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Musik mit Programm
Jürgen Oberschmidt
„Die vorliegende Symphonie ist als absolute 2014, S. 15). So moderiert Emil Nikolaus von Rez- Werk ganz ausdrücklich der „absolute[n] Musik“
Musik gedacht, die ohne Programm, lediglich nicek im Programmheft die Uraufführung seiner zu, was ihn aber nicht davon abhält, es mit ei-
unter der Signatur ‚tragisch‘ das Verständniß für Tragischen Symphonie an. Es folgt ein skizzen- nem Titel zu versehen, hier eine „psychologisch
die psychologisch-dramatische Entwickelung ei- hafter Einführungstext, der mit den Worten dramatische Entwickelung“ zu autorisieren und
nes durch das erste Thema symbolisierten Cha- „Des-Dur, Irrsinn, Katastrophe, Zusammenbruch diese dem Hörer auch noch auf den Weg zu ge-
rakters auslösen soll. Trotzdem hält es der Ver- (Tam-Tam-Schlag). Das Ende“ (ebd.) abbricht ben. Anschließend spricht er von einem „den tra-
faßer im Interesse seines Werkes geboten, bei der und mit dem sich unser Thema Musik und Pro- gischen Conflikt in sich tragenden Charakter[…]“,
heutigen, allerersten Aufführung aus dem Ma- gramm trefflich exponieren lässt. Zeigt sich in einem „weiblichen Charakter“, einer „kurze[n]
nuskripte, wenn auch kein Programm, (ein sol- solch einer Beschreibung das Wesen der Musik, erotische[n]‚ Episode und einem „zweimalige[n]
ches existiert – wie bereits bemerkt – nicht) so weil sich ihre Botschaften zwar verstehen aber vergebliche[n] Ansturm“ (ebd.), wobei es letzt-
doch an der Hand einer kurzen musikalischen nicht in Worten mitteilen lassen? Oder begibt sich lich vage und offen bleibt, ob an zwei Facetten
Analyse den Versuch einer Erklärung der Psycho- hier ein Komponist selbst auf die Suche nach eines Charakters oder einen „weiblichen“ Ge-
logie des Werkes zu wagen“ (zit. n. Stollberg dem Mainstream seiner Zeit? Stammelt hier ein genspieler gedacht ist. Man darf durchaus das
Politiker, der es allen recht machen möchte und Gefühl haben, dass der Komponist an den Re-
sich nach mühsamen Koalitionsverhandlungen gelkodex der Formenlehre mit den damals für
www.musikundbildung.de zwischen Konservativen und Neudeutschen um plausibel befundenen Geschlechterkonstruktio-
Beitrag als PDF-Datei den heißen Brei der eigenen Wahlversprechun- nen in absoluter Musik anknüpft: „Der Seitensatz
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gen windet? Der zitierte Tonschöpfer zählt sein […] ist das der ersten energetischen Feststellung
Nachgeschaffne, zum Gegensatz Dienende, von dürfte nichts dem Betrieb einer (Regel-)Schule
jenem Vorangehenden bedingt und bestimmte, näher liegen, als Vorschriften zu befolgen. Aber bedeuten Töne der Tragödie und tra-
mithin seinem Wesen nach nothwendig das Mil- In der Fülle dieser ersten losen Umschreibungen gische Töne wirklich stets dasselbe? […]
dere, mehr schmiegsam als markig Gebildete, das erkennt man aber bereits, dass uns hier eine Wer hat nicht irgendwann einmal tragische
Weibliche gleichsam zu jenem vorangehenden harmlose Regelkunde und Begriffsbestimmung Töne der Musik erfahren, die heftiger und
Männlichen“ (Marx 1879, S. 282). Hier soll nun nicht weiterhilft. Selbst in der Musikwissenschaft erschütternder waren als je die Musik einer
nicht über das „Schmiegsame“ und „Markige“ wird der Begriff, „der die trügerische Prägnanz Tragödie? Aber hiermit betreten wir gefähr-
eines Themas diskutiert oder gar darüber geurteilt eines Schlagworts hat“ (Dahlhaus 1975, S. 187), lichen Grund. Da alle solchen Erfahrungen
werden, ob Anton Bruckner allein mit der Ein- meistens als „undefinierter Terminus technicus“ in subjektiven Eindrücken bestehen […],
führung eines dritten Themas die Kompositions- (Altenburg 1997, Sp. 1821) benutzt. Dies wäre viel- geraten wir unvermeidlich auf abenteuerli-
lehre von Adolph Bernhard Marx gendergerecht leicht schon das Ende vom Lied, hielten nicht die che Wege ins Reich der Wahrscheinlich-
weiterentwickelt hat. Uns stellt sich vielmehr die gesammelten musikalischen Wissenschaften ein keit.“
Leo Scharade: Tragedy in the Art of Music. Aus dem
Frage, ob der Titel diese Musik bereits zu Pro- umfängliches und generationenübergreifendes
Englischen übersetzt von Erich Ryf: Vom Tragischen in
grammmusik macht, wenn sich der Titel womög- Programmmanagement bereit, das sich vor dem
der Musik. Mainz 1967: Schott. S. 15.
