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Das neue Organum

Merkmale des neuen Organums :


• Die organale Zusatzstimme liegt über dem Cantus.
• Sie folgt dem Cantus nicht mehr durch Parallelführung in einem bestimmten
Intervallabstand, sondern bewegt sich selbständig, wobei konsonierende Intervalle
(kl., gr. Terz, Quarte, Quinte, Sexte, Oktave) in wechselnder Folge gebraucht werden
können.
• Die Organalstimme kann durch melismatische Umspielung weiter an Selbständigkeit
gewinnen.
• Kadenzartige Ruhepunkte, die beim Erreichen von Einklang oder Oktave mit dem
Cantus entstehen, können grundsätzlich frei gewählt werden, stellen sich aber meist
an Sinnzäsuren des Textes ein.
• Wegen der Wahlfreiheit der Intervallfolge scheidet eine chorische
Stegreifimprovisation des neuen Organums aus.
• Die Organalstimme wird durch ihre Lage und ihre tonreichere Ausgestaltung
gegenüber dem Cantus zur Hauptsache, der Cantus zur verborgenen
Konstruktionsgrundlage.

Das neue Organum - Verbreitung und Quellen

• vor allem im Kloster St. Martial in der südwestfrz. Stadt Limoges, das von 1000-1200
ein Zentrum klösterlicher Gesangskunst war. 4 Kodizes enthalten geistliche
Strophenlieder (versus), die tw. 2stimmig in dem beschriebenen Stil gehalten sind.
• Jüngeres Cambridger Liederbuch: vermutl. in England geschrieben; enthält 2st.
geistl. Gesänge, Liebeslieder und moralisch-satirische Gesänge.
• Codex Calixtinus im Kathedral-Archiv in Santiago de Compostela. Enthält neben 1st.
Mess- u. Offiziumsgesängen im Stil des römisch-gregorianischen Chorals einen
Anhang von 2st. Organa geistlichen Inhalts.

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Beispiel eines neuen Organums in der Übertragung von Hans
Heinrich Eggebrecht (Musik im Abendland, S. 61)

Erläuterungen zum Organum-Beispiel

• Die Bindebögen geben die mehrere Töne verbindenden Neumen des Originals
wieder.
• Die eingekreisten Töne sind die mit dem Cantus konsonierenden Gerüsttöne.
• Die übrigen Töne umspielen diese Haupttöne der Organalstimme.
• Die melismatische Stimme hat keinen auf einfache Tonlängenverhältnisse
zurückführbaren Rhythmus. Wie sie rhythmisch realisiert wurde, ist nicht mehr
rekonstruierbar.
• Die neue Art organalen Duettierens hat weitreichende Folgen für die Herstellung und
Aufführung solcher mehrstimmiger Gesänge:
• In der Entscheidung, welche Intervalle die organalen Zusatzstimmen mit dem Tenor
bilden, besteht Wahlfreiheit. Damit wird die Zufügung der organalen Stimmen zu
einem Akt der Komposition im modernen Sinne.
• Da die Zusatzstimme in wechselnder Intervalldistanz zum Tenor steht, ist sie in
ihrem melodischen Verlauf vom Tenor unabhängig. Es handelt sich um eine
selbständige Stimme.
• Daher stellt die Festlegung ihres Verlaufs eine wirkliche Neuschöpfung dar.
• Eine chorische Stegreifausführung scheidet damit aus. Eine solistische
Stegreifausführung ist noch möglich. Doch nimmt die Neigung zu, die aus der
Verfertigung einer vox organalis entstehenden einmaligen, individuellen Gebilde
schriftlich zu fixieren.

