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ORGANUM

Das Organum (griechisch Organon, Instrument; auch Diaphon) ist die erste abendländische
Mehrstimmigkeit, nachweisbar seit dem 9. Jahrhundert und wurde im frühen Mittelalter in der Praxis
des Gregorianischen Gesangs ausgestaltet (erste Quelle Europas aus Essen-Werden, Westfalen:
Musica enchiriadis, 9. Jahrhundert).
Das archaische Organum ist eine Ausführungsweise des gregorianischen Chorals, usuelle, nicht
komponierte Mehrstimmigkeit. Das Organum entstand nicht nach der Komposition einstimmiger
Musik, sondern war gleichzeitig mit dieser vorhanden.
Einer Hauptstimme (Vox Principalis oder Cantus) wird zunächst eine einzelne zweite Stimme (Vox
Organalis) hinzugefügt, die sich in einer recht starren Parallelbewegung bewegt. Dieser zunächst
improvisierte mehrstimmige Gesang, bei welchem auch besonders die Orgel in gleichen Parallelen
begleitet, ist aus dem Mittelalter in Sängerschulen einiger Klöster und Kathedralen überliefert; es
handelt sich um die Geburt der abendländischen Mehrstimmigkeit.
In der Zeit vom 9. zum 11. Jahrhundert begannen Komponisten, weitere Stimmen hinzuzufügen und
sich von der starren Intervallbindung zu lösen. Berühmte komplexe, bis zu vierstimmige Organa
stammen später von Perotin (auch "Magister Perotinus" / "Perotinus Magnus") und seinem
Lehrmeister Leonin, den führenden Vertretern der Notre-Dame-Schule.

Ursprung und erste Quellen


Die ersten Quellen aus dem 9. Jahrhundert (Quellen, die älter sind als die ältesten Gradualien)
beschreiben das Organum als eine aktive Praxis. Diese Praxis mag schon einige Hundert Jahre älter
sein - ihre Ursprünge lassen sich nicht rekonstruieren. Bis heute ist nicht klar, ob das frühe Organum
sich aus einem primitiven, strengen Parallelismus entwickelt hat oder aber aus einer recht freien, nur
durch die Kirchentonarten gebundenen Heterophonie.

Das erste Dokument, das die Organumpraxis nachvollziehbar beschreibt, war die Musica enchiriadis
(gegen 900, aus dem Kloster Essen-Werden). Musica enchiriadis („Handbuch zur Musiklehre“) ist
der Titel einer Lehrschrift zum Singen des Organums aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. Dieses
„Handbuch“ fällt in die Frühphase der abendländischen Mehrstimmigkeit. Organum bedeutete, dem
einstimmigen Gregorianischen Choral eine, später auch mehrere, Stimmen hinzuzufügen. Es war ganz
offensichtlich als praktische Anleitung für die klösterliche Singpraxis gedacht, um sich im Singen des
Organums zu üben. Gemäß den Vorstellungen der frühmittelalterlichen Musikwelt kamen für die zum
Gregorianischen Choral hinzukommenden Stimmen nur bestimmte Intervalle und Stimmführungen
infrage. Die Musica enchiriadis beschreibt so ausschließlich das Quintorganum und Quartorganum.
Diese Formen des Organum sind auch als Parallelorganum bekannt; das heißt, dass sich die Stimmen
überwiegend in paralleler Bewegung stets im Quint- oder Quartabstand, sowie der Verdopplung in der
Oktave, zueinander bewegen.
Ausnahmen bilden hier der Beginn und das Ende eines Gesangs. Die Stimmen kommen aus dem
Einklang und bewegen sich auf die Parallelbewegung zu; zum Beenden des Gesanges „laufen“ die
Stimmen wiederum aufeinander zu (occursus), um wiederum im Einklang zu schließen.
Zur grafischen Darstellung der Stimmenbewegung wurde in dieser Lehrschrift eine eigene Notation,
die sich der sogenannten Dasia-Schrift (von altgr. daseia, „raues Atmen“ - in Bezug auf die
Aspiration eines Wortes in der griechischen Prosodie) zur Verdeutlichung der Tonhöhen bediente,
entwickelt. Das Notationsbild gleicht einem Koordinatensystem (siehe Abbildung). Auf der
Ordinatenachse sind die Tonhöhen in Dasia-Zeichen abgetragen und die Textsilben verlaufen entlang
der Abszisse. Vermutlich aufgrund der relativen Umständlichkeit, fand in der weiteren Aufzeichnung
der mehrstimmigen Musik die Notation der Musica enchiriadis jedoch keine Zukunft. Vielleicht war
sie aber von Anbeginn auch nur zur didaktischen Zwecken gedacht.
Die anonym überlieferte Schrift wurde lange dem Mönch Hucbald (* um 840; † 930) zugeschrieben.
Die neueren Forschungen in der Musik des Mittelalters halten diese Annahme jedoch
übereinstimmend für kaum haltbar. Wahrscheinlicher ist, dass die Schrift um 900 in der Abtei Werden
entstand: Zwei bereits aus dem 10. Jh stammende Abschriften nennen den Werdener Abt Hoger (†
906), dessen Amtszeit von 898 bis 902 datiert wird, als Verfasser. Werden war auch der Ort, an dem
das älteste bekannte Fragment (Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek, K3:H3) geschrieben
wurde, und auch der Ort, an dem die Bamberger Handschrift (Bamberg, Staatsbibliothek, Var. 1), die
als textlich verlässlichste Abschrift der Musica enchiriadis gilt, geschrieben wurde. Außergewöhnlich
und auffällig ist der hohe Verbreitungsgrad der Musica enchiriadis: Europaweit wurden hunderte
Exemplare, d.h. handschriftliche Kopien, gefunden - was nicht zuletzt für die Absicht, ein Lehrbuch zu
schaffen, spricht.
Danach war die Organumpraxis gar nicht als Mehrstimmigkeit im modernen Sinn konzipiert: Die
hinzutretende Stimme sollte lediglich den einstimmigen Gesang verstärken. Die Musica enchiriadis
macht außerdem deutlich, dass Oktavverdopplung akzeptiert wurden, schließlich ließen sie sich bei
gemeinsamem Gesang von Männer- und Knabenstimmen nicht vermeiden. Auch das Mitspielen einer
Singstimme durch Instrumente war Praxis. Der Traktat Scholia enchiriadis behandelte das Thema
eingehender.
Im originären Parallelgesang lag die originale Melodie in der oberen Stimme (Vox principalis). Die
Vox organalis wurde ein perfektes Intervall tiefer parallel geführt, meist eine Quarte tiefer. So hörte
man die Melodie als Hauptstimme, die Vox organalis als Begleitung oder Verstärkung. Diese Art des
Organums wird heute üblicherweise als Parallelorganum bezeichnet, je nach Intervall beispielsweise
als Quartorganum oder Quintorganum, obwohl in frühen Traktaten Begriffe wie Sinfonia gebräuchlich
waren.
Da die Musica enchiriadis kurz vor der (Wieder-)Entwicklung einer standardisierten musikalischen
Notation geschrieben wurde, sind die dort enthaltenen Beschreibungen des Organum rein verbal. Es ist
nicht bekannt, wie genau sie befolgt wurden. Hinzu kommt, dass beide Enchiriadis-Abhandlungen in
erster Linie Arbeiten sind, die eine pseudo-wissenschaftliche Herleitung des Hexachords und der
Kirchentonleitern versuchen. Daher ist es möglich, dass bei der Behandlung des Organums der
Blickwinkel der aufkommenden Hexachord-Lehre gegenüber einer fachlich genauen Beschreibung der
Organumpraxis im Vordergrund stand.

Weitere Formen des Organums


Ein strenges Parallelorganum wurde schon in diesen frühen Schriften nicht als abschließend
dargestellt. Die Abhandlungen gehen von der Grundlage der Parallelität aus und schlagen dann
"bessere" Arten des Organums vor: unter Einbeziehung von Zwischentönen. So werden im
Quartorganum nicht nur Quarten verwendet, sondern auch kleinere Intervalle, um dem bei starrer
Parallelbewegung zeitweilig zwangsläufig auftretenden Tritonus zu entgehen. Die überwiegende
Mehrzahl der Musikbeispiele dieser Abhandlungen verwendet als Intervalle Sekunden, Terzen,
Quarten, Quinten und Sexten, um ein künstlerisches Ergebnis zu erzielen. Die Ästhetik zur
Untermauerung dieser anderen Intervalle wurde durch Guido von Arezzo in seinem Micrologus
verstärkt untersucht (ab zirka 1020). Diese stärker variierten Formen des Organums werden als freies
oder schweifendes Organum bezeichnet.
Das schweifende Organum verwendet Parallel- und Seitenbewegung (eine der beiden Stimmen bleibt
unbewegt), aber auch gerade Bewegung (beide Stimmen in dieselbe Richtung, aber um ein
unterschiedliches Intervall) und Gegenbewegung gewinnen an Bedeutung. Das Winchester Tropar (um
1050), Werke von Johannes Cotto und die so genannten Chartres-Fragmente dokumentieren eine
kontinuierlich freiere Behandlung der Stimmführung.
Im späten 11. Jahrhundert finden sich Beispiele, in denen mehrere Noten der Organal-Stimme
nacheinander gegen eine einzige Note des Cantus firmus gesetzt werden.

Die Trouvères im 11. und 12. Jahrhundert


Die Troubadours, ausgehend im 11. Jahrhundert von Südfrankreich (Okzitanien), und die Trouvères
des 12. Jahrhundertes in Nordfrankreich sowie die Minnesänger im deutschsprachigen Raum
verwendeten für ihre geistliche und weltliche Lyrik zum Teil gleiche Melodien, bis sich schließlich
erste schriftliche Aufzeichnungen der Organa als Partituren in Neumen-Notation im Wallfahrtsort St.
Jacob in Santiago de Compostela in Nordspanien und in St.Martial in Limoges in einem Kloster
finden.
Sankt-Martial-Schule und Notre Dame im 12. bis 13. Jahrhundert
Das Organum erreichte seinen Höhepunkt im 12. Jahrhundert. Gegenüber der Improvisation des
Organums tritt seine Komposition in den Vordergrund. Der Cantus firmus liegt nicht mehr in der
Oberstimme, sondern in der tiefsten Stimme als Basis des musikalischen Satzes. Entsprechend ihrer
Lage gewinnen die organalen (Ober-)Stimmen an musikalischer Bedeutung. Zwei unterschiedliche
Schulen sind führend in der Organum-Komposition: die St. Martial-Schule und die Notre-Dame-
Schule, nach der die zweite Hälfte des 12. und die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts auch als Notre-
Dame-Epoche bezeichnet wird.
Die St. Martial-Schule war eine Komponistenschule um die Abtei St. Martial in Limoges. Neben
reichen Organa stammen (einstimmige) Tropen und Sequenzen aus diesem Umfeld.

NOTRE DAME

In der Notre-Dame-Epoche schufen Léonin (Leoninus magnus) und Pérotin (Perotinus magnus)
großangelegte drei- und vierstimmige Organa, die mit Hilfe der neu entwickelten Modalnotation
schriftlich festgehalten wurden. Die Organisation der Stimmen war nur durch die Verwendung eines
ordnenden Rhythmus möglich, der auf den sechs Modi des Modalrhythmus beruhte.
Die Notre-Dame-Schule oder auch Notre-Dame-Epoche bezeichnet in der Musikgeschichte
gemeinhin den Zeitraum von 1160/80 bis 1230/50.
Vermutlich knüpft diese Epoche direkt an das Saint-Martial-Repertoire an, bzw.
überschneidet sich mit ihm. Gemeint ist die Zeit, in der der Komponist Pérotin an der
Kathedrale Notre-Dame in Paris den von Léonin begonnenen „magnus liber organi de gradali
et antifonaio pro servitio divino“ (nach dem Musitraktat Anonymus IV) gekürzt und mit
besseren Klauseln oder Punkta versehen hat.
Léonin (* um 1150; † um 1201, auch Leoninus) war Magister an der Klosterkirche und
Kathedrale zu Notre Dame in Paris und einer der wichtigsten Vertreter der Notre-Dame-
Schule. Seine zweistimmige Musik hat als Grundlage eine gedehnte liturgische Melodie, dazu
kamen freikomponierte Oberstimmen in bewegter Rhythmik. Vor allem sein Werk Magnus
liber organi (Großes Buch der Organa) ist ein Meilenstein der frühen mehrstimmigen Musik.
Enthalten sind vor allem (zweistimmige) Organumsätze und Quartorgana für die Messe und
das Offizium. Léonin wurde von Zeitgenossen auch ehrenvoll „Optimus Organista“ genannt.
Léonin war zusammen mit seinem Nachfolger Pérotin der wichtigste Komponist der Notre-
Dame-Schule. Genau wie in der Architektur versuchte Léonin seine musikalischen Werke
komplexer zu gestalten. Die Musik klang durch die Weiterentwicklung des Parallelorganums
zum schweifendem Organum nun flexibler und differenzierter.
Pérotin (Perotinus), auch als „Magister Perotinus“ oder „Perotinus magnus“ bekannt, (*
zwischen 1150 und 1165; † zwischen 1200 und 1225) war ebenfalls Magister an der
Klosterkirche und Kathedrale Notre Dame in Paris und gilt als bedeutendster Komponist der
sogenannten Notre-Dame-Schule.
Da über sein Leben nichts überliefert ist, basiert das Wissen über ihn auf Aussagen des
Johannes de Garlandia (um 1240) und dem englischen Musitraktat Anonymus IV (nach
1279). Seine Werke sind überliefert im Magnus liber organi (Großes Buch der Organa).
Seine musikhistorische Leistung (jedenfalls nach Anonymus IV) liegt in der
Weiterentwicklung der zweistimmigen Organa seines Vorgängers Léonin an der Kathedrale
von Notre-Dame zu drei- und vierstimmigen (Quadruplum) Organa. Durch das Hinzutreten
einer dritten und vierten Stimme war die freie Rhythmik des gregorianischen Chorals nicht
mehr anwendbar. Es war erforderlich, die einzelnen Stimmen zur Ordnung des
Gesamtablaufes fest zu rhythmisieren. Hierzu verwendete Pérotin sechs verschiedene, an
antike Versmaße angelehnte rhythmische Modelle, den sogenannten Modalrhythmus.
„Dieser Magister Perotinus schuf beste Quadrupla wie Viderunt und Sederunt mit einer Fülle
von Colores der harmonischen Kunst […]“Die Abgrenzung dieser Epoche zu anderen erfolgt
im Wesentlichen dadurch, dass hier die Modalnotation und die zentrale Stellung der
Choralbearbeitung (Organum) hervorgehoben sind. In der späteren Ars antiqua wurde die
Mensuralnotation verwendet.
Die mehrstimmige Musik, die durch den Namen Notre-Dame-Schule abgedeckt sein soll,
hatte in der Kathedrale von Notre-Dame de Paris ein oder sogar das Zentrum. Allerdings muss
sogleich hinzufügt werden,
1. dass hier mit einem großen Verlust an Musikaufzeichnungen zu rechnen ist und
2. dass teils vermutlich, teils nachweislich damals auch andere Orte an der Pflege und
Entwicklung der mehrstimmigen Musik beteiligt waren.
Kompositionen im Stile des Notre-Dame-Repertoires finden sich u.a. in den heute in London,
Sens und in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel aufbewahrten Handschriften.
Bezeugungen für eine Mittelpunktstellung der Pariser Notre-Dame-Kathedrale sind zwar
vorhanden, aber nicht zahlreich und dabei in den Sachhinweisen wenig konkret und in den
Zeitangaben recht ungewiss. Sie stammen fast ausschließlich vom englischen Anonymus 4,
der zwischen 1270 und 1280 schrieb.
„Der wahrscheinliche Quellenverlust, der alles unbestimmt macht, die nachweisliche Teilhabe
auch anderer Orte, die relative Spärlichkeit der auf Notre-Dame weisenden Zeugnisse setzen
bei der Benennung des musikgeschichtlichen Zeitraums als ‚Notre-Dame-Epoche‘ oder auch
‚Notre-Dame-Schule‘ Fragezeichen. Folgendes ist wahrscheinlich: im Namen Notre-Dame-
Epoche ist die Pariser Kathedrale nicht nur als der (vermutliche) Ausgangs- und Mittelpunkt
der mehrstimmigen Kirchenmusik damaliger Zeit benannt, sondern zugleich auch als ein
Signum fungiert, ein Wahrzeichen dafür, dass die neue Mehrstimmigkeitskunst, vor allem die
Choralbearbeitung und deren Steigerung zur größten Klangform des Mittelalters, dem
Organum quadruplum, wesenhaft eine Kathedralkunst war.“ (Eggebrecht)
Als Kathedralkunst ist die Musik dieser Zeit ihrer Funktion nach eine Form von liturgischer
Musik. Ihr Repertoire besteht aus Choralmelodien, genauer gesagt aus den responsorialen
Gesängen der Messe und des Offiziums, die mehrstimmig ausgeführt wurden. Die
Organisation der Stimmen war nur durch die Verwendung eines ordnenden Rhythmus
möglich, den sechs Modi des Modalrhythmus.

