Meinungsforschung als sinnvolles Staat waren . In den letzten Jahren wird Deutsch-
Frühwarnsystem funktioniert und Politikern die land j edoch häufig auch als Mediendemokratie
Forderungen und Einschätzungen der Bevölke- bezeichnet, da Parteibindungen abnehmen und
rung vermitteln ka nn, ist sie nicht unumstritten. die Meinungs- und Willensbildung verstärkt über
Wenn die Politik nur danach strebt, in Umfragen Massenmedien stattfinden.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie die Funktionen der Medien im politischen System.
2. Dem ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder wird der Spruch zugeschrieben, er brauche nur „Bild,
BamS und Glotze" für erfolgreiches Regierungshandeln. Erklären Sie diese Aussage.
3. Setzen Sie sich mit den Einflussmöglichkeiten von Parteien, Interessenverbänden und Medien im politischen
Prozess auseinander. Nutzen Sie dafür auch die Möglichkeiten der empirischen Sozialforschung (, Metho-
denkompetenz: Empirische Sozialforschung).
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Die Lügenpresse ist wieder einmal in aller Munde. Der Schmähbegriff wird immer dann
aus der Mottenkiste geholt, wenn es darum geht, der jeweils anderen Seite die Legi-
timation zu entziehen. Eine kleine Geschichte des Unworts des Jahres 2014.
Ein altes englisches Sprichwort lautet: ,,Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit."
5 Das galt besonders vor 100 Jahren, als die sich bis aufs Messer bekämpfenden Staa-
ten umgehend an den „Heimatfronten" Nachrichten ganz unterdrückten, stark schön-
ten oder gleich fälschten - um einerseits die eigene Bevölkerung zu beruhigen und
andererseits den „Feind" auszugrenzen und herabzusetzen, ja Hass gegen ihn zu
schüren
10 Schon Ende 1914 erschien ein Buch mit dem Titel: ,,Der Lügenfeldzug unserer Feinde:
Die Lügenpresse" . [ ...] Das diffamierende Wort „Lügenpresse" ist sicherlich damals
nicht erst erfunden worden. Außerdem ist zu bedenken, dass antisemitische Wahnide-
en schon Ende des 19. Jahrhunderts die Wiener Presse ins Visier nahmen. Sie wurde
als eine Art Instrument der „jüdischen Weltherrschaft" attackiert, die wiederum die
15 „deutsche Rasse" systematisch verdumme. [...] Ein Schmähbegriff, der übrigens von
den Journalisten selbst kam, war „die Journaille" (in Anlehnung an das französische
Wort Kanaille). Kein Geringerer als Karl Kraus brachte es 1902 in Umlauf, und zwar als
„Empfehlung" eines angeblich „geistvollen Mannes", anlässlich eines gemeinsamen
Gesprächs „über die Verwüstung des Staates durch die Presse-Mafia". [ ...]
20 In dem Artikel mit dem Titel „Die Journaille" provozierte der „Fackel"-Herausgeber mit
solchen Fragen: ,,Darf eine Zeitung beschimpft werden? Darf der einfache Mann aus
dem Volke, dem jede Erkenntnis über das Zeitungswesen mangelt, aus der der Her-
ausgeber der ,Fackel' aufreizende, zwingende Argumente für Hass und Verachtung
gegen die parasitären Zerstörter des Geisteslebens schöpft - darf einer, der ihr Wirken
2s nicht durchschaut, dem aber endlich ein Ahnen die Augen öffnet, dem dumpfen Gefühl
von Abscheu und Ekel in einem Schimpfwort den erlösenden Ausdruck geben?"[... ]
Nach dem Ende des kaiserlichen Deutschlands wurden die Schmähbegriffe weiterhin
benutzt, um die Zeitungen als unpatriotisch hinzustellen, die auf dem Boden der Wei-
marer Republik standen. Der Begriff „Lügenpresse" kommt jedoch weder in Adolf
30 Hitlers Buch „Mein Kampf" noch in seinen Reden direkt vor. [ ...] Bei Hitlers Chefpro-
pagandist Joseph Goebbels lässt sich der Begriff „Lügenpresse" nachweisen in des-
sen Tagebüchern - so am 18. Januar 1930 und am 20. Dezember 1939, hier bezogen
auf die Auslandspresse. Meist bevorzugte Goebbels den Begriff Journaille, auch „jü-
dische Journaille" und „Asphaltpresse".
35 Während der Anfänge der Bonner Republik bezeichneten hin und wieder westdeut-
sche Journalisten die ostdeutschen Medien als „Lügenpresse". Und in der DDR war
gern von der „westlichen Lügenpresse" die Rede.
Der Schmähbegriff wird immer dann aus der Mottenkiste geholt, wenn es darum geht,
der jeweils anderen Seite die Legitimation zu entziehen. Wer sich selbst im Besitz der
40 absoluten Wahrheit wähnt, bezichtigt schnell diejenigen, die anderer Auffassung sind,
der hinterhältigen Lüge beziehungsweise der Meinungsunterdrückung.
2. ,,Der Schmähbegriff w ird immer dann aus der Mottenkiste geholt, wenn es darum geht,
der jeweils anderen Seite die Legitimation zu entziehen." Beurteilen Sie diese Aussage
unter Hinzunahme der in diesem Kapitel genannten Trends im Zusammenspiel von Medien
und Politik, der Rolle sozialer Medien und Meinungsmacht.
Das zentrale politische
■ Entscheidungssystem
4.4.1 Die Verfassungsorgane im Überbl ick
Leitfragen Welche Verfassungsorgane Wie sind sie legit imiert? Wie arbeiten sie zusammen?
entscheiden über die Politik in der
Bundesrepublik Deutschland?
Die Verfassungsorgane
Bundes- _ _ _V_o_
rs_ch_la~g_ / \ B~:1ä~r:~nt
kanzler Ernennung ~ Bundes-
verfassungs-
gericht
Wahl
f
Wahl auf 5 Jahre
Wahl der Richter je zur Hälfte
durch Bundestag und Bundesrat
Bundestag Bundesrat
7
598 * :~:n:~::- ~ m~
er~ng
9 ee!7:tit- 69
Abgeordnete gheder Mitglieder
------- -------~
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Wahl auf 4 Jahre
W_
Wahlen
Lan~es-
parlamente _.
Landes-
regierungen
1
: .:;,,~~,}~,~~1,,11/Mtt;:;i1i1!\11}t'~t\1 ,~-1.,~~l
• zuzuglich Uberhang-
und Ausgleichsmandaten
A Wahlberechtigte Bevolkerung AA A~A
I~ZA
A
_H_ L_E-N B
- 1-LD- E~Rl-ffi-
Die Repräsentanten der Verfassungsorgane dieser Republik haben sich von den guten
Sitten der Altvorderen abgewandt. Statt sich gegenseitig zu respektieren, liefern sie
sich eine offene Saalschlacht. Das rührt an die Grundfesten der Demokratie und sollte
dringend aufhören.
5 Es gibt ein paar ungeschriebene Gesetze in der Politik und anderen existentiell lebens-
wichtigen Bereichen unseres gesellschaftlichen Beisammenseins. Sie werden erfreu-
licherweise nach wie vor eingehalten und unterliegen nicht der allgemeinen Erosion
der Gepflogenheiten.
10 • Die Politik mischt sich nicht in Lohn- und Gehaltsverhandlungen von Arbeitgebern
und Gewerkschaften ein. Man nennt das Tarifautonomie.
• Die Politik beißt sich lieber auf die Zunge, als seinerzeit der Bundesbank oder heute
der Europäischen Zentralbank öffentlich Ratschläge zu deren Zinspolitik zu geben.
Man nennt das Unabhängigkeit der Geldmarktpolitik.
15 • Beim Fußball drischt der Spieler den Ball ins Aus, wenn ein Spieler der gegnerischen
Vom Fairplay war bisher auch das Zusammenspiel der obersten Verfassungsorgane in
Deutschland bestimmt. Der Kanzler oder die Kanzlerin redete dem Bundespräsidenten
nicht rein, der Präsident nicht dem Parlament, das Parlament nicht dem Präsidenten
20 des Bundesverfassungsgerichts.
Das ist seit einigen Wochen radikal anders geworden. Unter dem Druck der Euro-Kri-
se heißt das neue Spiel unter den vier Verfassungsinstitutionen: jeder gegen jeden. Ein
kleiner Abriss der Ereignisse: Erst mutmaßte der Bundespräsident öffentlich, wie das
Bundesverfassungsgericht in der Sache Eilantrag ESM wohl urteilen würde. Eine Äu-
25 ßerung, die Joachim Gauck inzwischen selbst als dusselig eingeschätzt hat.
Dann konterte das Bundesverfassungsgericht öffentlich, der Präsident möge das zu-
grunde liegende Gesetz doch besser erst einmal nicht unterschreiben. Anschließend
erbat sich das Gericht demonstrativ viel Zeit für seine Eilentscheidung und brachte vor
allem die Kanzlerin in Bedrängnis. Schließlich mischte sich der Bundestagspräsident
30 ein und schurigelte das Bundesverfassungsgericht. Schließlich hatte dieses zwar das
sogenannte Zwölfergremium des Bundestages zur geheimen Findung der Verfas-
sungsrichter für rechtens erklärt, hingegen das sogenannte Neunergremium desselben
Hauses für die Belange der akuten Euro-Rettungspolitik als nicht verfassungsgemäß
erachtet.
35 Hier läuft etwas grundlegend schief im Staate Deutschland. Es ist völlig normal und
geradezu erwünscht, das in der Parteipolitik und im Parlamentarismus eine gewisse
Rauflust herrscht. Dieses Schauspiel gehört zu unserer Demokratie wie Brot und Spie-
le im Circus Maximus von Rom. Aber die obersten Repräsentanten der vier Verfas-
sungsorgane sollten nicht als Gladiatoren in diese Arena herabsteigen und mitmachen.
40 Am ehesten noch darf die Nummer drei im Staat , die Bundeskanzlerin, diese Form von
Politik ausleben. Die natürliche politische Auslese auf dem Weg ins Kanzleramt sorgt
ohnehin dafür, dass nur außerordentlich willensstarke und rauferprobte Persönlichkei-
ten dort hinkommen. ,,Ich will hier rein!" ist die Triebkraft dieser Ausnahmeerscheinun-
gen von Willen und Machtanspruch. Und auch wenn Angela Merkel im Unterschied zu
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
45 ihrem Vorgänger diesen Satz verbrieft nie so gesagt hat: Sie wollte auch unbedingt
,,da" - also ins Kanzleramt - rein, und vor allem: Sie tut alles, um dort drin zu bleiben.
Aus diesem Antrieb heraus ist auch sie beteiligt an der derzeitigen Situation. Dass sie
Andreas Voßkuhle zur Verhinderung von Joachim Gauck vor vier Monaten zum Bun-
despräsidenten machen wollte, war nicht nur der Eignung Voßkuhles geschuldet. Sie
50 wollte diesen Mann, den Urheber des Lissabon-Urteils, mit dem die Karlsruher Richter
der europäischen Integration verfassungsrechtliche Grenzen setzten, unschädlich ma-
chen und ihn auf den vergleichsweise einflussloseren Posten in Schloss Bellevue hin-
wegbefördern.
Voßkuhle, der wohl politikaffinste Präsident des Verfassungsgerichts, den dieses Land
55 je hatte, roch den Braten und blieb lieber auf seinem Posten in Karlsruhe - weil er sich
von dem zu Recht operativ viel mehr Macht versprach. Diese Politiklust von Voßkuhle
führt neben der Sache dazu, dass das Bundesverfassungsgericht mehr denn je mitten
drinsteckt in der politischen Auseinandersetzung.
Voßkuhle hat ein politisches Super-Ego, ebenso wie der Mann, der statt seiner schließ-
so lieh Bundespräsident wurde. Joachim Gauck hielt sich lange schon für den Besten und
musste lange warten, bis das die Mehrheit in der Bundesversammlung auch so sah.
So etwas kann zu Übermotivation führen. Er ist ein großer Mann des Wortes, was aber
die Gefahr mit sich bringt, dass ihn seine Begeisterung über seine eigenen Worte
hinfortreißt.
s5 Auch der dritte Mann in diesem Verbund, Bundestagspräsident Norbert Lammert, hat
eine mehr als hinreichend hohe Meinung von sich, von seinen intellektuellen und rhe-
torischen Fähigkeiten. Alle drei, Voßkuhle, Gauck und Lammert, sind große lchlinge.
Nicht ohne Grund, aber auch nicht ohne Schaden. Denn die Institutionen, denen sie
vorstehen, die höchsten in diesem Staate, leben davon, dass sich die Amtsinhaber
10 zurücknehmen und nicht in den Vordergrund spielen. Daran mangelt es im derzeitigen
Zusammenspiel dreier lchlinge im Präsidialamt, Karlsruhe und im Bundestag sowie
einer Regierungschefin, die qua Amt ein lchling sein muss.
Die Erregungslust der Wallungsdemokratie, in der wir leben, verlangt einen immer
größeren Nervenkitzel von der Politik. Der Druck der Krise tut ein Übriges. Aber an den
15 Pforten vom Präsidialamt, vom Bundesverfassungsgericht, vor dem Hochsitz im Bun-
destag sollte Schluss mit diesen Sperenzchen sein . Sonst droht die Staatsschmelze,
die man offiziell Verfassungskrise nennt. Um es also mit einem abgewandelten Wort
des Bestsellerautors Stephane Hessel zu sagen:
Besinnt euch!
Christoph Schwe1111 ick, www.spiegel.de, 23.7.2012
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die drei ungeschriebenen Gesetze der deutschen Politik.
2. Inwiefern sieht Christoph Schwennick die drei ungeschriebenen Gesetze der deutschen
Politik verletzt? Analysieren Sie dafür seine Kritik am politischen Personal.
3. Setzen Sie sich kritisch mit dem von Christoph Schwennick präferierten Verhaltenskodex
auseinander.
4.4.2 Der Bund estag
Leitfragen Wie wird der Wie ist seine Arbeit Welche Stellung haben die Abgeordneten des
Bundestag gebildet? organisiert? Deutschen Bundestages im
politischen System Deutschlands?
Der Bundestag ist das Parlam ent der Bundesrepu- nur aus ihre n Reihen geübt. Aus der Gewaltentei-
bl ik Deutschland und die Versammlung der von lung ist also eine Gewaltenverschränkung zwi-
den deutschen Bürgern gewählten Repräsent an- schen Exekut ive und Legislative geworden, da die
ten. Die klassische Vorst ellung von der Gewalten- Exeku tive mit der Parlamentsmehrheit eng zu-
teilung in Legislative, Exekutive und Judikat ive sammenarbeitet, mit ihr verflochten ist und dem
lässt vermuten, dass der Bu ndestag im Ganzen als kleineren Teil des Parlamentes - der Oppositio n
Kontrolleur de r Exekutive a uftritt und ihr somit - gegenübersteht. Bestärkt wird diese Gewalten-
als Ein heit gegenübe rsteht. versch ränku ng noch dadurch, dass die Regie-
rungsmitglieder i. d. R. gleichzeitig auch ein Abge-
Da aber der Bundeskanzler von der Meh rheit des ordnetenmandat im Bundestag innehaben, also
Bundestags gewählt und anschließend unterstützt über ih re eigenen Gesetzesvorschläge mit a bstim-
wird, ist der eigentl iche Gegenspieler der Regie- men kö nnen u nd oftmals zusätzlich noch wichti-
rung nicht der gesamte Bu ndestag, sondern die ge Mitglieder der Parteien sind, die sie im Parl a-
Opposition. Kritik an der Regierun g wird meist ment stützen.
Bundesregierung ~/h.rl=-i11ei·äfot·I////~
~ ~
~ Die direkte Wahl durch ~ ,ti Bundesverfassungsgericht
wählt ~ das Volk macht d as ~
.,_
ka•n•n• •ab•w
•a • n- ~ Parlament zum höchsten ~
•· h•le
~ Verfassungso rgan. ~ Bundestag und
......... ........·.
Bundesrat wählen
~ ~
~
~
~ ........... ~
~
~
------------
gemeinsam Richter
·------
kontrolliert
~
~ : •• • • ••• ••• • • •• ••
::::.•····•·\~: ~
~
L?a Bundesrat
i
,,, ••• •• • • •••
~
(A nf ragen, ~ ~
Untersuchungs- ~////////////////////////ß. _ _ _ _ _ _ _ _ _....,.
ausschüsse, beschließt
gemeinsame (großteils gemeinsam
st ellt SO % mit Bundesrat)
Beratungen)
,!.,!.•!• Bundesversammlung
verabschiedet
------Bundestags präsident
1
Bundestags- Präsidium Ältestenrat
verwaltung Bundestags-Präsidium
1a.1a1a.1a
Bundesrat
+
Stellvertreter/innen
♦ Wahl
alululululululululululululull
r + 23 von den Fraktionen
,__.
benannte Mitglieder
Fraktionen
•••••••••••••••
Plenum 1••···
+ ••••• Abgeordnete •••••
Zusammen-
schlüsse der
Abgeordneten
einer Partei
••••••••••••••••••
• • • • •J
(Mindeststärke:
•••••••••••••••••••
/
5 % der Mitglieder
des Bundestags)
.___ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ IZAHLENBILDERl f f i
© Bergmoser + Höller Verlag AG 64 110
Der Bundestag ist ein „Fraktionenparlament". Der Bundestag wird als Arbeitsparlament be-
Mindestens fünf Prozent der Mitglieder des Bun- zeichnet, was angesichts der oft halbleeren Ränge
destages, die i. d. R. derselben Partei angehören, im Plenum, der Vollversa mmlung aller Abgeord-
können eine Fraktion bilden und somit gemein- neten, für den Beobachter zunächst ungewöhnlich
same Ziele durchsetzen. Die Fraktionen können erscheint. Doch das Plenum ist meist der Ort im
als „parlamentarischer Arm" der Parteien bezeich- Bundestag, der von der Öffentlichkeit wahrge-
net werden. Da nicht jeder Abgeordnete ein Spe- nommen wird. Die Debatten und Abstimmungen
zialist für alle politischen Fragen sein kann, teilen sind j edoch nur der Schluss der eigentlichen Ar-
sich die Fraktionen das politische Feld in Sachge- beit, die vor allem in den Ausschüssen stattfindet.
biete auf. Die einzelnen Abgeordneten werden Analog zum Arbeitsbereich jedes Ministeriums
dann bestimmten Spezialgebieten zugeteilt. In gibt es normalerweise einen Ausschuss. Die Aus-
den Fraktionen wird auch das gemeinsame Ver- schüsse spiegeln in ihrer Zusammensetzung die
halten in den Abstimmungen über die Gesetzes- Mehrheitsverhältnisse im Bundestag wider; hier
vorlagen ve reinbart. Zentrales Beschlussgremium arbeiten die Experten der einzelnen Fraktionen
einer Fraktion ist die Fraktionsversammlung. Sie eines j eweiligen Fachgebiets und diskutieren die
wählt den Fraktionsvorstand mit dem oder der Gesetzesvorlagen und Anträge in allen Details. Da
Fraktionsvorsitzenden an der Spitze. Die Frakti- nicht alle Abgeordneten mit den Feinheiten aller
onsvorsitzenden gehören neben den Regierungs- Sachgebiete vertraut sein können, geben die Aus-
mitgliedern und den Parteivorsitzenden der Bun- schussmitglieder nach ihren Beratungen Be-
destagsparteien zu den mächtigsten Akteuren auf schlussemp feh lungen an ihre Fraktionskollegen
dem politischen Parkett. für die Abstimmung im Plenum weiter.
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland
Welche Rolle spielt der Bundestag destag die Hälfte der Richter des Bundesverfas-
im politischen System? sungsgerichts und wirkt an der Bestellung der
Richter der obersten Bundesgerichte mit. Diese
Der Bundestag übernimmt folgende Funktion im Staatsorgane erhalten so eine indirekte demo-
politischen System der Bundesrepublik Deutsch- kratische Legitimation.
land:
4. Interessenartikulation: Der Bundestag ist das
1. Legislativfunktion: Alle Bundesgesetze müssen Forum der politischen Ausei nandersetzung in
vom Bundestag beschlossen werden. Die Initi- Deutschland. Hier sollen alle gesellschaftlich
ative zur Gesetzgebung (Gesetzesinitiative) wichtigen Themen und Standpunkte kontrovers
kann von den im Bundestag vertretenen Frak- diskutiert werden. Die öffentlichen Debatten
tionen, von der Bundesregierung oder vom vermitteln den Bürgern die politischen Vorstel-
Bundesrat a usgehen. Die Gesetzesvorlagen lungen der Parteien und geben ihnen so die
müssen im Bundestag eingebracht, dort in drei Möglichkeit, sich ein eigenes Urteil über die
Lesungen besprochen und dann als Gesetz ver- politischen Sachfragen zu bilden. Die Abgeord-
abschiedet werden. Traditionell wird das Bud- neten sollen die Interessen der Wähler reprä-
get- oder Haushaltsrecht als das bedeutendste sentieren; dies bedeutet aber nicht, dass die
Recht des Bundestages angesehen. Der Entwurf einzelnen Bevölkerungsgruppen und ihre Inte-
für das Haushaltsgesetz, mit dem die geplanten ressen proportional zu ihrem Anteil an der Ge-
Einnahmen und Ausgaben fü r das jeweils samtbevölkerung vertreten sein müssen. Die
nächste Jahr beschlossen werden, wird von der soziale Zusammensetzung des Bundestages
Bundesregierung eingebracht und muss vom spiegelt nicht die Zusammensetzung der Ge-
Bundestag verabschiedet werden. Neben der samtbevölkerung wider. So sind z.B. Arbeiter
Verabschiedung von Gesetzen muss der Bun- und Frauen stark unter- und Akademiker stark
destag auch internationale Abkommen und überrepräsentiert.
Verträge ratifizieren, die erst dann offiziell in
Kraft treten und damit für die Bundesrepublik
Deutschland Gültigkeit erlange n. Der Bundes- Wie kontrolliert der Bundestag
tag kann jedoch den im Vertrag getroffenen die Bundesregierung?
Vereinbarungen lediglich zustimmen oder sie
ableh nen. Außerdem entscheidet der Bundestag Zur Kontrolle der Regierung steht dem Bundestag
über den Einsatz der Bundeswehr im Ausland. ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfü-
gung, welches in vollem Umfang überwiegend
2. Kontrollfunktion: Der Bundestag überwacht von der Opposition genutzt wird:
die Arbeit der Regierung. Die Fraktionen kont-
rollieren, kritisieren und beeinflussen die Re- • Fragerecht: Mindestens fü nf Prozent der Abge-
gierung im Vorfeld der Entscheidungen. Sie ordneten oder eine Fraktion können in schrift-
prüfen, ob die Regierung den beschlossenen licher Form Fragen zu einem bestimmten Thema
politischen Kurs und die inhaltlichen Vereinba- an die Regierung stellen, die diese beantworten
rungen einhält. Die öffentliche Kontrolle und muss. Kleine Anfragen beantwortet die Regie-
Kritik ist Sache der Opposition. Die Oppositi- rung ausschließlich in schriftl icher Form. Große
onsfraktionen versuchen der Regierung Fehler Anfragen werden hingegen im Bundestag de-
und Fehlverhalten nachzuweisen und machen battiert. Da es sich bei Großen Anfragen meist
sowohl inhaltlich als auch personell Alternativ- um wichtige politische Themen handelt, hat die
angebote. Opposition so die Möglichkeit, kritische Fragen
in den öffentlichen Sitzungen zu stellen und
3. Wahlfunktion: Der Bundestag hat die Aufgabe, ihre eigene Meinung dazu dazulegen. Jedes ein-
andere Staatsorgane zu bestellen. Er wählt mit zelne Bundestagsmitglied kann monatlich bis
absoluter Mehrheit seiner Mitglieder den Bun- zu vier Fragen zur schriftlichen Beantwortung
deskanzler und stellt die Hälfte der Delegierten an die Regierung richten. Darüber hinaus hat
in de r Bundesversammlung, die den Bundes- jeder Abgeordnete das Recht, für die sog. Fra-
präsidenten wählt. Außerdem wähl t der Bun- gestunde bis zu zwei Fragen pro Sitzungswoche
4.4 Das zentrale politische Entscheidungssystem
an die Regierung zu richten. Die Fragen werden heit seiner Mitglieder einen neuen Bundeskanz-
in der Fr agestunde von der Regierung mündlich ler wählt und den Bundespräsidenten ersucht,
beantwortet. den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundes-
präsident muss dem Antrag entsprechen.
• Weiterhin kann die Regierung a uf Antrag vo n
mindestens fünf Prozent der Abgeordneten oder • Die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen
einer Fraktion in aktuellen Stunden zu einem durch den Bundestag erfolgt nur a us aktuellem
aktuellen Thema befragt werden. Eine Mehrheit Anlass und mit Zustimmung von mi ndestens
der Parlamentarier kann zudem einzelne Minis- einem Viertel der Bundestagsabgeordneten. Un-
te r in Bundestagssitzungen zitieren, um vo n tersuchungsausschüsse werden meist dazu ge-
ihne n Informationen zu erha lten. nutzt, politische und bürokratische Missstände
und Fehlverhalten in der Regierung, im Bundes-
• Ablehnung oder Änderung von Gesetzesent- tag oder d er Verwaltung zu prüfen und aufzu-
würfen der Regierung bis hin zur Zurückwei- klären. Die Untersuchungsausschüsse verfügen
sung des Haushaltsentwurfs. dabei über weitgehende Rechte. Der Ausschuss
kann Zeugen und Sachverständige lad en und
• Das konstruktive Misstrauensvotum ist das unter Eid vernehmen, sich Akten vorlegen las-
schärfste Ko ntrollinstrument des Parlamentes sen und Gerichte und Verwaltungsbehörden um
gegenüber der Regierung. Demnach kann der Amtshilfe ersuchen. Am Ende der Untersuchung
Bundestag dem Bundeskanzler das Misstra uen stehen ein Bericht, mediale Aufmerksamkeit
aussp rechen, indem er mit der a bsoluten Mehr- u nd eine Debatte im Bundestag.
Parlamentarische Kontrollrechte
?
Schriftliche Anfrage zu einem Schriftliche Anfrage zu konkreten
größeren politischen Themenkom- Einzelthemen durch eine Fraktion
plex durch eine Fraktion bzw. bzw. mindestens 5% der
mindestens 5% der Abgeordneten Abgordneten
■
Bundesregierung schließt sich in durch das jeweils zuständige
der Regel eine Debatte vor dem Bundesministerium
Bundestag an
Fragerechte
des Bundestags
Hauptfunktionen:
Fragestunde Aktuelle Stunde
1 ► Beschaffung von
Informationen
Einzelfragen zur mündlic hen od er Politische Debatte mit Kurzbeiträ-
schriftlichen Beantwortung, von ► öffentliche gen zu einem aktuellen Thema
einzelnen Abgeordneten einge- Herausforderung auf Verlangen einer Fraktion bzw.
bracht der Regierung von mindestens 5% der Abgeord-
durch die neten oder nach Vereinbarung im
Mündliche Beantwortung in den Opposition Ältestenrat
beiden wöchentlichen Fragestun- ► Gelegenheit,
den des Bundestags die Haltung der Redezeit für die Abgeordneten: 5
Opposition min: Gesamtdauer: 1 Stunde +
Möglichkeit für die Abgeordneten, darzulegen Redezeit der Regierung
mit Zusatzfragen nachzuhaken
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland
Die rechtliche Stellung der Bundestagsabgeord- nehmigung des Bundestages zulässig ist. Eine
neten ist durch drei Prinzipien gekennzeichnet: Ausnahme gilt nur dann, wenn der Abgeordne-
te auf frischer Tat ertappt oder im Laufe des
• Indemnität: Wegen einer Abstimmung oder ei- folgenden Tages festgenommen wird.
ner politischen Äußerung, die ein Abgeordneter
im Bundestag oder in einem seiner Ausschüsse • Zeugnisverweigerungsrecht: Der Abgeordnete
getan hat, darf er zu keiner Zeit gerichtlich oder muss nicht über Gespräche mit Personen aussa-
dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des gen, wenn er diese Gespräche in seiner Eigen-
Bundestages zur Verantwortung gezogen wer- schaft als Abgeordneter geführt hat. Insoweit ist
den. Niemand kann also einen Abgeordneten auch die Beschlagnahme von Dokumenten ver-
wegen seiner Abstimmung zur Rechenschaft boten, wen n diese Informationen über die Ge-
ziehen, auch nicht nach Beendigung seiner spräche enthalten.
Mandatszeit. Der Bundestag kann die Indemni-
tät eines Abgeordneten nicht aufheben. Diese Sonderrechte sollen den Abgeordneten davor
schützen, durch Übergriffe oder fingierte Beschul-
• Immunität: Sie besagt, dass jede strafrechtliche digungen in seiner Abgeordnetentätigkeit beein-
Verfolgung oder j ede Beschränkung der persön- trächtigt oder behindert zu werden. Außerdem wird
lichen Freiheit eines Abgeordneten nur mit Ge- die Funktionsfähigkeit des Parlamentes gesichert.
abgeordneten
Die Abgeordneten sollen zudem wirtschaftlich so Der einzelne Abgeordnete gewinnt durch die Zu-
gestellt sein, dass zum einen für ihr Mandat eine gehörigkeit zu einer Fraktion mehr Einfluss auf
finanzielle Entschädigung erhalten und zum an- den parlamentarischen Entscheidungsprozess, als
dere n die sog. Diäten Verdienstausfälle ausglei- er dies als Individuum hätte. In der Realität wird
chen sollen, die den Abgeordneten durch die Aus- das freie Mandat dementsprechend durch die For-
übung ihres Mandats entstehen und ihre derung nach Fraktionsdisziplin eingeschränkt, der
materielle Unabhängigkeit garantieren. Ihre Höhe sich der einzelne Abgeordnete freiwillig unter-
wird auf Grundlage einer Empfehlung des Bun- wi rft. So können die Fraktionen, um Mehrheiten
destagspräsidenten vom Bundestag beschlossen. zu schaffen oder zu erhalten, auf die Stimmen
Sie orientiert sich u. a. an den Bezügen von einfa- aller ihrer Mitglieder vertrauen, besonders dann,
chen Richtern der obersten Bundesgerichte. wenn die Mehrheit sehr knapp ist. Das Abweichen
der Abgeordneten vo n der Fraktionslinie wird
schnell als fehlende Geschlossenheit und Uneinig-
Politische Stellung - zwischen freiem Mandat keit und damit als Schwäche der Fraktion inter-
und Fraktionsdisziplin pretiert. Gleichzeitig beschließt die Fraktion als
Ganzes, welchen Standpunkt sie in einer politi-
Nach Art. 38 GG verfügen die Abgeordneten über schen Frage einnimmt; hierbei hat jedes Frakti-
ein freies Mandat, d. h. sie sind a ls Vertreter des onsmitglied die Möglichkeit, in der Diskussion
ganzen Volkes „an Au~räge und Weisungen nicht seine Meinung zu vertreten und dafür zu werben.
gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen".
Weder die Wähler noch die eigenen Fraktionen Die Forderung nach Fraktionsdisziplin wird im
dürfen den Abgeordneten d irekte Aufträge oder Allgemeinen dann aufgehoben, wenn es in einer
Weisungen über ein bestimmtes Abstimmungs- anstehe nden Abstimm ung um eine so g rundsätz-
verhalten erteilen. So erlangt der einzelne Abge- liche Frage geht, dass allein das Gewissen des Ab-
ordnete die Freiheit, die er braucht, um am Prozess geordneten seine Entscheidung bestimmen kann
der parlamentarischen Willensbildung zu partizi- (z.B. bei der Zulassung von gentechnischer For-
pieren. schung an menschlichen Embryonen).
Aufgaben
1. Stellen Sie die Arbeitsweise des Bundestages mit eigenen Worten dar. Gehen Sie dabei auf die Bedeutung
der Fraktionen und der Ausschüsse ein.
2. Erklären Sie, warum sowohl die Fraktionen als auch die Ausschüsse wichtige Teile des Bundestages sind.
4. Beurteilen Sie die Wirksamkeit der Kontrollinstrumente des Bundestages und erstellen Sie eine Rangliste (am
wenigsten wirksam bis hin zu am wirksamsten).
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
M 1 Der Deutsche Bundestag ist nicht immer so gut, wie er sein sollte
Der Deutsche Bundestag ist im Vergleich zu anderen Parlamenten innerhalb und au-
ßerhalb der Europäischen Union in seinen verfassungsmäßigen Aufgaben, in seiner
Zusammensetzung und in seiner Ausstattung stärker und einflussreicher als die meis-
ten Parlamente auf diesem Globus. Für Minderwertigkeitskomplexe besteht kein An-
s lass. Aber der Deutsche Bundestag ist nicht immer so gut, wie er sein könnte und
vielleicht auch sein sollte. Dass Parlamente Regierungen nicht nur bestellen, sondern
auch kontrollieren, ist im Allgemeinen unbestritten; im konkreten parlamentarischen
Alltag ist der Eifer bei der zweiten Aufgabe nicht immer so ausgeprägt wie bei der
ersten. [... )
10 Dass die Regierungsbefragung in jeder Sitzungswoche des Deutschen Bundestages
noch immer zu den Themen stattfindet, die die Regierung vorgibt und nicht das Par-
lament, ist unter den Mindestansprüchen, die ein selbst-bewusstes Parlament für sich
gelten lassen muss. Das wird auch dadurch nicht völlig ausgeglichen, dass es in-zwi-
schen immerhin gelungen ist, sicherzustellen, dass leibhaftige Mitglieder der Bundes-
1s regierung an der Regierungsbefragung teilnehmen.
M 3 Die Mini-Opposition
Ohne eine leistungsfähige Opposition im Parlament, die Kritik äußert, die Regierung
kontrolliert und politische Alternativen aufzeigt, ist die parlamentarische Demokratie
zum aufrechten Gang nicht fähig. [... ]
In Zeiten von schnell aufeinanderfolgenden Krisen wie Bankenkrise, Eurorettung,
s Migrations- und Flüchtlingskrise sowie Terroranschlägen unterliegt Regieren einem
extrem hohen Problem- und Handlungsdruck. Es handelt sich um Kipppunkte des
Regierens, in denen besonders schnell unter mangelhafter Wissensbasis von einem
kleinen Kreis politischer Entscheider gravierende Weichenstellungen mit unklaren Fol-
gen, oft aus einem Bauchgefühl heraus getroffen werden, um Katastrophen im letzten
10 Moment abzuwenden.
tei und Grüne angesichts der enormen Herausforderungen der Flüchtlingskrise für die
kommenden Jahrzehnte keine Enquetekommission „Gestaltung der Integration"?
Zu den selbst verursachten Problemen zählt zweitens, dass es der Linkspartei und den
Grünen kaum gelang, ihre Parteibeschlüsse mithilfe des Bundesrats durchzusetzen.
30 CDU/CSU und SPD verfügen dort nur über 16 von 35 erforderlichen Stimmen für die
Aufgaben
1 . Arbeiten Sie aus M 1 - M 3 die zentralen Aussagen der Autoren zum Problem der Kontrol-
le der Exekutive durch das Parlament heraus.
2. Diskutieren Sie auf der Grundlage der Textaussagen und Ihrer Kenntnis die Frage „Die
Kontrolle der Exekutive durch das Parlament - alles nur Theorie?" .
4.4.3 Die Bundesregierung
Leitfragen Welche Aufgaben und Wie wird sie gebildet? Welche Rolle hat der Bundeskanzler in
Befugnisse hat die der Bundesregierung und im
Bundesregierung? politischen lnstitutionengefüge?
Die Bundesregierung hat die Aufgabe der polit i- fe der Bundesregierung stellt zudem sich er, dass
schen Führung und der Ausführung der Bundes- zur Umsetzung der Ziele auch die nötigen Finanz-
gesetze durch die Bundesbehörden. Sie soll de n mittel z ur Verfügung gestellt werden. Zustim-
politischen Willen de r parlame ntarischen Mehr- mungspflichtige Gesetze müssen allerdings auch
heit in praktische Politik umsetzen und die inne- noch vom Bundesrat verabschiedet werden, bevor
re n, gesellschaftlichen Verhältnisse und die aus- sie in Kraft treten können. Dies erfordert nicht
wärtigen Beziehungen d er Bundesrepublik selten a uch die Abstimmu ng mit Parteien, die
Deutschland gestalte n. Dies geschieht in erster nicht jn der Regierung sind (> Kap. 4.4.4).
Linie durch die Gesetzgebung, welche von der
Bundesregierung dominiert w ird (> Kap. 4.6).
Wie wird die Bundesregierung gebildet?
Da die Regierung in all er Regel die Mehrheit im
Bundestag h inter sich hat, k a nn sie damit rech- Das Grundgesetz legt in Art. 63 und Art. 64 die
nen, dass ihre Gesetzesentwürfe verabschiedet Bildung der Bundesregierung klar fest. Auf Vor-
we rden. Die Verabschiedung der Gesetzesentwür- schlag des Bundespräsidenten wählt der Bundes-
~ t ~ . .. ..
......... ....
··=···· ... Neuwahlen
l
~ ~ herbeiführen
~ Bundeskanzler/ in 11&..\J~ - - - - - -
~- - - - - - •
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entscheiden über
Bundes-
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&.\ /.a Auslandseinsätze
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Bundeswehr
.. rt ! ! beaufsichtigt t
er1ass
~
„
organis,e Gesetzesausführung
Quelle: BpB, Uni Göttingen, Bundesregierung Auswahl der wichtigsten Aufgaben Stand 2017 @
GlobJ~ I
4.4 Das zentrale politische Entscheidungssystem
tag den Bundeskanzler. Allein der Bundeskanzler Das Kanzlerprinzip und das Kollegialprinzip ste-
wird direkt v om Bundest ag gewä hl t und erhält hen in eine m Spa nnungsverhältnis zueina nder:
somit eine indirekte Legitimation durch die Bevöl- Wenn die Rk htlin ien vom Kanzler im Alleinga ng
kerung. Nach seiner Wahl schlägt der Bundes- bestimmt werden, dann kön nen nich t z ugleich
kanzler dem Bundespräsidenten die Minister vor. alle wichtigen Fragen vo m gesamten Ka binett ge-
Der Bundespräsident muss diese M inister ernen- meinsam entschieden werden. In vielen Fällen ist
nen. Bundeskanzler und Bundes minister bilden der Bundeskanzler an die Mehrheitsentscheidun-
zusammen die Bundesregierung. gen des Kabinetts gebu nden und kann sogar vo n
diesem überstimmt werden. Es ist dah er in hohem
In der politischen Praxis begin nt die Regierungs- Maße von der Person des j eweiligen Kan zlers, von
bildung jedoch nicht erst mit dem Vorschlag des seinem Prestige im eigenen Regierungslager und
Bun despräsidenten, sondern erg ibt sich aus dem in der Bevölkerung abhängig, wie sehr er sich im
Wahlergebnis zur Bundestagswahl. Generell liegt Einzelfall du rchsetzen kan n.
bei der stärksten Fra ktion im Bundestag das Initi-
ativ recht, zu Koalitionsverha ndlungen einzula-
den . In den Koalitionsverhandlungen verabreden Die Stellung des Bundeskanzlers
die an der Regierung teilnehmenden Parteien das
Regierungsprogra mm und legen die Anzahl u nd Die besondere Stellung des Bundeska nzlers im
Zust ändigkeitsbereiche der Bund esminister fest. Machtzentrum der Bundesrepublik Deutschla nd
Hier werden nicht nur die Wünsche der Koaliti- beruht auf einer großen Machtfülle, die ihm zu-
onspartne r, sondern auch wicht ige Gruppen und mindest zun ächst in der Theorie nach dem Grund-
Strömungen sowie sta rke La ndesverbände in der gesetz zukommt:
eigenen Partei berücksicht igt.
• Die Richtlinienkompetenz erlaubt es allein ihm,
in allen Po litikbereichen die polit ischen Grund-
Welche Prinzipien bestimmen die Arbeitsweise linien festzulegen, an dene n sich die a nderen
der Bundesregierung? Regierun gsmitglieder orie ntieren müssen.
Vertrauensfrage
konstruktives Misstrauensvotum Bundestag
Wahl
Vorschlag
Richtlinienkompetenz
(Kanzlerprinzip)
/
zur Entlassung Keine Möglichkeit,
und Ernennung Minister zum Rück-
••••••
tritt zu zwingen
/
Bundesminister
(Kollegialprinzip, Ressortprinzip)
Amtszeit des ersten deutsche n Kanzlers Konrad takt d er Ministerien zum Bundestag sind parla-
Adenauer (1949 - 1963). Er ließ seinen Bundes- mentarische Staatssekretäre verantwortlich.
ministern wenig Rau m zur eigenen politischen
Entfaltung. folgende Kriterien für eine Kanzler- Die Bundesministerien fü r Finanzen, Verteidigung
demokratie waren in der Amtszeit Adenauers be- u nd Justiz sind im Grundgesetz festgeschrieben.
sonders gegeben : Daneben zählen das Bundesministerium des In-
nern u nd das Auswärtige Amt zu den fünf klas-
• Der Kanzler spielt eine zentrale Rolle bei der sischen Ministerien der Bundesrepublik Deutsch-
Vorbereitung der wichtigen Kabinettsentschei- land. Die Anzahl der Ministerie n ist j edoch nicht
dungen und verkörpert die Regierungspoliti k in festgelegt und kan n sich durch Aufteilung oder
der Öffentlichkeit. Zusammenlegung von Ministerien z.B. nach Bun-
destagswahlen oder Neugewichtung bestimmter
• Der Kanzler verfügt über ein hohes Ansehen Politikfelderz. B. Errichtung des Bundesministeri-
sowohl im Regierungslager als auch in der Be- ums fü r Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
völkeru ng und steht im Mittelpunkt der media- heit 1986 ru nd fünf Wochen nach der Reaktorka-
len Berichterstattung. tastrophe von Tschernobyl oder der Aufl ösung des
Bundesministeriums für Post und Telekommuni-
• Der Kanzler ist unumstrittener Vorsitzender sei- kation 1998 im Zuge der weitgehenden Privatisie-
ner Partei. rung seiner Aufgaben ändern.
~
Die tatsächliche Arbeitsweise der Bundesregie-
rung unterscheidet sich erheblich vo n der Theorie Die Kanzler
des Grundgesetzes. Abweichungen von den Koa- Die Regierungschefs der
litio nsvereinbarungen können auch nicht durch Bundesrepublik Deutschland
die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers
durchgesetzt werden. Die grund legenden Ent- CDU Angela Merkel
scheidungen werden i. d. R. weder durch eine ver- seit 2005
bindliche Entscheidung des Bundeskanzlers im
Alleingang noch durch einen Mehrheitsentscheid
SPD Gerhard Schröder
nach dem Kollegialprinzip im Kabinett getroffen.
, 1998-2005
Sie werden vielmehr in sog. Koal it ionsrunde n der
Vorsitzenden und wicht iger Fachpolitiker derbe-
teiligten Parteien au f Grundlage der programma- CDU Helmut Kohl
tischen Ausrichtung der Regierungsparteien a us- 1982-1998
geh andelt.
SPD Helmut Schmidt
1974-1982
Welche Faktoren begrenzen die Macht des
Kanzlers?
SPD Willy Brandt
1969-1974
Obwohl dem Kanzler nach dem Grundgesetz for-
mal eine sehr große Machtfülle zukommt - er hat
sowohl das Recht der Kabinettsbildung und der CDU Kurt Georg Kiesinger
1966-1969
Festlegung der Richtlinien der Politik - wird diese
Macht in der politischen Realität in aller Regel
durch den Zwang zur Bildung von Koalitionen CDU Ludwig Erhard
eingeschränkt. Bisher hat es nach Bundestags- 1963-1966
wahlen nie eine absolute Mehrheit für eine einzi-
ge Partei gegeben (Anmerkung zur Bundestags-
CDU Konrad Adenauer
wahl 1957: Damals errangen die beiden 1949-1963 [Gl
~
Schwester- bzw. Unionsparteien CDU und CSU die
absolute Mehrheit. Beide Parteien schlossen sich
© Glob"'
im Bundestag bisla ng immer zu einer einzigen
Fraktion zusammen. Dennoch sind CDU u nd CSU
zwei eigenständige Parteien mit jeweils eigenem
Parteivo rsitzenden sowie Wa hl- bzw. Parteipro- Die entscheidenden Akteure in den Koa litio nsver-
gra mm). Regierungen wa re n somit immer auf ha ndlungen sind dann meist die Parteiführungen.
Bündnisse von mindestens zwei Parteien ange- Ihr Gewicht in den Verhandlungen hängt in erster
wiesen. Die progra mmat ische Grundlage einer Lin ie vom Wahlergebnis ihrer Partei ab. Eine Par-
gem einsamen Regierung sind Koalitionsverträge tei mit fünf Prozent der Zweitstimmen kann nicht
oder Koalitionsvereinbarungen, die vo n den be- so viele Min isterposten beanspruchen und nicht
teiligten Parteien ausgehandelt und au f Parteita- so viele ihrer Ziele umsetzen wie eine Partei mit
gen beschlossen werden. 30 Prozent Stimmenanteil.
Aufgaben
1 . Stellen Sie das Spannungsverhältnis zwischen der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers und der
Arbeitsweise der Bundesregierung dar.
3. Setzen Sie sich damit auseinander, warum Politiker regieren wollen. Führen Sie dafür eine Podiums-
diskussion (, Methodenglossar) durch.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Gut ein Jahr vor der Bundestagswahl geht SPD-Chef Sigmar Gabriel deutlich auf Di-
stanz zu Angela Merkel. Der Kanzlerin wirft er schwere Fehler in der Flüchtlingspolitik
vor und greift indirekt eine Forderung der CSU auf.
AFP, www.faz.net, 28.8.2016
In Europa ist die Kanzlerin isoliert, der Koalitionspartner setzt sich ab, die AfD wächst
gewaltig, in der Union rumort es [...) Angela Merkel spürt die Kanzlerdämmerung. Um
sie herum macht sich eine Stimmung breit wie 2005 um Gerhard Schröder. Was damals
die Agenda-2010-Politik war, das ist heute die Multikulti-Migrationspolitik. Beides po-
s larisiert die Gesellschaft und verschreckt das jeweils eigene Lager bis ins Mark. Dem
damaligen Erfolg der Linkspartei steht heute der AfD-Aufstieg gegenüber. Und einst
wie jetzt wankt die Kanzlerfigur ihrem politischen Untergang entgegen. Merkels Macht
schwindet im Zeitraffertempo
Wolfram Weimer, www.ntv.de, 30.8.2016
Auf dem CDU-Parteitag ist Bundeskanzlerin Angela Merkel mit 89,5 Prozent der Stim-
men als Parteivorsitzende wiedergewählt worden. Das Abstimmungsergebnis ist das
zweitschlechteste ihrer knapp 17-jährigen Amtszeit als CDU-Chefin. Zuvor hatte Mer-
kel auf dem Essener Parteitag um Unterstützung im Bundestagswahlkampf gebeten.
Nur ein paar Hausaufgaben seien zu erledigen: Nach den historischen Verlusten bei
der Wahl spielt Angela Merkel auf Zeit. Doch in der Partei rumort es, der CDU droht
ein neuer Richtungsstreit.
Philipp Wittrock, www.spiegel.de, 25.9.2017
Nach der Wahl scheint eine Jamaika-Regierung die einzige Option zu sein. Doch ob
das klappt? Neben persönlichen Animositäten gibt es viele inhaltliche Hindernisse.
Aufgaben
1 . Überprüfen Sie anhand der dargestellten Beispiele die Aussagen zu den „Grenzen der
Kanzlermacht".
3. Gestalten Sie ein Poster (, Methodenglossar) zum Thema Handlungsspielräume und Gren-
zen beim Regieren.
4.4.4 Der Bundesrat
Leit fragen Welche Aufgaben nimmt Wie setzt sich der Bundesrat Wie ist sein Verhältnis
der Bundesrat wahr? zusammen? zum Bund geregelt?
Der Bundesrat ist für den deutsche n Föderalismus Bundesrat entspricht da bei nicht der exakten Re-
typisch. Er ist in dieser Form einmalig au f der präsentation der j eweiligen Einwohnerzahlen,
Welt. Er ist sowohl Ausdruck einer vertikale n Ge- sondern ist ein Komp ro miss, um der „föderativen"
waltenteilung als auch einer v ertikalen Gewal- Gleichbehandlung der Lä nder zu entsprechen. Zu-
tenverschränkung zwischen Bund und Ländern. dem wird verhindert, dass die großen die kleinen
Die Bundesratsmitglieder sollen keineswegs a us- Länder einfach übertrumpfe n bzw. die kleinen die
sch ließlich Länderinteressen vertreten, sondern großen Länder nicht maj orisieren können.
„Bundes- und Länderinteressen in möglichste
Übe reinstimmung bringen" (Art. 50 GG). Anders als die Abgeordneten des Bundestages ha-
ben die Delegierten der Länderregierungen im
Durch den Bundesrat sind die Länder an der Ge- Bundesrat e in imperatives Mandat, das heißt, sie
setzgebung des Bundes beteiligt. Er soll es er- sind a n bestimmte Weisu ngen und Aufträge ge-
mög lichen, dass die Länder die Gesetze mitgestal- bunden. Au ßerdem müssen die Delegierten eines
ten, die ihre Inte ressen berühre n. Zugleich soll die Landes ihre Stimme einheitlich abgeben. Da mit
Qualität der Gesetzgebung du rch die Einbezie- sind die Mitglieder des Bundesrats die Boten der
hung der Lä nder verbessert werde n. Die Verwal- Entscheidungen ihrer Landesregierungen.
tungsaufgaben üben nä mlich in aller Regel die
Lä nde r aus; diese Kompetenzen und damit ver-
bunde ne Interessen sollen bei der Gestaltung der Kompetenzen des Bundesrats
Gesetze beachtet werden.
Der Bundesrat hat folgende Kompetenzen:
...r~
Stimmenverteilung im Bundesrat
Baden-Württemberg
Bayern
6
6
...-
Niedersachsen 6
::::m:::: Nordrhein-Westfalen 6
...
Hessen 5
,- Berlin 4 C
Cl>
E
Brandenburg 4 E
:;;
..-
Cl)
Rheinland-Pfalz 4 cn
Sachsen
Sachsen-Anhalt
4
4
-
(0
E
CO
(J)
(1)
-~-=
Ol
(J)
:::m:::: Schleswig-Holls tein 4 -~
Thüringen 4
Bremen 3
m
-
..!!..
Hamburg
Mecklenburg-Vorpommern
Saarland
3
3
3
an sich zieht, die Befugnisse der Länder aus- • eine parteipolitische Konfliktlinie zwischen den
höhlen. Bei den zustimmungspflichtigen Geset- Parteien a ufgrund der programmatischen Orien-
zen kontrolliert er, ob die Interessen der Länder tie rung und/oder dem Streben nach einer Stim-
ausreichend berücksichtigt wurden. menmaximierung.
5. Mitwirkung an der Bestellung anderer Staats-
organe: Der Bundesrat wählt die Hälfte der Die parteipolitische Konfliktlinie behe rrscht ge-
Richter des Bundesverfassungsgerichts. wöhnlich das Abstimmungsve rhalten im Bundes-
rat. Dies führt bei gegenläufigen Mehrheiten in
Bundestag und Bundesrat zur Verbreitung des
Konfliktlinien im Bundesrat Vorwurfs, die Opposit ionsparteien missbrauchten
den Bundesrat für ihre Zwecke. De r Vorwurf ist
Im Bundesrat gibt es zwei grundlegende Kon- j edoch nicht so tragfähig, wie es auf den ersten
fliktlini en, die sich bei bestimmten Entschei- Blick scheint. Die Landesregierungen kommen in-
dungsprozessen überlagern kö nnen: direkt durch Landtagswahlen in ihr Amt. Die
Wähler auf Landesebene können von den Regie-
• eine Konfliktlinie zwischen den Länderblöcken rungen durchaus erwarten, dass sie landesspezifi-
im Bundesrat, etwa zwische n finanzstarken und sche Interessen über ein Engagement im Bundes-
finanzschwachen Ländern und rat nach der Wahl verfolgen.
Aufgaben
1. Nennen Sie die beiden im Bundesrat vorherrschenden Konfliktlinien.
2. Erklären Sie die Zusammensetzung des Bundesrates unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung und im
Hinblick auf die Stimmenverteilung der Bundesländer (, Grafik).
3. Erstellen Sie einen Kurzvortrag bzw. Referat (, Methodenglossar) über den Bundesrat (Aufgaben, Zusam-
mensetzung, Zustandekommen, Entscheidungsfindung bzw. Abstimmungsverhalten).
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
M 1 Zu bunt
Wolfgang Schäuble sitzt seit 1972 im Bundestag, vor 32 Jahren wurde er zum ersten
Mal Minister. Niemand dürfte die strukturellen Probleme im politischen Geschäft bes-
ser kennen als er. Auch deshalb lässt jetzt ein Vorstoß Schäubles aufhorchen. Der
Bundesfinanzminister fordert eine Änderung des Grundgesetzes, um die Blocka-
5 de-Macht des Bundesrates zu beschneiden. Es geht dabei um ein Schreckgespenst,
das schon seit vielen Jahren durch die Hauptstadt geistert: die angeblich blockierte
Republik.
Seit aus dem deutschen Drei-Parteien-System in einigen Landesparlamenten sogar
ein Sechs-Parteien-System geworden ist, ist die Lage im Bundesrat ziemlich unüber-
10 sichtlich. Nicht einmal Angela Merkels große Koalition kann sich noch auf eine Mehr-
heit in der Länderkammer stützen. Die allein von CDU, SPD und CSU regierten Länder
kommen zusammen nicht einmal auf ein Drittel der Stimmen. Derzeit regieren in den
16 Bundesländern elf verschiedene Koalitionen. [... ]
Genau das ist in der Praxis ein Problem für Schäuble. Trotz der Föderalismusreformen
15 sind noch knapp 40 Prozent aller Gesetzentwürfe des Bundes zustimmungspflichtig.
Das heißt , dass sie nur dann Gesetz werden, wenn sie auch der Bundesrat billigt. In
der Länderkammer ist dafür immer die absolute Mehrheit nötig. Das macht das politi-
sche Geschäft so schwer, und deshalb verlangt Schäuble eine Änderung von Artikel
52 Absatz 3 des Grundgesetzes.
20 Dort heißt es bisher: ,,Der Bundesrat fasst seine Beschlüsse mit mindestens der Mehr-
heit seiner Stimmen" , also mit mindestens 35 der 69 Stimmen. Schäuble hat in einem
Grundsatzpapier „für die Verbesserung der Aufgabenerledigung im Bundesstaat" jetzt
aufschreiben lassen, was stattdessen in einem geänderten Grundgesetzartikel stehen
solle. ,,Der Bundesrat fasst Beschlüsse künftig mit einfacher Mehrheit", heißt es in
25 Punkt 14 des Schäuble-Papiers. Die 35-Stimmen-Grenze würde also fallen.[.. .]
Im Bundesrat ist man über den Vorstoß des Finanzministers naturgemäß nicht sonder-
lich erfreut. Niemand lässt sich gerne seine Macht beschneiden. Es gibt jedoch auch
erstaunliche Zahlen darüber, wie es tatsächlich um die angeblich blockierte Republik
bestellt ist.
Seit der Bundestagswahl 2013 sind der Länderkammer 319 vom Bundestag beschlos-
30 sene Gesetzesvorlagen zugeleitet worden. [...] Nur in zwei der 319 Fälle wurde der
Vermittlungsausschuss angerufen, um Änderungen zu erreichen - darunter d ie Reform
der Erbschaftsteuer. Aber selbst in diesen beiden Fällen gab es inzwischen eine Ver-
ständigung. Kurzum: Es mag für Merkels große Koalition zwar mühsam geworden sein,
ihre Gesetzentwürfe durch den Bundesrat zu bekommen. Immer öfter sind schon vor-
35 ab Kompromisse und Absprachen nötig. Von einer blockierten Republik kann aber
keine Rede sein.
Robert Roßmann, www.sueddeutsche.de, 12.10.2016
Aufgaben
1 . Benennen Sie das Problem, dass Wolfgang Schäuble mit dem Bundesrat hat.
2. Analysieren Sie die Beweggründe von Schäuble für eine Beschneidung der Kompetenzen
des Bundesrats.
3. Erörtern Sie auf der Basis des Textes, ob die Mitsprachemöglichkeiten des Bundesrates
bei der Gesetzgebung des Bundes eingeschränkt werden sollen.
4.4.5 Der Bund espräsident
Leitfragen Welche Stellung hat der Bundespräsident Welches sind seine Kompetenzen und
in der Bundesrepublik Deutschland? Aufgaben?
Der Bundespräsident ist das Staatsobe rh aupt der Der Einfluss des Bundespräsidenten auf die inne-
Bundesrepublik und repräse ntiert den Staat nach re und äußere Politik als höchster Repräsentant
innen u nd nach außen. Zur Kernfun ktion des po- des Staates beru ht auf seiner Überzeugu ngskraft
lit ischen Systems, für den Staat und die Bürger und seinem Ansehen. So kann er durch Anspra-
ve rbindliche Entscheidungen herbeizuführen, che n a u f Fehlentwicklungen hinweisen und An-
leistet er nur einen geringen Beit rag. Der Bu ndes- stöße für politische Verän deru ngen geben sowie
präsident hat kein Gesetzesin itiativrecht und ver- bei Staatsbesuchen im Ausland das internationale
fügt bei de r politischen Wille nsbildung über keine Anseh en Deutsc hlands fö rdern.
fo rmalen Einflussmöglich keiten. Seine Amts-
handlungen müssen vo m Ka nzler oder den Fach-
Die Bundespräsidenten
ministern gegengezeich net werden. Bedeutungs- der Bundesrepublik Deutschland
los ist der Bundespräsident aber keineswegs. Er
erfüllt v or allem folgende A ufgaben: Theodor Roman
Heuss Herzog
• Prüfung von Gesetzen auf ih re Verfassungsmä- (FDP) (CDU)
1949-1959 1994- 1999
ßigkeit sowie deren Un terzeich nung;
• Ernen nung un d En tlassung von Bundeskanzler,
Bundesministern und Bu n desrichtern ;
Heinrich Johannes
• Un terzeichnu ng von völkerrecht lichen Verträ-
Lübke Rau
-
-C;.
gen, die vorher durch die Regierung a usgeh a n- (CDU) '- I (SPD)
~
delt wurden ; 1959-1969 1999-2004
~
• Entsch eidung über Begnadigu ngen.
Die Amtszeit des Bundespräsidenten beträgt fünf Die bisherigen Amtsinhaber haben das Amt des
Jahre. Er kann nur einmal wiedergewählt werden. Bundespräsidenten überwiegend so ausgestaltet,
Anders als etwa in der Weimarer Republik oder dass es als eine Art „Gewissen der Nation" fun-
auch heute in Österreich wählt n icht das Volk, giert. Durch Reden zu grundsätzlichen politischen
sondern die eigens für diese Wahl zusammenge- Fragen übt der Präsident zwar keine formale
stellte Bundesversammlung. Außer fü r die Wahl Macht aus, er kan n aber die öffentliche Debatte
des Staatsoberhaupts hat die Bundesversammlung wirksam beeinflussen. Für großes Aufsehe n sorg-
keinerlei Funktion. te etwa Bundespräsident Richard vo n Weizsäcker
mit seiner Parteienkritik. Bei Reden innerha lb
Die von den Landesparlamenten für die Bundes- Deutschlands muss sich der Bundespräsident da-
versammlung nominierten Vertreter müssen selbst bei nicht mit dem Bundeskanzler abstimmen.
keine Mitglieder der Landesparlamente sein. Da- Wenn der Bundespräsident dagegen als Vertreter
her umfasst die Bundesversam mlung auch immer Deutschlands im Ausland unterwegs ist, muss er
wieder Prominente aus Sport und Medien wie seine Rede zuvor dem Bundeskanzler vorlegen.
etwa den Fußbal l- Bundestrainer Joachim Löw Gewöhnlich genießt die Person des Bundespräsi-
oder den Entertainer und Comedi an Hape Kerke- denten in Deutschland ein höheres Ansehen als
ling. die des Bundeskanzlers.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie, welche Stellung der Bundespräsident in Deutschland inne hat und welche Aufgaben er
erfüllt.
