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Geschichte

KLAUSUR
kompakt

Deutsches Kaiserreich
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Der deutsche Historiker Theodor Schieder über den Charakter des


Deutschen Kaiserreichs:

Was den obrigkeitsstaatlichen Charakter des Kaiserreichs uns seine politische Ordnung betrifft, so ist
dieser trotz der plebiszitär-parlamentarischen Elemente der Bismarckischen Reichsverfassung eine un-
bezweifelbare Realität und ein Ergebnis der nationaldeutschen Entwicklung zuletzt seit 1848 und seit
dem preußischen Verfassungskonflikt gewesen. In dieser Entwicklung vollzog sich der Sieg zunächst
der partikularen Staaten, vor allem der beiden Großmächte und ihrer bürokratisch militärischen Kräfte
über die bürgerliche Nationalbewegung, später der Sieg eines national-monarchischen über ein natio-
nal-demokratisches System. […] Der Verzicht auf die volle Erfüllung der liberalen Verfassungsforderun-
gen wurde von den National-Liberalen in der Erwartung ausgesprochen, dass diese Forderungen nur
vertagt, nicht prinzipiell aufgegeben werden müssten.

Diese Erwartung trog: Die obrigkeitsstaatlichen Elemente der Verfassung blieben bis in die letzte Wo-
che des Kaiserreichs erhalten, im Bewusstsein des bürgerlichen Liberalismus erschien das Reich jetzt
als der unvollendete Verfassungsstaat. Man sollte sich jedoch nicht darüber täuschen, dass eine klare
Vorstellung darüber in dem Jahrzehnt nach 1867 noch nicht bestand und dass der kritische Punkt
erst nach dem Stellungswechsel der Bismarckischen Politik am Ende der 70er Jahre erreicht wurde.
Den Ausnahmezustand gegenüber der katholischen Kirche im Kulturkampf war das liberale Bürgertum
noch hinzunehmen bereit […]. Bei der Verhängung des Ausnahmerechts gegen die Sozialisten musste
Bismarck schon seine ganze listenreiche und verschlagene Taktik anwenden, um wenigstens einen
Teil der Liberalen auf seiner Bahn mitzureißen. Am Ende der Ära Bismarck gründete sich die Reich-
spolitik nicht mehr wie bei der Reichsgründung auf das Bündnis der nationalgestimmten Teile des
Liberalismus und Konservatismus, sondern auf eine schwankende, wenn auch durch starke Interes-
sen zusammengehaltene Allianz der auf die Bejahung der Reichspolitik einschwenkenden, mehr und
mehr zur agrarischen Interessenpartei sich formierenden Konservativen, der groß- und mittelbürger-
lich orientierten National-Liberalen und der nach Abbau des Kulturkampfes das Reich tolerierenden
katholischen Bevölkerungsgruppen. Diese Verbindung, die bis zum Ende des Kaiserreichs immer
ungesichert blieb, beruhte auf der unausgesprochenen Voraussetzung, dass die liberale Verfassungs-
entwicklung, die Parlamentarisierung der Reichspolitik praktisch ohne Termin vertagt wurde. Dies
hatte die Anpassung breiter Schichten des Besitz- und Bildungsbürgertums an das soziale System
des nationalen Staates zur Folge, das vorwiegend von aristokratischen und militärischen Leitbildern
bestimmt wurde. Darin muss man die für das Kaiserreich charakteristische Form nationaler Integration
sehen, die insofern zur nationalen Dekomposition beitrug, als dass sie die sozialen Spannungen nicht
abbaute, sondern immer offenkundiger machte. Die obrigkeitsstaatlichen Züge wurden deutlicher aus-

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geprägt, da die Integration neuer Führungsschichten nicht auf einem verfassungsrechtlich geregelten
System der politischen Führungsauslese beruhte, sondern auf gleichsam außerhalb der Verfassung
geltenden gesellschaftlichen Konventionen. Sie verlangten, dass die fachliche Leistung und Eignung
hoch bewertet wurde, aber auf der anderen Seite auch gesellschaftliche Voraussetzungen wie die
Zugehörigkeit zu bestimmten studentischen Korporationen, zu bestimmten Regimentern oder Bezie-
hungen zum Hof für jeden Aufstieg in Verwaltung und Politik Geltung hatten. Dadurch blieben Parteien
und Parlamente als Auslesegremien für politische Führungsstellen, von wenigen Ausnahmen abgese-
hen, ausgeschaltet. Die Parteien wurden in die Haltung entweder opportunistischer Anpassung oder
reiner Negation gedrängt, während in der Politik des Reichs und Preußens und in der hohen Verwal-
tung Beamtenmentalität anstelle politischer Entscheidungsfähigkeit trat.

