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14 THEMA: MUSIK MIT PROGRAMM

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Musik mit Programm
Jürgen Oberschmidt

„Die vorliegende Symphonie ist als absolute 2014, S. 15). So moderiert Emil Nikolaus von Rez- Werk ganz ausdrücklich der „absolute[n] Musik“
Musik gedacht, die ohne Programm, lediglich nicek im Programmheft die Uraufführung seiner zu, was ihn aber nicht davon abhält, es mit ei-
unter der Signatur ‚tragisch‘ das Verständniß für Tragischen Symphonie an. Es folgt ein skizzen- nem Titel zu versehen, hier eine „psychologisch
die psychologisch-dramatische Entwickelung ei- hafter Einführungstext, der mit den Worten dramatische Entwickelung“ zu autorisieren und
nes durch das erste Thema symbolisierten Cha- „Des-Dur, Irrsinn, Katastrophe, Zusammenbruch diese dem Hörer auch noch auf den Weg zu ge-
rakters auslösen soll. Trotzdem hält es der Ver- (Tam-Tam-Schlag). Das Ende“ (ebd.) abbricht ben. Anschließend spricht er von einem „den tra-
faßer im Interesse seines Werkes geboten, bei der und mit dem sich unser Thema Musik und Pro- gischen Conflikt in sich tragenden Charakter[…]“,
heutigen, allerersten Aufführung aus dem Ma- gramm trefflich exponieren lässt. Zeigt sich in einem „weiblichen Charakter“, einer „kurze[n]
nuskripte, wenn auch kein Programm, (ein sol- solch einer Beschreibung das Wesen der Musik, erotische[n]‚ Episode und einem „zweimalige[n]
ches existiert – wie bereits bemerkt – nicht) so weil sich ihre Botschaften zwar verstehen aber vergebliche[n] Ansturm“ (ebd.), wobei es letzt-
doch an der Hand einer kurzen musikalischen nicht in Worten mitteilen lassen? Oder begibt sich lich vage und offen bleibt, ob an zwei Facetten
Analyse den Versuch einer Erklärung der Psycho- hier ein Komponist selbst auf die Suche nach eines Charakters oder einen „weiblichen“ Ge-
logie des Werkes zu wagen“ (zit. n. Stollberg dem Mainstream seiner Zeit? Stammelt hier ein genspieler gedacht ist. Man darf durchaus das
Politiker, der es allen recht machen möchte und Gefühl haben, dass der Komponist an den Re-
sich nach mühsamen Koalitionsverhandlungen gelkodex der Formenlehre mit den damals für
www.musikundbildung.de zwischen Konservativen und Neudeutschen um plausibel befundenen Geschlechterkonstruktio-
Beitrag als PDF-Datei den heißen Brei der eigenen Wahlversprechun- nen in absoluter Musik anknüpft: „Der Seitensatz

gen windet? Der zitierte Tonschöpfer zählt sein […] ist das der ersten energetischen Feststellung