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Das Organum - Zum Begriff

• Der Musiktheoretiker Johannes de Garlandia verwendet den Begriff „organum“


synonym mit „Musica mensurabilis“. Beide Begriffe meinen Musik, in der zwischen
den Tönen einfache, durch Zahlen darstellbare Tonhöhenrelationen bestehen. Hinter
der Verwendung des Begriffs „Organum“ steht die Bedeutung von
„organum/organon“ im Sinne von Zirkel/Messinstrument. Diese Bedeutung
begegnete bereits im Zusammenhang mit dem älteren Organum des 9. Jh.
• Mathematisch darstellbare Tonhöhenrelationen existieren in der mehrstimmigen
Musik. Denn im Zusammenklang der Stimmen sind nur bestimmte konsonante
Intervalle zugelassen, die sich mathematisch als einfache Brüche darstellen lassen.
Johannes de Garlandia meint mit „Organum“ und „Musica mensurabilis“ daher jede
Art von mehrstimmiger Musik.
• „Mensurabilis“ ist die von Garlandia angesprochene Musik aber auch in ihrem
zeitlichen Ablauf, ihrem Rhythmus. Dies gilt freilich nicht für alle Teile der „Organa“
in gleichem Maße. Das lässt Garlandias Unterscheidung zwischen organum purum
(auch: „organum per se“) und Discantus deutlich werden.

Organum - Satzstruktur und Rhythmik

• Das Organum kann zwei-, aber auch drei- und vierstimmig sein. Je nachdem spricht
die Literatur von organum duplum, triplum oder quadruplum.
• Das organum purum meint eine bestimmte Form des zweistimmigen Satzes, die in
reiner Ausprägung nur im organum duplum vorkommt.
• Diese Satzart ist gekennzeichnet durch lange, orgelpunktartige Töne des Tenors und
lange Melismen der zugefügten Stimme („Duplum“).
• Weder die Noten des Tenors noch die des Duplums weisen nach Aussage des
Johannes de Garlandia zufolge eine „recta mensura“ auf. D.h., ihre Dauern stehen
nicht in einem einfachen Verhältnis zueinander. Für diese Behauptung spricht das
von der Notation der im Discantus-Stil gehaltenen Abschnitte abweichende
Notenbild. Man kann aber nicht ohne weiteres annehmen, dass organa dupla
rhythmisch genauso frei gestaltet wurden wie die Organa von Saint Martial. Wie die
Notation solcher Organa zu übertragen ist, ist in der Forschung bis heute umstritten.
• An Stellen, an denen im Tenor ein neuer Ton eintritt, bilden Tenor und Duplum
überlicherweise konsonante Intervalle (Quinte, Einklang, Oktave, gelegentlich
Terzen, Sexten). Meist sind nur Teilabschnitte des Organums als organum purum
gestaltet. Deren durch die geschilderte Satztechnik und Rhythmik gekennzeichnete
Faktur nennt man Organalstil.

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Beispiel eines Organum duplum. Rhythmische Übertragung des Beginns der Klausel
durch Hans Tischler (The Parisian Two-Part Organa. The Complete Comparative
Edition, New York 1988 Bd. 1, S. 613):

Discantus, Diskantstil

• Discantus nennt Johannes de Garlandia jene Teile des Organums, in denen Tenor
und zugefügte Stimmen einer exakten rhythmischen Proportionierung unterliegen.
• Discantus ist die lateinische Übersetzung von „diaphonia“ = Mehrstimmigkeit
• Nur jene Partien des Organum duplum, in denen der Tenor selbst ein längeres
Melisma hat, sind in dieser Satzart gestaltet.
• Die im Diskantstil komponierten Partien sind nach Anonymus IV z. T. spätere
Zufügungen. Für eine solche Einfügungspraxis spricht die Sammlung von
Diskantuspartien in einigen Handschriften, die das Notre Dame-Repertoire
überliefern. In den theoretischen Schriften der Zeit werden solche „Fertigbauteile“
als „clausulae“ (Klauseln) bezeichnet.