lich nicht auf eine literarische Vorlage außerhalb Hintergrund der sich stets im Wandel befinden-
der Musik bezieht, sondern einzig thematische den ästhetischen Normen immer wieder neu und
Prozesse einer tönend bewegten Form semanti- oft unter polemischer Zuspitzung mit den Anzei-
siert werden, indem man die Metaphern einer chen von Programmmusik auseinandersetzt: Was ist Programmmusik?
Kompositionslehre wörtlich nimmt und diese „Programmusik ist kein immer gleiches, sondern Den Terminus ‚Programmusik‘, der die trü-
dann in der eigenen Beschreibung narrativ aus- ein geschichtlich variables Phänomen“ (Dahlhaus gerische Prägnanz eines Schlagworts hat, in
deutet. 1987, S. 128). das Gehäuse einer festen Definition einzu-
Damit ist der Kern einer komplexen Thematik Der Begriff selbst ist erst in Franz Liszts Abhand- sperren, dürfte schwierig oder sogar un-
Musik und Programm grob umrissen: Die Un- lung (1855) über die Harold-Symphonie von Hec- möglich sein, weil die Vorstellungen, die
schärfen zwischen Innen und Außen, zwischen tor Berlioz geprägt worden, als die Anbindung sich mit dem Wort verbinden, zu einem
subjektiven Sinnzuschreibungen und versuchten der Musik an Literatur oder Malerei einen ge- nicht geringen Teil von den Funktionen ab-
Objektivierungen. Gehört es nicht zum Wesen der wichtigen Schritt auf dem Weg zu jenem idealen hängen, die es seit der Mitte des 19. Jahr-
Kunst, ein inneres Programm zu haben – ohne Kunstwerk bedeutete, zu dem die Künste ver- hunderts in dem musikalischen Parteien-
dass dies gleich in ein äußerlich sichtbares Mani- schmelzen sollten. Was sich in der Auseinander- streit zwischen den ‚Neudeutschen‘ und
fest gegossen werden muss? Müssen wir uns im setzung mit Beethovens Sinfonien entzündete, deren Gegnern erfüllte. Der Inhalt des Be-
Musikunterricht wie ein Vermessungsingenieur sollte Richard Wagner später dann als (sein) Ge- griffs ist durch pragmatische Momente be-
an solche Navigationsvorschriften halten oder samtkunstwerk bezeichnen, um in seinen Schöp- stimmt. Anhänger der Programmusik ten-
sollten wir es nicht geradezu darauf anlegen, uns fungen (und wohl auch wenig bescheiden in dieren eher zu einer weitgespannten,
„auf abenteuerliche Wege ins Reich der Wahr- seiner Person) die einzig legitime, würdige und Skeptiker zu einer enggefaßten Definition,
scheinlichkeit“ (Schrade) zu begeben? finale Möglichkeit der Beethovennachfolge zu denn für apologetische Zwecke ist es nütz-
definieren. lich, Werke wie die Schumannschen Kla-
Das Phänomen, außermusikalische Inhalte mit vierstücke mit charakterisierenden Über-
MUSIK MIT PROGRAMM – oder in Musik auszudrücken, ist natürlich viel äl- schriften, an deren ästhetischer Legitimität
PROGRAMMMUSIK ter, wobei sich hier allenfalls lose Berührungs- niemand zweifelt, der umstrittenen Kate-
punkte und keine direkten Entwicklungslinien gorie zu subsumieren, während es umge-
