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Seit der Uraufführung, bei der Albertine Zehme, die Schönberg zur Kompo-
sition des Pierrot angeregt hat und der das Werk auch gewidmet ist, den Sprech-
gesangspart ausgeführt hat, ist die Diskussion um dessen Interpretation nicht
mehr verstummt. Erlauben Sie mir, für das hier doch auch vertretene, nicht
ausgesprochene Fachpublikum den Wortlaut des Schönbergschen Vorworts zu
Pierrot lunaire in Erinnerung zu bringen:
»Die in der Sprechstimme durch Noten angegebene Melodie ist (bis auf ein-
zelne, besonders bezeichnete Ausnahmen) nicht zum Singen bestimmt. Der
Ausführende hat die Aufgabe, sie unter guter Berücksichtigung der vorge-
zeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie umzuwandeln. Das geschieht,
indem er
I. den Rhythmus haarscharf so einhält, als ob er sänge, d.h. mit nicht mehr
Freiheit, als er sich bei einer Gesangsmelodie gestatten dürfte;
II. sich des Unterschiedes zwischen Gesangston und Sprechton genau bewußt
wird: der Gesangston hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton
gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder.
Der Ausfuhrende muß sich aber sehr davor hüten, in eine »singende« Sprech-
weise zu verfallen. Das ist absolut nicht gemeint. Es wird zwar keineswegs
ein realistisch-natürliches Sprechen angestrebt. Im Gegenteil, der Unter-
schied zwischen gewöhnlichem und einem Sprechen, das in einer musika-
lischen Form mitwirkt, soll deutlich werden. Aber es darf auch nie an Gesang
erinnern.
Im übrigen sei über die Ausführung folgendes gesagt:
Niemals haben die Ausführenden hier die Aufgabe, aus dem Sinn der Wor-
te die Stimmung und den Charakter der einzelnen Stücke zu gestalten, son-
dern stets lediglich aus der Musik. Soweit dem Autor die tonmalerische Dar-
Stellung der im Text gegebenen Vorgänge und Gefühle wichtig war, findet sie
sich ohnedies in der Musik. Wo der Ausführende sie vermißt, verzichte er dar-
auf, etwas zu geben, was der Autor nicht gewollt hat. Er würde hier nicht geben,
sondern nehmen.«
Scheinen diese Anweisungen auch vieles klar zu sagen, so haben sie, vor allem
im Zusammenhang mit Kommentaren in Briefen, mit praktischen, noch heu-
te nachprüfbaren Erfahrungen und mit zum Teil widersprüchlichen Aus-
Führungen aus Schönbergs Freundes- und Schülerkreis Unsicherheit nicht aus-
zuschließen vermocht, und etliches hat eher zur Verwirrung als zur Klärung
der Probleme beigetragen.
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Dessen ungeachtet gewinnt das Melodram - vor allem seine Form mit Kla-
vierbegleitung - in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend an
Bedeutung. Ich denke an F. Liszt: Der traurige Mönch, Der blinde Sänger,
R. Strauss: Enoch Arden, Das Schbßam Meer und M. von Schillings: Kassan-
dra (1900) und sein Hexenlied (1902). Auffallend ist die Vorliebe für sehr ex-
pressive, tonmalerisch ergiebige Texte, wobei zu ihnen notierte Rhythmen hau-
ftg ein dramatisch-pathetisch überhöhtes, keineswegs immer dem natürlichen
Tonfall folgendes Deklamieren nahelegen. So stehen z. B. schon in Liszts Trau-
rìgem Mönch über den Worten »Schreck und Grauen« pro Silbe wechselnde
Achtelnoten und Achtelpausen, was ein Skandieren des Texts ergibt; das glei-
che schreibt Schillings an einer Stelle in Kassandra vor.
Im Gegensatz dazu destilliert Janáčeks Sprachmelodie aus dem natürlichen
Tonfall der Sprache thematisches Material. Bei Schönberg gilt das sehr häufig
für den Rhythmus, aber nicht im gleichen Maß für den Tonfall, also für die
intervallischen Bezüge.