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Nachgeschaffne, zum Gegensatz Dienende, von dürfte nichts dem Betrieb einer (Regel-)Schule
jenem Vorangehenden bedingt und bestimmte, näher liegen, als Vorschriften zu befolgen. Aber bedeuten Töne der Tragödie und tra-
mithin seinem Wesen nach nothwendig das Mil- In der Fülle dieser ersten losen Umschreibungen gische Töne wirklich stets dasselbe? […]
dere, mehr schmiegsam als markig Gebildete, das erkennt man aber bereits, dass uns hier eine Wer hat nicht irgendwann einmal tragische
Weibliche gleichsam zu jenem vorangehenden harmlose Regelkunde und Begriffsbestimmung Töne der Musik erfahren, die heftiger und
Männlichen“ (Marx 1879, S. 282). Hier soll nun nicht weiterhilft. Selbst in der Musikwissenschaft erschütternder waren als je die Musik einer
nicht über das „Schmiegsame“ und „Markige“ wird der Begriff, „der die trügerische Prägnanz Tragödie? Aber hiermit betreten wir gefähr-
eines Themas diskutiert oder gar darüber geurteilt eines Schlagworts hat“ (Dahlhaus 1975, S. 187), lichen Grund. Da alle solchen Erfahrungen
werden, ob Anton Bruckner allein mit der Ein- meistens als „undefinierter Terminus technicus“ in subjektiven Eindrücken bestehen […],
führung eines dritten Themas die Kompositions- (Altenburg 1997, Sp. 1821) benutzt. Dies wäre viel- geraten wir unvermeidlich auf abenteuerli-
lehre von Adolph Bernhard Marx gendergerecht leicht schon das Ende vom Lied, hielten nicht die che Wege ins Reich der Wahrscheinlich-
weiterentwickelt hat. Uns stellt sich vielmehr die gesammelten musikalischen Wissenschaften ein keit.“
Leo Scharade: Tragedy in the Art of Music. Aus dem
Frage, ob der Titel diese Musik bereits zu Pro- umfängliches und generationenübergreifendes
Englischen übersetzt von Erich Ryf: Vom Tragischen in
grammmusik macht, wenn sich der Titel womög- Programmmanagement bereit, das sich vor dem
der Musik. Mainz 1967: Schott. S. 15.
lich nicht auf eine literarische Vorlage außerhalb Hintergrund der sich stets im Wandel befinden-
der Musik bezieht, sondern einzig thematische den ästhetischen Normen immer wieder neu und
Prozesse einer tönend bewegten Form semanti- oft unter polemischer Zuspitzung mit den Anzei-
siert werden, indem man die Metaphern einer chen von Programmmusik auseinandersetzt: Was ist Programmmusik?
Kompositionslehre wörtlich nimmt und diese „Programmusik ist kein immer gleiches, sondern Den Terminus ‚Programmusik‘, der die trü-
dann in der eigenen Beschreibung narrativ aus- ein geschichtlich variables Phänomen“ (Dahlhaus gerische Prägnanz eines Schlagworts hat, in
deutet. 1987, S. 128). das Gehäuse einer festen Definition einzu-
Damit ist der Kern einer komplexen Thematik Der Begriff selbst ist erst in Franz Liszts Abhand- sperren, dürfte schwierig oder sogar un-
Musik und Programm grob umrissen: Die Un- lung (1855) über die Harold-Symphonie von Hec- möglich sein, weil die Vorstellungen, die
schärfen zwischen Innen und Außen, zwischen tor Berlioz geprägt worden, als die Anbindung sich mit dem Wort verbinden, zu einem
subjektiven Sinnzuschreibungen und versuchten der Musik an Literatur oder Malerei einen ge- nicht geringen Teil von den Funktionen ab-
Objektivierungen. Gehört es nicht zum Wesen der wichtigen Schritt auf dem Weg zu jenem idealen hängen, die es seit der Mitte des 19. Jahr-
Kunst, ein inneres Programm zu haben – ohne Kunstwerk bedeutete, zu dem die Künste ver- hunderts in dem musikalischen Parteien-
dass dies gleich in ein äußerlich sichtbares Mani- schmelzen sollten. Was sich in der Auseinander- streit zwischen den ‚Neudeutschen‘ und
fest gegossen werden muss? Müssen wir uns im setzung mit Beethovens Sinfonien entzündete, deren Gegnern erfüllte. Der Inhalt des Be-
Musikunterricht wie ein Vermessungsingenieur sollte Richard Wagner später dann als (sein) Ge- griffs ist durch pragmatische Momente be-
an solche Navigationsvorschriften halten oder samtkunstwerk bezeichnen, um in seinen Schöp- stimmt. Anhänger der Programmusik ten-
sollten wir es nicht geradezu darauf anlegen, uns fungen (und wohl auch wenig bescheiden in dieren eher zu einer weitgespannten,
„auf abenteuerliche Wege ins Reich der Wahr- seiner Person) die einzig legitime, würdige und Skeptiker zu einer enggefaßten Definition,
scheinlichkeit“ (Schrade) zu begeben? finale Möglichkeit der Beethovennachfolge zu denn für apologetische Zwecke ist es nütz-
definieren. lich, Werke wie die Schumannschen Kla-
Das Phänomen, außermusikalische Inhalte mit vierstücke mit charakterisierenden Über-
MUSIK MIT PROGRAMM – oder in Musik auszudrücken, ist natürlich viel äl- schriften, an deren ästhetischer Legitimität
PROGRAMMMUSIK ter, wobei sich hier allenfalls lose Berührungs- niemand zweifelt, der umstrittenen Kate-
punkte und keine direkten Entwicklungslinien gorie zu subsumieren, während es umge-
Nun gilt es aber, eine ähnlich abenteuerliche und zur erzählenden oder beschreibenden Instru- kehrt in Darstellungen mit polemischer Ab-
kühne Reise in allerlei Wahrscheinlichkeiten an- mentalmusik, zur „Tonmalerei“ des 17. und 18. sicht naheliegt, den Bereich der Program-
zutreten, wenn versucht werden soll, in die Pro- Jahrhunderts, herstellen lassen; ihre Stilmittel musik auf das Genre der Tonmalerei einzu-
grammmusik und ihre Geschichte einzutauchen, sind unmittelbar aus Oper, Ballett oder anderen schränken, deren kunsttheoretische Recht-
um diese dann mit einzelnen musikpädagogi- szenischen Gattungen übernommen. Auch wenn fertigung schwerfällt.
schen Wegmarken der letzten Jahrzehnte abzu- hier eine oft unterschätzte Wechselbeziehung Wilhelm Klatte, ein Liszt-Enthusiast, scheu-
gleichen. Eine Reise, die zunächst einmal ohne zwischen Schauspielmusiken, (Opern-)Ouver- te nicht davor zurück, den Begriff auf die
Lust auf ein Abenteuer beginnt: Schließlich ist ein türen und Ballettmusiken besteht, scheint es we- Vokalmusik auszudehnen […]. Bachs Kan-
Programm eine Vorschrift, etwas Vorgeschriebe- nig sinnvoll, all dies unter dem Begriff Pro- taten wären demnach Paradigma der Pro-
nes (griech. Prógramma), eine Leitvorstellung grammmusik zu subsumieren. grammusik.
oder ein Leitgedanke, eine übergeordnete Ab- Zu solchen Grenzgängern gehört etwa Jean-Féry Carl Dahlhaus: Thesen über Programmusik. In: ders.
sicht, die einem Werk vorgeordnet ist. Solche Rebels Komposition Les Élémens (1737), eine sui- (Hg.): Studien zur musikalischen Hermeneutik. Laaber
1975: Laaber, S. 187–204, hier S. 187.
Vorschriften lassen sich in formal überwachten tenartige Satzfolge, die ursprünglich als Begleit-
Lernprozessen immer gut umsetzen, schließlich musik zu einer Pantomime konzipiert war, dann