Die Modalnotation ist ein System zur Notation mehrstimmiger Musik, die in Westeuropa
während der so genannten Notre-Dame-Epoche im 12. Jahrhundert bis zum Beginn des
13. Jahrhunderts gebräuchlich war und die sich aus der Quadratnotation entwickelt hat.
In der europäischen Musikgeschichte war die Modalnotation das erste System, das es
ermöglichte Rhythmen festzulegen, also eine feste Abfolge langer und kurzer Notenwerte zu
definieren. Im Gegensatz zu einstimmiger Musik, wie dem gregorianischen Choral, ist eine
festgelegte rhythmische Folge eine Voraussetzung dafür, mehrstimmige Musik
nachvollziehbar zu verschriftlichen.
Anders als in der modernen Notenschrift konnten aber noch keine einzelnen Notenwerte
dargestellt werden. Die Modalnotation basierte vielmehr auf sechs verschiedenen
rhythmischen Formeln (Modi), die im Verlauf eines Stückes immer wieder wiederholt
wurden. Die auf der regelmäßigen Wiederholung dieser Modi beruhende Rhythmik wird als
Modalrhythmik bezeichnet. Man spricht auch von Modalrhythmus. Die regelmäßige
Wiederholung der rhythmischen Einheiten ermöglichte eine spezielle Notenschrift, die
Modalnotation.
Dargestellt wurden die sechs Modi als Folge von Ligaturen (mit einem Balken verbundene
Noten) und Einzelnoten. Das Muster der Abfolge von Ligaturen und Einzelnoten bezeichnete
den Modus in dem das Stück gesungen werden sollte.

Modalrhythmik bezeichnet diejenigen Rhythmen, die sich bei der Verwendung von
Modalnotation ergeben, sowie deren Verwendung in anders notierten Musikstücken der
entsprechenden Zeit (vor allem 13. Jahrhundert).

Vor dem 13. Jahrhundert war es in der europäischen Musik nicht möglich gewesen, den
Rhythmus einer Komposition eindeutig zu notieren. Im 13. Jahrhundert entstand mit der
Modalnotation ein System, mit dem dies möglich wurde – allerdings nur bei relativ einfachen
Rhythmen und auch nur in bestimmten musikalischen Gattungen. Die Musiktheoretiker
unterschieden sechs verschiedene Modi: Das sind sechs verschiedene Arten, Ligaturen
(zusammengeschriebene Tonfolgen) in unterschiedlicher Art zu kombinieren; diese
entsprechen sechs verschiedenen Rhythmen, die sich meist innerhalb eines Abschnittes
mehrfach wiederholen. Stücke in Modalnotation werden heute üblicherweise im 6/8-Takt
übertragen, Entsprechungen zu geraden Taktarten (z.B. 4/4-Takt) sind in diesem System nicht
möglich. Es kommen nur wenige unterschiedliche Notenwerte vor, die auch nicht beliebig
unterteilt oder kombiniert werden können. Synkopen-ähnliche Rhythmen lassen sich gar nicht
darstellen.
Modalrhythmik in der frühen Motette
Die Rhythmen dieser sechs Modi, insbesondere die des 1. und 5. Modus, finden sich auch in
der frühen Motette des 13. Jahrhunderts. Diese sind nicht mehr in der Modalnotation, sondern
in einer Frühform der Mensuralnotation notiert. Dadurch wurde es möglich, auch andere
Rhythmen als die der sechs Modi zu verwenden. Jedoch wurden die vertrauten Rhythmen
offenbar weiterhin bevorzugt. Plausibel wird dieser Sachverhalt, wenn man bedenkt, dass die
Motette eng verwandt ist mit der Clausula: Die gleiche Komposition kann als Clausula in der
einen Handschrift ohne Text und in Modalnotation stehen und in einer anderen Handschrift
als Motette mit Text und in früher Mensuralnotation.
Motette
Motette (lateinisch motetus, französisch motet) ist ein Gattungsbegriff der mehrstimmigen
Vokalmusik, der seit dem 13. Jahrhundert anzutreffen ist. Der Begriff beschreibt im Laufe der
Jahrhunderte unterschiedliche musikalische Formen: Unterschiedlicher Text in den
verschiedenen Stimmen und ein wiederkehrender Rhythmus in der Unterstimme
(Isorhythmie) kennzeichnen die frühe Motette bis zum 15. Jahrhundert; die spätere Motette ist
typischerweise geistliche Musik, in der zu den Singstimmen auch Instrumente hinzutreten
können.
Die Ableitung der Bezeichnung Motette bleibt im Dunkeln. Walter Odington sprach um 1300
vom brevis motus cantilenae und leitete den Ausdruck so vom lateinischen Wort motus für
„Bewegung“ ab. Der Kirchenmusikhistoriker Gerbert dagegen stellte 1774 einen Bezug zu
dem Wort mot her (frz. mot „Wort“; ital. motto „Spruch“). Die Herleitung aus dem
Französischen ist gut möglich, dies könnte auch die mit der Entstehung der Motette
aufkommende Textverschiedenheit erklären. Bei dreistimmigen Motetten wurde gerne nur die
Mittelstimme als motetus bezeichnet.
Texte
Im 13. Jahrhundert standen neben geistlichen Inhalten, meist in lateinischer Sprache, auch
durchaus weltliche Inhalte, auch in französischer Sprache. Beide Ebenen konnten sich sogar
im gleichen Stück mischen. Im Laufe der Zeit fand allerdings eine Verengung auf geistliche
Texte statt, wenngleich in den sogenannten Staatsmotetten auch auf weltliche Ereignisse
Bezug genommen werden konnte.
Die ersten Motetten im 13. Jahrhundert waren nur von kurzer Länge. Isorhythmische
Motetten des 14. und 15. Jahrhunderts lassen sich anhand des sich wiederholenden Rhythmus
in der Unterstimme in Abschnitte einteilen. Manche Stücke sind zusätzlich durch Taktwechsel
in mehrere Teile unterteilt.
Die Stimmenzahl der Motetten wuchs vom Mittelalter bis zur Renaissance ähnlich wie die
Stimmenzahl in anderen Gattungen. So gibt es im 13. Jahrhundert noch viele zweistimmige
Motetten, im 14. Jahrhundert sind sie im Regelfall dreistimmig, später vier- und vielstimmig.
Bedeutende Motettenkomponisten sind zum Beispiel im 14. Jahrhundert: Philippe de Vitry,
Guillaume de Machaut
Entwicklung der Motette im Mittelalter
Die frühesten Motetten entwickelten sich im 13. Jahrhundert – besonders an der Schule von
Notre-Dame in Paris – aus der Praxis der Organa. Sie entstanden aus den clausulae,
mehrstimmigen Einschüben in den einstimmigen Choral. Clausulae wurden gewöhnlich a
cappella über dem Cantus firmus gesungen. Im Gegensatz zum Cantus firmus orientierte sich
der raschere musikalische Rhythmus der gegenläufigen Diskantstimmen an ihrem (eigenen)
Text und bildete so ein meist kurzes rhythmisches Zwischenspiel – motetus genannt (weitere
Bezeichnungen: mutetus, motellus, motecta, modulus, auch modulamen oder modulatio). Die
Discantus vulgaris positio (um 1200) hob ausdrücklich hervor, dass der motetus nicht Note
gegen Note des Tenors gesetzt ist, sondern von diesem in Notenwerten und Pausen
verschieden ist. Dies markierte das Ende des Conductusstils und den Beginn der Polyphonie
und des Kontrapunktes in der abendländischen Musikgeschichte.
Aus diesen Anfängen bildete sich bald die mittelalterliche Motette im eigentlichen Sinn
heraus: Verschiedene Texte (teilweise auch in verschiedenen Sprachen) wurden gleichzeitig
über einem lateinischen Cantus firmus gesungen. Dieser war in der Regel einem
Gregorianischen Choral entnommen (selten einem weltlichen Volkslied) und wurde
wahrscheinlich – im Interesse der Verständlichkeit – meist instrumental dargestellt. Auch
weltliche Kompositionen konnten als Motetten bezeichnet werden. Im 14. Jahrhundert wurde
die Isorhythmie bei den Motetten eingeführt; erst Philippe de Vitry, besonders aber Guillaume
de Machaut setzten diese neue Technik ein. Guillaume Dufay war um 1435 einer der letzten,
die noch die Isorhythmie verwendeten.
Conductus
Ein Conductus ist ein Begleitgesang im Discantus-Satz. Er zählte neben Organum und
Motette zu den wichtigsten Musikgattungen der Musik des Mittelalters. Mit einem Conductus
wurden Auftritte von handelnden Personen begleitet, zum Beispiel das Herein- oder
Herausschreiten geistlicher Würdenträger einer Kirche.
Der Conductus entstand bereits während der St.-Martial-Schule. Anders als andere Gattungen
jener Zeit existierte der Conductus nach der Notre-Dame-Schule als solcher nicht weiter,
sondern ging in anderen Musikgattungen auf. Lediglich als Stilmerkmal wurde die
Bezeichnung fortgeführt.
Die Texte mit sowohl geistlichem als auch weltlichem Inhalt beruhten auf lateinischen
Vorlagen mit ernstem und feierlichen Charakter. Sie hatten die Form mehrstrophiger
Gedichte, deren Aufbau bestimmend für die Komposition war. Der Gesang war ein- oder
mehrstimmig, allerdings überwiegte die Zweistimmigkeit. Meist lag dem Gesang ein Tenor
zugrunde, die Stimme ist zumeist syllabisch, konnte am Strophenende aber auch melismatisch
sein.
Das Wort leitet sich von den lateinischen Worten Con (von lat. cum, mit) und ductus (von
ducere, führen oder leiten, Partizip geführt) ab. Mitgeführt ist die wortbezogene Übersetzung:
die Musik begleitet die sie beauftragt habende (und von ihr geehrt werden sollende) Person

Clausula / Klausel
Im Mittelalter war eine Klausel (auch clausula) ein mehrstimmiger Abschnitt eines Chorals.
Klausel-Kompositionen finden sich in Handschriften des 13. Jahrhunderts.
Clausulae waren Ausschnitte aus melismatischen Stellen im Choral, bei denen die wichtigsten
Abschnitte mit einer zweiten Stimme, dem sogenannten organum duplum, versehen worden
waren, eine geringe Zahl an Klauseln ist sogar dreistimmig. Dabei ist grundsätzlich zwischen
der sogenannten Haltetonfaktur, bei der die zweite Stimme einen langen Ton aushält, und der
Diskantusfaktur, bei der beide Stimmen gleichberechtigte Melodien singen, zu unterscheiden.
Klauseln sind üblicherweise im Discantus-Satz geschrieben, das heißt, alle Stimmen haben
vergleichbar viele Töne.
Der Text der Klauseln ist der des Choralabschnittes, aus dem die Unterstimme besteht. Das ist
typischerweise nur ein Wort, meist sogar nur eine einzige Silbe. Aus den Klauseln entwickelte
sich allerdings später die Gattung der Motette, indem die Oberstimme(n) einen neuen Text
erhielten.

ARS ANTIQUA

Ars antiqua (lat. alte Kunst) ist die Bezeichnung für die Musikepoche von 1230 bis 1330, die
auf einer zeitgenössischen Bezeichnung des 14. Jahrhunderts basiert.
Als der Begriff Ars nova für die Zeit von 1320 bis etwa 1380 mit Paris als Zentrum aufkam,
bezeichnete man in einem abwertendem Sinne mit der Ars antiqua alle bisher komponierte
Musik. Insbesondere betraf die abwertende Bezeichnung die Organum- und frühe
Motettenkunst des 12. und 13. Jahrhunderts.
Diese hatte man seit mindestens zwei Generationen im eigenen, frühmensuralen Sinne
interpretiert. Damit wurden die historischen Verhältnisse weitgehend verwischt. Erst von der
neueren Forschung wurde der Übergang von der modalen zur frühen mensuralen Rhythmik
(Modus) spätestens um die Mitte des 13. Jahrhunderts als wesentlich erkannt. Heute gliedert
man diesen Abschnitt daher in eine Modalzeit oder Notre-Dame-Schule und behält den
Begriff Ars antiqua den Generationen nach Pérotin vor, die mit der Entwicklung der
Mensuralnotation die Ars Nova vorbereiteten.
Formen der Ars antiqua
Die Formenwelt der Ars antiqua ist (neben dem nach wie vor gepflegten einstimmigen
weltlichen Lied und Tanz; Trouvères) gekennzeichnet durch einen unerhörten Aufschwung
der Motette, die das Organum als eigentlichen Träger der Hauptentwicklung ablöste, durch
die Existenz des Rondellus, durch das ziemlich rasche Absterben des Conductus und die nur
noch traditionelle Pflege des Organums.
In der Praxis nimmt die Einstimmigkeit mit Lied und Choral immer noch den größten Raum
ein.
Wichtiger Theoretiker:

Franco von Köln, von Jakobus von Lüttich auch Franco Teutonicus genannt, war ein
bedeutender Musiktheoretiker und lebte Ende des 13. Jahrhunderts. Sein wichtigstes Werk ist
der um 1280 verfasste Traktat Ars cantus mensurabilis („Lehre des mensurierten Gesangs“),
der die sogenannte Mensuralnotation lehrt. Über sein Leben ist nur wenig bekannt, jedoch
enthalten zwei der acht erhaltenen Manuskripte seines Traktats biographische Informationen.
So wird der Verfasser in einem Fall Magister Franco von Paris genannt. In einem anderen Fall
wird er als Geistlicher und Präzeptor des Johanniterordens in Köln bezeichnet. Diese Angaben
sind jedoch nicht nachprüfbar. Jedenfalls hätten ihm diese Titel sowohl in Universitäts- als
auch in Kirchenkreisen ein hohes Ansehen verschafft. Jakobus von Lüttich bezeichnet ihn
auch als Komponisten; gleichwohl sind keine Kompositionen von Franco überliefert.

Hauptgattungen dieser Epoche sind das Organum, Conductus, Motette und Hoquetus.
Das Organum wird zwar noch gesungen, jedoch stagniert das Neuschaffen.
Der Conductus ist sehr beliebt, wird aber allmählich von der Motette abgelöst. Des Öfteren
haben geistliche (christliche) Conductus weltliche Trouvèreslieder als Grundlage.
Die Motette ist die Hauptgattung der Ars antiqua, zugleich auch der Bereich für Experimente
und Neuerungen.
Der Hoquetus geht satztechnisch auf die Notre-Dame-Schule zurück.

Komponisten
der Ars Antiqua sind u. a.:

Johannes de Garlandia oder Johannes Anglicus (frz. Jean de Garlande, engl. John of
Garland, * um 1195 in England; † nach 1272) war ein englischer Hochschullehrer, Dichter
und Schriftsteller, der mit seinen Lehrschriften eine große Wirkung im spätmittelalterlichen
Europa entfaltete. In England vielleicht um 1195 geboren, studierte er in Oxford und trat vor
1220 als Lehrer an der Pariser Universität in Erscheinung. Er unterrichtete im Clos de
Garlande (daher der Name) und nahm 1229 an der Gründung der Universität Toulouse teil.
Von 1229 bis 1232 lehrte Johannes an der Hochschule in Toulouse, kehrte aber wieder nach
Paris zurück. Johannes starb wahrscheinlich nach 1272.

Die Schriften des Johannes de Garlandia beziehen sich auf grammatische und rhetorische
Themen und sind zumeist in metrischen Versen/Hexametern niedergeschrieben. Er war ein
Kenner der klassischen Literatur und Autor eines Ovid-Kommentars (Integumenta super
Ovidii Metamorphosin) sowie eines Dictionarius (um 1220), mehrerer Grammatik-
Abhandlungen, die der Verteidigung der klassischen Grammatik gegen Vereinfachung
dienten, die im Doctrinal und im Grécisme propagiert wurden..

• Franco von Köln (ars mensurabilis, um 1280)


• Hieronymus de Moravia, 2. Hälfte des 13. Jh.
• Petrus de Cruce, 2. Hälfte des 13. Jh.
• Jakobus von Lüttich, um 1260-1330

Adam de la Halle (* um 1237 in Arras, Artois; † 1286/1287 oder 1306 in Neapel) war ein
französischer Trouvère (Troubadour).
Adam de la Halle, auch Adam le bossu (der Bucklige) oder le boiteux (der Hinkende) genannt,
zählt zu den bekanntesten Trouvères. Zunächst studierte er in der Zisterzienserabtei
Vauxcelles. Hier sollte er auf Wunsch seines Vaters auf den geistlichen Stand vorbereitet
werden. Doch er verliebte sich dort und heiratete. Nach gescheiterter Ehe setzte er seine
Studien dann in Paris fort und schloss dort mit dem Grad maître des arts ab.
Der Literat
1271 wurde er Ménestrel des Grafen Robert II. von Artois und war dadurch nach Neapel an
den Hof Karls von Anjou gekommen, des Königs von Sizilien. In Neapel trat Adam als Autor
von Theaterstücken hervor. Sein Jeu de la feuillée (1276/77) war das erste satirische
Theaterstück der französischen Literatur: Adam bringt in diesem Stück sich selbst, seinen
Vater, seine Frau, Verrückte und Feen sowie diverse reiche Patrizier von Arras auf die Bühne
und karikiert sich und sie überwiegend boshaft in einer Serie von Szenen, die wie bissige
Rundumschläge aus einer Lebenskrise heraus erscheinen.
Sein Singspiel von Robin und Marion (Le Jeu de Robin et de Marion), dem ersten berühmten
Liebespaar der europäischen Literatur, ist hier 1284 entstanden. Abwechselnd singen sie in
einstimmigen Melodien die Geschichte ihrer Liebe. Einmal tritt eine Blockflöte hinzu und am
Schluss ein Schlagzeug.
Der Trouvère
Adam de la Halle gehörte zur dritten Generation der Trouvères (1250 bis 1300). In dieser Zeit
ging die Initiative auf das Bürgertum über, das sich in Sängervereinigungen, Puis genannt,
zusammenschloss. Die Ursprünglichkeit wurde durch Wettbewerb, Règlement und
Künstlichkeit ersetzt. Damit war das Ende der Troubadours- und der Trouvèresbewegung
eingeleitet.
Adam de la Halle hat neben seinen einstimmigen Liedern dreistimmige Rondeaus und
Motetten komponiert. Er stellt hierin die Verbindung des einstimmigen Trouvère-Gesangs zur
mehrstimmigen Kunstmusik her.