2. Erläutern Sie die These „Das Amt des Bundespräsidenten ist kein politisches Amt!".
4. Beurteilen Sie die Bedeutung des Amtes des Bundespräsidenten in der parlamentarischen Demokratie
Deutschlands.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Die Politik stemmt sich dagegen, aber es zeigt sich immer wieder: Der Bundespräsi-
dent sollte von den Bürgern in Direktwahl bestimmt werden.
Der 23. Mai hat einmal mehr gezeigt: Die Kür des Bundespräsidenten ist zur bloßen
Show verkommen , die nur mühsam verdeckt, dass die Mehrheit der Bundesversamm-
s lung bloß nachvollzieht, was Parteiführungen hinter der Bühne längst entschieden
haben. Das ist einer Demokratie unwürdig und dürfte Horst Köhler dazu bewogen
haben, gleich nach seiner Wiederwahl mehr Volksbeteiligung anzumahnen: Auch eine
Direktwahl des Bundespräsidenten könne aus dieser Diskussion nicht ausgeklammert
werden, sagte Köhler nach seiner Wiederwahl im ZDF.
10 Selbst Parteigrößen wie Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Bundeskanzle-
rin Angela Merkel wurden vor laufenden Kameras nicht müde zu betonen, wie sehr die
Wahl Köhlers dem Willen der Deutschen entspreche, und erwiesen so, vermutlich
unabsichtlich, der Volkswahl ihre Reverenz. Dennoch hält die Bundeskanzlerin hartnä-
ckig am „Abba-Prinzip" (Alles bleibt beim Alten) fest. Sie will den Personalentscheid
1s offenbar nicht aus der Hand geben. Außerdem scheint sie zu fürchten, neben einem
direkt gewählten Bundespräsidenten würden die demokratischen Mängel von Parla-
ment und Regierung erst recht offenkundig. Und damit hat sie völlig recht. Ist aber
nicht gerade das ein Argument für die Direktwahl? [... ]
Derzeit hat das Volk ja fast nichts zu sagen. Statt seiner entscheiden die Parteien vor
20 der Wahl, wer Abgeordneter wird, und nach der Wahl durch Koalitionsvereinbarungen,
wer die Regierung stellt. Parlamente und Regierungen sind, bei lichte besehen, gar
keine Vertretungen des Volks, sondern der Parteien. Wenn die Direktwahl des Bundes-
präsidenten dazu beitrüge, die Entmachtung des Volks offenzulegen und nötige Re-
formen anzustoßen, wäre das zu begrüßen. Und dass ein direkt gewählter Bundesprä-
2s sident zwangsläufig mehr Kompetenzen benötigte, ist eine bloße Schutzbehauptung.
Das zeigt sich in Österreich. Dort wird der Bundespräsident direkt gewählt, hat aber
auch nicht mehr Befugnisse als sein deutscher Kollege.
Nach 60 Jahren Demokratieerfahrung im Westen und 20 Jahre nach der unblutigen
Revolution im Osten sollte niemand uns Deutschen mehr die demokratische Reife für
30 Direktwahlen und direkte, demokratische Sachentscheidungen absprechen dürfen.
Der Bundespräsident sollte sich auch in Zukunft in Sachen mehr Demokratie den Mund
nicht verbieten lassen.
Hans Herbert von Arnim, www.welt.de, 29.5.2009
Das Staatsoberhaupt vom Volk wählen zu lassen, klingt sympathisch. Doch für Bür-
gerbeteiligung gibt es bessere Gelegenheiten.
Die Forderung, grundsätzliche Dinge vom Volk entscheiden zu lassen, gehört zu den
Forderungen, die in einer Demokratie grundsätzlich sympathisch sind. Die Argumente,
s die gegen Plebiszite und Volksabstimmungen angeführt werden, klingen ja oft so, als
bestünde das Volk aus Halbidioten, die man vor sich selber schützen müsse.
Weil sich diese skeptische Betrachtung streng genommen auch aufs allgemeine Wahl-
recht erstrecken müsste, gestehen die Gegner von Plebiszit und Volksabstimmung
dem Volk alle paar Jahre einen lichten Augenblick zu: just dann, wenn es um die Be-
10 stätigung der politischen Repräsentanten geht. Aber mehr, so heißt es, soll bitte nicht
sein; ein Mehr an Demokratie gefährde die Demokratie. Eine solche Argumentation ist
darauf aus, die Angst des Volks vor sich selbst zu wecken; sie kann so nicht richtig
sein.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Die Forderung, den Bundespräsidenten künftig nicht von den 1 260 Wahlleuten der
15 Bundesversammlung, sondern vom Volk wählen zu lassen, also von potentiell 62 Mil-
lionen Wahlberechtigen, klingt deshalb erst einmal sympathisch. Die Forderung wird
in den Umfragen von siebzig Prozent der Bundesbürger geteilt; darin spiegelt sich
sowohl die Lust auf mehr Demokratie, die bei Personalia besonders groß ist, als auch
Ärger darüber, dass die Kandidaten fürs höchste Staatsamt auf undurchsichtige Weise
20 ausgekungelt werden. Aber die Direktwahl wäre das falsche Mittel, dem Ärger Luft zu
geben; dann wären die neuen Probleme größer als die, die man damit abstellen will.
[...]
Nicht alles was zunächst sympathisch klingt, ist auch richtig. Es ist so: Die Mütter und
Väter des Grundgesetzes haben sich gegen ein Präsidenten-Regierungssystem ent-
25 schieden. Und die Erfahrungen, die man derzeit in der Türkei, in Polen und in anderen
Staaten Osteuropas damit macht, sind nicht geeignet, näher an ein solches Regie-
rungssystem heranzurücken. Die Direktwahl des Präsidenten würde die Gewichte im
parlamentarischen System ein Stück weit in Richtung auf ein präsidentielles System
rücken.
30 Deutschland hätte dann einen direkt gewählten Präsidenten, der aber nach der Grund-
gesetz wenig zu sagen hat, weniger als der in Österreich - der aber, weil er nun einmal
direkt gewählt wurde, darauf bestehen würde, dass er die Richtlinien der Politik mit-
bestimmen darf. Die Machtbalance würde schwieriger. Das gilt erst recht dann, wenn
man dem Präsidenten neue Kompetenzen gäbe. Welche eigentlich?
35 Die deutschen Erfahrungen sind nicht gut: Hindenburg hat mit der Kraft des volksge-
wählten Reichspräsidenten die Legitimität der Weimarer Republik durch Notverord-
nungen ausgehöhlt. Die schmalen Kompetenzen des Bundespräsidenten waren die
Lehre, die der Parlamentarische Rat 1948/49 daraus zog.
Man wollte dem direkt gewählten Parlament keinen direkt gewählten Bundespräsiden-
40 ten entgegensetzen. Die Zurückhaltung war so groß, dass überlegt wurde, auf ein
Staatsoberhaupt ganz zu verzichten und dessen Funktionen dem Präsidenten des
Bundestags oder dem des Bundesverfassungsgerichts zu übertragen - was auch kei-
ne ganz schlechte Lösung wäre.
Für mehr Bürgerbeteiligung gibt es wichtigere und bessere Gelegenheiten: Volksent-
45 scheide auf Bundesebene. Wer bei dieser Forderung aufschreit, weil er AfD und Co
fürchtet, verwechselt Ursache und Wirkung. Das grassierende Gefühl, dass „ die da
oben eh machen, was sie wollen'', ein Gefühl, das zu Politikverdrossenheit und Poli-
tikverachtung geführt hat, hätte sich nicht so gefährlich ausgebreitet, wenn es Plebis-
zite gäbe.
Her ibert Prantl, www.sueddeutsche.de, J3.6.2016
Aufgaben
1. Stellen Sie die Argumente für und gegen die Direktwahl des Bundespräsidenten in
Deutschland mit Hilfe von M 1 und M 2 in einer Tabelle dar.
3. Überprüfen Sie die Aussage Herbert von Arnims, der österreichische Präsident habe nicht
mehr Kompetenzen als der deutsche Bundespräsident.
4. Beurteilen Sie, ob der deutsche Bundespräsident vom Volk direkt gewählt werden sollte.
Führen Sie dafür eine Eishockey-Debatte (• Methodenglossar) durch.
• Staatsaufbau
Leitfragen Wie ist das föderale Welche Funktion hat der Föderalismus im Wodurch unterscheiden sich
System in Deutschland Hinblick auf die Gewaltenteilung? Zentral- und
organisiert? Bundesstaaten?
Man unterscheidet Föderalismus und Zentralis- • In Deutschla nd muss es sowohl eine souverä n e
mus: Die Begriffe Föderation und Föderalismus Bundes- als auch eine eigenständige Länder-
gehen auf das lateinisch e Wort „foedus" für eben e geben. Es ist aber möglich, Ländergren-
,.Bund" zurück. Das staatliche Organisationsprin- zen zu ändern, bestehende Länder aufzulösen
zip des Föderalismus zielt darauf, die politische oder miteinander zu vereinigen. 1996 unternah-
Macht zwischen einer zentral- und einer bu ndes- men Berlin und Brandenburg eine n - geschei-
staatlichen Ebene zu teilen, d. h. es besteht eine te rten - Versuch, zu einem gemeinsamen Bun-
Aufgabenteilung zwischen dem Bund und den desland zu fusionieren (>Kap. 4.2. 1).
einzelnen Bundesländern. Das Organisationsprin-
zip des Zentralismus hingegen konzentriert die • Sowohl die Bundes- als auch die Län derebene
politische Macht au f der nationalen Ebene. müssen eigenständige politisch e Kompetenzen
sowie jeweils eine gewisse finanzielle Eigen -
Deutschland ist ein Bundesstaat (Föderation). ständigkeit hab en.
Dieses Modell des Staatsaufbaus liegt zwisch en
einem Modell des Staatenbunds (Konföderation) Das Kernelement einer föderativen Ordnung ist
und dem Modell eines Zentral- oder Einheits- die Verteilung der Aufgaben zwisch en den staat-
staats. Im Bundesstaat wird die politische Macht lichen Ebenen. Grundsätzlich sollen die Aufgaben
zwischen einer zentralen Reg ierung und regiona- von der Ebene erfüllt werden, die dafü r am beste n
len Regierungen geteilt. Dab ei muss j ede Regie- geeign et ist (Subsidiaritätsprinzip). Laut dem
rungsebene bestimmte politische Kompetenzen Grundgesetz ist für bestimmte Au fgaben einzig
haben, die sie unabhängig vo n der anderen Regie- der Bund zuständig, für andere sind es ausschließ-
rungsebene wah rnehme n kann. Obwohl der Fö- lich die Länder. Im Bereich der konkurrierenden
deralismus in Deutschland a uf eine lange Tradit i- Gesetzgebung ist es de m Bund e rlaubt, für alle
o n zurückblickt, entschied man sich nach dem Länder verbindliche Gesetze zu erlassen, wenn
Zweiten Weltkrieg vor allem aus einem Grund für ,.die Herstellung gleichwertiger Lebensverhält nis-
dieses Organisatio nsprinzip: Man wollte eine se im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts-
Macht konzentration verhindern, die die Herr- oder W irtschaftseinheit im gesamtstaatlichen In-
schenden zu Missbrauch hätte verleiten können. teresse eine bundesgesetzliche Regelung erfo rder-
lich macht" (sog. ,.Bedürfnisklausel"; Art. 72 GG).
Die Lä nder konnten bis zur Föderalismusreform
Welche Bedeutung hat der Föderalismus für 2006 da n n keine abweic henden Regelungen mehr
die staatliche Ordnung der Bundesrepublik? treffen. Diese Regelung war das Einfallstor da für,
dass sich im Namen gleichwertige r Lebensverhält-
Das deutsche Grundgesetz erklärt die föderale nisse im gesamten Staatsgebiet d ie Gesetzge-
Ordnu ng Deutschlands für unabänderbar (Art. 79 bungskompet enzen immer stärker auf zentral-
Abs. 3). Dies bedeutet: staatlicher Ebene konzentrierten.
4.5 Staatsaufbau
Bundesstaatliche Ordnung
GG Was dazu im Grundgesetz steht
Artikel
0
20 „Die Bundesrepublik Deutschlan d
ist ein demokratischer und sozialer
Bundesstaat"
79 Das bundesstaatliche Prinzip darf
nicht aufgehoben oder geändert werden
30 Eigenstaatlichkeit der Lände r
50 Mitwirkung der Länder an der Gesetz-
23 gebung des Bundes und in Angelegen -
heiten der Europäischen Union durch
den Bundesrat
70-74 Gesetzgebung: Aufteilung der Zustän -
digkeiten zwischen Bund und Länder n
83 Zuordnung der staatlic hen V erwaltungs-
-91 d aufgaben. Gemeinschaftsaufgaben .
Verwaltungszusammenarbei t
104a Finanzhoheit. Verteilung des Steuer -
-109a aufkommens zwischen Bund und
Ländern. Unabhängige Haushalts-
wirtschaft. Gemeinsame Verpflichtun g
zur Haushaltsdisziplin
Krit iker warfen dem System des kooperativen Fö- Der Anteil de r Bundesgesetze, die einer Zustim-
deralismus in den J990er J ahren zunehmend vor, mung des Bundesrats bedürfen, sollte laut Prog-
dass er notwendige politische Reformen behin- nosen des Wissenschaftlichen Dienstes des Deut-
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland
sehen Bundestages v on rund 60 Prozent auf rund Am 14. Okt ober 2016 haben sich die Regierungs-
35 bis 40 Prozent sinken. Dies sollte gelingen, chefinnen und -chefs der Lä nder mit der Bundes-
indem künftig bei Bundesgesetzen, welche Rege- regierung über die Neuordnung der Bund-Län-
lungen zum Verwaltungsverfahren enthalten, die der-Finanzbeziehungen nach Auslaufen des
Zustimmungspflicht entfällt. Die Länder dürfen Solidarpaktes geeinigt. Es wurden ein Ausgleichs-
dafür nun das Verfahren auch abweichend regeln. system zwischen Bund und Ländern zur Stärkung
Die tatsächlichen Auswirkungen dieser Neurege- der finanzschwächeren Länder und weitere wich-
lung sind umstritten, da die Anzahl der seit der tige Maßnahmen zur Verbesserung der Aufgabe-
Föderalismusreform von 2006 beschlossenen Ge- nerledigung (,,Eckpunkte für die Neuordnung der
setze noch keine empirische Einschätzung darüber Finanzbeziehungen") im Bundesstaat besprochen
erlaubt. Weiterhin darf der Bund den Gemeinden und beschlossen.
keine Aufgaben oder Kosten durch Bundesgesetze
übertragen.
Die Bundesländer
Gemeindevor-
stand / Magistrat
Der Magistrat leitet die
'
Gemeinde Verwaltung Gemeinde Verwaltung
Aufgaben
1 . Fassen Sie in Stichworten die wesentlichen Elemente der bundesstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik
zusammen.
Unser Land ist lernfähig. Nach einschneidenden Ereignissen gibt es zwar übliche Ri-
tuale, die von einem „Weiter so" bis zum „Alles muss anders werden" reichen. Nach
einer Debatte folgen jedoch in der Regel vernünftige Kompromisse. [...]
Nach dem schrecklichen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in
5 Berlin werden erneut Konsequenzen folgen. [... ] Angesichts denkbarer Krisen und Ka-
tastrophen auch in Deutschland, angesichts der digitalen Weiterentwicklung und der
wachsenden Globalisierung müssen wir feststellen, dass unser Staat auf schwierige
Zeiten noch besser vorbereitet werden muss als bisher. Wir sind an Normalität und das
Ausbleiben von Katastrophen gewöhnt. Und so ist unser Land auch organisiert. Die
10 Zeiten ändern sich aber. In Deutschland gibt es viele Regelungen nicht, die in anderen
Demokratien weltweit selbstverständlich sind:
Wir haben keine Zuständigkeit des Bundesstaates für nationale Katastrophen. Die
Zuständigkeiten für die Bekämpfung des internationalen Terrorismus sind zersplittert.
Die Bundespolizei ist in ihrer Wirkungsmöglichkeit auf Bahnhöfe, Flughäfen und die
15 Grenzsicherung beschränkt. Bei Angriffen im und aus dem Internet verhalten wir uns
nicht ausreichend koordiniert und rein abwehrend. [... ] Um unser Land, aber auch
Europa, krisenfest zu machen, halte ich Neuordnungen für erforderlich.
50 • Einen starken Staat brauchen wir auch im digitalen Katastrophenfall. [... ] Mein Vor-
schlag ist, das nationale Cyber-Abwehrzentrum so weiterzuentwickeln, dass es bei
komplexen Schadenslagen die Federführung an sich ziehen kann, um etwa die
schnellen Eingreiftruppen anderer Sicherheitsbehörden, gegebenenfalls auch der
Bundeswehr, zu koordinieren. [.. .]
55 • Angesichts des zu erwartenden deutlichen Anstiegs der Zahl von Ausreisepflichtigen
nach Abarbeitung aller Asylverfahren brauchen wir eine nationale Kraftanstrengung
beim Thema Rückkehr. Der Vollzug der Ausreisepflicht ist Teil unserer Rechtsord-
nung. Zu Verbesserungen sind wir mit den Ländern im Gespräch.
Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im vergangenen Dezember hat bun-
desweit für eine neue Debatte über die Funktionsfähigkeit des Sicherheitsapparates
gesorgt. Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) hat als Reaktion darauf sei-
ne „Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten" vorgelegt. Kritik kommt
5 sowohl von den Ländern als auch der Opposition im Bund. [... ]
Sein Vorhaben, welches im Wesentlichen auf einer Zentralisierung der Sicherheitsar-
beit und Befugniserweiterungen für die Behörden basiert, lenke nur von den eigentli-
chen Problemen in der Terrorismusbekämpfung ab, kritisierte der bayerische Innenmi-
nister Joachim Herrmann (CSU). Sein nordrhein-westfälischer Amtskollege Ralf Jäger
10 (SPD) warnte, Zentralisierung mache die Behörden behäbiger im Kampf gegen den
Terrorismus. [ ... ]
Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) erklärte: ,,Wir müssen jetzt sagen, was wir tun wollen ,
und nicht erst große Behördenumstrukturierungen machen". De Maizieres Pläne liefen
auf eine Föderalismusreform hinaus, die Jahre dauern könne. Auch der hessische ln-
15 nenminister Peter Beuth, Parteikollege des Bundesministers, übte Kritik: ,,Schnell-
schüsse dieser Art untergraben nicht nur das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in
den Staat, sie stellen die gesamte föderale Sicherheitsarchitektur in Frage" .
Christian Linder, Vorsitzender der FDP, schaltete sich nun ebenfalls in die Diskussion
ein und mahnte zu mehr Besonnenheit: ,, Die Zusammenarbeit der deutschen Sicher-
20 heitsbehörden muss verbessert werden" sagte er. Dabei dürfe eine Diskussion über
die Kompetenzverteilung von Bund und Ländern „nicht künstlich tabuisiert werden".
Zentralisierung löse zwar nicht jedes Problem, doch sei „ Kleinstaaterei umgekehrt
auch kein Wert an sich".
Aufgaben
1 . Geben Sie die von Thomas de Maizieres identifizierten Defizite der föderalen Ordnung
Deutschlands und seine Vorschläge zu deren Abbau wieder (M 1).
2. Erschließen Sie sich die zentralen Argumente der Gegner von de Maizieres Vorschlägen
mit eigenen Worten (M 2).
3. Nehmen Sie auf der Grundlage der Argumente beider Seiten Stellung zu der Frage, ob die
bestehende föderale Ordnung Deutschlands überholt ist.
■ Die Gesetzgebung
Leitfragen Wie verläuft das Warum ist das Welche Rolle spielt der
Gesetzgebungsverfahren Gesetzgebungsverfahren Vermittlungsausschuss bei
in Deutschland? kompliziert? der Gesetzgebung?
Welche Prinzipien gelten für die Gesetzgebung Bundestag (eine Fraktion oder mindestens fünf
in Deutschland? Prozent der Abgeordneten) besitzen das Initia-
tivrecht (> Kap. 4.2.2). In der polit ische n Praxis
Gesetze - d. h. allgemein verbindliche Normen kommen meh r als die Hälfte der Initiativen aus
bzw. Handlungsgebote und -verbote - regeln das den Reihen der Bundesregierung. Die Entwürfe
Zusammenleben von Menschen in einer Gesell- der Bundesregierung werden in den Fachminis-
schaft und greifen damit unmittelbar in das Leben terien ausgearbeitet.
der Bürgerinnen und Bürger eines Staates ein. Die
Ausgestaltung des Gesetzgebungsprozess in ei- 2. In d er ersten Lesung debattiert der Bundestag
nem Staat ist darum von zen traler Bedeutung. In die Grundzüge des Gesetzentwurfes. Anschlie-
Demokratien ist deshalb genau festgeschrieben, ßend wird der Entwurf an die Ausschüsse ver-
wie die Bürger die gesetzgebende Gewalt bestim- wiesen, in dene n eine eingehende Prüfung und
men und wie diese bei der Festlegung vo n Geset- Beratung stattfindet. In diesem komplizierten
zen agieren muss. Prozess werden auch Experten und Vertreter
von Interessenverbänden (> Ka p. 4.3.2) gehört.
Gesetze innerhalb einer modernden Demokratie Die Ausschüsse tagen i. d. R. nicht öffentlich.
weisen im Allgemeinen drei Merkmale auf:
3. Anschließend berät das Plenum in zweiter Le-
• sie sind durch rechtstaatliche Verfahren ent- sung die Änderungen und Ergänzungen, die in
standen, den Ausschüssen vo rgenommen w urden. In der
• sind allgemein gültig und dementsprechend auf dritten Lesung findet nach der abschließenden
alle Fälle anzuwenden sowie Debatte die Schlussabstimmung statt. Bei ein-
• müssen sie von allen eingehalten werden. fachen Gesetzen reicht die einfache Mehrheit
der anwese nden Parlamentarier aus, bei verfas-
sungsändernden Gesetzen sind die Stimmen
Wie kommen Gesetze zustande? von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundesta-
ges notwe ndig.
Die Gesetzgebung ist die klassische Aufgabe des
Parlaments, d. h. im politisch en System der Bun-
desrepublik Deutschla nds des Bundestages. Die Mitwirkung des Bundesrats an der
gesetzlichen Rahmenbedi ngungen zum Gesetzge- Gesetzgebung
bungsprozess in Deutschla ndsind sind im Grund-
gesetz in Kapitel IV in den Paragraphen 70-82 Hat der Bundestag de n Gesetzesentwurf ange-
geregelt. nommen, wird die Vorlage an den Bundesrat wei-
tergeleitet. Mit Blick auf den Einfluss des Bundes-
1. Am Beginn des Verfahrens steht das Initiativ- rats auf die Gesetzgebung ist die Unterscheidung
recht, d. h. das Rec ht, einen Gesetzesentwurf in Einspruchsgesetze und Zustimmu ngsgesetze
einzubringen. Bundesregierung, Bundesrat und von grundlegender Bedeutung (>Kap. 4.4.4).
4.6 Die Gesetzgebung 1
••••••••••••••!.••••••••••••
: VERMITTLUNGS-
•. / '--1
Y-----.
BUNDESREGIERUNG
·
1
1 ; Antrag auf Beratung
--~<===~----BUNDESTAG---~
ohne Änderung •••w:~~iJ~:~
1 AUSSCHUSS
ohne;~:::~~••~ ••••••••
. . . . . . . . . . . . . .:<===•.........1.........:====>:.. . . . . . . . . . . . . ..
• 1 • •
...........................:
BUNDESRAT
11
Billigung
11
Einspruch
BUNDESTAG
~-----------------~
ß'
beschlie t erneut
:...........................
BUNDESRAT
K I.I
eine
z . 1
ust1mmung
1
:
:
\~~)) D, Zustimmung l L ;
r••••••••••••••••••
1
• BUNDESTAG
1 1
~-----------------~
Einspruch
11 11
überstimmt wird nicht überstimmt
\ J) l__l >
GESETZ GESETZ
~ usfertigung _ _ _ _.....__ _ _.. Ausfertigung ,
<
.
Verkündung
BUNDESPRÄSIDENT
Verkündung
✓
BUNDESTAG
Der Vermittlungsausschuss
Gesetzes+ beschluss
nicht einverstanden:
BUNDESRAT ruft Vermittlungs- --+
ausschuss an Vermittlungsausschuss
32 Mitglieder
BUNDESREGIERUNG _ ruftVAan, --+ ije 16 Vertreter des Bundestages
falls der Bundesrat
und des Bundesrats)
BUNDESTAG - ein Zustimmungs- --+
gesetz ablehnt
Einigungsvorschlag
! 1 i
Aufhebung od er Änderung oder Bestätigung des Gesetzes-
beschlusses
erneuter ► BUNDESRAT
BUNDESTAG
Beschluss
stimmt
l 1
Nicht zustimmungs - Zustimmungs-
Aufhebung
zu bedürftiges Gesetz gesetz
1 1
l
kann vom
Bundestag - Einspruch Kein Zustim- Keine Zu-
überstimmt Einspruch mung stimmung
we. en +
+ + +
ffi IZAHLENBILDERI
"' Bergmoser + Höller Verlag A G
j ~ 66 120
4.6 Die Gesetzgebung
streng vertraulich. Der Grund für die Geheimnis- veröffentlich t. Zwei Wochen nach der Verkün-
krämerei ist, dass die Mitglieder a nderenfalls dung tritt das Gesetz i. d. R. in Kraft.
kaum in der Lage wären, durch gegenseit iges
Nachgeben einigungsfähige Kompromisse zu er-
zielen. Hinter den verschlossenen Türen des Ver- Warum ist das Gesetzgebungsverfahren so
mittlungsausschusses wird manches Problem ge- kompliziert?
löst, über das zuvor lautstark und hitzig in den
Talkshows der Republik debattiert wurde. Die wichtigen Gesetzgebungsverfahren beanspru-
chen vom ersten Anstoß bis zur Verabschiedung
Schlägt der Vermittlungsausschuss Ä nderungen eine recht lange Zeit. Schn ellschüsse sollen be-
eines vom Bundestag vera bschiedeten Gesetzes- wusst vermieden werden, weil ansonsten eine
entwurfs vor, dann ist eine vierte Lesung im Bun- nicht durchdachte Gesetzgebung zu befürchten
destag notwendig. Der Bundestag hat das Recht, ist. Die Machtverteilung hat zudem den Zweck,
den Vermittlungsvorschlag anzun ehmen oder ihn dass im Sinne des Pluralismus möglichst viele ge-
abzulehnen. Es wird aber - und dies ist mit Blick sellschaftliche Interessen auf das Gesetzgebungs-
au f die Machtstellung des Vermittlungsausschus- verfahren einwirken können. Dabei muss das Ge-
ses von großer Bedeutung - nicht mehr über die setzgebungsverfah ren offen sein für Stimmen
Positionen zu den Veränderungen des Entwurfs a ußerhalb des politische n Systems. Bei Regie-
debattiert. rungswechseln gibt es selten g rundlegende politi-
sche Kurskorrekturen. Die Kehrseite davon ist,
dass wichtige politische Entscheidungen häufig
Wann tritt ein Gesetz in Kraft? als eine Polit ik des kleinsten gemeinsamen Nen-
ners a ngeseh en werden können.
Hat ein Gesetz Bundestag und Bundesrat passiert,
wird es vo m Bundeskanzler und den zuständigen
Ministern unterzeichnet. Anschließend geht das Gesetzgebungsnotstand
Gesetz zum Bundespräsidenten. In aller Regel
unterzeichnet er das Gesetz. Wenn er allerdings Der Gesetzgebungsnotstand kann vo n der Bun-
der Ansicht ist, dass der Inhalt des Gesetzes oder desregierung beantragt werden, wenn der Bun-
das Zustandekommen verfassungswidrig ist, kan n destag ihr das Vertrauen verweigert u nd anschlie-
er die Unterschrift verweigern. In der Geschichte ßend ein vo n der Bundesregie rung als dringlich
der Bundesrepublik hat es acht solch er Fälle ge- bezeich netes Gesetz nicht verabschiedet. Nach
geben; zuletzt 2006: Bundespräsident Horst Köh- Antrag der Bundesregierun g kann der Bundesprä-
ler hatte entschieden das Gesetz z ur Neuregelung sident mit Zustimmung des Bundesrates den Not-
der Flugsicherung und das Gesetz zu r Neurege- stand erklären. Das Gesetz kan n dann allein vom
lung des Rechts der Verbraucherinformation nicht Bundesrat b eschlossen werden. Der Bundestag
auszufertigen. Nach der Unterschrift des Bundes- kann dies vermeiden, wenn er einen neuen Kanz-
präsidenten wird ein Gesetz im Bundesgesetzblatt ler wählt.
Aufgaben
1 . Stellen Sie den Gesetzgebungsprozess anhand eines aktuell beschlossenen Gesetzes dar
(, Methodenkompetenz: Politikzyklus analysieren).
3. Setzen Sie sich kritisch mit der Komplexität des Gesetzgebungsprozess auseinander.
1METHODENKOMPETENZ
Politikzyklus analysieren
Der Politikzyklus ist ein Analyseinstrumen t, mit Die Phasen des Politikzyklus:
de m politische Entscheidungsprozesse untersucht
werden können. Politik wird hier als ein dy na mi- 1. Phase: Proble mdefi n ition
scher Prozess versta nden, in dem stets wiederkeh - 2. Phase: Auseinandersetzung
rend politische Probleme neu the matisiert werden. 3. Phase : Entscheidung
Ausgangspunkt sind somit Probleme, die im Zu- 4. Phase: Implementation der Entscheidu ng
sammenleben der Menschen entstehen, die die 5. Phase: Evaluatio n der Entscheidung
Politik lösen soll. 6. Phase: Terminierung oder erneute Problemstel-
lung
Terminierung oder
erneute
Problemstellung Problem-
definition
Implementation
der Entscheidung Entscheidung
Politik und dessen Prozesscharakter lassen sich Das Modell gliedert den politischen Prozess klarer
gut da rstellen. Das Modell ka nn au ch von Men- als dies in der Realität der Fall ist. Die einzelnen
schen, d ie keine Politik-Experten sind, a ngewen - Phasen des Prozesses sind in der Realität nicht so
det werde n. sauber getrennt.
METHODENKOMPETENZ t
rung für drei Monate ausgesetzt und die geordnete stimmten dafür, 79 A bgeordnete dage-
Abschaltung der sieben ältesten deutschen Reak- gen, acht ent hielten sich der Stimme. Die sieben
to ren für die Zeit des Moratoriu ms beschlossen. ältesten Kernkraftwerke un d Krü mmel wurden
Danach beschloss die schwarz-gelbe Koalition, vom Netz genommen. Die verb leibende n neun
de n Atomausstieg wieder vo rzuziehen. Am 30. soll en bis spätestens 20 22 abgeschaltet werden.
Juni 2011 verabschiedete der Bundestag mit gro-
ßer Mehrheit den Atoma usstieg bis 2022. 513 Ab- klz, www. bu11destag.de, 2012
Aufgabe
Analysieren Sie den Atomausstieg anhand des Politikzyklus und ordnen Sie die einzelnen Schritte den Phasen
zu. Recherchieren Sie ggf. weitere Informationen.
Rechtsordnung der
• Bundesrepublik Deutschland
4.7.1 Grundzüge der Rechtsordnung
Leitfragen Was ist ein Wie funktioniert das Was unterscheidet das Rechtssystem
Rechtssystem? deutsche Rechtssystem? vom politischen System?
In der frühen Neuzeit entstand die Forderung nach • Gesetze: Die vo n der Legislative verabschiede-
der Ordnung des gesellschaftli ch en Lebens durch ten Gesetze gelten fü r alle Bürger. Sie dürfen
das Recht, da eine friedenssichernde und ord nen- j edoch de n Grundrechten bzw. dem EU-Recht
de Grundlage fü r das gemeinsame Zusammenle- nicht widersprechen.
ben fehlte. Als eine Rechtsordnung wird dabei die
Gesamtheit der gültigen ve rbindlichen Normen • Rechtsverordnungen: Als Verordnungen be-
und Regeln in dere n Anwendungsbereichen be- zeichnet ma n Entscheidungen über Verfa hrens-
zeic hnet, z. B. in einem Staat. Dazu gehören neben weisen bei der Ausführung von Gesetzen oh ne
dem durch die Legislative verabschiedeten Recht die Mitwirkung der Legislative. Das Parla ment
auch die Interpretation durch die Judikative sowie muss der Regierung j edoch die Befugnis für die
die Ausführung des Rechts durch d ie Exekut ive. Erlassung vo n Rechtsverordnunge n erteilen.
Eine Rechtsordnung soll die fri edliche und faire
Regelung v on Problemen und Konflikten in einer • Satzungen und Geschäftsordnungen: In Sat-
Gesellschaft ermöglichen. zungen und Geschäftso rdnungen werden Ange-
legenheiten einer Instit ut ion geregelt.
Aufteilung der
Öffentliches Recht Rechtsgebiete Privatrecht
Verkehrsrecht Hochschulrecht
Handelsrecht
Umweltrecht Schulrecht u.a.
Gesellschaftsrecht
Arbeitsrecht
1 Wirtschaftsrecht
IZAHLENBILDERlffi
c Bergmoser + Höller Verlag AG 128020
Neben der Polizei (als Exekutivorgan des Staates) Die Gerichtsbarkeit Deutschlands besteht aus fünf
sind die Gerichte dafü r verantwortl ich, das von Zweigen:
den demokratisch legitimierten politischen Ent-
scheidungsträgern gesetzte Recht zu wahren. Un- • Die „ordentlichen" Gerichte wie z.B. das Amts-
ter allen staatlichen Organen - Polizei, Ein woh- gericht verhandeln Strafsachen und Zivilsachen
nermeldeamt etc. - nehmen die Gerichte eine einschließlich der Ehe- und Familiensachen.
besondere Stellung ein. Die Richter sollen sich bei
ihren Entscheidungen n ur an das Recht halten • Die Arbeitsgerichte verhandeln arbeitsrechtli-
und sind von Weisungen unabhängig. Dabei muss che Streitigkeiten. Obgleich es sich um zivil-
der einzelne Richter auch dann sein Urteil spre- rechtliche Konflikte handelt, wurde für diesen
chen, wenn die gesetzten Regelungen seinen eige- zentralen Bereich des Lebens eine eigene Ge-
nen Überzeugungen widersp rechen. Nur wenn ein richtsbarkeit geschaffen.
vo n ihm a nzuwendendes Gesetz nach seiner Auf-
fassung dem Verfassungsrecht widerspricht, muss • Die Verwaltungsgerichte sind zuständig für alle
er dies dem Bundesverfassungsgericht mitteilen öffentlich-rechtlichen Prozesse im Verwal-
und das Gesetz prüfen lassen. tungsrecht.
Die richterliche Unabhängigkeit ist ein hohes Gut • Die Sozialgerichte verhandeln über Rechtsstrei-
in Deutschland und wird dadurch geschützt, dass tigkeite n, die die Sozialversicherung und sozia-
Richter nur dann entlassen werden können, wenn le Leistungen wie das Kindergeld betreffen.
sie in besonderer Schwere gegen das Dienstrecht
verstoßen habe n. Dafür muss ein Richter j edoch • Die Finanzgerichte befassen s ich mit Steuer und
schon Beweismaterial unterschlagen oder Beste- Abgabesachen. Meist geht es in den Prozessen
chungsgelder annehmen. um Einsprüche gegen Steuerbescheide.
4.7 Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland
Bundesvertassungsgericht
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Oberverwaltungs- Finanz- Landessozial- Landesarbeits-
Oberlandesgerichte
gerichte gerichte gerichte gerichte
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gerichte gerichte gerichte
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Amtsgerichte
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nen Sie drei unterschiedliche Rechtsquellen.
autern Sie in eigenen Worten, was man unter einer Rechtsordnung versteht.
1 KOMPETENZEN A NWENDEN
,,Das ist wie bei einem Motor, der im roten Bereich gefahren wird", sagte Seegmüller:
„Eine Zeit lang geht es gut, aber nicht dauerhaft." Der Vorsitzende erwartet für das
gesamte Jahr 2017 eine Verdoppelung der Verfahren gegenüber dem Vorjahr. Doch es
fehlten Richter und Personal, teilweise auch Räume und IT-Kapazitäten. ,,Die Justiz-
,s verwaltungen sind zwar gewillt aufzustocken, aber sie finden das dringend benötigte
Personal immer schwerer."
Die Zahl von 250 .000 klagenden Asylbewerbern ergibt sich dem Redaktionsnetzwerk
zufolge aus einem Abgleich der Statistiken des Bundesamts für Migration und Flücht-
linge mit denen der EU-Behörde Eurostat. Die Brüsseler Statistiker rechnen Asylbe-
20 werber, die gegen ihren Bescheid klagen, zur Gesamtzahl der Asylsuchenden dazu,
das Bundesamt klammert sie aus. Eurostat nennt für April 2017 rund 483.000 Asylbe-
werber, das Bundesamt 232.000. Die Differenz von rund 250.000 seien diejenigen, die
gegen ihren Bescheid klagten. [ ... ]
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle waren 2015 rund 890.000 Asylsuchende
2s nach Deutschland eingereist. In dem Jahr wurden aber beim BAMF weniger als 500.000
Asylanträge gestellt.
Im Jahr 2016, als die Zahl der neu nach Deutschland kommenden Asylsuchenden
schon deutlich zurückgegangen war, gingen dann fast 750.000 Asylanträge ein. Klagen
sind erst möglich, wenn über einen Antrag entschieden ist. Deshalb macht sich die
30 Flüchtlingswelle an den Gerichten mit Verspätung bemerkbar.
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie das dargestellte Problem der deutschen Verwaltungsgerichte.
3. Prüfen Sie, inwiefern das Fehlen von Richtern und Personal in der Öffentlichkeit und der
Politik eine Chance hat, Gehör zu finden .
4. 7 .2 Das Bundesverfassungsgericht
Leitfragen Welche Aufgaben hat das Wie ist das Bundesverfassungs- Welchen Platz nimmt es
Bundesverfassungsgericht? gericht organisiert? im politischen System
der Bundesrepublik ein?
In der Bundesrepublik ist das in Grundgesetzfra- • Sicherstellung, dass das Grundgesetz Vorrang
gen höchste Gericht das Bundesverfassungsge- gegenüber einfachen Gesetzen hat
rich t. Entstanden ist es nach den Erfahrungen mit
der Zeit des Nationalsozialismus, um Macht miss- Wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz
brauch durch staatliche Institutionen vorzubeu- für nicht verfassungskonform befindet, kann es
gen. Seine wesentlichen Aufgaben sind: dieses für nichtig erklären. Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts sind für alle staatli-
• In Streitfällen das Verfassungsrecht auslegen chen Organe verbindlich. Das Instrument der Be-
• Verstöße gegen das Grundgesetz unterbinden rufung gegen ein Urteil des Bundesverfassu ngs-
• Gesetze aufVerfassungskonformität zu überprü- gerichts gibt es nicht. Das Bundesverfassungs-
fen gericht darf jedoch keine Politik betreiben, d. h.
• Über Verfassungsbeschwerden entscheiden anstelle des Parlaments oder der Regierung poli-
• Über Verfassungsstreitigkeiten zw ischen staatli- tische Entscheidungen treffen. Grundsätzlich gilt
chen Organen entscheiden zudem, dass es nur aktiv wird, wenn es a ngeru-
• Parteiverbote auszusprechen fen bzw. Klage bei ihm einreicht wi rd. Von sich
• Prüfung einer erfolgten Bundestagswahl aus wird es nicht tätig.
Das Bundesverfassungsgericht
Sitz: Karlsruhe
Präsident/in Vizepräsident/in
zugleich Vorsitzende/ r zugleich Vorsitzende/r
eines Senats eines Senats
AAAIA1AAAA AAAAfA1AAA
Kammern Kammern
~ - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - IZAHLENBILDERl-ffi
c Bergmoser + Höller Verlag AG 1290 15
4 Das politische System der Bundesrepublik Deutschland
J eder Bürger kann Verfassungsbeschwerde einle- • Schutz von Demokratie und Verfassung
gen (Art. 93 Abs. 1 GG), wenn er sich durch staat- • Verfassungsstreitigkeiten zwische n staatlichen
liche Handlungen in seinen Grundrechten verletzt Organen
gla ubt. Eine Klage am Bundesverfassungsgericht
erfolgt in letzter Instanz, da i. d. R. der Rechtsweg Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei
ausgeschöpft sein muss; außer es handelt sich um Senaten, in denen j eweils acht Rich ter urteilen.
eine Verfassungsbeschwerde „allgemeiner Bedeu- Die Richter des Bundesverfassungsgerichts wer-
tung" oder die Rechtswege rschöpfung würde zu den jeweils zur Hälfte durch einen Rich-
,,unzumutbaren Ergeb nissen" führen. Die Recht- ter-Wahlausschuss des Bundestages sowie vo m
sprechung des Bundesverfassungsgerichts um- Bundesrat gewählt. Für die Wahl eines Richters
fasst nach Art. 93 GG vier Bereiche: si nd breite Mehrheiten nötig, da in beiden Insti-
tu tionen Zweidrittelmehrheiten notwendig sind.
• Verfassungsbeschwerden In der Regel kann so keine Partei einen Kandida-
• Konkrete und abstrakte Normenkontrolle ten im Alleingang durchsetzen.
Verfassungsbeschwerde:
Schutz der Grundrechte der Bürger und des verfassungs- ► 1983: Volkszählungsurteil
mäßig garantierten Rechts. Verfassungsbeschwerden ► 1995: ,,Kruzifix"-Urteil
machen den größten Anteil an den Vorgängen aus - etwa
5.000 jährlich, wobei etwa 97 Prozent als unzulässige
► 2012: Urteil zum Europäischen Stabilitäts-
mechanismus (ESM)
oder unbegründete Beschwerden erst gar nicht zur
Entscheidung angenommen werden. Normenkontrollver-
fahren stehen an zweiter Stelle der Bearbeitung.
konkrete Normenkontrolle:
Überprüfung eines Gesetzes im Rahmen eines konkreten ► 1975: Urteil zum sog. ,,Radikalen-Be-
Rechtskonflikts schluss"
abstrakte Normenkontrolle:
allgemeine Überprüfung eines Gesetzes auf Verfassungs- ► 1975: Urteil zum Abtreibungsparagrafen
mäßigkeit 218
Verfassungsstreitigkeiten zwischen staatlichen Organen: ► 1994: Urteil zu „out of area"-Einsätzen der
Streitigkeiten zwischen Bundesorganen, Landesorganen Bundeswehr
und zwischen Bund und Land ► 1999: Urteil zum Länderfinanzausgleich
allgemeiner Schutz von Demokratie und Verfassung: ► 1952: SRP-Verbot
Beschwerden im Wahlprüfungsverfahren des Bundestags, ► 1956: KPD-Verbot
Parteiverbote, Verwirkung von Grundrechten, Anklagen
► 2003: Scheitern des NPD-Verbotsantrags
gegen Bundespräsidenten und gegen Richter
► 2017: Verbot der NPD abgelehnt
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die verfassungsrechtliche Stellung sowie die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts.
2. Vergleichen Sie die Legitimation des Bundestags mit der des Bundesverfassungsgerichts.
3 . Setzen Sie sich kritisch mit dem Stellenwert des Bundesverfassungsgerichts im Gesetzgebungsprozess
anhand eines Beispiels auseinander(• Methodenkompetenz: Politikzyklus analysieren). Nehmen Sie Bezug zu
einem der wichtigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Vor dem obersten deutschen Gericht ging es um das Betreuungsgeld. [... ] Die CSU
boxte das Gesetz im Bundestag durch, nach fast zehnjähriger politischer Rauferei,
unter anderen mit der SPD. Die verlor das Gefecht gegen die Bayern, zog aber nach
Karlsruhe, um die Sache juristisch für sich zu entscheiden.
5 Die Chancen dafür stehen gut. Kommt es so, wie es der Verlauf der Verhandlung er-
warten lässt, werden die acht Richter kurzen Prozess machen und das familienpoliti-
sche Herzensanliegen der Konservativen mit einem Federstrich für verfassungswidrig
erklären. Sie zitierten Artikel 72 Absatz 2 des Grundgesetzes, wonach nicht der Bund,
sondern die Länder für die Einführung einer Erziehungsprämie zuständig seien.
10 Der Prozessbevollmächtigte der Bundesregierung wies zwar darauf hin, dass man das
Betreuungsgeld nicht isoliert von der komplexen Entstehungsgeschichte, sondern als
Teil eines „Gesamtkonzepts" des Gesetzgebers betrachten müsse. Das aber ließ
Kirchhof nicht gelten. Man könne, so der Senatsvorsitzende, die Kompetenzzuweisun-
gen der Verfassung „nicht durch politische Kompromisse überspielen". Der „bloße
15 Wille des Gesetzgebers" mache sein Handeln nicht verfassungsgemäß.
Das sind Sätze wie aus dem staatsrechtlichen Lehrbuch. Und es sind Sätze, die das
Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts beschreiben. Das geht so: Berlin ,
der Sitz von Regierung und Parlament, ist ein Ort der Machtkämpfe. Im Bemühen, die
widerstreitenden Interessen in Einklang zu bringen, werden die Regeln des Grundge-
20 setzes dort gelegentlich eher als hinderlich empfunden.
530 Kilometer Luftlinie entfernt dagegen sitzen die Hüter der Verfassung. In Karlsruhe,
der Residenz des Rechts, wachen 16 Richter darüber, dass alle Staatsgewalt an die
Grundrechte gebunden bleibt - und auch Formalitäten wie die Zuständigkeitsregeln
beachtet werden. Am Ende, so sehen es die Männer und Frauen in ihren roten Roben,
25 stiften die Urteile des Bundesverfassungsgerichts Rechtsfrieden in der Republik.
Lammert, der das Bundesverfassungsgericht „ mit allem gebotenen Respekt" bei un-
terschiedlichen Anlässen kritisiert hat, hält den „ deutlich erkennbaren Gestaltungsan-
spruch" der Richter in „hochpolitischen Fragen" wie der Ausgestaltung des Wahlrechts
für problematisch. Auch die CSU-Frau Hasselfeldt beklagt, dass Karlsruhe zunehmend
60 versuche, sic h „relativ stark" in die politische Entscheidungsfreiheit einzumischen. Das
sehe sie kritisch, denn: ,,Karlsruhe ist nicht der bessere Gesetzgeber" .
Im Kanzleramt teilt man diese Ansicht. Zwar schweigen Angela Merkel und ihre füh-
renden Mitarbeiter nicht nur öffentlich, sondern auch in Hintergrundgesprächen und
halten sich mit Kritik strikt zurück. Doch es ist ein dröhnendes Schweigen. Merkel, so
6s viel ist sicher, findet vor allem die sozialpolitischen Intervent ionen wenig hilfreich. Kar-
lsruhe hat mit seinen Urteilen zum Asylbewerberleistungsgesetz und zum Existenzmi-
nimum Rahmenbedingungen geschaffen, die ungeregelte Zuwanderung vor allem aus
Südosteuropa geradezu anlocken.
Mit Befremden wird auch registriert, dass Karlsruhe bei der Steuerpolitik Gestaltungs-
ehrgeiz entwickelt. Zwar war damit gerechnet worden, dass die letzte Reform der
10 Erbschaftsteuer vor Gericht durchfällt. Doch im Urteil beschrieben die Richter gleich
den Weg, wie der Schaden behoben werden müsse: mit einer „ Bedürfnisprüfung".
Dieser aus der Sozialgesetzgebung entlehnten Vorstellung nach sollen Firmenerben
künftig konkret nachweisen müssen, wie die Besteuerung einer vererbten Firma Ar-
beitsplätze gefährdet. Dem eigentlichen Gesetzgeber bleibt nur noch d ie konkrete
1s Ausgestaltung - als wäre der Bundestag eine nachgeordnete Behörde.
Aufgaben
2. Erklären Sie, warum das Abschieben von Entscheidungen nach Karlsruhe ein zweischnei-
diges Schwert für die Politik sein kann.
Im l aufe des letzten Kapitels haben Sie sich mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutsch-
land beschäftigt. Lesen Sie die folgenden Sätze und entscheiden Sie jeweils für sich, welche der
Spalten sie ankreuzen können.
KOMPETENZEN
Am Ende dieses Kapitels sollten
Sie Folgendes wissen und können:
.,Europa bedeutet für mich ... " - Finden Sie möglichst viele Satzergänzungen, die zeigen,
welche Bedeutung die Europäische Union für Sie persönlich hat.
Die Entwicklung
• der europäischen Integration
5.1. 1 Politik in Europa - Idee und Praxis
Leitfragen Was wird unter „europäischer Warum lässt sich die EU Welche Prinzipien leiten
Integration" verstanden? als „Mehrebenensystem" europäische Politik an?
beschreiben?
,,Nie wieder Krieg in Europa !" Das war das Motto, und Verwüstung mit verursacht hat, sollte durch
das am Anfang des europäischen Einig ungspro- eine n eue Form der europäischen Integration u nd
zesses nach dem Zweiten Weltkrieg stand: Europa die Schaffu ng einer „immer engeren Union der
wurde zu nächst als Friedensproj ekt betrachtet. Völker Europas", wie es in der Einleitung des
Der aggressive Nationalismus, der im 20. Jahr- EU-Vertrags steht, gebändigt werden und so sei-
hundert zwei schreckliche Weltkriege mit millio- nen Schrecken verlieren. Die Idee eines geeinten
nenfachem Tod, Zerstörung, Leid, Massenmord Eu ropas ist also älter als die EU selbst.
I I
-
Belgien
Deutschland
1 1 Frankreich
* 1958
* 1958
* 1958
Einwohner
20161 in Mio.
f 11.4 Mio.
f 82,8
f 67,0
--• 34,2 Tsd.€
35,7
30,3
■ Gründungsmitglieder
=
1 l 1talien
--
* 1958 f 60,6 27.9
=
==
Luxemburg
Niederlande
Dänemark
* 1958
* 1958
* 1973
f 0,6
f 17,1
f 5,7
- 77,4
37,5
36,4
·---
~ Griechenland * 1981 f 10,8
f 10,3
■
19,5 4 SCHWEDEN
--
■
22,4 (I
-
.. Portugal
Spanien
* 1986
* 1986 f 46,5
• 26,5
I
~
ESTLAND
+--
=
==
Finnland
Österreich
Schweden
* 1995
* 1995
* 1995
f 5,5
f 8,8
f 10,0
31,7
36,7
35,9
(
LITAUEN
LETTLAND
=
IRLAND
f 1,3
■
- Estland * 2004 21,5
POLEN
f 2,0
■
Lettland * 2004 19,0
f 2,8
■
- Litauen * 2004 21,9
-
' ■ Malta
Polen
* 2004
* 2004
f 0,4
f 38,0 •
■
27,6
20,1
STERREICH
SLOWAKEI
UNGA,RN
RUMÄNIEN
- Slowakei * 2004 f 5.4 ■ 22.4
iill Slowenien * 2004 f 2,1
■
24,1
=
. . . Tschechien
Ungarn
* 2004
* 2004
f 10,6
fg,8
•
■
25,7
19,5
PORTUGAL
SPANIEN
.. - GRIECHENLAND
BULGARIEN
- Bulgarien
1 1 Rumänien
:C Kroatien
* 2007
* 2007
* 2013
f 7,1
f 19,6
f 4,2
1
■
■
13,9
17,2
17,3 1~2, © Globus
MALTA --
'zum Teil vorläufig oder geschätzt . 2kaufkraftbereinigt
ZYPERN
Quelle: Eurostat
5.1 Die Entwicklung der europäischen Integration I
Die EU ist prinzipiell offen für neue Mitglieder. Die • eine funktionsfähige Marktwirtschaft, um dem
Aufnahme ist jedoch an eine Reihe von Bedingun- Wettbewerbsdruck im europä ischen Binnen-
gen gebunden. Zu den Voraussetzungen, die ein markt gewachsen zu sein;
Staat erfüllen muss, wenn sein Antrag a uf Mit-
gliedschaft: erfolgreich sein soll, gehören die Aner- • die Fähigkeit von Politik und Verwaltung, die
kerrnung von „europäischen" Werten, wie z.B. die EU-Vorgaben umsetzen zu können und die Be-
reitschaft, die allgemeinen Ziele der EU zu teilen
• Achtung der Menschenrechte, sowie
• Freiheit,
• Demokratie, • eine Antwort auf die Frage, ob die Europäische
• Gleichheit und Union in der Lage ist, neue Mitglieder aufzuneh-
• Rechtsstaatlichkeit. men, ohne ihre Handlungsfähigkeit zu v e rlieren.
5 Die Europäische Union
-
Gründer-
staaten
Belgien
Deutschland
Frankreich
Beitrittsjahr der EU-Mitgliedstaaten
Eli
Estland
Lettland
Litauen
Malta
Polen
Italien Slowakei
Luxemburg Slowenien
Niederlande Tschechien
Ungarn
-
Zypern
Dänemark
Großbritannien
Irland Rumänien
Bulgarien
Griechenland
-
Kroatien
Portugal
Spanien Beitritts-
kandidaten
EI
Finnland
Albanien
Mazedonien
Montenegro
Österreich
Serbien
Schweden
G ay , Türkei
© Globus 10147 Quelle: Europäische Kommission Stand 2015 Q MLT ........ f
Aufgaben
1. Geben Sie in eigenen Worten die Idee der europäischen Integration wieder.
2. Erklären Sie, welche Herausforderungen durch das europäische Mehrebenensystem bei der Entscheidungs-
findung entstehen.
3. Gehen Sie auf Probleme ein, die sich aus der Erweiterung für die EU ergeben können und entwickeln Sie
Lösungsvorschläge. Beziehen Sie auch die Vertiefung der Europäischen Union in Ihre Überlegungen mit ein.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
,,In Europa und anderen Teilen der Welt zeichnet sich seit einigen Jahren eine verstö-
rende Entwicklung ab. [...]
Es ist die unerwartete Rückkehr des Nationalismus, genauer: die erschreckende Aus-
breitung nationaler Denkmuster in Politik und Gesellschaft, die Häufung nationalisti-
s scher und ausländerfeindlicher Exzesse in Deutschland und anderswo, das Auftreten
von Protestparteien mit unverhohlen rechtspopulistischer und rassistischer Program-
matik. [...]
Auch auf der Ebene des Denkens und Sprechens lassen sich gerade im Alltag auffal-
lende Veränderungen beobachten. Politische Debatten beschränken sich wieder zu-
10 nehmend auf nationale Bezugsräume und weniger auf den ganzen Kontinent Europa;
Anderen', seien sie nun Minderheiten oder Flüchtlinge oder andere Nationen, und ein
kruder Rassismus, für den etwa die Hautfarbe ein zentrales Kriterium ist, gehören zum
Kernbestand der mit ihm verbundenen Überzeugungen. Er will die Völker Europas
wieder spalten, nicht versöhnen und einen. Die scheinbar so eingängige Unterschei-
20 dung zwischen ,wir' und ,die Anderen', die für alles Mögliche als Sündenböcke her-
halten müssen, ist dabei nur auf den ersten Blick eindeutig. Denn die naheliegende
Frage: Wer sind eigentlich ,wir'?, bleibt im Unklaren und Ungefähren. [... ]
Mit der [Europäischen] Union verbindet die überwältigende Mehrheit der Europäer
ungeachtet aller Krisen, Rückschläge, berechtigter Skepsis und Kritik immer noch die
25 Hoffnung auf einen prosperierenden und friedlichen Kontinent, in dem sich der libera-
Menschen zunichte gemacht werden? Ein Europa, in dem die nationalen Egoismen,
der Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit wieder das Sagen haben, will sicher kein
mit Vernunft begabter Mensch. [ .. .] Offen bliebe beim Zerbrechen der Union zudem
die Frage, was an die Stelle eines miteinander kooperierenden und solidarisch han-
35 delnden Europas treten sollte. [ ... ]
Stimmen, die leichtfertig eine Auflösung der Europäischen Union fordern oder einer
eigenständigen Entwicklung der Euro-Zone das Wort reden, sind noch die Ausnahme.
Wer von Auflösung der Union redet, muss dabei auch deutlich sagen, was an ihre
Stelle treten soll. Die Renaissance untereinander rivalisierender Nationalstaaten? Na-
40 tionale Abschottung und die hemmungslose Vertretung nationaler Interessen? Die frei-
Peter A lter, Nationalismus. Ein Essay über Europa, 2016, S. 7-9 und 170 - 174
„Ist die Flucht zurück in den Nationalstaat, in das Kleine und überschaubare, nicht ein
natürlicher Reflex, wenn das Große für den Einzelnen nicht mehr nachvollziehbar und
durchschaubar ist?
KOMPETENZEN ANWENDEN I
Die Welt, das Große und Ganze, war für den Einzelnen doch nie durchschaubar, nicht
einmal im Neolithikum. Deswegen bastelt sich jeder ein Weltbild, in dem er sich aus-
5 kennt und nach Hause findet. Der Nationalismus ist so ein primitiver Navigator: Man
taumelt durch das Leben, eine martialische Stimme sagt: ,,Bitte wenden und dann
rechts abbiegen!" - und man denkt, endlich kenne ich mich aus. Tatsächlich ist „Na-
tion" genauso komplex und schwer durchschaubar wie jedes andere Modell der ge-
sellschaftlichen und politischen Organisation von Menschen. Der Unterschied ist nur,
10 dass wir die historische Erfahrung haben und beherzigen müssten, dass die Nation
kriminelle Energie produziert, weil sie Gemeinschaft nicht ohne innere und äußere
Feinde oder Konkurrenten herstellen kann. Das Europäische Projekt war die Konse-
quenz, die aus dieser Erfahrung gezogen wurde. Die Sehnsucht nach Rückkehr in
wieder souveräne Nationalstaaten ist daher kein natürlicher, sondern ein geistloser und
15 geschichtsvergessener Reflex. Nun ist aber Geist, beziehungsweise Bewusstsein, Be-
standteil der menschlichen Natur. Zumindest als Anspruch ...
Robert Menasse, geboren I 954, ist österreich ischer Essayist und Romanschriftsteller (.,Die Hauptstadt").
Robert Menasse, Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa, 2014, S. I 62f
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie mögliche Ursachen für die „unerwartete Rückkehr des Nationalismus" in
Europa (M 1).
2. Erläutern Sie, warum Robert Menasse ein Problem mit der Flucht in den Nationalstaat hat
(M 2).
3. Diskutieren Sie die These von Peter Alter „Wer von Auflösung der Union redet, muss dabei
auch deutlich sagen, was an ihre Stelle treten soll" vor dem Hintergrund des Brexit.
5.1 .2 Der lange Weg zur Europäischen Union
Leitfragen Wie sind die Europäische Welche historischen Gründe und Welche Merkmale kennzeich-
Union bzw. ihre Vorläufer- Motive gibt es für den europäischen nen die wichtigsten Etappen
organisationen entstanden? Einigungsprozess? des Integrationsprozesses?
Neben der Friedensidee gab es weitere Gründe und Gemeinschaft a us der Hand zu nehmen und sie in
Motive im europäischen Integrationsprozess. Die- eine gemeinsame Verwaltung zu übertragen, um
se anderen Motive wa ren dadurch da uerhaft zu verhindern, dass die euro-
päische n Nachbarn gegeneinander in den Krieg
• ökonomisch, ziehen. Da sie über die für die Rüstungsprodu kti-
• bündnispolitisch, on wicht igen Güter nicht mehr allein verfügen
• deutschlandpolitisch und ko nnten, sollte Krieg in Westeuropa un möglich
• europa politisch werde n.