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aber auch als eigenständiges Werk im Druck er- hier schrieb Wolf Dieter Lugert den entsprechen- lassen wir uns lieber mit Camille Saint-Saëns auf
schien. Der eindrückliche Eröffnungssatz Le Cahos den Lexikonartikel. Wie kann eine musikalische einen kindgerechten Zoobesuch ein. Die Kinder
besteht aus massiven Tonclustern, die eher an Li- Praxis oder gar ein Gattungsbegriff zur musik- bekommen hier ihre vorgefertigten Bilderbuch-
geti denn an barocke pädagogischen Kategorie partituren, um sich dann in späteren Jahren der
Vorbilder erinnern werden? Die „Programm- „hochstilisierte[n] reine[n] Darbietungsmusik
und von den in der Michael Alt über Programmmusik als musik“ erhält hier aus ‚absoluter‘ Art“ (ebd.) zuzuwenden. Dann „wird
Partitur auch so be- „Einstiegsmusik“: genau jenem Grund ihre man auf der Oberstufe mehr der Individualität
zeichneten Elemen- Programmmusik ist Musik, die durch „das zweifelhafte Anerken- und der Geistfülle des Werkes nachspüren“
ten Feuer, Wasser, Leitseil des Textes und die Vordeutung nung als musikpädagogi- (ebd., S. 85) dürfen. Michael Alt scheint sich
Luft und Erde durch- durch das Programm unverwechselbare sche Konstante, die sie im selbst im Parteienstreit in die Gruppe der
webt werden, denen Einstiegsmöglichkeiten bietet.“ musikästhetischen Diskurs Traditionalisten einreihen zu wollen, um der ab-
dann nach allmähli- zu Beginn des 20. Jahr- soluten Musik den höheren ästhetischen Rang
cher Einkehr der Ord- hunderts bereits in Verruf zuzusprechen: Außermusikalische Sinnzuschrei-
nung auch ein jeweils eigener Satz gewidmet gebracht hatte: „Schüler, die solche Fragen re- bungen sind ihm lediglich das erste Geländer für
wird. Handelt es sich hier um Programmmusik, flektieren und durch eigene Erfahrung mit Pro- das musikpädagogische Basislager, um sich dann
auch wenn der Begriff in einem ganz anderen grammentwürfen und musikal. Experimenten in höheren Gefilden den einzig tönend bewegten
ästhetischen Umfeld entstanden ist und hier aktualisieren, dabei auch überkommene Gat- Formen zuzuwenden. Mit solch einer „Gehörbil-
dann auf Barockmusik übertragen wird? Wie ver- tungsgrenzen zur Neuen Musik, zum Ballett und dung“ wird aus jedem Kind ein „Absoluthörer“!
hält es sich mit der instrumentalen Vorstellung zur Rockmusik überschreiten, haben die Chance,
des Chaos in Haydns Schöpfung, was hebt hier P. so zu erleben, wie es der Geschichte entspricht,
die Opernouvertüre von einer Bühnenmusik ab, nämlich als eine Musik, die ihnen etwas zu sagen KUNSTWERKORIENTIERTE
wenn sich beide auch in gleicher Weise ver- hat“ (Helms, Schneider, Weber 1994, S. 222), re- BESCHULUNGSMASSNAHMEN
selbstständigen können? sümiert Werner Abegg. Dies knüpft an Michael Alt
an, der in der Beschäftigung mit Programmmusik Wenn es im Unterricht dann darum geht, die
eine geeignete Einstiegsmusik sieht: „Die Sinn- Deutung der Musik im Singular abzupressen, gilt
PROGRAMMMUSIK ALS MUSIK- strukturen der Musik werden am deutlichsten im
PÄDAGOGISCHE KATEGORIE Umkreis der dem Leben verbundenen Musikbe-
reiche: der tänzerisch-gestischen Musik, der Vo-
Gern bedient sich die Programmusik auch
Im Sachteil des Neuen Lexikons der Musik- kalmusik und der Programmusik, die dem Hörer
der assoziativen Wirkungen der Klangfar-
pädagogik findet sich ein Artikel zur Programm- durch den nachvollziehbaren Bewegungsimpuls,
ben (der Trompete als Symbol des Heldi-
musik, während man selbstredend keinen zur das Leitseil des Textes und die Vordeutung durch
schen, der Hörner zum Ausdruck des Land-
absoluten Musik oder zum Streichquartett findet. das Programm unverwechselbare Einstiegsmög-
lebens u. a.).
Es gibt keine „Didaktik der Sinfonie“ – aber lichkeiten bieten“ (Alt 1968, S. 85). Und da Liszts
Michael Alt: Das musikalische Kunstwerk. Musikkunde
scheinbar wohl eine „Didaktik der Programm- Sinfonische Dichtungen im Sinne der musik-
in Beispielen, Berlin 1994: Cornelsen, S. 275 [erschienen
musik“, genauso wie es damals wohl auch eine pädagogischen freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) 1965 in: Pädagogischer Verlag Düsseldorf].
„Didaktik der Rockmusik“ gegeben haben soll, nicht als eine geeignete Einstiegsmusik gelten, © Friedrich Neumann

Tradi- Neu-
tiona- Deut-
listen sche

Disput zwischen Traditionalisten und Neudeutschen: Tauziehen um die Beethovennachfolge

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es, die Hoheitsansprüche der Partituren zu be-