Ein völlig anderes Genre von Beziehungen von Wort und Musik, das - eher
am Rande — aber doch eine gewisse Anregung für Schönbergs Vorstellungen
gegeben haben könnte, ist die reich nuancierte Vortragskunst im Possenlied,
im Couplet des Wiener Volksstücks und auch in der Operette. Nachweise sind
hier schwer zu erbringen, weil es von den erstgenannten Gattungen keine alten
Aufnahmen gibt. Die mündlich überlieferte Bewunderung Schönbergs für die
Vortragskunst eines Girardi oder einer Fritzi Massary - wenngleich er zumeist
nicht schätzte, was sie interpretierten - gibt zu denken. Ich habe als kurzes Bei-
spiel - allerdings erst aus den Zwanzigerjahren - eine von Girardi gesungene
Vorstrophe zum Rauschlied aus Das Künstlerblut von Edmund Eysler gewählt
(Grammophon 61972): was in der Interpretation auffällt, ist die sehr autonom
sprachmelodisch stilisierende Darstellung, die - wie in der vorkommenden
Lachpassage - auch stark verfremdete Elemente benutzt und über die im Cou-
plet selbstverständlichen Freiheiten im Abgehen von aufgezeichneten, einfa-
chen musikalischen Strukturen eines Stücks beim Deklamieren hinausgeht.
Schönbergs Beziehungen zum literarischen Kabarett in Berlin, zu Ernst von
Wolzogens »Überbrettl«, seine Tätigkeit in dessen »Buntem Wagen« (unter
Oscar Straus) und seine Beziehungen zum »Bunten Theater« wurden oft als
für ihn in bezug auf »Sprechgesang« wichtige Erfahrungen zitiert. Er hat - wie
bekannt z. T. schon vor seiner Begegnung mit Wolzogen - Chansons kompo-
niert, u.a. auf Texte von Falke und Wedekind (1901). 1900 erschien im
Loeffler-Verlag eine Sammlung Deutsche Chansons u.a. von Dehmel, Wede-
kind, Holz und Wolzogen, die den Untertitel »Brettl-Lieder« tragen; Schön-
berg hat einer Gruppe seiner Stücke diese Bezeichnung gegeben. Daß er seine
Tätigkeit im »Überbrettl«, das Einrichten, Komponieren und Einstudieren von
ihm zuwideren Stücken und Texten, zuletzt eher gehaßt hat, ist belegt. Der
rein musikalische Zusammenhang mit Pierrot, soweit es sich um Schönbergs
eigene Arbeit aus dieser Zeit und Sphäre handelt, wird aus Unkenntnis des
Materials meist überschätzt. Er ist unerheblich. Was im Pierrot aus Erfahrun-
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Testet man den Ambitus heutigen Sprechens, so bekommt man etwa für das
Sprechen von Nachrichten eine große Sekunde bis kleine Terz, für Lyrik eine
Quarte, für die Gesellschaftskomödie etwa eine Quint bis Sext, für das klassi-
sehe Versdrama maximal eine Sept. Bei Karl Kraus finden wir häufig die Okta-
ve überschritten, bei Moissi wurde gelegentlich der 1 V2-Oktavenbereich
erreicht, ja darüber hinausgegangen.
Im Zusammenhang mit dem ungeheuren Umfang, in dem Schönberg die
Sprechstimme gedacht und fixiert hat, ist immer wieder von seiner puren Expe-
rimentierfreude die Rede gewesen. Die wenigen, hier gegebenen Sprech-Bei-
spiele zeigen, daß er sich auf eine sehr variable, ungemein expressive Tradition
des Deldamierens stützen konnte. Die Differenzierungstechnik des Sprechens,
die er vorfand, hat er weitergetrieben und bis ins Extrem ausgebaut. Er ist hier
mit der Sprechstimme nicht anders verfahren als in anderen Bereichen seines
musikalischen Denkens auch, z. B. mit der Singstimme in den Herzgewächsen,
aber auch auf ganz anderem Gebiet im Grad an thematischer Entwicklung und
Verzahnung, wie in der Kammersymphonie op. 9.