Wie hat sich die europäische Integration nach 1952 EGKS: monosektorale Integration
dem Kalten Krieg verändert? 1950 Plan für EGKS von Robert Schuman
In den J ahren da nach unterna hm die Europäische Der Weg nach Lissabon
Union mehrere Anläufe, um „fit" zu werden für
die näc hste Erweiterungsrunde und bereit zu sein Die neuen EU-Verträge, die die ursprünglichen
für neue Aufgaben. Institutionelle Reformen und Gründungsverträge erweiterten, sfod benannt
die „Europäisierung" weiterer Politikbereich e nach den Städten, in denen die Staats- und Regie-
standen im Mittelpunkt de r EU-Reformagenda. run gschefs sie unterzeichnet haben. Nach dem
Konkret betraf dies Vertrag vo n Maastricht ( 1991) fo lgte der Vertrag
von Amsterdam ( 1997 unterzeichnet), dann der
• die Justiz- und Innenpolitik (Visa-, Asyl- und Vertrag von Nizza (2000) und schließlich der „Ver-
Einwa nderungspolitik, polizeiliche Kooperation), trag über eine Verfassung für Eu ropa" (2003), der
vom Verfassungskonvent in Brüssel erarbeitet und
• die Umwelt-, Sozial- und Verbraucherpolitik da nn später von den Staats- und Regierungschefs
(hohes Schutzniveau; Protokoll über die Sozial- unterzeichnet wurde. Dieser Verfassungsvertrag
politik; Angleichung der Rechtsvorschriften) ist j edoch 2005 in Fra nkreich und in den Nieder-
sowie landen nach Referenden gescheitert. Eine knappe
Mehrheit der Bürger, die sich an der Abstimmung
• die Außen- und Sicherheitspolitik (Friedenssi- beteiligt haben, lehnte ihn ab.
cherung; weltweite Förderung von Demokratie
und Menschenrechten). Nach einer zweijährigen Phase der Unsicherheit
hatten die EU-Regierungen dann 2007 einen neu-
Jede Ausweitung der Kompetenzen der Europäi- en Anlauf genommen und die Inhalte des Verfas-
schen Union und jede Ä nderung der Entschei- sungsvertrags weitgehend in den Vertrag von
dungsverfahren (etwa die Erweiterung der Kont- Lissabon überführt. Dieser neue Vertrag wurde
rollrechte des Europäischen Parlaments) mussten von den europäischen Staats- und Regierungs-
durch eine Änderung der bestehenden EU-Verträge chefs in der portugiesischen Hauptstadt im De-
rechtlich verankert werden. J ede Vertragsä nderung zembe r 2007 unterzeichnet und trat 2009 in Kraft.
erforderte zudem eine Ratifizierung, also die völ- Dieser Text stellt bis heute die rechtliche Grund-
kerrechtlich verbindliche Zustimmung durch Par- lage der Europäischen Union dar.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie den Stellenwert der deutsch-französischen Freundschaft in der Entwicklung der europäi-
schen Integration.
2. Entwerfen Sie eine Pressemitteilung für das Nobelkomitee, in der die Verleihung des Friedensnobelpreises an
die EU begründet wird. Recherchieren (• Methodenglossar) Sie die Original-Version der Begründung aus dem
Jahr 2012 im Internet und vergleichen Sie diesen Text mit Ihren Arbeitsergebnissen.
3 . .. Die Geschichte der EU ist die Geschichte ihrer Krisen." Nehmen Sie Stellung zu dieser Aussage.
KOMPETENZEN ANWENDEN I
Auf den ersten Blick könnte man glauben, dass die Sterne die Mitgliedstaaten der
Europäischen Union symbolisieren. Aber das ist ein Trugschluss . Seit die Mitgliedstaa-
ten die Flagge 1985 zum offiziellen Symbol gemacht haben, hat sich die Zahl der
Sterne nicht geändert. Es waren schon immer zwölf goldene Sterne auf blauem Hin-
s tergrund, und es werden auch immer zwölf Sterne bleiben.
Der Kreis steht für Harmonie und Solidarität zwischen den europäischen Völkern. Die
Zahl zwölf ist traditionell das Symbol der Vollkommenheit und Einheit. So gibt es zwölf
Sternzeichen, ein Jahr hat zwölf Monate, und auf dem Ziffernblatt von Uhren sind zwölf
Stunden abgebildet. (...]
10 Am 29. Mai 1986 wurde die Flagge zum ersten Mal vor dem Kommissionsgebäude
gehisst - neben den Flaggen der EU-Mitgliedsländer. Heute wehen vor dem Sitz der
Kommission nur noch die EU-Flaggen. [ ... ] Sowohl die Flagge als auch die Hymne
[,,Ode an die Freude" aus Beethovens 9. Sinfonie] sind allerdings nicht als offizielle
Symbole im EU-Vertrag verankert. Einigen Mitgliedstaaten - allen voran Großbritanni-
1s en -wäre dies ein zu großer Schritt in Richtung ,Vereinigte Staaten von Europa' gewe-
sen. An der Verwendung in der Praxis ändert dies allerdings nichts."
Ruth Reichenstein, Die Europäische Union. Die 101 wichtigsten Fragen, 2016, S. 37J
Aufgaben
1. Erläutern Sie, für welche Symbolik die Flagge der EU steht (M 1).
2. Interpretieren Sie M 1 vor dem Hintergrund des Austritts Großbritanniens aus der EU.
3. Erörtern Sie vor dem Hintergrund von M 1 und M 2, inwiefern die Gefahr besteht, dass die
,,europäische Idee verloren gehen" könnte.
Die Europäische Union
als Mehrebenensystem
5.2."1 Organe der Europäischen Union
Leitfragen Welche sind die institutionel- Welche Organe existieren Welchen Einfluss haben
len Besonderheiten der EU? innerhalb der EU? die einzelnen Organe?
Die Europäische Union und ihre Institutionen sind Das EU-System hat sich in den mehr als 60 Jahren
nach dem Prinzip der Gewaltenteilung (,,checks seit der Gründung der Europäischen Wirtschafts-
and balances") a ufgebaut. Die typische Form der gemeinschaft verändert. Die institutionelle
Verschränkung von Exekutive, Legislative und Grundstruktur blieb j edoch bis heute weitgehend
Judikative folgt jedoch einem eigenen Muster im erhalten. Was sich geändert hat, ist die - im Ver-
Gegensatz zu den in Nationalstaaten üblichen gleich zu den Anfangszeiten - deutlich gewach-
Modellen. sene Rolle des Europäischen Parlaments als Mit-
gestalter und Kontrolleur der EU-Politik und die
Das Besondere an der EU ist, dass die drei Teilge- im Zuge der letzten Krisen (> Kap. 5.3.1) heraus-
walten nicht jeweils nur einem Organ zugewiesen gehobene Bedeutung, die dem Europäischen Rat,
sind, sondern dass sie auf mehrere Institutionen, also der Ve rsammlung der Staats- und Regie-
einerseits auf der Ebene der Mitgliedstaaten und rungschefs der 28 EU-Mitgliedstaaten (Stand
andererseits auf der EU-Ebene, angesiedelt sind. 2018) zukommt.
, ,~••••iiiii•••,
28 Staats- und Fachminister aus den 28 Kommissare
Regierungschefs 28 M itgliedsländern (ein unabhängiger Kommissar
(z.B. Außen- oder Agrarminister) je Mitgliedsland)
Gerichtshof der
Europa1schen Union
wacht über
Verträge t
Europäisches Parlament ~ gt, ,oo,,,,,••,
fordert zum Rücktritt auf,
mehr als 750 Abgeordnete stellt Misstrauensantrag
Europaischer kontrolliert
~ aus den 28 Mitgliedsländern
--*4
Rechnungshof Ausgaben
Europ. Wirtschafts-
und Sozialausschuss
beratende
Aufgaben
~
~ -4_ - .
- .t._ _:::- _:._
~ --- J.
~ --·
Auf den ersten Blick e rscheint das Europäische Regieru ngen aus den Mitgliedstaaten versammelt)
Parlame nt als ein ganz normales Parlament und gehört das EP zur Legislative der EU.
unterscheidet sich kaum vom Deutschen Bu ndes-
tag in Berlin oder der Nationalversammlung in Das Europäische Parlament verfügt neben dem
Paris. Im Eu ropäischen Parlament - abgekürzt EP Gesetzgebun gsrecht auch über das Ha ushalts-
- sitzen direkt gewählte Abgeordnete aus recht. Das bedeutet, dass oh ne die Zustim mung
des Parlaments weder der j ährliche EU-Ha ushalt,
• allen Mitgliedstaaten der EU, noch der au f mehrere Jahre a ngelegte Finanzrah-
• die nach politischen Frakt ionen getrennt sind, men verabschiedet werden kann. Durch sein
• die in Ausschüssen arbeiten und Haushaltsrecht ka n n das EP indirekt die EU-Poli-
• im Plenum über Gesetzesvorschläge abstimmen. tik beeinflussen : Es hat in der Vergangenheit im-
mer wieder die Ko mmission und die Mitgliedstaa-
Das Besondere a m EP ist, dass es ein „multinatio- te n dazu bringen können, durch eine Umverteilung
nales" Parlament ist und dass es „mul tilingual" der Mittel im Haushalt politische Akzente zu set-
arbeit et, denn die Abgeordneten kommunizieren zen. Das Haushaltsrecht w ird oft als „Königs-
übe r Dolmetscher miteinander in den 24 Amts- recht" der Parlamente bezeich net, da Politik
sprachen der EU. meist a uf finanzielle Mittel angewiesen ist, um
ihre Ziele zu erreichen.
Eine besondere Rolle, die das Selbstverständnis
des Eu ropäischen Parlaments seit j e her prägt, ist
die des Ideengebers und Motors in europäischen Welche Aufgaben hat das Europäische
Refo rm- und Verfassungsdebatte n. So hat bei- Parlament?
spielsweise 1984 das Europäische Parlament einen
nach dem italienischen Europaabgeordneten AJti- Wicht ig fü r die Arbeit des Eu ropäischen Parla-
ero Spinelli benan nten und von ihm maßgeblich ments sind die Kontrolle der EU-Kommission und
gep rägten Entwurf (der sogenannte „Spinelli-Ent- insbesondere seine zentrale Rolle in der EU-Ge-
wurf') für eine „Verfassung für eine Europäische setzgebung, die in den letzten Jahrzeh nten schritt-
Unio n" (der Begriff war damals neu) vorgelegt. weise a usgebaut wo rden ist. Das Pa rlament hat
Dieser Text hatte eine Reihe von Ideen präsent iert, darüber hina us das Recht, die Kommission in ihrer
die damals u topisch erschienen, j edoch J ahrzehn- Gesamtheit, also nicht nu r einzelne Kommissare,
te später t atsächlich in den EU-Vertrag Eingang die sich Fehlverhalten haben zuschulden kommen
gefu nden haben ; dazu zählte etwa die Idee einer lassen, zum Rückt ritt zu zwingen (Misstrauensvo-
„Unio nsbürgerschaft", die Schaffung einer echten tum). Auch bei der Wahl des Präsidenten der
Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik so- EU- Kommission spielt das Europäische Parlament
wie ein eu ropäischer Grundrechte-Katalog. inzwische n eine deutlich größere Rolle als früher.
Das Parlament kann Untersuchungsausschüsse
einsetzen, parlamenta rische Anfragen stel]en und
Welche Kompetenzen liegen beim Europäi- spielt darübe r hinaus eine wichtige Rolle in der
schen Parlament? Handelspolitik der EU, also de n Außenwirtschafts-
beziehungen mit Drittstaaten; ohne die Zustim-
Das Europäische Parlament ist das einzige direkt mung des Eu ropäischen Parlaments können keine
gewählte Organ der EU; diese Legitimation weist Handelsabkommen in Kraft treten.
ihm einen besonde ren Platz im Gesetzgebungs-
prozess der Eu ropäischen Union zu. Viele Ko nt-
roll- u nd Mitwirkungsrechte hat das Parlament Wie wird das Europäische Parlament gewählt?
aber erst im Laufe der Zeit bekommen ; vor allem
seit den J990er Jahren ist sein politisches Gewicht Das Europäische Parlament wird alle fünf Jahre
meh r und mehr gewachsen (>Kap. 5.1 .2). Zusam- von den Bürgerin nen und Bürgern in den EU- Mit-
men mit dem „Rat" (dort sind die Vertreter der gliedstaaten gewäh lt ; die Wahl findet in der Regel
5 Die Europäische Union
1Haushaltsplan ablehnen 1
~ aben überwachen 1
Beric~üfen
ffinanzkontrolle 1
im Juni des Wahlj ahres an d en traditionellen na- Wie hoch ist Beteiligung an den Wahlen
tionalen Wahltagen statt: in Deutschland also an zum Europäischen Parlament?
einem Sonnt ag, in einzelnen EU-Staaten entspre-
chend werktags. Die Beteiligung an den Wahlen zum Europäische n
Pa rlament ist in den letzten Jahren fast stetig ge-
Großbrita nnien wird wegen des Referendums vom sunken. Bei der Wa hl 201 4 haben im EU- Durch-
Juni 2016, in dem sich eine knappe Mehrheit de r schnitt nur 42,6 0/o aller Wählerinnen und Wähler
Wähler für den Austritt des La ndes a us der EU ihr Wa hlrecht wahrgenommen (bei Europawahle n
(,,Brex it") ausgesprochen h atte (> Kap. 5.1 .1 ), an sind EU-Bürger auch a ußerhalb ihres Heimatstaa-
den nächsten Wa hlen zum Europäischen Pa rla- tes wahlberechtigt, wenn sie in dem a ndere n Land
me nt im Mai 201 9 nicht mehr teilnehmen. zum Beispiel dauerhaft wohnen). Bei de n ersten
Direktwahlen im J a hr 1979 lag die Wahlbeteili-
Die Organisation der Wahle n zum Europäischen gung mit knapp 62 °10 noch deutlich höher.
Parla ment ist nation al unterschiedlic h geregelt: In
einigen Staaten g ibt es eine Prozenthürde (z.B. Vergleicht man die Zahlen in den einzelnen Mit-
5 0/o), in an deren j edoch nicht. In der Bundesrepu- gliedstaaten, so zeigt sich eine sehr große Band-
blik Deutschla nd gab es bei der Europawahl 2014 breite: Wä hrend in Malta die Wahlbeteiligu ng mit
- im Unterschied zu den Bundestagswahlen - kei- 74,8 0/o im J a hr 201 4 im EU-Vergleich realtiv hoch
ne Fünf-Prozent- Klausel; die Folge davo n war, wa r, bildete die Slowakische Republik mit 13,0 0/o
dass bei der Wahl 201 4 auch kleine Parteien wie das Schlusslicht. In Deutschla nd lag die Beteili-
die NPD oder die Satirepartei „Die Partei" Vertreter gung mit 48, 1 °10 übe r dem EU- Durc hschnitt
in das Europäische Parlament entsenden konnten, (42,60/o). Die Unterschiede in der Höhe der Wa hl-
die beispielsweise bei Bundestags- oder La ndtags- beteiligung erklären sich teilweise a uch dadurch,
wahlen regelmäßig an de r Fünfprozenthürde dass in einzelnen EU- Mitgliedstaaten eine Wahl-
scheitern. pflicht herrscht.
5 .2 Die Europäische Union als Mehrebenensystem I
Die Zahl der Abgeordneten pro Land richtet sich Die EU-Abgeordneten verteilen sich
nach der Bevölkerungsgröße. Da die Bundesrepu- auf standige Ausschüsse,
blik Deutschland mit über 80 Millionen Einwoh- die jeweils für E>estimmte Bereiche
nern die meisten Einwohner innerhalb der EU hat, zuständig sind.
ist die Gruppe der deutschen Abgeordneten im
Europäischen Parlament mit 96 entsprechend am
20 Ausschüsse l 2 Unterausschüsse l 1 Sonderausschuss
größten. Frankreich ist mit 74 und Italien mit 73
Abgeord neten vertreten, Malta, a ls das klei nste
Land, mit nur sechs.
<D European Union 2 018 -EP
5 Die Europäische Union
Welche Rolle spielt der Rat Der Europäische Rat ist für alle „großen" euro-
der Europäischen Union? papolitischen Themen und Entscheidungen zu -
ständig, wie z.B. bei allen Fragen der „Vertiefung",
Der Rat (auch „Rat der Europäischen Union" oder die Änderungen des EU-Vertrags oder die Über-
„Ministerrat" genan nt) bildet zusammen mit dem tragung neuer Aufgaben und Kompetenzen a uf
Europäischen Parlament die Legislative der EU. Im die europäische Ebene einschließt(> 5. 1.1 ).
Rat (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen
Rat oder dem Europarat), beraten bzw. beschlie- Im Europäischen Rat (nicht zu verwechseln mit
ßen die Fachministerinnen und -minister der Mit- dem Rat der EU und auch nicht mit dem Europarat
gliedstaaten die von der EU-Kommission vorge- in Straßburg) versammeln sich die Staats- und
legten Vorschläge für europäische Gesetze. Der Regierungschefs. Sie geben der EU, wie es im Ver-
Rat dient dabei als „Scharnier" zwischen der trag heißt, die „für ihre Entwicklung erforderli-
EU-Ebene und den Mitgliedstaaten. chen Impulse" und legen „die allgemeinen politi-
schen Zielvo rstellungen und Prioritäten hierfür
Den Vorsitz im Rat und die Leitung der Sitzungen fest". Ob eine Bundeskanzlerin, wie im Falle der
und Arbeitsgruppen übernimmtjeweils ein Regie- Bundesrepublik Deutschland, oder der französi-
rungsvertreter aus dem EU-Land, welches die sche Präsident das j eweilige Land im Europäi-
halbjährlich wechselnde Ratspräsidentschaft in- schen Rat vertritt, hängt von den nationalen ver-
nehat. Eine besondere Bedeutung haben die soge- fassu n gsrechtlichen Bestimmungen ab.
nannten Ständigen Vertreter der Mitgliedstaa-
ten, die als Botschafter in Brüssel tätig sind; sie
treffen sich im Ausschuss der Ständigen Vertreter Wie arbeitet der Europäische Rat?
(AStV bzw. die französische und in Brüssel ge-
bräuchliche Abkürzung lautet COREPER = Comite Vorbereitet und geleitet werden d ie EU-Gipfel
des representants permanents) und bereiten alle vom Präsidenten des Europäischen Rates. Dieses
5 .2 Die Europäische Union als Mehrebenensystem I
C
Rolle des Europäischen Rats
bei der Besetzung
der EU-Spitzenpositionen:
» Der Europäische Rat Der Europäische Rat
Wahl des Präsidenten gibt der Union die für ihre beschließt auch
des Europäischen Rats Entwicklung erforderlichen
Vorschlag und Ernennung des über die strategischen
Impulse und legt die
Präsidenten der Europäischen allgemeinen politischen Interessen und Ziele
Kommission; offizielle Ernennung des auswärtigen Handelns
der gesamten Kommission Zielvorstellungen und
Prioritäten hierfür fest.« der EU, insbesondere
Ernennung des Hohen
Vertreters für die Außen- Vertrag über die der Gemeinsamen Außen-
und Slcherheltspolltlk Europäische Union, Artikel 15 und Sicherheitspolitik
Emennun des Direktoriums
Amt wurde mit dem Vertrag v on Lissabon 2009 Brüssel - der Präsident des Europä ischen Parla-
neu geschaffe n. Zu den Aufgaben des Präsidenten ments.
gehört es, den Europäischen Rat zu leiten, ihm
Impulse zu gebe n und den Zusammenhalt zu si-
che rn - er ist also eine Art Moderator, der die 28 Welche Rolle spielt die Europäische
Staats- und Regierungschefs (Sta nd 2018) zu e iner Kommission im EU-Entscheidungssystem?
gemeinsamen Politik führen soll.
Die Europäische Kommission ist das EU- Orga n,
Am Ende der Sitzungen info rmiert der Präsident das sich - z usammen mit dem Europäischen Par-
die Öffentlichkeit und das Europä ische Parla ment. la ment - als Vertreterin des Gemeinschaftsinter-
Der Präsident darf laut EU-Vertrag kein zusätzli- esses versteht. Diese Aufgabe w ird ihr durch den
ches politisches Amt in einem EU-Staat bekleiden. EU- Vertrag a usdrücklich übertrage n; laut Artikel
Um jedoch von den Staats- und Regierungschefs 17 im EU-Ve rtrag fördert sie „die a llgemeinen In-
ernst genommen zu werden, hat sich die unge- teressen der Union" und schlägt „geeignete Initi-
schriebene Regel herausgebildet, dass der EU-Prä- ativen zu diesem Zweck" v or.
side nt e in ehe ma liger Regierungschef sein so llte,
der mit den amtierenden Staats- und Regierun gs- Die 28 Kommissare (Sta nd 201 8), die von den Re-
che fs „auf Augenhöhe" verhandelt. Der Präsident gierungen der EU-Staaten gestellt werden, sind
vertritt - zusammen mit dem Hoh en Vertreter der v on diesen weisungsuna bhängig (was Konsultati-
Gem einsamen Außen- und Sicherheitspolit ik - onen zw ischen den nat ionalen Regierungen und
die EU a uf der internationalen Bühne. .,ihren" Kommissaren nicht ausschließt). Die Eu-
ropä ische Ko mmission wird häufig a ls die „Regie-
Bei den Treffen des Europä ischen Rates kommen run g" der EU beschrieben, weil sie neben der zen-
j edoch nicht nur die Staats- und Regierungschefs tralen Au fgabe, europä ische Gesetzesinit iativen
zusamme n; a nwesend ist auch de r Präsident der auf den Weg zu bringen, vor a llem exekut ive
EU- Kommission sowie - zu Beginn der Gipfel in Kompetenzen besitzt; das heißt, sie füh rt die vom
5 Die Europäische Union
Ministerrat und dem Europäischen Parlament be- Vertrag vorgegebenen Aufgaben zu erweitern.
schlossenen Maßnahmen als Verwaltungsbehörde Das wird vo n einigen Mitgliedstaaten und vo n
a us und achtet als „Hüterin des Unionsrechts" da- Kritikern der Kommission jedoch als Überschrei-
rauf, dass dieses in den Mitgliedstaaten auch tat- tu ng ihrer Kompetenzen angesehen.
sächlich umgesetzt wird.
Mit den Jahren hat die EU-Kommission ihren po- Kompetenzen der Europäischen Kommission
litischen Gestaltungsanspruch stetig erweitert und
besonders auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Das wicht igste Instrument der Europäischen Kom-
Währungspolitik oder in der Asylpolitik mehr mission ist ihr exklusives Initiativrecht. Mit die-
Kompetenzen eingefordert bzw. versucht, die vom sem Monopol ist die Brüsseler Behörde die einzige
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die Rolle der Europäischen Kommission im europäischen Entscheidungsprozess.
2. Erläutern Sie, welche Folgen mit der Einführung einer 5 %-Hürde in allen EU-Mitgliedstaaten für die Wahlen
zum Europäischen Parlament verbunden sein könnten.
3. Diskutieren Sie die Forderung nach einem Initiativrecht für das Europäische Parlament in der europäischen
Gesetzgebung.
4. Die Anforderungen, die im EU-Vertrag (Artikel 15 Absatz 6) an den Präsidenten des Europäischen Rates ge-
stellt werden , sind relativ allgemein formuliert. Entwerfen Sie eine detaillierte Stellenausschreibung für dieses
Amt und nennen Sie die Qualifikationen und Erfahrungen, die ein Bewerber bzw. eine Bewerberin mitbringen
sollte.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Vom Anlass bis zum Gesetz ist es ein weiter Weg: Ein Beispiel sind die Nährwertanga-
ben auf Lebensmitteln. Die entsprechende EU-Verordnung wurde 2011 verabschiedet
und muss[te] bis Ende 2014 umgesetzt sein. [ . .)
Initiative: Im Mai 2007 legt die EU-Kommission zunächst das Weißbuch „Ernährung,
5 Übergewicht, Adipositas: Eine Strategie für Europa" vor. Zentrale Punkte: Die gelten-
den Vorschriften zur Nährwertkennzeichnung sollen überarbeitet werden. Auch eine
EU-weite Gesundheitsumfrage wird angekündigt. Im Januar 2008 legt die EU-Kom-
mission schließlich einen Entwurf für eine neue Lebensmittel-Verordnung vor. [ ... ]
Lobbyisten: Der Kommissions-Entwurf stößt auf Kritik. Verbraucherschützer fordern
10 eine einheitliche Kennzeichnung in der Europäischen Union, um die Käufer nicht zu
verwirren. Auch die Lebensmittelindustrie findet keinen Gefallen an den Plänen: Sie
warnt insbesondere vor einem immensen Bürokratieaufwand durch die Kennzeich-
nungspflicht. [...)
Beratung: Sowohl das Europäische Parlament als auch die Mitgliedstaaten müssen
15 der EU-Verordnung zustimmen. Im März 2010 nehmen die Pläne die erste Hürde: Der
Ausschuss für Gesundheit und Umwelt des Parlaments gibt grünes Licht. Es gibt aber
noch Streitpunkte. So wollen einige Abgeordnete Kleinbetriebe von der Kennzeich-
nung ausnehmen. Die Lebensmittel-Ampel Oe nach Fett- und Zuckergehalt erscheinen
auf der Verpackung die Signale Rot, Gelb oder Grün] wird ebenfalls weiter diskutiert,
20 die Abgeordneten lehnen sie aber letztlich mehrheitlich ab. Auch aus einzelnen Staaten
werden Änderungsvorschläge laut: Deutschland drängt darauf, Lebensmittelimitate
wie Pseudo-Schinken oder Analogkäse zu kennzeichnen.
Verabschiedung: Im Juni 2011 legen die Verbraucherminister der EU-Staaten abschlie-
ßende Details fest. Im Juli 2011 stimmt das Europäische Parlament dem neuen Regel-
25 werk zu. Die Verordnung wird dann am 22. November 201 1 im Amtsblatt der EU ver-
öffentlicht und tritt damit in Kraft. Damit sich die Industrie umstellen kann, werden die
Vorgaben aber erst Ende 2014, im Fall der Nährwert-Tabelle sogar erst 2016 Pflicht.
Ergebnis: In dem Gesetzgebungsverfahren wurde der ursprüngliche Entwurf mehrfach
überarbeitet. Die endgültige Vereinbarung umfasst etwa auch Details zur Schriftgröße
30 der Nährwertangaben. Sie soll mindestens 1,2 Millimeter groß sein. [ ...) Bei frischem
Fleisch muss die Herkunft angegeben werden. Vor Allergenen muss auch bei unver-
packter Ware gewarnt werden.
Umsetzung: Zum Zeitpunkt der Verabschiedung stehen laut EU bereits auf etwa 70
Prozent der Lebensmittel-Verpackungen die Nährwerte. Aber gerade bei besonders
35 fett- oder zuckerhaltigen Produkten wie Kalbsleberwurst oder Süßigkeiten werden
diese gerne verschwiegen. Die Hersteller müssen sich hier nun umstellen. Nationale
Gesetze zur Umsetzung der EU-Verordnung sind nicht notwendig.
Aufgaben
1. Stellen Sie dar, mit welcher Strategie die Europäische Kommission versucht hat, die Ak-
zeptanz für die gesetzliche Lösung bei allen beteiligten Akteuren zu erhöhen.
2. Erläutern Sie, ob sich diese Art des Vorgehens auf andere Bereiche der europäischen
Politik übertragen ließe.
3. Entwerfen Sie eine Rede (, Methodenglossar) entweder für einen Vertreter der Verbrauch-
erorganisationen in Europa oder für einen Repräsentanten der europäischen Lebensmit-
telindustrie über die Notwendigkeit einer besseren Kennzeichnung von Inhaltsstoffen in
Lebensmitteln.
5. 2. 2 Entscheidungsverfahren
Leitfragen Wie werden in der EU Wie werden in der Europäi- Welche Merkmale kennzeichnen
Entscheidungen getroffen? schen Union Richtlinien und den supranationalen Politikstil?
Verordnungen verabschiedet?
Das durch den Vertrag vo n Lissabon (2009) ein- EU-Parlament oder Verbänden und Interessenver-
geführte Standard-Verfahren ist das sogenannte tretern in Brüssel zurück (> Kap. 5.2.1 ).
Ordentliche Gesetzgebungsverfahren (früher hieß
es „Mitentscheidungsverfa hren"). Der Begriff „or- Der Rat kann in vielen Bereichen mit sogenannter
dentlich" bedeutet hier, dass es im Regelfall zur qualifizierter Mehrheit entscheiden. Eine solche
Anwendung kommt; das betrifft etwa alle Verfah- Mehrheit ist dann erreicht, wenn hinter einer Ent-
ren, die den Binnenmarkt regeln. scheidu ng 55 Prozent der im Rat versammelten
Regierungsvertreter stehen u nd wenn diese Staa-
In der europäischen Gesetzgebung bilden der Rat ten zudem mindestens 65 Prozent der Bevölke-
u nd das Europäische Parlament zusammen d ie rung aller Mitgliedstaaten repräsentieren. Diese
Legislative. Eine besondere Bedeutung kommt der sehr kompliziert an mutende Formel soll sicher-
EU-Kommission zu, denn sie allein besitzt das stellen, dass Entscheidungen nur dann zustande
Recht, durch Gesetzesinitiativen den Legislativ- kommen, wen n sowohl eine Staatenmeh rheit als
prozess in der EU zu starten (Initiativmonopol). auch eine Bevölkeru ngsmehrheit gesichert sind.
Die Kommission greift dabei auf Vorschläge und Man spricht desh alb von einer „doppelten Meh r-
Anregungen von den Mitgliedstaaten, dem heit".
Kommission
unterbreitet einen
Europäische Gesetzgebung
Vorschlag für Ordentliches Gesetzgebungsverfahren nach Art. 294
einen Rechtsakt des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
----♦
'"'- _+
_____
Parlament Rat
legt seinen
Standpunkt 1 Kommission 1
dazu fest 1
l legt abwei-
chenden verlangt Ab-
wirkt auf Annäherung
der Standpunkte hin
Rat
stimmt dem
Standpunkt
des Parla-
ments zu
Standpunkt ♦
fest
Parlament
stimmt dem
Standpunkt
des Rates zu
lehnt ab
änderungen • _
1
Rat
--~
..........
akzeptiert
alle
Abänderungen
,.+,l
Vermittlungs-
ausschuss
l
Kompromiss, keine
dem Rat
und Parlament
T""9
•
zustimmen
Rechtsakt ist Rechtsakt ist Rechtsakt ist Rechtsakt Ist Rechtsakt ist Rechtsakt ist
angenommen angenommen gescheitert angenommen angenommen gescheitert
Will der Rat sich mit seinem Votum über den Vorschlag oder die Stellungnahme
der Kommission hinwegsetzen, ist Einstimmigkeit erforderlich
'-----------------------=========-- iZAHLENBILDER 1-ffi
~Bergmoser + Höf/er Verlag A G 7l 542 0
5 Die Europäische Union
Staaten auf der einen und den kleinen auf der Welche Rolle spielen nationale Parlamente?
anderen sind nicht die Regel. Oft wi rd ein Konsens
erst durch das Schnüren von „Paketen" erreicht, Die Regierungsvertreter im Rat müssen sich in
in denen für jeden etwas „drin ist" und sich alle der Regel für ihre Positionen ein Mandat des
als Gewinner füh len dürfen. nationalen Parlaments für die Abstimmung
einholen. Wie eng diese Abstimmung zwischen
Lässt sich kein Kompromiss erzielen, wird nicht Brüssel u nd den Ha uptstädten in den EU- Staaten
selten auf den Grundsatz eines „Europas der ver- ist, hängt von den nationalen Bestimmungen ab.
schiedenen Geschwindigkeiten" zurückgegriffen. In Dänemark zum Beispiel ist diese Abstimmung
Dabei vollziehen nur einige Staaten Schritte der zwischen dem dänischen Regierungsvertreter, der
Integration, halten aber die Tür offen für EU-Mit- in Brüssel verhandelt und dem Parlament zu
glieder, die sich zu einem späteren Zeitpunkt ent- Hause sehr eng, in anderen Ländern ist sie
sprechenden Initiativen anschließen wollen. Die eher lose. Der Deutsche Bundestag hat wie
Wahrung der Souveränität ist auf diesem Wege auch der Bundesrat seit den I 990er J ahren seine
weitgehend vereinbar mit der Bereitschaft zur Ab- Mitwirkungs- und Kontrollrechte gegenüber
gabe von staatlichen Hoheitsrechten an die sup ra- ,,seinen" Vertretern im Rat nach und nach aus-
nationale Ebene. Kritische Stimme n weisen jedoch gebaut. Das ist in der Brüssel er Praxis nicht immer
darauf hin, dass die unterschiedlich stark ausge- leicht zu organisieren, da ein sehr enges Mandat
prägte Integrationsbereitschaft der Mitgliedstaa- für die EU-Verhandlungen Konsequenzen hat, da
ten im Extremfall das gemeinsame Entwick- europäische Politik auf ein Geben und Nehmen
lun gstempo gefährden könne. angewiesen ist.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie die einzelnen Stationen der europäischen Gesetzgebung.
2. Vergleichen Sie das Vorgehen mit dem Gesetzgebungsprozess in Deutschland(, Kap. 4.6).
3. Erörtern Sie, inwieweit das „Prinzip der doppelten Mehrheit" dazu geeignet ist, Entscheidungen im
EU-Ministerrat herbeizuführen.
4. Beurteilen Sie die Tatsache, dass „ständig wechselnde Koalitionen" den Politikstil auf der supranationalen
Ebene wesentlich beeinflussen.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
M 1 Europa a la carte?
Hans Adam und Peter Mayer, Europäische Integration, 2. Aufl., 2016, S. 35f
,,Seit Jahren hören wir stets vom Multispeed-Europa, einem Europa der unterschied-
lichen Geschwindigkeiten. Man müsste dankbar sein, wenn es so wäre, denn dann
würden immerhin alle in die gleiche Richtung gehen, nur unterschiedlich schnell. In
s Wahrheit haben wir längst ein Multitrack-Europa: ganz unterschiedliche Zielsetzungen.
Die traditionellen Unterschiede zwischen Nord und Süd in der Finanz- und Wirtschafts-
politik sind weit weniger problematisch als die zwischen Ost- und Westeuropa. Im
Süden und im Osten gewinnt Ch ina stetig an Einfluss, so sehr, dass einige europäische
Mitgliedstaaten es nicht mehr wagen, Entscheidungen gegen chinesische Interessen
10 zu treffen. Man merkt es überall: China ist das einzige Land auf der Welt mit einer
echten geopolitischen Strategie."
Interview: Christiane Hoffmann/ Klaus Brinkbäumer, in: Der Spiegel, Nr. 2/2018, S. 35f
Aufgaben
2. Stellen Sie Vor- und Nachteile eines „Europa a la carte" einander gegenüber.
3. informieren Sie sich über das Zustandekommen des Sehengen-Abkommens und beur-
teilen Sie, ob sich in diesem Fall die „Integration mit unterschiedlicher Geschwindigkeit"
bewährt hat. Nutzen Sie dafür das Konzept des Politikzyklus (, Methodenkompetenz:
Politikzyklus analysieren).
■ Zentrale Politikfelder
5.3.1 Binnenmarkt, Wirtschaft , Währung und Soziales
Leitfragen Welche Bedeutung hat Warum kam es zur Schaffung Wie hat die EU auf die
der Binnenmarkt für die einer gemeinsamen Währung? Wirtschafts- und Finanzkrise
Europäische Union? reagiert?
„Unser Leben hört ja nicht an der Grenze auf. Wir überwiegend von in der ganzen EU verstreuten
kau fen Autos, Äpfel und Aktien aus an deren Län- Zulieferern, sind Ergebn is einer intensiven euro-
dern, konkurrieren mit Produkten vo n a nderswo, päischen Arbeitsteilung. ,,Made in Europe" ist in-
wir ve rschmutzen Flüsse, d ie woanders hin fli e- zwischen meist zutreffender als „made in Germa-
ßen, Luft, die woanders hi ngeht, gehen im Aus- ny, France, ltaly"."
land studieren, vielleicht verl ieben wir u ns dort
Christian Beck, Hat der Euro die Demokratie gestohlen? in:
sogar, heiraten , ziehen um. Die meisten an- Alexander Schdlinger / Philipp Steinberg (Hrsg.}, Die
spruchsvollen Produkte stammen inzwischen Zukunft der Eurozone, 2016, S. 28
.___ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ IZAHLENBILDERl-ffi-
© Bergmoser + Höller V erlag AG 715 320
5 Die Europäische Union
Das Projekt, einen gemeinsamen Markt zu schaf- Die Vorschläge bekamen durch den Fall der
fen, war bereits in den Verträgen der Europäischen Berliner Mauer im November I 989 und die sich
Wirtschaftsgemeinschaft ( 1957) angelegt (> Kap. abzeichnende Wiedervereinigung eine neue
5.1.2). Schrittweise sollte in Europa ein Binnen- Dynamik.
markt errichtet und ein freier Austausch von Wa-
ren, Dienstleistungen, Kapital und Personen mög-
lich werden. Es dauerte dann aber noch viele Mit der deutschen Einheit kommt die
Jahrzehnte, ehe diese „vier Freiheiten" tatsächlich gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion
realisiert werden konnten.
Da in den europäischen Partnerstaaten die Sorge
Ein Binnenmarkt funktioniert jedoch nur dann, aufkam, die deutsche Einheit trage dazu bei, dass
we nn die Marktteilnehmer eine Reihe von Regeln die größer und dadurch mächt iger werdende Bun-
einhalten. Die EU-Kommission ist verantwortlich, desrepublik Deutschland ihrer europapolit ischen
dass die Regeln für den Binnenmarkt nicht ver- Verantwortung nicht mehr gerecht werden könn-
letzt werden ; sie geht deshalb etwa gegen Wettbe- te, war die Unte rstützung der Bundesregierung
werbsverzerrung vor, sie greift ein bei Verstößen unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) einer gemeinsa-
gegen das Kartellverbot, bei Missbrauch einer men Wirtschafts- und Währungsunion ein wich-
marktbeherrschenden Stellung durch eine Firma tiges Signal. Zudem wa r das wiedervereinigte
oder bei Unternehmensfusionen zum Schaden der Deutschland mehr denn je an einer Vertiefung der
Verbraucher und der anderen Mitbewerber (>Kap. europäischen Integration interessiert. Die bereits
5.2. 1). Neben der Kontrolle ist für das reibungslo- Mitte der l 980er Jahre konkret in Angriff genom-
se Funktionieren des Binnenmarktes auch eine mene Errichtung eines Gemeinsamen Binnen-
möglichst weitgehende Angleichung der Rechts- marktes, die bis Ende 1992 abgeschlossen sein
und Verwaltungsvorschriften in den Mitgliedstaa- sollte, machte die Einführung einer gemeinsamen
ten vonnöten. Währung in der EU aus der Sicht ihrer Befürwor-
ter zu einem logischen nächsten Schritt - es galt
das Motto: Wer A sagt zum Binnenmarkt, muss
Das Europäische Währungssystem (EWS) auch B sagen zur gemeinsamen Währung.
1. 1990- 1993: Beginn des freien Kapitalmarktes ten, zum Abbau ihrer Staatsschulden bzw. zu hö-
2. 1994- 1998 : Reformen in den EU-Staaten, um herer Haush altsdisziplin gezwu ngen werde n.
die strengen Aufna hmebedingu ngen zu erfül-
len und Aufba u des Europäische n Währungsin- Zur Aufnahme in die WWU musste n die soge-
st ituts (EWI), dem Vorläufer der Europäischen nannten Maastricht-Kriterie n (auch: Konver-
Zentralbank (EZB) ; genz-Kriterien) erfüllt sein, die im EU-Vertrag
3. 1999- 2001: Prüfung, ob die Reformen erfolg- festgeschrieben wurden.
reich wa ren du rch EU- Kommission und EWI ;
a uf dieser Grundlage fällt die Entsch eidung,
welche Staaten in die Wirtsch a fts- u nd Wäh - Der Euro als Symbol für die europäische
rungsunion aufgenommen we rde n können. Einigung
Beginn der
Der Weg Endstufe Europäische Zentralbank
zur Wirtschafts- derWWU:
,, Eurosystem"
und Währungs- Nationale Zentralbanken
union
Abgestimmte, Unabhängige,
stabilitäts- einheitliche
orientierte Geld- und
Wirtschafts-und
Finanzpolitik
des Euro, weil sich die Mehrheit der Bevölkerung würde. Die Folge war, dass die Zinsen, um neue
2003 in einem Referendum dagegen ausgespro- Kredite gewährt zu bekommen, in die Höhe schos-
chen hatte. Alle anderen EU-Staaten - auch die in sen und sich Griechenland diese nicht mehr leis-
den Jahren 2004, 2007 und 2013 neu aufgenom- ten konnte.
men Länder - sind laut EU-Vertrag verpflichtet,
den Euro einzuführen, wenn sie die ökonomischen Daraufhin setzte ein Domino-Effekt ein, der die
Voraussetzungen und die strengen Stabilitätskri- gesamte Eurozone in Gefahr zu bringen drohte -
terien erfüllt haben. mit unabsehbaren Folgen für das gesamte inter-
nationale Finanzsystem. Die Finanzmärkte und
Zu der ersten Grup pe, die 1999 auf den Euro als internationalen Kreditgeber hatten angesichts der
Rechnungsgeld umgestellt hat, gehörten : Belgien, Entwicklung in Griechen land auch Zweifel be-
Deutschland, Irland, Spanien, Frankreich, Italien, kommen, ob Länder, wie Irland, Portugal, Spanien
Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal und oder Italien in der Lage sein würden, ihre Schul-
Finnland. Im Jahr 2001 kam Griechenland dazu, den zurückzuzah len (> Kap. 2.5.2). Auch diese
dann folgten Slowenien (2007), Zypern und Mal- Staaten gerieten ebenfalls in eine Schiefl age, da
ta (2008), die Slowakische Republik (2009) und sie am internationalen Kapitalmarkt kaum mehr
schließlich die drei baltischen Staaten Estland neue Kredite erhielten.
(2011), Lettla nd (2014) sowie Litauen (2015).
In den ersten zehn Jahren entwickelte sich die Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat in einigen
neue Währung gut und etab lierte sich neben dem Ländern der Europäischen Un ion die Lage vieler
US-Dollar als eine der wichtigsten internationalen Menschen durch Arbeitslosigkeit und prekäre Le-
Währungen. Als jedoch 2009 die griechisch e Re- bensverhältnisse wie (Alters-)Armut oder lücken-
gierung öffentlich zugeben musste, dass die Haus- hafte Gesundheitsverso rgung verschärft. Auch
haltszahlen, die man nach Brüssel gemeldet hatte, Umbrüche in der Arbeitswelt wie die Globalisie-
um seine „Reife" für den Beitritt zur Eurozone zu rung, der digitale Strukturwandel und die demo-
belegen, gefälscht waren, geriet Griechenland in grafische Entwicklung sorgen für sozialpolitische
große Schwierigkeite n. Herausforderungen (> Kap. 2).
Auf den internationalen Finanzmärkten konnte Aus Sicht der Europäischen Kommission gilt dabei
sich die Regierung in Athen nicht mehr mit fri- der Grundsatz: ,,Wirtschaftspolitik ist Sozialpoli-
schem Geld versorgen, da die Kreditwürdigkeit des tik und Sozialpolitik ist Wirtschaftspolitik." Des-
Landes ve rloren gegangen war und somit Kred it- halb wird u. a. das Binnenmarktprojekt als derje-
geber kein Vertrauen mehr darin hatten, dass der nige Bereich betrachtet, in dem viele sozial-
griechische Staat seine Schulden zurückzahlen politische Maßnahmen greifen sollen. Einen
Schwerpunkt bildet der Arbeitsmarkt. Zahlreiche
Programme haben zum Ziel, dass Beschäftigung
aufgenommen, gesichert und ausgebaut werden
Was heißt Solidarität? kan n. Nebe n dem Broterwerb spielt zudem auch
eine verbesserte fi nanzielle Ausstattung der Sozi-
,,Solidarität (S.) meint die wechselseitige Verpflichtung, als Mitglie- alsysteme eine große Rolle: Durch steigende Bei-
der von Gruppen oder Organisationen füreinander einzustehen tragsaufkommen und weniger Transfers an eine
und sich gegenseitig zu helfen. S. entspringt gemeinsamen Inter-
si nkende Zahl an Leistungsberechtigten sollen die
essen und Überzeugungen und beruht auf einem Zusammenge-
hörigkeitsgefühl. Dass aus Bindungen Verpflichtungen erwach- sozialen Sich erungssysteme funktionsfähig blei-
sen, die begründungsbedürftig und -fähig sind, bildet den Kern ben und die Lebenschancen des Einzelnen verbes-
des Solidaritätsproblems." sert werden.
Manfred Groser, Solidarität, in: Dieter Nohlen und Florian Grotz {Hrsg.),
Kleines Lexikon der Politik, BpB, 2 01 5, S. 5 86
Auch wenn die Sozialpolitik überwiegend auf der
nationalen Ebene der EU-Mitgliedstaaten ange-
5 .3 Zentrale Politi k felder I
soziale Bulgarien
Rumänien
40,4 %
38,8
Griechenland 35,6
Ausgrenzung Litauen 30,1
Italien 28,7
in der EU Kroatien 28,5
Lettland 28,5
**** *
Spanien 27,9
Zypern 27,7
* * Ungarn 26,3
* *•* * Irland 26,0
Portugal 25,1
KRITERIEN Estland 24,4
Großbritannien 22,2
Armutsgefährdung Polen 21,9
Haushaltseinkommen Belgien 20,7
ist geringer als 60 % Malta 20,1
des mittleren Einkommens Deutschland 19,7
der Gesamtbevölkerung
Luxemburg 19,7
Soziale Ausgrenzung Slowenien 18,4
Personen, die sich Grund- Schweden 18,3
legendes nicht leisten können Frankreich 18,2
(z.B. Waschmaschine) Slowakei 18,1
und/oder (unter 60-Jährige) Österreich 18,0
die in Haushalten mit sehr Niederlande 16,8
geringer Erwerbstätigkeit leben Dänemark 16,7
Quelle: Eurostat
Finnland
Tschechien
16,6
13,3 ca,o...121
Aufgaben
1. Erklären Sie, warum es sich beim Binnenmarktprojekt um das „Herzstück" der europäischen Integration
handelt.
2. Erörtern Sie, inwiefern es sinnvoll wäre, die Eurozone in absehbarer Zeit auf alle Mitgliedstaaten der EU aus-
zudehnen.
3. Diskutieren Sie folgenden Grundsatz der Europäischen Kommission: ,,Wirtschaftspolitik ist Sozialpolitik und
Sozialpolitik ist Wirtschaftspolitik".
4. Führen Sie in Ihrer Lerngruppe eine Debatte zu folgendem Thema: Sollte die Europäische Kommission bei
der Verwirklichung eines „sozialen Europas" einflussreicher sein oder sind hauptsächlich die EU-Mitgliedstaa-
ten dafür verantwortlich?
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
M 1 Europa-Rede
Auszug aus der Europa-Rede von Martin Schulz in seiner damaligen Funktion als Prä-
sident des Europäischen Parlamentes am 9.11.2012, Berlin
Zeiten der Krise sind immer Zeiten der Exekutive. Unter dem Ereignisdruck der Märk-
te sind schnelle Entscheidungen gefragt. Denn Parlamente, die nationalen gleicher-
5 maßen wie das Europäische, werden zusehends an den Rand gedrängt. Einmalig mag
das hinzunehmen sein, aber als perpetuierter [dauerhafter] Ausnahmezustand gefähr-
det dies die Demokratie. Der Trend der[... ] Vergipfelung, die Zunahme der Gipfeltreffen
des Europäischen Rates, bei denen immer mehr Detailfragen entschieden werden,
höhlt die Demokratie aus. [Der Philosoph] Jürgen Habermas hat das als „Selbster-
10 mächtigung des Europäischen Rates" bezeichnet. Mich erinnert dieses Vorgehen an
den „Wiener Kongress" im 19. Jahrhundert. Damals lautete die Maxime: Nationale
Interessen durchdrücken[,] und das ohne demokratische Kontrolle.
Begründet wird dieses Vorgehen mit einer vermeintlichen Steigerung der Handlungs-
fähigkeit. Ich sage vermeintlich, weil es in der Tat oftmals zu einer Verunmöglichung
15 von Entscheidungen und Handlungen führt. Denn im Europäischen Rat wird gemäß
dem Einstimmigkeitsprinzip entschieden- das heißt nichts anderes, als dass das lang-
samste und unwilligste Mitglied das Tempo vorgibt. [... ]
Die Herausforderung an die Politik heute ist: Die Handlungsfähigkeit und zugleich die
Demokratie zu bewahren.
20 Die Krise macht uns bewusst, dass wir bereits heute nicht mehr im nationalen Rahmen,
sondern im eng verflochtenen Europa leben. Ein Land kann alle anderen mit in den Ab-
grund reißen. [...] Unsere Volkswirtschaften, unsere Gesellschaften, unsere Leben sind
bereits untrennbar miteinander verknüpft. Die Menschen haben das begriffen. Sie inte-
ressieren sich bereits mehr dafür, was in ihren Nachbarländern passiert. (... ]Allerdings
25 negieren [verneinen] manche Regierungen diesen bereits existierenden europäischen
Bezugsrahmen noch. Sie halten lieber an der Fiktion nationalstaatlicher Souveränität
fest. An der Inszenierung Brüsseler Gipfeltreffen, auf dem nationale Interessen durchge-
boxt werden und die Ergebnisse dann jeweils als Sieg verkauft werden.[... ] Dass Nati-
onalstaaten in vielen Bereichen ihre Handlungsfähigkeit bereits weitgehend eingebüßt
30 haben, erleben wir jeden Tag. Auf den unkontrollierten und teilweise hemmungslosen
Finanzmärkten werden Nationalstaaten zum Spielball der Finanzinteressen.[... ]
Es besteht kein Bedarf, jetzt in der Krise das Rad neu zu erfinden. Die Gemeinschafts-
methode in den Gemeinschaftsinstitutionen veranker[n], das ist die Basis, um Hand-
lungsfähigkeit und Demokratie in Europa zu bewahren. Denn die EU , und das wird oft
35 vergessen, ist ja der Versuch nicht nur supranationale Lösungen für transnationale
Probleme zu finden, sondern die Demokratie dabei zu retten. Eben nicht Regierungs-
chefs in intergouver[ne]mentalen Foren, hinter verschlossenen Türen, der Öffentlichkeit
unzugänglich, Absprachen treffen zu lassen, die die heimischen Parlamente nur mehr
durchwinken sollen[,] [s]ondern parlamentarisch legitimierte Entscheidungen über
40 Sachverhalte, die uns alle angehen und die [die] Handlungsfähigkeit von Nationalstaa-
ten übersteigen, auf transnationaler Ebene zu treffen.
Für mich bedeutet der Auftrag des Friedensnobelpreises der Politik der Kurzfristigkeit
eine Absage zu erteilen und wieder zu einer Politik der Langfristigkeit zurückzukehren.
Denn nur eine langfristige Perspektive macht eine nachhaltige Politik möglich. Erlau-
45 ben Sie mir, hierzu zum Abschluss drei Anmerkungen zu machen.
Erstens, wir müssen uns den überall in Europa wieder aufflammenden nationalisti-
schen Vorurteilen entgegenstellen. Die Zentrifugalkräfte der Krise drohen uns ausein-
anderzutreiben. Viele Deutsche sehen sich als Zahlmeister für den Schlendrian Ande-
rer in Haftung genommen. Andere Völker sehen sich als Opfer einer von außen
KOMPETENZEN ANWENDEN I
Zweitens, wir müssen uns der Spaltung Europas entgegenstellen. Das Europa der
unterschiedlichen Geschwindigkeiten kam ja bereits vor einigen Jahren in intellektuel-
le Mode. Joschka Fischer erklärte, eine „Avantgarde" müsse die „Rolle der Lokomo-
tive bei der politischen Integration " übernehmen. Wolfgang Schäuble und Karl Lamers
60 sprachen sich für ein „ Kerneuropa" aus. Heute stehen manche dieser Ideen vor der
Umsetzung. Droht doch zusehends die Spaltung in Euro- und Nicht-Euro Länder. Das
mag zunächst sogar einleuchtend sein. Warum sollten Länder, die nicht im Euro sind,
an Entscheidungen der Euro-Governance beteiligt sein? Aber schalten wir von der
kurzfristigen auf die langfristige Perspektive, dann ergibt sich ein anderes Bild: Der
ss Euro ist die Währung der Europäischen Union. Alle EU-Mitgliedsländer- außer zweien,
die sich ein Opt-Out erbeten haben - sind verpflichtet, den Euro einzuführen, sobald
sie die Kriterien erfüllen. Macht es also Sinn, diese Länder von Schlüsselentscheidun-
gen auszuschließen, die sie in naher Zukunft unmittelbar betreffen werden? [... ]
Für Länder, die sich langfristig aus bestimmten Gemeinschaftspolitiken ausgeklam-
10 mert haben oder dies beabsichtigen, müssen sicherlich Prozeduren gefunden werden.
Das gilt nicht nur für die jeweiligen Abgeordneten im Europäischen Parlament, sondern
auch für die Kommissare, die Fachminister, die Richter beim Europäischen Gerichts-
hof.
Drittens, die Europäische Union ist ein Langzeit-Projekt, das immer Langzeit-Dividen-
75 den abgeworfen hat - und sie verdient eine Langzeit-Perspektive, über die Tagespoli-
tik, über Umfragewerte, über Wahltermine hinaus. Alle Erfolge der Europäischen Union
waren Langzeiterfolge: Die Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Europäische Wirt-
schaftsgemeinschaft, die Aufnahme junger Demokratien, der Euro und die Osterwei-
terung. Wir erleben gewiss die schwerste Krise seit der Gründung der EU. Aber ein Teil
80 der Krise ist sicherlich auch, dass uns viele dieser Erfolge selbstverständlich geworden
sind - auf dem wohlhabendsten Kontinent dieser Erde frei reisen, arbeiten und leben
zu können, mit einem Lebensstandard und einem Grundrechteschutz, der in anderen
Teilen der Welt wie ein Traum erscheint.
Wie leichtfertig wird derzeit über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen debattiert!
85 Oder die Aufgabe des Euros propagiert, der doch eine stabile Währung ist und zu
Konrad-Adena uer-Stiftung e. V., Stiftung Zukunft Berlin, Robert Bosch Stiftung (Hrsg.) :
„Die Rückkehr zur Langfristigkeit. ", 2013, S. 16ff
Aufgaben
1 . Stellen Sie die Auffassungen des Autors in eigenen Worten dar.
2. Erläutern Sie mögliche Zielkonflikte zwischen der Handlungsfähigkeit der EU-Exekutive und
der demokratischen Grundlage einer politischen Entscheidung auf supranationaler Ebene.
4. Diskutieren Sie, inwiefern die Gemeinschaftsmethode dazu geeignet ist, sowohl der Hand-
lungsfähigkeit der EU-Exekutive als auch dem Demokratiegebot gerecht zu werden.
5.3.2 Außen- und Sicherheitspolitik
Leitfragen Welche Merkmale kennzeichnen Wie lässt sich der Politikan- Vor welchen internationalen
das Selbstverständnis der EU in satz der „Soft Power" Herausforderungen steht
der internationalen Politik? charakterisieren? die EU?
@, Europäischer Rat
(EU-Gipfel)
bestimmt die strategischen
► Interessen der Union und
legt Ziele und allgemeine
Leitlinien der GASP fest
◄ Anhörung
Europäisches Unterrichtung Hoher Vertreter ► leitet die GASP
Parlament macht Vorschläge zur Fest-
► Empfehlungen der Union für Außen-
►
legung der GASP und
und Sicherheitspolitik sichert ihre Durchführung
f f i lZAHLENBILDE] _ _- - = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =- - -
c Bergmoser + Höller Verlag AG 71 5 200
5.3 Zentrale Politi kfelder I
• Abrüstu ngspolitik;
• Konfliktverhütu ng und friedenserha ltende Au f- • regionale Ko nflikte,
gabe n; • scheiternde Staaten und
• Ka mpfeinsätze im Ra hmen der Krisenbewä lti- • organisierte Kriminalität.
gung einschließlich Friedenserh altung ;
• Bekä mpfung des inte rnation alen Terrorismus; Die Hauptziele der europäische n Außen - u nd Si-
• Beista ndsverpflichtung bei bewaffneten A ngrif- cherheitspolit ik sind vor dem Hintergrund dieser
fen auf einen EU-Mitgliedst aat sow ie Bedrohungsanalyse die Sicherung von politischer
• die Gemeinsame Verte idigung. u nd gesellschaftlicher Stabilität in den Nachbar-
regione n Eu ropas, die Stä rkung des „Mult ilatera-
Seit 2003 wurden im Rahmen der Ge meinsamen lismus", a lso der engen und effektiven Zusam-
Sich erheits- und Verteidigungsp olit ik de r EU menarbeit mit a nderen Staaten im Rahme n von
za hlreiche zivile Missionen und militä rische Ope- internationa len Organ isationen wie den Vereinten
rationen beschlossen und umgesetzt. Der Einsatz Natio nen sowie die Aufrechterh altung eine r Welt-
militärischer Mittel wird somit von der EU nicht ordnu ng, in der die vo m Völkerrecht und der
grundsätzlich abgelehnt, milit ärische Ressourcen UN-Charta gesicherten Normen und Werte gelten.
sollen j edoch nur als letztes Mittel (,,ultima rat io")
eingesetzt werden. Kernpri nzip in der Sicherheitsstrategie war der
Ansatz der vorbeugenden Prävention : Diplomati-
sche, w irtsch aftliche und e ntwickl ungspolitische
Die Ziele in der Außen- und Mittel sollten dazu beitragen, dass Konflikte und
Sicherheitspolitik der EU Kriege - so die Idealvorstellung - gar nicht erst
a usbreche n. Im J ahr 20 16 veröffentlichte die EU
Im Jahr 2003 wurde vo m Europä ischen Rat die eine „Globale Strategie", in der der Anspruch der
Eu ro päische Sicherheitsstrategie verabschiedet; ersten Sicherheitsstrategie aus dem Jah r 2003,
der Titel lautete „Ein sicheres Europa in einer bes- weltweit de n „eu ro pä ischen" Werten u nd Ideen
sere n Welt". In diesem Dokument legte n die Euro- mehr Geltu ng zu verschaffen, relativ iert w u rde.
päer erstma ls ihre auße n- und sicherheitspoliti-
sch en Ziele da r und na nnten die a us europä ischer
Sicht größten Bedrohungen. Dies waren : Wer vertritt die EU international?
Europa heute
• : : Sehengen-Gebiet
• L ~ h'ii-Hihi
Euro-Währungsgebiet ..............................
..... 1 ll ~- ·- o : ~
l l .....
~ 1 ...... 1 Armenien
1111111! • Tschechische
Lichtenstein Schweiz ,
Osterreich Belgien Estland
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Aserbaidschan
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Norwegen :
Frankreich -Deut schland Griechenland Italien Dänemark ■1 - Europäische ,
. 1. ■ ■II. Freihandels- : Bosnien und
Island - - assozialion ~ Herzegowina
- - -
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Lettland Litauen Luxemburg
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Bulgarien Kroatien Rumänien
ll!iiil lil\'I
___________ .. ______________________ Vereinigtes Königr~ich
--11 w
Ukraine
Europäische
Zollunion 11 -
3
111,;1 • -
Andorra Monaco San Marino Türkei
Frage gestellt haben: ,.Wen soll ich anrufen, wenn sie sich mit den a nde ren Kollegen in Europa ab-
ich mit Europa sprechen will?" Auch wenn Kissin- gestimmt ha ben.
ge r diesen Satz so nie for muliert hat, bringt die
ihm zugesch riebene Frage das zentrale Problem in Dies war ein e rster Schritt in Richtung einer euro-
der europäischen Außen- u nd Sicherhe itspolit ik päisch e n Außenpolitik, a uch wenn die Anfä nge
a uf den Punkt: Die Frage, wer für „Europa" in sehr b escheiden waren und die beteiligten Minis-
außenpolitischen Angelegenheiten spricht bzw. ter und Beamtena pparate sich erst daran gewöh-
sprechen darf. nen mussten, das neue Verfahren auch zu nutzen.