Schumann empfand Programme wie das der Berliozschen Symphonie fantastique als „unwürdig
wahren, und die Verwaltung dieses am Pro-
und charlatanmäßig“. Nicht, daß er Programmusik prinzipiell, gestützt auf eine Ästhetik der ab-
gramm abzulesenden Erbes bedeutet zugleich
soluten Musik, verworfen hätte. Aber das Berliozsche Programm erschien ihm als aufdringlich
das Ende jeder freien Interpretation. Der Autor
biografisch, überflüssig detailliert und in manchen Zügen unpoetisch. [Schumann sah] in einem
erinnert sich hier an eine zu begutachtende Un-
Programm eher eine lästige Zutat als ein substanzielles Moment – er wollte sich die poetische
terrichtsstunde zu Smetanas Vaterlandsbeschrei-
Idee eines Werkes nicht erklären lassen, er wollte sie erraten […].
bungen, in der es eine „Waldjagd“ zu diagnosti-
Carl Dahlhaus: Thesen über Programmusik. In: Musikalische Hermeneutik, hg. v. Carl Dahlhaus. Regensburg: Bosse: S.
zieren gab, nachdem sich zwei Quellflüsse so
187–204, hier S. 196.
glücklich in einem Hauptthema zusammenfinden
durften. Leider ist dieser Unterricht auf Groß-
stadtvegetarier gestoßen, die noch nicht an das
Beutefangverhalten naturhornbeseelter Jagdge- Programmierungen werden hier immer „auf ein festgelegt werden, weil „jede Interpretation ver-
meinschaften im ländlichen Raum gewöhnt wa- bestimmtes Object“ und die begrifflich benenn- mieden werden [müsse], die sich nur auf einen
ren. Die Schüler:innen assoziierten zum vorgege- bare „Bestimmtheit des Ausdrucks“ (Brendel) ge- der wirksamen Pole versteigt“ und diese „Span-
benen Themenfeld „Wald“ allenfalls mächtige leitet. Auch wenn es im Unterricht gelingen soll- nung zwischen beiden und ihr Zugleich […] den
Bäume, die ihnen von jenen Ventilinstrumenten te, das Spannungsverhältnis zwischen Programm Hörer zum Engagement treibt“ (Richter 1975, 102),
auch stimmig dargestellt wurden, welche und Musik zu thematisieren und so auszuloten, bleibt hier immer ein gewisses Unbehagen
schließlich unter der Bezeichnung „Waldhorn“ in dass bestimmte Bedeutungskonnotationen nicht zurück, weil subjektive Sinnzuschreibungen al-
die Orchestergemeinschaft eingegangen waren.
Natürlich ging es im weiteren Verlauf des Unter-
richts dann darum, sich den Belehrungen des
auslegenden Musikvermittlers anzuschließen:
„Das Jagdhornblasen ist aus dem Jagdgebrauch
nicht wegzudenken. Es war und ist immer ein
Zeichen guten Waidwerks. Mit dem Klang der
Hörner erweisen traditionsverbundene Jäger dem
erlegten Wild die letzte Ehre, indem sie am Ende
eines erfolgreichen Jagdtages die Strecke verbla-
sen" (Deutsches Jagdportal). Bevor hier nun klu-
ge Ratschläge gegeben werden, wie auch im
Rahmen einer solchen Kunstwerkorientierung
ein handlungsorientiert beruhigtes Gewissen zu
aktivem Musikhören führen kann, indem man
den Flusslauf in farbenfrohen Inszenierungen mit
Jongliertüchern nachmalt, sei hier noch mal auf
die historische Legitimation verwiesen, nach der
die Musik „nach Anschluss an die Poesie“ und
„zu immer größerer Bestimmtheit des Ausdrucks“
drängt: „Der Musik bleibt die Eigenthümlichkeit,
das durch Worte Unsagbare auszudrücken, ihre
schönste, größte Seite. Aber das ganz Unbe-
stimmte soll durch das Programm fixiert, die um-
schweifende Phantasie auf ein bestimmtes Object
geleitet werden, wie ja auch erst durch den Na-
men, durch die Ueberschrift, das Gemälde seine
letzte Bestimmtheit erhält“ (Brendel 1858, S. 86).
Der Programmmusik scheint diese Zuspitzung auf
© Jürgen Oberschmidt

ein vorgegebenes Ziel fest eingeschrieben, was sie


im Rahmen schulischer Lernprozesse so beliebt
und gut verhandelbar macht. Hans-Ulrich Schä-
fer-Lembeck spricht hier daher auch von einem
„altgedienten ‚Schlachtross‘“ (Schäfer-Lembeck
2007, S. 59) der Musikpädagogik. Unterrichtliche Ordnung des Chaos: Die Erschaffung der Welt (Veitsdom Prag)

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lenfalls die zweitbeste Lösung bleiben. Stephan