Nun gilt es aber, eine ähnlich abenteuerliche und zur erzählenden oder beschreibenden Instru- kehrt in Darstellungen mit polemischer Ab-
kühne Reise in allerlei Wahrscheinlichkeiten an- mentalmusik, zur „Tonmalerei“ des 17. und 18. sicht naheliegt, den Bereich der Program-
zutreten, wenn versucht werden soll, in die Pro- Jahrhunderts, herstellen lassen; ihre Stilmittel musik auf das Genre der Tonmalerei einzu-
grammmusik und ihre Geschichte einzutauchen, sind unmittelbar aus Oper, Ballett oder anderen schränken, deren kunsttheoretische Recht-
um diese dann mit einzelnen musikpädagogi- szenischen Gattungen übernommen. Auch wenn fertigung schwerfällt.
schen Wegmarken der letzten Jahrzehnte abzu- hier eine oft unterschätzte Wechselbeziehung Wilhelm Klatte, ein Liszt-Enthusiast, scheu-
gleichen. Eine Reise, die zunächst einmal ohne zwischen Schauspielmusiken, (Opern-)Ouver- te nicht davor zurück, den Begriff auf die
Lust auf ein Abenteuer beginnt: Schließlich ist ein türen und Ballettmusiken besteht, scheint es we- Vokalmusik auszudehnen […]. Bachs Kan-
Programm eine Vorschrift, etwas Vorgeschriebe- nig sinnvoll, all dies unter dem Begriff Pro- taten wären demnach Paradigma der Pro-
nes (griech. Prógramma), eine Leitvorstellung grammmusik zu subsumieren. grammusik.
oder ein Leitgedanke, eine übergeordnete Ab- Zu solchen Grenzgängern gehört etwa Jean-Féry Carl Dahlhaus: Thesen über Programmusik. In: ders.
sicht, die einem Werk vorgeordnet ist. Solche Rebels Komposition Les Élémens (1737), eine sui- (Hg.): Studien zur musikalischen Hermeneutik. Laaber
1975: Laaber, S. 187–204, hier S. 187.
Vorschriften lassen sich in formal überwachten tenartige Satzfolge, die ursprünglich als Begleit-
Lernprozessen immer gut umsetzen, schließlich musik zu einer Pantomime konzipiert war, dann
aber auch als eigenständiges Werk im Druck er- hier schrieb Wolf Dieter Lugert den entsprechen- lassen wir uns lieber mit Camille Saint-Saëns auf
schien. Der eindrückliche Eröffnungssatz Le Cahos den Lexikonartikel. Wie kann eine musikalische einen kindgerechten Zoobesuch ein. Die Kinder
besteht aus massiven Tonclustern, die eher an Li- Praxis oder gar ein Gattungsbegriff zur musik- bekommen hier ihre vorgefertigten Bilderbuch-
geti denn an barocke pädagogischen Kategorie partituren, um sich dann in späteren Jahren der
Vorbilder erinnern werden? Die „Programm- „hochstilisierte[n] reine[n] Darbietungsmusik
und von den in der Michael Alt über Programmmusik als musik“ erhält hier aus ‚absoluter‘ Art“ (ebd.) zuzuwenden. Dann „wird
Partitur auch so be- „Einstiegsmusik“: genau jenem Grund ihre man auf der Oberstufe mehr der Individualität
zeichneten Elemen- Programmmusik ist Musik, die durch „das zweifelhafte Anerken- und der Geistfülle des Werkes nachspüren“
ten Feuer, Wasser, Leitseil des Textes und die Vordeutung nung als musikpädagogi- (ebd., S. 85) dürfen. Michael Alt scheint sich