Trotzdem galt die EPZ a ls zu schwerfällig. Die
Mit dem Problem, wie eine mehr oder wenige r „europä ische" Außenpolitik war n ach Ansicht vo n
einheitliche „europä ische" Außenpolitik erreicht Experten eine Mischung aus der Außenpolitik, die
werden kann, beschäftigt sich die Europä isch e Ge- die einzelnen Mitgliedstaaten verfolgten und ers-
me inschaft seit J ahrzehnte n. Bereits 1970 wurde ten zaghaften Ansätzen e iner wirklich gemeinsa-
der Grundstein gelegt für die Europäische Politi- men Polit ik.
sche Zusammenarbeit (EPZ). Diese war rein zwi-
schenstaatlich in Form eines Mecha nismus zwi- Im Vertrag von Maastricht, der 1993 in Kraft ge-
schen den Auße nministern der da maligen treten ist, wurde der Gemeinsamen Außen- und
EG-Staaten organisiert. Es sollte sichergestellt Sicherheitspolitik ein eigenes, umfangreiches Ka-
werden, dass sich bei einer intern atio nalen Krise pitel gewidmet. Dieses Politikfeld blieb zwar wei-
nationale Außenminister erst dann äußern, wenn terhin „i ntergouvernemental",jedoch sollte durch
5 .3 Zentrale Politikfelder I
die Einführung neuer Institutionen und Instru- Außenpolitikerin Federica Mogherini als EU-Au-
mente ein höheres Maß a n „Europäisierung" er- ßenbeauftragte ihr Amt a ngetreten ; zu ihren bis-
reicht werden. Bei nachfolgenden Reformen wur- her größten diplomatischen Erfolgen gehört die
de der Weg einer verstärkten Zusammenarbeit Vertretung der EU in den 201 5 erfolg reich abge-
weiterverfolgt. schlossenen Verhandlungen zu einem internat io-
nalen Atomabkommen mit Iran.
Die wichtigste Änderung im Hinblick au f die Fra- Seit dem Referendum zum EU-Austritt Großbri-
ge nach einem europäischen Ansprechpartner tanniens (,,Brexit") im Juni 2016 und der Wahl des
kam mit dem Vertrag von Amsterdam und der US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump
Einführung ei nes neue n Amtes: Der „Hohe Vertre- im November desselben Jahres hat s ich d ie Dis-
ter der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik". kussion um eine Stärkung der Europäisch en Si-
Dieser wird häufig a uch als A ußenbeauftragter der cherheits- und Verteidigungspolitik verändert:
EU beschrieben und sollte der Union „Gesicht und Viele Beobachter und Politiker sahen - auch vor
Stimme" auf der globalen Bühne geben sowie die dem Hinterg rund einer als aggressiv wa hrgenom-
Außenpolitik der Mitglieder zusammenführen. Zu men en russischen Außenpolit ik - nun die Chance,
seinen Aufgaben gehört es,Vorschläge und Ideen aber a uch die Notwendigkeit, dass die Euro päische
zu entwickeln und Entscheidungen vorzubereiten. Union stärker als bislang verteidigungsp olitisch
Seit dem Vertrag von Lissabon wird der Hohe Ver- auf eigene Ressourcen setzt.
treter vom Europäischen Auswärtigen Dienst
(EAD) un terstützt, in dem Beamte a us der EU-Kom- Eine Folge dieser neuen Situation wa r die Prokla-
mission zusammen mit Beamten aus den A ußen- mation einer „Verteidigungsunion" Ende 2017.
ministerien der Mitgliedstaaten der EU a rbeiten. Fast alle EU-Staaten h atten sich darauf im Rah-
men der sogena nnten „Ständigen Strukturierten
Der erste Politiker, der das Amt des Hohen Vertre- Zusammenarbeit" (engl. Abkürzung la utet Pesco,
ters übernahm und bis 2009 innehatte, wa r Javier ,,Permanent Structured Cooperation") dara u f ver-
Sola na, der als ehemaliger NATO-Generalsekretär ständigt, ihre verteidigungs- und rüstungspoliti-
große internatio nale Erfahrung und beste Kontak- schen Anstrengungen zu verstärken und die Zu-
te mitbrachte. Ihm nachgefolgt ist die Britin sammena rbeit zwisch en den nationalen Streit-
Catherine Ashton, die dieses Amt bis 2014 beklei- kräften effektiver zu organisieren.
dete. Am 1. November 2014 hat die italienische
Aufgaben
1. Benennen Sie die Bereiche der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit in der EU.
2. Charakterisieren Sie die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen den Staaten in Europa mit drei
Schlagwörtern. Diskutieren Sie Ihre Ergebnisse in der Lerngruppe.
3. Erörtern Sie, inwieweit die Europäische Union eine Soft Power ist.
4. Wen würden Sie im Hinblick auf die Henry Kissinger zugeordnete Frage nac h der Telefonnummer Europas im
außenpolitischen Krisenfall anrufen? Begründen Sie ihre Auswahl.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Die Europäische Union ist kein eigenständiger Staat und kann deshalb keinen Sitz für
sich beanspruchen. Das verbieten die Regeln der Vereinten Nationen. Allerdings hat
die Gemeinschaft seit 2011 einen neuen Status, in der Vollversammlung der Vereinten
Nationen sprechen nicht mehr die Vertreter der Mitgliedstaaten, sondern je nach The-
s ma der Ratspräsident, der Kommissionspräsident oder die Hohe Beauftragte für die
Außen- und Sicherheitspolitik.
Zum ersten Mal in der UN-Geschichte sprach Herman van Rompuy im Namen der
Europäischen Union bei der 66. Vollversammlung im September 2011. [ ... ]
Die Europäische Union soll durch diese neue Regel ein wiedererkennbares Gesicht auf
10 der internationalen Ebene bekommen. Im Namen der Europäischen Union spricht nicht
mehr der jeweilige Regierungschef eines beliebigen Mitgliedstaates, sondern der Prä-
sident aller 28 Länder. [ ... ]
Die neue Regelung führt dazu, dass der EU-Vertreter in den Diskussionen früher spre-
chen und an der Eröffnungsdebatte teilnehmen darf. Allerdings wird dies nicht auto-
1s matisch zur Folge haben, dass sich die Mitgliedstaaten in allen außenpolitischen Fra-
gen auf eine gemeinsame Position einigen. [ ... ]Einige Außenpolitiker im Europäischen
Parlament wünschen sich langfristig trotz der Schwierigkeiten einen EU-Sitz im Sicher-
heitsrat. Dafür müsste allerdings erst die UN-Charta geändert werden.
Ruth Reichenstein, Die Europäische Union. Die 10 1 wichtigsten Fragen, 2016, 5. 148-149
Knut Fleckenstein, der stellvertretende Vorsitzende der Fraktion der Progressiven Alli-
anz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament wurde gefragt, weshalb eine
breite Debatte um eine stärkere europäische Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik
ausgebrochen sei:
des Völkerrechts in der Ukraine hat dazu beigetragen. Und nicht zuletzt sorgt das
Verhalten des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump für Unruhe.
Derzeit geht es nicht um den Aufbau einer „europäischen Armee", sondern um die
Integration der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und damit vor allem
1s um effizientere Kapazitätenplanung und -beschaffung. Wichtig ist eine auf EU-Ebene
abgestimmte Rüstung, keine Aufrüstung: Wir müssen Doppelungen vermeiden und
Interoperabilität schaffen. Die Geschichte der EU zeichnet sich durch ihre „soft power"
aus. Bei all den Debatten um Sicherheit und Verteidigung darf dieser Ansatz nicht
vernachlässigt werden.
20 Ist die EU reif für eine stärkere verteidigungspolitische Zusammenarbeit?
Zunächst einmal geht es um die Frage: Sind die Mitgliedstaaten bereit, mehr als bisher
zu kooperieren und ein Stück weit Souveränität abzugeben? Nur auf der Grundlage
von ausreichend politischem Willen der Mitgliedstaaten wird eine stärkere verteidi-
KOMPETENZEN ANWENDEN I
gungspolitische Zusammenarbeit möglich und erfolgreich sein. Dann muss die Finan-
2s zierung geklärt werden: Soll die EU mehr Aufgaben übernehmen, dann müssten die
Mitgliedstaaten auch mehr Mittel zur Verfügung stellen. Zudem braucht es gut aufge-
stellte Institutionen, wobei in erster Linie die Europäische Verteidigungsagentur (EVA)
eine größere Rolle einnehmen sollte und die Rolle des Parlaments geklärt werden
muss.
30
Was sind die nächsten Schritte auf dem Weg zu einer strategischen Autonomie?
Alles steht und fällt mit dem politischen Willen der Mitgliedstaaten. Es wird sich zeigen,
ob sie wirklich bereit sind, in der Rüstungsforschung und bei der Beschaffung zu ko-
operieren und sich miteinander abzustimmen. Der erste Schritt wird der Ausbau exis-
tierender und der Aufbau neuer grenzüberschreitender Projekte sein, zum Beispiel in
45 den Bereichen Cyberkriminalität und Terrorismusbekämpfung. Zudem muss die Steu-
erung auf europäischer Ebene stattfinden und die Mitgliedstaaten werden Kompeten-
zen an die EVA abgeben sowie das geschaffene „EU-Headquarter" weiter ausbauen
müssen. Was dabei nicht missverstanden werden darf: Die NATO ist und bleibt für die
territoriale Verteidigung Europas zuständig. Die strategische Autonomie wird aber dazu
so führen, dass der EU-Pfeiler in der NATO gestärkt und die EU eine größere Rolle bei
globalen Einsätzen spielen wird.
Aufgaben
1. Stellen Sie dar, warum eine einheitliche europäische Außen- und Sicherheitspolitik für die
EU von Vorteil wäre.
2. Erläutern Sie die Möglichkeiten und Grenzen des „Soft-Power"-Konzepts für die EU.
3. ,,Auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik müssen wir nach meiner Überzeu-
gung an einem stärkeren Europa arbeiten. Natürlich, Europa ist in erster Linie eine Soft
Power. Aber auch die stärkste Soft Power kann langfristig nicht ohne ein Mindestmaß an
integrierten Verteidigungskapazitäten auskommen." (Jean-Claude Juncker, Präsident der
Europäischen Kommission, Politische Leitlinien für die Europäische Kommission, 15. Juli
2014). Beurteilen Sie die Aussagen des Kommissionspräsidenten.
4. Entwickeln Sie Vorschläge zur Überwindung von Problemen, die die Entwicklung einer
koordinierten Außenpolitik der EU behindern. Diskutieren Sie zudem die Frage, inwieweit
ein EU-Sitz im Sicherheitsrat in diesem Rahmen sinnvoll sein kann.
5 Die Europäische Union
In Artikel 3 Absatz 2 des Vertrages über die Euro- gungen unternehme n muss, um die in Art. 3 Abs.
päische Union (EUV) wird eines der wichtigsten 2 (EUV) a ngelegten Zielkonflikte zu überwinden.
Ziele des europäischen Ein igungsprozesses for- So soll u. a. im Ra hmen der vier Freiheiten des
muliert. In ihm wird die Absicht bekundet, de n Binnenmarktes die Freizüg ig keit der EU- Bürge-
.,Bürgerinnen und Bürgern einen Rau m der Frei- rinnen und -Bürger so wenig wie möglich einge-
heit, der Siche rheit und des Rechts ohne Binnen- schränkt werden. Gleichzeit ig besteht die Ver-
g renzen [zu bieten], in dem - in Verbindung mit pflic htung, dem Sicherheitsbedürfnis der Be-
geeign eten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrol- v ölkerung zu entsprechen. Deshalb kommt es bei-
len a n den Außen grenzen, das Asyl, die Einwan- spielsweise immer wieder zu einer en gen polizei-
derung sowie die Verhütung und Bekämpfung der lichen und justiziellen Zusammena rbeit in Straf-
Kriminalität - der freie Personenverkehr gewähr- sachen oder zu einem abgestimmten Vorgehen bei
leist et ist." der Drogen- und Terrorbekämpfung.
Angesichts der Tatsache, dass mit dieser Absicht Die Übertragung von Befugnissen im Sicherheits-
sehr wicht ige Felder der nationalen Eigenständig- bereich vo n der n ationalen a u f die europäische
keit von EU- Mitgliedstaaten berührt werden, ver- Ebene wird von den beteiligten Ländern unter-
wundert es nicht, dass dieser „Raum der Freiheit, schiedlich eingeschätzt. Während einige EU-Mit-
der Sicherheit und des Rechts" (RFSR) mit dem gliedstaaten das Prinzip der Subsidia rität betonen,
Ve rtrag von Lissabon (2009) erst relativ spät ver- nach dem die europäische Ebene nur das leisten
gemeinschaftet worden ist. Im Vo rfeld kam es im soll, was national nicht bewältigt werden ka nn,
Ra hmen des Schengener Abkommens 1985 zu- betonen a ndere Staaten eher die Notwendigkeit,
nächst zur Auflösung der Binneng renzen zwi- grenzüberschreitende n Gefahren auch gemeinsam
schen den teilnehmenden Staaten. zu begegnen.
He rausforderungen wie die erhöhte Terrorgefahr • Zusammena rbeit mit den Herkun fts- und Tran-
oder das große Flüchtlingsaufkommen der letzten sitlä nde rn ;
Jahre haben gezeigt, dass die EU große Anstren- • Stärkung der EU-Außeng renzen ;
5 .3 Zentrale Po liti k feld er I
• Steuerung der Migrationsbewegungen und Be- tenzgrundlage vor Ort auf längere Sicht zu si-
kämpfung des Schleuserwesens; chern. Darüber hinaus wurden Maßnahmen zur
• Reform des europäischen Asylsystems; Eindämmung des Schleuserwesens und des Men-
• Schaffung legaler Migrationswege; schenhandels erheblich ausgebaut.
• Förderung der Integration von Drittstaatenan-
gehörigen. Aus Sicht vieler EU-Mitgliedstaaten handelt es
sich bei dem Flüchtlingsthema j edoch weniger um
Diese Maßnahmen waren und sind Gegenstand ein europäisches Problem, sondern um die Ange-
der Kritik vo n verschiedenen Seiten. So bemän- legenheit einzelner Staaten der Eu ropäischen Uni-
geln Menschenrechtsorganisationen, dass die on. Der Appell an europäische Solidarität sei da-
Schritte zu spät eingeleitet wo rden seien. Außer- her nicht angemessen. Gleichzeitig halten
dem lasse der Ansatz Weitblick und Nachhaltig- Experten der EU eine „Scheckbuch-Diplomatie"
keit vermissen, weil er kaum an den Ursachen für vor: Hohe Summe n würden dafür eingesetzt,
Flucht und Migration ansetze. Flüchtlinge von der EU fernzuhalten und die Pro-
bleme in Nicht-EU-Staaten zu verlagern. So wer-
de gegen finanzielle Zuwendungen Verantwor-
Flüc htlingspolitik: Prüfstein für d ie EU? tung delegiert, die eigentlich bei der EU liege.
Politische Akteure geben des Weiteren zu beden-
Das Dublin-Abkommen zur Aufnahme von Dritt- ken, dass die enge Zusammenarbeit mit bestimm-
staats-Angehörigen in der EU hat sich in der Ver- ten Staaten in der Flüchtlingsfrage (z. B. mit der
gangenheit nur teilweise bewährt. Geltende Vor- Türkei} Abh ängig keiten für die Europäische Union
schriften wurde n zum Teil nicht beachtet oder schaffen könne.
zeitweise außer Kraft gesetzt. So kam es in den
einzelnen EU-Staaten zu unterschiedlichen Aner- Die globalen Flucht- und Migrationsbewegungen
kennungsquoten beim Flüchtlingszuzug und stellen sich als Herausforderung für das Politikfeld
unterschiedlichen Belastungen der einzelnen der Justiz- und Innenpolitik dar. Zugleich ist in
EU-Mitgliedsländer im Zuge der massiven Zu- den letzten Jahren deutlich geworden, dass die
wanderung im Sommer 201 5. Vielschichtigkeit des Problems einen großen Re-
gelungsbeda rf mit sich bringt. Absprachen, die
Die bisherigen Erfahrungen ha ben zudem gezeigt, Planung und Verwirklichung von Initiat iven so-
dassauch Migranten den Weg in die EU suchen, wie Nachbesserungen haben in der Vergangenheit
die die Kriterien zur Gewährung eines Aufent- zu Verzögerungen bei der Umsetzung von Maß-
halts- oder Asylstatus nicht erfülle n. Die Europä- nahmen geführt. Darüber hinaus wurde die Ange-
ische Union strebt deshalb a n, diese Flüchtlinge in messenheit des Vorgehens in vielen Fällen in Fra-
ihre Herkunfts- oder Transitländer zurückzuschi- ge gestellt. A uch deshalb wird die Migrations- und
cken und hat zu diesem Zweck eine Rückfüh- Flüchtlingspolitik a uf absehbare Zeit für die EU
rungsrichtlinie für „irreguläre Drittstaatsangehö- eine politische, fina nzielle, polizeiliche, diploma-
rige" beschlossen. Mit den Herkunftsstaaten sollen tische, organisatorische, militärische und soziale
Rücknahmeabkommen vereinbart werden. Sie Daueraufgabe bleiben, die ihren Platz im „Raum
zielen darauf a b, die Flüchtlinge wieder in die Her- der Freiheit, der Sicherheit u nd des Rechts" immer
kunftsgesellschafte n aufzunehmen und ihre Exis- wieder neu bestimmen muss.
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit im Raum der Freiheit, der Sicherheit
und des Rechts (RFSR).
2. Erläutern Sie, inwiefern d ie europäische Justiz- und Innenpolitik durch Terrorismus und Migrations-
bewegungen herausgefordert wird.
3. Prüfen Sie, welche Maßnahmen in der Europäischen Union im Hinblick auf die Flüchtlingsfrage realisierbar
sind. Führen Sie dazu eine Konfliktanalyse durch (• Methodenkom petenz: Analyse internationaler Konflikte).
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Hauptherkunftsländer
der erstmaligen Asylbewerber 2017
Syrien ■■■■ 102 385
Irak - 47525
Afghanistan - 43 625
150·•---
Nigeria - 39 090
206 880 Pakistan - 29 570
Eritrea ■ 24 355
2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
Albanien
Bangladesch
■ 22 075
■ 19 280 IQ 1
Wenn eine Behörde diesen Namen verdient, dann ist es Europol in Den Haag. Nach
dem Vorbild von Interpol, der internationalen kriminalpolitischen Organisation, grün-
deten die EU-Mitgliedsländer 1992 ihr eigenes Polizeiamt: Europol. Gefälschte Euro-
noten machen schließlich nicht an der deutsch-tschechischen Grenze halt. Und Ko-
s kain aus Kolumbien wird in Spanien genauso verkauft wie in Deutschland oder
Belgien. Europol soll solche zusammenhänge erkennen und den Mitgliedsländern die
Suche nach Verdächtigen erleichtern.
Die rund 800 Europol-Angestellten - darunter Grenzschützer, Zollbeamte und Mitglie-
der der Küstenwache - bearbeiten nach eigenen Angaben jedes Jahr 13 500 Fälle.
10 Ähnlich wie bei Eurojust [eine EU-Institution, die die europaweite Verfolgung von Straf-
taten erleichtern soll] dürfen auch die EU-Polizisten nicht selbst Ermittlungen gegen
Verdächtige einleiten. Sie dürfen auf eigene Faust keine Personen festnehmen, keine
Häuser durchsuchen oder Dokumente beschlagnahmen. Aber sie können
den nationalen Beamten helfen, wenn sie darum gebeten werden.[ ... ]
1s Die wichtigste Waffe im Kampf gegen Kriminelle und Terroristen ist die Datenbank von
Europol. Damit führt die Behörde Buch über gestohlene Gegenstände und verdächti-
ge Personen. Fällt einem Polizisten in Madrid ein Fahrzeug auf, kann er nicht nur in
seiner lokalen und nationalen Datenbank nachschauen, ob es sich um ein gestohlenes
Auto handelt, sondern auch bei Europol. Aktuelle Fälle wollen die Fahnder nicht ver-
20 öffentlichen. Aber ein Fall von Menschenhandel aus Italien von 2001 veranschaulicht,
wie das System funktioniert: Damals hatten Carabinieri einen Frauenhändlerring ent-
deckt. Als sie feststellten, dass die Frauen alle aus Osteuropa kamen, haben sie Eu-
ropol gebeten, Telefonnummern in Ländern der Europäischen Union, in der Ukraine
KOMPETENZEN ANWENDEN I
und in Moldawien abzugleichen. Innerhalb von neun Monaten wurde das ganze Netz-
werk aufgedeckt - dank der ausgetauschten Daten über Europol. Über 80 Personen
2s wurden festgenommen.
Die Schwerpunkte der EU-Polizei haben sich seit den Anfängen erheblich verschoben:
Begonnen hat Europol in den 1990er Jahren mit dem Kampf gegen Drogenhandel. 100
Tonnen Heroin kommen nach Schätzungen der EU-Polizisten jedes Jahrs in die Euro-
päische Union. Nur acht bis 15 werden sichergestellt.
30 Mittlerweile ist der Drogenhandel nur ein Bereich von vielen. Die Terrorismusbekämp-
fung ist seit den Anschlägen vom 11 . September 2001 immer wichtiger geworden.
Auch die Ermittlungen gegen Menschenhandel und Kinderpornografie haben zuge-
nommen.(...)
Europol kümmert sich aber auch um Erpressung wie zum Beispiel gegen den schwe-
Js dischen Möbelkonzern IKEA. Die Erpresser hatten in mehreren EU-Staaten Sprengs-
ätze in IKEA-Geschäften gezündet. Europol übernahm die Organisation der europa-
weiten Fahndung nach den Verdächtigen und im Oktober 2011 konnten die
mutmaßlichen Täter in Polen festgenommen werden. Die Europäische Union gibt für
ihre Polizei rund 82 Millionen [Euro] im Jahr aus.
Ruth Reichenstei n, Die Europäische Union. Die 101 wichtigsten Fragen, 20 16, S. 76-78
Aufgaben
1 . Analysieren Sie die Grafik in M 1 (• Methodenkompetenz: Kritische Auswertung von Statis-
tiken).
2. Beschreiben Sie, ob bzw. wie sich Ihr Blick auf Europa verändert hat, seit immer mehr
Menschen „auf der Suche nach Asyl" sind (M 1). Beziehen Sie zudem in Ihre Überlegun-
gen mit ein, wie die geografische Herkunft Ihrer Familie Ihre Sicht auf Heimat und Migration
geprägt hat.
3. Die Tätigkeit von Europol und die Form der Verbrechen, mit denen sich die „EU-Polizei"
beschäftigt, haben sich seit den 1990er Jahren verändert (M 2). informieren Sie sich Sie im
aktuellen Jahresbericht von Europol (, www.europol.europa.eu) über die neuesten Entwick-
lungen und bewerten Sie anschließend die Arbeit von Europol.
4. Mit dem Aufbau des Europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
(RFSR) werden klassische staatliche Aufgaben im Bereich der Justiz- und Innenpolitik
(z.B. Zuwanderung, Asyl, polizeiliche und justizielle Zusammenarb eit) von den EU-Mitglied-
staaten auf die Europäische Union übertragen. Erörtern Sie, ob die EU dadurch mehr und
mehr zu einem Europäischen „Staat" wird.
Die Zukunft der EU -
• Perspektiven und Szenarien
Leitfragen Vor welchen Heraus- Wie reagiert die Europäische Inwieweit beeinflussen die Veränderun-
forderungen steht die EU? Union auf die neuen gen den Verlauf des europäischen
Rahmenbedingungen? Einigungsprozesses insgesamt?
Die Europäische Union hat momentan zahlreiche feststehen, wie sich das Verhältnis zwischen Groß-
Bewährungsproben z u bestehen. Der Umgang mit britannien und der Europäischen Union in der
den schwierigen Aufgaben wird zeigen, wie es um ,.post-EU-Ära" des Vereinigten Königreiches ent-
ihre Handlungsfähigkeit bestellt ist. Auf der einen wickeln könnte. Wenn die Verhandlungsergebnis-
Seite haben die letzten Jahre deutlich gemacht, se abstimmungsreif werden, sind das Europäische
dass es unterschiedliche Vorstellungen (Diver- und das britische Parlament dazu aufgerufen, über
genz) darüber gi bt, in welche Richtung sich die die Resultate zu entscheiden. Nach den bisherigen
Union entwickeln sollte (Finalität). Andererseits Erfahrungen kann man davon ausgehen, dass es
lassen sich in manchen Bereichen Politikansätze bis zu diesem Zeitpunkt noch einige kritische Pha-
erkennen, die gleiche oder ähnliche Auffassungen sen geben wird. Die unterschiedliche Auslegung
der politisch VerantwortUchen widerspiegeln von Absprac hen, politische Kontroversen und
(Konvergenz). Verzögerungen im Zeit plan deuten darauf hin,
dass bis zum endgültigen Abschied Großbritanni-
Um die anstehenden Probleme lösen zu können, ens aus der EU und da rüber hinaus von allen Be-
wird die Fähigkeit zum Kompromiss für die EU teiligten ein besonders hohes Maß an Flexibilität
von herausragender Bedeutung bleiben. Sie ist gefordert werden könnte.
eine wicht ige Voraussetzung dafür, dass sich Ver-
handlungspartner nicht als „Verlierer" sehen.
Sollte das der Fall sein, wären neue Gräben zwi- II. Die EU als Sicherheits- und
schen EU- Mitgliedstaaten oder ein gesteigertes Verteidigungsunion
Misstrauen gegenüber den europäischen Instituti-
onen nicht ausgeschlossen. Als Folge könnte der In sicherheitspolitischen Fragen haben sich für die
Rückhalt für das europäisch e Projekt nachlassen EU nach dem Abschied Großbritanniens aus der
und die populistische Strömung in der Europäi- Europäischen Union neue Spielräume eröffnet.
schen Union gestärkt werden. Das Vereinigte Königreich galt in Fragen der stär-
keren militärischen Zusammenarbeit in der Euro-
Zu den Herausforderungen für die Europäische päische n Union traditionell als „Bremser". Darüber
Union zählen im Wesentlichen fo lgende Bereiche: hinaus haben Terroranschläge in einigen Metro-
polen europaweit zu einem Klima der Verunsiche-
rung geführt und dadurch den Ha ndlungsdruck
1. Der EU-Austritt Großbritanniens (,,Brexit") erhöht.
Als Beispiel für die Wirkung „zent rifugaler Kräf- Dabei dient der Begriff „Sicherheit" als Sammel-
te", die EU-Staaten vom Zentrum der europäi- bezeichnung für verschiedene Ziele und Vorge-
schen Einigung immer weiter entfernen, verwei- hensweisen. Sie reichen von der Abwehr der ter-
sen Beobachter auf den EU-Austritt Groß- roristischen Bedrohung bis zu r verstärkten
britanniens (,,Brex it"). Es ist geplant, diesen bis militärischen Zusammenarbeit zwischen EU-Staa-
zum 29. März 2019 abzuschließen. Dann soll auch ten. Die geplante Vertiefung in diesem Bereich
5.4 Die Zukunft der EU - Perspektiven und Szenarien I
geht nicht zuletzt auch auf die Forderung des unter dem Begriff „Zugangspolitiken" zusammen-
US-Präsidenten Donald Trump zurück, die EU sol- gefasst: Menschen a us verschiedenen Regionen
le a ls Ergänzung zur NATO mehr Verantwortung der Welt versuchen aus unterschiedlichen Grün-
in der internationalen Politik übernehmen (>Kap. den und auf verschiedene Art in die Euro pä ische
6.3.2). Der französische Staatspräsident Man uel Union zu gelangen und dort ihr weiteres Leben zu
Macron hat sich mit Unterstützung der Bundesre- gestalten. Die Krisenherde im Nahen Osten und in
gierung ebenfalls für ein stärkeres verteidigungs- Afrika habe n dazu geführt, dass sich die Flucht-
politisches Engagement der EU ausgesprochen; und Migrationsbewegungen intensiviert haben.
entsprechende jüngere Initiativen werden unter Durch ihr Ausmaß und die damit verbundenen
dem Stichwort „Verteidigungsunion" diskut iert. Probleme wurden die Grenzen der europäischen
Zusammenarbeit und Solidarität offensichtlich.
III. Die EU als Werte- und Rechtsgemeinschaft Dieser Umstand betrifft sowohl das Verhält nis ein-
zelner EU-Staaten zueinander a ls auch die Euro-
Während sich die EU in ihren Beziehungen zu päische Union als Ganzes. Künftig geht es vor
Staaten außerhalb der Union als Förderer westli- allem darum, entsprechende Konfliktpotenziale
cher Werte sieht, besteht in dieser Hinsicht inner- zu verringern sowie Rechts- und Sicherheitsbe-
halb der Union Klärungsbedarf. Gru nd dafür sind la nge mit e iner fairen Lastenverteilung in Ein-
Bemühungen in Ländern wie Ungarn und Polen, klang zu bringen. An der Migrations-, Flücht-
demokratische und rechtstaatliche Grundsätze lings- und Asylpolitik w ird sich besonders deutlich
wie die Gewaltenteilung oder die Unabhängigkeit zeigen, ob die Europäische Union ihrem e igenen
der Justiz zugunsten der Exekutive in Frage zu Anspruch als Wertegemeinschaft gerecht werden
stellen. kann, die die Menschenwürde als Dreh- u nd An-
gelpunkt ihrer Politik betrachtet.
Die Europäische Kom mission und der Europäische
Rat haben bislang ohne Erfolg darauf hingewie-
sen, dass die Rückkehr zu den Standards westli- V. Die Vertiefung der Wirtschafts- und
cher Demokratien die Voraussetzung dafür ist, das Währungsunion
,,Rechtstaatsverfahren" gegen die beiden EU-Mit-
glieder einzustellen. Dabei geht es darum, die Ein- Die Erholung der EU-Länder vo n der Finanzkrise
haltung demokratischer Vorgehensweisen zu verläuft in unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
überwachen und bei Bedarf Sanktionen einzulei- Aktu elle Initiativen zielen darauf ab, d iese Kluft
ten. In beiden Fällen kam es zu Vertragsverlet- und die Krisenanfälligkeit einzelner Volkswirt-
zungsverfahren, dem der Entzug des Stimmrechts schaften zu verringern. Konkret ist u. a. ein eige-
in EU-Gremien folgen kann. Dieser Schritt müss- nes Budget für die Länder des Euro-Raumes im
te a llerdings mit Unterstützung a ller EU-Lä nder Gespräch, für das ein „europäischer Finanzminis-
vollzogen werden. Auch die Feststellung e iner ter" ve ra ntwortlich sein soll. Während die Befür-
sch werwiegenden Verletzung von elementaren worter auf neue Gestaltungsspielräume bei der
Grundsätzen der EU ist an Mehrheitsverhä ltnisse wirtschaftlichen Belebung und die Stärkung des
gebunden, die sich derzeit noch nicht abzeichnen. europä ischen Wir-Gefühls hinweisen, betonen
Skeptiker, dass die Budgethoheit ausschließlich
Vor diesem Hintergrund wird es in der EU der bei den nationalen Parlamenten liege. Die Debat-
Zukunft auch um die Frage gehen, wie durchset- te zwischen den Anhä ngern einer auf mehr Aus-
zungsfähig das EU-Recht ist und ob die Werte, für gaben a ngelegten (expansiven) Wirtschaftspolitik
die die EU bislang steht, a uch künftig das Selbst- und den Befürwortern eines Sparkurses (A usteri-
verstä ndnis aller Mitglieder prägen werden. tät) wird bereits seit einiger Zeit geführt (> Kap.
2.2.3). Die Frage einer gemeinsamen Verantwor-
tung fü r Haushaltsdefizite im Euro-Raum und
IV. Migration, Flucht und Asyl Anreize zum Schuldenabbau gehören ebenso zu
dieser Kontroverse wie die Möglichkeit einer neu-
Die Polit ikfelder Migration, Flucht und Asyl wer- en Machtbalance zwischen der EU-Kommission
den mit Blick auf ihre Ausgestaltung in der EU und den Mitgliedsländern der EU.
5 Die Europäische Union
Der gesteigerte Wettbewerbsdruck durch die Glo- Die Europäische Union erfolgreich ins digitale
balisierung, eine Überalterung der europäischen Zeitalter zu führen, wi rd von vielen politischen
Gesellschaften, Spätfolgen der Wirtschafts- und Akteuren als eines der wichtigsten EU-Projekte
Finanzkrise sowie neue Anfo rderungen in der Ar- für die kommenden Jahrzeh nte betrachtet. Die
beitswelt im Zuge der Digitalisierung (,,Industrie ,,Digitale Agenda für Europa" geht davon aus,
4.0") sorgen aus Sicht der EU und ihrer Mitglied- dass die Umbrüche, die mit der entstehenden In-
staaten zunehmend für Handlungsbedarf auf so- formationsgesellschaft einhergehen, sowohl Vor-
zialpolitischen Gebieten (> Ka p. 2.3). Vor diesem teile als auch Nachteile mit sich bringen. In wirt-
Hintergru nd wu rden 2017 Gru ndsätze für ein ge- schaftl icher Hinsicht schreibt ma n dieser Trans-
rechteres Europa verabschiedet. Sie reichen von fo rmation ein großes Wachstumspotenzial zu
der Chancengleichheit a uf dem Arbeitsmarkt über (>Kap. 2.3. 1).
faire Arbeitsbedingungen bis zur Inanspruchnah-
me von Leistungen, die die Sozialsysteme der Deshalb sind die bisherigen Maßnahmen nicht
EU-Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen. Die zuletzt darauf ausgerichtet, den „Digitalen Bin-
Zukunftsfähigkeit de r Unionsbürger soll darüber nenmarkt" möglichst rasch zu verwirklichen. A nt-
hinaus durch besondere Anstrengungen auf dem worten auf rechtliche Fragen und die Berücksich-
Gebiet der (Fort-)Bildung gesteigert werden. Zu- tigung von Sicherheitsbelangen geh ören dabei
dem werden sich die politischen Akteure mit dem ebenso zu den Entwicklungsfeldern wie eine flä-
Problem der Juge ndarbeitslosigkeit langfristig be- chendeckende und leistungsfähige Infrastruktu r.
sch äftigen müssen, um die Entstehung einer „ver- Damit Problemlösungen und Reformvorhaben
lorenen Generation" z u verhindern. Kritiker der erfolgreich sein können, muss die Politik im Mehr-
„Europäischen Säule sozialer Rechte" bemängeln ebenensystem der EU in verschiedene Richtungen
die Unverbindlichkeit der Proklamation. noch e nger vernetzt werden.
Aufgaben
1. Erläutern Sie, warum die genannten Themengebiete für die Entwicklung der EU von großer Bedeutung sind.
2. ,,Großbritannien verlässt die Europäische Union, nicht Europa." Erklären und beurteilen Sie diese Aussage
der britischen Premierministerin Theresa May.
3. Diskutieren Sie Möglichkeiten und Grenzen des Konsensprinzips, das die Entscheidungsfindung in der EU
dominiert.
4. Erörtern Sie, ob die Europäische Union als Wertegemeinschaft, die sich international für Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit einsetzt, an Glaubwürdigkeit verliert, wenn einzelne EU·Mitgliedstaaten im Innern diese
Werte missachten.
METHODENKOMPETENZt
Szenariotechnik
Die Szenariotechnik ist eine Methode zur politi- ist eine angemessene Beschreibung und Gewich-
schen Planung u nd zur Bestimmung der Wahr- tung der möglichen Faktoren.
scheinlichkeit einer bestimmten Zukunftserwa r-
tu ng oder des Eintretens eines Szenarios in fünf, Auch die Darstellung u nd Besch reibung der aktu-
zehn oder 20 J ahren. In der Methode wird davon ellen Situation muss klar und nachvollziehbar
ausgegangen, dass bei u nterschiedlichen Vora us- sein. Den n unterschiedliche Beobachter werden
setzungen auch unterschiedliche „Zukünfte" möglicherweise eine unterschiedliche Perspektive
wahrscheinlich und entsprechend in variierenden a uf den aktuellen Zustand des „Problems" haben
Szenarien darstellbar sind. Ob das eine oder das und es som it auch anders beschreiben.
andere Szenario eint ritt, hängt ab von den Fakto-
ren (auch „Deskriptoren" genannt) und dem Ge- Der Blick beispielsweise a uf die EU ist heute in der
wicht, das ihnen zugeschrieben wird. In der Regel Regel geprägt von (unterschiedlichen) Erfahrun-
werden Extremszenarios (positives/negatives Ex- gen a us der Vergangenheit und variierenden Er-
tremszenario bzw. Best Case- oder Worst Case- wartungen an die Zukunft - wo der eine Beobach-
Szenario) u nd Trendszenarien voneinander unter- ter den Stand der europäischen Integrat ion als
sch ieden. völlig ausreichend ansieht und deshalb am Status
quo festhalten oder diesen eher reduzieren will, ist
In de r Szenariotech nik wird zur Veranschauli- aus der Sicht eines anderen Beobachters die heu-
chung mit einem Trichtermodell gearbeitet. Der tige EU nur dan n überlebensfähig, wenn sie sich
Szenariotrichter zeigt auf der Zeitachse zum einen stärker vergemeinschaftet und in Richt ung einer
das Trendszenario als Fortschreibung des heuti- ,,politischen Union" weiterentwickelt.
gen Zustands (Status quo) in die Zu kunft und zum
anderen zwei Extremszenarien als bestmögliche Die Attraktivität und Bewertung des einen oder
bzw. als schlechtestmögliche Entwicklung. Je wei- anderen Szenarios hängt also a uch davon ab, wie
ter man auf der Zeitachse in die Zukunft blickt, man de n Gegenstand wa hrnimmt - was für den
um die Wahrscheinlichkeit des Eintretens des ei- einen Beobachter vor diesem Hintergrund als po-
nen oder anderen Szenarios zu beurteilen, umso sitives Extremszenario erscheint, wird ein anderer
unsicherer werden die Aussagen. Umso wichtiger eher als Worst Case-Szenario beschreiben.
positives
Extremszenario
Trendszenario
negatives
Extremszenario
Schritt 1: Problemanalyse
Am Anfang jedes Szenarios steht die Frage, ob ein bestimmter Sachverhalt als „Problem" wahrgenommen wird,
für das eine Lösung gefunden werden soll. Dieses Problem gilt es genau zu beschreiben und zu fragen,
wer von diesem Problem in besonderer Weise betroffen ist.
~
Schritt II: Einflussanalyse und Faktorenbestimmung
Im zweiten Schritt geht es darum, die Einflussfaktoren, die die Zukunft und die Wahrscheinlichkeit
des Eintretens einzelner Szenarien beeinflussen können, zu bestimmen und zu gewichten.
Dabei gilt es zu beachten, dass die einzelnen Faktoren sich wechselseitig beeinflussen und sich in
ihrer Wirkung verstärken oder auch abschwächen können.
In dieser Phase der Methode soll herausgearbeitet und analysiert werden, welche Einflussfaktoren unter
welchen Umständen und in welcher Kombination die extrem negative bzw. die extrem positive Entwicklung
beeinflussen. Vor allem d ie mögliche Verknüpfung und die unterschiedlichen Wechselwirkungen von
Einflussfaktoren (z.B. Verstärkung, Neutralisierung) gilt es hier herauszustellen und zu gewichten.
Im letzten Schritt soll auf der Basis der Gewichtung der Einflussfaktoren die Frage erörtert werden, welche
Folgen sich aus den unterschiedlichen Szenarien ergeben und welche Handlungsstrategien sinnvoll erscheinen,
um wünschenswerte Entwicklungen zu verstärken und negative Szenarien abzuwehren bzw. in ihrem Ausmaß
abzuschwächen. Hier steht vor allem die Frage im Mittelpunkt, was einzelne staatliche, gesellschaftliche und
ökonomische Institutionen und Gruppen beitragen können, um das gewählte Szenario zu verwirklichen:
Am 1. März 2017 hat die EU-Kommission ein Bürgern entsprechen - vorausgesetzt, d ie Mit-
,,Weißbuch zur Zukunft Europas" vorgelegt. gliedstaaten haben gemeinsame Zielvorstellungen
,,Weißbücher" sind Veröffentlichungen der Kom- und einen gemeinsamen Willen, die Reformagen-
mission zu Themen und Problemen, zu denen sie da auch umzusetzen.
Lösungsvorschläge und Ideen präsentiert. Das im
Frühjahr 2017 vorgelegte und 30 Seiten umfas- Szenario 2 :
sende Dokument diskutiert verschiedene Szenari-
en und Modelle, wie die EU im Jahr 2025 aussehen ,,Schwerpunkt Binnenmarkt"
kön nte. Die zentrale Frage, die das Weißbuch au f- In diesem Szenario gelingt es den Mitgliedstaaten
wirft, lautet: ,,Welche Zukunft wollen wir für uns, nicht, die beschlossene Reformagenda abzuarbei-
unsere Kinder und unsere Union?". ten. Die Interessen in den meisten Politikfeldern
s ind zu unterschiedlich, so dass sie sich nur auf
Die Kommission unterscheidet fünf Szenarien und eine Zusammenarbeit im ursprünglichen Kern der
zeigt, welche Auswirkungen das j eweilige Szena- europäischen Integration verständigen können -
rio in unterschiedlichen Politikbereichen hätte. das ist der Binnenmarkt. Das heißt, auf den Fel-
Sie versteht diese Modelle als A nregung zum dern der Migration, Verteidigung und Außenpoli-
Nachdenken, nicht als detaillierte „Blaupause" tik gibt es keine Fortschritte, auftretende Probleme
oder als Plan, den es abzuarbeiten g ilt. Die Brüs- werden nicht im EU-Rahmen gelöst, sondern von
sele r Behörde will mit ihren Überlegungen neuen einzelnen Staaten von Fall zu Fall a ngegangen.
Schwung in die europapolitische Debatte bringen; Die Kommissio n beschreibt dieses Modell so: ,,Der
sie verzichtete bewusst au f weitreichende institu- Binnenmarkt für Waren und Kapital wird gestärkt;
tionelle Reformvorschläge zum Umbau der EU in Standards weisen weiter Unterschiede auf; Freizü-
Richtung ei ner „Politischen Union". Das Ziel des gigkeit und freier Dienstleistungsverkehr si nd
Papiers ist es, unterschiedliche Möglichkeiten und nicht vollumfänglich gewährleistet." (Weißbuch
Szenarien aufzuzeigen. Die Kommission lässt 2017, s. 19).
zwar erkennen, dass sie eine Vorliebe für eine en-
gere Zusammenarbeit hat, sie überlässt es aber Szenario 3:
den Mitgliedstaaten, a us den verschiedenen Opti-
onen diejenige auszuwählen, die den Interessen ,,Wer m ehr will, tut mehr"
der europäischen Bürgerinnen und Bürgern am Hier würden sich diejenigen Staaten enger zusam-
besten dient. menschließen, die mehr Integration in einzelnen
Politikfeldern als notwendig ansehen. Es könnten
Szenario 1: sich „Koalitionen der Willigen" etwa auf dem Ge-
biet der Verteidigung, inneren Sicherheit, Steuer-
,,Weiter wie bisher " oder Sozialpolitik bilden. Die anderen Staaten, die
In diesem Modell konzentriert sich die EU auf ihre keine engere Integration wünschen, würden ihren
Reformagenda, die die Kommission 2014 unter Status behalten und könnten, wenn sie dies wol-
dem Titel „Ein neuer Start für Europa" beschrieben len, später in den Kreis der stärker integrierten
hat u nd die die EU-Staaten in ihrer „Bratisla- Staaten, dazustoßen. Obwohl die Kommission den
va-Erklärung" 2016 bestätigten; der Schwerpunkt Begriff des „Europas der zwei Geschwindigkeiten"
liegt auf wirtschaftlichen Themen, das sind vor hier nicht verwendet, ist mit diesem Szenario ge-
allem Beschäftigung, Wachstum und Investitio- nau das gemeint. Die 19 Euro-Staaten könnten
nen, die Stärkung des Binnenmarktes, der Aufbau zum Beispiel, zusammen mit Staaten, die den Euro
einer digitalen Infrastru ktur sowie eine moderne noch nicht eingeführt haben, in der Steuerpolitik
Verkehrs- und Energiepolitik. Aber a uch in der eine Harmonisierung und Angleichung vor-
Außen- und Sicherheits- wie auch in der Migrati- nehmen, um die Steuerhinterziehung in Europa
onspoliti k sind Verbesserungen und ein höheres grenzüberschreitend bekämpfen zu können. Eine
Maß an Geschlossenheit zu erwarten. In diesem Gruppe von Staaten kö nnte auch ein gemeinsa-
Szenario liefert die EU ko nkrete politische Ergeb- mes „Wirtschaftsgesetzbuch" erarbeiten und da-
nisse, die den Erwartu ngen der Bürgerinnen und mit die grenzüberschreitende wirtschaftliche Tä-
1METHODENKOMPETENZ
tigkeit von Unternehmen erleichtern; gerade für das in einem gemeinsamen Binnenmarkt nötig ist.
kleine und mittelständische Unternehmen wäre Ein Problem, das hier auftauchen würde: Wenn
dies eine Erleichterung, weil es für sie dann klare einzelne EU-Staaten billiger produzieren, weil sie
und einheitliche rechtliche Vorgaben gäbe. Ein keine oder deutlich niedrigere Umwelt- und Pro-
anderes Beispiel, das die Kommission nennt, zielt duktionsstandards im Vergleich zu den anderen
auf die engere polizeiliche und staatsanwaltliche Staaten hätten, würden sie sich dadurch einen
Zusammenarbeit zwischen einer Gruppe von unerlaubten „Wettbewerbsvorteil" verschaffen,
EU-Staaten ab, um die grenzüberschreitende Kri- sie würden damit gegen europarechtliche Vorga-
minalität etwa durch eine komplette Vernetzung ben verstoßen. Ein weiteres Problem ist, dass die
der Datenbanken und die Weitergabe der Informa- EU-Staaten sich schon in der Vergangenheit im-
tio nen an das Nachbarland effektiver bekämpfen mer wieder uneinig waren und es kei nen Konsens
zu können. gab, in welchen Bereichen die EU mehr tun und
wo sie ihr Engagement reduzieren sollte.
Szenario 4:
Szenario 5:
,,Weniger, aber effizienter"
In diesem Modell würde die Europäische Union ,,Viel mehr gemeinsames Handeln"
sich nur noch auf die Probleme und Politikberei- Dieses Modell ist am ambitioniertesten, weil es da-
che konzentrieren, in denen der europäische von ausgeht, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten
,,Mehrwert" offensichtlich ist und die EU-Mit- auf allen Politikfeldern noch enger als bislang
gliedstaaten durch eine enge Zusammenarbeit schon zusammenarbeiten : Eine Stärkung und ein
und die Übertragung der Problemlösung a uf neu Ausbau der Eurozone wird ebenso a ngesprochen,
zu schaffende EU-Institutionen gewährleistet wie eine gemeinsame Politik auf den Gebieten der
wird. Als Beispiel nennt die Kommission eine internationalen Handelspolitik, Verteidigungs-
EU-Agentur zur Terrorismusbekämpfung oder und Sicherheitspolitik (,,Europäische Verteidi-
eine europäische Telekom-Behörde, die Funkfre- gungsunion"), Außenpolitik, Migrationspolitik,
quenzen für grenzüberschreitende Kommunikati- Klimapolitik, humanitäre Hilfe und Entwicklungs-
onsdienste vergibt. Die Idee ist, dass sich die EU politik. Ebenso genannt werden die Vollendung des
durch eine Konzentration auf einige wenige Auf- Binnenmarktes in den Bereichen Energie, Digitali-
gaben (z.B. Innovation, Handel, Sicherheit, Mi- sierung und Dienstleistungen sowie die Schaffung
gration) Freiräume schafft und Ressourcen ein- eines „Europäischen Währungsfonds", der kriseln-
sparen kann in den Politikbereichen, in denen der de Euro-Staaten durch Kredite unterstützt. Ein Pro-
europäische Mehrwert nicht auf der Hand liegt. blem dieses Szenarios könnte sein, dass sich Teile
Die europäischen Staaten würden sich Kompeten- der Gesellschaft in (einzelnen) Mitgliedstaaten von
zen von der EU zurückholen, etwa auf dem Gebiet der EU abwenden, weil sie, wie die Kommission in
der Regionalpolitik, Beschäftigungs- und Sozial- ihrem Zukunfts-Weißbuch schreibt, ,,das Gefühl
politik. Die Vereinheitlichung und Standardisie- haben, der EU ma ngele es an Leg itimität bzw. sie
rung in den Bereichen von Verbraucher-, Umwelt- hätte den nationalen Behörden zu viel Macht ab-
und Arbeitsschutz wird auf ein Minimum reduziert, genommen".
Aufgaben
1 . Wenden Sie auf der Basis der im Weißbuch formulierten Zukunftsbilder der Europäischen Kommission die
Szenariotechnik an.
2. Werten Sie die Szenarien aus und entwic keln Sie auf der Grundlage dieser Analyse einzelne Strategien und
Maßnahmen, um ein zukunftsfähiges Modell der EU zu entwerfen, das sowohl Skeptiker als auch Befür-
worter einer Vertiefung der europäischen Integration gleichermaßen überzeugen kann.
SELBSTD IAGNOSE
Im laufe des letzten Kapitels haben Sie sich mit der Europäischen Union beschäftigt. Lesen Sie die
folgenden Sätze und entscheiden Sie jeweils für sich, welche der Spalten Sie ankreuzen können.
KOMPETENZEN
Am Ende dieses Kapitels sollten
Sie Folgendes wissen und können:
Ordnen Sie die folgenden Bedrohungen des Friedens den Bildern zu: Unkontrollierte Verbreitung
von Massenvernichtungswaffen (Proliferation), Ressourcenkonflikte und Bevölkerungswachstum,
internationaler Terrorismus, innerstaatliche Konflikte und Staatszerfall (Failing States). Begründen
Sie, welche dieser Bedrohungen Sie als eine direkte Gefahr für Deutschland ansehen.
Merkmale der
• heutigen Weltordnung
6.1. 1 Das System der Internationalen Beziehungen
Leitfragen Welche Akteure Warum spielt Sicherheit Wie hat sich der Wie lassen sich die
nehmen Einfluss auf in den Internationalen Sicherheitsbegriff Internationalen
die internationale Beziehungen eine so im laufe der Zeit Beziehungen anhand
Politik? große Rolle? verändert? theoretischer Modelle
erklären?
Im Sprachgebrauch werden die beiden Bezeich- durch andere Staaten ausgesetzt zu sein. j eder
nungen Internationale Beziehungen und interna- Staat muss darum, um Sicherheit herstellen zu
tionale Politik oft gleichgesetzt. Unter internati- können, paradoxerweise gewaltbereit sein.
onale Politik kann jede Interaktion und Aktivität
zwischen zwei bzw. mehreren Akteuren innerhalb Verbunden mit dieser anarchischen Grundord-
der internationalen Umwelt verstanden werden, nung ist das sogenannte Sicherheitsdilemma:
die in irgendeiner Form einen politischen Gehalt Solange die Welt anarchisch strukturiert ist und
haben (>Kap. 3). Demgegenüber sind die Interna- auf weltpolitischer Ebene keine übergeordnete Re-
tionalen Beziehungen sehr viel weiter gefasst, da gelungs- und Sanktionsinstanz in Form einer Art
hier nicht nur explizit politische Interaktionen Weltjustiz mit durchsetzungsfähiger Weltpolizei
bzw. Aktivitäten miteingeschlossen werden, son- existiert, muss j eder Staat um seine Sicherheit
dern alle grenzüberschreitenden Handlungen fürchten. Die einzige Sicherheit vor Angriffen
von den unterschiedlichsten Akteuren. Hierzu ge- scheint in der eigenen militärischen Stärke zu lie-
hören beispielsweise neben Staaten auch gen (Abschreckung). Im Streben nach Sicherheit
nicht-staatliche Akteure, wie Unternehmen und sind die Staaten gezwungen, immer mehr militä-
Verbände, abe r auch internationale Organisatio- rische Macht anzu häufen. Dies führt wiederum
nen. Die internationale Politik stellt dementspre- dazu, dass andere Staaten dies als Bedrohung
chend eine Teilmenge der Internationalen Bezie- empfinden und ihrerseits nach Macht streben.
hungen dar.
Nach der Logik des Sicherheitsdilemmas ergibt
sich aus dem Streben nach Sicherheit und des Be-
Anarchie in den Internationalen Beziehungen harrens auf sicherheitspolitischen Interessen eine
paradoxe Situation: Jeder Staat baut zum eigenen
Im Gegensatz zum Nationalstaat gibt es in der Schutz seine militärische Ressourcen auf, um für
internationalen Politik kein Gewaltmonopol und andere die Kosten soweit zu erhöhen, dass sich ein
dementsprechend keine Instanz, die die Sicherheit Angriff nicht lohnt. Der eigene Schutz wird j edoch
von Staaten bzw. Menschen garantiert oder Feh l- gleichzeitig aber zur Gefahr des anderen. Da sich
verhalten sa nktioniert (> Kap. 3.1. 1). Dies hat zur in einer solchen Welt kein Staat je ganz sicher
Konsequenz, dass man sich nicht darauf verlassen fühlen kann, ergibt sich ein Wettlauf um militä-
kann, dass andere Staaten friedlich sind ; sie müs- rische Macht und ein Teufelskreis von Sicher-
sen in einem solchen System sogar davon ausge- heitsbedürfnis, Machtanhäufung und Bedrohung.
hen, dass andere Staaten aggressiv sind. Eine sol- Das klassische Beispiel hierfür ist das ko nventio-
che Anarchie bedeutet für den einzelnen Staat, nelle und atomare Wettrüsten zwischen den USA
ständig dem Risiko von Gewalt und Aggression und der Sowjetunion im Kal ten Krieg.
6.1 Merkmale der heutigen Weltordnung 1
Raumdimension Gefahrendimension
Sachdimension Referenzdimension
Nach: Christopher Daase, Wandel der Sicherheitskultur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 50, 2010, S. 10
Konkurrierende Weltordnungsmodelle
Allgemein gilt die klassische Annahme, dass der In Weltordnungsmodellen sollen dabei Vorstel-
Zustand der Staatenwelt durch Anarchie - also das lungen über den Zustand oder die Ordnung der
fehlen von Herrschaft - gekennzeichnet ist. Zur Internationalen Beziehungen festgehalten wer-
Überwindung dieser werden in der Forschung drei den. Anhand solcher Modelle sollen komplexe
alternative Weltordnungsmodelle diskutiert: Die Besonderheiten vereinfacht dargestellt und
hegemoniale Ordnung, die horizontale Selbstorga- grundlegende Merkmale eines Sachverhaltes, Be-
nisation und der Weltstaat. griffs oder Phänomens hervorgehoben werden.
~ ~ ~
Horizontale Hegemoniale Ordnung Weltstaat
Selbstkoordination Ein Staat kann aufgrund seiner Staaten sind bereit, Souveräni-
Kooperation und Koordination Vormachtstellung anderen sei- tät an eine supranationale Insti-
der Interessen durch bilaterale nen Willen aufzwingen. Er hat tution abzutreten, die zur
und multilaterale Verträge bzw. quasi ein Gewaltmonopol. So Durchsetzung von Entschei-
durch Vereinbarungen in inter- kann Stabilität, Frieden und dungen legitimiert ist (Gewalt-
nationalen Organisationen. Die Demokratie gewährleistet wer- monopol). Das Gewaltmonopol
Einhaltung der Verträge kann den, kann jedoch auch zu Un- wird demokratisch legitimiert
nicht erzwungen werden (Multi- terdrückung und Willkür führen. und kontrolliert.
lateralismus).
Theorien in den Internatio nalen Beziehungen die- Die realistische Schule basiert auf den theoreti-
en dazu, den Gegenstand so zu analysieren, dass schen Überlegungen des amerikanischen Politik-
allgemeine Grundsätze und Regelmäßigkeiten in wissenschaftlers Hans Joachim Morgenthau ( 1904
ternationaler Politik sichtbar werden. Mit Hilfe - 1980). Ähnlich wie schon Thomas Hob bes ( 1588-
dieser Theorien können beschreibende (deskripti- 1679) sieht Morgenthau zerstörerisches Handeln in
ve) und erklärende (kausale) Aussagen gemacht der Natur des Menschen begründet. Der Prämisse
we rden. Das Feld der Theorien über die Internati- folgend, dass das Zusammenleben der Menschen
o nalen Beziehungen befindet sich dabei in einem vom „Krieg aller gegen alle" und durch ständige
Zustand ständiger Ausdifferenzierung und ist ge- Unsicherheiten - Ana rchie - geprägt ist, überträgt
prägt von einem Nebeneinander verschiedener Morgenthau dieses Konzept der Anarchie a uf die
und konkurrierender Theorien, Ansätze, Perspek- Internationalen Beziehungen. Da auf dieser Ebene
tiven und Konzepte. Dennoch lassen sich als zen- eine zentrale Entscheidungs- und Sanktionsgewalt
trale bzw. dominante Denkschulen der Internati- feh lt, ist die internationale Politik durch den
onalen Beziehungen vier verschiedene Groß- Hauptakteur des nach Macht strebenden souverä-
theorien unterscheiden: ne n Nationalstaates gekennzeichnet. Oberstes Ziel
j eder Außenpolitik muss deshalb die egoistische
• der (Neo-)Realismus, Durchsetzung der eigenen Interessen gegen die
• der Liberalismus (Idealismus), Interessen anderer Staaten sein, da jeder Staat für
• der lnstitutionalismus und seine Sicherheit in einem „System der Selbsthil fe"
• der Konstruktivismus. selbst sorgen muss.
6.1 Merkmale der heutigen Weltordnung 1
Aufgaben
1. Benennen Sie eine Theorie der Internationalen Beziehungen, in der das Sicherheitsdilemma eine zentrale
Rolle spielt und legen Sie dar, wie beide miteinander zusammenhängen.
2. Ordnen Sie die Großtheorien Internationaler Beziehungen jeweils den Weltordnungsmodellen zu und begrün-
den Sie Ihre Zuordnung.
3. Erklären Sie, wie und warum sich der Sicherheitsbegriff im l aufe der Zeit verändert hat.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Die Anarchie der internationalen Politik ist logische Konsequenz der staatlichen Souve-
ränität. Anarchie heißt nicht per se Chaos oder Konflikt, sondern meint ein fundamenta-
10 les Ordnungsprinzip der internationalen Politik, das sich vom Ordnungsprinzip innerhalb
souveräner Staaten (= Hierarchie) unterscheidet. Im internationalen Milieu interagieren
souveräne Staaten, die aufgrund ihrer Souveränität keiner höherrangigen Autorität un-
terstehen. Das heißt, keine überstaatliche Sanktionsinstanz sorgt für Ordnung. [... ]
Der Antrieb eines jeden Staates[...] ist das Streben nach Macht - im Sinne von Einfluss
15 auf das Denken und handeln anderer Staaten/Regierungen. Dieses Streben ist zwar
abhängig von Zeit und Raum, insofern die Ausübung von Macht/Einfluss zu verschie-
denen Zeiten an unterschiedliche Quellen und Ressourcen gebunden ist. Dies ändert
aber nichts daran, dass Staaten/Regierungen zu jedem Zeitpunkt versucht haben, ihre
Macht zu erhalten, zu demonstrieren und/oder zu vermehren. Indikatoren staatlicher
20 Macht sind v.a. geografische Lage, territoriale Größe, Bevölkerungszahl, wirtschaftli-
che Kapazität, politisches Ansehen und militärische Schlagkraft. Letztere bemisst sich
im Atomzeitalter vorrangig aus der Verfügung über nukleare Waffen; neuerdings spie-
len auch biologische und chemische Waffen eine Rolle.[ ... ]
Kein Staat kann sich sicher sein, dass andere Staaten ihre Machtressourcen nicht zum
25 Einsatz bringen. Das heißt nicht, dass alle Staaten zu jedem Zeitpunkt kriegerische
Absichten hegen. Es bedeutet lediglich , dass ein verlässlicher Zustand nationaler Si-
cherheit unmöglich ist, da Staaten ihre Macht auch durch Krieg vergrößern können.