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Unterschiede zwischen Organal- und Diskantstil

Stimme Organalstil Diskantstil


Tenor - vertont den Text sylla- - bildet selbst ein tonreiches Melisma (ca. 10 – 30
bisch und nur mit einzel- Noten);
nen kurzen Melismen (ca. - schreitet in gemessenen Notenwerten fort und wird
3 – 5 Töne) . entsprechend rhythmisch vorgetragen, wobei sich ein
- Im Notenbild des Tenor rhythmisches Muster immer wiederholt.
dominieren Einzelnoten. - Dessen Rhythmus wird mithilfe der Modalnotation notiert.
- Jeder Ton bildet den Or-
gelpunkt für ein
Oberstimmenmelisma.
Duplum - lange, tonreiche Melismen - Gruppen von 2-4 Noten pro Tenor-Note.
u. weitere – in 3- u. 4stimmigen Or- - Der Rhythmus der Gruppen wird mithilfe der
Stimmen gana rhythmisch gemes- Modalnotation notiert.
sen u. modal notiert
Satzstruk- - Wo Noten von Tenor und - Die zugefügten Stimmen sind so gesetzt, dass sie mit
tur Duplum zugleich erklin- gleichzeitig erklingenden Tönen des Tenors meist
gen, werden meist Konso- konsonieren. An gemeinsamen Schlüssen wird dieses
nanzen gesetzt. Innerhalb Konsonanzprinzip streng beachtet.
der Melismen des Duplum - Durchgehende Noten der zugefügten Stimmen können
sind alle Intervalle gegen dissonieren. Die Dissonanzbehandlung unterliegt noch
den Tenor erlaubt. nicht den strengen Regeln des Kontrapunkts.

Organale Praxis an Notre Dame de Paris

• Zeitgleich zum rhythmisch gemessenen mehrstimmigen Organum entsteht die


gotische Baukunst. Die Kathedrale Notre Dame de Paris, die wegweisend für den
neuen Baustil ist, ist auch Entstehungsort des rhythmisch gemessenen Organums.
• musikalischer Schmuck durch organale Ausgestaltung an besonders hohen
Kirchenfesten: Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Himmelfahrt Mariens sowie an div.
Heiligenfesten
• liturgische Orte des Organums:
– Vesper: Responsorium und Benedicamus domino
– Matutin: 3., 6. und 9. Responsorium
– Prozessionen: Antiphonen und Responsoriumsverse
– Messe: Graduale und Alleluia
• Solistische Ausführung der Organa: Anzahl der solistischen Sänger je nach Rang
des Kirchenfestes 4-6.
• Sänger (Anonymus 4 spricht von „cantores“ und „notatores“) waren Kleriker
niedrigen Ranges.

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Notre Dame-Epoche: Quellen der Überlieferung I

• Das Magnus liber organi


• Von Anonymus IV namentlich nicht bekannter Engländer in einer praktischen
Musiklehre erwähnt als Magnus liber organi de gradali et antifonario;
• enthält in liturgischer Anordnung die solistischen Partien von
Offiziumsresponsorien (an erster Stelle) und Messgesängen (an zweiter Stelle) in
Form zweistimmiger Organa.
• geht nach Anon. IV auf Leoninus zurück, den er als „maximus organista“ bezeichnet
(bester Verfertiger von Organa).
• war Anonymus 4 zufolge bis zur Zeit Perotins in Gebrauch, der dafür Diskantpartien
(„clausulae“) verfertigte und in dieser Kunst Leonin überragte („maximus
discantor“).
• Anon. IV nennt Perotin auch Verfasser drei- und vierstimmiger Organa.
• Als Kirche, an der das im Magnus liber enthaltene Repertoire in Gebrauch war, nennt
er die Kathedrale Notre Dame in Paris. Die Aufführung von Organa an dieser Kirche
wird auch durch weitere Quellen bezeugt. Leonin lässt sich möglicherweise mit
einem Canonicus identifizieren, der als auch Dichter hervortrat.