MENSURALNOTATION
Im 13. Jahrhundert entwickelte sich, vorangetrieben durch die Differenzierung der Rhythmen,
die Mensuralnotation. Franco von Köln formulierte um 1280 die Regeln für diese
Notationsweise in seinem Traktat Ars cantus mensurabilis. Nach ihm heißt die erste
Ausprägung der schwarzen Mensuralnotation frankonische Notation.

Schwarze Mensuralnotation (ca. 1230–1430)


Mit Hilfe der frankonischen Notation konnten erstmals die Notenwerte (Tondauern) der
Musik eindeutig festgelegt werden. Die wichtigsten Notenzeichen waren Brevis und Longa.
Gemäß dem dreiteiligen Grundrhythmus der Zeit hat die Longa die Dauer von drei Breven
(perfekte Longa). Innerhalb bestimmter Gruppierungen von Noten kann sie auch zwei Breven
dauern (imperfekt sein), so zum Beispiel in der Folge Longa – Brevis – Longa – Brevis …, in
der jeweils aus imperfekter Longa (2 Schläge) und Brevis (1 Schlag) eine dreizeitige Einheit
wird. Ebenso können auch die anderen Notenwerte zwei- oder dreimal so lang sein wie der
nächstkleinere Notenwert. Die folgende Abbildung zeigt alle Notenwerte der frankonischen
Notation, beginnend mit dem größten.

Maxima oder Longa duplex — Longa — Brevis — Semibrevis


Notation der Ars Nova (nach Philippe de Vitry)
Am Anfang des 14. Jahrhunderts trat in der sogenannten Ars Nova neben die perfekte
Mensur, also den dreiteiligen Grundschlag, die imperfekte Mensur. Es wurden nun also auch
Kompositionen in geraden Taktarten angefertigt, bei denen Einheiten zu zwei Schlägen das
mensurale Gerüst bildeten. Der Name der Epoche geht auf den gleichnamigen, um 1320
entstandenen Traktat Ars Nova des französischen Musiktheoretikers und Komponisten
Philippe de Vitry zurück. Zwar gilt die Datierung als unsicher, doch soll der Italiener
Marchetus de Padua bereits kurz vor Vitry die Möglichkeit der zweizeitigen Teilung im
Pomerium beschrieben haben. Nun galt es also für die Aufführung eines Werkes zunächst
folgende Maße zu bestimmen:
• Den Modus major oder Maximodus, der anzeigte, ob die Maxima zwei- oder dreizeitig
auszuführen war.
• Der Modus minor oder Modus zeigte dies für die Longa an.
• Tempus war die Bezeichnung für das Maß der Brevis, bzw. das Teilungsverhältnis
Brevis - Semibrevis
• Prolatio für das Maß der Semibrevis, bzw. das Teilungsverhältnis Semibrevis -
Minima.

Da in der Ars Nova als nächstkleinerer Notenwert die Minima hinzutrat, musste nun auch
die Länge der Semibreves bestimmt werden.
Während Modus major und Modus minor über die Anordnung der Pausenzeichen erschlossen
werden konnten, konnten Tempus und Prolatio an den dem Stück vorangestellten
Mensurzeichen erkannt werden. Ein Kreis (als Symbol der "Vollkommenheit") zeigte
perfekte, also dreizeitige, Mensur der Brevis an (Tempus perfectum), der Halbkreis die
imperfekte, also zweizeitige Mensur der Brevis (Tempus imperfectum). War in den Kreis bzw.
Halbkreis zusätzlich ein Punkt gezeichnet, galt die Semibrevis als perfekt (Prolatio perfecta
oder Prolatio major). Bei Weglassen des Punktes trat die imperfekte Mensur der Semibrevis
in Kraft, was dem Normalfall entspricht. (Prolatio imperfecta/minor). Aus dem Halbkreis
leitet sich das heutige Taktzeichen für den 4/4- und Alla-breve-Takt ab. In Ars Nova führt
Vitry des Weiteren Zeichen ein, mit deren Hilfe auch der Modus (d. h. das Verhältnis Longa
zu Brevis) notiert werden kann. Es handelt sich hierbei um ein Quadrat, das für den perfekten
Modus mit drei horizontalen Linien, und für den Imperfekten mit Zweien versehen ist. Eine
weitere Erscheinung in den Handschriften ist die Rubifizierung, die Rotfärbung. So verwendet
Vitry diese Möglichkeit der Kennzeichnung, indem schwarze Noten ternäre, und rote Noten
binäre Teilungsstufe bedeuten.
Wenn jedoch keine Zeichen für Modus, Tempus und Prolatio vorhanden sind, müssen andere
Merkmale herangezogen werden:
• Gibt es eine Pause, die über drei Zwischenräume reicht, so ist diese dreizeitig, was ein
sicheres Indiz für das Vorhandensein eines perfekten Modus ist.
• Ist dagegen eine zweizeitige Pause vorhanden, müsste sie im perfekten Modus immer
von einer Brevis begleitet sein. Erscheint diese Pause zwischen zwei Longae, ist die
Zuordnung zum Modus Imperfectum eindeutig, genauso wie wenn zwei zweizeitige
Pausen aufeinander folgen. Im Modus perfectum würde diese Pause nämlich als eine
Dreizeitige und eine Einzeitige dargestellt werden.
• Wenn drei Noten einer Art zwischen zweien der nächstgrößeren Gattung auftreten, gilt
perfekter Modus/Tempus/Prolatio als wahrscheinlich. Sicher ist diese Bestimmung
deshalb nicht, weil auch Synkopen vorkommen können. Allerdings müsste in diesem
Fall eine vierte, gleichartige Note in der Nähe stehen, um die so entstandene Lücke im
imperfekten Metrum zu schließen.
• wenn häufig zwei gleichartige Noten hintereinander stehen, und noch zwingender,
wenn eine davon durch ihren Pausenwert ersetzt ist, spricht das für eine imperfekte
Mensur. Bei Pausen ist nämlich die Alteration nicht möglich.
In der Ars Nova wurden Systeme mit fünf Linien benutzt.

Trecento-Notation (nach Marchetus de Padua)


In der italienischen Notation des Trecento bildete sich ebenfalls Anfang des 14. Jahrhunderts
eine andere Art der Aufzeichnung heraus. Diese Praxis wurde von Marchetus de Padua in
seinem Traktat "Pomerium in arte musicae mensuratae" beschrieben. Hier ist zum ersten Mal
in der Geschichte ein mensurales System beschrieben, in dem die Brevis nicht nur in drei
untergeordnete Werte (perfekt) eingeteilt werden kann, sondern auch in zwei Werte
(imperfekt). Die frühere Ablehnung dieser Praxis bezog sich auf die Dreieinigkeit Gottes.
Jetzt können auch Teilungen durch Vielfache von 2 oder 3 (4, 6, 8, 9 oder 12) geschehen. Die
so entstehenden Gruppen von Semibreven und Minimae werden von Punkten eingegrenzt.
Die Notenwerte zwischen zwei Punkten ergeben somit immer eine Brevis.
Es gibt bis zu drei Teilungsebenen. Diese sind:
• 1. Ebene: Divisio Prima
• 2. Ebene: Divisio Secunda
• 3. Ebene: Divisio Tertia
Bedingt durch diese drei Ebenen ist es also nur notwendig, jeden Notenwert in zwei oder drei
kleinere Notenwerte zu teilen.
Die Noten, die die kleinsten Einheiten in der jeweiligen Teilungsstufe bilden, sind durch ihre
aufwärtsgerichteten Hälse zu erkennen. Die Teilungsarten wurden durch die
Anfangsbuchstaben ihrer Namen in Punkten angegeben:
• .q. für Quaternaria (Vierteilung):
1. Ebene: 2, 2. Ebene: 2, 3. Ebene: nicht verwendet
• .t. für Ternaria (Dreiteilung):
1. Ebene: 3, 2. Ebene: nicht verwendet, 3. Ebene: nicht verwendet
• .i. für Senaria imperfecta (imperfekte Sechsteilung):
1. Ebene: 2, 2. Ebene: 3, 3. Ebene: nicht verwendet
• .p. für Senaria perfecta (perfekte Sechsteilung):
1. Ebene: 3, 2. Ebene: 2 3. Ebene: nicht verwendet
• .o. für Octonaria (Achtteilung): Sie baut auf der Quaternaria auf
1. Ebene: 2, 2. Ebene: 2, 3. Ebene: 2
• .n. für Novenaria (Neunteilung):
1. Ebene: 3, 2. Ebene: 3, 3. Ebene: nicht verwendet
• .d. für Duodenaria (Zwölfteilung) Sie baut auf der Senaria Perfecta auf.
1. Ebene: 3, 2. Ebene: 2, 3. Ebene: 2
Man kann erkennen, dass in der dritten Teilungsstufe nur binäre Teilungen vorkommen.
In der Trecentonotation wurden Systeme mit sechs Linien verwendet.
In der manierierten Notation um 1400 in Südfrankreich wurde schließlich die rhythmische
Verfeinerung auf die Spitze getrieben. Nun konnten innerhalb von Stücken Mensurwechsel
ohne Mensurzeichen für die Dauer weniger Noten angezeigt werden. So konnten
beispielsweise imperfizierte Noten innerhalb einer perfekten Mensur auftreten, die durch rote
oder auch hohle Notenzeichen kenntlich gemacht waren.

ARS NOVA

Ars nova (lat. neue Kunst) wird eine Epoche der Musikgeschichte im Frankreich des 14.
Jahrhunderts mit Zentrum in Paris genannt. In dieser Zeit entsteht eine hochentwickelte, zum
großen Teil mehrstimmige Vokalmusik. Gelegentlich wird der Begriff auch allgemeiner für
die Entwicklung der mehrstimmigen Musik im Europa des 14. Jahrhunderts insgesamt
verwendet.

Die Bezeichnung geht zurück auf den Titel der Abhandlung Ars nova, die Philippe de Vitry
zugeschrieben wird und die etwa 1320 erschienen ist. Im entsprechenden Artikel der MGG
wird aber angezweifelt, dass es sich hierbei überhaupt um einen förmlichen,
programmatischen Traktat gehandelt hat. Ein anderer wichtiger Traktat ist die kurz davor
verfasste Notitia artis musicae des Musiktheoretikers Johannes de Muris, in dem die neue,
verbesserte Mensuralnotation erläutert wird, welche die Möglichkeiten der Notation beim
Rhythmus stark erweiterte. Auf deren Grundlage entstehen in dieser Zeit, vergleicht man es
mit den Werken der Ars antiqua, harmonisch und rhythmisch sehr komplexe und
differenzierte Kompositionen, die dabei durchaus emotional motiviert und zugleich hoch
expressiv sind. Konkret wurden jetzt auch zweizeitige imperfekte Teilungen der Notenwerte
akzeptiert und verwendet. Zuvor waren beinahe ausschließlich Dreiteilungen vorhanden,
deren Notwendigkeit von der Dreieinigkeit Gottes abgeleitet war. Der Dichtermusiker
Guillaume de Machaut verknüpfte verschiedene Kompositionsmittel in seiner Messe de
Nostre Dame und fand damit einen bis dato unerhörten Ausdruck. Sie ging als erste
Komposition der musikalischen Teile des Ordinariums eines einzelnen, bekannten
Komponisten in die Musikgeschichte ein.
Die ars nova trifft bei ihrem Erscheinen auf heftigen Widerstand der Verfechter der Alten
Kunst (ars antiqua) unter ihrem Wortführer Jakobus von Lüttich. Als Papst Johannes XXII. in
Avignon in der Bulle Docta sanctorum patrum 1322 die Aufführung der neuen Musik in der
Kirche kritisiert und an bestimmte Kriterien bindet (Textverständlichkeit, keine Polytextur,
Vermeidung weltlicher Cantus firmi), findet die Musik vor allem beim höfischen Adel
Anhängerschaft und Unterstützung; in diesem Umfeld entstehen vermehrt weltliche
Musikformen.

Die vorherrschenden Gattungen der Ars nova sind neben der Motette verschiedene
mehrstimmige Liedformen (Ballade, Rondeau, Virelai). Als formale Kompositionsprinzipien
entwickeln sich Isoperiodik und Isorhythmik. Höhepunkt der Entwicklung stellt die
isorhythmische Motette dar.

Die herausragenden Künstler der Ars nova waren u.a. Philippe de Vitry und Guillaume de
Machaut (um 1300-1377). Als früheste Quelle für den neuen Stil gilt die Handschrift F-
Pn146, die unter anderem den Roman de Fauvel enthält.
Das Manuskript von Ivrea (I-IV 115) ist wahrscheinlich im südostfranzösischen Raum
entstanden, und ist mit insgesamt 37 Motetten die umfangreichste erhaltene
Motettensammlung der Ars nova. Drei Motetten werden Machaut zugeschrieben. Das ist
relativ sicher, denn sie sind ebenfalls in der Handschrift Machaut 2 (F-Pn 1586) enthalten.
Auch Vitry werden enthaltene Motetten zugeschrieben. Die italienische Entsprechung bzw.
Weiterentwicklung der Ars nova führte zur sogenannten Trecento-Notation, die vergleichbare,
aber geringfügig andere Möglichkeiten der Differenzierung der Notenwerte bot. Bekanntester
italienischer Komponist dieser Zeit war Francesco Landini. Als eine Art Fortsetzungs- bzw.
Nebenzweig der Ars nova kann die bis ins 15. Jh. anhaltende Ars subtilior gesehen werden.

Philippe de Vitry (* 31. Oktober 1291 wohl in Vitry-en-Artois; † 9. Juni 1361 in Meaux) war
ein französischer Komponist, Musiktheoretiker, Dichter und römisch-katholischer Bischof.
Philippe de Vitry wurde am 31. Oktober 1291 geboren, falls wir seiner eigenen Auskunft
trauen können. Seine genaue Herkunft ist nicht belegt, da es in Frankreich mehrere Orte
namens Vitry gibt. Nach heutigem Forschungsstand gilt aber das nahe Arras gelegene Vitry-
en-Artois als der wahrscheinlichste Herkunftsort. Er studierte an der Sorbonne und war
möglicherweise auch Schüler des Petrus de Cruce. Einen vorangehender Besuch des Anfang
des 14. Jahrhunderts gestifteten Collège d’Arras wird vermutet. Wahrscheinlich trat er schon
früh dem Klerus bei, später war er Sekretär Karls IV. Nach dessen Tod diente er bei
verschiedenen französischen Adligen, unter anderem auch am päpstlichen Hof in Avignon.
Vitry wurde 1321 für eine Pfründe in Cambrai vorgeschlagen, die er dann auch bis
mindestens 1327 innehatte. Spätestens ab August 1322 besaß er außerdem eine Pfründe in der
Kollegiatkirche Notre-Dame in Clermont-en-Beauvaisis. In den Folgejahren häufen sich
dokumentarische Belege seines Wirkens. So hatte ab 1327 eine Pfründe im Verduner Dom
inne, spätestens 1332 wurde er Domherr in Soissons und war zusätzlich ab 1333 im Amt als
Erzdiakons von Brie. Es folgten weitere Pfründen an den Kathedralen von Beauvais und Paris
und an den Kollegiatkirchen in Saint-Omer, Saint-Quentin, Amiens, Vertus (Saint-Jean) und
Paris (Saint-Méry). 1351 wurde er von Papst Clemens VI. zum Bischof von Meaux ernannt,
wo er auch im Jahr 1361 starb.
Vitry galt als einer der führenden Intellektuellen seiner Zeit, er wurde von Petrarca verehrt
und war mit Johannes de Muris befreundet, der seine musikalischen Theorien mathematisch
zu untermauern versuchte. Als „klassischer“ Künstler schuf er gehaltvolle Werke in großer
Form, die stets die persönliche künstlerische Handschrift ihres Urhebers tragen und nicht –
wie zu dieser Zeit überwiegend noch üblich – religiöse oder gesellige Zweckschöpfungen
sind. Neben Guillaume de Machaut ist er der bedeutendste französische Komponist des 14.
Jahrhunderts.
Von den vielen Schriften, die Philippe de Vitry zugeschrieben werden, stammt nur die
wichtigste mit dem Titel Ars nova von 1322 (?) mit Sicherheit von ihm. Diese hatte allerdings
einen sehr starken Einfluss auf die Entwicklung der Mensuralmusik und der Musiktheorie.
Die Epoche der mittelalterlichen Musik im 14. Jahrhundert insbesondere in Frankreich trägt
ihren Namen nach diesem Traktat.
Von seinen Kompositionen sind nur etwa 12 erhalten, darunter fünf frühe Motetten aus dem
Roman de Fauvel (um 1317). Das oft zitierte Meisterwerk Tuba – In Arboris ist ein
Glaubensbekenntnis mit der Gegenüberstellung von fides (lat. ‚Glaube‘) und ratio (lat.
‚Vernunft‘). In der Motette Hugo – Cum statua schreckt er nicht davor zurück, sich selbst und
einen Gegner beim Namen zu nennen.