Staaten stehen vor dem Dilemma, angesichts äußerer Bedrohungen selbst nicht zu
wenig, aber mit Blick auf etwaige Verunsicherungen ihrer Umwelt auch nicht viel Macht
30 anzuhäufen. [ ... ]
In einem anarchischen Milieu sind Staaten dem Postulat politischer Klugheit verpflich-
tet. Staaten entscheiden immer mit Blick auf mögliche Konsequenzen ihres Tuns für
ihre Machtposition. Kluges im Sinne von erfolgreichem Handeln zeichnet sich dadurch
aus, dass Staaten Strategien verfolgen, um ihre Machtposition nicht zu verlieren. Un-
35 kluges Handeln bedeutet, dass Staaten Entscheidungen treffen, in deren Folge sie an
Macht einbüßen. Politik ist insofern moralisch, als Staaten dem verantwortungsethi-
schen Gebot machtpolitischer Vernunft folgen. Die Moral der internationalen Bezie-
hungen besteht aus Postulaten des Machterhalts. [...]
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Aufgrund ihrer Pflicht zum Machterhalt, achten Staaten bzw. Regierungen argwöh-
40 nisch auf jede Veränderung der herrschenden Machtkonstellation. Auf Machtverschie-
bungen reagieren sie mit Aufrüstung und/oder der Bildung von Bündnissen. Die stän-
dige Reaktion aller Staaten auf vermeintliche Machtgewinne anderer Staaten führt in
der Regel zu einem unwirklichen, unzuverlässigen und daher prekären Gleichgewicht.
Dieses Gleichgewicht ist gleichzeitig die einzige Vorkehrung gegen einen Krieg der
4s mächtigeren Staaten gegeneinander. Jeder Krieg zwischen den mächtigeren Staaten
resultiert aus einer Störung des Gleichgewichts, hat allerdings zur Folge, dass sich von
Neuem ein Gleichgewicht zwischen den mächtigen Staaten herausbildet.
Aufgaben
1. Analysieren Sie die beiden Texte hinsichtlich der Frage, wie Anarchie überwunden werden
kann (M 1 und M 2).
2. Ordnen Sie die in M 2 formulierte Kritik an der realistischen Perspektive einer der Theorien
für Internationale Beziehungen zu.
3. Simulieren Sie im Rahmen eines Rollenspiels (, Methodenglossar) ein Gespräch jeweils mit
einem Vertreter des Realismus, des Liberalismus, des lnstitutionalismus und des Kons-
truktivismus darüber, wie die Anarchie in den Internationalen Beziehungen überwunden
werden kann.
6.1 .2 Krieg und Frieden
Leitfragen Was unterscheidet die Wie verändert sich die Kriegsführung Wie sind die neuen
„neuen Kriege" vom durch den Einsatz von Drohnen, Waffen zur Kriegsführung
klassischen Krieg? Robotern und Cyberattacken? zu beurteilen?
„De r Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik Fragt man n ach den Gründen von Krieg, so lassen
mit anderen Mitteln. So sehen wir also, dass der sich drei unterschiedliche Erklä rungsebenen von-
Krieg nicht bloß ein polit ischer Akt, sondern ein eina nder abgrenzen :
wahres politisch es Instrument ist."
• Auf der indiv idualistischen und psychologi-
Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 1994 schen Ebe ne sehen einige Wissenschaftl er eine
[Erstausgabe 1832-1834], S. 17
dem Menschen innewohnende Aggression als
Ursache.
Diese klassische Aussage v on Clausewitz prägt bis
heute das Verständnis von Krieg als ein polit isches • Auf der gesellschaftlichen Ebene geht der mar-
Instrument. Die Hamburger A rbe itsgemeinsch aft x istisch - leninistische Ansatz davon aus, dass
Kriegsursachenfo rschung (AKUF) verst eht Krieg die ökonomische Entwicklung des Kapitalis-
als einen gewaltsa men Massenkonflikt, der die mus zwan gsläu fig zu Kriegen u m Ressourcen
fo lgenden Merkmale a ufweist : fü hren muss.
,,(a) an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaff- • Auf der systemischen Ebene wird die Anarchie
nete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich des internationalen Staatensystems als Ursa-
mindestens auf einer Seite u m regulä re Streit- che für Kriege gesehen.
kräfte (Militär, para militä rische Verbände,
Po lizeieinheiten) der Regierung handelt;
(b) auf beiden Seiten muß ein Mindestma ß an zen- Lassen sich Kriege voneinander
tralgele nkter Organisation der Kriegfüh re nden unterscheiden?
und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn
dies nicht mehr bedeutet als organisierte be- Kriege ziehen sich wie ein roter Faden durch die
waffnete Verteidigung oder planmäßige Über- Geschichte der Menschheit. Kriegerische A usein-
fälle (Guerillaoperationen, Pa rtisan enkrieg andersetzun gen gab es schon immer zwischen
usw.); untersc hiedlichen Akteuren: Staaten, Kön igreiche
(c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit und politische Gruppen a uch innerhalb eines
einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht Staates. Besonders verheerend waren die beiden
nur als gelegentliche, spontane Zusammenstö- großen Weltkriege im 20. Jahrhundert.
ße, d. h. beide Seiten operieren nach einer pla n-
m äßige n Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe 2017 zählten Konfli ktforscher aus Heidelberg 20
auf dem Gebiet eine r oder meh rerer Gesell- Kriege und 385 Kon flikte, 222 wa ren davon ge-
sch aften stattfi nden und wie la nge sie dauern. waltsam. Eine grobe Unterscheidung ist d ie zwi-
sch en staatlichen und nicht staatlichen Kon-
Kriege werden als beendet angesehen, wen n die fliktparteien: Symmetrische zwischenstaatliche
Ka mpfha ndlu ngen dau erhaft, d. h. für den Zeit- Kriege, also Gewaltko nflikte, die zwischen zwei
raum von mindestens eine m J ahr, eingestellt bzw. Staaten ausget rage n werden oder asy mmetrische
nur unterhalb der AKUF-Kriegsdefi nition fortge- Kriege zwischen einer staatlichen und einer nicht
setzt werden." staatlichen Partei. Asymmetrische Kriege lassen
sich wiederum u nterteile n in innerstaatliche Ge-
Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF}, waltkonflikte - also Kriege zwischen einem nicht-
Kriegsdefinition und Kriegstypologie, 2016 staatlichen Akteur und einem Staat innerhalb
6 Internationale Beziehungen
50
40 - - - - - - - - - - - - - - - - - - -- -- - -
30 - - - - - - - - - - - - - - - - ~
20 t--- - - - - - - - - -
10
0
1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010
a. Schließt internationalisierte Binnenkonflikte ein b. Schließt extrasystemische Konflikte ein.
Quelle: UCDP und PR/0 2013; UCDP 2013
Nach: Deutsche Gesellschaft.für die Vereinten Nationen e. V., Bericht über die menschliche Entwicklung 2014
(Deutsche Ausgabe}, 2014, S.62
Was sind die „neuen Kriege"? Anstelle offener Feldschlachten verwenden die
Kriegsparteien Techniken des Guerilla- oder Par-
Die klassische Vorstellung von Krieg wird durch tisanenkampfes. Sogenannte Warlo rds, welche
die großen zwischenstaatlichen Kriege geprägt immer häufiger an neuen Kriegen beteiligt sind,
(z. B. Erster und Zweiter Weltkrieg). Heutzutage privatisieren gleichsam die Kriegsführung. Sie er-
entsprechen Kriege jedoch we niger diesem Mus- hoffen sich eine hohe Kriegsbeute durch Ressour-
ter, sondern sind vor allem Begleiterscheinungen cen, wie z.B. Gold oder Diamanten, sowie du rch
des Zerfalls von Staaten. Ein wesentliches Merk- Einnahmen von Schutzgeldern. Häufig wird die
mal der neuen Kriege ist die Entstaatlichung der Zivilbevölkerung in die Kampfhandlungen einbe-
Gewalt, so dass neben staatlichen Kräften immer zogen, teilweise als Geiseln genommen oder ge-
mehr auch bewaffnete Banden und ei nzelne auf- zielt getötet. Um sich zu weh ren, sich vor Raub,
gerüstete Gruppen im Rahmen dieser Konflikte Plünderung und Vergewaltigung zu schützen,
Gewalt anwenden. Sind in zwischenstaatlichen greifen die Menschen wiederum selber in die
Kriegen Staaten prinzipiell verpflichtet, internati- Kampfhandlungen ein bzw. schließen sich einer
onale Konventionen bei der Kriegsführung einzu- der Konfliktparteien an. Sogar Kinder werde n
halten, z.B. Regeln zum Umgang mit Kriegsgefan- dazu gezwungen, sich an Ka mpfhandlungen als
genen, so gibt es in den neuen Kriegen keine Kindersoldaten zu beteiligen.
Anerkennung solcher Verhal tensregeln.
,,Der Begriff hybride Kriegsführung wurde erst-
Ein weiteres Kennzeichen der neuen Kriege ist die mals 2005 vom amerikanischen Mil itärautor und
asymmetrische bzw. hybride Kriegsführung. Politikwissenschaftler Frank G. Hoffman verwen-
6.1 Merkmale der heutigen Weltordnung 1
det. Im Nachgang zum Libanonkrieg 2006 fand Verbi ndung mit terroristischen Aktionen und kri-
der Terminus weitere Verbreitung. Hoffman be- mi nellem Verhalten in einem Kampfgebiet, all
wertete diesen Krieg als eine Art Prototyp. Er dies, um politische Ziele zu erreichen."
definierte hybride Kriegsführu ng als zumeist
gleichzeitige u nd synergetische Kombination Oliver Tamminga, Hybride Kriegsführung, in:
konventioneller und irregulärer Kampfweise in SWP-Aktue/1 27, März 201 5, S. I
Aufhebung der
zentralen politischen
Auseinandersetzung
zwischen bewaffneten
Primat
der Politik + Kontrolle durch
legitimierte
Entscheidungs-
+ setzung
zwischen
militärischen
Primat der
(ethnonationalen)
Gruppeninteressen
+ Kontrolle und +
rationalen strategi-
Volksgruppen, Milizen,
Privatarmeen,
träger Großverbänden schen Gesamtleitung marodierenden Gangs
und Banden unabhängig
operierender Hecken-
Prinzip von Befehl Zentrale Gesamt- Aufhebung des schützen
und Gehorsam ....+ strategischen
leitung nach rationalen
Prinzipien
Prinzips von Befehl
und Gehorsam ♦
Aufhebung der Trennung von
Kampfzone und (sicherem)
Hinterland '
Nach: Reinhard Meyers, Krieg und Frieden, in: Wichard Woyke (Hrsg.}, Hand wörterbuch internationale Politik, 2004, S. 307
Im 21 . Jah rhundert ist das Internet zum Kriegs- den, das Abhören von Kommunikationsverbin-
schau platz geworden, da ein einfache r Laptop dungen oder die Manipulation von Anwen-
genügt, um ein hochtech n isiertes Raketenabwehr- dungsprogrammen.
system lahmzulegen. Waren zu r Zeit des Kalten
Kriegs die möglichen Kriegsparteien überschaubar Darüber hinaus stellen Drohnen und Roboter eine
u nd klar zu benennen, so ist heute die Zahl po- neue Kriegstechnik dar. Wurden die ersten Droh-
tentieller Angreifer unüberschaubar u nd kaum zu nen noch zur Aufklärung eingesetzt, sind sie in-
lokalisieren. Der Krieg der nahen Zukunft findet zwischen Präzisionswaffen. Statt Piloten für
somit auch im virtuellen Raum - dem Cyberspace Kampfjets auszubilde n, werden heute sogenannte
- statt. Cyberattacken zielen auf die die digitale Telepiloten zum Einsatz von Drohnen ausgebildet.
Steuerung von gegnerischen Waffensystemen ab.
Zivile sowie m ilitärische Informationstechnologi- Dabei wird der asymmetrischen Kriegführu ng des
en und Kommuni kationsnetze des Gegners Terrorismus die asymmetrische Kriegsführung
werden so attackiert, dass lebenswichtige Infra- durch Drohnen entgegengesetzt. Droh nen sind
strukturbereiche lahmgelegt werden, wie z.B. die hochgradig flexibel und global einsetzbar. So
Strom- oder Wasserversorgung. schnell, wie Terroristen ihre Operationsgebiete
verlagern, folgen ihnen die Drohnen. Zusätzlich
Zu den „Waffen" im Cyberwar gehören das Kop ie- sollen Kampfroboter Einsätze ermöglichen, ohne
ren, Löschen oder Modifizieren von Datenbestän- das Leben vo n Soldaten zu gefährden.
6 Internationale Beziehungen
vorherrsche n, sich a uf die institutionalisierte rung sein und die politische Kultur prägen. Die
Konfliktregelu ng zu verlassen und nicht sein rechtsstaatlichen Regeln und demokratischen
vermeintliches Recht gewaltsam zu verfolgen. Institutionen des Gemeinwesens werden so von
einer positiven emotio nalen Einstellung der
6. Die Bereitschaft zur Ko mpromisssuche bei Kon- Bürger getragen.
flikten sowie eine tolerante Grundhaltung muss Dieter Senghaas, Frieden als Zivilisationsprojekt, in : ders.
in der Gesellschaft selbstverständliche Orientie- (Hrsg.), Den Frieden denken, 1995, S. 198.ff.
Gewaltmonopol
Rechts- Interdependenz
staatlichkeit und Affektkontrolle
Soziale
Demokratische Gerechtigkeit
Prinzipien
Konflikt kultur
Nach: Dieter Senghaas, Frieden als Zivilisationsprojekt, in: ders. (Hrsg.), Den Frieden denken, 1995, S. 196 - 223, Auszüge
und Dieter Senghaas, Zum irdischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen, 2004, S. 30.ff.
Aufgaben
1 . Nennen Sie drei grundlegende Merkmale eines Krieges.
2. Analysieren Sie die Stellungnahmen zum Krieg von Carl von Clausewitz.
3. Erläutern Sie die Sicherheitsrisiken, die sich mit dem Einsatz von Cyberattacken ergeben können.
4. Entwickeln Sie für alle der drei beschriebenen Ebenen (Individuum, Gesellschaft, System) Lösungsvorschläge
zur Friedenssicherung.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
~ / o.,, ./
Die Vorstellung, dass Demokratie eine Friedensursache ist, geht auf das Zeitalter der
Aufklärung zurück. Besondere Bekanntheit hat eine Passage in Immanuel Kants Spät-
werk „Zum ewigen Frieden" (1795) erlangt, die wir hier nur leicht gekürzt zitieren wollen:
,,Wenn [... ] die Bestimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen,
s ,ob Krieg sein solle, oder nicht', so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsa-
le des Krieges über sich selbst beschließen müßten[... ], sie sich sehr bedenken wer-
den, ein so schlimmes Spiel anzufangen: Da hingegen in einer Verfassung, wo der
Untertan nicht Staatsbürger [... ] ist, es die unbedenklichste Sache der Welt ist, weil
das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigentümer ist , an seinen Tafeln,
,o Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u.d.gl. durch den Krieg nicht das mindeste ein-
büßt."
Ähnliche Gedanken über den Zusammenhang von Herrschaftsform und Außenverhal-
ten finden sich auch bei Montesquieu (1689-1855) und Thomas Paine (1736-1809).
Politisch wirksam werden sie zur Zeit des Ersten Weltkrieges. In Großbritannien grün-
,s den liberale Politiker die „Union of Democratic Control", deren Kernforderung die ver-
stärkte demokratische Kontrolle der Außenpolitik ist. Gegen Ende des Krieges mach-
te der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1913-1921) die Demokratisierung
des Deutschen Reiches zur Voraussetzung für Friedensverhandlungen und erhob
Demokratie zu einem Hauptpfeiler der von ihm anvisierten Nachkriegsordnung. Vom
20 Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre spielte die Idee der Demokratie als Frieden-
sursache dann wiederum keine nennenswerte Rolle. Das Ende des Ost-West-Konflikts
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
fällt dann mit der Widerentdeckung und schnellen Popularisierung der Demokratie als
Friedens-These zusammen.
Im Gegensatz zur Diskussion im Zeitalter der Aufklärung und zu Beginn des 20. Jahr-
2s hunderts werden in der zeitgenössischen Debatte zum Zusammenhang zwischen De-
mokratie und Frieden jedoch zwei Varianten streng voneinander getrennt. Die soge-
nannte dyadische Variante behauptet, dass Demokratien untereinander Frieden halten,
aber anderen (nicht-demokratischen) Staaten gegenüber genauso gewaltbereit sind,
wie andere Staaten. Hingegen behauptet die so genannte monadische Variante, dass
30 Demokratien generell friedlicher sind als andere Staaten. Diese Unterscheidung ent-
spricht der Trennung von internationaler Politik als Ergebnis von Interaktionen zwi-
schen Staaten auf der einen Seite und von Außenpolitik als Handlung eines Staates
auf der anderen Seite.
Die monadische These, wonach Demokratien generell friedlicher sind, ist bis heute
3s umstritten. Vieles hängt davon ab, was genau unter „Friedlichkeit" verstanden wird.
Nimmt man die Zahl von Kriegen, in die Demokratien verwickelt sind, wird man in der
Regel keine besondere Friedfertigkeit finden. Untersucht man allerdings das Ausmaß
an staatlicher Gewalt, beispielsweise die Zahl der Kriegstoten, zeigt sich, dass von
Demokratien begonnene Kriege weit weniger eigene Verluste mit sich bringen als von
40 Nicht-Demokratien begonnene Kriege. Auch in weiteren Aspekten f inden sich Indizien
einer höheren Friedensneigung von Demokratien: Sie würden sowohl Kriege als auch
militarisierte zwischenstaatliche Dispute seltener initiieren und sich eher um eine fried-
liche Konfliktlösung bemühen. [.. . ]
Der empirische Befund, dass Demokratien untereinander Frieden halten, wird hinge-
45 gen kaum noch in Frage gestellt. Jack Levy hat die dyadische Version sogar als größ-
Anna Geis / Wolfgang Wagner, Demokratischer Frieden, Demokratischer Krieg und „liberales peacebuil-
ding", in: Tobias Die (Hrsg.): Friedens- und Konfliktforschung, 2017, S. l JJJJ
Aufgaben
1 . Analysieren Sie die Karikat ur (, Methodenkompetenz: Karikaturen analysieren und interpre-
tieren). Gehen Sie dabei ausführlich auf die Sichtweise des Karikaturisten ein und prüfen
Sie seine in der Karikatur entwickelte Perspektive.
Leitfragen Was ist unter dem Wie entwickelte sich Welche Bedeutung hat Wie sind humanitäre
Völkerrecht zu verstehen das Völkerrecht? der Internationale Interventionen
und was sind seine Strafgerichtshof? völkerrechtlich zu
Grundsätze? beurteilen?
Das Völkerrecht beschreibt das Recht d er Inter- ka nn teste Doku ment mit dieser Zielsetzung ist die
nationalen Beziehungen. Unter dem Völkerrecht 1948 im Rahmen der Vereinten Nationen be-
versteht man j ene Rechtsnormen, die das Verhält- schlossene Allgemeine Erklärung der Men-
nis von Staaten, ihre gegenseit igen Rechte und schenrechte. Diese Erklärung hat zwar keine
Pflichten sowie die Rechtsteilung internationaler rechtlich bindende Wirkung, die darin veranker-
Organisationen verbindlich regeln. Diese Normen ten Menschenrechte gelten aber qua langjähriger
haben sich a us Verträgen und internationalen Ab- Praxis und gemeinsamer Rechtsüberzeugungen
kommen sowie aus langjähriger Praxis auf der als Völkergewohnheitsrecht.
Grundlage gemeinsamer Rechtsüberzeugungen
gebildet. Der wesentliche Unterschied zwische n
dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht
besteht im Fehlen eines für alle verbindlichen Ge-
Genfer Abkommen
setzgebungsorgans und Exekutivorgans. Kernstück des humanitären Völkerrechts sind die
vier Genfer Abkommen (auch: Genfer Konventio-
nen) von 1949 und ihre Zusatzprotokolle von 1977
Völkerrechtliche Grundsätze und 2005. An die Abkommen sind fast alle Staaten
der Welt gebunden: Derzeit sind 197 Staaten (2016)
Vertragsparteien der vier Genfer Abkommen.
• Äußere und innere Souveränität: Alle Staaten
genießen souveräne Gleichheit. Die Unverletz-
lichkeit der Grenzen bzw. des Staatsgebiets und Das humanitäre Völkerrecht ist ein Sonderrecht,
die politische Una bhängigkeit gelten gleichbe- das für Kriegs- und Konfliktsituatio nen geschaf-
rechtigt für jeden Staat. fen wurde. Es beinhaltet Regeln fü r den Schutz
von Personen, die nicht oder nicht mehr an
• Interventionsverbot: Das Prinzip der Nichtein- Kampfhandlungen teilnehmen (wie Verwundete,
mischung besagt, dass Staaten oder internatio- Kriegsgefangene und Zivilisten) u nd legt den
nale Organisatione n nicht das Recht haben, sich Konflikt parteien Beschränkungen hinsichtlich der
in die inneren Angelegenheiten eines Staates Art und Weise der Kriegsführung auf.
einzumischen. Dieser Grundsatz gerät zuneh-
mend in Konflikt mit anderen Normen des Völ-
kerrechts (Schutz der Menschenrechte, Verant- Sind Menschenrechte universell gültig?
wortung der internationale n Staatengemein-
schaft). Nach dem westlichen Verständnis der Menschen-
rechte sind diese vorstaatlichen Rechte natur-
• Pacta sunt servanda: ,,Ve rträge müssen ei nge- rechtlich begründet, unveräußerlich und un wan-
halten werden" - Es gilt das Prinzip der Ver- delbar. Diese Auffassung der Menschenrechte
tragstreue. steht in Konflikt mit dem asiatischen Verständnis
von Mensche nrechten. Der Konfuzianismus ver-
Besonders seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges tritt z.B. die Auffassung, dass der Mensch keine
wurde das Völkerrecht durch verschiede ne Ab- individualistisch zu begründeten Menschenrechte
kommen ergänzt, die de n Schutz der Menschen- beanspruchen kann. Indiv idualrechte stehen
rechte international garantieren sollen. Das be- gleichwertig neben kollektiven Rechten. Im Zwei-
6.1 Merkmale der heutigen Weltordnung 1
fel haben sogar Kollektivrechte Vorrang; d. h. der der diesen Straftatbestand genauer definiert u nd
Erhalt und das Wohl der Gemeinschaft stehen der von allen Unterzeichnerstaaten gebilligt wur-
übe r den Rechten des Einzelnen. So kann sich die de. Folter und Vergewaltigung fallen gena uso da-
Würde des Menschen als Norm nur im gesell- runter wie Verfolgung aus ethnischen oder relig i-
schaftlichen Kontext entwickeln u nd ist kein un- ösen Gründen bzw. Deportationen und Sklaverei.
verä ußerliches, vorstaatliches Individualrecht. Auch „Verbrechen der Aggression" und „Terroris-
mus" sollen verfol gt werden, sobald sich die Mit-
glieder auf eine juristische Definition dieser Tat-
Internationale Gerichte als bestände geeinigt haben.
Hüter des Völkerrechts
Im Gegensatz zum innerstaatlichen Recht fehlten Wann wird der IStGH tätig?
lange Zeit Möglichkeiten, völkerrechtliche Nor-
men mithilfe von Gerichten durchzusetzen. 1946 Der IStGH kann keine Verbrechen ahnden, die vor
gründete die UNO den Internationalen Gerichts- dem 1. Juli 2002 - seinem offiziellen Gründungs-
hof (IGH) mit Sitz in Den Haag, vor dem Staaten tag - begangen wurden. Die bedeutsamsten
wegen Verletzung von Verträgen oder Abkommen Grundsätze für die Tätigkeit des JStGH sind nach
klagen und verklagt we rden können. Vorausset- dem Römischen Statut:
zung für die Wirksamkeit seiner Urteile ist , dass
sich die Staaten seiner Gerichtsbarkeit unterstel- • Der Gerichtshof darf erst tätig werden, wenn der
len und die Urteile akzeptieren. Mit seinen Ent- mutmaßliche Täter die Staatsangehörigkeit ei-
scheidungen trägt der IGH zur Weiterentwicklung nes Vertragsstaats des Römischen Statuts besitzt
des Völkerrechts bei. oder dieser Staat die Gerichtsbarkeit des Ge-
richtshofs anerkan nt hat; gleiches gilt, wenn
Nachdem die UNO j eweils UN-Kriegsverbrecher-
tribunale für die im ehemaligen Jugoslawien und
in Ruanda verübten Kriegsverbrechen etabliert
hatte, wurde die Gründung des ständigen Interna- Kriegsverbrechen
tionalen Strafgerichtshofs (IStGH) im Jahre 2002 [sind] schwere Verstöße von Angehörigen eines Krieg führenden
als Durchbruch bei der strafrechtlich en Verfol- oder sich in einem Bürgerkrieg befindlichen Staates gegen das
gung schwerster Menschen rech tsverletzu ngen völkerrechtliche Kriegsrecht. Nach den Bestimmungen der Genfer
gefeiert. Grundlage seiner Arbeit ist das Statut Konventionen vom 12.8.1949 (Genfer Vereinbarungen) und dem
von Rom, das bisher von 124 Staaten (Stand: Ok- 1. Zusatzprotokoll von 1977 besteht die Verpflichtung der Staaten,
tober 2017) ratifiziert wurde. durch ihre Justizorgane Kriegsverbrechen zu verfolgen und zu
ahnden, andernfalls macht sich der Staat eines völkerrechtlichen
Delikts schuldig. Als schwere Verletzungen und somit Kriegsver-
Nicht mit dabei sind die USA. Sie hatten das Sta- brec hen sind aufgeführt: vorsätzliche Tötung, Folterung und un-
tut zwar unterschrieben, die Unterzeichnung aber mensc hliche Behandlung einschließlich biologischer Versuche,
wieder zurückgenommen. Der Grund: Vor dem vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwerer Beein-
IStGH kön nen Individuen entweder wegen eines trächtigung der körperlichen Unversehrtheit, die Zerstörung und
Verbrechens in einem Unterzeichnerland ange- Aneignung von Eigentum, die durch militärische Erfordernisse
klagt werden oder wenn sie die Staatsangehörig- nicht gerechtfertigt sind, ferner die rechtswidrige Verursachung
schwerer Schäden unter der Zivilbevölkerung und zivilen Objek-
keit eines Unterzeichnerlandes besitzen. Die USA
ten, die Verschleppung von Zivilpersonen u. a. Strafbar ist derje-
wollen aber verhindern, dass sich US-Staatsange- nige, der den Befehl zu einer solchen Tat gegeben hat oder ohne
hörige vor dem IStGH aus politischen Motiven Befehl handelte. Nicht geregelt ist die Strafbarkeit des Handelns
verantworten müssen. auf Befehl, sodass in Bezug hierauf auf allgemeine Verantwortlich-
keitsregeln (Gehorsam) zurückgegriffen werden muss.
Nach dem Römischen Statut verfolgt das Gericht
Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit Zur Ahndung von Kriegsverbrechen wurden sowohl Kriegsverbre-
cherprozesse durchgeführt als auch Kriegsverbrechertribunale
und Kriegsverbrechen, die vor nationalen Gerich-
eingerichtet.
ten straffrei blieben. Bei ihrer Verfolgung von
Verbrechen gegen die Menschlichkeit können sich Duden Recht A-Z. Fachlexikon für Studium, Ausbildung und Beruf
die 18 Richter a uf einen festen Katalog stützen, 3. Auflage, 2015
6 Internationale Beziehungen
( hl7\\
l~J
~
Der Internationale Strafgerichtshof
Das Gericht Anklagebehorde Die Angeklagten Das Verfahren
1
(am 1.7.2002) begangen worden sein
• Verbrechen wurden in einem Vertrag.sstaat verübt oder der Dem. Rep. Kongo, 8 Prozess
Sudan, der Zentralafrik. Höchststrafe
• Angeklagter hat Staatsangehöoigkeit eines Vertragsstaates
Republik, Kenia, Libyen, Mali 30 Jahre Haft oder
und der Elfenbeinküste lebenslänglich ~
Quelle: IStGH, Römisches Statut, Auswärtiges Amt Stand April 2016 C Globus 1092
sich die Tat auf dem Hoheitsgebiet eines solchen sident Umar al- Baschir soll sich vor de m Gericht
Staats ereignet hat. wegen Kriegsv erbrechen, Völkermord und Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit in der sudanesi-
• Der IStGH wird tätig, wen n Staaten nicht in der schen Provinz Darfur verantworten.
Lage sind, eine schwere Straftat zu verfolgen
bzw. dies nicht wollen, der Sicherheitsrat der Seit 2017 st eht Dominic Ongwen vor Gericht. Fast
Vereinten Nationen kann einen Fall verweise n zehn Jahre lang fah ndete der Strafgerichtshof nach
oder ein Ank.Jäger übernimmt die Initiative Ongwen, Washi ngton setzte fün f Millionen Dollar
(,,proprio motu"). Beloh nung für seine Festnahme aus. Er gilt als ei-
ner der wichtigsten Stellvertreter des Warlords und
• Der Kompetenzbe reich des IStGH beschränkt Kriegsve rbrechers Joseph Kony in Uganda. Ong-
sich auf Völkermord, Verbrechen gegen die wen werden 70 Kriegsverbrechen und Verbrechen
Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und soll zu- gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt - so vie-
künftig das Verbrechen der Aggression behan- le wie noch keinem anderen Angeklagten des Tri-
deln, da diese die internationale Gemeinsch aft bunals. Vergewaltigung und die Ent führung von
als Ganzes betreffen. Ki ndern zählen dazu, die dann als Kindersoldaten
oder Sexsklavin nen missbraucht wurde n. Gleich-
zeitig wird ihm die bestialische Verstümmelung
Urteile des IStGH und Ermordung von Ziv il isten zur Last gelegt.
Ausgehend von dem Fall, dass die Menschenrech- Humanitäre Intervention bedeutet, so einige Kri-
te innerhal b eines Staates nicht mehr gelten und tiker, die Ausschaltung des staatlichen Souveräni-
z. B. Völkermorde geschehen, stellt s ich die Frage, tätsprinzips und das Führen eines Angriffskrieges,
ob völkerrechtliche Grundsätze verletzt werden was einen Bruch des bisherigen Völkerrechts dar-
dürfen, wie das in der UN-Charta festgeschriebene stellt. Bis zum Jahr 2006 galt die Rechtsauffas-
Gewaltverbot, das Souveränitätsprinzip und das sung, dass eine Humanitäre Intervention - also
Nichteinmischungsgebot in innere Angelegenhei- die Ausschaltung des staatlichen Souveränitäts-
ten eines Staates. Im Kern geht es also um eine prinzips und das Führen eines Angriffskrieges
Abwägu ng zweier völkerrechtlicher Grundsätze: (Krieg für „höhere" Ziele) ein Bruch des damaligen
Völkerrechts zur Ko nsequenz hatte. Dann über-
Auf der einen Seite steht die Achtung und der nahm der Sicherheitsrat der UN die zuvor von der
Schutz der staatl ichen Souveränität und Nichtein- Generalversammlung beschlossene „Responsibili-
mischung in die inneren Angelegenheiten eines ty to Protect". Sie besagt, dass j eder Staat die
Staates. Auf der a nderen Seite die Achtung und Pflicht hat, seine Bevölkerung zu schützen. Wenn
der Schutz der Menschenrechte, dabei vor allem der Staat dies nicht tut, hat die internationale Ge-
der Schutz des Lebens. Zum Schutze des Lebens meinschaft für den Fall, dass die Bevölkerung ei-
sollen militärische Zwangsmittel auf fremden Ter- nes Landes großem Leid ausgesetzt ist, die Pflicht,
ritorien eingesetzt werden dürfen. Dies bedeutet diesen Schutz zu gewährleisten. Legitimiert ist das
aber massive Gewalt anzuwenden, ja Krieg für Recht zur militärischen Intervent ion durch einen
,,höhere" Ziele zu führen. Beschluss des UN-Sicherheitsrats.
Aufgaben
2. Erläutern Sie, inwieweit die Anerkennung der Universalität des Völkerrechts Voraussetzung für die Arbeit des
IStGH ist.
3. Recherchieren Sie, welche Verfahren gegenwärtig beim Internationalen Strafgerichtshof anhängig sind.
(, Homepage des ICC: www.icc-cpi. int)
4. Erklären Sie das Spannungsverhältnis zwischen dem Interventionsverbot auf der einen Seite und dem Prinzip
der Schutzverantwortung auf der anderen Seite.
5. Diskutieren Sie die Stärken und Schwächen des Strafgerichtshofs . Halten Sie die wichtigsten Argumente fest.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Hubertus Busche
www.Jemu11i-hage11.de, 17. J 1.201;
Aufgaben
Leitfragen Warum ist der Terrorismus Was sind Ursachen für Wie kann der transnationale
eine Bedrohung für die Terrorismus? Terrorismus eingedämmt
internationale Sicherheit? werden?
Bisla ng gibt es keine einheitliche Definit ion von (Euska di Ta Askatasuna, dt. ,,Baskenland und Frei-
Terrorismus. Fasst man die wissenschaftlichen Be- heit") in Spanien oder die IRA (Irisch- Republika-
schreibungen zusammen, kommt man auf folgen- nische Armee) in Nordirland.
de allgemeine Merkmale: Terrorismus bezeichnet
demnach eine andauernde und geplante Gewal- Betrachtet man den bisher verheerendsten terro-
tanwendung mit politischer Zielsetzung, um mit ristischen Anschlag auf das World Irade Center
terroristischen Methoden das Verhalten des Geg- am 11 . September 2001 (9/ 11 - nine eleven) in den
ners zu beeinflussen. USA, so war dieser kennzeichnend für de n heuti-
gen transnationalen Terrorismus, dem prinzipiell
• ,,Andauernd" bedeutet da bei, dass Einzeltaten, j eder zum Opfer fallen kann, der sich zum Zeit-
wie polit ische Attentate, nicht zum Terrorismus punkt des Anschlages a n einem beliebigen Ort auf
hinzu gerechnet werde n. der Welt aufhält.
• ,,Geplant" verdeutlicht, dass es eine Abgrenzung
zu spontaner Gewaltausübung, wie z. B. bei ei-
ner Demonstration, gibt. Opfer von 33182 35 000
~
1 1 1 1
(RAF) und Organisationen, deren Ziel die nationa- 2000 2005 2010
20~4
le Autonomie bzw. der „nationale Befreiungs- Stand Nov. 2015, Australien und Ozeanien: insg. 6 Opfer
Quelle: Global Terrorism Database, University of Maryland 10664
ka mpf' ist oder war. Beispiele hierfür sind die ETA
6.2 Globale Risiken und Herausforderungen 1
Der heutige transnationale Terrorismus verbindet Im Jahr 2004 formte sich aus Teilen der aufstän-
sich vor allem mit den Namen Al-Qaida und dem dischen Gruppierungen gegen die Amerikaner im
Islamischen Staat (IS). Beginnend mit Auftreten Irak eine Te ilgruppe vo n AI-Qaida (AQI). Darauf-
des Te rrornetzwerks Al-Qa ida und den Anschlä- hin folgte ab 2006 bzw. 2007 der islamische Staat
gen von 9/ 11 in den USA hatte der religiös funda- im Irak (ISI) und von 2011 bis Juni 2014 der Isla-
mentalistische Terrorismus eine neue Qualität mische Staat im Irak und in Syrien (ISIS). Mit der
hinsichtlich seiner Ziele, Mittel und Motive er- Ausrufung des Kalifats am 29. Juni 2014 nennt
reicht. Mit ihr verbunden ist der Name ihres Grün- sich die Organisation nur noch islamischer Staat
ders und Anführers Osama bin La den, der jedoch und steht vor allem im Syrienkrieg in Konkurrenz
2011 von US-Soldaten getötet wurde. zur AI-Qaida und a nderen Gruppen.
Strategie: Terro risten heutiger Prägung geht es Welche Ursachen hat der islamistisch-
immer seltener darum, bestimmte Personen zu fundamentalistische Terrorismus?
treffen. Sie g reifen vielmehr symbolische Orte und
Gebäude an, die die Werte, Systeme und Einstel- Der religiös-fundamentalistische Terrorismus ist
lungen des Gegners repräsentieren. Als An- von der Ablehnung gegenüber g lobalen Moderni-
schlagsorte werden a uch sog. weiche Ziele a usge- sierungs- und Säkularisierungstendenzen ge-
wä hlt, an denen sich viele Menschen a ufhalten. prägt. Der Dominanz westlicher Werte, z.B. in
Dabei geht es um möglichst hohe Opferzahlen. Form religiöser Indifferenz sowie der kapitalisti-
Dafür gibt es mehrere Gründe: Der Schrecken des schen und freiheitlichen Marktwirtschaft, wird die
Anschlages wird gesteigert; Angst und Verunsi- Rückkehr zu einem ausschließlich auf religiösen
cherung steigen. Das Ereignis findet größere Be- Grundlagen beruhenden Leben entgegengestellt.
rücksicht igung in den Medien. Den eigenen An-
hängern kann die Schlagkraft und Wirksamkeit Die mit der Globalisierung eng verbundene inten-
des Kampfes nachhaltig verdeutlicht we rden. sive Ausbreitung westlicher Wertvorstellungen,
Leitbilder, Lebens- und Konsumstile wird von ter-
Organisation: Der islamistisch-fundamentalisti- ro ristischen Vereinigungen als Angriff auf ihre
sche Terrorismus bedient sich transnationaler, de- religiös begründete kulturelle ldentität wahrge-
zentraler Netzwerke; Leitun gsebene und Terror- nommen, gegen die sie sich stemmen, um die He-
zellen sind unterschiedlich eng miteinande r rausbildung einer westlich orientierten Weltkultur
verknüpft. zu verhindern. Teilweise interpretieren sie diejün-
gere Geschichte als fortgesetzte Erniedrigung
Anschlagsserien: Typisch für den Terrorismus ihrer Kultur durch den Westen. Die Ko nfro ntation
neuartiger Qualität sind koordinierte und zeitlich mit den technisch, wirtschaftlich und militärisch
aufeinander abgestimmte Anschlagsserien sowie überlegenen USA und Eu ropa fördert Minderwer-
die große Zahl von Selbstmordanschlägen durch tigkeits- und Ohnmachtsgefühle, die sich im Hass
sogenannte Schläfer. auf die „Ungläubigen" kanalisieren.
6.2 Globale Risiken und Herausforderungen 1
Gleichzeitig wächst die Bevölkerung in islami- rund 490 Milliarden Dollar erhöhter Ausgaben der
schen Regionen. Sie besteht zu einem großen Teil US-Regierung für die Sicherung des Heimatlandes
aus jungen Menschen bzw. Jugendlichen. Zudem und die Geheimdienste. Die Kosten der Bundes-
hat der Urbanisierungsprozess stark zugenommen staaten und der Kommunen für erhöhte Sicherheit
und führt zu Elendsvierteln am Rande der großen werden auf 110 Milliarden Doll ar geschätzt.
Städte, die mit der Unterbringung und Versorgung
der vom Land kommenden Zuwanderer überfor- Politisch führten die Anschläge zu einer Verschär-
dert sind. Mit diesen Prozessen hat die wirtschaft- fung der Gesetzgebung im Bereich der inneren
liche und soziale Entwicklung dieser Länder j e- Sicherheit (Anti-Terror-Gesetze). Der ehemalige
doch nicht Schritt halten können. Die Folge ist Präsident George W. Bush (2000 - 2008) richtete
Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit gerade für Terrorverdächtige auf dem US-Marinestütz-
bei der jungen Bevölkerung, was wiederum im punkt Guantanamo Bay im Süden Kubas ein Ge-
Hass auf den Westen kanalisiert werden kann. fangenenlager ein . Seit Anfang 2002 werden dort
vor allem mutmaßliche Taliban- und AJ-Qaida-
Mitglieder festgehalten, denen die Rechte als
Welche Folgen hat der internationale Kriegsgefangene verwehrt blieben. Durch Berich-
Terrorismus für den Westen? te über willkürliche Misshandlungen, Erniedri-
gungen und Folter von Häftlingen wurde Guan-
Der Anschlag auf das World Trade Center 2001 tanamo zum Synonym für die Missachtung von
hatte vor allem für die USA negative wirtschaftli- Menschenrechten im Kampf gegen de n Terroris-
che Folgen. In den Wochen nach den Anschlägen mus.
verringerte sich die amerikanische Wirtschafts-
leistung erheblich. Fabriken stellten temporär ihre Biometrische Ausweise, Datenvorratssammlung,
Produktion ein, weil mit dem Zusa mmenbruch des strengere Kontrollen von Flugpassagieren, Raster-
Flugverkehrs und wegen drastisch verschärfter fahndung, neue Überwachungsmethoden digita-
Kontrollen im Land- und Flugverkehr die Zuliefe- ler Kommunikation - dies sind n ur einige der
rung von Vorprodukten nicht mehr gewährleistet staatlichen Maßnahmen, die die Bürger auch in
war. Deutschland nach zahlreichen schweren Terro-
ranschlägen vor Gewalt oder Terrorismus schüt-
Zusätzlich verursachten die Kriege in Afghanistan zen sollen. Diese sind j edoch nicht unumstritten:
und im Irak erhebliche Kosten. Nach offizieller Es stellt sich bei j eder einzelnen Maßnahme die
Rechnung wurden für diese Kriege bislang über Frage, ob der Staat damit zu sehr in die Freiheits-
eine Billion Dollar ausgegeben. Hinzu kommen rechte der Bürger eingreift.
Aufgaben
1. Benennen Sie Ursachen des islamistischen Terrorismus.
2. Arbeiten Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen nationalem und transnationalem Terrorismus
heraus.
3. Setzen Sie sich mit der These auseinander, dass zur Abwehr von Terror die Freiheitsrechte der Bürger einge-
schränkt werden dürfen.
1METHODENKOMPETENZ
Erklären Sie, welche Parteien sich gegenüberstehen und erläutern Sie, welche Interessen und Ziele diese
verfolgen. Untersuchen Sie, welche Rolle internationale Organisationen spielen.
• Wer sind die Konfliktparteien?
• Welche Interessen spielen in dem Konflikt eine Rolle?
• Wie verhalten sich die internat ionalen Hauptakteure?
• Welche strukturellen Ursachen hat der Konflikt?
Erläutern Sie die unterschiedlichen Positionen und Perspektiven zur Beurteilung des Konflikts aus der
Sicht des Völkerrechts, aus der Sicht der Machtverteilung und der Sicherheit. Beurteilen Sie dann den
Konflikt aus Ihrer persönlichen Sicht. Ermitteln Sie die Präsenz des Konfliktes in den Medien und
beurteilen Sie die mediale Darstellung des Konflikts.
• Wie ist der Konflikt zu beurteilen? Mögliche Beurteilungskriterien:
rechtlich: Internationales RechWölkerrecht
Stabilität: stabile Staaten-/Weltordnung
• Wie gestaltet sich die mediale Darstellung des Konflikts?
Beschreiben Sie Szenarien, wie sich der Konflikt lösen bzw. weiterentwickeln könnte. Erläutern Sie die
Handlungsoptionen der Beteiligten. Beurteilen Sie Möglichkeiten der Konfliktlösung ..
• Gibt es Möglichkeiten der Konfliktlösung?
• Welche Handlungsoptionen haben die Konfliktparteien?
• Wer kann zur Konfliktlösung beitragen?
• Wer ist an einer Konfliktlösung interessiert bzw. profitiert davon?
METHODEN KOMPETENZ
► März 2011 - Folter in Daraa ► Sommer / Herbst 2013 - Giftgas gegen das
In der Stadt Daraa verhaften die Behörden Kinder eigene Volk
und foltern sie, weil sie regimekritische Slogans Das syrische Regime setzt Giftgas in einer Protest-
an Hauswände gemalt hatten, die sie aus TV-Be- hochburg in Damaskus ein. Mehrere Hundert
richten über den Arabischen Frühling kannten. Menschen kommen ums Leben. US-Präsident Ba-
Die Eltern fordern ihre Freilassung [ohne Erfolg] rack Obama droht mit Bombardierungen. Was-
[...]. Prompt gehen Hunderte Bürger auf die Stra- hington und Moskau einigen sich darauf, das sy-
ße. Damaskus schickt Pa nzer und Soldaten. In rische Chemiewaffenprogramm außer Landes zu
anderen Städten und Dörfern formieren sich De- schaffen und zu vernichten. Damaskus willigt ein.
monstrationen aus Solidarität mit Daraa [...]. Das [... ]
Regime verhaftet tausende Studenten und Akti-
visten. Gleichzeitig lässt es aus seinen Kerkern ► Sommer 2014 - Amerikanische Luftangriffe
Dschihadisten frei, die den Aufstand unterwan- Unter iranischer Vermittlung gelingt ein wichtiger
dern sollen. Kompromiss zwischen dem Regime und seinen
Gegnern : Die letzten Rebellen ziehen aus Horns
► Sommer 2011 - Bewaffneter Protest ab, im Gegenzug für freies Geleit in den Norden
In Horns und Hama kommt es regelmäßig zu Mas- Syriens. Baschar al-Assad erklärt sich zum Sieger
sendemonstrationen. Doch die Protestbewegung einer angeblichen Volksabstimmung und zum
fängt an, sich zu spalten. Manche glauben ange- neuen Präsidenten Syriens. Der IS ruft ein Kalifat
sichts der brutalen Repression durch das syrische in Teilen Syriens und im Irak aus. Eine internati-
Regime nicht mehr an friedliche Proteste und fan- onale Koalition unter Führung der USA beginnt
gen an, sich zu bewaffnen. Zu ihnen stoßen syri- Luftschläge gegen den IS in Syrien und im Irak,
sche desertierte Soldaten, die nicht mehr auf die nicht gegen Assad. [...]
eigene Bevölkerung schießen wollen. Westliche
Regierungen fordern den Rücktritt Assads. ► Sommer/ Herbst 2015 - Die Pro-Assad-Alli-
anz rüstet auf
► Herbst 2011 bis Frühjahr 2012 - Vermittler Russland greift mit Luftangriffen in den Bürger-
scheitern krieg ein - zugunsten Assads. Eine Koalition aus
Damaskus akzeptiert einen Friedensvermittlungs- Russland, Iran, Irak und dem syrischen Regime
plan der Arabischen Liga. Doch das syrische Re- formiert sich, um die Rebellen endgültig zu schla-
gime hält sich nicht an die Vereinbarung. Damas- gen. Diese konnten im Nordwesten Syriens zuletzt
kus akzeptiert einen Vorschlag der Uno ; eine Siegesserie gegen das Regime verzeichnen.
Uno- Beobachter kommen ins Land. Doch das Re- Syrien ist in mindestens fünf Machtbereiche zer-
gime setzt auch diese Vereinbarungen nicht um fallen [...].
- weder den Abzug der Panzer und Artillerie aus
Wohngebieten noch einen Waffenstillstand. Die ► Frühjahr 2016 - Neue Verhandlungen in Genf
Uno-Vermittlung scheitert. Eine unter Führung der USA und Russland ausge-
handelte Feuerpause führt zu einer deutlichen
► Sommer 2012 - Die ersten Fassbomben Reduktion der Kriegshandlungen. In Dutzenden
Mit immer brutaleren Mitteln versucht Damaskus, Städten und Dörfern, die in Gebieten liegen, die
die Aufstände niederzuschlagen. Nicht nur Bo- von der Opposition kontrolliert werden, kommt es
dentruppen, sondern auch die Luftwaffe werden daraufhin erneut zu Demonstrationen gegen Ba-
gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt. Das sy- schar al-Assad. Gleichzeitig breitet sich die Nus-
rische Regime hat die Kont rolle über weite Teile ra-Front [... ] in den von der Opposition kontrol-
des Landes verloren. Zunehmend kommen inter- lierten Gebieten aus. In Genf t reffen erneut
nationale Dschihadisten über die Grenze zur Tür- Vertreter des syrischen Regimes und der Opposi-
kei nach Syrien. Das syrische Regime beginnt tion ein, um über eine Übergangsregierung zu
damit, sogenannte Fassbomben gegen die eigene verhandeln. [...]
1METHODENKOMPETENZ
► Sommer 2016 - Schlacht um Aleppo Grenze auf syrisch en Boden vor. Ziel der Kampa-
Im Juli 2016 gelingt es der syrischen Armee und gne sei es, das türkisch-syrische Grenzgebiet vo n
verb ündeten Milizen, die sogenannte Castello Terrororganisationen zu säubern, teilt die Regie-
Road einzunehmen - die letzte Verbindungslinie, rung in Ankara mit. In erste Linie geht es aber
über die Nachschub vo n der türkischen Grenze in darum, die Ku rden zurückzudrängen.
den von Aufständischen kontrollierten Osten
Almut Cieschinger et al., www. spiegel.de, I 7.2.2 016
Aleppos gebracht werden konnte. Damit sind
mehr als 200.000 Menschen eingekesselt. Darauf-
hin starten islamistische Milizen von der Provinz ► Anfang 2017
ldlib aus eine Militäroperation, um den Belage- In Genf beginnen erneut Friedensgespräche unter
rungsring zu durchbrechen. Angeführt werden sie Schirmherrschaft der Vereinten Nationen (UN).
von der Dschabhat Fatah al-Scham, de r ehemali- Die Gespräche zwischen Vertretern der syrischen
gen Nusra-Fro nt. [...] Nach rund ei ner Woche Opposition und der Regierung in der kasachischen
schwerer Gefechte gelingt es dem Bündnis, zu den Hauptstadt Astana hatten unter Vermittlung Russ-
Eingeschlossenen in Aleppo vorzudringen. Die lands, der Türkei und des Irans stattgefunden. Ein
zweitgrößte Stadt Syriens bleibt damit weiterhin von Russland vorgelegter Verfassungsentwurf für
umkämpft. Syrien wu rde von der Opposition abgelehnt.
TÜRKEI TÜRKEI
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Kob ne
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Hasaka
100 km
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II. Wer sind die Akteure und welche Interessen verfolgen sie?
Verbündete in
Wirtschaftliche Interessen
Wirtschaftlich steht Syrien in einem harten Kon- unterstützt, will über diese Pipeline Europa mit
flikt um den globalen Energiemarkt. Es geht um Erdgas beliefern. Nach Ansicht von Assad und
den Zugriff auf Erdöl und Erdgas und um die Russland soll diese Pipeline nicht gebaut werden.
Wä hrung, in der diese Ressourcen bezahlt werden. Neben dem Einfluss auf den eu ropäischen Ener-
Für Russland ist Syrien von enormer strategischer giemarkt geht es j edoch auch um die Währu ng, in
Bedeutung, weil es verhi ndern will, dass Katar für der Erdöl und Erdgas bezahlt werden. Der Dollar
den europäischen Energiemarkt zum konkurrie- steht immer mehr unter Druck, seinen Status als
renden Anbieter wird. Sollte Russland seinen Ein- Weltreservewährung und als Ölwährung zu ver-
fluss in Syrien verliere n, würde auch das derzeiti- lieren. Saudi-Arabien als Verbündeter der USA
ge Monopol der Gaslieferung nach Europa fallen. wird am Dollar festhalten, was nicht unbedingt
Saudi-Arabien plant gemeinsam mit Katar eine den Interessen Russlands entsp richt. Gleichzeitig
Pipeline, die vom Golf bis in die Türkei verlaufen lässt sich der Konflikt nicht allein auf diese Inte-
soll. Katar, das die syrischen Rebellen finanziell ressen reduzie ren.
1 Aufgabe
~ eren Sie den Syrienkrieg. Gehen Sie dabei so vor, wie auf der Methodenseite beschrieben.
6.2.2 Fragile Staaten
Leitfragen Was sind die Merkmale und Inwiefern bedroht der Staatszerfall Was lässt sich gegen
Ursachen von Staatszerfall? die internationale Sicherheit? Staatszerfall tun?
Das typische Merkmal fragiler Staaten ist der Ver- Zudem bestimmen die Machtinteressen autoritä-
lust des Gewaltmonopols des Staates. Dies äußert rer Eliten die Verteilung der wirtschaftlichen Res-
sich in der Unfähigkeit staatlicher Institutionen, sourcen meist zu Lasten der Mehrheit der Bürger.
die Sicherheit der Bürger nach innen und nach In das staatliche Vakuum stoßen dann hä ufig
außen h erzustellen. Damit einher geht die Erosion Warlords, also selbst ernannte regionale Kriegs-
der Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Teil- herren, die das wirtschaftliche, gesellschaftliche
habe. Der Staat ist zudem nicht mehr in Lage, und politische Leben durch Korruption, Vettern-
seinen Wohlfahrtsaufgaben n achzukommen und wirtschaft, illegale Geschäfte mit Drogen, Waffen
die Pflege der Infrastruktur (Bildung, Gesundheit, und Rohstoffen sowie durch Menschenhandel
Polizei) zu gewährleisten. oder Prostitution ersetzen.
Frieden und Sicherheit Wirtschaftliche und~ Bürgerkrieg / Terror Hilfe durch Staatenge-
politische Krisen, / Menschenrechtsverlet- meinschaft, Eingriffe
Unruhen zungen externer Akteure,
veränderte sicherhe its-
politische Lage
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rote Linie= Ausmaß des Verfalls staatlicher Strukturen und Institutionen.
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1. Somalia 114 9,7 9,7 9,4 9,5 9,3 9 9,5 9 9,7 9,7 10 9,5
2. South Sudan 113,8 9,9 10 9,9 6,6 9 9,3 9,7 10 9,7 10 9,7 10
3. Central African 112,1 8,7 10 9,3 7,2 9,9 8,6 9,8 10 9,9 9,2 10 9,5
Republic
4. Sudan 111,5 9 10 9,8 9,1 7,6 8,7 9,8 9,1 9,3 9,2
10 9,9
5. Yemen 111,5 9,5 9,6 9,5 7,5 8,4 9,4 9,4 9,3 9,4 10,0 9,5 10,0
6. Syria 110,8 8,4 10,0 10,0 8,6 7,4 7,8 10,0 8,9 9,8 10,0 9,9 10,0
7. Chad 110,1 9,9 9,8 8,5 8,9 9,3 8,0 9,2 9,8 9,3 9,1 9,8 8,5
8. Congo (D. R.) 110,0 9,1 9,7 9,7 6,8 8,9 8,1 9,3 9,7 10,0 9,2 9,8 9,7
9. Afghanistan 107,9 9,5 9,5 8,6 8,4 7,5 8,5 9,1 9,6 8,7 10,0 8,6 9,9
10. Haiti 105,1 9,2 7,9 6,7 9,0 9,5 8,9 9,4 9,4 7,7 7,9 9,6 9,9
...
165. Germany 28,6 2,2 5,7 4,8 1,8 3 2,4 1 1,3 1,3 1,8 2,3 1
...
175. Denmark 21,5 2,2 1,8 4,6 1,6 1,8 2,2 0,6 1,1 1,7 1,4 1,4 1,1
176. New Zealand 21,3 1,6 1,5 3,8 1,8 2,5 3,8 0,6 1,6 0,7 1,4 1,1 0,9
177. Norway 21,2 1,7 3 3,8 1,3 1,7 1,7 0,5 1,1 1,6 2,2 1, 1 1,5
178. Finland 18,8 1,3 2,5 2 2 1,2 3,7 0,6 1 1 1,4 1, 1 1
Generell wird in den Internationalen Beziehungen dem Zusammenbruch der Verwaltung kan n der
davon a usgegangen, dass mit nachlassender Ord- Staat seinen Wohlfahrtsaufgaben nicht mehr
nungskraft innerhalb eines Nationalstaates und nachkommen. In letzter Konsequenz entstehen so
dem Bedeutungszuwachs nichtstaatlicher Akteure Gebiete der Instabilität, die einen erheblichen ne-
die Kriegswahrscheinlichkeit steigt. Diese Gefahr gativen Einfluss auf ihre Regio n haben.
besteht vor allem bei fragilen Staaten, die vom
Zerfa ll bedroht sind.
Somalia - Beispiel eines fragil en Staate s und
Solche Staaten sind gekennzeichnet du rch ein die Auswirkungen auf die internationale
nicht mehr funktionsfähiges Gewalt monopol, das Sicherheit
zu einer Aufsplitterung der Gesellschaft in ver-
schiedene Gruppen führt. Der Staat ist n icht mehr Gibt d er Staat sein Gewaltmonopol auf und herr-
in der Lage, seine Bürger voreinander zu schützen. schen anarchische Zustände innerhalb eines Staa-
Durch fehlende Rechtsstaatlichkeit und mangeln- tes, ist dies häufig ein Einfallstor für den religi-
de Partizipationsmöglichkeiten kommt es zusätz- ös-fund ame ntalistischen Terrorismus (> Kap.
lich zu gravierenden Legitimitätsproblemen. Mit 6.2.1 ). Somalia gilt dafür als ein Beispiel. In So-
6.2 Globale Risiken und Herausforderungen j
Norwegen
✓-~
üdsudan EI ~-~f„i~, . ., ,
li und zum anderen der stete Kampf um die Vor- und fürchtete, sie werde die von Ali Mahdi gebil-
herrschaft in der Region, welcher im somalische n dete Regierung ane rkennen. Im November 1992
Bürgerkrieg von 1991 seinen letzten, bis heute boten daraufhin die USA unter Präsident George
nachwirkenden Höhepunkt erfahren hat. Seit her H. W. Bush an, eine multinationale Truppe unter
ist es keiner Regierung gelungen, ihre Macht zu eigener Führung zu entsenden. Allerdings stellten
behaupten. unterschiedliche Erwartungen innerhalb Somali-
as wie auch in der internationalen Gemeinschaft
Kampfhandlungen und Plünderungen führten sowie mangelnde Kennt nis der lokalen Gegeben -
1992 zu einer Verschlechterung der Versorgungs- heiten Probleme dar.
lage bis hin zur Hungersnot im Süden Somalias,
die schätzungsweise 300.000 bis 500.000 Men- Teile der somalischen Bevölkerung sahen in den
schen das Leben kostete. Die Hungersnot erhielt entsandten Truppen eine Besatzungsmacht und
ab Mitte 1992 Aufmerksamkeit in den internatio- unterstellten insbesondere den USA ganz andere
nalen Medien. Im selben Jahr beschlossen die Ver- Motive, wie die Erlangu ng der Kontrolle über Erd-
einten Nationen zudem die Entsendung der UNO- ölvorräte oder die dauerhafte Errichtung von Mi-
SOM-Mission, die zunächst j edoch nur einen litärbasen am strategisch wichtigen Horn von
Waffenstillstand zwischen Mo hammed Farah Ai- Afrika.
did und Ali Mahdi Mohammed überwachen sollte,
die beide das Präsidentenamt für sich beanspruch- Seit 2000 kam es dann vermehrt zu Piraterie vor
ten. Da Hilfsgüter für die von der Hungersnot Be- der Küste Somalias am Horn von Afrika, welche
troffene n immer wieder geplündert wurden, wu r- wichtige internationale Schifffahrtsrouten be-
de der Ruf nach einer humanitären Intervention drohte. Zur Sicherung der Seefahrtsrouten ent-
(>Kap. 6 . .1 .3) zur Sicherung der Lieferungen la uter. sandten die NATO und die EU (Ope ration „Atalan-
ta") Kriegsschiffe in die Region. Derzeit kämpfen
Der Frieden hielt nicht lange. Insbesondere Aidid zudem Soldaten der Afrikanischen Union, der Ar-
wandte sich mit seiner Somali National Alliance mee des Nachbarlandes Äthiopien und der USA
offen gegen die UNOSOM und verla ngte ihren Ab- gegen Islamisten in Soma lia, um die Ursachen im
zug, da er sie als Bedrohung seiner Macht a nsah Land zu bekämpfen.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie die Ursachen für den Zerfall von Staaten.