Luft und Erde durch- durch das Programm unverwechselbare sche Konstante, die sie im selbst im Parteienstreit in die Gruppe der
webt werden, denen Einstiegsmöglichkeiten bietet.“ musikästhetischen Diskurs Traditionalisten einreihen zu wollen, um der ab-
dann nach allmähli- zu Beginn des 20. Jahr- soluten Musik den höheren ästhetischen Rang
cher Einkehr der Ord- hunderts bereits in Verruf zuzusprechen: Außermusikalische Sinnzuschrei-
nung auch ein jeweils eigener Satz gewidmet gebracht hatte: „Schüler, die solche Fragen re- bungen sind ihm lediglich das erste Geländer für
wird. Handelt es sich hier um Programmmusik, flektieren und durch eigene Erfahrung mit Pro- das musikpädagogische Basislager, um sich dann
auch wenn der Begriff in einem ganz anderen grammentwürfen und musikal. Experimenten in höheren Gefilden den einzig tönend bewegten
ästhetischen Umfeld entstanden ist und hier aktualisieren, dabei auch überkommene Gat- Formen zuzuwenden. Mit solch einer „Gehörbil-
dann auf Barockmusik übertragen wird? Wie ver- tungsgrenzen zur Neuen Musik, zum Ballett und dung“ wird aus jedem Kind ein „Absoluthörer“!
hält es sich mit der instrumentalen Vorstellung zur Rockmusik überschreiten, haben die Chance,
des Chaos in Haydns Schöpfung, was hebt hier P. so zu erleben, wie es der Geschichte entspricht,
die Opernouvertüre von einer Bühnenmusik ab, nämlich als eine Musik, die ihnen etwas zu sagen KUNSTWERKORIENTIERTE
wenn sich beide auch in gleicher Weise ver- hat“ (Helms, Schneider, Weber 1994, S. 222), re- BESCHULUNGSMASSNAHMEN
selbstständigen können? sümiert Werner Abegg. Dies knüpft an Michael Alt
an, der in der Beschäftigung mit Programmmusik Wenn es im Unterricht dann darum geht, die
eine geeignete Einstiegsmusik sieht: „Die Sinn- Deutung der Musik im Singular abzupressen, gilt
PROGRAMMMUSIK ALS MUSIK- strukturen der Musik werden am deutlichsten im
PÄDAGOGISCHE KATEGORIE Umkreis der dem Leben verbundenen Musikbe-
reiche: der tänzerisch-gestischen Musik, der Vo-
Gern bedient sich die Programmusik auch
Im Sachteil des Neuen Lexikons der Musik- kalmusik und der Programmusik, die dem Hörer
der assoziativen Wirkungen der Klangfar-
pädagogik findet sich ein Artikel zur Programm- durch den nachvollziehbaren Bewegungsimpuls,
ben (der Trompete als Symbol des Heldi-
musik, während man selbstredend keinen zur das Leitseil des Textes und die Vordeutung durch
schen, der Hörner zum Ausdruck des Land-
absoluten Musik oder zum Streichquartett findet. das Programm unverwechselbare Einstiegsmög-
lebens u. a.).
Es gibt keine „Didaktik der Sinfonie“ – aber lichkeiten bieten“ (Alt 1968, S. 85). Und da Liszts
Michael Alt: Das musikalische Kunstwerk. Musikkunde
scheinbar wohl eine „Didaktik der Programm- Sinfonische Dichtungen im Sinne der musik-
in Beispielen, Berlin 1994: Cornelsen, S. 275 [erschienen
musik“, genauso wie es damals wohl auch eine pädagogischen freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) 1965 in: Pädagogischer Verlag Düsseldorf].