Guillaume de Machaut (auch Machault, * zwischen 1300 und 1305; † 13. April 1377 in
Reims) war ein französischer Komponist und Dichter des Mittelalters.
Das Geburtsdatum und der Geburtsort Machauts sind nicht sicher bekannt. Vermutlich
stammte er aus der Gegend von Reims, aus dem Ardennendorf Machault, und zwar als Sohn
einer nichtadeligen Familie, die aber sichtlich wohlhabend genug war, um ihm eine gute
Bildung zu ermöglichen. Nach Studien an der Domschule von Reims trat er um 1323 in die
Dienste des Herzogs Johann von Luxemburg, der gleichzeitig König von Böhmen, Mähren
und Schlesien war und den er als Sekretär auf seinen vielen Reisen durch seine Territorien
und auf zahlreichen Kriegszügen begleitete. Dank ihm erhielt er 1333, obwohl nie zum
Priester geweiht, die Anwartschaft auf eine einträgliche Domherrenpfründe im Domkapitel
von Reims, die er 1337 besetzte. Hier hielt er sich ab etwa 1340 überwiegend auf, wenngleich
er auch weiterhin viel umherzog.
Als 1346 Johann in der englisch-französischen Schlacht von Crécy auf Seiten Philipps VI.
von Frankreich umkam, trat Machaut in die Dienste von Jutta von Luxemburg, der Tochter
Johanns und Schwiegertochter Philipps. Als Jutta 1349 starb, war Machaut als Dichter
renommiert genug, um neben seiner Domherrenpfründe keine feste Stellung mehr zu
brauchen. Vielmehr schloss er sich locker wechselnden fürstlichen Mäzenen an, etwa dem
französischen Kronprinzen Karl (König als Karl V. 1364–1380) oder dessen kunstliebendem
jüngeren Bruder Herzog Johann von Berry († 1416), an deren Höfen er gastierte und denen er
– natürlich gegen Entgelt – seine Werke widmete.
Machauts literarisches Schaffen besteht einerseits aus meist kürzeren, überwiegend
allegorischen Verserzählungen und -romanen, die in der Regel die Ich-Form benutzen und
viele autobiografische Elemente aufweisen. Er versuchte sich aber auch in der Gattung Vers-
Chronik mit La Prise d’Alexandrie, einem Bericht von der (vorübergehenden) Eroberung
Alexandrias 1365, den er 1370–1371 zu Ehren des 1369 ermordeten Eroberers Pierre de
Lusignan, König von Zypern, verfasste. Vor allem aber war er ein sehr produktiver, seine
Kunst reflektierender Lyriker, von dem 234 Balladen, 76 Rondeaus und rund 100 andere
Gedichte erhalten sind. Hauptgegenstand dieser Lyrik, die formal und thematisch
überwiegend im Gefolge der höfischen Dichtkunst des 12./13. Jahrhunderts, des Minnesangs,
steht, ist „das Lob der Damen“. Machaut war übrigens einer der letzten Lyriker, der viele
seiner Gedichte vertont hat.
Von Interesse ist er darüber hinaus als Autor des wohl ersten autobiografischen Liebesromans
der französischen Literatur, Le Livre du voir dit (=das Buch von der wahren Dichtung), einer
1362 verfassten Liebesgeschichte um die junge Péronne d’Armentières und den schon
ältlichen Dichter, wobei dieser zugleich die Entstehung seines Werkes mit thematisiert.
Als Dokument des verbreiteten mittelalterlichen Antijudaismus sei Machauts Verserzählung
Le Jugement du Roi de Navarre (=das Urteil des Königs von Navarra) erwähnt. Hierin wird
die große Pest der Jahre 1349/1350 als Folge von Brunnenvergiftungen durch Juden
hingestellt und die Pogrome als gerechte Strafe gesehen.
Bei seinen Zeitgenossen galt Machaut als ein Meister vor allem der lyrischen Kunst. Sein
Einfluss auf die Lyriker nach ihm, insbesondere auf Jean Froissart, Eustache Deschamps und
Christine de Pizan war groß.
Seine Existenz als Künstler im Dienste von Höfen und fürstlichen Mäzenen sollte für seine
Nachfolger im ausgehenden Mittelalter typisch werden.
Der Komponist
Machaut gilt als bedeutendster Komponist der Ars nova. Wegen der komplizierten Harmonik,
Isoperiodik und Isorhythmie, sowie der Loslösung vom Cantus firmus im Tenor und der
Aufwertung der Cantilena in seinem Werk wird er als „Avantgardist“ des 14. Jahrhunderts
angesehen. Seine Messe de Nostre Dame (um 1360/65) gilt als die erste vollständige
vierstimmige Vertonung der Ordinariumsteile als ein Zyklus. Bis dahin war es üblich, die
einzelnen Ordinariumsteile einstimmig (teilweise im Wechsel Chor-Solo) zu singen.
Das Hauptwerk Guillaume de Machauts bilden jedoch die weltlichen Kompositionen: Virelais
(von Machaut in Abgrenzung zu seiner neuen Strukturierung der Ballade auch Chanson
balladé genannt), Rondeaus sowie Balladen. Das Neue an der Liedstruktur ist die Aufgabe des
Cantus firmus, das heißt bis zu seinem Wirken war der Tenor als tiefste Stimme der
Melodieträger. Machaut weist nun jedoch der Cantilena, der Oberstimme, die Melodie zu,
während Tenor (Mittelstimme) und Contratenor begleitende Funktion haben. Die Cantilena ist
auch im Gegensatz zum Cantus Firmus frei erfunden. Das bedeutet erstmals die Freiheit aller
Stimmen in einem kontrapunktischen Satz, wobei, wie wir es heute gewohnt sind, die
Oberstimme die bedeutendste Funktion, die der Melodie, innehat. Die Freiheit der
Melodiefindung ermöglichte Machaut auch eine optimale musikalische Gestaltung seiner
Liebeslyrik. Die Musik verleiht dem Text eine außergewöhnliche Individualität, sie
unterstützt die Aussagen und ist in ihrer Struktur eng an die Verse des Textes gebunden. Dies
erreicht er unter anderem durch die Isoperiodik, welche die einzelnen Stimmen in einheitliche
Perioden gliedert, sowie durch die Isorhythmik, die darüber hinaus die Stimmen in
rhythmischen Gleichklang bringt. Mit der Verwendung der Isoperiodik und Isorhythmie
knüpft Guillaume de Machaut an die Notre-Dame-Schule unter Léonin und Perotin an.
Machauts Werk – Dichtung wie Kompositionen – müssen im Kontext der damaligen
Gesellschaft betrachtet werden. Die Rezipienten seines Werkes waren die Fürstenhöfe. Daher
steht in seinem Schaffen das delectare eindeutig im Vordergrund, was er auch zwischen 1360
und 1370 in seiner Schrift Prologue rückblickend bemerkt. In diesem „Vorwort“ zu den
Handschriften mit seinen Werken, die er hat verfassen lassen und die eine einzigartige
Quellenlage eines mittelalterlichen Komponisten darstellen, wird zudem sein
Selbstverständnis als Künstler ersichtlich. Er erzählt davon, dass er den Auftrag der
personifizierten Nature annehme, « le bien honneurs qui sont en Amours » mehr zur
Darstellung zu bringen als es bisher der Fall war. Von der Nature werden ihm als
Voraussetzung und Mittel der Gestaltung drei Grundgestalten zur Seite gestellt: Scens,
Retorique und Musique. Dies zeigt das große Selbstverständnis Machauts. Machaut versuchte
mit seiner höfischen musica reservata, die seine Dichtkunst durch die Musik mit einschließt,
an die Troubadoure und Trouvères anzuknüpfen.

Francesco Landini (* um 1325 in Fiesole bei Florenz; † 2. September 1397; auch Francesco
Landino) war ein italienischer Komponist, Organist, Sänger, Multiinstrumentalist und
Dichter.

Francesco Landini wurde um 1325 in Fiesole bei Florenz als Sohn des Malers Jacopo del
Casentino geboren. Er erblindete während seiner Kindheit aufgrund einer Pockenerkrankung.
Von ihm sind über 150 Werke erhalten. Davon sind 141 Ballaten von denen 92 zweistimmig,
zwei sowohl zwei-als auch dreistimmig, und 47 dreistimmig gesetzt sind. Er gilt als größter
Meister des Trecento-Madrigals. Landini war von 1365 bis 1397 Organist und Kaplan von
San Lorenzo in Florenz, komponierte jedoch vorwiegend weltliche Musik. Nach Auskunft
seines Biographen Filippo Villani, dessen Liber de origine civitatis Florentiae als
biographische Hauptquelle zu Landini zu bezeichnen ist, beschäftigte sich Landini auch mit
Astrologie, Ethik und Philosophie. Er verkörpert damit den für das 14. Jahrhundert typischen
Komponisten, der sich selbst als intellektuelle Persönlichkeit begreift und ausdrückt, ganz im
Gegensatz zu den früheren mittelalterlichen Komponisten, deren Persönlichkeit kaum greifbar
wird. Anders als Frankreich, mit Paris ein anderes wichtiges musikalisches Zentrum der Zeit,
war Italien bereits föderal-republikanisch geprägt. In den Stadtstaaten wie Venedig, Siena und
Florenz boten mächtige Bürger den Künstlern ein gesellschaftliches Forum, wie es
besispielweise in Boccaccios Decamerone zum Ausdruck kommt. So berichtet Giovanni
Gherardi da Prato in Paradiso degli Alberti, wie die örtlichen litterati - Ärzte, Philosophen,
Mathematiker und Theologen miteinander diskutierten und dem Orgelspiel Landinis
lauschten, der herzzerreißend auf seinem Portativ spielte. Laut Villani gelang es ihm in
einzigartiger Weise die menschliche Stimme mit dem Klang der Orgel zu verschmelzen. Er
betätigte sich auch als Orgelstimmer und Instrumentenbauer.
In den 1360er Jahren soll Landini vom König von Zypern mit der corona laurea
ausgezeichnet worden sein.

WELTLICHE MUSIK IM MITTELALTER

Als Trobador (ursprüngliche okzitanische Wortform) oder Troubadour (französierte


Wortform) bezeichnet man den Dichter, Komponisten und Sänger höfischer mittelalterlicher
Lieder, insbesondere der in okzitanischer Sprache verfassten Trobadordichtung im südlichen
Frankreich. Die Zeit der Trobadore ist vor allem das 12. und 13. Jahrhundert, als ältester
Vertreter gilt Wilhelm IX. von Aquitanien.
Es wird von den einzigen alten Texten, die wir darüber verfügen deutlich gezeigt, dass das
altfranzösische Wort trover viel früher urkundlich erwähnt wird als das okzitanische Wort
trobar. Trover ist tatsächlich schon im Vie de saint Léger' (10. Jahrhundert) zu finden. Es
bedeutet eigentlich „entdecken, begegnen“. Es wird nochmal im 11. Jahrhundert mit einem
näheren Sinn im Alexiuslied erwähnt. Erst im 12. Jahrhundert bedeutet es bei Wace „etwas
mit Versen komponieren“.

Trobador, Troubadour, Trouvère


In der Romanistik unterscheidet man gemäß den ursprünglichen altokzitanischen und
altfranzösischen Bezeichnungen:
1. Trobadors, d. h. Dichter von Trobadordichtung speziell in der altokzitanischen
Literatursprache Südfrankreichs, in der auch galicische, katalanische, gaskognische
und italienische Dichter Lieder verfassten.
2. Trouvères, d. h. Dichter in der altfranzösischen Literatursprache Nordfrankreichs, die
bzw. deren anglonormannische Variante nach der Eroberung Englands durch die
Normannen zeitweise auch die Literatursprache der englischen Oberschicht und ihrer
Dichter war.
Das altfranzösische Wort trouvère kam mit dem Ausgang des Mittelalters außer Gebrauch
und wurde im Französischen seit dem 16. Jahrhundert durch die Lehnbildung troubadour
ersetzt, die dann okzitanische und nordfranzösische Vertreter gleichermaßen bezeichnen
konnte und seit dem 18. Jahrhundert mit dieser erweiterten Bedeutung auch ins Deutsche
übernommen wurde.
Mit dem Entstehen einer wissenschaftlichen Romanistik wurde die fachsprachliche
Bedeutung des Wortes troubadour / trobador wieder auf die okzitanischen Vertreter der
Trobadordichtung eingegrenzt, wobei sich speziell in der deutschsprachigen Romanistik seit
einigen Jahrzehnten auch wieder die Rückkehr zu der ursprünglichen okzitanischen Wortform
"Trobador" statt "Troubadour" durchgesetzt hat, während in Frankreich, in den Niederlanden
und in der englischsprachigen Literatur die nordfranzösische Schreibweise "troubadour"
weiter vorherrscht.
Die deutschen Minnesänger werden normalerweise nicht als „Troubadoure“ bezeichnet,
sofern nicht kolloquial ganz allgemein mittelalterliche Liederdichter ohne besondere
Rücksicht auf ihre Sprache gemeint sind.
In übertragener und dann meist ironisch gefärbter Bedeutung wird „Troubadour“ manchmal
auch für moderne Chansonniers oder Schlagersänger gebraucht.

Minnesang
Minnesang (Minne, die Verehrung einer meist hochgestellten Dame oder Frau; mhd. minne
„liebevolles Gedenken“) nennt man die schriftlich überlieferte, hoch ritualisierte Form der
gesungenen Liebeslyrik, die der westeuropäische Adel etwa von der Mitte des 12. bis zur
Mitte des 13. Jahrhunderts pflegte.
Im deutschen Sprachraum kann man ab etwa 1155 von einem Minnesang auf
Mittelhochdeutsch sprechen. Die im Minnesang gepflegte Version des Hochdeutschen ist der
erste bekannte Versuch einer Vereinheitlichung der deutschen Literatursprache. Erst 400
Jahre später erfolgt der zweite Versuch durch Martin Luther. Im Spätmittelalter (ab etwa
1250) lösen andere Gattungen den höfisch-ritterlichen Minnesang ab.

Minnesang versteht sich wesentlich als ritterliche Liebhaberei und innerhalb der höfischen
Ritterkultur als Konkurrenz hochadeliger Ritter untereinander – analog zu den anderen
Formen des Wettkampfes, etwa dem Turnier.

Der geglückte Vortrag eines Minneliedes durch einen Ritter ist in erster Linie als kultureller
Kompetenzbeweis zu begreifen – ähnlich einem Jagderfolg oder einem Sieg im Ritterturnier
auf sportlichem Gebiet. Das Lied richtet sich an eine verehrte Dame der Gesellschaft
(Frauendienst), ist jedoch kein Ausdruck lebensweltlicher Verhältnisse. Eine biografische
Authentizität, wie sie die allerfrüheste Literaturforschung annahm, ist zwar nicht
grundsätzlich und in allen Fällen auszuschließen, dürfte aber nur eine geringe Rolle gespielt
haben: Minnesang ist kein romantischer Gefühlsausdruck, auch keine Erlebnislyrik, sondern
ein ritterlich-ethisch geprägtes Sprach- und Musik-Ritual – vergleichbar der dem Minnesang
in Italien folgenden petrarkistischen Liebeslyrik des dolce stil nuovo seit Francesco Petrarca
in der strengen Form des Sonetts, die nun, in der beginnenden Renaissance, allerdings nicht
mehr dem adeligen Ritter oblag.

Der älteste deutsche Minnesang ist mit dem Dichter Kürenberger nachweisbar; berühmt ist
das Falkenlied in der Nibelungenstrophe: „Ich zoch mir einen valken ...“ (zur Versform vgl.
Nibelungenlied).

Dieser donauländische Minnesang (1150–1170, geographisch: Passau, Linz, die Gegend also,
aus der auch das Nibelungenlied stammt) hat ältere deutsche Wurzeln und ist von der
verfeinerten provenzalischen Trobador-Kunst noch unbeeinflusst. Er wird zum Beispiel durch
Dietmar von Aist vertreten. Die Lieder sind geprägt durch eine natürliche und ungekünstelte
Auffassung von Liebe. Die Eigenarten, die Frau in Ich-Form oder Mann und Frau im Wechsel
sprechen zu lassen, werden durch den späteren provenzalischen Einfluss aus dem Minnesang
getilgt. Äußeres formales Kennzeichen ist die der epischen Dichtung nahestehende Langzeile.
In dieser Phase hat der deutsche Minnesang gewissermaßen noch keine eigene Form
gefunden. Die Wurzeln dieser einheimischen Minnelyrik liegen weitgehend im Dunkel.
Der neue Minnesang nach provenzalischem Vorbild (unter anderen nachweisbar importiert
durch den weitgereisten Friedrich von Hausen) blüht im alemannischen und fränkischen
Westen ab 1170 auf. Ab dieser Zeit entsteht eine Lyrik, die formal wesentlich differenzierter
ist. Sie ist meist mehrstrophig und die Stollenstrophe erfreut sich in dieser Zeit großer
Beliebtheit. Inhaltlich enthält sie das Ideal der Hohen Minne (sie betont in aller Regel die
Verzicht-Haltung des Mannes und die Unerreichbarkeit der Frouwe) sowie häufig eine
Mischung aus Kreuzzugs- und Minnethematik. Zu nennen sind hier Vertreter wie Albrecht
von Johansdorf, Reinmar der Alte und Heinrich von Morungen.