Bilder hören Hametner bedient sich in seinem von ihm selbst
Manche ‚fachmännische‘ Musiker erklären es für falsch und dilettantenhaft, wenn der Hörer als konstruktivistisch bezeichneten Zugang aus-
während einer musikalischen Aufführung Bilder sieht: Landschaften, Menschen, Meere, Gewitter, gerechnet Smetanas Moldau, um hier die Ler-
Tages- und Jahreszeiten. Mir, der ich so sehr Laie bin daß ich auch nicht die Tonart eines Stückes nenden „anzustiften“, um sie im Sinne Christoph
richtig erkennen kann, mir scheint das Bildersehen natürlich und gut; ich fand es sogar schon bei Richters ganz ohne Jongliertücher „ins Engage-
guten Fachmusikern wieder. Selbstverständlich mußte beim heutigen Konzert nicht jeder dassel- ment“ zu treiben: „Die abwechslungsreiche
be sehen wie ich: die große Woge, die Klippeninsel des Einsamen und alles das. Wohl aber, mir Landschaft seines Vaterlandes Böhmen stiftete
scheint, mußte in jedem Zuhörer diese Musik dieselbe Vorstellung eines organischen Wachsens Smetana zu genau dieser musikalischen Kon-
und Seins hervorrufen, eines Entstehens, eines Kämpfens und Leidens und schließlich eines Sie- struktion an. Warum sollte aber umgekehrt Sme-
ges. Ein guter Wanderer mochte ganz wohl dabei die Bilder einer langen und gefahrvollen Al- tanas Stück nicht auch als Anstiftung für kreative
pentour vor Augen haben, ein Philosoph das Erwachen eines Bewußtseins und sein Werden und Konstruktionen von Lernern verwendet werden?
Leiden bis zum dankbaren, reifen Jasagen, ein Frommer den Weg einer suchenden Seele von Gott Schließlich entstehen beim Hören von Musik Bil-
weg und zu einem größeren, gereinigten Gotte zurück. Keiner aber, der behauptet willig zu- der, Gefühle und das Bedürfnis nach Bewegung.
gehört, konnte den dramatischen Bogen dieses Gebildes verkennen, den Weg vom Kind zum Ich habe die Moldau als Ausgangspunkt für krea-
Manne, vom Werden zum Sein, vom Einzelglück zur Versöhnung mit dem Willen des Alls. […] tive Konstruktionen meiner Schüler in Wort und
Ich selber bin, da ich die Musiktage ja nicht selber ansetzen kann, schon manchmal ohne gute Bild eingesetzt“ (Hametner 2006, S. 121). Im hier
und andächtige Stimmung ins Konzert gegangen, müde oder verärgert oder krank oder voller von Hametner beschriebenen Unterricht münden
Sorgen. Aber daß Menschen eine Symphonie von Beethoven, eine Serenade von Mozart, eine dann alle eigenen Sinnzuschreibungen im infor-
Kantate von Bach, wenn erst der Taktstock tanzt und die Tönewellen fluten, mit Gleichmut an- mierten Nachvollzug der Programmvorlage. Wie
hören können, unverändert in der Seele, ohne Ergriffenheit und Aufschwung, ohne Schrecken kann hier „die umschweifende Phantasie“
oder Trauer, ohne Weh oder Freudenschauer – das ist mir nie verständlich geworden. […] (Brendel) im Rahmen eines formalen Lernprozes-
Mag ein Meister nichts anderes erstreben als den stärksten und schärfsten Ausdruck für seine ei- ses bestehen, wenn sich das Hoheitswissen des
genen seelischen Zustände oder mag er sehnsüchtig von sich selber weg einem Traume reiner Schöpfers in einer Partitur bereits abgelegt findet
Schönheit nachgehen, beidemal wird sein Werk ohne weiteres verständlich und unmittelbar und Unterricht a priori auf die „letzte Bestimmt-
wirken. Das Technische kommt erst viel später. Ob Beethoven recht gesetzt hat, ob Berlioz irgend- heit“ (Brendel) führt? „Falls zuvor […] irgend-
wo mit einem Horneinsatz etwas ungewöhnlich Kühnes wagt, ob die mächtige Wirkung dieser welche eigene Ideen zu den Klängen aufgetaucht
oder jener Stelle auf einem Orgelpunkt beruht oder nur klanglich auf einer Dämpfung der Celli sein sollten, bewusst ergriffen und in einen Kon-
oder auf was immer, das zu wissen ist schön und nützlich, aber es ist für den Genuß einer Musik text gestellt wurden, so weiß im Moment des
entbehrlich. Handouts durch den Lehrer doch jedes brave
Und ich glaube sogar, gelegentlich urteilt ein Laie über Musik richtiger und reiner als mancher Kind, das es in die 7. Klasse einer durchschnittli-
Musiker. chen weiterführenden Schule geschafft hat (also
in Hinsicht auf eine schulische Belehrungskultur
Hermann Hesse: Musik. Betrachtungen, Gedichte, Rezensionen und Briefe. Frankfurt a.M. 1986: Suhrkamp, S. 34–36.
passend sozialisiert sein dürfte), was die Geste
des Lehrers bedeutet: dass nunmehr […] die im
Papier des Lehrers zu findenden Aufzeichnungen
gelten“ (Schäfer-Lembeck 2007, S. 59). Und
„glückliche Umstände“, wie sie Paul Mies in sei-
ner Unterrichtsdokumentation zum Danse ma-
cabre von Camille Saint-Saëns dokumentiert,
sind uns nicht immer gegeben: „Die Überschrift
gibt die Absicht des Komponisten vor, noch vor
der Vorführung wurde die Frage gestellt, was
denn die Musik von einem Totentanz darstellen
könne. Ein Schüler wollte dazu hölzerne Klap-
pern verwenden, womit er das tatsächlich in der
Partitur auftretende Xylophon vorausgeahnt hat-
te“ (Mies 1931, S. 291). Der hier belobigte kleine
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Schützenkönig hatte weder weit gefehlt noch


den Bogen überspannt: „Bei Gott! der Apfel mit-
ten durch getroffen!“ Hat sich der Musikunter-
richt in den letzten 90 Jahren denn gar nicht
weiterentwickelt?