2. Die Indikatoren für fragile Staaten sind in soziale, wirtschaftliche und politisch/militärische gegliedert. Erläu-
tern Sie, inwieweit diese Bereiche miteinander verknüpft sind.
3. Somalia ist kein Einzelfall eines fragilen Staates in Afrika. Begründen Sie, warum gerade in Afrika besonders
viele Staaten als fragil gelten.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Das zentrale Ziel der internationalen Gemeinschaft ist die Stärkung oder (Wieder-)
Herstellung des legitimen staatlichen Gewaltmonopols. Doch wie soll mit jenen Kräften
umgegangen werden, die keine Bereitschaft erkennen lassen, sich konstruktiv an der
Stärkung von Staatlichkeit zu beteiligen[... ]? Soll man manifeste para-staatliche Struk-
5 turen zerschlagen, oder besteht eine realistische Chance, diese in den Staatsaufbau
zu integrieren? In den meisten Fällen müssen in der Tat state-building-Aktivitäten ge-
gen die Interessen solcher Akteure durchgesetzt werden. Andererseits sind Fortschrit-
te oftmals nur zu erreichen, wenn man einige dieser [... ] Machthaber in den Prozess
einbindet, sie an den zentralen Institutionen beteiligt bzw. ihnen für begrenzte Zeit
10 Freiräume oder Privilegien einräumt. [ ...)
Externe Akteure stehen häufig vor dem Problem, dass die Kooperation lokaler Eliten
oder zumindest von Teilen der Elite fast ausschließlich durch den Wunsch nach einer
Maximierung von „politischen Renten" motiviert ist. Dies verschärft in der Regel die
Abhängigkeit von externer Hilfe und birgt die Gefahr, dass etwa durch Finanzhilfen,
15 humanitäre Hilfe oder Entwicklungsgelder klientelistische Strukturen bzw. die „Schat-
tenökonomie" vor Ort gestärkt und damit kurz- und mittelfristige Reformen eher er-
schwert werden. [ ... ]
Inwieweit sollen die Maßnahmen von lokalen oder externen Akteuren gesteuert wer-
den? Einerseits ist es für die Nachhaltigkeit von Reformen oder Wiederaufbaumaßnah-
20 men notwendig, dass wesentliche Entscheidungen von den Akteuren vor Ort selbst
getroffen werden (ownership). [.. .]Andererseits darf die Präferenz für ownership nicht
dazu führen, in kritischen Fällen wichtige Maßnahmen zu unterlassen. Diese müssen
ggf. von Externen in eigener Regie umgesetzt werden, um humanitäre Katastrophen ,
den Rückfall in den Bürgerkrieg oder Gefahren für die regionale/internationale Sicher-
25 heit abzuwenden. [...]
Sollen sich externe Akteure primär auf d ie Verbesserung der Sicherheitslage im Land
und damit auf die Stärkung bzw. Reform des Sicherheitssektors konzentrieren? Oder
muss es darum gehen, alle relevanten Bereiche von Staatlichkeit gleichermaßen im
Blick zu behalten - z.B. politische Institutionen, Rechtsstaat, wirtschaftliche Aspekte,
Gesundheits- und Bildungssektor? Während der erste Ansatz - auch Security First
30 genannt - Gefahr läuft, einseitig die Kapazitäten des staatlichen Sicherheitsapparates
zu stärken und damit möglicherweise politische Reformen zu unterminieren, droht der
zweite Ansatz die externen Akteure auf Dauer zu überfordern. Letztlich müssen prag-
matische, auf den Einzelfall abgestimmte Mittelwege gefunden werden, da für sich
genommen keine der beiden Positionen überzeugen kann und auch wohl keine Aus-
35 sieht auf Erfolg haben dürfte. [... ]
Trotz dieser Dilemmata ist die Alternative, sich von Krisenregionen und fragilen Staaten
fern zu halten und nach Möglichkeit abzuschotten, weder realistisch noch wünschens-
wert. Die Alternative des disengagement bedeutet letztlich, dass man in bestimmten
Teilen der Welt die Dinge mehr oder minder sich selbst überlässt - auf die Gefahr hin,
40 dass sich die Zustände dramatisch verschlechtern, Krisen und Kriege wahrscheinli-
cher werden und weitere Länder in den Sog des Staatszerfalls geraten. Notwendig ist
stattdessen eine breite Debatte und Konsensbildung in- und außerhalb der UNO, um
zu einer Prioritätensetzung und Aufgabenteilung beim Umgang mit fragilen Staaten zu
kommen.
45 Der Zerfall von Staaten , ob abrupt oder schleichend, ist nicht selten verbunden mit
gewaltsamen Auseinandersetzungen, die in der Literatur als „neue Kriege" bezeichnet
werden. Dabei geht es im Wesentlichen um innerstaatliche Gewaltkonflikte (Bürger-
kriege), die allerdings in der Regel eine internationale Dimension annehmen, da exter-
ne Akteure aktiv beteiligt sind oder aber in Mitleidenschaft gezogen werden.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
en Kriege" sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Mischung aus regulärem Krieg,
organisiertem Verbrechen und massiven Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbe-
völkerung darstellen, bei denen sich die Unterscheidung von öffentlichen und privaten,
politischen und ökonomischen Akteuren sukzessive auflöst. Betont w ird dabei der
60 Trend zur Privatisierung und Kommerzialisierung des Krieges.
Eine zentrale Rolle spielen dabei manifeste Bürgerkriegs- oder Gewaltökonomien, von
denen diverse interne und externe Akteure profitieren. Die staatlichen Strukturen wer-
den durch die Prozesse zersetzt und letztlich zerstört, wobei zumeist (vormals) staat-
liche Akteure ihren Teil dazu beitragen, indem sie sich an der allgemeinen Plünderung
65 von Ressourcen beteiligen, eigene Milizen gründen oder die Armee kommerzialisieren.
Gleichzeitig nimmt insgesamt die Zahl der so genannten „spoiler" zu - jener „Stören-
friede", die kein oder kaum Interesse an einer Konfliktlösung und schon gar nicht an
einer geordneten Staatlichkeit haben.
Fragile Staaten räumen nichtstaatlichen, gewaltkompetenten Akteuren erhebliche
10 Spielräume ein. Dabei lassen sich verschiedene Typen unterscheiden: klassische Gue-
füllen sogar teilweise jene Lücken, die der von Konflikten zersetzte bzw. vom Zerfall
bedrohte Staat hinterlässt. Sie treten in den von ihnen dominierten Räumen als „Si-
cherheitsdienstleister" auf, in vielen Fällen gegen den Willen der betroffenen Bevölke-
rung, in manchen Fällen aber durchaus mit einer gewissen Legitimation, da sie zumin-
so dest einen rudimentären Schutz bieten, der allerdings mit Wohlverhalten und Loyalität
erkauft wird.
Diese Funktion üben vor allem jene Gewaltakteure aus, die in der Lage sind, auf Dau-
er Teile des Staatsgebietes zu kontrollieren und dort para-staatliche Strukturen etab-
lieren. Sie üben eine De-facto-Herrschaft aus, zumeist über informelle Mechanismen,
s5 die parallel neben den formalen staatlichen Institutionen existieren. Das Ergebnis sind
Ulrich Sch neckener, Fragile Staatlichkei t als global es Sicherheitsrisiko, i n: Aus Politik und Zeitgeschichte,
Nr. 28/29, 2005, S. 27ff.
Aufgaben
1. Legen Sie die vom Autor genannten Handlungsalternativen beim state-building dar.
2. Charakterisieren Sie die Herausforderungen beim Aufbau von stabilen staatlichen Struktu-
ren.
3. Entwickeln Sie einen eigenen tragfähigen Katalog von Maßnahmen zum „state-building"
in Somalia. Simulieren Sie dafür in einem Konferenzspiel (, Methodenglossar) ein Treffen
zwischen externen und internen Kräften.
6. 2. 3 Verbreitung von Massenvernichtungswaffen
Leitfragen Was macht die Verbreitung Wie funktioniert das internationale Schafft das Atomabkommen
von Massenvernichtungs- Regime nuklearer Nichtverbreitung? mit dem Iran mehr Sicherheit ?
waffen so bedrohlich?
Die internationale Sicherheitspo lit ik hat sich Staaten wi e der Iran und No rdkorea sehen in
durch aufstrebende Regionalmächte nach dem Atomwaffen ein geeignetes Mittel, um aus ihrer
Kalten Krieg erheblich verändert. Bis 1990 achte- Sicht bestehende Bedrohungen abzuwehren. Auf
ten d ie beiden Atommächte USA und Sowjetunion diesem Wege sollen eigene polit ische Forderungen
und deren Verbündete streng darauf, dass Mas - gegenüber Nachbarstaaten oder der internationa-
senvernichtungswaffen nicht in die Hände ihrer len Staatengemeinschaft durchgesetzt werden.
Gegner fallen konnten und die atomare Pattsit u- Diese Entwicklung ka nn in den Nachba rlä ndern
ation erhalten blieb. Mit dem Zerfall des Ostblocks wiederum zu einer Neubewertung der eigenen Be-
und der Öffnung der Grenzen sowie den durch die drohungslage führe n.
Globalisierung ermöglichten Info rmations- und
Wissenstra nsfers konnte sich das Know- how zur
Herstellung von Massenvernichtungswaffen a us- Die Gefahr des Wettrüstens
breiten. Heute stellt die weltweite Verbreitung
bzw. Proliferation atomarer, bio logischer oder Um gegenüber den Risiken der Proliferation und
chemischer Massenvernichtungswaffen (ABC- der Erp ressbarkeit durch sogenannte „Sch urken-
Wa ffen) eines der größten Sicherheitsrisiken dar. staaten" und Terro risten gewappnet zu sein, ent-
schlossen sich die USA zum Aufba u eines natio-
nalen Raketenabwehrsystems, welches feindliche
Worin besteht das Risiko? Interkontine ntalraketen bereits im Weltraum or-
ten und zerstören kann. Im Februar 201 2 gaben
Nicht nur Staate n auch Terro rg ruppen streben die USA bekannt, dass der Raketenabwehrschirm
nach Massenvernichtungswaffen bzw. nach den zu einem europäischen Raketenabwehrprogramm
Materialien und Plänen zu de ren Herstellung. Je
g rößer das Verbreitungsgebiet dieser Waffen ist,
desto größer ist a uch das Drohpotential, die Ge-
fahr von Missbrauch, Diebstahl, Sabotage oder
Unfällen.
im Rahmen der NATO ausgebaut wird. Eine erste Langstreckenraketen an und Nordkorea a ntworte-
Einsatzfähigkeit des Schirmes wurde auf dem NA- te mit dem Test vo n Atombomben. Die USA haben
TO-Gipfeltreffen in Chicago im Mai 2012 verkün- daraufhin n ochmals deutlich gemacht, dass sie
det. Dieser einseitige Ausbau eines US-amerika- gemäß ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie bereit
nisch geführten Sicherheitssystems fü hrte si nd, militärisch zu intervenieren, um Staaten da-
wiederum zu Misstrauen und Kritik anderer Staa- ran zu hindern, in den Besitz von Massenvernich-
ten. Russla nd kündigt e umgehend den Bau neue r tungswaffen zu gelangen.
Atommächte
Anfang 2016 besaßen neun Länder insgesamt 15 395 Nuklearwaffen (geschätzt).
Rund 4 120 davon waren einsatzbereit.
Großbritannien
215 .
•
Frankreich
300
Israel
80 e
•
Pakistan •
Nordkorea
•10
(JJ
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Quelle: Sipri
Mit zahlreichen Rüstungskontrollverträgen und Deutschland ist dem Vertrag am 2. Mai 1975 bei-
durch internationale Organisationen versuchen getreten. In einem fü r einen multilateralen Vertrag
Atomwaffen- und Nichtatomwaffenstaaten seit ungewöhnlichen Stil werden die Vertragsstaaten
den 1960er Jah ren die unkontrollierte Verbreitung strikt in zwei verschiedene Kategorien geteilt:
von Atomwaffen zu verhindern und vorhandene Staaten mit Ato mwaffen (Nuclear-Weapon-Sta-
Bestände abzubaue n oder einzufrieren. Der wich- tes, NWS) und Nichtatomwaffenstaaten (Non-Nuc-
tigste multilaterale Vertrag ist immer noch der lear- Weapon-States, NNWS). Wichtigstes Ziel des
Ato mwaffensperrvertrag (Treaty on the Non-Pro- NPT ist die Verhinderung der Verbreitung von
liferation of Nuclear Weapons - NPT), der 1970 in Atomwaffen. So statuiert der Vertrag in Art. I NPT
Kraft trat. Dem NPT gehören 190 Staaten an, v ier die Pflicht für die NWS, keine Atomwaffen oder
Staaten sind nicht Mitglied: Indien, Pakistan, Isra- dafür notwendige (Träger-)Technologie an einen
el und Südsudan. No rdkorea hat im Januar 2003 NNWS weiterzugeben. Spiegelbildlich verpflich-
seinen Rücktritt vom Vertrag erklärt, der endgül- ten sich die NNWS in Art. II NPT weder Ato mwaf-
tige Status Nordkoreas wird seither offen gehalten. fen zu erwerben noch solche selbst zu entwickeln.
6.2 Globale Risiken und Herausforderungen 1
Nach: Götz Neuneck/ Christian Mölling, Die Zukunft der Rüstu11gsko11trolle, 2005;
Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, www.armscontrol.de, Abruf: 16.10.2017
Mit Indien, Israel und Pakistan, die den Atomwaf- Die Lage im Nahen Osten ist besonders prekär, da
fensperrvertrag nicht unterzeichnet haben, leidet sich Israel in seiner Existenz durch den Iran be-
das internationale Regime der atomaren Nichtver- droht sieht. Trotz der Bede nken aus Israel wurde
breitung bis heute an mangelnder Universalität. 2015 nach 13 J ahren Atomstreit um das nukleare
Gleichzeitig ist es für die Vertragsstaaten verhält- Potential des Irans eine Einigung hinsichtlich der
nismäßig leicht, vom Vertrag zurückzutreten (z. B. Reduktion der Uran-Bestände und des Rückbaus
Nordkorea 2003). Dies kann dazu führen, dass ein von Atomanlagen erzielt (>Kap. 5.3.2). Im Gegen-
Staat zunächst von den Kooperationspflichten der zug wurden ab 2016 die Wirtschaftssanktionen
Atomwaffenstaaten beim Aufbau eines zivilen der USA und der EU aufgehoben. Die USA haben
Atomprogramms profitiert, um den Vertrag an- j edoch unter der Präsidentschaft von Donald
schließend zu verlassen und das erlangte Wissen Trump das Iran-Abkommen im Mai 2018 wieder
für militärische Zwecke zu nutzen. aufgekündigt und die alten Sanktionen durch zu-
sätzliche ergänzt.
Mit der Trennung zwischen Atomwaffen- und
Nichtatomwaffenstaaten kommt es für erstere zu Eine große Bedrohung für den Frieden stellen zu-
einem Verlust an Autorität bei der Argumentation dem die zahlreichen Atomtests Nordkoreas dar.
gegen die Weiterverbreitung dieses Rechts. Atom- Nordkorea verb raucht ein Drittel seines Bruttona-
waffen zuerst entwickelt zu haben, ist kaum hin- tionaleinkommens für sein Militär. lm Verhältnis
reichende Legitimation für deren alleinigen Besitz zur Bevölkerungszahl ist es das Land mit dem
und die NWS müssen sich von den NNWS zu größten Militär weltweit. Südkorea fühlt sich da-
Recht vorwerfen lassen, durch den Atomwaf- durch direkt in seiner Existenz bedroht. Nordkorea
fensperrvertrag ihre Machtposition zementiert zu hält sich zudem nicht an internationale Regeln,
haben. Die als Entgegenkommen für diese Un- und auch Sanktionen ha ben bisher nicht zu einem
gleichheit vorgesehene Abrüstungsverpflichtung Einlenken oder Stopp der Nukleartests geführt.
der NWS kommt hingegen faktisch kaum über das Die verhängten Sanktionen waren bisher erfolg-
vertragliche Versprechen hinaus und ist stark vom los, auch weil das Regime in Pjöngjang von China
Willen Russlands und den USA abhängig. als Verbündetem gestützt wird.
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie, warum Proliferation ein Risiko für den Frieden darstellt.
2. Vergleichen Sie im Hinblick auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen die unterschiedlichen Gegen-
maßnahmen vom Atomwaffensperrvertrag bis hin zur Strategie der USA
3. Diskutieren Sie folgende Ansicht im Rahmen einer Eishockey-Diskussion (, Methodenglossar): .,Warum soll-
ten nicht weitere Staaten Atomwaffen besitzen dürfen, wenn schon große Länder darüber verfügen dürfen".
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
M 1 Pro und Contra Atomabkommen mit dem Iran - Ist dem Iran zu trauen
oder nicht?
Pro
Lange verhandelten die USA mit den Mullahs wegen deren atomarer Ambitionen. Nun
gibt es einen Vertrag. [ ...] [D]ass eine Verständigung zwischen Washington und Tehe-
ran über nukleare Rüstungskontrolle nach einem Jahrzehnt des Tricksens und Täu-
schens möglich erscheint, ist ein politischer Fortschritt - wenn auch keine Garantie für
5 eine konfliktfreie Zukunft. Dass damit eine iranische Atombombe für alle Ewigkeit ver-
hindert wäre, werden auch die größten Optimisten nicht behaupten. Wenn Teheran die
Bombe will, dann bekommt Teheran auch eine Bombe - das ist die bittere Wahrheit.
Das allerdings wäre wegen der Sanktionen nur unter großen Opfern möglich, die vor
allem die iranische Bevölkerung nicht mehr bedingungslos zu zahlen bereit sind. Wer
10 die Bilder von jubelnden, tanzenden Menschen auf den Straßen iranischer Städte
gesehen hat, sollte begreifen, dass hier nicht das Regime gefeiert wird. Die Menschen
hoffen darauf, dass sich die Tür zu einem besseren Leben nun wenigstens einen Spalt
breit öffnen lässt. Der Pakt von Lausanne ist also nicht nur ein Abkommen zwischen
Staaten. Er setzt im Iran auch eine innenpolitische Dynamik in Gang, die man nur
15 begrüßen kann, weil sie die Mullahs unter Erfolgsdruck setzt. Einen Grund, dem Regi-
me zu vertrauen, hat Teheran dem Westen freilich nie geliefert. Die Frage, wie die
Kontrollmechanismen implementiert werden können, ist deshalb entscheidend.
Gleichzeitig müssen sich Kritiker bei aller Skepsis aber eines klarmachen: Eine ernst
zu nehmende militärische Option zur Verhinderung des iranischen Atomprogramms
20 liegt nicht auf dem Tisch. Nach dem Stand der Dinge würde eine Bombardierung der
Atomanlagen nicht einmal sicher dazu führen, das Nuklearprogramm zurückzuwerfen.
Und die militärische Gegenreaktion des Irans würde die Weltökonomie in eine massive
Krise stürzen - von politischen Folgen ganz abgesehen. Teheran kontrolliert die Straße
von Hormus, eine 30 Kilometer schmale Meerenge, durch die jährlich 40 Prozent der
25 weltweiten Ölexporte verschifft werden. Die von Teheran gesteuerte Hisbollah lauert
an der Grenze Israels. Ob man es mag oder nicht: Der Iran ist heute ein erheblicher
Machtfaktor in der Region. Nicht zuletzt die ungeschickte und planlose Interventions-
politik der Amerikaner hat dazu geführt, dass die Mullahs ihre strategische Stellung
massiv verbessern konnten.
Mit dieser Realität muss Washington nun fertig werden - und zwar mit den Mitteln der
30 Realpolitik. Das scheint nicht unmöglich. Zwischen dem Iran und den USA gibt es
partielle Interessenüberschneidungen: An einer weltweiten Ölkrise hat niemand Inter-
esse, ebenso wenig am Erstarken des sunnitisch befeuerten „ islamischen Staats". Das
iranische Regime will eine Garantie für seine Existenz, die Amerikaner wollen geord-
nete Verhältnisse im Irak - von einer Vorzeigedemokratie im Nahen Osten ist da schon
35 lange keine Rede mehr. [.. .]
Dass Teheran an der Seite Washingtons agiert, ist ein gewöhnungsbedürftiger Gedan-
ke. Aber schon heute koordinieren Amerikaner und Iraner ihren Kampf gegen den
gemeinsamen Feind „ islamischer Staat". Wählerisch waren die USA nie: Seit langem
sind sie mit Saudi-Arabien verbündet, einem Regime, dessen Verbrechen bei Amnes-
40 ty International Aktenschränke füllen. Ein Vertrag mit dem Iran ist für den Westen nach
Lage der Dinge jedenfalls die beste Option - weil es keine Alternativen gibt.
Contra
Das islamistische Regime in Teheran ist aus den Atomverhandlungen in Lausanne als
klarer Sieger hervorgegangen. Zwar musste es hinsichtlich der Intensität der Weiterent-
wicklung seines Atomprogramms und dessen internationaler Kontrolle erhebliche Zu-
45 geständnisse machen. Doch behält es die technologischen Kapazitäten, die es ihm
den. Unabhängig davon aber bedeutet die Vereinbarung an sich eine enorme internati-
onale Aufwertung des Mullah-Regimes. Von seiner aggressiven, auf regionale
Hegemonie und die Vernichtung Israels gerichteten Politik musste es als Gegenleistung
für den Abschluss keine Abstriche machen. [...] Die zugesagte Aufhebung der Sanktio-
55 nen würde der destruktiven Politik des iranischen Regimes zusätzliche Durchschlags-
kraft verleihen - bedeutete sie doch eine gewaltige Stärkung der Wirtschaftskraft der
islamischen Republik namentlich durch Ölexporte. Unvermindert kann der Iran indessen
seine Lang- und Mittelstreckenraketen fortentwickeln, die im Bedarfsfall atomar be-
stückt werden können. Ein jüngst mit Russland abgeschlossenes Militärabkommen
60 lässt erkennen, was hinter Teherans vermeintlicher Kompromissbereitschaft steckt. Es
will im Atomstreit Druck der internationalen Gemeinschaft von sich nehmen, um umso
entschiedener sein strategisches Ziel verfolgen zu können: den Aufbau einer antiwest-
lichen Front mit der Maßgabe, den Einfluss der USA und ihrer Ideen von Demokratie und
Menschenrechten aus der Region zu tilgen. Dass Teheran seine nukleare Infrastruktur
65 mit dem Segen des Westens behalten wird, verschiebt die Machtkonstellationen im
Nahen Osten dramatisch. Mit der latenten Drohung im Rücken, jederzeit auf die atoma-
re Option zurückgreifen zu können, wird Teheran zu einer Schlüsselmacht, ohne deren
Wohlwollen in der Region nichts mehr geht. Nicht nur Israel, auch Saudii-Arabien und
andere arabische Golfstaaten, die den Iran als Hauptbedrohung betrachten, fühlen sich
10 von den USA im Stich gelassen. Der jüdische Staat und die Saudis finden sich nun in
einer paradoxen lnteressenskoalition vereint und werden noch massiver für die aus ihrer
Sicht kaum mehr vermeidbare direkte Konfrontation mit dem gemeinsamen Feind rüs-
ten. Statt den zerrütteten Nahen Osten zu stabilisieren, stellt die Einigung von Lausanne
womöglich die Weichen für einen großen Krieg. Solchen verheerenden Aussichten steht
15 die Hoffnung gegenüber, die wirtschaftliche Öffnung Irans werde seiner Zivilgesellschaft
so sehr Auftrieb geben, dass es zu einer inneren Aufweichung der islamistischen Dikta-
tur kommt. Daran, und dass sich Iran durch Zugeständnisse zu einem verantwortlichen
Stabilitätspartner läutern lasse, scheint der sich sonst so ideologiefrei gebende Barack
Obama inbrünstig zu glauben. Dabei verkennt er aber offenbar den apokalyptischen
ao Glutkern des terroristischen Mullah-Regimes, das sich auch unter Irans neuem, ,,gemä-
ßigtem" Präsidenten Ruhani mittels äußerst brutaler Repression an der Macht hält.
Aufgaben
2. Begründen Sie, warum eine Atommacht Iran eine besondere Bedrohung für die internatio-
nale Sicherheit darstellen würde.
3. Verfassen Sie ausgehend von den beiden Stellungnahmen eine Rede, in der Ihre eigene
Position deutlich wird.
6.2.4 Kl imawandel und Ressourcenkonflikte
Leitfragen Warum kann der Klimawandel Wie sind die Ergebnisse internationaler Welche Risiken
als Gefährdung internationaler Klimapolitik zu beurteilen? entstehen durc h
Sicherheit gesehen werden? Ressourcenkonflikte?
Die menschliche Hochkultur hat s ich in den letz- • Durch eine steigende Erwärmung ve rstä rken
ten Jahrtausenden in einem relativ stabilen Welt- sich sch on vo rhandene Risiken im Gesundheits-
klima entwickelt. In den vergangenen 2.000 Jah- bereich.
ren schwankte die globale Temperatur um deutlich • Länder die vor allem von der Land-, Forst- und
weniger als 1°C. Seit der Industriellen Revolution Fischereiwirtschaft profitieren, können erhebli-
ist die durchschnittliche Temperatur der bodenna- che Einbußen bei der wirtschaftlichen Leis-
hen Luftschichten durch vom Menschen verur- tungsfähigkeit spüren.
sachte Treibhausgasemissio nen um 0,8°C gestie- • Es droht ein Verlust an biologischer Vielfalt mit
gen. Auf der Grundlage plausibler Annahmen für A uswirkungen a uf die damit verbunden en
künftige Emissionen können Klimaforscher die Ökosysteme.
Bandbreite des globalen Temperaturanstiegs ab- • Durch die Gefährdung bzw. Zerstörung der Le-
sch ätze n. Die Ä nderung der mittleren globalen bensgrundlage vieler Menschen gepaart mit ei-
Erdoberflächentemperatur für den Zeitraum von ner nicht a usreichenden Anpassungsfähigkeit
2016-2035 bezogen auf 1986 - 2005 wi rd wahr- v ieler Länder drohen Destabilisierun g und
scheinlich im Bereich vo n 0,3 °C bis 0,7 °C liegen. Migration aufgrund vo n Umweltrisiken.
In Bezug auf den Durchschnitt der Jah re 1850 bis
1900 wi rd projiziert, dass d ie Änderung der glo-
balen Erdoberflächentemperatur am Ende des 21. Klimaschutz braucht
Jahrhunderts wahrscheinlich 1,5 °C überschreiten internationale Kooperation
wird.
Der Klimawandel wird vo m menschlich en Verhal-
Der Klimawandel h at das Potential, Gesell- ten z umindest mit veru rsacht (anthropogener
schafts- u n d Wirtschaftskrisen auszulösen. Klimawandel). Als Ursache sehen Forscher den zu
Staaten mit überwiegend armer Bevölkerung sind hohen C02- Anteil der Luft (Treibhauseffekte),
besonders gefährdet, aber auch reiche Staaten der zu einem Großteil aus der Verbrennu ng von
sind nicht immun. Dies g ilt insbesondere bei einer fossi len Rohstoffen wie Kohle, Erdöl oder Erdgas
Temperatu rerhöhung vo n mehr als 2°C. Mit fol- entsteht. Da de r Klimawa ndel nicht vor nationa-
genden Wirkungen muss bei ungebremstem Kli- len Grenzen Halt macht, können nur internatio-
mawandel gerechnet werden: nale Kooperationen zu einem umfa ngreichen Kl i-
maschutz führen.
• Durch Wetterextreme und eine Veränderung der
Niederschlagsmenge drohen Prob leme bei der Das maßgebliche völkerrechtliche Vertragswerk
Wasserversorgung. zum internationalen Klimaschutz ist die Klima-
• Durch Dürren und Bodendegradation droht die rah menkonvent ion der Vereinten Nationen (Uni-
Produkt io n von Nah rungsmitteln zu sinken ; ted Nations Framework Convention on Climate
steigende Preise wären die Konsequenz und eine Ch ange, UNFCCC). Die Klimarahmenkonvent ion
Ab nahme der ökonomischen Leistungsfähigkeit wurde am 9 . Mai 1992 in New York City verab-
in den betroffenen Staaten. schiedet und im selben Jahr auf der Konferenz
• Wenn der Meeresspiegel steigt , dann sind dicht über Umwelt und Entwicklung (U NCED) in Rio de
besiedelte Regionen an den Küsten und große J a neiro von 154 Staaten unterschrieben. Die heu-
Städte, wie London, Mumbai oder New York ge- te 195 Vertragsstaaten der Konvention treffen sich
fährdet. jährlich zu Konferenzen (>Kap. 2.8.5).
1 6 Internationale Beziehungen
Klimasünder
Staaten mit dem größten Kohlendioxid-Ausstoß 2015
Die Kosten für den Kampf gegen den Klimawandel Notwendig ist darum aus der Sicht der Kritiker eine
werden selbst für die ehrgeizigsten Szenarien auf aktivere Politik der weltweit tätigen Nichtregie-
we niger als 0 , 12 Prozent des weltweiten jährli- rungsorganisationen, wie beispielsweise Greenpe-
chen Bruttoinlandsprodukts (BIP) geschätzt. ace oder WWF, um die Weltöffentlichkeit für das
Selbst im teuerst en Fall müssten demnach bis zum Problem weiter zu sensibilisieren, Verhandlungs-
Jahr 2030 schätzungsweise weniger als drei Pro- prozesse zu begleiten und voranzutreiben. Insofern
zent des BIP aufgewendet werden (>Kap. 2.2. 1). stellt die Entwicklung der internationalen Umwelt-
politik ein Beispiel für die Herausbildung von Glo-
Die dürftigen Ergebnisse von zahlreichen Konfe- bal Governance dar (>Kap. 6.5). Zudem wird auch
renzen, vor allem solcher vor Paris (> Kap. 2.8.5), infolge der zähe n internationalen Verhandlungen
wurden in der Weltöffentlichkeit als Rückschritt die Notwendigkeit von Aktivitäten einzelner Grup-
charakterisiert. Der Sinn und Zweck solcher Mas- pen au f lokaler und regionaler Ebene wie auch das
senkonferenzen wurde darum mehr und mehr in Umweltverhalten der einzel nen Bürger immer
Frage gestellt. festzuhalten ist aber, dass über die mehr in den Vordergrund gerückt.
sich verschärfende Problematik des Klimawa ndels
über Jahrzehnte ein umfangreicher Diskussions-
prozess in Gang gesetzt wurde und an der gemein- Warum Ressourcenkonflikte
samen Lösung des Problems gearbeitet wird. Kri- zum Risiko werden
tiker verweisen da rauf, dass dieser Prozess zu
langsam voranschreite und er immer wieder durch In dem 1972 vom Club of Rome veröffentlichten
nationale Sonderinteressen sowie durch den Ein- Bericht „Die Grenzen des Wachstums" wurde erst-
fluss starker Lobbys behindert werde. mals die Unvereinbarkeit von ungebremstem
Wirtschaftswachstum und der Endlichkeit der
Dies spiegelt j edoc h die Normalität internationaler vorhandene n Ressourcen thematisiert. Im Mittel-
Politik bzw. politischer Prozesse überhaupt wieder. punkt der Diskussion stehen seither die Verknap-
6.2 Globale Risiken und Herausforderungen j
Die Welt-Energievorräte
►
Reserven
unter heutigen
wirtschaflichen
und technischen
Bedingungen sicher
gewinn bare
Energievorräte
►
Ressourcen
geschätzte zusätzlich
gewinn bare
Energiemengen
• zusätzliche Erdgasressourcen aus
Kohleflözen, Schiefergestein,
Quelle: BGR; eigene Umrech11u11ge11 Grundwasserleiteren, Gashydraten
pung von fossilen Energieträgern (z.B. von Erdöl Wasser als neues Konfliktpotential
und Erdgas) u nd mineralischen Rohstoffen, d ie
Verschmutzu ng u nd Übernutzu ng vo n Gewässern, Der weltweite Wasserverbrauch hat sich in den
die Verschlechterung von Böden (Degradation) vergangene n 100 J ahren fast verzeh nfacht. Heute,
und der Süßwassermangel für immer mehr Men- bei einer Weltbevölkerung von rund 7 ,6 Milliar-
schen. den Menschen, ist das Wasser in vielen Teilen der
Welt bereits knapp und teilweise erh eblich ver-
Die internationalen Bemühungen um eine Lösung schmutzt. 78 Prozent aller Arbeitsplätze weltweit
der Probleme sind allerdings aufgru nd von Inter- hängen laut Angaben der UNO von der Ressource
essengegensätzen innerhalb der Staatengemein- Wasser ab. Zunehmender Wasserma ngel oder feh-
sch aft in Ansätzen stecken geblieb en. In der wis- lender Zugang zu Wasser können in den nächsten
senschaftlichen u nd politischen Diskussion J a hrzehnten zu weniger Wachstum und zum Ver-
besteht jedoch weitgehende Ein igkeit darüber, lust von Arbeitsplätzen führen.
dass diese Probleme zumindest mittelfristig glo-
bale Sicherheitsfragen berühren werden. Die Er- Für die ökologischen Bedrohungen werden vor-
weiterung des Sicherheitsbegriffs ist eine Reakti- wiegend der Lebensstil und die Wirtschaftsweise
on auf die neue Wahrnehmung der ökologischen der industrialisierten Länder verantwortlich ge-
Risiken (>Kap. 6.1.1 ). macht. Zum Beleg dient der durchschnittlichen
Wasser- und Energieverbrauchs z.B. in den USA
Während die Verknappung de r Erdöl- und Erdgas- oder Eu ropa mit jenem in afrikanische n Ländern
vorräte als mögliche Ursache für g lobale Vertei- der Sahelzone. Die Globalisierung erhöht zudem
lu n gskonflikte u nd Kriege schon lange gesehen den Wasserverbrauch durch ökonomisches Wachs-
wird, wurde die Versorgung mit Wasser und d ie tum und durch die Verbreitung von verbrauchsin-
Erha ltung der Bodenfruchtbarkeit bisher weniger tensiven Lebensstilen (> Kap 2.8.1). Ursachen der
im Fokus internationaler Ko nflikte gesehen. Wasserknappheit sind dementsprechend:
6 Internationale Beziehungen
• die erhöhte Nachfrage durch rasante Zunahme phrat und Tigris, Jordan und Karun sowie weißer
der Weltbevölkerun g, und blauer Nil. Um Euph rat und Tigris, die am
• der Anstieg des individuellen Wasserverbrauchs, häufigsten gestaute n Flüssen des Erdballs, streiten
• klimatische Veränderungen, sich die Türkei, Syrien u nd der Irak. Der Nil ent-
• fehlende oder ma ngelhafte Trinkwassersysteme zweit Äthiopien und Ägypten, der J ordan Israel
infolge von Armut, und Jorda nien sowie der Ka run Iran und Irak.
• Nutzungskonkurrenz bzw. gegenläufige Interes-
sen der Wasserverbraucher (Wasser für die Bei transnationalen Strömen sind dabei in der Re-
Landwirtschaft fehlt andernorts als Trinkwas- gel die Oberlieger im Vorteil, da sie - zumindest
ser). theoretisch - die Abflüsse kontrollieren können.
Dies ist im Falle des Euphrat, dessen Wasser in
steigendem Maße in Anatolien genutzt wird, zum
Konflikt um den Zugang zu Wasser Schaden der Unterlieger Syrien und Irak der Fall.
Beide Länder sind darauf angewiesen, dass die
Im Na hen und Mittleren Osten leiden v iele Staaten Türkei genug Wasser übrig lässt. Das jüngste sehr
unter Wassermangel. Entsprechend heftig streiten umstrittene türkische Projekt am Tigris ist der 11-
die Staaten der Region um die Nutzung der Was- 1isu-D amm, der rund 40 Prozent des Flussvolu-
serressourcen der großen Ströme der Region - Eu- mens abzweigen soll.
Konfliktstoff Wasser
15
1999
11
10 ............................................................................. · · ................................. .
1943 1991
6 5,5
5··············· ················ ···········195 1 ···············································
2
19353739414345474951535557596163656769717375777981838587899193959799010305070911
l~l@Glob"' Quelle: Dr. Peter Gleick, Pacific Institute, The World's Water Vol. 8
Nach: Dr. Peter Gleick, Pacific Insti tute, The World ·s Wa ter Vol. 8
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie die globalen Folgen des Klimawandels.
3. Halten Sie die Kritik an den Klimaschutzabkommen für berechtigt? Begründen Sie Ihre Stellungnahme
(, Methodenkompetenz: Politische Urteilsbildung).
4. Entwerfen Sie einen Leitfaden mit zehn Handlungsempfehlungen für die Schülerinnen und Schüler Ihrer
Schule zum Thema Klimaschutz bzw. zum Umgang mit Wasser.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
M 1 Konfliktpotential Wasser
Seit Jahrtausenden kämpfen Staaten um seltene Rohstoffe wie Gold, Öl und Diaman-
ten. Wasser spielte dagegen als Kriegsgrund höchstens eine untergeordnete Rolle.
Doch das könnte sich bald ändern. [ ... ] Schuld an dieser Entwicklung sind vor allem
zwei Faktoren: Bevölkerungswachstum und Klimawandel.
5 Die Vereinten Nationen schätzen, dass die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2040 von
derzeit etwa sieben Milliarden Menschen auf knapp neun Milliarden anwachsen wird.
Dann würden die Süßwasservorkommen der Erde nur noch 70 Prozent des Bedarfs
decken. Durch Klimawandel bedingte Gletscherschmelze und Ausbreitung von Wüs-
ten könnten mehreren Studien zufolge zudem ausgerechnet in dicht besiedelten Re-
10 gienen zu Wasserknappheit führen. Mit anderen Worten: Wasser wird ein seltener,
wertvoller Rohstoff wie Gold, Öl und Diamanten - und um die werden Kriege geführt.
„In den vergangenen Jahren hat die Gefahr eines Wasserkrieges vor allem im Nahen
Osten und in Südasien zugenommen", sagt der Konfliktforscher Ashok Swain von der
15 schwedischen Universität Uppsala. Israel streitet sich seit Jahrzehnten mit seinen
Nachbarstaaten und den Palästinensern um das Frischwasser des Jordanbeckens.
Obwohl die Verteilung des Wassers im Osloer Friedensvertrag von 1994 formell gere-
gelt werde, bezichtigen sich beide Seiten gegenseitig, zu viel Wasser zu verbrauchen.
Doch das größte Konfliktpotenzial in der Region liegt an den Flüssen Euphrat und
20 Tigris. Die türkische Regierung plant im Südosten des Landes den Bau von 22 Stau-
dämmen für Bewässerung und Stromerzeugung, neun von ihnen sind bereits fertigge-
stellt. Der flussabwärts gelegene Irak ist darüber wenig erfreut. ,,Die türkischen Stau-
dämme haben den Fluss des Euphrats und Tigris stark eingeschränkt", sagt Swain.
,,Aufgrund innenpolitischer Probleme konnte sich der Irak bislang nicht ernsthaft da-
25 gegen zur Wehr setzen. Doch sobald in Bagdad wieder stabilere Verhältnisse herr-
schen, rückt ein Konflikt mit der Türkei näher." [ ... ]
Die Situation am Nil ist ähnlich. Das chronisch dürregeplagte Äthiopien startete vor
Kurzem erstmals Bewässerungsprojekte mit Nilwasser. In der Vergangenheit hatte
Ägyptens ehemaliger Machthaber Husni Mubarak für diesen Fall immer mit Krieg ge-
droht: Jede Begrenzung des Nilflusses würde Ägypten „zur Konfrontation drängen, um
30 unsere Rechte und unser Leben zu verteidigen".[... ]
Auch Pakistans Landwirtschaft hängt an einem einzigen Fluss: dem Indus. Daher ver-
sucht die Regierung in Islamabad mit aller Macht, den Erzfeind Indien am Bau hydro-
elektrischer Staudämme flussaufwärts zu hindern, bislang ohne Erfolg. Vor allem der
im Bau befindliche Baglihar-Damm erhitzt die Gemüter. islamistische Terroristen dro-
35 hen mit Sprengstoffanschlägen auf das Projekt. Vor zwei Jahren kündigte der Extremist
Abdur Rehman Makki an, er werde einen „Fluss voller Blut" freilassen, falls Indien den
Indus blockieren sollte.
Weiter östlich wird Chinas Durst nach Flusswasser zunehmend z.u einem Problem. Das
Land beherbergt 20 Prozent der Weltbevölkerung, hat aber nur acht Prozent der welt-
40 weiten Süßwasservorräte. Um seine rapide wachsende Industrie mit Strom zu versor-
gen, verfolgt Peking im Rahmen des derzeitigen Fünfjahresplans die umfangreichsten
Dammbauten, die je ein Land vorgenommen hat. 140.000 Megawatt sollen die neuen
hydroelektrischen Staudämme an den Flüssen Mekong, Salween und Brahmaputra
generieren, so viel Wasserkraft produzieren die USA und Kanada zusammen. [... ]
45 „Wasser ist der neue Keil zwischen Indien und China" , sagt der Konfliktforscher und
ehemalige Berater der indischen Regierung, Brahma Chellaney. ,,Chinas exzessive
Dammbauprojekte gefährden die Interessen aller flussabwärts gelegenen Staaten.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Doch kein Land wird wohl ein größerer Verlierer sein als Indien, denn der größte Anteil
an chinesischem Flusswasser fließt dorthin weiter."[ ...)
50 Seit mehreren Jahren zirkulieren in Peking Pläne, den Brahmaputra, einen der größten
Flüsse Asiens, so umzuleiten, dass er nicht mehr nach Indien fließt, sondern stattdes-
sen die Felder in China bewässert. Technisch ist das schwer umsetzbar, denn für die
Schaffung eines neuen Flussbetts müssten ganze Berge beseitigt werden. Dies ist
bislang nur mit nuklearen Explosionen möglich. Indiens Premier Manmohan Singh ist
55 dennoch so besorgt, dass er die chinesische Führung immer wieder mit dem Problem
konfrontiert. Bislang beteuert Peking, die Pläne nicht umsetzen zu wollen.
Das Konfliktpotenzial am Brahmaputra wird dadurch verschärft, dass kein Vertrag die
Verteilung des Wassers zwischen den Staaten regelt. An Nil, Jordan und Indus gibt es
solche Abkommen, in manchen Fällen haben sie die internationalen Spannungen
60 merklich verringert. Doch ihr Nutzen könnte in Zukunft sinken. ,,Der Klimawandel ver-
ändert die Menge an Wasser in Flüssen dramatisch", sagt Ashok Swain, ,,doch die
Verträge berücksichtigen dies nicht."
Die veralteten Abkommen könnten so zu einer möglichen Ursache von Konflikten wer-
den. Zudem bleibt selbst bei einer vertraglich geregelten Aufteilung von Süßwasser
65 immer die Angst, dass das stromaufwärts gelegene Land eines Tages den Vertrag
einfach aufkündigt und den Fluss gänzlich stoppt. Es ist daher nicht überraschend,
dass die Studie des US-Außenministeriums am Nil wie am Brahmaputra zunehmende
internationale Spannungen erwartet. [ ...)
Doch es gibt auch Anlass zur Hoffnung. Anton Earle vom Stockholmer Internationalen
10 Wasserinstitut (SIWI) arbeitete mehrere Jahre für eine Kommission, die Staaten des
Okavango-Beckens im südlichen Afrika bei der Aufteilung des Wassers aus dem
gleichnamigen Fluss berät. Nach dem Ende des Bürgerkrieges in Angola im Jahr 2004
begann das Land mit der Planung von Staudämmen und Bewässerungsprojekten.
,,Dies löste im flussabwärts gelegenen Botswana große Ängste aus", sagt Earle. ,,Tei-
75 le der Bevölkerung forderten, Angola zu bombardieren."
Doch stattdessen begannen die Staaten des Flussbeckens, im Rahmen einer gemein-
samen Organisation zu kooperieren. ,,Angola verzichtete darauf, Dämme ohne Rück-
sprache zu bauen und stimmte stattdessen grenzübergreifenden Machbarkeitsstudien
zu", sagt Earle. Er sehe die Zukunft dieser Zusammenarbeit sehr optimistisch.
so Doch solche positiven Beispiele sind selten, und weltweit deutet alles auf zunehmen-
de Spannungen hin. ,,Es ist schwer zu sagen, wann der nächste Wasserkrieg ausbre-
chen könnte", sagt der Konfliktforscher Swain. Ein Meinungsstück der pakistanischen
Zeitung „Nawa-i-Waqt" lässt befürchten, dass es nicht mehr lange dauern wird. ,,Pa-
kistan sollte Indien klarmachen, dass ein Krieg um Wasser möglich ist", hatte siege-
s5 schrieben. ,,Und dieses Mal wird es ein Atomkrieg sein."
Aufgaben
1. Nennen Sie Gründe dafür, dass Wasser zum Konfliktpotential werden kann.
2. Arbeiten Sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen im Text
genannten Fällen heraus.
Bevölkerungswachstum
Die Entwicklung der Weltbevölkerung hat erheb- und Zuwanderung in die Städte; die Zahl der
liche Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von ,,Megastädte" nimmt zu (Trend zur Verstädter-
Ressourcen, das ökologische Gleichgewicht, die ung/ Urbanisierung).
Lebensqualität der Menschen und damit auch auf
den Weltfrieden. Wuchs die Menschheit bis 1800 • Wachsende Städte mit z. T. großen Armuts-
a uf eine Milliarde a n, so wa r die zweite Milliarde v ierteln, ungenügenden Versorgungsstrukturen
bereits nach weiteren 125 J ahren erreicht. Inzwi- und Ernährungsunsicherheit sind „demografi-
schen wächst die Welt bevölkerung in etwa zwölf sche Stressfaktoren", welche die Wahrschein-
J ahren um jeweils eine weitere Milliarde und be- lichkeit für soziale Konflikte erhöhe n.
trägt aktuell mehr als sieben Milliarden Men-
schen. Das Bevölkerungswachstum wird bis zum • Die zunehme nde Abholzung der Wälder zur
J ahre 2050 in den verschiedenen Weltregio nen Acker- bzw. Landgewinnung füh rt zu weiteren
höchst unterschiedlich verla ufen. 2050 werden Beeint rächtigungen des Klimas und z. T. zu
voraussichtlich kna pp 90 Prozent der Bevölke- schlechter nutzbaren Böden.
rung in heute weniger entwickelten oder beson-
ders armen Ländern leben.
Migration aufgrund von ökologischen, sozialen,
wirtschaftlichen und politischen Problemen
Welche Herausforderungen entstehen
durch Bevölkerungswachstum? Etwa ein Drittel der weltweiten Migration findet
zwischen En twicklungsländern statt. Nach Schät-
Durch die rasante Zunahme der Bevölkerung wird zungen der UN leben etwa 7 5 Millionen Menschen
das globale Gleichgewicht zwischen den mensch- als Migranten oder Flüchtlinge in Entwicklungs-
lichen Nutzungsa nsprüchen und den begrenzten ländern. Herkunfts-, Transit- und Aufn ahmelän-
natürlichen Ressourcen gestört - die Umweltbe- der sind dabei mit jeweils unterschiedlichen Risi-
lastung nimmt zu: ken konfrontiert.
• Der Bedarf an Energieträge rn und Rohstoffen Die ökologischen und demografischen Verände-
sowie an nutzbaren Flächen und Wasser steigt rungen fö rdern Fluchtbewegungen in andere Lan-
und bedingt Ressourcenknappheit. desteile (Binnenflucht) oder Staaten mit dem Risi-
ko von Verteilungskonflikten zwischen Migran-
• Es ko mmt zu steigenden Emissionen, zu wach- ten und einheimischer Bevölkerung. Die zuneh-
senden Müllbergen und Abwässern. menden Flucht- und Migrationsbewegungen sind
wesentlich durch ökologische, soziale, wirtschaft-
• Info lge des Bevölkerungswachstums, zuneh- liche und polit ische Probleme in den Heimatregi-
mender Wüstenbildu ng u nd Ressourcenknap p- onen bedingt.
heit wird es schwieriger, für Ernährungssicher-
heit zu sorgen; die Anforde rungen a n moderne Das Gros de r Wa nderungs- und Fluchtbewegun-
La nd wirtschaft, Düngung und gerechte Vertei- gen geht dabei in die jeweiligen Nachbarräume,
lung steigen. findet also innerhalb eines Landes statt. Schät-
zungsweise rund zehn Prozent der Migranten flie-
• Info lge oft schwieriger Lebensbedingungen auf hen in a ndere Kontinente, Schwerpun kte de r welt-
dem Land kommt es zu verstärkter Landflucht weiten Flüch tlingsbewegungen sind hauptsächlich
6 Internationale Beziehungen
Das Wachstum der Menschheit heute fliehen mehr Mensch en vor Um weltkatast-
2100
Weltbevölkerung in Milliarden Aufteilung in M illionen rophen als vor Kriegen. Die UNO sch ätzt, dass im
2030 2050 2100
2017
Jahr 20 12 mehr als 50 Millionen Menschen auf-
12
Mrd. grun d von Wüstenbildung, Übersch wemm ungen
oder anderen ökologischen Katast rophen ihre
11
2017 Wohngeb iete verlassen haben.
10 Asien
--
Weder der Begriff des „p olitischen Flüchtlings"
nach 2017 Prognosen
Afrika noch der des „Wi rtschaftsfl üchtlings" wird dieser
__-_k~
Ko mplexität immer gerecht.
Europa
Lateinamerika·
. 41
Nordamerika
Ozeanien
·881
72
Migrationspolitik
~ O Globus S1and Mitte 2011 ·mn Karibik Quelle: Vereinte Na1ionen {UN)
ö konomische
Kriege, Bürger- Politische Ethnische und Armut, hohe
Krisen,
kriege Verfolgung religiöse Konflikte Arbeitslosigkeit
soziale Probleme
Nat ur-
katastrophen Kl imawandel
(Erdbeben, Dürre)
Druckfaktoren
UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) und eine Bevölkeru ng mit einer ausgeglichenen Ge-
die International Organization for Migration schlechts- und Altersstruktur. Zuwanderer kön-
(IOM) neue Aufgaben bei der Betreuung von nen a uch ein Sicherheitsrisiko für das Aufna hme-
Flüchtlingen und Migranten übernommen. land darstellen, wenn es dort gewaltbereite oder
kriminelle Gruppen gibt, die Migranten für ihre
Zwecke rekrutieren und a usbeuten. Auswande-
Welche Sicherheitsrisiken stehen in rung kann die Stabilität und Sicherheit im Her-
Verbindung mit Migration? kunftsla nd beeinträchtigen, wenn es zu einem
massiven Verlust an qualifizierten Arbeitskräften
„Die Migrationsforschung zeigt, dass es keine kommt (,,Braindrain")".
quantitativ bestimmbare „Grenze der Aufnahme-
Bundesministerium .fiir wirtschaftliche Zusammenarbeit und
fäh igkeit" gibt. Die Sicherheit eines Aufna hme- Entwicklung {Hrsg.): Migration und Sicherheit, Risiken und
land es kann aber bedroht sein, wenn die Zuwan- Chancen der Süd-Süd-Migration .fiir Frieden und Entwick-
derung eine bestehende Ressourcenknappheit lung, Dokumentation der Fachtagung in Berlin, 2 .12.2009
oder Konkurrenz um Arbeitsplätze verstärkt oder
Migranten Konflikte ihres Herkunftslandes in das Gerade in ä rmeren Aufnahmeländern konkurrie-
Aufnahmeland importieren. Ob Zuwa nderung zu ren Migranten oft mit der einheimischen Bevölke-
Konflikten oder gar Gewalt führt, hängt ab von rung um die sowieso schon knappen Ressourcen.
der Stabilität un d der Funktionsfähigkeit staatli- Bei einer solchen Konkurrenzsituationen können
che r Institutionen sowie der Fähigkeit von Regie- im Extremfall gewaltsame Konflikte entstehen, da
rungen, gesellschaftlichen Vorurteilen und Ängs- unerwünsch te bzw. unkontrollierte Migration in
ten vo r Zuwanderung entgegenzu wirken. den Aufnahmeländern meist als Bedrohung der
nationalen Identität ode r der gesellschaftlichen
Neben der wirtschaftlichen Lage des Aufnahme- Kohäsio n empfunden wird. Diese Ängste kön nen
la ndes und der Verfügbarkeit einer intakten Infra- polit isch ausgenutzt werde n, indem vorh andene
struktur sind a uch demografische Faktoren von ethnische bzw. soziale Konflikte geschürt bzw.
Bedeutung. So kan n z. B. eine überwiegend junge vorgeschoben werden. Dies kann j edoch auch
und männliche Bevölkerung (,,youth bulge") ein die Beziehungen zu den Herkunftsländern der
größeres Destabilisierun gspotentia l aufweisen als Migranten erheblich belasten.
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie den Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Migration.
2. Migration entsteht aus einer Vielzahl von Faktoren. Erläutern Sie die soziokulturellen/religiösen, politischen,
wirtschaftlichen, ökologischen und kriegerischen Faktoren.
3. Begründen Sie, warum eine verstärkte globale Migration eine Gefahr für die internationale Sicherheit darstellt.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Libyen 2025
Alter in Jahren
100+
d 95-99
90-94
Männer
---
•
85-89
80-84
75-79 ---
• Frauen
70-74
65-69
60-64
55-59
50-54
-
45-49
40-44
35-39
30-34
25-29
20-24
15-19
10-14
5-9
0-4
1
350 300 250 200 150 100 50 o o 50 100 150 200 250 300 350
Einwohner in Tausend
Botswana 2025
Alter in Jahren
100+
d 95-99
90-94
85-89
Männer
-- - • 80-84
•
Frauen
-
- -
-
75-79
70-74
65-69
60-64
55-59
50-54
45-49
40-44
35-39
30-34
25-29
20-24
15-19
10-14
5-9
0 -4
1 1 1
140 120 100 s'o 60 40 20 6 6 20 40 s'o 80 100 120 ~4o
Einwohner in Tausend
Aufgaben
1 . Analysieren Sie die grafische Darstellung des Altersaufbaus der Bevölkerung von Libyen
und Botswana im Jahr 2025 (, Methodenkompetenz: Kritische Analyse von Statistiken).
3. Erörtern Sie, ob die demographische Entwicklung eines Landes verbunden mit einem
,.Jugend-Überschuss" als Frühwarnsystem für kriegerische Konflikte tauglich ist.
Die Sicherheitsarchitektur
• im 21. Jahrhundert
Leitfragen Welche Normen bestimmen Wie sind die Vereinten Nationen Welche Möglichkeiten der
das Handeln der Vereinten institutionell organisiert? kollektiven Friedenssicherung
Nationen? haben die Vereinten Nationen?
Die Organisation und ihre Mitgliede r handeln im Das im Laufe der J ahre en tstanden e, ä ußerst kom-
Verfolg der in Artikel I da rgelegten Ziele nach plexe UNO-System besteht aus den Haupt organen
fo lgenden Grundsätzen: und den durch die UNO geschaffenen Hilfso rga-
nisationen (z. B. Kin derhilfswerk UNICEF, Ent-
1. Die Orga nisation beruht a uf dem Grundsatz de r wicklungsprogra mm UNDP) sowie den durch Ab-
souverä nen Gleichheit a ll er ihrer Mitglieder. kom men a n die UNO gebundenen Sonderorga-
nisationen (z.B. die UNESCO oder der Internatio-
2. Alle Mitglieder erfüllen, um ih nen a llen die aus nale Währungsfo nds IWF). Die UNO hat 193 Mit-
der Mitgliedschaft erwachsenden Rechte und gliedstaaten ; diese haben ihre Tätigkeitsbereiche
Vorteile zu siche rn, nach Treu und Glauben die inzwischen auf alle Weltprob leme ausgeweitet -
Ve rpflichtungen, die sie m it dieser Ch arta über- von der Bekämpfung von Armut und Hunger über
nehmen. den Klimawandel bis zu Kindera rbeit und Bil-
dungsprogrammen.
3. Alle Mitglieder legen ihre internationalen Strei-
tigkeiten durch friedl iche Mittel so bei, dass de r
Weltfriede, die internatio nale Sicherheit u nd Die Generalversammlung
die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.
Die i. d. R. einmal j ä hrlich tagende Generalver-
4. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internatio- sammlung ist offi ziell das zentrale Beratungsorg-
nalen Beziehungen jede gegen die territoriale an der UNO. J edes Mitglied hat in ih r eine Stimme.
Unversehrtheit oder die politische Unabhängig- Die Generalversammlung wä hlt für j eweils fün f
keit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Jahre einen Ge neralsekretä r, der die lau fenden
Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Gesch äfte fü hrt. Neben Wa hlen für weite re UN-Or-
And rohung ode r Anwendung vo n Gewalt. gane beschränkt sich die Tätigkeit der Generalver-
sammlung im Wesentlichen da rauf, den Haushalt
5. Alle Mitglieder leisten den Ve reinten Nation en zu genehmigen, und Resolutionen zu verabschie-
jeglichen Beistand bei jeder Maßnahme, welche den, d ie für die Mitglieder aber nicht verbindlich
die Organisation im Einklang mit dieser Charta sind.
ergreift; sie leisten einem Staat, gegen de n die
Organ isation Vorbeugungs- oder Zwangsmaß-
nahmen ergreift, keinen Beistand. Der Sicherheitsrat
6. Die Organisation t rägt dafür Sorge, daß Staat en , Der Sicherheitsrat verfügt über weit meh r Macht
die nicht Mitglieder der Vereinten Natione n und ist besonders im Hi nblick auf die Erha ltung
s ind, insoweit nach d iesen Grundsätze n h an- des Weltfriedens das eigentliche Entscheidungs-
deln, als dies zur Wahrung des Weltfriedens und organ. Er besteht aus fünf ständigen und zehn
der internatio nalen Sicherheit erforderlich ist. nichtstä ndige n, von der Generalversammlung auf
zwei J a hre gewählten Mitgliedern. Der Sicher-
7. Aus dieser Cha rta kann eine Befugnis der Ver- heitsrat (auch: Weltsicherheitsrat) stellt fest, ob
einten Natio nen zum Eing reifen in Angelegen- eine Bedrohung des Friedens vo rl iegt, u nd kann
heite n, die ihrem Wesen n ach zur inneren Zu- Zwangsmaßnahmen zur Wahrung des Weltfrie-
ständigkeit eines Staat es gehören, oder eine dens beschließen, die von Wirtschaftssanktionen
Ve rpflichtung der Mitglieder, solche Angele- bis zu r A nwendung v on Waffengewalt zur Her-
genheiten einer Regelung aufgrund dieser stell ung und Sicherung des Friedens reichen. In
Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden. Art. 27 der UN-Charta heißt es: .,Beschlüsse des
Sicherheitsrats [...] bedürfen der Zustim mu ng vo n
neu n Mitgliedern einschließlich sämt licher stän-
digen Mitglieder". Der Artikel 27 besagt, dass
Nach: Charta der Verein ten Nationen,
w ichtige Entscheidungen des Sicherheitsrats nicht
verabschiedet am 26. Juni 1945 ohne die Stimmen aller fü nf ständigen Mitglieder
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert
getroffen werden können, d. h. zur Verhinderung Friedens und der internationalen Sicherheit zu
einer Entscheidung genügt das Veto eines der gefährden" (Artikel 99, UN-Charta),
ständigen Mitglieder. Die UNO-Mitglieder sind
verpflichtet, die Resolutio nen des Sicherheitsrats • eigenständig wichtige Aufgaben im Bereich der
umzusetzen; bei militärischen Einsätzen ist die präventiven Diplomatie wahrnehmen und
UNO allerdings immer darauf angewiesen, dass
vo n den Mitgliedstaaten ausreich end Streitkräfte • Impulse für alle anderen Arbeitsbereiche der
zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus Vereinten Nationen geben.
kann ohne Zustimmung des Sicherheitsrats kein
Mitglied der UNO ausgeschlossen werden oder Zentral ist seine Rolle außerdem bei der Koordi-
kein neues Mitglied aufgenommen werden. nierung der Aktivitäten im gesamten UNO-Sys-
tem. Wese nt liche Kompetenzen des Generalsekre-
tärs sind ferner die ihm durch a ndere
Der Generalsekretär Hauptorgane - vor allem durch die Generalver-
sammlung und den Sicherheitsrat - übertragenen
Seit 2017 ist der Portugiese Antonio Guterres der Aufgaben. Die Leitung der UN-Friedensmissionen
Generalsekretär der UNO. Er leitet die Verwaltung nimmt darunter eine besonders herausragende
der UNO, ist also der höchste Verwaltungsbeamte Stellung ein.
und Repräsentant der Weltorganisation. Er wird
auf Vorschlag des Sicherheitsrates von der Gene-
ralversammlung für fünf Jahre gewählt, mit der Kollektive Friedenssicherung - Wie kann
Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl. Ihm die UN Frieden sichern?
steht ein ganzes Bündel an Kompetenzen zu. Der
Generalsekretär kann In der UN-Charta wurden wichtige Prinzipien für
die Friedenserhaltung festgelegt:
• .,die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrates auf
jede Angelegenheit lenken, die nach seinem Da- • Verpflichtung aller Staaten zur friedlichen Bei-
fürhalten geeignet ist, die Wahrung des Welt- legung von Konflikten;
6 Internationale Beziehungen
• Verbot der Androhung und Anwend ung vo n Mandat" (Kapitel VI der UN-Charta), das nur fried-
Gewalt außer zur Selbstverteidigung; liche Mittel zur Konfliktlösung vorsieht, u nd ei-
• Beistandsverpflichtung aller UN-Mitglieder für nem „robusten Mandat" (Kapitel VII der UN-Char-
Maßnahmen der UNO. ta), das UNO- Blauhelmen auch den Einsatz von
Waffen gewalt gestattet. Die Friedenseinsätze der
Nur der UN-Sicherheitsrat ist befugt, im Falle ei- Vereinten Nationen habe n sich zu einem wichti-
ner Friedensbedrohung Zwangsmaßnahmen, gen Instrument des UN- Sicherheitsrats bei der
Sanktionen oder Militäraktion en zu beschließen. Wahrnehmung seiner Verantwortung für den Frie-
Es wird untersch ieden zwisch en einem „weichen den entwickelt.