Notre Dame-Epoche: Quellen der Überlieferung II

• Quellenhandschriften
• Die Angaben des Anon. IV stimmen gut mit der Quellenlage überein. Die folgenden
Handschriften enthalten je eine Fassung des Magnus liber organi:

Bezeichnung der Entstehung Organa dupla des weitere Inhalte


Handschrift Magnus liber organi
Handschrift F (I- Paris ca. 1245- Messe: 59 4- u. 3-stimmige Organa
Fl, Plut.29,1) 55 Offizium: 34 462 2st. Klauseln in 4 Zyklen
lat. Motetten
60 1-st. Rondelli
Handschrift W1 möglicherweise Messe: 32 103 Ersatzklauseln (z. T. auf in W1
(D-W, Codex älter als F, Offizium: 13 fehlende Organa bezogen)
Guelf.628 Besitzvermerk auf den brit. Marienkult bezogene 2st.
Helmst.) Abtei St. Mess-kompositionen
Andrew,
Schottland
Handschrift W2 vermutl. Paris Messe: 30 4- u. 3-stimmige Organa
(D-W, Codex ca. 1265/75 Offizium: 15 Conductus
Guelf.1099 keine Ersatzklauseln
Helmst.), 90 2st. lat. Motetten

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Die Notation der Notre Dame-Epoche I

• Quadratnotation:
• Um die Mitte des 12. Jahrhunderts entsteht im nördlichen Frankreich eine
Neumenschrift, die sich von der früheren dadurch unterscheidet, dass an Stelle von
Punkten und Strichen Quadrate verwendet.
• Sie wird daher Quadratnotation genannt. Aus dem punctum der Neumenschrift wird
in ihr die Brevis (abgekürzt: B), aus der virga die Longa (abgekürzt: L):

Die Notation der Notre Dame-Epoche II

• Entsprechend den beiden Möglichkeiten, einen Text syllabisch und melismatisch zu


vertonen, entwickeln sich zwei Notationsmethoden:

notatio sine litera:


• Töne werden durch Gruppen verbundener Quadratnoten, sog. Ligaturen dargestellt.
Diese Notation ist für die im melismatischen Stil gehaltenen Organa kennzeichnend.
• Die Dauern der Einzeltöne werden in dieser Notation durch die
unterschiedliche Gruppierung der Ligaturen angezeigt. Man nennt diese Notation
Modalnotation.

notatio cum litera:


• Töne werden durch Einzelzeichen dargestellt.
• Diese Notation findet sich zunächst ausschließlich in den syllabisch vertonten
weltlichen Gesängen, die Conductus genannt wurden.

• Die Notenreihen werden einer streng gemessenen Rhythmisierung unterworfen, die


durch einen Wechsel von langen und kurzen Noten charakterisiert ist.
• Diese exakte Mensurierung wurde zuerst in den Discantus-Partien der Organa
durchgeführt. In drei- und vierstimmigen Organa unterliegen auch die im Organalstil
gehaltenen Partien einer rhythmischen Messung.

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Modalnotation I

• In der Modalnotation kann die Dauer der Einzeltöne nicht an der Form der
Notenzeichen abgelesen werden.
• Er lässt sich vielmehr aus der charakteristischen Konstellation bzw. Abfolge
mehrerer Notengruppen bzw. Ligaturen ableiten. Die Modalnotation wird wegen
dieses Sachverhalts als Gruppennotation bezeichnet.
• Die Modalnotation verdankt ihren Namen den sogenannten Modi. Die Bezeichnung
hat nichts mit der Lehre von den Kirchentönen zu tun. Vielmehr wurden in der
Theorie des 13. Jahrhunderts bestimmte Grundrhythmen als “Modi” bezeichnet.
• Alle Grundrhythmen der Modalnotation sind dreizeitig, lassen sich bei Umschrift in
die moderne Notation also als Dreiertakt (3/4, 3/8) wiedergeben. Eine Stimme hatte
den einmal gewählten Modus konsequent beizubehalten.
• Die Modalrhythmik kennt nur zwei Notenformen, die kurze Brevis (B) und die
längere Longa (L). Das Längenverhältnis beider Werte hängt vom jeweiligen Modus
ab.