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DIE SOZIALE MISSION DER gischen Verkürzungen einlassen, die von außen dessen Wirkung auf die Massen ans Wunderbare
(PROGRAMM-)MUSIK an die Musik herangetragen werden. Erinnert sei grenzen wird. […] Ja, kein Zweifel: bald hören
hier nur an das „Beethoven Pastoral Project: wir auf den Feldern, in den Hütten, den Dörfern,
Wulf Dieter Lugerts Versuch einer „sozialwissen- Künstler für Klimaschutz“ (https://pastoralpro- den Vorstädten, den Werkhallen und den Städ-
schaftlich orientierte[n] Musikdidaktik“ (Lugert ject.org/) oder das For-Seasons-Konzert, das in ten nationale, moralische, politische Gesänge,
1975, S. 92) bemüht sich, Kuckuck, Wachtel und der Elbphilharmonie den Klimawandel hörbar Lieder, Weisen, Hymnen erschallen, für das Volk
Nachtigall aus Beethovens Pastoralidylle nicht mit machte (Oberschmidt 2020). Solch ein Konzerter- ‚gemacht‘, dem Volke ‚beigebracht‘, ‚gesungen‘
den üblichen romantischen Überhöhungen eines lebnis vermittelt keine Informationen, es geht von den Landleuten, den Handwerkern, den Ar-
Beethoven-Bildes zu erklären, das die täglichen nicht um eine Ansammlung von Wissen oder Bil- beitern, den Jungen und Mädchen, den Män-
Spaziergänge des einsamen Meisters geradezu dungsgut, sondern um Anschlussmöglichkeiten nern und Frauen aus dem ‚Volke‘. […] Möge
verklärt. Ihm geht es vielmehr darum, den Pro- an die unmittelbaren Erfahrungsräume des Pu- doch ein glorreiches Zeitalter anbrechen, wo die
tagonisten „einer 9. Klasse Realschule in Berlin blikums. Kunst sich vollendet und entwickelt unter all
(West)“ (ebd., S. 95) ihre eigene Wohnsituation Gleiches gilt auch für die Analogien, Verweisun- ihren Erscheinungsformen zugleich und sich auf
vorzuhalten: „Die Schüler erkennen, daß die gen und Projektionen der Symphonischen Dich- den höchsten Punkt erhebt; indem sie die Men-
Trennung von Stadt und Land für den Städter die tungen Franz Liszts. Wenn es auch für Liszt darum schen in hinreißenden Wunderwerken brüder-
Konsequenz des Verlustes der Begegnung mit geht politisch Stellung zu beziehen, Haltung zu lich eint“ (Liszt, zit. nach Kabisch 2002, S. 841ff.).
unmittelbarer Natur hat, daß er auf Grund der zeigen, Position zu beziehen, sich gegen das Sy- Liszt spricht hier von der Bildungsmacht der Mu-
Bedingungen des Stadtlebens ein besonderes stem der vorfindlichen Verhältnisse zu stellen, sik. Auch wenn für ihn die Bühne und nicht der
Verhältnis zur Natur bekommt, das sich von dem dann sollte es erst recht auch für den Musikun- Klassenraum Ort der Bildung ist, verhandelt er
des Landbewohners erheblich unterscheidet. Sie terricht darum gehen, sich hier in gebotener hier die auch heute für die Musikpädagogik im-
erkennen so gleichzeitig, daß die ‚Pastorale‘ Aus- Weise einzumischen. Solch eine gesellschaftskri- mer noch virulente Frage, ob wir durch oder zur
druck eines sozialen Sachverhaltes ist, sie etwas tische und politische Musik erziehen. Das un-
über gesellschaftliche Verhältnisse aussagt. Es Haltung war von An- ter dem Eindruck der
kann an dieser Stelle noch differenzierend erör- beginn das musik- Wünschelrute Lyoner Seidenweber
tert werden, wieweit bestimmte Lebensbedin- pädagogische Pro- Schläft ein Lied in allen Dingen, entstandene Klavier-
gungen des Städters, wie z. B. Wohnsituation gramm und der ei- Die da träumen fort und fort, stück Lyon als Bestand-
(Haus mit Garten oder Mietskaserne) die Empfin- gentliche Motor für die Und die Welt hebt an zu singen, teil des Album d‘un
dungen der Stadt gegenüber beeinflussen“ Entwicklung der Sinfo- Triffst du nur das Zauberwort. voyageur ist hier ein
(ebd.). Auch solch ein Sozialkunde-Unterricht hat nischen Dichtung. Be- Joseph von Eichendorff: Werke. Bd. 1: Gedichte, Verse- beredtes Beispiel. Mit
das Außermusikalische in den Blick genommen! reits Franz Liszt war ein pen. Hrsg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a. Main 1987: dem Gedanken einer
Wer sich nun in Anlehnung an ein solches di- religiös und politisch Deutscher Klassiker Verlag, S. 328.]. „musique humanitaire“
daktisches Credo mit seinem Großstadtmilieu auf denkender Mensch, für wird die Programmmu-
ähnliche Weise mit den Vogelrufen aus Vivaldis ihn war der Künstler ein sik selbst zum Programm:
Jahreszeiten beschäftigen möchte, sollte sich vor- Vermittler, der sich mit seiner Musik politisch ein- nicht nur im Sinne eines ästhetischen Konzepts,
her die Gärten des ehemaligen Konservatoriums zubringen hatte. Seine Musik verstand er als so- sondern es wendet sich an das Publikum als die
Santa Maria della Pièta Ospidale auf historischen ziale Mission, sowie hundert Jahre später der nachahmend Handelnden, die sich auf das in
und gegenwärtigen Abbildungen ansehen, bevor Liszt-Interpret und Sozialdemokrat Leo Kesten- und mit der Musik Vorgeschlagene einlassen und
er vorschnelle Urteile über die angespannte berg es zu seiner Mission machen sollte, die Kon- in eigene Taten weitertragen.
Wohn- und Verkehrssituation in der Lagunen- zertbühne zu verlassen und gegen Aktenschränke
stadt mit den Bedrohungen durch Kreuzfahrt- einzutauschen, um „das gesamte musikalische
schiffe in lebensweltlich orientierte Musikmap- Bildungswesen vom Kindergarten bis zur Musik- MEINE BILDER – DEINE BILDER
pen für zukünftige Immobilienmakler eintragen hochschule“ (Gruhn 2009, S. 11) zu reformieren
lässt. und auf professionelle Füße zu stellen. Die „Er- Wenn sich Joseph Freiherr von Eichendorff auf
Dieser pädagogische Impetus, der natürlich auf ziehung zur Menschlichkeit mit und durch Mu- die Suche nach der verborgenen Poesie macht,
jenes gesellschaftliche Klima und die damit ver- sik“ (ebd., S. 15) umschreibt nicht nur die künst- um das „Ding“ zu wecken und damit die gesam-
bundenen Umbruchserscheinungen der 1970er lerisch-pädagogischen Intentionen Liszts und te Welt zum „Singen“ zu bringen, nimmt er keine
Jahre zurückzuführen ist, wie er sich dann in Kestenbergs, auch für uns gilt es, diesen Auftrag Armbrust in die Hand, um wie in den bereits be-
Schulbüchern wie Musik aktuell widerspiegelte jeden Tag aufs Neue anzunehmen: „Nach einem schriebenen Apfelschuss-Szenarien ins Schwarze
(hierzu Kloppenburg 1986), ist uns keineswegs vom Abgeordnetenhaus im Jahr 1834 angenom- zu treffen. Er bedient sich einer Wünschelrute,
verloren gegangen. Nur sollten es die Musik und menen Gesetz soll Musik demnächst in den um sich behutsam tastend und ganz ohne mu-
das Musikleben selbst sein, die sich politisch ein- Schulen gelehrt werden. Wir beglückwünschen sikpädagogische Zielhilfen seinem Gegenstand
mischen, und im Musikunterricht sollten wir uns uns zu diesem Fortschritt und nehmen ihn an als anzunähern. Von einem „Zauberwort“ ist hier
nicht auf die hier bereits beschriebenen pädago- Unterpfand eines noch größeren Fortschritts, die Rede, das können freie Gedankenkünste sein,