„Didaktik der Rockmusik“ gegeben haben soll, nicht als eine geeignete Einstiegsmusik gelten, © Friedrich Neumann
Tradi- Neu-
tiona- Deut-
listen sche
DIE SOZIALE MISSION DER gischen Verkürzungen einlassen, die von außen dessen Wirkung auf die Massen ans Wunderbare
(PROGRAMM-)MUSIK an die Musik herangetragen werden. Erinnert sei grenzen wird. […] Ja, kein Zweifel: bald hören
hier nur an das „Beethoven Pastoral Project: wir auf den Feldern, in den Hütten, den Dörfern,
Wulf Dieter Lugerts Versuch einer „sozialwissen- Künstler für Klimaschutz“ (https://pastoralpro- den Vorstädten, den Werkhallen und den Städ-
schaftlich orientierte[n] Musikdidaktik“ (Lugert ject.org/) oder das For-Seasons-Konzert, das in ten nationale, moralische, politische Gesänge,
1975, S. 92) bemüht sich, Kuckuck, Wachtel und der Elbphilharmonie den Klimawandel hörbar Lieder, Weisen, Hymnen erschallen, für das Volk
Nachtigall aus Beethovens Pastoralidylle nicht mit machte (Oberschmidt 2020). Solch ein Konzerter- ‚gemacht‘, dem Volke ‚beigebracht‘, ‚gesungen‘
den üblichen romantischen Überhöhungen eines lebnis vermittelt keine Informationen, es geht von den Landleuten, den Handwerkern, den Ar-
Beethoven-Bildes zu erklären, das die täglichen nicht um eine Ansammlung von Wissen oder Bil- beitern, den Jungen und Mädchen, den Män-
Spaziergänge des einsamen Meisters geradezu dungsgut, sondern um Anschlussmöglichkeiten nern und Frauen aus dem ‚Volke‘. […] Möge
verklärt. Ihm geht es vielmehr darum, den Pro- an die unmittelbaren Erfahrungsräume des Pu- doch ein glorreiches Zeitalter anbrechen, wo die
tagonisten „einer 9. Klasse Realschule in Berlin blikums. Kunst sich vollendet und entwickelt unter all
(West)“ (ebd., S. 95) ihre eigene Wohnsituation Gleiches gilt auch für die Analogien, Verweisun- ihren Erscheinungsformen zugleich und sich auf
vorzuhalten: „Die Schüler erkennen, daß die gen und Projektionen der Symphonischen Dich- den höchsten Punkt erhebt; indem sie die Men-
Trennung von Stadt und Land für den Städter die tungen Franz Liszts. Wenn es auch für Liszt darum schen in hinreißenden Wunderwerken brüder-
Konsequenz des Verlustes der Begegnung mit geht politisch Stellung zu beziehen, Haltung zu lich eint“ (Liszt, zit. nach Kabisch 2002, S. 841ff.).
