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VO MUSIKALISCHE STRUKTURANALYSE / FORMENLEHRE 02

4. Einheit

FORMEN 11: Virtuose Musik: Etüden und Capricen: Reduktionistische Analyseverfahren

Virtuose Musik dient in der Regel mehreren Zwecken: zum einen soll sie natürlich die technischen
Fähigkeiten der MusikerInnen entwickeln helfen, zum anderen sollen anhand dieser Stücke die
technischen Fähigkeiten auch demonstriert werden können. Virtuose Musik ist also einerseits
Musik, die zu Hause und im Unterricht gespielt und eingeübt wird, andererseits aber auch Musik,
die das Publikum besonders vom meisterhaften Handwerk des Musikers / der Musikerin überzeugen
soll. Nicht zuletzt deswegen wird virtuose Musik häufig programmiert und auch oftmals in Form
von Zugaben nach einem gelungenen Konzert als Extra draufgelegt.
Dabei geht es bei virtuoser Musik längst nicht mehr nur um technische Anforderungen (schneller,
brillanter, schwerer als die üblichen Konzertstücke), sondern auch um einen bestimmten Fokus auf
einen Aspekt, der kompositorisch möglichst wirkungsvoll verarbeitet wird.

Etüde (Amon 2011, S. 104f.):


„Einsätziges kürzeres instrumentales Vortrags- und Charakterstück, vorwiegend in der
Klaviermusik ab 1800. Die Etüde gilt dem Studium technischer Fertigkeiten (im weitesten Sinn –
d.h. auch der klangtechnischen Aspekte, …), wobei meist eine bestimmte technische Formel, eine
Spielfigur oder eine Textur als strukturelle Grundlage dient.
Von der bloßen Fingerübung hebt sie sich als formal auskomponiertes Stück ab. Ihre Form ist meist
als kleine oder große dreiteilige Liedform – ABA gestaltet, häufig stark erweitert, ev. mit
angehängter Coda. Der kontrastierende Mittelteil wird in der Etüde aufgrund der durchgehenden
Bewegungsstruktur z.B. mit Stimmentausch (Melodie im Bass, …), v.a. aber durch den Wechsel
der Tonart (ev. auch des Tongeschlechts) bewerkstelligt. Viel Freiheit in der Harmonik, Modulation
und Textur. Erschienen zumeist als Sammlung mehrerer Stücke mit pädagogischer Absicht.
Während bei C. Czerny, H. Bertini, M. Clementi (Gradus ad Parnassum) u.a. noch der technische
Aspekt im Vordergrund steht, wird die (Konzert-) Etüde bei J. B. Cramer, I. Moscheles und v.a. bei
F. Chopin (op. 10, op. 25), R. Schumann, F. Liszt, S. Rachmaninow und A. Skrjabin zum Vortrags-
und Charakterstück. Bei vielen dieser Etüden wurde dieser Aspekt durch Überschriften bzw. Titel
betont.
Auch im 20. Jhdt. entstehen viele Etüden, wenn auch mit etwas geringerer nachhaltiger Wirkung
(C. Debussy, B. Bartók, F. Busoni, H. Pfitzner, O. Messiaen, G. Ligeti u.a.). Etüden für Orchester
bzw. Soloinstrumente mit Orchester von D. Milhaus, I. Strawinsky, H. W. Henze, F. Martin u.a.
Etüden für Violine schreibt N. Paganini, 24 Capricen für Violine op. 1, für Gitarre H. Villa-Lobos,
12 Etüden für Gitarre.“

Caprice (Amon 2011, S. 54):


„Virtuoses Übungsstück, Etüde – primär für Violine (geprägt v.a. durch N. Paganini); auch für
Violine und Klavier. Man findet die Bezeichnung oft in Verbindung mit Beinamen, die eine
spezifische Charakteristik nahelegen wie Scherzo-Caprice, Walzer-Caprice oder Fantasie-Caprice.“

Virtuose Musik wird häufig aus wenigen Bausteinen zusammengesetzt – aus sogenannten
Spielfiguren, die meist die Basis für die Komposition liefern und die nicht besonders originell sind
und meist als Formeln verstanden werden. Aufgrund der Repetitionen und Motorik dieser
Spielfiguren, erzeugen diese meist einen virtuosen Charakter, der spezifisch auf das verwendete
Instrumentarium zugeschnitten ist. Die exzessive Verwendung von Spielfiguren zur Generierung
eines Stückes wird aus kompositorischen Gründen eher abschätzig beurteilt – eine Vielzahl an
Stücken baut dennoch darauf auf. Darunter auch große Teile der virtuosen Musik.
-24-
Spielfigur (Amon 2011, S. 360f.):
„Eine aus der instrumentenspezifischen Praxis kommende Melodiebildung. Spielfiguren sind von
ihrem Prinzip her formelhafte (bei gleichzeitig variativer Bandbreite) Tonumspielungen,
Skalenausschnitte oder Akkordbrechungen. Manche Spielfiguren haben aufgrund ihrer Häufigkeit
einen eigenen Namen erhalten. […]