'1 • • --1
t~ .J ' ,. )
_.,,. Ex-Jugoslawien
Blauhelme .r' •e ::.,~ ~' Georgien
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Nahost
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Irak/
( Z rn:"e~,--. • Iran
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Afghanistan
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ONUC 1960•64 Kongo
UNSF 1962·63 West-Neuguinea UNPREDEP 1995.99 Mazedonien
UNYOM 1963·64 Jemen UNMIBH 1995-02 Bosnien-Herieg.
DOMREP 1965-66 Dominik. Republik UNTAES 1996· 98 Kroatien
UNIPOM 1965·66 Kaschmir UNMOP 1996·02 Kroatien
UNEFII 1973. 79 Nahost (Sinai) UNSMIH 1996•97 Haiti
UNGOMAP 1988·90 Afghanistan/ Pakistan MINUGUA 1997 Guatemala
UNIIMOG 1988·91 Irak/Iran MONUA 1997.99 Angola Lautende
UNAVEM 1 1989 - 91 Angola UNTMIH 1997 Haiti
UNTAG 1989·90 Namibia MIPONUH 1997-00 Haiti • UN-Friedensmissionen
ONUCA 1989-92 Zentralamerika UNCPSG 1998 Kroatien seit
UNIKOM 1991·03 Irak/Kuwait MINURCA 1998·00 Zentralafrika UNTSO 1948 Nahost (Palästina)
UNAVEM II 1991• 95 Angola UNOMSIL 1998·99 SierraLeone UNMOGIP 1949 Kaschmir
ONUSAL 1991•95 EI Salvador UNAMSIL 1999·05 Sierra Leone (Indien/Pakistan)
UNAMIC 1991-92 Kambodscha UNTAET 1999·02 Osttimor UNFICYP 1964 Zypern
UNPROFOR 1992·95 KroalienJBosnien-H. MONUC 1999· 10 O.R. Kongo UNDOF 1974 Nahost (Golan)
UNTAC 1992- 93 Kambodscha UNMEE 2000-08 Ailliopief\/Eritrea UNIFIL 1978 Nahost (Libanon)
UNOSOM I 1992· 93 Somalia UNMISET 2002•05 Timor-Leste MINURSO 1991 West-Sahara
ONUMOZ 1992-94 Mosambik ONUB 2004·06 Burundi UNMIK 1999 Kosovo
UNOSOMII 1993· 95 Somalia UNMIS 2005· 11 Sudan UNMIL 2003 Liberia
UNOMUR 1993.94 Ruanda/Uganda UNMIT 2006-12 nmor-Leste UNOCI 2004 COte d'lvoire
UNOMIG 1993·09 Georgltn MINURCAT 2007-10 Z.A.R/Tschad MINUSTAH 2004 Haiti
UNOMIL 1993• 97 Liberia UNSMIS 2012 Syrien UNAMID' 2007 Sudan
UNMIH 1993·96 Haiti MONUSCO 2010 D.R. Kongo
UNAMIR 1993·96 Ruanda UNISFA 2011 Abiyel/Sudan
UNASOG 1994 Tschad/ Libyen UNMISS 2011 SOdsudan
UNMOT 1994-00 Tadschikistan Quelle: OPKO MINUSMA 2013 Mali
UNAVEM 111 1995-97 Angola Stand: Januar 2017 MINUSCA 2014 Zentralafrik. Republik
UNCRO 1995·96 Kroatien * Gemeinsame Mission
UN/ Afrikanische Union
1ZAHLENBILDER lffi-
c Bergmoser + Höller Verlag AG 6155 JO
Zu den erweiterten Friedensmissionen gehört der narien) statt. Im Gegensatz dazu fo rderten die
Einsatz ziviler Experten etwa a us den Bereichen Einsätze der „dritten Gen eration" milit ärischen
Ziv ilpolizei, Rechtspflege, öffentliche Verwaltung Zwang (robustes Ma ndat). Mit dem Mandat für die
ode r humanitäre Hilfe. Ih re Aufgaben umfassen Operation UNOSOM II in Somalia wurde 1993
hauptsächlich, den Wiederaufbau von Staat und erst mals ein Blau helm-Mandat auf der Grun dlage
Verwalt ung zu unterstützen. Diese Missionen wer- von Kapitel VII mit der Anwendung vo n militä ri-
den im Begriff „p eacebuilding" zusammengefasst schem Zwa ng verbunden. Statt einen ausgeha n-
(,,zweite Generation"). Bei dieser Fortentwickl ung delten Fried en zu schützen, sollten die Bla uhelme
des peacekeepin g-Konzepts fußten die Missionen diesen erzwingen (peace enforcement). UNOSOM
weiterhin auf den Blauhelm-Prinzipien und fan- II scheiterte ; nach erheblichen Verlusten wurden
den in post conflict scenarios (Na chkonflikt-Sze- die UNO-Truppen abgezogen.
Sicherheit, Show Schaffung und Absicheru ng eines stabilen Umfeldes für die Verwirklichung der
of Force politischen Ziele des Einsatzes durch Überwachung von Waffenstillständen oder
Friedensabkommen, Abschreckung möglicher Friedensstörer; Entwaffnung von
Banden
Humanitäre Hilfe Bereitstellung von Lebensmitteln, Versorgungsgütern, medizinischer Hilfe;
Repatriierung von Flüchtlingen
Disarmament, Maßnahmen zur Entwaffnung und Demobilisierung von Kämpfern und deren
Demobilization Wiedereingliederung in ein ziviles Leben
and
Reintegration
(DDR)
Aufbau von Befristete Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben; Hilfe und Ausbildung beim
(staatlichen) (Wieder)Aufbau legitimer staatlicher sowie nichtstaatlicher Institutionen, insbeson-
Institutionen dere im Sicherheit ssektor (Militär, Polizei), aber auch in Justiz, Verwaltung, Schulen,
Gesundheitswesen und Infrastruktur
Wirtschaftliche Unterst ützung von wirtschaftl ichem Wiederaufbau, der Schaffung selbsttragender
und soziale ökonomischer Strukturen und soziale Gerechtigkeit
Entwicklung
Hoheitliche Zeitweise Übernahme staatlicher Souveränitätsrechte durch vom Sicherheitsrat
Aufgaben ernannte Mandatsträger
Z usammenarbeit Kooperation zwischen militärischen und anderen staatlichen Mandatsträgern mit
mit unabhängigen (Hilfs-)Organisationen
nichtstaatlichen
Organisationen
lnteragency z. B. mit NATO, EU, OSZE, AU oder subregionalen Organisationen wie ECOWAS
Cooperation
Robustes Mandat Anwendung von Waffengewalt durch UN-Blauheimsoldaten nicht nur zur Selbst-
verteidigung, sondern auch zur Verteidigung der Mission und von Zivilisten
(rechtliche Grundlage: Kapitel VII der UN-Charta)
Nach: Sven Bernhard Ga reis, Internationale Friedenssicherung, in: Informationen zu r politischen Bildung, Nr. 310, 2011, S. 24
Die Bila nz der Sicherung des Weltfriedens durch immer wiede r ruft zögerliches Reagieren der Welt-
die UNO ist a ngesichts von mehr als 200 kriege- gemeinschaft auf Verbrechen gegen eine Bevölke-
rischer Konflikten seit 1945 zwiespältig. Zwa r ist run gsgruppe bis h in zu m Genozid Empörung u nd
die Zahl der Friedensmissionen nach dem Ende Zweifel a n d en Fähigkeiten der UNO hervor, Frie-
des Ost- West-Konflikts deutlich gestiegen, aber den zu schaffen oder zu erhalten.
6 Internationale Beziehungen
Trotz der in der Charta der Vereinten Nationen Achtung der staatlichen Souveränität) und ande-
verankerten Gleichberechtigung der Mitgliedstaa- rerseits aber auch der Schutz der Menschenrechte
ten besteht ein deutliches Machtgefälle zwischen in der Charta verankert ist. Bei schwersten Men-
den Staaten ohne Vetorecht und den fünf ständi- schenrechtsverletzungen und bei extremen huma-
gen Mitglieder des Sicherheitsrats mit Vetorecht. nitären Notlagen behalf man sich im Sicherheits-
Zudem besteht die Möglichkeit der wirtschaftlich rat darum oft damit, eine über die Grenzen
und militärisch starken Staaten, die UNO zu er- hinausreichende Bedrohung des Weltfriedens zu
pressen, indem Beitragszahlungen einbehalten konstatieren, um so eine rechtliche Basis für eine
werden oder die Hilfe bei Friedensmissionen ver- Intervention zu bekommen (> Kap. 6.1.3). Solche
weigert wird. Die Vetomächte verhi ndern erfah- Anträge wurden jedoch immer wieder durch das
rungsgemäß Beschlüsse des Sicherheitsrats durch Veto von ständigen Mitgliedern bedroht, welche
ihr Veto genau dann, wenn diese den eigenen In- selbst mit ähnlichen inneren Konflikten zu tun
teressen zuwiderlaufen würden, was wirksame hatten (z.B. China m it Tibet oder auch Russland
Lösungen häufig blockiert. mit Tschetschenien).
de, ohne auf internationale Regelwerke Rücksicht die Legitimation der Entscheidungen des Sicher-
zu nehmen oder internationale Institutionen mit heitsrats e rhöhen. In den zahlreichen Reformvor-
einzubinden. Diese Praxis verstärkte s ich massiv, schlägen wird an den fünf ständigen Sitzen mit
als die USA am 11. September 2001 durch isla mis- Vetorecht nicht gerüttelt. Eine Änderung in die-
tische Terroristen in ihrem politischen und ökono- sem Bereich wäre auch kaum durchsetzbar, könn-
mischen Zentrum angegriffen worden waren und te doch j ede einzelne Vetomacht mit ihrem Veto
den „Krieg gegen den Terror" ausriefen. Als sich diese Reform verhindern.
zudem 2002 / 2003 im Sicherheitsrat keine Mehr-
heit für einen militä rischen Einsatz zum Sturz der Im Hinblick auf eine Reformierung des Sicher-
von den USA als Gefahr für die eigene Sicherheit heitsrates legten Brasilien, Deutschland, Indien
eingestuften Diktatur im Irak fan d, führten sie mit und Japan - die sogenannte G4-Gruppe - sowie
einer „Koalition der Willigen" ohne Mandat des 23 weitere Staaten für die Generalversammlung
Sich erheitsrats einen Krieg gegen das Regime 2005 eine n Entwurf vor. Dieser sah eine Erweite-
Saddam Husseins. Die UNO geriet dadurch in eine rung des Rates vor: es sollten sechs ständige Sitze
tiefe Krise, da alle wesentlichen Prinzipien einer Ue zwei für Afrika und Asien,je einer für dfr west-
kollektiven Sicherheitspolitik verletzt wurden. Die lichen Staaten sowie für Lateina merika Et Karibik)
USA machten jedoch die Erfahrung, dass militäri- und vier nicht ständige Sitze Ue einen für Afrika,
sch e Siege beispielsweise im Ira k oder in Afgha- Asien, Lateinamerika Et Karibik sowie Osteuropa)
nistan mit ihren Kapazitäte n einfach zu e rringen hinzukommen. Neben diesem Entwurf gab es zu-
waren, j edoch dauerhafte Stabilität und Frieden dem a uch einen Vorschlag einer Gruppe von 43
nur sehr schwer allei ne zu erreich en sind. afrikanische n Staaten, die im Prinzip dem Grund-
konzept der G4 folgten,jedoch davon abweichend
das Vetorecht für neue ständige Mitglieder sowie
Die Diskussion um Reformen der VN einen zweiten zusätzlichen nichtständigen Sitz
für Afrika forderten. Die a us 12 Staaten bestehen-
Seit 1993 laufen in nerhalb der UNO Bemühungen, de Gruppe "Vereint für den Konsens" um regiona-
den Sicherheitsrat zu reformieren, welcher in sei- le Konku rre nten der G4-Staaten wie Italien, Ar-
ner gegenwärtigen Zusammensetzung die weltpo- gentinien und Pakista n ve rlangte die Einrichtung
litische Machtkonstellation zum Ende des Zweiten v on zehn weiteren nichtstä ndigen Sitzen bei Bei-
Weltkrieges widerspiegelt und damit dringend behaltung d er A nzahl der ständigen Vertreter. Am
reformbedürftig ist. Eine Reform müsste dabei die Ende w urde auf der 59. Generalversammlu ng über
Ung leichgewichte hinsichtlich der Repräsentation keinen der drei Entwürfe abgestimmt, da sich für
besti mmter Weltregionen, vor allem von Latein- keinen Vorschlag die nötige Zwei- Drittel-Mehr-
amerika, Afrika und Asien beseitigen und damit heit abzeichnete.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie, auf welche Weise die UNO das Ziel der Sicherung und Wiederherstellung von Frieden
verfolgt und vor welche Probleme sie dabei gestellt wird.
2. ,,Mächtige Nationen sind selten gute Mitglieder eines internationalen Clans, der dafür eingerichtet ist, die
Ausübung nationaler Macht einzugrenzen." Erläutern Sie, was der Historiker Paul Kennedy damit in Bezug
auf die Organisation der UNO gemeint haben könnte.
3. Entwerfen Sie in Gruppenarbeit Vorschläge zur Reform der UNO und vergleichen Sie diese im Kurs.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Welche Rolle werden [..] die Vereinten Nationen in der Welt des 21.Jahrhunderts spie-
len? Zunächst ist das Spannungsverhältnis zwischen den Zielen und Grundsätzen der
VN-Charta auf der einen und der politischen Realität auf der anderen Seite offenkun-
dig. [... ] Was bedeutet dies für die Weltorganisation? Es lassen sich aufgrund der
s analytischen Strukturen, Prozesse und Akteure in den Vereinten Nationen und der in-
ternationalen Politik in idealtypischer Weise drei Szenarien für die Entwicklung der
Vereinten Nationen in den verschiedenen Politikfeldern und damit ihre Rolle in der in-
ternationalen Politik ableiten.
•muddle through (engl.) = sich durchwursteln bzw. sich durchschlagen
Sven Bernhard Gareis / Johannes Varwick, Die Vereinten Nationen, Aufgaben, Instrumente und Reformen,
2014, s. 354f
Nach: Sven Bernhard Gareis / Johannes Varwick, Die Vereinten Nationen, Aufgaben, Instru mente und
Reformen, 20 14, S. 354J
Aufgaben
1. Benennen Sie die Kernelemente der drei Szenarien.
2. Entwerfen Sie nach einer Diskussion eine begründete Stellungahme zur wahrscheinlichen
Zukunftsentwicklung der VN.
3. Erklären Sie in einer politischen Rede (, Methodenglossar), was jeder Einzelne tun kann ,
um den Erfolg der VN in der Zukunft zu sichern.
6.3.2 Die Nordatlantische Vertragsorganisation (NATO)
Leitfragen Wie hat sich die NATO Kann die NATO auch in Zukunft Welche Rolle kann die NATO
seit 1949 entwickelt? Frieden sichern oder ist sie überholt? in der aktuellen europäischen
Sicherheitsarchitektur spielen?
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand als Reakti- Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erach-
on auf die gewaltsame Expansion des sowjeti- tet, um die Sicherheit des nordatlantischen Ge-
schen Machtbereichs die NATO (North Atlantic biets wiederherzustellen und zu erhalten. [...] Die
Treaty Organization) als Verteidigungsbündnis Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicher-
des Westens. Gründungsmitglieder waren 1949 heitsrat [...] diejenigen Schritte unternommen hat,
zehn europäische Staaten sowie die USA und Ka- die notwendig sind, um den internationalen Frie-
nada. Die Bundesrepublik Deutschland trat der den und die internationale Sicherheit wiederher-
NATO 1955 bei. Seit 2009 gehören 28 Staaten der zustellen und zu erhalten."
NATO an und mit Montenegro ist 2017 das 29.
Mitgliedsland dem Verteidigungsbündnis beige-
treten. Das Besondere an diesem Bündnis ist, dass Die NATO nach dem Kalten Krieg
die Mitgliedsländer eine gegenseitige Beistands-
verpflichtung für den Fall eines bewaffneten An- Die Allianz war bis 1990 ein klassisches Verteidi-
griffs auf ein Mitglied eingehen, wobei der Bei- gungsbündnis. Mit der Auflösung des Warschauer
stand nicht automatisch in militärischer Form zu Paktes in Folge der Umwälzungen im sowjeti-
leisten ist. schen Machtbereich verlor die NATO ihren Gegner
und damit ihren zentralen Organisationszweck als
Kernelemente des No rdatla ntikvertrags sind Art. Verteidigungsbündnis des Westens. Das eigene
1 sowie Art. 5. In Art. 1 verpflichten sich die Ver- Sicherheitsverständnis war bis dahin eng gefasst,
tragsparteien, ,,in Übereinstimmung mit der Sat- beinhaltete vorwiegend militärische Ziele und fo-
zung der Vereinten Nationen, jeden internationa- kussierte sic h auf die Sicherheit der Bündnispart-
len Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf ner und die Verteidigung der Außengrenzen des
friedlichem Wege so zu regeln, dass der internati- NATO-Gebiets.
onale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit
nicht gefährdet werden, und sich in ihren interna- Nach 1990 strebten einige ehemalige Ostblock-
tionalen Beziehungen j eder Gewaltandrohung staaten die Mitgliedschaft in der NATO an, um
oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den sich gegenüber eventuellen künftigen Hegemo-
Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinba r niebestrebungen Russlands abzusichern. So wur-
sind". den 1999 Polen, Tschechien und Ungarn, 2004
Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien,
In Art. 5 vereinbaren die Vertragsparteien, ,,dass die Slowakei und Slowen ien sowie 2009 Kroatien
ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere und Alba nien aufgenommen.
von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein
Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie verein-
baren daher, dass im Falle eines solchen bewaff- Wie ist die NATO aufgebaut?
neten Angriffs j ede von ihnen in Ausübung des in
Artikel 51 de r Satzung der Vereinten Nationen Die Mitglieder der NATO verstehen sich selber als
anerkannten Rechts der individuellen und kollek- Angehörige sowohl eines Militärbündnis als auch
tiven Selbstverteidigung der Partei oder den Par- als Teil ein er Wertegemeinschaft. Dies spiegelt
teien, die angegriffen werden, Beistand leistet, sich auch in der Zweiteilung der Organisations-
indem j ede von ihnen unverzüglich für sich und struktur wieder. Oberstes Entsch eidungsorgan ist
im Zusammenwirken mit anderen Parteien die der NATO-Rat, in dem die Staats- und Regie-
Maßnahmen, einschließlich der A nwendung von rungschefs oder die Außen- bzw. Verteidigungs-
6 Internationale Beziehungen
Euro-Atlantischer
Partnerschaftsrat
NATO-Russland-Rat
Kommission
NATO-Ukraine
Militärausschuss Ko mmission
lnternatlonaler NATO-Georgien
Mllltärstab
Alliiertes Kommando
Operationsführung
Mons, Belgien
! Führungskommandos !
Brunssum,
Niederlande
Im Frühjahr 1999 führte die NATO Krieg gegen de und nicht vo n einem Mandat der UNO legitimiert
Jugoslawien, was einer Zäsur in der Entwicklung war. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien zeig-
de r NATO gleich ka m, da sie erstmalig Krieg gegen ten zudem, dass die europäischen NATO-Partner
einen souveränen Staat ohne UNO-Mandat fü hrte. ohne die USA bedrohlichen Konflikten selbst un-
Zudem war dies auch der erst e Kriegseinsatzdeut- mittelbar „vor ihrer eigenen Haustür" weitestge-
scher Soldaten seit de m Zweiten Weltkrieg. hen d hilflos gegenüberstanden.
Dieser Einsatz ist bis h eute stark umstritten, da Der NATO- Rat hat zudem am 12. September 2001
einerseits das militärische Eingreifen a ngesichts den Terroranschlag auf das World Trade Center in
de r brutalen Unterdrückungspolitik des jugosla- New York als Angriff auf die USA durch Al- Qaida
wischen Präsidenten Milosevic aus humanitären erklärt. Somit war erstmalig der Bündnisfall nach
Gründen für gerechtfertigt e rachtet wurde, ande- Artikel 5 des NATO-Vertrags ausgerufe n worden.
rerseits a ber die militä rische Intervention zur Lö- Ziel des anschließenden militärische n Eingreifens
sung des Konflikts als ungeeig net betrachtet w ur- in Afghanistan war es, Al-Qaida sowie deren Ver-
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert 1
bündete - die Taliban - niederzuschlagen, die Bil- NATO-Rat a uf ein neues strategisches Konzept.
dung einer afghanischen Regierung zu ermögli- Neben die klassische Aufgabe der Verteidigung
chen und einheimische Sicherheitskräfte des Bündnisgebietes trat die Bewältigung von Kri-
a ufzubauen sowie Afghanistan als demokrati- sen, die unmittelbar oder mittelbar die Sicherheit
schen Rechtsstaat zu stabilisieren. der Mitgliedstaaten bedrohten. Damit konnte das
Bündnis auch außerhalb des NATO-Gebietes aktiv
Gemessen a n diesen Kriegszielen ist der Erfolg der werden (Einsätze „out of area"). Die NATO benö-
NATO in Afghanistan zweifelhaft. Nach vielen tigte hierfür in allen Teilen der Welt rasch einsetz-
Kriegsjahren und vielen gefallenen Soldaten ist bare und mit modernsten Waffen ausgerüstete
Ernüchterung eingekehrt: In Afgha nistan herrscht Einheiten. Deshalb wurde 2002 auf Druck der USA
heute immer noch kein Frieden, Terror bestimmt die Schaffung einer mobilen Eingreiftruppe (NATO
nach wie vor das Leben vor Ort und demokrati- Response Force) beschlossen.
sch e, rechtsstaatliche Strukturen wurden zwar
offiziell implementiert, aber ihre Umsetzung ist Im Jahr 2010 wurde das strategische Konzept der
nur in einem geri ngen Maße gelungen. NATO erneut a ngepasst und diente als Grundlage,
um den sich verändernden Herausforderu ngen der
Zeit gerecht werden zu können:
Wie haben sich die Aufgaben
der NATO verändert? • Es sah zu diesem Zeitpun kt vor a llem eine en-
gere Zusammenarbeit mit Russland, NGOs, der
Nach dem Ende des Kalten Kriegs traten an die EU, der UNO, aber auch mit der Weltbank und
Stelle der Bedrohungen durch die sowj etische Mi- dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vor.
Iitä rmacht rasch neue Gefah ren für Frieden und Auf diese Weise wollte die Allianz Teil ein es glo-
Sicherheit, die ein militärisches Eingreifen erfor- balen Sicherheitsnetzwerkes werden.
derten. Bei den Mitglied ern w urde die NATO nicht
mehr n ur als ein Verteidigungsbündnis angese- • Ein weiteres wichtiges Ziel war die Errichtung
hen, sondern mit ihr war der Anspruch an eine eines gem einsamen Raketenabwehrschildes, der
um fassende Sicherheit verbunde n. Dazu zählte das gesamte eu ropäische NATO-Gebiet vor An-
nicht mehr nur die eigene Verteidigu ng, sondern griffen durch Lenkraketen schützen sollte. Russ-
auch das militärische Krisenmanagement außer- la nd sollte in die Planungen und die Durchfüh-
halb des Bündnisgebiets. ru ng eingebunden werden.
Beginnend mit dem Militäreinsatz „Allied Force" • Daneben w ird explizit der Umgang m it Cy-
im Frühja hr 1999 im Kosovo hat die NATO eine ber-Attacken beschrieben, die nicht zu einem
ganze Reihe an Einsätzen - in der Regel jedoch Bündnisfall nach Art. 5 führen sollen, sondern
mit UN-Mandat - durchgeführt. Das Spektrum der zunächst z u Konsultationen nach Art. 4.
Operationen umfasste dabei :
• Zudem hebt die NATO durch das strategische
• robuste Friedenssicherungsoperationen, Konzept vo n 2010 ausdrücklich hervo r, dass sie
• maritime Anti-Terroroperationen, sich klar zu r atomaren Abrüstung be ke nnt, je-
• Ausbildungsmissionen, doch weiterhin nukleare Absch reckung betreibt,
• humanitäre Hil fseinsätze, sola nge es Atomwaffen gi bt.
• Unterstützungsmissione n anderer Organisatio-
n en.
Die Finanzierung der NATO
Die neuen Aufga ben zur Bewahrung der Sicher-
he it im eu ro-atlantischen Ra um erforderten ein Die USA verla ngen seit v ielen Jahren von den
neues sicherheitspolitisches Konzept. Nachdem Bündnispartnern angesichts der globalen Bedro-
die NATO bereits in den J990er Jahren durch die hungen erhöhte Verteidigungsausgaben. Au f dem
Interventione n im zerfallenden Jugoslawien über Gipfel in Brüssel 2018 wurde darum bekräft igt,
ihre n ursprünglichen Verteidigungsauftrag hin- dass sic h die Mitglieder bis 2024 auf de n 2002 in
ausgegangen war, einigte ma n sich 1999 im Prag beschlossenen Richtwert von 2 O/o des eige-
6 Internationale Beziehungen
nen BIP zuzubewegen. Ein Teil des Geldes soll in lierung, die NATO sei „obsolet", hatte v iele der
die Abwehr von Cyberattacken fließen, nachdem Partner aufgesch reckt, da sie als Distanzierung zur
d ie NATO offiziell die Verteidigung gegen Cyber- NATO interpretiert wurde. Ob zur Verteidigung
a ngriffe n zu ihrem Au ftrag deklariert h at. Don ald nur m ilitärische Ausgaben zu rechnen sind oder
Trump wiederholte au f dem Gipfel als gewählter auch Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit
Präsident seine Forderung aus dem Wahlkampf und Krisenprävention - eine Perspektive vieler
nach höheren Verteidigungsausgaben der Bünd- europäischer Staaten - ist u nter den Mitglieds-
nispartner mit großem Nachdruck. Seine Formu- staaten umstritten.
Frankreich* .
Deutschland
43.473
■ 39.813 -• 1,8%
1,2%
Italien 1 19.566
• 1,0%
Kanada 1 15.191
• 1,0%
Türkei
Spanien
l
l
12.018
11.090
-• 1,7%
0,9%
Polen l 10.596
Niederlande 1 8.873
* Inklusive Ausgaben für nicht einsetzbare Elemente anderer Teilstreitkräfte; ohne Gendarmerie
•• 2,2%
1,2%
Quelle: NATO
Die NATO in der europäischen Die Forderunge n der USA an die Partnerstaaten,
Sicherheitsarchitektur mehr in ihre eigene Sicherheit bzw. Verteidigung
zu investieren, kann einerseits zu einer Entlastung
Die Führu ngsrolle und de r Führungsanspruch der der USA, andererseits zu mehr Eigenständigkeit im
USA in der NATO sind seit ihrer Entstehung 1949 Bündn is und Emanzipation der EU gegenüber den
un umstritten. Grundlage dafür ist die militärische USA fü hren. Welche Ko nsequenzen sich daraus für
Stärke, die wiederum auf seh r hohen Ausgaben für die Außen- und Sicherheitspolitik der USA und die
Verteidigung bzw. Rüstu ngsausgaben der Verei- NATO ergeben werden, ist offen. Ende 2016 bekräf-
nigten Staaten beruhen. In der Vergangenheit tigten sowohl die NATO als auch die EU in einer
ließen die USA keine n Zweifel an ihrem Füh- gemeinsamen Erkläru ng ihre enge Zusammenar-
ru ngsanspruch in der NATO aufkommen. Die Ab- beit seit dem Berlin-Plus-Abkommen. Insbesonde-
hängigkeit der Eu ropäer von der Schutzmacht re soll die Zusammenarbeit in Bereichen wie Ver-
USA blieb darum eine Konstante in der gemein- teidigung gegen hybride Bedrohungen, operative
samen Außen- u nd Sicherheitspolitik (>Kap. 5.3.2) Zusammenarbeit auf See, bei der irregulären
und wurde mit dem Berlin-Plus-Abkommen 2003 Migration, Cybersicherheit und Cyberabwehr durch
zwischen der NATO u nd der EU bekräftigt. gemeinsame Vorgehen verbessert werden.
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert 1
Mit dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der fühlt sich wiederum durch die Ausdehnung der
1990er Jahre wurden die ehemaligen Sowjetrepu- NATO und der EU an die Staatsgrenzen Russlands
bliken, wie beispielsweise die baltischen Staaten, bedroht. Die Folge dieses Misstrauens au f beiden
Geo rgien, Weißrussland und die Ukraine zu sou- Seiten ist militä risch e Aufrüstung. Angesich ts der
verä nen Staaten. Viele vo n ihnen strebten die a nhaltenden Spann ungen mit Russland im Zu-
Mitgliedschaft in EU und NATO an o der wurden sammenhang mit der Krise in der Ostukraine und
übe r Partnerschaftsverträge assoziiert. Für die der Halbinsel Krim fordern einige NATO-Mitglie-
russische Außenpolitik war es j edoch selbstver- der, das Strategische Konzept zu erneuern und
ständlich, Einfluss a uf die neu entstandenen Staa- gegenüber Russland neu auszurichten und die
ten zu behalten. Russland musste j edoch hinneh- militärische Präsenz in Osteu ropa auszuba uen.
men, dass die baltischen Staate n Mitglied der
NATO und der EU wurde n. Die USA forcieren derweil ihr Raketen abweh rsys-
tem in Europa in Polen und Rumänien und die
Der Ukraine-Konflikt beginnend mit den Protes- NATO verlegt Truppen nach Osteuropa. Putin re-
ten Ende 2013 in der Ukraine bis hin zur Annexi- agierte mit dem Austritt a us dem 1987 von Ronald
on der Krim durch Russland im März 2014 sowie Reagan und Michael Gorbatschow geschlossenen
die militä rische Unterstützung de r prorussischen Vertrag übe r die Abrüstung nu klearer Mittelstre-
Separatisten in der Ostukraine durch Russland ckenraketen (Intermediate Ra nge Nuclear Forces,
führte zur bisher schwersten Krise der Beziehun- INF) und kündigte an, auf den Schiffen der balti-
gen zwischen Russland und dem Westen seit dem schen Flotte, in Kaliningrad und den Gebieten
Ende des Kal ten Krieges. westlich des Urals neue Atomraketen zu stationie-
ren. Der a merikanische Präsident Trump kündigte
Aus der Sicht der NATO ist die Außenpolitik Russ- wiederum 2017 an, den gesamten Wehretat mas-
la nds au f eine gewal tsame Veränderung der euro- siv zu erhöhe n und sieht die Notwendigkeit, auch
päischen Nachkriegsgrenzen geri chtet. Russland atomar aufzurüsten.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie, welche veränderten Aufgaben und Ziele die NATO nach dem Ende des Ost-West-Konflik-
t es verfolgt.
2. Erklären Sie, durch welche Organisationsstruktur die NATO ihre Aufgaben und Ziele wahrnimmt.
3. Setzen Sie sich kritisch mit der These eines „neuen Kalten Kriegs" auseinander. Recherchieren (, Methoden-
glossar) Sie dafür Informationen zum aktuellen Stand.
4. Führen Sie eine Konfliktanalyse zu einem aktuellen Konflikt durch (, Methodenkompetenz: Analyse internatio-
naler Konflikte), in den die NATO involviert ist.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Die NATO sei „unverzichtbar" ist bis heute zu hören, obgleich ihr Gegner, die Sowjet-
union, vor 25 Jahren zerfiel, und mit ihr der Warschauer Pakt. Ginge es ohne Atlanti-
sche Allianz wirklich nicht? Hat Russland keinen Grund, sie zu fürchten? Wären die
Europäer nicht in der Lage, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen? Fünf Thesen auf dem
5 Prüfstand.
Die NATO verbessert unsere militärischen Fähigkeiten für den Fall, dass wir sie
benötigen
Das ist unklar. Die Vereinigten Staaten haben derzeit mehr als 67 000 Soldaten in
Europa stationiert, ein großer Teil davon als Bekenntnis zum Artikel 5, der bestimmt,
25 wann der Bündnisfall eintritt. Ihre eigentliche Mission hat die NATO aber schon vor
zweieinhalb Jahrzehnten erfüllt. Würden die USA die NATO-Mission nicht künstlich am
Leben erhalten, bräuchte es diese Soldaten nicht. (... ]
Der Effekt der NATO besteht letztlich darin, dass die amerikanischen Steuerzahler die
reichen europäischen Wohlfahrtsstaaten subventionieren, indem sie deren Verteidi-
30 gung bezahlen. Derzeit tragen die Vereinigten Staaten 70 Prozent der gesamten NA-
TO-Militärausgaben, obwohl sie nur etwa 56 Prozent des BIP aller NATO-Staaten er-
wirtschaften.
Es ist daher vielleicht kein Zufall, dass das Bekenntnis zu Europa in der amerikanischen
Öffentlichkeit nicht gerade populär ist. [ ... ]
Wie die Historikerin Mary Elise Sarotte betont, war es jedoch genau diese Zusage der
NATO, die Gorbatschow zur Zustimmung zur deutschen Einheit verleitete - er ver-
so säumte bloß, das auch vertraglich festzuhalten. Gorbatschow bekannte sich öffentlich
zu der Abmachung, die der Westen in der Folge aufweichte: Man werde „nichts tun ,
was die Sicherheit der Sowjetunion mindern würde" . Ein Versprechen, das die westli-
chen und russischen Machthaber seither sehr unterschiedlich definieren.
Justin Logan, Nordatlantische A llianz - Fünf Thesen auf dem Prüfstand, in: Internationale Politik, Nr. 6,
2015, s.60.fJ.
Aufgaben
1. Fassen Sie die zentralen Argumente aus dem Text von Justin Logan zusammen.
2. Erläutern Sie, welchen Stellenwert die NATO für die europäische Sicherheit hat.
Leitfragen W ie ist die OSZE Worin bestehen die sicherheitspolitischen W ie ist die Arbeit der
entstanden? Aufgaben der OSZE? OSZE zu beurteilen?
Die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit finden. Als einzige Sicherheitso rganisation, die
und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die vo n alle europäischen Staaten einschließlich der
allen Staaten des Warschauer Pakts (WP), allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Jugosla-
NATO-Mitgliedern und allen neutralen europäi- wiens sowie die USA und Kanada umfasst, schien
schen Staaten im Jahre 197 5 u nterzeichnet wurde, sie ein erseits besonders geeignet, die im zerfallen-
bildete eine Brücke zwischen den Gegnern im Ost- den Ostblock a ufbrechenden Konflikte zu bearbei-
west-Konflikt und verlieh den Entspannungsbe- ten. Andererseits erschwert die große Zahl von 57
mühungen einen entscheid enden Sch ub. Dieser Mitgliedern die für Entscheidungen notwendige
wirkte in den folgenden Jahren weiter und ermög- Einstimmigkeit vo n Beschlüssen (Konsensprin-
lichte wesentliche Fortschritte vor allem a uf dem zip).
Gebiet der Rüstungskontrolle.
Nach dem Ende des Ost- West-Konflikts musste die Die Ziele der OSZE
KSZE, die 1995 in „Organi sation für Sicherheit
und Zusam menarbeit in Europa" (OSZE) umbe- Die Schlussakte von Helsinki (1975), die Charta
nannt wurde, eine neue Rolle in der Weltpolitik von Paris ( 1990), die Europäische Sicherheits-
OSZE-Ministerrat Parlamentarische
Außenminister Versammlung
der 57 Teilnehmerstaaten
(Kopenhagen)
Zentrales Beratungs- und
Büro für demokratische Beschlussorgan der OSZE
Institutionen und tagt in der Regel 1x jährlich
Menschenrechte (Warschau)
Vergleichs- und
Wirtschafts- und
Schiedsgerichtshof (Genf) Umweltforum
1ZAHLENBILDER I ffi
'° Bergmoser + Höl/er Verlag AG 7 11 2 12
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert 1
charta von Istanbul ( 1999) und die Gipfelerklä- tet das OSZE-Sekretariat. Das Sekretariat zählt
rung von Ast ana „Auf dem Weg zu einer Sicher- rund 3 10 Mitarbeiter. Der Haushalt der OSZE für
heitsgemeinschaft" (2010) sind die wichtigsten 2017 betrug rund 140 Millionen Euro.
Dokumente der OSZE, in de nen die politisch- mi-
litä rische, die wirtschaftlich e, ökologische sowie Die OSZE verfügt zudem über unabhä ngige Insti-
die menschliche Dimension vo n Sicherheit darge- tutione n, die der Überwachung der OSZE-Ver-
legt wi rd. Dara us abgeleitet gehöre n zu den allge- pflichtungen und damit der Frühwarnung die nen :
meinen Zielen der OSZE:
• Das Büro für Demokratische Institutionen und
• die Schaffung von umfassender und ungeteil- Menschenrechte in Warschau,
ter Sicherheit,
• die Hohe Kommissarin für Nationale Minder-
• die Konfliktverhütung und Konfliktmanage- heiten in Den Haag,
m ent in alle n Phasen von Konflikten und Krisen
im OSZE-Raum, • die OSZE-Beauftrage für Medienfreiheit in Wien
• der Schutz von Menschenrechten, demokrati- • und der Vergleichs- und Schiedsgerichtshof in
sche n und rechtsstaatlichen Standards als Bei- Genf.
trag zu Sicherheit und Stabilität und
Bedeutung der OSZE heute OSZE liegt in der Möglichkeit der umfassenden
Einbeziehung aller Staaten mit ihren j eweiligen
Die OSZE gilt als Pfeiler der konventionellen Rüs- Interessen und Perspektiven bezogen auf Proble-
tungskontrolle, der militärischen Transparenz und me und Konflikte. Durch die im Konsens formu-
Vertrauensbildung in Europa. Das Forum für Si- lierten Standards für das Verhalten v on Staaten in
cherheitskooperation der OSZE ist mit seinen den Internationalen Beziehu ngen schafft sie No r-
wöchentlichen Tagungen das Organ für die Wei- men. Diese können zwar nicht eingeklagt werden,
terentwicklung der Rüstungskontrolle und der an ihnen kann aber die Politik von Teilnehmer-
ve rtraue ns- und sicherheitsbildenden Maßnah- staaten im Konfliktfall gemessen werden. Schließ-
men. lich kann die OSZE als eine Art internationale
Reserveorganisation bet rachtet werden, die immer
In den Medien ist die sicherheitspolitische Arbeit dann ein Forum für gleichberechtigte Verhand-
der OSZE kaum präsent. Deshalb erfährt ihre Tä- lungen bietet, wenn andere Verhandlungsformate
tigkeit häufig keine ausreichende Würdigung. In ausgeschöpft sind.
Konflikten kann sie als neut raler Mode rator, Be-
obachter und Schiedsrichter (Beobachtermission) Andererseits erschwert die große Zahl von 57 Mit-
Informationen a us e rster Hand sammeln und wei- gliedern die für Entsc heidungen notwendige Ein-
tergeben. Sie versucht, Krisen frühzeitig zu ent- stimmigkeit vo n Beschlüssen (Konsensprinzip).
schärfen, um sie nicht in gewaltsam ausgetragene Zudem kann die OSZE zur Beendigung vo n Kon-
Konflikte ausarten zu lassen. Wo dies nicht ver- flikten wede r selbst Streitkräfte einsetzen noch
hindert werden konnte, sollen nach Beendigung den Einsatz von Gewalt erlauben. Das Mandat von
der Kampfhandlungen Bedingungen für ein kon- Missionen wie die in der Ukraine unte rliegt Be-
fliktfreies Neben- und Miteinander von Gesell- grenzungen, die sich aus dem Konsensprinzip er-
schaften verbessert werden. geben. So wurde der 2014 von Deutschland und
Frankreich eingebrachte Vorschlag, die SMM
Diese prävent ive und nachsorgende Sicherheits- (Special Monitoring Mission) mit unbewaffneten
politik erfordert ein breites Spektrum vo n Maß- Aufklärungsdrohnen zur Überwachung der ostu-
nahmen, wie etwa die Beobachtung von Wahle n krainischen Konfliktgebiete auszustatten, im
oder die Früherkennung gesellschaftlicher und Herbst 2014 über Mo nate hinweg ergebnislos ver-
politischer Missstände (z. 8. eine diskriminierende handelt. Grundsätzlich ist die OSZE nicht in der
Behandlung von gesellscha ftlichen Minderhei- Lage, einen Konflikt zu beenden oder moderieren,
ten), die häufig erst mittelfristig oder langfristig wenn die Konfliktparteien den Konflikt selbst
Wirkung zeigen. Die Bedeutung der Arbeit der nicht lösen wollen.
Aufgaben
1. Beschreiben Sie die sicherheitspolitischen Aufgaben der OSZE.
2. Erläutern Sie die Möglichkeiten und Grenzen der OSZE in der internationalen Sicherheitspolitik.
3. Entwickeln Sie drei unterschiedliche Szenarien (• Methodenkompetenz: Szenariotechnik) für die Zukunft der
OSZE.
KOMPETENZEN ANWENDEN
Aufgaben
1 . Analysieren Sie die Karikatur (, Methodenkompetenz: Karikaturen analysieren und interpre-
tieren).
2. Entwerfen Sie in Gruppenarbeit ein Konzept zur Stärkung des Einflusses der OSZE.
Der deutschen und europäischen Außen- und Si- Deutschland engagiert sich nicht nur mit den
cherheitspolitik liegt der erweiterte Sicherheitsbe- klassischen Instrumenten der Außen- und Sicher-
griff zugrunde (> Kap. 6.1.1 ). Außenpolitik meint heitspolitik (Diplomatie und Militär), sondern
dabei die Gestaltung der Beziehungen eines Staa- wirkt auch in weiteren außen- und s icherheitspo-
tes zu anderen Staaten und zu internationalen Or- lit isch relevanten Bereichen der Internationalen
ganisationen, besonders die Herstellung zweiseiti- Beziehungen mit :
ger (bilateraler) oder mehrseitiger (multilateraler)
politischer, militärischer, wirtschaftl icher, rechtli- • Außenwirtschaftsbeziehungen: Deutschla nd ist
cher oder kultureller Beziehungen. Bestimmende stark mit der Weltwirtschaft verflochten und
Faktoren der Außenpolitik sind grundsätzlich die von ihrer Entwicklung abhängig. Mehr als jeder
geografische Lage und Größe eines Staates, seine v ierte Euro wird im Export von Waren und
Wirtschaftskraft, Geschichte und politische Ver- Dienstleistungen verdient, mehr als jeder vierte
fasstheit sowie seine politische Kultur: Arbeitsplatz hängt vom Außenhandel ab. Der
Export vo n Waren und Dienstleistungen ist des-
„Deutschlands wirtschaftliches und politisches halb ein zentraler Faktor der deutschen Kon-
Gewicht verpflichtet uns, im Verbund mit unseren junktur. Es ist Aufgabe der deutschen Außenpo-
europäischen und transatlantischen Partnern Ver- litik, deutsche Wirtschaftsinteressen zu förde rn
antwortung für die Sicherheit Europas zu über- und darüber hinaus zur weiteren Entwicklung
nehmen, um gemeinsam Menschenrechte, Frei- einer gerechten und nachhaltigen globalen
heit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Völker- Wirtschaftskooperation beizutragen.
recht zu verteidigen. Noch stärker als bisher müs- • Internationale Rechtsbeziehungen: Hierzu zäh-
sen wir für unsere gemeinsamen Werte eintrete n len etwa die Mitgliedschaft Deutschlands in in-
und uns für Sicherheit, Frieden und eine Ordnung ternatio nalen Gerichtshöfen und die Unter-
einsetzen, die auf Regeln gründet. [...]. Unser Ziel zeichnung völkerrechtlicher Verträge.
sollte dabei stets sein, Krisen und Konflikten vor- • Auswärtige Bildungs- und Kulturpolitik: Sie soll
zubeugen. Sicherheitspolitik muss vorausschau- die kulturellen Beziehungen zwischen Deutsch-
end und nachhaltig sein. Gleichzeitig müssen wir land und anderen Staaten stärken und die inter-
in der Lage sein, schnell auf gewaltsame Konflik- nationale Zusammenarbeit im Bereich For-
te zu reagieren, zu helfen und zu einer raschen schu ng und Hochschule fördern. Akteure der
Konfliktbeilegu ng beizutragen. Dafür ist es uner- auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik sind
lässlich, dass unsere zivilen und militärischen In- insbesondere die Goethe-Institute und die deut-
strumente zusammenwirken. Wir müssen die Welt sche n Ausla ndsschulen. Ein Schwerpunkt ist die
aber auch ehrlich und realistisch betrachten, denn Vermittlung und Förderung der deutschen Spra-
angesichts der Vielzahl an Herausforderungen in che im Ausland.
den Krisenregionen werden wir nicht allen mit
eigenen Kräften begegnen können. Deshalb müs- Welche Bedingungen bestimmen die deutsche
sen auch unsere Partner in anderen Regionen die- Außen- und Sicherheitspolitik?
ser Welt ihren Beitrag leisten. Dazu gehört, dass
wir sie durch eine breite Palette von Maßnahmen Die Rolle Deutschlands ist geprägt durch Bedin-
dazu befähigen, Krisen und Konflikte eigenstän- gungen, die sich aus seiner Lage, Größe und seinen
dig zu lösen." historischen Erfahrungen ergeben. Deutschland ist
Angela Merkel, in: Weißbuch 2016, S. 6 mit ca. 83 Millionen Einwohnern das bevölke-
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert 1
weltpolitische Ent-
geografische Lage und geo- Einstellungen der
wicklungen und Konflikte,
politisches Umfeld in der Nachbarländer und
Machtverteilung im
Mitte Europas Partner
internationalen System
wirtschaftliche Be-
ziehungen zu anderen Einstellungen der
Ländern und Bürger und die öffentliche
weltwirtschaftliche Meinung zu Grundfragen
Entwicklungen der Außenpolitik
konzeptionelle Über-
legungen der Bundes-
t
die aus der deutschen die finanziellen
regierung Vergangenheit abzuleitende Möglichkeiten des
(und ggf. des Bundestagesl Verantwortung Bundeshaushalts
6 Internationale Beziehungen
Welche sicherheitspolitischen Interessen terstüt zt vom Auswärtigen Amt - und vom Bun-
verfolgt die Bundesrepublik Deutschland? deska nzler - assistiert von der auße npolitischen
Abteil ung des Kanzleramts - betrieben.
Im Weißbuch 2016 der Bundesregierung werden
als die sicherheitspolit ischen Interessen Deutsch- Ein wicht iger Bereich für die deutsche Außen- und
lands folgende Punkte formuliert: Sicherheitspolitik ist die internationale Diploma-
tie. Daneben sind a uch viele Aktivitäten anderer
• Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie der Ministerien, wie etwa des Verteidigungsministeri-
Souveränität und territorialen Integrität unseres ums oder des Ministeriums für wirtschaftliche
Landes; Zusammenarbeit und Entwicklung, der Außenpo-
• Schutz der territorialen Integrität, der Souverä- litik zuzuordnen. Außenpolitik ist also im Wesent-
nität sowie der Bürgerinnen und Bürger unserer lichen Aufgabe der Regierung; wenn auch der
Verbündeten; Bundestag zwar häufig über außenpolitische Fra-
• Aufrechterhaltung der regelbasierten internati- gen de battiert, seine Entscheidungskompetenzen
onalen Ordnung a uf der Grundlage des Völker- sind vo r allem auf Haushaltsfragen und der Zu-
rechts; stimmung zu Auslandseinsätzen begrenzt.
• Wohlstand unserer Bü rgerinnen und Bürger
durch Prosperität unserer Wirtschaft und freien
sowie ungehinderten Welthandel; Die Bundeswehr als Parlamentsarmee
• Förderung des verantwortungsvollen Umgangs
mit begrenzten Ressourcen und knappen Gütern Mit dem Ende des Kalten Kriegs und der Wieder-
in der Welt; erlangung der vollen Souveränität w urde von
• Vertiefung der europäischen Integration und Deutschland mehr Engagement in der internatio-
Festigung der transatlantischen Partnerschaft. nalen Sicherheitspolitik erwartet. Damit verbun-
Nach: Weißbuch 2016, S. 24 den war a uch die Beteiligung der Bundeswehr an
internationalen Friedenseinsätzen. Diese vorsich-
tige Neuorientierung löste heftige Debatten in
Wer macht in Deutschland Deutschland aus, wurde j edoch 1994 vom Bun-
Außen- und Sicherheitspolitik? desverfassungsgericht bestätigt, sofern d iese mit
Zustimmung des Bundestages stattfinden. Rein
Akteure der deutschen Außenpolitik sind die mit humanitäre Missionen hingegen bedürfen auch
der Wahrnehmung der auswärtigen Angelegen- weiterhin keiner Billigung durch das Parlament.
heiten betrauten Staatsorgane, interna tionale und Dieses Grundsatzurteil des Bundesverfassungsge-
supranationale Organisation en sowie Nichtregie- richts bekräftigte den Charakter der Bundeswehr
rungsorganisationen (NGOs). In Deutschland wird als einer „Parlamentsarmee".
Außenpolitik vor allem vom Außenminister - un-
Seit Ende des Kalten Krieges erlebt die Bundes-
wehr den Wandel weg von einer Verteidigungsar-
Eckdaten zur Geschichte der mee hin zu einem außen- und sicherheitspoliti-
Bundeswehr sche n Instrument im Hinblick auf die neuen
globalen Herausforderungen und Verpflichtun-
1955 Gründung gen. Damit wandelt sich auch das Selbstbild der
1956 Einführung der allgemeinen Wehrpflicht
Streitkräfte, da die eigenen Fähigkeiten vor einem
1962 Bundeswehr im Einsatz bei der großen Sturmflut in Hamburg
1968 Grundgesetzänderung, wonach die Bundeswehr bei Katas-
militärischen Angriff auf das eigene Land abzu-
trophen im Innern eingesetzt werden darf schrecken, in den Hintergrund treten.
1994 Bundesverfassungsgericht erklärt Bundeswehreinsätze im
Rahmen von Bündniseinsätzen für zulässig Seit 1990 sank dementsprechend auch der Anteil
1999 Beteiligung im Kosovo-Krieg Der Verteidigungsausgaben am Bruttoinla ndspro-
2000 Frauen dürfen nach einem Urteil des EUGH auch Dienst an dukt a uf weniger als die Hälfte, da sich zum einen
der Waffe ausüben
die Bedrohungslage verändert hatte und zum an-
2001 Beteiligung an der Terrorbekämpfung in Afghanistan
deren angesichts der zeitgleichen wirtschaftlichen
2011 Aussetzung der Wehrpflicht
Herausforderungen nach der Wiedervereinigung
6.3 Die Sicherheitsarchitektur im 21. Jahrhundert 1
Ausgaben für Verteidigungsanstrengungen in den der Wehrpflicht, die bei Bedarf mit einfacher
Hintergrund traten. Mehrheit im Bundestag prinzipiell j ederzeit wie-
der eingeführt werden ka nn, gehen Prognosen
Während die Truppenstärke der Bundeswehr in z. T. vo n noch weniger Soldaten a us. Zukünftig
den l 980er J a hren noc h bei fast 500.000 Mann sollen z udem mobile Einheiten mit bis zu 10.000
lag, liegt d ie Anzahl aktuell bei ca. 180.000 Soldaten g leichzeitig im Ausland aktiv sein
Soldaten und Soldatinnen. Durch die Aussetzung können.
Sea Guardian
Mittelmeer
Aufgaben
1. Legen Sie die Ziele und Grundlagen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik dar.
2. Erklären Sie, inwieweit der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik der erweiterte Sicherheitsbegriff zu Grun-
de liegt.
3. Beurteilen Sie, ob die Bundeswehr verstärkt zu Auslandseinsätzen herangezogen werden sollte. Gehen Sie
dabei in Gruppenarbeit vor.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
Joachim Gauck hat diese Rede auf der 50. Münchner Sicherheitskonferenz am 31.
Januar 2014 in seiner damaligen Funktion als Bundespräsident gehalten.
15 Eines gleich vorweg: Dies ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir jemals hatten.
Das auszusprechen, ist keine Schönfärberei. Als ich geboren wurde, herrschten die
Nationalsozialisten, die die Welt mit Leid und Krieg überzogen haben. [... ] Unser Land
war zerstört, materiell und moralisch. Schauen wir uns an, wo Deutschland heute steht:
Es ist eine stabile Demokratie, frei und friedliebend, wohlhabend und offen. Es tritt ein
20 für Menschenrechte. Es ist ein verlässlicher Partner in Europa und in der Welt, gleich
berechtigt und gleich verpflichtet. [... ]
Ohne Zweifel stimmt an diesem Argument, dass die deutsche Außenpolitik solide
verwurzelt ist. Ihre wichtigste Errungenschaft ist, dass Deutschland mit Hilfe seiner
Partner auf eine Vergangenheit aus Krieg und Dominanz eine Gegenwart von Frieden
25 und Kooperation gebaut hat. Dazu zählen die Aussöhnung mit unseren Nachbarn, das
Staatsziel der europäischen Einigung sowie das Bündnis mit den Vereinigten Staaten
als Grundpfeiler der Nordatlantischen Verteidigungsallianz. Deutschland tritt ein für
einen Sicherheitsbegriff, der wertebasiert ist und die Achtung der Menschenrechte
umfasst. Im außenpolitischen Vokabular reimt sich Freihandel auf Frieden und Waren-
30 austausch auf Wohlstand. [ ...]
Deutschland ist überdurchschnittlich globalisiert und es profitiert deshalb überdurch-
schnittlich von einer offenen Weltordnung - einer Weltordnung, die Deutschland er-
laubt, Interessen mit grundlegenden Werten zu verbinden. Aus all dem leitet sich
Deutschlands wichtigstes außenpolitisches Interesse im 21. Jahrhundert ab: dieses
35 Ordnungsgefüge, dieses System zu erhalten und zukunftsfähig zu machen. [ ...]
Aber Europas Krise verunsichert uns. Auch an der NATO halten wir fest. Aber über die
Ausrichtung der Allianz debattieren wir seit Jahren, und ihrer finanziellen Auszehrung
werfen wir uns nicht entgegen. Das Bündnis mit den Vereinigten Staaten stellen wir
nicht in Frage. Aber Stresssymptome und Zukunftsungewissheit beobachten wir
40 durchaus. Die regelbasierte Welt der Vereinten Nationen halten wir in hohen Ehren.
Aber die Krise des Multilateralismus können wir nicht ignorieren. Die neuen Weltmäch-
te, wir sähen sie gerne als Teilhaber einer Weltordnung. Aber einige suchen ihren Platz
nicht in der Mitte des Systems, sondern eher am Rande. Wir fühlen uns von Freunden
umgeben, wissen aber kaum, wie wir umgehen sollen mit diffusen Sicherheitsrisiken
45 wie der Privatisierung von Macht durch Terroristen oder Cyberkriminelle. [... ]
Lassen Sie mich ein paar Beispiele in Fragen kleiden: Tun wir, was wir tun könnten, um
unsere Nachbarschaft zu stabilisieren, im Osten wie in Afrika? Tun wir, was wir tun
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
müssten, um den Gefahren des Terrorismus zu begegnen? Und wenn wir überzeugen-
de Gründe dafür gefunden haben, uns zusammen mit unseren Verbündeten auch mi-
so litärisch zu engagieren, sind wir dann bereit, die Risiken fair mit ihnen zu teilen? Tun
wir, was wir sollten, um neue oder wiedererstarkte Großmächte für die gerechte Fort-
entwicklung der internationalen Ordnung zu gewinnen? Ja, interessieren wir uns über-
haupt für manche Weltgegenden so, wie es die Bedeutung dieser Länder verlangt?
Welche Rolle wollen wir in den Krisen ferner Weltregionen spielen? Engagieren wir uns
55 schon ausreichend dort, wo die Bundesrepublik eigene und eigens Kompetenz entwi-
ckelt hat - nämlich bei der Prävention von Konflikten? Ich meine: Die Bundesrepublik
sollte sich als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen.
Deutschland zeigt zwar seit langem, dass es international verantwortlich handelt. Aber
es könnte - gestützt auf seine Erfahrungen bei der Sicherung von Menschenrechten
so und Rechtsstaatlichkeit - entschlossener weitergehen, um den Ordnungsrahmen aus
Europäischer Union, NATO und den Vereinten Nationen aufrechtzuerhalten und zu
formen. Die Bundesrepublik muss dabei auch bereit sein, mehr zu tun für jene Sicher-
heit, die ihr von anderen seit Jahrzehnten gewährt wurde.
Nun vermuten manche in meinem Land im Begriff der „internationalen Verantwortung"
65 ein Codewort. Es verschleiere, worum es in Wahrheit gehe. Deutschland solle mehr
zahlen, so meinen die einen, Deutschland solle mehr schießen, so sagen die anderen.
Und die einen wie die anderen sind davon überzeugt, dass „ mehr Verantwortung" vor
allem mehr Ärger bedeute. Es wird Sie nicht überraschen: Ich sehe das anders. (... ]
Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein. Eines haben wir
10 gerade in Afghanistan gelernt: Der Einsatz der Bundeswehr war notwendig, konnte
aber nur ein Element einer Gesamtstrategie sein. Deutschland wird nie rein militärische
Lösungen unterstützen, es wird politisch besonnen vorgehen und alle diplomatischen
Möglichkeiten ausschöpfen. Aber wenn schließlich der äußerste Fall diskutiert wird -
der Einsatz der Bundeswehr-, dann gilt: Deutschland darf weder aus Prinzip „nein"
15 noch reflexhaft „ja" sagen. [ ... ]
Das Prinzip der staatlichen Souveränität und der Grundsatz der Nichteinmischung
dürfen gewalttätige Regime nicht unantastbar machen. Hier setzt das „Konzept der
Schutzverantwortung" an: Es überträgt der internationalen Gemeinschaft den Schutz
der Bevölkerung vor Massenverbrechen, wenn der eigene Staat diese Verantwortung
so nicht übernimmt. [... ]
Um seinen Weg in schwierigen Zeiten zu finden, braucht Deutschland Ressourcen, vor
allem geistige Ressourcen - Köpfe, Institutionen, Foren. Jedes Jahr eine Sicherheits-
konferenz in München - das ist gut, aber nicht genug [... ]Außenpolitik soll doch nicht
eine Sache von Experten oder Eliten sein - und Sicherheitspolitik schon gar nicht. Das
s5 Nachdenken über Existenzfragen gehört in die Mitte der Gesellschaft. Was alle angeht,
Joachim Gauck, Deutschlands Rolle in der Welt - Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnis-
sen, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Nr. 7, 2014 S. 166.ff.