zitiert aus: Schieder, Theodor: Das Deutsche Reich 1871 – 1945, in: Reichsgründung 1870/81, Tatsa-
chen, Kontroversen, Interpretationen, hrsg. v. T. Schieder u. E. Deuerlein, Stuttgart 1970, S. 442f

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Aufgabe 1: Analysiere Schieders zentralen Thesen!


Aufgabe 2: Ordne sie in den historischen Kontext (auch in Bezug auf Schieders
Integrationsmodell) ein!
Aufgabe 3: Setze dich kritisch mit Schieders Thesen im Hinblick auf Bismarcks
Innenpolitik auseinander!

Die nächsten Seiten beinhalten die Erwartungs-


horizonte. Aufgaben erst lösen, dann überprüfen.

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Aufgabe 1: Erwartungshorizont

Autor: Theodor Schieder, Historiker


Textsorte: Darstellungstext, wissenschaftliche Veröffentlichung

Adressaten: historisch interessierte Leserschaft

Anlass: der politische Charakter des Kaiserreichs mit Bezug auf die Stellung der
Nationalliberalen (warum sie ihre liberalen Forderungen zeitweise aufgaben)
Intention: Anlässlich des 100 jährigen Jubiläums der Reichsgründung, Nationalliberale
werden als „Opfer“ bezeichnet, Kritik an Reichskanzler Bismarck
Schieders Thesen:
- das Kaiserreich war ein Obrigkeitsstaat, trotz einiger parlamentarischer Elemente,
Preußen und andere Monarchien hätten sich gegenüber der liberalen Bewegung
durchgesetzt
- National-Liberale verzichteten zunächst auf ihre Forderungen, da sie sich erhofften, dass
sie zukünftig umgesetzt würden; daher nahmen auch an Koalitionen teil und passten sich
Bismarcks System ab
- Bis zum Ende des Kaiserreichs blieb der erhoffte Verfassungsstaat unvollendet
- Beim liberalen Bürgertum führte der „Anpassungsdruck“ zur „nationalen Integration“; es
entstanden soziale Spannungen in der Gesellschaft, weil Militär und Adel hohes Ansehen
hatten
- Genau diese künstliche Anpassung der Liberalen und Katholiken führte den Zerfall der
Gesellschaft herbei
- Schieders Erklärung dafür: Politik wurde nicht durch die Parteien im Parlament
bestimmt, sondern war maßgeblich von gesellschaftlichen Bedingungen abhängig, z.B.
soziale Herkunft und Kontakte zum Kaiserhof

Der vorliegende Darstellungstext wurde vom deutschen Historiker Theodor Schieder


1970, 100 Jahre nach der Gründung des Kaiserreichs, in der BRD veröffentlicht. Mit
diesem wissenschaftlichen Text wendet er sich an eine historisch interessierte
Leserschaft. Er thematisiert darin den politischen Charakter des Kaiserreichs
mit besonderer Berücksichtigung der Stellung der Nationalliberalen, die er als „Opfer“
der Bismarckischen Politik darstellt.
Schieder behauptet, dass das deutsche Kaiserreich bis zu seinem Ende ein
Obrigkeitsstaat gewesen sei, obwohl es parlamentarische Elemente enthielt. Nachdem
Preußen und andere Monarchien durch die Einigungskriege die deutsche
Reichsgründung vollbracht hatten, setzten sie sich gegenüber der liberalen Bewegung
durch. Von nationaler Begeisterung erfüllt, verzichteten die Nationalliberalen zunächst
auf ihre liberalen Forderungen, weil sie deren Erfüllung in absehbarer Zeit erwarteten.
Deshalb hätten sie sich an Koalitionen beteiligt und sich dem Bismarckischen System
vorerst angepasst. Auf ihre Forderungen wurde aber nie eingegangen, weil das
Kaiserreich bis zum Ende ein unvollendeter Verfassungsstaat geblieben sei. Der
Anpassungsdruck an Bismarcks Reichspolitik führte beim liberalen Bürgertum laut Schieder
zur „nationalen Integration“. Im Kaiserreich entwickelten sich aufgrund dieses
Anpassungsdrucks soziale Spannungen, die damit zu erklären seien,
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dass das Militär und der Adel weiterhin ein hohes Ansehen hatten. Dieses System konnte
sich langfristig nicht bewähren. Schieder sieht die Ursache dafür darin, dass die politischen
Angelegenheiten nicht von den Parteien im Parlament, sondern von gesellschaftlichen
Bedingungen, beispielsweise von sozialer Herkunft und Kontakten zum Kaiserhof, bestimmt
wurden. Schlussfolgernd ist Schieders Text als eine negative Wertung über die Bismarckische
Reichspolitik zu interpretieren.