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die sich tastend einem Gegenstand annähern, so her abliest, ohne vorher wenigstens den Wiener Der Psychoanalytiker Bernd Oberhoff hat nicht
wie wir es bei Karl Huber in der posthum veröf- Bücherschrank des Meisters abzumessen. Sche- die deutschen Klassiker im Gepäck, wenn er sich
fentlichten Musikästhetik nachlesen können. ring hat hier wohl nur seine eigene Bücherkiste mit dem 3. Klavierkonzert von Rachmaninoff auf
Und dabei ist es gleich, ob Robert Schumann die im Blick. Als krönende Zusammenfassung seines die Suche nach einer „Nähe der Musik zu seeli-
Titel seiner durch und durch poetischen Musik Lebenswerks gibt er einzig zu bedenken, „daß an schen Prozessen“ (Oberhoff 2007, S. 7) begibt, um
vor oder nach der Komposition in Tinte gefasst der Arbeit ein ganzes Gelehrtenleben hängt“ auch hier einen rationalen Wahrheitsanspruch
hat: „Ein Begriff, ein Programm oder ein Satz, der (Schering 1936, S. 585). Als deutender Hermes einzuklagen. Wenigstens gestattet er uns Einblick
unsern Vorstellungsinhalt einengt auf eine be- übersetzt er die Botschaften Beethovens wie einst in seine augenblickliche Bettlektüre: „Es tauchten
stimmte Richtung. […] Völlig freie Vorstellungs- sein Vorgänger das Fachchinesisch – oder besser Vorstellungen und Empfindungen auf, die einer
und Gedankenkomplexe […] bedürfen keiner gesagt, das Fachgriechisch – der damals griechi- frühkindlichen Erlebniswelt angehören könnten.
besonderen Kenntlichmachung durch den Kom- schen Götterwelt: „Bei der dort geübten Analyse Diese Eindrücke waren sicher nicht ganz unbe-
ponisten“ (Huber 1954, S. 181). habe ich mich von meinem persönlichen Erleben einflusst davon, dass ich mich zu dieser Zeit in-
Solch ein poetisches Umkreisen mit der Wün- Beethovenscher Musik und den seit einem Men- tensiv mit der Säuglingsforschung auseinander
schelrute hat vorgreifenden Charakter und weist schenalter von mir vertretenen Grundsätzen der setzte“ (ebd., S. 43). Nachdem sich seine Analyse
über eine gesicherte Erkenntnis der Ratio hinaus, musikalischen Sinndeutung leiten lassen. Die Ge- anfangs noch des Konjunktivs bedient und auch
die solche poetischen Anmutungen auch gar dankenprozesse beim Auffinden der Schlüssel feine Ausdrucksnuancen auf das eigene Selbst-
nicht erbringen möchte: „Dichter lügen, und sie spielten sich, nachdem anfangs schwere Beden- konzept bezogen werden, diagnostiziert er im
wissen, dass sie lügen“ (Hörisch 2005, S. 104). ken und ein gewisses Erschrockensein über das Miteinander zwischen Klavier und Orchester ein
Vielleicht verstehen wir die Gefahr „alle freie Magische der Erscheinung überwunden waren, gut reguliertes „Interaktionsdrama in der frühen
Aussicht“ (Schumann 1985, Bd. 1, S. 142) einzu- so schnell ab, daß die vorgelegten vierzehn Deu- Mutter-Kind-Matrix“ (S. 51), um dann „eine
büßen, wenn ein Kommentar vom Schöpfer tungen innerhalb weniger Wochen zur Reife ge- traumatische Erfahrung des Komponisten aus der
selbst gesprochen wird. Auch in diesem Zusam- bracht waren“ (ebd., S. 584). Der apodiktische frühen Kindheit“ zu entdecken, diese in der Par-
menhang sind Gustav Mahlers verschleierten Tonfall, mit dem Schering uns „seinen“ und da- titur zu verorten und mit biografischem Silikon
Äußerungen und zurückgezogenen Programme mit auch „unseren“ Beethoven erklärt, sollte abzudichten: „Rachmaninoffs willensstarke,
zu verstehen, wenn er in einer nicht mehr privat vielleicht auch all jenen Autoritäten zu denken übermächtige Mutter war nicht unproblematisch
gebliebenen Mitteilung an Richard Specht be- geben, die sich im Unterricht – ausgestattet mit für die seelische Entwicklung des kleinen Sergeij
kennt, „zunächst lieber missverstanden, als bloß einem ähnlich langen Akademikerleben und den und wirkte oft bedrückend auf ihn … Prägend
rationalistisch oder gar im Sinn illustrierender Handreichungen zum Zentralabitur – für die An- für seine spätere Zerrissenheit ist unter Umstän-
Programmusik verstanden zu werden“ (zit. nach gemessenheit ihrer Wahrheiten verbürgen. den eine Art der Bestrafung, die seine Mutter ihm
Floros 1987, S. 31).