Eine Hauptschwierigkeit, auf die man in der Interpretation des Pierrot stößt,
ist und bleibt tatsächlich der ungeheure Umfang der Sprechstimme, der 2 Чг
Oktaven umfaßt. Der tiefste Ton ist das kleine es, der höchste das oft vorkom-
mende zweigestrichene as oder gis. Boulez sprach einmal davon, daß das Werk
lagenmäßig gleichzeitig zu hoch und zu tief sei.
Die zweite Hauptschwierigkeit besteht darin, daß - zum Teil in extremen
Höhenlagen - auf einzelnen Silben Dauern verlangt werden, wie sie im heu-
tigen Sprechen nicht zur Verwendung kommen. Aber auch diesbezüglich dif-
ferenzierte, wie erwähnt, das sprachliche Deklamieren zur Zeit der Entstehung
von Pierrot reicher; in Moissis Interpretation von Der Gott und die Bajadere
gibt es Dauern von einer Sekunde, in denen eine Tonhöhe festgehalten wird.
Fassen wir also zusammen: der Vorstellung Schönbergs war zur Zeit der Korn-
position des Pierrot eine sprachliche Differenzierungstechnik präsent, die es
sowohl bezüglich des lagenmäßigen Umfangs als auch bezüglich der Dauern
seit den Dreißiger Jahren nicht mehr gibt. Die sprechtechnischen Mittel sind
- wenn man will - im Gebiet der Literatur seither vergleichsweise verarmt.
Selbst im klassischen Versdrama ist der Einsatz extrem differenzierenden
Sprachausdrucks verpönt. Wird er im klassischen Bereich heute wieder ver-
wendet, dann trägt das Ergebnis das Signum des bewußt artifiziell stilisieren-
den Experiments (es gibt eine so geartete Regiemanier im heutigen deutsch-
sprachigen Theater).
Der eingetretene Geschmackswandel im Interpretationsstil ist unübersehbar
- was im Hinblick auf unser Thema festzustellen wichtig ist -, und er ent-
spricht in verschiedenster Weise einem solchen in der literarischen Produk-
tion. Selbst Aufnahmen von Lautgedichten bzw. konkreter Literatur von Jandl,
Rühm oder Gomringer zeigen, was Ambitus und Dauern betrifft, Werte, die
kaum über die der Umgangssprache hinausgehen. Andererseits: wo Musiker
Sprache differenzierend verformt haben - Kagel, Schnebel, Berio, Hauben-
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lung einer Realisation nur die Kriterien »richtig« oder »falsch« geben. (Ich gebe
als Beispiele zum Vergleich Turnabout 34315: 17. »Parodie« Takt 1-21 mit
richtigen Tonhöhen im Charakter des Sprechens und noch einmal dieselbe
Stelle mit falschen Tonhöhen: Columbia ML 4471.) Eine andere Situation:
(Beispiel Turnabout Vox 34315: 13. »Enthauptung«, Takt 22-36.) Diese Stel-
le ist eine instrumentale Reprise zum »Kranken Mond«. Ich lasse ihr das Aus-
gangsstück folgen (Turnabout Vox 34315: 7. »Der kranke Mond«, Anfang).
Wie aber soll die Reprise als solche erkannt werden, wenn im »Kranken Mond«
der komponierte zweistimmige Satz gar nicht realisiert wird (Beispiel Wergo
60 001: 7. »Der kranke Mond«, ebenda)? Noch schlimmer wird es, wenn die
Singstimme eine Sext zu tief einsetzt und damit in der Oktav zur Flöte (Bei-
spiel: Columbia 4471, ebenda). Es kann kein Zweifel bestehen, daß hier der
komponierte Sinnzusammenhang völlig zerstört wird, die tonale Anspielung
überhaupt nicht verstanden werden kann. Um es drastisch zu formulieren: hier
tun falsche Töne ebenso weh wie in einem Mozart-Satz.