Accentus: Übergang von Konsonanz in Dissonanz und umgekehrt; Ausfüllen eines Intervalls mit ein
bis fünf Zwischentönen
Bebung: Rasche Tonwiederholung mit Staccato-Ausführung
Bombus/Bombo/Schwärmer: Rasche Tonwiederholungen, tw. oktavversetzt
Circulatio/Circolo/Circolo mezzo: Umkreisen eines Tones in Sekunden
Corta: Meist ein längerer Ton in Verbindung mit zwei kürzeren
Doppelschlag/Cadence Double: Umspielen eines Tons mit dessen Ober- und Untersekund; seltener
auch als umgekehrter Doppelschlag verwendet
Fuga: Schneller Lauf auf kleinem Intervallraum (Quart, Quint)
Groppo/Gruppo/Walze: Gruppe rascher Töne (z.B. rascher Circolo); Triller mit Nachschlag in der
Schlusskadenz bzw. Klausel (auch: Kadenztriller)
Interrogatio: Ansteigende Sekund am Phrasenende mit Fragecharakter
Messanza: Verknüpfung verschiedener Spielfiguren
Mordent: Einfacher (selten mehrfacher) Wechsel der Hauptnote mit der unteren, meist chromatisch
erhöhten, Nebennote
Multiplicatio: Repetition von dissonanten Tönen, wobei die Wirkung aus dem Zusammenklingen
mit liegenden Tönen entsteht
Ribatutta: Trillerähnlicher Wechsel zweier Töne in punktiertem Rhythmus (Hauptnote immer
länger, obere Nebennote kürzer); Beginn tw. auch langsam, Steigerung bis zum Triller
Seufzer: Absteigende Sekund am Phrasenende mit sentimentalem Gestus
Tenuta: Lang ausgehaltener Ton
Tirata/Läufer: Schneller diatonischer Lauf (auf- oder abwärts) – oft mit symbolischer Bedeutung
(werfen, schleudern, blitzen etc.)
Tremolo: Schneller Wechsel zweier Töne (oft Sekund- oder Oktav-Tremolo); bei
Schlaginstrumenten oft mit dem Triller-Zeichen notiert
Trilla/Trillo: Schneller Wechsel von Hauptnote und oberer Nebennote
Variatio/Passagio: Längere Töne (Kerntöne) werden durch zusätzliche Töne verziert; ev. auch
durch einen arpeggierten Akkord oder Lauf
Vorschlagsfiguren (Anschlag, Schleifer, Schneller): Rasche (meist dissonante) Möglichkeiten des
Anspielens von Kerntönen

Mitunter sind Spielfiguren Akkordauflösungen mit flächigem Klang, zugleich metrisch geprägt. Sie
sind meist für ein ganzes Stück, zumindest aber für einen längeren Abschnitt, prägend. […]
Spielfiguren haben aufgrund ihrer meist engen Verbindung zu Virtuosität, Motorik und Mechanik
ein tw. minderes Ansehen.“

Ursatz (Amon 2011, S. 403):


„Begriff von H. Schenker, der in Musikstücken mit mehr als einer Stimme einen zweistimmigen
(tw. verborgenen) Gerüstsatz sieht. Nach seiner Ansicht lassen sich sämtliche Meisterwerke von J.
S. Bach bis J. Brahms darauf zurückführen (Reduktion): „Im Ursatz erfüllt sich das Ganze: er ist
es, der dem Stück als Ganzem auf die Stirn geschrieben ist ...“. Die Oberstimme des Ursatzes wird
als Urlinie bezeichnet. Sie markiert das Ausfüllen des Tonikadreiklanges mit (fallenden) Sekunden.
„Als melodisches Nacheinander in bestimmten Sekundschritten bedeutet die Urlinie Bewegung,
Spannung zu einem Ziele hin und zuletzt auch die Erfüllung dieses Weges.“ Die Unterstimme
besteht primär aus den Grundtönen der Stufen I.-V.-I., erweitert durch die der Stufen II. oder IV.“
-25-
Ursatz nach H. Schenker (1857-1935)

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Spannunsgraum (Urkadenz)