Modalnotation II

Die Modalnotation kennt sechs Modi:

Modus Verhältnis Grund- dargestellter Rhythmus Schreibweise


L:B formel mit Ligaturen
1. Modus 2:1 LB

2. Modus 2:1 BL

3. Modus 3:1 LBB

4. Modus 3:1 BBL

5. Modus 3:1 LL

6. Modus 3:1 BBB

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Modalnotation III

Perfektion:
• Der Tabelle ist zu entnehmen, dass die L im ersten und zweiten Modus soviel gilt wie
2 B. Im 3., 4. und 5. Modus gilt sie jedoch soviel wie 3 B.
• Die Theoretiker nannten die kürzere L Longa imperfecta, die längere perfecta. Diesen
Bezeichnungen liegt die Auffassung zugrunde, dass nur dreizeitige rhythmische
Einheiten vollkommen sind.
• Diese Grundregel der Modalrhythmik wurde theologisch mit dem Verweis auf die
Trinität (die Dreieinigkeit von Gott Vater, Gott Sohn und Heiligem Geist) begründet.

Alteration
• Im 3. und 4. Modus sind die beiden B von ungleicher Länge. Die zweite ist jeweils
doppelt so lang wie die erste und in der Länge gleich einer imperfekten Longa.
• Die Theoretiker nannten die kurze Brevis brevis recta, die zweite brevis altera.
• Verwendet wurden in den Notenhandschriften der Zeit fast nur der erste, zweite,
dritte und fünfte Modus. Der sechste Modus erscheint gelegentlich in späten
Quellen. Der vierte ist ein Konstrukt der Theoretiker.

Modalnotation IV

Divisio modi
• Die modal rhythmisierten Melodien werden durch senkrechte Striche in mehr oder
weniger lange Phrasen eingeteilt. Die Striche heißen divisio modi.
• Die Einheiten umfassen 1 bzw. mehrere rhythmische Grundformeln. Dabei gilt die
Regel, dass die letzte Note der Phrase von gleicher Länge sein muss wie die erste.
Phrasen des 1. Modus beginnen und enden demnach mit einer Longa imperfecta,
Phrasen im 2. Modus mit einer Brevis recta usw.
• Damit bleibt die letzte dreizeitige Zelle (man sagt: die letzte Perfektion) der Phrase
unvollständig. An die Stelle einer gesungenen Note tritt eine Pause, die den
fehlenden Wert ergänzt: Auf die letzte L des 1. Modus folgt eine Pause von der Länge
einer B, auf die letzte B des 2. Modus eine Pause von der Länge einer L usw. Die
divisio modi ist demnach das erste grafische Symbol einer Pause.

Der Ordo-Begriff
• Je nach der Zahl der in einer Phrase enthaltenen rhythmischen Formeln
unterscheidet die Theorie primus, secundus, tertius... ordo.
• Gezählt werden nur die vollständigen Formeln, nicht die aus Schlussnote und Pause
gebildete letzte dreizeitige Perfektion.

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Extensio modi

Die letzten Noten am Ende eines Ordo werden häufig entgegen dem rhythmischen
Grundmuster gedehnt. Wird z. B. im 1. Modus eine Phrase des secundus ordo mit
einer einzelnen L beschlossen (LBL BL L ), so ist die L am Ende der vorausgehenden
Binaria-Ligatur perfekt. Sie schließt gleichsam den Wert jener B ein, die eigentlich in
einer nächsten Binaria folgen müsste. Die letzte, als Einzelnote notierte L ist dann
wieder imperfekt, da ihr eine B-Pause (der senkrechte Strich, der im Beispiel die
divisio modi darstellt) folgt. Die gesamte Einheit wird wie folgt übertragen:

Im 2. Modus wird ein Ordo nicht selten von zwei L beschlossen, die dann zwei
Perfektionen ergeben. Notiert ist BL BL L L. Die zweite L ist allerdings imperfekt und
wird um eine B-Pause ergänzt::

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Die Plica

• ist ein Hilfszeichen der Quadratnotation.