unmittelbarer Natur hat, daß er auf Grund der zeigen, Position zu beziehen, sich gegen das Sy- Liszt spricht hier von der Bildungsmacht der Mu-
Bedingungen des Stadtlebens ein besonderes stem der vorfindlichen Verhältnisse zu stellen, sik. Auch wenn für ihn die Bühne und nicht der
Verhältnis zur Natur bekommt, das sich von dem dann sollte es erst recht auch für den Musikun- Klassenraum Ort der Bildung ist, verhandelt er
des Landbewohners erheblich unterscheidet. Sie terricht darum gehen, sich hier in gebotener hier die auch heute für die Musikpädagogik im-
erkennen so gleichzeitig, daß die ‚Pastorale‘ Aus- Weise einzumischen. Solch eine gesellschaftskri- mer noch virulente Frage, ob wir durch oder zur
druck eines sozialen Sachverhaltes ist, sie etwas tische und politische Musik erziehen. Das un-
über gesellschaftliche Verhältnisse aussagt. Es Haltung war von An- ter dem Eindruck der
kann an dieser Stelle noch differenzierend erör- beginn das musik- Wünschelrute Lyoner Seidenweber
tert werden, wieweit bestimmte Lebensbedin- pädagogische Pro- Schläft ein Lied in allen Dingen, entstandene Klavier-
gungen des Städters, wie z. B. Wohnsituation gramm und der ei- Die da träumen fort und fort, stück Lyon als Bestand-
(Haus mit Garten oder Mietskaserne) die Empfin- gentliche Motor für die Und die Welt hebt an zu singen, teil des Album d‘un
dungen der Stadt gegenüber beeinflussen“ Entwicklung der Sinfo- Triffst du nur das Zauberwort. voyageur ist hier ein
(ebd.). Auch solch ein Sozialkunde-Unterricht hat nischen Dichtung. Be- Joseph von Eichendorff: Werke. Bd. 1: Gedichte, Verse- beredtes Beispiel. Mit
das Außermusikalische in den Blick genommen! reits Franz Liszt war ein pen. Hrsg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a. Main 1987: dem Gedanken einer
Wer sich nun in Anlehnung an ein solches di- religiös und politisch Deutscher Klassiker Verlag, S. 328.]. „musique humanitaire“
daktisches Credo mit seinem Großstadtmilieu auf denkender Mensch, für wird die Programmmu-
ähnliche Weise mit den Vogelrufen aus Vivaldis ihn war der Künstler ein sik selbst zum Programm:
Jahreszeiten beschäftigen möchte, sollte sich vor- Vermittler, der sich mit seiner Musik politisch ein- nicht nur im Sinne eines ästhetischen Konzepts,
her die Gärten des ehemaligen Konservatoriums zubringen hatte. Seine Musik verstand er als so- sondern es wendet sich an das Publikum als die
Santa Maria della Pièta Ospidale auf historischen ziale Mission, sowie hundert Jahre später der nachahmend Handelnden, die sich auf das in
und gegenwärtigen Abbildungen ansehen, bevor Liszt-Interpret und Sozialdemokrat Leo Kesten- und mit der Musik Vorgeschlagene einlassen und
er vorschnelle Urteile über die angespannte berg es zu seiner Mission machen sollte, die Kon- in eigene Taten weitertragen.
Wohn- und Verkehrssituation in der Lagunen- zertbühne zu verlassen und gegen Aktenschränke
stadt mit den Bedrohungen durch Kreuzfahrt- einzutauschen, um „das gesamte musikalische
schiffe in lebensweltlich orientierte Musikmap- Bildungswesen vom Kindergarten bis zur Musik- MEINE BILDER – DEINE BILDER
pen für zukünftige Immobilienmakler eintragen hochschule“ (Gruhn 2009, S. 11) zu reformieren
lässt. und auf professionelle Füße zu stellen. Die „Er- Wenn sich Joseph Freiherr von Eichendorff auf
Dieser pädagogische Impetus, der natürlich auf ziehung zur Menschlichkeit mit und durch Mu- die Suche nach der verborgenen Poesie macht,
jenes gesellschaftliche Klima und die damit ver- sik“ (ebd., S. 15) umschreibt nicht nur die künst- um das „Ding“ zu wecken und damit die gesam-
bundenen Umbruchserscheinungen der 1970er lerisch-pädagogischen Intentionen Liszts und te Welt zum „Singen“ zu bringen, nimmt er keine