Aufgabe 2: Erwartungshorizont

Innenpolitische Zusammenhänge: Verfassung im Kaiserreich, Preußischer Militarismus


Außenpolitische Zusammenhänge: Einigungskriege, Reichsgründung 1870/81
Innenpolitische Probleme des deutschen Kaiserreichs:
- Langersehnter Wunsch nach einem Nationalstaat, Reichsgründung, Einigungskriege
- Liberale geben ihre Ziele zugunsten der deutschen Einigung vorerst auf (siehe preußischer
Heereskonflikt)
- Bismarcks Kulturkampf gegen Katholiken
- Sozialistengesetze als Kampf gegen die Sozialdemokraten
- Entwicklung von Feindbildern, gesellschaftliche Bedingungen
- Soziale Spannungen (Pauperismus), Bismarcks Sozialgesetzgebung
Politische Strömungen im Reichstag; der Einfluss der Parteien in Bezug auf Verfassung und
Wahlrecht

Erläuterung von Schieders Modell der „nationalen Integration“:


- Anpassungsdruck brachte Liberale zur „nationalen Integration“
- Besitz- und Bildungsbürgertum passten sich trotz einiger Kontroversen an den
gesellschaftlichen Charakter des Kaiserreichs an, um weiterhin eine Rolle spielen zu
können
- Langfristig führte dies jedoch zur „nationalen Dekomposition“, da soziale
Spannungen nicht abgebaut, sondern aufgestaut wurden
Militärische und aristokratische Elemente der kaiserlichen Gesellschaft

Die von Schieder aufgestellten Thesen beziehen sich auf innen- und außenpolitische
Faktoren, die die Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs prägten. Diesbezüglich spielten die
Einigungskriege und die Reichsgründung 1871 eine wichtige Rolle, da das Militär aufgrund
dieser siegreichen Kriege ein hohes Prestige in der Gesellschaft hatte. Darüber hinaus wurde
die Gesellschaft langfristig vom preußischen Militarismus beeinträchtigt, da Preußen größtes
Einzelland war und praktisch als „Motor“ der Einigung galt. Die Liberalen, die dem
preußischen Obrigkeitsstaat zunächst ablehnend gegenüber standen, arrangierten sich
schließlich mit Bismarcks Politik, weil sie sich die Gründung eines deutschen Nationalstaates
gewünscht hatten. Insofern akzeptierten sie die „Revolution von oben“, die von den
preußischen Militärs 1871 vorangetrieben wurde. Die Innenpolitik im Kaiserreich war nach
1871 von einigen Spannungen geprägt, da jeglicher politischer Widerstand unterdrückt
werden sollte. Reichskanzler Bismarck führte einen „Kulturkampf“ gegen den Katholizismus
und die Zentrumspartei, um den kirchlichen Einfluss auf den Staat zu verringern. Des
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Weiteren erließ Bismarck gegen die Sozialdemokraten die Sozialistengesetze, mit denen er
deren Aktivitäten deutlich einschränkte. Um die ärmlichen Verhältnisse der Arbeiterschaft zu
verbessern, führte Bismarck eine staatliche Sozialgesetzgebung ein. Diverse
Widerstandsgruppen, wie Katholiken und Sozialdemokraten, wurden als „Feindbilder“
diffamiert und spielten über einen längeren Zeitraum keine Rolle. Das Kaiserreich besaß
zwar eine Verfassung, den Reichstag und ein Wahlrecht, jedoch waren die
Wirkungsmöglichkeiten dieses Parlaments deutlich eingeschränkt. Das preußische Militär
und der Adel gehörten zu den vorherrschenden Klassen der Gesellschaft. Um in der
Gesellschaft weiterhin eine Rolle spielen zu können, passten sich die Liberalen daher dem
Anpassungsdruck an. Das Besitz- und Bildungsbürgertum nahm den obrigkeitsstaatlichen
Charakter des Kaiserreichs hin, obwohl er im Widerspruch zu ihrem eigenen politischen Ziel
stand. Diese Umstände bezeichnet Schieder als „nationale Integration“. Langfristig führte
dies laut Schieder jedoch zu einer „nationalen Dekomposition“, da die sozialen Spannungen
noch vielmehr verschärft wurden.