• Sie besteht aus einem ab- oder aufwärtsgerichteten Strich, der rechts an eine Note
angefügt wird.
• Die Noten, an die die Plica angefügt wird, sind entweder Einzelnoten (nota plicata)
oder Finalis (letzte Note) einer Ligatur (ligatura plicata).

• Ursprung:
• Die Plica entstand aus zwei Neumen:

• epiphonus = plica ascendens


• cephalicus = plica descendens

Die Richtung des Plica-Strichs gibt an, ob die von ihm angezeigte Note höher oder
tiefer ist als die vorausgehende Hauptnote.

• Ausführung:
• Die als Plica notierte Note unterscheidet sich von den normalen Noten durch eine
besondere Stimmgebung. Der Theoretiker Magister Lambert schildert diese als
„teilweises Schließen des Kehldeckels, verbunden mit einer leichten Reperkussion
der Kehle.“ Es handelt sich demnach um eine Verzierung.

Analyse der Diskant-Klausel „Ex semine“: Gestaltung des Tenors

• Es handelt sich um eine dreistimmige Diskantklausel, bestehend aus den Stimmen


Tenor, Duplum und Triplum.
• Der Tenor lässt den 5. Modus erkennen: es werden Gruppen von je 3 Longen
zusammengefasst. An die Stelle von LLL tritt in jeder zweiten Gruppe die Folge
Duplex Longa – Longa.
• Schon das Notenbild des Tenors lässt daher erkennen, dass die Töne der
Choralmelodie nach einem sich wiederholenden rhythmischen Schema ablaufen.
• Aus dem Gesamtzusammenhang der Klausel ergibt sich, dass immer drei perfekte L
erklingen, gefolgt von einer Pause, die ebenfalls den Wert einer perfekten L hat.
• Die Technik, ein wiederholtes rhythmisches Muster auf die Choralmelodie zu
übertragen, wird in der damaligen Musiklehre als „ordinare“ bezeichnet, ein Begriff,
der mit dem des „ordo“ in Zusammenhang steht.
• Ein Teil der Tenormelodie wird wiederholt: Ab M 13 laufen dieselben Töne ab, die
bereits zwischen M 3 und M 12 erklangen. Ab M 23 ist diese Wiederholung beendet:
M 1f. M 3-12
M 13-22 M 23-33
• Das Schema L-L-L-DxL-L wird mit den Tönen des Tenors in der Wiederholung anders
kombiniert, so dass der identische diastematische Verlauf eine rhythmische
Umprägung erfährt. Dieses konstruktive Verfahren wird sich im Verlauf des 13.
Jahrhunderts zum Grundprinzip der isorhythmischen Motette weiterentwickeln.

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Analyse der Diskant-Klausel „Ex semine“ II

• Duplum und Triplum stehen im ersten Modus. Die divisiones modi markieren die
Schlüsse der ordines.
• Am Ende der ordines liegt häufig extensio modi vor.

• Gliederung:
• Die rhythmische und satztechnische Struktur der Klausel lässt eine regelmäßige
Einteilung in gleichlange Einheiten sichtbar werden, die jeweils aus 2 ordines des Tenor
bestehen.
• Rhythmisch ist diese Gliederung daran zu erkennen, dass auch in Duplum und Triplum
an dieser Stelle ordines enden. Meist tritt auch in diesen Stimmen eine Pause von der
Dauer einer perfekten Longa ein. Schreibt man den Satz in Partitur, so wird eine
regelmäßige Gliederung in Gruppen von 4 Mensuren sichtbar.
• In der Schlussphase der Klausel zeigen die Oberstimmen entsprechend der fehlenden
Ordinierung des Tenors keine symmetrische Gliederung mehr.