Walther von der Vogelweide geht als erster weg vom Ideal der Hohen Minne und singt Lieder
der „gleichberechtigten Liebe“ („niedere Minne“, genauer gesagt Lieder der „Herzeliebe“,
auch „Mädchenlieder“ genannt). Allerdings sind die Begriffe hohe Minne und niedere Minne
nicht zeitgenössisch belegt – nur eine Formulierung bei Walther wird von der
Literaturwissenschaft als Beleg genommen –, sondern Konstrukte der philologischen
Rezeption in der Romantik, die von späteren Forschergenerationen womöglich noch nicht
ausreichend hinterfragt wurden. So muss zumindest fraglich bleiben, inwieweit das von der
Germanistik angenommene Ideal der unerfüllten Liebe in der sogenannten Hohen Minne nicht
eine Vorstellung der Romantik darstellt, die auf die Zeit des Hochmittelalters projiziert
wurde. Insbesondere die Dichtung Heinrichs von Morungen erlaubt nicht nur eine
Interpretation. Die neuere Forschung hat jedenfalls das bislang vorherrschende Bild teilweise
energisch in Frage gestellt (so etwa Eva Willms).

Im 13. Jahrhundert verliert sich das zunächst scheinbar klare Bild völlig: Während in der
Schweiz noch nach 1300 Hohe Minne in klassischer Tradition (wenn auch weniger originell)
besungen wird, greifen andernorts bereits ab 1220/30 parodierende und erotisierende
Tendenzen (Neidhart, Tannhäuser). Der Begriff Minne selbst ändert sich zum Synonym für
den Geschlechtsakt. Die Minnesänger des 13. Und 14. Jahrhunderts beschränkten sich auf die
Wiedergabe der bereits vorgegebenen Form- und Themenmuster und variierten oder
spezifizierten sie. Im 14. Jahrhundert wurde der Minnesang mit dem Aufkommen der Städte
von dem Meistergesang abgelöst.

Kennzeichen des Minnesangs

Ein großer Teil des „deutschen Minnesangs“, das heißt der mittelhochdeutschen Lyrik ist
genaugenommen kein Minnesang und sollte darum nicht so bezeichnet werden. Hinsichtlich
ihrer Thematik und ihres Sitzes im Leben müssen zwei große Gattungen unterschieden
werden: einerseits die ritterlich-adlige Liebeslyrik (Minnesang), andererseits die
Spruchdichtung oder Sangspruchdichtung, die ausschließlich von Berufsdichtern und -
sängern vorgetragen wurde und die sich mit politischen, moralischen und religiösen Themen
aller Couleur befasste.

• Minnedichtung reflektiert programmatisch unerfüllte Liebe, preist die Angebetete oder


schildert erotische Erlebnisse (ab Mitte des 13. Jahrhunderts).

• Spruchdichtung fordert zu religiös und ethisch richtigem Handeln auf, propagiert


gängige Lebensweisheiten oder kritisiert das Zeitgeschehen.

Da der gesellschaftliche Status von Minnesang (hochadelige Repräsentationskunst und Luxus)


und Spruchdichtung (auf Bezahlung angewiesene „Gebrauchskunst“) verschieden ist,
betätigen sich Dichter nur sehr selten auf beiden Gebieten zugleich. Die bekannteste
Ausnahme ist Walther von der Vogelweide, der auf beiden Gebieten Hervorragendes geleistet
hat und darum als der bedeutendste Vertreter der mittelhochdeutschen Lyrik gilt.

Formal gibt es die Gattungen Lied, Spruchstrophe und Leich:

• Das Lied (nur im Minnesang!) hat die bis heute übliche strophische
Wiederholungsform. Das Minnelied ist immer ein festes abgeschlossenes Ganzes mit
zwei bis sieben, oft mit drei oder fünf Strophen. Einige Dichter (zum Beispiel
Heinrich von Morungen) pflegen aber auch im Minne-Genre die einstrophige Form.
Die Liedstrophe gliedert sich ihrerseits in den meisten Fällen in zwei gleichgebaute
Stollen und einen Abgesang (Kanzonenform).

• Spruchdichtung verwendet oft komplexere und umfangreichere Strophenformen. Dies


wohl nicht zuletzt deshalb, weil die gleiche Form für verschiedene Inhalte immer
wieder genutzt und auch ohne strophische Wiederholung eindeutig erkannt und dem
Dichter-Komponisten zugeordnet werden sollte (zum Beispiel Walthers Philipps-Ton
oder Reichs-Ton).

• Der Leich ist eine noch komplexere und umfangreichere Form als die Spruchdichtung
(siehe unten).

Gattungen des Minnesangs

• Inhalt des Minne- oder Werbelieds ist eine Minneklage des Mannes an eine
unerreichbare Frau oder Angebetete. Man unterscheidet die Minneklage des Mannes
in Form eines Monologes und ein direkt an die Auserwählte vorgetragenes Werbe-
oder Klagelied. Diese Formen werden Hohe Minne, Frauen- und Minnepreislied
genannt.

• Im Frauenlied wiederum wird der Minnedienst aus der Sicht der angebeteten Frau
betrachtet. Sie nimmt den Minnedienst entgegen und drückt ihr Bedauern aus, dass sie
ihn – natürlich – zurückweisen muss.

• Unter Wechsellied versteht man das Nebeneinandersprechen von Mann und Frau. Die
Sprecher kommunizieren dabei nicht miteinander.

• Das Dialog- oder Gesprächslied dagegen ist ein reiner Dialog zwischen den
Minnepartnern, zwischen lyrischem Ich und allegorischen Figuren (Frau Welt) oder
zwischen fiktiven Figuren.

• Beim Tagelied handelt es sich inhaltlich um den Abschied zweier Liebender bei
Tagesanbruch nach einer gemeinsam verbrachten Nacht. Es ist „dramatisch“ angelegt
und schildert das fiktive Liebespaar beim Morgengrauen vor der unvermeidlichen
Trennung. (Der poetischen Gestaltung dieser Situation begegnen wir noch in
Shakespeares Romeo und Julia.)

• In einer Pastourelle wird die Begegnung eines Ritters oder Klerikers mit einem
einfachen Mädchen im Freien beschrieben. Dabei handelt es sich um einen
Verführungsversuch, welchen das Mädchen zu entgehen versucht.
• Ein Bruch mit der Hohen Minne ist das sogenannte Mädchenlied. Dieser Liedtyp
wurde besonders von Walther von der Vogelweide geprägt. Man nennt diese Art auch
niedere Minne oder erreichbare Minne.

• Das Kreuzlied befasst sich mit der Verbindung von Minne- und Kreuzzugthematik.
Der Sänger kontrastiert einen bevorstehenden oder erlebten Kreuzzug, also seinen
Dienst an Gott, mit seinem Frauendienst.

• Naturlieder finden sich selten als reine Jahreszeitenlieder. Meist dienen sie als
Eröffnung eines Minneliedes. Je nach beabsichtigter Stimmung unterscheidet man
Mailied, Sommerlied und Winterlied.

• Der Leich ist die Prunkform der volkssprachlichen deutschen Lyrik; er ist erheblich
umfangreicher und hat eine komplexere Form als das strophische Lied. Während im
Lied dieselbe Baustruktur und Melodie mehrmals wiederholt wird (= Strophe), besteht
der Leich aus nichtidentischen Bauteilen mit jeweils eigener Melodie, die einzeln oder
mehrfach wiederholt hintereinander geschaltet sind. Diese Bauform wird als
heterostrophisch bezeichnet.

• Gegen Ende der Ära des Minnesanges prägen sich parodistische Formen aus.
Entweder handelt es sich dabei um Parodien von bestimmten Dichtern oder eines
ganzen Genres.

Die frühesten handschriftlichen Zeugnisse des deutschen Minnesangs stammen vom Ende des
12. Jahrhunderts. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wird der Versuch zu großen „musealen“
Lyriksammlungen in Liederhandschriften erkennbar. Möglicherweise hatten diese
Sammlungen Vorgänger in Form von nicht erhalten gebliebenen Repertoire-Handschriften
von umherziehenden Sängern, die nun in einer gleichsam literaturgeschichtlichen Bemühung
von wohlhabenden Privatleuten gesammelt wurden. Gipfelpunkt der Aufzeichnungen ist die
reine Text-Sammlung des sogenannten Codex Manesse.

• C: Codex Manesse (auch Große Heidelberger Liederhandschrift oder Pariser


Liederhandschrift genannt), Cod. Pal. germ. 848 der UB Heidelberg; Codex Manesse
wegen des vermuteten Auftraggebers, des Zürcher Patriziers Rüdiger Manesse). Sie ist
die größte und prachtvollste Sammlung des deutschen Minnesangs, eine der
aussagekräftigsten Handschriften des deutschen Mittelalters überhaupt. Zwar entstand
sie erst im 14. Jh., aber die hier vorhandenen Texte reichen bis etwa 1160 zurück, d. h.
in die früheste Zeit des Minnesangs. Die „Klassiker“ Walther, Reinmar, Heinrich sind
ebenso enthalten wie die Spruchdichtung, der Leich und die Schweizer Epigonen. Auf
426 Pergamentblättern (= 852 Seiten) enthält der Codex fast 6.000 Strophen von 140
Dichtern. 137 Sängern ist eine ganzseitige Miniatur gewidmet. Die auf den Miniaturen
verschwenderisch beigegebenen Gegenstände, heraldischen Details und
kulturgeschichtlichen Hinweise sind von höchster Aussagekraft.

• A: Kleine Heidelberger Liederhandschrift (Cod. Pal. germ. 357 der UB Heidelberg;


13. Jh.; elsässisch)

• B: Weingartner Liederhandschrift (auch Stuttgarter Liederhandschrift,


Württembergische Landesbibliothek Stuttgart; Anf. 14. Jh., geschrieben in Konstanz)
• E: Würzburger Liederhandschrift (UB München, Cod. Ms. 731; geschrieben um 1350
in Würzburg; Hausbuch des Kanzlers Michael de Leone)

• J: Jenaer Liederhandschrift (Mitte 14. Jh.; mittelniederdeutsch)

• t: Kolmarer Liederhandschrift (München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 4997); eine sehr


späte Handschrift, um 1460 im Rheinfränkischen geschrieben, überwiegend
„meisterliche“ Lieddichtung – Sprüche und Lieder in der Tradition der
Sangspruchdichter des 12., 13. und frühen 14. Jahrhunderts. Übergang von höfisch-
adliger Liedkunst zu städtischem Meistersang.

Nahezu alle wichtigen Handschriften beschränken sich auf die Aufzeichnung der Texte. Sie
täuschen damit über die Tatsache hinweg, dass Minnesang, wie das Wort völlig zu Recht sagt,
stets Gesangslyrik war – in vielen Fällen wohl mehr als das: Wie diverse Miniaturen belegen,
wurden die vortragenden Sänger von Rhythmus-, Streich- und Blas-Instrumenten begleitet.

Von den oben genannten Handschriften bieten nur die Jenaer (J) und Kolmarer (t) auch
zugehörige Melodien. Wichtig für die Musiküberlieferung des deutschen Minnesangs ist
ferner die sogenannte Wiener Leichhandschrift (Nationalbibliothek Wien, cvp 2701, Sigle W).

Neben diesen drei Handschriften (J, t, W) existiert sporadisches, bruchstückhaftes, nur in


vagen Neumen notiertes oder durch Kontrafakturen erschlossenes Melodiematerial. Eine
Gesamtsicht dieses Materials kann gemeinsam mit den überlieferten Miniaturen und den
Textaussagen zur Aufführungssituation sehr wohl ein sprechendes Gesamtbild darüber
vermitteln, wie Minnesang musikalisch realisiert wurde; die historisch authentische
Rekonstruktion einzelner Stücke bleibt aber selbst bei scheinbar zuverlässiger
Melodieüberlieferung Illusion. Auch die am besten überlieferten Melodien beschränken sich
auf die Wiedergabe der Gesangsmelodie. Takt, Rhythmus, Tempo, Dynamik, Harmonik,
Begleitinstrumente, polyphone Techniken – erschließen sich uns bisher nicht.

Bedeutende deutschsprachige Minnesänger

• Der Kürenberger (Mitte 12. Jh.)


• Dietmar von Aist
• Hartmann von Aue
• Heinrich von Morungen
• Reinmar der Alte
• Walther von der Vogelweide
• Wolfram von Eschenbach
• Der Tannhäuser
• Ulrich von Liechtenstein (etwa 1200–1275)
• Konrad von Würzburg (1220/1230–1287)
• Hugo von Montfort
• Oswald von Wolkenstein
• Der Mönch von Salzburg

Walther von der Vogelweide (* um 1170, Geburtsort unbekannt; † um 1230,


möglicherweise in Würzburg), gilt als der bedeutendste deutschsprachige Lyriker des
Mittelalters. Von ihm sind 500 Strophen in über 110 Tönen bzw. – inhaltlich gruppiert – 90
Lieder (Minnelieder) und 150 Sangsprüche überliefert; außerdem ein religiöser Leich (der, je
nachdem welche Fassung man der Interpretation zugrunde legt, ein Dreifaltigkeits- oder ein
Marienleich ist). Walthers Werküberlieferung ist damit neben der Neidharts und Frauenlobs
die umfangreichste des deutschen Mittelalters.

Die bei weitem umfangreichste Sammlung von Walthers Gedichten befindet sich in der so
genannten „Großen Heidelberger Liederhandschrift“, einer Prachthandschrift, die um 1300
(von manchen etwas später datiert) verfertigt wurde; möglicherweise für den Zürcher Bürger
und Ratsherrn Rüdiger Manesse. In den kritischen Ausgaben wird sie immer mit der Sigle C
bezeichnet.
Sie enthält Gedichte von über 100 Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts; mehrere Schreiber
haben an ihr gearbeitet. In ihr befindet sich auch das berühmte Bild Walthers, das dem ‚ersten
Reichsspruch‘ nachempfunden ist: Walther, wie er ûf eime steine sitzt (ein ähnliches, aber
nicht so sorgfältig ausgeführtes Bild findet sich in B). Sie enthält 440 Strophen Walthers und
den Leich. C hat für Walther mehrere kleinere, inzwischen verlorene ältere schriftliche
Liedersammlungen benutzt; darunter sowohl solche, die auch A benutzt hat, als auch eine, die
auch B benutzt hat, als auch eine, die auch E benutzt hat, sowie manches aus verstreuter
Einzelüberlieferung. Stellenweise hat C Platz gelassen für Nachträge einzelner Strophen oder
Lieder, die man noch zu erhalten hoffte; manche Nachträge erfolgten dann tatsächlich,
manche Lücken blieben leer. Anscheinend wollte C alles sammeln, was man um 1300 an
Werken Walthers noch kannte.

Leben und Werk


Das meiste weiß man über Walther aus seinen Werken. Fragen zu seiner Biographie sind vor
allem dann wichtig, wenn sie die Dichtungen verstehen helfen. Dazu gehören nicht die
Diskussionen, wo Walther geboren wurde oder wo er begraben liegt. Lokalpatrioten
interessieren sich dennoch dafür, um Walther vielleicht in ihrer Heimat ansiedeln zu können.

Das „Ich“ einer Dichtung ist sehr oft nicht mit dem Dichter identisch. In der Lyrik wird dieses
„Ich“ meist als „lyrisches Ich“ bezeichnet, wenn es sich um Stimmungslyrik, beispielsweise
Liebeslyrik, handelt. Es berichtet dem Publikum von einem Liebeserlebnis. Wenn eine
erzählende (kurzepische) Haltung vorwiegt, spricht man vom Sänger. Jedenfalls ist es eine
fiktive literarische Figur, keine autobiographische Äußerung des Dichters.

In politischer Dichtung und Auseinandersetzungen mit literarischen und sonstigen Feinden


des Autors hat das ‚Ich‘ große autobiographische Anteile, ist aber trotzdem literarisch
stilisiert. Für heutige Leser ist noch schwerer erkennbar als für die Zeitgenossen, wo die
Grenzen zwischen autobiographischen Anteilen und Fiktion liegen. Da es außer den oben
genannten und seinen eigenen Gedichten keine Quellen über Walther gibt, hat das Walther-
Bild notgedrungen unhistorische Anteile. Trotzdem besitzt dieses „poetische“ Walther-Bild
einigen Wert, weil es das moderne Verständnis seiner Dichtungen nachzeichnet.

Insbesondere die Chronologie der Werke steht nur dort auf sicherem Boden, wo politische
Ereignisse eindeutig angesprochen werden (zum Beispiel die Krönung oder der Tod eines
bestimmten Fürsten; identifizierbare Reichstage). Lieder, die die Stimmung eines alten
Mannes wiedergeben, reiht man üblicherweise unter Walthers Altersdichtung ein, obwohl
auch ein jüngerer Dichter in die „Maske“ eines alten Mannes schlüpfen könnte, usw. Eine
derartige Aussage ist als – wertvolle – Aussage über die Stimmung, die das Lied im Publikum
erweckt, zu verstehen; kaum ist sie Hilfsmittel zu absoluter Datierung. Allerdings zeigt die
datierbare politische Altersdichtung Walthers einige Stilzüge, die auch in nicht datierbaren
Liedern auftreten, die man gerne seiner Altersdichtung zuordnen würde, so dass vieles der
unten gewählten zeitlichen Strukturierung auch der Minnelyrik zwar unbeweisbar und im
Detail umstritten, aber nicht unsinnig ist.