Jahre zurückzuführen ist, wie er sich dann in Kestenbergs, auch für uns gilt es, diesen Auftrag Armbrust in die Hand, um wie in den bereits be-
Schulbüchern wie Musik aktuell widerspiegelte jeden Tag aufs Neue anzunehmen: „Nach einem schriebenen Apfelschuss-Szenarien ins Schwarze
(hierzu Kloppenburg 1986), ist uns keineswegs vom Abgeordnetenhaus im Jahr 1834 angenom- zu treffen. Er bedient sich einer Wünschelrute,
verloren gegangen. Nur sollten es die Musik und menen Gesetz soll Musik demnächst in den um sich behutsam tastend und ganz ohne mu-
das Musikleben selbst sein, die sich politisch ein- Schulen gelehrt werden. Wir beglückwünschen sikpädagogische Zielhilfen seinem Gegenstand
mischen, und im Musikunterricht sollten wir uns uns zu diesem Fortschritt und nehmen ihn an als anzunähern. Von einem „Zauberwort“ ist hier
nicht auf die hier bereits beschriebenen pädago- Unterpfand eines noch größeren Fortschritts, die Rede, das können freie Gedankenkünste sein,
die sich tastend einem Gegenstand annähern, so her abliest, ohne vorher wenigstens den Wiener Der Psychoanalytiker Bernd Oberhoff hat nicht
wie wir es bei Karl Huber in der posthum veröf- Bücherschrank des Meisters abzumessen. Sche- die deutschen Klassiker im Gepäck, wenn er sich
fentlichten Musikästhetik nachlesen können. ring hat hier wohl nur seine eigene Bücherkiste mit dem 3. Klavierkonzert von Rachmaninoff auf
Und dabei ist es gleich, ob Robert Schumann die im Blick. Als krönende Zusammenfassung seines die Suche nach einer „Nähe der Musik zu seeli-
Titel seiner durch und durch poetischen Musik Lebenswerks gibt er einzig zu bedenken, „daß an schen Prozessen“ (Oberhoff 2007, S. 7) begibt, um
vor oder nach der Komposition in Tinte gefasst der Arbeit ein ganzes Gelehrtenleben hängt“ auch hier einen rationalen Wahrheitsanspruch
hat: „Ein Begriff, ein Programm oder ein Satz, der (Schering 1936, S. 585). Als deutender Hermes einzuklagen. Wenigstens gestattet er uns Einblick
unsern Vorstellungsinhalt einengt auf eine be- übersetzt er die Botschaften Beethovens wie einst in seine augenblickliche Bettlektüre: „Es tauchten
stimmte Richtung. […] Völlig freie Vorstellungs- sein Vorgänger das Fachchinesisch – oder besser Vorstellungen und Empfindungen auf, die einer
und Gedankenkomplexe […] bedürfen keiner gesagt, das Fachgriechisch – der damals griechi- frühkindlichen Erlebniswelt angehören könnten.
besonderen Kenntlichmachung durch den Kom- schen Götterwelt: „Bei der dort geübten Analyse Diese Eindrücke waren sicher nicht ganz unbe-
ponisten“ (Huber 1954, S. 181). habe ich mich von meinem persönlichen Erleben einflusst davon, dass ich mich zu dieser Zeit in-
Solch ein poetisches Umkreisen mit der Wün- Beethovenscher Musik und den seit einem Men- tensiv mit der Säuglingsforschung auseinander
schelrute hat vorgreifenden Charakter und weist schenalter von mir vertretenen Grundsätzen der setzte“ (ebd., S. 43). Nachdem sich seine Analyse
über eine gesicherte Erkenntnis der Ratio hinaus, musikalischen Sinndeutung leiten lassen. Die Ge- anfangs noch des Konjunktivs bedient und auch
die solche poetischen Anmutungen auch gar dankenprozesse beim Auffinden der Schlüssel feine Ausdrucksnuancen auf das eigene Selbst-
nicht erbringen möchte: „Dichter lügen, und sie spielten sich, nachdem anfangs schwere Beden- konzept bezogen werden, diagnostiziert er im
wissen, dass sie lügen“ (Hörisch 2005, S. 104). ken und ein gewisses Erschrockensein über das Miteinander zwischen Klavier und Orchester ein
Vielleicht verstehen wir die Gefahr „alle freie Magische der Erscheinung überwunden waren, gut reguliertes „Interaktionsdrama in der frühen