• Satzstruktur:
• Satztechnisch werden diese Schlüsse jeweils dadurch hervorgehoben, dass alle drei
Stimmen im Einklang zusammenkommen. ( Ausnahme M 28: Duplum und Triplum
bilden mit Tenor eine Quinte). Hier beginnt die freier gestaltete Schlussphase der
Klausel, in der der Tenor nicht mehr der rhythmischen Ordinierung unterliegt.
• Wo die Stimmen im Satz sonst zusammen erklingen, bilden sie fast immer weniger
perfekte Intervalle.

Analyse der Diskant-Klausel „Ex semine“ III

• Da nach jeweils vier Mensuren eine formale Einheit endet, haben die jeweils folgenden
Mensuren den Charakter von Anfängen. Auch an diesen Anfängen erklingen
überwiegend perfekte Zusammenklänge, doch sind hier anders als an den Schlüssen
neben den als perfekt geltenden Einklängen, Oktaven, Quinten und Quarten auch
Terzen möglich.
• Meistens beginnen die Formabschnitte mit einem Klang, der weniger perfekt ist als
der Schlussklang:

Abschnitt Anfangsintervalle Schlussintervalle


M 1-4 Quinte Einklang
M 5-8 Terz Einklang
M 9-12 Quinte Einklang
M 13-16 Quinte Einklang
M 17-20 Einklang Einklang
M 21-24 Quarte Einklang
M 25-28 Einklang Quinte

• Das Fortschreiten von weniger perfekten zu perfekten Konsonanzen erinnert an


kadenzielle Vorgänge in tonaler Musik (Dominantspannung löst sich in die Tonika).
• Auch die geraden Mensuren im Innern der Formabschnitte werden durch perfekte
Zusammenklänge hervorgehoben.
• Bei ungeradzahlige Longen treten häufiger Terzen und dissonierende Intervalle auf.

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Analyse der Diskant-Klausel „Ex semine“ IV

• Die Bevorzugung einer regelmäßigen Gliederung in Einheiten sowie die große


Bedeutung geradzahliger Verhältnisse (2, 4...) erinnert an moderne
Periodenstrukturen.
• Die Zäsuren in M 16 und 24 in Duplum und Triplum werden rhythmisch überspielt .
Dies bewirkt eine Intensivierung des melodischen Flusses in der Mitte der Klausel -
Indiz für eine bewusste formale Gestaltung.
• Die Stimmführung entspricht noch nicht den Regeln, die für den Kontrapunkt ab dem
16. Jahrhundert gelten. Quint-, und Quartparallelen sind zwischen Duplum und
Triplum häufig, Akzentparallelen im Einklang zwischen allen drei Stimmen.
• Lässt man eine der beiden Oberstimmen aus, dann bleibt der zweistimmige Satz
klanglich befriedigend. Das erklärt sich daraus, dass Duplum und Triplum jeweils
primär auf den Tenor bezogen konstruiert wurden. Einen Beweis für diese
Konstruktionsweise liefert die Überlieferung einer zweistimmigen Version der
Klausel in der Handschrift F. In ihr fehlt das Triplum.
• An Abschnittschlüssen, an die Stimmen im Einklang zusammenkommen, werden
mindestens zwei in Gegenbewegung geführt. Auch sonst überwiegt zwischen allen
Stimmen Gegenbewegung.
• Duplum und Triplum werden so geführt, dass die Stimmen einander fortwährend
wechselseitig übersteigen. Die melodischen Höhepunkte sind gleichmäßig auf beide
Stimmen verteilt. Dies beweist, dass beide Stimmen aufeinander bezogen konstruiert
sind.

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