Walthers Leben nach seinen Dichtungen


Aussagen in Walthers Gedichten, aus denen Rückschlüsse auf seine Biographie gezogen
werden dürfen, sind: Zu seiner Jugendzeit äußert er sich im Alter mit: ze Ôsterrîche lernt ich
singen unde sagen. Bis zum Tod des Babenbergers Herzog Friedrich I. von Österreich
(Frühjahr 1198) wirkte er an dessen Hof in Wien. Es scheint ein glücklicher Lebensabschnitt
gewesen zu sein.
Danach erhielt er ein ehrenvolles Engagement am Hof des staufischen Thronkandidaten
Philipp von Schwaben und machte wirkungsvolle Propaganda für ihn bzw. gegen den
welfischen Gegenkandidaten Otto (den späteren Otto IV.). Ungefähr zur Zeit von Philipps
Krönung (September 1198 in Mainz) entstanden Sprüche, die auf die Krönung Bezug
nehmen, ebenso vermutlich zwei seiner drei Reichssprüche (Lachmann 8,4 ff.), deren erster
(ich saz ûf eime steine) als Vorlage für das Walther-Bild der Weingartner und der
Manesseschen Liederhandschrift diente. Walther besang auch das Weihnachtsfest, das Philipp
1199 in Magdeburg beging. Schon im Spießbratenspruch (Lachmann 17,11), der auf
Ereignisse in Griechenland von (wahrscheinlich) Mai 1204 Bezug nimmt, wird jedoch Kritik
an Philipp greifbar, was ihm dieser, nach einer Bemerkung Wolframs im Willehalm zu
schließen, anscheinend übel nahm.
Schon zuvor war Walther nicht ständig im Gefolge Philipps gewesen. 1200 verfasste er
anlässlich der Schwertleite Herzog Leopolds VI., des Nachfolgers Friedrichs I., ein
Huldigungsgedicht. Er war also (zumindest für kurze Zeit) nach Wien zurückgekehrt. In
seinem Preislied, das um diese Zeit entstanden sein könnte, weist er darauf hin, dass er schon
weite Teile Europas bereist hat. Er scheint also an verschiedenen Höfen meist kurzfristige
Engagements erhalten zu haben.

Am meisten weiß man über den Verlauf seines Aufenthalts am Hof von Landgraf Hermann I.
von Thüringen. Dieser Aufenthalt spiegelt sich nicht nur in Sprüchen Walthers, sondern auch
in ironischen Bemerkungen Wolframs von Eschenbach über Walther, sowohl im Parzival als
auch im Willehalm: Wolfram verfasste große Teile seiner beiden Romane für Hermann von
Thüringen und lernte daher Walther persönlich kennen. Walther scheint in Thüringen auf
Schwierigkeiten gestoßen und unfähig gewesen zu sein, sich in die thüringische
Hofgesellschaft zu integrieren. Er beklagt sich über den Lärm betrunkener Ritter, die am
Vortrag von Lyrik nicht interessiert seien.
Außerdem verlor er trotz Appells an den Landgrafen einen Rechtsstreit gegen einen Gerhart
Atze aus Eisenach, der ein Pferd Walthers erschossen hatte, vielleicht in der irrigen Meinung,
dieses sei das Pferd gewesen, das ihm einen Finger abgebissen hatte. Den genauen Tathergang
kennt man allerdings nicht, denn die Darstellung in Walthers Atze-Sprüchen – „Atze
behauptet, mein Pferd sei mit dem Gaul, der ihm den Finger abbiss, verwandt gewesen; ich
schwöre, dass die beiden Pferde einander nicht einmal kannten“ – ist satirisch. Walther
forderte darin finanzielle Entschädigung für das Pferd, erhielt sie aber nicht.

Man vermutet auch Beziehungen zu Herzog Ludwig I. von Bayern, und zu einem Grafen von
Bogen. In all diesen Fällen handelt es sich um Einzelpersonen. Eine Ausnahme ist der Hof zu
Wien, dieser wird auch kollektiv als der wünneclîche hof ze Wiene (der wonnige Hof zu
Wien) als Hofgesellschaft (und nicht nur in der Person des Herzogs) angesprochen.

Spätestens nach der Ermordung König Philipps (1208) scheint sich Walther dem Welfen Otto
IV. angeschlossen zu haben, der 1209 von Papst Innozenz III. zum Kaiser gekrönt wurde. Das
bedeutendste dichterische Zeugnis der Verbindung mit Otto sind die drei „Herr Kaiser“-
Sprüche im Ottenton anlässlich des Frankfurter Reichstages von 1212. Walther schalt den
Geiz Ottos; dadurch wurde das Verhältnis beendet. Dies markiert den Übergang Walthers zu
dessen Gegner, dem Staufer Friedrich II. Obwohl Friedrich schon am 9. Dezember 1212 auf
Betreiben des Papstes in Mainz ebenfalls zum deutschen König gewählt wurde, scheint
Walther sich erst später von Otto ab- und Friedrich II. zugewandt zu haben. Trotzdem zeigte
sich Friedrich für Walthers propagandistischen Einsatz erkenntlich.

Erst von Friedrich, aber noch vor dessen Kaiserkrönung (1220) erhielt Walther ein Lehen, das
ihn vom Zwang befreite, kurzfristig wechselnde Engagements suchen und das Leben eines
fahrenden Sängers führen zu müssen (Lachmann 28,31; „jetzt fürchte ich nicht mehr den
Februar an den Zehen“). Walther sagt nicht, wo sich das Lehen befand, und ob es sich dabei
überhaupt um die Vergabe von Land oder vielleicht ein nicht mit Landbesitz verbundenes,
sogenanntes 'Zinslehen' handelte.

Man hält es für möglich, dass das Lehen in oder um Würzburg gewesen sein könnte, weil der
Würzburger Michael de Leone um 1350 berichtet, Walthers Grab sei in Würzburg in der
Neumünsterkirche, und dabei eine Grabinschrift mitteilt, die er dort gesehen haben will. Ob
diese Nachricht vertrauenerweckend ist, oder Michael de Leone in seinem Lokalpatriotismus
nur aus dem Vorkommen eines Vogelweidhofes in Würzburg erschlossen hat, dass Walther
hier gelebt haben müsse, und den Rest, einschließlich Grabinschrift, erfunden hat, ist
umstritten.

Das Lehen gab Walther endlich das Heim und die feste Position, die er sich sein Leben lang
gewünscht hatte. Er beklagte sich jedoch darüber, dass es nur einen geringen Wert hatte;
allerdings nicht in Form eines Vorwurfs gegen Friedrich, sondern als Abwehr der
Forderungen von pfaffen, davon Abgaben an den Klerus zu leisten (Lachmann 27,7). Dass
Friedrich ihm darüber hinaus noch mehr Wohlwollen erzeigte, indem er ihn zum Lehrer
seines Sohns (des späteren Königs Heinrich [VII.]) machte, darf bezweifelt werden, da diese
Vermutung auf einem Gedicht beruht, das auch anders interpretiert werden kann.

Zwischendurch war Walther bei verschiedenen Anlässen wieder in Wien; eine Strophe
bezieht sich auf die Rückkehr Leopolds VI. von einem „heiligen“ Kriegszug; das kann der
Albigenserkreuzzug in Südwestfrankreich (1212) oder, wahrscheinlicher,[8] der Kreuzzug
von Damiette von 1217 bis 1219 gewesen sein. Auf einem Nürnberger Reichstag (vielleicht
dem von 1224) scheint Walther im Gefolge Leopolds gewesen zu sein. 1225 betrauert er die
Ermordung Erzbischof Engelberts von Köln.

Das letzte datierbare Lied Walthers, die so genannte Elegie, enthält einen Aufruf an die
Ritterschaft, am Kreuzzug Friedrichs II. von 1228/1229 teilzunehmen, der vom Herbst 1227
stammen muss. Walther wird daher bald danach gestorben sein (vermutlich spätestens 1230,
weil er sonst wohl ein Lied über die Erfolge dieses Kreuzzuges gedichtet hätte) und wurde,
falls wir der Angabe Michaels de Leone vertrauen, in Würzburg begraben.

Zentrale Themen von Walthers politischer Dichtung

Ein Hauptthema von Walthers politischer Dichtung ist die Reichspolitik. Auffällig daran ist,
dass er in allen Streitfragen, vom Streit zwischen Philipp und Otto um die Krone ab 1198 bis
zum Kreuzzugsappell vom Herbst 1227, meist auf der anderen Seite stand als der jeweilige
Papst. Scharfe Aussprüche gegen den Papst trug er zunächst gegen Innozenz III. (1198–1216)
im 2. Reichsspruch vor (wahrscheinlich auf Ereignisse von 1201 während des Kampfes
zwischen Philipp und Otto Bezug nehmend).
Unter Otto polemisierte er im Unmutston gegen die Kollekte von Geldern durch Innozenz III.:
Diese seien nicht, wie angegeben, für einen Kreuzzug bestimmt, sondern würden
bestimmungswidrig zum Ausbau des Laterans (zur Vorbereitung der Lateransynode von
1215) verwendet werden. Im Kreuzzugsappell vom Herbst 1227 betonte Walther, dass der
Kreuzzug eine Sache der Ritter sei und der Kaiser der Anführer des Kreuzzuges. Das bezieht
sich darauf, dass Friedrich II. von sich aus den Termin zum Aufbruch neu festsetzte, weil eine
Seuche das Kreuzfahrerheer beim ersten Aufbruchsversuch dezimiert hatte und Friedrich
selbst daran schwer erkrankt war, während Papst Gregor IX. (1227–1241) die Oberhoheit des
Papstes über den Kaiser durchsetzen wollte und Friedrich deswegen bannte: Gregor forderte,
dass der Kreuzzug vom Kaiser im Auftrag des Papstes durchzuführen sei und daher auch der
Aufbruchstermin vom Papst bestimmt werden müsse.

Walther blieb bis ans Ende seiner Tage ein erbitterter Gegner der Forderung der Päpste, dass
der Kaiser sich dem Papst zu unterstellen habe. In seinen religiösen Gedichten zeigt sich die
auch sonst unter den deutschen Dichtern dieser Zeit häufige Haltung, dass für das
Wohlergehen der Christenheit vor allem die richterliche Funktion des Königs und die
kriegerische Leistung des Rittertums maßgeblich seien, und sie in diesen Dingen daher nicht
dem Papst unterstellt seien. Die Meinung, dass unter den Ständen der Kirche der Laienstand
dem Klerus nicht untergeordnet sei und der Klerus keine besonderen Vorrechte besitze,
kommt etwa auch in den Werken Wolframs von Eschenbach deutlich zum Ausdruck.

Ein anderes mehrfach wiederkehrendes Thema ist die Schelte geiziger Gönner, die Walther
nicht entsprechend seinem Wert entlohnten. Besonders scharf fielen seine Spottstrophen
gegen Markgraf Dietrich von Meißen, Kaiser Otto IV. und Herzog Bernhard von Kärnten aus.
Es ist nicht feststellbar, ob in allen diesen Fällen wirklich das zu geringe Honorar Ursache für
den Bruch war oder in einigen Fällen nur stellvertretend für einen politisch motivierten Bruch
stand.

Zentrale Themen von Walthers Minnesang


Anders als bei der politischen Dichtung ist es unmöglich, Walthers Minnesang der Zeit nach
zu ordnen, denn diese Lieder spielen nicht auf historische Ereignisse an. Bei einigen Liedern
vermutet man allerdings, dass sie aus Walthers Jugend stammen, weil sie noch nicht die volle
Meisterschaft zeigen und sich an anderen Minnesängern orientieren. Unter ihnen überwiegen
Lieder der „Hohen Minne“ im Stil Reinmars von Hagenau.

Eines von Reinmars Liedern, das einzige lokalisierbare Lied Reinmars, ist nachweisbar 1195
für den Wiener Hof entstanden; viele vermuten daher, dass Reinmar zur Zeit von Walthers
Jugend in Wien als Hofdichter engagiert gewesen sein könnte, und Walther sein Schüler
gewesen sei.[9] Die Annahme eines länger dauernden Lehrer-Schüler-Verhältnisses in Wien
ist dafür allerdings nicht nötig.

Später trug Walther mit Reinmar eine scharfe Fehde aus, die sich noch in Walthers Nachruf
auf den Tod Reinmars spiegelt, obwohl Walther dort die künstlerische Leistung des
Konkurrenten bewundert und ehrend seiner gedenkt. Die Fehde scheint sowohl eine
künstlerische Seite gehabt zu haben – den Streit um die „richtige“ Minnekonzeption –, als
auch eine menschliche, die persönlichen Hass zeigt.

Eine wichtige Gruppe von Liedern zeigt Walthers neues, Reinmar entgegengesetztes Konzept,
das Ideal der „ebenen Minne“, das eine nicht standesbezogene, wechselseitige und erfüllte
Liebe als Ideal ansieht. Die populärsten seiner Lieder thematisieren die erfüllte Liebe zu
einem Mädchen, dessen Stand meist nicht ausgesprochen wird, das aber nicht als adelig zu
denken ist. Je nach Blickwinkel der Interpreten werden diese Lieder meist als „Niedere
Minne“ oder „Mädchenlieder“ bezeichnet.

Insbesondere wurde die Gattungszugehörigkeit an dem Lied Under der linden (L. 39,11)
diskutiert; vor allem, inwieweit es Merkmale der Gattung Pastorelle besitzt.[10] Dieses
thematisiert das Liebeserlebnis eines anscheinend einfachen Mädchens mit ihrem höfischen
Geliebten in der freien Natur. Es zeigt die Abkehr vom Ideal der unerfüllt bleibenden „Hohen
Minne“ des Ritters zur höher gestellten Dame. Walther hat selbst in verschiedenen Liedern
das Wesen von Hoher, Niederer und schließlich „ebener“ Minne, der erfüllten Liebe von
gleich zu gleich, entwickelt und charakterisiert.

Walthers „Mädchenlieder“ lösen zeitlich wahrscheinlich die Frühphase, die stark vom
klassischen Minnesang geprägt ist, ab. Eine scharfe Abgrenzung zu den Liedern der „Hohen
Minne“ ist aber nicht möglich: die Übergänge sind fließend. Einige Lieder der „Hohen
Minne“, die den Eindruck erwecken, die Wiederaufnahme einer älteren Thematik zu sein,
fasste Carl von Kraus als eine Gruppe „Neue Hohe Minne“ zusammen. Dass er die
Gruppeneinteilung Hohe Minne – Niedere Minne – Neue Hohe Minne – als eine
chronologische Gliederung verstand, zog ihm scharfe Kritik zu, vor allem durch Günther
Schweikle.

Herkunft und Geburtsort

Walthers Geburtsort ist unbekannt. Es gab im Mittelalter viele sogenannte Vogelweiden bei
Städten und Burgen, wo man Falken für die beliebte Falkenjagd hielt. Daraus kann man
vermuten, dass dem Dichter sein Name zunächst nicht in der überregionalen Kommunikation
beigelegt wurde, denn dort hätte er keine eindeutige Zuordnung leisten können. Hochadelige
Personen nannten sich eindeutig nach ihrem Besitz oder ihrem Herkunftsort.

Demnach war der Name zunächst wohl nur in einem engen regionalen Umfeld sinnvoll (weil
es in der jeweiligen Umgebung nur eine einzige Vogelweide gab), oder er wurde immer schon
vor allem als metaphorischer Sänger-Übername verstanden. („Künstlernamen“ sind bei den
Spruchdichtern des 12. und 13. Jahrhunderts das Übliche, Minnesänger dagegen waren –
natürlich nur sofern sie tatsächlich Adelige waren – grundsätzlich unter ihrem Adelsnamen
bekannt, mit dem auch Urkunden unterzeichnet wurden). Diese Vermutung wird durch eine
andere Überlegung ergänzt, die davon ausgeht, 1. dass Walthers Beiname von Zeitgenossen
so selbstverständlich wie ein die Herkunft bezeichnender Name benützt wird (z.B. von
Gottfried von Strassburg: die [nahtegal] von der vogelweide, in Bischof Wolfgers
Reiserechnungen [walthero cantori de vogelweide], aber auch – fast wie ein geläufiger, vom
Herkunftsort abgeleiteter Eigenname – von Wolfram von Eschenbach [im Willehalm Vers
286,19, her vogelweid]), und 2. dass die örtliche Zuordnung des Namens der Gesellschaft, in
der sich Walther bewegte, nicht unbekannt war. Demnach ist der Frage nachzugehen, welche
von den vielen Vogelweiden in Frage kommen kann und welcher überhaupt eine
überregionale Bekanntheit zugeschrieben werden kann, auf die sich Walther berufen konnte,
wenn er sich den Beinamen „von der Vogelweide“ gab.