Aufgaben
1 . Analysieren Sie die Rede Gaucks im Hinblick auf die zukünftigen Prinzipien und Aufgaben
deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.
2. Setzen Sie sich mit den Gedanken Gaucks zur Außen- und Sicherheitspolitik auseinander.
Auf den ersten Blic k erscheint der Zusammenhang enge Wechselwirkung zwischen Hu n ger und Ar-
zwischen Armut und Sicherheit nicht ersichtlich. mut.
Erst durch die Zunahme der Flüchtlinge weltweit
und dem Zustrom 2015 von fast einer Million Für UNO und Weltbank gelten Menschen als ab-
Menschen nach Deutschland offenbarte sich, dass solut arm, wenn sie weniger als de n Gegenwert
Entwicklungsdefizite häufig die Ursache für von 1,60 US-Dollar am Tag zur Verfügung ha-
Migration darstellt. Deshalb geriet auch die Ent- be n. Dies traf nach UN-Angaben zufolge 1990 auf
wicklu ngspolitik zunehmend in den Fokus. Mit ihr fast die Hälfte der Bevölkerung der Entwicklungs-
ve rband man die Möglichkeit, Entwicklungsdefi- länder zu und ko nnte bis 2015 auf 14 Prozent
zite auszugleichen und damit Fluchtursachen zu gesenkt werden. Der Interessengegensatz, der sich
bekämpfen. Zu den wesentlichen Ursachen für aus d er unterschiedlichen ökonomischen Lage
Flucht gehören gewaltsame Konflikte, Armut, Un- zwischen dem reich en Norden (vor allem Europa,
terdrückung von Minderheiten, failing states und Japan, No rdamerika) und dem armen Süden (vor
Umweltkatastrophen (>Kap. 6.3). allem Afrika, Südasien) ergibt, bestimmt auch die
polit ischen Beziehungen und wird als Nord-Süd-
Konflikt bezeichnet. Dabei umfassen die „Länder
Armut und Entwicklung in der Welt des Globalen Nordens" die industrialisierten Län -
der, während die „Länder des Globalen Südens"
Armut beschreibt allgemein einen Mangel an Gü- die Entwicklungsländer meint. Die Diskussion um
tern, die zum Überleben benötigt werden. Es wird die Ursachen von Armut und der Kluft zwischen
untersch ieden zwischen absoluter und relativer Reich und Arm in der Welt wird ko ntrovers ge-
Armut: Als absolut arm gelten Menschen, die in führt, schließt die jeweilige Antwort doch a uch
einer existenzbedrohenden Mangelsituation leben grav ie rende Vorwürfe an politische und wirt-
(Mangel an Gütern wie Wasser, Nahrung, Klei- schaftliche Akteure mit ein.
dung und Wohnung). Relative Armut bezeichnet
einen Zustand, in dem zwar das physische Exis-
tenzminimum gesichert ist, der Lebensstandard Merkmale von Entwicklungsländern
aber erhebli ch unte r dem Durchschnitt der eige-
nen Gesellschaft liegt (soziokultu relles Existenz- Gemeinhin kann als Charakteristikum für Ent-
minimum). Während relative Armut vor allem ein wicklungsländer gelten, dass diese nicht in der
Problem in Industrielä ndern ist (laut UN-Definiti- Lage sind, für große Teile ihrer Bevölkerung
on stehen weniger als 50 Prozent, la ut EU-Defini- grund legende Existenzbedürfnisse zu befriedigen.
t ion weniger als 60 Prozent des durchschnittli- Eine allgemein gült ige Definitio n ist umsttritten.
chen Einko mmens des jeweiligen Landes zur Entwicklungsländer weisen aber bestimmten
Verfügung), sind Entwicklungsländer vo r allem Merkmalen auf, die in unte rschiedlicher Ausp rä-
von absoluter Armut betroffen. Dort besteht eine gu ng vorkommen, dazu zählen u. a.:
6.4 Globale Sicherheit, Entwicklung und Armut
Einkommen global
Ungleiche Lebensbedingungen
Zugang zu Zugang zu Kinder- Besuch Gesundheits-
sauberem sanitären sterblichkeiit weiterführen- ausgaben
Wasser Einrichtungen unter 5 Jahren der Schulen
-+---
liii III -+---
,,-, !D!
-=----+--= ---+--
Länder mit in % der Bevöl kerung je 1 000 Kinder in % pro Kopf
niedrigem und der ent- in US-Dollar*
mittlerem sprechenden
Einkommen Altersgruppe
Südasien 234
Naher Osten
und Nordafrika
Ostasien
und Pazifik
Lateinamerika 1 087
und Karibik
Europa und
1 174
Zentralasien
zum Vergleich:
Länder mit 5193
hohem
Einkommen
Quelle: Weltbank 2016 © Glob"' l~I *umgerechnet mit Kaufkraftparitäten
jeweils letzter verfügbarer Stand
Eine Grundlage zur Messung von Wohlstand stellt • die Lebensdauer gemessen als Lebenserwartung
der „Index der menschlichen Entwicklung" (Hu- bei der Geburt,
man Development Index - HDI) dar, der von einer
Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen konstruiert • das Bildungsniveau gemessen als eine Kombi-
worden ist. Er umfasst drei Teilelemente: nation aus der Analphabetisierungsrate von Er-
6 Internationale Beziehungen
wachse nen (zwei Drittel) sowie der Gesamtein - In den HDI gehen die drei Teilelemente Lebens-
schulungsrate der Kinder und Jugendl ichen, die dauer,. Bildungsniveau und Lebensstanda rd je-
sich auf die verschiedenen Schulstufen verteilen weils zu einem Drittel e in. Der Index wird so be-
rechnet, dass er für alle Länder zwischen O und 1
• und den Lebensstandard gemessen als liegt. Die bewerteten Länder lassen sich dann
Pro-Kopf-Einkommen in realer Kaufkraft, wo- gruppieren. So z.B. Lä nder mit einem hohen (HOi
bei das Einkommen oberhalb eines als angemes- größer als 0,8), mittleren (HDI zwischen 0,5 und
sen betrachteten Gren zwertes in ab nehmendem 0,8) und niedrigen (HDI unter 0,5) Entwicklungs-
Maße berücksichtigt wird. stand.
HOi global
Hier ist die menschliche Entwicklung ... • sehr hoch hoch mittel • niedrig • keine Angaben
1 6
- 4
•
~
,,
' ~
5 --11"-.!
3 ►
i" ,).
- ~-
2
"'.;'.
1 Norwegen 184 Burundi
2
3
4
Australien
Schweiz
Dänemark
185
186
187
Tschad
Eritrea
Zentralafr. Rep. ,
,rar}
5 Niederlande 188 Niger
6 Deutschland Quelle: UNDP 2015 © Globus ~
Die Ursachen für Unterentwicklung und Armut Güter und kan n im Extremfall zum Ausfall gan-
sind vielschichtig, meist miteinander verflochten, zer Ernteerträge und da mit zu einer Nichtver-
bedingen sich oft gegenseitig und lassen nicht in sorgung der Bevölkerung führen (> Kap. 6.2.4).
j edem Falle eine tre nnsch arfe Unterscheidung
zwischen natürlichen, externen un d internen Fak- • Das Vorhandensein von Rohstoffen , die abge-
toren zu. Allgemein lasse n sich j edoch folgende baut werden können , ist ein wichtiger Faktor für
Entwicklungshemmnisse ide ntifizieren: die Produkt ion vo n Gütern. Ein Nichtvorhan-
densein w irkt sich als verstärkender Faktor für
Natürliche Faktoren - Rohstoffvorkommen und Unterentwicklung aus (>Kap. 6.2.4).
klimat ische Bedingungen:
• Umweltka tastrophen, wie Erdbebe n und Tsuna-
• Das Klima hat wesentlichen Einfluss a uf die Be- mis können verheerende Auswirkungen auf be-
dingung für den Anbau landwirtschaftlicher reits schon geschwächte Gesellsch aften haben.
6.4 Globale Sicherheit, Entwicklung und Armut 1
Interne Faktoren - Bedingungen in den Entw ick- Externe Faktoren - Einflüsse des Welthandels:
lungsländern:
• Internationale Rohstoffproduzenten beuten
• Durch Kriege und Bürgerkriege sowie Staats- v ielfach die Bodenschätze in Entwicklungs-
zerfall wird in betroffenen Länd ern (z.B. Soma- ländern aus, ohne einen e ntsprechenden Anteil
lia, Sudan) seitens der Regierung, der Verwal- ihrer Gewinne dort zu belassen.
tung bzw. der Konfliktparteien nicht nur
j eglicher Fortschritt verhi ndert, sondern auch • Durch die Abschottung heimischer Märkte hin-
die ohnehin meist sch lechte Infrastruktur ge- dern die Industrieländer die Entwicklungsländer
schädigt. Zugleich lösen sich staatliche Struktu- daran, ihre Exportchancen wahrzunehmen
ren auf, sodass selbst ein Mindestmaß an staat- (Protektionismus); gerade durch Su bventionen
licher Daseinsvorsorge und Sicherheit unmög- fü r die eigene Landwirtsch aft (Agrarprotekt io-
lich wird (> Kap 6.2.2). n ismus) der Industrieländer gehen den Entwick-
lungsländern nach Berechnungen der Weltbank
• In vielen Staaten - vor alle m in Afrika - verhin- jährlich über 60 Milliarden US-Dollar verlo ren
dern Demokratiedefizite, Korruption, Misswirt- (> Kap 2.7. 1).
schaft und Selbstbedienungsme ntalität in der
Führung und Verwaltu ng (,,Bad Governance"), • Produkte mit ein em hohen Verarbeitungsgrad
dass Hilfe von außen wirksam eingesetzt wer- werden in Industrieländern mit hohen Zöllen
den kan n. Zudem wird dadurch die Legitimität belastet. Dies füh rt dazu, dass die meisten Ent-
der Hilfen untergraben. Diese Umstände lähmen wicklungsländer hauptsächlich Rohstoffe ex-
häufig auch die ökonomische Aktivität inner- portieren (z.B. Kakao-, Kaffeebohnen, Baum-
halb der Gesellschaft (>Kap 6.2.2). wolle) und teilweise von nur einem Export-
produkt a bhä ng ig sind. Diese einseitig ausge-
• Die in besonders armen Gesellschaften oft ra- richtete Handelsstruktur führt bei Preisverfall
sante Zunahme der Bevölkerungszahl ve rhin- des jeweiligen Rohstoffes au f dem Weltmarkt zu
dert häufig, dass wirtschaftliche Fortschritte zu erhebliche n Devisenverlusten für die Entwick-
einem Anstieg des Pro-Kopf- Einkommens füh- lungsländer. Die EntwickJungsländer müssen
ren. Es erweist sich meist als unmöglich, für die heute beispielsweise doppelt so viel Kaffee ex-
zunehmende A nzahl von Jugendlichen entspre- portie ren, um die gleiche Menge an Dünger zu
ch ende Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten importieren wie etwa noch vor zwei Jahrzehn-
zu schaffen. Zugleich verstärkt der Anstieg der ten. D. h. die wirtschaftlichen Austauschverhält-
ländlichen Bevölkerung eine Überbeanspru- nisse - die sog. Te rms ofTrade - haben sich zum
chung und Zerstörung der natürlichen Produk- Nachteil der EntwickJungsländer verändert
tionsgrundlagen (>Kap 6.2.5). (> Kap 2. 7 .2).
Entwicklungsrückstände - Erklärungsfaktoren
Aus unte rschiedlichen Erklärungsansätzen für tutionen wie etwa der Internationale Währungs-
Unterentwicklung entstande n verschiedene Theo- fonds, Regierungen der Industrieländer und die
rien und Lösungsmodelle: Für manche sind die Mehrheit der Wirtschaftsfachleute betonen die
Folgen des Kolonialismus und die fortwährende Vorzüge für alle beteiligten Länder ; Globalisie-
Ausnutzung der schwächere n ökonomischen Po- rungskritiker sehen hingegen als Ergebnis eine
sit ion der Entwicklungsländer durch die Industri- wachsende Kluft zwischen de n Ländern des Glo-
eländer ursächlich für die Armut (Kernthese der balen Nordens und Ländern des Globalen Südens.
Dependenztheorie), a ndere sehen die Ursachen
vor allem in den ungenügenden gesellschaftli - Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich in den
chen, polit ischen und wirtschaftlichen Bed ingun- J ahren verstärkter Globalisierung einerseits ver-
gen in den Entwicklungsländern und fordern die größert. Andererseits verzeichne n einige Regio-
Modernisierung deren gesellschaftlicher und wirt- nen deutliche Fortschritte bei der Armutsreduzie-
schaftlicher Strukturen (Kernthese der Moderni- rung. Weltweit sinkt der Anteil der absolut Armen,
sierungstheorie). wobei g roße Unterschiede zwische n den Weltregi-
onen a uffallen. Folgende Auswirkungen der Glo-
balisierung auf die Entwicklungsländer sind dabei
Globalisierungsfolgen für Entwicklungsländer weitgehend unbestritten:
Die Ko nsequenzen der Globalisierung fü r die wirt- • Länder, die sich gegen internat ionale Wi rt-
schaftliche Lage in den Entwicklungsländern wer- schaftsbeziehungen und den Welthandel ab-
den gegensätzlich beu rteilt. Internationale Insti- schotten, geraten in ihrer ökonomischen Ent-
6.4 Globale Sicherheit, Entwicklung und Armut 1
• Gleiches gilt für Lände r, welche wegen ihrer in- • Im Zuge der Globalisierung wachsen die Wohl-
n eren Probleme (z. B. Korruption, sch lechte standsunterschiede sowo hl zwischen de n Staa-
Ausbildungsmöglichkeiten bzw. Wirtschafts- ten als au ch innerhalb der Entwicklungs- und
struk turen, etc.) und wegen des Ma ngels an ex- Schwellenlä nder.
portfä higen Produkten bish er vo m internatio-
n alen Wa renaustausch a usgeschlossen sind. • Einige Schwellenlä nder vor allem in Süd- und
Ostasien haben das weltweit höchste Wirt-
• Inwieweit Entwicklungsländer v on der Globali- schaftswachstum. Der durchschnittliche Wohl-
sierung profitieren können, hä ngt davon ab, ob stand der Bevölkerung wächst, allerdings bei oft
der ökonomische Strukturwandel durch staatli- extrem ungleiche r Verteilung der Einkommen
che Maßnahmen abgefedert u nd die Qualität der und bestehender Armut große r Bevölkerungs-
öffe ntlichen Infrastruktur verbessert werden schichten.
Aufgaben
2. Erklären Sie, wie natürliche, endogene und exogene Ursachen Unterentwicklung bedingen. Untersuchen Sie
dafür in Gruppen jeweils eines der am wenigsten entwickelten Länder nach den Ursachen der Unterentwick-
lung.
3. Beurteilen Sie, ob eine Flucht aus wirtschaftlichen Gründen legitim ist und reiche Staaten zur Aufnahme
dieser Flüchtlinge verpflichtet sein sollen. Führen Sie dazu eine Eishockey-Diskussion(, Methodenglossar) im
Kurs durch.
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
M 1 Sozialtourismus
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Karikatur: Sch1vanvel
Aufgaben
2. Interpretieren Sie die Aussage der Karikatur vor dem Hintergrund der Entwicklung der
Lebensbedingungen in der Welt.
3. Entwickeln Sie Strategien gegen Unterentwicklung und Armut. Nehmen Sie Bezug auf den
Umgang mit internen, externen und natürlichen Faktoren.
6.4.2 Entwicklungspolitik
Leitfragen Welche Motive bestimmen die Welche Strategien und Ziele Wie ist Entwicklungs-
Entwicklungszusammenarbeit? sollen Sicherheit herstellen? politik zu beurteilen?
Die Kluft zwischen den Gesellschaften der Indus- So soll Entwicklungszusammenarbeit globalen
trieländer und dem armen Teil der Welt bedeutet Herausforderungen, wie der Destabilisierun g gan-
eine politische und moralische Herausforderung zer Regionen durch Bürgerkriege, Hunge rsnöten,
für die Staatengemeinschaft, gerade angesichts Pandemien mittel- und langfristig entgegenwir-
globaler Bedrohungen. Der Gegensatz zwischen ken. War Entwicklungshilfe früher eher als Almo-
Arm und Reich kann als Ungerechtigkeit gesehen sen für arme Staaten und als Gebot der Mensch-
werden, die aus ethischen bzw. moralischen Grün- lichkeit gesehen worden, ist Entwicklungspolitik
den die reichen Gesellschaften zur Hilfe verpflich- in der globalisierten Welt ein Instrument, globale
tet. Gleichzeitig wird die Politik aus der Kolonial- Sicherheit zu schaffen (> Kap. 6.1.1 ). Sie versteht
zeit für etliche Fehlentwicklungen verantwortlich Sicherheit dabei nicht im globalen Machtgefüge,
gemacht (Grenzziehungen, Ausbe ut ung von Bo- sondern als menschliche Sicherheit. Das Ziel von
denschätzen etc.), woraus eine besondere Verant- Entwicklungspolitik ist dementsprechend der
wortung für die Industrieländer erwächst. Schutz bzw. die Förderung der Überlebens- und
Entfaltungschancen von allen Menschen.
Jedoch g ibt es auch ein Eigeninteresse der Indus-
trieländer an einer Verbesserung der Situation in
den Entwicklungsländern: Hierbei spiele n wirt- Mit welchen Zielen und Strategien ist
schaftliche Motive eine zentrale Rolle, da inzwi- Entwicklungspolitik verbunden?
schen erfolgreiche Schwellenländer gerade aus
Asiens für die Industrieländer nicht n ur zu Kon- Während das grundlegende Ziel von Entwick-
kurrenten geworden sind, sondern sich auch zu lungspolitik - eine Verbesserung der wi rtschaftli-
wichtigen Absatzmärkten entwickeln. Gleichzei- chen Lage - über die J ahre gleichgeblieben ist,
tig soll mit Hilfe vo n Entwicklungspolitik den zu- haben sich die bevorzugten Strategien zum Errei-
nehme nden Migrationsbewegungen durch ver- chen dieses Ziels gewandelt.
besserte Lebensbedingungen in den Heimatländern
entgegengewirkt werden, um so den Zuwande- In den 50er und 60er J ahren des letzten J ahrhun-
rungsdruck beispielsweise auf die EU a bzumildern derts ging man davo n aus, dass endogene Fakto-
(> Kap. 5.4). ren , wie z.B. technischer und wirtschaftlicher
6 Internationale Beziehungen
Einzelne Staate
Bilaterale Zusammen-
arbeit mit
Entwicklungsländern Akteure der E'ntwickl 1
llschaftlic
E UN-Generalvers ammlung · W irtschafts- und Sozialrat anisatian
....C1J
II)
We ltkonferenzen (Klimaschutz, Bevölkerung, Frauen u.a.) auf nationaler und
>- UN-Sonderorganisatione n UN- Fonds und -Programme internationaler Ebene
Vl darunter
1
FAQ· IFAD · ILO· UNESCO · UNDP · UNFPA ·UNICEF · WFP ·
z
::, WHO · Weltbank u.a. UNHCR · UN-Habitat · UNEP u.a.
kirchliche Hilfswerke,
private Organisationen,
Ziele und Regeln der Entwick- Durchführung von Entwicklungs- Stiftungen und Fonds
lungszusammenarbeit maßnahmen (Technische Zusam-
menarbeit)
Fina nzierungs institutione n
Weltbank-Gru ppe · Internationaler Währungsfonds
Regionale Entwicklungsbanken (IWF)
l angfristige zinsgünstige Dar- Zahlungsbilanzhilfen, zins-
lehen, Zuschüsse, Garantien, günstige Sonderfazilitäten für
Mobilisierung privaten Kapitals ärmere Entwicklungsländer
Rückstand, traditionelle Gesellschaftsstrukturen Weltm arkt gestützt auf die eigenen Ressourcen
Hauptgründe für Unterentwicklung seien. Um Un- und Bedürfnisse, um eine eigenständige Wirt-
terentwicklung zu überwinden, sei die Moderni- schaft und Gesellschaft aufzubauen.
sierung der Gesellschaft u nd der Wirtschaft nötig
(Modernisierungstheorie). Vorbild dafü r waren An dieser Stelle setzt auch d ie Grundbedürfnis-
die Industriestaaten. Entwicklungspolitik setzte strategie an. Mit dieser Strategie wollte man er-
deshalb auf eine nachholende Entwicklung und reichen, dass alle Menschen Zugang zu lebens-
somit auf Marktwirtschaft, Öffnung gegenüber wichtigen Gütern und Dienstleistu ngen bekommen
dem Weltmarkt und Exportorientierung. Nur in und so die Versorgung mit Nahrung, Wasser, Bil-
we nigen Ländern, wie Taiwan oder Südkorea war dung, Kleidung und Wohnung gesichert wird. Zie-
dieses Vorgehen erfolgreich. le waren dementsprechend die Förderu ng der
Landwirtschaft, d ie Durchsetzung von Landrefor-
In den 70er und 80er Jahren setzte s ich deshalb men und der Ausbau der Infrastruktur (Gesund-
die Erkenntnis durch, dass wegen exogen er Fak- heitsversorgung, Bildungseinrichtungen, Ver-
toren, wie die Ausbeutu ng der Entwicklungslän- kehrssysteme etc.).
der durch den Kolonialism us u nd die Unterlegen-
heitim internationalen Handel (Dependenztheorie) An die Stelle der Gru ndbedürfnisstrategie ist heu-
Unterentwicklung nicht beseitigt werden könne. te eine Mischung aus exportorientierten Entwick-
Deshalb sollte Entwicklu ngspolitik Entwicklungs- lungskonzepten und Armutsbekämpfung getre-
länder in ihrer autozentrierten Entwicklung un- ten, welche jeweils darauf abzielen, den
terstützen. Autozentrierte Entwickl ung bedeutet Teufelskreis der Armut mit Hilfe der unterschied-
das Herauslösen der Entwicklungsländer a us dem lichsten Akteure zu durchbrechen.
6.4 Globale Sicherheit, Entwicklung und Armut 1
/ mangelhafte '
geringe mangelhaftes
Produktivität Bildungssystem
geringes geringe
Einkommen Steuereinnahmen
~RMUf/
geringe
Produktion
schlechter
Gesundheitszustand
f~
mangelhafte
Ernährung
geringe
Ersparnis
t
geringe
Investitionen
Nach: Uwe Andersen, Entwicklungsdefizite und mögliche Ursachen, in: Informationen zur politischen Bildung,
Nr. 286, 2005, S . 18
Die Grundidee heutiger Entwicklungspolitik • Ein wichtiger Faktor ist der Kampf gegen Anal-
phabetismus, um die Bildungschancen breiter
Das grundlegende Prinzip heutiger Entwicklungs- Bevölkerungsschichten zu erhöhen.
politik ist „Hilfe zur Selbsthilfe". Handlungslei- • Zentral für verbesserte Lebensbedingungen sind
tend ist hier die Idee, dass ohne Einbindung der die Förderung von Frauen sowie ein Ende ihrer
lokalen Bevölkerung und Berücksichtigung der Diskriminierung. Erfahrungen zeigen, dass die
j eweiligen natürlichen und gesellschaftlichen verstärkte Einbeziehung von Frauen erst die Vo-
Rahmenbedingu ngen eine erfolgreiche Entwick- raussetzung für den Erfolg vieler Entwicklungs-
lung nicht möglich ist. Der Versuch, Entwicklung projekte schafft.
von oben zu generieren, gilt als gescheitert. Es • Die negativen Wirkungen vo n „Bad Governan-
müssen darum Techniken entwickelt und a nge- ce" werden stärker als früher bedacht. So wird
wandt werden, die auf Dauer von der ansässigen die Vergabe von Entwicklungsgeldern seit eini-
Bevölkerung a uc h genutzt werden kön nen. Damit ger Zeit auch an gute Regierungsführung in den
sollen nachha ltige Möglichkeiten einer la ngfristi- Empfängerländern gebunden (Demokratisie-
gen eigenständigen Erzielung von a usreichenden rung, Achtung der Menschenrechte). Allerdings
Erträgen aufgezeigt werden - sei es zur Selbstver- ist der Einfluss von Entwicklungspolitik auf das
sorgung oder zur Vermarktung. Verhalten von Regierung und Verwaltung in
Entwicklungsländern i. d. R. begrenzt.
Nachhaltige Entwicklung muss jedoch auch in
ökologischer Hinsicht gewahrt sein. Alle Projekte
müssen auf Ressourcenverbrauch und Umwelt- Entwicklungspolitik - eine Aufgabe für
verträglichkeit hin überprüft und Hilfen zu r Ver- die gesamte Staatengemeinschaft?
meidung der armutsbedingten Vernichtung natür-
licher Ressourcen (z.B. Ab holzung von Wäldern) Bei der UN-Vollversammlung im September 2000
geleistet werden (> Kap. 2.8.1 ). Weitere wichtige - auch Millenniums-Gipfel genannt - wurden an-
Faktoren sind: gesichts der nach wie vor unbefriedigenden Situ-
1 6 Internationale Beziehungen
ation in einem großen Teil der Entwicklungslän- gliedsstaaten verabschiedet. Sie wurde mit breiter
der acht sog. Millenniumsziele proklamiert, die Beteiligung der Zivilgesellschaft in aller Welt ent-
man bis 2015 möglichst erreicht haben wollte. wickelt und g ilt für alle Staaten dieser Welt. Das
Diese Ziele sind völkerrechtlich nicht verbindlich. Kernstück der Agenda bildet ein ehrgeiziger Ka-
talog mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung
• Halbierung des Anteils der Weltbevölkerung, der (Sustainable Development Goals, SDGs). Die 17
an extremer Armut und Hunger leidet; SDGs berücksichtigen erstmals alle drei Dimensi-
• Gewährleistung der Grundschulbildung für alle onen der Nachhaltigkeit - Soziales, Umwelt, Wirt-
Kinder; schaft - gleichermaßen. Die 17 Ziele sind unteil-
• Förderung der Gleichstellung der Geschlechter bar u nd bedingen einander. Ihnen sind fünf
und Stärkung der Frauenrechte; Kernbotsc haften als hand lungsleitende Prinzipien
• Senkung der Ki ndersterbli chkeit; in der Präambel vora ngestellt:
• Verbesserung der Gesundheit von Müttern;
• Bekämpfung von HN, Malaria und anderen • Die Würde des Menschen im Mittelpunkt (Peo-
übertragbaren Krankheiten; ple): Eine Welt ohne Armut und Hunger ist
• Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit, ver- möglich
stärkter Umweltschutz;
• Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartner- • Den Planeten schützen (Planet): Klimawandel
schaft. begrenzen, natürliche Lebensgrundlagen be-
wahren
Die Bilanz der Weltgemeinschaft, die im letzten
Bericht zur Umsetzung der eigens gesetzten Mill- • Wohlstand für alle fördern (Prosperity): Glo-
enniums- Entwicklungsziele (MDGs) 2015 gezo- balisierung gerecht gestalten
gen wurde, ist insgesamt positiv, wen ngleich nicht
alle Ziele erreicht worden sind. Nach den Angaben • Frieden fördern (Peace): Menschenrechte und
des Berichts sei die weltweite Armut in den letzten gute Regierungsführung
zwei Jahrzehnten deutlich gesunken, konnten
mehr Ki nder die Gru ndschulen besuchen und • Globale Partnerschaften aufbauen (Partner-
na hm die Sterblichkeit von Kindern unter 5 J ah- ship): Global gemeinsam voranschreiten
re n und Müttersterblichkeit deutlich ab. Gleich-
zeitig habe aber die Ungleichheit in den Entwick- Im Englischen spricht man von den „5 Ps": Peop-
lungsländern zugenommen, was zu politischer le, Planet, Prosperity, Peace, Partnership. Die
Instabilität geführt habe. Agenda 2030 geht vo n einem Wohlstandsver-
ständnis aus, das über die Betrachtu ng von
Pro-Kopf-Einkommen hinausgeht und Nachhal-
Leitmotive der UN-Entwicklungspolitik - tigkeit in den Mittelpunkt stellt(>Kap. 2.8.3). Die
die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung Zusammenhänge zwischen Kl imapolitik, nach-
haltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung
Die Agenda 2030 wurde im September 2015 auf werde n berücksicht igt. Nicht genügend berück-
dem Gipfel der Vereinten Nationen von allen Mit- sichtigt werde, so Kritiker, die Handels-, Migra-
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6.4 Globale Sicherheit, Entwicklung und Armut 1
tions- u nd Agrarpolitik. Dabei seien es gerade j ene • Wirtschaftliche Leistungsfähig keit du rch Wachs-
Politikbereiche, die das Leben der Menschen in tum und wirtschaftliche Zusammenarbeit.
den Lä ndern des globalen Südens n egativ beein- • Politische Stabilität durch Frieden, Menschen-
fl ussten. rechte, Demokratie und Gleichberechtigung.
• eine global nachhaltige Entwicklung, die glei-
chermaßen wirtschaftliche Leistungsfähigkeit,
Die deutsche Entwicklungspolitik soziale Gerechtigkeit, ökologische Tragfähigkeit
und politische Stabilität beinhaltet.
In Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes heißt es: ,.Das
Deutsche Volk bekennt sich [..] zu unverletzlichen
u nd u nveräußerlichen Menschenrechten als Entwicklungspolitik zwischen
Grundlage jeder menschlichen Ge meinschaft, des Anspruch und Realität
Friedens u nd der Gerechtigkeit in der Welt." Mit
entwicklungspolitischen Proj ekten soll darum die Damit die Ziele der Entwickl ungszusammenarbeit
deutsche Entwicklungspolitik dazu beitragen, keine Wunschvorstellungen bleiben, wurde 2002
dass Menschen in den Entwicklungsländern in eine Konferenz der Vereinten Nationen zur Ent-
Freiheit, ohne materielle Not und selbstbestimmt wicklu ngsfinanzierung auf der Ebene der Staats-
leben kön nen. und Regierungschefs in Monterrey/Mexiko einbe-
rufen, a n der auch Vertreter aus der Wirtschaft
Die Bundesregierung sieht die Glo balisierung da- und von NGOs teil nahmen. Sie thematisierte als
bei als den Rahmen für erfolgreiche Entwick- erste UN-Konferenz alle Grundprobleme der Ent-
lungspolit ik an. Sie nennt insgesamt vier entwick- wicklungsfinanzierung: die Mobilisierung eigener
lungspolitische Ziele (vgl. Ziele nac hhaltiger Mittel in Entwicklu ngsländern, a uslä ndische Di-
Entwicklu ng) : rekti nvestitionen, den internationalen Handel,
öffentliche Entwicklungshilfe, das Problem der
• Soziale Gerechtigkeit durch Armutsmi nderung Verschuldung und die Regeln des internationalen
und sozialen Ausgleich. Finanz- u nd Handelssystems. Der in Monterrey
erzielte Konsens e nthält dabei wicht ige Elemente Kritik an der Entwicklungspolitik
einer effektiveren Entwicklungspolitik:
Angesichts der nach wie vor problematischen Le-
• Die Industrieländer bestätigten die Untergrenze bensbedingungen in vielen Entwicklungsländern
für öffentliche Entwicklungshilfe von 0,7 Pro- wird immer wieder Kritik an der Praxis de r Ent-
zent des Bruttosozialprodukts (BSP) und sagten wicklungspolitik laut. Die Kritik bezieht sich vor
eine bessere Abstimmung ihrer Hilfe sowie allem auf die folgenden Aspekte:
Schuldenerleichterungen für die armen Länder
und entwicklungsfreundliche Reformen der • Die Industrieländer bleiben nach wie vor weit
Welthandels- und Weltfinanzordnung zu. hinter dem Ziel zurück, 0,7 Prozent ihres BSP
für öffentliche Entwicklungshilfe a u fzuwenden.
• Die Vera ntwortung der Entwicklu ngslä nder für
,,Good Governance" und jene der Industrielän- • Die wirksamste Hilfe für Entwicklungslä nder
der für faire weltwirtschaftliche Rahmenbedin- wäre die Chance, ihre Produkte in die Industri-
gu ngen wu rde bekräftigt. eländer exportieren zu kö nnen. Die Industrie-
länder verhindern dies aber durch protektionis-
• Die Zusagen mehrerer Staaten summierten sich tische Maßnahmen.
zwa r auf 16 Mrd. US-Dollar bis 2006, vorsich-
tige Sch ätzungen errechnen aber einen Finanz- • Radikale Kritiker fordern die Einstellung der
bedarf von mindestens 50 Mrd. US-Dollar, um Zahlungen : Durch Hilfslieferungen würden die
die „Millenniumsziele" bis 201 5 zu erreichen. lokalen Märkte und Produktionsstrukturen zer-
stört, während Geldhilfen häufig nur der per-
Im J ahr 200 8 fand in Doha eine UN-Folgekonfe- sönlichen Bereicherung von Eliten dienten.
renz zur Entwicklungsfinanzierung statt. Diese
sollte weiter reichende Akze nte für die Entwick- • In Deutschla nd wurde sehr kontrovers über Ent-
lungszusammenarbeit setzen. Unter dem Einfluss wicklungspolitik diskutiert, da das Geld z. T. erst
der Finanz krise wurde eine drohende Kürzung der gar nicht bei den Hilfsbedürftigen ankamen,
Entwicklungshilfe zwar abgewendet und die Ziele weil v iele Gelder in Verwaltungen oder korrup-
von Monterrey wurden bekräftigt. Es konnten j e- te Appa rate flossen.
doch kei ne weiteren verbindlichen Vereinbarun-
gen getroffe n we rden. • Problemat isch ist, dass es kaum Instrumente
gibt, mit denen die Nichteinhaltung von ent-
Die UN-Vollversammlung hatte bereits 1970 das wicklungspolitischen Vereinbarungen sanktio-
Ziel gesetzt, die Industrieländer zu einer Abgabe niert werden können.
von 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für die
Entwicklungszusammenarbeit zu bewegen. Hinte r • Entwicklungspolitik ist politisch wenig reizvoll,
diesem Ziel bleiben seitdem die meisten Länder da Wähler ihre Erfolge i. d. R. nicht unmittelba r
weit zurück, unter ihnen auch Deutschland. erkennen können.
Aufgaben
1. Stellen Sie mit Hilfe von Texten, Grafiken und Statistiken (► Methodenkompetenz: Analyse von Statistiken) dar,
inwiefern die Ziele der Entwicklungspolitik bzw. Entwicklungsstrategien erreicht bzw. nicht erreicht wurden.
Nennen Sie mögliche Gründe.
3. Begründen Sie, inwiefern Entwicklungspolitik einen Beitrag zum weltweiten Frieden leisten kann.
KOMPETENZEN ANWENDEN 1
Weltweit fließen jedes Jahr Milliarden Euro in Entwicklungsländer. [. ..] Doch Not und
Elend hat das viele Geld nicht aus der Welt schaffen können.
Pro „Ein Ausstieg wäre fatal", Paul Bendix, Geschäftsführer von Oxfam Deutschland
{2000-2011)
5 Die Wirksamkeit von Entwicklungshilfe wird heiß diskutiert. Manche Kritik gipfelt darin,
dass sie ganz abgeschafft gehöre, da sie eine wichtige Ursache für die Armut darstelle.
Eine Versachlichung dieser Debatte ist dringend geboten. Es stimmt, dass in zu vielen
Regionen der Welt weiterhin entsetzliche Armut herrscht. Es ist aber reichlich zynisch,
dies der bisherigen Entwicklungshilfe zuzuschreiben. Bei einer fairen Beurteilung der
,o Wirksamkeit müssen zumindest der historische Kontext, die politischen und weltwirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen und die Lernprozesse in der Entwicklungszusam-
menarbeit berücksichtigt werden. Zunächst wird weithin verdrängt, welch verheerende
Rolle Versklavung und Kolonialismus auf die sozialen und wirtschaftlichen Systeme in
den betroffenen Ländern hatten. Viele gewaltsame Eingriffe wirken bis heute nach, etwa
zerstörte Sozialsysteme und willkürliche Grenzziehungen. Zu Zeiten des Ost-West-Kon-
15 fliktes wurde Entwicklungshilfe viel zu oft eher nach geostrategischen Interessen der
Blöcke vergeben denn zur Armutsbekämpfung. In den 80er- und 90er-Jahren wurden
arme Länder, vor allem durch den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank,
gezwungen, ihre öffentlichen Ausgaben zurückzufahren - mit teils verheerenden Folgen:
Gesundheitssysteme brachen zusammen, in vielen Ländern stieg die Mütter- und Kin-
20 dersterblichkeit stark an. Zugleich verweigern die Industrienationen armen Ländern
noch immer den Zugang zu ihren Märkten, überschwemmen aber gleichzeitig deren
Märkte mit Waren aus reichen Ländern. Damit die Entwicklungszusammenarbeit eine
größere Wirkung entfalten kann, muss die internationale Politik deshalb entwicklungs-
förderliche Rahmenbedingungen schaffen. Die Entwicklungszusammenarbeit selbst hat
25 sich in den vergangenen 50 Jahren stark verändert. Die Partner sind sich weitgehend
einig, dass sie nicht mehr aus einer Vielzahl oftmals unverbundener Einzelprojekte be-
stehen sollte. Vielmehr gilt es, von mehreren Gebern gemeinsam finanzierte Programme
zu entwerfen, die den systematischen Aufbau von Systemen zum Beispiel in den Berei-
chen Gesundheitsfürsorge und Bildung vorantreiben. Auch der Dialog zwischen Gebern
30 und Nehmern über Fragen der Regierungsführung, wie etwa einer verbesserten Steue-
den entwicklungspolitische Vorhaben nach den Vorstellungen der Geber oder der loka-
len Regierungen konzipiert. Eine zunehmend wichtige Bedingung für wirksame Armuts-
bekämpfung ist die systematische Einbeziehung der Bevölkerung in Planung,
Durchführung und Auswertung der Maßnahmen. Ein Ausstieg aus der Entwicklungshil-
40 fe wäre fatal, da der Staatshaushalt vieler Länder bis zu 40 Prozent von der Geberfinan-
„Wer Afrika helfen will, darf kein Geld geben." Diese radikale Kritik an der praktizierten
Entwicklungshilfe erschallt aus Afrika. Immer lautstärker machen gut ausgebildete, re-
50 nommierte Leute wie der kenianische Ökonom James Shikwati oder die sambische
Finanzexpertin Dambisa Moyo die Hilfe des Westens für Entmündigung, Lähmung und
Stillstand verantwortlich. [...] Mehr Milliarden bringen nicht mehr Entwicklung. In den
letzten Jahrzehnten hat sich eine regelrechte „ Entwicklungshilfe-Industrie" in Milliarden-
höhe herausgebildet, die neue Abhängigkeiten schafft. Da die meisten Entwicklungshil-
55 fegelder gratis vergeben werden, brauchen die Beschenkten nichts selbst in die Hand
Feld der Armutsbekämpfung tummeln, für Korruption anfällig sind. Abgestimmte Pro-
gramme gibt es so gut wie nicht. Jede Organisation wurstelt für sich und verschwindet
meist auch wieder, ohne nachhaltige Spuren ihrer Arbeit in den jeweiligen Gebieten zu
hinterlassen. Entwicklungshilfe-Experten setzen sich viel zu wenig mit den besonderen
10 Sozialstrukturen und der ethnischen Situation in einem afrikanischen Vielvölkerstaat und
Leute, die einen anderen Politikstil favorisieren und Verantwortung für die Gesellschaft
übernehmen wollen. Sie sind zumeist in zivilgesellschaftlichen Organisationen zu finden,
die sich um Frieden und Entwicklung kümmern. Zusammen mit nachhaltigen und über-
schaubaren Initiativen der Zivilgesellschaft ließe sich die vielbeschworene „ Hilfe zur
85 Selbsthilfe" umsetzen. So verstandene Entwicklungszusammenarbeit würde es den
Aufgaben
1. Arbeiten Sie die Argumente für und gegen Spenden aus den beiden Stellungnahmen
heraus.
3. Sollen wir weiterhin Staaten durch Geldmittel unterstützen? - Diskutieren Sie diese Frage.
Global Governance
■ Idee und Realität
Leitfragen Was wird unter Global Wer sind die Akteure von Vor welchen Herausforderungen
Governance verstanden? Global Governance? steht die Umsetzung von Global
Governance?
Konsensuale Entscheidungsfindung
und kooperative Problemlösung;
,.,
~
Zivilisierung der Internationalen Beziehungen
• Wichtige Akteure sind a uch Nichtregierungsor- • Sie beobachten kritisch die Tätigkeiten von in-
ganisationen (NGOs: Non-governmental-Orga- ternationalen Akteuren z.B. tra nsnationalen
n ization), die Einfluss auf Entscheidungsprozes- Unternehmen (,,watchdogs") und berichten über
se nehmen (wollen). 1hr Spektrum reicht von Missstände bzw. Normverletzungen;
weltweit agierenden Organisationen wie Green- • Sie wollen ihre Info rmationen und Anliegen ei-
peace oder Am nesty International bis zu lokalen ner breiten Öffentlichkeit zugänglich machen
Umweltgruppen. NGOs spielen eine wichtige und so eine zivilgesellschaftliche Gegenmacht
Rolle im Bereich der Interessenartikulation und zu mächtigen Interessengru ppen, internationa-
sind durch ihren oft nied rigen Organisations- len Institutio nen und Regierungen herstellen ;
grad und ihre Verankerung in der Zivilgesell- • Sie wollen auf Entscheidungen der Akteure in
schaft für viele Hoffn ungsträger ei ner mehr den Internationalen Beziehungen, z.B. in Son-
bürgerorientierten, demokratischeren Weltge- derorganisationen der UN, Einfluss nehmen.
sellschaft.
Inzwischen haben NGOs in internationalen Orga-
• Als institutioneller Ra hmen für die Zusammen- nisationen oder bei Konferenzen u nd sonstigen
arbeit von Natio nalstaaten wurden internatio- internationalen Verhandlungen oftmals den Sta-
nale Netzwerke geschaffen. Ein besonders be- tus als offiziell zur Teilnahme zugelassener Akteu-
kanntes Beispiel ist der alljäh rlich stattfindende re, also eine Akkreditierung, erhalten. Insbeson-
Weltwirtschaftsgipfel der Ga- Staaten - der dere bei den Weltkonferenzen der UNO nehmen
weltweit acht wichtigsten Industriestaaten -, bei Tausende NGO-Vertreter aus aller Welt teil. NGOs
dem im informell en Meinungsaustausch welt- können Themen auf die Tagesordnung internati-
wirtschaftliche Probleme und drängende Si- onaler Politik b ringen und informellen Einfluss
ch erheitsfragen thematisiert werden. Ein Bei- über z.B. Ko ntakte oder Positionspapiere, Exper-
spiel für ein Netzwerk vo n NGOs ist das tisen ausübe n, haben aber keine Entscheidungs-
Weltsozialforum, das mit sein en Aktivitäten kompetenzen. Das zivilgesellschaftliche Engage-
versuc ht, die Öffentlichkeit in den Industrie- ment der NGOs ist einigen Staaten n icht
staaten für die Probleme des armen Teils der willkommen. Sie sehen in der Tätigkeit der NGOs
Welt zu sensibilisieren. eine Bedrohung oder Destabilisierung ihres poli-
tischen Systems. So wurden beispielsweise Ende
• Ein weiterer Schritt auf dem Weg zu Global Go- 2015 mehr als 100 NGOs in Russland zu auslän-
vernance ist die Weiterentwicklung der interna- disc hen „Agenten" erkl ärt, was diese verpflichtet,
tionalen Gerichtsbarkeit sowie eine Stärkung bei jeder Äußerung diesen Zusatz a nz ugeben.
der sie vertretenden Akteure (>Kap. 6. 1.3).
Skepsis von Wissenschaftle rn und Polit ikern im Entsch eidungen in großen multil ateralen Ver-
Hinblick auf die Chancen von Global Governance ha ndlungssystemen nur schwe r herbeiz uführen
stützt sich sowohl auf die bisherigen Erfahrungen - und die Umsetzung einmal getroffe ner Entschei-
mit der Wirksamkeit internationaler Institut ionen dungen hängt vo m Willen der Staaten ab.
als auch auf grundsätzliche Erwägungen. Beson-
ders in den „harten" Bereichen internationaler Da es kein internationales Gewalt monopol gibt,
Politik, in denen v itale Inte ressen von National- können vo r allem mächtige Staaten nicht ge-
staaten b erührt werden, blockieren große Mächte zwungen werden, internationale Vereinbarungen
wie die USA, Russland oder China oft ein rasches auch einzuhalten. Auch die Legiti mat ion vo n
und energisches Vorgehen der internat ionalen NGOs zur allgemein verbindlichen Regelung vo n
Organisationen bei der Lösu ng von globalen oder polit ischen Problemen ist umstritten. Es wird kri-
regionalen Problemen. tisiert, dass besonders aktive und engagierte Ver-
treter sich selbst das Mandat zur Vertretung ge-
So leidet die Lösungskompetenz der UNO bei in- samtgesellschaftlicher An liegen erteilen und nicht
ternationalen Krisen a n der häufigen Uneinigkeit von der Bevölkerung legitimiert sind. Zudem zeigt
der Vetomächte im Sicherheitsrat. Zentrales Pro- die Praxis globaler zivilgesellschaftlicher Aktivi-
blem einer a uf der Selbstkoordination der St aaten täten wie z.B. des Weltsozialforums, dass ange-
beruhenden Global Governance-Architektur sichts der unüberschaubaren Zahl von Teilneh-
bleibt einerseits der Mangel a n Entscheidungsfä- mern mit unte rschiedlichen Interessen und
higkeit und andererseits die Umsetzung von Ent- Zielvo rstellungen eine einheitliche Besch lussfin-
scheidungen. So sind einstimmig zu treffe nde dung nur schwer möglich ist.
Aufgaben
1 . Beschreiben Sie das Konzept von Global Governance im Zusammenhang der Internationalen Beziehungen.
2. Erklären Sie die Rolle von NGOs im System der Internationalen Beziehungen.
Bei der Diskussion, was man bestellen solle, waren sich [ ..] alle einig, dass der Thun-
fisch keinesfalls ok gehe. Grund: radioaktive Belastung. Auf meine Nachfrage gab man
die Angst vor gesundheitsschädlichen Stoffen an, insbesondere die hohe Belastung
von Meerestieren mit radioaktivem Material durch Fukushima.
5 Diese Belastung existiert nachweislich nicht. Panik um den Verzehr von Fisch nach
dem Reaktorunfall von Fukushima wurde im vergangenen Jahr von interessierten Krei-
sen durch selektive Zitate aus einer Studie geschürt. Tatsächlich zeigt die besagte
Studie der Universität Hawaii genau das Gegenteil: dass seit dem Unfall die Cäsium-
belastung von Thunfisch bereits wieder im Sinken begriffen ist. Eine handelsübliche
10 Büchse Thunfisch strahlt demnach nur 1/20 so stark wie eine gewöhnliche Banane
aufgrund ihrer natürlichen Radioaktivität. [... ]
Auch abseits der emotional nachvollziehbaren Angst vor Nuklearabfällen ist zu beob-
achten, dass mit steigendem Eifer immer heftiger über die schlechte Qualität „ indus-
triell" erzeugter Nahrungsmittel diskutiert wird, während dem Leiter des Bundesinsti-
15 tuts für Risikobewertung zufolge „unsere Lebensmittel so sicher wie nie zuvor" sind.
NGOs wie Foodwatch, Greenpeace oder Oxfam malen regelmäßig Schreckensszena-
rios an die Wand, und viele Journalisten übernehmen die marktschreierischen An-
schuldigungen ungeprüft und verbreiten sie weiter. [...]
Das Geschäftsmodell von Gruppen wie Foodwatch ist es, Geld damit zu verdienen ,
20 andere schlecht zu machen. Und Journalisten unterstützen sie dabei nach Kräften. [...]
Keine Frage. Die Ziele, um die es Greenpeace, Foodwatch & Co zu tun ist, klingen
gerecht. Sie rühren an das menschliche Mitgefühl. Man rettet die Wale oder den Wald,
schützt süße Robbenbabys und verhindert, dass kleine Kinder Gift im Brei schlucken.
Wer traut sich da schon mit skeptischer Miene zu fragen: .,Ist alles wirklich so schlimm?",
25 oder: ,,Welche Belege gibt es dafür denn?" Die enge Bindung eines überproportional
großen Anteils von Journalisten an die Grünen trägt sicher auch nicht zu einem kriti-
schen Klima gegenüber NGOs bei. Doch dass Greenpeace, Foodwatch & Co regel-
mäßig als die Vertreter des Guten schlechthin akzeptiert werden, ist gefährlich.
Zu Nahrungs- und Umweltthemen gibt es schon heute kaum noch eine Pluralität der
30 Meinung in den großen Medien. Auch und gerade die Öffentlich-Rechtlichen tragen
dazu bei, wenn sie Aktivisten wie Michael Sailer vom Öko-Institut e.V. oder Heinz
Smital, der bei Greenpeace engagiert ist, regelmäßig als unabhängige „Nuklearexper-
ten" und nicht als Sprecher ihrer jeweiligen Vereine auftreten lassen. Analoges ist für
Vertreter von Foodwatch und Oxfam als „Nahrungsexperten" zu beobachten. NGOs
35 sind Nichtregierungsorganisationen, d. h. Lobbyverbände, das sollte man sich immer
wieder in Erinnerung rufen. [...]
Aber vertreten Greenpeace, Foodwatch & Co nicht wenigstens genuin menschen-
freundliche, am Gemeinwohl orientierte Interessen? Auch darüber könnte man strei-
ten. Nicht unterschlagen werden sollte in jedem Fall, dass auch das „egoistische"
40 Unternehmerinteresse das Gemeinwohl im Blick haben kann, hinsichtlich der Tatsa-
che, dass Menschen Beschäftigung finden und Erträge erwirtschaftet werden, welche
die Grundlage für die Entrichtung von Steuern sind. Guten Gewissens bezweifeln darf
man hingegen, dass die kurzsichtige Kampagne von Greenpeace gegen den goldenen
Reis, oder PETAs Gleichsetzung von Mensch und Tier, die in der Kampagne „Der
45 Holocaust auf Ihrem Teller" gipfelte, tatsächlich das Etikett gemeinwohlorientiert ver-
dienen. Gesteht man ihnen dieses Etikett aber zu, stellt sich sofort die Frage nach der
demokratischen Legitimation. Wer hat Greenpeace, Foodwatch & Co überhaupt auto-
risiert, für uns alle zu sprechen? Wer kontrolliert die Kontrolleure? Foodwatch bei-
spielsweise wurde von Ritter Sport mit 250.000 Euro anschubfinanziert. Wer legt sol-
1 KOMPETENZEN ANWENDEN
50 ehe Verflechtungen offen? Was ist, wenn NGOs mächtiger werden als diejenigen,
deren Macht sie etwas entgegensetzen wollten?
Wirklichkeit sind natürlich die großen NGOs längst selbst zu weltumspannenden Kon-
zernen mit einem Milliardenumsatz geworden. Greenpeace etwa akquirierte in den
vergangenen Jahren jeweils mehr als 40 Millionen Euro an Spendengeldern allein in
55 Deutschland, und die radikale Tierrechtsvereinigung PETA noch immer mehrere Milli-
onen. Das funktioniert nur, weil sich diese Organisationen zu quasi religiösen Instituti-
onen entwickelt haben. Der sporadische Spender erwirbt bei der NGO seines Vertrau-
ens einen Ablassbrief wie früher der Sünder bei der katholischen Kirche. Nun kann
man sich gut fühlen, man hat etwas für die gerechte Sache getan. Wie fanatische
60 Gläubiger agieren dann die aktiven Anhänger ihrer jeweiligen Vereinigung. Mit missio-
narischem Eifer wird gefochten und debattiert, man weiß sich sicher auf der Seite des
Guten™.
Dieser Nimbus macht es beinahe unmöglich, mit Kritik durchzudringen. NGOs sind
sakrosankt. Am besten läuft ihr Geschäft, wenn die Gläubigen sich dem Weltuntergang
65 nahe fühlen. Aus diesem Grund haben Greenpeace, Foodwatch & Co ein notwendiges
Eigeninteresse daran, die Angst aufrechtzuerhalten und neue Missstände zu definie-
ren. Es geht ihnen auch um den Selbsterhalt, um das Auskommen ihrer Beschäftigten
und Führungskräfte. Bis heute konnte keine revolutionäre Partei oder Organisation sich
je eingestehen, dass die eigenen Ziele erreicht sind und man überflüssig geworden ist.
10 Niemand schafft sich gerne selbst ab. Mit den modernen Weltverbesserern ist es wie
mit einer Steuer. Einmal eingeführt, wird man sie nicht mehr los.
Um Missverständnissen vorzubeugen. Lobbyismus ist in einer Demokratie unvermeid-
bar, sogar wünschenswert. Gruppen oder Einzelpersonen versuchen, durch Lobbyis-
mus Mehrheiten im Parlament oder im Volk zu gewinnen. Lobbyismus ist ein Grund-
15 bestandteil demokratischer Streitkultur. Um aber Mauscheleien und Klüngeleien im
Hinterzimmer vorzubeugen, sollten die Mechanismen des Lobbyismus transparent
gemacht werden. Mit Hinblick auf offensichtliche Wirtschaftsinteressen wird das auch
und gerade von Vertretern der NGOs eingefordert. [... ]
Denn nichts behindert derzeit eine unvoreingenommene Diskussion über Lobbyismus
80 und dessen Grenzen derart, wie die beinahe religiöse Überhöhung einiger NGOs zu
den Gralshütern eines überparteilichen Wohls. Und letztendlich schadet diese Verklä-
rung sogar noch einem vernünftigen Umgang mit den tatsächlich von Zeit zu Zeit
auftretenden Umweltkatastrophen und Verunreinigungen von Lebensmitteln. Dauern-
de Skandalisierung erzeugt ein Klima der Angst und macht im laufe der Zeit blind für
85 wirkliche Bedrohung. Eine offene Debatte dagegen könnte helfen, den Blick zu schär-
fen, tatsächliche Missstände ausfindig zu machen, aber sich auch einzugestehen, in
wie vielen Bereichen es uns wirklich gut geht. Das müsste auch im Interesse aller
NGO-Aktivisten sein, denen noch die Sache, für die sie einmal eingetreten sind, am
Herzen liegt. Aktivismus ist nichts Schlechtes. Lobbyismus ist nichts Schlechtes. Ein
oo Lobbyismus aber, der als Heilslehre daherkommt und sich unfehlbar gibt wie der
Papst, ist verheerend.
A f aben
2. Gestalten Sie einen Kommentar oder Leserbrief aus der Sicht eines NGOs-Vertreters.
SELBSTDIAGNOSE 1
Im laufe des letzten Kapitels haben Sie sich mit den Internationalen Beziehungen beschäftigt. Lesen
Sie die folgenden Sätze und entscheiden Sie jeweils für sich, welche der Spalten sie ankreuzen können.
... die Aufgaben und Ziele der VN, der NATO und der OSZE.
- wirtschaftliche - konstitutionell
- gesellschaftliche - dezisiv 253
- politische Gewaltenverschränkung 312, 325
- medizinische 18 Gewaltkonflikte 416
Geldmarkt 165 Gewaltmonopol 406, 437
Geldwertstabilität 163 Gewaltmonopol, funktionsunfähiges 438
Gemeinden 334f. Gewerkschaften 122, 137, 138
Gemeinden, Aufgaben 334 Gewinnmaximierung 93
Gemeinsame Ausschuss 309 Gewinnquote 140
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Gewissen der Nation 329
(GASP) 386, 387f. Gini, Corrado 58
Gemeinsame Binnenmarkt 380 Gini-Koeffizient 58
Gemeinschaft 357 Gipfelerklärung von Astana 475
Gemeinwohl 88, 248 Giralgeld 164
Gender mainstreaming 41 Gläserne Decke 40
Generalsekretär der OSZE 475 Gleichberechtigung 39
Generalversammlung derVN 460 Gleichgewicht des Schreckens 418
Generationenvertrag 19 Gleichgewichtspreis 93
Genfer Abkommen 422 Gleichheitsrechte 268
Geodeterminismus 488 Gleichstellung 39
Gerechtigkeitskonzepte Global Governance 499
- Leistungsprinzip Global Governance, Grenzen 502
- Bedarfsprinzip Global Governance, Säulen 502
- Egalitätsprinzip Global Governance-Architektur 499
- Chancengleichheit 140 Global government 499
Gerichte 346 Globale Armut, Ursachen
Gerichtsbarkeit in Deutschland 346f. - natürliche Faktoren
- ,,ordentliche" Gerichte 346 - interne Faktoren
- Arbeitsgerichte 346 - externe Faktoren 486f.
- Verwaltungsgerichte 346 Globale Sicherheit und Armut 484
- Sozialgerichte 346 Globale Strategie der EU 387
- Finanzgerichte 346 Globales Sicherheitsnetzwerk 469
Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 99 Globalisierte Welt 47
Geschlecht Globalisierung 80, 120, 175
- biologisch Globalisierung der Wirtschaft 175
- sozial Globalisierung, Begleiterscheinungen 488f.
- psychisch Globalisierungskritiker 182
- Gender 10 Goldstandard 169
Geschlechterquote 41 Green Growth 209
Gesellschaft 69, 240 Green New Deal 210
Gesellschaft, Spaltung der 26 Greenpeace 408
Gesellschaftlicher Fortschritt 52 Greminger, Thomas 475
Gesellschaftsstrukturen 10 Grenzen des BIP 216
Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Grenzkontrollen, Abschaffung 363
Wachstums der Wirtschaft (Stabilitätsgesetz) Grenzkrieg zwischen Somalia und Äthiopien
111 439
Gesetze 338, 345 Griechische Schockmoment 382
Gesetzentwurf 315, 338 Große Anfragen 314
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung Grotius, Hugo 411
(GWB) 101 Gründerstaaten der EU 362
Gesetzesvorschläge 312 Grundgesetz 268, 272ft.
Gesetzgebung 320, 325, 338ft. Grundgesetzänderung 334
Gesetzgebung, konkurrierende 332f. Grundgesetzfragen 350
Gesetzgebungsnotstand 341 Grundrechte 268
Gesetzgebungsrecht 367 Grundrechtskonflikte 269
Gesetzgebungsverfahren 338 Grundversorgung, mediale 305
Gewaltenteilung 253, 366 Gruppen 8, 13
Gewaltenteilung, Formen - formell 13
- vertikal - informell 13
- temporal Gruppenstärke 288
1 Sachregister
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Literaturempfehlungen I
Anforderungsbereich 1 (Reproduktion)
Er verlangt in erster Linie das Wiedergeben und Darstellen von fachspezifischen Sachverhalten
aus einem abgegrenzten Gebiet und im gelernten Zusammenhang unter reproduktivem Benutzen
geübter Arbeitstechniken.
Operator(en) Definition
aufzählen / nennen /
Kenntnisse (Fachbegriffe, Daten, Fakten, Modelle) und Aussagen in
wiedergeben /
komprimierter Form unkommentiert darstellen
zusammenfassen
benennen/
Sachverhalte, Strukturen und Prozesse begrifflich präzise aufführen
bezeichnen
Er fordert das selbstständige Erklären, Bearbeiten und Ordnen bekannter fachspezifischer Inhalte
und das angemessene Anwenden gelernter Inhalte und Methoden auf andere Sachverhalte.
Operator(en) Definition
-
Materialien und Sachverhalte kriterienorientiert oder aspektgeleitet
analysieren erschließen, in systematische Zusammenhänge einordnen und
Hintergründe und Beziehungen herausarbeiten
Operator(en) Definition
Bildnachweis
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