Schließlich noch ein Aspekt aus dem Bereich des Harmonischen: die Passa-
caglia »Nacht« ist auf der kleinen Terz nach oben und darauffolgend der großen
Terz nach unten aufgebaut. In den ersten drei Takten beginnt mit jedem Ton
eine Imitation dieser Floskel. Da das erste Intervall eine kleine Terz ist, bilden
die Einsatztöne einen verminderten Septakkord. Die Fortführung des chro-
manschen Verhältnisses vom ersten zum dritten Ton und die verminderte Sept
als Summe der Einsätze im Abstand einer kleinen Terz - auch orthographisch
so notiert - bestimmt den Anfang der Stimme. Wer mag wohl darauf verfal-
len, wenn kein Ton und kein Intervall stimmt? (Beispiele Columbia ML 4471:
8. »Nacht« Takt 1 -11 ; mit besserer Intonation im Charakter des Singens das
gleiche auf Amadeo AVRS 5009 - und mit richtigen Tonhöhen im Sprechge-
sangscharakter auf Turnabout Vox 34315.)
Ein grundlegendes Interpretationsproblem scheint mir-wie aus dem bisher
Gesagten ersichtlich - in der Konzeption des Stückes selbst zu liegen:
1. Schönbergs sprachdeklamatorische Vorstellungen waren von bestimmten,
durch ihn modifizierten Leitbildern geprägt.
2. Er hat musikalische Strukturen nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die in
der Komposition wirksam und wesentlich sind, konzipiert.
Daß er im Arbeiten manchmal stärker von dem einen, manchmal von dem
anderen Aspekt geleitet gewesen sein mag, ist möglich; daß ihm im Feilen an
einer Struktur, in der die Stimme, wie gesagt, unabdingbar integrierter Bestand-
teil des gesamten Stimmgewebes ist, die Vorstellungen, Probleme und Schwie-
rigkeiten, die sich aus seinen deklamatorischen Forderungen ergeben, nicht in
jedem Augenblick gleich wesentlich und präsent waren, ist wahrscheinlich. Es
ist ihm in der musikalischen Arbeit vorübergehend an manchen Stellen sogar
offensichtlich der thematische Bezug wichtiger geworden als der eigentlich zu
erwartende deklamatorische Tonfall.
Briefe und Überlieferungen belegen, daß Schönberg mit keiner Interpreta-
tion der Partie auf die Dauer ganz glücklich war. Entgegen seiner sonstigen
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worts ein.) Tatsächlich ist die Skala des Verlangens so weit gespannt wie der
Ambitus in der Stimme. Die Nummern lassen sich verhältnismäßig einfach
drei verschiedenen Fächern zuordnen: einem jugendlich-lyrischen, einem iro-
nisch-satirischen und einem expressiv-dramatischen, wobei Lyrik und Dra-
matik unversehens ans Ironische streifen können. Keine Persönlichkeit wird
sich jemals in allen drei Fächern absolut gleich gut bewegen können. Pierrot
mit drei Darstellern aus den genannten Fächern aufzuführen, wäre anderer-
seits auch nur ein Kuriosum.
Sicher ist Pierrot lunaire ein Stück, das einen - hat man sich einmal darin
vertieft - nicht mehr losläßt.
Als vorläufiges Ergebnis meiner praktischen Arbeit kann ich nur auf unsere
hier einige Male zitierte Schallplatte - gespielt vom Ensemble »die reihe« mit
Marie Thérèse Escribano als Solistin - hinweisen. Wir hoffen, daß sie in Kür-
ze auch als CD erhältlich sein wird. (Beispiele Turnabout Vox TV 34315: 3.
»Der Dandy«, und 21. »O alter Duft«.)
Cerha, Friedrich, "Zur Interpretation der Sprechstimme in Schönbergs Pierrot lunaire",
Musik-Konzepte /112-113 (München, Germany: Juli 2001), 62-72.
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