Mehrere Orte erheben den Anspruch, die Heimat des Sängers zu sein; beispielsweise Lajen
(Südtirol), Frankfurt am Main, Feuchtwangen, Würzburg oder Dux (Böhmen). Als Indiz für
eine Herkunft aus dem Herzogtum Österreich, und damit wohl von der Vogelweide des
Herzogs, von der man aber nicht weiß, wo sie lag, wird die sogenannte Alterselegie
(eigentlich keine Elegie, sondern ein Aufruf zur Teilnahme am Kreuzzug von 1227/28)
herangezogen. Hier nimmt Walther Bezug auf das Land seiner Jugend und wählt für diesen
rückblickenden Text Langzeilen, wie sie für den „Donauländischen Minnesang“
kennzeichnend sind. Die Annahme, dass er von der Vogelweide des österreichischen Herzogs
stammt, könnte erklären, dass er, trotz offensichtlicher Meinungsverschiedenheiten mit
Herzog Leopold VI., immer wieder am Hof zu Wien Fuß zu fassen suchte und anscheinend so
etwas wie ein „Heimatrecht“ geltend zu machen suchte (Ze Ôsterrîche lernt ich singen unde
sagen; Lachmann 32,14), und gleichzeitig die Gönnerschaft des Bischofs von Passau in
Anspruch nahm, zu dessen Diözese Wien gehörte. Auch die Sprache Walthers weist
Eigenheiten auf, die für den österreichischen Donauraum kennzeichnend sind.

Verbreiteter ist die Annahme, dass Walther vom Vogelweider Hof bei Lajen in Südtirol
stammt. Neben verschiedenen lokalhistorischen Anhaltspunkten, die in Betracht gezogen
werden, wird den in Wolframs Willhalm und im Tegernsee-Spruch Walthers entdeckten
literarischen Anspielungen und Indizien Aufmerksamkeit geschenkt. Die verbreitete
Vermutung, Walther stamme aus dem damaligen Österreich, stützt sich im Wesentlichen auf
das Zitat „ze Ôsterrîche lernt ich singen unde sagen“. Diese Aussage betont ausdrücklich den
Ausbildungsort. Ob sie auch auf den explizit nicht genannten Herkunftsort bezogen werden
kann, ist fraglich.

Eine Herkunft Walthers aus Südtirol wird wegen der von den politischen Zeitumständen im
19. Jahrhundert beeinflussten Argumentation dieser These von vielen für eher
unwahrscheinlich gehalten. Neuere Forschungsergebnisse aber begründen sie mit plausiblen
Indizien.In der Biographie Walthers steht nun allerdings insgesamt eine Vielzahl von offenen
Fragen wenigen und lückenhaften Anhaltspunkten gegenüber. Daraus ist ein stichhaltiges
Kriterium der Unwahrscheinlichkeit oder Wahrscheinlichkeit seiner Herkunft nicht zu
gewinnen.

Oswald von Wolkenstein (* um 1377 vermutlich auf Burg Schöneck im Pustertal/Südtirol; †


2. August 1445 in Meran) war ein Sänger, Dichter und Komponist sowie ein Politiker von
mehr als nur regionaler Bedeutung. Sein Leben und Wirken kann als beispielhaft für einen
Ritter des ausgehenden Spätmittelalters angesehen werden. Er war Diplomat in Diensten des
deutschen Kaisers Sigismund I. und in denen der Görzer Meinhardiner.

Das Leben Oswalds ist in vielen Dokumenten detailliert überliefert. Er selbst sorgte mit
seinen häufig autobiografischen Liedern dafür, dass sein Leben nicht vergessen wurde. In
zwei Prachthandschriften ließ er diese Lieder auch verewigen.

Oswald war der zweite von drei Söhnen (und vier Töchtern) des Friedrich von Wolkenstein
und der Katharina von Villanders.

Sämtliche Porträts zeigen Oswald mit verschlossenem rechten Auge. Eine Untersuchung des
Schädels aus dem 1973 aufgefundenen Grab Oswalds ergab, dass es sich dabei um eine
angeborene Missbildung handelte. Die rechte Augenhöhle war kleiner als die linke, was dazu
führte, dass der Augapfel permanent unter Druck stand. Daraus resultierte später eine
Lähmung des Lidmuskels (Ptosis). Ein „Familienhistörchen“, nach dem sich Oswald als etwa
achtjähriger Knabe eine Verletzung durch einen Unfall bei einem Bogenschuss zugezogen
haben soll, gilt damit als widerlegt. Die im Volksmund gelegentlich kolportierte Erklärung
von dem Verlust der Augenkraft bei der Verteidigung von Burg Greifenstein (1423) ist
vollends unmöglich, da Oswald beispielsweise bereits auf dem Gedenkstein am Brixner Dom
von 1408 einäugig dargestellt wird.
Im Alter von zehn Jahren (also um 1387) verließ er sein Elternhaus, um als Knappe zu dienen
und die Welt zu bereisen:

Es fügt sich, do ich was von zehen jaren alt,


ich wolt besehen, wie die werlt wer gestalt …

Mehrere Jahre lang reist Oswald, wohl im Gefolge eines fahrenden Ritters, in verschiedenen
Ländern umher. Für den Sohn eines Edelmanns war dies damals üblich. Beachtenswert ist
aber, wie umfassend er die damals bekannte Welt, von Europa über die Türkei bis in den
Nahen Osten und Nordafrika, kennengelernt hat: Sein oben zitiertes autobiografisches Lied
nennt Preußen, Russland, die Tatarei, Türkei, den Vorderen Orient, Italien, Frankreich,
Spanien, das Schwarze Meer und Aragon; im „Hauensteinlied“ nennt er noch weitere Länder.
In seiner Dichtung gewinnt Oswald komische Effekte aus dem Gegensatz zwischen seinem
bewegten Reiseleben und seinem Dasein als verheirateter Familienvater, der auf der
Heimatburg festsitzt, so im Lied „Durch Barbarei, Arabia“.

Nach dem Tod des Vaters (1399) kehrte Oswald nach Tirol zurück und ist dort 1400 wieder
urkundlich nachweisbar. 1401–1402 nahm er am vermutlich erfolglosen Italienfeldzug des
deutschen Königs Ruprecht von der Pfalz teil. In diese Zeit fällt ein Streit mit seinem älteren
Bruder Michael, der das väterliche Erbe verwaltete. 1407 wurde das Erbe zwischen den
Brüdern Michael, Oswald und Leonhard geteilt. Oswald erhielt ein Dritteil der Burg
Hauenstein bei Seis am Schlern. Zu den Besitzern der anderen zwei Drittel dieser
Ganerbenburg gehörten ein Ritter namens Martin Jäger sowie die Tochter des Brixener
Schulmeisters, Anna Hausmann. Letztere ist von dem Wolkenstein-Biographen Anton
Schwob als die fatale Geliebte identifiziert worden, die Oswald in mehreren Liedern als
Hausmannin bezeichnet. Möglicherweise noch vor seiner Pilgerfahrt ins Hl. Land stiftete
Oswald eine Kapelle im Dom zu Brixen mit einem Fresko von seinem Schiffbruch auf dem
Schwarzen Meer – diesen Schiffbruch schildert der Dichter in zwei seiner Liedern als
komische Episode seines Lebens, da er sich auf einem Fass Malvasier-Wein habe retten
können. 1408 gab er als Vorbereitung auf eine Palästinareise den Denkstein am Brixner Dom
in Auftrag, der Oswald als Kreuzritter mit langem Pilgerbart zeigt. Nach seiner Rückkehr
(1409/10) aus dem Heiligen Land erwarb er 1411 das Wohnrecht im Augustiner-
Chorherrenstift Neustift bei Brixen.

Höhepunkt von Oswalds Leben war 1415 die Teilnahme am Konzil von Konstanz im Gefolge
Herzog Friedrichs IV. von Tirol; eine Abbildung Oswalds findet sich auch in der
Konzilschronik des Ulrich von Richental. Dort ist Oswald im Februar 1415 in den Dienst
König Sigmunds (des deutschen Königs und Königs von Ungarn) aufgenommen worden; als
Jahresgehalt sind 300 ungarische Gulden in der Bestallungsurkunde festgehalten. Eine
Gesandtschaftsreise (zur Beseitigung des Schismas) führte ihn über England und Schottland
nach Portugal. Oswald hat sich dort an dem Eroberungszug zur maurischen, heute zu Spanien
gehörigen Stadt Ceuta beteiligt. Dieser Heerzug ist von der Kirche als Kreuzzug genehmigt
und mit Privilegien ausgestattet gewesen. Danach ist Wolkenstein im Herbst 1415 nach
Perpignan gereist, um sich dem Gefolge König Sigmunds anzuschließen, der dort mehrere
Wochen mit König Ferdinand I. von Aragon und dem schismatischen Papst Pedro de Luna
über die Abdankung des Letzteren verhandelte. Am Ende dieser Verhandlungsperiode ist
Oswald von Wolkenstein (nach dem Kaiser und weiteren Mitgliedern der königlichen
Delegation) mit dem aragonesischen Kannenorden („Orden de la Jarra“) ausgezeichnet
worden, der in voller Adjustierung auf seinem Porträt von 1432 abgebildet ist. Zuvor ist
Oswald von Wolkenstein von der aragonesischen Königinwitwe, Margarete von Prades, mit
goldenen Ringen für seine Sangeskunst geehrt worden. Sigismunds Weiterreise führte auch
den Tiroler Sänger nach Paris, wo Oswald vom 1. März bis Ende April verweilt. Oswald hat
seinen Aufenthalt auch zu Auftritten vor der französischen Königin Isabeau (= Elisabeth von
Bayern) genutzt und ist von der Königin für seine Sangeskunst mit einem Diamanten belohnt
worden.

1417 war Oswald wieder in Konstanz, später in Tirol. Er schloss sich dem Adelsbund gegen
den Landesherrn Friedrich IV. von Tirol an.

Ebenfalls im Jahr 1417 heiratete Oswald die adelige Margareta von Schwangau. Oswald von
Wolkenstein hat Margareta von Schwangau mehrere Lieder gewidmet.

Um die Besitzanteile an der Ganerben-Burg Hauenstein bei Seis brach seit 1421 ein erbitterter
Erbstreit aus, der Oswald von Wolkenstein mehrfach in den Kerker seiner Feinde brachte, da
er gleichzeitig in einem langjährigen Konflikt mit dem Tiroler Landesherren lag. Oswald als
Vertreter des niederen Adels versuchte letztlich erfolglos dem Bestreben der Landesfürsten
um mehr Macht Einhalt zu bieten. Frei kam Oswald erst, nachdem er die so genannte
Urfehde, also die Aufgabe seines Widerstandes, gelobt und dem Landesfürsten die
Anerkennung der landesherrschaftlichen Mittelbarkeit geleistet hatte.

1421 gelang es den Hauensteiner Fehdegegnern Oswald erstmals in ihre Gewalt zu bringen:
Er wurde von der Hausmannin in einen Hinterhalt gelockt, als Gefangener nach Schloss Forst
bei Meran geführt und gefoltert. In mehreren Liedern schildert der Dichter, wie er gefoltert
worden sei, weshalb er lange an Krücken gehen musste. (Die Entdeckung seines Skeletts in
Neustift und die anschließende gerichtsmedizinische Untersuchung der Knochen hat die
Verletzungen nachweisen können, wodurch Oswald u.a. eine Knochenhautentzündung am
linken Schienbein erlitten hatte.) Am 17. Dezember wurde er in die Gefangenschaft Herzog
Friedrichs IV. nach Innsbruck überliefert, aus der er erst 1422 gegen eine Bürgschaft von
6000 Dukaten für fünf Monate freikam. Weil er sich nicht mit seinen Gegnern einigen konnte,
sollte er zurück in die Gefangenschaft, floh stattdessen aber zu König Sigmund nach Ungarn.

1423 löste sich der Adelsbund auf. Der Herzog von Tirol bestand aber auf seiner Forderung
von 6000 Dukaten. In den nächsten Jahren ersuchte Oswald vergeblich Hilfe bei Sigmund und
anderen Fürsten, vor allem bei Pfalzgraf Ludwig III. in Heidelberg. 1427 wurde Oswald vor
den Landtag in Bozen geladen, verließ heimlich das Land, wurde aufgegriffen und als
Gefangener auf die Burg Vellenberg bei Götzens, dann nach Innsbruck gebracht. Das
Eingreifen seiner Freunde brachte einen Kompromiss zustande. Martin Jäger erhielt eine
Abfindung, Hauenstein blieb im Besitz Oswalds, der allerdings Urfehde schwören musste.
1429 mischte sich Oswald mit einem Faustschlag, den er dem neuen Bischof von Brixen,
Ulrich Putsch versetzte, in den Streit zwischen diesem und dem Domkapitel ein.

1431 zog Oswald zusammen mit Bruder Michael zum Reichstag von Nürnberg. Dort wurde er
von Kaiser Sigismund in den Drachenorden aufgenommen. Das Abzeichen dieses exklusiven
Ordens ist ebenfalls auf seinem Porträt von 1432 zur Schau gestellt. Ob er am Hussiten-
Feldzug in diesem Jahr teilgenommen hat, ist nicht belegt. 1432 hielt er sich am Hof König
Sigmunds in Piacenza und Parma auf und begleitete seinen Dienstherrn zur Kaiserkrönung
nach Rom. Ende Mai begleitete er den königlichen Gesandten zu den Konzilsverhandlungen
nach Basel. 1439 starb Herzog Friedrich IV. von Tirol. Oswald wurde in die Kommission von
fünf angesehenen Männern berufen, die ein Inventar des Erbes erstellten und dieses unter
gemeinsamem Verschluss für den minderjährigen Sohn Sigmund aufbewahrten. 1445 trat
Oswald letztmals in der Politik auf: Er nahm am Landtag in Meran teil, wo er am 2. August
1445 starb. Er wurde im Kloster Neustift bei Brixen begraben, wo sein Grab 1973
wiedergefunden wurde.

Mönch von Salzburg

Der Mönch von Salzburg war ein Liederdichter und Komponist des Spätmittelalters von
europäischer Bedeutung. Mit über 100 Handschriften ist er derjenige Lyriker aus dem
Mittelalter mit der größten Überlieferungsbreite.

Am Hof des Salzburger Erzbischofs Pilgrim II. von Puchheim (1365–1396) wirkte der
anonym gebliebene Mönch von Salzburg, von dem 50 frühneuhochdeutsche Liebeslieder,
sieben weitere weltliche, vor allem Trinklieder und rund 50 geistliche Lieder überliefert sind.
Die Autorenschaft ist dabei nicht überall geklärt. Seine Lieder waren und sind teilweise bis
heute sehr populär, sie liegen in mehr als hundert Abschriften vor. Drei dieser Abschriften der
weltlichen Lieder nennen jeweils einen anderen Namen als Autor der Lieder: den
Benediktinermönch Herman, den Dominikaner Mayster Hanns und den gelerrten herr her
Johans ain Munich, drei Sammlungen geistlicher Lieder nennen einen Jakob von Mühldorf,
einen Peter von Sachsen und einen Leutpriester Martin.

Es bleibt sehr unwahrscheinlich, dass es sich beim Mönch von Salzburg um Pilgrim selbst
handelt, auch wenn ein von ihm verfasster Minnebrief aus dem Jahre 1392 darauf hinzudeuten
scheint. Franz Viktor Spechtler, ehemaliger Professor für Ältere Deutsche Sprache und
Literatur an der Universität Salzburg, stellt in seinem Buch über die geistlichen Lieder fest:
„Wir werden den gelehrten Dichter und Komponisten, dessen Verbindungen zum Landesfürst
und zu einem kunstbeflissenen Kreis von Klerikern klar zu erweisen ist, bei künftigen
Arbeiten eher am erzbischöflichen Hof und im Domkloster (seit 1122 mit der Tradition eines
Augustiner-Chorherrenstiftes) zu suchen haben als beim Benediktinerstift St. Peter.“ Er
begründet dies auch damit, dass sich alle vom Mönch übertragenen Sequenzen im Graduale
des Augustiner-Kollegiatstiftes St. Castulus zu Moosburg des Jahres 1360 wiederfinden. Der
germanistische Mediävist Burghart Wachinger siedelt den Mönch dagegen nicht bei den
Domherren, sondern bei den Benediktinern an und ordnet der These, der Mönch könne im
Domkloster gelebt haben, nur eine geringe Wahrscheinlichkeit zu.

Tatsächlich ist das geistliche Liedschaffen des Mönchs von Salzburg als das wichtigste
Zeugnis des volkssprachlichen geistlichen Gesanges im Spätmittelalter für den gesamten
deutschen Sprachraum anzusehen (Hans Waechter). Die vorherrschenden Formen sind dabei
der Hymnus, die Sequenz und das geistliche Gemeindelied. Diese volkssprachlichen Gesänge
zählten im Spätmittelalter mit zum festen Bestandteil der kirchlichen Liturgie.

Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg stehen unter Verwendung älterer deutscher
Liedtraditionen (Töne) und folgen den großen Festen des Kirchenjahres, dem Kreis um das
Weihnachtsfest und das Osterfest, sowie den Dreifaltigkeitssonntag und Fronleichnam, oder
aber befassen sich mit Heiligenfesten sowie dem Liederkreis um Maria. Lateinische Hymnen
und Sequenzen wurden dabei vom Mönch von Salzburg eingedeutscht, ein einziges Lied ist in
lateinischer Sprache verfasst (O Maria pia). Öfters bilden die Dichtungen Akrosticha, bei
denen die Anfangsbuchstaben der Zeilen sinnvolle Wörter ergeben.