„Das organisch-gewordene Ganze einer Komposition, in welcher jeder kleinste Teil zum Ganzen
völlig harmonisch, d.h. in bestmöglichem Verhältnis sich befindet, bezeichnet Heinrich Schenker,
Wien (1857-1935), mit dem Wort „Synthese“. Die Synthese eines musikalischen Werkes kann
dargestellt werden. Aufmerksam geworden durch Schenker´s Konzertkritiken, ermunterte Brahms
diesen, seine eben begonnene Pianisten- und Komponistenlaufbahn aufzugeben zugunsten der
Erforschung und Darstellung der Tongesetze.
Schenker hat das Phänomen „Ursatz“ entdeckt. Er bezeichnete seine Analysen zunächst als
„Urlinien“, erst später als „Ursatzanalysen“.
Der Ursatz im Hintergrund ist Träger und letzte Zusammenfassung der Synthese einer
Komposition. Ursatzanalysen sind nicht Resultat einer musik-theoretischen, rein verstandesmäßigen
Arbeit. Schenker betonte das immer. - Nur die musikalisch-schöpferische Fähigkeit eines Musikers
kann durch die Kenntnis aller linear-kontrapunktischen und aller vertikal-harmonischen Tongesetze
die Synthese eines Werkes erkennen und erfassen. Dann kann er den Weg, den die Komponisten,
das Ganze überschauend, von innen her, vom Hintergrund aus, zurücklegen, nun umgekehrt vom
Vordergrund aus machen, um die Keimanlage (Ursatz), in die das Ganze einer Komposition
zurückführbar ist, zu erkennen und darzustellen. […]
Wir sehen, dass auch im Ursatz das zeitlich-melodisch-horizontale und das harmonisch räumlich-
vertikale Prinzip sich manifestiert.
Das vertikale Prinzip der Quintenbrechung entdeckte Schenker erst später und berichtete darüber
seinem Freund und ehemaligen Schüler Otto Vrieslander, welcher von München ins Tessin
emigriert war. In Schenker´s zwei Bänden „Das Meisterwerk in der Musik“, erschienen 1926 im
Drei Maskenverlag AG, finden sich Urlinie-Analysen- und Betrachtungen. […]
Seither sind vollständige Ursatzanalysen gemacht, lehrbar dargestellt und erläutert worden durch
den Schenker-Schüler, Musikwissenschafter und Komponisten Felix-Eberhard v. Cube (1903-
1988). Auf den Rat hin von Schenker gründete er im Jahr 1931 in Hamburg die „Schenker-
Musikakademie“. In seinem grundlegenden Werk, „Lehrbuch der musikalischen Kunstgesetze“,
sind fünfzig von ihm verfertigte „Ursatzanalysen“, - er nannte sie später auch
„Konstitutionsaufklärungen“, - vorhanden.
Der Berner Musikprofessor Arnold Geering bezeichnete die Ursatzanalysen als Gestaltanalysen.
Für den Interpreten kann die Kenntnis des Ursatzes eines Werkes von Nutzen sein, indem der
organische Zusammenhang von Anfang bis Mitte, und von Mitte bis Schluss, oder von Anfang bis
Schluss stärker, eindringlicher, intensiver und bewusst erfühlbar wird.“ (Bischhausen 1996, S. 33f.)1

-26-
1 Bischhausen, Dora: Musik-Elementartheorie. Katzbichler München/Salzburg, 1996.
FOUR-STAGE-METHOD nach SCHENKER2

1. Schritt: Harmonische Analyse (mit Stufen)

2. Schritt: Aufbereitung der Partitur (wichtige harmonische Entwicklungen der Aussenstimmen


zusammenfassen)

3. Schritt: Aufbereitung der Mittelstimmen (wichtige Entwicklungen herausnehmen)

4. Schritt: Definierung von Urlinie und Bassbrechung (finale Reduktion)

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2 http://www.schenkerguide.com/methodintro.php, Zugriff: 20.3.2017
ANALYSEAUFGABE:

Analyse in der Kleingruppe (2-3 Personen) entweder einer Etüde von Chopin (Etüde op. 10/1-12)
oder einer Caprice von Nicolo Paganini nach folgenden Gesichtspunkten:

1. Analyse der Spielfiguren

Welche Figuren kommen vor?


Welche instrumentalen Fertigkeiten werden damit geübt?
Wie werden die Spielfiguren variiert?
Welche Töne sind jeweils die Grundtöne solch einer Spielfigur?

2. Anwendung der „Four-stage-method“ nach Heinrich Schenker

Harmonische Analyse (Stufentheorie) erstellen


Melodische Analyse und Analyse der wichtigsten Bassschritte machen
Analyse der Mittelstimmen (Nebennoten herausfiltern)
Harmonische Progression in den einzelnen Stimmen untersuchen
Reduktion auf die Urlinie und Bassbrechung

EXEMPLARISCHE WERKANALYSE:

FRÉDÉRIC CHOPIN: ETÜDE op. 10/12 in c-Moll „Revolutionsetüde“

Die Schenker-Analyse geht üblicherweise durch die verschiedenen Schichten einer Komposition.
Als erstes wird der Vordergrund untersucht: „In these exercises, it is important to begin by
restricting yourself to analysing only those elaborations that directly prolong individual foreground
harmonies. The connections between those harmonies are a matter for the layer analysis of stage
three. Once you have completed your foreground analysis, however, your teacher may well ask you
to try and find middleground connections in these short extracts.“3
Danach wird die mittlere Schicht untersucht: hierbei werden die zusätzlichen Stimmen
eingebunden und Verbindungen zwischen dem Vordergrund und dem Hintergrund aufgezeigt
Als letzten Schritt findet die Reduktion auf den Ursatz statt, das was bei Schenker der
Hintergrund einer Komposition ist. Üblicherweise werden die Bestandteile des Ursatzes unter
einem Balken zusammengefasst und mit Nummern versehen.4

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3 http://www.schenkerguide.com/advicea.php, Zugriff: 20.3.2017
4 https://www.cambridge.org/core/books/harmony-in-chopin/etude-in-c-minor-op-10-no-
12/FCB1511DD862EF3704E4EACB80556C88

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