Aufgabe 3: Erwartungshorizont

Vergleich von Schieders Thesen mit der Realität:


- Inhaltlichen Argumente stimmen größtenteils
- National-Liberale als Opfer der „nationalen Integration“
- Bewertung von Bismarcks Innenpolitik
- Kritische Beurteilung von Schieders Kritik an Bismarcks System
- Inwiefern war Bismarck die Hauptfigur bzw. Spiegelbild der Gesellschaft
Fazit und Rückbezug der Ergebnisse:
- Inwiefern beurteilt Schieder die Liberalen und Bismarck
- Welche Gründe spielten für das Scheitern des Kaiserreichs eine Rolle
- Welche Bedeutung kam der Parlamentarisierung zu

Die von Schieder formulierten Thesen stimmen größtenteils mit der Realität der kaiserlichen
Gesellschaft überein. Militär und Adel nahmen bis zum Untergang des Kaiserreichs
eine dominierende Stellung in der Gesellschaft ein, während sich die Liberalen
unterordneten und sich diesen Verhältnissen anpassten. In diesem Zusammenhang
können die National-Liberalen, die sich vor der Reichsgründung von der liberalen Partei
abgespalten hatten, als Opfer von Bismarcks Politik bezeichnet werden. Sie nahmen
den obrigkeitsstaatlichen Charakter des Kaiserreichs hin und verzichteten auf einige
politische Forderungen, da ihr Wunsch nach Gründung eines Nationalstaates
bewerkstelligt worden war. Das deutsche
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Kaiserreich war trotz seiner konstitutionellen Elemente, wie Reichstag und Verfassung, ein
weitgehend autoritäres System, da das Volk bis 1918 de facto kaum politischen Einfluss
ausüben konnte. Minderheiten und politische Gegner wurden durch Bismarck per Gesetz
unterdrückt. Insofern hat Schieder Recht damit, wenn er behauptet, dass das Kaiserreich bis
zu seinem Untergang ein „unvollendeter Verfassungsstaat“ geblieben sei. Bismarck kann
allerdings nicht als Spiegelbild der Gesellschaft angesehen werden, da er nicht der einzige
Grund für die gespaltene Gesellschaft gewesen ist. Die Integration von verschiedenen
Ländern, Normen und Kulturen war von Beginn an nur schwer mit einem preußisch
dominierten Obrigkeitsstaat in Einklang zu bringen. Die sozialen Unterschiede, insbesondere
der von Schieder angesprochene Pauperismus, mussten langfristig zu gravierenden
Spannungen in der Gesellschaft führen. Von daher war Bismarck zwar ein entscheidender,
aber nicht alleiniger Grund für den Charakter des Kaiserreichs. Schieder sieht in dem
Anpassungsdruck der Liberalen die Ursachen für das Scheitern des Kaiserreichs, da diese auf
ihre politischen Forderungen verzichteten und die Gesellschaft damit weiter spalteten.
Hätten die Liberalen auf ihre Forderungen bestanden, wäre es wohlmöglich früher zu
politischen Reformen gekommen, die soziale Spannungen hätten entschärfen können. Da
sich die Liberalen dem Anpassungsdruck jedoch beugten, konnte der Reichstag als Parlament
praktisch keine Bedeutung erringen. Auf diese Weise blieben Parteien bis 1918 größtenteils
ausgeschaltet.

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