Die Liebeslieder stehen nicht mehr in der Tradition der klassischen Minneliedern der Hohen
Minne, die Liebe zwischen Mann und Frau ist nicht unerreichbar. Sehnsucht, Angst und
Eifersucht werden ebenso genannt, Hass auf die Nebenbuhler und Wut über Schwätzer und
Neider. Spaß und Sorgen sind beide gegenwärtig.
Der Mönch von Salzburg griff als erster deutscher Komponist die Mehrstimmigkeit für seine
Lieder auf. Er schrieb den ersten deutschsprachigen Kanon Martin, lieber Herre mein (im
Original: Martein, lieber herre, „ain radel von drein stymmen“). Durch ihn ist das
Weihnachtslied Joseph, lieber Joseph mein (im Original: Joseph, lieber nefe mein, hilf mir
wiegen mein kindelein) auf die Melodie des älteren lateinischen Liedes Resonet in laudibus
überliefert, dessen deutscher Text möglicherweise von ihm stammt. Er ist auch der Verfasser
des so genannten Planetenkinderliedes. Seine Melodie eines Tischsegens verwendete Martin
Luther in seinem Lied Vater unser im Himmelreich. Die wichtigste Handschriftensammlung
mit den meisten Dichtungen ist die Mondsee-Wiener-Liederhandschrift des Salzburger
Goldschmieds Peter Spörl, die sich heute in der Österreichischen Nationalbibliothek befindet.

Carmina Burana

Carmina Burana (lateinisch für Beurer Lieder oder Lieder aus Benediktbeuern) ist der Name
einer Anthologie von 254[1] mittellateinischen, seltener mittelhochdeutschen, altfranzösischen
oder provenzalischen Lied- und Dramentexten, die 1803 in der Bibliothek des Klosters
Benediktbeuern gefunden wurde. Die Texte wurden im 11. und 12. Jahrhundert (einige auch
erst im 13. Jahrhundert) von zumeist anonymen Dichtern verfasst. Die Carmina Burana
gelten neben den älteren Carmina Cantabrigiensia als wichtigste Sammlung der
Vagantendichtung.

Die Carmina Burana sind in einer einzigen Handschrift überliefert, die um 1230 von zwei
verschiedenen Schreibern in einer frühgotischen Minuskel auf 119 Blatt Pergament
geschrieben wurde. Die ältere Forschung nahm noch ganz selbstverständlich an, dass die
Handschrift an ihrem Fundort in Benediktbeuern entstand. Für den genauen Entstehungsort
gibt es derzeit zwei Hypothesen: Die eine nennt den Bischofshof von Seckau in der
Steiermark; darauf deute hin, dass ein Bischof Heinrich, der dort von 1232 bis 1243 amtierte,
als Propst von Maria Saal in Kärnten in CB 6* des Anhangs erwähnt werde und insofern als
Auftraggeber in Frage komme; dass die marchiones (,Steiermärker‘) in CB 219,3 an erster
Stelle vor Bayern, Sachsen und Österreichern genannt würden, deute auf eine räumliche Nähe
hin; auch passe die Häufung von Hymnen an Katharina von Alexandrien (CB 12* und 19* –
22*) zur Seckauer Verehrung dieser Heiligen. Nach der anderen Hypothese ist Kloster
Neustift bei Brixen in Südtirol der Entstehungsort. Hierfür spreche ihre Weltoffenheit, die für
ein Stift von Augustiner-Chorherren typisch sei, die Spracheigentümlichkeiten der beiden
Schreiber, deren Muttersprache nicht das Deutsche gewesen sei, die Erwähnung von
Briciavvia (= Brixen) in CB 95 und der Anfang einer sonst nirgends überlieferten Version des
Tiroler Eckenliedes (CB 203a). Die Frage ist bis heute nicht entschieden. Auch darüber, wie
die Handschrift nach Benediktbeuern gelangte, gibt es keine Quellen.

Die Carmina Burana sind in vier Gruppen unterteilt:[3]

1. 55 moralische und Spottgesänge (CB 1–55),


2. Liebeslieder – mit 131 Beispielen die größte Gruppe (CB 56–186),
3. 40 Trink- und Spielerlieder (CB 187–226),
4. zwei längere geistliche Theaterstücke (CB 227 und 228).

Diese thematische Gliederung wird nicht streng durchgehalten: Bei CB 122–134, die
eigentlich in der Gruppe der Liebeslieder stehen, handelt es sich um Klagelieder, eine Satire
und zwei Lehrgedichte über Tiernamen. Es gilt als wahrscheinlich, dass es ursprünglich auch
eine Gruppe mit geistlichen Liedern gab, die aber verloren sind. Der Anhang enthält 21
vermischte Lieder teils geistlichen Inhalts, ein Prosagebet an den Heiligen Erasmus und vier
weitere geistliche Spiele, die teils nur fragmentarisch überliefert sind. Innerhalb jeder dieser
Gruppen sind die Carmina Burana nach thematischen Gesichtspunkten geordnet, z. B. Abkehr
von der Welt (CB 24–31), Kreuzzugslieder (CB 46–52) oder Bearbeitungen antiker Stoffe
(CB 97–102), neben denen auch formal-metrische Ordnungskriterien bestehen.

Weitere häufig wiederkehrende Themen sind Kritik an Simonie und Geldgier in der Kirche,
die mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft im 12. Jahrhundert rasch um sich gegriffen hatte
(CB 1–11, 39, 41–45), Klagelieder (sogenannte Planctus), z. B. über das Auf und Ab des
menschlichen Schicksals (CB 14–18) oder über den Tod (CB 122–131), die hymnisch
gefeierte Wiederkehr des Frühlings (CB 132, 135, 137, 138, 161 u. ö.), die – mitunter auch
gewaltsame – Verführung einer Schäferin durch einen Ritter, Studenten oder Kleriker (die
sogenannte Pastourelle, CB 79, 90, 157–158) und die Beschreibung der Liebe als Kriegsdienst
(CB 60, 62 und 166), ein Topos, der aus den Liebeselegien des Ovid bekannt war. Dieser
Dichter und besonders seine erotischen Elegien werden in den Carmina Burana rezipiert,
imitiert oder übersteigert: Dies zeigt sich in einer sehr offenherzigen und teilweise drastischen
Darstellung sexueller Handlungen. In CB 76 etwa rühmt sich das lyrische Ich eines beinahe
zehnstündigen Liebesaktes mit der Liebesgöttin Venus persönlich (sternens eam lectulo / fere
decem horis). Homosexualität, die, antiken Vorbildern folgend, der klerikalen Dichtung des
Mittelalters nicht fremd ist, fehlt in den Carmina Burana allerdings

Typisch sind auch die zahlreichen Schilderungen eines nachgerade paradiesischen


Wohllebens (CB 195–207, 211, 217, 219), für das sogar die Autorität des antiken Philosophen
Epikur in Anspruch genommen wird (CB 211). CB 219 beschreibt z. B. den ordo vagorum,
den „Vagantenorden“, zu dem Menschen aus allen Ländern und Kleriker unterschiedlichsten
Ranges eingeladen werden – auch der presbyter cum sua matrona darf kommen, der „Pfarrer
mit seiner Ehefrau“, die er aufgrund des Zölibats eigentlich gar nicht haben darf. Die
parodistischen Ordensregeln befehlen spätes Aufstehen, reichliches Essen und Trinken sowie
regelmäßiges Würfelspiel. Sie sind so detailliert beschrieben, dass die ältere Forschung
tatsächlich an die reale Existenz eines solchen Faulenzer- und Schlemmerordens glaubte. In
dieser ausgesprochenen Diesseitigkeit und Freiheit von sittlichen und standesmäßigen
Bindungen zeigt sich „ein Welt- und Lebensgefühl, das in krassem Gegensatz zu der
mittelalterlichen Welt festgefügter Ordnungen steht.

Nicht nur Ordensregeln, sondern auch andere sakrale Textsorten werden in den Carmina
Burana parodiert: Die Beichte gibt die Form für die sogenannte Vagantenbeichte des
Archipoeta vor, das wohl berühmteste Stück der Carmina Burana (CB 191): Der Dichter
gesteht seinem Gönner Rainald von Dassel alles, was dessen Hof Schlechtes über ihn sagt,
doch im Verlaufe des Texts wird aus der Beichte eine „Rechtfertigung, mehr noch: die
Forderung nach dem Recht, ein Leben nach eigenem Gesetz zu leben“. CB 215 ist eine
Messe, in der es aber nicht um Vater, Sohn und Heiligen Geist geht, sondern um Decius, den
in den Carmina Burana oft zitierten Geist des Würfelspiels: Fraus vobis – Tibi leccatori –
„Betrug sei mit euch – und mit dir, du Schmarotzer!“ Auch das Evangelium ist vor den
Scherzen der Dichter nicht sicher: CB 44 ist das Sanctum evangelium secundum Marcas
argenti – „das Heilige Evangelium nach der Mark Silber“ – statt nach dem Evangelisten
Markus.

Das Problem, wie sich diese blasphemischen oder auch die sinnenfrohen, teils derb-obszönen
Lieder, denen die Carmina Burana nicht zuletzt ihre Berühmtheit verdanken, mit den ernsten
weltlichen oder geistlichen Texten der Sammlung vertragen, wird in der Forschung
unterschiedlich gelöst. Die ältere Forschung sah darin überhaupt keinen Gegensatz, es zeige
sich im Nebeneinander von derbem Spaß und hohem sittlichem Ernst ein ganzheitlicher
„Wille zu leben“ der lebensprallen „vollblütigen Menschen“ des Mittelalters. Die Philologin
Helga Schüppert betont, dass diese Texte keineswegs lästerlich seien, sie transportierten
lediglich weltliche Inhalte in christlichen Formen, der christliche Glaube werde darin nicht
angetastet. Fritz Peter Knapp ist dagegen überzeugt, dass die lästerlichen und unzüchtigen
Gesänge wegen ihres „hyperbolischen und karikierenden Charakters als Satiren gelesen
werden“ müssten: Sie seien ein Beispiel für den „mittelalterlichen Usus, zu
Demonstrationszwecken auch Gegenbeispiele des Verwerflichen der Moraldidaxe
unterzumischen“.

Bei 40 Liedern enthält der Codex Buranus auch Notierungen der Melodien in Form von
linienlosen Neumen. Zu dreizehn der neumierten Lieder lassen sich allerdings auch durch
Parallelüberlieferung in anderen Handschriften die originalen mittelalterlichen Melodien
rekonstruieren.

Über die Autoren weiß man nichts oder fast nichts. Nur wenige Carmina lassen sich einzelnen
Autoren zuordnen, wie etwa Hugo von Orléans († um 1160), dem als Archipoeta bekannten
Dichter († nach 1165), dem Franzosen Walter von Châtillon († 1201), dem Bretonen Petrus
von Blois († 1203). Von den deutschen Anhangstrophen sind einige anderweitig mit
Autornennungen überliefert und können so den deutschen Minnesängern Dietmar von Aist (†
nach 1170), Heinrich von Morungen († 1222), Walther von der Vogelweide († 1228) und
Neidhart († um 1240) zugeordnet werden. Die einzigen namentlich überlieferten Gedichte
sind die des sogenannten Marners, eines schwäbischen Wanderdichters, und finden sich im
Anhang. Mehrere Gedichte stammen auch von antiken Dichtern, so etwa von Ovid, Horaz,
Iuvenal oder Ausonius. Für zwei Drittel der Carmina aber gibt es keine
Parallelüberlieferungen. Die breite klassische Bildung der Verfasser und ihre Eleganz beim
Versemachen und im Umgang mit der lateinischen Sprache zeigen, dass sie in Wahrheit keine
heruntergekommenen fahrenden Studenten waren, sondern allenfalls Erinnerungen an
umtriebige Studenten- und Wanderjahre pflegten: „Ältere Herren, Geistliche, Juristen,
Mediziner, … vor allem aber die Lehrer der lateinischen Sprache“. Oft waren die
abenteuerlichen Reisen der fahrenden Scholaren nur ein Mythos und ein literarischer Topos,
aus dem nicht unmittelbar auf die mittelalterliche Lebenswirklichkeit geschlossen werden
kann. Die Handschrift ist demnach keineswegs als Liederbuch für fahrende Studenten zu
verstehen, sondern als eine Sammlung verschiedenster poetischer Texte zur Freude
theologisch und klassisch Gebildeter.

Dieses akademisch-klerikale Milieu der meisten Verfasser der Carmina Burana markiert den
Unterschied zum höfisch-ritterlich geprägten Minnesang, als dessen Frühform die
mittelhochdeutschen Liebeslieder der Sammlung erscheinen. Auch das Konzept der Minne,
der zu einem ethischen Wert an sich gesteigerten bzw. sublimierten Liebe, das von der
volkssprachlichen Laienadelskultur der Minnesänger und Troubadoure hochgehalten wurde,
kommt in den Carmina Burana nicht vor. Für die ehemaligen oder immer noch fahrenden
Kleriker ist die – durchaus körperlich gedachte – Liebe kein sozialer oder ethischer Wert, kein
Lebenssinn, sondern angesichts der Jugend der Protagonisten schlicht naturnotwendig.

Carl ORFF

Carmina Burana ist der Titel einer szenischen Kantate von Carl Orff aus den Jahren 1935–36.
Nach der Komposition von Catulli Carmina und Trionfo di Afrodite fasste Carl Orff die
Carmina Burana mit diesen unter dem Titel Trionfi zusammen. Aufführungen des gesamten
Triptychons sind aber die Ausnahme geblieben. Die Carmina Burana wurden am 8. Juni 1937
in der Oper zu Frankfurt am Main unter der musikalischen Leitung von Bertil Wetzelsberger
und der Regie von Oskar Wälterlin uraufgeführt.

Orff stieß 1934 auf die von Johann Andreas Schmeller 1847 herausgegebene Ausgabe der
Carmina Burana. Michel Hofmann, ein junger Jurastudent und Latein- und Griechisch-
Enthusiast, unterstützte ihn bei der Auswahl und Zusammenstellung von 24 dieser Texte zu
einem Libretto, hauptsächlich in Latein sowie einigen in Mittelhochdeutsch und
Altfranzösisch. Die Auswahl umfasst eine weite Spanne weltlicher Themen: die
Wechselhaftigkeit von Glück und Wohlstand, die Flüchtigkeit des Lebens, die Freude über
die Rückkehr des Frühlings sowie die Genüsse und Gefahren von Trinken, Völlerei,
Glücksspiel und Wollust.

Bei der Vertonung handelt es sich um eine völlige Neukomposition. Zur Entstehungszeit von
Orffs Werk war noch kaum eine der originalen mittelalterlichen, in Neumen notierten
Melodien rekonstruiert. So gestaltete er die Musik nach bereits bekannten Stilmerkmalen des
Mittelalters wie etwa Bordunbegleitung oder historischen Skalen. Orff selbst bezeichnete sein
Werk weder als Oper noch als Oratorium oder Kantate. Die Bezeichnung „szenische Kantate“
wird dem Werk manchmal als Untertitel beigegeben. Szenische Aufführungen der Carmina
sind jedoch selten.

Eine reduzierte Version für Solisten, gemischten Chor, Kinderchor, zwei Klaviere und
Schlagzeug wurde 1956 von Orffs Schüler Wilhelm Killmayer arrangiert und von Orff
autorisiert. Außerdem existiert eine ebenfalls von Orff autorisierte Bearbeitung von Friedrich
K. Wanek mit fünf Sätzen für zehn Bläser (Besetzung: 2 Flöten (2. auch Piccolo), 2 Oboen (2.
auch Englischhorn), 2 Klarinetten in B, 2 Hörner, 2 Fagotte (2. auch Kontrafagott)).

Orff wählte eine Gliederung in drei Teile:

- Primo vere, Ûf dem anger (Erwachen des Frühlings, Liebe)


- In taberna (opulentes Gelage)
- Cours d'amour und Blanziflor et Helena

Eingerahmt wird das Werk von einem mächtigen Chor zu Ehren der Schicksalsgöttin Fortuna
(„Fortuna Imperatrix Mundi“), die das Schicksal der Menschen letztlich bestimmen soll.

Orff ging mit dem vorgefundenen Material der Carmina Burana recht frei um. So benutzte er
von mehreren Gedichten nur Teile oder Einzelstrophen für sein Chorwerk: Von dem großen
Liebesdialog CB 77 übernahm er nur die Strophe, in der die Angebetete mit Blanziflor, einer
Heldin der altfranzösischen Rittersage, und mit der schönen Helena verglichen wird, die den
trojanischen Krieg auslöste: Hier gefiel dem Komponisten die für die Carmina Burana
typische Verknüpfung mittelalterlicher und antiker Bildungsinhalte. Auch folgte er nicht den
oft sehr komplizierten Metren der Lieder, Sequenzen und Leichs der Handschrift, sondern
erfand ganz neue, oft mitreißende und tänzerische Rhythmen zu den alten Texten.

Musikalisch ist das Chorwerk von raffinierter Schlichtheit: In konventioneller oder


archaisierender Harmonik setzt es ganz auf die Kraft seiner Melodien, deren Simplizität
bisweilen an die von Abzählversen erinnert. Aufschließung und Fortentwicklung von Motiven
gibt es ebenso wenig wie eine Kontrapunktik im eigentlichen Sinne.

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