Aussicht“ (Schumann 1985, Bd. 1, S. 142) einzu- so schnell ab, daß die vorgelegten vierzehn Deu- Mutter-Kind-Matrix“ (S. 51), um dann „eine
büßen, wenn ein Kommentar vom Schöpfer tungen innerhalb weniger Wochen zur Reife ge- traumatische Erfahrung des Komponisten aus der
selbst gesprochen wird. Auch in diesem Zusam- bracht waren“ (ebd., S. 584). Der apodiktische frühen Kindheit“ zu entdecken, diese in der Par-
menhang sind Gustav Mahlers verschleierten Tonfall, mit dem Schering uns „seinen“ und da- titur zu verorten und mit biografischem Silikon
Äußerungen und zurückgezogenen Programme mit auch „unseren“ Beethoven erklärt, sollte abzudichten: „Rachmaninoffs willensstarke,
zu verstehen, wenn er in einer nicht mehr privat vielleicht auch all jenen Autoritäten zu denken übermächtige Mutter war nicht unproblematisch
gebliebenen Mitteilung an Richard Specht be- geben, die sich im Unterricht – ausgestattet mit für die seelische Entwicklung des kleinen Sergeij
kennt, „zunächst lieber missverstanden, als bloß einem ähnlich langen Akademikerleben und den und wirkte oft bedrückend auf ihn … Prägend
rationalistisch oder gar im Sinn illustrierender Handreichungen zum Zentralabitur – für die An- für seine spätere Zerrissenheit ist unter Umstän-
Programmusik verstanden zu werden“ (zit. nach gemessenheit ihrer Wahrheiten verbürgen. den eine Art der Bestrafung, die seine Mutter ihm
Floros 1987, S. 31).
verlag, S. 184f.
terien für die Angemessenheit solcher ästheti-
schen Urteile brüchig, wenn er in Beethovens
Streichquartetten Wilhelm Meisters Lehrjahre, Je- Kurt Huber: Musikwissenschaftler, Philosoph,
Mitglied der Widerstandsgruppe ‚Weiße Rose‘,
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[https://www.deutsches- 206–308.
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Charles Ives: Essays. Ed. By H. Boatwright. New York
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sinnlich erfahrbaren Autonomie. – Musik wird schichte, Band 2. Hg. von Sabine Ehrmann-Herfort, Ludwig einer Einleitung zur Geschichte und Ästhetik der Beethoven-
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wenn er die Musik mit Bildern flutet“ (Rihm
Ebene kultusministerieller Begutachtung – am Beispiel von baden: Breitkopf & Härtel.
2002, S. 178). „Musik aktuell“. In: Hermann J. Kaiser: Unterrichtsfor- . Stollberg, Arne (2014): Tönend bewegte Dramen. Die Idee
Unsere Aufgabe im Unterricht muss es sein, solch schung. Laaber: Laaber [Musikpädagogische Forschung, des Tragischen in der Orchestermusik vom späten 18. bis zum
eingeriebenen Wahrheiten mit pluralistischen Band 7], S. 171–179. frühen 20. Jahrhundert. München: edition text + kritik.
. Marx, Adolph Bernhard (1879): Die Lehre von der musikali-
Deutungen zu begegnen, den narrativen,
schen Komposition, Band 3 [1845]. Leipzig: Breitkopf & Här-
manchmal poetischen, aber immer individuellen
tel.
Bedeutungskonstruktionen nachzugehen, um
damit gleichzeitig den einseitigen Bildbesatz ab-
zuwehren, um die Musik so in ihrer Ursprüng-
lichkeit zu belassen (hierzu Oberschmidt 2013).
Vielleicht kann solch ein Versuch dazu führen, ei-
ner Musik nicht den kleinsten für alle gemeinsa-
men Nenner abzulesen, wie er sich womöglich in
einem „außermusikalischen“ Programm fassen
lässt, sondern ein großes gemeinsames Vielfaches
zu entdecken. Vielleicht lässt sich auf diese Weise
mehr über Musik aussagen, als in der Reduktion
auf das eine Bild.
Literatur
. Alt, Michael (1968): Didaktik der Musik. Orientierung am
Kunstwerk. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann.
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