Musik mit Programm oder Gedankenbilder? Zu Robert Schumanns Träumerei:


MUSIKWISSENSCHAFT MIT DER „Ein weiteres Beispiel ist die ‚Träumerei‘. Man könnte das Stück ‚Melodie‘ nennen, oder vielleicht
WÜNSCHELRUTE einen anderen Titel dazu finden, etwa ‚Abendstimmung‘. Aber der treffendere ist Träumerei. Die
Melodie hat nämlich eine bestimmte Eigenschaft, die zunächst auffällt: z. B. im Diktat, wenn der
Ein Problem bekommen wir nur, wenn Wün- Takt festgestellt werden sollte, würden wir in eine gewisse Verlegenheit geraten; wir sehen, daß
schelrutengänger nicht mehr wissen, dass sie der Reiz der Melodie gerade darin liegt, daß wir nicht genau wissen, wie der Rhythmus ist. Das
womöglich auch lügen können, wenn sie für sich ungewisse Ausweiten der Melodie wird durch den Ausdruck Abendstimmung nicht gedeckt, aber
in Anspruch nehmen, uns die Wahrheit zu sagen sehr fein durch eine Vorstellung wie die
und ihre okkulte Endhandrute den Weg in einen Vorstellung Träumerei. Noch ein Bei-
musikwissenschaftlichen Methodenkoffer findet. spiel, ‚Abendlied‘: Könnten wir dieses
Die Musikwissenschaft nannte solch eine intuitive auch Träumerei nennen? Das Stück steht
Schau „Einfühlungstheorie“, zu denken ist hier sicher mit dem vorigen in sehr engem
an die Beethovenanalysen Arnold Scherings, die Zusammenhang. Aber diese Melodie ist
für sein „wissenschaftliches“ Denken geradezu mehr Gesang als die andere; hier ist der
fundamental sind. Die das Wort wissenschaftlich Eindruck, daß es als gesungen erfaßt
umfassenden Greifarme der Gänsefüßchen sind werden will.“
Kurt Huber: Musikästhetik. Ettal 1954: Buch-Kunst-
hier mit Bedacht gewählt, bleiben doch die Kri-
© Bundesarchiv

verlag, S. 184f.
terien für die Angemessenheit solcher ästheti-
schen Urteile brüchig, wenn er in Beethovens
Streichquartetten Wilhelm Meisters Lehrjahre, Je- Kurt Huber: Musikwissenschaftler, Philosoph,
Mitglied der Widerstandsgruppe ‚Weiße Rose‘,
an Pauls Flegeljahre, Don Quixote, Szenen aus am 13. Juli 1943 in München hingerichtet
Goethes Faust oder den Leiden des jungen Wert-

musik & bildung 3.21


MUSIK MIT PROGRAMM 21

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Deutungen zu begegnen, den narrativen,
schen Komposition, Band 3 [1845]. Leipzig: Breitkopf & Här-
manchmal poetischen, aber immer individuellen
tel.
Bedeutungskonstruktionen nachzugehen, um
damit gleichzeitig den einseitigen Bildbesatz ab-
zuwehren, um die Musik so in ihrer Ursprüng-
lichkeit zu belassen (hierzu Oberschmidt 2013).
Vielleicht kann solch ein Versuch dazu führen, ei-
ner Musik nicht den kleinsten für alle gemeinsa-
men Nenner abzulesen, wie er sich womöglich in
einem „außermusikalischen“ Programm fassen
lässt, sondern ein großes gemeinsames Vielfaches
zu entdecken. Vielleicht lässt sich auf diese Weise
mehr über Musik aussagen, als in der Reduktion
auf das eine Bild.

Literatur
. Alt, Michael (1968): Didaktik der Musik. Orientierung am
Kunstwerk. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann.
© Pexels / Mathias Gröneveld

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musik & bildung 3.21

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